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Full text of "Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre ..."

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Sammlung  kleiner  Schriften 


zur 


NEUROSENLEHRE 


aus  den 


Jahren  1893—1906 


von 


Prof.  Dr.  Sigm.  Freud. 


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LEIPZIG  UND  WIEN 
KRANZ    DEUTICKE 

1906. 


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Verlags-Nr.  1279. 


Sammlung  kleiner  Schriften 


zur 


NEUROSENLEHRE 


aus  den 


Jahren  1893—1906 


von 


Prof.  Dr.  Sigm.  Freud. 


LEIPZIG  UND  WIEN 
KRANZ    DEUTICKE: 

1906. 


Verlags-Nr.  1279. 


UTH.  KUNST/\NSrAl.T,  K.  K.  HOFTHEATEH-OHUCKEREI,  WIEN.  IX.  SEnaOASSE  7. 


Vorwort. 

Melirfacli  geäußerten  Wünschen  folgend,  habe  ich  mich 
entschlossen,  meine  kleineren  Arbeiten  über  Neurosen  seit 
dem  Jahre  1893  den  Fachgenossen  gesammelt  vorzulegen. 
Es  sind  vierzehn  km'ze  Aufsätze,  meist  vom  Charakter  vor- 
läufiger Mitteilungen,  die  in  wissenschaftlichen  Archiven  oder 
ärztHchen  Zeitschriften  veröffentHcht  wurden,  drei  unter  ihnen 
in  französischer  Sprache.  Die  beiden  letzten  (XIII  und  XIV), 
sehr  knapp  gehaltenen  Darlegungen  meines  gegenwärtigen 
Standpunktes  in  der  Ätiologie  wie  in  der  Therapie  der  Neu- 
rosen, sind  den  bekannten  Werken  von  L.  Löwenfeld,  „Die 
psychischen  Zwangserscheinungen",  1904,  und  „Sexualleben  und 
Nervenleiden",,  4.  Auflage,  1906,  entnommen,  für  welche  ich 
sie  über  Aufforderung  des  befreundeten  Autors  abgefaßt  hatte. 

Diese  Sammlung  bildet  die  Vorbereitung  und  Ergänzung 
meiner  größeren  Publikationen,  welche  die  gleichen  Themata 
behandelu  (Studien  über  Hysterie  [mit  Dr.  J.  Breuer],  1895 
—  Traumdeutung,  1900  —  Zur  Psychopathologie  des  Alltags- 
lebens, 1901  und  1904  —  Der  Witz  und  seine  Beziehung  zum 
Unbewußten,  1905  —  Drei  Abhandlungen  zur  Sexualtheorie, 
1905  —  Bruchstück  einer  Hysterieanalyse,  1905).  Daß  ich  den 
Nachruf  an  J.  M.  Charcot  an  die  Spitze  der  hier  vereinigten 
kleinen  Aufsätze  gestellt  habe,  soll  nicht  nur  einer  Pflicht  der 
Dankbarkeit  genügen,  sondern  auch  den  Punkt  hervorheben, 
an  welchem  die  eigene  Arbeit  von  der  des  Meisters  abzweigt. 

Wer  mit  der  Entwicklung  menschlicher  Erkenntnis 
vertraut  ist^  wird  ohne-  Verwunderung  hören^  daß  ich  einen 
Teil  der  hier  vertretenen  Meinungen  seither  überwunden, 
einen  anderen  zu  modifizieren  verstanden  habe.  Doch  habe 
ich  den  größeren  Teil  unverändert  festhalten  können  und 
brauche  eigentlich  nichts  als  völlig  irrig  und  ganz  wertlos 
zurückzunehmen. 


Inhalts  -Verzeichnis. 


Seita 

I.  Charcot  (1893) 1 

II.  Über   den  psychischen  Mechanismus  hysterischer  Phänomene 

von  Dr.  J.  Breuer  und  Dr.  Sigm.  Freud  (1893)      ....     14 
m.  Quelques  considerations  pour  une  etude  comparative  des  para- 

lysies  motrices  organiques  et  hysteriques  (1893) 30 

rV.  Die  Abwehr-Neuropsychosen.  Versuch  einer  psychologischen 
Theorie  der  acquirierten  Hysterie,  vieler  Phobien  und  Zwangs- 
vorstellungen und  gewisser  halluzinatorischer  Psychosen  (1894)    45 

V.  Über  die  Berechtigung,  von  der  Neurasthenie  einen  bestimmten 
Symptomenkomplex  als  „  A  n  g  s  t  n  e  u  r  o  s  e"  abzutrennen  (1895)    60 

VI.  Obsessions  et  phobies.  Leur  mecanisme  psychique  et  leur 
etiologie  (1895) 86 

Vn.  Zur  Kritik  der  „Angstneurose"  (1895) 94 

Vm.  Weitere  Bemerkungen  über  die  Abwehr-Neuropsychosen  (1896)  112 

IX.  L'heredite  et  l'etiologie  des  Nevroses  (1896) 135 

X.  Zur  Ätiologie  der  Hysterie  (1896) 149 

XI.  Die  Sexualität  in  der  Ätiologie  der  Neurosen  (1898)    .    .    ,    .181 

Xn.  Über  Psychotherapie  (1905) 205 

Xin.  Die  Freud'sche  psychoanalytische  Methode  (1904)      ....  218 
XIV.  Meine  Ansichten  über  die  Rolle  der  Sexualität  in  der  Ätiologie 

der  Neurosen  (1906) 225 


I. 
Charcot.0 

Mit  J.  M.  Charcot,  den  nach  einem  glücklichen  und 
ruhmvollen  Leben  am  16.  August  d.  J.  ein  rascher  Tod  ohne 
Leiden  und  Krankheit  ereilt,  hat  die  junge  Wissenschaft  der 
Neurologie  ihren  größten  Förderer,  haben  die  Neurologen 
aller  Länder  ihren  Lehrmeister,  hat  Frankreich  einen  seiner 
ersten  Männer  allzu  früh  verloren.  Er  war  erst  68  Jahre  alt, 
seine  körperliche  Kraft  wie  seine  geistige  Frische  schienen 
ihn  im  Einklänge  mit  seinen  unverhohlenen  Wünschen  für 
jene  Langlebigkeit  zu  bestimmen,  die  nicht  wenigen  G-eistes- 
arbeitern  dieses  Jahrhunderts  zuteil  geworden  ist.  Die  statt- 
lichen neun  Bände  seiner  Oeuvres  completes,  in  denen  seine 
Schüler  seine  Beiträge  zur  Medizin  und  Neuropathologie  ge- 
sammelt hatten,  dazu  die  Lecons  du  Mardi,  die  Jahresberichte 
seiner  Khnik  in  der  Salpetri^re  u.  a.  m.,  alle  diese  PubUkationen, 
die  der  Wissenschaft  und  seinen  Schülern  teuer  bleiben  werden, 
können  uns  den  Mann  nicht  ersetzen,  der  noch  viel  mehr  zu 
geben  und  zu  lehren  hatte,  dessen  Person  oder  dessen  Werken 
noch  niemand  genaht  war,  ohne  von  ihnen  zu  lernen. 

Er  hatte  eine  rechtschaffen  menschliche  Freude  an  seinem 
großen  Erfolg  und  pflegte  sich  gerne  über  seine  Anfänge  und 
den  Weg,  den  er  gegangen,  zu  äußern.  Seine  wissenschaftUche 
Neugierde  war  frühzeitig  durch  das  reiche  und  damals  völlig 
unverstandene  Material  neuropathologischer  Tatsachen  erregt 
worden,  wie  er  erzählte,  schon  als  er  junger  Literne  (Sekundar- 
arzt)  war.  Wenn  er  damals  mit  seinem  Primararzt  die  Visite 
auf  einer  der  Abteilungen  der  Salpetriere  (Versorgungshaus 
für  !^rauen)  machte,  durch  all  die  Wildnis  von  Lähmungen, 
Zuckimgen  und  Krämpfen,  für  die  es  vor  40  Jahren  keine 
1)  „Wiener  Medizinische  Wochenschrift",  Nr.  37,  1893. 
Freud,  Neurosenlehre.  1 


Namen  und  kein  Verständnis  gab,  pflegte  er  zu  sagen:  „Fau- 
drait  y  retourner  et  y  rester"  und  er  hielt  Wort.  Als  er 
Medecin  des  höpitaux  (Primararzt)  geworden  war,  trachtete 
er  alsbald  in  die  Salpetriere  zu  kommen,  auf  eine  jener  Ab- 
teilungen, die  die  Nervenkranken  beherbergten,  und  einmal 
dort  angelangt,  verblieb  er  auch  dort,  anstatt,  wie  es  den 
französischen  Primarärzten  freisteht,  im  regelmäßigen  Turnus 
Spital  und  Abteilung  und  damit  auch  die  Spezialität  zu  wechseln. 
So  war  sein  erster  Eindruck  und  der  Vorsatz,  zu  dem 
er  geführt  hatte,  bestimmend  für  seine  gesamte  weitere  Ent- 
wicklung geworden.  Die  Verfügung  über  ein  großes  Material 
an  chronisch  Nervenkranken  gestattete  ihm  nun,  seine  eigen- 
tümliche Begabung  zu  verwerten.  Er  war  kein  Grübler,  kein 
Denker,  sondern  eine  künstlerisch  begabte  Natur,  wie  er  es 
selbst  nannte,  ein  „visuel",  ein  Seher.  Von  seiner  Arbeits- 
weise erzählte  er  uns  selbst  folgendes:  Er  pflegte  sich  die 
Dinge,  die  er  nicht  kannte,  immer  von  neuem  anzusehen, 
Tag  für  Tag  den  Eindruck  zu  verstärken,  bis  ihm  dann  plötz- 
lich das  Verständnis  derselben  aufging.  Vor  seinem  geistigen 
Auge  ordnete  sich  dann  das  Chaos,  welches  durch  die  Wieder- 
kehr immer  derselben  Symptome  vorgetäuscht  wurde;  es  er- 
gaben sich  die  neuen  Krankheitsbilder,  gekennzeichnet  durch 
die  konstante  Verknüpfung  gewisser  Symptomgruppen;  die 
vollständigen  und  extremen  Fälle,  die  „Typen",  ließen  sich 
mit  Hilfe  einer  gewissen  Art  von  Schematisierung  hervor- 
heben, und  von  den  Typen  aus  blickte  das  Auge  auf  die  lange 
Reihe  der  abgeschwächten  Fälle,  der  „formes  frustes",  die 
von  dem  oder  jenem  charakteristischen  Merkmal  des  Typus 
her  ins  Unbestimmte  ausliefen.  Er  nannte  diese  Art  der 
Geistesarbeit,  in  der  er  keinen  Gleichen  hatte,  „Nosographie 
treiben"  und  war  stolz  auf  sie.  Man  konnte  ihn  sagen  hören, 
die  größte  Befriedigung,  die  ein  Mensch  erleben  könne,  sei, 
etwas  neues  zu  sehen,  d.  h.  es  als  neu  zu  erkennen,  und  in 
immer  wiederholten  Bemerkungen  kam  er  auf  die  Schwierig- 
keit und  Verdienstlichkeit  dieses  „Sehens"  zurück.  Woher  es  denn 
komme,  daß  die  Menschen  in  der  Medizin  immer  nur  ^-ohen, 
was  sie  zu  sehen  bereits  gelernt  haben,  wie  wunderbar  es  sei, 
daß  man  plötzlich  neue  Dinge  —  neue  Krankheitszustände  — 


sehen  könne,  die  doch  wahrscheinlich  so  alt  seien  wie  das 
Menschengeschlecht,  und  wie  er  sich  selbst  sagen  müsse,  er 
sehe  jetzt  manches,  was  er  durch  30  Jahre  auf  seinen  Kranken- 
zimmern übersehen  habe.  Welchen  Reichtum  an  Formen  die 
Neuropathologie  durch  ihn  gewann,  welche  Verschärfung  und 
Sicherheit  der  Diagnose  durch  seine  Beobachtungen  ermög- 
licht wurde,  braucht  man  dem  Arzte  nur  anzudeuten.  Der 
Schüler  aber,  der  mit  ihm  einen  stundenlangen  Gang  durch 
die  Krankenzimmer  der  Salpetriere,  dieses  Museums  von  klini- 
schen Fakten,  gemacht  hatte,  deren  Namen  und  Besonderheit 
größtenteils  von  ihm  selbst  herrührten,  wurde  an  Cuvier 
erinnert,  dessen  Statue  vor  dem  Jardin  des  plantes  den  großen 
Kenner  und  Beschreib  er  der  Tierwelt,  umgeben  von  der  Fülle 
tierischer  Gestalten,  zeigt,  oder  er  mußte  an  den  Mythus  von 
Adam  denken,  der  jenen  von  Charcot  gepriesenen  intellek- 
tuellen Genuß  im  höchsten  Ausmaß  erlebt  haben  mochte,  als 
ihm  Gott  die  Lebewesen  des  Paradieses  zur  Sonderung  und 
Benennung  vorführte. 

Charcot  wurde  auch  niemals  müde,  die  Rechte  der  rein 
klinischen  Arbeit,  die  im  Sehen  und  Ordnen  besteht,  gegen  die 
Übergriffe  der  theoretischen  Medizin  zu  verteidigen.  Wir  waren 
einmal  eine  kleine  Schar  von  Fremden  beisammen,  die,  in  der 
deutschen  Schulphysiologie  auf  erzogen,  ihm  durch  die  Bean- 
standung seiner  klinischen  Neuheiten  lästig  fielen :  „Das  kann 
doch  nicht  sein",  wendete  ihm  einmal  einer  von  uns  ein:  „das 
widerspricht  ja  der  Theorie  von  Young-Helmholtz."  Er 
erwiderte  nicht:  „Um  so  ärger  für  die  Theorie,  die  Tatsachen 
der  Kh'nik  haben  den  Vorrang",  u.  dgl.,  aber  er  sagte  uns 
doch,  was  uns  einen  großen  Eindruck  machte:  „La  theorie, 
c'est  bon,  mais  ca  n'empeche  pas  d'exister." 

Durch  eine  ganze  Reihe  von  Jahren  hatte  Charcot  die 
Professur  für  pathologische  Anatomie  in  Paris  inne  und  seine 
neuropathologischen  Arbeiten  und  Vorlesungen,  die  ihn  rasch 
auch  im  Auslande  berühmt  machten,  betrieb  er  ohne  Auftrag 
als  Nebenbeschäftigung ;  für  die  Neuropathologie  war  es  aber 
ein  Glück,  daß  derselbe  Mann  die  Leistung  zweier  Listanzen 
auf  sich  nehmen  konnte,  einerseits  durch  klinische  Beobachtung 
die  Krankheitsbilder   schuf  und    anderseits   beim   Typus   wie 

1* 


bei  der  forme  fruste  die  gleiche  anatomische  Veränderung  als 
Grundlage  des  Leidens  nachwies.  Es  ist  allgemein  bekannt, 
welche  Erfolge  diese  anatomisch-klinische  Methode  Charcot's 
auf  dem  Gebiete  der  organischen  Nervenkrankheiten,  der  Tabes, 
multiplen  Sklerose,  der  amyotrophischen  Lateralsklerose  usw. 
erzielte.  Oft  bedurfte  es  jahrelangen  geduldigen  Harrens,  ehe 
bei  diesen  chronischen,  nicht  direkt  zum  Tode  führenden 
Affektionen  der  Nachweis  der  organischen  Veränderung  gelang, 
und  nur  ein  Siechenhaus,  wie  die  Salpetriere,  konnte  gestatten, 
die  Kranken  durch  so  lange  Zeiträume  zu  verfolgen  und  zu 
erhalten.  Die  erste  Feststellung  dieser  Art  machte  Charcot 
übrigens,  ehe  er  über  eine  Abteilung  verfügen  konnte.  Der 
Zufall  führte  ihm  während  seiner  Studienzeit  eine  Bedienerin 
zu,  die  an  einem  eigentümlichen  Zittern  litt  und  wegen  ihrer 
Ungeschicklichkeit  keine  Stelle  bekommen  konnte.  Charcot 
erkannte  ihren  Zustand  als  die  von  Duchenne  bereits  be- 
schriebene „Paralysie  choreiforme",  von  der  aber  nicht  bekannt 
war,  worauf  sie  beruhe.  Er  behielt  die  interessante  Bedienerin, 
obwohl  sie  ihm  im  Laufe  der  Jahre  ein  kleines  Vermögen  an 
Schüsseln  und  Tellern  kostete,  und  als  sie  endlich  starb,  konnte 
er  an  ihr  nachweisen,  daß  die  „Paralysie  choreiforme"  der 
klinische  Ausdruck  der  multiplen  cerebrospinalen  Sklerose  sei. 
Die  pathologische  Anatomie  hat  für  die  Neuropathologie 
zweierlei  zu  leisten:  neben  dem  Nachweis  der  krankhaften 
Veränderung  die  Feststellung  von  deren  Lokalisation,  und  wir 
alle  wissen,  daß  in  den  letzten  beiden  Dezennien  der  zweite 
Teil  der  Aufgabe  das  größere  Interesse  gefunden  und  die 
größere  Förderung  erfahren  hat.  Charcot  hat  auch  an  diesem 
"Werke  in  hervorragendster  "Weise  mitgearbeitet,  wenngleich 
die  bahnbrechenden  Funde  nicht  von  ihm  herrühren.  Er 
folgte  zunächst  den  Spuren  unseres  Landsmannes  Türck, 
der,  wie  es  heißt,  ziemlich  einsam  in  unserer  Mitte  gelebt 
und  geforscht  hat,  und  als  dann  die  beiden  großen  Neuerungen 
kamen,  die  eine  neue  Epoche  für  unsere  Kenntnis  der  „Loka- 
lisation der  Nervenkrankheiten"  einleiteten,  die  Reizungsver- 
suche von  Hitzig-Fritsch  und  die  Markentwicklungsbefunde 
von  Flechsig,  hat  er  in  seinen  Vorlesungen  über  die  Loka- 
lisation   das  Meiste    und    das  Beste    dazu    getan,    die    neuen 


Lehren,  mit  der  Klinik  zu  vereinigen  und  für  sie  fruclitbar  zu 
machen.  "Was  speziell  die  Beziehung  der  Körpermuskulatur  zur 
motorischen  Zone  des  menschlichen  Großhirns  betrifft,  so  er- 
innere ich  daran,  wie  lange  die  genauere  Art  und  Topik 
dieser  Beziehung  in  Frage  stand  (gemeinsame  Vertretung 
beider  Extremitäten  an  denselben  Stellen  —  Vertretung  der 
oberen  Extremität  in  der  vorderen,  der  unteren  in  der  hinteren 
Zentralwindung,  also  vertikale  Gliederung),  bis  endlich  fort- 
gesetzte klinische  Beobachtungen  und  Reiz-  wie  Exstirpations- 
versuche  am  lebenden  Menschen  bei  Gelegenheit  chirurgischer 
Eineriffe  zugunsten  der  Ansicht  von  Charcot  und  Pitres 
entschieden,  daß  das  mittlere  Drittel  der  Zentralwindungen 
vorwiegend  der  Armvertretung,  das  obere  Drittel  und  der 
mediale  Anteil  der  Beinvertretung  diene,  daß  also  eine  hori- 
zontale Gliederung  in  der  motorischen  Region  durchgeführt  sei. 
Es  würde  nicht  gelingen,  die  Bedeutung  Charcot's 
für  die  Neuropathologie  durch  die  Aufzählung  einzehier 
Leistungen  zu  erweisen,  denn  es  hat  in  den  letzten  zwei 
Dezennien  überhaupt  nicht  viele  Themata  von  einigem  Belang 
gegeben,  an  deren  Aufstellung  und  Diskussion  die  Schule 
der  Salpetriere  nicht  einen  hervorragenden  Anteil  genommen 
hätte.  „Die  Schule  der  Salpetriere",  das  war  natürlich 
Charcot  selbst,  der  mit  dem  Reichtume  seiner  Erfahrung, 
der  durchsichtigen  lOarheit  seiner  Diktion  und  der  Plastik 
seiner  Schilderungen  unschwer  in  jeder  Schülerarbeit  zu  er- 
kennen war.  Aus  dem  Kreise  von  jungen  Männern,  die  er  so 
an  sich  heranzog  und  zu  Teilnehmern  seiner  Forschungen 
machte,  erhoben  sich  dann  Einzelne  zum  Bewußtsein  ihrer 
Lidividualität,  gewannen  für  sich  selbst  einen  glänzenden 
Namen,  und  hie  und  da  kam  es  auch  vor,  daß  einer  mit  einer 
Behauptung  hervortrat,  die  dem  Meister  mehr  geistreich  als 
richtig  erschien,  und  die  er  in  Gesprächen  und  Vorlesungen 
sarkastisch  genug  bekämpfte,  ohne  daß  das  Verhältnis  zu 
dem  geliebten  Schüler  darunter  litt.  Tatsächlich  hinterläßt 
Charcot  eine  Schar  von  Schülern,  deren  geistige  Qualität 
und  bisherige  Leistungen  eine  Bürgschaft  bieten,  daß  die 
Pflege  der  Neuropathologie  in  Paris  nicht  so  bald  von  der 
Höhe  heruntergleiten  wird,  zu  der  Charcot  sie  geführt  hat. 


"Wir  haben  in  "Wien  wiederholt  die  Erfahrung  machen 
können,  daß  die  geistige  Bedeutung  eines  akademischen 
Lehrers  nicht  ohneweiters  mit  jener  direkten  persönlichen 
Beeinflussung  der  Jugend  vereinigt  sein  muß,  die  sich  in  der 
Schöpfung  einer  zahlreichen  und  bedeutsamen  Schule  äußert. 
"Wenn  Charcot  in  diesem  Punkte  so  viel  glücklicher  war, 
so  mußte  man  dies  den  persönlichen  Eigenschaften  des 
Mannes  zuschreiben,  dem  Zauber,  der  von  seiner  Erscheinung 
und  Stimme  ausging,  der  liebenswürdigen  Offenheit,  die  sein 
Benehmen  auszeichnete,  sobald  einmal  die  gegenseitigen  Be- 
ziehungen das  Stadium  der  ersten  Fremdheit  überwunden 
hatten,  der  Bereitwilligkeit,  mit  der  er  seinen  Schülern  alles 
zur  Verfügung  stellte,  und  der  Treue,  die  er  ihnen  durch 
das  Leben  hielt.  Die  Stunden,  die  er  auf  seinen  Kranken- 
zimmern verbrachte,  waren  Stunden  des  Beisammenseins  und 
des  Gedankenaustausches  mit  seinem  gesamten  ärztlichen 
Stab;  er  schloß  sich  da  niemals  ein;  der  jüngste  Externe 
hatte  Gelegenheit,  ihn  bei  der  Arbeit  zu  sehen  und  durfte 
ihn  in  dieser  Arbeit  stören,  und  dieselbe  Freiheit  genossen 
die  Fremden,  die  in  späteren  Jahren  niemals  bei  seiner 
Visite  fehlten.  Endlich,  wenn  am  Abend  Madame  Charcot 
ihr  gastliches  Haus  einer  auserlesenen  Gesellschaft  öffnete, 
unterstützt  von  einer  hochbegabten,  in  der  AhnUchkeit  de's 
Vaters  aufblühenden  Tochter,  so  standen  die  nie  fehlenden 
Schüler  und  ärztlichen  Gehilfen  ihres  Mannes  als  ein  Teil 
der  FamiHe  den  Gästen  gegenüber. 

Das  Jahr  1882  oder  83  brachte  die  endgiltige  Gestaltung 
in  Charcot's  Lebens-  und  Arbeitsbedingungen.  Man  war 
zur  Einsicht  gekommen,  daß  das  "Wirken  dieses  Mannes 
einen  Teil  des  Besitzstandes  der  nationalen  Gloire  bilde,  der 
nach  dem  unglücklichen  Kriege  von  1870/71  um  so  eifer- 
süchtiger behütet  wurde.  Die  Regierung,  an  deren  Spitze 
Charcot's  alter  Freund  Gambetta  stand,  schuf  für  ihn 
einen  Lehrstuhl  für  Neuropathologie  an  der  Fakultät,  für 
welchen  er  der  pathologischen  Anatomie  entsagen  konnte, 
und  eine  Klinik  samt  wissenschaftHchen  Nebeninstituten  in 
der  Salpetriere.  „Le  Service  de  M.  Charcot"  umfaßte  jetzt 
nebst  den  fi-üheren  mit  chronisch  Kranken  belegten  Räumen 


melirere  klinische  Zimmer,  in  welche  auch  Männer  Aufnahme 
landen,  eine  riesige  Ambulanz,  die  Consiütation  externe,  ein 
histologisches  Laboratoriimi,  ein  Museum,  eine  elektrothera- 
peutische,  Augen-  und  Ohrenabteilung  und  ein  eigenes  photo- 
graphisches Atelier,  als  ebenso  viel  Anlässe,  um  ehemalige 
Assistenten  und  Schüler  in  festen  Stellungen  dauernd  an  die 
Klinik  zu  binden.  Die  zwei  Stock  hohen,  verwittert  aussehen- 
den Gebäude  mit  den  Höfen,  die  sie  umschlossen,  erinnerten 
den  Fremden  auffällig  an  unser  Allgemeines  Krankenhaus, 
aber  die  ÄhnHchkeit  ging  wohl  nicht  weit  genug.  „Es  ist 
vielleicht  nicht  schön  hier",  sagte  Charcot,  wenn  er  dem 
Besucher  seinen  Besitz  zeigte,  „aber  man  findet  Platz  für 
alles,  was  man  machen  will." 

Charcot  stand  auf  der  Höhe  des  Lebens,  als  ihm  diese 
Fülle  von  Lein'-  und  Forschungsmitteln  zur  Verfügung  ge- 
stellt wurde.  Er  war  ein  unermüdhcher  Arbeiter,  ich  glaube, 
immer  noch  der  fleißigste  der  ganzen  Schule.  Eine  Privat- 
ordination,  zu  der  sich  die  Kranken  „aus  Samarkand  und  von 
den  Antillen"  drängten,  vermochte  es  nicht,  ihn  seiner  Lehr- 
tätigkeit oder  seinen  Forschungen  zu  entfremden.  Sicherlich 
wandte  sich  dieser  Zulauf  von  Menschen  nicht  allein  an  den 
berühmten  Forscher,  sondern  ebensosehr  an  den  großen  Arzt 
und  Menschenfreund,  der  immer  einen  Bescheid  zu  finden 
wußte  und  dort  ahnte  und  erriet,  wo  der  gegenwärtige  Zustand 
der  Wissenschaft  ihm  nicht  gestattete,  zu  wissen.  Man  hat 
ihm  vielfach  seine  Therapie  zum  Vorwurfe  gemacht,  die  durch 
ihren  Reichtum  an  Verschreibungen  ein  rationalistisches  Ge- 
wissen beleidigen  mußte.  Allein  er  setzte  einfach  die  örtlich 
und  zeitlich  gebräuchhchen  Methoden  fort,  ohne  sich  über 
deren  "Wirksamkeit  viel  zu  täuschen.  In  der  therapeutischen 
Erwartung  war  er  übrigens  nicht  pessimistisch  und  hat  früher 
und  später  die  Hand  dazu  geboten,  neue  Behandlungsmethoden 
an  seiner  Klinik  zu  versuchen,  deren  kurzlebiger  Erfolg  von 
anderer  Seite  her  seine  Aufklärung  fand.  Als  Lehrer  war 
Charcot  geradezu  fesselnd,  jeder  seiner  Vorträge  ein  kleines 
Kunstwerk  an  Aufbau  und  Gliederung,  formvollendet  und  in 
einer  Weise  eindringUch,  daß  man  den  ganzen  Tag  über  das 
gehörte  Wort  nicht   aus   seinem  Ohr  und   das   demonstrierte 


Objekt  nicht  aus  dem  Sinne  bringen  konnte.  Er  demonstrierte 
selten  einen  einzigen  Kranken,  meist  eine  Reihe  oder  Gregen- 
stücke,  die  er  mit  einander  verglich.  Der  Saal,  in  welchem  er 
seine  Vorlesungen  hielt,  war  mit  einem  Bilde  geschmückt, 
welches  den  „Bürger"  Pinel  darstellt,  wie  er  den  armen  Irr- 
sinnigen der  Salpetriöre  die  Fesseln  abnehmen  läßt ;  die  Sal- 
petriere,  die  während  der  Revolution  so  viel  Schrecken  gesehen, 
war  doch  auch  die  Stätte  dieser  humansten  aller  Umwälzungen 
gewesen.  Meister  Charcot  selbst  machte  bei  einer  solchen 
Vorlesung  einen  eigentümlichen  Eindruck;  er,  der  sonst  vor 
Lebhaftigkeit  und  Heiterkeit  übersprudelte,  auf  dessen  Lippen 
der  Witz  nicht  erstarb,  sah  dann  unter  seinem  Samtkäppchen 
ernst  und  feierlich,  ja  eigentlich  gealtert  aus,  seine  Stimme 
klang  uns  wie  gedämpft,  und  wir  konnten  etwa  verstehen,  wieso 
übelwollende  Fremde  dazu  kamen,  der  ganzen  Vorlesung  den  Vor- 
wm'f  des  Theatralischen  zu  machen.  Die  so  sprachen,  waren  wohl 
die  Formlosigkeit  des  deutschen  klinischen  Vortrags  gewöhnt 
oder  vergaßen  daran,  daß  Charcot  nur  eine  Vorlesung  in 
der  Woche  hielt,  die  er  also  sorgfältig  vorbereiten  konnte. 
Folgte  Charcot  mit  dieser  feierlichen  Vorlesung,  in  der 
alles  vorbereitet  war  und  alles  eintreffen  mußte,  währscheirdich 
einer  eingewurzelten  -Tradition,  so  empfand  er  doch  auch 
das  Bedürfnis,  seinen  Hörern  ein  minder  verkünsteltes  Bild 
seiner  Tätigkeit  zu  geben.  Dazu  diente  ihm  die  Ambulanz 
der  Klinik,  die  er  in  den  sogenannten  Le9ons  du  Mardi  per- 
sönlich erledigte.  Da  nahm  er  ihm  völlig  unbekannte  Fälle 
vor,  setzte  sich  allen  Wechselfällen  des  Examens,  allen  Irr- 
wegen einer  ersten  Untersuchung  aus,  warf  seine  Autorität 
von  sich,  um  gelegentlich  einzugestehen,  daß  dieser  Fall  keine 
Diagnose  zulasse,  daß  in  jenem  ihn  der  Anschein  getäuscht 
habe,  und  niemals  erschien  er  seinen  Hörern  größer,  als  nach- 
dem er  sich  so  bemüht  hatte,  durch  die  eingehendste  Rechen- 
schaft über  seine  Gedankengänge,  durch  die  größte  Offenheit 
in  seinen  Zweifeln  und  Bedenken  die  Kluft  zwischen  Lehrer 
und  Schülern  zu  verringern.  Die  Veröffentlichung  dieser  im- 
provisierten Vorträge  aus  den  Jahren  1887  und  1888  zu- 
nächst in  französischer,  gegenwärtig  auch  in  deutscher  Sprache, 
hat   auch  den  Kreis  seiner  Bewunderer  ins  Ungemessene  er- 


weitert,  und  niemals  hat  ein  neuropathologisches  Werk  einen 
ähnlichen  Erfolg  im  ärztlichen  Pubhkum  erzielt  wie  dieses. 
Ungefähr  gleichzeitig  mit  der  Errichtung  der  Klinik  und 
dem  Zurücktreten  der  pathologischen  Anatomie  vollzog  sich 
eine  Wandlung  in  Charcot's  wissenschaftlichen  Neigungen, 
der  wir  die  schönsten  seiner  Arbeiten  verdanken.  Er  erklärte 
nun,  die  Lehre  von  den  organischen  Nervenkrankheiten  sei 
vorderhand  ziemlich  abgeschlossen,  und  begann,  sein  Interesse 
fast  ausschließhch  der  Hysterie  zuzuwenden,  die  so  mit  einem 
Schlage  in  den  Brennpunkt  der  allgemeinen  Aufmerksamkeit 
gelangte.  Diese  rätselhafteste  aller  Nervenkrankheiten,  für 
deren  Bem'teilung  die  Ärzte  noch  keinen  tauglichen  G-esichts- 
punkt  gefunden  hatten,  war  gerade  damals  recht  in  Mißkredit 
geraten,  der  sich  sowohl  auf  die  Kranken  als  auf  die  Arzte 
erstreckte,  die  sich  mit  der  Neurose  beschäftigten.  Es  hieß, 
bei  der  Hysterie  ist  alles  möglich,  und  'den  Hysterischen  wollte 
man  gar  nichts  glauben.  Die  Arbeit  C  h  a r  c  o  t's  gab  dem  Thema 
zunächst  seine  Würde  wieder ;  man  gewöhnte  sich  allmählich 
das  höhnische  Lächehi  ab,  auf  das  die  Kranke  damals  sicher 
rechnen  konnte;  sie  mußte  nicht  mehr  eine  Simulantin  sein, 
da  Charcot  mit  seiner  vollen  Autorität  für  die  Echtheit  und 
Objektivität  der  hysterischen  Phänomene  eintrat.  Charcot 
hatte  im  kleinen  die  Tat  der  Befreiung  wiederholt,  wegen 
welcher  das  Bild  Pinel's  den  Hörsaal  der  Salpetriere  zierte. 
Nachdem  man  nun  der  blinden  Furcht  entsagt  hatte,  von  den 
armen  Kranken  genarrt  zu  werden,  welche  einer  ernsthaften 
Beschäftigung  mit  der  Neurose  bisher  im  Wege  gestanden 
war,  konnte  es  sich  fragen,  welche  Art  der  Bearbeitung  auf 
dem  kürzesten  Wege  zur  Lösung  des  Problems  führen  würde. 
Für  einen  ganz  unbefangenen  Beobachter  hätte  sich  folgende 
Anknüpfung  dargeboten :  Wenn  ich  einen  Menschen  in  einem 
Zustande  finde,  der  alle  Zeichen  eines  schmerzhaften  Affektes 
an  sich  trägt,  im  Weinen,  Schreien,  Toben,  so  liegt  mir  der 
Schluß  nahe,  einen  seelischen  Vorgang  in  diesem  Menschen 
zu  vermuten,  dessen  berechtigte  Äußerungen  jene  körper- 
hchen  Phänomene  sind.  Der  Gesunde  wäre  dann  imstande 
mitzuteilen,  welcher  Eindruck  ihn  peinigt,  der  Hysterische 
würde   antworten,   er  wisse  es  nicht,   und   das  Problem  wäre 


10 


sofort  gegeben,  woher  es  komme,  daß  der  Hysterische  einem 
Affekt  unterliegt,  von  dessen  Veranlassung  er  nichts  zu  wissen 
behauptet.  Hält  man  nun  an  seinem  Schlüsse  fest,  daß  ein 
entsprechender  psychischer  Vorgang  vorhanden  sein  müsse, 
und  schenkt  dabei  doch  der  Behauptung  des  Kranken  Glauben, 
der  denselben  verleugnet,  sammelt  man  die  vielfachen  Anzeichen, 
aus  denen  hervorgeht,  daß  der  Kranke  sich  so  benimmt,  als 
wüßte  er  doch  darum,  forscht  man  in  der  Lebensgeschichte 
des  Kranken  nach  und  findet  in  derselben  einen  Anlaß,  ein 
Trauma,  welches  geeignet  ist,  gerade  solche  Affektäußerungen 
zu  erzeugen,  so  drängt  dies  alles  zur  Lösung,  daß  der  Kranke 
sich  in  einem  besonderen  Seelenzustande  befinde,  in  dem  das 
Band  des  Zusammenhanges  nicht  mehr  alle  Eindrücke  oder 
Erinnerungen  an  solche  umschlinge,  in  dem  es  einer  Erinnerung 
möglich  sei,  ihren  Affekt  durch  körperliche  Phänomene  zu 
äußern,  ohne  daß  die  Gruppe  der  anderen  seeHschen  Vorgänge, 
das  Ich,  darum  wisse  oder  hindernd  eingreifen  könne;  und 
die  Erinnerung  an  die  allbekannte  psychologische  Verschieden- 
heit von  Schlaf  und  Wachen  hätte  das  Fremdartige  dieser 
Annahme  verringern  können.  Man  wende  nicht  ein,  daß  die 
Theorie  einer  Spaltung  des  Bewußtseins  als  Lösung  des  Eätsels 
der  Hysterie  viel  zu  ferne  Hegt,  als  daß  sie  sich  dem  unbe- 
fangenen und  ungeschulten  Beobachter  aufdrängen  könnte. 
Tatsächlich  hatte  das  Mittelalter  doch  diese  Lösung  gewählt, 
indem  es  die  Besessenheit  durch  einen  Dämon  für  die  Ursache 
der  hysterischen  Phänomene  erklärte ;  es  hätte  sich  nur  darum 
gehandelt,  für  die  reHgiöse  Terminologie  jener  dunkeln  und  aber- 
gläubischen Zeit  die  wissenschaftliche  der  Gegenwart  einzusetzen. 
Charcot  betrat  nicht  diesen  Weg  zur  Aufklärung  der 
Hysterie,  obwohl  er  aus  den  erhaltenen  Berichten  der  Hexen- 
prozesse und  der  Besessenheit  reichlich  schöpfte,  um  zu  er- 
weisen, daß  die  Erscheinungen  der  Neurose  damals  dieselben 
gewesen  seien  wie  heute.  Er  behandelte  die  Hysterie  wie  ein 
anderes  Thema  der  Neuropathologie,  gab  die  vollständige 
Beschreibung  ihrer  Erscheinungen,  wies  Gesetz  und  Regel  in 
denselben  nach,  lehrte  die  Symptome  kennen,  welche  eine 
Diagnose  der  Hysterie  ermöglichen.  Die  sorgfältigsten  Unter- 
suchungen, die  von  ihm  und  seinen  Schülern  ausgingen,  ver- 


11 


breiteten  sich  über  die  Sensibilitätsstörungen  der  Hysterie  an 
der  Haut  und  den  tiefen  Teilen,  das  Verhalten  der  Sinnes- 
organe, die  Eigentümlichkeiten  der  hysterischen  Kontrakturen 
und  Lähmungen,  der  trophischen  Störungen  und  der  Verän- 
derungen des  Stoffwechsels.  Die  mannigfachen  Formen  des 
hysterischen  Anfalles  wurden  beschrieben,  ein  Schema  auf- 
gestellt, welches  die  typische  Gestaltung  des  großen  hyste- 
rischen Anfalles  in  vier  Stadien  schilderte  und  die  Zurück- 
führung  der  gemeinhin  beobachteten  „kleinen"  AnfäUe  auf 
den  Typus  gestattete;  ebenso  die  Lage  und  Häufigkeit  der 
sogenannten  hysterogenen  Zonen,  deren  Beziehung  zu  den 
Anfällen  studiert  usw.  Mit  all  diesen  Kenntnissen  über  die 
Erscheinung  der  Hysterie  ausgestattet,  machte  man  nun  eine 
Reihe  überraschender  Entdeckungen;  man  fand  die  Hysterie 
beim  männhchen  Greschlechte  und  besonders  bei  den  Männern 
der  Arbeiterklasse  mit  einer  Häufigkeit,  die  man  nicht  ver- 
mutet hatte,  man  überzeugte  sich,  daß  gewisse  Zufälle,  die 
man  der  Alkohol-,  der  Blei-Litoxikation  zugeschrieben  hatte, 
der  Hysterie  angehörten,  man  war  imstande,  eine  ganze  Anzahl 
von  bisher  unverstanden  und  isoliert  dastehenden  Affektionen 
unter  die  Hysterie  zu  subsummieren  und  den  Anteil  der  Hysterie 
auszuscheiden,  wo  sich  die  Neurose  mit  anderen  Affektionen 
zu  komplexen  Bildern  vereinigt  hatte.  Am  weittragendsten 
waren  wolil  die  Forschungen  über  die  Nervenerkrankungen 
nach  schweren  Traumen,  die  „traumatischen  Neurosen",  deren 
Auffassung  jetzt  noch  in  Diskussion  steht,  und  bei  welchen 
Charcot  das  Recht   der  Hysterie   erfolgreich  vertreten  hat. 

Nachdem  die  letzten  Ausdehnungen  des  Begriffes  der 
Hysterie  so  häufig  zur  Verwerfung  ätiologischer  Diagnosen 
geführt  hatten,  ergab  sich  die  Notwendigkeit,  auf  die  Ätiologie 
der  Hysterie  einzugehen.  Charcot  stellte  eine  einfache  Formel 
für  diese  auf:  als  einzige  Ursache  hat  die  Heredität  zu  gelten, 
die  Hysterie  ist  demnach  eine  Form  der  Entartung,  ein  Mit- 
ghed  der  „famille  nevropathique";  aUe  anderen  ätiologischen 
Momente  spielen  die  RoUe  von  G-elegenheitsursachen,  von 
„agents  provocateurs". 

Der  Aufbau  dieses  großen  Gebäudes  fand  natürlich  nicht 
ohne  heftigen  Widerspruch  statt,  aUein  es  war  der  unfrucht- 


12 


bare  "Widerspruch  einer  alten  Generation,  die  ihre  Anschauungen 
nicht  verändert  wissen  wollte ;  die  Jüngeren  unter  den  Neuro- 
pathologen,  auch  Deutschlands,  nahmen  Charcot's  Lehren 
in  größerem  oder  geringerem  Ausmaße  an.  Charcot  selbst 
war  des  Sieges  seiner  Lehren  von  der  Hysterie  vollkonmien 
sicher;  woUte  man  ihm  einwenden,  daß  die  vier  Stadien  des 
Anfalles,  die  Hysterie  bei  Männern  etc.,  anderswo  als  in  Frank- 
reich nicht  zu  beobachten  seien,  so  wies  er  darauf  hin,  wie 
lange  er  diese  Dinge  selbst  übersehen  habe,  und  wiederholte, 
die  Hysterie  sei  allerorten  und  zu  allen  Zeiten  die  nämliche. 
Gegen  den  Vorwurf,  daß  die  Franzosen  eine  weit  nervösere 
Nation  seien  als  andere,  die  Hysterie  gleichsam  eine  nationale 
Unart,  war  er  sehr  empfindlich  und  konnte  sich  sehr  freuen, 
wenn  eine  Publikation  „über  einen  FaU  von  Reflexepilepsie" 
bei  einem  preußischen  Grenadier  ihm  auf  Distanz  die  Diagnose 
der  Hysterie  ermöglichte. 

An  einer  Stelle  seiner  Arbeit  ging  Charcot  noch  über 
das  Niveau  seiner  sonstigen  Behandlung  der  Hysterie  hinaus 
und  tat  einen  Schritt,  der  ihm  für  alle  Zeiten  auch  den  Ruhm 
des  ersten  Erklärers  der  Hysterie  sichert.  Mit  dem  Studium 
der  hysterischen  Lähmungen  beschäftigt,  die  nach  Traumen 
entstehen,  kam  er  auf  den  Einfall,  diese  Lähmungen,  die  er 
vorher  sorgfältig  von  den  organischen  differenziert  hatte, 
künsthch  zu  reproduzieren,  und  bediente  sich  hiezu  hysterischer 
Patienten,  die  er  durch  Hypnotisieren  in  den  Zustand  des 
Somnambulismus  versetzte.  Es  gelang  ihm  durch  lückenlose 
Schlußfolge  nachzuweisen,  daß  diese  Lähmungen  Erfolge  von 
Vorstellungen  seien,  die  in  Momenten  besonderer  Disposition 
das  Gehirn  des  Kranken  beherrscht  hatten.  Damit  war  zum 
ersten  Male  der  Mechanismus  eines  hysterischen  Phänomens 
aufgeklärt,  und  an  dieses  unvergleichlich  schöne  Stück  klini- 
scher Forschung  knüpfte  dann  sein  eigener  Schüler  P.  Jan  et, 
knüpften  Breuer  u.  a.  an,  um  eine  Theorie  der  Nem-ose  zu 
entwerfen,  welche  sich  mit  der  Auffassung  des  Mittelalters 
deckt,  nachdem  sie  den  „Dämon"  der  priesterlichen  Phantasie 
durch  eine  psychologische  Formel  ersetzt  hat. 

Charcot's  Beschäftigung  mit  den  hypnotischen  Phäno- 
menen  bei   Hysterischen   gereichte   diesem   bedeutungsvollen 


13 


Gebiet  von  bisher  vernachlässigten  und  verachteten  Tatsachen 
zur  größten  Förderung,  indem  das  Gewicht  seines  Namens 
dem  Zweifel  an  der  Realität  der  hypnotischen  Erscheinungen 
ein-  für  allemal  ein  Ende  machte.  Allein  der  rein  psycho- 
logische Gegenstand  vertrug  die  ausschließlich  nosographische 
Behandlung  nicht,  die  er  bei  der  Schule  der  SalpStriere  fand. 
Die  Beschränkung  des  Studiums  der  Hypnose  auf  die  Hyste- 
rischen, die  Unterscheidung  von  großem  und  kleinem  Hypno- 
tismus,  die  Aufstellung  dreier  Stadien  der  „großen  Hypnose" 
und  deren  Kennzeichnung  durch  somatische  Phänomene, 
dies  alles  unterlag  in  der  Schätzung  der  Zeitgenossen,  als 
Liebault's  Schüler  Bernheim  es  unternahm,  die  Lehre 
vom  Hypnotismus  auf  einer  umfassenderen  psychologischen 
Grundlage  aufzubauen  uud  die  Suggestion  zum  Kernpunkt 
der  Hypnose  zu  machen.  Nur  die  Gegner  des  Hypnotismus, 
die  sich  damit  zufrieden  geben,  ihren  Mangel  an  eigener  Er- 
fahrung dm'ch  Berufung  auf  eine  Autorität  zu  verdecken, 
halten  noch  an  den  Aufstellungen  Charcot's  fest  und  lieben  es, 
eine  aus  seinen  letzten  Jaliren  stammende  Äußerung  zu  verwerten, 
die  der  Hypnose  eine  jede  Bedeutung  als  Heilmittel  abspricht. 

Auch  an  den  ätiologischen  Theorien,  die  Charcot  in 
seiner  Lehre  von  der  „famille  nevropathique"  vertrat,  und  die 
er  zur  Grundlage  seiner  gesamten  Auffassung  der  Nerven- 
krankheiten gemacht  hatte,  wird  wohl  bald  zu  rütteln  und 
zu  korrigieren  sein.  Charcot  überschätzte  die  Heredität 
als  Ursache  so  sehr,  daß  kein  Raum  für  die  Erwerbung  von 
Nem-opathien  übrig  bheb,  er  wies  der  Syphilis  nur  einen  be- 
scheidenen Platz  unter  den  „agents  provocateurs"  an,  und 
er  trennte  weder  für  die  Ätiologie,  noch  sonst  hinreichend 
scharf  die  organischen  Nervenaffektionen  von  den  Neurosen. 
Es  ist  unausbleiblich,  daß  der  Fortschritt  unserer  Wissen- 
schaft, indem  er  unsere  Kenntnisse  vermehrt,  auch  manches 
von  dem  entwertet,  was  uns  Charcot  gelehrt  hat,  aber 
kein  Wechsel  der  Zeiten  oder  der  Meinungen  wird  den  Nach- 
ruhm des  Mannes  zu  schmälern  vermögen,  um  den  wir  jetzt 
—  in  Frankreich  und  anderwärts  —  alle  trauern. 

Wien,  im  August  1893. 


II. 
über  den  psychischen  Mechanismus  hyste- 
rischer Phänomene.^) 

Von  Dr.  Josef  Breuer  vind  Dr.  Sigm.  Freud  in  Wien. 
I. 

Angeregt  durch  eine  zufällige  Beobachtung,  forschen 
wir  seit  einer  Reihe  von  Jahren  bei  den  verschiedensten 
Formen  und  Symptomen  der  Hysterie  nach  der  Veranlassung, 
dem  Vorgange,  welcher  das  betreffende  Phänomen  zum  ersten 
Male,  oft  vor  vielen  Jahren,  hervorgerufen  hat.  In  der  großen 
Mehrzahl  der  Fälle  gelingt  es  nicht,  durch  das  einfache,  wenn 
auch  noch  so  eingehende  Krankenexamen,  diesen  Ausgangs- 
punkt klarzustellen,  teilweise,  weil  es  sich  oft  um  Erlebnisse 
handelt,  deren  Besprechung  den  Kranken  unangenehm  ist, 
hauptsächlich  aber,  weil  sie  sich  wirklich  nicht  daran  erinnern, 
den  ursächKchen  Zusammenhang  des  veranlassenden  Vorganges 
und  des  pathologischen  Phänomens  nicht  ahnen.  Meistens  ist 
es  nötig,  die  Kranken  zu  hypnotisieren  und  in  der  Hypnose 
die  Erinnerungen  jener  Zeit,  wo  das  Symptom  zum  ersten 
Male  auftrat,  wachzurufen ;  dann  gelingt  es,  jenen  Zusammen- 
hang aufs  deutlichste  und  überzeugendste  darzulegen. 

Diese  Methode  der  Untersuchung  hat  uns  in  einer  großen 
Zahl  von  Fällen  Resultate  ergeben,  die  in  theoretischer  wie 
in  praktischer  Hinsicht  wertvoll  erscheinen. 

In  theoretischer  Hinsicht,  weil  sie  uns  bewiesen 
haben,  daß  das  akzidentelle  Moment  weit  über  das  bekannte 
und  anerkannte  Maß  hinaus  bestimmend  ist  für  die  Pathologie 


1)  „Neurologisches  Centralblatt",  1893,  Nr.  1  u.  2.  (Auch  abgedruckt 
als  Einleitung  der  »Studien  über  Hysterie«,  1895,  in  welchen  J.  Breuer 
und  ich  die  hier  dargelegten  Anschauungen  weiter  ausgefürt  und  durch 
Krankengeschichten  erläutert  haben.) 


15 


der  Hysterie.  Daß  es  bei  „traumatisclier''  Hysterie  der 
Unfall  ist,  welcher  das  Syndrom  hervorgerufen  hat,  ist  ja 
selbstverständlich,  und  wenn  bei  hysterischen  Anfällen  aus 
den  Äußerungen  der  Kranken  zu  entnehmen  ist,  daß  sie  in 
jedem  Anfall  immer  wieder  denselben  Vorgang  halluzinieren, 
der  die  erste  Attake  hervorgerufen  hat,  so  liegt  auch  hier 
der  ursächHche  Zusammenhang  klar  zutage.  Dunkler  ist  der 
Sachverhalt  bei  den  anderen  Phänomenen. 

Unsere  Erfahrungen  haben  uns  aber  gezeigt,  daß  die 
verschiedensten  Symptome,  welche  für  spontane, 
sozusagen  idiopathische  Leistungen  derHysterie 
gelten,  in  ebenso  stringentem  Zusammenhang  mit 
dem  veranlassenden  Trauma  stehen,  wie  die  oben 
genannten,  in  dieser  Beziehung  durchsichtigen 
Phänomene.  Wir  haben  Neuralgien  wie  Anästhesien  der 
verschiedensten  Art  und  von  oft  jahrelanger  Dauer,  Kontrak- 
tm-en  und  Lähmungen,  hysterische  Anfälle  und  epüeptoide 
Konvulsionen,  die  alle  Beobachter  für  echte  Epilepsie  gehalten 
hatten,  Petit-mal  und  ticartige  Affectionen,  dauerndes  Er- 
brechen und  Anorexie  bis  zur  Nahrungsverweigerung,  die 
verschiedensten  Sehstörungen,  immer  wiederkehrende  Gesichts- 
halluzinationen u.  dgl.  m.  auf  solche  veranlassende  Momente 
zurückführen  können.  Das  Mißverhältnis  zwischen  dem  jahre- 
lang dauernden  hysterischen  Symptom  und  der  einmaHgen 
Veranlassung  ist  dasselbe,  wie  wir  es  bei  der  traumatischen 
Neurose  regelmäßig  zu  sehen  gewohnt  sind ;  ganz  häufig  sind 
es  Ereignisse  aus  der  Kinderzeit,  die  für  alle  folgenden  Jahre 
ein  mehr  oder  minder  schweres  Krankheitsphänomen  herge- 
stellt haben. 

Oft  ist  der  Zusammenhang  so  klar,  daß  es  vollständig  er- 
sichtHch  ist,  wieso  der  veranlassende  Vorfall  eben  dieses  und 
kein  anderes  Phänomen  erzeugt  hat.  Dieses  ist  dann  durch  die 
Veranlassung  in  vöUig  klarer  Weise  determiniert.  So,  um  das 
banalste  Beispiel  zu  nehmen,  wenn  ein  schmerzlicher  Affekt, 
der  während  des  Essens  entsteht,  aber  unterdrückt  wird,  dann 
Übelkeit  und  Erbrechen  erzeugt,  und  dieses  als  hysterisches  Er- 
brechen monatelang  andauert.  —  Ein  Mädchen,  das  in  qualvoller 
Angst  an  einem  Krankenbette  wacht,  verfällt  in  einen  Dämmer- 


16 


zustand  und  hat  eine  schreckliafte  Halluzination,  während  ihr 
■der  rechte  Arm,  über  der  Sessellehne  hängend,  einschläft ;  es 
entwickelt  sich  daraus  eine  Parese  dieses  Armes  mit  Kon- 
traktur und  Anästhesie.  Sie  will  beten  und  findet  keine  "Worte; 
endlich  gelingt  es  ihr,  ein  englisches  Kindergebet  zu  sprechen. 
Als  sich  später  eine  schwere,  höchst  komplizierte  Hysterie 
entwickelt,  spricht,  schreibt  und  versteht  sie  nur  enghsch, 
während  ihr  die  Muttersprache  durch  IVa  Jahre  unverständ- 
lich ist.  —  Ein  schwerkrankes  Kind  ist  endlich  eingeschlafen, 
die  Mutter  spannt  alle  "Willenskraft  an,  um  sich  ruhig  zu 
verhalten  und  es  nicht  zu  wecken;  gerade  infolge  dieses 
Vorsatzes  macht  sie  („hysterischer  Gegenwille!")  ein  schnalzen- 
des Geräusch  mit  der  Zunge.  Dieses  wiederholt  sich  später 
bei  einer  anderen  Gelegenheit,  wobei  sie  sich  gleichfalls  absolut 
ruhig  verhalten  will,  und  es  entwickelt  sich  daraus  ein  Tic, 
der  als  Zungenschnalzen  durch  viele  Jahre  jede  Aufregung 
begleitet.  —  Ein  hochintelligenter  Mann  assistiert,  während 
seinem  Bruder  das  ankylosierte  Hüftgelenk  in  der  Narkose 
gestreckt  wird.  Im  AugenbHck,  wo  das  Gelenk  krachend 
nachgibt,  empfindet  er  heftigen  Schmerz  im  eigenen  Hüft- 
gelenk, der  fast  em  Jahr  andauert  u.  dgl.  m. 

In  anderen  Fällen  ist  der  Zusammenhang  nicht  so  ein- 
fach; es  besteht  nur  eine  sozusagen  symbolische  Beziehung 
zwischen  der  Veranlassung  und  dem  pathologischen  Phänomen, 
wie  der  Gesunde  sie  wohl  auch  im  Traume  bildet:  wenn 
-etwa  zu  seelischem  Schmerze  sich  eine  Neuralgie  geseilt  oder 
Erbrechen  zu  dem  Affekt  moralischen  Ekels.  "Wir  haben  Bj-anke 
studiert,  welche  von  einer  solchen  SymboHsierung  den  aus- 
giebigsten Gebrauch  zu  machen  pflegten.  —  In  noch  anderen 
Fällen  ist  eine  derartige  Determination  zunächst  nicht  dem 
Verständnis  offen ;  hierher  gehören  gerade  die  typischen  hyste- 
Tischen  Symptome,  wie  Hemianästhesie  und  Gesichtsfeldein- 
engung, epileptiforme  Konvulsionen  u.  dgl.  Die  Darlegung 
unserer  Anschauungen  über  diese  Gruppe  müssen  wir  der  aus- 
führlicheren Besprechung  des  Gegenstandes  vorbehalten. 

Solche  Beobachtungen  scheinen  uns  die  pa- 
thogene  Analogie  der  gewöhnlichen  Hysterie  mit 
-der  traumatischen  Neurose  nachzuweisen  und  eine 


17 


Ausdehnung  des  Begriffes  der  „traumatischen 
Hysterie"  zu  rechtfertigen.  Bei  der  traumatischen  Neu- 
rose ist  ja  nicht  die  geringfügige  körperliche  Verletzung  die 
wirksame  Krankheitsursache,  sondern  der  Schreckaffekt,  das 
psychische  Trauma.  In  analoger  Weise  ergeben  sich  aus 
unseren  Nachforschungen  für  viele,  wenn  nicht  für  die  meisten 
hysterischen  Symptome  Anlässe,  die  man  als  psychische  Traumen 
bezeichnen  muß.  Als  solches  kann  jedes  Erlebnis  wirken, 
welches  die  peinlichen  Affekte  des  Schreckens,  der  Angst, 
der  Scham,  des  psychischen  Schmerzes  hervorruft,  und  es  hängt 
begreiflicherweise  von  der  Empfindlichkeit  des  betroffenen 
Menschen  (sowie  von  einer  später  zu  erwähnenden  Bedingung) 
ab,  ob  das  Erlebnis  als  Trauma  zur  Geltung  kommt.  Nicht 
selten  finden  sich  anstatt  des  einen  großen  Traumas  bei  der 
gewöhnlichen  Hysterie  mehrere  Partialtraumen,  gruppierte 
Anlässe,  die  erst  in  ihrer  Summierung  traumatische  "Wirkung 
äußern  konnten,  und  die  insofern  zusammengehören,  als  sie 
zum  Teil  Stücke  einer  Leidensgeschichte  bilden.  In  noch 
anderen  Fällen  sind  es  an  sich  scheinbar  gleichgültige  Umstände, 
die  durch  ihr  Zusammentreffen  mit  dem  eigentlich  wirksamen 
Ereignis  oder  mit  einem  Zeitpunkt  besonderer  Reizbarkeit 
eine  Dignität  als  Traumen  gewonnen  haben,  die  ihnen  sonst 
nicht  zuzumuten  wäre,  die  sie  aber  von  da  an  behalten. 

Aber  der  kausale  Zusammenhang  des  veranlassenden 
psychischen  Traumas  mit  dem  hysterischen  Phänomen  ist 
nicht  etwa  von  der  Art,  daß  das  Trauma  als  Agent  provocateur 
das  Symptom  auslösen  würde,  welches  dann,  selbständig  ge- 
worden, weiter  bestände.  Wir  müssen  vielmehr  behaupten, 
daß  das  psychische  Trauma,  respektive  die  Erinnerung  an 
dasselbe,  nach  Art  eines  Fremdkörpers  wirkt,  welcher  noch 
lange  Zeit  nach  seinem  Eindringen  als  gegenwärtig  wirkendes 
Agens  gelten  muß,  und  wir  sehen  den  Beweis  hiefür  in  einem 
höchst  merkwürdigen  Phänomen,  welches  zugleich  unseren 
Befunden  ein  bedeutendes  praktisches  Interesse  verschafft. 

Wir  fanden  nämlich,  anfangs  zu  unserer  größten  Über- 
raschung, daß  die  einzelnen  hysterischen  Symptome 
sogleich  und  ohne  Wiederkehr  verschwanden, 
wenn  es  gelungen  war,  dieErinnerungandenver- 

Freud,  Neuroaenlehre.  2 


18 


anlassenden  Vorgang  zu  voller  Helligkeit  zu  er- 
wecken, damit  auch  den  begleitenden  Affekt 
wachzurufen,  und  wenn  dann  der  Kranke  denVor- 
gang  in  möglichst  ausführlicher  Weise  schilderte 
und  demAffektWortegab.  Affektloses  Erinnern  ist  fast 
immer  völlig  wirkungslos ;  der  psychische  Prozeß,  der  ur- 
sprünghch  abgelaufen  war,  muß  so  lebhaft  als  möglich  wieder* 
holt,  in  statum  nascendi  gebracht  und  dann  „ausgesprochen" 
werden.  Dabei  treten,  wenn  es  sich  um  Reizerscheinungen 
handelt,  diese :  Krämpfe,  Neuralgien,  Halluzinationen  —  noch 
einmal  in  voller  Intensität  auf  und  schwinden  dann  für  immer. 
Funktionsausfälle,  Lähmungen  und  Anästhesien  schwinden 
ebenso,  natürlich  ohne  daß  ihre  momentane  Steigerung  deut- 
lich wäre.^) 

Der  Verdacht  liegt  nahe,  es  handle  sich  dabei  um  eine 
unbeabsichtigte  Suggestion;  der  Kranke  erwarte,  durch  die 
Prozedur  von  seinem  Leiden  befreit  zu  werden,  und  diese  Er- 
wartung, nicht  das  Aussprechen  selbst,  sei  der  wirkende  Faktor. 
Allein,  dem  ist  nicht  so;  die  erste  Beobachtung  dieser  Art, 
bei  welcher  ein  höchst  verwickelter  Fall  von  Hysterie  auf 
solche  "Weise  analysiert  und  die  gesondert  verursachten  Symp- 
tome auch  gesondert  behoben  wurden,  stammt  aus  dem 
Jahre  1881,  also  aus  „vorsuggestiver"  Zeit,  wurde  durch 
spontane  Autohypnosen  der  Kranken  ermöglicht  und  bereitete 
dem  Beobachter  die  größte  Überraschung. 

Li  Umkehrung  des  Satzes :  cessante  causa  cessat  effectus, 
dürfen  wir   wohl   aus    diesen   Beobachtungen   schließen:    der 

1)  Die  Möglichkeit  einer  solchen  Therapie  haben  Delboeuf  und 
Bin  et  klar  erkannt,  wie  die  beifolgenden  Zitate  zeigen:  Delboeuf,  Le 
magnetisme  animal,  Paris  1889:  „On  s'expliquerait  des  lors  comment  le  mag- 
netiseur  aide  ä  la  guerison.  II  remet  le  sujet  dans  l'etat  oü  le  mal  s'est 
manifeste  et  combat  par  la  parole  le  meme  mal,  mais  renaissant."  — 
Bin  et,  Les  alterations  de  la  personnaUte,  1892,  p.  243:  „  .  .  .  peutetre 
verra-t-on  qu'en  reportant  le  malade  par  un  artifice  mental,  au  moment 
meme  oü  le  Symptome  a  apparu  pour  la  premiere  fois,  on  rend  ce  malade 
plus  docüe  ä  une  Suggestion  curative."  —  In  dem  interessanten  Buche 
von  P.  Jan  et:  L'automatisme  psychologique,  Paris  1889,  findet  sich  die 
Beschreibung  einer  Heüung,  welche  bei  einem  hysterischen  Mädchen 
durch  Anwendung  eines  dem  unserigen  analogen  Verfahren  erzielt 
wurde. 


19 

veranlassende  Vorgang  wirke  in  irgend  einer  "Weise  noch 
nach  Jahren  fort,  nicht  indirekt  durch  Vermittkmg  einer  Kette 
von  kausalen  Zwischengliedern,  sondern  unmittelbar  als  aus- 
lösende Ursache,  wie  etwa  ein  im  wachen  Bewußtsein  er- 
innerter psychischer  Schmerz  noch  in  später  Zeit  die  Tränen- 
sekretion hervorruft:  der  Hysterische  leide  größten- 
teils an  Reminiszenzen.^) 

n. 

Es  erscheint  zunächst  wunderlich,  daß  längst  vergangene 
Erlebnisse  so  intensiv  wirken  sollen,  daß  die  Erinnerungen 
an  sie  nicht  der  Usur  unterliegen  sollen,  der  wir  doch  alle 
unsere  Erinnerungen  verfallen  sehen.  Vielleicht  gewinnen 
wir  durch  folgende  Erwägungen  einiges  Verständnis  für  diese 
Tatsachen. 

Das  Verblassen  oder  Affektloswerden  einer  Erinnerung 
hängt  von  mehreren  Faktoren  ab.  Vor  allem  ist  dafür  von 
"Wichtigkeit,  ob  auf  das  affizierende  Ereignis  ener- 
gisch reagiert  wurde  oder  nicht.  Wir  verstehen  hier 
unter  Reaktion  die  ganze  Reihe  willkürlicher  und  unwillkür- 
licher Reflexe,  in  denen  sich  erfahrungsgemäß  die  Affekte 
entladen:  vom  "Weinen  bis  zum  Racheakt.  Erfolgt  diese 
Reaktion  in  genügendem  Ausmaß,  so  schwindet  dadurch  ein 
großer  Teil  des  Affektes;  unsere  Sprache  bezeugt  diese  Tat- 
sache der  täglichen  Beobachtung  durch  die  Ausdrücke  „sich 
austoben,  ausweinen",  u.  dgl.  "Wird  die  Reaktion  unterdrückt, 
so  bleibt  der  Affekt  mit  der  Erinnerung  verbunden.  Eine 
Beleidigung,  die  vergolten  ist,  wenn  auch  nur  durch  "Worte, 
wird  anders  erinnert,  als  eine,  die  hingenommen  werden  mußte. 
Die  Sprache  anerkennt  auch  diesen  Unterschied  in  den  psy- 
chischen und  körperlichen  Polgen  und  bezeichnet  höchst 
charakt^istischerweise  eben  das  schweigend  erduldete  Leiden 

1)  Wir  können  im  Texte  dieser  vorläufigen  Mitteilung  nicht  sondern, 
was  am  Inhalte  derselben  neu  ist  und  was  sich  bei  anderen  Autoren, 
wie  Moebius  und  Strümpell,  findet,  die  ähnliche  Anschauungen  für 
die  Hysterie  vertreten  haben.  Die  größte  Annäherung  an  unsere  theore- 
tischen und  therapeutischen  Ausführungen  fanden  wir  in  einigen  gelegent- 
lich publizierten  Bemerkungen  Benedikt's,  mit  denen  wir  uns  an 
anderer  Stelle  beschäftigen  werden. 

2* 


20 


als  „Kränkung".  —  Die  Reaktion  des  Geschädigten  auf  das 
Trauma  hat  eigentlich  nur  dann  eine  völlig  „kathartische" 
"Wirkung,  wenn  sie  eine  adäquate  Reaktion  ist,  wie  die  Rache. 
Aber  in  der  Sprache  findet  der  Mensch  ein  Surrogat  für  die 
Tat,  mit  dessen  Hilfe  der  Affekt  nahezu  ebenso  „abreagiert" 
werden  kann.  In  anderen  Fällen  ist  das  Reden  eben  selbst 
der  adäquate  Reflex,  als  Klage  und  als  Aussprache  für  die 
Pein  eines  Geheimnisses  (Beichte!).  "Wenn  solche  Reaktion 
durch  Tat,  "Worte,  in  leichtesten  Fällen  durch  "Weinen  nicht 
erfolgt,  so  behält  die  Erinnerung  an  den  Vorfall  zunächst 
die  affektive  Betonung. 

Das  „Abreagieren"  ist  indes  nicht  die  einzige  Art  der 
Erledigung,  welche  dem  normalen  psychischen  Mechanismus 
des  Gesunden  zur  Verfügung  steht,  wenn  er  ein  psychisches 
Trauma  erfahren  hat.  Die  Erinnerung  daran  tritt,  auch  wenn 
sie  nicht  abreagiert  wurde,  in  den  großen  Komplex  der 
Assoziation  ein,  sie  rangiert  dann  neben  anderen,  vielleicht 
ihr  widersprechenden  Erlebnissen,  erleidet  eine  Korrektur 
durch  andere  Vorstellungen.  Nach  einem  Unfall  zum  Beispiel 
gesellt  sich  zu  der  Erinnerung  an  die  Gefahr  und  zu  der 
(abgeschwächten)  "Wiederholung  des  Schreckens  die  Erinnerung 
des  weiteren  Verlaufes,  der  Rettung,  das  Bewußtsein  der 
jetzigen  Sicherheit.  Die  Erinnerung  an  eine  Kränkung  wird 
korrigiert  durch  Richtigstellung  der  Tatsachen,  durch  Erwä- 
gungen der  eigenen  "Würde  u.  dgl.,  und  so  gelingt  es  dem 
normalen  Menschen,  durch  Leistungen  der  Assoziation  den 
begleitenden  Affekt  zum  Verschwinden  zu  bringen. 

Dazu  tritt  dann  jenes  allgemeine  Verwischen  der  Ein- 
drücke, jenes  Abblassen  der  Erinnerungen,  welches  wir  „ver- 
gessen" nennen  und  das  vor  allem  die  affektiv  nicht  mehr 
wirksamen  Vorstellungen  usuriert. 

Aus  unseren  Beobachtungen  geht  nun  hervor,  daß  jene 
Erinnerungen,  welche  zu  Veranlassungen  hysterischer  Phäno- 
mene geworden  sind,  sich  in  wunderbarer  Frische  und  mit 
ihrer  voUen  Affektbetonung  durch  lange  Zeit  erhalten  haben. 
"Wir  müssen  aber  als  eine  weitere  auffällige  und  späterhin 
verwertbare  Tatsache  erwähnen,  daß  die  Kranken  nicht  etwa 
über  diese  Erinnerungen  wie   über  andere  ihres  Lebens  ver- 


21 


fügen.  Ini  Gegenteile,  diese  Erlebnisse  fehlen  dem 
Gedächtnis  der  Kranken  in  ihrem  gewöhnlichen 
psychisch enZustande  völlig  oder  sind  nur  höchst 
summarisch  darin  vorhanden.  Erst  wenn  man  die 
KJranken  in  der  Hypnose  befragt,  stellen  sich  diese  Erinne- 
rungen mit  der  unverminderten  Lebhaftigkeit  frischer  Ge- 
schehnisse ein. 

So  reproduzierte  eine  unserer  Kj:anken  in  der  Hypnose 
ein  halbes  Jahr  hindurch  mit  halluzinatorischer  Lebhaftigkeit 
alles,  was  sie  an  denselben  Tagen  des  vorhergegangenen 
Jahres  (während  einer  akuten  Hysterie)  erregt  hatte;  ein  ihr 
unbekanntes  Tagebuch  der  Mutter  bezeugte  die  tadellose 
Richtigkeit  der  Reproduktion.  Eine  andere  Kranke  durchlebte 
teils  in  der  Hypnose,  teil  in  spontanen  Anfällen  mit  halluzi- 
natorischer Deutlichkeit  alle  Ereignisse  einer  vor  10  Jahren 
durchgemachten  hysterischen  Psychose,  für  welche  sie  bis 
zum  Momente  des  Wiederauftauchens  größtenteils  amnestisch 
gewesen  war.  Auch  einzelne  ätiologisch  wichtige  Erinnerungen 
von  15 — 25 jährigem  Bestände  erwiesen  sich  bei  ihr  von  er- 
staunlicher Litaktheit  und  sinnlicher  Stärke  und  wirkten  bei 
ihrer  Wiederkehr  mit  der  vollen  Affektkraft  neuer  Erlebnisse. 

Den  Grund  hierfür  können  wir  nur  darin  suchen,  daß 
diese  Erinnerungen  in  allen  oben  erörterten  Beziehungen  zur 
üsur  eine  Ausnahmsstellung  einnehmen.  Es  zeigt  sich 
nämlich,  daß  diese  Erinnerungen  Traumen  ent- 
sprechen, welche  nicht  genügend  „abreagiert" 
worden  sind,  und  bei  näherem  Eingehen  auf  die  Gründe, 
welche  dieses  verhindert  haben,  können  wir  mindestens  zwei 
Reihen  von  Bedingungen  auffinden,  unter  denen  die  Reaktion 
auf  das  Trauma  unterblieben  ist. 

Zur  ersten  Gruppe  rechnen  wir  jene  Fälle,  in  denen  die 
Kranken  auf  psychische  Traumen  nicht  reagiert  haben,  weil 
die  Natur  des  Traumas  eine  Reaktion  ausschloß,  wie  beim 
unersetzlich  erscheinenden  Verlust  einer  geliebten  Person, 
oder  weil  die  sozialen  Verhältnisse  eine  Reaktion  unmöghch 
machten,  oder  weil  es  sich  um  Dinge  handelte,  die  der  Beranke 
vergessen  wolte,  die  er  darum  absichtlich  aus  seinem  bewußten 
Denken  verdrängte,  hemmte  und  unterdrückte.  Gerade  solche 


22 


peinliche  Dinge  findet  man  dann  in  der  Hypnose  als  G-rund- 
lage  hysterischer  Phänomene  (hysterische  DeHrien  der  Heiligen 
und  Nonnen,  der  enthaltsamen  Frauen,  der  wohlerzogenen 
Kinder). 

Die  zweite  Reihe  von  Bedingungen  wird  nicht  durch 
den  Inhalt  der  Erinnerungen,  sondern  durch  die  psychischen 
Zustände  bestimmt,  mit  welchen  die  entsprechenden  Erlebnisse 
beim  Kranken  zusammengetrofi'en  haben.  Als  Veranlassung 
hysterischer  Symptome  findet  man  nämlich  in  der  Hypnose 
auch  Vorstellungen,  welche,  an  sich  nicht  bedeutungsvoll, 
ihre  Erhaltung  dem  Umstände  danken,  daß  sie  in  schweren 
lähmenden  Affekten,  wie  zum  Beispiel  Schreck,  entstanden 
sind,  oder  direkt  in  abnormen  psychischen  Zuständen  wie 
im  halbhypnotischen  Dämmerzustand  des  Wachträumens,  in 
Autohypnosen  u.  dgl.  Hier  ist  es  die  Natur  dieser  Zustände, 
welche  eine  Reaktion  auf  das  G-eschehnis  unmöglich  machte. 

Beiderlei  Bedingungen  können  natürlich  auch  zusammen- 
treffen und  treffen  in  der  Tat  oft  zusammen.  Dies  ist  der 
Fall,  wenn  ein  an  sich  wirksames  Trauma  in  einen  Zustand 
von  schwerem  lähmenden  Affekt  oder  von  verändertem  Be- 
wußtsein fällt;  es  scheint  aber  so  zuzugehen,  daß  durch  das 
psychische  Trauma  bei  vielen  Personen  einer  jener  abnormen 
Zustände  hervorgerufen  wird,  welcher  dann  seinerseits  die 
Reaktion  unmöglich  macht. 

Beiden  Gruppen  von  Bedingungen  ist  aber  gemeinsam, 
daß  die  nicht  durch  Reaktion  erledigten  psychischen  Traumen 
auch  der  Erledigung  durch  assoziative  Verarbeitung  entbehren 
müssen.  In  der  ersten  Gruppe  ist  es  der  Vorsatz  der  Kranken, 
welcher  an  die  peinlichen  Erlebnisse  vergessen  will  und  die- 
selben somit  möglichst  von  der  Assoziation  ausschließt.  In 
der  zweiten  Gruppe  gelingt  diese  assoziative  Verarbeitung 
darum  nicht,  weil  zwischen  dem  normalen  Bewußtseinszustand 
und  den  pathologischen,  in  denen  diese  Vorstellungen  ent- 
standen sind,  eine  ausgiebige  assoziative  Verknüpfung  nicht 
besteht.  Wir  werden  sofort  Anlaß  haben,  auf  diese  Verhält- 
nisse weiter  einzugehen. 

Man  darf  also  sagen,  daß  die  pathogen  ge- 
wordenen   Vorstellungen    sich    darum    so    frisch 


23 


und  affektkräftig  erhalten,  weil  ihnen  die  nor- 
male üsur  durch  Abreagieren  und  durch  Repro- 
duktion in  Zuständen  ungehemmter  Assoziation 
versagt  ist. 

ni. 

Als  -wir  die  Bedingungen  mitteilten,  welche  nach  unseren 
Erfahrungen  dafür  maßgebend  sind,  daß  sich  aus  psychischen 
Traumen  hysterische  Phänomene  entwickeln,  mußten  wir  be- 
reits von  abnormen  Zuständen  des  Bewußtseins  sprechen,  in 
denen  solche  pathogene  Vorstellungen  entstehen,  und  mußten 
die  Tatsache  hervorheben,  daß  die  Erinnerung  an  das  wirk- 
same psychische  Trauma  nicht  im  normalen  Gedächtnis  des 
Ej-anken,  sondern  im  Gedächtnis  des  Hypnotisierten  zu  finden 
ist.  Je  mehr  wir  uns  nun  mit  diesen  Phänomenen  beschäftigten, 
desto  sicherer  wurde  unsere  Überzeugung,  jene  Spaltung  des 
Bewußtseins,  die  bei  den  bekannten  klassischen 
Fällen  als  double  conscience  so  auffällig  ist,  be- 
stehe in  rudimentärer  "Weise  bei  jeder  Hysterie, 
die  Neigung  zu  dieser  Dissoziation  und  damit 
zum  Auftreten  abnormer  Bewußtseinszustände, 
die  wir  als  „hypnoide"  zusammenfassen  wollen, 
sei  das  Grundphänomen  dieser  Neurose.  "Wir  treffen 
in  dieser  Anschauung  mit  Bin  et  und  den  beiden  Janet 
zusammen,  über  deren  höchst  merkwürdige  Befunde  bei 
Anästhetischen  uns  übrigens  die  Erfahrung  mangelt. 

Wir  möchten  also  dem  oft  ausgesprochenen  Satz:  „Die 
Hypnose  ist  artefizielle  Hysterie"  einen  anderen  an  die  Seite 
stellen:  Grundlage  und  Bedingung  der  Hysterie  ist  die 
Existenz  von  hypnoiden  Zuständen.  Diese  hypnoiden  Zustände 
stimmen  bei  aUer  Verschiedenheit  unter  einander  und  mit  der 
Hypnose  in  dem  einen  Punkte  überein,  daß  die  in  ihnen  auf- 
tauchenden Vorstellungen  sehr  intensiv,  aber  von  dem  Asso- 
ziatiwerkehr  mit  dem  übrigen  Bewußtseinsinhalt  abgeperrt 
sind.  Unter  einander  sind  diese  hypnoiden  Zustände  assoziierbar 
und  deren  VorsteUungsinhalt  mag  auf  diesem  Wege  ver- 
schieden hohe  Grade  von  psychischer  Organisation  erreichen. 
Im  übrigen  dürfte  ja  die  Natur  dieser  Zustände  und  der 
Grad   ihrer  Abschließung  von   den   übrigen  Bewußtseinsvor- 


24 


gangen  in  ähnlicher  Weise  variieren,  wie  wir  es  bei  der 
Hypnose  sehen,  die  sich  von  leichter  Somnolenz  bis  zum 
Somnambulismus,  von  der  vollen  Erinnerung  bis  zur  absoluten 
Amnesie  erstreckt. 

Bestehen  solche  hypnoide  Zustände  schon  vor  der  mani- 
festen Erkrankung,  so  geben  sie  den  Boden  ab,  auf  welchem 
der  Affekt  die  pathogene  Erinnerung  mit  ihren  somatischen 
Folgeerscheinungen  ansiedelt.  Dies  Verhalten  entspricht  der 
disponierten  Hysterie.  Es  ergibt  sich  aber  aus  unseren  Be- 
obachtungen, daß  ein  schweres  Trauma  (wie  das  der  trau- 
matischen Neurose),  eine  mühevolle  Unterdrückung  (etwa  des 
Sexualaffektes)  auch  bei  dem  sonst  freien  Menschen  eine 
Abspaltung  von  Vorstellungsgruppen  bewerkstelligen  kann, 
und  dies  wäre  der  Mechanismus  der  psychisch  acquirierten 
Hysterie.  Zwischen  den  Extremen  dieser  beiden  Formen  muß 
man  eine  Reihe  gelten  lassen,  innerhalb  welcher  die  Leichtig- 
keit der  Dissoziation  bei  dem  betreffenden  Individuum  und 
die  Affektgröße  des  Traumas  in  entgegengesetztem  Sinne 
variieren. 

Wir  wissen  nichts  neues  darüber  zu  sagen,  worin  die 
disponierenden  hypnoiden  Zustände  begründet  sind.  Sie  ent- 
wickeln sich  oft,  sollten  wir  meinen,  aus  dem  auch  bei  Ge- 
sunden so  häufigen  „Tagträumen",  zu  dem  zum  Beispiel  die 
weiblichen  Handarbeiten  so  viel  Anlaß  bieten.  Die  Frage^ 
weshalb  die  „pathologischen  Assoziationen",  die  sich  in 
solchen  Zuständen  bilden,  so  feste  sind  und  die  somatischen 
Vorgänge  so  viel  stärker  beeinflussen,  als  wir  es  sonst  von 
Vorstellungen  gewohnt  sind,  fällt  zusammen  mit  dem  Problem 
der  Wirksamkeit  hypnotischer  Suggestionen  überhaupt.  Unsere 
Erfahrungen  bringen  hierüber  nichts  neues,  sie  beleuchten 
dagegen  den  Widerspruch  zwischen  dem  Satz:  „Hysterie  ist 
eine  Psychose",  und  der  Tatsache,  daß  man  unter  den  Hyste- 
rischen die  geistig  klarsten,  willensstärksten,  charaktervollsten 
und  kritischesten  Menschen  finden  kann.  In  diesen  Fällen  ist 
solche  Charakteristik  richtig  für  das  wache  Denken  des 
Menschen,  in  seinen  hypnoiden  Zuständen  ist  er  alieniert, 
wie  wir  es  alle  im  Traum  sind.  Aber  während  unsere  Traum- 
psychosen unseren  Waclizustand  nicht  beeinflussen,  ragen  die 


25 


Produkte  der  hypnoiden  Zustände  als  hysterische  Phänomene 
ins  wache  Leben  hinein. 

IV. 

Fast  die  nämlichen  Behauptungen,  die  wir  für  die  hyste- 
rischen Dauersymptome  aufgestellt  haben,  können  wir  auch 
für  die  hysterischen  Anfälle  wiederholen.  Wir  besitzen,  wie 
bekannt,  eine  von  Charcot  gegebene  schematische  Be- 
schreibung des  „großen"  hysterischen  Anfalles,  welcher  zu- 
folge ein  vollständiger  Anfall  vier  Phasen  erkennen  läßt, 
1.  die  epileptoide,  2.  die  der  großen  Bewegungen,  3.  die  der 
attitudes  passionnelles  (die  halluzinatorische  Phase),  4.  die 
des  abschließenden  Deliriums.  Aus  der  Verkürzung  und  Ver- 
längerung, dem  Ausfall  und  der  Isolierung  der  einzelnen 
Phasen  läßt  Charcot  aUe  jene  Formen  des  hysterischen 
Anfalles  hervorgehen,  die  man  tatsächlich  häufiger  als  die 
vollständige  Grande  attaque  beobachtet. 

Unser  Erklärungsversuch  knüpft  an  die  dritte  Phase,  die 
der  attitudes  passionelles  an.  Wo  dieselbe  ausgeprägt  ist, 
hegt  in  ihr  die  halluzinatorische  Reproduktion  einer  Erinnerung 
bloß,  welche  für  den  Ausbruch  der  Hysterie  bedeutsam  war, 
die  Erinnerung  an  das  eine  große  Trauma  der  xaT's^oxrjV  so- 
genannten traumatischen  Hysterie  oder  an  eine  Reihe  von 
zusammengehörigen  Partialtraumen,  wie  sie  der  gemeinen 
Hysterie  zugrunde  liegen.  Oder  endlich  der  Anfall  bringt 
jene  Geschehnisse  wieder,  welche  durch  ihr  Zusammentreffen 
mit  einem  Moment  besonderer  Disposition  zu  Traumen  erhoben 
worden  sind. 

Es  gibt  aber  auch  Anfälle,  die  anscheinend  nur  aus 
motorischen  Phänomenen  bestehen,  denen  eine  phase  passioneile 
fehlt.  Gelingt  es  bei  einem  solchen  Anfall  von  allgemeinen 
Zuckungen,  kataleptischer  Starre  oder  bei  einer  attaque  de 
sommeü  sich  während  desselben  in  Rapport  mit  dem  Kranken 
zu  setzen,  oder  noch  besser,  gelingt  es,  den  Anfall  in  der 
Hypnose  hervorzurufen,  so  findet  man,  daß  auch  hier  die 
Erinnerung  an  das  psychische  Trauma  oder  an  eine  Reihe 
von  Traumen  zugrunde  Hegt,  die  sich  sonst  in  einer  hallu- 
zinatorischen Phase  auffällig  macht.  Ein  kleines  Mädchen 
leidet    seit   Jahren   an  Anfällen   von  allgemeinen   Krämpfen, 


26 


die  man  für  epileptische  halten  könnte  und  auch  gehalten  hat. 
Sie  wird  zum  Zwecke  der  Differentialdiagnose  hypnotisiert 
und  verfällt  sofort  in  ihren  Anfall.  Befragt:  Was  siehst  Du 
denn  jetzt?  antwortet  sie  aber:  Der  Hund,  der  Hund  kommt! 
Und  wirklich  ergibt  sich,  daß  der  erste  Anfall  dieser  Art 
nach  einer  Verfolgung  durch  einen  wilden  Hund  aufgetreten 
war.  Der  Erfolg  der  Therapie  vervollständigt  dann  die  diag- 
nostische Entscheidung. 

Ein  Angestellter,  der  infolge  einer  Mißhandlung  von 
Seiten  seines  Chefs  hysterisch  geworden  ist,  leidet  an  Anfällen, 
in  denen  er  zusammenstürzt,  tobt  und  wütet,  ohne  ein  "Wort 
zu  sprechen  oder  eine  Halluzination  zu  verraten.  Der  An- 
fall läßt  sich  in  der  Hypnose  provozieren  und  der  Kranke 
gibt  nun  an,  daß  er  die  Szene  wieder  durclilebt,  wie  der 
Herr  ihn  auf  der  Straße  beschimpft  und  mit  einem  Stock 
schlägt.  "Wenige  Tage  später  kommt  er  mit  der  Klage  wieder, 
er  habe  denselben  Anfall  von  neuem  gehabt,  und  diesmal 
ergibt  sich  in  der  Hypnose,  daß  er  die  Szene  durchlebt  hat, 
an  die  sich  eigentlich  der  Ausbruch  der  Krankheit  knüpfte, 
die  Szene  im  G-erichtssaal,  als  es  ihm  nicht  gelang,  Satisfak- 
tion für  die  Mißhandlung  zu  erreichen  usw. 

Die  Erinnerungen,  welche  in  den  hysterischen  Anfällen 
hervortreten  oder  in  ihnen  geweckt  werden  können,  entsprechen 
auch  in  allen  anderen  Stücken  den  Anlässen,  welche  sich  uns 
als  Gründe  hysterischer  Dauersymptome  ergeben  haben.  Wie 
diese,  betreffen  sie  psychische  Traumen,  die  sich  der  Erledigung 
durch  Abreagieren  oder  durch  assoziative  Denkarbeit  entzogen 
haben;  wie  diese,  fehlen  sie  gänzlich  oder  mit  ihren  wesent- 
lichen Bestandteilen  dem  Erinnerungsvermögen  des  normalen 
Bewußtseins  und  zeigen  sich  als  zugehörig  zu  dem  Vorstellungs- 
inhalt hypnoider  Bewußtseinszustände  mit  eingeschränkter 
Assoziation.  Endlich  gestatten  sie  auch  die  therapeutische 
Probe.  Unsere  Beobachtungen  haben  uns  oftmals  gelehrt, 
daß  eine  solche  Erinnerung,  die  bis  dahin  Anfälle  provoziert 
hatte,  dazu  unfähig  wird,  wenn  man  sie  in  der  Hypnose  zur 
Reaktion  und  assoziativen  Korrektur  bringt. 

Die  motorischen  Phänomene  des  hysterischen  Anfalles 
lassen  sich  zum  Teil  als  allgemeine  Reaktionsformen  des  die 


27 

Erinnerung  begleitenden  Affektes,  wie  das  Zappeln  mit 
allen  Gliedern,  dessen  sich  bereits  der  Säugling  bedient,  zum 
Teil  als  direkte  Ausdrucksbewegungen  dieser  Erinnerung 
deuten,  zum  anderen  Teü  entziehen  sie  sich  ebenso  wie 
die  hysterischen  Stigmata  bei  den  Dauersymptomen  dieser 
Erklärung. 

Eine  besondere  Würdigung  des  hysterischen  Anfalles 
ergibt  sich  noch,  wenn  man  auf  die  vorhin  angedeutete  Theorie 
Rücksicht  nimmt,  daß  bei  der  Hysterie  in  hypnoiden  Zuständen 
entstandene  Vorstellungsgruppen  vorhanden  sind,  die,  vom 
assoziativen  Verkehr  mit  den  übrigen  ausgeschlossen,  aber 
unter  einander  assoziierbar,  ein  mehr  oder  minder  hoch 
organisiertes  Rudiment  eines  zweiten  Bewußtseins,  einer  con- 
dition  seconde  darstellen.  Dann  entspricht  ein  hysterisches 
Dauersymptom  einem  Hineinragen  dieses  zweiten  Zustandes 
in  die  sonst  vom  normalen  Bewußtsein  beherrschte  Körper- 
innervati on;  ein  hysterischer  Anfall  zeugt  aber  von  einer 
höheren  Organisation  dieses  zweiten  Zustandes  und  bedeutet, 
wenn  er  frisch  entstanden  ist,  einen  Moment,  in  dem  sich 
dieses  Hypnoidbewußtsein  der  gesamten  Existenz  bemächtigt  hat, 
also  einer  akuten  Hysterie ;  wenn  es  aber  ein  wiederkehrender 
Anfall  ist,  der  eine  Erinnerung  enthält,  einer  "Wiederkehr 
eines  solchen.  Charcot  hat  bereits  den  Gedanken  aus- 
gesprochen, daß  der  hysterische  Anfall  das  Rudiment  einer 
condition  seconde  sein  dürfte.  Während  des  Anfalles  ist  die 
Herrschaft  über  die  gesamte  Körperinnervation  auf  das  hyp- 
noide  Bewußtsein  übergegangen.  Das  normale  Bewußtsein 
ist,  wie  bekannte  Erfahrungen  zeigen,  dabei  nicht  immer 
völlig  verdrängt,  es  kann  selbst  die  motorischen  Phänomene 
des  Anfalles  wahrnehmen,  während  die  psychischen  Vorgänge 
desselben  seiner  Kenntnisnahme  entgehen. 

Der  typische  Verlauf  einer  schweren  Hysterie  ist  be- 
kanntlich der,  daß  zunächst  in  hypnoiden  Zuständen  ein  Ver- 
stellungsinhalt gebüdet  wird,  der  dann,  genügend  angewachsen, 
sich  während  einer  Zeit  von  „akuter  Hysterie"  der  Körper- 
innervation und  der  Existenz  des  Kranken  bemächtigt,  Dauer- 
symptome und  Anfälle  schafft  und  dann  bis  auf  Reste  abheilt. 
Kann  die  normale  Person  die  Herrschaft  wieder  übernehmen. 


28 


so  kehrt  das,  was  von  jenem  hypnoiden  Vorstellungsinhalt 
überlebt  hat,  in  hysterischen  Anfällen  wieder  und  bringt  die 
Person  zeitweise  wieder  in  ähnliche  Zustände,  die  selbst 
wieder  beeinflußbar  und  für  Traumen  aufnahmsfähig  sind. 
Es  stellt  sich  dann  häufig  eine  Art  von  Gleichgewicht  zwischen 
den  psychischen  Gruppen  her,  die  in  derselben  Person  ver- 
einigt sind ;  Anfall  und  normales  Leben  gehen  neben  einander 
her,  ohne  einander  zu  beeinflussen.  Der  Anfall  kommt  dann 
spontan,  wie  auch  bei  uns  die  Erinnerungen  zu  kommen 
pflegen,  er  kann  aber  auch  provoziert  werden,  wie  jede  Er- 
innerung nach  den  Gesetzen  der  Assoziation  zu  erwecken 
ist.  Die  Provokation  des  Anfalles  erfolgt  entweder  durch  die 
Reizung  einer  hysterogenen  Zone  oder  durch  ein  neues  Er- 
lebnis, welches  durch  Ähnlichkeit  an  das  pathogene  Erlebnis 
ankhngt.  Wir  hoffen  zeigen  zu  können,  daß  zwischen  beiden 
anscheinend  so  verschiedenen  Bedingungen  ein  wesentHcher 
Unterschied  nicht  besteht,  daß  in  beiden  Fällen  an  eine  hyper- 
ästhetische Erinnerung  gerührt  wird.  In  anderen  Fällen  ist 
dieses  Gleichgewicht  ein  sehr  labiles,  der  Anfall  erscheint 
als  Äußerung  des  hypnoiden  Bewußtseinsrestes,  so  oft  die 
normale  Person  erschöpft  und  leistungsunfähig  wird.  Es  ist 
nicht  von  der  Hand  zu  weisen,  daß  in  solchen  Fällen  auch 
der  Anfall  seiner  ursprüngHchen  Bedeutung  entkleidet  als 
inhaltslose  motorische  Reaktion  wiederkehren  mag. 

Es  bleibt  eine  Aufgabe  weiterer  Untersuchung,  welche 
Bedingungen  dafür  maßgebend  sind,  ob  eine  hysterische  In- 
dividuahtät  sich  in  Anfällen,  in  Dauersymptomen  oder  in 
einem  Gemenge  von  beiden  äußert. 

V. 

Es  ist  nun  verständlich,  wieso  die  hier  von  uns  dar- 
gelegte Methode  der  Psychotherapie  heilend  wirkt.  Sie  hebt 
die  Wirksamkeit  der  ursprünglich  nicht  abrea- 
gierten Vor  Stellung  dadurch  auf,  daß  sie  dem  ein- 
geklemmten Affekte  derselben  den  Ablauf  durch 
die  Rede  gestattet,  und  bringt  sie  zur  assozia- 
tiven Korrektur,  indem  sie  dieselbe  ins  normale 
Bewußtseinzieht  (inleichterHypnose)  oder  durch 


29 


ärztliche  Suggestion  aufhebt,  wie  es  im  Somnam- 
bulismus mit  Amnesie  geschieht. 

Wir  halten  den  therapeutischen  Gewinn  bei  Anwendung 
dieses  Verfahrens  für  einen  bedeutenden.  Natürlich  heüen 
wir  nicht  die  Hysterie,  soweit  sie  Disposition  ist,  wir  leisten 
ja  nichts  gegen  die  Wiederkehr  hypnoider  Zustände.  Auch 
während  des  produktiven  Stadiums  einer  akuten  Hysterie  kann 
unser  Verfahi-en  nicht  verhüten,  daß  die  mühsam  beseitigten 
Phänomene  alsbald  durch  neue  ersetzt  werden.  Ist  aber  dieses 
akute  Stadium  abgelaufen  und  erübrigen  noch  die  Reste  des- 
selben als  hysterische  Dauersymptome  und  Anfälle,  so  beseitigt 
unsere  Methode  dieselben  häufig  und  für  immer,  weil  radikal, 
und  scheint  uns  hierin  die  Wirksamkeit  der  direkten  sugges- 
tiven Aufhebung,  wie  sie  jetzt  von  den  Psychotherapeuten 
geübt  wird,  weit  zu  übertreffen. 

Wenn  wir  in  der  Aufdeckung  des  psychischen  Mecha- 
nismus hysterischer  Phänomene  einen  Schritt  weiter  auf  der 
Bahn  gemacht  haben,  die  zuerst  Charcot  so  erfolgreich 
mit  der  Erklärung  und  experimentellen  Nachahmung  hystero- 
traumatischer  Lähmungen  betreten  hat,  so  verhehlen  wir  uns 
doch  nicht,  daß  damit  eben  nur  der  Mechanismus  hysterischer 
Symptome  und  nicht  die  inneren  Ursachen  der  Hysterie 
unserer  Kenntnis  näher  gerückt  worden  sind.  Wir  haben  die 
Ätiologie  der  Hysterie  nur  gestreift  und  eigentlich  nur  die 
Ursachen  der  acquirierten  Formen,  die  Bedeutung  des  acciden- 
tellen  Momentes  flir  die  Neurose  beleuchten  können. 

Wien,  Dezember  1892. 


III. 

Quelques   considerations   pour   une    etude 

comparative    des    paralysies   motrices    or- 

ganiques  et  hysteriques.O 

M.  Charcot,  dont  j'ai  ete  l'eleve  en  1885  et  1886,  a  bien 
voulu,  ä  cette  epoque,  me  confier  le  soin  de  faire  une  etude 
comparative  des  paralysies  motrices  organiques  et  hysteriques, 
basee  sur  les  observations  de  la  Salpetri^re,  qui  pourrait  ser- 
vir  ä  saisir  quelques  caract^res  generaux  de  la  nevrose  et  con- 
duire  ä  une  conception  sur  la  nature  de  cette  derniere.  Des 
causes  accidentelles  et  personneUes  m'ont  empeche  pendant 
longtemps  d'obeir  a  son  Inspiration ;  aussi  je  ne  veux  apporter 
maintenant  que  quelques  resultats  de  mes  reclierclies,  lais- 
sant  ä  cöte  les  details  necessaires  pour  une  demonstration  com- 
plete  de  mes  opinions, 

I,  —  n  faudra  commencer  par  quelques  remarques  sur 
les  paralysies  motrices  organiques,  d'ailleurs  generalement 
admises.  La  clinique  nerveuse  reconnait  deux  sortes  de  para- 
lysies motrices,  la  paralysie  periphero-spinale  (ou  bulbaire)  et 
la  paralysie  cerebrale.  Cette  distinction  est  parfaitement  en 
accord  avec  les  donnees  de  l'anatomie  du  Systeme  nerveux 
qui  nous  montrent  qu'il  n'y  a  que  deux  Segments  sur  le  par- 
cours  des  fibres  motrices  conductrices,  le  premier  qui  va  de  la 
Peripherie  jusqu'aux  cellules  des  cornes  anterieures  dans  la 
moelle,  et  le  second  qui  va  de  lä  jusqu'ä  l'ecorce  cerebrale. 
La  nouvelle  bistologie  du  Systeme  nerveux,  fondee  sur  les 
travaux  de  Golgi,  Ramon  y  Cajal,  Kölliker,  etc.,  traduit  ce 
fait  par  les  mots:  „le  trajet  des  fibres  de  conduction  motrices 
est  constitue  par  deux  neuron  (unites  nerveuses  cellulo-fibrillaires), 

1)  Archives  de  Neurologie,  No.  77,  1893. 


31 


qiü  se  rencontrent  poiir  entrer  en  relation  au  niveau  des  cellules 
dites  motrices  des  cornes  anterieures".  La  difference  essentielle 
de  ces  deux  sortes  de  paralysies,  en  clinique,  est  la  suivante :  La 
paralysie  periphero-spinale  est  une  paralysie  detaillee,  la  paralysie 
cerebrale  est  une  paralysie  en  masse.  Le  type  de  la  premiere 
est  la  paralysie  faciale  dans  la  maladie  de  Bell,  la  paralysie 
dans  la  poliomyelite  aigue  de  l'enfance,  etc.  Or,  dans  ces 
affections,  chacque  muscle,  on  pourrait  dire  chaque  fibre  mus- 
culaire,  peut  etre  paralysee  individuellement  et  isolement.  Cela 
ne  depend  que  du  siege  et  de  l'etendue  de  la  lesion  nerveuse, 
et  il  n'y  a  pas  de  regle  fixe  pour  que  Fun  des  elements  peri- 
pheriques  echappe  a  la  paralysie,  tandis  que  l'autre  en  souffre 
d'une  maniere  constante. 

La  paralysie  cerebrale,  au  contraire,  est  toujours  une 
affection  qui  attaque  une  grande  partie  de  la  peripherie,  une 
extremite,  un  segment  de  celle-ci,  un  appareil  raoteur  compliqu6. 
Jamais  eile  n'affecte  un  muscle  individuellement,  par  exemple 
le  biceps  du  bras,  le  tibial  isolement,  etc.,  et  s'il  y  a  des  excep- 
tions  apparentes  ä  cette  regle  (le  ptosis  cortical,  par  exemple), 
on  voit  bien  qu'il  s'agit  de  muscles  qui,  ä  eux  seuls,  remplissent 
une  fonction  de  laquelle  ils  sont  l'instrument  unique. 

Dans  les  paralysies  cerebrales  des  extremites,  on  peut 
remarquer  que  les  segments  peripheriques  souffrent  toujours 
plus  que  les  segments  rapproches  du  centre;  la  main,  par 
exemple,  est  plus  paralysee  que  l'epaule.  II  n'y  a  pas,  que  je 
Sache,  une  paralysie  cerebrale  isolee  de  l'epaule,  la  main 
conservant  sa  motilite,  tandis  que  le  contraire  est  la  regle 
dans  les  paralysies  qui  ne  sont  pas  completes. 

Dans  une  etude  critique  sur  l'aphasie,  publiee  en  1891, 
Zur  Auffassung  der  Aphasien,  Wien,  1891,  j'ai  täcbe  de  montrer 
que  la  cause  de  cette  difference  importante  entre  la  paralysie 
periphero-spinale  et  la  paralysie  cerebrale  doit  etre  cherchee 
dans  la  structure  du  Systeme  nerveux.  Chaque  element  de  la 
Peripherie  correspond  ä  un  element  dans  l'axe  gris,  qui  est, 
comme  le  dit  M.  Charcot,  son  aboutissant  nerveux;  la  peri- 
pherie est  pour  ainsi  dire  projetee  sur  la  substance  grise  de 
la  moelle,  point  pour  point,  element  pour  element.  J'ai  propose 
de  denommer  la  paralysie  detaillee  periphero-spinale,  paralysie 


32 


de  prqjection.  Mais  il  n'en  est  pas  de  meme  pour  les  relations 
entre  les  elements  de  la  moelle  et  ceux  de  l'ecorce.  Le  nombre 
des  fibres  conductrices  ne  suffirait  plus  pour  donner  une 
seconde  projection  de  la  peripberie  sur  l'ecorce.  II  faut  sup- 
poser  que  les  fibres  qui  vont  de  la  moelle  ä  l'ecorce  ne  repre- 
sentent  plus  cbacune  un  seul  element  peripberique,  mais  plu- 
töt  un  groupe  de  ceux-ci  et  que  meme,  d'autre  part,  un 
element  peripberique  peut  correspondre  a  plusieurs  fibres  con- 
ductrices spino-corticales.  C'est  qu'il  y  a  un  cbangement 
d'arrangement  qui  a  eu  Heu  au  point  de  connexion  entre  les 
deux  Segments  du  Systeme  moteur. 

Alors,  je  dis  la  reproduction  de  la  peripberie  dans 
l'ecorce  n'est  plus  une  reproduction  fidele  point  par  point, 
n'est  plus  une  projection  veritable;  c'est  une  relation  par 
des  fibres,  pour  ainsi  dire  representatives  et  je  propose, 
pour  la  paralysie  cerebrale,  le  nom  de  paralysie  de  representation. 

Naturellement,  quand  la  paralysie  de  projection  est 
totale  et  d'une  grande  etendue,  eile  est  aussi  une  paralysie 
en  masse,  et  son  grand  caractere  distinctif  est  efface.  D'autre 
part,  la  paralysie  corticale,  qui  se  distingue  parmi  les  para- 
lysies  cerebrales  par  sa  plus  grande  aptitude  ä  la  dissocia- 
tion,  presente  cependant  toujours  le  caractere  d'une  paralysie 
par  representation. 

Les  autres  differences  entre  les  paralysies  de  projection 
et  de  representation  sont  bien  connues;  je  cite  parmi  elles 
l'integrite  de  la  nutrition  et  de  la  reaction  electrique  qui  se 
rattacbe  ä  la  demiere.  Bien  que  tr^s  importants  dans  la 
clinique,  ces  signes  n'ont  pas  la  portee  tbeorique  qu'il  faut 
attribuer  au  premier  caractere  differentiel  que  nous  avons 
releve,  ä  savoir:  paralysie  detaiUee  ou  en  masse. 

On  a  assez  souvent  attribue  ä  l'bysterie  la  faculte  de 
simuler  les  affections  nerveuses  organiques  les  plus  diverses. 
II  s'agit  de  savoir  si  d'une  facon  plus  precise  eile  simule  les 
caracteres  des  deux  sortes  de  paralysies  organiques,  s'il  j  a 
des  paralysies  bysteriques  de  projection  et  des  paralysies 
bysteriques  de  representation,  comme  dans  la  Symptomatologie 
organique.  Ici,  un  premier  fait  important  se  detacbe :  l'bysterie 
ne  simule  jamais  les  paralysies  peripbero-spinales  ou  de  pro- 


33 


jection;  les  paralysies  hysteriques  partagent  seulement  les 
caracteres  des  paralysies  organiques  de  representation.  C'est 
lä  Uli  fait  bien  interessant,  puisque  la  paralysie  de  Bell,  la 
paralysie  radiale,  etc.,  sont  parmi  les  affections  les  plus  com- 
munes  du  Systeme  nerveux. 

H  est  bon  de  faire  observer  ici,  de  maniere  ä  eviter 
toute  confusion,  quejene  traite  que  de  la  paralysie  hysterique 
flasque  et  non  de  la  contracture  hysterique.  II  me  parait  im- 
possible  de  soumettre  la  paralysie  et  la  contracture  hysteriques 
aux  memes  regles.  Ce  n'est  que  des  paralysies  hysteriques 
flasques  qu'on  peut  soutenir  qu'elles  n'affectent  jamais  un  seul 
muscle,  excepte  le  cas  oü  ce  muscle  est  l'instrument  unique 
d'une  fonction,  qu'elles  sont  toujours  des  paralysies  en  masse, 
et  qu'elles  correspondent  sous  ce  rapport  ä  la  paralysie  de 
representation,  ou  cerebrale  organique.  En  outre,  en  ce  qui 
concerne  la  nutrition  des  parties  paralysees  et  leurs  reactions 
electriques,  la  paralysie  hysterique  presente  les  memes  carac- 
teres que  la  paralysie  cerebrale  organique. 

Si  la  paralysie  hysterique  se  rattache  ainsi  a  la  paralysie 
cerebrale  et  particulierement  ä  la  paralysie  corticale,  qui  pre- 
sente une  plus  grande  facilite  de  dissociation,  eile  ne  manque 
pas  de  s'en  distinguer  par  des  caracteres  importants.  D'abord 
eUe  n'est  pas  soumise  ä  cette  rögle,  constante  dans  les  paraly- 
sies cerebrales  organiques,  ä  savoir  que  le  segment  periphe- 
rique  est  toujours  plus  affecte  que  le  segment  central.  Dans 
l'hysterie,  l'epaule  ou  la  cuisse  peuvent  etre  plus  paralysees 
que  la  main  ou  le  pied.  Les  mouvements  peuvent  venir  dans 
les  doigts  tandis  que  le  segment  central  est  encore  absolument 
inerte.  On  n'a  pas  la  moindre  difficulte  de  produire  artificiel- 
lement  une  paralysie  isolee  de  la  cuisse,  de  la  jambe  etc.,  et 
on  peut  assez  souvent  retrouver,  en  cHnique,  ces  paralysies 
isolees,  en  contradiction  avec  les  regles  de  la  paralysie  orga- 
nique cerebrale. 

Sous  ce  rapport  important,  la  paralysie  hysterique  est  pour 
ainsi  dire  intermediaire  entre  la  paralysie  de  projection  et  la 
paralysie  de  representation  organique.  Si  eile  ne  possede  pas 
tous  les  caracteres  de  dissociation  et  d'isolement  propres  ä  la 
premiere,    eile   n'est   pas,   tant  s'en  faut,    sujette  aux  strictes 

Frend,  Neuioaonlehre.  3 


34 


lois  qui  regissent  la  derniere,  la  paralysie  cerebrale.  Ces  res- 
trictions  faites,  on  peut  soutenir  que  la  paralysie  hysterique 
est  aussi  une  paralysie  de  representation,  raais  d'une  repre- 
sentation  speciale  dont  la  caracteristique  reste  ä  trouver  ^). 

II.  —  Pour  avancer  dans  cette  direction  je  me  propose 
d'etudier  les  autres  traits  distinctifs  entre  la  paralysie  hyste- 
rique  et  la  paralysie  corticale,  type  le  plus  parfait  de  la  para- 
lysie cerebrale  organique.  Le  premier  de  ces  caracteres  dis- 
tinctifs, nous  l'avons  dejä  mentionne,  c'est  que  la  paralysie 
bysterique,  peut  etre  beaucoup  plus  dissociee,  systematisee 
que  la  paralysie  cerebrale.  Les  symptömes  de  la  paralysie  orga- 
nique se  retrouvent  comme  morceles  dans  l'liysterie.  De  l'hemi- 
plegie  commune  organique  (paralysie  des  membres  superieur 
et  inferieur  et  du  facial  inferieur)  l'liysterie  ne  reproduit  que 
la  paralysie  des  membres  et  dissocie  meme  assez  souvent,  et 
avec  la  plus  grande  facilite,  la  paralysie  du  bras  de  celle  de 
la  Jambe  sous  forme  de  monoplegies.  Du  Syndrome  de  l'aphasie 
organique,  eUe  reproduit  l'aphasie  motrice  a  l'etat  d'isole- 
ment,  et  ce  qui  est  cbose  inouie  dans  l'aphasie  organique,  eile 
peut  creer  une  aphasie  totale  (motrice  et  sensitive)  pour  teUe 
langue,  sans  attaquer  le  moins  du  monde  la  faculte  de  com- 
prendre  et  d'articuler  teile  autre,  comme  je  Tai  observe  dans 
quelques  cas  inedits.  Ce  meme  pouvoir  de  dissociation  se  ma- 
nifeste dans  les  paralysies  isolees  d'un  segment  de  membre 
avec  integrite  complete  des  autres  parties  du  meme  membre, 
ou  encore  dans  l'abolition  complete  d'une  fonction  (abasie, 
astasie)  avec  integrite  d'une  autre  fonction  executee  par  les 
memes  organes.  Cette  dissociation  est  d'autant  plus  frappante, 


1)  Chemin  faisant,  je  ferai  remarquer  que  ce  caractere  impoi-tant  de 
la  paralysie  hysterique  de  la  jambe  que  M.  Charcot  a  releve  d'apres  Todd, 
ä  savoir  que  l'hysterique  traine  la  jambe  comme  une  masse  morte  au 
lieu  d'executer  la  circumduction  avec  la  hancbe  que  fait  l'hemiplegique 
ordinaire,  s'explique  facilement  par  la  propriete  de  la  nevrose  que  j'ai 
mentionne.  Pour  l'bemiplegie  organique,  le  partie  centrale  de  l'extremite 
est  toujours  un  peu  indemne,  le  malade  peut  remuer  la  hanche  et  il  en 
fait  usage  pour  ce  mouvement  de  circumduction,  qui  fait  avancer  la 
jambe.  Dans  l'hysterie,  la  partie  centrale  (la  lianche)  ne  jouit  pas  de  ce 
privilege,  la  paralysie  y  est  aussi  complete  que  dans  la  partie  periphe- 
riqvie  et  en  consequence,  la  jambe  doit  etre  trainee  en  masse. 


35 


quand  la  fonction  respectee  est  la  plus  complexe.  Dans  la  Symp- 
tomatologie organiqiie,  quand  il  y  a  affaiblissement  inegal  de 
plusieurs  fonctions,  c'est  toujours  la  fonction  la  plus  complexe, 
Celle  d'une  acquisition  posterieure,  qui  est  la  plus  atteinte  en 
consequence  de  la  paralysie. 

La  paralysie  hysterique  presente  de  plus  un  autre  carac- 
tere  qui  est  comme  la  signature  de  la  nevrose  et  qui  vient 
s'aj outer  au  premier.  En  effet,  comme  je  l'ai  entendu  dire  ä 
M.  Charcot,  l'hysterie  est  une  maladie  ä  manifestations  exces- 
sives,  ayant  une  tendance  ä  produire  ses  symptömes  avec  la 
plus  grande  intensite  possible.  C'est  un  caractere  qui  ne  se 
montre  pas  seulement  dans  les  paralysies,  mais  aussi  d^ns  les 
contractures  et  les  anesthesies,  On  sait  jusqu'ä  quel  degre  de 
distorsion  peuvent  aller  les  contractures  hysteriques,  qui  sont 
presque  sans  egales  dans  la  Symptomatologie  organique.  On 
sait  aussi  combien  sont  frequentes  dans  l'hysterie  les  anesthe- 
sies absolues,  profondes,  dont  les  lesions  organiques  ne  peu- 
vent reproduire  qu'une  faible  esquisse.  H  en  est  de  meme  pour 
les  paralysies.  EUes  sont  souvent  on  ne  peut  plus  absolues; 
l'aphasique  ne  profere  pas  un  mot,  tandis  que  l'aphasique 
organique  garde  presque  toujours  quelques  syllabes,  le  „oui 
et  non",  un  jm^on,  etc.;  le  bras  paralyse  est  absolument 
inerte,  etc.  Ce  caractere  est  trop  bien  connu  pour  y  persister 
longuement.  Au  contraire,  on  sait  que,  dans  la  paralysie  orga- 
nique, la  paresie  est  toujours  plus  frequente  que  la  paralysie 
absolue. 

La  paralysie  hysterique  est  donc  d'une  Umitaüon  exade  et 
d'une  intensite  excessive;  eile  possede  ces  deux  quahtes  ä  la 
fois  et  c'est  en  cela  qu'elle  contraste  le  plus  avec  la  paralysie 
cerebrale  organique,  dans  laquelle,  d'une  maniere  constante, 
ces  deux  caracteres  ne  s'associent  pas.  II  existe  aussi  des  mono- 
plegies  dans  la  Symptomatologie  organique,  mais  celles-ci  sont 
presque  toujours  des  monoplegies  a potiori  et  non  exactement 
deümitees.  Si  le  bras  se  trouve  paralyse  en  consequence  d'une 
lesion  corticale  organique,  il  y  a  presque  toujours  aussi  atteinte 
concomitante  moindre  du  facial  et  de  la  jambe,  et  si  cette 
complication  ne  se  voit  plus  ä  un  moment  donne,  eile  a  cepen- 
dant  bien  existe  au  commencement  de  l'affection.    La  mono- 

3* 


36 


plegie  corticale  est,  ä  vrai  dire,  toujours  une  hemiplegie  dont 
teile  ou  teile  partie  est  plus  ou  moins  effacee,  mais  toujours 
reconnaissable.  Pour  aller  plus  loin,  supposons  que  la  para- 
lysie  n'ait  affecte  aucune  autre  partie  que  le  bras,  que  ce 
soit  une  monoplegie  corticale  pure ;  alors  on  voit  que  la  para- 
lysie  est  d'une  intensite  moderee.  Aussitot  que  cette  monople- 
gie augmentera  en  intensite,  qu'elle  deviendra  une  paralysie 
absolue,  eile  perdra  son  caractere  de  monoplegie  pure  et  s'ac- 
compagnera  de  troubles  moteiirs  dans  la  jambe  ou  la  face. 
Elle  ne  peut  pas  devenir  absolue  et  restee  delimitee  ä  la  fois. 

C'est  ce  que  la  paralysie  bysterique  peut,  au  contraire, 
fort  bien  realiser,  comme  la  clinique  le  montre  chaque  jour. 
Elle  affecte  par  exemple  le  bras  d'une  fa9on  exclusive,  on 
n'en  trouve  pas  trace  dans  la  jambe  ou  la  face.  De  plus,  au 
niveau  du  bras,  eUe  est  aussi  forte  qu'une  paralysie  peut  l'ötre, 
et  c'est  lä  une  difference  frappante  avec  la  paralysie  organique, 
difference  qui  prete  grandement  ä  penser. 

Naturellement,  il  y  a  des  cas  de  paralysie  hysterique 
dans  lesquels  l'intensite  n'est  pas  excessive  et  oü  la  dissociation 
n'offre  rien  de  remarquable.  Ceux-ci,  on  les  reconnait  au  moyen 
d'autres  caracteres;  mais  ce  sont  des  cas  qui  ne  portent  pas 
l'empreinte  typique  de  la  nevrose  et  qui,  ne  pouvant  en  rien 
nous  renseigner  sur  sa  nature  ne  presentent  point  d'inter6t  au 
point  de  vue  qui  nous  occupe  ici. 

Ajoutons  quelques  remarques  d'une  importance  secondaire, 
qui  meme  depassent  un  peu  les  limites  de  notre  sujet. 

Je  constaterai  d'abord  que  les  paralysies  hysteriques 
s'accompagnent  beaucoup  plus  souvent  de  troubles  de  la  sen- 
sibilite  que  les  paralysies  organiques.  En  general,  ceux-ci  sont 
plus  profonds  et  plus  frequents  dans  la  nevrose  que  dans  la 
Symptomatologie  organique.  Rien  de  plus  commun  que 
l'anesthesie  ou  l'analgesie  hysterique.  Qu'on  se  rappelle  par 
contre  avec  quelle  tenacite  la  sensibilite  persiste  en  cas  de  lesion 
nerveuse.  Si  l'on  sectionne  un  nerf  peripherique,  l'anesthesie 
sera  moindre  en  etendue  et  intensite  qu'on  ne  s'y  attend.  Si  une 
lesion  inflammatoire  attaque  les  nerfs  spinaux  ou  les  centres 
de  la  moelle,  on  trouvera  toujours  que  la  motüite  souffre  en 
premier  lieu  et  que  la    sensibilite  est  epargnee  ou  seulement 


37 


affaiblie,  car  il  persiste  toujours  quelque  part  des  elements 
nerveux  qui  ne  sont  pas  completement  detruits.  En  cas  de 
lesion  cerebrale,  on  connait  la  frequence  et  la  duree  de  rhemi- 
plegie  motrice,  tandis  que  rhemianesthesie  concomitante  est 
indistincte,  fugace  et  ne  se  trouve  pas  dans  tous  les  cas, 
II  n'y  a  que  quelques  localisations  tout  a  fait  speciales  qui 
puissent  produire  une  affection  de  la  sensibilite  intense  et 
durable  (carrefour  sensitif),  et  meme  ce  fait  n'est  pas  exempt 
de  doutes. 

Cette  maniere  d'etre  de  la  sensibilite,  differente  dans  les 
lesions  organiques  et  dans  l'kysterie,  n'est  gu^re  explicable 
aujourd'hui.  II  semble  qu'il  y  ait  la  un  probl^me  dont  la 
Solution  nous  renseignerait  peut-etre  sur  la  nature  intime 
des  choses. 

Un  autre  point  qui  me  parait  digne  d'etre  releve,  c'est 
qu'il  y  a  quelques  formes  de  paralysie  cerebrale  qui  ne  se 
trouvent  pas  reaüsees  dans  l'hysterie,  pas  plus  que  les  paralysies 
peripbero-spinales  de  projection.  H  faut  citter  en  premier  Heu 
la  paralysie  du  facial  inferieur,  la  manifestation  la  plus  frequente 
d'une  affection  organique  du  cerveau  et,  si  je  me  permets  de 
passer  dans  les  paralysies  sensorielles  pour  un  moment,  l'he- 
mianopsie  laterale  homonyme.  Je  sais  que  c'est  presque  une 
gageure  que  de  vouloir  affirmer  que  tel  ou  tel  Symptome  ne 
se  trouve  pas  dans  l'hysterie,  quand  les  recherches  de  M.  Char- 
cot  et  de  ses  eleves  y  decouvrent,  on  pourrait  dire  joumeUe- 
ment,  des  symptomes  nouveaux  qu'on  n'avait  point  soupconnes 
jusque-lä.  Mais  il  me  faut  prendre  les  choses  comme  elles  sont 
actuellement.  La  paralysie  faciale  hysterique  est  fortement 
contestee  par  M.  Charcct  et  meme,  si  on  croit  ceux  qui  en 
sont  partisans,  c'est  un  phenom^ne  d'une  grande  rarete.  L'he- 
mianopsie  n'a  pas  encore  ete  vue  dans  l'hysterie  et,  je  pense, 
eile  ne  le  sera  jamais. 

Maintenant,  d'oü  vient-il  que  les  paralysies  hysteriques, 
tout  en  Simulant  de  pr^s  les  paralysies  corticales,  s'en  ecartent 
par  les  traits  distinctifs  que  j'ai  tache  d'enumeer,  et  quel  est 
le  caractere  general  de  la  representation  speciale  auquel  il 
faut  les  rattacher?  La  reponse  ä  cette  question  contiendrait 
une  bonne  et  importante  partie   de  la   theorie  de  la  nevrose. 


38 


m.  —  n  n'y  a  pas  le  moindre  doute  sur  les  conditions 
qiii  dominent  la  Symptomatologie  de  la  paralysie  cerebrale.  Ce 
sont  les  faits  de  l'anatomie,  la  construction  du  system.e  ner- 
veux,  la  distribution  de  ses  vaisseaux  et  la  relation  entre  ces 
deux  series  de  faits  et  les  circonstances  de  la  lesion.  Nous 
avons  dit  que  le  nom.bre  moindre  des  fibres  qui  vont  de  la 
moelle  au  cortex  en  comparaison  avec  le  nombre  des  fibres 
qui  vont  de  la  peripherie  ä  la  moelle,  est  la  base  de  la 
difference  entre  la  paralysie  de  projection  et  celle  de  repre- 
sentation.  De  meme,  chaque  detail  clinique  de  la  paralysie 
de  representation  peut  trouver  son  explication  dans  un  detail 
de  la  structure  cerebrale  et  vice  versa  nous  pouvons  deduire 
la  construction  du  cerveau  des  caracteres  clinique  des  para- 
lysies.  Nous  croyons  a  un  parallelisme  parfait  entre  ces  deux 
series. 

Ainsi  s'il  n'y  a  pas  une  grande  facilite  de  dissociation 
pour  la  paralysie  cerebrale  commune,  c'est  parce  que  les 
fibres  de  conduction  motrices  sont  trop  rapprochees  sur  une 
longue  partie  de  leur  trajet  intracerebral  pour  etre  lesees 
isolement.  Si  la  paralysie  corticale  montre  plus  de  tendance 
aux  monoplegies,  c'st  parce  que  le  diametre  du  faisceau  con- 
ducteur  brachial,  crural,  etc.,  va  en  croissant  jusqu'ä  l'ecorce. 
Si  de  toutes  les  paralysies  corticales  celle  de  la  main  est  la 
plus  compl^te,  cela  vient,  croyons-nous,  du  fait,  que  la  rela- 
tion croisee  entre  Fhemisphere  et  la  peripherie  est  plus  ex- 
clusive  pour  la  main  que  pour  toute  autre  partie  du  corps. 
Si  le  Segment  peripherique  d'une  extremite  soufire  plus  de 
la  paralysie  que  le  segment  central,  nous  supposons  que  les 
fibres  repräsentatives  du  segment  peripherique  sont  beaucoup 
plus  nombreuses  que  Celles  du  segment  central,  de  sorte  que 
l'influence  corticale  devient  plus  importante  pour  le  premier 
qu'elle  n'est  pour  le  dernier.  Si  les  lesions  un  peu  etendues 
de  l'ecorce  ne  reussissent  pas  ä  produire  des  monoplegies 
pures,  nous  en  concluons  que  les  centres  moteurs  sur  l'ecorce 
ne  sont  pas  nettement  separes  les  uns  des  autres  par  des 
territoires  neutres,  ou  qu'il  y  a  des  actions  en  distance  (Fern- 
wirkungen) qui  annuleraient  l'efiet  d'une  Separation  exacte 
des  centres. 


39 


De  meme  s'il  j  a  dans  l'aphasie  organique,  toujours  un 
melange  de  troubles  de  diverses  fonctions,  ca  s'explique  par 
le  fait  que  des  branches  de  la  meme  artere  nomTissent  tous 
les  centres  du  langage,  ou  si  Fön  accepte  l'opinion  enoncee 
dans  moii  etude  critique  sur  l'apliasie,  parce  qu'il  ne  s'agit 
pas  de  centres  separes,  mais  d'un  territoire  continu  d'association. 
En  tout  cas,  ü  existe  toujours  une  raison  tiree  de  l'anatomie. 

Les  associations  remarquables  qu'on  observe  si  souvent 
dans  la  clinique  des  paralysies  corticales:  apbasie  motrice  et 
hemiplegie  droite,  alexie  et  liemianopsie  droite,  s'expliquent 
par  le  voisinage  des  centres  leses.  L'hemianopsie  meme,  Symp- 
tome bien  curieux  et  etranger  ä  l'esprit  non  scientifique,  ne 
se  comprend  que  par  l'entre-croisement  des  fibres  du  nerf 
optique  dans  le  chiasma;  eile  en  est  l'expression  clinique, 
comme  tous  les  details  des  paralysies  cerebrales  sont  l'expres- 
sion clinique  d'un  fait  anatomique. 

Comme  il  ne  peut  y  avoir  qu'une  seule  anatomie  cere- 
brale qui  soit  la  vraie  et  comme  eile  trouve  son  expression 
dans  les  caracteres  cliniques  des  paralysies  cerebrales,  il  est 
evidemment  impossible  que  cette  anatomie  puisse  expliquer 
les  traits  distinctifs  de  la  paralysie  hysterique.  Pour  cette 
raison,  il  n'est  pas  permis  de  tirer  au  sujet  de  l'anatomie 
cerebrale  des  conclusions  basees  sur  la  Symptomatologie  de 
ces  paralysies. 

Assurement  il  faut  s'adresser  ä  la  nature  de  la  lesion 
pour  obtenir  cette  explication  difficile.  Dans  les  paralysies 
organiques,  la  nature  de  la  lesion  joue  un  röle  secondaire,  ce 
sont  plutot  l'etendue  et  la  localisation  de  la  lesion,  qui  dans 
les  conditions  donnees  de  structure  du  Systeme  nerveux  pro- 
duisent  les  caracteres  de  la  paralysie  organique,  que  nous 
avons  releves.  Quelle  pourrait  etre  la  nature  de  la  lesion  dans 
la  paralysie  hysterique,  qui  ä  eile  seule  domine  la  Situation, 
independamment  de  la  localisation,  de  l'etendue  de  la  lesion 
et  de  l'anatomie  du  Systeme  nerveux? 

M.  Cbarcot  nous  a  enseigne  assez  souvent  que  c'est 
une  lesion  corticale  mais  purement  dynamique  ou  fonctionnelle. 

C'est  une  tliese  dont  on  comprend  bien  le  cöte  negatif. 
Cela    equivaut   ä   affirmer   qu'on  ne  trouvera  pas  de  change- 


40 


ments  de  tissus  appreciables  ä  l'autopsie;  mais  ä  un  point 
de  vue  plus  positif,  son  Interpretation  est  loin  d'etre  a  l'abri 
de  l'equivoque.  Qu'est-ce  donc  qu'une  lesion  dynamique?  Je 
suis  bien  sür  que  beaucoup  de  ceux  qui  lisent  les  ceuvres  de 
M.  Charcot,  croient  que  la  lesion  dynamique  est  bien  une 
lesion,  mais  une  lesion  dont  on  ne  retrouve  pas  la  trace  dans 
le  cadavre,  comme  un  oedeme,  une  anemie,  une  byperemie 
active.  Mais  ce  sont  la,  bien  qu'elles  ne  persistent  pas  ne- 
cessairement  apres  la  mort,  des  lesions  organiques  vraies, 
qu'elles  soient  legeres  et  fugaces.  II  est  necessaire  que  les 
paralysies  produites  par  les  lesions  de  cet  ordre,  partagent 
en  tout  les  caracteres  de  la  paralysie  organique.  L'oedeme, 
l'anemie  ne  pourraient,  plutöt  que  l'hemorragie  et  le  ramol- 
lissement,  produire  la  dissociation  et  l'intensite  des  paralysies 
hysteriques.  La  seule  difference  serait  que  la  paralysie  par 
l'cedeme,  par  la  constriction  vasculaire  etc.,  doit  etre  moins 
durable  que  la  paralysie  par  destruction  du  tissu  nerveux. 
Toutes  les  autres  conditions  leur  sont  communes  et  l'anatomie 
du  Systeme  nerveux  determinera  les  propietes  de  la  paralysie 
aussi  bien  dans  le  cas  d'anemie  fugace  que  dans  le  cas  d' ane- 
mie permanente  et  definitive. 

Je  ne  crois  pas  que  ces  remarques  soient  tout  a  fait 
gratuites.  Si  on  üt  „qu'il  doit  y  avoir  une  lesion  hysterique'^ 
dans  tel  ou  tel  centre,  le  meme  dont  la  lesion  organique 
produirait  le  Syndrome  organique  correspondant,  si  l'on  se 
souvient  qu'on  s'est  babitue  ä  localiser  la  lesion  hysterique 
dynamique  de  meme  maniere  que  la  lesion  organique,  on  est 
porte  ä  croire  que  sous  l'expression  „lesion  dynamique"  se 
cacbe  l'idee  d'une  lesion  comme  l'oedeme,  l'anemie,  qui,  en 
verite,  sont  des  affections  organiques  passag^res.  J'affirme 
par  contre  que  la  lesion  des  paralysies  bysteriques  doit  etre 
tout  ä  fait  independante  de  l'anatomie  du  Systeme  nerveux, 
puisque  VhysUrie  se  comporte  dans  ses  paralysies  et  autres  mani- 
festations  comme  si  l'anatomie  nexistait  pas,  ou  comme  si  eile 
n'en  avait  nulle  connaissance. 

Un  bon  nombre  des  caracteres  des  paralysies  bysteriques 
justifient  en  verite  cette  affirmation.  L'hysterie  est  ignorante 
de  la  distribution  des  nerfs  et  c'est  pour  cette  raison  qu'elle 


41 


ne  simule  pas  les  paralysies  periphero-spinales  ou  de  pro- 
jection;  eile  ne  connait  pas  le  chiasma  des  nerfs  optiques 
et  consequeimnent  eile  ne  produit  pas  l'hemaniopsie.  Elle 
prend  les  organes  dans  le  sens  vulgaire,  populaire  du  nom 
qu'ils  portent:  la  jambe  est  la  jambe  jusqu'a  l'insertion  de 
la  banclie,  le  bras  est  l'extremite  superieure  comme  eile  se 
dessine  sous  les  vetements.  II  n'y  a  pas  de  raison  pour 
joindre  a  la  paralysie  du  bras  la  paralysie  de  la  face.  L'hyste- 
rique  qui  ne  sait  pas  parier  n'a  pas  de  motif  pour  oublier 
l'intelligence  du  langage,  puisque  aphasie  motrice  et  surdite 
verbale  n'ont  aucune  parente  dans  la  notion  populaire,  etc. 
Je  ne  peux  que  m'associer  pleinement  sur  ce  point  aux  vues 
que  M.  Janet  a  avancees  dans  les  derniers  numeros  des 
Ärchives  de  Neurologie;  les  paralysies  hysteriques  en  donnent 
la  preuve  aussi  bien  que  les  anesthesies  et  les  symptomes 
psyciiiques. 

IV.  —  Je  tächerai  enfin  de  developper  comment  pourrait 
üre  la  lesion  qui  est  la  cause  des  paralysies  hysteriques.  Je 
ne  dis  pas  que  je  montrerai  comment  eile  est  en  fait;  il  s'agit 
seulement  d'indiquer  la  ligne  de  pensee  qui  peut  conduire 
ä  une  conception  qui  ne  contredit  pas  aux  proprietes  de  la 
paralysie  hysterique,  en  tant  qu'elle  diff^re  de  la  paralysie 
organique  cerebrale. 

Je  prendrai  le  mot  „lesion  fonctionneUe  ou  dynamique" 
dans  son  sens  propre:  „alteration  de  fonction  ou  de  dyna- 
misme" ;  alteration  d'une  propriete  fonctionneUe.  Une  teile 
alteration  serait  par  exemple  une  diminution  de  l'excitabilite 
ou  d'une  qualite  physiologique  qui  dans  l'etat  normal  reste 
constante  ou  varie  dans  des  limites  determinees. 

Mais  dira-t-on,  l'alteration  fonctionneUe  n'est  pas  autre 
cbose,  eUe  n'est  qu'un  autre  cote  de  l'alteration  organique. 
Supposons  que  le  tissu  nerveux  seit  dans  un  etat  d'anemie 
passagere,  son  excitabiUte  sera  diminuee  par  cette  circon- 
stance,  ü  n'est  pas  possible  d'eviter  d'envisager  les  lesions 
organiques  par  ce  moyen. 

J'essaierai  de  montrer  qu'il  peut  y  avoir  alteration 
fonctionneUe  sans  lesion  organique  concomitante,  sans  lesion 
grossiere   palpable   du   moins,   meme    au  moyen   de  l'analyse 


42 


la  plus  delicate.  En  d'autres  termes,  je  donnerai  mi  exemple 
approprie  d'une  alteration  de  fonction  primitive;  je  ne  de- 
mande  pour  cela  que  la  permission  de  passer  sur  le  terrain 
de  la  Psychologie,  qu'on  ne  saurait  eviter  quand  ou  traite 
de  l'hysterie. 

Je  dis  avec  M.  Janet,  que  c'est  la  conception  banale, 
populaire  des  organes  et  du  corps  en  general,  qui  est  en 
jeu  dans  les  paralysies  hysteriques  comme  dans  les  anesthe- 
sies,  etc.  Cette  conception  n'est  pas  fondee  sur  une  connais- 
sance  approfondie  de  l'anatomie  nerveuse  mais  sur  nos  per- 
ceptions  tactiles  et  surtout  visuelles.  Si  eile  determine  les 
caracteres  de  la  paralysie  hysterique,  celle-lä  doit  bien  se 
montrer  ignorante  et  independante  de  toute  notion  de  l'ana- 
tomie du  Systeme  nerveux.  La  lesion  de  la  paralysie  hyste- 
xique  sera  donc  une  alteration  de  la  conception,  de  l'idee  de 
bras,  par  exemple.  Mais  de  quelle  sorte  est  cette  alteration 
pour  produire  la  paralysie? 

Consideree  psychologiquement,  la  paralysie  du  bras 
consiste  dans  le  fait  que  la  conception  du  bras  ne  peut  pas 
entrer  en  association  avec  les  autres  idees  qui  constituent 
le  moi  dont  le  corps  de  l'individu  forme  une  partie  impor- 
tante.  La  lesion  serait  donc  Vabolition  de  V accessibiUte  associaüve 
de  la  conception  du  hras.  Le  bras  se  comporte  comme  s'il 
n'existait  pas  pour  le  jeu  des  associations.  Assurement  si 
les  conditions  materielles,  qui  correspondent  ä  la  conception 
du  bras,  se  trouvent  profondement  alterees,  cette  conception 
sera  perdue  aussi,  mai  j'ai  ä  montrer  qu'elle  peut  etre  inac- 
cessible  sans  qu'elle  soit  detruite  et  sans  que  son  substratum 
materiel  (le  tissu  nerveux  de  la  region  correspondante  de 
l'ecorce)  soit  endommage. 

Je  commencerai  par  des  exemples  tires  de  la  vie  sociale. 
On  raconte  l'histoire  comique  d'un  sujet  loyal  qui  ne  voulut  plus 
laver  sa  main,  parce  que  son  souverain  l'avait  touckee.  La 
relation  de  cette  main  avec  l'idee  du  roi  semble  si  importante 
ä  la  vie  psycliique  de  l'individu,  qu'il  se  refuse  ä  faire  entrer 
cette  main  en  d'autres  relations.  Nous  obeissons  ä  la  meme 
impulsion  si  nous  cassons  le  verre  dans  lequel  nous  avons  bu 
a  la  sante  de  jeunes   maries;    les    anciennes   tribus   sauvages 


43 


brülant  le  cheval,  les  armes  et  m§me  le  femmes  du  chef 
mort,  avec  son  cada^rre,  obeissaient  ä  cette  idee  que  nul  ne 
devait  plus  le  toucher  apres  lui.  Le  motif  de  toutes  ces 
actions  est  bien  clair.  La  valeui'  affective  que  nous  attribuons 
ä  la  premiere  associatioii  d'un  objet  repugne  ä  la  faire  entrer 
en  association  nouvelle  avec  un  autre  objet  et  par  suite  reiid 
l'idee  de  cet  objet  inaccessible  e  l'association. 

Ce  ii'est  pas  une  simple  comparaison,  c'est  presque  la  chose 
identique,  si  nous  passons  dans  le  domaine  de  la  psychologie 
des  conceptions.  Si  la  conception  du  bras  se  trouve  engagee 
dans  une  association  d'une  grande  valeur  affective,  eile  sera 
inaccessible  au  jeu  libre  des  autres  associations.  Le  bras  sera 
paralyse  en  ijroimrüon  de  la  persistance  de  cette  valeur  affective 
ou  de  sa  dimmution  par  des  moyens  psycMques  appropries.  C'est 
la  Solution  du  probleme  que  nous  avons  pose,  car,  dans 
tous  le  cas  de  paralysie  hysterique,  on  trouve  que  Vorgane 
paralyse  ou  la  fonction  aholie  est  engage  dans  une  association 
suhconsciente  qui  est  munie  d'une  grande  valeur  affective,  et  Von 
peut  montrer  que  le  hras  devient  lihre  aussitöt  que  cette  valeur 
affective  est  effacee.  Alors  la  conception  du  bras  existe  dans  le 
substratum  materiel,  mais  eile  n'est  pas  accessible  aux  asso- 
ciations et  impulsions  conscientes  parce  que  tout  son  affinite 
associative,  pour  ainsi  dire,  est  saturee  dans  une  association 
subconsciente  avec  le  souvenir  de  l'evenement,  du  trauma,  qui 
a  produit  cette  paralysie. 

C'est  M.  Charcot  qui  nous  a  enseigne  le  premier  qu'il 
faut  s'adresser  ä  la  psychologie  pour  l'explication  de  la  nevrose 
bysterique.  Nous  avons  suivi  son  exemple,  Breuer  et  moi,  dans 
un  memoire  preliminaire  (Über  den  psycliisclien  Mechanismus 
liysterisclier  Phänomene,  Neurolog.  Centralblatt,  Nr.  1  und  2,  1893). 
Nous  demontrons  dans  ce  memoire  que  les  symptomes 
permanents  de  l'hysterie  dite  non  traumatique  s'expliquent 
(ä  part  les  stigmates)  par  le  meme  mecanisme  que  Charcot  a 
reconnu  dans  les  paralysies  traumatiques.  Mais  nous  donnons 
aussi  la  raison  pour  laquelle  ces  symptomes  persistent  et 
peuvent  etre  gueris  par  un  procede  special  de  psychotberapie 
hypnotique.  Chaque  evenement,  cliaque  Impression  psychique 
est  munie   d'une    certaine  valeur  affective  (Affectbetrag),  dont 


44 


le  moi  se  delivre  ou  par  la  voie  de  reaction  motrice  ou  par  un 
travail  psycliique  associatif.  Si  l'individu  ne  peut  ou  ne  veut 
s'acqiütter  du  surcroit,  le  souvenir  de  cette  impression  acquiert 
rimportance  d'un  trauma  et  devient  la  cause  de  symptomes 
permanents  d'hysterie.  L'impossibilite  de  l'eHmination  s'im- 
pose  quand  l'impression  reste  dans  le  subconscient.  Nous  avons 
appele  cette  theorie:  Das  Abreagieren  der  Beissuwächse. 

En  resume,  je  pense  qu'il  est  bien  en  accord  avec  notre 
vue  generale  sur  l'hysterie,  teile  que  nous  l'avons  pu  former 
d'apres  l'enseignement  de  M.  Charcot,  que  la  lesion  dans  les 
paralysies  hysteriques  ne  consiste  pas  en  autre  chose  que  dans 
l'inaccessibilite  de  la  conception  de  l'organe  ou  de  la  fonction 
pour  les  associations  du  moi  conscient,  que  cette  alteration 
purement  fonctionneUe  (avec  integrite  de  la  conception  meme) 
est  caussee  par  la  fixation  de  cette  conception  dans  une  asso- 
ciation  subconsciente  avec  le  souvenir  du  trauma  et  que  cette 
conception  ne  devient  pas  libre  et  accessible  tant  que  la  valeur 
affective  du  trauma  psycliique  n'a  pas  ete  eliminee  par  la 
reaction  motrice  adequate  ou  par  le  travail  psycliique  conscient. 
Mais  meme  si  ce  mecanisme  n'a  pas  Heu,  s'il  faut  pour  la 
paralysie  bysterique  toujours  ime  idee  autosuggestive  directe 
comme  dans  les  cas  traumatiques  de  M.  Cbarcot,  nous  avons 
reussi  ä  montrer  de  quelle  nature  la  lesion  ou  plutot  1' alteration 
dans  la  paralysie  bysterique  devrait  etre,  pour  expliquer  ses 
differences  avec  la  paralysie  organique  cerebrale. 


IV. 

Die  Abwehr-Neuro-psychosen.  0 

Versuch    einer    psychologischen  Theorie    der    acquirierten 

Hysterie,     vieler    Phobien    und    Zwangsvorstellungen    und 

gewisser  halluzinatorischer  Psychosen. 

Bei  eingehendem  Studium  mehrerer  mit  Phobien  und 
Zwangsvorstellungen  behafteter  Nervöser  hat  sich  mir  ein 
Erklärungsversuch  dieser  Symptome  aufgedrängt,  der  mir 
dann  gestattete,  die  Herkunft  solcher  krankhafter  Vor- 
stellungen in  neuen,  anderen  Fällen  glücklich  zu  erraten, 
und  den  ich  darum  der  Mitteilung  und  weiteren  Prüfung 
würdig  erachte.  Gleichzeitig  mit  dieser  „psychologischen 
Theorie  der  Phobien  und  Zwangsvorstellungen" 
ergab  sich  aus  der  Beobachtung  der  Kranken  ein  Beitrag 
zur  Theorie  der  Hysterie  oder  vielmehr  eine  Abänderung 
derselben,  welche  einem  wichtigen,  der  Hysterie  wie  den 
genannten  Neurosen  gemeinsamen  Charakter  Rechnung  zu 
tragen  scheint.  Femer  hatte  ich  Gelegenheit,  in  den  psycho- 
logischenMechanismuseinerFormvon  unzweifelhaft  psychischer 
Erkrankung  Einsicht  zu  nehmen,  und  fand  dabei,  daß  die  von 
mir  versuchte  Betrachtungsweise  eine  einsichtliche  Verknüpfung 
zwischen  diesen  Psychosen  und  den  beiden  angeführten  Neu- 
rosen herstellt.  Eine  Hilfshypothese,  deren  ich  mich  in  allen 
drei  Fällen  bedient  habe,  werde  ich  zum  Schlüsse  dieses  Auf- 
satzes hervorheben. 

I. 

Ich  beginne  mit  jener  Abänderung,  die  mir  an  der 
Theorie  der  hysterischen  Neurose  erforderlich  scheint: 

Daß  der  Symptomkomplex  der  Hysterie,  soweit  er  bis 
jetzt  ein  Verständnis  zuläßt,  die  Annahme  einer  Spaltung  des 
Bewußtseins  mit  Bildung  separater  psychischer  Gruppen  recht- 

1)  „Neurologisches  Centralblatt",  1894,  Nr.  10  u.  11. 


46 


fertigt,  dürfte  seit  den  schönen  Arbeiten  von  P.  Jan  et, 
J.  Breuer  u.  A.  bereits  zur  allgemeinen  Anerkennung  ge- 
langt sein.  Weniger  geklärt  sind  die  Meinungen  über  die  Her- 
kunft dieser  Bewußtseinsspaltung  und  über  die  Rolle,  welcbe 
dieser  Charakter  im  Gefüge  der  hysterischen  Neurose  spielt. 
Nach  der  Lehre  von  Janet^)  ist  die  Bewußtseinsspaltung 
ein  primärer  Zug  der  hysterischen  Veränderung.  Sie  beruht 
auf  einer  angeborenen  Schwäche  der  Fähigkeit  zur  psychischen 
Synthese,  auf  der  Enge  des  „Bewußtseinsfeldes"  (champ  du 
conscience),  welche  als  psychisches  Stigma  die  Degeneration 
der  hysterischen  Individuen  bezeugt. 

Im  Gegensatz  zur  Anschauung  Janet's,  welche  mir  die 
mannigfaltigsten  Einwände  zuzulassen  scheint,  steht  jene,  die 
J.  Breuer  in  unserer  gemeinsamen  Mitteilung^)  vertreten  hat. 
Nach  Breuer  ist  „Grundlage  und  Bedingung"  der  Hysterie 
das  Vorkommen  von  eigentümlichen  traumartigen  Bewußt- 
seinszuständen  mit  eingeschränkter  Assoziationsfähigkeit,  für 
welche  er  den  Namen  „hypnoide  Zustände"  vorschlägt.  Die 
Bewußtseinsspaltung  ist  dann  eine  sekundäre,  erworbene ; 
sie  kommt  dadurch  zustande,  daß  die  in  hypnoiden  Zuständen 
aufgetauchten  Vorstellungen  vom  assoziativen  Verkehr  mit 
dem  übrigen  Bewußtseinsinhalt  abgeschnitten  sind. 

Ich  kann  nun  den  Nachweis  zweier  weiterer  extremer 
Formen  von  Hysterie  erbringen,  bei  welchen  die  Bewußtseins- 
spaltung unmöglich  als  eine  primäre  im  Sinne  von  Jan  et 
gedeutet  werden  kann.  Bei  der  ersteren  dieser  Formen  gelang 
es  mir  wiederholt,  zu  zeigen,  daß  die  Spaltung  des  Be- 
wußtseinsinhaltes die  Folge  eines  Willens akt es 
des  Kranken  ist,  das  heißt  durch  eine  Willensanstrengung 
eingeleitet  wird,  deren  Motiv  man  angeben  kann.  Ich  behaupte 
damit  natürlich  nicht,  daß  der  Kranke  eine  Spaltung  seines 
Bewußtseins  herbeizuführen  beabsichtigt;  die  Absicht  des 
Kranken  ist  eine  andere,  sie  erreicht  aber  nicht  ihr  Ziel, 
sondern  ruft  eine  Spaltung  des  Bewußtseins  hervor. 

1)  Etat  mental  des  hysteriques.  Paris  1893  und  1894.  —  Quelques 
definitions    recentes    de    l'hysterie.  Arch.    de  Neurol.    1893.  XXXV— VI. 

")  Über  den  psycliischen  Mechanismus  hysterischer  Phänomene. 
Dieses  Centralblatt,  1893,  Nr.  1  u.  2. 


47 


Bei  der  dritten  Form  der  Hysterie,  die  wir  durch  psychische 
Analyse  von  intelligenten  Kranken  erwiesen  haben,  spielt  die 
Bewußtseinsspaltung  nur  eine  geringfügige,  vielleicht  über- 
haupt keine  Rolle.  Es  sind  dies  jene  Fälle,  in  denen  bloß  die 
Reaktion  auf  traumatische  Reize  unterblieben  ist,  die  dann 
auch  durch  „Abreagieren"^)  erledigt  und  geheut  werden,  die 
reinen  Retentionshysterien. 

Für  die  Anknüpfung  an  die  Phobien  und  Zwangsvor- 
stellungen habe  ich  es  hier  nur  mit  der  zweiten  Form  der 
Hysterie  zu  tun,  die  ich  aus  bald  ersichtlichen  Gründen  als 
Abwehrhysterie  bezeichnen  und  durch  diesen  Namen  von 
den  Hypnoid-  und  Retentionshysterien  sondern  will. 
Ich  kann  meine  Fälle  von  Abwehrhysterie  auch  vorläufig  als 
„acquirierte"  Hysterie  aufführen,  weü  bei  ihnen  weder  von 
schwerer  hereditärer  Belastung,  noch  von  eigener  degenerativer 
Verkümmerung  die  Rede  war. 

Bei  den  von  mir  analysierten  Patienten  hatte  nämlich 
psychische  Gesundheit  bis  zu  dem  Moment  bestanden,  in  dem 
ein  Fall  von  Unverträglichkeit  in  ihrem  Yor- 
stellungsleben  vorfiel,  d.  h.  bis  ein  Erlebnis,  eine 
YorsteUung,  Empfindung  an  ihr  Ich  herantrat,  welches  einen 
so  peinlichen  Affekt  erweckte,  daß  die  Person  beschloß,  daran 
zu  vergessen,  weil  sie  sich  nicht  die  Kraft  zutraute,  den 
Widerspruch  dieser  unverträglichen  YorsteUung  mit  ihrem  Ich 
durch  Denkarbeit  zu  lösen. 

Solche  unverträgliche  YorsteUungen  erwachsen  bei  weib- 
lichen Personen  zumeist  auf  dem  Boden  des  sexualen  Erlebens 
und  Empfindens,  und  die  Erkrankten  erinnern  sich  auch  mit 
aller  wünschenswerten  Bestimmtheit  ihrer  Bemühungen  zur 
Abwehr,  ihrer  Absicht,  das  Ding  „fortzuschieben",  nicht  daran 
zu  denken,  es  zu  unterdrücken.  Hierher  gehörige  Beispiele 
aus  meiner  Erfahrung,  deren  Anzahl  ich  mühelos  vermehren 
könnte,  sind  etwa :  Der  Fall  eines  jungen  Mädchens,  welches 
es  sich  verübelt,  während  der  Pflege  ihres  kranken  Yaters 
an  den  jungen  Mann  zu  denken,  der  ihr  einen  leisen  erotischen 
Eindruck  gemacht  hat ;  der  Fall  einer  Erzieherin,  die  sich  in 


0  ^g^-  unsere  gemeinsame  Mitteilung. 


48 


ihren  Herrn  verliebt  hatte,  und  die  beschloß,  sich  diese  Neigung 
aus  dem  Sinn  zu  schlagen,  weil  sie  ihr  mit  ihrem  Stolze  un- 
verträglich schien  u.  dgl.  m.^) 

Ich  kann  nun  nicht  behaupten,  daß  die  Willensanstrengung, 
etwas  derartiges  aus  seinen  Gedanken  zu  drängen,  ein  patho- 
logischer Akt  ist,  auch  weiß  ich  nicht  zu  sagen,  ob  und  auf 
welche  "Weise  das  beabsichtigte  Vergessen  jenen  Personen 
gelingt,  welche  unter  denselben  psychischen  Einwirkungen 
gesund  bleiben.  Ich  weiß  nur,  daß  ein  solches  „Vergessen" 
den  von  mir  analysierten  Patienten  nicht  gelungen  ist,  sondern 
zu  verschiedenen  pathologischen  Reaktionen  geführt  hat,  die 
entweder  eine  Hysterie,  oder  eine  Zwangsvorstellung,  oder  eine 
halluzinatorische  Psychose  erzeugten.  In  der  Fähigkeit,  durch 
jene  Willensanstrengung  einen  dieser  Zustände  hervorzurufen, 
die  sämtlich  mit  Bewußtseinsspaltung  verbunden  sind,  ist 
der  Ausdruck  einer  pathologischen  Disposition  zu  sehen,  die 
aber  nicht  notwendig  mit  persönlicher  oder  hereditärer  „De- 
generation" identisch  zu  sein  braucht. 

Über  den  Weg,  der  von  der  Willensanstrengung  des 
Patienten  bis  zur  Entstehung  des  neurotischen  Symptoms 
führt,  habe  ich  mir  eine  Meinung  gebildet,  die  sich  in  den 
gebräuchlichen  psychologischen  Abstraktionen  etwa  so  aus- 
drücken läßt:  Die  Aufgabe,  welche  sich  das  abwehrende  Ich 
stellt,  die  unverträgliche  Vorstellung  als  „non  arrivee"  zu 
behandeln,  ist  für  dasselbe  direkt  unlösbar;  sowohl  die  Ge- 
dächtnisspur als  auch  der  der  Vorstellung  anhaftende  Affekt 
sind  einmal  da  und  nicht  mehr  auszutilgen.  Es  kommt  aber 
einer  ungefähren  Lösung  dieser  Aufgabe  gleich,  wenn  es 
gelingt,  aus  dieser  starken  Vorstellung  eine  schwache 
zu  machen,  ihr  den  Affekt,  die  Erregungssumme,  mit  der 
sie  behaftet  ist,  zu  entreißen.  Die  schwache  Vorstellung  wird 
dann  so  gut  wie  keine  Ansprüche  an  die  Assoziationsarbeit 
zu  stellen  haben ;  die  von  ihr  abgetrennte  Erregungs- 
summe muß  aber  einer  anderen  Verwendung  zu- 
geführt werden. 

1)  Diese  Beispiele  sind  der  noch  nicht  veröffentlichten  ausführlichen 
Arbeit  von  Breuer  und  mir  über  den  psyclüschen  Mechanismus  der 
Hysterie  entnommen. 


49 


Soweit  sind  die  Vorgänge  bei  der  Hysterie  und  bei  den 
Phobien  und  Zwangsvorstellungen  die  gleichen;  von  nun  an 
scheiden  sich  die  Wege.  Bei  der  Hysterie  erfolgt  die  Un- 
schädlichmachung der  unverträgUchen  Vorstellung  dadurch, 
daß  deren  Erregungssumme  ins  Körperliche  um- 
gesetzt wird,  wofür  ich  den  Namen  der  Konversion 
vorschlagen  möchte. 

Die  Konversion  kann  eine  totale  oder  partielle  sein  und 
erfolgt  auf  jene  motorische  oder  sensorische  Innervation  hin, 
die  in  einem  innigen  oder  mehr  lockeren  Zusammenhang  mit 
dem  traumatischen  Erlebnis  steht.  Das  Ich  hat  damit  erreicht, 
daß  es  widerspruchsfrei  geworden  ist,  es  hat  sich  aber  dafür 
mit  einem  Erinnerungssymbol  belastet,  welches  als  unlösbare 
motorische  Innervation  oder  als  stets  wiederkehrende  halluzi- 
natorische Sensation  nach  Art  eines  Parasiten  im  Bewußtsein 
haust,  und  welches  bestehen  bleibt,  bis  eine  Konversion  in 
umgekehrter  Richtung  stattfindet.  Die  Gedächtnisspur  der 
verdrängten  Vorstellung  ist  darum  doch  nicht  untergegangen, 
sondern  büdet  von  nun  an  den  Kern  einer  zweiten  psychischen 
Gruppe. 

Ich  wül  diese  Anschauung  von  den  psycho-physischen 
Vorgängen  bei  der  Hysterie  nur  noch  mit  wenigen  "Worten 
ausführen :  Wenn  einmal  ein  solcher  Kern  für  eine  hysterische 
Abspaltung  in  einem  „traumatischen  Moment"  gebildet  worden 
ist,  so  erfolgt  dessen  Vergrößerung  in  anderen  Momenten, 
die  man  „auxiliär  traumatische**  nennen  könnte,  sobald 
es  eiuem  neu  anlangenden  Eindruck  gleicher  Art  gelingt,  die 
vom  Wülen  hergestellte  Schranke  zu  durchbrechen,  der  ge- 
schwächten Vorstellung  neuen  Affekt  zuzuführen  und  für  eine 
Weüe  die  assoziative  Verknüpfung  beider  psychischer  Gruppen 
zu  erzwingen,  bis  eine  neuerliche  Konversion  Abwehr  schafft. 
—  Der  so  bei  der  Hysterie  erzielte  Zustand  in  der  Verteüung 
der  Erregung  stellt  sich  dann  zumeist  als  ein  labiler  heraus ; 
die  auf  einen  falschen  Weg  (in  die  Körperinnervation)  ge- 
drängte Erregung  gelangt  mitunter  zur  Vorstellung  zurück, 
von  der  sie  abgelöst  wurde,  und  nötigt  dann  die  Person  zur 
assoziativen  Verarbeitung  oder  zur  Erledigung  in  hysterischen 
Anfällen,  wie  der  bekannte  Gegensatz  der  Anfalle  und  der  Dauer- 
Freud,  Nauroaenlehre.  4 


50 


Symptome  beweist.  Die  Wirkung  der  kathartischen  Metkode 
Breuer'sbestekt  darin,  daß  sie  eine  solcke  Zurückleitung  der  Er- 
regungaus dem  Körperlichen  ins  Psychische  zielbewußt  erzeugt, 
um  dann  den  Ausgleich  des  Widerspruches  durch  Denkarbeit 
und  die  Abfuhr  der  Erregung  durch  Sprechen  zu  erzwingen. 

Wenn  die  Bewußtseinsspaltung  der  acquirierten  Hysterie 
auf  einem  Willensakt  beruht,  so  erklärt  sich  überraschend 
leicht  die  merkwürdige  Tatsache,  daß  die  Hypnose  regelmäßig 
das  eingeengte  Bewußtsein  der  Hysterischen  erweitert  und 
die  abgespaltene  psychische  Gruppe  zugänglich  macht.  Wir 
kennen  es  ja  als  Eigentümlichkeit  aller  schlaf  ähnlichen  Zu- 
stände, daß  sie  jene  Verteilung  der  Erregung  aufheben,  auf 
welcher  der  „Wille"  der  bewußten  Persönlichkeit  beruht. 

Wir  erkennen  demnach  das  für  die  Hysterie  charakteri- 
stische Moment  nicht  in  der  Bewußtseinsspaltung,  sondern  in 
der  Fähigkeit  zur  Konversion  und  dürfen  als  ein 
wichtiges  Stück  der  sonst  noch  unbekannten  Disposition  zur 
Hysterie  die  psycho-physische  Eignung  zur  Verlegung  so  großer 
Erregungssummen  in  die  Körperinnervation  anführen. 

Diese  Eignung  schließt  an  und  für  sich  psychische  Ge- 
sundheit nicht  aus  und  führt  zur  Hysterie  nur  im  Falle  einer 
psychischen  Unverträglichkeit  oder  einer  Aufspeicherung  der 
Erregung.  Mit  dieser  Wendung  nähern  wir,  Breuer  und  ich, 
uns  den  bekannten  Definitionen  der  Hysterie  von  Oppen- 
heim^)  und  StfümpeP)  und  sind  von  Jan  et  abgewichen, 
welcher  der  Bewußtseinsspaltung  eine  übergroße  Rolle  in  der 
Charakteristik  der  Hysterie  zuweist^).  Die  hier  gegebene  Dar- 

')  Oppenheim:  Die  Hysterie  ist  ein  gesteigerter  Ausdruck  der  Gemüts- 
bewegung. Der  „Ausdruck  der  Gemütsbewegung"  stellt  aber  jenen  Betrag 
psychischer  Erregung   dar,  der  normalerweise   eine  Konversion  erfährt.^ 

2)Strümpel:  Die  Störung  der  Hysterie  liegt  im  Psycho-physischen, 
dort,  wo  Körperliches  und  Seelisches  mit  einander  zusammenhängen. 

^)  Jan  et  hat  im  zweiten  Abschnitt  seines  geistvollen  Aufsatzes 
„Quelques  definitions  etc."  den  Einwand,  daß  die  Bewoßtseinsspaltung 
auch  den  Psychosen  und  der  sogenannten  Psychasthenie  zukommt,  selbst 
behandelt,  aber  nach  meinem  Ermessen  nicht  befriedigend  gelöst.  Dieser 
Einwand  ist  es  wesentlich,  der  ihn  dazu  drängt,  die  Hysterie  für  eine 
Degenerationsform  zu  erklären.  Er  kann  aber  die  hysterische  Bewußt- 
seinsspaltung durch  keine  Charakteristik  genügend  von  der  psychotischen 
u.  dgl.  sondern. 


51 


Stellung  darf  den  Anspruch  erheben,  daß  sie  den  Zusammen- 
hang der  Konversion  mit  der  hysterischen  Bewußtseinsspaltung 
verstehen  läßt. 

n. 

Wenn  bei  einer  disponierten  Person  die  Eignung  zur 
Konversion  nicht  vorhanden  ist  und  doch  zur  Abwehr  einer 
unerträglichen  Vorstellung  die  Trennung  derselben  von  ihrem 
Affekt  vorgenommen  wird,  dann  muß  dieser  Affekt  auf 
psychischem  Grebiet  verbleib  en.  Die  nun  geschwächte 
Vorstellung  bleibt  abseits  von  aller  Assoziation  im  Bewußtsein 
übrig,  ihr  frei  gewordener  Affekt  aber  hängt  sich  an 
andere,  an  sich  nicht  unverträgliche  Vorstellungen 
an,  die  durch  diese  „falsche  Verknüpfung"  zu  Zwangs- 
vorstellungen werden.  Dies  ist  in  wenig  Worten  die 
psychologische  Theorie  der  Zwangsvorstellungen  und  Phobien, 
von  der  ich  eingangs  gesprochen  habe. 

Ich  werde  nun  angeben,  welche  von  den  Stücken,  die 
in  dieser  Theorie  gefordert  sind,  sich  direkt  nachweisen 
lassen,  welche  andere  ich  ergänzt  habe.  Direkt  nachweisbar 
ist  außer  dem  Endprodukt  des  Vorganges,  eben  der  Zwangs- 
vorstellung, zunächst  die  Quelle,  aus  welcher  der  in  falscher 
Verknüpfung  befindliche  Affekt  stammt.  In  aUen  von  mir 
analysierten  FäUen  war  es  das  Sexualleben,  welches  einen 
peinlichen  Affekt  von  genau  der  nämlichen  Beschaffenheit 
geliefert  hatte,  wie  er  der  Zwangsvorstellung  anhing.  Es 
ist  theoretisch  nicht  ausgeschlossen,  daß  dieser  Affekt  nicht 
gelegentlich  auf  anderem  Gebiete  entstehen  könnte ;  ich  habe 
bloß  mitzuteilen,  daß  eine  andere  Herkunft  sich  mir  bisher 
nicht  ergeben  hat.  Übrigens  versteht  man  es  leicht,  daß 
gerade  das  Sexualleben  die  reichlichsten  Anlässe  zum  Auf- 
tauchen unverträglicher  Vorstellungen  mit  sich  bringt. 

Nachweisbar  ist  ferner  durch  die  unzweideutigsten 
Äußerungen  der  Klranken  die  Willensanstrengung,  der  Ver- 
such zur  Abwehr,  auf  den  die  Theorie  Gewicht  legt,  und 
wenigstens  in  einer  Reihe  von  FäUen  geben  die  Kranken  selbst 
darüber  Aufschluß,  daß  die  Phobie  oder  Zwangsvorstellung 
erst  dann  auftrat,  nachdem  die  Willensanstrengung  scheinbar 
ihre  Absicht   erreicht  hatte.   „Mir  ist  einmal  etwas  sehr  ün- 


4 


52 


angenehmes  passiert,  ich  habe  mich  mit  Macht  bemüht,  es 
fortzuschieben,  nicht  mehr  daran  zu  denken.  Endlich  ist  es 
mir  gelungen,  da  bekam  ich  dafür  das  andere,  das  ich  seither 
nicht  losgeworden  bin."  Mit  diesen  Worten  bestätigte  mir 
eine  Patientin  die  Hauptpunkte  der  hier  entwickelten  Theorie. 

Nicht  alle,  die  an  Zwangsvorstellungen  leiden,  machen 
sich  die  Herkunft  derselben  so  klar.  In  der  Regel  bekömmt 
man,  wenn  man  den  Kranken  auf  die  ursprüngliche  Vorstellung 
sexueller  Natur  aufmerksam  macht,  die  Anwort :  „Davon  kann 
es  ja  doch  nicht  kommen.  Ich  habe  ja  gar  nicht  viel  daran 
gedacht.  Einen  Moment  war  ich  erschrocken,  dann  habe  ich 
mich  abgelenkt  und  seither  Ruhe  davor  gehabt."  In  dieser 
so  häufigen  Einwendung  liegt  ein  Beweis,  daß  die  Zwangs- 
vorstellung einen  Ersatz  oder  Surrogat  der  unverträglichen 
sexuellen  Vorstellung  darstellt  und  sie  im  Bewußtsein  ab- 
gelöst hat. 

Zwischen  der  "Willensanstrengung  des  Patienten,  der  es 
gelingt,  die  unannehmbare  sexuelle  Vorstellung  zu  verdrängen, 
und  dem  Auftauchen  der  Zwangsvorstellung,  die,  an  sich 
wenig  intensiv,  hier  mit  unbegreiflich  starkem  Affekt  aus- 
gestattet ist,  klafft  die  Lücke,  welche  die  hier  entwickelte 
Theorie  ausfüllen  will.  Die  Trennung  der  sexuellen  Vorstellung 
von  ihrem  Affekt  und  die  Verknüpfung  des  letzteren  mit 
einer  anderen,  passenden,  aber  nicht  unverträglichen  Vor- 
stellung —  dies  sind  Vorgänge,  die  ohne  Bewußtsein  geschehen, 
die  man  nur  supponieren,  aber  durch  keine  klinisch-psycho- 
logische Analyse  erweisen  kann.  Vielleicht  wäre  es  richtiger, 
zu  sagen:  Dies  sind  überhaupt  nicht  Vorgänge  psychischer 
Natur,  sondern  physische  Vorgänge,  deren  psychische  Folge 
sich  so  darstellt,  als  wäre  das  durch  die  Redensarten :  Trennung 
der  Vorstellung  von  ihrem  Affekt  und  falsche  Verknüpfung 
des  letzteren.  Ausgedrückte  wirklich  geschehen. 

Neben  den  Fällen,  die  ein  Nacheinander  der  sexuellen 
unverträglichen  Vorstellung  und  der  Zwangsvorstellung  be- 
weisen, findet  man  eine  Reihe  anderer,  in  denen  gleichzeitig 
Zwangsvorstellungen  und  peinlich  betonte  sexuelle  Vor- 
stellungen vorhanden  sind.  Letztere  „sexuelle  Zwangsvor- 
stellungen" zu  heißen,    geht  nicht  gut  an;    es  mangelt  ihnen 


53 


ein  wesentliclier  Charakter  der  Zwangsvorstellmigen ;  sie  er- 
weisen sich  als  vollberechtigt,  während  die  Peinlichkeit  der 
gemeinen  Zwangsvorstellungen  ein  Problem  für  den  Arzt  und 
den  Kranken  bildet.  Soweit  ich  mir  in  Fälle  dieser  Art  Ein- 
sicht verschaffen  konnte,  handelte  es  sich  hier  um  eine  fort- 
gesetzte Abwehr  gegen  beständig  neu  anlangende  sexuelle 
Vorstellungen,  eine  Arbeit  also,  die  noch  nicht  zum  Abschluß 
gekommen  war. 

Die  Kranken  verheimKchen  häufig  ihre  Zwangsvor- 
stellungen, so  lange  sie  sich  der  sexuellen  Abkunft  derselben 
bewußt  sind.  Wenn  sie  darüber  klagen,  so  geben  sie  zumeist 
ihrer  Verwunderung  darüber  Ausdruck,  daß  sie  dem  betreffenden 
Affekt  unterliegen,  daß  sie  sich  ängstigen,  bestimmte  Impulse 
haben  u.  dgl.  Dem  kundigen  Arzt  dagegen  erscheint  dieser 
Affekt  berechtigt  und  verständlich;  er  findet  das  Auffällige 
nur  in  der  Verknüpfung  eines  solchen  Affektes  mit  einer 
hiefür  nicht  würdigen  Vorstellung.  Der  Affekt  der  Zwangs- 
vorstellung erscheint  ihm  —  mit  anderen  Worten  —  als  ein 
dislocierter  oder  transponierter,  und  wenn  er  die 
hier  niedergelegten  Bemerkungen  angenommen  hat,  kann  er 
für  eine  große  Reihe  von  Fällen  von  Zwangsvorstellung  die 
Rückübersetzung   ins   Sexuelle   versuchen. 

Zur  sekundären  Verknüpfung  des  frei  gewordenen  Affektes 
kann  jede  Vorstellung  benützt  werden,  die  entweder  ihrer 
Natur  nach  mit  einem  Affekt  von  solcher  Qualität  ver- 
einbar ist,  oder  die  gewisse  Beziehungen  zur  unverträglichen 
hat,  denen  zufolge  sie  als  Surrogat  derselben  brauchbar  er- 
scheint. So  zum  Beispiel  wirft  sich  frei  gewordene  Angst,  deren 
sexuelle  Herkunft  nicht  erinnert  werden  soll,  auf  die  gemeinen 
primären  Phobien  des  Menschen  vor  Tieren,  Gewitter,  Dunkel- 
heit u.  dgl.,  oder  auf  Dinge,  die  unverkennbar  mit  dem 
Sexuellen  in  irgend  einer  Art  assoziiert  sind,  auf  das  Urinieren, 
die  Defäkation,  auf  Beschmutzung  und  Ansteckung  überhaupt. 

Der  Vorteil,  den  das  Ich  erreicht,  indem  es  zur  Abwehr 
den  Weg  der  Transposition  des  Affektes  einschlägt,  ist 
ein  weit  geringerer  als  bei  der  hysterischen  Konver- 
sion psychischer  Erregung  in  somatische  Innervation.  Der 
Affekt,   unter   dem   das   Ich  gelitten  hat,   bleibt  unverändert 


54 


und  uiiverringert  nach  wie  vor,  nur  daß  die  unverträgliche 
Vorstellung  niedergehalten,  vom  Erinnern  ausgeschlossen  ist. 
Die  verdrängten  Vorstellungen  bilden  wiederum  den  Kern 
einer  zweiten  psychischen  Gruppe,  die,  wie  mir  scheint,  auch 
ohne  Zuhilfenahme  der  Hypnose  zugänglich  ist.  Wenn  bei 
den  Phobien  und  Zwangsvorstellungen  die  auffälligen  Symp- 
tome ausbleiben,  welche  bei  der  Hysterie  die  Bildung  einer 
unabhängigen  psychischen  Gruppe  begleiten,  so  rührt  dies 
wohl  daher,  daß  im  ersteren  Falle  die  gesamte  Veränderung 
auf  psychischem  Gebiet  geblieben  ist,  die  Beziehung  zwischen 
psychischer  Erregung  und  somatischer  Innervation  keine 
Änderung  erfahren  hat. 

Ich  will  das  hier  über  die  Zwangsvorstellungen  Gesagte 
durch  einige  Beispiele  erläutern,  die  wahrscheinlich  typischer 
Natur  sind: 

1.  Ein  junges  Mädchen  leidet  an  Zwangsvorwürfen.  Las 
sie  in  der  Zeitung  von  Falschmünzern,  so  kam  ihr  der  Ge- 
danke, sie  habe  auch  falsches  Geld  gemacht;  war  irgendwo 
von  einem  unbekannten  Täter  eine  Mordtat  geschehen,  so 
fragte  sie  sich  ängstlich,  ob  sie  nicht  diesen  Mord  begangen 
habe.  Dabei  war  sie  sich  der  Ungereimtheit  dieser  Zwangs- 
vorwürfe klar  bewußt.  Eine  Zeit  lang  gewann  das  Schuld- 
bewußtsein solche  Macht  über  sie,  daß  ihre  Kritik  erstickt 
wurde  und  sie  sich  vor  ihren  Verwandten  und  vor  dem  Arzt 
anklagte,  sie  habe  alle  diese  Untaten  wirklich  begangen 
(Psychose  durch  einfache  Steigerung  —  Überwältigungs- 
psychose).  Ein  scharfes  Verhör  deckte  jetzt  die  Quelle  auf, 
aus  der  ihr  Schuldbewußtsein  stammte:  Durch  eine  zufälHge 
wollüstige  Empfindung  angeregt,  hatte  sie  sich  von  einer 
Freundin  zur  Masturbation  verleiten  lassen  und  betrieb  diese 
seit  Jahren  mit  dem  vollen  Bewußtsein  ihres  Unrechtes  und 
unter  den  heftigsten,  aber  wie  gewöhnlich  nutzlosen  Selbst- 
vorwürfen. Ein  Exzeß  nach  dem  Besuche  eines  Balles  hatte 
die  Steigerung  zur  Psychose  hervorgerufen.  —  Das  Mädchen 
heilte  nach  einigen  Monaten  Behandlung  und  strengster 
Überwachung. 

2.  Ein  anderes  Mädchen  Htt  unter  der  Furcht,  von 
Harndrang  überfallen  zu  werden  und  sich  nässen  zu  müssen, 


55 


seitdem  ein  solcher  Drang  sie  wii-klich  einmal  genötigt  hatte, 
einen  Konzertsaal  während  der  Aufführung  zu  verlassen. 
Diese  Phobie  hatte  sie  allmählich  völlig  genuß-  und  ver- 
kehrsunfähig gemacht.  Sie  fühlte  sich  nur  wohl,  wenn  sie  ein 
Kloset  in  der  Nähe  wußte,  zu  dem  sie  unauffäUig  gelangen 
konnte.  Ein  organisches  Leiden,  welches  dieses  Mißtrauen 
in  die  Beherrschung  der  Blase  gerechtfertigt  hätte,  war  aus- 
geschlossen. Der  Harndrang  war  zu  Hause  unter  ruhigen 
Verhältnissen  und  zur  Nachtzeit  nicht  vorhanden.  Eingehen- 
des Examen  wies  nach,  daß  der  Harndrang  zum  ersten  Male 
unter  folgenden  Verhältnissen  aufgetreten  war:  In  dem  Kon- 
zertsaale hatte  ein  Herr  nicht  weit  von  ihr  Platz  genommen, 
der  ihrem  Empfinden  nicht  gleichgütig  war.  Sie  begann  an 
ihn  zu  denken  und  sich  auszumalen,  wie  sie  als  seine  Frau 
neben  ihm  sitzen  würde.  In  dieser  erotischen  Träumerei  be- 
kam sie  jene  körperliche  Empfindung,  die  man  mit  der  Erek- 
tion des  Mannes  vergleichen  muß,  und  die  bei  [ihr  —  ich 
weiß  nicht,  ob  allgemein  —  mit  einem  leichten  Harndrang 
abschloß.  Sie  erschrak  jetzt  heftig  über  die  ihr  sonst  ge- 
wohnte sexuelle  Empfindung,  weil  sie  bei  sich  beschlossen 
hatte,  diese  wie  jede  andere  Neigung  zu  bekämpfen,  und  im 
nächsten  Moment  hatte  sich  der  Afiekt  auf  den  begleitenden 
Harndrang  übertragen  und  nötigte  sie,  nach  qualvollem  Kampf 
den  Saal  zu  verlassen.  Sie  war  im  Leben  so  prüde,  daß  sie 
sich  vor  allem  Sexuellen  intensiv  grauste,  und  den  Gedanken^ 
je  zu  heiraten,  nicht  fassen  konnte;  andererseits  war  sie 
sexuell  so  hyperästhetisch,  daß  bei  jeder  erotischen  Träumerei 
die  sie  sich  gerne  gestattete,  jene  wollüstige  Empfindung 
auftrat.  Der  Harndrang  hatte  die  Erektion  jedesmal  begleitet, 
ohne  ihr  bis  zu  der  Szene  im  Konzertsaal  einen  Eindruck 
zu  machen.  Die  Behandlung  führte  zu  einer  fast  vollkommenen 
Beherrschung  der  Phobie. 

3.  Eine  junge  Frau,  die  aus  fünfjähriger  Ehe  nur  ein 
Kind  hatte,  klagte  mir  über  den  Zwangsimpuls,  sich  vom 
Fenster  oder  Balkon  zu  stürzen,  und  über  die  Furcht,  die 
sie  beim  Anblick  eines  scharfen  Messers  ergreife,  ihr  Kind 
damit  zu  erstechen.  Der  eheliche  Verkehr,  gestand  sie  zu, 
werde   selten   und   nur   mit    Vorsicht    gegen   die    Konzeption 


56 


ausgeübt;  allein  das  feUe  ilir  niclit,  sie  sei  keine  sinnliche 
Natur.  Ich  getraute  mich  darauf  ihr  zu  sagen,  daß  sie  beim 
Anblicke  eines  Mannes  erotische  Vorstellungen  bekomme,  daß 
sie  darum  das  Vertrauen  zu  sich  verloren  habe  und  sich  als 
eine  verworfene  Person  vorkomme,  die  zu  allem  fähig  sei. 
Die  E.i\ckübersetzung  der  Zwangsvorstellung  ins  Sexuelle  war 
gelungen;  sie  gestand  sofort  weinend  ihr  lange  verborgenes 
eheliches  Elend  ein  und  teilte  später  auch  peinliche  Vor- 
stellungen von  unverändert  sexuellem  Charakter  mit,  so  die 
häufig  wiederkehrende  Empfindung,  als  ob  sich  etwas  unter 
ihre  Röcke  dränge. 

Ich  habe  mir  derartige  Erfahrungen  für  die  Therapie 
zunutze  gemacht,  um  bei  Phobien  und  Zwangsvorstellungen 
trotz  alles  Sträubens  der  Kranken  die  Aufmerksamkeit  auf 
die  verdrängten  sexuellen  Vorstellungen  zurückzulenken  und, 
wo  es  anging,  die  Quellen,  aus  denen  dieselben  stammten,  zu 
verstopfen.  Ich  kann  natürlich  nicht  behaupten,  daß  alle 
Phobien  und  Zwangsvorstellungen  auf  die  hier  aufgedeckte 
Weise  entstehen;  erstens  umfaßt  meine  Erfahrung  eine  im 
Verhältnis  zur  Reichhaltigkeit  dieser  Neurosen  nur  beschränkte 
Anzahl,  und  zweitens  weiß  ich  selbst,  daß  diese  „psycha- 
sthenischen"  Symptome  (nach  J a n e t s  Bezeichnung)  nicht 
alle  gleichwertig  sind.  *)  Es  gibt  zum  Beispiel  rein  hysterische 
Phobien.  Ich  meine  aber,  daß  der  Mechanismus  der  Trans- 
position  des  Affektes  bei  der  großen  Mehrzahl  der  Phobien 
und  Zwangsvorstellungen  nachzuweisen  sein  wird,  und  möchte 
dafür  eintreten,  diese  Neurosen,  die  sich  ebenso  ott  isoliert 
als  mit  Hysterie  oder  Neurasthenie  kombiniert  finden,  nicht  mit 
der  gemeinen  Neurasthenie  zsammenzuwerfen,  für  deren  Grund- 
symptome ein  psychischer  Mechanismus  gar  nicht  anzu- 
nehmen ist. 


J)  Die  Gruppe  von  typischen  Phobien,  für  welche  die  Agora- 
phobie VorbUd  ist,  läßt  sich  nicht  auf  den  oben  entwickelten  psychi- 
schen Mechanismus  zurückführen,  vielmehr  weicht  der  Mechanismus  der 
Agoraphobie  von  dem  der  echten  Zwangsvorstellungen  und  der  auf 
solche  reduzierbaren  Phobien  in  einem  entscheidenden  Punkte  ab.  Es 
findet  sich  hier  keine  verdrängte  Vorstellung,  von  welcher  der  Angst- 
affekt abgetrennt  wäre.  Die  Angst  dieser  Phobien  hat  einen  anderen 
Ursprung. 


57 


m. 

In  beiden  bisher  betrachteten  Fällen  war  die  Abwehr 
der  unverträglichen  Vorstellung  durch  Trennung  derselben 
von  ihrem  Affekt  geschehen ;  die  Vorstellung  war,  wenngleich 
geschwächt  und  isoliert,  dem  Bewußtsein  verblieben.  Es  gibt 
nun  eine  weit  energischere  und  erfolgreichere  Art  der  Abwehr, 
die  darin  besteht,  daß  das  Ich  die  unerträgliche  Vorstellung 
mitsamt  ihrem  Affekt  verwirft  und  sich  so  benimmt,  als  ob 
die  Vorstellung  nie  an  das  Ich  herangetreten  wäre.  Allein 
in  dem  Moment,  in  dem  dies  gelungen  ist,  be- 
findet sich  die  Person  in  einer  Psychose,  die 
man  wohl  nur  als  „halluzinatorische  Verworren- 
heit" klassifizieren  kann.  Ein  einziges  Beispiel  soll 
diese  Behauptung  erläutern: 

Ein  junges  Mädchen  hat  einem  Manne  eine  erste  im- 
pulsive Neigung  geschenkt  und  glaubt  fest  an  seine  Gegen- 
liebe. Tatsächlich  befindet  sie  sich  im  Irrtum;  der  junge 
Mann  hat  ein  anderes  Motiv,  ihr  Haus  aufzusuchen.  Die 
Enttäuschungen  bleiben  auch  nicht  aus;  sie  erwehrt  sich 
ihrer  zunächst,  indem  sie  die  entsprechenden  Erfahrungen 
hysterisch  konvertiert,  erhält  so  ihren  Glauben,  daß  er  eines 
Tages  kommen  und  um  sie  anhalten  würde,  fühlt  sich  aber 
dabei  infolge  unvollständiger  Konversion  und  beständigen 
Andranges  neuer  schmerzlicher  Eindrücke  unglücklich  und 
krank.  Sie  erwartet  ihn  endlich  in  höchster  Spannung  für 
einen  bestimmten  Tag,  den  Tag  einer  Familienfeier.  Der 
Tag  verrinnt,  ohne  daß  er  gekommen  wäre.  Nachdem  alle 
Züge,  mit  denen  er  ankommen  könnte,  vorüber  sind,  schlägt 
sie  in  halluzinatorische  Verworrenheit  um.  Er  ist  angekommen, 
sie  hört  seine  Stimme  im  Garten,  eilt  in  Nachtkleidung 
herunter,  ihn  zu  empfangen.  Von  da  an  lebt  sie  durch  zwei 
Monate  in  einem  glücklichen  Traum,  dessen  Inhalt  ist:  er 
sei  da,  sei  immer  um  sie,  es  sei  alles  so  wie  vorhin  (vor 
der  Zeit  der  mühsam  abgewehrten  Enttäuschungen).  Hysterie 
und  Verstimmung  sind  überwunden;  von  der  ganzen  letzten 
Zeit  des  Zweifels  und  der  Leiden  wird  während  der  Krank- 
heit nicht  gesprochen;  sie  ist  glücklich,  so  lange  man  sie 
ungestört  läßt,  und  tobt  nur  dann,  wenn  eine  Maßregel  ihrer 


58 


Umgebung  sie  an  etwas  hindert,  was  sie  ganz  konsequent 
aus  ihrem  seligen  Traum  folgern  will.  Diese  seinerzeit  un- 
verständliche Psychose  wurde  zehn  Jahre  später  durch  eine 
hypnotische  Analyse  aufgedeckt. 

Die  Tatsache,  auf  die  ich  aufmerksam  mache,  ist  die, 
daß  der  Inhalt  einer  solchen  halluzinatorischen  Psychose 
gerade  in  der  Hervorhebung  jener  Vorstellung 
besteht,  die  durch  den  Anlaß  der  Erkrankung  bedroht 
war.  Man  ist  also  berechtigt  zu  sagen,  daß  das  Ich  durch 
die  Flucht  in  die  Psychose  die  unerträgliche  Vorstellung 
abgewehrt  hat ;  der  Vorgang,  durch  den  dies  erreicht  worden 
ist,  entzieht  sich  wiederum  der  Selbstwahrnehmung  wie  der 
psychologisch -klinischen  Analyse.  Er  ist  als  der  Ausdruck 
einer  pathologischen  Disposition  höheren  Grades  anzusehen 
und  läßt  sich  etwa  wie  folgt  umschreiben:  Das  Ich  reißt 
sich  von  der  unverträglichen  Vorstellung  los,  diese  hängt  aber 
untrennbar  mit  einem  Stück  der  Realität  zusammen,  und 
indem  das  Ich  diese  Leistung  vollbringt,  hat  es  sich  auch 
von  der  Realität  ganz  oder  teilweise  losgelöst.  Letzteres  ist 
nach  meiner  Meinung  die  Bedingung,  unter  der  eigenen  Vor- 
stellungen halluzinatorische  Lebhaftigkeit  zuerkannt  wird, 
und  somit  befindet  sich  die  Person  nach  glücklich  gelungener 
Abwehr  in  halluzinatorischer  Verworrenheit. 

Ich  verfüge  nur  über  sehr  wenige  Analysen  von  der- 
artigen Psychosen;  ich  meine  aber,  es  muß  sich  um  einen 
sehr  häufig  benützten  Typus  psychischer  Erkrankung  handeln, 
denn  die  als  analog  aufzufassenden  Beispiele  der  Mutter, 
die,  über  den  Verlust  ihres  Kindes  erkrankt,  jetzt  unablässig 
ein  Stück  Holz  im  Arme  wiegt,  oder  der  verschmähten  Braut, 
die  seit  Jahren  im  Putz  ihren  Bräutigam  erwartet,  fehlen  in 
keinem  Irrenhause. 

Es  ist  vielleicht  nicht  überflüssig  hervorzuheben,  daß 
die  drei  hier  geschilderten  Arten  der  Abwehr  und  somit  die 
drei  Formen  von  Erkrankung,  zu  denen  diese  Abwehr  führt, 
an  derselben  Person  vereinigt  sein  können.  Das  gleichzeitige 
Vorkommen  von  Phobien  und  hysterischen  Symptomen,  das 
in  praxi  so  häufig  beobachtet  wird,  gehört  ja  mit  zu  den 
Momenten,    die    eine    reinliche    Trennung    der    Hysterie    von 


59 


anderen  Neurosen  erschweren  und  zur  Aufstellung  der 
„gemischten  Neurosen"  nötigen.  Die  halluzinatorische  Ver- 
worrenheit zwar  verträgt  sich  häufig  nicht  mit  dem  Fort- 
bestand der  Hysterie,  in  der  Regel  nicht  mit  dem  der  Zwangs- 
vorstellungen. Dafür  ist  es  nichts  seltenes,  daß  eine  Abwehr- 
psychose den  Verlauf  einer  hysterischen  oder  gemischten 
Neurose  episodisch  durchbricht. 


Ich  will  endhch  mit  wenigen  Worten  der  Hilfsvor- 
stellung gedenken,  deren  ich  mich  in  dieser  Darstellung  der 
Abwehrneurosen  bedient  habe.  Es  ist  dies  die  Vorstellung, 
daß  an  den  psychischen  Funktionen  etwas  zu  unterscheiden 
ist  (Affektbetrag,  Erregungssumme),  das  alle  Eigenschaften 
einer  Quantität  hat  —  wenngleich  wir  kein  Mittel  besitzen, 
dieselbe  zu  messen  —  etwas,  das  der  Vergrößerung,  Ver- 
minderung, der  Verschiebung  und  der  Abfuhr  fähig  ist  und 
sich  über  die  Gedächtnisspuren  der  Vorstellungen  verbreitet, 
etwa  wie  eine  elektrische  Ladung  über  die  Oberflächen  der 
Körper. 

Man  kann  diese  Hypothese,  die  übrigens  bereits  unserer 
Theorie  des  „Abre agier ens"  (Vorläufige  Mitteilung  1893)  zu- 
grunde liegt,  in  demselben  Sinne  verwenden,  wie  es  die 
Physiker  mit  der  Annahme  des  strömenden  elektrischen 
Fluidums  tun.  Grerechtfertigt  ist  sie  vorläufig  durch  ihre 
Brauchbarkeit  zur  Zusammenfassung  und  Erklärung  mannig- 
faltiger psychischer  Zustände. 

Wien,  Ende  Jänner  1894. 


V. 

über  die  Berechtigung,  von  der  Neurasthenie 

einen  bestimmten  Symptomenkomplex  als 

„Angstneurose"  abzutrennen. 0 

Es  ist  schwierig,  etwas  Allgemeingiltiges  von  der  Neu- 
rasthenie auszusagen,  so  lange  man  diesen  Krankheitsnamen 
all  das  bedeuten  läßt,  wofür  Beard  ihn  gebraucht  hat.  Die 
Neuropathologie,  meine  ich,  kann  nur  dabei  gewinnen,  wenn 
man  den  Versuch  macht,  von  der  eigentlichen  Neurasthenie 
alle  jene  neurotischen  Störungen  abzusondern,  deren  Symp- 
tome einerseits  unter  einander  fester  verknüpft  sind  als  mit 
den  typischen  neurasthenischen  Symptomen  (dem  Kopfdruck, 
der  Spinalirritation,  der  Dyspepsie  mit  Flatulenz  und  Obsti- 
pation), und  die  andererseits  in  ihrer  Ätiologie  und  ihrem 
Mechanismus  wesentliche  Verschiedenheiten  von  der  typischen 
neurasthenischen  Neurose  erkennen  lassen.  Nimmt  man  diese 
Absicht  an,  so  wird  man  bald  ein  ziemlich  einförmiges  Bild 
der  Neurasthenie  gewonnen  haben.  Man  wird  es  dann  dahin 
bringen,  schärfer,  als  es  bisher  gelungen  ist,  verschiedene 
Pseudoneurasthenien  (das  Bild  der  organisch  vermittelten 
nasalen  Reflexneurose,  die  nervösen  Störungen  der  Kachexien 
und  der  Arteriosklerose,  die  Vorstadien  der  progressiven 
Paralyse  und  mancher  Psychosen)  von  echter  Neurasthenie 
zu  unterscheiden,  ferner  werden  sich  —  nach  M  ö  b  i  u  s'  Vor- 
schlag —  manche  Status  nervosi  der  hereditär  Degenerierten 
abseits  stellen  lassen,  imd  man  wird  auch  Gründe  finden, 
manche  Neurosen,  die  man  heute  Neurasthenie  heißt,  beson- 
ders intermittierender  oder  periodischer  Natur,  vielmehr  der 
MelanchoKe  zuzurechnen.    Die  einschneidendste  Veränderung 


*)  „Neurologisches  Centralblatt",  1895,  Nr.  2. 


61 


bahnt  man  aber  an,  wenn  man  sich  entschließt,  von  der 
Neurasthenie  jenen  Symptomenkomplex  abzutrennen,  den  ich 
im  folgenden  beschreiben  werde,  und  der  die  oben  auf- 
gestellten Bedingungen  in  besonders  zureichender  "Weise  er- 
füllt. Die  Symptome  dieses  Komplexes  stehen  klinisch  ein- 
ander weit  näher  als  den  echt  neurasthenischen  (d.  h.  sie 
kommen  häufig  zusammen  vor,  vertreten  einander  im  Krank- 
heits verlauf),  und  Ätiologie  wie  Mechanismus  dieser  Neurose 
sind  grundverschieden  von  der  Ätiologie  und  dem  Mechanismus 
der  echten  Neurasthenie,  wie  sie  uns  nach  solcher  Sonderung 
erübrigt. 

Ich  nenne  diesen  Symptomenkomplex  „Angstneurose", 
weil  dessen  sämtliche  Bestandteile  sich  um  das  Hauptsymptom 
der  Angst  gruppieren  lassen,  weil  jeder  einzelne  von  ihnen 
eine  bestimmte  Beziehung  zur  Angst  besitzt.  Ich  glaubte, 
mit  dieser  Auffassung  der  Symptome  der  Angstneurose 
originell  zu  sein,  bis  mir  ein  interessanter  Vortrag  von 
E.  Hecker ^)  in  die  Hände  fiel,  in  welchem  ich  die  näm- 
Kche  Deutung  mit  aller  wünschenswerten  Klarheit  und  Voll- 
ständigkeit dargelegt  fand.  Heck  er  löst  die  von  ihm  als 
Äquivalente  oder  Rudimente  des  AngstanfaUes  erkannten 
Symptome  allerdings  nicht  aus  dem  Zusammenhange  der 
Neurasthenie,  wie  ich  es  beabsichtige ;  allein  dies  rührt  offenbar 
daher,  daß  er  auf  die  Verschiedenheit  der  ätiologischen  Be- 
dingungen hier  und  dort  keine  Rücksicht  genommen  hat. 
Mit  der  Kenntnis  dieser  letzteren  Differenz  entfällt  jeder 
Zwang,  die  Angstsymptome  mit  demselben  Namen  wie  die 
echt  neurasthenischen  zu  bezeichnen,  denn  die  sonst  will- 
kürliche Namengebung  hat  vor  allem  den  Zweck,  uns  die 
Aufstellung  allgemeiner  Behauptungen  zu  erleichtern. 

I.   Elinisclie  Symptomatologie  der  Angstneurose. 

Was  ich  „Angstneurose"  nenne,  kommt  in  vollständiger 
oder   rudimentärer  Ausbildung,   isoliert   oder   in  Kombination 

1)  E.  Hecker:  Über  larvierte  und  abortive  Angstzustände  bei 
Neurasthenie.  Centralblatt  für  Nervenheükunde,  Dezember  1893.  —  Die 
Angst  wird  geradezu  unter  den  Hauptsymptomen  der  Neurasthenie  an- 
geführt in  der  Studie  von  Kaan:  Der  neurasthenische  Angstaffekt  bei 
Zwangsvorstellungen  und  der  primordiale  Grübelzwang,  Wien  1893. 


62 


mit  anderen  Neurosen  zur  Beobachtung.  Die  einigermaßen 
vollständigen  und  dabei  isoHerten  Fälle  sind  natürlich  die- 
jenigen, welche  den  Eindruck,  daß  die  Angstneurose  klinische 
Selbständigkeit  besitze,  besonders  unterstützen.  In  anderen 
FäUen  steht  man  vor  der  Aufgabe,  aus  einem  Symptomen- 
komplex, welcher  einer  „gemischten  Neurose"  entspricht, 
diejenigen  herauszuklauben  und  zu  sondern,  die  nicht  der 
Neurasthenie,  Hysterie  u.  dgl.,  sondern  der  Angstneurose 
zugehören. 

Das  klinische  Bild  der  Angstneurose  umfaßt  folgende 
Symptome : 

1.  Die  allgemeine  Reizbarkeit.  Diese  ist  ein 
häufiges  nervöses  Symptom,  als  solches  vielen  Status  nervosi 
eigen.  Ich  führe  sie  hier  an,  weil  sie  bei  der  Angstneurose 
konstant  vorkommt  und  theoretisch  bedeutsam  ist.  Gesteigerte 
Reizbarkeit  deutet  ja  stets  auf  Anhäufung  von  Erregung 
oder  auf  Unfähigkeit,  Anhäufung  zu  ertragen,  also  auf 
absolute  oder  relative  Reizanhäufung.  Einer  besonderen 
Hervorhebung  wert  finde  ich  den  Ausdruck  dieser  gesteigerten 
Reizbarkeit  durch  eine  Gehörshyperästhesie,  eine  Über- 
empfindhchkeit  gegen  Geräusche,  welches  Symptom  sicherHch 
durch  die  mitgeborene  innige  Beziehung  zwischen  Gehörs- 
eindrücken und  Erschrecken  zu  erklären  ist.  Die  Gehörs- 
hyperästhesie findet  sich  häufig  als  Ursache  der  Schlaflosig- 
keit, von  welcher  mehr  als  eine  Form  zur  Angstneurose  gehört. 

2.  Die  ängstliche  Erwartung.  Ich  kann  den 
Zustand,  den  ich  meine,  nicht  besser  erläutern,  als  durch 
diesen  Namen  und  einige  beigefügte  Beispiele.  Eine  Frau 
z.  B.,  die  an  ängsthcher  Erwartung  leidet,  denkt  bei 
jedem  Hustenstoß  ihres  katarrhalisch  affizierten  Mannes  an 
Influenzapneumonie  und  sieht  im  Geiste  seinen  Leichenzug 
vorüberziehen.  Wenn  sie  auf  dem  Wege  nach  Hause  zwei 
Personen  vor  ihrem  Haustor  beisammenstehend  sieht,  kann 
sie  sich  des  Gedankens  nicht  erwehren,  daß  eines  ihrer 
Kinder  aus  dem  Fenster  gestürzt  sei ;  wenn  sie  die  Glocke 
läuten  hört,  so  bringt  man  ihr  eine  Trauerbotschaft  u.  dgl., 
während  doch  in  allen  diesen  Fällen  kein  besonderer  Anlaß 
zur  Verstärkung  einer  bloßen  MögHchkeit  vorliegt. 


65 


Die  ängstliche  Erwartung  klingt  natürlich  stetig  ins 
Normale  ab,  umfaßt  alles,  was  man  gemeinhin  als  „Ängst- 
Kchkeit,  Neigung  zu  pessimistischer  Auffassung  der  Dinge" 
bezeichnet,  geht  aber  so  oft  als  möglich  über  solche  plausible 
Ängstlichkeit  hinaus  und  ist  häufig  selbst  für  den  Kranken 
als  eine  Art  von  Zwang  erkenntlich.  Für  eine  Form  der 
ängstUchen  Erwartung,  nänüich  für  die  in  bezug  auf  die 
eigene  Gesundheit,  kann  man  den  alten  Krankheitsnamen 
Hypochondrie  reservieren.  Die  Hypochondrie  geht  nicht 
immer  der  Höhe  der  allgemeinen  ängstUchen  Erwartung 
parallel,  sie  verlangt  als  Vorbedingung  die  Existenz  von 
Parästhesien  und  peinlichen  Körperempfindungen,  und  sa 
wird  die  Hypochondrie  die  Form,  welche  die  echten  Neu- 
rastheniker  bevorzugen,  sobald  sie,  was  häufig  geschieht,  der 
Angstneurose  verfallen. 

Eine  weitere  Äußerung  der  ängstlichen  Erwartung  dürfte 
die  bei  moralisch  empfindlicheren  Personen  so  häufige  Neigung 
zur  Gewissensangst,  zur  Skrupulosität  und  Pedanterie 
sein,  die  gleichfalls  vom  Normalen  bis  zur  Steigerung  als 
Zweifelsucht  variiert. 

Die  ängstliche  Erwartung  ist  das  Kernsymptom  der 
Neurose;  in  ihr  liegt  auch  ein  Stück  von  der  Theorie  der- 
selben frei  zutage.  Man  kann  etwa  sagen,  daß  hier  ein 
Quant  umAngst  fr  ei  flottierend  vorhanden  ist,  welches 
bei  der  Erwartung  die  Auswahl  der  Vorstellungen  beherrscht 
und  jederzeit  bereit  ist,  sich  mit  irgend  einem  passenden 
VorsteUungsinhalt  zu  verbinden. 

3.  Es  ist  dies  nicht  die  einzige  Art,  wie  die  fürs  Bewußt- 
sein meist  latente,  aber  konstant  lauernde  Ängstlichkeit  sich 
äußern  kann.  Diese  kann  vielmehr  auch  plötzlich  ins  Bewußt- 
sein hereinbrechen,  ohne  vom  Vorstellungsablauf  geweckt  zu 
werden,  und  so  einen  Angstanfall  hervorrufen.  Ein  solcher 
Angstanfall  besteht  entweder  einzig  aus  dem  Angstgefühl 
ohne  jede  assoziierte  Vorstellung,  oder  mit  der  nahehegenden 
Deutung  der  Lebens  Vernichtung,  des  „Schlag-treffens",  des 
drohenden  Wahnsinns,  oder  aber  dem  Angstgefühl  ist  irgend 
welche  Parästhesie  beigemengt  (ähnhch  der  hysterischen  Aura), 
oder  endhch  mit  der  Angstempfindung  ist  eine  Störung  irgend 


64 

einer  oder  mehrerer  Körperfunktionen,  der  Atmung,  Herz- 
tätigkeit, der  vasomotorischen  Innervation,  der  Drüsentätigkeit 
verbunden.  Aus  dieser  Kombination  hebt  der  Patient  bald 
das  eine,  bald  das  andere  Moment  besonders  hervor,  er  klagt 
über  „Herzkrampf",  Atemnot",  „Schweißausbrüche",  „Heiß- 
hunger" u.  dgl.,  und  in  seiner  Darstellung  tritt  das  Angst- 
gefühl häufig  ganz  zurück  oder  wird  recht  unkenntlich  als 
ein  „Schlechtwerden",  „Unbehagen"  usw.  bezeichnet. 

4.  Interessant  und  diagnostisch  bedeutsam  ist  nun,  daß 
das  Maß  der  Mischung  dieser  Elemente  im  AngstfaU  ungemein 
variiert,  und  daß  nahezu  jedes  begleitende  Symptom  den 
Anfall  ebensowohl  allein  konstituieren  kann  wie  die  Angst 
selbst.  Es  gibt  demnach  rudimentäre  Angstanfälle 
und  Äquivalente  des  Angstanfalls,  wahrscheinlich 
alle  von  der  gleichen  Bedeutung,  die  einen  großen  und  bis 
jetzt  wenig  gewürdigten  Reichtum  an  Formen  zeigen.  Das 
genauere  Studium  dieser  larvierten  Angstzustände  (H  e  c  k  e  r) 
und  ihre  diagnostische  Trennung  von  anderen  Anfällen 
dürfte  bald  zur  notwendigen  Arbeit  für  den  Neuropathologen 
werden. 

Ich  füge  hier  nur  die  Liste  der  mir  bekannten  Formen 
des  Angstanfalls  an: 

a)  Mit  Störungen  der  Herztätigkeit,  Herzklopfen, 
mit  kurzer  Arrythmie,  mit  länger  anhaltender  Tachykardie  bis 
zu  schweren  Schwächezuständen  des  Herzens,  deren  Unter- 
scheidung von  organischer  Herzaffektion  nicht  immer  leicht 
ist;  Pseudoangina  pectoris,    ein   diagnostisch   heikles  Gebiet! 

h)  Mit  Störungen  der  Atmung,  mehrere  Formen  von 
nervöser  Dyspnoe,  asthmaartigem  Anfall  u.  dgl.  Ich  hebe 
hervor,  daß  selbst  diese  Anfälle  nicht  immer  von  kenntlicher 
Angst  begleitet  sind. 

c)  Anfälle  von   Schweiß ausbrüchen,    oft  nächtlich. 

d)  Anfälle  von  Zittern  und  Schütteln,  die  nur  zu 
leicht  mit  hysterischen  verwechselt  werden. 

c)  AnfäUe  von  Heißhunger,  oft  mit  Schwindel  ver- 
bunden. 

f)  Anfallsweise  auftretende  Diarrhöen. 

g)  Anfälle  vcn  lokomotorischem  Schwindel. 


65 


li)  Anfälle  von  sogenannten  Kongestionen,  so  ziem- 
lich alles,  was  man  vasomotorische  Neurasthenie  genannt  hat. 

i)  AnfäUe  von  Parästhesien  (diese  aber  selten  ohne  Angst 
•oder  ein  ähnliches  Unbehagen). 

5.  Nichts  als  eine  Abart  des  AngstanfaUes  ist  sehr 
häufig  das  nächtliche  Aufschrecken  (Pavor  nocturnus 
der  Erwachsenen),  gewöhnlich  mit  Angst,  mit  Dyspnoe, 
Schweiß  u.  dgl.  verbunden.  Diese  Störung  bedingt  eine  zweite 
Form  von  Schlaflosigkeit  im  Rahmen  der  Angstneurose.  — 
Es  ist  mir  übrigens  unzweifelliaft  geworden,  daß  auch  der 
Pavor  nocturnus  der  Kinder  eine  Form  zeigt,  die  zur  Angst- 
neurose gehört.  Der  hysterische  Anstrich,  die  Verknüpfung 
der  Angst  mit  der  Reproduktion  eines  hierzu  geeigneten 
Erlebnisses  oder  Traumes,  lassen  den  Pavor  nocturnus  der 
Kinder  als  etwas  Besonderes  erscheinen;  er  kommt  aber  auch 
rein  vor,  ohne  Traum  oder  wiederkehrende  Halluzination. 

6.  Eine  hervorragende  SeUung  in  der  Symptomengruppe 
der  Angstneurose  nimmt  der  „Schwindel"  ein,  der  in  seinen 
leichtesten  Formen  besser  als  „Taumel"  zu  bezeichnen  ist, 
in  schwererer  Ausbildung  als  „Schwindelanfall"  mit  oder  ohne 
Angst  zu  den  folgenschwersten  Symptomen  der  Neurose  gehört. 
Der  Schwindel  der  Angstneurose  ist  weder  ein  Drehschwindel, 
noch  läßt  er,  wie  der  Menieresche  Schwindel,  einzelne 
Ebenen  und  Richtungen  hervorheben.  Er  gehört  dem  loko- 
motorischen  oder  koordinatorischen  Schwindel  an  wie  der 
Schwindel  bei  Augenmuskellähmung;  er  besteht  in  einem 
spezifischen  Mißbehagen,  begleitet  von  den  Empfindungen, 
daß  der  Boden  wogt,  die  Beine  versinken,  daß  es  unmöglich 
ist,  sich  weiter  aufrecht  zu  halten,  und  dabei  sind  die  Beine 
bleischwer,  zittern  oder  knicken  ein.  Zum  Hinstürzen  führt 
dieser  Schwindel  nie.  Dagegen  möchte  ich  behaupten,  daß 
ein  solcher  Schwindelanfall  auch  durch  einen  Anfall  von  tiefer 
Ohnmacht  vertreten  werden  kann.  Andere  ohnmachtartige 
Zustände  bei  der  Angstneurose  scheinen  von  einem  Herz- 
kollaps abzuhängen. 

Der  SchwindelanfaU  ist  nicht  selten  von  der  schlimmsten 
Art  von  Angst  begleitet,  häufig  mit  Herz-  und  Atemstörungen 
kombiniert.    Höhenschwindel,    Berg-    und    Abgrundschwindel 

Freud,  Neurosenlehre.  5 


66 


finden  sicli  nach  meinen  Beobachtungen  gleichfalls  bei  der 
Angstneurose  häufig  vor;  auch  weiß  ich  nicht,  ob  man  noch 
berechtigt  ist,  nebenher  einen  Vertigo  a  stomacho  laeso  an- 
zuerkennen. 

7.  Auf  Grund  der  chronischen  Ängstlichkeit  (ängstliche 
Erwartung)  einerseits,  der  Neigung  zum  Schwindel-Angstanfall 
andererseits  entwickeln  sich  zwei  Gruppen  von  typischen 
Phobien,  die  erste  auf  die  allgemein  physiologischen  Be- 
drohungen, die  andere  auf  die  Lokomotion  bezüglich.  Zur 
ersten  Gruppe  gehören  die  Angst  vor  Schlangen,  Gewitter, 
Dunkelheit,  Ungeziefer  u.  dgl.  sowie  die  typische  moralische 
Überbedenklichkeit,  Formen  der  Zweifelsucht;  hier  wird  die 
disponible  Angst  einfach  zur  Verstärkung  von  Abneigungen 
verwendet,  die  jedem  Menschen  instinktiv  eingepflanzt  sind. 
Gewöhnlich  bildet  sich  eine  zwangsartig  wirkende  Phobie 
aber  erst  dann,  wenn  eine  Reminiszenz  an  ein  Erlebnis 
hinzukommt,  bei  welchem  diese  Angst  sich  äußern  konnte, 
z.  B.  nachdem  der  Kranke  ein  Gewitter  im  Freien  mit- 
gemacht hat.  Man  tut  Unrecht,  solche  Fälle  einfach  als  F  o  r  t- 
dauer  starker  Eindrücke  erklären  zu  woUen;  was  diese 
Erlebnisse  bedeutsam  und  ihre  Erinnerung  dauerhaft  macht, 
ist  doch  nur  die  Angst,  die  damals  hervortreten  konnte  und 
heute  ebenso  hervortreten  kann.  Mit  anderen  "Worten,  solche 
Eindrücke  bleiben  kräftig  nur  bei  Personen  mit  „ängstlicher 
Erwartung", 

Die  andere  Gruppe  enthält  die  Agoraphobie  mit  allen 
ihren  Nebenarten,  sämtliche  charakterisiert  durch  die  Be- 
ziehung auf  die  Lokomotion.  Ein  vorausgegangener  Schwindel- 
anfall  findet  sich  hierbei  häufig  als  Begründung  der  Phobie; 
ich  glaube  nicht,  daß  man  ihn  jedesmal  postulieren  darf. 
GelegentHch  sieht  man,  daß  nach  einem  ersten  Schwindel- 
anfall ohne  Angst  die  Lokomotion  zwar  beständig  von  der 
Sensation  des  Schwindels  begleitet  wird,  aber  ohne  Ein- 
schränkung möglich  bleibt,  daß  dieselbe  aber  unter  den 
Bedingungen  des  Alleinseins,  der  engen  Straße  u.  dgl.  versagt, 
wenn  einmal  sich  zum  Schwindelanfall  Angst  hinzugesellt  hat. 
Das  Verhältnis  dieser  Phobien  zu  den  Phobien  der 
Zwangsneurose,    deren    Mechanismus    ich   in    einem  firüheren 


67 


Aufsätze  ^)  in  diesem  Blatte  aufgedeckt  habe,  ist  folgender 
Art :  Die  Übereinstimmung  liegt  darin,  daß  hier  wie  dort  eine 
Vorstellung  zwangsartig  wird  durch  die  Verknüpfung  mit 
einem  disponiblen  Affekt.  Der  Mechanismus  der  Affekt- 
versetzung gilt  also  für  beide  Arten  von  Phobien.  Beiden 
Phobien  der  Angstneurose  ist  aber  1.  dieser  Affekt  ein 
monotoner,  stets  der  der  Angst ;  2.  stammt  er  nicht  von  einer 
verdrängten  Vorstellung  her,  sondern  erweist  sich  bei  psycho- 
logischer Analyse  als  nicht  weiter  reduzierbar,  wie 
er  auch  durch  Psychotherapie  nicht  anfechtbar 
ist.  Der  Mechanismus  der  Substitution  gilt  also  für  die 
Phobien  der  Angstneurose  nicht. 

Beiderlei  Arten  von  Phobien  (oder  Zwangsvorstellungen) 
kommen  häufig  neben  einander  vor,  obwohl  die  atypischen 
Phobien,  die  auf  Zwangsvorstellungen  beruhen,  nicht  notwendig 
auf  dem  Boden  der  Angstneurose  erwachsen  müssen.  Ein  sehr 
häufiger,  anscheinend  komphzierter  Mechanismus  stellt  sich 
heraus,  wenn  bei  einer  ursprünglich  einfachen  Phobie  der 
Angstneurose  der  Inhalt  der  Phobie  durch  eine  andere  Vor- 
stellung substituiert  wird,  die  Substitution  also  nachträglich 
zur  Phobie  hinzukommt.  Zur  Substitution  werden  am  häufigsten 
die  „Schutzmaßregeln"  benutzt,  die  ursprünglich  zur 
Bekämpfung  der  Phobie  versucht  worden  sind.  So  entsteht 
z.  B.  die  Grübelsucht  aus  dem  Bestreben,  sich  den  Gegen- 
beweis zu  Hefern,  daß  man  nicht  verrückt  ist,  wie  die  hypo- 
chondrische Phobie  behauptet:  das  Zaudern  und  Zweifeln, 
vielmehr  Repetieren  der  Folie  de  doute  entspringt  dem  be- 
rechtigten Zweifel  in  die  Sicherheit  des  eigenen  Gedanken- 
ablaufes, da  man  sich  doch  so  hartnäckiger  Störung  durch 
die  zwangsartige  Vorstellung  bewußt  ist  u.  dgl.  Man  kann 
daher  behaupten,  daß  auch  viele  Syndrome  der  Zwangsneurose, 
wie  die  Folie  du  doute  und  ähnliches,  klinisch,  wenn  auch 
nicht  begrifflich,  der  Angstneurose  zuzurechnen  sind.  2) 

8.  Die  Verdauungstätigkeit  erfährt  bei  der  Angstneurose 
nur  wenige,  aber  charakteristische  Störungen.  Sensationen 
wie   Brechneigung  und  Übligkeiten  sind  nichts  Seltenes,  und 

^)  Die  Abwehr-Neuropsychosen.  Neurol.  Centralbl.,1894,  Nr.  10  u.  11. 
2)  Obsessions  et  pliobies.  Revue  neurologique,  1895. 

5* 


68 

das  Symptom  des  Heißhungers  kann  allein  oder  mit  anderen 
(Kongestionen)  einen  rudimentären  Angstanfall  abgeben;  als 
chronische  Veränderung,  analog  der  ängstlichen  Erwartung, 
findet  man  eine  Neigung  zur  Diarrhöe,  die  zu  den  seltsamsten 
diagnostischen  Irrtümern  Anlaß  gegeben  hat.  "Wenn  ich  nicht 
irre,  ist  es  diese  Diarrhöe,  auf  welche  Möbius^)  unlängst 
in  einem  kleinen  Aufsatze  die  Aufmerksamkeit  gelenkt  hat. 
Ich  vermute  femer,  Peyers  reflektorische  Diarrhöe,  die  er 
von  Erkrankungen  der  Prostata  ableitet  ^),  ist  nichts  anderes 
als  diese  Diarrhöe  der  Angstneurose.  Eine  reflektorische 
Beziehung  wird  dadurch  vorgetäuscht,  daß  in  der  Ätiologie 
der  Angstneurose  dieselben  Faktoren  ins  Spiel  kommen,  die 
bei  der  Entstehung  von  solchen  Prostataaffektionen  u.  dgl. 
tätig  sind. 

Das  Verhalten  der  Magendarmtätigkeit  bei  der  Angst- 
neurose^  zeigt  einen  scharfen  Gegensatz  zu  der  Beeinflussung 
derselben  Funktion  bei  der  Neurasthenie.  Mischfälle  zeigen 
oft  die  bekannte  „Abwechslung  von  Diarrhöe  und  Ver- 
stopfung". Der  Diarrhöe  analog  ist  der  Harndrang  der 
Angstneurose. 

9.  Die  Parästhesien,  die  den  Schwindel- oder  Angst- 
anfall begleiten  können,  werden  dadurch  interessant,  daß  sie 
sich,  ähnlich  wie  die  Sensationen  der  hysterischen  Aura,  zu 
einer  festen  Reihenfolge  assoziieren;  doch  finde  ich  diese 
assoziierten  Empfindungen  im  Gegensatz  zu  den  hysterischen 
atypisch  und  wechselnd.  Eine  weitere  Ähnlichkeit  mit  der 
Hysterie  wird  dadurch  erzeugt,  daß  bei  der  Angstneurose 
eine  Art  von  Konversion^)  auf  körperliche  Sensationen 
stattfindet,  die  sonst  nach  Belieben  übersehen  werden 
können,  z.  B.  auf  die  rheumatischen  Muskeln.  Eine  ganze 
Anzahl  sogenannter  Rheumatiker,  die  übrigens  auch  als  solche 
nachweisbar  sind,  leidet  eigentlich  an  —  Angstneurose.  Neben 
dieser  Steigerung  der  Schmerzempfindlichkeit  habe  ich  bei  einer 
Anzahl     von     Fällen     der     Angstneurose    eine    Neigung    zu 


1)  Möbius:  Neuropathologische  Beiträge,  1894,  2.  Heft. 
*)  P  e  y  e  r  :  Die  nervösen  Affektionen  des  Darmes,  Wiener  Klinik, 
Jänner  1893. 

')  Freud:  Abwehr-Neuropsychosen. 


69 


Halluzinationen  beobaclitet,  welch  letztere  sich  nicht  als 
hysterische  deuten  ließen. 

10.  Mehrere  der  genannten  Symptome,  welche  den  Angst- 
anfall begleiten  oder  vertreten,  kommen  auch  in  chronischer 
Weise  vor.  Sie  sind  dann  noch  weniger  leicht  kenntlich,  da 
die  sie  begleitende  ängstliche  Empfindung  undeutHcher  aus- 
fällt als  beim  Angstanfall.  Dies  gilt  besonders  für  die  Diarrhöe, 
den  Schwindel  und  die  Parästhesien.  Wie  der  SchwindelanfaU 
durch  einen  Ohnmachtsanfall,  so  kann  der  chronische  Schwindel 
durch  die  andauernde  Empfindung  großer  Hinf  äUigkeit,  Mattig- 
keit u.  dgl.  verteten  werden. 

n.  Vorkommen  und  Ätiologie  der  Angstneurose. 

In  manchen  Fällen  von  Angstneurose  läßt  sich  eine 
Ätiologie  überhaupt  nicht  erkennen.  Es  ist  bemerkenswert, 
daß  in  solchen  FäUen  der  Nachweis  einer  schweren  hereditären 
Belastung  selten  auf  Schwierigkeiten  stößt. 

Wo  man  aber  Grund  hat,  die  Neurose  für  eine  erwor- 
bene zu  halten,  da  findet  man  bei  sorgfältigem,  dahin 
zielendem  Examen  als  ätiologisch  wirksame  Momente  eine 
Reihe  von  Schädlichkeiten  und  Einflüssen  aus  dem  Sexual- 
leben. Dieselben  scheinen  zunächst  mannigfaltiger  Natur, 
lassen  aber  leicht  den  gemeinsamen  Charakter  herausfinden,  der 
ihre  gleichartige  Wirkung  auf  das  Nervensystem  erklärt;  sie 
finden  sich  femer  entweder  allein  oder  neben  anderen  banalen 
Schädlichkeiten,  denen  man  eine  unterstützende  Wirkung 
zuschreiben  darf.  Diese  sexuelle  Ätiologie  der  Angstneurose 
ist  so  überwiegend  häufig  nachzuweisen,  daß  ich  mich  getraue, 
für  die  Zwecke  dieser  kurzen  Mitteilung  die  FäUe 
mit  zweifelhafter  oder  andersartiger  Ätiologie  beiseite  zu 
lassen. 

Für  die  genauere  Darstellung  der  ätiologischen  Be- 
dingungen, unter  denen  die  Angstneurose  vorkommt,  wird  es 
sich  empfehlen,  Männer  und  Frauen  gesondert  zu  behandeln. 
Die  Angstneurose  stellt  sich  bei  weiblichen  Individuen  — 
nur  abgesehen  von  deren  Disposition  —  in  folgenden  Fällen  ein: 

a)  als  virginale  Angst  oder  Angst  der  Adoles- 
centen.    Eine   Anzahl  von   unzweideutigen  Beobachtungen 


70 


hat  mir  gezeigt,  daß  ein  erstes  Zusammentreffen  mit  dem 
sexuellen  Problem,  eine  einigermaßen  plötzliche  Enthüllung 
des  bisher  Verschleierten,  z.  B.  durch  den  Anbhck  eines 
sexuellen  Aktes,  eine  Mitteilung  oder  Lektüre,  bei  heran- 
reifenden Mädchen  eine  Angstneurose  hervorrufen  kann,  die 
fast  in  typischer  Weise  mit  Hysterie  kombiniert  ist; 

h)  als  Angst  der  Neuvermählten.  Junge  Frauen, 
die  bei  den  ersten  Kohabitationen  anästhetisch  geblieben  sind, 
verfallen  nicht  selten  der  Angstneurose,  die  wieder  verschwindet, 
nachdem  die  Anästhesie  normaler  Empfindlichkeit  Platz  ge- 
macht hat.  Da  die  meisten  jungen  Frauen  bei  solcher  anfänglicher 
Anästhesie  gesund  bleiben,  bedarf  es  für  das  Zustandekommen 
dieser  Angst  Bedingungen,  die  ich  auch  angeben  werde; 

c)  als  Angst  der  Frauen,  deren  Männer  Ejaculatio  praecox 
oder  sehr  herabgesetzte  Potenz  zeigen;  und 

d)  deren  Männer  den  Coitus  interruptus  oder  reservatus 
üben.  Diese  Fälle  gehören  zusammen,  denn  man  kann  sich 
bei  der  Analyse  einer  großen  Anzahl  von  Beispielen  leicht 
überzeugen,  daß  es  nur  darauf  ankommt,  ob  die  Frau  beim 
Koitus  zur  Befriedigung  gelangt  oder  nicht.  Im  letzteren  Falle 
ist  die  Bedingung  für  die  Entstehung  der  Angstneurose  ge- 
geben. Dagegen  bleibt  die  Frau  von  der  Neurose  verschont, 
wenn  der  mit  Ejaculatio  praecox  behaftete  Mann  den  Congressus 
unmittelbar  darauf  mit  besserem  Erfolg  wiederholen  kann. 
Der  Congressus  reservatus  mittels  des  Kondoms  stellt  für 
die  Frau  keine  Schädlichkeit  dar,  wenn  sie  sehr  rasch 
erregbar  und  der  Mann  sehr  potent  ist;  im  anderen  Falle 
steht  diese  Art  des  Präventivverkehres  den  anderen  an 
Schädlichkeit  nicht  nach.  Der  Coitus  interruptus  ist  fast 
regelmäßig  eine  SchädHchkeit ;  für  die  Frau  wird  er  es  aber 
nur  dann,  wenn  der  Mann  ihn  rücksichtslos  übt,  das  heißt 
den  Koitus  unterbricht,  sobald  er  der  Ejaculation  nahe  ist, 
ohne  sich  um  den  Ablauf  der  Erregung  der  Frau  zu  kümmern. 
"Wartet  der  Mann  im  Gegenteile  die  Befriedigung  der  Frau 
ab,  so  hat  ein  solcher  Koitus  für  letztere  die  Bedeutung  eines 
normalen ;  es  erkrankt  aber  dann  der  Mann  an  Angstneurose. 
Ich  habe  eine  große  Anzahl  von  Beobachtungen  gesammelt 
und  analysiert,  aus  denen  obige  Sätze  hervorgehen; 


71 


e)  als  Angst  der  Witwen  und  absichtlich  Ab- 
stinenten, nicht  selten  in  typischer  Kombination  mit  Zwangs- 
vorstellungen; 

f)  als  Angst  im  Klimakterium  während  der  letzten 
großen  Steigerung  der  sexuellen  Bedürftigkeit. 

Die  Fälle  c),  d)  und  e)  enthalten  die  Bedingungen,  unter 
denen  die  Ansrstneurose  beim  weiblichen  Geschlecht  am 
häufigsten  imd  am  ehesten  unabhängig  von  hereditärer  Dis- 
position entsteht.  An  diesen  —  heilbaren,  erworbenen  — 
Fällen  von  Angstneurose  werde  ich  den  Nachweis  zu  führen 
versuchen,  daß  die  aufgefundene  sexuelle  Schädlichkeit  wirklich 
das  ätiologische  Moment  der  Neurose  darstellt.  Ich  will  nur 
vorher  auf  die  sexuellen  Bedingungen  der  Angstneurose  bei 
Männern  eingehen.  Hier  möchte  ich  folgende  Gruppen  auf- 
stellen,   die   sämtUch  ihre  Analogien  bei  den  Frauen  finden. 

a)  Angst  der  absichtlich  Abstinenten,  häufig  mit 
Symptomen  der  Abwehr  (Zwangsvorstellungen,  Hysterie) 
kombiniert.  Die  Motive,  die  für  absichtliche  Abstinenz  maß- 
gebend sind,  bringen  es  mit  sich,  daß  eine  Anzahl  von  hereditär 
Veranlagten,    Sonderlingen  u.  dgl.  zu  dieser  Kategorie  zählt. 

h)  Angst  der  Männer  mit  frustraner  Erregung  (während 
des  Brautstandes),  Personen,  die  (aus  Furcht  vor  den  Folgen 
des  sexuellen  Verkehres)  sich  mit  Betasten  oder  Beschauen 
des  "Weibes  begnügen.  Diese  Gruppe  von  Bedingungen 
(die  übrigens  unverändert  auf  das  andere  Geschlecht  zu  über- 
tragen ist  —  Brautschaft,  Verhältnisse  mit  sexueller 
Schonung)  liefert  die  reinsten  Fälle  der  Neurose. 

c)  Angst  der  Männer,  die  Coitus  interruptus  üben.  Wie 
schon  bemerkt,  schädigt  der  Coitus  interruptus  die  Frau,  wenn 
er  ohne  Rücksicht  auf  die  Befriedigung  der  Frau  geübt 
wird ;  —  er  wird  aber  zur  Schädlichkeit  für  den  Mann,  wenn 
dieser,  um  die  Befriedigung  der  Frau  zu  erzielen,  den  Coitus 
willkürHch  dirigiert,  die  Ejaculation  aufschiebt.  Auf  solche 
Weise  läßt  sich  verstehen,  daß  von  den  Ehepaaren,  die  im 
Coitus  interruptus  leben,  gewöhnlich  nur  ein  Teil  erkrankt. 
Bei  Männern  erzeugt  der  Coitus  interruptus  übrigens  nur 
selten  reine  Angstneurose,  meist  eine  Vermengung  derselben 
mit  Neurasthenie. 


72 


d)  Angst  der  Männer  im  S  e  n  i  u  m.  Es  gibt  Männer,, 
die  wie  die  Frauen  ein  Klimakterium  zeigen  und  zur  Zeit 
ihrer  abnehmenden  Potenz  und  steigenden  Libido  Angst- 
neurose produzieren. 

Endlich  muß  ich  noch  zwei  Fälle  anschließen,  die  für 
beide  Geschlechter  gelten: 

e)  Die  Neurastheniker  infolge  von  Masturbation  verfallen 
in  Angstneurose,  sobald  sie  von  ihrer  Art  der  sexuellen  Be- 
friedigung ablassen.  Diese  Personen  haben  sich  besonders 
unfähig  gemacht,  die  Abstinenz  zu  ertragen. 

Ich  bemerke  hier  als  wichtig  für  das  Verständnis  der 
Angstneurose,  daß  eine  irgend  bemerkenswerte  Ausbildung 
derselben  nur  bei  potent  gebliebenen  Männern  und  bei  nicht 
anästhetischen  Frauen  zustande  kommt.  Bei  Neurasthenikern, 
die  durch  Masturbation  bereits  schwere  Schädigung  ihrer 
Potenz  erworben  haben,  fällt  die  Angstneurose  im  Falle  der 
Abstinenz  recht  dürftig  aus  und  beschränkt  sich  meist  auf 
Hypochondrie  und  leichten  chronischen  Schwindel.  Die  Frauen 
sind  ja  in  ihrer  Mehrheit  als  „potent"  zu  nehmen;  eine  wirklich 
impotente,  d.  h.  wirkHch  anästhetische  Frau  ist  gleichfalls 
der  Angstneurose  wenig  zugängKch  und  erträgt  die  ange- 
führten Schädlichkeiten  auffällig  gut. 

"Wieweit  man  etwa  sonst  berechtigt  ist,  konstante  Be- 
ziehungen zwischen  einzelnen  ätiologischen  Momenten  und 
einzelnen  Symptomen  aus  dem  Komplex  der  Angstneurose 
anzunehmen,  möchte  ich  hier  noch  nicht  erörtern. 

f)  Die  letzte  der  anzuführenden  ätiologischen  Bedingungen 
scheint  zunächst  überhaupt  nicht  sexueller  Natur  zu  sein.  Die 
Angstneurose  entsteht,  und  zwar  bei  beiden  Geschlechtern,, 
auch  durch  das  Moment  der  Überarbeitung,  erschöpfender 
Anstrengung,  z,  B.  nach  Nachtwachen,  Krankenpflegen  und 
selbst  nach  schweren  Krankheiten. 


Der  Haupteinwand  gegen  meine  Aufstellung  einer 
sexuellen  Ätiologie  der  Angstneurose  wird  wohl  dahin  lauten : 
derartige  abnorme  Verhältnisse  des  Sexuallebens  fänden  sich 
so  überaus  häufig,  daß  sie  überall  zur  Hand  sein  müssen,  wo 
man  nach  ihnen  sucht.    Ihr  Vorkommen  in   den  angeführten 


7a 


Fällen  von  Angstneurose  beweise  also  nicht,  daß  in  ihnen 
die  Ätiologie  der  Neurose  aufgedeckt  sei.  XJbrigens  sei  die 
Anzahl  der  Personen,  die  Coitus  interruptus  u.  dgl.  treiben^ 
unvergleichlich  größer  als  die  Anzahl  der  mit  Agstneurose 
Behafteten,  und  die  überwiegende  Menge  der  ersteren  befände 
sich  bei  dieser  SchädHchkeit  recht  wohl. 

Ich  habe  darauf  zu  erwidern,  daß  man  bei  der  anerkannt 
übergroßen  Häufigkeit  der  Neurosen  und  der  Angstneurose 
speziell  ein  selten  vorkommendes  ätiologisches  Moment 
gewiß  nicht  erwarten  dürfe;  ferner  daß  damit  geradezu  ein, 
Postulat  der  Pathologie  erfüllt  sei,  wenn  sich  bei  einer  ätio- 
logischen Untersuchung  das  ätiologische  Moment  noch  häufiger 
nachweisen  lasse  als  dessen  Wirkung,  da  ja  für  letztere  noch 
andere  Bedingungen  (Disposition,r!Summation  der  spezifischen 
Ätiologie,  Unterstützung  durch  andere,  banale  Schädlichkeiten) 
erfordert  werden  können;  ferner,  daß  die  detaillierte  Zer- 
gHederung  geeigneter  Fälle  von  Angstneurose  die  Bedeutung 
des  sexuellen  Momentes  ganz  unzweideutig  erweist.  Ich  will 
mich  hier  aber  nur  auf  das  ätiologische  Moment  des  Coitus 
interruptus  und  auf  die  Hervorhebung  einzelner  beweisender 
Erfahrungen  beschränken. 

1.  So  lange  die  Angstneurose  bei  jungen  Frauen  noch 
nicht  konstituiert  ist,  sondern  in  Ansätzen  hervortritt,  die 
immer  wieder  spontan  verschwinden,  läßt  sich  nachweisen,  daß 
jeder  solche  Schub  der  Neurose  auf  einen  Koitus  mit  man- 
gelnder Befriedigung  zurückgeht.  Zwei  Tage  nach  dieser  Ein- 
wirkung, bei  wenig  resistenten  Personen  am  Tage  nachher, 
tritt  regelmäßig  der  Angst-  oder  Schwindelanfall  auf,  an  den 
sich  andere  Symptome  der  Neurose  schließen,  um  —  bei 
seltenerem  ehehchen  Verkehr  —  wieder  mit  einander  abzu- 
klingen. Eine  zufällige  Reise  des  Mannes,  ein  Aufenthalt  im 
Gebirge,  der  mit  Trennung  des  Ehepaares  verbunden  ist,  tun 
gut;  die  zumeist  in  erster  Linie  eingeleitete  gynäkologische 
Behandlung  nützt  dadurch,  daß  während  ihrer  Dauer  der 
eheliche  Verkehr  aufgehoben  ist.  Merkwürdigerweise  ist  der 
Erfolg  der  lokalen  Behandlung  ein  vorübergehender,  stellt 
sich  die  Neurose  noch  im  Gebirge  wieder  ein,  sobald  der 
Mann  seinerseits  in  die  Ferien  tritt  u.  dgl.  Läßt  man  als  ein 


74 


dieser  Ätiologie  kundiger  Arzt  bei  noch  nicht  konstituierter 
Neurose  den  Coitus  interruptus  durch  normalen  Verkehr  er- 
setzen, so  ergibt  sich  die  therapeutische  Probe  auf  die 
hier  aufgestellte  Behauptung.  Die  Angst  ist  behoben  und 
kehrt  ohne  neuen,  ähnlichen  Anlaß  nicht  wieder. 

2.  In  der  Anamnese  vieler  Fälle  von  Angstneurose  findet 
man  bei  Männern  wie  bei  Frauen  ein  auffälliges  Schwanken 
in  der  Intensität  der  Erscheinimgen,  ja  im  Kommen  und 
Gehen  des  ganzen  Zustandes.  Dieses  Jahr  war  fast  ganz  gut, 
das  nächstfolgende  gräßlich  u.  dgl.,  einmal  fällt  die  Besserung 
zugunsten  einer  bestimmten  Kur  aus,  die  aber  beim  nächsten 
AnfaU  ganz  im  Stiche  gelassen  hat  u.  dgl.  m.  Erkundigt  man 
sich  nun  nach  Anzahl  und  Reihenfolge  der  Kinder  und  stellt 
diese  Ehechronik  dem  eigentümlichen  Verlauf  der  Neurose 
gegenüber,  so  ergibt  sich  als  einfache  Lösung,  daß  die 
Perioden  von  Besserung  oder  "Wohlbefinden  mit  den  Gravidi- 
täten der  Frau  zusammenfallen,  während  welcher  natürlich 
der  Anlaß  für  den  Präventiwerkehr  entfallen  war.  Dem  Manne 
aber  hatte  jene  Kur,  sei  es  beim  Pfarrer  Kneipp  oder  in 
der  hydrotherapeutischen  Anstalt,  genützt,  nach  welcher  er 
seine  Frau  gravid  antraf. 

3.  Aus  der  Anamnese  der  Kranken  ergibt  sich  häufig, 
daß  die  Symptome  der  Angstneurose  zu  einer  bestimmten 
Zeit  die  einer  anderen  Neurose,  etwa  der  Neurasthenie,  ab- 
gelöst und  sich  an  deren  Stelle  gesetzt  haben.  Es  läßt  sich 
dann  ganz  regelmäßig  nachweisen,  daß  kurz  vor  diesem 
"Wechsel  des  Bildes  ein  entsprechender  "Wechsel  in  der  Art 
der  sexuellen  Schädigung  stattgefunden  hat. 

"Während  derartige,  nach  Belieben  zu  vermehrende  Er- 
fahrungen dem  Arzte  für  eine  gewisse  Kategorie  von  Fällen 
die  sexuelle  Ätiologie  geradezu  aufdrängen,  lassen  sich  andere 
Fälle,  die  sonst  unverständlich  blieben,  mittels  des  Schlüssels 
der  sexuellen  Ätiologie  wenigstens  widerspruchslos  verstehen 
und  einreihen.  Es  sind  dies  jene  sehr  zahlreichen  Fälle,  in 
denen  zwar  alles  vorhanden  ist,  was  wir  bei  der  vorigen 
Kategorie  gefunden  haben,  die  Erscheinungen  der  Angst- 
neurose einerseits,  das  spezifische  Moment  des  Coitus  inter- 
ruptus  andererseits,   wo   aber  noch   etwas   anderes   sich  ein- 


75 


schiebt,  nämlich  ein  langes  Intervall  zwischen  der  vermeint- 
lichen Ätiologie  und  deren  Wirkung,  und  etwa  noch  ätio- 
logische Momente  nicht  sexueller  Natur.  Da  ist  z.  B. 
ein  Mann,  der  auf  die  Nachricht  vom  Tode  seines  Vaters 
einen  Herzanfall  bekommt  und  von  da  an  der  Angstneurose 
verfallen  ist.  Der  Fall  ist  nicht  zu  verstehen,  denn  der  Mann 
war  bisher  nicht  nervös;  der  Tod  des  hochbejahrten  Yaters 
erfolgte  keineswegs  unter  besonderen  Umständen,  und  man 
wird  zugeben,  daß  das  normale,  erwartete  Ableben  eines  alten 
Vaters  nicht  zu  den  Erlebnissen  gehört,  die  einen  gesunden 
Erwachsenen  krank  zu  machen  pflegen.  Vielleicht  wird  die 
ätiologische  Analyse  durchsichtiger,  wenn  ich  hinzunehme, 
daß  dieser  Mann  seit  11  Jahren  den  Coitus  interruptus  mit 
Rücksicht  auf  seine  Frau  ausübt.  Die  Erscheinungen  sind 
wenigstens  genau  die  nämlichen,  wie  sie  bei  anderen  Personen 
nach  kurzer  derartiger  sexueller  Schädigung  und  ohne  Da- 
zwischenkimft  eines  anderen  Traumas  auftreten.  Ahn  lieh  zu 
beurteilen  ist  der  FaU  einer  Frau,  deren  Angstneurose  nach 
dem  Verlust  eines  Blindes  ausbricht,  oder  des  Studenten,  der 
in  der  Vorbereitung  zu  seiner  letzten  Staatsprüfung  durch 
die  Angstneurose  gestört  wird.  Ich  finde  die  Wirkung 
hier  wie  dort  nicht  durch  die  angegebene  Ätiologie 
erklärt.  Man  muß  sich  nicht  beim  Studieren  „überarbeiten", 
und  eine  gesunde  Mutter  pflegt  auf  den  Verlust  eines  Kindes 
nur  mit  normaler  Trauer  zu  reagieren.  Vor  allem  aber  würde 
ich  erwarten,  daß  der  Student  durch  Überarbeitung  eine 
Cephalasthenie,  die  Mutter  in  unserem  Beispiele  eine  Hysterie 
acquirieren  soUte.  Daß  sie  beide  Angstneurose  bekommen, 
veranlaßt  mich  Wert  darauf  zu  legen,  daß  die  Mutter  seit 
8  Jahren  im  eheHchen  Coitus  interruptus  lebt,  der  Student 
aber  seit  3  Jahren  ein  warmes  Liebesverhältnis  mit  einem 
„anständigen"  Mädchen  unterhält,  das  er  nicht  schwängern  darf. 
Diese  Ausführungen  laufen  auf  die  Behauptung  hinaus, 
daß  die  spezifische  sexuelle  Schädlichkeit  des  Coitus  inter- 
ruptus dort,  wo  sie  nicht  imstande  ist,  für  sich  allein  die 
Angstnem'ose  hervorzurufen,  doch  wenigstens  zu  ihrer  Er- 
werbung disponiert.  Die  Angstneurose  bricht  dann  aus, 
sobald   zur  latenten  Wirkung  des  spezifischen  Momentes  die 


76 


Wirkung  einer  anderen,  banalen  Schädlichkeit  hinzutritt. 
Letztere  kann  das  spezifische  Moment  quantitativ  ver- 
treten, aber  nicht  qualitativ  ersetzen.  Das  spezifische 
Moment  bleibt  stets  dasjenige,  welches  die  Form  der  Neurose 
bestimmt.  Ich  hoffe,  diesen  Satz  für  die  Ätiologie  der  Neu- 
rosen auch  im  größeren  Umfang  erweisen  zu  können. 

Ferner  ist  in  den  letzten  Erörterungen  die  an  sich  nicht 
unwahrscheinliche  Annahme  enthalten,  daß  eine  sexuelle  Schäd- 
lichkeit wie  der  Coitus  interruptus  sich  durch  Summation 
zur  Geltung  bringt.  Je  nach  der  Disposition  des  Individuums 
und  der  sonstigen  Belastung  von  dessen  Nervensystem  wird 
es  kürzere  oder  längere  Zeit  brauchen,  ehe  der  Effekt  dieser 
Summation  sichtbar  wird.  Die  Individuen,  welche  den  Coitus 
interruptus  scheinbar  ohne  Nachteü  ertragen,  werden  in  Wirk- 
lichkeit durch  denselben  zu  Störungen  der  Angstneurose  dis- 
poniert, die  irgend  einmal  spontan  oder  nach  einem  banalen, 
sonst  unangemessenen  Trauma  losbrechen  können,  gerade  wie 
der  chronische  Alkoholiker  auf  dem  Wege  der  Summation 
endlich  eine  Cirrhose  oder  andere  Erkrankung  entwickelt  oder 
unter  dem  Einfluß  eines  Fiebers  in  ein  Delirium  verfällt. 

in.  Ansätze  zu  einer  Theorie  der  Angstneurose. 

Die  nachstehenden  Ausführungen  beanspruchen  nichts 
als  den  Wert  eines  ersten,  tastenden  Versuches,  dessen  Be- 
urteilung die  Aufnahme  der  im  vorigen  enthaltenen  Tat- 
sachen nicht  beeinflussen  soUte.  Die  Würdigung  dieser 
„Theorie  der  Angstneurose'^  wird  ferner  noch  dadurch  er- 
schwert, daß  sie  bloß  einem  Bruchstück  aus  einer  umfassenderen 
Darstellung  der  Neurosen  entspricht. 

In  dem  bisher  über  die  Angstneurose  Vorgebrachten  sind 
bereits  einige  Anhaltspunkte  für  einen  Einblick  in  den  Me- 
chanismus dieser  Neurose  enthalten.  Zunächst  die  Vermutung, 
es  dürfte  sich  um  eine  Anhäufung  von  Erregung  handeln, 
sodann  die  überaus  wichtige  Tatsache,  daß  die  Angst,  die 
den  Erscheinungen  der  Neurose  zugrunde  liegt,  keine 
psychische  Ableitung  zuläßt.  Eine  solche  wäre 
z.  B.  vorhanden,  wenn  sich  als  Grundlage  der  Angstneu- 
rose ein   einmaliger   oder   wiederholter,  berechtigter   Schreck 


77 


fände,  der  seither  die  Quelle  der  Bereitschaft  zur  Angst  ab- 
gäbe. Allein  dies  ist  nicht  der  Fall;  durch  einen  einmaligen 
Schreck  kann  zwar  eine  Hysterie  oder  eine  traumatische 
Neurose  erworben  werden,  nie  aber  eine  Angstneurose.  Ich 
habe,  da  sich  unter  den  Ursachen  der  Angstneurose  der 
Coitus  interrputus  so  sehr  in  den  Vordergrund  drängt,  anfangs 
gemeint,  die  Quelle  der  kontinuierlichen  Angst  könnte  in  der 
beim  Akte  jedesmal  sich  wiederholenden  Furcht  liegen,  die 
Technik  könnte  mißglücken  und  demnach  Konzeption  erfolgen. 
Ich  habe  aber  gefunden,  daß  dieser  Gemütszustand  der  Frau  oder 
des  Mannes  während  des  Coitus  interruptus  für  die  Entstehung 
der  Angstneurose  gleichgütig  ist,  daß  die  gegen  die  Folgen  einer 
möglichen  Konzeption  im  Grunde  gleichgiltigen  Frauen  der 
Neurose  ebenso  ausgesetzt  sind  wie  die  vor  dieser  Möglich- 
keit Schaudernden,  und  daß  es  nur  darauf  ankam,  welcher 
Teil  bei  dieser  sexuellen  Technik  seine  Befriedigung  einbüßte. 

Einen  weiteren  Anhaltspunkt  bietet  die  noch  nicht  er- 
wähnte Beobachtung,  daß  in  ganzen  Reihen  von  Fällen  die 
Angstneurose  mit  der  deutlichsten  Verminderung  der  sexuellen 
Libido,  der  psychischen  Lust,  einhergeht,  so  daß  die 
Kranken  auf  die  Eröffnung,  ihr  Leiden  rühre  von  „ungenügender 
Befriedigung",  regelmäßig  antworten :  Das  sei  unmöglich,  gerade 
jetzt  sei  alles  Bedürfnis  bei  ihnen  erloschen.  Aus  aU  diesen 
Andeutungen,  daß  es  sich  um  Anhäufung  von  Erregung 
handle,  daß  die  Angst,  welche  solcher  angehäufter  Erregung 
wahrscheinlich  entspricht,  somatischer  Herkunft  sei,  so  daß 
also  somatische  Erregung  angehäuft  werde,  ferner  daß  diese 
somatische  Erregung  sexueller  Natur  sei,  und  daß  eine  Ab- 
nahme der  psychischen  Beteiligung  an  den  Sexualvorgängen 
nebenher  gehe  —  alle  diese  Andeutungen,  sage  ich,  begün- 
stigen die  Erwartung,  der  Mechanismus  der  Angst- 
neurose sei  in  der  Ablenkung  der  somatischen 
Sexualerregung  vom  Psychischen  und  einer  da- 
durch verursachten  abnormen  Verwendung  dieser 
Erregung  zu  suchen. 

Man  kann  sich  diese  Vorstellung  vom  Mechanismus  der 
Angstneurose  klarer  machen,  wenn  man  folgende  Betrachtung 
über    den    Sexualvorgang    akzeptiert,    die    sich   zunächst   auf 


78 

den  Mann  bezieht.  Im  geschleclitsreifen  männlichen  Organis- 
mus wird  — ■  wahrscheinlich  kontinuierlich  —  die  somatische 
Sexualerregung  produziert,  die  periodisch  zu  einem  Reiz 
für  das  psychische  Leben  wird.  Schalten  wir,  um  unsere 
Vorstellungen  darüber  besser  zu  fixieren,  ein,  daß  diese 
somatische  Sexualerregung  sich  als  Druck  auf  die  mit  Nerven- 
endigungen versehene  Wandung  der  Samenbläschen  äußert, 
so  wird  diese  viszerale  Erregung  zwar  kontinuierlich  an- 
wachsen, aber  erst  von  einer  gewissen  Höhe  an  imstande 
sein,  den  Widerstand  der  eingeschalteten  Leitung  bis  zur 
Hirnrinde  zu  überwinden  und  sich  als  psychischer  Beiz  zu 
äußern.  Dann  aber  wird  die  in  der  Psyche  vorhandene  sexuelle 
Vorstellungsgruppe  mit  Energie  ausgestattet,  und  es  entsteht 
der  psychische  Zustand  Hbidinöser  Spannung,  welcher  den 
Drang  nach  Aufhebung  dieser  Spannung  mit  sich  bringt. 
Eine  solche  psychische  Entlastung  ist  nur  auf  einem  Wege 
möglich,  den  ich  als  spezifische  oder  adäquate  Aktion 
bezeichnen  will.  Diese  adäquate  Aktion  besteht  für  den  männ- 
lichen Sexualtrieb  in  einem  komplizierten  spinalen  Reflexakt, 
der  die  Entlastung  jener  Nervenendigungen  zur  Folge  hat, 
und  in  allen  psychisch  zu  leistenden  Vorbereitungen  für  die 
Auslösung  dieses  Reflexes.  Etwas  anderes  als  die  adäquate 
Aktion  würde  nichts  fruchten,  denn  die  somatische  Sexual- 
erregung setzt  sich,  nachdem  sie  einmal  den  Schwellenwert 
erreicht  hat,  kontinuierlich  in  psychische  Erregung  um;  es 
muß  durchaus  dasjenige  geschehen,  was  die  Nervenendigungen 
von  dem  auf  sie  lastenden  Druck  befreit,  somit  die  ganze 
derzeit  vorhandene  somatische  Erregung  aufhebt  und  der 
subkortikalen  Leitung  gestattet,  ihren  Widerstand  herzustellen. 
Ich  werde  es  mir  versagen,  kompliziertere  Fälle  des 
Sexualvorganges  in  ähnlicher  Weise  darzustellen.  Ich  wiU 
nur  noch  die  Behauptung  aufstellen,  daß  dieses  Schema  im 
wesentlichen  auch  auf  die  Frau  zu  übertragen  ist,  trotz  aller 
das  Problem  verwirrenden,  artefiziellen  Verzögerung  und 
Verkümmerung  des  weiblichen  Geschlechtstriebes.  Es  ist  auch 
bei  der  Frau  eine  somatische  Sexualerregung  anzunehmen 
und  ein  Zustand,  in  dem  diese  Erregung  psychischer  Reiz 
wird,   Libido   und   den  Drang   nach   der   spezifischen  Aktion 


79 

hervorruft,  an  welclie  sich  das  "Wollustgefühl  knüpft.  Nur  ist 
man  bei  der  Frau  nicht  imstande,  anzugeben,  was  etwa  der 
Entspannung  der  Samenbläschen  hier  analog  wäre. 

In  den  Rahmen  dieser  Darstellung  des  Sexualvorganges, 
läßt  sich  nun  sowohl  die  Ätiologie  der  echten  Neurasthenie, 
als  die  der  Angstneurose  eintragen.  Neurasthenie  entsteht 
jedesmal,  wenn  die  adäquate  (Aktion)  Entlastung  durch  eine 
minder  adäquate  ersetzt  wird,  der  normale  Koitus  unter  den 
günstigsten  Bedingungen  also  durch  eine  Masturbation  oder 
spontane  Pollution;  zur  Angstneurose  aber  führen  alle  Momente, 
welche  die  psychische  Verarbeitung  der  somatischen  Sexual- 
eiTegung  verhindern.  Die  Erscheinungen  der  Angstneurose 
kommen  zustande,  indem  die  von  der  Psyche  abgelenkte 
somatische  Sexualerregung  sich  subkortikal,  in  ganz  und  gar 
nicht  adäquaten  Reaktionen  ausgibt. 

Ich  will  es  nun  versuchen,  die  vorhin  angegebenen 
ätiologischen  Bedingungen  der  Angstneurose  daraufhin  zu 
prüfen,  ob  sie  den  von  mir  aufgestellten  gemeinsamen 
Charakter  erkennen  lassen.  Als  erstes  ätiologisches  Moment 
habe  ich  für  den  Mann  die  absichthche  Abstinenz  angeführt. 
Abstinenz  besteht  in  der  Versagung  der  spezifischen  Aktion, 
die  sonst  auf  die  Libido  erfolgt.  Eine  solche  Versagung  wird 
zwei  Konsequenzen  haben  können,  nämlich,  daß  die  somatische 
Erregung  sich  anhäuft,  und  dann  zunächst,  daß  sie  auf  andere 
"Wege  abgelenkt  wird,  auf  denen  ihr  eher  Entladung  winkt, 
als  auf  dem  Wege  über  die  Psyche.  Es  wird  also  die  Libido 
endlich  sinken  und  die  Erregung  subkortikal  als  Angst  sich 
äußern.  Wo  die  Libido  nicht  verringert  wird,  oder  die 
somatische  Erregung  auf  kurzem  Wege  in  Pollutionen  ver- 
ausgabt wird,  oder  infolge  der  Zurückdrängung  wirklich  ver- 
siegt, da  entsteht  eben  alles  andere  als  Angstneurose.  Auf 
solche  Weise  führt  die  Abstinenz  zur  Angstneurose.  Die 
Abstinenz  ist  aber  auch  das  Wirksame  an  der  zweiten 
ätiologischen  Gruppe,  der  frustranen  Erregung.  Der  dritte 
Fall,  der  des  rücksichtsvollen  Coitus  reservatus,  wirkt  da- 
durch, daß  er  die  psychische  Bereitschaft  für  den  Sexual- 
ablauf stört,  indem  er  neben  der  Bewältigung  des  Sexual- 
affektes eine  andere,  ablenkende,  psychische  Aufgabe  einführt.. 


so 


Auch  durch  diese  psychische  Ablenkung  schwindet  allmählich 
die  Libido,  der  weitere  Verlauf  ist  dann  derselbe  wie  im 
Falle  der  Abstinenz.  Die  Angst  im  Senium  (Kümakterium 
der  Männer)  erfordert  eine  andere  Erklärung.  Hier  läßt  die 
Libido  nicht  nach;  es  findet  aber,  wie  während  des  Klimak- 
teriums der  Weiber,  eine  solche  Steigerung  in  der  Pro- 
duktion der  somatischen  Erregung  statt,  daß  die  Psyche 
für  die  Bewältigung  derselben  sich  als  relativ  insuffizient 
erweist. 

Keine  größeren  Schwierigkeiten  bereitet  die  Subsum- 
mierung  der  ätiologischen  Bedingungen  bei  der  Frau  unter 
dem  angeführten  Gresichtspunkt.  Der  Fall  der  virginalen  Angst 
ist  besonders  klar.  Hier  sind  eben  die  Vorstellungsgruppen 
noch  nicht  genug  entwickelt,  mit  denen  sich  die  somatische 
Sexualerregung  verknüpfen  soll.  Bei  der  anästhetischen  Neu- 
vermählten tritt  die  Angst  nur  dann  auf,  wenn  die  ersten 
Kohabitationen  ein  genügendes  Maß  von  somatischer  Erregung 
wecken.  Wo  die  lokalen  Zeichen  solcher  Erregtheit  (wie 
spontane  Reizempfindung,  Harndrang  u.  dgl.)  fehlen,  da  bleibt 
auch  die  Angst  aus.  Der  Fall  der  Ejaculatio  praecox,  des 
Coitus  interruptus,  erklärt  sich  ähnlich  wie  beim  Manne  da- 
durch, daß  für  den  psychisch  unbefriedigenden  Akt  allmählich 
die  Libido  schwindet,  während  die  dabei  wachgerufene  Er- 
regung subkortikal  ausgegeben  wird.  Die  Herstellung  einer 
Entfremdung  zwischen  dem  Somatischen  und  dem 
Psychischen  im  Ablauf  der  Sexualerregung  erfolgt  beim 
Weibe  rascher  und  ist  schwerer  zu  beseitigen  als  beim  Manne. 
Der  Fall  der  Witwenschaft  und  der  gewollten  Abstinenz 
.sowie  der  Fall  des  KHmakteriums  erledigt  sich  beim  Weibe 
wohl  ebenso  wie  beim  Manne,  doch  kommt  für  den  Fall  der 
Abstinenz  gewiß  noch  die  absichthche  Verdrängung  des 
sexuellen  Vorstellungskreises  hinzu,  zu  welcher  die  mit  der 
Versuchung  kämpfende  abstinente  Frau  sich  häufig  ent- 
schließen muß,  und  ähnlich  mag  in  der  Zeit  der  Menopause 
der  Abscheu  wirken,  den  die  alternde  Frau  gegen  die  über- 
groß gewordene  Libido  empfindet. 

Auch  die  beiden  zuletzt  angeführten  ätiologischen 
Bedingungen   scheinen   sich  ohne  Schwierigkeit  einzuordnen. 


81 

Die  Angstneigung  der  neurasthenisch  gewordenen  Ma- 
sturbanten  erklärt  sich,  daraus,  daß  diese  Personen  so  leicht 
in  den  Zustand  der  „Abstinenz"  geraten,  nachdem  sie  sich 
so  lange  gewöhnt  hatten,  jeder  kleinen  Quantität  somatischer 
Erregung  eine  allerdings  fehlerhafte  Abfuhr  zu  schaffen. 
Endlich  läßt  der  letzte  Fall,  die  Entstehung  der  Angstneurose 
durch  schwere  Krankheit,  Überarbeitung,  erschöpfende 
Krankenpflege  u.  dgl.,  in  Anlehnung  an  die  Wirkungsweise 
des  Coitus  interruptus  die  zwanglose  Deutung  zu,  die  Psyche 
werde  hier  durch  Ablenkung  insuffizient  zur  Bewältigung  der 
somatischen  Sexualerregung,  einer  Aufgabe,  die  ihr  ja  kon- 
tinuierlich obliegt.  Man  weiß,  wie  tief  unter  denselben  Be- 
dingungen die  Libido  sinken  kann,  und  man  hat  hier  ein 
schönes  Beispiel  einer  Neurose,  die  zwar  keine  sexuelle 
Ätiologie,  aber  doch  einen  sexuellen  Mechanismus 
erkennen  läßt. 

Die  hier  entwickelte  Auffassung  stellt  die  Symptome 
der  Angstneurose  gewissermaßen  als  Surrogate  der  unter- 
lassenen spezifischen  Aktion  auf  die  Sexualerregung  dar.  Ich 
erinnere  zur  weiteren  Unterstützung  derselben  daran,  daß 
auch  beim  normalen  Koitus  die  Erregung  sich  nebstbei  als 
Atembeschleunigung,  Herzklopfen,  Schweißausbruch,  Kon- 
gestion u.  dgl.  ausgibt.  Im  entsprechenden  Angstanfall  unserer 
Neurose  hat  man  die  Dyspnoe,  das  Herzklopfen  u.  dgl.  des 
Koitus  isoliert  und  gesteigert  vor  sich. 

Es  könnte  noch  gefragt  werden :  "Warum  gerät  denn  das 
Nervensystem  unter  solchen  Umständen,  bei  psychischer 
Unzulänglichkeit  zur  Bewältigung  der  Sexualerregung,  in 
den  eigentümlichen  Affektzustand  der  Angst?  Darauf  ist 
andeutungsweise  zu  erwidern :  Die  Psyche  gerät  in  den  Affekt 
der  Angst,  wenn  sie  sich  unfähig  fühlt,  eine  von  a  u  ß  en 
nahende  Aufgabe  (Gefahr)  durch  entsprechende  Reaktion 
zu  erledigen;  sie  gerät  in  die  Neurose  der  Angst,  wenn  sie 
sich  unfähig  merkt,  die  endogen  entstandene  (Sexual-)  Er- 
regung auszugleichen.  Sie  benimmt  sich  also,  als 
projizierte  sie  diese  Erregung  nach  außen.  Dei 
Affekt  und  die  ihm  entsprechende  Neurose  stehen  in  fester 
Beziehung  zu  einander,  der  erstere  ist  die  Reaktion  auf  eine 

Freud,  Neurosenlehro.  6 


82 


exogene,  die  letztere  die  Reaktion  auf  die  analoge  endogene 
Erregung.  Der  Affekt  ist  ein  rasch  vorübergehender  Zustand, 
die  Neurose  ein  chronischer,  weil  die  exogene  Erregung  wie 
ein  einmaliger  Stoß,  die  endogene  wie  eine  konstante  Kraft 
wirkt.  Das  Nervensystem  reagiert  in  der  Neurose 
gegen  eine  innere  Erregungsquelle,  wie  in  dem 
entsprechenden  Affekt  gegen  eine  analoge 
äußere. 

IV.  Beziehung  zu  anderen  Neurosen. 

Es  erübrigen  noch  einige  Bemerkungen  über  die 
Beziehungen  der  Angstneurose  zu  den  anderen  Neurosen 
nach  Vorkommen  und  innerer  Verwandtschaft. 

Die  reinsten  Fälle  von  Angstneurose  sind  auch  meist 
die  ausgeprägtesten.  Sie  finden  sich  bei  potenten  jugend- 
lichen Individuen,  bei  einheitHcher  Ätiologie  und  nicht  zu 
langem  Bestände  des  Krankseins. 

Häufiger  ist  allerdings  das  gleichzeitige  und  gemein- 
same Vorkommen  von  Angstsymptomen  mit  solchen  der 
Neurasthenie,  Hysterie,  der  Zwangsvorstellungen,  der  Melan- 
choHe.  Wollte  man  sich  durch  solche  khnische  Vermengung 
abhalten  lassen,  die  Angstneurose  als  eine  selbständige  Einheit 
anzuerkennen,  so  müßte  man  konsequenterweise  auch  auf  die 
mühsam  erworbene  Trennung  von  Hysterie  und  Neurasthenie 
wieder  verzichten. 

Für  die  Analyse  der  „gemischten  Neurosen"  kann  ich 
den  wichtigen  Satz  vertreten:  Wo  sich  eine  gemischte 
Neurose  vorfindet,  da  läßt  sich  eine  Vermengung 
mehrerer  spezifischer  Ätiologien  nachweisen. 

Eine  solche  Vielheit  ätiologischer  Momente,  die  eine 
gemischte  Neurose  bedingt,  kann  bloß  zufällig  zustande  kommen, 
etwa  indem  eine  neu  hinzutretende  Schädlichkeit  ihre  Wir- 
kungen zu  denen  einer  früher  vorhandenen  addiert;  zum 
Beispiel  eine  Frau,  die  von  jeher  Hysterica  war,  tritt  zu  einer 
gewissen  Zeit  ihrer  Ehe  in  den  Coitus  reservatus  ein  und 
erwirbt  jetzt  zu  ihrer  Hysterie  eine  Angstneurose ;  ein  Mann, 
der  bisher  masturbiert  hatte  und  neurasthenisch  wurde,  wird 
Bräutigam,  erregt  sich  bei  seiner  Braut,  und  jetzt  gesellt 
sich  zur  Neurasthenie  eine  frische  Angstneurose  hinzu. 


83 


In  anderen  Fällen  ist  die  Mekrlieit  ätiologischer  Momente 
keine  zufällige,  sondern  das  eine  derselben  hat  das  andere 
mit  zur  Wirkung  gebracht;  zum  Beispiel  eine  Frau,  mit 
welcher  ihr  Mann  Coitus  reservatus  ohne  Rücksicht  auf  ihre 
Befriedigung  übt,  sieht  sich  genötigt,  die  peinliche  Erregung 
nach  einem  solchen  Akt  durch  Masturbation  zu  beenden; 
sie  zeigt  infolgedessen  nicht  reine  Angstneurose,  sondern 
daneben  Symptome  von  Neurasthenie ;  eine  zweite  Frau  wird 
unter  derselben  Schädlichkeit  mit  lüsternen  Bildern  zu  kämpfen 
haben,  deren  sie  sich  erwehren  will,  und  wird  auf  solche 
Weise  durch  den  Coitus  interruptus  nebst  der  Angstneurose 
Zwangsvorstellungen  erwerben ;  eine  dritte  Frau  endlich  wird 
infolge  des  Coitus  interruptus  die  Neigung  zu  ihrem  Manne 
einbüßen,  eine  andere  Neigung  erwerben,  welche  sie  sorg- 
fältig geheim  hält,  und  wird  infolgedessen  ein  Gemenge  von 
Angstneurose  und  Hysterie  zeigen. 

In  einer  dritten  Kategorie  von  gemischten  Neurosen 
ist  der  Zusammenhang  der  Symptome  ein  noch  innigerer, 
indem  die  nämhche  ätiologische  Bedingung  gesetzmäßig  und 
gleichzeitig  beide  Neurosen  hervorruft.  So  zum  Beispiel 
erzeugt  die  plötzHche  sexuelle  Aufklärung,  die  wir  bei  der 
virginalen  Angst  gefunden  haben,  immer  auch  Hysterie;  die 
allermeisten  FäUe  von  absichthcher  Abstinenz  verknüpfen  sich 
von  Anfang  an  mit  echten  Zwangsvorstellungen;  der  Coitus 
interruptus  der  Männer  scheint  mir  niemals  reine  Angstneurose 
provozieren  zu  können,  sondern  stets  eine  Vermengung  der- 
selben mit  Neurasthenie  u.  dgl. 

Es  geht  aus  diesen  Erörterungen  hervor,  daß  man  die 
ätiologischen  Bedingungen  des  Vorkommens  noch  unterscheiden 
muß  von  den  spezifischen  ätiologischen  Momenten  der  Neu- 
rosen. Erstere,  zum  Beispiel  der  Coitus  interruptus,  die 
Masturbation,  die  Abstinenz,  sind  noch  vieldeutig  und  können 
ein  jedes  verschiedene  Neurosen  produzieren;  erst  die  aus 
ihnen  abstrahierten  ätiologischen  Momente,  wie  inadäquate 
Entlastung,  psychische  Unzulänglichkeit,  Ab- 
wehr mit  Substitution  haben  eine  unzweideutige  und 
spezifische    Beziehung    zur    Ätiologie    der    einzelnen    großen 

Neurosen.  

6* 


84 

Ihreni  innereii  Wesen  nach  zeigt  die  Angstneurose  die 
interessantesten  Übereinstimmungen  und  Verschiedenheiten 
gegen  die  anderen  großen  Neurosen,  besonders  gegen  Neura- 
sthenie und  Hysterie.  Mit  der  Neurasthenie  teilt  sie  den  einen 
Hauptcharakter,  daß  die  Erregungsquelle,  der  Anlaß  zur 
Störung,  auf  somatischem  Gebiete  liegt,  anstatt  wie  bei  Hysterie 
und  Zwangsneurose  auf  psychischem.  Im  übrigen  läßt  sich 
eher  eine  Art  von  Gegensätzlichkeit  zwischen  den  Symptomen 
der  Neurasthenie  und  denen  der  ^  Angstneurose  erkennen,  die 
etwa  in  den  Schlagworten:  Anhäufung  —  Verarmung  an 
Erregung,  ihren  Ausdruck  fände.  Diese  Gegensätzlichkeit 
hindert  nicht,  daß  sich  die  beiden  Neurosen  mit  einander 
vermengen,  zeigt  sich  aber  doch  darin,  daß  die  extremsten 
Formen  in  beiden  Fällen  auch  die  reinsten  sind. 

Mit  der  Hysterie  zeigt  die  Angstneurose  zunächst  eine 
Reihe  von  Übereinstimmungen  in  der  Symptomatologie,  deren 
genauere  "Würdigung  noch  aussteht.  Das  Auftreten  der  Er- 
scheinungen als  Dauersymptome  oder  in  Anfällen,  die  auraartig 
gruppierten  Parästhesien,  die  Hyperästhesien  und  Druckpunkte, 
die  sich  bei  gewissen  Surrogaten  des  Angstanfalles,  bei  der 
Dyspnoe  und  dem  Herzanfall  finden,  die  Steigerung  der  etwa 
organisch  berechtigten  Schmerzen  (durch  Konversion):  — 
diese  und  andere  gemeinschaftliche  Züge  lassen  sogar  ver- 
muten, daß  manches,  was  man  der  Hysterie  zurechnet,  mit 
mehr  Fug  und  Recht  zur  Angstneurose  geschlagen  werden 
dürfte.  Geht  man  auf  den  Mechanismus  der  beiden  Neurosen 
ein,  soweit  er  sich  bis  jetzt  hat  durchschauen  lassen,  so 
ergeben  sich  Gesichtspunkte,  welche  die  Angstneurose  geradezu 
als  das  somatische  Seitenstück  zur  Hysterie  erscheinen  lassen. 
Hier  wie  dort  Anhäufung  von  Erregung  —  worin  vielleicht 
die  vorhin  geschilderte  Ähnlichkeit  der  Symptome  gegründet 
ist  — ;  hier  wie  dort  eine  psychische  Unzulänglichkeit, 
der  zufolge  abnorme  somatische  Vorgänge  zu- 
stande kommen.  Hier  wie  dort  tritt  an  Stelle  einer 
psychischen  Verarbeitung  eine  Ablenkung  der  Erregung  in 
das  Somatische  ein ;  der  Unterschied  Hegt  bloß  darin,  daß  die 
Erregung,  in  deren  Verschiebung  sich  die  Neurose  äußert, 
bei   der  Angstneurose   eine   rein   somatische   (die   somatische 


85 


Sexualerregung),  bei  der  Hysterie  eine  psychische  (durch 
Konflikt  hervorgerufene)  ist.  Es  kann  daher  nicht  Wunder 
nehmen,  daß  Hysterie  und  Angstneurose  sich  gesetzmäßig 
miteinander  kombinieren,  wie  bei  der  „virginalen  Angst" 
oder  der  „sexuellen  Hysterie'',  daß  die  Hysterie  eine 
Anzahl  von  Symptomen  einfach  der  Angstneurose  entlehnt 
u.  dgl.  Diese  innigen  Beziehungen  der  Angstneurose  zur 
Hysterie  geben  auch  ein  neues  Argument  ab,  um  die  Trennung 
der  Angstneurose  von  der  Neurasthenie  zu  fordern ;  denn 
verweigert  man  diese,  so  kann  man  auch  die  so  mühsam 
erworbene  und  für  die  Theorie  der  Neurosen  so  unentbehr- 
liche Unterscheidung  von  Neurasthenie  und  Hysterie  nicht 
mehr  aufrecht  erhalten. 

"Wien,  im  Dezember  1894. 


VI. 

Obsessions  et  phobies. 
Leur  mecanismepsychique  et  lenr  Ätiologie/) 

Je  commencerai  par  contester  deux  assertions,  qui  se 
trouvent  souvent  repetees  sur  le  compte  des  Syndromes: 
„obsessions  et  phobies".  H  faut  dire:  1*^  qu'ils  ne  se  rattachent 
pas  ä  la  neurasthenie  propre,  pidsque  les  malades  atteints 
de  ces  symptömes  sont  aussi  souvent  des  neurastheniques  que 
non;  2°  qu'ü  n'est  pas  justifie  de  les  faire  dependre  de  la 
degeneration  mentale,  parce  qu'ils  se  trouvent  chez  de 
personnes  pas  plus  degenerees  que  la  plupart  des  nevrosiques 
en  general,  parce  qu'ils  s'amendent  quelquefois  et  qu'on  par- 
vient  meme  quelquefois  ä  les  guerir^). 

Les  obsessions  et  les  phobies  sont  des  nevroses  ä  part, 
d'un  mecanisme  special  et  d'une  etiologie  que  j'ai  reussi 
ä  mettre  en  lumiere  dans  un  certain  nombre  de  cas,  et  qui, 
je  l'espere,  se  montreront  de  meme  dans  bon  nombre  de  cas 
nouveaux. 

Quant  ä  la  division  du  sujet  je  propose  d'abord  d'ecarter 
une  classe  d'obsessions  intenses,  qui  ne  sont  autre  chose  que 
des  Souvenirs,  des  Images  non  alterees  d'evenements  importants. 
Je  citerai,  par  exemple,  l'obsession  de  Pascal  qui  croyait 
toujours  voir  un  abime  ä  son  cöte  gauche,  „depuis  qu'il  avait 
manque  d'etre  precipite  dans  la  Seine  avec  son  carrosse". 
Ces  obsessions  et  phobies,  qu'on  pourrait  nommer  traumatiques, 
se  rattachent  aux  symptömes  de  l'hysterie. 

^)  Eevue  neurologique,  EEI,  1895. 

2)  Je  suis  tres  content  de  trouver  que  les  auteurs  les  plus  recents 
sur  notre  sujet  expriment  des  opinions  voisines  de  la  mienne.  Voir: 
Gelineau,  Des  peurs  maladives  oxi  phobies,  1894,  et  HackTuke,  On 
imperative  ideas,  Brain,  1894. 


87 


Ce  groupe  ä  part  il  faut  distinguer :  A)  les  obsessions 
•vraies ;  B)  les  phobies.  La  difference  essentielle  est  la  suivante. 

n  y  a  dans  toute  Obsession  deux  choses:  1°  une  idee 
qui  s'impose  an  malade;  2^  nn  etat  emotif  associe.  Or,  dans 
la  classe  des  pbobies,  cet  etat  emotif  est  toujours  Vangoisse, 
pendant  que  dans  les  obsessions  vraies  ce  peut  etre  au  meme 
titre  que  l'anxiete  un  autre  etat  emotif,  comme  le  doute,  le 
remords,  la  col^re.  Je  tächerai  d'abord  d'expliquer  le  mecanisme 
psychologique  vraiment  remarquable  des  obsessions  vraies, 
qui  est  bien  different  de  celui  des  phobies. 

I. 

Dans  beaucoup  d'obsessions  vraies,  il  est  bien  evident 
que  l'etat  emotif  est  la  cbose  principale,  puisque  cet  etat 
persiste  inaltere  pendant  que  l'idee  associee  est  variee.  Par 
exemple,  la  fille  de  l'observation  I,  avait  des  remords,  un  peu 
«n  raison  de  tout,  d'avoir  vole,  maltraite  ses  sceurs,  fait  de  la 
fausse  monnaie,  etc.  Les  personnes  qui  doutent,  doutent  de 
b)eaucoup  de  choses  ä  la  fois  ou  successivement.  C'est  l'etat 
emotif  qui,  dans  ces  cas,  reste  le  meme:  l'idee  change.  En 
d'autres  cas  l'idee  aussi  semble  fixee,  comme  chez  la  fille  de 
l'observation  IV,  qui  poursuivait  d'une  haine  incomprehensible 
les  servantes  de  la  maison  en  changeant  pourtant  de  personne. 

Eh  bien,  une  analyse  psychologique  scrupuleuse  de  ces 
cas  montre  que  Vetat  emotif,  comme  tel,  est  toujours  justifie.  La 
fille  I,  qui  a  des  remords,  a  de  bonnes  raisons;  les  femmes 
de  l'observation  III  qui  doutaient  de  leur  resistance  contre 
des  tentations  savaient  bien  pourquoi ;  la  fille  de  l'observation 
ly,  qui  detestait  les  servantes,  avait  bien  le  droit  de  se 
plaindre,  etc.  Seulement,  et  c'est  dans  ces  deux  caracteres 
que  consiste  l'empreinte  pathologique:  1)  l'etat  emotif  s'est 
4ternise,  2)  Tide  associee  nest  plus  l'idee  juste,  l'idee  originale,  en 
rapport  avec  Vetiologie  de  l'ohsession,  eile  en  est  un  remplagant, 
une  Substitution. 

La  preuve  en  est  qu'on  peut  toujours  trouver  dans  les 
antecedents  du  malade  ä  Vorigine  de  l'ohsession,  l'idee  originale, 
substituee.  Les  idees  substituees  ont  des  caracteres  communs, 
elles    correspondent    ä   des   impressions   vraiment  penibles  de 


la  vie  sexuelle  de  l'individu  que  celui-ci  s'est  efforce  d'oublier. 
H  a  reussi  seulement  a  remplacer  l'idee  inconciliable  par  une  autre 
idee  mal  appropriee  a  s'associer  a  l'etat  emotif,  qui  de  son 
cote  est  reste  le  meme.  C'est  cette  mesalliance  de  l'6tat  emotif  et 
de  l'idee  associee  qui  rend  compte  du  caract^re  d'absurdite 
propre  aux  obsessions.  Je  veux  rapporter  mes  observations,  et 
donner  une  tentative  d'expHcation  theorique  comme  conclusion. 

Obs.  I.  —  Une  fille  qui  se  faisait  des  reproches,  qu'elle  savait  ab- 
surdes, d'avoir  vole,  fait  de  la  fausse  monnaie,  de  s'etre  conjuree,  etc., 
Selon  sa  lecture  journalifere. 

Bedressement  de  la  Substitution.  —  Elle  se  reprochait  l'onanisme 
qu'elle  pratiquait  en  secret  sans  pouvoir  y  renoncer. 

Elle  fut  guerie  par  une  Observation  scrupuleuse  qui  rempecha  de 
se  masturber. 

Obs.  II.  —  Jeune  hoipme,  etudiant  en  medecine,  qui  souffi-ait  d'une 
Obsession  analogue.  II  se  reprochait  toutes  les  actions  immorales :  d'avoir 
tue  sa  Cousine,  deflore  sa  soeur,  incendie  une  maison,  etc.  II  parvint 
jusqu'ä,  la  necessite  de  se  retourner  dans  la  rue  pour  vorr  s'il  n'avait 
pas  encore  tue  le  dernier  passant. 

Redressement  de  Ja  Substitution.  —  II  avait  lu,  dans  un  livre  quasi- 
medical,  que  l'onanisme,  auquel  ü  etait  sujet,  abimait  la  morale,  et  il 
s'en  etait  emu. 

Obs.  in.  —  Plusieurs  femmes  qui  se  plaignaient  de  l'obsession 
de  se  jeter  par  la  fenetre,  de  blesser  leurs  enfants  avec  des  couteaux, 
ciseaux,  etc. 

Bedressement.  —  Obsessions  de  tentations  typiques.  C'etaient  des 
femmes  qui,  pas  du  tout  satisfaites  dans  le  mariage,  se  debattaient  contre 
les  desirs  et  les  idees  voluptueuses  qui  les  hantaient  k  la  vue  d'autres 
hommes. 

Obs.  IV.  —  Une  fiUe  qui  parfaitement  saine  d'esprit  et  trfes 
intelligente  montrait  une  haine  incontrölable  contre  les  servantes  de  la 
maison,  qui  s'etait  eveillee  k  l'occasion  d'une  servante  effi:ont6e,  et  s'etait 
transmise  depuis  de  fille  en  fille,  jusqu'a  rendre  le  menage  impossible. 
C'etait  un  sentiment  mele  de  haine  et  de  degoüt.  Elle  donnait  comme 
motif  que  les  saletes  de  ces  filles  lui  gätaient  son  idee  de  l'amour. 

Bedressement.  —  Cette  fille  avait  ete  temoin  involontaire  d'un 
rendez-vous  amoureux  de  sa  mere.  Elle  s'etait  cache  le  visage,  bouche  les 
oreilles,  et  s'etait  donne  la  plus  grande  peine  pour  oublier  la  scene,  qui 
la  degoütait  et  l'aurait  mise  dans  l'impossibilite  de  rester  avec  sa  mere 
qu'elle  aimait  tendrement.  Elle  y  reussit,  mais  la  colfere,  de  ce  qu'on  lui 
avait  souille  i'image  de  l'amour,  persista  en  eile,  et  cet  etat  Emotif  ne 
tarda  pas  k  s'associer  l'idee  d'une  personne  pouvant  remplacer  la  mere. 

Obs.  V.  —  Une  jeune  fille  s'etait  presque  completement  isolee  en 
consequence  de  la  peur  obsedante  de  l'incontinence  des  urines.   Elle  ne 


89 


pouvait  plus  quitter  sa  chambre  ou  recevoir  ane  visite  sans  avoir  urine 
nombre  de  fois. 

Chez  eile  et  en  repos  complet  la  peur  n'existait  pas. 

Bedressement.  —  C'etait  une  Obsession  de  tentation  ou  de  mefiance. 
Elle  ne  se  mefiait  pas  de  sa  vessie  mais  de  sa  resistance  contre  une 
impulsion  amoureuse.  L'origine  de  l'obsession  le  montrait  bien.  üne  fois, 
au  theätre,  eile  avait  senti  ä  la  VTie  d'un  homme  qui  lui  plaisait  une 
envie  amoureuse  accompagnee  (comme  toujours  dans  lapoUutionspontanee 
des  femmes)  de  l'envie  d'uriner.  Elle  fut  oblige  ä  quitter  le  theätre, 
et  de  ce  moment  eile  etait  en  proie  ä  la  peur  d'avoir  la  meme  Sensation, 
mais  l'envie  d'uriner  s'etait  substituee  ä  l'envie  amoureuse.  Elle  guerit 
completement. 

Les  observations  enumerees,  bien  qu'elles  montrent  iin 
degre  variable  de  complexite,  ont  ceci  de  commun,  que  l'idee 
originale  (inconciliable)  est  substituee  par  une  autre  idee, 
idee  rempla^ante.  Dans  les  observations  qui  vont  suivre 
maintenant,  l'idee  originale  est  aussi  remplacee  mais  non  par 
une  autre  idee;  eile  se  trouve  substituee  par  des  actes  ou 
impulsions  qui  ont  servi  ä  l'origine  comme  soulagements  ou 
procedes  protedeurs,  et  qui  maintenant  se  trouvent  en  asso- 
ciation  grotesque  avec  un  etat  emotif  qui  ne  leur  convient 
pas  mais  qui  est  reste  le  meme,  et  aussi  justifie  qu'ä  l'origine. 

Obs.  VI.  —  Obsession  d'arithmomanie.  —  üne  femme  avait  con- 
tracte  le  besoin.  de  compter  toujours  les  planches  du  parquet,  les  marches 
de  l'escalier,  etc.,  ce  qu'elle  faisait  dans  un  etat  d'angoisse  ridicule. 

Bedressement.  —  Elle  avait  commence  ä  compter  pour  se  distraire 
de  ses  idees  obsedantes  (de  tentation).  Elle  y  avait  reussi,  mais  l'impul- 
sion  de  compter  s'etait  substituee  ä.  l'obsession  primitive. 

Obs.  Vn.  —  Obsession  de  „Grübelsucht"  (folie  de  speculation). 
Une  femme  soxiffirait  d'attaques  de  cette  Obsession,  qui  ne  cessaient 
qu'aux  temps  de  maladie,  pour  y  laisser  la  place  ä  des  peurs  hypo- 
condriaques.  Le  sujet  de  l'attaque  etait  ou  une  partie  du  corps  ou 
xme  fonction,  par  exemple,  la  respiration:  Pourquoi  faut-il  respirer?  Si 
je  ne  voulais  respirer?  etc. 

Bedressement.  —  Tout  d'abord  eile  avait  souffert  de  peur  de  devenir 
folle,  phobie  hypochondriaque  assez  commune  chez  les  femmes  non 
satisfaites  par  leur  mari,  comme  eile  etait.  Pour  se  garantir  qu'elle 
n'ailait  pas  devenir  folle,  qu'elle  jouissait  encore  de  son  intelligence,  eile 
avait  commence  ä  se  poser  des  questions,  ä  s'occuper  de  problemes 
serieux.  Cela  la  tranquillisait  d'abord,  mais  avec  le  temps  cette  habitude 
de  la  speculation  se  substituait  k  la  phobie.  Depuis  plus  de  quinze  ans 
des  periodes  de  peur  (pathophobie)  et  de  folie  de  speculation  alternaient 
chez  eile. 


90 


Obs.  VIII.  Folie  du  doute.  —  Plusieurs  cas,  qm  montraient  les 
symptomes  typiques  de  cette  Obsession,  mais  qui  s'expliquaient  bien 
simplement.  Ces  personnes  avaient  souffert  ou  souffiraient  encore 
d'obsessions  diverses,  et  la  consoieace  que  l'obsession  les  avait  derangees 
dans  toutes  leurs  actions  et  interrompu  maintes  fois  le  cours  de  leurs 
pensees  provoquait  le  doute  legitime  dans  la  fidelite  de  leur  memoire. 
Chacun  de  nous  verra  chanceler  son  assurance  et  sera  oblige  de  relire 
tme  lettre  ou  de  refaire  un  compte  si  son  attention  a  ete  divertie  plusieurs 
fois  pendant  l'execution  de  l'acte.  Le  doute  est  une  consequence  bien 
logique  de  la  presence  des  obsessions. 

Obs.  IX.  —  Folie  du  doute  (hesitation).  —  La  fiUe  de  l'obs.  IV  etait 
devenue  extremement  tardive  dans  toutes  les  actions  de  la  vie  ordinaire, 
particulierement  dans  sa  toilette.  II  lui  fallait  des  heures  pour  nouer  les 
cordons  de  ses  souliers  ou  pour  se  nettoyer  les  ongles  des  mains.  Elle 
donnait  comme  explication  qu'elle  ne  pouvait  faire  sa  toilette  ni  pendant 
que  les  pensees  obsedantes  la  preoccupaient,  ni  immediatement  apres; 
de  Sorte  qu'elle  s'etait  accoutumee  a  attendre  un  temps  determine  apres 
chaque  retour  de  l'idee  obsedante. 

Obs.  X.  —  Folie  du  doute,  crainte  des papiers.  —  Une  jeune  femme, 
qui  avait  souffert  de  scrupules  apres  avoir  ecrit  une  lettre,  et  qui  dans 
ce  meme  temps  ramassait  tous  les  papiers  qu'elle  voyait,  donnait  comme 
explication  l'aveu  d'un  amour  que  jadis  eile  ne  voulait  pas  confesser. 

A  force  de  se  repeter  sans  cesse  le  nom  de  son  bien-aime,  eile 
fut  saisie  par  la  peur  que  ce  nom  se  serait  glisse  dans  sa  plume,  qu'elle 
l'aurait  trace  sur  quelque  bout  de  papier  dans  une  minute  pensive.^) 

Obs.  XL  —  Mysophohie.  —  Une  femme  qui  se  lavait  les  mains 
Cent  fois  par  jour  et  ne  toucbait  les  loquets  des  portes  que  du  coude. 

Bedressement.  —  C'etait  le  cas  de  Lady  Macbeth.  Les  lavages 
etaient  symboliques  et  destines  k  substituer  la  purete  physique  k  la 
purete  morale  qu'elle  regrettait  avoir  perdue.  Elle  se  tourmentait  de 
remords  pour  une  infidelite  conjugale  dont  eile  avait  decide  de  chasser 
le  Souvenir.  Elle  se  lavait  aussi  les  parties  genitales. 

Quant  ä  la  theorie  de  cette  Substitution,  je  me  con- 
tenterai  de  repondre  ä  trois  questions  qui  se  posent  ici: 

1^  Comment  cette  Substitution  peut-elle  se  faire? 

n  semble  qu'elle  est  l'expression  d'une  disposition  psy- 
chique  speciale.  Au  moins  rencontre-t-on  dans  les  obsessions 
assez  souvent  l'heredite  similaire,  comme  dans  l'hysterie. 
Ainsi  le  malade  de  l'obs,  II  me  racontait  que  son  pere  avait 
souffert  de  symptomes  semblables.  IE  me  fit  connaitre  un  j  our 


1)  VoLr  aussi  la  chanson  populaire  allemande: 
Auf  jedes  weiße  Blatt  Papier  möcht'  ich  es  schreiben: 
Dein  ist  mein  Herz  und  soll  es  ewig,  ewig  bleiben. 


91 


nn  cousin  germain  avec  obsessions  et  tic  convulsif,  et  la  fille 
de  sa  soeur,  ägee  de  11  ans,  qni  montrait  dejä  des  obsessions 
(probablement  de  remords). 

2^  Qiiel  est  le  motif  de  cette  Substitution? 

Je  crois  qu'on  peut  l'envisager  comme  un  acte  de  defense 
(Abwehr)  du  moi  contre  l'idee  inconciliable.  Parmi  mes  malades 
il  y  en  a  qui  se  rappeUent  l'effort  de  la  volonte  pour  chasser 
ridee  oii  le  souvenir  penible  du  rayon  de  la  conscience 
(V.  les  obs.  m,  IV,  XI).  En  d'autres  cas  cette  expulsion  de 
l'idee  inconciliable  s'est  produite  d'une  maniere  inconsciente 
qui  n'a  pas  laisse  trace  dans  la  memoire  des  malades. 

3°  Pourquoi  l'etat  emotif  associe  ä  l'idee  obsedante 
s'est-il  perpetue,  au  lieu  de  s'evanouir  comme  les  autres  etats 
de  notre  moi? 

On  peut  donner  cette  reponse  en  s'adressant  ä  la  theorie 
developpee  pour  la  genese  des  symptömes  hysteriques  par 
M.  Breuer  et  moi^).  Ici  je  veux  seulement  remarquer  que, 
par  le  fait  meme  de  la  Substitution,  la  disparition  de  l'etat 
emotif  devient  impossible. 

n. 

A  ces  deux  groupes  d'obsessions  vraies  s'ajoute  le  classe 
des  „phobies",  qu'il  faut  considerer  maintenant.  J'ai  dejä 
mentionne  la  grande  difference  des  obsessions  et  des  phobies ; 
que  dans  les  dernieres  l'etat  emotif  est  toujours  l'anxiete,  la 
peur.  Je  pourrais  aj outer  que  les  obsessions  sont  multiples  et 
plus   speciaHsees,   les   phobies   plutot   monotones  et  typiques. 

Mais  ce  n'est  pas  une  difference  capitale. 

On  peut  discerner  aussi  parmi  les  phobies  deux  groupes, 
caracterises  par  l'objet  de  la  peur:  1°  phobies  communes: 
peur  exageree  des  choses  que  tout  le  monde  abhorre  ou 
craint  un  peu:  la  nuit,  la  solitude,  la  mort,  les  maladies,  les 
dangers  en  general,  les  serpents,  etc. ;  2'^  phobies  d'occasion, 
peur  de  conditions  speciales,  qui  n'inspirent  pas  la  crainte 
ä  l'homme  sain,  par  exemple  l'agoraphobie  et  les  autres 
phobies  de  la  locomotion.  H  est  interessant  ä  noter  que  ces 
dernieres  phobies  ne  sont  pas  obsedfantes  comme  les  obsessions 

1)  Neurologisches  Centralblatt,  1893,  Nr.  1  und  2. 


92 


vraies  et  les  phobies  communes.  L'etat  emotif  ici  ne  parait 
que  dans  le  cas  de  ces  conditions  speciales  que  le  malade 
evite  soigneusement. 

Le  mecanisme  des  phobies  est  tout  ä  fait  different  de 
celui  des  obsessions.  Ce  n'est  plus  le  r^gne  de  la  Substitution. 
Ici  on  ne  devoile  plus  par  l'analyse  psychique  une  idee  incon- 
ciliable,  substituee.  On  ne  trouve  jamais  autre  chose  que  Vetai 
emotif  anxieux,  qui  par  une  sorte  d'election  a  fait  ressortir 
toutes  les  idees  propres  a  devenir  l'objet  d'une  pbobie.  Dans 
le  cas  de  l'agoraphobie,  etc.,  on  rencontre  souvent  le  souvenir 
d'une  attaque  d'angoisse,  et  en  verite  ce  que  redoute  le  malade 
c'est  l'evenement  d'une  teUe  attaque  dans  les  conditions 
speciales  oü  il  croit  ne  pouvoir  y  echapper. 

L'angoisse  de  cet  etat  emotif,  qui  est  au  fond  des  phobies, 
n'est  pas  derive  d'un  souvenir  quelconque;  on  doit  bien  se 
demander  quelle  peut  etre  la  source  de  cette  condition  puis- 
sante  du  Systeme  nerveux. 

Eh.  bien  j'espere  pouvoir  demontrer  une  autre  fois  qu'il 
y  a  Heu  de  constituer  une  nevrose  speciale,  la  nevrose  anxieuse, 
de  laquelle  cet  etat  emotif  est  le  Symptome  principal;  je 
donnerai  l'enumeration  de  ses  symptömes  varies,  et  j'insisterai 
en  ce  qu'ü  faut  differencier  cette  nevrose  de  la  neurasthenie, 
avec  laquelle  eUe  est  maintenant  confondue.  Ainsi  les  phobies 
fönt  pari  de  la  nevrose  anxieuse,  et  eUes  sont  presque  toujours 
accompagnees  d'autres  symptömes  de  la  meme   serie. 

La  nevrose  anxieuse  est  d'origine  sexuelle,  eile  aussi,  autant 
que  je  puis  voir,  mais  eUe  ne  se  rattache  pas  ä  des  idees 
tirees  de  la  vie  sexuelle :  eUe  n'a  pas  de  mecanisme  psychique, 
ä  vrai  dire.  Son  etiologie  specifique  est  l'accumulation  de  la 
tension  genesique,  provoquee  par  l'abstinence  ou  l'irritation 
genesique  fruste  (pour  donner  une  formule  generale  pour 
l'effet  du  co'it  reserve,  de  l'impotence  relative  du  mari,  des 
excitations  sans  satisfaction  des  fiances,  de  l'abstinence 
forcee,  etc.). 

C'est  dans  de  telles  conditions  extremement  frequentes, 
principalement  pour  la  femme  dans  la  societe  actuelle,  que 
se  developpe  la  nevrose  anxieuse,  de  laqueUe  les  phobies  sont 
une  manifestation  psychique. 


93 


Je  ferai  remarquer,  comme  conclusion,  qu'il  peut  y  avoir 
combinaison  de  pLobie  et  d'obsession  propre,  et  meme  que 
c'est  un  evenement  tres  frequent.  On  peut  trouver  qu'il  y 
avait  au  commencement  de  la  maladie  une  phobie  developpee 
comme  Symptome  de  la  nevrose  anxieuse,  L'idee  qui  constitue 
la  phobie  qui  s'y  trouve  associee  ä  la  peur,  peut  etre  sub- 
stituee  par  une  autre  idee  ou  plutöt  par  le  procede  protedeur 
qui  semblait  soulager  la  peur.  L'obs.  VI  (folie  de  la  specu- 
lation)  presente  un  bei  exemple  de  cette  categorie,  phobie 
douhle'e  d'zme  Obsession  vraie  par  Substitution. 


VII. 

Zur  Kritik  der  „Angstneurose".  0 

In  Nummer  2  des  Nenrologischen  Centralblattes 
von  Mendel  1895  habe  icli  einen  kleinen  Aufsatz  veröffent- 
liclit,  in  welchem  ich  den  Versuch  wage,  eine  Reihe  von 
nervösen  Zuständen  von  der  Neurasthenie  abzutrennen,  und 
unter  dem  Namen  „Angstneurose"  selbständig  zu  machen.  ^) 
Ich  Heß  mich  hierzu  bewegen  durch  ein  konstantes  Zusammen- 
treffen klinischer  und  ätiologischer  Charaktere,  das  ja  über- 
haupt für  eine  Sonderung  maßgebend  sein  darf.  Ich  fand 
nämlich,  worin  mir  E.  H  e  c  k  e  r  ^)  zuvorgekommen  war,  daß 
die  in  Rede  stehenden  neurotischen  Symptome  sich  sämtlich 
zusammenfassen  ließen  als  zum  Ausdruck  der  Angst  gehörig, 
und  ich  konnte  aus  meinen  Bemühungen  um  die  Ätiologie 
der  Neurosen  hinzufügen,  daß  diese  Teilstücke  des  Komplexes 
,,Angstneurose"  besondere  ätiologische  Bedingungen  erkennen 
lassen,  die  der  Ätiologie  der  Neurasthenie  nahezu  gegensätzlich 
sind.  Meine  Erfahrungen  hatten  mich  gelehrt,  daß  in  der 
Ätiologie  der  Neurosen  (wenigstens  der  erworbenen  Fälle 
und  erwerbbaren  Formen)  sexuelle  Momente  eine  hervor- 
ragende und  viel  zu  wenig  gewürdigte  Rolle  spielen,  so  daß 
etwa  die  Behauptung,  „die  Ätiologie  der  Neurosen  Hege  in 
der  SexuaHtät"  bei  aU  ihrer  notwendigen  Unrichtigkeit 
per  excessum  et  defectum  doch  der  Wahrheit  näher  kommt 
als  die  anderen,  gegenwärtig  herrschenden  Lehren.  Ein 
weiterer    Satz,    zu    dem    mich    die   Erfahrung   drängte,    ging 

1)  Wiener  klinische  Rundscliau,  1895. 

2)  Über  die  Berechtigung,  von  der  Neurasthenie  einen  bestimmten 
Symptomenkomplex  als  „Angstneurose"  abzutrennen,  von  Dr.  Sigm. 
Freud. 

3)  E.  Heck  er.  Über  larvierte  und  abortive  Angstzustände  bei 
Neurasthenie.  Centralblatt  für  Nervenheilkunde,  Dez.  1893. 


95 


daMn,  daß  die  verscHedenen  sexuellen  Noxen,  nicht  etwa 
nnterscliiedslos  in  der  Ätiologie  aller  Neurosen  zu  finden 
seien,  sondern  daß  unverkennbar  besondere  Beziehungen  ein- 
zelner Noxen  zu  einzelnen  Neurosen  beständen.  Ich  durfte 
so  annehmen,  daß  ich  die  spezifischen  Ursachen  der 
einzelnen  Neurosen  aufgedeckt  habe.  Ich  suchte  dann  die 
Besonderheit  der  sexuellen  Noxen,  welche  die  Ätiologie  der 
Angstneurose  ausmachen,  in  eine  kurze  Formel  zu  fassen,, 
und  gelangte  (in  Anlehnung  an  meine  Auffassung  des  Sexual- 
vorganges, 1.  c.  p.  61)  zu  dem  Satze :  Angstneurose  schaffe 
alles,  was  die  somatische  Sexualspannung  vom  Psychischen 
abhalte,  an  ihrer  psychischen  Verarbeitung  störe.  Wenn  man 
auf  die  konkreten  Verhältnisse  zurückgeht, -in  denen  sich  dieses 
Moment  zur  Geltung  bringt,  so  ergibt  sich  die  Behauptung,, 
daß  freiwillige  oder  unfreiwillige  Abstinenz,  sexueller  Verkehr 
mit  unvollständiger  Befriedigung,  Coitus  interruptus,  Ablenkung 
des  psychischen  Interesses  von  der  Sexualität  u.  dgl.  m.,  die 
spezifischen  ätiologischen  Faktoren  der  von  mir  Angstneurose 
genannten  Zustände  seien. 

Als  ich  meine  hier  erwähnte  Mitteilung  zur  Veröffent- 
lichung brachte,  täuschte  ich  mich  keineswegs  über  deren 
Macht,  Überzeugung  zu  erwecken.  Zunächst  konnte  ich  mir 
ja  sagen,  daß  ich  nur  eine  knappe,  unvollständige,  stellen- 
weise sogar  schwer  verständliche  Darstellung  gegeben  hatte, 
vielleicht  gerade  genügend,  um  die  Erwartung  der  Leser  vor- 
zubereiten. Sonst  hatte  ich  kaum  Beispiele  angeführt  und 
keine  Zahlen  genannt,  die  Technik  der  Erhebung  der  Anam- 
nese nicht  gestreift,  zur  Verhütung  von  Mißverständnissen 
nichts  vorgesorgt,  andere  als  die  naheliegendsten  Einwände 
nicht  berücksichtigt,  und  von  der  Lehre  selbst  eben  nur  den 
Hauptsatz  und  nicht  die  Einschränkungen  hervorgehoben. 
Demnach  konnte  auch  wirklich  ein  jeder  sich  seine  eigene 
Meinung  von  der  Verbindlichkeit  der  ganzen  Aufstellung  bilden. 
Ich  konnte  aber  noch  auf  eine  andere  Erschwerung  der  Zu- 
stimmung rechnen.  Ich  weiß  sehr  wohl,  daß  ich  mit  der 
„sexuellen  Ätiologie"  der  Neurosen  nichts  Neues  vorgebracht 
habe,  daß  die  Unterströmungen  in  der  medizinischen  Literatur, 
welche  diesen  Tatsachen  Rechnung  getragen,  nie  ausgegangen 


96 


sind,  und  daß  die  offizielle  Medizin  der  Schulen  sie  eigent- 
lich auch  gekannt  hat.  Allein  die  letztere  hat  so  getan,  als 
wüßte  sie  nichts  davon;  sie  hat  von  ihrer  Kenntnis  keinen 
Gebrauch  gemacht,  keine  Folgerung  aus  ihr  gezogen.  Solches 
Verhalten  muß  wohl  eine  tiefgehende  Begründung  haben, 
etwa  in  einer  Art  von  Scheu,  sexuelle  Verhältnisse  ins  Auge 
zu  fassen,  oder  in  einer  Reaktion  gegen  ältere,  als  überwunden 
betrachtete  Erklärungsversuche.  Jedenfalls  mußte  man  vor- 
bereitet sein,  auf  Widerstand  zu  stoßen,  wenn  man  den  Ver- 
such wagte,  Anderen  etwas  glaubwürdig  zu  machen,  was  diese 
ohne  jede  Mühe  auch  selbst  hätten  entdecken  können. 

Es  wäre  bei  solcher  Sachlage  vielleicht  zweckmäßiger, 
auf  kritische  Einwendungen  nicht  eher  zu  antworten,  als  bis 
ich  mich  über  das  komplizierte  Thema  selbst  ausführlicher 
geäußert  und  besser  verständlich  gemacht  hätte.  Dennoch 
kann  ich  den  Motiven  nicht  widerstehen,  die  mich  veran- 
lassen, einer  Kritik  meiner  Lehre  von  der  Angstneurose  aus 
den  letzten  Tagen  auch  unverzüglich  zu  begegnen.  Ich  tue 
dies  wegen  der  Person  des  Autors,  L.  Löwenfeld  in 
München,  des  Verfassers  der  „Pathologie  und  Therapie  der 
Neurasthenie  und  Hysterie",  dessen  Urteil  beim  ärztlichen 
Publikum  schwer  ins  Gewicht  fallen  dürfte,  wegen  einer  miß- 
verständlichen Auffassung,  mit  welcher  mich  die  Darstellung 
Löwenfeld's  belastet,  und  weil  ich  von  Anfang  an  den 
Eindruck  bekämpfen  möchte,  als  sei  meine  Lehre  gar  so  mühe- 
los durch  die  nächstbesten,  im  Vorbeigehen  angebrachten  Ein- 
wendungen zu  widerlegen. 

Löwenfeld  ^)  findet  mit  sicherem  Blick  als  das  Wesent- 
liche meiner  Arbeit  heraus,  daß  ich  für  die  Angstsymptome 
eine  spezifische  und  einheitliche  Ätiologie  sexueller  Natur 
behaupte.  Ist  dies  nicht  als  Tatsache  festzustellen,  so  ent- 
fällt auch  der  Hauptgrund  für  die  Abtrennung  einer  selbst- 
ständigen Angstneurose  von  der  Neurasthenie.  Es  erübrigt 
dann  allerdings  eine  Schwierigkeit,  auf  die  ich  aufmerksam 
gemacht  habe,    daß   nämlich   die   Angstsymptome    so    unver- 

1)  L.  Löwenfeld.  Über  die  Verknüpfung  neurasthenischer  und 
hysterisclier  Symptome  in  Anfallsform  nebst  Bemerkungen  über  die 
Freud'sche  Angstneurose.    Münchener  med.  Wochenschr.   Nr.  13,    1895. 


97 


kennbare  Beziehungen  auch  zur  Hysterie  haben,  so  daß  durch 
die  Entscheidung  im  Sinne  Löwenfeld's  die  Sonderung  von 
Hysterie  und  Neurasthenie  zu  Schaden  kommt;  allein  dieser 
Schwierigkeit  wird  durch  die  später  zu  würdigende  Berufung 
auf  die  Heredität  als  gemeinsame  Ursache  all  dieser  Neurosen 
begegnet. 

Durch  welche  Argumente  stützt  nun  Löwen feld  den 
Einspruch  gegen  meine  Lehre? 

1.  Ich  habe  als  wesentlich  für  das  Verständnis  der 
Angstneurose  hervorgehoben,  daß  die  Angst  derselben  eine 
psychische  Ableitung  nicht  zuläßt,  das  heißt,  daß  man  die 
Angstbereitschaft,  die  den  Kern  der  Neurose  bildet,  nicht 
durch  einen  einmaUgen  oder  wiederholten,  psychisch  be- 
rechtigten Schreckaffekt  erwerben  kann.  Durch  Schreck  ent- 
stünde wohl  eine  Hysterie  oder  traumatische  Neurose,  aber 
keine  Angstneurose.  Es  ist  diese  Leugnung,  wie  man  leicht 
einsieht,  nichts  anderes  als  das  Gegenstück  zu  meiner  Be- 
hauptung positiven  Inhalts,  die  Angst  meiner  Neurose  ent- 
spreche somatischer  und  vom  Psychischen  abgelenkter  Sexual- 
spannung, die  sich  sonst   als   Libido   geltend   gemacht  hätte. 

Dagegen  betont  nun  Löwenfeld,  daß  in  einer  Anzahl 
von  FäUen  „Angstzustände  unmittelbar  oder  einige  Zeit 
nach  einem  psychischen  Shok  (bloßem  Schreck  oder  Unfällen, 
die  mit  Schrecken  verbunden  waren)  auftreten,  und  daß  zum 
Teil  hierbei  Verhältnisse  bestehen,  welche  die  Mitwirkung 
sexueller  Schädlichkeiten  der  angegebenen  Art  höchst  un- 
wahrscheinlich machen".  Er  teüt  als  besonders  prägnantes 
Beispiel  eine  Krankenbeobachtung  (anstatt  vieler)  in  Kürze 
mit.  In  diesem  Beispiel  handelt  es  sich  um  eine  30jährige, 
seit  vier  Jahren  verheiratete  Frau,  erblich  belastet,  die  vor 
einem  Jahre  eine  erste  schwierige  Entbindung  hatte.  "Wenige 
"Wochen  nach  ihrer  Niederkunft  erschrak  sie  über  einen  Krank- 
heitsanfaU  ihres  Mannes,  lief  in  ihrer  Aufregung  im  Hemd 
im  kalten  Zimmer  herum.  Von  da  an  krank,  zuerst  mit  abend- 
lichen Angstzuständen  und  Herzklopfen,  später  kamen  Anfälle 
von  konvulsivischem  Zittern  und  in  weiterer  Folge  Phobien 
u.  dgl. :  das  Bild  einer  voU  entwickelten  Angstneurose.  „Hier 
sind    die    Angstzustände",    schließt    Löwenfeld,    „offenbar 

Freud,  Nearosenlehje.  7 


psychiscli  abgeleitet,  durcli  den  einmaligen  Schrecken  herbei- 
geführt." 

Ich  bezweifle  nicht,  daß  der  geehrte  Autor  über  viele 
ähnliche  Fälle  verfügt ;  kann  ich  doch  selbst  mit  einer  großen 
Reihe  analoger  Beispiele  dienen.  Wer  solche  Fälle  von  Aus- 
bruch der  Angstneurose  nach  psychischem  Shok,  überaus 
häufige  Vorkommnisse,  nicht  gesehen  hätte,  dürfte  sich  nicht 
anmaßen,  in  Sachen  der  Angstneurose  mitzusprechen.  Ich 
will  nur  dabei  anmerken,  daß  in  der  Ätiologie  solcher  Fälle 
nicht  jedesmal  Schreck  oder  ängstliche  Erwartung  nachweis- 
bar sein  muß;  eine  beliebige  andere  Gemütsbewegung  tut 
es  auch.  "Wenn  ich  rasch  einige  Fälle  aus  meiner  Erinnerung 
mustere,  so  fällt  mir  ein  Mann  von  45  Jahren  ein,  der  den 
ersten  Angstanfall  (mit  Herzkollaps)  auf  die  Nachricht  vom 
Tode  seines  betagten  Vaters  bekam;  von  da  an  entwickelte 
sich  voUe  und  typische  Angstneurose  mit  Agoraphobie ;  ferner 
ein  junger  Mann,  der  in  dieselbe  Neurose  durch  die  Erregung 
über  die  Zwistigkeiten  zwischen  seiner  jungen  Frau  und 
seiner  Mutter  verfiel  und  nach  jedem  neuen  häuslichen  Zank 
neuerdings  agoraphobisch  wurde;  ein  Student,  der  einiger- 
maßen verbummelt,  die  ersten  Angstanfälle  in  einer  Periode 
scharfer  Prüfungsarbeit  unter  dem  Sporn  väterlicher  Ungnade 
produzierte;  eine  selbst  kinderlose  Frau,  die  infolge  der 
Angst  um  die  Gesundheit  einer  kleinen  Nichte  erkrankte, 
u.  dgl.  m.  An  der  Tatsache  selbst,  die  Löwen feld  gegen 
mich  verwertet,  besteht  nicht  der  leiseste  Zweifel, 

Wohl  aber  an  ihrer  Deutung.  Es  fragt  sich,  soll  man 
hier  ohne  weiteres  auf  das  post  hoc  ergo  propter  hoc  eingehen, 
sich  jede  kritische  Verarbeitung  des  Rohmaterials  ersparen? 
Man  kennt  ja  Beispiele  genug  dafür,  daß  die  letzte  aus- 
lösende Ursache  sich  vor  der  kritischen  Analyse  nicht  als 
causa  efficiens  bewähren  konnte.  Man  denke  an  das  Ver- 
hältnis von  Trauma  und  Gicht  beispielsweise!  Die  Rolle  des 
Traumas  ist  hier,  bei  der  Provokation  eines  Gichtanfalles  in 
dem  vom  Trauma  betroffenen  Glied,  wahrscheinlich  keine 
andere,  als  sie  in  der  Ätiologie  der  Tabes  und  der  Paralyse 
sein  dürfte;  nur  scheint  im  Beispiele  der  Gicht  bereits  für 
jede  Einsicht  absurd,  daß  das  Trauma  die  Gicht  „verursacht" 


99 


anstatt  provoziert  haben  sollte.  Man  muß  doch  nachdenklich 
werden,  wenn  man  ätiologische  Momente  solcher  Art  — 
banale  möchte  ich  sie  nennen  —  in  der  Ätiologie  der 
mannigfaltigsten  Krankheitszustände  antrifft.  Gemütsbewegung, 
Schreck  ist  auch  solch  ein  banales  Moment;  Chorea,  Apo- 
plexie, Paralysis  agitans  und  was  nicht  alles  sonst  kann  der 
Schreck  geradeso  hervorrufen  wie  eine  Angstneurose.  Nun 
darf  ich  freilich  nicht  weiter  argumentieren,  wegen  dieser 
Ubiquität  genügten  die  banalen  Ursachen  unseren  Anfor- 
derungen nicht,  es  müßte  außerdem  spezifische  Ursachen 
geben.  Das  hieße  den  Satz,  den  ich  erweisen  will,  vorweg- 
nehmen. Ich  bin  aber  berechtigt,  folgender  Art  zu  schließen: 
Wenn  sich  die  nämliche  spezifische  Ursache  in  der  Ätio- 
logie aller  oder  der  allermeisten  Fälle  von  Angstneurose 
nachweisen  läßt,  dann  braucht  sich  unsere  Auffassung  nicht 
dadurch  beirren  lassen,  daß  der  Ausbruch  der  Krankheit  erst 
nach  der  Einwirkung  des  einen  oder  anderen  banalen 
Momentes,  wie  es  Gemütsbewegung  ist,  erfolgt. 

So  war  es  nun  in  meinen  Fällen  von  Angstneurose. 
Der  Mann,  der  —  rätselhafter  "Weise  —  auf  die  Nachricht 
vom  Tode  seines  Vaters  erkrankte  (ich  mache  diese  Rand- 
glosse, weil  dieser  Tod  nicht  unerwartet  und  nicht  unter 
ungewöhnlichen,  erschütternden  Umständen  erfolgte),  dieser 
Mann  lebte  seit  elf  Jahren  im  Coitus  interruptus  mit  seiner 
Ehefrau,  welche  er  meistens  zu  befriedigen  trachtete ;  der 
junge  Mann,  der  den  Streitigkeiten  zwischen  seiner  Frau 
und  seiner  Mutter  nicht  gewachsen  war,  hatte  bei  seiner 
jungen  Frau  von  Anfang  an  das  Zurückziehen  geübt,  um 
sich  die  Belastung  mit  Nachkommenschaft  zu  ersparen;  der 
Student,  der  sich  durch  Überarbeitung  eine  Angstneurose 
zuzog  anstatt  der  zu  erwartenden  Cerebrasthenie,  unterhielt 
seit  drei  Jahren  ein  Verhältnis  mit  einem  Mädchen,  das  er 
nicht  schwängern  durfte ;  die  Frau,  die,  selbst  kinderlos,  über 
die  Krankheit  einer  Nichte  der  Angstneurose  verfiel,  war  mit 
einem  impotenten  Mann  verheiratet  und  sexuell  nie  befriedigt 
worden  u.  dgl.  Nicht  alle  diese  FäUe  sind  gleich  klar  oder 
für  meine  These  gleich  gut  beweisend;  aber  wenn  ich  sie  an 
die  sehr  beträchtliche  Anzahl   von  Fällen  anreihe,   in  denen 

7* 


100 


die  Ätiologie  nichts  anderes  als  das  spezifische  Moment  auf- 
weist, fügen  sie  sich  der  von  mir  aufgestellten  Lehre  wider- 
spruchslos ein  und  gestatten  eine  Erweiterung  unseres  ätio- 
logischen Verständnisses  über  die  bisher  geltenden  Grenzen. 
Wenn  mir  jemand  nachweisen  will,  daß  ich  in  vor- 
stehender Betrachtung  die  Bedeutung  der  banalen  ätio- 
logischen Momente  ungebührlich  zurückgesetzt  habe,  so  muß 
er  mir  Beobachtungen  entgegenhalten,  in  denen  mein  spezi- 
fisches Moment  vermißt  wird,  also  Fälle  von  Entstehung  der 
Angstneurose  nach  psychischem  Shok  bei  (im  ganzen) 
normaler  Vita  sexualis.  Man  urteile  nun,  ob  der  Fall 
von  Löwenfeld  diese  Bedingung  erfüllt.  Mein  geehrter 
Gregner  hat  sich  diese  Anforderung  offenbar  nicht  klar  ge- 
macht, sonst  würde  er  uns  über  die  Vita  sexualis  seiner 
Patientin  nicht  so  vöUig  im  unklaren  lassen.  Ich  will  es  bei- 
seite lassen,  daß  der  Fall  der  30jährigen  Dame  offenbar  mit 
einer  Hysterie  kompHziert  ist,  an  deren  psychischer  Ableit- 
barkeit ich  am  wenigsten  zweifle ;  ich  gebe  die  Angstneurose 
neben  dieser  Hysterie  natürHch  ohne  Einspruch  zu.  Aber 
ehe  ich  einen  Fall  für  oder  gegen  die  Lehre  von  der  sexuellen 
Ätiologie  der  Neurosen  verwerte,  muß  ich  das  sexuelle  Ver- 
halten der  Patientin  eingehender  als  Löwenfeld  hier 
studiert  haben.  Ich  werde  mich  nicht  mit  dem  Sclilusse 
begnügen:  da  die  Dame  zur  Zeit  des  psychischen  Shoks 
kurz  nach  einer  Entbindung  war,  dürfte  der  Coitus  inter- 
ruptus  im  letzten  Jahr  keine  Rolle  gespielt  haben  und  somit 
sexuelle  Noxen  hier  entfallen.  Ich  kenne  Fälle  von  Angst- 
neurose bei  jährhch  wiederholter  Gravidität,  weil  (unglaub- 
licherweise) von  dem  befruchtenden  Koitus  an  jeder  Ver- 
kehr eingesteht  wurde,  so  daß  die  kinderreiche  Frau  all  die 
Jahre  über  an  Entbehrung  litt.  Es  ist  keinem  Arzte  unbe- 
kannt, daß  Frauen  von  sehr  wenig  potenten  Männern  kon- 
zipieren, die  nicht  imstande  sind,  ihnen  Befriedigung  zu 
verschaffen,  und  endUch  gibt  es,  womit  gerade  die  Vertreter 
der  Hereditätsätiologie  rechnen  sollten,  Frauen  genug,  die 
mit  einer  kongenitalen  Angstneurose  behaftet  sind,  d.  h.  die 
eine  solche  Vita  sexuaHs  mitbringen,  respektive  ohne 
nachweisbare    äußere  Störung  entwickeln,   wie  man  sie  sonst 


101 


durch  Coitus  interruptus  und  älinliche  Noxen  erwirbt.  Bei 
einer  Anzahl  dieser  Frauen  kann  man  eine  hysterische  Er- 
krankung der  Jugendjahre  eruieren,  seit  welcher  die  Vita 
sexuahs  gestört  und  eine  Ablenkung  der  Sexualspannung 
vom  Psychischen  hergestellt  ist.  Frauen  mit  solcher  Sexualität 
sind  einer  wirklichen  Befriedigung  selbst  durch  normalen 
Koitus  unfähig  und  entwickeln  Angstneurose  entweder  spontan 
oder  nach  dem  Zutritt  weiterer  wirksamer  Momente.  Was 
von  alledem  mag  in  dem  Falle  Löwenfeld's  vorgelegen 
haben?  Ich  weiß  es  nicht,  aber  ich  wiederhole,  gegen  mich 
beweisend  ist  dieser  Fall  nur,  wenn  die  Dame,  die  auf  ein- 
maligen Schreck  mit  einer  Angstneurose  antwortete,  sich 
vorher  einer  normalen  Vita  sexualis  erfreut  hat. 

Wir  können  unmögHch  ätiologische  Forschungen  aus  der 
Anamnese  betreiben,  wenn  wir  die  Anamnese  so  hinnehmen, 
wie  der  Kranke  sie  gibt,  oder  uns  mit  dem  begnügen,  was 
er  uns  preisgeben  will.  Wenn  die  Syphilodologen  die  Zurück- 
führung  eines  Initialaffektes  an  den  Genitalien  auf  sexuellen 
Verkehr  noch  von  der  Aussage  des  Patienten  abhängen  ließen, 
würden  sie  eine  ganz  stattliche  Anzahl  von  Schankern  bei 
angeblich  virginalen  Individuen  von  Erkältung  herleiten  können, 
und  die  Gynäkologen  fänden  kaum  Schwierigkeiten,  das  Wunder 
der  Parthenogenesis  an  ihren  unverheirateten  Klientinnen  zu 
bestätigen.  Ich  hoffe,  es  wird  dereinst  durchdringen,  daß 
auch  die  Neuropathologen  bei  der  Erhebung  der  Anamnese 
großer  Neurosen  von  ähnlichen  ätiologischen  Vorurteilen  aus- 
gehen dürfen. 

2.  Ferner  sagt  Löwenfeld,  er  habe  wiederholt  Angst- 
zustände auftauchen  und  verschwinden  gesehen,  wo  eine 
Änderung  im  sexuellen  Leben  sicher  nicht  statthatte,  dagegen 
andere  Faktoren  im  Spiele  waren. 

Ganz  dieselbe  Erfahrung  habe  ich  auch  gemacht,  ohne 
daß  sie  mich  beirrt  hätte.  Auch  ich  habe  die  Angstzufälle 
durch  psychische  Behandlung,  Allgemeinbesserung  u.  dgl. 
zum  Schwinden  gebracht.  Ich  habe  natürhch  daraus  nicht 
geschlossen,  daß  der  Mangel  an  Behandlung  die  Ursache  der 
AngstanfäUe  war.  Nicht  etwa,  daß  ich  Löwen feld  einen 
derartigen  Schluß   unterschieben   woUte ;    ich  will  mit  obiger 


102 


scherzhafter  Bemerkung  nur  andeuten,  daß  die  Sachlage 
leicht  kompliziert  genug  sein  kann,  um  den  Einwand  von 
Löwen feld  völlig  zu  entwerten.  Ich  habe  es  nicht  schwer 
gefunden,  die  hier  vorgebrachte  Tatsache  mit  der  Behauptung 
der  spezifischen  Ätiologie  der  Angstneurose  zu  vereinigen. 
Man  wird  mir  gerne  zugestehen,  daß  es  ätiologisch  wirksame 
Momente  gibt,  die,  um  ihre  Wirkung  zu  üben,  in  einer 
gewissen  Intensität  (oder  Quantität)  und  über  einen  gewissen 
Zeitraum  wirken  müssen,  die  sich  also  summieren;  die 
Alkoholwirkung  ist  ein  Vorbild  für  solche  Verursachung  durch 
Summation.  Demnach  wird  es  einen  Zeitraum  geben  dürfen, 
in  dem  die  spezifische  Ätiologie  in  ihrer  Arbeit  begriffen, 
aber  deren  Wirkung  noch  nicht  manifest  ist.  Während  solcher 
Zeit  ist  die  Person  noch  nicht  krank,  aber  sie  ist  zur  be- 
stimmten Erkrankung,  in  unserem  Falle  zur  Angstneurose, 
disponiert,  und  nun  wird  der  Zutritt  einer  banalen  Noxe  die 
Neurose  auslösen  können,  geradeso  wie  eine  weitere  Steige- 
rung in  der  Einwirkung  der  spezifischen  Noxe.  Man  kann 
dies  auch  so  ausdrücken:  Es  reicht  nicht  hin,  daß  das  spezi- 
fische ätiologische  Moment  vorhanden  ist,  es  muß  auch  ein 
bestimmtes  Maß  davon  voU  werden,  und  bei  der  Erreichung 
dieser  Grenze  kann  eine  Quantität  spezifischer  Noxe  durch 
einen  Betrag  banaler  Schädlichkeit  ersetzt  werden.  Wird 
letzterer  wieder  weggenommen,  so  befindet  man  sich  unter- 
halb einer  Schwelle;  die  Krankheitserscheinungen  treten 
wieder  zurück.  Die  ganze  Therapie  der  Neurosen  beruht 
darauf,  daß  man  die  Gesamtbelastung  des  Nervensystems, 
welcher  dieses  erliegt,  durch  sehr  verschiedenartige  Beein- 
flussungen der  ätiologischen  Mischung  unter  die  Schwelle 
bringen  kann.  Auf  Fehlen  oder  Existenz  einer  spezifischen 
Ätiologie  ist  aus  diesen  Verhältnissen  kein  Schluß  zu  ziehen. 
Das  sind  doch  gewiß  einwurfsfreie  imd  gesicherte  Er- 
wägungen. Wem  sie  noch  nicht  genügen,  der  möge  folgendes 
Argument  auf  sich  wirken  lassen.  Nach  der  Ansicht  Löwen- 
feld's  und  so  vieler  Anderer  ist  in  der  Heredität  die 
Ätiologie  der  Angstzustände.  Die  Heredität  ist  nun  gewiß 
einer  Änderung  entzogen ;  wenn  Angstneurose  durch  Behand- 
lung    geheut     wird,     sollte     man     nun     mit     Löwen  feld 


103 


schließen  dürfen,  daß  die  Heredität  nickt  die  Ätiologie  ent- 
halten kann. 

Übrigens,  ich  hätte  mir  die  Verteidigung  gegen  die 
beiden  angeführten  Einwände  von  Löwen feld  ersparen 
können,  wenn  mein  geehrter  Gegner  meiner  Arbeit  selbst 
größere  Aufmerksamkeit  geschenkt  hätte.  Die  beiden  Ein- 
wendungen sind  in  meiner  Arbeit  selbst  vorgesehen  und  be- 
antwortet (p.  74  ff.);  ich  könnte  die  Ausführungen  von  dort 
hier  nur  wiederholen,  ich  habe  mit  Absicht  selbst  die  nämUchen 
Krankheitsfälle  hier  neuerdings  analysiert.  Auch  die  ätio- 
logischen Formeln,  auf  die  ich  eben  vorhin  "Wert  legte,  sind 
im  Texte  meiner  Abhandlung  enthalten.  Ich  wül  sie  hier 
nochmals  wiederholen.  Ich  behaupte:  Es  gibt  für  die 
Angstneurose  ein  spezifisches  ätiologisches 
Moment,  welches  in  seiner  "Wirkung  von  banalen 
Schädlichkeiten  zwar  quantitativ  vertreten,  aber 
nicht  qualitativ  ersetzt  werden  kann.  Ferner: 
Dieses  spezifische  Moment  bestimmt  vor  allem 
die  Form  der  Neurose;  ob  eine  neurotische  Er- 
krankung überhaupt  zustande  kommt,  hängt  von 
der  Gesamtbelastung  des  Nervensystems  (im  "Ver- 
hältnis zu  dessen  Tragfähigkeit)  ab.  In  der  Regel 
sind  die  Neurosen  üb  er  determiniert,  d.  h.  es  wirken  in 
ihrer  Ätiologie  mehrere  Faktoren  zusammen. 

3.  Um  die  "Widerlegung  der  nächsten  Bemerkungen 
Löwen  feld 's  brauche  ich  mich  weniger  zu  bemühen,  da 
dieselben  einerseits  meiner  Lehre  wenig  anhaben,  anderseits 
Schwierigkeiten  hervorheben,  die  ich  als  vorhanden  anerkenne. 
Löwen  feld  sagt:  „Die  Freud 'sehe  Theorie  ist  aber  ganz 
und  gar  ungenügend,  das  Auftreten  und  Ausbleiben  der  Angst- 
anfälle  im  einzelnen  zu  erklären.  "Wenn  die  Angstzustände, 
i.  e.  die  Erscheinungen  der  Angstneurose,  ledigHch  durch  sub- 
kortikale Aufspeicherung  der  somatischen  Sexualerregung  und 
abnorme  Verwendung  derselben  zustande  kommen  würden,  so 
müßte  jeder  mit  Angstzuständen  Behaftete,  so  lange  keine 
Änderungen  in  seinem  sexuellen  Leben  eintreten,  von  Zeit 
zu  Zeit  einen  Angstanfall  haben,  wie  der  Epileptische  seinen 
Anfall  von   grand  und   petit  mal  hat.   Dies  ist  aber,   wie  die 


1Q4 


alltägliclie  Erfahrung  zeigt,  durchaus  niclit  der  Fall.  Die  Angst- 
anfälle treten  weit  überwiegend  nur  bei  bestimmten  Anlässen 
ein;  wenn  der  Patient  diese  meidet  oder  durch  irgend  eine 
Vorkehrung^  deren  Einfluß  zu  paralysieren  weiß,  so  bleibt  er 
von  Angstanfällen  verschont,  er  mag  dem  Congressus  inter- 
ruptus  oder  der  Abstinenz  andauernd  huldigen  oder  sich  einer 
normalen  Vita  sexualis  erfreuen." 

Darüber  ist  nun  sehr  viel  zu  sagen.  Zunächst,  daß 
Löwen feld  meiner  Theorie  eine  Folgerung  aufnötigt,  die 
sie  nicht  zu  akzeptieren  braucht.  Daß  es  bei  der  Aufspeiche- 
rung der  somatischen  Sexualerregung  so  zugehen  müsse  wie 
bei  der  Anhäufung  des  Reizes  zum  epileptischen  Kampf,  ist 
eine  allzu  detaillierte  Aufstellung,  zu  welcher  ich  keinen  Anlaß 
gegeben  habe,  und  ist  nicht  die  einzige,  die  sich  darbietet. 
Ich  brauche  nur  anzunehmen,  daß  das  Nervensystem  ein  ge- 
wisses Maß  von  somatischer  Sexualerregung,  auch  wenn  diese 
von  ihrem  Ziel  abgelenkt  sei,  zu  bewältigen  vermöge,  und  daß 
Störungen  nur  dann  entstehen,  wenn  das  Quantum  dieser 
Erregung  eine  plötzliche  Steigerung  erfährt,  und  die  An- 
forderung Löwenfeld 's  wäre  beseitigt.  Ich  habe  mich  nicht 
getraut,  meine  Theorie  nach  dieser  Richtung  hin  auszubauen, 
hauptsächlich  darum,  weil  ich  keine  sicheren  Stützpunkte  auf 
dem  Wege  dahin  zu  finden  erwartete.  Ich  will  bloß  andeuten, 
daß  wir  uns  die  Produktion  von  Sexualspannung  nicht  un- 
abhängig von  ihrer  Verausgabung  vorstellen  dürfen,  daß  im 
normalen  Sexualleben  diese  Produktion  bei  Anregung  durch 
das  Sexualobjekt  sich  wesentlich  anders  gestaltet  als  bei 
psychischer  Ruhe  u.  dgl. 

Zuzugeben  ist,  daß  die  Verhältnisse  hier  wohl  anders 
liegen  als  bei  epileptischer  Krampfneigung,  und  daß  sie  aus 
der  Theorie  der  Aufspeicherung  somatischer  Sexualerregung 
noch  nicht  im  Zusammenhange  abzuleiten  sind. 

Der  weiteren  Behauptung  Löwenf  eld'  s,  daß  die  Angst- 
zustände nur  bei  gewissen  Anlässen  auftreten,  bei  deren  Ver- 
meidung sie  ausbleiben,  gleichgiltig,  welches  die  Vita  sexuahs 
des  Betreffenden  sein  mag,  ist  entgegenzuhalten,  daß  Löwen- 
feld hiebei  offenbar  nur  die  Angst  der  Phobien  im  Auge 
hat,  wie  auch  die  an  die  zitierte  Stelle  geknüpften  Beispiele 


105 


zeigen.  Von  den  spontanen  Angstanfällen,  deren  Inhalt 
Schwindel,  Herzklopfen,  Atemnot,  Zittern,  Schweiß  u.  dgl. 
ist,  spricht  er  gar  nicht.  Das  Auftreten  und  Ausbleiben  dieser 
Angstanfälle  zu  erklären,  scheint  meine  Theorie  aber  keines- 
wegs untüchtig.  In  einer  ganzen  Reihe  solcher  Fälle  von 
Angstneurose  ergibt  sich  nämHch  wirklich  der  Anschein  einer 
Periodizität  des  Auftretens  von  Angstzuständen  ähnlich  der 
bei  Epilepsie  beobachteten,  nur  daß  hier  der  Mechanismus 
dieser  Periodizität  durchsichtiger  wird.  Bei  näherer  Er- 
forschung findet  man  nämlich  mit  großer  Regelmäßigkeit 
einen  aufregenden  sexuellen  Vorgang  auf  (d.  h.  einen  solchen, 
der  imstande  ist,  somatische  Sexualspannung  zu  entbinden), 
an  welchen  sich  mit  Einhaltung  eines  bestimmten,  oft  ganz 
konstanten  Zeitintervalles  der  Angstanfall  anschließt.  Diese 
RoUe  spielen  bei  abstinenten  Frauen  die  menstruale  Erregung, 
die  gleichfalls  periodisch  wiederkehrenden  nächtlichen  Pollu- 
tionen, vor  allem  der  (in  seiner  UnvoUständigkeit  schädliche) 
sexuelle  Verkehr  selbst,  der  diesen  seinen  Wirkungen,  den 
Angstanfällen,  die  eigene  Periodizität  überträgt.  Kommen 
Angstanfälle,  welche  die  gewohnte  Periodizität  durchbrechen, 
so  gelingt  es  zumeist,  sie  auf  eine  Gelegenheitsursache  von 
seltenerem  und  unregelmäßigem  Vorkommen  zurückzuführen, 
ein  vereinzeltes  sexuelles  Erlebnis,  Lektüre,  Schaustellung 
u.  dgl.  Das  Intervall,  das  ich  erwähnt  habe,  beträgt  einige 
Stunden  bis  zu  zwei  Tagen;  es  ist  dasselbe,  mit  welchem 
bei  anderen  Personen  auf  dieselben  Veranlassungen  hin  die 
bekannte  Sexualmigräne  auftritt,  die  ihre  sicheren  Beziehungen 
zum  Symptomenkomplex  der  Angstneurose  hat. 

Daneben  gibt  es  reichlich  Fälle,  in  denen  der  einzelne 
Angstzustand  durch  das  Hinzutreten  eines  banalen  Momentes, 
durch  Aufregung  beliebiger  Art,  provoziert  wird.  Es  gilt  also 
für  die  Ätiologie  des  einzelnen  Angstanfalles  dieselbe  Vertretung 
wie  für  die  Verursachung  der  ganzen  Neurose.  Daß  die 
Angst  der  Phobien  anderen  Bedingungen  folgt,  ist  nicht  sehr 
verwunderUch ;  die  Phobien  haben  ein  komplizierteres  Gefüge 
als  die  einfach  somatischen  AngstanfäUe.  Bei  ihnen  ist  die 
Angst  mit  einem  bestimmten  VorsteEungs-  oder  "Wahrnehmungs- 
inhalt verknüpft,   und  die  Erweckung  dieses  psychischen  In- 


106 


haltes  ist  die  Hauptbedingung  für  das  Auftreten  dieser  Angst. 
Die  Angst  wird  dann  „entbunden",  ähnlich  wie  z.  B.  die 
Sexualspannung  durch  die  Erweckung  libidinöser  Vorstellungen ; 
aber  dieser  Vorgang  ist  allerdings  in  seinem  Zusammenhange 
mit  der  Theorie  der  Angstneurose  noch  nicht  aufgeklärt. 

Ich  sehe  nicht  ein,  weshalb  ich  streben  sollte,  Lücken 
und  Schwächen  meiner  Theorie  zu  verbergen.  Die  Haupt- 
sache an  dem  Problem  der  Phobien  scheint  mir  zu  sein,  daß 
Phobien  bei  normaler  Vita  sexualis  —  d.  i.  bei 
NichterfLülung  der  spezifischen  Bedingung  von  Störung  der 
Vita  sexualis  im  Sinne  einer  Ablenkung  des  Somatischen  vom 
Psychischen  —  überhaupt  nicht  zustande  kommen. 
Mag  sonst  am  Mechanismus  der  Phobien  noch  so  Vieles 
dunkel  sein,  meine  Lehre  ist  erst  widerlegt,  wenn  man  mir 
Phobien  bei  normaler  Vita  sexualis  oder  selbst  bei  nicht 
spezifisch  bestimmter  Störung  derselben  nachweist. 

4.  Ich  übergehe  nun  zu  einer  Bemerkung,  die  ich  meinem 
geehrten   Herrn  Kritiker  nicht   unwidersprochen  lassen  darf. 

Ich  hatte  in  meiner  Mitteilung  über  die  Angstneurose 
(1.  c.  p.  69)  geschrieben: 

„In  manchen  FäUen  von  Angstneurose  läßt  sich  eine 
Ätiologie  überhaupt  nicht  erkennen.  Es  ist  bemerkenswert, 
daß  in  solchen  FäUen  der  Nachweis  einer  schweren  heredi- 
tären Belastung  selten  auf  Schwierigkeiten  stößt." 

„Wo  man  aber  Grund  hat,  die  Neurose  für  eine  er- 
worbene zu  halten,  da  findet  man  bei  sorgfältigem,  dahin 
zielendem  Examen  als  ätiologisch  wirksame  Momente  eine 
Eeihe  von  Schädlichkeiten  und  Einflüssen  aus  dem  Sexual- 
leben  "    Löwen feld  druckt  diese  Stelle  ab  und  knüpft 

an  sie  folgende  Glosse :  „Als  „erworben"  scheint  demnach  F. 
die  Neurose  immer  zu  betrachten,  wenn  Gelegenheitsursachen 
derselben  aufzufinden  sind." 

Wenn  sich  dieser  Sinn  zwanglos  aus  meinem  Text  ab- 
leiten läßt,  so  gibt  letzterer  meinem  Gedanken  sehr  ent- 
stellten Ausdruck.  Ich  mache  darauf  aufmerksam,  daß  ich 
vorhin  in  der  Wertschätzung  der  Gelegenheitsursachen  mich 
weit  strenger  als  Löwen  feld  erwiesen  habe.  Sollte  ich  die 
Meinung  meiner  Sätze  selbst  erläutern,  so  würde  ich  es  tun, 


107 


indem  ich  nach  der  Bedingung:  Wo  man  aber  Grund 
hat,  die  Neurose  für  eine  erworbene  zu  halten..., 
einschalte:  weil  der  (im  vorigen  Satz  erwähnte) 
Nachweis  hereditärer  Belastung  nicht  gelingt. 
Der  Sinn  ist:  Ich  halte  den  Fall  für  einen  erworbenen,  in 
dem  sich  Heredität  nicht  nachweisen  läßt.  Ich  benehme  mich 
dabei  wie  aUe  "Welt,  vielleicht  mit  dem  kleinen  Unterschied, 
daß  Andere  den  Fall  auch  dann  für  hereditär  bedingt  er- 
klären, wo  Heredität  nicht  besteht,  so  daß  sie  die  ganze 
Kategorie  erworbener  Neurosen  übersehen.  Dieser  Unterschied 
aber  läuft  zu  meinen  Gunsten.  Ich  gestehe  jedoch  zu,  daß 
ich  solches  Mißverständnis  durch  die  Redewendung  im  ersten 
Satze:  „es  läßt  sich  eine  Ätiologie  überhaupt  nicht  erkennen", 
selbst  verschuldet  habe.  Ich  werde  sicherlich  auch  von  an- 
derer Seite  zu  hören  bekommen,  ich  schaffe  mir  mit  der 
Suche  nach  den  spezifischen  Ursachen  der  Neurosen  über- 
flüssige Mühe.  Die  wirkliche  Ätiologie  der  Angstneurosen 
wie  der  Neurosen  überhaupt  sei  ja  bekannt,  es  sei  die  Here- 
dität, und  zwei  wirkliche  Ursachen  könnten  neben  einander 
nicht  bestehen.  Die  ätiologische  Rolle  der  Heredität  leugnete 
ich  wohl  nicht?  Dann  aber  seien  alle  anderen  Ätiologien  — 
Gelegenheitsursachen  und  einander  gleichwertig  oder  gleich 
minderwertig. 

Ich  teile  diese  Anschauung  über  die  Rolle  der  Heredität 
nicht,  und  da  ich  gerade  dieses  Thema  in  meiner  kurzen 
Mitteilung  über  die  Angstneurose  am  wenigsten  gewürdigt 
habe,  will  ich  versuchen,  hier  etwas  vom  Unterlassenen  nach- 
zuholen und  den  Eindruck  zu  verwischen,  als  hätte  ich  mich 
bei  der  Abfassung  meiner  Arbeit  nicht  um  alle  zugehörigen 
Rätselfragen  gemüht. 

Ich  glaube,  man  ermögHcht  sich  eine  Darstellung  der 
wahrscheinlich  sehr  komplizierten  ätiologischen  Verhältnisse, 
die  in  der  Pathologie  der  Neurosen  obwalten,  wenn  man  sich 
folgende  ätiologische  Begriffe  festlegt: 

a)  Bedingung,  h)  spezifische  Ursache,  c)  kon- 
kurrierende Ursache  und,  als  den  vorigen  nicht  gleich- 
wertigen Terminus,  6)  Veranlassung  oder  auslösende 
Ursache. 


108 


Um  allen  Möglichkeiten  zu  genügen,  nehme  man  an,  es 
handle  sich  um  ätiologische  Momente,  die  einer  quantitativen 
Veränderung,  also  der  Steigerung  oder  Verringerung,  fähig  sind. 

Läßt  man  sich  die  Vorstellung  einer  mehrghederigen 
ätiologischen  Gleichung  gefallen,  die  erfüllt  sein  muß,  wenn 
der  Effekt  zustande  kommen  soll,  so  charakterisiert  sich  als 
Veranlassung  oder  auslösende  Ursache  diejenige,  welche 
zuletzt  in  die  Gleichung  eintritt,  so  daß  sie  dem  Erscheinen 
des  Effektes  unmittelbar  vorhergeht.  Nur  dieses  zeitliche 
Moment  macht  das  Wesen  der  Veranlassung  aus,  jede  der 
andersartigen  Ursachen  kann  im  Einzelfalle  auch  die  Rolle 
der  Veranlassung  spielen ;  in  derselben  ätiologischen  Häufung 
kann  diese  Rolle  wechseln. 

Als  Bedingungen  sind  solche  Momente  zu  bezeichnen, 
bei  deren  Abwesenheit  der  Effekt  nie  zustande  käme,  die 
aber  für  sich  allein  auch  unfähig  sind,  den  Effekt  zu  er- 
zeugen, sie  mögen  in  noch  so  großem  Ausmaß  vorhanden  sein. 
Es  fehlt  dazu  noch  die  spezifisehe  Ursache. 

Als  spezifische  Ursache  gilt  diejenige,  die  in  keinem 
Falle  von  Verwirklichung  des  Effektes  vermißt  wird,  und  die 
in  entsprechender  Quantität  oder  Intensität  auch  hinreicht,  den 
Effekt  zu  erzielen,  wenn  nur  noch  die  Bedingungen  erfüllt  sind. 

Als  konkurrierende  Ursachen  darf  man  solche 
Momente  auffassen,  welche  weder  jedesmal  vorhanden  sein 
müssen,  noch  imstande  sind,  in  behebigem  Ausmaß  ihrer 
"Wirkung  für  sich  allein  den  Effekt  zu  erzeugen,  welche  aber 
neben  den  Bedingungen  und  der  spezifischen  Ursache  zur 
Erfüllung  der  ätiologischen  Gleichung  mitwirken. 

Die  Besonderheit  der  konkurrierenden  oder  Hilfsursachen 
scheint  klar;  wie  unterscheidet  man  aber  Bedingungen  und 
spezifische  Ursache,  da  sie  beide  unentbehrhch  und  doch 
keines  von  ihnen  allein  zur  Verursachung  genügend  sind? 

Da  scheint  denn  folgendes  Verhalten  eine  Entscheidung 
zu  gestatten.  Unter  den  „notwendigenUrsachen"  findet 
man  mehrere,  die  auch  in  den  ätiologischen  Gleichungen 
vieler  anderer  Effekte  wiederkehren,  daher  keine  besondere 
Beziehung  zum  einzelnen  Effekte  verraten;  eine  dieser  Ur- 
sachen aber  stellt  sich  den  anderen  gegenüber,   dadurch,  daß 


109 


sie  in  {keiner  anderen  oder  in  sehr  wenigen  ätiologisclien 
Formeln  aufzufinden  ist,  und  diese  hat  den  Anspruch,  s  p  e  z  i- 
fische  Ursache  des  betreffenden  Effektes  zu  heißen.  Ferner 
sondern  sich  Bedingungen  und  spezifische  Ursache  besonders 
deutüch  in  solchen  Fällen,  in  denen  die  Bedingungen  den 
Charakter  von  lange  bestehenden  und  wenig  veränderKchen 
Zuständen  haben,  die  spezifische  Ursache  einem  rezent  ein- 
wirkenden Faktor  entspricht. 

Ich  will  ein  Beispiel  für  dieses  vollständige  ätiologische 
Schema  versuchen: 

Effekt:  Phthisis  pulmonum. 

Bedingung:  Disposition,  meist  hereditär  durch  Organ- 
beschaffenheiten gegeben. 

Spezifische  Ursache:  Der  Bazillus  Kochii. 

Hilfsursachen:  Alles  Depotenzierende:  Gremütsbe- 
wegungen  wie  Eiterungen  oder  Erkältungen. 

Das  Schema  für  die  Ätiologie  der  Angstneurose  scheint 
mir  ähnhch  zu  lauten: 

Bedingung:  Heredität. 

Spezifische  Ursache:  Ein  sexuelles  Moment  im 
Sinne  einer  Ablenkung  der  Sexualspannung  vom  Psychischen. 

Hilfsursachen:  Alle  b analen  S chädigungen :  Gemüts- 
bewegung,  Schreck,  wie  physische  Erschöpfung  durch  Krank- 
heit oder  Uberleistung. 

Wenn  ich  diese  ätiologische  Formel  für  die  Angstneurose 
im  einzelnen  diskutiere,  kann  ich  noch  folgende  Bemerkungen 
hinzufügen.  Ob  eine  besondere  persönKche  Beschaffenheit  (die 
nicht  hereditär  bezeugt  zu  sein  brauchte)  für  die  Angstneurose 
unbedingt  erfordert  wird,  oder  ob  jeder  normale  Mensch 
durch  etwaige  quantitative  Steigerung  des  spezifischen 
Momentes  zur  Angstneurose  gebracht  werden  kann,  weiß  ich 
nicht  sicher  zu  entscheiden,  neige  aber  sehr  zur  letzteren 
Meinung.  —  Die  hereditäre  Disposition  ist  die  wichtigste 
Bedingung  der  Angstneurose,  aber  keine  unentbehrliche, 
da  sie  in  einer  Reihe  von  Grrenzfällen  vermißt  whd.  —  Das 
spezifische  sexuelle  Moment  wird  in  der  übergroßen  Zahl  der 
Fälle  mit  Sicherheit  nachgewiesen,  in  einer  Eeihe  von  Fällen 
(kongenitalen)  sondert  es  sich  von  der  Bedingung  der  Heredität 


110 


nicht  ab,  sondern  ist  durch  diese  miterfüllt,  d.  h.  die  Kranken 
bringen  jene  Besonderheit  der  Vita  sexualis  als  Stigma  mit 
(die  psychische  Unzulänglichkeit  zur  Bewältigung  der  soma- 
tischen Sexualspannung),  über  welche  sonst  der  Weg  zur 
Erwerbung  der  Neurose  führt;  in  einer  anderen  Reihe  von 
Grenzfällen  ist  die  spezifische  Ursache  in  einer  konkurrierenden 
enthalten,  wenn  nämlich  die  besagte  psychische  Unzuläng- 
lichkeit durch  Erschöpfung  u.  dgl.  zustande  kommt.  Alle  diese 
Fälle  bilden  fließende  Reihen,  nicht  abgesonderte  Kategorien ; 
durch  alle  zieht  sich  indes  das  ähnliche  Verhalten  im  Schicksal 
der  Sexualspannung,  und  für  die  meisten  gilt  die  Sonderung 
von  Bedingung,  spezifischer  und  Hilfsursache,  konform  der 
oben  gegebenen  Auflösung  der  ätiologischen  Grleichung. 

Ich  kann,  wenn  ich  meine  Erfahrungen  darnach  befrage, 
ein  gegensätzliches  Verhalten  von  hereditärer  Disposition  und 
spezifischem  sexuellem  Moment  für  die  Angstneurose  nicht 
auffinden.  Im  Gegenteile,  die  beiden  ätiologischen  Paktoren 
unterstützen  und  ergänzen  einander.  Das  sexuelle  Moment 
wirkt  meistens  nur  bei  jenen  Personen,  die  eine  hereditäre 
Belastung  mit  dazu  bringen ;  die  Heredität  allein  ist  meistens 
nicht  imstande,  eine  Angstneurose  zu  erzeugen,  sondern 
wartet  auf  das  Eintreffen  eines  genügenden  Maßes  der  spe- 
zifischen sexuellen  Schädlichkeit.  Die  Konstatierung  der 
Heredität  überhebt  darum  nicht  der  Suche  nach  einem  spe- 
zifischen Moment,  an  dessen  Auffindung  sich  übrigens  auch 
alles  therapeutische  Interesse  knüpft.  Denn  was  wiU  man 
therapeutisch  mit  der  Heredität  als  Ätiologie  anfangen?  Sie 
hat  seit  jeher  bei  dem  Kranken  bestanden  und  wird  bis  an 
dessen  Ende  weiter  bestehen.  Sie  ist  an  und  für  sich  weder 
geeignet,  das  episodische  Auftreten  einer  Neurose,  noch  deren 
Aufhören  durch  Behandlung  verstehen  zu  lassen.  Sie  ist  nichts 
als  eine  Bedingung  der  Neurose,  eine  unsäglich  wichtige 
zwar,  aber  doch  eine  zum  Schaden  der  Therapie  und  des 
theoretischen  Verständnisses  überschätzte.  Man  denke  nur, 
um  sich  durch  den  Kontrast  der  Tatsachen  überzeugen  zu 
lassen,  an  die  Fälle  von  familiären  Nervenkrankheiten  (Chorea 
chronica,  Thomsen'sche  Krankheit  u.  dgl.),  in  denen  die 
Heredität  alle  ätiologischen  Bedingungen  in  sich  vereinigt. 


in 


Ich  möclite  zum  ScKlusse  die  wenigen  Sätze  wiederholen, 
durch  welche  ich  in  erster  Annäherung  an  die  "Wirklichkeit 
die  gegenseitigen  Beziehungen  der  verschiedenen  ätiologischen 
Faktoren  auszudrücken  pflege: 

1.  Ob  überhaupt  eine  neurotische  Erkrankung  zu- 
stande kommt,  hängt  von  einem  quantitativen  Faktor  ab, 
von  der  Gesamtbelastung  des  Nervensystems  im  Verhältnis 
zu  dessen  Resistenzfähigkeit.  Alles  was  diesen  Faktor  unter 
einem  gewissen  Schwellenwert  halten  oder  zurückbringen 
kann,  hat  therapeutische  "Wirksamkeit,  indem  es  die  ätiologische 
Gleichung  unerfüllt  läßt. 

Was  man  unter  „Gesamtbelastung",  was  man  unter 
„Resistenzfähigkeit"  des  Nervensystems  zu  verstehen  habe„ 
das  Heße  sich  mit  Zugrundelegung  gewisser  Hypothesen  über 
die  Nervenfunktion  wohl  deutUcher  ausführen. 

2.  Welchen  Umfang  die  Neurose  erreicht,  das  hängt 
in  erster  Linie  von  dem  Maß  hereditärer  Belastung  ab.  Di© 
Heredität  wirkt  wie  ein  in  den  Stromkreis  eingeschalteter 
Multiphkator,  der  den  Ausschlag  der  Nadel  um  das  Vielfache 
vergrößert. 

3.  Welche  Form  aber  die  Neurose  annimmt  —  den 
Sinn  des  Ausschlages  —  dies  bestimmt  allein  das  aus  dem 
Sexualleben  stammende  spezifische  ätiologische  Moment. 

Ich  hoffe,  daß  im  ganzen,  obwohl  ich  mir  der  vielen 
noch  unerledigten  Schwierigkeiten  des  Gegenstandes  bewußt 
bin,  meine  Aufstellung  der  Angstneurose  sich  für  das  Ver- 
ständnis der  Neurosen  fruchtbarer  erweisen  wird,  als  L  ö  w  e  n- 
feld's  Versuch,  denselben  Tatsachen  Rechnung  zu  tragen 
durch  die  Konstatierung  „einer  Verknüpfung  neura- 
sthenischer  und  hysterischer  Symptome  in  An- 
fallsform". 

Wien,  anfangs  Mai  1895. 


VIII. 

Weitere   Bemerkungen   über   die  Abwehr- 
Neuropsychosen.  ^) 

Als  „Abwehr-Neuropsychosen"  habe  ich  1894  in 
einem  kleinen  Aufsatze  (Neurologisches  Centralblatt,  Nr.  10 
und  11)  Hysterie,  Zwangsvorstellungen  sowie  gewisse  Fälle  von 
akuter  halluzinatorischer  Verworrenheit  zusammengefaßt,  weil 
sich  für  diese  Affektionen  der  gemeinsame  Gesichtspunkt  er 
geben  hatte,  ihre  Symptome  entstünden  durch  den  psychischen 
Mechanismus  der  (unbewußten)  Abwehr,  d.  h.  bei  dem 
Versuche,  eine  unverträgliche  Vorstellung  zu  verdrängen,  die 
in  peinlichen  Gegensatz  zum  Ich  der  Kranken  getreten  war. 
An  einzelnen  Stellen  eines  seither  erschienenen  Buches  „Studien 
über  Hysterie"  von  Dr.  J.  Breuer  und  mir,  habe  ich  dann 
erläutern  und  an  Krankenbeobachtungen  darlegen  können, 
in  welchem  Sinne  dieser  psychische  Vorgang  der  „Abweln-" 
oder  „Verdrängung"  zu  verstehen  ist.  Ebendaselbst  finden 
sich  auch  Angaben  über  die  mühselige,  aber  vollkommen  ver- 
läßliche Methode  der  Psychoanalyse,  deren  ich  mich  bei  diesen 
Untersuchungen,  die  gleichzeitig  eine  Therapie  darstellen, 
bediene. 

Meine  Erfahrungen  in  den  letzten  beiden  Arbeitsjahren 
haben  mich  nun  in  der  Neigung  bestärkt,  die  Abwehr  zum 
Kernpunkt  im  psychischen  Mechanismus  der  erwähnten  Neu- 
rosen zu  machen,  und  haben  mir  anderseits  gestattet,  der 
psychologischen  Theorie  eine  klinische  Grundlage  zu  geben. 
Ich  bin  zu  meiner  eigenen  Überraschung  auf  einige  einfache, 
aber  eng  umschriebene  Lösungen  der  Neurosenprobleme  ge- 
stoßen,  über   die  ich  auf  den  nachfolgenden  Seiten  vorläufig 


1)  „Neurologisches  Centralblatt",  1896,  Nr.  10. 


113 


und  in  Kürze  berichten  will.  Ich  kann  es  mit  dieser 
Art  der  Mitteihmg  nicht  vereinen,  den  Behauptungen  die 
Beweise  anzufügen,  deren  sie  bedürfen,  hoffe  aber,  diese 
Verpflichtung  in  einer  ausführHchen  Darstellung  einlösen  zu 
können. 

I.  Die  „spezifische"  Ätiologie  der  Hysterie. 

Daß  die  Symptome  der  Hysterie  erst  durch  Zurück- 
führung  auf  „traumatisch"  wirksame  Erlebnisse  verständlich 
werden,  und  daß  diese  psychischen  Traumen  sich  auf  das 
Sexualleben  beziehen,  ist  von  Breuer  und  mir  bereits  in 
früheren  Veröffentlichungen  ausgesprochen  worden.  "Was  ich 
heute  als  einförmiges  Ergebnis  meiner  an  13  Fällen  von 
Hysterie  durchgeführten  Analysen  hinzuzufügen  habe,  betrifft 
einerseits  die  Natur  dieser  sexuellen  Traumen,  andererseits 
die  Lebensperiode,  in  der  sie  vorfallen.  Es  reicht  für  die  Ver- 
ursachung der  Hysterie  nicht  hin,  daß  zu  irgend  einer  Zeit 
des  Lebens  ein  Erlebnis  auftrete,  welches  das  Sexualleben 
irgendwie  streift  und  durch  die  Entbindung  und  Unterdrückung 
eines  peinlichen  Affektes  pathogen  wird.  Es  müssen  vielmehr 
diese  sexuellen  Traumen  der  frühen  Kindheit  (der 
Lebenszeit  vor  der  Pubertät)  angehören,  und  ihr 
Inhalt  muß  in  wirklicher  Irritation  der  Genitalien 
(koitusähnlichen  Vorgängen)  bestehen. 

Diese  spezifische  Bedingung  der  Hysterie  —  sexuelle 
Passivität  invorsexuellenZeiten  —  fand  ich  in  allen 
analysierten  Fällen  von  Hysterie  (darunter  2  Männer)  erfüllt. 
Wie  sehr  die  Anforderung  an  hereditäre  Disposition  durch 
solche  Bedingtheit  der  accidenteUen  ätiologischen  Momente 
verringert  wird,  bedarf  nur  der  Andeutung;  ferner  eröffnet 
sich  ein  Verständnis  für  die  ungleich  größere  Häufigkeit  der 
Hysterie  beim  weiblichen  Geschlecht,  da  dieses  auch  im  Kindes- 
alter eher  zu  sexuellen  Angriffen  reizt. 

Die  nächstliegendsten  Einwendungen  gegen  dieses 
Resultat  dürften  lauten,  daß  sexuelle  Angriffe  gegen  kleine 
Kinder  zu  häufig  vorfallen,  als  daß  ihrer  Konstatierung  ein 
ätiologischer  Wert  zukäme,  oder  daß  solche  Erlebnisse  gerade 
darum  wirkungslos  bleiben  müssen,  weil  sie  ein  sexuell  un- 
Freud, NeuTosenlehre.  o 


114 


entwickeltes  Wesen  betreffen ;  ferner  daß  man  sich  hüten 
müsse,  derlei  angebliche  Reminiszenzen  den  Kranken  durchs 
Examen  aufzudrängen,  oder  an  die  Romane,  die  sie  selbst 
erdichten,  zu  glauben.  Den  letzteren  Einwendungen  ist  die 
Bitte  entgegenzuhalten,  daß  doch  niemand  allzu  sicher  auf 
diesem  dunkeln  Gebiete  urteilen  möge,  der  sich  noch  nicht 
der  einzigen  Methode  bedient  hat,  welche  es  zu  erhellen  ver- 
mag (der  Psychoanalyse  zur  Bewußtmachung  des  bisher  Un- 
bewußten.^) Das  Wesentliche  an  den  ersteren  Zweifeln  erledigt 
sich  durch  die  Bemerkung,  daß  ja  nicht  die  Erlebnisse  selbst 
traumatisch  wirken,  sondern  deren  Wiederbelebung  als 
Erinnerung,  nachdem  das  Individuum  in  die  sexuelle 
Reifung  eingetreten  ist. 

Meine  13  Fälle  von  Hysterie  waren  durchwegs  von 
schwerer  Art,  alle  mit  vielj  ähriger  KJrankheitsdauer,  einige 
nach  längerer  und  erfolgloser  Anstaltsbehandlung.  Die  Kinder- 
traumen, welche  die  Analyse  für  diese  schweren  Fälle  auf- 
deckte, mußten  sämtlich  als  schwere  sexuelle  Schädigungen 
bezeichnet  werden;  gelegentlich  waren  es  geradezu  abscheu- 
liche Dinge.  Unter  den  Personen,  welche  sich  eines  solchen 
folgenschweren  Abusus  schuldig  machten,  stehen  obenan 
Kinderfrauen,  Gouvernanten  und  andere  Dienstboten,  denen 
man  allzu  sorglos  die  Kinder  überläßt,  ferner  sind  in  be- 
dauerlicher Häufigkeit  lehrende  Personen  vertreten ;  in  7  von 
jenen  13  Fällen  handelte  es  sich  aber  auch  um  schuldlose 
kindhche  Attentäter,  meist  Brüder,  die  mit  ihren  um  wenig 
jüngeren  Schwestern  Jahre  hindurch  sexuelle  Beziehungen 
unterhalten  hatten.  Der  Hergang  war  wohl  jedesmal  ähnlich, 
wie  man  ihn  in  einzelnen  Fällen  mit  Sicherheit  verfolgen 
konnte,  daß  nämhch  der  Knabe  von  einer  Person  weibUchen 
Geschlechts  mißbraucht  worden  war,  daß  dadurch  in  ihm 
vorzeitig  die  Libido  geweckt  wurde,  und  daß  er  dann  einige 
Jahre  später  in  sexueller  Aggression  gegen  seine  Schwester 
genau  die  nämlichen  Prozeduren  wiederholte,  denen  man 
ihn  selbst  unterzogen  hatte. 

*)  Ich  vermute  selbst,  daß  die  so  häufigen  Attentatsdichtuugen  der 
Hysterischen  Zwangsdichtungen  sind,  die  von  der  Erinnerungsspur  des 
Kindertraumas  ausgehen. 


115 

Aktive  Masturbation  muß  icli  aus  der  Liste  der  für 
Hysterie  pathogeneii  sexuellen  Schädlichkeiten  des  frühen 
Kindesalters  ausschließen.  "Wenn  diese  doch  so  häufig  neben 
der  Hysterie  gefunden  wird,  so  rührt  dies  von  dem  Umstände 
her,  daß  die  Masturbation  selbst  weit  häufiger,  als  man  meint, 
die  Folge  des  Mißbrauches  oder  der  Verführung  ist.  Grar  nicht 
selten  erkranken  beide  Teile  des  kindlichen  Paares  später  an 
Abwehrneurosen,  der  Bruder  an  Zwangsvorstellungen,  die 
Schwester  an  Hysterie,  was  natürhch  den  Anschein  einer 
familiären  neurotischen  Disposition  ergibt.  Diese Pseudoheredität 
löst  sich  aber  mitunter  auf  überraschende  Weise;  in  einer 
meiner  Beobachtungen  waren  Bruder,  Schwester  und  ein 
etwas  älterer  Vetter  krank.  Aus  der  Analyse,  die  ich  mit  dem 
Bruder  vornahm,  erfuhr  ich,  daß  er  an  Vorwürfen  darüber 
Htt,  daß  er  die  Krankheit  der  Schwester  verschuldet;  ihn 
selbst  hatte  der  Vetter  verführt,  und  von  diesem  war  in 
der  Familie  bekannt,  daß  er  das  Opfer  seiner  Kinderfrau 
geworden  war. 

Die  obere  Altersgrenze,  bis  zu  welcher  sexuelle  Schädigung 
in  die  Ätiologie  der  Hysterie  fällt,  kann  ich  nicht  sicher 
angeben;  ich  zweifle  aber,  ob  sexuelle  Passivität  nach  dem 
8.  bis  10.  Jahre  Verdrängung  ermöglichen  kann,  wenn  sie  nicht 
durch  vorherige  Erlebnisse  dazu  befähigt  wird.  Die  untere 
Grenze  reicht  so  weit  als  das  Erinnern  überhaupt,  also  bis 
ins  zarte  Alter  von  l^/a  oder  2  Jahren!  (2  Fälle).  In  einer 
Anzahl  meiner  Fälle  ist  das  sexuelle  Trauma  (oder  die  "Reihe 
von  Traumen)  im  3.  und  4.  Lebensjahre  enthalten.  Ich  würde 
diesen  sonderbaren  Funden  selbst  nicht  Glauben  schenken, 
wenn  sie  sich  nicht  durch  die  Ausbildung  der  späteren 
Neurose  volle  Vertrauenswürdigkeit  verschaffen  würden.  In 
jedem  FaUe  ist  eine  Summe  von  krankhaften  Symptomen, 
Gewohnheiten  und  Phobien  nur  durch  das  Zurückgehen  auf 
jene  Kindererlebnisse  erklärlich,  und  das  logische  Gefüge 
der  neurotischen  Äußerungen  macht  eine  Ablehnung  jener 
aus  dem  Kinderleben  auftauchenden,  getreu  bewahrten 
Erinnerungen  unmöglich.  Es  wäre  freüich  vergebens,  diese 
Kindertraumen  einem  Hysterischen  außerhalb  der  Psycho- 
analyse   abfragen   zu   wollen;   ihre   Spur  ist   niemals  im  be- 

8* 


116 


wußten  Erinnern,  nur  in  den  Kjankheitssymptomen  auf- 
zufinden. 

Alle  die  Erlebnisse  und  Erregungen,  welche  in  der 
Lebensperiode  nach  der  Pubertät  den  Ausbruch  der  Hysterie 
vorbereiten  oder  veranlassen,  wirken  nachweisbar  nur 
dadurch,  daß  sie  die  Erinnerungsspur  jener  Kindheitstraumen 
erwecken,  welche  dann  nicht  bewußt  wird,  sondern  zur 
Affektentbindung  und  Verdrängung  führt.  Es  steht  mit  dieser 
Rolle  der  späteren  Traumen  in  gutem  Einklänge,  daß  sie 
nicht  der  strengen  Bedingtheit  der  Kindertraumen  unter- 
liegen, sondern  nach  Intensität  und  Beschaffenheit  variieren 
können,  von  wirkHcher  sexueller  Überwältigung  bis  zu  bloßen 
sexuellen  Annäherungen  und  zur  Sinneswahrnehmung  sexueller 
Akte  bei  Anderen  oder  Aufnahme  von  Mitteilungen  über 
geschlechtliche  Vorgänge.^) 

In  meiner  ersten  Mitteilung  über  die  Abwehrneurosen 
blieb  es  unaufgeklärt,  wieso  das  Bestreben  der  bis  dahin 
Gesunden,  ein  solches  traumatisches  Erlebnis  zu  vergessen, 
den  Erfolg  haben  könne,  die  beabsichtigte  Verdrängung  wirk- 
lich zu  erzielen  und  damit  der  Abwehrneurose  das  Tor  zu 
öffnen.  An  der  Natur  des  Erlebnisses  konnte  es  nicht  liegen, 
da  andere  Personen  trotz  der  gleichen  Anlässe  gesund  blieben. 
Es  konnte  also  die  Hysterie  nicht  aus  der  Wirkung  des 
Traumas  voU  erklärt  werden ;  man  mußte  zugestehen,  daß  die 
Fähigkeit  zur  hysterischen  Reaktion  schon  vor  dem  Trauma 
bestanden  hatte. 

An  Stelle  dieser  unbestimmten  hysterischen  Disposition 
kann  nun  ganz  oder  teilweise  die  posthume  Wirkung  des 
sexuellen  Kindertraumas  treten.  Die  „Verdrängung"  der 
Erinnerung  an  ein  peinliches  sexuelles  Erlebnis  reiferer  Jahre 


*)  In  einem  Aufsatze  über  die  Angstneurose  (Neurologisches  Central- 
blatt,  1895,  Nr.  2)  erwähnte  ich,  daß  „ein  erstes  Zusammentreffen  mit  dem 
sexuellen  Problem  bei  heranreifenden  Mädchen  eine  Angstneurose  her- 
vorrufen kann,  die  in  fast  typischer  Weise  mit  Hysterie  kombiniert  ist". 
Ich  weiß  heute,  daß  die  Gelegenheit,  bei  welcher  solche  virginale 
Angst  ausbricht,  eben  nicht  dem  ersten  Zusammentreffen  mit  der 
Sexualität  entspricht,  sondern  daß  bei  diesen  Personen  ein  Erlebnis 
sexueller  Passivität  in  den  Kinderjahren  vorhergegangen  ist,  dessmi 
Erinnerung  bei  dem  „ersten  Zusammentreffen"  geweckt  wird. 


117 


gelingt  nur  solcten  Personen,  bei  denen  dies  Erlebnis  die 
Erinneningsspur  eines  Kindertraumas  zur  Wirkung  bringen 
kann.^) 

Zwangsvorstellungen  haben  gleichfalls  ein  sexuelles 
Kindererlebnis  (anderer  Natur  als  bei  Hysterie)  zur  Voraus- 
setzung. Die  Ätiologie  der  beiden  Abwehr-Neuropsychosen 
bietet  nun  folgende  Beziehung  zur  Ätiologie  der  beiden  ein- 
fachen Neurosen,  Neurasthenie  und  Angstneurose.  Die  beiden 
letzteren  Affektionen  sind  unmittelbare  Wirkungen  der  sexuellen 
Noxen  selbst,  wie  ich  es  in  einem  Aufsatze  über  die  Angst- 
neurose 1895  dargelegt  habe;  die  beiden  Abwehrneurosen 
sind  mittelbare  Folgen  sexueller  Schädlichkeiten,  die  vor 
Eintritt  der  Geschlechtsreife  eingewirkt  haben,  nämlich  Folgen 
der  psychischen  Erinnerungsspuren  an  diese  Noxen.  Die 
aktuellen  Ursachen,  welche  Neurasthenie  und  Angstneurose 
erzeugen,  spielen  häufig  gleichzeitig  die  Rolle  von  erweckenden 
Ursachen  für  die  Abwehrneurosen;  anderseits  können  die 
spezifischen  Ursachen  der  Abwehmeurose,  die  Kindertraumen, 
gleichzeitig    den    Grund    für    die    später    sich    entwickelnde 


^)  Eine  psychologische  Theorie  der  Verdrängung  müßte  auch  Aus- 
kunft darüber  geben,  warum  nur  Vorstellungen  sexuellen  Inhaltes  ver- 
drängt werden  können.  Sie  darf  von  folgenden  Andeutungen  ausgehen: 
Das  Vorstellen  sexuellen  Inhaltes  erzeugt  bekanntlich  ähnliche  Erregungs- 
vorgänge in  den  Genitalien  wie  das  sexuelle  Erleben  selbst.  Man  darf 
annehmen,  daß  diese  somatische  Erregung  sich  in  psychische  umsetzt. 
In  der  Regel  ist  die  diesbezügliche  Wirkung  beim  Erlebnis  viel  stärker 
als  bei  der  Erinnerung  daran.  Wenn  aber  das  sexuelle  Erlebnis  in  die 
Zeit  sexueller  Unreife  fällt,  die  Erinnerung  daran  während  oder  nach 
der  Reife  erweckt  wird,  dann  wirkt  die  Erinnerung  ungleich  stärker 
erregend  als  seinerzeit  das  Erlebnis,  denn  inzwischen  hat  die  Pubertät 
die  Reaktionsfähigkeit  des  Sexualapparates  in  unvergleichbarem  Maße 
gesteigert.  Ein  solches  umgekehrtes  Verhältnis  zwischen  realem  Erlebnis 
und  Erinnerung  scheint  aber  die  psychologische  Bedingung  einer  Ver- 
drängung zu  enthalten.  Das  Sexualleben  bietet  —  dvirch  die  Verspätung 
der  Pubertätsreife  gegen  die  psychischen  Funktionen  —  die  einzig  vor- 
kommende Möglichkeit  für  jene  Umkehrung  der  relativen  Wirksamkeit. 
Die  Kindertraumen  wirken  nachträglich  wie  frische  Er- 
lebnisse, dann  aber  unbewußt.  Weitergehende  psychologische 
Erörterungen  müßte  ich  auf  ein  anderesmal  verschieben.  —  Ich  bemerke 
noch,  daß  die  hier  in  Betracht  kommende  Zeit  der  „sexuellen  Reifung" 
nicht  mit  der  Pubertät  zusammenfällt,  sondern  vor  dieselbe  (8.  bis  10.  Jahr). 


118 


Neurasthenie  legen.  Endlich  ist  auch  der  Fall  nicht  selten, 
daß  eine  Neurasthenie  oder  Angstneurose  anstatt  durch  aktuelle 
sexuelle  Schädlichkeiten  nur  durch  fortwirkende  Erinnerung  an 
Kindertraumen  in  ihrem  Bestände  erhalten  wird. 

II.  Wesen  und  Mechanismus  der  Zwangsneurose. 

In  der  Ätiologie  der  Zwangsneurose  haben  sexuelle 
Erlebnisse  der  frühen  Eänderzeit  dieselbe  Bedeutung  wie  bei 
Hysterie,  doch  handelt  es  sich  hier  nicht  mehr  um  sexuelle 
Passivität,  sondern  um  mit  Lust  ausgeführte  Aggressionen 
und  mit  Lust  empfundene  Teilnahme  an  sexuellen  Akten,  also 
um  sexuelle  Aktivität.  Mit  dieser  Differenz  der  ätiologischen 
Verhältnisse  hängt  es  zusammen,  daß  bei  der  Zwangsneurose 
das  männliche  Geschlecht  bevorzugt  erscheint. 

Ich  habe  übrigens  in  aU  meinen  Fällen  von  Zwangs- 
neurose einen  Untergrund  von  hysterischen  Symp- 
tomen gefunden,  die  sich  auf  eine  der  Lusthandlung  vor- 
hergehende Szene  sexueller  Passivität  zurückführen  ließen. 
Ich  vermute,  daß  dieses  Zusammentreffen  ein  gesetzmäßiges 
ist,  und  daß  vorzeitige  sexuelle  Aggression  stets  ein  Erlebnis 
von  Verführung  voraussetzt.  Ich  kann  aber  gerade  von  der 
Ätiologie  der  Zwangsneurose  noch  keine  abgeschlossene  Dar- 
stellung geben;  es  macht  mir  nur  den  Eindruck,  als  hinge 
die  Entscheidung  darüber,  ob  auf  Grund  der  Kindertraumen 
Hysterie  oder  Zwangsneurose  entstehen  soll,  mit  den  zeit- 
lichen Verhältnissen  der  Entwicklung  von  Libido  zusammen. 

Das  "Wesen  der  Zwangsneurose  läßt  sich  in  einer  ein- 
fachen Formel  aussprechen:  Zwangsvorstellungen  sind 
jedesmal  verwandelte,  aus  der  Verdrängung 
wiederkehrende  Vorwürfe,  die  sich  immer  auf  eine 
sexuelle,  mitLust  ausgeführte  Aktion  derKinder- 
zeit  beziehen.  Zur  Erläuterung  dieses  Satzes  ist  es  not- 
wendig, den  typischen  Verlauf  einer  Zwangsneurose  zu  be- 
schreiben. 

In  einer  ersten  Periode  —  Periode  der  kindlichen 
Immoralität  —  fallen  die  Ereignisse  vor,  welche  den  Keim 
der  späteren  Neurose  enthalten.  Zuerst  in  frühester  Kindheit 
die   Erlebnisse   sexueller  Verführung,   welche  später  die  Ver- 


119 


drängung  ermöglichen,  sodann  die  Aktionen  sexueller  Aggression 
gegen  das  andere  Geschlecht,  welche  später  als  Vorwurfshand- 
lungen erscheinen. 

Dieser  Periode  wird  ein  Ende  bereitet  durch  den  — 
oft  selbst  verfrühten  —  Eintritt  der  sexuellen  „Reifung". 
Nun  knüpft  sich  an  die  Erinnerung  jener  Lustaktionen  ein 
Vorwurf,  und  der  Zusammenhang  mit  dem  initialen  Erlebnisse 
von  Passivität  ermöglicht  es  —  oft  erst  nach  bewußter  und 
erinnerter  Anstrengung  —  diesen  zu  verdrängen  und  durch 
ein  primäres  Abwehrsymptom  zu  ersetzen.  G-ewissen- 
haftigkeit,  Scham,  Selbstmißtrauen  sind  solche  Symptome, 
mit  denen  die  dritte  Periode,  die  der  scheinbaren  Gesundheit, 
eigentlich  der  gelungenen  Abwehr  beginnt. 

Die  nächste  Periode,  die  der  Krankheit,  ist  ausgezeichnet 
durch  die"Wiederkehr  der  verdrängtenErinnerungen, 
also  durch  das  Mißglücken  der  Abwehr,  wobei  es  unentschieden 
bleibt,  ob  die  Erweckung  derselben  häufiger  zufällig  und 
spontan  oder  infolge  aktueller  sexueller  Störungen  gleichsam 
als  Nebenwirkung  derselben  erfolgt.  Die  wiederbelebten  Er- 
innerungen und  die  aus  ihnen  gebildeten  Vorwürfe  treten 
aber  niemals  unverändert  ins  Bewußtsein  ein,  sondern  was 
als  Zwangsvorstellung  und  Zwangsaffekt  bewußt  wird,  die 
pathogene  Erinnerung  für  das  bewußte  Leben  substituiert, 
sind  Kompromißbildungen  zwischen  den  verdrängten  und 
den  verdrängenden  Vorstellungen. 

Um  die  Vorgänge  der  Verdrängung,  der  "Wiederkehr  des 
Verdrängten  und  der  Bildung  der  pathologischen  Kompromiß- 
vorstellungen anschaulich  und  wahrscheinlich  zutreffend  zu 
beschreiben,  müßte  man  sich  zu  ganz  bestimmten  Annahmen 
über  das  Substrat  des  psychischen  Geschehens  und  des  Be- 
wußtseins entschließen.  So  lange  man  dies  vermeiden  wiU, 
muß  man  sich  mit  folgenden,  eher  bildlich  verstandenen 
Bemerkungen  bescheiden :  Es  gibt  zwei  Formen  der  Zwangs- 
neurose, je  nachdem  allein  der  Erinnerungsinhalt  der  Vor- 
wurfshandlung sich  den  Eingang  ins  Bewußtsein  erzwingt 
oder  auch  der  an  sie  geknüpfte  Vorwurfsaffekt.  Der  erstere 
FaU  ist  der  der  typischen  Zwangsvorstellungen,  bei  denen 
der  Inhalt   die  Aufmerksamkeit  des  Kranken   auf  sich   zieht, 


120 


als  Affekt  nur  eine  unbestimmte  Unlust  empfunden  wird, 
während  zum  Inhalte  der  Zwangsvorstellung  nur  der  Affekt 
des  Vorwurfs  passen  würde.  Der  Inhalt  der  Zwangsvorstellung 
ist  gegen  den  der  Zwangshandlung  im  Kindesalter  in  zwei- 
facher Weise  entstellt:  erstens,  indem  etwas  Aktuelles  an 
die  Stelle  des  Vergangenen  gesetzt  ist,  zweitens,  indem  das 
Sexuelle  durch  Analoges,  nicht  Sexuelles  substituiert  wird. 
Diese  beiden  Abänderungen  sind  die  Wirkung  der  immer 
noch  in  Kraft  stehenden  Verdrängungsneigung,  die  wir  dem 
„Ich"  zuschreiben  wollen.  Der  Einfluß  der  wiederbelebten 
pathogenen  Erinnerung  zeigt  sich  darin,  daß  der  Inhalt  der 
Zwangsvorstellung  noch  stückweise  mit  dem  verdrängten 
identisch  ist  oder  sich  durch  korrekte  Gedankenfolge  von 
ihm  ableitet.  Rekonstruiert  man  mit  Hilfe  der  psychoanalyti- 
schen Methode  die  Entstehung  einer  einzelnen  Zwangsvor- 
stellung, so  findet  man,  daß  von  einem  aktuellen  Eindrucke 
aus  zwei  verschiedene  Gedankengänge  angeregt  worden  sind; 
der  eine  davon,  der  über  die  verdrängte  Erinnerung  gegangen 
ist,  erweist  sich  als  ebenso  korrekt  logisch  gebildet  wie  der 
andere,  obwohl  er  bewußtseinsunfähig  und  unkorrigierbar  ist. 
Stimmen  die  Resultate  der  beiden  psychischen  Operationen 
nicht  zusammen,  so  kommt  es  nicht  etwa  zur  logischen  Aus- 
gleichung des  Widerspruches  zwischen  beiden,  sondern  neben 
dem  normalen  Denkergebnisse  tritt  als  Kompromiß  zwischen 
dem  Widerstände  und  dem  pathologischen  Denkresultate  eine 
absurd  erscheinende  Zwangsvorstellung  ins  Bewußtsein.  Wenn 
die  beiden  Gedankengänge  den  gleichen  Schluß  ergeben,  ver- 
stärken sie  einander,  so  daß  ein  normal  gewonnenes  Denk- 
resultat sich  nun  psychisch  wie  eine  Zwangsvorstellung  ver- 
hält. Wo  immer  neurotischer  Zwang  imPsychischen 
auftritt,  rührt  er  von  Verdrängung  her.  Die  Zwangs- 
vorstellungen haben  sozusagen  psychischen  Zwangskurs  nicht 
wegen  ihrer  eigenen  Geltung,  sondern  wegen  der  Quelle,  aus 
der  sie  stammen,  oder  die  zu  ihrer  Geltung  einen  Beitrag 
geliefert  hat. 

Eine  zweite  Gestaltung  der  Zwangsneurose  ergibt  sich, 
wenn  nicht  der  verdrängte  Erinnerungsinhalt,  sondern  der 
gleichfalls  verdrängte  Vorwurf  eine  Vertretung  im  bewußten 


121 


psychisclien  Leben  erzwingt.  Der  Vorwufsaffekt  kann  sicii  durch 
einen  psychischen  Zusatz  in  einen  beliebigen  anderen  Unlust- 
affekt verwandeln ;  ist  dies  geschehen,  so  steht  dem  Bewnßt- 
werden  des  substituierenden  Affekts  nichts  mehr  im  "Wege. 
So  verwandelt  sich  Vorwurf  (die  sexuelle  Aktion  im  Kindes- 
alter vollführt  zu  haben)  mit  Leichtigkeit  in  Scham  (wenn 
ein  Anderer  davon  erführe),  in  hypochondrische  Angst 
(vor  den  körperlich  schädigenden  Folgen  jener  Vorwurfshand- 
lung), in  soziale  Angst  (vor  der  gesellschaftlichen  Ahndung 
jenes  Vergehens),  in  religiöse  Angst,  in  Beachtungs- 
wahn (Furcht,  daß  man  jene  Handlung  Anderen  verrate),  in 
Versuchungsangst  (berechtigtes  Mißtrauen  in  die  eigene 
moralische  Widerstandskraft)  u.  dgl.  Dabei  kann  der  Er- 
innerungsinhalt der  Vorwurfshandlung  im  Bewußtsein  mit- 
vertreten sein  oder  gänzlich  zurückstehen,  was  die  diagnostische 
Erkennung  sehr  erschwert.  Viele  Fälle,  die  man  bei  ober- 
flächlicher Untersuchung  für  gemeine  (neurasthenische)  Hypo- 
chondrie hält,  gehören  zu  dieser  Gruppe  der  Zwangs- 
affekte insbesondere  die  sogenannte  „periodische  Neura- 
sthenie" oder  „periodische  MelanchoKe"  scheint  in  ungeahnter 
Häufigkeit  sich  in  Zwangsaffekte  und  Zwangsvorstellungen 
aufzulösen,  eine  Erkennung,  die  therapeutisch  nicht  gleich- 
giltig  ist. 

Neben  diesen  Kompromißsymptomen,  welche  die  Wieder- 
kehr des  Verdrängten  und  somit  ein  Scheitern  der  ursprünglich 
erzielten  Abwehr  bedeuten,  bildet  die  Zwangsneurose  eine 
Reihe  weiterer  Symptome  von  ganz  anderer  Herkunft.  Das 
Ich  sucht  sich  nänüich  jener  Abkömnüinge  der  initial  ver- 
drängten Erinnerung  zu  erwehren  und  schafft  in  diesem  Ab- 
wehrkampfe Symptome,  die  man  als  „sekundäre  Abwehr" 
zusammenfassen  könnte.  Es  sind  dies  durchwegs  „Schutz- 
maßregeln", die  bei  der  Bekämpfung  der  Zwangsvor- 
stellungen und  Zwangsaffekte  gute  Dienste  geleistet  haben. 
Gelingt  es  diesen  Hilfen  im  Abwehrkampfe  wirklich,  die 
dem  Ich  aufgedrängten  Symptome  der  Wiederkehr  neuer- 
dings zu  verdrängen,  so  überträgt  sich  der  Zwang  auf  die 
Schutzmaßregeln  selbst  und  schafft  eine  dritte  Gestaltung  der 
„Zwangsneurose",  die  Zwangshandlungen.  Niemals  sind 


122 


diese  primär,  niemals  entlialteii  sie  etwas  anderes  als  eine 
Abwehr,  nie  eine  Aggression;  die  psychische  Analyse  weist 
von  ihnen  nach,  daß  sie  —  trotz  ihrer  Sonderbarkeit  —  durch 
Zm*ückführung  auf  die  Zwangserinnerung,  die  sie  bekämpfen, 
jedesmal  voll  aufzuklären  sind.^) 

Die  sekundäre  Abwehr  der  Zwangsvorstellungen  kann 
erfolgen  durch  gewaltsame  Ablenkung  auf  andere  Gedanken, 
möglichst  konträren  Inhalts;  daher  im  FaUe  des  Gelingens 
der  Grübelzwang,  regelmäßig  über  abstrakte,  übersinn- 
liche Dinge,  weü  die  verdrängten  Vorstellungen  immer  sich 
mit  der  Sinnlichkeit  beschäftigten.  Oder  der  Kranke  ver- 
sucht, jeder  einzelnen  Zwangsidee  durch  logische  Arbeit  und 
Berufung  auf  seine  bewußten  Erinnerungen  Herr  zu  werden; 
dies  führt  zum  Denk-  und  Prüfungszwang  und  zur 
Zweifelsucht.  Der  Vorzug  der  Wahrnehmung  vor  der  Er- 
innerung bei  diesen  Prüfungen  veranlaßt  den  Bjranken  zuerst 


1)  Ein  Beispiel  anstatt  vieler:  Ein  11  jähriger  Knabe  hatte  sich 
folgendes  Zermoniell  vor  dem  Zubettgehen  zwangsartig  eingerichtet:  Er 
schlief  nicht  eher  ein,  als  bis  er  seiner  Mutter  alle  Erlebnisse  des  Tages 
haarklein  vorerzählt  hatte;  auf  dem  Teppich  des  Schlafzimmers  durfte 
abends  kein  Papierschnitzelchen  und  kein  anderer  Unrat  zu  finden  sein; 
das  Bett  mußte  ganz  an  die  Wand  angerückt  werden,  drei  Stühle  davor- 
stehen, die  Polster  in  ganz  bestimmter  Weise  liegen.  Er  selbst  mußte, 
um  einzuschlafen,  zuerst  eine  gewisse  Anzahl  von  Malen  mit  beiden  Beinen 
stoßen  und  sich  dann  auf  die  Seite  legen.  —  Das  klärte  sich  folgender- 
maßen auf:  Jahre  vorher  hatte  es  sich  zugetragen,  daß  ein  Dienstmäd- 
chen, welches  den  schönen  Knaben  zu  Bette  bringen  sollte,  die  Gelegen- 
heit benützte,  um  sich  dann  über  ihn  zu  legen  und  ihn  sexuell  zu  miß- 
brauchen. Als  dann  später  einmal  diese  Erinnerung  durch  ein  rezentes 
Erlebnis  geweckt  wurde,  gab  sie  sich  dem  Bewußtsein  durch  den  Zwang 
zu  obigem  Zermoniell  kund,  dessen  Sinn  leicht  zu  erraten  war  und  im 
einzelnen  durch  die  Psychoanalyse  festgestellt  wurde:  Sessel  vor  dem 
Bett  und  dieses  an  die  Wand  gerückt  —  damit  niemand  mehr  zum 
Bett  Zugang  haben  könne;  Polster  in  einer  gewissen  Weise  geordnet 
—  damit  sie  anders  geordnet  seien  als  an  jenem  Abend;  die  Bewegungen 
mit  den  Beinen  —  Wegstoßen  der  auf  ihm  liegenden  Person;  Schlafen 
auf  der  Seite  —  weil  er  bei  der  Szene  auf  dem  Rücken  gelegen;  die 
ausführliche  Beichte  vor  der  Mutter  —  weil  er  diese  und  andere  sexuelle 
Erlebnisse  infolge  von  Verbot  der  Verführerin  ihr  verschwiegen  hatte; 
endlich  Reinhaltung  des  Bodens  im  Schlafzimmer  —  weil  dies  der 
Hauptvorwurf  war,  den  er  bis  dahin  von  der  Mutter  hatte  hinnehmen 
müssen. 


123 


und  zwingt  ihn  später,  alle  Objekte,  mit  denen  er  in  Be- 
rührung getreten  ist,  zu  sammeln  und  aufzubewahren.  Die 
sekundäre  Abwehr  gegen  die  Zwangsaffekte  ergibt  eine  noch 
größere  Reihe  von  Schutzmaßregeln,  die  der  Verwandlung 
in  Zwangshandlungen  fähig  sind.  Man  kann  dieselben  nach 
ihrer  Tendenz  gruppieren:  Maßregeln  der  Buße  (lästiges 
Zermoniell,  Zahlenbeobachtung),  der  Vorbeugung  (allerlei 
Phobien,  Aberglauben,  Pedanterie,  Steigerung  des  Primär- 
symptoms der  Gewissenhaftigkeit),  der  Furcht  vor  Verrat 
(Papiersammeln,  Menschenscheu),  der  Betäubung  (Dipso- 
manie). Unter  diesen  Zwangshandlungen  und  -Impulsen  spielen 
die  Phobien  als  Existenzbeschränkungen  des  Kranken  die 
größte  Rolle. 

Es  gibt  Fälle,  in  welchen  man  beobachten  kann,  wie 
sich  der  Zwang  von  der  Vorstellung  oder  vom  Affekt  auf 
die  Maßregel  überträgt ;  andere,  in  denen  der  Zwang  periodisch 
zwischen  dem  "Wiederkehrsymptome  und  dem  Symptome  der 
sekundären  Abwehr  oszilliert;  aber  daneben  noch  Fälle,  in 
denen  überhaupt  keine  Zwangsvorstellung  gebildet,  sondern 
die  verdrängte  Erinnerung  sogleich  durch  die  scheinbar 
primäre  Abwehrmaßregel  vertreten  wird.  Hier  wird  mit  einem 
Sprunge  jenes  Stadium  erreicht,  welches  sonst  erst  nach  dem 
Abwehrkampfe  den  Verlauf  der  Zwangsneurose  abschließt. 
Schwere  Fälle  dieser  Affektion  enden  mit  der  Fixirung  von 
ZermonieUhandlungen,  allgemeiner  Zweifelsucht  oder  einer 
durch  Phobien  bedingten  Sonderlingsexistenz. 

Daß  die  Zwangsvorstellung  und  alles  von  ihr  Abgeleitete 
keinen  Glauben  findet,  rührt  wohl  daher,  daß  bei  der  ersten 
Verdrängung  das  Abwehrsymptom  der  Gewissenhaftig- 
keit gebildet  worden  ist,  das  gleichfalls  Zwangsgeltung  ge- 
wonnen hat.  Die  Sicherheit,  in  der  ganzen  Periode  der  ge- 
lungenen Abwehr  moralisch  gelebt  zu  haben,  macht  es  un- 
mögHch,  dem  Vorwurfe,  welchen  ja  die  Zwangsvorstellung 
involviert,  Glauben  zu  schenken.  Nur  vorübergehend  beim  Auf- 
treten einer  neuen  Zwangsvorstellung  und  hie  und  da  bei 
melancholischen  Erschöpfungszuständen  des  Ichs  erzwingen 
die  krankhaften  Symptome  der  Wiederkehr  auch  den  Glauben. 
Der  „Zwang"  der  hier  beschriebenen  psychischen  Bildungen 


124 


hat  ganz  allgemein  mit  der  Anerkennung  durch  den  Glauben 
nichts  zu  tun,  und  ist  auch  mit  jenem  Momente,  das  man  als 
„Stärke"  oder  „Intensität"  einer  Vorstellung  bezeichnet,  nicht 
zu  verwechseln.  Sein  wesentlicher  Charakter  ist  vielmehr  die 
Unauflösbarkeit  durch  die  bewußtseinsfähige  psychische  Tätig- 
keit, und  dieser  Charakter  erfährt  keine  Änderung,  ob  nun 
die  Vorstellung,  an  der  der  Zwang  haftet,  stärker  oder 
schwächer,  intensiver  oder  geringer  „beleuchtet",  „mit  Energie 
besetzt"  u.  dgl.  wird. 

Ursache  dieser  Unangreifbarkeit  der  Zwangsvorstellung 
oder  ihrer  Derivate  ist  aber  nur  ihr  Zusammenhang  mit  der 
verdrängten  Erinnerung  aus  früher  Kindheit,  denn  wenn  es 
gelungen  ist,  diesen  bewußt  zu  machen,  wofür  die  psycho- 
therapeutischen Methoden  bereits  auszureichen  scheinen,  dann 
ist  auch  der  Zwang  gelöst. 

in.  Analyse  eines  Falles  von  chronischer  Paranoia. 

Seit  längerer  Zeit  schon  hege  ich  die  Vermutung,  daß 
auch  die  Paranoia  —  oder  Gruppen  von  Fällen,  die  zur  Paranoia 
gehören  —  eine  Abwehr-Psychose  ist,  d.  h.  daß  sie  wie  Hysterie 
und  Zwangsvorstellungen  hervorgeht  aus  der  Verdrängung 
peinlicher  Erinnerungen,  und  daß  ihre  Symptome  durch  den 
Inhalt  des  Verdrängten  in  ihrer  Form  determiniert  werden. 
Eigentümlich  müsse  der  Paranoia  ein  besonderer  Weg  oder 
Mechanismus  der  Verdrängung  sein,  etwa  wie  die  Hysterie  die 
Verdrängung  auf  dem  Wege  der  Konversion  in  die  Körper- 
innervation,  die  Zwangsneurose  durch  Substitution  (Ver- 
schiebung^längs  gewisser  assoziativer  Kategorien)  bewerkstelligt. 
Ich  beobachtete  mehrere  FäUe,  die  dieser  Deutung  günstig 
waren,  hatte  aber  keinen  gefunden,  der  sie  erwies,  bis  mir 
durch  die  Güte  des  Herrn  Dr.  J.  Breuer  vor  einigen  Monaten 
ermöglicht  wurde,  den  FaU  einer  intelligenten  32jährigen 
Frau,  dem  man  die  Bezeichnung  als  chronische  Paranoia 
nicht  wird  versagen  können,  in  therapeutischer  Absicht  einer 
Psychoanalyse  zu  unterziehen.  Ich  berichte  schon  hier  über 
einige  bei  dieser  Arbeit  gewonnene  Aufklärungen,  weil  ich 
keine  Aussicht  habe,  die  Paranoia  anders  als  in  sehr  ver- 
einzelten Beispielen  zu  studieren,  und  weil  ich  es  für  möglich 


125 


halte,  daß  diese  Bemerkungen  einen  hierin  günstiger  gestellten 
Psychiater  veranlassen  könnten,  in  der  jetzt  so  regen  Diskussion 
über  Natur  und  psychischen  Mechanismus  der  Paranoia  das 
Moment  der  „Abwehr"  zu  seinem  Eechte  zu  bringen.  Natürlich 
liegt  es  mir  fern,  mit  der  nachstehenden  einzigen  Beobachtung 
etwas  anderes  sagen  zu  wollen,  als:  dieser  Fall  ist  eine  Ab- 
wehr-Psychose, und  es  dürfte  in  der  Gruppe  „Paranoia"  noch 
andere  geben,  die  es  gleichfalls  sind. 

Frau  P.,  32  Jahre  alt,  seit  3  Jahren  verheiratet,  Mutter  eines 
2jährigen  Kindes,  stammt  von  nicht  nervösen  Eltern;  ihre  beiden  Ge- 
schwister kenne  ich  aber  als  gleichfalls,  neurotisch.  Es  ist  zweifelhaft,  ob 
sie  nicht  einmal  in  der  Mitte  der  20  er  Jahre  vorübergehend  deprimiert 
vind  in  ihrem  Urteile  beirrt  war;  in  den  letzten  Jahren  war  sie  gesund 
und  leistungsfähig,  bis  sie  Va  Jahr  nach  der  Geburt  ihres  Kindes  die 
ersten  Anzeichen  der  gegenwärtigen  Erkrankung  erkennen  ließ.  Sie 
wurde  verschlossen  und  mißtrauisch,  zeigte  Abneigung  gegen  den  Ver- 
kehr mit  den  Geschwistern  ihres  Mannes,  und  klagte,  daß  die  Nachbjirn 
in  der  kleinen  Stadt  sich  anders  als  früher,  unhöflich  und  rücksichtslos 
gegen  sie  benähmen.  Allmählich  steigerten  sich  diese  Klagen  an  Intensität, 
wenn  auch  nicht  an  Bestimmtheit:  man  habe  etwas  gegen  sie,  obwohl 
sie  keine  Ahnung  habe,  was  es  sein  könne.  Aber  es  sei  kein  Zweifel,  alle 
—  Verwandte  wie  Freunde  —  versagten  ihr  die  Achtung,  täten  alles, 
sie  zu  kränken.  Sie  zerbreche  sich  den  Kopf,  woher  das  komme;  wisse 
es  nicht.  Einige  Zeit  später  klagte  sie,  daß  sie  beobachtet  werde,  man 
ihre  Gedanken  errate,  alles  wisse,  was  bei  ihr  im  Hause  vorgehe.  Eines 
Nachmittags  kam  ihr  plötzlich  der  Gedanke,  man  beobachte  sie  abends 
beim  Auskleiden.  Von  nun  an  wendete  sie  beim  Auskleiden  die  kom- 
pliziertesten Vorsichtsmaßregeln  an,  schlüpfte  im  Dunkeln  ins  Bett  und 
und  entkleidete  sich  erst  unter  der  Decke.  Da  sie  jedem  Verkehr  aus- 
wich, sich  schlecht  nährte  und  sehr  verstimmt  war,  wurde  sie  im 
Sommer  1895  in  eine  Wasserheilanstalt  geschickt.  Dort  traten  neue 
Symptome  auf  und  verstärkten  sich  schon  vorhandene.  Schon  im  Früh- 
jahr hatte  sie  plötzlich  eines  Tages,  als  sie  mit  ihrem  Stubenmädchen 
allein  war,  eine  Empfindung  im  Schöße  bekommen  und  sich  dabei  gedacht, 
das  Mädchen  habe  jetzt  einen  unanständigen  Gedanken.  Diese  Empfindung 
wiu-de  im  Sommer  häufiger,  nahezu  kontinuierlich,  sie  spürte  ihre  Genitalien, 
„wie  man  eine  schwere  Hand  spürt".  Dann  fing  sie  an,  Bilder  zu  sehen, 
über  die  sie  sich  entsetzte,  Halluzinationen  von  weiblichen  Nacktheiten, 
besonders  einen  entblößten  weiblichen  Schoß  mit  Behaarung;  gelegentlich 
auch  männliche  Genitalien.  Das  Büd  des  behaarten  Schoßes  und  die 
Organempfindung  im  Schöße  kamen  meist  gemeinsam.  Die  Bilder  wurden 
sehr  quälend  für  sie,  da  sie  dieselben  regelmäßig  bekam,  wenn  sie  in 
Gesellschaft  einer  Frau  war  und  daran  die  Deutung  sich  anschloß,  sie 
sehe  jetzt  die  Frau  in.  unanständigster  Blöße,   aber  im  selben  Moment 


126 


habe  die  Frau  dasselbe  Bild  von  ihr  (!).  Gleichzeitig  mit  diesen  Gesichts- 
halluzinationen —  die  nach  ihrem  ersten  Auftreten  in  der  Heilanstalt 
für  mehrere  Monate  wieder  verschwanden  —  fingen  Stimmen  an,  sie  zu 
belästigen,  die  sie  nicht  erkannte  und  sich  nicht  zu  erklären  wußte. 
Wenn  sie  auf  der  Straße  war,  hieß  es:  Das  ist  die  Frau  P.  —  Da  geht 
sie.  Wo  geht  sie  hin?  —  Man  kommentierte  jede  ihrer  Bewegungen  und 
Handlungen,  gelegentlich  hörte  sie  Drohungen  und  Vorwürfe.  Alle  diese 
Symptome  wurden  ärger,  wenn  sie  in  Gesellschaft  oder  gar  auf  der  Straße 
war ;  sie  verweigerte  darum  auszugehen,  erklärte  dann,  sie  habe  Ekel  vor 
dem  Essen  und  kam  rasch  herunter. 

Dies  erfahr  ich  von  ihr,  als  sie  im  "Winter  1895  nach 
"Wien  in  meine  Behandlung  kam.  Ich  habe  es  ausführlich 
dargestellt,  um  den  Eindruck  zu  erwecken,  daß  es  sich  hier 
"wirklich  um  eine  recht  häufige  Form  von  chronischer  Para- 
noia handle,  zu  welchem  Urteil  die  noch  später  anzuführenden 
Details  der  Symptome  und  ihres  Verhaltens  stimmen  werden. 
"Wahnbildungen  zur  Deutung  der  Halluzinationen  verbarg  sie 
mir  damals  oder  sie  waren  wirklich  noch  nicht  vorgefallen; 
ihre  Intelligenz  war  unvermindert;  als  auffällig  wurde  mir 
nur  berichtet,  daß  sie  ihrem  in  der  Nachbarschaft  lebenden 
Bruder  wiederholt  Rendez-vous  gegeben,  um  ihm  etwas  anzu- 
vertrauen, ihm  aber  nie  etwas  mitgeteilt  habe.  Sie  sprach  nie 
über  ihre  Halluzinationen  und  zuletzt  auch  nicht  mehr  viel 
über  die  Kränkungen  und  Verfolgungen,  unter  denen  sie  litt. 

Was  ich  nun  von  dieser  Kranken  zu  berichten  habe,  betrifft 
die  Ätiologie  des  Falles  und  den  Mechanismus  der  Hallu- 
zinationen. Ich  fand  die  Ätiologie,  als  ich  ganz  wie  bei  einer 
Hysterie  die  Breuer'sche  Methode  zunächst  zur  Erforschung 
und  Beseitigung  der  Halluzinationen  in  Anwendung  brachte. 
Ich  ging  dabei  von  der  Voraussetzung  aus,  es  müsse  bei 
dieser  Paranoia,  wie  bei  den  zwei  anderen  mir  bekannten 
Abwehrneurosen  unbewußte  Gedanken  und  verdrängte  Er- 
innerungen geben,  die  auf  dieselbe  Weise,  wie  dort,  ins 
Bewußtsein  zu  bringen  seien,  unter  Überwindung  eines  ge- 
wissen Widerstandes,  und  die  Kranke  bestätigte  sofort  diese 
Erwartung,  indem  sie  sich  bei  der  Analyse  ganz  wie  zum 
Beispiel  eine  Hysterica  benahm  und  unter  Aufmerksamkeit 
auf  den  Druck  meiner  Hand  (vergleiche  die  „Studien  über 
Hysterie")  Gedanken  vorbrachte,  die  gehabt  zu  haben  sie  sich 


127 


nicht  erinnerte,  die  sie  zunächst  nicht  verstand,  und  die 
ihrer  Erwartung  widersprachen.  Es  war  also  das  Vorkommen 
bedeutsamer  unbewußter  Vorstellungen  auch  für  einen  Fall 
von  Paranoia  erwiesen,  und  ich  durfte  hoffen,  auch  den  Zwang 
der  Paranoia  auf  Verdrängung  zurückzuführen.  Eigentümlich 
war  nur,  daß  sie  die  aus  dem  Unbewußten  stammenden  An- 
gaben zumeist  wie  ihre  Stimmen  innerlich  hörte  oder  hallu- 
zinierte. 

Über  die  Herkunft  der  Gesichtshalluzinationen  oder 
wenigstens  der  lebhaften  Bilder  erfuhr  ich  folgendes:  Das 
Bild  des  weiblichen  Schoßes  kam  fast  immer  mit  der  Organ- 
empfindung im  Schöße  zusammen,  letztere  war  aber  viel 
konstanter  und  sehr  oft  ohne  das  Bild. 

Die  ersten  Bilder  von  weibhchen  Schößen  waren  auf- 
getreten in  der  Wasserheilanstalt,  wenige  Stunden,  nachdem 
sie  eine  Anzahl  von  Frauen  tatsächlich  im  ßaderaum  entblößt 
gesehen  hatte,  erwiesen  sich  also  als  einfache  Reproduktionen 
eines  realen  Eindrucks.  Man  durfte  nun  voraussetzen,  daß 
diese  Eindrücke  nur  darum  wiederholt  worden  seien,  weil 
sich  ein  großes  Interesse  an  sie  geknüpft  habe.  Sie  gab  die 
Auskunft,  sie  habe  sich  damals  für  jene  Frauen  geschämt; 
sie  schäme  sich  selbst,  nackt  gesehen  zu  werden,  seitdem  sie 
sich  erinnere.  Da  ich  nun  diese  Scham  für  etwas  Zwanghaftes 
ansehen  mußte,  schloß  ich  nach  dem  Mechanismus  der  Ab- 
wehr, es  müsse  hier  ein  Erlebnis  verdrängt  worden  sein,  bei 
dem  sie  sich  nicht  geschämt,  und  forderte  sie  auf,  die  Er- 
innerungen auftauchen  zu  lassen,  welche  zu  dem  Thema  des 
Schämens  gehörten.  Sie  reproduzierte  mir  prompt  eine  Reihe 
von  Szenen  vom  17.  Jahre  bis  zum  8.,  in  denen  sie  sich  im 
Bade  vor  der  Mutter,  der  Schwester,  dem  Arzte  ihrer  Nackt- 
heit geschämt  hatte;  die  Reihe  lief  aber  in  eine  Szene  mit 
6  Jahren  aus,  wo  sie  sich  im  Kinderzimmer  zum  Schlafen- 
gehen entkleidete,  ohne  sich  vor  dem  anwesenden  Bruder 
zu  schämen.  Auf  mein  Befragen  kam  heraus,  daß  es  solcher 
Szenen  viele  gegeben  habe,  und  daß  die  Geschwister  Jahre 
hindurch  die  Gewohnheit  geübt  hätten,  sich  einander  vor  dem 
Schlafengehen  nackt  zu  zeigen.  Ich  verstand  nun,  was  der 
plötzliche  Einfall  bedeutet   hatte,    man   beobachte   sie   beim 


128 


ScLlafengehen.  Es  war  ein  unverändertes  Stück  der  alten 
Vorwurfserinnerung,  und  sie  holte  jetzt  an  Schämen  nach, 
was  sie  als  Kind  versäumt  hatte. 

Die  Vermutung,  daß  es  sich  hier  um  ein  Kinderverhältnis 
handle,  wie  auch  in  der  Ätiologie  der  Hysterie  so  häufig, 
wurde  durch  weitere  Fortschritte  der  Analyse  bekräftigt, 
bei  denen  sich  gleichzeitig  Lösungen  für  einzelne  im  Bilde 
der  Paranoia  häufig  wiederkehrende  Details  ergaben.  Der 
Anfang  ihrer  Verstimmung  fiel  zusammen  mit  einem  Zwiste 
zwischen  ihrem  Manne  und  ihrem  Bruder,  infolgedessen  der 
letztere  ihr  Haus  nicht  mehr  betrat.  Sie  hatte  diesen  Bruder 
immer  sehr  geHebt  und  entbehrte  ihn  um  diese  Zeit  sehr. 
Sie  sprach  aber  außerdem  von  einem  Moment  ihrer  Kranken- 
geschichte, in  dem  ihr  zuerst  „alles  klar  wurde",  das  heißt 
in  dem  sie  zur  Überzeugung  gelangte,  daß  ihre  Vermutung, 
allgemein  mißachtet  und  mit  Absicht  gekränkt  zu  werden, 
Wahrheit  sei.  Diese  Sicherheit  gewann  sie  durch  den  Besuch 
einer  Schwägerin,  welche  im  Verlaufe  des  Gespräches  die 
Worte  fallen  ließ :  „Wenn  mir  etwas  derartiges  passiert,  nehme 
ich  es  auf  die  leichte  Achsel!"  Frau  P.  nahm  diese  Äußerung 
25unächst  arglos  hin;  nachdem  aber  ihr  Besuch  sie  verlassen 
hatte,  kam  es  ihr  vor,  als  sei  in  diesen  Worten  ein  Vorwurf 
für  sie  enthalten  gewesen,  als  ob  sie  gewohnt  sei,  ernste 
Dinge  leicht  zu  nehmen,  und  von  dieser  Stunde  an  war  sie 
sicher,  daß  sie  ein  Opfer  der  allgemeinen  Nachrede  sei.  Als 
ich  sie  examinierte,  wodurch  sie  sich  berechtigt  gefühlt,  jene 
Worte  auf  sich  zu  beziehen,  antwortete  sie,  der  Ton,  in  dem 
die  Schwägerin  gesprochen,  habe  sie  —  allerdings  nach- 
träglich —  davon  überzeugt,  was  doch  ein  für  Paranoia 
charakteristisches  Detail  ist.  Ich  zwang  sie  nun,  sich  an 
die  Reden  der  Schwägerin  vor  der  angeschuldigten  Äußerung 
zu  erinnern,  und  es  ergab  sich,  daß  diese  erzählt  hatte,  im 
Vaterhause  habe  es  mit  den  Brüdern  allerlei  Schwierigkeiten 
gegeben,  und  daran  die  weise  Bemerkung  geknüpft:  „In  jeder 
Familie  gehe  allerlei  vor,  worüber  man  gerne  eine  Decke 
breite.  Wenn  ihr  aber  derartiges  passiere,  dann  nehme  sie 
es  leicht."  Frau  P.  mußte  nun  bekennen,  daß  an  diese 
Sätze  vor  der  letzten  Äußerung  ihre  Verstimmung  angeknüpft 


129 


hatte.  Da  sie  diese  beiden  Sätze,  die  eine  Erinnerung  an  ihr 
Verhältnis  zum  Bruder  wecken  konnte,  verdrängt  hatte  und 
niu"  den  bedeutungslosen  letzten  Satz  behalten,  mußte  sie  die 
Empfindung,  als  mache  ihr  die  Schwägerin  einen  Vorwurf, 
an  diesen  knüpfen,  und  da  der  Inhalt  desselben  keine  An- 
lehnung hierfür  bot,  warf  sie  sich  vom  Inhalt  auf  den  Ton, 
mit  dem  diese  Worte  gesprochen  worden  waren.  Ein  wahr- 
scheinlich typischer  Beleg  dafür,  daß  die  Mißdeutungen  der 
Paranoia  auf  einer  Verdrängung  beruhen. 

In  überraschender  Weise  löste  sich  auch  ihr  sonderbares 
Verfahren,  ihren  Bruder  zu  Zusammenkünften  zu  bestellen, 
bei  denen  sie  ihm  dann  nichts  zu  sagen  hatte.  Ihre  Erklärung 
lautete,  sie  habe  gemeint,  er  müsse  ihr  Leiden  verstehen,  wenn 
sie  ihn  bloß  ansehe,  da  er  um  die  Ursache  desselben  wisse.  Da 
nun  dieser  Bruder  tatsächlich  die  einzige  Person  war,  die  um 
die  Ätiologie  ihrer  Krankheit  wissen  konnte,  ergab  sich,  daß  sie 
nach  einem  Motiv  gehandelt  hatte,  das  sie  bewußt  zwar  selbst 
nicht  verstand,  das  aber  vollkommen  gerechtfertigt  erschien, 
sobald  man  ihm  einen  Sinn  aus  dem  Unbewußten  unterlegte. 

Es  gelang  mir  dann,  sie  zur  Reproduktion  der  ver- 
schiedenen Szenen  zu  veranlassen,  in  denen  der  sexuelle  Ver- 
kehr mit  dem  Bruder  (mindestens  vom  6.  bis  zum  10.  Jahre) 
gegipfelt  hatte.  Während  dieser  Eeproduktionsarbeit  sprach 
die  Organempfindung  im  Schöße  mit,  wie  es  bei  der  Analyse 
hysterischer  Erinnerungsreste  regelmäßig  beobachtet  wird. 
Das  Bild  eines  nackten  weiblichen  Schoßes  (jetzt  aber  auf 
kindliche  Proportionen  reduziert  und  ohne  Behaarung)  stellte 
sich  dabei  gleichfalls  ein  oder  blieb  weg,  je  nachdem  die 
betrefi'ende  Szene  bei  heUem  Lichte  oder  im  Dunkeln  vor- 
gefallen war.  Auch  der  Eß-Ekel  fand  in  einem  abstoßenden 
Detail  dieser  Vorgänge  seine  Erklärung.  Nachdem  wir  die 
Eeihe  dieser  Szenen  durchgemacht  hatten,  waren  die  hallu- 
zinatorischen Empfindungen  und  Bilder  verschwunden,  tun 
(wenigstens  bis  heute)  nicht  wiederzukehren.^) 


1)  Als  späterhin  eine  Exacerbation  die  ohnehin  spärlichen  Erfolge 
der  Behandlang  aufhob,  sah  sie  die  anstößigen  Bilder  fremder  Genitalien 
nicht  wieder,  sondern  hatte  die  Idee,  die  Fremden  sähen  ihre  Genitalien, 
sobald  sie  sich  hinter  ihr  befänden. 

Freud,  Neurosenielire.  " 


130 

Icii  hatte  also  gelernt,  daß  diese  Halluzinationen  niclits 
anderes  als  Stücke  aus  dem  Inhalte  der  verdrängten  Kinder- 
erlebnisse waren,  Symptome  der  Wiederkekr  des  Verdrängten. 

Nun  wandte  ich  mich  an  die  Analyse  der  Stimmen.  Hier 
war  vor  allem  zu  erklären,  daß  ein  so  gleichgiltiger  Inhalt 
„Hier  geht  die  Frau  P."  —  „Sie  sucht  jetzt  "Wohnung"  u.  dgl. 
von  ihr  so  peinlich  empfunden  werden  konnte;  sodann,  auf 
welchem  Wege  gerade  diese  harmlosen  Sätze  es  dazu  brachten, 
durch  halluzinatorische  Verstärkung  ausgezeichnet  zn  werden. 
Von  vornherein  war  klar,  daß  diese  „Stimmen"  nicht  hallu- 
zinatorisch reproduzierte  Erinnerungen  sein  konnten  wie  die 
Bilder  und  Empfindungen,  sondern  vielmehr  „laut  gewordene" 
Gedanken. 

Das  erstemal,  als  sie  Stimmen  hörte,  geschah  es  unter 
folgenden  Umständen.  Sie  hatte  mit  großer  Spannung  die 
schöne  Erzählung  von  0.  Ludwig,  Die  Heiterethei,gelesen 
und  bemerkt,  daß  sie  bei  der  Lektüre  von  aufsteigenden 
Gedanken  in  Anspruch  genommen  wurde.  Unmittelbar  darauf 
ging  sie  auf  der  Landstraße  spazieren,  und  nun  sagten  ihr 
plötzlich  die  Stimmen,  als  sie  an  einem  Bauernhäuschen  vor- 
überging: „So  hat  das  Haus  der  Heiterethei  ausgesehen!  Da 
ist  der  Brunnen,  und  da  der  Strauch !  Wie  glücklich  war  sie 
doch  bei  aU  ihrer  Armut!"  Dann  wiederholten  ihr  die  Stinamen 
ganze  Abschnitte,  die  sie  eben  gelesen  hatte;  aber  es  blieb 
unverständlich,  warum  Haus,  Strauch  und  Brunnen  der 
Heiterethei  und  gerade  die  belang-  und  beziehungslosesten 
Stellen  der  Dichtung  sich  ihrer  Aufmerksamkeit  mit  patho- 
logischer Stärke  aufdrängen  mußten.  Indes  war  die  Lösung 
des  Rätsels  nicht  schwer.  Die  Analyse  ergab,  daß  sie  während 
der  Lektüre  auch  andere  Gedanken  gehabt  hatte  und  durch 
ganz  andere  Stellen  des  Buches  angeregt  worden  war.  Gegen 
dieses  Material  —  Analogien  zwischen  dem  Paare  der  Dich- 
tung und  ihr  und  ihrem  Manne,  Erinnerungen  an  Intimitäten 
ihres  Ehelebens  und  an  Familiengeheimnisse  —  gegen  dies 
alles  hatte  sich  ein  verdrängender  Widerstand  erhoben,  weil 
es  auf  leicht  nachweisbaren  Gedankenwegen  mit  ihrer  sexuellen 
Scheu  zusammenhing  und  so  in  letzter  Linie  auf  die  Er- 
weckung der  alten  Kindererlebnisse  hinauskam.  Infolge  dieser 


131 

von  der  Verdrängung  geübten  Zensur  gewannen  die  harm- 
losen und  idyllisclien  Stellen,  die  mit  den  beanstandeten 
durcli  Kontrast  und  auch  durch  Vizinität  verknüpft  waren, 
die  Verstärkung  für  das  Bewußtsein,  die  ihnen  das  Lautwerden 
ermöglichte.  Der  erste  der  verdrängten  Einfälle  bezog  sich 
zum  Beispiel  auf  die  Nachrede,  der  die  vereinsamt  lebende 
Heldin  von  selten  der  Nachbarn  ausgesetzt  war.  Die  Analogie 
mit  ihrer  eigenen  Person  wurde  von  ihr  leicht  gefunden. 
Auch  sie  lebte  in  einem  kleinen  Orte,  verkehrte  mit  Niemand 
und  glaubte  sich  von  den  Nachbarn  mißachtet.  Dies  Mißtrauen 
gegen  ihre  Nachbarn  hatte  seinen  wirklichen  Grund  darin, 
daß  sie  anfangs  genötigt  war,  sich  mit  einer  kleinen  Wohnung 
zu  begnügen,  in  welcher  die  Schlafzimmerwand,  an  der  die 
Ehebetten  des  jungen  Paares  standen,  an  ein  Zimmer  der 
Nachbarn  stieß.  Mit  dem  Beginn  ihrer  Ehe  erwachte  in  ihr 
—  offenbar  durch  unbewußte  Erweckung  ihres  Kinderver- 
hältnisses, in  dem  sie  Mann  und  Frau  gespielt  hatten  —  eine 
große  sexuelle  Scheu;  sie  besorgte  beständig,  daß  die  Nach- 
barn "Worte  und  Geräusche  durch  die  trennende  Wand  ver- 
nehmen könnten,  und  diese  Scham  verwandelte  sich  bei  ihr 
in  Argwohn  gegen  die  Nachbarn. 

Die  Stimmen  verdankten  also  ihre  Entstehung  der  Ver- 
drängung von  Gedanken,  die  in  letzter  Auflösung  eigenthch 
Vorwürfe  anläßlich  eines  dem  Kindertrauma  analogen  Erleb- 
nisses bedeuteten ;  sie  waren  demnach  Symptome  der  Wieder- 
kehr des  Verdrängten,  aber  gleichzeitig  Folgen  eines  Kompro- 
misses zwischen  Widerstand  des  Ich  und  Macht  des  Wieder- 
kehrenden, der  in  diesem  Falle  eine  Entstellung  bis  zur 
Unkennthchkeit  herbeigeführt  hatte.  In  anderen  FäUen,  in 
denen  ich  Stimmen  bei  Frau  P.  zu  analysieren  Gelegenheit 
hatte,  war  die  Entstellung  minder  groß;  doch  hatten  die 
gehörten  Worte  immer  einen  Charakter  von  diplomatischer 
Unbestimmtheit;  die  kränkende  Anspielung  war  meist  tief 
versteckt,  der  Zusammenhang  der  einzelnen  Sätze  durch 
fremdartigen  Ausdruck,  ungewöhnliche  Sprachformen  u.  dgl. 
verkleidet:  Charaktere,  die  den  Gehörshalluzinationen  der 
Paranoiker  allgemein  eigen  sind,  und  in  denen  ich  die  Spur 
der  KompromißentsteUung  erbhcke.  Die  Rede:  „Da  geht  die 

9* 


132 


Frau  P.,  sie  sucht  Wohnung  in  der  Straße",  bedeutete  zum 
Beispiel  die  Drohung,  daß  sie  nie  genesen  werde,  denn  ich 
hatte  ihr  zugesagt,  daß  sie  nach  der  Behandlung  imstande 
sein  werde,  in  die  kleine  Stadt,  wo  ihr  Mann  beschäftigt 
war,  zurückzukehren;  sie  hatte  für  einige  Monate  in  "Wien 
provisorisch  Wohnung  gemietet. 

In  einzelnen  FäUen  vernahm  Frau  P.  auch  deutHchere 
Drohungen,  zum  Beispiel  in  betreff  der  Verwandten  ihres 
Mannes,  deren  zurückhaltender  Ausdruck  aber  immer  noch 
mit  der  Qual  kontrastierte,  welche  ihr  solche  Stimmen  be- 
reiteten. Nach  dem,  was  man  sonst  von  Paranoikem  weiß, 
bin  ich  geneigt,  ein  allmähliches  Erlahmen  jenes  die  Vorwürfe 
abschwächenden  Widerstandes  anzunehmen,  so  daß  endlich 
die  Abwehr  voll  mißhngt,  und  der  ursprüngliche  Vorwurf, 
das  Schimpfwort,  welches  man  sich  ersparen  wollte,  in  un- 
veränderter Form  zurückkehrt.  Indes  weiß  ich  nicht,  ob  dies 
ein  konstanter  Ablauf  ist,  ob  die  Zensur  der  Vorwurfsreden 
nicht  von  Anfang  an  ausbleiben  oder  bis  zum  Ende  aus- 
harren kann. 

Es  erübrigt  mir  nur  noch,  die  an  diesem  Falle  von  Panaroia 
gewonnenen  Aufklärungen  für  eine  Vergleichung  der  Paranoia 
mit  der  Zwangsneurose  zu  verwerten.  Die  Verdrängung  als  Kern 
des  psychischen  Mechanismus  ist  hier  wie  dort  nachgewiesen, 
das  Verdrängte  ist  in  beiden  Fällen  ein  sexuelles  Kindererlebnis. 
Jeder  Zwang  rührt  auch  bei  dieser  Paranoia  von  Verdrängung 
her ;  die  Symptome  der  Paranoia  lassen  eine  ähnHche  Klassi- 
fizierung zu,  wie  sie  sich  für  die  Zwangsneurose  als  berechtigt 
erwiesen  hat.  Ein  Teil  der  Symptome  entspringt  wieder  der 
primären  Abwehr,  nämlich  aUe  Wahnideen  des  Mißtrauens, 
Argwohns,  der  Verfolgung  durch  Andere.  Bei  der  Zwangs- 
neurose ist  der  initiale  Vorwurf  verdrängt  worden  durch  die 
Büdung  des  primären  Abwehrsymptoms :  Selbstmißtrauen. 
Dabei  ist  der  Vorwurf  als  berechtigt  anerkannt  worden,  und 
zur  Ausgleichung  schützt  nun  die  Geltung,  welche  sich  die 
Gewissenhaftigkeit  im  gesunden  Intervall  erworben  hat,  davor, 
dem  als  Zwangsvorstellung  wiederkehrenden  Vorwurf  Glauben 
zu  schenken.  Bei  Paranoia  wird  der  Vorwurf  auf  einem  Wege, 
den  man  als  Projektion  bezeichnen  kann,  verdrängt,  indem 


133 


das  Abwehrsymptom  des  Mißtrauens  gegen  Andere 
errichtet  wird;  dabei  wird  dem  Vorwurfe  die  Anerkennung 
entzogen,  und  wie  zur  Vergeltung  fehlt  es  dann  an  einem 
Schutze  gegen  die  in  den  Wahnideen  wiederkehrenden  Vorwürfe. 

Andere  Symptome  meines  Falles  von  Paranoia  sind  als 
Symptome  der  Wiederkehr  des  Verdrängten  zu  bezeichnen 
und  tragen  auch,  wie  die  der  Zwangsneurose,  die  Spuren  des 
Kompromisses  an  sich,  der  ihnen  allein  den  Eintritt  ins 
Bewußtsein  gestattet.  So  die  Wahnidee,  beim  Auskleiden 
beobachtet  zu  werden,  die  visuellen,  die  Empfindungshallu- 
zinationen und  das  Stimmenhören.  Nahezu  unveränderter,  nur 
durch  Auslassung  unbestimmt  gewordener  Erinnerungsinhalt 
findet  sich  in  der  erwähnten  Wahnidee  vor.  Die  Wiederkehr 
des  Verdrängten  in  visuellen  Bildern  nähert  sich  eher  dem 
Charakter  der  Hysterie  als  dem  der  Zwangsneurose,  doch 
pflegt  die  Hysterie  ihre  Erinnerungssymbole  ohne  Modifikation 
zu  wiederholen,  während  die  paranoische  Erinnerungshallu- 
zination eine  Entstellung  erfährt,  wie  sie  der  Zwangsneurose 
zukommt ;  ein  analoges  modernes  Büd  setzt  sich  an  die  Stelle 
des  verdrängten  (Schoß  einer  erwachsenen  Frau  anstatt  eines 
Kindes;  daran  sogar  die  Behaarung  besonders  deutlich,  weil 
diese  dem  ursprünglichen  Eindruck  fehlte).  Ganz  der  Paranoia 
eigentümlich  und  in  dieser  Vergleichung  weiter  nicht  zu  be- 
leuchten ist  der  Umstand,  daß  die  verdrängten  Vorwürfe  als 
lautgewordene  Gedanken  wiederkehren,  wobei  sie  sich  eine 
zweifache  Entstellung  gefallen  lassen  müssen,  eine  Zensur,  die 
zur  Ersetzung  durch  andere  assoziierte  Gedanken  oder  zur 
Verhüllung  durch  unbestimmte  Ausdrucksweise  führt,  und  die 
Beziehung   auf  moderne,    den   alten  bloß  analoge  Erlebnisse. 

Die  dritte  Gruppe  der  bei  Zwangsneurose  gefundenen 
Symptome,  die  Symptome  der  sekundären  Abwehr,  kann  bei 
der  Paranoia  nicht  als  solche  vorkanden  sein,  da  sich  gegen 
die  wiederkehrenden  Symptome,  die  ja  Glauben  finden,  keine 
Abwehr  geltend  macht.  Zum  Ersätze  hierfür  findet  sich  bei 
Paranoia  eine  andere  Quelle  für  Symptombildung;  die  durch 
das  Kompromiß  ins  Bewußtsein  gelangten  Wahnideen  (Symp- 
tome der  Wiederkehr)  stellen  Anforderungen  an  die  Denkarbeit 
des  Ich,   bis   daß   sie   widerspruchsfrei   angenommen  werden 


134 


können.  Da  sie  selbst  unbeeiniiußbar  wird,  muß  das  Ich  sich 
ihnen  anpassen,  und  somit  entspricht  den  Symptomen  der 
sekundären  Abwehr  bei  der  Zwangsneurose  hier  die  kombi- 
natorische Wahnbüdung,  der  Deutungswahn,  der  in  die 
Ichveränderung  ausläuft.  Mein  Fall  war  in  dieser  Hinsicht 
unvollständig;  er  zeigte  damals  noch  nichts  von  Deutungs- 
versuchen, die  sich  erst  später  einstellten.  Ich  zweifle  aber 
nicht  daran,  daß  man  noch  ein  wichtiges  Resultat  wird  fest- 
stellen können,  wenn  man  die  Psychoanalyse  auch  auf  dieses 
Stadium  der  Paranoia  anwendet.  Es  dürfte  sich  ergeben,  daß 
auch  die  sogenannte  Erinnerungsschwäche  der Paranoiker 
eine  tendenziöse,  das  heißt  auf  Verdrängung  beruhende 
und  ihren  Absichten  dienende  ist.  Es  werden  nachträglich 
jene  gar  nicht  pathogenen  Erinnerungen  verdrängt  und  er- 
setzt, die  mit  der  Ichveränderung  in  "Widerspruch  stehen, 
welche  die  Symptome  der  Wiederkehr  gebieterisch  erfordern. 


IX. 

L'heredite  et  Tetiologie  des  N^vrosesO. 

Je  m'adresse  specialement  aux  disciples  de  J.-M.  Charcot 
pour  faire  valoir  quelques  objections  contre  la  theorie  etio- 
logique  des  nevroses  qui  nous  a  ete  transmise  par  notre  maitre. 

On  sait  quel  est  le  röle  attribue  ä  l'heredite  nerveuse 
dans  cette  theorie.  Elle  est  pours  les  afFections  nevrosiques 
la  seule  cause  vraie  et  indispensable,  les  autres  influences 
etiologiques  ne  devant  aspirer  qu'au  nom  d'agents  provocateurs. 

Ainsi  le  maitre  lui-meme  et  ses  eleves,  MM.  Guinon, 
Gilles  de  la  Tourette,  Janet  et  d'autres  l'ont  enonce  pour  la 
grande  nevrose,  l'liysterie  et,  je  crois,  la  meme  opinion  est 
soutenue  en  France  et  un  peu  partout  pour  les  autres  nevroses, 
bien  qu'elle  n'ait  pas  ete  emise  d'une  maniere  aussi  solenneUe 
et  decidee  pour  ces  etats  analogues  ä  l'liysterie. 

C'est  depuis  longtemps  que  j'entretiens  quelques  soupcons 
dans  cette  matiere,  mais  il  m'a  fallu  attendre  pour  trouver  des 
faits  d'appui  dans  l'experience  journaliere  du  medecin.  Main- 
tenant  mes  objections  sont  d'un  double  ordre,  arguments  de 
faits  et  arguments  tires  de  la  speculation.  Je  commencerai 
par  les  premiers,  en  les  arrangeant  selon  l'importance  que  je 
leur  concede. 

I.  —  a)  On  a  parfois  juge  comme  nerveuses  et  demon- 
stratives d'une  tendance  nevropathique  hereditaire,  des  affections 
qui  assez  souvent  sont  etrangeres  au  domaine  de  la  neuro- 
pathologie  et  ne  dependent  pas  necessairement  d'une  maladie 
du  Systeme  nerveux.  Ainsi  les  nevralgies  vraies  de  la  face  et 
nombre  des  cephalees,  qu'on  croyait  nerveuses,  mais  qui  derivent 
plutöt    des    alterations   pathologiques   post-infectieuses  et  des 


1)  Revue  neurologique,  IV.,  1896. 


136 


suppurations  dans  le  Systeme  cavitaire  pharyngo-nasal.  Je  me 
tiens  persuade,  que  les  malades  en  profiteraient  si  nous  aban- 
donnions  plus  souvent  le  traitement  de  ces  affections  aux 
chirurgiens  rliinologistes. 

h)  On  a  accept^  comme  donnant  Heu  a  la  charge  de  tare 
nerveuse  hereditaire  pour  le  malade  en  question  toutes  les 
affections  nerveuses  trouvees  dans  sa  famille  sans  en  compter 
la  frequence  et  la  gravite.  N'est-ce  pas  que  cette  maniere  de 
voir  semble  contenir  une  Separation  nette  entre  les  familles 
indemnes  de  toute  predisposition  nerveuse  et  les  familles 
qui  y  soient  sujettes  sans  borne  ni  restriction?  Et  les  faits  ne 
plaident-ils  pas  plutöt  en  faveur  de  l'opinion  opposee,  savoir 
qu'il  y  ait  des  transitions  et  des  degres  de  disposition  nerveuse 
et  qu'aucune  famille  n'y  echappe  tout  a  fait? 

c)  Assurement  notre  opinion  sur  le  role  etiologique  de 
rberedite  dans  les  maladies  nerveuses  doit  etre  le  resultat  d'un 
examen  impartial  statistique  et  non  pas  d'viiie  peiitio  prindpU. 
Tant  que  cet  examen  n'aura  pas  ete  fait  on  devrait  croire  Texi- 
stence  des  nevropathies  acquises  aussi  possible  que  celle  des 
nevropathies  hereditaires.  Mais  s'il  peut  y  avoir  des  nevropathies 
acquises  par  des  hommes  non  predisposes,  on  ne  pourra  plus 
nier  que  les  affections  nerveuses  rencontrees  chez  les  parents 
de  notre  malade,  ne  soient  en  partie  de  cette  origine.  Alors 
on  ne  saura  plus  les  invoquer  comme  preuves  concluantes 
de  la  disposition  hereditaire,  qu'on  impose  au  malade  ä  raison 
de  son  histoire  familiale,  puisque  le  diagnostic  retrospectif 
des  maladies  des  ascendants  ou  des  membres  absents  de  la 
famille  ne  reussit  que  tres  rarement. 

d)  Ceux  qui  se  sont  attach.es  a  M.  Fournier  et  a  M.  Erb 
concernant  le  role  etiologique  de  la  syphilis  dans  le  tabes 
dorsal  et  la  paralysie  progressive,  ont  appris  qu'il  faut  recon- 
naitre  des  influences  etiologiques  puissantesdontlacollaboration 
est  indispensable  pour  la  pathogenie  de  certaines  maladies, 
que  l'heredite  ä  eile  seule  ne  saurait  produire.  Cependant 
M.  Cbarcot  est  demeure  jusqu'ä  son  dernier  temps,  comme 
j'ai  SU  par  une  lettre  privee  du  maitre,  en  stricte  Opposition 
contre  la  tbeorie  de  Fournier  qui  pourtant  gagne  du  terrain 
de  jour  en  jour. 


137 


e)  n  n'est  pas  douteux  que  certaines  nevropathies  peuvent 
se  developper  chez  rhomme  parfaitement  sain  et  de  famille 
irreprocliable.  C'est  ce  qu'on  observe  tous  les  jours  pour  la 
nevrasthenie  de  Beard ;  si  la  nevrasthenie  se  bornait  aux  gens 
predisposes  eile  n'aurait  jamais  gagne  l'importance  et  l'etendue 
que  nous  lui  connaissons. 

/)  H  y  a  dans  la  pathologie  nerveuse,  hlteredite  similaire 
et  l'heredite  dite  dissimilaire.  Pour  la  premiere  on  ne  trouvera 
rien  a  redire;  c'est  meme  tr^s  remarquable,  que  dans  les 
a£fections  qui  dependent  de  l'heredite  similaire  (maladie  de 
Thomsen,  de  Friedreich;  myopathies,  choree  de  Huntington  etc.) 
on  ne  rencontre  jamais  la  trace  d'une  autre  influence  etio- 
logique  accessoire.  Mais  l'heredite  dissimilaire,  beaucoup  plus 
importante  que  l'autre,  laisse  des  lacunes  qu'ü  faudrait  combler 
pour  arriver  ä  une  Solution  satisfaisante  des  probl^mes  etiolo- 
giques.  Elle  consiste  dans  le  fait  que  les  membres  de  la  meme 
famille  se  montrent  visites  par  les  nevropathies  les  plus  diverses, 
fonctionnelles  et  organiques,  sans  qu'on  puisse  d^voiler  une  loi 
qui  dirige  la  Substitution  d'une  maladie  pour  une  autre  ou 
l'ordre  de  leur  succession  a  travers  les  generations.  A  cote 
des  individus  malades  il  y  a  dans  ees  familles  des  personnes 
qui  restent  saines,  et  la  theorie  de  l'heredite  dissimilaire  ne 
nous  dit  pas  pourquoi  cette  personne  supporte  la  meme  Charge 
hereditaire  sans  y  succomber,  ni  pourquoi  une  autre  personne 
malade  aui-a  choisi,  parmi  les  affections  qui  constituent  la 
grande  famille  nevropathique,  une  teile  affection  nerveuse  au 
lieu  d'en  avoir  choisi  une  autre,  l'hysterie  au  lieu  de  l'epüepsie, 
de  la  vesanie,  etc.  Comme  ü  n'y  a  pas  une  fortuite,  en  patho- 
genie  nerveuse  pas  plus  qu'aüleurs,  ü  faut  bien  conceder  que 
ce  n'est  pas  l'heredite  qui  preside  au  choix  de  la  nevropathie 
qui  se  developpera  chez  le  membre  d'une  famille  predispose, 
mais  qu'il  y  a  Ueu  de  soupconner  l'existence  d'autres  influences 
etiologiques,  d'une  nature  moins  imcomprehensible,  qui  meri- 
teraient  alors  le  nom  d'une  etiologie  specißque  de  teile  ou  teile 
affection  nerveuse.  Sauf  l'existence  de  ce  facteur  etiologique 
special  l'heredite  n'aurait  pu  rien  faire;  eile  se  serait  pretee 
ä  la  production  d'une  autre  nevropathie  si  l'etiologie  specifique 
en  question  avait  ete  substituee  par  une  influence  quelqu'autre. 


138 


n.  —  On  a  trop  peu  recherche  ces  causes  specifiques 
et  determinantes  des  nevropathies,  l'attention  des  medecins 
demeurant  eblouie  par  la  grandiose  perspective  de  la  condition 
etiologique  hereditaire. 

Neanmoins  elles  m^ritent  bien  qu'on  les  rende  l'objet 
d'une  etude  assidue ;  bien  que  leur  puissance  patliogenique 
ne  soit  en  general  qu'accessoire  ä  celle  de  l'heredite,  un  grand 
interet  pratique  se  rattache  ä  la  connaissance  de  cette  etio- 
logie  specifique  qui  pretera  un  acc^s  a  notre  travail  thera- 
peutique,  tandis  que  la  disposition  hereditaire,  fixee  d'avance 
pour  le  malade  des  sa  naissance,  arrete  nos  efforts  en  pouvoir 
inabordable. 

Je  me  suis  engage  depuis  des  annees  dans  la  recherche 
de  l'etiologie  des  grandes  nevroses  (etats  nerveux  fonctionnels 
analogues  ä  l'hysterie)  et  c'est  le  resultat  de  ces  etudes  que 
je  raconterai  dans  les  lignes  qui  vont  suivre.  Pour  eviter  tout 
malentendu  possible  j'exposerai  d'abord  deux  remarques  sur 
la  nosographie  des  nevroses  et  sur  l'etiologie  des  nevroses 
en  general. 

n  m'a  fallu  commencer  mon  travail  par  une  innovation 
nosographique.  A  cöte  de  l'hysterie  j'ai  trouve  raison  de  placer 
la  nevrose  des  obsessions  (Zwangsneurose)  comme  affection 
autonome  et  independante,  bien  que  la  plupart  des  auteurs 
fassent  ranger  les  obsessions  parmi  les  Syndromes  constituant 
la  degenerescence  mentale  ou  les  confondent  avec  la  nevra- 
sthenie.  Moi,  j'avais  appris  par  l'examen  de  leur  mecanisme 
psychique,  que  les  obsessions  sont  liees  ä  l'hysterie  plus 
etroitement  qu'on  ne  croirait. 

Hysterie  et  nevrose  d'obsessions  forment  le  premier 
groupe  des  grandes  nevroses,  que  j'ai  etudiees.  Le  second 
contient  la  nevrasthenie  de  Beard  que  j'ai  decomposee  en 
deux  etats  fonctionnels  separes  par  l'etiologie  comme  par 
l'aspect  symptomatique,  la  nevrasthenie  propre  et  la  nevrose 
ä'angoisse  (Angstneurose),  denomination  qui,  soit  dit  en  passant, 
ne  me  convient  pas  ä  moi-meme.  J'ai  donne  les  raisons 
de  cette  Separation,  que  je  crois  necessaire,  en  detaü 
dans  un  memoire  publie  en  1895.  {Neurologisches  Centralhlatt, 
n«  10-11). 


139 


Quant  ä  l'etiologie  des  nevroses,  je  pense  qu'on  doit 
recomiaitre  en  theorie  que  les  influences  etiologiques  diffe- 
rentes  entre  elles  par  lettr  dignite  et  maniere  de  relation 
avec  l'effet  qu'elles  produisent,  se  laissent  ranger  en  trois 
classes:  1)  Conditions,  qui  sont  indispensables  pour  la  pro- 
duction  de  l'affection  en  question,  mais  qui  sont  de  nature 
universelle  et  se  recontrent  aussi  bien  dans  l'etiologie  de 
beaucoup  d'autres  affections;  2)  Causes  concurrentes,  qui  par- 
tagent  le  caractere  des  conditions  qu'elles  fonctionnent  dans 
la  causation  d'autres  affections  aussi  bien  que  dans  celle  de 
l'affection  en  question,  mais  qui  ne  sont  pas  indispensables, 
pour  que  cette  derniere  se  produise ;  3)  Causes  specißques, 
autant  indispensables  que  les  conditions,  mais  de  nature 
etroite  et  qui  n'apparaissent  que  dans  l'etiologie  de  l'affection, 
de  laqueUe  elles  sont  specifiques. 

Eh  bien,  dans  la  Pathogenese  des  grandes  nevroses 
l'heredite  rempHt  le  role  d'une  condiüon,  puissante  dans  tous 
les  cas  et  meme  indispensable  dans  la  plupart  des  cas.  Elle 
ne  saurait  se  passer  de  la  collaboration  des  causes  specifiques, 
mais  l'importance  de  la  disposition  hereditaire  se  trouve 
demontree  par  le  fait  que  les  memes  causes  specifiques 
agissant  sur  un  individu  sain  ne  produiraient  aucun  effet 
pathologique  manifeste  pendant  que  chez  une  personne  pre- 
disposee  leur  action  fera  eclore  la  nevrose,  de  laquelle  le 
developpement  en  intensite  et  etendue  sera  conforme  au 
degre  de  cette  condition  hereditaire. 

L'action  de  l'heredite  est  donc  comparable  ä  celle  du  fil  multi- 
pHcateur  dans  le  circuit  electrique,  qui  exagere  la  deviation  visible 
de  l'aiguille,  mais  qui  ne  pourra  pas  en  determiner  la  direction. 
Dans  les  relations  qui  existent  entre  la  condition  here- 
ditaire et  les  causes  specifiques  des  nevroses  il  y  a  encore 
autre  chose  ä  noter.  L'experience  montre,  ce  qu'on  aurait 
pu  supposer  d'avance,  qu'on  ne  devrait  pas  negliger  dans 
ces  questions  d'etiologie  les  quantites  relatives  pour  ainsi 
dire  des  influences  etiologiques.  Mais  on  n'aurait  pas  devine 
le  fait  suivant,  qui  semble  decouler  de  mes  observations,  que 
l'heredite  et  les  causes  specifiques  peuvent  se  remplacer  par 
le  cöte  quantitatif,  que  le  meme  effet  pathologique  sera  pro- 


140 


duit  par  la  concurrence  d'une  etiologie  specifique  tr^s  serieuse 
avec  Tine  disposition  mediocre  ou  d'une  heredite  nerveuse 
chargee  avec  une  influence  specüique  legere.  Alors  ce  n'est 
qu'un  extreme  bien  plausible  de  cette  serie,  qu'on  rencontre 
aussi  des  cas  de  nevroses,  oü  on  cbercliera  en  vain  un  degre 
appreciable  de  disposition  hereditaire,  pourvu  que  ce  manque 
soit  compense  par  une  puissante  influence  specifique. 

Conune  causes  concurrentes  ou  accessoires  des  nevroses, 
on  peut  enumerer  tous  les  agents  banals  rencontres  ailleurs : 
emotions  morales,  epuissement  somatique,  maladies  aigues, 
intoxications,  accidents  traumatiques,  surmenage  intellec- 
tuel,  etc.  Je  tiens  ä  la  proposition  qu'aucun  d'eux,  ni  meme 
le  dernier,  n'entre  regulierement  ou  necessairement  dans 
l'etiologie  des  nevroses,  et  je  sais  bien  qu'enoncer  cette 
opinion  c'est  se  mettre  en  Opposition  directe  contre  une 
theorie  consideree  comme  universelle  et  irreprochable.  Depuis 
que  Beard  avait  declare  la  nevrasthenie  etre  le  fruit  de  notre 
civilisation  moderne,  il  n'a  trouve  que  des  croyants;  mais  il 
m'est  impossible  ä  moi  d'accepter  cette  opinion.  Une  etude 
laborieuse  des  nevroses  m'a  appris  que  l'etiologie  specifique 
des  nevroses  s'est  soustraite  ä  la  connaissance  de  Beard. 

Je  ne  veux  pas  deprecier  l'importance  etiologique  de 
ces  agents  banals.  Ils  sont  tres  varies,  d'une  occurrence  fre- 
quente,  et  accuses  le  plus  souvent  par  les  malades  memes, 
ils  se  rendent  plus  evidents  que  les  causes  specifiques  des 
nevroses,  etiologie  ou  cach.ee  ou  ignoree.  Ils  remplissent 
assez  souvent  la  fonction  des  agents  provocateurs  qui  rendent 
manifeste  la  nevrose  jusque-lä  latente,  et  un  interet  pratique 
86  rattache  ä  eux,  parce  que  la  consideration  de  ces  causes 
banales  peut  preter  des  points  d'appui  ä  une  tberapie  qui 
ne  vise  pas  la  guerison  radicale,  et  qui  se  contente  de 
refouler  l'affection  ä  son  etat  anteriem-  de  latence. 

Mais  on  n'arrive  pas  a  constater  une  relation  constante 
et  etroite  entre  une  de  ces  causes  banales  et  teile  ou  autre 
affection  nerveuse;  1' emotion  morale,  par  exemple,  se  trouve 
aussi  bien  dans  l'etiologie  de  l'bysterie,  des  obsessions,  de 
la  nevrastbenie,  comme  dans  celle  de  l'epilepsie,  de  la  maladie 
de  Parkinson,  du  diabete,  et  nombre  d'autres. 


141 


Les  causes  concurrentes  banales  pourront  aussi  remplacer 
l'etiologie  specifique  en  rapport  de  quantite,  mais  jamais  la 
substituer  completement.  D  y  a  nombre  de  cas  oü  toutes 
les  influeiices  etiologiques  sont  representees  par  la  condition 
hereditaire  et  la  cause  specifique,  les  causes  banales  faisant 
defaut.  Dans  les  autres  cas,  les  facteurs  etiologiques  indis- 
pensables ne  suffisent  pas  par  leur  quantite  ä  eux  pour  faire 
eclater  la  nevrose,  un  etat  de  sante  apparente  peut  etre 
maintenu  pour  longtemps,  qui  est  en  verite  un  etat  de  pre- 
disposition  nevrosique;  il  suffit  alors  qu'une  cause  banale 
surajoute  son  action,  la  nevrose  devient  manifeste.  Mais  ü 
faut  bien  remarquer,  dans  de  telles  conditions,  que  la  nature 
de  l'agent  banal  survenant  est  tout  ä  fait  indifferente,  emotion, 
traumatisme,  maladie  infectieuse  ou  autre ;  l'effet  pathologique 
ne  sera  pas  modifie  selon  cette  Variation,  la  nature  de  la  nevrose 
sera   toujours    dominee   par  la  cause   specifique  preexistante. 

Quelles  sont  donc  ces  causes  specifiques  des  nevroses? 
Est-ce  une  seule  ou  y  en  a-t-il  plusieurs?  Et  peut-on  constater 
une  relation  etiologique  constante  entre  teile  cause  et  tel 
effet  nevrosique,  de  maniere  que  chacune  des  grandes  nevroses 
puisse  etre  ramenee  ä  une  etiologie  particuliere? 

Je  veux  maintenir,  appuye  sur  un  examen  laborieux 
des  faits,  que  cette  derniere  supposition  correspond  bien  k 
la  realite,  que  chacune  des  grandes  nevroses  enumerees  a 
pour  cause  immediate  un  trouble  particuHer  de  l'economie 
nerveuse,  et  que  ces  modifications  pathologiques  fonctionnelles 
reconnaissent  comme  source  commune  la  vie  sexuelle  de  Vmäividu, 
soit  desordre  de  la  vie  sexuelle  actuelle,  soit  evenements  importants 
de  la  vie  passee, 

Ce  n'est  pas,  ä  vrai  dire,  une  proposition  nouvelle,  inoui'e. 
On  a  toujoui's  admis  les  desordres  sexuels  parmi  les  causes 
de  la  nervosite,  mais  on  les  a  subordonnes  ä  l'heredite, 
coordonnes  aux  autres  agents  provocateurs ;  on  a  restreint 
leur  iniluence  etiologique  ä  un  nombre  limite  des  cas  observes. 
Les  medecins  avaient  meme  pris  l'habitude  de  ne  pas  les 
rechercher  si  le  malade  ne  les  accusait  lui-meme.  Les  carac- 
teres  distinctifs  de  ma  maniere  de  voir  sont  que  j'eleve  ces 
influences   sexuelles    au  rang   de   causes   specifiques,    que  je 


142 


reconnais  leur  action  dans  tous  les  cas  de  nevrose,  eniin 
que  je  trouve  un  parallelisme  regulier,  preuve  de  relation 
etiologique  particuliere  entre  la  nature  de  l'influence  sexuelle 
et  l'espece  morbide  de  la  nevrose. 

Je  suis  bien  sür  que  cette  theorie  evoquera  un  orage 
de  contradictions  de  la  part  des  medecins  contemporains.  Mais 
ce  n'est  pas  ici  le  lieu  de  donner  les  docmnents  et  les  ex- 
periences,  qui  m'ont  impose  ma  conviction,  ni  d'expliquer  le 
vrai  sens  de  l'expression  un  peu  vague  „desordres  de  l'econo- 
mie  nerveuse".  Ce  sera  fait,  j'espere  le  plus  amplement,  dans 
un  ouvrage  que  je  prepare  sur  la  mati^re.  Dans  le  memoire 
present  je  me  borne  a  enoncer  mes  resultats. 

La  nevrastbenie  propre,  d'un  aspect  clinique  tres  mono- 
tone, si  l'on  a  mis  ä  part  la  nevrose  d'angoisse  (fatigue,  Sen- 
sation de  casque,  dyspepsie  flatulente,  Obstipation,  paresthesies 
spinales,  faiblesse  sexuelle  etc.)  nereconnait  comme  etiologie  spe- 
cifique  que  l'onanisme  (immodere)  ou  les  pollutions  spontanees. 

C'est  l'action  prolongee  et  intensive  de  cette  satisfaction 
sexuelle  pernicieuse  qui  suffit  ä  elle-meme  pour  provoquer  la 
nevrose  nevrastbenique  ou  qui  impose  ä  ce  sujet  le  cacbet 
nevrasthenique  special  manifeste  plus  tard  sous  Tiniluence 
d'une  cause  occasionelle  accessoire.  J'ai  rencontre  aussi  des 
personnes  qui  presentaient  les  signes  de  la  Constitution  nev- 
rastbenique cbez  lesquels  je  n'ai  pas  reussi  ä  mettre  en  evi- 
dence  l'etiologie  nommee,  mais  j'ai  constate  au  moins  que 
cbez  ces  malades  la  fonction  sexuelle  n'etait  jamais  developpee 
au  niveau  normal;  ils  semblaient  doues  par  beritage  d'une 
Constitution  sexuelle,  analogue  ä  celle  qui  cbez  le  nevras- 
tbenique est  produite  en  consequence  de  l'onanisme. 

La  nevrose  d'angoisse,  de  laquelle  le  tableau  clinique 
est  beaucoup  plus  riebe  (irritabilite,  etat  d'attente  anxieuse, 
pbobies,  attaques  d'angoisse  completes  ou  rudimentaires,  de 
peur,  de  vertige,  tremblements,  sueurs,  congestion,  dyspnee, 
tacbycardie  etc. ;  diarrbee  cbronique,  vertige  cbronique  de 
locomotion,    hyperestbesie,    insomnies    etc.)  ^)    est    facilement 

1)  Voir  pour  la  Symptomatologie  comme  l'etiologie  de  la  nevrose 
d'angoisse,  mon  memoire  cite  plus  haut.  Neurologisches  Centralblatt, 
1895,  n»  10-11. 


143 


devoilee  comme  l'eifet  specifique  de  divers  desordres  de  la 
vie  sexuelle,  qui  ne  manquent  pas  d'un  caractere  commun  ä 
eux  tous.  L'abstinence  forcee,  l'irritatioii  genitale  fruste  (qui 
n'est  pas  assouvie  par  l'acte  sexuel),  le  co'it  imparfait  ou 
interrompu  (qui  n'aboutit  pas  ä  la  jouissance),  les  efforts 
sexuels,  qui  surpassent  la  capacite  psychique  du  sujet  etc., 
tous  ces  agents,  qui  sont  d'une  occurrence  trop  frequente 
dans  la  vie  moderne,  semblent  convenir  en  ce  qu'ils  troublent 
requilibre  des  fonctions  psychiques  et  somatiques  dans  les 
actes  sexuels,  et  qu'ils  empecbent  la  participation  psycliique 
necessaire  pour  delivrer  l'economie  nerveuse  de  la  tension 
genesique. 

Ces  remarques,  qui  contiennent  peut-etre  le  germe  d'une 
explication  theorique  du  mecanisme  fonctionnel  de  la  nevrose 
en  question,  laissent  dejä  soup9onner,  qu'une  exposition  com- 
plete  et  vraiment  scientifique  de  la  mati^re  ne  soit  pas  pos- 
sible  actuellement  et  qu'il  faudrait  avant  tout  ab  Order  le 
Probleme  physiologique  de  la  vie  sexuelle  sous  un  point  de 
vue  nouveau. 

Je  finis  par  dire,  que  la  Pathogenese  de  la  nevrasthenie 
et  de  la  nevrose  d'angoisse  peut  se  passer  bien  de  la  con- 
currence  d'une  disposition  hereditaire.  C'est  le  resultat  de 
l'observation  de  tous  les  jours;  mais  si  l'heredite  est  presente, 
le  developpement  de  la  nevrose  en  subira  'influence  formidable. 

Pour  la  deuxieme  classe  des  grandes  nevroses,  hysterie 
et  nevrose  d'obsessions,  la  Solution  de  la  question  etiologique 
est  d'une  simplicite  et  uniformite  surprenante.  Je  dois  mes 
resultats  ä  l'emploi  d'une  nouvelle  methode  de  psycho-analyse, 
au  procede  explorateur  de  J.  Breuer,  un  peu  subtil,  mais 
qu'on  ne  saurait  remplacer,  tant  il  s'est  montre  fertile  pour 
eclaircir  les  voies  obscures  de  l'ideation  inconsciente.  Au 
moyen  de  ce  procede  —  qu'il  ne  faut  pas  decrire  ä  cet  en- 
droit  ^)  —  ou  poursuit  les  symptomes  hysteriques  jusqu'ä  leur 
origine  qu'on  trouve  toutes  les  fois  dans  un  evenement  de  la 
vie  sexuelle  du  suj  et  bien  approprie  pour  produire  une  emotion 
penible,   Allant   en    arriere   dans   le  passe  du  malade,  de  pas 

^)  Voir:  J.  Breuer  und  Sigm.  Freud.  Studien  über  Hysterie. 
Wien,  1895. 


144 


en  pas,  et  toujoiu's  dirige  par  renchainement  organique  des 
symptömes,  des  Souvenirs  et  des  pensees  eveilles,  je  suis  arrive 
enfin  au  point  de  depart  du  processus  pathologique  et  il  m'a 
faüu  voir,  qu'il  y  avait  au  fond  la  meme  chose  dans  tous 
les  cas  soumis  ä  l'analyse,  Pactioii  d'un  agent,  qu'il  faut  ac- 
cepter  comme  cause  specifique  de  rhysterie. 

C'est  bien  un  souvenir  qui  se  rapporte  ä  la  vie  sexuelle, 
mais  qui  offre  deux  caracteres  de  la  derni^re  importance. 
L'evenement  duquel  le  sujet  a  garde  le  souvenir  inconscient 
est  une  expericnce  ijrecoce  de  rapports  sexiiels  avec  irritation 
veritable  des  parties  genitales,  suite  d'abus  sexual  pratique  par  une 
autre  personne  et  la  periode  de  la  vie  qui  renferme  cet  evene- 
ment  funeste  est  la  premiere  jeunesse,  les  annees  jusqu'ä  Tage 
de  8-10  ans,  avant  que  l'enfant  soit  arrive  ä  la  maturite 
sexuelle. 

Experience  de  passivite  sexuelle  avant  la  puherte:  teile  est 
donc  l'etiologie  specifique  de  l'hysterie. 

Je  joindrai  sans  retard  quelques  details  de  faits  et  quel- 
ques remarques  commentaires  au  resultat  enonce,  pour  com- 
battre  la  mefiance  que  j'attends.  J'ai  pu  pratiquer  la  psycho- 
analyse  complete  en  13  cas  d'hysterie,  3  de  ce  nombre  com- 
binaisons  vraies  d'hysterie  avec  nevrose  d'obsessions  (je  ne 
dis  pas:  hysterie  avec  obsessions).  Dans  aucun  de  ces  cas  ne 
manquait  l'evenement  caracterise  lä-haut;  il  etait  represente 
ou  par  un  attentat  brutal  commis  par  une  personne  adulte 
QU  par  une  seduction  moins  rapide,  et  moins  repoussante, 
mais  aboutissant  ä  la  meme  fin.  Sept  fois  sur  treize  il  s'agissait 
d'une  liaison  infantile  des  deux  cötes,  de  rapports  sexuels 
entre  une  petite  fiUe  et  un  garcon  un  peu  plus  äge,  le  plus 
souvent  son  frere,  et  lui-meme  victime  d'une  seduction  an- 
terieure.  Ces  liaisons  s'etaient  continuees  quelquefois  pendant 
des  annees  jusqu'ä  la  puberte  des  petits  coupables,  le  gar9on 
repetant  toujours  et  sans  Innovation  sur  la  petite  fille  les 
memes  pratiques,  qu'il  avait  subi  lui-meme  de  la  part  d'une 
servante  ou  gouvernante,  et  qui  pour  cause  de  cette  origine 
etaient  souvent  de  nature  degoütante.  Dans  quelques  cas  il 
y  avait  concurrence  d'attentat  et  de  liaison  infantile,  ou  abus 
brutal  r eitere. 


145 


La  date  de  Fexperience  precoce  etait  variable :  en  2  cas 
la  Serie  commeii9ait  dans  la  deuxieme  annee  (?)  du  petit  etre ; 
Tage  de  preference  est  dans  mes  observatioiis  la  quatrieme 
ou  cinquieme  annee.  C'est  peut-etre  iin  peu  par  accident, 
mais  j'ai  recu  de  la  l'impression  qu'un  evenement  de  passivite 
sexuelle  qui  n'arrive  qu'apres  Tage  de  8  ä  10  ans,  ne  pourra 
plus  jeter  les  fondements  de  la  nevrose. 

Comment  peut-on  rester  convaincu  de  la  realite  de  ces 
confessions  d'analyse  qui  pretendent  etre  des  Souvenirs  con- 
serves  depuis  la  prämiere  enfance,  et  comment  se  munir  contre 
l'inclination  de  mentir  et  la  facüite  d'invention  attribuees 
aux  hysteriques?  Je  m'accuserais  de  creduKte  blamable  moi- 
meme,  si  je  ne  disposais  de  preuves  plus  concluantes.  Mais 
c'est  que  les  malades  ne  racontent  jamais  ces  histoires  spon- 
tenement,  ni  ne  vont  jamais  dans  le  cours  d'un  traitement 
offrir  au  medecin  tout  d'un  coup  le  souvenir  complet  d'une 
teile  scene.  On  ne  reussit  a  reveiller  la  trace  psychique  de 
l'evenement  sexuel  precoce  que  sous  la  pression  la  plus  ener- 
gique  du  procede  analyseur  et  contre  une  resistance  enorme, 
aussi  faut-il  leur  arracber  le  souvenir  morceau  par  morceau, 
et  pendant  qu'il  s'eveille  dans  leur  conscience,  ils  devien- 
nent  la  proie  d'une  emotion  difficile  ä  contrefaire. 

On  finira  meme  par  se  convaincre  si  l'on  n'est  pas  in- 
fluence  par  la  conduite  des  malades,  pourvu  qu'on  puisse  suivre 
en  detail  le  cours  d'une  psycho-analyse  d'hysterie  par  refere. 

L'evenement  precoce  en  question  a  laisse  une  empreinte 
imperissable  dans  l'liistoire  du  cas,  il  y  est  represente  par  une 
foule  de  symptömes  et  de  traits  particuliers,  qu'on  ne  saurait 
expKquer  autrement;  il  est  exige  d'une  maniere  peremptoire 
par  renchainement  subtil  mais  solide  de  la  structure  intrinseque 
de  la  nevrose ;  l'effet  therapeutique  de  l'analyse  reste  en  retard, 
si  l'on  n'a  pas  penetre  aussi  loin;  alors  on  n'a  pas  d'autre 
choix  que  de  refuter  ou  de  croire  le  tout  ensemble. 

Peut-on  comprendre,  qu'une  teile  experienee  sexuelle 
precoce,  subie  par  un  individu,  duquel  le  sexe  est  ä  peine 
differencie,  devienne  la  source  d'une  abnormite  psychique 
persistante  comme  l'hysterie?  Et  comment  s'accorderait  une 
teile  supposition  avec   nos    idees    actuelles   sur   le  mecanisme 

Freud,  Neurosenlehre.  10 


146 


psycHque  de  cette  nevrose?  On  peut  donner  une  response 
satisfaisante  ä  la  premiere  question:  C'est  justement  parce  que 
le  sujet  est  infantile,  que  l'irritation  sexuelle  precoce  produit 
nul  ou  peu  d'effet  a  sa  date,  mais  la  trace  psychique  en  est 
conservee.  Plus  tard,  quand  a  la  puberte  se  sera  developpee 
la  reactivite  des  organes  sexuels  ä  un  niveau  presque  in- 
commensurable  avec  l'etat  infantile,  il  arrive  d'une  maniere 
ou  d'une  autre,  que  cette  trace  psycliique  inconsciente  se 
reveille.  Gräce  au  changement  du  a  la  puberte  le  souvenir 
deploiera  une  puissance  qui  a  fait  totalement  defaut  ä  l'evene- 
ment  lui-meme ;  le  souvenir  agira  comme  s'il  etait  im  evenement 
actuel.  H  y  a  pour  ainsi  dire  action  posthiime  d'im  traumaüsme 
sexuel. 

Autant  que  je  vois,  ce  reveil  du  souvenir  sexuel  apres 
la  puberte,  1' evenement  meme  etant  arrive  ä  un  temps  recule 
avant  cette  periode,  constitue  la  seule  eventuaüt^psycliologique, 
pour  que  l'action  immediate  d'un  souvenir  surpasse  celle  de 
l'evenement  actuel.  Mais  c'est  lä  une  consteUation  anormale, 
qui  atteint  un  cöte  faible  du  mecanisme  psycliique  et  produit 
necessairement  un  effet  psycliique  pathologique. 

Je  crois  comprendre  que  cette  relation  inverse  entre  l'effet 
psychique  du  souvenir  et  de  l'evenement  contient  la  raison  pour 
laquelle  le  souvenir  reste  inconscient. 

On  arrive  ainsi  a  un  probl^me  psycliique  tres  complexe, 
mais  qui  düment  apprecie  promet  de  jeter  un  jour,  une 
lumi^re  vive  sur  les  questions  les  plus  delicates  de  la  vie 
psychique. 

Les  idees  ici  exposees,  ayant  pour  point  de  depart  le 
resultat  de  la  psycbo-analyse,  qu'on  trouve  toujours  comme 
cause  specifique  de  l'hysterie  un  souvenir  d'experience  sexuelle 
precoce,  ne  s'accordent  pas  avec  la  theorie  psychologique 
de  la  nevrose  de  M.  Janet,  ni  avec  une  autre,  mais  elles 
harmonisent  parfaitement  avec  mes  propres  speculations  de- 
veloppees  ailleurs  sur  les  „Abwehrneurosen". 

Tous  les  evenements  posterieurs  ä  la  puberte,  auxquels 
il  faut  attribuer  une  influence  sur  le  developpement  de  la 
nevrose  bysterique  et  sur  la  formation  de  ses  symptömes  ne 
sont  vraiment   que   des   causes  concurrentes,    „agents  provo- 


147 


cateiirs"  comme  disait  Charcot,  pour  qui  l'lieredite  nerveuse 
occupait  la  place  que  je  reclame  pour  l'experience  sexuelle 
precoce.  Ces  agents  accessoires  ne  sont  pas  sujets  aux  con- 
ditions  strictes,  qui  pesent  sur  les  causes  specifiques ;  l'analyse 
demontre  d'une  maniere  irrefutable  qu'ils  ne  jouissent  d'une 
influence  pathog^ne  pour  l'hysterie  que  par  leur  faculte 
d'eveiller  la  trace  psychique  inconsciente  de  l'evenement 
infantile.  C'est  aussi  gräce  ä  leur  connexion  avec  l'empreinte 
pathogene  primaire  et  aspires  par  eile,  que  leurs  Souvenirs 
deviendront  inconscients  a  leur  tour  et  pourront  aider  l'ac- 
croissement  d'une  activite  psycliique  soustraite  au  pouvoir 
des  fonctions  conscientes. 

La  nevrose  d'obsessions  (Zwangsneurose)  releve  d'une 
cause  specifique  tres  analogue  ä  celle  de  l'liysterie.  On  y 
trouve  aussi  un  evenement  sexuel  precoce,  arrive  avant  l'äge 
de  la  puberte,  duquel  le  souvenir  devient  actif  pendant  ou 
apr^s  cette  6poque,  et  les  memes  remarques  et  raisonnements 
exposes  ä  l'occasion  de  l'hysterie  pourront  s'appliquer  aux 
observations  de  l'autre  nevrose  (six  cas,  dont  trois  purs).  IL 
n'y  a  qu'une  difPerence  qui  semble  capitale,  Nous  avons  trouve 
au  fond  de  l'etiologie  hysterique  un  evenement  de  passivite 
sexuelle,  une  experience  subie  avec  indifference  ou  avec  un 
petit  peu  de  depit  ou  d'effroi.  Dans  la  nevrose  d'obsessions 
il  s'agit  au  contraire  d'un  evenement,  qui  a  fait  plaisir,  d'une 
aggression  sexuelle  inspiree  par  le  desir  (en  cas  de  garcon) 
ou  d'une  participation  avec  jouissance  aux  rapports  sexuels 
(en  cas  de  petite  fille).  Les  idees  obsedantes,  reconnues  par 
l'analyse  dans  leur  sens  intime,  reduites  pour  ainsi  dire  ä  leur 
expression  la  plus  simple  ne  sont  pas  autre  chose  que  des 
reproches,  que  le  sujet  s'adresse  ä  cause  de  cette  jouissance  sexuelle 
antidpee,  mais  des  reproches  defigures  par  un  travail  psychique 
inconscient  de  transformation  et  de  Substitution. 

Le  fait  meme,  que  de  telles  aggressions  sexuelles  se 
passent  dans  un  äge  aussi  tendre,  semble  denoncer  l'influence 
d'une  seduction  anterieure,  de  laquelle  la  precocite  du  desir 
sexuel  soit  la  consequence.  L'analyse  vient  confirmer  ce 
soup9on,  dans  les  cas  analyses  par  moi.  On  s'explique  de 
cette  maniere  un  fait   interessant   toujours   present   dans   ces 

10* 


148 


cas  d'obsessions,  la  complication  reguliere  du  cadre  symp- 
tomatique  par  un  certain  nombre  de  symptomes  simplement 
hysteriques. 

L'importance  de  Felement  actif  de  la  vie  sexuelle  pour 
la  cause  des  obsessions  comme  de  la  passivite  sexuelle  pour  la 
Pathogenese  de  rhysterie  semble  meme  devoiler  la  raison  de 
la  connexion  plus  intime  de  l'hysterie  avec  le  sexe  feminin 
et  de  la  preference  des  hommes  pour  la  nevrose  d'obsessions, 
On  rencontre  parfois  des  couples  de  malades  nevroses,  qui 
ont  ete  un  couple  de  petits  amoureux  dans  leur  premiere 
jeunesse,  l'homme  souffrant  d'obsessions,  la  femme  d'hysterie ; 
s'il  s'agit  d'un  frere  et  de  la  soeur  on  pourra  meprendre  pour 
un  effet  de  l'heredite  nerveuse,  ce  qui  en  verite  derive  d'ex- 
periences  sexuelles  precoces. 

II  y  a  Sans  doute  des  cas  d'hysterie  ou  d' Obsession  purs 
et  isoles,  independants  de  nevrasthenie  ou  nevrose  d'angoisse ; 
mais  ce  n'est  pas  la  r^gle.  Plus  souvent  la  psycho-nevrose  se 
presente  comme  accessoire  aux  nevroses  nevrastheniques, 
evoquee  par  eux  et  suivant  leur  decours.  C'est  parce  que  les 
causes  specifiques  des  demiers,  les  desordres  actuels  de  la 
vie  sexuelle,  agissent  en  meme  temps  comme  causes  acces- 
soires  des  psycho-nevroses,  dont  ils  eveillent  et  raniment  la 
cause  specifique,  le  souvenir  de  Texperience  sexuelle  precoce. 

Quant  ä  l'heredite  nerveuse,  je  suis  loin  de  savou-  evaluer 
au  juste  son  influence  dans  l'etiologie  des  psycho-nevroses. 
Je  concede  que  sa  presence  est  indispensable  dans  les  cas 
graves,  je  doute  qu'elle  soit  necessaire  pour  les  cas  legers, 
mais  je  suis  convaincu  que  l'heredite  nerveuse  ä  eile  seule 
ne  peut  pas  produire  les  psycho-nevroses,  si  leur  etiologie 
specifique,  l'irritation  sexuelle  precoce,  fait  defaut.  Je  vois 
meme,  que  la  question  de  savoir  laquelle  des  nevroses,  hysterie 
ou  obsessions,  se  developpera  dans  un  cas  donne,  n'est  pas 
jugee  par  l'heredite  mais  par  un  caractere  special  de  cet 
evenement  sexuel  de  la  premiere  jeunesse. 


X. 

Zur  Ätiologie  der  Hysterie.  0 

Meine  Herren !  Wenn  wir  daran  gehen,  uns  eine  Meinung 
über  die  Verursachung  eines  krankhaften  Zustandes  wie  die 
Hysterie  zu  bilden,  betreten  wir  zunächst  den  Weg  der 
anaimn  estischen  Forschung,  indem  wir  den  Kranken  oder 
dessen  Umgebung  ins  Verhör  darüber  nehmen,  auf  welche 
schädlichen  Einflüsse  sie  selbst  die  Erkrankung  an  jenen 
neurotischen  Symptomen  zurückführen.  Was  wir  so  in  Er- 
fahrung bringen,  ist  selbstverständlich  dmxh  alle  jene  Momente 
verfälscht,  die  einem  Kranken  die  Erkenntnis  des  eigenen 
Zustandes  zu  verhüllen  pflegen,  durch  seinen  Mangel  an 
wissenschafthchem  Verständnis  für  ätiologische  Wirkungen, 
durch  den  Fehlschluß  des  posthoc,  ergo  propter  hoc, 
durch  die  Unlust,  gewisser  Noxen  und  Traumen  zu  gedenken 
oder  ihrer  Erwähnung  zu  tun.  Wir  halten  darum  bei  solcher 
anamnestischer  Forschung  an  dem  Vorsatze  fest,  den  Glauben 
der  Kranken  nicht  ohne  eingehende  kritische  Prüfung  zu  dem 
unserigen  zu  machen,  nicht  zuzulassen,  daß  die  Patienten 
uns  unsere  wissenschafthche  Meinung  über  die  Ätiologie  der 
Neurose  zurechtmachen.  Wenn  wir  einerseits  gewisse  konstant 
wiederkehrende  Angaben  anerkennen,  wie  die,  daß  der  hyste- 
rische Zustand  eine  lang  andauernde  Nachwirkung  einer  einmal 
erfolgten  Gemütsbewegung  sei,  so  haben  wir  anderseits  in 
die  Ätiologie  der  Hysterie  ein  Moment  eingeführt,  welches 
der  Kranke  selbst  niemals  vorbringt  und  nur  ungern  gelten  läßt, 
die  hereditäre  Veranlagung  von  selten  der  Erzeuger.  Sie  wissen, 
daß  nach  der  Meinung  der  einflußreichen  Schule   Charcot's 

1)  „Wiener  klinische  Rundschau",  1896,  Nr.  22—26.  Ausführung 
nach  einem  Vortrage  im  Verein  für  Psychiatrie  und  Neurologie  in  Wien 
am  2.  Mai  1896. 


150 


die  Heredität  allein  als  wirkliche  Ursache  der  Hysterie  An- 
erkennung verdient,  während  alle  anderen  Schädlichkeiten 
verschiedenartigster  Natur  und  Intensität  nur  die  Rolle  von 
Gelegenheitsursachen,  von  „ Agents  provocateurs"  spielen  sollen. 

Sie  werden  mir  ohne  weiters  zugeben,  daß  es  wünschens- 
wert wäre,  es  gäbe  einen  zweiten  Weg,  zur  Ätiologie  der 
Hysterie  zu  gelangen,  auf  welchem  man  sich  unabhängiger 
von  den  Angaben  der  Kranken  wüßte.  Der  Dermatolog  z.  B. 
weiß  ein  Geschwür  als  luetisch  zu  erkennen  nach  der  Be- 
schaffenheit der  Ränder,  des  Belags,  des  Umrisses,  ohne  daß 
ihn  der  Einspruch  des  Patienten,  der  eine  Infektionsquelle 
leugnet,  daran  irre  machte.  Der  Gerichtsarzt  versteht  es,  die 
Verursachung  einer  Verletzung  aufzuklären,  selbst  wenn  er 
auf  die  Mitteilungen  des  Verletzten  verzichten  muß.  Es  be- 
steht nun  eine  solche  Möglichkeit,  von  den  Symptomen  aus 
zur  Kenntnis  der  Ursachen  vorzudringen,  auch  für  die  Hysterie. 
Das  Verhältnis  der  Methode  aber,  deren  man  sich  hiefür  zu 
bedienen  hat,  zur  älteren  Methode  der  anamnestischen  Er- 
hebung möchte  ich  Ihnen  in  einem  Gleichnisse  darstellen, 
welches  einen  auf  anderem  Arbeitsgebiete  tatsächlich  erfolgten 
Fortschritt  zum  Inhalt  hat. 

Nehmen  Sie  an,  ein  reisender  Forscher  käme  in  eine 
wenig  bekannte  Gegend,  in  welcher  ein  Trümmerfeld  mit 
Mauerresten,  Bruchstücken  von  Säulen,  von  Tafehi  mit  ver- 
wischten und  unlesbaren  Schriftzeichen  sein  Interesse  er- 
weckte. Er  kann  sich  damit  begnügen  zu  beschauen,  was 
frei  zutage  liegt,  dann  die  in  der  Nähe  hausenden,  etwa 
halbbarbarischen  Einwohner  ausfragen,  was  ihnen  die  Tradition 
über  die  Geschichte  und  Bedeutung  jener  monumentalen  Reste 
kundgegeben  hat,  ihre  Auskünfte  aufzeichnen  und  —  Weiter- 
reisen. Er  kann  aber  auch  anders  vorgehen ;  er  kann  Hacken, 
Schaufeln  und  Spaten  mitgebracht  haben,  die  Anwohner  für 
die  Arbeit  mit  diesen  Werkzeugen  bestimmen,  mit  ihnen  das 
Trümmerfeld  in  Angriff  nehmen,  den  Schutt  wegschaffen  und 
von  den  sichtbaren  Resten  aus  das  Vergrabene  aufdecken. 
Lohnt  der  Erfolg  seine  Arbeit,  so  erläutern  die  Funde  sich 
selbst ;  die  Mauerreste  gehören  zur  Umwallung  eines  Palastes 
oder  Schatzhauses,  aus  den  Säulentrümmem  ergänzt  sich  ein 


151 


Tempel,  die  zahlreich  gefundenen,  im  glücklichen  Fall  büinguen 
Inschriften  enthüllen  ein  Alphabet  und  eine  Sprache,  und 
deren  Entzifferung  und  Übersetzung  ergibt  ungeahnte  Auf- 
schlüsse über  die  Ereignisse  der  Vorzeit,  zu  deren  Gedächtnis 
jene  Monumente  erbaut  worden  sind.  Saxa  loquuntur! 

Will  man  in  annähernd  ähnUcher  "Weise  die  Symptome 
einer  Hysterie  als  Zeugen  für  die  Entstehungsgeschichte  der 
Krankheit  laut  werden  lassen,  so  muß  man  an  die  bedeut- 
same Entdeckung  J.  Breuer's  anknüpfen,  daß  die  Sym- 
ptome der  Hysterie  (die  Stigmata  beiseite)  ihre  De- 
terminierung von  gewissen  traumatisch  wirk- 
samen Erlebnissen  des  Kranken  herleiten,  als 
deren  Erinnerungssymbole  sie  im  psychischen 
Leben  desselben  reproduziert  werden.  Man  muß 
sein  Verfahren  —  oder  ein  im  Wesen  gleichartiges  —  an- 
wenden, um  die  Aufmerksamkeit  des  Kranken  vom  Symptom 
aus  auf  die  Szene  zurückleiten,  in  welcher  und  durch  welche 
das  Symptom  entstanden  ist,  und  man  beseitigt  nach  seiner 
Anweisung  dieses  Symptom,  indem  man  bei  der  Reproduktion 
der  traumatischen  Szene  eine  nachträgliche  Korrektur  des 
damaligen  psychischen  Ablaufes  durchsetzt. 

Es  liegt  heute  meiner  Absicht  völlig  ferne,  die  schwierige 
Technik  dieses  therapeutischen  Verfahrens  oder  die  dabei  ge- 
wonnenen psychologischen  Aufklärungen  zu  behandeln.  Ich 
mußte  nur  an  dieser  Stelle  anknüpfen,  weil  die  nach  Breuer 
vorgenommenen  Analysen  gleichzeitig  den  Zugang  zu  den 
Ursachen  der  Hysterie  zu  eröffnen  scheinen.  Wenn  wir  eine 
größere  Reihe  von  Symptomen  bei  zahlreichen  Personen 
dieser  Analyse  unterziehen,  so  werden  wir  ja  zur  Kenntnis 
einer  entsprechend  großen  Reihe  von  traumatisch  wirksamen 
Szenen  geleitet  werden.  In  diesen  Erlebnissen  sind  die  wirk- 
samen Ursachen  der  Hysterie  zur  Greltung  gekommen;  wir 
dürfen  also  hoffen,  aus  dem  Studium  der  traumatischen  Szenen 
zu  erfahren,  welche  Einflüsse  hysterische  Symptome  erzeugen 
und  auf  welche  Weise. 

Diese  Erwartung  trifft  zu,  notwendigerweise,  da  ja  die 
Sätze  von  Breuer  sich  bei  der  Prüfung  an  zahlreicheren 
Fällen    als   richtig   erweisen.   Aber  der  Weg   von  den  Symp- 


152 


tomen  der  Hysterie  zu  deren  Ätiologie  ist  langwieriger 
und  führt  über  andere  Verbindungen,  als  man  sich  vor- 
gestellt hätte. 

Wir  wollen  uns  nämlich  klar  machen,  daß  die  Zurück- 
führung  eines  hysterischen  Symptoms  auf  eine  traumatische 
Szene  nur  dann  einen  Gewinn  für  unser  Verständnis  mit 
sich  bringt,  wenn  diese  Szene  zweien  Bedingungen  genügt, 
wenn  sie  diebetreffende  determinierende  Eignung  be- 
sitzt, und  wenn  ihr  die  nötige  traumatische  Kraft  zu- 
erkannt werden  muß.  Ein  Beispiel  anstatt  jeder  "Wort- 
erklärung! Es  handle  sich  um  das  Symptom  des  hysterischen 
Erbrechens;  dann  glauben  wir  dessen  Verursachung  (bis  auf 
einen  gewissen  Rest)  durchschauen  zu  können,  wenn  die  Ana- 
lyse das  Symptom  auf  ein  Erlebnis  zurückführt,  welches 
berechtigterweise  ein  hohes  Maß  von  Ekel  erzeugt 
hat,  wie  etwa  der  AnbHck  eines  verwesenden  menschlichen 
Leichnams.  Ergibt  die  Analyse  anstatt  dessen,  daß  das  Er- 
brechen von  einem  großen  Schreck,  z.  B.  bei  einem  Eisen- 
bahnunfall, herrührt,  so  wird  man  sich  unbefriedigt  fragen 
müssen,  wieso  denn  der  Schreck  gerade  zum  Erbrechen  geführt 
hat.  Es  fehlt  dieser  Ableitung  ander  Eignung  zur  Deter- 
minierung. Ein  anderer  Fall  von  ungenügender  Aufklärung 
liegt  vor,  wenn  das  Erbrechen  etwa  von  dem  Genuß  einer 
Frucht  herrühren  soll,  die  eine  faule  Stelle  zeigte.  Dann  ist 
zwar  das  Erbrechen  durch  den  Ekel  determiniert,  aber 
man  versteht  nicht,  wie  der  Ekel  in  diesem  Falle  so  mächtig 
werden  konnte,  sich  durch  ein  hysterisches  Symptom  zu  ver- 
ewigen; es  mangelt  diesem  Erlebnis  an  traumatischer 
Kraft. 

Sehen  wir  nun  nach,  inwieweit  die  durch  die  Analyse 
aufgedeckten  traumatischen  Szenen  der  Hysterie  bei  einer 
größeren  Anzahl  von  Symptomen  und  Fällen  den  beiden  er- 
wähnten Ansprüchen  genügen.  Hier  stoßen  wir  auf  die  erste 
große  Enttäuschung!  Es  trifft  zwar  einige  Male  zu,  daß  die 
traumatische  Szene,  in  welcher  das  Symptom  entstanden  ist, 
wirklich  beides,  die  determinierende  Eignung  und  die  traumatische 
Kraft,  besitzt,  deren  wir  zum  Verständnis  des  Symptoms  be- 
dürfen.  Aber  weit  häufiger,   unvergleichlich  häufiger,   finden 


153 


wir  eine  der  drei  übrigen  Mögliciikeiten  verwirklicht,  die  dem 
Verständnisse  so  ungünstig  sind:  die  Szene,  auf  welche  wir 
durch  die  Analyse  geleitet  werden,  in  welcher  das  Symptom 
zuerst  aufgetreten  ist,  erscheint  uns  entweder  ungeeignet  zur 
Determinierung  des  Symptoms,  indem  ihr  Inhalt  zur  Beschaffen- 
heit des  Symptoms  keine  Beziehung  zeigt ;  oder  das  angeblich 
traumatische  Erlebnis,  dem  es  an  inhaltlicher  Beziehung  nicht 
fehlt,  erweist  sich  als  ein  normalerweise  harmloser,  für  ge- 
wöhnHch  wirkungsunfähiger  Eindruck ;  oder  endUch  die  „trau- 
matische Szene"  macht  uns  nach  beiden  Richtungen  irre ;  sie 
erscheint  ebenso  harmlos  wie  ohne  Beziehung  zur  Eigenart 
des  hysterischen  Symptoms. 

(Ich  bemerke  hier  nebenbei,  daß  Breuer's  Auffassung 
von  der  Entstehung  hysterischer  Symptome  durch  die  Auf- 
findung traumatischer  Szenen,  die  an  sich  bedeutungslosen 
Erlebnissen  entsprechen,  nicht  gestört  worden  ist.  Breuer 
nahm  nämhch  —  im  Anschlüsse  an  Charcot  —  an,  daß 
auch  ein  harmloses  Erlebnis  zum  Trauma  erhoben  werden 
und  determinierende  Kraft  enfalten  kann,  wenn  es  die  Person 
in  einer  besonderen  psychischen  Verfassung,  im  sogenannten 
hypnoiden  Zustand,  betrifft.  Allein  ich  finde,  daß  zur 
Voraussetzung  solcher  hypnoider  Zustände  oftmals  jeder 
Anhalt  fehlt.  Entscheidend  bleibt,  daß  die  Lehre  von  den 
hypnoiden  Zuständen  nichts  zur  Lösung  der  anderen  Schwierig- 
keit leistet,  daß  nänüich  den  traumatischen  Szenen  so  häufig 
die  determinierende  Eignung  abgeht.) 

Fügen  sie  hinzu,  meine  Herren,  daß  diese  erste  Ent- 
täuschung beim  Verfolg  der  Breuer'schen  Methode  unmittel- 
bar durch  eine  andere  eingeholt  wird,  die  man  besonders  als 
Arzt  schmerzKch  empfinden  muß.  Zurückführungen  solcher 
Art,  wie  wir  sie  geschildert  haben,  die  unserem  Verständnis 
betreffs  der  Determinierung  und  der  traumatischen  Wirksamkeit 
nicht  genügen,  bringen  auch  keinen  therapeutischen  Gewinn ; 
der  Kranke  hat  seine  Symptome  ungeändert  behalten,  trotz 
des  ersten  Ergebnisses,  das  uns  die  Analyse  gehefert  hat. 
Sie  mögen  verstehen,  wie  groß  dann  die  Versuchung  wird, 
auf  eine  Fortsetzung  der  ohnedies  mühsehgen  Arbeit  zu  ver- 
zichten. 


154 


Vielleicht  aber  bedarf  es  nur  eines  neuen  Einfalles,  um 
uns  aus  der  Klemme  zu  helfen  und  zu  wertvollen  Resultaten 
zu  führen!  Der  Einfall  ist  folgender:  Wir  wissen  ja  durch 
Breuer,  daß  die  hysterischen  Symptome  zu  lösen  sind, 
wenn  wir  von  ihnen  aus  den  Weg  zur  Erinnerung  eines 
traumatischen  Erlebnisses  finden  können.  Wenn  nun  die  auf- 
gefundene Erinnerung  unseren  Erwartungen  nicht  entspricht, 
vielleicht  ist  derselbe  Weg  ein  Stück  weiter  zu  verfolgen, 
vielleicht  verbirgt  sich  hinter  der  ersten  traumatischen  Szene 
die  Erinnerung  an  eine  zweite,  die  unseren  Ansprüchen  besser 
genügt,  und  deren  Reproduktion  mehr  therapeutische  Wirkung 
entfaltet,  so  daß  die  erstgefundene  Szene  nur  die  Bedeutung 
eines  Bindegliedes  in  der  Assoziationsverkettung  hat?  Und 
vielleicht  wiederholt  sich  dieses  Verhältnis,  die  Einschiebung 
unwirksamer  Szenen  als  notwendiger  Übergänge  bei  der 
Reproduktion  mehrmals,  bis  man  vom  hysterischen  Symptom 
aus  endlich  zur  eigentlich  traumatisch  wirksamen,  in  jeder 
Hinsicht,  therapeutisch  wie  analytisch,  befriedigenden  Szene 
gelangt?  Nun,  meine  Herren,  diese  Vermutung  ist  richtig. 
Wo  die  erstaufgefundene  Szene  unbefriedigend  ist,  sagen  wir 
dem  Kranken,  dieses  Erlebnis  erkläre  nichts,  es  müsse  sich 
aber  hinter  ihm  ein  bedeutsameres,  früheres  Erlebnis  ver- 
bergen, und  lenken  seine  Aufmerksamkeit  nach  derselben 
Technik  auf  den  Assoziationsfaden,  welcher  beide  Erinnerungen, 
die  aufgefundene  und  die  aufzufindende  verknüpft.^)  Die  Fort- 
setzung der  Analyse  führt  dann  jedesmal  zur  Reproduktion 
neuer  Szenen  von  den  erwarteten  Charakteren.  Wenn  ich 
z.  B.  den  vorhin  ausgewählten  Fall  von  hysterischem  Erbrechen 
wieder  aufnehme,  den  die  Analyse  zunächst  auf  einen  Schreck 
bei  einem  Eisenbahnunfall  zurückgeführt  hat,  welcher  der 
determinierenden  Eignung  entbehrt,  so  erfahre  ich  aus  weiter- 
gehender Analyse,  daß  dieser  Unfall  die  Erinnerung  an  einen 
anderen,  früher  vorgekommenen,  geweckt  hat,  den  der  Kranke 


1)  Es  bleibt  dabei  absichtlich  außer  Erörterung,  von  welchem  Rang 
die  Assoziation  der  beiden  Erinnerungen  ist  (ob  durch  Gleichzeitigkeit, 
kausaler  Art,  nach  inhaltlicher  Ähnlichkeit  usw.),  und  auf  welche  psycho- 
logische Charakteristik  die  einzelnen  „Erinnerungen"  (bewußte  oder  un- 
bewußte) Anspruch  haben. 


155 


zwar  nicht  selbst  erlebte,  der  ihm  aber  Gelegenheit  zu  dem 
G-rauen  und  Ekel  erregenden  Anblick  eines  Leichnams  bot.  Es 
ist,  als  ob  das  Zusammenwirken  beider  Szenen  die  Erfüllung 
unserer  Postulate  ermöglichte,  indem  das  eine  Erlebnis  durch 
den  Schreck  die  traumatische  Kraft,  das  andere  durch  seinen 
Inhalt  die  determinierende  "Wirkung  beistellt.  Der  andere  Fall, 
daß  das  Erbrechen  auf  den  Genuß  eines  Apfels  zurück- 
geführt wird,  an  dem  sich  eine  faule  Stelle  findet,  wird  durch 
die  Analyse  etwa  in  folgender  Weise  ergänzt:  Der  faulende 
Apfel  erinnert  an  ein  früheres  Erlebnis,  an  das  Sammeln 
abgefallener  Äpfel  in  einem  Garten,  wobei  der  Kranke  zufällig 
auf  einen  ekelhaften  Tierkadaver  stieß. 

Ich  will  auf  diese  Beispiele  nicht  mehr  zurückkommen, 
denn  ich  muß  das  Geständnis  ablegen,  daß  sie  keinem  Fall 
meiner  Erfahrung  entstammen,  daß  sie  von  mir  erfunden 
sind;  höchstwahrscheinlich  sind  sie  auch  schlecht  erfunden; 
derartige  Auflösungen  hysterischer  Symptome  halte  ich  selbst 
für  unmöglich.  Aber  der  Zwang,  Beispiele  zu  fingieren,  er- 
wächst mir  aus  mehreren  Momenten,  von  denen  ich  eines 
unmittelbar  anführen  kann.  Die  wirklichen  Beispiele  sind 
alle  unvergleichlich  komplizierter;  eine  einzige  ausführliche 
Mitteilung  würde  diese  Vortragsstunde  ausfüllen.  Die  Asso- 
ziationskette besteht  immer  aus  mehr  als  zwei  GHedern,  die 
traumatischen  Szenen  bilden  nicht  etwa  einfache,  perlschnur- 
artige Reihen,  sondern  verzweigte,  stammbaumartige  Zu- 
sammenhänge, indem  bei  einem  neuen  Erlebnis  zwei  und 
mehr  frühere  als  Erinnerungen  zur  Wirkung  kommen;  kurz, 
die  Auflösung  eines  einzelnen  Symptoms  mitteilen,  fällt 
eigentHch  zusammen  mit  der  Aufgabe,  eine  Krankengescliichte 
vollständig  darzustellen. 

Wir  wollen  es  nun  aber  nicht  versäumen,  den  einen  Satz 
nachdrücklich  hervorzuheben,  den  die  analytische  Arbeit  längs 
dieser  Erinnerungsketten  unerwarteterweise  ergeben  hat.  Wir 
haben  erfahren,  daß  kein  hysterisches  Symptom  aus 
einem  realen  Erlebnis  allein  hervorgehen  kann, 
sondern  daß  alle  Male  die  assoziativ  geweckte 
Erinnerung  an  frühere  Erlebnisse  zur  Verursachung 
des  Symptoms  mitwirkt.    Wenn  dieser  Satz  —  wie  ich 


156 


meine  —  ohneAusnahme  richtig  ist,  so  bezeicknet  er  uns 
aber  auch  das  Fundament,  auf  dem  eine  psychologische  Theorie 
der  Hysterie  aufzubauen  ist. 

Sie  könnten  meinen,  jene  seltenen  Fälle,  in  welchen  die 
Analyse  das  Symptom  sofort  auf  eine  traumatische  Szene 
von  guter  determinierender  Eignung  und  traumatischer  ILraft 
zurückführt  und  es  durch  solche  Zurückführung  gleichzeitig 
wegschafft,  wie  dies  in  Breuer's  Krankengeschichte  der 
Anna  0.  geschildert  wird,  seien  doch  mächtige  Einwände 
gegen  die  allgemeine  Geltung  des  eben  aufgestellten  Satzes. 
Das  sieht  in  der  Tat  so  aus ;  allein  ich  muß  Sie  versichern, 
ich  habe  die  triftigsten  Gründe,  anzunehmen,  daß  selbst  in 
diesen  Fällen  eine  Verkettung  wirksamer  Erinnerungen  vor- 
liegt, die  weit  hinter  die  erste  traumatische  Szene  zurück- 
reicht, wenngleich  die  Reproduktion  der  letzteren  allein 
die  Aufhebung  des  Symptoms  zur  Folge  haben  kann. 

Ich  meine,  es  ist  wirklich  überraschend,  daß  hysterische 
Symptome  nur  unter  Mitwirkung  von  Erinnerungen  entstehen 
können,  zumal  wenn  man  erwägt,  daß  diese  Erinnerungen 
nach  allen  Aussagen  der  Kranken  ihnen  im  Moment,  da  das 
Symptom  zuerst  auftrat,  nicht  zum  Bewußtsein  gekommen 
waren.  Hier  ist  Stoff  für  sehr  viel  Nachdenken  gegeben,  aber 
diese  Probleme  sollen  uns  für  jetzt  nicht  verlocken,  unsere 
Richtung  nach  der  Ätiologie  der  Hysterie  zu  verlassen.  Wir 
müssen  uns  vielmehr  fragen :  Wohin  gelangen  wir,  wenn  wir 
den  Ketten  assoziierter  Erinnerungen  folgen,  welche  die  Ana- 
lyse uns  aufdeckt?  Wie  weit  reichen  sie?  Haben  sie  irgendwo 
ein  natürliches  Ende?  Führen  sie  uns  etwa  zu  Erlebnissen,  die 
irgendwie  gleichartig  sind,  dem  Inhalt  oder  der  Lebenszeit 
nach,  so  daß  wir  in  diesen  überall  gleichartigen  Faktoren  die 
gesuchte  Ätiologie  der  Hysterie  erblicken  könnten? 

Meine  bisherige  Erfahrung  gestattet  mir  bereits,  diese 
Fragen  zu  beantworten.  Wenn  man  von  einem  Falle  ausgeht, 
der  mehrere  Symptome  bietet,  so  gelangt  man  mittelst  der 
Analyse  von  jedem  Symptom  aus  zu  einer  Reihe  von  Erleb- 
nissen, deren  Erinnerungen  in  der  Assoziation  mit  einander 
verkettet  sind.  Die  einzelnen  Erinnerungsketten  verlaufen  zu- 
nächst distinkt  von  einander  nach  rückwärts,    sind  aber,   wie 


157 


bereits  erwähat,  verzweigt ;- von  einer  Szene  aus  sind  gleich- 
zeitig zwei  oder  mehr  Erinnerungen  erreicht,  von  denen  nun 
Seitenketten  ausgehen,  deren  einzebie  G-Heder  wieder  mit 
Gliedern  der  Hauptkette  assoziativ  verknüpft  sein  mögen.  Der 
Vergleich  mit  dem  Stammbaum  einer  Familie,  deren  Mit- 
gheder  auch  unter  einander  geheiratet  haben,  paßt  hier  wirk- 
lich nicht  übel.  Andere  KompUkationen  der  Verkettung  er- 
geben sich  daraus,  daß  eine  einzelne  Szene  in  derselben 
Kette  mehrmals  erweckt  werden  kann,  so  daß  sie  zu.  einer 
späteren  Szene  mehrfache  Beziehungen  hat,  eine  direkte  Ver- 
knüpfung mit  ihr  aufweist  und  eine  durch  MittelgUeder  her- 
gestellte. Kurz,  der  Zusammenhang  ist  keineswegs  ein  ein- 
facher und  die  Aufdeckung  der  Szenen  in  umgekehrter  chrono- 
logischer Folge  (die  eben  den  Vergleich  mit  der  Aufgrabung 
eines  geschichteten  Trümmerfeldes  rechtfertigt)  trägt  zum 
rascheren  Verständnis  des  Herganges  gewiß  nichts  bei. 

Neue  Verwicklungen  ergeben  sich,  wenn  man  die  Analyse 
weiter  fortsetzt.  Die  Assoziationsketten  für  die  einzelnen 
Symptome  beginnen  dann  in  Beziehung  zu  einander  zu  treten ; 
die  Stammbäume  verflechten  sich.  Bei  einem  gewissen  Erlebnis 
der  Erinnerungskette,  z.  B.  für  das  Erbrechen,  ist  außer  den 
rückläufigen  Gliedern  dieser  Kette  eine  Erinnerung  aus  einer 
anderen  Kette  erweckt  worden,  die  ein  anderes  Symptom, 
etwa  Kopfschmerz,  begründet.  Jenes  Erlebnis  gehört  darum 
beiden  Reihen  an,  es  steht  einen  Knotenpunkt  dar,  wie 
deren  in  jeder  Analyse  mehrere  aufzufinden  sind.  Sein  khnisches 
Korrelat  mag  etwa  sein,  daß  von  einer  gewissen  Zeit  an  die 
beiden  Symptome  zusammen  auftreten,  symbiotisch,  eigenthch 
ohne  innere  Abhängigkeit  von  einander.  Knotenpunkte 
anderer  Art  findet  man  noch  weiter  rückwärts.  Dort  kon- 
vergieren die  einzelnen  Assoziationsketten;  es  finden  sich 
Erlebnisse,  von  denen  zwei  oder  mehrere  Symptome  aus- 
gegangen sind.  An  das  eine  Detail  der  Szene  hat  die  eine 
Kette,    an  ein    anderes   Detail   die   zweite  Kette    angeknüpft. 

Das  wichtigste  Ergebnis  aber,  auf  welches  man  bei 
solcher  konsequenten  Verfolgung  der  Analyse  stößt,  ist  dieses : 
Von  welchem  Fall  und  von  welchem  Symptom  immer  man 
seinen   Ausgang    genommen    hat,    endlich    gelangt    mau 


158 

unfehlbar  auf  das  Gebiet  des  sexuellen  Erlebens. 
Hiemit  wäre  also  zuerst  eine  ätiologische  Bedingung  hysteri- 
scher Symptome  aufgedeckt. 

Ich  kann  nach  früheren  Erfahrungen  voraussehen,  daß 
gerade  gegen  diesen  Satz  oder  gegen  die  Allgemeingiltigkeit 
dieses  Satzes  Ihr  Widerspruch,  meine  Herren,  gerichtet  sein 
wird.  Ich  sage  vielleicht  besser:  Ihre  Widerspruchsneigung, 
denn  es  stehen  wohl  noch  keinem  von  Ihnen  Untersuchungen 
zu  Gebote,  die,  mit  demselben  Verfahren  angestellt,  ein  anderes 
Resultat  ergeben  hätten.  Zur  Streitsache  selbst  will  ich  nur 
bemerken,  daß  die  Auszeichnung  des  sexuellen  Momentes  in 
der  Ätiologie  der  Hysterie  bei  mir  mindestens  keiner  vor- 
gefaßten Meinung  entstammt.  Die  beiden  Forscher,  als  deren 
Zögling  ich  meine  Arbeiten  über  Hysterie  begonnen  habe, 
C  h  a  r  c  0 1  wie  Breuer,  standen  einer  derartigen  Voraus- 
setzung ferne,  ja  brachten  ihr  eine  persönliche  Abneigung 
entgegen,  von  der  ich  anfangs  meinen  Anteil  übernahm.  Erst 
die  mühseligsten  Detailuntersuchungen  haben  mich,  und  zwar 
langsam  genug,  zu  der  Meinung  bekehrt,  die  ich  heute  ver- 
trete. Wenn  Sie  meine  Behauptung,  die  Ätiologie  auch  der 
Hysterie  läge  im  Sexualleben,  der  strengsten  Prüfung  unter- 
ziehen, so  erweist  sie  sich  als  vertretbar  dmxh  die  Angabe, 
daß  ich  in  etwa  18  Fällen  von  Hysterie  diesen  Zusammenhang 
für  jedes  einzelne  Symptom  erkennen  und,  wo  es  die  Verhält- 
nisse gestatteten,  durch  den  therapeutischen  Erfolg  bekräftigen 
konnte.  Sie  können  mir  dann  freilich  einwenden,  die  19.  und 
die  20.  Analyse  werden  vielleicht  eine  Ableitung  hysterischer 
Symptome  auch  aus  anderen  Quellen  kennen  lehren  und  da- 
mit die  Giltigkeit  der  sexuellen  Ätiologie  von  der  Allgemein- 
heit auf  807o  einschränken.  Wir  wollen  es  gerne  abwarten, 
aber  da  jene  18  Fälle  gleichzeitig  alle  sind,  an  denen  ich 
die  Arbeit  der  Analyse  unternehmen  konnte,  und  da  niemand 
diese  Fälle  mir  zum  Gefallen  ausgesucht  hat,  werden  Sie  es 
begreiflich  finden,  daß  ich  jene  Erwartung  nicht  teile,  sondern 
bereit  bin,  mit  meinem  Glauben  über  die  Beweiskraft  meiner 
bisherigen  Erfahrungen  hinauszugehen.  Dazu  bewegt  mich 
übrigens  noch  ein  anderes  Motiv  von  einstweilen  bloß  sub- 
jektiver Geltung.  In  dem  einzigen  Erklärungsversuch  für  den 


159 


physiologischen  und  psychischen  Mechanismus  der  Hysterie, 
den  ich  Tpir  zur  Zusammenfassung  meiner  Beobachtungen 
gestalten  konnte,  ist  mir  die  Einmengung  sexueller  Trieb- 
kräfte zur  unentbehrlichen  Voraussetzung  geworden. 

Also  man  gelangt  endlich,  nachdem  die  Erinnerungs- 
ketten konvergiert  haben,  auf  sexuelles  Gebiet  und  zu  einigen 
wenigen  Erlebnissen,  die  zumeist  in  die  nämliche  Lebens- 
periode, in  das  Alter  der  Pubertät  fallen.  Aus  diesen  Erleb- 
nissen soU  man  die  Ätiologie  der  Hysterie  entnehmen  und  durch 
sie  die  Entstehung  hysterischer  Symptome  verstehen  lernen. 
Hier  erlebt  man  aber  eine  neue  und  schwerwiegende  Ent- 
täuschung! Die  mit  soviel  Mühe  aufgefundenen,  aus  allem 
Erinnerungsmaterial  extrahierten,  anscheinend  letzten  traumati- 
schen Erlebnisse  haben  zwar  die  beiden  Charaktere :  SexuaHtät 
und  Pubertätszeit  gemein,  sind  aber  sonst  so  sehr  disparat 
und  ungleichwertig.  In  einigen  Fällen  handelt  es  sich 
wohl  um  Erlebnisse,  die  wir  als  schwere  Traumen  anerkennen, 
müssen,  um  einen  Versuch  der  Vergewaltigung,  der  dem  un- 
reifen Mädchen  mit  einem  Schlage  die  ganze  Brutalität  der 
Geschlechtslust  enthüllt,  um  eine  unfreiwillige  Zeugenschaft 
bei  sexuellen  Akten  der  Eltern,  die  in  Einem  ungeahntes  Häß- 
liches aufdeckt  und  das  kindliche  wie  das  moralische  Gefühl 
verletzt  u.  dgl.  In  anderen  FäUen  sind  diese  Erlebnissa 
von  erstauidicher  Geringfügigkeit.  Eine  meiner  Patientinnen 
zeigte  zugrunde  ihrer  Neurose  das  Erlebnis,  daß  ein  ihr 
befreundeter  Knabe  zärtHch  ihre  Hand  streichelte  und  ein 
andermal  seinen  Unterschenkel  an  ihr  Kleid  drängte,  während 
sie  neben  einander  bei  Tische  saßen,  wobei  noch  seine  Miene 
sie  erraten  ließ,  es  handle  sich  um  etwas  Unerlaubtes.  Bei 
einer  anderen  jungen  Dame  hatte  gar  das  Anhören  einer 
Scherzfrage,  die  eine  obszöne  Beantwortung  ahnen  ließ,  hin- 
gereicht, den  ersten  AngstanfaU  hervorzurufen  und  damit 
die  Erkrankung  zu  eröffnen.  Solche  Ergebnisse  sind  offenbar 
einem  Verständnis  für  die  Verursachung  hysterischer  Symp- 
tome nicht  günstig.  Wenn  es  ebensowohl  schwere  wie  ge- 
ringfügige Erlebnisse,  ebensowohl  Erfahrungen  am  eigenen 
Leib  wie  visuelle  Eindrücke  und  durch  das  Gehör  empfangene 
Mitteilungen    sind,    die    sich    als    die    letzten    Traumen    der- 


160 


Hysterie  erkennen  lassen,  so  kann  man  etwa  die  Deutung  ver- 
suchen, die  Hysterischen  seien  besonders  geartete  Menschen- 
kinder —  wahrscheinlich  infolge  erblicher  Veranlagung  oder 
degenerativer  Verkümmerung  —  bei  denen  die  Scheu  vor  der 
Sexualität,  die  im  Pubertätsalter  normalerweise  eine  gewisse 
Rolle  spielt,  ins  Pathologische  gesteigert  und  dauernd  fest- 
gehalten wird;  gewissermaßen  Personen,  die  den  Anforde- 
rungen der  Sexualität  psychisch  nicht  Genüge  leisten  können. 
Man  vernachlässigt  bei  dieser  Aufstellung  allerdings  die 
Hysterie  der  Männer;  aber  auch,  wenn  es  derartige  grobe  Ein- 
wände nicht  gäbe,  wäre  die  Versuchung  kaum  sehr  groß,  bei 
dieser  Lösung  stehen  zu  bleiben.  Man  verspürt  hier  nur  zu 
deutlich  die  intellektuelle  Empfindung  des  Halbverstandenen, 
Unklaren  und  Unzureichenden. 

Zum  Glück  für  unsere  Aufklärung  zeigen  einzelne  der 
sexuellen  Pubertätserlebnisse  eine  weitere  UnzulängHchkeit, 
die  geeignet  ist,  zur  Fortsetzung  der  analytischen  Arbeit  an- 
zuregen. Es  kommt  nämlich  vor,  daß  auch  diese  Erlebnisse 
der  determinierenden  Eignung  entbehren,  wenngleich  dies  hier 
viel  seltener  ist  als  bei  den  traumatischen  Szenen  aus  späterer 
Lebenszeit.  So  z.  B.  hatten  sich  bei  den  beiden  Patientinnen, 
die  ich  vorhin  als  PäUe  mit  eigentlich  harmlosen  Pubertäts- 
erlebnissen angeführt  habe,  im  Gefolge  dieser  Erlebnisse  eigen- 
tümliche schmerzhafte  Empfindungen  in  den  Genitalien  einge- 
stellt, die  sich  als  Hauptsymptome  derNeurose  fortgesetzt  hatten, 
deren  Determinierung  weder  aus  den  Pubertätsszenen  noch  aus 
späteren  abzuleiten  war,  die  aber  sicherlich  nicht  zu  den  nor- 
malen Organempfindungen  oder  zu  den  Zeichen  sexueller  Auf- 
regung gehörten.  Wie  nahe  lag  es  nun,  sich  hier  zu  sagen, 
man  müsse  die  Determinierung  dieser  Symptome  in  noch 
anderen,  noch  weiter  zurückreichenden  Erlebnissen  suchen, 
man  müsse  hier  zum  zweiten  Male  jenem  rettenden  Einfall 
folgen,  der  uns  vorhin  von  den  ersten  traumatischen  Szenen 
zu  den  Erinnerungsketten  hinter  ihnen  geleitet?  Man  kommt 
damit  freilich  in  die  Zeit  der  ersten  Kindheit,  die  Zeit  vor 
der  Entwicklung  des  sexuellen  Lebens,  womit  ein  Verzicht 
auf  die  sexuelle  Ätiologie  verbunden  scheint.  Aber  hat  man 
nicht   ein  Recht,  anzunehmen,    daß   es  auch  dem  Kindesalter 


161 


an  leisen  sexuellen  Erregungen  nicht  gebricht,  ja,  daß  vielleicht 
die  spätere  sexuelle  Entwicklung  durch  Kindererlebnisse  in  ent- 
scheiden derWeise  beeinflußt  wird?  Schädigungen,  die  dasunaus- 
gebüdete  Organ,  die  in  Entwicklung  begriffene  Funktion,  treflPen, 
verursachen  ja  so  häufig  schwerere  und  nachhaltigere  Wirkungen, 
als  sie  im  reiferen  Alter  entfalten  könnten.  Vielleicht  liegen 
der  abnormen  Reaktion  gegen  sexuelle  Eindrücke,  durch  welche 
uns  die  Hysterischen  in  der  Pubertätszeit  überraschen,  ganz 
allgemein,  solche  sexuelle  Erlebnisse  der  Kindheit  zugrunde, 
die  dann  von  gleichförmiger  und  bedeutsamer  Art  sein  müßten? 
Man  gewänne  so  eine  Aussicht,  als  frühzeitig  erworben  auf- 
zuklären, was  man  bisher  einer  durch  die  Heredität  doch 
nicht  verständlichen  Prädisposition  zur  Last  legen  mußte. 
Und  da  infantile  Erlebnisse  sexuellen  Inhalts  doch  nur  durch 
ihre  Erinnerungsspuren  eine  psychische  Wirkung  äußern 
könnten,  wäre  dies  nicht  eine  wülkommene  Ergänzung  zu 
jenem  Ergebnis  der  Analyse,  daß  hysterische  Symptome 
immer  nur  unter  der  Mitwirkung  vonErinnerungen 
entstehen? 

n. 

Sie  erraten  es  wohl,  meine  Herren,  daß  ich  jenen  letzten 
Gedankengang  nicht  so  weit  ausgesponnen  hätte,  wenn  ich 
Sie  nicht  darauf  vorbereiten  woUte,  daß  er  allein  es  ist,  der 
uns  nach  so  vielen  Verzögerungen  zum  Ziele  führen  wird. 
Wir  stehen  nämlich  wirklich  am  Ende  unserer  langwierigen 
und  beschwerlichen  analytischen  Arbeit  und  finden  hier  alle 
bisher  festgehaltenen  Ansprüche  und  Erwartungen  erfüllt. 
Wenn  wir  die  Ausdauer  haben,  mit  der  Analyse  bis  in  die 
frühe  Kindheit  vorzudringen,  so  weit  zurück  nur  das  Er- 
innerungsvermögen eines  Menschen  reichen  kann,  so  ver- 
anlassen wir  in  allen  Fällen  den  KJranken  zur  Reproduktion 
von  Erlebnissen,  die  infolge  ihrer  Besonderheiten  sowie  ihrer 
Beziehungen  zu  den  späteren  Krankheitssymptomen  als  die 
gesuchte  Ätiologie  der  Neurose  betrachtet  werden  müssen. 
Diese  infantilen  Erlebnisse  sind  wiederiun  sexuellen 
Inhalts,  aber  weit  gleichförmigerer  Art  als  die  letztgefundenen 
Pubertätsszenen;  es  handelt  sich  bei  ümen  nicht  mehr  um 
die  Erweckung  des  sexuellen  Themas  durch  einen  beliebigen 

Freud,  Neurosenielire.  H 


162 

Sinneseindruck,  sondern  um  sexuelle  Erfahrungen  am  eigenen 
Leib,  um  geschlechtlichen  Verkehr  (im  weiteren  Sinne). 
Sie  gestehen  mir  zu,  daß  die  Bedeutsamkeit  solcher 
Szenen  keiner  weiteren  Begründung  bedarf;  fügen  Sie  nun 
noch  hinzu,  daß  Sie  in  den  Details  derselben  jedesmal  die 
determinierenden  Momente  auffinden  können,  die  Sie 
etwa  in  den  anderen,  später  erfolgten  und  früher  reproduzierten 
Szenen  noch  vermißt  hätten. 

Ich  stelle  also  die  Behauptung  auf,  zugrunde  jedes  Falles 
von  Hysterie  befinden  sich  —  durch  die  analytische  Arbeit 
reproduzierbar,  trotz  des  Dezennien  umfassenden  Zeitinter- 
valles  —  ein  oder  mehrere  Erlebnisse  von  vor- 
zeitiger sexueller  Erfahrung,  die  der  frühesten  Jugend 
angehören.  Ich  halte  dies  für  eine  wichtige  Enthüllung,  für 
die  Auffindung  eines  caput  Nili  der  Neuropathologie,  aber 
ich  weiß  kaum,  wo  anzuknüpfen,  um  die  Erörterung  dieser 
Verhältnisse  fortzuführen.  Soll  ich  mein  aus  den  Analysen 
gewonnenes  tatsächhches  Material  vor  Ihnen  ausbreiten,  oder 
soll  ich  nicht  lieber  vorerst  der  Masse  von  Einwänden  und 
Zweifeln  zu  begegnen  suchen,  die  jetzt  von  Ihrer  Aufmerk- 
samkeit Besitz  ergriffen  haben,  wie  ich  wohl  mit  Becht  ver- 
muten darf?  Ich  wähle  das  letztere;  vielleicht  können  wir 
dann  um  so  ruhiger  beim  Tatsächlichen  verweilen: 

a)  "Wer  der  psychologischen  Auffassung  der  Hysterie 
überhaupt  feindHch  entgegensteht,  die  Hoffnung  nicht  auf- 
geben möchte,  daß  es  einst  gelingen  wird,  ihre  Symptome 
auf  „feinere  anatomische  Veränderungen"  zurückzuführen,  und 
die  Einsicht  abgewiesen  hat,  daß  die  materiellen  Grundlagen 
der  hysterischen  Veränderungen  nicht  anders  als  gleichartig 
sein  können  mit  jenen  unserer  normalen  Seelenvorgänge,  der 
wird  selbstverständlich  für  die  Ergebnisse  unserer  Analysen 
kein  Vertrauen  übrig  haben;  die  prinzipielle  Verschiedenheit 
seiner  Voraussetzungen  von  den  unserigen  entbindet  uns  aber 
auch  der  Verpflichtung,  ihn  in  einer  Einzelfrage  zu  überzeugen. 
Aber  auch  ein  anderer,  der  sich  minder  abweisend  gegen 
die  psychologischen  Theorien  der  Hysterie  verhält,  wird  an- 
gesichts unserer  analytischen  Ergebnisse  die  Frage  aufzu- 
werfen versucht  sein,   welche  Sicherheit  die  Anwendung  der 


163 


Psychoanalyse  mit  sich  bringt,  ob  es  denn  nicht  sehr  wohl 
möglich  sei,  daß  entweder  der  Arzt  solche  Szenen  als  an- 
gebliche Erinnerung  dem  gefälligen  Kranken  aufdrängt,  oder 
daß  der  Kranke  ihm  absichtliche  Erfindungen  und  freie 
Phantasien  vorträgt,  die  jener  für  echt  annimmt.  Nun,  ich  habe 
darauf  zu  erwidern,  die  allgemeinen  Bedenken  gegen  die  Ver- 
läßlichkeit des  psychoanalytischen  Methode  können  erst  ge- 
würdigt und  beseitigt  werden,  wenn  eine  vollständige  Dar- 
stellung ihrer  Technik  und  ihrer  Resultate  vorHegen  wird ; 
die  Bedenken  gegen  die  Echtheit  der  infantüen  Sexualszenen 
aber  kann  mau  bereits  heute  durch  mehr  als  ein  Argument 
entkräften.  Zunächst  ist  das  Benehmen  der  Kranken,  während 
sie  diese  infantüen  Erlebnisse  reproduzieren,  nach  allen  Rich- 
tungen hin  unvereinbar  mit  der  Annahme,  die  Szenen  seien 
etwas  anderes  als  peinlich  empfundene  und  höchst  ungern 
erinnerte  Realität.  Die  Kranken  wissen  vor  Anwendung  der 
Analyse  nichts  von  diesen  Szenen,  sie  pflegen  sich  zu  empören, 
wenn  man  ihnen  etwa  das  Auftauchen  derselben  ankündigt ; 
sie  können  nur  durch  den  stärksten  Zwang  der  Behandlung 
bewogen  werden,  sich  in  deren  Reproduktion  einzulassen, 
sie  leiden  unter  den  heftigsten  Sensationen,  deren  sie  sich 
schämen  und  die  sie  zu  verbergen  trachten,  während  sie  sich 
diese  infantilen  Erlebnisse  ins  Bewußtsein  rufen,  imd  noch, 
nachdem  sie  dieselben  in  so  überzeugender  "Weise  wieder 
durchgemacht  haben,  versuchen  sie  es,  ihnen  den  Glauben  zu 
versagen,  indem  sie  betonen,  daß  sich  hiefür  nicht  wie  bei 
anderem  Vergessenem  ein   Erinnerungsgefühl  eingestellt  hat. 

Letzteres  Verhalten  scheint  nun  absolut  beweiskräftig 
zu  sein.  "Wozu  sollten  die  Kranken  mich  so  entschieden  ihres 
Unglaubens  versichern,  wenn  sie  aus  irgend  einem  Motiv  die 
Dinge,  die  sie  entwerten  wollen,  selbst  erfunden  haben? 

Daß  der  Arzt  dem  Kranken  derartige  Reminiszenzen 
aufdränge,  ihn  zu  ihrer  Vorstellung  und  Wiedergabe  suggeriere, 
ist  weniger  bequem  zu  widerlegen,  erscheint  mir  aber  ebenso 
unhaltbar.  Mir  ist  es  noch  nie  gelungen,  einem  Kranken  eine 
Szene,  die  ich  erwartete,  derart  aufzudrängen,  daß  er  sie  mit 
allen  zu  ihr  gehörigen  Empfindungen  zu  durchleben  schien; 
vielleicht  treffen  es  andere  besser. 

11* 


164 


Es  gibt  aber  noch  eine  ganze  Reibe  anderer  Bürgschaften 
für  die  Realität  der  infantüen  Sexualszenen.  Zunächst  deren 
Uniformität  in  gewissen  Einzelheiten,  wie  sie  sich  aus  den 
gleichartig  wiederkehrenden  Voraussetzungen  dieser  Erlebnisse 
ergeben  muß,  während  man  sonst  geheime  Verabredungen 
zwischen  den  einzelnen  Kranken  für  glaubhaft  halten  müßte. 
Sodann,  daß  die  Kranken  gelegentlich  wie  harmlos  Vorgänge 
beschreiben,  deren  Bedeutung  sie  offenbar  nicht  verstehen, 
weü  sie  sonst  entsetzt  sein  müßten,  oder  daß  sie,  ohne 
"Wert  darauf  zu  legen,  Einzelheiten  berühren,  die  nur  ein 
Lebenserfahrener  kennt  und  als  feine  Charakterzüge  des 
Realen  zu  schätzen  versteht. 

Verstärken  solche  Vorkommnisse  den  Eindruck,  daß  die 
Kranken  wirklich  erlebt  haben  müssen,  was  sie  unter  dem 
Zwange  der  Analyse  als  Szene  aus  der  Kindheit  reproduzieren, 
so  entspringt  ein  anderer  und  mächtigerer  Beweis  hiefür  aus 
der  Beziehung  der  Infantüszenen  zum  Inhalt  der  ganzen 
übrigen  Krankengeschichte.  "Wie  bei  den  Zusammenlegbildern 
der  Kinder  sich  nach  mancherlei  Probieren  schließlich  eine 
absolute  Sicherheit  herausstellt,  welches  Stück  in  die  frei- 
gelassene Lücke  gehört  —  weü  nur  dieses  eine  gleichzeitig  das 
Büd  ergänzt  und  sich  mit  seinen  unregelmäßigen  Zacken 
zwischen  die  Zacken  der  anderen  so  einpassen  läßt,  daß 
kein  freier  Raum  bleibt  und  kein  Übereinanderschieben  not- 
wendig wird  —  so  erweisen  sich  die  Infantilszenen  inhaltHch  als 
unabweisbare  Ergänzungen  für  das  assoziative  und  logische 
Gefüge  der  Neurose,  nach  deren  Einfügung  erst  der  Hergang 
verständlich  —  man  möchte  oftmals  sagen:  selbstverständhch 
—  wird. 

Daß  auch  der  therapeutische  Beweis  für  die  Echtheit 
der  Infantüszenen  in  einer  Reihe  von  Fällen  zu  erbringen  ist, 
füge  ich  hinzu,  ohne  diesen  in  den  Vordergrund  drängen  zu 
wollen.  Es  gibt  FäUe,  in  denen  ein  vollständiger  oder  par- 
tieller Heilerfolg  zu  erreichen  ist,  ohne  daß  man  bis  zu  den 
Infantilerlebnissen  herabsteigen  muß ;  andere,  in  welchen  jeder 
Erfolg  ausbleibt,  ehe  die  Analyse  ihr  natürliches  Ende  mit 
der  Aufdeckung  der  frühesten  Traumen  gefunden  hat.  Ich 
meine,  im  ersteren  Fall  sei  man  vor  Rezidiven  nicht  gesichert ; 


165 

ich,  erwarte,  daß  eine  vollständige  Psychoanalyse  die  radikale 
Heilung  einer  Hysterie  bedeutet.  Indes,  greifen  wir  hier  den 
Lehren  der  Erfahrung  nicht  vor! 

Es  gäbe  noch  einen,  einen  wirklich  unantastbaren  Be- 
weis für  die  Echtheit  der  sexuellen  Kindererlebnisse,  wenn 
nämlich  die  Angaben  der  einen  Person  in  der  Analyse  durch 
die  Mitteilung  einer  anderen  Person  in  oder  außerhalb  einer 
Behandlung  bestätigt  würden.  Diese  beiden  Personen  müßten 
in  ihrer  Kindheit  an  demselben  Erlebnis  Anteil  genommen 
haben,  etwa  in  einem  sexuellen  Verhältnis  zu  einander  ge- 
standen sein.  Solche  Ki u derverhältniss e  sind,  wie  Sie  gleich 
hören  werden,  gar  nicht  selten ;  es  kommt  auch  häufig  genug 
vor,  daß  beide  Beteiligte  später  an  Neurosen  erkranken,  und 
doch,  meine  ich,  ist  es  ein  Glücksfall,  daß  mir  eine  solche 
objektive  Bestätigung  unter  18  Fällen  zweimal  gelungen  ist. 
Einmal  war  es  der  gesund  gebliebene  Bruder,  der  mir  un- 
aufgefordert zwar  nicht  die  frühesten  Sexualerlebnisse  mit 
seiner  kranken  Schwester,  aber  wenigstens  solche  Szenen  aus 
ihrer  späteren  Kindheit  und  die  Tatsache  von  weiter  zurück- 
reichenden sexuellen  Beziehungen  bekräftigte.  Ein  andermal 
traf  es  sich,  daß  zwei  in  Behandlung  stehende  Frauen  als 
Bander  mit  der  nämlichen  männlichen  Person  sexuell  verkehrt 
hatten,  wobei  einzelne  Szenen  ä  trois  zustande  gekommen 
waren.  Ein  gewisses  Symptom,  das  sich  von  diesen  Kinder- 
erlebnissen ableitete,  war,  als  Zeuge  dieser  Gemeinschaft,  in 
beiden  Fällen  zur  Ausbildung  gelangt. 

b)  Sexuelle  Erfahrungen  der  Kindheit,  die  in  E-eizungen 
der  Genitalien,  koitusähnlichen  Handlungen  usw.  bestehen, 
sollen  also  in  letzter  Analyse  als  jene  Traumen  anerkannt 
werden,  von  denen  die  hysterische  Reaktion  gegen  Pubertäts- 
erlebnisse und  die  Entwicklung  hysterischer  Symptome  aus- 
geht. Gegen  diesen  Ausspruch  werden  sicherlich  von  verschie- 
denen Seiten  zwei  zu  einander  gegensätzliche  Einwendungen 
erhoben  werden.  Die  Einen  werden  sagen,  derartige  sexuelle 
Mißbräuche,  an  Kindern  verübt  oder  von  Kindern  unter  ein- 
ander, kämen  zu  selten  vor,  als  daß  man  mit  ihnen  die 
Bedingtheit  einer  so  häufigen  Neurose  wie  der  Hysterie 
decken   könnte;    andere    werden    vielleicht   geltend   machen, 


166 


dergleichen  Erlebnisse  seien  im  Gegenteil  sehr  häufig,  allzu 
häufig,  als  daß  man  ihrer  Feststellung  eine  ätiologische  Be- 
deutung zusprechen  könnte.  Sie  werden  femer  anführen,  daß 
es  bei  einiger  Umfrage  leicht  fällt,  Personen  aufzufinden,  die 
sich  an  Szenen  von  sexueller  Verführung  und  sexuellem  Miß- 
brauch in  ihren  Kinderjahren  erinnern,  und  die  doch  niemals 
hysterisch  gewesen  sind.  Endlich  werden  wir  als  schwer- 
wiegendes Argument  zu  hören  bekommen,  daß  in  den  niederen 
Schichten  der  Bevölkerung  die  Hysterie  gewiß  nicht  häufiger 
vorkommt  als  in  den  höchsten,  während  doch  alles  dafür 
spricht,  daß  das  Gebot  der  sexuellen  Schonung  des  Kindes- 
alters an  den  Proletarierkindern  ungleich  häufiger  über- 
treten wird. 

Beginnen  wir  unsere  Verteidigung  mit  dem  leichteren 
Teil  der  Aufgabe.  Es  scheint  mir  sicher,  daß  unsere  Kinder 
weit  häufiger  sexuellen  Angriffen  ausgesetzt  sind,  als  man 
nach  der  geringen,  von  den  Eltern  hierauf  verwendeten  Für- 
sorge erwarten  sollte.  Bei  den  ersten  Erkundigungen,  was 
über  dieses  Thema  bekannt  sei,  erfuhr  ich  von  Kollegen,  daß 
mehrere  Publikationen  von  Kinderärzten  vorliegen,  welche  die 
Häufigkeit  sexueller  Praktiken  selbst  an  Säuglingen  von  selten 
der  Ammen  und  Kinderfrauen  anklagen,  und  aus  den  letzten 
"Wochen  ist  mir  eine  von  Dr.  St  ekel  in  Wien  herrührende 
Studie  in  die  Hand  geraten,  welche  sich  mit  dem  „Koitus 
im  Kindesalter"  beschäftigt  ("Wiener  medizinische  Blätter, 
18.  April  1896).  Ich  habe  nicht  Zeit  gehabt,  andere  litera- 
rische Zeugnisse  zu  sammeln,  aber  selbst  wenn  diese  sich 
nur  vereinzelt  fänden,  dürfte  man  erwarten,  daß  mit  der 
Steigerung  der  Aufmerksamkeit  für  dieses  Thema  sehr  bald 
die  große  Häufigkeit  von  sexuellen  Erlebnissen  und  sexueller 
Betätigung  im  Kindesalter  bestätigt  werden  wird. 

Schließlich  sind  die  Ergebnisse  meiner  Analyse  imstande, 
für  sich  selbst  zu  sprechen.  In  sämtHchen  18  Fällen  (von 
reiner  Hysterie  und  Hysterie  mit  Zwangsvorstellungen  kom- 
biniert, 6  Männer  und  12  Frauen)  bin  ich,  wie  erwähnt,  zur 
Kenntnis  solcher  sexueller  Erlebnisse  des  Kindesalters  gelangt. 
Ich  kann  meine  Fälle  in  drei  Gruppen  bringen,  je  nach  der 
Herkunft    der     sexuellen    Reizung.     In    der    ersten    Gruppe 


167 


handelt  es  sich,  um  Attentate,  einmaligen  oder  doch  verein- 
zelten Mißbrauch  meist  weiblicher  Kinder  von  Seiten  er- 
wachsener, fremder  Individuen  (die  dabei  groben,  mechanischen 
Insult  zu  vermeiden  verstanden),  wobei  die  Einwilligung  der 
Kinder  nicht  in  Frage  kam  und  als  nächste  Folge  des  Erleb- 
nisses der  Schreck  überwog.  Eine  zweite  Grruppe  bilden  jene 
weit  zahlreicheren  Fälle,  in  denen  eine  das  Kind  wartende 
erwachsene  Person  —  Kindermädchen,  Kindsfrau,  Gouver- 
nante, Lehrer,  leider  auch  allzuhäufig  ein  naher  Verwandter  — 
das  Kind  in  den  sexuellen  Verkehr  einführte  und  ein  —  auch 
nach  der  seelischen  Richtung  ausgebildetes  —  förmliches 
Liebesverhältnis,  oft  durch  Jahre,  mit  ihm  unterhielt.  In  die 
dritte  Gruppe  endlich  gehören  die  eigentlichen  Kinder- 
verhältnisse, sexuelle  Beziehungen  zwischen  zwei  Kindern 
verschiedenen  Geschlechts,  zumeist  zwischen  Geschwistern, 
die  oft  über  die  Pubertät  hinaus  fortgesetzt  werden  und  die 
nachhaltigsten  Folgen  für  das  betreffende  Paar  mit  sich 
bringen.  In  den  meisten  meiner  FäUe  ergab  sich  kombinierte 
"Wirkung  von  zwei  oder  mehreren  solcher  Ätiologien ;  in  ein- 
zelnen war  die  Häufung  der  sexuellen  Erlebnisse  von  ver- 
schiedenen Seiten  her  geradezu  erstaunlich.  Sie  verstehen 
aber  diese  Eigentümlichkeit  meiner  Beobachtungen  leicht, 
wenn  Sie  in  Betracht  ziehen,  daß  ich  durchwegs  FäUe  von 
schwerer  neurotischer  Erkrankung,  die  mit  Existenzunfähigkeit 
drohte,  zu  behandeln  hatte. 

"Wo  ein  Verhältnis  zwischen  zwei  Kindern  vorlag,  ge- 
lang nun  einige  Male  der  Nachweis,  daß  der  Knabe  —  der 
auch  hier  die  aggressive  EoUe  spielt  —  vorher  von  einer 
erwachsenen  weiblichen  Person  verführt  worden  war,  und 
daß  er  dann  unter  dem  Drucke  seiner  vorzeitig  geweckten 
Libido  und  infolge  des  Erinnerungszwanges  an  dem  kleinen 
Mädchen  genau  die  nämlichen  Praktiken  zu  wiederholen 
suchte,  die  er  bei  der  Erwachsenen  gelernt  hatte,  ohne  daß 
er  selbständig  eine  Modifikation  in  der  Art  der  sexuellen 
Betätigung  vorgenommen  hätte. 

Ich  bin  daher  geneigt,  anzunehmen,  daß  ohne  vorherige 
Verführung  Kinder  den  Weg  zu  Akten  sexueller  Aggression 
nicht   zu   finden   vermögen.    Der  Grund   zur   Neurose   würde 


168 


demnach  im  Bändesalter  immer  von  seiten  Erwachsener  ge- 
legt, und  die  Kinder  selbst  übertragen  einander  die  Dispo- 
sition, später  an  Hysterie  zu  erkranken.  Ich  bitte,  verweilen 
Sie  noch  einen  Moment  bei  der  besonderen  Häufigkeit 
sexueller  Beziehungen  im  Kindesalter  gerade  zwischen  Ge- 
schwistern und  Vettern  infolge  der  Gelegenheit  zu  häufigem 
Beisammensein,  stellen  Sie  sich  vor,  daß  10  oder  15  Jahre 
später  in  dieser  Familie  mehrere  Individuen  der  jungen 
Generation  krank  gefunden  werden,  und  fragen  Sie  sich,  ob 
dieses  familiäre  Auftreten  der  Neurose  nicht  geeignet  ist, 
zur  Annahme  einer  erblichen  Disposition  zu  verleiten,  wo 
doch  nur  eine  Pseudoheredität  vorliegt  und  in  Wirk- 
lichkeit eine  Übertragung,  eine  Infektion  in  der  Kindheit 
stattgefunden  hat. 

Nun  wenden  wir  uns  zu  dem  anderen  Einwand,  welcher 
gerade  auf  der  zugestandenen  Häufigkeit  infantiler  Sexual- 
erlebnisse und  auf  der  Erfahrimg  fußt,  daß  viele  Personen  sich 
an  solche  Szenen  erinnern,  die  nicht  hysterisch  geworden  sind. 
Dagegen  sagen  wir  zunächst,  daß  die  übergroße  Häufigkeit 
eines  ätiologischen  Momentes  unmöglich  zum  Einwurf  gegen 
dessen  ätiologische  Bedeutung  verwendet  werden  kann.  Ist 
der  Tuberkelbazillus  nicht  allgegenwärtig  und  wird  von  weit 
mehr  Menschen  eingeatmet,  als  sich  an  Tuberkulose  erkrankt 
zeigen?  Und  wird  seine  ätiologische  Bedeutung  durch  die 
Tatsache  geschädigt,  daß  er  oflfenbar  der  Mitwirkung  anderer 
Faktoren  bedarf,  um  die  Tuberkulose,  seinen  spezifischen 
Effekt  hervorzurufen?  Es  reicht  für  seine  Würdigung  als 
spezifische  Ätiologie  aus,  daß  Tuberkulose  nicht  möglich  ist 
ohne  seine  Mitwirkung.  Das  Gleiche  gilt  wohl  auch  für  unser 
Problem.  Es  stört  nicht,  wenn  viele  Menschen  infantile 
Sexualszenen  erleben  ohne  hysterisch  zu  werden;  wenn  nur 
alle,  die  hysterisch  werden,  solche  Szenen  erlebt  haben.  Der 
Kreis  des  Vorkommens  eines  ätiologischen  Faktors  darf  gerne 
ausgedehnter  sein  als  der  seines  Effektes,  nur  nicht  enger. 
Es  erkranken  nicht  alle  an  Blattern,  die  einen  Blatternkranken 
berühren  oder  ihm  nahe  kommen,  und  doch  ist  Übertragung 
von  einem  Blattemkranken  fast  die  einzige  uns  bekannte 
Ätiologie  der  Erkrankung. 


169 


Freilich,  wenn  infantile  Betätigung  der  Sexualität  ein 
fast  allgemeines  Vorkommnis  wäre,  dann  fiele  auf  deren 
Nachweis  in  allen  Fällen  kein  Gewicht.  Aber  erstens  wäre 
eine  derartige  Behauptung  sicherlich  eine  arge  Übertreibung, 
und  zweitens  ruht  der  ätiologische  Anspruch  der  infantilen 
Szenen  nicht  allein  auf  der  Beständigkeit  ihres  Vorkommens 
in  der  Anamnese  der  Hysterischeu,  sondern  vor  allem  auf 
dem  Nachweis  der  assoziativen  und  logischen  Bande  zwischen 
ihnen  und  den  hysterischen  Symptomen,  der  Ihnen  aus  einer 
vollständig  mitgeteilten  Krankengeschichte  sonnenklar  ein- 
leuchten würde. 

Welches  mögen  die  anderen  Momente  sein,  deren  die 
„spezifische  Ätiologie"  der  Hysterie  noch  bedarf,  um  die 
Neurose  wirklich  zu  produzieren?  Dies,  meine  Herren,  ist 
eigentlich  ein  Thema  für  sich,  das  ich  zu  behandeln  nicht 
vorhabe ;  ich  brauche  heute  bloß  die  Kontaktstelle  aufzuzeigen, 
an  welcher  die  beiden  Teüstücke  des  Themas  —  spezifische 
und  Hilfsätiologie  —  in  einander  greifen.  Es  wird  wohl  eine 
ziemliche  Anzahl  von  Faktoren  in  Betracht  kommen,  die  erb- 
liche und  persönliche  Konstitution,  die  innere  Bedeutsamkeit 
der  infantilen  Sexualerlebnisse,  vor  allem  deren  Häufung ;  ein 
kurzes  Verhältnis  mit  einem  firemden,  später  gleichgütigen 
Knaben  wird  an  "Wirksamkeit  zurückstehen  gegen  mehrjährige, 
innige,  sexuelle  Beziehungen  zum  eigenen  Bruder.  Es  sind  in 
der  Ätiologie  der  Neurosen  quantitative  Bedingungen  eben- 
sowohl bedeutsam  wie  qualitative;  es  sind  Schwellenwerte 
zu  überschreiten,  wenn  die  Krankheit  manifest  werden  soll. 
Ich  halte  die  obige  ätiologische  Reihe  übrigens  selbst  nicht 
für  vollzählig  und  das  Rätsel,  warum  die  Hysterie  in  den 
niederen  Ständen  nicht  häufiger  ist,  durch  sie  noch  nicht 
erledigt.  (Erinnern  Sie  sich  übrigens,  welche  überraschend 
große  Verbreitung  Charcot  für  die  männliche  Hysterie  des 
Arbeiterstandes  behauptete.)  Ich  darf  Sie  aber  auch  daran 
mahnen,  daß  ich  selbst  vor  wenigen  Jahren  auf  ein  bisher 
wenig  gewürdigtes  Moment  hingewiesen  habe,  für  welches 
ich  die  Hauptrolle  in  der  Hervorrufung  der  Hysterie  nach 
der  Pubertät  in  Anspruch  nehme.  Ich  habe  damals  ausgeführt, 
daß  sich  der  Ausbruch  der  Hysterie  fast  regelmäßig  auf  einen 


170 


psychischen  Konflikt  zurückführen  läßt,  indem  eine 
unverträgliche  Vorstellung  die  Abwehr  des  Ich  rege  mache 
und  zur  Verdrängung  auffordere.  Unter  welchen  Verhält- 
nissen dieses  Abwehrbestreben  den  pathologischen  Effekt  hat, 
die  dem  Ich  peinliche  Erinnerung  wirklich  ins  Unbewußte 
zu  drängen  und  an  ihrer  Statt  ein  hysterisches  Symptom  zu 
schaffen,  das  konnte  ich  damals  nicht  angeben.  Ich  ergänze 
es  heute:  Die  Abwehr  erreicht  dann  ihre  Absicht, 
die  unverträgliche  Vorstellung  aus  dem  Bewußt- 
sein zu  drängen,  wenn  bei  der  betreffenden,  bis 
dahin  gesunden  Person  infantile  Sexualszenen 
als  unbewußte  Erinnerungen  vorhanden  sind,und 
wenn  die  zu  verdrängende  Vorstellung  in  logi- 
schen oder  assoziativen  Zusammenhang  mit  einem 
solchen  infantilen  Erlebnis  gebracht  werden 
kann. 

Da  das  Abwehrbestreben  des  Ich  von  der  gesamten 
moralischen  und  intellektuellen  Ausbildung  der  Person  ab- 
hängt, sind  wir  nun  nicht  mehr  ohne  jedes  Verständnis  für 
die  Tatsache,  daß  die  Hysterie  beim  niederen  Volk  so  viel 
seltener  ist,  als  ihre  spezifische  Ätiologie  gestatten  würde. 

Meine  Herren,  kehren  wir  noch  einmal  zurück  zu  jener 
letzten  Gruppe  von  Einwänden,  deren  Beantwortung  uns  so 
weit  geführt  hat.  "Wir  haben  gehört  und  anerkannt,  daß  es 
zahlreiche  Personen  gibt,  die  infantile  Sexualerlebnisse  sehr 
deutlich  erinnern,  und  die  doch  nicht  hysterisch  sind.  Dieser 
Einwand  ist  ganz  ohne  Gewicht,  er  wird  uns  aber  Anlaß  zu 
einer  wertvollen  Bemerkung  bieten.  Personen  dieser  Art 
dürfen  nach  unserem  Verständnis  der  Neurose  gar  nicht 
hysterisch  sein,  oder  wenigstens  nicht  hysterisch  infolge  der 
Szenen,  die  sie  bewußt  erinnern.  Bei  unseren  E^ranken  sind 
diese  Erinnerungen  niemals  bewußt;  wir  heilen  sie  aber  von 
ihrer  Hysterie,  indem  wir  ihnen  die  unbewußten  Erinnerungen 
der  Infantilszenen  in  bewußte  verwandeln.  An  der  Tatsache, 
daß  sie  solche  Erlebnisse  gehabt  haben,  konnten  und  brauchten 
wir  nichts  zu  ändern.  Sie  ersehen  daraus,  daß  es  auf  die 
Existenz  der  infantilen  Sexualerlebnisse  aUein  nicht  ankommt, 
sondern,    daß  eine  psychologische  Bedingung  noch  dabei  ist. 


171 


Diese  Szenen  müssen  als  unbewußte  Erinnerungen 
vorhanden  sein;  nur  so  lange  und  insoferne  sie  unbewußt 
sind,  können  sie  hysterische  Symptome  erzeugen  und  unter- 
halten. Wovon  es  aber  abhängt,  ob  diese  Erlebnisse  bewußte 
oder  unbewußte  Erinnerungen  ergeben,  ob  die  Bedingung 
hiefür  im  Inhalt  der  Erlebnisse,  in  der  Zeit,  zu  der  sie  vor- 
fallen, oder  in  späteren  Einflüssen  liegt,  dies  ist  ein  neues 
Problem,  dem  wir  behutsam  aus  dem  Wege  gehen  wollen. 
Lassen  Sie  sich  bloß  daran  mahnen,  daß  uns  die  Analyse  als 
erstes  Resultat  den  Satz  gebracht  hat :  Die  hysterischen 
Symptome  sind  Abkömmlinge  unbewußt  wirkender 
Erinnerungen. 

c)  Wenn  wir  daran  festhalten,  infantile  Sexualerlebnisse 
seien  die  Grundbedingung,  sozusagen  die  Disposition  der 
Hysterie,  sie  erzeugen  die  hysterischen  Symptome  aber  nicht 
unmittelbar,  sondern  bleiben  zunächst  wirkungslos  und  wirken 
pathogen  erst  später,  wenn  sie  im  Alter  nach  der  Pubertät 
als  unbewußte  Erinnerungen  geweckt  werden,  so  haben  wir 
uns  mit  den  zahlreichen  Beobachtungen  auseinanderzusetzen, 
welche  das  Auftreten  hysterischer  Erkrankung  bereits  im 
Kindesalter  und  vor  der  Pubertät  erweisen.  Indes  löst  sich 
die  Schwierigkeit  wieder,  wenn  wir  die  aus  den  Analysen 
gewonnenen  Daten  über  die  zeitlichen  Umstände  der  infantilen 
Sexualerlebnisse  näher  betrachten.  Man  erfährt  dann,  daß  in 
unseren  schweren  FäUen  die  Bildung  hysterischer  Symptome 
nicht  etwa  ausnahmsweise,  sondern  eher  regelmäßig  mit  dem 
8.  Jahr  beginnt,  und  daß  die  Sexualerlebnisse,  die  keine 
unmittelbare  Wirkung  äußern,  jedesmal  weiter  zurückreichen, 
ins  3.,  4.,  selbst  ins  2,  Lebensjahr.  Da  in  keinem  einzigen 
FaU  die  Kette  der  wirksamen  Erlebnisse  mit  dem  8.  Jahr 
abbricht,  muß  ich  annehmen,  daß  diese  Lebensperiode,  in 
welcher  der  Wachstumsschub  der  zweiten  Dentition  erfolgt, 
für  die  Hysterie  eine  Grenze  bildet,  von  welcher  an  ihre 
Verursachung  unmöglich  wird.  Wer  nicht  frühere  Sexual- 
erlebnisse hat,  kann  von  da  an  nicht  mehr  zur  Hysterie 
disponiert  werden;  wer  solche  hat,  kann  nun  bereits  hyste- 
rische Symptome  entwickeln.  Das  vereinzelte  Vorkommen  von 
Hysterie    auch   jenseits    dieser    Altersgrenze    (vor   8   Jahren) 


172 


ließe  sich  noch  als  Erscheinung  der  Frühreife  deuten.  Die 
Existenz  dieser  Grenze  hängt  sehr  wahrscheinlich  mit  Ent- 
wicklungsvorgängen im  Sexualsystem  zusammen.  Verfrühung 
der  somatischen  Sexualentwicklung  kommt  häufig  zur  Be- 
obachtung, und  es  ist  selbst  denkbar,  daß  sie  durch  vorzeitige 
sexuelle  Reizung  befördert  werden  kann. 

Man  gewinnt  so  einen  Hinweis  darauf,  daß  ein  gewisser 
infantiler  Zustand  der  psychischen  Funktionen  wie  des 
Sexualsystems  erforderlich  ist,  damit  eine  in  diese  Periode 
fallende  sexuelle  Erfahrung  später  als  Erinnerung  pathogene 
Wirkung  entfalte.  Ich  getraue  mich  indes  noch  nicht,  über 
die  Natur  dieses  psychischen  Infantilismus  und  über  seine 
zeitliche  Begrenzung  Näheres  auszusagen. 

dj  Eine  weitere  Einwendung  könnte  etwa  daran  Anstoß 
nehmen,  daß  die  Erinnerung  der  infantilen  Sexualerlebnisse 
so  großartige  pathogene  Wirkung  äußern  soll,  während  das 
Erleben  derselben  selbst  wirkungslos  geblieben  ist.  Wir  sind 
ja  in  der  Tat  nicht  daran  gewöhnt,  daß  von  einem  Erinnerungs- 
bild Kräfte  ausgehen,  welche  dem  realen  Eindruck  gefehlt 
haben.  Sie  bemerken  hier  übrigens,  mit  welcher  Konsequenz 
bei  der  Hysterie  der  Satz  durchgeführt  ist,  daß  Symptome 
nur  aus  Erinnerungen  hervorgehen  können.  AUe  die  späteren 
Szenen,  bei  denen  die  Symptome  entstehen,  sind  nicht  die 
wirksamen,  und  die  eigentlich  wirksamen  Erlebnisse  erzeugen 
zunächst  keinen  Effekt.  Wir  stehen  aber  hier  vor  einem 
Problem,  welches  wir  mit  gutem  Recht  von  unserem  Thema 
sondern  können.  Man  fühlt  sich  freilich  zu  einer  Synthese 
aufgefordert,  wenn  man  die  Reihe  von  auffälligen  Bedingungen 
überdenkt,  zu  deren  Kenntnis  wir  gelangt  sind :  daß,  um  ein 
hysterisches  Symptom  zu  bilden,  ein  Abwehrbestreben  gegen 
eine  peinliche  Vorstellung  vorhanden  sein  muß;  daß  diese 
eine  logische  oder  assoziative  Verknüpfung  aufweisen  muß 
mit  einer  unbewußten  Erinnerung  durch  zahlreiche  oder 
wenige  Mittelglieder,  die  in  diesem  Moment  gleichfalls  un- 
bewußt bleiben;  daß  jene  unbewußte  Erinnerung  nur  sexuellen 
Inhalts  sein  kann ;  daß  sie  ein  Erlebnis  zum  Inhalt  hat,  welches 
sich  in  einer  gewissen  infantilen  Lebensperiode  zugetragen 
hat;    und   man   kann   nicht   umhin,   sich   zu   fragen,   wie   es 


173 


zugeht,  daß  diese  Erinnerung  an  ein  seinerzeit  harmloses 
Erlebnis  posthum  die  abnorme  Wirkung  äußert,  einen  psy- 
chischen Vorgang  wie  das  Abwehren  zu  einem  patholo- 
gischen Resultat  zu  leiten,  während  sie  selbst  dabei  unbewußt 
bleibt? 

Man  wird  sich  aber  sagen  müssen,  dies  sei  ein  rein 
psychologisches  Problem,  dessen  Lösung  vielleicht  bestimmte 
Annahmen  über  die  normalen  psychischen  Vorgänge  und  über 
die  Rolle  des  Bewußtseins  dabei  notwendig  macht,  das  aber 
einstweilen  ungelöst  bleiben  kann,  ohne  unsere  bisher  ge- 
wonnene Einsicht  in  die  Ätiologie  der  hysterischen  Phänomene 
zu  entwerten. 

in. 

Meine  Herren,  das  Problem,  dessen  Ansätze  ich  soeben 
formuKert  habe,  betrifft  den  Mechanismus  der  hysterischen 
Symptombildung.  Wir  sind  aber  genötigt,  die  Verursachung 
dieser  Symptome  darzustellen,  ohne  diesen  Mechanismus  in 
Betracht  zu  ziehen,  was  eine  unvermeidliche  Einbuße  an 
Abrundung  und  Durchsichtigkeit  imserer  Erörterung  mit  sich 
bringt.  Kehren  wir  zur  Rolle  der  infantilen  Sexualszenen 
zurück.  Ich  fürchte,  ich  könnte  Sie  zur  Überschätzung  von 
deren  symptomenbildender  Kraft  verleitet  haben.  Ich  betone 
darum  nochmals,  daß  jeder  Fall  von  Hysterie  Symptome  auf- 
weist, deren  Determinierung  nicht  aus  infantilen,  sondern  aus 
späteren,  oft  aus  rezenten  Erlebnissen  herstammt.  Ein  anderer 
Anteil  der  Symptome  geht  freüich  auf  die  aUerfrühesten 
Erlebnisse  zurück,  ist  gleichsam  vom  ältesten  Adel.  Dahin 
gehören  vor  allem  die  so  zahlreichen  und  mannigfaltigen 
Sensationen  und  Parästhesien  an  den  Genitalien  und  anderen 
Körp  erstellen,  die  einfach  dem  Empfindungsinhalt  der  Infantil- 
szenen in  halluzinatorischer  Reproduktion,  oft  auch  in  schmerz- 
hafter Verstärkung,  entsprechen. 

Eine  andere  Reihe  überaus  gemeiner  hysterischer  Phä- 
nomene, der  schmerzhafte  Harndrang,  die  Sensation  bei  der 
Defäkation,  Störungen  der  Darmtätigkeit,  das  Würgen  und 
Erbrechen,  Magenbeschwerden  und  Speiseekel,  gab  sich  in 
meinen  Analysen  gleichfalls  —  und  zwar  mit  überraschender 
Regelmäßigkeit  —  als  Derivat  derselben  Kindererlebnisse  zu 


174 

erkennen  und  erklärte  sich  mühelos  aus  konstanten  Eigen- 
tümlichkeiten derselben.  Die  infantilen  Sexualszenen  sind  näm- 
lich arge  Zumutungen  für  das  Gefühl  eines  sexuell  normalen 
Menschen ;  sie  enthalten  alle  Ausschreitungen,  die  von  "Wüst- 
lingen und  Impotenten  bekannt  sind,  bei  denen  Mundhöhle 
und  Darmausgang  mißbräuchlich  zu  sexueller  Verwendung  ge- 
langen. Die  Verwunderung  hierüber  weicht  beim  Arzte  alsbald 
einem  völligen  Verständnis.  Von  Personen,  die  kein  Bedenken 
tragen,  ihre  sexuellen  Bedürfnisse  an  Kindern  zu  befriedigen, 
kann  man  nicht  erwarten,  daß  sie  an  Nuancen  in  der  Weise 
dieser  Befriedigung  Anstoß  nehmen,  und  die  dem  Kindesalter 
anhaftende  sexuelle  Impotenz  drängt  unausbleiblich  zu  den- 
selben Surrogathandlungen,  zu  denen  sich  der  Erwachsene 
im  Falle  erworbener  Impotenz  erniedrigt.  Alle  die  seltsamen 
Bedingungen,  unter  denen  das  ungleiche  Paar  sein  Liebes- 
verhältnis fortführt:  der  Erwachsene,  der  sich  seinem 
Anteil  an  der  gegenseitigen  Abhängigkeit  nicht  entziehen 
kann,  wie  sie  aus  einer  sexuellen  Beziehung  notwendig  her- 
vorgeht, der  dabei  doch  mit  aller  Autorität  und  dem  Rechte 
der  Züchtigung  ausgerüstet  ist  und  zur  ungehemmten  Be- 
friedigung seiner  Launen  die  eine  Rolle  mit  der  anderen 
vertauscht;  das  Kind,  dieser  WiUkür  in  seiner  Hilflosigkeit 
preisgegeben,  vorzeitig  zu  allen  Empfindlichkeiten  erweckt 
und  aUen  Enttäuschungen  ausgesetzt,  häufig  in  der  Ausübung 
der  ihm  zugewiesenen  sexuellen  Leistungen  durch  seine 
unvollkommene  Beherrschung  der  natürUchen  Bedürfnisse 
unterbrochen  —  aUe  diese  grotesken  und  doch  tragischen  Miß- 
verhältnisse prägen  sich  in  der  ferneren  Entwicklung  des 
Individuums  und  seiner  Neurose  in  einer  Unzahl  von  Dauer- 
efifekten  aus,  die  der  eingehendsten  Verfolgung  würdig  wären. 
Wo  sich  das  Verhältnis  zwischen  zwei  Kindern  abspielt, 
bleibt  der  Charakter  der  Sexualszenen  doch  der  nämliche  ab- 
stoßende, da  ja  jedes  Kinderverhältnis  eine  vorausgegangene 
Verführung  des  einen  Kindes  durch  einen  Erwachsenen  postu- 
liert. Die  psychischen  Folgen  eines  solchen  Kinderverhältnisses 
sind  ganz  außerordentlich  tiefgreifende;  die  beiden  Personen 
bleiben  für  ihre  ganze  Lebenszeit  durch  ein  unsichtbares  Band 
miteinander  verknüpft. 


175 


Gelegentlich  sind  es  Nebenumstände  dieser  infantilen 
Sexualszenen,  welche  in  späteren  Jahren  zu  determinierender 
Macht  für  die  Symptome  der  Neurose  gelangen.  So  hat  in 
einem  meiner  FäUe  der  Umstand,  daß  das  Kind  abgerichtet 
wurde,  mit  seinem  Fuß  die  Genitalien  der  Erwachsenen  zu 
erregen,  hingereicht,  um  Jahre  hindurch  die  neurotische  Auf- 
merksamkeit auf  die  Beine  und  deren  Funktion  zu  fixieren 
und  schließlich  eine  hysterische  Paraplegie  zu  erzeugen.  In 
einem  anderen  Falle  wäre  es  rätselhaft  geblieben,  warum 
die  Kranke  in  ihren  Angstanfällen,  die  gewisse  Tagesstunden 
bevorzugten,  gerade  eine  einzige  von  ihren  zahlreichen 
Schwestern  zu  ihrer  Beruhigung  nicht  von  ihrer  Seite  lassen 
wollte,  wenn  die  Analyse  nicht  ergeben  hätte,  daß  der  Atten- 
täter seinerzeit  sich  bei  jedem  dieser  Besuche  erkundigt  hatte, 
ob  diese  Schwester  zu  Hause  sei,  von  der  er  eine  Störung  be- 
fürchten mußte. 

Es  kommt  vor,  daß  die  determinierende  Kraft  der  In- 
fantilszenen sich  so  sehr  verbirgt,  daß  sie  bei  oberflächlicher 
Analyse  übersehen  werden  muß.  Man  vermeint  dann,  man 
habe  die  Erklärung  eines  gewissen  Symptoms  im  Inhalt  einer 
der  späteren  Szenen  gefunden  und  stößt  im  Verlaufe  der 
Arbeit  auf  denselben  Inhalt  in  einer  der  Infantilszenen,  so 
daß  man  sich  schließlich  sagen  muß,  die  spätere  Szene  ver- 
danke ihrer  Kraft,  Symptome  zu  determinieren,  doch  nur  ihrer 
Übereinstimmung  mit  der  früheren.  Ich  will  darum  die  spätere 
Szene  nicht  als  bedeutungslos  hinstellen;  wenn  ich  die  Auf- 
gabe hätte,  die  Regeln  der  hysterischen  Symptombildung  vor 
Ihnen  zu  erörtern,  würde  ich  als  eine  dieser  Regeln  aner- 
kennen müssen,  daß  zum  Symptom  jene  Vorstellung  auser- 
wählt wird,  zu  deren  Hebung  mehrere  Momente  zusammen- 
wirken, die  von  verschiedenen  Seiten  her  gleichzeitig  geweckt 
wird,  was  ich  an  anderer  Stelle  durch  den  Satz  auszudrücken 
versucht  habe:  Die  hysterischen  Symptome  seien 
üb  er  determiniert. 

Noch  eines,  meine  Herrn;  ich  habe  zwar  vorhin  das 
Verhältnis  der  rezenten  Ätiologie  zur  infantilen  als  ein  be- 
sonderes Thema  beiseite  gerückt;  aber  ich  kann  doch  den 
Gegenstand    nicht    verlassen,    ohne     diesen    Vorsatz     durch 


176 


wenigstens  eine  Bemerkung  zu  übertreten.  Sie  gestehen  mir 
zu,  es  ist  vor  allem  eine  Tatsache,  die  uns  am  psycho- 
logischen Verständnis  der  hysterischen  Phänomene  irre  werden 
läßt,  die  uns  zu  warnen  scheint,  psychische  Akte  bei  Hysteri- 
schen und  bei  Normalen  mit  gleichem  Maß  zu  messen.  Es 
ist  dies  das  Mißverhältnis  zwischen  psychisch  erregendem 
Eeiz  und  psychischer  Reaktion,  das  wir  bei  den  Hysterischen 
antreffen,  welches  wir  durch  die  Annahme  einer  allgemeinen 
abnormen  Reizbarkeit  zu  decken  suchen  und  häufig  physio- 
logisch zu  erklären  bemüht  sind,  als  ob  gewisse,  der  Über- 
tragung dienende  Himorgane  sich  bei  den  Kranken  in  einem 
besonderen  chemischen  Zustande  befänden,  etwa  wie  die 
Spinalzentren  des  Strychninfrosches,  oder  sich  dem  Einflüsse 
höherer  hemmender  Zentren  entzogen  hätten,  wie  im  vivi- 
sektorischen  Tierexperiment.  Beide  Auffassungen  mögen  hier 
und  dort  zur  Erklärung  der  hysterischen  Phänomene  vollbe- 
rechtigt sein ;  das  stelle  ich  nicht  in  Abrede.  Aber  der  Haupt- 
anteil des  Phänomens,  der  abnormen,  übergroßen,  hysteri- 
schen Reaktion  auf  psychische  Reize  läßt  eine  andere  Er- 
klärung zu,  die  durch  zahllose  Beispiele  aus  den  Analysen 
gestützt  wird.  Und  diese  Erklärung  lautet:  Die  Reaktion 
der  Hysterischen  ist  eine  nur  scheinbar  über- 
triebene; sie  muß  uns  so  erscheinen,  weil  wir  nur 
einen  kleinen  Teil  der  Motive  kennen,  aus  denen 
sie  erfolgt. 

In  Wirklichkeit  ist  diese  Reaktion  proportional  dem 
erregenden  Reiz,  also  normal  und  psychologisch  verständlich. 
Wir  sehen  dies  sofort  ein,  wenn  die  Analyse  zu  den  mani- 
festen, dem  Kranken  bewußten  Motiven  jene  anderen  Motive 
hinzugefügt  hat,  die  gewirkt  haben,  ohne  daß  der  Kranke 
nm  sie  wußte,  die  er  uns  also  nicht  mitteilen  konnte. 

Ich  könnte  Stunden  damit  ausfüllen,  Ihnen  diesen  wich- 
tigen Satz  für  den  ganzen  Umfang  der  psychischen  Tätigkeit 
bei  Hysterischen  zu  erweisen,  muß  mich  aber  hier  auf  wenige 
Beispiele  beschränken.  Sie  erinnern  sich  an  die  so  häufige 
seelische  „Empfindlickeit"  der  Hysterischen,  die  sie  auf  die 
leiseste  Andeutung  einer  Geringschätzung  reagieren  läßt,  als 
seien    sie    tödlich    beleidigt    worden.    Was   würden    Sie    nun 


177 


denken,  wenn  Sie  eine  solche  hochgradige  Verletzbarkeit  bei 
geringfügigen  Anlässen  zwischen  zwei  gesunden  Menschen, 
etwa  Ehegatten,  beobachten  würden?  Sie  würden  gewiß  den 
Schluß  ziehen,  die  eheliche  Szene,  der  Sie  beigewohnt,  sei 
nicht  allein  das  Ergebnis  des  letzten  kleinlichen  Anlasses, 
sondern  da  habe  sich  durch  lange  Zeit  Zündstoff  angehäuft, 
der  nun  in  seiner  ganzen  Masse  durch  den  letzten  Anstoß 
zur  Explosion  gebracht  worden  sei. 

Bitte,  übertragen  Sie  denselben  Gedankengang  auf  die 
Hysterischen.  Nicht  die  letzte,  an  sich  minimale  Kränkung  ist 
es,  die  den  "Weinkrampf,  den  Ausbruch  von  Verzweiflung,  den 
Selbstmordversuch  erzeugt,  mit  Mißachtung  des  Satzes  von  der 
Proportionalität  des  Effekts  und  der  Ursache,  sondern  diese 
kleine  aktuelle  Kränkung  hat  die  Erinnerungen  so  vieler  und 
intensiverer  früherer  Kränkungen  geweckt  und  zur  Wirkung 
gebracht,  hinter  denen  allen  noch  die  Erinnerung  an  eine 
schwere,  nie  verwundene  Kränkung  im  Kindesalter  steckt. 
Oder:  wenn  ein  junges  Mädchen  sich  die  entsetzlichsten  Vor- 
würfe macht,  weil  sie  geduldet,  daß  ein  Knabe  zärtlich  im 
Geheimen  über  ihre  Hand  gestrichen,  und  von  da  ab  der  Neu- 
rose verfällt,  so  können  Sie  zwar  dem  Rätsel  mit  dem  Urteil 
begegnen,  das  sei  eine  abnorme,  exzentrisch  angelegte, 
hypersensitive  Person;  aber  Sie  werden  anders  denken,  wenn 
Ihnen  die  Analyse  zeigt,  daß  jene  Berührung  an  eine  andere, 
ähnliche  erinnerte,  die  in  sehr  früher  Jugend  vorfiel  und  die 
ein  Stück  aus  einem  minder  harmlosen  Ganzen  war,  so  daß 
eigentlich  die  Vorwürfe  jenem  alten  Anlaß  gelten.  Schließ- 
lich ist  das  ßätsel  der  hysterogenen  Punkte  auch  kein 
anderes;  wenn  Sie  die  eine  ausgezeichnete  Stelle  berühren, 
tun  Sie  etwas,  was  sie  nicht  beabsichtigt  haben;  Sie  wecken 
eine  Erinnerung  auf,  die  einen  KrampfanfaU  auszulösen  ver- 
mag, und  da  Sie  von  diesem  psychischen  Mittelglied  nichts 
wissen,  beziehen  Sie  den  Anfall  als  Wirkung  direkt  auf  Ihre 
Berührung  als  Ursache.  Die  Kranken  befinden  sich  in  der- 
selben Unwissenheit  und  verfallen  darum  in  ähnliche  Irr- 
tümer, sie  stellen  beständig  „falsche  Verknüpfungen'^  her 
zwischen  dem  letztbewußten  Anlaß  und  dem  von  so  viel 
Mittelgliedern  abhängigen  Effekt.  Ist  es  dem  Arzte  aber  mög- 

Fread,  Nearosanlehre.  12 


178 

lieh  geworden,  zur  Erklärung  einer  hysterisclien  Reaktion  die 
bewußten  und  die  unbewußten  Motive  zusammenzufassen,  so 
muß  er  diese  scheinbar  übermäßige  Reaktion  fast  immer  als 
eine  angemessene,  nur  in  der  Form  abnorme  anerkennen. 

Sie  werden  nun  gegen  diese  Rechtfertigung  der  hysteri- 
schen Reaktion  auf  psychische  Reize  mit  Recht  einwenden^ 
sie  sei  d.och  keine  normale,  denn  warum  benehmen  die  Ge- 
sunden sich  anders ;  warum  wirken  bei  ihnen  nicht  alle  längst 
verflossenen  Erregungen  neuerdings  mit,  wenn  eine  neue  Er- 
regung aktuell  ist?  Es  macht  ja  den  Eindruck,  als  bheben  bei 
den  Hysterischen  alle  alten  Erlebnisse  wirkungskräftig,  auf 
di«  schon  so  oft,  und  zwar  in  stürmischer  Weise  reagiert 
wurde,  als  seien  diese  Personen  unfähig,  psychische  Reize  zu 
-erledigen.  Richtig,  meine  Herren,  etwas  Derartiges  muß  man 
tatsächlich  als  wahr  annehmen.  Vergessen  Sie  nicht,  daß  die 
alten  Erlebnisse  der  Hysterischen  bei  einem  aktuellen  An- 
lasse als  unbewußte  Erinnerungen  ihre  Wirkung 
äußern.  Es  scheint,  als  ob  die  Schwierigkeit  der  Erledigung, 
die  Unmöglichkeit,  einen  aktuellen  Eindruck  in  eine  macht- 
lose Erinnerung  zu  verwandeln,  gerade  an  dem  Charakter 
des  psychisch  Unbewußten  hinge.  Sie  sehen,  der  Rest  des 
Problems  ist  wiederum  Psychologie,  und  zwar  Psychologie 
von  einer  Art,  für  welche  uns  die  Philosophen  wenig  Vor- 
arbeit geleistet  haben. 

Auf  diese  Psychologie,  die  für  unsere  Bedürfnisse  erst  zu 
erschaffen  ist  —  auf  die  zukünftige  Neurosenpsychologie  — 
muß^  ich  Sie  auch  verweisen,  wenn  ich  Ihnen  zum  Schlüsse 
eine  Mitteilung  mache,  von  ^er  Sie  zunächst  eine  Störung 
unseres  beginnenden  Verständnisses  für  die  Ätiologie  der 
Hysterie  besorgen  werden.  Ich  muß  es  nänüich  aussprechen, 
daß  die  ätiologische  Rolle  der  infantilen  Sexualerlebnisse 
nicht  auf  das  Gebiet  der  Hysterie  eingeschränkt  ist,  sondern 
in  gleicher  Weise  für  die  i^erkwürdige  Neurose  der  Zwangs- 
vorstellungen, ja  vielleicht  auch  für  die  Formen  der  chroni- 
schen Paranoia  und  andere  funktionelle  Psychosen  Geltung 
hat.  Ich  drücke  mich  hierbei  minder  bestimmt  aus,  weil  die 
Anzahl  meiner  .Analysen  von  Zwangsneurosen  noch  weit 
hinter   der   von   Hysterien   zurücksteht;    von   Paranoia    habe 


179 

ich  gar  nur  eine  einzige  ausreicliende  und  einige  fragmenta- 
risciie  Analysen  zur  Verfugung.  Aber  was  ich  da  gefunden, 
schien  mir  verläßhch  und  hat  mich  mit  sicheren  Erwartungen 
für  andere  Fälle  erfüllt. -Sie  erinnern  sich  vielleicht,  daß  ich 
für  die  Zusammenfassung  von  Hysterie  und  Zwangsvorstellungen 
unter  dem  Titel  „Abwehrneurosen"  bereits  früher  ein- 
getreten bin,  ehe  mir  noch  die  Gemeinsamkeit  der  infantilen 
Ätiologie  bekannt  war.  Nun  muß  ich  hinzufügen  —  was 
man  freilich  nicht  allgemein  zu  erwarten  braucht  —  daß 
meine  Fälle  von  Zwangsvorstellung  sämtlich  einen  Unter- 
grund von  hysterischen  Symptomen,  meist  Sensationen  und 
Schmerzen,  erkennen  Keßen,  die  sich  gerade  auf  die  ältesten 
Kindererlebnisse  zurückleiteten.  "Worin  liegt  nun  die  Ent- 
scheidung, ob  aus  den  unbewußt  gebhebenen  infantilen  Sexual- 
szenen später  Hysterie  oder  Zwangsneurose  oder  gar  Para- 
noia hervorgehen  soll,  wenn  sich  die  anderen  pathogenen 
Momente  hinzugesellt  haben?  Diese  Vermehrung  unserer  Er- 
kenntnisse scheint  ja  dem  ätiologischen  "Wert  dieser  Szenen 
Eintrag  zu  tun,  indem  sie  die  Spezifität  der  ätiologischen 
Relation  aufhebt. 

Ich  bin  noch  nicht  in  der  Lage,  meine  Herren,  eine 
verläßHche  Antwort  auf  diese  Frage  zu  geben.  Die  Anzahl 
meiner  analysierten  Fälle,  die  Mannigfaltigkeit  der  Bedingungen 
in  ihnen,  ist  nicht  groß  genug  hiefür.  Ich  merke  bis  jetzt, 
daß  die  Zwangsvorstellungen  bei  der  Analyse  regelmäßig  als 
verkappte  und  verwandelte  Vorwürfe  wegen  sexueller 
Aggressionen  im  Kindesalter  zu  entlarven  sind, 
daß  sie  darum  bei  Männern  häufiger  gefunden  werden  als  bei 
Frauen,  und  häufiger  bei  ihnen  sich  entwickeln  als  Hysterie. 
Ich  könnte  daraus  schließen,  daß  der  Charakter  der  Infantil- 
szenen, ob  sie  mit  Lust  oder  nur  passiv  erlebt  werden,  einen 
bestimmenden  Einfluß  auf  die  Auswahl  der  späteren  Neurose 
hat,  aber  ich  möchte  auch  den  Einfluß  des  Alters,  in  dem 
diese  Kinderaktionen  vorfallen,  und  anderer  Momente  nicht 
unterschätzen.  Hierüber  muß  erst  die  Diskussion  weiterer 
Analysen  Aufschluß  geben ;  wenn  es  aber  klar  sein  wird,  welche 
Momente  die  Entscheidung  zwischen  den  möglichen  Formen 
der  Abwehmeuropsychosen  beherrschen,  wird  es  wiederum  ein 

12* 


180 


rein  psychologisches  Problem  sein,  kraft  welches  Mechanismus 
die  einzelne  Form  gestaltet  wird. 

Ich  bin  nun  zum  Ende  meiner  heutigen  Erörterungen 
gelangt.  Auf  "Widerspruch  und  Unglauben  gefaßt,  möchte  ich 
meiner  Sache  nur  noch  eine  Befürwortung  mit  auf  den  "Weg 
geben.  Wie  immer  Sie  meine  Resultate  aufnehmen  mögen, 
ich  darf  Sie  bitten,  dieselben  nicht  für  die  Frucht  wohlfeiler 
Spekulation  zu  halten.  Sie  ruhen  auf  mühsehger  Einzel- 
erforschung der  Kranken,  die  bei  den  meisten  Fällen  hundert 
Arbeitsstunden  und  darüber  verweilt  hat.  "Wichtiger  noch  als 
Ihre  "Würdigung  der  Ergebnisse  ist  mir  Ihre  Aufmerksamkeit 
für  das  Verfahren,  dessen  ich  mich  bedient  habe,  das  neu- 
artig, schwierig  zu  handhaben  und  doch  unersetzHch  für 
wissenschaftliche  und  therapeutische  Zwecke  ist.  Sie  sehen 
wohl  ein,  man  kann  den  Ergebnissen,  zu  denen  diese  modi- 
fizierte Breuer'sche  Methode  führt,  nicht  gut  widersprechen, 
wenn  man  die  Methode  beiseite  läßt  und  sich  nur  der  ge- 
wohnten Methode  des  Krankenexamens  bedient.  Es  wäre  ähn- 
lich, als  wollte  man  die  Funde  der  histologischen  Technik 
mit  der  Berufung  auf  die  makroskopische  Untersuchung  wider- 
legen. Indem  die  neue  Forschungsmethode  den  Zugang  zu 
einem  neuen  Element  des  psychischen  Geschehens,  zu  den 
unbewußt  gebliebenen,  nach  Breuer's  Ausdruck  „bewußt- 
seinsunfähigen" Denkvorgängen  breit  eröffiiet,  winkt  sie 
uns  mit  der  Hoffnung  eines  neuen,  besseren  "Verständnisses 
aller  funktionellen  psychischen  Störungen.  Ich  kann  es  nicht 
glauben,  daß  die  Psychiatrie  es  noch  lange  aufschieben  wird, 
sich  dieses  neuen  Weges  zur  Erkenntnis  zu  bedienen. 


XI. 

Die  Sexualität  in  der  Ätiologie  der  Neurosen.  0 

Dirrcli  eingehende  Untersuchiingen  bin  ich.  in  den  letzten 
Jahren  zur  Erkenntnis  gelangt,  daß  Momente  aus  dem  Sexual- 
leben die  nächsten  und  praktisch  bedeutsamsten  Ursachen 
eines  jeden  Falles  von  neurotischer  Erkrankung  darstellen. 
Diese  Lehre  ist  nicht  völlig  neu ;  eine  gewisse  Bedeutung  ist 
den  sexuellen  Momenten  in  der  Ätiologie  der  Neurosen  von 
jeher  und  von  allen  Autoren  eingeräumt  worden;  für  manche 
Unterströmungen  in  der  Medizin  ist  die  Heilung  von  „Sexual- 
beschwerden" und  von  „Nervenschwäche"  immer  in  einem 
einzigen  Versprechen  vereint  gewesen.  Es  wird  also  nicht 
schwer  halten,  dieser  Lehre  die  Originalität  zu  bestreiten, 
wenn  man  einmal  darauf  verzichtet  haben  wird,  ihre  Triftig- 
keit zu  leugnen. 

Li  einigen  kürzeren  Aufsätzen,  die  in  den  letzten  Jahren 
im  „Neurologischen  Centralblatt",  in  der  „Revue  neurologique" 
und  in  der  „Wiener  kHnischen  Rundschau"  erschienen  sind, 
habe  ich  versucht,  das  Material  und  die  Gesichtspunkte  an- 
zudeuten, welche  der  Lehre  von  der  „sexuellen  Ätiologie  der 
Neurosen"  eine  wissenschaftHche  Stütze  bieten.  Eine  ausführ- 
liche Darstellung  steht  noch  aus,  und  zwar  wesentlich  darum, 
weil  man  bei  der  Bemühung,  den  als  tatsächlich  erkannten 
Zusammenhang  aufzuklären,  zu  immer  neuen  Problemen  ge- 
langt, für  deren  Lösung  es  an  Vorarbeiten  fehlt.  Keineswegs 
verfrüht  erscheint  mir  aber  der  Versuch,  das  Interesse  des 
praktischen  Arztes  auf  die  von  mir  behaupteten  Verhältnisse 
zu  lenken,  damit  er  sich  in  Einem  von  der  Richtigkeit  dieser 
Behauptungen  und  von  den  Vorteilen  überzeuge,  welche  er 
für  sein  ärzthches  Handeln  aus  ihrer  Erkenntnis  ableiten  kann. 


^)  Wiener  klinische  Rundschau,  1898,  Nr.  2,  4,  5  und  7. 


182 


Ich  weiß,  daß  es  an  Bemühungen  nicht  fehlen  wird, 
den  Arzt  durch  ethisch  gefärbte  Argumente  von  der  Ver- 
folgung dieses  Gregenstandes  abzuhalten.  Wer  sich  bei  seinen 
Kranken  überzeugen  wiU,  ob  ihre  Neurosen  wirkHch  mit  ihrem 
Sexualleben  zusammenhängen,  der  kann  es  nicht  vermeiden, 
sich  bei  ihnen  nach  ihrem  Sexualleben  zu  erkundigen  und 
auf  wahrheitsgetreue  Aufklärung  über  dasselbe  zu  dringen. 
Darin  soll  aber  die  G-efahr  für  den  Einzelnen  wie  für  die 
Gesellschaft  liegen.  Der  Arzt,  höre  ich  sagen,  hat  kein  E-echt, 
sich  in  die  sexuellen  Geheimnisse  seiner  Patienten  einzudrängen, 
ihre  Schamhaftigkeit  —  besonders  der  weiblichen  Personen 
—  durch  solches  Examen  gröbUch  zu  verletzen.  Seine  un- 
geschickte Hand  kann  nur  Familienglück  zerstören,  bei  jugend- 
lichen Personen  die  Unschuld  beleidigen  und  der  Autorität 
der  Eltern  vorgreifen;  bei  Erwachsenen  wird  er  unbequeme 
Mitwisserschaft  erwerben  und  sein  eigenes  Verhältnis  zu  seinen 
Kranken  zerstören.  Es  sei  also  seine  ethische  Pflicht,  der 
ganzen  sexuellen  Angelegenheit  ferne  zu  bleiben. 

Man  darf  wohl  antworten:  Das  ist  die  Äußerung  einer 
des  Arztes  unwürdigen  Prüderie,  die  mit  schlechten  Argumenten 
ihre  Blöße  mangelhaft  verdeckt.  Wenn  Momente  aus  dem 
Sexualleben  wirklich  als  Krankheitsursachen  zu  erkennen  sind, 
so  fällt  die  Ermittlung  und  Besprechung  dieser  Momente  eben 
hiedurch  ohne  weiteres  Bedenken  in  den  Pflichtenkreis  des 
Arztes.  Die  Verletzung  der  Schamhaftigkeit,  die  er  sich  dabei 
zuschulden  kommen  läßt,  ist  keine  andere  und  keine  ärgere, 
sollte  man  meinen,  als  wenn  er,  um  eine  örtliche  AfFektion 
zu  heilen,  auf  der  Inspektion  der  weiblichen  Genitalien  be- 
steht, zu  welcher  Forderung  ihn  die  Schule  selbst  verpflichtet. 
Von  älteren  Frauen,  die  ihre  Jugendjahre  in  der  Provinz 
zugebracht  haben,  hört  man  oft  noch  erzählen,  daß  sie  einst 
durch  übermäßige  Genitalblutungen  bis  zur  Erschöpfung 
heruntergekommen  waren,  weil  sie  sich  nicht  entschließen 
konnten,  einem  Arzte  den  AnbHck  ihrer  Nacktheit  zu  gestatten. 
Der  erziehliche  Einfluß,  der  von  den  Ärzten  auf  das  Publikum 
geübt  wird,  hat  es  im  Laufe  einer  Generation  dahin  gebracht, 
daß  bei  unseren  jungen  Frauen  solches  Sträuben  nur  höchst 
selten  vorkommt.  Wo  es  sich  träfe,  würde  es  als  unverständige 


183 


Prüderie,  als  Scham  am  um-ecliten  Orte  verdammt  werden. 
Leben  v/ir  denn  in  der  Türkei,  würde  der  Ehemann  fragen, 
wo  die  kranke  Frau  dem  Arzte  nur  den  Arm  durch  ein  Loch 
in  der  Mauer  zeigen  darf?! 

Es  ist  nicht  richtig,  daß  das  Examen  und  die  Mit- 
wisserschaft in  sexuellen  Dingen  dem  Arzte  eine  gefährliche 
Machtfülle  gegen  seine  Patienten  verschafft.  Derselbe  Ein- 
wand konnte  sich  mit  mehr  Berechtigung  seinerzeit  gegen 
die  Anwendung  der  Narkose  richten,  durch  welche  der  Kranke 
seines  Bewußtseins  und  seiner  "Willensbestimmung  beraubt, 
und  es  in  die  Hand  des  Arztes  gelegt  wird,  ob  und-  wann  er 
sie  wieder  erlangen  soll.  Doch  ist  uns  heute  die  Narkose 
unentbehrlich  geworden,  weil  sie  dem  ärztlichen  Bestreben, 
zu  helfen,  dienlich  ist  wie  nichts  anderes,  und  der  Arzt  hat 
die  Verantwortlichkeit  für  die  Narkose  unter  seine  anderen 
ernsten  Verpflichtungen  aufgenommen. 

Der  Arzt  kann  in  allen  Fällen  Schaden  stiften,  wenn 
er  ungeschickt  oder  gewissenlos  ist,  in  anderen  Fällen  nicht 
mehr  und  nicht  minder,  als  bei  der  Forschung  nach  dem 
Sexualleben  seiner  Patienten.  Freüich,  wer  in  einem  schätzens- 
werten Ansatz  zur  Selbsterkenntnis  sich  nicht  das  Takt- 
gefühl, den  Ernst  und  die  Verschwiegenheit  zutraut,  deren 
er'  für  das  Examen  der  Neurotiker  bedarf,  wer  von  sich  weiß, 
daß  Enthüllungen  aus  dem  Sexualleben  lüsternen  Kitzel  an- 
statt wissenschaftUchen  Interesses  bei  ihm  hervorrufen  werden, 
der  tut  recht  daran,  dem  Thema  der  Ätiologie  der  Neurosen 
fernzubleiben.  Wir  verlangen  nur  noch,  daß  er  sich  auch  von 
der  Behandlung  der  Nervösen  fernhalte. 

Es  ist  auch  nicht  richtig,  daß  die  Kranken  einer  Er- 
forschung ihres  Sexuallebens  unüberwindliche  Hindemisse  ent- 
gegensetzen. Erwachsene  pflegen  sich  nach  kurzem  Zögern 
mit  den  "Worten  zurechtzurücken:  Ich  bin  doch  beim  Arzte; 
dem  darf  man  alles  sagen.  Zahlreiche  Frauen,  die  an  der 
Aufgabe,  ihre  sexuellen  G-efühle  zu  verbergen,  schwer  genug 
durchs  Leben  zu  tragen  haben,  finden  sich  erleichtert,  wenn 
sie  beim  Arzte  merken,  daß  hier  keine  andere  Rücksicht 
über  die  ihrer  Heilung  gesetzt  ist,  und  danken  es  ihm,  daß 
sie  sich  auch  einmal  in  sexuellen  Dingen  rein  menschlich  ge- 


184 

berden  dürfen.  Eine  dunkle  Kenntnis  der  vorwaltenden  Be- 
deutung sexueller  Momente  für  die  Entstehung  der  Nervo- 
sität, wie  ich  sie  für  die  "Wissenschaft  neu  zu  gewinnen 
suche,  scheint  im  Bewußtsein  der  Laien  überhaupt  nie  unter- 
gegangen zu  sein.  Wie  oft  erlebt  man  Szenen  wie  die  fol- 
gende: Man  hat  ein  Ehepaar  vor  sich,  von  dem  ein  Teil 
an  Neurose  leidet.  Nach  vielen  Einleitungen  und  Entschul- 
digungen, daß  es  für  den  Arzt,  der  in  solchen  Fällen  helfen 
will,  konventionelle  Schranken  nicht  geben  darf  u.  dgl.,  teilt 
man  den  Beiden  mit,  man  vermute,  der  Grund  der  Krank- 
heit liege  in  der  unnatürlichen  und  schädlichen  Art  des 
sexuellen  Verkehres,  die  sie  seit  der  letzten  Entbindung  der 
Frau  gewählt  haben  dürften.  Die  Arzte  pflegen  sich  um  diese 
Verhältnisse  in  der  Regel  nicht  zu  kümmern,  allein  das  sei 
nur  verwerflich,  wenn  auch  die  Kranken  nicht  gerne  davon 
hören  usw.  Dann  stößt  der  eine  Teil  den  anderen  an  und 
sagt :  Siehst  du,  ich  habe  es  dir  gleich  gesagt,  das  wird  mich 
krank  machen.  Und  der  andere  antwortet:  Ich  hab'  mir's  ja 
auch  gedacht,  aber  was  soll  man  tun? 

Unter  gewissen  anderen  Umständen,  etwa  bei  jungen 
Mädchen,  die  ja  systematisch  zur  Verhehlung  ihres  Sexual- 
lebens erzogen  werden,  wird  man  sich  mit  einem  recht  be- 
scheidenen Maße  von  aufrichtigem  Entgegenkommen  begnügen 
müssen.  Es  fällt  aber  hier  ins  Gewicht,  daß  der  kundige  Arzt 
seinen  Kranken  nicht  unvorbereitet  entgegentritt  und  in  der 
Regel  nicht  Aufklärung,  sondern  bloß  Bestätigung  seiner  Ver- 
mutungen von  ihnen  zu  fordern  hat.  "Wer  meinen  Anweisungen 
folgen  will,  wie  man  sich  die  Morphologie  der  Neurosen  zu- 
rechtzulegen und  ins  Ätiologische  zu  übersetzen  hat,  dem 
brauchen  die  Kranken  nur  wenig  Geständnisse  mehr  zu 
machen.  In  der  nur  allzu  bereitwillig  gegebenen  Schilderung 
ihrer  Krankheitssymptome  haben  sie  ihm  meist  die  Kenntnis 
der  dahinter  verborgenen  sexuellen  Faktoren  mitverraten. 

Es  wäre  von  großem  Vorteil,  wenn  die  Kranken  besser 
wüßten,  mit  welcher  Sicherheit  dem  Arzte  die  Deutung  ihrer 
neurotischen  Beschwerden  und  der  Rückschluß  von  ihnen  auf 
die  wirksame  sexuelle  Ätiologie  nunmehr  möglich  ist.  Es  wäre 
sicherlich  ein  Antrieb  für  sie,    auf  die  Heimlichkeit  von  dem 


185 


Allgenblicke  an  zu  verzichten,  da  sie  sich  entschlossen  haben, 
für  ihr  Leiden  um  Hilfe  zu  bitten.  Wir  haben  aber  alle  ein 
Interesse  daran,  daß  auch  in  sexuellen  Dingen  ein  höherer 
Grad  von  Aufrichtigkeit  unter  den  Menschen  Pflicht  werde, 
als  er  bis  jetzt  verlangt  wird.  Die  sexuelle  Sittlichkeit  kann 
dabei  nur  gewinnen.  Gegenwärtig  sind  wir  in  Sachen  der 
SexuaHtät  samt  und  sonders  Heuchler,  Kranke  wie  Gesunde. 
Es  wird  uns  nur  zugute  kommen,  wenn  im  Gefolge  der  all- 
gemeinen Aufrichtigkeit  ein  gewisses  Maß  von  Duldung  in 
sexuellen  Dingen  zur  Geltung  gelangt. 

Der  Arzt  hat  gewöhnlich  ein  sehr  geringes  Interesse  an 
manchen  der  Fragen,  welche  unter  den  Neuropathologen  in 
betreff  der  Neurosen  diskutiert  werden,  etwa  ob  man  Hysterie 
und  Neurasthenie  strenge  zu  sondern  berechtigt  ist,  ob  man 
eine  Hystero-Neurasthenie  daneben  unterscheiden  darf,  ob 
man  das  ZwangsvorsteUen  zur  Neurasthenie  rechnen  oder  als 
besondere  Neurose  anerkennen  soll  u.  dgl.  m.  Wirklich 
dürfen  auch  solche  Distinktionen  dem  Arzte  gleichgiltig  sein, 
so  lange  sich  an  die  getroffene  Entscheidung  weiter  nichts 
knüpft,  keine  tiefere  Einsicht  und  kein  Fingerzeig  für  die 
Therapie,  so  lange  der  Kranke  in  aUen  Fällen  in  die  Wasser- 
heilanstalt geschickt  wird,  oder  zu  hören  bekommt  —  daß  ihm 
nichts  fehlt.  Anders  aber,  wenn  man  unsere  Gesichtspunkte 
über  die  ursächlichen  Beziehungen  zwischen  der  Sexualität 
und  den  Neurosen  annimmt.  Dann  erwacht  ein  neues  Interesse 
für  die  Symptomatologie  der  einzelnen  neurotischen  Fälle,  und 
es  gelangt  zur  praktischen  Wichtigkeit,  daß  man  das  kom- 
plizierte Bild  richtig  in  seine  Komponenten  zu  zerlegen  und 
diese  richtig  zu  benennen  verstehe.  Die  Morphologie  der 
Neurosen  ist  nämlich  mit  geringer  Mühe  in  Ätiologie  zu 
übersetzen,  und  aus  der  Erkenntnis  dieser  leiten  sich,  wie 
selbstverständlich,  neue  therapeutische  Anweisungen  ab. 

Die  bedeutsame  Entscheidung  nun,  di«  jedesmal  durch 
sorgfältige  Würdigung  der  Symptome  sicher  getroffen  werden 
kann,  geht  dahin,  ob  der  Fall  die  Charaktere  einer  Neurasthenie 
oder  einer  Psychoneurose  (Hysterie,  ZwangsvorsteUen)  an 
sich  trägt.  (Es  kommen  ungemein  häufig  MischfäUe  vor,  in 
denen    Zeichen    der    Neurasthenie    mit   denen   einer    Psycho- 


186 


neurose  vereinigt  sind ;  wir  wollen  aber  deren  Würdigung 
für  später  aufsparen.)  Nur  bei  den  Neurasthenien  hat  das 
Examen  der  Kranken  den  Erfolg,  die  ätiologischen  Momente 
aus  dem  Sexualleben  aufzudecken;  dieselben  sind  dem  Kranken, 
wie  natürlich,  bekannt  und  gehören  der  Gegenwart,  richtiger 
der  Lebenszeit  seit  der  Geschlechtsreife  an  (wenngleich  auch 
diese  Abgrenzung  nicht  alle  Fälle  einzuschheßen  gestattet). 
Bei  den  Psychoneurosen  leistet  ein  solches  Examen  wenig; 
es  verschafft  uns  etwa  die  Kenntnis  von  Momenten,  die  man 
als  Veranlassungen  anerkennen  muß,  und  die  mit  dem  Sexual- 
leben zusammenhängen  oder  auch  nicht;  im  ersteren  Falle 
zeigen  sie  sich  dann  nicht  von  anderer  Art  als  die  ätiologischen 
Momente  der  Neurasthenie,  lassen  also  eine  spezifische  Be- 
ziehung zur  Verursachung  der  Psychoneurose  durchaus  ver- 
missen. Und  doch  liegt  auch  die  Ätiologie  der  Psychoneurosen 
in  jedem  Falle  wiederum  im  Sexuellen.  Auf  einem  merk- 
würdigen Umwege,  von  dem  später  die  Rede  sein  wird,  kann 
man  zur  Kenntnis  dieser  Ätiologie  gelangen  und  begreiflich 
finden,  daß  der  Kranke  uns  von  ihr  nichts  zu  sagen  wußte. 
Die  Ereignisse  und  Einwirkungen  nämlich,  welche  jeder 
Psychoneurose  zugrunde  liegen,  gehören  nicht  der  Aktualität 
an,  sondern  einer  längst  vergangenen,  sozusagen  prähistorischen 
Lebensepoche,  der  frühen  Kindheit,  und  darum  sind  sie  auch 
dem  Kranken  nicht  bekannt.  Er  hat  sie  —  in  einem  bestimmten 
Sinne  nur  —  vergessen. 

Sexuelle  Ätiologie  also  in  allen  Fällen  von  Neurose; 
aber  bei  den  Neurasthenien  solche  von  aktueller  Art,  bei  den 
Psychoneurosen  Momente  infantiler  Natur;  dies  ist  der  erste 
große  Gegensatz  in  der  Ätiologie  der  Neurosen.  Ein  zweiter 
ergibt  sich,  wenn  man  einem  Unterschiede  in  der  Symptomatik 
der  Neurasthenie  selbst  Rechnung  trägt.  Hier  finden  sich 
einerseits  Fälle,  in  denen  sich  gewisse  für  die  Neurasthenie 
charakteristische  Beschwerden  in  den  Vordergrund  drängen: 
Der  Kopfdruck,  die  Ermüdbarkeit,  die  Dyspepsie,  die  Stuhl- 
verstopfung, die  Spinalirritation  usf.  In  anderen  Fällen  treten 
diese  Zeichen  zurück,  und  das  Krankheitsbüd  setzt  sich  aus 
anderen  Symptomen  zusammen,  die  sämtlich  eine  Beziehung 
zum    Kernsymptom,    der    „Angst",     erkennen     lassen    (freie 


187 


Ängstlichkeit,  Unruhe,  Er  wartungsangst,  komplete,  rudimentäre 
und  supplementäre  Angstanfälle,  Iqkomotorischer  Schwindel, 
Agoraphobie,  Schlaflosigkeit,  Schmerzsteigerung,  usw.)  Ich 
habe  dem  ersten  Typus  von  Neurasthenie  seinen  Namen 
belassen,  den  zweiten  aber  als  „Angstneurose"  ausgezeichnet, 
und  diese  Scheidimg  an  anderem  Orte  begründet,  woselbst 
auch  der  Tatsache  des  in  der  Eegel  gemeinsamen  Vorkommens 
beider  Neurosen  Rechnung  getragen  wird.  Für  unsere  Zwecke 
genügt  die  Hervorhebung,  daß  der  symptomatischen  Ver- 
schiedenheit beider  Formen  ein  Unterschied  der  Ätiologie 
parallel  geht.  Die  Neurasthenie  läßt  sich  jedesmal  auf  einen 
Zustand  des  Nervensystems  zurückführen,  wie  er  durch 
exzessive  Masturbation  erworben  wird  oder  durch  gehäufte 
Pollutionen  spontan  entsteht ;  bei  der  Angstneurose  findet  man 
regelmäßig  sexuelle  Einflüsse,  denen  das  Moment  der  Zurück- 
haltung oder  der  unvollkommenen  Befriedigung  gemeinsam 
ist,  wie:  Coitus  interruptus,  Abstinenz  bei  lebhafter  Libido, 
sogenannte  frustrane  Erregung  u.  dgl.  In  dem  kleinen  Auf- 
satze, welcher  die  Angstneurose  einzuführen  bemüht  war, 
habe  ich  die  Formel  ausgesprochen,  die  Angst  sei  überhaupt 
eine  von  ihrer  Verwendung  abgelenkte  Libido. 

"Wo  in  einem  FaUe  Symptome  der  Neurasthenie  und 
der  Angstneurose  vereinigt  sind,  also  ein  MischfaU  vorliegt, 
da  hält  man  sich  an  den  empirisch  gefundenen  Satz,  daß  einer 
Vermengung  von  Neurosen  ein  Zusammenwirken  von  mehreren 
ätiologischen  Momenten  entspricht,  und  wird  seine  Erwartung 
jedesmal  bestätigt  finden.  Wie  oft  diese  ätiologischen  Momente 
durch  den  Zusammenhang  der  sexuellen  Vorgänge  organisch 
miteinander  verknüpft  sind,  z.  B.  Coitus  interruptus  oder 
ungenügende  Potenz  des  Mannes  mit  der  Masturbation,  dies 
wäre  einer  Ausführung  im  einzelnen  wohl  würdig. 

Wenn  man  den  vorliegenden  Fall  von  neurasthenischer 
Neurose  sicher  diagnostiziert  und  dessen  Symptome  richtig 
gruppiert  hat,  so  darf  man  sich  die  Symptomatik  in  Ätiologie 
übersetzen  und  dann  von  den  Kranken  dreist  die  Bekräftigung 
seiner  Vermutungen  verlangen.  Anfänglicher  "Widerspruch  darf 
einen  nicht  irre  machen ;  man  besteht  fest  auf  dem,  was  man 
erschlossen  hat,  und  besiegt  endhch  jeden  Widerstand  dadurch. 


188 


daß  man  die  Unerschütterlichkeit  seiner  tjberzeugung  betont. 
Man  erfährt  dabei  allerlei  aus  dem  Sexualleben  der  Menschen, 
womit  sich  ein  nützliches  und  lehrreiches  Buch  füllen  ließe, 
lernt  es  auch  nach  jeder  Richtung  hin  bedauern,  daß  die 
Sexualwissenschaft  heutzutage  noch  als  unehrlich  gilt.  Da 
kleinere  Abweichungen  von  einer  normalen  vita  sexualis  viel 
zu  häufig  sind,  als  daß  man  ihrer  Auffindung  Wert  beilegen 
dürfte,  wird  man  bei  seinen  neiu-otisch  Kranken  nur  schwere 
und  lange  Zeit  fortgesetzte  Abnormität  des  Sexuallebens  als 
Aufklärung  gelten  lassen;  daß  man  aber  durch  sein  Drängen 
einen  Kranken,  der  psychisch  normal  ist,  veranlassen  könnte, 
sich  selbst  fälschlich  sexueller  Vergehen  zu  bezichtigen,  das 
darf  man  getrost  als  eine  imaginäre  Gefahr  vernachlässigen. 

Verfährt  man  in  dieser  Weise  mit  seinen  Kranken,  so 
erwirbt  man  sich  auch  die  Überzeugung,  daß  es  für  die 
Lehre  von  der  sexuellen  Ätiologie  der  Neurasthenie  negative 
Fälle  nicht  gibt.  Bei  mir  wenigstens  ist  diese  Überzeugung 
so  sicher  geworden,  daß  ich  auch  den  negativen  Ausfall  des 
Examens  diagnostisch  verwertet  habe,  nämlich  um  mir  zu 
sagen,  daß  solche  Fälle  keine  Neurasthenie  sein  können.  So 
kam  ich  mehrmals  dazu,  eine  progressive  Paralyse  anstatt  einer 
Neurasthenie  anzunehmen,  weil  es  mir  nicht  gelungen  war, 
die  nach  meiner  Lehre  erforderliche  ausgiebige  Masturbation 
nachzuweisen,  und  der  Verlauf  dieser  Fälle  gab  mir  nach- 
träglich Recht.  Ein  andermal,  wo  der  Kranke,  bei  Abwesenheit 
deutlicher  organischer  Veränderungen,  über  Kopfdruck,  Kopf- 
schmerzen und  Dyspepsie  klagte  und  meinen  sexuellen  Ver- 
dächtigungen mit  Aufrichtigkeit  und  überlegener  Sicherheit 
begegnete,  fiel  es  mir  eiu,  eine  latente  Eiterung  in  einer  der 
Nebenhöhlen  der  Nase  zu  vermuten,  und  ein  spezialistisch 
geschulter  Kollege  bestätigte  diesen  aus  dem  sexuell  negativen 
Examen  gezogenen  Schluß,  indem  er  den  Kranken  durch 
Entleerung  von  foetidem  Eiter  aus  einer  Highmorshöhle  von 
seinen  Beschwerden  befreite. 

Der  Anschein,  als  ob  es  dennoch  „negative  Fälle"  gäbe, 
kann  auch  auf  andere  Weise  entstehen.  Das  Examen  weist 
mitunter  ein  normales  Sexualleben  bei  Personen  nach,  deren 
Neurose  einer  Neurasthenie  oder  einer  Angstneurose  für  ober- 


189 


flächliche  Beobachtung  wirklich  genug  ähnlich  sieht.  Tiefer 
eindringende  Untersuchung  deckt  aber  dann  regelmäßig  den 
wahren  Sachverhalt  auf.  Hinter  solchen  Fällen,  die  man  für 
Neurasthenie  gehalten  hat,  steckt  eine  Psychoneurose,  eine 
Hysterie  oder  Zwangsneurose.  Die  Hysterie  insbesondere,  die 
so  viele  organische  Affektionen  nachahmt,  kann  mit  Leichtigkeit 
eine  der  aktuellen  Neurosen  vortäuschen,  indem  sie  deren 
Symptome  zu  hysterischen  erhebt.  Solche  Hysterien  in  der 
Form  der  Neurasthenie  sind  nicht  einmal  sehr  selten.  Es  ist 
aber  keine  wohlfeile  Auskunft,  wenn  man  für  die  Neurasthenien 
mit  sexuell  negativer  Auskunft  auf  die  Psychoneurosen  re- 
kurriert ;  man  kann  den  Nachweis  hiefür  führen  auf  j  enem 
WegBj  der  allein  eine  Hysterie  untrügUch  entlarvt,  auf  dem 
Wege  der  später  zu  erwähnenden  Psychoanalyse. 

Vielleicht  wird  nun  Mancher,  der  gerne  bereit  ist,  der 
sexuellen  Ätiologie  bei  seinen  neurasthenisch  Kranken 
Rechnung  zu  tragen,  es  doch  als  eine  Einseitigkeit  rügen, 
wenn  er  nicht  aufgefordert  wird,  auch  den  anderen  Momenten, 
die  als  Ursachen  der  Neurasthenie  bei  den  Autoren  allgemein 
erwähnt  sind,  seine  Aufmerksamkeit  zu  schenken.  Es  fällt 
mir  nun  nicht  ein,  die  sexuelle  Ätiologie  bei  den  Neurosen 
jeder  anderen  zu  substituieren,  so  daß  ich  deren  "Wirksamkeit 
für  aufgehoben  erklären  würde.  Das  wäre  ein  Mißverständnis. 
Ich  meine  vielmehr,  zu  all  den  bekannten  und  wahrscheinlich 
mit  Recht  anerkannten  ätiologischen  Momenten  der  Autoren 
für  die  Entstehung  der  Neurasthenie  kommen  die  sexuellen, 
die  bisher  nicht  hinreichend  gewürdigt  worden  sind,  noch 
hinzu.  Diese  verdienen  aber,  nach  meiner  Schätzung,  daß  man 
ihnen  in  der  ätiologischen  Reihe  eine  besondere  Stellung  an- 
weise. Denn  sie  aUein  werden  in  keinem  Falle  von  Neu- 
rasthenie vermißt,  sie  allein  vermögen  es,  die  Neurose  ohne 
weitere  Beihilfe  zu  erzeugen,  so  daß  diese  anderen  Momente 
zur  RoUe  einer  Hilfs-  und  Supplementärätiologie  herabgedrückt 
scheinen ;  sie  allein  gestatten  dem  Arzte,  sichere  Beziehungen 
zwischen  ihrer  Mannigfaltigkeit  und  der  Vielheit  der  Krank- 
heitsbilder zu  erkennen.  Wenn  ich  dagegen  die  Fälle  zu- 
sammenstelle, die  angeblich  durch  Überarbeitung,  Gemüts- 
aufregung,   nach    einem   Typhus   u.   dgl.    neurasthenisch    ge- 


190 


worden  sind,  so  zeigen  sie  mir  in  den  Symptomen  nichts 
Gemeinsames,  icli  wüßte  aus  der  Art  der  Ätiologie  keine 
Erwartung  in  betreff  der  Symptome  zu  bilden,  wie  umgekelirt 
aus  dem  Krankheitsbilde  nicht  auf  die  einwirkende  Ätiologie 
zu  .schließen. 

Die  sexuellen  Ursachen  sind  auch  jene,  welche  dem 
Arzte  \am  ehesten  einen  Anhalt  für  sein  therapeutisches 
Wirken  bieten.  Die  Heredität  ist  unzweifelhaft  ein  bedeut- 
samer Faktor,  wo  sie  sich  findet ;  sie  gestattet,  daß  ein  großer 
Krankheitseffekt  zustande  kommt,  wo  sich  sonst  nur  ein  sehr 
geringer  ergeben  hätte.  Allein  die  Heredität  ist  der  Beein- 
flussung des  Arztes  unzugänglich;  ein  jeder  bringt  seine 
hereditären  Krankheitsneigungen  mit  sich ;  wir  können  nichts 
mehr  daran  ändern.  Auch  dürfen  wir  nicht  vergessen,  daß 
wir  gerade  in  der  Ätiologie  der  Neurasthenien  der  Heredität 
den  ersten  Rang  notwendig  versagen  müssen.  Die  Neurasthenie 
(in  beiden  Formen)  gehört  zu  den  Affektionen,  die  jeder 
erbHch  Unbelastete  bequem  erwerben  kann.  "Wäre  es  anders, 
*o  wäre  ja  die  riesige  Zunahme  der  Neurasthenie  undenkbar, 
über  welche  alle  Autoren  klagen.  Was  die  Zivilisation  betrifft, 
zu  deren  Sündem-egister  man  oft  die  Verursachung  der  Neu- 
rasthenie zu  schreiben  pflegt,  so  mögen  auch  hierin  die 
Autoren  Recht  haben  (wiewohl  wahrscheinlich  auf  ganz  anderen 
Wegen,  als  sie  vermeinen) ;  aber  der  Zustand  unserer  Zivih- 
sation  ist  gleichfalls  für  den  Einzelnen  etwas  UnabänderUches ; 
übrigens  erklärt  dieses  Moment  bei  seiner  AUgemeingiltigkeit 
für  die  Mitglieder  derselben  Gesellschaft  niemals  die  Tatsache 
der  Auswahl  bei  der  Erkrankung.  Der  nicht  neurasthenis.che 
Arzt  steht  ja  unter  demselben  Einflüsse  der  angeblich  unheil- 
vollen Zivilisation  wie  der  neur asthenische  Kranke,  den  er 
behandeln  soll.  —  Die  Bedeutung  erschöpfender  Einflüsse 
bleibt  mit  der  oben  gegebenen  Einschränkung  bestehen.  Aber 
mit  dem  Momente  der  „Überarbeitung",  das  die  Ärzte  so 
gerne  ihren  Patienten  als  Ursache  ihrer  Neurose  gelten  lassen, 
wird  übermäßig  viel  Mißbrauch  getrieben.  Es  ist  ganz  richtig, 
daß  jeder,  der  sich  durch  sexuelle  Schädhchkeiten  zur  Neu- 
rasthenie disponiert  hat,  die  intellektuelle  Arbeit  und  die 
psychischen  Mühen  des  Lebens  schlecht  verträgt,  aber  niemals 


191 


vnid  jemand  durch  Arbeit  oder  durch  Aufregung  allein 
neurotisch.  Geistige  Arbeit  ist  eher  ein  Schutzmittel  gegen 
neurasthenische  Erkrankung;  gerade  die  ausdauerndsten 
intellektuellen  Arbeiter  bleiben  von  der  Neurasthenie  ver- 
schont, und  was  die  Neurastheniker  als  „krankmachende 
Überarbeitung"  anklagen,  das  verdient  in  der  Regel  weder 
der  Qualität  noch  dem  Ausmaße  nach  als  „geistige  Arbeit" 
anerkannt  zu  werden.  Die  Arzte  werden  sich  wohl  gewöhnen 
müssen,  dem  Beamten,  der  sich  in  seinem  Bureau  „über- 
angestrengt", oder  der  Hausfrau,  der  iln:  Hauswesen  zu  schwer 
geworden  ist,  die  Aufklärung  zu  geben,  daß  sie  nicht  erkrankt 
sind,  weil  sie  versucht  haben,  ihre  für  ein  ziviHsiertes  Gehirn 
eigenthch  leichten  Pflichten  zu  erfüllen,  sondern  weil  sie 
während  dessen  ihr  Sexualleben  gröblich  vernachlässigt  und 
verdorben  haben. 

Nur  die  sexuelle  Ätiologie  ermöghcht  uns  ferner  das 
Verständnis  aller  Einzelheiten  der  Krankengeschichten  bei 
Neurasthenikern,  der  rätselhaften  Besserungen  mitten  im 
Krankheitsverlaufe  und  der  ebenso  unbegreiflichen  Verschlim- 
merungen, die  von  Ärzten  und  Kranken  dann  gewöhnlich  mit 
der  eingeschlagenen  Therapie  in  Beziehung  gebracht  werden. 
In  meiner  mehr  als  200  Fälle  umfassenden  Sammlung  ist 
z.  B.  die  Geschichte  eines  Mannes  verzeichnet,  der,  nachdem 
ihm  die  hausärztHche  Behandlung  nichts  genützt  hatte,  zu 
Pfarrer  Kneipp  ging  und  von  dieser  Kur  an  ein  Jahr  von 
außerordentlicher  Besserung  mitten  in  seinen  Leiden  zu  ver- 
zeichnen hatte.  Als  aber  ein  Jahr  später  die  Beschwerden 
sich  wieder  verstärkten  und  er  neuerdings  Hilfe  in  "Wöris- 
hofen  suchte,  blieb  der  Erfolg  dieser  zweiten  Kur  aus.  Ein 
Blick  in  die  Familienchronik  dieses  Patienten  löst  das  zwei- 
fache Rätsel  auf:  6^/2  Monate  nach  der  ersten  Rückkehr  aus 
Wörishofen  wurde  dem  Kranken  von  seiner  Frau  ein  Kind 
geboren ;  er  hatte  sie  also  zu  Beginn  einer  noch  unerkannten 
Gravidität  verlassen  und  durfte  nach  seiner  Wiederkunft  natür- 
hchen  Verkehr  mit  ihr  pflegen.  Als  nach  Ablauf  dieser  für  ihn 
heilsamen  Zeit  seine  Neurose  durch  neuerlichen  Coitus  inter- 
ruptus  wieder  angefacht  war,  mußte  sich  die  zweite  Kur  erfolglos 
erweisen,    da  jene  oben  erwähnte  Gravidität  die  letzte  bUeb. 


192 


Ein  ähnlicher  Fall,  in  dem  gleichfalls  eine  unerwartete 
Einwirkung  der  Therapie  zu  erklären  war,  gestaltete  sich  noch 
lehrreicher,  indem  er  eine  rätselhafte  Abwechslung  in  den 
Symptomen  der  Neurose  enthielt.  Ein  jugendlicher  Nervöser 
war  von  seinem  Arzte  in  eine  wohlgeleitete  Wasserheilanstalt 
wegen  typischer  Neurasthenie  geschickt  worden.  Dort  besserte 
sich  sein  Zustand  anfänglich  immer  mehr,  so  daß  aUe  Aussicht 
vorhanden  war,  den  Patienten  als  dankbaren  Anhänger  der 
Hydrotherapie  zu  entlassen.  Da  trat  in  der  sechsten  Woche 
ein  Umschlag  ein;  der  KJranke  „vertrug  das  Wasser  nicht 
mehr",  wurde  immer  nervöser  und  verließ  endlich  nach  zwei 
weiteren  Wochen  ungeheilt  und  unzufrieden  die  Anstalt.  Als 
er  sich  bei  mir  über  diesen  Trug  der  Therapie  beklagte,  er- 
kundigte ich  mich  ein  wenig  nach  den  Symptomen,  die  ihn 
mitten  in  der  Kur  befallen  hatten.  Merkwürdigerweise  hatte 
sich  darin  ein  Wandel  vollzogen.  Er  war  mit  Kopfdruck, 
Müdigkeit  und  Dyspepsie  in  die  Anstalt  gegangen;  was  ihn 
in  der  Behandlung  gestört  hatte,  waren:  Aufgeregtheit,  An- 
fälle von  Beklemmung,  Schwindel  im  Gehen  und  Schlaf- 
störung gewesen.  Nun  konnte  ich  den  Kranken  sagen:  „Sie 
tun  der  Hydrotherapie  Unrecht.  Sie  sind,  wie  Sie  selbst  sehr 
wohl  gewußt  haben,  infolge  von  lange  fortgesetzter  Mastur- 
bation erkrankt.  In  der  Anstalt  haben  Sie  die  Art  der  Be- 
friedigung aufgegeben  und  sich  darum  rasch  erholt.  Als  Sie 
sich  aber  wohl  fühlten,  haben  Sie  unklugerweise  Beziehungen 
zu  einer  Dame,  nehmen  wir  an,  einer  Mitpatientin,  gesucht, 
die  nur  zur  Aufregung  ohne  normale  Befriedigung  führen 
konnten.  Die  schönen  Spaziergänge  in  der  Nähe  der  Anstalt 
gaben  Ihnen  gute  G-elegenheit  dazu.  An  diesem  Verhältnisse 
sind  Sie  von  neuem  erkrankt,  nicht  an  einer  plötzlich  auf- 
getretenen Intoleranz  gegen  die  Hydrotherapie.  Aus  Ihrem 
gegenwärtigen  Befinden  schließe  ich  übrigens,  daß  Sie  das- 
selbe Verhältnis  auch  in  der  Stadt  fortsetzen."  Ich  kann  ver- 
sichern, daß  der  Kranke  mich  dann  Punkt  für  Punkt  be- 
stätigt hat. 

Die  gegenwärtige  Therapie  der  Neurasthenie,  wie  sie 
wohl  am  günstigsten  in  den  Wasserheilanstalten  geübt  wird, 
setzt   sich   das   Ziel,    die   Besserung   des   nervösen  Zustandes 


193 


durch  zwei  Momente :  Schonung  und  Stärkung  des  Patienten 
zu  erreichen.  Ich  wüßte  nichts  anderes  gegen  diese  Therapie 
vorzubringen,  als  daß  sie  den  sexuellen  Bedingungen  des 
Falles  keine  Rechnung  trägt.  Nach  meiner  Erfahrung  ist  es 
höchst  wünschenswert,  daß  die  ärztHchen  Leiter  solcher 
Anstalten  sich  genügend  klar  machen,  daß  sie  es  nicht  mit 
Opfern  der  Zivilisation  oder  der  Heredität,  sondern  —  sit 
venia  verbo  —  mit  Sexualitätskrüppeln  zu  tun  haben.  Sie 
würden  sich  dann  einerseits  ihre  Erfolge  wie  ilu'e  Mißerfolge 
leichter  erklären,  andererseits  aber  neue  Erfolge  erzielen,  die 
bis  jetzt  dem  Zufalle  oder  dem  unbeeinflußten  Verhalten  des 
Kranken  anheimgegeben  sind.  Wenn  man  eine  ängstlich- 
neurasthenische  Frau  von  ihrem  Hause  weg  in  die  Wasser- 
heilanstalt schickt,  sie  dort,  aller  Pflichten  ledig,  baden, 
turnen  und  sich  reichlich  ernähren  läßt,  so  wird  man  gewiß 
geneigt  sein,  die  oft  glänzende  Besserung,  die  so  in  einigen 
Wochen  oder  Monaten  erreicht  wird,  auf  Rechnung  der  Ruhe, 
welche  die  Kranke  genossen  hat,  und  der  Stärkung,  die  ihr 
die  Hydrotherapie  gebracht  hat,  zu  setzen.  Das  mag  so  sein ; 
man  übersieht  aber  dabei,  daß  mit  der  Entfernung  vom  Hause 
für  die  Patientin  auch  eine  Unterbrechung  des  ehelichen 
Verkehres  gegeben  ist,  und  daß  erst  diese  zeitweilige  Aus- 
schaltung der  krankmachenden  Ursache  ihr  die  Möglichkeit 
gibt,  sich  bei  zweckmäßiger  Therapie  zu  erholen.  Die  Ver- 
nachlässigung dieses  ätiologischen  Gesichtspunktes  rächt  sich 
nachträglich,  indem  der  scheinbar  so  befriedigende  Heilerfolg 
sich  als  sehr  flüchtig  erweist.  Kurze  Zeit,  nachdem  der  Patient 
in  seine  Lebensverhältnisse  zurückgekehrt  ist,  stellen  sich 
die  Symptome  des  Leidens  wieder  ein  und  nötigen  ihn,  ent- 
weder immer  von  Zeit  zu  Zeit  einen  Teil  seiner  Existenz 
unproduktiv  in  solchen  Anstalten  zu  verbringen,  oder  ver- 
anlassen ihn,  seine  Hoffnungen  auf  Heilung  anderswohin  zu 
richten.  Es  ist  also  klar,  daß  die  therapeutischen  Aufgaben 
bei  der  Nem-asthenie  nicht  in  den  Wasserheilanstalten,  sondern 
innerhalb  der  Lebensverhältnisse  der  Kranken  in  Angriff  zu 
nehmen  sind. 

Bei  anderen  Fällen  kann  unsere  ätiologische  Lehre  dem 
Anstaltsarzte   Aufklärung   über   die    Quelle   von    Mißerfolgen 

Freud,  Neurosenlehje.  13 


194 


geben,  die  sich  noch  in  der  Anstalt  selbst  ereignen,  und  ihm 
nahe  legen,  wie  solche  zu  vermeiden  sind.  Die  Masturbation 
ist  bei  erwachsenen  Mädchen  und  reifen  Männern  weit  häu- 
figer, als  man  anzunehmen  pflegt,  und  wirkt  als  Schädlichkeit 
nicht  nur  durch  die  Erzeugung  der  neurasthenischen  Symptome, 
sondern  auch,  indem  sie  die  Kranken  unter  dem  Drucke  eines 
als  schändlich  empfundenen  Geheimnisses  erhält.  Der  Arzt,  der 
nicht  gewohnt  ist,  Neurasthenie  in  Masturbation  zu  übersetzen, 
gibt  sich  für  den  Krankheitszustand  Rechenschaft,  indem  er 
sich  auf  ein  Schlagwort,  wie  Anämie,  Unterernährung,  Über- 
arbeitung etc.  bezieht,  und  erwartet  nun  bei  Anwendung  der 
dagegen  ausgearbeiteten  Therapie  die  Heilung  seines  Kranken. 
Zu  seinem  Erstaunen  wechseln  aber  beim  Kranken  Zeiten  von 
Besserung  mit  anderen  ab,  in  denen  unter  schwerer  Ver- 
stimmung alle  Symptome  sich  verschlimmern.  Der  Ausgang 
einer  solchen  Behandlung  ist  im  allgemeinen  zweifelhaft. 
Wüßte  der  Arzt,  daß  der  Kranke  die  ganze  Zeit  über  mit 
seiner  sexuellen  Angewöhnung  kämpft,  daß  er  in  Verzweif- 
lung verfallen  ist,  weil  er  ihr  wieder  einmal  unterliegen 
mußte,  verstünde  er,  dem  Kranken  sein  Geheimnis  abzu- 
nehmen, dessen  Schwere  in  seinen  Augen  zu  entwerten,  und 
ihn  bei  seinem  Abgewöhnungskampfe  zu  unterstützen,  so 
würde  der  Erfolg  der  therapeutischen  Bemühung  hiedurch 
wohl  gesichert. 

Die  Abgewöhnung  der  Masturbation  ist  nur  eine  der 
neuen  therapeutischen  Aufgaben,  welche  dem  Arzte  aus  der 
Berücksichtigung  der  sexuellen  Ätiologie  erwachsen,  und  diese 
Aufgabe  gerade  scheint  wie  jede  andere  Abgewöhnung  nur 
in  einer  Krankenanstalt  und  unter  beständiger  Aufsicht  des 
Arztes  lösbar.  Sich  selbst  überlassen,  pflegt  der  Masturbant 
bei  jeder  verstimmenden  Einwirkung  auf  die  ihm  bequeme 
Befriedigung  zurückzugreifen.  Die  ärztliche  Behandlung  kann 
sich  hier  kein  anderes  Ziel  stecken,  als  den  wieder  gekräf- 
tigten Neurastheniker  dem  normalen  Geschlechtsverkehre  zu- 
zuführen, denn  das  einmal  geweckte  und  durch  eine  geraume 
Zeit  befriedigte  Sexualbedürfnis  läßt  sich  nicht  mehr  zum 
Schweigen  bringen,  sondern  bloß  auf  ein  anderes  Objekt  ver- 
schieben.   Eine  ganz  analoge  Bemerkung  gilt  übrigens  auch 


195 


für  alle  anderen  Abstinenzkuren,  die  so  lange  nur  scheinbar 
gelingen  werden,  so  lange  sich  der  Arzt  damit  begnügt,  dem 
Kranken  das  narkotische  Mittel  zu  entziehen,  ohne  sich  um 
die  Quelle  zu  kümmern,  aus  welcher  das  imperative  Bedürfnis 
nach  einem  solchen  entspringt.  „Gewöhnung"  ist  eine  bloße 
Redensart,  ohne  aufklärenden  Wert;  nicht  jedermann,  der  eine 
Zeitlang  Morphin,  Kokain,  Chloralhydrat  u.  dgl.  zu  nehmen 
Gelegenheit  hat,  erwirbt  hiedurch  die  „Sucht"  nach  diesen 
Dingen.  Genauere  Untersuchung  weist  in  der  Regel  nach, 
daß  diese  Narcotica  zum  Ersätze  —  direkt  oder  auf  Um- 
wegen —  des  mangelnden  Sexualgenusses  bestimmt  sind,  und 
wo  sich  normales  Sexualleben  nicht  mehr  herstellen  läßt,  da 
darf  man  den  Rückfall  des  Entwöhnten  mit  Sicherheit  erwarten. 

Die  andere  Aufgabe  wird  dem  Arzte  durch  die  Ätiologie 
der  Angstneurose  gestellt  und  besteht  darin,  den  Kranken 
zum  Verlassen  aller  schädhchen  Arten  des  Sexualverkehres 
und  zur  Aufnahme  normaler  sexueller  Beziehungen  zu  ver- 
anlassen. Wie  begreiflich,  fäUt  diese  Pflicht  vor  allem  dem 
ärztHchen  Vertrauensmanne  des  Kranken,  dem  Hausarzte, 
zu,  der  seine  Klienten  schwer  schädigt,  wenn  er  sich  zu 
vornehm  hält,  um  in  diese  Sphäre  einzugreifen. 

Da  es  sich  hiebei  zumeist  um  Ehepaare  handelt,  stößt 
das  Bemühen  des  Arztes  alsbald  mit  den  malthusianischen 
Tendenzen,  die  Anzahl  der  Konzeptionen  in  der  Ehe  einzu- 
schränken, zusammen.  Es  scheint  mir  unzweifelhaft,  daß 
diese  Vorsätze  in  unserem  Mittelstande  immer  mehr  an  Aus- 
breitung gewinnen;  ich  bin  Ehepaaren  begegnet,  die  schon 
nach  dem  ersten  Kinde  die  Verhütung  der  Konzeption  durch- 
zuführen begannen,  und  anderen,  deren  sexueller  Verkehr 
von  der  Hochzeitsnacht  an  diesem  Vorsatze  Rechnung  tragen 
wollte.  Das  Problem  des  Malthusianismus  ist  weitläufig  und 
kompHziert;  ich  habe  nicht  die  Absicht,  es  hier  erschöpfend 
zu  behandeln,  wie  es  für  die  Therapie  der  Neurosen  eigent- 
hch  erforderlich  wäre.  Ich  gedenke  nur  zu  erörtern,  welche 
Stellung  der  Arzt,  der  die  sexuelle  Ätiologie  der  Neurosen 
anerkennt,   zu   diesem  Problem   am  besten   einnehmen  kann. 

Das  Verkehrteste  ist  es  offenbar,  wenn  er  dasselbe  — 
unter  welchen  Vorwänden   immer    —    ignorieren    will.    Was 

13* 


196 


notwendig  ist,  kann  nicht  unter  meiner  ärztlichen  Würde 
sein,  und  es  ist  notwendig,  einem  Ehepaare,  das  an  die  Ein- 
schränkung der  Kinderzeugung  denkt,  mit  ärztlichem  Rate 
beizustehen,  wenn  man  nicht  einen  Teil  oder  Beide  der 
Neurose  aussetzen  will.  Es  läßt  sich  nicht  bestreiten,  daß 
malthusianische  Vorkehrungen  irgend  einmal  in  einer  Ehe  zur 
Notwendigkeit  werden,  und  theoretisch  wäre  es  einer  der 
größten  Triumphe  der  Menschheit,  eine  der  fühlbarsten  Be- 
freiungen vom  Naturzwange,  dem  unser  G-eschlecht  unter- 
worfen ist,  wenn  es  gelänge,  den  verantwortlichen  Akt  der 
Kindererzeugung  zu  einer  willkürlichen  und  beabsichtigten 
Handlung  zu  erheben,  und  ihn  von  der  Verquickung  mit  der 
notwendigen  Befriedigung  eines  natürHchen  Bedürfnisses  los- 
zulösen. 

Der  einsichtsvolle  Arzt  wird  es  also  auf  sich  nehmen, 
zu  entscheiden,  unter  welchen  Verhältnissen  die  Anwendung 
von  Maßregeln  zur  Verhütung  der  Konzeption  gerecht- 
fertigt ist,  und  wird  die  schädlichen  unter  diesen  Hilfsmitteln 
von  den  harmlosen  zu  sondern  haben.  Schädlich  ist  alles, 
was  das  Zustandekommen  der  Befriedigung  hindert ;  bekannt- 
lich besitzen  wir  aber  derzeit  kein  Schutzmittel  gegen  die 
Konzeption,  welches  allen  berechtigten  Anforderungen  genügen 
würde,  d.  h.  sicher,  bequem  ist,  der  Lustempfindung  beim 
Koitus  nicht  Eintrag  tut  und  das  Feingefühl  der  Frau  nicht 
verletzt.  Hier  ist  den  Ärzten  eine  praktische  Aufgabe  gestellt, 
an  deren  Lösung  sie  ihre  Kräfte  dankbringend  setzen  können. 
"Wer  jene  Lücke  in  unserer  ärztlichen  Technik  ausfüllt,  der 
hat  Unzähligen  den  Lebensgenuß  erhalten  und  die  Gesund- 
heit bewahrt,  freüich  dabei  auch  eine  tief  einschneidende  Ver- 
änderung in  unseren  gesellschaftlichen  Zuständen  angebahnt. 

Büemit  sind  die  Anregungen  nicht  erschöpft,  die  aus  der 
Erkenntnis  einer  sexuellen  Ätiologie  der  Nem^osen  fließen. 
Die  Hauptleistung,  die  uns  zugunsten  der  Neurastheniker 
möglich  ist,  fäUt  in  die  Prophylaxis.  Wenn  die  Masturbation 
die  Ursache  der  Neurasthenie  in  der  Jugend  ist  und  späterhin 
durch  die  von  ihr  geschaffene  Verminderung  der  Potenz  auch 
zur  ätiologischen  Bedeutung  für  die  Angstneurose  gelangt, 
so  ist  die  Verhütung  der  Masturbation  bei  beiden  Geschlechtern 


197 


eine  Aufgabe,  die  mehr  Beachtung  verdient,  als  sie  bis  jetzt 
gefunden  hat.  Überdenkt  man  alle  die  feineren  und  gröberen 
Schädigungen,  die  von  der  angeblich  immer  mehr  um  sich 
greifenden  Neurasthenie  ausgehen,  so  erkennt  man  geradezu  ein 
Volksinteresse  darin,  daß  die  Männer  mit  voller  Potenz 
in  den  Sexualverkehr  eintreten.  In  Sachen  der  Pro- 
phylaxis aber  ist  der  einzelne  ziemlich  ohnmächtig.  Die  Ge- 
samtheit muß  ein  Interesse  an  dem  Gegenstande  gewinnen 
und  ihi'e  Zustimmung  zur  Schöpfung  von  gemeingiltigen  Ein- 
richtungen geben.  Vorläufig  sind  wir  von  einem  solchen  Zu- 
stande, der  Abhilfe  versprechen  würde,  noch  weit  entfernt, 
und  darum  kann  man  mit  Recht  auch  unsere^  Zivihsation  für 
die  Verbreitung  der  Neurasthenie  verantwortlich  machen.  Es 
müßte  sich  vieles  ändern.  Der  Widerstand  einer  Generation 
von  Ärzten  muß  gebrochen  werden,  die  sich  nicht  mehr  an  ihre 
eigene  Jugend  erinnern  können;  der  Hochmut  der  Väter  ist  zu 
überwinden,  die  vor  ihren  Kindern  nicht  gerne  auf  das  Niveau 
der  Menschlichkeit  herabsteigen  wollen,  die  unverständige 
Verschämtheit  der  Mütter  zu  bekämpfen,  denen  es  jetzt 
regelmäßig  als  unerforschliche,  aber  unverdiente  Schicksals- 
fügung erscheint,  daß  „gerade  ihre  Kinder  nervös  geworden 
sind".  Vor  allem  aber  muß  in  der  öffentlichen  Meinung  Raum 
geschaffen  werden  für  die  Diskussion  der  Probleme  des  Sexual- 
lebens ;  man  muß  von  diesen  reden  können,  ohne  für  einen 
Ruhestörer  oder  für  einen  Spekulanten  auf  niedrige  Instinkte 
erklärt  zu  werden.  Und  somit  verbliebe  auch  hier  genügend 
Arbeit  für  ein  nächstes  Jahrhundert,  in  dem  unsere  Zivili- 
sation es  verstehen  soll,  sich  mit  den  Ansprüchen  unserer 
Sexuahtät  zu  vertragen! 

Der  "Wert  einer  richtigen  diagnostischen  Scheidung  der 
Psychoneurosen  von  der  Neurasthenie  bezeigt  sich  auch  darin, 
daß  die  ersteren  eine  andere  praktische  Würdigung  und  be- 
sondere therapeutische  Maßnahmen  erfordern.  Die  Psycho- 
neurosen treten  unter  zweierlei  Bedingungen  auf,  entweder 
selbständig  oder  im  Gefolge  der  Aktualneurosen  (Neurasthenie 
und  Angstneurose).  Im  letzteren  Falle  hat  man  es  mit  einem 
neuen,  übrigens  sehr  häufigen  Typus  von  gemischten  Neurosen 
zu  tun.  Die  Ätiologie  der  Aktualneurose  ist  zur  Hilfsätiologie 


198 


der  Psyclioneurose  geworden ;  es  ergibt  sich,  ein  Krankheitsbild, 
in  dem  etwa  die  Angstneurose  vorherrscht,  das  aber  sonst 
Züge  der  echten  Neurasthenie,  der  Hysterie  und  der  Zwangs- 
neurose enthält.  Man  tut  nicht  gut,  angesichts  einer  solchen 
Vermengung  etwa  auf  eine  Sonderung  der  einzelnen  neuro- 
tischen Krankheitsbilder  zu  verzichten,  da  es  doch  nicht 
schwer  ist,  sich  den  Fall  in  folgender  Weise  zurechtzulegen : 
"Wie  die  vorwiegende  Ausbildung  der  Angstneurose  beweist, 
ist  hier  die  Erkrankung  unter  dem  ätiologischen  Einflüsse 
einer  aktuellen  sexuellen  Schädlichkeit  entstanden.  Das  be- 
treffende Individuum  war  aber  außerdem  zu  einer  oder 
mehreren  Psychoneurosen  durch  eine  besondere  Ätiologie 
disponiert  und  wäre  irgend  einmal  spontan  oder  bei  Hinzu- 
tritt eines  anderen  schwächenden  Momentes  an  Psychoneurose 
erkrankt.  Nun  ist  die  noch  fehlende  HUfsätiologie  fiii'  die 
Psychoneurose  durch  die  aktuelle  Ätiologie  der  Angstneurose 
hinzugefügt  worden. 

Für  solche  Fälle  hat  sich  mit  Recht  die  therapeutische 
Übung  eingebürgert,  von  der  psychoneurotischen  Komponente 
im  Kj-ankheitsbilde  abzusehen  und  ausschießHch  die  Aktual- 
neurose  zu  behandeln.  Es  gelingt  in  sehr  vielen  Fällen,  auch 
der  mitgerissenen  Neurose  Herr  zu  werden,  wenn  man  der 
Neurasthenie  zweckmäßig  entgegentritt.  Eine  andere  Be- 
urteilung erfordern  aber  jene  FäUe  von  Psychoneurose,  die, 
sei  es  spontan  auftreten,  oder  nach  dem  Ablaufe  einer  aus 
Neurasthenie  und  Psychoneurose  gemengten  Erkrankung  als 
selbständig  übrig  bleiben.  Wenn  ich  von  „spontanem"  Auf- 
treten einer  Psychoneurose  gesprochen  habe,  so  meine  ich 
damit  nicht  etwa,  daß  man  bei  anamnestischer  Nachforschung 
jedes  ätiologische  Moment  vermißt.  Dies  kann  wohl  der  Fall 
sein,  man  kann  aber  auch  auf  ein  indifferentes  Moment,  eine 
Gemütsbewegung,  Schv/ächung  durch  somatische  Erkrankung 
u.  dgl.  hingewiesen  werden.  Doch  muß  man  für  alle  diese 
FäUe  festhalten,  daß  die  eigenthche  Ätiologie  der  Psycho- 
neurosen nicht  in  diesen  Veranlassungen  liegt,  sondern  der 
gewöhnlichen  Weise  anamnestischer  Erhebung  unfaßbar  bleibt. 

Wie  bekannt,  ist  es  diese  Lücke,  welche  man  versucht 
hat,   durch   die   Annahme    einer  besonderen    neuropathischen 


199 


Disposition  auszufüllen,  deren  Existenz  einer  Therapie  solcher 
Krankheitszustände  freilich  nicht  viel  Aussicht  auf  Erfolg 
übrig  Heße.  Die  neuropathische  Disposition  selbst  wird  als 
Zeichen  einer  allgemeinen  Degeneration  aufgefaßt,  und  somit 
gelangt  dieses  bequeme  Kunstwort  zu  einer  überreichlichen 
Verwendung  gegen  die  armen  Kranken,  denen  zu  helfen  die 
Arzte  recht  ohnmächtig  sind.  Zum  Glück  steht  es  anders. 
Die  neuropathische  Disposition  existiert  wolil,  aber  ich  muß 
bestreiten,  daß  sie  zur  Erzeugung  der  Psychoneurose  hin- 
reicht. Ich  muß  femer  bestreiten,  daß  das  Zusammentreffen 
von  nem^opathischer  Disposition  und  veranlassenden  Ursachen 
des  späteren  Lebens  eine  ausreichende  Ätiologie  der  Psycho- 
neurosen  darstellt.  Man  ist  in  der  Zurückführung  der  Krank- 
heitsscliicksale  des  Einzelnen  auf  die  Erlebnisse  seiner  Ahnen 
zu  weit  gegangen  und  hat  daran  vergessen,  daß  zwischen  der 
Empfängnis  und  der  Eeife  des  Individuums  ein  langer  und 
bedeutsamer  Lebensabschnitt  liegt,  die  Kindheit,  in  welcher 
die  Keime  zu  späterer  Erkrankung  erworben  werden  können. 
So  ist  es  tatsächlich  bei  der  Psychoneurose.  Ihre  wirkliche 
Ätiologie  ist  zu  finden  in  Erlebnissen  der  Kindheit,  und  zwar 
wiederum  —  und  ausschließUch  —  in  Eindrücken,  die  das 
sexuelle  Leben  betreffen.  Man  tut  Unrecht  daran,  das  Sexual- 
leben der  Kinder  völlig  zu  vernachlässigen ;  sie  sind,  so  viel 
ich  erfahren  habe,  aller  psychischen  und  vieler  somatischen 
SexuaUeistungen  fähig.  So  wenig  die  äußeren  Genitalien  und 
die  beiden  Keimdrüsen  den  ganzen  Geschlechtsapparat  des 
Menschen  darstellen,  ebensowenig  beginnt  sein  Geschlechts- 
leben erst  mit  der  Pubertät,  wie  es  der  groben  Beobachtung 
erscheinen  mag.  Es  ist  aber  richtig,  daß  die  Organisation 
und  Entwicklung  der  Spezies  Mensch  eine  ausgiebigere 
sexuelle  Betätigung  im  Kjndesalter  zu  vermeiden  strebt;  es 
scheint,  daß  die  sexuellen  Triebkräfte  beim  Menschen  aufge- 
speichert werden  soUen,  um  dann  bei  ihrer  Entfesselung  zur 
Zeit  der  Pubertät  großen  kulturellen  Zwecken  zu  dienen. 
(Wilh.  Fließ.)  Aus  einem  derartigen  Zusammenhange  läßt 
sich  etwa  verstehen,  warum  sexuelle  Erlebnisse  des  Kindes- 
alters pathogen  wirken  müssen.  Sie  entfalten  ihre  "Wirkung 
aber   nur   zum   geringsten   Maße   zur   Zeit,    da   sie  vorfallen; 


200 


weit  bedeutsamer  ist  iJire  nachträgliche  Wirkung,  die 
erst  in  späteren  Perioden  der  Reifung  eintreten  kann.  Diese 
nachträgliche  Wirkung  geht,  wie  nicht  anders  möglich,  von 
den  psychischen  Spuren  aus,  welche  die  infantilen  Sexual- 
erlebnisse zurückgelassen  haben.  In  dem  Intervall  zwischen 
dem  Erleben  dieser  Eindrücke  und  deren  Reproduktion  (viel- 
mehr dem  Erstarken  der  von  ihnen  ausgehenden  libidinösen 
Impulse)  hat  nicht  nur  der  somatische  Sexualapparat,  sondern 
auch  der  psychische  Apparat  eine  bedeutsame  Ausgestaltung 
erfahren,  und  darum  erfolgt  auf  die  Einwirkung  jener  frühen 
sexuellen  Erlebnisse  nun  eine  abnorme  psychische  Reaktion, 
es  entstehen  psychopathologische  Bildungen. 

In  diesen  Anleitungen  konnte  ich  nur  die  Hauptmomente 
anführen,  auf  welche  sich  die  Theorie  der  Psychoneurosen 
stützt:  die  Nachträglichkeit,  den  infantilen  Zustand  des  Gre- 
schlechtsapparates  und  des  Seeleninstrumentes.  Um  ein  wirk- 
hches  Verständnis  des  Entstehungsmechanismus  der  Psycho- 
neurosen zu  erzielen,  brauchte  es  breiterer  Ausführungen; 
vor  allem  wäre  es  unvermeidlich,  gewisse  Annahmen  über  die 
Zusammensetzung  und  die  Arbeitsweise  des  psychischen 
Apparates,  die  mir  neu  scheinen,  als  glaubwürdig  hinzustellen. 
In  einem  Buche  über  „Traumdeutung",  das  ich  gegenwärtig 
vorbereite,  werde  ich  die  Gelegenheit  finden,  jene  Fundamente 
einer  Neurosenpsychologie  zu  berühren.  Der  Traum  gehört 
nämlich  in  dieselbe  Reihe  psychopathologischer  Bildungen, 
wie  die  hysterische  fixe  Idee,  die  Zwangsvorstellung  und  die 
Wahnidee. 

Da  die  Erscheinungen  der  Psychoneurosen  vermittelst 
der  Nachträglichkeit  von  unbewußten  psychischen  Spuren  aus 
entstehen,  werden  sie  der  Psychotherapie  zugänghch,  die 
allerdings  hier  andere  Wege  einschlagen  muß  als  den  bis 
jetzt  einzig  begangenen  der  Suggestion  mit  oder  ohne  Hypnose. 
Auf  der  von  J.  Breuer  angegebenen  „kathartischen"  Me- 
thode fußend,  habe  ich  in  den  letzten  Jahren  ein  therapeutisches 
Verfahren  nahezu  ausgearbeitet,  welches  ich  das  „psychoana- 
lytische" heißen  wül,  und  dem  ich  zahlreiche  Erfolge  verdanke, 
während  ich  hoffen  darf,  seine  Wirksamkeit  noch  erheblich 
zu    steigern.    In    den   1895   veröffentlichten    Studien   über 


201 


Hysterie  (mit  J.  Breuer)  sind  die  ersten  Mitteilungen 
über  Technik  und  Tragweite  der  Methode  gegeben  worden. 
Seither  hat  sich  Manches,  vne  ich  behaupten  darf,  zum 
Besseren  daran  geändert.  Während  wir  damals  bescheiden 
aussagten,  daß  wir  nur  die  Beseitigung  von  hysterischen 
Symptomen,  nicht  die  Heilung  der  Hysterie  selbst  in  Angriff 
nehmen  könnten,  hat  sich  mir  seither  diese  Unterscheidung 
als  inhaltslos  herausgestellt,  also  die  Aussicht  auf  wirkliche 
Heilung  der  Hysterie  und  Zwangsvorstellungen  ergeben.  Es 
hat  mich  darum  recht  lebhaft  interessiert,  in  den  Publikationen 
von  Fachgenossen  zu  lesen:  In  diesem  Falle  habe  das  sinn- 
reiche, von  Breuer  und  Freud  ersonnene  Verfahren  versagt, 
oder:  Die  Methode  habe  nicht  gehalten,  was  sie  zu  ver- 
sprechen schien.  Ich  hatte  dabei  etwa  die  Empfindungen  eines 
Menschen,  der  in  der  Zeitung  seine  Todesanzeige  findet,  sich 
aber  dabei  in  seinem  Besserwissen  beruhigt  fühlen  darf.  Das 
Verfahren  ist  nämlich  so  schwierig,  daß  es  durchaus  erlernt 
werden  muß,  und  ich  kann  mich  nicht  besinnen,  daß  es  einer 
meiner  Kritiker  von  mir  hätte  erlernen  wollen,  glaube  auch 
nicht,  daß  sie  sich,  ähnlich  wie  ich,  genug  intensiv  damit 
beschäftigt  haben,  um  es  selbständig  auffinden  zu  können. 
Die  Bemerkungen  in  den  Studien  über  Hysterie  sind  voll- 
kommen unzureichend,  um  einem  Leser  die  Beherrschung 
dieser  Technik  zu  ermöghchen,  streben  solche  vollständige 
Unterweisung  auch  keineswegs  an. 

Die  psychoanalytische  Therapie  ist  derzeit  nicht  all- 
gemein anwendbar;  ich  kenne  für  sie  folgende  Einschrän- 
kungen: Sie  erfordert  ein  gewisses  Maß  von  Reife  und  Ein- 
sicht beim  Kranken,  taugt  daher  nicht  für  kindliche  Personen 
oder  für  erwachsene  Schwachsinnige  und  Ungebildete.  Sie 
scheitert  bei  allzu  betagten  Personen  daran,  daß  sie  bei  ihnen, 
dem  angehäuften  Materiale  entsprechend,  allzuviel  Zeit  in 
Anspruch  nehmen  würde,  so  daß  man  bis  zur  Beendigung  der 
Kur  in  einen  Lebensabschnitt  geraten  würde,  für  welchen 
auf  nervöse  Gesundheit  nicht  mehr  Wert  gelegt  wird.  End- 
lich ist  sie  nur  dann  möglich,  wenn  der  Kranke  einen  psychi- 
schen Normalzustand  hat,  von  dem  aus  sich  das  pathologische 
Material   bewältigen  läßt.    Während    einer   hysterischen   Ver- 


202 


worrenheit,  einer  eingeschalteten  Manie  oder  Melancholie  ist 
mit  den  Mitteln  der  Psychoanalyse  nichts  zu  leisten.  Man 
kann  solche  Fälle  dem  Verfahren  noch  unterziehen,  nachdem 
man  mit  den  gewöhnlichen  Maßregeln  die  Beruhigung  der 
stürmischen  Erscheinungen  herbeigeführt  hat.  In  der  Praxis 
werden  überhaupt  die  chronischen  Fälle  von  Psychoneurosen 
besser  der  Methode  Stand  halten,  als  die  Fälle  mit  akuten 
Krisen,  bei  denen  das  Hauptgewicht  naturgemäß  auf  die 
Easchheit  der  Erledigung  fällt.  Daher  geben  auch  die  hyste- 
rischen Phobien  und  die  verschiedenen  Formen  der  Zwangs- 
neurose das  günstigste  Arbeitsgebiet  für  diese  neue  Therapie. 

Daß  die  Methode  in  diese  Schranken  gebannt  ist,  erklärt 
sich  zum  guten  Teile  aus  den  Verhältnissen,  unter  denen  ich 
sie  ausarbeiten  mußte.  Mein  Material  sind  eben  chronisch 
Nervöse  der  gebildeteren  Stände.  Ich  halte  es  für  sehr  wohl 
möglich,  daß  sich  ergänzende  Verfahren  für  kindHche  Personen 
und  für  das  PubHkum,  welches  in  den  Spitälern  Hufe  sucht, 
ausbilden  lassen.  Ich  muß  auch  anführen,  daß  ich  meine 
Therapie  bisher  ausschließlich  an  schweren  FäUen  von  Hysterie 
und  Zwangsneurose  erprobt  habe;  wie  es  sich  bei  jenen 
leichten  Erkrankungsfällen  gestalten  würde,  die  man  bei 
einer  indifferenten  Behandlung  von  wenigen  Monaten  in 
wenigstens  scheinbare  Genesung  ausgehen  sieht,  weiß  ich 
nicht  anzugeben.  "Wie  begreiflich,  durfte  eine  neue  Therapie, 
die  vielfache  Opfer  erfordert,  nur  auf  solche  Kranke  rechnen, 
die  bereits  die  anerkannten  Heilmethoden  ohne  Erfolg  ver- 
sucht hatten,  oder  deren  Zustände  den  Schluß  berechtigten, 
sie  hätten  von  diesen  angeblich  bequemeren  und  kürzeren 
Heilverfahren  nichts  zu  erwarten.  So  mußte  ich  mit  einem 
unvollkommenen  Instrumente  sogleich  die  schwersten  Auf- 
gaben in  Angriff  nehmen ;  die  Probe  ist  um  so  beweiskräftiger 
ausgefallen. 

Die  wesentlichen  Schwierigkeiten,  die  sich  jetzt  noch 
der  psychoanalytischen  Heilmethode  entgegensetzen,  hegen 
nicht  an  ihr  selbst,  sondern  in  dem  Mangel  an  Verständnis 
für  das  Wesen  der  Psychoneurosen  bei  Ärzten  und  Laien. 
Es  ist  nur  das  notwendige  Korrelat  zu  dieser  voUen 
Unwissenheit,    wenn    sich    die    Arzte    für    berechtigt    halten, 


203 


den  Kranken  durch  die  unzutreffendsten  Versicherungen  zu 
trösten  oder  zu  therapeutischen  Maßnahmen  zu  veranlassen. 
„Kommen  Sie  für  sechs  "Wochen  in  meine  Anstalt  und  Sie 
werden  Ihre  Symptome  (Reiseangst,  Zwangsvorstellungen  etc.) 
verloren  haben."  Tatsächlich  ist  die  Anstalt  unentbehrlich 
für  die  Beruhigung  akuter  Zufälle  im  Verlaufe  einer  Psycho- 
neurose  dui'ch  Ablenkung,  Pflege  und  Schonung;  zur  Be- 
seitigung chronischer  Zustände  leistet  sie  —  nichts,  und  zwar 
die  vornelmien,  angeblich  wissenschaftlich  geleiteten  Sanatorien 
ebensowenig  wie  die  gemeinen  "Wasserheilanstalten. 

Es  wäre  würdiger  und  dem  Kranken,  der  sich  doch 
schüeßhch  mit  seinen  Beschwerden  abfinden  muß,  zuträg- 
licher, wenn  der  Arzt  die  Wahrheit  sprechen  würde,  wie  er 
sie  alle  Tage  kennen  lernt:  Die  Psychoneurosen  sind  als 
Genus  keineswegs  leichte  Erkrankungen.  "Wenn  eine  Hysterie 
anfängt,  kann  niemand  vorher  wissen,  wann  sie  ein  Ende 
nehmen  wird.  Man  tröstet  sich  meist  vergeblich  mit  der  Pro- 
phezeiung: Eines  Tages  wird  sie  plötzlich  vorüber  sein.  Die 
Heilung  erweist  sich  häufig  genug  als  ein  bloßes  Übereinkommen 
zur  gegenseitigen  Duldung  zwischen  dem  Gesunden  und  dem 
Kranken  im  Patienten  oder  erfolgt  auf  dem  "Wege  der  Um- 
wandlung eines  Symptomes  in  eine  Phobie.  Die  mühsam  be- 
schwichtigte Hysterie  des  Mädchens  lebt  nach  kurzer  Unter- 
brechung durch  das  junge  Eheglück  in  der  Hysterie  der  Ehe- 
frau wieder  auf,  nur  daß  jetzt  eine  andere  Person  als  früher, 
der  Ehemann,  durch  sein  Interesse  veranlaßt  wird,  über  den 
Erkrankungsfall  zu  schweigen.  "Wo  es  nicht  zu  manifester 
Existenzunfähigkeit  infolge  von  KJrankheit  kommt,  da  fehlt 
doch  fast  nie  die  Einbuße  an  aUer  freien  Entfaltung  der 
Seelenkräfte.  Zwangsvorstellungen  kehren  das  ganze  Leben 
hindurch  wieder ;  Phobien  und  andere  Willenseinschränkungen 
sind  für  jede  Therapie  bisher  unbeeinflußbar  gewesen.  Das 
alles  wird  dem  Laien  vorenthalten,  und  darum  ist  der  Vater 
einer  hysterischen  Tochter  entsetzt,  wenn  er  z.  B.  einer 
einjährigen  Behandlung  seines  Kindes  zustimmen  soll,  wo 
doch  die  Krankheit  etwa  erst  einige  Monate  gedauert  hat. 
Der  Laie  ist  sozusagen  von  der  Überflüssigkeit  all  dieser 
Psychoneurosen  tief  innerlich  überzeugt,  er  bringt  darum  dem 


204 


KJranklieitsverlaufe  keine  Geduld  und  der  Therapie  keine 
Opferbereitschaft  entgegen.  Wenn  er  sich  angesichts  eines. 
Typhus,  der  drei  Wochen  anhält,  eines  Beinbruches,  der  zur 
Heilung  sechs  Monate  beansprucht,  verständiger  benimmt, 
wenn  ihm  die  Fortsetzung  orthopädischer  Maßnahmen  durch 
mehrere  Jahre  einsichthch  erscheint,  sobald  sich  die  ersten 
Spuren  einer  Rückgratsverkrümmung  bei  seinem  Kinde  zeigen, 
so  rührt  dieser  Unterschied  von  dem  besseren  Verständnisse 
der  Ärzte  her,  die  ihr  Wissen  in  ehrlicher  ]\ütteilung  dem 
Laien  übertragen.  Die  Aufrichtigkeit  der  Arzte  und  die  Ge- 
fügigkeit der  Laien  wird  sich  auch  für  die  Psychoneurosen 
herstellen,  wenn  erst  die  Einsicht  in  das  Wesen  dieser  Affek- 
tionen ärztliches  Gemeingut  geworden  ist.  Die  psychothera- 
peutische Radikalbehandlung  derselben  wird  wohl  immer  eine 
besondere  Schulung  erfordern  und  mit  der  Ausübung  anderer 
ärztHcher  Tätigkeit  unverträgHch  sein.  Dafür  winkt  dieser, 
in  der  Zukunft  wohl  zahlreichen  Klasse  von  Ärzten  Ge- 
legenheit zu  rühmlichen  Leistungen  und  eine  befriedigende 
Einsicht  in  das  Seelenleben  der  Menschen. 


XII. 

über  Psychotherapie.  0 

Meine  Herren!  Es  sind  ungefähr  acht  Jahre  her,  seit- 
dem ich  über  Aufforderung  Ihres  betrauerten  Vorsitzenden 
Professor  v.  B.  e  d  e  r  in  Ihrem  Kreise  über  das  Thema  der 
Hysterie  sprechen  durfte.  Ich  hatte  kurz  zuvor  (1895)  in 
Gemeinschaft  mit  Dr.  Josef  Breuer  die  ., Studien  über 
Hysterie"  veröif entlicht  und  den  Versuch  unternommen,  auf 
Grrund  der  neuen  Erkenntnis,  welche  wir  diesem  Forscher 
verdanken,  eine  neuartige  Behandlungsweise  der  Neurose 
einzuführen.  Erfreulicherweise,  darf  ich  sagen,  haben  die 
Bemühungen  unserer  „Studien"  Erfolg  gehabt;  die  in  ihnen 
vertretenen  Ideen  von  der  Wirkungsweise  psychischer  Traumen 
durch  Zurückhaltung  von  Affekt  und  die  Auffassung  der 
hysterischen  Symptome  als  Erfolge  einer  aus  dem  Seelischen 
ins  Körperliche  versetzten  Erregung,  Ideen,  für  welche  wir 
die  Termini  „Abreagieren"  und  „Konversion"  geschaffen  hatten, 
sind  heute  allgemein  bekannt  und  verstanden.  Es  gibt  — 
wenigstens  in  deutschen  Landen  —  keine  Darstellung  der 
Hysterie,  die  ihnen  nicht  bis  zu  einem  gewissen  Grade  Rechnung 
tragen  würde,  und  keinen  Fachgenossen,  der  nicht  zum 
mindesten  ein  Stück  weit  mit  dieser  Lehre  ginge.  Und  doch 
mögen  diese  Sätze  und  diese  Termini,  solange  sie  noch  frisch 
waren,  befremdend  genug  geklungen  haben! 

Ich  kann  nicht  dasselbe  von  dem  therapeutischen  Ver- 
fahren sagen,  das  gleichzeitig  mit  unserer  Lehre  den  Fach- 
genossen vorgeschlagen  wurde.  Dasselbe  kämpft  noch  heute 
um  seine  Anerkennung.  Man  mag  spezielle  Gründe  dafür 
anrufen.   Die  Technik   des  Verfahrens   war  damals   noch  un- 


1)  Wiener  Medizinische   Presse,  1905,  Nr.  1.  (Vortrag,  gehalten  im 
Wiener  mediz.  Doktorenkollegium  am  12.  Dezember  1904.) 


206 


ausgebildet ;  ich  vermochte  es  nicht,  dem  ärztlichen  Leser  des 
Buches  jene  Anweisungen  zu  geben,  welche  ihn  befähigt 
hätten,  eine  derartige  Behandlung  vollständig  durchzuführen. 
Aber  gewiß  wirken  auch  Gründe  allgemeiner  Natur  mit. 
Vielen  Ärzten  erscheint  noch  heute  die  Psychotherapie  als 
ein  Produkt  des  modernen  Mystizismus  und  im  Vergleiche 
mit  unseren  physikalisch-chemischen  Heilmitteln,  deren  An- 
wendung auf  physiologische  Einsichten  gegründet  ist,  als 
geradezu  unwissenschaftlich,  des  Interesses  eines  Naturforschers 
unwürdig.  Gestatten  Sie  mir  nun,  vor  Ihnen  die  Sache  der 
Psychotherapie  zu  führen  und  hervorzuheben,  was  an  dieser 
Verurteilung  als  Unrecht  oder  Irrtum  bezeichnet  werden  kann. 

Lassen  Sie  mich  also  fürs  erste  daran  mahnen,  daß  die 
Psychotherapie  kein  modernes  Heilverfahren  ist.  Im  Gegen- 
teile, sie  ist  die  älteste  Therapie,  deren  sich  die  Medizin 
bedient  hat.  In  dem  lehrreichen  Werke  von  Löwen feld 
(Lehrbuch  der  gesamten  Psychotherapie)  können  Sie  nach- 
lesen, welches  die  Methoden  der  primitiven  und  der  antiken 
Medizin  waren.  Sie  werden  dieselben  zum  größten  Teile  der 
Psychotherapie  zuordnen  müssen ;  man  versetzte  die  Kranken 
zum  Zwecke  der  Heilung  in  den  Zustand  der  „gläubigen 
Erwartung",  der  uns  heute  noch  das  nämliche  leistet.  Auch 
nachdem  die  Arzte  andere  Heilmittel  aufgefunden  haben, 
sind  psychotherapeutische  Bestrebungen  der  einen  oder  der 
anderen  Art  in  der  Medizin  niemals  untergegangen. 

Fürs  zweite  mache  ich  Sie  darauf  aufmerksam,  daß  wir 
Arzte  auf  die  Psychotherapie  schon  darum  nicht  verzichten 
können,  weil  eine  andere  beim  Heilungsvorgang  sehr  in  Be- 
tracht kommende  Partei  —  nämlich  die  Kranken  —  nicht 
die  Absicht  hat,  auf  sie  zu  verzichten.  Sie  wissen,  welche 
Aufklärungen  wir  hierüber  der  Schule  von  Nancy  (Lieb  ault, 
Bernheim)  verdanken.  Ein  von  der  psychischen  Disposition 
der  Kranken  abhängiger  Faktor  tritt,  ohne  daß  wir  es  be- 
absichtigen, zur  Wirkung  eines  jeden  vom  Arzte  eingeleiteten 
Heilverfahrens  hinzu,  meist  im  begünstigenden,  oft  auch  im 
hemmenden  Sinne.  Wir  haben  für  diese  Tatsache  das  Wort 
,, Suggestion"  anzuwenden  gelernt,  und  Moebius  hat  uns 
belehrt,    daß    die   Unverläßlichkeit,    die   wir    an   so   manchen 


207 


unserer  Heilmethoden  beklagen,  gerade  auf  die  störende  Ein- 
wirkung dieses  übermäcktigen  Momentes  zurückzuführen  ist. 
Wir  Ärzte,  Sie  alle,  treiben  also  beständig  Psychotherapie, 
auch  wo  Sie  es  nicht  wissen  und  nicht  beabsichtigen;  nur 
hat  es  einen  Nachteil,  daß  Sie  den  psychischen  Faktor  in 
Ilirer  Einwirkung  auf  den  Kranken  so  ganz  dem  Kranken 
überlassen.  Er  wird  auf  diese  "Weise  unkontrolHerbar,  un- 
dosierbar,  der  Steigerung  unfähig.  Ist  es  dann  nicht  ein  be- 
rechtigtes Streben  des  Arztes,  sich  dieses  Faktors  zu  be- 
mächtigen, sich  seiner  mit  Absicht  zu  bedienen,  ihn  zu  lenken 
und  zu  verstärken?  Nichts  anderes  als  dies  ist  es,  was  die 
wissenschaftliche  Psychotherapie  Ihnen  zumutet. 

Zu  dritt,  meine  Herren  Kollegen,  will  ich  Sie  auf  die 
altbekannte  Erfahrung  verweisen,  daß  gewisse  Leiden  und 
ganz  besonders  die  Psychoneurosen,  seelischen  Einflüssen  weit 
zugänglicher  sind  als  jeder  anderen  Medikation.  Es  ist  keine 
moderne  Rede,  sondern  ein  Ausspruch  alter  Ärzte,  daß  diese 
Krankheiten  nicht  das  Medikament  heüt,  sondern  der  Arzt, 
d.  h.  wohl  die  Persönlichkeit  des  Arztes,  insofern  er  psychi- 
schen Einfluß  durch  sie  ausübt.  Ich  weiß  wohl,  meine  Herren 
KoUegen,  daß  bei  Ihnen  jene  Anschauung  sehr  behebt  ist, 
welcher  der  Ästhetiker  Vis  eher  in  seiner  Faustparodie  (Faust, 
der  Tragödie  HI.  Teil)  klassischen  Ausdruck  geliehen  hat: 

»Ich  weiß,  das  Physikalische 
Wirkt  öfters  aufs  Moralische." 

Aber  sollte  es  nicht  adäquater  sein  und  häufiger  zutreffen, 
daß  man  aufs  Morahsche  eines  Menschen  mit  morahschen, 
d.  h.  psychischen  Mitteln  einwirken  kann? 

Es  gibt  viele  Arten  und  Wege  der  Psychotherapie. 
Alle  sind  gut,  die  zum  Ziele  der  Heilung  führen.  Unsere 
gewöhnliche  Tröstung:  Es  wird  schon  wieder  gut  werden! 
mit  der  wir  den  Kranken  gegenüber  so  freigebig  sind,  ent- 
spricht einer  der  psychotherapeutischen  Methoden ;  nur  sind 
wir  bei  tieferer  Einsicht  in  das  Wesen  der  Nem^osen  nicht 
genötigt  gewesen,  uns  auf  die  Tröstung  einzuschränken.  Wir 
haben  die  Technik  der  hypnotischen  Suggestion,  der  Psycho- 
therapie durch  Ablenkung,  durch  Übung,  durch  Hervorrufung 
zweckdienlicher  Affekte   entwickelt.    Ich  verachte  keine   der- 


208 


selben,  und  würde,  sie  alle  unter  geeigneten  Bedingungen 
ausüben.  "Wenn  ich  in  "Wirklichkeit  mich  auf  ein  einziges 
Heilverfahren  beschränkt  habe,  auf  die  von  Breuer  „kathar- 
tisch"  genannte  Methode,  die  ich  lieber  die  „analytische" 
heiße,  so  sind  bloß  subjektive  Motive  für  mich  maßgebend 
gewesen.  Infolge  meines  Anteils  an  der  Aufstellung  dieser 
Therapie  fühle  ich  die  persönliche  Verpflichtung,  mich  ihrer 
Erforschung  und  dem  Ausbau  ihrer  Technik  zu  widmen.  Ich 
darf  behaupten,  die  analytische  Methode  der  Psychotherapie 
ist  diejenige,  welche  am  eindringlichsten  wirkt,  am  weitesten 
trägt,  durch  welche  man  die  ausgiebigste  Veränderung  des 
Elranken  erzielt.  "Wenn  ich  für  einen  Moment  den  thera- 
peutischen Standpunkt  verlasse,  kann  ich  für  sie  geltend 
machen,  daß  sie  die  interessanteste  ist,  uns  allein  etwas  über 
die  Entstehung  und  den  Zusammenhang  der  Krankheits- 
erscheinungen lehrt.  Infolge  der  Einsichten  in  den  Mecha- 
nismus des  seelischen  Krankseins,  die  sie  uns  eröffnet,  könnte 
sie  allein  imstande  sein,  über  sich  selbst  hinaus  zu  führen 
und  uns  den  "Weg  zu  noch  anderen  Arten  therapeutischer 
Beeinflussung  zu  weisen. 

In  bezug  auf  diese  kathartische  oder  analytische  Me- 
thode der  Psychotherapie  gestatten  Sie  mir  nun,  einige  Irr- 
tümer zu  verbessern  und  einige  Aufklärungen  zu  geben. 

a)  Ich  merke,  daß  diese  Methode  sehr  häufig  mit  der 
hypnotischen  Suggestivbehandlung  verwechselt  wird,  merke 
es  daran,  daß  verhältnismäßig  häufig  auch  Kollegen,  deren 
Vertrauensmann  ich  sonst  nicht  bin.  Kranke  zu  mir  schicken, 
refraktäre  Kranke  natürlich,  mit  dem  Auftrage,  ich  solle  sie 
hypnotisieren.  Nun  habe  ich  seit  etwa  8  Jahren  keine  Hypnose 
mehr  zu  Zwecken  der  Therapie  ausgeübt  (vereinzelte  Versuche 
ausgenommen)  und  pflege  solche  Sendungen  mit  dem  Rate, 
wer  auf  die  Hypnose  baut,  möge  sie  selbst  machen,  zu  retour- 
nieren.  In  "Wahrheit  besteht  zwischen  der  suggestiven  Technik 
und  der  analytischen  der  größtmögliche  Gegensatz,  jener 
G-egensatz,  den  der  große  Leonardo  da  Vinci  für  die  Künste 
in  die  Formeln  per  via  di  porre  und  per  via  di  levare 
gefaßt  hat.  Die  Malerei,  sagt  Leonardo,  arbeitet  per  via  di 
porre ;    sie  setzt  nämlich  Farbenhäufchen  hin,    wo  sie  früher 


209 

nicht  waren,  auf  die  nicht  farbige  Leinwand;  die  Skulptur 
dagegen  geht  per  via  di  levare  vor,  sie  nimlnt  nämlich  vom 
Stein  so  viel  weg,  als  die  Oberfläche  der  in  ihm  enthaltenen 
Statue  noch  bedeckt.  Ganz  ähnlich,  meine  Hisrren,  sucht  die 
Suggestivtechnik  per  via  di  porre  zu  wirken,  sie  kümmert 
sich  nicht  um  Herkunft,  Kraft  und  Bedeutung  der  Ej-ankheits- 
symptome,  sondern  legt  etwas  auf,  die  Suggestion  nämlich, 
wovon  sie  erwartet,  daß  es  stark  genug  sein  wird,  die 
pathogene  Idee  an  der  Äußerung  zu  hindern.  Die  analytische 
Therapie  dagegen  will  nicht  auflegen,  nichts  Neues  einführen, 
sondern  wegnehmen,  herausschaffen,  und  zu  diesem  Zwecke 
bekümmert  sie  sich  um  die  G-enese  der  krankhaften  Symptome 
und  den  psychischen  Zusammenhang  der  pathogenen  Idee, 
deren  Wegschaffung  ihr  Ziel  ist.  Auf  diesem  "Wege  der 
Forschung  hat  sie  unserem  Verständnis  so  bedeutende  Förde- 
rung gebracht.  Ich  habe  die  Suggestionstechnik  und  mit  ihr 
die  Hypnose  so  frühzeitig  aufgegeben,  weil  ich  daran  ver- 
zweifelte, die  Suggestion  so  stark  und  so  haltbar  zu  machen, 
wie  es  fiir  die  dauernde  Heilung  notwendig  wäre.  In  allen 
schweren  FäUen  sah  ich  die  darauf  gelegte  Suggestion  wieder 
abbröckeln,  und  dann  war  das  Kranksein  oder  ein  dasselbe 
Ersetzendes  wieder  da.  Außerdem  mache  ich  dieser  Technik 
den  Vorwurf,  daß  sie  uns  die  Einsicht  in  das  psychische 
Kräftespiel  verhüllt,  z.  B.  uns  den  "Widerstand  nicht  er- 
kennen läßt,  mit  dem  die  Kranken  an  ihrer  Krankheit  fest- 
halten, mit  dem  sie  sich  also  auch  gegen  die  Genesung 
sträuben,  und  der  doch  allein  das  Verständnis  ihres  Be- 
nehmens im  Leben  ermöglicht. 

h)  Es  scheint  mir  der  Irrtum  unter  den  Kollegen  weit 
verbreitet  zu  sein,  daß  die  Technik  der  Forschung  nach  den 
Krankheitsanlässen  und  die  Beseitigung  der  Erscheinungen 
durch  diese  Erforschung  leicht  und  selbstverständlich  sei. 
Ich  schließe  dies  daraus,  daß  noch  keiner  von  den  vielen, 
die  sich  für  meine  Therapie  interessieren  und  sichere  Urteile 
über  dieselbe  von  sich  geben,  mich  je  gefragt  hat,  wie 
ich  es  eigentlich  mache.  Das  kann  doch  nur  den  einzigen 
Grund  haben,  daß  sie  meinen,  es  sei  nichts  zu  fragen,  es 
verstehe  sich  ganz  von  selbst.    Auch  höre   ich   initunter   mit 

Frtnd,  NeurcBenlehxe.  14 


210 

Erstaunen,  daß  auf  dieser  oder  jener  Abteilung  eines  Spitals 
ein  junger  Arzt  von  seinem  Chef  den  Auftrag  erhalten  hat, 
bei  einer  Hysterischen  eine  „Psychoanalyse"  zu  unternehmen. 
Ich  bin  überzeugt,  man  würde  ihm  nicht  einen  exstirpierten 
Tumor  zur  Untersuchung  überlassen,  ohne  sich  vorher  ver- 
sichert zu  haben,  daß  er  mit  der  histologischen  Technik 
vertraut  ist.  Ebenso  erreicht  mich  die  Nachricht,  dieser  oder 
jener  Kollege  richte  sich  Sprechstunden  mit  einem  Patienten 
ein,  um  eine  psychische  Kur  mit  ihm  zu  machen,  während 
ich  sicher  bin,  daß  er  die  Technik  einer  solchen  Kur  nicht 
kennt.  Er  muß  also  erwarten,  daß  ihm  der  Kranke  seine 
Geheimnisse  entgegenbringen  wird,  oder  sucht  das  Heü  in 
irgend  einer  Art  von  Beichte  oder  Anvertrauen.  Es  würde 
mich  nicht  wundern,  wenn  der  so  behandelte  Kranke  dabei 
eher  zu  Schaden  als  zum  Vorteil  käme.  Das  seelische  Instru- 
ment ist  nämlich  nicht  gar  leicht  zu  spielen.  Ich  muß  bei 
solchen  Anlässen  an  die  Rede  eines  weltberühmten  Neurotikers 
denken,  der  freilich  nie  in  der  Behandlung  eines  Arztes  ge- 
standen, der  nur  in  der  Phantasie  eines  Dichters  gelebt  hat. 
Ich  meine  den  Prinzen  Hamlet  von  Dänemark.  Der  König 
hat  die  beiden  Höflinge  Rosenkranz  und  Grüldenstern 
über  ihn  geschickt,  um  ihn  auszuforschen,  ihm  das  Geheimnis 
seiner  Verstimmung  zu  entreißen.  Er  wehrt  sie  ab ;  da  werden 
Flöten  auf  die  Bühne  gebracht.  Hamlet  nimmt  eine  Flöte 
und  bittet  den  einen  seiner  Quäler,  auf  ihr  zu  spielen,  es 
sei  so  leicht  wie  lügen.  Der  Höfling  weigert  sich,  denn  er 
kennt  keinen  Griff,  und  da  er  zu  dem  Versuch  des  Flöten- 
spiels nicht  zu  bewegen  ist,  bricht  Hamlet  endlich  los :  „Nun 
seht  ihr,  welch  ein  nichtswürdiges  Ding  ihr  aus  mir  macht? 
Ihr  wollt  auf  mir  spielen;  ihr  wollt  in  das  Herz  meines 
Geheimnisses  dringen;  üir  woUt  mich  von  meiner  tiefsten 
Note  bis  zum  Gipfel  meiner  Stimme  hinauf  prüfen,  und  in 
diesem  kleinen  Instrument  hier  ist  viel  Musik,  eine  vortreff- 
liche Stimme,  dennoch  könnt  ihr  es  nicht  zum  Sprechen 
bringen.  Wetter,  denkt  ihr,  daß  ich  leichter  zu  spielen 
bin  als  eineFlöte?  Nennt  mich  was  für  ein  Instru- 
ment ihr  wollt,  ihr  könnt  mich  zwar  verstimmen, 
aber  nicht   auf  mir   spielen"  (HI.  Akt,  2.V 


211 

c)   Sie   werden   aus   gewissen   meiner   Bemerkungen   er- 
raten   haben,     daß     der    analytischen    Kur     manche    Eigen- 
schaften   anhaften,    die    sie    von    dem    Ideal    einer    Therapie 
ferne  halten.    Tuto,  cito,  iucunde ;    das  Forschen  und  Suchen 
deutet   nicht   eben   auf  Raschheit   des  Erfolges,   und  die  Er- 
wähnung  des  Widerstandes  bereitet   Sie    auf  die  Erwartung 
von    Unannehmlichkeiten    vor.    Gewiß,  die  psychoanalytische 
Behandlung   stellt   an   den   Kranken   wie   an   den  Arzt   hohe 
Ansprüche ;     von     ersterem    verlangt    sie    das    Opfer    voller 
Aufrichtigkeit,   gestaltet   sich   für  ihn  zeitraubend  und  daher 
auch  kostspielig;   für  den  Arzt  ist  sie  gleichfalls  zeitraubend 
und   wegen    der  Technik,    die    er  zu  erlernen  und  auszuüben 
hat,    ziemlich   mühselig.    Ich   finde    es   auch   selbst   ganz  be- 
rechtigt,   daß   man   bequemere   Heilmethoden   in  Anwendung 
bringt,   solange  man  eben  die  Aussicht  hat,   mit  diesen  letz- 
teren etwas  zu  erreichen.  Auf  diesen  Punkt  kommt  es  allein 
an;   erzielt  man   mit   dem  mühevolleren  und  langwierigeren 
Verfahren   erheblich   mehr  als  mit  dem  kurzen  und  leichten, 
so   ist   das  erstere  trotz  alledem  gerechtfertigt.    Denken  Sie, 
meine    Herren,  um    wieviel    die    F  i  n  s  e  n  therapie  des  Lupus 
unbequemer  und  kostspieliger  ist  als  das  früher  gebräuchliche 
Atzen  und  Schaben,  und  doch  bedeutet  es  einen  großen  Fort- 
schritt, bloß  weil  es  mehr  leistet;  es  heilt  nämlich  den  Lupus 
radikal.  Nun  will  ich  den  Vergleich  nicht  gerade  durchsetzen ; 
aber  ein  ähnliches  Vorrecht  darf  doch  die  psychoanalytische 
Methode  für  sich  in  Anspruch  nehmen.  In  "Wirklichkeit  habe 
ich    meine    therapeutische    Methode    nur    an    schweren    und 
schwersten  Fällen   ausarbeiten   und  versuchen  können;   mein 
Material  waren  zuerst  nur  Kranke,    die    alles   erfolglos   ver- 
sucht und  durch  Jahre  in  Anstalten  geweilt  hatten.  Ich  habe 
kaum  Erfahrung  genug  gesammelt,  um  Ihnen  sagen  zu  können, 
wie  sich  meine  Therapie  bei  jenen  leichteren,  episodisch  auf- 
tretenden Erkrankungen  verhält,  die  wir  unter  den  verschieden- 
artigsten  Einflüssen   und   auch   spontan   abheüen   sehen.  Die 
psychoanalytische  Therapie  ist  an  dauernd  existenzunfähigen 
Kranken  und  für  solche  geschaffen  worden,  und  ihr  Triumph 
ist  es,  daß  sie  eine  befriedigende  Anzahl  von  solchen  dauernd 
existenzfähig   macht.     Gegen    diesen  Erfolg    erscheint    dann 

14* 


212 

aller  Aufwand  geringfügig.  "Wir  können  un's  nicht  verhehlen, 
iüf&U  -Weir  vor  den  Kranken  zu  verleugnen  pflegen,  daß  einö 
echwere  Neurose  in  ihrer  Bedeutung  für  das  ihr  unterworfene 
Individuum  hinter  keiner  Kacheade,  keinem  der  gefürchteten 
Allgemeinleiden  zurücksteht. 

d)  Die  Indikationen  und  Gegenanzeigen  dieser  Behand- 
lung sind  infolge  der  vielen  praktischen  Beschränkungen,  diö 
meine  Tätigkeit  betroffen  haben,  kaum  endgiltig  anzugeben. 
Indes  will  ich  versuchen,  einige  Punkte  mit  Ihnen  zu  erörtern : 

1.  Man  übersehe  nicht  über  die  Krankheit  den  sonstigen 
"Wert  einer  Person  und  weise  Kranke  zurück,  welche  nicht 
einen  gewissen  Bildungsgrad  und  einen  einigermaßen  verläß- 
lichen Charakter  besitzen.  Man  darf  nicht  vergessen,  daß  es 
auch  Gesunde  gibt,  die  nichts  taugen,  und  daß  man  nur  allzu 
leicht  geneigt  ist,  bei  solchen  minderwertigen  Personen  aUes, 
was  sie  existenzunfähig  macht,  auf  die  Krankheit  zu  schieben, 
wenn  sie  irgend  einen  Anflug  von  Neurose  zeigen.  Ich  stehe 
auf  dem  Standpunkt,  daß  die  Neurose  ihren  Träger  keines- 
wegs zum  Degenere  stempelt,  daß  sie  sich  aber  häufig  genug 
mit  den  Erscheinungen  der  Degeneration  vergesellschaftet  an 
demselben  Individuum  findet.  Die  analytische  Psychotherapie 
ist  nun  kein  Terfahren  zur  Behandlung  der  neuropathischen 
Degeneration,  sie  findet  im  Gegenteile  an  derselben  ihre 
Schranke.  Sie  ist  auch  bei  Personen  nicht  anwendbar,  die 
sich  nicht  selbst  durch  ihre  Leiden  zur  Therapie  gedrängt 
fühlen,  sondern  sich  einer  solchen  nur  infolge  des  Macht- 
gebotes ihrer  Angehörigen  unterziehen.  Die  Eigenschaft,  auf 
die  es  für  die  Brauchbarkeit  zur  psychoanalytischen  Behand- 
lung ankommt,  die  Erziehbarkeit,  werden  Wir  noch  von  einem 
anderen  Gesichtspunkte  würdigen  müssen. 

2.  "Wenn  man  sicher  gehen  will,  beschränke  man  seine 
Auswahl  auf  Personen,  die  einen  Nortnalzustand  haben,  da 
man  sieh  itn  psychoanalytischen  Verfahren  von  diesem  aus 
des  Kriankhaften  bemächtigt.  Psychosen,  Zustände  von  Ver- 
worrenheit und  tiefgreifender  (ich  möchte  sagen :  toxischer) 
Verstiininung  sind  also  für  die  Psychoanalyse,  wenigstens  wie 
sie  bis  jetzt  ausgeübt  wird,  ungeeignet.  Ich  halte  es  für 
durchaus   nicht   ausgeschlossen,   daß  man  bei  geeigneter  Ab- 


213 

änderung  des  Verfs^hrens  sich  über  diege  G-egeniii(Jik8(,tion 
kinaussetzeu  und  sq  eine  Psychotherapie  ^ev  Psychosen  in 
Angriff  nehmen  könne. 

3.  Das  Alter  der  Kranken  spielt  bei  der  Auswahl  zur 
psychoanalytischen  Behandlung  insoferne  eine  Bolle,  a^ls  bei 
Personen  nahe  an  oder  über  50  Jahre  einerseits  die  Plastizitä^t 
der  seelischen  Yorgänge  zu  fehlen  pflegt,  auf  welche  die 
Therapie  rechnet  —  alte  Leute  sind  nicht  mehr  erziehbar  — 
und  als  anderseits  das  Material,  welches  durchzuarbeiten  ist, 
die  Behandlungsdauer  ins  Unabsehbare  verlängert.  Die  Alters- 
grenze nach  unten  ist  nur  individuell  zu  bestimmen;  jugend- 
liche Personen  noch  vor  der  Pubertät  sind  oft  ausgezeichnet 
zu  beeinflussen. 

4.  Man  wird  nicht  zur  Psychoanalyse  greifen,  wenn  es 
sich  um  die  rasche  Beseitigung  drohender  Erscheinungen 
handelt,  also  z.  B.  bei  einer  hysterischen  Anorexie. 

Sie  werden  nun  den  Eindruck  gewonnen  haben,  daß  das 
Anwendungsgebiet  der  analytischen  Psychotherapie  ein  sehr 
beschränktes  ist,  da  Sie  eigentlich  nichts  anders  als  Qi-egen- 
^nzeigen  von  mir  gehört  haben.  Nichtsdestoweniger  bleiben 
Fälle  und  Kj-ankheitsformen.  genug  übrig,  an  denen  diese 
Therapie  sich  erproben  kann,  alle  chronischen  Formen  von 
Hysterie  mit  Besterscheinungen,  das  große  Gebiet  der  Zjwangs- 
zustände  und  AbuUen  u.  dgl. 

Erfreulich  ist  es,  daß  man  gerade  den  wertvollsten  und 
sonst  höchstentwickelten  Personen  auf  solche  Weise  am 
ehesten  Hilfe  bringen  kann.  Wo  aber  mit  der  anqdytischen 
Psychothera.pie  nur  wenig  auszurichten  war,  da,  darf  man 
getrost  behaupten,  hätte  irgend  welche  andere  Bejiandlung 
sicherlich  gar  nichts  zustande  gebracht. 

e)  Sie  werden  mich  gewiß  fragen  wollen,  wie  es  bei 
Anwendung  der  Psychoanalyse  mit  der  Möglichkeit,  Schaden 
zu  stiften,  bestellt  ist.  Ich  kann  Ihnen  darauf  erwidern,  wenn 
Sie  nur  billig  urteilen  wollen,  diesem  Verfahren  dasselbe 
kritische  Wohlwollen  entgegenbringen,  das  Sie  für  unsere 
Rinderen  therapeutischen  Methoden  bereit  haben,  so  werden 
Sie  meiner  Meinung  zustimmen  müssen,  daß  bei  einer  mit 
Yerständni^  geleitetepi  analytischen  Kur  ein  Schaden  fiir  den 


214 

Kranken  nicht  zu  befürchten  ist.  Anders  wird  vielleicht 
urteilen,  wer  als  Laie  gewohnt  ist,  alles,  was  sich  in  einem 
Krankheitsfalle  begibt,  der  Behandlung  zur  Last  zu  legen. 
Es  ist  ja  nicht  lange  her,  daß  unseren  Wasserheilanstalten 
ein  ähnliches  Vorurteil  entgegenstand.  So  mancher,  dem  man 
riet,  eine  solche  Anstalt  aufzusuchen,  wurde  bedenklich,  weil 
er  einen  Bekannten  gehabt  hatte,  der  als  Nervöser  in  die 
Anstalt  kam  und  dort  verrückt  wurde.  Es  handelte  sich,  wie 
Sie  erraten,  um  Fälle  von  beginnender  allgemeiner  Paralyse, 
die  man  im  Anfangsstadium  noch  in  einer  "Wasserheilanstalt 
unterbringen  konnte,  und  die  dort  ihren  unaufhaltsamen  Ver- 
lauf bis  zur  manifesten  Geistesstörung  genommen  hatten ;  für 
die  Laien  war  das  Wasser  Schuld  und  Urheber  dieser  trau- 
rigen Veränderung.  Wo  es  sich  um  neuartige  Beeinflussimgen 
handelt,  halten  sich  auch  Ärzte  nicht  immer  von  solchen 
Urteilsfehlem  frei.  Ich  erinnere  mich,  einmal  bei  einer  Frau 
den  Versuch  mit  Psychotherapie  gemacht  zu  haben,  bei  der 
ein  gutes  Stück  ihrer  Existenz  in  der  Abwechslung  von  Manie 
und  Melancholie  verflossen  war.  Ich  übernahm  sie  zu  Ende 
einer  Melancholie;  es  schien  zwei  Wochen  lang  gut  zu  gehen; 
in  der  dritten  standen  wir  bereits  zu  Beginn  der  neuen  Manie. 
Es  war  dies  sicherlich  eine  spontane  Veränderung  des  Krank- 
heitsbildes, denn  zwei  Wochen  sind  keine  Zeit,  in  welcher 
die  analytische  Psychotherapie  irgend  etwas  zu  leisten  unter- 
nehmen kann,  aber  der  hervorragende  —  jetzt  schon  ver- 
storbene —  Arzt,  der  mit  mir  die  Kranke  zu  sehen  bekam, 
konnte  sich  doch  nicht  der  Bemerkung  enthalten,  daß  an 
dieser  „Verschlechterung"  die  Psychotherapie  Schuld  sein 
dürfte.  Ich  bin  ganz  überzeugt,  daß  er  sich  unter  anderen 
Bedingungen  kritischer  erwiesen  hätte. 

f)  Zum  Schlüsse,  meine  Herren  KoUegen,  muß  ich  mir 
sagen,  es  geht  doch  nicht  an,  Ihre  Aufmerksamkeit  so  lange 
zugunsten  der  analytischen  Psychotherapie  in  Anspruch  zu 
nehmen,  ohne  Ihnen  zu  sagen,  worin  diese  Behandlung  be- 
steht, und  worauf  sie  sich  gründet.  Ich  kann  es  zwar,  da  ich 
kurz  sein  muß,  nur  mit  einer  Andeutung  tun.  Diese  Therapie 
ist  also  auf  die  Einsicht  gegründet,  daß  unbewußte  Vor- 
stellungen —  besser:    die    Unbewußtheit    gewisser    seelischer 


215 


"Vorgänge  —  die  nächste  Ursache  der  krankhaften  Symptome 
ist.  Eine  solche  Überzeugung  vertreten  wir  gemeinsam  mit 
der  französischen  Schule  (Jan et),  die  übrigens  in  arger 
Schematisierung  das  hysterische  Symptom  auf  die  unbewußte 
idee  fixe  zurückführt.  Fürchten  Sie  nun  nicht,  daß  wir  dabei 
zu  tief  in  die  dunkelste  Philosophie  hineingeraten  werden. 
Unser  Unbewußtes  ist  nicht  ganz  dasselbe  wie  das  der  Philo- 
sophen, und  überdies  wollen  die  meisten  Philosophen  vom 
„unbewußten  Psychischen"  nichts  wissen.  Stellen  Sie  sich 
aber  auf  unseren  Standpunkt,  so  werden  Sie  einsehen,  daß 
die  Übersetzung  dieses  Unbewußten  im  Seelenleben  der 
Kranken  in  ein  Bewußtes  den  Erfolg  haben  muß,  deren  Ab- 
weichung vom  Normalen  zu  korrigieren  und  den  Zwang  auf- 
zuheben, unter  dem  ihr  Seelenleben  steht.  Denn  der  bewußte 
Wille  reicht  so  weit  als  die  bewußten  psychischen  Vorgänge, 
und  jeder  psychische  Zwang  ist  durch  das  Unbewußte  be- 
gründet. Sie  brauchen  auch  niemals  zu  fürchten,  daß  der 
Kranke  unter  der  Erschütterung  Schaden  nehme,  welche  der 
Eintritt  des  Unbewußten  in  sein  Bewußtsein  mit  sich  bringt, 
denn  Sie  können  es  sich  theoretisch  zurechtlegen,  daß  die 
somatische  und  affektive  "Wirkung  der  bewußt  gewordenen 
Regung  niemals  so  groß  werden  kann  wie  die  der  unbewußten. 
Wir  beherrschen  alle  unsere  Regungen  doch  nur  dadurch, 
daß  wir  unsere  höchsten,  mit  Bewußtsein  verbundenen  Seelen- 
leistungen auf  sie  wenden. 

Sie  können  aber  auch  einen  anderen  Gesichtspunkt  für 
das  Verständnis  der  psychoanalytischen  Behandlung  wählen. 
Die  Aufdeckung  und  Übersetzung  des  Unbewußten  geht  unter 
beständigem  Widerstand  von  Seiten  der  Kranken  vor  sich. 
Das  Auftauchen  dieses  Unbewußten  ist  mit  Unlust  verbunden, 
und  wegen  dieser  Unlust  wird  es  von  ihm  immer  wieder  zu- 
rückgewiesen. In  diesen  Konflikt  im  Seelenleben  des  Kranken 
greifen  Sie  nun  ein;  gelingt  es  Einen,  den  Kranken  dazu  zu 
bringen,  daß  er  aus  Motiven  besserer  Einsicht  etwas  akzep- 
tiert, was  er  zufolge  der  automatischen  Unlustregulierung 
bisher  zurückgewiesen  (verdrängt)  hat,  so  haben  Sie  ein 
Stück  Erziehungsarbeit  an  ihm  geleistet.  Es  ist  ja  schon 
Erziehung,    wenn   Sie   einen   Menschen,    der   nicht  gern  früh 


216 


morgens  das  Bett  verläßt,  dazu  bewegen,  es  doch  zu  tun.  Als 
eine  solche  NacherziehungzurÜberwindunginnerer 
"Widerstände  können  Sie  nun  die  psychoanalytische  Behand- 
lung ganz  allgemein  auffassen.  In  keinem  Punkte  aber  ist 
solche  Nacherziehung  bei  den  Nervösen  mehr  vonnöten  als 
betreffs  des  seelischen  Elementes  in  ihrem  Sexualleben.  Nirgends 
haben  ja  Kultur  und  Erziehung  so  großen  Schaden  gestiftet 
wie  gerade  hier,  und  hier  sind  auch,  wie  Ihnen  die  Erfahrung 
zeigen  wird,  die  beherrschbaren  Ätiologien  der  Neurosen  zu 
finden;  das  andere  ätiologische  Element,  der  konstitutionelle 
Beitrag,  ist  uns  ja  als  etwas  Unabänderliches  gegeben.  Hieraus 
erwächst  aber  eine  wichtige  an  den  Arzt  zu  stellende  An- 
forderung. Er  muß  nicht  nur  selbst  ein  integrer  Charakter 
sein  —  ^das  Moralische  versteht  sich  ja  von  selbst",  wie  die 
Hauptperson  in  Th.  Vischer's  „Auch  Einer"  zu  sagen 
pflegt  — ;  er  muß  auch  für  seine  eigene  Person  die  Mischung 
von  Lüsternheit  und  Prüderie  überwunden  haben,  mit  welcher 
leider  so  viele  andere  den  sexuellen  Problemen  entgegen- 
zutreten gewohnt  sind. 

Hier  ist  vielleicht  der  Platz  für  eine  weitere  Bemerkung. 
Ich  weiß,  daß  meine  Betonung  der  Rolle  des  Sexuellen  für 
die  Entstehung  der  Psychoneurosen  in  weiteren  Kreisen  be- 
kannt geworden  ist.  Ich  weiß  aber  auch,  daß  Einschränkungen 
und  nähere  Bestimmungen  beim  großen  Publikum  wenig 
nützen ;  die  Menge  hat  für  Wenig  Raum  in  ihrem  Gedächtnis 
und  behält  von  einer  Behauptung  doch  nur  den  rohen  Kern, 
schafft  sich  ein  leicht  zu  merkendes  Extrem.  Es  mag  auch 
manchen  Ärzten  so  ergangen  sein,  daß  ihnen  als  Inhalt  meiner 
Lehre  vorschwebt,  ich  führe  die  Neurosen  in  letzter  Linie 
auf  sexuelle  Entbehrung  zurück.  An  dieser  fehlt  es  nicht 
unter  den  Lebensbedingungen  unserer  Gesellschaft.  Wie  nahe 
ma,g  es  nun  bei  solcher  Voraussetzung  liegen,  den  mühseligen 
Umweg  über  die  psychische  Kur  zu  vermeiden  und  direkt 
die  Heüung  anzustreben,  indem  man  die  sexuelle  Betätigung 
»Is  Heilmittel  empfiehlt?  Ich  weiß  nun  nicht,  was  mich  be- 
wegen könnte,  diese  Folgerung  zu  unterdrücken,  wenn  sie 
berechtigt  wäre.  Die  Sache  liegt  aber  anders.  Die  sexuelle 
Bedürftigkeit   und  Entbehrung,  das  ist  bloß  der  eine  Faktor, 


217 


der  beim  Mechanismus  der  Neurose  ins  Spiel  tritt;  bestünde 
er  allein,  so  würde  nicht  Krankheit,  sondern  Ausschweifung 
die  Folge  sein.  Der  andere,  ebenso  unerläßliche  Faktor,  an 
den  man  allzu  bereitwillig  vergißt,  ist  die  Sexualabneigung 
der  Neurotiker,  ihre  Unfähigkeit  zum  Lieben,  jener  psychische 
Zug,  den  ich  „Verdrängung"  genannt  habe.  Erst  aus  dem 
Konflikt  zwischen  beiden  Strebungen  geht  die  neurotische 
Erkrankung  hervor,  und  darum  kann  der  Rat  der  sexuellen 
Betätigung  bei  den  Psychoneurosen  eigentlich  nur  selten  als 
guter  Rat  bezeichnet  werden. 

Lassen  Sie  mich  mit  dieser  abwehrenden  Bemerkung 
schließen.  Wir  wollen  hoffen,  daß  Ihr  von  jedem  feindseligen 
Vorurteil  gereinigtes  Interesse  für  die  Psychotherapie  uns 
darin  unterstützen  wird,  auch  in  der  Behandlung  der  schweren 
Fäjle  von  Psychoneurosen  Erfreuliches  zu  leisten. 


XIII. 

Die  Freu d'sche  psychoanalytische  Methode.  0 

„Die  eigentümliche  Methode  der  Psychotherapie,  die 
Freud  ausübt  und  als  Psychoanalyse  bezeichnet,  ist  aus 
dem  sogenannten  kathartischen  Verfahren  hervorgegangen, 
über  welches  er  seinerzeit  in  den  „Studien  über  Hysterie" 
1895  in  Gemeinschaft  mit  J.  Breuer  berichtet  hat.  Die 
kathartische  Therapie  war  eine  Erfindung  Breuer's,  der  mit 
ihrer  Hufe  zuerst  etwa  ein  Dezennium  vorher  eine  hysterische 
Kranke  hergestellt  und  dabei  Einsicht  in  die  Pathogenese 
ihrer  Symptome  gewonnen  hatte.  Infolge  einer  persönlichen 
Anregung  B  r  e  u  e  r's  nahm  dann  Freud  das  Verfahren  wieder 
auf  und  erprobte  es  an  einer  größeren  Anzahl  von  Kranken. 

Das  kathartische  Verfahren  setzte  voraus,  daß  der  Patient 
hypnotisierbar  sei  und  beruhte  auf  der  Erweiterung  des  Be- 
wußtseins, die  in  der  Hypnose  eintritt.  Es  setzte  sich  die 
Beseitigung  der  Krankheitssymptome  zum  Ziele  und  erreichte 
dies,  indem  es  den  Patienten  sich  in  den  psychischen  Zustand 
zurückversetzen  ließ,  in  welchem  das  Symptom  zum  ersten 
Male  aufgetreten  war.  Es  tauchten  dann  bei  dem  hypnotisierten 
Kranken  Erinnerungen,  Gredanken  und  Impulse  auf,  die  in 
seinem  Bewußtsein  bisher  ausgefallen  waren,  und  wenn  er 
diese  seine  seelischen  Vorgänge  unter  intensiven  Affekt- 
äußerungen dem  Arzte  mitgeteilt  hatte,  war  das  Symptom 
überwunden,  die  Wiederkehr  desselben  aufgehoben.  Diese 
regelmäßig  zu  wiederholende  Erfahrung  erläuterten  die  beiden 
Autoren  in  ihrer  gemeinsamen  Arbeit  dahin,  daß  das  Symptom 
an  Stelle  von  unterdrückten  und  nicht  zum  Bewußtsein  ge- 
langten psychischen  Vorgängen  stehe,  also  eine  Umwandlung 
(„Konversion")    der    letzteren    darstelle.    Die    therapeutische 

')  Aus:  Löwenfeld,  Psychische  Zwangserscheinungen,  1904. 


219 


"Wirksamkeit  ihres  Verfakrens  erklärten  sie  sich  aus  der 
Abfuhi"  des  bis  dahin  gleichsam  „eingeklemmten"  Affektes, 
der  an  den  unterdrückten  seelischen  Aktionen  gehaftet  hatte 
(„Abreagieren").  Das  einfache  Schema  des  therapeutischen 
Eingriffs  komplizierte  sich  aber  nahezu  alle  Male,  indem 
sich  zeigte,  daß  nicht  ein  einzelner  („traumatischer")  Ein- 
druck, sondern  meist  eine  schwer  zu  übersehende  Reihe  von 
solchen  an  der  Entstehung  des  Symptoms  beteiligt  sei. 

Der  Hauptcharakter  der  kathartischen  Methode,  der  sie 
in  Gegensatz  zu  allen  anderen  Verfahren  der  Psychotherapie 
setzt,  liegt  also  darin,  daß  bei  ihr  die  therapeutische  Wirk- 
samkeit nicht  einem  suggestiven  Verbot  des  Arztes  über- 
tragen wird.  Sie  erwartet  vielmehr,  daß  die  Symptome  von 
selbst  verschwinden  werden,  wenn  es  dem  Eingriff,  der  sich 
auf  gewisse  Voraussetzungen  über  den  psychischen  Mecha- 
nismus beruft,  gelungen  ist,  seelische  Vorgänge  zu  einem 
anderen  als  dem  bisherigen  Verlauf  zu  bringen,  der  in  die 
Symptombildung  eingemündet  hat. 

Die  Abänderungen,  welche  Freud  an  dem  kathartischen 
Verfahren  Breuer's  vornahm,  waren  zunächst  Änderungen 
der  Technik;  diese  brachten  aber  neue  Ergebnisse  und  haben 
in  weiterer  Folge  zu  einer  andersartigen,  wiewohl  der  früheren 
nicht  widersprechenden,  Auffassung  der  therapeutischen  Arbeit 
genöti^. 

Hatte  die  kathartische  Methode  bereits  auf  die  Suggestion 
verzichtet,  so  unternahm  Freud  den  weiteren  Schritt,  auch 
die  Hypnose  aufzugeben.  Er  behandelt  gegenwärtig  seine 
Kranken,  indem  er  sie  ohne  andersartige  Beeinflussung  eine 
bequeme  Rückenlage  auf  einem  Ruhebett  einnehmen  läßt, 
während  er  selbst  ihrem  Anblick  entzogen  auf  einem  Stuhle 
hinter  ihnen  sitzt.  Auch  den  Verschluß  der  Augen  fordert  er 
von  ihnen  nicht  und  vermeidet  jede  Berührung  sowie  jede 
andere  Prozedur,  die  an  Hypnose  mahnen  könnte.  Eine 
solche  Sitzung  verläuft  also  wie  ein  Gespräch  zwischen  zwei 
gleich  wachen  Personen,  von  denen  die  eine  sich  jede  Muskel- 
anstrengung und  jeden  ablenkenden  Sinneseindruck  erspart, 
die  sie  in  der  Konzentration  ihrer  Aufinerksamkeit  auf  ihre 
eigene  seelische  Tätigkeit  stören  könnten. 


Da  das  Hypnotisiertwerden,  trotz  aller  Geschicklichkeit 
des  Arztes,  bekanntlich  in  der  Willkür  des  Patienten  liegt 
und  eine  große  Anzahl  neurotischer  Personen  dm-ch  kein 
Verfahren  in  Hypnose  zu  versetzen  ist,  so  war  durch  den 
Verzicht  auf  die  Hypnose  die  Anwendbarkeit  des  Verfahrens 
auf  eine  uneingeschränkte  Anzahl  von  Kranken  g^esichert. 
Andererseits  fiel  die  Erweiterung  des  Bewußtseins  weg, 
welche  dem  Arzt  gerade  jenes  psychische  Material  an  Er- 
innerungen und  Vorstellungen  geliefert  hatte,  mit  dessen 
Hilfe  sich  die  Umsetzung  der  Symptome  und  die  Befreiung 
4er  Affekte  vollziehen  ließ.  Wenn  flir  diesen  Ausfall  kein 
Ersatz  zu  schaffen  war,  konnte  auch  von  einer  therapeutischen 
Einwirkung  keine  Rede  sein. 

Einen  solchen  völlig  ausreichenden  Ersatz  fand  nun 
Freud  in  den  Einfällen  der  Kranken,  d.  h.  in  den  ungewollten, 
meist  als  störend  empfundenen  und  darum  unter  gewöhnlichen 
Verhältnissen  beseitigten  Gedanken,  die  den  Zusammenhang 
einer  beabsichtigten  Darstellung  zu  durchkreuzen  pflegen.  Um 
sich  dieser  Einfälle  zu  bemächtigen,  fordert  er  die  Kranken 
auf,  sich  in  ihren  Mitteilungen  gehen  zu  lassen,  „wie  man 
es  etwa  in  einem  Gespräch  tut,  bei  welchem  man  aus  dem 
Hundertsten  in  das  Tausendste  gerät".  Er  schärft  ihnen,  ehe 
er  sie  zur  detaüüerten  Erzählung  ihrer  Krankengeschichte 
auffordert,  ein,  alles  mit  zu  sagen,  was  ihnen  dabei  durch 
den  Kopf  geht,  auch  wenn  sie  meinen,  es  sei  unwichtig,  oder 
es  gehöre  nicht  dazu,  oder  es  sei  unsinnig.  Mit  besonderem 
Nachdruck  aber  wird  von  ihnen  verlangt,  daß  sie  keinen 
Gedanken  oder  Einfall  darum  von  der  Mitteilung  ausschließen, 
weil  ihnen  diese  Mitteilung  beschämend  oder  peinlich  ist.  Bei 
den  Bemühungen,  dieses  Material  an  sonst  yemachlässigten 
Einfällen  zu  sammeln,  machte  nun  Freud  die  Beobachtungen, 
die  für  seine  ganze  Auffassung  bestimmend  geworden  sind.  Schon 
bei  der  Erzählung  der  Krankengeschichte  stellen  sich  bei  den 
Kranken  Lücken  der  Erinnerung  heraus,  sei  es,  daß  tatsächliche 
Vorgänge  vergessen  worden,  sei  es,  daß  zeitHche  Beziehungen 
verwirrt  oder  Kausalzusammenhänge  zerrissen  worden  sind, 
so  daß  sich  unbegreifliche  Effekte  ergeben.  Ohne  Amnesie 
irgend  einer  Art  gibt  es  keine  neurotische  Krankengeschichte. 


221 


Drängt  inan  den  Erzählenden,  dieise  Lücken  seines  Gedächt- 
nisses durch  angestrengte  Arbeit  der  Aufmerksamkeit  auszu- 
füllen, so  merkt  man,  daß  die  hierzu  sich  einstellenden  Ein- 
fälle von  ihm  mit  allen  Mitteln  der  Kritik  zurückgedrängt 
werden,  bis  er  endlich  das  direkte  Unbehagen  verspürt,  wenn 
sich  die  Erinnerung  wirklich  eingeseUt  hat.  AuS  dieser  Erfahrung 
schließt  Freud,  daß  die  Amnesien  das  Ergebnis  eines  Vorgangs 
sind,  den  er  Verdrängung  heißt,  und  als  dessen  Motiv  er 
Unlustgefühle  erkennt.  Die  psychischen  Kräfte,  welche  diese  Ver- 
drängung herbeigeführt  haben,  meint  er  in  dem  Widerstand,, 
der  sich   gegen  die  Wiederherstellung   erhebt,    zu  verspüren. 

Das  Moment  des  Widerstandes  ist  eines  der  Fundamente 
seiner  Theorie  geworden.  Die  sonst  unter  allerlei  Vorwänden 
(wie  sie  die  obige  Formel  aufzählt)  beseitigten  Einfälle  be- 
trachtet er  aber  als  Abkömmlinge  der  verdrängten  psychischen 
Gebilde  (Gedanken  und  Regungen),  als  Entstehungen  derselben 
infolge  des  gegen  ihre  Reproduktion  bestehenden  Widerstandes. 

Je  größer  der  Widerstand,  desto  ausgiebiger  diese  Ent- 
stellung. In  dieser  Beziehung  der  unbeabsichtigten  Einfälle 
zum  verdrängten  psychischen  Material  ruht  nun  ihr  Wert  für 
die  therapeutische  Technik.  Wenn  man  ein  Verfahren  besitzt, 
welches  ermögHcht,  von  den  Einfällen  aus  zu  dem  Verdrängten, 
von  den  Entstehungen  zum  Entstellten  zu  gelangen,  so  kann 
man  auch  ohne  Hypnose  das  früher  Unbewußte  im  Seelenleben 
dem  Bewußtsein  zugänglich  machen. 

Freud  hat  darauf  eine  Deutungskunst  ausgebildet, 
welcher  diese  Leistung  zufällt,  die  gleichsam  aus  den  Erzen 
der  unbeabsichtigten  Einfälle  den  Metallgehalt  an  verdrängten 
Gedanken  darstellen  soll.  Objekt  dieser  Deutungsarbeit  sind 
nicht  allein  die  Einfälle  der  Kranken,  sondern  auch  seine 
Träume,  die  den  direktesten  Zugang  zur  Kenntnis  des  Un- 
bewußten eröffnen,  seine  unbeabsichtigten,  wie  planlosen 
Handlungen  (Symptomhandlungen)  und  die  Irrungen  s  einet- 
Leistungen  im  Alltagsleben  (Versprechen,  Vergreifen  u.  dgl.). 
Die  Details  dieser  Deutungs-  oder  Übersetzungstechnik  sind 
von  Freud  noch  nicht  veröfientlicht  worden.  Es  sind  nach 
seinen  Andeutungen  eine  Reihe  von  empiriäch  gewonnenen 
Regehl,   wie   aus   den  Einfallen   das   unbewußte  Material   zu 


222 


konstruieren  ist,  Anweisungen,  wie  man  es  zu  verstehen  habe, 
wenn  die  Einfälle  des  Patienten  versagen,  und  Erfahrungen 
über  die  wichtigsten  typischen  Widerstände,  die  sich  im  Laufe 
einer  solchen  Behandlung  einstellen.  Ein  umfangreiches  Buch 
über  „Traumdeutung",  1900  von  Freud  publiziert,  ist  als 
Vorläufer  einer  solchen  Einführung  in  die  Technik  anzusehen. 

Man  könnte  aus  diesen  Andeutungen  über  die  Technik 
der  psychoanalytischen  Methode  schließen,  daß  deren  Erfinder 
sich  überflüssige  Mühe  verursacht  und  Unrecht  getan  hat, 
das  wenig  komplizierte  hypnotische  Verfahren  zu  verlassen. 
Aber  einerseits  ist  die  Technik  der  Psychoanalyse  viel  leichter 
auszuüben,  wenn  man  sie  einmal  erlernt  hat,  als  es  bei  einer 
Beschreibung  den  Anschein  hat,  anderseits  führt  kein 
anderer  Weg  zum  Ziele,  und  darum  ist  der  mühselige  Weg 
noch  der  kürzeste.  Der  Hypnose  ist  vorzuwerfen,  daß  sie 
den  Widerstand  verdeckt  und  dadurch  dem  Arzt  den  Einblick 
in  das  Spiel  der  psychischen  Kräfte  verwehrt  hat.  Sie  räumt 
aber  mit  dem  Widerstände  nicht  auf,  sondern  weicht  ihm 
nur  aus  und  ergibt  dagegen  nur  unvollständige  Auskünfte 
und  nur  vorübergehende  Erfolge. 

Die  Aufgabe,  welche  die  psychoanalytische  Methode  zu 
lösen  bestrebt  ist,  läßt  sich  in  verschiedenen  Formeln  aus- 
drücken, die  aber  ihrem  Wesen  nach  äquivalent  sind.  Man 
kann  sagen :  Aufgabe  der  Kur  sei,  die  Amnesien  aufzuheben. 
Wenn  alle  Erinnerungslücken  ausgefüllt,  alle  rätselhaften 
Effekte  des  psychischen  Lebens  aufgeklärt  sind,  ist  der  Fort- 
bestand, ja  eine  Neubildung  des  Leidens  unmöglich  gemacht. 
Man  kann  die  Bedingung  anders  fassen:  es  seien  alle  Ver- 
drängungen rückgängig  zu  machen;  der  psychische  Zustand 
ist  dann  derselbe,  in  dem  alle  Amnesien  ausgefüllt  sind. 
Weittragender  ist  eine  andere  Fassung:  es  handle  sich  darum, 
das  Unbewußte  dem  Bewußtsein  zugänglich  zu  machen,  was 
durch  Überwindung  der  Widerstände  geschieht.  Man  darf 
aber  dabei  nicht  vergessen,  daß  ein  solcher  Idealzustand 
auch  beim  normalen  Menschen  nicht  besteht,  und  daß  man 
nur  selten  in  die  Lage  kommen  kann,  die  Behandlung  an- 
nähernd so  weit  zu  treiben.  So  wie  Gesundheit  und  Krankheit 
nicht .  prinzipiell  geschieden,  sondern  nur  durch  eine  praktisch 


223 


bestinunbare  Summationsgrenze  gesondert  sind,  so  wird  man 
sich,  auch  nie  etwas  anderes  zum  Ziel  der  Behandlung  setzen 
als  die  praktische  Genesung  des  Kranken,  die  Herstellung 
seiner  Leistungs-  und  Genußfähigheit,  Bei  unvollständiger 
Kur  oder  unvollkommenem  Erfolge  derselben  erreicht  man 
vor  allem  eine  bedeutende  Hebung  des  psychischen  Allgemein- 
zustandes, während  die  Symptome,  aber  mit  geminderter  Be- 
deutung für  den  Kranken,  fortbestehen  können,  ohne  ihn  zu 
einem  Kranken  zu  stempeln. 

Das  therapeutische  Verfahren  bleibt,  von  geringen  Mo- 
difikationen abgesehen,  das  nämliche  für  alle  Symptombüder 
der  vielgestaltigen  Hysterie  und  ebenso  für  alle  Ausbildungen 
der  Zwangsneurose.  Von  einer  unbeschränkten  Anwendbarkeit 
desselben  ist  aber  keine  Rede.  Die  Natur  der  psychoanaly- 
tischen Methode  schafft  Indikationen  und  Gegenanzeigen 
sowohl  von  selten  der  zu  behandelnden  Personen,  als  auch 
mit  Rücksicht  auf  das  Krankheitsbild.  Am  günstigsten  für 
die  Psychoanalyse  sind  die  chronischen  Fälle  von  Psycho- 
neurosen  mit  wenig  stürmischen  oder  gefahrdrohenden 
Symptomen,  also  zunächst  alle  Arten  der  Zwangsneurose, 
Zwangsdenken  und  Zwangshandeln,  und  Fälle  von  Hysterie, 
in  denen  Phobien  und  Abulien  die  Hauptrolle  spielen,  weiter- 
hin aber  auch  alle  somatischen  Ausprägungen  der  Hysterie, 
insoferne  nicht,  wie  bei  der  Anorexie,  rasche  Beseitigung  der 
Symptome  zur  Hauptaufgabe  des  Arztes  wird.  Bei  akuten 
Fällen  von  Hysterie  wird  man  den  Eintritt  eines  ruhigeren 
Stadiums  abzuwarten  haben;  in  allen  Fällen,  bei  denen  die 
nervöse  Erschöpfung  obenan  steht,  wird  man  ein  Verfahren 
vermeiden,  welches  selbst  Anstrengung  erfordert,  nur  lang- 
same Fortschritte  zeitigt  und  auf  die  Fortdauer  der  Symptome 
eine  Zeitlang  keine  Rücksicht  nehmen  kann. 

An  die  Person,  die  man  mit  Vorteil  der  Psychoanalyse 
unterziehen  soU,  sind  mehrfache  Forderungen  zu  stellen.  Sie 
muß  erstens  eines  psychischen  Normalzustandes  fähig  sein; 
in  Zeiten  der  Verworrenheit  oder  melancholischer  Depression 
ist  auch  bei  einer  Hysterie  nichts  auszurichten.  Man  darf 
femer  ein  gewisses  Maß  natürhcher  Intelligenz  und  ethischer 
Entwicklung  fordern;    bei  wertlosen  Personen  läßt  den  Arzt 


224 


bald  dais  Interesse  iin  Stiche,  welches  ihn  zur  Vertiefung  in 
das  Sfeelenleben  des  Ktänken  befähigt.  Ausgeprägte  Chatakter- 
verbildungen,  Züge  von  wirklich  degenerativer  Konstitution 
äußern  sich  bei  der  Kur  als  Quelle  von  kaum  zu  über- 
windenden Widerstäiiden.  Insoweit  setzt  überhaupt  die 
Konstitution  eine  Grenze  für  die  Heilbarkeit  durch  Psycho- 
therapie. Auch  eine  Altersstufe  in  der  Nähe  des  fünften 
Dezenniums  schaiSl  ungünstige  Bedingungen  für  die  Psycho- 
analyse. Die  Masse  des  psychischen  Materials  ist  dann  nicht 
mehr  zu  bewältigen,  die  zur  Herstellung  erfordterhche  Zeit 
wird  zu  lang,  und  die  Fähigkeit,  psychische  Vorgänge  rück- 
gängig zu  machen,  beginnt  zu  erlahmen. 

Trotz  aller  dieser  Einschränkungen  ist  die  Anzahl  der 
für  die  Psychoanalyse  geeigneten  Personen  eine  außerordentlich 
große,  und  die  Erweiterung  unseres  therapeutischen  Könnens 
durch  dieses  Verfahren  nach  den  Behauptungen  Freuds  eine 
sehr  beträchtliche.  Freud  beansprucht  lange  Zeiträume, 
V2  Jahr  bis  3  Jahre  für  eine  wirksame  Behandlung;  er  gibt 
aber  diiB  Auskunft,  daß  er  bisher  infolge  verschiedener  leicht 
zu  erratender  Umstände  meist  nur  in  die  Lage  gekomiiien 
ist,  seine  Behandlung  an  sehr  schweren  Fällen  zu  erproben, 
Personen  mit  vielj  ähriger  Krankheit^dauer  und  völliger 
Leistungsunfähigkeit,  die,  durch  alle  Behandlungen  getäuscht, 
gleichsam  eine  letzte  Zuflucht  bei  seinem  neuen  und  viel 
angezweifelten  Verfahren  gesucht  haben.  In  Fällen  leichterer 
Erkrankung  dürfte  sich  die  Behandlungsdauer  sehr  verkürzen 
und  ein  außerordenthcher  Gewinn  an  Vorbeugung  für  die 
Zukunft  erzielen  lassen." 


XIV. 

Meine  Ansichten  über  die  Rolle  der 
Sexualität  in  der  Ätiologie  der  Neurosen^, 

„Ich  bin  der  Meinung,  daß  man  meine  Theorie  über  die 
ätiologische  Bedeutung  des  sexuellen  Momentes  für  die  Neu- 
rosen am  besten  würdigt,  wenn  man  ihrer  Entwicklung  nach- 
geht. Ich  habe  nämlich  keineswegs  das  Bestreben,  abzuleugnen, 
daß  sie  eine  Entwicklung  durchgemacht  und  sich  während 
derselben  verändert  hat.  Die  Facligenossen  könnten  in  diesem 
Zugeständnis  die  Gewähr  finden,  daß  diese  Theorie  nichts 
anderes  ist,  als  der  Niederschlag  fortgesetzter  und  vertiefter 
Erfahrungen.  "Was  im  G-egensatze  hierzu  der  Spekulation  ent- 
sprungen ist,  das  kann  allerdings  leicht  mit  einem  Schlage 
vollständig  und  dann  unveränderlich  auftreten. 

Die  Theorie  bezog  sich  ursprünglich  bloß  auf  die  als 
„Neurasthenie"  zusammengefaßten  Krankheitsbilder,  unter 
denen  mir  zwei,  gelegentlich  auch  rein  auftretende  Typen, 
auffielen,  die  ich  als  „eigentliche  Neurasthenie"  und 
als  „Angstneurose"  beschrieben  habe.  Es  war  ja  immer 
bekannt,  daß  sexuelle  Momente  in  der  Verursachung  dieser 
Formen  eine  Rolle  spielen  können,  aber  man  fand  dieselben 
weder  regelmäßig  wirksam,  noch  dachte  man  daran,  ihnen 
einen  Vorrang  vor  anderen  ätiologischen  Einflüssen  einzu- 
räumen. Ich  wurde  zunächst  von  der  Häufigkeit  grober 
Störungen  in  der  Vita  sexualis  der  Nervösen  überrascht;  je 
mehr  ich  darauf  ausging,  solche  Störungen  zu  suchen,  wobei 
ich  mir  vorhielt,  daß  die  Menschen  aUe  in  sexuellen  Dingen 
die  "Wahrheit  verhehlen,  und  je  geschickter  ich  wurde,  das 
Examen    trotz    einer    anfänglichen    Verneinung    fortzusetzen, 

^)  Avis  :Löwenfeld,  „Sexualleben  und  Nervenleiden",  IV.  Aufl.,  1906. 
Frend,  Nenrosenlehre.  15 


226 


desto  regelmäßiger  ließen  sich  solche  krankmachende  Momente 
aus  dem  Sexualleben  auffinden,  bis  mir  zu  deren  Allgemein- 
heit wenig  zu  fehlen  schien.  Man  mußte  aber  von  vornherein 
auf  ein  ähnlich  häufiges  Vorkommen  sexueller  Unregelmäßig- 
keiten unter  dem  Drucke  der  sozialen  Verhältnisse  in  unserer 
Gesellschaft  gefaßt  sein,  und  konnte  im  Zweifel  bleiben, 
welches  Maß  von  Abweichung  von  der  normalen  Sexualfunktion 
als  Krankheitsursache  betrachtet  werden  dürfe.  Ich  konnte 
daher  auf  den  regelmäßigen  Nachweis  sexueller  Noxen  nur 
weniger  Wert  legen  als  auf  eine  zweite  Erfahrung,  die  mir 
eindeutiger  erschien.  Es  ergab  sich,  daß  die  Form  der  Er- 
krankung, ob  Neurasthenie  oder  Angstneurose,  eine  konstante 
Beziehung  zur  Art  der  sexuellen  Schädlichkeit  zeige.  In  den 
typischen  Fällen  der  Neurasthenie  war  regelmäßig  Masturbation 
oder  gehäufte  Pollutionen,  bei  der  Angstneurose  waren  Fak- 
toren wie  der  Coitus  interruptus,  die  „frustrane  Erregung" 
u.  a.  nachweisbar,  an  denen  das  Moment  der  ungenügenden 
Abfuhr  der  erzeugten  Libido  das  Glemeinsame  schien.  Erst 
seit  dieser  leicht  zu  machenden  und  beliebig  oft  zu  bestäti- 
genden Erfahrung  hatte  ich  den  Mut,  für  die  sexuellen  Ein- 
flüsse eine  bevorzugte  Stellung  in  der  Ätiologie  der  Neurosen 
zu  beanspruchen.  Es  kam  hinzu,  daß  bei  den  so  häufigen 
Mischformen  von  Neurasthenie  und  Angstneurose  auch  die 
Vermengung  der  für  die  beiden  Formen  angenommenen  Ätio- 
logien aufzuzeigen  war  und  daß  eine  solche  Zweiteilung  in 
der  Erscheinungsform  der  Neurose  zu  dem  polaren  Charakter 
der  Sexualität  (männlich  und  weibUch)  gut  zu  stimmen 
schien. 

Zur  gleichen  Zeit,  während  ich  der  Sexualität  diese  Be- 
deutung für  die  Entstehung  der  einfachen  Neurosen  zuwies  ^), 
huldigte  ich  noch  in  betreff  der  Psychoneurosen  (Hysterie 
und  Zwangsvorstellungen)  einer  rein  psychologischen  Theorie, 
in  welcher  das  sexuelle  Moment  nicht  anders  als  andere 
emotionelle  Quellen  in  Betracht  kam.  Ich  hatte  im  Verein 
mit  J.  Breuer  und  im  Anschluß  an  Beobachtungen,    die  er 

^)  Über  die  Berechtigung,  von  der  Neurasthenie  einen  bestimmten 
Symptomenkomplex  als  „Angstneurose"  abzutrennen.  Neurol.  Cen- 
tralblatt,  1895. 


227 

gut  ein  Dezennium  voriier  an  einer  hysterisclien  Kranken 
gemacht  hatte,  den  Mechanismus  der  Entstehung  hysterischer 
Symptome  mittels  des  Erweckens  von  Erinnerungen  im  hyp- 
notischen Zustande  studiert,  und  wir  waren  zu  Aufsclilüssen 
gelangt,  welche  gestatteten,  die  Brücke  von  der  traumatischen 
Hysterie  Charcot's  zur  gemeinen,  nicht  traumatischen,  zu 
schlagen^).  Wir  waren  zur  Auffassung  gelangt,  daß  die  hyste- 
rischen Symptome  Dauerwirkungen  von  psychischen  Traumen 
sind,  deren  zugehörige  Affektgröße  durch  besondere  Bedin- 
gungen von  bewußter  Bearbeitung  abgedrängt  worden  ist 
und  sich  darum  einen  abnormen  Weg  in  die  Körp erinner vation 
gebahnt  hat.  Die  Termini  „eingeklemmter  Affekt", 
„Konversion"  und  „Abreagieren"  fassen  das  Kenn- 
zeichnende dieser  Anschauung  zusammen. 

Bei  den  nahen  Beziehungen  der  Psychoneurosen  zu  den 
einfachen  Neurosen,  die  ja  so  weit  gehen,  daß  dem  Ungeübten 
die  diagnostische  Unterscheidung  nicht  immer  leicht  fällt, 
konnte  es  aber  nicht  ausbleiben,  daß  die  für  das  eine  Gebiet 
gewonnene  Erkenntnis  auch  für  das  andere  Platz  griff.  Über- 
dies führte,  von  solcher  Beeinflussung  abgesehen,  auch  die 
Vertiefung  in  den  psychischen  Mechanismus  der  hysterischen 
Symptome  zu  dem  gleichen  Ergebnis.  Wenn  man  nämlich 
bei  dem  von  Breuer  und  mir  eingesetzten  „kathartischen" 
Verfahren  den  psychischen  Traumen,  von  denen  sich  die 
hysterischen  Symptome  ableiteten,  immer  weiter  nachspürte, 
gelangte  man  endlich  zu  Erlebnissen,  welche  der  Kindheit 
des  Kranken  angehörten  und  sein  Sexualleben  betrafen,  und 
zwar  auch  in  solchen  FäUen,  in  denen  eine  banale  Emotion 
nicht  sexueller  Natur  den  Ausbruch  der  Krankheit  veranlaßt 
hatte.  Ohne  diese  sexuellen  Traumen  der  Kinderzeit  in  Be- 
tracht zu  ziehen,  konnte  man  weder  die  Symptome  aufklären, 
deren  Determinierung  verständlich  finden,  noch  deren  Wieder- 
kehr verhüten.  Somit  schien  die  unvergleichliche  Bedeutung 
sexueller  Erlebnisse  für  die  Ätiologie  der  Psychoneurosen  als 
unzweifelhaft  festgestellt,  und  diese  Tatsache  ist  auch  bis 
heute  einer  der  Grundpfeiler  der  Theorie  geblieben. 


1)  Studien  über  Hysterie,  1905. 

15* 


228 

Wenn  man  diese  Theorie  so  darstellt,  die  Ursaclie  der 
lebenslangen  hysterischen  Neurose  liege  in  den  meist  an  sich 
geringfügigen  sexuellen  Erlebnissen  der  frühen  Kinderzeit,  so 
mag  sie  allerdings  befremdend  genug  klingen.  Nimmt  man 
aber  auf  die  historische  Entwicklung  der  Lehre  Rücksicht, 
verlegt  den  Hauptinhalt  derselben  in  den  Satz,  die  Hysterie 
sei  der  Ausdruck  eines  besonderen  Verhaltens  der  Sexual- 
funktion des  Individuums,  und  dies  Verhalten  werde  bereits 
durch  die  ersten  in  der  Kindheit  einwirkenden  Einflüsse  und 
Erlebnisse  maßgebend  bestimmt,  so  sind  wir  zwar  um  ein 
Paradoxon  ärmer,  aber  um  ein  Motiv  bereichert  worden,  den 
bisher  arg  vernachlässigten,  höchst  bedeutsamen  Nachwirkungen 
der  Kindheitseindrücke  überhaupt  unsere  Aufmerksamkeit  zu 
schenken. 

Indem  ich  mir  vorbehalte,  die  Frage,  ob  man  in  den 
sexuellen  Kindererlebnissen  die  Ätiologie  der  Hysterie  (und 
Zwangsneurose)  sehen  dürfe,  weiter  unten  gründlicher  zu  be- 
handeln, kehre  ich  zu  der  Gestaltung  der  Theorie  zurück, 
welche  diese  in  einigen  kleinen,  vorläufigen  Publikationen 
der  Jahre  1895  und  1896  angenommen  hat^).  Die  Hervorhebung 
der  angenommenen  ätiologischen  Momente  gestattete  damals, 
die  gemeinen  Neurosen  als  Erkrankungen  mit  aktueller  Ätiologie 
den  Psychoneurosen  gegenüberzustellen,  deren  Ätiologie 
vor  allem  in  den  sexuellen  Erlebnissen  der  Vorzeit  zu  suchen 
war.  Die  Lehre  gipfelte  in  dem  Satze:  Bei  normaler  Vita 
sexualis  ist  eine  Neurose  unmöglich. 

"Wenn  ich  auch  diese  Sätze  noch  heute  nicht  für  unrichtig 
halte,  so  ist  es  doch  nicht  zu  verwundem,  daß  ich  in  zehn 
Jahren  fortgesetzter  Bemühung  um  die  Erkenntnis  dieser 
Verhältnisse  über  meinen  damaligen  Standpunkt  ein  gutes 
Stück  weit  hinausgekommen  bin  und  mich  heute  in  der  Lage 
glaube,  die  Unvollständigkeit,  die  Verschiebungen  und  die 
Mißverständnisse,  an  denen  die  Lehre  damals  litt,  durch  ein- 
gehendere Erfahrung  zu  korrigieren.  Ein  Zufall  des  damals 
noch   spärlichen   Materials   hatte   mir  eine  unverhältnismäßig 

')  Weitere  Bemerkungen  über  die  Abwehr,  Neuropsychosen,  Neurol. 
Centralblatt,  1896.  —  Zur  Ätiologie  der  Hysterie,  "Wiener  klinische 
Rundschau,  1896. 


229 


große  Anzahl  von  Fällen  zugeführt,  in  deren  Kindergeschichte 
die  sexuelle  Verführung  durch  Erwachsene  oder  andere  ältere 
Kinder  die  Hauptrolle  spielte.  Ich  überschätzte  die  Häufigkeit 
dieser  (sonst  nicht  anzuzweifelnden)  Vorkommnisse,  überdies 
da  ich  zu  jener  Zeit  nicht  imstande  war,  die  Erinnerungs- 
täuschungen der  Hysterischen  über  ihre  Kindheit  von  den 
Spuren  der  wirklichen  Vorgänge  sicher  zu  unterscheiden, 
während  ich  seitdem  gelernt  habe,  so  manche  Verfiihrungs- 
phantasie  als  Abwehrversuch  gegen  die  Erinnerung  der  eigenen 
sexuellen  Betätigung  (Kindermasturbation)  aufzulösen.  Mit 
dieser  Aufklärung  entfiel  die  Betonung  des  „traumatischen" 
Elementes  an  den  sexuellen  Kindererlebnissen,  und  es  blieb 
die  Einsicht  übrig,  daß  die  infantile  Sexualbetätigung  (ob 
spontan  oder  provoziert)  dem  späteren  Sexualleben  nach  der 
Reife  die  Richtung  vorschreibt.  Dieselbe  Aufklärung,  die  ja 
den  bedeutsamsten  meiner  anfänglichen  Irrtümer  korrigierte, 
mußte  auch  die  Auffassung  von  Mechanismus  der  hysterischen 
Symptome  verändern.  Dieselben  erschienen  nun  nicht  mehr 
als  direkte  Abkömmlinge  der  verdrängten  Erinnerungen  an 
sexuelle  Kindheitserlebnisse,  sondern  zwischen  die  Symptome 
und  die  infantüen  Eindrücke  schoben  sich  nun  die  (meist  in 
den  Pubertätsjahren  produzierten)  Phantasien  (Erinnerungs- 
dichtungen) der  Kranken  ein,  die  auf  der  einen  Seite  sich 
aus  und  über  den  Kindheitserinnerungen  aufbauten,  auf  der 
anderen  sich  unmittelbar  in  die  Symptome  umsetzten.  Erst 
mit  der  Einführung  des  Elementes  der  hysterischen  Phantasien 
wurde  das  Gefüge  der  Neurose  und  deren  Beziehung  zum 
Leben  der  Kranken  durchsichtig ;  auch  ergab  sich  eine  wirk- 
lich überraschende  Analogie  zwischen  diesen  unbewußten 
Phantasien  der  Hysteriker  und  den  als  "Wahn  bewußt  ge- 
wordenen Dichtungen  bei  der  Paranoia. 

Nach  dieser  Korrektur  waren  die  „infantüen  Sexual- 
traumen" in  gewissem  Sinne  durch  den  „Infantilismus  der 
Sexualität"  ersetzt.  Eine  zweite  Abänderung  der  ursprüng- 
lichen Theorie  lag  nicht  ferne.  Mit  der  angenommenen 
Häufigkeit  der  Verführung  in  der  Kindheit  entfiel  auch  die 
übergroße  Betonung  der  accidentellen  Beeinflussung  der 
Sexualität,  welcher  ich  bei  der  Verursachung  des  Krankseins 


230 


die  Hauptrolle  zuschieben  wollte,  ohne  darum  konstitutionelle 
und  hereditäre  Momente  zu  leugnen.  Ich  hatte  sogar  gehofft, 
das  Problem  der  Neurosenwahl,  die  Entscheidung  darüber, 
welcher  Form  von  Psychoneurose  der  Kranke  verfallen  solle, 
durch  die  Einzelheiten  der  sexuellen  Kinder erlebnisse  zu 
lösen,  und  damals  —  wenn  auch  mit  Zurückhaltung  —  gemeint, 
daß  passives  Verhalten  bei  diesen  Szenen  die  spezifische 
Disposition  zur  Hysterie,  aktives  dagegen  die  für  die  Zwangs- 
neurose ergebe.  Auf  diese  Auffassung  mußte  ich  später  völlig 
Verzicht  leisten,  wenngleich  manches  Tatsächliche  den  geahnten 
Zusammenhang  zwischen  Passivität  und  Hysterie,  Aktivität 
und  Zwangsneurose  in  irgend  einer  Weise  aufrecht  zu  halten 
gebietet.  Mit  dem  Rücktritt  der  accidentellen  Einflüsse  des 
Erlebens  mußten  die  Momente  der  Konstitution  und  Heredität 
wieder  die  Oberhand  behaupten,  aber  mit  dem  Unterschiede 
gegen  die  sonst  herrschende  Anschauung,  daß  bei  mir  die 
„sexuelle  Konstitution"  an  die  Stelle  der  allgemeinen  neuro- 
pathischen  Disposition  trat.  In  meinen  jüngst  erschienen  „Drei 
Abhandlungen  zur  Sexualtheorie"  (1905)  habe  ich  den  Ver- 
such gemacht,  die  Mannigfaltigkeiten  dieser  sexuellen  Kon- 
stitution sowie  die  Zusammengesetztheit  des  Sexualtriebs 
überhaupt  und  dessen  Herkunft  aus  verschiedenen  Beitrags- 
quellen  im  Organismus  zu  schildern. 

Immer  noch  im  Zusammenhange  mit  der  veränderten 
Auffassung  der  „sexuellen  Kindertraumen"  entwickelte  sich 
nun  die  Theorie  nach  einer  Richtung  weiter,  die  schon  in 
den  VeröffentUchungen  der  Jahre  1894 — 96  angezeigt  worden 
war.  Ich  hatte  bereits  damals,  und  noch  ehe  die  Sexuahtät 
in  die  ihr  gebührende  Stellung  in  der  Ätiologie  eingesetzt 
war,  als  Bedingung  für  die  pathogene  Wirksamkeit  eines 
Erlebnisses  angegeben,  daß  dieses  dem  Ich  unerträghch  er- 
scheinen und  ein  Bestreben  zur  Abwehr  hervorrufen  müsse^). 
Auf  diese  Abwehr  hatte  ich  die  psychische  Spaltung  —  oder 
wie  man  damals  sagte:  die  Bewußtseinsspaltung  —  der  Hysterie 


')  Die  Abwehr-Neuropsychosen.  Versuch  einer  psychologischen 
Theorie  der  acquierierten  Hysterie,  vieler  Phobien  und  Zwangs- 
vorstellungen und  gewisser  halluzinatorischer  Psychosen.  Neurol.  Central- 
blatt,  1894. 


231 


zurückgefilhrt.  Grelang  die  Abwehr,  so  war  das  unerträgliclie 
Erlebnis  mit  seinen  Affektfolgen  aus  dem  Bewußtsein  und  der 
Erinnerung  des  Ichs  vertrieben ;  unter  gewissen  Verhältnissen 
entfaltete  aber  das  Vertriebene  als  ein  nun  Unbewußtes  seine 
Wirksamkeit  und  kehrte  mittels  der  Symptome  und  der  an  ihnen 
haftenden  Affekte  ins  Bewußtsein  zurück,  so  daß  die  Erkrankung 
einem  Mißglücken  der  Abwehr  entsprach.  Diese  Auffassung 
hatte  das  Verdienst,  auf  das  Spiel  der  psychischen  Kräfte 
einzugehen  und  somit  die  seelischen  Vorgänge  der  Hysterie 
den  normalen  anzunähern,  anstatt  die  Charakteristik  der  Neurose 
in  eine  rätselhafte  und  weiter  nicht  analysierbare  Störung  zu 
verlegen. 

Als  nun  weitere  Erkundigungen  bei  normal  gebliebenen 
Personen  das  unerwartete  Ergebnis  lieferten,  daß  deren  sexuelle 
Klindergeschichte  sich  nicht  wesentlich  von  dem  Kinderleben 
der  Neurotiker  zu  unterscheiden  brauche,  daß  speziell  die 
Rolle  der  Verführung  bei  ersteren  die  gleiche  sei,  traten  die 
accidentelleu  Einflüsse  noch  mehr  gegen  den  der  „Ver- 
drängung" (wie  ich  anstatt  „Abwehr"  zu  sagen  begann) 
zurück.  Es  kam  also  nicht  darauf  an,  was  ein  Individuum  in 
seiner  Kindheit  an  sexuellen  Erregungen  erfahren  hatte,  sondern 
vor  allem  auf  seine  Reaktion  gegen  diese  Erlebnisse,  ob  es 
diese  Eindrücke  mit  der  „Verdrängung"  beantwortet  habe 
oder  nicht.  Bei  spontaner  infantiler  Sexualbetätigung  ließ  sich 
zeigen,  daß  dieselbe  häufig  im  Laufe  der  Entwicklung  durch 
einen  Akt  der  Verdrängung  abgebrochen  wurde.  Das  geschlechts- 
reif e  neurotische  Individuum  brachte  so  ein  Stück  „Sexual- 
verdrängung" regelmäßig  aus  seiner  Kindheit  mit,  das  bei  den 
Anforderungen  des  realen  Lebens  zur  Äußerung  kam,  und 
die  Psychoanalysen  Hysterischer  zeigten,  daß  ihre  Erkrankung 
ein  Erfolg  des  Konflikts  zwischen  der  Libido  und  der  Sexual- 
verdrängung sei,  und  daß  ihre  Symptome  den  "Wert  von 
Kompromissen  zwischen  beiden  seelischen  Strömungen  haben. 

Ohne  eine  ausführhche  Erörterung  meiner  Vorstellungen 
von  der  Verdrängung  könnte  ich  diesen  Teü  der  Theorie 
nicht  weiter  aufklären.  Es  genüge,  hier  auf  meine  „Drei 
Abhandlungen  zur  Sexualtheorie"  (1905)  hinzuweisen,  wo 
ich  auf  die  somatischen  Vorgänge,   in   denen  das  "Wesen  der 


232 


Sexualität  zu  suchen  ist,  ein  allerdings  erst  spärliches  Licht 
zu  werfen  versucht  habe.  Ich  habe  dort  ausgeführt,  daß  die 
konstitutionelle  sexuelle  Anlage  des  Kindes  eine  ungleich 
buntere  ist,  als  man  erwarten  konnte,  daß  sie  „polymorph 
pervers"  genannt  zu  werden  verdient,  und  daß  aus  dieser 
Anlage  durch  Verdrängung  gewisser  Komponenten  das  so- 
genannte normale  Verhalten  der  Sexualfunktion  hervorgeht. 
Ich  konnte  durch  den  Hinweis  auf  die  infantilen  Charaktere 
der  Sexualität  eine  einfache  Verknüpfung  zwischen  Gesundheit, 
Perversion  und  Neurose  herstellen.  Die  Norm  ergab  sich  aus 
der  Verdrängung  gewisser  Partialtriebe  und  Komponenten  der 
infantilen  Anlagen  und  der  Unterordnung  der  übrigen  unter 
das  Primat  der  Grenitalzonen  im  Dienste  der  Fortpflanzungs- 
fanktion;  die  Perversionen  entsprachen  Störungen  dieser 
Zusammenfassung  durch  die  übermächtige  zwangsartige  Ent- 
wicklung einzelner  dieser  Partialtriebe,  und  die  Neurose  führte 
sich  auf  eine  zu  weitgehende  Verdrängung  der  libidinöseu 
Strebungen  zurück.  Da  fast  alle  perversen  Triebe  der  infantilen 
Anlage  als  symptombildende  Kräfte  bei  der  Neurose  nach- 
weisbar sind,  sich  aber  bei  ihr  im  Zustande  der  Verdrängung 
befinden,  konnte  ich  die  Neurose  als  das  „Negativ"  der  Per- 
version bezeichnen. 

Ich  halte  es  der  Hervorhebung  wert,  daß  meine  An- 
schauungen über  die  Ätiologie  der  Psychoneurosen  bei  allen 
Wandlungen  doch  zwei  Gesichtspunkte  nie  verleugnet  oder 
verlassen  haben,  die  Schätzung  der  Sexualität  und  des 
Infantilismus.  Sonst  sind  an  die  Stelle  accidenteller  Ein- 
flüsse konstitutionelle  Momente,  für  die  rein  psychologisch 
gemeinte  „Abwehr"  ist  die  organische  „Sexualverdrängung" 
eingetreten.  SoUte  nun  jemand  fragen,  wo  ein  zwingender 
Beweis  für  die  behauptete  ätiologische  Bedeutung  sexueller 
Faktoren  bei  den  Psychoneurosen  zu  finden  sei,  da  man 
doch  diese  Erkrankungen  auf  die  banalsten  Gemütsbewegungen 
und  selbst  auf  somatische  Anlässe  hin  ausbrechen  sieht,  auf 
eine  spezifische  Ätiologie  in  Gestalt  besonderer  Kindererleb- 
nisse verzichten  muß,  so  nenne  ich  die  psychoanalytische 
Erforschung  der  Neurotiker  als  die  Quelle,  aus  welcher  die 
bestrittene    Überzeugung    zufließt.    Man    erfährt,    wenn    man 


233 


sich  dieser  unersetzliclien  Untersuchungsmetliode  bedient, 
daß  die  Symptome  die  Sexualbetätigung  der 
Kranken  darstellen,  die  ganze  oder  eine  partielle,  aus 
den  Quellen  normaler  oder  perverser  Partialtriebe  der  Sexua- 
lität. Nicht  nur,  daß  ein  guter  Teil  der  hysterischen  Sympto- 
matologie direkt  aus  den  Äußerungen  der  sexuellen  Erregtheit 
herstammt,  nicht  nur,  daß  eine  Reihe  von  erogenen  Zonen 
in  der  Neurose  in  Verstärkung  infantiler  Eigenschaften  sich 
zur  Bedeutung  von  Genitalien  erhebt;  die  kompUziertesten 
Symptome  selbst  enthüllen  sich  als  die  konvertierten  Dar- 
stellungen von  Phantasien,  welche  eine  sexuelle  Situation 
zum  Inhalte  haben.  Wer  die  Sprache  der  Hysterie  zu  deuten 
versteht,  kann  vernehmen,  daß  die  Neurose  nur  von  der;' 
verdrängten  Sexualität  der  Kranken  handelt.  Man  wolle  nur 
die  Sexualfunktion  in  ihrem  richtigen,  durch  die  infantile 
Anlage  umschriebenen  Umfange  verstehen.  "Wo  eine  banale 
Emotion  zur  Verursachung  der  Erkrankung  gerechnet  werden 
muß,  weist  die  Analyse  regelmäßig  nach,  daß  die  nicht 
fehlende  sexuelle  Komponente  des  traumatischen  Erlebnisses 
die  pathogene  "Wirkung  ausgeübt  hat. 

Wir  sind  unversehens  von  der  Frage  nach  der  Ver- 
ursachung der  Psychoneurosen  zum  Problem  ihres  Wesens 
vorgedrungen.  Will  man  dem  Rechnung  tragen,  was  man 
durch  die  Psychoanalyse  erfahren  hat,  so  kann  man  nur 
sagen,  das  Wesen  dieser  Erkrankungen  liege  in  Störungen 
der  Sexualvorgänge,  jener  Vorgänge  im  Organismus,  welche 
die  Bildung  und  Verwendung  des  geschlechthchen  Libido 
bestimmen.  Es  ist  kaum  zu  vermeiden,  daß  man  sich  diese 
Vorgänge  in  letzter  Linie  als  chemische  vorstelle,  so  daß 
man  in  den  sogenannten  aktuellen  Neurosen  die  somatischen, 
in  den  Psychoneurosen  außerdem  noch  die  psychischen  Wir- 
kungen der  Störungen  im  Sexualstoffwechsel  erkennen  dürfte. 
Die  Ähnlichkeit  der  Neurosen  mit  den  Intoxikations-  und 
Abstinenzerscheinungen  nach  gewissen  Alkaloiden,  mit  dem 
M.  Basedowi  und  M.  Addisoni  di'ängt  sich  ohneweiters 
klinisch  auf,  und  sowie  man  diese  beiden  letzteren  Erkran- 
kungen nicht  mehr  als  „Nervenkrankheiten"  beschreiben  darf, 
so    werden    wohl    auch    bald    die    echten    „Neurosen"    ihrer 


234 


Namengebung  zum  Trotze  aus  dieser  Klasse  entfernt  werden 
müssen. 

Zur   Ätiologie    der   Neurosen    gehört    dann    alles,    was 
scliädigend    auf  die   der  Sexualfunktion  dienenden  Vorgänge 
einwirken  kann.    In  erster  Linie  also  die  Noxen,   welche  die 
Sexualfanktion   selbst  betreffen,    insoferne  diese  von  der  mit 
Kultur  und  Erziehung   veränderlichen   Sexualkonstitution   als 
Schädhchkeiten  angenommen  werden.  In  zweiter  Linie  stehen 
aUe  andersartigen  Noxen  und  Traumen,  welche  sekundär  durch 
AUgemeinschädigung  des  Organismus    die  Sexualvorgänge  in 
demselben  zu  schädigen  vermögen.  Man  vergesse  aber  nicht, 
daß    das   ätiologische  Problem  bei   den  Neurosen  mindestens 
ebenso  kompliziert  ist  wie  sonst  bei  der  Krankheitsverursachung. 
Eine  einzige  pathogene  Einwirkung  ist  fast  niemals  hinreichend ; 
zu  allermeist  wird  eine  Mehrheit  von  ätiologischen  Momenten 
erfordert,    die   einander  unterstützen,    die   man  also  nicht  in 
Gegensatz  zu  einander  bringen  darf.   Dafür  ist  auch  der  Zu- 
stand des  neurotischen  Krankseins  von  dem  der  Gesundlieit 
nicht   scharf  geschieden.    Die   Erkrankung  ist   das   Ergebnis 
einer  Summation,  und  das  Maß  der  ätiologischen  Bedingungen 
kann   von   irgend   einer  Seite  her  voll  gemacht  werden.    Die 
Ätiologie  der  Neurosen   ausschließlich   in   der  Heredität  oder 
in   der   Konstitution   zu   suchen,    wäre   keine   geringere   Ein- 
seitigkeit,   als   wenn   man   einzig  die  accidentellen  Beeinflus- 
sungen der  Sexualität  im  Leben  zur  Ätiologie  erheben  wollte, 
wenn  sich  doch  die  Aufklärung  ergibt,  daß  das  "Wesen  dieser 
Erkrankungen   nur   in  einer  Störang   der  Sexualvorgänge  im 
Organismus  gelegen  ist. 
Wien,  Juni  1905. 


■  Internationaler   Psychoanalytischer  Vt   Aig 


SIGM.  FREUD 
GESAMMELTE    SCHRIFTEN 


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Elf  Bände  in  Lexikonformat,  auf  holzfreiem  Papier 


Preis  des  Gesamlwerkes 
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Polen  u.  Lettland  In  öst.  K 
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Uie  Bände  FV.,  V.,  I'II.  und  f^lll.  erscheinen  im  Mai  1924,  die  anderen  bis  Ende  19'S 


LTE  SCHRIFTEN   von   SIGM.    FREUI 


I 

Studien  fib.  Hysterie  /  Frfilie  Arbeiten 

z.  Neurosenlehre  1893—1898  (Charcot  / 
Quelques  consideralions  pour  uiie  6tude 
comparative  des  pai-alysies  motr.  organ.  et 
hvsteriques  /  Die  Abwehr-Neuropsycho- 
sen  /  Über  d.  Berechtigung,  v.  d.  Neur- 
asthenie einen  bestimmten  Syrnptomen- 
komplex  als  „Angstneurose"  abzutrennen 
/  Obäessions  et  phobies  /  Zur  Kritik  d. 
Angstneurose  /  Weitere  Bemerk,  üb.  die 
Abwehr-Neuropsychosen  /  L'heredite  et 
l'etioi.  des  uevroses  /  Z.  Ätiol.  d.  Hysterie 
/  Uic  Se\iiüUtütin  d.  Ätiol.  d.  Neurosen) 

11 
Die  Traumdeutung.  (!.—(..  K;ip.) 

III 
Die  Traumdeutung  (7-  ".  8-  Kap.)  /  Über 
den  Traum  /  Beiträge  zur  Traumlehre 

(Märchenstoffe  in  Traumen  /  Ein  Traum 
als  Beweismittel  /  l'raum  u.  Telepathie  / 
Bemerk.  ■/..  Theor.  u.  Präx.  d.  Traunidtg.) 

IV 

Zur  Psychopathol.  d.  Alltagslebens/  Das 

Interesse  an  d.  PsA.  /  Über  PsAnalyse  / 

2ur  Geschichte  der  psa.  Bewegung 

V 
Drei  Abhandlungen  zur  Sexualtheorie  / 
Arbeiten  z.  Sexualleben  u.  z.  Neurosen- 
lehre (Meine  Ansichten  üb.  d.  Rolle  d. 
Se'xnalität  in  d.  Ätiologie  d.  Neurosen  / 
Zur  sex.  Aufklärung  d.  Kinder /Die  „kul- 
turelle" Sexualmoral  u.  d.  Nervosität  / 
Üb.  infantile  Sexualthcorien  /  Beiträge  z. 
Psychologie  d;  Liebeslebens :  Üb.  einen 
bes.  Typus  d.  Objektwahl  beim  Manne. 
Über  d.  allgemeinste  Erniedrigung  des 
Liebeslebens.  Das  Tabu  d.  Virgiiiität  ' 
Die  infantile  Genitalorganisation  /  Zwei 
Kinderlügen  /  Gedankenassoziation  eines 
4  jährigen  Kindes  /  Hyster.  Phantasien  u. 
ihre  Beziehung  z.  Bisexualität  /  Über  den 
hyster.  Anfall  /  Charakter  u.  Analerotik  / 
Üb.  Triebumsetzungen,  insbes.  d.  Anal- 
erotik/Die Disposition  z.  Zwangsneurose 
/  Mitteilung  eines  der  psychoanalytisch. 
Theorie  widersprechenden  Falles  v.  Para- 
noia/Die psychogene  Sehstörung  in  psy- 
choanalyt.  Auffassung  /  Eine  Beziehung 
zw.  einem  Symbol  u.  einem  Syinptom/Üb. 
die  Psychogenese  eines  Falles  v.  weibl. 
Homosexualität  /  „Ein  Kind  wird  ge- 
schlagen"/ Das  Ökonom.  Problem  d.  Ma- 
sochismus /  Üb.  einige  neurot.  Älechanis- 
men  bei  Eifersucht,  Paranoia  u.  Homo- 


sexvialität/Üb.  neurot.  Erkrankungstypei 
/  Formulierung  üb.  die  zwei  Prinzipiei 
des  psych.  Geschehens  /  Der  Unterganj 
des  Ödipuskomplexes  /  Ittetapsychologli 
(Einige  Bemerk,  üb.  d.  Begriff  d.  Unbe 
wußten  in  d.  PsA.  /  Triebe  u.  Triebschick 
sale/  Die  Verdrängung-/  Das  Unbewußte 
Metapsychol.  Ergänzung  z.  Traumlehrel 
Trauer  u.Melancbol./Neurose  u.Psychosd 

VI 
Zur  Technik  (Die  Frc  iidsche  psa.Methode 
ü  ber  Psychotherapie  /  Die  zukünft.  Chanj 
cen  d.  psa.  Therapie  /  Über  „wilde"  PsAi 
Die  Handhabung  d.  Traumdeutung  in  4 
PsA. /Zur  Dynamik  d".  Übertragung  /  RaÖ 
schlage  f.  d"  Arzt  bei  d.  psa.  Behandlun^j 
Üb.  faussereconnaissance  während  d.p3<ß 
Arbeit  /  Zur  Einleit.  d.  Behandlung  /  Er- 
innern, Wiederholen  u.  Durcharbeiten  / 
Bemerk,  üb.  d.  Übertragungsliebe/  Wege 
d.  psa.  Therapie  /  Zur  Vorgesch.  d.  analyt. 
Technik)  /  Zur  Ein*,  d.  Narzißmus  /  Jen- 
seits d.  Lustprinzips  /  Massenpsycholo- 
gie  u.-  Ich-Analyse  /  Das  Ich  u.  das  Es 

VII 
Vorlesungen  z.  Einf .  in  d.  Psychoanalyse 

VIII 
Krankengeschichten  (Bruchstück  einer 
Hysterieanalyse  /  Analyse  d.  Phobie  eines 
5  i.  Knaben  /  Üb.  einen  Fall  v.  Zwangs- 
neurose/Psychoanalyt.  Bemerk,  üb.  einen 
autobiogx-.  beschr.  Fall  v.  Paranoia  /  Aus 
d.  Geschichte  einer  infantilen  Neurose) 

IX 

Der  Witz  u,  s.  Beziehung  z.  Unbewußten 

/  Der  Wahn  u.  d.  Träume  in  W.  Jensens 

Gradiva  /  Eine  Kindheitserinnerung  d. 

Leonardo  da  Vinci 

X 

Totem  u.  Tabu  /  Arbeiten  z.  Anwendung 
d.  Psychoanalyse  (Tatbestands-Diagn«)- 
stik  u.  PsA.  /  Zwangshandlungen  u.  Reli-^ 
gionsübung  /Üb.  d.  Gegensinn  d.  ürwortei 
Der  Dichtern,  d.  Pliiuitasieren/Mythol, 
Parallele  z.  ein.  plast.  Zwangsvorstellung 
/  Das  Motiv  d.  Kä.sichenwahl  /  Der  Moses 
d.  Michelangelo  /  Einige  Charaktertypen 
aus  d.  psychoanalyt.  A  rbeit  /  Zeitgemäße^ 
üb.  Krieg  u.  Tod/  Eine  Schwierigkeit  d, 
PsA./Eine  Kindheitserinnerung  a.  „Dich- 
tung u.  W^ahrheit"  /  Das  Unheimliche  / 
Eine  Teufelsneurose  im  17.  Jh. 

XI 
Nachträge    /  Bibliographie   /  Registei 


ZTir    AüffaSSUTlig    der    Aphasien.  Eine   kritische  Studie  von  Dr.  Sipm.        I 
Freud.  —  1891.  Preis  K  3.60,  M.  3.—. 


Zur  Kernitnis  der  opreI)ra1en  Piplogiep  des  KindesaUers  (im 

Anschluß  an  die  Little'sche  Krankheit).  Von  Dr.  Sigm.  Freud,  Privat- 
dozent an  der  Universität  in  Wien.  —  1893.  Preis  K  7.20,  M.  6.—. 


Shldi<Mi   über  ITysterie.  Von  Dr.  Josef  Breuer  und  Dr.  Sigm.  Freud 

in  Wien.  —  1895.  Preis  K  8.40,  M.  7.-. 


T>ie  TraunideutUIlg.    Von    Dr.    Sigm.    Freud.    —    1900.    Preis    K  10.80, 


M.  9.-. 


T>er  TTitz  inid  seine  Beziehims:  zum  Unbewußten.  Von  Prof. 


Dr.  Sigm.  Freud.  —  1905.  Preis  K  6.—,  M.  5.- 


Drei  Abhandlungen  zur  Sexnaltheorie.  Von  Prof.  Dr.  sigm.  Freud. 

—  1905.  Preis  K  2.40,   M.  2.—. 

Ote    Suggestion    und   ihre   Heilwirkung.  Von  Dr.  n.  Bernheim, 

Professor  an  der  Faculte  de  medecine  in  Nancy.  Autorisierte  deutsehe 
Ausgabe  von  Dr.  Signi.  Freud,  Dozent  für  Nervenkrankheiten  an  der 
Universität  in  Wien.  Zweite  umgearbeitete  Auflage,  besorgt  von 
Dr.    Max  Kaliaiie.  —  1896.  Preis  K  6.—,  M.  5.—. 


Neue   Studien    über   Hypnotisnius,    Suggestion    und    Psyeho- 

therapie.   Von  Dr.  II.  Bemlieim,  Professor  an  der  Faculte  de  me- 

decine   in  Nancy.   Übersetzt  von  Dr.  Sigin.   Freud,  Privatdozent  an 
der  Universität  in  Wien.  —  1802.  Preis  K  9.60,  M.  8.—. 

Neue  Yorlesungen  über  die  Krankheiten  des  NerTensystenis, 
insbesondere  über  Hysterie.  Von  J.  M.  Charcot.  Autorisiert. 

deutsche   Ausgabe   von   Dr.    Si^ini.   Freud,  Dozent  für  Nervenkrank 

lieiten    an    der   k.   k.   Universität  in  Wien.   —   1886.    Preis   K   10.80, 
M.  9.-. 

Poliklinische  Vorträge  von  Professor  J.  M.  Charcot.  I.  Band,  Schul- 
jahr 1887—1888.  Übersetzt  von  Dr.  Sigm.  Freud,,.  Privatdozent  an 
der  Universität  in  Wien.  II.  .Band,  Schuljahr  1888^1889.  Übersetzt 
von  Dr.  M.ax  Kaliaue  in  Wien.  —  1892—1893.  —  Preis  pro  Band 
K  14.40,  M.  12.-.  '*' 


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