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Sammlung kleiner Schriften
zur
NEUROSENLEHRE
aus den
Jahren 1893—1906
von
Prof. Dr. Sigm. Freud.
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LEIPZIG UND WIEN
KRANZ DEUTICKE
1906.
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Verlags-Nr. 1279.
Sammlung kleiner Schriften
zur
NEUROSENLEHRE
aus den
Jahren 1893—1906
von
Prof. Dr. Sigm. Freud.
LEIPZIG UND WIEN
KRANZ DEUTICKE:
1906.
Verlags-Nr. 1279.
UTH. KUNST/\NSrAl.T, K. K. HOFTHEATEH-OHUCKEREI, WIEN. IX. SEnaOASSE 7.
Vorwort.
Melirfacli geäußerten Wünschen folgend, habe ich mich
entschlossen, meine kleineren Arbeiten über Neurosen seit
dem Jahre 1893 den Fachgenossen gesammelt vorzulegen.
Es sind vierzehn km'ze Aufsätze, meist vom Charakter vor-
läufiger Mitteilungen, die in wissenschaftlichen Archiven oder
ärztHchen Zeitschriften veröffentHcht wurden, drei unter ihnen
in französischer Sprache. Die beiden letzten (XIII und XIV),
sehr knapp gehaltenen Darlegungen meines gegenwärtigen
Standpunktes in der Ätiologie wie in der Therapie der Neu-
rosen, sind den bekannten Werken von L. Löwenfeld, „Die
psychischen Zwangserscheinungen", 1904, und „Sexualleben und
Nervenleiden",, 4. Auflage, 1906, entnommen, für welche ich
sie über Aufforderung des befreundeten Autors abgefaßt hatte.
Diese Sammlung bildet die Vorbereitung und Ergänzung
meiner größeren Publikationen, welche die gleichen Themata
behandelu (Studien über Hysterie [mit Dr. J. Breuer], 1895
— Traumdeutung, 1900 — Zur Psychopathologie des Alltags-
lebens, 1901 und 1904 — Der Witz und seine Beziehung zum
Unbewußten, 1905 — Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie,
1905 — Bruchstück einer Hysterieanalyse, 1905). Daß ich den
Nachruf an J. M. Charcot an die Spitze der hier vereinigten
kleinen Aufsätze gestellt habe, soll nicht nur einer Pflicht der
Dankbarkeit genügen, sondern auch den Punkt hervorheben,
an welchem die eigene Arbeit von der des Meisters abzweigt.
Wer mit der Entwicklung menschlicher Erkenntnis
vertraut ist^ wird ohne- Verwunderung hören^ daß ich einen
Teil der hier vertretenen Meinungen seither überwunden,
einen anderen zu modifizieren verstanden habe. Doch habe
ich den größeren Teil unverändert festhalten können und
brauche eigentlich nichts als völlig irrig und ganz wertlos
zurückzunehmen.
Inhalts -Verzeichnis.
Seita
I. Charcot (1893) 1
II. Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene
von Dr. J. Breuer und Dr. Sigm. Freud (1893) .... 14
m. Quelques considerations pour une etude comparative des para-
lysies motrices organiques et hysteriques (1893) 30
rV. Die Abwehr-Neuropsychosen. Versuch einer psychologischen
Theorie der acquirierten Hysterie, vieler Phobien und Zwangs-
vorstellungen und gewisser halluzinatorischer Psychosen (1894) 45
V. Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten
Symptomenkomplex als „ A n g s t n e u r o s e" abzutrennen (1895) 60
VI. Obsessions et phobies. Leur mecanisme psychique et leur
etiologie (1895) 86
Vn. Zur Kritik der „Angstneurose" (1895) 94
Vm. Weitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsychosen (1896) 112
IX. L'heredite et l'etiologie des Nevroses (1896) 135
X. Zur Ätiologie der Hysterie (1896) 149
XI. Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen (1898) . . , .181
Xn. Über Psychotherapie (1905) 205
Xin. Die Freud'sche psychoanalytische Methode (1904) .... 218
XIV. Meine Ansichten über die Rolle der Sexualität in der Ätiologie
der Neurosen (1906) 225
I.
Charcot.0
Mit J. M. Charcot, den nach einem glücklichen und
ruhmvollen Leben am 16. August d. J. ein rascher Tod ohne
Leiden und Krankheit ereilt, hat die junge Wissenschaft der
Neurologie ihren größten Förderer, haben die Neurologen
aller Länder ihren Lehrmeister, hat Frankreich einen seiner
ersten Männer allzu früh verloren. Er war erst 68 Jahre alt,
seine körperliche Kraft wie seine geistige Frische schienen
ihn im Einklänge mit seinen unverhohlenen Wünschen für
jene Langlebigkeit zu bestimmen, die nicht wenigen G-eistes-
arbeitern dieses Jahrhunderts zuteil geworden ist. Die statt-
lichen neun Bände seiner Oeuvres completes, in denen seine
Schüler seine Beiträge zur Medizin und Neuropathologie ge-
sammelt hatten, dazu die Lecons du Mardi, die Jahresberichte
seiner Khnik in der Salpetri^re u. a. m., alle diese PubUkationen,
die der Wissenschaft und seinen Schülern teuer bleiben werden,
können uns den Mann nicht ersetzen, der noch viel mehr zu
geben und zu lehren hatte, dessen Person oder dessen Werken
noch niemand genaht war, ohne von ihnen zu lernen.
Er hatte eine rechtschaffen menschliche Freude an seinem
großen Erfolg und pflegte sich gerne über seine Anfänge und
den Weg, den er gegangen, zu äußern. Seine wissenschaftUche
Neugierde war frühzeitig durch das reiche und damals völlig
unverstandene Material neuropathologischer Tatsachen erregt
worden, wie er erzählte, schon als er junger Literne (Sekundar-
arzt) war. Wenn er damals mit seinem Primararzt die Visite
auf einer der Abteilungen der Salpetriere (Versorgungshaus
für !^rauen) machte, durch all die Wildnis von Lähmungen,
Zuckimgen und Krämpfen, für die es vor 40 Jahren keine
1) „Wiener Medizinische Wochenschrift", Nr. 37, 1893.
Freud, Neurosenlehre. 1
Namen und kein Verständnis gab, pflegte er zu sagen: „Fau-
drait y retourner et y rester" und er hielt Wort. Als er
Medecin des höpitaux (Primararzt) geworden war, trachtete
er alsbald in die Salpetriere zu kommen, auf eine jener Ab-
teilungen, die die Nervenkranken beherbergten, und einmal
dort angelangt, verblieb er auch dort, anstatt, wie es den
französischen Primarärzten freisteht, im regelmäßigen Turnus
Spital und Abteilung und damit auch die Spezialität zu wechseln.
So war sein erster Eindruck und der Vorsatz, zu dem
er geführt hatte, bestimmend für seine gesamte weitere Ent-
wicklung geworden. Die Verfügung über ein großes Material
an chronisch Nervenkranken gestattete ihm nun, seine eigen-
tümliche Begabung zu verwerten. Er war kein Grübler, kein
Denker, sondern eine künstlerisch begabte Natur, wie er es
selbst nannte, ein „visuel", ein Seher. Von seiner Arbeits-
weise erzählte er uns selbst folgendes: Er pflegte sich die
Dinge, die er nicht kannte, immer von neuem anzusehen,
Tag für Tag den Eindruck zu verstärken, bis ihm dann plötz-
lich das Verständnis derselben aufging. Vor seinem geistigen
Auge ordnete sich dann das Chaos, welches durch die Wieder-
kehr immer derselben Symptome vorgetäuscht wurde; es er-
gaben sich die neuen Krankheitsbilder, gekennzeichnet durch
die konstante Verknüpfung gewisser Symptomgruppen; die
vollständigen und extremen Fälle, die „Typen", ließen sich
mit Hilfe einer gewissen Art von Schematisierung hervor-
heben, und von den Typen aus blickte das Auge auf die lange
Reihe der abgeschwächten Fälle, der „formes frustes", die
von dem oder jenem charakteristischen Merkmal des Typus
her ins Unbestimmte ausliefen. Er nannte diese Art der
Geistesarbeit, in der er keinen Gleichen hatte, „Nosographie
treiben" und war stolz auf sie. Man konnte ihn sagen hören,
die größte Befriedigung, die ein Mensch erleben könne, sei,
etwas neues zu sehen, d. h. es als neu zu erkennen, und in
immer wiederholten Bemerkungen kam er auf die Schwierig-
keit und Verdienstlichkeit dieses „Sehens" zurück. Woher es denn
komme, daß die Menschen in der Medizin immer nur ^-ohen,
was sie zu sehen bereits gelernt haben, wie wunderbar es sei,
daß man plötzlich neue Dinge — neue Krankheitszustände —
sehen könne, die doch wahrscheinlich so alt seien wie das
Menschengeschlecht, und wie er sich selbst sagen müsse, er
sehe jetzt manches, was er durch 30 Jahre auf seinen Kranken-
zimmern übersehen habe. Welchen Reichtum an Formen die
Neuropathologie durch ihn gewann, welche Verschärfung und
Sicherheit der Diagnose durch seine Beobachtungen ermög-
licht wurde, braucht man dem Arzte nur anzudeuten. Der
Schüler aber, der mit ihm einen stundenlangen Gang durch
die Krankenzimmer der Salpetriere, dieses Museums von klini-
schen Fakten, gemacht hatte, deren Namen und Besonderheit
größtenteils von ihm selbst herrührten, wurde an Cuvier
erinnert, dessen Statue vor dem Jardin des plantes den großen
Kenner und Beschreib er der Tierwelt, umgeben von der Fülle
tierischer Gestalten, zeigt, oder er mußte an den Mythus von
Adam denken, der jenen von Charcot gepriesenen intellek-
tuellen Genuß im höchsten Ausmaß erlebt haben mochte, als
ihm Gott die Lebewesen des Paradieses zur Sonderung und
Benennung vorführte.
Charcot wurde auch niemals müde, die Rechte der rein
klinischen Arbeit, die im Sehen und Ordnen besteht, gegen die
Übergriffe der theoretischen Medizin zu verteidigen. Wir waren
einmal eine kleine Schar von Fremden beisammen, die, in der
deutschen Schulphysiologie auf erzogen, ihm durch die Bean-
standung seiner klinischen Neuheiten lästig fielen : „Das kann
doch nicht sein", wendete ihm einmal einer von uns ein: „das
widerspricht ja der Theorie von Young-Helmholtz." Er
erwiderte nicht: „Um so ärger für die Theorie, die Tatsachen
der Kh'nik haben den Vorrang", u. dgl., aber er sagte uns
doch, was uns einen großen Eindruck machte: „La theorie,
c'est bon, mais ca n'empeche pas d'exister."
Durch eine ganze Reihe von Jahren hatte Charcot die
Professur für pathologische Anatomie in Paris inne und seine
neuropathologischen Arbeiten und Vorlesungen, die ihn rasch
auch im Auslande berühmt machten, betrieb er ohne Auftrag
als Nebenbeschäftigung ; für die Neuropathologie war es aber
ein Glück, daß derselbe Mann die Leistung zweier Listanzen
auf sich nehmen konnte, einerseits durch klinische Beobachtung
die Krankheitsbilder schuf und anderseits beim Typus wie
1*
bei der forme fruste die gleiche anatomische Veränderung als
Grundlage des Leidens nachwies. Es ist allgemein bekannt,
welche Erfolge diese anatomisch-klinische Methode Charcot's
auf dem Gebiete der organischen Nervenkrankheiten, der Tabes,
multiplen Sklerose, der amyotrophischen Lateralsklerose usw.
erzielte. Oft bedurfte es jahrelangen geduldigen Harrens, ehe
bei diesen chronischen, nicht direkt zum Tode führenden
Affektionen der Nachweis der organischen Veränderung gelang,
und nur ein Siechenhaus, wie die Salpetriere, konnte gestatten,
die Kranken durch so lange Zeiträume zu verfolgen und zu
erhalten. Die erste Feststellung dieser Art machte Charcot
übrigens, ehe er über eine Abteilung verfügen konnte. Der
Zufall führte ihm während seiner Studienzeit eine Bedienerin
zu, die an einem eigentümlichen Zittern litt und wegen ihrer
Ungeschicklichkeit keine Stelle bekommen konnte. Charcot
erkannte ihren Zustand als die von Duchenne bereits be-
schriebene „Paralysie choreiforme", von der aber nicht bekannt
war, worauf sie beruhe. Er behielt die interessante Bedienerin,
obwohl sie ihm im Laufe der Jahre ein kleines Vermögen an
Schüsseln und Tellern kostete, und als sie endlich starb, konnte
er an ihr nachweisen, daß die „Paralysie choreiforme" der
klinische Ausdruck der multiplen cerebrospinalen Sklerose sei.
Die pathologische Anatomie hat für die Neuropathologie
zweierlei zu leisten: neben dem Nachweis der krankhaften
Veränderung die Feststellung von deren Lokalisation, und wir
alle wissen, daß in den letzten beiden Dezennien der zweite
Teil der Aufgabe das größere Interesse gefunden und die
größere Förderung erfahren hat. Charcot hat auch an diesem
"Werke in hervorragendster "Weise mitgearbeitet, wenngleich
die bahnbrechenden Funde nicht von ihm herrühren. Er
folgte zunächst den Spuren unseres Landsmannes Türck,
der, wie es heißt, ziemlich einsam in unserer Mitte gelebt
und geforscht hat, und als dann die beiden großen Neuerungen
kamen, die eine neue Epoche für unsere Kenntnis der „Loka-
lisation der Nervenkrankheiten" einleiteten, die Reizungsver-
suche von Hitzig-Fritsch und die Markentwicklungsbefunde
von Flechsig, hat er in seinen Vorlesungen über die Loka-
lisation das Meiste und das Beste dazu getan, die neuen
Lehren, mit der Klinik zu vereinigen und für sie fruclitbar zu
machen. "Was speziell die Beziehung der Körpermuskulatur zur
motorischen Zone des menschlichen Großhirns betrifft, so er-
innere ich daran, wie lange die genauere Art und Topik
dieser Beziehung in Frage stand (gemeinsame Vertretung
beider Extremitäten an denselben Stellen — Vertretung der
oberen Extremität in der vorderen, der unteren in der hinteren
Zentralwindung, also vertikale Gliederung), bis endlich fort-
gesetzte klinische Beobachtungen und Reiz- wie Exstirpations-
versuche am lebenden Menschen bei Gelegenheit chirurgischer
Eineriffe zugunsten der Ansicht von Charcot und Pitres
entschieden, daß das mittlere Drittel der Zentralwindungen
vorwiegend der Armvertretung, das obere Drittel und der
mediale Anteil der Beinvertretung diene, daß also eine hori-
zontale Gliederung in der motorischen Region durchgeführt sei.
Es würde nicht gelingen, die Bedeutung Charcot's
für die Neuropathologie durch die Aufzählung einzehier
Leistungen zu erweisen, denn es hat in den letzten zwei
Dezennien überhaupt nicht viele Themata von einigem Belang
gegeben, an deren Aufstellung und Diskussion die Schule
der Salpetriere nicht einen hervorragenden Anteil genommen
hätte. „Die Schule der Salpetriere", das war natürlich
Charcot selbst, der mit dem Reichtume seiner Erfahrung,
der durchsichtigen lOarheit seiner Diktion und der Plastik
seiner Schilderungen unschwer in jeder Schülerarbeit zu er-
kennen war. Aus dem Kreise von jungen Männern, die er so
an sich heranzog und zu Teilnehmern seiner Forschungen
machte, erhoben sich dann Einzelne zum Bewußtsein ihrer
Lidividualität, gewannen für sich selbst einen glänzenden
Namen, und hie und da kam es auch vor, daß einer mit einer
Behauptung hervortrat, die dem Meister mehr geistreich als
richtig erschien, und die er in Gesprächen und Vorlesungen
sarkastisch genug bekämpfte, ohne daß das Verhältnis zu
dem geliebten Schüler darunter litt. Tatsächlich hinterläßt
Charcot eine Schar von Schülern, deren geistige Qualität
und bisherige Leistungen eine Bürgschaft bieten, daß die
Pflege der Neuropathologie in Paris nicht so bald von der
Höhe heruntergleiten wird, zu der Charcot sie geführt hat.
"Wir haben in "Wien wiederholt die Erfahrung machen
können, daß die geistige Bedeutung eines akademischen
Lehrers nicht ohneweiters mit jener direkten persönlichen
Beeinflussung der Jugend vereinigt sein muß, die sich in der
Schöpfung einer zahlreichen und bedeutsamen Schule äußert.
"Wenn Charcot in diesem Punkte so viel glücklicher war,
so mußte man dies den persönlichen Eigenschaften des
Mannes zuschreiben, dem Zauber, der von seiner Erscheinung
und Stimme ausging, der liebenswürdigen Offenheit, die sein
Benehmen auszeichnete, sobald einmal die gegenseitigen Be-
ziehungen das Stadium der ersten Fremdheit überwunden
hatten, der Bereitwilligkeit, mit der er seinen Schülern alles
zur Verfügung stellte, und der Treue, die er ihnen durch
das Leben hielt. Die Stunden, die er auf seinen Kranken-
zimmern verbrachte, waren Stunden des Beisammenseins und
des Gedankenaustausches mit seinem gesamten ärztlichen
Stab; er schloß sich da niemals ein; der jüngste Externe
hatte Gelegenheit, ihn bei der Arbeit zu sehen und durfte
ihn in dieser Arbeit stören, und dieselbe Freiheit genossen
die Fremden, die in späteren Jahren niemals bei seiner
Visite fehlten. Endlich, wenn am Abend Madame Charcot
ihr gastliches Haus einer auserlesenen Gesellschaft öffnete,
unterstützt von einer hochbegabten, in der AhnUchkeit de's
Vaters aufblühenden Tochter, so standen die nie fehlenden
Schüler und ärztlichen Gehilfen ihres Mannes als ein Teil
der FamiHe den Gästen gegenüber.
Das Jahr 1882 oder 83 brachte die endgiltige Gestaltung
in Charcot's Lebens- und Arbeitsbedingungen. Man war
zur Einsicht gekommen, daß das "Wirken dieses Mannes
einen Teil des Besitzstandes der nationalen Gloire bilde, der
nach dem unglücklichen Kriege von 1870/71 um so eifer-
süchtiger behütet wurde. Die Regierung, an deren Spitze
Charcot's alter Freund Gambetta stand, schuf für ihn
einen Lehrstuhl für Neuropathologie an der Fakultät, für
welchen er der pathologischen Anatomie entsagen konnte,
und eine Klinik samt wissenschaftHchen Nebeninstituten in
der Salpetriere. „Le Service de M. Charcot" umfaßte jetzt
nebst den fi-üheren mit chronisch Kranken belegten Räumen
melirere klinische Zimmer, in welche auch Männer Aufnahme
landen, eine riesige Ambulanz, die Consiütation externe, ein
histologisches Laboratoriimi, ein Museum, eine elektrothera-
peutische, Augen- und Ohrenabteilung und ein eigenes photo-
graphisches Atelier, als ebenso viel Anlässe, um ehemalige
Assistenten und Schüler in festen Stellungen dauernd an die
Klinik zu binden. Die zwei Stock hohen, verwittert aussehen-
den Gebäude mit den Höfen, die sie umschlossen, erinnerten
den Fremden auffällig an unser Allgemeines Krankenhaus,
aber die ÄhnHchkeit ging wohl nicht weit genug. „Es ist
vielleicht nicht schön hier", sagte Charcot, wenn er dem
Besucher seinen Besitz zeigte, „aber man findet Platz für
alles, was man machen will."
Charcot stand auf der Höhe des Lebens, als ihm diese
Fülle von Lein'- und Forschungsmitteln zur Verfügung ge-
stellt wurde. Er war ein unermüdhcher Arbeiter, ich glaube,
immer noch der fleißigste der ganzen Schule. Eine Privat-
ordination, zu der sich die Kranken „aus Samarkand und von
den Antillen" drängten, vermochte es nicht, ihn seiner Lehr-
tätigkeit oder seinen Forschungen zu entfremden. Sicherlich
wandte sich dieser Zulauf von Menschen nicht allein an den
berühmten Forscher, sondern ebensosehr an den großen Arzt
und Menschenfreund, der immer einen Bescheid zu finden
wußte und dort ahnte und erriet, wo der gegenwärtige Zustand
der Wissenschaft ihm nicht gestattete, zu wissen. Man hat
ihm vielfach seine Therapie zum Vorwurfe gemacht, die durch
ihren Reichtum an Verschreibungen ein rationalistisches Ge-
wissen beleidigen mußte. Allein er setzte einfach die örtlich
und zeitlich gebräuchhchen Methoden fort, ohne sich über
deren "Wirksamkeit viel zu täuschen. In der therapeutischen
Erwartung war er übrigens nicht pessimistisch und hat früher
und später die Hand dazu geboten, neue Behandlungsmethoden
an seiner Klinik zu versuchen, deren kurzlebiger Erfolg von
anderer Seite her seine Aufklärung fand. Als Lehrer war
Charcot geradezu fesselnd, jeder seiner Vorträge ein kleines
Kunstwerk an Aufbau und Gliederung, formvollendet und in
einer Weise eindringUch, daß man den ganzen Tag über das
gehörte Wort nicht aus seinem Ohr und das demonstrierte
Objekt nicht aus dem Sinne bringen konnte. Er demonstrierte
selten einen einzigen Kranken, meist eine Reihe oder Gregen-
stücke, die er mit einander verglich. Der Saal, in welchem er
seine Vorlesungen hielt, war mit einem Bilde geschmückt,
welches den „Bürger" Pinel darstellt, wie er den armen Irr-
sinnigen der Salpetriöre die Fesseln abnehmen läßt ; die Sal-
petriere, die während der Revolution so viel Schrecken gesehen,
war doch auch die Stätte dieser humansten aller Umwälzungen
gewesen. Meister Charcot selbst machte bei einer solchen
Vorlesung einen eigentümlichen Eindruck; er, der sonst vor
Lebhaftigkeit und Heiterkeit übersprudelte, auf dessen Lippen
der Witz nicht erstarb, sah dann unter seinem Samtkäppchen
ernst und feierlich, ja eigentlich gealtert aus, seine Stimme
klang uns wie gedämpft, und wir konnten etwa verstehen, wieso
übelwollende Fremde dazu kamen, der ganzen Vorlesung den Vor-
wm'f des Theatralischen zu machen. Die so sprachen, waren wohl
die Formlosigkeit des deutschen klinischen Vortrags gewöhnt
oder vergaßen daran, daß Charcot nur eine Vorlesung in
der Woche hielt, die er also sorgfältig vorbereiten konnte.
Folgte Charcot mit dieser feierlichen Vorlesung, in der
alles vorbereitet war und alles eintreffen mußte, währscheirdich
einer eingewurzelten -Tradition, so empfand er doch auch
das Bedürfnis, seinen Hörern ein minder verkünsteltes Bild
seiner Tätigkeit zu geben. Dazu diente ihm die Ambulanz
der Klinik, die er in den sogenannten Le9ons du Mardi per-
sönlich erledigte. Da nahm er ihm völlig unbekannte Fälle
vor, setzte sich allen Wechselfällen des Examens, allen Irr-
wegen einer ersten Untersuchung aus, warf seine Autorität
von sich, um gelegentlich einzugestehen, daß dieser Fall keine
Diagnose zulasse, daß in jenem ihn der Anschein getäuscht
habe, und niemals erschien er seinen Hörern größer, als nach-
dem er sich so bemüht hatte, durch die eingehendste Rechen-
schaft über seine Gedankengänge, durch die größte Offenheit
in seinen Zweifeln und Bedenken die Kluft zwischen Lehrer
und Schülern zu verringern. Die Veröffentlichung dieser im-
provisierten Vorträge aus den Jahren 1887 und 1888 zu-
nächst in französischer, gegenwärtig auch in deutscher Sprache,
hat auch den Kreis seiner Bewunderer ins Ungemessene er-
weitert, und niemals hat ein neuropathologisches Werk einen
ähnlichen Erfolg im ärztlichen Pubhkum erzielt wie dieses.
Ungefähr gleichzeitig mit der Errichtung der Klinik und
dem Zurücktreten der pathologischen Anatomie vollzog sich
eine Wandlung in Charcot's wissenschaftlichen Neigungen,
der wir die schönsten seiner Arbeiten verdanken. Er erklärte
nun, die Lehre von den organischen Nervenkrankheiten sei
vorderhand ziemlich abgeschlossen, und begann, sein Interesse
fast ausschließhch der Hysterie zuzuwenden, die so mit einem
Schlage in den Brennpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit
gelangte. Diese rätselhafteste aller Nervenkrankheiten, für
deren Bem'teilung die Ärzte noch keinen tauglichen G-esichts-
punkt gefunden hatten, war gerade damals recht in Mißkredit
geraten, der sich sowohl auf die Kranken als auf die Arzte
erstreckte, die sich mit der Neurose beschäftigten. Es hieß,
bei der Hysterie ist alles möglich, und 'den Hysterischen wollte
man gar nichts glauben. Die Arbeit C h a r c o t's gab dem Thema
zunächst seine Würde wieder ; man gewöhnte sich allmählich
das höhnische Lächehi ab, auf das die Kranke damals sicher
rechnen konnte; sie mußte nicht mehr eine Simulantin sein,
da Charcot mit seiner vollen Autorität für die Echtheit und
Objektivität der hysterischen Phänomene eintrat. Charcot
hatte im kleinen die Tat der Befreiung wiederholt, wegen
welcher das Bild Pinel's den Hörsaal der Salpetriere zierte.
Nachdem man nun der blinden Furcht entsagt hatte, von den
armen Kranken genarrt zu werden, welche einer ernsthaften
Beschäftigung mit der Neurose bisher im Wege gestanden
war, konnte es sich fragen, welche Art der Bearbeitung auf
dem kürzesten Wege zur Lösung des Problems führen würde.
Für einen ganz unbefangenen Beobachter hätte sich folgende
Anknüpfung dargeboten : Wenn ich einen Menschen in einem
Zustande finde, der alle Zeichen eines schmerzhaften Affektes
an sich trägt, im Weinen, Schreien, Toben, so liegt mir der
Schluß nahe, einen seelischen Vorgang in diesem Menschen
zu vermuten, dessen berechtigte Äußerungen jene körper-
hchen Phänomene sind. Der Gesunde wäre dann imstande
mitzuteilen, welcher Eindruck ihn peinigt, der Hysterische
würde antworten, er wisse es nicht, und das Problem wäre
10
sofort gegeben, woher es komme, daß der Hysterische einem
Affekt unterliegt, von dessen Veranlassung er nichts zu wissen
behauptet. Hält man nun an seinem Schlüsse fest, daß ein
entsprechender psychischer Vorgang vorhanden sein müsse,
und schenkt dabei doch der Behauptung des Kranken Glauben,
der denselben verleugnet, sammelt man die vielfachen Anzeichen,
aus denen hervorgeht, daß der Kranke sich so benimmt, als
wüßte er doch darum, forscht man in der Lebensgeschichte
des Kranken nach und findet in derselben einen Anlaß, ein
Trauma, welches geeignet ist, gerade solche Affektäußerungen
zu erzeugen, so drängt dies alles zur Lösung, daß der Kranke
sich in einem besonderen Seelenzustande befinde, in dem das
Band des Zusammenhanges nicht mehr alle Eindrücke oder
Erinnerungen an solche umschlinge, in dem es einer Erinnerung
möglich sei, ihren Affekt durch körperliche Phänomene zu
äußern, ohne daß die Gruppe der anderen seeHschen Vorgänge,
das Ich, darum wisse oder hindernd eingreifen könne; und
die Erinnerung an die allbekannte psychologische Verschieden-
heit von Schlaf und Wachen hätte das Fremdartige dieser
Annahme verringern können. Man wende nicht ein, daß die
Theorie einer Spaltung des Bewußtseins als Lösung des Eätsels
der Hysterie viel zu ferne Hegt, als daß sie sich dem unbe-
fangenen und ungeschulten Beobachter aufdrängen könnte.
Tatsächlich hatte das Mittelalter doch diese Lösung gewählt,
indem es die Besessenheit durch einen Dämon für die Ursache
der hysterischen Phänomene erklärte ; es hätte sich nur darum
gehandelt, für die reHgiöse Terminologie jener dunkeln und aber-
gläubischen Zeit die wissenschaftliche der Gegenwart einzusetzen.
Charcot betrat nicht diesen Weg zur Aufklärung der
Hysterie, obwohl er aus den erhaltenen Berichten der Hexen-
prozesse und der Besessenheit reichlich schöpfte, um zu er-
weisen, daß die Erscheinungen der Neurose damals dieselben
gewesen seien wie heute. Er behandelte die Hysterie wie ein
anderes Thema der Neuropathologie, gab die vollständige
Beschreibung ihrer Erscheinungen, wies Gesetz und Regel in
denselben nach, lehrte die Symptome kennen, welche eine
Diagnose der Hysterie ermöglichen. Die sorgfältigsten Unter-
suchungen, die von ihm und seinen Schülern ausgingen, ver-
11
breiteten sich über die Sensibilitätsstörungen der Hysterie an
der Haut und den tiefen Teilen, das Verhalten der Sinnes-
organe, die Eigentümlichkeiten der hysterischen Kontrakturen
und Lähmungen, der trophischen Störungen und der Verän-
derungen des Stoffwechsels. Die mannigfachen Formen des
hysterischen Anfalles wurden beschrieben, ein Schema auf-
gestellt, welches die typische Gestaltung des großen hyste-
rischen Anfalles in vier Stadien schilderte und die Zurück-
führung der gemeinhin beobachteten „kleinen" AnfäUe auf
den Typus gestattete; ebenso die Lage und Häufigkeit der
sogenannten hysterogenen Zonen, deren Beziehung zu den
Anfällen studiert usw. Mit all diesen Kenntnissen über die
Erscheinung der Hysterie ausgestattet, machte man nun eine
Reihe überraschender Entdeckungen; man fand die Hysterie
beim männhchen Greschlechte und besonders bei den Männern
der Arbeiterklasse mit einer Häufigkeit, die man nicht ver-
mutet hatte, man überzeugte sich, daß gewisse Zufälle, die
man der Alkohol-, der Blei-Litoxikation zugeschrieben hatte,
der Hysterie angehörten, man war imstande, eine ganze Anzahl
von bisher unverstanden und isoliert dastehenden Affektionen
unter die Hysterie zu subsummieren und den Anteil der Hysterie
auszuscheiden, wo sich die Neurose mit anderen Affektionen
zu komplexen Bildern vereinigt hatte. Am weittragendsten
waren wolil die Forschungen über die Nervenerkrankungen
nach schweren Traumen, die „traumatischen Neurosen", deren
Auffassung jetzt noch in Diskussion steht, und bei welchen
Charcot das Recht der Hysterie erfolgreich vertreten hat.
Nachdem die letzten Ausdehnungen des Begriffes der
Hysterie so häufig zur Verwerfung ätiologischer Diagnosen
geführt hatten, ergab sich die Notwendigkeit, auf die Ätiologie
der Hysterie einzugehen. Charcot stellte eine einfache Formel
für diese auf: als einzige Ursache hat die Heredität zu gelten,
die Hysterie ist demnach eine Form der Entartung, ein Mit-
ghed der „famille nevropathique"; aUe anderen ätiologischen
Momente spielen die RoUe von G-elegenheitsursachen, von
„agents provocateurs".
Der Aufbau dieses großen Gebäudes fand natürlich nicht
ohne heftigen Widerspruch statt, aUein es war der unfrucht-
12
bare "Widerspruch einer alten Generation, die ihre Anschauungen
nicht verändert wissen wollte ; die Jüngeren unter den Neuro-
pathologen, auch Deutschlands, nahmen Charcot's Lehren
in größerem oder geringerem Ausmaße an. Charcot selbst
war des Sieges seiner Lehren von der Hysterie vollkonmien
sicher; woUte man ihm einwenden, daß die vier Stadien des
Anfalles, die Hysterie bei Männern etc., anderswo als in Frank-
reich nicht zu beobachten seien, so wies er darauf hin, wie
lange er diese Dinge selbst übersehen habe, und wiederholte,
die Hysterie sei allerorten und zu allen Zeiten die nämliche.
Gegen den Vorwurf, daß die Franzosen eine weit nervösere
Nation seien als andere, die Hysterie gleichsam eine nationale
Unart, war er sehr empfindlich und konnte sich sehr freuen,
wenn eine Publikation „über einen FaU von Reflexepilepsie"
bei einem preußischen Grenadier ihm auf Distanz die Diagnose
der Hysterie ermöglichte.
An einer Stelle seiner Arbeit ging Charcot noch über
das Niveau seiner sonstigen Behandlung der Hysterie hinaus
und tat einen Schritt, der ihm für alle Zeiten auch den Ruhm
des ersten Erklärers der Hysterie sichert. Mit dem Studium
der hysterischen Lähmungen beschäftigt, die nach Traumen
entstehen, kam er auf den Einfall, diese Lähmungen, die er
vorher sorgfältig von den organischen differenziert hatte,
künsthch zu reproduzieren, und bediente sich hiezu hysterischer
Patienten, die er durch Hypnotisieren in den Zustand des
Somnambulismus versetzte. Es gelang ihm durch lückenlose
Schlußfolge nachzuweisen, daß diese Lähmungen Erfolge von
Vorstellungen seien, die in Momenten besonderer Disposition
das Gehirn des Kranken beherrscht hatten. Damit war zum
ersten Male der Mechanismus eines hysterischen Phänomens
aufgeklärt, und an dieses unvergleichlich schöne Stück klini-
scher Forschung knüpfte dann sein eigener Schüler P. Jan et,
knüpften Breuer u. a. an, um eine Theorie der Nem-ose zu
entwerfen, welche sich mit der Auffassung des Mittelalters
deckt, nachdem sie den „Dämon" der priesterlichen Phantasie
durch eine psychologische Formel ersetzt hat.
Charcot's Beschäftigung mit den hypnotischen Phäno-
menen bei Hysterischen gereichte diesem bedeutungsvollen
13
Gebiet von bisher vernachlässigten und verachteten Tatsachen
zur größten Förderung, indem das Gewicht seines Namens
dem Zweifel an der Realität der hypnotischen Erscheinungen
ein- für allemal ein Ende machte. Allein der rein psycho-
logische Gegenstand vertrug die ausschließlich nosographische
Behandlung nicht, die er bei der Schule der SalpStriere fand.
Die Beschränkung des Studiums der Hypnose auf die Hyste-
rischen, die Unterscheidung von großem und kleinem Hypno-
tismus, die Aufstellung dreier Stadien der „großen Hypnose"
und deren Kennzeichnung durch somatische Phänomene,
dies alles unterlag in der Schätzung der Zeitgenossen, als
Liebault's Schüler Bernheim es unternahm, die Lehre
vom Hypnotismus auf einer umfassenderen psychologischen
Grundlage aufzubauen uud die Suggestion zum Kernpunkt
der Hypnose zu machen. Nur die Gegner des Hypnotismus,
die sich damit zufrieden geben, ihren Mangel an eigener Er-
fahrung dm'ch Berufung auf eine Autorität zu verdecken,
halten noch an den Aufstellungen Charcot's fest und lieben es,
eine aus seinen letzten Jaliren stammende Äußerung zu verwerten,
die der Hypnose eine jede Bedeutung als Heilmittel abspricht.
Auch an den ätiologischen Theorien, die Charcot in
seiner Lehre von der „famille nevropathique" vertrat, und die
er zur Grundlage seiner gesamten Auffassung der Nerven-
krankheiten gemacht hatte, wird wohl bald zu rütteln und
zu korrigieren sein. Charcot überschätzte die Heredität
als Ursache so sehr, daß kein Raum für die Erwerbung von
Nem-opathien übrig bheb, er wies der Syphilis nur einen be-
scheidenen Platz unter den „agents provocateurs" an, und
er trennte weder für die Ätiologie, noch sonst hinreichend
scharf die organischen Nervenaffektionen von den Neurosen.
Es ist unausbleiblich, daß der Fortschritt unserer Wissen-
schaft, indem er unsere Kenntnisse vermehrt, auch manches
von dem entwertet, was uns Charcot gelehrt hat, aber
kein Wechsel der Zeiten oder der Meinungen wird den Nach-
ruhm des Mannes zu schmälern vermögen, um den wir jetzt
— in Frankreich und anderwärts — alle trauern.
Wien, im August 1893.
II.
über den psychischen Mechanismus hyste-
rischer Phänomene.^)
Von Dr. Josef Breuer vind Dr. Sigm. Freud in Wien.
I.
Angeregt durch eine zufällige Beobachtung, forschen
wir seit einer Reihe von Jahren bei den verschiedensten
Formen und Symptomen der Hysterie nach der Veranlassung,
dem Vorgange, welcher das betreffende Phänomen zum ersten
Male, oft vor vielen Jahren, hervorgerufen hat. In der großen
Mehrzahl der Fälle gelingt es nicht, durch das einfache, wenn
auch noch so eingehende Krankenexamen, diesen Ausgangs-
punkt klarzustellen, teilweise, weil es sich oft um Erlebnisse
handelt, deren Besprechung den Kranken unangenehm ist,
hauptsächlich aber, weil sie sich wirklich nicht daran erinnern,
den ursächKchen Zusammenhang des veranlassenden Vorganges
und des pathologischen Phänomens nicht ahnen. Meistens ist
es nötig, die Kranken zu hypnotisieren und in der Hypnose
die Erinnerungen jener Zeit, wo das Symptom zum ersten
Male auftrat, wachzurufen ; dann gelingt es, jenen Zusammen-
hang aufs deutlichste und überzeugendste darzulegen.
Diese Methode der Untersuchung hat uns in einer großen
Zahl von Fällen Resultate ergeben, die in theoretischer wie
in praktischer Hinsicht wertvoll erscheinen.
In theoretischer Hinsicht, weil sie uns bewiesen
haben, daß das akzidentelle Moment weit über das bekannte
und anerkannte Maß hinaus bestimmend ist für die Pathologie
1) „Neurologisches Centralblatt", 1893, Nr. 1 u. 2. (Auch abgedruckt
als Einleitung der »Studien über Hysterie«, 1895, in welchen J. Breuer
und ich die hier dargelegten Anschauungen weiter ausgefürt und durch
Krankengeschichten erläutert haben.)
15
der Hysterie. Daß es bei „traumatisclier'' Hysterie der
Unfall ist, welcher das Syndrom hervorgerufen hat, ist ja
selbstverständlich, und wenn bei hysterischen Anfällen aus
den Äußerungen der Kranken zu entnehmen ist, daß sie in
jedem Anfall immer wieder denselben Vorgang halluzinieren,
der die erste Attake hervorgerufen hat, so liegt auch hier
der ursächHche Zusammenhang klar zutage. Dunkler ist der
Sachverhalt bei den anderen Phänomenen.
Unsere Erfahrungen haben uns aber gezeigt, daß die
verschiedensten Symptome, welche für spontane,
sozusagen idiopathische Leistungen derHysterie
gelten, in ebenso stringentem Zusammenhang mit
dem veranlassenden Trauma stehen, wie die oben
genannten, in dieser Beziehung durchsichtigen
Phänomene. Wir haben Neuralgien wie Anästhesien der
verschiedensten Art und von oft jahrelanger Dauer, Kontrak-
tm-en und Lähmungen, hysterische Anfälle und epüeptoide
Konvulsionen, die alle Beobachter für echte Epilepsie gehalten
hatten, Petit-mal und ticartige Affectionen, dauerndes Er-
brechen und Anorexie bis zur Nahrungsverweigerung, die
verschiedensten Sehstörungen, immer wiederkehrende Gesichts-
halluzinationen u. dgl. m. auf solche veranlassende Momente
zurückführen können. Das Mißverhältnis zwischen dem jahre-
lang dauernden hysterischen Symptom und der einmaHgen
Veranlassung ist dasselbe, wie wir es bei der traumatischen
Neurose regelmäßig zu sehen gewohnt sind ; ganz häufig sind
es Ereignisse aus der Kinderzeit, die für alle folgenden Jahre
ein mehr oder minder schweres Krankheitsphänomen herge-
stellt haben.
Oft ist der Zusammenhang so klar, daß es vollständig er-
sichtHch ist, wieso der veranlassende Vorfall eben dieses und
kein anderes Phänomen erzeugt hat. Dieses ist dann durch die
Veranlassung in vöUig klarer Weise determiniert. So, um das
banalste Beispiel zu nehmen, wenn ein schmerzlicher Affekt,
der während des Essens entsteht, aber unterdrückt wird, dann
Übelkeit und Erbrechen erzeugt, und dieses als hysterisches Er-
brechen monatelang andauert. — Ein Mädchen, das in qualvoller
Angst an einem Krankenbette wacht, verfällt in einen Dämmer-
16
zustand und hat eine schreckliafte Halluzination, während ihr
■der rechte Arm, über der Sessellehne hängend, einschläft ; es
entwickelt sich daraus eine Parese dieses Armes mit Kon-
traktur und Anästhesie. Sie will beten und findet keine "Worte;
endlich gelingt es ihr, ein englisches Kindergebet zu sprechen.
Als sich später eine schwere, höchst komplizierte Hysterie
entwickelt, spricht, schreibt und versteht sie nur enghsch,
während ihr die Muttersprache durch IVa Jahre unverständ-
lich ist. — Ein schwerkrankes Kind ist endlich eingeschlafen,
die Mutter spannt alle "Willenskraft an, um sich ruhig zu
verhalten und es nicht zu wecken; gerade infolge dieses
Vorsatzes macht sie („hysterischer Gegenwille!") ein schnalzen-
des Geräusch mit der Zunge. Dieses wiederholt sich später
bei einer anderen Gelegenheit, wobei sie sich gleichfalls absolut
ruhig verhalten will, und es entwickelt sich daraus ein Tic,
der als Zungenschnalzen durch viele Jahre jede Aufregung
begleitet. — Ein hochintelligenter Mann assistiert, während
seinem Bruder das ankylosierte Hüftgelenk in der Narkose
gestreckt wird. Im AugenbHck, wo das Gelenk krachend
nachgibt, empfindet er heftigen Schmerz im eigenen Hüft-
gelenk, der fast em Jahr andauert u. dgl. m.
In anderen Fällen ist der Zusammenhang nicht so ein-
fach; es besteht nur eine sozusagen symbolische Beziehung
zwischen der Veranlassung und dem pathologischen Phänomen,
wie der Gesunde sie wohl auch im Traume bildet: wenn
-etwa zu seelischem Schmerze sich eine Neuralgie geseilt oder
Erbrechen zu dem Affekt moralischen Ekels. "Wir haben Bj-anke
studiert, welche von einer solchen SymboHsierung den aus-
giebigsten Gebrauch zu machen pflegten. — In noch anderen
Fällen ist eine derartige Determination zunächst nicht dem
Verständnis offen ; hierher gehören gerade die typischen hyste-
Tischen Symptome, wie Hemianästhesie und Gesichtsfeldein-
engung, epileptiforme Konvulsionen u. dgl. Die Darlegung
unserer Anschauungen über diese Gruppe müssen wir der aus-
führlicheren Besprechung des Gegenstandes vorbehalten.
Solche Beobachtungen scheinen uns die pa-
thogene Analogie der gewöhnlichen Hysterie mit
-der traumatischen Neurose nachzuweisen und eine
17
Ausdehnung des Begriffes der „traumatischen
Hysterie" zu rechtfertigen. Bei der traumatischen Neu-
rose ist ja nicht die geringfügige körperliche Verletzung die
wirksame Krankheitsursache, sondern der Schreckaffekt, das
psychische Trauma. In analoger Weise ergeben sich aus
unseren Nachforschungen für viele, wenn nicht für die meisten
hysterischen Symptome Anlässe, die man als psychische Traumen
bezeichnen muß. Als solches kann jedes Erlebnis wirken,
welches die peinlichen Affekte des Schreckens, der Angst,
der Scham, des psychischen Schmerzes hervorruft, und es hängt
begreiflicherweise von der Empfindlichkeit des betroffenen
Menschen (sowie von einer später zu erwähnenden Bedingung)
ab, ob das Erlebnis als Trauma zur Geltung kommt. Nicht
selten finden sich anstatt des einen großen Traumas bei der
gewöhnlichen Hysterie mehrere Partialtraumen, gruppierte
Anlässe, die erst in ihrer Summierung traumatische "Wirkung
äußern konnten, und die insofern zusammengehören, als sie
zum Teil Stücke einer Leidensgeschichte bilden. In noch
anderen Fällen sind es an sich scheinbar gleichgültige Umstände,
die durch ihr Zusammentreffen mit dem eigentlich wirksamen
Ereignis oder mit einem Zeitpunkt besonderer Reizbarkeit
eine Dignität als Traumen gewonnen haben, die ihnen sonst
nicht zuzumuten wäre, die sie aber von da an behalten.
Aber der kausale Zusammenhang des veranlassenden
psychischen Traumas mit dem hysterischen Phänomen ist
nicht etwa von der Art, daß das Trauma als Agent provocateur
das Symptom auslösen würde, welches dann, selbständig ge-
worden, weiter bestände. Wir müssen vielmehr behaupten,
daß das psychische Trauma, respektive die Erinnerung an
dasselbe, nach Art eines Fremdkörpers wirkt, welcher noch
lange Zeit nach seinem Eindringen als gegenwärtig wirkendes
Agens gelten muß, und wir sehen den Beweis hiefür in einem
höchst merkwürdigen Phänomen, welches zugleich unseren
Befunden ein bedeutendes praktisches Interesse verschafft.
Wir fanden nämlich, anfangs zu unserer größten Über-
raschung, daß die einzelnen hysterischen Symptome
sogleich und ohne Wiederkehr verschwanden,
wenn es gelungen war, dieErinnerungandenver-
Freud, Neuroaenlehre. 2
18
anlassenden Vorgang zu voller Helligkeit zu er-
wecken, damit auch den begleitenden Affekt
wachzurufen, und wenn dann der Kranke denVor-
gang in möglichst ausführlicher Weise schilderte
und demAffektWortegab. Affektloses Erinnern ist fast
immer völlig wirkungslos ; der psychische Prozeß, der ur-
sprünghch abgelaufen war, muß so lebhaft als möglich wieder*
holt, in statum nascendi gebracht und dann „ausgesprochen"
werden. Dabei treten, wenn es sich um Reizerscheinungen
handelt, diese : Krämpfe, Neuralgien, Halluzinationen — noch
einmal in voller Intensität auf und schwinden dann für immer.
Funktionsausfälle, Lähmungen und Anästhesien schwinden
ebenso, natürlich ohne daß ihre momentane Steigerung deut-
lich wäre.^)
Der Verdacht liegt nahe, es handle sich dabei um eine
unbeabsichtigte Suggestion; der Kranke erwarte, durch die
Prozedur von seinem Leiden befreit zu werden, und diese Er-
wartung, nicht das Aussprechen selbst, sei der wirkende Faktor.
Allein, dem ist nicht so; die erste Beobachtung dieser Art,
bei welcher ein höchst verwickelter Fall von Hysterie auf
solche "Weise analysiert und die gesondert verursachten Symp-
tome auch gesondert behoben wurden, stammt aus dem
Jahre 1881, also aus „vorsuggestiver" Zeit, wurde durch
spontane Autohypnosen der Kranken ermöglicht und bereitete
dem Beobachter die größte Überraschung.
Li Umkehrung des Satzes : cessante causa cessat effectus,
dürfen wir wohl aus diesen Beobachtungen schließen: der
1) Die Möglichkeit einer solchen Therapie haben Delboeuf und
Bin et klar erkannt, wie die beifolgenden Zitate zeigen: Delboeuf, Le
magnetisme animal, Paris 1889: „On s'expliquerait des lors comment le mag-
netiseur aide ä la guerison. II remet le sujet dans l'etat oü le mal s'est
manifeste et combat par la parole le meme mal, mais renaissant." —
Bin et, Les alterations de la personnaUte, 1892, p. 243: „ . . . peutetre
verra-t-on qu'en reportant le malade par un artifice mental, au moment
meme oü le Symptome a apparu pour la premiere fois, on rend ce malade
plus docüe ä une Suggestion curative." — In dem interessanten Buche
von P. Jan et: L'automatisme psychologique, Paris 1889, findet sich die
Beschreibung einer Heüung, welche bei einem hysterischen Mädchen
durch Anwendung eines dem unserigen analogen Verfahren erzielt
wurde.
19
veranlassende Vorgang wirke in irgend einer "Weise noch
nach Jahren fort, nicht indirekt durch Vermittkmg einer Kette
von kausalen Zwischengliedern, sondern unmittelbar als aus-
lösende Ursache, wie etwa ein im wachen Bewußtsein er-
innerter psychischer Schmerz noch in später Zeit die Tränen-
sekretion hervorruft: der Hysterische leide größten-
teils an Reminiszenzen.^)
n.
Es erscheint zunächst wunderlich, daß längst vergangene
Erlebnisse so intensiv wirken sollen, daß die Erinnerungen
an sie nicht der Usur unterliegen sollen, der wir doch alle
unsere Erinnerungen verfallen sehen. Vielleicht gewinnen
wir durch folgende Erwägungen einiges Verständnis für diese
Tatsachen.
Das Verblassen oder Affektloswerden einer Erinnerung
hängt von mehreren Faktoren ab. Vor allem ist dafür von
"Wichtigkeit, ob auf das affizierende Ereignis ener-
gisch reagiert wurde oder nicht. Wir verstehen hier
unter Reaktion die ganze Reihe willkürlicher und unwillkür-
licher Reflexe, in denen sich erfahrungsgemäß die Affekte
entladen: vom "Weinen bis zum Racheakt. Erfolgt diese
Reaktion in genügendem Ausmaß, so schwindet dadurch ein
großer Teil des Affektes; unsere Sprache bezeugt diese Tat-
sache der täglichen Beobachtung durch die Ausdrücke „sich
austoben, ausweinen", u. dgl. "Wird die Reaktion unterdrückt,
so bleibt der Affekt mit der Erinnerung verbunden. Eine
Beleidigung, die vergolten ist, wenn auch nur durch "Worte,
wird anders erinnert, als eine, die hingenommen werden mußte.
Die Sprache anerkennt auch diesen Unterschied in den psy-
chischen und körperlichen Polgen und bezeichnet höchst
charakt^istischerweise eben das schweigend erduldete Leiden
1) Wir können im Texte dieser vorläufigen Mitteilung nicht sondern,
was am Inhalte derselben neu ist und was sich bei anderen Autoren,
wie Moebius und Strümpell, findet, die ähnliche Anschauungen für
die Hysterie vertreten haben. Die größte Annäherung an unsere theore-
tischen und therapeutischen Ausführungen fanden wir in einigen gelegent-
lich publizierten Bemerkungen Benedikt's, mit denen wir uns an
anderer Stelle beschäftigen werden.
2*
20
als „Kränkung". — Die Reaktion des Geschädigten auf das
Trauma hat eigentlich nur dann eine völlig „kathartische"
"Wirkung, wenn sie eine adäquate Reaktion ist, wie die Rache.
Aber in der Sprache findet der Mensch ein Surrogat für die
Tat, mit dessen Hilfe der Affekt nahezu ebenso „abreagiert"
werden kann. In anderen Fällen ist das Reden eben selbst
der adäquate Reflex, als Klage und als Aussprache für die
Pein eines Geheimnisses (Beichte!). "Wenn solche Reaktion
durch Tat, "Worte, in leichtesten Fällen durch "Weinen nicht
erfolgt, so behält die Erinnerung an den Vorfall zunächst
die affektive Betonung.
Das „Abreagieren" ist indes nicht die einzige Art der
Erledigung, welche dem normalen psychischen Mechanismus
des Gesunden zur Verfügung steht, wenn er ein psychisches
Trauma erfahren hat. Die Erinnerung daran tritt, auch wenn
sie nicht abreagiert wurde, in den großen Komplex der
Assoziation ein, sie rangiert dann neben anderen, vielleicht
ihr widersprechenden Erlebnissen, erleidet eine Korrektur
durch andere Vorstellungen. Nach einem Unfall zum Beispiel
gesellt sich zu der Erinnerung an die Gefahr und zu der
(abgeschwächten) "Wiederholung des Schreckens die Erinnerung
des weiteren Verlaufes, der Rettung, das Bewußtsein der
jetzigen Sicherheit. Die Erinnerung an eine Kränkung wird
korrigiert durch Richtigstellung der Tatsachen, durch Erwä-
gungen der eigenen "Würde u. dgl., und so gelingt es dem
normalen Menschen, durch Leistungen der Assoziation den
begleitenden Affekt zum Verschwinden zu bringen.
Dazu tritt dann jenes allgemeine Verwischen der Ein-
drücke, jenes Abblassen der Erinnerungen, welches wir „ver-
gessen" nennen und das vor allem die affektiv nicht mehr
wirksamen Vorstellungen usuriert.
Aus unseren Beobachtungen geht nun hervor, daß jene
Erinnerungen, welche zu Veranlassungen hysterischer Phäno-
mene geworden sind, sich in wunderbarer Frische und mit
ihrer voUen Affektbetonung durch lange Zeit erhalten haben.
"Wir müssen aber als eine weitere auffällige und späterhin
verwertbare Tatsache erwähnen, daß die Kranken nicht etwa
über diese Erinnerungen wie über andere ihres Lebens ver-
21
fügen. Ini Gegenteile, diese Erlebnisse fehlen dem
Gedächtnis der Kranken in ihrem gewöhnlichen
psychisch enZustande völlig oder sind nur höchst
summarisch darin vorhanden. Erst wenn man die
KJranken in der Hypnose befragt, stellen sich diese Erinne-
rungen mit der unverminderten Lebhaftigkeit frischer Ge-
schehnisse ein.
So reproduzierte eine unserer Kj:anken in der Hypnose
ein halbes Jahr hindurch mit halluzinatorischer Lebhaftigkeit
alles, was sie an denselben Tagen des vorhergegangenen
Jahres (während einer akuten Hysterie) erregt hatte; ein ihr
unbekanntes Tagebuch der Mutter bezeugte die tadellose
Richtigkeit der Reproduktion. Eine andere Kranke durchlebte
teils in der Hypnose, teil in spontanen Anfällen mit halluzi-
natorischer Deutlichkeit alle Ereignisse einer vor 10 Jahren
durchgemachten hysterischen Psychose, für welche sie bis
zum Momente des Wiederauftauchens größtenteils amnestisch
gewesen war. Auch einzelne ätiologisch wichtige Erinnerungen
von 15 — 25 jährigem Bestände erwiesen sich bei ihr von er-
staunlicher Litaktheit und sinnlicher Stärke und wirkten bei
ihrer Wiederkehr mit der vollen Affektkraft neuer Erlebnisse.
Den Grund hierfür können wir nur darin suchen, daß
diese Erinnerungen in allen oben erörterten Beziehungen zur
üsur eine Ausnahmsstellung einnehmen. Es zeigt sich
nämlich, daß diese Erinnerungen Traumen ent-
sprechen, welche nicht genügend „abreagiert"
worden sind, und bei näherem Eingehen auf die Gründe,
welche dieses verhindert haben, können wir mindestens zwei
Reihen von Bedingungen auffinden, unter denen die Reaktion
auf das Trauma unterblieben ist.
Zur ersten Gruppe rechnen wir jene Fälle, in denen die
Kranken auf psychische Traumen nicht reagiert haben, weil
die Natur des Traumas eine Reaktion ausschloß, wie beim
unersetzlich erscheinenden Verlust einer geliebten Person,
oder weil die sozialen Verhältnisse eine Reaktion unmöghch
machten, oder weil es sich um Dinge handelte, die der Beranke
vergessen wolte, die er darum absichtlich aus seinem bewußten
Denken verdrängte, hemmte und unterdrückte. Gerade solche
22
peinliche Dinge findet man dann in der Hypnose als G-rund-
lage hysterischer Phänomene (hysterische DeHrien der Heiligen
und Nonnen, der enthaltsamen Frauen, der wohlerzogenen
Kinder).
Die zweite Reihe von Bedingungen wird nicht durch
den Inhalt der Erinnerungen, sondern durch die psychischen
Zustände bestimmt, mit welchen die entsprechenden Erlebnisse
beim Kranken zusammengetrofi'en haben. Als Veranlassung
hysterischer Symptome findet man nämlich in der Hypnose
auch Vorstellungen, welche, an sich nicht bedeutungsvoll,
ihre Erhaltung dem Umstände danken, daß sie in schweren
lähmenden Affekten, wie zum Beispiel Schreck, entstanden
sind, oder direkt in abnormen psychischen Zuständen wie
im halbhypnotischen Dämmerzustand des Wachträumens, in
Autohypnosen u. dgl. Hier ist es die Natur dieser Zustände,
welche eine Reaktion auf das G-eschehnis unmöglich machte.
Beiderlei Bedingungen können natürlich auch zusammen-
treffen und treffen in der Tat oft zusammen. Dies ist der
Fall, wenn ein an sich wirksames Trauma in einen Zustand
von schwerem lähmenden Affekt oder von verändertem Be-
wußtsein fällt; es scheint aber so zuzugehen, daß durch das
psychische Trauma bei vielen Personen einer jener abnormen
Zustände hervorgerufen wird, welcher dann seinerseits die
Reaktion unmöglich macht.
Beiden Gruppen von Bedingungen ist aber gemeinsam,
daß die nicht durch Reaktion erledigten psychischen Traumen
auch der Erledigung durch assoziative Verarbeitung entbehren
müssen. In der ersten Gruppe ist es der Vorsatz der Kranken,
welcher an die peinlichen Erlebnisse vergessen will und die-
selben somit möglichst von der Assoziation ausschließt. In
der zweiten Gruppe gelingt diese assoziative Verarbeitung
darum nicht, weil zwischen dem normalen Bewußtseinszustand
und den pathologischen, in denen diese Vorstellungen ent-
standen sind, eine ausgiebige assoziative Verknüpfung nicht
besteht. Wir werden sofort Anlaß haben, auf diese Verhält-
nisse weiter einzugehen.
Man darf also sagen, daß die pathogen ge-
wordenen Vorstellungen sich darum so frisch
23
und affektkräftig erhalten, weil ihnen die nor-
male üsur durch Abreagieren und durch Repro-
duktion in Zuständen ungehemmter Assoziation
versagt ist.
ni.
Als -wir die Bedingungen mitteilten, welche nach unseren
Erfahrungen dafür maßgebend sind, daß sich aus psychischen
Traumen hysterische Phänomene entwickeln, mußten wir be-
reits von abnormen Zuständen des Bewußtseins sprechen, in
denen solche pathogene Vorstellungen entstehen, und mußten
die Tatsache hervorheben, daß die Erinnerung an das wirk-
same psychische Trauma nicht im normalen Gedächtnis des
Ej-anken, sondern im Gedächtnis des Hypnotisierten zu finden
ist. Je mehr wir uns nun mit diesen Phänomenen beschäftigten,
desto sicherer wurde unsere Überzeugung, jene Spaltung des
Bewußtseins, die bei den bekannten klassischen
Fällen als double conscience so auffällig ist, be-
stehe in rudimentärer "Weise bei jeder Hysterie,
die Neigung zu dieser Dissoziation und damit
zum Auftreten abnormer Bewußtseinszustände,
die wir als „hypnoide" zusammenfassen wollen,
sei das Grundphänomen dieser Neurose. "Wir treffen
in dieser Anschauung mit Bin et und den beiden Janet
zusammen, über deren höchst merkwürdige Befunde bei
Anästhetischen uns übrigens die Erfahrung mangelt.
Wir möchten also dem oft ausgesprochenen Satz: „Die
Hypnose ist artefizielle Hysterie" einen anderen an die Seite
stellen: Grundlage und Bedingung der Hysterie ist die
Existenz von hypnoiden Zuständen. Diese hypnoiden Zustände
stimmen bei aUer Verschiedenheit unter einander und mit der
Hypnose in dem einen Punkte überein, daß die in ihnen auf-
tauchenden Vorstellungen sehr intensiv, aber von dem Asso-
ziatiwerkehr mit dem übrigen Bewußtseinsinhalt abgeperrt
sind. Unter einander sind diese hypnoiden Zustände assoziierbar
und deren VorsteUungsinhalt mag auf diesem Wege ver-
schieden hohe Grade von psychischer Organisation erreichen.
Im übrigen dürfte ja die Natur dieser Zustände und der
Grad ihrer Abschließung von den übrigen Bewußtseinsvor-
24
gangen in ähnlicher Weise variieren, wie wir es bei der
Hypnose sehen, die sich von leichter Somnolenz bis zum
Somnambulismus, von der vollen Erinnerung bis zur absoluten
Amnesie erstreckt.
Bestehen solche hypnoide Zustände schon vor der mani-
festen Erkrankung, so geben sie den Boden ab, auf welchem
der Affekt die pathogene Erinnerung mit ihren somatischen
Folgeerscheinungen ansiedelt. Dies Verhalten entspricht der
disponierten Hysterie. Es ergibt sich aber aus unseren Be-
obachtungen, daß ein schweres Trauma (wie das der trau-
matischen Neurose), eine mühevolle Unterdrückung (etwa des
Sexualaffektes) auch bei dem sonst freien Menschen eine
Abspaltung von Vorstellungsgruppen bewerkstelligen kann,
und dies wäre der Mechanismus der psychisch acquirierten
Hysterie. Zwischen den Extremen dieser beiden Formen muß
man eine Reihe gelten lassen, innerhalb welcher die Leichtig-
keit der Dissoziation bei dem betreffenden Individuum und
die Affektgröße des Traumas in entgegengesetztem Sinne
variieren.
Wir wissen nichts neues darüber zu sagen, worin die
disponierenden hypnoiden Zustände begründet sind. Sie ent-
wickeln sich oft, sollten wir meinen, aus dem auch bei Ge-
sunden so häufigen „Tagträumen", zu dem zum Beispiel die
weiblichen Handarbeiten so viel Anlaß bieten. Die Frage^
weshalb die „pathologischen Assoziationen", die sich in
solchen Zuständen bilden, so feste sind und die somatischen
Vorgänge so viel stärker beeinflussen, als wir es sonst von
Vorstellungen gewohnt sind, fällt zusammen mit dem Problem
der Wirksamkeit hypnotischer Suggestionen überhaupt. Unsere
Erfahrungen bringen hierüber nichts neues, sie beleuchten
dagegen den Widerspruch zwischen dem Satz: „Hysterie ist
eine Psychose", und der Tatsache, daß man unter den Hyste-
rischen die geistig klarsten, willensstärksten, charaktervollsten
und kritischesten Menschen finden kann. In diesen Fällen ist
solche Charakteristik richtig für das wache Denken des
Menschen, in seinen hypnoiden Zuständen ist er alieniert,
wie wir es alle im Traum sind. Aber während unsere Traum-
psychosen unseren Waclizustand nicht beeinflussen, ragen die
25
Produkte der hypnoiden Zustände als hysterische Phänomene
ins wache Leben hinein.
IV.
Fast die nämlichen Behauptungen, die wir für die hyste-
rischen Dauersymptome aufgestellt haben, können wir auch
für die hysterischen Anfälle wiederholen. Wir besitzen, wie
bekannt, eine von Charcot gegebene schematische Be-
schreibung des „großen" hysterischen Anfalles, welcher zu-
folge ein vollständiger Anfall vier Phasen erkennen läßt,
1. die epileptoide, 2. die der großen Bewegungen, 3. die der
attitudes passionnelles (die halluzinatorische Phase), 4. die
des abschließenden Deliriums. Aus der Verkürzung und Ver-
längerung, dem Ausfall und der Isolierung der einzelnen
Phasen läßt Charcot aUe jene Formen des hysterischen
Anfalles hervorgehen, die man tatsächlich häufiger als die
vollständige Grande attaque beobachtet.
Unser Erklärungsversuch knüpft an die dritte Phase, die
der attitudes passionelles an. Wo dieselbe ausgeprägt ist,
hegt in ihr die halluzinatorische Reproduktion einer Erinnerung
bloß, welche für den Ausbruch der Hysterie bedeutsam war,
die Erinnerung an das eine große Trauma der xaT's^oxrjV so-
genannten traumatischen Hysterie oder an eine Reihe von
zusammengehörigen Partialtraumen, wie sie der gemeinen
Hysterie zugrunde liegen. Oder endlich der Anfall bringt
jene Geschehnisse wieder, welche durch ihr Zusammentreffen
mit einem Moment besonderer Disposition zu Traumen erhoben
worden sind.
Es gibt aber auch Anfälle, die anscheinend nur aus
motorischen Phänomenen bestehen, denen eine phase passioneile
fehlt. Gelingt es bei einem solchen Anfall von allgemeinen
Zuckungen, kataleptischer Starre oder bei einer attaque de
sommeü sich während desselben in Rapport mit dem Kranken
zu setzen, oder noch besser, gelingt es, den Anfall in der
Hypnose hervorzurufen, so findet man, daß auch hier die
Erinnerung an das psychische Trauma oder an eine Reihe
von Traumen zugrunde Hegt, die sich sonst in einer hallu-
zinatorischen Phase auffällig macht. Ein kleines Mädchen
leidet seit Jahren an Anfällen von allgemeinen Krämpfen,
26
die man für epileptische halten könnte und auch gehalten hat.
Sie wird zum Zwecke der Differentialdiagnose hypnotisiert
und verfällt sofort in ihren Anfall. Befragt: Was siehst Du
denn jetzt? antwortet sie aber: Der Hund, der Hund kommt!
Und wirklich ergibt sich, daß der erste Anfall dieser Art
nach einer Verfolgung durch einen wilden Hund aufgetreten
war. Der Erfolg der Therapie vervollständigt dann die diag-
nostische Entscheidung.
Ein Angestellter, der infolge einer Mißhandlung von
Seiten seines Chefs hysterisch geworden ist, leidet an Anfällen,
in denen er zusammenstürzt, tobt und wütet, ohne ein "Wort
zu sprechen oder eine Halluzination zu verraten. Der An-
fall läßt sich in der Hypnose provozieren und der Kranke
gibt nun an, daß er die Szene wieder durclilebt, wie der
Herr ihn auf der Straße beschimpft und mit einem Stock
schlägt. "Wenige Tage später kommt er mit der Klage wieder,
er habe denselben Anfall von neuem gehabt, und diesmal
ergibt sich in der Hypnose, daß er die Szene durchlebt hat,
an die sich eigentlich der Ausbruch der Krankheit knüpfte,
die Szene im G-erichtssaal, als es ihm nicht gelang, Satisfak-
tion für die Mißhandlung zu erreichen usw.
Die Erinnerungen, welche in den hysterischen Anfällen
hervortreten oder in ihnen geweckt werden können, entsprechen
auch in allen anderen Stücken den Anlässen, welche sich uns
als Gründe hysterischer Dauersymptome ergeben haben. Wie
diese, betreffen sie psychische Traumen, die sich der Erledigung
durch Abreagieren oder durch assoziative Denkarbeit entzogen
haben; wie diese, fehlen sie gänzlich oder mit ihren wesent-
lichen Bestandteilen dem Erinnerungsvermögen des normalen
Bewußtseins und zeigen sich als zugehörig zu dem Vorstellungs-
inhalt hypnoider Bewußtseinszustände mit eingeschränkter
Assoziation. Endlich gestatten sie auch die therapeutische
Probe. Unsere Beobachtungen haben uns oftmals gelehrt,
daß eine solche Erinnerung, die bis dahin Anfälle provoziert
hatte, dazu unfähig wird, wenn man sie in der Hypnose zur
Reaktion und assoziativen Korrektur bringt.
Die motorischen Phänomene des hysterischen Anfalles
lassen sich zum Teil als allgemeine Reaktionsformen des die
27
Erinnerung begleitenden Affektes, wie das Zappeln mit
allen Gliedern, dessen sich bereits der Säugling bedient, zum
Teil als direkte Ausdrucksbewegungen dieser Erinnerung
deuten, zum anderen Teü entziehen sie sich ebenso wie
die hysterischen Stigmata bei den Dauersymptomen dieser
Erklärung.
Eine besondere Würdigung des hysterischen Anfalles
ergibt sich noch, wenn man auf die vorhin angedeutete Theorie
Rücksicht nimmt, daß bei der Hysterie in hypnoiden Zuständen
entstandene Vorstellungsgruppen vorhanden sind, die, vom
assoziativen Verkehr mit den übrigen ausgeschlossen, aber
unter einander assoziierbar, ein mehr oder minder hoch
organisiertes Rudiment eines zweiten Bewußtseins, einer con-
dition seconde darstellen. Dann entspricht ein hysterisches
Dauersymptom einem Hineinragen dieses zweiten Zustandes
in die sonst vom normalen Bewußtsein beherrschte Körper-
innervati on; ein hysterischer Anfall zeugt aber von einer
höheren Organisation dieses zweiten Zustandes und bedeutet,
wenn er frisch entstanden ist, einen Moment, in dem sich
dieses Hypnoidbewußtsein der gesamten Existenz bemächtigt hat,
also einer akuten Hysterie ; wenn es aber ein wiederkehrender
Anfall ist, der eine Erinnerung enthält, einer "Wiederkehr
eines solchen. Charcot hat bereits den Gedanken aus-
gesprochen, daß der hysterische Anfall das Rudiment einer
condition seconde sein dürfte. Während des Anfalles ist die
Herrschaft über die gesamte Körperinnervation auf das hyp-
noide Bewußtsein übergegangen. Das normale Bewußtsein
ist, wie bekannte Erfahrungen zeigen, dabei nicht immer
völlig verdrängt, es kann selbst die motorischen Phänomene
des Anfalles wahrnehmen, während die psychischen Vorgänge
desselben seiner Kenntnisnahme entgehen.
Der typische Verlauf einer schweren Hysterie ist be-
kanntlich der, daß zunächst in hypnoiden Zuständen ein Ver-
stellungsinhalt gebüdet wird, der dann, genügend angewachsen,
sich während einer Zeit von „akuter Hysterie" der Körper-
innervation und der Existenz des Kranken bemächtigt, Dauer-
symptome und Anfälle schafft und dann bis auf Reste abheilt.
Kann die normale Person die Herrschaft wieder übernehmen.
28
so kehrt das, was von jenem hypnoiden Vorstellungsinhalt
überlebt hat, in hysterischen Anfällen wieder und bringt die
Person zeitweise wieder in ähnliche Zustände, die selbst
wieder beeinflußbar und für Traumen aufnahmsfähig sind.
Es stellt sich dann häufig eine Art von Gleichgewicht zwischen
den psychischen Gruppen her, die in derselben Person ver-
einigt sind ; Anfall und normales Leben gehen neben einander
her, ohne einander zu beeinflussen. Der Anfall kommt dann
spontan, wie auch bei uns die Erinnerungen zu kommen
pflegen, er kann aber auch provoziert werden, wie jede Er-
innerung nach den Gesetzen der Assoziation zu erwecken
ist. Die Provokation des Anfalles erfolgt entweder durch die
Reizung einer hysterogenen Zone oder durch ein neues Er-
lebnis, welches durch Ähnlichkeit an das pathogene Erlebnis
ankhngt. Wir hoffen zeigen zu können, daß zwischen beiden
anscheinend so verschiedenen Bedingungen ein wesentHcher
Unterschied nicht besteht, daß in beiden Fällen an eine hyper-
ästhetische Erinnerung gerührt wird. In anderen Fällen ist
dieses Gleichgewicht ein sehr labiles, der Anfall erscheint
als Äußerung des hypnoiden Bewußtseinsrestes, so oft die
normale Person erschöpft und leistungsunfähig wird. Es ist
nicht von der Hand zu weisen, daß in solchen Fällen auch
der Anfall seiner ursprüngHchen Bedeutung entkleidet als
inhaltslose motorische Reaktion wiederkehren mag.
Es bleibt eine Aufgabe weiterer Untersuchung, welche
Bedingungen dafür maßgebend sind, ob eine hysterische In-
dividuahtät sich in Anfällen, in Dauersymptomen oder in
einem Gemenge von beiden äußert.
V.
Es ist nun verständlich, wieso die hier von uns dar-
gelegte Methode der Psychotherapie heilend wirkt. Sie hebt
die Wirksamkeit der ursprünglich nicht abrea-
gierten Vor Stellung dadurch auf, daß sie dem ein-
geklemmten Affekte derselben den Ablauf durch
die Rede gestattet, und bringt sie zur assozia-
tiven Korrektur, indem sie dieselbe ins normale
Bewußtseinzieht (inleichterHypnose) oder durch
29
ärztliche Suggestion aufhebt, wie es im Somnam-
bulismus mit Amnesie geschieht.
Wir halten den therapeutischen Gewinn bei Anwendung
dieses Verfahrens für einen bedeutenden. Natürlich heüen
wir nicht die Hysterie, soweit sie Disposition ist, wir leisten
ja nichts gegen die Wiederkehr hypnoider Zustände. Auch
während des produktiven Stadiums einer akuten Hysterie kann
unser Verfahi-en nicht verhüten, daß die mühsam beseitigten
Phänomene alsbald durch neue ersetzt werden. Ist aber dieses
akute Stadium abgelaufen und erübrigen noch die Reste des-
selben als hysterische Dauersymptome und Anfälle, so beseitigt
unsere Methode dieselben häufig und für immer, weil radikal,
und scheint uns hierin die Wirksamkeit der direkten sugges-
tiven Aufhebung, wie sie jetzt von den Psychotherapeuten
geübt wird, weit zu übertreffen.
Wenn wir in der Aufdeckung des psychischen Mecha-
nismus hysterischer Phänomene einen Schritt weiter auf der
Bahn gemacht haben, die zuerst Charcot so erfolgreich
mit der Erklärung und experimentellen Nachahmung hystero-
traumatischer Lähmungen betreten hat, so verhehlen wir uns
doch nicht, daß damit eben nur der Mechanismus hysterischer
Symptome und nicht die inneren Ursachen der Hysterie
unserer Kenntnis näher gerückt worden sind. Wir haben die
Ätiologie der Hysterie nur gestreift und eigentlich nur die
Ursachen der acquirierten Formen, die Bedeutung des acciden-
tellen Momentes flir die Neurose beleuchten können.
Wien, Dezember 1892.
III.
Quelques considerations pour une etude
comparative des paralysies motrices or-
ganiques et hysteriques.O
M. Charcot, dont j'ai ete l'eleve en 1885 et 1886, a bien
voulu, ä cette epoque, me confier le soin de faire une etude
comparative des paralysies motrices organiques et hysteriques,
basee sur les observations de la Salpetri^re, qui pourrait ser-
vir ä saisir quelques caract^res generaux de la nevrose et con-
duire ä une conception sur la nature de cette derniere. Des
causes accidentelles et personneUes m'ont empeche pendant
longtemps d'obeir a son Inspiration ; aussi je ne veux apporter
maintenant que quelques resultats de mes reclierclies, lais-
sant ä cöte les details necessaires pour une demonstration com-
plete de mes opinions,
I, — n faudra commencer par quelques remarques sur
les paralysies motrices organiques, d'ailleurs generalement
admises. La clinique nerveuse reconnait deux sortes de para-
lysies motrices, la paralysie periphero-spinale (ou bulbaire) et
la paralysie cerebrale. Cette distinction est parfaitement en
accord avec les donnees de l'anatomie du Systeme nerveux
qui nous montrent qu'il n'y a que deux Segments sur le par-
cours des fibres motrices conductrices, le premier qui va de la
Peripherie jusqu'aux cellules des cornes anterieures dans la
moelle, et le second qui va de lä jusqu'ä l'ecorce cerebrale.
La nouvelle bistologie du Systeme nerveux, fondee sur les
travaux de Golgi, Ramon y Cajal, Kölliker, etc., traduit ce
fait par les mots: „le trajet des fibres de conduction motrices
est constitue par deux neuron (unites nerveuses cellulo-fibrillaires),
1) Archives de Neurologie, No. 77, 1893.
31
qiü se rencontrent poiir entrer en relation au niveau des cellules
dites motrices des cornes anterieures". La difference essentielle
de ces deux sortes de paralysies, en clinique, est la suivante : La
paralysie periphero-spinale est une paralysie detaillee, la paralysie
cerebrale est une paralysie en masse. Le type de la premiere
est la paralysie faciale dans la maladie de Bell, la paralysie
dans la poliomyelite aigue de l'enfance, etc. Or, dans ces
affections, chacque muscle, on pourrait dire chaque fibre mus-
culaire, peut etre paralysee individuellement et isolement. Cela
ne depend que du siege et de l'etendue de la lesion nerveuse,
et il n'y a pas de regle fixe pour que Fun des elements peri-
pheriques echappe a la paralysie, tandis que l'autre en souffre
d'une maniere constante.
La paralysie cerebrale, au contraire, est toujours une
affection qui attaque une grande partie de la peripherie, une
extremite, un segment de celle-ci, un appareil raoteur compliqu6.
Jamais eile n'affecte un muscle individuellement, par exemple
le biceps du bras, le tibial isolement, etc., et s'il y a des excep-
tions apparentes ä cette regle (le ptosis cortical, par exemple),
on voit bien qu'il s'agit de muscles qui, ä eux seuls, remplissent
une fonction de laquelle ils sont l'instrument unique.
Dans les paralysies cerebrales des extremites, on peut
remarquer que les segments peripheriques souffrent toujours
plus que les segments rapproches du centre; la main, par
exemple, est plus paralysee que l'epaule. II n'y a pas, que je
Sache, une paralysie cerebrale isolee de l'epaule, la main
conservant sa motilite, tandis que le contraire est la regle
dans les paralysies qui ne sont pas completes.
Dans une etude critique sur l'aphasie, publiee en 1891,
Zur Auffassung der Aphasien, Wien, 1891, j'ai täcbe de montrer
que la cause de cette difference importante entre la paralysie
periphero-spinale et la paralysie cerebrale doit etre cherchee
dans la structure du Systeme nerveux. Chaque element de la
Peripherie correspond ä un element dans l'axe gris, qui est,
comme le dit M. Charcot, son aboutissant nerveux; la peri-
pherie est pour ainsi dire projetee sur la substance grise de
la moelle, point pour point, element pour element. J'ai propose
de denommer la paralysie detaillee periphero-spinale, paralysie
32
de prqjection. Mais il n'en est pas de meme pour les relations
entre les elements de la moelle et ceux de l'ecorce. Le nombre
des fibres conductrices ne suffirait plus pour donner une
seconde projection de la peripberie sur l'ecorce. II faut sup-
poser que les fibres qui vont de la moelle ä l'ecorce ne repre-
sentent plus cbacune un seul element peripberique, mais plu-
töt un groupe de ceux-ci et que meme, d'autre part, un
element peripberique peut correspondre a plusieurs fibres con-
ductrices spino-corticales. C'est qu'il y a un cbangement
d'arrangement qui a eu Heu au point de connexion entre les
deux Segments du Systeme moteur.
Alors, je dis la reproduction de la peripberie dans
l'ecorce n'est plus une reproduction fidele point par point,
n'est plus une projection veritable; c'est une relation par
des fibres, pour ainsi dire representatives et je propose,
pour la paralysie cerebrale, le nom de paralysie de representation.
Naturellement, quand la paralysie de projection est
totale et d'une grande etendue, eile est aussi une paralysie
en masse, et son grand caractere distinctif est efface. D'autre
part, la paralysie corticale, qui se distingue parmi les para-
lysies cerebrales par sa plus grande aptitude ä la dissocia-
tion, presente cependant toujours le caractere d'une paralysie
par representation.
Les autres differences entre les paralysies de projection
et de representation sont bien connues; je cite parmi elles
l'integrite de la nutrition et de la reaction electrique qui se
rattacbe ä la demiere. Bien que tr^s importants dans la
clinique, ces signes n'ont pas la portee tbeorique qu'il faut
attribuer au premier caractere differentiel que nous avons
releve, ä savoir: paralysie detaiUee ou en masse.
On a assez souvent attribue ä l'bysterie la faculte de
simuler les affections nerveuses organiques les plus diverses.
II s'agit de savoir si d'une facon plus precise eile simule les
caracteres des deux sortes de paralysies organiques, s'il j a
des paralysies bysteriques de projection et des paralysies
bysteriques de representation, comme dans la Symptomatologie
organique. Ici, un premier fait important se detacbe : l'bysterie
ne simule jamais les paralysies peripbero-spinales ou de pro-
33
jection; les paralysies hysteriques partagent seulement les
caracteres des paralysies organiques de representation. C'est
lä Uli fait bien interessant, puisque la paralysie de Bell, la
paralysie radiale, etc., sont parmi les affections les plus com-
munes du Systeme nerveux.
H est bon de faire observer ici, de maniere ä eviter
toute confusion, quejene traite que de la paralysie hysterique
flasque et non de la contracture hysterique. II me parait im-
possible de soumettre la paralysie et la contracture hysteriques
aux memes regles. Ce n'est que des paralysies hysteriques
flasques qu'on peut soutenir qu'elles n'affectent jamais un seul
muscle, excepte le cas oü ce muscle est l'instrument unique
d'une fonction, qu'elles sont toujours des paralysies en masse,
et qu'elles correspondent sous ce rapport ä la paralysie de
representation, ou cerebrale organique. En outre, en ce qui
concerne la nutrition des parties paralysees et leurs reactions
electriques, la paralysie hysterique presente les memes carac-
teres que la paralysie cerebrale organique.
Si la paralysie hysterique se rattache ainsi a la paralysie
cerebrale et particulierement ä la paralysie corticale, qui pre-
sente une plus grande facilite de dissociation, eile ne manque
pas de s'en distinguer par des caracteres importants. D'abord
eUe n'est pas soumise ä cette rögle, constante dans les paraly-
sies cerebrales organiques, ä savoir que le segment periphe-
rique est toujours plus affecte que le segment central. Dans
l'hysterie, l'epaule ou la cuisse peuvent etre plus paralysees
que la main ou le pied. Les mouvements peuvent venir dans
les doigts tandis que le segment central est encore absolument
inerte. On n'a pas la moindre difficulte de produire artificiel-
lement une paralysie isolee de la cuisse, de la jambe etc., et
on peut assez souvent retrouver, en cHnique, ces paralysies
isolees, en contradiction avec les regles de la paralysie orga-
nique cerebrale.
Sous ce rapport important, la paralysie hysterique est pour
ainsi dire intermediaire entre la paralysie de projection et la
paralysie de representation organique. Si eile ne possede pas
tous les caracteres de dissociation et d'isolement propres ä la
premiere, eile n'est pas, tant s'en faut, sujette aux strictes
Frend, Neuioaonlehre. 3
34
lois qui regissent la derniere, la paralysie cerebrale. Ces res-
trictions faites, on peut soutenir que la paralysie hysterique
est aussi une paralysie de representation, raais d'une repre-
sentation speciale dont la caracteristique reste ä trouver ^).
II. — Pour avancer dans cette direction je me propose
d'etudier les autres traits distinctifs entre la paralysie hyste-
rique et la paralysie corticale, type le plus parfait de la para-
lysie cerebrale organique. Le premier de ces caracteres dis-
tinctifs, nous l'avons dejä mentionne, c'est que la paralysie
bysterique, peut etre beaucoup plus dissociee, systematisee
que la paralysie cerebrale. Les symptömes de la paralysie orga-
nique se retrouvent comme morceles dans l'liysterie. De l'hemi-
plegie commune organique (paralysie des membres superieur
et inferieur et du facial inferieur) l'liysterie ne reproduit que
la paralysie des membres et dissocie meme assez souvent, et
avec la plus grande facilite, la paralysie du bras de celle de
la Jambe sous forme de monoplegies. Du Syndrome de l'aphasie
organique, eUe reproduit l'aphasie motrice a l'etat d'isole-
ment, et ce qui est cbose inouie dans l'aphasie organique, eile
peut creer une aphasie totale (motrice et sensitive) pour teUe
langue, sans attaquer le moins du monde la faculte de com-
prendre et d'articuler teile autre, comme je Tai observe dans
quelques cas inedits. Ce meme pouvoir de dissociation se ma-
nifeste dans les paralysies isolees d'un segment de membre
avec integrite complete des autres parties du meme membre,
ou encore dans l'abolition complete d'une fonction (abasie,
astasie) avec integrite d'une autre fonction executee par les
memes organes. Cette dissociation est d'autant plus frappante,
1) Chemin faisant, je ferai remarquer que ce caractere impoi-tant de
la paralysie hysterique de la jambe que M. Charcot a releve d'apres Todd,
ä savoir que l'hysterique traine la jambe comme une masse morte au
lieu d'executer la circumduction avec la hancbe que fait l'hemiplegique
ordinaire, s'explique facilement par la propriete de la nevrose que j'ai
mentionne. Pour l'bemiplegie organique, le partie centrale de l'extremite
est toujours un peu indemne, le malade peut remuer la hanche et il en
fait usage pour ce mouvement de circumduction, qui fait avancer la
jambe. Dans l'hysterie, la partie centrale (la lianche) ne jouit pas de ce
privilege, la paralysie y est aussi complete que dans la partie periphe-
riqvie et en consequence, la jambe doit etre trainee en masse.
35
quand la fonction respectee est la plus complexe. Dans la Symp-
tomatologie organiqiie, quand il y a affaiblissement inegal de
plusieurs fonctions, c'est toujours la fonction la plus complexe,
Celle d'une acquisition posterieure, qui est la plus atteinte en
consequence de la paralysie.
La paralysie hysterique presente de plus un autre carac-
tere qui est comme la signature de la nevrose et qui vient
s'aj outer au premier. En effet, comme je l'ai entendu dire ä
M. Charcot, l'hysterie est une maladie ä manifestations exces-
sives, ayant une tendance ä produire ses symptömes avec la
plus grande intensite possible. C'est un caractere qui ne se
montre pas seulement dans les paralysies, mais aussi d^ns les
contractures et les anesthesies, On sait jusqu'ä quel degre de
distorsion peuvent aller les contractures hysteriques, qui sont
presque sans egales dans la Symptomatologie organique. On
sait aussi combien sont frequentes dans l'hysterie les anesthe-
sies absolues, profondes, dont les lesions organiques ne peu-
vent reproduire qu'une faible esquisse. H en est de meme pour
les paralysies. EUes sont souvent on ne peut plus absolues;
l'aphasique ne profere pas un mot, tandis que l'aphasique
organique garde presque toujours quelques syllabes, le „oui
et non", un jm^on, etc.; le bras paralyse est absolument
inerte, etc. Ce caractere est trop bien connu pour y persister
longuement. Au contraire, on sait que, dans la paralysie orga-
nique, la paresie est toujours plus frequente que la paralysie
absolue.
La paralysie hysterique est donc d'une Umitaüon exade et
d'une intensite excessive; eile possede ces deux quahtes ä la
fois et c'est en cela qu'elle contraste le plus avec la paralysie
cerebrale organique, dans laquelle, d'une maniere constante,
ces deux caracteres ne s'associent pas. II existe aussi des mono-
plegies dans la Symptomatologie organique, mais celles-ci sont
presque toujours des monoplegies a potiori et non exactement
deümitees. Si le bras se trouve paralyse en consequence d'une
lesion corticale organique, il y a presque toujours aussi atteinte
concomitante moindre du facial et de la jambe, et si cette
complication ne se voit plus ä un moment donne, eile a cepen-
dant bien existe au commencement de l'affection. La mono-
3*
36
plegie corticale est, ä vrai dire, toujours une hemiplegie dont
teile ou teile partie est plus ou moins effacee, mais toujours
reconnaissable. Pour aller plus loin, supposons que la para-
lysie n'ait affecte aucune autre partie que le bras, que ce
soit une monoplegie corticale pure ; alors on voit que la para-
lysie est d'une intensite moderee. Aussitot que cette monople-
gie augmentera en intensite, qu'elle deviendra une paralysie
absolue, eile perdra son caractere de monoplegie pure et s'ac-
compagnera de troubles moteiirs dans la jambe ou la face.
Elle ne peut pas devenir absolue et restee delimitee ä la fois.
C'est ce que la paralysie bysterique peut, au contraire,
fort bien realiser, comme la clinique le montre chaque jour.
Elle affecte par exemple le bras d'une fa9on exclusive, on
n'en trouve pas trace dans la jambe ou la face. De plus, au
niveau du bras, eUe est aussi forte qu'une paralysie peut l'ötre,
et c'est lä une difference frappante avec la paralysie organique,
difference qui prete grandement ä penser.
Naturellement, il y a des cas de paralysie hysterique
dans lesquels l'intensite n'est pas excessive et oü la dissociation
n'offre rien de remarquable. Ceux-ci, on les reconnait au moyen
d'autres caracteres; mais ce sont des cas qui ne portent pas
l'empreinte typique de la nevrose et qui, ne pouvant en rien
nous renseigner sur sa nature ne presentent point d'inter6t au
point de vue qui nous occupe ici.
Ajoutons quelques remarques d'une importance secondaire,
qui meme depassent un peu les limites de notre sujet.
Je constaterai d'abord que les paralysies hysteriques
s'accompagnent beaucoup plus souvent de troubles de la sen-
sibilite que les paralysies organiques. En general, ceux-ci sont
plus profonds et plus frequents dans la nevrose que dans la
Symptomatologie organique. Rien de plus commun que
l'anesthesie ou l'analgesie hysterique. Qu'on se rappelle par
contre avec quelle tenacite la sensibilite persiste en cas de lesion
nerveuse. Si l'on sectionne un nerf peripherique, l'anesthesie
sera moindre en etendue et intensite qu'on ne s'y attend. Si une
lesion inflammatoire attaque les nerfs spinaux ou les centres
de la moelle, on trouvera toujours que la motüite souffre en
premier lieu et que la sensibilite est epargnee ou seulement
37
affaiblie, car il persiste toujours quelque part des elements
nerveux qui ne sont pas completement detruits. En cas de
lesion cerebrale, on connait la frequence et la duree de rhemi-
plegie motrice, tandis que rhemianesthesie concomitante est
indistincte, fugace et ne se trouve pas dans tous les cas,
II n'y a que quelques localisations tout a fait speciales qui
puissent produire une affection de la sensibilite intense et
durable (carrefour sensitif), et meme ce fait n'est pas exempt
de doutes.
Cette maniere d'etre de la sensibilite, differente dans les
lesions organiques et dans l'kysterie, n'est gu^re explicable
aujourd'hui. II semble qu'il y ait la un probl^me dont la
Solution nous renseignerait peut-etre sur la nature intime
des choses.
Un autre point qui me parait digne d'etre releve, c'est
qu'il y a quelques formes de paralysie cerebrale qui ne se
trouvent pas reaüsees dans l'hysterie, pas plus que les paralysies
peripbero-spinales de projection. H faut citter en premier Heu
la paralysie du facial inferieur, la manifestation la plus frequente
d'une affection organique du cerveau et, si je me permets de
passer dans les paralysies sensorielles pour un moment, l'he-
mianopsie laterale homonyme. Je sais que c'est presque une
gageure que de vouloir affirmer que tel ou tel Symptome ne
se trouve pas dans l'hysterie, quand les recherches de M. Char-
cot et de ses eleves y decouvrent, on pourrait dire joumeUe-
ment, des symptomes nouveaux qu'on n'avait point soupconnes
jusque-lä. Mais il me faut prendre les choses comme elles sont
actuellement. La paralysie faciale hysterique est fortement
contestee par M. Charcct et meme, si on croit ceux qui en
sont partisans, c'est un phenom^ne d'une grande rarete. L'he-
mianopsie n'a pas encore ete vue dans l'hysterie et, je pense,
eile ne le sera jamais.
Maintenant, d'oü vient-il que les paralysies hysteriques,
tout en Simulant de pr^s les paralysies corticales, s'en ecartent
par les traits distinctifs que j'ai tache d'enumeer, et quel est
le caractere general de la representation speciale auquel il
faut les rattacher? La reponse ä cette question contiendrait
une bonne et importante partie de la theorie de la nevrose.
38
m. — n n'y a pas le moindre doute sur les conditions
qiii dominent la Symptomatologie de la paralysie cerebrale. Ce
sont les faits de l'anatomie, la construction du system.e ner-
veux, la distribution de ses vaisseaux et la relation entre ces
deux series de faits et les circonstances de la lesion. Nous
avons dit que le nom.bre moindre des fibres qui vont de la
moelle au cortex en comparaison avec le nombre des fibres
qui vont de la peripherie ä la moelle, est la base de la
difference entre la paralysie de projection et celle de repre-
sentation. De meme, chaque detail clinique de la paralysie
de representation peut trouver son explication dans un detail
de la structure cerebrale et vice versa nous pouvons deduire
la construction du cerveau des caracteres clinique des para-
lysies. Nous croyons a un parallelisme parfait entre ces deux
series.
Ainsi s'il n'y a pas une grande facilite de dissociation
pour la paralysie cerebrale commune, c'est parce que les
fibres de conduction motrices sont trop rapprochees sur une
longue partie de leur trajet intracerebral pour etre lesees
isolement. Si la paralysie corticale montre plus de tendance
aux monoplegies, c'st parce que le diametre du faisceau con-
ducteur brachial, crural, etc., va en croissant jusqu'ä l'ecorce.
Si de toutes les paralysies corticales celle de la main est la
plus compl^te, cela vient, croyons-nous, du fait, que la rela-
tion croisee entre Fhemisphere et la peripherie est plus ex-
clusive pour la main que pour toute autre partie du corps.
Si le Segment peripherique d'une extremite soufire plus de
la paralysie que le segment central, nous supposons que les
fibres repräsentatives du segment peripherique sont beaucoup
plus nombreuses que Celles du segment central, de sorte que
l'influence corticale devient plus importante pour le premier
qu'elle n'est pour le dernier. Si les lesions un peu etendues
de l'ecorce ne reussissent pas ä produire des monoplegies
pures, nous en concluons que les centres moteurs sur l'ecorce
ne sont pas nettement separes les uns des autres par des
territoires neutres, ou qu'il y a des actions en distance (Fern-
wirkungen) qui annuleraient l'efiet d'une Separation exacte
des centres.
39
De meme s'il j a dans l'aphasie organique, toujours un
melange de troubles de diverses fonctions, ca s'explique par
le fait que des branches de la meme artere nomTissent tous
les centres du langage, ou si Fön accepte l'opinion enoncee
dans moii etude critique sur l'apliasie, parce qu'il ne s'agit
pas de centres separes, mais d'un territoire continu d'association.
En tout cas, ü existe toujours une raison tiree de l'anatomie.
Les associations remarquables qu'on observe si souvent
dans la clinique des paralysies corticales: apbasie motrice et
hemiplegie droite, alexie et liemianopsie droite, s'expliquent
par le voisinage des centres leses. L'hemianopsie meme, Symp-
tome bien curieux et etranger ä l'esprit non scientifique, ne
se comprend que par l'entre-croisement des fibres du nerf
optique dans le chiasma; eile en est l'expression clinique,
comme tous les details des paralysies cerebrales sont l'expres-
sion clinique d'un fait anatomique.
Comme il ne peut y avoir qu'une seule anatomie cere-
brale qui soit la vraie et comme eile trouve son expression
dans les caracteres cliniques des paralysies cerebrales, il est
evidemment impossible que cette anatomie puisse expliquer
les traits distinctifs de la paralysie hysterique. Pour cette
raison, il n'est pas permis de tirer au sujet de l'anatomie
cerebrale des conclusions basees sur la Symptomatologie de
ces paralysies.
Assurement il faut s'adresser ä la nature de la lesion
pour obtenir cette explication difficile. Dans les paralysies
organiques, la nature de la lesion joue un röle secondaire, ce
sont plutot l'etendue et la localisation de la lesion, qui dans
les conditions donnees de structure du Systeme nerveux pro-
duisent les caracteres de la paralysie organique, que nous
avons releves. Quelle pourrait etre la nature de la lesion dans
la paralysie hysterique, qui ä eile seule domine la Situation,
independamment de la localisation, de l'etendue de la lesion
et de l'anatomie du Systeme nerveux?
M. Cbarcot nous a enseigne assez souvent que c'est
une lesion corticale mais purement dynamique ou fonctionnelle.
C'est une tliese dont on comprend bien le cöte negatif.
Cela equivaut ä affirmer qu'on ne trouvera pas de change-
40
ments de tissus appreciables ä l'autopsie; mais ä un point
de vue plus positif, son Interpretation est loin d'etre a l'abri
de l'equivoque. Qu'est-ce donc qu'une lesion dynamique? Je
suis bien sür que beaucoup de ceux qui lisent les ceuvres de
M. Charcot, croient que la lesion dynamique est bien une
lesion, mais une lesion dont on ne retrouve pas la trace dans
le cadavre, comme un oedeme, une anemie, une byperemie
active. Mais ce sont la, bien qu'elles ne persistent pas ne-
cessairement apres la mort, des lesions organiques vraies,
qu'elles soient legeres et fugaces. II est necessaire que les
paralysies produites par les lesions de cet ordre, partagent
en tout les caracteres de la paralysie organique. L'oedeme,
l'anemie ne pourraient, plutöt que l'hemorragie et le ramol-
lissement, produire la dissociation et l'intensite des paralysies
hysteriques. La seule difference serait que la paralysie par
l'cedeme, par la constriction vasculaire etc., doit etre moins
durable que la paralysie par destruction du tissu nerveux.
Toutes les autres conditions leur sont communes et l'anatomie
du Systeme nerveux determinera les propietes de la paralysie
aussi bien dans le cas d'anemie fugace que dans le cas d' ane-
mie permanente et definitive.
Je ne crois pas que ces remarques soient tout a fait
gratuites. Si on üt „qu'il doit y avoir une lesion hysterique'^
dans tel ou tel centre, le meme dont la lesion organique
produirait le Syndrome organique correspondant, si l'on se
souvient qu'on s'est babitue ä localiser la lesion hysterique
dynamique de meme maniere que la lesion organique, on est
porte ä croire que sous l'expression „lesion dynamique" se
cacbe l'idee d'une lesion comme l'oedeme, l'anemie, qui, en
verite, sont des affections organiques passag^res. J'affirme
par contre que la lesion des paralysies bysteriques doit etre
tout ä fait independante de l'anatomie du Systeme nerveux,
puisque VhysUrie se comporte dans ses paralysies et autres mani-
festations comme si l'anatomie nexistait pas, ou comme si eile
n'en avait nulle connaissance.
Un bon nombre des caracteres des paralysies bysteriques
justifient en verite cette affirmation. L'hysterie est ignorante
de la distribution des nerfs et c'est pour cette raison qu'elle
41
ne simule pas les paralysies periphero-spinales ou de pro-
jection; eile ne connait pas le chiasma des nerfs optiques
et consequeimnent eile ne produit pas l'hemaniopsie. Elle
prend les organes dans le sens vulgaire, populaire du nom
qu'ils portent: la jambe est la jambe jusqu'a l'insertion de
la banclie, le bras est l'extremite superieure comme eile se
dessine sous les vetements. II n'y a pas de raison pour
joindre a la paralysie du bras la paralysie de la face. L'hyste-
rique qui ne sait pas parier n'a pas de motif pour oublier
l'intelligence du langage, puisque aphasie motrice et surdite
verbale n'ont aucune parente dans la notion populaire, etc.
Je ne peux que m'associer pleinement sur ce point aux vues
que M. Janet a avancees dans les derniers numeros des
Ärchives de Neurologie; les paralysies hysteriques en donnent
la preuve aussi bien que les anesthesies et les symptomes
psyciiiques.
IV. — Je tächerai enfin de developper comment pourrait
üre la lesion qui est la cause des paralysies hysteriques. Je
ne dis pas que je montrerai comment eile est en fait; il s'agit
seulement d'indiquer la ligne de pensee qui peut conduire
ä une conception qui ne contredit pas aux proprietes de la
paralysie hysterique, en tant qu'elle diff^re de la paralysie
organique cerebrale.
Je prendrai le mot „lesion fonctionneUe ou dynamique"
dans son sens propre: „alteration de fonction ou de dyna-
misme" ; alteration d'une propriete fonctionneUe. Une teile
alteration serait par exemple une diminution de l'excitabilite
ou d'une qualite physiologique qui dans l'etat normal reste
constante ou varie dans des limites determinees.
Mais dira-t-on, l'alteration fonctionneUe n'est pas autre
cbose, eUe n'est qu'un autre cote de l'alteration organique.
Supposons que le tissu nerveux seit dans un etat d'anemie
passagere, son excitabiUte sera diminuee par cette circon-
stance, ü n'est pas possible d'eviter d'envisager les lesions
organiques par ce moyen.
J'essaierai de montrer qu'il peut y avoir alteration
fonctionneUe sans lesion organique concomitante, sans lesion
grossiere palpable du moins, meme au moyen de l'analyse
42
la plus delicate. En d'autres termes, je donnerai mi exemple
approprie d'une alteration de fonction primitive; je ne de-
mande pour cela que la permission de passer sur le terrain
de la Psychologie, qu'on ne saurait eviter quand ou traite
de l'hysterie.
Je dis avec M. Janet, que c'est la conception banale,
populaire des organes et du corps en general, qui est en
jeu dans les paralysies hysteriques comme dans les anesthe-
sies, etc. Cette conception n'est pas fondee sur une connais-
sance approfondie de l'anatomie nerveuse mais sur nos per-
ceptions tactiles et surtout visuelles. Si eile determine les
caracteres de la paralysie hysterique, celle-lä doit bien se
montrer ignorante et independante de toute notion de l'ana-
tomie du Systeme nerveux. La lesion de la paralysie hyste-
xique sera donc une alteration de la conception, de l'idee de
bras, par exemple. Mais de quelle sorte est cette alteration
pour produire la paralysie?
Consideree psychologiquement, la paralysie du bras
consiste dans le fait que la conception du bras ne peut pas
entrer en association avec les autres idees qui constituent
le moi dont le corps de l'individu forme une partie impor-
tante. La lesion serait donc Vabolition de V accessibiUte associaüve
de la conception du hras. Le bras se comporte comme s'il
n'existait pas pour le jeu des associations. Assurement si
les conditions materielles, qui correspondent ä la conception
du bras, se trouvent profondement alterees, cette conception
sera perdue aussi, mai j'ai ä montrer qu'elle peut etre inac-
cessible sans qu'elle soit detruite et sans que son substratum
materiel (le tissu nerveux de la region correspondante de
l'ecorce) soit endommage.
Je commencerai par des exemples tires de la vie sociale.
On raconte l'histoire comique d'un sujet loyal qui ne voulut plus
laver sa main, parce que son souverain l'avait touckee. La
relation de cette main avec l'idee du roi semble si importante
ä la vie psycliique de l'individu, qu'il se refuse ä faire entrer
cette main en d'autres relations. Nous obeissons ä la meme
impulsion si nous cassons le verre dans lequel nous avons bu
a la sante de jeunes maries; les anciennes tribus sauvages
43
brülant le cheval, les armes et m§me le femmes du chef
mort, avec son cada^rre, obeissaient ä cette idee que nul ne
devait plus le toucher apres lui. Le motif de toutes ces
actions est bien clair. La valeui' affective que nous attribuons
ä la premiere associatioii d'un objet repugne ä la faire entrer
en association nouvelle avec un autre objet et par suite reiid
l'idee de cet objet inaccessible e l'association.
Ce ii'est pas une simple comparaison, c'est presque la chose
identique, si nous passons dans le domaine de la psychologie
des conceptions. Si la conception du bras se trouve engagee
dans une association d'une grande valeur affective, eile sera
inaccessible au jeu libre des autres associations. Le bras sera
paralyse en ijroimrüon de la persistance de cette valeur affective
ou de sa dimmution par des moyens psycMques appropries. C'est
la Solution du probleme que nous avons pose, car, dans
tous le cas de paralysie hysterique, on trouve que Vorgane
paralyse ou la fonction aholie est engage dans une association
suhconsciente qui est munie d'une grande valeur affective, et Von
peut montrer que le hras devient lihre aussitöt que cette valeur
affective est effacee. Alors la conception du bras existe dans le
substratum materiel, mais eile n'est pas accessible aux asso-
ciations et impulsions conscientes parce que tout son affinite
associative, pour ainsi dire, est saturee dans une association
subconsciente avec le souvenir de l'evenement, du trauma, qui
a produit cette paralysie.
C'est M. Charcot qui nous a enseigne le premier qu'il
faut s'adresser ä la psychologie pour l'explication de la nevrose
bysterique. Nous avons suivi son exemple, Breuer et moi, dans
un memoire preliminaire (Über den psycliisclien Mechanismus
liysterisclier Phänomene, Neurolog. Centralblatt, Nr. 1 und 2, 1893).
Nous demontrons dans ce memoire que les symptomes
permanents de l'hysterie dite non traumatique s'expliquent
(ä part les stigmates) par le meme mecanisme que Charcot a
reconnu dans les paralysies traumatiques. Mais nous donnons
aussi la raison pour laquelle ces symptomes persistent et
peuvent etre gueris par un procede special de psychotberapie
hypnotique. Chaque evenement, cliaque Impression psychique
est munie d'une certaine valeur affective (Affectbetrag), dont
44
le moi se delivre ou par la voie de reaction motrice ou par un
travail psycliique associatif. Si l'individu ne peut ou ne veut
s'acqiütter du surcroit, le souvenir de cette impression acquiert
rimportance d'un trauma et devient la cause de symptomes
permanents d'hysterie. L'impossibilite de l'eHmination s'im-
pose quand l'impression reste dans le subconscient. Nous avons
appele cette theorie: Das Abreagieren der Beissuwächse.
En resume, je pense qu'il est bien en accord avec notre
vue generale sur l'hysterie, teile que nous l'avons pu former
d'apres l'enseignement de M. Charcot, que la lesion dans les
paralysies hysteriques ne consiste pas en autre chose que dans
l'inaccessibilite de la conception de l'organe ou de la fonction
pour les associations du moi conscient, que cette alteration
purement fonctionneUe (avec integrite de la conception meme)
est caussee par la fixation de cette conception dans une asso-
ciation subconsciente avec le souvenir du trauma et que cette
conception ne devient pas libre et accessible tant que la valeur
affective du trauma psycliique n'a pas ete eliminee par la
reaction motrice adequate ou par le travail psycliique conscient.
Mais meme si ce mecanisme n'a pas Heu, s'il faut pour la
paralysie bysterique toujours ime idee autosuggestive directe
comme dans les cas traumatiques de M. Cbarcot, nous avons
reussi ä montrer de quelle nature la lesion ou plutot 1' alteration
dans la paralysie bysterique devrait etre, pour expliquer ses
differences avec la paralysie organique cerebrale.
IV.
Die Abwehr-Neuro-psychosen. 0
Versuch einer psychologischen Theorie der acquirierten
Hysterie, vieler Phobien und Zwangsvorstellungen und
gewisser halluzinatorischer Psychosen.
Bei eingehendem Studium mehrerer mit Phobien und
Zwangsvorstellungen behafteter Nervöser hat sich mir ein
Erklärungsversuch dieser Symptome aufgedrängt, der mir
dann gestattete, die Herkunft solcher krankhafter Vor-
stellungen in neuen, anderen Fällen glücklich zu erraten,
und den ich darum der Mitteilung und weiteren Prüfung
würdig erachte. Gleichzeitig mit dieser „psychologischen
Theorie der Phobien und Zwangsvorstellungen"
ergab sich aus der Beobachtung der Kranken ein Beitrag
zur Theorie der Hysterie oder vielmehr eine Abänderung
derselben, welche einem wichtigen, der Hysterie wie den
genannten Neurosen gemeinsamen Charakter Rechnung zu
tragen scheint. Femer hatte ich Gelegenheit, in den psycho-
logischenMechanismuseinerFormvon unzweifelhaft psychischer
Erkrankung Einsicht zu nehmen, und fand dabei, daß die von
mir versuchte Betrachtungsweise eine einsichtliche Verknüpfung
zwischen diesen Psychosen und den beiden angeführten Neu-
rosen herstellt. Eine Hilfshypothese, deren ich mich in allen
drei Fällen bedient habe, werde ich zum Schlüsse dieses Auf-
satzes hervorheben.
I.
Ich beginne mit jener Abänderung, die mir an der
Theorie der hysterischen Neurose erforderlich scheint:
Daß der Symptomkomplex der Hysterie, soweit er bis
jetzt ein Verständnis zuläßt, die Annahme einer Spaltung des
Bewußtseins mit Bildung separater psychischer Gruppen recht-
1) „Neurologisches Centralblatt", 1894, Nr. 10 u. 11.
46
fertigt, dürfte seit den schönen Arbeiten von P. Jan et,
J. Breuer u. A. bereits zur allgemeinen Anerkennung ge-
langt sein. Weniger geklärt sind die Meinungen über die Her-
kunft dieser Bewußtseinsspaltung und über die Rolle, welcbe
dieser Charakter im Gefüge der hysterischen Neurose spielt.
Nach der Lehre von Janet^) ist die Bewußtseinsspaltung
ein primärer Zug der hysterischen Veränderung. Sie beruht
auf einer angeborenen Schwäche der Fähigkeit zur psychischen
Synthese, auf der Enge des „Bewußtseinsfeldes" (champ du
conscience), welche als psychisches Stigma die Degeneration
der hysterischen Individuen bezeugt.
Im Gegensatz zur Anschauung Janet's, welche mir die
mannigfaltigsten Einwände zuzulassen scheint, steht jene, die
J. Breuer in unserer gemeinsamen Mitteilung^) vertreten hat.
Nach Breuer ist „Grundlage und Bedingung" der Hysterie
das Vorkommen von eigentümlichen traumartigen Bewußt-
seinszuständen mit eingeschränkter Assoziationsfähigkeit, für
welche er den Namen „hypnoide Zustände" vorschlägt. Die
Bewußtseinsspaltung ist dann eine sekundäre, erworbene ;
sie kommt dadurch zustande, daß die in hypnoiden Zuständen
aufgetauchten Vorstellungen vom assoziativen Verkehr mit
dem übrigen Bewußtseinsinhalt abgeschnitten sind.
Ich kann nun den Nachweis zweier weiterer extremer
Formen von Hysterie erbringen, bei welchen die Bewußtseins-
spaltung unmöglich als eine primäre im Sinne von Jan et
gedeutet werden kann. Bei der ersteren dieser Formen gelang
es mir wiederholt, zu zeigen, daß die Spaltung des Be-
wußtseinsinhaltes die Folge eines Willens akt es
des Kranken ist, das heißt durch eine Willensanstrengung
eingeleitet wird, deren Motiv man angeben kann. Ich behaupte
damit natürlich nicht, daß der Kranke eine Spaltung seines
Bewußtseins herbeizuführen beabsichtigt; die Absicht des
Kranken ist eine andere, sie erreicht aber nicht ihr Ziel,
sondern ruft eine Spaltung des Bewußtseins hervor.
1) Etat mental des hysteriques. Paris 1893 und 1894. — Quelques
definitions recentes de l'hysterie. Arch. de Neurol. 1893. XXXV— VI.
") Über den psycliischen Mechanismus hysterischer Phänomene.
Dieses Centralblatt, 1893, Nr. 1 u. 2.
47
Bei der dritten Form der Hysterie, die wir durch psychische
Analyse von intelligenten Kranken erwiesen haben, spielt die
Bewußtseinsspaltung nur eine geringfügige, vielleicht über-
haupt keine Rolle. Es sind dies jene Fälle, in denen bloß die
Reaktion auf traumatische Reize unterblieben ist, die dann
auch durch „Abreagieren"^) erledigt und geheut werden, die
reinen Retentionshysterien.
Für die Anknüpfung an die Phobien und Zwangsvor-
stellungen habe ich es hier nur mit der zweiten Form der
Hysterie zu tun, die ich aus bald ersichtlichen Gründen als
Abwehrhysterie bezeichnen und durch diesen Namen von
den Hypnoid- und Retentionshysterien sondern will.
Ich kann meine Fälle von Abwehrhysterie auch vorläufig als
„acquirierte" Hysterie aufführen, weü bei ihnen weder von
schwerer hereditärer Belastung, noch von eigener degenerativer
Verkümmerung die Rede war.
Bei den von mir analysierten Patienten hatte nämlich
psychische Gesundheit bis zu dem Moment bestanden, in dem
ein Fall von Unverträglichkeit in ihrem Yor-
stellungsleben vorfiel, d. h. bis ein Erlebnis, eine
YorsteUung, Empfindung an ihr Ich herantrat, welches einen
so peinlichen Affekt erweckte, daß die Person beschloß, daran
zu vergessen, weil sie sich nicht die Kraft zutraute, den
Widerspruch dieser unverträglichen YorsteUung mit ihrem Ich
durch Denkarbeit zu lösen.
Solche unverträgliche YorsteUungen erwachsen bei weib-
lichen Personen zumeist auf dem Boden des sexualen Erlebens
und Empfindens, und die Erkrankten erinnern sich auch mit
aller wünschenswerten Bestimmtheit ihrer Bemühungen zur
Abwehr, ihrer Absicht, das Ding „fortzuschieben", nicht daran
zu denken, es zu unterdrücken. Hierher gehörige Beispiele
aus meiner Erfahrung, deren Anzahl ich mühelos vermehren
könnte, sind etwa : Der Fall eines jungen Mädchens, welches
es sich verübelt, während der Pflege ihres kranken Yaters
an den jungen Mann zu denken, der ihr einen leisen erotischen
Eindruck gemacht hat ; der Fall einer Erzieherin, die sich in
0 ^g^- unsere gemeinsame Mitteilung.
48
ihren Herrn verliebt hatte, und die beschloß, sich diese Neigung
aus dem Sinn zu schlagen, weil sie ihr mit ihrem Stolze un-
verträglich schien u. dgl. m.^)
Ich kann nun nicht behaupten, daß die Willensanstrengung,
etwas derartiges aus seinen Gedanken zu drängen, ein patho-
logischer Akt ist, auch weiß ich nicht zu sagen, ob und auf
welche "Weise das beabsichtigte Vergessen jenen Personen
gelingt, welche unter denselben psychischen Einwirkungen
gesund bleiben. Ich weiß nur, daß ein solches „Vergessen"
den von mir analysierten Patienten nicht gelungen ist, sondern
zu verschiedenen pathologischen Reaktionen geführt hat, die
entweder eine Hysterie, oder eine Zwangsvorstellung, oder eine
halluzinatorische Psychose erzeugten. In der Fähigkeit, durch
jene Willensanstrengung einen dieser Zustände hervorzurufen,
die sämtlich mit Bewußtseinsspaltung verbunden sind, ist
der Ausdruck einer pathologischen Disposition zu sehen, die
aber nicht notwendig mit persönlicher oder hereditärer „De-
generation" identisch zu sein braucht.
Über den Weg, der von der Willensanstrengung des
Patienten bis zur Entstehung des neurotischen Symptoms
führt, habe ich mir eine Meinung gebildet, die sich in den
gebräuchlichen psychologischen Abstraktionen etwa so aus-
drücken läßt: Die Aufgabe, welche sich das abwehrende Ich
stellt, die unverträgliche Vorstellung als „non arrivee" zu
behandeln, ist für dasselbe direkt unlösbar; sowohl die Ge-
dächtnisspur als auch der der Vorstellung anhaftende Affekt
sind einmal da und nicht mehr auszutilgen. Es kommt aber
einer ungefähren Lösung dieser Aufgabe gleich, wenn es
gelingt, aus dieser starken Vorstellung eine schwache
zu machen, ihr den Affekt, die Erregungssumme, mit der
sie behaftet ist, zu entreißen. Die schwache Vorstellung wird
dann so gut wie keine Ansprüche an die Assoziationsarbeit
zu stellen haben ; die von ihr abgetrennte Erregungs-
summe muß aber einer anderen Verwendung zu-
geführt werden.
1) Diese Beispiele sind der noch nicht veröffentlichten ausführlichen
Arbeit von Breuer und mir über den psyclüschen Mechanismus der
Hysterie entnommen.
49
Soweit sind die Vorgänge bei der Hysterie und bei den
Phobien und Zwangsvorstellungen die gleichen; von nun an
scheiden sich die Wege. Bei der Hysterie erfolgt die Un-
schädlichmachung der unverträgUchen Vorstellung dadurch,
daß deren Erregungssumme ins Körperliche um-
gesetzt wird, wofür ich den Namen der Konversion
vorschlagen möchte.
Die Konversion kann eine totale oder partielle sein und
erfolgt auf jene motorische oder sensorische Innervation hin,
die in einem innigen oder mehr lockeren Zusammenhang mit
dem traumatischen Erlebnis steht. Das Ich hat damit erreicht,
daß es widerspruchsfrei geworden ist, es hat sich aber dafür
mit einem Erinnerungssymbol belastet, welches als unlösbare
motorische Innervation oder als stets wiederkehrende halluzi-
natorische Sensation nach Art eines Parasiten im Bewußtsein
haust, und welches bestehen bleibt, bis eine Konversion in
umgekehrter Richtung stattfindet. Die Gedächtnisspur der
verdrängten Vorstellung ist darum doch nicht untergegangen,
sondern büdet von nun an den Kern einer zweiten psychischen
Gruppe.
Ich wül diese Anschauung von den psycho-physischen
Vorgängen bei der Hysterie nur noch mit wenigen "Worten
ausführen : Wenn einmal ein solcher Kern für eine hysterische
Abspaltung in einem „traumatischen Moment" gebildet worden
ist, so erfolgt dessen Vergrößerung in anderen Momenten,
die man „auxiliär traumatische** nennen könnte, sobald
es eiuem neu anlangenden Eindruck gleicher Art gelingt, die
vom Wülen hergestellte Schranke zu durchbrechen, der ge-
schwächten Vorstellung neuen Affekt zuzuführen und für eine
Weüe die assoziative Verknüpfung beider psychischer Gruppen
zu erzwingen, bis eine neuerliche Konversion Abwehr schafft.
— Der so bei der Hysterie erzielte Zustand in der Verteüung
der Erregung stellt sich dann zumeist als ein labiler heraus ;
die auf einen falschen Weg (in die Körperinnervation) ge-
drängte Erregung gelangt mitunter zur Vorstellung zurück,
von der sie abgelöst wurde, und nötigt dann die Person zur
assoziativen Verarbeitung oder zur Erledigung in hysterischen
Anfällen, wie der bekannte Gegensatz der Anfalle und der Dauer-
Freud, Nauroaenlehre. 4
50
Symptome beweist. Die Wirkung der kathartischen Metkode
Breuer'sbestekt darin, daß sie eine solcke Zurückleitung der Er-
regungaus dem Körperlichen ins Psychische zielbewußt erzeugt,
um dann den Ausgleich des Widerspruches durch Denkarbeit
und die Abfuhr der Erregung durch Sprechen zu erzwingen.
Wenn die Bewußtseinsspaltung der acquirierten Hysterie
auf einem Willensakt beruht, so erklärt sich überraschend
leicht die merkwürdige Tatsache, daß die Hypnose regelmäßig
das eingeengte Bewußtsein der Hysterischen erweitert und
die abgespaltene psychische Gruppe zugänglich macht. Wir
kennen es ja als Eigentümlichkeit aller schlaf ähnlichen Zu-
stände, daß sie jene Verteilung der Erregung aufheben, auf
welcher der „Wille" der bewußten Persönlichkeit beruht.
Wir erkennen demnach das für die Hysterie charakteri-
stische Moment nicht in der Bewußtseinsspaltung, sondern in
der Fähigkeit zur Konversion und dürfen als ein
wichtiges Stück der sonst noch unbekannten Disposition zur
Hysterie die psycho-physische Eignung zur Verlegung so großer
Erregungssummen in die Körperinnervation anführen.
Diese Eignung schließt an und für sich psychische Ge-
sundheit nicht aus und führt zur Hysterie nur im Falle einer
psychischen Unverträglichkeit oder einer Aufspeicherung der
Erregung. Mit dieser Wendung nähern wir, Breuer und ich,
uns den bekannten Definitionen der Hysterie von Oppen-
heim^) und StfümpeP) und sind von Jan et abgewichen,
welcher der Bewußtseinsspaltung eine übergroße Rolle in der
Charakteristik der Hysterie zuweist^). Die hier gegebene Dar-
') Oppenheim: Die Hysterie ist ein gesteigerter Ausdruck der Gemüts-
bewegung. Der „Ausdruck der Gemütsbewegung" stellt aber jenen Betrag
psychischer Erregung dar, der normalerweise eine Konversion erfährt.^
2)Strümpel: Die Störung der Hysterie liegt im Psycho-physischen,
dort, wo Körperliches und Seelisches mit einander zusammenhängen.
^) Jan et hat im zweiten Abschnitt seines geistvollen Aufsatzes
„Quelques definitions etc." den Einwand, daß die Bewoßtseinsspaltung
auch den Psychosen und der sogenannten Psychasthenie zukommt, selbst
behandelt, aber nach meinem Ermessen nicht befriedigend gelöst. Dieser
Einwand ist es wesentlich, der ihn dazu drängt, die Hysterie für eine
Degenerationsform zu erklären. Er kann aber die hysterische Bewußt-
seinsspaltung durch keine Charakteristik genügend von der psychotischen
u. dgl. sondern.
51
Stellung darf den Anspruch erheben, daß sie den Zusammen-
hang der Konversion mit der hysterischen Bewußtseinsspaltung
verstehen läßt.
n.
Wenn bei einer disponierten Person die Eignung zur
Konversion nicht vorhanden ist und doch zur Abwehr einer
unerträglichen Vorstellung die Trennung derselben von ihrem
Affekt vorgenommen wird, dann muß dieser Affekt auf
psychischem Grebiet verbleib en. Die nun geschwächte
Vorstellung bleibt abseits von aller Assoziation im Bewußtsein
übrig, ihr frei gewordener Affekt aber hängt sich an
andere, an sich nicht unverträgliche Vorstellungen
an, die durch diese „falsche Verknüpfung" zu Zwangs-
vorstellungen werden. Dies ist in wenig Worten die
psychologische Theorie der Zwangsvorstellungen und Phobien,
von der ich eingangs gesprochen habe.
Ich werde nun angeben, welche von den Stücken, die
in dieser Theorie gefordert sind, sich direkt nachweisen
lassen, welche andere ich ergänzt habe. Direkt nachweisbar
ist außer dem Endprodukt des Vorganges, eben der Zwangs-
vorstellung, zunächst die Quelle, aus welcher der in falscher
Verknüpfung befindliche Affekt stammt. In aUen von mir
analysierten FäUen war es das Sexualleben, welches einen
peinlichen Affekt von genau der nämlichen Beschaffenheit
geliefert hatte, wie er der Zwangsvorstellung anhing. Es
ist theoretisch nicht ausgeschlossen, daß dieser Affekt nicht
gelegentlich auf anderem Gebiete entstehen könnte ; ich habe
bloß mitzuteilen, daß eine andere Herkunft sich mir bisher
nicht ergeben hat. Übrigens versteht man es leicht, daß
gerade das Sexualleben die reichlichsten Anlässe zum Auf-
tauchen unverträglicher Vorstellungen mit sich bringt.
Nachweisbar ist ferner durch die unzweideutigsten
Äußerungen der Klranken die Willensanstrengung, der Ver-
such zur Abwehr, auf den die Theorie Gewicht legt, und
wenigstens in einer Reihe von FäUen geben die Kranken selbst
darüber Aufschluß, daß die Phobie oder Zwangsvorstellung
erst dann auftrat, nachdem die Willensanstrengung scheinbar
ihre Absicht erreicht hatte. „Mir ist einmal etwas sehr ün-
4
52
angenehmes passiert, ich habe mich mit Macht bemüht, es
fortzuschieben, nicht mehr daran zu denken. Endlich ist es
mir gelungen, da bekam ich dafür das andere, das ich seither
nicht losgeworden bin." Mit diesen Worten bestätigte mir
eine Patientin die Hauptpunkte der hier entwickelten Theorie.
Nicht alle, die an Zwangsvorstellungen leiden, machen
sich die Herkunft derselben so klar. In der Regel bekömmt
man, wenn man den Kranken auf die ursprüngliche Vorstellung
sexueller Natur aufmerksam macht, die Anwort : „Davon kann
es ja doch nicht kommen. Ich habe ja gar nicht viel daran
gedacht. Einen Moment war ich erschrocken, dann habe ich
mich abgelenkt und seither Ruhe davor gehabt." In dieser
so häufigen Einwendung liegt ein Beweis, daß die Zwangs-
vorstellung einen Ersatz oder Surrogat der unverträglichen
sexuellen Vorstellung darstellt und sie im Bewußtsein ab-
gelöst hat.
Zwischen der "Willensanstrengung des Patienten, der es
gelingt, die unannehmbare sexuelle Vorstellung zu verdrängen,
und dem Auftauchen der Zwangsvorstellung, die, an sich
wenig intensiv, hier mit unbegreiflich starkem Affekt aus-
gestattet ist, klafft die Lücke, welche die hier entwickelte
Theorie ausfüllen will. Die Trennung der sexuellen Vorstellung
von ihrem Affekt und die Verknüpfung des letzteren mit
einer anderen, passenden, aber nicht unverträglichen Vor-
stellung — dies sind Vorgänge, die ohne Bewußtsein geschehen,
die man nur supponieren, aber durch keine klinisch-psycho-
logische Analyse erweisen kann. Vielleicht wäre es richtiger,
zu sagen: Dies sind überhaupt nicht Vorgänge psychischer
Natur, sondern physische Vorgänge, deren psychische Folge
sich so darstellt, als wäre das durch die Redensarten : Trennung
der Vorstellung von ihrem Affekt und falsche Verknüpfung
des letzteren. Ausgedrückte wirklich geschehen.
Neben den Fällen, die ein Nacheinander der sexuellen
unverträglichen Vorstellung und der Zwangsvorstellung be-
weisen, findet man eine Reihe anderer, in denen gleichzeitig
Zwangsvorstellungen und peinlich betonte sexuelle Vor-
stellungen vorhanden sind. Letztere „sexuelle Zwangsvor-
stellungen" zu heißen, geht nicht gut an; es mangelt ihnen
53
ein wesentliclier Charakter der Zwangsvorstellmigen ; sie er-
weisen sich als vollberechtigt, während die Peinlichkeit der
gemeinen Zwangsvorstellungen ein Problem für den Arzt und
den Kranken bildet. Soweit ich mir in Fälle dieser Art Ein-
sicht verschaffen konnte, handelte es sich hier um eine fort-
gesetzte Abwehr gegen beständig neu anlangende sexuelle
Vorstellungen, eine Arbeit also, die noch nicht zum Abschluß
gekommen war.
Die Kranken verheimKchen häufig ihre Zwangsvor-
stellungen, so lange sie sich der sexuellen Abkunft derselben
bewußt sind. Wenn sie darüber klagen, so geben sie zumeist
ihrer Verwunderung darüber Ausdruck, daß sie dem betreffenden
Affekt unterliegen, daß sie sich ängstigen, bestimmte Impulse
haben u. dgl. Dem kundigen Arzt dagegen erscheint dieser
Affekt berechtigt und verständlich; er findet das Auffällige
nur in der Verknüpfung eines solchen Affektes mit einer
hiefür nicht würdigen Vorstellung. Der Affekt der Zwangs-
vorstellung erscheint ihm — mit anderen Worten — als ein
dislocierter oder transponierter, und wenn er die
hier niedergelegten Bemerkungen angenommen hat, kann er
für eine große Reihe von Fällen von Zwangsvorstellung die
Rückübersetzung ins Sexuelle versuchen.
Zur sekundären Verknüpfung des frei gewordenen Affektes
kann jede Vorstellung benützt werden, die entweder ihrer
Natur nach mit einem Affekt von solcher Qualität ver-
einbar ist, oder die gewisse Beziehungen zur unverträglichen
hat, denen zufolge sie als Surrogat derselben brauchbar er-
scheint. So zum Beispiel wirft sich frei gewordene Angst, deren
sexuelle Herkunft nicht erinnert werden soll, auf die gemeinen
primären Phobien des Menschen vor Tieren, Gewitter, Dunkel-
heit u. dgl., oder auf Dinge, die unverkennbar mit dem
Sexuellen in irgend einer Art assoziiert sind, auf das Urinieren,
die Defäkation, auf Beschmutzung und Ansteckung überhaupt.
Der Vorteil, den das Ich erreicht, indem es zur Abwehr
den Weg der Transposition des Affektes einschlägt, ist
ein weit geringerer als bei der hysterischen Konver-
sion psychischer Erregung in somatische Innervation. Der
Affekt, unter dem das Ich gelitten hat, bleibt unverändert
54
und uiiverringert nach wie vor, nur daß die unverträgliche
Vorstellung niedergehalten, vom Erinnern ausgeschlossen ist.
Die verdrängten Vorstellungen bilden wiederum den Kern
einer zweiten psychischen Gruppe, die, wie mir scheint, auch
ohne Zuhilfenahme der Hypnose zugänglich ist. Wenn bei
den Phobien und Zwangsvorstellungen die auffälligen Symp-
tome ausbleiben, welche bei der Hysterie die Bildung einer
unabhängigen psychischen Gruppe begleiten, so rührt dies
wohl daher, daß im ersteren Falle die gesamte Veränderung
auf psychischem Gebiet geblieben ist, die Beziehung zwischen
psychischer Erregung und somatischer Innervation keine
Änderung erfahren hat.
Ich will das hier über die Zwangsvorstellungen Gesagte
durch einige Beispiele erläutern, die wahrscheinlich typischer
Natur sind:
1. Ein junges Mädchen leidet an Zwangsvorwürfen. Las
sie in der Zeitung von Falschmünzern, so kam ihr der Ge-
danke, sie habe auch falsches Geld gemacht; war irgendwo
von einem unbekannten Täter eine Mordtat geschehen, so
fragte sie sich ängstlich, ob sie nicht diesen Mord begangen
habe. Dabei war sie sich der Ungereimtheit dieser Zwangs-
vorwürfe klar bewußt. Eine Zeit lang gewann das Schuld-
bewußtsein solche Macht über sie, daß ihre Kritik erstickt
wurde und sie sich vor ihren Verwandten und vor dem Arzt
anklagte, sie habe alle diese Untaten wirklich begangen
(Psychose durch einfache Steigerung — Überwältigungs-
psychose). Ein scharfes Verhör deckte jetzt die Quelle auf,
aus der ihr Schuldbewußtsein stammte: Durch eine zufälHge
wollüstige Empfindung angeregt, hatte sie sich von einer
Freundin zur Masturbation verleiten lassen und betrieb diese
seit Jahren mit dem vollen Bewußtsein ihres Unrechtes und
unter den heftigsten, aber wie gewöhnlich nutzlosen Selbst-
vorwürfen. Ein Exzeß nach dem Besuche eines Balles hatte
die Steigerung zur Psychose hervorgerufen. — Das Mädchen
heilte nach einigen Monaten Behandlung und strengster
Überwachung.
2. Ein anderes Mädchen Htt unter der Furcht, von
Harndrang überfallen zu werden und sich nässen zu müssen,
55
seitdem ein solcher Drang sie wii-klich einmal genötigt hatte,
einen Konzertsaal während der Aufführung zu verlassen.
Diese Phobie hatte sie allmählich völlig genuß- und ver-
kehrsunfähig gemacht. Sie fühlte sich nur wohl, wenn sie ein
Kloset in der Nähe wußte, zu dem sie unauffäUig gelangen
konnte. Ein organisches Leiden, welches dieses Mißtrauen
in die Beherrschung der Blase gerechtfertigt hätte, war aus-
geschlossen. Der Harndrang war zu Hause unter ruhigen
Verhältnissen und zur Nachtzeit nicht vorhanden. Eingehen-
des Examen wies nach, daß der Harndrang zum ersten Male
unter folgenden Verhältnissen aufgetreten war: In dem Kon-
zertsaale hatte ein Herr nicht weit von ihr Platz genommen,
der ihrem Empfinden nicht gleichgütig war. Sie begann an
ihn zu denken und sich auszumalen, wie sie als seine Frau
neben ihm sitzen würde. In dieser erotischen Träumerei be-
kam sie jene körperliche Empfindung, die man mit der Erek-
tion des Mannes vergleichen muß, und die bei [ihr — ich
weiß nicht, ob allgemein — mit einem leichten Harndrang
abschloß. Sie erschrak jetzt heftig über die ihr sonst ge-
wohnte sexuelle Empfindung, weil sie bei sich beschlossen
hatte, diese wie jede andere Neigung zu bekämpfen, und im
nächsten Moment hatte sich der Afiekt auf den begleitenden
Harndrang übertragen und nötigte sie, nach qualvollem Kampf
den Saal zu verlassen. Sie war im Leben so prüde, daß sie
sich vor allem Sexuellen intensiv grauste, und den Gedanken^
je zu heiraten, nicht fassen konnte; andererseits war sie
sexuell so hyperästhetisch, daß bei jeder erotischen Träumerei
die sie sich gerne gestattete, jene wollüstige Empfindung
auftrat. Der Harndrang hatte die Erektion jedesmal begleitet,
ohne ihr bis zu der Szene im Konzertsaal einen Eindruck
zu machen. Die Behandlung führte zu einer fast vollkommenen
Beherrschung der Phobie.
3. Eine junge Frau, die aus fünfjähriger Ehe nur ein
Kind hatte, klagte mir über den Zwangsimpuls, sich vom
Fenster oder Balkon zu stürzen, und über die Furcht, die
sie beim Anblick eines scharfen Messers ergreife, ihr Kind
damit zu erstechen. Der eheliche Verkehr, gestand sie zu,
werde selten und nur mit Vorsicht gegen die Konzeption
56
ausgeübt; allein das feUe ilir niclit, sie sei keine sinnliche
Natur. Ich getraute mich darauf ihr zu sagen, daß sie beim
Anblicke eines Mannes erotische Vorstellungen bekomme, daß
sie darum das Vertrauen zu sich verloren habe und sich als
eine verworfene Person vorkomme, die zu allem fähig sei.
Die E.i\ckübersetzung der Zwangsvorstellung ins Sexuelle war
gelungen; sie gestand sofort weinend ihr lange verborgenes
eheliches Elend ein und teilte später auch peinliche Vor-
stellungen von unverändert sexuellem Charakter mit, so die
häufig wiederkehrende Empfindung, als ob sich etwas unter
ihre Röcke dränge.
Ich habe mir derartige Erfahrungen für die Therapie
zunutze gemacht, um bei Phobien und Zwangsvorstellungen
trotz alles Sträubens der Kranken die Aufmerksamkeit auf
die verdrängten sexuellen Vorstellungen zurückzulenken und,
wo es anging, die Quellen, aus denen dieselben stammten, zu
verstopfen. Ich kann natürlich nicht behaupten, daß alle
Phobien und Zwangsvorstellungen auf die hier aufgedeckte
Weise entstehen; erstens umfaßt meine Erfahrung eine im
Verhältnis zur Reichhaltigkeit dieser Neurosen nur beschränkte
Anzahl, und zweitens weiß ich selbst, daß diese „psycha-
sthenischen" Symptome (nach J a n e t s Bezeichnung) nicht
alle gleichwertig sind. *) Es gibt zum Beispiel rein hysterische
Phobien. Ich meine aber, daß der Mechanismus der Trans-
position des Affektes bei der großen Mehrzahl der Phobien
und Zwangsvorstellungen nachzuweisen sein wird, und möchte
dafür eintreten, diese Neurosen, die sich ebenso ott isoliert
als mit Hysterie oder Neurasthenie kombiniert finden, nicht mit
der gemeinen Neurasthenie zsammenzuwerfen, für deren Grund-
symptome ein psychischer Mechanismus gar nicht anzu-
nehmen ist.
J) Die Gruppe von typischen Phobien, für welche die Agora-
phobie VorbUd ist, läßt sich nicht auf den oben entwickelten psychi-
schen Mechanismus zurückführen, vielmehr weicht der Mechanismus der
Agoraphobie von dem der echten Zwangsvorstellungen und der auf
solche reduzierbaren Phobien in einem entscheidenden Punkte ab. Es
findet sich hier keine verdrängte Vorstellung, von welcher der Angst-
affekt abgetrennt wäre. Die Angst dieser Phobien hat einen anderen
Ursprung.
57
m.
In beiden bisher betrachteten Fällen war die Abwehr
der unverträglichen Vorstellung durch Trennung derselben
von ihrem Affekt geschehen ; die Vorstellung war, wenngleich
geschwächt und isoliert, dem Bewußtsein verblieben. Es gibt
nun eine weit energischere und erfolgreichere Art der Abwehr,
die darin besteht, daß das Ich die unerträgliche Vorstellung
mitsamt ihrem Affekt verwirft und sich so benimmt, als ob
die Vorstellung nie an das Ich herangetreten wäre. Allein
in dem Moment, in dem dies gelungen ist, be-
findet sich die Person in einer Psychose, die
man wohl nur als „halluzinatorische Verworren-
heit" klassifizieren kann. Ein einziges Beispiel soll
diese Behauptung erläutern:
Ein junges Mädchen hat einem Manne eine erste im-
pulsive Neigung geschenkt und glaubt fest an seine Gegen-
liebe. Tatsächlich befindet sie sich im Irrtum; der junge
Mann hat ein anderes Motiv, ihr Haus aufzusuchen. Die
Enttäuschungen bleiben auch nicht aus; sie erwehrt sich
ihrer zunächst, indem sie die entsprechenden Erfahrungen
hysterisch konvertiert, erhält so ihren Glauben, daß er eines
Tages kommen und um sie anhalten würde, fühlt sich aber
dabei infolge unvollständiger Konversion und beständigen
Andranges neuer schmerzlicher Eindrücke unglücklich und
krank. Sie erwartet ihn endlich in höchster Spannung für
einen bestimmten Tag, den Tag einer Familienfeier. Der
Tag verrinnt, ohne daß er gekommen wäre. Nachdem alle
Züge, mit denen er ankommen könnte, vorüber sind, schlägt
sie in halluzinatorische Verworrenheit um. Er ist angekommen,
sie hört seine Stimme im Garten, eilt in Nachtkleidung
herunter, ihn zu empfangen. Von da an lebt sie durch zwei
Monate in einem glücklichen Traum, dessen Inhalt ist: er
sei da, sei immer um sie, es sei alles so wie vorhin (vor
der Zeit der mühsam abgewehrten Enttäuschungen). Hysterie
und Verstimmung sind überwunden; von der ganzen letzten
Zeit des Zweifels und der Leiden wird während der Krank-
heit nicht gesprochen; sie ist glücklich, so lange man sie
ungestört läßt, und tobt nur dann, wenn eine Maßregel ihrer
58
Umgebung sie an etwas hindert, was sie ganz konsequent
aus ihrem seligen Traum folgern will. Diese seinerzeit un-
verständliche Psychose wurde zehn Jahre später durch eine
hypnotische Analyse aufgedeckt.
Die Tatsache, auf die ich aufmerksam mache, ist die,
daß der Inhalt einer solchen halluzinatorischen Psychose
gerade in der Hervorhebung jener Vorstellung
besteht, die durch den Anlaß der Erkrankung bedroht
war. Man ist also berechtigt zu sagen, daß das Ich durch
die Flucht in die Psychose die unerträgliche Vorstellung
abgewehrt hat ; der Vorgang, durch den dies erreicht worden
ist, entzieht sich wiederum der Selbstwahrnehmung wie der
psychologisch -klinischen Analyse. Er ist als der Ausdruck
einer pathologischen Disposition höheren Grades anzusehen
und läßt sich etwa wie folgt umschreiben: Das Ich reißt
sich von der unverträglichen Vorstellung los, diese hängt aber
untrennbar mit einem Stück der Realität zusammen, und
indem das Ich diese Leistung vollbringt, hat es sich auch
von der Realität ganz oder teilweise losgelöst. Letzteres ist
nach meiner Meinung die Bedingung, unter der eigenen Vor-
stellungen halluzinatorische Lebhaftigkeit zuerkannt wird,
und somit befindet sich die Person nach glücklich gelungener
Abwehr in halluzinatorischer Verworrenheit.
Ich verfüge nur über sehr wenige Analysen von der-
artigen Psychosen; ich meine aber, es muß sich um einen
sehr häufig benützten Typus psychischer Erkrankung handeln,
denn die als analog aufzufassenden Beispiele der Mutter,
die, über den Verlust ihres Kindes erkrankt, jetzt unablässig
ein Stück Holz im Arme wiegt, oder der verschmähten Braut,
die seit Jahren im Putz ihren Bräutigam erwartet, fehlen in
keinem Irrenhause.
Es ist vielleicht nicht überflüssig hervorzuheben, daß
die drei hier geschilderten Arten der Abwehr und somit die
drei Formen von Erkrankung, zu denen diese Abwehr führt,
an derselben Person vereinigt sein können. Das gleichzeitige
Vorkommen von Phobien und hysterischen Symptomen, das
in praxi so häufig beobachtet wird, gehört ja mit zu den
Momenten, die eine reinliche Trennung der Hysterie von
59
anderen Neurosen erschweren und zur Aufstellung der
„gemischten Neurosen" nötigen. Die halluzinatorische Ver-
worrenheit zwar verträgt sich häufig nicht mit dem Fort-
bestand der Hysterie, in der Regel nicht mit dem der Zwangs-
vorstellungen. Dafür ist es nichts seltenes, daß eine Abwehr-
psychose den Verlauf einer hysterischen oder gemischten
Neurose episodisch durchbricht.
Ich will endhch mit wenigen Worten der Hilfsvor-
stellung gedenken, deren ich mich in dieser Darstellung der
Abwehrneurosen bedient habe. Es ist dies die Vorstellung,
daß an den psychischen Funktionen etwas zu unterscheiden
ist (Affektbetrag, Erregungssumme), das alle Eigenschaften
einer Quantität hat — wenngleich wir kein Mittel besitzen,
dieselbe zu messen — etwas, das der Vergrößerung, Ver-
minderung, der Verschiebung und der Abfuhr fähig ist und
sich über die Gedächtnisspuren der Vorstellungen verbreitet,
etwa wie eine elektrische Ladung über die Oberflächen der
Körper.
Man kann diese Hypothese, die übrigens bereits unserer
Theorie des „Abre agier ens" (Vorläufige Mitteilung 1893) zu-
grunde liegt, in demselben Sinne verwenden, wie es die
Physiker mit der Annahme des strömenden elektrischen
Fluidums tun. Grerechtfertigt ist sie vorläufig durch ihre
Brauchbarkeit zur Zusammenfassung und Erklärung mannig-
faltiger psychischer Zustände.
Wien, Ende Jänner 1894.
V.
über die Berechtigung, von der Neurasthenie
einen bestimmten Symptomenkomplex als
„Angstneurose" abzutrennen. 0
Es ist schwierig, etwas Allgemeingiltiges von der Neu-
rasthenie auszusagen, so lange man diesen Krankheitsnamen
all das bedeuten läßt, wofür Beard ihn gebraucht hat. Die
Neuropathologie, meine ich, kann nur dabei gewinnen, wenn
man den Versuch macht, von der eigentlichen Neurasthenie
alle jene neurotischen Störungen abzusondern, deren Symp-
tome einerseits unter einander fester verknüpft sind als mit
den typischen neurasthenischen Symptomen (dem Kopfdruck,
der Spinalirritation, der Dyspepsie mit Flatulenz und Obsti-
pation), und die andererseits in ihrer Ätiologie und ihrem
Mechanismus wesentliche Verschiedenheiten von der typischen
neurasthenischen Neurose erkennen lassen. Nimmt man diese
Absicht an, so wird man bald ein ziemlich einförmiges Bild
der Neurasthenie gewonnen haben. Man wird es dann dahin
bringen, schärfer, als es bisher gelungen ist, verschiedene
Pseudoneurasthenien (das Bild der organisch vermittelten
nasalen Reflexneurose, die nervösen Störungen der Kachexien
und der Arteriosklerose, die Vorstadien der progressiven
Paralyse und mancher Psychosen) von echter Neurasthenie
zu unterscheiden, ferner werden sich — nach M ö b i u s' Vor-
schlag — manche Status nervosi der hereditär Degenerierten
abseits stellen lassen, imd man wird auch Gründe finden,
manche Neurosen, die man heute Neurasthenie heißt, beson-
ders intermittierender oder periodischer Natur, vielmehr der
MelanchoKe zuzurechnen. Die einschneidendste Veränderung
*) „Neurologisches Centralblatt", 1895, Nr. 2.
61
bahnt man aber an, wenn man sich entschließt, von der
Neurasthenie jenen Symptomenkomplex abzutrennen, den ich
im folgenden beschreiben werde, und der die oben auf-
gestellten Bedingungen in besonders zureichender "Weise er-
füllt. Die Symptome dieses Komplexes stehen klinisch ein-
ander weit näher als den echt neurasthenischen (d. h. sie
kommen häufig zusammen vor, vertreten einander im Krank-
heits verlauf), und Ätiologie wie Mechanismus dieser Neurose
sind grundverschieden von der Ätiologie und dem Mechanismus
der echten Neurasthenie, wie sie uns nach solcher Sonderung
erübrigt.
Ich nenne diesen Symptomenkomplex „Angstneurose",
weil dessen sämtliche Bestandteile sich um das Hauptsymptom
der Angst gruppieren lassen, weil jeder einzelne von ihnen
eine bestimmte Beziehung zur Angst besitzt. Ich glaubte,
mit dieser Auffassung der Symptome der Angstneurose
originell zu sein, bis mir ein interessanter Vortrag von
E. Hecker ^) in die Hände fiel, in welchem ich die näm-
Kche Deutung mit aller wünschenswerten Klarheit und Voll-
ständigkeit dargelegt fand. Heck er löst die von ihm als
Äquivalente oder Rudimente des AngstanfaUes erkannten
Symptome allerdings nicht aus dem Zusammenhange der
Neurasthenie, wie ich es beabsichtige ; allein dies rührt offenbar
daher, daß er auf die Verschiedenheit der ätiologischen Be-
dingungen hier und dort keine Rücksicht genommen hat.
Mit der Kenntnis dieser letzteren Differenz entfällt jeder
Zwang, die Angstsymptome mit demselben Namen wie die
echt neurasthenischen zu bezeichnen, denn die sonst will-
kürliche Namengebung hat vor allem den Zweck, uns die
Aufstellung allgemeiner Behauptungen zu erleichtern.
I. Elinisclie Symptomatologie der Angstneurose.
Was ich „Angstneurose" nenne, kommt in vollständiger
oder rudimentärer Ausbildung, isoliert oder in Kombination
1) E. Hecker: Über larvierte und abortive Angstzustände bei
Neurasthenie. Centralblatt für Nervenheükunde, Dezember 1893. — Die
Angst wird geradezu unter den Hauptsymptomen der Neurasthenie an-
geführt in der Studie von Kaan: Der neurasthenische Angstaffekt bei
Zwangsvorstellungen und der primordiale Grübelzwang, Wien 1893.
62
mit anderen Neurosen zur Beobachtung. Die einigermaßen
vollständigen und dabei isoHerten Fälle sind natürlich die-
jenigen, welche den Eindruck, daß die Angstneurose klinische
Selbständigkeit besitze, besonders unterstützen. In anderen
FäUen steht man vor der Aufgabe, aus einem Symptomen-
komplex, welcher einer „gemischten Neurose" entspricht,
diejenigen herauszuklauben und zu sondern, die nicht der
Neurasthenie, Hysterie u. dgl., sondern der Angstneurose
zugehören.
Das klinische Bild der Angstneurose umfaßt folgende
Symptome :
1. Die allgemeine Reizbarkeit. Diese ist ein
häufiges nervöses Symptom, als solches vielen Status nervosi
eigen. Ich führe sie hier an, weil sie bei der Angstneurose
konstant vorkommt und theoretisch bedeutsam ist. Gesteigerte
Reizbarkeit deutet ja stets auf Anhäufung von Erregung
oder auf Unfähigkeit, Anhäufung zu ertragen, also auf
absolute oder relative Reizanhäufung. Einer besonderen
Hervorhebung wert finde ich den Ausdruck dieser gesteigerten
Reizbarkeit durch eine Gehörshyperästhesie, eine Über-
empfindhchkeit gegen Geräusche, welches Symptom sicherHch
durch die mitgeborene innige Beziehung zwischen Gehörs-
eindrücken und Erschrecken zu erklären ist. Die Gehörs-
hyperästhesie findet sich häufig als Ursache der Schlaflosig-
keit, von welcher mehr als eine Form zur Angstneurose gehört.
2. Die ängstliche Erwartung. Ich kann den
Zustand, den ich meine, nicht besser erläutern, als durch
diesen Namen und einige beigefügte Beispiele. Eine Frau
z. B., die an ängsthcher Erwartung leidet, denkt bei
jedem Hustenstoß ihres katarrhalisch affizierten Mannes an
Influenzapneumonie und sieht im Geiste seinen Leichenzug
vorüberziehen. Wenn sie auf dem Wege nach Hause zwei
Personen vor ihrem Haustor beisammenstehend sieht, kann
sie sich des Gedankens nicht erwehren, daß eines ihrer
Kinder aus dem Fenster gestürzt sei ; wenn sie die Glocke
läuten hört, so bringt man ihr eine Trauerbotschaft u. dgl.,
während doch in allen diesen Fällen kein besonderer Anlaß
zur Verstärkung einer bloßen MögHchkeit vorliegt.
65
Die ängstliche Erwartung klingt natürlich stetig ins
Normale ab, umfaßt alles, was man gemeinhin als „Ängst-
Kchkeit, Neigung zu pessimistischer Auffassung der Dinge"
bezeichnet, geht aber so oft als möglich über solche plausible
Ängstlichkeit hinaus und ist häufig selbst für den Kranken
als eine Art von Zwang erkenntlich. Für eine Form der
ängstUchen Erwartung, nänüich für die in bezug auf die
eigene Gesundheit, kann man den alten Krankheitsnamen
Hypochondrie reservieren. Die Hypochondrie geht nicht
immer der Höhe der allgemeinen ängstUchen Erwartung
parallel, sie verlangt als Vorbedingung die Existenz von
Parästhesien und peinlichen Körperempfindungen, und sa
wird die Hypochondrie die Form, welche die echten Neu-
rastheniker bevorzugen, sobald sie, was häufig geschieht, der
Angstneurose verfallen.
Eine weitere Äußerung der ängstlichen Erwartung dürfte
die bei moralisch empfindlicheren Personen so häufige Neigung
zur Gewissensangst, zur Skrupulosität und Pedanterie
sein, die gleichfalls vom Normalen bis zur Steigerung als
Zweifelsucht variiert.
Die ängstliche Erwartung ist das Kernsymptom der
Neurose; in ihr liegt auch ein Stück von der Theorie der-
selben frei zutage. Man kann etwa sagen, daß hier ein
Quant umAngst fr ei flottierend vorhanden ist, welches
bei der Erwartung die Auswahl der Vorstellungen beherrscht
und jederzeit bereit ist, sich mit irgend einem passenden
VorsteUungsinhalt zu verbinden.
3. Es ist dies nicht die einzige Art, wie die fürs Bewußt-
sein meist latente, aber konstant lauernde Ängstlichkeit sich
äußern kann. Diese kann vielmehr auch plötzlich ins Bewußt-
sein hereinbrechen, ohne vom Vorstellungsablauf geweckt zu
werden, und so einen Angstanfall hervorrufen. Ein solcher
Angstanfall besteht entweder einzig aus dem Angstgefühl
ohne jede assoziierte Vorstellung, oder mit der nahehegenden
Deutung der Lebens Vernichtung, des „Schlag-treffens", des
drohenden Wahnsinns, oder aber dem Angstgefühl ist irgend
welche Parästhesie beigemengt (ähnhch der hysterischen Aura),
oder endhch mit der Angstempfindung ist eine Störung irgend
64
einer oder mehrerer Körperfunktionen, der Atmung, Herz-
tätigkeit, der vasomotorischen Innervation, der Drüsentätigkeit
verbunden. Aus dieser Kombination hebt der Patient bald
das eine, bald das andere Moment besonders hervor, er klagt
über „Herzkrampf", Atemnot", „Schweißausbrüche", „Heiß-
hunger" u. dgl., und in seiner Darstellung tritt das Angst-
gefühl häufig ganz zurück oder wird recht unkenntlich als
ein „Schlechtwerden", „Unbehagen" usw. bezeichnet.
4. Interessant und diagnostisch bedeutsam ist nun, daß
das Maß der Mischung dieser Elemente im AngstfaU ungemein
variiert, und daß nahezu jedes begleitende Symptom den
Anfall ebensowohl allein konstituieren kann wie die Angst
selbst. Es gibt demnach rudimentäre Angstanfälle
und Äquivalente des Angstanfalls, wahrscheinlich
alle von der gleichen Bedeutung, die einen großen und bis
jetzt wenig gewürdigten Reichtum an Formen zeigen. Das
genauere Studium dieser larvierten Angstzustände (H e c k e r)
und ihre diagnostische Trennung von anderen Anfällen
dürfte bald zur notwendigen Arbeit für den Neuropathologen
werden.
Ich füge hier nur die Liste der mir bekannten Formen
des Angstanfalls an:
a) Mit Störungen der Herztätigkeit, Herzklopfen,
mit kurzer Arrythmie, mit länger anhaltender Tachykardie bis
zu schweren Schwächezuständen des Herzens, deren Unter-
scheidung von organischer Herzaffektion nicht immer leicht
ist; Pseudoangina pectoris, ein diagnostisch heikles Gebiet!
h) Mit Störungen der Atmung, mehrere Formen von
nervöser Dyspnoe, asthmaartigem Anfall u. dgl. Ich hebe
hervor, daß selbst diese Anfälle nicht immer von kenntlicher
Angst begleitet sind.
c) Anfälle von Schweiß ausbrüchen, oft nächtlich.
d) Anfälle von Zittern und Schütteln, die nur zu
leicht mit hysterischen verwechselt werden.
c) AnfäUe von Heißhunger, oft mit Schwindel ver-
bunden.
f) Anfallsweise auftretende Diarrhöen.
g) Anfälle vcn lokomotorischem Schwindel.
65
li) Anfälle von sogenannten Kongestionen, so ziem-
lich alles, was man vasomotorische Neurasthenie genannt hat.
i) AnfäUe von Parästhesien (diese aber selten ohne Angst
•oder ein ähnliches Unbehagen).
5. Nichts als eine Abart des AngstanfaUes ist sehr
häufig das nächtliche Aufschrecken (Pavor nocturnus
der Erwachsenen), gewöhnlich mit Angst, mit Dyspnoe,
Schweiß u. dgl. verbunden. Diese Störung bedingt eine zweite
Form von Schlaflosigkeit im Rahmen der Angstneurose. —
Es ist mir übrigens unzweifelliaft geworden, daß auch der
Pavor nocturnus der Kinder eine Form zeigt, die zur Angst-
neurose gehört. Der hysterische Anstrich, die Verknüpfung
der Angst mit der Reproduktion eines hierzu geeigneten
Erlebnisses oder Traumes, lassen den Pavor nocturnus der
Kinder als etwas Besonderes erscheinen; er kommt aber auch
rein vor, ohne Traum oder wiederkehrende Halluzination.
6. Eine hervorragende SeUung in der Symptomengruppe
der Angstneurose nimmt der „Schwindel" ein, der in seinen
leichtesten Formen besser als „Taumel" zu bezeichnen ist,
in schwererer Ausbildung als „Schwindelanfall" mit oder ohne
Angst zu den folgenschwersten Symptomen der Neurose gehört.
Der Schwindel der Angstneurose ist weder ein Drehschwindel,
noch läßt er, wie der Menieresche Schwindel, einzelne
Ebenen und Richtungen hervorheben. Er gehört dem loko-
motorischen oder koordinatorischen Schwindel an wie der
Schwindel bei Augenmuskellähmung; er besteht in einem
spezifischen Mißbehagen, begleitet von den Empfindungen,
daß der Boden wogt, die Beine versinken, daß es unmöglich
ist, sich weiter aufrecht zu halten, und dabei sind die Beine
bleischwer, zittern oder knicken ein. Zum Hinstürzen führt
dieser Schwindel nie. Dagegen möchte ich behaupten, daß
ein solcher Schwindelanfall auch durch einen Anfall von tiefer
Ohnmacht vertreten werden kann. Andere ohnmachtartige
Zustände bei der Angstneurose scheinen von einem Herz-
kollaps abzuhängen.
Der SchwindelanfaU ist nicht selten von der schlimmsten
Art von Angst begleitet, häufig mit Herz- und Atemstörungen
kombiniert. Höhenschwindel, Berg- und Abgrundschwindel
Freud, Neurosenlehre. 5
66
finden sicli nach meinen Beobachtungen gleichfalls bei der
Angstneurose häufig vor; auch weiß ich nicht, ob man noch
berechtigt ist, nebenher einen Vertigo a stomacho laeso an-
zuerkennen.
7. Auf Grund der chronischen Ängstlichkeit (ängstliche
Erwartung) einerseits, der Neigung zum Schwindel-Angstanfall
andererseits entwickeln sich zwei Gruppen von typischen
Phobien, die erste auf die allgemein physiologischen Be-
drohungen, die andere auf die Lokomotion bezüglich. Zur
ersten Gruppe gehören die Angst vor Schlangen, Gewitter,
Dunkelheit, Ungeziefer u. dgl. sowie die typische moralische
Überbedenklichkeit, Formen der Zweifelsucht; hier wird die
disponible Angst einfach zur Verstärkung von Abneigungen
verwendet, die jedem Menschen instinktiv eingepflanzt sind.
Gewöhnlich bildet sich eine zwangsartig wirkende Phobie
aber erst dann, wenn eine Reminiszenz an ein Erlebnis
hinzukommt, bei welchem diese Angst sich äußern konnte,
z. B. nachdem der Kranke ein Gewitter im Freien mit-
gemacht hat. Man tut Unrecht, solche Fälle einfach als F o r t-
dauer starker Eindrücke erklären zu woUen; was diese
Erlebnisse bedeutsam und ihre Erinnerung dauerhaft macht,
ist doch nur die Angst, die damals hervortreten konnte und
heute ebenso hervortreten kann. Mit anderen "Worten, solche
Eindrücke bleiben kräftig nur bei Personen mit „ängstlicher
Erwartung",
Die andere Gruppe enthält die Agoraphobie mit allen
ihren Nebenarten, sämtliche charakterisiert durch die Be-
ziehung auf die Lokomotion. Ein vorausgegangener Schwindel-
anfall findet sich hierbei häufig als Begründung der Phobie;
ich glaube nicht, daß man ihn jedesmal postulieren darf.
GelegentHch sieht man, daß nach einem ersten Schwindel-
anfall ohne Angst die Lokomotion zwar beständig von der
Sensation des Schwindels begleitet wird, aber ohne Ein-
schränkung möglich bleibt, daß dieselbe aber unter den
Bedingungen des Alleinseins, der engen Straße u. dgl. versagt,
wenn einmal sich zum Schwindelanfall Angst hinzugesellt hat.
Das Verhältnis dieser Phobien zu den Phobien der
Zwangsneurose, deren Mechanismus ich in einem firüheren
67
Aufsätze ^) in diesem Blatte aufgedeckt habe, ist folgender
Art : Die Übereinstimmung liegt darin, daß hier wie dort eine
Vorstellung zwangsartig wird durch die Verknüpfung mit
einem disponiblen Affekt. Der Mechanismus der Affekt-
versetzung gilt also für beide Arten von Phobien. Beiden
Phobien der Angstneurose ist aber 1. dieser Affekt ein
monotoner, stets der der Angst ; 2. stammt er nicht von einer
verdrängten Vorstellung her, sondern erweist sich bei psycho-
logischer Analyse als nicht weiter reduzierbar, wie
er auch durch Psychotherapie nicht anfechtbar
ist. Der Mechanismus der Substitution gilt also für die
Phobien der Angstneurose nicht.
Beiderlei Arten von Phobien (oder Zwangsvorstellungen)
kommen häufig neben einander vor, obwohl die atypischen
Phobien, die auf Zwangsvorstellungen beruhen, nicht notwendig
auf dem Boden der Angstneurose erwachsen müssen. Ein sehr
häufiger, anscheinend komphzierter Mechanismus stellt sich
heraus, wenn bei einer ursprünglich einfachen Phobie der
Angstneurose der Inhalt der Phobie durch eine andere Vor-
stellung substituiert wird, die Substitution also nachträglich
zur Phobie hinzukommt. Zur Substitution werden am häufigsten
die „Schutzmaßregeln" benutzt, die ursprünglich zur
Bekämpfung der Phobie versucht worden sind. So entsteht
z. B. die Grübelsucht aus dem Bestreben, sich den Gegen-
beweis zu Hefern, daß man nicht verrückt ist, wie die hypo-
chondrische Phobie behauptet: das Zaudern und Zweifeln,
vielmehr Repetieren der Folie de doute entspringt dem be-
rechtigten Zweifel in die Sicherheit des eigenen Gedanken-
ablaufes, da man sich doch so hartnäckiger Störung durch
die zwangsartige Vorstellung bewußt ist u. dgl. Man kann
daher behaupten, daß auch viele Syndrome der Zwangsneurose,
wie die Folie du doute und ähnliches, klinisch, wenn auch
nicht begrifflich, der Angstneurose zuzurechnen sind. 2)
8. Die Verdauungstätigkeit erfährt bei der Angstneurose
nur wenige, aber charakteristische Störungen. Sensationen
wie Brechneigung und Übligkeiten sind nichts Seltenes, und
^) Die Abwehr-Neuropsychosen. Neurol. Centralbl.,1894, Nr. 10 u. 11.
2) Obsessions et pliobies. Revue neurologique, 1895.
5*
68
das Symptom des Heißhungers kann allein oder mit anderen
(Kongestionen) einen rudimentären Angstanfall abgeben; als
chronische Veränderung, analog der ängstlichen Erwartung,
findet man eine Neigung zur Diarrhöe, die zu den seltsamsten
diagnostischen Irrtümern Anlaß gegeben hat. "Wenn ich nicht
irre, ist es diese Diarrhöe, auf welche Möbius^) unlängst
in einem kleinen Aufsatze die Aufmerksamkeit gelenkt hat.
Ich vermute femer, Peyers reflektorische Diarrhöe, die er
von Erkrankungen der Prostata ableitet ^), ist nichts anderes
als diese Diarrhöe der Angstneurose. Eine reflektorische
Beziehung wird dadurch vorgetäuscht, daß in der Ätiologie
der Angstneurose dieselben Faktoren ins Spiel kommen, die
bei der Entstehung von solchen Prostataaffektionen u. dgl.
tätig sind.
Das Verhalten der Magendarmtätigkeit bei der Angst-
neurose^ zeigt einen scharfen Gegensatz zu der Beeinflussung
derselben Funktion bei der Neurasthenie. Mischfälle zeigen
oft die bekannte „Abwechslung von Diarrhöe und Ver-
stopfung". Der Diarrhöe analog ist der Harndrang der
Angstneurose.
9. Die Parästhesien, die den Schwindel- oder Angst-
anfall begleiten können, werden dadurch interessant, daß sie
sich, ähnlich wie die Sensationen der hysterischen Aura, zu
einer festen Reihenfolge assoziieren; doch finde ich diese
assoziierten Empfindungen im Gegensatz zu den hysterischen
atypisch und wechselnd. Eine weitere Ähnlichkeit mit der
Hysterie wird dadurch erzeugt, daß bei der Angstneurose
eine Art von Konversion^) auf körperliche Sensationen
stattfindet, die sonst nach Belieben übersehen werden
können, z. B. auf die rheumatischen Muskeln. Eine ganze
Anzahl sogenannter Rheumatiker, die übrigens auch als solche
nachweisbar sind, leidet eigentlich an — Angstneurose. Neben
dieser Steigerung der Schmerzempfindlichkeit habe ich bei einer
Anzahl von Fällen der Angstneurose eine Neigung zu
1) Möbius: Neuropathologische Beiträge, 1894, 2. Heft.
*) P e y e r : Die nervösen Affektionen des Darmes, Wiener Klinik,
Jänner 1893.
') Freud: Abwehr-Neuropsychosen.
69
Halluzinationen beobaclitet, welch letztere sich nicht als
hysterische deuten ließen.
10. Mehrere der genannten Symptome, welche den Angst-
anfall begleiten oder vertreten, kommen auch in chronischer
Weise vor. Sie sind dann noch weniger leicht kenntlich, da
die sie begleitende ängstliche Empfindung undeutHcher aus-
fällt als beim Angstanfall. Dies gilt besonders für die Diarrhöe,
den Schwindel und die Parästhesien. Wie der SchwindelanfaU
durch einen Ohnmachtsanfall, so kann der chronische Schwindel
durch die andauernde Empfindung großer Hinf äUigkeit, Mattig-
keit u. dgl. verteten werden.
n. Vorkommen und Ätiologie der Angstneurose.
In manchen Fällen von Angstneurose läßt sich eine
Ätiologie überhaupt nicht erkennen. Es ist bemerkenswert,
daß in solchen FäUen der Nachweis einer schweren hereditären
Belastung selten auf Schwierigkeiten stößt.
Wo man aber Grund hat, die Neurose für eine erwor-
bene zu halten, da findet man bei sorgfältigem, dahin
zielendem Examen als ätiologisch wirksame Momente eine
Reihe von Schädlichkeiten und Einflüssen aus dem Sexual-
leben. Dieselben scheinen zunächst mannigfaltiger Natur,
lassen aber leicht den gemeinsamen Charakter herausfinden, der
ihre gleichartige Wirkung auf das Nervensystem erklärt; sie
finden sich femer entweder allein oder neben anderen banalen
Schädlichkeiten, denen man eine unterstützende Wirkung
zuschreiben darf. Diese sexuelle Ätiologie der Angstneurose
ist so überwiegend häufig nachzuweisen, daß ich mich getraue,
für die Zwecke dieser kurzen Mitteilung die FäUe
mit zweifelhafter oder andersartiger Ätiologie beiseite zu
lassen.
Für die genauere Darstellung der ätiologischen Be-
dingungen, unter denen die Angstneurose vorkommt, wird es
sich empfehlen, Männer und Frauen gesondert zu behandeln.
Die Angstneurose stellt sich bei weiblichen Individuen —
nur abgesehen von deren Disposition — in folgenden Fällen ein:
a) als virginale Angst oder Angst der Adoles-
centen. Eine Anzahl von unzweideutigen Beobachtungen
70
hat mir gezeigt, daß ein erstes Zusammentreffen mit dem
sexuellen Problem, eine einigermaßen plötzliche Enthüllung
des bisher Verschleierten, z. B. durch den Anbhck eines
sexuellen Aktes, eine Mitteilung oder Lektüre, bei heran-
reifenden Mädchen eine Angstneurose hervorrufen kann, die
fast in typischer Weise mit Hysterie kombiniert ist;
h) als Angst der Neuvermählten. Junge Frauen,
die bei den ersten Kohabitationen anästhetisch geblieben sind,
verfallen nicht selten der Angstneurose, die wieder verschwindet,
nachdem die Anästhesie normaler Empfindlichkeit Platz ge-
macht hat. Da die meisten jungen Frauen bei solcher anfänglicher
Anästhesie gesund bleiben, bedarf es für das Zustandekommen
dieser Angst Bedingungen, die ich auch angeben werde;
c) als Angst der Frauen, deren Männer Ejaculatio praecox
oder sehr herabgesetzte Potenz zeigen; und
d) deren Männer den Coitus interruptus oder reservatus
üben. Diese Fälle gehören zusammen, denn man kann sich
bei der Analyse einer großen Anzahl von Beispielen leicht
überzeugen, daß es nur darauf ankommt, ob die Frau beim
Koitus zur Befriedigung gelangt oder nicht. Im letzteren Falle
ist die Bedingung für die Entstehung der Angstneurose ge-
geben. Dagegen bleibt die Frau von der Neurose verschont,
wenn der mit Ejaculatio praecox behaftete Mann den Congressus
unmittelbar darauf mit besserem Erfolg wiederholen kann.
Der Congressus reservatus mittels des Kondoms stellt für
die Frau keine Schädlichkeit dar, wenn sie sehr rasch
erregbar und der Mann sehr potent ist; im anderen Falle
steht diese Art des Präventivverkehres den anderen an
Schädlichkeit nicht nach. Der Coitus interruptus ist fast
regelmäßig eine SchädHchkeit ; für die Frau wird er es aber
nur dann, wenn der Mann ihn rücksichtslos übt, das heißt
den Koitus unterbricht, sobald er der Ejaculation nahe ist,
ohne sich um den Ablauf der Erregung der Frau zu kümmern.
"Wartet der Mann im Gegenteile die Befriedigung der Frau
ab, so hat ein solcher Koitus für letztere die Bedeutung eines
normalen ; es erkrankt aber dann der Mann an Angstneurose.
Ich habe eine große Anzahl von Beobachtungen gesammelt
und analysiert, aus denen obige Sätze hervorgehen;
71
e) als Angst der Witwen und absichtlich Ab-
stinenten, nicht selten in typischer Kombination mit Zwangs-
vorstellungen;
f) als Angst im Klimakterium während der letzten
großen Steigerung der sexuellen Bedürftigkeit.
Die Fälle c), d) und e) enthalten die Bedingungen, unter
denen die Ansrstneurose beim weiblichen Geschlecht am
häufigsten imd am ehesten unabhängig von hereditärer Dis-
position entsteht. An diesen — heilbaren, erworbenen —
Fällen von Angstneurose werde ich den Nachweis zu führen
versuchen, daß die aufgefundene sexuelle Schädlichkeit wirklich
das ätiologische Moment der Neurose darstellt. Ich will nur
vorher auf die sexuellen Bedingungen der Angstneurose bei
Männern eingehen. Hier möchte ich folgende Gruppen auf-
stellen, die sämtUch ihre Analogien bei den Frauen finden.
a) Angst der absichtlich Abstinenten, häufig mit
Symptomen der Abwehr (Zwangsvorstellungen, Hysterie)
kombiniert. Die Motive, die für absichtliche Abstinenz maß-
gebend sind, bringen es mit sich, daß eine Anzahl von hereditär
Veranlagten, Sonderlingen u. dgl. zu dieser Kategorie zählt.
h) Angst der Männer mit frustraner Erregung (während
des Brautstandes), Personen, die (aus Furcht vor den Folgen
des sexuellen Verkehres) sich mit Betasten oder Beschauen
des "Weibes begnügen. Diese Gruppe von Bedingungen
(die übrigens unverändert auf das andere Geschlecht zu über-
tragen ist — Brautschaft, Verhältnisse mit sexueller
Schonung) liefert die reinsten Fälle der Neurose.
c) Angst der Männer, die Coitus interruptus üben. Wie
schon bemerkt, schädigt der Coitus interruptus die Frau, wenn
er ohne Rücksicht auf die Befriedigung der Frau geübt
wird ; — er wird aber zur Schädlichkeit für den Mann, wenn
dieser, um die Befriedigung der Frau zu erzielen, den Coitus
willkürHch dirigiert, die Ejaculation aufschiebt. Auf solche
Weise läßt sich verstehen, daß von den Ehepaaren, die im
Coitus interruptus leben, gewöhnlich nur ein Teil erkrankt.
Bei Männern erzeugt der Coitus interruptus übrigens nur
selten reine Angstneurose, meist eine Vermengung derselben
mit Neurasthenie.
72
d) Angst der Männer im S e n i u m. Es gibt Männer,,
die wie die Frauen ein Klimakterium zeigen und zur Zeit
ihrer abnehmenden Potenz und steigenden Libido Angst-
neurose produzieren.
Endlich muß ich noch zwei Fälle anschließen, die für
beide Geschlechter gelten:
e) Die Neurastheniker infolge von Masturbation verfallen
in Angstneurose, sobald sie von ihrer Art der sexuellen Be-
friedigung ablassen. Diese Personen haben sich besonders
unfähig gemacht, die Abstinenz zu ertragen.
Ich bemerke hier als wichtig für das Verständnis der
Angstneurose, daß eine irgend bemerkenswerte Ausbildung
derselben nur bei potent gebliebenen Männern und bei nicht
anästhetischen Frauen zustande kommt. Bei Neurasthenikern,
die durch Masturbation bereits schwere Schädigung ihrer
Potenz erworben haben, fällt die Angstneurose im Falle der
Abstinenz recht dürftig aus und beschränkt sich meist auf
Hypochondrie und leichten chronischen Schwindel. Die Frauen
sind ja in ihrer Mehrheit als „potent" zu nehmen; eine wirklich
impotente, d. h. wirkHch anästhetische Frau ist gleichfalls
der Angstneurose wenig zugängKch und erträgt die ange-
führten Schädlichkeiten auffällig gut.
"Wieweit man etwa sonst berechtigt ist, konstante Be-
ziehungen zwischen einzelnen ätiologischen Momenten und
einzelnen Symptomen aus dem Komplex der Angstneurose
anzunehmen, möchte ich hier noch nicht erörtern.
f) Die letzte der anzuführenden ätiologischen Bedingungen
scheint zunächst überhaupt nicht sexueller Natur zu sein. Die
Angstneurose entsteht, und zwar bei beiden Geschlechtern,,
auch durch das Moment der Überarbeitung, erschöpfender
Anstrengung, z, B. nach Nachtwachen, Krankenpflegen und
selbst nach schweren Krankheiten.
Der Haupteinwand gegen meine Aufstellung einer
sexuellen Ätiologie der Angstneurose wird wohl dahin lauten :
derartige abnorme Verhältnisse des Sexuallebens fänden sich
so überaus häufig, daß sie überall zur Hand sein müssen, wo
man nach ihnen sucht. Ihr Vorkommen in den angeführten
7a
Fällen von Angstneurose beweise also nicht, daß in ihnen
die Ätiologie der Neurose aufgedeckt sei. XJbrigens sei die
Anzahl der Personen, die Coitus interruptus u. dgl. treiben^
unvergleichlich größer als die Anzahl der mit Agstneurose
Behafteten, und die überwiegende Menge der ersteren befände
sich bei dieser SchädHchkeit recht wohl.
Ich habe darauf zu erwidern, daß man bei der anerkannt
übergroßen Häufigkeit der Neurosen und der Angstneurose
speziell ein selten vorkommendes ätiologisches Moment
gewiß nicht erwarten dürfe; ferner daß damit geradezu ein,
Postulat der Pathologie erfüllt sei, wenn sich bei einer ätio-
logischen Untersuchung das ätiologische Moment noch häufiger
nachweisen lasse als dessen Wirkung, da ja für letztere noch
andere Bedingungen (Disposition,r!Summation der spezifischen
Ätiologie, Unterstützung durch andere, banale Schädlichkeiten)
erfordert werden können; ferner, daß die detaillierte Zer-
gHederung geeigneter Fälle von Angstneurose die Bedeutung
des sexuellen Momentes ganz unzweideutig erweist. Ich will
mich hier aber nur auf das ätiologische Moment des Coitus
interruptus und auf die Hervorhebung einzelner beweisender
Erfahrungen beschränken.
1. So lange die Angstneurose bei jungen Frauen noch
nicht konstituiert ist, sondern in Ansätzen hervortritt, die
immer wieder spontan verschwinden, läßt sich nachweisen, daß
jeder solche Schub der Neurose auf einen Koitus mit man-
gelnder Befriedigung zurückgeht. Zwei Tage nach dieser Ein-
wirkung, bei wenig resistenten Personen am Tage nachher,
tritt regelmäßig der Angst- oder Schwindelanfall auf, an den
sich andere Symptome der Neurose schließen, um — bei
seltenerem ehehchen Verkehr — wieder mit einander abzu-
klingen. Eine zufällige Reise des Mannes, ein Aufenthalt im
Gebirge, der mit Trennung des Ehepaares verbunden ist, tun
gut; die zumeist in erster Linie eingeleitete gynäkologische
Behandlung nützt dadurch, daß während ihrer Dauer der
eheliche Verkehr aufgehoben ist. Merkwürdigerweise ist der
Erfolg der lokalen Behandlung ein vorübergehender, stellt
sich die Neurose noch im Gebirge wieder ein, sobald der
Mann seinerseits in die Ferien tritt u. dgl. Läßt man als ein
74
dieser Ätiologie kundiger Arzt bei noch nicht konstituierter
Neurose den Coitus interruptus durch normalen Verkehr er-
setzen, so ergibt sich die therapeutische Probe auf die
hier aufgestellte Behauptung. Die Angst ist behoben und
kehrt ohne neuen, ähnlichen Anlaß nicht wieder.
2. In der Anamnese vieler Fälle von Angstneurose findet
man bei Männern wie bei Frauen ein auffälliges Schwanken
in der Intensität der Erscheinimgen, ja im Kommen und
Gehen des ganzen Zustandes. Dieses Jahr war fast ganz gut,
das nächstfolgende gräßlich u. dgl., einmal fällt die Besserung
zugunsten einer bestimmten Kur aus, die aber beim nächsten
AnfaU ganz im Stiche gelassen hat u. dgl. m. Erkundigt man
sich nun nach Anzahl und Reihenfolge der Kinder und stellt
diese Ehechronik dem eigentümlichen Verlauf der Neurose
gegenüber, so ergibt sich als einfache Lösung, daß die
Perioden von Besserung oder "Wohlbefinden mit den Gravidi-
täten der Frau zusammenfallen, während welcher natürlich
der Anlaß für den Präventiwerkehr entfallen war. Dem Manne
aber hatte jene Kur, sei es beim Pfarrer Kneipp oder in
der hydrotherapeutischen Anstalt, genützt, nach welcher er
seine Frau gravid antraf.
3. Aus der Anamnese der Kranken ergibt sich häufig,
daß die Symptome der Angstneurose zu einer bestimmten
Zeit die einer anderen Neurose, etwa der Neurasthenie, ab-
gelöst und sich an deren Stelle gesetzt haben. Es läßt sich
dann ganz regelmäßig nachweisen, daß kurz vor diesem
"Wechsel des Bildes ein entsprechender "Wechsel in der Art
der sexuellen Schädigung stattgefunden hat.
"Während derartige, nach Belieben zu vermehrende Er-
fahrungen dem Arzte für eine gewisse Kategorie von Fällen
die sexuelle Ätiologie geradezu aufdrängen, lassen sich andere
Fälle, die sonst unverständlich blieben, mittels des Schlüssels
der sexuellen Ätiologie wenigstens widerspruchslos verstehen
und einreihen. Es sind dies jene sehr zahlreichen Fälle, in
denen zwar alles vorhanden ist, was wir bei der vorigen
Kategorie gefunden haben, die Erscheinungen der Angst-
neurose einerseits, das spezifische Moment des Coitus inter-
ruptus andererseits, wo aber noch etwas anderes sich ein-
75
schiebt, nämlich ein langes Intervall zwischen der vermeint-
lichen Ätiologie und deren Wirkung, und etwa noch ätio-
logische Momente nicht sexueller Natur. Da ist z. B.
ein Mann, der auf die Nachricht vom Tode seines Vaters
einen Herzanfall bekommt und von da an der Angstneurose
verfallen ist. Der Fall ist nicht zu verstehen, denn der Mann
war bisher nicht nervös; der Tod des hochbejahrten Yaters
erfolgte keineswegs unter besonderen Umständen, und man
wird zugeben, daß das normale, erwartete Ableben eines alten
Vaters nicht zu den Erlebnissen gehört, die einen gesunden
Erwachsenen krank zu machen pflegen. Vielleicht wird die
ätiologische Analyse durchsichtiger, wenn ich hinzunehme,
daß dieser Mann seit 11 Jahren den Coitus interruptus mit
Rücksicht auf seine Frau ausübt. Die Erscheinungen sind
wenigstens genau die nämlichen, wie sie bei anderen Personen
nach kurzer derartiger sexueller Schädigung und ohne Da-
zwischenkimft eines anderen Traumas auftreten. Ahn lieh zu
beurteilen ist der FaU einer Frau, deren Angstneurose nach
dem Verlust eines Blindes ausbricht, oder des Studenten, der
in der Vorbereitung zu seiner letzten Staatsprüfung durch
die Angstneurose gestört wird. Ich finde die Wirkung
hier wie dort nicht durch die angegebene Ätiologie
erklärt. Man muß sich nicht beim Studieren „überarbeiten",
und eine gesunde Mutter pflegt auf den Verlust eines Kindes
nur mit normaler Trauer zu reagieren. Vor allem aber würde
ich erwarten, daß der Student durch Überarbeitung eine
Cephalasthenie, die Mutter in unserem Beispiele eine Hysterie
acquirieren soUte. Daß sie beide Angstneurose bekommen,
veranlaßt mich Wert darauf zu legen, daß die Mutter seit
8 Jahren im eheHchen Coitus interruptus lebt, der Student
aber seit 3 Jahren ein warmes Liebesverhältnis mit einem
„anständigen" Mädchen unterhält, das er nicht schwängern darf.
Diese Ausführungen laufen auf die Behauptung hinaus,
daß die spezifische sexuelle Schädlichkeit des Coitus inter-
ruptus dort, wo sie nicht imstande ist, für sich allein die
Angstnem'ose hervorzurufen, doch wenigstens zu ihrer Er-
werbung disponiert. Die Angstneurose bricht dann aus,
sobald zur latenten Wirkung des spezifischen Momentes die
76
Wirkung einer anderen, banalen Schädlichkeit hinzutritt.
Letztere kann das spezifische Moment quantitativ ver-
treten, aber nicht qualitativ ersetzen. Das spezifische
Moment bleibt stets dasjenige, welches die Form der Neurose
bestimmt. Ich hoffe, diesen Satz für die Ätiologie der Neu-
rosen auch im größeren Umfang erweisen zu können.
Ferner ist in den letzten Erörterungen die an sich nicht
unwahrscheinliche Annahme enthalten, daß eine sexuelle Schäd-
lichkeit wie der Coitus interruptus sich durch Summation
zur Geltung bringt. Je nach der Disposition des Individuums
und der sonstigen Belastung von dessen Nervensystem wird
es kürzere oder längere Zeit brauchen, ehe der Effekt dieser
Summation sichtbar wird. Die Individuen, welche den Coitus
interruptus scheinbar ohne Nachteü ertragen, werden in Wirk-
lichkeit durch denselben zu Störungen der Angstneurose dis-
poniert, die irgend einmal spontan oder nach einem banalen,
sonst unangemessenen Trauma losbrechen können, gerade wie
der chronische Alkoholiker auf dem Wege der Summation
endlich eine Cirrhose oder andere Erkrankung entwickelt oder
unter dem Einfluß eines Fiebers in ein Delirium verfällt.
in. Ansätze zu einer Theorie der Angstneurose.
Die nachstehenden Ausführungen beanspruchen nichts
als den Wert eines ersten, tastenden Versuches, dessen Be-
urteilung die Aufnahme der im vorigen enthaltenen Tat-
sachen nicht beeinflussen soUte. Die Würdigung dieser
„Theorie der Angstneurose'^ wird ferner noch dadurch er-
schwert, daß sie bloß einem Bruchstück aus einer umfassenderen
Darstellung der Neurosen entspricht.
In dem bisher über die Angstneurose Vorgebrachten sind
bereits einige Anhaltspunkte für einen Einblick in den Me-
chanismus dieser Neurose enthalten. Zunächst die Vermutung,
es dürfte sich um eine Anhäufung von Erregung handeln,
sodann die überaus wichtige Tatsache, daß die Angst, die
den Erscheinungen der Neurose zugrunde liegt, keine
psychische Ableitung zuläßt. Eine solche wäre
z. B. vorhanden, wenn sich als Grundlage der Angstneu-
rose ein einmaliger oder wiederholter, berechtigter Schreck
77
fände, der seither die Quelle der Bereitschaft zur Angst ab-
gäbe. Allein dies ist nicht der Fall; durch einen einmaligen
Schreck kann zwar eine Hysterie oder eine traumatische
Neurose erworben werden, nie aber eine Angstneurose. Ich
habe, da sich unter den Ursachen der Angstneurose der
Coitus interrputus so sehr in den Vordergrund drängt, anfangs
gemeint, die Quelle der kontinuierlichen Angst könnte in der
beim Akte jedesmal sich wiederholenden Furcht liegen, die
Technik könnte mißglücken und demnach Konzeption erfolgen.
Ich habe aber gefunden, daß dieser Gemütszustand der Frau oder
des Mannes während des Coitus interruptus für die Entstehung
der Angstneurose gleichgütig ist, daß die gegen die Folgen einer
möglichen Konzeption im Grunde gleichgiltigen Frauen der
Neurose ebenso ausgesetzt sind wie die vor dieser Möglich-
keit Schaudernden, und daß es nur darauf ankam, welcher
Teil bei dieser sexuellen Technik seine Befriedigung einbüßte.
Einen weiteren Anhaltspunkt bietet die noch nicht er-
wähnte Beobachtung, daß in ganzen Reihen von Fällen die
Angstneurose mit der deutlichsten Verminderung der sexuellen
Libido, der psychischen Lust, einhergeht, so daß die
Kranken auf die Eröffnung, ihr Leiden rühre von „ungenügender
Befriedigung", regelmäßig antworten : Das sei unmöglich, gerade
jetzt sei alles Bedürfnis bei ihnen erloschen. Aus aU diesen
Andeutungen, daß es sich um Anhäufung von Erregung
handle, daß die Angst, welche solcher angehäufter Erregung
wahrscheinlich entspricht, somatischer Herkunft sei, so daß
also somatische Erregung angehäuft werde, ferner daß diese
somatische Erregung sexueller Natur sei, und daß eine Ab-
nahme der psychischen Beteiligung an den Sexualvorgängen
nebenher gehe — alle diese Andeutungen, sage ich, begün-
stigen die Erwartung, der Mechanismus der Angst-
neurose sei in der Ablenkung der somatischen
Sexualerregung vom Psychischen und einer da-
durch verursachten abnormen Verwendung dieser
Erregung zu suchen.
Man kann sich diese Vorstellung vom Mechanismus der
Angstneurose klarer machen, wenn man folgende Betrachtung
über den Sexualvorgang akzeptiert, die sich zunächst auf
78
den Mann bezieht. Im geschleclitsreifen männlichen Organis-
mus wird — ■ wahrscheinlich kontinuierlich — die somatische
Sexualerregung produziert, die periodisch zu einem Reiz
für das psychische Leben wird. Schalten wir, um unsere
Vorstellungen darüber besser zu fixieren, ein, daß diese
somatische Sexualerregung sich als Druck auf die mit Nerven-
endigungen versehene Wandung der Samenbläschen äußert,
so wird diese viszerale Erregung zwar kontinuierlich an-
wachsen, aber erst von einer gewissen Höhe an imstande
sein, den Widerstand der eingeschalteten Leitung bis zur
Hirnrinde zu überwinden und sich als psychischer Beiz zu
äußern. Dann aber wird die in der Psyche vorhandene sexuelle
Vorstellungsgruppe mit Energie ausgestattet, und es entsteht
der psychische Zustand Hbidinöser Spannung, welcher den
Drang nach Aufhebung dieser Spannung mit sich bringt.
Eine solche psychische Entlastung ist nur auf einem Wege
möglich, den ich als spezifische oder adäquate Aktion
bezeichnen will. Diese adäquate Aktion besteht für den männ-
lichen Sexualtrieb in einem komplizierten spinalen Reflexakt,
der die Entlastung jener Nervenendigungen zur Folge hat,
und in allen psychisch zu leistenden Vorbereitungen für die
Auslösung dieses Reflexes. Etwas anderes als die adäquate
Aktion würde nichts fruchten, denn die somatische Sexual-
erregung setzt sich, nachdem sie einmal den Schwellenwert
erreicht hat, kontinuierlich in psychische Erregung um; es
muß durchaus dasjenige geschehen, was die Nervenendigungen
von dem auf sie lastenden Druck befreit, somit die ganze
derzeit vorhandene somatische Erregung aufhebt und der
subkortikalen Leitung gestattet, ihren Widerstand herzustellen.
Ich werde es mir versagen, kompliziertere Fälle des
Sexualvorganges in ähnlicher Weise darzustellen. Ich wiU
nur noch die Behauptung aufstellen, daß dieses Schema im
wesentlichen auch auf die Frau zu übertragen ist, trotz aller
das Problem verwirrenden, artefiziellen Verzögerung und
Verkümmerung des weiblichen Geschlechtstriebes. Es ist auch
bei der Frau eine somatische Sexualerregung anzunehmen
und ein Zustand, in dem diese Erregung psychischer Reiz
wird, Libido und den Drang nach der spezifischen Aktion
79
hervorruft, an welclie sich das "Wollustgefühl knüpft. Nur ist
man bei der Frau nicht imstande, anzugeben, was etwa der
Entspannung der Samenbläschen hier analog wäre.
In den Rahmen dieser Darstellung des Sexualvorganges,
läßt sich nun sowohl die Ätiologie der echten Neurasthenie,
als die der Angstneurose eintragen. Neurasthenie entsteht
jedesmal, wenn die adäquate (Aktion) Entlastung durch eine
minder adäquate ersetzt wird, der normale Koitus unter den
günstigsten Bedingungen also durch eine Masturbation oder
spontane Pollution; zur Angstneurose aber führen alle Momente,
welche die psychische Verarbeitung der somatischen Sexual-
eiTegung verhindern. Die Erscheinungen der Angstneurose
kommen zustande, indem die von der Psyche abgelenkte
somatische Sexualerregung sich subkortikal, in ganz und gar
nicht adäquaten Reaktionen ausgibt.
Ich will es nun versuchen, die vorhin angegebenen
ätiologischen Bedingungen der Angstneurose daraufhin zu
prüfen, ob sie den von mir aufgestellten gemeinsamen
Charakter erkennen lassen. Als erstes ätiologisches Moment
habe ich für den Mann die absichthche Abstinenz angeführt.
Abstinenz besteht in der Versagung der spezifischen Aktion,
die sonst auf die Libido erfolgt. Eine solche Versagung wird
zwei Konsequenzen haben können, nämlich, daß die somatische
Erregung sich anhäuft, und dann zunächst, daß sie auf andere
"Wege abgelenkt wird, auf denen ihr eher Entladung winkt,
als auf dem Wege über die Psyche. Es wird also die Libido
endlich sinken und die Erregung subkortikal als Angst sich
äußern. Wo die Libido nicht verringert wird, oder die
somatische Erregung auf kurzem Wege in Pollutionen ver-
ausgabt wird, oder infolge der Zurückdrängung wirklich ver-
siegt, da entsteht eben alles andere als Angstneurose. Auf
solche Weise führt die Abstinenz zur Angstneurose. Die
Abstinenz ist aber auch das Wirksame an der zweiten
ätiologischen Gruppe, der frustranen Erregung. Der dritte
Fall, der des rücksichtsvollen Coitus reservatus, wirkt da-
durch, daß er die psychische Bereitschaft für den Sexual-
ablauf stört, indem er neben der Bewältigung des Sexual-
affektes eine andere, ablenkende, psychische Aufgabe einführt..
so
Auch durch diese psychische Ablenkung schwindet allmählich
die Libido, der weitere Verlauf ist dann derselbe wie im
Falle der Abstinenz. Die Angst im Senium (Kümakterium
der Männer) erfordert eine andere Erklärung. Hier läßt die
Libido nicht nach; es findet aber, wie während des Klimak-
teriums der Weiber, eine solche Steigerung in der Pro-
duktion der somatischen Erregung statt, daß die Psyche
für die Bewältigung derselben sich als relativ insuffizient
erweist.
Keine größeren Schwierigkeiten bereitet die Subsum-
mierung der ätiologischen Bedingungen bei der Frau unter
dem angeführten Gresichtspunkt. Der Fall der virginalen Angst
ist besonders klar. Hier sind eben die Vorstellungsgruppen
noch nicht genug entwickelt, mit denen sich die somatische
Sexualerregung verknüpfen soll. Bei der anästhetischen Neu-
vermählten tritt die Angst nur dann auf, wenn die ersten
Kohabitationen ein genügendes Maß von somatischer Erregung
wecken. Wo die lokalen Zeichen solcher Erregtheit (wie
spontane Reizempfindung, Harndrang u. dgl.) fehlen, da bleibt
auch die Angst aus. Der Fall der Ejaculatio praecox, des
Coitus interruptus, erklärt sich ähnlich wie beim Manne da-
durch, daß für den psychisch unbefriedigenden Akt allmählich
die Libido schwindet, während die dabei wachgerufene Er-
regung subkortikal ausgegeben wird. Die Herstellung einer
Entfremdung zwischen dem Somatischen und dem
Psychischen im Ablauf der Sexualerregung erfolgt beim
Weibe rascher und ist schwerer zu beseitigen als beim Manne.
Der Fall der Witwenschaft und der gewollten Abstinenz
.sowie der Fall des KHmakteriums erledigt sich beim Weibe
wohl ebenso wie beim Manne, doch kommt für den Fall der
Abstinenz gewiß noch die absichthche Verdrängung des
sexuellen Vorstellungskreises hinzu, zu welcher die mit der
Versuchung kämpfende abstinente Frau sich häufig ent-
schließen muß, und ähnlich mag in der Zeit der Menopause
der Abscheu wirken, den die alternde Frau gegen die über-
groß gewordene Libido empfindet.
Auch die beiden zuletzt angeführten ätiologischen
Bedingungen scheinen sich ohne Schwierigkeit einzuordnen.
81
Die Angstneigung der neurasthenisch gewordenen Ma-
sturbanten erklärt sich, daraus, daß diese Personen so leicht
in den Zustand der „Abstinenz" geraten, nachdem sie sich
so lange gewöhnt hatten, jeder kleinen Quantität somatischer
Erregung eine allerdings fehlerhafte Abfuhr zu schaffen.
Endlich läßt der letzte Fall, die Entstehung der Angstneurose
durch schwere Krankheit, Überarbeitung, erschöpfende
Krankenpflege u. dgl., in Anlehnung an die Wirkungsweise
des Coitus interruptus die zwanglose Deutung zu, die Psyche
werde hier durch Ablenkung insuffizient zur Bewältigung der
somatischen Sexualerregung, einer Aufgabe, die ihr ja kon-
tinuierlich obliegt. Man weiß, wie tief unter denselben Be-
dingungen die Libido sinken kann, und man hat hier ein
schönes Beispiel einer Neurose, die zwar keine sexuelle
Ätiologie, aber doch einen sexuellen Mechanismus
erkennen läßt.
Die hier entwickelte Auffassung stellt die Symptome
der Angstneurose gewissermaßen als Surrogate der unter-
lassenen spezifischen Aktion auf die Sexualerregung dar. Ich
erinnere zur weiteren Unterstützung derselben daran, daß
auch beim normalen Koitus die Erregung sich nebstbei als
Atembeschleunigung, Herzklopfen, Schweißausbruch, Kon-
gestion u. dgl. ausgibt. Im entsprechenden Angstanfall unserer
Neurose hat man die Dyspnoe, das Herzklopfen u. dgl. des
Koitus isoliert und gesteigert vor sich.
Es könnte noch gefragt werden : "Warum gerät denn das
Nervensystem unter solchen Umständen, bei psychischer
Unzulänglichkeit zur Bewältigung der Sexualerregung, in
den eigentümlichen Affektzustand der Angst? Darauf ist
andeutungsweise zu erwidern : Die Psyche gerät in den Affekt
der Angst, wenn sie sich unfähig fühlt, eine von a u ß en
nahende Aufgabe (Gefahr) durch entsprechende Reaktion
zu erledigen; sie gerät in die Neurose der Angst, wenn sie
sich unfähig merkt, die endogen entstandene (Sexual-) Er-
regung auszugleichen. Sie benimmt sich also, als
projizierte sie diese Erregung nach außen. Dei
Affekt und die ihm entsprechende Neurose stehen in fester
Beziehung zu einander, der erstere ist die Reaktion auf eine
Freud, Neurosenlehro. 6
82
exogene, die letztere die Reaktion auf die analoge endogene
Erregung. Der Affekt ist ein rasch vorübergehender Zustand,
die Neurose ein chronischer, weil die exogene Erregung wie
ein einmaliger Stoß, die endogene wie eine konstante Kraft
wirkt. Das Nervensystem reagiert in der Neurose
gegen eine innere Erregungsquelle, wie in dem
entsprechenden Affekt gegen eine analoge
äußere.
IV. Beziehung zu anderen Neurosen.
Es erübrigen noch einige Bemerkungen über die
Beziehungen der Angstneurose zu den anderen Neurosen
nach Vorkommen und innerer Verwandtschaft.
Die reinsten Fälle von Angstneurose sind auch meist
die ausgeprägtesten. Sie finden sich bei potenten jugend-
lichen Individuen, bei einheitHcher Ätiologie und nicht zu
langem Bestände des Krankseins.
Häufiger ist allerdings das gleichzeitige und gemein-
same Vorkommen von Angstsymptomen mit solchen der
Neurasthenie, Hysterie, der Zwangsvorstellungen, der Melan-
choHe. Wollte man sich durch solche khnische Vermengung
abhalten lassen, die Angstneurose als eine selbständige Einheit
anzuerkennen, so müßte man konsequenterweise auch auf die
mühsam erworbene Trennung von Hysterie und Neurasthenie
wieder verzichten.
Für die Analyse der „gemischten Neurosen" kann ich
den wichtigen Satz vertreten: Wo sich eine gemischte
Neurose vorfindet, da läßt sich eine Vermengung
mehrerer spezifischer Ätiologien nachweisen.
Eine solche Vielheit ätiologischer Momente, die eine
gemischte Neurose bedingt, kann bloß zufällig zustande kommen,
etwa indem eine neu hinzutretende Schädlichkeit ihre Wir-
kungen zu denen einer früher vorhandenen addiert; zum
Beispiel eine Frau, die von jeher Hysterica war, tritt zu einer
gewissen Zeit ihrer Ehe in den Coitus reservatus ein und
erwirbt jetzt zu ihrer Hysterie eine Angstneurose ; ein Mann,
der bisher masturbiert hatte und neurasthenisch wurde, wird
Bräutigam, erregt sich bei seiner Braut, und jetzt gesellt
sich zur Neurasthenie eine frische Angstneurose hinzu.
83
In anderen Fällen ist die Mekrlieit ätiologischer Momente
keine zufällige, sondern das eine derselben hat das andere
mit zur Wirkung gebracht; zum Beispiel eine Frau, mit
welcher ihr Mann Coitus reservatus ohne Rücksicht auf ihre
Befriedigung übt, sieht sich genötigt, die peinliche Erregung
nach einem solchen Akt durch Masturbation zu beenden;
sie zeigt infolgedessen nicht reine Angstneurose, sondern
daneben Symptome von Neurasthenie ; eine zweite Frau wird
unter derselben Schädlichkeit mit lüsternen Bildern zu kämpfen
haben, deren sie sich erwehren will, und wird auf solche
Weise durch den Coitus interruptus nebst der Angstneurose
Zwangsvorstellungen erwerben ; eine dritte Frau endlich wird
infolge des Coitus interruptus die Neigung zu ihrem Manne
einbüßen, eine andere Neigung erwerben, welche sie sorg-
fältig geheim hält, und wird infolgedessen ein Gemenge von
Angstneurose und Hysterie zeigen.
In einer dritten Kategorie von gemischten Neurosen
ist der Zusammenhang der Symptome ein noch innigerer,
indem die nämhche ätiologische Bedingung gesetzmäßig und
gleichzeitig beide Neurosen hervorruft. So zum Beispiel
erzeugt die plötzHche sexuelle Aufklärung, die wir bei der
virginalen Angst gefunden haben, immer auch Hysterie; die
allermeisten FäUe von absichthcher Abstinenz verknüpfen sich
von Anfang an mit echten Zwangsvorstellungen; der Coitus
interruptus der Männer scheint mir niemals reine Angstneurose
provozieren zu können, sondern stets eine Vermengung der-
selben mit Neurasthenie u. dgl.
Es geht aus diesen Erörterungen hervor, daß man die
ätiologischen Bedingungen des Vorkommens noch unterscheiden
muß von den spezifischen ätiologischen Momenten der Neu-
rosen. Erstere, zum Beispiel der Coitus interruptus, die
Masturbation, die Abstinenz, sind noch vieldeutig und können
ein jedes verschiedene Neurosen produzieren; erst die aus
ihnen abstrahierten ätiologischen Momente, wie inadäquate
Entlastung, psychische Unzulänglichkeit, Ab-
wehr mit Substitution haben eine unzweideutige und
spezifische Beziehung zur Ätiologie der einzelnen großen
Neurosen.
6*
84
Ihreni innereii Wesen nach zeigt die Angstneurose die
interessantesten Übereinstimmungen und Verschiedenheiten
gegen die anderen großen Neurosen, besonders gegen Neura-
sthenie und Hysterie. Mit der Neurasthenie teilt sie den einen
Hauptcharakter, daß die Erregungsquelle, der Anlaß zur
Störung, auf somatischem Gebiete liegt, anstatt wie bei Hysterie
und Zwangsneurose auf psychischem. Im übrigen läßt sich
eher eine Art von Gegensätzlichkeit zwischen den Symptomen
der Neurasthenie und denen der ^ Angstneurose erkennen, die
etwa in den Schlagworten: Anhäufung — Verarmung an
Erregung, ihren Ausdruck fände. Diese Gegensätzlichkeit
hindert nicht, daß sich die beiden Neurosen mit einander
vermengen, zeigt sich aber doch darin, daß die extremsten
Formen in beiden Fällen auch die reinsten sind.
Mit der Hysterie zeigt die Angstneurose zunächst eine
Reihe von Übereinstimmungen in der Symptomatologie, deren
genauere "Würdigung noch aussteht. Das Auftreten der Er-
scheinungen als Dauersymptome oder in Anfällen, die auraartig
gruppierten Parästhesien, die Hyperästhesien und Druckpunkte,
die sich bei gewissen Surrogaten des Angstanfalles, bei der
Dyspnoe und dem Herzanfall finden, die Steigerung der etwa
organisch berechtigten Schmerzen (durch Konversion): —
diese und andere gemeinschaftliche Züge lassen sogar ver-
muten, daß manches, was man der Hysterie zurechnet, mit
mehr Fug und Recht zur Angstneurose geschlagen werden
dürfte. Geht man auf den Mechanismus der beiden Neurosen
ein, soweit er sich bis jetzt hat durchschauen lassen, so
ergeben sich Gesichtspunkte, welche die Angstneurose geradezu
als das somatische Seitenstück zur Hysterie erscheinen lassen.
Hier wie dort Anhäufung von Erregung — worin vielleicht
die vorhin geschilderte Ähnlichkeit der Symptome gegründet
ist — ; hier wie dort eine psychische Unzulänglichkeit,
der zufolge abnorme somatische Vorgänge zu-
stande kommen. Hier wie dort tritt an Stelle einer
psychischen Verarbeitung eine Ablenkung der Erregung in
das Somatische ein ; der Unterschied Hegt bloß darin, daß die
Erregung, in deren Verschiebung sich die Neurose äußert,
bei der Angstneurose eine rein somatische (die somatische
85
Sexualerregung), bei der Hysterie eine psychische (durch
Konflikt hervorgerufene) ist. Es kann daher nicht Wunder
nehmen, daß Hysterie und Angstneurose sich gesetzmäßig
miteinander kombinieren, wie bei der „virginalen Angst"
oder der „sexuellen Hysterie'', daß die Hysterie eine
Anzahl von Symptomen einfach der Angstneurose entlehnt
u. dgl. Diese innigen Beziehungen der Angstneurose zur
Hysterie geben auch ein neues Argument ab, um die Trennung
der Angstneurose von der Neurasthenie zu fordern ; denn
verweigert man diese, so kann man auch die so mühsam
erworbene und für die Theorie der Neurosen so unentbehr-
liche Unterscheidung von Neurasthenie und Hysterie nicht
mehr aufrecht erhalten.
"Wien, im Dezember 1894.
VI.
Obsessions et phobies.
Leur mecanismepsychique et lenr Ätiologie/)
Je commencerai par contester deux assertions, qui se
trouvent souvent repetees sur le compte des Syndromes:
„obsessions et phobies". H faut dire: 1*^ qu'ils ne se rattachent
pas ä la neurasthenie propre, pidsque les malades atteints
de ces symptömes sont aussi souvent des neurastheniques que
non; 2° qu'ü n'est pas justifie de les faire dependre de la
degeneration mentale, parce qu'ils se trouvent chez de
personnes pas plus degenerees que la plupart des nevrosiques
en general, parce qu'ils s'amendent quelquefois et qu'on par-
vient meme quelquefois ä les guerir^).
Les obsessions et les phobies sont des nevroses ä part,
d'un mecanisme special et d'une etiologie que j'ai reussi
ä mettre en lumiere dans un certain nombre de cas, et qui,
je l'espere, se montreront de meme dans bon nombre de cas
nouveaux.
Quant ä la division du sujet je propose d'abord d'ecarter
une classe d'obsessions intenses, qui ne sont autre chose que
des Souvenirs, des Images non alterees d'evenements importants.
Je citerai, par exemple, l'obsession de Pascal qui croyait
toujours voir un abime ä son cöte gauche, „depuis qu'il avait
manque d'etre precipite dans la Seine avec son carrosse".
Ces obsessions et phobies, qu'on pourrait nommer traumatiques,
se rattachent aux symptömes de l'hysterie.
^) Eevue neurologique, EEI, 1895.
2) Je suis tres content de trouver que les auteurs les plus recents
sur notre sujet expriment des opinions voisines de la mienne. Voir:
Gelineau, Des peurs maladives oxi phobies, 1894, et HackTuke, On
imperative ideas, Brain, 1894.
87
Ce groupe ä part il faut distinguer : A) les obsessions
•vraies ; B) les phobies. La difference essentielle est la suivante.
n y a dans toute Obsession deux choses: 1° une idee
qui s'impose an malade; 2^ nn etat emotif associe. Or, dans
la classe des pbobies, cet etat emotif est toujours Vangoisse,
pendant que dans les obsessions vraies ce peut etre au meme
titre que l'anxiete un autre etat emotif, comme le doute, le
remords, la col^re. Je tächerai d'abord d'expliquer le mecanisme
psychologique vraiment remarquable des obsessions vraies,
qui est bien different de celui des phobies.
I.
Dans beaucoup d'obsessions vraies, il est bien evident
que l'etat emotif est la cbose principale, puisque cet etat
persiste inaltere pendant que l'idee associee est variee. Par
exemple, la fille de l'observation I, avait des remords, un peu
«n raison de tout, d'avoir vole, maltraite ses sceurs, fait de la
fausse monnaie, etc. Les personnes qui doutent, doutent de
b)eaucoup de choses ä la fois ou successivement. C'est l'etat
emotif qui, dans ces cas, reste le meme: l'idee change. En
d'autres cas l'idee aussi semble fixee, comme chez la fille de
l'observation IV, qui poursuivait d'une haine incomprehensible
les servantes de la maison en changeant pourtant de personne.
Eh bien, une analyse psychologique scrupuleuse de ces
cas montre que Vetat emotif, comme tel, est toujours justifie. La
fille I, qui a des remords, a de bonnes raisons; les femmes
de l'observation III qui doutaient de leur resistance contre
des tentations savaient bien pourquoi ; la fille de l'observation
ly, qui detestait les servantes, avait bien le droit de se
plaindre, etc. Seulement, et c'est dans ces deux caracteres
que consiste l'empreinte pathologique: 1) l'etat emotif s'est
4ternise, 2) Tide associee nest plus l'idee juste, l'idee originale, en
rapport avec Vetiologie de l'ohsession, eile en est un remplagant,
une Substitution.
La preuve en est qu'on peut toujours trouver dans les
antecedents du malade ä Vorigine de l'ohsession, l'idee originale,
substituee. Les idees substituees ont des caracteres communs,
elles correspondent ä des impressions vraiment penibles de
la vie sexuelle de l'individu que celui-ci s'est efforce d'oublier.
H a reussi seulement a remplacer l'idee inconciliable par une autre
idee mal appropriee a s'associer a l'etat emotif, qui de son
cote est reste le meme. C'est cette mesalliance de l'6tat emotif et
de l'idee associee qui rend compte du caract^re d'absurdite
propre aux obsessions. Je veux rapporter mes observations, et
donner une tentative d'expHcation theorique comme conclusion.
Obs. I. — Une fille qui se faisait des reproches, qu'elle savait ab-
surdes, d'avoir vole, fait de la fausse monnaie, de s'etre conjuree, etc.,
Selon sa lecture journalifere.
Bedressement de la Substitution. — Elle se reprochait l'onanisme
qu'elle pratiquait en secret sans pouvoir y renoncer.
Elle fut guerie par une Observation scrupuleuse qui rempecha de
se masturber.
Obs. II. — Jeune hoipme, etudiant en medecine, qui souffi-ait d'une
Obsession analogue. II se reprochait toutes les actions immorales : d'avoir
tue sa Cousine, deflore sa soeur, incendie une maison, etc. II parvint
jusqu'ä, la necessite de se retourner dans la rue pour vorr s'il n'avait
pas encore tue le dernier passant.
Redressement de Ja Substitution. — II avait lu, dans un livre quasi-
medical, que l'onanisme, auquel ü etait sujet, abimait la morale, et il
s'en etait emu.
Obs. in. — Plusieurs femmes qui se plaignaient de l'obsession
de se jeter par la fenetre, de blesser leurs enfants avec des couteaux,
ciseaux, etc.
Bedressement. — Obsessions de tentations typiques. C'etaient des
femmes qui, pas du tout satisfaites dans le mariage, se debattaient contre
les desirs et les idees voluptueuses qui les hantaient k la vue d'autres
hommes.
Obs. IV. — Une fiUe qui parfaitement saine d'esprit et trfes
intelligente montrait une haine incontrölable contre les servantes de la
maison, qui s'etait eveillee k l'occasion d'une servante effi:ont6e, et s'etait
transmise depuis de fille en fille, jusqu'a rendre le menage impossible.
C'etait un sentiment mele de haine et de degoüt. Elle donnait comme
motif que les saletes de ces filles lui gätaient son idee de l'amour.
Bedressement. — Cette fille avait ete temoin involontaire d'un
rendez-vous amoureux de sa mere. Elle s'etait cache le visage, bouche les
oreilles, et s'etait donne la plus grande peine pour oublier la scene, qui
la degoütait et l'aurait mise dans l'impossibilite de rester avec sa mere
qu'elle aimait tendrement. Elle y reussit, mais la colfere, de ce qu'on lui
avait souille i'image de l'amour, persista en eile, et cet etat Emotif ne
tarda pas k s'associer l'idee d'une personne pouvant remplacer la mere.
Obs. V. — Une jeune fille s'etait presque completement isolee en
consequence de la peur obsedante de l'incontinence des urines. Elle ne
89
pouvait plus quitter sa chambre ou recevoir ane visite sans avoir urine
nombre de fois.
Chez eile et en repos complet la peur n'existait pas.
Bedressement. — C'etait une Obsession de tentation ou de mefiance.
Elle ne se mefiait pas de sa vessie mais de sa resistance contre une
impulsion amoureuse. L'origine de l'obsession le montrait bien. üne fois,
au theätre, eile avait senti ä la VTie d'un homme qui lui plaisait une
envie amoureuse accompagnee (comme toujours dans lapoUutionspontanee
des femmes) de l'envie d'uriner. Elle fut oblige ä quitter le theätre,
et de ce moment eile etait en proie ä la peur d'avoir la meme Sensation,
mais l'envie d'uriner s'etait substituee ä l'envie amoureuse. Elle guerit
completement.
Les observations enumerees, bien qu'elles montrent iin
degre variable de complexite, ont ceci de commun, que l'idee
originale (inconciliable) est substituee par une autre idee,
idee rempla^ante. Dans les observations qui vont suivre
maintenant, l'idee originale est aussi remplacee mais non par
une autre idee; eile se trouve substituee par des actes ou
impulsions qui ont servi ä l'origine comme soulagements ou
procedes protedeurs, et qui maintenant se trouvent en asso-
ciation grotesque avec un etat emotif qui ne leur convient
pas mais qui est reste le meme, et aussi justifie qu'ä l'origine.
Obs. VI. — Obsession d'arithmomanie. — üne femme avait con-
tracte le besoin. de compter toujours les planches du parquet, les marches
de l'escalier, etc., ce qu'elle faisait dans un etat d'angoisse ridicule.
Bedressement. — Elle avait commence ä compter pour se distraire
de ses idees obsedantes (de tentation). Elle y avait reussi, mais l'impul-
sion de compter s'etait substituee ä. l'obsession primitive.
Obs. Vn. — Obsession de „Grübelsucht" (folie de speculation).
Une femme soxiffirait d'attaques de cette Obsession, qui ne cessaient
qu'aux temps de maladie, pour y laisser la place ä des peurs hypo-
condriaques. Le sujet de l'attaque etait ou une partie du corps ou
xme fonction, par exemple, la respiration: Pourquoi faut-il respirer? Si
je ne voulais respirer? etc.
Bedressement. — Tout d'abord eile avait souffert de peur de devenir
folle, phobie hypochondriaque assez commune chez les femmes non
satisfaites par leur mari, comme eile etait. Pour se garantir qu'elle
n'ailait pas devenir folle, qu'elle jouissait encore de son intelligence, eile
avait commence ä se poser des questions, ä s'occuper de problemes
serieux. Cela la tranquillisait d'abord, mais avec le temps cette habitude
de la speculation se substituait k la phobie. Depuis plus de quinze ans
des periodes de peur (pathophobie) et de folie de speculation alternaient
chez eile.
90
Obs. VIII. Folie du doute. — Plusieurs cas, qm montraient les
symptomes typiques de cette Obsession, mais qui s'expliquaient bien
simplement. Ces personnes avaient souffert ou souffiraient encore
d'obsessions diverses, et la consoieace que l'obsession les avait derangees
dans toutes leurs actions et interrompu maintes fois le cours de leurs
pensees provoquait le doute legitime dans la fidelite de leur memoire.
Chacun de nous verra chanceler son assurance et sera oblige de relire
tme lettre ou de refaire un compte si son attention a ete divertie plusieurs
fois pendant l'execution de l'acte. Le doute est une consequence bien
logique de la presence des obsessions.
Obs. IX. — Folie du doute (hesitation). — La fiUe de l'obs. IV etait
devenue extremement tardive dans toutes les actions de la vie ordinaire,
particulierement dans sa toilette. II lui fallait des heures pour nouer les
cordons de ses souliers ou pour se nettoyer les ongles des mains. Elle
donnait comme explication qu'elle ne pouvait faire sa toilette ni pendant
que les pensees obsedantes la preoccupaient, ni immediatement apres;
de Sorte qu'elle s'etait accoutumee a attendre un temps determine apres
chaque retour de l'idee obsedante.
Obs. X. — Folie du doute, crainte des papiers. — Une jeune femme,
qui avait souffert de scrupules apres avoir ecrit une lettre, et qui dans
ce meme temps ramassait tous les papiers qu'elle voyait, donnait comme
explication l'aveu d'un amour que jadis eile ne voulait pas confesser.
A force de se repeter sans cesse le nom de son bien-aime, eile
fut saisie par la peur que ce nom se serait glisse dans sa plume, qu'elle
l'aurait trace sur quelque bout de papier dans une minute pensive.^)
Obs. XL — Mysophohie. — Une femme qui se lavait les mains
Cent fois par jour et ne toucbait les loquets des portes que du coude.
Bedressement. — C'etait le cas de Lady Macbeth. Les lavages
etaient symboliques et destines k substituer la purete physique k la
purete morale qu'elle regrettait avoir perdue. Elle se tourmentait de
remords pour une infidelite conjugale dont eile avait decide de chasser
le Souvenir. Elle se lavait aussi les parties genitales.
Quant ä la theorie de cette Substitution, je me con-
tenterai de repondre ä trois questions qui se posent ici:
1^ Comment cette Substitution peut-elle se faire?
n semble qu'elle est l'expression d'une disposition psy-
chique speciale. Au moins rencontre-t-on dans les obsessions
assez souvent l'heredite similaire, comme dans l'hysterie.
Ainsi le malade de l'obs, II me racontait que son pere avait
souffert de symptomes semblables. IE me fit connaitre un j our
1) VoLr aussi la chanson populaire allemande:
Auf jedes weiße Blatt Papier möcht' ich es schreiben:
Dein ist mein Herz und soll es ewig, ewig bleiben.
91
nn cousin germain avec obsessions et tic convulsif, et la fille
de sa soeur, ägee de 11 ans, qni montrait dejä des obsessions
(probablement de remords).
2^ Qiiel est le motif de cette Substitution?
Je crois qu'on peut l'envisager comme un acte de defense
(Abwehr) du moi contre l'idee inconciliable. Parmi mes malades
il y en a qui se rappeUent l'effort de la volonte pour chasser
ridee oii le souvenir penible du rayon de la conscience
(V. les obs. m, IV, XI). En d'autres cas cette expulsion de
l'idee inconciliable s'est produite d'une maniere inconsciente
qui n'a pas laisse trace dans la memoire des malades.
3° Pourquoi l'etat emotif associe ä l'idee obsedante
s'est-il perpetue, au lieu de s'evanouir comme les autres etats
de notre moi?
On peut donner cette reponse en s'adressant ä la theorie
developpee pour la genese des symptömes hysteriques par
M. Breuer et moi^). Ici je veux seulement remarquer que,
par le fait meme de la Substitution, la disparition de l'etat
emotif devient impossible.
n.
A ces deux groupes d'obsessions vraies s'ajoute le classe
des „phobies", qu'il faut considerer maintenant. J'ai dejä
mentionne la grande difference des obsessions et des phobies ;
que dans les dernieres l'etat emotif est toujours l'anxiete, la
peur. Je pourrais aj outer que les obsessions sont multiples et
plus speciaHsees, les phobies plutot monotones et typiques.
Mais ce n'est pas une difference capitale.
On peut discerner aussi parmi les phobies deux groupes,
caracterises par l'objet de la peur: 1° phobies communes:
peur exageree des choses que tout le monde abhorre ou
craint un peu: la nuit, la solitude, la mort, les maladies, les
dangers en general, les serpents, etc. ; 2'^ phobies d'occasion,
peur de conditions speciales, qui n'inspirent pas la crainte
ä l'homme sain, par exemple l'agoraphobie et les autres
phobies de la locomotion. H est interessant ä noter que ces
dernieres phobies ne sont pas obsedfantes comme les obsessions
1) Neurologisches Centralblatt, 1893, Nr. 1 und 2.
92
vraies et les phobies communes. L'etat emotif ici ne parait
que dans le cas de ces conditions speciales que le malade
evite soigneusement.
Le mecanisme des phobies est tout ä fait different de
celui des obsessions. Ce n'est plus le r^gne de la Substitution.
Ici on ne devoile plus par l'analyse psychique une idee incon-
ciliable, substituee. On ne trouve jamais autre chose que Vetai
emotif anxieux, qui par une sorte d'election a fait ressortir
toutes les idees propres a devenir l'objet d'une pbobie. Dans
le cas de l'agoraphobie, etc., on rencontre souvent le souvenir
d'une attaque d'angoisse, et en verite ce que redoute le malade
c'est l'evenement d'une teUe attaque dans les conditions
speciales oü il croit ne pouvoir y echapper.
L'angoisse de cet etat emotif, qui est au fond des phobies,
n'est pas derive d'un souvenir quelconque; on doit bien se
demander quelle peut etre la source de cette condition puis-
sante du Systeme nerveux.
Eh. bien j'espere pouvoir demontrer une autre fois qu'il
y a Heu de constituer une nevrose speciale, la nevrose anxieuse,
de laquelle cet etat emotif est le Symptome principal; je
donnerai l'enumeration de ses symptömes varies, et j'insisterai
en ce qu'ü faut differencier cette nevrose de la neurasthenie,
avec laquelle eUe est maintenant confondue. Ainsi les phobies
fönt pari de la nevrose anxieuse, et eUes sont presque toujours
accompagnees d'autres symptömes de la meme serie.
La nevrose anxieuse est d'origine sexuelle, eile aussi, autant
que je puis voir, mais eUe ne se rattache pas ä des idees
tirees de la vie sexuelle : eUe n'a pas de mecanisme psychique,
ä vrai dire. Son etiologie specifique est l'accumulation de la
tension genesique, provoquee par l'abstinence ou l'irritation
genesique fruste (pour donner une formule generale pour
l'effet du co'it reserve, de l'impotence relative du mari, des
excitations sans satisfaction des fiances, de l'abstinence
forcee, etc.).
C'est dans de telles conditions extremement frequentes,
principalement pour la femme dans la societe actuelle, que
se developpe la nevrose anxieuse, de laqueUe les phobies sont
une manifestation psychique.
93
Je ferai remarquer, comme conclusion, qu'il peut y avoir
combinaison de pLobie et d'obsession propre, et meme que
c'est un evenement tres frequent. On peut trouver qu'il y
avait au commencement de la maladie une phobie developpee
comme Symptome de la nevrose anxieuse, L'idee qui constitue
la phobie qui s'y trouve associee ä la peur, peut etre sub-
stituee par une autre idee ou plutöt par le procede protedeur
qui semblait soulager la peur. L'obs. VI (folie de la specu-
lation) presente un bei exemple de cette categorie, phobie
douhle'e d'zme Obsession vraie par Substitution.
VII.
Zur Kritik der „Angstneurose". 0
In Nummer 2 des Nenrologischen Centralblattes
von Mendel 1895 habe icli einen kleinen Aufsatz veröffent-
liclit, in welchem ich den Versuch wage, eine Reihe von
nervösen Zuständen von der Neurasthenie abzutrennen, und
unter dem Namen „Angstneurose" selbständig zu machen. ^)
Ich Heß mich hierzu bewegen durch ein konstantes Zusammen-
treffen klinischer und ätiologischer Charaktere, das ja über-
haupt für eine Sonderung maßgebend sein darf. Ich fand
nämlich, worin mir E. H e c k e r ^) zuvorgekommen war, daß
die in Rede stehenden neurotischen Symptome sich sämtlich
zusammenfassen ließen als zum Ausdruck der Angst gehörig,
und ich konnte aus meinen Bemühungen um die Ätiologie
der Neurosen hinzufügen, daß diese Teilstücke des Komplexes
,,Angstneurose" besondere ätiologische Bedingungen erkennen
lassen, die der Ätiologie der Neurasthenie nahezu gegensätzlich
sind. Meine Erfahrungen hatten mich gelehrt, daß in der
Ätiologie der Neurosen (wenigstens der erworbenen Fälle
und erwerbbaren Formen) sexuelle Momente eine hervor-
ragende und viel zu wenig gewürdigte Rolle spielen, so daß
etwa die Behauptung, „die Ätiologie der Neurosen Hege in
der SexuaHtät" bei aU ihrer notwendigen Unrichtigkeit
per excessum et defectum doch der Wahrheit näher kommt
als die anderen, gegenwärtig herrschenden Lehren. Ein
weiterer Satz, zu dem mich die Erfahrung drängte, ging
1) Wiener klinische Rundscliau, 1895.
2) Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten
Symptomenkomplex als „Angstneurose" abzutrennen, von Dr. Sigm.
Freud.
3) E. Heck er. Über larvierte und abortive Angstzustände bei
Neurasthenie. Centralblatt für Nervenheilkunde, Dez. 1893.
95
daMn, daß die verscHedenen sexuellen Noxen, nicht etwa
nnterscliiedslos in der Ätiologie aller Neurosen zu finden
seien, sondern daß unverkennbar besondere Beziehungen ein-
zelner Noxen zu einzelnen Neurosen beständen. Ich durfte
so annehmen, daß ich die spezifischen Ursachen der
einzelnen Neurosen aufgedeckt habe. Ich suchte dann die
Besonderheit der sexuellen Noxen, welche die Ätiologie der
Angstneurose ausmachen, in eine kurze Formel zu fassen,,
und gelangte (in Anlehnung an meine Auffassung des Sexual-
vorganges, 1. c. p. 61) zu dem Satze : Angstneurose schaffe
alles, was die somatische Sexualspannung vom Psychischen
abhalte, an ihrer psychischen Verarbeitung störe. Wenn man
auf die konkreten Verhältnisse zurückgeht, -in denen sich dieses
Moment zur Geltung bringt, so ergibt sich die Behauptung,,
daß freiwillige oder unfreiwillige Abstinenz, sexueller Verkehr
mit unvollständiger Befriedigung, Coitus interruptus, Ablenkung
des psychischen Interesses von der Sexualität u. dgl. m., die
spezifischen ätiologischen Faktoren der von mir Angstneurose
genannten Zustände seien.
Als ich meine hier erwähnte Mitteilung zur Veröffent-
lichung brachte, täuschte ich mich keineswegs über deren
Macht, Überzeugung zu erwecken. Zunächst konnte ich mir
ja sagen, daß ich nur eine knappe, unvollständige, stellen-
weise sogar schwer verständliche Darstellung gegeben hatte,
vielleicht gerade genügend, um die Erwartung der Leser vor-
zubereiten. Sonst hatte ich kaum Beispiele angeführt und
keine Zahlen genannt, die Technik der Erhebung der Anam-
nese nicht gestreift, zur Verhütung von Mißverständnissen
nichts vorgesorgt, andere als die naheliegendsten Einwände
nicht berücksichtigt, und von der Lehre selbst eben nur den
Hauptsatz und nicht die Einschränkungen hervorgehoben.
Demnach konnte auch wirklich ein jeder sich seine eigene
Meinung von der Verbindlichkeit der ganzen Aufstellung bilden.
Ich konnte aber noch auf eine andere Erschwerung der Zu-
stimmung rechnen. Ich weiß sehr wohl, daß ich mit der
„sexuellen Ätiologie" der Neurosen nichts Neues vorgebracht
habe, daß die Unterströmungen in der medizinischen Literatur,
welche diesen Tatsachen Rechnung getragen, nie ausgegangen
96
sind, und daß die offizielle Medizin der Schulen sie eigent-
lich auch gekannt hat. Allein die letztere hat so getan, als
wüßte sie nichts davon; sie hat von ihrer Kenntnis keinen
Gebrauch gemacht, keine Folgerung aus ihr gezogen. Solches
Verhalten muß wohl eine tiefgehende Begründung haben,
etwa in einer Art von Scheu, sexuelle Verhältnisse ins Auge
zu fassen, oder in einer Reaktion gegen ältere, als überwunden
betrachtete Erklärungsversuche. Jedenfalls mußte man vor-
bereitet sein, auf Widerstand zu stoßen, wenn man den Ver-
such wagte, Anderen etwas glaubwürdig zu machen, was diese
ohne jede Mühe auch selbst hätten entdecken können.
Es wäre bei solcher Sachlage vielleicht zweckmäßiger,
auf kritische Einwendungen nicht eher zu antworten, als bis
ich mich über das komplizierte Thema selbst ausführlicher
geäußert und besser verständlich gemacht hätte. Dennoch
kann ich den Motiven nicht widerstehen, die mich veran-
lassen, einer Kritik meiner Lehre von der Angstneurose aus
den letzten Tagen auch unverzüglich zu begegnen. Ich tue
dies wegen der Person des Autors, L. Löwenfeld in
München, des Verfassers der „Pathologie und Therapie der
Neurasthenie und Hysterie", dessen Urteil beim ärztlichen
Publikum schwer ins Gewicht fallen dürfte, wegen einer miß-
verständlichen Auffassung, mit welcher mich die Darstellung
Löwenfeld's belastet, und weil ich von Anfang an den
Eindruck bekämpfen möchte, als sei meine Lehre gar so mühe-
los durch die nächstbesten, im Vorbeigehen angebrachten Ein-
wendungen zu widerlegen.
Löwenfeld ^) findet mit sicherem Blick als das Wesent-
liche meiner Arbeit heraus, daß ich für die Angstsymptome
eine spezifische und einheitliche Ätiologie sexueller Natur
behaupte. Ist dies nicht als Tatsache festzustellen, so ent-
fällt auch der Hauptgrund für die Abtrennung einer selbst-
ständigen Angstneurose von der Neurasthenie. Es erübrigt
dann allerdings eine Schwierigkeit, auf die ich aufmerksam
gemacht habe, daß nämlich die Angstsymptome so unver-
1) L. Löwenfeld. Über die Verknüpfung neurasthenischer und
hysterisclier Symptome in Anfallsform nebst Bemerkungen über die
Freud'sche Angstneurose. Münchener med. Wochenschr. Nr. 13, 1895.
97
kennbare Beziehungen auch zur Hysterie haben, so daß durch
die Entscheidung im Sinne Löwenfeld's die Sonderung von
Hysterie und Neurasthenie zu Schaden kommt; allein dieser
Schwierigkeit wird durch die später zu würdigende Berufung
auf die Heredität als gemeinsame Ursache all dieser Neurosen
begegnet.
Durch welche Argumente stützt nun Löwen feld den
Einspruch gegen meine Lehre?
1. Ich habe als wesentlich für das Verständnis der
Angstneurose hervorgehoben, daß die Angst derselben eine
psychische Ableitung nicht zuläßt, das heißt, daß man die
Angstbereitschaft, die den Kern der Neurose bildet, nicht
durch einen einmaUgen oder wiederholten, psychisch be-
rechtigten Schreckaffekt erwerben kann. Durch Schreck ent-
stünde wohl eine Hysterie oder traumatische Neurose, aber
keine Angstneurose. Es ist diese Leugnung, wie man leicht
einsieht, nichts anderes als das Gegenstück zu meiner Be-
hauptung positiven Inhalts, die Angst meiner Neurose ent-
spreche somatischer und vom Psychischen abgelenkter Sexual-
spannung, die sich sonst als Libido geltend gemacht hätte.
Dagegen betont nun Löwenfeld, daß in einer Anzahl
von FäUen „Angstzustände unmittelbar oder einige Zeit
nach einem psychischen Shok (bloßem Schreck oder Unfällen,
die mit Schrecken verbunden waren) auftreten, und daß zum
Teil hierbei Verhältnisse bestehen, welche die Mitwirkung
sexueller Schädlichkeiten der angegebenen Art höchst un-
wahrscheinlich machen". Er teüt als besonders prägnantes
Beispiel eine Krankenbeobachtung (anstatt vieler) in Kürze
mit. In diesem Beispiel handelt es sich um eine 30jährige,
seit vier Jahren verheiratete Frau, erblich belastet, die vor
einem Jahre eine erste schwierige Entbindung hatte. "Wenige
"Wochen nach ihrer Niederkunft erschrak sie über einen Krank-
heitsanfaU ihres Mannes, lief in ihrer Aufregung im Hemd
im kalten Zimmer herum. Von da an krank, zuerst mit abend-
lichen Angstzuständen und Herzklopfen, später kamen Anfälle
von konvulsivischem Zittern und in weiterer Folge Phobien
u. dgl. : das Bild einer voU entwickelten Angstneurose. „Hier
sind die Angstzustände", schließt Löwenfeld, „offenbar
Freud, Nearosenlehje. 7
psychiscli abgeleitet, durcli den einmaligen Schrecken herbei-
geführt."
Ich bezweifle nicht, daß der geehrte Autor über viele
ähnliche Fälle verfügt ; kann ich doch selbst mit einer großen
Reihe analoger Beispiele dienen. Wer solche Fälle von Aus-
bruch der Angstneurose nach psychischem Shok, überaus
häufige Vorkommnisse, nicht gesehen hätte, dürfte sich nicht
anmaßen, in Sachen der Angstneurose mitzusprechen. Ich
will nur dabei anmerken, daß in der Ätiologie solcher Fälle
nicht jedesmal Schreck oder ängstliche Erwartung nachweis-
bar sein muß; eine beliebige andere Gemütsbewegung tut
es auch. "Wenn ich rasch einige Fälle aus meiner Erinnerung
mustere, so fällt mir ein Mann von 45 Jahren ein, der den
ersten Angstanfall (mit Herzkollaps) auf die Nachricht vom
Tode seines betagten Vaters bekam; von da an entwickelte
sich voUe und typische Angstneurose mit Agoraphobie ; ferner
ein junger Mann, der in dieselbe Neurose durch die Erregung
über die Zwistigkeiten zwischen seiner jungen Frau und
seiner Mutter verfiel und nach jedem neuen häuslichen Zank
neuerdings agoraphobisch wurde; ein Student, der einiger-
maßen verbummelt, die ersten Angstanfälle in einer Periode
scharfer Prüfungsarbeit unter dem Sporn väterlicher Ungnade
produzierte; eine selbst kinderlose Frau, die infolge der
Angst um die Gesundheit einer kleinen Nichte erkrankte,
u. dgl. m. An der Tatsache selbst, die Löwen feld gegen
mich verwertet, besteht nicht der leiseste Zweifel,
Wohl aber an ihrer Deutung. Es fragt sich, soll man
hier ohne weiteres auf das post hoc ergo propter hoc eingehen,
sich jede kritische Verarbeitung des Rohmaterials ersparen?
Man kennt ja Beispiele genug dafür, daß die letzte aus-
lösende Ursache sich vor der kritischen Analyse nicht als
causa efficiens bewähren konnte. Man denke an das Ver-
hältnis von Trauma und Gicht beispielsweise! Die Rolle des
Traumas ist hier, bei der Provokation eines Gichtanfalles in
dem vom Trauma betroffenen Glied, wahrscheinlich keine
andere, als sie in der Ätiologie der Tabes und der Paralyse
sein dürfte; nur scheint im Beispiele der Gicht bereits für
jede Einsicht absurd, daß das Trauma die Gicht „verursacht"
99
anstatt provoziert haben sollte. Man muß doch nachdenklich
werden, wenn man ätiologische Momente solcher Art —
banale möchte ich sie nennen — in der Ätiologie der
mannigfaltigsten Krankheitszustände antrifft. Gemütsbewegung,
Schreck ist auch solch ein banales Moment; Chorea, Apo-
plexie, Paralysis agitans und was nicht alles sonst kann der
Schreck geradeso hervorrufen wie eine Angstneurose. Nun
darf ich freilich nicht weiter argumentieren, wegen dieser
Ubiquität genügten die banalen Ursachen unseren Anfor-
derungen nicht, es müßte außerdem spezifische Ursachen
geben. Das hieße den Satz, den ich erweisen will, vorweg-
nehmen. Ich bin aber berechtigt, folgender Art zu schließen:
Wenn sich die nämliche spezifische Ursache in der Ätio-
logie aller oder der allermeisten Fälle von Angstneurose
nachweisen läßt, dann braucht sich unsere Auffassung nicht
dadurch beirren lassen, daß der Ausbruch der Krankheit erst
nach der Einwirkung des einen oder anderen banalen
Momentes, wie es Gemütsbewegung ist, erfolgt.
So war es nun in meinen Fällen von Angstneurose.
Der Mann, der — rätselhafter "Weise — auf die Nachricht
vom Tode seines Vaters erkrankte (ich mache diese Rand-
glosse, weil dieser Tod nicht unerwartet und nicht unter
ungewöhnlichen, erschütternden Umständen erfolgte), dieser
Mann lebte seit elf Jahren im Coitus interruptus mit seiner
Ehefrau, welche er meistens zu befriedigen trachtete ; der
junge Mann, der den Streitigkeiten zwischen seiner Frau
und seiner Mutter nicht gewachsen war, hatte bei seiner
jungen Frau von Anfang an das Zurückziehen geübt, um
sich die Belastung mit Nachkommenschaft zu ersparen; der
Student, der sich durch Überarbeitung eine Angstneurose
zuzog anstatt der zu erwartenden Cerebrasthenie, unterhielt
seit drei Jahren ein Verhältnis mit einem Mädchen, das er
nicht schwängern durfte ; die Frau, die, selbst kinderlos, über
die Krankheit einer Nichte der Angstneurose verfiel, war mit
einem impotenten Mann verheiratet und sexuell nie befriedigt
worden u. dgl. Nicht alle diese FäUe sind gleich klar oder
für meine These gleich gut beweisend; aber wenn ich sie an
die sehr beträchtliche Anzahl von Fällen anreihe, in denen
7*
100
die Ätiologie nichts anderes als das spezifische Moment auf-
weist, fügen sie sich der von mir aufgestellten Lehre wider-
spruchslos ein und gestatten eine Erweiterung unseres ätio-
logischen Verständnisses über die bisher geltenden Grenzen.
Wenn mir jemand nachweisen will, daß ich in vor-
stehender Betrachtung die Bedeutung der banalen ätio-
logischen Momente ungebührlich zurückgesetzt habe, so muß
er mir Beobachtungen entgegenhalten, in denen mein spezi-
fisches Moment vermißt wird, also Fälle von Entstehung der
Angstneurose nach psychischem Shok bei (im ganzen)
normaler Vita sexualis. Man urteile nun, ob der Fall
von Löwenfeld diese Bedingung erfüllt. Mein geehrter
Gregner hat sich diese Anforderung offenbar nicht klar ge-
macht, sonst würde er uns über die Vita sexualis seiner
Patientin nicht so vöUig im unklaren lassen. Ich will es bei-
seite lassen, daß der Fall der 30jährigen Dame offenbar mit
einer Hysterie kompHziert ist, an deren psychischer Ableit-
barkeit ich am wenigsten zweifle ; ich gebe die Angstneurose
neben dieser Hysterie natürHch ohne Einspruch zu. Aber
ehe ich einen Fall für oder gegen die Lehre von der sexuellen
Ätiologie der Neurosen verwerte, muß ich das sexuelle Ver-
halten der Patientin eingehender als Löwenfeld hier
studiert haben. Ich werde mich nicht mit dem Sclilusse
begnügen: da die Dame zur Zeit des psychischen Shoks
kurz nach einer Entbindung war, dürfte der Coitus inter-
ruptus im letzten Jahr keine Rolle gespielt haben und somit
sexuelle Noxen hier entfallen. Ich kenne Fälle von Angst-
neurose bei jährhch wiederholter Gravidität, weil (unglaub-
licherweise) von dem befruchtenden Koitus an jeder Ver-
kehr eingesteht wurde, so daß die kinderreiche Frau all die
Jahre über an Entbehrung litt. Es ist keinem Arzte unbe-
kannt, daß Frauen von sehr wenig potenten Männern kon-
zipieren, die nicht imstande sind, ihnen Befriedigung zu
verschaffen, und endUch gibt es, womit gerade die Vertreter
der Hereditätsätiologie rechnen sollten, Frauen genug, die
mit einer kongenitalen Angstneurose behaftet sind, d. h. die
eine solche Vita sexuaHs mitbringen, respektive ohne
nachweisbare äußere Störung entwickeln, wie man sie sonst
101
durch Coitus interruptus und älinliche Noxen erwirbt. Bei
einer Anzahl dieser Frauen kann man eine hysterische Er-
krankung der Jugendjahre eruieren, seit welcher die Vita
sexuahs gestört und eine Ablenkung der Sexualspannung
vom Psychischen hergestellt ist. Frauen mit solcher Sexualität
sind einer wirklichen Befriedigung selbst durch normalen
Koitus unfähig und entwickeln Angstneurose entweder spontan
oder nach dem Zutritt weiterer wirksamer Momente. Was
von alledem mag in dem Falle Löwenfeld's vorgelegen
haben? Ich weiß es nicht, aber ich wiederhole, gegen mich
beweisend ist dieser Fall nur, wenn die Dame, die auf ein-
maligen Schreck mit einer Angstneurose antwortete, sich
vorher einer normalen Vita sexualis erfreut hat.
Wir können unmögHch ätiologische Forschungen aus der
Anamnese betreiben, wenn wir die Anamnese so hinnehmen,
wie der Kranke sie gibt, oder uns mit dem begnügen, was
er uns preisgeben will. Wenn die Syphilodologen die Zurück-
führung eines Initialaffektes an den Genitalien auf sexuellen
Verkehr noch von der Aussage des Patienten abhängen ließen,
würden sie eine ganz stattliche Anzahl von Schankern bei
angeblich virginalen Individuen von Erkältung herleiten können,
und die Gynäkologen fänden kaum Schwierigkeiten, das Wunder
der Parthenogenesis an ihren unverheirateten Klientinnen zu
bestätigen. Ich hoffe, es wird dereinst durchdringen, daß
auch die Neuropathologen bei der Erhebung der Anamnese
großer Neurosen von ähnlichen ätiologischen Vorurteilen aus-
gehen dürfen.
2. Ferner sagt Löwenfeld, er habe wiederholt Angst-
zustände auftauchen und verschwinden gesehen, wo eine
Änderung im sexuellen Leben sicher nicht statthatte, dagegen
andere Faktoren im Spiele waren.
Ganz dieselbe Erfahrung habe ich auch gemacht, ohne
daß sie mich beirrt hätte. Auch ich habe die Angstzufälle
durch psychische Behandlung, Allgemeinbesserung u. dgl.
zum Schwinden gebracht. Ich habe natürhch daraus nicht
geschlossen, daß der Mangel an Behandlung die Ursache der
AngstanfäUe war. Nicht etwa, daß ich Löwen feld einen
derartigen Schluß unterschieben woUte ; ich will mit obiger
102
scherzhafter Bemerkung nur andeuten, daß die Sachlage
leicht kompliziert genug sein kann, um den Einwand von
Löwen feld völlig zu entwerten. Ich habe es nicht schwer
gefunden, die hier vorgebrachte Tatsache mit der Behauptung
der spezifischen Ätiologie der Angstneurose zu vereinigen.
Man wird mir gerne zugestehen, daß es ätiologisch wirksame
Momente gibt, die, um ihre Wirkung zu üben, in einer
gewissen Intensität (oder Quantität) und über einen gewissen
Zeitraum wirken müssen, die sich also summieren; die
Alkoholwirkung ist ein Vorbild für solche Verursachung durch
Summation. Demnach wird es einen Zeitraum geben dürfen,
in dem die spezifische Ätiologie in ihrer Arbeit begriffen,
aber deren Wirkung noch nicht manifest ist. Während solcher
Zeit ist die Person noch nicht krank, aber sie ist zur be-
stimmten Erkrankung, in unserem Falle zur Angstneurose,
disponiert, und nun wird der Zutritt einer banalen Noxe die
Neurose auslösen können, geradeso wie eine weitere Steige-
rung in der Einwirkung der spezifischen Noxe. Man kann
dies auch so ausdrücken: Es reicht nicht hin, daß das spezi-
fische ätiologische Moment vorhanden ist, es muß auch ein
bestimmtes Maß davon voU werden, und bei der Erreichung
dieser Grenze kann eine Quantität spezifischer Noxe durch
einen Betrag banaler Schädlichkeit ersetzt werden. Wird
letzterer wieder weggenommen, so befindet man sich unter-
halb einer Schwelle; die Krankheitserscheinungen treten
wieder zurück. Die ganze Therapie der Neurosen beruht
darauf, daß man die Gesamtbelastung des Nervensystems,
welcher dieses erliegt, durch sehr verschiedenartige Beein-
flussungen der ätiologischen Mischung unter die Schwelle
bringen kann. Auf Fehlen oder Existenz einer spezifischen
Ätiologie ist aus diesen Verhältnissen kein Schluß zu ziehen.
Das sind doch gewiß einwurfsfreie imd gesicherte Er-
wägungen. Wem sie noch nicht genügen, der möge folgendes
Argument auf sich wirken lassen. Nach der Ansicht Löwen-
feld's und so vieler Anderer ist in der Heredität die
Ätiologie der Angstzustände. Die Heredität ist nun gewiß
einer Änderung entzogen ; wenn Angstneurose durch Behand-
lung geheut wird, sollte man nun mit Löwen feld
103
schließen dürfen, daß die Heredität nickt die Ätiologie ent-
halten kann.
Übrigens, ich hätte mir die Verteidigung gegen die
beiden angeführten Einwände von Löwen feld ersparen
können, wenn mein geehrter Gegner meiner Arbeit selbst
größere Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Die beiden Ein-
wendungen sind in meiner Arbeit selbst vorgesehen und be-
antwortet (p. 74 ff.); ich könnte die Ausführungen von dort
hier nur wiederholen, ich habe mit Absicht selbst die nämUchen
Krankheitsfälle hier neuerdings analysiert. Auch die ätio-
logischen Formeln, auf die ich eben vorhin "Wert legte, sind
im Texte meiner Abhandlung enthalten. Ich wül sie hier
nochmals wiederholen. Ich behaupte: Es gibt für die
Angstneurose ein spezifisches ätiologisches
Moment, welches in seiner "Wirkung von banalen
Schädlichkeiten zwar quantitativ vertreten, aber
nicht qualitativ ersetzt werden kann. Ferner:
Dieses spezifische Moment bestimmt vor allem
die Form der Neurose; ob eine neurotische Er-
krankung überhaupt zustande kommt, hängt von
der Gesamtbelastung des Nervensystems (im "Ver-
hältnis zu dessen Tragfähigkeit) ab. In der Regel
sind die Neurosen üb er determiniert, d. h. es wirken in
ihrer Ätiologie mehrere Faktoren zusammen.
3. Um die "Widerlegung der nächsten Bemerkungen
Löwen feld 's brauche ich mich weniger zu bemühen, da
dieselben einerseits meiner Lehre wenig anhaben, anderseits
Schwierigkeiten hervorheben, die ich als vorhanden anerkenne.
Löwen feld sagt: „Die Freud 'sehe Theorie ist aber ganz
und gar ungenügend, das Auftreten und Ausbleiben der Angst-
anfälle im einzelnen zu erklären. "Wenn die Angstzustände,
i. e. die Erscheinungen der Angstneurose, ledigHch durch sub-
kortikale Aufspeicherung der somatischen Sexualerregung und
abnorme Verwendung derselben zustande kommen würden, so
müßte jeder mit Angstzuständen Behaftete, so lange keine
Änderungen in seinem sexuellen Leben eintreten, von Zeit
zu Zeit einen Angstanfall haben, wie der Epileptische seinen
Anfall von grand und petit mal hat. Dies ist aber, wie die
1Q4
alltägliclie Erfahrung zeigt, durchaus niclit der Fall. Die Angst-
anfälle treten weit überwiegend nur bei bestimmten Anlässen
ein; wenn der Patient diese meidet oder durch irgend eine
Vorkehrung^ deren Einfluß zu paralysieren weiß, so bleibt er
von Angstanfällen verschont, er mag dem Congressus inter-
ruptus oder der Abstinenz andauernd huldigen oder sich einer
normalen Vita sexualis erfreuen."
Darüber ist nun sehr viel zu sagen. Zunächst, daß
Löwen feld meiner Theorie eine Folgerung aufnötigt, die
sie nicht zu akzeptieren braucht. Daß es bei der Aufspeiche-
rung der somatischen Sexualerregung so zugehen müsse wie
bei der Anhäufung des Reizes zum epileptischen Kampf, ist
eine allzu detaillierte Aufstellung, zu welcher ich keinen Anlaß
gegeben habe, und ist nicht die einzige, die sich darbietet.
Ich brauche nur anzunehmen, daß das Nervensystem ein ge-
wisses Maß von somatischer Sexualerregung, auch wenn diese
von ihrem Ziel abgelenkt sei, zu bewältigen vermöge, und daß
Störungen nur dann entstehen, wenn das Quantum dieser
Erregung eine plötzliche Steigerung erfährt, und die An-
forderung Löwenfeld 's wäre beseitigt. Ich habe mich nicht
getraut, meine Theorie nach dieser Richtung hin auszubauen,
hauptsächlich darum, weil ich keine sicheren Stützpunkte auf
dem Wege dahin zu finden erwartete. Ich will bloß andeuten,
daß wir uns die Produktion von Sexualspannung nicht un-
abhängig von ihrer Verausgabung vorstellen dürfen, daß im
normalen Sexualleben diese Produktion bei Anregung durch
das Sexualobjekt sich wesentlich anders gestaltet als bei
psychischer Ruhe u. dgl.
Zuzugeben ist, daß die Verhältnisse hier wohl anders
liegen als bei epileptischer Krampfneigung, und daß sie aus
der Theorie der Aufspeicherung somatischer Sexualerregung
noch nicht im Zusammenhange abzuleiten sind.
Der weiteren Behauptung Löwenf eld' s, daß die Angst-
zustände nur bei gewissen Anlässen auftreten, bei deren Ver-
meidung sie ausbleiben, gleichgiltig, welches die Vita sexuahs
des Betreffenden sein mag, ist entgegenzuhalten, daß Löwen-
feld hiebei offenbar nur die Angst der Phobien im Auge
hat, wie auch die an die zitierte Stelle geknüpften Beispiele
105
zeigen. Von den spontanen Angstanfällen, deren Inhalt
Schwindel, Herzklopfen, Atemnot, Zittern, Schweiß u. dgl.
ist, spricht er gar nicht. Das Auftreten und Ausbleiben dieser
Angstanfälle zu erklären, scheint meine Theorie aber keines-
wegs untüchtig. In einer ganzen Reihe solcher Fälle von
Angstneurose ergibt sich nämHch wirklich der Anschein einer
Periodizität des Auftretens von Angstzuständen ähnlich der
bei Epilepsie beobachteten, nur daß hier der Mechanismus
dieser Periodizität durchsichtiger wird. Bei näherer Er-
forschung findet man nämlich mit großer Regelmäßigkeit
einen aufregenden sexuellen Vorgang auf (d. h. einen solchen,
der imstande ist, somatische Sexualspannung zu entbinden),
an welchen sich mit Einhaltung eines bestimmten, oft ganz
konstanten Zeitintervalles der Angstanfall anschließt. Diese
RoUe spielen bei abstinenten Frauen die menstruale Erregung,
die gleichfalls periodisch wiederkehrenden nächtlichen Pollu-
tionen, vor allem der (in seiner UnvoUständigkeit schädliche)
sexuelle Verkehr selbst, der diesen seinen Wirkungen, den
Angstanfällen, die eigene Periodizität überträgt. Kommen
Angstanfälle, welche die gewohnte Periodizität durchbrechen,
so gelingt es zumeist, sie auf eine Gelegenheitsursache von
seltenerem und unregelmäßigem Vorkommen zurückzuführen,
ein vereinzeltes sexuelles Erlebnis, Lektüre, Schaustellung
u. dgl. Das Intervall, das ich erwähnt habe, beträgt einige
Stunden bis zu zwei Tagen; es ist dasselbe, mit welchem
bei anderen Personen auf dieselben Veranlassungen hin die
bekannte Sexualmigräne auftritt, die ihre sicheren Beziehungen
zum Symptomenkomplex der Angstneurose hat.
Daneben gibt es reichlich Fälle, in denen der einzelne
Angstzustand durch das Hinzutreten eines banalen Momentes,
durch Aufregung beliebiger Art, provoziert wird. Es gilt also
für die Ätiologie des einzelnen Angstanfalles dieselbe Vertretung
wie für die Verursachung der ganzen Neurose. Daß die
Angst der Phobien anderen Bedingungen folgt, ist nicht sehr
verwunderUch ; die Phobien haben ein komplizierteres Gefüge
als die einfach somatischen AngstanfäUe. Bei ihnen ist die
Angst mit einem bestimmten VorsteEungs- oder "Wahrnehmungs-
inhalt verknüpft, und die Erweckung dieses psychischen In-
106
haltes ist die Hauptbedingung für das Auftreten dieser Angst.
Die Angst wird dann „entbunden", ähnlich wie z. B. die
Sexualspannung durch die Erweckung libidinöser Vorstellungen ;
aber dieser Vorgang ist allerdings in seinem Zusammenhange
mit der Theorie der Angstneurose noch nicht aufgeklärt.
Ich sehe nicht ein, weshalb ich streben sollte, Lücken
und Schwächen meiner Theorie zu verbergen. Die Haupt-
sache an dem Problem der Phobien scheint mir zu sein, daß
Phobien bei normaler Vita sexualis — d. i. bei
NichterfLülung der spezifischen Bedingung von Störung der
Vita sexualis im Sinne einer Ablenkung des Somatischen vom
Psychischen — überhaupt nicht zustande kommen.
Mag sonst am Mechanismus der Phobien noch so Vieles
dunkel sein, meine Lehre ist erst widerlegt, wenn man mir
Phobien bei normaler Vita sexualis oder selbst bei nicht
spezifisch bestimmter Störung derselben nachweist.
4. Ich übergehe nun zu einer Bemerkung, die ich meinem
geehrten Herrn Kritiker nicht unwidersprochen lassen darf.
Ich hatte in meiner Mitteilung über die Angstneurose
(1. c. p. 69) geschrieben:
„In manchen FäUen von Angstneurose läßt sich eine
Ätiologie überhaupt nicht erkennen. Es ist bemerkenswert,
daß in solchen FäUen der Nachweis einer schweren heredi-
tären Belastung selten auf Schwierigkeiten stößt."
„Wo man aber Grund hat, die Neurose für eine er-
worbene zu halten, da findet man bei sorgfältigem, dahin
zielendem Examen als ätiologisch wirksame Momente eine
Eeihe von Schädlichkeiten und Einflüssen aus dem Sexual-
leben " Löwen feld druckt diese Stelle ab und knüpft
an sie folgende Glosse : „Als „erworben" scheint demnach F.
die Neurose immer zu betrachten, wenn Gelegenheitsursachen
derselben aufzufinden sind."
Wenn sich dieser Sinn zwanglos aus meinem Text ab-
leiten läßt, so gibt letzterer meinem Gedanken sehr ent-
stellten Ausdruck. Ich mache darauf aufmerksam, daß ich
vorhin in der Wertschätzung der Gelegenheitsursachen mich
weit strenger als Löwen feld erwiesen habe. Sollte ich die
Meinung meiner Sätze selbst erläutern, so würde ich es tun,
107
indem ich nach der Bedingung: Wo man aber Grund
hat, die Neurose für eine erworbene zu halten...,
einschalte: weil der (im vorigen Satz erwähnte)
Nachweis hereditärer Belastung nicht gelingt.
Der Sinn ist: Ich halte den Fall für einen erworbenen, in
dem sich Heredität nicht nachweisen läßt. Ich benehme mich
dabei wie aUe "Welt, vielleicht mit dem kleinen Unterschied,
daß Andere den Fall auch dann für hereditär bedingt er-
klären, wo Heredität nicht besteht, so daß sie die ganze
Kategorie erworbener Neurosen übersehen. Dieser Unterschied
aber läuft zu meinen Gunsten. Ich gestehe jedoch zu, daß
ich solches Mißverständnis durch die Redewendung im ersten
Satze: „es läßt sich eine Ätiologie überhaupt nicht erkennen",
selbst verschuldet habe. Ich werde sicherlich auch von an-
derer Seite zu hören bekommen, ich schaffe mir mit der
Suche nach den spezifischen Ursachen der Neurosen über-
flüssige Mühe. Die wirkliche Ätiologie der Angstneurosen
wie der Neurosen überhaupt sei ja bekannt, es sei die Here-
dität, und zwei wirkliche Ursachen könnten neben einander
nicht bestehen. Die ätiologische Rolle der Heredität leugnete
ich wohl nicht? Dann aber seien alle anderen Ätiologien —
Gelegenheitsursachen und einander gleichwertig oder gleich
minderwertig.
Ich teile diese Anschauung über die Rolle der Heredität
nicht, und da ich gerade dieses Thema in meiner kurzen
Mitteilung über die Angstneurose am wenigsten gewürdigt
habe, will ich versuchen, hier etwas vom Unterlassenen nach-
zuholen und den Eindruck zu verwischen, als hätte ich mich
bei der Abfassung meiner Arbeit nicht um alle zugehörigen
Rätselfragen gemüht.
Ich glaube, man ermögHcht sich eine Darstellung der
wahrscheinlich sehr komplizierten ätiologischen Verhältnisse,
die in der Pathologie der Neurosen obwalten, wenn man sich
folgende ätiologische Begriffe festlegt:
a) Bedingung, h) spezifische Ursache, c) kon-
kurrierende Ursache und, als den vorigen nicht gleich-
wertigen Terminus, 6) Veranlassung oder auslösende
Ursache.
108
Um allen Möglichkeiten zu genügen, nehme man an, es
handle sich um ätiologische Momente, die einer quantitativen
Veränderung, also der Steigerung oder Verringerung, fähig sind.
Läßt man sich die Vorstellung einer mehrghederigen
ätiologischen Gleichung gefallen, die erfüllt sein muß, wenn
der Effekt zustande kommen soll, so charakterisiert sich als
Veranlassung oder auslösende Ursache diejenige, welche
zuletzt in die Gleichung eintritt, so daß sie dem Erscheinen
des Effektes unmittelbar vorhergeht. Nur dieses zeitliche
Moment macht das Wesen der Veranlassung aus, jede der
andersartigen Ursachen kann im Einzelfalle auch die Rolle
der Veranlassung spielen ; in derselben ätiologischen Häufung
kann diese Rolle wechseln.
Als Bedingungen sind solche Momente zu bezeichnen,
bei deren Abwesenheit der Effekt nie zustande käme, die
aber für sich allein auch unfähig sind, den Effekt zu er-
zeugen, sie mögen in noch so großem Ausmaß vorhanden sein.
Es fehlt dazu noch die spezifisehe Ursache.
Als spezifische Ursache gilt diejenige, die in keinem
Falle von Verwirklichung des Effektes vermißt wird, und die
in entsprechender Quantität oder Intensität auch hinreicht, den
Effekt zu erzielen, wenn nur noch die Bedingungen erfüllt sind.
Als konkurrierende Ursachen darf man solche
Momente auffassen, welche weder jedesmal vorhanden sein
müssen, noch imstande sind, in behebigem Ausmaß ihrer
"Wirkung für sich allein den Effekt zu erzeugen, welche aber
neben den Bedingungen und der spezifischen Ursache zur
Erfüllung der ätiologischen Gleichung mitwirken.
Die Besonderheit der konkurrierenden oder Hilfsursachen
scheint klar; wie unterscheidet man aber Bedingungen und
spezifische Ursache, da sie beide unentbehrhch und doch
keines von ihnen allein zur Verursachung genügend sind?
Da scheint denn folgendes Verhalten eine Entscheidung
zu gestatten. Unter den „notwendigenUrsachen" findet
man mehrere, die auch in den ätiologischen Gleichungen
vieler anderer Effekte wiederkehren, daher keine besondere
Beziehung zum einzelnen Effekte verraten; eine dieser Ur-
sachen aber stellt sich den anderen gegenüber, dadurch, daß
109
sie in {keiner anderen oder in sehr wenigen ätiologisclien
Formeln aufzufinden ist, und diese hat den Anspruch, s p e z i-
fische Ursache des betreffenden Effektes zu heißen. Ferner
sondern sich Bedingungen und spezifische Ursache besonders
deutüch in solchen Fällen, in denen die Bedingungen den
Charakter von lange bestehenden und wenig veränderKchen
Zuständen haben, die spezifische Ursache einem rezent ein-
wirkenden Faktor entspricht.
Ich will ein Beispiel für dieses vollständige ätiologische
Schema versuchen:
Effekt: Phthisis pulmonum.
Bedingung: Disposition, meist hereditär durch Organ-
beschaffenheiten gegeben.
Spezifische Ursache: Der Bazillus Kochii.
Hilfsursachen: Alles Depotenzierende: Gremütsbe-
wegungen wie Eiterungen oder Erkältungen.
Das Schema für die Ätiologie der Angstneurose scheint
mir ähnhch zu lauten:
Bedingung: Heredität.
Spezifische Ursache: Ein sexuelles Moment im
Sinne einer Ablenkung der Sexualspannung vom Psychischen.
Hilfsursachen: Alle b analen S chädigungen : Gemüts-
bewegung, Schreck, wie physische Erschöpfung durch Krank-
heit oder Uberleistung.
Wenn ich diese ätiologische Formel für die Angstneurose
im einzelnen diskutiere, kann ich noch folgende Bemerkungen
hinzufügen. Ob eine besondere persönKche Beschaffenheit (die
nicht hereditär bezeugt zu sein brauchte) für die Angstneurose
unbedingt erfordert wird, oder ob jeder normale Mensch
durch etwaige quantitative Steigerung des spezifischen
Momentes zur Angstneurose gebracht werden kann, weiß ich
nicht sicher zu entscheiden, neige aber sehr zur letzteren
Meinung. — Die hereditäre Disposition ist die wichtigste
Bedingung der Angstneurose, aber keine unentbehrliche,
da sie in einer Reihe von Grrenzfällen vermißt whd. — Das
spezifische sexuelle Moment wird in der übergroßen Zahl der
Fälle mit Sicherheit nachgewiesen, in einer Eeihe von Fällen
(kongenitalen) sondert es sich von der Bedingung der Heredität
110
nicht ab, sondern ist durch diese miterfüllt, d. h. die Kranken
bringen jene Besonderheit der Vita sexualis als Stigma mit
(die psychische Unzulänglichkeit zur Bewältigung der soma-
tischen Sexualspannung), über welche sonst der Weg zur
Erwerbung der Neurose führt; in einer anderen Reihe von
Grenzfällen ist die spezifische Ursache in einer konkurrierenden
enthalten, wenn nämlich die besagte psychische Unzuläng-
lichkeit durch Erschöpfung u. dgl. zustande kommt. Alle diese
Fälle bilden fließende Reihen, nicht abgesonderte Kategorien ;
durch alle zieht sich indes das ähnliche Verhalten im Schicksal
der Sexualspannung, und für die meisten gilt die Sonderung
von Bedingung, spezifischer und Hilfsursache, konform der
oben gegebenen Auflösung der ätiologischen Grleichung.
Ich kann, wenn ich meine Erfahrungen darnach befrage,
ein gegensätzliches Verhalten von hereditärer Disposition und
spezifischem sexuellem Moment für die Angstneurose nicht
auffinden. Im Gegenteile, die beiden ätiologischen Paktoren
unterstützen und ergänzen einander. Das sexuelle Moment
wirkt meistens nur bei jenen Personen, die eine hereditäre
Belastung mit dazu bringen ; die Heredität allein ist meistens
nicht imstande, eine Angstneurose zu erzeugen, sondern
wartet auf das Eintreffen eines genügenden Maßes der spe-
zifischen sexuellen Schädlichkeit. Die Konstatierung der
Heredität überhebt darum nicht der Suche nach einem spe-
zifischen Moment, an dessen Auffindung sich übrigens auch
alles therapeutische Interesse knüpft. Denn was wiU man
therapeutisch mit der Heredität als Ätiologie anfangen? Sie
hat seit jeher bei dem Kranken bestanden und wird bis an
dessen Ende weiter bestehen. Sie ist an und für sich weder
geeignet, das episodische Auftreten einer Neurose, noch deren
Aufhören durch Behandlung verstehen zu lassen. Sie ist nichts
als eine Bedingung der Neurose, eine unsäglich wichtige
zwar, aber doch eine zum Schaden der Therapie und des
theoretischen Verständnisses überschätzte. Man denke nur,
um sich durch den Kontrast der Tatsachen überzeugen zu
lassen, an die Fälle von familiären Nervenkrankheiten (Chorea
chronica, Thomsen'sche Krankheit u. dgl.), in denen die
Heredität alle ätiologischen Bedingungen in sich vereinigt.
in
Ich möclite zum ScKlusse die wenigen Sätze wiederholen,
durch welche ich in erster Annäherung an die "Wirklichkeit
die gegenseitigen Beziehungen der verschiedenen ätiologischen
Faktoren auszudrücken pflege:
1. Ob überhaupt eine neurotische Erkrankung zu-
stande kommt, hängt von einem quantitativen Faktor ab,
von der Gesamtbelastung des Nervensystems im Verhältnis
zu dessen Resistenzfähigkeit. Alles was diesen Faktor unter
einem gewissen Schwellenwert halten oder zurückbringen
kann, hat therapeutische "Wirksamkeit, indem es die ätiologische
Gleichung unerfüllt läßt.
Was man unter „Gesamtbelastung", was man unter
„Resistenzfähigkeit" des Nervensystems zu verstehen habe„
das Heße sich mit Zugrundelegung gewisser Hypothesen über
die Nervenfunktion wohl deutUcher ausführen.
2. Welchen Umfang die Neurose erreicht, das hängt
in erster Linie von dem Maß hereditärer Belastung ab. Di©
Heredität wirkt wie ein in den Stromkreis eingeschalteter
Multiphkator, der den Ausschlag der Nadel um das Vielfache
vergrößert.
3. Welche Form aber die Neurose annimmt — den
Sinn des Ausschlages — dies bestimmt allein das aus dem
Sexualleben stammende spezifische ätiologische Moment.
Ich hoffe, daß im ganzen, obwohl ich mir der vielen
noch unerledigten Schwierigkeiten des Gegenstandes bewußt
bin, meine Aufstellung der Angstneurose sich für das Ver-
ständnis der Neurosen fruchtbarer erweisen wird, als L ö w e n-
feld's Versuch, denselben Tatsachen Rechnung zu tragen
durch die Konstatierung „einer Verknüpfung neura-
sthenischer und hysterischer Symptome in An-
fallsform".
Wien, anfangs Mai 1895.
VIII.
Weitere Bemerkungen über die Abwehr-
Neuropsychosen. ^)
Als „Abwehr-Neuropsychosen" habe ich 1894 in
einem kleinen Aufsatze (Neurologisches Centralblatt, Nr. 10
und 11) Hysterie, Zwangsvorstellungen sowie gewisse Fälle von
akuter halluzinatorischer Verworrenheit zusammengefaßt, weil
sich für diese Affektionen der gemeinsame Gesichtspunkt er
geben hatte, ihre Symptome entstünden durch den psychischen
Mechanismus der (unbewußten) Abwehr, d. h. bei dem
Versuche, eine unverträgliche Vorstellung zu verdrängen, die
in peinlichen Gegensatz zum Ich der Kranken getreten war.
An einzelnen Stellen eines seither erschienenen Buches „Studien
über Hysterie" von Dr. J. Breuer und mir, habe ich dann
erläutern und an Krankenbeobachtungen darlegen können,
in welchem Sinne dieser psychische Vorgang der „Abweln-"
oder „Verdrängung" zu verstehen ist. Ebendaselbst finden
sich auch Angaben über die mühselige, aber vollkommen ver-
läßliche Methode der Psychoanalyse, deren ich mich bei diesen
Untersuchungen, die gleichzeitig eine Therapie darstellen,
bediene.
Meine Erfahrungen in den letzten beiden Arbeitsjahren
haben mich nun in der Neigung bestärkt, die Abwehr zum
Kernpunkt im psychischen Mechanismus der erwähnten Neu-
rosen zu machen, und haben mir anderseits gestattet, der
psychologischen Theorie eine klinische Grundlage zu geben.
Ich bin zu meiner eigenen Überraschung auf einige einfache,
aber eng umschriebene Lösungen der Neurosenprobleme ge-
stoßen, über die ich auf den nachfolgenden Seiten vorläufig
1) „Neurologisches Centralblatt", 1896, Nr. 10.
113
und in Kürze berichten will. Ich kann es mit dieser
Art der Mitteihmg nicht vereinen, den Behauptungen die
Beweise anzufügen, deren sie bedürfen, hoffe aber, diese
Verpflichtung in einer ausführHchen Darstellung einlösen zu
können.
I. Die „spezifische" Ätiologie der Hysterie.
Daß die Symptome der Hysterie erst durch Zurück-
führung auf „traumatisch" wirksame Erlebnisse verständlich
werden, und daß diese psychischen Traumen sich auf das
Sexualleben beziehen, ist von Breuer und mir bereits in
früheren Veröffentlichungen ausgesprochen worden. "Was ich
heute als einförmiges Ergebnis meiner an 13 Fällen von
Hysterie durchgeführten Analysen hinzuzufügen habe, betrifft
einerseits die Natur dieser sexuellen Traumen, andererseits
die Lebensperiode, in der sie vorfallen. Es reicht für die Ver-
ursachung der Hysterie nicht hin, daß zu irgend einer Zeit
des Lebens ein Erlebnis auftrete, welches das Sexualleben
irgendwie streift und durch die Entbindung und Unterdrückung
eines peinlichen Affektes pathogen wird. Es müssen vielmehr
diese sexuellen Traumen der frühen Kindheit (der
Lebenszeit vor der Pubertät) angehören, und ihr
Inhalt muß in wirklicher Irritation der Genitalien
(koitusähnlichen Vorgängen) bestehen.
Diese spezifische Bedingung der Hysterie — sexuelle
Passivität invorsexuellenZeiten — fand ich in allen
analysierten Fällen von Hysterie (darunter 2 Männer) erfüllt.
Wie sehr die Anforderung an hereditäre Disposition durch
solche Bedingtheit der accidenteUen ätiologischen Momente
verringert wird, bedarf nur der Andeutung; ferner eröffnet
sich ein Verständnis für die ungleich größere Häufigkeit der
Hysterie beim weiblichen Geschlecht, da dieses auch im Kindes-
alter eher zu sexuellen Angriffen reizt.
Die nächstliegendsten Einwendungen gegen dieses
Resultat dürften lauten, daß sexuelle Angriffe gegen kleine
Kinder zu häufig vorfallen, als daß ihrer Konstatierung ein
ätiologischer Wert zukäme, oder daß solche Erlebnisse gerade
darum wirkungslos bleiben müssen, weil sie ein sexuell un-
Freud, NeuTosenlehre. o
114
entwickeltes Wesen betreffen ; ferner daß man sich hüten
müsse, derlei angebliche Reminiszenzen den Kranken durchs
Examen aufzudrängen, oder an die Romane, die sie selbst
erdichten, zu glauben. Den letzteren Einwendungen ist die
Bitte entgegenzuhalten, daß doch niemand allzu sicher auf
diesem dunkeln Gebiete urteilen möge, der sich noch nicht
der einzigen Methode bedient hat, welche es zu erhellen ver-
mag (der Psychoanalyse zur Bewußtmachung des bisher Un-
bewußten.^) Das Wesentliche an den ersteren Zweifeln erledigt
sich durch die Bemerkung, daß ja nicht die Erlebnisse selbst
traumatisch wirken, sondern deren Wiederbelebung als
Erinnerung, nachdem das Individuum in die sexuelle
Reifung eingetreten ist.
Meine 13 Fälle von Hysterie waren durchwegs von
schwerer Art, alle mit vielj ähriger KJrankheitsdauer, einige
nach längerer und erfolgloser Anstaltsbehandlung. Die Kinder-
traumen, welche die Analyse für diese schweren Fälle auf-
deckte, mußten sämtlich als schwere sexuelle Schädigungen
bezeichnet werden; gelegentlich waren es geradezu abscheu-
liche Dinge. Unter den Personen, welche sich eines solchen
folgenschweren Abusus schuldig machten, stehen obenan
Kinderfrauen, Gouvernanten und andere Dienstboten, denen
man allzu sorglos die Kinder überläßt, ferner sind in be-
dauerlicher Häufigkeit lehrende Personen vertreten ; in 7 von
jenen 13 Fällen handelte es sich aber auch um schuldlose
kindhche Attentäter, meist Brüder, die mit ihren um wenig
jüngeren Schwestern Jahre hindurch sexuelle Beziehungen
unterhalten hatten. Der Hergang war wohl jedesmal ähnlich,
wie man ihn in einzelnen Fällen mit Sicherheit verfolgen
konnte, daß nämhch der Knabe von einer Person weibUchen
Geschlechts mißbraucht worden war, daß dadurch in ihm
vorzeitig die Libido geweckt wurde, und daß er dann einige
Jahre später in sexueller Aggression gegen seine Schwester
genau die nämlichen Prozeduren wiederholte, denen man
ihn selbst unterzogen hatte.
*) Ich vermute selbst, daß die so häufigen Attentatsdichtuugen der
Hysterischen Zwangsdichtungen sind, die von der Erinnerungsspur des
Kindertraumas ausgehen.
115
Aktive Masturbation muß icli aus der Liste der für
Hysterie pathogeneii sexuellen Schädlichkeiten des frühen
Kindesalters ausschließen. "Wenn diese doch so häufig neben
der Hysterie gefunden wird, so rührt dies von dem Umstände
her, daß die Masturbation selbst weit häufiger, als man meint,
die Folge des Mißbrauches oder der Verführung ist. Grar nicht
selten erkranken beide Teile des kindlichen Paares später an
Abwehrneurosen, der Bruder an Zwangsvorstellungen, die
Schwester an Hysterie, was natürhch den Anschein einer
familiären neurotischen Disposition ergibt. Diese Pseudoheredität
löst sich aber mitunter auf überraschende Weise; in einer
meiner Beobachtungen waren Bruder, Schwester und ein
etwas älterer Vetter krank. Aus der Analyse, die ich mit dem
Bruder vornahm, erfuhr ich, daß er an Vorwürfen darüber
Htt, daß er die Krankheit der Schwester verschuldet; ihn
selbst hatte der Vetter verführt, und von diesem war in
der Familie bekannt, daß er das Opfer seiner Kinderfrau
geworden war.
Die obere Altersgrenze, bis zu welcher sexuelle Schädigung
in die Ätiologie der Hysterie fällt, kann ich nicht sicher
angeben; ich zweifle aber, ob sexuelle Passivität nach dem
8. bis 10. Jahre Verdrängung ermöglichen kann, wenn sie nicht
durch vorherige Erlebnisse dazu befähigt wird. Die untere
Grenze reicht so weit als das Erinnern überhaupt, also bis
ins zarte Alter von l^/a oder 2 Jahren! (2 Fälle). In einer
Anzahl meiner Fälle ist das sexuelle Trauma (oder die "Reihe
von Traumen) im 3. und 4. Lebensjahre enthalten. Ich würde
diesen sonderbaren Funden selbst nicht Glauben schenken,
wenn sie sich nicht durch die Ausbildung der späteren
Neurose volle Vertrauenswürdigkeit verschaffen würden. In
jedem FaUe ist eine Summe von krankhaften Symptomen,
Gewohnheiten und Phobien nur durch das Zurückgehen auf
jene Kindererlebnisse erklärlich, und das logische Gefüge
der neurotischen Äußerungen macht eine Ablehnung jener
aus dem Kinderleben auftauchenden, getreu bewahrten
Erinnerungen unmöglich. Es wäre freüich vergebens, diese
Kindertraumen einem Hysterischen außerhalb der Psycho-
analyse abfragen zu wollen; ihre Spur ist niemals im be-
8*
116
wußten Erinnern, nur in den Kjankheitssymptomen auf-
zufinden.
Alle die Erlebnisse und Erregungen, welche in der
Lebensperiode nach der Pubertät den Ausbruch der Hysterie
vorbereiten oder veranlassen, wirken nachweisbar nur
dadurch, daß sie die Erinnerungsspur jener Kindheitstraumen
erwecken, welche dann nicht bewußt wird, sondern zur
Affektentbindung und Verdrängung führt. Es steht mit dieser
Rolle der späteren Traumen in gutem Einklänge, daß sie
nicht der strengen Bedingtheit der Kindertraumen unter-
liegen, sondern nach Intensität und Beschaffenheit variieren
können, von wirkHcher sexueller Überwältigung bis zu bloßen
sexuellen Annäherungen und zur Sinneswahrnehmung sexueller
Akte bei Anderen oder Aufnahme von Mitteilungen über
geschlechtliche Vorgänge.^)
In meiner ersten Mitteilung über die Abwehrneurosen
blieb es unaufgeklärt, wieso das Bestreben der bis dahin
Gesunden, ein solches traumatisches Erlebnis zu vergessen,
den Erfolg haben könne, die beabsichtigte Verdrängung wirk-
lich zu erzielen und damit der Abwehrneurose das Tor zu
öffnen. An der Natur des Erlebnisses konnte es nicht liegen,
da andere Personen trotz der gleichen Anlässe gesund blieben.
Es konnte also die Hysterie nicht aus der Wirkung des
Traumas voU erklärt werden ; man mußte zugestehen, daß die
Fähigkeit zur hysterischen Reaktion schon vor dem Trauma
bestanden hatte.
An Stelle dieser unbestimmten hysterischen Disposition
kann nun ganz oder teilweise die posthume Wirkung des
sexuellen Kindertraumas treten. Die „Verdrängung" der
Erinnerung an ein peinliches sexuelles Erlebnis reiferer Jahre
*) In einem Aufsatze über die Angstneurose (Neurologisches Central-
blatt, 1895, Nr. 2) erwähnte ich, daß „ein erstes Zusammentreffen mit dem
sexuellen Problem bei heranreifenden Mädchen eine Angstneurose her-
vorrufen kann, die in fast typischer Weise mit Hysterie kombiniert ist".
Ich weiß heute, daß die Gelegenheit, bei welcher solche virginale
Angst ausbricht, eben nicht dem ersten Zusammentreffen mit der
Sexualität entspricht, sondern daß bei diesen Personen ein Erlebnis
sexueller Passivität in den Kinderjahren vorhergegangen ist, dessmi
Erinnerung bei dem „ersten Zusammentreffen" geweckt wird.
117
gelingt nur solcten Personen, bei denen dies Erlebnis die
Erinneningsspur eines Kindertraumas zur Wirkung bringen
kann.^)
Zwangsvorstellungen haben gleichfalls ein sexuelles
Kindererlebnis (anderer Natur als bei Hysterie) zur Voraus-
setzung. Die Ätiologie der beiden Abwehr-Neuropsychosen
bietet nun folgende Beziehung zur Ätiologie der beiden ein-
fachen Neurosen, Neurasthenie und Angstneurose. Die beiden
letzteren Affektionen sind unmittelbare Wirkungen der sexuellen
Noxen selbst, wie ich es in einem Aufsatze über die Angst-
neurose 1895 dargelegt habe; die beiden Abwehrneurosen
sind mittelbare Folgen sexueller Schädlichkeiten, die vor
Eintritt der Geschlechtsreife eingewirkt haben, nämlich Folgen
der psychischen Erinnerungsspuren an diese Noxen. Die
aktuellen Ursachen, welche Neurasthenie und Angstneurose
erzeugen, spielen häufig gleichzeitig die Rolle von erweckenden
Ursachen für die Abwehrneurosen; anderseits können die
spezifischen Ursachen der Abwehmeurose, die Kindertraumen,
gleichzeitig den Grund für die später sich entwickelnde
^) Eine psychologische Theorie der Verdrängung müßte auch Aus-
kunft darüber geben, warum nur Vorstellungen sexuellen Inhaltes ver-
drängt werden können. Sie darf von folgenden Andeutungen ausgehen:
Das Vorstellen sexuellen Inhaltes erzeugt bekanntlich ähnliche Erregungs-
vorgänge in den Genitalien wie das sexuelle Erleben selbst. Man darf
annehmen, daß diese somatische Erregung sich in psychische umsetzt.
In der Regel ist die diesbezügliche Wirkung beim Erlebnis viel stärker
als bei der Erinnerung daran. Wenn aber das sexuelle Erlebnis in die
Zeit sexueller Unreife fällt, die Erinnerung daran während oder nach
der Reife erweckt wird, dann wirkt die Erinnerung ungleich stärker
erregend als seinerzeit das Erlebnis, denn inzwischen hat die Pubertät
die Reaktionsfähigkeit des Sexualapparates in unvergleichbarem Maße
gesteigert. Ein solches umgekehrtes Verhältnis zwischen realem Erlebnis
und Erinnerung scheint aber die psychologische Bedingung einer Ver-
drängung zu enthalten. Das Sexualleben bietet — dvirch die Verspätung
der Pubertätsreife gegen die psychischen Funktionen — die einzig vor-
kommende Möglichkeit für jene Umkehrung der relativen Wirksamkeit.
Die Kindertraumen wirken nachträglich wie frische Er-
lebnisse, dann aber unbewußt. Weitergehende psychologische
Erörterungen müßte ich auf ein anderesmal verschieben. — Ich bemerke
noch, daß die hier in Betracht kommende Zeit der „sexuellen Reifung"
nicht mit der Pubertät zusammenfällt, sondern vor dieselbe (8. bis 10. Jahr).
118
Neurasthenie legen. Endlich ist auch der Fall nicht selten,
daß eine Neurasthenie oder Angstneurose anstatt durch aktuelle
sexuelle Schädlichkeiten nur durch fortwirkende Erinnerung an
Kindertraumen in ihrem Bestände erhalten wird.
II. Wesen und Mechanismus der Zwangsneurose.
In der Ätiologie der Zwangsneurose haben sexuelle
Erlebnisse der frühen Eänderzeit dieselbe Bedeutung wie bei
Hysterie, doch handelt es sich hier nicht mehr um sexuelle
Passivität, sondern um mit Lust ausgeführte Aggressionen
und mit Lust empfundene Teilnahme an sexuellen Akten, also
um sexuelle Aktivität. Mit dieser Differenz der ätiologischen
Verhältnisse hängt es zusammen, daß bei der Zwangsneurose
das männliche Geschlecht bevorzugt erscheint.
Ich habe übrigens in aU meinen Fällen von Zwangs-
neurose einen Untergrund von hysterischen Symp-
tomen gefunden, die sich auf eine der Lusthandlung vor-
hergehende Szene sexueller Passivität zurückführen ließen.
Ich vermute, daß dieses Zusammentreffen ein gesetzmäßiges
ist, und daß vorzeitige sexuelle Aggression stets ein Erlebnis
von Verführung voraussetzt. Ich kann aber gerade von der
Ätiologie der Zwangsneurose noch keine abgeschlossene Dar-
stellung geben; es macht mir nur den Eindruck, als hinge
die Entscheidung darüber, ob auf Grund der Kindertraumen
Hysterie oder Zwangsneurose entstehen soll, mit den zeit-
lichen Verhältnissen der Entwicklung von Libido zusammen.
Das "Wesen der Zwangsneurose läßt sich in einer ein-
fachen Formel aussprechen: Zwangsvorstellungen sind
jedesmal verwandelte, aus der Verdrängung
wiederkehrende Vorwürfe, die sich immer auf eine
sexuelle, mitLust ausgeführte Aktion derKinder-
zeit beziehen. Zur Erläuterung dieses Satzes ist es not-
wendig, den typischen Verlauf einer Zwangsneurose zu be-
schreiben.
In einer ersten Periode — Periode der kindlichen
Immoralität — fallen die Ereignisse vor, welche den Keim
der späteren Neurose enthalten. Zuerst in frühester Kindheit
die Erlebnisse sexueller Verführung, welche später die Ver-
119
drängung ermöglichen, sodann die Aktionen sexueller Aggression
gegen das andere Geschlecht, welche später als Vorwurfshand-
lungen erscheinen.
Dieser Periode wird ein Ende bereitet durch den —
oft selbst verfrühten — Eintritt der sexuellen „Reifung".
Nun knüpft sich an die Erinnerung jener Lustaktionen ein
Vorwurf, und der Zusammenhang mit dem initialen Erlebnisse
von Passivität ermöglicht es — oft erst nach bewußter und
erinnerter Anstrengung — diesen zu verdrängen und durch
ein primäres Abwehrsymptom zu ersetzen. G-ewissen-
haftigkeit, Scham, Selbstmißtrauen sind solche Symptome,
mit denen die dritte Periode, die der scheinbaren Gesundheit,
eigentlich der gelungenen Abwehr beginnt.
Die nächste Periode, die der Krankheit, ist ausgezeichnet
durch die"Wiederkehr der verdrängtenErinnerungen,
also durch das Mißglücken der Abwehr, wobei es unentschieden
bleibt, ob die Erweckung derselben häufiger zufällig und
spontan oder infolge aktueller sexueller Störungen gleichsam
als Nebenwirkung derselben erfolgt. Die wiederbelebten Er-
innerungen und die aus ihnen gebildeten Vorwürfe treten
aber niemals unverändert ins Bewußtsein ein, sondern was
als Zwangsvorstellung und Zwangsaffekt bewußt wird, die
pathogene Erinnerung für das bewußte Leben substituiert,
sind Kompromißbildungen zwischen den verdrängten und
den verdrängenden Vorstellungen.
Um die Vorgänge der Verdrängung, der "Wiederkehr des
Verdrängten und der Bildung der pathologischen Kompromiß-
vorstellungen anschaulich und wahrscheinlich zutreffend zu
beschreiben, müßte man sich zu ganz bestimmten Annahmen
über das Substrat des psychischen Geschehens und des Be-
wußtseins entschließen. So lange man dies vermeiden wiU,
muß man sich mit folgenden, eher bildlich verstandenen
Bemerkungen bescheiden : Es gibt zwei Formen der Zwangs-
neurose, je nachdem allein der Erinnerungsinhalt der Vor-
wurfshandlung sich den Eingang ins Bewußtsein erzwingt
oder auch der an sie geknüpfte Vorwurfsaffekt. Der erstere
FaU ist der der typischen Zwangsvorstellungen, bei denen
der Inhalt die Aufmerksamkeit des Kranken auf sich zieht,
120
als Affekt nur eine unbestimmte Unlust empfunden wird,
während zum Inhalte der Zwangsvorstellung nur der Affekt
des Vorwurfs passen würde. Der Inhalt der Zwangsvorstellung
ist gegen den der Zwangshandlung im Kindesalter in zwei-
facher Weise entstellt: erstens, indem etwas Aktuelles an
die Stelle des Vergangenen gesetzt ist, zweitens, indem das
Sexuelle durch Analoges, nicht Sexuelles substituiert wird.
Diese beiden Abänderungen sind die Wirkung der immer
noch in Kraft stehenden Verdrängungsneigung, die wir dem
„Ich" zuschreiben wollen. Der Einfluß der wiederbelebten
pathogenen Erinnerung zeigt sich darin, daß der Inhalt der
Zwangsvorstellung noch stückweise mit dem verdrängten
identisch ist oder sich durch korrekte Gedankenfolge von
ihm ableitet. Rekonstruiert man mit Hilfe der psychoanalyti-
schen Methode die Entstehung einer einzelnen Zwangsvor-
stellung, so findet man, daß von einem aktuellen Eindrucke
aus zwei verschiedene Gedankengänge angeregt worden sind;
der eine davon, der über die verdrängte Erinnerung gegangen
ist, erweist sich als ebenso korrekt logisch gebildet wie der
andere, obwohl er bewußtseinsunfähig und unkorrigierbar ist.
Stimmen die Resultate der beiden psychischen Operationen
nicht zusammen, so kommt es nicht etwa zur logischen Aus-
gleichung des Widerspruches zwischen beiden, sondern neben
dem normalen Denkergebnisse tritt als Kompromiß zwischen
dem Widerstände und dem pathologischen Denkresultate eine
absurd erscheinende Zwangsvorstellung ins Bewußtsein. Wenn
die beiden Gedankengänge den gleichen Schluß ergeben, ver-
stärken sie einander, so daß ein normal gewonnenes Denk-
resultat sich nun psychisch wie eine Zwangsvorstellung ver-
hält. Wo immer neurotischer Zwang imPsychischen
auftritt, rührt er von Verdrängung her. Die Zwangs-
vorstellungen haben sozusagen psychischen Zwangskurs nicht
wegen ihrer eigenen Geltung, sondern wegen der Quelle, aus
der sie stammen, oder die zu ihrer Geltung einen Beitrag
geliefert hat.
Eine zweite Gestaltung der Zwangsneurose ergibt sich,
wenn nicht der verdrängte Erinnerungsinhalt, sondern der
gleichfalls verdrängte Vorwurf eine Vertretung im bewußten
121
psychisclien Leben erzwingt. Der Vorwufsaffekt kann sicii durch
einen psychischen Zusatz in einen beliebigen anderen Unlust-
affekt verwandeln ; ist dies geschehen, so steht dem Bewnßt-
werden des substituierenden Affekts nichts mehr im "Wege.
So verwandelt sich Vorwurf (die sexuelle Aktion im Kindes-
alter vollführt zu haben) mit Leichtigkeit in Scham (wenn
ein Anderer davon erführe), in hypochondrische Angst
(vor den körperlich schädigenden Folgen jener Vorwurfshand-
lung), in soziale Angst (vor der gesellschaftlichen Ahndung
jenes Vergehens), in religiöse Angst, in Beachtungs-
wahn (Furcht, daß man jene Handlung Anderen verrate), in
Versuchungsangst (berechtigtes Mißtrauen in die eigene
moralische Widerstandskraft) u. dgl. Dabei kann der Er-
innerungsinhalt der Vorwurfshandlung im Bewußtsein mit-
vertreten sein oder gänzlich zurückstehen, was die diagnostische
Erkennung sehr erschwert. Viele Fälle, die man bei ober-
flächlicher Untersuchung für gemeine (neurasthenische) Hypo-
chondrie hält, gehören zu dieser Gruppe der Zwangs-
affekte insbesondere die sogenannte „periodische Neura-
sthenie" oder „periodische MelanchoKe" scheint in ungeahnter
Häufigkeit sich in Zwangsaffekte und Zwangsvorstellungen
aufzulösen, eine Erkennung, die therapeutisch nicht gleich-
giltig ist.
Neben diesen Kompromißsymptomen, welche die Wieder-
kehr des Verdrängten und somit ein Scheitern der ursprünglich
erzielten Abwehr bedeuten, bildet die Zwangsneurose eine
Reihe weiterer Symptome von ganz anderer Herkunft. Das
Ich sucht sich nänüich jener Abkömnüinge der initial ver-
drängten Erinnerung zu erwehren und schafft in diesem Ab-
wehrkampfe Symptome, die man als „sekundäre Abwehr"
zusammenfassen könnte. Es sind dies durchwegs „Schutz-
maßregeln", die bei der Bekämpfung der Zwangsvor-
stellungen und Zwangsaffekte gute Dienste geleistet haben.
Gelingt es diesen Hilfen im Abwehrkampfe wirklich, die
dem Ich aufgedrängten Symptome der Wiederkehr neuer-
dings zu verdrängen, so überträgt sich der Zwang auf die
Schutzmaßregeln selbst und schafft eine dritte Gestaltung der
„Zwangsneurose", die Zwangshandlungen. Niemals sind
122
diese primär, niemals entlialteii sie etwas anderes als eine
Abwehr, nie eine Aggression; die psychische Analyse weist
von ihnen nach, daß sie — trotz ihrer Sonderbarkeit — durch
Zm*ückführung auf die Zwangserinnerung, die sie bekämpfen,
jedesmal voll aufzuklären sind.^)
Die sekundäre Abwehr der Zwangsvorstellungen kann
erfolgen durch gewaltsame Ablenkung auf andere Gedanken,
möglichst konträren Inhalts; daher im FaUe des Gelingens
der Grübelzwang, regelmäßig über abstrakte, übersinn-
liche Dinge, weü die verdrängten Vorstellungen immer sich
mit der Sinnlichkeit beschäftigten. Oder der Kranke ver-
sucht, jeder einzelnen Zwangsidee durch logische Arbeit und
Berufung auf seine bewußten Erinnerungen Herr zu werden;
dies führt zum Denk- und Prüfungszwang und zur
Zweifelsucht. Der Vorzug der Wahrnehmung vor der Er-
innerung bei diesen Prüfungen veranlaßt den Bjranken zuerst
1) Ein Beispiel anstatt vieler: Ein 11 jähriger Knabe hatte sich
folgendes Zermoniell vor dem Zubettgehen zwangsartig eingerichtet: Er
schlief nicht eher ein, als bis er seiner Mutter alle Erlebnisse des Tages
haarklein vorerzählt hatte; auf dem Teppich des Schlafzimmers durfte
abends kein Papierschnitzelchen und kein anderer Unrat zu finden sein;
das Bett mußte ganz an die Wand angerückt werden, drei Stühle davor-
stehen, die Polster in ganz bestimmter Weise liegen. Er selbst mußte,
um einzuschlafen, zuerst eine gewisse Anzahl von Malen mit beiden Beinen
stoßen und sich dann auf die Seite legen. — Das klärte sich folgender-
maßen auf: Jahre vorher hatte es sich zugetragen, daß ein Dienstmäd-
chen, welches den schönen Knaben zu Bette bringen sollte, die Gelegen-
heit benützte, um sich dann über ihn zu legen und ihn sexuell zu miß-
brauchen. Als dann später einmal diese Erinnerung durch ein rezentes
Erlebnis geweckt wurde, gab sie sich dem Bewußtsein durch den Zwang
zu obigem Zermoniell kund, dessen Sinn leicht zu erraten war und im
einzelnen durch die Psychoanalyse festgestellt wurde: Sessel vor dem
Bett und dieses an die Wand gerückt — damit niemand mehr zum
Bett Zugang haben könne; Polster in einer gewissen Weise geordnet
— damit sie anders geordnet seien als an jenem Abend; die Bewegungen
mit den Beinen — Wegstoßen der auf ihm liegenden Person; Schlafen
auf der Seite — weil er bei der Szene auf dem Rücken gelegen; die
ausführliche Beichte vor der Mutter — weil er diese und andere sexuelle
Erlebnisse infolge von Verbot der Verführerin ihr verschwiegen hatte;
endlich Reinhaltung des Bodens im Schlafzimmer — weil dies der
Hauptvorwurf war, den er bis dahin von der Mutter hatte hinnehmen
müssen.
123
und zwingt ihn später, alle Objekte, mit denen er in Be-
rührung getreten ist, zu sammeln und aufzubewahren. Die
sekundäre Abwehr gegen die Zwangsaffekte ergibt eine noch
größere Reihe von Schutzmaßregeln, die der Verwandlung
in Zwangshandlungen fähig sind. Man kann dieselben nach
ihrer Tendenz gruppieren: Maßregeln der Buße (lästiges
Zermoniell, Zahlenbeobachtung), der Vorbeugung (allerlei
Phobien, Aberglauben, Pedanterie, Steigerung des Primär-
symptoms der Gewissenhaftigkeit), der Furcht vor Verrat
(Papiersammeln, Menschenscheu), der Betäubung (Dipso-
manie). Unter diesen Zwangshandlungen und -Impulsen spielen
die Phobien als Existenzbeschränkungen des Kranken die
größte Rolle.
Es gibt Fälle, in welchen man beobachten kann, wie
sich der Zwang von der Vorstellung oder vom Affekt auf
die Maßregel überträgt ; andere, in denen der Zwang periodisch
zwischen dem "Wiederkehrsymptome und dem Symptome der
sekundären Abwehr oszilliert; aber daneben noch Fälle, in
denen überhaupt keine Zwangsvorstellung gebildet, sondern
die verdrängte Erinnerung sogleich durch die scheinbar
primäre Abwehrmaßregel vertreten wird. Hier wird mit einem
Sprunge jenes Stadium erreicht, welches sonst erst nach dem
Abwehrkampfe den Verlauf der Zwangsneurose abschließt.
Schwere Fälle dieser Affektion enden mit der Fixirung von
ZermonieUhandlungen, allgemeiner Zweifelsucht oder einer
durch Phobien bedingten Sonderlingsexistenz.
Daß die Zwangsvorstellung und alles von ihr Abgeleitete
keinen Glauben findet, rührt wohl daher, daß bei der ersten
Verdrängung das Abwehrsymptom der Gewissenhaftig-
keit gebildet worden ist, das gleichfalls Zwangsgeltung ge-
wonnen hat. Die Sicherheit, in der ganzen Periode der ge-
lungenen Abwehr moralisch gelebt zu haben, macht es un-
mögHch, dem Vorwurfe, welchen ja die Zwangsvorstellung
involviert, Glauben zu schenken. Nur vorübergehend beim Auf-
treten einer neuen Zwangsvorstellung und hie und da bei
melancholischen Erschöpfungszuständen des Ichs erzwingen
die krankhaften Symptome der Wiederkehr auch den Glauben.
Der „Zwang" der hier beschriebenen psychischen Bildungen
124
hat ganz allgemein mit der Anerkennung durch den Glauben
nichts zu tun, und ist auch mit jenem Momente, das man als
„Stärke" oder „Intensität" einer Vorstellung bezeichnet, nicht
zu verwechseln. Sein wesentlicher Charakter ist vielmehr die
Unauflösbarkeit durch die bewußtseinsfähige psychische Tätig-
keit, und dieser Charakter erfährt keine Änderung, ob nun
die Vorstellung, an der der Zwang haftet, stärker oder
schwächer, intensiver oder geringer „beleuchtet", „mit Energie
besetzt" u. dgl. wird.
Ursache dieser Unangreifbarkeit der Zwangsvorstellung
oder ihrer Derivate ist aber nur ihr Zusammenhang mit der
verdrängten Erinnerung aus früher Kindheit, denn wenn es
gelungen ist, diesen bewußt zu machen, wofür die psycho-
therapeutischen Methoden bereits auszureichen scheinen, dann
ist auch der Zwang gelöst.
in. Analyse eines Falles von chronischer Paranoia.
Seit längerer Zeit schon hege ich die Vermutung, daß
auch die Paranoia — oder Gruppen von Fällen, die zur Paranoia
gehören — eine Abwehr-Psychose ist, d. h. daß sie wie Hysterie
und Zwangsvorstellungen hervorgeht aus der Verdrängung
peinlicher Erinnerungen, und daß ihre Symptome durch den
Inhalt des Verdrängten in ihrer Form determiniert werden.
Eigentümlich müsse der Paranoia ein besonderer Weg oder
Mechanismus der Verdrängung sein, etwa wie die Hysterie die
Verdrängung auf dem Wege der Konversion in die Körper-
innervation, die Zwangsneurose durch Substitution (Ver-
schiebung^längs gewisser assoziativer Kategorien) bewerkstelligt.
Ich beobachtete mehrere FäUe, die dieser Deutung günstig
waren, hatte aber keinen gefunden, der sie erwies, bis mir
durch die Güte des Herrn Dr. J. Breuer vor einigen Monaten
ermöglicht wurde, den FaU einer intelligenten 32jährigen
Frau, dem man die Bezeichnung als chronische Paranoia
nicht wird versagen können, in therapeutischer Absicht einer
Psychoanalyse zu unterziehen. Ich berichte schon hier über
einige bei dieser Arbeit gewonnene Aufklärungen, weil ich
keine Aussicht habe, die Paranoia anders als in sehr ver-
einzelten Beispielen zu studieren, und weil ich es für möglich
125
halte, daß diese Bemerkungen einen hierin günstiger gestellten
Psychiater veranlassen könnten, in der jetzt so regen Diskussion
über Natur und psychischen Mechanismus der Paranoia das
Moment der „Abwehr" zu seinem Eechte zu bringen. Natürlich
liegt es mir fern, mit der nachstehenden einzigen Beobachtung
etwas anderes sagen zu wollen, als: dieser Fall ist eine Ab-
wehr-Psychose, und es dürfte in der Gruppe „Paranoia" noch
andere geben, die es gleichfalls sind.
Frau P., 32 Jahre alt, seit 3 Jahren verheiratet, Mutter eines
2jährigen Kindes, stammt von nicht nervösen Eltern; ihre beiden Ge-
schwister kenne ich aber als gleichfalls, neurotisch. Es ist zweifelhaft, ob
sie nicht einmal in der Mitte der 20 er Jahre vorübergehend deprimiert
vind in ihrem Urteile beirrt war; in den letzten Jahren war sie gesund
und leistungsfähig, bis sie Va Jahr nach der Geburt ihres Kindes die
ersten Anzeichen der gegenwärtigen Erkrankung erkennen ließ. Sie
wurde verschlossen und mißtrauisch, zeigte Abneigung gegen den Ver-
kehr mit den Geschwistern ihres Mannes, und klagte, daß die Nachbjirn
in der kleinen Stadt sich anders als früher, unhöflich und rücksichtslos
gegen sie benähmen. Allmählich steigerten sich diese Klagen an Intensität,
wenn auch nicht an Bestimmtheit: man habe etwas gegen sie, obwohl
sie keine Ahnung habe, was es sein könne. Aber es sei kein Zweifel, alle
— Verwandte wie Freunde — versagten ihr die Achtung, täten alles,
sie zu kränken. Sie zerbreche sich den Kopf, woher das komme; wisse
es nicht. Einige Zeit später klagte sie, daß sie beobachtet werde, man
ihre Gedanken errate, alles wisse, was bei ihr im Hause vorgehe. Eines
Nachmittags kam ihr plötzlich der Gedanke, man beobachte sie abends
beim Auskleiden. Von nun an wendete sie beim Auskleiden die kom-
pliziertesten Vorsichtsmaßregeln an, schlüpfte im Dunkeln ins Bett und
und entkleidete sich erst unter der Decke. Da sie jedem Verkehr aus-
wich, sich schlecht nährte und sehr verstimmt war, wurde sie im
Sommer 1895 in eine Wasserheilanstalt geschickt. Dort traten neue
Symptome auf und verstärkten sich schon vorhandene. Schon im Früh-
jahr hatte sie plötzlich eines Tages, als sie mit ihrem Stubenmädchen
allein war, eine Empfindung im Schöße bekommen und sich dabei gedacht,
das Mädchen habe jetzt einen unanständigen Gedanken. Diese Empfindung
wiu-de im Sommer häufiger, nahezu kontinuierlich, sie spürte ihre Genitalien,
„wie man eine schwere Hand spürt". Dann fing sie an, Bilder zu sehen,
über die sie sich entsetzte, Halluzinationen von weiblichen Nacktheiten,
besonders einen entblößten weiblichen Schoß mit Behaarung; gelegentlich
auch männliche Genitalien. Das Büd des behaarten Schoßes und die
Organempfindung im Schöße kamen meist gemeinsam. Die Bilder wurden
sehr quälend für sie, da sie dieselben regelmäßig bekam, wenn sie in
Gesellschaft einer Frau war und daran die Deutung sich anschloß, sie
sehe jetzt die Frau in. unanständigster Blöße, aber im selben Moment
126
habe die Frau dasselbe Bild von ihr (!). Gleichzeitig mit diesen Gesichts-
halluzinationen — die nach ihrem ersten Auftreten in der Heilanstalt
für mehrere Monate wieder verschwanden — fingen Stimmen an, sie zu
belästigen, die sie nicht erkannte und sich nicht zu erklären wußte.
Wenn sie auf der Straße war, hieß es: Das ist die Frau P. — Da geht
sie. Wo geht sie hin? — Man kommentierte jede ihrer Bewegungen und
Handlungen, gelegentlich hörte sie Drohungen und Vorwürfe. Alle diese
Symptome wurden ärger, wenn sie in Gesellschaft oder gar auf der Straße
war ; sie verweigerte darum auszugehen, erklärte dann, sie habe Ekel vor
dem Essen und kam rasch herunter.
Dies erfahr ich von ihr, als sie im "Winter 1895 nach
"Wien in meine Behandlung kam. Ich habe es ausführlich
dargestellt, um den Eindruck zu erwecken, daß es sich hier
"wirklich um eine recht häufige Form von chronischer Para-
noia handle, zu welchem Urteil die noch später anzuführenden
Details der Symptome und ihres Verhaltens stimmen werden.
"Wahnbildungen zur Deutung der Halluzinationen verbarg sie
mir damals oder sie waren wirklich noch nicht vorgefallen;
ihre Intelligenz war unvermindert; als auffällig wurde mir
nur berichtet, daß sie ihrem in der Nachbarschaft lebenden
Bruder wiederholt Rendez-vous gegeben, um ihm etwas anzu-
vertrauen, ihm aber nie etwas mitgeteilt habe. Sie sprach nie
über ihre Halluzinationen und zuletzt auch nicht mehr viel
über die Kränkungen und Verfolgungen, unter denen sie litt.
Was ich nun von dieser Kranken zu berichten habe, betrifft
die Ätiologie des Falles und den Mechanismus der Hallu-
zinationen. Ich fand die Ätiologie, als ich ganz wie bei einer
Hysterie die Breuer'sche Methode zunächst zur Erforschung
und Beseitigung der Halluzinationen in Anwendung brachte.
Ich ging dabei von der Voraussetzung aus, es müsse bei
dieser Paranoia, wie bei den zwei anderen mir bekannten
Abwehrneurosen unbewußte Gedanken und verdrängte Er-
innerungen geben, die auf dieselbe Weise, wie dort, ins
Bewußtsein zu bringen seien, unter Überwindung eines ge-
wissen Widerstandes, und die Kranke bestätigte sofort diese
Erwartung, indem sie sich bei der Analyse ganz wie zum
Beispiel eine Hysterica benahm und unter Aufmerksamkeit
auf den Druck meiner Hand (vergleiche die „Studien über
Hysterie") Gedanken vorbrachte, die gehabt zu haben sie sich
127
nicht erinnerte, die sie zunächst nicht verstand, und die
ihrer Erwartung widersprachen. Es war also das Vorkommen
bedeutsamer unbewußter Vorstellungen auch für einen Fall
von Paranoia erwiesen, und ich durfte hoffen, auch den Zwang
der Paranoia auf Verdrängung zurückzuführen. Eigentümlich
war nur, daß sie die aus dem Unbewußten stammenden An-
gaben zumeist wie ihre Stimmen innerlich hörte oder hallu-
zinierte.
Über die Herkunft der Gesichtshalluzinationen oder
wenigstens der lebhaften Bilder erfuhr ich folgendes: Das
Bild des weiblichen Schoßes kam fast immer mit der Organ-
empfindung im Schöße zusammen, letztere war aber viel
konstanter und sehr oft ohne das Bild.
Die ersten Bilder von weibhchen Schößen waren auf-
getreten in der Wasserheilanstalt, wenige Stunden, nachdem
sie eine Anzahl von Frauen tatsächlich im ßaderaum entblößt
gesehen hatte, erwiesen sich also als einfache Reproduktionen
eines realen Eindrucks. Man durfte nun voraussetzen, daß
diese Eindrücke nur darum wiederholt worden seien, weil
sich ein großes Interesse an sie geknüpft habe. Sie gab die
Auskunft, sie habe sich damals für jene Frauen geschämt;
sie schäme sich selbst, nackt gesehen zu werden, seitdem sie
sich erinnere. Da ich nun diese Scham für etwas Zwanghaftes
ansehen mußte, schloß ich nach dem Mechanismus der Ab-
wehr, es müsse hier ein Erlebnis verdrängt worden sein, bei
dem sie sich nicht geschämt, und forderte sie auf, die Er-
innerungen auftauchen zu lassen, welche zu dem Thema des
Schämens gehörten. Sie reproduzierte mir prompt eine Reihe
von Szenen vom 17. Jahre bis zum 8., in denen sie sich im
Bade vor der Mutter, der Schwester, dem Arzte ihrer Nackt-
heit geschämt hatte; die Reihe lief aber in eine Szene mit
6 Jahren aus, wo sie sich im Kinderzimmer zum Schlafen-
gehen entkleidete, ohne sich vor dem anwesenden Bruder
zu schämen. Auf mein Befragen kam heraus, daß es solcher
Szenen viele gegeben habe, und daß die Geschwister Jahre
hindurch die Gewohnheit geübt hätten, sich einander vor dem
Schlafengehen nackt zu zeigen. Ich verstand nun, was der
plötzliche Einfall bedeutet hatte, man beobachte sie beim
128
ScLlafengehen. Es war ein unverändertes Stück der alten
Vorwurfserinnerung, und sie holte jetzt an Schämen nach,
was sie als Kind versäumt hatte.
Die Vermutung, daß es sich hier um ein Kinderverhältnis
handle, wie auch in der Ätiologie der Hysterie so häufig,
wurde durch weitere Fortschritte der Analyse bekräftigt,
bei denen sich gleichzeitig Lösungen für einzelne im Bilde
der Paranoia häufig wiederkehrende Details ergaben. Der
Anfang ihrer Verstimmung fiel zusammen mit einem Zwiste
zwischen ihrem Manne und ihrem Bruder, infolgedessen der
letztere ihr Haus nicht mehr betrat. Sie hatte diesen Bruder
immer sehr geHebt und entbehrte ihn um diese Zeit sehr.
Sie sprach aber außerdem von einem Moment ihrer Kranken-
geschichte, in dem ihr zuerst „alles klar wurde", das heißt
in dem sie zur Überzeugung gelangte, daß ihre Vermutung,
allgemein mißachtet und mit Absicht gekränkt zu werden,
Wahrheit sei. Diese Sicherheit gewann sie durch den Besuch
einer Schwägerin, welche im Verlaufe des Gespräches die
Worte fallen ließ : „Wenn mir etwas derartiges passiert, nehme
ich es auf die leichte Achsel!" Frau P. nahm diese Äußerung
25unächst arglos hin; nachdem aber ihr Besuch sie verlassen
hatte, kam es ihr vor, als sei in diesen Worten ein Vorwurf
für sie enthalten gewesen, als ob sie gewohnt sei, ernste
Dinge leicht zu nehmen, und von dieser Stunde an war sie
sicher, daß sie ein Opfer der allgemeinen Nachrede sei. Als
ich sie examinierte, wodurch sie sich berechtigt gefühlt, jene
Worte auf sich zu beziehen, antwortete sie, der Ton, in dem
die Schwägerin gesprochen, habe sie — allerdings nach-
träglich — davon überzeugt, was doch ein für Paranoia
charakteristisches Detail ist. Ich zwang sie nun, sich an
die Reden der Schwägerin vor der angeschuldigten Äußerung
zu erinnern, und es ergab sich, daß diese erzählt hatte, im
Vaterhause habe es mit den Brüdern allerlei Schwierigkeiten
gegeben, und daran die weise Bemerkung geknüpft: „In jeder
Familie gehe allerlei vor, worüber man gerne eine Decke
breite. Wenn ihr aber derartiges passiere, dann nehme sie
es leicht." Frau P. mußte nun bekennen, daß an diese
Sätze vor der letzten Äußerung ihre Verstimmung angeknüpft
129
hatte. Da sie diese beiden Sätze, die eine Erinnerung an ihr
Verhältnis zum Bruder wecken konnte, verdrängt hatte und
niu" den bedeutungslosen letzten Satz behalten, mußte sie die
Empfindung, als mache ihr die Schwägerin einen Vorwurf,
an diesen knüpfen, und da der Inhalt desselben keine An-
lehnung hierfür bot, warf sie sich vom Inhalt auf den Ton,
mit dem diese Worte gesprochen worden waren. Ein wahr-
scheinlich typischer Beleg dafür, daß die Mißdeutungen der
Paranoia auf einer Verdrängung beruhen.
In überraschender Weise löste sich auch ihr sonderbares
Verfahren, ihren Bruder zu Zusammenkünften zu bestellen,
bei denen sie ihm dann nichts zu sagen hatte. Ihre Erklärung
lautete, sie habe gemeint, er müsse ihr Leiden verstehen, wenn
sie ihn bloß ansehe, da er um die Ursache desselben wisse. Da
nun dieser Bruder tatsächlich die einzige Person war, die um
die Ätiologie ihrer Krankheit wissen konnte, ergab sich, daß sie
nach einem Motiv gehandelt hatte, das sie bewußt zwar selbst
nicht verstand, das aber vollkommen gerechtfertigt erschien,
sobald man ihm einen Sinn aus dem Unbewußten unterlegte.
Es gelang mir dann, sie zur Reproduktion der ver-
schiedenen Szenen zu veranlassen, in denen der sexuelle Ver-
kehr mit dem Bruder (mindestens vom 6. bis zum 10. Jahre)
gegipfelt hatte. Während dieser Eeproduktionsarbeit sprach
die Organempfindung im Schöße mit, wie es bei der Analyse
hysterischer Erinnerungsreste regelmäßig beobachtet wird.
Das Bild eines nackten weiblichen Schoßes (jetzt aber auf
kindliche Proportionen reduziert und ohne Behaarung) stellte
sich dabei gleichfalls ein oder blieb weg, je nachdem die
betrefi'ende Szene bei heUem Lichte oder im Dunkeln vor-
gefallen war. Auch der Eß-Ekel fand in einem abstoßenden
Detail dieser Vorgänge seine Erklärung. Nachdem wir die
Eeihe dieser Szenen durchgemacht hatten, waren die hallu-
zinatorischen Empfindungen und Bilder verschwunden, tun
(wenigstens bis heute) nicht wiederzukehren.^)
1) Als späterhin eine Exacerbation die ohnehin spärlichen Erfolge
der Behandlang aufhob, sah sie die anstößigen Bilder fremder Genitalien
nicht wieder, sondern hatte die Idee, die Fremden sähen ihre Genitalien,
sobald sie sich hinter ihr befänden.
Freud, Neurosenielire. "
130
Icii hatte also gelernt, daß diese Halluzinationen niclits
anderes als Stücke aus dem Inhalte der verdrängten Kinder-
erlebnisse waren, Symptome der Wiederkekr des Verdrängten.
Nun wandte ich mich an die Analyse der Stimmen. Hier
war vor allem zu erklären, daß ein so gleichgiltiger Inhalt
„Hier geht die Frau P." — „Sie sucht jetzt "Wohnung" u. dgl.
von ihr so peinlich empfunden werden konnte; sodann, auf
welchem Wege gerade diese harmlosen Sätze es dazu brachten,
durch halluzinatorische Verstärkung ausgezeichnet zn werden.
Von vornherein war klar, daß diese „Stimmen" nicht hallu-
zinatorisch reproduzierte Erinnerungen sein konnten wie die
Bilder und Empfindungen, sondern vielmehr „laut gewordene"
Gedanken.
Das erstemal, als sie Stimmen hörte, geschah es unter
folgenden Umständen. Sie hatte mit großer Spannung die
schöne Erzählung von 0. Ludwig, Die Heiterethei,gelesen
und bemerkt, daß sie bei der Lektüre von aufsteigenden
Gedanken in Anspruch genommen wurde. Unmittelbar darauf
ging sie auf der Landstraße spazieren, und nun sagten ihr
plötzlich die Stimmen, als sie an einem Bauernhäuschen vor-
überging: „So hat das Haus der Heiterethei ausgesehen! Da
ist der Brunnen, und da der Strauch ! Wie glücklich war sie
doch bei aU ihrer Armut!" Dann wiederholten ihr die Stinamen
ganze Abschnitte, die sie eben gelesen hatte; aber es blieb
unverständlich, warum Haus, Strauch und Brunnen der
Heiterethei und gerade die belang- und beziehungslosesten
Stellen der Dichtung sich ihrer Aufmerksamkeit mit patho-
logischer Stärke aufdrängen mußten. Indes war die Lösung
des Rätsels nicht schwer. Die Analyse ergab, daß sie während
der Lektüre auch andere Gedanken gehabt hatte und durch
ganz andere Stellen des Buches angeregt worden war. Gegen
dieses Material — Analogien zwischen dem Paare der Dich-
tung und ihr und ihrem Manne, Erinnerungen an Intimitäten
ihres Ehelebens und an Familiengeheimnisse — gegen dies
alles hatte sich ein verdrängender Widerstand erhoben, weil
es auf leicht nachweisbaren Gedankenwegen mit ihrer sexuellen
Scheu zusammenhing und so in letzter Linie auf die Er-
weckung der alten Kindererlebnisse hinauskam. Infolge dieser
131
von der Verdrängung geübten Zensur gewannen die harm-
losen und idyllisclien Stellen, die mit den beanstandeten
durcli Kontrast und auch durch Vizinität verknüpft waren,
die Verstärkung für das Bewußtsein, die ihnen das Lautwerden
ermöglichte. Der erste der verdrängten Einfälle bezog sich
zum Beispiel auf die Nachrede, der die vereinsamt lebende
Heldin von selten der Nachbarn ausgesetzt war. Die Analogie
mit ihrer eigenen Person wurde von ihr leicht gefunden.
Auch sie lebte in einem kleinen Orte, verkehrte mit Niemand
und glaubte sich von den Nachbarn mißachtet. Dies Mißtrauen
gegen ihre Nachbarn hatte seinen wirklichen Grund darin,
daß sie anfangs genötigt war, sich mit einer kleinen Wohnung
zu begnügen, in welcher die Schlafzimmerwand, an der die
Ehebetten des jungen Paares standen, an ein Zimmer der
Nachbarn stieß. Mit dem Beginn ihrer Ehe erwachte in ihr
— offenbar durch unbewußte Erweckung ihres Kinderver-
hältnisses, in dem sie Mann und Frau gespielt hatten — eine
große sexuelle Scheu; sie besorgte beständig, daß die Nach-
barn "Worte und Geräusche durch die trennende Wand ver-
nehmen könnten, und diese Scham verwandelte sich bei ihr
in Argwohn gegen die Nachbarn.
Die Stimmen verdankten also ihre Entstehung der Ver-
drängung von Gedanken, die in letzter Auflösung eigenthch
Vorwürfe anläßlich eines dem Kindertrauma analogen Erleb-
nisses bedeuteten ; sie waren demnach Symptome der Wieder-
kehr des Verdrängten, aber gleichzeitig Folgen eines Kompro-
misses zwischen Widerstand des Ich und Macht des Wieder-
kehrenden, der in diesem Falle eine Entstellung bis zur
Unkennthchkeit herbeigeführt hatte. In anderen FäUen, in
denen ich Stimmen bei Frau P. zu analysieren Gelegenheit
hatte, war die Entstellung minder groß; doch hatten die
gehörten Worte immer einen Charakter von diplomatischer
Unbestimmtheit; die kränkende Anspielung war meist tief
versteckt, der Zusammenhang der einzelnen Sätze durch
fremdartigen Ausdruck, ungewöhnliche Sprachformen u. dgl.
verkleidet: Charaktere, die den Gehörshalluzinationen der
Paranoiker allgemein eigen sind, und in denen ich die Spur
der KompromißentsteUung erbhcke. Die Rede: „Da geht die
9*
132
Frau P., sie sucht Wohnung in der Straße", bedeutete zum
Beispiel die Drohung, daß sie nie genesen werde, denn ich
hatte ihr zugesagt, daß sie nach der Behandlung imstande
sein werde, in die kleine Stadt, wo ihr Mann beschäftigt
war, zurückzukehren; sie hatte für einige Monate in "Wien
provisorisch Wohnung gemietet.
In einzelnen FäUen vernahm Frau P. auch deutHchere
Drohungen, zum Beispiel in betreff der Verwandten ihres
Mannes, deren zurückhaltender Ausdruck aber immer noch
mit der Qual kontrastierte, welche ihr solche Stimmen be-
reiteten. Nach dem, was man sonst von Paranoikem weiß,
bin ich geneigt, ein allmähliches Erlahmen jenes die Vorwürfe
abschwächenden Widerstandes anzunehmen, so daß endlich
die Abwehr voll mißhngt, und der ursprüngliche Vorwurf,
das Schimpfwort, welches man sich ersparen wollte, in un-
veränderter Form zurückkehrt. Indes weiß ich nicht, ob dies
ein konstanter Ablauf ist, ob die Zensur der Vorwurfsreden
nicht von Anfang an ausbleiben oder bis zum Ende aus-
harren kann.
Es erübrigt mir nur noch, die an diesem Falle von Panaroia
gewonnenen Aufklärungen für eine Vergleichung der Paranoia
mit der Zwangsneurose zu verwerten. Die Verdrängung als Kern
des psychischen Mechanismus ist hier wie dort nachgewiesen,
das Verdrängte ist in beiden Fällen ein sexuelles Kindererlebnis.
Jeder Zwang rührt auch bei dieser Paranoia von Verdrängung
her ; die Symptome der Paranoia lassen eine ähnHche Klassi-
fizierung zu, wie sie sich für die Zwangsneurose als berechtigt
erwiesen hat. Ein Teil der Symptome entspringt wieder der
primären Abwehr, nämlich aUe Wahnideen des Mißtrauens,
Argwohns, der Verfolgung durch Andere. Bei der Zwangs-
neurose ist der initiale Vorwurf verdrängt worden durch die
Büdung des primären Abwehrsymptoms : Selbstmißtrauen.
Dabei ist der Vorwurf als berechtigt anerkannt worden, und
zur Ausgleichung schützt nun die Geltung, welche sich die
Gewissenhaftigkeit im gesunden Intervall erworben hat, davor,
dem als Zwangsvorstellung wiederkehrenden Vorwurf Glauben
zu schenken. Bei Paranoia wird der Vorwurf auf einem Wege,
den man als Projektion bezeichnen kann, verdrängt, indem
133
das Abwehrsymptom des Mißtrauens gegen Andere
errichtet wird; dabei wird dem Vorwurfe die Anerkennung
entzogen, und wie zur Vergeltung fehlt es dann an einem
Schutze gegen die in den Wahnideen wiederkehrenden Vorwürfe.
Andere Symptome meines Falles von Paranoia sind als
Symptome der Wiederkehr des Verdrängten zu bezeichnen
und tragen auch, wie die der Zwangsneurose, die Spuren des
Kompromisses an sich, der ihnen allein den Eintritt ins
Bewußtsein gestattet. So die Wahnidee, beim Auskleiden
beobachtet zu werden, die visuellen, die Empfindungshallu-
zinationen und das Stimmenhören. Nahezu unveränderter, nur
durch Auslassung unbestimmt gewordener Erinnerungsinhalt
findet sich in der erwähnten Wahnidee vor. Die Wiederkehr
des Verdrängten in visuellen Bildern nähert sich eher dem
Charakter der Hysterie als dem der Zwangsneurose, doch
pflegt die Hysterie ihre Erinnerungssymbole ohne Modifikation
zu wiederholen, während die paranoische Erinnerungshallu-
zination eine Entstellung erfährt, wie sie der Zwangsneurose
zukommt ; ein analoges modernes Büd setzt sich an die Stelle
des verdrängten (Schoß einer erwachsenen Frau anstatt eines
Kindes; daran sogar die Behaarung besonders deutlich, weil
diese dem ursprünglichen Eindruck fehlte). Ganz der Paranoia
eigentümlich und in dieser Vergleichung weiter nicht zu be-
leuchten ist der Umstand, daß die verdrängten Vorwürfe als
lautgewordene Gedanken wiederkehren, wobei sie sich eine
zweifache Entstellung gefallen lassen müssen, eine Zensur, die
zur Ersetzung durch andere assoziierte Gedanken oder zur
Verhüllung durch unbestimmte Ausdrucksweise führt, und die
Beziehung auf moderne, den alten bloß analoge Erlebnisse.
Die dritte Gruppe der bei Zwangsneurose gefundenen
Symptome, die Symptome der sekundären Abwehr, kann bei
der Paranoia nicht als solche vorkanden sein, da sich gegen
die wiederkehrenden Symptome, die ja Glauben finden, keine
Abwehr geltend macht. Zum Ersätze hierfür findet sich bei
Paranoia eine andere Quelle für Symptombildung; die durch
das Kompromiß ins Bewußtsein gelangten Wahnideen (Symp-
tome der Wiederkehr) stellen Anforderungen an die Denkarbeit
des Ich, bis daß sie widerspruchsfrei angenommen werden
134
können. Da sie selbst unbeeiniiußbar wird, muß das Ich sich
ihnen anpassen, und somit entspricht den Symptomen der
sekundären Abwehr bei der Zwangsneurose hier die kombi-
natorische Wahnbüdung, der Deutungswahn, der in die
Ichveränderung ausläuft. Mein Fall war in dieser Hinsicht
unvollständig; er zeigte damals noch nichts von Deutungs-
versuchen, die sich erst später einstellten. Ich zweifle aber
nicht daran, daß man noch ein wichtiges Resultat wird fest-
stellen können, wenn man die Psychoanalyse auch auf dieses
Stadium der Paranoia anwendet. Es dürfte sich ergeben, daß
auch die sogenannte Erinnerungsschwäche der Paranoiker
eine tendenziöse, das heißt auf Verdrängung beruhende
und ihren Absichten dienende ist. Es werden nachträglich
jene gar nicht pathogenen Erinnerungen verdrängt und er-
setzt, die mit der Ichveränderung in "Widerspruch stehen,
welche die Symptome der Wiederkehr gebieterisch erfordern.
IX.
L'heredite et Tetiologie des N^vrosesO.
Je m'adresse specialement aux disciples de J.-M. Charcot
pour faire valoir quelques objections contre la theorie etio-
logique des nevroses qui nous a ete transmise par notre maitre.
On sait quel est le röle attribue ä l'heredite nerveuse
dans cette theorie. Elle est pours les afFections nevrosiques
la seule cause vraie et indispensable, les autres influences
etiologiques ne devant aspirer qu'au nom d'agents provocateurs.
Ainsi le maitre lui-meme et ses eleves, MM. Guinon,
Gilles de la Tourette, Janet et d'autres l'ont enonce pour la
grande nevrose, l'liysterie et, je crois, la meme opinion est
soutenue en France et un peu partout pour les autres nevroses,
bien qu'elle n'ait pas ete emise d'une maniere aussi solenneUe
et decidee pour ces etats analogues ä l'liysterie.
C'est depuis longtemps que j'entretiens quelques soupcons
dans cette matiere, mais il m'a fallu attendre pour trouver des
faits d'appui dans l'experience journaliere du medecin. Main-
tenant mes objections sont d'un double ordre, arguments de
faits et arguments tires de la speculation. Je commencerai
par les premiers, en les arrangeant selon l'importance que je
leur concede.
I. — a) On a parfois juge comme nerveuses et demon-
stratives d'une tendance nevropathique hereditaire, des affections
qui assez souvent sont etrangeres au domaine de la neuro-
pathologie et ne dependent pas necessairement d'une maladie
du Systeme nerveux. Ainsi les nevralgies vraies de la face et
nombre des cephalees, qu'on croyait nerveuses, mais qui derivent
plutöt des alterations pathologiques post-infectieuses et des
1) Revue neurologique, IV., 1896.
136
suppurations dans le Systeme cavitaire pharyngo-nasal. Je me
tiens persuade, que les malades en profiteraient si nous aban-
donnions plus souvent le traitement de ces affections aux
chirurgiens rliinologistes.
h) On a accept^ comme donnant Heu a la charge de tare
nerveuse hereditaire pour le malade en question toutes les
affections nerveuses trouvees dans sa famille sans en compter
la frequence et la gravite. N'est-ce pas que cette maniere de
voir semble contenir une Separation nette entre les familles
indemnes de toute predisposition nerveuse et les familles
qui y soient sujettes sans borne ni restriction? Et les faits ne
plaident-ils pas plutöt en faveur de l'opinion opposee, savoir
qu'il y ait des transitions et des degres de disposition nerveuse
et qu'aucune famille n'y echappe tout a fait?
c) Assurement notre opinion sur le role etiologique de
rberedite dans les maladies nerveuses doit etre le resultat d'un
examen impartial statistique et non pas d'viiie peiitio prindpU.
Tant que cet examen n'aura pas ete fait on devrait croire Texi-
stence des nevropathies acquises aussi possible que celle des
nevropathies hereditaires. Mais s'il peut y avoir des nevropathies
acquises par des hommes non predisposes, on ne pourra plus
nier que les affections nerveuses rencontrees chez les parents
de notre malade, ne soient en partie de cette origine. Alors
on ne saura plus les invoquer comme preuves concluantes
de la disposition hereditaire, qu'on impose au malade ä raison
de son histoire familiale, puisque le diagnostic retrospectif
des maladies des ascendants ou des membres absents de la
famille ne reussit que tres rarement.
d) Ceux qui se sont attach.es a M. Fournier et a M. Erb
concernant le role etiologique de la syphilis dans le tabes
dorsal et la paralysie progressive, ont appris qu'il faut recon-
naitre des influences etiologiques puissantesdontlacollaboration
est indispensable pour la pathogenie de certaines maladies,
que l'heredite ä eile seule ne saurait produire. Cependant
M. Cbarcot est demeure jusqu'ä son dernier temps, comme
j'ai SU par une lettre privee du maitre, en stricte Opposition
contre la tbeorie de Fournier qui pourtant gagne du terrain
de jour en jour.
137
e) n n'est pas douteux que certaines nevropathies peuvent
se developper chez rhomme parfaitement sain et de famille
irreprocliable. C'est ce qu'on observe tous les jours pour la
nevrasthenie de Beard ; si la nevrasthenie se bornait aux gens
predisposes eile n'aurait jamais gagne l'importance et l'etendue
que nous lui connaissons.
/) H y a dans la pathologie nerveuse, hlteredite similaire
et l'heredite dite dissimilaire. Pour la premiere on ne trouvera
rien a redire; c'est meme tr^s remarquable, que dans les
a£fections qui dependent de l'heredite similaire (maladie de
Thomsen, de Friedreich; myopathies, choree de Huntington etc.)
on ne rencontre jamais la trace d'une autre influence etio-
logique accessoire. Mais l'heredite dissimilaire, beaucoup plus
importante que l'autre, laisse des lacunes qu'ü faudrait combler
pour arriver ä une Solution satisfaisante des probl^mes etiolo-
giques. Elle consiste dans le fait que les membres de la meme
famille se montrent visites par les nevropathies les plus diverses,
fonctionnelles et organiques, sans qu'on puisse d^voiler une loi
qui dirige la Substitution d'une maladie pour une autre ou
l'ordre de leur succession a travers les generations. A cote
des individus malades il y a dans ees familles des personnes
qui restent saines, et la theorie de l'heredite dissimilaire ne
nous dit pas pourquoi cette personne supporte la meme Charge
hereditaire sans y succomber, ni pourquoi une autre personne
malade aui-a choisi, parmi les affections qui constituent la
grande famille nevropathique, une teile affection nerveuse au
lieu d'en avoir choisi une autre, l'hysterie au lieu de l'epüepsie,
de la vesanie, etc. Comme ü n'y a pas une fortuite, en patho-
genie nerveuse pas plus qu'aüleurs, ü faut bien conceder que
ce n'est pas l'heredite qui preside au choix de la nevropathie
qui se developpera chez le membre d'une famille predispose,
mais qu'il y a Ueu de soupconner l'existence d'autres influences
etiologiques, d'une nature moins imcomprehensible, qui meri-
teraient alors le nom d'une etiologie specißque de teile ou teile
affection nerveuse. Sauf l'existence de ce facteur etiologique
special l'heredite n'aurait pu rien faire; eile se serait pretee
ä la production d'une autre nevropathie si l'etiologie specifique
en question avait ete substituee par une influence quelqu'autre.
138
n. — On a trop peu recherche ces causes specifiques
et determinantes des nevropathies, l'attention des medecins
demeurant eblouie par la grandiose perspective de la condition
etiologique hereditaire.
Neanmoins elles m^ritent bien qu'on les rende l'objet
d'une etude assidue ; bien que leur puissance patliogenique
ne soit en general qu'accessoire ä celle de l'heredite, un grand
interet pratique se rattache ä la connaissance de cette etio-
logie specifique qui pretera un acc^s a notre travail thera-
peutique, tandis que la disposition hereditaire, fixee d'avance
pour le malade des sa naissance, arrete nos efforts en pouvoir
inabordable.
Je me suis engage depuis des annees dans la recherche
de l'etiologie des grandes nevroses (etats nerveux fonctionnels
analogues ä l'hysterie) et c'est le resultat de ces etudes que
je raconterai dans les lignes qui vont suivre. Pour eviter tout
malentendu possible j'exposerai d'abord deux remarques sur
la nosographie des nevroses et sur l'etiologie des nevroses
en general.
n m'a fallu commencer mon travail par une innovation
nosographique. A cöte de l'hysterie j'ai trouve raison de placer
la nevrose des obsessions (Zwangsneurose) comme affection
autonome et independante, bien que la plupart des auteurs
fassent ranger les obsessions parmi les Syndromes constituant
la degenerescence mentale ou les confondent avec la nevra-
sthenie. Moi, j'avais appris par l'examen de leur mecanisme
psychique, que les obsessions sont liees ä l'hysterie plus
etroitement qu'on ne croirait.
Hysterie et nevrose d'obsessions forment le premier
groupe des grandes nevroses, que j'ai etudiees. Le second
contient la nevrasthenie de Beard que j'ai decomposee en
deux etats fonctionnels separes par l'etiologie comme par
l'aspect symptomatique, la nevrasthenie propre et la nevrose
ä'angoisse (Angstneurose), denomination qui, soit dit en passant,
ne me convient pas ä moi-meme. J'ai donne les raisons
de cette Separation, que je crois necessaire, en detaü
dans un memoire publie en 1895. {Neurologisches Centralhlatt,
n« 10-11).
139
Quant ä l'etiologie des nevroses, je pense qu'on doit
recomiaitre en theorie que les influences etiologiques diffe-
rentes entre elles par lettr dignite et maniere de relation
avec l'effet qu'elles produisent, se laissent ranger en trois
classes: 1) Conditions, qui sont indispensables pour la pro-
duction de l'affection en question, mais qui sont de nature
universelle et se recontrent aussi bien dans l'etiologie de
beaucoup d'autres affections; 2) Causes concurrentes, qui par-
tagent le caractere des conditions qu'elles fonctionnent dans
la causation d'autres affections aussi bien que dans celle de
l'affection en question, mais qui ne sont pas indispensables,
pour que cette derniere se produise ; 3) Causes specißques,
autant indispensables que les conditions, mais de nature
etroite et qui n'apparaissent que dans l'etiologie de l'affection,
de laqueUe elles sont specifiques.
Eh bien, dans la Pathogenese des grandes nevroses
l'heredite rempHt le role d'une condiüon, puissante dans tous
les cas et meme indispensable dans la plupart des cas. Elle
ne saurait se passer de la collaboration des causes specifiques,
mais l'importance de la disposition hereditaire se trouve
demontree par le fait que les memes causes specifiques
agissant sur un individu sain ne produiraient aucun effet
pathologique manifeste pendant que chez une personne pre-
disposee leur action fera eclore la nevrose, de laquelle le
developpement en intensite et etendue sera conforme au
degre de cette condition hereditaire.
L'action de l'heredite est donc comparable ä celle du fil multi-
pHcateur dans le circuit electrique, qui exagere la deviation visible
de l'aiguille, mais qui ne pourra pas en determiner la direction.
Dans les relations qui existent entre la condition here-
ditaire et les causes specifiques des nevroses il y a encore
autre chose ä noter. L'experience montre, ce qu'on aurait
pu supposer d'avance, qu'on ne devrait pas negliger dans
ces questions d'etiologie les quantites relatives pour ainsi
dire des influences etiologiques. Mais on n'aurait pas devine
le fait suivant, qui semble decouler de mes observations, que
l'heredite et les causes specifiques peuvent se remplacer par
le cöte quantitatif, que le meme effet pathologique sera pro-
140
duit par la concurrence d'une etiologie specifique tr^s serieuse
avec Tine disposition mediocre ou d'une heredite nerveuse
chargee avec une influence specüique legere. Alors ce n'est
qu'un extreme bien plausible de cette serie, qu'on rencontre
aussi des cas de nevroses, oü on cbercliera en vain un degre
appreciable de disposition hereditaire, pourvu que ce manque
soit compense par une puissante influence specifique.
Conune causes concurrentes ou accessoires des nevroses,
on peut enumerer tous les agents banals rencontres ailleurs :
emotions morales, epuissement somatique, maladies aigues,
intoxications, accidents traumatiques, surmenage intellec-
tuel, etc. Je tiens ä la proposition qu'aucun d'eux, ni meme
le dernier, n'entre regulierement ou necessairement dans
l'etiologie des nevroses, et je sais bien qu'enoncer cette
opinion c'est se mettre en Opposition directe contre une
theorie consideree comme universelle et irreprochable. Depuis
que Beard avait declare la nevrasthenie etre le fruit de notre
civilisation moderne, il n'a trouve que des croyants; mais il
m'est impossible ä moi d'accepter cette opinion. Une etude
laborieuse des nevroses m'a appris que l'etiologie specifique
des nevroses s'est soustraite ä la connaissance de Beard.
Je ne veux pas deprecier l'importance etiologique de
ces agents banals. Ils sont tres varies, d'une occurrence fre-
quente, et accuses le plus souvent par les malades memes,
ils se rendent plus evidents que les causes specifiques des
nevroses, etiologie ou cach.ee ou ignoree. Ils remplissent
assez souvent la fonction des agents provocateurs qui rendent
manifeste la nevrose jusque-lä latente, et un interet pratique
86 rattache ä eux, parce que la consideration de ces causes
banales peut preter des points d'appui ä une tberapie qui
ne vise pas la guerison radicale, et qui se contente de
refouler l'affection ä son etat anteriem- de latence.
Mais on n'arrive pas a constater une relation constante
et etroite entre une de ces causes banales et teile ou autre
affection nerveuse; 1' emotion morale, par exemple, se trouve
aussi bien dans l'etiologie de l'bysterie, des obsessions, de
la nevrastbenie, comme dans celle de l'epilepsie, de la maladie
de Parkinson, du diabete, et nombre d'autres.
141
Les causes concurrentes banales pourront aussi remplacer
l'etiologie specifique en rapport de quantite, mais jamais la
substituer completement. D y a nombre de cas oü toutes
les influeiices etiologiques sont representees par la condition
hereditaire et la cause specifique, les causes banales faisant
defaut. Dans les autres cas, les facteurs etiologiques indis-
pensables ne suffisent pas par leur quantite ä eux pour faire
eclater la nevrose, un etat de sante apparente peut etre
maintenu pour longtemps, qui est en verite un etat de pre-
disposition nevrosique; il suffit alors qu'une cause banale
surajoute son action, la nevrose devient manifeste. Mais ü
faut bien remarquer, dans de telles conditions, que la nature
de l'agent banal survenant est tout ä fait indifferente, emotion,
traumatisme, maladie infectieuse ou autre ; l'effet pathologique
ne sera pas modifie selon cette Variation, la nature de la nevrose
sera toujours dominee par la cause specifique preexistante.
Quelles sont donc ces causes specifiques des nevroses?
Est-ce une seule ou y en a-t-il plusieurs? Et peut-on constater
une relation etiologique constante entre teile cause et tel
effet nevrosique, de maniere que chacune des grandes nevroses
puisse etre ramenee ä une etiologie particuliere?
Je veux maintenir, appuye sur un examen laborieux
des faits, que cette derniere supposition correspond bien k
la realite, que chacune des grandes nevroses enumerees a
pour cause immediate un trouble particuHer de l'economie
nerveuse, et que ces modifications pathologiques fonctionnelles
reconnaissent comme source commune la vie sexuelle de Vmäividu,
soit desordre de la vie sexuelle actuelle, soit evenements importants
de la vie passee,
Ce n'est pas, ä vrai dire, une proposition nouvelle, inoui'e.
On a toujoui's admis les desordres sexuels parmi les causes
de la nervosite, mais on les a subordonnes ä l'heredite,
coordonnes aux autres agents provocateurs ; on a restreint
leur iniluence etiologique ä un nombre limite des cas observes.
Les medecins avaient meme pris l'habitude de ne pas les
rechercher si le malade ne les accusait lui-meme. Les carac-
teres distinctifs de ma maniere de voir sont que j'eleve ces
influences sexuelles au rang de causes specifiques, que je
142
reconnais leur action dans tous les cas de nevrose, eniin
que je trouve un parallelisme regulier, preuve de relation
etiologique particuliere entre la nature de l'influence sexuelle
et l'espece morbide de la nevrose.
Je suis bien sür que cette theorie evoquera un orage
de contradictions de la part des medecins contemporains. Mais
ce n'est pas ici le lieu de donner les docmnents et les ex-
periences, qui m'ont impose ma conviction, ni d'expliquer le
vrai sens de l'expression un peu vague „desordres de l'econo-
mie nerveuse". Ce sera fait, j'espere le plus amplement, dans
un ouvrage que je prepare sur la mati^re. Dans le memoire
present je me borne a enoncer mes resultats.
La nevrastbenie propre, d'un aspect clinique tres mono-
tone, si l'on a mis ä part la nevrose d'angoisse (fatigue, Sen-
sation de casque, dyspepsie flatulente, Obstipation, paresthesies
spinales, faiblesse sexuelle etc.) nereconnait comme etiologie spe-
cifique que l'onanisme (immodere) ou les pollutions spontanees.
C'est l'action prolongee et intensive de cette satisfaction
sexuelle pernicieuse qui suffit ä elle-meme pour provoquer la
nevrose nevrastbenique ou qui impose ä ce sujet le cacbet
nevrasthenique special manifeste plus tard sous Tiniluence
d'une cause occasionelle accessoire. J'ai rencontre aussi des
personnes qui presentaient les signes de la Constitution nev-
rastbenique cbez lesquels je n'ai pas reussi ä mettre en evi-
dence l'etiologie nommee, mais j'ai constate au moins que
cbez ces malades la fonction sexuelle n'etait jamais developpee
au niveau normal; ils semblaient doues par beritage d'une
Constitution sexuelle, analogue ä celle qui cbez le nevras-
tbenique est produite en consequence de l'onanisme.
La nevrose d'angoisse, de laquelle le tableau clinique
est beaucoup plus riebe (irritabilite, etat d'attente anxieuse,
pbobies, attaques d'angoisse completes ou rudimentaires, de
peur, de vertige, tremblements, sueurs, congestion, dyspnee,
tacbycardie etc. ; diarrbee cbronique, vertige cbronique de
locomotion, hyperestbesie, insomnies etc.) ^) est facilement
1) Voir pour la Symptomatologie comme l'etiologie de la nevrose
d'angoisse, mon memoire cite plus haut. Neurologisches Centralblatt,
1895, n» 10-11.
143
devoilee comme l'eifet specifique de divers desordres de la
vie sexuelle, qui ne manquent pas d'un caractere commun ä
eux tous. L'abstinence forcee, l'irritatioii genitale fruste (qui
n'est pas assouvie par l'acte sexuel), le co'it imparfait ou
interrompu (qui n'aboutit pas ä la jouissance), les efforts
sexuels, qui surpassent la capacite psychique du sujet etc.,
tous ces agents, qui sont d'une occurrence trop frequente
dans la vie moderne, semblent convenir en ce qu'ils troublent
requilibre des fonctions psychiques et somatiques dans les
actes sexuels, et qu'ils empecbent la participation psycliique
necessaire pour delivrer l'economie nerveuse de la tension
genesique.
Ces remarques, qui contiennent peut-etre le germe d'une
explication theorique du mecanisme fonctionnel de la nevrose
en question, laissent dejä soup9onner, qu'une exposition com-
plete et vraiment scientifique de la mati^re ne soit pas pos-
sible actuellement et qu'il faudrait avant tout ab Order le
Probleme physiologique de la vie sexuelle sous un point de
vue nouveau.
Je finis par dire, que la Pathogenese de la nevrasthenie
et de la nevrose d'angoisse peut se passer bien de la con-
currence d'une disposition hereditaire. C'est le resultat de
l'observation de tous les jours; mais si l'heredite est presente,
le developpement de la nevrose en subira 'influence formidable.
Pour la deuxieme classe des grandes nevroses, hysterie
et nevrose d'obsessions, la Solution de la question etiologique
est d'une simplicite et uniformite surprenante. Je dois mes
resultats ä l'emploi d'une nouvelle methode de psycho-analyse,
au procede explorateur de J. Breuer, un peu subtil, mais
qu'on ne saurait remplacer, tant il s'est montre fertile pour
eclaircir les voies obscures de l'ideation inconsciente. Au
moyen de ce procede — qu'il ne faut pas decrire ä cet en-
droit ^) — ou poursuit les symptomes hysteriques jusqu'ä leur
origine qu'on trouve toutes les fois dans un evenement de la
vie sexuelle du suj et bien approprie pour produire une emotion
penible, Allant en arriere dans le passe du malade, de pas
^) Voir: J. Breuer und Sigm. Freud. Studien über Hysterie.
Wien, 1895.
144
en pas, et toujoiu's dirige par renchainement organique des
symptömes, des Souvenirs et des pensees eveilles, je suis arrive
enfin au point de depart du processus pathologique et il m'a
faüu voir, qu'il y avait au fond la meme chose dans tous
les cas soumis ä l'analyse, Pactioii d'un agent, qu'il faut ac-
cepter comme cause specifique de rhysterie.
C'est bien un souvenir qui se rapporte ä la vie sexuelle,
mais qui offre deux caracteres de la derni^re importance.
L'evenement duquel le sujet a garde le souvenir inconscient
est une expericnce ijrecoce de rapports sexiiels avec irritation
veritable des parties genitales, suite d'abus sexual pratique par une
autre personne et la periode de la vie qui renferme cet evene-
ment funeste est la premiere jeunesse, les annees jusqu'ä Tage
de 8-10 ans, avant que l'enfant soit arrive ä la maturite
sexuelle.
Experience de passivite sexuelle avant la puherte: teile est
donc l'etiologie specifique de l'hysterie.
Je joindrai sans retard quelques details de faits et quel-
ques remarques commentaires au resultat enonce, pour com-
battre la mefiance que j'attends. J'ai pu pratiquer la psycho-
analyse complete en 13 cas d'hysterie, 3 de ce nombre com-
binaisons vraies d'hysterie avec nevrose d'obsessions (je ne
dis pas: hysterie avec obsessions). Dans aucun de ces cas ne
manquait l'evenement caracterise lä-haut; il etait represente
ou par un attentat brutal commis par une personne adulte
QU par une seduction moins rapide, et moins repoussante,
mais aboutissant ä la meme fin. Sept fois sur treize il s'agissait
d'une liaison infantile des deux cötes, de rapports sexuels
entre une petite fiUe et un garcon un peu plus äge, le plus
souvent son frere, et lui-meme victime d'une seduction an-
terieure. Ces liaisons s'etaient continuees quelquefois pendant
des annees jusqu'ä la puberte des petits coupables, le gar9on
repetant toujours et sans Innovation sur la petite fille les
memes pratiques, qu'il avait subi lui-meme de la part d'une
servante ou gouvernante, et qui pour cause de cette origine
etaient souvent de nature degoütante. Dans quelques cas il
y avait concurrence d'attentat et de liaison infantile, ou abus
brutal r eitere.
145
La date de Fexperience precoce etait variable : en 2 cas
la Serie commeii9ait dans la deuxieme annee (?) du petit etre ;
Tage de preference est dans mes observatioiis la quatrieme
ou cinquieme annee. C'est peut-etre iin peu par accident,
mais j'ai recu de la l'impression qu'un evenement de passivite
sexuelle qui n'arrive qu'apres Tage de 8 ä 10 ans, ne pourra
plus jeter les fondements de la nevrose.
Comment peut-on rester convaincu de la realite de ces
confessions d'analyse qui pretendent etre des Souvenirs con-
serves depuis la prämiere enfance, et comment se munir contre
l'inclination de mentir et la facüite d'invention attribuees
aux hysteriques? Je m'accuserais de creduKte blamable moi-
meme, si je ne disposais de preuves plus concluantes. Mais
c'est que les malades ne racontent jamais ces histoires spon-
tenement, ni ne vont jamais dans le cours d'un traitement
offrir au medecin tout d'un coup le souvenir complet d'une
teile scene. On ne reussit a reveiller la trace psychique de
l'evenement sexuel precoce que sous la pression la plus ener-
gique du procede analyseur et contre une resistance enorme,
aussi faut-il leur arracber le souvenir morceau par morceau,
et pendant qu'il s'eveille dans leur conscience, ils devien-
nent la proie d'une emotion difficile ä contrefaire.
On finira meme par se convaincre si l'on n'est pas in-
fluence par la conduite des malades, pourvu qu'on puisse suivre
en detail le cours d'une psycho-analyse d'hysterie par refere.
L'evenement precoce en question a laisse une empreinte
imperissable dans l'liistoire du cas, il y est represente par une
foule de symptömes et de traits particuliers, qu'on ne saurait
expKquer autrement; il est exige d'une maniere peremptoire
par renchainement subtil mais solide de la structure intrinseque
de la nevrose ; l'effet therapeutique de l'analyse reste en retard,
si l'on n'a pas penetre aussi loin; alors on n'a pas d'autre
choix que de refuter ou de croire le tout ensemble.
Peut-on comprendre, qu'une teile experienee sexuelle
precoce, subie par un individu, duquel le sexe est ä peine
differencie, devienne la source d'une abnormite psychique
persistante comme l'hysterie? Et comment s'accorderait une
teile supposition avec nos idees actuelles sur le mecanisme
Freud, Neurosenlehre. 10
146
psycHque de cette nevrose? On peut donner une response
satisfaisante ä la premiere question: C'est justement parce que
le sujet est infantile, que l'irritation sexuelle precoce produit
nul ou peu d'effet a sa date, mais la trace psychique en est
conservee. Plus tard, quand a la puberte se sera developpee
la reactivite des organes sexuels ä un niveau presque in-
commensurable avec l'etat infantile, il arrive d'une maniere
ou d'une autre, que cette trace psycliique inconsciente se
reveille. Gräce au changement du a la puberte le souvenir
deploiera une puissance qui a fait totalement defaut ä l'evene-
ment lui-meme ; le souvenir agira comme s'il etait im evenement
actuel. H y a pour ainsi dire action posthiime d'im traumaüsme
sexuel.
Autant que je vois, ce reveil du souvenir sexuel apres
la puberte, 1' evenement meme etant arrive ä un temps recule
avant cette periode, constitue la seule eventuaüt^psycliologique,
pour que l'action immediate d'un souvenir surpasse celle de
l'evenement actuel. Mais c'est lä une consteUation anormale,
qui atteint un cöte faible du mecanisme psycliique et produit
necessairement un effet psycliique pathologique.
Je crois comprendre que cette relation inverse entre l'effet
psychique du souvenir et de l'evenement contient la raison pour
laquelle le souvenir reste inconscient.
On arrive ainsi a un probl^me psycliique tres complexe,
mais qui düment apprecie promet de jeter un jour, une
lumi^re vive sur les questions les plus delicates de la vie
psychique.
Les idees ici exposees, ayant pour point de depart le
resultat de la psycbo-analyse, qu'on trouve toujours comme
cause specifique de l'hysterie un souvenir d'experience sexuelle
precoce, ne s'accordent pas avec la theorie psychologique
de la nevrose de M. Janet, ni avec une autre, mais elles
harmonisent parfaitement avec mes propres speculations de-
veloppees ailleurs sur les „Abwehrneurosen".
Tous les evenements posterieurs ä la puberte, auxquels
il faut attribuer une influence sur le developpement de la
nevrose bysterique et sur la formation de ses symptömes ne
sont vraiment que des causes concurrentes, „agents provo-
147
cateiirs" comme disait Charcot, pour qui l'lieredite nerveuse
occupait la place que je reclame pour l'experience sexuelle
precoce. Ces agents accessoires ne sont pas sujets aux con-
ditions strictes, qui pesent sur les causes specifiques ; l'analyse
demontre d'une maniere irrefutable qu'ils ne jouissent d'une
influence pathog^ne pour l'hysterie que par leur faculte
d'eveiller la trace psychique inconsciente de l'evenement
infantile. C'est aussi gräce ä leur connexion avec l'empreinte
pathogene primaire et aspires par eile, que leurs Souvenirs
deviendront inconscients a leur tour et pourront aider l'ac-
croissement d'une activite psycliique soustraite au pouvoir
des fonctions conscientes.
La nevrose d'obsessions (Zwangsneurose) releve d'une
cause specifique tres analogue ä celle de l'liysterie. On y
trouve aussi un evenement sexuel precoce, arrive avant l'äge
de la puberte, duquel le souvenir devient actif pendant ou
apr^s cette 6poque, et les memes remarques et raisonnements
exposes ä l'occasion de l'hysterie pourront s'appliquer aux
observations de l'autre nevrose (six cas, dont trois purs). IL
n'y a qu'une difPerence qui semble capitale, Nous avons trouve
au fond de l'etiologie hysterique un evenement de passivite
sexuelle, une experience subie avec indifference ou avec un
petit peu de depit ou d'effroi. Dans la nevrose d'obsessions
il s'agit au contraire d'un evenement, qui a fait plaisir, d'une
aggression sexuelle inspiree par le desir (en cas de garcon)
ou d'une participation avec jouissance aux rapports sexuels
(en cas de petite fille). Les idees obsedantes, reconnues par
l'analyse dans leur sens intime, reduites pour ainsi dire ä leur
expression la plus simple ne sont pas autre chose que des
reproches, que le sujet s'adresse ä cause de cette jouissance sexuelle
antidpee, mais des reproches defigures par un travail psychique
inconscient de transformation et de Substitution.
Le fait meme, que de telles aggressions sexuelles se
passent dans un äge aussi tendre, semble denoncer l'influence
d'une seduction anterieure, de laquelle la precocite du desir
sexuel soit la consequence. L'analyse vient confirmer ce
soup9on, dans les cas analyses par moi. On s'explique de
cette maniere un fait interessant toujours present dans ces
10*
148
cas d'obsessions, la complication reguliere du cadre symp-
tomatique par un certain nombre de symptomes simplement
hysteriques.
L'importance de Felement actif de la vie sexuelle pour
la cause des obsessions comme de la passivite sexuelle pour la
Pathogenese de rhysterie semble meme devoiler la raison de
la connexion plus intime de l'hysterie avec le sexe feminin
et de la preference des hommes pour la nevrose d'obsessions,
On rencontre parfois des couples de malades nevroses, qui
ont ete un couple de petits amoureux dans leur premiere
jeunesse, l'homme souffrant d'obsessions, la femme d'hysterie ;
s'il s'agit d'un frere et de la soeur on pourra meprendre pour
un effet de l'heredite nerveuse, ce qui en verite derive d'ex-
periences sexuelles precoces.
II y a Sans doute des cas d'hysterie ou d' Obsession purs
et isoles, independants de nevrasthenie ou nevrose d'angoisse ;
mais ce n'est pas la r^gle. Plus souvent la psycho-nevrose se
presente comme accessoire aux nevroses nevrastheniques,
evoquee par eux et suivant leur decours. C'est parce que les
causes specifiques des demiers, les desordres actuels de la
vie sexuelle, agissent en meme temps comme causes acces-
soires des psycho-nevroses, dont ils eveillent et raniment la
cause specifique, le souvenir de Texperience sexuelle precoce.
Quant ä l'heredite nerveuse, je suis loin de savou- evaluer
au juste son influence dans l'etiologie des psycho-nevroses.
Je concede que sa presence est indispensable dans les cas
graves, je doute qu'elle soit necessaire pour les cas legers,
mais je suis convaincu que l'heredite nerveuse ä eile seule
ne peut pas produire les psycho-nevroses, si leur etiologie
specifique, l'irritation sexuelle precoce, fait defaut. Je vois
meme, que la question de savoir laquelle des nevroses, hysterie
ou obsessions, se developpera dans un cas donne, n'est pas
jugee par l'heredite mais par un caractere special de cet
evenement sexuel de la premiere jeunesse.
X.
Zur Ätiologie der Hysterie. 0
Meine Herren ! Wenn wir daran gehen, uns eine Meinung
über die Verursachung eines krankhaften Zustandes wie die
Hysterie zu bilden, betreten wir zunächst den Weg der
anaimn estischen Forschung, indem wir den Kranken oder
dessen Umgebung ins Verhör darüber nehmen, auf welche
schädlichen Einflüsse sie selbst die Erkrankung an jenen
neurotischen Symptomen zurückführen. Was wir so in Er-
fahrung bringen, ist selbstverständlich dmxh alle jene Momente
verfälscht, die einem Kranken die Erkenntnis des eigenen
Zustandes zu verhüllen pflegen, durch seinen Mangel an
wissenschafthchem Verständnis für ätiologische Wirkungen,
durch den Fehlschluß des posthoc, ergo propter hoc,
durch die Unlust, gewisser Noxen und Traumen zu gedenken
oder ihrer Erwähnung zu tun. Wir halten darum bei solcher
anamnestischer Forschung an dem Vorsatze fest, den Glauben
der Kranken nicht ohne eingehende kritische Prüfung zu dem
unserigen zu machen, nicht zuzulassen, daß die Patienten
uns unsere wissenschafthche Meinung über die Ätiologie der
Neurose zurechtmachen. Wenn wir einerseits gewisse konstant
wiederkehrende Angaben anerkennen, wie die, daß der hyste-
rische Zustand eine lang andauernde Nachwirkung einer einmal
erfolgten Gemütsbewegung sei, so haben wir anderseits in
die Ätiologie der Hysterie ein Moment eingeführt, welches
der Kranke selbst niemals vorbringt und nur ungern gelten läßt,
die hereditäre Veranlagung von selten der Erzeuger. Sie wissen,
daß nach der Meinung der einflußreichen Schule Charcot's
1) „Wiener klinische Rundschau", 1896, Nr. 22—26. Ausführung
nach einem Vortrage im Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien
am 2. Mai 1896.
150
die Heredität allein als wirkliche Ursache der Hysterie An-
erkennung verdient, während alle anderen Schädlichkeiten
verschiedenartigster Natur und Intensität nur die Rolle von
Gelegenheitsursachen, von „ Agents provocateurs" spielen sollen.
Sie werden mir ohne weiters zugeben, daß es wünschens-
wert wäre, es gäbe einen zweiten Weg, zur Ätiologie der
Hysterie zu gelangen, auf welchem man sich unabhängiger
von den Angaben der Kranken wüßte. Der Dermatolog z. B.
weiß ein Geschwür als luetisch zu erkennen nach der Be-
schaffenheit der Ränder, des Belags, des Umrisses, ohne daß
ihn der Einspruch des Patienten, der eine Infektionsquelle
leugnet, daran irre machte. Der Gerichtsarzt versteht es, die
Verursachung einer Verletzung aufzuklären, selbst wenn er
auf die Mitteilungen des Verletzten verzichten muß. Es be-
steht nun eine solche Möglichkeit, von den Symptomen aus
zur Kenntnis der Ursachen vorzudringen, auch für die Hysterie.
Das Verhältnis der Methode aber, deren man sich hiefür zu
bedienen hat, zur älteren Methode der anamnestischen Er-
hebung möchte ich Ihnen in einem Gleichnisse darstellen,
welches einen auf anderem Arbeitsgebiete tatsächlich erfolgten
Fortschritt zum Inhalt hat.
Nehmen Sie an, ein reisender Forscher käme in eine
wenig bekannte Gegend, in welcher ein Trümmerfeld mit
Mauerresten, Bruchstücken von Säulen, von Tafehi mit ver-
wischten und unlesbaren Schriftzeichen sein Interesse er-
weckte. Er kann sich damit begnügen zu beschauen, was
frei zutage liegt, dann die in der Nähe hausenden, etwa
halbbarbarischen Einwohner ausfragen, was ihnen die Tradition
über die Geschichte und Bedeutung jener monumentalen Reste
kundgegeben hat, ihre Auskünfte aufzeichnen und — Weiter-
reisen. Er kann aber auch anders vorgehen ; er kann Hacken,
Schaufeln und Spaten mitgebracht haben, die Anwohner für
die Arbeit mit diesen Werkzeugen bestimmen, mit ihnen das
Trümmerfeld in Angriff nehmen, den Schutt wegschaffen und
von den sichtbaren Resten aus das Vergrabene aufdecken.
Lohnt der Erfolg seine Arbeit, so erläutern die Funde sich
selbst ; die Mauerreste gehören zur Umwallung eines Palastes
oder Schatzhauses, aus den Säulentrümmem ergänzt sich ein
151
Tempel, die zahlreich gefundenen, im glücklichen Fall büinguen
Inschriften enthüllen ein Alphabet und eine Sprache, und
deren Entzifferung und Übersetzung ergibt ungeahnte Auf-
schlüsse über die Ereignisse der Vorzeit, zu deren Gedächtnis
jene Monumente erbaut worden sind. Saxa loquuntur!
Will man in annähernd ähnUcher "Weise die Symptome
einer Hysterie als Zeugen für die Entstehungsgeschichte der
Krankheit laut werden lassen, so muß man an die bedeut-
same Entdeckung J. Breuer's anknüpfen, daß die Sym-
ptome der Hysterie (die Stigmata beiseite) ihre De-
terminierung von gewissen traumatisch wirk-
samen Erlebnissen des Kranken herleiten, als
deren Erinnerungssymbole sie im psychischen
Leben desselben reproduziert werden. Man muß
sein Verfahren — oder ein im Wesen gleichartiges — an-
wenden, um die Aufmerksamkeit des Kranken vom Symptom
aus auf die Szene zurückleiten, in welcher und durch welche
das Symptom entstanden ist, und man beseitigt nach seiner
Anweisung dieses Symptom, indem man bei der Reproduktion
der traumatischen Szene eine nachträgliche Korrektur des
damaligen psychischen Ablaufes durchsetzt.
Es liegt heute meiner Absicht völlig ferne, die schwierige
Technik dieses therapeutischen Verfahrens oder die dabei ge-
wonnenen psychologischen Aufklärungen zu behandeln. Ich
mußte nur an dieser Stelle anknüpfen, weil die nach Breuer
vorgenommenen Analysen gleichzeitig den Zugang zu den
Ursachen der Hysterie zu eröffnen scheinen. Wenn wir eine
größere Reihe von Symptomen bei zahlreichen Personen
dieser Analyse unterziehen, so werden wir ja zur Kenntnis
einer entsprechend großen Reihe von traumatisch wirksamen
Szenen geleitet werden. In diesen Erlebnissen sind die wirk-
samen Ursachen der Hysterie zur Greltung gekommen; wir
dürfen also hoffen, aus dem Studium der traumatischen Szenen
zu erfahren, welche Einflüsse hysterische Symptome erzeugen
und auf welche Weise.
Diese Erwartung trifft zu, notwendigerweise, da ja die
Sätze von Breuer sich bei der Prüfung an zahlreicheren
Fällen als richtig erweisen. Aber der Weg von den Symp-
152
tomen der Hysterie zu deren Ätiologie ist langwieriger
und führt über andere Verbindungen, als man sich vor-
gestellt hätte.
Wir wollen uns nämlich klar machen, daß die Zurück-
führung eines hysterischen Symptoms auf eine traumatische
Szene nur dann einen Gewinn für unser Verständnis mit
sich bringt, wenn diese Szene zweien Bedingungen genügt,
wenn sie diebetreffende determinierende Eignung be-
sitzt, und wenn ihr die nötige traumatische Kraft zu-
erkannt werden muß. Ein Beispiel anstatt jeder "Wort-
erklärung! Es handle sich um das Symptom des hysterischen
Erbrechens; dann glauben wir dessen Verursachung (bis auf
einen gewissen Rest) durchschauen zu können, wenn die Ana-
lyse das Symptom auf ein Erlebnis zurückführt, welches
berechtigterweise ein hohes Maß von Ekel erzeugt
hat, wie etwa der AnbHck eines verwesenden menschlichen
Leichnams. Ergibt die Analyse anstatt dessen, daß das Er-
brechen von einem großen Schreck, z. B. bei einem Eisen-
bahnunfall, herrührt, so wird man sich unbefriedigt fragen
müssen, wieso denn der Schreck gerade zum Erbrechen geführt
hat. Es fehlt dieser Ableitung ander Eignung zur Deter-
minierung. Ein anderer Fall von ungenügender Aufklärung
liegt vor, wenn das Erbrechen etwa von dem Genuß einer
Frucht herrühren soll, die eine faule Stelle zeigte. Dann ist
zwar das Erbrechen durch den Ekel determiniert, aber
man versteht nicht, wie der Ekel in diesem Falle so mächtig
werden konnte, sich durch ein hysterisches Symptom zu ver-
ewigen; es mangelt diesem Erlebnis an traumatischer
Kraft.
Sehen wir nun nach, inwieweit die durch die Analyse
aufgedeckten traumatischen Szenen der Hysterie bei einer
größeren Anzahl von Symptomen und Fällen den beiden er-
wähnten Ansprüchen genügen. Hier stoßen wir auf die erste
große Enttäuschung! Es trifft zwar einige Male zu, daß die
traumatische Szene, in welcher das Symptom entstanden ist,
wirklich beides, die determinierende Eignung und die traumatische
Kraft, besitzt, deren wir zum Verständnis des Symptoms be-
dürfen. Aber weit häufiger, unvergleichlich häufiger, finden
153
wir eine der drei übrigen Mögliciikeiten verwirklicht, die dem
Verständnisse so ungünstig sind: die Szene, auf welche wir
durch die Analyse geleitet werden, in welcher das Symptom
zuerst aufgetreten ist, erscheint uns entweder ungeeignet zur
Determinierung des Symptoms, indem ihr Inhalt zur Beschaffen-
heit des Symptoms keine Beziehung zeigt ; oder das angeblich
traumatische Erlebnis, dem es an inhaltlicher Beziehung nicht
fehlt, erweist sich als ein normalerweise harmloser, für ge-
wöhnHch wirkungsunfähiger Eindruck ; oder endUch die „trau-
matische Szene" macht uns nach beiden Richtungen irre ; sie
erscheint ebenso harmlos wie ohne Beziehung zur Eigenart
des hysterischen Symptoms.
(Ich bemerke hier nebenbei, daß Breuer's Auffassung
von der Entstehung hysterischer Symptome durch die Auf-
findung traumatischer Szenen, die an sich bedeutungslosen
Erlebnissen entsprechen, nicht gestört worden ist. Breuer
nahm nämhch — im Anschlüsse an Charcot — an, daß
auch ein harmloses Erlebnis zum Trauma erhoben werden
und determinierende Kraft enfalten kann, wenn es die Person
in einer besonderen psychischen Verfassung, im sogenannten
hypnoiden Zustand, betrifft. Allein ich finde, daß zur
Voraussetzung solcher hypnoider Zustände oftmals jeder
Anhalt fehlt. Entscheidend bleibt, daß die Lehre von den
hypnoiden Zuständen nichts zur Lösung der anderen Schwierig-
keit leistet, daß nänüich den traumatischen Szenen so häufig
die determinierende Eignung abgeht.)
Fügen sie hinzu, meine Herren, daß diese erste Ent-
täuschung beim Verfolg der Breuer'schen Methode unmittel-
bar durch eine andere eingeholt wird, die man besonders als
Arzt schmerzKch empfinden muß. Zurückführungen solcher
Art, wie wir sie geschildert haben, die unserem Verständnis
betreffs der Determinierung und der traumatischen Wirksamkeit
nicht genügen, bringen auch keinen therapeutischen Gewinn ;
der Kranke hat seine Symptome ungeändert behalten, trotz
des ersten Ergebnisses, das uns die Analyse gehefert hat.
Sie mögen verstehen, wie groß dann die Versuchung wird,
auf eine Fortsetzung der ohnedies mühsehgen Arbeit zu ver-
zichten.
154
Vielleicht aber bedarf es nur eines neuen Einfalles, um
uns aus der Klemme zu helfen und zu wertvollen Resultaten
zu führen! Der Einfall ist folgender: Wir wissen ja durch
Breuer, daß die hysterischen Symptome zu lösen sind,
wenn wir von ihnen aus den Weg zur Erinnerung eines
traumatischen Erlebnisses finden können. Wenn nun die auf-
gefundene Erinnerung unseren Erwartungen nicht entspricht,
vielleicht ist derselbe Weg ein Stück weiter zu verfolgen,
vielleicht verbirgt sich hinter der ersten traumatischen Szene
die Erinnerung an eine zweite, die unseren Ansprüchen besser
genügt, und deren Reproduktion mehr therapeutische Wirkung
entfaltet, so daß die erstgefundene Szene nur die Bedeutung
eines Bindegliedes in der Assoziationsverkettung hat? Und
vielleicht wiederholt sich dieses Verhältnis, die Einschiebung
unwirksamer Szenen als notwendiger Übergänge bei der
Reproduktion mehrmals, bis man vom hysterischen Symptom
aus endlich zur eigentlich traumatisch wirksamen, in jeder
Hinsicht, therapeutisch wie analytisch, befriedigenden Szene
gelangt? Nun, meine Herren, diese Vermutung ist richtig.
Wo die erstaufgefundene Szene unbefriedigend ist, sagen wir
dem Kranken, dieses Erlebnis erkläre nichts, es müsse sich
aber hinter ihm ein bedeutsameres, früheres Erlebnis ver-
bergen, und lenken seine Aufmerksamkeit nach derselben
Technik auf den Assoziationsfaden, welcher beide Erinnerungen,
die aufgefundene und die aufzufindende verknüpft.^) Die Fort-
setzung der Analyse führt dann jedesmal zur Reproduktion
neuer Szenen von den erwarteten Charakteren. Wenn ich
z. B. den vorhin ausgewählten Fall von hysterischem Erbrechen
wieder aufnehme, den die Analyse zunächst auf einen Schreck
bei einem Eisenbahnunfall zurückgeführt hat, welcher der
determinierenden Eignung entbehrt, so erfahre ich aus weiter-
gehender Analyse, daß dieser Unfall die Erinnerung an einen
anderen, früher vorgekommenen, geweckt hat, den der Kranke
1) Es bleibt dabei absichtlich außer Erörterung, von welchem Rang
die Assoziation der beiden Erinnerungen ist (ob durch Gleichzeitigkeit,
kausaler Art, nach inhaltlicher Ähnlichkeit usw.), und auf welche psycho-
logische Charakteristik die einzelnen „Erinnerungen" (bewußte oder un-
bewußte) Anspruch haben.
155
zwar nicht selbst erlebte, der ihm aber Gelegenheit zu dem
G-rauen und Ekel erregenden Anblick eines Leichnams bot. Es
ist, als ob das Zusammenwirken beider Szenen die Erfüllung
unserer Postulate ermöglichte, indem das eine Erlebnis durch
den Schreck die traumatische Kraft, das andere durch seinen
Inhalt die determinierende "Wirkung beistellt. Der andere Fall,
daß das Erbrechen auf den Genuß eines Apfels zurück-
geführt wird, an dem sich eine faule Stelle findet, wird durch
die Analyse etwa in folgender Weise ergänzt: Der faulende
Apfel erinnert an ein früheres Erlebnis, an das Sammeln
abgefallener Äpfel in einem Garten, wobei der Kranke zufällig
auf einen ekelhaften Tierkadaver stieß.
Ich will auf diese Beispiele nicht mehr zurückkommen,
denn ich muß das Geständnis ablegen, daß sie keinem Fall
meiner Erfahrung entstammen, daß sie von mir erfunden
sind; höchstwahrscheinlich sind sie auch schlecht erfunden;
derartige Auflösungen hysterischer Symptome halte ich selbst
für unmöglich. Aber der Zwang, Beispiele zu fingieren, er-
wächst mir aus mehreren Momenten, von denen ich eines
unmittelbar anführen kann. Die wirklichen Beispiele sind
alle unvergleichlich komplizierter; eine einzige ausführliche
Mitteilung würde diese Vortragsstunde ausfüllen. Die Asso-
ziationskette besteht immer aus mehr als zwei GHedern, die
traumatischen Szenen bilden nicht etwa einfache, perlschnur-
artige Reihen, sondern verzweigte, stammbaumartige Zu-
sammenhänge, indem bei einem neuen Erlebnis zwei und
mehr frühere als Erinnerungen zur Wirkung kommen; kurz,
die Auflösung eines einzelnen Symptoms mitteilen, fällt
eigentHch zusammen mit der Aufgabe, eine Krankengescliichte
vollständig darzustellen.
Wir wollen es nun aber nicht versäumen, den einen Satz
nachdrücklich hervorzuheben, den die analytische Arbeit längs
dieser Erinnerungsketten unerwarteterweise ergeben hat. Wir
haben erfahren, daß kein hysterisches Symptom aus
einem realen Erlebnis allein hervorgehen kann,
sondern daß alle Male die assoziativ geweckte
Erinnerung an frühere Erlebnisse zur Verursachung
des Symptoms mitwirkt. Wenn dieser Satz — wie ich
156
meine — ohneAusnahme richtig ist, so bezeicknet er uns
aber auch das Fundament, auf dem eine psychologische Theorie
der Hysterie aufzubauen ist.
Sie könnten meinen, jene seltenen Fälle, in welchen die
Analyse das Symptom sofort auf eine traumatische Szene
von guter determinierender Eignung und traumatischer ILraft
zurückführt und es durch solche Zurückführung gleichzeitig
wegschafft, wie dies in Breuer's Krankengeschichte der
Anna 0. geschildert wird, seien doch mächtige Einwände
gegen die allgemeine Geltung des eben aufgestellten Satzes.
Das sieht in der Tat so aus ; allein ich muß Sie versichern,
ich habe die triftigsten Gründe, anzunehmen, daß selbst in
diesen Fällen eine Verkettung wirksamer Erinnerungen vor-
liegt, die weit hinter die erste traumatische Szene zurück-
reicht, wenngleich die Reproduktion der letzteren allein
die Aufhebung des Symptoms zur Folge haben kann.
Ich meine, es ist wirklich überraschend, daß hysterische
Symptome nur unter Mitwirkung von Erinnerungen entstehen
können, zumal wenn man erwägt, daß diese Erinnerungen
nach allen Aussagen der Kranken ihnen im Moment, da das
Symptom zuerst auftrat, nicht zum Bewußtsein gekommen
waren. Hier ist Stoff für sehr viel Nachdenken gegeben, aber
diese Probleme sollen uns für jetzt nicht verlocken, unsere
Richtung nach der Ätiologie der Hysterie zu verlassen. Wir
müssen uns vielmehr fragen : Wohin gelangen wir, wenn wir
den Ketten assoziierter Erinnerungen folgen, welche die Ana-
lyse uns aufdeckt? Wie weit reichen sie? Haben sie irgendwo
ein natürliches Ende? Führen sie uns etwa zu Erlebnissen, die
irgendwie gleichartig sind, dem Inhalt oder der Lebenszeit
nach, so daß wir in diesen überall gleichartigen Faktoren die
gesuchte Ätiologie der Hysterie erblicken könnten?
Meine bisherige Erfahrung gestattet mir bereits, diese
Fragen zu beantworten. Wenn man von einem Falle ausgeht,
der mehrere Symptome bietet, so gelangt man mittelst der
Analyse von jedem Symptom aus zu einer Reihe von Erleb-
nissen, deren Erinnerungen in der Assoziation mit einander
verkettet sind. Die einzelnen Erinnerungsketten verlaufen zu-
nächst distinkt von einander nach rückwärts, sind aber, wie
157
bereits erwähat, verzweigt ;- von einer Szene aus sind gleich-
zeitig zwei oder mehr Erinnerungen erreicht, von denen nun
Seitenketten ausgehen, deren einzebie G-Heder wieder mit
Gliedern der Hauptkette assoziativ verknüpft sein mögen. Der
Vergleich mit dem Stammbaum einer Familie, deren Mit-
gheder auch unter einander geheiratet haben, paßt hier wirk-
lich nicht übel. Andere KompUkationen der Verkettung er-
geben sich daraus, daß eine einzelne Szene in derselben
Kette mehrmals erweckt werden kann, so daß sie zu. einer
späteren Szene mehrfache Beziehungen hat, eine direkte Ver-
knüpfung mit ihr aufweist und eine durch MittelgUeder her-
gestellte. Kurz, der Zusammenhang ist keineswegs ein ein-
facher und die Aufdeckung der Szenen in umgekehrter chrono-
logischer Folge (die eben den Vergleich mit der Aufgrabung
eines geschichteten Trümmerfeldes rechtfertigt) trägt zum
rascheren Verständnis des Herganges gewiß nichts bei.
Neue Verwicklungen ergeben sich, wenn man die Analyse
weiter fortsetzt. Die Assoziationsketten für die einzelnen
Symptome beginnen dann in Beziehung zu einander zu treten ;
die Stammbäume verflechten sich. Bei einem gewissen Erlebnis
der Erinnerungskette, z. B. für das Erbrechen, ist außer den
rückläufigen Gliedern dieser Kette eine Erinnerung aus einer
anderen Kette erweckt worden, die ein anderes Symptom,
etwa Kopfschmerz, begründet. Jenes Erlebnis gehört darum
beiden Reihen an, es steht einen Knotenpunkt dar, wie
deren in jeder Analyse mehrere aufzufinden sind. Sein khnisches
Korrelat mag etwa sein, daß von einer gewissen Zeit an die
beiden Symptome zusammen auftreten, symbiotisch, eigenthch
ohne innere Abhängigkeit von einander. Knotenpunkte
anderer Art findet man noch weiter rückwärts. Dort kon-
vergieren die einzelnen Assoziationsketten; es finden sich
Erlebnisse, von denen zwei oder mehrere Symptome aus-
gegangen sind. An das eine Detail der Szene hat die eine
Kette, an ein anderes Detail die zweite Kette angeknüpft.
Das wichtigste Ergebnis aber, auf welches man bei
solcher konsequenten Verfolgung der Analyse stößt, ist dieses :
Von welchem Fall und von welchem Symptom immer man
seinen Ausgang genommen hat, endlich gelangt mau
158
unfehlbar auf das Gebiet des sexuellen Erlebens.
Hiemit wäre also zuerst eine ätiologische Bedingung hysteri-
scher Symptome aufgedeckt.
Ich kann nach früheren Erfahrungen voraussehen, daß
gerade gegen diesen Satz oder gegen die Allgemeingiltigkeit
dieses Satzes Ihr Widerspruch, meine Herren, gerichtet sein
wird. Ich sage vielleicht besser: Ihre Widerspruchsneigung,
denn es stehen wohl noch keinem von Ihnen Untersuchungen
zu Gebote, die, mit demselben Verfahren angestellt, ein anderes
Resultat ergeben hätten. Zur Streitsache selbst will ich nur
bemerken, daß die Auszeichnung des sexuellen Momentes in
der Ätiologie der Hysterie bei mir mindestens keiner vor-
gefaßten Meinung entstammt. Die beiden Forscher, als deren
Zögling ich meine Arbeiten über Hysterie begonnen habe,
C h a r c 0 1 wie Breuer, standen einer derartigen Voraus-
setzung ferne, ja brachten ihr eine persönliche Abneigung
entgegen, von der ich anfangs meinen Anteil übernahm. Erst
die mühseligsten Detailuntersuchungen haben mich, und zwar
langsam genug, zu der Meinung bekehrt, die ich heute ver-
trete. Wenn Sie meine Behauptung, die Ätiologie auch der
Hysterie läge im Sexualleben, der strengsten Prüfung unter-
ziehen, so erweist sie sich als vertretbar dmxh die Angabe,
daß ich in etwa 18 Fällen von Hysterie diesen Zusammenhang
für jedes einzelne Symptom erkennen und, wo es die Verhält-
nisse gestatteten, durch den therapeutischen Erfolg bekräftigen
konnte. Sie können mir dann freilich einwenden, die 19. und
die 20. Analyse werden vielleicht eine Ableitung hysterischer
Symptome auch aus anderen Quellen kennen lehren und da-
mit die Giltigkeit der sexuellen Ätiologie von der Allgemein-
heit auf 807o einschränken. Wir wollen es gerne abwarten,
aber da jene 18 Fälle gleichzeitig alle sind, an denen ich
die Arbeit der Analyse unternehmen konnte, und da niemand
diese Fälle mir zum Gefallen ausgesucht hat, werden Sie es
begreiflich finden, daß ich jene Erwartung nicht teile, sondern
bereit bin, mit meinem Glauben über die Beweiskraft meiner
bisherigen Erfahrungen hinauszugehen. Dazu bewegt mich
übrigens noch ein anderes Motiv von einstweilen bloß sub-
jektiver Geltung. In dem einzigen Erklärungsversuch für den
159
physiologischen und psychischen Mechanismus der Hysterie,
den ich Tpir zur Zusammenfassung meiner Beobachtungen
gestalten konnte, ist mir die Einmengung sexueller Trieb-
kräfte zur unentbehrlichen Voraussetzung geworden.
Also man gelangt endlich, nachdem die Erinnerungs-
ketten konvergiert haben, auf sexuelles Gebiet und zu einigen
wenigen Erlebnissen, die zumeist in die nämliche Lebens-
periode, in das Alter der Pubertät fallen. Aus diesen Erleb-
nissen soU man die Ätiologie der Hysterie entnehmen und durch
sie die Entstehung hysterischer Symptome verstehen lernen.
Hier erlebt man aber eine neue und schwerwiegende Ent-
täuschung! Die mit soviel Mühe aufgefundenen, aus allem
Erinnerungsmaterial extrahierten, anscheinend letzten traumati-
schen Erlebnisse haben zwar die beiden Charaktere : SexuaHtät
und Pubertätszeit gemein, sind aber sonst so sehr disparat
und ungleichwertig. In einigen Fällen handelt es sich
wohl um Erlebnisse, die wir als schwere Traumen anerkennen,
müssen, um einen Versuch der Vergewaltigung, der dem un-
reifen Mädchen mit einem Schlage die ganze Brutalität der
Geschlechtslust enthüllt, um eine unfreiwillige Zeugenschaft
bei sexuellen Akten der Eltern, die in Einem ungeahntes Häß-
liches aufdeckt und das kindliche wie das moralische Gefühl
verletzt u. dgl. In anderen FäUen sind diese Erlebnissa
von erstauidicher Geringfügigkeit. Eine meiner Patientinnen
zeigte zugrunde ihrer Neurose das Erlebnis, daß ein ihr
befreundeter Knabe zärtHch ihre Hand streichelte und ein
andermal seinen Unterschenkel an ihr Kleid drängte, während
sie neben einander bei Tische saßen, wobei noch seine Miene
sie erraten ließ, es handle sich um etwas Unerlaubtes. Bei
einer anderen jungen Dame hatte gar das Anhören einer
Scherzfrage, die eine obszöne Beantwortung ahnen ließ, hin-
gereicht, den ersten AngstanfaU hervorzurufen und damit
die Erkrankung zu eröffnen. Solche Ergebnisse sind offenbar
einem Verständnis für die Verursachung hysterischer Symp-
tome nicht günstig. Wenn es ebensowohl schwere wie ge-
ringfügige Erlebnisse, ebensowohl Erfahrungen am eigenen
Leib wie visuelle Eindrücke und durch das Gehör empfangene
Mitteilungen sind, die sich als die letzten Traumen der-
160
Hysterie erkennen lassen, so kann man etwa die Deutung ver-
suchen, die Hysterischen seien besonders geartete Menschen-
kinder — wahrscheinlich infolge erblicher Veranlagung oder
degenerativer Verkümmerung — bei denen die Scheu vor der
Sexualität, die im Pubertätsalter normalerweise eine gewisse
Rolle spielt, ins Pathologische gesteigert und dauernd fest-
gehalten wird; gewissermaßen Personen, die den Anforde-
rungen der Sexualität psychisch nicht Genüge leisten können.
Man vernachlässigt bei dieser Aufstellung allerdings die
Hysterie der Männer; aber auch, wenn es derartige grobe Ein-
wände nicht gäbe, wäre die Versuchung kaum sehr groß, bei
dieser Lösung stehen zu bleiben. Man verspürt hier nur zu
deutlich die intellektuelle Empfindung des Halbverstandenen,
Unklaren und Unzureichenden.
Zum Glück für unsere Aufklärung zeigen einzelne der
sexuellen Pubertätserlebnisse eine weitere UnzulängHchkeit,
die geeignet ist, zur Fortsetzung der analytischen Arbeit an-
zuregen. Es kommt nämlich vor, daß auch diese Erlebnisse
der determinierenden Eignung entbehren, wenngleich dies hier
viel seltener ist als bei den traumatischen Szenen aus späterer
Lebenszeit. So z. B. hatten sich bei den beiden Patientinnen,
die ich vorhin als PäUe mit eigentlich harmlosen Pubertäts-
erlebnissen angeführt habe, im Gefolge dieser Erlebnisse eigen-
tümliche schmerzhafte Empfindungen in den Genitalien einge-
stellt, die sich als Hauptsymptome derNeurose fortgesetzt hatten,
deren Determinierung weder aus den Pubertätsszenen noch aus
späteren abzuleiten war, die aber sicherlich nicht zu den nor-
malen Organempfindungen oder zu den Zeichen sexueller Auf-
regung gehörten. Wie nahe lag es nun, sich hier zu sagen,
man müsse die Determinierung dieser Symptome in noch
anderen, noch weiter zurückreichenden Erlebnissen suchen,
man müsse hier zum zweiten Male jenem rettenden Einfall
folgen, der uns vorhin von den ersten traumatischen Szenen
zu den Erinnerungsketten hinter ihnen geleitet? Man kommt
damit freilich in die Zeit der ersten Kindheit, die Zeit vor
der Entwicklung des sexuellen Lebens, womit ein Verzicht
auf die sexuelle Ätiologie verbunden scheint. Aber hat man
nicht ein Recht, anzunehmen, daß es auch dem Kindesalter
161
an leisen sexuellen Erregungen nicht gebricht, ja, daß vielleicht
die spätere sexuelle Entwicklung durch Kindererlebnisse in ent-
scheiden derWeise beeinflußt wird? Schädigungen, die dasunaus-
gebüdete Organ, die in Entwicklung begriffene Funktion, treflPen,
verursachen ja so häufig schwerere und nachhaltigere Wirkungen,
als sie im reiferen Alter entfalten könnten. Vielleicht liegen
der abnormen Reaktion gegen sexuelle Eindrücke, durch welche
uns die Hysterischen in der Pubertätszeit überraschen, ganz
allgemein, solche sexuelle Erlebnisse der Kindheit zugrunde,
die dann von gleichförmiger und bedeutsamer Art sein müßten?
Man gewänne so eine Aussicht, als frühzeitig erworben auf-
zuklären, was man bisher einer durch die Heredität doch
nicht verständlichen Prädisposition zur Last legen mußte.
Und da infantile Erlebnisse sexuellen Inhalts doch nur durch
ihre Erinnerungsspuren eine psychische Wirkung äußern
könnten, wäre dies nicht eine wülkommene Ergänzung zu
jenem Ergebnis der Analyse, daß hysterische Symptome
immer nur unter der Mitwirkung vonErinnerungen
entstehen?
n.
Sie erraten es wohl, meine Herren, daß ich jenen letzten
Gedankengang nicht so weit ausgesponnen hätte, wenn ich
Sie nicht darauf vorbereiten woUte, daß er allein es ist, der
uns nach so vielen Verzögerungen zum Ziele führen wird.
Wir stehen nämlich wirklich am Ende unserer langwierigen
und beschwerlichen analytischen Arbeit und finden hier alle
bisher festgehaltenen Ansprüche und Erwartungen erfüllt.
Wenn wir die Ausdauer haben, mit der Analyse bis in die
frühe Kindheit vorzudringen, so weit zurück nur das Er-
innerungsvermögen eines Menschen reichen kann, so ver-
anlassen wir in allen Fällen den KJranken zur Reproduktion
von Erlebnissen, die infolge ihrer Besonderheiten sowie ihrer
Beziehungen zu den späteren Krankheitssymptomen als die
gesuchte Ätiologie der Neurose betrachtet werden müssen.
Diese infantilen Erlebnisse sind wiederiun sexuellen
Inhalts, aber weit gleichförmigerer Art als die letztgefundenen
Pubertätsszenen; es handelt sich bei ümen nicht mehr um
die Erweckung des sexuellen Themas durch einen beliebigen
Freud, Neurosenielire. H
162
Sinneseindruck, sondern um sexuelle Erfahrungen am eigenen
Leib, um geschlechtlichen Verkehr (im weiteren Sinne).
Sie gestehen mir zu, daß die Bedeutsamkeit solcher
Szenen keiner weiteren Begründung bedarf; fügen Sie nun
noch hinzu, daß Sie in den Details derselben jedesmal die
determinierenden Momente auffinden können, die Sie
etwa in den anderen, später erfolgten und früher reproduzierten
Szenen noch vermißt hätten.
Ich stelle also die Behauptung auf, zugrunde jedes Falles
von Hysterie befinden sich — durch die analytische Arbeit
reproduzierbar, trotz des Dezennien umfassenden Zeitinter-
valles — ein oder mehrere Erlebnisse von vor-
zeitiger sexueller Erfahrung, die der frühesten Jugend
angehören. Ich halte dies für eine wichtige Enthüllung, für
die Auffindung eines caput Nili der Neuropathologie, aber
ich weiß kaum, wo anzuknüpfen, um die Erörterung dieser
Verhältnisse fortzuführen. Soll ich mein aus den Analysen
gewonnenes tatsächhches Material vor Ihnen ausbreiten, oder
soll ich nicht lieber vorerst der Masse von Einwänden und
Zweifeln zu begegnen suchen, die jetzt von Ihrer Aufmerk-
samkeit Besitz ergriffen haben, wie ich wohl mit Becht ver-
muten darf? Ich wähle das letztere; vielleicht können wir
dann um so ruhiger beim Tatsächlichen verweilen:
a) "Wer der psychologischen Auffassung der Hysterie
überhaupt feindHch entgegensteht, die Hoffnung nicht auf-
geben möchte, daß es einst gelingen wird, ihre Symptome
auf „feinere anatomische Veränderungen" zurückzuführen, und
die Einsicht abgewiesen hat, daß die materiellen Grundlagen
der hysterischen Veränderungen nicht anders als gleichartig
sein können mit jenen unserer normalen Seelenvorgänge, der
wird selbstverständlich für die Ergebnisse unserer Analysen
kein Vertrauen übrig haben; die prinzipielle Verschiedenheit
seiner Voraussetzungen von den unserigen entbindet uns aber
auch der Verpflichtung, ihn in einer Einzelfrage zu überzeugen.
Aber auch ein anderer, der sich minder abweisend gegen
die psychologischen Theorien der Hysterie verhält, wird an-
gesichts unserer analytischen Ergebnisse die Frage aufzu-
werfen versucht sein, welche Sicherheit die Anwendung der
163
Psychoanalyse mit sich bringt, ob es denn nicht sehr wohl
möglich sei, daß entweder der Arzt solche Szenen als an-
gebliche Erinnerung dem gefälligen Kranken aufdrängt, oder
daß der Kranke ihm absichtliche Erfindungen und freie
Phantasien vorträgt, die jener für echt annimmt. Nun, ich habe
darauf zu erwidern, die allgemeinen Bedenken gegen die Ver-
läßlichkeit des psychoanalytischen Methode können erst ge-
würdigt und beseitigt werden, wenn eine vollständige Dar-
stellung ihrer Technik und ihrer Resultate vorHegen wird ;
die Bedenken gegen die Echtheit der infantüen Sexualszenen
aber kann mau bereits heute durch mehr als ein Argument
entkräften. Zunächst ist das Benehmen der Kranken, während
sie diese infantüen Erlebnisse reproduzieren, nach allen Rich-
tungen hin unvereinbar mit der Annahme, die Szenen seien
etwas anderes als peinlich empfundene und höchst ungern
erinnerte Realität. Die Kranken wissen vor Anwendung der
Analyse nichts von diesen Szenen, sie pflegen sich zu empören,
wenn man ihnen etwa das Auftauchen derselben ankündigt ;
sie können nur durch den stärksten Zwang der Behandlung
bewogen werden, sich in deren Reproduktion einzulassen,
sie leiden unter den heftigsten Sensationen, deren sie sich
schämen und die sie zu verbergen trachten, während sie sich
diese infantilen Erlebnisse ins Bewußtsein rufen, imd noch,
nachdem sie dieselben in so überzeugender "Weise wieder
durchgemacht haben, versuchen sie es, ihnen den Glauben zu
versagen, indem sie betonen, daß sich hiefür nicht wie bei
anderem Vergessenem ein Erinnerungsgefühl eingestellt hat.
Letzteres Verhalten scheint nun absolut beweiskräftig
zu sein. "Wozu sollten die Kranken mich so entschieden ihres
Unglaubens versichern, wenn sie aus irgend einem Motiv die
Dinge, die sie entwerten wollen, selbst erfunden haben?
Daß der Arzt dem Kranken derartige Reminiszenzen
aufdränge, ihn zu ihrer Vorstellung und Wiedergabe suggeriere,
ist weniger bequem zu widerlegen, erscheint mir aber ebenso
unhaltbar. Mir ist es noch nie gelungen, einem Kranken eine
Szene, die ich erwartete, derart aufzudrängen, daß er sie mit
allen zu ihr gehörigen Empfindungen zu durchleben schien;
vielleicht treffen es andere besser.
11*
164
Es gibt aber noch eine ganze Reibe anderer Bürgschaften
für die Realität der infantüen Sexualszenen. Zunächst deren
Uniformität in gewissen Einzelheiten, wie sie sich aus den
gleichartig wiederkehrenden Voraussetzungen dieser Erlebnisse
ergeben muß, während man sonst geheime Verabredungen
zwischen den einzelnen Kranken für glaubhaft halten müßte.
Sodann, daß die Kranken gelegentlich wie harmlos Vorgänge
beschreiben, deren Bedeutung sie offenbar nicht verstehen,
weü sie sonst entsetzt sein müßten, oder daß sie, ohne
"Wert darauf zu legen, Einzelheiten berühren, die nur ein
Lebenserfahrener kennt und als feine Charakterzüge des
Realen zu schätzen versteht.
Verstärken solche Vorkommnisse den Eindruck, daß die
Kranken wirklich erlebt haben müssen, was sie unter dem
Zwange der Analyse als Szene aus der Kindheit reproduzieren,
so entspringt ein anderer und mächtigerer Beweis hiefür aus
der Beziehung der Infantüszenen zum Inhalt der ganzen
übrigen Krankengeschichte. "Wie bei den Zusammenlegbildern
der Kinder sich nach mancherlei Probieren schließlich eine
absolute Sicherheit herausstellt, welches Stück in die frei-
gelassene Lücke gehört — weü nur dieses eine gleichzeitig das
Büd ergänzt und sich mit seinen unregelmäßigen Zacken
zwischen die Zacken der anderen so einpassen läßt, daß
kein freier Raum bleibt und kein Übereinanderschieben not-
wendig wird — so erweisen sich die Infantilszenen inhaltHch als
unabweisbare Ergänzungen für das assoziative und logische
Gefüge der Neurose, nach deren Einfügung erst der Hergang
verständlich — man möchte oftmals sagen: selbstverständhch
— wird.
Daß auch der therapeutische Beweis für die Echtheit
der Infantüszenen in einer Reihe von Fällen zu erbringen ist,
füge ich hinzu, ohne diesen in den Vordergrund drängen zu
wollen. Es gibt FäUe, in denen ein vollständiger oder par-
tieller Heilerfolg zu erreichen ist, ohne daß man bis zu den
Infantilerlebnissen herabsteigen muß ; andere, in welchen jeder
Erfolg ausbleibt, ehe die Analyse ihr natürliches Ende mit
der Aufdeckung der frühesten Traumen gefunden hat. Ich
meine, im ersteren Fall sei man vor Rezidiven nicht gesichert ;
165
ich, erwarte, daß eine vollständige Psychoanalyse die radikale
Heilung einer Hysterie bedeutet. Indes, greifen wir hier den
Lehren der Erfahrung nicht vor!
Es gäbe noch einen, einen wirklich unantastbaren Be-
weis für die Echtheit der sexuellen Kindererlebnisse, wenn
nämlich die Angaben der einen Person in der Analyse durch
die Mitteilung einer anderen Person in oder außerhalb einer
Behandlung bestätigt würden. Diese beiden Personen müßten
in ihrer Kindheit an demselben Erlebnis Anteil genommen
haben, etwa in einem sexuellen Verhältnis zu einander ge-
standen sein. Solche Ki u derverhältniss e sind, wie Sie gleich
hören werden, gar nicht selten ; es kommt auch häufig genug
vor, daß beide Beteiligte später an Neurosen erkranken, und
doch, meine ich, ist es ein Glücksfall, daß mir eine solche
objektive Bestätigung unter 18 Fällen zweimal gelungen ist.
Einmal war es der gesund gebliebene Bruder, der mir un-
aufgefordert zwar nicht die frühesten Sexualerlebnisse mit
seiner kranken Schwester, aber wenigstens solche Szenen aus
ihrer späteren Kindheit und die Tatsache von weiter zurück-
reichenden sexuellen Beziehungen bekräftigte. Ein andermal
traf es sich, daß zwei in Behandlung stehende Frauen als
Bander mit der nämlichen männlichen Person sexuell verkehrt
hatten, wobei einzelne Szenen ä trois zustande gekommen
waren. Ein gewisses Symptom, das sich von diesen Kinder-
erlebnissen ableitete, war, als Zeuge dieser Gemeinschaft, in
beiden Fällen zur Ausbildung gelangt.
b) Sexuelle Erfahrungen der Kindheit, die in E-eizungen
der Genitalien, koitusähnlichen Handlungen usw. bestehen,
sollen also in letzter Analyse als jene Traumen anerkannt
werden, von denen die hysterische Reaktion gegen Pubertäts-
erlebnisse und die Entwicklung hysterischer Symptome aus-
geht. Gegen diesen Ausspruch werden sicherlich von verschie-
denen Seiten zwei zu einander gegensätzliche Einwendungen
erhoben werden. Die Einen werden sagen, derartige sexuelle
Mißbräuche, an Kindern verübt oder von Kindern unter ein-
ander, kämen zu selten vor, als daß man mit ihnen die
Bedingtheit einer so häufigen Neurose wie der Hysterie
decken könnte; andere werden vielleicht geltend machen,
166
dergleichen Erlebnisse seien im Gegenteil sehr häufig, allzu
häufig, als daß man ihrer Feststellung eine ätiologische Be-
deutung zusprechen könnte. Sie werden femer anführen, daß
es bei einiger Umfrage leicht fällt, Personen aufzufinden, die
sich an Szenen von sexueller Verführung und sexuellem Miß-
brauch in ihren Kinderjahren erinnern, und die doch niemals
hysterisch gewesen sind. Endlich werden wir als schwer-
wiegendes Argument zu hören bekommen, daß in den niederen
Schichten der Bevölkerung die Hysterie gewiß nicht häufiger
vorkommt als in den höchsten, während doch alles dafür
spricht, daß das Gebot der sexuellen Schonung des Kindes-
alters an den Proletarierkindern ungleich häufiger über-
treten wird.
Beginnen wir unsere Verteidigung mit dem leichteren
Teil der Aufgabe. Es scheint mir sicher, daß unsere Kinder
weit häufiger sexuellen Angriffen ausgesetzt sind, als man
nach der geringen, von den Eltern hierauf verwendeten Für-
sorge erwarten sollte. Bei den ersten Erkundigungen, was
über dieses Thema bekannt sei, erfuhr ich von Kollegen, daß
mehrere Publikationen von Kinderärzten vorliegen, welche die
Häufigkeit sexueller Praktiken selbst an Säuglingen von selten
der Ammen und Kinderfrauen anklagen, und aus den letzten
"Wochen ist mir eine von Dr. St ekel in Wien herrührende
Studie in die Hand geraten, welche sich mit dem „Koitus
im Kindesalter" beschäftigt ("Wiener medizinische Blätter,
18. April 1896). Ich habe nicht Zeit gehabt, andere litera-
rische Zeugnisse zu sammeln, aber selbst wenn diese sich
nur vereinzelt fänden, dürfte man erwarten, daß mit der
Steigerung der Aufmerksamkeit für dieses Thema sehr bald
die große Häufigkeit von sexuellen Erlebnissen und sexueller
Betätigung im Kindesalter bestätigt werden wird.
Schließlich sind die Ergebnisse meiner Analyse imstande,
für sich selbst zu sprechen. In sämtHchen 18 Fällen (von
reiner Hysterie und Hysterie mit Zwangsvorstellungen kom-
biniert, 6 Männer und 12 Frauen) bin ich, wie erwähnt, zur
Kenntnis solcher sexueller Erlebnisse des Kindesalters gelangt.
Ich kann meine Fälle in drei Gruppen bringen, je nach der
Herkunft der sexuellen Reizung. In der ersten Gruppe
167
handelt es sich, um Attentate, einmaligen oder doch verein-
zelten Mißbrauch meist weiblicher Kinder von Seiten er-
wachsener, fremder Individuen (die dabei groben, mechanischen
Insult zu vermeiden verstanden), wobei die Einwilligung der
Kinder nicht in Frage kam und als nächste Folge des Erleb-
nisses der Schreck überwog. Eine zweite Grruppe bilden jene
weit zahlreicheren Fälle, in denen eine das Kind wartende
erwachsene Person — Kindermädchen, Kindsfrau, Gouver-
nante, Lehrer, leider auch allzuhäufig ein naher Verwandter —
das Kind in den sexuellen Verkehr einführte und ein — auch
nach der seelischen Richtung ausgebildetes — förmliches
Liebesverhältnis, oft durch Jahre, mit ihm unterhielt. In die
dritte Gruppe endlich gehören die eigentlichen Kinder-
verhältnisse, sexuelle Beziehungen zwischen zwei Kindern
verschiedenen Geschlechts, zumeist zwischen Geschwistern,
die oft über die Pubertät hinaus fortgesetzt werden und die
nachhaltigsten Folgen für das betreffende Paar mit sich
bringen. In den meisten meiner FäUe ergab sich kombinierte
"Wirkung von zwei oder mehreren solcher Ätiologien ; in ein-
zelnen war die Häufung der sexuellen Erlebnisse von ver-
schiedenen Seiten her geradezu erstaunlich. Sie verstehen
aber diese Eigentümlichkeit meiner Beobachtungen leicht,
wenn Sie in Betracht ziehen, daß ich durchwegs FäUe von
schwerer neurotischer Erkrankung, die mit Existenzunfähigkeit
drohte, zu behandeln hatte.
"Wo ein Verhältnis zwischen zwei Kindern vorlag, ge-
lang nun einige Male der Nachweis, daß der Knabe — der
auch hier die aggressive EoUe spielt — vorher von einer
erwachsenen weiblichen Person verführt worden war, und
daß er dann unter dem Drucke seiner vorzeitig geweckten
Libido und infolge des Erinnerungszwanges an dem kleinen
Mädchen genau die nämlichen Praktiken zu wiederholen
suchte, die er bei der Erwachsenen gelernt hatte, ohne daß
er selbständig eine Modifikation in der Art der sexuellen
Betätigung vorgenommen hätte.
Ich bin daher geneigt, anzunehmen, daß ohne vorherige
Verführung Kinder den Weg zu Akten sexueller Aggression
nicht zu finden vermögen. Der Grund zur Neurose würde
168
demnach im Bändesalter immer von seiten Erwachsener ge-
legt, und die Kinder selbst übertragen einander die Dispo-
sition, später an Hysterie zu erkranken. Ich bitte, verweilen
Sie noch einen Moment bei der besonderen Häufigkeit
sexueller Beziehungen im Kindesalter gerade zwischen Ge-
schwistern und Vettern infolge der Gelegenheit zu häufigem
Beisammensein, stellen Sie sich vor, daß 10 oder 15 Jahre
später in dieser Familie mehrere Individuen der jungen
Generation krank gefunden werden, und fragen Sie sich, ob
dieses familiäre Auftreten der Neurose nicht geeignet ist,
zur Annahme einer erblichen Disposition zu verleiten, wo
doch nur eine Pseudoheredität vorliegt und in Wirk-
lichkeit eine Übertragung, eine Infektion in der Kindheit
stattgefunden hat.
Nun wenden wir uns zu dem anderen Einwand, welcher
gerade auf der zugestandenen Häufigkeit infantiler Sexual-
erlebnisse und auf der Erfahrimg fußt, daß viele Personen sich
an solche Szenen erinnern, die nicht hysterisch geworden sind.
Dagegen sagen wir zunächst, daß die übergroße Häufigkeit
eines ätiologischen Momentes unmöglich zum Einwurf gegen
dessen ätiologische Bedeutung verwendet werden kann. Ist
der Tuberkelbazillus nicht allgegenwärtig und wird von weit
mehr Menschen eingeatmet, als sich an Tuberkulose erkrankt
zeigen? Und wird seine ätiologische Bedeutung durch die
Tatsache geschädigt, daß er oflfenbar der Mitwirkung anderer
Faktoren bedarf, um die Tuberkulose, seinen spezifischen
Effekt hervorzurufen? Es reicht für seine Würdigung als
spezifische Ätiologie aus, daß Tuberkulose nicht möglich ist
ohne seine Mitwirkung. Das Gleiche gilt wohl auch für unser
Problem. Es stört nicht, wenn viele Menschen infantile
Sexualszenen erleben ohne hysterisch zu werden; wenn nur
alle, die hysterisch werden, solche Szenen erlebt haben. Der
Kreis des Vorkommens eines ätiologischen Faktors darf gerne
ausgedehnter sein als der seines Effektes, nur nicht enger.
Es erkranken nicht alle an Blattern, die einen Blatternkranken
berühren oder ihm nahe kommen, und doch ist Übertragung
von einem Blattemkranken fast die einzige uns bekannte
Ätiologie der Erkrankung.
169
Freilich, wenn infantile Betätigung der Sexualität ein
fast allgemeines Vorkommnis wäre, dann fiele auf deren
Nachweis in allen Fällen kein Gewicht. Aber erstens wäre
eine derartige Behauptung sicherlich eine arge Übertreibung,
und zweitens ruht der ätiologische Anspruch der infantilen
Szenen nicht allein auf der Beständigkeit ihres Vorkommens
in der Anamnese der Hysterischeu, sondern vor allem auf
dem Nachweis der assoziativen und logischen Bande zwischen
ihnen und den hysterischen Symptomen, der Ihnen aus einer
vollständig mitgeteilten Krankengeschichte sonnenklar ein-
leuchten würde.
Welches mögen die anderen Momente sein, deren die
„spezifische Ätiologie" der Hysterie noch bedarf, um die
Neurose wirklich zu produzieren? Dies, meine Herren, ist
eigentlich ein Thema für sich, das ich zu behandeln nicht
vorhabe ; ich brauche heute bloß die Kontaktstelle aufzuzeigen,
an welcher die beiden Teüstücke des Themas — spezifische
und Hilfsätiologie — in einander greifen. Es wird wohl eine
ziemliche Anzahl von Faktoren in Betracht kommen, die erb-
liche und persönliche Konstitution, die innere Bedeutsamkeit
der infantilen Sexualerlebnisse, vor allem deren Häufung ; ein
kurzes Verhältnis mit einem firemden, später gleichgütigen
Knaben wird an "Wirksamkeit zurückstehen gegen mehrjährige,
innige, sexuelle Beziehungen zum eigenen Bruder. Es sind in
der Ätiologie der Neurosen quantitative Bedingungen eben-
sowohl bedeutsam wie qualitative; es sind Schwellenwerte
zu überschreiten, wenn die Krankheit manifest werden soll.
Ich halte die obige ätiologische Reihe übrigens selbst nicht
für vollzählig und das Rätsel, warum die Hysterie in den
niederen Ständen nicht häufiger ist, durch sie noch nicht
erledigt. (Erinnern Sie sich übrigens, welche überraschend
große Verbreitung Charcot für die männliche Hysterie des
Arbeiterstandes behauptete.) Ich darf Sie aber auch daran
mahnen, daß ich selbst vor wenigen Jahren auf ein bisher
wenig gewürdigtes Moment hingewiesen habe, für welches
ich die Hauptrolle in der Hervorrufung der Hysterie nach
der Pubertät in Anspruch nehme. Ich habe damals ausgeführt,
daß sich der Ausbruch der Hysterie fast regelmäßig auf einen
170
psychischen Konflikt zurückführen läßt, indem eine
unverträgliche Vorstellung die Abwehr des Ich rege mache
und zur Verdrängung auffordere. Unter welchen Verhält-
nissen dieses Abwehrbestreben den pathologischen Effekt hat,
die dem Ich peinliche Erinnerung wirklich ins Unbewußte
zu drängen und an ihrer Statt ein hysterisches Symptom zu
schaffen, das konnte ich damals nicht angeben. Ich ergänze
es heute: Die Abwehr erreicht dann ihre Absicht,
die unverträgliche Vorstellung aus dem Bewußt-
sein zu drängen, wenn bei der betreffenden, bis
dahin gesunden Person infantile Sexualszenen
als unbewußte Erinnerungen vorhanden sind,und
wenn die zu verdrängende Vorstellung in logi-
schen oder assoziativen Zusammenhang mit einem
solchen infantilen Erlebnis gebracht werden
kann.
Da das Abwehrbestreben des Ich von der gesamten
moralischen und intellektuellen Ausbildung der Person ab-
hängt, sind wir nun nicht mehr ohne jedes Verständnis für
die Tatsache, daß die Hysterie beim niederen Volk so viel
seltener ist, als ihre spezifische Ätiologie gestatten würde.
Meine Herren, kehren wir noch einmal zurück zu jener
letzten Gruppe von Einwänden, deren Beantwortung uns so
weit geführt hat. "Wir haben gehört und anerkannt, daß es
zahlreiche Personen gibt, die infantile Sexualerlebnisse sehr
deutlich erinnern, und die doch nicht hysterisch sind. Dieser
Einwand ist ganz ohne Gewicht, er wird uns aber Anlaß zu
einer wertvollen Bemerkung bieten. Personen dieser Art
dürfen nach unserem Verständnis der Neurose gar nicht
hysterisch sein, oder wenigstens nicht hysterisch infolge der
Szenen, die sie bewußt erinnern. Bei unseren E^ranken sind
diese Erinnerungen niemals bewußt; wir heilen sie aber von
ihrer Hysterie, indem wir ihnen die unbewußten Erinnerungen
der Infantilszenen in bewußte verwandeln. An der Tatsache,
daß sie solche Erlebnisse gehabt haben, konnten und brauchten
wir nichts zu ändern. Sie ersehen daraus, daß es auf die
Existenz der infantilen Sexualerlebnisse aUein nicht ankommt,
sondern, daß eine psychologische Bedingung noch dabei ist.
171
Diese Szenen müssen als unbewußte Erinnerungen
vorhanden sein; nur so lange und insoferne sie unbewußt
sind, können sie hysterische Symptome erzeugen und unter-
halten. Wovon es aber abhängt, ob diese Erlebnisse bewußte
oder unbewußte Erinnerungen ergeben, ob die Bedingung
hiefür im Inhalt der Erlebnisse, in der Zeit, zu der sie vor-
fallen, oder in späteren Einflüssen liegt, dies ist ein neues
Problem, dem wir behutsam aus dem Wege gehen wollen.
Lassen Sie sich bloß daran mahnen, daß uns die Analyse als
erstes Resultat den Satz gebracht hat : Die hysterischen
Symptome sind Abkömmlinge unbewußt wirkender
Erinnerungen.
c) Wenn wir daran festhalten, infantile Sexualerlebnisse
seien die Grundbedingung, sozusagen die Disposition der
Hysterie, sie erzeugen die hysterischen Symptome aber nicht
unmittelbar, sondern bleiben zunächst wirkungslos und wirken
pathogen erst später, wenn sie im Alter nach der Pubertät
als unbewußte Erinnerungen geweckt werden, so haben wir
uns mit den zahlreichen Beobachtungen auseinanderzusetzen,
welche das Auftreten hysterischer Erkrankung bereits im
Kindesalter und vor der Pubertät erweisen. Indes löst sich
die Schwierigkeit wieder, wenn wir die aus den Analysen
gewonnenen Daten über die zeitlichen Umstände der infantilen
Sexualerlebnisse näher betrachten. Man erfährt dann, daß in
unseren schweren FäUen die Bildung hysterischer Symptome
nicht etwa ausnahmsweise, sondern eher regelmäßig mit dem
8. Jahr beginnt, und daß die Sexualerlebnisse, die keine
unmittelbare Wirkung äußern, jedesmal weiter zurückreichen,
ins 3., 4., selbst ins 2, Lebensjahr. Da in keinem einzigen
FaU die Kette der wirksamen Erlebnisse mit dem 8. Jahr
abbricht, muß ich annehmen, daß diese Lebensperiode, in
welcher der Wachstumsschub der zweiten Dentition erfolgt,
für die Hysterie eine Grenze bildet, von welcher an ihre
Verursachung unmöglich wird. Wer nicht frühere Sexual-
erlebnisse hat, kann von da an nicht mehr zur Hysterie
disponiert werden; wer solche hat, kann nun bereits hyste-
rische Symptome entwickeln. Das vereinzelte Vorkommen von
Hysterie auch jenseits dieser Altersgrenze (vor 8 Jahren)
172
ließe sich noch als Erscheinung der Frühreife deuten. Die
Existenz dieser Grenze hängt sehr wahrscheinlich mit Ent-
wicklungsvorgängen im Sexualsystem zusammen. Verfrühung
der somatischen Sexualentwicklung kommt häufig zur Be-
obachtung, und es ist selbst denkbar, daß sie durch vorzeitige
sexuelle Reizung befördert werden kann.
Man gewinnt so einen Hinweis darauf, daß ein gewisser
infantiler Zustand der psychischen Funktionen wie des
Sexualsystems erforderlich ist, damit eine in diese Periode
fallende sexuelle Erfahrung später als Erinnerung pathogene
Wirkung entfalte. Ich getraue mich indes noch nicht, über
die Natur dieses psychischen Infantilismus und über seine
zeitliche Begrenzung Näheres auszusagen.
dj Eine weitere Einwendung könnte etwa daran Anstoß
nehmen, daß die Erinnerung der infantilen Sexualerlebnisse
so großartige pathogene Wirkung äußern soll, während das
Erleben derselben selbst wirkungslos geblieben ist. Wir sind
ja in der Tat nicht daran gewöhnt, daß von einem Erinnerungs-
bild Kräfte ausgehen, welche dem realen Eindruck gefehlt
haben. Sie bemerken hier übrigens, mit welcher Konsequenz
bei der Hysterie der Satz durchgeführt ist, daß Symptome
nur aus Erinnerungen hervorgehen können. AUe die späteren
Szenen, bei denen die Symptome entstehen, sind nicht die
wirksamen, und die eigentlich wirksamen Erlebnisse erzeugen
zunächst keinen Effekt. Wir stehen aber hier vor einem
Problem, welches wir mit gutem Recht von unserem Thema
sondern können. Man fühlt sich freilich zu einer Synthese
aufgefordert, wenn man die Reihe von auffälligen Bedingungen
überdenkt, zu deren Kenntnis wir gelangt sind : daß, um ein
hysterisches Symptom zu bilden, ein Abwehrbestreben gegen
eine peinliche Vorstellung vorhanden sein muß; daß diese
eine logische oder assoziative Verknüpfung aufweisen muß
mit einer unbewußten Erinnerung durch zahlreiche oder
wenige Mittelglieder, die in diesem Moment gleichfalls un-
bewußt bleiben; daß jene unbewußte Erinnerung nur sexuellen
Inhalts sein kann ; daß sie ein Erlebnis zum Inhalt hat, welches
sich in einer gewissen infantilen Lebensperiode zugetragen
hat; und man kann nicht umhin, sich zu fragen, wie es
173
zugeht, daß diese Erinnerung an ein seinerzeit harmloses
Erlebnis posthum die abnorme Wirkung äußert, einen psy-
chischen Vorgang wie das Abwehren zu einem patholo-
gischen Resultat zu leiten, während sie selbst dabei unbewußt
bleibt?
Man wird sich aber sagen müssen, dies sei ein rein
psychologisches Problem, dessen Lösung vielleicht bestimmte
Annahmen über die normalen psychischen Vorgänge und über
die Rolle des Bewußtseins dabei notwendig macht, das aber
einstweilen ungelöst bleiben kann, ohne unsere bisher ge-
wonnene Einsicht in die Ätiologie der hysterischen Phänomene
zu entwerten.
in.
Meine Herren, das Problem, dessen Ansätze ich soeben
formuKert habe, betrifft den Mechanismus der hysterischen
Symptombildung. Wir sind aber genötigt, die Verursachung
dieser Symptome darzustellen, ohne diesen Mechanismus in
Betracht zu ziehen, was eine unvermeidliche Einbuße an
Abrundung und Durchsichtigkeit imserer Erörterung mit sich
bringt. Kehren wir zur Rolle der infantilen Sexualszenen
zurück. Ich fürchte, ich könnte Sie zur Überschätzung von
deren symptomenbildender Kraft verleitet haben. Ich betone
darum nochmals, daß jeder Fall von Hysterie Symptome auf-
weist, deren Determinierung nicht aus infantilen, sondern aus
späteren, oft aus rezenten Erlebnissen herstammt. Ein anderer
Anteil der Symptome geht freüich auf die aUerfrühesten
Erlebnisse zurück, ist gleichsam vom ältesten Adel. Dahin
gehören vor allem die so zahlreichen und mannigfaltigen
Sensationen und Parästhesien an den Genitalien und anderen
Körp erstellen, die einfach dem Empfindungsinhalt der Infantil-
szenen in halluzinatorischer Reproduktion, oft auch in schmerz-
hafter Verstärkung, entsprechen.
Eine andere Reihe überaus gemeiner hysterischer Phä-
nomene, der schmerzhafte Harndrang, die Sensation bei der
Defäkation, Störungen der Darmtätigkeit, das Würgen und
Erbrechen, Magenbeschwerden und Speiseekel, gab sich in
meinen Analysen gleichfalls — und zwar mit überraschender
Regelmäßigkeit — als Derivat derselben Kindererlebnisse zu
174
erkennen und erklärte sich mühelos aus konstanten Eigen-
tümlichkeiten derselben. Die infantilen Sexualszenen sind näm-
lich arge Zumutungen für das Gefühl eines sexuell normalen
Menschen ; sie enthalten alle Ausschreitungen, die von "Wüst-
lingen und Impotenten bekannt sind, bei denen Mundhöhle
und Darmausgang mißbräuchlich zu sexueller Verwendung ge-
langen. Die Verwunderung hierüber weicht beim Arzte alsbald
einem völligen Verständnis. Von Personen, die kein Bedenken
tragen, ihre sexuellen Bedürfnisse an Kindern zu befriedigen,
kann man nicht erwarten, daß sie an Nuancen in der Weise
dieser Befriedigung Anstoß nehmen, und die dem Kindesalter
anhaftende sexuelle Impotenz drängt unausbleiblich zu den-
selben Surrogathandlungen, zu denen sich der Erwachsene
im Falle erworbener Impotenz erniedrigt. Alle die seltsamen
Bedingungen, unter denen das ungleiche Paar sein Liebes-
verhältnis fortführt: der Erwachsene, der sich seinem
Anteil an der gegenseitigen Abhängigkeit nicht entziehen
kann, wie sie aus einer sexuellen Beziehung notwendig her-
vorgeht, der dabei doch mit aller Autorität und dem Rechte
der Züchtigung ausgerüstet ist und zur ungehemmten Be-
friedigung seiner Launen die eine Rolle mit der anderen
vertauscht; das Kind, dieser WiUkür in seiner Hilflosigkeit
preisgegeben, vorzeitig zu allen Empfindlichkeiten erweckt
und aUen Enttäuschungen ausgesetzt, häufig in der Ausübung
der ihm zugewiesenen sexuellen Leistungen durch seine
unvollkommene Beherrschung der natürUchen Bedürfnisse
unterbrochen — aUe diese grotesken und doch tragischen Miß-
verhältnisse prägen sich in der ferneren Entwicklung des
Individuums und seiner Neurose in einer Unzahl von Dauer-
efifekten aus, die der eingehendsten Verfolgung würdig wären.
Wo sich das Verhältnis zwischen zwei Kindern abspielt,
bleibt der Charakter der Sexualszenen doch der nämliche ab-
stoßende, da ja jedes Kinderverhältnis eine vorausgegangene
Verführung des einen Kindes durch einen Erwachsenen postu-
liert. Die psychischen Folgen eines solchen Kinderverhältnisses
sind ganz außerordentlich tiefgreifende; die beiden Personen
bleiben für ihre ganze Lebenszeit durch ein unsichtbares Band
miteinander verknüpft.
175
Gelegentlich sind es Nebenumstände dieser infantilen
Sexualszenen, welche in späteren Jahren zu determinierender
Macht für die Symptome der Neurose gelangen. So hat in
einem meiner FäUe der Umstand, daß das Kind abgerichtet
wurde, mit seinem Fuß die Genitalien der Erwachsenen zu
erregen, hingereicht, um Jahre hindurch die neurotische Auf-
merksamkeit auf die Beine und deren Funktion zu fixieren
und schließlich eine hysterische Paraplegie zu erzeugen. In
einem anderen Falle wäre es rätselhaft geblieben, warum
die Kranke in ihren Angstanfällen, die gewisse Tagesstunden
bevorzugten, gerade eine einzige von ihren zahlreichen
Schwestern zu ihrer Beruhigung nicht von ihrer Seite lassen
wollte, wenn die Analyse nicht ergeben hätte, daß der Atten-
täter seinerzeit sich bei jedem dieser Besuche erkundigt hatte,
ob diese Schwester zu Hause sei, von der er eine Störung be-
fürchten mußte.
Es kommt vor, daß die determinierende Kraft der In-
fantilszenen sich so sehr verbirgt, daß sie bei oberflächlicher
Analyse übersehen werden muß. Man vermeint dann, man
habe die Erklärung eines gewissen Symptoms im Inhalt einer
der späteren Szenen gefunden und stößt im Verlaufe der
Arbeit auf denselben Inhalt in einer der Infantilszenen, so
daß man sich schließlich sagen muß, die spätere Szene ver-
danke ihrer Kraft, Symptome zu determinieren, doch nur ihrer
Übereinstimmung mit der früheren. Ich will darum die spätere
Szene nicht als bedeutungslos hinstellen; wenn ich die Auf-
gabe hätte, die Regeln der hysterischen Symptombildung vor
Ihnen zu erörtern, würde ich als eine dieser Regeln aner-
kennen müssen, daß zum Symptom jene Vorstellung auser-
wählt wird, zu deren Hebung mehrere Momente zusammen-
wirken, die von verschiedenen Seiten her gleichzeitig geweckt
wird, was ich an anderer Stelle durch den Satz auszudrücken
versucht habe: Die hysterischen Symptome seien
üb er determiniert.
Noch eines, meine Herrn; ich habe zwar vorhin das
Verhältnis der rezenten Ätiologie zur infantilen als ein be-
sonderes Thema beiseite gerückt; aber ich kann doch den
Gegenstand nicht verlassen, ohne diesen Vorsatz durch
176
wenigstens eine Bemerkung zu übertreten. Sie gestehen mir
zu, es ist vor allem eine Tatsache, die uns am psycho-
logischen Verständnis der hysterischen Phänomene irre werden
läßt, die uns zu warnen scheint, psychische Akte bei Hysteri-
schen und bei Normalen mit gleichem Maß zu messen. Es
ist dies das Mißverhältnis zwischen psychisch erregendem
Eeiz und psychischer Reaktion, das wir bei den Hysterischen
antreffen, welches wir durch die Annahme einer allgemeinen
abnormen Reizbarkeit zu decken suchen und häufig physio-
logisch zu erklären bemüht sind, als ob gewisse, der Über-
tragung dienende Himorgane sich bei den Kranken in einem
besonderen chemischen Zustande befänden, etwa wie die
Spinalzentren des Strychninfrosches, oder sich dem Einflüsse
höherer hemmender Zentren entzogen hätten, wie im vivi-
sektorischen Tierexperiment. Beide Auffassungen mögen hier
und dort zur Erklärung der hysterischen Phänomene vollbe-
rechtigt sein ; das stelle ich nicht in Abrede. Aber der Haupt-
anteil des Phänomens, der abnormen, übergroßen, hysteri-
schen Reaktion auf psychische Reize läßt eine andere Er-
klärung zu, die durch zahllose Beispiele aus den Analysen
gestützt wird. Und diese Erklärung lautet: Die Reaktion
der Hysterischen ist eine nur scheinbar über-
triebene; sie muß uns so erscheinen, weil wir nur
einen kleinen Teil der Motive kennen, aus denen
sie erfolgt.
In Wirklichkeit ist diese Reaktion proportional dem
erregenden Reiz, also normal und psychologisch verständlich.
Wir sehen dies sofort ein, wenn die Analyse zu den mani-
festen, dem Kranken bewußten Motiven jene anderen Motive
hinzugefügt hat, die gewirkt haben, ohne daß der Kranke
nm sie wußte, die er uns also nicht mitteilen konnte.
Ich könnte Stunden damit ausfüllen, Ihnen diesen wich-
tigen Satz für den ganzen Umfang der psychischen Tätigkeit
bei Hysterischen zu erweisen, muß mich aber hier auf wenige
Beispiele beschränken. Sie erinnern sich an die so häufige
seelische „Empfindlickeit" der Hysterischen, die sie auf die
leiseste Andeutung einer Geringschätzung reagieren läßt, als
seien sie tödlich beleidigt worden. Was würden Sie nun
177
denken, wenn Sie eine solche hochgradige Verletzbarkeit bei
geringfügigen Anlässen zwischen zwei gesunden Menschen,
etwa Ehegatten, beobachten würden? Sie würden gewiß den
Schluß ziehen, die eheliche Szene, der Sie beigewohnt, sei
nicht allein das Ergebnis des letzten kleinlichen Anlasses,
sondern da habe sich durch lange Zeit Zündstoff angehäuft,
der nun in seiner ganzen Masse durch den letzten Anstoß
zur Explosion gebracht worden sei.
Bitte, übertragen Sie denselben Gedankengang auf die
Hysterischen. Nicht die letzte, an sich minimale Kränkung ist
es, die den "Weinkrampf, den Ausbruch von Verzweiflung, den
Selbstmordversuch erzeugt, mit Mißachtung des Satzes von der
Proportionalität des Effekts und der Ursache, sondern diese
kleine aktuelle Kränkung hat die Erinnerungen so vieler und
intensiverer früherer Kränkungen geweckt und zur Wirkung
gebracht, hinter denen allen noch die Erinnerung an eine
schwere, nie verwundene Kränkung im Kindesalter steckt.
Oder: wenn ein junges Mädchen sich die entsetzlichsten Vor-
würfe macht, weil sie geduldet, daß ein Knabe zärtlich im
Geheimen über ihre Hand gestrichen, und von da ab der Neu-
rose verfällt, so können Sie zwar dem Rätsel mit dem Urteil
begegnen, das sei eine abnorme, exzentrisch angelegte,
hypersensitive Person; aber Sie werden anders denken, wenn
Ihnen die Analyse zeigt, daß jene Berührung an eine andere,
ähnliche erinnerte, die in sehr früher Jugend vorfiel und die
ein Stück aus einem minder harmlosen Ganzen war, so daß
eigentlich die Vorwürfe jenem alten Anlaß gelten. Schließ-
lich ist das ßätsel der hysterogenen Punkte auch kein
anderes; wenn Sie die eine ausgezeichnete Stelle berühren,
tun Sie etwas, was sie nicht beabsichtigt haben; Sie wecken
eine Erinnerung auf, die einen KrampfanfaU auszulösen ver-
mag, und da Sie von diesem psychischen Mittelglied nichts
wissen, beziehen Sie den Anfall als Wirkung direkt auf Ihre
Berührung als Ursache. Die Kranken befinden sich in der-
selben Unwissenheit und verfallen darum in ähnliche Irr-
tümer, sie stellen beständig „falsche Verknüpfungen'^ her
zwischen dem letztbewußten Anlaß und dem von so viel
Mittelgliedern abhängigen Effekt. Ist es dem Arzte aber mög-
Fread, Nearosanlehre. 12
178
lieh geworden, zur Erklärung einer hysterisclien Reaktion die
bewußten und die unbewußten Motive zusammenzufassen, so
muß er diese scheinbar übermäßige Reaktion fast immer als
eine angemessene, nur in der Form abnorme anerkennen.
Sie werden nun gegen diese Rechtfertigung der hysteri-
schen Reaktion auf psychische Reize mit Recht einwenden^
sie sei d.och keine normale, denn warum benehmen die Ge-
sunden sich anders ; warum wirken bei ihnen nicht alle längst
verflossenen Erregungen neuerdings mit, wenn eine neue Er-
regung aktuell ist? Es macht ja den Eindruck, als bheben bei
den Hysterischen alle alten Erlebnisse wirkungskräftig, auf
di« schon so oft, und zwar in stürmischer Weise reagiert
wurde, als seien diese Personen unfähig, psychische Reize zu
-erledigen. Richtig, meine Herren, etwas Derartiges muß man
tatsächlich als wahr annehmen. Vergessen Sie nicht, daß die
alten Erlebnisse der Hysterischen bei einem aktuellen An-
lasse als unbewußte Erinnerungen ihre Wirkung
äußern. Es scheint, als ob die Schwierigkeit der Erledigung,
die Unmöglichkeit, einen aktuellen Eindruck in eine macht-
lose Erinnerung zu verwandeln, gerade an dem Charakter
des psychisch Unbewußten hinge. Sie sehen, der Rest des
Problems ist wiederum Psychologie, und zwar Psychologie
von einer Art, für welche uns die Philosophen wenig Vor-
arbeit geleistet haben.
Auf diese Psychologie, die für unsere Bedürfnisse erst zu
erschaffen ist — auf die zukünftige Neurosenpsychologie —
muß^ ich Sie auch verweisen, wenn ich Ihnen zum Schlüsse
eine Mitteilung mache, von ^er Sie zunächst eine Störung
unseres beginnenden Verständnisses für die Ätiologie der
Hysterie besorgen werden. Ich muß es nänüich aussprechen,
daß die ätiologische Rolle der infantilen Sexualerlebnisse
nicht auf das Gebiet der Hysterie eingeschränkt ist, sondern
in gleicher Weise für die i^erkwürdige Neurose der Zwangs-
vorstellungen, ja vielleicht auch für die Formen der chroni-
schen Paranoia und andere funktionelle Psychosen Geltung
hat. Ich drücke mich hierbei minder bestimmt aus, weil die
Anzahl meiner .Analysen von Zwangsneurosen noch weit
hinter der von Hysterien zurücksteht; von Paranoia habe
179
ich gar nur eine einzige ausreicliende und einige fragmenta-
risciie Analysen zur Verfugung. Aber was ich da gefunden,
schien mir verläßhch und hat mich mit sicheren Erwartungen
für andere Fälle erfüllt. -Sie erinnern sich vielleicht, daß ich
für die Zusammenfassung von Hysterie und Zwangsvorstellungen
unter dem Titel „Abwehrneurosen" bereits früher ein-
getreten bin, ehe mir noch die Gemeinsamkeit der infantilen
Ätiologie bekannt war. Nun muß ich hinzufügen — was
man freilich nicht allgemein zu erwarten braucht — daß
meine Fälle von Zwangsvorstellung sämtlich einen Unter-
grund von hysterischen Symptomen, meist Sensationen und
Schmerzen, erkennen Keßen, die sich gerade auf die ältesten
Kindererlebnisse zurückleiteten. "Worin liegt nun die Ent-
scheidung, ob aus den unbewußt gebhebenen infantilen Sexual-
szenen später Hysterie oder Zwangsneurose oder gar Para-
noia hervorgehen soll, wenn sich die anderen pathogenen
Momente hinzugesellt haben? Diese Vermehrung unserer Er-
kenntnisse scheint ja dem ätiologischen "Wert dieser Szenen
Eintrag zu tun, indem sie die Spezifität der ätiologischen
Relation aufhebt.
Ich bin noch nicht in der Lage, meine Herren, eine
verläßHche Antwort auf diese Frage zu geben. Die Anzahl
meiner analysierten Fälle, die Mannigfaltigkeit der Bedingungen
in ihnen, ist nicht groß genug hiefür. Ich merke bis jetzt,
daß die Zwangsvorstellungen bei der Analyse regelmäßig als
verkappte und verwandelte Vorwürfe wegen sexueller
Aggressionen im Kindesalter zu entlarven sind,
daß sie darum bei Männern häufiger gefunden werden als bei
Frauen, und häufiger bei ihnen sich entwickeln als Hysterie.
Ich könnte daraus schließen, daß der Charakter der Infantil-
szenen, ob sie mit Lust oder nur passiv erlebt werden, einen
bestimmenden Einfluß auf die Auswahl der späteren Neurose
hat, aber ich möchte auch den Einfluß des Alters, in dem
diese Kinderaktionen vorfallen, und anderer Momente nicht
unterschätzen. Hierüber muß erst die Diskussion weiterer
Analysen Aufschluß geben ; wenn es aber klar sein wird, welche
Momente die Entscheidung zwischen den möglichen Formen
der Abwehmeuropsychosen beherrschen, wird es wiederum ein
12*
180
rein psychologisches Problem sein, kraft welches Mechanismus
die einzelne Form gestaltet wird.
Ich bin nun zum Ende meiner heutigen Erörterungen
gelangt. Auf "Widerspruch und Unglauben gefaßt, möchte ich
meiner Sache nur noch eine Befürwortung mit auf den "Weg
geben. Wie immer Sie meine Resultate aufnehmen mögen,
ich darf Sie bitten, dieselben nicht für die Frucht wohlfeiler
Spekulation zu halten. Sie ruhen auf mühsehger Einzel-
erforschung der Kranken, die bei den meisten Fällen hundert
Arbeitsstunden und darüber verweilt hat. "Wichtiger noch als
Ihre "Würdigung der Ergebnisse ist mir Ihre Aufmerksamkeit
für das Verfahren, dessen ich mich bedient habe, das neu-
artig, schwierig zu handhaben und doch unersetzHch für
wissenschaftliche und therapeutische Zwecke ist. Sie sehen
wohl ein, man kann den Ergebnissen, zu denen diese modi-
fizierte Breuer'sche Methode führt, nicht gut widersprechen,
wenn man die Methode beiseite läßt und sich nur der ge-
wohnten Methode des Krankenexamens bedient. Es wäre ähn-
lich, als wollte man die Funde der histologischen Technik
mit der Berufung auf die makroskopische Untersuchung wider-
legen. Indem die neue Forschungsmethode den Zugang zu
einem neuen Element des psychischen Geschehens, zu den
unbewußt gebliebenen, nach Breuer's Ausdruck „bewußt-
seinsunfähigen" Denkvorgängen breit eröffiiet, winkt sie
uns mit der Hoffnung eines neuen, besseren "Verständnisses
aller funktionellen psychischen Störungen. Ich kann es nicht
glauben, daß die Psychiatrie es noch lange aufschieben wird,
sich dieses neuen Weges zur Erkenntnis zu bedienen.
XI.
Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen. 0
Dirrcli eingehende Untersuchiingen bin ich. in den letzten
Jahren zur Erkenntnis gelangt, daß Momente aus dem Sexual-
leben die nächsten und praktisch bedeutsamsten Ursachen
eines jeden Falles von neurotischer Erkrankung darstellen.
Diese Lehre ist nicht völlig neu ; eine gewisse Bedeutung ist
den sexuellen Momenten in der Ätiologie der Neurosen von
jeher und von allen Autoren eingeräumt worden; für manche
Unterströmungen in der Medizin ist die Heilung von „Sexual-
beschwerden" und von „Nervenschwäche" immer in einem
einzigen Versprechen vereint gewesen. Es wird also nicht
schwer halten, dieser Lehre die Originalität zu bestreiten,
wenn man einmal darauf verzichtet haben wird, ihre Triftig-
keit zu leugnen.
Li einigen kürzeren Aufsätzen, die in den letzten Jahren
im „Neurologischen Centralblatt", in der „Revue neurologique"
und in der „Wiener kHnischen Rundschau" erschienen sind,
habe ich versucht, das Material und die Gesichtspunkte an-
zudeuten, welche der Lehre von der „sexuellen Ätiologie der
Neurosen" eine wissenschaftHche Stütze bieten. Eine ausführ-
liche Darstellung steht noch aus, und zwar wesentlich darum,
weil man bei der Bemühung, den als tatsächlich erkannten
Zusammenhang aufzuklären, zu immer neuen Problemen ge-
langt, für deren Lösung es an Vorarbeiten fehlt. Keineswegs
verfrüht erscheint mir aber der Versuch, das Interesse des
praktischen Arztes auf die von mir behaupteten Verhältnisse
zu lenken, damit er sich in Einem von der Richtigkeit dieser
Behauptungen und von den Vorteilen überzeuge, welche er
für sein ärzthches Handeln aus ihrer Erkenntnis ableiten kann.
^) Wiener klinische Rundschau, 1898, Nr. 2, 4, 5 und 7.
182
Ich weiß, daß es an Bemühungen nicht fehlen wird,
den Arzt durch ethisch gefärbte Argumente von der Ver-
folgung dieses Gregenstandes abzuhalten. Wer sich bei seinen
Kranken überzeugen wiU, ob ihre Neurosen wirkHch mit ihrem
Sexualleben zusammenhängen, der kann es nicht vermeiden,
sich bei ihnen nach ihrem Sexualleben zu erkundigen und
auf wahrheitsgetreue Aufklärung über dasselbe zu dringen.
Darin soll aber die G-efahr für den Einzelnen wie für die
Gesellschaft liegen. Der Arzt, höre ich sagen, hat kein E-echt,
sich in die sexuellen Geheimnisse seiner Patienten einzudrängen,
ihre Schamhaftigkeit — besonders der weiblichen Personen
— durch solches Examen gröbUch zu verletzen. Seine un-
geschickte Hand kann nur Familienglück zerstören, bei jugend-
lichen Personen die Unschuld beleidigen und der Autorität
der Eltern vorgreifen; bei Erwachsenen wird er unbequeme
Mitwisserschaft erwerben und sein eigenes Verhältnis zu seinen
Kranken zerstören. Es sei also seine ethische Pflicht, der
ganzen sexuellen Angelegenheit ferne zu bleiben.
Man darf wohl antworten: Das ist die Äußerung einer
des Arztes unwürdigen Prüderie, die mit schlechten Argumenten
ihre Blöße mangelhaft verdeckt. Wenn Momente aus dem
Sexualleben wirklich als Krankheitsursachen zu erkennen sind,
so fällt die Ermittlung und Besprechung dieser Momente eben
hiedurch ohne weiteres Bedenken in den Pflichtenkreis des
Arztes. Die Verletzung der Schamhaftigkeit, die er sich dabei
zuschulden kommen läßt, ist keine andere und keine ärgere,
sollte man meinen, als wenn er, um eine örtliche AfFektion
zu heilen, auf der Inspektion der weiblichen Genitalien be-
steht, zu welcher Forderung ihn die Schule selbst verpflichtet.
Von älteren Frauen, die ihre Jugendjahre in der Provinz
zugebracht haben, hört man oft noch erzählen, daß sie einst
durch übermäßige Genitalblutungen bis zur Erschöpfung
heruntergekommen waren, weil sie sich nicht entschließen
konnten, einem Arzte den AnbHck ihrer Nacktheit zu gestatten.
Der erziehliche Einfluß, der von den Ärzten auf das Publikum
geübt wird, hat es im Laufe einer Generation dahin gebracht,
daß bei unseren jungen Frauen solches Sträuben nur höchst
selten vorkommt. Wo es sich träfe, würde es als unverständige
183
Prüderie, als Scham am um-ecliten Orte verdammt werden.
Leben v/ir denn in der Türkei, würde der Ehemann fragen,
wo die kranke Frau dem Arzte nur den Arm durch ein Loch
in der Mauer zeigen darf?!
Es ist nicht richtig, daß das Examen und die Mit-
wisserschaft in sexuellen Dingen dem Arzte eine gefährliche
Machtfülle gegen seine Patienten verschafft. Derselbe Ein-
wand konnte sich mit mehr Berechtigung seinerzeit gegen
die Anwendung der Narkose richten, durch welche der Kranke
seines Bewußtseins und seiner "Willensbestimmung beraubt,
und es in die Hand des Arztes gelegt wird, ob und- wann er
sie wieder erlangen soll. Doch ist uns heute die Narkose
unentbehrlich geworden, weil sie dem ärztlichen Bestreben,
zu helfen, dienlich ist wie nichts anderes, und der Arzt hat
die Verantwortlichkeit für die Narkose unter seine anderen
ernsten Verpflichtungen aufgenommen.
Der Arzt kann in allen Fällen Schaden stiften, wenn
er ungeschickt oder gewissenlos ist, in anderen Fällen nicht
mehr und nicht minder, als bei der Forschung nach dem
Sexualleben seiner Patienten. Freüich, wer in einem schätzens-
werten Ansatz zur Selbsterkenntnis sich nicht das Takt-
gefühl, den Ernst und die Verschwiegenheit zutraut, deren
er' für das Examen der Neurotiker bedarf, wer von sich weiß,
daß Enthüllungen aus dem Sexualleben lüsternen Kitzel an-
statt wissenschaftUchen Interesses bei ihm hervorrufen werden,
der tut recht daran, dem Thema der Ätiologie der Neurosen
fernzubleiben. Wir verlangen nur noch, daß er sich auch von
der Behandlung der Nervösen fernhalte.
Es ist auch nicht richtig, daß die Kranken einer Er-
forschung ihres Sexuallebens unüberwindliche Hindemisse ent-
gegensetzen. Erwachsene pflegen sich nach kurzem Zögern
mit den "Worten zurechtzurücken: Ich bin doch beim Arzte;
dem darf man alles sagen. Zahlreiche Frauen, die an der
Aufgabe, ihre sexuellen G-efühle zu verbergen, schwer genug
durchs Leben zu tragen haben, finden sich erleichtert, wenn
sie beim Arzte merken, daß hier keine andere Rücksicht
über die ihrer Heilung gesetzt ist, und danken es ihm, daß
sie sich auch einmal in sexuellen Dingen rein menschlich ge-
184
berden dürfen. Eine dunkle Kenntnis der vorwaltenden Be-
deutung sexueller Momente für die Entstehung der Nervo-
sität, wie ich sie für die "Wissenschaft neu zu gewinnen
suche, scheint im Bewußtsein der Laien überhaupt nie unter-
gegangen zu sein. Wie oft erlebt man Szenen wie die fol-
gende: Man hat ein Ehepaar vor sich, von dem ein Teil
an Neurose leidet. Nach vielen Einleitungen und Entschul-
digungen, daß es für den Arzt, der in solchen Fällen helfen
will, konventionelle Schranken nicht geben darf u. dgl., teilt
man den Beiden mit, man vermute, der Grund der Krank-
heit liege in der unnatürlichen und schädlichen Art des
sexuellen Verkehres, die sie seit der letzten Entbindung der
Frau gewählt haben dürften. Die Arzte pflegen sich um diese
Verhältnisse in der Regel nicht zu kümmern, allein das sei
nur verwerflich, wenn auch die Kranken nicht gerne davon
hören usw. Dann stößt der eine Teil den anderen an und
sagt : Siehst du, ich habe es dir gleich gesagt, das wird mich
krank machen. Und der andere antwortet: Ich hab' mir's ja
auch gedacht, aber was soll man tun?
Unter gewissen anderen Umständen, etwa bei jungen
Mädchen, die ja systematisch zur Verhehlung ihres Sexual-
lebens erzogen werden, wird man sich mit einem recht be-
scheidenen Maße von aufrichtigem Entgegenkommen begnügen
müssen. Es fällt aber hier ins Gewicht, daß der kundige Arzt
seinen Kranken nicht unvorbereitet entgegentritt und in der
Regel nicht Aufklärung, sondern bloß Bestätigung seiner Ver-
mutungen von ihnen zu fordern hat. "Wer meinen Anweisungen
folgen will, wie man sich die Morphologie der Neurosen zu-
rechtzulegen und ins Ätiologische zu übersetzen hat, dem
brauchen die Kranken nur wenig Geständnisse mehr zu
machen. In der nur allzu bereitwillig gegebenen Schilderung
ihrer Krankheitssymptome haben sie ihm meist die Kenntnis
der dahinter verborgenen sexuellen Faktoren mitverraten.
Es wäre von großem Vorteil, wenn die Kranken besser
wüßten, mit welcher Sicherheit dem Arzte die Deutung ihrer
neurotischen Beschwerden und der Rückschluß von ihnen auf
die wirksame sexuelle Ätiologie nunmehr möglich ist. Es wäre
sicherlich ein Antrieb für sie, auf die Heimlichkeit von dem
185
Allgenblicke an zu verzichten, da sie sich entschlossen haben,
für ihr Leiden um Hilfe zu bitten. Wir haben aber alle ein
Interesse daran, daß auch in sexuellen Dingen ein höherer
Grad von Aufrichtigkeit unter den Menschen Pflicht werde,
als er bis jetzt verlangt wird. Die sexuelle Sittlichkeit kann
dabei nur gewinnen. Gegenwärtig sind wir in Sachen der
SexuaHtät samt und sonders Heuchler, Kranke wie Gesunde.
Es wird uns nur zugute kommen, wenn im Gefolge der all-
gemeinen Aufrichtigkeit ein gewisses Maß von Duldung in
sexuellen Dingen zur Geltung gelangt.
Der Arzt hat gewöhnlich ein sehr geringes Interesse an
manchen der Fragen, welche unter den Neuropathologen in
betreff der Neurosen diskutiert werden, etwa ob man Hysterie
und Neurasthenie strenge zu sondern berechtigt ist, ob man
eine Hystero-Neurasthenie daneben unterscheiden darf, ob
man das ZwangsvorsteUen zur Neurasthenie rechnen oder als
besondere Neurose anerkennen soll u. dgl. m. Wirklich
dürfen auch solche Distinktionen dem Arzte gleichgiltig sein,
so lange sich an die getroffene Entscheidung weiter nichts
knüpft, keine tiefere Einsicht und kein Fingerzeig für die
Therapie, so lange der Kranke in aUen Fällen in die Wasser-
heilanstalt geschickt wird, oder zu hören bekommt — daß ihm
nichts fehlt. Anders aber, wenn man unsere Gesichtspunkte
über die ursächlichen Beziehungen zwischen der Sexualität
und den Neurosen annimmt. Dann erwacht ein neues Interesse
für die Symptomatologie der einzelnen neurotischen Fälle, und
es gelangt zur praktischen Wichtigkeit, daß man das kom-
plizierte Bild richtig in seine Komponenten zu zerlegen und
diese richtig zu benennen verstehe. Die Morphologie der
Neurosen ist nämlich mit geringer Mühe in Ätiologie zu
übersetzen, und aus der Erkenntnis dieser leiten sich, wie
selbstverständlich, neue therapeutische Anweisungen ab.
Die bedeutsame Entscheidung nun, di« jedesmal durch
sorgfältige Würdigung der Symptome sicher getroffen werden
kann, geht dahin, ob der Fall die Charaktere einer Neurasthenie
oder einer Psychoneurose (Hysterie, ZwangsvorsteUen) an
sich trägt. (Es kommen ungemein häufig MischfäUe vor, in
denen Zeichen der Neurasthenie mit denen einer Psycho-
186
neurose vereinigt sind ; wir wollen aber deren Würdigung
für später aufsparen.) Nur bei den Neurasthenien hat das
Examen der Kranken den Erfolg, die ätiologischen Momente
aus dem Sexualleben aufzudecken; dieselben sind dem Kranken,
wie natürlich, bekannt und gehören der Gegenwart, richtiger
der Lebenszeit seit der Geschlechtsreife an (wenngleich auch
diese Abgrenzung nicht alle Fälle einzuschheßen gestattet).
Bei den Psychoneurosen leistet ein solches Examen wenig;
es verschafft uns etwa die Kenntnis von Momenten, die man
als Veranlassungen anerkennen muß, und die mit dem Sexual-
leben zusammenhängen oder auch nicht; im ersteren Falle
zeigen sie sich dann nicht von anderer Art als die ätiologischen
Momente der Neurasthenie, lassen also eine spezifische Be-
ziehung zur Verursachung der Psychoneurose durchaus ver-
missen. Und doch liegt auch die Ätiologie der Psychoneurosen
in jedem Falle wiederum im Sexuellen. Auf einem merk-
würdigen Umwege, von dem später die Rede sein wird, kann
man zur Kenntnis dieser Ätiologie gelangen und begreiflich
finden, daß der Kranke uns von ihr nichts zu sagen wußte.
Die Ereignisse und Einwirkungen nämlich, welche jeder
Psychoneurose zugrunde liegen, gehören nicht der Aktualität
an, sondern einer längst vergangenen, sozusagen prähistorischen
Lebensepoche, der frühen Kindheit, und darum sind sie auch
dem Kranken nicht bekannt. Er hat sie — in einem bestimmten
Sinne nur — vergessen.
Sexuelle Ätiologie also in allen Fällen von Neurose;
aber bei den Neurasthenien solche von aktueller Art, bei den
Psychoneurosen Momente infantiler Natur; dies ist der erste
große Gegensatz in der Ätiologie der Neurosen. Ein zweiter
ergibt sich, wenn man einem Unterschiede in der Symptomatik
der Neurasthenie selbst Rechnung trägt. Hier finden sich
einerseits Fälle, in denen sich gewisse für die Neurasthenie
charakteristische Beschwerden in den Vordergrund drängen:
Der Kopfdruck, die Ermüdbarkeit, die Dyspepsie, die Stuhl-
verstopfung, die Spinalirritation usf. In anderen Fällen treten
diese Zeichen zurück, und das Krankheitsbüd setzt sich aus
anderen Symptomen zusammen, die sämtlich eine Beziehung
zum Kernsymptom, der „Angst", erkennen lassen (freie
187
Ängstlichkeit, Unruhe, Er wartungsangst, komplete, rudimentäre
und supplementäre Angstanfälle, Iqkomotorischer Schwindel,
Agoraphobie, Schlaflosigkeit, Schmerzsteigerung, usw.) Ich
habe dem ersten Typus von Neurasthenie seinen Namen
belassen, den zweiten aber als „Angstneurose" ausgezeichnet,
und diese Scheidimg an anderem Orte begründet, woselbst
auch der Tatsache des in der Eegel gemeinsamen Vorkommens
beider Neurosen Rechnung getragen wird. Für unsere Zwecke
genügt die Hervorhebung, daß der symptomatischen Ver-
schiedenheit beider Formen ein Unterschied der Ätiologie
parallel geht. Die Neurasthenie läßt sich jedesmal auf einen
Zustand des Nervensystems zurückführen, wie er durch
exzessive Masturbation erworben wird oder durch gehäufte
Pollutionen spontan entsteht ; bei der Angstneurose findet man
regelmäßig sexuelle Einflüsse, denen das Moment der Zurück-
haltung oder der unvollkommenen Befriedigung gemeinsam
ist, wie: Coitus interruptus, Abstinenz bei lebhafter Libido,
sogenannte frustrane Erregung u. dgl. In dem kleinen Auf-
satze, welcher die Angstneurose einzuführen bemüht war,
habe ich die Formel ausgesprochen, die Angst sei überhaupt
eine von ihrer Verwendung abgelenkte Libido.
"Wo in einem FaUe Symptome der Neurasthenie und
der Angstneurose vereinigt sind, also ein MischfaU vorliegt,
da hält man sich an den empirisch gefundenen Satz, daß einer
Vermengung von Neurosen ein Zusammenwirken von mehreren
ätiologischen Momenten entspricht, und wird seine Erwartung
jedesmal bestätigt finden. Wie oft diese ätiologischen Momente
durch den Zusammenhang der sexuellen Vorgänge organisch
miteinander verknüpft sind, z. B. Coitus interruptus oder
ungenügende Potenz des Mannes mit der Masturbation, dies
wäre einer Ausführung im einzelnen wohl würdig.
Wenn man den vorliegenden Fall von neurasthenischer
Neurose sicher diagnostiziert und dessen Symptome richtig
gruppiert hat, so darf man sich die Symptomatik in Ätiologie
übersetzen und dann von den Kranken dreist die Bekräftigung
seiner Vermutungen verlangen. Anfänglicher "Widerspruch darf
einen nicht irre machen ; man besteht fest auf dem, was man
erschlossen hat, und besiegt endhch jeden Widerstand dadurch.
188
daß man die Unerschütterlichkeit seiner tjberzeugung betont.
Man erfährt dabei allerlei aus dem Sexualleben der Menschen,
womit sich ein nützliches und lehrreiches Buch füllen ließe,
lernt es auch nach jeder Richtung hin bedauern, daß die
Sexualwissenschaft heutzutage noch als unehrlich gilt. Da
kleinere Abweichungen von einer normalen vita sexualis viel
zu häufig sind, als daß man ihrer Auffindung Wert beilegen
dürfte, wird man bei seinen neiu-otisch Kranken nur schwere
und lange Zeit fortgesetzte Abnormität des Sexuallebens als
Aufklärung gelten lassen; daß man aber durch sein Drängen
einen Kranken, der psychisch normal ist, veranlassen könnte,
sich selbst fälschlich sexueller Vergehen zu bezichtigen, das
darf man getrost als eine imaginäre Gefahr vernachlässigen.
Verfährt man in dieser Weise mit seinen Kranken, so
erwirbt man sich auch die Überzeugung, daß es für die
Lehre von der sexuellen Ätiologie der Neurasthenie negative
Fälle nicht gibt. Bei mir wenigstens ist diese Überzeugung
so sicher geworden, daß ich auch den negativen Ausfall des
Examens diagnostisch verwertet habe, nämlich um mir zu
sagen, daß solche Fälle keine Neurasthenie sein können. So
kam ich mehrmals dazu, eine progressive Paralyse anstatt einer
Neurasthenie anzunehmen, weil es mir nicht gelungen war,
die nach meiner Lehre erforderliche ausgiebige Masturbation
nachzuweisen, und der Verlauf dieser Fälle gab mir nach-
träglich Recht. Ein andermal, wo der Kranke, bei Abwesenheit
deutlicher organischer Veränderungen, über Kopfdruck, Kopf-
schmerzen und Dyspepsie klagte und meinen sexuellen Ver-
dächtigungen mit Aufrichtigkeit und überlegener Sicherheit
begegnete, fiel es mir eiu, eine latente Eiterung in einer der
Nebenhöhlen der Nase zu vermuten, und ein spezialistisch
geschulter Kollege bestätigte diesen aus dem sexuell negativen
Examen gezogenen Schluß, indem er den Kranken durch
Entleerung von foetidem Eiter aus einer Highmorshöhle von
seinen Beschwerden befreite.
Der Anschein, als ob es dennoch „negative Fälle" gäbe,
kann auch auf andere Weise entstehen. Das Examen weist
mitunter ein normales Sexualleben bei Personen nach, deren
Neurose einer Neurasthenie oder einer Angstneurose für ober-
189
flächliche Beobachtung wirklich genug ähnlich sieht. Tiefer
eindringende Untersuchung deckt aber dann regelmäßig den
wahren Sachverhalt auf. Hinter solchen Fällen, die man für
Neurasthenie gehalten hat, steckt eine Psychoneurose, eine
Hysterie oder Zwangsneurose. Die Hysterie insbesondere, die
so viele organische Affektionen nachahmt, kann mit Leichtigkeit
eine der aktuellen Neurosen vortäuschen, indem sie deren
Symptome zu hysterischen erhebt. Solche Hysterien in der
Form der Neurasthenie sind nicht einmal sehr selten. Es ist
aber keine wohlfeile Auskunft, wenn man für die Neurasthenien
mit sexuell negativer Auskunft auf die Psychoneurosen re-
kurriert ; man kann den Nachweis hiefür führen auf j enem
WegBj der allein eine Hysterie untrügUch entlarvt, auf dem
Wege der später zu erwähnenden Psychoanalyse.
Vielleicht wird nun Mancher, der gerne bereit ist, der
sexuellen Ätiologie bei seinen neurasthenisch Kranken
Rechnung zu tragen, es doch als eine Einseitigkeit rügen,
wenn er nicht aufgefordert wird, auch den anderen Momenten,
die als Ursachen der Neurasthenie bei den Autoren allgemein
erwähnt sind, seine Aufmerksamkeit zu schenken. Es fällt
mir nun nicht ein, die sexuelle Ätiologie bei den Neurosen
jeder anderen zu substituieren, so daß ich deren "Wirksamkeit
für aufgehoben erklären würde. Das wäre ein Mißverständnis.
Ich meine vielmehr, zu all den bekannten und wahrscheinlich
mit Recht anerkannten ätiologischen Momenten der Autoren
für die Entstehung der Neurasthenie kommen die sexuellen,
die bisher nicht hinreichend gewürdigt worden sind, noch
hinzu. Diese verdienen aber, nach meiner Schätzung, daß man
ihnen in der ätiologischen Reihe eine besondere Stellung an-
weise. Denn sie aUein werden in keinem Falle von Neu-
rasthenie vermißt, sie allein vermögen es, die Neurose ohne
weitere Beihilfe zu erzeugen, so daß diese anderen Momente
zur RoUe einer Hilfs- und Supplementärätiologie herabgedrückt
scheinen ; sie allein gestatten dem Arzte, sichere Beziehungen
zwischen ihrer Mannigfaltigkeit und der Vielheit der Krank-
heitsbilder zu erkennen. Wenn ich dagegen die Fälle zu-
sammenstelle, die angeblich durch Überarbeitung, Gemüts-
aufregung, nach einem Typhus u. dgl. neurasthenisch ge-
190
worden sind, so zeigen sie mir in den Symptomen nichts
Gemeinsames, icli wüßte aus der Art der Ätiologie keine
Erwartung in betreff der Symptome zu bilden, wie umgekelirt
aus dem Krankheitsbilde nicht auf die einwirkende Ätiologie
zu .schließen.
Die sexuellen Ursachen sind auch jene, welche dem
Arzte \am ehesten einen Anhalt für sein therapeutisches
Wirken bieten. Die Heredität ist unzweifelhaft ein bedeut-
samer Faktor, wo sie sich findet ; sie gestattet, daß ein großer
Krankheitseffekt zustande kommt, wo sich sonst nur ein sehr
geringer ergeben hätte. Allein die Heredität ist der Beein-
flussung des Arztes unzugänglich; ein jeder bringt seine
hereditären Krankheitsneigungen mit sich ; wir können nichts
mehr daran ändern. Auch dürfen wir nicht vergessen, daß
wir gerade in der Ätiologie der Neurasthenien der Heredität
den ersten Rang notwendig versagen müssen. Die Neurasthenie
(in beiden Formen) gehört zu den Affektionen, die jeder
erbHch Unbelastete bequem erwerben kann. "Wäre es anders,
*o wäre ja die riesige Zunahme der Neurasthenie undenkbar,
über welche alle Autoren klagen. Was die Zivilisation betrifft,
zu deren Sündem-egister man oft die Verursachung der Neu-
rasthenie zu schreiben pflegt, so mögen auch hierin die
Autoren Recht haben (wiewohl wahrscheinlich auf ganz anderen
Wegen, als sie vermeinen) ; aber der Zustand unserer Zivih-
sation ist gleichfalls für den Einzelnen etwas UnabänderUches ;
übrigens erklärt dieses Moment bei seiner AUgemeingiltigkeit
für die Mitglieder derselben Gesellschaft niemals die Tatsache
der Auswahl bei der Erkrankung. Der nicht neurasthenis.che
Arzt steht ja unter demselben Einflüsse der angeblich unheil-
vollen Zivilisation wie der neur asthenische Kranke, den er
behandeln soll. — Die Bedeutung erschöpfender Einflüsse
bleibt mit der oben gegebenen Einschränkung bestehen. Aber
mit dem Momente der „Überarbeitung", das die Ärzte so
gerne ihren Patienten als Ursache ihrer Neurose gelten lassen,
wird übermäßig viel Mißbrauch getrieben. Es ist ganz richtig,
daß jeder, der sich durch sexuelle Schädhchkeiten zur Neu-
rasthenie disponiert hat, die intellektuelle Arbeit und die
psychischen Mühen des Lebens schlecht verträgt, aber niemals
191
vnid jemand durch Arbeit oder durch Aufregung allein
neurotisch. Geistige Arbeit ist eher ein Schutzmittel gegen
neurasthenische Erkrankung; gerade die ausdauerndsten
intellektuellen Arbeiter bleiben von der Neurasthenie ver-
schont, und was die Neurastheniker als „krankmachende
Überarbeitung" anklagen, das verdient in der Regel weder
der Qualität noch dem Ausmaße nach als „geistige Arbeit"
anerkannt zu werden. Die Arzte werden sich wohl gewöhnen
müssen, dem Beamten, der sich in seinem Bureau „über-
angestrengt", oder der Hausfrau, der iln: Hauswesen zu schwer
geworden ist, die Aufklärung zu geben, daß sie nicht erkrankt
sind, weil sie versucht haben, ihre für ein ziviHsiertes Gehirn
eigenthch leichten Pflichten zu erfüllen, sondern weil sie
während dessen ihr Sexualleben gröblich vernachlässigt und
verdorben haben.
Nur die sexuelle Ätiologie ermöghcht uns ferner das
Verständnis aller Einzelheiten der Krankengeschichten bei
Neurasthenikern, der rätselhaften Besserungen mitten im
Krankheitsverlaufe und der ebenso unbegreiflichen Verschlim-
merungen, die von Ärzten und Kranken dann gewöhnlich mit
der eingeschlagenen Therapie in Beziehung gebracht werden.
In meiner mehr als 200 Fälle umfassenden Sammlung ist
z. B. die Geschichte eines Mannes verzeichnet, der, nachdem
ihm die hausärztHche Behandlung nichts genützt hatte, zu
Pfarrer Kneipp ging und von dieser Kur an ein Jahr von
außerordentlicher Besserung mitten in seinen Leiden zu ver-
zeichnen hatte. Als aber ein Jahr später die Beschwerden
sich wieder verstärkten und er neuerdings Hilfe in "Wöris-
hofen suchte, blieb der Erfolg dieser zweiten Kur aus. Ein
Blick in die Familienchronik dieses Patienten löst das zwei-
fache Rätsel auf: 6^/2 Monate nach der ersten Rückkehr aus
Wörishofen wurde dem Kranken von seiner Frau ein Kind
geboren ; er hatte sie also zu Beginn einer noch unerkannten
Gravidität verlassen und durfte nach seiner Wiederkunft natür-
hchen Verkehr mit ihr pflegen. Als nach Ablauf dieser für ihn
heilsamen Zeit seine Neurose durch neuerlichen Coitus inter-
ruptus wieder angefacht war, mußte sich die zweite Kur erfolglos
erweisen, da jene oben erwähnte Gravidität die letzte bUeb.
192
Ein ähnlicher Fall, in dem gleichfalls eine unerwartete
Einwirkung der Therapie zu erklären war, gestaltete sich noch
lehrreicher, indem er eine rätselhafte Abwechslung in den
Symptomen der Neurose enthielt. Ein jugendlicher Nervöser
war von seinem Arzte in eine wohlgeleitete Wasserheilanstalt
wegen typischer Neurasthenie geschickt worden. Dort besserte
sich sein Zustand anfänglich immer mehr, so daß aUe Aussicht
vorhanden war, den Patienten als dankbaren Anhänger der
Hydrotherapie zu entlassen. Da trat in der sechsten Woche
ein Umschlag ein; der KJranke „vertrug das Wasser nicht
mehr", wurde immer nervöser und verließ endlich nach zwei
weiteren Wochen ungeheilt und unzufrieden die Anstalt. Als
er sich bei mir über diesen Trug der Therapie beklagte, er-
kundigte ich mich ein wenig nach den Symptomen, die ihn
mitten in der Kur befallen hatten. Merkwürdigerweise hatte
sich darin ein Wandel vollzogen. Er war mit Kopfdruck,
Müdigkeit und Dyspepsie in die Anstalt gegangen; was ihn
in der Behandlung gestört hatte, waren: Aufgeregtheit, An-
fälle von Beklemmung, Schwindel im Gehen und Schlaf-
störung gewesen. Nun konnte ich den Kranken sagen: „Sie
tun der Hydrotherapie Unrecht. Sie sind, wie Sie selbst sehr
wohl gewußt haben, infolge von lange fortgesetzter Mastur-
bation erkrankt. In der Anstalt haben Sie die Art der Be-
friedigung aufgegeben und sich darum rasch erholt. Als Sie
sich aber wohl fühlten, haben Sie unklugerweise Beziehungen
zu einer Dame, nehmen wir an, einer Mitpatientin, gesucht,
die nur zur Aufregung ohne normale Befriedigung führen
konnten. Die schönen Spaziergänge in der Nähe der Anstalt
gaben Ihnen gute G-elegenheit dazu. An diesem Verhältnisse
sind Sie von neuem erkrankt, nicht an einer plötzlich auf-
getretenen Intoleranz gegen die Hydrotherapie. Aus Ihrem
gegenwärtigen Befinden schließe ich übrigens, daß Sie das-
selbe Verhältnis auch in der Stadt fortsetzen." Ich kann ver-
sichern, daß der Kranke mich dann Punkt für Punkt be-
stätigt hat.
Die gegenwärtige Therapie der Neurasthenie, wie sie
wohl am günstigsten in den Wasserheilanstalten geübt wird,
setzt sich das Ziel, die Besserung des nervösen Zustandes
193
durch zwei Momente : Schonung und Stärkung des Patienten
zu erreichen. Ich wüßte nichts anderes gegen diese Therapie
vorzubringen, als daß sie den sexuellen Bedingungen des
Falles keine Rechnung trägt. Nach meiner Erfahrung ist es
höchst wünschenswert, daß die ärztHchen Leiter solcher
Anstalten sich genügend klar machen, daß sie es nicht mit
Opfern der Zivilisation oder der Heredität, sondern — sit
venia verbo — mit Sexualitätskrüppeln zu tun haben. Sie
würden sich dann einerseits ihre Erfolge wie ilu'e Mißerfolge
leichter erklären, andererseits aber neue Erfolge erzielen, die
bis jetzt dem Zufalle oder dem unbeeinflußten Verhalten des
Kranken anheimgegeben sind. Wenn man eine ängstlich-
neurasthenische Frau von ihrem Hause weg in die Wasser-
heilanstalt schickt, sie dort, aller Pflichten ledig, baden,
turnen und sich reichlich ernähren läßt, so wird man gewiß
geneigt sein, die oft glänzende Besserung, die so in einigen
Wochen oder Monaten erreicht wird, auf Rechnung der Ruhe,
welche die Kranke genossen hat, und der Stärkung, die ihr
die Hydrotherapie gebracht hat, zu setzen. Das mag so sein ;
man übersieht aber dabei, daß mit der Entfernung vom Hause
für die Patientin auch eine Unterbrechung des ehelichen
Verkehres gegeben ist, und daß erst diese zeitweilige Aus-
schaltung der krankmachenden Ursache ihr die Möglichkeit
gibt, sich bei zweckmäßiger Therapie zu erholen. Die Ver-
nachlässigung dieses ätiologischen Gesichtspunktes rächt sich
nachträglich, indem der scheinbar so befriedigende Heilerfolg
sich als sehr flüchtig erweist. Kurze Zeit, nachdem der Patient
in seine Lebensverhältnisse zurückgekehrt ist, stellen sich
die Symptome des Leidens wieder ein und nötigen ihn, ent-
weder immer von Zeit zu Zeit einen Teil seiner Existenz
unproduktiv in solchen Anstalten zu verbringen, oder ver-
anlassen ihn, seine Hoffnungen auf Heilung anderswohin zu
richten. Es ist also klar, daß die therapeutischen Aufgaben
bei der Nem-asthenie nicht in den Wasserheilanstalten, sondern
innerhalb der Lebensverhältnisse der Kranken in Angriff zu
nehmen sind.
Bei anderen Fällen kann unsere ätiologische Lehre dem
Anstaltsarzte Aufklärung über die Quelle von Mißerfolgen
Freud, Neurosenlehje. 13
194
geben, die sich noch in der Anstalt selbst ereignen, und ihm
nahe legen, wie solche zu vermeiden sind. Die Masturbation
ist bei erwachsenen Mädchen und reifen Männern weit häu-
figer, als man anzunehmen pflegt, und wirkt als Schädlichkeit
nicht nur durch die Erzeugung der neurasthenischen Symptome,
sondern auch, indem sie die Kranken unter dem Drucke eines
als schändlich empfundenen Geheimnisses erhält. Der Arzt, der
nicht gewohnt ist, Neurasthenie in Masturbation zu übersetzen,
gibt sich für den Krankheitszustand Rechenschaft, indem er
sich auf ein Schlagwort, wie Anämie, Unterernährung, Über-
arbeitung etc. bezieht, und erwartet nun bei Anwendung der
dagegen ausgearbeiteten Therapie die Heilung seines Kranken.
Zu seinem Erstaunen wechseln aber beim Kranken Zeiten von
Besserung mit anderen ab, in denen unter schwerer Ver-
stimmung alle Symptome sich verschlimmern. Der Ausgang
einer solchen Behandlung ist im allgemeinen zweifelhaft.
Wüßte der Arzt, daß der Kranke die ganze Zeit über mit
seiner sexuellen Angewöhnung kämpft, daß er in Verzweif-
lung verfallen ist, weil er ihr wieder einmal unterliegen
mußte, verstünde er, dem Kranken sein Geheimnis abzu-
nehmen, dessen Schwere in seinen Augen zu entwerten, und
ihn bei seinem Abgewöhnungskampfe zu unterstützen, so
würde der Erfolg der therapeutischen Bemühung hiedurch
wohl gesichert.
Die Abgewöhnung der Masturbation ist nur eine der
neuen therapeutischen Aufgaben, welche dem Arzte aus der
Berücksichtigung der sexuellen Ätiologie erwachsen, und diese
Aufgabe gerade scheint wie jede andere Abgewöhnung nur
in einer Krankenanstalt und unter beständiger Aufsicht des
Arztes lösbar. Sich selbst überlassen, pflegt der Masturbant
bei jeder verstimmenden Einwirkung auf die ihm bequeme
Befriedigung zurückzugreifen. Die ärztliche Behandlung kann
sich hier kein anderes Ziel stecken, als den wieder gekräf-
tigten Neurastheniker dem normalen Geschlechtsverkehre zu-
zuführen, denn das einmal geweckte und durch eine geraume
Zeit befriedigte Sexualbedürfnis läßt sich nicht mehr zum
Schweigen bringen, sondern bloß auf ein anderes Objekt ver-
schieben. Eine ganz analoge Bemerkung gilt übrigens auch
195
für alle anderen Abstinenzkuren, die so lange nur scheinbar
gelingen werden, so lange sich der Arzt damit begnügt, dem
Kranken das narkotische Mittel zu entziehen, ohne sich um
die Quelle zu kümmern, aus welcher das imperative Bedürfnis
nach einem solchen entspringt. „Gewöhnung" ist eine bloße
Redensart, ohne aufklärenden Wert; nicht jedermann, der eine
Zeitlang Morphin, Kokain, Chloralhydrat u. dgl. zu nehmen
Gelegenheit hat, erwirbt hiedurch die „Sucht" nach diesen
Dingen. Genauere Untersuchung weist in der Regel nach,
daß diese Narcotica zum Ersätze — direkt oder auf Um-
wegen — des mangelnden Sexualgenusses bestimmt sind, und
wo sich normales Sexualleben nicht mehr herstellen läßt, da
darf man den Rückfall des Entwöhnten mit Sicherheit erwarten.
Die andere Aufgabe wird dem Arzte durch die Ätiologie
der Angstneurose gestellt und besteht darin, den Kranken
zum Verlassen aller schädhchen Arten des Sexualverkehres
und zur Aufnahme normaler sexueller Beziehungen zu ver-
anlassen. Wie begreiflich, fäUt diese Pflicht vor allem dem
ärztHchen Vertrauensmanne des Kranken, dem Hausarzte,
zu, der seine Klienten schwer schädigt, wenn er sich zu
vornehm hält, um in diese Sphäre einzugreifen.
Da es sich hiebei zumeist um Ehepaare handelt, stößt
das Bemühen des Arztes alsbald mit den malthusianischen
Tendenzen, die Anzahl der Konzeptionen in der Ehe einzu-
schränken, zusammen. Es scheint mir unzweifelhaft, daß
diese Vorsätze in unserem Mittelstande immer mehr an Aus-
breitung gewinnen; ich bin Ehepaaren begegnet, die schon
nach dem ersten Kinde die Verhütung der Konzeption durch-
zuführen begannen, und anderen, deren sexueller Verkehr
von der Hochzeitsnacht an diesem Vorsatze Rechnung tragen
wollte. Das Problem des Malthusianismus ist weitläufig und
kompHziert; ich habe nicht die Absicht, es hier erschöpfend
zu behandeln, wie es für die Therapie der Neurosen eigent-
hch erforderlich wäre. Ich gedenke nur zu erörtern, welche
Stellung der Arzt, der die sexuelle Ätiologie der Neurosen
anerkennt, zu diesem Problem am besten einnehmen kann.
Das Verkehrteste ist es offenbar, wenn er dasselbe —
unter welchen Vorwänden immer — ignorieren will. Was
13*
196
notwendig ist, kann nicht unter meiner ärztlichen Würde
sein, und es ist notwendig, einem Ehepaare, das an die Ein-
schränkung der Kinderzeugung denkt, mit ärztlichem Rate
beizustehen, wenn man nicht einen Teil oder Beide der
Neurose aussetzen will. Es läßt sich nicht bestreiten, daß
malthusianische Vorkehrungen irgend einmal in einer Ehe zur
Notwendigkeit werden, und theoretisch wäre es einer der
größten Triumphe der Menschheit, eine der fühlbarsten Be-
freiungen vom Naturzwange, dem unser G-eschlecht unter-
worfen ist, wenn es gelänge, den verantwortlichen Akt der
Kindererzeugung zu einer willkürlichen und beabsichtigten
Handlung zu erheben, und ihn von der Verquickung mit der
notwendigen Befriedigung eines natürHchen Bedürfnisses los-
zulösen.
Der einsichtsvolle Arzt wird es also auf sich nehmen,
zu entscheiden, unter welchen Verhältnissen die Anwendung
von Maßregeln zur Verhütung der Konzeption gerecht-
fertigt ist, und wird die schädlichen unter diesen Hilfsmitteln
von den harmlosen zu sondern haben. Schädlich ist alles,
was das Zustandekommen der Befriedigung hindert ; bekannt-
lich besitzen wir aber derzeit kein Schutzmittel gegen die
Konzeption, welches allen berechtigten Anforderungen genügen
würde, d. h. sicher, bequem ist, der Lustempfindung beim
Koitus nicht Eintrag tut und das Feingefühl der Frau nicht
verletzt. Hier ist den Ärzten eine praktische Aufgabe gestellt,
an deren Lösung sie ihre Kräfte dankbringend setzen können.
"Wer jene Lücke in unserer ärztlichen Technik ausfüllt, der
hat Unzähligen den Lebensgenuß erhalten und die Gesund-
heit bewahrt, freüich dabei auch eine tief einschneidende Ver-
änderung in unseren gesellschaftlichen Zuständen angebahnt.
Büemit sind die Anregungen nicht erschöpft, die aus der
Erkenntnis einer sexuellen Ätiologie der Nem^osen fließen.
Die Hauptleistung, die uns zugunsten der Neurastheniker
möglich ist, fäUt in die Prophylaxis. Wenn die Masturbation
die Ursache der Neurasthenie in der Jugend ist und späterhin
durch die von ihr geschaffene Verminderung der Potenz auch
zur ätiologischen Bedeutung für die Angstneurose gelangt,
so ist die Verhütung der Masturbation bei beiden Geschlechtern
197
eine Aufgabe, die mehr Beachtung verdient, als sie bis jetzt
gefunden hat. Überdenkt man alle die feineren und gröberen
Schädigungen, die von der angeblich immer mehr um sich
greifenden Neurasthenie ausgehen, so erkennt man geradezu ein
Volksinteresse darin, daß die Männer mit voller Potenz
in den Sexualverkehr eintreten. In Sachen der Pro-
phylaxis aber ist der einzelne ziemlich ohnmächtig. Die Ge-
samtheit muß ein Interesse an dem Gegenstande gewinnen
und ihi'e Zustimmung zur Schöpfung von gemeingiltigen Ein-
richtungen geben. Vorläufig sind wir von einem solchen Zu-
stande, der Abhilfe versprechen würde, noch weit entfernt,
und darum kann man mit Recht auch unsere^ Zivihsation für
die Verbreitung der Neurasthenie verantwortlich machen. Es
müßte sich vieles ändern. Der Widerstand einer Generation
von Ärzten muß gebrochen werden, die sich nicht mehr an ihre
eigene Jugend erinnern können; der Hochmut der Väter ist zu
überwinden, die vor ihren Kindern nicht gerne auf das Niveau
der Menschlichkeit herabsteigen wollen, die unverständige
Verschämtheit der Mütter zu bekämpfen, denen es jetzt
regelmäßig als unerforschliche, aber unverdiente Schicksals-
fügung erscheint, daß „gerade ihre Kinder nervös geworden
sind". Vor allem aber muß in der öffentlichen Meinung Raum
geschaffen werden für die Diskussion der Probleme des Sexual-
lebens ; man muß von diesen reden können, ohne für einen
Ruhestörer oder für einen Spekulanten auf niedrige Instinkte
erklärt zu werden. Und somit verbliebe auch hier genügend
Arbeit für ein nächstes Jahrhundert, in dem unsere Zivili-
sation es verstehen soll, sich mit den Ansprüchen unserer
Sexuahtät zu vertragen!
Der "Wert einer richtigen diagnostischen Scheidung der
Psychoneurosen von der Neurasthenie bezeigt sich auch darin,
daß die ersteren eine andere praktische Würdigung und be-
sondere therapeutische Maßnahmen erfordern. Die Psycho-
neurosen treten unter zweierlei Bedingungen auf, entweder
selbständig oder im Gefolge der Aktualneurosen (Neurasthenie
und Angstneurose). Im letzteren Falle hat man es mit einem
neuen, übrigens sehr häufigen Typus von gemischten Neurosen
zu tun. Die Ätiologie der Aktualneurose ist zur Hilfsätiologie
198
der Psyclioneurose geworden ; es ergibt sich, ein Krankheitsbild,
in dem etwa die Angstneurose vorherrscht, das aber sonst
Züge der echten Neurasthenie, der Hysterie und der Zwangs-
neurose enthält. Man tut nicht gut, angesichts einer solchen
Vermengung etwa auf eine Sonderung der einzelnen neuro-
tischen Krankheitsbilder zu verzichten, da es doch nicht
schwer ist, sich den Fall in folgender Weise zurechtzulegen :
"Wie die vorwiegende Ausbildung der Angstneurose beweist,
ist hier die Erkrankung unter dem ätiologischen Einflüsse
einer aktuellen sexuellen Schädlichkeit entstanden. Das be-
treffende Individuum war aber außerdem zu einer oder
mehreren Psychoneurosen durch eine besondere Ätiologie
disponiert und wäre irgend einmal spontan oder bei Hinzu-
tritt eines anderen schwächenden Momentes an Psychoneurose
erkrankt. Nun ist die noch fehlende HUfsätiologie fiii' die
Psychoneurose durch die aktuelle Ätiologie der Angstneurose
hinzugefügt worden.
Für solche Fälle hat sich mit Recht die therapeutische
Übung eingebürgert, von der psychoneurotischen Komponente
im Kj-ankheitsbilde abzusehen und ausschießHch die Aktual-
neurose zu behandeln. Es gelingt in sehr vielen Fällen, auch
der mitgerissenen Neurose Herr zu werden, wenn man der
Neurasthenie zweckmäßig entgegentritt. Eine andere Be-
urteilung erfordern aber jene FäUe von Psychoneurose, die,
sei es spontan auftreten, oder nach dem Ablaufe einer aus
Neurasthenie und Psychoneurose gemengten Erkrankung als
selbständig übrig bleiben. Wenn ich von „spontanem" Auf-
treten einer Psychoneurose gesprochen habe, so meine ich
damit nicht etwa, daß man bei anamnestischer Nachforschung
jedes ätiologische Moment vermißt. Dies kann wohl der Fall
sein, man kann aber auch auf ein indifferentes Moment, eine
Gemütsbewegung, Schv/ächung durch somatische Erkrankung
u. dgl. hingewiesen werden. Doch muß man für alle diese
FäUe festhalten, daß die eigenthche Ätiologie der Psycho-
neurosen nicht in diesen Veranlassungen liegt, sondern der
gewöhnlichen Weise anamnestischer Erhebung unfaßbar bleibt.
Wie bekannt, ist es diese Lücke, welche man versucht
hat, durch die Annahme einer besonderen neuropathischen
199
Disposition auszufüllen, deren Existenz einer Therapie solcher
Krankheitszustände freilich nicht viel Aussicht auf Erfolg
übrig Heße. Die neuropathische Disposition selbst wird als
Zeichen einer allgemeinen Degeneration aufgefaßt, und somit
gelangt dieses bequeme Kunstwort zu einer überreichlichen
Verwendung gegen die armen Kranken, denen zu helfen die
Arzte recht ohnmächtig sind. Zum Glück steht es anders.
Die neuropathische Disposition existiert wolil, aber ich muß
bestreiten, daß sie zur Erzeugung der Psychoneurose hin-
reicht. Ich muß femer bestreiten, daß das Zusammentreffen
von nem^opathischer Disposition und veranlassenden Ursachen
des späteren Lebens eine ausreichende Ätiologie der Psycho-
neurosen darstellt. Man ist in der Zurückführung der Krank-
heitsscliicksale des Einzelnen auf die Erlebnisse seiner Ahnen
zu weit gegangen und hat daran vergessen, daß zwischen der
Empfängnis und der Eeife des Individuums ein langer und
bedeutsamer Lebensabschnitt liegt, die Kindheit, in welcher
die Keime zu späterer Erkrankung erworben werden können.
So ist es tatsächlich bei der Psychoneurose. Ihre wirkliche
Ätiologie ist zu finden in Erlebnissen der Kindheit, und zwar
wiederum — und ausschließUch — in Eindrücken, die das
sexuelle Leben betreffen. Man tut Unrecht daran, das Sexual-
leben der Kinder völlig zu vernachlässigen ; sie sind, so viel
ich erfahren habe, aller psychischen und vieler somatischen
SexuaUeistungen fähig. So wenig die äußeren Genitalien und
die beiden Keimdrüsen den ganzen Geschlechtsapparat des
Menschen darstellen, ebensowenig beginnt sein Geschlechts-
leben erst mit der Pubertät, wie es der groben Beobachtung
erscheinen mag. Es ist aber richtig, daß die Organisation
und Entwicklung der Spezies Mensch eine ausgiebigere
sexuelle Betätigung im Kjndesalter zu vermeiden strebt; es
scheint, daß die sexuellen Triebkräfte beim Menschen aufge-
speichert werden soUen, um dann bei ihrer Entfesselung zur
Zeit der Pubertät großen kulturellen Zwecken zu dienen.
(Wilh. Fließ.) Aus einem derartigen Zusammenhange läßt
sich etwa verstehen, warum sexuelle Erlebnisse des Kindes-
alters pathogen wirken müssen. Sie entfalten ihre "Wirkung
aber nur zum geringsten Maße zur Zeit, da sie vorfallen;
200
weit bedeutsamer ist iJire nachträgliche Wirkung, die
erst in späteren Perioden der Reifung eintreten kann. Diese
nachträgliche Wirkung geht, wie nicht anders möglich, von
den psychischen Spuren aus, welche die infantilen Sexual-
erlebnisse zurückgelassen haben. In dem Intervall zwischen
dem Erleben dieser Eindrücke und deren Reproduktion (viel-
mehr dem Erstarken der von ihnen ausgehenden libidinösen
Impulse) hat nicht nur der somatische Sexualapparat, sondern
auch der psychische Apparat eine bedeutsame Ausgestaltung
erfahren, und darum erfolgt auf die Einwirkung jener frühen
sexuellen Erlebnisse nun eine abnorme psychische Reaktion,
es entstehen psychopathologische Bildungen.
In diesen Anleitungen konnte ich nur die Hauptmomente
anführen, auf welche sich die Theorie der Psychoneurosen
stützt: die Nachträglichkeit, den infantilen Zustand des Gre-
schlechtsapparates und des Seeleninstrumentes. Um ein wirk-
hches Verständnis des Entstehungsmechanismus der Psycho-
neurosen zu erzielen, brauchte es breiterer Ausführungen;
vor allem wäre es unvermeidlich, gewisse Annahmen über die
Zusammensetzung und die Arbeitsweise des psychischen
Apparates, die mir neu scheinen, als glaubwürdig hinzustellen.
In einem Buche über „Traumdeutung", das ich gegenwärtig
vorbereite, werde ich die Gelegenheit finden, jene Fundamente
einer Neurosenpsychologie zu berühren. Der Traum gehört
nämlich in dieselbe Reihe psychopathologischer Bildungen,
wie die hysterische fixe Idee, die Zwangsvorstellung und die
Wahnidee.
Da die Erscheinungen der Psychoneurosen vermittelst
der Nachträglichkeit von unbewußten psychischen Spuren aus
entstehen, werden sie der Psychotherapie zugänghch, die
allerdings hier andere Wege einschlagen muß als den bis
jetzt einzig begangenen der Suggestion mit oder ohne Hypnose.
Auf der von J. Breuer angegebenen „kathartischen" Me-
thode fußend, habe ich in den letzten Jahren ein therapeutisches
Verfahren nahezu ausgearbeitet, welches ich das „psychoana-
lytische" heißen wül, und dem ich zahlreiche Erfolge verdanke,
während ich hoffen darf, seine Wirksamkeit noch erheblich
zu steigern. In den 1895 veröffentlichten Studien über
201
Hysterie (mit J. Breuer) sind die ersten Mitteilungen
über Technik und Tragweite der Methode gegeben worden.
Seither hat sich Manches, vne ich behaupten darf, zum
Besseren daran geändert. Während wir damals bescheiden
aussagten, daß wir nur die Beseitigung von hysterischen
Symptomen, nicht die Heilung der Hysterie selbst in Angriff
nehmen könnten, hat sich mir seither diese Unterscheidung
als inhaltslos herausgestellt, also die Aussicht auf wirkliche
Heilung der Hysterie und Zwangsvorstellungen ergeben. Es
hat mich darum recht lebhaft interessiert, in den Publikationen
von Fachgenossen zu lesen: In diesem Falle habe das sinn-
reiche, von Breuer und Freud ersonnene Verfahren versagt,
oder: Die Methode habe nicht gehalten, was sie zu ver-
sprechen schien. Ich hatte dabei etwa die Empfindungen eines
Menschen, der in der Zeitung seine Todesanzeige findet, sich
aber dabei in seinem Besserwissen beruhigt fühlen darf. Das
Verfahren ist nämlich so schwierig, daß es durchaus erlernt
werden muß, und ich kann mich nicht besinnen, daß es einer
meiner Kritiker von mir hätte erlernen wollen, glaube auch
nicht, daß sie sich, ähnlich wie ich, genug intensiv damit
beschäftigt haben, um es selbständig auffinden zu können.
Die Bemerkungen in den Studien über Hysterie sind voll-
kommen unzureichend, um einem Leser die Beherrschung
dieser Technik zu ermöghchen, streben solche vollständige
Unterweisung auch keineswegs an.
Die psychoanalytische Therapie ist derzeit nicht all-
gemein anwendbar; ich kenne für sie folgende Einschrän-
kungen: Sie erfordert ein gewisses Maß von Reife und Ein-
sicht beim Kranken, taugt daher nicht für kindliche Personen
oder für erwachsene Schwachsinnige und Ungebildete. Sie
scheitert bei allzu betagten Personen daran, daß sie bei ihnen,
dem angehäuften Materiale entsprechend, allzuviel Zeit in
Anspruch nehmen würde, so daß man bis zur Beendigung der
Kur in einen Lebensabschnitt geraten würde, für welchen
auf nervöse Gesundheit nicht mehr Wert gelegt wird. End-
lich ist sie nur dann möglich, wenn der Kranke einen psychi-
schen Normalzustand hat, von dem aus sich das pathologische
Material bewältigen läßt. Während einer hysterischen Ver-
202
worrenheit, einer eingeschalteten Manie oder Melancholie ist
mit den Mitteln der Psychoanalyse nichts zu leisten. Man
kann solche Fälle dem Verfahren noch unterziehen, nachdem
man mit den gewöhnlichen Maßregeln die Beruhigung der
stürmischen Erscheinungen herbeigeführt hat. In der Praxis
werden überhaupt die chronischen Fälle von Psychoneurosen
besser der Methode Stand halten, als die Fälle mit akuten
Krisen, bei denen das Hauptgewicht naturgemäß auf die
Easchheit der Erledigung fällt. Daher geben auch die hyste-
rischen Phobien und die verschiedenen Formen der Zwangs-
neurose das günstigste Arbeitsgebiet für diese neue Therapie.
Daß die Methode in diese Schranken gebannt ist, erklärt
sich zum guten Teile aus den Verhältnissen, unter denen ich
sie ausarbeiten mußte. Mein Material sind eben chronisch
Nervöse der gebildeteren Stände. Ich halte es für sehr wohl
möglich, daß sich ergänzende Verfahren für kindHche Personen
und für das PubHkum, welches in den Spitälern Hufe sucht,
ausbilden lassen. Ich muß auch anführen, daß ich meine
Therapie bisher ausschließlich an schweren FäUen von Hysterie
und Zwangsneurose erprobt habe; wie es sich bei jenen
leichten Erkrankungsfällen gestalten würde, die man bei
einer indifferenten Behandlung von wenigen Monaten in
wenigstens scheinbare Genesung ausgehen sieht, weiß ich
nicht anzugeben. "Wie begreiflich, durfte eine neue Therapie,
die vielfache Opfer erfordert, nur auf solche Kranke rechnen,
die bereits die anerkannten Heilmethoden ohne Erfolg ver-
sucht hatten, oder deren Zustände den Schluß berechtigten,
sie hätten von diesen angeblich bequemeren und kürzeren
Heilverfahren nichts zu erwarten. So mußte ich mit einem
unvollkommenen Instrumente sogleich die schwersten Auf-
gaben in Angriff nehmen ; die Probe ist um so beweiskräftiger
ausgefallen.
Die wesentlichen Schwierigkeiten, die sich jetzt noch
der psychoanalytischen Heilmethode entgegensetzen, hegen
nicht an ihr selbst, sondern in dem Mangel an Verständnis
für das Wesen der Psychoneurosen bei Ärzten und Laien.
Es ist nur das notwendige Korrelat zu dieser voUen
Unwissenheit, wenn sich die Arzte für berechtigt halten,
203
den Kranken durch die unzutreffendsten Versicherungen zu
trösten oder zu therapeutischen Maßnahmen zu veranlassen.
„Kommen Sie für sechs "Wochen in meine Anstalt und Sie
werden Ihre Symptome (Reiseangst, Zwangsvorstellungen etc.)
verloren haben." Tatsächlich ist die Anstalt unentbehrlich
für die Beruhigung akuter Zufälle im Verlaufe einer Psycho-
neurose dui'ch Ablenkung, Pflege und Schonung; zur Be-
seitigung chronischer Zustände leistet sie — nichts, und zwar
die vornelmien, angeblich wissenschaftlich geleiteten Sanatorien
ebensowenig wie die gemeinen "Wasserheilanstalten.
Es wäre würdiger und dem Kranken, der sich doch
schüeßhch mit seinen Beschwerden abfinden muß, zuträg-
licher, wenn der Arzt die Wahrheit sprechen würde, wie er
sie alle Tage kennen lernt: Die Psychoneurosen sind als
Genus keineswegs leichte Erkrankungen. "Wenn eine Hysterie
anfängt, kann niemand vorher wissen, wann sie ein Ende
nehmen wird. Man tröstet sich meist vergeblich mit der Pro-
phezeiung: Eines Tages wird sie plötzlich vorüber sein. Die
Heilung erweist sich häufig genug als ein bloßes Übereinkommen
zur gegenseitigen Duldung zwischen dem Gesunden und dem
Kranken im Patienten oder erfolgt auf dem "Wege der Um-
wandlung eines Symptomes in eine Phobie. Die mühsam be-
schwichtigte Hysterie des Mädchens lebt nach kurzer Unter-
brechung durch das junge Eheglück in der Hysterie der Ehe-
frau wieder auf, nur daß jetzt eine andere Person als früher,
der Ehemann, durch sein Interesse veranlaßt wird, über den
Erkrankungsfall zu schweigen. "Wo es nicht zu manifester
Existenzunfähigkeit infolge von KJrankheit kommt, da fehlt
doch fast nie die Einbuße an aUer freien Entfaltung der
Seelenkräfte. Zwangsvorstellungen kehren das ganze Leben
hindurch wieder ; Phobien und andere Willenseinschränkungen
sind für jede Therapie bisher unbeeinflußbar gewesen. Das
alles wird dem Laien vorenthalten, und darum ist der Vater
einer hysterischen Tochter entsetzt, wenn er z. B. einer
einjährigen Behandlung seines Kindes zustimmen soll, wo
doch die Krankheit etwa erst einige Monate gedauert hat.
Der Laie ist sozusagen von der Überflüssigkeit all dieser
Psychoneurosen tief innerlich überzeugt, er bringt darum dem
204
KJranklieitsverlaufe keine Geduld und der Therapie keine
Opferbereitschaft entgegen. Wenn er sich angesichts eines.
Typhus, der drei Wochen anhält, eines Beinbruches, der zur
Heilung sechs Monate beansprucht, verständiger benimmt,
wenn ihm die Fortsetzung orthopädischer Maßnahmen durch
mehrere Jahre einsichthch erscheint, sobald sich die ersten
Spuren einer Rückgratsverkrümmung bei seinem Kinde zeigen,
so rührt dieser Unterschied von dem besseren Verständnisse
der Ärzte her, die ihr Wissen in ehrlicher ]\ütteilung dem
Laien übertragen. Die Aufrichtigkeit der Arzte und die Ge-
fügigkeit der Laien wird sich auch für die Psychoneurosen
herstellen, wenn erst die Einsicht in das Wesen dieser Affek-
tionen ärztliches Gemeingut geworden ist. Die psychothera-
peutische Radikalbehandlung derselben wird wohl immer eine
besondere Schulung erfordern und mit der Ausübung anderer
ärztHcher Tätigkeit unverträgHch sein. Dafür winkt dieser,
in der Zukunft wohl zahlreichen Klasse von Ärzten Ge-
legenheit zu rühmlichen Leistungen und eine befriedigende
Einsicht in das Seelenleben der Menschen.
XII.
über Psychotherapie. 0
Meine Herren! Es sind ungefähr acht Jahre her, seit-
dem ich über Aufforderung Ihres betrauerten Vorsitzenden
Professor v. B. e d e r in Ihrem Kreise über das Thema der
Hysterie sprechen durfte. Ich hatte kurz zuvor (1895) in
Gemeinschaft mit Dr. Josef Breuer die ., Studien über
Hysterie" veröif entlicht und den Versuch unternommen, auf
Grrund der neuen Erkenntnis, welche wir diesem Forscher
verdanken, eine neuartige Behandlungsweise der Neurose
einzuführen. Erfreulicherweise, darf ich sagen, haben die
Bemühungen unserer „Studien" Erfolg gehabt; die in ihnen
vertretenen Ideen von der Wirkungsweise psychischer Traumen
durch Zurückhaltung von Affekt und die Auffassung der
hysterischen Symptome als Erfolge einer aus dem Seelischen
ins Körperliche versetzten Erregung, Ideen, für welche wir
die Termini „Abreagieren" und „Konversion" geschaffen hatten,
sind heute allgemein bekannt und verstanden. Es gibt —
wenigstens in deutschen Landen — keine Darstellung der
Hysterie, die ihnen nicht bis zu einem gewissen Grade Rechnung
tragen würde, und keinen Fachgenossen, der nicht zum
mindesten ein Stück weit mit dieser Lehre ginge. Und doch
mögen diese Sätze und diese Termini, solange sie noch frisch
waren, befremdend genug geklungen haben!
Ich kann nicht dasselbe von dem therapeutischen Ver-
fahren sagen, das gleichzeitig mit unserer Lehre den Fach-
genossen vorgeschlagen wurde. Dasselbe kämpft noch heute
um seine Anerkennung. Man mag spezielle Gründe dafür
anrufen. Die Technik des Verfahrens war damals noch un-
1) Wiener Medizinische Presse, 1905, Nr. 1. (Vortrag, gehalten im
Wiener mediz. Doktorenkollegium am 12. Dezember 1904.)
206
ausgebildet ; ich vermochte es nicht, dem ärztlichen Leser des
Buches jene Anweisungen zu geben, welche ihn befähigt
hätten, eine derartige Behandlung vollständig durchzuführen.
Aber gewiß wirken auch Gründe allgemeiner Natur mit.
Vielen Ärzten erscheint noch heute die Psychotherapie als
ein Produkt des modernen Mystizismus und im Vergleiche
mit unseren physikalisch-chemischen Heilmitteln, deren An-
wendung auf physiologische Einsichten gegründet ist, als
geradezu unwissenschaftlich, des Interesses eines Naturforschers
unwürdig. Gestatten Sie mir nun, vor Ihnen die Sache der
Psychotherapie zu führen und hervorzuheben, was an dieser
Verurteilung als Unrecht oder Irrtum bezeichnet werden kann.
Lassen Sie mich also fürs erste daran mahnen, daß die
Psychotherapie kein modernes Heilverfahren ist. Im Gegen-
teile, sie ist die älteste Therapie, deren sich die Medizin
bedient hat. In dem lehrreichen Werke von Löwen feld
(Lehrbuch der gesamten Psychotherapie) können Sie nach-
lesen, welches die Methoden der primitiven und der antiken
Medizin waren. Sie werden dieselben zum größten Teile der
Psychotherapie zuordnen müssen ; man versetzte die Kranken
zum Zwecke der Heilung in den Zustand der „gläubigen
Erwartung", der uns heute noch das nämliche leistet. Auch
nachdem die Arzte andere Heilmittel aufgefunden haben,
sind psychotherapeutische Bestrebungen der einen oder der
anderen Art in der Medizin niemals untergegangen.
Fürs zweite mache ich Sie darauf aufmerksam, daß wir
Arzte auf die Psychotherapie schon darum nicht verzichten
können, weil eine andere beim Heilungsvorgang sehr in Be-
tracht kommende Partei — nämlich die Kranken — nicht
die Absicht hat, auf sie zu verzichten. Sie wissen, welche
Aufklärungen wir hierüber der Schule von Nancy (Lieb ault,
Bernheim) verdanken. Ein von der psychischen Disposition
der Kranken abhängiger Faktor tritt, ohne daß wir es be-
absichtigen, zur Wirkung eines jeden vom Arzte eingeleiteten
Heilverfahrens hinzu, meist im begünstigenden, oft auch im
hemmenden Sinne. Wir haben für diese Tatsache das Wort
,, Suggestion" anzuwenden gelernt, und Moebius hat uns
belehrt, daß die Unverläßlichkeit, die wir an so manchen
207
unserer Heilmethoden beklagen, gerade auf die störende Ein-
wirkung dieses übermäcktigen Momentes zurückzuführen ist.
Wir Ärzte, Sie alle, treiben also beständig Psychotherapie,
auch wo Sie es nicht wissen und nicht beabsichtigen; nur
hat es einen Nachteil, daß Sie den psychischen Faktor in
Ilirer Einwirkung auf den Kranken so ganz dem Kranken
überlassen. Er wird auf diese "Weise unkontrolHerbar, un-
dosierbar, der Steigerung unfähig. Ist es dann nicht ein be-
rechtigtes Streben des Arztes, sich dieses Faktors zu be-
mächtigen, sich seiner mit Absicht zu bedienen, ihn zu lenken
und zu verstärken? Nichts anderes als dies ist es, was die
wissenschaftliche Psychotherapie Ihnen zumutet.
Zu dritt, meine Herren Kollegen, will ich Sie auf die
altbekannte Erfahrung verweisen, daß gewisse Leiden und
ganz besonders die Psychoneurosen, seelischen Einflüssen weit
zugänglicher sind als jeder anderen Medikation. Es ist keine
moderne Rede, sondern ein Ausspruch alter Ärzte, daß diese
Krankheiten nicht das Medikament heüt, sondern der Arzt,
d. h. wohl die Persönlichkeit des Arztes, insofern er psychi-
schen Einfluß durch sie ausübt. Ich weiß wohl, meine Herren
KoUegen, daß bei Ihnen jene Anschauung sehr behebt ist,
welcher der Ästhetiker Vis eher in seiner Faustparodie (Faust,
der Tragödie HI. Teil) klassischen Ausdruck geliehen hat:
»Ich weiß, das Physikalische
Wirkt öfters aufs Moralische."
Aber sollte es nicht adäquater sein und häufiger zutreffen,
daß man aufs Morahsche eines Menschen mit morahschen,
d. h. psychischen Mitteln einwirken kann?
Es gibt viele Arten und Wege der Psychotherapie.
Alle sind gut, die zum Ziele der Heilung führen. Unsere
gewöhnliche Tröstung: Es wird schon wieder gut werden!
mit der wir den Kranken gegenüber so freigebig sind, ent-
spricht einer der psychotherapeutischen Methoden ; nur sind
wir bei tieferer Einsicht in das Wesen der Nem^osen nicht
genötigt gewesen, uns auf die Tröstung einzuschränken. Wir
haben die Technik der hypnotischen Suggestion, der Psycho-
therapie durch Ablenkung, durch Übung, durch Hervorrufung
zweckdienlicher Affekte entwickelt. Ich verachte keine der-
208
selben, und würde, sie alle unter geeigneten Bedingungen
ausüben. "Wenn ich in "Wirklichkeit mich auf ein einziges
Heilverfahren beschränkt habe, auf die von Breuer „kathar-
tisch" genannte Methode, die ich lieber die „analytische"
heiße, so sind bloß subjektive Motive für mich maßgebend
gewesen. Infolge meines Anteils an der Aufstellung dieser
Therapie fühle ich die persönliche Verpflichtung, mich ihrer
Erforschung und dem Ausbau ihrer Technik zu widmen. Ich
darf behaupten, die analytische Methode der Psychotherapie
ist diejenige, welche am eindringlichsten wirkt, am weitesten
trägt, durch welche man die ausgiebigste Veränderung des
Elranken erzielt. "Wenn ich für einen Moment den thera-
peutischen Standpunkt verlasse, kann ich für sie geltend
machen, daß sie die interessanteste ist, uns allein etwas über
die Entstehung und den Zusammenhang der Krankheits-
erscheinungen lehrt. Infolge der Einsichten in den Mecha-
nismus des seelischen Krankseins, die sie uns eröffnet, könnte
sie allein imstande sein, über sich selbst hinaus zu führen
und uns den "Weg zu noch anderen Arten therapeutischer
Beeinflussung zu weisen.
In bezug auf diese kathartische oder analytische Me-
thode der Psychotherapie gestatten Sie mir nun, einige Irr-
tümer zu verbessern und einige Aufklärungen zu geben.
a) Ich merke, daß diese Methode sehr häufig mit der
hypnotischen Suggestivbehandlung verwechselt wird, merke
es daran, daß verhältnismäßig häufig auch Kollegen, deren
Vertrauensmann ich sonst nicht bin. Kranke zu mir schicken,
refraktäre Kranke natürlich, mit dem Auftrage, ich solle sie
hypnotisieren. Nun habe ich seit etwa 8 Jahren keine Hypnose
mehr zu Zwecken der Therapie ausgeübt (vereinzelte Versuche
ausgenommen) und pflege solche Sendungen mit dem Rate,
wer auf die Hypnose baut, möge sie selbst machen, zu retour-
nieren. In "Wahrheit besteht zwischen der suggestiven Technik
und der analytischen der größtmögliche Gegensatz, jener
G-egensatz, den der große Leonardo da Vinci für die Künste
in die Formeln per via di porre und per via di levare
gefaßt hat. Die Malerei, sagt Leonardo, arbeitet per via di
porre ; sie setzt nämlich Farbenhäufchen hin, wo sie früher
209
nicht waren, auf die nicht farbige Leinwand; die Skulptur
dagegen geht per via di levare vor, sie nimlnt nämlich vom
Stein so viel weg, als die Oberfläche der in ihm enthaltenen
Statue noch bedeckt. Ganz ähnlich, meine Hisrren, sucht die
Suggestivtechnik per via di porre zu wirken, sie kümmert
sich nicht um Herkunft, Kraft und Bedeutung der Ej-ankheits-
symptome, sondern legt etwas auf, die Suggestion nämlich,
wovon sie erwartet, daß es stark genug sein wird, die
pathogene Idee an der Äußerung zu hindern. Die analytische
Therapie dagegen will nicht auflegen, nichts Neues einführen,
sondern wegnehmen, herausschaffen, und zu diesem Zwecke
bekümmert sie sich um die G-enese der krankhaften Symptome
und den psychischen Zusammenhang der pathogenen Idee,
deren Wegschaffung ihr Ziel ist. Auf diesem "Wege der
Forschung hat sie unserem Verständnis so bedeutende Förde-
rung gebracht. Ich habe die Suggestionstechnik und mit ihr
die Hypnose so frühzeitig aufgegeben, weil ich daran ver-
zweifelte, die Suggestion so stark und so haltbar zu machen,
wie es fiir die dauernde Heilung notwendig wäre. In allen
schweren FäUen sah ich die darauf gelegte Suggestion wieder
abbröckeln, und dann war das Kranksein oder ein dasselbe
Ersetzendes wieder da. Außerdem mache ich dieser Technik
den Vorwurf, daß sie uns die Einsicht in das psychische
Kräftespiel verhüllt, z. B. uns den "Widerstand nicht er-
kennen läßt, mit dem die Kranken an ihrer Krankheit fest-
halten, mit dem sie sich also auch gegen die Genesung
sträuben, und der doch allein das Verständnis ihres Be-
nehmens im Leben ermöglicht.
h) Es scheint mir der Irrtum unter den Kollegen weit
verbreitet zu sein, daß die Technik der Forschung nach den
Krankheitsanlässen und die Beseitigung der Erscheinungen
durch diese Erforschung leicht und selbstverständlich sei.
Ich schließe dies daraus, daß noch keiner von den vielen,
die sich für meine Therapie interessieren und sichere Urteile
über dieselbe von sich geben, mich je gefragt hat, wie
ich es eigentlich mache. Das kann doch nur den einzigen
Grund haben, daß sie meinen, es sei nichts zu fragen, es
verstehe sich ganz von selbst. Auch höre ich initunter mit
Frtnd, NeurcBenlehxe. 14
210
Erstaunen, daß auf dieser oder jener Abteilung eines Spitals
ein junger Arzt von seinem Chef den Auftrag erhalten hat,
bei einer Hysterischen eine „Psychoanalyse" zu unternehmen.
Ich bin überzeugt, man würde ihm nicht einen exstirpierten
Tumor zur Untersuchung überlassen, ohne sich vorher ver-
sichert zu haben, daß er mit der histologischen Technik
vertraut ist. Ebenso erreicht mich die Nachricht, dieser oder
jener Kollege richte sich Sprechstunden mit einem Patienten
ein, um eine psychische Kur mit ihm zu machen, während
ich sicher bin, daß er die Technik einer solchen Kur nicht
kennt. Er muß also erwarten, daß ihm der Kranke seine
Geheimnisse entgegenbringen wird, oder sucht das Heü in
irgend einer Art von Beichte oder Anvertrauen. Es würde
mich nicht wundern, wenn der so behandelte Kranke dabei
eher zu Schaden als zum Vorteil käme. Das seelische Instru-
ment ist nämlich nicht gar leicht zu spielen. Ich muß bei
solchen Anlässen an die Rede eines weltberühmten Neurotikers
denken, der freilich nie in der Behandlung eines Arztes ge-
standen, der nur in der Phantasie eines Dichters gelebt hat.
Ich meine den Prinzen Hamlet von Dänemark. Der König
hat die beiden Höflinge Rosenkranz und Grüldenstern
über ihn geschickt, um ihn auszuforschen, ihm das Geheimnis
seiner Verstimmung zu entreißen. Er wehrt sie ab ; da werden
Flöten auf die Bühne gebracht. Hamlet nimmt eine Flöte
und bittet den einen seiner Quäler, auf ihr zu spielen, es
sei so leicht wie lügen. Der Höfling weigert sich, denn er
kennt keinen Griff, und da er zu dem Versuch des Flöten-
spiels nicht zu bewegen ist, bricht Hamlet endlich los : „Nun
seht ihr, welch ein nichtswürdiges Ding ihr aus mir macht?
Ihr wollt auf mir spielen; ihr wollt in das Herz meines
Geheimnisses dringen; üir woUt mich von meiner tiefsten
Note bis zum Gipfel meiner Stimme hinauf prüfen, und in
diesem kleinen Instrument hier ist viel Musik, eine vortreff-
liche Stimme, dennoch könnt ihr es nicht zum Sprechen
bringen. Wetter, denkt ihr, daß ich leichter zu spielen
bin als eineFlöte? Nennt mich was für ein Instru-
ment ihr wollt, ihr könnt mich zwar verstimmen,
aber nicht auf mir spielen" (HI. Akt, 2.V
211
c) Sie werden aus gewissen meiner Bemerkungen er-
raten haben, daß der analytischen Kur manche Eigen-
schaften anhaften, die sie von dem Ideal einer Therapie
ferne halten. Tuto, cito, iucunde ; das Forschen und Suchen
deutet nicht eben auf Raschheit des Erfolges, und die Er-
wähnung des Widerstandes bereitet Sie auf die Erwartung
von Unannehmlichkeiten vor. Gewiß, die psychoanalytische
Behandlung stellt an den Kranken wie an den Arzt hohe
Ansprüche ; von ersterem verlangt sie das Opfer voller
Aufrichtigkeit, gestaltet sich für ihn zeitraubend und daher
auch kostspielig; für den Arzt ist sie gleichfalls zeitraubend
und wegen der Technik, die er zu erlernen und auszuüben
hat, ziemlich mühselig. Ich finde es auch selbst ganz be-
rechtigt, daß man bequemere Heilmethoden in Anwendung
bringt, solange man eben die Aussicht hat, mit diesen letz-
teren etwas zu erreichen. Auf diesen Punkt kommt es allein
an; erzielt man mit dem mühevolleren und langwierigeren
Verfahren erheblich mehr als mit dem kurzen und leichten,
so ist das erstere trotz alledem gerechtfertigt. Denken Sie,
meine Herren, um wieviel die F i n s e n therapie des Lupus
unbequemer und kostspieliger ist als das früher gebräuchliche
Atzen und Schaben, und doch bedeutet es einen großen Fort-
schritt, bloß weil es mehr leistet; es heilt nämlich den Lupus
radikal. Nun will ich den Vergleich nicht gerade durchsetzen ;
aber ein ähnliches Vorrecht darf doch die psychoanalytische
Methode für sich in Anspruch nehmen. In "Wirklichkeit habe
ich meine therapeutische Methode nur an schweren und
schwersten Fällen ausarbeiten und versuchen können; mein
Material waren zuerst nur Kranke, die alles erfolglos ver-
sucht und durch Jahre in Anstalten geweilt hatten. Ich habe
kaum Erfahrung genug gesammelt, um Ihnen sagen zu können,
wie sich meine Therapie bei jenen leichteren, episodisch auf-
tretenden Erkrankungen verhält, die wir unter den verschieden-
artigsten Einflüssen und auch spontan abheüen sehen. Die
psychoanalytische Therapie ist an dauernd existenzunfähigen
Kranken und für solche geschaffen worden, und ihr Triumph
ist es, daß sie eine befriedigende Anzahl von solchen dauernd
existenzfähig macht. Gegen diesen Erfolg erscheint dann
14*
212
aller Aufwand geringfügig. "Wir können un's nicht verhehlen,
iüf&U -Weir vor den Kranken zu verleugnen pflegen, daß einö
echwere Neurose in ihrer Bedeutung für das ihr unterworfene
Individuum hinter keiner Kacheade, keinem der gefürchteten
Allgemeinleiden zurücksteht.
d) Die Indikationen und Gegenanzeigen dieser Behand-
lung sind infolge der vielen praktischen Beschränkungen, diö
meine Tätigkeit betroffen haben, kaum endgiltig anzugeben.
Indes will ich versuchen, einige Punkte mit Ihnen zu erörtern :
1. Man übersehe nicht über die Krankheit den sonstigen
"Wert einer Person und weise Kranke zurück, welche nicht
einen gewissen Bildungsgrad und einen einigermaßen verläß-
lichen Charakter besitzen. Man darf nicht vergessen, daß es
auch Gesunde gibt, die nichts taugen, und daß man nur allzu
leicht geneigt ist, bei solchen minderwertigen Personen aUes,
was sie existenzunfähig macht, auf die Krankheit zu schieben,
wenn sie irgend einen Anflug von Neurose zeigen. Ich stehe
auf dem Standpunkt, daß die Neurose ihren Träger keines-
wegs zum Degenere stempelt, daß sie sich aber häufig genug
mit den Erscheinungen der Degeneration vergesellschaftet an
demselben Individuum findet. Die analytische Psychotherapie
ist nun kein Terfahren zur Behandlung der neuropathischen
Degeneration, sie findet im Gegenteile an derselben ihre
Schranke. Sie ist auch bei Personen nicht anwendbar, die
sich nicht selbst durch ihre Leiden zur Therapie gedrängt
fühlen, sondern sich einer solchen nur infolge des Macht-
gebotes ihrer Angehörigen unterziehen. Die Eigenschaft, auf
die es für die Brauchbarkeit zur psychoanalytischen Behand-
lung ankommt, die Erziehbarkeit, werden Wir noch von einem
anderen Gesichtspunkte würdigen müssen.
2. "Wenn man sicher gehen will, beschränke man seine
Auswahl auf Personen, die einen Nortnalzustand haben, da
man sieh itn psychoanalytischen Verfahren von diesem aus
des Kriankhaften bemächtigt. Psychosen, Zustände von Ver-
worrenheit und tiefgreifender (ich möchte sagen : toxischer)
Verstiininung sind also für die Psychoanalyse, wenigstens wie
sie bis jetzt ausgeübt wird, ungeeignet. Ich halte es für
durchaus nicht ausgeschlossen, daß man bei geeigneter Ab-
213
änderung des Verfs^hrens sich über diege G-egeniii(Jik8(,tion
kinaussetzeu und sq eine Psychotherapie ^ev Psychosen in
Angriff nehmen könne.
3. Das Alter der Kranken spielt bei der Auswahl zur
psychoanalytischen Behandlung insoferne eine Bolle, a^ls bei
Personen nahe an oder über 50 Jahre einerseits die Plastizitä^t
der seelischen Yorgänge zu fehlen pflegt, auf welche die
Therapie rechnet — alte Leute sind nicht mehr erziehbar —
und als anderseits das Material, welches durchzuarbeiten ist,
die Behandlungsdauer ins Unabsehbare verlängert. Die Alters-
grenze nach unten ist nur individuell zu bestimmen; jugend-
liche Personen noch vor der Pubertät sind oft ausgezeichnet
zu beeinflussen.
4. Man wird nicht zur Psychoanalyse greifen, wenn es
sich um die rasche Beseitigung drohender Erscheinungen
handelt, also z. B. bei einer hysterischen Anorexie.
Sie werden nun den Eindruck gewonnen haben, daß das
Anwendungsgebiet der analytischen Psychotherapie ein sehr
beschränktes ist, da Sie eigentlich nichts anders als Qi-egen-
^nzeigen von mir gehört haben. Nichtsdestoweniger bleiben
Fälle und Kj-ankheitsformen. genug übrig, an denen diese
Therapie sich erproben kann, alle chronischen Formen von
Hysterie mit Besterscheinungen, das große Gebiet der Zjwangs-
zustände und AbuUen u. dgl.
Erfreulich ist es, daß man gerade den wertvollsten und
sonst höchstentwickelten Personen auf solche Weise am
ehesten Hilfe bringen kann. Wo aber mit der anqdytischen
Psychothera.pie nur wenig auszurichten war, da, darf man
getrost behaupten, hätte irgend welche andere Bejiandlung
sicherlich gar nichts zustande gebracht.
e) Sie werden mich gewiß fragen wollen, wie es bei
Anwendung der Psychoanalyse mit der Möglichkeit, Schaden
zu stiften, bestellt ist. Ich kann Ihnen darauf erwidern, wenn
Sie nur billig urteilen wollen, diesem Verfahren dasselbe
kritische Wohlwollen entgegenbringen, das Sie für unsere
Rinderen therapeutischen Methoden bereit haben, so werden
Sie meiner Meinung zustimmen müssen, daß bei einer mit
Yerständni^ geleitetepi analytischen Kur ein Schaden fiir den
214
Kranken nicht zu befürchten ist. Anders wird vielleicht
urteilen, wer als Laie gewohnt ist, alles, was sich in einem
Krankheitsfalle begibt, der Behandlung zur Last zu legen.
Es ist ja nicht lange her, daß unseren Wasserheilanstalten
ein ähnliches Vorurteil entgegenstand. So mancher, dem man
riet, eine solche Anstalt aufzusuchen, wurde bedenklich, weil
er einen Bekannten gehabt hatte, der als Nervöser in die
Anstalt kam und dort verrückt wurde. Es handelte sich, wie
Sie erraten, um Fälle von beginnender allgemeiner Paralyse,
die man im Anfangsstadium noch in einer "Wasserheilanstalt
unterbringen konnte, und die dort ihren unaufhaltsamen Ver-
lauf bis zur manifesten Geistesstörung genommen hatten ; für
die Laien war das Wasser Schuld und Urheber dieser trau-
rigen Veränderung. Wo es sich um neuartige Beeinflussimgen
handelt, halten sich auch Ärzte nicht immer von solchen
Urteilsfehlem frei. Ich erinnere mich, einmal bei einer Frau
den Versuch mit Psychotherapie gemacht zu haben, bei der
ein gutes Stück ihrer Existenz in der Abwechslung von Manie
und Melancholie verflossen war. Ich übernahm sie zu Ende
einer Melancholie; es schien zwei Wochen lang gut zu gehen;
in der dritten standen wir bereits zu Beginn der neuen Manie.
Es war dies sicherlich eine spontane Veränderung des Krank-
heitsbildes, denn zwei Wochen sind keine Zeit, in welcher
die analytische Psychotherapie irgend etwas zu leisten unter-
nehmen kann, aber der hervorragende — jetzt schon ver-
storbene — Arzt, der mit mir die Kranke zu sehen bekam,
konnte sich doch nicht der Bemerkung enthalten, daß an
dieser „Verschlechterung" die Psychotherapie Schuld sein
dürfte. Ich bin ganz überzeugt, daß er sich unter anderen
Bedingungen kritischer erwiesen hätte.
f) Zum Schlüsse, meine Herren KoUegen, muß ich mir
sagen, es geht doch nicht an, Ihre Aufmerksamkeit so lange
zugunsten der analytischen Psychotherapie in Anspruch zu
nehmen, ohne Ihnen zu sagen, worin diese Behandlung be-
steht, und worauf sie sich gründet. Ich kann es zwar, da ich
kurz sein muß, nur mit einer Andeutung tun. Diese Therapie
ist also auf die Einsicht gegründet, daß unbewußte Vor-
stellungen — besser: die Unbewußtheit gewisser seelischer
215
"Vorgänge — die nächste Ursache der krankhaften Symptome
ist. Eine solche Überzeugung vertreten wir gemeinsam mit
der französischen Schule (Jan et), die übrigens in arger
Schematisierung das hysterische Symptom auf die unbewußte
idee fixe zurückführt. Fürchten Sie nun nicht, daß wir dabei
zu tief in die dunkelste Philosophie hineingeraten werden.
Unser Unbewußtes ist nicht ganz dasselbe wie das der Philo-
sophen, und überdies wollen die meisten Philosophen vom
„unbewußten Psychischen" nichts wissen. Stellen Sie sich
aber auf unseren Standpunkt, so werden Sie einsehen, daß
die Übersetzung dieses Unbewußten im Seelenleben der
Kranken in ein Bewußtes den Erfolg haben muß, deren Ab-
weichung vom Normalen zu korrigieren und den Zwang auf-
zuheben, unter dem ihr Seelenleben steht. Denn der bewußte
Wille reicht so weit als die bewußten psychischen Vorgänge,
und jeder psychische Zwang ist durch das Unbewußte be-
gründet. Sie brauchen auch niemals zu fürchten, daß der
Kranke unter der Erschütterung Schaden nehme, welche der
Eintritt des Unbewußten in sein Bewußtsein mit sich bringt,
denn Sie können es sich theoretisch zurechtlegen, daß die
somatische und affektive "Wirkung der bewußt gewordenen
Regung niemals so groß werden kann wie die der unbewußten.
Wir beherrschen alle unsere Regungen doch nur dadurch,
daß wir unsere höchsten, mit Bewußtsein verbundenen Seelen-
leistungen auf sie wenden.
Sie können aber auch einen anderen Gesichtspunkt für
das Verständnis der psychoanalytischen Behandlung wählen.
Die Aufdeckung und Übersetzung des Unbewußten geht unter
beständigem Widerstand von Seiten der Kranken vor sich.
Das Auftauchen dieses Unbewußten ist mit Unlust verbunden,
und wegen dieser Unlust wird es von ihm immer wieder zu-
rückgewiesen. In diesen Konflikt im Seelenleben des Kranken
greifen Sie nun ein; gelingt es Einen, den Kranken dazu zu
bringen, daß er aus Motiven besserer Einsicht etwas akzep-
tiert, was er zufolge der automatischen Unlustregulierung
bisher zurückgewiesen (verdrängt) hat, so haben Sie ein
Stück Erziehungsarbeit an ihm geleistet. Es ist ja schon
Erziehung, wenn Sie einen Menschen, der nicht gern früh
216
morgens das Bett verläßt, dazu bewegen, es doch zu tun. Als
eine solche NacherziehungzurÜberwindunginnerer
"Widerstände können Sie nun die psychoanalytische Behand-
lung ganz allgemein auffassen. In keinem Punkte aber ist
solche Nacherziehung bei den Nervösen mehr vonnöten als
betreffs des seelischen Elementes in ihrem Sexualleben. Nirgends
haben ja Kultur und Erziehung so großen Schaden gestiftet
wie gerade hier, und hier sind auch, wie Ihnen die Erfahrung
zeigen wird, die beherrschbaren Ätiologien der Neurosen zu
finden; das andere ätiologische Element, der konstitutionelle
Beitrag, ist uns ja als etwas Unabänderliches gegeben. Hieraus
erwächst aber eine wichtige an den Arzt zu stellende An-
forderung. Er muß nicht nur selbst ein integrer Charakter
sein — ^das Moralische versteht sich ja von selbst", wie die
Hauptperson in Th. Vischer's „Auch Einer" zu sagen
pflegt — ; er muß auch für seine eigene Person die Mischung
von Lüsternheit und Prüderie überwunden haben, mit welcher
leider so viele andere den sexuellen Problemen entgegen-
zutreten gewohnt sind.
Hier ist vielleicht der Platz für eine weitere Bemerkung.
Ich weiß, daß meine Betonung der Rolle des Sexuellen für
die Entstehung der Psychoneurosen in weiteren Kreisen be-
kannt geworden ist. Ich weiß aber auch, daß Einschränkungen
und nähere Bestimmungen beim großen Publikum wenig
nützen ; die Menge hat für Wenig Raum in ihrem Gedächtnis
und behält von einer Behauptung doch nur den rohen Kern,
schafft sich ein leicht zu merkendes Extrem. Es mag auch
manchen Ärzten so ergangen sein, daß ihnen als Inhalt meiner
Lehre vorschwebt, ich führe die Neurosen in letzter Linie
auf sexuelle Entbehrung zurück. An dieser fehlt es nicht
unter den Lebensbedingungen unserer Gesellschaft. Wie nahe
ma,g es nun bei solcher Voraussetzung liegen, den mühseligen
Umweg über die psychische Kur zu vermeiden und direkt
die Heüung anzustreben, indem man die sexuelle Betätigung
»Is Heilmittel empfiehlt? Ich weiß nun nicht, was mich be-
wegen könnte, diese Folgerung zu unterdrücken, wenn sie
berechtigt wäre. Die Sache liegt aber anders. Die sexuelle
Bedürftigkeit und Entbehrung, das ist bloß der eine Faktor,
217
der beim Mechanismus der Neurose ins Spiel tritt; bestünde
er allein, so würde nicht Krankheit, sondern Ausschweifung
die Folge sein. Der andere, ebenso unerläßliche Faktor, an
den man allzu bereitwillig vergißt, ist die Sexualabneigung
der Neurotiker, ihre Unfähigkeit zum Lieben, jener psychische
Zug, den ich „Verdrängung" genannt habe. Erst aus dem
Konflikt zwischen beiden Strebungen geht die neurotische
Erkrankung hervor, und darum kann der Rat der sexuellen
Betätigung bei den Psychoneurosen eigentlich nur selten als
guter Rat bezeichnet werden.
Lassen Sie mich mit dieser abwehrenden Bemerkung
schließen. Wir wollen hoffen, daß Ihr von jedem feindseligen
Vorurteil gereinigtes Interesse für die Psychotherapie uns
darin unterstützen wird, auch in der Behandlung der schweren
Fäjle von Psychoneurosen Erfreuliches zu leisten.
XIII.
Die Freu d'sche psychoanalytische Methode. 0
„Die eigentümliche Methode der Psychotherapie, die
Freud ausübt und als Psychoanalyse bezeichnet, ist aus
dem sogenannten kathartischen Verfahren hervorgegangen,
über welches er seinerzeit in den „Studien über Hysterie"
1895 in Gemeinschaft mit J. Breuer berichtet hat. Die
kathartische Therapie war eine Erfindung Breuer's, der mit
ihrer Hufe zuerst etwa ein Dezennium vorher eine hysterische
Kranke hergestellt und dabei Einsicht in die Pathogenese
ihrer Symptome gewonnen hatte. Infolge einer persönlichen
Anregung B r e u e r's nahm dann Freud das Verfahren wieder
auf und erprobte es an einer größeren Anzahl von Kranken.
Das kathartische Verfahren setzte voraus, daß der Patient
hypnotisierbar sei und beruhte auf der Erweiterung des Be-
wußtseins, die in der Hypnose eintritt. Es setzte sich die
Beseitigung der Krankheitssymptome zum Ziele und erreichte
dies, indem es den Patienten sich in den psychischen Zustand
zurückversetzen ließ, in welchem das Symptom zum ersten
Male aufgetreten war. Es tauchten dann bei dem hypnotisierten
Kranken Erinnerungen, Gredanken und Impulse auf, die in
seinem Bewußtsein bisher ausgefallen waren, und wenn er
diese seine seelischen Vorgänge unter intensiven Affekt-
äußerungen dem Arzte mitgeteilt hatte, war das Symptom
überwunden, die Wiederkehr desselben aufgehoben. Diese
regelmäßig zu wiederholende Erfahrung erläuterten die beiden
Autoren in ihrer gemeinsamen Arbeit dahin, daß das Symptom
an Stelle von unterdrückten und nicht zum Bewußtsein ge-
langten psychischen Vorgängen stehe, also eine Umwandlung
(„Konversion") der letzteren darstelle. Die therapeutische
') Aus: Löwenfeld, Psychische Zwangserscheinungen, 1904.
219
"Wirksamkeit ihres Verfakrens erklärten sie sich aus der
Abfuhi" des bis dahin gleichsam „eingeklemmten" Affektes,
der an den unterdrückten seelischen Aktionen gehaftet hatte
(„Abreagieren"). Das einfache Schema des therapeutischen
Eingriffs komplizierte sich aber nahezu alle Male, indem
sich zeigte, daß nicht ein einzelner („traumatischer") Ein-
druck, sondern meist eine schwer zu übersehende Reihe von
solchen an der Entstehung des Symptoms beteiligt sei.
Der Hauptcharakter der kathartischen Methode, der sie
in Gegensatz zu allen anderen Verfahren der Psychotherapie
setzt, liegt also darin, daß bei ihr die therapeutische Wirk-
samkeit nicht einem suggestiven Verbot des Arztes über-
tragen wird. Sie erwartet vielmehr, daß die Symptome von
selbst verschwinden werden, wenn es dem Eingriff, der sich
auf gewisse Voraussetzungen über den psychischen Mecha-
nismus beruft, gelungen ist, seelische Vorgänge zu einem
anderen als dem bisherigen Verlauf zu bringen, der in die
Symptombildung eingemündet hat.
Die Abänderungen, welche Freud an dem kathartischen
Verfahren Breuer's vornahm, waren zunächst Änderungen
der Technik; diese brachten aber neue Ergebnisse und haben
in weiterer Folge zu einer andersartigen, wiewohl der früheren
nicht widersprechenden, Auffassung der therapeutischen Arbeit
genöti^.
Hatte die kathartische Methode bereits auf die Suggestion
verzichtet, so unternahm Freud den weiteren Schritt, auch
die Hypnose aufzugeben. Er behandelt gegenwärtig seine
Kranken, indem er sie ohne andersartige Beeinflussung eine
bequeme Rückenlage auf einem Ruhebett einnehmen läßt,
während er selbst ihrem Anblick entzogen auf einem Stuhle
hinter ihnen sitzt. Auch den Verschluß der Augen fordert er
von ihnen nicht und vermeidet jede Berührung sowie jede
andere Prozedur, die an Hypnose mahnen könnte. Eine
solche Sitzung verläuft also wie ein Gespräch zwischen zwei
gleich wachen Personen, von denen die eine sich jede Muskel-
anstrengung und jeden ablenkenden Sinneseindruck erspart,
die sie in der Konzentration ihrer Aufinerksamkeit auf ihre
eigene seelische Tätigkeit stören könnten.
Da das Hypnotisiertwerden, trotz aller Geschicklichkeit
des Arztes, bekanntlich in der Willkür des Patienten liegt
und eine große Anzahl neurotischer Personen dm-ch kein
Verfahren in Hypnose zu versetzen ist, so war durch den
Verzicht auf die Hypnose die Anwendbarkeit des Verfahrens
auf eine uneingeschränkte Anzahl von Kranken g^esichert.
Andererseits fiel die Erweiterung des Bewußtseins weg,
welche dem Arzt gerade jenes psychische Material an Er-
innerungen und Vorstellungen geliefert hatte, mit dessen
Hilfe sich die Umsetzung der Symptome und die Befreiung
4er Affekte vollziehen ließ. Wenn flir diesen Ausfall kein
Ersatz zu schaffen war, konnte auch von einer therapeutischen
Einwirkung keine Rede sein.
Einen solchen völlig ausreichenden Ersatz fand nun
Freud in den Einfällen der Kranken, d. h. in den ungewollten,
meist als störend empfundenen und darum unter gewöhnlichen
Verhältnissen beseitigten Gedanken, die den Zusammenhang
einer beabsichtigten Darstellung zu durchkreuzen pflegen. Um
sich dieser Einfälle zu bemächtigen, fordert er die Kranken
auf, sich in ihren Mitteilungen gehen zu lassen, „wie man
es etwa in einem Gespräch tut, bei welchem man aus dem
Hundertsten in das Tausendste gerät". Er schärft ihnen, ehe
er sie zur detaüüerten Erzählung ihrer Krankengeschichte
auffordert, ein, alles mit zu sagen, was ihnen dabei durch
den Kopf geht, auch wenn sie meinen, es sei unwichtig, oder
es gehöre nicht dazu, oder es sei unsinnig. Mit besonderem
Nachdruck aber wird von ihnen verlangt, daß sie keinen
Gedanken oder Einfall darum von der Mitteilung ausschließen,
weil ihnen diese Mitteilung beschämend oder peinlich ist. Bei
den Bemühungen, dieses Material an sonst yemachlässigten
Einfällen zu sammeln, machte nun Freud die Beobachtungen,
die für seine ganze Auffassung bestimmend geworden sind. Schon
bei der Erzählung der Krankengeschichte stellen sich bei den
Kranken Lücken der Erinnerung heraus, sei es, daß tatsächliche
Vorgänge vergessen worden, sei es, daß zeitHche Beziehungen
verwirrt oder Kausalzusammenhänge zerrissen worden sind,
so daß sich unbegreifliche Effekte ergeben. Ohne Amnesie
irgend einer Art gibt es keine neurotische Krankengeschichte.
221
Drängt inan den Erzählenden, dieise Lücken seines Gedächt-
nisses durch angestrengte Arbeit der Aufmerksamkeit auszu-
füllen, so merkt man, daß die hierzu sich einstellenden Ein-
fälle von ihm mit allen Mitteln der Kritik zurückgedrängt
werden, bis er endlich das direkte Unbehagen verspürt, wenn
sich die Erinnerung wirklich eingeseUt hat. AuS dieser Erfahrung
schließt Freud, daß die Amnesien das Ergebnis eines Vorgangs
sind, den er Verdrängung heißt, und als dessen Motiv er
Unlustgefühle erkennt. Die psychischen Kräfte, welche diese Ver-
drängung herbeigeführt haben, meint er in dem Widerstand,,
der sich gegen die Wiederherstellung erhebt, zu verspüren.
Das Moment des Widerstandes ist eines der Fundamente
seiner Theorie geworden. Die sonst unter allerlei Vorwänden
(wie sie die obige Formel aufzählt) beseitigten Einfälle be-
trachtet er aber als Abkömmlinge der verdrängten psychischen
Gebilde (Gedanken und Regungen), als Entstehungen derselben
infolge des gegen ihre Reproduktion bestehenden Widerstandes.
Je größer der Widerstand, desto ausgiebiger diese Ent-
stellung. In dieser Beziehung der unbeabsichtigten Einfälle
zum verdrängten psychischen Material ruht nun ihr Wert für
die therapeutische Technik. Wenn man ein Verfahren besitzt,
welches ermögHcht, von den Einfällen aus zu dem Verdrängten,
von den Entstehungen zum Entstellten zu gelangen, so kann
man auch ohne Hypnose das früher Unbewußte im Seelenleben
dem Bewußtsein zugänglich machen.
Freud hat darauf eine Deutungskunst ausgebildet,
welcher diese Leistung zufällt, die gleichsam aus den Erzen
der unbeabsichtigten Einfälle den Metallgehalt an verdrängten
Gedanken darstellen soll. Objekt dieser Deutungsarbeit sind
nicht allein die Einfälle der Kranken, sondern auch seine
Träume, die den direktesten Zugang zur Kenntnis des Un-
bewußten eröffnen, seine unbeabsichtigten, wie planlosen
Handlungen (Symptomhandlungen) und die Irrungen s einet-
Leistungen im Alltagsleben (Versprechen, Vergreifen u. dgl.).
Die Details dieser Deutungs- oder Übersetzungstechnik sind
von Freud noch nicht veröfientlicht worden. Es sind nach
seinen Andeutungen eine Reihe von empiriäch gewonnenen
Regehl, wie aus den Einfallen das unbewußte Material zu
222
konstruieren ist, Anweisungen, wie man es zu verstehen habe,
wenn die Einfälle des Patienten versagen, und Erfahrungen
über die wichtigsten typischen Widerstände, die sich im Laufe
einer solchen Behandlung einstellen. Ein umfangreiches Buch
über „Traumdeutung", 1900 von Freud publiziert, ist als
Vorläufer einer solchen Einführung in die Technik anzusehen.
Man könnte aus diesen Andeutungen über die Technik
der psychoanalytischen Methode schließen, daß deren Erfinder
sich überflüssige Mühe verursacht und Unrecht getan hat,
das wenig komplizierte hypnotische Verfahren zu verlassen.
Aber einerseits ist die Technik der Psychoanalyse viel leichter
auszuüben, wenn man sie einmal erlernt hat, als es bei einer
Beschreibung den Anschein hat, anderseits führt kein
anderer Weg zum Ziele, und darum ist der mühselige Weg
noch der kürzeste. Der Hypnose ist vorzuwerfen, daß sie
den Widerstand verdeckt und dadurch dem Arzt den Einblick
in das Spiel der psychischen Kräfte verwehrt hat. Sie räumt
aber mit dem Widerstände nicht auf, sondern weicht ihm
nur aus und ergibt dagegen nur unvollständige Auskünfte
und nur vorübergehende Erfolge.
Die Aufgabe, welche die psychoanalytische Methode zu
lösen bestrebt ist, läßt sich in verschiedenen Formeln aus-
drücken, die aber ihrem Wesen nach äquivalent sind. Man
kann sagen : Aufgabe der Kur sei, die Amnesien aufzuheben.
Wenn alle Erinnerungslücken ausgefüllt, alle rätselhaften
Effekte des psychischen Lebens aufgeklärt sind, ist der Fort-
bestand, ja eine Neubildung des Leidens unmöglich gemacht.
Man kann die Bedingung anders fassen: es seien alle Ver-
drängungen rückgängig zu machen; der psychische Zustand
ist dann derselbe, in dem alle Amnesien ausgefüllt sind.
Weittragender ist eine andere Fassung: es handle sich darum,
das Unbewußte dem Bewußtsein zugänglich zu machen, was
durch Überwindung der Widerstände geschieht. Man darf
aber dabei nicht vergessen, daß ein solcher Idealzustand
auch beim normalen Menschen nicht besteht, und daß man
nur selten in die Lage kommen kann, die Behandlung an-
nähernd so weit zu treiben. So wie Gesundheit und Krankheit
nicht . prinzipiell geschieden, sondern nur durch eine praktisch
223
bestinunbare Summationsgrenze gesondert sind, so wird man
sich, auch nie etwas anderes zum Ziel der Behandlung setzen
als die praktische Genesung des Kranken, die Herstellung
seiner Leistungs- und Genußfähigheit, Bei unvollständiger
Kur oder unvollkommenem Erfolge derselben erreicht man
vor allem eine bedeutende Hebung des psychischen Allgemein-
zustandes, während die Symptome, aber mit geminderter Be-
deutung für den Kranken, fortbestehen können, ohne ihn zu
einem Kranken zu stempeln.
Das therapeutische Verfahren bleibt, von geringen Mo-
difikationen abgesehen, das nämliche für alle Symptombüder
der vielgestaltigen Hysterie und ebenso für alle Ausbildungen
der Zwangsneurose. Von einer unbeschränkten Anwendbarkeit
desselben ist aber keine Rede. Die Natur der psychoanaly-
tischen Methode schafft Indikationen und Gegenanzeigen
sowohl von selten der zu behandelnden Personen, als auch
mit Rücksicht auf das Krankheitsbild. Am günstigsten für
die Psychoanalyse sind die chronischen Fälle von Psycho-
neurosen mit wenig stürmischen oder gefahrdrohenden
Symptomen, also zunächst alle Arten der Zwangsneurose,
Zwangsdenken und Zwangshandeln, und Fälle von Hysterie,
in denen Phobien und Abulien die Hauptrolle spielen, weiter-
hin aber auch alle somatischen Ausprägungen der Hysterie,
insoferne nicht, wie bei der Anorexie, rasche Beseitigung der
Symptome zur Hauptaufgabe des Arztes wird. Bei akuten
Fällen von Hysterie wird man den Eintritt eines ruhigeren
Stadiums abzuwarten haben; in allen Fällen, bei denen die
nervöse Erschöpfung obenan steht, wird man ein Verfahren
vermeiden, welches selbst Anstrengung erfordert, nur lang-
same Fortschritte zeitigt und auf die Fortdauer der Symptome
eine Zeitlang keine Rücksicht nehmen kann.
An die Person, die man mit Vorteil der Psychoanalyse
unterziehen soU, sind mehrfache Forderungen zu stellen. Sie
muß erstens eines psychischen Normalzustandes fähig sein;
in Zeiten der Verworrenheit oder melancholischer Depression
ist auch bei einer Hysterie nichts auszurichten. Man darf
femer ein gewisses Maß natürhcher Intelligenz und ethischer
Entwicklung fordern; bei wertlosen Personen läßt den Arzt
224
bald dais Interesse iin Stiche, welches ihn zur Vertiefung in
das Sfeelenleben des Ktänken befähigt. Ausgeprägte Chatakter-
verbildungen, Züge von wirklich degenerativer Konstitution
äußern sich bei der Kur als Quelle von kaum zu über-
windenden Widerstäiiden. Insoweit setzt überhaupt die
Konstitution eine Grenze für die Heilbarkeit durch Psycho-
therapie. Auch eine Altersstufe in der Nähe des fünften
Dezenniums schaiSl ungünstige Bedingungen für die Psycho-
analyse. Die Masse des psychischen Materials ist dann nicht
mehr zu bewältigen, die zur Herstellung erfordterhche Zeit
wird zu lang, und die Fähigkeit, psychische Vorgänge rück-
gängig zu machen, beginnt zu erlahmen.
Trotz aller dieser Einschränkungen ist die Anzahl der
für die Psychoanalyse geeigneten Personen eine außerordentlich
große, und die Erweiterung unseres therapeutischen Könnens
durch dieses Verfahren nach den Behauptungen Freuds eine
sehr beträchtliche. Freud beansprucht lange Zeiträume,
V2 Jahr bis 3 Jahre für eine wirksame Behandlung; er gibt
aber diiB Auskunft, daß er bisher infolge verschiedener leicht
zu erratender Umstände meist nur in die Lage gekomiiien
ist, seine Behandlung an sehr schweren Fällen zu erproben,
Personen mit vielj ähriger Krankheit^dauer und völliger
Leistungsunfähigkeit, die, durch alle Behandlungen getäuscht,
gleichsam eine letzte Zuflucht bei seinem neuen und viel
angezweifelten Verfahren gesucht haben. In Fällen leichterer
Erkrankung dürfte sich die Behandlungsdauer sehr verkürzen
und ein außerordenthcher Gewinn an Vorbeugung für die
Zukunft erzielen lassen."
XIV.
Meine Ansichten über die Rolle der
Sexualität in der Ätiologie der Neurosen^,
„Ich bin der Meinung, daß man meine Theorie über die
ätiologische Bedeutung des sexuellen Momentes für die Neu-
rosen am besten würdigt, wenn man ihrer Entwicklung nach-
geht. Ich habe nämlich keineswegs das Bestreben, abzuleugnen,
daß sie eine Entwicklung durchgemacht und sich während
derselben verändert hat. Die Facligenossen könnten in diesem
Zugeständnis die Gewähr finden, daß diese Theorie nichts
anderes ist, als der Niederschlag fortgesetzter und vertiefter
Erfahrungen. "Was im G-egensatze hierzu der Spekulation ent-
sprungen ist, das kann allerdings leicht mit einem Schlage
vollständig und dann unveränderlich auftreten.
Die Theorie bezog sich ursprünglich bloß auf die als
„Neurasthenie" zusammengefaßten Krankheitsbilder, unter
denen mir zwei, gelegentlich auch rein auftretende Typen,
auffielen, die ich als „eigentliche Neurasthenie" und
als „Angstneurose" beschrieben habe. Es war ja immer
bekannt, daß sexuelle Momente in der Verursachung dieser
Formen eine Rolle spielen können, aber man fand dieselben
weder regelmäßig wirksam, noch dachte man daran, ihnen
einen Vorrang vor anderen ätiologischen Einflüssen einzu-
räumen. Ich wurde zunächst von der Häufigkeit grober
Störungen in der Vita sexualis der Nervösen überrascht; je
mehr ich darauf ausging, solche Störungen zu suchen, wobei
ich mir vorhielt, daß die Menschen aUe in sexuellen Dingen
die "Wahrheit verhehlen, und je geschickter ich wurde, das
Examen trotz einer anfänglichen Verneinung fortzusetzen,
^) Avis :Löwenfeld, „Sexualleben und Nervenleiden", IV. Aufl., 1906.
Frend, Nenrosenlehre. 15
226
desto regelmäßiger ließen sich solche krankmachende Momente
aus dem Sexualleben auffinden, bis mir zu deren Allgemein-
heit wenig zu fehlen schien. Man mußte aber von vornherein
auf ein ähnlich häufiges Vorkommen sexueller Unregelmäßig-
keiten unter dem Drucke der sozialen Verhältnisse in unserer
Gesellschaft gefaßt sein, und konnte im Zweifel bleiben,
welches Maß von Abweichung von der normalen Sexualfunktion
als Krankheitsursache betrachtet werden dürfe. Ich konnte
daher auf den regelmäßigen Nachweis sexueller Noxen nur
weniger Wert legen als auf eine zweite Erfahrung, die mir
eindeutiger erschien. Es ergab sich, daß die Form der Er-
krankung, ob Neurasthenie oder Angstneurose, eine konstante
Beziehung zur Art der sexuellen Schädlichkeit zeige. In den
typischen Fällen der Neurasthenie war regelmäßig Masturbation
oder gehäufte Pollutionen, bei der Angstneurose waren Fak-
toren wie der Coitus interruptus, die „frustrane Erregung"
u. a. nachweisbar, an denen das Moment der ungenügenden
Abfuhr der erzeugten Libido das Glemeinsame schien. Erst
seit dieser leicht zu machenden und beliebig oft zu bestäti-
genden Erfahrung hatte ich den Mut, für die sexuellen Ein-
flüsse eine bevorzugte Stellung in der Ätiologie der Neurosen
zu beanspruchen. Es kam hinzu, daß bei den so häufigen
Mischformen von Neurasthenie und Angstneurose auch die
Vermengung der für die beiden Formen angenommenen Ätio-
logien aufzuzeigen war und daß eine solche Zweiteilung in
der Erscheinungsform der Neurose zu dem polaren Charakter
der Sexualität (männlich und weibUch) gut zu stimmen
schien.
Zur gleichen Zeit, während ich der Sexualität diese Be-
deutung für die Entstehung der einfachen Neurosen zuwies ^),
huldigte ich noch in betreff der Psychoneurosen (Hysterie
und Zwangsvorstellungen) einer rein psychologischen Theorie,
in welcher das sexuelle Moment nicht anders als andere
emotionelle Quellen in Betracht kam. Ich hatte im Verein
mit J. Breuer und im Anschluß an Beobachtungen, die er
^) Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten
Symptomenkomplex als „Angstneurose" abzutrennen. Neurol. Cen-
tralblatt, 1895.
227
gut ein Dezennium voriier an einer hysterisclien Kranken
gemacht hatte, den Mechanismus der Entstehung hysterischer
Symptome mittels des Erweckens von Erinnerungen im hyp-
notischen Zustande studiert, und wir waren zu Aufsclilüssen
gelangt, welche gestatteten, die Brücke von der traumatischen
Hysterie Charcot's zur gemeinen, nicht traumatischen, zu
schlagen^). Wir waren zur Auffassung gelangt, daß die hyste-
rischen Symptome Dauerwirkungen von psychischen Traumen
sind, deren zugehörige Affektgröße durch besondere Bedin-
gungen von bewußter Bearbeitung abgedrängt worden ist
und sich darum einen abnormen Weg in die Körp erinner vation
gebahnt hat. Die Termini „eingeklemmter Affekt",
„Konversion" und „Abreagieren" fassen das Kenn-
zeichnende dieser Anschauung zusammen.
Bei den nahen Beziehungen der Psychoneurosen zu den
einfachen Neurosen, die ja so weit gehen, daß dem Ungeübten
die diagnostische Unterscheidung nicht immer leicht fällt,
konnte es aber nicht ausbleiben, daß die für das eine Gebiet
gewonnene Erkenntnis auch für das andere Platz griff. Über-
dies führte, von solcher Beeinflussung abgesehen, auch die
Vertiefung in den psychischen Mechanismus der hysterischen
Symptome zu dem gleichen Ergebnis. Wenn man nämlich
bei dem von Breuer und mir eingesetzten „kathartischen"
Verfahren den psychischen Traumen, von denen sich die
hysterischen Symptome ableiteten, immer weiter nachspürte,
gelangte man endlich zu Erlebnissen, welche der Kindheit
des Kranken angehörten und sein Sexualleben betrafen, und
zwar auch in solchen FäUen, in denen eine banale Emotion
nicht sexueller Natur den Ausbruch der Krankheit veranlaßt
hatte. Ohne diese sexuellen Traumen der Kinderzeit in Be-
tracht zu ziehen, konnte man weder die Symptome aufklären,
deren Determinierung verständlich finden, noch deren Wieder-
kehr verhüten. Somit schien die unvergleichliche Bedeutung
sexueller Erlebnisse für die Ätiologie der Psychoneurosen als
unzweifelhaft festgestellt, und diese Tatsache ist auch bis
heute einer der Grundpfeiler der Theorie geblieben.
1) Studien über Hysterie, 1905.
15*
228
Wenn man diese Theorie so darstellt, die Ursaclie der
lebenslangen hysterischen Neurose liege in den meist an sich
geringfügigen sexuellen Erlebnissen der frühen Kinderzeit, so
mag sie allerdings befremdend genug klingen. Nimmt man
aber auf die historische Entwicklung der Lehre Rücksicht,
verlegt den Hauptinhalt derselben in den Satz, die Hysterie
sei der Ausdruck eines besonderen Verhaltens der Sexual-
funktion des Individuums, und dies Verhalten werde bereits
durch die ersten in der Kindheit einwirkenden Einflüsse und
Erlebnisse maßgebend bestimmt, so sind wir zwar um ein
Paradoxon ärmer, aber um ein Motiv bereichert worden, den
bisher arg vernachlässigten, höchst bedeutsamen Nachwirkungen
der Kindheitseindrücke überhaupt unsere Aufmerksamkeit zu
schenken.
Indem ich mir vorbehalte, die Frage, ob man in den
sexuellen Kindererlebnissen die Ätiologie der Hysterie (und
Zwangsneurose) sehen dürfe, weiter unten gründlicher zu be-
handeln, kehre ich zu der Gestaltung der Theorie zurück,
welche diese in einigen kleinen, vorläufigen Publikationen
der Jahre 1895 und 1896 angenommen hat^). Die Hervorhebung
der angenommenen ätiologischen Momente gestattete damals,
die gemeinen Neurosen als Erkrankungen mit aktueller Ätiologie
den Psychoneurosen gegenüberzustellen, deren Ätiologie
vor allem in den sexuellen Erlebnissen der Vorzeit zu suchen
war. Die Lehre gipfelte in dem Satze: Bei normaler Vita
sexualis ist eine Neurose unmöglich.
"Wenn ich auch diese Sätze noch heute nicht für unrichtig
halte, so ist es doch nicht zu verwundem, daß ich in zehn
Jahren fortgesetzter Bemühung um die Erkenntnis dieser
Verhältnisse über meinen damaligen Standpunkt ein gutes
Stück weit hinausgekommen bin und mich heute in der Lage
glaube, die Unvollständigkeit, die Verschiebungen und die
Mißverständnisse, an denen die Lehre damals litt, durch ein-
gehendere Erfahrung zu korrigieren. Ein Zufall des damals
noch spärlichen Materials hatte mir eine unverhältnismäßig
') Weitere Bemerkungen über die Abwehr, Neuropsychosen, Neurol.
Centralblatt, 1896. — Zur Ätiologie der Hysterie, "Wiener klinische
Rundschau, 1896.
229
große Anzahl von Fällen zugeführt, in deren Kindergeschichte
die sexuelle Verführung durch Erwachsene oder andere ältere
Kinder die Hauptrolle spielte. Ich überschätzte die Häufigkeit
dieser (sonst nicht anzuzweifelnden) Vorkommnisse, überdies
da ich zu jener Zeit nicht imstande war, die Erinnerungs-
täuschungen der Hysterischen über ihre Kindheit von den
Spuren der wirklichen Vorgänge sicher zu unterscheiden,
während ich seitdem gelernt habe, so manche Verfiihrungs-
phantasie als Abwehrversuch gegen die Erinnerung der eigenen
sexuellen Betätigung (Kindermasturbation) aufzulösen. Mit
dieser Aufklärung entfiel die Betonung des „traumatischen"
Elementes an den sexuellen Kindererlebnissen, und es blieb
die Einsicht übrig, daß die infantile Sexualbetätigung (ob
spontan oder provoziert) dem späteren Sexualleben nach der
Reife die Richtung vorschreibt. Dieselbe Aufklärung, die ja
den bedeutsamsten meiner anfänglichen Irrtümer korrigierte,
mußte auch die Auffassung von Mechanismus der hysterischen
Symptome verändern. Dieselben erschienen nun nicht mehr
als direkte Abkömmlinge der verdrängten Erinnerungen an
sexuelle Kindheitserlebnisse, sondern zwischen die Symptome
und die infantüen Eindrücke schoben sich nun die (meist in
den Pubertätsjahren produzierten) Phantasien (Erinnerungs-
dichtungen) der Kranken ein, die auf der einen Seite sich
aus und über den Kindheitserinnerungen aufbauten, auf der
anderen sich unmittelbar in die Symptome umsetzten. Erst
mit der Einführung des Elementes der hysterischen Phantasien
wurde das Gefüge der Neurose und deren Beziehung zum
Leben der Kranken durchsichtig ; auch ergab sich eine wirk-
lich überraschende Analogie zwischen diesen unbewußten
Phantasien der Hysteriker und den als "Wahn bewußt ge-
wordenen Dichtungen bei der Paranoia.
Nach dieser Korrektur waren die „infantüen Sexual-
traumen" in gewissem Sinne durch den „Infantilismus der
Sexualität" ersetzt. Eine zweite Abänderung der ursprüng-
lichen Theorie lag nicht ferne. Mit der angenommenen
Häufigkeit der Verführung in der Kindheit entfiel auch die
übergroße Betonung der accidentellen Beeinflussung der
Sexualität, welcher ich bei der Verursachung des Krankseins
230
die Hauptrolle zuschieben wollte, ohne darum konstitutionelle
und hereditäre Momente zu leugnen. Ich hatte sogar gehofft,
das Problem der Neurosenwahl, die Entscheidung darüber,
welcher Form von Psychoneurose der Kranke verfallen solle,
durch die Einzelheiten der sexuellen Kinder erlebnisse zu
lösen, und damals — wenn auch mit Zurückhaltung — gemeint,
daß passives Verhalten bei diesen Szenen die spezifische
Disposition zur Hysterie, aktives dagegen die für die Zwangs-
neurose ergebe. Auf diese Auffassung mußte ich später völlig
Verzicht leisten, wenngleich manches Tatsächliche den geahnten
Zusammenhang zwischen Passivität und Hysterie, Aktivität
und Zwangsneurose in irgend einer Weise aufrecht zu halten
gebietet. Mit dem Rücktritt der accidentellen Einflüsse des
Erlebens mußten die Momente der Konstitution und Heredität
wieder die Oberhand behaupten, aber mit dem Unterschiede
gegen die sonst herrschende Anschauung, daß bei mir die
„sexuelle Konstitution" an die Stelle der allgemeinen neuro-
pathischen Disposition trat. In meinen jüngst erschienen „Drei
Abhandlungen zur Sexualtheorie" (1905) habe ich den Ver-
such gemacht, die Mannigfaltigkeiten dieser sexuellen Kon-
stitution sowie die Zusammengesetztheit des Sexualtriebs
überhaupt und dessen Herkunft aus verschiedenen Beitrags-
quellen im Organismus zu schildern.
Immer noch im Zusammenhange mit der veränderten
Auffassung der „sexuellen Kindertraumen" entwickelte sich
nun die Theorie nach einer Richtung weiter, die schon in
den VeröffentUchungen der Jahre 1894 — 96 angezeigt worden
war. Ich hatte bereits damals, und noch ehe die Sexuahtät
in die ihr gebührende Stellung in der Ätiologie eingesetzt
war, als Bedingung für die pathogene Wirksamkeit eines
Erlebnisses angegeben, daß dieses dem Ich unerträghch er-
scheinen und ein Bestreben zur Abwehr hervorrufen müsse^).
Auf diese Abwehr hatte ich die psychische Spaltung — oder
wie man damals sagte: die Bewußtseinsspaltung — der Hysterie
') Die Abwehr-Neuropsychosen. Versuch einer psychologischen
Theorie der acquierierten Hysterie, vieler Phobien und Zwangs-
vorstellungen und gewisser halluzinatorischer Psychosen. Neurol. Central-
blatt, 1894.
231
zurückgefilhrt. Grelang die Abwehr, so war das unerträgliclie
Erlebnis mit seinen Affektfolgen aus dem Bewußtsein und der
Erinnerung des Ichs vertrieben ; unter gewissen Verhältnissen
entfaltete aber das Vertriebene als ein nun Unbewußtes seine
Wirksamkeit und kehrte mittels der Symptome und der an ihnen
haftenden Affekte ins Bewußtsein zurück, so daß die Erkrankung
einem Mißglücken der Abwehr entsprach. Diese Auffassung
hatte das Verdienst, auf das Spiel der psychischen Kräfte
einzugehen und somit die seelischen Vorgänge der Hysterie
den normalen anzunähern, anstatt die Charakteristik der Neurose
in eine rätselhafte und weiter nicht analysierbare Störung zu
verlegen.
Als nun weitere Erkundigungen bei normal gebliebenen
Personen das unerwartete Ergebnis lieferten, daß deren sexuelle
Klindergeschichte sich nicht wesentlich von dem Kinderleben
der Neurotiker zu unterscheiden brauche, daß speziell die
Rolle der Verführung bei ersteren die gleiche sei, traten die
accidentelleu Einflüsse noch mehr gegen den der „Ver-
drängung" (wie ich anstatt „Abwehr" zu sagen begann)
zurück. Es kam also nicht darauf an, was ein Individuum in
seiner Kindheit an sexuellen Erregungen erfahren hatte, sondern
vor allem auf seine Reaktion gegen diese Erlebnisse, ob es
diese Eindrücke mit der „Verdrängung" beantwortet habe
oder nicht. Bei spontaner infantiler Sexualbetätigung ließ sich
zeigen, daß dieselbe häufig im Laufe der Entwicklung durch
einen Akt der Verdrängung abgebrochen wurde. Das geschlechts-
reif e neurotische Individuum brachte so ein Stück „Sexual-
verdrängung" regelmäßig aus seiner Kindheit mit, das bei den
Anforderungen des realen Lebens zur Äußerung kam, und
die Psychoanalysen Hysterischer zeigten, daß ihre Erkrankung
ein Erfolg des Konflikts zwischen der Libido und der Sexual-
verdrängung sei, und daß ihre Symptome den "Wert von
Kompromissen zwischen beiden seelischen Strömungen haben.
Ohne eine ausführhche Erörterung meiner Vorstellungen
von der Verdrängung könnte ich diesen Teü der Theorie
nicht weiter aufklären. Es genüge, hier auf meine „Drei
Abhandlungen zur Sexualtheorie" (1905) hinzuweisen, wo
ich auf die somatischen Vorgänge, in denen das "Wesen der
232
Sexualität zu suchen ist, ein allerdings erst spärliches Licht
zu werfen versucht habe. Ich habe dort ausgeführt, daß die
konstitutionelle sexuelle Anlage des Kindes eine ungleich
buntere ist, als man erwarten konnte, daß sie „polymorph
pervers" genannt zu werden verdient, und daß aus dieser
Anlage durch Verdrängung gewisser Komponenten das so-
genannte normale Verhalten der Sexualfunktion hervorgeht.
Ich konnte durch den Hinweis auf die infantilen Charaktere
der Sexualität eine einfache Verknüpfung zwischen Gesundheit,
Perversion und Neurose herstellen. Die Norm ergab sich aus
der Verdrängung gewisser Partialtriebe und Komponenten der
infantilen Anlagen und der Unterordnung der übrigen unter
das Primat der Grenitalzonen im Dienste der Fortpflanzungs-
fanktion; die Perversionen entsprachen Störungen dieser
Zusammenfassung durch die übermächtige zwangsartige Ent-
wicklung einzelner dieser Partialtriebe, und die Neurose führte
sich auf eine zu weitgehende Verdrängung der libidinöseu
Strebungen zurück. Da fast alle perversen Triebe der infantilen
Anlage als symptombildende Kräfte bei der Neurose nach-
weisbar sind, sich aber bei ihr im Zustande der Verdrängung
befinden, konnte ich die Neurose als das „Negativ" der Per-
version bezeichnen.
Ich halte es der Hervorhebung wert, daß meine An-
schauungen über die Ätiologie der Psychoneurosen bei allen
Wandlungen doch zwei Gesichtspunkte nie verleugnet oder
verlassen haben, die Schätzung der Sexualität und des
Infantilismus. Sonst sind an die Stelle accidenteller Ein-
flüsse konstitutionelle Momente, für die rein psychologisch
gemeinte „Abwehr" ist die organische „Sexualverdrängung"
eingetreten. SoUte nun jemand fragen, wo ein zwingender
Beweis für die behauptete ätiologische Bedeutung sexueller
Faktoren bei den Psychoneurosen zu finden sei, da man
doch diese Erkrankungen auf die banalsten Gemütsbewegungen
und selbst auf somatische Anlässe hin ausbrechen sieht, auf
eine spezifische Ätiologie in Gestalt besonderer Kindererleb-
nisse verzichten muß, so nenne ich die psychoanalytische
Erforschung der Neurotiker als die Quelle, aus welcher die
bestrittene Überzeugung zufließt. Man erfährt, wenn man
233
sich dieser unersetzliclien Untersuchungsmetliode bedient,
daß die Symptome die Sexualbetätigung der
Kranken darstellen, die ganze oder eine partielle, aus
den Quellen normaler oder perverser Partialtriebe der Sexua-
lität. Nicht nur, daß ein guter Teil der hysterischen Sympto-
matologie direkt aus den Äußerungen der sexuellen Erregtheit
herstammt, nicht nur, daß eine Reihe von erogenen Zonen
in der Neurose in Verstärkung infantiler Eigenschaften sich
zur Bedeutung von Genitalien erhebt; die kompUziertesten
Symptome selbst enthüllen sich als die konvertierten Dar-
stellungen von Phantasien, welche eine sexuelle Situation
zum Inhalte haben. Wer die Sprache der Hysterie zu deuten
versteht, kann vernehmen, daß die Neurose nur von der;'
verdrängten Sexualität der Kranken handelt. Man wolle nur
die Sexualfunktion in ihrem richtigen, durch die infantile
Anlage umschriebenen Umfange verstehen. "Wo eine banale
Emotion zur Verursachung der Erkrankung gerechnet werden
muß, weist die Analyse regelmäßig nach, daß die nicht
fehlende sexuelle Komponente des traumatischen Erlebnisses
die pathogene "Wirkung ausgeübt hat.
Wir sind unversehens von der Frage nach der Ver-
ursachung der Psychoneurosen zum Problem ihres Wesens
vorgedrungen. Will man dem Rechnung tragen, was man
durch die Psychoanalyse erfahren hat, so kann man nur
sagen, das Wesen dieser Erkrankungen liege in Störungen
der Sexualvorgänge, jener Vorgänge im Organismus, welche
die Bildung und Verwendung des geschlechthchen Libido
bestimmen. Es ist kaum zu vermeiden, daß man sich diese
Vorgänge in letzter Linie als chemische vorstelle, so daß
man in den sogenannten aktuellen Neurosen die somatischen,
in den Psychoneurosen außerdem noch die psychischen Wir-
kungen der Störungen im Sexualstoffwechsel erkennen dürfte.
Die Ähnlichkeit der Neurosen mit den Intoxikations- und
Abstinenzerscheinungen nach gewissen Alkaloiden, mit dem
M. Basedowi und M. Addisoni di'ängt sich ohneweiters
klinisch auf, und sowie man diese beiden letzteren Erkran-
kungen nicht mehr als „Nervenkrankheiten" beschreiben darf,
so werden wohl auch bald die echten „Neurosen" ihrer
234
Namengebung zum Trotze aus dieser Klasse entfernt werden
müssen.
Zur Ätiologie der Neurosen gehört dann alles, was
scliädigend auf die der Sexualfunktion dienenden Vorgänge
einwirken kann. In erster Linie also die Noxen, welche die
Sexualfanktion selbst betreffen, insoferne diese von der mit
Kultur und Erziehung veränderlichen Sexualkonstitution als
Schädhchkeiten angenommen werden. In zweiter Linie stehen
aUe andersartigen Noxen und Traumen, welche sekundär durch
AUgemeinschädigung des Organismus die Sexualvorgänge in
demselben zu schädigen vermögen. Man vergesse aber nicht,
daß das ätiologische Problem bei den Neurosen mindestens
ebenso kompliziert ist wie sonst bei der Krankheitsverursachung.
Eine einzige pathogene Einwirkung ist fast niemals hinreichend ;
zu allermeist wird eine Mehrheit von ätiologischen Momenten
erfordert, die einander unterstützen, die man also nicht in
Gegensatz zu einander bringen darf. Dafür ist auch der Zu-
stand des neurotischen Krankseins von dem der Gesundlieit
nicht scharf geschieden. Die Erkrankung ist das Ergebnis
einer Summation, und das Maß der ätiologischen Bedingungen
kann von irgend einer Seite her voll gemacht werden. Die
Ätiologie der Neurosen ausschließlich in der Heredität oder
in der Konstitution zu suchen, wäre keine geringere Ein-
seitigkeit, als wenn man einzig die accidentellen Beeinflus-
sungen der Sexualität im Leben zur Ätiologie erheben wollte,
wenn sich doch die Aufklärung ergibt, daß das "Wesen dieser
Erkrankungen nur in einer Störang der Sexualvorgänge im
Organismus gelegen ist.
Wien, Juni 1905.
■ Internationaler Psychoanalytischer Vt Aig
SIGM. FREUD
GESAMMELTE SCHRIFTEN
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45-
275-
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70.-
850-
170-
Uie Bände FV., V., I'II. und f^lll. erscheinen im Mai 1924, die anderen bis Ende 19'S
LTE SCHRIFTEN von SIGM. FREUI
I
Studien fib. Hysterie / Frfilie Arbeiten
z. Neurosenlehre 1893—1898 (Charcot /
Quelques consideralions pour uiie 6tude
comparative des pai-alysies motr. organ. et
hvsteriques / Die Abwehr-Neuropsycho-
sen / Über d. Berechtigung, v. d. Neur-
asthenie einen bestimmten Syrnptomen-
komplex als „Angstneurose" abzutrennen
/ Obäessions et phobies / Zur Kritik d.
Angstneurose / Weitere Bemerk, üb. die
Abwehr-Neuropsychosen / L'heredite et
l'etioi. des uevroses / Z. Ätiol. d. Hysterie
/ Uic Se\iiüUtütin d. Ätiol. d. Neurosen)
11
Die Traumdeutung. (!.—(.. K;ip.)
III
Die Traumdeutung (7- ". 8- Kap.) / Über
den Traum / Beiträge zur Traumlehre
(Märchenstoffe in Traumen / Ein Traum
als Beweismittel / l'raum u. Telepathie /
Bemerk. ■/.. Theor. u. Präx. d. Traunidtg.)
IV
Zur Psychopathol. d. Alltagslebens/ Das
Interesse an d. PsA. / Über PsAnalyse /
2ur Geschichte der psa. Bewegung
V
Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie /
Arbeiten z. Sexualleben u. z. Neurosen-
lehre (Meine Ansichten üb. d. Rolle d.
Se'xnalität in d. Ätiologie d. Neurosen /
Zur sex. Aufklärung d. Kinder /Die „kul-
turelle" Sexualmoral u. d. Nervosität /
Üb. infantile Sexualthcorien / Beiträge z.
Psychologie d; Liebeslebens : Üb. einen
bes. Typus d. Objektwahl beim Manne.
Über d. allgemeinste Erniedrigung des
Liebeslebens. Das Tabu d. Virgiiiität '
Die infantile Genitalorganisation / Zwei
Kinderlügen / Gedankenassoziation eines
4 jährigen Kindes / Hyster. Phantasien u.
ihre Beziehung z. Bisexualität / Über den
hyster. Anfall / Charakter u. Analerotik /
Üb. Triebumsetzungen, insbes. d. Anal-
erotik/Die Disposition z. Zwangsneurose
/ Mitteilung eines der psychoanalytisch.
Theorie widersprechenden Falles v. Para-
noia/Die psychogene Sehstörung in psy-
choanalyt. Auffassung / Eine Beziehung
zw. einem Symbol u. einem Syinptom/Üb.
die Psychogenese eines Falles v. weibl.
Homosexualität / „Ein Kind wird ge-
schlagen"/ Das Ökonom. Problem d. Ma-
sochismus / Üb. einige neurot. Älechanis-
men bei Eifersucht, Paranoia u. Homo-
sexvialität/Üb. neurot. Erkrankungstypei
/ Formulierung üb. die zwei Prinzipiei
des psych. Geschehens / Der Unterganj
des Ödipuskomplexes / Ittetapsychologli
(Einige Bemerk, üb. d. Begriff d. Unbe
wußten in d. PsA. / Triebe u. Triebschick
sale/ Die Verdrängung-/ Das Unbewußte
Metapsychol. Ergänzung z. Traumlehrel
Trauer u.Melancbol./Neurose u.Psychosd
VI
Zur Technik (Die Frc iidsche psa.Methode
ü ber Psychotherapie / Die zukünft. Chanj
cen d. psa. Therapie / Über „wilde" PsAi
Die Handhabung d. Traumdeutung in 4
PsA. /Zur Dynamik d". Übertragung / RaÖ
schlage f. d" Arzt bei d. psa. Behandlun^j
Üb. faussereconnaissance während d.p3<ß
Arbeit / Zur Einleit. d. Behandlung / Er-
innern, Wiederholen u. Durcharbeiten /
Bemerk, üb. d. Übertragungsliebe/ Wege
d. psa. Therapie / Zur Vorgesch. d. analyt.
Technik) / Zur Ein*, d. Narzißmus / Jen-
seits d. Lustprinzips / Massenpsycholo-
gie u.- Ich-Analyse / Das Ich u. das Es
VII
Vorlesungen z. Einf . in d. Psychoanalyse
VIII
Krankengeschichten (Bruchstück einer
Hysterieanalyse / Analyse d. Phobie eines
5 i. Knaben / Üb. einen Fall v. Zwangs-
neurose/Psychoanalyt. Bemerk, üb. einen
autobiogx-. beschr. Fall v. Paranoia / Aus
d. Geschichte einer infantilen Neurose)
IX
Der Witz u, s. Beziehung z. Unbewußten
/ Der Wahn u. d. Träume in W. Jensens
Gradiva / Eine Kindheitserinnerung d.
Leonardo da Vinci
X
Totem u. Tabu / Arbeiten z. Anwendung
d. Psychoanalyse (Tatbestands-Diagn«)-
stik u. PsA. / Zwangshandlungen u. Reli-^
gionsübung /Üb. d. Gegensinn d. ürwortei
Der Dichtern, d. Pliiuitasieren/Mythol,
Parallele z. ein. plast. Zwangsvorstellung
/ Das Motiv d. Kä.sichenwahl / Der Moses
d. Michelangelo / Einige Charaktertypen
aus d. psychoanalyt. A rbeit / Zeitgemäße^
üb. Krieg u. Tod/ Eine Schwierigkeit d,
PsA./Eine Kindheitserinnerung a. „Dich-
tung u. W^ahrheit" / Das Unheimliche /
Eine Teufelsneurose im 17. Jh.
XI
Nachträge / Bibliographie / Registei
ZTir AüffaSSUTlig der Aphasien. Eine kritische Studie von Dr. Sipm. I
Freud. — 1891. Preis K 3.60, M. 3.—.
Zur Kernitnis der opreI)ra1en Piplogiep des KindesaUers (im
Anschluß an die Little'sche Krankheit). Von Dr. Sigm. Freud, Privat-
dozent an der Universität in Wien. — 1893. Preis K 7.20, M. 6.—.
Shldi<Mi über ITysterie. Von Dr. Josef Breuer und Dr. Sigm. Freud
in Wien. — 1895. Preis K 8.40, M. 7.-.
T>ie TraunideutUIlg. Von Dr. Sigm. Freud. — 1900. Preis K 10.80,
M. 9.-.
T>er TTitz inid seine Beziehims: zum Unbewußten. Von Prof.
Dr. Sigm. Freud. — 1905. Preis K 6.—, M. 5.-
Drei Abhandlungen zur Sexnaltheorie. Von Prof. Dr. sigm. Freud.
— 1905. Preis K 2.40, M. 2.—.
Ote Suggestion und ihre Heilwirkung. Von Dr. n. Bernheim,
Professor an der Faculte de medecine in Nancy. Autorisierte deutsehe
Ausgabe von Dr. Signi. Freud, Dozent für Nervenkrankheiten an der
Universität in Wien. Zweite umgearbeitete Auflage, besorgt von
Dr. Max Kaliaiie. — 1896. Preis K 6.—, M. 5.—.
Neue Studien über Hypnotisnius, Suggestion und Psyeho-
therapie. Von Dr. II. Bemlieim, Professor an der Faculte de me-
decine in Nancy. Übersetzt von Dr. Sigin. Freud, Privatdozent an
der Universität in Wien. — 1802. Preis K 9.60, M. 8.—.
Neue Yorlesungen über die Krankheiten des NerTensystenis,
insbesondere über Hysterie. Von J. M. Charcot. Autorisiert.
deutsche Ausgabe von Dr. Si^ini. Freud, Dozent für Nervenkrank
lieiten an der k. k. Universität in Wien. — 1886. Preis K 10.80,
M. 9.-.
Poliklinische Vorträge von Professor J. M. Charcot. I. Band, Schul-
jahr 1887—1888. Übersetzt von Dr. Sigm. Freud,,. Privatdozent an
der Universität in Wien. II. .Band, Schuljahr 1888^1889. Übersetzt
von Dr. M.ax Kaliaue in Wien. — 1892—1893. — Preis pro Band
K 14.40, M. 12.-. '*'
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