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J ,J
Boston
Medical Library
8 The Fenway,
r.
"1
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^81 (Serie XVII, Heft I) Gynäkologie Nr.
Sammtung
Klinischer Vorträge
begründet von Riqhard von Volkmann
Neue Folge
herausgegeben von
O. Hildebrand "^
Friedrich Müller und Franz von Winckel
Frauenleben und -leiden am Äquator
und auf dem Polareise
von
Prof. Dr. F. v. Winckel
München
1908
Verlag von Johann Ambrosius Barth in Leipzig
Dörrienstraße 16
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_1-, IM «C/\ C"l~— 1~-.-»-
Sdlipyrin
das seit 18 Jabren auf das beste bewSbrte Speziflkum gegen Influenza
leistet aucb ausgezeichnete Dienste bei
211 reicMicber inett$frttation m
M mettstrttdtiotis-Bescbwerdeii
jedes, auch des klimakterischen Alters. (Dosis: Dreimal täglich ein
Gramm.) Vom Beginne der Menses gebraucht, fibertrlfft Salipyrin weit
die Seeale- und Hydrastis- Präparate, indem es die Dauer und Stärke
der Menstrualblutung ganz erheblich vermindert. — Sehr schätzens-
wert ist dabei zugleich die nervenberuhfgende Wirkung des Salipyrins,
das frei von schädlichen Nebenwirkungen ist. Eingehende Unter-
suchungen in den Frauenkliniken von Prof. Dr. Löhlein-Gießen f, Prof. Dr.
Martin-Berlin und Privatdozent Dr. Beuttner-Genf u.a. haben die Be-
deutung des Salipyrlns bei Gebftrmutterblutungen bestätigt.
Scopotnorpbin
(Scopolamin — Morphin)
zeigt von den seitherigen Handelspräparaten in physiologischer Hinsicht die
reine Scopolaminwirkung ohne Nebenwirkung. Nach den Veröffentlichungen
:: :: hervorragender Ärzte mit außerordentlichem Erfolge angewendet :: ::
1. zur Totalnarkose (Scopolamin -Narkose nach
Korff),
2. zur Halbnarkose,
3. als Analgeticum und Sedativum zur Beruhigung
Aufgeregter, zur Schmerzstillung, nament-
lich bei inoperablen Karzinomen*
liquidum
tbiol
siccum
zum Aufpinseln, bildet auf der Haut einen
elastischen unschwer abwaschbaren Firnis.
zum Aufstreuen, ist ein braunes Pulver, wel-
ches zu Trockenverbänden angewendet wird.
Hervorragendes Heilmittel der Schwefel-Therapie (Thioi enthält ca. 12o/o
Schwefel) sowohl bei Hautleiden, Verbrennungen, Gicht und Rheumatis-
mus, als auch besonders bei
Frauenleiden.
Bei den verschiedenartigsten entzündlichen Reizzuständen des Genital-
traktes kommt Thiol mit bestem Erfolge zur Anwendung. Es hat sich als
ein schmerzlinderndes und die entzündliche Reizung beseitigendes
Mittel erwiesen. Eine angenehme Nebenwirkung ist die adstringierende
Tiefenwirkung auf die Schleimhaut. Spezielle Indikationen: Peritonale
Reizungen, Endometritis, Erosionen, para- und perimetrische Exsudate,
Parametritis, Pruritus vulvae, Mastitis, Rhagaden der Brustwarzen usw.
Zur Anwendung gelangen: Thiol liquid,, Thiol-Tampons, Thiol-Glycerin,
Thiol-Collodium, Thiol sicc, Thiol mit Adeps benzoatus,
Thiol hat einen angenehmen, schwach an Thiol Ist beständig in seiner Zusammensetzung,
Juchten erinnernden Geruch und läQt sich wasserlöslich, ungiftig und löst keine Reiz-
aus der Wäsche leicht entfernen. eracheinnngen aus.
Literatur und Proben stehen den Herren Ärzten kostenlos zu Diensten.
J.D. RIEDEL A..G., BERLIN N.39.
/(Sff
(Gynäkologie Nr. 175.)
Frauenleben und -leiden am Äquator und auf
dem Polareise.
Von
F. V. Winckel,
München.
Seit das Deutsche Reich einen großen Kolonialbesitz erworben
hat, hat es auch die Pflicht übernommen^ sich zunächst mit den zahl-
reichen Völkerschaften) die diese Kolonien bewohnen, genau bekannt
zu machen. Wir stehen jetzt erst in den Anfangen dieser Kenntnisse
und das, was wir bisher von denselben erworben haben, ist herzlich
wenig. Dabei ist das uns bereits Bekannte auch nur zum kleinsten
Teil durch Ärzte, zum größten Teil dagegen durch Reisende, Missio-
nare, Kaufleute, Farmer und Offiziere erworben und recht häufig,
namentlich was ärztliche Angaben betriift, auf Mißverständnissen be-
ruhend. Immerhin bildet es eine Basis, von der die weitere For-
schung ausgehen muß; jedes Erforschen ist nur eine Stufe zu etwas
Höherem. Es ist nun interessant zu beobachten, wie die vorhin er-
wihnten Laien bei ihren Wahrnehmungen sich oft auch eingehend
mit dem weiblichen Teil jener Völkerschaften beschäftigt haben und
uns in ihren Schriften eine Menge von Tatsachen, die zur allgemeinen
Gynäkologie gehören, mitgeteilt haben. Ich denke dabei namendich
an die Publikationen des Grafen Joachim Pfeil, Studien und Beob-
achtungen aus der Südsee, Braunschweig 1809, welche sich auf die
Kanaken beziehen, ein Volk, welches noch heutzutage in der Steinzeit
id>t. Mir schweben femer vor die Wanderungen und Forschungen
im Nordhinterlande von Kamerun, die Franz Hutter, ein baye-
Klla. Vortrige N. F. Nr. 481. (GynUologie Nr. 175.) Mal 190& 16
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212 F. V. Winkel, [2
rischer Artilleriehauptmann, bei einem hochkultivierten Negervolke
1801—1803 machte und 1902 publizierte. Mit diesen beiden Schrift-
stellern und ihren Beobachtungen an am Äquator lebenden Völkern
möchte ich dann die Beobachtungen von Schliephake (1885),
V. Nordenskjöld (1886), Nelson (1899), Nansen (1903) und Amund-
sen (1907) an den Frauen der arktischen Zone vergleichen, da die
letzteren, die Eskimos, zum größten Teil auch noch i(i der Stein-
zeit leben und die Bedingungen für ihre Existenz und ihr Fortkonimen
so außerordentlich von denen jener äquatorialen Völker verschieden
sind, daß man a priori die Einwirkung des Klimas, des Lichtes, der
Ernährung und Kleidung, der Beschäftigung, der Bewegung zu er-
kennen vermuten könnte, und jedenfalls gewaltige Verschiedenheiten
zwischen jenen und diesen in jeder Beziehung für sehr wahrschein-
lich halten könnte, was aber, wie wir bald erkennen werden, keines-
wegs den Tatsachen entspricht.
Beginnen wir zunächst mit dem Werke von Franz Hutter,
welches von Forschern wie Wißmann als ein ganz ausgezeichnetes
anerkannt worden ist, so hat derselbe, obwohl er auch kein Arzt,
sondern ein Laie ist, eine Menge trefflicher sozialer, anthropologischer
und ethnographischer Wahrnehmungen in den Jahren 1891 — 1893 in
jenen Ländern gemacht.
Es liegt auf der Hand, daß bei dem Verkehr mit wildfremden
Völkern die Heilkunde immer eine große Rolle spielen muß, und
daß diese gerade in Krankheiten bei dem Fremden Hilfe und Rettung
suchen. So wurde denn auch Hutter bei einer großen Ruhrepidemie
im Balidorf im Jahre 1892 Tag für Tag zu solchen Kranken geholt
und ist von Haus zu Haus mit Opium und Dowerschen Pulvern, mit
Milch und Liebigs Fleischextrakt und mit Karbolsäure zur Desinfektion
gewandert. Ja, noch mehr, eines Tages erschien ein hochschwangeres
Weib in seiner Hütte mit der Bitte, er solle ihr bei ihrer Nieder-
kunft helfen. Darauf hatte er sich zu Hause nun doch nicht vor-
bereitet und so sagte er ihr denn auch, daß er davon nichts ver-
stünde. Aber schon seine Gegenwart beruhigte jene und so bat sie
ihn, gleichwohl in seinem Hause bleiben zu dürfen. Nachdem ihr
dieses gestattet, ging die Geschichte vor sich unter seiner passiven
Assistenz, was, wie er selbst meinte, wohl das beste war.
Ehe wir aber feststellen, was Hutter in anthropologischer, ethno-
graphischer, ärztlicher und gynäkologischer Beziehung uns Neues ge-
bracht hat und wir seine Beobachtungen an der Negerin mit den-
jenigen des Grafen Pfeil an der Kanakin vergleichen, müssen wir
einige geschichtliche Daten vorausschicken: Am 14. Juli 1884 hißte
Dr. Gustav Nachtigal als Reichskommissär tinter dem Donner der
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3] Frauenleben und -leiden am Aqu^^tor und auf dem Polareise. 213
Kanonen der »Möwe"* am Kamerunflusse die deutsche Flagge und
stellte damit dieses Gebiet unter Schutz und Oberhoheit des deutschen
Kaisers. Nachdem der Kaufmann Robert Flegel 1870, 1882—1885
verschiedene Reisen auf dem Benue gemacht hatte, wurden von
Dr. Eugen Zintgraff 1886, 1887—1889 und 1891—1893 drei Expedi-
tionen in das Nordhinterland von Kamerun unternommen, deren erste
1886 die Inangriffnahme- der Erforschungen der unbekannten Hinter-
lander NordlLameruns begann, deren letzte aber durch die siegreichen
Batut- und Bandeng-Aufstände fast vernichtet wurde. Infolgedessen
schickte das Auswärtige Amt den Hauptmann Hutter mit Waffen und
Munition zu seiner Hilfe. Dieser traf im Juni auf der Barombistation
mit Dr. Zintgraff zusammen. Hier wurde der Plan zu einem neuen
Vordringen nach der Station Bali bürg entworfen, von der Zintgraff
vertrieben worden war. Dieser Zug gelang ihnen und sie trafen am
25. August 1891 wieder in Baliburg ein, so daß Hutter, nach Ein-
richtung der Station von Anfang des Jahres 1892 an, seine wissen-
schaftlichen Beobachtungen daselbst anstellen konnte. Leider aber
wurden diese bereits am 1. Januar 1893 auf Befehl des Auswärtigen
Amtes wieder abgebrochen und der Rückmarsch zur Küste angetreten.
In dem ganzen Werk von Hutter ist nun bloß vom Nordhinter-
land von Kamerun, vom Monga-Maloba bis zum Benue die Rede.
Hutter macht mit Recht darauf aufmerksam, daß gründliche und
richtige Einblicke in ethnographische, kulturelle, soziale und sprach-
liche Verhältnisse nur durch monate- und jahrelange Arbeiten auf
einer Station zu erwerben seien. Auf dem Marsche käme natur-
gemäß nur die geographische Forschung, insbesondere die Wege-
aufnahme zustande, das übrige werde höchstens auf Grund von Er-
zählungen und Ausfragen der Eingeborenen ermittelt, ohne es durch
persönliche Beobachtungen und Vergleichungen auf seinen Wert und
Unwert prüfen zu können. Er unterscheidet weiter die hinter der
Küste gelegene Waldlandschaft mit ihren hohen Temperaturen^
ihrem feuchten Boden, ihren schlechten Wegen durch den Urwald
und sein Dunkel von der höher gelegenen Qraslandschaft, wo der
Urwald geendet hat, mannshohes Gras, ein harter Boden, eine dich-
tere, höher kultiviertere und gesündere Bevölkerung sich befindet, in
deren Mitte die Station Baliburg liegt. Bei Schilderung derselben
wendet er sich zunächst zur Besprechung und Widerlegung zahlreicher
falscher Vorstellungen über den Körper und Geist des Negers,
die meist in der Oberhebung der weißen Rasse ihren bewußten oder
unbewußten Grund hätten. Der Neger sei durchaus nicht so häßlich,
wie allgemein angenommen werde, sein Körper sei unverhüllt und
lasse sich mit seinen schönen Formen ebenso wie mit seinen
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214 F- V. Winckel, [4
brechen leicht fibersehen undHutter sagt, er stehe nicht an, gerade-
zu zu behaupten: der vorurteilsfreie Vergleich eines geistig und körper-
lich gut entwickelten Vertreters aus dem Volke eines weißen (kauka-
sischen) Stammes und eines geistig und körperlich gut entwickelten
Vertreters eines der Hochlandstämme im Hinterland von Kamerun-
falle nicht zum Nachteile des Letzteren aus. Vergleiche er aber
minderwertige Repräsentanten der beiden Farben, so komme er zu
demselben Ergebnis, wovon er nur die Kfistenbevölkerung, die Dualla,
ausnehme.
Je weiter Hutter ins Innere vordrang, um so mehr wuchs die Be-
völkerungsdichtigkeit — auf 100 km 10000, auf den nächsten 70km
20000 — und auch die eigene, nicht dem Weißen abgelernte und
abgeschaute Kultur.
In anthropologischer Hinsicht bemerkt Hutter als auffallend
die geringe Breite der mittleren Körperpartie um Hüften
und Becken, namentlich beim weiblichen Geschlechte, so daß man,
hinter einer Anzahl Neger gehend, auf den ersten Blick die beiden
Geschlechter nicht zu unterscheiden vermöge.
Die bei den Männern oft so stark entwickelte Nackenmuskulatur
sei ebenso wie das häufig fibermäßige Hervortreten des Unterleibs
bei Weibern und Kindern und die damit vielfach verbundene starke
Krümmung der Wirbelsäule, eine Folge frühzeitiger, starker Arbeit
und schweren Tragens.
Die Ausdünstung des Waldlandnegers sei ihm, wenn derselbe
nicht schwitze, nicht aufgefallen; wenn er aber schwitze, so sei der
Geruch ein widerlich süßlicher; übrigens sei der Schweiß auch bei
den Weißen bekanntlich nicht wohlriechend; ferner sei der Neger im
Wald- und Grasland sehr reinlich: wo immer nur ein Bächlein riesle,
ein Tümpel sich finde, da bade und plätschere groß und klein
fleißig und mehrmals des Tages, während bei uns doch die Wasser-
scheu in breiten Schichten der IBevölkerung herrsche.
Im Gegensatz zu den Negern fand Graf Pfeil bei den Kanaken
völligen Wassermangel, da auf den kleinen Inseln des Bismarck-
archipels überhaupt keine Quellen sind und die Bewohner das
wenige Wasser, welches sie benötigen, dadurch erhalten, daß sie in
der Nähe des Strandes Löcher in den Sand graben, in die langsam
ein wenig Seewasser einsickert. Es wird dadurch filtriert und seines
Salzgehaltes beraubt, behält aber trotzdem einen so unangenehmen
Geschmack, daß es für Europäer völlig ungenießbar ist. Hieraus er-
klärt er auch die große Unsauberkeit der Kanakin und ihr ge-
ringes Reinigungsbedürfnis, womit übrigens ihr öfters von ihm er-
wähntes Baden in der See nicht recht übereinstimmt.
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5] Frauenleben und -leiden am Äquator und auf dem Polareise. 215
Die Ansiedelungen im westafrikanisclien Urwalde, wozu natürlich
aucli die Pflanzungen, die Farmen, gerechnet werden müßten, seien
nach Hu tt er so recht deutlich ein Gegenbeweis gegen die gedanken-
lose Mär von der Faulheit des Negers; sie widerlegten aufs gründ-
lichste die Redensart, daß in den Tropen den Leuten alles einfach in
den Mund wachse. Die Ansiedler hätten von jeher schwer arbeiten
müssen und müßten es auch jetzt noch, zumal mit ihren primitiven
Messern und Äxten.
Als Beweis der Reinlichkeit der Neger schildert Hutter auch die
Anlage und Benutzung ihrer Aborte. An verschiedenen Stellen
seien lange Schneusen in den Wald gehauen, an deren Enden lange
Baumstämme auf dem Boden oder auf niedrigen hölzernen Gabeln
lägen; dahinter befanden sich meist tiefe Gruben, also genau wie die
Latrinenanlagen bei unseren Truppenbiwakplätzen. Aber die Art und
Weise der Benutzung habe ihn, als er sie das erstemal gesehen, in
einen minutenlangen Lachanfall versetzt. Sie fände nämlich nicht in
der bei uns gebräuchlichen Art statt, sondern Männlein und Weiblein
durcheinander stiegen rücklings vorsichtig und bedächtig hinauf, um
dann, glücklich oben angelangt, die Hockstellung mit tiefer Kniebeuge
einzunehmen. Wie Spatzen auf einem Telegraphendraht habe ihn so
ein Gruppenbild angemutet. Übrigens sei in jedem Graslandgehöfte
ein großer Lehmtopf eingegraben, der, mit Gras bedeckt, von Zeit
zu Zeit in den Bach oder sonstwohin entleert werde.
Als auffallend bezeichnet Hutter die Scheu des Negers, dem
Weißen beim Essen zuzusehen; wolle man sich von der oft so lästi-
gen Neugier der Eingeborenen befreien, so brauche man nur An-
stalten zum Essen zu treffen: sofort ziehe sich alles zurück. Auch
würden nach den Mahlzeiten sorgfaltig die Zähne gestochert und
sehr häufig noch des weiteren durch Reiben mit Holzstückchen ge-
säubert.
Die Tätowierung kommt bei den Weibern derBanyangs ebenso
wie bei den Männern, aber ausnahmslos in ornamentaler Art vor;
in gleicherweise fanden sie Graf Pfeil und Meyer und Parkin-
son bei den Kanakinnen. Aber während die Kanakin ihre Zähne
meist grundlich schwärzt und es besonders modern bei derselben ist,
die der rechten Seite des Ober- und der linken Seite des Unterkiefers
zu schwärzen und die anderen weiß zu lassen und umgekehrt, fand
Hutter bei den Negerinnen keine Spur von Färbung, dagegen wurden
ilinen die oberen Mittelzähne ausgebrochen und vielfach die beiden
unteren Mittelzähne zugespitzt«
Was Nachtigal von den Baghirmis sagt, hebt Hutter auch
von den Balinegern hervor: daß sie psychisch und intellektuell aus->
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216 P« V. WiiKjkel, [Ö
gezeichnet veranlagt seien > und daß kein Gedanke an irgendwelclie
körperliche oder geistige Minderwertigkeit oder Vernachlässigung
seitens der Natur aufkommen könne.
Es komme bei den Negern Sklaverei vor, aber die Form der-
selben sei milde, das gehe schon aus der Sitte hervor, die Sklaven
in eigenen Dörfern wohnen zu lassen. Auch hier habe die Haus-
sklaverei ein patriarchalisches Verhältnis angenommen. Man dflrfe
überhaupt die Bewohner eines Landes, in dem die Eltern ihre Kinder
zum Verkauf als Sklaven anböten, wie Hutter selbst es einige Male
im Waldlande erlebte, nicht mit unserem bisweilen übertriebenen
Gefühlsmaßstabe messen. Sklavenjagden gäbe es nicht, nur Einzel-
verkauf und Wegfangen einzelner, sowie Verwendung kriegsgefange-
ner Männer und Weiber; wobei aber zu bemerken sei, daß die Kriege
nicht zu diesem Zweck geführt würden.
Übrigens herrsche im Kriege Mordgier und Beutelust, Weiber und
Vieh würden weggeschleppt und Hutter beobachtete, wie auf dem
Marktplatze eines erstürmten Dorfes zwei Balikrieger sich um ein
Weib rauften, der eine zog sie am Arme, der andere an ihren Beinen.
Dabei war dem einen durch einen furchtbaren Hieb das ganze Ge-
sicht zerfleischt, der andere aber hielt sich mit der einen Hand die
aus einer breiten Bauch wunde hervorquellenden Eingeweide, ihre
Beute aber ließen sie nicht fahren.
Menschenfresser sind die Balineger nicht, während die Kanaken
in der Tat noch das Menschenfleisch mitsamt ihren Frauen als eine
große Delikatesse betrachten.
Die tödlichste Beleidigung, die der Bali seinem Gegner zufügen
könne, sei die Drohung, daß er die Geschlechtsteile seiner Eltern
verstümmeln werde, offenbar damit letztere unfähig gemacht würden,
nochmals einen solchen Menschen hervorzubringen.
Noch eine den Negern überhaupt aufoktroyierte Eigenschaft be-
spricht Hutter, und das ist der ihm angeblich innewohnende über-
mäßige Geschlechtstrieb. Bei den ihm bekannt gewordenen
Stämmen sei derselbe jedenfalls nicht vorhanden gewesen. Auch
hierin dürften wir uns nicht über den Schwarzen höherstehend dünken,
jener sei eben, wie bei uns auch, individuell verschieden.
Unter den vielen Momenten, die dem Europäer in den Tropen
besonders gefährlich seien, deren Opfer meistens dem sogenannten
tückischen Klima aufgebürdet würden, nennt Hutter besonders den
übermäßigen Alkohol- und Geschlechtsgenuß. Er sei, sagt Hutter,
kein Mäßigkeitsvereinler und ein guter Bayer, aber gerade das schwere
bayerische Exportbier halte er für das tödlichste Gift unter den Tropen.
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7] Frauenleben und -leiden am Äquator und auf dem Polareise. 217
Ein mäßiger Genuß von Alkohol sei als anregendes Mittel in den
sudliclien Breiten bisweilen nützlich, sogar notwendig.
Von jeher war das Klima der westafrilLanischen Küste berüchtigt
und gefürchtet wegen des so oft tödlichen Fiebers, der Malaria. Die
Gefahr desselben, meint Hutter, werde allerdings überschätzt, da
hauptsächlich die ungesunde Lebensweise des Europäers die Schuld
an derselben trage, dann aber auch die Unvorsichtigl^eit, längere Zeit
sich ohne KopfbedeclLung den senkrechten Strahlen der Äquatorial-
sonne auszusetzen. — Eine ebenfalls in den westafrikanischen Tropen
recht häufig vorkommende Krankheit ist die Ruhr, die stets bedenk-
lich und ernst zu nehmen sei, auch weil sich nicht selten ein Fieber-
anfall dazu gesellt. Sie herrsche auch unter den Negern nicht selten
epidemisch, und 1802 fielen ihr im Februar und März vom Bali-
stamme unter 6000 Köpfen nicht weniger als 600 Leute zum Opfer.
In dritter Reihe sind nach Zahl und Häufigkeit ihres Auftretens
im Innern Kameruns Hautkrankheiten mannigfacher Art, fast die erste
Stelle einnehmend, von denen Hutter auch oft in qualvoller Weise
heimgesucht wurde. Auch bei den Kanaken kommen Malaria,
Dysenterie, Hautafl^ektionen, wie wir durch Graf Pfeils Werk er-
fahren, recht häufig vor.
Wenn Hutter beobachtet zu haben glaubte, daß bei beiden Ge-
schlechtem der Neger Nabelbrüche sich häufig fänden, so werden sie
ihm wohl wegen der mangelnden Bekleidung häufiger aufgefallen
sein, da der Europäer auch recht oft daran leidet, sie aber verdeckt
trägt
Mißbildungen des ganzen Körpers wie Höcker, Verwachsungen
u. dgl. sah Hutter beim Neger nie, wohl aber öfter Elephantiasis
scroti mehrmals bis zur Größe eines Kürbis; merkwürdig, daß er
dieselbe nicht auch an den weiblichen Genitalien beobachtete. Einige-
mal fand er bei beiden Geschlechtern stets zwischen der großen und
der zweiten Zehe eine sechste Zehe, aber ohne Nagelglied. — Krebs
htnd Hutter einige Male im Banyangland bei den Frauen an den
Brüsten, bei den Männern an der Nase. Daß Geschlechtskrankheiten
existierten, schloß Hutter aus der Anwendung pflanzlicher Mittel
gegen dieselben, jedoch sollen sie nur leichteren Grades sein, wahr-
scheinlich Gonorrhöe, wogegen die Banyangs einen Absud der
Blätter des Waldbaumes, genannt Ndakwa, verwendeten.
Gegen Erkältung wird Pfeffer gekaut und gegessen. Gegen
Unterleibsbeschwerden wird heißes Palmöl innerlich und äußerlich
gebraucht und außerdem werden Klistiere in einer nachher zu schil-
dernden Weise gesetzt.
Bei der Ruhr suchen die Neger durch Tanz, Geschrei undLärm-
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218 F. V. Winckcl, fg
machen mit allen möglichen Instrumenten die ,,Krankheit in den
Busch zu jagen"*,
Palmwein, Palmöl und Kolanuß spielen bei verschiedenen Krank-
heiten eine große Rolle, außerdem aber auch Umschnürung und Ab-
schnfirung des erkrankten Gliedes; dann ferner Bähungen mit dem
Mist der Haustiere.
Skarifikationen werden an der linken Seite gegen Milzvergröße-
rung ausgeführt und Schröpfen mit Aufsetzen von kleinen Antilopen-
hörnchen; die Blutung wird durch Auflegen von Mist gestillt.
Die allgemein übliche Beschneidung der Knaben wird erst im
Alter von 10—12 Jahren vorgenommen und die Wunde gleichfalls mit
Mist verbunden.
Von einer Kaste von Ärzten oder Medizinmännern existiert bei
den Balis nichts, wohl aber eine große Menge abergläubischer Ge-
bräuche, die den bei uns noch oft angewandten Sympathiemitteln in
vieler Beziehung gleichen.
Die Hauptfeinde des Menschen aus der Tierwelt sind nicht
die Leoparden, Elefanten, Krokodile und Schlangen, sondern die
Ratten, Ameisen, Sandflöhe und Fliegen. Namentlich die Sandfiöhe
bohren sich heimtückisch unter die Nägel der Zehen, erzeugen dort
Geschwüre und machen den Menschen oft für Wochen vollkommen
marschunfähig. Sie sollen, ein Gastgeschenk Amerikas, erst Anfang
der siebziger Jahre durch ein Schiff an der afrikanischen Westküste
eingeschleppt worden sein.
Nach dieser mehr allgemeinen Einleitung wenden wir uns nun zu
den uns hier am meisten interessierenden Beobachtungen Hutters
an der Wald- und Graslandnegerin und begleiten diese von der
frühesten Kindheit bis zum Tode, indem wir auch hier die Angaben
Hutters mit denen des Grafen Pfeil über dieKanakin vergleichen.
Eine Kindererziehung in unserem Sinne gibt es bei der Negerin
nicht. Die meisten Mütter stillen wohl ihre Kinder selbst, gewöhn-
lich fast ein Jahr; bei den Kanaken werden die Kinder gewöhnlich
bis sie laufen können gestillt, ja manchmal, wenn keine neue
Schwangerschaft eintritt, bis zum vierten Jahre. Nicht selten wird
neben der Mutterbrust noch andere Nahrung gegeben ; so beobachtete
Hutter einmal, wie eine in seiner Nähe hockende, völlig nackte
Negerin ihr Kind fütterte, indem sie ihm bald die Brust reichte, bald
im Munde zerkauten Mais in seinen Mund spuckte. Diese ekelhafte
Sitte des Vorkauens ist nicht bloß bei den Negerinnen beobachtet»
sondern kam vor nicht langer Zeit auch noch bei deutschen Ammen
öfters vor. Graf Pfeil sah im Bismarckarchipel, wie ein Kanake ein
etwa einjähriges Kind mit großen Mengen junger Kokosnuß fütterte, die
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9] Frauenleben und -leiden am Äquator und auf dem Polareise. 219
es gierig verschlang; das Kind verzehrte fast eine ganze Kokosnuß,
ohne die mindeste Verdauungsstörung dadurch zu bekommen. Bei
Unterleibsbeschwerden der Kinder werden ihnen von der Negerin
Klistiere gesetzt, indem sie ein ungefähr 20cm langes, hornähnliches
Holzrohr mit dem spitzen Ende in den After einführen, oben Wasser
hineinschütten und nun, den Mund in den Trichter pressend, statt
einer Spritze aus Leibeskräften das Wasser in den Darm blasen;
ebenso werden auch Erwachsenen Klistiere gegeben.
Zur Arbeit werden die Säuglinge, die noch nicht laufen können,
mitgenommen, indem sie rittlings auf der Hüfte der Mutter oder im Rücken
auf einem um die Stirn derMutter und unter dem kleinen Allerwertesten
führenden Bande getragen, sich mit ihren Händchen an Arm, Schul-
tern und Brust anklammern. Die Kanakin schleppt ihre kleinen
Kinder auch in reitender Stellung auf ihrer Hüfte mit; hier fixiert
durch ein in Form eines Schals um sie geschlagenes, auf der ent-
gegengesetzten Schulter geknüpftes Pandänusblatt. Graf Pfeil be-
merkt dabei, daß, solange die Kanakenkinder klein seien, sie mit-
unter ganz niedlich wären, obwohl sie den Negerkindern in keiner
Weise zur Seite gestellt werden könnten.
Bei den Balinegern überwiegen die Langschädel; doch bezweifelt
Hutter, ob dies von Geburt aus das gewöhnliche sei und nicht
bloß zustande komme, weil es bei den Negerinnen allgemeine Sitte sei,
den kleinen Kindern durch Streichen und steten Druck eine lang-
gestreckte, eiförmige Kopfgestalt zu geben.
Der Eintritt der Pubertät wird bei der Negerin festlich be-
gangen. Sie muß sich um diese Zelt in ihre Behausung zurückziehen.
Dann wird ihr Menstrualblut in einer Schale aufgefangen, die ganze
Verwandtschaft sammelt sich im Gehöft der glücklichen Eltern und
besichtigt in Abwesenheit des jungen Mädchens die herumgezeigten
Beweise.
Bei der Beschneidung der Knaben findet dagegen keine Fesdich-
keit statt, ebensowenig bei der Geburt eines Kindes und dessen Namen-
gebung.
Die Ehe trägt den monogamischen Charakter; daher gibt es nur
eine unter gewissen Zeremonien geheiratete Frau als legitime Gattin.
Die Ehe zwischen Blutsverwandten auf- und absteigender Linie und
zwischen Geschwistern ist verboten, gleiche Bestimmungen gelten
nach Graf Pfeil auch bei den Kanaken. Dem Manne der Negerin
ist der Verkehr mit Sklavinnen gestattet, in der Zeit, während sich
seine Frau der Kohabitation enthält, z. B. während der Regel, während
eines Teils der Schwangerschaft und solange sie ihr Kind stillt.
Nicht gestattet ist dem Manne der Verkehr mit andern verheirateten
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120 F- V. Winckcl, [10
Frauen oder anderen als Sklavenmädchen. Während aber beim
Weibe der Ehebruch schwer, oft mit dem Tode bestraft wird, muß
der Verfuhrer nur eine schwere Buße zahlen. Das Verhalten der Kanaken
ihren Frauen gegenüber hat Graf Pfeil nicht ganz klar dargestellt.
Denn wenn er sagt: Ehescheidungen sind bei ihnen nicht häufig, Ehe-
bruch wird als Unart betrachtet und durch eine Geldbuße bestraft —
so steht damit in Widerspruch seine spätere Angabe: Eheliche Un-
treue kommt im allgemeinen selten vor, weil sie am Weibe mit Todes-
strafe geahndet werden darf und die noch spätere: Die Weiber in
Neumecklenburg hätten das Recht, ihre Gunst vor und nach der
Heirat beliebig zu verschenken, in grellem Widerspruch. Viel-
weiberei ist nach Graf Pfeil bei den Kanaken durchaus die Regel, doch
findet man selten mehr als zwei und kaum je mehr als sechs Weiber
im Besitz eines Mannes. Die Weiber selbst sind durchaus nicht
gegen, sondern für dieselbe, weil ihnen dadurch Teilnehmerinnen
ihrer Arbeit in Garten und Feld erwachsen. Wie tief im Obrigen
die Kanakin unter der Negerin steht, geht aus der Angabe des Grafen
Pfeil hervor, daß es die Miteinwohner eines Hauses gar nicht als
lästig empfanden, Zeugen des geschlechtlichen Umganges von Ehe-
paaren zu sein, während Hutter mehrfach betont, daß der Geschlechts-
akt von den Negern nie in der Öffentlichkeit vollzogen werde.
Die mosaische Forderung der Unberfihrtheit des Weibes kennt
der Wald- und Graslandneger nicht; er bevorzugt bei der Wahl seiner
Gattin sogar ein Mädchen, das bereits Kinder in die Ehe mitbringt,
und urteilt von einer Maid ohne solche Aussteuer ,,Die scheine nicht
liebenswert und fruchtbar zu sein, sonst hätte sie wohl schon einen
Liebhaber gefunden^ ganz wie die oberbayrischen Bauern.
Hutter fand bei den Graslandnegerinnen, im Gegensatz zu dem
federnden, elastischen Gang der Männer, einen steifen unschönen
Gang; dagegen die Gelenkigkeit der Füße und namentlich der Zehen,
welche geradezu als Finger benutzt würden, um Gegenstände vom
Boden aufzuheben, sehr überraschend, ebenso wie die schlanken
Hüften an den meist schön gebauten Körpern der Weihen
Trotz dieser schmalen Hüften solle das Gebären leicht und gut
vonstatten gehen. Ober das Verhalten bei der Niederkunft teilt
Hutter mit, daß bei derselben dem eignen Manne der Zutritt zu der
Hütte der Kreißenden untersagt sei. In dem einen, oben schon er-
wähnten Falle, den Hutter in seiner Wohnung beobachtete, war die
Geburt in etwas mehr als drei Stunden in hocke ndör Stellung be-
endet. Kind und Nachgeburt gingen gut ab. Die Nabelschnur wurde
von der Kreißenden selbst, etwa 25 cm vom Kinde entfernt, mit den
Nägeln abgezwickt und durchgerissen, eine Unterbindung derselben
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n] Frauenleben und -leiden am Äquator und auf dem Polareise. 221
fand nicht statt. Gegen Abend kehrte die Mutter mit ihrem Neuge-
borenen wieder ins Dorf zurück. — Auch hat Hutter nicht selten
gehört, daß Weiber, die in den Farmen von den Geburtswehen über«^
rascht werden, ganz allein gebären und an dem gleichen Tage mit dem
Kinde den oft stundenlangen Rückweg nach Hause antraten, eine Be-
obachtung, die man auch bei höher kuhivierten Frauen, den Euro-
päerinnen, wenn sie auf einem Wege, einer Fahrt oder bei der Arbeit
auf dem Felde von der Geburt überrascht werden, häufig machen
kann. Die hockende Stellung und das Abreißen der Nabelschnur
soll bei den Negerinnen ganz allgemein gebräuchlich sein. — Anders
ist das Verhalten der Kanakin bei ihrer Entbindung: Fühlt dieselbe
den Tag ihrer Entbindung herannahen, so begibt sie sich an den
Meeresstrand und wirft sich, belastet mit einem Stein, den sie in beiden
Händen trägt, in die Brandungswelle. Diese ist mitunter so stark,
daß ein Entgegenstemmen und Aufrechtstehen unmöglich ist; das Weib
wird niedergeworfen, steht aber mutig auf, um sich von neuem der
Brandung entgegenzuwerfen. Natürlich ist es unmöglich, dieses Spiel
lange auszuhalten, ein- bis zweimalige Wiederholung genügt. Sie
glauben sich damit eine leichte Entbindung und dem Kinde Wohl-
befinden gesichert zu haben. Darauf zieht sich die Kreißende in die
Hütte zurück, wohin ein bis zwei Freundinnen sie begleiten; während
der Niederkunft nimmt sie eine kniende Stellung ein. Wie, nach
Hutters Angaben, Mißbildungen des Körpers weder im Wald- noch
in Grasland bei den Negern gefunden werden, offenbar weil daselbst
mißgebildete Kinder gleich nach der Geburt getötet werden,
so behauptet auch Graf Pfeil von den Kanakinnen, daß, da man niemals
mißgestaltete Kinder bei ihnen zu sehen bekomme, dies auf die von
den Müttern oft ausgeführte heimliche Tötung des Kindes zurück-
zuführen sei, indem sie durch Zuhatten seines Mundes dasselbe er-
stickten, oder so lange auf sein Herz drückten, bis es zu schlagen
aufhöre.
Auch in bezug auf die Fruchtbarkeit scheinen sich die Kanakin
und Negerin sehr nahe zu stehen. Vier bis fünf Kinder seien bei
der Kanakin schon sehr viel, drei sei die gewöhnliche Zahl — nach
Pfeil; und Hutter bemerkt ebenfalls, daß die Fruchtbarkeit der
schwarzen Rasse nicht so bedeutend sei, als man gewöhnlich annehme.
Hutter fond als Durchschnittsstärke der Familie im engeren Sinne im
Waldland 5 — 6 Köpfe, 2 Eltern und 3 — 4 Kinder, und ebenso im Gras-
land, wo die Bevölkerung ihm viel dichter und kultivierter erschien;
der Unterschied zwischen diesen beiden Völkern und den viel höher
kultivierten in bezug auf diesen Punkt ist also außerordentlich gering.
Das Verhalten der Brüste der Negerin schildert Hutter wie
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222 P- V. Winckcl, [12
Folgt: Im eigentlichen Grasland sitzen die Brüste der Weiber ge-
wöhnlich auf schmaler Grundfläche auf, ragen weit hervor und endigen
in zapfenförmiger Brustwarze. Man kann sie also im allgemeinen
als stark, wenigstens als voll bezeichnen, die Form ist häufig konisch.
Rasch senken sie sich aber und werden häufig bald hängend; bei
jungen Mädchen aber sind sie fast stets straff und fest und man be-
kommt nicht selten bei solchen klassisch schöne, herb jungfräuliche
Formen zu sehen. Bei den Bali-njong sah Hutter ein Weib, dessen
rechte Brust tadellos geformt war, während die linke ganz schlapp
weit herabhing. Aber die hängende Form in der Ausdehnung, wie sie
im Waldlande häufig zu sehen, beobachtete Hutter bei den sehnigeren
und mageren Graslandnegerinnen nie« Bei einer Waldlandnegerin
fand er beide Brüste so schlaff, daO die linke bis zur Scham, die
rechte bis über den Nabel herabhing, jede Brust eine lange Haut-
falte und unten daran kugelförmig noch aufgetrieben mit auffallend
langer Warze. Bei dem frühzeitigen Herabsinken der Brüste ist
offenbar der Mangel der Kleidung und wohl auch das lange Stillen
der Kinder schuld. In Mabesse sah Hutter ein Weib mit ganz zer-
fressenen Brüsten: die eine bot eine große eiternde Fläche dar, die
andere hing „in Fetzen '^ herunter; ob hier Karzinom oder Mastitis
vorlag, ist aus der Beschreibung nicht mit Sicherheit zu entnehmen.
Wie in Deutschland zur Zeit der Minnesänger, so herrscht bei den
Negern jener Gegenden noch jetzt eine Sitte, wonach der Häuptling
eines Dorfes für den angekommenen Weißen außer Ziegen, Schafen,
Schweinen, Hühnern, Palmwein und Durrabier auch junge Frauen
und Mädchen seines Haushaltes als lebende Gastgeschenke sendet.
Hierin haben die Waldstämme ein ziemlich weites Gewissen, indem
das Oberhaupt der Familie oder der Ehemann nicht eben selten aus
den Reizen seiner weiblichen Angehörigen durch Anbieten derselben
zur Benutzung Kapital zu schlagen sucht und auch im Graslande ist
die Sitte allgemein üblich, daß der Häuptling aus seinem Haushalte
junge Weiber, die er als seine Töchter bezeichnet, was übrigens nicht
wörtlich zu nehmen ist, zur geschlechtlichen Benutzung übersendet.
Wie wenig die Kleidung der Negerin als Verhüllung betrachtet
wird, erfuhren Hutter undZintgraff in drolliger Weise. Sie hatten
nämlich zur würdigen Feier eines Tanzes zwei Stationsfrauen ein Paar
weiße, lange Frauenhemden geschenkt; nun stolzierten dieselben damit
an und als sie sich zu jener Füßen zum Palmweineinschenken nieder-
kauerten, hoben sie in gänzlicher Verkennung ihres Zweckes die
Hemden hoch bis über die Hüften, damit sie ja nicht schmutzig würden.
Die jungen Mädchen und Frauen gehen bis nach der Geburt des ersten
Kindes vollkommen nackt; höchstens daß sie bisweilen eine dünne
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13] Frauenleben und -leiden am Äquator und auf dem Polareise. 223
Schnur um die Hüften tragen. Nachher haben sie an dieser Schnur
handbreite kleine SchQrzchen vorn und rückwärts. An Stelle der Be-
kleidung ist das fast ausnahmslos geübte Einreiben des Korpers mit
Rotholz gebräuchlich. Ein Schamgefühl ist den Negern nicht ange-
boren, sondern wird ihnen höchstens anerzogen. Gibt man den Leuten
Zeug zur Verhüllung der Scham , so verstehen sie nicht warum: der
oder die eine hält es sich an den Kopf, sie drapieren es anderswo,
weil es ihnen da besser gefalle, oder lassen es vielleicht am bezeich-
neten Platze, nur weil es dem Geschmack zufällig entspricht.
Worin besteht nun die tägliche Beschäftigung der Weiber?
Hutter spricht von einer Arbeitsteilung zwischen den beiden Ge-
schlechtern. Die Feldarbeit obliege fast ausschließlich den Weibern;
beim Hausbau bestände ihre Arbeit lediglich im Wasserherbeischleppen.
Dagegen werde das Korbflechten, die Anfertigung von Taschen, Stricken
und Mützen, das Spinnen des Fadens mit der Spindel nur von den
Männern besorgt, während die älteren Weiber die Anfertigung stärkerer
Fäden ausführten. Das Herbeischleppen der Lebensmittel aus den
Farmen, sowie von Feuerholz, die Zubereitung der Speisen und die
Kinderpflege sei selbstverständlich auch Sache der Weiber. Das Fleisch
werde in Wasser gesotten, oder in Palmöl gekocht, ebenso die Pfianzen-
nahrung. Vielfach würden aus den Knollenfrüchten allein, oder auch
mit Mais, Maismehl, Erdnüssen und Bananenmehl zusammengeknetet
Klöße geformt, die ihre rundliche Form durch Reiben an den
Bäuchen der die Küche besorgenden Weiber erhielten und in
Palmöl gesotten würden. Aus der heißen Öltunke würden sie dann
mit gespreizten Fingern ganz oder in Stückchen, die noch rasch mund-
gerecht geknetet würden, herausgefischt — jedenfalls eine recht appe-
titliche Bereitung.
Bei den Negern nehmen beide Geschlechter ihre Mahlzeiten in
hockender Stellung gemeinsam ein, bei den Kanaken speisen dieselben
nicht gemeinschafdich, sondern die Männer zuerst und die Frauen be-
kommen nachher den Rest.
Im Behandeln der Haare sind Negerin und Kanakin wieder bei-
nahe einander gleich. Bei der Kanakin werden dieselben entweder
künstlich gekräuselt, oder auch ganz abgeschabt, so daß der Kopf kahl
erscheint; an den Genitalien werden die Schamhaare meist von den
Mädchen und Frauen selbst entfernt. Die Banyangweiber gefallen
sich in den tollsten Haartrachten. Wollte man, sagt Hutter, sie alle
beschreiben, so gäbe es ein eigenes Buch und ein noch dickeres mit
2^ichnungen derselben, denn mit Worten könne man diese Figuren
nicht wiedergeben — so im Waldlande. Bei den Balis rasieren sich
die Weiber den Kopf meist ganz kahl, oder es bleibt in der Mitte ein
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224 F. V. Winckel, [14
von der Stirn nach rückwärts in den Nacken sich ziehender länglicher
Haarwulst. Zur Zeit nach der Regel und nach Geburten rasieren
sich die Weiber die Schamhaare, auch die Augenbrauen und die
Haare in den Achselhöhlen; die abgetragenen Haare werden aber
nicht weggeworfen, sondern in einem Blatte verbrannt. Das Rasieren
selbst üben meist alte Frauen mit kleinen Messern aus, indem sie
zuerst die betreffende Körperstelle mit Rotholz einreiben, mit Wasser
befeuchten, dann die kleinen Messerchen mit ihren Schnittflächen an-
einanderreihend schärfen und nun die Haare abschaben. — Beim
Tragen von Lasten werden die schweren Körbe meist auf dem
Kopf getragen: zur Verminderung des Druckes legen sich die Weiber
kranzförmig aus Blättern geflochtene Polster zwischen Kopf und Korb,
ganz wie bei uns die Bäuerinnen einen flachen Kranz aus Zeug auf-
legen.
Dem jüngsten wie dem ältesten Weibe ein schier unzertrennlicher
Begleiter ist die Tabakspfeife. Hutter sagt, er habe nicht so leicht
ununterbrochene Raucher gesehen, wie im Hinterlande von Nord-
kamerun. Alles rauche daselbst vom Kinde bis zum Großvater und
zur Großmutter. Das Schnupfen komme dagegen im Hochlande nur
in Bamesson noch häufig vor, sonst weit weniger im Waldlande.
Auch bei den Kanaken rauchen beide Geschlechter aus kurzen tönernen
Pfeifen leidenschaftlich und beginnen schon in sehr frühen Jahren.
Graf Pfeil sah, wie ein Kanake einem Säugling sogar die Pfeife
zwischen die Lippen steckte. Schnupfen und Kauen von Tabak will
er dagegen niemals beobachtet haben.
Eine Hauptfreude ist der Negerin und Kanakin der Tanz. Bei
den Kanaken tanzen Männer und Knaben allein, die Weiber aber mit
den Mädchen zusammen. Die Negerin tanzt viel graziöser als die
Kanakin, zum Teil aber auch sehr ausgelassen. Hutter beschreibt
z.B. folgenden Tanz, den Nachtigal auch bei den Baghirmis beob-
achtete: Zwei Tänzerinnen wirbeln, sich fortgesetzt drehend und mit
den Händen über dem Kopfe zusammenklatschend, aufeinander los und
der Gipfel der Kunst besteht darin, in der letzten Drehung mit den
Gesäßen aufeinanderzuprallen. Glückt der Zusammenstoß, so federn
die elastischen Puffer oft derart, daß das Gleichgewicht oft bedenklich
verloren geht, natürlich zum größten Gaudium der Zuschauer.
Grobsinnliches Gepräge zeigen zwei weitere Tänze. Die Weiber
stehen in einer Reihe und wiegen sich tanzend auf der Stelle. Eine
verläßt ihren Platz und kauert sich der Reihe nach vor jeder der
andern nieder, die im Tanz fortfahren, während die Kauernde sie mit
der Hand über den Bauch und namentlich an den Genitalien streichelt.
Ab und zu neigt sich die also Geliebkoste mit dem Oberkörper nieder
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15] Frauenleben und -leiden am Äquator und auf dem Polareise. 225
und reicht der Huldigenden die Brust, woran diese saugt. Derselbe
Vorgang wird von jeder einzelnen mit allen wiederholt.
Der zweite Tanz ist so: Aus dem Halbkreis tritt eins der Weiber
hervor und wiegt sich ein Bein vorwärtsgestellt auf die Hüften ge-
stemmt im gleichen Takt wie die übrigen. Eine zweite folgt und Brust
an Brust mit der Solotänzerin schiebt sie eins ihrer Beine zwischen
die der letzteren. Zusammen ahmen sie nun die Bewegungen der
Kohabitation nach. Der übrige Tanzkreis begleitet diese Bewegungen
mit stets rascher werdendem Gesang, zuletzt wird von allen das Wort
otchakeni ausgestoßen, beide Tänzerinnen treten zurück und werden
durch ein anderes Paar abgelöst. Übrigens tanzen auch bei den großen
Festen der Neger beide Geschlechter stets getrennt.
Bei ihren Tänzen singen die Frauen bald laut, bald leise, in der
Regel obszöne Lieder, zum Teil eintönig, hier und da aber mit einem
gewissen Wohlklang und Rhythmus.
Die Negerinnen berauschen sich zuweilen im Palmwein, die
Kanakin soll sich durch übermäßiges Betelkauen öfter einen tiefen
Rausch verschaffen.
Endlich ist der Negerin wie der Kanakin auch ein bestimmtes
Verhalten beim Tode ihres Mannes vorgeschrieben. Beginnt
nämlich bei einem Neger der Todeskampf, dann rennen die männ-
lichen Angehörigen bald vor das Haus hinaus, bald umtanzen sie das
Sterbelager, schreien und spektakeln mit allen möglichen Musik-
instrumenten, besonders mit der Rassel — 10—20 hohlen halbrunden
an einem Ring befestigten Eisenstäbchen — um die bösen Geister zu
verscheuchen; dabei beginnen die Weiber in der Hütte um das Lager
kauernd Klagegesänge in eigenartigen bald einförmigen, bald gellenden
Tonen. Diese Totenklagen werden auch nach dem Tode mit Unter-
brechungen fortgesetzt. Der Leichnam wird in Stoffe bänderartig
eingehüllt, die Betsetzung erfolgt in ausgestreckter Lage und stets in
dem zu Lebzeiten bewohnten Hause. In Bamesson wird die Leiche
meist unter der Schwelle eingegraben. Viel härter sind noch die Vor-
schriften für die Kanakin: Ehe der Leichnam ihres Mannes in ein
Kanoe gelegt wird, verbleibt er mehrere Tage in dem bisherigen
Wohnhause. Hier haben ihm seine Frauen Gesellschaft zu leisten und
niemand darf währenddessen das Haus betreten. Den Frauen wird
ihre Nahrung hineingereicht. Nur die hervorragenden reichen Kanaken
werden in offenen Kanoes der Verwesung ausgesetzt, die weniger be-
deutenden werden in ihren eigenen Häusern begraben. Der Erdboden
wird aufgewühlt und der Körper langausgestreckt hineingelegt. Die
Frauen müssen nun das Haus weiter bewohnen und ihr Hauswesen
auf dem frischen Grabe des Verstorbenen weiterführen. Die Weiber
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226 F. V. Winckel, [10
ßrben bei jedem TrauerFalle ihre Gesichter schwarz, die Männer nur,
wenn der Verstorbene ein Mann war. — Übrigens kommen auch Ver-
brennungen von Leichen in Neumecklenburg vor und Ferner Versen*
kungen von Leichen in die See, indem dieselben mit einer aus Kokos-
palmenblättem geflochtenen Matte umhaut und mit einem Steine
beschwert werden. Frauen sollen daselbst stets ihre letzte Ruhestätte
in dieser Weise finden.
So ist die Stellung der Frau bei den Kanaken denn doch immer
viel niedriger wie bei den Negern: die Kanakin kann vom Mann ver-
schenkt, verkauft, getötet werden, nur ihre materielle Stellung ist in-
sofern als sie Alleinbesitzerin alles des, von ihr in die Ehe gebrachten
Heiratsgutes bleibt und alles dessen, was sie sich während der Ehe
zu erwerben vermag, besser wie bei der Negerin ja sogar bei der
Europäerin. Durch diese ihre materielle Unabhängigkeit vom Manne
und weil sie in der Ehe der fleißigere, mithin wohlhabendere Teil ist,
ist das Entwürdigende ihrer sonstigen Stellung mehr ausgeglichen und
sie steht doch dem anderen Geschlecht ziemlich selbständig gegenüber.
Auch die Negerin ist physisch und sozial tiefer stehend, als ihr
Mann, für den sie zu arbeiten und dem sie Kinder zu gebären hat;
aber drückend empfindet sie diese Stellung nicht. Ältere Neger,
namentlich Häuptlinge, erweisen ihren alten Müttern oft eine geradezu
liebevolle Verehrung. Solche Matronen sind dann bei den geheimsten
Palavern zugegen und haben geradezu Sitz und Stimme im Rat und
nicht zu unterschätzenden EinfiuO. Wenn diese Vertrauungsstellung
die Hauptfrau auch selten einnimmt, so kommt es doch auch vor. —
Jedenfalls ist das Weib dem Neger zum mindesten ein wertvolles
Eigentum und die Anwesenheit der Weiber in einem Dorfe gibt dem
Weißen das beruhigende Gefühl, daß augenblicklich wenigstens keine
Feindseligkeit geplant ist.
Man darf dabei aber auch nicht vergessen, daß die Kanaken noch
auf der allerniedrigsten Kulturstufe stehen und heute noch in der
Steinzeit leben, d. h. ihre WafPen und Geräte aus Muscheln und Steinen
herstellen und weder Bronze noch Eisen kennen, während der Neger
den Speer und das Gewehr führt, Hämmer und Äxte und Messer kennt
und Eisen und Messing.
Wenn nun auch weder von Dr. Hutter, noch vom Grafen Pfeil
in den von ihnen durchforschten Gegenden besondere sexuelle Ano-
malien wie Elephantiasis der weiblichen Genitalien, Lageveränderungen
derselben, ferner namentlich die Existenz von größeren Geschwülsten
wie Eierstocksgewächse und Tumoren des Uterus gesehen oder erwähnt
worden sind, so ist es darum doch nicht wahrscheinlich, daß dieselben
bei jenen Völkerschaften überhaupt nicht oder auch nur viel seltener.
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17] Frauenleben und -leiden am Äquator und auf dem Polareise. 227
wie bei den höher kultivierten Völkern vorkämen. Es ist )a allerdings
z. B. vom Gebärmutterkrebs längere Zeit behauptet worden, daß er
bei den Negerinnen viel seltener, wie bei der weißen Frau vorkäme,
aber mit Unrecht, denn sowohl durch Middleton Michel und J. S.
Billings ist schon vor IV2 Jahrzehnten festgestellt worden, daß die
Mortalität an Krebs bei den Negerinnen ebensogroß wie bei den
Weißen ist und mit den übrigen genannten Anomalien wird es wohl
ebenso sein. Allerdings gibt es eine ausgezeichnete ärztliche Schrift
über die akuten Infektionskrankheiten bei den Negern der äquatorialen
Küsten Westafrikas von Dr. A. Plehn (Virchows Archiv Bd. 174 Splh.).
Diese stützt sich auf Beobachtungen an 15000 Eingeborenen aus Kamerun
und seiner Umgebung und hat festgestellt, daß die Neger der Bantu-
familien verschiedenen Krankheitseinfiüssen sich ziemlich überein-
stimmend und vielfach anders, als die kaukasische und gelbe Rasse
(Chinesen, Malayen) verhalten. So fehlen bei jenen z. B. Tuber-
kulose, Skrofulöse und Rhachitis fast ganz; Syphilis trat vollkommen
zurück. Während die auf Madagaskar lebenden malayischen Hovas
von der Syphilis völlig durchseucht sind, haben die madagassischen
Neger trotz reichlicher Infektionsgelegenheit nicht von der Syphilis
zu leiden. Bösartige Neubildungen, Lepra sind sehr selten. Puerpe-
ralerkrankungen und Erysipel sind ebenfalls selten. Gonorrhöe ist
außerordentlich verbreitet, soll aber sehr schnell heilen (?!). Charak-
teristisch für die Pathologie des äquatorialen Westafrikas, besonders
des Kamerungebietes sei also das Zurücktreten der chronischen Krank-
heiten hinter den akuten. Und hierin liegt allerdings ein gewaltiger
Unterschied zwischen diesen Völkerschaften und denen in Grönland
und am magnetischen Nordpol lebenden^ wie wir später erfahren
werden.
Wenn wir uns nun vom fernen Süden nach dem äußersten Norden
zu den Bewohnern des Polareises wenden und uns bei den Eskimos
nach der Stellung, den Arbeiten und Pflichten des Weibes umsehen,
so könnte es manchem meiner Leser erscheinen, als ob dieser Ober-
gang zu unvermittelt geschehe, als ob zwischen der Kanakin, der
Kamerunnegerin und der Frau des Eskimos wohl gar keine Verbindung
bestände, als ob deren Existenzen viel zu verschieden seien, um über-
haupt einen Vergleich miteinander zu gestatten. Dem ist aber
durchaus nicht so. Es ist ein besonderes Verdienst von Fritjof
Nansen, nachgewiesen zu haben, daß bei den grönländischen Eskimos
Mythen existieren, deren Wiege im fernen Innern Asiens zu suchen
ist, ja solche Mythen gefunden zu haben, die unzweifelhaft Grönland,
Sudafrika und die Fidschi-Inseln verbinden. Auch hat Nansen (I. c.
p. 257 ff.) konstatiert, daß die Möglichkeit, daß solche Mythen an
Klia. Vortrage, N. F. Nr. 481. (Gynäkologie Nr. 175.) Mai 1906. 17
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228 F. V. Winckel, [18
mehreren Stellen zugleich entstanden sein könnten, hier ausgeschlossen
sein müßte, weil sie zu viele und zu charakteristische Obereinstimmungs-
punkte besäßen. Daraus schließt er also, daß der Verkehr zwischen
den alten Norwegern und Eingeborenen Grönlands durchaus nicht so
oberflächlich sein konnte, wie man gewöhnlich annehme.
Schicken wir aber, ehe wir auf den gynäkologischen Teil dieser
Skizzen eingehen, einige Bemerkungen über die Eskimos im ganzen
voraus, so rechnet Nansen sie (1. c. p. 16) zu den mittelgroßen
Völkern und erwähnt von den Frauen, daß bei ihnen die schmalen
Hüften und die auffallend kleinen Hände und Füße zu sehen
seien; die ersteren erklärt er dadurch, daß die Eskimofrauen soge-
nannte runde, die Europäerinnen aber flache, breite Becken haben.
Dasselbe sagt Hutter von den Kamerunnegerinnen, an denen er die
schlanken Hüften und den meist schön gebauten Körper bewunderte.
Was die Dichtigkeit der Bevölkerung betrifl^t, so zählte Nansen 1889
5614 Personen, darunter 2501 Männer, also 3025 Weiber, also auf
einen Mann kamen 1,16 Frauen; dagegen fand Kapitän Holm (Nansen
1. c. p. 104) in Imarsivik auf der Ostküste Grönlands auf 21 Einwohner
nur 5 Männer. Im ganzen hat aber die Bevölkerung in den letzten
Jahrzehnten in jenen Gegenden sehr abgenommen (von 30000 auf der
Westküste vor IV2 Jahrhunderten auf 10117 i. J. 1889). Denn während
die in das Land übergesiedelten Europäer, die sich ja im Grunde von
den Eskimos ernähren, sich oft Reichtum erwerben und im Überflusse
leben, verarmen die Eskimos.
Die Gesetze, auf denen der grönländische Heidenstaat basiert, sind
dabei nach Möglichkeit in der Praxis durchgeführter Sozialismus und
in dieser Beziehung christlicher, als irgendein christlicher Staat.
Bei der Geburt eines Sohnes jubeln die Eltern, bei derjenigen
einer Tochter sind sie unzufrieden.. Aber die Eskimos hängen mit
auOergewöhnlicher Liebe an ihren Kindern und tun alles, was sie ihnen
an den Augen absehen können. Sie werden auch sehr lange gestillt;
3 — 4 Jahre sind nicht ungewöhnlich, Nansen (1. c. p. 128) erlebte
sogar 10 — 12 Jahre. Zuweilen versucht sogar eine Frau, die noch
nicht geboren hat, ein ihr geschenktes Kind anzulegen, da erzählt
Amundsen (1. c. p. 240) eine reizende Geschichte, wie eine solche
dem Säugling rasch einen Schluck Wasser in den Mund aus dem ihren
einfließen läßt. Bei der Gelegenheit erfahren wir auch, daß dieselbe
Eskimofrau als Lutschbeutel dem Säugling ein einfaches Stück Speck
in den Mund steckt, durch das ein langer Stecken gebohrt ist, damit
jenes Stück nicht verschluckt werden kann. Jede Züchtigung der
Kinder wird vermieden, deshalb sind denn auch die Kinder unter
sich sehr verträglich, nie zänkisch. Die Mutter lebt mit den Kindern
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19] Frauenleben und -leiden am Äquator und auf dem Polareise. 229
Stets in denselben Räumen und trägt sie draußen auf ihrem Rücken
im Amaut mit zur Arbeit. Bis das Kind volle zwei Jahre alt ist, wird
es in diesem Sack nackt auf dem nackten Rücken der Frau getragen
und Amundsen (1. c. p. 240) sah, wie Säuglinge beim Herausnehmen
aus dem warmen Platz mehrere Minuten lang bei einer Temperatur
von bis — 50<> Celsius splitternackt gehalten wurden, ohne daß es ihnen
im geringsten schadete I Schon frühzeitig werden die Kinder an die
Arbeit gewöhnt. Ein kleiner Knirps von 5—6 Jahren kann in einem
Tage große Bündel Dorsche vom Angeln nach Hause bringen
(Amundsen 1. c. p. 245), kleine Bogenschützen vom Netschjillistamme
bildet Amundsen auf p. 283 ab. Die Mädchen werden gleichfalls früh
an ihren Beruf gewöhnt, sie lernen nähen und müssen der Mutter im
Hause zur Hand gehen. Wenn die Eskimos sich begegnen, so be*
grüßen sie sich nicht nach unserer Art durch Küssen, sondern
pressen die Nasen aufeinander und schnupfen sich zu. Mit
den Eskimos teilen auch die Bewohner der Marquesas-Inseln (10<^
sudl. vom Äquator und 14^ westl. Länge) nach Langsdorff die Sitte,
daß sie bei der Begrüßung die Nasen gegeneinander drücken (Stoll,
Das Geschlechtsleben, 1. c. p. 232).
Bei den Eskimos erklärt Amundsen dieses aus den unappetitlichen
Beschäftigungen, die sie mit dem Munde ausführen; so bildet er eine
Eskimofrau ab, die ihrem Manne mit den Zähnen den Stiefel an der
Ferse abzieht (1. c. p. 243), wobei es sie gar nicht genieren soll, daß sie
den Mund voll von dem Schmutz der Nässe bekommt, in die der
Mann den Tag über getreten ist. Aber noch verblüffender wirkt es
auf den Europäer, sagt Nansen (1. c. p. 110)^ wenn wir die Eskimo-
frauen ein Fell aus der stinkendenden Urintonne, die vor ihrer Türe
steht, nehnnen, hineinbeißen und dann zu bearbeiten anfangen sehen.
Für sie ist der Mund die dritte Hand. Daher haben die alten Weiber
dort oben auch auffallend kurze abgestumpfte Vorderzähne.
Merkwürdig ist die Rolle, die der Urin im Leben des Eskimo-
weibes spielt. Zuerst wird er zum Waschen der Haut benutzt: sie
lieben den Geruch, der ihnen von alledem anhaftet, nennen ihn jung-
fräulich und halten ihn für ein wirksames Zaubermittel zum Anlocken
der Männer; dann benutzen sie den Urin um das Haar geschmeidig
und glänzend zu machen und, damit es sich in einen straff und auf-
recht stehenden Knoten recht fest zusammendrehen läßt, baden sie es
vor dem Frisieren in Urin; außerdem wird er zum Erweichen der
Seehundfelle gebraucht. Hinsichtlich des Waschens mit Urin bemerkt
Nansen (1. c. p. 242), daß dies ein uralter Gebrauch zu sein scheine.
Man fände ihn schon in den heiligen Büchern der Parsen erwähnt.
So stehe in der Vendidad 8, 13, daß die Leichenträger sich mit Urin
17*
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230 F. V. Winckel, [20
nicht von Männern oder Weibern, sondern von kleinen Tieren oder
Zugtieren wasciien sollen. Das würde wohl eine religiöse Vorschrift
sein und nicht wie bei den Eskimos sich aus dem Mangel an warmem
Wasser erklären lassen,
Bei den Eskimomädchen tritt während der arktischen Nacht 4
Monate lang die Menstruation nicht ein und obwohl sie meist mit
14 Jahren heiraten und auch konzipieren, bekommen sie die Menses
doch zuweilen erst mit dem 19.— 20. Jahr (Cook, Newyork Journ. of
gynecol. and obstetr. 1894 Febr. — April), v. Haven fand, daß von 100
Grönländerinnen 88 die erste Menstruation zwischen 15—17 Jahren be-
kamen, bei 5 trat sie früher, bei 7 erst nach diesem Alter ein und Mac-
Diarmid hat von den Eskimoweibern behauptet, daß sie nur im Sommer
ihre Regel hätten, er schreibt somit der Winterkälte eine hemmende Ein-
wirkung zu. Von andern wird dieser Einfluß bestritten und bei den Eski-
mos, wo schon nach kaum eingetretener Pubertät ein reger Geschlechts-
genuß beginnt, wird dieser wahrscheinlich für den früheren Eintritt der
Menses und deren Wiederkehr auch in der arktischen Nacht maßgebend
sein. Der Vollbluteskimo verheiratet sich sobald er eine Frau versorgen
kann, weil er weiblicher Hilfe bedarf, um seine Felle zu gerben, seine Klei-
der zu nähen. Er verheiratet sich oft schon bevor er zeugungsfähig ist,
und auf der Ostküste von Grönland ist es nach Nansen etwas ganz ge-
wöhnliches (1. c.p. 116), daß er drei«- bis viermal verheiratet gewesen ist,
ehe jener Zeitpunkt eintritt. Ehezeremonien finden nicht statt. Der Eskimo
schleppt ein Mädchen, was ihm gefällt, ohne weiteres in sein Haus.
Nach Amundsen (1. c. p. 242) soll das Mädchen, wenn sie 14 Jahre
alt ist, den Bräutigam aufsuchen oder er zu ihr kommen und mit ihr
im Hause der Eltern wohnen — so wäre es bei den Neochtjilli-Eskimos
am magnetischen Nordpol. Nach Nansen aber (1. c. p. 117) durfte
sich bei den grönländischen Eskimos das Mädchen unter keiner Be-
dingung merken lassen, daß sie den Freier haben wollte, selbst wenn
sie noch so verliebt in ihn war, und mußte sich bei der Entführung
sehr sträuben, jammern und klagen. Vielweiberei ist bei den
Eskimos gestattet, die meisten guten Seehundsfänger haben daher zwei
Frauen, aber nie mehr. Dalager erwähnt, daß seinerzeit auf der West-
küste Grönlands kaum der zwanzigste Teil der Grönländer zwei, sehr
selten drei und nur ausnahmsweise vier Frauen gehabt, doch habe er
einen Mann, der elf Weiber gehabt, gekannt (Nansen 1. c. p. 120 Anm.).
Bei den Eskimostämmen an der Beringstraße gelten nach Nelson
die zum ersten Male menstruierenden Mädchen als unrein für 40 Tage.
Sie müssen sich in einem Winkel des Hauses aufhalten, mit dem Ge-
sicht gegen die Wand gekehrt, stets ihre Kapuze über ihren Kopf
ziehen und ihre Haare wirr über die Augen hängen lassen. Das
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21] Frauenleben und -leiden am Äquator und auf dem Polareise. 231
Haus dürfen sie nur des Nachts verlassen, wenn alles schläFt. Im
Sommer beziehen sie ein rohes Obdach außerhalb des Hauses. Nach
Ablauf der vorgeschriebenen Frist baden sie, ziehen neue Kleider an
und Icönnen nun geheiratet werden.
Bei dem Kuskokwin-Eskimo am untern Yukon werden nach Nelson
häufig schon Kinder miteinander verheiratet und zwar die
Madchen oft mit 3 — 5 Jahren. Sie bleiben dann bei ihren Eltern und
der junge Gatte zieht zu diesen in ihr Haus. Ebenso bei den Cum-
berland-Eskimos. Und während sonst, wie wir erfahren werden, die
Ehen unter Blutsverwandten bei den Eskimos verpönt sind, heiraten
dieUnalit-Eskimos an der BeringstraOe gern Cousinen und andere
Blutsverwandte, weil man annimmt, daß diese bei Hungersnot ihre
Nahrung mit dem Manne teilen, während eine Frau aus fremder
Familie dem Manne die Vorräte stehlen würde (Nelson). — Nach
Bessels kohabitiert der Inuit (Eskimo) mit besonderer Vorliebe von
hinten. Männer wie Frauen liegen nackt in der Nacht dicht anein-
ander unter einem Seehundsfell, dem Gast macht man Platz, indem
man nur ein wenig rückt. Die Frauen prostituieren sich während der
Abwesenheit ihrer Gatten. Außerdem aber gibt es auch noch Pro-
fessionshuren, jedoch selten.
Ehen zweier Geschwisterkinder untereinander, wie über-
haupt zwischen nahen Verwandten, sind im allgemeinen
nicht erlaubt. Nicht einmal Pflegegeschwister, die zufällig zu-
sammen erzogen sind, dürfen sich heiraten. Dasselbe Verbot findet
sich unter wenig verschiedenen Formen bei den Hindus, den Chinesen,
in der griechischen Kirche, bei den Altkatholiken, zum Teil auch bei
den Slavonen, den Indianern und vielen andern. — Die Scheidung
der Ehe ist ebenso leicht fertig wie die Heirat. Ist der Mann seiner
Frau überdrüssig, so braucht er sich nur von ihr zu retirieren, wenn
er sich schlafen legt und dabei kein Wort zu sprechen, dann sammelt
am nächsten Morgen die Frau ihre Kleider und kehrt in aller Stille
in ihr Vaterhaus zurück.
Der Hauptzweck der grönländischen Ehe ist unbedingt die Kinder-
erzeugung, unfruchtbare Weiber sind geringgeschätzt, unfruchtbare
Ehen werden oft aufgelöst. Die Fruchtbarkeit der Grönländer und
amerikanischen Eskimos ist gering, 2 — 4 Kinder in jeder Ehe ist die
Regel, wenn auch Beispiele von 6—8, ja noch mehr vorkommen.
Zwillinge sind selten. Die Niederkunft der Grönländerinnen ist ge-
wöhnlich leicht, doch kommen bisweilen auch schwere Entbindungen
vor; dann halten sie nach Egede (Nansen 1. c. p. 127) der Gebärenden
ein Nachtgeschirr über den Kopf in der Einbildung, daß die Ent-
bindung dann leichter und schneller gehe. Eine solche Verwendung
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232 F- V. Winckcl, [22
dieses Möbels, sagt Nansen, dürfte einzig dastehen. Die heidnischen
Grönländer töten alle Mißgeburten, die für nicht lebensßhig ge-
haltenen kranken Kinder und alle kleinen, deren Mutter bei der Geburt
stirbt, falls keine andere Frau sie säugen kann. Gewöhnlich werden
die ersteren ausgesetzt oder ins Meer geworfen.
Nach Klutschack wird das Eskimoweib durch die Entbindung
auf volle vier Wochen „unrein*; sie wird schon vier Wochen vorder
Niederkunft von dem Gatten getrennt und in eine separate Behausung
gebracht, zu der nur die Frauen Zutritt haben. Bei den östlichen
Eskimos geschieht die Entbindung von dem ersten Kinde, in dem ge-
wöhnlichen Igloo (Hütte), bei allen späteren muß sie ein besonderes
zu ihrem Gebrauch gebautes Igloo beziehen (Hall), der Mann darf bei
der Entbindung nicht zugegen sein. Auch die in den westlichen
Gegenden wohnenden Eskimofrauen müssen* in einer kleinen Hütte
gebären, in welcher sie zusammen mit dem Aas irgendeines Tieres
eingeschlossen werden. In dieser Hütte bleibt die Kreißende ganz
allein und ohne Hilfe. Smith besuchte mehrere dieser Hütten, deren
jede eine Wöchnerin, ein Neugeborenes, und eine sehr kleine, die eine
Hündin und einen Wurf junger Hunde enthielt. Übrigens durch-
schneiden die Eskimofrauen nach Holm den Nabelstrang mit einer
Muschelschale, die Graslandnegerin zerreißt ihn mit den Nägeln.
Die Eskimofrauen kommen wegen ihres breiten Beckens leicht
nieder und sterben sehr selten im Wochenbett. Nach der Niederkunft
dürfen sie eine Zeitlang die Hütte nicht verlassen, bisweilen erst
nach zwei Monaten; nachdem sie dann ihre Kleider, die sie nie wieder
tragen, mit einem andern Anzug vertauscht haben, besuchen sie alle um-
liegenden Häuser, dürfen aber ein volles Jahr nicht allein essen. Bei
den Grönländerinnen dürfen die Wöchnerinnen nicht unter freiem
Himmel essen, aus ihrem Wassergefäß darf niemand trinken, niemand
bei ihrer Lampe einen Span anzünden, und sie selbst dürfen eine
Zeitlang nicht darüber kochen.
Auch darf der Mann, wenn seine Frau in Wochen liegt, außer dem
allernötigsten Fang, nichts arbeiten, weil sonst das Kind sterben würde;
er ist auch mit der Wöchnerin unrein: Residuen eines sogenannten
Männerkindbettes.
Bei Unfruchtbarkeit wenden sie Hersagen von Zauberformeln
an, oder binden Stücke von Schuhsohlen der Europäer um. Denn
da sie sehen, daß diese fruchtbar sind, meinen sie durch die Sohlen,
die einem Europäer als Unterlage gedient, werde deren Kraft in ihre
Kleider übergehen usw. Aber sie benutzen auch einen Angekok
d. h. einen ihrer Propheten und Gelehrten, die die Männer bezahlen,
um der Unfruchtbarkeit der Frauen abzuhelfen. — Das Anbieten der
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23] Frauenleben und -leiden am Äquator und auf dem Polareise. 233
Frauen der Eskimos als lebende Gastgeschenke, wie es im
deutschen Mittelalter zur Zeit der Minnesänger ja auch noch vorkam,
ist bei den amerikanischen Eskimos noch heute sehr gebräuchlich und
Amundsen lernte nur einen Ogluli-Eskimo kennen: Nulieu, von dem
er sagt: Ich glaube fast, er war der einzige Eskimo, der seine Frau
nicht feilbot (Amundsen 1. c. p. 247). Auch kommt der Frauenaus-
tausch öfter vor. Trotz alledem behauptet Nansen, daß die Eskimo-
frau eine bedeutende Rolle in der grönländischen Gesellschaft spiele,
da sie in der Regel gut behandelt werde und daß, wenn man mit
ihr in ihrem Hause zusammenlebe, man durchaus nicht den Ein-
druck empfange, daß sie irgendwie unterdrückt oder zurückgesetzt
wfirde.^) Alle Männer wie Frauen sind leidenschaftliche Anhänger des
Kaffees und leider auch des Branntweins. Ihre Nahrung besteht
übrigens aus Fischen, Seehundileisch und Speck und Tran. Zu Zeiten
großen Hungers kommt es übrigens aucli vor, daß Frauen sogar
Hundekot, well in demselben Reste von unverdauten Fischen und
Hundetalg sich fanden (Amundsen 1. c. p. 277/278), aufspeisten.
Daß die Eskimofrauen sich auch einer widerwillig konzipierten
Frucht zu entledigen verstehen, geht aus folgender Beschreibung
Bessels hervor. ^Ähnlich wie sich im missionarisierten Grönland
die Schwangeren des Kaminstockes (ein Stück Holz zur Ausweitung
der nassen Fußbekleidung) zu diesem Zwecke bedienen, so benutzen
die Itanerinnen des Smith-Sundes entweder den Peitschenstiel oder
einen anderen Gegenstand und klopfen oder pressen sich damit gegen
das Abdomen, welche Prozedur des Tages mehrmals wiederholt wird.
Eine andere Art der Abtreibung der Leibesfrucht besteht in der Per-
foration der Embryonalhüllen, einer Operation, die uns in gelindes
Staunen versetzt. Eine dünngeschnitzte Walroß- oder Seehundrippe
ist an ihrem einen Ende messerschneidenartig zugeschärft, während
das entgegengesetzte Ende stumpf und abgerundet ist. Das erstere
trägt einen aus gegerbtem Seehundsfell genähten zylindrischen Über-
zug, der an beiden Enden offen ist und dessen Länge derjenigen des
schneidenden Teiles des Knochenstückes entspricht. Sowohl an das
obere als an das untere Ende dieses Futterals ist ein 15 — 18 Zoll
langer Faden aus Renntiersehne befestigt. Wird diese Sonde in die
Vagina eingeführt, so ist der schneidende Teil durch den Lederüber-
zug gedeckt. Wenn die Operierende weit genug in die Geschlechts-
öffnung eingedrungen zu sein glaubt, so übt sie einen sanften Zug
auf den am unteren Ende des Futterals befestigten Faden aus. Hier-
1) Amundsen (1. c. p. 242) sagt: in Wirklichkeit sei die Stellung der Frau bei
den Eskimos auf der Halbinsel Boothia Felix nicht mehr und nicht weniger als die
eines Haustieres.
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234 F. V. Winckel, [24
durch wird selbstverständlich die Messerschneide bloßgelegt, worauf
eine halbe Umdrehung der Sonde vorgenommen wird, verbunden mit
einem Stoß nach oben und innen. Nachdem die Ruptur der Embryo-
nalhüllen erfolgt, zieht man das Instrument wieder zurück; zuvor aber
wird ein Zug am oberen Faden des Messerfutterals ausgeführt, um
den scharfen Teil der Sonde zu bedecken und hierdurch einer Ver-
letzung des Geschlechtskanals vorzubeugen.
B esseis erfuhr, daß diese Operation von den Schwangeren stets
selbst an sich ausgeführt wird. (Ploß-Bartels, Das Weib, XIII. Aufl.,
I. 926, 1905.)
Nelson berichtet außerdem von den Eskimos an der Beringstraße,
daß sie früher die Töchter, wenn sie keinen Mangel an denselben
hatten, gleich nach der Geburt, oft aber auch erst im Alter von
4 — ^6 Jahren töteten. Sie führten sie zu einem Begräbnisplatz, stopften
ihnen Mund und Nase mit Schnee zu und ließen sie liegen, oder sie
brachten sie auf das Eis oder in die Tundra und ließen sie dort in
der Kälte oder im Schneesturm umkommen.
Die Hütten der Grönländer-Eskimos stehen auf dem ausgegrabe-
nen Boden des Landes, in dessen Vertiefung ein schmaler, enger
Gang hineinführt; das Dach ist flach, etwas gewölbt, n/j — 2 m
über dem Boden. Die Eskimo in King Williams-Land bauen sich
gegen Ende des Herbstes Wohnungen aus Eisquadern, die nach oben
durch einen dreieckigen Eisblock geschlossen sind; sie werden tm
Winter durch die Specklampe erleuchtet und erwärmt. Im Sommer
tritt an die Stelle der Eiskammern das Zelt. Dasselbe steht auf
einem mit vielen Renntierfellen bedeckten Moosboden. Die Zelt-
wände selbst sind aus Renntier- und Seehundfellen zusammengenäht
und werden durch große Steine am Rand der Zeltdecke festgehalten;
in den Zelten soll es oft sehr warm sein.
Was die Frauenarbeit betrifft, so ist das Gerben, das Kajak-
beziehen und Nähen der Häute, ferner das Abziehen der Seehunde
und Zerlegen der Beute nach bestimmten Regeln und Verteilung der-
selben, dann das Bereiten des Essens, das Nähen der Kleider und
Verrichten aller häuslichen Arbeiten, außerdem aber das Bauen der
Häuser, Schlagen der Zelte und Rudern der Frauenboote ihre Auf-
gabe, daneben ist noch der Kapelanfang als einziger Fang, den die
Frauen treiben, und manchmal eine gewisse Hilfe beim Seehunds-
fang zu erwähnen. Das Ausnehmen der erlegten Vögel, und, wie er-
wähnt, das Ausziehen der Pelzstiefel des Mannes kommt ebenfalls der
Frau zu. Die Frauen — nur ein einziges Mal sahAmundsen (I.e.
p. 321) einen an der Nase tätowierten 25 jährigen Mann, der von
seiner Kindheit an gelähmt war und als Angekok (Zauberer) in
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25] Frauenleben und -leiden am Äquator und auf dem Polareise. 235
hohem Ansehen stand — der Utchickchalli-Eskimo tätowieren sich
auch an Armen und Schenkeln» wie Amundsen (1. c« p. 288 u. 289)
abbildet, aber auch an den Augen, Wangen und Halse, indem ein mit
Tran getränkter und mit LampenruO geschwärzter Faden mittels einer
Nadel in regelmäßigen Abständen durch die Haut gezogen wird. Der
abgestreifte Ruß bleibt in der Haut zurück und heilt in dieselbe ein
<cf. Otto StoU, Geschlechtsleben, Leipzig, Veit S. 75 und Abbild. S. 79):
der Aberglaube, daß die Schädel der Weiber, die nicht so tätowiert
sind, im Himmel zu Trangeschirren würden (Paul Egede), soll die
Ursache dieser Tätowierung sein.
Die Behandlung der Haare bei den Eskimos geschieht bloß
aus Bequemlichkeit: Kurzschneiden bei den Männern, Zusammen^
drehen und Aufbinden bei den Frauen — wie erwähnt mit Hilfe des
Urins, um sie glänzender und geschmeidiger zu machen. — Von
Krankheiten, welche die Eskimos dem Eindringen der Kultur wahr-
scheinlich zu verdanken haben, ist in erster Linie die Tuberkulose zu
nennen, deren rapides Fortschreiten in Grönland von Nansen (I.e. p.290)
teils auf die schlechtere Kleidung, teils darauf geschoben wird, daß sie
letzt das ganze Jahr hindurch in ihren feuchten, ungesunden Häusern,
wo die Ansteckungskeime den vorzüglichsten Nährboden finden, leben
müssen. Endlich, daß sie europäische Kost haben, während früher
ihre fette Kost und besonders der Speck sie vorzüglich widerstands-
fähig gegen diese Krankheit machte. Weiter haben die Pocken einen
großen Teil der Bevölkerung hingerafft. Merkwürdig aber ist, daß
die Grönländer zum großen Teil freigeblieben sind von Syphilis.
Sie ist dort oben, sagt Nansen (1. c.p. 291), nur an einer Stelle zu
finden, nämlich in Arsuk in Südgrönland, wo man die Krankheit zu
isolieren sucht. Trotzdem hat sie um sich gegriffen und es ist leider
Aussicht vorhanden, daß sie sich ausbreiten und die ganze Bevölke-
rung auch auf diese Weise verseuchen wird.* — Die Sonnenwend-
feier, das Kelandispiel, schildert Amundsen (1. c. p. 278—281) als
einen langweiligen Tanz der Erwachsenen und der Kinder, mit Ge-
sang und Trommelbegleitung, wobei es ihm unbegreiflich erschienen
sei, worin das Vergnügen bei diesem Tanz bestehe. Bei jeder Arbeit
wird gesungen, aber eine einförmige Melodie.
In bezug auf den Tod der Frau sagt Dalager (Nansen, I.e.
p. 113): Einer Frau, die mit dem Tode ringt und sich keines be-
sondern Ansehens erfreut, kann es wohl passieren, daß sie lebendig
begraben wird, wovon wir am Orte vor kurzem ein Beispiel hatten,
das recht jämmerlich war, indem mehrere erzählten, daß sie die Be-
grabene noch lange Zeit im Grabe nach einem Trunk hätten rufen
hören. Der eigentliche Grund hierfür soll bei den Eskimos in der
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236 F. V. Winckel, [26
übermäOigen Furcht derselben vor der Berührung mit einem Toten
liegen. Infolgedessen ziehen sie dem Sterbenden, ganz gleich» ob
Mann oder Frau, oft schon lange vor dem Eintreten des Todes die
Leichenkleider an und trefFen alle Vorbereitungen zum Hinausbringen
und Begraben der Leiche, während der Kranke ihnen von seinem
Lager aus zusieht. Die Toten werden sofort nach ihrem Abscheiden
hinausgebracht und zwar, wenn sie in einem Hause gestorben sind,
'durch das Fenster, wenn in einem Zelt, durch eine eigens für
diesen Zweck in die Hinterwand gemachte Öffnung. Auf der Ost-
käste wird jedoch nach Holm die Leiche auch mittelst eines ihr um
die Beine gebundenen Riemens von Seehundsleder aus dem Hausgang
hinausgeschleift (Nansen, 1. c. p. 217).
Die Toten werden entweder begraben oder ins Meer geworfen.
Den Männern werden ihre Habe wie Kajak, Waffen und Anzüge, den
Frauen ihre Nähutensilien, Krummesser auf oder neben das Grab,
beim Versenken in das Meer an den Strand gelegt.
Wer den Toten hinausgetragen hat oder ihn oder etwas ihm
Zugehöriges berührt hat, ist für einige Zeit unrein und muO sich
nach Vorschrift der Angekoker gewisser Speisen oder Arbeiten ent-
halten.
Der Tod flößte den Eskimos nach Amundsen (1. c. p. 208) nicht
die geringste Furcht ein. Waren sie krank oder ging es ihnen schlecht,
dann nahmen sie mit aller Seelenruhe Abschied vom Leben und er-
stickten sich. Während unsers Verkehrs mit ihnen kamen zwei
solcher Fälle vor. — Die guten Menschen kommen nach ihrer An-
sicht auf den Mond, die bösen in die Erde hinab.
Daß die Eskimos noch heute in der Steinzeit leben, wurde so-
wohl von Nansen (I.e. p. 288) wie Amundsen (I.e. p.227) bewiesen,
da sie keine andere Art des Feueranzündens kennen, wie zwei Stücke
Holz aneinanderzureihen und noch Lanzen, Pfeile und Bogen aus
Renntierhorn gebrauchen, außerdem zum Fangen der Fische sich nur
der Spieße aus Renntierhorn bedienen. Wenn man daraus aber auf
einen minderwertigen Verstand derselben schließen wolle, so täte man
ihnen unrecht, da die anscheinend so primitiven Gegenstände sich
den vorhandenen Bedürfnissen und Verhältnissen so gut angepaßt er-
wiesen, wie sie nur die Erfahrung und ein kluges Ausprobieren durch
die Jahrhunderte hindurch hergestellt haben konnten.
Wenn wir zum Schluß nun uns die Frage vorlegen, welche Ober-
einstimmungen in dem Leben des Weibes am Äquator und am Pole
zu finden sind, so müssen wir zunächst noch die genauere geographi-
sche Lage ihrer Länder angeben: so liegt die Balistation von Zint-
graff etwa ?<> nördlich vom Äquator und auf dem 10. <> östlicher
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27] Frauenleben und -leiden am Äquator und auf dem Polareise. 237
Länge; Kaiser Wilhelmsland» der Bismarckarchipel, Neumecklenburg
und Neupommern liegen 8— 10<> südlich vom Äquator zwischen dem
140. und 155.<> östlicher Länge, und die Gefilde, welche von den
verschiedensten Stämmen der Eskimos eingenommen werden, er-
strecken sich über ganz Grönland vom 60. über den 80.<> nördlicher
Breite und vom 30. — 50.^ westlicher Länge; dann in Nordamerika:
Baffinland, Boothia Felixland, King William-Land, Victorialand bis
nach Alaska und zur Behringstraße in einer Breite von 65 — 80^ nörd-
lich und zwischen dem 60. — I6O.0 westlicher Länge. Sie liegen also
75--800 in vertikaler Richtung und 160—2800 in transversaler Richtung
voneinander entfernt, und während die Nordkamerunneger und die
Kanaken ziemlich eng umgrenzte Völkerschaften darstellen, sind die
Stämme der Eskimos außerordentlich zahlreich und haben schon in
vielen der erwähnten Gegenden unter dem Eindringen der Kultur
sehr gelitten, so daß an manchen Orten fast nur noch Misch-
linge von Europäern und Eskimos existieren. Am unberührtesten
waren wohl noch die von Amundsen besuchten und beschriebenen
(1. c. p. 225^339) Netschjilli-Eskimos; während die Bewohner an der
wesdichen amerikanischen Küste, die Kagmalli -Eskimos, unter der
Zivilisation bereits so gelitten hatten, daß sie, die mehrere hundert
Familien stark gewesen, im Jahre 1005 schon auf ganz wenige zu-
sammen geschmolzen waren.
Werfen wir nun einen kurzen Rückblick auf das bisher Mitgeteilte
zum Vergleich der Lebensgewohnheiten der verschiedenen Stämme, so
können wir beim Vergleich der Eskimostämme mit den Kamerun-
negerinnen und Kanakinnen vier Gruppen unterscheiden:
In der ersten Gruppe finden wir fast völlige Oberein-
stimmung in bezug auf folgende Punkte: Die Ehe zwischen Bluts-
verwandten ist verboten; die Geburten sind in der Regel leicht und
finden in hockender, kniender oder liegender Haltung statt. Die
Kinder werden lang und sehr lang gestillt Mißgestaltete werden
getötet Die Säuglinge werden auf dem Rücken oder der Hüfte
der Mutter getragen. Die Fruchtbarkeit ist nicht beträchtlich, sie
schwankt zwischen zwei und vier Kindern. Tätowierungen kommen
fast ausnahmslos bei Frauen vor. Das Anbieten der Frauen ist allen
gemeinsam.
Sehr ähnlich ist das Verhalten in bezug auf die Ehe. Zwar zeigt
dieselbe bei den Kamerunnegern den monogamischen Charakter, doch
ist dem Manne der Negerin der Verkehr mit Sklavinnen gestattet zu
der Zeit, in der sich seine Frau der Kohabitation enthält, z. B. wäh-
rend der Regel, der Schwangerschaft und Säugungsperiode. Bei den
Kanaken und Eskimos gilt Vielweiberei, jedoch meist nur mit zwei
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238 F- V. ^inckely Frauenleben und -leiden am Äquator und auf dem Polareise. [28
Frauen. — Durch den Eintritt der Menses — - der bei den
Kamerunnegern festlich begangen wird — wird das Mädchen „un-
rein"^ und von der Familie getrennt. In bezug auf die Beschäfti-
gung der Frauen ist dieselbe, was häusliche Arbeit, Pflege und Er^
Ziehung der Kinder, Herstellung von Gerätschaften und Unterstützung
des Mannes In mancherlei Arbeiten betrifft, ebenfalls sehr ähnlich.
Zur dritten Gruppe, die uns zeigt, daß das Verhalten der
Stämme wenigstens ähnlich ist, rechnen wir ihr Verhalten zum
Weibe und die Stellung, die sie dem Weibe einräumen.
Die niedrigste Stellung nimmt offenbar die Kanakin ein; sie
kann vom Mann verschenkt, gekauft, getötet werden, indessen ist sie
materiell von ihm unabhängig, da das, was sie mit in die Ehe ge-
bracht und in ihr miterworben hat, ihr auch bleibt. Auch die Ne-
gerin steht physisch und sozial tiefer als ihr Mann, doch ist sie ein
wertvolles Eigentum desselben und die Matronen haben oft eine hohe
Vertrauensstellung. Von der Eskimofrau aber sagt Nansen, daD
sie eine bedeutende Rolle in der Gesellschaft spiele, da sie in der
Regel gut behandelt werde, und in der Tat: bei den zahlreichen Ab-
bildungen von Ehepaaren, die uns Amundsen geliefert hat, kann
man überall fröhliche Frauengesichter und mit den Kindern zusammen
auch ein wirkliches Familiengliick bewundern — so gering sind ihre
Anspräche an das Leben — so groO ist ihre Genügsamkeit.
Die wichtigsten Unterschiede zwischen den genannten Völker-
stämmen existieren endlich in Beziehung auf Krankheiten, von
denen dieselben befallen werden, und hier sind die Eskimos ent-
schieden in der ungünstigsten Lage, insofern sie durch die immer-
mehr fortschreitende Zivilisation, durch die Abnahme ihrer Haupt-
ernährungsquelle (der Seehunde), durch den zunehmenden Brannt-
weingenuD, durch die Verschlechterung ihrer Wohnungs- und
Kleidungsverhältnisse und ihre um sich greifende Verarmung immer
mehr die Beute von verheerenden Krankheiten, wie Tuberkulose,
Skrofulöse, Rhachitis, Pocken und Syphilis werden. Die weit gün-
stigere Lage, in der sich in dieser Beziehung die Neger und Kanaken
befinden, haben wir früher schon besprochen. Obwohl auch für sie
der Alkohol ein furchtbares Gift ist, welches immer mehr verbreitet
wird, so ist doch die Menge von Momenten, welche die Eskimo-
stämme fortwährend dezimieren, eine so große, daß sowohl Nansen
als Amundsen auf die näherrückende Gefahr einer vollständigen
Vernichtung derselben in ergreifender Weise aufmerksam gemacht
haben. Hoffen wir, daß deren Warnungsrufe nicht ungehört verhallen!
München, 31. Januar 1908.
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Aus der experimentell-biologischen Abteilung des Pathologischen
Institutes zu Berlin. Vorstand: Professor Dr. Ad. Bickel.
482/84.
(Innere Medizin Nr. 144/46.)
Experimentelles und Klinisches
zur Kenntnis der Beeinflussung der Magensaft-
sekretion durch Medikamente.
Von
Dr. P. Rodarit
Privatdozent an der Untveraitit Zürich.
Die genauere Kenntnis der Bedeutung der Magensaftsekretion für
die Diagnose, die Pathologie und die Therapie der Magenkrankheiten
ist eine verhältnismäßig noch junge Errungenschaft der Medizin. Be-
deutend alter sind diesbezügliche Studien der Physiologie, während
die Pathologie bis vor wenigen Jahrzehnten die Erkrankungen des
Magens nur mit geringer Liebe erforscht hat. Dieses Gebiet der
inneren Medizin wurde stiefmütterlich behandelt, bis es Forschern wie
KuOmaul, Ewald, Riegel u. a. gelang, die bisherigen diesbezüg-
lichen Kenntnisse gründlich umzuarbeiten und fruchtbar zu erweitern.
An diese Namen knüpft sich eine neue, moderne Periode in der Pa-
thologie und Therapie der Verdauungsorgane, vor allem charakterisiert
durch eine präzise Diagnose gegenüber den unklaren Begriffen der
alteren Epoche vor diesen Forschern. Mag es beispielsweise angeführt
werden, daß man bei Durchsicht der älteren Literatur in den 40er
Jahren bei der Klassifizierung der Magenaffektionen kaum zwischen
anderen Krankheitsbildern unterscheidet, als zwischen dem höchst
unklaren und fast von jedem Autor anders definierten Begriffe der
.Dyspepsie'', wobei nicht einmal der Unterschied zwischen anatomisch
gegebener Grundlage und funktioneller Art gemacht wird, ferner zwischen
Ulcus und Carcinoma ventriculi, der Magenerweiterung und der seit Jahr^-
zehnten klinisch nicht mehr bekannten Gastromalacie, besonders der
Kinder, welche heutzutage nicht mehr als ein Krankheitsbild sui
KlIiL Vorträge, N. F. Nr. 482/84. (Innere Medizin Nr. 144/46.) Mai 1906. 17
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238 P. Rodari, [2
generis, sondern als eine postmortale Veränderung aufgefaßt wird. —
In den 50er Jahren unterscheidet man noch in der Literatur zwischen
„Magenentzündung^ und „krankhafter Verdauung'^ wie wenn diese
Bezeichnungen wirklich Gegensätze wären. So unklar eben waren
die darunter verstandenen Begriffe. Kaum klarer sind diese im
folgenden Jahrzehnt, in den 60er Jahren, wo man mit dem Worte
„Gastritis"^ einzig das bezeichnet, was die neuere Medizin phleg-
monöse Gastritis nennt, während man für „Gastritis^ im modernen
Sinne noch immer den unklaren, verwirrenden Begriff „Dyspepsie'
braucht.
Einen Fortschritt in der weiteren Aufhellung dieser dunklen Be-
griffe bilden die Arbeiten zweier Engländer, welche in pathologisch-
anatomischer Hinsicht einige Krankheitsbilder des Magens, besonders
die entzündlichen Veränderungen der Schleimhaut, die Gastritis gut
beschreiben: so die mikroskopischen Studien von Handfield Jones')
über die Gastritis atrophicans, den wir damit als Entdecker dieser
Affektion, wenigstens im anatomischen Sinne, bezeichnen können, und
die umfassendere unter Virchows Leitung durchgeführte sehr gute Ab-
handlung von Fox^) über die Mikroskopie verschiedener Magen-
affektionen.
Die neue Ära auf diesem Gebiet beginnt mit der Einführung der
Magenpumpe durch KuOmauP) im Jahre 1869, welcher diese ameri-
kanische Erfindung in erster Linie nicht zu diagnostischen, sondern
therapeutischen Zwecken praktisch anwandte, und zunächst diese
Methode auf die Behandlung der chronischen Magenerweiterung in
Form von Spülungen mit alkalischen Mineralwässern und Medikamenten
(Sodalösungen und Karbolsäurelösungen) beschränkte.
Einen erheblichen Schritt weiter, sowohl in der Diagnose zunächst^
wie nach und nach auch in der Therapie hat uns Ewald^) gebracht
4iirch die Einführung seiner ebenso einfachen wie genialen Unter-
suchungsmethode, des Probefrühstückes. Diese Methode hat vor allem
über die Sekretions Verhältnisse des Magens Klarheit verschafft,
und es ist dabei ein nicht geringes Verdienst Ewalds, die Gastritis
als ein polymorphes Krankheitsbild erkannt und beschrieben zu haben,
bei dessen einzelnen Differenzierungen gerade die Art der Sekretion
ausschlaggebend ist. Damit wurden die alten verworrenen Begriffe
1) Assoc. med. Journ. Oct. 1853.
2) Lancet Juli 1853.
3) Deutsches Arch. f. klin. Med. 1869, Bd. 6.
4) Berl. klin. Wochenschr. 1888, Nr. 36.
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3] Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 239
der Gastritis und Dyspepsie des weitern voneinander getrennt, nach-
dem Leube^) 1878 die Dyspepsie als eine Erlirankung, resp. Teil-
erkranlLung ohne anatomisclie Grundlage charakterisiert und damit
von der Gastritis als einer Krankheitsform mit anatomischem Sub-
strate von primär oder sekundär lokalem Charakter scharf geschieden
hatte. — Hand in Hand mit der Abgrenzung der Gastritis von der
Dyspepsie geht auch die weitere Trennung anderer anatomisch gege-
bener Erkrankungen von den rein funktionellen „nervösen"^ Störungen,
und damit erfolgt auch die wissenschaftlich präzisere Feststellung des
BegrifiPes einer Magenneurose. Die Magenneurosen werden nun,
und diese Einteilung besteht noch immer zu Recht, in sensible, moto-
rische und sekretorische unterschieden. Diese Einteilung ist nicht
pathologischer, sondern in erster Linie physiologischer Natur, und so
bilden diese drei Verhältnisse, in denen sich die Hauptfunktionen der
Verdauungsorgane abspielen, die Basis für die Diagnose und die
Therapie auch bei den Krankheiten der Verdauungsorgane, speziell
des Magens mit anatomischer Grundlage. Was diese letztere anbelangt,
lassen sich die anatomischen Veränderungen am kranken Magen nach
folgenden groOen schematischen Grundzfigen unterscheiden, welche
in gewissem MaDe auch bestimmten klinischen Bildern entsprechen:
Ifl der Muskularis unterscheidet man hypertrophische und atrophische
Prozesse, Entzfindungen (Gastritis phlegmonosa), ferner Substanzver-
luste (Ulkus) und Neoplasmen (Sarkome); in der Mukosa spielen
entzQndliche Vorgänge die Hauptrolle, die teilweise zu analogen
Prozessen führen (Hypertrophie und Atrophie der Schleimhaut,
Gastritis hypertrophica und atrophica), ferner sind vorwiegend hier
Substanzverluste (Erosionen und Ulkus), sowie Neoplasmen (Karzinom)
lokalisiert. Hand in Hand mit diesen anatomischen Prozessen, häufig
and teilweise als direkte Folgen dieser lokalen Vorgänge, gehen
Funktionsstörungen der Drüsensekretion vor sich, sei es, daß der
Drfisenapparat anatomisch von der Schleimhauterkrankung mit ergriffen
wird, sei es^ daß er in bloß funktioneller Art nervöse Impulse erhält.
Dies betrifft sowohl die Schleim- als auch die Magensaftdrfisen.
Das Studium dieser Drfisenfunktion unter physiologischen und be-
sonders pathologischen Verhältnissen soll nun die Aufgabe dieser
Arbeit sein, in dem Sinne, daß im folgenden dargelegt werden soll,
wie die Magensaftsekretion durch Medikamente in engerem und wei-
terem Sinne des Wortes (z. B. Mineralwässer) beeinflußt werden kann,
und unter welchen Umständen eine solche Beeinflussung vom klinisch-
therapeutischen Standpunkte aus indiziert ist.
1) Deutsches Arcb. f. klin. Med. 1873, Bd. 23.
17*
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240 P. Rodari, [4
Im Interesse einer einheitlichen Darstellung soll hierbei in erster
Linie die Literatur seit Anfang der 40er Jahre bis auf die neueste
Zeit eingehend berücksichtigt werden. Zur Aufklärung einiger strittiger
Punkte, sowie zur Kenntnis einiger bisher nicht untersuchten Fragen
sollen des weiteren einige tierexperimentelle Untersuchungen einen
Beitrag liefern. Außerdem sollen Beobachtungen aus der eigenen
Praxis versuchen, einige theoretisch-experimentelle Fragen mit der
praktisch-klinischen Therapie in Einklang zu bringen.
Neben der Motilität spielt die Sekretion, d. h. der Chemismus des
Magens eine große Rolle, welche in der Physiologie besonders ein-
gehend gewürdigt worden ist. Freilich verkennt auch die Pathologie
die Wichtigkeit dieser Rolle nicht, soweit es die Diätetik betrifft. Haben
doch besonders die Forschungen des letzten Jahrzehntes, welche durch
Pawlows bahnbrechende Untersuchungen einen mächtigen Impuls
erhielten, nachgewiesen, daß der Verdauungsapparat unter physiolo-
gischen und pathologischen Bedingungen auf die einzelnen Bestand-
teile der Nahrung (Eiweiß, Fett, Kohlenhydrate, Wasser, Salze und
Genußmittel) in geradezu spezifischer Weise reagiert, und aus diesen
Beobachtungen sind wichtige Schlußfolgerungen für die diätetische
Therapie gezogen worden. Nun aber ist das Stiefkind der modernen
Therapie, die Pharmakologie, auch hier etwas stiefmütterlich behandelt
worden. Allerdings treffen wir in der Literatur schon seit manchen
Jahrzehnten klinisch-experimentelle Beobachtungen über die Phar-
makodynamik einzelner chemischer Verbindungen und Medikamente
auf den Verdauungsapparat an, und die letzten Jahre haben uns ver-
schiedene sehr interessante Arbeiten tierexperimenteller Art geliefert,
aber trotzdem waren diese Beobachtungen bisher zu keinen strikten
systematisch aufgebauten Direktiven für die medikamentöse Therapie
der Magendarmerkrankungen verwertet worden. Dieses habe ich in
meinem Buche: „Grundriß der medikamentösen Therapie der Magen-
und Darmkrankheiten'' (Wiesbaden, Verlag J. F. Bergmann, II. A. 1906)
zu tun versucht und möchte hierfür auch in dieser vorliegenden
kleineren Arbeit einen weiteren Beitrag liefern.
Die Erkrankungen, bei denen die Art der Sekretion eine große
Rolle spielt, betreffen in erster Linie die Schleimhaut des Magens in
Form einer diffusen Entzündung und einer Sekretionsanomalie. Diese
bestehen bei den einzelnen Krankheitsbildern entweder für sich allein
(Beispiele: Gastritis chronica simpIex, ohne Sekretionsstörungen,
Hyperchlorhydria nervosa ohne Entzündung der Mukosa), oder sie
sind in den häufigeren Fällen miteinander verbunden (Beispiel:
Gastritis chronica subacida, Gastritis hyperacida, Entzündung und
Sekretionsstörung, ferner Ulkus mit Hyperazidität und sekundärem
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5] Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 241
Katarrh). Die Kombination von Entzündung mit Sekretionsstörung
ist das Häufigere. Bei einzelnen Formen ist die Entzündung das
Primare und die Sekretionsanomalie ein Folgezustand hiervon (Bei-
spiek Gastritis chronica simplex, welche nach und nach in eine suba-
zide Form übergeht), in anderen Fällen liegen die Verhältnisse
umgekehrt vor (Beispiel: Nervöse Hyperchlorhydrie, die in eine
Gastritis acida übergeht). Für die Therapie ist nun die Tatsache von
großer Bedeutung, daß der enge Zusammenhang zwischen Entzündung
und Sekretionsanomalie sich auch in der Einwirkung der Pharmako-
dynamik der einzelnen Körper, Nahrung und besonders Medikamente
auf den Magen geltend macht, d. h. diejenigen Mittel, welche die
Entzfindnug bekämpfen, bekämpfen zugleich auch die Sekre-
tionsstörung und umgekehrt, diejenigen, welche die Sekretions-
anomalie in ungünstigem Sinne beeinflussen, verschlimmern
zu gleicher Zeit auch den Ent2ündungsvorgang.
Diese Reaktion des kranken Magens auf die betreffenden chemischen
Koqper vereinfacht die Therapie. Freilich gibt es auch hier, wie auf
allen Gebieten der Medizin Ausnahmen, aber im großen und ganzen
besteht diese Regel zu Recht, wie in folgenden Ausführungen klar-
gelegt werden soll.
Die Beeinflussung der Sekretion durch die einzelnen Arten chemi-
scher Körper resp. Medikamente erfolgt auf keine einheitliche Art
und Weise. Die betreifenden Substanzen setzen den Hebel ihrer
Wirkung an verschiedenen Orten an, das Produkt oder die manifeste
Äußerung dieser Wirkung offenbart sich dann vornehmlich in der Art
der Magendrüsenfunktion, d. h. der Magensaftabscheidung. Nach
pharmakodynamischen Prinzipien kann man folgende Arten von die
Magensekretion beeinflussenden Körpern unterscheiden:
I. Körper, welche vom Zentralnervensystem aus die Sekretion
beeinflussen. Die Reaktion der Magendrüsen ist hier keine spezifische,
sondern eine bloße Teilerscheinung, eine Mitbeteiligung an der Reaktion
verschiedener Organe auf die betreffende Substanz.
II. Körper, welche durch primäre Erregung anderartiger nervöser
Impulse (z. B. Geschmacksnerven) sekundär die Magendrüsenfunktion
beeinflussen.
IIL Körper, die ihre Dynamik lokal im Magen ansetzen, aber
direkt auf die Magendrüsen einwirken.
IV. Körper, die auf dem Blutwege auf die Magensaftabscheidung
einwirken (rektale Anwendung succogener und pepsinogener Sub-
stanzen).
Diese Einteilung ist vom physiologisch -pharmakodynamischem
Standpunkte aus wohl interessant, vom Gesichtspunkte der Therapie
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242 P. Rodari, [6
aus aber empfiehlt sich eine mehr praktische Einteilung nach der
chemischen Beschaffenheit der Substanzen. Bei der Besprechung
der betreffenden Körper soll natürlich obige Einteilung auch berück-
sichtigt werden.
So wollen wir Folgende Hauptgruppen von die Magensaftabscheidung
beeinflussenden Körpern unterscheiden:
I. Das Wasser, die Kohlensäure, die Alkalien und Typen
von Mineralwässern.
IL Gewisse Adstringentien.
IIL Gewisse Metalle.
IV. Gewisse Nervengifte der Alkaloidreihe (nach Schmiede-
berg).
V. Die Stomachika (im engeren Sinne des Wortes).
Wenn nun nach diesem Plane die Beeinflussung der Magensaft-
sekretion in pharmakodynamischem und therapeutischen Sinne unter-
sucht werden soll, so muß man sich zunächst vergegenwärtigen, daß
eine genaue experimentelle Erforschung dieser Verhältnisse erst
durch die von Pawlow eingeführte und von seinen Schülern weiter
ausgebeutete Methode möglich geworden ist. Auch meine Unter-
suchungen, soweit sie tierexperimenteller Natur sind, wurden nach
dieser Methode an der experimentell-biologischen Abteilung des
Pathologischen Institutes zu Berlin angestellt, indem ich hierfür Hunde
benutzte, welche zum Teil von Herrn Prof. Dr. Bickel, zum Teil von
mir selbst nach Pawlow operiert worden waren. Es sei mir gestattet,
an dieser Stelle auf die Art und das Prinzip der Technik dieser
Operation kurz einzugehen.
Die Pawlow sehe Operation hat zunSchst eine Analogie in der viel älteren
Methode von Thiry, der schon im Jahre 1864 am Dünndarm von Hunden einen
nach außen mündenden Blindsack herstellte. Aus einer Darmschlinge schnitt
Thiry ein zylindrisches Stück Darm heraus, bildete aus diesem einen Blindsack,
der nach innen (nach dem Darme zu) abgeschlossen war und nach außen offen in
die Bauchwunde eingeniht wurde. So konnte reiner, nicht mit Darminhalt ver-
mischter Darmsaft gewonnen werden. Diesen Gedanken verwertete später Heiden-
hain, indem er einen solchen Blindsack aus dem Fundus des Magens bildete.
Dieser Blindsack ergoß so sein Sekret nach außen und die Drüsenarbeit in diesem
war in gewissem Grade der Abklatsch in verkleinerten Maßstabe von der Drüsen-
arbeit des großen Magens. Dieses Spiegelbild war aber ein ungenaues, ein ver-
zerrtes, weil Heidenhain durch die Art der Schnittführung bei seiner Operation
die Vaguszweige zum großen Teil durchschnitten hatte. Pawlow ging nun bei der
Verbesserung dieser Methode^) von der Erkenntnis aus, daß die Drüsenfunktion des
kleinen Magens nur dann mit derjenigen des großen Magens parallel läuft und
qualitativ wie quantitativ koinzidiert, wenn die am Magen längs verlaufenden
1) Vgl. Pawlow, Die Arbeit der Verdauungsdrüsen. Verlag von J. F. Bergmann,
Wiesbaden 1898.
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7] Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 243
Vigusverzweigungen bei der Operation intakt gelassen werden. Nach diesem Prinzip
vird auch an der experimentell-biologischen Abteilung des Pathologischen Institutes
in Berlin operiert. Hierzu werden nur ausgewachsene, große, kriftige und gesunde
Hunde verwendet. Vor der Operation bekommt das nüchterne Tier eine Morphium-
dosis von 0,05 subkutan, einerseits damit es eventuelle Nahrungsreste noch tüchtig
ansbricht, andererseits zur Erleichterung der Narkose. Auf dem Operationstische
anfgespannt, wird das Tier am Abdomen rasiert, mit Schmierseife gewaschen und
mit Sublimatldsung und Alkohol desinfiziert. Äthernarkose. Die Vorbereitungen
des Operateurs und des Materials zur Operation entsprechen genau den Grund-
atzen der Aseptik wie bei Operationen am Menschen. Mittels eines ca. 15 cm
langen medianen Lingschnittes wird dfe Bauchhöhle eröffbet und der Magen wird
in toto hervorgezogen. In der Längsachse des Organes, im Fundusteile an der
großen Kurvatur, wird dieses nun da, wo man den Blindsack abtrennen will, mit
zwei einander parallel verlaufenden, ca. 2 cm voneinander getrennten Klemmzangen
(Darmklemmen) abgeklemmt.
Nach Unterbindung der auf der Serosa verlaufenden Zweige der Arteria coron.
ventr. wird nun zwischen den Klemmen die vordere und hintere Magenwand ge-
nannt Der Schnitt an der großen Kurvatur, etwa 2 cm von Pylorus entfernt, wird
10—12 cm fortgesetzt, immerhin so, daß am obersten Teile des Fundus noch eine
intakte Brücke von 5—6 cm Breite besteht. Dadurch wird der Magen in einen
großen und einen kleinen Teil geschieden, aus denen der große und der kleine
Magen gebildet werden.
Abnahme der Klemmen, Unterbindung der blutenden kleineren Geßße. Sodann
wird von den Schnittflichen der beiden getrennten Magenteile aus die Mukosa ab-
pripariert, wobei Muskularis und Serosa nicht verletzt werden sollen. Am großen
Magen erfolgt die Abtrennung der Schleimhaut in einer Breite von 1V2— 2 cm, am
Grosser I
Kleiner Magen
kleinen Magen hingegen von 2V2~3 cm. Die beiden Magenteile sollen nun an
ihren Grundflächen verschlossen werden, und zwar zuerst der große Magen. Hierzu
werden zunächst die abpriparierten Schleimhautflichen der vorderen und hinteren
Magenwand durch Tabakbeutelnaht miteinander nach innen vernäht; dann erfolgt
die Naht der Muskularis und der Serosa. Ähnlich ist der Vorgang am kleinen
Magen; nur handelt es sich hier in erster Linie darum, diesen zu einem wirklichen
Blindsacke zu gestalten, in der Art und Weise, daß keine offene Kommunikation
zwischen der intakt gebliebenen Brücke und dem kleinen Magen bestehen darf.
Deshalb wird aus seiner abpräparierten Schleimhaut eine Kuppel gebildet, deren
Konvexität nach der Brücke gerichtet ist. Darauf wird auch der kleine Magen ge-
schlossen, zunächst durch Tabakbeutelnaht die Schleimhaut, resp. die Ränder der
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244
P. Rodari,
(8
Sero6d
Mu6cutdri5
MucMa
eptum
Kleiner Magen
Kuppel, dann erfolgt die Naht der Muskulatur und der Seresa. Großer und kleiner
Magen sind so durch ein zweifaches Septum getrennt: einerseits durch die an dieser
Stelle intakte Sohleimhautkuppel
des kleinen Magens, andererseits
durch die in der Mitte vernähten
eigenen Mukosa (des großen
Magens an der Brücke).
Der kleine Magen stellt so
ein zylinderförmiges distal zu-
gespitztes Gebilde vor, dessen
Öffhung nun in die Bauchwunde
eingenftht wird. Letztere wird
bis auf die AusmQndung des
Blindsackes durch drei Etagen-
nShte geschlossen und mitjodo-
forrogaze und Jodoformkollodium
bedeckt. — Ein solch operiertes
Tier ist bei günstigem Verlaufe
nach etwa einer Woche, höchsten
10 Tagen experimentierfihig, wie-
wohl in den meisten FSllen trotz aller Vorsichtsmaßregeln die Heilung der Bauch-
wunde, d.h. ihrer Muskulatur und Haut per primam nur ausnahmsweise erreich-
bar ist.
Zur Vornahme der unten beschriebenen Experimente wurden nur Tiere ver-
wendet, welche sich von der Operation
-Kleiner Magen 8"* ^^^^^^ hatten, munter waren, mit
gutem Appetit fraßen und keine Tem-
^Perforierter Gummidrain peraturerhöhungen aufwiesen. Auch
wurden die Tiere erst dann benutzt,
wenn das aus dem Blindsack aufge-
fangene Sekret von Wundprodukten
(Blut, Eiter) möglichst rein war. Die
Hauptbedingung zur Versuchsanord-
nung ist nun ein vollständiges Nfich-
temsein der Tiere, d. h. die auf die
Nahrung erfolgende Sekretion mußte
gSnzlich abgelaufen sein. Die Tiere
wurden also nüchtern gestellt. Bei
Fütterung ausschließlich mit Pferde-
fleisch war dies schon nach 10 bis
12 Stunden der Fall, auf eine ge-
mischte auch viel Kohlehydrate ent-
haltende Kost hin mußte man bis
zur völligen Versiegung der Sekretion
durchschnittlich 14— 16 Stunden warten.
— - Das nüchterne Tier wird nun in einem Gestelle aufgestellt und am Vorder* und
Hinterkörper zur möglichsten Ausschaltung der Ermüdung mit Tüchern leicht
suspendiert. Es soll dabei möglichst im psychischen Gleichgewichte bleiben, ds
seine Intelligenz nach Pawlows klassischen Versuchen auf Störungen auch mit
besonderen Sekretipnsvorgingen Im Magen reagieren kann. Vor allem darf das Tier
keine Nahrung sehen oder riechen, denn sofort würde die damit assoziierte Vor-
4ft
Flasche
Klemme — z
Graduierter
Me66cylinder
Qummldraln
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9] Experimentelles und KUnisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 245
stelluns des Fressens, die Freßlust „psychischen Appetitsaft'' auslösen und damit
den Gang der Versuche erheblich verändern. Im umgekehrten Sinne würde Ärger
wirken (z.B. Vorbalten einer Katze nach Bickels Versuch).
In die Öffoung des Blindsackes wird nun ein Gummidrain eingeführt, welches
mit der sog. «Pincussohnschen Magenflasche'' verbunden wird. Der Apparat
wird mittels einer um den Leib des Hundes geschlungenen Binde festgehalten.
Aus dieser Flasche wird von Zeit zu Zeit der Magensaft entnommen und unter*
sacht, wie weiter unten niher beschrieben werden soll.
Betrachten wir nun die BeeinfluObarkeit der Magensekretion in
physiologischer und therapeutischer Hinsicht durch die Körper der
oben aufgestellten Gruppe und zwar zunächst durch:
L Das Wasser, die Kohlensäure,
Alkalien und Typen von Mineralwässern.
Das Quellwasser, wie das chemisch reine destillierte Wasser ist
ffir die Magensaftsekretion keine ganz indifferente chemische Ver**
bindung. Daß es eine geringe Sekretion im Magen hervorruft, werden
wir in den folgenden Versuchen öfters sehen.
Eine erheblich größere Anregung erfährt die Drüsensekretion des
Magens durch die im Wasser suspendierte Kohlensäure. Vom
klinischen Standpunkte aus wird diese schon im Jahre 1884 von
Jaworski') empfohlen, indem dieser Autor ihr einerseits eine Steige-
rung der darniederliegenden Sekretion bei subaziden Formen von
Magenaffektionen nachrühmt, andererseits ihr auch eine tonisierende
Wirkung auf die Atonie der Muskeln zuschreibt. Durch Anregung
der Magensaftabscheidung soll sie auch den Appetit befördern. Diese
Auffassungen bestätigt Pentzoldt.^) Die Salzsäuresekretion des
Magens beginnt nach seinen Beobachtungen früher unter der Ein-
wirkung der Kohlensäure und erreicht höhere Grade, auch die Moti-
lität des Magens wird gesteigert, indem die Aufenthaltsdauer der
Speisen im Magen je nach deren Beschaffenheit um V2— % Stunden
abgekürzt wird. Weidert^) bestätigte neulich diese klinischen Beob«
achtungen. In neuester Zeit hat Pincussohn^) den sekretions-
steigernden Einfluß der COg auf die Magensaftabscheidung an Paw-
lowschen Hunden experimentell nachgewiesen, indem er in der
Mehnahl der Fälle eine quantitative Steigerung und eine qualitative
Erhöhung (erhöhte Konzentration) des Sekretes fand. Schmiede-
1) Berl. klin. Wochenschr. 1884, Nr. 33.
2) Deutsches Arcb. f. klin. Med. 1902, Bd. 73.
3) Inaugoraldisttrtation ErlaDgen 1903.
4) Arbeiten aus dem Path. Inst, zu Berlin 1906.
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246 P. Rodari, [la
berg^) verlegt den Angriffspunkt dieses chemischen Körpers auf die
Schleimhaut bzw. die Drüsen des Magens selbst, indem er sich dar-
über folgendermaßen äußert:
„Die Erklärung für die heilsamen \7irkungen dieser gasförmigen Säure ist darin
zu suchen, daß sie auch bei Gegenwart von Alkalien wirksam bleibt. Sie durch-
dringt die Magenwandung von allen Seiten und wird dann nicht wie andere Säuren
in den Geweben vollständig neutralisiert, sondern ist hier bei genügender Menge
gleichzeitig als Bikarbonat und im absorbierten Zustande erhalten. In dieser \7eise
vermag die C02 die Funktion der Gewebe anzuregen, ohne die wesentlichen Eigen-
schaften der Alkalien aufzuheben. Dazu kommt als weiteres günstiges Moment,
daß die Erregung stets eine mäßige bleibt und daher niemals durch ein Übermali
schaden kann.^
Diese pharmakologischen Wirkungen der CO2 indizieren ihre An-
wendung sowohl bei akuten, wie auch bei gewissen subaziden Formen
von chronischen Gastritiden und anderen mit Sekretionsverminderung
einhergehenden Magenerkrankungen. Auch die Wirkung mancher
Mineralwässer beruht teilweise auf der Anwesenheit von CO2 (siehe
unten).
Von nicht geringerer, eher noch von größerer therapeutischer
Bedeutung für die Sekretionsbeeinflussung der Tätigkeit der Magen-
drüsen sind die Alkalien. Zur Gruppe der Alkalien in engerm
Sinne rechnet Schmiedeberg pharmakologisch „alle Verbindungen
der Alkali- und Erdmetalle, welche basische Eigenschaften (alkalische
Reaktion) besitzen und keine giftig wirkenden Komponenten enthalten'^.
Therapeutisch kämen die Salze der Alkali-, der Erdalkalimetalle und
der Magnesiumgruppe in Betracht, in praktisch-klinischer Hinsicht
und pharmakodynamisch erforscht sind nur einzelne Verbindungen
bestimmter Vertreter dieser Gruppen.
Unter den Salzen der Alkalimetalle, überhaupt unter allen hier in
Anwendung kommenden Alkalien spielt therapeutisch die wichtigste
Rolle das Kochsalz, das Natriumchlorid; in erster Linie deshalb,
weil es neben der CO2 in den Kochsalzq^uellen den einzigen
pharmakodynamisch wirkenden Bestandteil bildet, da andere chemische
Körper nur in minimaler Quantität vorhanden sind. Bei den Phy-
siologen und Klinikern war die Frage der Wirkung von Na Gl auf
die Magensaftsekretion eine langumstrittene. In klinisch-experimeii-
teller Hinsicht standen sich die Stimmen maßgebender Forscher ein-
ander entgegengesetzt gegenüber: Beispielsweise schrieb Frerichs^)
dem NaCl eine günstige Einwirkung auf die Magensaftabscheidung
und auf den Peptonisierungsvorgang im Magen zu, während Reich-
mann^) eine gegenteilige Wirkung des Kochsalzes annahm. Diese
1) Grundriß der Pharmakologie. 1906.
2) Vgl. Boas, Diagnostik und Therapie der Magenkrankheiten. 1907.
3) Arch. f. exp. Pathologie und Pharmakologie 1887, Bd. 24.
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11] Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 247
soll Dicht in einer Steigerung, sondern in einer Hemmung der Drüsen-
tätigkeit beruhen und zwar nicht allein bei starken Konzentrationen
(S— 10%), sondern auch bei schwachen Lösungen (1—2%). Die Ab-
nahme der Azidität erklärt Reichmann einerseits durch Annahme
einer den Mageninhalt neutralisierenden Transsudation aus den Blut-
gefäßen, andererseits durch vermehrte Schleimabsonderung. — Löwen-
thal^) weist hingegen auf die klinischen Erfolge hin, die er durch
Berieselung des Magens mit warmer physiologischer NaCl-Lösung
erzielt. Die verminderte Sekretion konnte er hierdurch bedeutend
erhöhen.
Das entscheidende Wort in dieser Kontroverse hat zunächst seit
Jahrzehnten die Empirie gesprochen, welche durch die gewiegten
Stimmen reichlicher Erfahrung von Ewald, Riegel, Boas u. a. ge-
äußert wurde, daß der mehrwöchige Gebrauch gewisser Kochsalz-
quellen subazide Zustände der Magensekretion erheblich bessern, ja
sogar zur Heilung, d. h. zur normalen Azidität führen könne. Solche
Beobachtungen kann auch der Praktiker vielfach machen, und auch
ich ^ habe darauf hingewiesen, daß der zu lange fortgesetzte Gebrauch
einer Kochsalzquelle eine Gastritis subacida in eine hyperacida über-
fuhren kann.
Warum steht in diesem Falle die Empirie in einem Gegensatze
zu den Resultaten der Untersuchung mancher, gewiß auch recht zu-
verlässiger Beobachter, wie z.B. Reichmanns? Aus verschiedenen
Gründen: Erstens ist die Wirkung der NaCl-Lösungen und -Quellen
auf den kranken menschlichen Magen keine rasche, sondern stellt
sich erst nach längerer Anwendung (Kuren von mehreren, 3—4 Wochen)
ein; zweitens ist diese Wirkung an eine bestimmte, besonders nach
oben abgegrenzte Konzentration an Kochsalz gebunden; drittens ist
nicht nur nach klinischen Erfahrungen, sondern auch nach Analogie
meiner eigenen, allerdings mit andern Medikamenten durchgeführten,
unten erwähnten Untersuchungen anzunehmen, daß die entzündlich
veränderte Magenschleimhaut wohl auch auf das Na Gl wenigstens
graduell anders reagiert als die anatomisch intakte Mukosa.
Die empirischen Tatsachen haben im Laufe der letzten Jahre eine
einwandsfreie Bestätigung ihrer Richtigkeit in biologischen Experi-
menten gefunden, welche am Pathologischen Institut zu Berlin an
nach Pawlow operierten Hunden angestellt wurden. So prüfte zu-
nächst Bickel^) die Kochsalzquellen, speziell den Wiesbadener
Kochbrunnen, und kam zu folgenden Resultaten:
1) Berl. lilin. Wochenschr. 1893, Nr. 47 tf,
2) Berl. iLün. Wochenschr. 1906, Nr. 23.
3) Berl. iLlin. Wochenschr. 1906, Nr. 2.
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248 P. Rodarl, [12
«Die KohlensSure und das Kochsalz der Kochsalzwässer begünstigen die sekre-
torische Arbeit der Magenschleimhaut. Bei einem Vergleich des Einflusses der
Kochsalzwässer mit demjenigen gewöhnlichen Leitungswassers findet man, daß
große Unterschiede hinsichtlich der abgeschiedenen Sekretmenge jedenfalls nicht
bestehen, daß man aus den Sekretionskurven höchstens die Tendenz herauslesen
kann, es werde durch die Kochsalzwässer die Saftproduktion befördert. Bei einem
Hunde mit chronischem subazidem Katarrh des großen und des kleinen
Magens erfuhr unter dem Eindruck der Gabe eines Kochsalzwassers der Säuregehalt
des vom kleinen Magen abgeschiedenen Sekretes eine deutliche Steigerung.*
Einen Schritt weiter ging Baumstark^), der ebenfalls zuerst am
Tierexperimente nachwies, daß die Intensität der Saftsteigerung bei
den verschiedenen Kochsalzquellen variiert, indem bei den Hom-
burger Quellen die Fähigkeit der Saftvermehrung als bedeutend
großer festgestellt wurde als die des Wiesbadener Kochbrunnens*
An der Hand vieler einwandfreier Versuche nimmt Baumstark für
die Homburger Kochsalzwässer in Anspruch:
„daß sie nicht wie die von Bickel und seinen Mitarbeitern untersuchten Koch-
salzwässer höchstens die Tendenz einer Saftvermehrung erkennen lassen, sondern
daß sie die Saftsekretion der Magenschleimhaut beim Tier und dem erwachsenen
Menschen in außerordentlich starkem Maße, um durchschnittlich 74,1 % (gegen-
über der Wirkung gewöhnlichen Wassers) erhöhen.^
Von größter Wichtigkeit für die Therapie ist nun der Umstand^
daß dieser Autor durch einen glücklichen Zufall die Frage der
Obertragbarkeit dieser Resultate vom Tierexperiment auf
den Menschen lösen konnte. Baumstark konnte nämlich an einem
von Prof. Gluck wegen vollständiger Ösophagusstenose operierten
23jährigen Mädchen mit gesunder Magenschleimhaut experimentieren.
Der Patientin war vor 8 Jahren eine Gastrostomie und vor einem
Jahre zu therapeutischen Zwecken eine Ösophagotomie angelegt.
Der zentrale Ösophagusteil wurde vernäht und versenkt, der peri-
phere zu einer Ösophaguslistel ausgebildet. Zur Erhaltung des Kau-
aktes, der Einspeichelung des Bissens und zur Ermöglichung der
Speichelverdauung konnten Ösophagus- und Mageniistel durch einen
Schlauch miteinander verbunden werden. An dieser Patientin ex-
perimentierte nun Baumstark mit den verschiedenen Kochsalz-
quellen von Homburg und kam zu dem obenerwähnten, das Tier-
experiment völlig bestätigenden Resultate. Besonders bemerkenswert
dabei ist der Umstand, daß beim Menschenexperiment „die Ver-
dauung der quantitativen Magensaftabscheidung dem Kochsalzgehalt
der verschiedenen Brunnen proportional ist. Das Optimum liegt beim
Landgrafbrunn mit 1,4% Na Gl, dann folgt die Elisabethquelle mit
etwa 1 % Kochsalzgehalt und erst zuletzt der Ludwigsbrunnen mit nur
1) Arch. f. Verdauungskrankheiten 1906, Bd. 12, Heft 3.
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13] Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 249
0,7%.* Diese Beobachtungen sprechen gegen die bisher übliche em-
pirische Annahme eines Optimums bei ungefähr 1% und einer Ab-
nahme der Wirk:ungy wenn ein Wasser mehr als etwa 1% Kochsalz
enthalf.
Des weitern ist für die Praxis an dieser Arbeit der Umstand
wichtig, daß Baumstark am Tierexperiment nachweisen konnte, daß
die sekretionssteigernde Wirkung der Na Cl -Wässer nur dann eintritt,
wenn das Wasser erstens nüchtern gegeben, und zweitens die
Nahrung erst dann aufgenommen wird, wenn das Mineralwasser
den Magen vollständig verlassen hat, d. h. die Verdauungs-
periode muß von der Mineralwasserveräbreichung durch eine ge-
nügend lange Pause getrennt sein. Kochsalzbeimengung zur Nahrung
hemmt nämlich die Saftabscheidung in hohem Grade; an Tierexperi-
menten war die Gesamtsaftmenge der Na Cl -Wasserperiode um 43
bzw. 58,8% herabgesetzt gegenüber der Gesamtsaftmenge der Wasser-
periode (150 ccm mit 150 ccm Milch). Diese Hemmung der Sekretion
durch Na Cl- Lösungen, bei oder nach der Mahlzeit aufgenommen,
bestätigt auch Frl. Rozenblat^)an ähnlichen Versuchen, nach welchen
die Intensität der Saftverminderung der Konzentration an Kochsalz
proportional ist, je konzentrierter die Lösung, desto intensiver wird
die Abscheidung des Magensafts gehemmt. Auch die Sekretions-
steigerung vor der Mahlzeit eingenommen wird hier bestätigt, am
besten ist die Wirkung, wenn das Wasser eine Stunde vor der Ver-
dauungsperiode genommen wird.
Mit den gleichen Resultaten studierten Rheinb.oldt die Wirkung
des Kissinger Rakoczy -Wassers, Heinsheimer^) die der Baden-
Badener Hauptstollenquelle und Sasaki^) die des Ostseewassers.
Damit ist durch diese übereinstimmenden Ergebnisse die sekretions-
steigernde Wirkung des NaCl und der Kochsalzwässer endgültig er-
wiesen, aber damit noch nicht die Art und Weise, wie diese Wirkung
zustande kommt: ihr Mechanismus. Schmiedeberg sucht diesen,
soweit es sich um eine Erklärung der günstigen Wirkung bei gewissen
Magenerkrankungen (subaziden Gastritiden) handelt, in einer Art nutri-
tiver Reizung des Gewebes der Schleimhaut und damit auch der
Drüsen* So äuOert er sich folgendermaßen:
«Bei chronischen Erkrankungen des Magens ist der kurgemSße Gebrauch der
Kochsalzquellen in vielen Fällen vorteilhaft. Die Besonderheit der Salzwirkung
gegenüber anderen Reizmitteln ist darin zu suchen, daß die Salzlösung nicht bloß
die Oberfläche bespult, sondern gleichsam in breitem Strome tief in die Schichten
1) Inauguraldissertation Berlin 1907.
2) Arch. f. Verdauungskrankheiten 1906, Bd. 12, Heft 2.
3) Ebenda, Heft 3.
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250 P. Rodari, [14
der Magenschleimhaut eindringt und die Ernährungszustände derselben infolge der
konstanten und ein gewisses Maß nicht überschreitenden nutritiven Reizung
in günstiger Weise verändert.**
Diese Auffassung gewährt uns aber noch keine genauere Einsicht
in den Mechanismus der Salzwirkung auf die Drüsenfunktion. Dies
sucht Wohlgemut hl) an Tierexperimenten zu erreichen, aber trotz
seines interessanten Endresultates muß die Frage, ob hierbei eine
direkte Einwirkung auf die Magen- resp. Drüsennerven stattfindet,
oder ob die Blutintervention zu Hilfe genommen werden muß, offen
gelassen werden. Wohlgemuth hat nachgewiesen, daß das in den Magen
eines chlorarmen Hundes (mehrtägige Fütterung mit ausschließlich
ausgekochtem Pferdefleisch) eingeführte NaCl einen solchen Reiz auf
die Magenschleimhaut bzw. Magennerven auszuüben vermag, daß der
Magen, der bis dahin (im Chlorhunger) nur äußerst spärliche Mengen
von Saft produzierte, fast mit einem Schlage einen reichen Saftstrom
von annähernd normaler Konzentration entwickelt. Ob es sich hier
um eine direkte Einwirkung auf die Magenschleimhaut und Magen-
nerven handelt, oder ob diese vom Blute aus erfolgt, das dabei eine
Anreicherung durch Kochsalz erfahren hat, läßt der Autor dahingestellt.
Daß in der Tat in das Blut eingeführtes Kochsalz die Sekretion der
Magendrüsen erhöht, haben Versuche von Braun, Grützner und
Boas übereinstimmend ergeben.
Bei der Frage nach der Pharmakodynamik der Mineralwässer spielt
in neuester Zeit die Radioaktivität eine gewisse Rolle. So stellten
Bergeil und Bickel^) am natriumhaltigen Wiesbadener Kochbrunnen
eine Erhöhung der fermentativen (Pepsin-) Wirkung des Magensaftes
durch Messung der peptischen Eiweißverdauung nach Mette fest,
während emanationsfreies Wiesbadener Wasser auch die Pepsin-
wirkung, ähnlich wie die Salzsäureabscheidung während der Ver<-
dauungsperiode eingenommen, hemmt, und Rheinboldt^) wies an
der Kissinger Rakoczyquelle, sofern diese frische Radiumemanation
enthält, oder nach deren Verlust (nach 48 Stunden) dieselbe wieder
auf künstlichem Wege nach dem System Bergell^) zugeführt bekam,
eine bakterizide Wirkung (auf den Bacillus prodigiosus) nach. Die
ersten beiden Autoren streifen nur beiläufig die Frage, ob die Radio-
aktivität auch die Menge 'der Salzsäureabscheidung beeinflusse, und
kommen dabei zur Auffassung einer indifi^erenten Einwirkung des
Radiums. Dies veranlaßte mich die Einwirkung radioaktiven Salzes
1) Arb. aus dem Patholog. Institut zu Berlin 1905.
2) Kongr. Wiesbaden 1905 und Zeitschr. f. klin. Med« 1905, Bd. 58, Heft 3.
3) Berl. klin. Wochenschr. 1906, Nr. 20.
4) Arb. aus dem Pharmakol. Institut Berlin 1906.
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15] Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 251
auf die Saftabscheidung am Tierexperimente nachzuprüfen. Dazu be-
nutzte ich sog. Emanosalkapseln nach den Angaben von Reitz
durch die Höchster Farbwerke dargestellt. Die Radiumemanation
ist dann an 0,5 g NaCl gebunden. Die Radioaktivität beträgt 20000
Voh pro Stunde, d. h. löst man eine solche Kapsel in einer beliebigen
Quantität Wasser auf, etwa in 200 g, und ^ prüft man den Einfluß
dieser Lösung auf die Leitungsfähigkeit eines abgeschlossenen Luft-
raumes, so erleidet ein in diesen Raum hineingebrachtes Elektroskop
pro Stunde einen Spannungsabfall von 20000 Volt, gemessen am
Sengler-Sievekingschen Apparat (Mitteilung vom Erfinder Dr. Hans
Reitz, Berlin-Schmargendorf)* Die Versuchsanordnung war
folgende: Zwei nach Pawlow operierte Hunde wurden nüchtern ge-
stellt. Zunächst wurde ihnen je 200 ccm Leitungswasser mit Zusatz
von 0,5 bzw. 1,0 g NaCl entsprechend einer resp. zwei Emanosal-
kapseln durch die Schlundsonde eingegossen. Darauf wurde die aus
dem kleinen Magen in der Zeiteinheit von einer halben Stunde sezer-
nierte Saftmenge, sowie das während der ganzen Sekretionsdauer
abgeschiedene Saftquantum gemessen und untersucht. Diese Werte
dienen als Vergleich zu der analogen Versuchsanordnung, bei welcher
an Stelle des Emanosal das entsprechende Quantum gewöhnlichen
Kochsalzes gegeben wurde.
Versuch Nr. 1 am Hund „Karo*.
200 ccm destilliertes Wasser
+ 0,5g NaCl
9h'30
200 ccm destilliertes Wasser
+ 0,5 g NaCl als Emanosal
= V4%
11 h 45
Zelt
10 h —
10 h 30
11h —
11h 30
11h 45
Menge
5,5 .
2,8
0,9
0,6
0,0
Zelt
12 h 15
12 h 45
1 h 15
Ih 45
2h —
2 h 15
Menge
3,8
3,0
1,6
2,0
0,4
0,0
1'/« Stunden
Sekretionsd«
9,8 ccm
Gesamtquant.
2 Stunden
Sekretionsd.
10,8 ccm
Gesamtquant.
Aus diesem und den folgenden drei Versuchen ergibt sich eindeutig,
daß die Radiumemanation auf die Sekretionssteigerung, d. h. auf die
Absonderung der Salzsäure keinen besonderen Einfluß hat. Die Radio-
aktivität verhält sich also gegenüber der Magen saftabscheidung indiffe-
rent und hat für die Verdauung nachBickel und Bergeil nur in dem
Sinne eine positive Bedeutung, daß sie die Aktivität des eiweißver-
dauenden Fermentes, des Pepsins, fördert. Da aber nach den gleichen
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j
252
P. Rodari,
Versuch Nr. 2 am Hund »Max«.
[16
200 ccm destilliertes \7asser
+ 0,5 g NaCl
= V4%
9h 30
200 ccm destilliertes Wasser
+ 0,5 g Na Gl als Emanosal
11 h 45
Zelt
10h —
10h 30
11h —
11 h 15
Menge
0,1
0,2
0,1
0,0
Zelt
11h 45
12 h 15
12h 30
Menge
0,1
0,2
0,0
IV4 Stunden
Sekretionsd.
0,4 ccm
Gesamtquant.
3/4 Stunden
Sekretionsd.
0,3 ccm
Gesamtquant.
Versuch Nr. 3 am Hund „Karo".
200 ccm destilliertes Wasser
+ 1 g NaCl
= 0,50/0
2 h 15
200 ccm destilliertes Wasser
+ 1 g NaGl als Emanosal
= 0,5%
4 h 15
Zeit
2h 45
3 h 15
3h 45
4h —
4 h 15
Menge
2,5
1,8
1,6
0,6
0,1
Zeit
4h 45
5 h 15
5h 30
5h 45
6h —
Menge
4,0
2,2
0,6
0,2
0,0
IV2 Stunden
Sekretionsd.
6,6 ccm
Gesamtquant.
11/4 Stunden
Sekretionsd.
7,0 ccm
Gesamtquant.
Versuch Nr. 4 am Hund „Max*.
200 ccm destilliertes Wasser
+ 1 g NaCl
= 0,5%
12 h 30
200 ccm destilliertes Wasser
+ 1 g NaCl als Emanosal
= 0,5%
2 h 15
Zeit
1 h —
1 h 30
2h —
Menge
0,2
0,3
0,0
Zelt
2h 45
3 h 15
3 h 45
4h —
Menge
0,3
0,8
0,2
0,0
1 Stunde
Sekretionsd.
0,5 ccm
Gesamtquant.
IV4 Stunden
Sekretionsd.
Iß ccm
Gesamtquant.
Untersuchungen jedes Mineralwasser seine Radiumemanation nach
höchstens 48 Stunden verliert, ist exportiertes Mineralwasser nicht
mehr radioaktiv. Die Radioaktivität ist eine Eigenschaft nur des an
der Quelle getrunkenen Wassers und darin dürfte auch ein Faktor
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17] Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 253
liegen, warum Trinkkuren am betreffenden Orte besser wirken als zu
Hause durchgeführt.
Wenn wir unter den Alkalien weiter Umschau nach Verbindungen
halten, welche einen unzweifelhaft steigernden Einfluß auf die Salz-
saureabschetdung im Magen haben, so treffen wir nach neuesten
Untersuchungen zunächst auf gewisse Kalkverbindungen, Kalzium-
salze* Birk^) hat das dem NaCl analoge Kalziumchlorid CaCl2
am Menschen geprüft und ist zu dem Resultate gelangt, daß es die
Verdauung des Ewald sehen Probefrühstückes um ca. 15 Minuten ab-
kürzt dadurch, daß es in Dosen von schon 1,0 g eine vermehrte Magen-
saftabscheidung hervorruft. Damit ließe sich die klinische Indikation
aufstellen, bei Subaziditätszuständen das CaCl2 ähnlich wie das NaCl
zu geben, wenn diese Verbindung nicht eine korrosive Wirkung auf
die Magenschleimhaut hätte und eine ungünstige Wirkung auf das
Herz ausüben würde, wodurch ihre klinische Anwendung hinfällig wird«
Eine analoge sekretionssteigernde Wirkung wird nach Mayedas^)
Tierexperimenten auch dem Kalziumhydroxyd Ca(OH)2, d. h. dem
mit diesem Salze gesättigten Wasser, Kalkwasser (Lösungsverhältnis
1 : 600) zugeschrieben und zwar soll die Sekretionssteigerung ungefähr
io dem Maße erfolgen, wie diejenige der weiter unter erwähnten
Lithiumsalze. Aus der folgenden chemischen Gleichung:
Ca(OH)2 + HgO + 2HC1 = CaClg + SH^O
ist meiner Ansicht nach die sekretionssteigernde Wirkung analog den*
Untersuchungen von Birk auf das durch Einwirkung der HCl ent-
stehende Kalziumchlorid CaClg zurückzuführen, so daß dem unzer-
setzten Ca(OH)2 ein spezifischer Sekretionseinfluß nicht zugeschrieben
werden kann. Überhaupt ist bei der Frage der Pharmako-
dynamik der Medikamente nicht das Medikament als solches
als von Einfluß auf die Magensekretion anzusehen, sondern
die durch Einwirkung der Magensalzsäure auftretende
Spaltung der Substanz und eventuell die Neubildung eines
weiteren chemischen Körpers, wie uns auch die folgenden eigenen
Versuche näher Aufschluß geben werden.
Von Heinsheimer^) wurde un^er den Kalksalzen das Kalzium-^
Karbonat CaCOs einer eingehenden tierexperimentellen Prüfung
unterzogen und zwar in Sprozentigen Lösungen. Das Resultat war
ein analoges zur Wirkung des CaClg und des Ca(OH)2. Statt der
bisher angenommenen sekretionshemmenden und säurebindenden
1) Inauguraldissertation Erlangen 1904.
2) Biochem. Zeitschr. 1907, Bd. 2, Heft 4—6.
3) Med. Klinik 1906, Nr. 24.
Klio. Vortrige, N. F. Nr. 482/84. (Innere Medizin Nr. 144/46.) Mti 1908. lg
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254 P- Rodari, [18
Wirkung veranlaßt das CaCOs eine stärmische Steigerung der Saft-
absonderung, eine lange Zeit hindurch anhaltende Sekretion enormer
Saftmengen. Gleichzeitig steigt auch die Gesamtazidität erheblich.
Wie kann nun dieses im Wasser unlösliche Salz einen solchen Effekt
ausüben? Heinsheimer erklärt es folgendermaßen: Größere Mengen
des CaCOs verharren im Magen längere Zeit und unterliegen hier
der Einwirkung der freien Salzsäure, welche Kohlensäure frei macht.
Diese nunmehr schußweise immer wieder frei werdende CO2 ist es,
die als mächtiges Reizmittel auf die Drüsensekretion einwirkt. Meiner
Auffassung nach ist diese Erklärung nicht einwandfrei, aus dem Grunde,
daß, wie wir unten sehen werden, die beim Nas COs und NaOHCOs
ebenfalls stürmisch freiwerdende CO2 hier keine Sekretionssteigerung
auszulösen vermag. Aus diesem negativen Analogon möchte ich die
sekretionssteigernde Wirkung in einem anderen Körper als in der
Kohlensäure suchen, nämlich wiederum in dem sich im Magen unter
Einfluß der HCl bildenden CaCls:
CaC08+H20 + 2HCl = C02+CaCl2+2H20.
Diese Untersuchungen erweisen die bisher üblich gewesene An-
schauung, daß die Kalksalze, speziell das Kalkwasser und der kohlen-
saure Kalk bei der Hyperazidität resp. Hyperchlorhydrie therapeutisch
indiziert seien, als nicht mehr haltbar.
Die Reihe der sekretionssteigernden Alkalien ist in neuester Zeit
durch Lithiumsalze erweitert worden. Mayeda^) hat durch das
biologische Experiment am Lithium hydroxyd und am Lithium-
karbonat eine den entsprechenden Kalkverbindungen analoge Wirkung
auf die Magendrüsen nachgewiesen.
Beim Li2C08 tritt schon bei einer Konzentration von 0,25% eine
deutliche HCl-Steigerung auf, die in stärkerer Lösung von 0,35 und
0,5 % entsprechend intensiver wird. Beim LiOH tritt diese Anregung
der Sekretion schon bei einer Konzentration von 0,16% auf, welche
an Wirkung derjenigen vom LisCOa in 0,25 prozentiger Lösung un-
gefähr gleichkommen soll. Auch bei diesen beiden Verbindungen
liegt die Vermutung nahe, daß die sekretorische Wirkung auf das im
Magen durch die HCl-Einwirkung entstehende Chlorid, das LiCl,
das Analogon zum CaClg in letzter Instanz zurückzuführen ist.
Durch eigene biologische Experimente kann ich die Reihe der
sekretionsfördernden Medikamente um ein weiteres erweitern, über
dessen Wirkung bisher die Ansichten der Autoren entgegengesetzt
lauten. Es ist das Natrium citricum, speziell das neutrale zitro-
1) Bloch. Zeitschn 1907, Bd. 2, Heft 4—6.
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19] Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 255
nensaure Natrium. Boas ^) rechnet diesen Körper pharmakologisch
unter diejenigen Verbindungen, welche gleich einzelnen Salzen der
Alkili- und Erdalkalireihe (s. u. Natriumkarbonat, Natriumbikarbonat,
Magnesia usta, Magnesia ammoniophosphorica, Magnesia sulfurica)
die Sekretion herabsetzen, und empfiehlt so das Natrium citricum
allein oder in Verbindung mit den erwähnten Alkalien und Erdalkalien
zur Bekämpfung der Sekretionssteigerungszustände. — Nun aber kommt
Lach6ny>) bei seinen Versuchen mit Natrium citricum zur Annahme,
daß dieses unabhängig von der dabei angewendeten Diät nicht nur
ein gutes Mittel gegen Schmerzen bei Gastritis, Ulkus und nervösen
Hyperästhesien sei, daß es ferner die Motilität anrege, sondern, daO
es auch auf die Magensaftsekretion steigernd wirke, indem bei seiner
Anwendung die Menge der Chloride und der freien Salzsäure zunähme.
Diese der Boasschen Ansicht widersprechende Annahme veranlaßte
mich, das zitronensaure Natrium am Tierexperimente zu prüfen. An
zwei Pawlowschen Hunden wurden je zwei Beobachtungen mit einer
3prozentigen und je zwei mit einer lOprozentigen Lösung von neu-
tralem Natrium citricum angestellt. Der Verlauf der Sekretions^
Perioden bei Leitungswasser ohne und mit Zusatz von zitronensaurem
Natrium war folgender:
Versuch Nr. 5 am Hund „Karo*.
200 ccm Leitungswasser
200 ccm Leitungswasser
+ 6 g Natrium citricum
= 3%
9h 30
10 h —
Z«lt
Menge
Zeit
Menge
9h —
2,4
10 h 30
0,2
9h 30
1,1
11h —
3,0
9h 45
04
11 h 30
1,6
10 h —
0,0
12 h —
3,0
12 h 30
1,2
9h —
0,0
1 Stunde
3,9 ccm
2V2 Stunden
9,0 ccm
Sekretionsd.
Gesamtquant.
Sekretions-
Gesamtquant
Gesamtazidität
dauer
Gesamtaziditat
116
124
1) Diagnostik und Therapie der Magenkrankheiten. 5. Aufl., 1907.
2) Th&se de Paris 1906.
18*
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j
256
P. Rodari,
[20
Versuch Nr. 6 am Hund -Moor«.
200 com Leitungswasser
200 ccm Leitungswasser
+ 6g Natrium citricum
8h 30
= 3%
10 h —
Zelt
Menge
Zeit
Menge
9h —
9h 30
• 9h 45
10 h —
1.0
0,8
0,6
0,0
10 h 30
11h —
11h 30
12 h -<
12 h 30
12 h 45
1 h —
4,0
3,2
2,1
3,0
1,2
0,0
1 Stunde
2,4 ccm
21/2 Stunden
13,7 ccm
Sekretions-
dauer
Gesamtquant.
Gesamtazidität
Sekretions-
dauer
Gesamtquant.
Gesamtaziditit
148
146
Versuch Nr. 7 am Hund „Karo*
200 ccm Leitungswasser .
200 ccm Leitungswasser
+ 20gr Natrium citricum
= 10%
9h 30 1
Ih 10
Zeit
Menge
Zeit
Menge
9h —
2,4
1 h 40
0,5
9h 30
1,1
2 h 10
4,0
9h 45
0,4
2h 40
3,2
10 h —
o;o
3 h 10
0,6
3h 40
0,5
4 h 10
0,3
4h 25
0^
4h 55
0,0
1 Stunde
3,9 ccm
3^/4 Stünden
9,3 ccm
Sekretions-
Gesamtquant.
Sekretions-
Gesamtquant.
dauer
Gesamtaziditit
dauer
Gesamtaziditat
116
126
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21] Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 257
Versuch Nr. 8 am Hund „Moor"*.
200 ccm Leitungswasser
200 ccm Leitungswasser
+ 20 g Natrium citricum
= 10%
8h 30 1
1 h 10
Zeit
Menge
Zeit
Menge
9h —
1,0
1 h 40
3,7
9h 30
0,8
2 h 10
3,0
9h 45
0,6
2h 40
2,2
10 h —
0,0
3 h 10
2,0
3h 40
1,5
4 h 10
05
4h 25
0,3
4 h 40
0,0
1 Stunde
2,4 ccm
3 Stunden
13,2 ccm
Sekretions-
Gesamtquant.
Sekretions-
Gesamtquant.
dauer
Gesamtazidität
dauer
Gesamtaziditit
138
144
Diese Versuche ergeben übereinstimmend folgende Tatsachen:
1. Das Natrium citricum steigert in allen Versuchen so-
wohl die Sekretionsdauer, als auch das Sekretionsquantum,
erstere um etwa das 2V2— 3fache, letztere um etwa das 3 bis
Sfache gegenüber der Leitungswasserperiode.
2. Dabei wird auch die Tendenz beobachtet, die Qualität
des Sekretes zu erhöhen, resp. das Sekret prozentual konzen-
trierter zu machen. Die diesbezüglichen Werte der Durch-
schnittsgesamtazidität sind aber so gering ausgesprochen,
daß sie sich innerhalb der physiologischen Schwankungen
bewegen und deshalb eine positive Deutung nicht zulassen.
3. Der Wechsel in der Konzentration der Lösungen (3 oder
10%) ist auf den Sekretionsverlauf in den verschiedenen
Phasen, in der Gesamtmenge der Durchschnittsazidität und
der Zeitdauer der Sekretion ohne Einfluß, d. h. es finden sich
ungefähr die gleichen Werte bei der schwächeren und bei
der stärkeren Konzentration.
Damit ist erwiesen, daß die von Boas vertretene Qualifikation
des Natrium citricum als eines Antazidums nicht haltbar ist, daß wir
im Gegenteil in diesem Präparate ein sekretionssteigerndes Mittel
von ausgesprochener Wirkung besitzen.
Der chemische Vorgang im Magen ist einfacher:
Na citr. + HCl = NaCl + Ac. citr.
Die Sekretionssteigerung ist hier auf beide Produkte in der Glei-
chung zurückzufuhren, sowohl auf das NaCl wie auch auf das Ac. citr.
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258 P. Rodari, [22
Gehen wir unter den Alkalien und Erdalkalien zu denjenigen Körpern
Qber, welche auf die Drfisensekretion des Magens hemmend wirken,
bzw. die Magensaftabscheidung verringern. Die erste Stelle nimmt
nach den neuesten Untersuchungen hier das Natrium bicarboni-
cum ein. Seine Wirkung war bis vor kurzem eine vielumstrittene.
Ältere Autoren, wie du Mesnil, Linossier, Lemoine, Schule u.
a., nahmen an, „daß kleine Gaben die Salzsäuresekretion anregen,
größere hemmen, schließlich aber wieder den Reiz zu erneuter
Sekretion abgeben"^^). So betont besonder Linossier^), daß man
kleinen Gaben von Natr. bic. eine exzitierende, d. h. sekretionsbe-
fördernde Wirkung zuschreiben müsse, während größere Dosen um-
gekehrt wirken sollen. Schwartzkopff^) hat an 24 Selbstversuchen
konstatiert, daß das doppelkohlensaure Natron in Gaben von 1 — 3 g
nach dem Probefrühstfick eingenommen zwar die prozentuale Azidität
herabsetze, während dabei die absolute Säuremenge eine bedeutende
Steigerung erfahre. Zum ersten Male einigermaßen Klarheit in diese
einander widersprechenden Auffassungen brachten die ausgedehnten
Versuchsreihen Reichmann s^), welcher dem Natr. bic. wenigstens
jede Säuresteigerung abspricht. Er kommt zu dem Resultate, daß so-
wohl schwache wie starke Lösungen, mögen sie dem nüchternen
Magen zugeführt, oder kurze Zeit nach der Mahlzeit gegeben werden,
nie eine Steigerung der Sekretion zur Folge hätten. Nach dem Essen
genommen verringert Natr. bic. selbstverständlich durch Neutralisation
resp. Bindung der freien HCl die qualitative Azidität, steigert sie
aber niemals quantitativ. In diesem Zustande erblicken Reichmann
und mit ihm auch Boas u. a. ein ziemlich indifferentes sympto-
matisches Mittel zur momentanen Linderung der Obersäuerung des
Magens. Debove^) schreibt dem« Natr. bic. eine ausgesprochene
sekretionshemmende und säuretilgende Wirkung zu, indem er es bei
Ulcus ventriculi in Dosen von 2,0 vor und 4,0 nach dem Essen gibt,
in der Absicht, dadurch die schädliche Einwirkung des Magensaftes
auf die Geschwüre zu vermeiden.
Der Frage einer ausgesprochenen pharmakodynamischen Wirkung
des Natr. bic. auf die Funktion der Magendrüsen ist man, nachdem
in der Literatur diese Kontroversen jahrelang in Ruhe gelassen wurden,
erst in den letzten Jahren näher getreten und zwar ist es das Verdienst
Bfckels und seiner Schüler, am biologischen Experimente, an
1) Nach Boas zitiert.
2) Bull, th^rap. 1896, p. 155 ss.
3) Inauguraldissertation Würzburg 1892.
4) Ther. Mitt. März 1895.
5) Gaz. h6bd. 1884, no. 18.
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23] Experimeotelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 259
Pflwlowschen Hunden zunächst, sodann auch am Menschen (obener-
wähnte Patientin von Gluck) endlich über die vieiumstrittene Frage
einer relativen Indifferenz, d. h. bloß momentan einer säurebindenden
oder einer -steigernden oder einer hemmenden Wirkung, Klarheit
verschafft zu haben. So wies unter Bickels Leitung Heinsheimer^)
nach, daß das Natr. bic. nur eine Sekretionshemmung, niemals eine
Steigerung zur Folge hat, und zwar eine leichte Verminderung der
Safhnenge und der Azidität schon bei schwachen Lösungen von 1 %,
eine sehr starke und längere Zeit andauernde Herabsetzung bei
höherer Konzentration, 5 ^^ und zwar betrifft diese Herabsetzung
auch hier nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität (Kon-
zentration) der HCl. Zu dem gleichen Resultate kommt auch die Arbeit
von Frl. Rozenblat^), nach welcher die hemmende Kf-aft des Natr.
bic. derjenigen des Natrium carbonicum, der Soda, ungefähr gleich-
kommen soll: Eine ^/sprozentige Lösung beider Salze soll imstande
sein, selbstverständlich nüchtern gegeben, die Sekretion gegenüber
derjenigen von Leitungswasser bis um 30 % herabsetzen, während
4prozentige Lösungen eine Reduktion bis zu 70% bedingen können.
Wie schon erwähnt ist die Wirkung des Natriumkarbonates der-
jenigen des -bikarbonates im Prinzipe gleich. Ober dieses Salz liegen
interessante klinische Beobachtungen von Mathieu und Laboulais^)
vor, welche mit den neuesten tierexperimentellen Forschungen ganz
im Einklang stehen. Nach den klinischen Versuchen dieser Autoren
hatten zwar Gaben von 0,5—1 % NasCOs, eine halbe Stunde vor dem
Ewald sehen Probefrühstück genossen, keinen deutlichen Einfluß auf
die Sekretion, wohl aber Dosen von 3 g. Diese Konzentration setzte
den Prozentgehalt, sowie die Menge der gebundenen und der freien
HCl erheblich herab, besonders 1 Stunde vor dem Probefrühstück
gegeben. Dieser sekretionshemmende Einfluß war nicht nur von
momentaner, sondern auch längerer Dauer und hatte kurativen Cha-
rakter bei einem an Hyperchlorhydrie leidenden jungen Manne, bei
dem die Sekretion nach Htägigem Einnehmen von täglich 4 g, d. h.
von je 1 g Natr. carbon. und 2 g bei der Mahlzeit qualitativ und
quantitativ erheblich herabgesetzt werden konnte. — Experimentell
wurde die Sekretionshemmung durch Soda schon von Pawlow^) be-
obachtet. Er äußert sich darüber:
»Keine einzige der angewandten Sodalösungen von 0,05—1 % vermochte, wie
sie in der Menge von 150 com in den großen Magen eingebracht wurde, auch nur
1) Med. Klinik 1906, Nr. 24.
2) Inauguraldissertation Berlin 1907.
3) Gaz. des hdp. 1894.
4) Arb. der Verdauungsdrüsen, S. 124.
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260 P. Rodari, [24
einen Tropfen Saft aus dem kleinen Magen zu treiben; es floß höchstens Schleim
heraus. Somit hatte die Gegenwart der Soda im Wasser die safttreibende Wirkung des
letzteren herabgesetzt. Diese Tatsachen verdienen eine große Beachtung sowohl
wegen ihres klinischen Interesses, als auch besonders aus physiologischen Gründen.*
BickeU) hat diese Angaben Pawlows vollauf bestätigt und er-
weitert. Auf Sodalösungen von 0,5—1 % bleibt die Bildung eines
sauren Saftes aus, und aus dem kleinen Magen fließt höchstens etwas
Schleim heraus. Auch unter pathologischen Verhältnissen hatBickel
diese hemmende Wirkung festgestellt. So versiegt die durch Pilo-
karpininjektion hervorgerufene mächtige Sekretionssteigerung schon
wenige Minuten auf die Darreichung der Sodalösung hin, und das
Sekret nimmt alkalische Reaktion an. Die vermehrte Speichelab-
sonderung dauert indessen unverändert fort. Die Art der Wirkung
dürfte wohl in einer Lähmung der Drüsenfunktionen zu suchen sein.
— Die Sekretionshemmung resp. -herabsetzung durch Natr. carbon-
ist auch von Heinsheimer und Rozenblat beobachtet worden (s. o.).
Als Beispiel für die sekretionsherabsetzende Wirkung eines alkalischen
Mineralwassers, möchte ich die experimentellen Untersuchungen von
Sasaki2) über das Vichy-Wasser anführen. Dieses bildet einen
deutlichen Gegensatz zu den alkalisch muriatischen Quellen, wie das
Emser- und das Selterswasser und besonders zu den Kochsalzquellen,
welche beide Arten die Sekretion deutlich steigern. — Den sekretions-
hemmenden Einfluß weisen deutlich auch die Bittersalze auf. So
hat Birks) das Analogon zum NaCl und CaClg, das Magnesium-
chlorid, MgClg, einen Bestandteil der Bitterwässer, klinisch geprüft
und seine sekretions- und verdauungsverzögernde Wirkung am Probe-
frühstück festgestellt: Dosen von 2,0 — 4,0 g sollen die Verdauung der
letzteren um ca. 15 Minuten, Dosen von 10 g um etwa 60 Minuten
verlangsamen. — Am Tierexperimente hat Heinsheimer*) beim
Natrium sulfuricum und bei der Magnesia sulfurica schon in Konzen-
trationen von 3 % eine energische Herabsetzung der quantitativen
HCl-Abscheidung konstatiert, während sich der Aziditätsgrad, der pro-
zentuale HCl-Gehalt, schwankend verhielt.
Physiologisch interessant und von klinischer Bedeutung an allen
den erwähnten Resultaten mit den Alkalien und den Bittersalzen ist
die durchweg beobachtete, durch das Mettsche Verfahren nachge-
wiesene, gleichzeitige Herabsetzung auch des proteolytischen
Fermentes, der Pepsinkraft. Tichomicow^) betont vor allem
1) Berl. Klin. Wochenschr. 1905, Nr. 128.
2) Arch. f. Verdauungskrankheiten 1906, Bd. 12, Heft 3.
3) 1. c.
4) 1. c.
5) Wratsch 1905, no. 2.
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25] Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 261
den eingreifenden Einfluß der Alkalien auF das Pepsin, in dem Sinne,
daß diese die aktive Form des Fermentes in die inaktive überFühren
sollen, wobei sich möglicherweise Salze des Fermentes bilden können.
Als Prototyp Für die Verkörperung der sekretionshemmenden
Wirkung der Bittersalze figuriert nach den obenerwähnten Unter-
suchungen Sasakis das Hunyadi-Janos-Bitterwasser, dessen graphisch
dargestellte Sekretionskurve zeitlich und quantitativ erheblich unter
derjenigen vom alkalischen Vichy- und besonders vom Leitungswasser
verläuft
IL Gewisse Adstringentlen.
Unter dieser Gruppe sollen einige pharmakologisch wichtige Körper
besprochen werden, welche teilweise schon seit vielen Jahrzehnten
empirisch im Rufe einer besonderen Heilwirkung auf den kranken
Magen stehen.
So eingehend die Alkalien und Bittersalze in ihrem Einflüsse auf
den Sekretionsverlauf im Magen untersucht worden sind, so wenig
Aufmerksamkeit hat man, wenigstens in experimenteller Hinsicht, den
Adstringentlen zugewendet. Aber auch in der Pathologie ist die
pbarmakodynamisch-klinische Bedeutung dieser Körper nicht ein-
gehend berücksichtigt worden. In bezug auf ihre Wirkung auf die
anatomisch-chemische Grundlage jeder Magenerkrankung, die Ent-
zündung und den Chemismus finden sich sowohl in den Lehrbüchern
der Pathologie wie der Pharmakologie nur oberflächliche Andeutungen
ohne präzise Betonung ihres difl^erenten oder indifl^erenten Einflusses
der betrefl^enden chemischen Körper.
Bei der Frage der Indikation zur Anwendung gewisser Adstringentlen
bei Magenerkrankungen bin ich zunäohst theoretisch von der Idee aus-
gegangen, daß ein Adstringens, dessen Wirkung (nach Schmiedeberg)
in praktischer Beziehung darin besteht, ,,die Intensität der Vorgänge
zu vermindern, welche bei der Entzündung Platz greifen, also
Schwellung und Wucherung der zelligen Gewebselemente zu mäßigen
oder zu beseitigen, sowie eine übermäßige Schleimsekretion zu unter-
drücken und die Exsudat- und Eiterbildung zu hemmen'', diesen Ein-
fluß mutatis mutandis auch auf die Schleimhaut des Magens ausüben
und die Sekretionsvorgänge dabei nicht unbeeinflußt lassen sollte.
Durch praktische Erfahrungen von der prinzipiellen Richtigkeit dieser
zwar naheliegenden, aber in der Literatur bisher kaum angedeuteten
Ansicht belehrt, habe ich in meinem „Grundriß der med. Therapie
der Magen- und Darmkrankheiten'' die Indikation aufgestellt, Erkran-
kungen des Magens mit Sekretionssteigerung, besonders entzündlicher
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262 P- Rodari, [26
Art, medikamentös doch lieber mit gewissen Adstringentien, als mit
indifferenten Mitteln (z. B. Amaris) zu behandeln und in einer kleinen
Publikation^) habe ich einige typische klinische Beispiele dafür ange-
führt. Einfach scheinen die Verhältnisse a priori da zu liegen, wo
man zunächst nur mit einer entzündeten Schleimhaut des Magens zu
tun hat. Warum sollten die Adstringentien hier nicht ebensogut
entzündungsbekämpfend wirken, wie bei einer anderen entzündeten
Mukosa? Auch noch einfach dürfte die Frage ihrer Wirkung bei einer
Entzündung mit Sekretionssteigerung sein. Wenn hier die Sekretions-
steigerung ein Folgezustand der Entzündung ist, so dürfte man zum
voraus erwarten, daß Hand in Hand mit den Heilungsvorgängen der
Entzündung auch die Sekretion geregelt würde.' Anders verhält es
sich mit der Frage nach der sekretortschen Wirkung einiger Adstrin-
gentien auf die nicht entzündlich veränderte Magenschleimhaut, weil
bisher diesbezügliche experimentelle Untersuchungen nur spärlich
angestellt wurden, und deren Verlauf noch zu keinem einheitlichen
Resultate geführt hat.
An der Hand von Experimenten an Pawlowschen Hunden soll
nun im folgenden versucht werden, diesen Fragen eine experimentell-
biologisch begründete genauere Antwort zu geben.
Beginnen wir zunächst mit den Wismutverbindungen. — Unter
diesen spielt therapeutisch von jeher eine groDe Rolle das Bismu tum
subnitricum, das Magisterium bismuti von der chemischen
Formel Bi<^Q ^ Die alten Ärzte wandten es als ein Universalmittel
gegen alle Arten von Magenkrankheiten an. Die klinische Beobachtung,
daß es bei Übersäuerungszuständen des Magens besonders indiziert
sei, treffen wir bei Oppolzer^) an, welcher dem Präparate eine
bessere Wirkung als den Antacidis (kohlensaure Magnesia und kohlen-
saurer Kalk) zuschreibt. Hannon^) empfiehlt in ähnlicher Indikation
das Bismutum subcarbonicum, dem er vor dem Bismutum sub-
nitricum den Vorzug gibt. Eine Erklärung für die Wirkung des Bis-
mutum subnitricum bei Magen- und Darmkatarrhen gibt Bricka^)^
indem er hierfür ein Freiwerden von Säure im Magen-Darmkanal an-
nimmt, welche als leichtes Kaustikum auf die Mukosa wirkt, und die
Unwirksamkeit des Bismutum carbonicum wird dadurch erklärt,
daß keine kaustisch wirkende Säure frei werde. Zur Entfaltung dieses
Effektes müsse aber das Präparat in reichlich großen Dosen und mit
1) Berl. klin. Wochenschr. 1906, Nr. 28.
2) Zeitschr. der k. k. Gesellsch. der Arzte, Wien, Januar 1857.
3) Presse m6d. 1856, no. 46/5Q.
4) Thhse Strasbourg 1864.
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27] Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 263
einem gewissen Quantum Wasser vor der Mahlzeit gegeben werden.
Femer seien Differenzen im Sauregehalte des Mittels Für dessen Wir-
kung nicht ohne Bedeutung, indem stark basische Präparate unwirksam
seien. — Eine weitere interessante Beobachtung treffen wir bei Dun bar ^)
an, der dem Bismut in solchen Fällen eine besondere Heilwirkung
zuschreibt, wo die Zunge rot und die Papulae fungiformes vergrößert
seien. Dies trifft nun gewöhnlich bei Hyperazidität zu, und daraus
können wir den Schluß ziehen, daß Dunbar bei Sekretionssteigerungen
vom Bismut gute ErFolge sah, bzw. dieses sekretionshemmend wirkte.
— Schwartzkopff«) schreibt bei seinen obenerwähnten klinischen
Versuchen dem Bismutum subnitricum keine ausgesprochene sekre-
tionshemmende Wirkung zu. Die Magensaftabscheidung nach Dar-
reichung einer Wismutaufschwemmung kam meistens qualitativ und
quantitativ derjenigen nach WasserauFnahme gleich.
Die neuere Literatur beschäftigt sich fast nur mit den physikalischen
Eigenschaften der Wismutsalze, d. h. mit ihrer Fähigkeit auf Substanz-
defekte (Erosionen und Ulzera) der Magenschleimhaut eine schätzende
Decke zu bilden und so die lädierten Stellen vor der Einwirkung des
sauren Magensaftes zu schützen. Daneben wird eine Sekretions-
liemmung nur beiläufig erwähnt, ohne darauf des näheren einzugehen.
So äußert sich vom klinischen Standpunkte aus Boas^), nachdem er
die Fle in ersehe Ulkusbehandlung mit großen Wismutdosen (10 bis
20 g pro die) besprochen, folgendermaßen:
^Matthes^) hat die gunstigen Erfolge Fletners bestätigt und führt sie auf
Gmnd experimenteller Erfahrungen darauf zurGck, daß das eingeführte Wismut eine
Schleimseketion hervorruft und das Wismutschleimgemisch eine schützende Decke
für etwaige Substanz Verluste liefert. Fuchs^) konnte diese Beobachtung dahin er-
veitem, daß das Wismut mit Schleim vermischt zu Wismutoxyd reduziert wird.
Diesen schließen sich vom klinischen Standpunkte Rosenheim, Savelieff,
Crimer, Witthauer, Stintzing, Riegel im wesentlichen an."
Pentzoldt und Boas selbst verhalten sich abwartend. — Weiter
sagt Boas:
yKontraindiziert ist die Wismutbehandlung bei Magenaffektionen mit stark
Terminderter Salzsäureabscheidung mit Ausnahme von hämorrhagischen Erosionen
und ulzerierenden Geschwülsten."
Die Auffassung des Pharmakologen über die Einwirkung des Wis-
mutes auf den Magen vertritt Heinz<^) wie folgt:
1) Practitioner, Sept 1882.
2) 1. c.
3) Diagnostik und Therapie der Magenkrankheiten. 1907, 5. Aufl.
4) Zentralbl. f. innere Med. 1894, Nr. 1.
5) Deutsche med. Wochenschr. 1903, Nr. 14.
6) Lehrb. der Arzneimittellehre 1907.
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264 P- Rodari, [28
„Man wendet das Bismutum subnitricum innerlich an bei rundem Magenge-
schwür, bei Hyperchlorhydrie, sowie bei allen Formen von Kardialgie. Die günstige
Wirkung auf das Magengeschwür rührt offenbar davon her, daß das Wismutsubni-
trat auf dem Geschwür einen dasselbe völlig auskleidenden Oberzug bildet, der es
vor mechanischen, wie chemischen Insulten durch die Ingesta schützt. Bei Kar-
dialgie, die durch übermäßige Salzsäureproduktion seitens der sonst gesunden Schleim-
haut bedingt ist (Auftreten der Schmerzen ca. '/^ Stunden nach der Mahlzeit, zur
Zeit des Auftretens der freien HCl im Magen), gibt man das Wismutsubnitrat eine
halbe Stunde nach dem Essen.**
Schmiedebergi) vertritt mehr die Ansicht einer chemischen (nicht
vorwiegend physikalischen) Wirkung des Wismutes auFdieMagenmukosa:
„Das basisch salpetersaure Wismut (Magisterium bismuti) ist in Wasser unlSs-
lich und deshalb unter gewöhnlichen Verhiltnissen unwirksam« Selbst in den Magen
kann das völlig arsenfreie Präparat in größerem Mengen gebracht werden, ohne
Schaden zu verursachen. Doch wird dabei ein kleiner Teil in der sauren Magen-
flüssigkeit gelöst und wirkt dann adstringierend und antiseptisch.
Da die Lösung, d. h. die Umwandlung in die wirksame Verbindung durch die Ver-
dünnung der Magensäure beschränkt ist, so kann man dieses Präparat in solchen
Fällen mit Vorteil anwenden, in denen es darauf ankommt, einen gleichmäßigen
gelinden Grad jener Wirkung längere Zeit, wochen- und selbst monatelang,
zu unterhalten.'*
Experimentell wurde das Bismutum subnitricum bisher nicht ein-
gehend und nur von einem einzigen Autor, Heinsheime r 2), auf
seine Sekretionswirkung im Magen geprüft. In seiner mehrfach
zitierten Arbeit hat Heinsheimer nebenbei das Bismutum sub-
nitricum auf dessen sekretorische Wirkung geprüft und ist zu dem
Resultate gelangt, daß Sprozentige Aufschwemmungen zwar keine deut-
liche Verminderung der Azidität, aber eine entschiedene Herabsetzung
der Saftmenge zur Folge hätten, während a^/sprozentige Aufschwem-
mungen einen nur geringern Einfluß auf die Sekretionsgröße auf-
weisen.
Durch die folgenden Versuche an Pawlowschen Hunden bezwecke
ich nun die Einwirkung einiger Wismutpräparate auf die Magen-
sekretion genauer zu prüfen. — Zunächst das Bismutum sub-
nitricum. Unter den oben beschriebenen Vorbereitungen und Vor-
aussetzungen nahmen die einzelnen Versuche folgenden Verlauf:
1) 1. c.
2) 1. c.
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29] Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 265
Versuch Nr. 9 am Hund «Karo*.
200 ccm Leitungswasser
200 ccm Leitungswasser
+ 10 g Bismutum subnitricum
8h 55
= 5%
11 h -
Zeit
Menge
Zeit
Menge
9h 25
9h 55
10 h 22
10 h 55
0,3
3,3
4,0
0,Q
11h 30
12 h —
15 h 30
1 h —
1 h 30
2h —
3,0
1,6
0,7
0,0
U/s Stunden
7,6 ccm
2V2 Stunden
6,7 ccm
Sekretions-
dauer
Gesamtquant.
Gesamtazidität
Sekretions-
dauer
Gesamtquant.
Gesamtazidität
132
128
Versuch Nr. 10 am Hund «Moor*.
200 ccm Leitungswasser
200 ccm Leitungswasser
+ 10g Bismutum subnitricum
8h 55
= 5%
11 h-
Zeit
Menge
Zcit
Menge
9h 25
9h 55
10 h 25
10 h 40
2,0
1,5
1,0
0,0
11 h 30
12 h —
12 h 20
1 h —
2,0
1,6
0,5
0,0
1^/4 Stunden
4,5 ccm
1^/2 Stunden
4,1- ccm
Sekretions-
Gesamtquant.
Sekretions-
Gesamtquant.
dauer
Gesamtazidität
dauer
GesamtaziditSt
134
126
Versuch Nr. 11 am Hund »Karo«.
200 ccm Leitungswasser
8h 55
200 ccm Leitungswasser
+ 20 g Bismutum subnitricum
= 10%
2h —
Zell
9h 25
9h 55
10 h 25
10 h 55
Menge
0,3
3,3
4,0
0,0
Zeit
2h 30
3h —
3h 30
4h —
Menge
1.8
1^
0,4
0,0
IVs Stunden
Sekretions-
dauer
7,6 ccm
Gesamtquant.
Gesamtazidität
132
1V2 Stunden
Sekretions-
dauer
3,7 ccm
Gesamtquant.
Gesamtaziditit
126
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266
P. Rodari,
Versuch Nr. 12 am Hund .Karo".
[30
200 ccm Leitungswasser
Sil 55
200 ccm Leitungswasser
+ 20 g Bismutum subnitricum
= 10%
2ti 30
Zeit
9h 25
9 h 55
10 h 25
10 h 40
Menge
3,0
1,5
1,0
0,0
Zeit
2h 30
3h —
3h 30
4h —
Menf«
0,0
0,2
0,0
0,0
IV4 Stunden
Sekretions-
dauer
4y5ccm
Gesamtquant.
Gesamtazidität
134
1 Stunde
Sekretions-
dauer
O^ccm
Gesamtquant
Gesamtaziditit
?
Versuch Nr. 13 am Hund ,Karo*.
200 ccm Leitungswasser
7li 30
200 ccm Leitungswasser
+ ]0g Bismutum subnitricum
= 50/0
1 h —
Zeit
8h —
8h 30
9h —
9 h 15
9h 30
9h 45
Menge
Iß
2,2
1,8
1,0
0,6
0,0
Zeit
1 h 30
2h —
2h 30
3h —
3h 30
3h 45
Menge
2,0
4,0
1,*
0,6
0,2
Oft
IS/4 Stunden
Sekretions-
dauer
6,9 ccm
Gesamtquant.
Gesamtazidität
120
21/4 Stunden
Sekretions-
dauer
8^ ccm
Gesamtquant.
Gesamtaziditit
150
Vers
uch Nr. 14 am Hund »N
ero*.
200 ccm Leitungswasser
200 ccm Leitungswasser
+20g Bismutum subnitricum
8h
__
= 10%
3h —
Zeit
Menge
Zelt
Menge
8h 30
9h — .
9h 30
10 h —
10 h 30
2,0
1,8
0^
0,0
3h 30
4h —
4h 30
4 h 45
5h —
5 h 15
5h 30
1,8
2,2
2,0
0,8
0,6
0,3
0,0
2 Stunden
5,2 ccm
2 Stunden
7,7 ccm
Sekretions-
dauer
Gesamtquant.
Gesamtazidität
Sekretions-
dauer
Gesamtquant.
Gesamtazidität
128
130
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31] Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 267
Versuch Nr. 15 am Hund »Max*.
200 com Leitungswasser
7h 30
200 ccm Leitungswasser
+ 10g BIsmutum subnitricum
= 5%
1 h 30
Zelt
Sh -^
8h 30
9h —
9 h 15
9h 30
9h 45
Menge
3^
2,4
2,0
1,6
0,8
0,0
Zeit
2h —
2h 30
3h —
3h 30
Menge
2,5
0,2
0,2
0,0
l»/4 Stunden
Sekretions-
dauer
lOyO ccm
Gesamtquant.
Gesamtazidität
150
IV2 Stunden
Sekretions-
dauer
2,9 ccm
Gesamtquant.
Gesamtaziditit
120
Wenn wir aus den vorstehenden Bismutversuchen uns die Frage
der sekretorischen Wirkung des Bismut subnitricum auf die Drüsen-
funktion des Magens vorlegen, so müssen wir uns zunächst den
chemischen Vorgang vergegenwärtigen » der durch Einwirkung der
HCl des Magens auf das Bismutsalz vor sich geht. Dieser entspricht
folgender Gleichung:
Bi<(g^»+ HCl = H NO3 + Bl^
In diesem Resultate der Salzsäureeinwirkung ist der sekretorische
Einfluß, wie wir des nähern weiter unten sehen werden, nicht auf
das Bismutoxychlorid, sondern auf die Salpetersäure zurfickzufiihren.
Bei der Durchsicht obiger Versuche treffen wir einen dreifachen
Typus der Reaktion derMagenschleimhaut auf das Bismutum subnitricum
an: l.Eine typische Sekretionshemmung, indem dieQuantität und wahr-
scheinlich auch die Qualität des Sekretes herabgesetzt wird; bei letzterer
sind allerdings physiologische Schwankungen, wie wir im Verlaufe dieser
Untersuchungen mehrfach antreffen werden, in Berücksichtigung zu
ziehen, und dadurch liegen keine eindeutigen Verhältnisse vor. Auf
alle Fälle kann man hier eine Neigung zur Herabsetzung der Magen-
saftsekretion durch das Bismutum subnitricum annehmen. Diese Art
der Reaktion derMagenschleimhaut dürfte den gewöhnlichen Reaktions-
typus der Magensekretion gegenüber dem Bismutnitrat bilden, ist
aber nur bei einer normalen^nicht entzündlichen Schleimhaut,
nach unseren Versuchstieren zu schließen, anzutreffen. 2. Einen rela-
tiven Indifferentismus der Magenschleimhaut gegenüber dem Bismut-
nitrat. Dieses dürfte der seltenere Reaktionstypus und ebenfalls bloß
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268 P. Rodari, [32
bei normaler Magenschleimhaut anzutreffen sein. 3. Einen Reaktions-
typus im Sinne einer ausgesprochenen Hemmung der Sekretion und
zwar bloß bei einer entzündlich veränderten Magenschleimhaut. Die
Erklärung hierfür will ich in den folgenden Experimenten zu geben
versuchen.
Diese in drei verschiedenen Arten verlaufenden Versuche lassen
uns über die Wismutwirkung auf die Sekretionsverhältnisse der
Magenschleimhaut folgende Schlüsse ziehen:
I.Aus allen sieben Versuchen ergibt sich vor allem fibereinstimmend
der Umstand, daß dem^Bismutum subnitricum auf jeden Fall keine
sekretionssteigernde Wirkung zugeschrieben werden kann.
2. In der Mehrzahl der Versuche zeigt in Obereinstimmung mit
biologisch*experimentellen Untersuchungen (Heinsheimer und nach
meinen eigenen klinischen Beobachtungen) das Bismutum subnitricum
eine deutliche Hemmung auf die Magensaftsekretion und zwar aus-
gesprochen auf die Quantität der Salzsäure und andeutungsweise auch
auf die Qualität (prozentualer HCl-Gehalt).
3. Mehr ausnahmsweise reagiert die Magensaftsekretion in ziem-
lich indifferenter Weise auf die Einwirkung des Bismutum subnitri-
cum. Die Erklärung hierfür, warum in den einen Fällen die Drüsen-
sekretion im Sinne einer Irritation, in den anderen in indifferenter
Weise reagiert, ist wenigstens aus manifesten, anatomischen Gründen
nicht ersichtlich, weil es sich in beiden Fällen um eine anatomisch
intakte Schleimhaut handelt. In Ermangelung einer besseren Er-
klärung müßte man sich mit derjenigen einer »individuellen Prä-
disposition" für größere und geringere Empfindlichkeit gegenüber
dem einwirkenden Agens behelfen.
4. Die im Sinne einer Entzündung veränderte Schleim-
haut des Magens reagiert auffallend auf die Einwirkung des
Bismutum subnitricum mit einer erheblichen Sekretions-
herabsetzung, die bedeutend unter der sub 2 angeführten steht
(Versuch am Hunde „Max" mit chronischer Gastritis).
Diese Art der Reaktion der entzündeten Magenschleimhaut,
im Gegensatz zur anatomisch intakten Mukosa, ist nicht nur eine dem
Bismutum subnitricum gegenüber eigentümliche, sondern, wie wir weiter
unten sehen werden, teilweise in allerdings gegensätzlichem Endeffekte
auch gegenüber anderen Wismutverbindungen, sowie auch weiteren
nicht dem Wismut angehörenden Adstringentien.
Die folgenden Experimente befassen sich mit einem neuen Prä-
parate, dem Bismutum bitannicum^), dem doppeltgerbsauren
1) Chem. Fabrik von Heyden.
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33] Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 269
Bismutum. Das Bismutum tannicum hat in der Therapie keine
Relle gespielt, wir finden es in der Literatur kaum erwähnt. Bei-
spielsweise spricht ihm Gutmann^) jeden therapeutischen Wert bei
Magen- und DarmaFfektionen ab und empfiehlt an seiner Stelle das
Bismutum salicylicum. — Dem neuen Präparate sollen theoretisch
gewisse Vorzuge vor dem alten eigen sein. So äußert sich die Fabrik
im Prospekte: »Das bisherige Bismutum tannicum enthält ein schwer
abspaltbares Tanninmolekfil, das neue Präparat enthält außerdem noch
ein zweites Tanninmolekül, welches leicht abspaltbar ist. Das Bis-
mutum bitannicum besitzt deshalb eine stärkere Tanninheilwirkung bei
gleichzeitiger Abwesenseit von unangenehmen Eigenschaften des freien
Tannins.*
Zunächst habe ich das Präparat an einem Hunde mit gesunder
Magenschleimhaut geprüf t:
Versuch Nr. 16 am Hund »Nero*.
200 com Leitungswasser
200 ccm Leitungswasser
+ 20 g Bismutum bitannicum
8h
_
-''"^0 5.
_
Zelt
Menge
Zeit
Menge
8h 30
9h —
9h 30
10 h —
10 h 15
3,0
2,2
1,8
0,1
0,0
2h 30
3h —
3h 30
4h —
4h 30
5h —
2,8
5,4
7,0
6,8
4,2
3,4
Fütterung
um 5 Uhr
P/g Stunden
7,1 ccm
Über 21/2 St.
29,6 ccm
Sekretions-
dauer
Gesamtquant.
Gesamtazidität
Sekretions-
dauer
Gesamtquant.
Gesamtaziditat
132
180
Wir sehen aus diesen Versuchen eine erhebliche Steigerung
der Sekretionsmenge und der Sekretionsdauer; die Azidität ist nicht
nennenswert beeinflußt.
Einen anderen Verlauf nimmt das Experiment mit dem Hunde mit
chronischer Gastritis (mit normaler Azidität):
1) Deutsche med. Wochenschr. 1886, Nr. 22.
Kl {o. Vorträge, N. F. Nr. 482/84. (Innere Medizin 144/46.) Mai 1908.
19
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270
P. Rodari,
Versuch Nr. 17 am Hund -Max".
134
200 ccm Leitungswasser
200 ccm Leitungswasser
+ 10 g Bismutum bitannicum
= 5%
8h 30
Uh 30
Zeil
Menge
Zeit
Menge
9h —
3,1
12 h —
1,6
9h 30
3,2
12 h 30
1,6
10 h —
2,2
1 h —
1,8
10 h 30
2,4
1 h 30
0,3
11h —
1,4
2h —
2,0
11 h 15
1,5
2 h 15
0,6
11 h 40
0,1
2h 30
0,1
2V2 Stunden
13,9 ccm
2V2 Stunden
8,0 ccm
Sekretions-
Gesamtquant.
Sekretions-
Gesamtquant.
dauer
Gesamtazidität
dauer
Gesamtazidität
142
138
Diesem Versuche liegt eine Fehlerquelle zugrunde: Das Tier war
am Abend vorher später als gewohnt gefüttert worden, so daß es am
Morgen des Versuchstages nicht ganz nüchtern bzw. die physiologische
Sekretion auf die Fütterung noch nicht völlig abgeklungen war; des-
halb ist beim Leitungswasserversuch sowohl die Sekretionsdauer als
das Sekretionsquantum im Vergleiche mit ähnlichen Experimenten am
gleichen Hunde erheblich gesteigert. Diese Steigerung beeinträchtigt
dadurch den Resultatwert des darauf folgenden Experimentes. Vgl.
folgenden Versuch:
Versuch Nr. 18 am Hund »Max*.
200 ccm Leitungswasser
8h —
200 ccm Leitungswasser
+ 10 g Bismutum bitannicum
= 5%
lOh 30
Zeit
8h 30
9h —
9h 30
10 h —
10 h 15
10 h 30
Menge
0,4
0,6
0,6
0,4
0,3
9,0
Zeit
11h —
11 h 30
12 h —
Menge
0,6
0,3
0,1
2 Stunden
Sekretions-
dauer
2,3 ccm
Gesamtquant.
Gesamtazidität
136
1 Stunde
Sekretions-
dauer
1,0 ccm
Gesamtquant.
Gesamtazidität
appr. 120
Sehr interessant ist hier wiederum die Tatsache, daß der sekre-
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35] Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 271
torische Apparat, wenn der Schleimhaut entzündliche Veränderungen
zugrunde liegen, anders als bei gesunden Verhältnissen reagiert: statt
der Steigerung der Sekretion haben wir hier eine ausgesprochene
Hemmung. Beide Versuche sind mit dem gleichen Tiere angestellt.
Bei dem einen ist die Sekretionsdauer durch das Präparat nicht be-
einflußt, wohl aber die Sekretionsmenge um ca. 60% geringer; bei
dem anderen ist sowohl die Dauer wie das Quantum erheblich herab-
gesetzt und beträgt kaum die Hälfte der Werte der Wasserperiode.
Im Experiment Nr. 17 liegt aber, wie erwähnt, ein Fehler vor. In
allen drei Fällen ist der prozentuale HCl -Gehalt des Magensaftes
nicht nennenswert, d. h. nicht außerhalb der physiologischen Schwan-
kungen beeinflußt.
Der chemische Vorgang im Magen ist demjenigen beim Bismutum
subnitricum analog:
Bi . bitannic.+ HCl = Bi<^j + Acid. tannic.
Daß auch hier nicht das Bismutoxychlorid das wirksame Agens
sein kann, ergibt sich schon durch den Vergleich mit der Wirkung
der sekre-
des Bism. subnitr. Wäre in beiden Fällen das Bi/^«
tionssteigernde Körper, so müßten das Bismut. subnitr. und das Bis-
mut. bitann. genau die gleiche sekretorische Wirkung sowohl auf den
gesunden wie auch auf den entzündeten Magen ausüben. Da dies aber
nicht der Fall ist, muß diese spezifische Wirkung in der frei-
gewordenen Säure zu suchen sein, also im Tannin, ähnlich wie in
den anderen Versuchen in der Salpetersäure. — Übrigens hat Herr
Prof. Bickel nachträglich auf meine Bitte hin den Einfluß des
Acid. tannic. selbst an Tierexperimenten geprüft und folgendes ge-
funden:
1. Versuch (Bickel).
150 ccm Leitungswasser
150 ccm 1 prozentige wässerige
Lösung von Acidum tannicum
Zelt
llh-bisllh30
Ilh30bisl2h—
12h— bisl2h30
12h30b]slh —
Menge
0,6
0,4
0,6
0,2
Zelt
1 h — bis 1 h 30
1 h 30 bis 2 h —
2h — bis2h30
2h30bis3h —
Menge
0,2
0,0
0,0
0,0
2 Stunden
Sekretionsd.
1,8 ccm
Gesamtquant.
1/2 Stunde
Sekretionsd.
0,2 ccm
Gesamtquant.
19*
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272 P- Rodari, [36
2. Versuch (Bickel).
200ccm 1 prozentige Lösung von Acidum tannicum ruFen überhaupt
keine Sekretion hervor.
Das Tannin hat also nach meinen Versuchen eine sekretions-
steigernde Wirkung und zwar da, wo die Schleimhaut intakt ist. Die
adstringierende Wirkung muß hier eine nur wenig intensive und sehr
oberflächliche sein und äußert sich in ihrem Endeffekte als eine
Irritation, eine Anregung der Drüsennerven bzw. der Drüsentätigkeit.
Im anderen Falle ist der Endeffekt ein umgekehrter, eine Depression,
eine Hemmung. Die entzündete, hyperämische und aufgelockerte
Mukosa läßt eine intensivere Adstringierung zustande kommen, d. h.
die eiweißhaltigen und leimgebenden Substanzen der Schleimhaut
zeigen unter den Vorgängen der Entzündung die schon physiologisch
vorhandene Affinität zum Tannin in erhöhtem Maße. Hand in Hand
mit der Adstringierung geht auch die Hemmung der Sekretion. Es
ist dies ein typisches Beispiel für den engen Zusammenhang zwischen
Entzündung und Sekretionsstörung und für einen gewissen Parallelis-
mus in der medikamentösen, therapeutischen Beeinflußbar-
keit der Entzündung und der Sekretionsanomalie, wie dies
schon in der Einleitung dieser Arbeit angedeutet wurde.
Des weitern wurde eine Bismutsalizylverbindung, ebenfalls ein
neues Präparat, untersucht, das Bismutum bisalicylicum. Die
Fabrik äußert sich folgendermaßen über das Präparat:' Bismutum bi-
salicylicum ist 6ine unlösliche Verbindung von 1 Atom Wismut mit 2Mole-
külen Salizylsäure, von denen daseineMolekül unter Bildung des gewöhn-
lichen Bismutum salicylicum sehr leicht abgespaltet wird. Die abgespaltete
Salizylsäure wird in dem Maße, wie sie entsteht, sofort resorbiert. Die
Abspaltung des anderen Moleküls Salizylsäure aus dem intermediär ent-
stehenden gewöhnlichen Bismutum salicylicum erfolgt wesentlich schwe-
rer. Das neue Bismutum bisalicylicum wirkt mit der einen Hälfte seiner
Salizylsäure sehr prompt, mit der anderen Hälfte dagegen genau wie
das bekannte Bismutsalizylat allmählich. Deshalb zeichnet sich das
Bismutum bisalicylicum nicht nur als Magen-, Darmantiseptikum vor
dem Bismutum salicylicum aus, sondern auch als schnell und stark
wirkendes Salizylmittel.'' Zunächst wurde auch hier das Präparat an
einem Hunde mit intakter Magenschleimhaut geprüft :
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37] Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 273
Versuch Nr. 19 am Hund «Karo'
200 ccm Leitungswasser
200 ccm Leitungswasser
+ 10gBismutum bisalicylicum
= 5%
7h dO
9h 45
Zelt
Menge
Zeit
Menge
8h —
\ß
10 h 15
12,5
8h 30
2,2
10 h 45
10.0
9h —
1,8
11 h 15.
5,8
9 h 15
1,0
11 h 45
1,2
9h 30
0,6
12 h 45
0,0
9h 45
0,0
13/4 Stunden
6,9 ccm
21/2 Stunden
29,5 ccm
Sekretions-
Gesamtquant.
Sekretions-
Gesamtquant.
dauer
Gesamtazidität
dauer
Gesamtazidität
120
132
Die sekretionssteigernde Wirkung ist hier eine auffallende. Die
Sekretionsperiode ist etwa doppelt so groD, die Sekretionsmenge etwa
dreimal stärker als bei der Wasserperiode. Die Azidität scheint ge-
steigert zu sein, immerhin nicht in typischer Weise.
Nun folgen drei Versuche an Hunden mit der chronischen Gastritis.
A priori dürfte man hier vielleicht auf eine Analogie zu den vorher-
gehenden Versuchen gefaßt sein, allein dies ist hier nicht zutreffend,
wie uns folgende Versuche beweisen:
Versuch Nr. 20 am Hund ,Max*
200 ccm Leitungswasser
9h as
200 ccm Leitungswasser
+ 6 g Bismutum bisalicylicum
= 3%
11 h 33
Zeit
10 h 05
10 h 35
11 h 05
11 h 35
Menge
0,2
0,5
0,6
0,0
Zeit
10 h 05
12 h 35
1 h 05
1 h 35
2h 05
Menge
0,2
0,6
1,2
0,2
0,0
U/2 Stunden
Sekretions-
dauer
1,3 ccm
Gesamtquant.
Gesamtazidität
ca. 140
2 Stunden
Sekretions-
dauer
2,2 ccm
Gesamtquant.
Gesamtazidität
146
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274
P. Rodari,
Versuch Nr. 21 am Hund »Max«.
[38
200 ccm Leitungswasser
200 ccm Leitungswasser
+ 10 g Bismut. bisalicylicum
= 5%
7h 30
9 h 45
Zelt
Menge
Zeit
Menge
8h —
3^
10 h 15
8,5
8h 30
2,4
10 h 45
5.5
9h —
2^
11 h 15
5,4
9 h 15
1,6
11 h 45
2,6
9h 30
0,8
11 h 45
4,2
9h 45
0,0
1 h 15
1,2
1 h 30
0,1
13/4 Stunden
10,2 ccm
31/4 Stunden
27,5 ccm
Sekretions-
Gesamtquant.
Sekretions-
Gesamtquant.
dauer
Gesamtaziditfit
dauer
Gesamtazidität
150
125
Versuch Nr. 22 am Hund
,Max«.
200 ccm Leitungswasser
8 h 45
200 ccm Leitungswasser
+ 10 g Bismut. bisalicylicum
= 5%
Ib 45
Zeit
9 h 15
9 h 45
10 h 15
10 h 45
11 h 45
Menge
4,0
1,0
0,2
1,0
0,0
Zeit
2 h 15
2h 45
3 h 15
3b 45
4h —
4 h 15
Menge
4,4
»,2
0,4
0,2
0,0
2V8 Stunden
Sekretions-
dauer
6,2 ccm
Gesamtquant.
Gesamtazidität
138
2 Stunden
Sekretions-
dauer
7,4 ccm
Gesamtquant
Gesamtaziditat
142
In allen der drei letzten Versuche wird durch Einwirkung des Bis-
mutum bisalicylicum die Sekretionsdauer und die Sekretionsmenge
erheblich gesteigert: im ersten Versuch etwa um das Doppelte, im
zweiten etwa das Dreifache und im dritten Versuche weniger auf-
fallend, immerhin noch um etwa 25%. Hier dürfte der Umstand die
geringere Sekretionssteigerungsfähigkeit erklären, daO diesem Wismut-
versuche ein Experiment mit Albargin, einer sekretionshemmenden
Substanz, ziemlich unmittelbar vorangegangen und daß als Nachwir-
kung davon die Drüsensekretion weniger erregbar war, als wenn
eine Wasserperiode unmittelbar vorausgegangen wäre. Der Einfluß
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39] Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 275
auf die prozentuale Azidität ist auch hier nicht typisch, er schwankt
innerhalb physiologischer Grenzen bald im Sinne einer leichten
Steigerung, bald einer geringen Hemmung. Der die Sekretion direkt
anregende Körper ist hier die im Magen freiwerdende Salizylsäure.
Diese hat also einen sekretionssteigernden Einfluß, sowohl auf die
gesunde wie auf die entzündliche Magenschleimhaut' Das Bismutum
bisalicyücum wie folgerichtig auch das Bismutum salicylicum können
also niemals zur Erzielung einer Herabsetzung der Sekretion ver-
wendet werden. Dieses gegensätzliche Verhalten der Bismutsalizylate
zu dem Bismutum subnitricum und dem Bismutum bitannicum läOt
sich pharmakologisch vielleicht dadurch einigermaßen erklären, daß der
schwer löslichen Salizylsäure, im Gegensatze zur Salpeter- und Digallus-
säure (Tannin) eine lokal ätzende Wirkung abgeht. Dadurch kommt es
auch nicht zu einer Adstringierung der Magenschleimhaut. Die Phar-
makodynamik dürfte also hier eine ganz andere sein und ihr freilich
nicht ein klares chemisch-anatomisches Substrat zugrunde liegen, wie
dem Tanninsalze. Dementsprechend ist auch der Endeffekt der Wirkung
ein anderer.
Zum Abschluß dieser Wismutversuche habe ich, lediglich von
praktischen Gründen geleitet, zwei Körper untersucht, welche in der
neueren medikamentösen Theraipe häufig in Verbindung mit Bismutum
subnitricum verordnet werden, das Anästhesin und Orthoformum
novum. Da die Hauptindikation ihrer internen Anwendung das Ulcus
ventriculi ist, halte ich es für geboten, sich über den Einfluß dieser
Lokalanästhetika auf die Magensaftabscheidung zu orientieren und lasse
deshalb zunächst Versuche über Aufschwemmungen mit Anästhesin resp.
Orthoform ohne Zusatz von Bismutum subnitricum folgen.
Die beiden folgenden Versuche sind am Hunde mit dem Magen-
katarrh vorgenommen.
Versuch Nr. 23 am Hund „Max".
200 ccm Leitungswasser
200 ccm Leitungswasser
+ 2 g Anästhesin
= 1%
7 h 45
10 h 45
Zeit
Menge
Zeit Meage
8 h 05
0,4
U h 15 0,7
8h 45
0,0
11 h 55
0,5
9h -
0,0
12 h -
0,2
9 h 15
0,0
12 h 15 0,0
Va Stunde
0,4 ccm
1 Stunde
1,4 ccm
Sekretions-
Gesamtquant.
Sekretions-
Gesamtquant.
dauer
Gesamtazidität
dauer
Gesamtazidität
?
140?
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276
P. Rodari,
[40
Versuch Nr. 24 am Hund .Max'
200 ccm Leitungswasser
200 ccm Leitungswasser
+ 2 g Anisthesin
= 1 %
8h 30
lOh 30
Zelt
Menge
Zeit
Menge
9h —
2,5
11h —
2,5
9h 30
1,0
11 h 15
1,6
10 h —
2,1
11 h 45
1,5
10 h 15
0,3
12 h 15
1,2
10 h 30
0,0
12 h 45
0,8
1 h 45
0,8
2 h 15
0,6
2h 45
0,2
3h —
0,0
n/a Stunden
Sfi ccm
4 Stunden
0,2 ccm
Sekretions-
Gesamtquant.
Sekretions-
Gesamtquant.
dauer
Gesamtazidität
dauer
Gesamtazidität
128
134
Der erste Versuch zeigt die Tendenz zu einer Steigerung, der
zweite eine Steigerung mäßigen Grades in bezug auf die Saftmenge
und eine relativ längere Sekretionsperiode. Auch hier läßt sich keine
besonders typische Beeinflussung der Azidität konstatieren.
Ein ähnliches Bild bieten die drei folgenden Versuche mit Ortho-
form (Orthoformum novum):
Versuch Nr. 25 am Hund «Karo*.
200 ccm Leitungswasser
7 h 45
200 ccm Leitungswasser
+ 2 g Orthoformum novum
= 1 ^L
gh 15
Zell
8 h 15
8 h 45
9h —
9h 15
Menge
0,3
0,2
0,1
0,0
Zelt
9 h 45
10 h 15
10 h 30
10 h 45
1 Stunde
Sekretions-
dauer
Menge
0,0
0,5
0,3
0,0
1 Stunde
Sekretions-
dauer
0,6 ccm
Gesamtquant.
Gesamtazidität
?
0,8 ccm
Gesamtquant.
GesamtaziditSt
?
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41] Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 277
Versuch Nr. 26 am Hund »Max*.
200 com Leitungswasser
7 h 45
200 ccm Leitungswasser
+ 2 g Orthoformum novum
= 1%
9 h 15
Zeit
8 h 15
8 h 45
9h —
9 h 15
Menge
0,4
0,0
0,0
0,0
Zeit
9h 45
10 h 15
10 h 30
10 h 45
Menge
0,0
0,9
0,4
0,0
1/2 Stunde
Sekretions-
dauer
0,4 ccm
Gesatntquant.
Gesamtazidität
?
1 Stunde
Sekretions-
dauer
1,3 ccm
Gesamtquant.
Gesamtaziditit
140?
Versuch Nr. 27 am Hund „Max*.
200 ccm Leitungswasser
200 ccm Leitungswasser
+ 10 g Orthoformum novum
8h
„
= 0,5%
2h —
Zeit
Menge
Zeit
Menge
8h 30
9h —
9h 30
10 h —
10 h 15
4,0
1,4
1,6
0,4
0,1
2h 30
3h —
3h 30
4h —
4h 30
0,7
1,0
0,3
0,2
0,0
P/4 Stunden
7,5 ccm
2 Stunden ! 2,2 ccm
Sekretions-
Gesamtquant.
Sekretions- Gesamtquant.
dauer
Gesamtazidität
dauer .Gesamtazidität
136
128
Auch hier tritt in zwei Versuchen die Neigung des OrthoForms zu-
tage die Sekretion zu erhöhen, aber in bedeutend weniger aus-
gesprochener Weise als beim Anästhesin. Im dritten Versuch hin-
gegen findet sich eine Sekretionshemmung, welche. ihre Erklärung in
einem unmittelbar vorausgegangenen Albarginversuche finden dürfte.
Die ganz leichte Sekretionssteigerung äußert sich sowohl beim Hund
mit gesunder, als auch beim Hunde mit entzündeter Magenschleim-
haut. Da beim Anästhesin und beim Orthoform der gleiche Hund
(mit der Gastritis) unter den gleichen Bedingungen zum Experimen-
tieren diente, dürfen wir die Anästhesin- und die Orthoformversuche
in ihren Resultaten miteinander vergleichen und wohl den Schluß
ziehen, daß das Orthoform die Magenschleimhaut bzw. die Magen-
drüsen weniger „reizt"' als das Anästhesin. Ob die beiden chemisch
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J
278
P. Rodari,
[42
komplizierten Körper, Derivate der Amidobenzoesäure (Para-Amido-
benzoesäureäthylester = Anäsfhesin), resp. der Oxybenzoesäure (Meta-
amido-para-Oxybenzoesäuremethylester = Orthoformum novum) durch
die einwirkende HCl Veränderungen erleiden, ist Fraglich, jedenfalls
sind aber erhebliche Umbildungen nicht möglich, und so müssen wir
wohl annehmen, daß diese Körper als solche die Wirkung auf die
Sekretion ausüben, und daß diese keine erheblich irritative ist.
Nun folgt je ein Versuch eines Gemisches von Orthoform bzw.
Anästhesin und Bismutum subnitricum im Verhältnis 1 : Og auf 200g
Wasser, also ungefähr in einer therapeutisch üblichen Dosis. Die
Experimente sind am gleichen Tiere (mit Gastritis) durchgeführt.
Versuch Nr. 28 am Hund „Max*.
200 ccm Leitungswasser
8h 30
200 ccm Leitungswasser
+ 9 g Bismutum subnitricum
= 1 g Orthoformum novum
11 h —
Zeit
9h —
9h 30
10 h —
10 h 30
10 h 45
11h —
Menge
1,0
2,0
0,6
1,9
0,8
0,1
Zeit
11 h 30
12 h —
12 h 30
1 h —
Ih 30
Menge
0,2
1,4
1,3
1,0
0,1
2 Stunden
Sekretions-
dauer
6,4 ccm
Gesamtquant.
Gesamtazidität
130
2 Stunden
Sekretions-
dauer
4,0 ccm
Gesamtquant.
Gesamtaziditit
128
Versuch Nr. 29 am Hund «Max*
200 ccm Leitungswasser
200 ccm Leitungswasser
+ 9 g Bismutum subnitricum
= 1 g Anästhesin
8h 30
Ih 30
Zeit
Menge
Zelt
Menge
9h —
9h 30
10 h —
10 h 30
10 h 45
11 h
1,0
2,1
0,6
1,9
0,8
0,1
2h —
2h 30
3h —
3 h 15
3h 30
0,6
0,8
1,0
0,6
0,1
2 Stunden
6,5 ccm
11/2 Stunden
3,1 ccm
Sekretions-
dauer
Gesamtquant.
Gesamtazidität
Sekretions-
dauer
Gesamtquant.
Gesamtaziditit
130
132
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43] Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 279
Diese Versuche ergeben eine deutliche Herabsetzung der Sekretions-
oienge. Sie sind sehr interessant, weil sie einerseits die obener-
wähnte sekretorische Hemmung des Bismutum subnitricum bestätigen,
andererseits, weil in dem Gemische die hemmende Komponente (das
Bismutum subnitricum) die steigernde (das Anästhesin resp. Ortho-
form) an Wirkung übertrifft, und weil dadurch die Resultante eine
ausgesprochene Hemmung ist. — Ober die prozentuale Azidität läßt
sich auch hier nichts Charakteristisches sagen.
Die Versuche könnten auch den Schluß zulassen, daß das Anästhe-
sin die hemmende Wismutwirkung weniger beeinträchtigen würde als
das Orthoform. Demgegenüber ist zu sagen, daß der Anästhesin-
versuch im Anschluß an das OrthoFormexperiment gemacht worden
ist, wo also eine hemmende Nachwirkung auf den Drüsenapparat
(wegen der Wismutkomponente) nicht ausgeschlossen war. Der Unter-
schied in den gefundenen Mengewerten ist überdies hier zu klein,
um daraus bindende Schlüsse auf eine spezifische Anästhesin- oder
Onhoform-Komponentenwirkung zu ziehen. Das Hauptinteresse ist
das Resultat dieser Versuche, daß ein Gemisch dieser therapeutisch
wichtigen Medikamente sekretionshemmend wirkt.
Seit vielen Jahrzehnten hat das Argentum nitricum sich des
Rufes eines guten «Magenmitteis'' erfreut. Schon im Jahre 1829
wurde es von Johnson^) gegen die Magenschmerzen von Epileptikern
als lokales Analgetikum angewendet. In einer Art Monographie über
das Präparat empfiehlt es Krüger^) bei Gastromalacie, ferner bei
Pyrosis gastrica und cardiaca, sowie auch bei Gastralgia nervosa.
Lane^) schreibt die gleichen therapeutischen Eigenschaften dem
weniger kaustisch wirkenden Silberoxyd zu. Auf die Pharmako-
dynamik des Arg. nitr. geht Küchenmeister^) näher ein, indem er
bei Empfehlung des Medikamentes gegen Ulcus ventriculi darauf hin-
weist, daß es die Eigenschaft habe, mit den Albuminaten gallert-
artige Verbindungen einzugehen und nach erfolgter Ätzung des Ge-
schwüres dasselbe mit einer Decke von koaguliertem Eiweiß zu
versehen, ähnlich wie die Gerbsäure, die arsenige Säure, der Blei-
essig, der Alaun usw. Mit den Jahren hat das Arg. nitr. bei Magen-
krankheiten, besonders beim Ulkus, immer mehr Anhänger gefunden,
wie Ewald, Liebermeister, Rosenheim, Boas, Lion u.a., aber
auch Gegner, wie Rosenthal, Roßbach und Nothnagel.
1) Nach Baibakoff zitiert (siehe unten).
2) Prakt. und krit. Mitteilungen von Pfaff^ 7. Jahrg. 1841.
3) Lancet, July 1841.
4) Wiener med. Wochenschr. 1854, Nr. 14 und 15.
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280 P. Rodari, [44
Die Mehrzahl der Autoren, welche das salpetersaure Silber
bei Magenerkrankungen anwenden, halten besonders diejenigen Zu-
stände als für die Silbertherapie geeignet, welche mit einer Steige-
rung der HCl-Sekretion verbunden sind, von der Annahme aus-
gehend, daß das Präparat sekretionshemmend auf die DrüsenFunktion
des Magens wirke. Diese Frage nach der Beeinflußbarkeit der Magen-
saftabscheidung durch das Arg. nitr. hat neulich Baibakoff^) klinisch
eingehend geprüft und ist zu dem Resultate gelangt, daß in der Mehr-
zahl der Fälle das Medikament eine säuresteigernde Wirkung be-
sonders in quantitativer, prozentualer Hinsicht aufweise. Dieser
Autor hat durch das Probefrühstück von Ewald sowohl Sekretions-
neurosen als auch Gastritiden mit normaler und anormaler Azidität,
sowie Fälle von Ulcus ventriculi geprüft und hat als Resultat seiner
Untersuchungen die Indikation aufgestellt, das Arg. nitr. bei Zuständen
von Subazidität, besonders von schleimigem Katarrh zu verordnen,
während seine Anwendung bei denjenigen Magenerkrankungen, die
mit einer gesteigerten Azidität einhergehen, kontraindiziert sei. Dabei
gibt der Autor aber auch an, daß manche seiner Fälle mit einer
Sekretionsherabsetzung auf die Arg. nitr.- Anwendung reagiert hätten;
mithin ist die Wirkung des Präparates auf die Magendrüsenfunktion
keine einheitliche, d. h. sie kann unter Umständen eine hemmende
sein. Worin dieser doppelte Modus der Sekretionswirkung besteht,
resp. warum der eine Magen im Sinne einer Irritation, der andere
einer Depression reagiert, hat der Autor nicht untersucht und in
dieser Unterlassung liegen, meiner Ansicht nach, die Mängel obiger In-
dikationsaufstellung. Aus Analogie zu den anderen hier besprochenen
Tierexperimenten habe ich nun versucht, in der Frage der Einwirkung
der Silbersalze auf experimentell-biologischem Wege einige Klarheit
zu verschaffen und habe als Prototypen der Silberwirkung nicht das
Arg. nitr. als solches, sondern zwei organische Silberverbindungen
geprüft, denen ich aus pharmakologischen und klinischen Gründen
vor dem Salpetersilber den Vorzug gebe, das Protargol und das
Albargin.
Das Protargol, ein Silbereiweißderivat mit 8,3% Silber in orga-
nischer Bindung, wurde zuerst in einer 0,5 prozentigen Lösung an
einem Hunde mit normaler Beschaffenheit der Magenschleimhaut ge-
prüft ürid der Versuch verlief folgendermaßen:
1) Arch. f. Verdauungskrankheiten 1906, Bd. 12, Heft 1.
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45] Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 281
Versuch Nr. 30 am Hund „Nero**.
200 ccm Leitungswasser
200 ccm Leitungswasser
+ 1 g Protargol
= 0,5%
8h
—
10 h 15
Zeit
Menge
Zeit
Menge
8h 30
2,0
10 h 45 5,8
9h —
«^
11 h 15 6,0
9h 30
1,8
11 h 45
6,2
10 h —
0,2
12 h 15
2,3
10 h 15
0,0
12 h 45
2,0
1 h 15
1,8
1 h 45
0,8
2 h 15
0,5
2 h 45 0,4
3h— , 0,2
13 4 Stunden
5^ ccm
41/4 Stunden
26,0 ccm
Sekretions-
Gesamtquant.
Sekretions-
Gesamtquant.
dauer
Gesamtazidität
dauer
GesamtaziditSt
123
134
Aus diesem Versuche ergibt sich eine hochgradige Steigerung der
Sekretionsmenge in der Zeiteinheit (von ^/g Stunde), des Gesamt-
sekretionsquantums um etwa das Fünffache gegenüber der Wasser-
periode und der Se&retionsdauer um mehr als das Doppelte. In
bezug auf die prozentuale Azidität scheint die Neigung zu einer
leichten Erhöhung . derselben zu bestehen, jedoch auch hier in keiner
typischen Weise.
Ein ganz anderes Bild hingegen bieten die folgenden vier Ver-
suche am Hunde mit der chronischen Gastritis (ohne Aziditäts-
störung).
Versuch Nr. 31 am Hunde ,,Max".
200 ccm Leitungsw
asser
200 ccm Leitungswasser
+ 1 g Protargol
= 0,5%
8h 30
3h —
Zeit
.
Menge
Zeil
Menge
9h —
2,5
3h 30
2,8
9h 30
1,0
4h —
0,6
10 h —
2,1
4h 30
!
0,2
10 h 15
0,3
5h
0,1
10 h 30
0,0
11/2 Stunden
5,9
ccm
11/2 Stunden
3,7
ccm
Sekretions-
Gesamtquant.
Sekretions-
Gesamtquant.
dauer
Gesamtaziditit
dauer
Gesamtazidität
128
122
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Google
282
P. Rodari,
[46
Versuch Nr. 32 am Hund ,Max*.
200 ccm Leitungswasser
200 ccm Leitungswasser
+ 1 g Protargol
= 0,5 %
8h 30
2h 30
Zeit
Menge
Zeil
Menge
9h —
3,1
3h —
0,5
9h 30
3,5
3h 30
1,0
10 h —
2,2
4h —
0,4
10 h 30
2,4
4h 30
0^
11h —
1,0
5h -
0,0
11 h 15
1,6
11 h 30
0,1
2V2 Stunden
13,9 ccm
2 Stunden
2,1 ccm
Sekretions-
Gesamtquant.
Sekretions-
Gesamtquant.
dauer
Gesamtaziditit
dauer
GesamtaziditSt
142
134
Nicht ganz
nüchtern !
Versuch Nr. 33 am Hund „Max*
200 ccm Leitungswasser
200 ccm Leitungswasser
+ 1 g Protargol
- 0,2%
8h
—
1 h 30
Zeit
Menge
Zeil
Menge
•8h 30
0,4
2h —
0,3
9h —
0,6
2h 30
0,1
9h 30
0,6
3h —
0,1
10 h —
0,4
10 h 15
0,3
•
10 h 30
0,0
2 Stunden
2,3 ccm
1 Stunde
0,5 ccm
Sekretions-
Gesamtquant.
Sekretions-
Gesamtquant.
dauer
Gesamtaziditit
dauer
Gesamtazidität
136
134
Digitized by
Google
47] Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 283
Versuch Nr. 34 am Hund «Max*.
200 ccm Leitungswasser
8h —
200 ccm Leitungswasser
+ 1 g Protargol
= 0,5%
10 h 15
Zeit
8h 30
9h —
9h 30
10 h —
10 h 30
Menge
4,0
1,4
1,6
0,4
0,1
Zeit
10 h 45
11 h 15
11 h 45
12 h —
Menge
2,2
0,6
0,2
0,0
2 Stunden
Sekretions-
dauer
7,5 ccm
Gesamtquant.
Gesamtazidität
136
n/4 Stunden
Sekrettons-
dauer
3,0 ccm
Gesamtquant.
Gesamtazidität
140
Aus allen diesen vier Versuchen ergeben sich hier bei einer ent-
zfindlich veränderten Magenschleimhaut gerade die umgekehrten Ver-
haltnisse wie beim nicht entzündeten Organe: Die Sekretion' ist er-
heblich herabgesetzt, im ersten und dritten Versuche dieser Reihe auf
etwa die Hälfte, im zweiten und vierten auf etwa ein Fünftel gegen-
fiber der Wirkung von Leitungswasser. Die Sekretionsdauer ist der-
jenigen des Wassers ungefähr gleich, eher noch kleiner und beträgt
bloß die Hälfte bis ein Drittel der Absonderungszeit beim entsprechen-
den Versuche am Hunde mit intakter Schleimhaut.
In analoger Weise wurde das AI barg in in den gleichen Konzen-
trationen wie das Protargol geprüft. Zunächst wiederum an einem
Hunde mit intakter Magenschleimhaut.
Versuch Nr. 35 am Hund „Nero*.
200 ccm Leitungswasser
200 ccm Leitungswasser
+ 0,4 g Albargin
« 0,2%
10 h —
2h —
Zeit
Menge
Zelt
Menge
10 h 30
3,0
2h 30
4^
11 h —
3,0
3h —
6,0
11 h 30
1,2
3h 30
3.8
12 h —
2,2
4h —
1,2
12 h 30
2,0
4h 30
0,8
1 h —
1,6
5h —
0,4
Ih 30
1,0
5 h 15
0,2
2h —
0,5
5h 30
0,0
4 Stunden
14,5 ccm
3 Stunden
17,2 ccm
Sekretions-
Gesamtquant.
Sekretions-
Gesamtquant.
dauer
Gesamtazidität
dauer
GesamtaziditSt
140
144
Nicht ganz
nüchtern!
Digitized by
Google
284
P. Rodari,
[48
An diesem Experimente ist vor allem ein Fehler zu korrigieren:
Das Tier wurde am Vorabend, durch ein Versehen des Wärters, statt
mit Pferdefleisch mit gemischter Nahrung („Charit6-Futter*) gefüttert,
welches, wie oben erwähnt, eine bedeutend längere Sekretionsdauer
zur Folge hat. Daher war der Hund am Versuchstage nicht »ganz
nüchtern'', sonst hätte die Magensaftabscheidung auf Leitungswasser
nicht 4 Stunden beanspruchen kennen. Bei völliger Nüchternheit
beträgt die relativ lange Sekretionsdauer bei diesem Tiere in den
anderen Versuchen nur 1^/2 — 2 Stunden. Trotzdem haben wir im vor-
liegenden Experiment eine Erhöhung des Sekretionsquantums, welche
bei Ausschaltung des erwähnten Versuchsfehlers einen bedeutend
höheren relativen Wert gewinnen würde. Wir kommen damit zu dem
Resultat, daß das Albargin analog dem Protargol auf den anatomisch
intakten Magen eine die Sekretion anregende Wirkung ausübt. Die
prozentuale Gesamtazidität ist nicht wesentlich beeinflußt.
Wie liegen nun diese Verhältnisse bei einer entzündlich ver-
änderten Magenschleimhaut? Die Antwort hierauf geben uns folgende
Versuche:
Versuch Nr. 36 am Hund »Max*.
200 ccm Lei
tungswasser
200 ccm Leitungswasser
+ 1 g Albargin
= 0,5 %
8 h 45
11 h —
Zeit
j Menge
Zeit
1
Menge
9 h 15
4,0
11 h 30
i
0,8
9 h 45
1 1,0
12 h —
2,0
10 h 15
0,2
12 h 30
1
1,8
10 h 45
1 1,0
1 h —
0,6
11 h —
1 0,0
1 h 15
0,2
1
1
Ih 30
5,4
0,0
P/4 Stunden 1 6,2 ccm
2 Stunden
ccm
Sekretions-
I Gesamtquant.
Sekretions-
Gesamtquant.
dauer
Gesamtazidität
dauer
Gasamtazidität
1 138
138
Nicht ganz nüchtern!
Digitized by
Google
40] Escperimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 285
Versuch Nr. 37 am Hund »Max'.
200 com Leitungswasser
8h —
200 ccm Leitungswasser
+ 0,4 g Albargin
Zeit
8h 30
9h —
9h 30
10 h —
10 h 15
10 h 30
Menge
0,4
0,6
0,6
0,4
0,3
0,0
Zeit
12 h 30
Ih —
Ih 30
Menge
0,2
0,2
0,0
2 Stunden
Sekretions-
dauer
2,3 ccm
Gesamtquant.
Gesamtazidität
136
1 Stunde
Sekretions«
dauer
0,4 ccm
Gesamtquant.
GesamUzidität
?
Versuch Nr. 38 am Hund »Max'
200 ccm Leitungswasser
200 ccm Leitungswasser
+ 1 g Albargin
» 0^ %
8h
—
12h-
Zeit
Menge
Zelt
Menge
8h 30
4,0
12 h 30
0,3
9h —
1,4
Ih —
1,3
9h 30
1,6
1 h 30
0,3
10 h —
04
2h —
oll
10 h 30
0,1
2 Stunden
7,5 ccm
IVs Stunden
2,0 ccm
Sekretions-
Gesamtquant.
Sekretions-
Gesamtquant.
dauer
Gesamtaziditit
dauer
Gesamtazidität
135
138
Vers
uch Nr. 30 am Hund „Max*.
200 ccm Leitungswasser
200 ccm Leitungswasser
+ 1 g Albargin
= 0,50/0
8h
—
10 h 15
Zeit
Menge
Zelt
Menge
8h 30
1,2
10 h 45
0,2
9h —
0,8
11 h 15
0,2
9h 30
0,7
11h 45
0,2
10 h —
0,2
12 h 15
0,2
10 h 15
0,0
12 h 45
0,0
l*/4 Stunden
2,9 ccm
2 Stunden
0,8 ccm
Sekretions-
Gesamtquant.
Sekretions-
Gesamtquant.
dauer
GesamtazidltSt
dauer
Gesamtazidität
144
140?
Rita. Vortrige, N. F. Nr. 482/84. (Innere Medizin Nr. 144/46.) Mal 1908.
20
Digitized by
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286 P- Rodari, [50
Bei Versuch Nr. 36 bandelt es sich um den gleichen, vorstehend
erwähnten Versachsfehler; trotzdem das Tier nicht ganz nüchtern
war, ist auch hier eine Reduktion der Sekretion, allerdings unerheb-
lich, zu konstatieren. Viel typischer ist diese sekretionshemmende
Wirkung in den drei folgenden Experimenten ausgedrückt:. Das ab-
geschiedene Magensaftquantum beträgt bloß ein Drittel, ein Viertel,
sogar bloß ein Fünftel der auf Leitungswasser abgeschiedenen Menge.
Die Sekretionsdauer ist in keiner ausgesprochenen Weise beeinflußt,
durchschnittlich überhaupt nicht verkürzt, die prozentuale Salzsaure
scheint auch hier auf Albargin eine leichte Reduktion zu erfahren,
immerhin in den Grenzen der physiologischen Schwankungen und
reagiert also auch auf dieses Adstringens nicht typisch.
Vergleichsweise bestehen zwischen Protargol und Albargin analoge
pharmakodynamische Wirkungen auf den Magendrüsenapparat, ent-
sprechend der analogen chemischen Beschafl^enheit beider Präparate.
Wenn nun aber das Argentum nitricum in beiden Medikamenten der
aktive Bestandteil ist, so könnte man aus theoretischen Gründen er-
warten, daß derjenige Körper, der mehr Arg. nitr. enthält, das Albargin
(15% Ag), auch pharmakodynamisch wirksamer resp. mehr sekretions-
hemmend wäre als das silberärmere Protargol (8,3% Ag). Dies ist
aber, nach den vorstehenden biologischen Versuchen zu schließen,
nicht der Fall: Beide Präparate üben ungefähr die gleiche intensive
Wirkung auf die Magendrüsensekretion aus. Mithin ist der Effekt
nicht vom prozentualen Gehalt an Silber abhängig und somit auch
nicht vom Quantum des bei beiden Körpern durch Einwirkung von
HCl entstehenden Silberchlorids, AgCl. Gewisse, nicht aufgeklärte
Eigentümlichkeiten in der individuellen organischen Beschaffenheit
der Körper scheinen auch hier eine Rolle zu spielen.
In neuester Zeit sind auch einige Adstringentlen der Ferri- und
Ferro reihe auf ihre Einwirkung auf die Magensaftabscheidung unter-
sucht worden und zwar von Feigl.^) Die Eisenverbindungen haben
in der direkten Behandlung von Magenerkrankungen keine große Rolle
gespielt; höchstens zur Behandlung der konsekutiven Anämie wandte
man gewisse Eisenpräparate an. Bourget') hat vor einigen Jahren
eine Eisenbehandlung des Ulcus ventriculi empfohlen, die einerseits
bezweckt, direkt blutstillend zu wirken, andererseits auch die Anämie
zu bekämpfen. Die Methode besteht in Magenspülungen mit 2pro-
zentigen Eisenchloridlösungen mit Zusatz von V2 prozentigem Kali
1) Biocb^m. Zeitscbr. 1908, Bd. 5, Heft L
2) Therap. Monatshefte^ Juni 1900 und Krankh. des Magens und ihre Behandl.
Wiesbaden 1906.
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51] Expenmentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 287
chloricum, ZurücUassung von 50 — 60g dieser Lösung im Magen und
nach 5 Minuten Fällung des Eisens durch Trinken einer/2prozentigen
Natrium bicarbonicum-Lösung. Darin liegt auch ein direktes, die
SelLretion herabsetzendes Moment. : Eine experimentelle Begründung
dieser Methode lieferten die Untersuchungen von Feigl über den
sekretorischen Einfluß des Eisenchlorids FeCls (Ferrum sesqui-
chloratum der Pharmakopoe). Lösungen von 0^5% haben zu dem
Resultate geführt, daß «Ferrichloridlösungen bzw. darin als wesentliches
Moment die Ferri-Ionen eine Verkürzung des Sekretionsvorganges auf
mindestens die Hälfte der Zeit geben. Diese sezernierte Saftmenge
bäh sich durchschnittlich auf ein Drittel der Menge nach der Ver-
abreichung von Wasser." — Im Gegensatz hierzu ist den Ferro-
sulfatlösungen ein wesentlicher, starker Einfluß auf die Drüsentätig-
keit abzusprechen. Sie sollen nur in geringen Grenzen eine Hemmung
verursachen und vor allem die Zeitdauer der Sekretion nicht ver-
kürzen. Eine ähnliche, mehr indifi^erente Wirkung übt das kolloidale
Ferrihydroxyd aus, während das Ferricitrat, welches Feigl, ver-
anlaßt durch meine Versuche mit Natriumeitrat (s. ob.), prüfte, in
analoger Weise, wie dieser Körper, nur in bedeutend geringerem
Grade sich als sekretionstreibend erwies. Von größerer praktischer
Bedeutung sind gleichartige experimentelle Untersuchungen desselben
Autors mit Typen von Eisen wässern. Das Roncegnowasser, in
welchem auf die Magendrüsen die Komplexwirkung des Eisens und
des Arsentrioxyds (arsenige Säure) zur Geltung kommen, erwies sich
als sekretiohshemmend, was auf die Ferri-Ionen zurückzuführen ist,
da das AsOs als solches erregend wirken solle. Umgekehrt steigert
der ebenfalls Eisen enthaltende Schwalbacher Stahlbrunnen die Se-
kretion, und zwar wegen der in ihm enthaltenen freien CO2, deren Phar-
makodynamik auf die Drüsenfunktion in irritativem Sinne stärker
ausgeprägt ist als diejenige depressiver Art des Eisens. Aus dieser
Autagonistenwirkung eines Salzgemisches (resp. Mineralwassers) geht
als Resultante, als Endefi^ekt die stärkere COa-Wirkung hervor. Auf
rein experimentellem Wege gibt die obenerwähnte Arbeit von Rozen-
blat mit einem Gemische von Natrium bicarbonicum und Natrium-
clilorid lehrreichen Aufschluß.
HL Gewisse Metalle.
Der Frage nach der ev. Einwirkung metallischer Elemente auf
die Magensekretion ist zum ersten Male am biologischen Tierexperi-
mente durch meine Untersuchungen nähergetreten worden. Hierzu
20*
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288 P. Rodari, [52
veranlaOte mich eine Publikation von G. Klemperer^). Dieser
Autor ging von dem GrundgedaniLen aus, bei der Behandlung des
Ulcus ventriculi und der Darmblutungen ein Ersatzpraparat für die
unter Umständen, allerdings sehr selten, giftig wirkenden Wismut-
verbindungen (besonders Bismutum subnitrlcum) zu finden, welches
im Magen- wie Darmsaft unlöslich, unresorbierbar und ungiftig sein
solle, ferner die Schleimhäute in keiner Weise reizen dfirfe und sich
mit der Gewebslymphe bzw. dem Magenschleim zu einem festen Ge-
rinnsel vereinigen mfisse. Eine solche ideale Substanz glaubte
Klemperer in feinst gepulvertem, metallischem Aluminium, der
Aluminiumbronze, gefunden zu haben, welche, um eine Aufischwem-
mung In Wasser zu erleichtern, mit einer Glyzerinpaste verrieben ist
Das Präparat wird von den Chemischen Werken in Charlottenburg
hergestellt in Pastillen zu 5 g, d. h, 2,5 g Aluminium pulverisatum
+ 1,5 g Glyzerin + 1,0 g Wasser und Escalin (Schorfbildner, von
eschara = Schorf) genannt. Klemperer erblickt die Indikation zur
therapeutischen Verwendbarkeit des Präparates an Stelle des Bis-
mutum subnitrlcum nicht nur in den oben erwähnten Eigenschaften,
sondern auch in den beiden Umständen noch, daß es einerseits die
Fähigkeit habe, die Magenschleimhaut und besonders Defekte der-
selben (Ulzera) mit einer dichten, fest anhaftenden und damit mecha-
nisch schützenden Decke zu überziehen, andererseits auch, und dies
deutet der Autor allerdings nur indirekt an, daß es die Sekretion
nicht erheblich alteriere. So sagt er: »Auf den Säuregehalt des
Magensaftes hat das Escalin hier keine vermindernde Wirkung aus-
geübt, wie denn auch die Beschwerden bei nervöser Hyperaziditiit
des Magens durch das Mittel nicht beeinflußt wurden. Es schien mir
beinahe, als ob man diese Tatsache differential-diagnostisch verwerten
könnte.«
In Anbetracht der Rolle, welche die Hyperazidität bei Ulcus ven-
triculi spielt, prüfte ich am Tierexperiment nach Pawlow das Es-
calin auf seine sekretorische Wirkung und zwar zunächst an vier ver-
schiedenen Hunden mit gesunder, nicht entzündeter Schleimhaut in
folgenden acht Versuchen:
1) Ther. der Gegenwart, Mai 1907.
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53] Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 289
Versuch Nr. 40 am Hund »Karo'.
200 com Leitungswasser
200 ccm Leitungswasser
+ 1 Tablette Bscalin
s 2,5 g metall. Aluminium
9 h 24
llh 03
Zeit
Mence
Zeit
MeAge
9h 40
0,2
11 h 33
3,6
9 h 51
0,9
11 h 53
4,0
10 h 17
3,7
12 h 13
0,8
10 h 27
0,6
12 h 33
1,5
10 h 40
0,6
12 h 53
1,4
10 h 55
0:0
1 h 13
3,0
Ih 33
1,6
2h 03
0,0
n/4 Standen
6,0 ccm
3 Stunden
15,9 ccm
Sekretions*
Gesamtquant.
Sekretions*
Gesamtquant
dauer
GesamtaziditSt
dauer
Gesamtazidität
i 110
108
Versuch Nr. 41 am Hund »Bernhardiner I*.
200 ccm Leitungswasser
200 ccm Milch
+ 1 Tablette Escalin
s 2,5 g metall. Aluminium
9b26
llh 30
Zeit
Menge
Zeit
Menge
9 h 42
0,0
11 h 50
1,6
9h 53
0,0
12 h 10
1,3
10 h 18
0,2
12 h 30
2,0
10 h 29
0,0
12 h 50
1^0
10 h 39
0,1
1 h 10
2,0
10 h 50
0,0
Ih 30
1,1
1 h 50
0,6
2h 20
0,0
Va Stunde
0,3 ccm
2V2 Stunden
9,6 ccm
Sekretions-
Gesamtquant.
Sekretions-
Gesamtquant.
dauer
Gesamtazidität
dauer
Gesamtazidität
?
110
Digitized by
Google
290 P. Rodarl,
Versuch Nr. 42 am Hund »Bernhardiner II*.
[54
200 ccm Leitungswasser
200 ccm Leitungswasser
* '
■
+ 1 Tablette Escalin
^ 2,5 g metall. Aluminium .
9h 30
llh 15
Zeit
Menge
Zelt
Menge
9h 45
0,1
11 h 35
0,2
9h 55
0,2
11 h 55
1,4
10 h 20
0,1
12 h 15
3,8
10 h 30
0,1
12 h 35
6,0
10 h 40
0,1
12 h 55
1,2
10 h 50
0,0
1 h 15
2/)
Ih 35
1,0
2 h 15
2,4
2 h 45
2,3
5h —
0,5
Die Sekretion
dauert fort
1 Stunde
0,6 ccm
Ober 5Va St.
20,8 ccm
Sekretions-
Gesamtquant.
beobachtete
Gesamtquant.
dauer
Gesamtazidität
Sekretions-
Gesamtzaiditit
?
dauer
142
Versuch Nr. 43 am Hund »Moor**.
200 ccm Leitungswasser
200 ccm Leitungswasser
— 1 Tablette Escalin
— 2,5 g metall. Aluminium
9h 33 i
11 h 22
Zeit
Menge
Zeit
Menge
9h 45
0,8
11 h 42
1,6
9h 55
0,6
12 h 02
1,4
10 h 25
1,4
12 h 22
0,8
10 h 35
0,6
12 h 42
0,6
10 h 45
0,4
Ih 02
2,6
10 h 55
0,3
1 h 22
1,3
12 h 05
0,2
1 h 42
1,0
llh 15
0,2
2 h 22
; 1,0
llh 20
0,0
2 h 52
6,0
5h —
5,0
Die Sekretion
dauert fort
13/4 Stunden
4,5 ccm
Über5Stunden ' 21,3 ccm
Sekretions-
Gesamtquant.
beobachtete Gesamtquant.
dauer
Gesamtazidität
Sekretions-
Gesamtazidität
124
dauer
132
Digitized by
Google
55] Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 291
Versuch Nr. 44 am Hund ^Karo*.
200 ccm Leitungswasser |
200 ccm Leitungswasser
+ 1 Tablette Escalin
= 2,5 g metaU. Aluminium
8h 35 1
Uh 12
Zeit
Menge
Zeit
Menge
81] 50
2,4
11 h 45
9,0
9h 05
1,6
12 h 15
2,5
9h 20
1,0
12 h 45
3,0
9h 35
0,4
1 h 15
1,8
10 h 05
1,0
1 h 45
1 1,3
10 h 35
1,4
2 h 15
6,1
10 h 05
0,0
2h 45
2,4
3 h 15
2,0
3h 45
i 1,5
4 h 15
4,0
1
4 h 45
! 4,5
Die Sekretion
dauert fort
l^U Stunden
7,& ccm
Über 5 Stunden
38)0 ccm
Sekretions-
Gesamtquant.
beobachtete
Gesamtquant.
dauer
Gesamtazidität
Sekretiöns*
Gesamtazidität
130
dauer
135
Versuch Nr. 45 am Hund „Bernhardiner I*.
200 ccm Leitungswasser
200 ccm Leitungswasser
+ 1 Tablette Escalin
= 2,5 g metall. Aluminium
8h40
10h32
Zeit
Meote
Zeit
Menge
8h 55
0,0
11 h 02
2,4
9 h 10
0,0
11 h 32
i 3,4
9h 25
0,0
12 h 02
3,6
9h 30
'■ 0,1
12 h 32
1,6
10 h 10
! 0,0
1 h 02
3,0
1 h 32
3,0
i
2 h 02
2,0
2 h 32
i 5,0
3 h 02
2,5
3h 45
2,0
1
4 h 02
1,8
4 h 32
1,5
Die Sekretion
1
• dauert fort
1 Stunde
0,1 ccm'
Ober 51/2 St..
31,8ccm
Sekretions-
Gesamtquant.
beobachtete
Gesamtquant.
dauer
Gesamtazidität
Sekretions-
Gesamtazidität
\
?
dauer
104
Digitized by
Google
292 P* Rodari,
Versuch Nr. 46 am Hund »Bernhardiner 11^
[56
200 ccm Ltitungsvftsser
200 ccm Leitungsvaster
+ 1 Tablette Escalin
» 2,5 g metall. Aluminium
8b 45
11 h 15
Zeit
Menge
Zeit
Menge
9h —
0^
11h 45
5,0
9 h 15
0,6
12 h 15
10,5
9h 30
0,8
12 h 45
8,5
9 h 45
0,1
1 h 15
8,3
10 h 15
0,4
Ih 41
64
10 h 45
1,0
2 h 15
6,5
10 h 55
0,3
2h 45
5,3
11 h 05
0,0
3 h 15
4:5
3h 45
3,5
4 h 15
6,0
4h 45
4,0
Die Sekretion
dauert fort
2 Stunden
3,2 ccm
Über5Stunden
. 67,7 ccm
Sekretions-
Gestmtqutnt.
beobachtete
Geaamtquant.
dftuer
Gesamttziditlt
Sekretions*
Gesamtaziditit
130
dauer
116
Versuch Nn 47 am Hund »Moor^
200 ccm Leitungswasser
200 ccm Leitungswasser
+ 1 Tablette Escalin
s 2,5 g metall. Aluminium
8h 50
lOh 30
Zeit
Menge
Zeit
Menge
9h 05
0,1
' Uh-
1,0
9h 20
0,0
11h 30
2,0
9h 55
0,1
12 h —
2,2
9h 50
0,0
12 h 30
1,5
1 h —
2,0
Ih 30
2,5
2h —
2,5
2h 30
3,0
3h —
2,0
3h 30
1,0
4h —
2,1
4h 30
1,8
Die Sekretion
dauert fort
V* Stunden
0,2 ccm
Ober 51/2 St.
23,6 ccm
Sekretions-
Gesamtquant.
Sekretions«
Gesamtquant.
dauer
Gesamtaziditit
dauer
Gesamtaziditit
?
118
Digitized by
Google
57] Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 203
Diese Versuche geben ein unerwartetes , verblüffendes Resultat:
durchweg eine sehr bedeutende, teilweise sogar eine stürmische
Steigerung der Sekretionsdauer und der Gesamtsekretion. Die pro-
zentuale Azidität war bald erhöht , bald verringert, immerhin nicht
typisch beeinflußt Dafür, daß nicht die Glyzerinkomponente des
Escalins die Steigerung hervorruft, spricht wohl der Versuch, dessen
Resultat auch beiläufig Kast^) bestätigt.
Versuch Nr. 48 am Hund »Max*.
200 ccm Leitungswasser
7 b 45
200 ccm Leitungswasser
+ 1,5 g Glyzerin
» Gehalt einer Escalinpastile
12 b 15
Zelt
8 h 15
8h 45
9h —
9 h 15
Menge
0,4
0,0
0,0
0,0
Zeit
12 h 45
Ih 15
Ih 45
Menge
0,3
0,1
0,0
V^ Stunde
Sekretions-
dauer
0,4 ccm
Geaamtquant.
Gesamtaziditit
?
Va Stunde
Sekretions-
dauer
0,4 ccm
Gesamtquant.
Gesamtaziditit
?
Diese erhebliche Sekretionssteigerungsßlhigkeit des Escalins wurde
von Bickel^) auch am Menschenexperiment festgestellt, und dieser
Autor äußert sich darüber folgendermaßen; «Alle Metalle, welche bei
Gegenwart verdünnter Salzsäure Wasserstoff entwickeln, wie z. B.
Eisen, Mangan, Aluminium usw. wirken reizend auf die Magendrüsen
und rufen eine lebhafte Sekretion hervor. Metalle, die in dem oben-
genannten Sinne keine Wasserstoffeotwickler sind, wie z. B. metalli-
sches Wismut, Silber, Gold, verhalten sich gegen die Magenschleim-
haut indifferent.
Escalin, eine Aluminiumglyzerinpaste, zersetzt sich im mensch-
lichen Magensafte unter Wasserstoffentwicklung und ruft eine sehr
starke Saftsekretion hervor. Rodari hat letzteres zuerst an Magen-
blindsackhunden entdeckt; Bickel bestätigte es an einem von Gluck
operierten ösophagotomierten Magenfistelmenschen. Das Escalin ist
demnach wegen seiner stark reizenden und safttreibenden Eigen-
schaften beim Ulcus ventriculi nicht indiziert. Auch eine spezifische
blutstillende Wirkung ließ sich im Tierversuche nicht nachweisen.""
1) Arch. f. Verd.-Krankh. 1906, Bd. 12, Heft 6.
2) Bert. Klin. Wochensclir. 1907, Nr. 30 und 33.
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294
P. Rodari,
[58
Ober das mit Escalin angestellte Experimentum ad hotninem äußerte
sich neulich BickeU) folgendermaOen:
1. Versuch (Bickel). 2. Versuch (Bickel).
ISOcctn Wasser ISOccm Wasser
ISOccmWasser
150ccm Wasser
■
— 3Escalintabl.
— 3Escalintabl.
Sekretionsmenge
Sekretionsmenge
9^
12,5
3.7
19,4
9,1
8,0
2,0
2,6
2,15
7,6
9,0
0,9
1,0
3,6
3,2
3,1
1,75
5,8
8,8
14,0
1,8
4,5
8,1
10,2
3,4
5,5
10,8
7.9
1,1
8,8
5,6
0,8
1.1
10,4
1.4
5,4
0,15
9,9
0,2
14,4
0,15
0,0
4,2
0,0
7,6
Die Seliretion
Die Sekretion
dauert fort
dauert fort
Sa. 30,9 ccm 76,6 ccm
52,8 ccm 90,4 ccm
Sekretio
nsmenge
Sekretionsmenge
Klemperer hat nun gegen dieses abfällige Urteil Bickels in der
Publikation von Mai 2) energisch Stellung genommen. Mai stellt
einen sekretionssteigernden Einfluß des Präparates entschieden in
Abrede, indem er die Wirkung des Escalin bei 20 Patienten mit nor-
malen, subaziden und hyperaziden Zuständen des Magens prüft, wo-
bei er allerdings nicht unterscheidet, ob es sich um Gastritiden oder
Neurosen des Magens handelt. Wie verhält es sich nun bei solchen
diametralen Gegensätzen mit der endgültigen Antwort nach der klini-
schen Brauchbarkeit des Escalins? Diese geben zum Teil meine fol-
genden zwei Versuche an eiiiem Hunde mit chronischer Gastritis
(ohne Aziditätsanomalie).
1) Berl. Klin. Wochenschr. 1907, No. 48.
2) Tberap. der Gegenwart, November 1907.
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591
Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 205
Versuch Nr. 49 am Hund »Max*.
200 ccm Leitungswasser
200 ccm Leitungswasser
+ 1 Escalint^blette
= 2,5 metalli Aluminium
8h —
lb30
Zeit
Menge
Zeit
Menge
8h 30
1^
2h — .
0,1
9h —
0,8
• 2h 30
0,1
9h 30
0,7
3h —
0.2
10 h —
0,2
10 h 15
0,0
l»/4 Stunden
2,9 ccm
11/2: Stunden
0,4 ccm
Sekretions-
Gesamtquant.
Sekretions-
Gesamtquant.
dauer
Gesamtazidität
dauer
Gesamtazidität
,
119
p
Versuch Nr. 50 am Hund »Max*.
200 ccm Leitungswasser
8h 30 .
2P0 ccm Leitungswasser
— 1 Escalintablette
— 2,5 g metall. Aluminium
12 h —
Zeit
9h —
9 h 30
10 h —
10 h 30
11h —
11 h 30
Menge
1,8
1,0
0,6
0,4 ^
0,2
0,0
Zeit
12 h 3Ö
1 h —
1 h 30
2h —
2h 30
Menge
0,7
0.4
0^
0,0
0,0
2* '2 Stunden
Sekretions-
dauer
4,0 ccm
Gesamtquant.
Gesamtazidität
124
IV2 Stunden
Sekretions-
dauer
1,3 ccm
Gesamtquant.
Gesamtazidrtit
appr. 120
Diese Experimente sind von einer prinzipiellen Bedeutung, erstens,
weil sie im allgemeinen einen weiteren Beitrag liefern Für die von
mir festgestellte, andersartige, gewissermaßen spezifische Reaktion der
entzündeten Magenschleimhaut gegenüber derjenigen der intakten Mukosa
auf gewisse Körper; zweitens, weil sie im speziellen den Beweis liefern,.
daß auch das Escalin, bzw. das metallische Aluminium, in seinem
Effekte auf die Magendrüseiisekretion ein Analogon zu diesen Körpern
bildet.
Inwieweit also das Präparat Klemperers, nach: diesen Versuchen
wenigstens zu schließen, zur Behandlung von Magenerkranküngen an-
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296 P. Rodari, [60
gezeigt ist, soll noch in den epikritischen SchluObemerkungen zu
dieser Arbeit näher erörtert werden. An dieser Stelle erübrigt es,
noch auf die Art der Pharmakodynamik der Escalineinwirkung auf die
HCl-Sekretion des Magens näher einzugehen.
Zunächst ist es feststehend, daß die Sekretionssteigerung bei nicht
entzandlicher Schleimhaut eine speziRsche Wirkung des metalli-
schen Aluminiums ist und nicht etwa auf die Glyzerinkomponente
zurückgeführt werden kann (vergl. Versuch Nr. 48). Fei gl hat m^ine
Experimente wiederholt, und zwar erstrecken sich seine Versuche auf
zwei Hunde, deren Magenschleimhaut, den Resultaten nach zu
schließen, intakt war. So kommt Feigl zu dem prinzipiell gleichen
Resultate wie ich in den ersten acht Escalinversuchen.
Auf welche Faktoren soll nun die Sekretionssteigerung zurück-
geführt werden? Da das Aluminium in feingepulvertem Zustande sich
selbst in sehr wenig konzentrierter HCl leicht löst, und dabei diese
Säure verzehrt, sollte man theoretisch erwarten, daß es schon
dadurch die Sekretion in herabsetzendem Sinne hemmen würde.
Außerdem könnte von der dabei entstehenden Chloridverbindung
eine adstringierende und damit auch sekretionshemmende Einwirkung
erwartet werden. Ist doch der chemische Vorgang folgender:
A1+ 3HC1=A1C13 + 4H.
Die experimentellen Versuche (meine ersten acht Versuche und
diejenigen Feigls) ergeben aber gerade das umgekehrte Verhalten:
keine Hemmung, sondern eine ganz erhebliche Steigerung. Bickel
und Feigl erklären dieses Phänomen durch die Einwirkung des frei-
werdenden WasserstoiFes auf die Magendrüsen, bzw. deren Nerven
und suchen eine Erklärung hierfür in dem analogen Verhalten der
Kohlensäure, als eines Sekretionssteigerers par excellence (am Tier-
experimente durch Weidert und Pincussohn nachgewiesen, siehe
oben). — Warum ist nach diesen Autoren gerade der Wasserstoff
das sekretionstreibende Agens? Erstens, weil der im Magen durch die
Salzsäure nicht chemisch beeinflußte Überschuß von unlöslichem
metallischen Aluminium, der neben dem versetzten Aluminium vor-
handen ist, als ungelöster Körper chemisch nicht wirken (»corpora
non agunt nisi soluta""), ebensowenig rein mechanisch eine Wirkung
nach analogen, auf Fremdkörper im Magen bezüglichen Untersuchun-
gen von Pawlow und Bickel (Talk) ausüben könne. Zweitens, weil
das sehr leicht lösliche und zerfließliche Aluminiumchlorid AICI3
rasch aus dem Magen weggeschwemmt werde, so daß es keine erheb-
liche Wirkung entfalten könne. Mithin wäre dies nur in einer Wasser-
stoiFentwicklung, ähnlich der Kohlensäureentstehung und ihrer ent-
sprechenden Wirkung zu suchen.
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01] Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 297
Wie können wir diese Theorie mit den letzten Versuchen am
Gastritis-Hunde in Einl^lang bringen, wo das Präparat erheblich se-
kretionshemmend wirkt? Soll in dem einen Falle (gesunde Schleim«
haut) der Wasserstoff auf die Drüsenarbeit irritativ, in dem anderen
Falle (Entzündung der Mukosa) depressiv wirken? Dies wäre zwar
möglich, obwohl sonstige Beobachtungen über derartig gegensätzliche
Wasserstoffwirkungen auf den Magen fehlen. Deshalb läßt es sich
auch denken, und dies scheint mir persönlich die wahrscheinlichere
Deutung zu sein, daß in der chemischen Umsetzung AI + 3 HCl
= AICI3 + 3H die Chloridverbindung das wirksame Agens wäre.
Um so leichter ist diese Theorie erklärlich, wenn wir uns erinnern,
daß wir in AICI3 eine Verbindung besitzen, die trotz des leichten
speziRschen Gewichtes des Aluminiums in ihrer lokalen Wirkung
sich gleich wie die entsprechenden Verbindungen von schweren Me-
tallen verhalt (Schmiedeberg). Wir haben somit ein kräftiges Ad-
stringens vor uns, das auf die kranke (entzündete) Magenschleimhaut
so wirkt, wie das Silberchlorid AgCI, welches bei der Einwirkung
der HCl des Magens auf anorganische und organische Silberverbin-
biadungen (Argent nitricum, Protargol, Albargin, s. oben) entsteht
Nach meiner oben besprochenen Theorie einer größeren AfHnität der
Adstringentien zu den chemischen Bestandteilen einer entzündeten
Schleimhaut behufs Bildung des diffusen, adstringierenden Vorganges
und damit auch der Adstringierung, resp. Hemmung der Sekretion
gegenüber der nicht entzündeten Schleimhaut, ist die Annahme nahe*
liegend, daß hier die Sekretionshemmung auf die Einwirkung
des Aluminiumchlorids und nicht des Wasserstoffes zurück-
zuführen ist. Ebenso dürfte die Steigerung bei gesunden, anato-
misch intakten Verhaltnissen der Magenschleimhaut, nach den oben
angefahrten Versuchen zu schließen, auf der Wirkung der gleichen
Verbindung beruhen, nur mit dem Unterschiede eben, daß es hier
nicht zu einer Adstringierung in chemisch -physikalischem Sinne,
sondern zu einer mehr funktionellen, allerdings noch nicht näher auf«
geklärten Irritation der Magendrüsen resp. ihrer Nerven kommt.
Diese Theorie scheint mir die Doppelwirkung des Aluminiums bzw.
desEscalins besser zu erklären, als die Wasserstofftheorie von Bickel
und Feigl.
Feigl hat, veranlaßt durch meine Escalin- bzw. Aluminium-
versuche, weitere reine, metallische Elemente geprüft: Beim
Mangan fand er eine dem Aluminium analoge lebhafte Steigerung
der Sekretion, bei Zinn eine minimale Anregung, beim Wismut eine
völlige Indifferenz, ebenso beim Silber und Gold. In bezug auf das
Eisen hat Feigl schon vor meinen Aluminiumuntersuchungen eine
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298 P- Rodari, [62
erhebliche Sekretionssteigerung dieses Metalles konstatiert. — Seine
Untersuchungen erstrecken sich teilweise auf von mir operierte und
experimentell benutzte Hunde, teilweise auf andere Tiere, bei denen
es sich jedenfalls um normale, nicht entzündliche Magenschleimhaut
gehandelt hat.
Zum Abschluß meiner eigenen experimentellen Untersuchungen
möchte ich noch einen Umstand erwähnen, der sich wie ein roter
Faden durch die sämtlichen Versuche zieht und den ich jeweilen bei
jedem Experimente angedeutet habe: Es handelt sich um die rela-
tive Konstanz des prozentualen Salzsäuregehaltes des Magen-
saftes gegenüber der auch durch Medikamente bedingten Variabili-
tät der Magensaft- resp. Salzsäuremenge.
Daß es sich um eine Beeinflussung dieser letzteren als solcher,
und nicht etwa beispielsweise um eine Steigerung durch Trans-
sudation von Wasser aus der Magenwand in das Innere des Magens
handelt, beweist der Umstand, daß. die Gesamtazidität bei der Steige-
rung der Quantität nicht herabgesetzt wird. Schon Paw.low hat
betont, daß es ihm so gut wie nie gelungen sei, die prozentuale Salz-
^äurereaktion typisch in einer Weise zu verändern, daß dabei nicht
physiologische Schwankungen diese unerheblichen Konzentrations-
änderungen erklären könnten, und es ist das Verdienst Bickels,
durch viele Experimente diese Andeutungen auch für die klinisch
wichtigen Anschauungen und Erkenntnisse erweitert zu haben. Auch
betont dieser Autor die Konstanz der Magensaftkonzentration gegen-
über der Schwankung in der Magensaftmenge. — Nachuntersuchungen
der Ergebnisse der Tierexperimente und der oben erwähnten öso-
phagotomierten Magenfistel-Patientin von Bickel durch Homberg,
Röder, Sommerfeld und Rubow haben ergeben, daß der reine
unverdünnte Magensaft des Menschen ungefähr identisch ist mit dem-
jenigen des Hundes, indem seine Konzentration zwischen 0^4—0,5%
schwanken soll, innerhalb dieser Grenzen aber auch konstant bleibt.
Diese übereinstimmenden Beobachtungen, welche einen neuen Beweis
für die Übertragbarkeit der Resultate der Tierexperimente auf den
Menschen liefern, veranlaßten BickeM), dem klinisch bisher gut
fundierten Bilde der Hyperazidität (Hyperchlorhydrie) als einer
qualitativen Sekretionssteigerung die physiologische Basis zu
nehmen, indem er nachwies, daß bei gleicher sekretorischer, aber
ungleicher motorischer Leistung des Magens der Mageninhalt ver-
schieden sauer reagieren kann. Je nachdem nämlich das Probe-
1) Bioch. Zeitschr., Bd. 1, Heft 1 und 2, 1906. Deutsche med. Wocbenschr.
No.30, 1907. Zeitschr. f. physik. und diätet. Therapie, Bd. 11, 1907/08.
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63] Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 299
frühstück in den Darm befördert worden ist, bekommt man beim
Ausliebern mehr oder weniger reinen Magensaft, der je reiner um
so saurer reagiert, als wenn er mit dem ProbefrühstQck stark ver-
dünnt ist. So kommt Bickel zum Resultate, daO die Motilitäts«
zustande (normale Motilität, Hypermotilität und Submotilität resp.
Atonie) die Konzentration des am Menschen durch das Probefrühstück
eotnommenen Magensaftes in physiologischer Weise beeinflussen. Auf
weitere wichtige Einzelheiten dieser sehr interessanten Arbeit kann
ich hier nicht näher eingehen. Ich möchte nur noch darauf hin-
weisen, daß auch meine Tierexperimente dafür sprechen, daO Hyper-
chlorhydrie und Hypersekretion im Grunde genommen dasselbe sind,
d.h. daß die Hyperchlorhydrie eine durch besondere Moti-
litätsverhältnisse beeinflußte Hypersekretion ist* — Diese
Autoren erwähnen auch bei einzelnen Versuchen einen gewissen
Parallelismus zwischen der Magensaft- bzw. Säuresekretion und der
Verdauungskraft des Pepsins. Ich selbst habe diese Fermentkraft
Dicht bei allen Versuchen geprüft, sondern nur hier und da bei
einzelnen Körpern nach dem Mett sehen Verfahren Stichproben an-
gestellt, wobei ich. den Eindruck bekommen habe, daß die Hemmung
der Sekretion in allerdings unerheblicher Weise auch die peptische
Kraft herabsetzt^ während diese bei der Steigerung der Magensaft-
abscheidung gegenüber der Verdauungskraft der Wasserperiode keine
wesentlichen Unterschiede aufweist.
Im Interesse der Vollständigkeit dieser Arbeit kommen noch zwei
Gruppen von die Magensaftabscheidung beeinflussenden Substanzen
zur kurzen Erörterung.
IV. Gewisse Gifte der Alkaloldrelhe.
Ich gehe auf diese Verhältnisse hier nur summarisch ein, einer-
seits Weil ich an der Hand der wichtigeren klinischen Literatur schon
in meinem Buche ihre therapeutische Bedeutung und Indikation be-
sprochen habe, andererseits weil ich mich in dieser Arbeit mit der
tierexperimentellen Untersuchung dieser Gruppe nicht befaßt habe und
somit darin auch nichts Neues zur Kenntnis ihrer Wirkung auf die
Magensekretion beitragen kann.
Die hier in Betracht kommenden Vertreter der Alkaloidreihe stehen
in der Art ihrer Pharmakodynamik in striktem Gegensatze zu den
chemischen Körpern der bisher besprochenen Gruppen. Diese setzen
ihre Wirkung auf die Magendrüsenfunktion lokal im Magen selbst an,
die Derivate der Alkaloidreihe wirken in erster Linie auf das Nerven-
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300 P- Rodari, f64
System und speziell auf das zentrale Nervensystem, auf dem Blutwege
können sie auch die Magensaftsekretion beeinflussen. Die Reaktion
der Magendrüsen ist hier meistens nur eine Teilerscheinung, eine
Mitbeteiligung an der Reaktion anderer Drüsen.
Die betreffenden Alkaloide spielen gegenüber den obenerwähnten
ersten zwei Gruppen als Mittel zur Regulierung der Sekretion, resp.
BekämpFung der Sekretionsanomalien eine sehr kleine Rolle, einmal
weil sie heftige Nervengifte sind, sodann auch weil sie keine spezifische,
nur den Magendarmkanal betreffende Wirkung ausüben. Sie kommen
nur als Adjuvantien in Verbindung mit den spezifisch wirkenden
Alkalien und Adstringentien zur therapeutischen Anwendung und sind
dabei nicht unentbehrlich.
Folgende sind sekretionssteigernde Alkaloidgifte: In erster Linie
das Morphin. Die alte Lehre über dessen Sekretionswirkung auf die
Magendrüsen lautete bis zu Riegel s^) Untersuchungen gerade umge^
kehrt. Das Morphin sollte eine typische Sekretionshemmung bewirken.
Riegel hat nun sowohl an Pawlowschen Hunden, wie an klinischen
Versuchen den strikten Nachweis erbracht, daß das Morphin bei sub-
kutaner, wie rektaler Anwendung zunächst allerdings die Sekretion
hemmt, ungefähr während der ersten V4— 1 Stunde, daß dann aber
eine Steigerung der Sekretionsmenge nach und nach sich einstellt,
welche diejenige der nicht morphinisierten Versuchsobjekte weit über-
schreitet. V. Aldor^) hat diese Versuche am Menschen wiederholt
und bestätigt und ebenso Hirsch'), der am Hundeexperimente nach
der anilinglichen Hemmung, mit welcher zugleich ein Spasmus des
Pylorus besteht, eine geradezu enorme Saftsekretion beobachtet hat«
die seiner Ansicht nach zentralen Ursprunges ist. Kürzlich hat
Pewsner^) auch das salzsaure Äthylmorphin, das Dionin experi-
mentell geprüft mit dem Resultat, daß der Steigerung hier keine
Hemmung vorausgehe, sondern daß erstere sofort eintrete. Nach dem
gleichen Autor hat das Physostigmin eine dem Morphin analoge
Wirkung: auch zunächst eine Hemmung, dann eine Steigerung, während
das Pilokarpin, wie das Dionin nur in intensiverer Art, eine Sekre-
tionssteigerung ohne vorausgegangene Herabsetzung bewirkt Die
Sekretionsanregung dieses Präparates hat ebenfalls zuerst Riegel an
Tierexperimenten und an klinischen Versuchen nachgewiesen. Alle
diese Mittel beeinflussen nur die Quantität, niemals aber die Qualität
des Magensaftes, dessen Konzentration ziemlich konstant bleibt.
1) Zeitschr. f. klin. Med. 1899, Bd. 27 und ebenda 1900 Bd. 40.
2) Ebenda.
3) Zentralbl. f. innere Med. 1900, Nr. 2.
4) Biochem. Zeitschr. 1907, Bd. 2, Heft 4—6.
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05] Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 301
Als sekretionsherabsetzendes Medikament hat das Atropin
eine gewisse therapeutische Bedeutung, besonders in Gestalt des
Extractum belladonnae. Es ist wiederum das Verdienst Riegels,
experimentell und klinisch die hochgradige Fähigkeit des Atropins,
die Sekretionsmenge herabzusetzen, untersucht zu haben. Am Probe-
fruhstfick konstatierte Riegel auch eine qualitative Reduktion des
HCl-Gehaltes. Nach den oben angeführten Ergebnissen Bi ekel s über
Identität von Hypersekretion und Hyperchlorhydrie sind bei diesen
Befunden Riegels Fehlerquellen nicht ausgeschlossen. Die neuesten
Untersuchungen P ewsners am Hunde betonen die Konstanz des HCl-
Gehaltes auch bei der Herabsetzung des Quantums durch Atropin.
Nach diesem Autor hat das Euphthalmin eine dem Atropin analoge
saftherabsetzende Wirkung.
Die gleiche Eigenschaft wird von Pickardt^) dem Skopolamin
(Scopolaminum hydrobromicum) zugeschrieben. Dieser Autor hat das
intensiv wirkende Präparat in mehreren Fällen in Dosen von 0,0003
zveimal täglich bis zu 4 Wochen lang ohne jede Nebenwirkung bei
Gastrosukorrhoe mit sehr gutem Erfolge angewendet.
V. Die Stomachlka.
Trotz des auf eine spezifische Einwirkung auf den Magen hin-
deutenden Namens ist gerade die Pharmakodynamik dieser Mittel
gegenüber derjenigen der vier vorstehenden Gruppen am wenigsten aus-
geprägt, bzw. untersucht. Die Stomachika haben für die sekretorische
Funktion des Magens eine relativ geringe Bedeutung, und ich darf
diese hier wohl nur insoweit kurz besprechen, als dies zu den Aus-
fuhrungen in meinem Buche eine Ergänzung bedeutet.
Zunächst kommen hier die Amara in Frage. Die durch Buch-
heim^) und Schrenk^) begründete und vielfach vertretene Ansicht,
daO die Amara infolge ihres Tanningehaltes die Magensaftsekretion
hemmen, ist durch neuere Untersuchungen an Pawlow sehen Hunden
als unhaltbar erwiesen worden. So fand Borissow*), daO nach ihrer
Aufnahme eine Sekretionssteigerung im Magen auftritt, die aber nicht
durch lokale Drüsenreizung im Magen zu erklären sei, sondern nur
auf reflektorischem Wege (nach Art des Appetitsaftes) durch Reizung
der Geschmacksnerven zustande kommt. Diesen Standpunkt nimmt
1) Therap. der Gegenwart, Juni 1903.
^ Beiträge zur ArzneimitteUehre. Leipzig 1849.
3) Intttg.-Di88ertation Dorpat 1849.
4) Arch. f. exp. Patb. und Pharmak., 1904, Bd. 51, Heft 4 u. 6.
Klin. Vorträte, N. F. Nr. 48^/84. (Innere Medizin Nr. 144/46). Mal 190& 21
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302 P. Rodtri, [W
auch Straschesko^) ein. Einen Scliritt weiter geht Hoppe^), der
diese Steigerung nicht nur als einen Reflex von den Geschmacks-
und Riechnerven ausgehend auffaßt, sondern der daneben auch einen
reflektorisch-chemischen Einfluß von der Magen- und Darmschleimhaut
mitwirken läßt. Nach Hoppe entfalten aber alle Bittermittel ihre
sekretionssteigernde Wirkung nicht an sich, sondern nur wenn nach
ihrer Einnahme dem Tiere Nahrung beigebracht wird. Große Mengen
der Amara hingegen sollen aber eine Hemmung der Sekretion be-
dingen.
Die Salzsäure hat als Stomachikum in den letzten Jahren an
ihrem früheren Ansehen viel eingebüßt, seitdem die Untersuchungen
von Heichelheim und Kramer, ferner Riegels, v. Noordens und
Honigmanns ihr jeden Charakter als Magensafttreiber abgesprochen
haben. (Sie ist ein vorzüglicher Treiber der Pankreassekretion.) Nur
Bickel^) und Heinsheimer^) schreiben ihr, ähnlich Hoppe den
Amaris, eine sekretionserregende Wirkung zu, wenn nach ihrer Ein-
nahme Nahrung verabreicht wird, und zwar besteht diese Sekretions-
erregung nur beim Hunde mit einer chronischen subaziden Gastritis.
Die HCl befähigt nach diesem Autor also nur die kranke Magen-
schleimhaut zu erhöhter sekretorischer Arbeit, während die gesunde
darauf nicht reagiert.
Das Orexinum tannicum soll nach Hoppe auch nur bei Gastritis
eine leichte Sekretionssteigerung bedingen, während bei gesunder
Magenschleimhaut die Sekretion in keiner Weise alteriert wird. Es
ist dies eine Bestätigung analoger Beobachtungen am Menschen von
Glücksziegel«), Mathes<») und Kornfeld?).
Das neueste Stomachikum, das Acidol (Betainchlorhydrat = Chlor-
hydrat von Trimethylaminoessigsäure) ist von Heinsheimer®) auf
seine sekretorische Wirkung an Tierexperimenten geprüft worden.
Das Präparat zerfallt in wäßriger Lösung in HCl + Betainsäure. Es
enthält nach Flatow 23,78 % HCl. Die Betainkomponente ist nach
diesem Autor für die Magensaftsekretion völlig indifferent. Die frei
werdende HCl-Komponente soll, insoweit unmittelbar nach Einnahme
des Präparates Nahrung genommen wird, die Saftsekretion zu Anfang
1) Wratsch 1905, Nr. 2.
2) Berl. Klin. Wochensclir. 1905, Nr. 33, u. Inftug.-Dis8ert. Berlin 1906.
3) Berl. Klin. Wochenschr. 1905, Nr. 28.
4) Arch. f. Verdauungskrankh. 1904, Bd. 12, Heft 2.
5) Prager med. Wochenschr. 1890, Nr. 13, nach Hoppe zitiert.
6) Münchner med. Wochenschr. 1891, nach Hoppe zitiert.
7) Wiener klin. Wochenschr. 1891, nach Hoppe zitiert
8) Arch. f. Verdauungskrankh. 1906, Bd. 12, Heft 2, nach Hoppe zitiert.
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67] Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 303
der Verdauungsperiode leicht steigern; diese Reizung soll aber bald
abklingen. Der therapeutische Wert dieses Präparates dürfte also,
nach diesen Tierversuchen zu schließen, nicht hoch anzuschlagen sein.
Epikrise.
Welche Schlüsse für die praktische Therapie können wir aus
den vorstehenden Erörterungen und Untersuchungen ziehen?
Die Konsequenzen aus Untersuchungen am Tierexperimente ge-
zogen, insofern ihnen ein gewisser therapeutischer Wert inneliegen
soll, müssen auf den kranken Menschen übertragen werden können.
Daß eine solche Übertragung zulässig ist, haben die ausgedehnten
Experimenta ad hominem von Bickel, Heinsheimer u. a. nicht nur
wahrscheinlich gemacht, sondern auch bewiesen. Ganz besonders
spricht der Bickel sehe Versuch am ösophagotomierten Magenfistel-
mSdchen (mit gesunder Magenschleimhaut) mit dem zuerst von mir
untersuchten Escalin für die Analogie zwischen der Reaktion des
Hunde- und des Menschenmagens und damit auch für die Zulässigkeit
von Schlüssen therapeutisch-klinischer Natur aus dem Tierexperiment
auf den Menschen.
Von einer prinzipiellen Bedeutung aus meinen Untersuchungen ist
in erster Linie der durch die Prüfung verschiedenartiger Medikamente
eruierte Umstand, daß die gesunde und die kranke Magen-
schleimhaut durchaus nicht in gleicher Weise auf den
gleichen Körper sekretorisch reagieren. Dies ist hier für die
in der Magentherapie wichtigsten Adstringentien nachgewiesen, so für
gewisse Bismutverbindungen, wie z. B. in ausgesprochener Weise für
das Bismutum bitannicum und weniger intensiv für das Bismutum
subnitricum. Damit ist aber nicht gesagt, daß die gesunde und kranke
Mukosa auf jeden Körper der betreffenden Reihe einander gegen-
sätzlich reagieren. Maßgebend für die Art der Sekretion ist die Ein-
wirkung einer der durch die HCl des Magens frei werdenden
Komponente. Beispielsweise wirkt die Salizylsäurekomponente am
Bismutum bisalicylicum unter allen Umständen sekretionsbe-
fördemd, sowohl auf die gesunde wie auf die kranke Magenschleim-
haut. — In typischer Weise haben wir die einander entgegengesetzt
verlaufenden Sekretionzustände beim gesunden und beim entzündeten
Magen, bei den organischen Derivaten des Argentum nitricum,
beim Protargol und Albargin. Noch auffallender sind diese Ver-
hältnisse beim Escalin ausgeprägt.
Welche Schlüsse ergeben sich daraus für die medikamentöse
Therapie einzelner Magenerkrankungen?
21*
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304 P- Rodari, [68
Zunächst die Tatsache, daß der diagnostische Unterschied zwischen
Magenneurosen als einer Erkrankung mit völlig intakter Schleimhaut
und Gastritis, möge sie primärer oder sekundärer Natur sein, möge
sie für sich allein bestehen oder eine Begleiterscheinung eines andern
Magenleidens sein (z. B. Ulkus), auch in therapeutischer Hinsicht,
soweit dabei die Bekämpfung einer Sekretionsanomalie in Frage
kommt, zu Recht besteht. Es ist also nicht gleichgültig, kurzweg von
„subaziden oder superaziden Zuständen^ des Magens zu reden und je
nachdem neben der diätetischen Behandlung ein Medikament zu ver-
abreichen. Die Frage, welches Medikament im individuellen Falle in
Betracht kommt, entscheidet einzig die Untersuchung am Patienten,
nicht seine subjektiven, wenn manchmal auch charakteristisch schei-
nenden Angaben, sondern die physikalische und chemische Prüfung
des Magenchemismus, des Mageninhaltes. Die einfachsten und zu-
verlässigsten Mittel unserer Diagnostik hierfür sind: die Spülung
des nüchternen Magens und die Prüfung des Spülwassers auf das
Vorhandensein oder Fehlen eines wesentlichen Schleimgehaltes und
das altbewährte Probefrühstück nach Ewald. Dieses werde zu-
nächst untersucht auf das Vorhandensein oder Fehlen der die Ent-
zündung charakterisierenden Merkmale (Schleimverhältnisse usw.),
sodann auf die Äziditätsverhältnisse. Sind diese abnorm, so unter-
scheidet man in der Grundlage dieser Abnormität, ob ein entzünd-
licher oder ein rein nervöser Zustand vorliegt. Die anatomische
Beschaffenheit der Magenschleimhaut entscheidet dann in erster Linie,
welches unter den von mir untersuchten Medikamenten zur Anwendung
kommen soll. So würde sich beispielsweise die Indikation ergeben,
eine Gastritis hyperacida mit Protargol oder Albargin zu behandeln,
während bei einer nervösen Hypersekretion diese Präparate strikte
kontraindiziert erscheinen. Umgekehrt erscheinen diese Präparate als
indiziert bei der Behandlung einer nervösen Subazidität, weil sie auf
diesem Boden mächtig sekretionsanregend wirken^ während ihre An-
wendung bei der Gastritis subacida therapeutisch unlogisch, geradezu
paradox sein würde.
Das Bismutum subnitricum hat im Gegensatze zu den erwähnten
Körpern einen relativ indi£Perenten Einfluß auf die Sekretion des
anatomisch intakten Magens; hier und da sieht man in den Ver-
suchen die Tendenz zur Saftherabsetzung, eine solche ist aber ausge-
sprochener bei der entzündeten Magenschleimhaut. Das Anwendungs-
gebiet des Präparates ist also hier ein größeres in dem Sinne, weil
es sowohl bei entzündlichen, wie nicht entzündlichen Hyperaziditäts-
zuständen gegeben werden kann. Die vorliegenden Versuche mit dem
Präparate haben die von mir anderen Ortes geäußerte klinische
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69] Experimentelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 305
Beobachtung, daß das Bismutum subnitricum eine säureherabsetzende
Eigenschaft besitze, bestätigt, während die gleiche Ansicht über das
Argentum nitricum (bei Hyperaziditäten überhaupt) nach Versuchen
mit seinen Derivaten einer Modifizierung bedarf.
Der Umstand, daß die Adstringentien in ihrer Wirkung auf die
Migensaftabscheidung bisher kaum experimentell und überhaupt nicht
vergleichsweise bei gesunder und entzündeter Magenschleimhaut ge-
prüft worden sind, erklärt auch die über ihren sekretorischen Einfluß
in der Literatur einander widersprechenden Angaben, Die Lösung
dieser Widersprüche liegt nun in der Erkenntnis der verschieden-
artigen Reaktionsfähigkeit der Magenschleimhaut gegenüber gewissen
Adstringentien, je nach der anatomischen Beschaffenheit der erstem.
Besonderes Interesse geben die praktischen Ergebnisse dieser Unter-
suchungen für die Frage der Therapie bei Ulcus ventriculi. Es
ist ja eine wesentliche Aufgabe der Therapie, die häufig bestehende
Hypersekretion zu bekämpfen, überhaupt die Sekretion, welche die
Heilung des Ulkus durch chemische Irritation verzögert, herabzusetzen.
Eines alten Rufes für die Behandlung des Ulcus ventriculi erfreut
sich das Bismutum subnitricum. Die meisten Autoren schreiben ihm
nur eine physikalisch-mechanische Wirkung als Deckmittel des Sub-
stanzverlustes zu. Meine Experimente haben erwiesen, daß dem
Präparate auch eine chemische sekretionsherabsetzende Wirkung inne-
wohnt, die bei der nicht entzündeten Schleimhaut zwar gering, bei der
entzündlich veränderten aber intensiver ist.
Die beiden Lokalanästhetika, welche bei der symptomatischen
UliLustherapie sich gut bewährt haben, und gewöhnlich als Zusatz zum
Bismutum subnitricum verordnet werden, das Orthoform und das
Anästhesin, haben zwar keinen sekretionshemmenden Einfluß auf die
Drfisenfunktion, sondern die Tendenz zu einer unerheblichen Steigerung
derselben. In Verbindung resp. in einem mechanischen Gemenge mit
dem Bismut wiegt die Komponente des letzteren in ihrem Einflüsse
auf die Magenschleimhaut vor mit dem Resultate einer Sekretions-
herabsetzung. Diese Medikation hat also nicht nur eine praktische,
sondern auch eine experimentell begründete Basis. — Als Ersatzmittel
ffir das Bismutum subnitricum kann die Bismuttanninverbindung,
das Bismutum bitannicum in Frage kommen, jedoch nur unter ge-
wissen, bei den folgenden Präparaten zu erörternden Umständen. Die
Bismutsalizylverbindungen hingegen erscheinen bei allen Zu-
ständen, wo die Sekretion nicht gesteigert, sondern herabgesetzt werden
soll, als kontraindiziert.
Auch die Ulkusbehandlung mit Argentum nitricum und seinen
Derivaten, die viele Freunde aber auch viele Gegner hat, dürfte
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306 P. Rodari, [70
durch diese experimentell-biologischen Untersuchungen eine pharma-
kodynamisch festere Basis erhalten. Hier ist ausschlaggebend für die
Frage, soll ein Ulkus mit Argen tum nitricum bzw. Protargol oder
Albargin behandelt werden, oder muß man eine andere Therapie ein-
schlagen, die diffuse Beschaffenheit der Magenschleimhaut, d. h. die
Feststellung des Vorhandenseins oderFehlens eines Katarrhs
neben dem Ulkus. — Über das summarische Verhältnis der Ulcera
ventriculi mit und ohne diffuse Gastritis findet man sowohl in der
pathologisch-anatomischen, wie in der klinischen Literatur wenig An-
gaben. Rütimeyer^) erwähnt bei 25 Fällen einen Prozentsatz von
68 % = Va mit und 32 = 1/3 ohne konkomitierende Gastritis.
Das Verhältnis, ob Gastritis da sei oder fehle, ist bisher für die
Therapie kaum verwertet worden, und doch spielt diese Frage für die
Argentumbehandlung nach dem Ergebnis der betreffenden Tierversuche
die Hauptrolle. Darnach zu schließen darf man wohl die Indikation
aufstellen, nur solche Fälle von Ulcus ventriculi mit Argentum
nitricum und seinen Derivaten, wie Protargol und Albargin,
zu behandeln, welche mit einer diffusen Gastritis kom-
pliziert sind, während die Silbertherapie bei Magenge-
schwüren ohne Gastritis kontraindiziert ist und durch die
Bismutbehandlung ersetzt werden soll.
Das Prinzipielle an diesen Beobachtungen findet auch eine Stütze
in der analogen Wirkung des Escalins auf die anatomisch gesunde
und die entzündete Magenschleimhaut des Hundes und in den heftigen
Kontroversen Bickels, der den experimentellen, und Klemperer,
der den klinischen Standpunkt vertritt. Diese heftige Fehde wurde
zunächst durch meine Experimente an Hunden mit intakter Magen-
schleimhaut veranlaßt, indem Bickel diese Untersuchungen ausdehnte,
bestätigte und einen weiteren Beleg in seinem Experimente am
Mädchen mit intakter Magenschleimhaut fand. Die hierbei durchweg
auftretende enorme Sekretionssteigerung veranlaßt Bickel, dem Escalin
jede Brauchbarkeit als Ulkusmedikament abzusprechen, während
Klemperer an klinischen Beobachtungen zu dem Resultate gekommen
sein will, im Escalin ein dem Bismutum subnitricum mindestens
gleichkommendes, wenn nicht dasselbe sogar weit übertreffendes Ersatz-
mittel für dieses gefunden zu haben. — Die Entscheidung, wer hier recht
hat, geben meine Versuche am Hunde mit der chronischen Gastritis.
Diese Experimente zeigen beim Escalin ein gleiches, wenn auch
intensiv stärker ausgeprägtes Verhalten, wie gewisse Adstringentien,
1) Geogr. Verbreitung und Diagnose des Ulcus ventriculi rotundum. Wiesbaden
1906.
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71] Experimeotelles und Klinisches zur Kenntnis der Beeinflussung usw. 307
z. B. Protargol und Albargin. Die nicht entzündlich veränderte Magen-
sclileimhaut reagiert auf das Escalin mit einer stürmischen Sekretion,
die entzündete Mukosa mit einer erheblichen Sekretionsherabsetzung.
Darin liegt des Rätsels Lösung und so kann man sagen , daß beide
Gegner in gewissem Maße recht haben. — Gewiß hat das Escalin
eine enorme safttreibende Wirkung. Diese trifft aber nach meinen
Untersuchungen über Escalin und nach anderen analogen Beispielen
nur für den Fall einer nicht entzündlich veränderten Beschaffenheit
der Magenschleimhaut zu^ während bei einer Gastritis (idiopathischer
oder symptomatischer Art, also auch beim Ulkus) die Wirkung des
Escalins das reine Gegenteil ist: eine typische Sekretionshemmung. —
Die Frage nach der therapeutischen Verwendbarkeit des Escalins beim
Ulcus ventriculi kann mithin folgendermaßen beantwortet werden: Auf
alle Fälle ist das Escalin da strikte kontraindiziert, wo gastritische
Zustände an der Magenschleimhaut fehlen, mithin auch bei
Ulcus ventriculi ohne konkomitierende Gastritis. Wohl aber
scheint, nach dem Tierversuche zu schließen, das Präparat beim Ulkus
mit Gastritis indiziert zu sein. Für solche Fälle mag also
Klemperer seinem Präparate eine gewisse therapeutische Bedeutung
einer sekretorischen Herabsetzung neben der supponierten hämostyp-
tischen Wirkung zuschreiben. —
Es dürfte eine dankbare Aufgabe der klinischen Untersuchung sein,
an einer großen Versuchsreihe von Patienten die hier gezogenen
Schlüsse weiter zu prüfen.
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485.
(Gynäkologie Nr. 176.)
Hyperemesis gravidarum').
Von
Dr. Adam Czyzewicz jun.,
Lemberg.
Es werden wohl nicht viele pathologische Zustände bekannt sein,
wo die Beschreibungen und Ansichten betreffs der Entstehungsursache
so verschieden wären, wie bei Hyperemesis gravidarum. Die ältesten
Zeiten überließen uns in Manuskripten und zahlreichen Publikationen
Andeutungen, welche als Beweis dienen, daß die eigentümliche Krank-
heit schon in den ersten Entwicklungsstufen der ärztlichen Wissen-
schaft bemerkt wurde und daß es nie an Proben fehlte um ihrer Ur-
sache näher zu kommen und sie richtiger zu behandeln. Es kann dies
such nicht wundern, da, wie allgemein bekannt, das Erbrechen sehr
oft in den ersten Schwangerschaftsmonaten vorkommt, und unstillbares
Erbrechen nur ausschließlich bei Schwangeren, die immer mit spe-
zieller Ehrfurcht und Achtung behandelt waren, zu trefiPen ist. Diese
losen Andeutungen, mehr oder weniger gründlichen Beschreibungen
und Proben, der Krankheitsursache näher zu kommen, hat P. Jaffe
in seinem Aufsatze über unstillbares Erbrechen in vortrefflicher Weise
zusammengestellt. Nach seinen Angaben geschieht der Krankheit schon
in den Werken von Paul von Ägina Erwähnung. Schon dieser
trachtet sie als spezielle Krankheitsform zu eliminieren, und gibt ihr
den Namen „Vomitus assiduus*, betrachtet sie aber als nicht gefährlich
für Mutter oder Kind. Seine Lehre blieb lange Zeit unverändert, sie
ist im 16. Jahrhundert in Mercados Werken aufzufinden, und erst
iml8.Jahrhundert forschen nach der Ursachedes Leidens Mauriceau und
1) Aus der Klinik der k. k. Hebammenschule des Prof. Dr. A. Czyzewicz in
Umberg. Vortrag, gehalten am 25. Juli 1007 in der gynftkolog. Sektion des X. Kon-
gretaet polnischer Ärzte und Naturforscher in Lemberg.
Klln. Vortrige, N. F. Nr. 485. (Gynäkologie Nr. 176.) Mai 1906. 18
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240 Adam Czyzewicz jun., [2
Delamotte und glauben dieselbe in einer Sympathie zwischen Magen
und Gebärmutter, was einen gegenseitigen Einfluß ermöglicht, ge-
funden zu haben.
Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hat nicht viel geändert.
Außer einer Arbeit von Burns (1809) hinterließ sie aber die Ober-
zeugung, daß die Krankheit nicht so gefahrlos ist, wie dies Paul von
Ägina geglaubt hat, und doch in einzelnen Fällen schlecht enden
kann. Die Angst vor diesem argen Ausgange hat Simons (1813) be-
wogen, zum ersten Male die Schwangerschaft im 7. Mondesmonate
wegen Hyperemesis zu unterbrechen. Endlich gab 1848 Dubois eine
ausführliche Beschreibung der Krankheit und gleich darauf nahm die
Pariser Akademie die weiteren Forschungen in ihre Hände, um zu-
nächst festzustellen, ob und wann eine Unterbrechung der Schwanger-
schaft berechtigt ist. Von nun an macht die Lehre vom unstillbaren
Erbrechen rasche Fortschritte, und liefert bald den Beweis, daß die
Krankheit gar nicht so einfach ist, wie das früher angenommen wurde.
Trotz zahlreicher Forschungen, die jahrjährlich sie aufzuklären suchen,
und zwar von verschiedenen Standpunkten, bleibt sie bis heute ein Rätsei,
eines von den wenigen, an deren Lösung Arbeiten vieler Gelehrten
scheitern. Der klinische Verlauf, die der Mutter und dem Kinde
drohenden Gefahren, das Verhalten verschiedener Organe und die
Sektionsbefunde sind schon genügend bekannt, die Ätiologie und Heil-
kunde bildet dagegen so ein Gemenge von verschiedenen Ansichten,
daß selbst die Orientierung darin schwer wird. Fast jeder, welcher
daran gearbeitet hat, vertritt eine andere Anschauung, auf eine kleine
Zahl seiner eigenen Fälle gestützt, da angesichts der Seltenheit der
Krankheit niemand über eine größere einheitliche Statistik verfügt,
fast jeder gibt eine Reihe glücklich mit seiner Methode, die in anderer
Händen als vollkommen wertlos erscheint, geheilter Fälle an. Der
Effekt langjähriger Nachforschungen ist dieser, daß ein praktischer
Arzt, nach Durchmusterung der Literatur über Hyperemesis gravi-
darum, nicht nur kein klares Bild über die Ätiologie und Therapie
der Krankheit hat, sondern das Vertrauen zu wissenschaftlichen For-
schungen verliert und in so ein Gemenge von direkt sich wider-
sprechenden Ansichten gelangt, daß er, sich selbst überlassen, zufallig
eine der vielen Thesen aufnimmt und danach handelt, indem er ganz
recht bemerkt, daß bis zur definitiven Entscheidung des Streites exakte
Methoden der Therapie nicht gestellt werden können. Dem thera-
peutischen Effekt entsprechend entstehen Anhänger und Gegner der
einen oder der anderen Ansicht und der wissenschaftliche Kampf ent-
brennt von neuem.
Ehe ich die Ursache erörtere, warum so verschiedene Anschau-
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3] Hyperemesis gravidarum. 241
uogen bestehen können und sie, soweit es geht, in Ordnung bringe,
will ich zunächst l^urz die bisher angegebenen referieren. Eine chrono-
logische Reihenfolge führt hier nicht zum Ziele, da viele ältere schon
langst vergessene Ansichten oft von neuem auftauchen und es scheint
mir besser, alle die Hypothesen nach pathologischen Prozessen, worin
sie die Ursache suchen, einzuteilen, wie dies auch J. W.Williams
getan hat.
Den publizierten Hypothesen entsprechend, kann die Hyperemesis
gravidarum durch folgende Annahmen aufgeklärt werden:
1. Sie kann auftreten bei Krankheiten des Magens.
2. Sie kann auf reflektorischem Wege zustande kommen.
3. Sie kann auf nervöser Basis beruhen.
4. Sie kann als eine Toxämie betrachtet werden.
Ad. 1. Fälle von unstillbarem Erbrechen Schwangerer bei Magen^
krankheiten sind nicht selten beschrieben worden und zwar bei Ent-
zündungen des Magens, Karzinom (Zäborszky), Gastromalakie,
Ulcus rotundum, bei Erosionen der Magenschleimhaut, pathologischen
Zuständen des Darmes usw., überall ist aber von Anfang an die
Meinung vertreten, daß man in diesen Fällen eigentlich nicht von
Hyperemesis gravidarum als klinisch isolierter Krankheitsform sprechen
dtff, da Erbrechen auch bei nicht schwangeren Personen aufgetreten
wäre, und die Schwangerschaft nur als sekundäre Ursache angesehen
Verden kann. Vorwiegend ist aber bei vielen Forschern dieser
Gruppe die Ansicht angedeutet, daß Krankheiten des Intestinaltraktus
das Zustandekommen von unstillbarem Erbrechen erleichtern, daß
sie also zwar nicht als primäre, wohl aber als sekundäre Ursache
gelten können.
Ad. 2. Die lange Zeit sehr verbreitete reflektorische Theorie hat
auch noch jetzt zahlreiche Anhänger. Im allgemeinen beruht sie auf
Anastomosen zwischen den Ästen des N. vagus und N. sympathicus,
wovon der erste den Magen- und Darmtraktus versorgt, der andere
vorwiegend unten in der Bauchhöhle zahlreiche Ganglien im Bereiche
der Genitalorgane bildet und sich auch aber alle Bauchorgane ver-
breitet, überall mit Ästen des N. vagus anastomisierend. Es geht schon
aus diesem Bilde klar hervor, daß Reize, aus den Geschlechtsteilen
stammend, leicht entweder auf direktem Wege oder auf indirektem
durch die Medulla spinalis, übertragen werden und Magensymptome
hervorrufen können. Auf diesem innigen Zusammenhange beider
Nervengebiete und auf dieser Leichtigkeit im Übersenden der Reize
haben viele ihre Ansichten basiert und da, trotz Existenz derselben
Verhaltnisse bei jeder Frau, unstillbares Erbrechen sehr selten vor-
kommt und nur ausschließlich bei Schwangeren, die Tatsache durch
18*
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242 Adam Czyzewicz Jun., [4
Anüahme von pridisponierenden Momenten, z. B. barmtraktuskraok-
heiten, nervöser Reizbarkeit, duröh die Schwangerschaft gesteigert
usw.^ zu erörtern gesucht. Meinungsdifferenzen sind hier Fast nicht
zu finden. Was aber den eigentlichen, die Krankheit hervorrufenden
Reiz anbetrifft, sind die Ansichten sehr verschieden und es werden
fast alle Frauenkrankheiten in Rede gezogen. Es wird nun nach der
Ursache gesucht bei Erosionen des Scheidenteiles, Entzündungen der
unteren Hälfte der Gebärmutter oder der oberen und des Peritoneum
(Horwitz), in endometritischen Prozessen (Jaggard), Krankheiten
der Eihäute, übermäßiger Ausdehnung der Gebärmutter bei Hydram-
nios oder Zwillingen, Bildung von Molen, Rigidität des Muttermundes
(Kehrer) oder auch der Gebärmutter in toto, weiter in ieiner Reiz-
barkeit der Gegend des inneren Muttermundes (Bantock, Mueller),
Cervixrissen (Sänger), in einer reflektorischen Wirkung der wachsen-
den Gebärmutter (Baisch, Oelschläger). Anämie des Peritoneums
wegen starker Spannung auf dem sich vergrößernden Uterus (Tusz-
kai), einer Gehirnanämie beim Aufstehen vom Bette (Evans), in
Schwangerschaftswehen (Gottschalk). Deviationen der Gebärmutter
vorwiegend Retroflexio und folgendem Druck auf die Nervenganglien
(Graily Hewitt), im Drucke auf diese Ganglien durch Exsudate,
oder später zurückbleibende Adhäsionen, vorwiegend im Bereich des
Promontoriums (Müller), einer gesteigerten Magensaftabsonderung
neben reflektorischer Wirkung des schwangeren Uterus (Monin), in
einer reflektorischen Pyloruskontraktion oder Zusammenziehung der
Muskeln des ganzen Intesttnaltraktus (Goffroy), einer reflektorisch
auf Grund von Frauenkrankheiten mit Gravidität kompliziert auf-
tretenden Neurosis ventriculi (Sutugin), einer Reizung des Spinal-
brechzentrums direkt durch Druck der Gebärmutter oder auch indirekt
(Windscheid) und in vielen anderen pathologischen Zuständen.
Wie oben angedeutet, stammt diese Theoriengruppe aus ältester
Zeit und hat auch bis heute zahlreiche Anhänger, verliert aber, an-
gesichts neuer Forschungen, die auf ganz anderem Wege zur Auf-
klärung der Krankheit schreiten, immer mehr ihren Boden. Sie be-
stand immer und besteht auch noch jetzt aus dem Grunde, daß sehr
oft die Heilung bestehender Frauenkrankheiten einen segensreichen
Einfluß auf das Erbrechen hat; es ist nur absolut nicht festzustellen,
ob diese Besserung post hoc oder propter hoc eingetreten war.
Ad 3. Die Neurosentheorie verdankt ihre Verbreitung den Ar-
beiten von Ahlfeld und Kaltenbach, obwohl sie schon viel früher
aufgebaut wurde in den Publikationen von Krieger, Eulenburg,
Anquetin, Braxton Hicks, welche, auf negativen Befund der
Autopsien gestützt, zur Annahme von nervösen Ursachen neigten und
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5] Hyperemesis gravicfarum. 243
war soleheQ, die tödlich sein köanen, ohne Spuren zu hinterlassen.
Ihre Lehre war aber wenig bekannt bis zur Zeit, wo eine Polemik
um Priorität zwischen Chazan, AhlFeld und Kaltenbach sie all-
gemein verbreitet hat« Als Ausgangspunkt in dieser Hypothesen-
gruppe wird eine Nervenkrankheit angenommen, und zwar geben die
zwei ersten als Ursache diverse Neurosen an, die alle einen- identi-
schen EinBuO auf das Entstehen der Hyperemesis haben sollen, der
letztere dagegen speziell die Hysterie. Diesem wissenschaftlichen
Streite haben sicl^ gleich zahlreiche Diskussionen in gynäkologischen
Gesellschaften und Zeitungen angeschlossen, zwischen den Anhängern
der neuen Lehren (Muret, Frank, Gräfe, Dorff, Opitz, Klein,
Schäffer) und ihren Gegnern (Windscheid, Zweifel, Feinberg),
Diskussionen, wo jeder durch immer neue Beweise seine Anschauung
zu begründen suchte und die, trotz enormer Arbeitsausdehnung, nicht
our zu keiner einheitlichen Ansicht fiber die Ätiologie -der Krankheit
geführt, sondern nur den ganzen Standpunkt noch bedeutend mehr
verwickelt haben.
Ad 4. Die jüngste von allen, erst in letzter Zeit aufgestellte, tox-
imische Theorie wurde auch anfangs nicht so allgemein anerkannt,
vie die anderen, und blieb, als mehrere Forscher sie angenommen
haben, auch nicht einheitlich sondern gleich in mehrere Gruppen ein-
geteilt Ihre Grundsteine sind in der Arbeit von Fischl (1884) zu finden.
Er nimmt zwar auch eine nervöse Prädisposition an, glaubt aber, daß
tis eigentliche Ursache eine Koprostase mit Bildung anormaler che-
mischer Prozesse beschuldigt werden kann. Neun Jahre später publi-
ziert Lindemann (1803) ein Sektionsprotokoll nach Hyperemesis
gravidarum und beschreibt ausführlich Veränderungen der Leber,
Milz und Nieren als parenchymatöse und fettige Degenerationen,
Entzfindungszustände der peripheren Nerven, bei wenig Aushungerungs-
erscheinungen und stellt als erster die Meinung auf, daO angesichts
des Sektionsbefundes, der lebhaft an eine chronische Vergiftung er-
ionert, die Hyperemesis als Vergiftung mit noch unbekannten Toxi-
nen angesehen werden darf. Dies war der Ausgang der ganzen
Theorie, und als ihn V. Antouchevitsch (1897) in einer Sitzung
des Ärztekongresses in Moskau von neuem aufgenommen und auf die
Ähnlichkeit zwischen der Hyperemesis und den Symptomen bei
Tieren, denen man eine Nahrung ohne Natrium und Kalium gereicht,
verwiesen hat, beginnen Untersuchungen des Stoffwechsels, Beob-
achtungen der Krankheit vom neuen Standpunkte und die Theorie ist
im Aufschwung begriffen.
Die Anhänger dieser Hypothese sind insofern einig, daß sie als
Ursache des unstillbaren Erbrechens eine Vergiftung mit im Blut
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244 Adaxn Czyzewicz jun., [^
deponierten Stoffen annehmen und insofern verschiedener Meinung, daO
sie verschiedene Stoffe beschuldigen. Immer heben sie aber hervori
daß die Theorie nicht auf alle Fälle von Hyperemesis passen kann.
Alle diese Nachforschungen gaben als Resultat eine Reihe von ver-
schiedenen Ansichten, je nach dem Körper, welcher als Agens be-
schuldigt war. Sie sind folgende:
a) Türen ne sucht die Giftquelle in einer Absonderung des
Corpus luteum, welches als Drüse mit innerer Ausscheidung an-
gesehen werden muß. Ihr Produkt ruft normal eine Hyperämie der
Genitalorgane hervor, vor und während der Periode, allgemeine
Symptome bei amenorrhoischen Frauen, und mutmaßliche Schwanger-
schaftssymptome, die bei nervöser Prädisposition sich bis zur Hyper-
emesis steigern können. Die Ursache, daß die Erscheinungen bei
Nichtschwangeren fehlen, wäre darin zu suchen, daß das Gift vom
menstruellen Blute fortgeschwemmt wird; die Periode wäre nun als
eigentliche, gewöhnliche Folge der Wirkung des Corpus luteum-Giftes
anzusehen. In Fällen, wo die Menstruation aufhört, also auch in
der Schwangerschaft, gelangt das Gift in den Blutkreislauf und ruft
Vergiftungserscheinungen hervor.
b) Dirmoser hält die Hyperemesis für eine Autointoxikation mit
Produkten eines anormalen Stoffwechsels im Darmtraktus und spe-
zialisiert dies folgendermaßen: Die Nerven des Darmes und Magens
stehen in enger Verbindung mit denen der Genitalorgane, und in
normalem Zustande üben die letzteren ihren regulierenden Einfluß
auf den Magen im Wege der Anastomosen zwischen N. vagus und R
sympathicus aus. Die Vergrößerung der Gebärmutter, Veränderung
der Eierstöcke, des Peritoneums usw. in der Schwangerschaft übt
einen mächtigen Reiz auf die hier liegenden Nervenenden und ruft
reflektorisch eine Behinderung der Magenfunktion, ja sogar antiperi-
staltische Bewegungen hervor. Demzufolge kommt es zu anormalen
Fäulnisprozessen, zur Bildung giftiger Körper und angesichts der
verlangsamten Peristaltik zu deren leichter Einsaugung. Das Ganze
kann wohl bei gesunden Frauen, um so eher bei nervös belasteten
vorkommen.
Kurz gesagt hält also Dirmoser das unstillbare Erbrechen für
eine Autointoxikation mit anormalen Stofiwechselprodukten und be-
gründet seine Ansicht in erster Reihe mit atypischen Harnbestand-
teilen, wie Azeton, Indoxyl, Skatoxyl, Schwefelverbindungen usw.^ die
er in seinen Fällen in größerer Menge nachgewiesen hat.
c) Pinard, Champetier de Ribes und Bouffe de Saint Blaise
halten die Krankheit für eine Vergiftung auf Grund einer schlechten
Leberfunktion, und als Stützpunkt nehmen sie Sektionsbefunde an, wo
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7] Hyperemesis gravidarum. 245
in der Leber Veränderungen wie bei Atrophia hepatis flava fest-
gestellt wurden. Auch früher waren schon ähnliche Befunde bekannt,
aur nicht zur Aufklärung der Ätiologie des unstillbaren Erbrechens
herangezogen. Im Jahre 1879 hat sie schon Matthews Duncan ge-
funden, später Stone, Ewing und Edgar, aber erst J. Whitridge
Williams hat im Jahre 1005 auf Grund von drei beobachteten Fällen,
durch grundliche Untersuchung des Stofi^wechsels die Hypothese
wissenschaftlich begründet. Diese Untersuchung lehrte, daß, von An-
fang der Krankheit an, im Urin Ammoniak zu finden ist, und zwar in
großer Menge, bis 46% (gegen normal 3—5%), was entweder für
schwere Schädigung der Leber spricht oder für Existenz eines
saueren Giftes im Blutkreislauf, das zu neutralisieren ist — später
kann man auch Eiweiß konstatieren. Dieser Befund beweist eine
primäre Läsion der Leber und sekundäre der Nieren durch das im
Blut kreisende Toxin.
d) Karl Behm sucht 1903 die Vergiftungsursache im Fruchtei.
Nach dieser Meinung ist die Hyperemesis gravidarum eine Intoxi-
kation, von der Eioberfläche ausgehend, wahrscheinlich synzytialen Ur-
sprunges, und als Beweis dient die Tatsache, daß nicht nur bei
kranken, sondern auch bei gesunden Schwangeren Zottenelemente im
mutterlichen Blute zu treflPen sind. Wenn man dabei beachtet, daß
das Erbrechen gewöhnlich mit Beginn der Schwangerschaft sich ein-
steilt und in 5 — 6 Wochen seinen Höhepunkt erreicht, d. h. zu einer
Zeit, wo an einem großen Teile der Eioberfläche Zotten zugrunde
gehen, das Chorion laeve bildend, so ist es wahrscheinlich, daß
Zottenelemente, speziell das Synzytium, in das mütterliche Blut ge-
langen und die Vergiftung verursachen können. Auch die Tatsache,
daß mit der vollkommenen Entwicklung der Plazenta^ d. h. im 4 bis
5. Schwängerschaftsmonat, das Erbrechen gewöhnlich zu Ende geht,
spricht für diese Ansicht.
Die Ursache der Krankheit wäre somit im Synzytium zu suchen,
und alle Krankheiten des Genitalapparates, Neurosen usw. als prä-
disponierendes oder die Krankheit verschlimmerndes Moment zu
halten.
e) Die letzte Hypothese sucht die Ursache der Vergiftung der
Schwangeren in Produkten des Fruchteies (Clivio) oder in Stoff-
wechselprodukten der Frucht (Czempin, Starzewski). Der erste
von den dreien publizierte 1001 seine Ansicht, daß das Fruchtei
giftige Substanzen absondert, welche, in das mütterliche Blut gelangt,
eine Intoxikation hervorrufen, unter anderem durch Erbrechen ge-
kennzeichnet; bei regelwidriger Funktion des Intestinaltraktus, Krank-
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246 Adam Czyzewicz jun., [8
heiten der Geschlechtsorgane, Neurosen usw. kann dann leicht das
Erbrechen sich zu einer Hyperemesis steigern.
Czempin trat mit seiner Meinung zuerst 1803 in einer Dis-
kussion im Berliner physiologischen Institut auf und muß somit als
Vater der Theorie von der Vergiftung der Mutter durch das Kind
angesehen werden. Zu dieser Kenntnis war er durch Untersuchung
der Plazentastruktur gelangt. Es war ihm klar, daß ein so koiHpli-
ziertes Organ gewiß wohl auch seine spezielle Funktion haben muß
und von dem Standpunkte ausgehend hat er seine Hypothese ent-
wickelt: Die wachsende Frucht bildet eine ganze Menge von Giften,
welche, in das mätterliche Blut gelangt, eine Intoxikation hervorrufen.
Tatsächlich kommt es dazu im Anfange der Schwangerschaft, da die
Plazenta noch nicht fähig ist, das Gift zu neutralisieren. Als Sym-
ptome treten hervor: Erbrechen, Kopfweh, Kopfschwindel usw. Später
binden die Plazentarzellen das Gift und der mätterliche Organismus
bildet Gegengifte, zum Neutralisieren der doch ins Blut herein-
geschwemmten Gifte bestimmt, und die obigen Symptome ver-
schwinden. Bei regelwidriger Funktion des Fruchtkuchens können
die fötalen Gifte in das mutterliche Blut in größeren Mengen gelangen
und unstillbares Erbrechen oder Eklampsie hervorrufen.
Die letzte Arbeit, von J. Starzewski in den Jahren 1895—1897
in unserer Schule durchgeführt und im Jahre 1906 veröffentlicht,
hebt den Begriff einer „Schwangerschaftsinfektion" hervor und klärt
ausführlich die Symptome einer physiologischen und pathologischen
Gravidität mit dem Eindringen von fötalen Stoffwechselprodukten in
das mütterliche Blut auf. Dieses Exkret des Fruchteies übt seinen
Einfluß auf Drüsen des mütterlichen Körpers aus und zwar höchst-
wahrscheinlich auf dem Wege einer atypischen Funktion des Nerven-
systems und auch durch direkte Wirkung auf die Drüsensubstanz.
»Wir dürfen nicht fehlgehen — sagt Starzewski im physio-
„logischen Teile — wenn wir in analoger Weise auch das Er-
ybrechen Schwangerer, jenes so überaus häufige Symptom der
»Schwangerschaftsinfektion, erklären. Auch hier hätten wir zwei
»Ursachen: die eine, die indirekte, die durch das zentrale Nerven-
»system wirkende, die andere, die direkte, der Reizzustand, in
»welchen die Magenwand durch das Fruchteiexkret versetzt wird,
»dessen Ausscheidung vielleicht ebenso, wie die des Morphins,
»durch die Magenschleimhaut in die Magenhöhle erfolgt. In
»unseren gegen dieses Leiden gerichteten therapeutischen Maß-
»nahmen ist auch diese Erklärung gerechtfertigt. Denn einer-
»seits erzielen wir gute Resultate, wenn wir Mittel verabreichen,
»welche die Reizbarkeit des Nervensystems herabsetzen, andrer-
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0] Hyperemesis gravidaram. 247
«seit schafiPen wir den Kranken bedeutende Linderung, wenn wir
»deren Magen einer systematischen Spülbehandlung unterziehen."
Und im pathologischen Teile schreibt er weiter, daß, wenn die
Fähigkeit des mütterlichen Organismus, ein wirksames Schwanger-
schaftsantitoxin zu bilden, bei Schwangerschaftsinfektion zu gering ist,
die Symptome nach Ende der ersten Schwangerschaftshälfte nicht
schwinden, sondern im Gegenteil noch manchmal zunehmen. Hier-
her gehört unter anderen auch die Hyperemesis gravidarum.
So sieht, in kurzen Zügen, das Bild unseres Wissens über die
Hyperemesis gravidarum aus, dies ist das Ansichtengemenge, das wir
von unseren Vorgängern geerbt haben. Wenn jemand daraus eine
klare Vorstellung der Ätiologie der Krankheit gewinnen wollte, ohne
eigene Erfahrung in Frage zu ziehen, so möchte er sehr bald zur
Oberzeugung kommen, daß dies nicht möglich ist. Er dürfte auch
nicht einer von diesen Theorien den Vorzug geben, auf das allgemeine
Ansehen des einen oder des anderen Verfassers gestützt, da hier im
ganzen die glänzendsten Namen sich gegenseitig bekämpfen.
Eine Lösung des Rätsels ist nicht weit zu suchen; sie springt
von selbst in die Augen mit Aufstellung der Ansicht, daß die Krank-
heit, von der alle sprechen, keine einheitliche Form ist, sondern ein
Konglomerat von verschiedenen pathologischen Prozessen, die nur
das Symptom des schwer zu stillenden Erbrechens gemein haben,
sonst aber verschieden voneinander sind. Bis neulich war es
ganz ähnlich mit der InBuenza, von der, auf Grund zahlreicher
Untersuchungen, immer mehr Fälle isoliert werden und die dem-
zufolge immer seltener, aber immer mehr bekannt und speziali-
siert wird.
In vielen Aufsätzen habe ich die Ansicht gefunden, daß das un-
stillbare Erbrechen aus verschiedenen Ursachen entstehen kann, nir-
gends dagegen mit der Meinung, daß man mit dem Namen Hyper-
emesis nur einige Krankheitsformen mit gründlich definierten Sym-
ptomen und Verlauf belegen darf, den Rest dagegen mit ihrer eigenen
Bezeichnung nennen muß. Und doch sollte es so sein, da doch grund-
sätzlich Erbrechen auf hysterischer Basis oder bei Pylorusverengung
wegen Karzinom von einem bei allgemeiner Vergiftung verschieden
ist Wir sind eben nur gewohnt, jedes Erbrechen bei einer Schwan-
geren der Schwangerschaft zuzuschreiben und jedes, welches mit ge-
wöhnlichen Mitteln nicht zu stillen ist, und wobei es zu Sinken des
Korpergewichtes aus irgendwelcher Ursache kommt, mit dem Namen
Hyperemesis zu belegen, mit einem Namen, der eigentlich nur leerer
Schall ist und gar nicht existenzberechtigt. Als Beweis zahlreiche
Protokolle von Sektionen, welche bei Schwangeren mit Hyperemesis
KilB. Vortrige, N. F. Nr. 485. (Gynäkologie Nr.I7a) Mil 1908. 19
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248 Adam Czyiewicz jun., [10
Carcinoma pylori, Peritonitis/ Tuberkulose usw. gefunden haben.
Daß in diesen Fällen nicht eine anormale Krankheitsursache, sondern
ein Diagnosenfehler vorlag, liegt auf der Hand* Und so kann es
nachher nicht wundern, daß einer als Grund der Hyperemesis Hy-
sterie, der andere Retroflexion oder Druck auf Nervenganglien usw.
angibt, und daß jeder in diesen Fällen seine Ansicht mit gutem
therapeutischen Effekte bekräftigt, es kann aber auch nicht wundern,
daß, wenn der andere die Anschauung des ersten annimmt, er leicht
auf einen Fall treffen kann, wo die angebotene Behandlung wirkungs-
los bleibt und der klinische Verlauf eine ganz andere Ursache zutage
fördert. Sie hatten beide zwei verschiedene Krankheiten vor sich,
die nur ähnliche Symptome aufgewiesen haben, was ja leicht vor-
kommen kann. Als Beispiel will ich nur den Schmerz in der Herz-
grube hervorheben. Er stellt sich bei Krankheiten des Magens, des
Herzens, der Leber, bei frühzeitiger Perimetritis usw* ein. Wenn
man diesen Schmerz als selbständige Krankheit ansehen wollte, so
könnte man auch verschiedene Ursachen und Behandlungsmethoden
angeben.
Wie also oben angedeutet, kann ich die Hyperemesis gravidarum,
oder, bei anderer Benennung, den Vomitus gravidarum perniciosus^
nicht für eine selbständige Krankheit halten, sondern muß sie als
Symptomenkomplex bezeichnen, der aus verschiedenen Ursachen
entstehen kann und demgemäß verschiedenen Krankheiten zugeschrieben
werden muß.
Beweise dafür liefert eine Durchmusterung publizierter Beschrei-
bungen des Leidens. Kaltenbachz.B. gibt an, daß er bei seinen Pa-
tientinnen Merkmale der Hysterie gefunden hat, viele andere treten
dem gleich entgegen, Williams konstatierte im Urin größere Ammo-
niakmengen und erst sub ßnem Eiweiß, Dirmoser erwidert ihm
gleich, daß Eiweiß oft von Anfang an vorkommt, Ammoniak ganz
wenig zu finden ist, dagegen Indoxyl und Skatoxyl vermehrt sind
usw. usw. Man kann nicht glauben, daß so ernste Forscher Irrtümer
in kardinalen Untersuchungen begehen, oder nicht wahren Befund
veröffentlichen, und es ist viel rationeller anzunehmen, daß sie vor
zwei verschiedenen Krankheiten gestanden, die sie zwar diagnosti-
ziert und genügend erklärt, aber falsch mit demselben Namen belegt
haben.
Wo ist nun die Ursache dieser Verwirrung zu suchen? Es ist mir
vollkommen klar, daß sie im Namen des Leidens liegt, der keinen
pathologischen Prozeß, sondern nur ein Krankheitssymptom bezeich-
net. „Hyperemesis gravidarum*' sagt nur, daß bei einer schwangeren
Frau Erbrechen vorkommt, welches mit unseren Mitteln nicfiit zu
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11] Hyperemesis gravidarum. 249
sdllen ist — «Vomitus gravidarum perniciosus'' ist insofern eine
bessere Bezeichnung, daß sie gleich den gefährlichen EinfluO auf die
Patientin andeutet. An diesen schon existierenden Namen wurden
erst später Symptome angekettet» welche teilweise, was das Erbrechen,
Verminderung des Körpergewichtes, Verhalten des Pulses usw. an-
betrifft, übereinstimmen, oder wieder sich gegenseitig bekämpfen, wie
z. B. im Verhalten der Temperatur, des Urins, im Krankheitsverlauf,
der Prognose, dem Ausgang usw. Dieser Fehler steht in unserer
Nomenklatur nicht vereinzelt da und beruht auf der Benennung der
Krankheit nach einem ihrer Symptome, wenn auch nach dem am
meisten charakteristischen. Fast bis vor kurzem haben alle »Icterus gra-
vis* bei Neugeborenen diagnostiziert, statt von »Sepsis* zu sprechen,
»Icterus catarrhalis*, statt „Duodenitis* oder »Cholangitis catarrhalis*
mit Ikterus und auch jetzt tun dies noch viele. Ganz ähnlich kann
man heute noch Diagnosen antreffen, wie »Epistaxis*", »Hämaturia*,
»Hamatemesis* usw., obschon sie alle überzeugt sind, daß dies keine Be-
zeichnungen einer selbständigen Krankheit sind. Mit Aufschwung der
aratlichen Wissenschaft werden diese Namen, als Diagnosen, vertrieben
und bleiben nur als Bezeichnung einzelner Symptome, und nirgends
in Krankenhäusern sind sie mehr auf den Tafeln zu sehen. Nur
einzig für Krankheiten, von denen wir eigentlich nicht wissen, was
sie sind, haben sie sich noch erhalten. In der Geburtshilfe gibt es
solcher zweie: die Eklampsie und Hyperemesis. Die erste besitzt
glficklicherweise einen Namen, der nichts sagt von ihren Symptomen,
und daher ungestört auch weiter bestehen kann, die zweite gibt von
Anfang an durch ihre Benennung eine falsche Vorstellung, weil sie
nicht auf die Krankheit selbst, sondern auf ihr Zeichen hinweist.
Nach dem Gesagten sollte man eigentlich die ganze Krankheit,
samt ihrem Namen, aus dem medizinischen Wörterbuche streichen.
Bisher war das, angesichts unserer Angewöhnung, nicht möglich,
ich bin aber fest überzeugt, daß sie später auch wirklich ver-
schwinden wird. Vorläufig will ich sie nur auf einzelne Kom-
ponenten zerlegen, dieselben dort einreihen, wo sie hingehören und
eine Gruppe isolieren, welcher ich den Namen »Hyperemesis
gravidarum vera"* gebe und denselben so lange gebrauche, bis er
durch einen besseren, die eigentliche Krankheitsursache bezeichnen-
nenden, vertreten wird.
Auf diesem Wege müssen zunächst die Fälle eliminiert werden,
deren Ursachen man schon in allgemein bekannten pathologischen
Zuständen gefunden hat. In erster Reihe treten die Fälle zur Seite,
wo Erbrechen durch Magen- und Darmkrankheiten hervorgerufen
wird, da es doch bei Magenkarzinom, Bauchfellentzündung usw. zur
19*
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250 Adam Czyiewicz jun., [12
Regel gehört, auch wenn die Patientin nicht schwanger ist, und da es,
von Kachexie begleitet, auch bei Männern zustande kommen kann.
Die Schwangerschaft ist dabei nur ein zufalliger Befund. Sie kann
zwar den Zustand verschlimmern, indem eine den Schwangeren eigen-
tümliche Reizbarkeit, wahrscheinlich auf Grund der Graviditätsinfektion
im Sinne Starzewskis, hinzutritt, man kann dies aber höchstens als
Kombination zweier Ursachen: der physiologischen Gravidität und
der pathologischen Magenkrankheit, ansehen und von einem ver-
schlimmernden Einfluß der Schwangerschaft z. B. auf Magenkrebs
sprechen, nie aber von einer speziellen Krankheitsform, der Hyper-
emesis und nie deren eigentliche Ursache im graviden Uterus suchen,
die eigentliche Krankheit als Nebensache betrachtend. In diesem
Falle muß die erste Diagnose bestehen und nur hinzugefügt werden,
daß deren Symptome bei bestehender Schwangerschaft verschlimmert
werden. Nur so ein Standpunkt kann einer wahren Kritik wider-
stehen.
Dasselbe gilt auch für die Neurosen theorie. Auch hier kann das, neben-
bei fast immer stillbare, Erbrechen auf Grund einer Neurose mit dem,
welches als Symptom einer oft durch Degenerationen tödlichen Krank-
Tieit auftritt, nicht identifiziert werden. Daß eine bestehende Hysterie ver-
schiedene Symptome zahlreicher Krankheiten nachahmen kann, ist allge-
mein bekannt, aber trotzdem unterscheidet doch niemand als spezielle
Krankheit z. B. eine Hemiplegie und teilt sie nicht in eine auf Grund
von Gehirnveränderungen entstandene und eine zweite funktionelle,
sondern jeder diagnostiziert die Grundkrankheit und fügt eine Be-
schreibung ihrer momentanen Symptome bei. So muß man auch
Hysterie erkennen, wenn man ihre charakteristischen Merkmale ge-
funden, und beifügen, daß sie im gegebenen Falle die Symptome der
Hyperemesis nachahmt. Es kommt dies vorwiegend bei Schwangeren
vor und kann gedeutet werden entweder als Kombination zweier
Krankheitszustände oder als Neurose, die angesichts psychischer Reize
und der Oberzeugung, daß Erbrechen in der Gravidität leicht vor-
kommen kann, diese Form angenommen hat.^ Daß so ein psychischer
Einfluß wohl möglich ist, dafür liefert den Beweis ein mir bekannter
Fall, wo einige Male wegen Hyperemesis ein Abort eingeleitet wurde,
bis endlich dieselben Symptome einmal außerhalb der Schwanger-
schaft zutage getreten — und sehr leicht geheilt wurden. Es ist
vollkommen klar, daß eine antihysterische Behandlung in diesem
Falle auch während der Schwangerschaft prompt wirken und neue An-
hänger der Kaltenbachschen Theorie, die doch ganz auf Fällen von
Hysterie sub forma einer Hyperemesis basiert ist, schaffen möchte.
Dasselbe gilt auch für alle anderen Neurosen, um so mehr, da sie
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13] Hyperemesis gravidarum. 251
in der Gravidität gesteigert sind. Bei der Besprechung der Hyper-
emesis gravidarum müssen nun alle diese Fälle zur Seite gesclioben
Verden, weil sie keine Hyperemesis sind, nur andere Krankheiten,
veil sie eine andere, nicht symptomatische, sondern ursächliche Be-
handlung verlangen und die, wenn nur die Grundkrankheit heilbar
ist, auch sehr leicht geheilt werden.
Die reflektorische und toxämische Hypothese erfordern eine be-
sondere Besprechung. Was die erste anbetrifft, ist es wahrlich
schwer, die Hyperemesis als Symptom von Erosionen, Deviationen,
Entzündungen der Genitalien usw. anzuschauen, da dies mit dem
lokalen Charakter dieser Krankheiten in Widerspruch steht und irre-
leiten muß und es scheint viel begreiflicher, wie dies schon immer
öfter in der Literatur hervorgehoben wird, anzunehmen, daß der Zu-
sammenhang zwischen den beiden Leiden ein zufälliger ist und sie auf-
einander keinerlei Wirkung ausüben. Wenn man in der Praxis alles
genau beobachtet, so trifft man oft Fälle, wo z. B. eine Retroflexion
neben einer ausgesprochenen Hysterie besteht, und trotzdem tritt in
der Schwangerschaft keine Hyperemesis, ja überhaupt kein Erbrechen
auf. Wenn die reflektorische Theorie wahr wäre, so müßten gerade
solche Fälle voranstehen, was aber gar nicht übereinstimmt. Das-
selbe gilt auch für Entzündungen der Genitalien, Erosionen usw. und
diese Tatsachen haben auch viele Forscher gezwungen, den Einfluß
von Frauenleiden auf den Magen zu bezweifeln. — Der Reflex, sei
es direkt oder indirekt, auf dem Wege eines Spinalzentrum, durch
Druck auf neben der Gebärmutter liegende Nervenganglien hervor-
gerufen, kann auch nicht erhalten werden, da sehr oft neben dem
Uterus Geschwülste liegen, die einen bedeutend stärkeren Druck ausüben,
wie die schwangere Gebärmutter, und trotzdem kein unstillbares Er-
brechen außerhalb der Schwangerschaft hervorrufen. Während der
Gravidität ist nur ein Fall von Lapeyre 1901 beschrieben, wo ein
Ovarialkystom neben Schwangerschaft und Hyperemesis bestand und
wo ein Beweis erbracht wurde, daß die letztere nur von der
Schwangerschaft abhängig war und die Exstirpation des Tumor er-
folglos blieb.
Tuszkais Ansicht hat schon vor mir W. J. Brock 1883 widerlegt,
indem er angegeben hat, daß die Hyperemesis vorwiegend bei Mehr-
geschwängerten vorkommt, wo bei Schlafi^heit der Muskeln und des
Muttermundes eine gesteigerte Spannung der Gebärmutterwand und
des Peritoneum nicht annehmbar ist Er fügt nebenbei noch hinzu,
daß die Krankheit bei Rigidität des Muttermundes nicht vorkommt,
was auch wirklich wahr ist und gegen Reizung des Muttermundes
als Ursache spricht.
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252 Adam Czy^ewicz jun., [14
Das Gesagte zusammenfassend, kann man wohl behaupten, daß
bei verschiedenen pathologischen Zuständen der Genitalorgane, ein
bis jetzt mit dem Namen Hyperemesis gravidarum belegter Sym-
ptomenkomplex vorkommen kann, daß aber kein Beweis vorliegt, ihn
als Reflex zu bezeichnen. Im Gegenteil spricht viel dafür, daß er
kein Reflex ist, und daß man nach seiner Ursache in einer ganz an-
deren Richtung forschen muß.
Es bleibt noch zuletzt die toxämlsche Theorie. An sie will ich
mich wenden und nach ihr den mit dem Namen Hyperemesis gravi-
darum belegten Symptomenkomplex zu deuten trachten. Zunächst
sind hier nach Dirmosers Ansicht entstandene Fälle auszuschließen.
Wenn die Krankheit eine Autointoxikation aus dem Darmtraktus sein
sollte, so müßten diese Fälle überhaupt den Darmintoxikationen, wie z.B.
nach Genuß von faulendem Fleisch, nach atypischen Verdauungs-
prozessen usw. angereiht werden und den ganzen Symptomenkomplex
darf man dann wieder nicht für eine selbständige Krankheit, sondern
muß sie für eine Erscheinung der Vergiftung halten. Gegen die An-
nahme, daß die Schwangerschaft reflektorisch die Peristaltik der Därme
hemmt, oder gar Antiperistaltik hervorruft, spricht die Tatsache, daß bei
Uterustumoren, z. B. Myomen, kein Erbrechen vorkommt, nur speziell
bei Gravidität. Es muß somit gerade in der letzteren die Ursache
gesucht werden.
Ganz ähnlich kann man auch die Leber nicht beschuldigen. Ge-
gegebenenfalls müßte es doch einmal vorkommen, daß die Leber
auch außerhalb der Schwangerschaft insuffizient wird, und es müßte
dann zu einer Hyperemesis gravidarum bei einer nicht graviden
Frau oder gar bei einem Manne kommen, wo doch die Krankheit
schon nicht speziell mit der Schwangerschaft zusammenhängen und
ihren Namen verdienen könnte. Viel eher ist es anzunehmen, daß
die Leberveränderungen sekundär sind, durch ein im Blute kreisen-
des, den Schwangeren eigentümliches, also mit der Schwangerschaft
im engen Zusammenhange stehendes Gift hervorgerufen.
Nolens, volens sind wir genötigt, die Ursache der Hyperemesis in
der schwangeren Gebärmutter zu suchen, und da diese sich von einer
nicht schwangeren nur durch das darin sich entwickelnde Ei unter-
scheidet, in dem Eie selbst. Mit Turennes Ansicht, daß diese Ur-
sache in der Ausscheidung des Corpus luteum liegt, kann ich nicht
einig werden, da so ein gelbes Körperchen bei jeder Schwangeren
existiert und trotzdem Hyperemesis zu seltenen Erscheinungen gehört
und da Turenne auch die Menstruation als Folge derselben Aus-
scheidung ansieht, obwohl heute allgemein gelehrt wird, daß die Men-
struation und Ovulationen in keinem ursächlichen Zusammenhange
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15] Hyperemesis gravidarum. 253
Stehen und eine Periode vor der Ovulation zustande kommen kann,
also zur Zeit, wo noch kein Corpus luteum existiert. Wenn man
nun für den Ausgangspunkt das Fruchtei halten will, so ist nur zwischen
der synzytialen Theorie und der Schwangerschaftsinfektion zu wählen.
Vir haben noch zu wenig Belege , um zwischen diesen beiden An-
sichten zu entscheiden, weil deren Anatomie und Chemie kaum an*
gefongen ist, schon jetzt sind aber zwei Punkte zu konstatieren,
welche zur Annahme der Schwangerschaftsinfektion drängen, und
zwar:
1. Hyperemesis kommt bei Dissemination des Chorionepithelioma
malignum nicht vor, obwohl hier das Synzytialgewebe überall in
Metastasen zu finden ist, und es gerade da seine spezifische Wirkung,
Erbrechen hervorzurufen, entfalten sollte, wenn es eine solche besitzt.
2. Es ist allgemein bekannt, daß Erbrechen nach Absterben der
Frucht sistiert, wenn auch eine Fehlgeburt noch gar nicht im Gange
ist und das Synzytium noch seine Lebensfähigkeit bewahren konnte.
Dieser Weg der Deduktion führt also zur Behauptung, daß der
als »Hyperemesis gravidarum* oder ,,Vomitus gravidarum
perniciosus* bekannte Symptomenkomplex die Folge einer
Schwangerschaftsinfektion im Sinne Starzewskis ist oder,
anders gesagt, die Folge der Vergiftung der Mutter durch
Exkrete der Frucht. Ob sich das bei aktiver Mitbeteiligung der
Plazenta vollzieht, wie dies Czempin will, oder auch ohne diese,
bin ich nicht imstande zu entscheiden. Natürlich handelt es sich
hier nur speziell um eine Form der Hyperemesis, wo keine aus-
reichende Ursache zu finden ist, denn anderenfalls ist sie nur ein
Symptom* des bestehenden Leidens, d. h. nur eine Form, für die ich
den Namen Hyperemesis bis zu der Zeit, wo sie entsprechender benannt
wird, bewahrt habe. Jedenfalls auch diese ist nur ein Symptom
einer allgemeinen Toxämie, wo die Frucht als Agens gilt, eines patho-
logischen Zustandes, welcher bei vermehrter Toxizität der Frucht-
exkrete, oder verminderter Widerstandsfähigkeit der Mutter zustande
kommt. Diese Toxämie verursacht aber so zahlreiche pathologische
Veränderungen, daß man darin spezielle Gruppen als einzelne Krank-
heitsformen zu unterscheiden berechtigt ist. Als solche gilt nach
meiner Ansicht die Hyperemesisform, für die ich den Namen , Hyper-
emesis Vera* vorschlage, im Gegensatze zur ,,Hyperemesis
spuria"", die durch verschiedene Krankheiten verursacht sich nicht
als wissenschaftliche Einheit isolieren läßt, ähnlich wie z. B. die
Angina pectoris spuria.
Wenn meine Meinung auch wirklich wahr ist, so müssen die
konstatierten Symptome, nicht nur die klinischen, sondern auch die
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254 Adam Czyiewicz jun., [16
Sektionsbefunde ein Merkmal der Toxämie tragen, die doch ihre
Grundursache ist und dementsprechend möchte ich an diesem Platze
kurze Krankengeschichten von Fällen, die mir in der hiesigen k. k.
Hebammenschule zur Beobachtung kamen, anschließen.
1. Nr. 767, 1903/4. M. S., eine 27]ährige Hausmeistersehefrau aus Lemberg»
aufgenommen am 10. VIII. 1904. Eine NuUipara, die seit 22. V. 1904 amenorrhoiscb
war, und daraus auf bestehende Schwangerschaft schloß. Durch die ganze Zeit
litt Pat. an heftigem Erbrechen, welches zunächst ein paarmal des Tages, später gleich
nach jedem Bissen sich einstellte. Infolgedessen kam es zu Kräfteverfall und Ab-
magerung.
Die Untersuchung ergab eine hochgradige Abmagerung und Erbrechen tatsäch-
lich nach jedem verschluckten Bissen. Das Erbrochene bestand aus unverdauten,
eben genossenen Speisen und Flüssigkeiten, mit Magenschleim vermischt. — Der
vergrößerte Uterus, mit allen Zeichen einer etwa 3monatlichen Schwangerschaft,
reichte bis 3 Querfinger über die Symphyse. Gut beweglich war er vollkommen
frei von krankhaften Veränderungen. Ganz ähnlich auch die Adnexe. Im Bereich
der sensiblen Nerven keinerlei Veränderungen. Neurosen ausgeschlossen. Im Urin
eine Spur von Eiweiß.
Die Diagnose „Hyperemesis gravidarum**, war nach obigem Befunde sicher und
da keinerlei Erkrankungen irgendwelcher Organe einen Anhaltspunkt gaben, mußte
deren Ursache in einer Schwangerschaftsinfektion gesucht werden. Da keine
momentane Lebensgefahr drohte, habe ich beschlossen, das Leiden bei Erhaltung
der Schwangerschaft zu behandeln. Es wurde ausschließlich flüssige Diät gereicht,
vorwiegend Milch, dann nur eiskalte Geträiike in ganz kleinen Dosen, Mittel, welche
die Reizbarkeit des Magens (Kokain) oder die allgemeine (Brom) vermindern, Orexin
usw. Der Zustand blieb unverändert. \7ie früher trat Erbrechen nach jedem
Bissen und Schluck auf, die Kachexie vergrößerte sich immer mehr, der Puls
wurde immer schneller, obwohl gut gespannt, die Temperatur erreichte nur selten
37,20 C. Die Urinuntersuchung ergab weiterhin Eiweißspuren und nicht vermin-
derte Chlorsalze. Es wurde nun eine Ernährung per anum eingeleitet und gleich-
zeitig Kochsalzlösung-Eingießungen auf demselben \7ege gemacht. Mit dem Mo-
mente sistierte das Erbrechen, alle anderen Symptome blieben aber unverändert.
Die Urinuntersuchung ergab am 20. VIIL 1904 einen vermehrten Eiweißgehalt und
im Sedimente waren neben zahlreichen Blasen- und Nierenbeckenepithelien, ein-
zelnen körnigen Zylindern und Leukozyten, auch Kristalle von Leuzin und
Tyrosin und Fettsäurenadeln zu finden. In Angesicht dieses letzten Befundes
— da ich das Erscheinen von Leuzin, Tyrosin und Fettsäure im Harnsediment für
ein Signum mali ominis bei Hyperemesis halte — und der Tatsache, daß jede
Probe einer Ernährung per os Erbrechen von neuem hervorgerufen hat, wurde ein
Abort eingeleitet. Da eine dreimalige Tamponade der Cervix und des unteren
Uterussegmentes keine Geburtstätigkeit hervorzurufen imstande war und der allge-
meine Zustand sich schnell verschlimmerte, wurde am 24. VIIL 1904 der Halskanal
mit dem Bossischen Dilatatorium erweitert und das Fruchtei mit Abortzange und
Curette entfernt. Trotzdem und trotz reichlich angewandter Exzitantien kam die
Frau ad exitum etwa 24 Stunden nach der Fehlgeburt.
Die Autopsie ergab neben allgemeiner Anämie eine hochgradige fettige
Degeneration aller Organe. Am meisten ausgeprägt war sie in der Leber
und den Nieren, in etwas geringerem Grade im Herzmuskel und auf der inneren
Seite der Aorta. Im Genitalapparat war keine Veränderung, die man zur Deutung
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17] Hyperemesis gravidarum. 255
ier Hyperemesis auf reflektorischem Wege heranziehen könnte, zu finden, im Darm-:
traktus kaum eine leichte chronische Gastritis.
2. Nr. 505, 1905/6. A. M., eine 42jahrige Schullehrersfrau aus Rzeszow, am 10. IV.
1906 aufgenommen. Sie hat 4 mal spontan geboren, zuletzt vor 5 Jahren. Die
letzte Periode Anfang Januar 1906. Von nun an Erbrechen, ohne Unterschied, ob
Nahrung genommen war, oder nicht. Die Untersuchung ergab eine hochgradige
Kachexie, bei kleinem, frequenten Puls und normaler Temperatur und Urin. Die
schwangere Gebärmutter reichte 3 Querflnger unterhalb des Nabels, und war, wie
aoch die Adnexe, vollkommen frei von Veränderungen. Zeichen irgendwelcher
Neurose fehlten. Hartnäckiges Erbrechen gleich nach Einnahme irgendwelcher
Nahrung oder Getränk,
Angesichts der hochgradigen Kachexie wurde in diesem Falle von Anfang an
eise Ernährung per clysma eingeleitet und gleichzeitig Brom, anfangs per os, später
per anum gegeben. Nach 2 Tagen hat das Erbrechen aufgehört. Trotzdem ging
die Kachexie immer weiter, der schnelle, leicht zu unterdrückende und verän-
derliche Puls wurde immer kleiner, die Temperatur blieb dauernd unter 37^ C, im
Urin war nur ein normaler Befund zu konstatieren. Endlich erlag Pat. am 23. IV.
1906, 9 Uhr früh.
Der künstliche Abort wurde in diesem Falle nicht eingeleitet, weil das Er-
brechen au^ehört hatte und der schlechte Allgemeinzustand das nicht erlaubte.
Die Autopsie ergab eine hochgradige fettige Degeneration aller
Organe, vorwiegend des Herzmuskels und eine leichte ikterische Verfärbung.
Nebenbei eine Herzdilatation und allgemeine Anämie. Dazu nocli Gallensteine
ohne irgendwelche Komplikation. In der Gebärmutter eine 5 monatliche Schwanger-
schaft und sonst nichts, was zur Deutung der Hyperemesis auf reflektorischem
Vege herangezogen werden könpte. Eine bakteriologische Untersuchung der Milz
ergib negativen Befund.
3. Nr. 587, 1905/6, M. P., eine 21jährige Unterofflziersfrau aus Lemberg, auf-
poommen am 18. V. 1906. Eine Nullipara, die Ende Februar 1906 zum letzten
Male menstruiert hat. Seit dieser Zeit schwanger, litt sie an unaufhörlichem Er*
brechen. Die Untersuchung ergab eine schwach gebaute, sehr heruntergekommene
Person, ohne irgendwelche nervöse Erscheinungen, mit normaler Körpertemperatur
und sehr schwach gespanntem Puls 132. Die schwangere, sukkulente Gebärmutter
lag in Hyperanteflexion und reichte mit ihrem Grunde bis 2 Querfinger oberhalb der
Schamfuge. Sonst war sie sowohl wie die Adnexe frei von pathologischen Ver-
Inderungen. Im Urin 0,05% Eiweiß, Chlorsalze verschwunden, und im Sedimente
zahlreiche hyaline, körnige und mit Epithelzellen bedeckte Zylinder, Scheiden-,
Blasen- und Nierenbeckenepithelzellen nebst spärlichen Leukozyten. Außerdem
▼iel Kreatinin und ein nicht näher zu bestimmender, stark reduzierender Körper
(nicht Zucker). Erbrechen trat gleich nach jedem Schlucke von Nahrung oder
Trank auf.
Es wurde* gleich kalte Milch, \7ein und Brom per os gereicht, da sich aber der
Zustand nicht besserte, schon am nächsten Tage die Kranke per rectum ernährt
neben gleichzeitiger Verabfolgung von Klysmen mit einer physiologischen Koch-
ulzldsung. Trotzdem hörte das Erbrechen nicht auf und ein geringer Ikterus trat
•nf. Erst am 22. V. 1906 war der Vomitus zu Ende und in dem gesättigten Urin
traten Spuren von Chlorsalzen auf. Es schien als ob es der Kranken besser ginge,
nur bei Nacht warf sie sich im Bette herum und phantasierte. Am nächsten Tage
btt sie schon kalte Milch vertragen, verfiel aber am 24. V. 1906 abends in einen
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256 Adam Czyzewicz jun., [18
Kollaps, welcher nach einigen Stunden zum Tode ffihrte. Durch diese ganze Zeit
blieb die Temperatur unter 37°, und der Puls über 120.
Die Autopsie ergab eine parenchymatöse Degeneration des Herz-
muskels und eine fettige der Leber, derintima der Aorta, und der
Nieren, wo nebenbei oder vielleicht aus diesem Grunde schon eine subakute
Entzündung zustande gekommen war. Im Magen eine alte, chronische Gastritis,
im Uterus ein 3 monatliches Fruchtei und daneben, in der Höhe des inneren Mutter-
mundes ein etwa haselnußgroßes, gegen die Höhle wachsendes Fibrom, von alten
Blutgerinnseln umgeben. Sonst keine Veränderungen im Genitalapparat.
Ein Blick auf die Symptome und den Verlauf obiger Fälle be-
stätigt die klinische Diagnose: Hyperemesis gravidarum und der
Sektionsbefund aller, die eigentümliche Ähnlichkeit untereinander,
was die hochgradigen, parenchymatösen und fettigen Degenerationen
aller Organe anbetrifft. Solche Degenerationen sind meistens nach
Intoxikationen mit fertigen Giften oder Toxinen infektiöser Krank-
heiten zu finden, so daß in einem meiner Fälle von der Milz bak-
teriologische Kulturen, zwecks Konstatierung einer Infektion gemacht
wurden, im anderen Falle viel diskutiert war, ob nicht eine Phosphor-
vergiftung vorliegt. Dies ist um so wichtiger, da in diesen zwei
Fällen keine Veränderungen zu finden waren, die für das Entstehen des
Erbrechens verantwortlich gemacht werden könnten* Im dritten Falle
lag ein Fibrom in der Gegend des inneren Muttermundes vor, das
man als Ursache beschuldigen konnte. Da dies aber zur Klärung
der hochgradigen Degenerationen unzureichend ist und auch nicht
als Todesursache gelten kann, bleibt es höchstwahrscheinlich, daß
diesem Fibrom nur eine untergeordnete Bedeutung beikommt und
nach der Krankheitsursache wo anders zu forschen ist.
Es weisen also die obigen Fälle auf eine Vergiftung, mit der Sektion
bestätigt, und wenn man das früher Gesagte heranzieht, auf eine Ver-
giftung mit StoiFwechselprodukten des Kindes, d. i. auf eine Schwanger-
schaftsinfektion.
Ähnliche Sektionsbefunde sind auch mehrere bekannt. Seit der
Zeit, wo Lindemann einen publiziert und, theoretisch erwägend, die
Meinung aufgestellt hat, daß dieses Bild sehr einer Vergiftung ähnelt,
waren schon mehrere Fälle veröffentlicht, so von Duncan, Stone,
Eving, Williams zehn fremde und drei eigene Fälle und alle kon-
statieren Organdegenerationen in dem Grade, daß sie einen Verdacht
auf Vergiftung erwecken.
Das sagen Fälle, wo ein Forschen nach der Krankheitsursache auf
dem Wege der Autopsie möglich war. Die anderen Ansichten ba-
sieren ihre Beweise auf guten klinischen Erfolgen. Wer nicht iurare
in verba magistri will, sondern sich selbst zu überzeugen trachtet,
weiß gut, wie viel höher die erste Methode steht, und daß eigentlich
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19] Hyperemesis gravidarum. 257
nur sie allein zur Aufklärung der Krankheit und ihrer Ursache ge-
schaffen ist. Nur Sektionen können beweisen und diese sprechen
bei der Hyperemesis für eine Vergiftung, d. h. kommen zu derselben
Schlußfolgerung, zu welcher ich früher auf theoretischem Wege
gelangt.
Alles zusammenfassend komme ich zur Überzeugung, daß die
Hyperemesis vera als ein Komplex von, für eine Form der
Schwangerschaftsinfektion im Sinne Starzewskis charakteri-
stischen Symptomen, alle anderen Formen auf anderer Ursache
beruhend, d.i^dieHy per emesisspuria, als Symptomen komplex
verschiedener anderer mit der Schwangerschaft komplizierten
Krankheiten anzusehen sind. So eine Definition ist erst imstande, die
Hyperemesis zu einer einheitlichen Krankheitsform zu erheben, wovon
Dicht nur die Symptome und der Verlauf bekannt sind, wie dies bis jetzt
derFallwar,sondern welche auch eine einheitliche pathologische Anatomie
und Ätiologie besitzt, d. h. alles, was von einem kompletten Krank-
heitsbilde verlangt wird* Und wenn noch die folgenden Jahre einen
anderen, nicht mehr ein Symptom, nur das Meritum der Krankheit
bezeichnenden Namen bringen oder wenigstens einen, der nichts im
voraus sagt, erst dann wird mit dem Worte: Hyperemesis auch das
ganze Gewirr unserer Ansichten verschwinden und ein klares, voll-
kommenes Krankheitsbild hervorkommen.
Schon heute will ich versuchen, ein kurzes Bild dieses Leidens
zu entfalten, die früher besprochene Ätiologie, und die aus Sektions-
befunden bekannte und mit Veränderungen bei chronischer Vergiftung
identische pathologische Anatomie ausgenommen.
Symptome:
Bei Schwangeren, vorwiegend Primiparen, treten fast von Anfang
der Schwangerschaft, Nausea und Erbrechen auf, nüchtern oder in
einiger Zeit nach dem Essen. Nebenbei die mutmaßlichen Schwanger-
schaftszeichen, oft gesteigert, wie Appetitlosigkeit, Verlangen nach
früher nicht genossenen Speisen oder auch nach nicht genießbaren,
vorwiegend nach saueren Speisen, manchmal Speichelfluß, Depressions-
zustande, häufiges Urinieren, Anämie, Stuhlverhaltung usw. Das Er-
brechen wird immer öfter, kommt in immer kürzerem Zeiträume
nach dem Essen und Trinken, so daß endlich ein Zustand eintritt,
vo jeder Bissen oder Schluck Erbrechen hervorruft. Zunächst werden
genossene Speisen und Getränke, später Magenschleim, oft bei leerem
Magen mit Galle, oder sogar Blut vermengt, erbrochen. Gleichzeitig
ist eine rasche Abmagerung und ein Sinken des Körpergewichtes zu
konstatieren.
Sehr bald kommt es zu Erbrechen, ohne Rücksicht aufs Essen. Es
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258 Adam Czyzewicz jun., [20
tritt viele Male, bei Tag und N^cht, auf, sogar bei Kranken, die gar
nichts genießen, sogar bei solchen, die per rectum ernährt werden*
Zu seiner Hervorrufung reicht der Geruch von Speisen, oder sogar
ein Gedanke davon, aus. Ein peinlicher Durst kommt jetzt gewöhn-
lich vor, wenn auch der Hunger nicht die Kranke plagt. Die Zunge
findet man in diesem Stadium trocken, dicht belegt,, oft bilden sich
Zahnfleischgeschwüre und ein Obelriechen aus dem Munde. Neben-
bei Stuhlverhaltung und nicht getrübtes Bewußtsein. Zuletzt kommt
ein Kollaps, Ohnmächten, Delirien, vorwiegend bei Nacht, Halluzina-
tionen, Sopor und endlich auch der Tod. Das Erbrechen hört sub
finem auf.
Die Untersuchung ergibt durch die ganze Zeit der Krankheit fast
immer einen negativen Befund. Außer einer Schwangerschaft sind
keine Krankheiten der Genitalorgane zu konstatieren, auch keine im
Darmtraktus, keine Neurosen, keine Allgemeinkrankheiten. Erst am
Höhepunkte der Erkrankung kann man eine Vergrößerung der Leber
finden und ihren runden, weichen, schmerzhaften Rand palpieren,
manchmal eine Vergrößerung der Milz und endlich sub finem einen
leichten Ikterus. Dies alles sind Zeichen ' einer so vorgeschrittenen
Krankheit, daß schon hochgradige Organdegenerationen bestehen, die
aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr behoben werden können.
Der Temperaturverlauf sagt nichts. Gewöhnlich bleibt die Tem-
peratur unter 37 <> C, ausnahmsweise steigt sie um einige Zehntelgrad
höher oder fällt sub finem unter 36^ C herunter.
Der Puls wird gleich von Anfang an beschleunigt und kommt bald
auf 100—140. Er ist leicht veränderlich und zwar nicht nur nach
physischer Arbeit, sondern auch psychischen Reizen folgend. An-
fangs gut gespannt, wird er immer kleiner und weicher, bis zum faden-
förmigen.
Urin immer in geringer Menge, die der genossenen und erbroche-
nen Flüssigkeit entspricht. Oft wird nicht mehr als 200—300 cm in
24 Stunden abgesondert. Dementsprechend ist er auch saturiert, von
hohem spezifischen Gewichte, sauer, oft mit einem Satze von Uraten.
Seine chemische Zusammensetzung liefert nicht viel Wichtiges. An-
fangs eiweißfrei, später mit einer geringen Eiweißmenge, die immer
sich vermehrt. Chlorsalze bleiben lange Zeit unverändert, trotz Ver-
lust erheblicher Salzmengen durch Erbrechen. Eine Verminderung
oder gar ein Verschwinden von Chlorsalzen im Urin beweist eine
hochgradige allgemeine Kachexie. Indikan gewöhnlich vermehrt,
Zucker und Azeton abwesend, Kreatin und Kreatinin manchmal in
großen Mengen. Die Diazoreaktion wurde von Walzer konstatiert;
ich fand sie nie in meinen Fällen und fand auch in der Literatur
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21] Hyperemesis gravidarum. 259
keine weiteren Berichte darüber. Im Sediment findet man mit deni
Momente, wo chemisch Eiweiß zu konstatieren ist, auch hyaline, körnige
und mit Epithelien bedeckte Harnzylinder, die auf Degeneration der
Nieren weisen. Daneben gewöhnliche Bestandteile des Harnsedimentes.
Manchmal kommen Kristalle von Leuzin, Tyrosin und Fettsäurenadeln
vor, wovon ich bisher nirgends gelesen und was ich für ein sehr
schlimmes Zeichen hochgradiger Fettdegenerationen halte.
Die Diagnose basiert auF der Anamnese, der Feststellung von
Erbrechen gleich nach dem Essen und Trinken, oder auch ohne dem,
mehrmals täglich, und einer Konstatierung des Sinkens des Körper-
gewichtes. Nach meiner Meinung sind das die zwei wichtigsten
Symptome.
Es müssen ferner alle Erkrankungen des Intestinaltraktus, der Ge-
nitalorgane und alle Neurosen ausgeschlossen werden, d. i. alle Krank-
heiten, die Erbrechen direkt oder indirekt hervorrufen könnten. Nur
bei Kranken, wo als Ätiologie nur einzig und allein die Schwanger-
schaft beschuldigt werden kann, darf die Diagnose auf Hyperemesis
gravidarum vera, d. h. eine spezielle Form der Schwangerschafts-
infektion, gestellt werden.
Die Prognose ist mindestens sehr zweifelhaft, wenn nicht direkt
schlecht. In Publikationen, wo die Mortalität aller Fälle berechnet
vurde, wo also bei der großen Seltenheit der Hyperemesis vera min-
destens V4 nicht dazu gehören, findet man meist hohe Zahlen der
Sterblichkeit. Meine drei Fälle waren alle tödlich und ich glaube,
daß alle anderen, wo eine entsprechende Therapie nicht gleich von
Anfang an eingeleitet wurde, auch so enden werden. Das ist aber
am öftesten der Fall. Jedenfalls wird die Prognose eine schlechte,
wenn schon Zeichen von Degeneration der Leber, der Nieren und des
Herzens zu finden sind und eine sehr schlechte, wenn im Harnsedi-
mente Leuzin, Tyrosin und Fettsäuren erscheinen.
Therapie. Die angezeigte, ursächliche Therapie ist bis jetzt nicht
möglich, da nicht nur Antitoxine gegen das Schwangerschaftsgift un-
bekannt sind, sondern auch das Gift selbst. Vorläufig müssen nur die
allgemeinen Maßnahmen getrofi^en werden, wie bei jeder Vergiftung, es
muß also das Gift möglichst eliminiert oder wenigstens verdünnt und
die Tätigkeit der Ausscheidungsorgane gesteigert werden. Was das
erste anbetrifft, kann ich nicht viel auf Venäsektion rechnen, da dabei
zusammen mit dem Gifte auch das für so schwache Patienten kost-
bare Blut mit verloren geht. Ausnahmsweise kann sie aber auch in
Frage kommen. Dagegen sind das Blut verdünnende, subkutane oder
iatravenöse Infusionen physiologischer Kochsalzlösung oder auch
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260 Adam Czyzewicz jun., [22
Eingießungen durch den Darm sehr am Platze und können viel Gutes
leisten.
Zur Hebung der Tätigkeit aller Ausscheidungsorgane sind zahl-
reiche pharmazeutische Präparate angegeben, wovon nach individueller
Ansicht des behandelnden Arztes alle subkutan oder per anum ge-
reicht werden können. In den meisten Fällen bringt das aber keinen
Nutzen, wegen der frühzeitigen Degenerationen der Leber, Nieren usw.
Sehr wichtig ist die symptomatische Behandlung, weil sie Zeit zu
gewinnen erlaubt und die Patientin bis zu dem Momente erhalten
kann, wo sie entweder Fähig sein wird, genügend Antitoxin zu pro-
duzieren, oder auch, wo die Schwangerschaftsinfektion von selbst er-
lahmt. Das wichtigste ist hier eine entsprechende Diät bei ganz
ruhiger Lagerung auf dem Rücken. Am besten vertragen die Kran-
ken kalte Flüssigkeiten, oft und in kleinen Dosen gereicht, und zwar
am liebsten kalte, süße Milch. In anderen Fällen wird ausgezeichnet
kalte Limonade, Kognak, Wein oder Champagner vertragen. Ich sah
einmal einen momentanen, obwohl vorübergehenden, Effekt, nach
löiFelweiser Darreichung einer Mischung von ausgestandenem Soda-
wasser mit saurem Wein. Nachhelfen kann man mit pharmazeutischen
Präparaten wie Tra. amara, Tra. Chinae, Tra. nucis vomicae, Kokain
in Tropfen usw., oder durch Einführung größerer Bromdosen per
rectum. Ich wiederhole aber ausdrücklich, daß ich alle diese Mittel
nicht als Heilmittel ansehe, sondern als Präparate, welche die Reiz-
barkeit des Magens oder die allgemeine vermindern, ohne auf die,
als Grundursache bestehende, Schwangerschaftsinfektion einen Ein-
fluß zu haben.
Es bleibt nur noch die Frage einer künstlichen Unterbrechung der
Schwangerschaft zu besprechen. In der Überzeugung, daß die Hyper-
emesis Folge einer Vergiftung der Mutter durch Stoffwechselprodukte
der Frucht ist, muß ich den künstlichen Abort als Regel aufstellen,
weil es schwer anzunehmen wäre, daß entweder das Ei, welches so
viel Gift produziert, daß dies eine schwere Erkrankung der Mutter
hervorruft, diese Produktion einstellen könnte, oder daß die Patientin
die nötige Menge von Antitoxinen bei ihrer Erschöpfung bilden
könnte, wenn sie dies früher bei noch guten Kräften nicht imstande
war. Dieser Behandlung steht aber die Tatsache im Wege, daß wir ge*
genwärtig nicht gleich die Hyperemesis vom physiologischen Erbrechen
Schwangerer zu unterscheiden wissen, erst wenn das Leiden voll-
kommen ausgebildet ist. Und auch jetzt muß noch etwas Zeit ver-
loren gehen, um zu erfahren, ob das Erbrechen nicht Folge einer
Magen- oder Darmkrankheit, einer Neurose usw. ist, und um eine
Reihe empirischer Mittel durchzuprobieren, da wir bei heutigem Stande
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23] Hyperemesis gravidArum. 261
der Wissenschaft noch nicht positiv die Schwangerschaftsinfektion
beweisen können. Gewöhnlich klären das Leiden erst Zeichen von
Organdegenerationen, wie Vergrößerung der Leber, Ikterus, Eiweiß
und Zylinder im Urin, Herzschwäche usw. auf, leider schon zu spät.
Ein Abort in diesem Stadium ist fast immer nutzlos, weil die De-
generationen wichtiger Organe schon selbst auch zum Tode fähren.
Die Sache verhält sich um so schlimmer, als die Frauen an Schwanger-
scliaftserbrechen so gewöhnt sind, daß sie viel zu spät sich melden,
wo eigentlich schon gar nichts mehr zu tun ist.
Wenn ich nun zum Schlüsse meine Therapie der Hyperemesis,
vie ich sie in der Praxis durchführe, angeben wollte, so möchte ich
folgendes Schema aufstellen: Wenn irgendwelche Krankheiten ver-
schiedener Organe, welche Symptome einer Hyperemesis spuria her-
vorrufen können, vorliegen, so müssen zunächst diese möglichst bald
zum Schwinden gebracht werden, z. B. Erosionen durch Ausbrennen
oder mit Tra. jodi fortior, Retroflexion durch Heben der Gebär-
mutter und deren Fixieren mit einem Pessar, Neurosen durch große
Bromdosen usw. und gleichzeitig sehr strenge Diät, eventuell auch
Ernährung per clysma verordnet werden. Hilft dies in kurzer Zeit nicht,
oder sind keine Krankheiten im Körper zu finden, die eine Hyperemesis
Ycra wahrscheinlich machen, so ist gleich eine Ernährung per rectum am
Platze mit gleichzeitigen Eingießungen physiologischer Kochsalzlösung
oder subkutanen Infusionen, und wenn dies ohne Erfolg und es die
Kräfte der Patientin erlauben, ein künstlicher, möglichst rascher Abort.
Es ist dies das letzte Mittel, das aber bei schon bestehenden Degene-
rationen auch sehr problematisch wirkt. Als ärgstes Zeichen betrachte
ich die Konstatierung von Leuzin, Tyrosin und Fettsäuren im Urin-
sediment, weil dies für hochgradige Verfettung der Organe, wie bei
Atrophia hepatis flava spricht.
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262 Adam Czyzewicz jun., [24
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Zweifel, Zentralbl. f. Gyn. 1900, Nr. 30.
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486.
(Chirurgie Nr. 141.)
Ergebnisse funktioneller Magenuntersuchungen
belGastroenterostomierten hinsichtlich der Früh-
und Spätresultate').
Von
Stabsarzt Dr. Neuhaus^
Berlin.
Die Fragen, ob nach einer Gastroenterostomie Galle allein oder zu- /
sammen mit Pankreassaft im Magen vorkommt, ob dieses Vorkommen \
ein dauerndes oder .nur zeitweiliges ist, ob und in welchen Quanti-
täten die beiden Drüsensekrete im Magen vertragen werden, beant- '
Worten nicht alle Autoren in gleichem Sinne.
Wir haben deshalb an unserem ziemlich reichlichen Gastroentero-
stomie^Material versucht, einen Beitrag zur Klärung dieser Fragen
zu liefern, und einen Teil der gastroenterostomierten Patienten nach-
untersucht. Dabei kam es uns vor allem darauf an, nicht nur kurze
Zeh nach Anlegung der Gastroenterostomie eine funktionelle Magen-
prufung vorzunehmen, sondern gerade diejenigen Fälle erweckten unser
besonderes Interesse, bei denen die Operation schon längere Zeit zu- |
rficklag. Daraus ergibt sich von selbst, daß wir unsere Untersuchungen
mit wenigen Ausnahmen nur an solchen Patienten ausgeführt haben,
▼eiche wegen gutartiger Leiden gastroenterostomiert worden sind,
bfolge der enormen Fluktuation des Gros der Berliner Bevölkerung
ist es leider nicht immer gelungen, der früheren Patienten wieder
liabhaft zu werden; zum Teil bekamen wir auch von ihnen die Er^
Uarung, daO sie sich seit der Operation völlig wohl fühlten und des-
halb keinen Grund hätten, eine funktionelle Magenuntersuchung vor-
nehmen zu lassen; sie scheuten sich eben vor der Einführung des
Magenschlauches.
Wir haben infolgedessen von unserem reichen Gastroenterostomie-
1) Aus der chirurgischen Universitätsklinik der Königl. Charit^ zu Berlin
Direktor: Geheimrat Professor Dr. O. Hildebrand.
Klin. Vortrige, N. F. Nr. 486. (Chirurgie Nr. 141.) Mii 1906. 25
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336 Dr. Neuhaus, [2
' Material nur 17 Fälle nachuntersuchen können. 15 von diesen hatten
/ ein benignes Magenleiden; in 2 Fällen bestand ein Carcinoma ven-
triculi. Der Zeitraum, welcher bei den einzelnen Patienten vom Tage
der Anlegung der Gastroenterostomie ab bis zur Nachuntersuchung
/ verstrichen war, differiert sehr. Das Maximum betrug 5 Jahre, das
Minimum 3 Wochen. Entweder ist die Gastroenterostomia antecolica
anterior mit Suspension der zuführenden Schlinge ausgeführt, oder
eine Braunsche Enteroanastomose der Gastroenterostomie ohne Sus-
pension hinzugefügt worden.
Um Wiederholungen zu vermeiden, und um eine Beurteilung und
etwaige Nachprüfung der in den nachfolgenden Tabellen aufgeführten
Ergebnisse zu ermöglichen, geben wir zunächst einige Erläuterungen,
in welcher Weise bei den Untersuchungen verfahren worden ist.
Wir haben zwei Arten von Probemablzeiten gegeben; die eine entspricht etwa der
von Sahli angegebenen und enthält sehr viel Fett: 500 g Butter, 250 g Mehl, 300 g
Wasser und etwas Salz wurden auf dem Herdfeuer miteinander vermengt und ge-
kocht, so daß eine dünnflüssige, graubraune Suppe daraus entstand. Von dieser sehr
fettreichen Suppe wurden etwa 400 ccm verabreicht; die andere Probemahlzeit ent-
sprach der nach Ewald benannten: 1 Becher Tee, ca. 350 ccm, und 1 Schrippe.
Die Probemahlzeit wurde entweder morgens gegen 8V2 Uhr nüchtern gegeben,
nachdem am Abend vorher bei der Abendmahlzeit gegen 6 Uhr etwa 10—12 Back-
pflaumen gereicht worden waren. Zeigten sich nun morgens beim Aushebern, was
ca. 1^/2 Stunden nach der Probemahlzeit geschah, noch Reste von den Pflaumen, so
wurde das Ergebnis dieser Probemahlzeit nicht verwertet, sondern an einem an-
deren Tage nochmals eine Probemahlzeit gereicht, aber nunmehr vorher der Magen
ausgewaschen. Wir sind uns sehr wohl bewußt, daß eine absolut sichere Kontrolle,
ob der Magen leer ist, lediglich dadurch geleistet werden kann, daß mit dem Magen-
schlauch ausgehebert und ausgewaschen wird. Da es uns aber im wesentlichen
auf den Nachweis von Galle und Pankreassaft im Magen überhaupt ankam, und
nicht auf eine ganz genaue Untersuchung des Magensaftes, so haben wir uns im
Gebrauch der immerhin nicht angenehmen Schlundsonde im Interesse der Unter-
suchten auf das allemötigste beschränkt. Übrigens kann man wohl mit Recht für
die meisten Fälle annehmen, daß der Magen leer ist, wenn man morgens von den
abends vorher verabreichten Backpflaumen beim Aushebern nichts mehr findet, da
erfahrungsgemäß Backpflaumen relativ schwer den Pylorus passieren. Für unsere
Zwecke genügte die eingeschlagene Methode völlig; zum einwandsfrelen Studium
der Magensaftsekretion dürfte allerdings wohl eine Auswaschung des Magens vor
dem Probefrühstück unerläßlich sein.
Zur Bestimmung der Motilität des Magens haben wir das von Matthieu an-
gegebene Verfahren zu Hilfe genommen. Es besteht das bekanntlich darin, daß
man nach dem Aushebern dem Patienten durch den Magenschlauch gleich noch-
mals 300 ccm Wasser in den Magen bringt, das Wasser im Magen möglichst ver-
teilt und dann exprimieren läßt. Dann wird der Grad der Gesamtazidität sowohl
des unverdünnten, wie des mit 300 ccm Wasser verdünnten Mageninhalts in der
üblichen Weise mit ^/lo Normalnatronlauge unter Anwendung von Phenolphtalein
300 b
als Indikator bestimmt; darauf wird nach der Formel x » '-z-- der im Magen
a — p
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3] Ergebnisse funktioneller Magenuntersuchungen usw. 337
verbliebene und durch Aushebern nicht gewonnene Rest der Probemahlzeit be>
rechnet, wobei a den Aziditfitsgrad des unverdünnten, b den des mit 300 ccm Wasser
verdünnten Mageninhaltes bedeutet. Die Matthieusche Formel ist allerdings be-
mgWeh ihrer absoluten Zuverlässigkeit angegriffen worden. Jedenfalls gibt sie die
Möglichkeit einer annfihernden Bestimmung des im Magen verbliebenen Restes der
Probemahlzeit und ermöglicht somit einigermaßen die Beurteilung der Magenfunk-
tion hinsichtlich der Motilität. Man kennt dann nfimlich die Menge — in Kubik-
zentimetern ausgedrückt — der durch Aushebern direkt zurückgewonnenen Probe-
mahlzeit und, nach der Matthieuschen Formel berechnet, auch den Rest — eben-
falls in Kubikzentimetern ausgedrückt — der nicht durch Aushebern zurückge-
wonnenen, aber noch im Magen vorhandenen Probemahlzeit. Beide Zahlen addiert
man und zieht ihre Summen von der ebenfalls bekannten Menge der gereichten
Probemahlzeit ab; die sich ergebende Zahl muß die Menge der in den Darm be-
förderten Probemahlzeit angeben.
Zum Nachweis des Pepsins und seiner Wirkung haben wir uns 'des Mett-
schen Verfahrens bedient. Dünne Glasröhrchen von 1 — 2 mm Dicke wurden mit
tössigem Hühnereiweiß durch Ansaugen möglichst gleichmäßig unter Vermeidung
von Luftblasen gefüllt; in siedendem Wasser wurde das Eiweiß zum Gerinnen ge-
bracht. Kleine Stücke von diesem mit Eiweiß gefüllten Röhrchen wurden dann in
der attf Pepsin zu untersuchenden Flüssigkeit in den Brutschrank (370) gestellt;
nach 24 Stunden konnte man an den Röhrchen die Menge des verdauten Eiweiß
ablesen. Wir haben fast immer 2 Schälchen mit Mageninhalt zur Untersuchung auf
Pepsin angesetzt, eins ohne Salzsäurezusatz, eins mit einem Zusatz von Salzsäure,
ond zwar so viel, daß Congo deutlich positive Reaktion gab.
Mit Hilfe des von P. BergelP) aus der Seidenraupe dargestellten Seidenpeptons
varen vir in der Lage, in sehr exakter Weise den Mageninhalt auf Pankreassaft zu
nmersuchen. Die Methode hat sich uns als äußerst scharf und brauchbar erwiesen;
sie hat mit absoluter Eindeutigkeit den Nachweis von Pankreassaft führen lassen, wo
die sonst bekannten Verdauungsproben ein keineswegs sicheres und zweifelsfreies
Resultat ergeben haben. Wir haben nämlich^ als wir unsere Untersuchungen anfingen,
neben der Probe mit Seidenpepton regelmäßig auch eine Probe mit Blutfibrin angesetzt.
Dabei hat sich jiach unseren Erfahrungen die Oberlegenheit der Bergellschen
Seidenpeptonprobe, was Exaktheit und Sicherheit in der Beurteilung anbetrifft, ein-
vandsfrei ergeben. Bergeil hat nämlich gefunden, daß das im Pankreassaft vorhan-
denes Trypsin, das Eiweiß verdauende Ferment des Pankreassaftes, mit dem Seiden-
pepton in alkalischer Lösung, am besten bei Brutschranktemperatur, Tyrosin bildet.
Venn man also zu einer auf Pankreassaft zu untersuchenden Flüssigkeit Seiden-
pepton zusetzt — etwa 5 ccm Untersuch ungffüssigkeit und 0,5 g Seidenpepton --
nod die Mischung nach Alkalisierung mit Ammoniak oder Natron bicarb. für
24—36 Stunden einer Temperatur von 37 0 C aussetzt, so ist beim Nachweis von
Tyrosinkristallen der Beweis geliefert, daß die zu untersuchende Flüssigkeit Trypsin,
tlso Pankreassaft, enthält. Gewöhnlich haben wir die Kristalle schon nach 12—16
Standen nachweisen können. Mit dem im Magensaft vorhandenen, Eiweiß ver-
danenden Fermente bildet das Seidenpepton kein Tyrosin, auch dann nicht, wenn
man den Magensaft stark alkalisch macht. Wir haben bei 15 Patienten , die nicht
1) Herr Professor Berge 11 war so liebenswürdig, mir eine Portion des von
ihm dargestellten, im Handel schwer erhältlichen Fibrinseidenpeptons für diese Ver-
suche zur Verfügung zu stellen, wofür ich auch an dieser Stelle nochmals bestens
danke.
25*
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338 Dr. Neuhaus, * [4
wegen eines Magenleidens, sondern aus Irgendeinem anderen Grunde sich auf der
Klinik in Behandlung befanden, daraufhin Versuche angestellt, ohne jemals die Bildung
der Tyrosinkristalle feststellen zu können. Die Untersuchung auf Tyrosinkrisulle
geschieht ohne Mühe mit Hilfe des Mikroskops. Man bringt einige Platinösen von
dem Filtrat des in vorstehender Weise behandelten Mageninhalts auf einen Objekt-
träger unter das Mikroskop und sieht meist auf den ersten Blick in sehr schöner,
absolut einwandsft*eier Weise die Tyrosinkristalle in ihrer typischen Form, deut-
licher wie sie in irgendeinem Lehrbuch abgebildet sind. Am leichtesten waren
sie meist am Rande des Deckglases zu finden. Es sind feine Nadeln, die einen
gelblichen Schimmer haben; dieser tritt am deutlichsten in Erscheinung, wenn die
Nadeln dicht beieinander liegen; dann sind sie in Büschel- oder Doppelbüschelform
angeordnet; oft bilden sich auch Rosetten. Um uns vor Verwechselung mit Fett-
säurenadeln zu schützen, ein Einwand, der ja in Anbetracht der reichlich Fett ent-
haltenden Sahlischen Probesuppe gemacht werden könnte, haben wir, wenn irgend-
welche Zweifel auftauchten, durch Zusatz von Reagenzien die Sachlage geklärt.
Tyrosin ist in heißem Wasser, Ammoniak und verdünnter Salz« oder Salpetersäure
leicht löslich, unlöslich in Äther und Alkohol; Fettsäurenadeln werden aber durch
Äther und erwärmten Alkohol aufgelöst, während Säuren sie nicht angreifen.
Der Nachweis von Galle war gewöhnlich schon aus dem bloßen Anblick des
Ausgeheberten zu stellen, wir haben aber immer mittels der Gmellnschen Probe
auf Oallenfarbstoffe eine genauere Kontrolle ausgeübt.
Wir lassen nun» in Gruppen angeordnet, Obersicbtstabellen von den
Ergebnissen unserer Untersuchungen folgen.
Die Gruppe A umfaßt 7 Patienten, bei denen eine Gastro-
enterostomia anterior antecolica gemacht worden ist. Der Zeitraum
zwischen der Anlegung der Magendarmfistel und der funktionellen
Magenuntersuchung variiert zwischen 5 Jahren und 1 V2 Monaten. Wenn
wir zunächst einen Blick auf die in der Tabelle stark umrahmten
Spalten 8 und 9 werfen, welche das Untersuchungsergebnis über Bei-
mengung von Galle und Pankreassaft zum Mageninhalt enthalten, so
finden wir, daß sich bei diesen sämtlichen 7 Fällen Galle und auch
Pankreassaft im ausgeheberten Mageninhalt hat nachweisen lassen.
Wenn wir sagen »Pankreassaft", so ist das in gewissem Sinne nicht
ganz exakt ausgedrückt, indem es richtiger Trypsin heißen müOte«
Da aber das Trypsin einen wesentlichen, integrierenden Bestandteil
des Pankreassaftes ausmacht, so dürfte mit dem Nachweis von Trypsin
der Beweis für die Anwesenheit von Pankreassaft überhaupt als ge-
liefert zu erachten sein. Bei den meisten dieser Patienten haben wir
die Magenuntersuchung zweimal vorgenommen; es hat sich nie eine
Differenz zwischen den beiden Untersuchungen hinsichtlich der Bei-
mengung von Galle und Trypsin ergeben.
Ganz anders gestaltet sich das Untersuchungsresultat bei den unter
Gruppe B untergebrachten 4 Patienten, bei denen auch eine einfache
Gastroenterostomia anterior anticolica angelegt worden ist.
Wir sehen hier in den beiden stark umrahmten Spalten, welche
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5] Ergebnisse funktioneller Magenuntersuchungen usw. 330
den Befund über Galle und Trypsin im Mageninhalt enthalten, immer '
einen negativen Ausfall der Untersuchung verzeichnet; auch hier isti
mit einer Ausnahme in jedem Falle zweimal untersucht worden; ein
Unterschied zwischen den beiden Untersuchungen ist niemals vor-
handen gewesen. Der Zeitraum zwischen Anlegung der Magendarm-
fistel und der Nachuntersuchung schwankt zwischen 2 Jahren 3 Monaten
und 1 Jahr 4 Monaten.
Die dann folgende Gruppe C weicht hinsichtlich der Operation
etwas von den beiden anderen ab; während bei Gruppe A und B nur
eine einfache Gastroenterostomia anterior antecolica angelegt worden
ist, haben wir bei den unter dieser Gruppe verzeichneten Fällen eine
Braunsche Enteroanastomose hinzugefügt«
Betrachten wir zunächst den III. und IV. Fall auf Tabelle C.
Beide haben in der Rubrik 8 und 9 ein positives Ergebnis zu ver-
zeichnen; bei beiden ist also Galle und Pankreassaft im Magen nach-
weisbar gewesen. Wir möchten aber hervorheben, daß die Unter-
suchung relativ kurze Zeit nach der Operation vorgenommen worden
ist (3 Wochen und IV2 Monate post op.). Bei dem Fall II ist in Ab-
ständen von einem oder zwei Monaten im ganzen fünfmal untersucht
vorden; die erste Untersuchung fand einen Monat, die letzte acht
Monate nach der Operation statt. Während nun bei den ersten vier
Untersuchungen immer Galle und Trypsin im Mageninhalt nachweis-
bar waren, fehlte beides bei der letzten , acht Monate nach der
Operation vorgenommenen Untersuchung. Beachtenswert ist auch
bei Fall II die Rubrik 7; bei den ersten vier Untersuchungen fehlte
stets freie Salzsäure, bei der fünften dagegen, wo Galle und Trypsin
nicht nachweisbar waren, fand sich freie Salzsäure. Bei Fall I hat
die Untersuchung alle vier Male keine Galle und kein Trypsin er-
geben; die erste Untersuchung wurde drei Monate post op. ausge-
führt
In der letzten Gruppe D sind zwei Fälle untergebracht, bei denen
der Pylorus völlig geschlossen ist; die einzige Verbindung zwischen
Magen und Darm besteht also an der Gastroenterostomie-Stelle.
Bei dem Fall I handelte es sich um eine ausgedehnte Ätzstriktur
am Pylorus. Die Patientin hatte ein Conamen suicidii mit roher
Salzsäure begangen; sie hatte sich den Ösophagus und auch den
Magen ganz erheblich verätzt. Während sie bei uns wegen ihres
Ösophagus auf der Klinik behandelt wurde, entwickelte sich unter
unseren Augen der völlige Verschluß des Pylorus. Der Magen nahm
eine enorme Dilatation an; er stand schließlich mit seiner großen
Kurvatur an der Symphyse und war wie eine große, die ganze Bauch-
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340
Dr. Neuhaus,
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Gruppe
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3
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Farbe und
untersacht?
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5 Jahre
vor Relapa-
grünlich
wegen chronischer Magenbeschwerden
post op.
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ranzig
mit Stauungszuständen GE. ant. antecol.
Dezember
mit Murphyknopf.
1907
Dezember 07 auf der Klinik.
Sahli
Relaparotomie wegen Ektasie des Ma-
nach Relapa-
grünlich
gens. Stauungsbeschwerden. Murphy-
rotomie
ranzig
knopf im Magen. Anastomosenöffnung
Februar
für kleinen Finger nicht durchgängig.
1908
Knopf entfernt.
Sahli
IL Arbeiter G. Traumatische Pylorus-
2 Jahre
16. XII. 07
grünlich
stenose; dauernd Erbrechen, Ektasie des
9 Monate
Sahli
ranzig
Magens ziemlich stark.
post op.
5. IV. 07 GE. ant. antecol.
III. Frau S. Wegen Dilatatio ventriculi
2 Jahre
8. VIL 07
grünlich
mit Stauungsbeschwerden am 15. I. 06
post op.
Sahli
ranzig
GE. ant. antecol.
17. I. 08
• grünlich
Sahli
ranzig
IV. Frau R. Dilatatio ventriculi mit chro-
2 Jahre
15. I. 08
grünlich
nischen Magenbeschwerden (Erbrechen).
post op.
Sahli
ranzig
19.1. 06 GE. ant. antecol.
10. II. 08
grünlich
Sahli
ranzig
V. Frau Gl. Sanduhrmagen und Dilatatio
3 Monate
15. VII. 07
grünlich
ventriculi, chronische Magenbeschwerden
post op.
Sahli
ranzig
auf dem Boden eines Ulcus.
17. VII. 07
grün-
12. IV. 07 GE. ant. antecol.
Ewald
bräunlich
sauer
VI. Frl. H. Gare, pylori.
IV2 Monate
4. IX. 07
grünlich
20. VII. 07 GE. ant. antecol.
post op.
Sahli
ranzig
Zur Resektion ungeeignet.
VII. Frau G. Gare, pylori; zur Resektion
IV2 Monate
15. XII. 07
grünlich
ungeeignet, deshalb GE. ant. antecol.
post op.
Sahli
ranzig
am 3. X. 07.
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7J
A.
Ergebnisse funktioneller Magenuntersucbungen usw.
341
4
Moiilitit des
Maiou
5
Reaktion
mitUcicmas
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Gesamt-
azlditit
7
Freie
HCl
8
Gmelinache
Probe
9
Trypsin-
nachweis
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Zusatz
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Zusatz
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gut
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schlecht
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10
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geprüft
sauer
schlecht
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sauer
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342
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11] Ergebnisse funktioneller Magenuntersuchungen usw. 345
höhle ausfüllende, ziemlich prall gespannte Zyste durch die dünnen
Bauchdecken palpabel. Bei der Operation zeigte sich^ daß der Pylorus
völlig undurchgängig war. Die Magenwand selbst war sehr verändert;
sie war enorm brüchig; die Fäden schnitten bei der Naht sehr leicht
durch; die Serosa zeigte entzündliche Veränderungen; sie war verdickt
und spiegelte nicht wie es normalerweise sein muß. Es wurde in diesem
Falle eine besonders große Anastomosenöffnung angelegt. In dem IL Fall
ist der Pylorus wegen Karzinoms reseziert worden. Die Resektions-
stelle wurde völlig geschlossen und eine Gastrojejunostomie angelegt^
also nach Billroth II operiert. Die einzige Passage zwischen Magen
und Darm bestand also wiederum nur an der Anastomosenöffnung.
Bei beiden Patienten hat die funktionelle Magenuntersuchung dauernd
Galle und Trypsin im Mageninhalt ergeben. Die Untersuchungen
sind nicht etwa gleich nach der Operation vorgenommen worden, son-
dern haben bis zu 9 Monaten nach dem operativen Eingriff statt-
gefunden.
Was lehren uns nun unsere Untersuchungsergebnisse?
Wir haben bei unseren Fällen in den ersten Wochen und Monaten]
nach der Gastroenterostomie stets Galle und Pankreassaft — wenn^'
vir den Nachweis des Trypsins für identisch mit dem Nachweis des!
Panh*eassaftes ansehen — im Magen gefunden ^ das heißt bei der!
Gastrojejunostomia anterior antecolica mit und ohne Anastomose!
Brauns. Hinsichtlich der Gastrojejunostomia retrocolica posterior stehen
uns eigene Erfahrungen nicht zur Seite, da wir diese Methode nur
selten üben; es ist aber nicht einzusehen, warum die Verhältnisse bei-
dieser Methode anders liegen sollten als bei der anterior. Auch über
die sogenannten Y-Methoden haben wir keine eigenen Erfahrungen.
Wir machen für gewöhnlich weder die vonRoux^) besonders geübte
Gastrojejunostomia ypsiliformis retrocolica posterior, noch die von
Rotgans ^ vor einiger Zeit wieder empfohlene Gastrojejunostomia
ypsiliformis antecolica anterior, eine Operation, welche übrigens schon
1883 von Wölfler^, allerdings nur an Hunden, ausprobiert und für
bestimmte Fälle angegeben worden ist. Die Doyen sehe Methode^)
der Gastroenterostomie, welche darin besteht, daß in einer Sitzung
eine Magenjejunumfistel, eine Enteroanastomose zwischen zu- und ab-
führendem Schenkel und schließlich noch eine Resektion der zuführen*
1) Kocher^ Chirurg. Operationslehre. 1907. S. 859.
2) Rotgans, Gastroenterostomia ypsiliformis antecolica anterior. Wien. klin.
Randschau 1904 und Nederl. Tijdschrift vor Genesk. 1902, I, no. 23. Ref. ZentralbL
1902, S. 1100.
3) Wölfler, Vortrag auf dem Chirurgenkongrei^ 1883.
4) Doyen, Revue de Chirurgie 1897, p. 1030.
26»
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346 I^i*. Neuhaus, [12
den Darmschlinge gemacht wird, schaffe dieselben ZirkulationsverhälN
nisse für den Darminhalt wie die Y-Methoden und dürfte infolgedessen,
was das Einfließen von Galle und Panl^reassaft in den Magen anbetriift,
denselben Effekt haben wie die Y-Methoden. Wegen ihrer Kompliziert^
heit und der zeitraubenden Resektion des zuführenden Schenkels ist
sie aber nicht zu empfehlen. Bei der Gastroduodenostomia wird sich
ebenfalls kein Darmsaft im Mageninhalt finden lassen, es sei denn, daß
Doyen mit seiner Behauptung, daß der Duodenalsaft auch rückläufig
in den Magen fiießen kann, recht hat.
Daß bei den Y-Methoden das Einfiießen von Galle und Pankreas-
saft in den Magen fortfällt, ist durchaus plausibel. Wenn sich, wie
in einem von Kaiser^) mitgeteilten Falle, dabei doch Galle im Magen-
inhalt finden sollte, so ist das nicht anders zu erklären, als daß durch
antiperistaltische Bewegungen des Darmes sein Inhalt in den Magen
getrieben wird. Für gewöhnlich bilden die Y-Methoden ein Hindernis
für das Einfiießen von Darminhalt in den Magen. Das beweisen auch
die in der Literatur niedergelegten klinischen Beobachtungen. Sehr
instruktiv ist in dieser Hinsicht die Leidensgeschichte eines fünfmal
laparotomierten Kollegen, welche TaveP) mitteilt Im November 1896
wurde von Sick bei dem Herrn wegen Hyperchlorhydrie zunächst
eine Gastroenterostomia antecolica isoperistaltica nach Kocher an der
großen Kurvatur in der Pars pylorica angelegt. Sehr bald stellten sich
Erscheinungen ein, welche auf ein mangelhaftes Funktionieren der
Magenfistel schließen ließen. Es bestand Anorexie, dauernd fader,
pappiger Geschmack, Aufstoßen und Übelkeiten. Es wurde deshalb
im Januar 1897 von Mikulicz konsultiert, welcher relaparotomierte
und zur Beseitigung der beschriebenen Beschwerden eineBraunsche
Anastomose anlegte; nebenbei machte er eine Gastroenterostomoplastik,
da die Magendarmfistel nur noch bleistiftdick war. Es trat jedoch da-
nach keine Besserung des Zustandes ein.
Kausch^) erwähnt übrigens diesen Patienten in seiner Arbeit aus
der Mikuliczschen Klinik als Beweis für die allerdings nur selten,,
aber doch mitunter vorkommenden Fälle, in denen das Einfließen von
Galle in den Magen schwere Schädigungen mit sich bringt, und in
denen es auch durch weitere Eingriffe nicht gelingt, den Gallenfluß
in den Magen zu beseitigen.
Die anfängliche Besserung nach der von v. Mikulicz vorgenom-
1) O. Kaiser, Ober die Erfolge der Gastroenterostomie. Deutsch. Zeitschr.
für Chirurgie Bd. 61.
2) Tavel, Le reflux dans la gastroent6rostomie. Revue de Chirurg. 1901, no. 12.
3) Kau seh, Ober funktionelle Ergebnisse nach Operationen am Magen. Mit«
teilungen aus den Grenzgebieten der Medizin und Chirurgie. 4. Bd. 1899.
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13] Ergebnisse funktioneller Magenuntersuchungen usw. 347
menen Operation hielt nämlich nur kurze Zeit an, so daß im Juni 1897
Kocher wegen der genannten Beschwerden zu Rate gezogen wurde.
Es wurde wiederum die Abdominalhöhle geöffnet. Man fand die zu-
fuhrende Schlinge, welche unter ziemlich spitzem Winkel in den Magen
einmündet, als etwas zu kurz; ihr Mesenterium komprimierte das Colon
transversum. Infolgedessen wurde das Mesenterium der zuführenden
Schiinge gedehnt und eine Fältelung und Einengung der letzteren nach
y. Hacker vorgenommen, um auf diese Weise das Einfließen von
Darmsaft in den Magen zu erschweren. Die Besserung der alten Be-
schwerden war nur sehr gering, so daß schon zwei Monate später
zum vierten Male zur Laparotomie geschritten werden mußte. Dieses
Mal trennte Tavel den Pylorus von dem Duodenum, und als hiernach
noch immer keine Beseitigung der geschilderten Magenbeschwerden
eintrat, resezierte Tavel in einer fünften Sitzung die zuführende Je-
juDumschlinge. Nunmehr verschwanden die Beschwerden endgültig,
nachdem also ein Zustand geschaffen war, welcher dem nach einer
Doyenschen Gastroenterostomie entspricht.
Wenn wir uns nun weiter in der Literatur bezüglich des Vor-
kommens von Galle und Pankreassaft im Magen nach Gastroenterosto-
mien umsehen, so finden wir ein nicht unbeträchtliches Variieren in
den diesbezüglichen Mitteilungen. Obalinski und Jaworski^) haben '^^
anscheinend zuerst Untersuchungen über den Einfluß von Operationen
tm Magen hinsichtlich der Wiederherstellung der gestörten Funktion
dieses Organs angestellt und zwar bei einer Patientin, die wegen
Pyloniskarzinom in „typischer Weise* pylorektomiert worden war;
2Vi Monate post op. ist noch mehrfach Galle im ausgeheberten oder |
erbrochenen Mageninhalt gefunden worden. Heins heim er 2) hat an \
2wei Patienten, bei denen wegen Ulcusnarben mit konsekutiver Stenose
eine Gastrojejunostomie gemacht worden war, eingehendere StofP-
vechseluntersuchungen angestellt. Bei dem einen Patienten war die
Nachuntersuchung einen Monat post op. vorgenommen worden. Hier
ergab sich normale Verdauungskraft des Darmes für alle Nahrungs-
stoiFe, insbesondere eine vorzügliche Fettausnutzung. Der andere
Patient war zwei Jahre vor der Stoffwechseluntersuchung operiert
worden; bei ihm fand Heinsheimer eine extrem gute Eiweißaus-^
outzung, aber schlechte Resorption von Fett. Für beide Fälle findet \
rieh jedoch keine Angabe, ob Galle oder Pankreassaft im Magen war. \
Die Arbeit bringt also eigentlich keinen Beitrag zu der uns momentan
1) Obalinski und Jaworski, Wien. klin. Wochenschr. 1889» Nr. 5 und 17.
9 Heinsheimer, Stoffwechseluntersuchungen bei zwei Ffillen von Gastro-
enterostomie. Mitteilungen aus dem Grenzgebiete 1896, 2. Bd., S. 348.
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348 ^^' Neuhaus, [14
interessierenden Frage; sie wird auch von uns nur aus dem Grunde
zitiert, weil in der einschlägigen Literatur diese Mitteilung Heins-
heimers mehrfach Berücksichtigung gefunden hat. Für die Frage,
ob Galle oder Pankreassaft im Mageninhalt sich befanden, kann sie
natürlich nicht in Betracht kommen. Ebenso verhält es sich mit der
stellenweise zitierten Arbeit Siegels ^ über funktionelle Erfolge nach
I Operationen am Magen. In derselben wird zwar hervorgehoben, daß
i in allen Fällen »Rückfluß von Galle in den Magen"^ nicht beobachtet
' sei. Es ist aber damit ofl^enbar gemeint, daß es nicht zum Girculus
vitiosus gekommen sei. Von einer Ausheberung und Untersuchung
des Mageninhaltes post op. ist nichts vermerkt, also auch wohl nicht
vorgenommen. Infolgedessen hat auch die Siegeische Arbeit für die
Beantwortung unserer Frage keine Bedeutung. Ferner hat Kaenschke>>
1802 aus der Mikuliczschen Klinik über drei Fälle berichtet, bei denen
er Untersuchungen über das funktionelle Resultat von Operationen am
Magen angestellt hat; 2 Magenresektionen und 1 Gastroenterostomie
nach V. Hacker unter Anwendung von einer ca. 50 cm langen Jejunal-
schlinge. Von der Gastroenterostomie wird mitgeteilt, daß zunächst
der Erfolg der Operation zufriedenstellend gewesen sei, dann aber
sei es sehr oft zu galligem Erbrechen gekommen, oftmals fünf- bis
sechsmal in der Nacht; bei der Magenspülung sei auch das Spülwasser
anfangs meist grünlich verßrbt gewesen und habe die Gallenfarbstoff-
reaktion gegeben. Offenbar ist also Galle im Magen gewesen; allem
Anschein nach hat aber auch die Anastomose nicht ordentlich funk-
tioniert; die Entleerung nach dem aboralen Darmteil hin scheint Schwie-
rigkeiten gemacht zu haben. Bezüglich der beiden Resektionsfälle
findet sich keine spezielle Angabe hinsichtlich des Befundes von Galle
im Magen. Es wird nur allgemein bemerkt, daß das sekretorische
Verhalten bei allen Patienten in übereinstimmender Weise durch die
Operation nicht beeinflußt worden sei. Leider findet sich in der Arbeit
auch nicht vermerkt, welche Methode der Pylorusresektion angewandt
worden ist. Nur die II. Billrothscbe Methode hat natürlich infolge
Benutzung einer Jejunumschlinge zur Bildung einer Kommunikation
zwischen Magen und Darm nach völligem Verschluß der Resektioos-
stelle dieselben Verhältnisse wie eine Gastroenterostomie, während
bei der I. Billrothschen Methode durch das Einpflanzen des Duo-
denums in den Magen wesentlich andere Wechselbeziehungen zwischen
1) Siegel^ Ober die funktionellen Erfolge nach Operationen am Magen. A^i^
teilung aus dem Grenzgebiet 1806, 1. Bd. S. 328.
2) Kaenschke, Untersuchungen über das funktionelle Resultat von Opera*
tionen am Magen. Deutsch, med, Wochenschr. 1892, Nr. 49.
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15] Ergebnisse funktioneller Magenuntersuchungen usw. 34g
Magen und Darm geschafPen werden. Bei der I. Bit Iroth sehen Me-)
chode ist nur dann Galle im Magen zu erwarten, wenn antiperistaltisch .
der Darminhalt bewegt wird, während bei normaler Peristaltik kein 1
Grund fGr den Eintritt von Darmsäften in den Magen ersichtlich ist
Wurde also die I. Bill rothsche Methode angewandt worden sein, so
wurde der von Kaenschke mitgeteilte Befund (dauerndes Fehlen von
Galle im Magen) u.E. durchaus erklärlich sein. Nun sagen Mikulicz
und Kausch im Handbuch der praktischen Chirurgie 1903 S. 175
Anmerkung, daß »früher"^ in der Breslauer Klinik ,,ausschlie01ich die
I. Billrothsche Methode' angewandt worden sei. Man ist also wohl
in Anbetracht des Umstandes , daß die Kaenschkesche Veröffentlichung
aus der Mikuliczschen Klinik im Jahre 1892 erschienen ist, berech-
tigt zu schließen, daß in den beiden in Rede stehenden Fällen auch
die I. Billrothsche Methode angewandt worden ist. Damit verlieren
aber die beiden Kaenschkeschen Resektionsfälle hinsichtlich der
Frage, ob Galle nach einer Gastroenterostomie im Magen zu erwarten
sei, ihre Bedeutung.
Grundzach und Mintz^) und Mintz^) teilen einen Fall mit, bell
welchem wegen narbiger Pylorusstenose, Hypertrophie des Pylorus
und konsekutiver Magendilatation eineGastroenterostomie nachWölfler
ausgeführt wurde. Neun Monate später stellte sich die Patientin mit
einer Gewichtszunahme von 54 Pfund wieder vor; Magenbeschwerden
bestanden nicht mehr; Magendimensionen waren normal; chemische
ttnd motorische Tätigkeit war ebenfalls normal; nüchtern fand sich im
Magen etwas alkalisch reagierender, speisefreier Inhalt. Von der An- [
Wesenheit von Galle oder Pankreassaft im Magen ist nichts vermerkt.
Rosenhei.m^) demonstrierte in der Berliner med. Gesellschaft'
Oktober 1894 3 Patienten, bei denen Hahn wegen Karzinom (2mal)
resp. wegen gutartiger Pylorusstenose (Imal) Gastroenterostomie ge-v
macht hatte. Die Operation lag 4 resp. 9 Monate zuräck. Rosen-
heim gab an, daß bei den beiden Karzinom fällen eine befriedigende
Besserung hinsichdich Sekretion und Motilität des Magens nach der
Operation zu verzeichnen gewesen sei; bei den Patienten mit gut-
artiger Pylorusstenose sei die sekretorische und motorische Funktion
des Magens durchaus normal geworden. Angaben, ob jemals Galle
oder Pankreassaft im Magen gewesen sind oder ob daraufhin unter-
sucht worden ist, finden sich nicht in der Arbeit.
1) Grundzach und MintZy Medycyna 1803 und Revue de m6d. 1883, no. 11.
2) Mintz, Operative Behandlung der Magenkrankheiten. Zeitschr. f. klin. Med.
1804, Bd. 25.
3) Rosenheim, Ober das Verhalten der Magenfunktion nach Ausfuhrung der
Gastroenterostomie. Berl. klin. Wochenschr. 1804, Nr. 50.
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350 ^r, Neuhaus. [15
I Dumin') hat 3 Fälle mitgeteilt, bei denen wegen gutartiger Stenose
des Pylorus Gastroenterostomie gemacht worden ist^ Die letzten
funktionellen Magenuntersuchungen sind relativ kurze Zeit post op.
gemacht worden (bis zu 5 Monaten). Du min weist am Schluß seiner
I Arbeit ausdrücklich nochmals darauf hin, daß „kein einziges Mal im
I Mageninhalt die Anwesenheit einer ^größeren Quantität^ Galle be-
I obachtet worden sei*. Demgemäß muß sich also doch etwas Galle
im Magen befunden haben. Auf Pankreassaft ist nicht untersucht
worden.
I Carle und Fantino^) haben bei allen ihren Operierten bald nach
der Operation sowohl im nfichternen Zustand als verschiedene Stunden
nach der Mahlzeit Galle im Magen beobachtet. Die Beimengung von Galle
ist bei den nach derWölfl ersehen Methode Operierten meist reichlicher
gewesen als nach der v. Hacker sehen Operation; allerdings ist auch
bei den nach v. Hacker Operierten verschiedentlich recht reichliche
Beimengung von Galle zum Mageninhalt gefunden worden. Carle
und Fantino bemerken dann ausdrücklich, daß der Rückfluß nach
und nach seltener wurde , bis er bei vielen Operierten verschwand;
sie heben ferner hervor: ^»bei vielen, nicht bei allen''. „Dies geschah
in einem bis zu vielen Monaten wechselnden Zeitraum, was auf
Rechnung eines um die neue Öfl^nung gebildeten Sphinkters zu setzen
ist." Sie erklären sich den Rückfluß in der ersten Periode in der
Weise, daß sie zunächst eine mangelhafte oder noch ganz fehlende
Funktion eines an der Gastroenterostomieöffnung neu zu bildenden
Sphinkters annehmen; später, wenn sich der Sphinkter gebildet haben
soll, bleibt der Rückfluß der Galle aus.
I Kausch^) ist der Ansicht, daß nach der Gastroenterostomie in
allen Fällen meist geringe Mengen Galle im Magen sich befinden.
Dieses Verhalten soll das ganze Leben hindurch bestehen bleiben,
indessen nur selten Beschwerden verursachen.
; Hartmann et Soupault,^) welche ziemlich eingehend und ge-
nau über die funktionellen Resultate ihrer Magenoperationen (Pylorus-
1) Dumin, Ober die Resultate der Gtstroenterostomie bei narbiger Verengerung
des Pylorus. Berl. klin. Wocbenschr. 1894, Nr. 4, S. 90.
2) Carle und Fantino, Beitrag zur Pathologie und Therapie des Magens.
Arch. f. klin. Chir. Bd. 56.
3) Kausch, Ober funktionelle Ergebnisse nach Operationen am Magen. Mit-
teilungen aus den Grenzgebteten der Medizin und Chirurgie 1899, 4. Bd., S. 463.
4) Hartmann et Soupault, Les r6sultats 61oign68 de la gastroent6rostomie.
Revue de Chirurgie 1899, p. 137.
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17] Ergebnisse funktioneller Magenuntersuchungen usw. 351
resektionen und Gastroenterostomien) berichten, teilen mit, daß sie
bei allen ihren Gastroenterostomien, einerlei ob nach der Wölfler-
schen oder v. Hackerschen Methode verfahren worden sei, mit Aus-
nahme eines einzigen Falles, stets Galle im Magen gefunden hätten,
oft in ganz beträchtlichen Quantitäten. Dabei ist zu bemerken, daß
alle diese Untersuchungen, welche einen positiven Gallenbefund er-
geben haben, relativ kurze Zeit post operationem (im Maximum ein
halbes Jahr) vorgenommen sind. Nur in dem einen Falle (Obs. VII),
bei welchem keine Galle im Magen gefunden wurde, fand die Unter-
suchung IV4 Jahr post op. statt. Hier wurde nämlich bei einer
56jährigen Frau am 27. Juli 1897 wegen eines Ulcus ventriculi eine
Gastroenterostomia anterior antecolica mit gutem Erfolge angelegt.
Am 16. Dezember 1897 fand sich noch bei einer funktionellen Magen-
untersuchung Galle im Magen. Die nächste Untersuchung fand am
17. Oktober 1898 statt und hierbei wurde keine Galle mehr im Magen
gefunden. Bemerkenswert sind aus der Arbeit von Hartmann et
Soupauit auch noch zwei andere Fälle, bei denen wegen dauernden,
galligen Erbrechens eine Braun sehe Anastomose zur Gastroenterosto-
mie hinzugefügt werden mußte (Obs. V u. IX). Der eine von ihnen
(Obs.V) war am 25. Mai 1897 wegen Gastritis nach Wölfler gastro-
enterostomosiert worden. Wegen galligen, oft rezidivierenden Er-
brechens mußte zu Anfang März 1898 eine Enteroanastomose hinzu-
gefugt werden. Die Beschwerden hörten sofort auf; eine 6 Wochen
nach der Anlegung der Enteroanastomose vorgenommene« funktionelle
Untersuchung ergab aber noch Galle im Magen. Die nächste funk-
tionelle Magenuntersuchung wurde am 20. Oktober 1898, also 1 Jahr
5 Monate nach der Gastroenterostomie, gemacht, und nun fand sich
keine Galle mehr im Magen. Bei dem anderen Falle (Obs. IX) wurde
wegen Carcinoma pylori eine Gastroenterostomie angelegt; es ergab
sich gleich bei der Operation die Notwendigkeit, eine Braunsche
Anastomose hinzufügen zu müssen. Eine funktionelle Magenunter-
suchung wurde in diesem Falle kaum 4 Wochen post op. gemacht.
Es fand sich Galle im Magen. Später konnte nicht mehr untersucht
werden; der Patient erlag seinem Leiden.
Auch Terrier und Hartmann^) haben in der ersten Zeit nach!
der Gastroenterostomie stets die Anwesenheit von Galle im Magen |
konstatiert; andererseits werden mehrere Fälle aufgeführt, bei denen \
spater keine Galle mehr im Magen gefunden wurde. In einem Falle '
(Obs. XVI) fanden sie schon 5 Monate post op. keine Galle im Magen
mehr. Im übrigen ist das Material, auf welches Terrier und Hart-
1) Terrier et Hartmann, Chirurgie de l'^stomac. Paris, Steintaeil 1899.
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352 Dr. Neuhaus, [18
mann sich stützen, ziemlich dasselbe, welches Hartmann und Sou-
pault in ihrer vorstehend zitierten Arbeit benutzt haben.
j Kelling^) hält das Durchströmen von Galle und Pankreassaft
1 durch den Magen mit dem Wohlbefinden für vereinbar.
Kappeier ist anderer Ansicht; er meint, die Galle sei gleich-
gültig für den Magen, der Pankreassaft aber nicht, und Tavel^)
äußert sich in ähnlichem Sinne, wenn er sagt: si la Penetration de la
bile est indifferente ä la digestion stomacale, il n'est pas toujours de
mSme de la p€n6tration du suc pancr6atique.
j Krönlein^) faßte sein Resümee auf dem Chirurgenkongreß 1906
auf Grund der Ergebnisse seiner Zusammenstellung über den Er-
folg der Gastroenterostomie bei Ulcus ventriculi dahin, daß «der
häufig auftretende Rückfluß von Galle in den Magen keine ausge-
sprochenen Beschwerden zur Folge habe und nach längerer Zelt
zu verschwinden scheine; der Rückfluß von Pankreassaft sei relativ
, selten nachweisbar'.
Schließlich ist Katze nst ein ^) durch experimentelle Untersuchungen
an Hunden zu der Ansicht gekommen, daß der Einfluß von Galle und
Pankreassaft in den Magen nach einer Gastroenterostomie (anterior
und posterior) nicht nur nicht schade, sondern zur Heilung eines
Ulcus ventriculi direkt beitrage infolge Neutralisation des aziden resp.
' superaziden Magensaftes. Das Einfließen soll in der ersten Zeit nach
der Operation dauernd, später periodisch erfolgen; und zwar soll der
Fettgehalt der Nahrung infolge reflektorischer Anregung der Ab-
sonderung von Galle und Pankreassaft in quantitativer Hinsicht von
Bedeutung sein.
Eine Bestätigung der Katzen st einschen Theorie hat an drei
gastroenterostomierten Patienten DesideriusBaläs^) gefunden. Wir
möchten aber hervorheben, daß Katzenstein undBaläs ihre Unter-
suchungen immer sehr bald nach Anlegung der Gastroenterostomie
angestellt haben.
Es ergibt sich also, daß die Mitteilungen und Ansichten der Autoren
nicht unbeträchtlich difi^erieren. Die einen haben dauernd Galle im
1) Ke 11 ing, Studien zur Chirurgie des Magens. Langenbecks Archiv 1900, S. 308.
2) Tavel, Le reflux dans la gastroent6rostomie. Revue de Chirurg. 1901, no. 12.
3) Krön lein, Selbstbericht Qber Chirurgenkongreß 1906. Zentralbl f. Chir.
1906, S. 94.
4) Katzenstein, Ober die Änderung des Magen Chemismus nach Gastro«
enterostomie und den EinfluB dieser Operation auf das Ulcus und Carcinoma ven-
triculi. Deutsch, med. Wochenschr. 1907, Nr. 3 und 4.
5) Desiderius Baläs, Beiträge zur Lehre der Hyperazidität. Deutsche med.
Wochenschr. 1908, Nr. 1.
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19] Ergebnisse funktioneller Magenuntersuchungen usw. 353
Magen gefunden, die anderen nicht; die einen glauben an eine Un-
schädlichkeit des Gallenzuflusses zum Magen, die anderen nicht; die
einen sind der Ansicht, daß Galle allein für den Magen indifferent
sei, der Pankreassaft aber nicht; die anderen halten beide Sekrete für
nicht nur nicht indifi^erent, sondern bei Ulcus ventriculi für sogar
heilsam und erwünscht.
Beschäftigen wir uns nun zunächst mit der Frage, ob Galle allein
im Magen vertragen wird, so kann es keinem Zweifel mehr unter-
liegen, daß dieselbe sich auch in größeren Mengen jahrelang im
menschlichen Magen finden kann, ohne irgendwelche Beschwerden zu
verursachen. Freilich werden in der Literatur vereinzelte Fälle mit-
geteilt, wo die Anwesenheit von Galle im Magen nach einer Gastro-
enterostomie Erbrechen, pappigen Geschmack, Unbehagen usw. her-
vorgerufen haben soll. Ob aber in diesen Fällen tatsächlich die
Galle schuld an den geklagten Beschwerden gewesen ist, oder ob sie
nur, weil nach der Gastroenterostomie im Magen vorhanden^ mit dem
Erbrechen herausbefördert worden ist, während der Grund des Er-
brechens ein ganz anderer war, das ist keineswegs mit Sicherheit
klargestellt. Jedenfalls gibt es doch zu denken, daß diesen wenigen
Fallen, wo angeblich die Galle im Magen das den Brechreiz auslösende
Moment gewesen sein soll, so viele Beobachtungen entgegenstehen,
wo die Galle unbeanstandet jahrelang vertragen wird. Sollte nicht mit
weit größerer Wahrscheinlichkeit angesichts der letzterwähnten Tat-
sache die Annahme berechtigt sein, daß bei jenen wenigen Ausnahme-
fallen irgendeine andere Schädlichkeit der Grund der Beschwerden
gewesen ist, z. B. chronischer Circulus vitiosus infolge nicht ganz
funktionierender Anastomose, Fortbestehen der vor der Operation
vorhandenen Sekretionsanomalien, nervöse Beschwerden usw.? Wir
möchten in Übereinstimmung mit Kelling^) und Hartmann etSou-
pault^ besonders letzteren Punkt als Grund für die Beschwerden
annehmen, vorausgesetzt natürlich, daß ein organischer Fehler, z. B.
ein chronischer Circulus vitiosus, fehlt.
Den besten Beweis für die Unschädlichkeit der Galle im Magen
liefern diejenigen Fälle, bei denen mit Sicherheit nur die Galle allein
in den Magen gelangt; in dieser Hinsicht mangelt es uns nicht an
experimentellen und klinischen Beobachtungen an Hunden und an
Menschen: die Unschädlichkeit großer Quantitäten Galle für den
Magen beim Tiere ist experimentell zuerst von M. Dastre^) nach-
1) Ke 11 ingy Studien zur Chirurgie des Magens. Langenbecks Archiv 1900, S. 306.
^ Hartmann et Soupault, Fresse m^dic. 1899, 14.
3) Dastre, Recherches sur Taction de la bile sur la digestion gastrique. Ar»
chiyes de Physiologie Paris 1890, t. II, p. 316.
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354 Dr. Neuhaus, [20
gewiesen worden. Dastre legte bei Hunden Magenfisteln an und
führte durch dieselben Ochsengalle in verschieden großen Quantitäten
und zu verschiedenen Stadien der Verdauung in den Magen ein, ohne
jemals irgendwelchen Nachteil davon zu sehen. Ruggero Oddi^)
hat dann bei Hunden den Ductus choledochus unterbunden und eine
Cholezystgastroanastomose angelegt; die gesamte produzierte Galle
mußte also in den Magen gehen; irgendeine schädliche Folge hat
jOddi davon nicht gesehen.
i Masse^) hat dieses Experiment bei einer größeren Anzahl von
l Hunden nachgeprüft; das Ergebnis war dasselbe wie bei Oddi; die
Tiere haben ein Jahr und länger nach der Operation gelebt und an
Gewicht zugenommen. Bei der Sektion, die bei einigen Tieren 3/4 Jahr
nach der Operation vorgenommen wurde, erwies sich der Verschluß
I des Choledochus als vollkommen intakt. Chlumski^) hat durch seine
i experimentellen Untersuchungen an Hunden ebenfalls die Ungefähr-
Jichkeit der Beimengung von Galle zu Mageninhalt bestätigt.
Aber nicht allein für Tiere, auch für Menschen liegen bereits in
der Literatur Mitteilungen vor, die eine Bestätigung der durch Tier-
experiment gewonnenen Erfahrung bringen. Daß die diesbezüglichen
Mitteilungen nicht zahlreicher sind, erklärt sich aus der Tatsache, daß
für gewöhnlich, falls sich die Notwendigkeit der Anlegung einer
Anastomose zwischen Gallenblase und dem Magendarmtraktus ergibt, der
Darm zur Anastomosenbildung benutzt wird. So hat z. B. im Jahre 1902
Radsiewski^) 56 Fälle von künstlicher Gallenblase-Darmfistel — teils
mit dem Dünndarm, teils mit dem Dickdarm — zusammengestellt.
Hinter dieser Zahl bleiben allerdings die Fälle von Gallenblasen-
Magenfistel zurück.
Wickhoff und Angelberger^) waren die ersten, welche eine
' Cholecystgastrostomie an Menschen machten wegen starker Ver-
wachsung nach Cholelithiasis und Kompression des Choledochus,
welche zu einem völligen Passagehindernis für die Galle geführt
hatte. Der Erfolg der Operation war durchaus zufriedenstellend.
Selbst in den ersten Tagen nach der Operation trat kein galliges Er-
brechen ein. Der Patient verließ 3 Monate nach der Operation ge-
heilt das Krankenhaus, ohne irgendwelche Beschwerden. Er hatte an
1) Ruggero Oddi, Azione della bile sulla digestione gastrica. Perugia 1887.
2) Masse, De la chol^cystogastrostomie. Congr^s fran^ais de Chirurgie, Paris
1898, p. 300.
3) Chlumski, Beitr. z. klln. Chir. Tübingen, Bd. 20.
4) Radsie wski, Mitteüungen a. d. Grenzgebieten der Mediz. u. Chir. 1902, Bd. 9,
S. 659.
5) M. Wickhof und Fr. Angelberger, Wien. klin. Wochenschr. 1893, S.325.
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21 J Ergebnisse funktioneller Magenuntersuchungen usw. 355
Körpergewicht während der Behandlung zugenommen. Terrier^)!
machte wegen einer PankreaskopFgeschwulst dieselbe Operation mit i
gleich gutem Effekt. Monod^) legte bei einem infolge Karzinom des Pan-
kreas ikterisch gewordenen Menschen eine Cholecystgastrostomie an; der |
Patient starb allerdings schon am Tage nach der Operation. Quenu^) ;
undjaboulay^) machten wegen Tumor resp. Verhärtung des Pankreas- '
kopfes je eine Anastomose zwischen Gallenblase und Magen. Die
vor der Operation bestehenden Erscheinungen von Gallenstauung
gingen prompt zurück; die völlige Ableitung von Galle nach dem
Magen hin machte sich in keiner Weise unangenehm bemerkbar.
Krumm ^) legte wegen Neubildung im Pankreaskopf mit Ektasie der
Gallenblase infolge Verschlusses des Choledochus bei einem stark
Ikterischen ebenfalls eine Cholecystgastrostomie an. Das Duodenum
war wegen zahlreicher Verwachsungen nicht geeignet zur Anastomose.
Auch hier wurde die Entleerung der gesamten Galle in den Magen
ohne Erbrechen hervorzurufen und unter allmählicher Entfärbung der
Haut gut vertragen. Ferner hat O. Hildebrand während seiner
Baseler Tätigkeit 4 mal eine Anastomose zwischen Gallenblase und
Magen angelegt. Im Jahre 1902 veröffentlichte Hildebrand <^) einen
Fall, bei welchem er mit gutem Erfolg die in Rede stehende Anasto-
mose wegen dauernden Gallenflusses aus einer nach einer Chole-
lithiasisoperation zurückgebliebenen Fistel vorgenommen hatte. Die
Galle im Magen wurde dauernd gut vertragen; die Fistel schloß sich.
Eine Anastomose mit dem Dünndarm war unmöglich gewesen wegen
ausgedehnter Verwachsungen. Ein Jahr später machte Hildebrand^)
Mitteilung von 3 anderen Fällen, bei welchen er die Fistelbildung
zwischen Magen und Gallenblase mit demselben guten Erfolge aus-
geführt hatte. 2 mal handelte es sich um Karzinom des Pankreas, ein-
mal um ein Gallenblasenkarzinom mit sekundärer Geschwulstbildung.
Die anatomischen Verhältnisse lagen ähnlich so, wie in dem zuerst
beschriebenen Falle. Kürzlich haben wir auf der Klinik in einem
1) Terrier, Kemarques sur deux cas Tun de chol6cystoduod6nostoinierautre
de choI6cysto-gastrostomie. Revue de Chirurg. 1896^ p. 169.
2) Monody Bull, et m6m. de la soc. de Chirurg, de Paris 1896^ p. 546.
3) Qu6nUy Bull, et m^m. de la soc. de Chirurg, de Paris 1896, no. 18, p. 558.
4) Jaboulay, Lyon mödical 1898, no. 47.
5) Krumm, Munch. med. Wochenschr. 1901, Nr. 2.
6) O. Hildebrand, Beiträge zur operativen Chirurgie. Langenbecks Archiv
66 p. 347.
7) O. Hildebrand, Ein weiterer Beitrag zur Cholocystogastrostomie. Deutsche
Zcitschr. für Chir. B. 66 S. 379.
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356 I^r. Neuhaus, [22
Falle von inoperabelem Karzinom an der Papilla Vateri, welches er*
hebliche Gallenstauung mit hochgradigem Ikterus verursacht hatte,
wiederum eine Cholecystgastrostomie gemacht. Der Erfolg war der-
• selbe gute wie in den früheren Fällen. Auch KehrO teilte auf dem
Chirurgenkongreß 1903 mit, daß er solche Cystogastrostomie in
12 Fällen gemacht habe, ohne daß die Galle die Magenverdauung
irgendwie gestört habe.
Wir kommen nun zu der Frage, ob und wieviel Pankreassaft sich
nach einer Gastroenterostomie im Magen befindet und wie es mit der
Toleranz des Magens gegen das Sekret der Bauchspeicheldruse steht?
Wie wir gesehen haben, finden sich zwar in der Literatur zahlreiche
Mitteilungen über das Vorhandensein von Galle im Mageninhalt nach
einer Gastroenterostomie; von Pankreassaft ist aber relativ selten die
Rede. Und doch ist es eigentlich selbstverständlich, daß nicht nur
Galle, sondern auch Pankreassaft in den Magen kommen muß, wenn
einmal eine Anastomose zwischen Magen und Jejunum existiert. Man
hat aber offenbar seltener bisher darauf geachtet. Es erklärt sich das
auch zwanglos daraus, daß die Beimengung von Galle zum Magen-
inhalt infolge ihrer Farbe viel leichter sich manifestiert, als das
Pankreassekret. Katzen stein 2) hat nun, wie gesagt, durch seine
Experimente an Hunden nachgewiesen, daß sich regulär bei der
Gastroenterostomia anterior antecolica und posterior retrocolica einige
Monate nach Operation nicht nur Galle, sondern auch Pankreassaft
im Magen findet, ohne irgendwelche Störungen zu machen« Es kann
sich jedoch dabei immer nur um mehr oder minder große Bei-
mengungen von Pankreassaft zum Mageninhalt handeln. Wenn es
auch für die Galle erwiesen ist, daß das gesamte produzierte Leber-
sekret seinen Weg durch den Magen in den Darm nehmen» kann, ohne
Schädigung des Organismus und anscheinend auch ohne selbst eine
wesentliche Alteration seiner Wirksamkeit zu erleiden. — die Stühle
sind bei Cholecystgastrostomien nicht acholisch — , so ist das für den
Pankreassaft in seiner Totalität anscheinend nicht der Fall. Wenigstens
scheinen die bisher vorliegenden Experimente und klinischen Er-
fahrungen dagegen zu sprechen. Chlumskiy^) hat an Hunden das
Duodenum 10 cm unterhalb der Papilla Vateri durchschnitten, die zu-
führende Schlinge nahe der Kardia in den Magen eingenäht und das
abführende Darmstück mit dem Pylorusteil verbunden, cfr. Fig. a.
1) Kehr, Chirurgenkongreß 1903, S.76.
2) Katzenstein, 1. c.
3) Chlumskig: Ober die Gastroenterostomie. Beiträge zur Klin. Chirurgie 1898
und Weitere Erfahrungen über die Gastroenterostomie. Beiträge zur Klin. Chi-
rurgie 1900.
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23]
Ergebnisse funktioneller Magenuntersuchungen usw.
357
Alle drei in dieser Weise operierten Hunde, bei denen also das
gesamte Sekret von Leber und Pankreas in den Magen gelangte,
starben unter den Symptomen hochgradigen Durstgefühls, der Appetit-
losigkeit und der Abmagerung. Bei zwei anderen Hunden durch-
schnitt Chlumskiy, um nur den Pankreassaft in den Magen zu leiten,
den Dünndarm nahe dem Duodenum; das orale Ende wurde unter-
bunden, das aborale in die vordere Magenwand eingepflanzt, der Ductus
choledochus durchschnitten und unterbunden, und schließlich eine
Verbindung zwischen Gallenblase und dem abführenden Darmstück
hergestellt, cfr. Fig. b.
Zwerchfell
CaUenbLase-""
Fig. a.
Beide Hunde starben unter denselben Symptomen wie oben. So-
mit schien der Beweis gebracht zu sein, daß das Tier zugrunde geht,
wenn der Pankreassaft vollständig in den Magen eingeleitet wird.
Steudel gelang es aber, einen Hund, bei dem er das Jejunum
durchschnitten, den oralen Schenkel durch eine Okklusionsnaht ver-
schlossen und den aboralen Schenkel in den Magen eingenäht hatte,
18 Tage bei normaler Freßlust am Leben zu halten, cfr. Fig. c.
Das Tier starb an einem Nahtdefekt. Es mußte also Galle und
Pankreassaft vollständig in den Magen durch den Pylorus gegangen
sein. Dieses Ergebnis schien gegen die Chlumskiy sehen Versuche
zu sprechen. Chlumskiy selbst, der die Steudelsche Versuchs-
anordnung nachgeprüft und auch bei dieser Modifikation einen Hund
durchgebracht hat, erklärt die Differenz zwischen den Resultaten seiner
und Steudels Versuchen dadurch, daß er das schädigende Moment
bei seinen Versuchen in dem beständigen Zufluß von Galle und Pan-
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358
Dr. Neuhaus,
[24
kreassaft zum Magen sieht, während bei den Steu de Ischen Versuchen
sich Galle und Pankreassaft während der Verdauung im Duodenum
sammle, und der zunächst geschlossene Pylorus erst dann sich öfFne
und den Zufluß von Galle und Pankreassaft in den Magen gestatte,
wenn die Ansammlung von Flüssigkeiten im Duodenum sehr groß und
die Magenverdauung schon beendet sei. Das Einfließen der Sekrete
der beiden großen Unterleibsdriisen finde also bei Steudels Ver-
suchsanordnung nicht kontinuierlich, sondern periodisch statt, und
hierin liege die Erklärung der Differenz der Versuchsergebnisse. Eine
Stütze seiner Anschauung bekam Chlumskiy durch den Fall, den
Ledderhose^) auf dem Chirurgenkongreß 1899 vorstellte. Bei einer
Duodenalsteoose unterhalb der Papilla Vateri durch Tumor mit
kopiösem, galligem Erbrechen hat Ledderhose eine Gastroenterosto-
mia anterior antecolica mit gutem Resultat gemacht. Da das Hindernis
an der Papilla Vateri saß, so wurde sicherlich neben der Galle auch
Pankreassaft in den Magen entleert. Der Patient erbrach nach der
Operation nicht mehr. Ledderhose nahm an, daß die Hauptmenge
der Galle und des Pankreassaftes durch den Pylorus in den Magen
und dann in den Darm fließe, jedoch infolge der vorhandenen nor-
malen Verschlußfähigkeit des Pylorus nicht kontinuierlich, sondern
nur zeitweise, hauptsächlich wohl gegen Ende der Verdauung.
'MiU
Jejutuint>
Fig. d.
Kelling2) ist jedoch nicht der Ansicht, daß der Pankreassaft eine
so unheilvolle Wirkung ausübt, wie Chlumskiy annimmt. Er teilt
mit, daß es ihm gelungen sei, durch Experiment einem Hunde sämt-
liche Galle und sämtlichen Pankreassaft durch den Magen fließen zu
1) Ledderhose, Ein Fall von Gastroenterostomie wegen Stenose des unteren
Duodenums. Chirurgenkongreß 1899.
2) Kelling, Studien zur Chirurgie des Magens. Langenbecks Archiv 1900,
S. 310 u. 313.
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25] Ergebnisse funktioneller Magenuntersuchungen usw. 35g
lassen. Der Hund sei ganz munter gewesen, habe Appetit gehabt/
habe normalen Stuhl abgesetzt und sei 8 Wochen nach der Ope-
ration genau so schwer gewesen wie vorher. Die Art des Kelling-
schen Versuches demonstriert nebenstehende Fig. d.
Das Jejunum wurde dabei unterhalb des Durchtrittes durch die Radix
mesenterii durchschnitten, das obere vom Duodenum kommende Ende
wurde in den Fundus zirkulär eingenäht; der Pylorus wurde ver-
schlossen; das abführende Ende des Jejunums wurde in die hintere
Wand des Pylorusteiles direkt oberhalb der Pylorusunterbindung zir-
kulär eingenäht. Kelling sucht die Todesursache der Chlumskiy-
schen Hunde nicht in dem Zufluß von Pankreassaft zum Magen und
der sich daraus ergebenden Verdauungsstörungen, sondern in moto-
rischen Störungen, welche dadurch bedingt sein sollen, daß das ge-
füllte Duodenum eine Hemmung auf den Magen ausübt. Seine Expe-
rimente haben ihm ergeben, ^daß Füllung des Duodenums die Ent-
leerung des Magens erheblich verzögert*, ein Resultat, welches mit
der v. Meringschen^) Behauptung im Einklang steht, „daß durch die
Füllung des Duodenums eine Sistierung der Magenentleerung statt
hat'. Der Unterschied zwischen den Chlumskiy sehen und Kelling-
schen Versuchen besteht eben darin, daß Kelling der Chlums-
kiyschen Versuchsanordnung noch einen Verschluß des Pylorus
hinzugefügt hat. Dadurch ist die Füllung des Duodenums vom Magen
aus unmöglich geworden; mithin ist nach Kellings Auffassung die
Hemmung weggefallen, welche das gefüllte Duodenum auf den Magen
ausüben kann, damit ist die Ursache beseitigt, daß der Magen nicht
die Kraft entwickeln kann, welche er braucht, um seinen Inhalt durch
die Jejunalfistel auszutreiben.
Wir haben nun die Versuche nach Chlumskiys Anordnung an drei '
Hunden nachgeprüft und sind zu demselben Resultat gekommen wie
Chlumskiy; die Hunde sind sämtlich innerhalb 8 Tagen gestorben
und zwar nicht an Peritonitis; beide Darmschlingen, die also an ver*
schiedenen Stellen in den Magen (Kardia- resp. Pylorusnähe) ein-
genäht waren, zeigten keinerlei Differenz in ihrem Füllungsgrade; sie
waren beide ziemlich leer; dagegen war der Magen außerordentlich
gedehnt und schlaff mit schwärzlichen, dünnflüssigen Massen gefüllt.
Das Bild war bei alten drei Hunden dasselbe.
Auch die Kellingsche Versuchsanordnung — also noch eine
Unterbindung des Pylorus nach dem Einpflanzen der beiden Darm-
enden in den Magen — haben wir an zwei Hunden nachgeprüft. Die
1) V. Mering, 15. Kongreß für innere Medizin 1897. Zur Funktion des
Mtgen8.
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360 ^r- Neuhaus, [26
Tiere sind ebenfalls beide nach 5—6 Tagen eingegangen; das Sek-
tionsergebnis war dasselbe wie bei den nach Chlumskiy operierten
Hunden.
Unseres Erachtens scheint die Frage nach der Anwesenheit und
Schädlichkeit des Pankreassaftes im Magen folgendermaßen zu beant-
worten zu sein. Sicher ist, daß Pankreassaft, und oft in nicht geringen
Mengen, wenn man ein einigermaßen proportionales Verhalten zwischen
Leber und Pankreasabsonderung annimmt, im Magen nach einer Gastro-
' jejunostomie vorkommt. Allem Anschein nach hat aber das perio-
dische Einfließen des Darmsaftes in den Magen, wie das ja bei einer
Gastrojejunostomie ganz zweifellos entsprechend dem periodischen
Verhalten beim Austreten des Sekretes aus den beiden Drüsen in den
Darm der Fall ist, doch eine gewisse Bedeutung. Außerdem fließt
sicherlich bei einem Gastroenterostomierten nicht aller Pankreassaft
i in den Magen. Ob der Magen sämtlichen Pankreassaft verträgt, scheint
noch nicht absolut einwandsfrei klar gestellt zu sein. Praktisch ist
diese Frage hinsichtlich der Gastroenterostomie aber auch von un-
tergeordneter Bedeutung; in dieser Hinsicht ist mit der Erkenntnis
völlig Genüge geschehen, daß der menschliche Magen diejenigen
Mengen von Pankreassaft, welche durch eine Gastroenterostomie-
öfi^nung eintreten, ohne Schädigung enthalten kann. Die Ansicht der
Autoren, welche das Einfließen von Pankreassaft in den Magen
überhaupt als gefährlich ansehen, ist demgemäß als irrtümlich und
widerlegt zu bezeichnen«
Wie haben wir uns nun zu erklären, daß wir nicht bei allen unseren
[ Gastroenterostomierten Galle und Pankreassaft im Mageninhalt haben
1 nachweisen können? Z. B. hat sich bei den unter Gruppe B unter-
gebrachten 4 Patienten der Nachweis niemals führen lassen; auch bei
Gruppe C (Gastrojejunostomie mit Braunscher Anastomose) hat sich
bei Fall I (4mai untersucht) überhaupt nicht, bei Fall II (6mal unter-
sucht) nur in der ersten Zeit post op. Galle und Pankreassaft im
Magen gefunden. Der Grund dafür kann unseres Erachtens nur da-
rin gesucht werden, daß bei denjenigen Fällen, wo wir Galle und
Pankreassaft im Magen nicht nachweisen konnten, die Anastomosen-
öfi^nung nicht mehr funktioniert hat. Es is sonst gar nicht zu ver-
stehen, warum bei gutem Funktionieren der Fistel zwischen Magen
und Darm kein Darmsaft in den Magen eintreten sollte. Wir müssen
uns den Vorgang etwa folgender Art vorstellen: In der ersten Zeit
nach der Gastroenterostomie findet bei allen Patienten ein Einfließen
von Galle und Pankreassaft in den Magen statt, und zwar ist es gleich-
gültig, ob die vordere oder hintere Gastrojejunostomie gemacht worden
ist; das Hinzufügen der Braunschen Anastomose scheint an diesem
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27] Ergebnisse funktioneller Magenuntersuchungen usw. 361
Befunde zunächst nichts zu ändern. Bei den Y-Methoden halten wir
es für wahrscheinlich^ daO Galle und Pankreassaft von vornherein im
Magen fehlen können; eigene Erfahrungen stehen uns in dieser Hin-
sicht, wie gesagt, nicht zur Seite.
Im Laufe der Zeit scheint sich aber unter gewissen Umständen
ein Verschluß des Lumens der Anastomose mehr und mehr auszu-
bilden. Es kann sich allerdings nur um einen Verschluß in funkti-
onellem, nicht in anatomischem Sinne handeln; im Effekt können aber
beide gleich sein. Daß es zu einem anatomischen Verschluß, also zu
einer völligen Verwachsung der Anastomosenränder für gewöhnlich
nicht kommen kann, ist durchaus plausibel, da ja die Ränder der
Anastomosenöffnung mit Schleimhaut oder Narbe bedeckt sind und
. nachträglich ohne blutige Anfrischung nicht verwachsen können.
Ein funktioneller Verschluß der Anastomose ist aber sehr wohl
denkbar. Drei Faktoren sind es, die u. E. den funktionellen Ver-
schluß herbeiführen. Erstens die Narbenschrumpfung der Anasto-
mosenränder. Daß dieselbe eintritt und daß sie besonders dann,
venn nicht ganz exakt die Schleimhautränder miteinander vernäht
sind, ziemlich erheblich sein kann, ist außer Frage. TaveU) hat erst
kfirzlich wieder auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht, daß die
Anastomosenränder bei nicht ganz exakter Schleimhautnaht sich bald
nach der Operation sogar wieder völlig vereinigen können, so daß die
ganze Anastomose illusorisch wird. Eine schlechte Mukosanaht dispo-
niere enorm zu narbiger Kontraktion; es könne sogar eine völlige Ste-
nose entstehen. Gräser^) hat sich in ähnlichem Sinne ausgesprochen:
besonders beim Murphyknopf sah er mehrmals nachträgliche Ver-
Uebung der Anastomosenstelle.
Diese unerwünschten Verengungen und völligen Verklebungen der
Anastomose haben auch mit dazu beigetragen, den Murphyknopf zu
diskreditieren und vor allem eine exakte Schleimhautnaht zu verlan-
gen. Rotgans^) hat zur Vermeidung dieses Mißerfolges empfohlen,
ein ovales Stuck aus der Magenwand zu exzidieren. Sicherlich wird
man dadurch die Gefahr einer Stenose der AnastomoseöiFnung ver-
mindern.
Der zweite zur Verengerung führende Faktor liegt in der Änderung,
die der Magen in der Art seiner Entleerung nach der Operation durch-
macht. Wenn nämlich die Gastroenterostomie, wie es sehr oft der
Fall ist, wegen Stauungsbeschwerden mit Dilatation und Atonie der
l)Tavel, 1. c.
2) Gras er, Chirurgenkongreß 1906.
3) Rotgans, 1. c.
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362 Dr. Neuhaus, [28
Magenmuskulatur gemacht ist, so wird zunächst nach Anlegung der
neuen Öffnung eine gute Entleerung des Magens durch die Anasto-
mose stattfinden. Zunächst steht, da doch die Gastroenterostomie bei
einem dilatierten, atonischen Magen am tiefsten Punkte der Curvatura
major angelegt wird, die Anastomosenstelle am tiefsten und wird in-
folgedessen auch als hauptsächlichste Austrittsöffnung vom Mageninhalt
benutzt. Sobald sich aber unter den neuen, günstigen Endeerungs-
bedingungen der Magen von seiner Dilatation und Atonie erholt hat,
d. h. also sich verkleinert und seine Muskulatur wieder gekräftigt hat,
wählt der Mageninhalt nicht mehr, wie zu Anfang, die känstliche
Anastomose als Austrittsstelle, sondern wieder den normalen Pylorus.
Es hängt das zum Teil davon ab, weil bei nicht dilatiertem Magen
der Druck im Pylorusteil am größten ist. Cannon und Blake ^) haben
das durch ihre Experimente an mit Wismutbrei gefütterten Katzen, bei
denen sie den Gang der Nahrung röntgenographisch kontrollierten, in
Übereinstimmung mit den von Moritz und v. Pfungen mitgeteilten
Beobachtungen nachgewiesen. AuchPower^) undRogers^) sind der
Ansicht, daO der Mageninhalt nicht längere Zeit nach Anlegung der
Gastroenterostomose die künstliche Anastomosenöffnung benutzt, son-
dern bald wieder den alten Weg durch den Pylorus nimmt.
Als drittes Moment für die Verengerung des Anastomosenlumens
kommt dann noch folgendes in Betracht: Wir wissen, daO die Schleim-
haut im Magen und Darm sehr reichlich bemessen ist, bedeutend
reichlicher als z. B. die Serosa. Daher kommt es auch, daß bei
Füllung eines Magens oder Darmes bis zum Platzen zunächst nur
Serosarisse entstehen. Die Schleimhaut liegt im Darm und Magen
nicht glatt, sondern bildet zahlreiche Falten und Erhebungen; außer-
dem ist sie gegen ihre Unterlage sehr verschieblich. Wir können
uns davon bei jeder Magendarmoperation überzeugen, haben wir doch
dabei sehr oft mit dem lästigen und störenden Schleimhautprolaps zu
kämpfen. Diese Vorstülpung kann so bedeutend sein, daß bei mäßiger
Füllung des Magens ein nicht zu großer Schnitt in die Magenwand
sogar für Flüssigkeiten völlig verstopft wird. Kelling^) hat bei
Hunden nach Eröffnung der Bauchhöhle ein Stück des Magens an
1)W.B. Cannon and J.B. Blake (Boston) , Gastroenterostomie and pyloro-
Plastik, an experimental study by means of the Röntgen rays. Division of surgery
of the med. school of Harward university. Boston.
2) D'Arcy Power, A years gastrojejunostomies. St. Bartholomews hospital
reports 1905, vol. XLI.
3) Rogers, On the present Status of the Operation of gastroenterostomie.
Annales of surgery 1904, no. 4.
4) Kelling, Studien zur Chirurgie des Magens. Langenbecks Archiv 1900 S. 9.
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29] Ergebnisse funktioneller Magenuntersuchungen usw. 353
das Peritoneum parietale angenäht, wie bei einer zweizeitigen Gastro-
stomie. Wurde dann der Schnitt im Magenfundus angelegt und fielen
die Schleimhautränder so vor, daß sie sich in den Schnitt der Mus-
kularis einklemmten, so entstand daraus ein ziemlich wasserdichter
Verschluß. Auf derselben physiologischen Eigenschaft beruht auch
zum Teil die Erfahrungstatsache, daß ein glatter Magen- oder Darm-
schuß mit einem geringkalibrigen Projektil nicht immer an Peritonitis
zugrunde geht.
Wenn wir also resümieren, so sind es u« E« drei Momente, welche
zu diesem funktionellen Verschluß der Anastomosenöffnung führen.
Erstens die mehr oder minder hochgradige Narbenschrumpfung an der
Anastomosenstelle, zweitens die Verkleinerung der Magendarmfistel,
welche mit der Verkleinerung des ganzen dilatierten Magens durch
Beseitigung der Dilaution Hand in Hand geht, und drittens der bei
der mobilen Schleimhaut so leicht mögliche Schleimhautprolaps in
Verbindung mit der das ganze Hohlorgan verkleinernden Muskel-
kontraktion beim Verdauungsakte, und zwar kommen dabei für die
Anastomose im wesentlichen die Längsmuskeln in Betracht.
Freilich ist auch die Ansicht, vertreten worden, daß ein Ver-
schluß an der Anastomose aus dem Grunde einträte, weil sich
dort ein neuer Sphinkter gebildet habe. Carle und Fantino^) haben
z. B. diese Ansicht geäußert. Das ist aber sicherlich nicht der Fall.
Einmal ist es von vornherein u. E. nicht recht einleuchtend, wie es
kommen soll, daß sich an der Anastomosenstelle ein neuer Schließ-
muskel, der doch immer einen ziemlich komplizierten Apparat dar-
stellt, bilden soll, und zweitens kann man sich, wie wir es an meh-
reren, mit Gastroenterostomose versehenen Hundemägen getan haben,
an mikroskopischen Schnitten keineswegs davon überzeugen, daß an
der Anastomosenstelle eine besondere Anhäufung von Muskulatur vor-
handen ist. Man sieht im mikroskopischen Bilde die vom Darm resp.
Magen herrührenden Gewebsschichten zu einem mehr oder minder
starken Wulst vereinigt. Der Wulst wird, je länger die Anastomose
bestanden hat, um so flacher; man sieht auch an der früheren Naht-
stelle einige Bindegewebszüge, aber von einer besonderen Anhäufung
von muskulären Elementen haben wir nichts finden können.
Mit dieser unserer Auffassung hinsichtlich der Anastomosenstelle
steht die Tatsache im Einklang, daß bei all den Fällen unter Gruppe B,
die also keine Galle und keinen Pankreassaft im Magen nachweisbar
hatten, die Anlegung der Anastomose bereits längere Zeit — Minimum
1) Carle und Fantino, Beitrag zur Pathologie und Therapie des Magens.
Langenbecks Archiv Bd. 56.
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364 I^r- Neuhaus, [SO
i Jahr 4 Monate — zurücklag. Daß während dieses Zeitraumes eine
Reparation der Dilatation und Atonie stattfinden kann, dürfte außer
allem Zweifel sein.
Sehr nahe liegt natürlich der Einwurf, wie es denn kommt, daß
aber bei den unter Gruppe A untergebrachten 7 Patienten Galle und
Pankreassaft im Magen nachweisbar waren. Diese Fälle mit positivem
Ergebnis von Galle und Pankreassaft im Magen scheiden sich in zwei
Klassen. Die erste Klasse umfaßt diejenigen Fälle, welche sehr bald
nach der Operation nachuntersucht worden sind, und bei denen sich
naturgemäß Galle und Pankreassaft im Magen finden mußten, weil
sich in so kurzer Zeit eine etwa vorhandene Dilatation und Atonie
des Magens nicht hat zurückbilden können. In diese Klasse gehören
die Fälle V, VI, VII der Gruppe A. Bei allen diesen hat die Zeit-
dauer von der Operation bis zur Nachuntersuchung im Maximum
drei Monate betragen. Für die Fälle I— IV, die auch Galle und Pan-
kreassaft im Magen haben, kann eine befriedigende Erklärung nur da-
durch gegeben werden, daß man annimmt, entweder hat sich die
Dilatation und Atonie aus irgendwelchen Gründen, die oftmals nicht
völlig klar zutage liegen, nicht zurückgebildet oder es hat von vorn-
herein keine erhebliche Dilatation und Atonie vorgelegen, so daß ein
Schrumpfen des Magens und damit auch der Anastomosenöifnung
nicht eintreten konnte. Sehr bemerkenswert und instruktiv ist in
dieser Hinsicht der Fall I unter Gruppe A. Der Patient ist vor fünf
Jahren auswärts wegen dauernder Magenbeschwerden gastroenterosto-
tniert worden. Es wurde eine Gastroenterostomia anterior antecolica
mit Hilfe des Murphyknopfes gemacht. Das Befinden besserte sich
nicht wesendich und der Patient schleppte sich fünf Jahre lang in
ziemlich desolatem Zustande weiter. Schließlich ließ er sich auf
unsere Klinik wegen seiner dauernden Magenbeschwerden aufnehmen.
Wir fanden bei der funktionellen Magenuntersuchung einen enorm
dilatierten Magen, dessen untere Grenze etwa handbreit unterhalb
des Nabels stand; im Mageninhalt war sehr viel Galle und Pankreas-
saft. Die daraufhin vorgenommene Relaparotomie bestätigte unseren
Befund hinsichdich der enormen Dilatation; wir fanden außerdem im
Magen den 2V2 cm im Durchmesser großen Murphyknopf. Die Ana-
stomosenstelle war kaum für die Kuppe des kleinen Fingers durch-
gängig, also nicht 1 cm im Durchmesser groß. Es ist klar, daß in
diesem Falle die Verengerung der anfänglich doch mindestens 2V2 cm
betragenden Anastomosenstelle lediglich durch Narbenschrumpfung
stattgefunden haben muß, denn eine Verengerung der Anastomose in-
folge Rückgang der Magendilatation im allgemeinen war angesichts des
noch vorliegenden, enorm dilatierten Magens naturgemäß ausgeschlossen.
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31] Ergebnisse funktioneller Magenuntersuchungen usw. 365
Der im Magen liegen gebliebene Murphyknopf hat u. E. den Grund für
das Fortbestehen der Dilatation und Atonie abgegeben; es ist sehr
wohl denkbar, daß der dicke Knopf sich gegen den Pylorus gelegt
und die Entleerung des Magens beeinträchtigt hat. Wir haben den
Knopf entfernt, sonst aber an der Anastomosenstelle, die ja, wenn
auch nur sehr gering, doch noch durchgängig war, nichts gemacht.
Der Patient hat sich nach der Operation sehr erholt und seine bis-
herigen Beschwerden verloren. Er hat nicht mehr, wie vor der Ope-
ration, an kopiösem Erbrechen gelitten, dagegen an Körpergewicht
zugenommen. Leider war die Zeit, während der wir ihn auf der
Abteilung hatten, zu kurz, um die Möglichkeit einer Ruckbildung der
Dilatation des Magens und damit eine Ausschaltung der Anastomosen-
öifnung zu beobachten. ^
In ähnlicher Weise müssen alle die Fälle erklärt werden, welche ^
nach längerer Zeit noch Galle und Pankreassaft im Magen aufweisen.
Die Anastomose ist offen geblieben, weil sich aus irgendeinem
Grunde die Dilatatio ventriculi nicht zurückgebildet hat. So ist z. B.
auch bei Fall n unter Gruppe A das Verhalten des Magens völlig klar.
Der Patient hatte eine Verschüttung mit starker Quetschung des Ab-
domens erlitten und etwa 4 — 5 Monate nach dem Unfall, allmählich
einsetzend, mehr und mehr stärker werdende Stauungsbeschwerden
von selten seines Magens bekommen. Die chemische Untersuchung
seines Mageninhalts ergab die typischen, oftmals für Karzinom ver-
werteten Resultate einer Magenstauung: keine freie Salzsäure, reichlich
Michsäure, schlecht angedautes Probefrühstück, lange Bazillen usw. Wir
konnten unter diesen Umständen ein Pyloruskarzinom nicht mit
Sicherheit ausschließen, machten die Laparotomie und fanden am
Pylorus zahlreiche, bindegewebige Verwachsungen, welche eine Steno-
sierung des Pylorus und anschließenden Duodenums bewirkt hatten.
Wir lösten die Verwachsungen, fügten aber sofort in Erinnerung der
Tatsache, daß sich solche Verwachsungen fast immer wieder bilden,
gleich eine Gastrojejunostomie hinzu* Seit der Operation ist der
Mann wieder arbeitsföhig, ohne Magenbeschwerden zu haben. Er ist,
wie die Tabelle zeigt, 2 Jahre 9 Monate post op. von uns nachunter-
sucht worden. Hier ist der Pylorus ziemlich sicher fast ganz oder
ganz geschlossen. Der Mageninhalt ist also auf einen anderen
Ausgang angewiesen. Den bildet die Anastomose, die sich unter die-
sen Umständen naturgemäß nicht schließen kann. Für die Fälle III
und IV sind wir nicht in der Lage eine detaillierte Erklärung geben zu
können^ warum sich bei ihnen nicht wieder der alte Entleerungsmodus
durch den Pylorus mit sekundärer Unwegsamkeit der Anastomosen-
öffnung eingestellt hat.
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366 I^r- Neuhaus, [32
Daß bei völlig geschlossenem Pylorus die Magendarmftstel sich
nicht schließen kann, ist selbstverständlich. Dementsprechend findet
man auch bei solchen Fällen immer Galle und Pankreassaft im Magen.
Wir verweisen in dieser Hinsicht auf die beiden Fälle unter Gruppe D.
Fall I hatte ein Conamen suicidii mit roher Salzsäure begangen; es
bestand eine schwere Ösophagusstriktur, derentwegen die Patientin auf
der Klinik behandelt wurde; es entwickelte sich unter unseren Augen
eine völlige Stenose des Pylorus. Der Magen wurde ad maximum
dilatiert; er reichte schließlich nach 2 — ^3 Tagen , in denen die Ste-
nose manifest wurde, fast bis zur Symphyse. Wir machten die Laparo-
tomie und fanden den Pylorus völlig undurchgängig. Eine Gastro-
jejunostomie half dem bedrohlichen Zustande ab. Diese Patientin hat
natürlich, da bei völlig geschlossenem Pylorus der Mageninhalt ledig-
lich auf die neue AnastomosenöiFnung angewiesen ist, dauernd Galle
und Pankreassaft im Magen, da ja die Magendarmfistel unter diesen
Umständen naturgemäß offen bleiben muß. Genau so liegen die Ver-
hältnisse bei dem anderen Fall unter Gruppe D. Ihm ist wegen
Pyloruskarzinom eine Pylorusresektion nach Billroth II, also völliger
Pylorusverschluß und Anastomose zwischen Magen und Jejunum, ge-
macht worden. Diese Öffnung ist nunmehr die einzig abführende am
Magen; infolgedessen schrumpft sie nicht wegen des dauernden Ge-
brauches; der Magen enthält aber auch dauernd Galle und Pan-
kreassaft.
Bei den Gastroenterostomien mit Braupscher Enteroanastomose
scheint zunächst stets Galle und Pankreassaft im Magen zu sein,
später jedoch nicht mehr. Wir haben vier derartige Fälle nachunter-
sucht, welche unter Gruppe C untergebracht sind; zwei, Fall III und
IV, bei denen die Zeit zwischen Operation und Nachuntersuchung
allerdings erst sehr kurz war (bis zu IV2 Monaten), hatten Galle und
Pankreassaft im Magen. Bei Fall I (4 mal nachuntersucht) hat sich
vom 4. Monate ab niemals mehr Galle und Pankreassaft im
Magen nachweisen lassen. Der Fall II war besonders bemerkenswert
Hier war bis zum 6. Monate post op. Galle und Pankreassaft im
Magen nachweisbar; die Patientin, eine stark nervöse, um nicht zu
sagen hysterische Person, welche wegen eines Ulcus ventriculi operiert
worden war, litt nach der Operation angeblich noch dauernd unter
Magenbeschwerden. Erst vom 7. Monate ab fielen die Nachuntei^
suchungen hinsichtlich Galle und Pankreassaft im Magen negativ aus;
gleichzeitig damit ging es der Patientin auch objektiv besser. Es
scheint, als ob sich bei Gastroenterostomien mit Braunscher Anasto-
mose im allgemeinen relativ bald nach der Operatipn Zirkulations-
verhältnisse herausbilden, die ein Einfließen von Galle und Pankreas-
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33] Ergebnisse funktioneller Magenuntersucbungen usw. 367
saft in den Magen zu verhindern vermögen. Daß das auch bei diesen
Fallen lediglich durch Verengerung resp. Verschluß der Anastomosen-
Öffnung bedingt wird, glauben wir jedoch nicht Die Art der Darm-
Schaltung ist wohl hier das schwerwiegende Moment, wenngleich es
feststeht, daß die Braunsche Anastomose keineswegs das Einfließen
von Galle und Pankreassaft in den Magen zu inhibieren vermag.
Naturgemäß wird auch die Lage der Stelle, an welcher die Entero-
anastomose gemacht worden ist, in dieser Hinsicht von Bedeutung
sein. Liegt sie nahe an der Gastroenterostomie, so ist die Möglich-
keit des Einfließens von Darminhalt aus dem zuführenden Schenkel
in den Magen größer, als wenn sie weiter davon entfernt liegt.
Es würde nicht in der Absicht dieser Arbeit liegen und auch
ihren Rahmen bei weitem überschreiten, wenn wir die in den Ta-
bellen dieser Arbeit niedergelegten Befunde, welche sich auf den
Chemismus des Magens nach einer Gastroenterostomie beziehen,
genügend würdigen wollten. Wir behalten uns deshalb eine ein-
gehendere Besprechung dieses Teiles unserer Untersuchungen vor.
Klin. Vortrage, N. F. Nr. 486. (Chirurgie Nr. 141.) Mal 1908. 27
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487^
(Gynäkologie Nr. l??.)
Im Kampfe gegen das Kindbettfieber.
Ein Mahnwort an Ärzte.
Von
Otto von HerflP,
Basel.
M. H.t ySollte, was Gott verhüten möge, mir niclit ge-
gönnt sein, diese glüclLliche Zeit, in welclier in und außer-
halb der Gebärhäuser der ganzen Welt nur Fälle von Selbst-
infektion vorkommen, mit eigenen Augen zu schauen, so
wird die Oberzeugung, daß diese Zeit früher oder später
nach mir unaufhaltsam kommen muß, noch meine Todes-
stunde erheitern'' so schrieb dereinst Semmel weis in wehmütiger
Stimmung.
Die großen Arbeiten Pasteurs, Robert Kochs und Listers, die
Antisepsis und die Asepsia verbreiteten sich überall, aber außerhalb der
Gebärhäuser will das Kindbettfleber noch immer nicht verschwinden.
Zwar ist die Zahl dieser Fälle auf etwa ein Drittel der früheren ver-
mindert worden, aber seit Jahren ist ein Stillstand eingetreten, da
und dort steigt die ZiiFer der Todesfälle dieser sicher vermeidbaren
Erkrankung — so z. B. in den großen Städten Preußens, in Bayern
um nur einiges zu erwähnen. Ist diese nicht wegzuleugnende Tat-
sache nicht im höchsten Grade beschämend für die Ärztewelt, wird
sie nicht um so trauriger, wenn man bedenkt, wie alljährlich zahl-
lose Menschenleben, vieles Familienglück einer unbegreiflichen Gleich-
gültigkeit auf diesem Gebiete, nicht selten einem Schlendrian in den
Vorbeugungsmaßregeln gegen das Kindbettfieber geopfert werden?
Kilo. Vortrige, N. F. Nr. 487. (Gynäkologie Nr. 177.) Juni 1006. 20
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266 Otto von Herff, [2
Viele Tausende von Wöchnerinnen erliegen jährlich einer nahezu
sicher vermeidbaren Erkrankung, trotzdem rührt sich fast niemand
hierin nachdrücklichst Wandel zu schaffen, das Übel mit der Wurzel
auszureißen. 1)
So groß die Verdienste der chirurgischen Ära der Geburtshilfe für
den engen Bezirk der operativen Eingriffe sein mögen, so hat sie
leider vielfach die Aufmerksamkeit von diesen Fragen abgelenkt.
Gilt es doch gegenwärtig da oder dort als „antiquierf" sich mit diesen
für die Allgemeinheit, den Staat, der Familie so überaus wichtigen
Fragen zu beschäftigen! Trotz alledem, die Frage der Vorbeu-
gung des Kindbettfiebers muß immer wieder auf die Tagesord-
nung gesetzt werden, das Gewissen so manchen Arztes muß immer
wieder und wieder aufgerüttelt werden, schließlich werden diese
Tropfen die Gleichgültigkeit aushöhlen, das von Semmelweis so
sehnlich erwartete Zeitalter heranbrechen lassen! Hierzu sind Sie,
meine Herren Kollegen, die berufensten Vertreter! Helfen Sie in erster
Linie nach besten Kräften die Ursachen der betrübenden Häufigkeit
des Kindbettfiebers freizulegen, um sie endgültig zu beseitigen! In
Ihren Händen liegt die Zukunft der Vorbeugung des Kindbettfiebers,
nicht in denen der Gebäranstalten, die mit diesem Feinde vielfach
schon fertig geworden sind!
Soll ein Feind bekämpft werden, so müssen, alle seine Schliche
und Angriffsseiten bekannt werden, man muß die eigenen Schwächen
klaren Auges erkennen, um dem Angriff sicher begegnen zu können.
Hierzu sollen meine Ausführungen einen kleinen Beitrag geben, in
der Hoffnung, daß Sie sich,: meine Herren, auch rühren und Ihrerseits
zu diesen doch gewiß für die Allgemeinheit und die Familie ungemein
wichtigen Fragen Stellung nehmen, daß Sie Ihre wertvolle Erfahrung
der Allgemeinheit nicht vorenthalten!
Kindbettfieber ist eine .Wundinfektionskrankheit, die in ihrer
schweren Form fast nur durch. Übertragung von Lebewesen, d. h.
Spaltpilzen, sehr selten Sproßpilzen, die aus dritter Quelle stammen,
d. h. durch Fremdkeime, die nicht in deo Geschlechtsteilen der
Frau hausen, entsteht. Eine solche Übertragung kann durch das ärzt-
liche Personal — Arzt, Hebamme, Vorgängerin — stattfinden, oder sie
erfolgt durch den Ehemann beim Beischlaf, gelegentlich auch durch
1) Obertrifft doch z. B. in Preu&en die Zahl der im Kindbette gestorbenen
Frauen — darunter befinden sieb die Opfer des Kindbettfiebers — die Verluste an
Typbus ganz erheblicb. Es starben an Typhus 1905 und 1906 je 0,73 und 0,62, im
Kindbett aber 2,13 und 1,97 auf 10000 lebende Frauen berechnet. Wie wurden sich
die Verhältnisse gestaltet haben, wenn Männer in gleicher Zahl diesen Leiden aus-
gesetzt wären? Würde nicht alles in Bewegung gesetzt werden?
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3] Im Kampfe gegen das Kindbettfleber. 267
die Wöchnerin durch Selbstuntersuchen. Selten sind ein Bad oder
andere Eingriffe, Katheterisation, Ausspülung mit schmutzigem oder
zerbrochenem Mutterrohre usw. die Ursache. Zieht man die alltäg-
lichen kurzen Wundfieber (Resorptionsfieber) ab, so werden die Eigen-
keime, jene Spaltpilze, die in den Geschlechtsteilen der Kreißenden
oder Wöchnerinnen hausen, ihrer Trägerin nur sehr selten von sich
aus gefährlich. Diese Eigentümlichkeit der Eigenkeime, sie findet' sich
ja an vielen andern Stellen des Körpers vor, läßt sich vielleicht da-
durch erklären, daß auch die Spaltpilze, wie so viele andere Lebe-
wesen, die Eigenschaft besitzen,, sich ihnen irgendwie schädlichen
und ungünstigen Lebensbedingungen anzupassen. Sie gewöhnen sich
und schützen sich gegen die Schutzvorrichtungen des Körpers, so
daß sie diesen nicht erliegen, kurz, sie werden immunfest, serum-
fest. Auf der andern Seite gewöhnt sich der Körper an die
Anwesenheit dieser seiner Feinde, indem er an Ort und Stelle die
Gewebe örtlich schützt, so daß diese den Angriffen der Spaltpilze
nicht erliegen.
Auf der Hand liegt es, daß durch solche Verhältnisse eine Harm-
losigkeit der Spaltpilze, eine Verminderung ihrer Angriffskraft (Viru-
lenz) vorgetäuscht wird, die. in Wirklichkeit nicht vorhanden i^t. Aber
diese anscheinend so harmlosen Eigenkeime werden bei einem andern
Menschen als gerade bei. dem Wirt die schlimmste Erkrankung aus-
losen, sie werden sich als sehr bösartig erweisen, wenn sie in
Geweben des Wirtes eingepflanzt werden, die durch irgendeinen Um-
stand in ihrer Widerstandskraft irgendwie geschwächt oder nicht mehr
wie vorher geschützt sind. Als solche Umstände sind bekannt: mecha-
nische Schädigungen der Gewebe durch Quetschung, Zerreißung, all-
gemeine Schwächung des Körpers durch Blutverluste, durch Krank-
heit wie Diabetes usw.
Die Eigenkeime der Geschlechtsteile der Frau, insbesondere
Streptokokken^ die ja so oft in der Scheide ganz gesunder Frauen hau-
sen, sind fast nur dann zu fürchten, wenn sie unmitteTbar in frische,
zumal gequetschte Wunden, die begreiflicherweise noch nicht geschützt
sein können, eingepflanzt werden. Am ehesten wird diese Bedingung
durch ein Trauma gesetzt. Diese Gefahr ist also fast nur bei Operatio-
nen, die Verletzungen irgendwelcher Art mit sich bringen, zu fürch-
ten. Unter diesen Umständen kann die Gefahr seitens dieser Eigen-
leime, dieser Art von Selbstinfektion, vermittelt durch ein Trauma
sehr groß werden. Diese „Selbstinfektion* lernt man beim Gebrauch
der Gummihandschuhe in ihrer ganzen Wichtigkeit kennen. Ihr Vor-
kommen ist übrigens nicht auf die Frau und ihre Geschlechtsteile
beschränkt, sondern jeder Chirurg lernt sie in allen KörperhöHlen
20*
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268 Otto von Herif, [4
gründlichst kenn.en — an ihrem Vorhandensein ist nicht im mindesten
zu zweifeln, es sei denn, daß man eine Vogel-Strauß Politik treiben will.
Die Möglichkeit dieser Selbstansteckung vermittelt durch Gewebs-
schädigung kennen zu lernen ist außerordentlich wichtig. Aus solcher
Tatsache folgt, daß ein Kindbettfieber nach irgendeinem Eingriff,
nach einer Untersuchung noch lange nicht auf einen notwendigen,
ursächlichen Zusammenhang mit irgendeiner Infektion mit Fremd-
keimen schließen läßt — es sei denn daß Eigenkeime mit an Sicher-
heit grenzender Wahrscheinlichkeit als Urheber ausgeschlossen werden
können. Das gilt ganz besonders bei Anklagen gegen Ärzte und vor
allem gegen Hebammen, den Sündenböcken für so viele ärztliche
Verstöße.
Alle Vorbeugungsmaßregeln gegen Kindbettfieber müssen
den Hauptwert auf das Fernhalten von Fremdkeimen legen,
doch darf die Gefahr der Eigenkeime durchaus nicht unter-
schätzt oder gar ganz außer acht gelassen werden. Auch
dieser Möglichkeit, insbesondere der Selbstinfektion ver-
mittelt durch ein Trauma muß nachdrücklichst begegnet
werden.
Diesen beiden wichtigsten Aufgaben einer wirksamen Vorbeugung
des Kindbettfiebers in der Theorie gerecht zu werden, erscheint sehr
leicht, in der Praxis aber begegnet deren Lösung den größten Schwierig-
keiten, wie alljährlich die zahllosen Opfer des Kindbettfiebers nur zu
beredt predigen.
Eine Übertragung von Fremdkeimen durch das ärztliche Personal
— Arzt, Hebamme — läßt sich mit allergrößter Sicherheit vermeiden,
wenn für Keimfreiheit aller benutzten Gegenstände, insbesondere
auch der Hände, gesorgt wird.
Ungemein leicht, auch in der allgemeinen Praxis, läßt sich dieser
wichtigsten Forderung durch Kochen der Instrumente, Bürsten, Schutz-
tücher, eines Teiles des Nahtmateriales nachkommen. Zudem werden
Verbandstoffe, die zuverlässig in Dampf sterilisiert sind, überall zu billi-
gen Preisen abgegeben — nur darf allerdings eine angebrochene Büchse
nicht ohne erneute Sterilisation wieder benutzt werden. Seide, noch
besser und billiger Zelloidinzwirn, Silk, Draht lassen sich leicht kochen.
Catgut, das bei Dammnähten den Vorzug verdient, läßt sich ebenso
leicht durch Jodlösungen keimfrei machen oder als trockenes Jod-
catgut kaufen.^) Kochen und Dämpfen sterilisieren am besten. Beides
1) Auch an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß trockenes jodiertes Catgut
in vorzüglicher Art von der Firma Billmann in Mannheim hergestellt und ver-
trieben wird.
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5J Im Kampfe gegen das Kindbettfieber. 260
ist fiberall leicht zu haben ^ ihre Anwendung verursacht nirgends
nennenswerte Schwierigkeiten.
Nach Gro fie kann jederzeit auf jedem beliebigen Feuer eine genügende Dampf-
sterilisation wie folgt vorgenommen werden. Auf dem Boden eines großen Gefäßes,
etva eines Topfes wird ein kleineres gestellt, das die zu reinigenden Sachen
aufoimmt. Gießt man in das größere Gefäß etwa 200 ccm Wasser (ein großes
Wasserglas) und deckt das Ganze zu, so genügen 10 Minuten des Kochens, um eine
genügende Keimfreiheit zu sichern.
Nur die Reinigung der Haut und der Hände begegnet den aller-
größten Schwierigkeiten. Am leichtesten lassen sich die Hände
reinigen ) am schwersten die äußere Scham. Die Desinfektion
dieses Teiles ist so schwierig, daß von einer befriedigenden Lösung
dieser Aufgabe zurzeit nicht die Rede sein kann.
An der Hand läßt sich mit Sicherheit eine solche Keimverarmung,
die an Keimfreiheit grenzt und die die längste geburtshilfliche Ope-
ration überdauert, erzielen. Allerdings jene wenigen Keime, die in
der Tiefe der Haut vergraben liegen, entziehen sich allen Schädigungen
der Desinfizientien. Sie können aber nach und nach auf die Haut-
oberfläche auswandern, wenn sie nicht irgendwie zuverlässig in
ihrer tiefen verborgenen Lage festgehalten werden — solches ist
aber heutzutage sehr gut zu erreichen.
Alle Methoden, die die Haut aufweichen, arbeiten einer
Keimfreiheit entgegen, darunter auch die Seifenwasser-
waschung. Eine Keimauswanderung wird eingeschränkt und
selbst völlig gehemmt, je trockener die Haut ist, je mehr sie
einschrumpft.
Mit Hilfe dieser beiden wichtigsten Prinzipien läßt sich mit einer
an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit zum mindesten eine
Keimverarmung, die an Keimfreiheit grenzt, wenn nicht von vorn-
herein eine Keimfreiheit erzielen. Die Mittel hierzu sind folgende:
Mechanische Beseitigung jener Spaltpilze, die auf der Hautober-
fläche hausen, durch Reiben und Scheuern bei gleichzeitiger Auf-
lösung der Schmutz- und Fettschichten mit nachfolgender Einsperrung
der Keime, die in den zahllosen Fältchen der Haut, in den Haar-
balgen, in den Drüsen, zwischen lockern Hornzellen der mechani-
schen Entfernung unzugänglich geblieben sind. Lebhaft zu begrüßen ist
es Daturlich, wenn zugleich mit dieser Maßnahme eine chemische Ab-
tötung der zugänglichen Keime erfolgt, soweit solches in den wenigen
Minuten, die eine solche Reinigung praktisch dauern kann, überhaupt
möglich ist.
Alle Desinfektionsmethoden, die dieser Forderung nicht gerecht wer-
den, müssen ungünstige Ergebnisse zeitigen, in erster Linie Wasser und
Seife wie alle jene Maßnahmen, die mit einer Wasserwaschung
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270 Otto von Herff, [6
schließen. Alle diese arbeiten den mechanischen Prinzipien der Keioi-
absperrung geradezu entgegen» sie erleichtern den Hautkeimen der Tiefe
das Auswandern anstatt ihnen dieses zu erschweren — und das Ist
im Prinzip gewiß falsch.
Das mechanische Prinzip des Wegscheuerns der Ober-
flächenkeime verbunden mit einer Einsperrung der Tiefen-
keime (Schleich), meine Herren, wird in Zukunft die Technik
der Hautreinigung beherrschen.
Der Glaube an die rasche Wirksamkeit auch der stärksten Anti-
septika bei der Hautreinigung — Halogene, Sublimat, Sublamin, Hy-
drargyrumoxycyanat — ist leider noch sehr verbreitet, er verschuldet
so manches Unglück. Alle diese Mittel brauchen für ihre Wirkung
in reinen Lösungen längere Zeit, es ist unmöglich, daß sie in wenigea
Minuten Keime, die in Schmutz und Fett irgendwie eingehüllt liegen,
abtöten — diese allbekannte Tatsache wird vielfach übersehen. Es
ist ja so viel bequemer, einige Pastillen in eine Schüssel Wasser zu
werfen und sein Gewissen damit zu beruhigen. Das ist nicht nur ge-
dankenlos, sondern oft genug auch gewissenlos.
Keime, die in Flüssigkeiten frei schweben oder die der Oberfläche
irgendwelcher Gegenstände — Glasperlen, Seidenfäden — anhaften,
sind durch Antiseptika bei entsprechendem Zeitaufwand leicht und
sicher zu töten. Liegen Spaltpilze im Fett oder Schmutz wohl ver-
borgen, so versagt die keimtötende Kraft der Antiseptika während der
kurzen Zeit einer noch so sehr verlängerten Desinfektion vollständig,
auch die stärksten Mittel zerschellen an einer Umhüllung, die an der
Tageshand aus Staub, Eiweiß und Fett gebildet wird. Das sind gewiß
Binsenwahrheiten, Tatsachen, meine Herren, aber wie viele Ärzte, ge-
schweige denn Hebammen, die allerdings an ihre Vorschriften ge-
bunden sind, beachten sie Tag für Tag nicht?
Das an sich logisch richtige und zutreffende Prinzip der chemischen
Abtötung der Hautkeime, die bestenfalls nur die Oberflächen- aber
nicht die Tiefenkeime sicher trefl^en kann, hat die Hautdesinfektion in
eine Sackgasse geführt, aus der sich viele, weil sie gestützt wird durch
die herrschende Lehrmeinung und ihre einleuchtende Folgerichtigkeit,
nicht mehr herausfinden werden.
Die Alkoholwaschung vereinigt in sich die Prinzipien der mecha-
nischen und der chemischen Reinigung, allerdings besonders stark
das erstere in glücklichster Weise. Der Weingeist muß daher voll-
ständig in den Vordergrund treten — bis etwas Besseres mit der Zeit
gefunden werden wird.
Heißwasser und Seife allein ergibt schlechte Ergebnisse, weil die
Haut aufgelockert und der Schmutz aufgewühlt wird. Vielfach erhält
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7] Im Kampfe gegen das Kindbettfleber. . 271
man den Eindruck, daß durch eine solche Reinigung erst recht die
Menge der Keime vermehrt wird. Nur, wenn gleichzeitig eine nach-
druckliche mechanische Scheuerung der Haut mit Sand, Marmor, vor
allem mit Kieselgur (Saposilikseife), gefolgt von einem festen Abreiben
mit einem rauhen trocknen Handtuche stattfindet, kann die Zahl der
Keime einigermaßen vermindert werden. Durch das trockne Abreiben
werden die losgelösten Spaltpilze gründlicher entfernt. Nicht selten
laßt sich eine weitgehende, aber leider noch nicht genügende Keim-
verarmung herbeiführen. Dieser Seifenwaschung noch eine Reinigung
mit irgendeinem Desinfizienz in Wasser folgen zu lassen, kann die
Verhältnisse nicht wesentlich verbessern, weil in so kurzer Zeit kein
Desinfizienz die Keime töten, jene der Tiefe überhaupt schädigen
kann. 1)
Heißwasser und Seife plus Desinfiziens in Wasser ist
nicht besser als eine Heißwasserreinigung mit Sand, Saposi-
likseife plus Abreiben mit einem rauhen Tuche. Diese
Methode muß als unzuverlässig fallen gelassen werden.
Die noch so weit verbreitete Anwendung dieser ^^Desinfektion''
ist zweifellos mit in erster Reihe daran schuld, daß das Kindbettfieber
nicht abnehmen will, sondern im Gegenteil vielfach noch im Zunehmen
begriiFen ist. Diese Art der Reinigung wäre auch schon lange vollstän-
dig verlassen worden, wenn nicht glücklicherweise die gewöhnlichen
Hautkeime einer Tageshand im ganzen genommen eine geringe An-
1) Gewiß bewirkt die Seife eine gute mechanische Reinigung, da sie durch ihr
freies Alkali Schmutzteile auf- und loslöst, diese Teile durch den Seifenschaum,
der durch saure Fettsalze erzeugt wird, lockert und sie einhüllt. Diese mechanische
Reinigung reiner Seife wird in der Saposilikseife durch feine Kieselgurkristalle ganz
aaßerordentlich gesteigert — die Haut wird sichtlich geglättet durch Abscheuem
der lockeren Hornzellen. Zu dieser allbekannten mechanischen Wirkung gesellt
sieb, jedoch nur freiliegenden Keimen gegenüber eine nicht unbeträchtliche keim-
tötende Kraft. Diese ist nach Raß am bedeutendsten bei einer heißen 20prozen-
tigen Seifenlösung, sofern sie mit destilliertem Wasser hergestellt wird. Auch kann
die Wirkung durch Zusatz von Kresol oder Phenol zu gleichen Teilen beträchtlich
gesteigert werden, so daß 3prozentige Phenolseifenlösungen dieser Art genügen.
Jeder Gehalt an Kalk im Wasser vermindert jedoch die Wirkung. Auf Grund dieser
Untersuchungen versuchte ich 20— SOprozentige Seifenlösungen, ich erreichte jedoch
keine Keimverarmung, da die keimtötende Kraft der Seife offenbar für die Keime
der Tiefe, die geborgen liegen, nicht ausreicht.
Wird nach der Seifenwaschung ein Quecksilbersalz angewandt, z. B. Sublimat,
Sttblamin, so liegt die Gefahr nahe, daß durch Reste der Seife, oder durch einen
etwaigen Kalkgehalt des Wassers diese Verbindungen gebunden oder ausgefäUt und
in ihren antiseptischen Wirkungen geschwächt werden. Quecksilberoxycyanat macht
allerdings eine Ausnahme, es müßte daher den obigen Stoffen weit vorgezogen
▼erden.
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272 Otto von Hcrif, [8
griifskraft (Virulenz) besäßen, und daher nur selten schadeten. Wurde
und wird doch noch auf Erden in unzähligen Fällen Geburtshilfe mit
ungereinigten Händen getrieben und dennoch erkranken und sterben
die wenigsten dieser Frauen! Weil nicht jedesmal nach einer solchen
Reinigung, die, wie wir jetzt sicher wissen, ungenügend ist, eine In-
fektion erfolgt, wird bei so manchem Arzte der Trugschluß begünstigt,
daß diese Methode für die Bedürfnisse der Praxis völlig ausreiche.
Wer bürgt aber, meine Herren, dafür, daß sich nicht gelegentlich, viel-
leicht ausnahmsweise auf der Tageshand höchst angriifskräftige Spalt-
pilze Z.B.Streptokokken eingenistet haben? Eine Möglichkeit, die aus
naheliegenden Gründen sicherlich am ehesten und am häufigsten an
den Händen der Ärzte, vielleicht seltener an den Händen der Hebam-
men eintreten kann.
Die Hand eines Arztes, der sich nicht streng von infek-
tiösen Stoffen fernhält, ist erheblich gefährlicher als
eine noch so schmutzige Tageshand einer entarteten Heb-
amme. An ersterer Hand werden öfters gefährliche Keime
haften, an letzterer brauchen sie nicht vorhanden zu sein.
Tausendfältig sind die Beweise für diese Tatsache. Immerhin möge hier darauf
hingewiesen werden, daß Stöckel (Miinch. med. Wochenschr. 1908, S. 45) jüngsthin
wieder ein solch warnendes Beispiel aufführte. Ein Arzt, dessen Hand mit Anginaeiter
beschmutzt wurde, untersuchte seine eigene Frau nach gründlichster Desinfektion —
trotzdem starb sie am Kindbettfieber. Der Fall beweist, daß entweder diese gründ-
liche Desinfektion, deren Methode leider nicht erwähnt wird, trotz der besten Absicht
doch nicht gründlich gewesen ist, weil sie es an sich nicht sein konnte, oder daß
ein anderer ursächlicher Zusammenhang vorgelegen haben kann, der Anginaeiter un-
schuldig gewesen ist. Im ersten Falle wäre das Unglück mit einer der modernen
Alkoholmethoden vermieden worden.
Ganz ungezwungen erklärt es sich, warum so manches Kindbett-
fieber durch das ärztliche Personal, insbesondere durch den Arzt
veranlaßt wird trotz tatsächlich gründlichster und gewissenhaf-
tester Desinfektion — allerdings etwa nach der ungenügenden Heiß-
wasserreinigung plus einem Desinfizienz in Wasser. Man zerbricht
sich den Kopf, man forscht nach allen möglichen entfernten Ursachen
— aber an das Nächstliegende, an die angewandte, notwendig unge-
nügende Reinigung, meine Herren, wird nicht gedacht. Hat doch
diese in so und so vielen Fällen genützt^ freilich nur, und das wird
übersehen, weil die Keime der Tageshand verhältnismäßig harmlos sind
und sich zufälligerweise keine angriffskräftigen darunter befunden
haben. Eine Selbsttäuschung, die schon sehr viel Unheil angerichtet
hat und leider noch weiterhin Unglück herbeiführen wird!
Die großen Opfer, die das Kindbettfleber alljährlich fordert,
müssen das ärztliche Gewissen schärfen^ sie müssen dazu führen, die
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g] Im Kampfe gegen das Kindbettfleber. 273
Methode der Heißwasserseifenreinigung plus einem Desinflzienz geg-
last in Wasser vollständig zu verwerfen.
Asepsis gewährleistet durch mechanische Maßnahmen,
meine Herren, ist das Ziel das erstrebt werden muß — darin
hat Schleich durchaus recht!
Das mechanische Prinzip der Entfernung der Ober-
flächenkeime neben einer Einsperrung der Tiefenkeime
durch Einschrumpfung und Entwässerung der Haut muß in
der Händereinigung den breitesten Raum einnehmen. Eine
solche Reinigung kann einer Heißwasserseifenwaschung
folgen (Ahlfeld). Noch besser freilich ist es diese vollständig
fallen zu lassen, weil sie dem Prinzipe der Eintrocknung
der Haut entgegenarbeitet. Die Desinfektionsmethode wird
denkbar vereinfacht und abgekürzt, sie wird zu einer Schnell-
desinfektion (Schumburg), ohne irgendwie dabei an Zuverläs-
sigkeit einzubüßen.
Der nächstliegende und überall erreichbare Stoff ist der Weingeist.
Ohne Alkohol keine irgendwie genügende Keimarmut oder Keimfreiheit
heißt es überall und mit vollem Recht meine Herren! Folgt aber der
Anwendung des Alkohols, der die Haut eintrocknen und einschrumpfen
laßt, überdies Keime tötet und weithin in die Tiefe der Haut eindringt,
eine Wasserwaschung plus Desinfiziens in Wasser — Fürbringersche
Methode — so wird die Haut wieder aufgeweicht. Das Schlußergebnis
wird verschlechtert, weil das wichtigste mechanische Prinzip einer
Keimverarmung der Haut und damit auch der Alkoholanwendung
vernichtet oder doch ganz wesentlich abgeschwächt wird. Viel zweck-
mäßiger und vernünftiger wäre es doch, wenn jene, die sich nun ein-
mal von der Vorstellung durchaus nicht freimachen können, als ob
z. B. Sublimat oder gar Lysol in wenigen Minuten Spaltpilze, die in
Eiweiß- oder Fetthüllen oder sonstwie geschützt liegen, töten oder irgend-
wie unschädlich machen können, die Alkoholwaschung am Schlüsse
setzen, also Heißwasser, Seife plus Desinfiziens in Wasser plus
Alkohol anwenden. Oder, was kürzer und weit bequemer wäre, dem
Weingeist gleich das gewünschte Desinfiziens zufügen, somit sich
nach Engels Methode reinigen, d. h. Heißwasser, Seife plus Desinfi-
ziens in Alkohol gelöst z. B. 2 % Bazillol, Lysoform oder 5 % Formizin
(Ffith) od. dgl. m. anwenden.
Die Heißwasser-Alkoholdesinfektion mit oder ohne Zu-
satz eines Desinflzienz — Ahlfeld, Engelj ist für alle,
die Heißwasser und Seife nicht fallen lassen mögen, die zur-
zeit beste. Sie gewährleistet die größtmögliche Zuverläs-
sigkeit und Sicherheit ihrer Wirkung. Nicht selten wird
Klitt. Vortrige, N. F. Nr.487. (Gynäkologie Nr. 177.) Juni 1908. 21
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274 Otto von Herff, [10
eine Keimfreiheit erzielt, unter allen Umständen aber eine
Keimverarmungy die an Keimfreilieit grenzt, die daher prak-
tiscti einer solchen gleichkommt.
Ahl Felds Reinigung, wie übrigens die nach Engel empfiehlt sich
auch aus dem Grunde ganz besonders für den Hausarzt und die
Hebamme, weil sie weit bequemer und einfacher ist als die Für-
bringersche Methode.
Seife wie Wasser weichen die Haut auf, sie befördern das Aus-
wandern der Tiefenkeime ohne sie zu vernichten. Sollte es daher
nicht zweckmäßiger sein, diese beiden Mittel in der Händereinigung voll-
ständig fallen zu lassen?
Wasser schaltet die Seifenspiritusreinigung nach Mikulicz
und Vollbrecht aus. Die Endergebnisse sind leider ungleich, wohl
infolge der verschieden starken Aufweichung der Haut durch den
alkalischen Seifenzusatz. Neben weitgehendster Keimverarmung findet
man Fälle mit ungenügender Wirkung, ohne daß der Grund ersichtlich
wäre. Immerhin ist die Methode praktisch brauchbar und wird auch
zurzeit von vorzüglichen Chirurgen durchgehendst angewandt.
Wasser und Seife vermeidet Schumburg, dem unzweifelhaft das
Verdienst zukommt, die Frage der sichern Schnelldesinfektion unter-
sucht und der Lösung nähergebracht zu haben. Schumburgs Ergeb-
nisse werden unter anderen von Kolle und Tavel in Bern, denen
ich mich anschließe, bestätigt Nach Reinigung der Nägel wird die
Tageshand unter Verzicht auf Wasser und Seife mittelst Watte, Gaze
oder Flanell, was ich vorziehe, um die so gefährlichen ungekochten
Bürsten auszuschalten, mit einer Lösung von zwei Teilen Alkohol auf
einen Teil Äther bei einem Zusatz von ^4 % Salpetersäure abgerieben.
MeineVersuche wurden mit und ohne vorgängige Reinigung der Nägel
— letzteres soll natürlich nicht als Vorbild dienen — teils mit einer
Lösung von zwei Teilen Alkohol und einem Teil Azeton, teils tnit
Alkohol und Azeton zu gleichen Teilen ausgeführt. Die Tageshand
wurde mit dieser Lösung und einem Flanelllappen, der einmal ge-
wechselt wurde, kräftig abgerieben. Die Ergebnisse sind in jeder Be-
ziehung zufriedenstellend. Von beiden Händen zugleich gingen in
der Regel nur 2—3—4 Keime, die sehr wohl aus der Luft stammen
konnten, auf, ab und zu blieben die Platten steril — d. h. es wurde
eine Keimverarmung, die an Keimfreiheit grenzt, die praktisch einer
Keimfreiheit gleichkommt, erzielt. Diese Schnelldesinfekiion, die nicht
mehr wie 4 — 5 Minuten in Anspruch nimmt und nur eine einzige
Maßnahme erfordert, ist denkbar kurz und bequem. Durch Eintrock-
nen und Entwässern der Haut wird den Spaltpilzen, die noch an der
Hand haften geblieben sind, die wesentlichsten Bedingungen für ein
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] I] Im Kampfe gegen das Kindbettfieber. 275
Auskeimen entzogen, sie iLÖfifieii sicli während der Dauer einer Ope-
ration nicht vermehren. AIlLohol-Azeton ^irkt daher außerordentlich
emwicklungshemmend auf Reime der Tiefe wie der Oberflache.
Das auffallendste an dieser Desinfektionsmethode ist aber die
Dauerwirkung. Bei einer ganzen Anzahl langdauernder Operationen,
die nach dieser Scbnelldesinfektion und ohne Handschuhe ausgeführt
wurden, bei denen also genug Luftkeime auf die Hände fallen konnten,
fanden sich bei der SchluOentnahme, selbst wenn dieser ein 8—10
Minuten langes Aufweichen der Haut mit ^/lo % Natronlauge vorausge-
gangen war, nur spärliche Keime an beiden Händen zugleich vor. Die
Zahlen schwankten zwischen 0 und 18, nach einer Nafronlaugeauf*
weichung zwischen 1— 36 — d. h. weniger als Luftkefme auf die Hände
wahrend der Operationszeit gefallen sein konnten. Die Dauerwirkung
erstreckt sich auf 1—2 Stunden nach der Desinfektion. Sie wird nicht
durch häufiges Abwaschen der Hände in sterilem Kochsalzwässer oder
dinth Aszites oder durch Blut und sonstige Körpersäfte vermindert.
Die Desinfektion ist so sicher, daß Handschuhe überflüssig erscheinen
konnen.i)
Kein Zweifel, daß die Schumburgsche Metkode, namentlich in
meiner Abänderung mit Azeton, eine ganz ausgezeichnete und zu-
verlässige Sehnelldesinfekiion istj diCy insbesondere letztere, alles
Winschhare leistet.
Scbumburg and neuerdings ▼. Brunn haben auch Versuche mit reinem Wein-
geist, mit des» gewöhnlichen denaturierten Brennspiritus angestellt, die recht zu^
friedenstellend ausgefallen sind. Eigene Versuche habe ich damit noch nicht aus-
föbren können, auch ist mir über eine Dauerwirkung, die doch die Hauptsache bei
allen Desinfekttonsmethoden ist, noch nichts bekannt geworden.
Azeton habe ich statt Äther gewählt, einmal weil es billiger als dieser ist,
sodann und in erster Linie weil es vermöge seiner fettlösenden Eigenschaft ein
itMgezeichnetes Putzmittel für die Haut ist, weil es ein vorzüglicher Ersatz für
Seife ist, das entgegengesetzt der Seife die Haut nicht aufweicht, sondern diese,
gleichzeitig in vorzüglicher Weise eintrocknet und härtet. Die Tiefenkeime werden
derart eingesperrt, daß die ^/lo prozentige Natronlaugenaufweichung nicht genügt,
sie zu befreien, geschweige denn andere Flüssigkeiten, wie steriles Kochsalzwasser,
Aszites, Blut usw. Venig angenehm ist der Geruch des Azetons; immerhin ist er
geringer als jener des Äthers. Leider ist Azeton feuergefährlich, so daß Vorsicht
bei Licht durchaus geboten ist. Meiner Erfahrung nach reizt Azeton die Haut nicht,
im Gegenteil beobachte ich," daß ein eingewurzeltes Alkoholekzem meiner Hände
sich bessert. Die Ketone sollen eine geringe keimtötende Eigenschaft besitzen,
dech scheint diese bei dem Azeton sehr schwach zu sein, indes habe ich über
diesen Punkt nur geringe Erfahrung.
Wederhake (Deutsch, med. Wochenschr. 1907, Nr. 15) empfiehlt eine Jod-
tetrachlormethanlösung, besonders auch, weil sie sehr tief in die Haut eindränge.
Vasser und Seife sind ebenfalls nicht erforderlich. Tetrachlormethan, CCI4, ist
1) Herr Dr. Oeri wird demnächst diese Versuche genauer mitteilen.
21*
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276 Otto von Herif, [12
nicht feuergefihrlich , es Idst mit Leichtigkeit öle, Paraffin, Kautschuk — ich habe
bisher keine Gelegenheit gehabt, mich mit dieser Methode näher zu befassen.
Die Kenntnis, daß es mit keiner der früheren Desinfektions-
methoden, insbesondere der FOrbringerschen, gelingt, eine an
Keimfreiheit grenzende Keimverarmung der Hände auf die Dauer
zu erzielen, führte, da sich die Zwirnshandschuhe Halsteds (1801)
nicht bewährten, zur Einführung der Gummihandschuhe durch
Zoege von Manteuffel (1895). Diese wurden von Friedrich
wesentlich verbessert. Als Vorläufer der Handschuhe kann die Emp-
fehlung Murphys (1894)^) gelten, die Hände mit einer 4prozenti-
gen Guttaperchabenzinlösung, das Operationsfeld mit dem rascher
trocknenden Guttaperchaazeton zu bestreichen — auf welche Vor-
schläge ich noch später zu reden kommen werde. Gummihand-
schuhe lassen sich durch Dampf, weniger zweckmäßig durch Kochen,
im Notfalle auch durch Heißwasserseife und Alkohol sicher keim-
frei machen — das ist nicht zu bezweifeln, doch dürfen sie keine
Löcher haben, das ist unbedingte Voraussetzung. Der Vorteil der
sicheren Keimfreiheit ist so groß, daß manche in deren Gebrauch
das beste Prophylaktikum gegen Kindbettfieber sehen (Döderleio).
Leider haften den Handschuhen mancherlei Nachteile an, die damit
nicht aus der Welt geschafft werden, daß sie als nicht stichhaltig
kurzweg erklärt werden. Auch verfügen wir jetzt über Methoden
der Händereinigung, die eine solche Keimarmut in wenigen Minuten
in der bequemsten Weise gewährleisten, daß man sich füglich fragen
muß, ob die Handschuhe tatsächlich eine solch größere Sicherheit
gewähren, daß ihre nicht unbeträchtlichen Nachteile gerne in den
Kauf zu nehmen wären. Besonders zu erwähnen sind: die Glätte,
ferner die Herabsetzung des Tastgefühles, die geringe Haltbarkeit
und Kostspieligkeit, nicht zu vergessen die Zerreißlichkeit. Ich bin
seit vielen Jahren an Handschuhe und Fingerlinge gewöhnt, aber noch
heute ist mir bei gewissen geburtshilflichen Eingriffen die Glätte und
die Herabsetzung des feinen Tastgefühls höchst unangenehm. So wird
mir das Sprengen der Eihäute außerordentlich erschwert, die Ablösung
der Placenta unsicherer, das Fühlen einzelner Eihautfetzen fast unmög-
lich gemacht. Habe ich doch vor wenigen Wochen erlebt, daß ein
sehr tüchtiger und gewandter Arzt, der das Fehlen eines Plazentar-
lappens erkannte, diesen trotz sorgsamster Abtastung der Uterushöhle
nicht finden konnte, schließlich glaubte sich geirrt zu haben. Aber
einige Tage später wurde ein handtellergroßes Plazentarstück ausge-
stoßen! Grund? Die Austastung war wegen Lues mit Handschuhen
1) Journal of American Association 1904, no. 12.
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13] Im Kampfe gegen das Kindbettfleber. 277
vorgenommen worden« Welche Schwierigkeiten mag drum ein Arzt,
der nicht so wie ich an den täglichen Gebrauch von Handschuhen
und Fingerlingen gewöhnt ist, zu überwinden haben, muß nicht sein
Eingreifen unsicher werden? Man erkundige sich nur einmal da-
nach! Und was die Zerreißlichkeit anbelangt, so sah ich erst neulich
auf meinem Kreißsaale, wie bei einer allerdings etwas schwierigen Ex-
traktion nach Deventer-M Oller ein neuer Handschuh quer einriß und
in Fetzen ging! Das hatte im vorliegenden Falle ja nichts zu sagen, da
zuvor die Hand nach Ahlfeld zum mindesten keimarm gemacht
vorden war, und diese Keimarmut sich unter einem trockenen
Handschuhe nachweislich stundenlang erhält. Wie oft, meine Herren,
entstehen kleine Risse, wie oft haben neue Handschuhe ganz kleine und
kleinste Defekte? Man achte doch nur einmal darauf! Ist die Hand
nicht vollkommen trocken, bildet sich ein »Handschuhsaft'', der oft
genug voll Spaltpilzen ist, so quillt er nach außen und kann infizieren.
Auf der andern Seite können Flüssigkeiten von außen unter den Gummi
eindringen und den Arzt erheblich gefährden. Unter allen Umstän-
den zwingt die Zerreißbarkeit der Handschuhe die Hand zuvor auf
das allersorgfältigste zu reinigen. Geschieht solches mit einer der
besprochenen Alkoholmethoden, die ja eine anhaltende, weitest-
geliende Keimarmut, die an Keimfreiheit grenzt, die unter allen Um-
standen für die Dauer einer geburtshilflichen Operation weit aus-
reicht, sicher gewährleisten, so sind Handschuhe eigentlich überflüssig,
da sie praktisch kaum einen größeren Schutz verleihen können.^)
Das sind Tatsachen, die sich durch noch so volltönende Worte der
eigenen Oberzeugung des Gegenteils nicht aus der Welt schaßten lassen
und die keinen anderen logischen Schluß gestatten als den eben ge-
falirten. Handschuhe haben auch in der Tat die Ergebnisse der Kliniken
nicht im geringsten zu bessern vermocht, was doch unbedingt der
Fall sein müßte, wenn wirklich den Handschuhen ein so großer Vor-
teil zukommen würde. Um diesen Punkt gehen die Anhänger der
Handschuhe herum — aber damit wird diese wichtige Tatsache nicht
ausgeschaltet! Der Nichtgebrauch der Handschuhe bedeutet daher
noch lange nicht einen Mangel an Gewissenhaftigkeit (Jung) oder
gar einen Leichtsinn, wie kurzsichtige Kritik, der die Wertigkeit
1) So schreibt DurUcher in der Ärztlichen Rundschau 1907, Nr. 33 aus der
Praxis heraus: Den geübten Praktiker kann zwar hier (d. h.^bei zuvor mit Eiter be-
scbmutzten Hfinden) das Operieren mit Gummihandschuhen große Vorteile bieten;
der Anflnger wird aber durch die Tastsinnesbeschrfinkung für die Handschuhe weniger
Sjnnpathie bekunden. — Jedenfalls kommen die ganz vereinzelten Keime, die sich von
einer Hand ohne Handschuhe entfernen lassen, nicht in Betracht, gegenüber der
Menge Keime der Scham und Scheide, die mit verschleppt werden.
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278 Otto von Herff, [14
der neueren D^infektionsmethoden offenbar vollständig unbekannt
geblieben ist, behaupten konnte.
Der tuDerordentlich unschätzbare Wert der Handschuhe liegt auf
einem anderen Gebiete:
Schutz der eigenen Hand gegen Beschmutzung mit gefährlichen
Fremdkörpern aas anderen Quellen, Schutz gegen eigene Erkraw-
hang, Ermöglichung der eigenen Tätigkeit, wenn die Hand nicht
ganz frei von kleinsten Rillen, Schrunden und Wunden aller Art
ist. Gerade diese unscheinbaren Hautverletzungen beherbergen Spalt-
pilze, darunter gewiß nicht selten angriffskräftige Formen , die, als
Fremdkeime in frische Geburtswunden eingepflanzt, die schwersten
Erkrankungen auszulösen vermögen.
In der Ermöglichung des Eigenschutzes, der sogenannten Noninfek-
tion, liegt der wahre Wert der Handschuhe, der selbst ein unersetz-
licher wäre, wenn dieser Eigenschutz sich nicht auf dem Wege Mur-
phys in billigerer Weise ermöglichen ließe! Eine tiefe Wahrheit liegt
in Kochers Anschauung, gewiß eines der maßgebendsten Chirurgen
der Jetztzeit, dem nicht Mangel an Gewissenhaftigkeit oder gar Leicht-
sinn vorgeworfen werden kann, daß man nicht während einer Opera-
tion, sondern in der Zwischenzeit Handschuhe tragen solle!
Betont muß werden, daß ein Selbstschutz nur bei unverletzten Handschuhen
vorhanden ist. Zweimal habe ieh trotz Handschuh Wundrose an meinem linken
Arm davongetragen, der Gummi mußte kleinste Lficher besessen haben. Daß in
solchen Pillen die Gefahr bei Handschuhen größer ist als ohne diese liegt auf der
Hand. Immerhin scheinen diese persönlichen Erfahrungen Ausnahmen zu sein.
Der richtige und sachgemäße Gebrauch von Handschuhen verein-
facht nicht die Desinfektion, sondern erschwert und verteuert sie nament-
lich nicht unerheblich« Höhere Ansprüche an die Gewissenhaftigkeit, an
die Bequemlichkeit und an die Zeit des Arztes werden gestellt, als
es irgendeine der bewährten Alkoholmethoden nach Ahlfeld, Engel,
oder Schumburgs Schnelldesinfektion fordern. Das sind Gründe
genug, um danach zu streben, die Handschuhe für die Praxis über-
flussig zu machen«
Die unverkennbaren Nachteile der Handschuhe, das Bestreben,
deren Vorteile auch auf andere Weise zu erreichen, insbesondere das
mechanische Prinzip der Keimeinsperrung in der Händereinigung
(Schleich) zu vervollkommnen, führte zu aussichtsreichen Ver-
suchen, die Hautkeime in ihren Schlupfwinkeln fest zu bannen.
Der Versuche Murphys, eine Art Gummihandschuh zu scha£Fen,
habe ich soeben gedacht, ich selbst besitze darüber keine Erfahrung.
In einfacher, allerdings in wenig sicherer Weise läßt sich der
Forderung der Keimabsperrung nachkommen durch das von alters
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15] Im Kampfe gegen das Kindbettfieber. 279
her bekannie Einreiben der Haut mit Öl, überhaupt mit Fett oder
Vtseline. Ich selbst habe fOr das Operationsfeld mit gutem Erfolge
liogere Zeit Jodipin verwandt. Alle diese Mittel verschmieren, außer-*
dem kann man sich leicht davon überzeugen, daß sie nicht sicher
sind, weil sie sich zusamt den Hautkeimen, die nicht abgetötet wurden,
abstreifen lassen. Durchaus brauchbar ist die Desinfektionsmethode
Heußners: 5 — 10 Minuten langes Abreiben der trockenen Hand mit
IVoo Jodbenzinlösung, — statt dessen habe ich Jodazeton mit gleicher
Wirkung versucht, — welcher etwa 10% ParafSnöl zur Schonung und
Deckung der Haut zuzusetzen ist Verlangt muß aber werden, daß
solche Schutzmittel eintrocknen und der Haut fest anhaften, wenn
sie Gummihandschuhe ersetzen sollen. D öder lein verwendet daher
gelöstes Guttapercha, Gaudanin im Handel genannt, doch ist dieses
Mittel, abgesehen von der Umständlichkeit seiner Anwendung, auf
einem Operationsfeld sehr brauchbar, aber nicht für die Hände ge-
eignet.
Viel zweckmäßiger erscheint das Wichsen (Bohnen) der Haut mittelst
Chirosoter, einer Lösung verschiedener Wachsarten in Tetrachlor-
kohlenstoff, die geßirbt und ungefärbt in den Handel kommt^) Diese
Wachslösung, die besonders von Klapp empfohlen wird, gewährleistet,
selbst wenn sie auf eine völlig unvorbereitete Tageshand aufgetragen
wird, eine solche weitgehende Keimarmut, die an Keimfreiheit grenzt,
wie sie nur mit den Alkoholmethoden erreicht werden kann. Diese
ist zudem dauernd, weil Tiefenkeime nicht mehr auswandern können
und der Wachsüberzug nicht so bald abblättert. Zur Anwendung
eignen sich nach den Versuchen Meißners, dem ich hier folge, so-
wie nach meinen eigenen Erfahrungen — ich verwende seit langem
Chirosoter zur Abdeckung aller Operationsfelder, einschließlich des
der Scham mit allerbestem Erfolge — eine möglichst trockene Haut
oder eine solche, die mit Seifenspiritus oder nach Ahlfelds Me-
thode, oder, noch besser, mittelst der Schumburg-Schnelldesin-
fektion oder mit Alkohol-Azeton gereinigt wurde. Je trockener die
Haut, die Hände sind, desto besser haftet der Chirosoterüberzug, desto
sicherer und dauernder werden die Spaltpilze auf und in der Haut
festgeleimt. Sollen Unternagelräume, deren Bedeutung übrigens über*
trieben wird, gewichst werden, so müssen die Nägel so kurz wie nur
möglich geschnitten werden, eine Forderung, die auch sonst gestellt
1) Chirosoter^ der leicht flüchtig aber nicht feuergefährlich ist, wird von der
Firma Krewel u. Ko., Köln a. Rhein hergestellt. Die mit Sudanrot gefärbte Lösung
ist besonders für das Operationsfeld zu empfehlen, weil dadurch ein Zuviel und
somit unangenehme Hautreizungen leicht vermieden werden.
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280 Otto von Herff, [16
werden muß. Gigerl- und Chinesennägel bei einem Operateur weisen
auf höchst üble Gewohnheiten in der Desinfektion hin. Der Chiro-
soter ist erheblich billiger als Gummihandschuhe, steht jederzeit bereit,
läßt sich leicht mitfOhren und bedarf als nicht feuergefahrlich keiner
besonderen Vorsicht. Ferner ist dieses Mittel ein gutes Hautkosme-
tikum und erleichtert den Selbstschutz. Als Nachteil teilt der Chi-
rosoterüberzug die Schlüpfrigkeit mit den Gummihandschuhen, auch
vertragen einzelne Personen den Tetrachlorkohlenstoff nicht. Ich
wenigstens bekomme eine stark juckende Hautentzündung, die mehrere
Tage anhält, doch bin ich in dieser Beziehung ausnahmsw'eise be-
sonders empfindlich. In den recht zahlreichen Fällen, in denen ich
bei Scheidenoperationen Chirosoter auf die doch so empfindliche
äußere Scham angewandt habe, sind bisher keine besonderen Reiz-
erscheinungen aufgetreten. Mit einem solchen Wachshandschuh
läßt sich das Prinzip des Selbstschutzes, d. h. der Nonin-
fektion, in weitestgehender Weise durchführen. Ich freue
mich hier sagen zu können, daß Kollegen sich dieses Schutzmittels
mit bestem Erfolge z. B. bei Sektionen bedienen und damit sehr zu-
frieden sind. Diese ziehen den Chirosoter entschieden den so leicht
verletzbaren und teuren Handschuhen vor. Meine Herren, ich stehe
daher nicht an zu erklären:
Der Chirosoterüberzug, das Wichsen der Hand, besonders
aber der Haut ist eine Methode, die der Beachtung der Ärzte
in jeder Beziehung wert ist, die namentlich auf dem Gebiete
des Selbstschutzes die so wichtige Handschuhfrage in glück-
lichster Weise zu lösen scheint. Die Handschuhe erscheinen
entbehrlich. Chirosoter und Schumburgsche Schnelldesin-
fektion neben Ahlfelds oder Engels Methode leisten über-
dies auf dem Operationsfeld das zurzeit Erreichbare.
Die Anwendung des Chirosoters ist erheblich einfacher als die des Gaudanins
und daher ist es diesem vorzuziehen. Nach Reinigung der UntemagelrSume wird
auf die möglichst trockene Hand der Chirosoter unter Berücksichtigung der Nagel-
räume aufgesprüht oder auch einfach aufgegossen und in die Haut fest einge-
rieben. Will man die Hand oder die Haut eines Operationsfeldes zuvor reinigen,
was doch gewiß nur von größten Vorteil sein kann, so geschehe dieses nach einer
der Alkoholmethoden, insbesondere mit Alkohol-Azeton, um eine möglichste Trocken-
heit zu erzielen. Jodlösungen erübrigen sich von selbst, ein Punkt, der wegen
etwaiger Hautreizungen nicht ganz ohne Bedeutung ist.
Die Scham einer Frau keimfrei zu machen, ist eine noch un-
gelöste Aufgabe, da die zarte Haut dieser Teile sehr empfindlich ist.
Und doch muß bei dem ungeheuren Reichtum an Spaltpilzen, der
gerade dieser Gegend eigentümlich ist, diese Frage erledigt werden,
weil bei einem operativen Eingriff jederzeit die Gefahr der Keimver-
schleppung in die Tiefe der Teile besteht.
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17] Im Kampfe gegen das Kindbettfieber. 281
Die wohl allgemein übliche und außer mir ohne Narl^ose be-
folgte Reinigung mit Heißwasser-Seife plus Desinfiziens (Sublimat) in
Wasser hat nicht mehr Wert als irgendeine gewöhnliche Seifen-
waschung, welch letztere ja als völlig ungenügend genugsam bekannt
ist. Man untersuche nur einmal diese Gegend auf ihren Keimgehalt
und man wird überrascht sein von dem geringen Ergebnis dieser „gründ-
lichen Desinfektion''. Man begreift aber auch, wie so manche durch
scharfe Logik ausgezeichnete Geburtshelfer von einer solchen Schein-
desinfektion völlig absehen wollen, die Scham unberührt lassen,
um deren Keime nicht noch mehr aufzurühren und in Bewegung zu
setzen zumal auch ein sorgfältig enthaarter Haarboden sich mit solchen
Mitteln nicht im geringsten keimarm machen läßt.
Die besten Ergebnisse an der Scham erhielt ich mit einer Alkohol-
Azetonreinigung. Mehrfach gelang es mir, eine sehr weitgehende
Keim Verarmung zu erzielen, niemals aber Keimfreiheit wie an der
Hand. Bei gynäkologischen Eingriffen suche ich sie mir mit einem
Chirosoterüberzug zu sichern. Aber eine solche Reinigung läßt sich
ohne Narkose nicht durchführen, sie ist somit für die gewöhnliche
Geburtshilfe ausgeschlossen. Gegenwärtig wende ich vor einem ge-
burtshilflichen Eingriffe, sofern er Narkose erfordert, Ahlfelds Me-
thode, auch Mikulicz' Seifenspirituswaschung an. Vielleicht gehe
ich aber zum Alkohol-Azeton über, ob mit Chirosoterüberzug, das
weiß ich allerdings noch nicht. Ich halte diese Frage übrigens für
ziemlich nebensächlich.
Die zurzeit bestehende Unmöglichkeit, die weibliche Scham ohne Narkose
irigendwie keimfrei zu machen, verbunden mit der tfiglichen Erfahrung, daß die hier
hausenden Spaltpilzarten in der Regel verhältnismäßig unschuldig für ihre Trä-
gerin sind, sofern sie nicht in frische Geburtswunden durch ein Trauma eingepflanzt
▼erden, hat, wie gesagt, einzelne Geburtshelfer, so Krön ig, dazu geführt, auf
jedvelche Reinigung der Schamgegend zu verzichten. Ich gehe nicht so weit, weil
ich der Ansicht bin, daß man stets das zurzeit Erreichbare leisten soll, wenn es auch
zunächst noch so unvollkommen ist. Immerhin muß ich nach besserer Erkenntnis der
Sachlage den scharfen Ausdruck, den ich in meiner^Abhandlung über das Kindbett-
fleber gebraucht habe, nämlich, daß die Unterlassung der Reinigung der Scham
ein Kunstfehler sei, als viel zu weitgehend zurücknehmen. Ich betone aber, daß
durch Rasieren der Scham und ihre Reinigung mit einer der Alkoholmethoden eine
recht beträchtliche Keimverarmung erzielt wird, die so ganz ohne Wert doch nicht
sein dürfte, daß bei Anwendung des Chirosoters eine Keimverarmung, die an Keim-
freiheit grenzt, zu erreichen ist.
Die Forderung) die Scheide von ihren Eigenkeimen zu befreien,
läßt sich theoretisch wohl begründen, praktisch stößt aber eine solche
Mafiregel auf große Schwierigkeiten, sicherlich ist sie aber in vielen
Fallen unnötig. Durch Scheidenspaiungen läßt sich eine Keimfreiheit
gar nicht oder doch sehr schwer erzielen, hingegen ist eine weit-
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282
Otto von Herif,
118
gehende Keimverarmung, bedingt durch Abschwemmen der lose sitzen-
den Spaltpilze, eher zu erreichen.
Bei normaler Geburt mit geringstem Geburtstrauma sind die
Scheidenkeime kaum zu fürchten, zumal viele von ihnen unter
der Geburt durch das Fruchtwasser, nachhaltiger jedoch durch den
Fruchtkörper und die Nachgeburt ausgewischt werden. Die übrig-
gebliebenen Spaltpilze steigen erst zu einer Zeit im Verlaufe des
Wochenbettes in die Gebärmutter, zu der die Geburtswunden bereits
geschützt sind, schwere Erkrankungen kaum noch zustande kommen
können. Von Vorteil sind daher nach meiner Erfahrung und Ober-
zeugung — und darin fühle ich mich eins mit Fehling — Scheide-
spülungen vor einer jeden geburtshilflichen Operation. Unbedingt not-
wendig sind sie bei mangelhaftem Schluß des Scheidenmundes infolge
Dammriß, bei Vorfällen aller Art, zumal wenn gleichzeitig Cervixrisse
vorhanden sind. Auch bei einer Infektion, kenntlich an Fieber unter
der Geburt oder an einem übelriechenden Ausfluß» sind sie am Platze,
ferner wenn zwischen dem Eisacke und der Uteruswand operiert
werden muß, z. B. vor und nach Nachgeburtslösungen. Für diese
letzteren beiden Fälle müssen als weitere Vorbeugungsmaßregel neben
den Scheidenspülungen noch Gebärmutterausspülungen ausgeführt
werden. Die Überlegung ist gewiß nicht falsch, die Möglichkeit
muß zugegeben werden, daß mit der Verminderung der Zahl der Keime
die Wahrscheinlichkeit, daß solche in Geburtswunden verschleppt
werden oder selbständig einwandern, entsprechend geringer wird.
Überdies ist die Zahl der eigentlichen Krankheitserreger, deren Angriffs-
kraft infolge ungenügender Ernährung zunächst noch geschwächt ist,
klein. Jedenfalls können solche Ausspülungen nicht schaden, sondern
nur nützen.
Die Berechtigung, ja den Nutzen vorbeugender Scheiden-
und Gebärmutterausspülungen glaube ich, durch meine und
anderer klinische Erfahrung in jeder Beziehung sicher ge-
stützt zu sehen.
Immer und immer wird gegen Scheidenspülungen der Vorwurf erhoben,
daß solche schaden, selbst von Verteidigern der Spülungen vor Operationen,
wiewohl ein etwaiger Schaden sich in solchen Fällen ganz besonders geltend
machen müßte, was aber hierbei direkt verneint wirdi Die glänzenden Er-
gebnisse der Kliniken, bei denen grundsätzlich vorbeugende Scheidenspülungen
gemacht werden, lehren laut das Gegenteil, sie werden daher bei Erörterung dieser
Fragen gern als unbequem beiseite geschoben! Insbesonders die Ziffern Würz-
burgs unter Hofmeier^) mit nunmehr über 9000 Geburten, bei denen Sublimat-
1) Weitere Beispiele siehe Das Kindbettfieber in v. Winckels Handbuch der
Geburtshilfe Bd. 3, 2. Teil.
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19] Im Kampfe gegen das Kindbettfieber. 283
anaspaloiigen gemacht worden sind, beweisen in einwandfreier Weise, weil es sich
am konstante Ergebnisse lundelt, — die Fehlergrenze Hegt unter 1 — daß die
Scheidenspiiluagen keinerlei Schaden angerichtet haben. Beobachtet wurden, bei
11^% GesamtmorbiditSt, 7,3% Kindbettfieber, worunter nur 2,3% schwere Formen
gewesen sind. Einen Nutzen mag man, wenn man durchaus will, weil Vergleichs-
zahlen fehlen, trotz dieser glänzenden Ergebnisse bestreiten, aber einen Sehaden
2tt behaupten erscheint widersinnig.
In solchen heiklen Fragen können kleine Zahlen nichts beweisen. Ich habe
solches bereits Baisch gegenüber an anderer Stelle rechnerisch nachgewiesen und
bin noch nicht widerlegt worden, i) Baisch wiederholt (Medizinische Klinik
1907, S. 281), daß Scheidenspülungen schadeten, da bei seinen Gespülten um das
Doppelte mehr Fieber als bei den Nichtgespülten beobachtet wurde. Urteilen Sie
selbst, meine Herren! Mit der ZuveriSssigkeit eines wissenschaftlichen Experimen-
tes soll bewiesen worden sein, daß Scheidenspülungen vor der Geburt immer
schidlich seien. Denn von
500 Nichtgespülten fieberten insgesamt 8%, davon genital 5,2%
500 Gespülten , „ 12,8%, „ « 10,0%
d.h. es fanden sich Unterschiede zuungunsten der Nichtgespülten von 4,8%. Die Wahr-
scheinlichkeitsrechnung, die Ba isch freilich außer acht läßt,lehrt nun, daß für gleiche
Reihen von 500 Nichtgespülten derProzentsatz der Genitalflebernden zwischen rund 2,4%
QQd 7,9% schwanken kann, bei den Gespülten zwischen 6,2% und 13,7 %, bei den Insge-
samtflebernden bei den Nichtgespülten zwischen rund 3,3% und 12,7% und bei den
Gespulten von 7,5 % und 18,5 % = d. h. beide Reihen der äußersten Möglichkeiten
l>erühren sich. Bei 500 Fällen beträgt die Fehlergrenze ± 0,0276, wenn — = 0,05 = 5%
ist und bei 10% 1— = 0,lo| ± 0>0379I Baisch hat trotz des Unterschiedes von
4^%, der geringer ist als der wahrscheinliche Fehler, daher kein Recht mit der
Sicherheit eines Experimentes zu behaupten, daß ein Schaden durch die Aus-
spülungen entstanden ist, daß das Spiel des Zufalles in seinen Reihen sicher
ausgeschlossen werden kann. Würzburgs Erfahrungen müssen doch zur größten
Vorsicht auffordern! Meine eigenen Untersuchungen auf diesem Gebiete, die
freilich noch nicht abgeschlossen sind, ergaben bei 3 % Therapogenscheiden-
Spülungen und bei einer Fiebergrenze von 37,9^ Achselmessung, daß unter
1800 Gespülten rund 15% fieberten, darunter vom Genital aus 8%, gegenüber
dem früheren Durchschnitt von 11,03% unter 4735 Geburten der Jahre 1902/1906.
Es läßt sich daher eine Besserung von 3% bei den Gespülten ausrechnen. Trotz-
dem würde es einen sehr groben Fehler meinerseits, der ich von der Notwendigkeit
der Wahrscheinlichkeitsrechnung überzeugt bin, bedeuten, wenn ich diese Besserung
schon jetzt als eine sichere Folge der Therapogenausspülungen ausposaunen wollte,
denn bei 1000 beträgt der mögliche Fehler bei 10% noch immer ± 0,0270, bei
2000 ±0,019! Man bedenke nur, daß in dem ersten Viertel dieser Fälle 6,7%, im
zweiten 9,8%, im dritten 8,5% und im vierten 6,5% Genitalfieber gezählt wurden,
Zihlen, die untereinander natürlich gleichwertig sind. N u r d u r c h^H eranziehung
der Wahrscheinlichkeitsrechnung wird die vergleichende Statistik
1) Baisch, Der Einfluß der Scheidendesinfektion auf die Morbidität im Wochen-
bett Arch. f. Gyn. 1906, Bd. 19, Heft 2.
2) Jahresbericht des Frauenspitals Basel Stadt für das Jahr 1906, S. 46.
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284
Otto von Herff,
[20
wissenschaftlich verwertbare Ergebnisse erzielen — diese Erkenntnis
muß sich auch auf dem Gebiete der Medizin unbedingt Bahn brechen I
Unrichtig ist die stets wiederkehrende Behauptung, daß schwere Erkrankungen
oder gar Todesfälle nach Eigenansteckungen nicht vorkommen können, daß Kreißende,
die ausnahmsweise auf diese Art erkranken, nur leichte Fieber bekommen. Die
Ergebnisse aller Kliniken, die ausschließlich mit Handschuhen untersuchen, lehren
eindringlichst, daß trotzdem schwere Erkrankungen, wenn auch vielleicht nur auf
dem Umwege eines Geburtstraumas vorkommen. Auch diese Kliniken haben über
Verluste an Anstaltsinfektionen zu klagen so gut wie die anderen. Zeigten doch
auch in Tübingen unter Döderleins Leitung jene Kreißenden, die wihrend der
Geburt innerlich nicht untersucht wurden, d. h. die leichtesten und gunstigsten aller
Geburten , die an sich die geringsten Aussichten auf eine Infektion darbieten, noch
immer rund 5%, wenn auch zumeist leichtes Fieber (Bai seh). Ganz harmlos sind
die Eigenkeime der Frau durchaus nicht Es kommt nur auf die Bedingungen an,
die sie vorfinden, diese können gelegentlich auch so beschaffen sein, daß die
schlummernde Angriffskraft gesteigert wird. Unter anderen hat ja Natvig das
Aufsteigen eines Streptokokkus der Süßeren Scham in die Tiefe der Geschlechtsteile
und eine dadurch bewirkte Infektion nachgewiesen, die leicht hätte tödlich werden
können.
Keinem Zweifel kann es unterliegen, daß eine zweckmäßige wirk-
lich zuverlässige Desinfektion des ärztlichen Personales — Arzt,
Hebamme — aller Gegenstände, die mit der Kreißenden in Berüh-
rung kommen, sowie der Gebärenden selbst, soweit dieses zurzeit
erreichbar ist, sofort und dauernd die Zahl der schweren oder
tödlich endigenden Kindbettfieber auf eine Mindestzahl sinken lassen
wird. Aussicht ist aber nur dann vorhanden, wenn das Geburtstrauma
möglichst klein ausfällt^ wenn es nicht durch ein Operationstrauma
vergrößert wird. Eine Bedingung, die in ihrer Wichtigkeit gleich
hinter der Forderung einer zuverlässigen Desinfektion kommt.
Betrachten wir einmal, meine Herren, diese wichtige Bedingung
näher!
Eine ganz besonders hervorragende Rolle in der Vorbeugung des
Kindbettfiebers spielt nicht allein die Einschränkung der inneren
Untersuchungen, sondern weit mehr die Vermeidung aller nicht
unbedingt notwendigen Operationen, d. h. die Herabsetzung des
Geburtstrauma auf das physiologisch unvermeidbare Mini-
mum.
Eine bekannte, von Friedrich bewiesene Tatsache ist, daß ein
großer Unterschied darin liegt, ob Krankheitserreger nur locker einer
Wundoberfläche, wie nach einer gewöhnlichen Geburt aufliegen, oder
ob sie mit Kraft in eröff^nete Gewebsspalten eingeimpft werden, wie
es bei Operationen leicht geschieht. Das Trauma ist nicht die
einzige, aber eine der wichtigsten Bedingungen für das Ent-
stehen eines Kindbettfiebers!
Eine uns Ärzte tief beschämende Tatsache ist es leider, daß in
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21] Im Kampfe gegen das Kindbettfieber. 285
allen Landern in der Vorgeschichte und damit auch als Ursache
schwerer Kindbettfieberformen Operationen häufig erwähnt werden.
Von vielen Ärzten werden unnötige Eingrifft — Luxus-, Erlösungs-
vorbeugende Zangen — ausgeführt. Diese bevorzugen merkwürdiger-
weise auch die für eine Infektion gefährlichste Operation, die manuelle
Plazentarlösung. Alle diese Eingrifft nehmen mit der Häufigkeit der
Ärzte zu. Eine merkwürdige Erscheinung, die durch Furcht vor un-
lauteren Wettbewerb, die durch eine gewisse Abhängigkeit einfluß-
reicher Hebammen erklärt, aber nicht entschuldigt wird. Die Narkose,
ein ungerechtfertigtes Vertrauen in eine oft obendrein völlig ungenü-
gende, wenn auch sonst gewiß sehr oft sehr gewissenhaft durch-
geführte Desinfektion — Heißwasser, Seife plus Desinfiziens in Wasser
— verleitet gar zu leicht zu häufigeren Eingriffen als dieses bei unseren
Voreltern, die das Kindbettfieber zu fürchten alle Ursache hatten, üb-
lich gewesen zu sein scheint!
Freilich, eine rasche^ dabei schonende Untersuchung mit kurz
geschnittenen Nägeln, die nicht verletzt, erhöht die Gefahr nicht.
Wenn es sich gezeigt hat, daß bei behandschuhten Fingern die Zahl
der Untersuchungen ohne wesentlichen Einfluß auf das Vorkommen
von Fieber ist (Bai seh), so liegt die Ursache nicht darin, daß die
Keime der Scheide oder der Scham harmlos sind, sondern darin,
daß Schüler, Studenten und Hebammen, mit Handschuhen keine oder
doch nur selten Verletzungen machen können. Die Handschuhe ver-
mindern auf diese Weise die Möglichkeit der Einpflanzung von Eigen-
keimen in die Gewebe — das ist zuzugeben. Weiß doch ein jeder
Lehrer, wie viel Mühe es kostet, bis die Hände der Anfänger in
den Tuschierkursen weich geworden sind — ein Ziel, das zu den vor-
nehmsten Aufgaben eines Lehrers auf diesem Gebiete gehört.
Gestatten Handschuhe eine ausgebreitetere Anwendung der Ope-
ration, ermöglichen sie die Anbahnung einer ungefährlichen echten
chirurgischen Ära der Geburtshilfe? Das sind, meine Herren, wichtige
Fragen, die das Wohl der werdenden Mutter tief berühren. Nein,
und abermals nein, muß die Antwort lauten. Eines nämlich kann keine
noch so sorgfältig gereinigte Hand, kein Gummihandschuh, -kein
Chirosoter, nichts, nämlich die Vermeidung einer Verschleppung von
Keimen aus den äußeren Geschlechtsteilen, aus der Scheide, selbst
aus der Cervix in die Gebärmutterhöhle, gegebenenfalls an und
in die Plazentarstelle , solange es nicht gelingt, eine weitgehende
Keimverarmung der Geburtswege herzustellen! Freilich sind das
Keime, die bei spontanen Geburten sehr selten schwerste Er-
krankungen auslösen, weil sie bei diesen in die Gebärmutterhöhle
nicht verschleppt werden, weil sie in selbständiger Einwanderung
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286
Otto von HerfF,
[22
an 4ie große Wunde des Endometriums erst dann gelangen, wcon
diese Breschen in den gesunden Geweben schon längst geschützt
sind* Die Spaltpilze finden keine günstigen Bedingungen, keine be-
sondere Gelegenheit zur Entfaltung und Wirkung ihrer Angriffskraft.
Werden aber die gleichen Keime in einem Einzelfalle in eben ent-
standene^ oft genug noch gequetschte oder sonstwie geschädigte Wunden,
etwa bei Gelegenheit eines operativen Eingriffes — trotz sonst Tötlig
keimfreier Hand — Handschuh! — unmittelbar eingeimpft, so werden
diese Spaltpilze, die sonst harmlos erscheinen, ihre unheilvolle Tätigkeit
unbehindert durch Schutzvorrichtungen des Körpers, die noch nicht
zur Stelle sein können, entfalten. Das kann nicht oft genug wieder-
holt und gepredigt werden.
So erklärt es sich ungezwungen, wie ein Trauma, insbesonders
die Setzung gequetschter, zerrissener Wunden unter der Geburt, noch
weit gefährlicher allerdings im Wochenbett und bei Eingriffen an
der Piazentarstelle, die allergunstigsten Bedingungen für den Ausbruch
einer schweren Erkrankung abgeben kann.
Die Schwere des Geburtstraumas spielt eine wesentliche
Rolle in der Entstehung des Kindbettfiebers; das Trauma ver-
schuldet, daß nicht nur Fremdkeime, sondern auch harm-
lose Eigenkeime der Wöchnerin gefährlich werden. i) Je
geringer das Geburtstrauma ausfällt, desto ungunstigere
Bedingungen für eine Infektion liegen vor, je ausgedehn-
ter ein Operationstrauma ist, je näher dieses an der Pia-
zentarstelle liegt, desto größer die Gefahr fär die Wöchnerin
— das sind Sätze, die ein jeder Geburtshelfer sich fest einprägen
muß, nach denen er sein Handeln einzurichten hat. Zweifellos läßt
sich der ungünstige Einfluß des Traumas durch eine tadellose Asepsis
und Antisepsis paralysieren, aber wehe, wenn sie irgendwie unge-
nügend sind, wie leider so oft in der Hauspraxis.
Das Übersehen, das Geringschätzen des Traumas, meine
I) Zahlreich sind die Beispiele, die beweisen, daß Eigenkeime durch ein Trauma,
erst ihre wahre Natur zeigen. Hier möge ein solches Platz finden. Während der ersten
Niederschrift dieser Zeilen mußte ich wegen schweren Blutungen, nach bis dahin fieber-
freiem Wochenbett, einige Plazentarreste entfernen. Dies geschah von mir selbst
in schonendster Weise mit dem Finger, die Hand war mit einem sicher keimfreien
Handschuh geschützt, der auch nach dem leichten Eingriffe sich als unverletzt er*
wiesen hat. Vor und nach dem kurzen Eingriffe wurde der Uterus reichlich mit
Jodalkohol durchgespult. Trotzdem rasche Entwicklung einer Staphylokokkämie, Metro-
lymphangttis, Metroplebitis purulenta, Amputatio uteri supravaginalis, erhebliche
Besserung, schließlich Tod an Verschleppungsbakteriamie — alles bedingt durch
Infektion mit Eigenkeimen begünstigt durch ein Trauma.
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23] Im Kampfe gegen das Ktndbettfleber. 287
Herren, ist neben einer ungenügenden Desinfektion eine der
Hauptursachen, daß das Kindbettfieber nicht abnehmen wilK
Hier müssen Sie in gemeinsamer Tätigl^eit den Hebel kräftig ansetzen,
um dieses Hemmnis des Fortschrittes im Kampfe gegen das Kindbett-
8eber wegzuräumen! Besondere Schwierigkeiten gibt es dabei nicht
za fiberwinden. Es heißt nur, keine Eingriffe, keine Operation ohne
strengste Anzeigen ausführen, als welche ohne alle Zweifel nur
gehen können: vorhandene oder sicher eintretende Gefahr für Mutter
und Kind. In allen anderen Fällen wird die Geburt ohne Schaden
für Mutter und Kind verlaufen, wenn der Arzt nicht überflüssiger-
weise sich hineinmischt.
Denken Sie, meine Herren, stets an die möglichen Folgen eines
Traumas, an die Begünstigung einer Infektion durch Eigenkeime, an
eiae Verschlimmerung einer solchen, die durch Fremdkeime im Be-
griffe steht zu entstehen und Sie werden an der Hand einer zuverlässigen
Handereinigung die glänzenden Erfolge der Gebäranstalten über-
trumpfen. Lassen Sie sich nicht durch das leicht mißzuverstehende
Schlagwort „operative Ära der Geburtshilfe* in der Ausübung der bei-
den größten Tugenden des Geburtshelfers, die der Geduld und des
weitgehendsten Vertrauens in die Naturkräfte erschüttern. Leisten Sie
den größten Widerstand der so weit verbreiteten Neigung zu überflüssi-
gen Operationen und Sie werden sich innere Befriedigung holen, Sie
werden sich überzeugen, nur genützt und nicht geschadet zu haben,
Sie werden die innere Kraft finden, standzuhalten gegenüber ab-
sprechendem Urteile dummer Hebammen oder unsauberer Kollegen, die
io unlauterem Wettbewerb ihr Heil suchen! Kein Zweifel, daß Sie
auf die Dauer auf der ganzen Linie den Sieg erringen werden! Frei-
lich werden noch einige Jahrzehnte vorübergehen, bis eine mißver-
standene Ära der operativen Geburtshilfe in ihrer ganzen Gefährlich-
keit erkannt worden ist.
Mit Recht wird Boer als leuchtendes Vorbild genannt. Aber,
meine Herren, es genügt nicht, von diesem großen Geburtshelfer zu
reden, man muß mit der Tat beweisen, daß seine Lehren auch be-
henigt werden!
Das physiologische Geburtstrauma ist beim engen Becken am
größten. Wird dieses noch durch ein Operationstrauma verschlimmert,
so kann an der Hand einer ungenügenden Antisepsis das Schicksal
der Wöchnerin leicht ein trauriges werden. Daher auch die bekannte
Tatsache der so viel schlechteren Voraussage des engen Beckens in
der Hauspraxis. Die Frage der Verminderung des schwereren Ge-
burtstraumas des engen Beckens, sei es durch Vermeidung von Ope-
rationen, sei es durch Näherung des Traumas auf das Maß eines nor-
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288 Otto von Herff, [24
malen Beckens, meine Herren, sind in der Hauspraxis wichtigste
Fragen der Vorbeugung des Kindbettfiebers, die durchaus eingehend
erörtert werden müssen.
Von jeher habe ich gelehrt — und diese Lehre habe ich von
meinen Lehrern Kaltenbach und Fehling übernommen — , daß bei
etwa Vio flli^i' engen Becken keine Kunsthilfe nötig ist. Sie können
dieses in meiner Geburtshilflichen Operationslehre, 1893, Seite 145,
nachlesen. Eine alte Lehre — daher ist es grundfalsch, wenn immer
wieder und wieder betont wird, daß erst die moderne Geburtshilfe
das Ziel erreicht hat, der Natur mehr wie bisher zu ihrem Recht ver-
holfen zu haben. Konservative Behandlung der Geburten des engen
Beckens, heißt es heute auf der ganzen Linie, aber auch früher lautete
die gleiche Losung. Der Konservatismus in der Behandlung des
engen Beckens ist durchaus nicht modern, er ist vielmehr recht alt.
Verschieden sind nur die Mittel, die angewandt werden, wenn der
Konservatismus scheitert oder voraussichtlich nicht zum Ziele führen
wird, wenn es sich darum handelt, der werdenden Mutter die Schrecken
einer Geburt bei engen Becken zu mildern. Letztere Aufgabe wird
allerdings trotz ihrer Humanität heutzutage als unmodern verschrieen
und totgeschwiegen. Und doch besteht ein sehr wesentlicher Unter-
schied, der Sie, meine Herrn der Hauspraxis, ganz besonders inter-
essieren muß. Hier Konservatismus in der Behandlung des engen
Beckens mit Hilfe vorbeugender Eingriffe, die für die Mutter kaum
gefährlich sind, allerdings etwas mehr Kinder fordern, dort Konserva-
tismus mit Hilfe der großen geburtshülflichen Operationen des Kaiser-
schnittes und der Beckenspaltungen, die unter allen Umständen für
die Mütter gefahrlich sind, wenn sie auch einer Anzahl von Kindern
mehr das Leben retten, aber sie fallen für die Hauspraxis aus.
Die moderne Behandlung brüstet sich damit, daß dabei die größte Zahl
von Spontangeburten beobachtet wird, ohne weitergehende Gefähr-
dung der Mütter und der Kinder, ihr stehe die alte Lehre in jeder Be-
ziehung nach. Auch dieser Ausspruch entspricht nicht den Tat-
sachen, ist daher falsch! Hier der Beweis:
Der Konservatismus, der im Frauenspital Basel-Stadt herrscht,
dürfte überall bekannt sein und wird von keiner anderen Anstalt der
Jetztzeit übertroffen. Beweis hierfür: unter rund 8000 Geburten meiner
Leitung sind in rund 0,5 % der Fälle Erzwungene Entbindungen,
so übersetze ich das Accouchement force, vorgenommen worden.
Darunter befinden sich Erweiterungen mit dem vorzüglichen Instru-
mente von Bossi: 5, vaginale Hysterotomien: 3, Erweiterung nach
Harris und Bonnaire: 3, Anwendung von Tarniers Erweiterer: 12,
der Rest betrifi^t Hystereurysen, diese fast alle bedingt durch Placenta
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25] Im Kampfe gegen das Kindbettfleber. 280
praevia. Der Konservatismus wird weiterhin damit bewiesen , daß
bei über 4000 Geburten mit beinahe 400 engen Becken nur siebenmal
die Hebosteotomie ausgeführt worden ist und dabei ist kein einziges
lebendes Kind perforiert worden. Und wie verhält es sich damit
anderswo? Ich las vor kurzem , daß in einer großen Anstalt auf
noch nicht 1000 Geburten sechsmal dieser Eingriff in einem Jahre
voi^enommen wurde! Und wie oft hört man bei viel weniger Ge-
burten, selbst aus der Tätigkeit von Hausärzten heraus , über 30 — 40
vaginalen Kaiserschnitten reden? Konservativ ist daher auch die
Behandlung des engen Beckens, allerdings mit Hilfe vorbeugender
Eingriffe, Insbesondere der künstlichen Frühgeburt. Dieser Eingriff
ist nicht nur im Interesse der Kinder, sondern ganz besonders auch
zu Nutz und Frommen der Mütter vorzunehmen, um ihnen ein größeres
Gebunstrauma zu ersparen — so schrieb ich in meiner vorher er-
wähnten Geburtshilflichen Operationslehre, Seite 03. Das Mildern
eines gesteigerten Geburtstraumas auf das physiologische Maß ist der
Hauptzweck der künstlichen Frühgeburt, nicht etwa die Vermeidung
der Tötung eines lebenden Kindes. Wer das nicht einsehen will, der
schließt absichtlich seine Augen vor einer unbestreitbaren Tatsache,
er will nicht das Wesen dieser so segensreichen Operation erkennen.
Dieser Zweck ist von der größten Bedeutung. Er ist leicht zu er-
reichen, wenn zur Einleitung der Geburt der Blasenstich , der an sich
gar kein Trauma wie etwa die Hystereuryse mit nachfolgender Wen-
dung setzt, vorgenommen wird. Und wie gestalten sich die Er-
gebnisse?
Unter 12420 Geburten (1896—1006) fanden sich in Basel 1150 enge
Becken = 9,3 %. Von diesen 1150 Geburten endigten 917 ohne Kunst-
hilfe =79,8%. Unter den Operationen sind erwähnenswert 14 Kaiser-
schnitte mit zwei Verlusten, drei Schamfugenschnitte mit einem Tode
und vier Schambeinschnitte, d. h. 21 groOe geburtshilfliche Eingriffe
neben allerdings einer großen Anzahl von künstlichen Frühgeburten,
120, neben einigen wenigen vorbeugenden Wendungen, da ich im all-
gemeinen ein Gegner dieses letzteren Eingriffes bin. In Basel betrug
die Summe der groOen Eingriffe 1,9% gegenüber 6,1 % bei Döder-
lein in Tübingen. Geboren wurden 1159 Kinder, von denen 116 tot
geboren oder doch innerhalb der nächsten Stunden oder Tage starben
= 10 % Sterblichkeit. Darunter befanden sich aber 19 vor der Geburt
abgestorbene luetische Früchte. Werden diese, wie billig abgezogen,
so beträgt die Sterblichkeit der Kinder 8,5 %.
Von den 1150 Frauen sind 12 gestorben —• alle bis auf eine bei
operativem Eingriff. Die mütterliche Sterblichkeit beträgt somit rund
10,5% ohne jedwelchen Abzug. Die Todesursachen waren fünfmal
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200
Otto Ton Herff,
[21
•1,
Utertisrüptur, dreimal Verblutung an Atonia uteri (einmal zugleicl
Cervixruptur), viermal an Kindbettfieber, darunter einmal nach Scham'
beinschnitt, zweimal nach Kaiserschnitt, einmal nach Zange, woruntei
zwei dieser Frauen bereits infiziert eingelieFert worden waren. Dei
Behandlung des Beckens erlagen somit zwei Frauen = 0,17 % un<
diese Opfer entsprechen dem modernen Konservatismus in der Be
handlung des engen Beckens und hätten vielleicht durch Opferunj
der Kinder vermieden werden können. 1) Werden alle Temperatur
Steigerungen, die 37,0 <> in der Achsel übersteigen, in Rechnung gesetzt
so fieberten 16%,
Behandlung
5"
3
1'
1
1
II
^1
ä a
Summe der vor-
beugenden Eln-
(rlffe
II
SS
||
flu ;§
a Si
n
0
J3
4
Kindersterblich-
keit ohne je-
den Abzug
tu
Sterblichkeit
derMQtterohne
jeden Abzug
Leipzig (Zweifel)
7M
21,6
2,1
2,5
0,5
5,1
2,4
4,8 3,7
8,5
9,9
?
t
Tübingen (Döder-
lein) • . . .
80,0
20,6
1,0
0,6
0,5
2,2
0,6
2,1
4,0
6,1
6,5
?
Basel (Bumm, v.
Herff) 1896-1906
79,8
20,2
2,9
2,2
10,4
15,5
0,06
0,6
1,2
1.9
10,2
8,5
10,5
Obersicht d. Ope-
rationen in
917
232
72«)
(6,0%)
633)
(5,3%)
120*)
180
25»)
(2,1%)
7
14
21
119
100«)
127)
Basel 1) . . .
1) In diese Rubrik sind alle operativen Eingriffe jeder Art, mit Ausnahme der
i^enigen Extraktionen aus Beckenendlagen, 29, verzeichnet. 2) Darunter 34 hohe
Zangen. 3) Darunter 26 vorbeugende Wendungen, die in den letzten 6 Jahren nicht
mehr ausgeführt wurden. 4) Durch die kunstliche Frühgeburt wurden 89,4% Kinder
lebend geboren und 79,7% lebend entlassen. 5) Eine Perforation des lebenden
Kindes (1900). 6) 19 Kinder waren vor der Geburt infolge Lues gestorben. 7) Die
Todesffille, ohne jeden Abzug, bestanden aus 5 Frauen, die mit Uterusrupturen
1) Während der Niederschrift dieser Zeilen bildete sich bei einer Kreißenden
mit leicht verengtem Becken, Conj. vera = 9 cm, aber mit einem sehr großen Kinde
mit sehr hartem Kopf rasch eine Physometra aus. Das Kind lebte, so versuchte
ich die Entwicklung mit meiner Achsenzugzange — vergeblich I Da der fötale Herz-
schlag noch gut war, folgte Hebosteotomie nach Bumm. Blasen Verletzung, Epi-
seotomie. Kind frisch lebend. Dieses wurde durch das Fruchtwasser infiziert und
erlag in der dritten Woche einer Lungenentzündung. Die Mutter mußte ein schweres
Krankenlager durchmachen, das jetzt nach drei Monaten noch nicht zu Ende ist
und wahrscheinlich mit einer dauernden Schädigung der Blasentätigkeit endigen
wird. Wäre es für die Mutter nicht zweckmäßiger gewesen , die Frucht angebohrt
zu haben, das Endergebnis wäre fürwahr ein besseres gewesen I
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27] Im Kampfe gegen das Kindbettfieber. 291
zur Vollendung der Geburt der Anstalt überwiesen worden sind (3 mal Kranioklasie,
1 mal Zange, 1 mal Extraktion aus Fußlage). 2 Frauen wurden infiziert eingeliefert
(Imal Zange, Imal Kaiserschnitt); 3 Frauen verbluteten sich an Atonia uteri (Imal
spontane Geburt, 1 mal Zange, 1 mal künstliche Frühgeburt mit Wendung und Per-
foration). 2 Frauen wurden in der Anstalt infiziert (Imal Kaiserschnitt [1896], Imal
Schamfugenschnitt [1897]). Will man die drei Todesfllle an Verblutung der Art der
Behandlung des engen Beckens zuschieben, so wären dieser 5 Mütter = 0,4 % er-
legen.
Meine Herren, das sind genau die gleichen Ergebnisse, wie sie die
modernste Behandlung erzielt. So steht Tübingen, wenn man die
Wahrscheinlichkeitsrechnung berücksichtigt, mit seinen 80 % Spontan-
geburten, 6,6 % Kindersterblichkeit und 0,1 % mütterlichen Verlusten
Basel gegenüber völlig gleich und dabei hat Basel ein Drittel weniger
große Eingriffe zum groOen Vorteil der Mütter zu verzeichnen!^) Es
kann ja nicht ausbleiben, daß auf die Dauer Kaiserschnitte und Becken-
spaltungen die Todesfalle der Mütter erheblich vermehren müssen.
Femer ist zu bedenken, daß nach künstlichen Frühgeburten das
Wochenbett wie ein jedes andere verläuft und keinerlei Dauerschädi-
gungen folgen, daß nach Kaiserschnitten und Beckenspaltungen ein
mehr oder weniger, zum mindesten unbequemes, häufiger schmerz-
haftes, selbst langes Krankenlager folgen kann, daß nach den großen
EiDgriffen dauernde Schädigungen der Gesundheit in Gestalt von
Hernien, Senkungen, Vorfallen, Störungen der Harnentleerung und
Behinderung der Gehfähigkeit durchaus nicht selten sind. Wo in
aller Welt, meine Herren, kann man ein solches langes und trauriges
Sündenregister der künstlichen Frühgeburt, deren Hauptzweck die
Herabsetzung des pathologisch gesteigerten Geburtstraumas des engen
Beckens auf das physiologische Maß ist, aufstellen — es sei denn,
daß man der Wahrheit ins Gesicht schlagen will? Aber totgeschwiegen
wird diese Tatsache in einem fort!
Der Satz ist somit bewiesen: Die abwartende Geburtsleitung ge-
stutzt auf vorbeugende Eingriffe ist in ihren Endergebnissen nicht nur
völl^ gleich, sondern muß auf die Dauer besser sein als die abwar-
tende Geburtsleitung gestützt auf Kaiserschnitt und Beckenspaltungen.
Wer der Richtschnur folgt: vor allem die Mutter und dann das Kind,
wer die Mutter sicher und in jedem Falle vor dauerndem Schaden
1) Bei einer Wahrscheinlichkeit von 0,9953 berechnet sich der wahrscheinliche
Fehler in Leipzig wie in Tubingen auf etwa ± 4% bei 800 Fällen, in Basel auf
±3,5% bei 1000 Fällen und 20% operative Geburten. Daraus folgt, daß die Er-
gebnisse dieser zwei Anstalten mit größter Wahrscheinlichkeit gleichwertig sind,
selbst f&r den Fall, daß die Extraktionen aus Beckenendlagen als „operative Ein-
griffe* einbezogen werden und die Zahl der operativen Geburten in Basel mit
22,7% in Rechnung gesetzt werden.
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292
Otto von Herff,
[28
bewahren will, wer in der allgemeinen Hauspraxis steht^ der weiß
nunmehr, welchem Konservatismus, ob dem älteren oder dem moder-
nen Pinards er zu folgen hat. Lassen Sie sich darin, meine Herrn,
nicht beirren, forschen sie selber nach, denn gar zu leicht werden
heutigen Tages unbequeme Tatsachen übergangen.
Eine Rückkehr zur alten Lehre, zunächst den Verlauf der Geburt
genau zu verfolgen, um Störungen zu verhüten, dann einzugreifen,
wenn wirklich Gefahr droht, vorzubeugen, wenn solche zu erwarten ist,
muß unbedingt verlangt werden, dafür müssen wir Lehrer der Geburts-
hilfe mit allem unsern Einfluß einstehen I Dann, aber nur dann wird
die Zahl der Kindbettfieber in Stadt und Land rasch abnehmen, das
bessere Zeitalter, nach dem sich Semmelweis vergeblich gesehnt hat,
zur Wirklichkeit werden. Fort also mit einer mißverstandenen ope-
rativen Ära der Geburtshilfe! Helfen sie diese zu bekämpfen, meine
Herren, und sie werden sich den Dank der Menschheit, wenn auch
erst in der Zukunft erwerben!
Daß das Trauma, d. h. die Setzung von zerrissenen, gequetschten Wunden, Ge-
websquetschungen, die bis zur Zermalmung der Gewebe gehen können, durch Ope-
ration eine verhängnisvolle Rolle in den Ursachen des Kindbettfiebers spielt, ist
eine Tatsache, die sich nicht wegleugnen läßt. Hierfür habe ich in meiner Ab-
handlung über Kindbettfleber manche Beweise beigebracht. Neuerdings hat Dohrn^)
nachgewiesen, daß unter den Entstehungsursachen der KindbettfieberßUle am häu-
figsten (ca. 25%) ärztliche Eingriffe — manuelle Plazentarlösungen, Wendungen und
Zangen, besonders die ,pLuxuszange^ — aufgeführt werden müssen. In S2% lag
die Schuld nicht an der Hebamme allein, in 18% an der Hebamme — das sind
doch Zahlen die sehr zu denken geben. Mögen doch die Regierungen derartige
höchst wertvolle Untersuchungen anordnen und nachhaltig unterstützen.
Auch He gar 2) kommt in seiner jüngsten Abhandlung: „Die operative Ära der
Geburtshilfe ** auf diese Frage in dankenswertester Weise zurück. Ich entnehme
daraus folgende kleine Tabelle, die die Verhältnisse in Baden beleuchtet.
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Mortalität nach
Operationen In
% aller Todcaf.
Jahrgänge
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Zahl der Op
rationen zu
Zahl der G
burten
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Mortalititln
der Opera
tionen
Mortalität na
Operationen
%der Geburt
1870-72
171832
—
—
6909
1 : 24,8
364
5,2
0,212
. —
1873—77
302070
2444
0,809
13178
1:22,9
763
5,8
0,253
31,3
1878-82
285721
2046
0,716
13204
1:21,6
682
5,2
0,258
33,3
1883—87
271283
2035
0,750
17533
1 : 15,4
555
3,2
0,204
27,2
1) Sonderabdruck aus dem offiziellen Bericht der 22. Hauptversammlung des
preußischen Medizinalbeamtenvereines.
2) Beiträge zur Geburtshilfe und Gynäkologie 1907, 12. Bd., 2. Heft, auch Volk-
manns klin. Vorträge Nr. 351.
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29] Im Kampfe gegen das Kindbettfieber, 293
Hegar (Qhrt aus, daß die Sterblichkeit nach Operationen ^U—^U der Gesamt-
sterblichkeit beträgt. Die Sterblichkeit nach Operationen, in Prozenten der Opera-
tionen ausgedrückt, ist in der Zeit mit gutausgebildeter Asepsis entschieden geringer
als in den Perioden ohne alle oder mit unvollkommener Asepsis.
Die Sterblichkeit nach Operationen, in Prozenten sämtlicher Geburten ausge-
drückt, ist dagegen in der Zeit mit vollkommener und ohne alle Asepsis fast vollständig
gleich. Das berechtigt zum Schluß, daß die größere Frequenz der Operationen in
der aseptischen Zeit 1 :15,4, im Gegensatz zu der geringeren Frequenz 1 : 25 in der
Zeit ohne alle Asepsis, das wieder verdarb, was die Asepsis und wohl auch bessere
Technik Gutes erzielte. Fürwahr, Altmeister Hegar hat leider auch für die neueste
Zeit nur allzusehr recht!
Welch Unheil eine mißverstandene chirurgische Ars der Geburtshilfe an-
zurichten vermag, zeigt eine Empfehlung, die ich soeben lese, nämlich die norm sie
Gebartsdauer abzukürzen, und die sich in der Nummer 1 der Berliner klinischen
Wochenschrift dieses Jahres vorfindet. Unglaublich, aber doch wahr, hier wird die
.prophylaktische Zange* bei weitem übertroffen! Theodor Landau schlägt vor,
die ErÖffnungszeit, wohlgemerkt bei normalen Geburten, durch digitale Erweiterung
des Muttermundes entsprechend dem Verfshren von Bonnaire und Harris abzu-
kürzen. Die Entschuldigung Landaus, daß ja bei Gebrauch von Handschuh und
Desinfektion der Kreißenden (I) keine Infektion zu erwsrten steht, ist so recht be-
zeichnend für unsere Zeit, der man das Motto geben könnte: Nur nicht auf den
Grund gehen, hübsch auf der Oberfläche bleiben I Mag sein — ich kann dies nicht
beurteilen — , daß in einer mehrfachen Millionenstadt für einen vielbeschäftigten
Spezialisten ein dringendes Bedürfnis vorliegt eine normale Eröffhungsperiode ab-
zakürzen — aber mit solchen Vorschlägen verschone man die zahlreichen Ge-
burtshelfer, die über die vornehmste Tugend einer solchen „Geduld*^ noch ver-
logen und die durchaus nicht der Ansicht sind, es müsse nunmehr alles mit
Elektrizitätsgeschwindigkeit gehen. Nein, eine solche üble Vielgeschäftigkeit ver-
dient als wissenschaftlicher Unfug auf das schärfste öffentlich getadelt zu werden.
Solches zu tun liegt im dringenden Interesse der werdenden Mütter, in meinem
eigenen Interesse als Lehrer angehender Ärzte um zu verhindern, daß solche
Ritschläge einer mißverstandenen operativen Ära der Geburtshilfe befolgt werden.
Derselbstverständlichen Forderung, nur auf strengste Anzeige hin zu operieren, wird
mir von Kalt, einem älteren erfahrenen Geburtshelfer, vorgehalten i), daß solches in
der Hauspraxis nicht möglich sei. Es heißt dort: „Solange es viele Frauen gibt, denen
die nötige Geduld zur Abwartung des natürlichen Geburtsverlaufes fehlt, sondern
die mit beharrlichem Ungestüm die künstliche Befreiung von ihren Leiden verlangen,
worin sie vom ängstlich besorgten Ehemann und andern Anverwandten mit kate-
gorischen Imperativen unterstützt werden und das Können und Erwerben des Arztes
noch in Frage gestellt wird, solange dieser Arzt noch vielen Berufspflichten anderer
Rlientelschaft im Momente nachkommen soll, welche Pflichten ihm nicht stunden-
lange Versäumnisse bei Geburten gestatten, so lange ist eben oft die Macht der
Verhältnisse stärker bestimmend, als die exakte wissenschaftliche Indikationsstellung
und — der Arzt unterliegt eben der stärkeren nienschlichen Beeinflussung! >)
1) Die ausschließliche Benutzung von Entbindungsanstalten zur Abwicklung des
Geburtsvorganges und der Wochenbettspflege. Dissert. Zürich 1007.
2) Gewiß ist es sehr erfreulich, wenn ein erfahrener praktischer Geburtshelfer
sich entschließt, öffentlich zu diesen Fragen Stellung zu nehmen. Auch ich habe
in einer fünfjährigen Tätigkeit als Hausarzt diese Umstände gründlichst kennen
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294 Otto von Herff, [30
Die Verhältnisse sind so, wie sie Kalt schildert. Ich gestehe aber offen, daß
ich mich gescheut haben wurde, so ohne weiteres zu sagen, daß die Geburtshelfer
sich von der Kreißenden und ihrer Umgebung, also von Laien, die Operationsan-
zeige gegen besseres Wissen stellen lassen, i) Die tieferen Gründe sind meines
Erachtens andere unid die soll man auch mitteilen. Diese sind in der Furcht vor un-
lauterem Wettbewerb inkoUegiaJer ^rzte zu suchen — tust du meinen Willen nicht,
so wird es ein anderer gerne tun, heißt es gelegentlich — und leider finden sich
solche Ärzte, die der Kreißenden und ihrer Umgebung zuliebe ohne weiteres deren
Wünsche erfüllen, um womöglich den standhaften und gewissenhaften Arzt bloßzu-
stellen und sich als Retter aus der angeblichen Not preisen zu lassen. Ferner die
Abhängigkeit so manchen Arztes von einer einflußreichen, allmächtigen Hebamme, die
sich ärgert, wenn ein Arzt sich erkühnt, ihre Anzeigen nicht zu befolgen usw.
Gewiß sind es sehr traurige Verhältnisse, auch lassen sie es begreifen und selbst
bis zu einem gewissen Grade entschuldigen, wenn Ärzte ihrer Macht unterliegen.
Wo solches stattfinden kann, sind aber die Ärzte schuld, sie haben die Pflicht in
gemeinsamer Tätigkeit sich von diesen Verhältnissen zu befreien. Solches läßt
sjch,^ meiner Erfahrung nach, in weitgehender Weise erreichen — man muß nur
den richtigen Willen haben, unlauteren Wettbewerb zu ersticken und gegen ein-
gebildete und übermütige Hebammen gemeinsam Front zu machen.
Der weitere Einwand Kalts, daß die Asepsis und Antisepsis in der Hauspraxis
nicht durchführbar sei, ist nicht stichhaltig. Jede gut geleitete geburtshilfliche
Poliklinik, die doch nichts weiter ist als Hausgeburtshilfe bei den Ärmsten, beweist
dieses ohne weiteres. So verfügt die geburtshilfliche Poliklinik meiner Anstalt, die von
üerrnDr. Lab hardt geführt wird,über nahe an lOOOHilfeleistungen unter der Ah Ifeld-
schen Heißwasser- Alkoholdesinfektion und dank strenger Operationsanzeige ohne
einen Verlust an Kindbettfieber. Und wie viele ältere erfahrene Geburtshelfer gibt
es — allerdings keine Anhänger einer mißverstandenen chirurgischen Ära der Ge-
burtshilfe, sondern Schüler BoSrs — die in vieljähriger Tätigkeit keinerlei Verlust
An Kindbettfieber erlebt haben! Der Einwurf Kalts ist nicht nur an sich nicht
richtig, sondern er ist sehr bedenklich, weil er gar zu leicht ein schwaches Ge-
wisse9 ganz einzuschläfern vermag, und dem laisser faire das Wort nur zu sehr
jedet. Man muß nur recht wollen , so geht auch die Desinfektion im Hause, in
einer Hütte!
Besonders günstige Bedingungen für die Einpflanzung von Genitalkeimen bietet
das Einlegen von Fremdkörpern aller Art in die Gebärmutter, vor allen die so belieb-
ten Ausstopfungen mit Gaze, selbst wenn sie mit Antiseptika — Xeroform, Vioform,
Jodoform, usw. — durchtränkt sind, aber auch das Einführen von Gummiballons
(Hystereuryse). Aus diesem Grunde empfehle ich daher die Einleitung der künst-
gelernt, mich aber nicht gebeugt. Wie dies geschehen kann, das lehrt ein jeder
von uns seinen Schülern im Operationskurs!
1) Selbst „Spezialisten'' — traurig genug — lassen sich ihre Anzeigen durch
die Umgebung der Kreißenden stellen! So lese ich: Das andere Mal sah ich mich
in einem Dorf einer älteren Erstgebärenden, ihren Angehörigen und dem Kollegen
gegenüber (sie!) genötigt, 3 Tage nach dem Blasensprung und am 3. Tage der
Wehen die Geburt zu beenden. Manuelle Dilatation des rigiden Muttermundes,
äußerst langwierige Zangenextraktion des im Beckeneingange kaum feststehen-
den Kopfes usw. Fürwahr, ein treffendes Beispiel für die Irrwege der chirurgischen
Ära der Geburtshilfe!
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31J
Im Kampfe gegen das Kindbettfleber,
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296
Otto von Herff,
[3
liehen Frühgeburt mit dem Blasenstich, welche Methode zweifellos in der Hau
praxis erheblich bessere Ergebnisse ergeben wird, zumal die vielfach, so jGngsth;
noch von Hannes, behaupteten schweren Nachteile des frühzeitigen Blasensprung<
nur in gewissen Lehrbüchern, nicht aber am Kreißbette zu finden sind. Möge
diese Gegenstände noch so sicher keimfrei gemacht werden, sie können jederze
Keime mitverschleppen, wie denn alle sogenannte antiseptische Gaze in kurzesti
Zeit von zahlreichen Spaltpilzen durchwachsen wird.
Mit der Einführung einer zuverlässigen Desinfektion und der Vei
minderung des Geburtstrauma auf ein Minimum sind die Vorbeugung!
maßregeln noch nicht alle erschöpft. Auch diese mögen heute kur
angeführt werden, wiewohl sie an Wichtigkeit zurückstehen. Die ge
fährlichsten Eingriffe sind jene, die sich an der Plazentarstelle, wi
überhaupt außerhalb des Chorionssackes abspielen — ein Satz, de
Ihre größte Beachtung fordert. Wie gefährlich die Lösung der Nach
geburt ist, von welch großer Wichtigkeit eine sachgemäße Leitung de
Nachgeburtsperiode, die diesem Eingriff vorbeugt und auf wenig
Fälle beschränkt, sein muß, geht, meine Herren, ohne weiteres au!
folgenden Zahlen hervor. Nach Seeligmann ^) wurde in Hamburj
in den Jahren 1896 — 1905 1123 mal die Lösung der Nachgeburt ge
macht, davon starben 232 Frauen, d. h. 20,8 %I Kein Zweifel, daß vieh
dieser Infektionen durch Ärzte, wenn auch nur mittelbar durch Ver
schleppung und Einpflanzung von Scheide- und Schamkeimen in di(
Plazentarstelle selbst, veranlaßt worden sind.
Ich schließe daraus, nfeine Herren:
Je sorgfältiger die Nachgeburtsperiode geleitet wird, d. h. je ge-
duldiger die Ausstoßung der Nachgeburt den Naturkräften überlassen
wird, desto weniger leicht werden Nachblutungen eintreten y destc
seltener wird es zur Verhaltung der Plazenta oder einiger ihre)
Abschnitte kommen, desto eher entfällt die Notwendigkeit, die fäi
eine Infektion so gefährliche manuelle Plazentarlösung vornehmen zu
müssen.
Eine Verminderung der Zahl dieser gefährlichen Eingriffe ist sicher
zu erwarten, wenn bei Wehenschwäche nicht wegen dieser, sondern
nur trotz dieser eingegriffen wird, d. h. wenn die Wehenschwäche an
sich keine Anzeige zur Beendigung einer Geburt gibt, sondern nur
deren Folgezustände, sofern diese Gefahr für Mutter und Kind be-
dingen. Muß einmal trotz der bestehenden Wehenschwäche eine
Operation vorgenommen, etwa die Zange angelegt werden, so müssen
Sie in einer solchen Zwangslage sich gegen eine etwaige Nachblutung
durch rechtzeitige Darreichung von Ergotin vor Beendigung der
1) Zentralbl. f. Gyn. 1908, S. 107.
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33] Im Kampfe gegen das Kindbettfieber. 297
Geburt so gut, wie es geht, sichern^), einen Rat, den ich schon lange
(Geburtsh. Operationslehre Seite 180) lehre. Daß unter allen Umstän-
den verhaltene Plazentarteile, wenn deren Fehlen erkannt wird,
alsbald zu entfernen sind, brauche ich Ihnen gegenüber nicht näher
auszuführen. Dagegen ist die Entfernung verhaltener Eihäute,
selbst des ganzen Eihautsackes völlig unnötig und gefahrlich, selbst
bei keimfreier Hand, weil ein Mitverschleppen von Genitalkeimen in
die Uterushohle niemals sicher vermieden werden kann. Wie mir
eine viethundertfShige Beobachtung innerhalb 20 Jahren lehrt, genügt
es in alten solchen Fällen, während der ersten Woche des Kindbettes
Ergotin darzureichen und zweimal täglich die Scheide auszuspülen.
Dafi häufiger einfache leichte Temperatursteigerungen nach Verhaltung von
Eihäuten, in Basel 15% gegen 8—9%, eintreten, ist richtig. Diese haben aber
alcbts zu bedeuten, wenn man sich nicht zu unnötigen und um diese Zeit des
Wochenbettes sehr gefährlichen Eingriffen, wie etwa Ausschabungen, verleiten läßt.
Die Vorbeugung des Kindbettfiebers im Wochenbett befolgt die
gleichen Grundsätze wie während der Geburt. AuOer Abspülen der
Scham ist gegebenen fiills durch Ergotin und heiße Scheidenspülungen
Sorge zu tragen für eine rasche Rückbildung der Gebärmutter, nötigen«
falls für eine raschere Ausstoßung verhaltener Eihäute oder Blutge-
rinnsel, bei übelriechendem Wochenflusse selbst ohne Fieber, gegen Blu->
tungen infolge mangelhafter Rückbildung oder Thrombenlösungen.
Solcher Spülungen wären zwei bis dreimal täglich mit 3 % Bazillol,
3% Therapogen, 2% Seifenkresol , auch wohl mit Chlorwasser 1:3
oder Jodwasser 1 : 3000 anzuordnen.
Von der allergrößten Wichtigkeit aber ist der Grundsatz: Während
des Wochenbettes ist, wenn irgend möglich, keinerlei operativ
verjEingriff, insbesondere keiner innerhalb der Gebärmutter
vorzunehmen. Auch die sekundäre Naht ist zu unterlassen, ich habe
nach solcher mehrfach Wöchnerinnen an Verschleppungsbakteriämie
sterben sehen« Und wie oft sind nicht nach unnötigen Ausschabungen
wegen verhaltener Eihaut oder aus sonst einem sehr notwendigen
GruQde, z. B. nach einer Entfernung von Plazentarpolypen, schwere
und tödliche Erkrankungen ausgelöst worden? Kein Handschuh, keine
AvsspüliiQgen, keine Einpinselunge^n schützen sicher vor Einimpfung
der Spaltpilze des Wochenflusses, unter welchen sich auch bei völlig
gesunden Frauen in sehr vielen Fällen die gefürchteten Streptokokken
1) Unter deo viele« gangbaren Ergotinpräparaten verdient im Bereiche der Ge-
burtshilfe das Sekakornin die erste Stelle, während in der gynäkologischen Praxis
<las Extractum secalis oornuti fluidum vorzuziehen ist.
KUn. Vortrige. N. F. Nr. 487. (Gynäkologie Nr. 177.) Juni 1908. 22
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i
298
Otto von Herff, Im Kampfe gegen das Kindbettfleber.
[3^
befinden, in die frischen Wunden, die bei diesen Eingriffen unbedingt
entstehen müssen.
Auf eine besonders strenge Ruhelage einer sonst gesunden Wöch-
nerin zu dringen, ist gewiß übertrieben und unnötig! Etwa 2 — 3 Tage
Rückenlage, dann Seitenlage, am 5. Tage Aufsitzen und am Anfang dei
zweiten Woche Aufstehen sollte vollkommen genügen. Eine längere
Bettruhe ist nur nach besonders schweren Geburten, nach Verletzungeo
— Dammrissen — nach Blutungen, bei Verhaltung von Eihäuten wie
überhaupt bei minderwertiger Körperentwicklung und selbstverständ-
lich bei Erkrankungen aller Art, besonders streng bei Wundinfektionen,
nötig.
Meine Herren! Ich bin am Schlüsse meiner kurzen Übersicht der
wichtigsten VorbeugungsmaOregeln des Kindbettfiebers angekommen —
jene während der Schwangerschaft fallen in das Gebiet der Hygiene
dieser Zeit. Wenn ich noch einmal das Wesentliche zusammenfassen
darf, so kann ich nur das wiederholen, was ich früher gesagt habe:
Je ausgedehnter, je tiefer eine Verletzung unter der Ge-
burt gesetzt wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit
des Ausbruches eines Kindbettfiebers, das besonders dann
gefährlich werden wird, wenn die Schädigung unter dem Deck-
mantel einer Scheinantisepsis gesetzt wird. Eigenkeime, die
sonst kein Unheil anrichten. Fremdkeime, die etwa von der
Hand einer Hebamme herrühren und zunächst verhältnis-
mäßig harmlos sind, werden durch ein Trauma — Zange,
Plazentarlösung — gar zu leicht in die Tiefe der Gewebe — in
Wunden, in die Plazentarstelle — eingepreßt. Sie können
nunmehr unbehelligt von den wirksamsten Schutzwehren des
Körpers, die noch nicht zur Stelle sein können, ihre unheil-
volle Tätigkeit widerstandslos entfalten. So stellt die Viel-
tuerei mancher Ärzte zu guter Letzt und häufig die Haupt-
ursache des Stillstandes, ja der Zunahme des Wochenbett-
fiebers dar!
Ergreifen Sie, meine Herrn, die Initiative, bekämpfen Sie
nachdrücklichst eine mißverstandene chirurgische Ära der
Geburtshilfe, es wird Ihnen sicher ein köstlicher Sieg über
das Kindbettfieber erblühen. Die Regierungen mögen aber
auch ihrerseits sich ihrer Pflicht auf diesem Gebiete er-
innern und mit ihren Machtmitteln die Ausmerzung bedenk-
licher Auswüchse auf dem Gebiete der Vorbeugung des
Kindbettfiebers, insbesonders bei den Desinfektionsvor-
schriften für Hebammen erleichtern!
Digitized by
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488,
(Gynäkologie Nr. 178.)
Ober abdominale und vaginale Köliotomien.
Eine ver^eichende Studie über den Wert und die Leistungs-
fähigkeit beider Operationen nebst Bemerkungen zur Indikations-
stellung und Technik,*)
Von
J. Pfannenstlely
Kiel.
Dank der Fortschritte auf dem Gebiete der pathologischen Ana-
tomie einerseits und der Vervollkommnung der allgemeinen chirurgi-
seilen Technik andrerseits haben die Köliotomien im Laufe der
Jalire eine derartige Entwicklung erreicht, daß es dem Operateur er-
möglicht ist, mit großer Zuversicht an den Eingriff heranzugehen.
Nicht zum wenigsten hat zu dieser Vervollkommnung beigetragen die
durcb die Einführung der vaginalen Köliotomie in die gynäkologische
Operationstechnik hervorgerufene Konkurrenz zwischen den beiden
Operationsverfahren der abdominalen und der vaginalen Köliotomie.
Beide Operationsarten sind heute in einer Weise ausgearbeitet, daß es
uDs, rein technisch betrachtet, in der Tat möglich ist, beinahe alle
gynäkologischen Eingriffe, die wir an interperitoneal gelegenen Or-
ganen zu erledigen haben, auf beide Arten auszuführen, durch den
abdominalen und durch den vaginalen Weg.
Es ist dalier vielleicht an der Zeit, einmal Umschau zu halten über
das gesamte Arbeitsgebiet und die Leistungsfähigkeit festzustellen, welche
den beiden genannten Operationsverfahren innewohnt. Daß sie beide
1) Vortrag, bestimmt für den am 20.-28. Mai 1908 >zu Philadelphia tagenden
Kongreß der American Gynecological Society*
Klia. Vorträge, N. F. Nr. 488. (Gynäkologie Nr. 17&) Juni 1906. 23
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300 J- Pfannenstiel, [2
ihre Vorzüge haben, ist klar; sonst würden sie nicht nebeneinander
bestehen können. Aber wo Licht ist, ist auch Schatten. Es gilt
daher vor allem, neben den Vorzügen auch der Nachteile zu ge-
denken, welche die beiden Methoden in sich tragen und danach zu
konstatieren, auf welchem Wege wir die uns anvertrauten Patienten
am schnellsten und sichersten zu dem Ziele einer guten und dauer-
haften Heilung zu führen vermögen.
Bei der Wahl eines Operationsverfahrens spielen naturgemäß zum
nicht geringen Teil rein äußerliche Momente eine gewisse Rolle, vor
allem die persönliche Übung und Gewohnheit des Operateurs, sowie
gewiaae Liebhabereien. Allein dieae Gesichtspunkte sollten niemals
maßgebend sein bei der Wahl eines Operations Verfahrens, sondern
einzig und allein das leibliche Wohl des Kranken. Auch ästhetische
Rücksichteui wie die Schönheit oder Sichtbarkeit einer Narbe sollte
nicht schwer in die Wagschale fallen, es ist vielmehr derjenige
Weg vorzuziehen, welcher sowohl primär wie sekundär die
besten Chancen darbietet für Leben und Gesundheit des
Menschen.
Vergleichen wir von diesem Gesichtspunkte die beiden Operations-
verfahren ganz im allgemeinen miteinander, so ist es klar, daß die
abdominale Köliotomie ganz bedeutende Vorzüge besitzt: Die
Möglichkeit, die Öffnung in der Bauchwandung beliebig groß anzu-
legen, eracblieOt den Vorzug der größtmöglichen Obersiebt über
das Operationsfeld im engeren und weiteren Sinne« Die zu
operierenden Organe können ohne allzu große Dislokation in Angriff
genommen werden. Die Operation kann mit einer Sorgfalt durch-
geführt werden, wie sie besser nicht gedacht werden kann. Wir
können mit der gleichen Sicherheit dem Prinzipe des Konservativis-
mus und des Radikalismus Sorge tragen, je nach den Erfordernissen
des Falles. GanzabgeaebenvonderMQgUGhkeit,diedemVerlaufdergroßen
Gefaßstämme folgenden Lymphdrüsen wo es nötig ist aufzusuchen, gibt
es keine größere Obersicht über die so schwer zugänglichen Befesti-
gungsstellen der inneren Genitalien« Die Laparotomie gestattet auch
am sichersten eine Schonung der benachbarten Organe. Die Ope-
ration kann ohne Schwierigkeiten des Zuganges auf Nachbarorgane
ausgedehnt werden, wie Blase, Ureteren, Rektum, Flexur und die
Appendix des Blinddarmes, wie auf andere, höher gelegene Organe
des Leibes, Därme, Netz, Mesenterium, Gallenblase, Magen usw. Die
Laparotomie gibt uns auch am raschesten Gewißheit über die Grenzen
der Operabilität. Die Laparotomie gestattet ferner in ganz besonders
sorgfaltiger Weise die intraperitonealen Wundflächen mit Peritoneum
zu versorgen und trägt damit wesentlich bei zur Venneidung stören*
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i] Ober abdominale und vaginale Köliotomien. 30i
der Verwachsungen in der Bauchhöhle und zur Verhütung des post-*
operativen Ileus. Endlich gewahrt die Laparotomie die Möglichkeiti
bei solchen Neubildungen» welche eine gewisse Neigung haben» durch
Implantation von GeschwulstteHchen in der Bauchhöhle oder in der
Schnittnarbe Metastasen tn bilden» solche Implantationen zu ver-
hfiten. Bs kommen hier besonders die epithelialen Ovarialtumoren
in Betracht» welche auch in Gestalt der ganz gutartigen Kystome zu
dieser Form von Metastasenbildung neigen. Bei hinreichend großer
Öffaung in der Bauchwandung und sorgfaltiger Technik in der Her-
ausbeförderung der Geschwulst, sei es mit» sei es ohne Verkleinerung
der Kystome» gelingt es, die Entstehung . von Narbenimplantationen
2u verhindern. In dieser Beziehung ist die abdonlinale Operation
der vaginalen ganz entschieden überlegen» Insofern das ganz be-
sonders schädliche Morcellieren der Tumoren in Wegfall kommt»
velches bei dem vaginalen Operieren oft nicht zu vermeiden ist In»
wieweit das bei der Indikationsstellung bezüglich der Ausführung der
Ovariotomie von Wichtigkeit ist, soll noch gezeigt werden.
Die Nachteile und Gefahren der Laparotomie liegen in der
komplizierten Zusammensetzung der Baüchdecken» die wir durch»
scliüeiden müssen» und in der hinter Därmen versteckten Lage der
Genitalien. Ersterer Umstand hat die Narbenhernie Im Gefolge
gehabt, letzterer hat viel schlimmere Obelstände gezeitigt: die Gefahr
tiüer Schädigung des Bauchfells in grOOerem Umfang mit ihren
Folgen für die Rekonvaleszenz und für das Leben der Kranken durch
Eifitrttt perltonitischer Entzündung.
Allein diese Nachteile haben an Bedeutung Verloren durch
Verbesserung der Asepsis und Technik» und wir können
beute sagen, daß es mit großer Sicherheit gelingt» ebenso^
vohl Narbenhernien vollkommen zu vermeiden, wie den
Eintritt einer Peritonitis zu verhüten» vorausgesetzt» daß wir
ta einem aseptischen Operationsobjekt zu arbeiten haben*
Es ist deshalb die Laparotomie das gegebene Verfahren für alle
im Sinne der Asepsis reinen Fälle von Neubildungen» Blutergüssen
und Mißbildungen» aber auch von chronischen Entzündungen der
Geattalien» sie ist also das gegebene Verfahren für die gutartigen Neu-
bildungen des Uterus (Myome), für die Tumoren der Ovarien» Tuben
und Ligamente» für die Extrauteringravidität» für komplizierte Oyna<*
tresien» für die chronische Pelveoperitonitis adhaesiva usw.
Nicht absolut vermeidbar sind die geschilderten Gefahren der ab*
dominalen Köliotomie» wenn es sich handelt um ein nicht asepti«
scbes Operationsobjekt Hier kann der vaginale Wtg der bessere
Mn. Es ist klar» daß man einen intraperitoneal gelegenen abgekapselten
23»
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^2 J* Pfannenstiel, [4
Eiterherd, einen BeckenabszeD oder eine verfauchte Hämaiozele oder
einen im Douglas verlöteten Tuben- oder OvarialabszeO nicht auf
dem Wege an gesunden Därmen vorbei, also abdominal, zur Endeerung
bringen wird. Ebenso kann es wichtiger sein, infizierte Organe, sofern
sie überhaupt der Exstirpation bedürfen, vaginal zu entfernen, also
ein infiziertes Myom oder total vereiterte, mit multiplen Abszessen
durchsetzte chronisch kranke innere Genitalien. Aber es muß auch
die Gewähr gegeben sein, daß das infektiöse Material durch solchen
Eingriff sicher und vollkommen entfernt wird und daß die Prinzipien
des Konservativismus und des Radikalismus je nach der Individualität
des Falles gewahrt bleiben.
Der Scheidenbauchschnitt hat im allgemeinen den Vor-
zug, daß die Operation besser vertragen wird und daß selten
eine sichtbare oder störende Narbe zurückbleibt. Daß die Operation
besser vertragen wird, drückt sich aus in einer besseren Mortalitäts-
statistik und in einer glatteren Rekonvaleszenz. Das trifi^ bei der
vaginalen Köliotomie gewiß zu, allein bei näherer Betrachtung stellt
sich heraus, daß dieser Satz nur für eine bestimmte Kategorie von
Fällen gilt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß eine vaginale Total-
exstirpation des karzinomatösen Uterus bessere Resultate gibt als eine
abdominale, selbst wenn dieselbe nicht radikal ausgeführt wird. Es
ist ebenso sicher, daß bei nicht ganz vollkommener subjektiver
Asepsis die vaginalen Resultate besser sind als die abdominalen.
Darüber hat uns die frühere Zeit zur Genfige belehrt. Aber in
heutiger Zeit hat die vaginale Fixation des Uterus keine bessere
Mortalitätsstatistik als die ventrale Fixation, und auch die vaginale
Ovariotomie steht in den Fällen, in denen sie überhaupt gut ausfuhr-
bar ist, nicht besser als die gleiche Operation vom Abdomen aus-
geführt. Hat man also ein aseptisches Operationsobjekt vor sich, so
stehen sich beide Operationswege von diesem Gesichtspunkte aus
gleich und nur bei der Operation an einem nicht aseptischen Organ,
wie z. B. an einem karzinomatösen Uterus oder auch nur bei unvoll-
kommener Asepsis des Operateurs macht sich der Unterschied geltend.
Die Ursache ist nicht schwer zu finden. Sie liegt in der bereits
vorhin erwähnten Lagerung der Genitalien unterhalb der Därme.
Sind weder am Operationsobjekt noch an den Händen des Operateurs
krankmachende Keime, so schadet die Berührung der Därme nicht.
Sind aber solche Keime vorhanden, so ist der Weg an den Därmen
vorbei geßihrlich, während das subintestinale Operieren besser ver-
tragen wird.
Das gleiche, was von der Mortalitätsstatistik gesagt wurde, gilt
natürlich für die Rekonvaleszenz nach der Operation. Bei der
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5] Ober abdominale und vaginale Köliotomien. 303
heutigen Asepsis und Technik hat die ventrale Fixation oder die
Ovariotomie keine schlechtere Rekonvaleszenz als die Vaginofixation
oder die vaginale Ovariotomie, besonders seitdem die Kranken nach
dem Leibschnitt nicht mehr so unnötig lange Bettruhe halten.
Daß eine Kolpoköliotomie fOr gewöhnlich keine sichtbare Narbe
hinterläßt, ist klar. Aber wenn man überhaupt auf das kosmetische
Resultat Wert legt, was ich für recht unwesentlich halte, so läßt sich
durch eine gut ausgeführte Technik und eine sorgfältige Naht die
Bauchnarbe sehr dünn und fein gestalten, ja, sie kann sogar fast un-
sichtbar gemacht werden, wie ich noch zu erläutern haben werde.
Zuweilen ist die vaginale Narbe zwar »unsichtbar^, aber doch
recht lästig und dauernd schmerzhaft, sowohl die im Scheidengewölbe
liegende als ganz besonders die Scheidendammnarbe, welche nach
schwierigen, eine große Inzision erfordernden Operationen entsteht.
Ich habe sowohl in der eigenen Praxis als in der von andern Ope-
rateuren sehr häßliche Narben gesehen, Narben, welche die Patienten
besonders beim Siezen und Gehen hinderten, Narbenbeschwerden,
wie man sie heutzutage bei der Laparotomie gar nicht mehr zu sehen
bekommt»
Und damit komme ich auf die Nachtelle der Kolpoköliotomie
zu sprechen, welche gipfeln in der zu kleinen Öffnung mit allen
ihren Folgen. In der Zeit, in denen die vaginalen Operationen aus-
gearbeitet wurden, hat diese kleine Öffnung großen Schaden gestiftet
und sogar manches Opfer durch ungenügende Blutstillung, durch
Verletzung von Blase, Urethren und Mastdarm und durch Fehler in
der Asepsis gefordert. Heutzutage, wo die Indikation für diese
Operation enger begrenzt worden ist, ist es besser geworden, aber
der Obelstand der kleinen Öffnung macht sich immer wieder von
neuem geltend, besonders seitdem wir die innigen Beziehungen
zwischen dem Blinddarm und den inneren Genitalien kennen gelernt
und die Notwendigkeit eingesehen haben, die Radikaloperation beim
Karzinom zu erweitern. Alle Operationen, bei denen ein vollständi-
ger Überblick über das ganze Operationsgebiet nebst seiner näheren
und ferneren Umgebung notwendig ist, passen nicht für den vaginalen
Schnitt.
Es eignet sich deswegen die Scheidenoperation im all-
gemeinen nicht für die Karzinome der inneren Genitalien.
Daß die bösartigen Ovarialneubildungen auf vaginalem Wege
radikal und sorgfältig nicht zu entfernen sind, darüber ist man sich
wohl allerseits, im klaren, und ebenso wird das Uteruskarzinonri
von den meisten Führern der gynäkologischen Wissenschaft abdo*
minal erledigt. Nur Seh auta operiert vaginal mit seinem eigens
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304
J. Pfannenstiel,
[«
dazu ausgearbeiteten erweiterten Verfahren. Die Zukunft muß ent-^
scheiden, ob dieses Verfahren in summa die gleiche Leistung aufzu*
weisen hat, wie die abdominale Operation. Daß der Vaginaüst auf
die Drüsenentfernung verzichtet, halte ich nicht fOr so bedenklich,
aber ob die Ausräumung der Parakolpien und Parametrien bezflglich
Radikalismus einerseits und Schonung der Nacbbarorgane andrer-
seits ebenso vollkommen ausfällt wie bei abdominalem Operleren,
das erscheint mir fraglich. Mein Standpunkt bezüglich des Uterus-
karzinoms ist in der Berl. klin. Woche 1005, Nr» 27 gekennzeichnet.
Im allgemeinen soll der Uteruskrebs abdominal erledigt werden.
Aber wir sollten die guten Erfahrungen, die wir in früherer Zeit mit
der vaginalen Exstirpation gewisser Karzinomarten gemacht haben,
ausnützen und solche Fälle auswählen lernen und sie für die zweifel-
los mit geringerer primärer Mortalität belastete vaginale Exstirpation
reservieren. Es sind das gewisse Formen von Portio- und von
Korpuskarzinom, nämlich solche, die sich noch im Beginn der Aus-
breitung befinden, die erst in höherem Lebensalter auftreten und die
hart, bindegewebsreich und zellarm sind. Speziell an der Portio
kommen in Betracht die am eigentlichen Muttermund beginnenden
Karzinome. Alle diese Formen, welche langsam wachsen und wenig
zur Drüseninfektion neigen, können getrost vaginal erledigt werden.
Alle andern, besonders die weiter vorgeschrittenen Fälle, die
weicheren, zellreichen Formen, die jugendlichen Fälle, besonders
aber alle Cervixkarzinome sollten ebenso wie die primären vaginalen
Karzinome vom Abdomen aus so radikal wie möglich in Angriff ge-
nommen werden*
Von den gutartigen Neubildungen der inneren Genitalien
werden die Myome, wenn sie eine gewisse Größe überschreiten, am
besten abdominal erledigt. Ich bin von der weitgehenden Anwendung
der vaginalen Operadon wieder etwas zurückgekommen, nachdem
ich gesehen habe, daß die Resultate in denjenigen Fällen, die durch
ihre geringfügige Größe sich auch für das vaginale Verfahren eignen,
auch bei abdominalem Operieren nicht schlechter sind. Oberkinds«
kopfgroße Myomen werden schonender und sorgfältiger abdominal
erledigt, aber auch bei kleineren Tumoren ziehe ich die Laparotomie
vor, wenn der Introitus und die Scheide eng, virginell und straff sind,
weil mir der Schnitt durch die Bauchdecken schonender erscheint
als der paravaginale Hilfsschnitt. Nur eine Indikation anerkenne
Ich für die vaginale Myotomie^ das ist die Operation bei be-
stehender Infektion eines myomatösen Uterus. Es sind das
meist ziemlich harmlose Infekdonen mit saprämischen Mikroben, bei
denen aber doch die abdominale Operation schlechter vertragen wird
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7] Ober abdominale und vaginale Köliotomien. 305
als die vaginale. In aolchen Fällen soll man sich bemühen^ vorauso-
gesetzt, daÜ der vaginale Zugang nicht 2u eng ist, womöglich auch
noch die flberklndskopfgfoßen Tumoren unter geschickter Zeratilck-
luog vaginal zu entfernen. Dazu gehört besondere Obung^ ein be»
sonderes Instrumentarium und eine gute Assistenz.
Was die Ovarien tum oren anlangt, so sind von vornherein von
der vaginalen Operation auszuschließen alle soliden und alle malignen
Tumoren^ sowie alle durch Verwachsung, intraligamentären Sitz, Stiel-
torsion und andre Störungen komplizierte Fälle. Aber auch die un-
komplizierten, zystischen Tumoren werden besser abdominal entfernt,
weil auf diese Weise am sichersten der Implantation von Geschwulst-
teiichen in der Bauchhöhle vorgebeugt wird. Die kleine Öffnung im
Scheidengewölbe bei der Kolpoköliotomie bringt es mit sich, daß die
Geschwulst oftmals nicht ohne Morcellement zerkleinert werden
kaan, was bei allen epithelialen Neubildungen entschieden zu ver-
werfen ist. Es sollte deshalb die vaginale Ovariotomle allgemein
bllen gelassen werden. In den einfachen Fällen ist sie überflflssig
und der Laparotomie an Erfolg nicht nachstehend. In den schwieri-
|ea Fällen, besonders bei den parvllokulären Kystomen und ganz be-
sonders bei den bösartigen Tumoren ist sie geradezu gefährlich.
Alle diese Zustände sind nun aber ebenso wie die zuvor genannten
Komplikationen nicht mit Sicherheit vor der Operation zu diagnosti-
zieren. Ich lehne deshalb die vaginale Ovariotomle trotz ihrer oft
bequemen Ausführbarkeit im Prinzip ab. Ausnahmen von dieser
Indikationsstellung werden ebenso wie bei den Myomen auch bei den
Ovarialtumoren gemacht werden mfissen. Bei der Einklemmung eines
zystischen Tumors sub partu kann gelegentlich die vaginale Operation
vorzuziehen sein usw.
Eine besondere Stellung nehmen ein die Ovarialabszesse bzw. die
vereiterten, unilokulären. Im Becken liegenden Tumoren. Hier empfehle
ich folgendes Verhalten: Es wird zunächst durch vorsichtige Probe-
punktion mit danner Nadel die Art der in dem Abszeß enthaltenen
Bakterien festgestellt. Findet sich ein septischer Inhalt, so soll vaginal
inzidiert und die Ausheilung der Abszeßhöhle abgewartet werden, um
spater den Tumor abdominal zu entfernen. Bei harmlosen Bakterien,
ebenso bei allen größeren und multilokularen Tumoren ist ohne
Zaudern abdominal zu operieren, mit großem Bauchschnitt und unter
dem Bestreben, den Tumor möglichst unzerkleinert zu entfernen.
Was die entzündlichen Erkrankungen anlangt, so wurde der
abszedierenden Formen schon gedacht. Sofern das infektiöse Material
vollständig entfernt werden kann, soll der vaginale Weg bevorzugt
werden. Bei den chronischen Entzündungen jedoch ist schon mit
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306
J. Pfannenstiel,
I
Rücksicht auf die Erfordernisse des konservativen Handelns der fibei
sichtliche Weg der abdominalen Operation der zweifellos bessere. Sc
viel wie möglich das Ovarium schonen, muß die Losung sein, b<
allen chronisch entzündlichen Erkrankungen einschließlich der Tubei
kulose der Innern Genitalien« Die Tube und der Uteruskörper sin
bei allen entzündlichen Erkrankungen viel stärker gefährdet als de
Eierstock, sie bedürfen deshalb — vorausgesetzt, daß überhaupt eio
Operation indiziert ist — in der Regel viel mehr der radikalen Em
fernung. Vor allem allem aber ist mit Rücksicht auf die so häufig
Mitbeteiligung des Processus vermiformis an der chronischen En
Zündung die Laparotomie angezeigt.
Zu der chronischen . Entzündung der Genitalien gehört auch di
chronische Pelveoperitonitis. Sofern dieselbe andauernde Be
schwerden macht, ist die abdominale Operation auszuführen. AucI
die mit chronischer Pelveoperitonitis verbundene Retroflexio utei
(sog. ,»Retroflexio uteri fixati"*) gehört zu dem Bereich der Laparotomie
nicht der vaginalen Operation.
Auch die Extrauterinschwangerschaft wird am besten pe
laparotomiam erledigt. Gewiß ist es möglich^ die Tube auch durci
die Kolpoköliotomie zu entfernen, aber angesichts des weichen un(
morschen Zustandes der Gewebe ist ein schonendes und exakt blut
stillendes Operieren allein durch die Laparotomie zu gewährleisten
Nur die verjauchte Hämatozele ist wie ein Beckenabszeß zu behandeli
uud vaginal zu inzidieren.
Die komplizierten Gynatresien gehören gleichfalls der Laparo
tomie, während der einfache Hämatokolpos natürlich von unten z(
entleeren ist. Bei allen höher gelegenen Atresien kommt man an
besten abdominal zum Ziele und braucht dabei den konservativen Ge
danken nicht aus dem Auge zu verlieren. Man kann sogar, wie ict
gezeigt habe^), unter Umständen die fehlende Verbindung zwischei
dem durch retiniertes Blut ausgedehnten Uteruskavum und den
Scheidenrest herstellen und zwar mit dem Effekt der vollen Funktioo
Was die Lageveränderungen der Genitalien anlangt, so steb(
ich auf dem Standpunkt, daß hier im allgemeinen viel zu viel operier
wird. Meistens ist überhaupt keine Lagekorrektion angezeigt. Wc
dies der Fall ist, handelt es sich in der Regel um kompliziertere Fälle.
Der Deszensus und Prolapsus der Ovarien kann gelegentlict
Beschwerden machen. Es ist klar, daß hier nur die Laparotomie zu
helfen vermag, durch Ovariopexie.
1) Pfannen'stiel in Festschrift für Fritsch, Leipzig, Breitkopf u. Härte! 190%
S. 344 ff.
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9] Ober abdominale und vaginale Köliotomien. 307
Die Retroflexio uteri bedarf in uDkomplizierteö Fällen niemals
der Lagekorrektion. Zu den Komplikationen gehört die Pelveoperi-
tonitis, von welcher bereits die Rede war. Hier ist die ventrale
Operation angezeigt, bestehend in Lösung der Verwachsungen ein-
schließlich der erforderlichen Operationen an den Adnexen mit nach-^
folgender Ventrlfixur, um den Uterus aus dem Verwachsungsgebiet
herauszuheben. Die andere überaus häufige Komplikation der Retro-
üexio ist die TotalerschlafFung des Organs und die Senkung der
Scheide. Schlaffheit des Isthmus uteri (unteres Uterinsegment) und
Atonie der Beckenbodenmuskulatur gehen fast immer Hand in Hand.
Zu diesem Krankheitsbild gehört dann neben andern splanchnopto*
tischen Erscheinungen (Wanderniere, Senkung des Magens und Quer-
darms usw.) auch die Zystozele. Alle diese Erschlaffungszustände des
Urogenitalapparates lassen sich nicht auf dem abdominalen Wege heilen.
Hier ist die einzige Methode, welche auf einen Dauererfolg bezüglich
der Beckenorgane rechnen kann, eine richtig ausgeführte vaginale
Fixation des Uterus, verbunden mit Kolporrhaphie und Dammplastik.
Weder die Ventrifixur noch die Alexander-Adamsche Operation gibt
gute dauernde Resultate: der schlaffe Uterus, welcher durch ebenso
schlaffe Bandapparate nicht genügend gehalten ist, bleibt trotz ventraler
oder inguinaler Fixation nicht in der durch die Operation hergestell-
ten «Normallage'', wenn man überhaupt von einer solchen sprechen
darf, er senkt sich wieder, ev. unter Ausbildung von langgedehnten
Fixationsbändern, und das Rezidiv ist da. Vor allem aber besteht die
Gefahr der Wiederausbildung einer Zystozele mit ihren Folgen für
Uterus und Scheide. Diese läßt sich durch eine ihren Hebel allein am
Corpus uteri ansetzende Operation nicht beheben, im Gegenteil: durch
eine ventrale oder inguinale Befestigung des Uterus wird die Blase
noch stärker in der Richtung nach abwärts gedrängt, so daß die besten
Kolporrhaphiemethoden nicht standhalten. Und mit dem Zystozelen-
rezidiv tritt das Prolaps- und Retroflexionsrezidiv ein. Hier kann nur
die Interposition des Uterus zwischen Scheide und Blase helfen, also
die vaginale Operation, bestehend in einer Kombination von gut aus-
geführter Vaginofixation mit entsprechender Colphorrhapia anterior,
posterior und Dammplastik.
Mit diesen Ausführungen habe ich natürlich nur die hauptsäch-
lichsten Indikationen besprechen können; es würde mir die Zeit
fehlen, um noch andere, vielleicht auch nicht ganz unwichtige Ge-
sichtspunkte heranzuziehen. Ich kann resümieren, daß nach meiner
Auffassung und nach meiner Erfahrung für die intraperitonea-
len gynäkologischen Operationen die abdominale Kölio-
tomte bei weitem den Vorzug verdient, daß aber auch
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308 J. PfAnnenstiel, [10
für die KolpokOliotomie eine Anzahl ziemlich scharf
umgrenzter Indikationen übrigbleibt. Hat man noch vor nicht
langer Zelt Grund gehabt, das Prinzip aufzustellen: was irgend der
vaginalen Operation zugänglich ist, soll vaginal erledigt werden, so
haben die Fortschritte in der Asepsis und in der Technik der letzten
10 Jahre diesen Grundsatz geändert. Die Asepsis hat bedeutend
gewonnen durch die Einführung des Alkohols in die Händedesinfek-
tion, sowie die Verwendung der Gummihandschuhe und andrer MaD«
nahmen zur Verbesserung des Wundschutzes. Die Technik, welche
eine Zeitlang etwas vernachlässigt war in dem irrigen Glauben, daß
die Antisepsis die Hauptsache sei, ist wieder mehr zu ihrem Recht
gekommen. Wir sind heute mehr denn je überzeugt, daO die Scho*
nung der biologischen Kräfte des Körpers von großer Wichtigkeit
ist, sowohl bezüglich der allgemeinen Vitalität wie ganz besonders der
lokalen Gewebsfunktion, daß wir geschickt, schnell und sorgiSltig
operieren müssen, daß aber die Sorgfalt wichtiger ist als die Schnellig-
keit. Die Organe und Gewebe sind vor unnützen Berührungen und be-
sonders vor stärkerem Druck zu bewahren. Die lang anhaltende Kom-
pression der Bauchdecken durch Spekula, namentlich durch die selbst-
haltenden, ist zu meiden. Das Bauchfell ist vor Luftkeimen und
sonstigen Schädlichkeiten zu schützen, die Därme sollen womöglich
nicht eventrieirt werden. Desinflzientien sind von Wunden und Bauch-
fell fernzuhalten. Die Beckenhochlagerung soll nicht zu steil sein
und nicht zu lange andauern, nicht allein wegen der stärkeren Be-
lastung des Zwerchfells durch Intestina mit ihren Folgen für die
Atmung, sondern auch weil dadurch eine zu intensive Hyperämie des
Peritoneums entsteht. Die Blutstillung soll peinlich genau sein. Die
interperitonealen Wunden sind sorgfältigst mit Peritoneum zu über*
nahen. Drainage und Tamponade sind nach Möglichkeit zu vermeiden.
Als Nahtmaterial ist für die versenkten Nähte Catgut vorzuziehen und
Silkwormgut für die Haut. Die Vor- und Nachbehandlung des Kran-
ken soll auf die Schonung seiner Kräfte Bedacht nehmen und so viel
wie möglich den physiologischen und individuellen Verhältnissen an-
gepaßt sein.
Als beste Methode für die abdominalen Köliotomien
empfehle ich meinen suprasymphysären Faszienquerschnitt,
welcher bei richtiger Anwendung für etwa */io aller gynäkologischen
Laparotomien gut anwendbar ist. Der Schnitt durch die Haut kann
erforderlichenfalls von einer Spina des Darmbeins zur andern geführt
werden, der Schnitt durch die Aponeurosen kann bequem über die
lateralen Ränder der Musculi recti nach außen verlängert werden,
wobei die Musculi obliqui entsprechend ihrer Paserrichtung zu
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11] Über abdominale und vaginale Köliotomien. 30^
spahea siod. Die Ablösyng der Aponeuroscn vom Musculus rectus
soll nach oben bis zum Nabel» nach unten bis zur Symphyse getien»
wobei die Musculi pyramidales an der Faszienplaite bleiben. Wenn als-
dann die Musculi recti und das Bauchfell in der Linea alba getrennt
sind, dann haben vir eine sehr groOe Öffnung der Bauchwand,
welche für die größten und eingreifendsten Operationen geeignet ist
und besonders das Operieren in der Tiefe und in den Seitenteilen
des Beckens erleichtert. Ich habe bei nahezu 1000 Operationen nicht
einmal nötig gehabt, zu dem Querschnitt einen Längsschnitt durch
die Faszie in der Richtung nach oben über den Nabel hinaus hinzu-
zufügen. Die Naht der Bauchdecken wird in vier Etagen ausgeführt:
1. Bauchfell, 2. Rektusmuskeln, 3, Aponeurose, 4. Haut, Die Peri-
toneal- und Muskelnaht wird mit einem fortlaufenden Catgutfaden
ausgeführt, die Fasziennaht ebenso mit einem Catgutfaden, die Haut-
naht mit Silkwormknopfnähten, Auf sorgfältige Blutstillung (zur
Vermeidung von Hämatomen) und genaue Vereinigung und Adap-
tiening der Wundränder lege ich den größten Wert..
Diese Art des Leibschnittes hat den großen Vorteil, daß er den
Därmen schon bei mäßiger Beckenhochlagerung großen Schutz vor
der Außenwelt gewährt und damit einer Reihe von Schädigungen
vorbeugt. Es macht sich dies sehr deutlich bemerkbar in der Mor-
tilitatsstatistiL Ich hatte in der Zeit von 1002—1904 bei 456 Fällen
von Faszienquerschnitt eine Gesamtsterblichkeit von 5,34% und in
der gleichen Zeit bei 104 Längsschnitten in der Linea alba eine
solche von 9,25%, wobei ich bemerken muß, daß in der Summe der
Quersehnittfälle auch die unsere moderne Statistik stark belastenden
Uteniskarzinomoperationen, sowie andere an einem nicht aseptischen
Objekt auszuführenden Operationen enthalten sind.
Die Rekonvaleszenz vollzieht sich leichter und die Heilung geht
rascher vonstatten bei den mit Querschnitt Operierten» namentlich
seitdem ich nach dem Vorbilde amerikanischer Operateure und in
Deutschland nach dem Vorgange Krön igs die Kranken zeitig auf-
stehen und sich bewegen lasse*
Die Heilung der Bauchdecken war eine absolut gute (prima in-
tentio) in 95,4% bei Querschnitt gegenüber 94,4% bei Längsschnitt.
Erscheint auch dieser Unterschied minimal, so spricht er doch in*'
sofern zugunsten des Faszienquerschnittes, als ich gerade die eitrigen
uad infektiösen Erkrankungen durch den Querschnitt zu erledigen
pflege, vor allem auch das Uteruskarzinom, die Peritoneal* und
Geniultuberkulpse und die entzündlichen Ädnexerkrankungen,
In innigem Zusammenhang mit der Bauchdeckenbeilung steht die
Beschaffenheit der zurückbleibenden Narbe und die Frage der Bauch«
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310
J. Pfannenstiel,
[12
hernie. Die Narbe ist äußerst fein, niemals breit oder entstelleircty
sie verschwindet entsprechend der Spaltrichtung der Haut in der
Unterbauchgegend allmählich mehr und mehr, zuweilen bis zur volli-
gen Unsichtbarkelt, meist wird sie verdeckt durch die Querfalte der
Haut, welche dieser Gegend eigentümlich ist. Narbenhernien wurden
in dem Gesamtmaterial beobachtet in 0,94%, wobei ich bemerke, daß
dieselben ausschließlich in den Fällen von Bauchdeckeneiterung ein-
traten. In den Fällen, in denen prima intentio zu verzeich-
nen war, ist Omal eine Hernie beobachtet worden (bei mehr
als 300 nach Jahr und Tag untersuchten Fällen).
In den verhältnismäßig seltenen Fällen, in denen ich einen
Längsschnitt in der Linea alba ausfähre (bei sehr großen, soliden
Tumoren, bei Komplikationen derart, daß eine Operation am Nabel
oder in höher gelegenen Regionen der Bauchhöhle erforderlich ist),
halte ich nach den bisherigen Erfahrungen die Schnittfflhrung nach
Lennander und die von Ch. Noble geübte Fasziennaht für die
besten Methoden.
Bezüglich der Kolpoköliotomietechnik kann ich mich kurz
fassen: Ich halte den Weg durch das vordere Scheidengewölbe, also
zwischen Blase und Cervix, mit Döderlein für entschieden ge-
künstelt, wenn ich auch zugeben muß, daß die Operation eine bessere
Obersicht zu geben pflegt als die Kolpotomia posterior. Da ich beide
Operationen nur noch selten und ausnahmsweise ausführe, so unter-
lasse ich es, an dieser Stelle auf Einzelheiten der Technik dieser
Operationsmethode einzugehen«
Bei Beckenabszessen ist der Weg durch das hintere Scheiden-
gewölbe selbstverständlich. Bei vaginalen Totalexstirpationen indi-
vidualisiere ich, indem ich zuweilen vorn, zuweilen hinten den
Schnitt beginne. Die mediane Durchschneidung des Uterus oder
sonstige Zerstücklung kann ratsam sein. Ist die Radikaloperation
wegen Vereiterung der Genitalien erforderlich, so kann es wünschens-
wert sein, Dauerklemmen für 2 Tage anzulegen und Jodoform-
gazedrainage anzuwenden. Sonst ist, "wenn irgend möglich, das Peri-
toneum und die Scheidenwunde sorgfältig in Etagen zu schließen.
Für die Prolapsoperation ist das vordere Scheidengewölbe der
gegebene Weg. Ich lege hier Wert darauf, die Blase nicht allein in
der Mitte, sondern auch an der Seite vollkommen von Cervix und
Scheide abzutrennen, um sie möglichst vollständig nach oben
schieben und den Uterus zwischen Blase und Scheide einschalten zu
können« Es ist dies die einzige Möglichkeit, um dem Wiedereintritt
einer Zystozele vorzubeugen. Die Annähung des Uterus an die Scheide
soll ferner nicht am Fundus, sondern im oberen Drittel der vorderen
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13] Ober abdominale und vaginale Köliotomien. 311
Korpusflache geschehen. Der vorn auszuschneidende Scheidenlappen
(Colporrhaphia anterior) soll nicht zu breit sein, statt dessen ist die
Scheide seitlich etwas zu unterminieren, um dem Uterus Platz zu
schauen für die Interposition. Die Naht der Scheide soll ausgeführt
werden, ohne daß die Portio vor die Vulva gezogen wird, weil es
sonst nicht gelingt, die Portio hinten und mehr oben zu erhalten.
Eine entsprechende Kolpoperineorrhaphie vervollständigt die Ope-
ration, indem sie den gesunkenen Genitalien einen neuen, festen
Halt und Untergrund verschafft.
Hiermit schließe ich meine Ausführungen, indem ich mir voll-
kommen bewußt bin, daß ich nicht alle bei der operativen Behand-
lung der interperitonealen Genitalerkrankungen in Betracht kommen-
den Gesichtspunkte erörtert habe. Es genügte mir, die allgemeinen
Grundsätze zu besprechen, welche nach meiner Auffassung bei der
Wahl der Operationsmethoden gelten sollten, und zu zeigen, wie es
möglich ist, diesen Grundsätzen Rechnung zu tragen. Im übrigen
muß natürlich das Bestreben walten, so viel wie möglich zu indivi-
dualisieren, zum Heile des Patienten, und weiterhin die Fortschritte
zu verwerten, welche wir von der chirurgischen Kunst noch zu er-
warten haben.
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489/90/91.
(Chirurgie Nr. 142/43/44.)
Ober den heutigen Stand der Erkennung und
Behandlung der Appendizitis. L
Erörtert an 550 von Geheimrat Garre behandelten Fällen.
Von
Dn Ad. Ebner,
Königsberg-Pr.
Nur selten haben sich innerhalb kurzer Zeit auf dem therapeutischen
Gebiet einer ErkranlLung so tiefgreifende Änderungen der Anschau-
ungen sowohl der internen Ärzte, wie der Chirurgen vollzogen, wie
auf dem der Erkrankung des Wurmfortsatzes und ihrer Folgezustände.
Zu danken ist dieser Fortschritt im wesentlichen den immer weiter
gestellten Indikationen der Chirurgen, welche schließlich zum opera-
tiven Eingriff in jedem Stadium der Erkrankung geführt haben. So
gewährte die Autopsie in vivo einen immer größeren Einblick in die
z. T. so außerordentlich verderblichen und heimtückischen Verände-
rungen dieses Organs und warf ein immer helleres Licht auf das grelle
Mißverhältnis, das namentlich auch in einem frühen Stadium schon
zwischen den geringen klinischen Erscheinungen und der Schwere
der anatomischen Veränderungen an dem erkrankten Organ selbst be-
stehen kann.
Durch dieses Mißverhältnis drängte sich dann immer noch mehr
die Notwendigkeit einer möglichist weitgehenden Indikationsstellung
zum operativen Eingriff auf, so daß man heute allgemein die Appen-
dizitis nicht nur bei Ärzten, sondern auch schon großenteils im Pu-
blikum als eine Krankheit anerkennt, bei der dem Chirurgen nicht nur
das letzte, sondern am richtigsten bereits das erste Wort mitzureden
zusteht, welche im wahren Sinne des Wortes als eine chirurgische
Erkrankung zu bezeichnen ist.
Klin. Vortrige, N. F. Nr. 489/90/91. (Cbinirsie Nr. 142/43/44.) Juni 1906. 28
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Ad. Ebner,
(
i
Dementsprechend ist innerhalb einer verhältnismäßig kurzen Zei
das Anschwellen der Äppendizitisliteratur — Sprengel fuhrt in seiner
Standärtwerk über Appendizitis allein 117 Seiten Literatur an — eii
so gewaltiges geworden, daß es fär den Spezialisten schwer und fu
den praktischen Arzt kaum noch möglich ist, dieselbe in ihrem vpllei
Umfange zu übersehen und sich in dem zum Teil noch recht ausein
andergehenden Streit der Meinungen zurechtzufinden, die verschieden
artigen Benennungen und Einteilungen dieser Erkrankung auseinander
zuhalten und, was vor allem für den Patienten das wichtigste ist, ii
den verschiedenen Stadien der Erkrankung den richtigen Zeitpunt
zur Operation herauszufinden, in welchem er seinen Patienten den
Chirurgen zu überliefern hat, ohne ihn erst der Gefahr einer Allge
meinperitonitis auszusetzen und damit die Chancen seiner Heilunj
wesentlich zu verschlechtern oder ihn zum mindesten einem langei
und quälenden Krankenlager zu überliefern.
Das idealste im Interesse des Patienten wäre ja fraglos die schoi
von manchen Chirurgen und theoretisch mit Recht gestellte Forderung
zu jeder als Appendizitis auch nur verdächtigen Erkrankung einet
Chirurgen frühzeitig hinzuzuziehen. Demgegenüber darf man abei
nicht verkennen, daß einerseits noch lange Zeit vergehen dürfte, hh
die Berechtigung dieser Forderung allgemeine Anerkennung bei den
praktischen Ärzten finden wird, die ja vielfach noch gewöhnt sind, in
der Appendizitis, bzw. den einzelnen Anfällen, die sie ja meist nui
zu sehen bekommen, eine relativ harmlose Erkrankung zu erblicken.
Andererseits sind aber auch bei dem besten Willen die Ärzte aul
dem Lande oder in kleineren Städten gar nicht in der Lage, gleicli
einen Chirurgen an der Hand zu haben, auf dessen Erfahrung sie bei
Überwachung ihres Falles sich stützen könnten.
Es wird also nach wie vor das Schicksal der meisten Appendizitis-
kranken lediglich in der Hand der praktischen Ärzte liegen, und es
werden nach wie vor diese auch die Verantwortung für den Erfolg
oder Mißerfolg eines operativen Eingriffs zu tragen haben. Denn dar-
über darf heute kein Zweifel mehr herrschen, daß fast niemals die
Operation als solche — unter Voraussetzung der notwendigen Technik
und Erfahrung des Operateurs — die Verantwortung bei einem Miß-
erfolg zu tragen hat, sondern ausschließlich der mehr oder minder
günstige Zeitpunkt, in welchem der Kranke in die rettende Hand des
Chirurgen gelangt^ mit anderen Worten der, welcher diesen Zeitpunkt
zu bestimmen hat, und das wird fast immer der praktische Arzt sein.
Für diesen möchte ich daher in erster Linie die im Laufe von
12 Jahren an der Rostocker, Königsberger und Breslauer chirur-
gischen Klinik gemachten Beobachtungen verwerten, die sich auf 550
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3] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 371
vofi Herrn Geheimrat Garre behandelte bzw. operierte Fälle er-
strecken, für deren gütige Überlassung ich an dieser Stelle nicht ver-
fehlen möchte, meinem ehemaligen, sehr verehrten Chef, Herrn Ge-
heimrat Garr^, meinen ergebensten Dank zum Ausdruck zu bringen.
Dabei gleichzeitig ein möglichst kurzes und übersichtliches Bild
der bisher in der Literatur niedergelegten Anschauungen, soweit sie
für die Betätigung des praktischen Arztes am Krankenbett in Frage
kommen, in dieser anspruchslosen Studie zu liefern, soll in erster
Linie mein Bestreben sein.
Es liegt daher im Interesse der Kürze und Übersichtlichkeit unserer
Abhandlung, wenn wir unsere Aufmerksamkeit vor allem der Be-
nennung, Einteilung, Entstehung, Erkennung und Behandlung
der Appendizitis zuwenden und uns mit anderen Worten auf die
rein klinische Seite der Appendizitis beschränken. Wer sich auch über
die pathologisch-anatomischen Veränderungen näher zu informieren
wfinscht, dem seien die eingehenden Monographien von v. Brunn,
Fowler, Körte, Sonnenburg, Rotter und ganz besonders das
Standardwerk von Sprengel zur eingehenden Durchsicht empfohlen.
Wenden wir uns zunächst der Benennung der Erkrankung des
Wurmfortsatzes zu, so hat sich als die in Deutschland am meisten
gebrauchte von den verschiedenen, vorgeschlagenen Bezeichnungen
die Perityphlitis herausgeschält. Der Ausdruck stammt noch aus jener
Zeit her, in der man den Ausgangspunkt der Erkrankung vielfach in
dem Typhlon, dem eigentlichen Blinddarm, erblickte, woher ja auch
die volkstümliche Bezeichnung der Blinddarmentzündung ihren Aus-
gang genommen hat. Diese Anschauung fand ihren Ausdruck in der
zuerst von Sahli widerlegten Lehre von der Typhlitis stercoralis,
deren Ursache man in Kotstauungen im Typhlon erblicken zu müssen
glaubte. Im Gegensatz zu der intraperitonealen Entzündung um das
Typhlon herum, der Perityphlitis, hat man die extraperitoneal bzw.
retrocöcai gelegene Entzündung als Paratyphlitis bezeichnet. Im Ein-
klang dazu hat dann Küster als dritten Ausdruck die Epityphlitis,
die Entzündung des Epityphlon, des auf dem Typhlon gelegenen An-
hangs, hinzugefügt. Diese letztere Bezeichnung insbesondere kann man
nicht als sehr glücklich betrachten, denn in logische Analogie mit den
ersten Bezeichnungen gebracht heißt sie weiter nichts, als eine auf
dem Typhlon gelegene Entzündung, gleichwie die Perirjrphlitis einer
um das Typhlon gelegenen Entzündung entspricht. Es ist kein lo-
^scher Grund vorhanden, warum hier mit dem Begriff einer Ent-
zündung und ihrer Lokalisation plötzlich der Begriff eines neuen Organs
^ im Gegensatz zum Typhlon — verbunden werden soll, das die
relativ wenig bekannte Bezeichnung Epityphlon trägt. Zum mindesten
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372 Ad. Ebner, [4
setzt diese Benennung voraus , daß jeder Leser wissen muß, was
Küster darunter verstanden wissen will, denn aus der reinen Analogie
mit der Peri- und Paratyphlitis allein geht eine richtige Deutung dei
Epityphlitis im Sinne der Auffassung von Käster doch nicht hervor
Auch Küster hat sich bei seinem Vorschlage wohl von der Er-
wägung leiten lassen, daß es wenig logisch erscheint, eine Erkrankung
unter Übergehen des eigentlichen Ausgangspunktes derselben nacb
einem anderen in der Nähe gelegenen Organ zu benennen, das ic
keiner näheren Beziehung zu derselben steht, als der, welche man aus
früheren und mittlerweile unrichtig befundenen Anschauungen hin-
sichdich der Ätiologie der Erkrankung herleiten kann. Dann müßte
er aber konsequenterweise von der Epityphlitis eine Periepityphlitis
und Paraepityphlitis ableiten, was kaum zu einer wesentlichen Ver-
einfachung und leichteren Unterscheidung der BegrifFe für den Prak-
tiker führen dürfte»
Viel näher liegend, klarer und den tatsächlichen Verhältnissen ent-
sprechend ist wohl für die Erkrankung des Appendix allein die einfache
Bezeichnung Appendizitis, wie sie zuerst in Amerika von Fitz 1886
vorgeschlagen und zunächst von den amerikanischen Ärzten, namentlich
von Senn vertreten und eingeführt worden ist. Diese Bezeichnung
hat denn auch mittlerweile derartigen Anklang gefunden, daß sie heute
die antiquierte Perityphlitis überall, namentlich bei den englisch spre-
chenden Nationen, mehr und mehr in den Hintergrund drängt.
Auch Sprengel hält den Ausdruck Perityphlitis nicht mehr für
zeitgemäß und findet, daß die Bezeichnung Appendizitis entschiedene
Vorzüge hat, wenn man das erste sprachliche Grauen überwunden
hat. »Sie ist kurz, eignet sich für weitere, wenn auch formell nichi
einwandfreie Ableitungen, wie Endoappendizitls, Peri- und Paraappen-
dizitis, ist sachlich unseren heutigen Anschauungen absolut entspre-
chend und in fast allen Kulturländern, außer vielleicht in Deutschland
eingebürgert.*
Küster hält der Benennung entgegen, daß sie den Fehler dei
Zusammenstellung eines lateinischen Namens mit einer griechischeo
Endung habe. Da wir heute aber in der Medizin eine ganze Reihe
ähnlicher Zusammenstellungen bereits haben, an denen niemand An-
stoß nimmt, und da der Gesichtspunkt der reinen Zweckmäßigkeil
doch wichtiger sein dürfte, als der einer sprachreinen Ableitung und
Zusammenstellung unserer Nomenklatur, so wird man trotz der philo-
logischen Bedenken den Ausdruck auch ferner beibehalten dürfen«
Daraus die Möglichkeit einer Verwechslung mit den Appendices epi-
ploicae herzuleiten, wie sie Hoffmann in einer Arbeit bei Küster
für wahrscheinlich hält, erklingt doch etwas gezwungen, da einmal
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5] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 373
reine Entzündungen der Appendices epiploicae äußerst selten sind,
wenn sie idiopathisch überhaupt vorkommen, und da andererseits die
Appendizitis bereits viel zu sehr im Sprachgebrauch auch in Deutsch-
land eingebfirgert ist, als daO jemand einen anderen Begriff damit
verbinden wärde, als den einer Erkrankung des Appendix. In gleicher
Weise entspricht auch der Gebrauch des männlichen Artikels für
Appendix durchaus dem Sprachgebrauch, indem das an Stelle des
deutschen Wurmfortsatzes oder des lateinischen Processus vermiformis
getretene, zunächst weniger gebrauchte Fremdwort den männlichen
Artikel (desselben) übernommen hat. Spricht doch auch der Luft-
schiffer in wissenschaftlichen Werken stets von dem, und nirgends
von der Appendix des Ballons. Man darf eben dem Sprachgebrauch
nicht jede Berechtigung absprechen. Er setzt sich schließlich in der
Praxis dennoch stets durch, wenn auch vom theoretischen Standpunkt
aus die rein wissenschaftlichen Ableitungen, wie die Appendix u. a.
durchaus zu Recht bestehen bleiben.
Wie weit man im übrigen mit rein sprachlichen Ableitungen kommen
kann, zeigt sehr schön die seinerzeit von Nothnagel vorgeschlagene
Bezeichnung Skolekoiditis, die von der griechischen Benennung des
Appendix „Skolekoeides apophysis"" abgeleitet ist und den Vorzug einer
für manche ziemlich schwierigen Aussprache mit einer sprachreinen
Ableitung der Endung verbindet. Zudem klingt die Bezeichnung wegen
des nur wenig bekannten griechischen Ableitungswortes für die Mehr-
zahl so Fremd, daO sie außer vom rein sprachlichen Gesichtspunkt
wohl kaum eine Berechtigung zur Erwerbung des Bürgerrechtes in
unserer Nomenklatur hat. Tatsächlich habe ich sie auch in keiner
Einteilung außer bei Rose erwähnt gefunden.
Der von manchen gebrauchte Ausdruck Perityphlitis appendicularis
ßr den gleichen Krankheitszustand drückt ja die Ätiologie richtig im
Adjektivum aus, warum man aber die Periappendizitis nicht vorziehen
soll, die denselben Begriff ebenso klar, nur kürzer zum Ausdruck bringt,
ist nicht einzusehen.
Früher oder später wird die Bezeichnung aller Voraussicht nach
wohl die alleinherrschende werden, sowohl der Logik, wie der Zweck-
mäßigkeit nach. Einstweilen ist der von früher übernommene Aus-
druck der Perityphlitis ein so festgewurzelter, daß man noch auf Jahre
hinaus mit ihm zu rechnen haben wird. Nur soll man sich dabei
gegenwärtig halten, daß er einen Krankheitszustand betrifft, der bereits
über den Appendix hinausgegriffen hat. Er entspricht somit einem
sekundären Stadium der Erkrankung, in welchem allerdings erst die
meisten Ärzte ihre Patienten zu Gesicht bekommen, und für diese Fälle
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374 Ad. Ebner, [6
besteht wenigstens vom anatomischen Gesichtspunkt aus die Perityph-
litis zu Recht.
Gehen wir nun zu der Einteilung der Appendizitis in die
einzelnen Stadien der Erkrankung über, so finden wir darin bei den
verschiedenen Autoren gewisse prinzipielle Unterschiede, je nachdem
die Einteilung auf rein ätiologisch-genetischer, topographischer, patho-
logischer oder klinischer Basis erfolgt ist. Da nun die meisten Ein-
teilungen weniger auf Grund der rein klinischen Symptome, als auf
Grund der Autopsie — sei es in vivo oder in mortuo — und auf
Grund eines Vergleiches bzw. einer Resfimierung des hierbei gebotenen
Befundes mit den vorherigen klinischen Symptomen aufgestellt worden
sind, so wird naturgemäß für die meisten der Einteilungen der patho-
logisch-anatomische Gesichtspunkt der hauptsächlich maßgebende sein,
während der klinische erst in zweiter Linie kommt.
Daß dabei eine vollständige Übereinstimmung zwischen beiden Ge-
sichtspunkten nur schwer oder gar nicht zu erzielen ist, ergibt sich aus
der Tatsache, daß in vielen Fällen die klinischen Symptome mit den
per autopsiam erhobenen Befunden entweder wenig übereinstimmten
oder gar in einem schreienden Mißklang dazu standen. Es liegt da-
her auf der Hand, daß bei Einteilungen, welche mehr oder weniger
beiden Punkten gerecht zu werden suchen, auch theoretisch der Ein-
klang zwischen beiden Punkten nur schwer herbeizufuhren ist, zum
mindesten wird dieser Einklang für die Praxis vielfach nur ein schein-
barer sein.
Für den Praktiker wird daher in erster Linie eine rein klinische
Einteilung in Frage kommen, und daß diese eine möglichst einfache
sein wird und muß, ergibt sich einmal aus der Forderung einer mög-
lichst großen Übersichtlichkeit und Klarheit derselben, sowie aus der
Erwägung heraus, daß gerade die einfachste und kürzeste klinische
Einteilung am ehesten allen pathologisch-anatomischen Gesichtspunl^ten
gerecht zu werden vermag, ohne durch ein zu subtiles Eingehen auf
die Einzelheiten den Mißklang zwischen klinischen und pathologischen
Befunden unnötig zum Ausdruck zu bringen. So sehr auch die Ein-
teilungen auf rein pathologisch-anatomischer Basis vom theoretisch
wissenschaftlichen Standpunkt aus zu schätzen sind, so sind sie den-
noch praktisch undurchführbar, da sie eben klinisch nicht zu machen
sind.
Daß man namentlich in letzter Zeit seitens unserer klinischen
Autoren immer mehr Wert darauf legt, dieser richtigen Erkenntnis
Ausdruck zu verleihen, ergibt sehr schön eine vergleichende Durch-
sicht der früheren Einteilungen im Gegensatz zu den heutigen. Es
tritt dabei' eine immer größere Einfachheit und ein immer größeres
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7] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 375
Vorwiegen des rein klioischen Gesichtspunktes in die Erscheinung.
Kommt es doch für den praktischen Arzt sowohl) wie für das Wohl
des Kranken vielmehr darauf an, an der Hand einer kurzen und fiber-
sichdichen Einteilung auf rein klinischer Basis schnell und präzise den
richtigen 2^itpunkt zum rettenden operativen Eingriff bestimmen zu
können, als in dem Bestreben, einer möglichst subtilen Einteilung die
Diagnose seines Falles anzupassen, Gefahr zu laufen, daß dieser wich*
tige Zeitpunkt versäumt wird.
Die schönste und subtilste Diagnose nützt eben in solchen Fällen
dem Patienten nichts, wenn sie nicht schnell gestellt wird und wenn
dabei in jedem nicht ganz leichten Fall nicht der Gesichtspunkt der
einzig maßgebende ist: Wann ist es Zeit zum operativen Ein-
griff, wann kann oder wann muß der Arzt pflichtgemäß den
Patienten der Hand des Chirurgen überliefern?
Zum Schluß möchte ich noch einige Sätze Sprengeis anführen,
in denen er in geradzu klassischer Weise für die Vorzüge einer rein
klinischen Einteilung eintritt: »Der von einigen (Sonnenburg) auf-
gestellte Grundsatz, daß nur diejenige Einteilung wissenschaftlich be-
rechtigt sei, welche auf pathologisch-anatomischer Grundlage beruhe,
ist theoretisch anfechtbar, praktisch undurchführbar und tatsächlich
unmöglich. '^ Man darf eben nicht vergessen, daß die angewandte
Wissenschaft in erster Linie für den Praktiker und Patienten da ist.
Ferner: »Jede Klassifizierung nach pathologisch-anatomischen Grund-
sätzen muß in der ideellen Absicht unternommen werden, io der Praxis
ihren Prüfstein zu finden. Solange wir sie nur mit dem exstirpierten
Wurmfortsatz vor uns probat erfinden, bleibt sie von des Gedankens
Blässe angekränkelt.'^
Wenn ich nun auch nicht im einzelnen auf die verschiedenen Ein-
teilungen vorwiegend deutscher Autoren des näheren eingehe bzw.
dieselben besonders anführe, da dieselben lediglich vom theoretischen
Gesichtspunkt aus Interesse darbieten, so möchte ich doch in einem
kurzen Hinweis auf dieselben versuchen, dem Praktiker ein Bild von
dem Reichtum an solchen, sowie den Gesichtspunkten zu geben,
welche für die Autoren dabei maßgebend waren. Diejenigen, welche
sich eingehender dafür interessieren, verweise ich auf die außer-
ordentlich umfassende Zusammenstellung der Einteilungen, welche
Sprengel allerdings nicht nach vergleichenden Gesichtspunkten, son-
dern nach chronologischer Reihenfolge geordnet in seinem Standard-
werk bringt.
Zunächst den rein ätiologisch-genetischen Standpunkt vertritt
eine Einteilung, welche Halm 1905 angegeben hat. Er geht dabei
von dem Grundsatz aus, daß die Appendizitis als eine rein bakterielle
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Ad. Ebner,
[B
'ii
Erkrankung zu bezeichnen sei^ welche endemischen Charakter besitzt,
und macht dementsprechend seine Unterscheidung nach der Art der
verschiedenen Infektionserreger, die dabei in Betracht kommen können.
Einen mehr ätiologisch-pathologischen Gesichtspunkt ver-
treten die Einteilungen vonCzerny, Sonnenburg und Federmann.
Dabei legt Sonnenburg besonderen Wert auf die Betonung des ätio-
logischen Momentes und hebt gleich Czerny den Perforationsvorgang
durch eine besondere Abteilung für denselben besonders hervor.
Federmann vertritt naturgemäß die gleiche Einteilung wie Sonnen -
bürg mit dem Unterschied» daß er zu der Appendicitis Simplex auch
die serös-fibrinöse Exsudation im freien Peritoneum hinzunimmt, nicht
ganz in Obereinstimmung mit der Auffassung seines Chefs Sonnen-
bürg, da eine solche Exsudation nicht stattfinden kann, wenn das Peri-
toneum absolut gesund ist, wie es Sonnenburg für seine Appendicitis
Simplex ausdrücklich hervorhebt.
Im übrigen hebt auch Federmann die Identität der perforativen
Peritonitis mit der zirkumskript-eitrigen Peritonitis und ebenso der
gangränösen Appendizitis mit der freien, progredienten Peritonitis in
der Art seiner Einteilung hervor. Wenn es nun für die Mehrzahl
der Fälle auch zutreffen mag, daß eine Perforation in der Regel von
einer zirkumskripten Peritonitis und eine Gangrän des Processus von
einer progredient-diffusen Peritonitis gefolgt sein wird, so wird es
doch eine große Anzahl von Fällen geben, für welche diese Identität
und somit auch die Einteilung Sonnenburg s nicht zutreffend ist.
Zudem kann erwiesenermaßen der Perforationsvorgang am Appendix
derartig larviert in seinen klinischen Äußerungen verlaufen, daß er
als solcher klinisch überhaupt nicht kenntlich ist, so daß er als Unter-
scheidungsmerkmal für eine Einteilung vom klinischen Standpunkt aus
wenig geeignet erscheint.
Es liegt in der Natur der Sache begründet, daß wir bei den pa-
thologisch-anatomischen Einteilungen auch die der ältesten
Autoren vertreten finden, da diesen ja zunächst die pathologischen
Obduktionsbefunde die einzigen Unterscheidungsmerkmale für eine
Einteilung liefern konnten. So unterscheidet Bamberger 1853 in
einer der ältesten Einteilungen zwischen intraperitonealen Entzün^
düngen, meist vom Processus oder vom Cöcum ausgehend, die schlecht-
hin als Typhlitis bezeichnet werden, und extra^ oder retroperitonealen
Entzündungen in dem. der hinteren Cöcalwand angelagerten Binde-
gewebe, die als Perityphlitis bezeichnet werden. Es fällt hierbei auf,
daß man damals dem Begriff der Perityphlitis dieselbe Bedeutung
unterschob, welche wir heute durch die Bezeichnung Paratyphlitis
zum Ausdruck bringen, während man die Typhlitis in erweiterter
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9] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 377
Bedeutung entsprechend unserer heutigen Perityphlitis für die Intra-
peritoneal lokalisierten EntzQndungsvorgänge in Anwendung brachte.
Oppolzer hebt bereits 1858 diesen Unterschied sehr richtig hervor,
indem er unter Perityphlitis die Entzündung des serösen Oberzuges
der Darmgebilde und unter Paratyphlitis die Entzündungen im retro-
cöcalen Bindegewebe versteht, eine Auffassung, die bis heute ihre
Gültigkeit nicht verloren hat. Von neueren Einteilungen könnte man
hierzu rechnen diejenige von Carl Beck 1898, Bloß 1894 und von
Bfingner 1904. Dieselben vertreten vorwiegend den pathologischen
Gesichtspunkt und geben im einzelnen Unterschiede, die man wohl
mit dem Appendix in der Hand nach Eröffnung der Bauchhöhle —
wie Sprengel sagt — zu machen in der Lage ist, die aber rein kli-
nisch zu machen für den Praktiker unmöglich ist.
Etwas mehr dem pathologisch -klinischen Standpunkt nähern
sich Roux 1892, Rotter 1896, Dörffler 1898, Jonescu 1903. Je-
doch finden wir bei Roux wieder dem Perforationsvorgang eine beson-
dere Abteilung eingeräumt, was aus den oben besprochenen Gründen
nicht sehr glücklich erscheint. Auch Sahli äußert sich mit Recht
gegen eine derartige Gruppierung nach perforativen und nicht perfora-
tiven Formen, weil sie nicht immer wesentlich verschiedene Krank-
heitsbilder hervorzurufen brauchen.
Rotter unterscheidet einfach zwischen der Perityphlitis circum-
scripta und diffusa, indem er dabei den Begriff der primären Appen-
dizitis unter den sekundären derPeriappendizitis unterordnet. Letzteres
erscheint mir etwas unmotiviert, da beide Begriffe klinisch gut von-
einander zu trennen sind.
Den Mißklang des pathologischen und klinischen Prinzips der Ein-
teilungen und die daraus resultierende Unbrauchbarkeit derselben für
den Praktiker hat besonders Hans Dörffler empfunden^ der selbst
als praktischer Arzt tätig ist. Trotzdem hat er bei seinem Versuch
einer derartigen Einteilung vom rein praktischen Gesichtspunkt aus
sich nicht ganz vom pathologischen Prinzip freimachen können, wie
seine Unterscheidung zwischen Periappendicitis serosa und suppurativa
beweist, die man aus dem Vorhandensein oder Fehlen des Fiebers
vor eingetretener Abkapselung doch nicht immer mit Sicherheit machen
kann. Ebenso erscheint mir seine Gleichstellung der perforativen mit
der eitrigen Periappendizitis, von denen die letztere der weitere Be-
griff ist, nicht zweckmäßig, da in vielen Fällen die Perforation als
klinisches Unterscheidungsmerkmal versagt und andererseits nicht jede
eitrige auch eine Perforationsperitonitis zu sein braucht.
Dagegen ist die Einteilung von Jonescu ziemlich frei von patho-
logischen Anklängen bis auf das Hervorheben der septischen oder
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Ad. Ebner,
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eitrigen Peritonitis und die gesonderte Abteilung der AppendicitU
hypertoxica, die wohl richtiger als Periappendizitis zu bezeichnei
wäre. Einen Unterschied zwischen allgemeiner Peritonitis appen-
diculari3 und appendikulärer Septhämie zu machen ist ebenfalls nicb
empfehlenswert, da beide Formen dieselben Veränderungen und Sym-
ptome aufweisen können und sich nur durch größere Virulenz der Er-
reger und entsprechend vermehrte Schnelligkeit des deletären Verlaufes
der Erkrankung voneinander unterscheiden, ein Punkt, der auch bei
Sprengel entsprechende Berücksichtigung gefutiden hat.
Als rein klinisch darf man wohl die Einteilungen von Rose.
Broca, Scholz, Riedel und Sprengel bezeichnen, von denen die
Einteilung von Rose mehr durch ihre Eigenart, als durch ihre Brauch-
barkeit Beachtung verdient Am kürzesten und relativ zweckmäßigste!
erscheinen mir die Einteilungen der letzteren Autoren, von denen
Scholz einfach zwischen leichten, mittelschweren und schweren Fällen
unterscheidet. Auch Riedel hält eine Trennung vom anatomisch-
pathologischen Standpunkt nicht für statthaft und schlägt vor, nui
zwischen Appendicitis non purulenta und purulenta zu unterscheiden.
In beiden Einteilungen haben jedoch meines Erachtens die klinisch er-
kennbaren und trennbaren Erscheinungen des Peritoneums zu wenig
Beachtung gefunden, so daß sie nach dieser Richtung etwas über das
Ziel hinausschießen dürften.
Diesen Nachteil vermeidet die Einteilung von Broca, ohne im üb-
rigen dadurch an Übersichtlichkeit und Kürze einzuhüllen. Es wird
darin nämlich unterschieden:
1. akute einfache Appendizitis (ohne Peritonitis),
2. zirkumskripte Peritonitis (adhäsive oder eitrige),
3. diffuse Peritonitis (septische oder eitrige),
4. chronische Appendizitis (mit oder ohne akute Anfälle).
Die drei letzten Abteilungen faßt Sprengel in eine zusammen, in-
dem er gleichwie Riedel und Scholz nur zwei Gruppen unterscheidet,
die er als Appendicitis Simplex und Appendicitis destructiva bezeichnet
Eine Trennung in A. ulcerosa, perforativa und gangraenosa hält Sprengel
für hinfallig, da sie in der Peritonealhöhle die gleichen Veränderungen
verursachen, worauf bereits oben gelegentlich der Appendicitis hyper-
toxica von Jonescu hingewiesen ist.
Wenn man nun trotz der zahlreichen und zum Teil recht brauch-
baren Einteilungen es wagen darf, eine weitere Einteilung vorzuschlagen]
so werden für dieselbe vom Standpunkt des Praktikers allein das
klinische und das therapeutische Prinzip in Frage kommen. Ersteres
wird vornehmlich beherrscht von den Reiz- bzw. Entzündungserschei-
nungen des Peritoneums. Durch sie allein wird der Stand der Er-
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11] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 379
krankung klinisch erkennbar nach auOen projiziert» ganz gleich ob die-
selben von einer Gangrän, Perforation oder Ulzeration ihren Ausgang
genommen haben. Diese allein können also für eine klinisch verwert-
bare Einteilung in Betracht zu ziehen sein.
Folgen wir von diesem Gesichtspunkt aus dem durchschnittlichen
Entwicklungsgang der Erkrankung, so werden sich gewisse klinisch
in der Regel trennbare Stadien ergeben, bei denen jedoch zu be-
denken ist, daß die Erkrankung günstigenfalls in einem frühen Sta-
dium abbrechen kann, so daß die späteren Stadien fortfallen, daß sie
aber ungünstigenfalls — bei großer Virulenz oder massenhaftem Ein-
bruch der Erreger in das Peritoneum und verminderter Widerstands-
fihigkeit desselben — die früheren Stadien so schnell durchmachen
bzw. überspringen kann, daß diese so gleichfalls in Fortfall kommen
können. Eine Möglichkeit, die ja für die Wandlung der Indikations-
stellung zum operativen Eingriff in den letzten Jahren ausschlaggebend
geworden ist.
Nach dieser Reihenfolge der Vorgänge würde sich dann folgende
Einteilung ergeben, deren klinische Unterscheidungsmerkmale und Vor-
gange wir gelegendich der Besprechung der Symptomatologie der
Appendizitis näher erörtern werden:
1. Appendicitis Simplex. Peritoneum völlig frei. Die Erkrankung
hat noch nicht auf die Serosa übergegriffen und begreift in sich den
Katarrh des Appendix mit vermehrter Schleimabsonderung und die
weiter fortgeschrittene Form der Erkrankung, welche sich durch Granu-
lationsgewebe zwischen den tubulösen Drüsen und Neigung zu Blu-
tungen des Bindegewebes auszeichnet und von Riedel als Appendicitis
granulosa haemorrhagica bezeichnet wird. Diese letztere darf man wohl,
abgesehen von akzidentellen Ursachen, auf die wir später zu sprechen
kommen werden, für die Mehrzahl der Fälle als Ausgangspunkt der
Erkrankung betrachten.
2. Periappendicitis incipiens. Die Erkrankung hat auf die
Serosa des Appendix und seiner näheren Umgebung übergegriffen,
aber sich noch nicht fest gegen die Umgebung abgegrenzt. Ich habe
dieses Stadium bisher in keiner Einteilung erwähnt gefunden, halte
aber dessen besondere Aufstellung und Umgrenzung auch vom klini-
schen Standpunkt aus für berechtigt und notwendig, da vom therapeu-
tischen Standpunkt aus dieses Stadium tatsächlich bereits eingeführt
und benannt worden ist. Es ist dieses das sogenannte intermediäre
Stadium der Erkrankung, das heute besonders aktuell ist durch den
noch nicht einwandsfrei entschiedenen Streit der Meinungen über die
Indikationsstellung zum operativen Eingriff während desselben. Einer-
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380 Ad; Ebner, [12
seits spricht die therapeutische Aufstellung dieses besonderen inter-
mediären Stadiums dafär, daß man es auch klinisch bis zu einem ge-
wissen Grade von den anderen Stadien unterscheiden kann, worauf
wir später näher zu sprechen kommen werden, und andererseits tritt
für die weitere Umgrenzung desselben die Erfahrungstatsache ein, daO
der Zeitraum vom Übertritt der Entzündung auf das Peritoneum bis
zur festen Umgrenzung derselben in der Regel sich bis zum achten
Krankheitstage abzuspielen pflegt. Diese beiden Gründe lassen es
meines Erachtens gerechtfertigt erscheinen, wenn man dieses tatsachlich
vorhandene und therapeutisch bereits im Gebrauch befindliche Stadium
der Appendizitis auch für die klinische Einteilung derselben gesondert
anführt. Wenn die ursprünglich von der zeitlichen Umgrenzung ab-
geleitete Bezeichnung des intermediären Stadiums in unserer Ein-
teilung durch Periappendicitis incipiens ausgedrückt wird, so geschieht
das, um das diesem Zeitraum in der Regel entsprechende Verhalten
des Peritoneums zum Ausdruck zu bringen und damit gleichzeitig eine
Übereinstimmung mit den anderen Bezeichnungen unserer Einteilung
herbeizuführen.
3. Periappendicitis (und Paraappendicitis) circumscripta.
Die über die Serosa des Appendix hinausgegangene Entzündung des
Peritoneums ist zur Abgrenzung und zum festen Abschluß gekommen.
Dieselbe kann serofibrinöser Natur oder der Regel nach mehr purulenter
Natur mit entsprechender Exsudatbildung sein, die meist in einem
deutlich lokalisierten Palpationsbefunde nachweisbar ist. Zeitlich würde
dieses Stadium dem sogenannten Spätstadium entsprechen.
4. Periappendicitis diffusa, entsprechend der Peritonitis appen-
dicularis diffusa purulenta, welche ohne Begrenzung entweder schub-
weise fortschreitend (Peritonitis fibrinopurulenta appendicularis von
Mikulicz), oder gleichmäßig sich in schnellem Tempo verbreitend
(Peritonitis appendicularis libera nach Sprengel oder acuta progre-
diens), oder gewissermaßen mit einem gewaltigem Sprunge auf einmal
innerhalb kürzester Zeit (appendikuläre Septhämie oder Appendicitis
hypertoxica bei Jonescu, foudroyante allgemeine septische Peritonitis
bei Dörffler) das gesamte Peritoneum ergreift. Die Schnelligkeit ihres
Fortschreitens ist abhängig von der Zahl und Virulenz der angreifenden
Erreger einerseits und der natürlichen Widerstandskraft des Perito-
neums andererseits.
5. Die abgelaufene oder chronisch rezidivierende Peri-
appendizitis bzw. das chronische Stadium mit dem völligen Rück-
gang sämtlicher akuten und subakuten Entzündungserscheinungen des
Peritoneums und den aus den zurückgebliebenen Entzqndungsresten
resultierenden, meist nur wenig hervortretenden Beschwerden, welche
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13] Ober den hetttigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 381
klinisch neben der Anamnese der Diagnose die einzige Handhabe dar-
bieten.
Vom rein therapeutischen Standpunkt hat s|ich zur Fest-
legung der operativen Indikationsstellung und Prognose in den ein-
2ehien Stadien der Erkrankung eine etwas andere Einteilung heraus-
gebildety welche nach zeitlichen Umgrenzungen des Krankheitsverlaufes
au^estellt ist, sich aber im großen und ganzeü mit unserer klinischen
Einteilung decken muO, da beide nach denselben Gesichtspunkten, die
klinische nach den tatsächlich vorhandenen und die therapeutische
nach den erfahrungsgemäß vorauszusetzenden Veränderungen des er-
krankten Peritoneums, gemacht worden sind.
Eine entsprechende Zusammenstellung beider Einteilungen würde
sich daher folgendermaßen gestalten:
1. Das Frühstadium der Erkrankung (absolute Frühoperation),
velches umgreift den ersten und zweiten Tag vom Beginn der Er-
krankung gerechnet. Die gewonnenen Operationsbefunde in demselben
entsprechen in der Regel der Appendicitis simplex, sowie häufig der
Periappendicitis incipiens.
2. Das Zwischenstadium (Intermediärstadium) Vom dritten bis
achten Tage der Erkrankung gerechnet, entspricht dem von uns unter
Periappendicitis incipiens verstandenen Erkrankungszustand des Peri-
toneums. (Zwischenoperation = Intermediäroperation.)
3. Das Spätstadium vom neunten Tage der Erkrankung ab ge-
rechnet, entspricht der Periappendicitis circumscripta (Spätoperation).
4. Das Notstadium (Notoperation) oder richtiger Zuspätstadium,
welches naturgemäß zeitlich nicht umgrenzt ist, der therapeutischen
Vollständigkeit halber jedoch ebenfalls angeführt werden muß und der
Periappendicitis diffusa entspricht. Therapeutisch sind bei ihm die
ersten beiden Tage vom Beginn der diffusen Erkrankung ab von
Wichtigkeit wegen der relativ günstigen Prognose für den operativen
Eingriff während derselben (relatives Frühstadium; relative Früh-
operation).
5. Das chronische Stadium, in welchem die Operation die größte
Sicherheit bietet: Sicherheitsstadium; Sicherheitsoperation.
Rein schematisch würde sich also folgende Parallele ergeben:
1. Absol. Frfihstadium » Appendicitis simplex oder Periappendi-
citis incipiens : absolute Frühoperation.
2. Zwischenstadium »Periappendicitis incipiens:Zwischenoperation.
3. Spätstadium => Periappendicitis circumscripta : Spätoperation.
4. Notstadium = Periappendicitis diffusa : Notoperation in 48 Std.;
relatives Frühstadium : relative Frühoperation.
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382
A4. Ebner,
[1
5. Sicherheitsstadium = Periappendicitis chronica : Sicherheitsopc
ration.
Ich glaube, daß eine derartige Einteilung, welche in gleicher W^eis
den klinischen und therapeutischen Gesichtspunkten gleichzeitig ge
recht zu werden vermag ohne an Übersicht und Verständlichkeit z
verlieren, am ehesten dem Bedürfnis des Praktikers genügen dfirfii
zur Orientierung am Krankenbett sowohl, wie in der an einer ver
schiedenartigen Benennung gleicher oder korrespondierender Begriff
noch laborierenden Literatur. Im übrigen hat sie den Vorteil, dal
sie den häufigen Verwechselungen zwischen Intermediär = Zwischen
Stadium und Intervall = Sicherheitsstadium definitiv ein Ende macht.
Das Bestreben für korrespondierende Begriffe die entsprechende!
Bezeichnungen beizubehalten ist auch der Grund gewesen, weswegei
ich in meiner Einteilung die sonst übliche Bezeichnung der Peritoniti:
nicht gebraucht habe, gleichwie Rotter bereits 1896 in seiner Ein
teilung der Perityphlitis circumscripta die P. diffusa als den korre
spondierenden Ausdruck gegenübergestellt hat. Ich glaube, daß siel
dieses aus Gründen der Logik und der Einfachheit empfiehlt. Jed<
über den Appendix hinausgeschrittene Entzündung ist eben eine Peri
tonitis, ganz gleich ob sie umgrenzt oder nicht umgrenzt ist. Für di<
umgrenzte Entzündung hat man der Ätiologie Rechnung getragen, in<
dem man dafür ausdrücklich den korrespondierenden Ausdruck dei
Periappendicitis circumscripta geprägt hat. Für die nicht umgrenzte
Entzündung geht man wenig konsequent von dem eben geprägtei
Ausdruck wieder ab, und bringt die Ätiologie bzw. die primäre Er-
krankung im Adjektivum zum Ausdruck, um eine vorherrschendt
Krankheitserscheinung sekundärer Natur durch den Gebrauch des
Substantivs für dieselbe plötzlich ganz besonders zum Ausdruck zi
bringen.
Das wäre berechtigt, wenn der erstere Ausdruck weniger klar wäre
Das ist aber nicht der Fall. Man kann unter einer diffusen odei
progredienten Periappendizitis unmöglich etwas anderes verstehen
als eine Peritonitis appendicularis diffusa oder progrediens, nur muC
man sich im letzteren Fall zur Bezeichnung desselben Begriffes eines
weiteren Wortes bedienen. Sowohl der Logik, wie der Einfachheil
wegen verdient aber meines Erachtens in solchen Fällen der kürzere
und korrespondierende Ausdruck zur Bezeichnung artgleicher Begriffe
stets den Vorzug.
Sprengel hält dem entgegen, er vermöge nicht einzusehen, warum
man einer Peritonitis, die vom Appendix ausgeht, nicht einen selb-
ständigen Namen geben soll, wenn man andererseits der Peritonitis
nach Magen- und Darmperforationen doch auch ihren richtigen Namen
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15] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 383
L Das wäre berechtigt, wenn man die Peritonitis als selbständige
Erkninkungsform hinstellen will. Letzteres geht aber wohl nicht an,
da sie tatsächlich in einem, wie im anderen Fall den mehr oder
veniger ausgeprägten Folgezustand einer Erkrankung des Appendix,
des Magens oder sonst eines Organs der Abdominalhöhle darstellt.
Jedenfalls ist bisher eine idiopathische Peritonitis von keiner Seite
Bichgewiesen worden. In beiden Fällen scheint mir daher eine be-
sondere Berechtigung nicht vorzuliegen, die primäre Erkrankung
plötzlich durch einen Folgezustand derselben zum Ausdruck zu
bringen.
Die Art dieser Bezeichnung stammt wohl noch aus der Zeit, als
man zunächst nur mit der Peritonitis, als dem äußerlich manifesten
Symptom der Erkrankung zu rechnen pflegte und mangels genügender
ätiologischer Klarstellung in vielen Fällen keine andere Wahl übrig-
blieb. Nachdem sich dieses geändert hat, und man in jedem Fall die
Peritonitis als Folgeerscheinung der Erkrankung eines anderen Or-
gans betrachten muß, scheint mir die Beibehaltung dieses Gebrauchs
ffir die Erkrankung anderer Organe der Bauchhöhle ein gleich kon-
servatives Verhalten gegenüber der im Vordergrund des Interesses
stehenden Appendizitis nicht mehr zu rechtfertigen. Einen Beweis
dtffir darf man wohl in der ausdrücklich geprägten und gebrauchten
Periappendicitis circumscripta erblicken, welche logischerweise auch
eine Periappendicitis diffusa zur Voraussetzung haben muß.
Gehen wir nun zu der Ätiologie und Genese der Appendi-
zitis über, so finden wir, daß einzelne früher mehr weniger willkür-
lich angenommene Faktoren allmählich völlig ausgeschieden sind. So
darf man auf Grund der Ausführungen von Sahli und anderer Autoren
die Theorie von der Typhlitis und Perityphlitis stercoralis heute mit
Recht als der Vergangenheit angehörig betrachten.
Ebensowenig haben sich für den Zusammenhang des häufigeren
Konstatierens der Appendizitis mit dem vermehrten Gebrauch email-
lierter Kochgeschirre, von denen sich abgesprungene Teile im Ap-
pendix festsetzen sollten, irgendwelche Anhaltspunkte ergeben. Viel-
mehr dürfte sich das anscheinend vermehrte Auftreten der Appendi-
zitis erheblich zwangloser erklären lassen durch die wesentlichen
Fortschritte auf diagnostischem Gebiet einerseits und die erhöhte
Aufmerksamkeit, welche seitens der praktischen Ärzte dieser Erkran-
kung zugewendet wird, andererseits. Jeder erfahrenere Arzt wird bei
Erkrankungen des Intestinaltraktus stets die Appendizitis in den Be-
reich seiner Erwägungen mit einbeziehen und wird so dieselbe viel-
fach bereits in ihren ersten Anfängen zu konstatieren in der Lage
sein, Fälle, die früher als Darm- und Magenkatarrhe, Darmkoliken
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384 Ad. Ebner, [16
oder generell als Bauchfellentziindungen angesprochen wurden und so
der Statistik völlig entgangen sind.
Ferner hat man früher dem Vorhandensein von Fremdkörpern eine
alku groOe Wichtigkeit hinsichtlich der Ätiologie der Erkrankung bei-
gemessen. Man hat wohl in einer Anzahl von Fällen Fremdkörper
verschiedenster Art im Appendix gefunden^ die allerdings die Veran-
lassung zu den weiteren pathologischen Erscheinungen bilden konnten
und teilweise auch gebildet haben. Im Verhältnis zu der Gesamtzahl
der Erkrankungen sind jedoch diese Fälle so selten, daß sie für die
Ätiologie der Appendizitis nur eine ganz untergeordnete Bedeutung
in Anspruch nehmen können.
Ebenso hat auch die Annahme einer zerstörenden Wirkung von
Darmparasiten auf den Appendix nach Metschnikoff sich niclit als
haltbar erwiesen. Sie werden vielmehr in der Regel auf den Pro-
cessus die gleiche Wirkung wie jeder andere Fremdkörper ausfiben
durch gelegentliche Okklusion seines Lumens mit nachfolgender Reten-
tion und den entsprechenden Folgeerscheinungen. Eine spezielle Wir-
kung derselben kann nur unter der Voraussetzung in Frage kommen,
daß sie imstande sind, kleine Kontinuitätstrennungen des Epithelbelages
der Schleimhaut zu setzen, welche zur Eingangspforte für eine bak-
terielle Invasion werden könnten. Diese Voraussetzung wird für ver-
einzelte Arten von Darmparasiten zwar zugegeben, aber auch bei
diesen nur in äußerst seltenen Fällen erfüllt sein.
Gänzlich haltlos, wenn auch nicht ohne Interesse ist die von
Rubin aufgestellte Möglichkeit eines Zusammenhanges der Zurück-
haltung von Winden mit pathologischen Veränderungen am Appendix.
Kommen wir nun zu den tatsächlich für Ätiologie der Appendizitis
in Betracht kommenden Ursachen, welche heute allgemeine Anerkennung
gefunden haben, so werden wir dieselben im Interesse einer besseren
Obersicht am besten folgendermaßen einteilen:
1. Somatische Ursachen a) kongenitaler, b) erworbener Natur.
2. Ursachen, die durch das Lebensalter oder das Geschlecht der
Patienten prädisponierend in Frage kommen.
3. Ursachen äußerer Natur bedingt durch a) Lebensweise und Er-
nährung, b) Klima, c) Traumen, d) bakterielle Invasion.
Bezüglich der somatischen Ursachen ist von Wichtigkeit die
anatomische Beschaffenheit des Appendix und seines Mesenteriolums
einerseits, sowie das Verhalten der umliegenden Organe andererseits.
Namentlich bei dem ersten Punkte tritt die Möglichkeit einer mehr
weniger hereditären Disposition zur Erkrankung in den Vordergrund.
Es kann durch eine besondere Länge des Appendix, welche nach ein-
wandfreien Beobachtungen auch erblich vorkommt, eine vermehrte
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17] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 385
Gelegenheit zu Knickungen des Lumens und Retention des Inhalts
gegeben werden, namentlich wenn damit noch ein kurzes Mesenteriolum
verbunden ist, das an sich schon eine gewisse Knickung des Appen-
dix bedingen kann.
Neben einer abnorm geringen Widerstandsfähigkeit der Wandung
überhaupt kann nach Hansemann auch eine herabgesetzte Widerstands-
fihigkeit der Gerlachschen Klappe von besonderer Bedeutung für
die Zirkulation bzw. Stauung von Darminhalt im Processus mit ihren
Folgezustanden sein. Diese verminderte Widerstandsfähigkeit kann
in beiden Fällen sowohl kongenitaler, wie erworbener Natur sein.
Kongenital kann es ferner durch intrauterine Entzündungsvorgänge
zu einer Verwachsung des Testikels mit dem Appendix kommen, wo-
bei der Testikel ihn bei seinem Deszensus mit hinunternimmt, oder
es kann nachträglich der Appendix mit dem Cöcum in den offen
gebliebenen Processus vaginalis hinabgleiten und hier einer Abklem-
mung oder Einschnürung unterliegen, die eine Appendizitis im Bruch-
sack zur Folge hat. Daß diese Fälle nicht ganz selten sind, beweist
die Tatsache, daß in der Albertschen Klinik unter 250 Bruchopera-
tionen der Appendix 9 mal (=3,6%) im Bruchsack gefunden wurde.
Dagegen fand May dl unter 443 Hernien nur llmal das Cöcum mit
oder ohne Appendix im Bruchsack = 2,5% der Fälle.
Desgleichen kann als Folge intrauteriner Entzündungen eine be-
sondere Kürze und Abknickung des Mesenteriolums zurückbleiben
(Sprengel), auf deren Folgen oben bereits hingewiesen ist.
Bezüglich der Einwirkung anderer Organe auf den Appendix hat
Karl Beck 1808 auf das Verhalten der Wanderniere hingewiesen.
Er beobachtete nämlich 3 Fälle, in denen eine rechtsseitige Wander-
niere den nach -hinten gerichteten Appendix gegen das Darmbein
druckte und so nach seiner Meinung zu einer Verlegung des Lumens
und Zirkulationsstörung die Veranlassung abgab. Auch Edebohls
weist auf die Bedeutung der rechtsseitigen Wanderniere für die Ent-
stehungsmöglichkeit einer Appendizitis hin, und zwar soll dieselbe
durch Druck auf die Ven. mes. sup. und sekundäre Stauung im Ap-
pendix zustande kommen. Sprengel, gleichwie Fueth und Hadra,
kann sich diesen letzteren Gründen von Edebohls nicht anschließen,
namendich da Hyperämie heute noch weniger, als früher zu den ent-
scheidenden Bedingungen der Entzündung gehört. Letzteres dürfte
jedoch nur für die warme Hyperämie zutreffen. Sobald es auf Grund
der obigen Vorgänge zu einer kalten Hyperämie wirklich kommen
sollte, dürften die Vorbedingungen für Ernährungsstörungen der Wand
und sekundäres Vordringen der Entzündungserreger durchaus gegeben
sein. Die Richtigkeit der Annahme von Edebohls dürfte also von
KliB. Vortrage, N. P. Nr. 489/00/91. (Chirurgie Nr. 142/43/44.) Juni 1908. 29
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386
Ad. Ebner,
[1^
dem Grade der Stauung abhängig zu machen sein, welche eine rechts-
seitige Wanderniere auf den Appendix ausüben könnte. DaO diesei
so hoch sein sollte, ist allerdings kaum anzunehmen und zum min-
desten bisher nicht bewiesen.
Von erworbenen anatomischen Ursachen werden vor allem Kot-
steine im Lumen, sowie Narbenstrikturen, Knickungen und Verwachsun-
gen als Residuen früherer Entzündungen, sei es am Appendix selbst
sei es in seiner Umgebung, den Anlaß zu den folgenden und meisi
schwerer verlaufenden Anfällen bilden können. Ausnahmsweise kann
auch eine Torsion des Appendix um seine Längsachse, sowie dei
Druck von Tumoren anliegender Organe die Veranlassung zu einei
Störung der Blut- oder Kotzirkulation im Appendix abgeben.
Auch dem Lebensalter kann eine gewisse Wichtigkeit für die
Prädisposition zur Appendizitis nicht abgesprochen werden. So soll
einerseits nach den Untersuchungen von Monti und Sonnenburj
bei Kindern in den ersten Lebensjahren der Appendix eine besondere
Neigung zu Knickungen haben, die dann zu den entsprechenden Folge-
erscheinungen führen können. Andererseits soll nach Mynter aucli
durch ein überwiegendes Vorhandensein von Lymphgewebe im Ap-
pendix während des jugendlichen Alters eine größere Neigung zui
Erkrankung gegeben sein. Trotzdem erkranken jedoch nach Hanse-
mann Kinder vor dem dritten Lebensjahr relativ selten an Ap-
pendizitis, da die Gerlachsche Klappe in diesem Alter noch nichi
genügend ausgebildet ist Der Zusammenhang des Appendix mit dem
Cöcum besteht dann in einer breiten, mehr trichterförmigen Kom-
munikationsöffnung, so daß es seltner zu Stauungen des Inhalts im
Appendix kommen kann.
Ebenso ist auch im höheren Lebensalter die Disposition zur Er-
krankung eine erheblich geringere, da dann ein starker Schwund dei
lymphatischen Gewebsbestandteile der Wandung des Appendix ein-
zutreten pflegt. Gleichzeitig wird erfahrungsgemäß die Disposition
zur Bildung von Kotsteinen im höheren Lebensalter eine wesentlicl]
geringere. So hat Ribbert bei Kindern unter 5 Jahren keinen Kot-
stein und im Alter von 5 — 20 Jahren doppelt so häufig Kotsteine ge-
funden, als nach dieser Zeit. Tatsächlich ist auch nach den über-
einstimmenden Berichten sämtlicher Autoren das häufigste Auftreten
der Erkrankung in das Alter von 10—30 Jahren zu verlegen.
Daß auch das Geschlecht von Wichtigkeit für Ätiologie der Ap-
pendizitis ist, beweist die empirisch erwiesene Tatsache, daß die Er-
krankung bei dem männlichen Geschlecht erheblich häufiger vorkommt^
als bei dem weiblichen. Diese Beobachtung findet ihre Erklärung
nach der Mehrzahl der Autoren in der besseren Blutversorgung des
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19] Ober den heutigen Stand der Erkennung u, Behandlung der Appendizitis. 387
Appendix durch das Llg. appendico-ovaricum bei dem weiblichen
Geschlecht, wobei allerdings zu bedenken ist, daß z. Z. nach Sprengel
die Existenz des Lig. appendico-ovaricum noch keineswegs unbe-
stritten dasteht. Zum mindesten sind über die Häufigkeit seines Vor-
handenseins sichere Angaben bisher nicht gemacht worden. Zwar
erscheint das weibliche Geschlecht während der Zeit der Menses
bföonders für eine Erkrankung des Appendix disponiert wegen der
Starkeren Blutstauung und Schwellung der Genitalorgane in dieser
Zeit, an welcher der Appendix naturgemäß einen gewissen Anteil hat
durch seine Gefäßverbindungen im Lig. appendico-ovaricum. Davon
kann jedoch für die Appendizitis nur eine stärkere Schwellung und
dadurch bedingte Verlegung des Appendixlumens in Betracht kommen,
da nach den neueren Anschauungen in der vermehrten Blutzufuhr zum
Appendix innerhalb dieser Zeit, soweit sie zu einer warmen Stauung
fuhrt, eher ein entzündungsverringernder, als befördernder Faktor zu
erblicken wäre. Ob und wie häufig aber die Schwellung des Appen-
dix auf derartiger Grundlage eine so hochgradige werden kann, wird
von entsprechenden Untersuchungen abhängig zu machen sein, die
z. Z. noch ausstehen.
Gegenüber dieser ganz kurzen Zeit einer vielleicht etwas vermehr-
ten Disposition beim weiblichen Geschlecht ist das männliche Ge-
schlecht durch sein ganzes äußeres Berufsleben in einem viel höheren
Grade Traumen und InfektionsmögUchkeiten ausgesetzt und hat da-
her unter viel zahlreicheren Gelegenheitsursachen zu leiden, als das
veibliche Geschlecht. Dazu kommt noch, daß Männer durch kaltes
Trinken, fibermäßiges Rauchen u. dgl. viel eher zu vorübergehenden
oder chronischen Darmkatarrhen die Veranlassung geben, durch
welche dann eine verminderte Widerstandsfähigkeit und erhöhte In-
fektionsmöglichkeit der Darm Wandung bedingt wird, als deren Locus
minoris resistentiae der Appendix ja ohnedies zu betrachten ist
Von äußeren Einwirkungen auf den Appendix werden vor
allem Lebensweise, Ernährung, Klima, Traumen und Infektionen des
Körpers allgemeiner Natur in Frage kommen.
So ist als ein wichtiges Moment für die Ätiologie allgemein an-
erkannt die übertriebene bzw. sehr reichliche Fleischnahrung, wie sie
namentlich in Amerika, England und Norddeutschland genossen wird,
im Gegensatz zu den Japanern und verschiedenen Eingeborenen-
stammen Afrikas, denen die Fleischnahrung durch Religionskult oder
örtliche Verhältnisse mehr weniger entzogen ist. Die Seltenheit bzw.
das gänzliche Fehlen der Appendizitis bei diesen Volksstämmen steht
im strikten Gegensatz zu der Häufigkeit der Erkrankung bei den er-
steren (Kümmel, Lange, Beck u.a.). Auf Grund dieser Beobach-
29*
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388
Ad. Ebner,
[2C
P
tung ist man wohl früher zu der Annahme einer Prädisposition ge*
wisser Nationen für die Appendizitis gelangt.
Bezüglich des Klimas ist es gleichfalls erwiesen, daß der Aufent-
halt in den Tropen entsprechend der größeren Häufigkeit von Darm-
erkrankungen bei Europäern überhaupt auch eine entsprechende Ver-
mehrung der Krankheitsfalle an Appendizitis zur Folge hat. Ebensc
können die Jahreszeiten insofern von gewissem Einfluß sein, als ii
den Sommermonaten eine vermehrte Gelegenheit zu Magen- und Darm-
störungen gegeben ist.
Auch Traumen verschiedenster Art können, sei es als auslösende
Ursache einer latent bestehenden Reizung, sei es als primäre Ursache
überhaupt den Anlaß zu einer Appendizitis abgeben. So weisen untei
anderen Nimier und Sachs auf Fälle von körperlichen Oberanstren-
gungen hin, die eine Appendizitis zur Folge hatten. Ebenso vertrit
auch Neumann in einer Arbeit an der Bachmannschen Klinik di<
Möglichkeit, daß am normalen Appendix eine Erkrankung auf trau
matischer Grundlage entstehen könne, und stellt selbst 10 Fälle diesei
Art zusammen. Nun dürfte es ja einerseits schwer sein mit Sicher
heit zu beweisen, daß in solchen Fällen tatsächlich ein normaler Ap
pendix vor dem Trauma vorgelegen habe. Spricht doch das Fehlei
subjektiver Beschwerden bekanntlich nicht sicher gegen das Vorhan
densein einer reinen Appendizitis, die noch nicht durch eine stärken
Stauung im Appendix oder durch Obergreifen des Entzündungspro
zesses auf die Serosa zu Reizerscheinungen des Peritoneums geführ
hat. Andererseits kann aber ebensowenig ein zwingender Bewei;
gegen die Möglichkeit angeführt werden, daß es unter besondere]
Umständen, bei besonders dünnen und weiten Bauchdecken, wie z. B
bei Frauen mit Rektusdiastase u. a., gelegentlich durch ein Traum;
zu Quetschungen der Wandung des Appendix kommen kann, welchi
zur Schädigung der Gewebsvitalität bzw. Blutungen und Kontinuitäts
trennungen der Schleimhaut führen und so eine mehr weniger groQi
Eingangspforte für eine bakterielle Invasion schaffen können.
Allerdings kann man mit Neu mann und Hoffmann annehmen
daß in der Regel dazu ein Kotstein erforderlich sein wird. Wem
es dabei nach Neu mann auch durch die Mitwirkung der Bauchpress
allein zu Zerrungen an der Stelle des Kotsteines kommen soll, di
eine nachfolgende Läsion und Infektion der Schleimhaut bedingei
können, so kann man dieser Möglichkeit wohl beistimmen, aus Gründen
die ich inzwischen in einem Gutachten näher entwickelt habe, welche
ich über einen derartigen Fall aus der Prof. Lexer sehen Privat
klinik abgegeben und in der Berliner klinischen Wochenschrift pu
bliziert habe. Sprengel hält es überhaupt für ausgeschlossen, daßdt<
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21] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 38&
mechanische Quetschung eines Kotsteines gegen die Wandung zu Ap-
pendizitis fähren könne oder daß ein mit infel^tiösem Material ge-
füllter Appendix durch einen Stoß gegen die Bauchwand oder die
Bauchpresse allein zum Bersten gebracht werden könne. Diese An-
nahme Sprenglers scheint doch etwas zu weit zu gehen. Bei nor^
malen Bauchdecken dürfte allerdings für einen völlig gesunden Appen-
dix ohne Kotstein ein Trauma ziemlich bedeutungslos sein, was auch
der Anschauung von Sonnenburg entspricht. Bei dem Zusammen-
fallen einer bereits primär am Appendix vorhandenen pathologischen
Veränderung oder eines Kotsteines im normalen Appendix mit einem
Trauma kann letzteres doch als auslösende Ursache eines nachfol-
genden Anfalles sehr wohl in Betracht kommen. Daß ein Trauma
gewissermaßen indirekt schließlich auch auf einen normalen Wurm-
fortsatz ohne Kotstein einwirken kann, scheint mir ein von Fink
veröffentlichter Fall zu beweisen, in dem sich 2 Stunden nach einem
Fall auf den Bauch ein typischer Appendizitisanfall ohne jegliche vor-
ausgegangene Krankheitserscheinungen entwickelte. Nach einem
zweiten Appendizitisanfall wurde die Operation vorgenommen und er-
gab eine Stildrehung des langgestielten Wurmfortsatzes mit nachfol-
gender Behinderung des Sekretabilusses und den entsprechenden Folge-
erscheinungen. Man dürfte nicht fehlgehen, wenn man diese Stiel-
drehung in Anbetracht des Fehlens vorausgegangener Erscheinungen
und des zeitlichen Zusammenhanges der Erkrankung mit dem Unfall
in ursächlichen Zusammenhang mit dem vorausgegangenen Unfall
bringt.
Das wichtigste Moment für die Ätiologie der Appendizitis, das
heute als grundlegend für die Genese dieser Erkrankung in ihren ver-
schiedenen Erscheinungsformen allgemeine Anerkennung gefunden
hat, ist das der bakteriellen Infektion. Tatsächlich hat man den
Appendix sowohl seiner Gestalt, wie seinem makroskopischen und
histologischen Bau nach als einen wahren Prädilektionsort für die An-
siedlung einer jeden Infektion im Digestionstraktus anzusehen. Und
zwar wird in der Regel die Infektion von dem Darmlumen ihren Aus-
gang nehmen. Wenn auch ausnahmsweise wirklich einmal eine In-
fektion auf dem Blutwege zustande kommen könnte, wie es nach den
Versuchen von Josuö an Kaninchen den Anschein hat, so ist diesem
lafektionsmodus für den Menschen zum mindesten eine sehr geringe
Bedeutung beizumessen. Ob die Erreger im übrigen auf endogenem
Wege auch die unverletzte Schleimhaut des Wurmfortsatzes zu pas-
sieren vermögen, wird an mancher Stelle angezweifelt und ist zum
mindesten bis heute noch nicht einwandfrei bewiesen. Andererseits
steht aber auch nichts der Annahme im Wege, daß bei Herabsetzung
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390 Ad. Ebner, [22
der Widerstandskraft des Körpers und der allgemeinen oder 5rt-
liehen, natürlichen Gewebsvitalität durch die Aufnahme von Toxinen
in das Blut in gleicher Weise eine Einwanderung von Bakterien
durch das unverletzte Epithel stattfinden kann, wie andererseits die
nachgewiesene Auswanderung der Leukozyten ebenfalls durch das
unverletzte Epithel tatsächlich stattfindet.
Fär die besondere Prädisposition des Appendix zur Infektion vom
anatomischen Standpunkt aus genügt es auf den Reichtum an Lymph-
knötchen bzw. lymphadenoidem Gewebe der Wandung hinzuweisen,
das nach Mynter besonders im jugendlichen Appendix hervortritt
und diesen somit noch stärker zur infektiösen Erkrankung disponiert.
Dieser Reichtum des Organs an lymphadenoidem Gewebe ist ja auch
für Sahli der Grund gewesen, es in Parallele mit den Gaumenton-
sillen zu stellen, indem es für die häufigen Erkrankungen des Dige-
stionstraktus die gleiche Rolle spielt, wie die Rachen- bzw. Gaumen-
tonsillen für diejenige des Pharynx. In Analogie dazu hat Sahli die
Bezeichnung der Angina des Wurmfortsatzes, der Angina appendicu-
laris, vorgeschlagen, welche recht geeignet ist, die Ähnlichkeit der
Vorgänge zum Ausdruck zu bringen. Daß damit auch ein ganz be-
sonderer ätiologischer Zusammenhang zwischen Angina tonsillaris und
Appendizitis ausgedrückt werden soll, muß ausdrücklich verneint
werden. Auch Sprengel kann nach seinen Erfahrungen dem ätio-
logischen Zusammenhang zwischen Angina tonsillaris und Appendi-
zitis eine besondere Bedeutung nicht beimessen, da er diese beiden
Erkrankungen nicht häufiger nebeneinander gefunden hat, als andere
Erkrankungsformen auch. Sie hat eben den gleichen Einfluß auf den
Appendix, wie ihn andere Infektionskrankheiten schließlich auch
haben können. —
Verfolgen wir nun den Vorgang der Genese der bakteriellen
Appendizitis weiter, so kommt es nach Asch off im mittleren Alter
durch Verminderung des Drüsenreichtums an zirkumskripten Stellen
zum Vorhandensein von Lakunen, so daß auf diese Weise die Epithei-
schicht durch eine Lücke in der Muscularis mucosae direkt mit der
Submukosa in Verbindung treten kann. In diesen Lakunen kann
dann um so leichter eine Retention von Sekret und Infektionserregern
stattfinden, die weiter zu einer Druckarrosion des Epithels mit nach-
folgender Infektion der Wandung des Processus führen kann, gänz-
lich analog den Vorgängen bei der Angina lacunaris.
Was nun die Erreger selbst anbelangt, so wird es sich ja bei dieser
Infektion in der Regel um Bacterium coli commune, meist in Ver-
bindung mit Staphylo- und Streptokokken handeln. Außer diesen ist
es aber Tavel und Lanz gelungen, noch eine große Reihe anderer
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23] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 391
Bakterien im Appendix nachzuweisen, als da sind: B. capsulatus, B.
fusirormis, B. foetidus liquefaciens, B. pyocyaneus, Rotz-, Tetanus und
tecanusähnliche Bazillen, Staphylococcus aureus, Coccus conglomeratus,
Diplococcus intestinalis maj. und min., Spirillen, ferner Typhus und Ak-
tinomyceserreger.
Auffallenderweise haben dieselben Autoren gerade in normalen
Appendizes mehrere Bakterienspezies zugleich (bis zu 6) gefunden,
wahrend unter den pathologisch veränderten Appendizes 10% steril
gefunden wurden. Je weiter die pathologischen Veränderungen der
Appendizes vorgeschritten waren, desto geringer war die Zahl der
verschiedenen Bakt^rienarten, welche sich darin feststellen ließen. Bei
den kalten appendizitischen Abszessen fand man sogar in 75% der
Falle völlige Sterilität, eine Tatsache, welche die Verfasser durch eine
vermehrte Leukozytenansammlung und daraus resultierende verstärkte
Phagozytose während der Entzündung zu erklären versuchen. Es er-
scheint nicht unberechtigt, diese Vorgänge in eine gewisse Analogie
mit der Theorie über die Heilungsvorgänge bei der Bi ersehen Stau-
ung zu setzen.
Als weitere Faktoren für die erhöhte Infektionsmöglichkeit der
Wandung des Processus vermiformis kommen einerseits die ungeheure
Menge von Bakterien im Verhältnis zu dem geringen Lumen, dem
geringen Querschnitt der Wand und der geringen Flächenausdehnung
der Schleimhaut des Processus und andererseits die vielfach durch
Stauungen des Inhaltes gesteigerte Virulenz der Erreger in Betracht.
Diese Verhältnisse in Verbindung mit der lymphadenoiden Beschaffen-
heit des histologischen Baues der Wandung des Processus sind wohl-
geeignet, denselben zu einem Locus minoris resistentiae des gesamten
Digestionstraktus zu machen, der besonders leicht auf eine Infektion
der Verdauungswege reagieren muß.
Diesen unverhältnismäßig reichlichen und virulenten Offensivfak-
toren steht ferner noch gegenüber die relativ leicht herabsetzbare
Defensivkrafk der Wandung infolge der einseitigen Blutversorgung des
Appendix, die ja dem Endbezirk der im Mesenteriolum verlaufenden
Arterie entspricht. Es kann dadurch sehr leicht zu Ernährungsstö-
rungen der Wand kommen, sobald ein genügender Zufluß oder Ab-
fluß des Blutes durch pathologische Gefaßveränderungen primärer
oder sekundärer Natur in Frage gestellt wird, insbesondere ist auch
an die schlechte Gefäßversorgung der Spitze des Appendix bei pri-
märer Kürze des Mesenteriolums zu denken, auf die Karewski hin-
gewiesen hat.
Ob diese Gefäßveränderungen nun primärer oder sekundärer Natur
sind, kommt für die verderblichen Folgen derselben wenig in Betracht
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392 Ad. Ebner, [24
und wird auch nicht immer leicht zu entscheiden sein. So hält
V. Brunn die sekundäre Entstehung der Gefäßerkrankungen für wahr-
scheinlichen Er gelangt zu dieser Anschauung durch einen Vergleich
der Art, des Sitzes und der Ausdehnung der Gefäßerkrankungen mit
den pathologischen Veränderungen an der Wandung des Processus.
Allerdings kann für einzelne Fälle die Möglichkeit zugegeben werden,
daß die Gefaßveränderungen als die primäre Aifektion die Veran-
laßung für weitere und stärkere Entzündungsvorgänge abgegeben hätten.
Jedoch ist die direkte Notwendigkeit eines solchen Zusammenhanges
nirgends ersichtlich.
Ebenso hält O. Nordmann die Thrombose der Mesenterialvenen
stets für eine sekundäre Erkrankung, der primär eine Verengerung
bzw. Stauung im Processus durch Veränderungen seines Lumens
vorausgegangen ist.
Als sicher sekundärer Natur spricht v. Brunn die Veränderungen
an den Lymphgefäßen an, an denen er eine Erweiterung, Anfüllung
mit mono- und polynukleären Leukozyten, Lymphangitis und Throm-
bose in akuten Fällen, sowie Intimaverdickungen und Obliteration in
abgelaufenen Fällen beobachten konnte.
Auch Karewski hält die primären Zirkulationsstörungen und em-
bolischen Vorgänge für selten.
Kehren wir nach dieser kurzen Abschweifung zu der bakteriellen
Invasion des Appendix zurück, so muß in der Regel für dieselbe noch
ein rein mechanisches Moment dazukommen. Dieses wird fast stets
durch Verengerung bzw. Verschluß des Lumen infolge Knickung,
Narbenstriktur oder Kotsteine geboten, welche eine Retention und
Stauung des Inhaltes mit Steigerung der Virulenz und vermehrter Re-
sorption desselben durch die Lymphgefäße zur Folge haben kann.
Insbesondere können nach Roux und Trachenberg die Kotsteine
durch eine Art kugelventiläbnlicher Wirkung die schnelle Entstehung
einer Stauung begünstigen.
Auf diese Weise können dann infolge starker Dehnung der Wand
einerseits kleine Dehnungsgeschwüre im Sinne von Kocher und
Prutz zustande kommen. Andererseits ist es zum mindesten nicht
ausgeschlossen, daß es infolge dauernden Druckes eines Kotsteines
oder Fremdkörpers auf eine Stelle der Wand zu einer Zirkulations-
störung der Wand und oberflächlichen Erosion der geschwollenen
Schleimbaut im Sinne der Dekubitalgeschwüre von Nothnagel
kommen kann. Letzteres kann jedoch nur eintreten, wenn eine Ein-
klemmung des Kotsteins bzw. ein Erlöschen der Peristaltik des Pro-
cessus eine Verlagerung des Kotsteins nicht mehr zustande kommen läßt.
Die Mehrzahl der Autoren neigt zu der Anschauung, daß die größere
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25] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 303
Gefährlichkeit der Kotsteine weniger in ihren mechanischen Eigen-
schaften, denn in ihrer Einwirl^ung als konzentrierte Bakterienanhäu-
fuogenzu erblicken ist. Diese können naturgemäß schon auf dem Lymph-
wege allein zu einer Infektion des Peritoneums und den entsprech-
enden Folgeerscheinungen führen. Gehen wir bei dieser Gelegenheit
etwas näher auf die Bedeutung ein, welche den Kotsteinen für die
Ätiologie und Genese der Appendizitis beizumessen ist, so
Baden wir in der letzten Zeit mehr und mehr die Tendenz, den ur-
sachlichen Zusammenhang zwischen Kotsteinen und Appendizitis er*
heblich einzuschränken, wenn nicht gänzlich zu negieren, namentlich
soweit das rein mechanische Moment in Betracht kommt.
Die hauptsächlichsten Vertreter dieser Anschauung haben wir vor-
nehmlich in Aschoff und Sprengel zu erblicken. Beide sind ge-
neigt dem Vorhandensein eines Kotsteines einen größeren Einfluß
auf den Verlauf, als auf die Entstehung der Erkrankung zuzuschreiben.
Beide gelangen auf Grund ihres Untersuchungsergebnisses, das
Aschoff an 130 exstirpierten Wurmfortsätzen des Rotterschen Ma-
terials und Sprengel an seinem eigenen großen klinischen Material
erhoben hat, zu der Ansicht, daß eine rein mechanische Einwirkung
eines Kotsteines im Sinne einer Appendizitis ohne gleichzeitige bzw.
vorausgegangene Mitwirkung einer Infektion von der Hand zu weisen
sei. Wieweit aber bei der gegebenen Möglichkeit einer Infektion im
Darmtraktus der Stein eine solche erleichtern bzw. begünstigen kann,
scheint mir eine Frage zu sein, die durch die Darlegungen Aschoffs
und Sprengeis nicht genügend klargelegt wird, zum mindesten nicht
IQ negativem Sinne entschieden werden kann. Wenn vielmehr beide
die Bedeutung des Kotsteines ohne gleichzeitige Infektionsmöglichkeit
ganzlich ableugnen, so darf man dem wohl ohne weiteres zustimmen.
Wenn sie hingegen bei gleichzeitiger Infektionsmöglichkeit die Infek-
tion als den primären Vorgang unabhängig vom Kotstein und die Be-
deutung des Kotsteines erst in sekundären Krankheitsvorgängen an-
nehmen zu müssen glauben, so darf man hierin vielleicht doch eine
etwas zu weit gehende Schlußfolgerung aus ihren Untersuchungser-
gebnissen erblicken, wie ich versuchen will im folgenden des näheren
auszuführen.
Wenn Aschoff z. B. sagt, daß eine nicht bakterielle, durch ein-
fache Einklemmung des Kotsteines hervorgerufene Reizung des Wurm-
fortsatzes äußerst selten, wenn überhaupt beweisbar ist, so ist dem
durchaus beizupflichten, was die Schwierigkeit der Beweisführung für
einen derartigen Vorgang anbelangt. Andererseits ist aber nicht recht
einzusehen, warum es nicht ähnlich dem Hydrops der von Asch off
vergleichsweise herangezogenen Gallenblase auf Grund von Steinver-
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304 Ad. Ebner, [26
Schluß gelegentlich auch zu einer Sekretverhaltung im Processus auf
der gleichen Grundlage kommen kann, da doch fragelos ein vorhan-
dener Kotstein durch dauernde Apposition zu einer Größe anwachsen
kann, welche in einem absoluten Mißverhältnis zu der Größe und Deh-
nungsfahigkeit des Lumens des Processus steht, so daß eine Verenge-
rung bzw. Verlegung des Lumens daraus resultieren kann. Wenn da-
gegen die dauernde Peristaltik des Wurmfortsatzes angeführt wird, so
ist dazu zu bemerken, daß diese einmal individuell äußerst verschieden
sein kann je nach Länge, Form, Lage und Haltung des Wurmfort-
satzes und dem sonstigen Allgemeinzustand des Individuums und ferner,
daß gerade diese infolge eines erhöhten Reizes durch den als Fremd-
körper wirkenden Kotstein schließlich zu vermehrten und verstärkten
Kontraktionen an der Stelle des Kotsteines gelangen und so schließ-
lich selbst zu Einklemmung des Steines beitragen kann. Es liegt
ferner auf der Hand, daß trotz einer gewissen Steigerungsfabigkeit
die Leistungsfähigkeit der Wurmfortsatzperistaltik doch immerhin eine
begrenzte ist und daß sie bei entsprechender Vergrößerung des Kot-
steines an einer Grenze anlangen kann, wo sie eine Verschiebung
und Verlagerung des Kotsteines nicht mehr zu bewirken vermag.
Daß daraus dann ebenfalls Einklemmungserscheinungen resultieren
können, ergibt sich von selbst.
Ohne eine derartige Annahme wäre es zum mindesten schwierig,
die tatsächlich vorhandenen und palpatorisch auch durch entsprechen-
des Schmerzgefühl nachweisbaren Erscheinungen der Appendikular-
koliken zu erklären, welche ja vielfach ohne Fieber und sonstige kli-
nische Erscheinungen verlaufen und wieder abklingen können, und
welche somit vielfach das einzige objektive Merkmal vorübergehender
Retentionserscheinungen im Appendix bilden.
Allerdings werden von einzelnen Autoren derartige Koliken auch
auf rein entzündliche Vorgänge allein zurückgeführt. Bei der kurzen
Dauer derselben von bisweilen nur 1—2 Stunden scheint mir aber
eine derartige Erklärung für diese Fälle nicht auszureichen. Da natur-
gemäß die Patienten in einem derartigen Stadium schnell vorüber-
gehender und fieberfreier Appendikularkoliken selten oder fast nie
zur Operation gelangen, läßt sich zum mindesten ebensowenig gegen
als für die Annahme einer derartigen Möglichkeit vorbringen, durch
die aber andererseits allein die klinischen Erscheinungen eine genü-
gende Erklärung finden dürften.
Daß damit in der Regel entzündliche Erscheinungen auf Grund
eines früher oder später einsetzenden, leichteren oder schwereren
Infektionsvorganges der Wandung Hand in Hand gehen, wird auch
von den Vertretern einer größeren Bedeutung des Kotsteines für die
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27] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 395
Genese der Appendizitis ohne weiteres zugegeben, nur wird von den-
selben dem Vorhandensein bzw. der mechanischen und bakteriellen
Einwirkung des Kotsteines auf den Processus durch primäre oder
gleichzeitige Retention des Inhaltes und Dehnung der Wandung des
Appendix eine gewisse Erleichterung des an sich vorauszusetzenden
Infektionsvorganges zugeschrieben bzw. die Möglichkeit einer primären
Beteiligung des Kotsteines bei dem Infektionsvorgange damit ange-
nommen. Asch off selbst gibt das in gewissem Sinne zu, indem er
sagt, dafi bei der Infektion eines einen Stein enthaltenden Wurmfort-
satzes der Stein die Lokalisation der Entzündung an einer bestimmten
Stelle begünstigt und damit dem schwereren Verlauf der Erkrankung
bzw. einer verzögerten Heilung Vorschub leistet. Mithin erblickt doch
Aschoff selbst ein prädisponierendes Moment in dem Vorhandensein
eines Kotsteines im Falle einer gegebenen Infektionsmöglichkeit, das
nach seiner Anschauung allerdings erst sekundär in Tätigkeit tre-
ten soll.
Auch Sprengel gelangt auf Grund seiner zahlreichen Operations-
befunde zu folgenden Schlußsätzen: 1. Ein Kotstein kann einen An-
fall nicht herbeiführen, da er beliebig lange im Wurmfortsatz liegen
lann, ohne daß ein Anfall erfolgt. 2. Ein Kotstein kann nicht durch
einen einfachen Dekubitus zur Perforation führen, da Sprengel ihn
vielfach frei schwimmend im gestauten Sekret gefunden hat. 3. Ein
Kotstein kann eine Abflußbehinderung des Sekretes nicht bewirken,
da Sprengel ihn nicht nur im proximalen Teil der Erweiterung des
Lumens, sondern an beliebiger Stelle gefunden hat. Diesen Thesen
ist, ohne eine gleichzeitig gegebene Infektionsmöglichkeit bzw. ohne
eine bereits vorhandene Infektion des Appendix ohne weiteres zuzu-
stimmen. Wie liegen die Verhältnisse aber im letzteren Falle, mit
dem man es doch in der Regel zu tun hat? Da gibt Sprengel
gleich Aschoff zu, daß der an sich vom Kotstein unabhängig ent-
stehende Infektionsprozeß in der Nähe des Kotsteines intensiver ver-
läuft infolge eines verstärkten Reizes durch den letzteren, und daß
es auf diese Weise eher zur Verschwellung des Lumens an dieser
Stelle mit entsprechenden Folgeerscheinungen kommen kann. Daß
im übrigen der Kotstein eine positive Bedeutung für die Entwicklung
der Appendizitis haben muß, beweist für ihn auch die Tatsache, daß
Ribbert bei Appendizitis 5mal soviel Kotsteine gefunden hat, als bei
nicht an Appendizitis erkrankten Personen, eine Tatsache, die in
gleicher Weise auch für die häufigere und leichtere Entstehung
einer Appendizitis auf der Grundlage eines vorhandenen Kotsteines
sprechen könnte.
Meines Erachtens läßt sich nun aus den persönlichen Beobachtungen
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396
Ad. Ebner,
[28
und Untersuchungsergebnissen der beiden Autoren etwas Positives
weder für noch gegen ihre Anschauung anführen, solange man nicht
in der Lage ist im einzelnen Falle nachzuweisen, ob der Kotstein
tatsächlich primär vorhanden war oder erst sekundär entstanden ist«
Dieses dürfte jedoch im allgemeinen ziemlich schwierig, wenn nicht
unmöglich sein.
Wenn Sonnenburg hierzu ganz allgemein den Grundsatz auf-
stellt, daß jeder Kotstein als ein Zeichen voraufgegangener Entzün-
dung anzusehen und somit als sekundäre Krankheitserscheinung auf-
zufassen ist, so dürfte er sich damit weder mit der Mehrzahl der
Autoren im Einklang befinden, noch einen einwandsfreien Beweis für
diese Anschauung zu erbringen in der Lage sein.
Vielmehr wird fast allgemein die Möglichkeit des primären Vor-
handenseins eines Kotsteines in dem an sich normalen bzw. unver-
änderten Wurmfortsatz als Folge verminderter Peristaltik des Darmes
im allgemeinen und des Appendix im besonderen bei chronisclier
Obstipation usw. ohne weiteres zugegeben. Andererseits liegt es auf
der Hand, daß bei einem katarrhalisch bzw. entzündlich veränderten
Wurmfortsatz die Bedingungen für die Entstehung eines Kotsteines
ungleich günstigere sind und mit entsprechender Einschränkung die
Sonnenburgsche Anschauung für eine große Anzahl von Fällen
zu Recht besteht.
Beweisend wären demnach die Fälle Sprengeis für seine An-
schauung von der primären Bedeutungslosigkeit des Kotsteines hin-
sichtlich der Ätiologie und Genese der Appendizitis erst dann, wenn
bei denselben die sekundäre Entstehung des Kotsteines nach einem
voraufgegangenen Anfall mit Sicherheit auszuschließen wäre, da in
letzterem Falle das Verhalten bzw. die Lage des Kotsteines im Appen-
dix nach ganz anderen Gesichtspunkten zu beurteilen wäre.
Des ferneren will mir die Tatsache, daß ein Kotstein beliebig
lange im Appendix liegen kann, ohne daß ein Anfall erfolgt, nicht
recht als Beweis dagegen einleuchten, daß im Fall einer gegebenen
Infektionsmöglichkeit der Infektionsvorgang und somit die Entstehung
des Anfalls dadurch mehr oder weniger erleichtert und begünstigt
werden kann. Man braucht eben nur anzunehmen, daß in den Fällen«
in denen ein Kotstein beliebig lange gelegen hat, ohne daß ein An-
fall erfolgte, eine entsprechend erhöhte Infektionsmöglichkeit ausge-
blieben ist. Beweiskräftig wären solche Fälle erst dann, wenn bei
allen die gleiche Infektionsmöglichkeit seitens des Darmtraktus sei es
durch Darmkatarrhe, erhöhte Virulenz der Darmbakterien u. dgl. ge-
geben wäre, bzw. wenn sämtliche Fälle unter den gleichen Bedingun-
gen gestanden hätten. Solange etwas derartiges aber nicht experi-
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29] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 397
menceli hergestellt und bewiesen wird, sind doch wohl klinisch die
Bedingungen der einzelnen Fälle zu verschieden, als daß allein das Vor-
handensein eines Kotsteines und das Ausbleiben eines Anfalles trotz
desselben in einer Anzahl von Fällen für die Bedeutungslosigkeit des
Kotsteines hinsichtlich der Erleichterung eines Infektionsvorganges
am Appendix als beweiskräftig zu betrachten wäre.
Ebensowenig will mir die Tatsache, daß Sprengel in einer An-
zahl von Fällen den Kotstein freischwimmend in dem retinierten
Sekret gefunden hat, beweiskräftig dafür erscheinen, daß nicht in
anderen Fällen nach eventuell vorausgegangener Infektion und Schwel-
lung der Wand der eingeklemmte Kotstein in seiner gleichzeitigen
Eigenschaft als Fremdkörper und konzentrierte Bakterienanhäufung
durch seine intensive und dauernde Berührung mit der Wand, welche
ihrerseits durch Kontraktionen der Muskelschicht eine gewisse Rei-
bung der Schleimhaut auf dem Stein erzeugen kann, eine erleichterte
bzw. vergrößerte Möglichkeit des Eindringens der Infektionserreger
gerade an dieser Stelle der Wand gewähren kann, wodurch dann der
Bildung einer Ulzeration mit nachfolgender Perforationsmöglichkeit
ein erheblicher Vorschub geleistet wird. Man kann eben ohne weiteres
die rein mechanische Entstehung eines Dekubitus mit eventueller
Perforation auf der Grundlage eines Kotsteines von der Hand weisen,
ohne deswegen doch jegliche mechanische und bakterielle Mitwirkung
des Kotsteines bei der Entstehung eines intensiveren lokalen Infek-
tionsvorganges ableugnen zu müssen, der zu einer Perforation mittel-
bar auf der Grundlage eben dieses Kotsteines wohl führen kann. Die
Falle Sprengeis beweisen demnach einwandsfrei, daß bei ihnen
selbst und damit sehr häufig ein derartiger Vorgang wohl auszu-
schließen ist. Daraus aber die Unmöglichkeit eines derartigen Vor-
ganges für sämtliche Fälle überhaupt herleiten zu wollen, scheint mir
eine etwas zuweitgehende Schlußfolgerung zu sein.
Was nun schließlich die Verneinung der Möglichkeit einer Behin-
derung des Sekretabflusses im Appendix durch einen Kotstein anbe-
langt, so scheint mir die Tatsache, daß Sprengel den Stein nicht
nur im proximalen Ende, sondern auch an beliebiger Stelle des er-
weiterten Lumens gefunden hat, ebenfalls keinen ganz einwandsfreien
Beweis dafür zu liefern auf Grund folgender Erwägungen. Wenn
man nämlich primär die Einklemmung des Kotsteines und Sekret-
stauung im distalen Ende des Appendix als Folge dieser Einklemmung
zunächst zugibt, so wird im Falle einer fortschreitenden Stauung des
Sekrets und entsprechender Erweiterung des Lumens distal vom Kot-
stein naturgemäß zunächst das Lumen in der Mitte des distalen Endes,
dann aber auch nach der Spitze und der Verschlußstelle zu, mit einem
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308
Ad. Ebner,
[30
^!
Wort nach den beiden Enden hin im Durchschnitt erweitert werden.
Physikalisch ausgedrückt wird das zunächst einen Zylinder darstellende
Lumen des distalen Teiles das Bestreben haben, in die Form eines
Ovals mit dauernd abnehmendem Längsdurchmesser und zunehmen-
dem Querdurchmesser überzugehen, das ideal gedacht schließlich in
der Kugelform enden würde.
Welches werden nun die Folgen dieses Vorganges auf den ein-
geklemmten Kotstein sein können? Es liegt auf der Hand, daß da-
raus auch eine Erweiterung des Lumens an der Stelle des Kotsteines
resultieren muß, die zur Abhebung der prall gespannten Wand vom
Kotstein und damit zur Aufhebung der Einklemmung führt, dergestalt
daß der Kotstein, sekundär frei geworden, nunmehr im freien Raum
dem Gesetz der Schwere folgend seinen Platz verläßt und später am
tiefsten Punkt der Höhle bzw. »frei schwimmend" im Sekret gefun-
den wird. Letzteres ist naturgemäß stets spezifisch leichter als der
Kotstein, so daß von einem eigentlichen Schwimmen desselben im
Sekret der Höhle keine Rede sein kann. Er wird sich vielmehr in
derartigen Fällen stets am tiefsten Punkt der mit dem Stauungssekret
gefüllten Höhle aufhalten.
Ist es nun proximal neben bzw. vor dem Kotstein durch die in-
tensiveren Entzündungsvorgänge seiner Umgebung inzwischen zu einer
selbsttätigen Verlegung des Lumens vermittelst der geschwellten
Schleimhaut und entzündlich fibrinöser Verklebung derselben gekom-
men, so können sich ohne weiteres Befunde ergeben, wie sie Sprengel
bei seinen Fällen erhoben hat, die dann leicht zu der Annahme ver-
leiten können, daß dieser erst sekundär auf der Grundlage des ein-
geklemmten Steins entstandene, selbsttätige Verschluß des Lumens
primär und ohne Zutun des nunmehr frei im Lumen vorhandenen
Kotsteines zustande gekommen sei.
Ist dagegen der proximal neben dem Kotstein gelegene Verschluß
nicht fest oder nicht dicht genug, so kann sich durch die zwar nicht
fest schließende, aber immerhin verengte Stelle des Lumens ein Teil
des gestauten Sekretes entleeren und man findet dann distal von der
vorhandenen Verengerung in dem mitderweile wieder mehr zusammen-
gefallenen Lumen des Wurmfortsatzendes den Kotstein ^.an beliebiger
Stelle'', scheinbar ohne jeden Zusammenhang mit der stenosierten
Stelle des Lumens vor.
Wenn nun ein derartiger Vorgang auch nicht allen entsprechenden
Fällen Sprengeis voraufgegangen zu sein braucht, so darf man doch
einerseits die Möglichkeit eines derartigen Vorganges vom physi-
kalischen Standpunkt aus, dessen Anwendung berechtigt erscheint,
nicht ganz von der Hand weisen und andererseits müßte Sprengel
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31] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung des Appendizitis. 3gQ
in seinen Fällen einen derartigen Vorgang mit Sicherheit auszu*
schließen in der Lage sein, ehe man die von ihm angeführten Fälle
als einwandsfreien Beweis für seine Anschauung gelten lassen dürfte.
Sie beweisen allenfalls die Möglichkeit, daß eine Behinderung des
Sekretabflusses durch einen Kotstein im Lumen des Appendix nicht
einzutreten braucht, siebeweisen aber meines Erachtens noch lange
nicht die Unmöglichkeit, daß eine Behinderung des Sekretabflusses
durch einen Kotstein eintreten kann, womit dann auch die mecha-
nische Bedeutung der Kotsteine für die Ätiologie und Genese der
Appendizitis doch nicht so kategorisch von der Hand zu weisen sein
würde.
Daß ein Kotstein an sich ohne eine entsprechende Gelegenheits-
ursache in Gestalt einer erhöhten Infektionsmöglichkeit oder eines :
Traumas keine Appendizitis hervorrufen wird, ist zu selbstverständ-
lich, als daß es einem Zweifel unterliegen könnte. Daß deswegen aber [
der Kotstein unter Voraussetzung einer derartigen Gelegenheitsursache !'
als prädisponierendes Moment für die Erkrankung, sei es nun mecha-
nischer oder bakterieller Natur oder beides zugleich, seine Bedeutung
nicht behalten sollte, scheint mir danach eine Annahme, die sehr \
weitgehend und zum mindesten noch nicht genügend bewiesen ist. [
Die heute noch geteilten Anschauungen über die Rolle des Kot-
steines bei der Genese der Appendizitis mögen es gerechtfertigt er- 1
scheinen lassen, wenn ich dieser Frage einen größeren Raum ein- «
geräumt habe, als es eigentlich dem Rahmen dieser Arbeit entsprechen »
durfte. ;
Daß .gelegentlich auch ein Trauma durch umschriebene Gewalt- j
einwirkung gegen den Leib bei latenten pathologischen Veränderungen
des Processus oder einem mit einem Kotstein versehenen normalen -
Processus einen akuten Infektionsanfall durch Kontinuitätstrennungen |
der Wand bzw. Ernährungsstörungen der Wand auslösen kann, ist
ohne weiteres anzunehmen und wird auch von den meisten Autoren j
zugegeben. Für den normalen Processus ohne Kotstein ist jedoch |
eine derartige Einwirkung eines Traumas bisher mit Sicherheit nicht \.
erwiesen, und dürfte sich selbst unter Voraussetzung einer derartigen
Möglichkeit ein Beweis für den vorherigen Normalzustand des Pro-
cessus stets nur aus Wahrscheinlichkeitsgründen bzw. per exclusionem
erbringen lassen. Jedenfalls sprechen die theoretischen Erwägungen
mehr gegen, als für die Möglichkeit eines derartigen Vorganges.
Eine Begünstigung der pathologischen Vorgänge kann nach
Aschoff stattfinden durch ein Hypertrophie der Wurmfortsatztonsille,
die nach seiner Meinung nicht einer chronisch fortschreitenden, de-
struierenden Entzündung entspricht und uns in ihrer Ätiologie noch
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400 Ad. Ebner, [32
ebenso unbekannt ist, wie die chronische Hypertrophie der Gaumen-
tonsillen. Durch die byperplastische Entwicklung und das Aneinander-
rücken der Noduli kann es dann im ersten Stadium der Entzündung
zu der Entstehung einer körnigen, granulösen Beschaifehheit der
Schleimhaut kommen, die zu der Bezeichnung Appendicitis granulosa
geführt hat. In dieser Appendicitis granulosa hat man wohl mit der
Mehrzahl der Autoren das Anfangsstadium der Erkrankung zu er-
blicken, aus dem sich dann die weiteren Folgezustände und patholo-
gischen Veränderungen des Appendix langsamer oder schneller ent-
wickeln, je nach der Virulenz der Entzündungserreger einerseits und
der Widerstandskraft des Gewebes andererseits.
Die vielfach in dem ersten Stadium beobachteten, kleinen, stig-
mataähnlichen, über die ganze Schleimhaut des Processus in mehr
weniger großer Ausdehnung disseminierten Blutungen, über deren
Genese die Akten noch nicht geschlossen sind, haben für Riedel die
Veranlassung zu der Bezeichnung Appendicitis gfanulosa haemorrhagica
gegeben, indem Riedel diese Blutungen als eine primäre Manifestation
der Entzündung auffaßte, gleichwie man dyspeptische oder enteritische
Alterationen am Verdauungstraktus beobachtet hat, die sich ebenfalls
durch punktförmige, flächenhafte oder zirkuläre Blutungen in die
Schleimhaut charakterisierten. Ich möchte dabei besonders auf die an
der Magenschleimhaut bei schweren Infektionen des Darmtraktus
(Peritonitis) beobachteten, stigmataähnlichen Blutungen hinweisen,
welche bekanntlich auf eine destruierende Toxinwirkung der Entzfin-
dungserreger auf die Epithelien der Drüsenausmündungen zurückge-
führt werden, indem die Toxine zugleich mit dem Sekret der Drusen
in den Magen abgesondert werden.
Ob in ähnlicher Weise entweder die Toxine der im Processus
selbst retinierten und gerade hier in unverhältnismäßig reichlicher
Menge vorhandenen, lebenden Bakterien oder andererseits die Endo^
toxine der im Processus infolge erhöhter Schutztätigkeit der Gewebe
abgetöteten Erreger auf die Epithelien der Appendixschleimhaut ein-
wirken können, ist eine Frage, die sich vielleicht zur Diskussion
stellen ließe. Namentlich bei den Endotoxinen dürfte vielleicht durcli
das Freiwerden und die Einwirkung proteolytischer Fermente seitens
der Leukozyten auf die Epithelzellen eine derartige Möglichkeit sich
nicht ganz von der Hand weisen lassen. —
Auch Lotheisen vertritt entschieden die Ansicht, daß diese ka-
pillaren Blutungen als eine Folge bzw. ein Symptom der Appendi-
zitis aufzufassen sind, welches fast immer im geraden Verhältnis zu
den Beschwerden steht, die die Patienten vor der Operation gehabt
haben.
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33] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 401
Aschoff, Bayer, Th. Landau und Fränkel halten dagegen
diese Blutungen für sekundär und fahren sie auf traumatische Insulte
zurück, denen der Processus intra Operationen! ausgesetzt sei. Ka*
revski meint, daß auf traumatischem Wege wohl kleine Sugillationen
entstehen können, daß man diese aber anstandslos von Blutungen patho«
logischer Natur zu unterscheiden in der Lage sei. Lauenstein und
Revenstorff fuhren gegen die Entstehung der miliaren Blutungen
auf artifiziellem Wege an, daß diese Blutungen immer nur in der
Schleimhaut unb niemals in der Serosa oder Subserosa beobachtet
werden. Dieses wäre unverständlich, wenn die Unterbindung die Ver-
anlassung dazu bilden wurde. Auch die Häufigkeit ihres Auftretens
bei an sich verschiedenen Krankheitszuständen des Processus spricht
gegen solche Annahme. Beide Autoren sind daher geneigt, in voraus-
g^angenen Entzündungsvorgängen die Ursache der Blutungen zu er-
blicken.
Daß im übrigen eine Stauung den Blutungen keinesfalls zugrunde
li^en kann, beweist die Tatsache, daß man am Processus zuerst die
Vene und dann die Arterie unterbunden hat, ohne daß derartige Blu-
tungen in die Erscheinung getreten wären.
Sprengel hat ebenfalls durchaus den Eindruck gewonnen, daß
diese Blutungen nicht als Folge eines Traumas, sondern als besondere
hämorrhagische Form der Entzündung aufzufassen sind.
Auch wir haben in einer Reihe von Fällen Gelegenheit gehabt,
derartige kleine, oberflächliche, fast über die ganze Schleimhaut des
Processus disseminierte Blutungen zu beobachten, deren Entstehung
auf traumatischem Wege durch den operativen Eingriff sich mit Sicher-
heit ausschließen ließ. Vielmehr boten diejenigen Sugillationen, die
durch operative Handgriffe, Fassen mit Zangen, Abbinden usw. ent-
standen waren, in jedem Falle ein ganz wesentlich anderes Bild dar,
tls diese sich ganz gleichmäßig über die sonst völlig intakte Schleim-
haut ausbreitenden, punktförmigen Hämorrhagien.
Neuerdings hält Asch off in seiner letzten Arbeit sogar dafür,
daß derartige miliare Blutungen auf der Appendixschleimhaut über-
haupt keine pathologische Bedeutung haben, da er solche Blutungen
viel reichlicher und ausgedehnter in normalen Wurmfortsätzen ge-
funden habe, als in solchen mit beginnender Entzündung. Er glaubt
daher energisch gegen eine Auffassung dieser Blutungen als Zeichen
eines chronischen Reizzustandes Widerspruch erheben zu müssen. Ob
damit die Frage über die Herkunft dieser miliaren Blutungen als ab-
geschlossen zu gelten hat, wird von der Bestätigung dieser Auffassung
und Beobachtung durch andere Autoren abhängig zu machen sein.
KllB. Vortrage, N. F. Sr,4Sß/90J9l. (Chirarfle Nr. 142/43/44.) Juni 190S. 30
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402 Ad. Ebner, [34
Immerhin bleibt selbst bei Annahme dieser Auffassung die Frage nacti
der Entstehung dieser Erscheinung in einem normalen Darmabschoitt
auch ferner noch eine oifene, und diese Tatsache möge es erklären,
daß ich den Anschauungen der Autoren über dieses Thema etwas
mehr Raum gewidmet habe.
Fassen wir nach dieser kurzen Abschweifung das Hauptmoment
bei der Entstehung der Appendizitis noch einmal kurz zusammen, so
entspricht dieses einer endogenen, bakteriellen Infektion nicht
spezifischer Natur vom Darmlumen aus. Zum Eintritt derselben
sind gewisse Voraussetzungen erforderlich, die wir unter dem Aus-
druck einer erhöhten Disposition zur Erkrankung zusammen-
fassen. Diese werden meistens durch Stauungsvorgänge im Appendix
hervorgerufen, die zu veränderten Druckverhältnissen im Appendtx-
lumen, Erhöhung der Virulenz und Menge der Bakterien (Kotsteine!),
Ernährungsstörungen der Wand und Herabsetzung der Widerstands-
kraft des Gewebes führen.
Bevor wir nun zu der Erkennung der Appendizitis übergehen,
empfiehlt es sich zum besseren Verständnis derselben in den einzel-
nen Stadien kurz den Verlauf des Entzündungsvorganges am
Bauchfell zu erörtern. Dieser allein vermag uns ja ein Bild von
dem jeweiligen Stande der Erkrankung zu liefern und nach diesem allein
ist ja demgemäß unsere obige Einteilung getroffen worden, der wir
auch bei der Erörterung der Erkennungsmerkmale in den einzelnen
Stadien nach Möglichkeit entsprechen werden.
Folgen wir zunächst der Anschauung Sprengeis über das Wesen
der Entzündung am Peritoneum, so haben wir deren erste Äußerung
in einer ödematösen Schwellung der Darmserosa zu erblicken. Diese
bildet die Vorstufe zu der Ausscheidung eines serösen Exsudates in
die freie Bauchhöhle, das später eine fibrinöse Beimengung erhalt.
Das seröse Exsudat ist in der Regel als steril zu bezeichnen und ent-
spricht einer Schutzvorrichtung des Körpers vermöge seiner bakteri-
ziden bzw. bakteriolytischen und antitoxischen Eigenschaften. Die
Menge dieses serösen Exsudates wird in der Regel abhängig sein von
der Schwere und Ausbreitung der Infektion einerseits, wie der ent-
sprechenden Abwehrbetätigung des Peritoneums andererseits. Ob es da-
nach berechtigt ist, wenn Moskowicz alle Fälle mit einem freien
serösen Exsudat in der Bauchhöhle als prognostisch besonders schwer
bezeichnet, erscheint mir zweifelhaft, insofern dieses Exsudat wohl für
eine Infektion aber auch gleichzeitig für die Fähigkeit des Körpers
spricht, seinen Angreifern erfolgreich entgegenzutreten. Die fibrinöse
Beimengung des serösen Exsudat entspricht einer weiteren Schutzvor-
richtung des Körpers durch ihre Bestimmung, Verklebungen der
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35] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 403
Dannschlingen und so eine* Umgrenzung des Entzündungsvorganges
herbeizufuhren.
Als letzte Stufe der Entzündung folgt schließlich die Ausscheidung
von Leukozyten in das serofibrinöse Exsudat, deren Menge von der
Starke des Entzfindungsreizes d, h. der Virulenz und Menge der ein*
gedrungenen Erreger abhängig zu machen ist.
Sprengel setzt sich mit seiner Anschauung in einen bewußten
Gegensatz zu Hägler und Sonnenburg, indem er ohne den Vor-
aasgang eines serösen Exsudats die Ausscheidung von Fibrin für un-
möglich halt. Er erblickt eben in der letzteren einen Fortschritt
der Entzündungsäußerung und ist zu dieser Anschauung auf
Grund der Erfahrungstatsache gelangt, daß er an seinem gewaltigen
Material von Frühoperationen nicht einen einzigen Fall ohne dieses
Exsudat beobachten konnte. Sprengel leugnet daher auch naturge-
mäß das Vorhandensein einer selbständig fortschreitenden Form der
tbliäsiven Peritonitis im Sinne Nothnagels vollständig.
Demgegenüber halten Hägler und Sonnenburg den Eintritt
einer alleinigen fibrinösen Verklebung des Appendix mit seiner Um-
gebung ohne ein seröses Exsudat für möglich. Sie erblicken also in
der Fibrinausscheidung eine verschiedene Form derEntzündungs-
außerung, die nach Hägler auf eine geringere Virulenz der Erreger
zurfickzuführen ist. Sonnenburg erblickt in dieser Form den Aus-
druck einer chemisch-toxischen Peritonitis d. h. einer durch die Wir-
kung ausgeschiedener Toxine oder Endotoxine oder beider zusammen
hervorgerufenen Entzündung, bei welcher Bakterien selbst noch nicht
in den Peritonealraum eingedrungen sind.
Wägen wir nun beide Anschauungen gegeneinander ab, so dürfte
zunächst der Beweis für das tatsächliche Vorhandensein einer che-
misch-toxischen Peritonitis im Sinne Sonnenburg s sich schwer er-
bringen lassen. Es müßte dazu nachgewiesen werden, daß die Peri-
tonealhöhle völlig bakterienfrei, und daß vor oder auch zugleich mit
der rein fibrinösen Ausscheidung nicht doch ein mit bakteriziden
Eigenschaften ausgestattetes Exsudat — sei es auch in noch so ge-
ringer Menge — ausgeschieden wäre, das die etwa in den Peritoneal-
raum eingedrungenen Bakterien zum Absterben gebracht haben könnte.
Im anderen Fall wäre es dann keine chemisch-toxische, sondern eine
infektiöse Entzündung, mit der wir es zu tun hätten.
Gibt man selbst diese Möglichkeit ohne weiteres zu, so ist immer
noch für den Begriff der chemisch-toxischen Peritonitis zu erwägen,
daß ja im Grunde die infektiöse Peritonitis ebenfalls auf einer che-
misch-toxischen Wirkung der eingedrungenen lebenden und abge-
storbenen Bakterien bzw. Ihrer entsprechenden Stoffwechselprodukte
30*
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404
Ad. Ebner,
[36
beruht Danach ist also die Art des Reizes bei der chemisch-toxischen
Peritonitis die gleiche, wie bei der infektiösen Peritonitis. Der grund-
legende Unterschied zwischen beiden besteht eben nur in dem Fehlen
oder Vorhandensein der Erreger im Peritonealraum. Es dürfte daher
auch bezüglich des Reizzustandes der Unterschied zwischen beiden
nicht in einer verschiedenen Art, sondern in einem verschiedenen
Grade desselben zu erblicken sein.
Danach erscheint es aber nicht recht verständlich, daß ein an sich
gleichartiger Reiz auf das gleiche Gewebe in verschiedenem Grade
ausgeübt eine gänzlich andere Form der Entzündung bzw. der Ab-
wehrbetätigung des Gewebes zur Folge haben sollte. Dafi auch Hägler
selbst den Reiz als den gleichen, nur in verschiedener Stärke annimmt,
erhellt schon daraus, daß er für die chemisch-toxische Peritonitis
bzw. die primäre Fibrinausscheidung nur eine geringere Virulenz der
Bakterien zur Voraussetzung macht.
Der Begriff der chemisch-toxischen Peritonitis hat daher in diesem
Zusammenhang etwas theoretisch Gekünsteltes an sich, ohne darum
einer Erklärung der biologischen Vorgänge Im Sinne von Hägler und
Sonnenburg zwanglos gerecht werden zu können.
Demgegenüber will es mir als ein Vorzug der Sprengeischen
Anschauung erscheinen, daß er von vornherein auf eine so feine
Unterscheidung der Begriffe verzichtet, vielmehr nur mit einem stär-
keren oder schwächeren Reiz auf das Peritoneum und dementsprechend
sich stufenweise steigernder Abwehrbetätigung des Peritoneums recli-
net. Als Ausdruck der letzteren findet die nachfolgende fibrinöse
Beimengung des vorausgehenden serösen Exsudates vom rein biolo-
gischen Standpunkt aus eine ungezwungenere und logischere Er-
klärung, als im ersten Fall. Wenn nämlich ohne weiteres zuzugeben
ist, dafi gegenüber einem rein serösen, leicht resorbierbaren Exsudat
in einer fibrinösen, viel langsamer zurückgehenden Ausscheidung
und Verklebung der größere Effekt zu erblicken ist, so erscheint es
durch einen einfachen Rückschluß wenig einleuchtend, daß gerade
dieser größere Effekt nach Hägler und Sonnen bürg theoretisch auf
Grund eines geringeren Reizes zustande kommen können sollte.
Den gleichen Vorteil wird uns die Anschauung Sprengeis für
die Erklärung des Verbreitungs- und Umgrenzungsvorganges der Ent-
zündung am Peritoneum gewähren. Werfen wir nämlich die nahe-
liegende Frage auf, warum das serofibrinöse Sekret im Sinne Spren-
geis in der Nähe des Entzündungsherdes zu Verklebungen fSbrt,
während das im Überschuß gebildete Exsudat resorbiert wird, so
finden wir von Sprengel selbst eine Erklärung für diese Frage nicht
angegeben. Die geringere Beweglichkeit des Appendix bzw. die An-
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37] Ül>«r den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 405
nähme einer verringerten örtlichen, auf toxischen Wirkungen be-
ruhenden Darmbewegung dürfte als eine rein mechanische Erklärung
der Vorgänge kaum genfigen.
Treten wir nun an der Hand der Sprengel sehen Anschauung
den Vorgängen naher, so können wir zunächst die Art des Reizes als
ervas Gegebenes betrachten, daß nur in seiner Stärke wechseln wird.
Es liegt nun auf der Hand, daß die Stärke dieses Reizes nach der
Peripherie des Entzündungsherdes eine geringere, der Reiz an der
Peripherie ein schwächerer sein muß, als nach der Mitte des Ent-
zündungsherdes zu. Mathematisch gesprochen muß die Stärke des
Reizes sich proportional der Entfernung vom Ausgangspunkt der Ent-
zündung verringern« Dementsprechend wird auch die Abwehrbe-
titigung des Peritoneums nach der Peripherie hin eine geringere sein
müssen, als nach der Mitte des Entzündungsherdes.
Es wird also im Sinne der Auffassung von Sprengel logischer-
weise nach dem Appendix hin das seröse Exsudat über einen größeren
Reichtum an Fibrin verfügen, als nach der Peripherie zu. Die Folge
dieser äußerst zweckmäßig gesteigerten Abwehrbetätigung des Bauch-
fells wird sich in einer erhöhten Neigung der Darmserosa zu Ver-
Uebungen in der Umgebung des Appendix äußern, während das Pe-
ritoneum in der Peripherie erst die dem geringeren Reiz entsprechende
Vorarbeit geleistet hat. Ist der Zweck der Abwehr erreicht, nehmen
die VerUebungen und die Umgrenzung des Entzündungsvorganges zu,
so wird entsprechend dem Fortfallen des Reizes zunächst distal die
geringe Fibrinausscheidung fortbleiben, die etwa vorher noch nach
den Grenzen der Verklebung zu stattgefunden hat. Es wird dann
weiter die rein seröse Ausscheidung ebenfalls aussetzen, und es wird
dann mit Leichtigkeit die Resorption des im Überschuß ausgeschie-
denen, vorwiegend oder rein serösen Exsudates erfolgen können.
Ist andererseits die Zahl und Virulenz der Angreifer eine der-
artige, daß das Peritoneum nicht mehr zur Entfaltung seiner vollen
Abwehrbetätigung kommt, so wird zwar das seröse Exsudat noch zu-
stande kommen, hingegen die fibrinöse Ausscheidung bereits versagen.
Das Peritoneum vermag den vordringenden Angreifern keinen Wall
mehr entgegenzusetzen und wird von denselben widerstandslos über-
schwemmt und geschädigt.
Eine derartige Erklärung der Entzündungsvorgänge am Peritoneum
scheint mir zwanglos und logisch genug zu sein, um einen Beweis
mehr für die Richtigkeit der auf persönliche Erfahrung am Lebenden
gestützten Anschauung von Sprengel zu bilden. Sie dürfte anderer-
seits auch vom rein biologischen Standpunkt aus der absoluten Zweck-
mäßigkeit der Entzündungsvorgänge am Körper am ehesten gerecht
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406
Ad. Ebner,
[38
werden, wie sie ja neuerdings auch von Bier gelegentlich seiner
Hyperämielehre besonders hervorgehoben wird.
Wohl kann man auf Grund der Annahme einer zeitlich geson-
derten Abwehrbetätigung des Peritoneums einerseits und der Gefäße
andererseits — entsprechend einer zeitlich verschiedenen Einwirkung
der Toxine und Endotoxine auf das eine oder andere der Gewebe
— zu ähnlichen Schlußfolgerungen gelangen, wie sie der Auffassung
von Hägler und Sonnenburg entsprechen. Solange aber eine
derartige, zunächst nur hypothetische Annahme nicht experimentell
bewiesen ist und solange sie nicht eine gleiche ungezwungene und
logische Erklärung der biologischen Vorgänge zu liefern vermag, wie
die Sprengeische Auschauung, dürfte der Vorzug der letzteren An-
schauung unbestreitbar bleiben.
Es erscheint daher berechtigt, wenn wir den weiteren Ausfuhrungen
diese Anschauung von Sprengel zugrunde legen.
Bei der Appendicitissimplex ist nach unserer Umgrenzung
dieses Krankheitsbegriffs jede entzündliche Beteiligung des Peritoneums
ausgeschlossen, wobei wir absichdich den Begriff bzw. den Unter-
schied zwischen einer chemischen und infektiösen Reizung des Peri-
toneums beiseite lassen, den man gewöhnlich unter der Bezeichnung
Peritonismus und Peritonitis auseinanderzuhalten pflegt.
Es liegt danach auf der Hand, daß die äußerlich feststellbaren
Merkmale und Beschwerden der Appendicitis Simplex ganz geringe
sein müssen, so daß sie in der Tat dem Patienten selbst und vielfach
auch der Aufmerksamkeit des Arztes in ihrer eigentlichen Bedeutung
entgehen können.
Demgemäß hebt u. a. auch Karewski besonders hervor, daß die
eigentliche Appendicitis granulosa haemorrhagica — und naturgemäß
ebenso der einfache Appendixkatarrh — ohne jeden klinisch ins Auge
fallenden Anfall verlaufen kann. Wenn jedoch Karewski das gleiche
bei einer Beteiligung der Serosa unter allmählich fortschreitender
Tiefenwirkung des Prozesses für möglich hält, so würde einmal dieser
Krankheitszustand nach unserer Auffassung bereits unter den Begriff
der Periappendicitis incipiens fallen. Des ferneren dürfte bei der
bekannten hohen Empfindlichkeit des Peritoneums ein derartiges Fort-
fallen der Schmerzerscheinungen zu den äußersten Seltenheiten ge-
hören, die dann ein ganz allmähliches Einschleichen des Reizes bzw.
der Entzündung zur Voraussetzung haben müßten.
Am häufigsten wird noch bei der Appendicitis Simplex eine ge-
wisse Neigung der Patienten zu Verdauungsstörungen ins Auge fallen,
insofern häufig eine hartnäckige Obstipation besteht, die bisweilen
durch anfallsweise, nur schwer zu beseitigende Durchfalle unter-
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39] Ober den beutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 407
brochen sein kann. Es kann ferner zeitweilig Neigung zu Flatulenz,
Appetitlosigkeit, leichte Obelkeit, Gefühl von Völle und Aufgetrieben-
heic des Leibes namentlich rechts bestehen. Kurz es handelt sich
meist um leichte Verdauungsstörungen allgemeiner Natur, die zunächst
auf das Vorhandensein eines örtlichen Leidens hinzuweisen wenig ge-
eignet sind.
Erheblich deutlicher kann das Bild werden, wenn es infolge
Schwellung der Schleimhaut, Verschluß durch einen Kotstein oder
Yorübergehende Knickungen zu Stauungserscheinungen im Appendix
kommt Diese können durch eine rein mechanische Dehnung und
Zerrung der bekleidenden Serosa zu deutlich hervortretenden Be-
schwerden und Schmerzanfällen fähren, die meist nach der Magen-
gegend hin ausstrahlen oder einen ausgeprägt örtlichen Charakter
haben und in der Ileocöcalgegend gelegen sind. Es sind dieses die
unter dem Namen Appendikularkoliken allgemein bekannten Er-
scheinungen, die stundenlang ohne Temperatursteigerung oder sonstige
Störungen anhalten können und dann ebenso plötzlich und vielfach
für immer schwinden, wie sie gekommen sind, sobald die Stauung
eine vorübergehende ist
Ausnahmsweise einmal wird dabei auch eine Temperaturerhöhung
zustande kommen können infolge einer erhöhten Aufsaugung von Toxi-
nen und Endotoxinen durch den erhöhten Innendruck im Appendix.
Dieselbe fällt aber meistens in 24 Stunden mit der Lösung der Stau-
ung und dem Rückgang der Schmerzerscheinungen wieder ab.
Eines derartigen Falles erinnere ich mich aus meiner Praxis, den
ich hier kurz anführen möchte. Ein 13jähriger Knabe erkrankte
mit typischen Schmerzen in der Gegend des Mc Burneyschen Punktes
und mit deutlich ausgesprochener lokaler Druckempfindlichkeit Am
Abend desselben Tages zeigte die Temperatur einen steilen Anstieg
auf 39,6, der Processus war durch die dünnen Bauchdecken deutlich
fühlbar und schmerzhaft, so daß ich dem Vater des Pat für den
nächsten Tag die Operation in Aussicht stellte, falls nicht wesentliche
Besserung eingetreten wäre. Am nächsten Tage war und blieb die
Temperatur völlig normal, der Schmerz in der Ileocöcalgegend war
nur noch auf Druck in geringem Grade vorhanden und am nächsten
Tage völlig geschwunden. Der Patient ist seitdem — es ist jetzt
etwa 3 Jahre her — gänzlich beschwerdefrei geblieben. Was mich
trotz der hohen Temperatur bewog zu warten, war das fast völ-
lige Fehlen der reflektorischen Bauchdeckenspannung rechts und der
nur wenig beschleunigte, in seiner Stärke unveränderte Puls des
Patienten. Der Fall beweist wieder den Vorteil der Empfehlung von
Sprengel, erst 24 Stunden abzuwarten und nur dann operativ vor-
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408
Ad. Ebner,
[40
zugehen, wenn innerhalb dieser Zeit nicht eine entschiedene Wendung
zum Bessern eingetreten ist.
Im anderen Falle würde man eben Gefahr laufen, häufig eine
gänzlich rückbildungsfahige Appendicitis simplex vorzufinden und
damit eine Luxusoperation zu machen, die durch nichts gerechtfertigt
erscheint. Allerdings käme man dadurch dem Vorschlag Kare-
ws kis nahe, der am liebsten bereits jede Appendizitis noch vor
dem Anfall operieren möchte. Dieser Vorschlag erscheint aber schon
aus der obigen Erwägung heraus viel zu weitgehend, als daO er
ernstere Beachtung finden könnte.
Im allgemeinen wird also die Appendicitis simplex keine örtlichen
oder allgemeinen, ins Auge fallenden Erscheinungen hervorrufen, es
sei denn, daß durch Stauungsvorgänge im Appendix Schmerzempfin-
dungen oder Resorptionsfieber von meist schnell vorübergehendem
Charakter ausgelöst werden.
Das Bild ändert sich mit dem Übergreifen des Entzündungspro-
zesses auf das viszerale bzw. parietale Peritoneum sofort und wir
haben damit die
Periappendicitis incipiens
vor uns.
Diese ist zunächst eine schneller oder langsamer fortschreitende
bis zu dem Moment, wo entweder eine Umgrenzung des Entzündungs-
vorganges eintritt und sie zu einer Periappendicitis circumscripta
wird, oder wo das unaufhaltsame Fortschreiten des Entzündungsvor-
ganges zur AUgemeininfektion des Peritoneums führt, und sie zur
Periappendicitis diffusa bzw. Peritonitis appendicularis diffusa wird.
Aus der Schnelligkeit oder Langsamkeit des Vorganges noch beson-
dere Bezeichnungen herzuleiten, wie akut fortschreitende Peritonitis,
foudroyante Peritonitis, peritoneale Septhämie u. dgl., trägt wohl zur
Vermehrung der Nomenklatur, nicht aber zum leichteren Verständnis
und zur leichteren Unterscheidung der einzelnen Krankheitssta-
dien bei«
Entsprechend der allgemeinen Entzfindungslehre äußert sich auch,
am Peritoneum der erste Grad derselben in einer starken Hyperämie
der Serosa, die zu einer ödematösen Schwellung des Gewebes führt
Dieser Vorgang wird bei der Empfindlichkeit des Peritoneum bereits
die ersten Schmerzempfindungen auslösen.
Je nach der Heftigkeit und Schnelligkeit des Vorganges wird der
Charakter der Schmerzen ein verschiedener sein, |a er kann wie eben
besprochen ganz oder fast ganz in vereinzelten Fällen ausbleiben,
wenn die Entzündung sich gewissermaßen ins Peritoneum ein-
schleicht. Es können sich dann in der gleichen schleichenden Weise
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41] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 409
die weiteren entzündlichen Vorgänge mehr oder weniger im Peri-
toneum ausbreiten und langsam in das chronische Stadium übergehen,
ohne daß Patient im eigentlichen Sinne des Wortes einen Blinddarm-
anfall durchgemacht hätte.
Dieser gewissermaßen larvierte Verlauf der Erkrankung hat nun
für Ewald die Veranlassung zu ein^r weiteren Vermehrung unserer
Nomenklatur durch die Bezeichnung Appendicitis larvata abgegeben»
womit ausgedrückt werden soll, daß es eigentlich eine Periappendi-
zitis ist, die sich durch eine besonders langsame und leichte Art
des Infektions- und Entzündungsvorganges am Peritoneum auszeichnet.
Ewald hat dafiir noch besondere Erkennungszeichen aufgestellt, die
er als lokaler Druckschmerz» Gurren von Darmschlingen» örtliche
leichte Auftreibung » Magensymptome, Flatulenz und häufig Colica
mucosa bezeichnet. Diese Merkmale sind aber im allgemeinen die-
selben» wie bei jeder anderen Periappendizitis auch» nur daß eben
entsprechend den leichteren örtlichen Entzündungsvorgängen die
örtlichen Erscheinungen mehr in den Hintergrund und dadurch die
leichten allgemeinen Erscheinungen mehr in den Vordergrund treten»
so daß das ganze Krankheitsbild sich mehr der Appendicitis simplex
nähern kann und im großen und ganzen nach der Schwere der Er-
scheinungen ein Mittelding zwischen der Appendizitis und Periap-
pendicitis incipiens bilden wird. Ob es sich darum empfiehlt» die
Appendizitisnomenklatur um einen neuen Begriff mehr zu belasten»
muß dahingestellt bleiben. Auch Geheimrat Garr& kann sich ab-
solut nicht mit der Appendicitis larvata Ewalds befreunden» da
schließlich fast jede Erkrankung hin und wieder einen verschleierten
oder larvierten Symptomenkomplex zeigen kann» wie z. B. die Pneu-
monie und insbesondere die zentrale Pneumonie» die Pankreatitis»
selbst die Osteomyelitis mit wenig virulenten Keimen. Nicht die
Appendizitis hat nach ihm die Larve vor dem Gesicht» sondern eher
der Arzt einen Schleier vor den Augen.
So häufig der Schmerz das erste Anzeichen ist» welches die Auf-
merksamkeit des Patienten und des Arztes auf den Erkrankungszustand
im Abdomen lenkt» so häufig kann die Bestimmung dieser Erkrankung
erschwert werden durch die verschiedenartige Lokalisation des
Schmerzes. Durch eine Ausstrahlung des Nervenreizes im Plexus
meseraicus sup. kann es zu Schmerzempfindungen in der Magen- und
Nibelgegend» ferner in der Leber- und Gallenblasengegend» der rechten
und bisweilen auch der linken Nierengegend kommen. Schließlich
sollen vereinzelt im frühesten Stadium von Karewski als prämoni-
torische Blasenstörungen bezeichnete Beschwerden beim Urinieren vor-
kommen» ohne daß ein krankhafter Befund zu erheben wäre.
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410
Ad. Ebner,
[42
Die Ursache der Schmerzen erblickt Kelling in einem Reiz-
zustand des Plexus ileocolicus durch entzündliche Vorgänge am Ap-
pendix. Von hier aus kann dann eine Ausstrahlung der Schmerz-
empfindungen in andere Plexusgebiete erfolgen.
Sprengel weist darauf hin, daO nur das parietale Peritoneum
empfindlich ist, welches durch die Interkostalnerven» die Lumbal- und
Sakralnerven versorgt wird. Das viszerale Peritoneum hält er für
unempfindlich, da seine Versorgung durch das Gebiet des N.
sympathicus und N. vagus erfolgt. Im übrigen nimmt auch Sprengel
an, daß der Schmerz im Zusammenhang mit den krankhaften Ver-
änderungen am Peritoneum steht, da der zuerst allgemeine Charakter
desselben sich mit der Umgrenzung der Entzündung in einen mehr
örtlichen umzuwandeln pflegt. Auch Sprengel sieht in der akut
entzündlichen Schwellung und dem Ödem des Peritoneums die erste
Ursache zur Auslösung der entzündlichen Schmerzempfindung.
Karewski und Lennander schieben nur einen Teil der Schmerzen
auf den peritonealen Reiz- bzw. Entzündungszustand und erblicken
die Ursache für den anderen Teil der Schmerzen in einer Lymph-
angitis des Mesenteriums, die ihren Ausgang von den Lymphgefäßen
des Mesenteriolum aus nehmen kann.
Daß nebenbei durch etwaige Darmkoliken ebenfalls Schmerzemp-
findungen ausgelöst werden können, liegt auf der Hand. Dieselben
werden in der Regel jedoch nur für das vorgeschrittenere Stadium
der Periappendizitis in Betracht kommen.
Die eigentliche Lage der Schmerzen, sowie ihre größte Heftig-
keit wird sich naturgemäß früher oder später am Ausgangspunkte
der Entzündung, dem Processus, konzentrieren, insbesondere wird
sich hier die Empfindlichkeit auf Druck am stärksten ätißern, was
bekanntlich zu der Festlegung einer typischen Schmerzstelle unter
der Bezeichnung des McBurneyschen Punktes geführt hat. Diese
besteht so oft zurecht, als eben der Appendix entsprechend gelegen
ist. Bei der Verschiedenheit seiner Lage ist dieses jedoch durchaus
nicht immer der Fall, so daß davor gewarnt werden muß, diesem
Punkte eine übertriebene Bedeutung beizulegen. Kelling ist sogar
geneigt anzunehmen, daß dieser Punkt einem rein nervösen Druck-
punkt entspricht, und daß daher die Annahme irrig ist, man müsse
bei ausgesprochener Druckempfindlichkeit an dieser Stelle immer den
empfindlichen Processus unter den Fingern haben. Einen weiteren
Beweis dafür erblickt er in der Tatsache, daß man auch bei einer
Reihe anderer Erkrankungen diese Erscheinung gefunden hat. Eine
weitere Betätigung dafür könnte man ferner in einer Beobachtung
erblicken, auf die Professor Lexer öfters hinzuweisen pflegt, nämlich
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43] Ober den heutigen Stand der Erkennung und Behandlung der Appendizitis. 411
daß man bei verdächtigen Fällen oft an der korrespondierenden
Stelle links die gleiche Druckempfindlichkeit seitens der Patienten
angegeben erhält. Wir haben dieses oft nachgeprüft und bestätigt ge-
funden.
Zur frühzeitigen Erkennung des Ausgangspunktes und der
Umgrenzung der Schmerzen sind nun von einzelnen Autoren beson-
dere Untersuchungsmethoden vorgeschlagen» die namentlich in zweifel-
haften Fällen von Vorteil sein können und z. T. dem Bestreben ent-
sprungen sind, den Appendix der Palpation besser zugänglich zu
machen.
So rät Lenzmann, bei der Untersuchung den Patienten das rechte
Bein aktiv heben zu lassen in der Annahme, dal} auf diese Weise
der sich kontrahierende M. ileopsoas den Appendix gegen die Bauch-
decken hin hebt und ihn so dem untersuchenden Finger näher bringt.
Ob dieser Vorteil aber durch die beim Heben des rechten Beines
sich verstärkende Spannung der Bauchdecken nicht aufgehoben wird,
erscheint zum mindesten fraglich.
In gleicher Weise rät Meltzer zunächst einen tieferen Druck in
der Ileocöcalgegend bzw. der Gegend des McBurneyschen Punktes
auszuüben und während dieses Druckes das rechte Bein des Pat.
zu beugen. Auf diese Weise ist dann der auf dem Ileopsoas liegende
Appendix einem stärkeren Druck ausgesetzt und wird schmerz-
hafter.
Neuerdings weist Blumberg auf ein besonderes Frühmerkmal der
beginnenden Periappendizitis hin, das auch Ewald bestätigen kann.
Es soll danach bei langsamem Eindrücken der Bauchdecken am Sitz
der auf das Peritoneum übergreifenden Entzündung der Schmerz auf
plötzliches Nachlassen dieses Druckes stärker sein, als während des
Druckes selbst. Eine weitere Bestätigung dieser Beobachtung seitens
anderer Autoren steht jedoch zurzeit noch aus.
Ploenies gibt eine besondere Untersuchung der perkutorischen
Druckempfindlichkeit an, die er bei vorsichtiger Anwendung für un-
gefihrlicher hält, als die Palpation. Als Vorzüge seiner Methode
fGhrt er an, daß dadurch eine scharfe Umgrenzung des Krankheits-
herdes ermöglicht werde und daß ferner damit eine Verschleierung
des Bildes durch Umgehung der bestehenden Muskelspannung aus-
geschaltet werde. Neuerdings gibt Rovsing ein Merkmal an, das
recht zeitgemäß sogar in einer großen Anzahl von Tageszeitungen
abgedruckt worden ist Danach soll bei Druck und Aufwärtsstreichen
in der linken Bauchseite, dem rückwärtigen Verlauf des Colon de-
scendens entsprechend, durch das Zurückdrängen des Darminhaltes
gegen die Ileocöcalklappe hin eine deutliche Schmerzempfindung an
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412
Ad. Ebner,
[44
der Stelle des entzfindeten Appendix bzw. in der Ileocöcalgegend aus-
gelöst werden. Es muß sich erst zeigen, ob es ein pathognomonisches
Symptom ist.
SchlieOlich sei der Vollständigkeit halber noch erwähnt der Hin-
wels Kümmels auf umschriebene Hauthyperästhesien , welche den
Headschen Zonen entsprechen und am häufigsten in der Gegend des
Mc Burneyschen Punktes vorkommen sollen. Ebenso hat auch
Peiser die Beobachtung von Sensibilitätsstörungen der Haut bzw. der
Bauchdecken über Eiterungen in 9 Fällen machen können. Und zwar
bestand in 6 Fällen eine Hypästhesie, in 2 Fällen Hyperästhesie und
in einem Falle erst Hyper- und später Hypästhesie. Letztere Merk-
male sind wegen ihrer Seltenheit nur von untergeordneter Bedeutung
und kommen naturgemäß mehr für die Periappendicitis circumscripta,
als für die beginnende Periappendizitis in Frage.
Als Folge der Schmerzhaftigkeit des Peritoneums kommt es dann
zur Entstehung einer reflektorischen Bauchdeckenspannung
rechts, die man wohl am einfachsten als eine reflektorische Still-
stellung der Bauchdecken zum Schutz des entzündeten und bei jeder
Bewegung schmerzhaften Teiles des Peritoneums auffassen darf.
Sprengel erblickt in ihr die Folge des zum serösen Exsudat Füh-
renden Reizzustandes des Peritoneums und führt sie als ausge-
sprochenes Merkmal für ein vorhandenes bzw. in Entstehung be-
griffenes Exsudat an, mit dessen Verschwinden auch die Spannung
der Bauchdecken zurückgehen soll.
Die weitere Folge dieser reflektorischen Bauchdeckenspannung ist
eine respiratorische Bauchdeckenstarre der rechten Inguinal-
gegend, die bei Besichtigung des Patienten vom Fußende her ins Auge
fällt. Da von Küster besonders auf sie hingewiesen ist, wird sie
auch als Küstersches Symptom bezeichnet. Küster führt sie auf
eine kleinzellige Infiltration im extraperitonealen Gewebe zurück,
welche die Elastizität der tiefen Bauchmuskeln aufheben und die
Folge der beginnenden Eiterung sein soll. Zwangloser erscheint mir
auch hierfür die gleiche Erklärung, wie wir sie für die reflektorische
Bauchdeckenspannung angeführt haben.
Entsprechend dieser respiratorischen Bauchdeckenstarre Küsters
weist Sprengel ebenfalls als Frühmerkmal auf eine Verringerung der
Zwerchfellatmung bzw. einen vorwiegend kostalen Atmungstypus hin,
der namentlich bei männlichen Patienten von Bedeutung ist, da ja
bei Frauen auch im normalen Zustand infolge des Schnürens der
kostale Atmungstypus zu überwiegen pflegt» Seine Entstehung bei
der Periappendizitis verdankt er wohl gleichfalls dem Bestreben der
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45] Cfber den heutigen Stand der Erkennung U.Behandlung der Appendizitis. 413
Padenten durch Einschränkung der Zwerchfellbewegung das Peritoneum
möglichst ruhig zu stellen.
Körte halt die reflektorische Bauchdeckenspannung rechts für das
sicherste Zeichen der beginnenden Periappendizitis. Immerhin muQ
man dabei sicher sein, die bei jeder Berührung auch normaler Bauch-
decken vielfach eintretende Spannung der Muskulatur ausschalten zu
können. Ein Vergleich der rechten Seite gegen die linke wird dabei
in der Regel entscheidend sein und darf daher nie unterlassen werden.
Ferner kommt es wohl durch Schwellung der Serosa einerseits, so-
wie durch toxische Einflüsse auf die Innerv^ation der Darmschlingen
andererseits häufig zu einem geringen Meteorismus, der nach
Dörffler vorwiegend rechts auftritt und sich naturgemäß auf die
Umgebung des beginnenden Krankheitsherdes beschränkt. Dieser
Meteorismus ist so gering, daß er zunächst nicht weiter ins Auge
filit Er bewirkt jedoch nach Sprengel eine Kantenstellung der
Leber, bei welcher die Leberdämpfung in der Mammillarlinie bis-
weilen fast vollständig fehlen kann. Auch Oppenheim weist auf
dieses Fehlen der Leberdämpfung als besonderes Erkennungszeichen
einer vom Processus ausgehenden örtlichen Entzündung hin und führt
diese Erscheinung ebenfalls auf einen äußerlich meist nicht zur Wahr-
nehmung gelangenden Dickdarmmeteorismus zurück.
Daß entsprechend der örtlichen Herabsetzung der Darmtätigkeit
eine meist ziemlich hartnäckige Verhaltung von Stuhl und bisweilen
auch von Winden eintreten kann, ergibt sich nach dem obigen von
selbst
Die Temperatur antwortet in der Regel auf den Einbruch der
Entzündung in das Peritoneum mit einem deutlich erkennbaren An-
stieg und bewegt sich entsprechend dem Fortschreiten der Entzündung
weiter in aufsteigender Linie. Vereinzelt können ausnahmsweise auch
Schüttelfröste auftreten, während andererseits bei geringer Virulenz
und sehr langsamem Fortschreiten der Infektion und des Entzündungs-
reizes auf das Peritoneum die Steigerung der Temperatur bisweilen
gänzlich fortbleiben kann.
Als ein besonderes Zeichen drohender bzw. ausgebrochener Peri-
tonitis weist Krogius darauf hin, daß in solchen Fällen die Mast-
darmtemperatur nicht mehr in dem gewöhnlichen Verhältnis zur
Achselböhlentemperatur steht, sondern wesentlich höher ist als sonst.
Krogius selbst führt an, daß er bei annähernd normaler Achsel-
höhlentemperatur bis 40<> C im After gemessen habe. Dieses Zeichen
ist einerseits um so wertvoller, als es jederzeit leicht nachzuweisen
ist Andererseits ist dabei zu bedenken, daß es von der Entfernung
des £ntzündungsprozesses bzw. der Hyperämie vom Rektum abhängig
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Ad. Ebner,
[4<
ist. Es wird daher bei hoch^itzendem Processus um die Zeit spate
zum Ausdruck kommen, welche die Entzändung braucht bis zu ihre
Entwicklung in die Gegend des Rektums hin.
Rostowzew hebt als weiteres Vorzeichen seitens der Temperatu
für den weiteren Verlauf der Erkrankung hervor, daß bei der Peri
appendizitis die höchste Temperatur in der Regel nicht von 4—6 Uh
nachmittags, sondern von 9—10 Uhr abends gemessen wird. Nac
der Häufigkeit dieser späteren Höchsttemperatur am Abend wil
Rostowzew die Schwere des Falles bemessen und sucht hierfür de
Beweis an der Hand einer selbstgefertigten Tabelle zu erbringei
Weitere Bestätigungen dieser Beobachtung bleiben einstweilen abzu
warten.
Der Puls ist meist entsprechend der Temperatur von größere
Frequenz als normal, jedoch in der Regel nicht kleiner, sondern ehe
noch etwas voller als vorher. Sprengel erblickt in einer wesent
liehen Zunahme der Pulsbeschleunigung eine erhöhte Indikation fü:
die Dringlichkeit des operativen Eingriffs.
Ferner kommt es entsprechend der fortschreitenden entzfindlichei
Reizung auf das Peritoneum zu stärkerer Übelkeit, Aufstoßen um
Brechreiz, sowie in meist größeren Zwischenräumen zu Erbrechen
In ganz vereinzelten Fällen ist Blutbrechen beobachtet worden, da^
dann wohl als Ausdruck einer besonders schweren Allgemeinvergiftuoj
stets von der übelsten Vorbedeutung gewesen ist.
Als Ergänzung zu der perkutorischen Druckempfindlichkeit nact
PI ö nies sei noch daraufhingewiesen, daß man auch in frühen Stadiec
der Entzündung eine leichte perkutorische Dämpfung erhaltei
kann, welche auf den vermehrten Perkussions widerstand durch di(
geschwellten und ödematösen Gewebe zurückgeführt wird. Ein Wider-
spruch gegen diese Annahme ist in dem oben erwähnten geringen
Dickdarmmeteorismus wohl kaum zu erblicken, da durch letzteren nui
die Höhe oder Tiefe des Tones, hingegen durch den vermehrten
Widerstand des Gewebes die Stärke des Perkussionstones geändert
wird.
Entsprechend dieser Schwellung der Gewebe bei geringem ort-
lichen Meteorismus kann man bisweilen an der Stelle der Entzündung
das Gefühl einer undeutlichen, schmerzhaften Schwellung
unter den Fingern haben, falls man nicht in der Lage ist, den ge-
schwellten und meist äußerst empfindlichen Processus selbst nacii-
weisen zu können. Letzteres ist jedoch vielfach wegen der reflekto-
rischen Bauchdeckenspannung mit Schwierigkeiten verknüpft.
Bei sehr tiefem Sitz des Appendix in der Nähe der Blase kann
es ausnahmsweise auch früh bereits zu Blasenstörungen kommen,
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47] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 415
die sich von den sog. prämonitorischen Blasenstörungen Karewskis
dadurch unterscheiden , daß sie einer pathologisch - anatomischen
Grundlage nicht entbehren. In der Regel werden jedoch Blasen-
Störungen, wenn es überhaupt dazu kommt, erst nach einer Zeit ein-
setzen, welche dem Vorrücken der Entzündung bis in die Blasengegend
entspricht
Kommen wir nun schlieOlich zu der in neuerer Zeit mehr und
mehr in Aufnahme gelangenden Bestimmung der Leukozyten-
werte, so leistet nach dem übereinstimmenden Urteil fast sämtlicher
Kliniker diese Methode gerade in den ersten 48 Stunden, wo es am
meisten darauf ankäme, fast nichts zur Klärung der Sachlage. Ebenso
Ist auch für die späteren Stadien der Erkrankung die Methode nicht
als absolut zuverlässig zu bezeichnen.
So hält Rehn die Leukozytenzählung nicht nur für überflüssig,
sondern auch für gefährlich, weil man sich durch derartige Zählungen
in Sicherheit wiegen kann und dadurch unter Umständen den richtigen
Zeitpunkt zur Operation versäumt. Auch er bezweifelt die Zuver-
lässigkeit der Methode für eine Anzahl von Fällen auf Grund seiner
Erfahrungen.
Nach Ch. Juillard ist die Leukozytenzählung in den ersten
48 Stunden ohne Bedeutung, dagegen soll sich bei eiterbildenden
Formen die Kurve 2 — ^3 Tage lang über 25000 erheben.
Wassermann hat ebenfalls einige Mißerfolge dieses Merkmals
gesehen, insofern er Fälle beobachten konnte, bei denen trotz vor-
handener Eiterung keitie Leukozytose da war.
Rüssel kann ebenfalls in der Leukozytosenbestimmung kein aus-
schlaggebendes Merkmal erblicken. Auch Körte kann die Leukozyten-
zahlung nicht für die Frühdiagnose verwerten, da er dadurch oft Ent-
täuschungen erlebt hat.
Nach Nordmann leistet die Leukozytenbestimmung in den ersten
48 Stunden gar nichts. Auch er fand trotz erhöhter Leukozytenzahl
einen normalen Wurmfortsatz. Ebenso konnte trotz starker Vermeh-
rung der Leukozyten in anderen Fällen der operative Eingriff ohne
Schaden hinausgeschoben werden. Im Gegensatz hierzu bestand in
einem Falle eine normale Leukozytenzahl trotz des Vorhandenseins
einer ausgedehnten Eiterung.
Nach Hochenegg kann auch bei Douglasabszessen die Leuko-
zytose vollständig fehlen.
Federmann sieht nicht in einer einzelnen Zählung, sondern In
der Anlegung einer Kurve die Bedeutung der Leukozytose. Damit
spricht er ihr bezüglich ihres Wertes für die Indikationsbestimmung
der absoluten Frühoperation ebenfalls das Urteil. Das Ansteigen und
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Ad. Ebner,
K
Fallen der Leukozytose bewegt sich nach seiner Ansicht parallel d(
Temperatur, demnach kann in den ersten 48 Stunden die Leukozytos
wohl das Zeichen einer Infektion, aber noch keiner Eiterung seil
Die Appendicitis Simplex , womit wohl die Periappendicitis incipiei
gemeint ist, hat nach ihm in den ersten 2—3 Tagen stets unter 2000(
weswegen er für das Frühstadium die Leukozytose ausdrücklich ß
wertlos erklärt Dagegen kann bei einem Empyem des Appendix de
Leukozytenwert bis auf 25000 steigen, während wieder umgekehrt b<
einer derartigen Leukozytenzahl nicht unbedingt ein eitriger Proze
vorhanden zu sein braucht. Nach den ersten 5 Tagen hält Feder
mann eine Leukozytenzahl über 20000 für ein sicheres Anzeiche
einer wachsenden Eiterung, während andererseits das Fehlen de
Leukozytose in diesem Stadium nicht gegen eine vorhandene Eiteruo
zu sprechen braucht. Mit anderen Worten spricht also im Frühstadiur
nach Federmann eine hohe Leukozytose nicht unbedingt für, uni
im späteren Stadium das Fehlen der Leukozytose nicht gegen da
Vorhandensein einer Eiterung.
Sprengel faOt seine Ansicht und Erfahrung über die Leuko
zytose in 5 Thesen zusammen, die ich nachfolgend wörtlich anführe
1. Die Leukozytose ist bei den Frühformen geringer, als bei dei
Spätformen.
2. Die Leukozytenwerte steigern sich anscheinend sowohl in Ab
hängigkeit von den Veränderungen am Wurmfortsatz, als auch voi
denen am Peritoneum. Demnach erreichen sie ihren höchsten Gnu
bei den Fällen von Appendicitis destructiva im Spätstadium.
3. Für die Frühformen sind die Ergebnisse weniger regulär, all
für die Spätformen. Es kommen hohe Leukozytenwerte bei der Appen«
dicitis Simplex und bei geringen Veränderungen am Peritoneum vor
und umgekehrt niedrige Leukozytenwerte bei schweren Veränderungei
am Wurmfortsatz und am Peritoneum.
4. Ein so charakteristischer Unterschied zwischen den Leukozyten«
werten bei Appendicitis circumscripta serofibrinosa und purulenta
wie manche Autoren annehmen, ergibt sich nach meinen Zahlen nicht
5. In allen Stadien der Appendizitis gibt es Fälle, bei denen di(
Leukozytenwerte in keiner Weise die nach den lokalen Befunden zi
erwartenden Änderungen aufweisen.
Sein Urteil faßt Sprengel ablehnend kurz zusammen: Die Methode
ist unzuverlässig und läOt uns gerade in den Fällen im Stich, in denea
es außerordentlich darauf ankäme, für den Kranken etwas daraus
schließen zu können.
Wertvoll kann jedoch die Leukozytenbestimmung zuweilen seio
zur Unterscheidung der Periappendizitis gegen andere Krankheits*-
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49] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 417
zustande. So will Berndt sie zur Unterscheidung zwischen Typhus
und Periappendizitis heranziehen, da sie am Anfang des ersteren
vermindert, bei letzterer hingegen erhöht sei. Das gleiche gilt von
der Unterscheidung der Peritonitis gegen Ileus, worauf von Feder-
mann besonders hingewiesen wird. DaO sie im übrigen bei sehr
schwerer Peritonitis ebenfalls fehlen kann, kommt spSter noch zur
Sprache.
Günstig für die Leukozytose sind anscheinend die Erfahrungen
von Curschmann, der die Leukozytenvermehrung als Merkmal vor-
handener Eiterung noch über die Temperatur stellt, da letztere leicht
duschen könne, die erstere hingegen zuverlässig sei.
Auch G. Nilson hält nächst dem Ergebnis von Eiter bei einer
Probepunktion (!) die Leukozytose f&r das sicherste Zeichen des Vor*
handenseins von eitrigem Exsudat in der Bauchhöhle. Allerdings
meint er dann mit vorsichtiger Einschränkung, dal} dieses Merkmal
den Ausschlag geben könne, wenn die übrigen Erscheinungen ent*
sprechend festgestellt sind. DaO im übrigen die Probepunktion als
diagnostisches Hilfsmittel bei einer periappendizitischen Eiterung heute
nur noch historischen Wert beanspruchen kann, darüber dürfte man
einem Zweifel wohl von keiner Seite mehr begegnen.
Fassen wir nun unsere bisherigen Ausführungen über die Peri-
appendicitis incipiens noch einmal kurz zusammen, so ist für die Er-
kennung derselben auf folgende Anzeichen besonders zu achten:
1. Anamnestisch: Vorangegangene Magen- und Darmbeschwerden
allgemeiner Natur, Neigung zu Verstopfung, bisweilen plötzliche
Durchfalle.
2. Allgemeine, später meist in der Ileocöcalgegend umgrenzte Leib-
schmerzen mit entsprechender Druckempfindlichkeit des Abdomen.
3. Reflektorische Bauchmuskelspannung, vornehmlich rechts.
4. Respiratorische Bauchdeckenstarre, vornehmlich rechts.
5. Oberwiegend kostaler Atmungstypus, bzw. etwas oberflächliche
and entsprechend beschleunigte Atmung.
6. Kantenstellung der Leber mit Schwinden der Leberdämpfung
in der rechten Mammillarlinie.
7. Andauernder, langsamer oder schneller Temperaturanstieg, ver-
einzelt Schüttelfrost.
8. VergröDerter Unterschied zwischen Achselhöhlen- und Mast-
darmtemperatur.
9. Andauernde, schnelle oder langsame Vermehrung der Leuko-
zytenwerte, sobald sie mit dem übrigen Krankheitsbilde übereinstimmt.
10. Übelkeit und Brechreiz, vereinzelt Erbrechen.
KUn. Vortrige, N. F. Nr. 488/90/91. (Chirurgie Nr. 142/43/44.) Juni 1906. 31
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418
Ad. Ebner,
[S
11. Mehr oder weniger ausgesprochene Stuhlverhaltung» bisweile
heftige Durchfälle.
12. Leichte, dem Verhältnis zur Temperaturerhöhung entsprechend
Beschleunigung des in der Stärke unveränderten Pulses.
Es liegt auf der Hand, dal} diese Merkmale sowohl im einzelne
wie in ihrer Gesamtheit mit dem weiteren Vordringen der Entzändui
im Peritoneum stärker hervortreten werden. Andererseits wird ni
mendich in den ersten Anfängen der Entzündung das eine oder andei
von ihnen nur angedeutet sein oder auch gänzlich fehlen könnei
Immerhin wird bei genügender Beachtung der angeführten Merkmal
und entsprechender Bewertung derselben in ihrem Zusammenhao
als geschlossenes Krankheitsbild die Erkennung der Periappendiziti
auch in ihrem frühesten Stadium nicht allzuviel Schwierigkeiten bietei
namentlich, wenn man sich stets den Satz von Karewski gegenwärti
hält, daß jeder Mensch mit chronischen, schmerzhaften Darmstörunge
der Periappendizitis verdächtig ist, solange keine andere Ursache ds
für nachgewiesen ist.
Wesentlich klarer durch die ausgesprochenere Lokalisierung de
Erscheinungen bietet sich im Falle einer Umgrenzung des Entzündungs
Vorganges das Bild der
Periappendicitis circumscripta
dem Untersucher dar.
Vor allem wird fast immer ein abgeschlossenes Exsudat i
Gestalt einer mehr oder minder deutlich durch Perkussion und Pal
pation nachweisbaren Resistenz in der Ileocöcalgegend vorhanden seil
Die Lage dieses Exsudats kann je nach der Lage des Processus ein
erheblich verschiedene sein. Es kann nach oben bis unter die Lebei
nach innen bis über die Linea alba, nach unten bis in den Douglfl
und bei retrocöcaler Entwicklung in die Lumbaigegend verlagert seit
woran in zweifelhaften Fällen zu denken ist.
Die am Anfang recht ausgesprochene Schmerzhaftigkeit un<
Druckempfindlichkeit des Exsudates kann mit der Dauer seines Be
Stehens mehr und mehr zurückgehen und bei länger bestehenden Ab
szessen schlieOlich völlig fehlen.
Die Temperaturerhöhung gelangt in der Regel mit der Um
grenzung der Entzündung zum Stillstand und kann sich dann nocl
eine gewisse Zeit lang in ziemlich gleichbleibender Höhe bewegen
Sie kann aber auch bei groiSen Abszessen nach einiger Zeit wiede
zur Norm abfallen, da die immer stärkeren Verwachsungen und fibri
nösen Beläge der Abszeßwandungen eine Verminderung und schließ
lieh eine Aufhebung der Resorption von Giftstoffen durch den Körpe
herbeizufuhren vermögen. Bei längerem Bestehen kann dann dei
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51] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 419
Inhalt der Abszesse völlig steril werden. So hat Noetzel etwa 75%
der alten periappendizitischen Abszesse als steril nachweisen können.
Der Puls ist entsprechend der Temperatur meist etwas beschleu-
nigt, in seiner Spannung jedoch nicht wesentlich beeinträchtigt.
Als Unterscheidungsmerkmal gegen die noch nicht abgegrenzte
Periappendizitis ist nach Sprengel besonders auf das normale Ver-
halten der Atmung, sowie den Rückgang bzw. das völlige Fehlen
der reflektorischen Bauchdeckenspannung hinzuweisen. Dieses
erklart sich aus dem Fortfallen des nunmehr umgrenzten entzündlichen
Reizes auf das freie Peritoneum, das seinen weiteren Ausdruck in
dem Fehlen bzw. in dem Rückgang des freien Exsudates in der Bauch-
höhle findet.
Aus dem gleichen Grunde hört in dem Stadium der umschriebenen
Periappendizitis auch das Erbrechen auf und fängt erst wieder an
bei weiterem Fortschreiten und neuen Nachschüben der Entzündung.
Zu achten ist auch auf die oben erwähnten Sensibilitätsstö-
rungen der Haut, die Peiser über Eiterungen beobachtet hat.
Besondere Schwierigkeiten für die Erkennung können bisweilen
die retrocöcalen bzw. retroperitoneal gelegenen Abszesse bilden, da
sie durch ihre Lage der Palpation und Perkussion schwerer zugäng-
lich sind. Hier wird meist eine willkürliche Haltung des rechten
Oberschenkels in leichter Beugung und AulSenrotation, sowie
starke Schmerzhaftigkeit bei Bewegung des rechten Oberschenkels ein
deutliches Merkmal zur Klärung der Sachlage bilden. Das gleiche
Zeichen bieten naturgemäß auch die retrofascial gelegenen Abszesse
dar, deren Unterscheidung gegen die retrocöcalen und retroperito-
oealen Abszesse sich im weiteren Verlauf durch ihr Austreten unter-
halb des Poupartschen Bandes auf den Oberschenkel ermöglichen
laßt Bei entzündlicher Verlötung des Processus mit dem Peritoneum
parietale retrocöcal wird sich schon frühzeitig diese Schmerzhaftigkeit
bemerkbar machen infolge einer Zerrung des gereizten Peritoneums
tuf dem M. ileopsoas durch Bewegungen des rechten Beines im Hüft-
gelenk. Dadurch kann bisweilen schon im Stadium der Periappen-
dicitis incipiens ein Hinweis auf die retrocöcale Lage des Processus
gegeben sein. Verstärkter Mastdarm- und Blasentenesmus, sowie
schleimige Beimengung im Stuhl werden häufig auf eine Lokali-
sierung der Eiterung im Douglas hinweisen, welche ihre Bestätigung
durch eine digitale Untersuchung vom Mastdarm aus findet.
Letztere sollte bei der Häufigkeit der Douglasabszesse in keinem Falle
von Periappendizitis unterlassen werden, wenn die Untersuchung be-
gründeten Anspruch auf Vollständigkeit machen will.
Femer kann es in vereinzelten Fällen durch Druck großer
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Ad. Ebner,
[s;
fl
Abszesse gegen ein Darmlumen, seltner durch Knickungen von Darm-
schlingen infolge breiter oder strangFörmiger Verwachsungen zu aus-
gesprochenem Ileus kommen, über dessen Ursache die Heranziehung
der übrigen Krankheitsmerkmale einen Zweifel kaum übriglasset
wird. Auf der gleichen mechanischen Grundlage kann bei unvoll-
kommenem Darmverschluß ein entsprechender Meteorismus in di<
Erscheinung treten.
Auf die etwas unsichere Rolle der Leukozytose auch in diesen
Stadium der Erkrankung ist bereits oben hingewiesen worden. Mai
wird sie hier in der Regel nachweisen können, solange einerseits
Giftstoffe der Bakterien vom Blute aufgenommen werden, und solang!
andererseits der Körper genügend Kraft besitzt, um sich in ent-
sprechender Weise gegen die Schädigung zur Wehr setzen zu können
Aus diesem Grunde darf man wohl mit Lennander das Vorhanden-
sein der Leukozytose als ein günstiges Vorzeichen für den weiteren
Verlauf der Erkrankung betrachten.
Mit dem Nachlassen des Übertritts von Toxinen in das Blut odei
auch mit dem Versagen der Widerstandskraft des Körpers wird natur-
gemäß parallel dem Fallen der Temperatur auch die Leukozytenmenge
wieder zurückgehen. Der Rückgang der Leukozytose kann daher so-
wohl auf eine Besserung, wie eine Verschlimmerung des Leidens hin-
weisen und sie kann daher auch hier nur einen bedingten Wert im
Zusammenhang mit den übrigen Krankheitserscheinungen zur Ergän-
zung des gesamten Krankheitsbildes beanspruchen.
Kurz zusammengefaßt wird demnach die Periappendicitis circum-
scripta durch den deutlichen Rückgang der vorausgegangenen allge-
meinen Entzündungserscheinungen des Peritoneums, durch die mehr
oder weniger ausgesprochene Umgrenzung der örtlichen Krankheits-
erscheinungen, welche meist leicht den Nachweis einer umschriebenen
intraabdominalen Eiterung gestatten, für die Erkennung von allen
Stadien der Periappendizitis die geringsten Schwierigkeiten darbieten.
Wesentlich schwieriger können die Verhältnisse bei der
Periappendicitis diffusa
liegen, um so mehr als sie sich je nach Zahl und Virulenz der Err^er
einerseits und Widerstandskraft des Peritoneums andererseits so schnell
entwickeln kann, daß fast explosionsartig eine Infektion des gesamten
Peritoneums stattfindet. Auf diese Weise kann man bisweilen im
Augenblick der Periappendicitis incipiens schon vor einer Periappen-
dicitis diffusa stehen, gleichwie andererseits aus einer Periappendicitis
circumscripta durch äußere Insulte oder sonstige Gelegenheitsursachen
jederzeit sekundär eine Allgemeininfektion des Peritoneums zustande
kommen kann.
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53] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 421
Man ist daher vom Beginn der Periappendizitis ab keinen Augen-
blick sicher y plötzlich vor der Tatsache einer Allgemeininfektion des
Peritoneums zu stehen und wenn je, so hängt hier das Leben des
Patienten von einer möglichst frühzeitigen Erkennung des Krankheits-
znstandes und der sofortigen Einleitung des einzig möglichen Heil«
Verfahrens^ nämlich des operativen Eingriffs, ab. Man wird daher gut
mn, sich jederzeit bei Abwägung der Merkmale gegenwärtig zu halten^
daß es für den Patienten und den Arzt von geringerem Nachteil ist^
wenn gelegentlich ein Fall auf Grund einer allzu vorsichtigen Diagnose
noch vor der Peritonitis zur sofortigen Operation gelangt, als wenn
in dem Bestreben eine möglichst exakte Diagnose zu stellen, der Zeit*
pnnkt zum Eingriff versäumt und der Kranke einem sicheren Ende
äberliefert wird.
Jeder einer Peritonitis auch nur verdächtige Fall ist
demnach für die Therapie als eine vollgültige Peritonitis
zu behandeln.
Die Erkennung der peritonealen Allgemeininfektion kann sich
m Anfang gerade der schwersten Fälle um so schwieriger gestalten,
als durch die Schwere der Infektion, durch die Obermacht der An-
greifer die zunächst als gegebene Größe zu betrachtenden Verteidigungs-
kräfte des Körpers über den Haufen gerannt werden, so daO eine
Entfaltung derselben gleich von Anbeginn völlig ausgeschlossen wird.
Auf diese Weise kann der größte Teil der sonst klinisch wahrnehm-
baren Kennzeichen in Fortfall geraten, und von der Erfahrung und
Kenntnis des Arztes wird es abhängen, auch ohne dieselben bzw. ge-
rade wegen des Fehlens derselben die Schwere des Krankheitszu-
standes richtig zu würdigen.
In der Mehrzahl der Fälle wird jedoch der Körper erst nach einer
kfirzeren oder längeren Zeit des Kampfes seiner Schutzkräfte und
Scbutzstoffe gegen den andringenden Feind erliegen. In diesem Sta-
dium werden sich dann naturgemäl} die Anzeichen des Kampfes nach
anfien in der gleichen Weise, wie bei der Periappendicitis incipiens,
nur in entsprechend höherem Grade kenntlich machen.
Der Schmerz ist entsprechend der größeren Ausdehnung der Ent-
zündung des Peritoneums in verstärktem Grade im ganzen Leibe
vorhanden und wird bereits bei leisem Druck auf die Baüchdecken^
sowie bei geringen Bewegungen des Patienten sich besonders heftig
bemerkbar machen. Bisweilen kann daneben noch eine erhöhte Emp-
findlichkeit der Ileocöcalgegend bestehen, die namentlich bei aktiven
and passiven Beugungen des rechten Beines zum Ausdruck kommt.
Ganz zuverlässig ist aber auch dieses Merkmal nicht, insofern als es
bei sehr schweren Fällen wohl durch eine toxische Schädigung der
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J
422
Ad. Ebner,
[5-
Nerven zu einem fast völligen Fortfall der Schmerzempfindung kommt
und man wird daher gut tun, diese Möglichkeit immer im Auge z\
behalten.
Ebenso kann auch bei einem Ausgang der Allgemeininfektion voi
einem tief im kleinen Becken liegenden Appendix die Empfindlichkei
der Bauchdecken verhältnismäßig lange fehlen. Auch hier kann man
wenn man sich zu sehr auf dieses Merkmal verläßt und die erforder
liehe Untersuchung per rectum unterläßt, leicht die ersten 48 Stundet
ungenützt verstreichen lassen und damit die Prognose für die Heilunj
des Patienten nahezu völlig ungünstig gestalten.
Ganz besonders möchte ich darauf hinweisen, daß auf den soge-
nannten Perforationsschmerz wenig oder nichts zu geben ist, di
er in einer großen Anzahl von Fällen völlig fehlen kann, während ei
in zahlreichen anderen Fällen durch die vorausgegangenen Schmerzen
und Beschwerden derart verdeckt wird, daß er dem Patienten nicht
besonders aufßUlt.
Allerdings wird sich namentlich die schnelle Ausbreitung der
Entzündung auf ein größeres Gebiet auch durch schnelle Zunahme
der Schmerzen nicht nur an Ausdehnung, sondern auch an Heftigkell
bemerkbar machen. Da aber diese allgemeine Schmerzhaftigkeit ge-
rade am Beginn der Periappendizitis ebenfalls in gewissem Grade
vorhanden ist, so wird in diesem Stadium eine Unterschätzung. der-
selben in ihrer Bedeutung bisweilen vorkommen können. ^ Dagegen
dürfte in einem späteren Stadium die plötzliche Zunahme der bereits
im Abklingen begriffenen Beschwerden schon eher den Fortgang der
Entzündung ins Auge fallen lassen.
Ein Frühzeichen der diffusen Periappendizitis bildet ferner die
entsprechend der Verallgemeinerung der Entzündung beiderseits
bestehende Rektusspannung im Gegensatz zu der nur rechts-
seitigen Spannung bei der Periappendicitis incipiens.
Diese Spannung kann sich mit der Zunahme der entzündlichen
Veränderungen derart verstärken, daß die Bauchdeeken eingezogen
und bei der Betastung bretthart erscheinen können. Man hat dann
den typischen Anblick des kahnförmig eingezogenen Abdomens
vor sich. Infolge Fehlens der Schmerzhaftigkeit des Peritoneums kann
gerade bei den schwersten Fällen auch die beiderseitige Rektusspan-
nung in Fortfall kommen.
Um eine weitere Ruhestellung des Peritoneums zu ermöglichen,
wird ferner wie bei der Periappendicitis incipiens die Bewegung des
Zwerchfells reflektorisch eingeschränkt und wir werden daher neben
dem Stillstand der Bauchdecken gleichzeitig auf den vorwiegend oder
rein kostalen Atmungstypus zu achten haben. Entsprechend der
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55] ^^^^ ^^ heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 423
geringeren Tiefe der Atembewegung fällt eine erliebliche B es etile u-
nigung der Atmung ins Auge.
Die Temperatur wird in der Regel auf den erhöhten Reiz durch
einen entsprechenden Anstieg, seltner mit Schüttelfrösten antworten.
Sie zeichnet sich im übrigen durch einen völlig atypischen Verlauf
aus und kann bei den schwersten Fällen, gleich den übrigen Anzeichen
völlig versagen. Das ist besonders zu beachten bei denjenigen
schweren Allgemeininfektionen des Peritoneums, welche plötzlich ohne
besondere Vorboten oder vorausgegangene Schmerzanfälle einsetzen
und infolge des Fehlens der üblichen Warnungszeichen bisweilen zu
der Annahme einer leichten Periappendicitis incipiens führen können,
bis der unaufhaltsame Kollaps zu spät die Schwere des Krankheits-
zustandes erkennen läßt.
Im weiteren Verlauf der Erkrankung bildet der Abfall der Tem-
peratur bei Fortbestand der übrigen schweren Allgemeinerscheinungen
ein übles Vorzeichen als Merkmal beginnenden Kollapses und führt
zu der bekannten Kreuzung der Temperatur- und Pulskurve, der fast
ausnahmslos das Kreuz als Abschluß der Krankengeschichte nachzu-
folgen pflegt.
Steiler, plötzlicher Temperaturabfall bei länger bestehender Peri-
tppendizitis soll nach W. H. Bennet das häufigste Zeichen einer
Appendixperforation sein. In der Regel wird dieser Abfall aber von
einem um so höheren Temperaturanstieg bisweilen auch mit Schüttel-
frost gefolgt sein.
Auf die oben erwähnte Differenz zwischen Mastdarm- und Achsel-
hShlentemperatur nachKrogius ist besonders in zweifelhaften Fällen
als wertvolles Hilfsmittel zu achten.
Das sicherste, stets zuverlässige Zeichen bildet allein die Be-
schaffenheit des Pulses, der sich durch zunehmende Beschleuni-
gung bei geringer und immer schwächer werdender Spannung der
Gefaßwand auszeichnet. Durch die Regelmäßigkeit seiner Veränderung
kann er in zweifelhaften Fällen allein ausschlaggebend sein und ver-
dient daher die ebenso zweckmäßige, wie bezeichnende Benennung
des Peritonealpulses in vollem Maße. Auf die besonders üble
Vorbedeutung seines Mißverhältnisses zur Temperatur ist oben hin-
geviesen. Erwähnt sei noch, daß nach Kümmel bei Perforation
des Appendix gleich dem Abfall der Temperatur auch eine vorüber-
gehende Verlangsamung des Pulses auftreten kann, die dann aber
gleich dem folgenden Temperaturanstieg einer zunehmenden Beschleu-
aigung des Pulses Platz macht.
Übelkeit und Erbrechen nimmt zunächst entsprechend dem
Starkeren Peritonealreiz an Häufigkeit und Heftigkeit zu, kann aber
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424
Ad* Ebner,
[5€
im weiteren Fortschritt der Erkrankung nach Sprengel schließlich
aufhören. Diese Erscheinung ist wohl ebenfalls als Folge einer toxi-
schen Schädigung bzw. Lähmung der sensiblen Nervenfunktionen auf-
zufassen» welche vermutlich ebensowenig den zentripetalen Reiz nach
dem Brechzentrum zu übermitteln in der Lage sind, wie die moto-
rischen Nerven den zentrifugalen Reiz bei der schwindenden Peri-
staltik der Därme. DaO in schweren Fällen diese Schädigung bereits
sehr früh einsetzen und daher auch das Erbrechen fast gänzlich in
Fortfall kommen kann, liegt auf der Hand. Auf die besonders üble
Vorbedeutung des Blutbrechens ist bereits oben hingewiesen. Es
verdankt seine Entstehung bisweilen aufierordentlich zahlreichen
punktförmigen Blutungen auf der Magenschleimhaut, welche von
Nietzsche und Dieulafoy auf die Wirkung mit dem Magensaft aus-
geschiedener Toxine zurückgeführt werden. Ob diese Erklärung für
alle Fälle zutreffend ist, muO dahingestellt bleiben, daß der Erschei-
nung in jedem Falle rein toxische Ursachen zugrunde liegen, ist wohl
zweifellos.
Der bei der Periappendicitis incipiens bereits erwähnte, sehr Früh-
zeitig einsetzende lokale Meteorismus führt auch hier schnell zu
der Kantenstellung der Leber, so daß das Frühzeichen des Leb er -
hochstandes naturgemäß für diese Fälle erhöhte Geltung behält.
Entsprechend der toxischen oder auch entzündlichen Schädigung
der motorischen Nerven durch eine Lymphangitis des Mesenteriums
kommt es dann schnell zu einer fortschreitenden Lähmung mit nach-
folgenden Meteorismus sämtlicher Darmschlingen. Da nun mit
der fortschreitenden Lähmung der motorischen und sensiblen Nerven
auch die Bauchdeckenstarre entsprechend nachläßt, so werden schließ-
lich die einzelnen geblähten, meist unbeweglichen Darmschlingen
durch die schlaff gewordenen Bauchdecken deutlich sichtbar, und wir
haben dann das typische Bild des paralytischen oder dynami-
schen Ileus vor uns. Solange dieser Ileus auf einzelne tiefer ge-
legene Darmbezirke beschränkt ist, wird er sich gleichzeitig durch
periodisches, grünlich-galliges, später kotiges Erbrechen kenntlich
machen. Bei weiterem Fortschreiten der Lähmungserscheinungen hört
dieses ebenfalls auf und allein die völlige Verhaltung von Stuhl und
Winden weist neben dem meist vorhandenen allgemeinen Meteorismus
auf das Versagen der Darmtätigkeit hin.
Fälle in diesem Stadium lassen die Operation als aussichtslos
erscheinen, da die allgemeine Intoxikation des Körpers dann bereits
zu sehr fortgeschritten ist. Es ist daher nicht Sache des Operateurs,
der solche Fälle noch operiert um dem Kranken die letzte Rettungs-
möglichkeit zu bieten, wenn sie trotzdem tödlich verlaufen, sondern
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57] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 425
Sache des Arztes, der den Fall zu spät der rettenden Hand des Chi-
rurgen überliefert.
Die Leukozytose zeigt auch hier ein der Temperatur ziemlich
parallel laufendes Verhalten. Sie weist eine deutliche Erhöhung auf»
solange der Körper noch verteidigungsföhig ist Der Abfall der
Leukozytose ist stets als Zeichen beginnender Allgemeininfektion auf-
zufassen und spricht bei dem Fortbestehen der übrigen schweren
Erscheinungen gleich dem Temperaturabfall für einen ungünstigen
Ausgang der Erkrankung. Demgemäß ist eine hohe Leukozytose bei
klinischer Annahme einer Allgemeininfektion für den weiteren Ver-
lauf der Erkrankung bzw. für die Heilungsaussichten auf operativem
Wege als günstiges Vorzeichen aufzufassen. In ganz schweren Fällen
wird gleich der Temperatur auch die Leukozytose von Anfang an
versagen und kann dann gänzlich in Fortfall kommen. Erwähnt sei
noch, daß Rüssel in normalen Leukozytenwerten bei Kranken mit
schweren Allgemeinerscheinungen einen sicheren Hinweis auf eine
stattgehabte Perforation erblicken will.
Im Urin kann nach Lennander vereinzelt eine geringe Albuminurie
auf eine allgemeine Infektion bzw. Intoxikation hinweisen, gleichwie
bisweilen Indikan als Folge eines tiefsitzenden dynamischen Ileus
nachweisbar sein kann. Beide Merkmale können wegen der Selten-
heit und des späten Auftretens derselben für die Erkennung vom
Gesichtspunkt der Therapie aus nur untergeordnete Bedeutung bean-
spruchen.
Desgleichen kann es in vereinzelten Fällen zu allgemeinem Ik-
terus kommen, der auf hämatogener Grundlage entstanden , als
Zeichen schwerer Allgemeinintoxikation stets von übler Vorbedeutung
sein wird.
Schließlich möchte ich neben der bekannten Facies abdomi-
nalis, die je nach der Schwere des Falles früher oder später auf-
treten wird, und neben der Trockenheit der Zunge noch auf eine
Injektion der Konjunktiven hinweisen, die mir bisweilen am Be-
ginn schwerer Allgemeininfektionen des Peritoneums aufgefallen ist,
selbst in Fällen, wo die Temperatur, die Spannung der Bauchdecken
und im ersten Beginn auch der Puls in gewissem Grade im Stich liefi.
Kurz zusammengefaßt ist also für die Erkennung der Allgemein-
infektion des Peritoneums vom Appendix aus auf folgende Merkmale
das Augenmerk zu richten:
1. Peritonealpuls mit zunehmender Beschleunigung unter dauern-
der Abnahme der Spannung der Gefäßwand.
2. Hoher Temperaturanstieg mit atypischem Verlauf, Differenz
zwischen Achselhöhlen- und Mastdarmtemperatur.
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426 Ad. Ebner, [58
3. Trockenheit der Zunge, bisweilen Injektion der Konjunktiven.
4. Spontane Schmerzliaftigkeit des ganzen Leibes namentlich bei
Bewegungen und vornehmlich solchen des rechten Beines.
5. Starke Druckempiindlichkeit des ganzen Leibes, namentlich in
der Ueocöcalgegend.
6. Reflektorische Bauchdeckenstarre beiderseits.
7. Beschleunigter, vorwiegend oder rein kostaler Atmungstypus.
8. Fehlen der Leberdämpfung in der rechten Mammillarlinie«
9. Übelkeit mit periodischem, heftigen Erbrechen.
10. Örtlicher, später allgemeiner Meteorismus, dynam. Ileus.
12. Facies abdominalis.
13. Albuminurie, Indikanurie in seltenen Fällen.
14. Hämatogener Ikterus bei schwerer Intoxikation.
15. Vereinzelt Schwellung und schmerzhafte Vorwölbung der vor-
deren Rektalwand.
In ganz schweren Fällen kann fast reaktionslos, allein unter ent-
sprechender Veränderung des Pulses schneller Verfall und Tod ein-
treten.
Kommen wir schlieOlich noch zur Erkennung der chronischen
Periappendizitis, der Periappendizitis im Sicherheitsstadium, so
wird für diese in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle die voran-
gegangene Anamnese bereits entscheidend sein. Die subjektiven
Beschwerden sind meist geringer Natur und äufiern sich in mangel-
hafter Verdauung bzw. Neigung zu chronischer Obstipation, bisweilen
unterbrochen von plötzlichen Durchfällen nach Diätfehlem oder auch
spontan, ferner in einem Gefühl von Druck und Völle in der Ueo-
cöcalgegend, sowie leichtem Meteorismus der rechten Bauchseite.
Objektiv ist vielfach gar nichts, in vielen Fällen jedoch die Reste
früherer Entzündungen in Gestalt einer undeutlichen Resistenz in der
Ueocöcalgegend nachweisbar, die bisweilen auf Druck, seltener auch
spontan etwas schmerzhaft ist.
Wirklich heftige und sogar das Leben bedrohende Beschwerden
können in vereinzelten Ausnahmefällen einsetzen, wenn es durch Ab-
knickung und Abschnürung von Dünndarm- oder Dickdarmschlingen
auf Grund alter Verwachsungen zu einem rein mechanischen Ileus
kommt, der sich dann meist durch entsprechende Unruhe, Steifung
und Auftreibung der höher gelegenen Darmschlingen bei gleich-
zeitigem Fehlen eines Temperaturanstiegs leicht in seinem ursach-
lichen Zusammenhang erkennen läßt.
Derartige FäUe von chronischem Adhäsionsileus hat Federmann
in einer Anzahl von 6 auf 500 Appendizitisoperationen gefunden,
was einem Prozentsatz von 1,2% entsprechen würde. Er weist
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59] Ob^r ^^^ heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 427
darauF hin, daß der Stuhlgang bei diesen Fällen lange Zeit erhalten
sein kann» und rät prophylaktisch zur frühzeitigen Eröffnung von
periappendizitischen Abszessen zwecks Verhütung größerer Ad-
häsionen.
Selbst 10 Jahre nach einer überstandenen Periappendizitis hat
Subbotltsch noch einen derartigen Fall von Ileus beobachten können,
der infolge Abschnürung einer Darmschlinge durch einen alten peri-
tonitischen Strang entstanden war. Auch in der Breslauer Klinik ist
unter Geheimrat Garr^ ein ähnlicher Fall zur Operation gelangt, der
in der nachfolgenden Zusammenstellung der operativen Fälle eine
entsprechende Würdigung gefunden hat.
Die Vermeidung derartiger, wenn auch seltener, so doch um so
schwererer Folgeerscheinungen dürfte einen Grund mehr bilden zur
prinzipiellen Vornahme der Frühoperation oder, wenn die Patienten
erst später zur Behandlung gelangen, zum sofortigen Eingriff auch im
Zwischenstadium, um damit Abszeß- und Adhäsionsbildung möglichst
von vornherein zu verhindern.
Für die Differentialdiagnose der Periappendizitis möchte
ich mich an dieser Stelle nur mit einigen kurzen Hinweisen begnügen,
da es ja auf der Hand liegt, daß bei der Verlagerungsmöglichkeit
des Appendix dafür in vereinzelten Fällen fast jedes Organ der
rechtsseitigen, ja sogar der gesamten Bauchhöhle in Betracht kommen
kann.
Hinsichtlich der Nierenerkrankungen wird bei Wanderniere,
Nierensteinen und Nierentumor in der Regel das Fehlen derTempe-
ratursteigerung vor Verwechselungen schützen, und wenn neuerdings
die am falschen Orte festgewachsene Niere nach Riedel bisweilen
Fieber machen kann, so dürfte das doch nur für außerordentlich
seltene Ausnahmefalle in Betracht zu ziehen sein. Bei Nierensteinen,
Tuberkulose und Tumor der Niere werden gelegentliche Blutungen
im Urin vielfach das erste Anzeichen der Erkrankung bilden. Bei
Pyelitis und entzündlichen Erkrankungen der Niere wird der mikro-
skopische und chemische Urinbefund die Unterscheidung leicht er-
möglichen, abgesehen von den zystoskopischen Untersuchungsme-
thoden, die ja schließlich dem praktischen Arzt nicht ohne weiteres
zugänglich sind. Bei einer großen Mehrzahl der Nierenerkrankungen
ist ferner ganz besonders auf die eigenartigen, in dem Ureter der er-
krankten Niere zur Blase ausstrahlenden Sensationen zu achten, die in
den meisten Fällen den Patienten auch als solche zum Bewußtsein
gelangen und auf Befragen sei es als schmerzhafte, sei es als eigen-
artige Empfindungen angegeben werden. Schließlich sei noch auf
den vielfach deudich gürtelartigen Charakter der Schmerzempfindung
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428 Ad. Ebner, [60
hingewiesen y der gerade bei Nierenerkrankungen häufig in stärkerem
oder geringerem Grade in die Erscheinung zu treten pflegt.
Hinsichtlich der Unterscheidung von Leberaffektionen sei nur
kurz auf das Ausstrahlen der Schmerzempfindung in den Rücken und
vornehmlich die rechte Schulter , auf die meist nachweisbare Ver-
größerung oder Druckempfindlichkeit der Leber bzw. Gallenblase, auf
den meist nach der Einnahme von Speisen einsetzenden und am
Abend nach dem Schlafengehen periodisch sich steigernden Charakter
der Beschwerden, auf die Verschieblichkeit der etwa fühlbaren Re-
sistenz mit der Atmung, auf den vielfach ausgesprochenen Wider-
willen gegen Fleischnahrung, auf. ev. Ikterus, acholischen Stuhl und
Hautjucken hingewiesen, alles Merkmale, deren teilweises oder ge-
samtes Vorhandensein eine Klärung des Krankheitsbildes in der R^el
nicht allzu schwierig gestalten dürfte.
Die rechtsseitigen Adnexaffektionen bei Frauen werden sich
vielfach bereits anamnestisch durch voraufgegangene Menstruations-
störungen, sowie den Nachweis vorangegangener Genitalinfektion er-
kennen lassen. Klinisch wird hierfür als besonderes Unterscheidungs-
merkmal das oben erwähnte Blumbergsche Symptom von seinem
Autor empfohlen, wofür jedoch weitere Bestätigungen außer von
Ewald z. Z. noch ausstehen. Tatsächlich können diese Fälle klinisch
noch am ehesten zu Fehldiagnosen Anlaß geben, wobei allerdings
nicht zu vergessen ist, daß bei der nahen Nachbarschaft der beiden
Organe eine Kombination von Appendizitis mit rechtsseitiger Adnex-
erkrankung nicht gerade als Seltenheit zu betrachten ist.
Daß im übrigen vereinzelt eine fieberhafte Enteritis und auch
Typhus zu Fehldiagnosen führen kann und auch geführt hat, sei
noch nebenher erwähnt. Bei ersterer werden entsprechende schlei-
mige oder zellige Beimengungen im Stuhl, bei letzterem die bakterielle
Diagnose vor Verwechslungen schützen können. Daß andererseits
gerade auf der Grundlage einer infektiösen Enteritis sich äußerst bös-
artige Erkrankungen des Appendix entwickeln können, ist oben bereits
des näheren hervorgehoben worden.
Schließlich sei der Vollständigkeit halber noch an die Magen-
und Pankreasaffektionen gedacht, die gleichfalls bisweilen wohl
Zweifel in der Diagnose entstehen lassen können, aber in der Regel
durch den ausgesprocheneren und lokalisierteren Charakter der Be-
schwerden für die Unterscheidung von Appendixafi^ektionen keine
allzu großen Schwierigkeiten bieten werden.
Wenden wir uns nun der
Therapie der Appendizitis
zu, so liegt es in der Natur der Sache, daß wir uns der heutigen
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61] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 420
Anschauung entsprechend vornehmlich mit der chirurgischen Seite der-
selben zu beschäftigen haben werden. Hierbei wird es sich zunächst
um die Indikationsstellung und Prognose nach der Anschauung der
einzelnen Autoren in den verschiedenen Stadien der Erkrankung
handeln und wir werden uns daher am besten unserer vorausge-
gangenen Einteilung gemäO im einzelnen mit der Früh-, Zwischen-,
Spat-, Not- und Sicherheitsoperation zu beschäftigen haben.
Von diesen allen steht heute im Brennpunkt des Interesses die
Frage der absoluten Fruhoperation und der Zwischenoperation, wäh-
rend bezüglich der Anschauung über die Zweckmäßigkeit der Spät-,
Not- und Sicherheitsoperation wesentliche Differenzen unter den
Autoren kaum noch zu verzeichnen sind. Es erscheint daher gerecht-
fertigt, wenn wir über die ersteren beiden Operationen die Ansichten
der Autoren einer etwas eingehenderen Würdigung unterziehen, wo-
bei manche Änderung derselben nach der radikaleren Richtung hin
auch bei den sich zuerst ablehnend verhaltenden Klinikern im Laufe
der letzten Jahre namentlich hinsichtlich der Frühoperation zu ver-
zeichnen ist.
So macht Kümmel, der sich vorher abwartend verhielt und nur
im äußersten Notfall eingriff, seit März 1904 wegen des stets unbe-
rechenbaren Verlaufes der Erkrankung prinzipiell die Frühoperation,
sobald nach 12—24 Stunden die Erscheinungen nicht geschwunden
sind oder sich gesteigert haben. Er steht auf dem präzisen Stand-
punkt, jede als solche erkannte Appendizitis zu operieren und zwar
je eher, je besser.
Interessant ist auch die Änderung im Standpunkt von Sonnen-
burg, wenn er auch nicht ganz so entschieden, wie die anderen
Autoren für die Frühoperation eintritt. Er versuchte bis 1905 nach
Möglichkeit die Operation stets in das Sicherheitsstadium zu verlegen.
Noch 1905 führt er gegen die Frühoperation den etwas theoretischen
Einwurf an, daß bei hochgradiger Infektion und Toxinwirkung selbst
die früheste Operation versagen kann, und daß es zum mindesten
zweifelhaft ist, ob die Frühoperation immer eine schnellere Heilung
der Krankheit, wie ein später vorgenommener Eingriff erzielen kann.
Trotzdem ist er seit diesem Zeitpunkt zwar nicht zum ausgesprochenen
Anhänger der Frühoperation geworden, betätigt aber dennoch in der
Praxis die Gepflogenheit, alle nicht ganz leichten Fälle innerhalb der
ersten 48 Stunden zu operieren. Merkwürdigerweise glaubt er diese
Erweiterung seiner Indikationsstellung zum operativen Eingriff auf
eine Änderung des Materials zurückführen zu sollen, das ihm in den
letzten Jahren zugegangen ist.
Helferich hält bedingsweise die Frühoperation für berechtigt, da
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430 Ad. Ebner, [62
es besser sei» zu sagen, der Patient wäre auch ohne Operation ge-
rettet worden, als der Patient wäre noch durch die Operation zu
retten gewesen.
Sprengel operiert jede Appendizitis, sobald nicht innerhalb der
ersten 24 Stunden ein entscheidender ROckgang aller Symptome er-
folgt, und zwar in jedem Stadium.
Rehn hält bereits 1901 als einer der ersten neben Sprengel die
Entfernung des Appendix im akuten Anfall für das einzig sichere
Mittel, die Mortalität der Erkrankung auf ein Minimum herabzu-
drucken, indem er ganz besonders hervorhebt, daß die Operation im
Anfall ebenso leicht, oft leichter und sicher nicht gefährlicher als im
Sicherheitsstadium ist. Auch 1905 tritt er wiederum warm fOr die
FrOhoperation ein, indem er den akuten Anfall nur für eine Phase
der meist chronischen Erkrankung erklärt, deren Blitz nicht nur erhellt,
sondern auch zünden kann, ohne daO man sagen kann, was dabei in
Flammen aufgeht. Als besonderen Vorzug der Frühoperation rühmt
er die sichere und radikale Heilung unter Vermeidung späterer Folge-
zustände.
Karewski hält die frühzeitige Entfernung des Appendix ebenfalls
für das einzig rationelle und ist daher dafür, in jedem Falle sofort zu
operieren. Da man den Verlauf der Appendizitis nie mit Sicherheit
voraussagen kann, erscheint ihm die Appendektomie angezeigt, sobald
irgendwelche Krankheitserscheinungen mit Sicherheit auf diesen Teil
des Darmtraktus hinweisen, und zwar möglichst sofort nach dem
Obergreifen der Erkrankung auf das Peritoneum. Wenn möglich, soll
man sogar auch bei leichteren Beschwerden noch vor dem Anfall,
also gewissermaßen vor dem Obergreifen der Entzündung auf das
Peritoneum operieren, eine Forderung, auf die wir später noch näher
zurückkommen werden.
Nach V. Eiseisberg ist die Frühoperation in allen rechtzeitig in
Behandlung kommenden Fällen auszuführen. Den gleichen Stand-
punkt vertritt naturgemäß auch sein Assistent Haber er, wenn er
andererseits auch die Frühoperation nicht für ebenso ungefährlich
halten möchte, wie die Sicherheitsoperation: „Alles in allem ist die
Frühoperation sicher die idealste Behandlungsmethode der Periappen-
dizitis, weil sie, ohne die weitere Entwicklung des Prozesses abzu-
warten, denselben mit einem Male abschneidet "*
Lennander hält es gleichfalls für den Kranken am besten, wenn
er im Verlauf der nächsten Stunden zur Operation gelangt, sobald
die Diagnose auf akute Appendizitis gestellt ist und der geringste
Grund zur Beunruhigung vorhanden ist. Namentlich bei dem zweiten
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63] Ober den heutigen Stand der Erkennung U.Behandlung der Appendizitis. 431
AnftU rat er zum Eingriff» da die Diagnose dann klar ist und der
Anfall damit sofort abgeschnitten wird.
Carl Beck ist ebenfalls dafür» lieber früher» wie zu spät zu ope-
rieren und hält für die sicherste Therapie die frühzeitige Entfernung
des Appendix, besonders da die Operation als solche gänzlich unge-
fiihrlich ist.
Riese führt als weiteren Vorzug der Operation an» daß den Pa-
tienten im Schmerzanfall der Entschluß zur Operation wesentlich
leichter fällt» während sich manche in dem schmerzfreien Sicherheits-
stadium nachträglich eines anderen besinnen und die Operation immer
weiter hinausschieben» bis der nächste schwere Anfall sie in die Hände
des Chirurgen zurücktreibt.
Riedel hält außer bei ganz leichten Fällen die absolute Frühope-
ration» womöglich bereits 5—10 Stunden nach dem Beginn des An-
hlls für weitaus am besten.
Payr ist für die absolute Frühoperation» da man entgegen der
Ansicht von Sonnenburg aus dem klinischen Bilde nie mit Sicher-
heit auf den anatomischen Befund schließen kann» und rät besonders
bei medianer oder nach unserer Benennung mesocöliacaler Lage des
Appendix zwischen losen Darmschlingen möglichst frühzeitig ein-
lugreifen.
Dörffler ist von der Überlegenheit der Frühoperation fest über-
zeugt und glaubt damit dem Patienten das Sicherste zu raten. Als
einen besonderen Vorzug der Frühoperation führt er an» daß sie in
einem Zeitpunkt stattfindet» wo das Peritoneum noch widerstands-
und leistungsfähig ist» daß man dabei eine leichtere Übersicht des
Operationsfeldes und damit auch eine leichtere Entfernung des Appen-
dix hat Er ist überzeugt» daß mit dem Augenblick der Frühoperation
in allen nicht ganz leichten Fällen die Mortalität der Appendizitis auf
0% herabsinken wird.
Tilmann empfiehlt die Frfihoperation bei allen vorher gesunden»
mit akutem Erbrechen erkrankten Appendizitispatienten» während er
bei chronischen und rezidivierenden Formen nur im Falle einer
akuten Verschlimmerung eingreift und sonst im Sicherheitsstadium
operiert
Müller (Hildebrand) drückt sich etwas gewunden aus» wenn
er sagt» daß jede Periappendizitis dem Chirurgen gehört» ob sie ope-
riert werden muß oder nicht» daß ferner am besten eine exakte Be-
obachtung und möglichst frühe» aber nicht Frühoperation sei» denn
die letztere könne zwar manches Leben retten» aber auch manches
lerstören» eine Behauptung» für welche Müller in ihrem Nachsatz
wohl schwerlich Beweise erbringen kann. Namentlich warnt er vor
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432
Ad. Ebner,
164
der Frühoperation bei bestehender Nephritis, die er für sehr gefahr-
lich hält und von der vielfach Todesfälle in der Literatur berichtet
würden, eine Frage, auf die wir bei der zusammenhängenden Er-
örterung der Gegenindikationen der Frühoperation noch näher zurück-
kommen werden.
Körte hält die Frühoperation in 48 Stunden nur in wirklich
schweren Fällen für angezeigt, ein etwas dehnbarer Begriff, da er
von dem klinisch projizierten Krankheitsbild des Kranken, seinem
eventuell gänzlich verschiedenen anatomischen Befund und der äußerst
individuellen Beurteilung des mehr oder minder erfahrenen und
wissenschaftlich durchgebildeten Arztes abhängig ist, und somit in
seinen Grenzen kaum festgelegt werden kann.
Gussenbauer meint kurz und treffend, man müsse mehr um das
Leben des Patienten, denn um seinen Wurmfortsatz besorgt sein.
Hahn hält im Gegensatz zu der etwas pessimistischen Anschauung
Sonnenburg s, daß bisweilen auch die früheste Operation versagen
könne, nach eigener 10 jähriger Erfahrung dafür, daß die Operation
im frühesten Zeitpunkt und bei guter Dränage selbst bei eingetretener
Perforation ebenso gut ist, wie ohne eine Perforation, da er dabei
nicht einen Todesfall hatte. Entscheidend dafür ist naturgemäß der
möglichst geringe Zeitraum zwischen dem Perforationsvorgang und
der nachfolgenden Operation.
Borelius hebt als einen weiteren Vorzug der Frühoperation her-
vor, daß man innerhalb 48 Stunden stets primär nähen kann, selbst
wenn der Appendix gangränös aussieht und sich freies Exsudat in
der Bauchhöhle vorfindet, da dieses in der Regel rein serös und dann
als steril zu bezeichnen ist.
Landau rät auch bei gleichzeitigen Frauenleiden möglichst vor
48 Stunden zu operieren.
S tan ton führt als einen Grund mehr für die Frühoperation an,
daß man am ersten Tage des Anfalls bereits die Erkrankung nicht
allein auf die Schleimhaut des Appendix beschränkt, sondern in allen
Schichten der Wand verbreitet vorfinden könne.
Hoff mann (Küster) operiert ebenfalls, sobald bei der typischen
Erkrankung das Fieber länger als 36 Stunden hoch bleibt.
Von weiteren Vertretern der prinzipiellen Frühoperation in allen
nicht ganz leichten, bzw. in 48 Stunden zurückgehenden Fällen seien
noch genannt: Mynter, Lanz, Bloß, Wette, Dieulafoy, Gallet,
W. Meyer-New York, O. Hartmann, Legueu, Poirier, Segond,
Chaput, Championni^re, Routier, Tuffler, Rüssel, Dennis,
Roux, Rotter, Schnitzler, v. Mosettig, S. Perman, Israel,
Holmes, Ochsner, v. Bergmann, A. C. Bernays, F. Bauer,
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05] Ober den beutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 433
G. Heaton, W. Hagen» Trendelenburg, Ceccherelli, Kleman,
Webster und Dowd.
Dieser kurze Literaturüberblick, der im übrigen durchaus keinen
Anspruch auf Vollständigkeit erheben will» dürfte immerhin bereits
zur Genfige beweisen, eine wie große Obereinstimmung unter der
überwiegenden Mehrzahl der Autoren über den unbedingten Wert
der absoluten Frühoperation herrscht, mit dem einzigen mehr indi-
viduellen Unterschied, daß der eine sie bei etwas leichteren, der
andere sie bei etwas schwereren Erscheinungen bzw. bei fehlender
Ruckbildung derselben in den ersten 24—48 Stunden zum Prinzip
erhebt. Allen gemeinsam ist jedenfalls die Erkenntnis und das Be-
streben, dem Patienten, sobald die Krankheit als solche erkannt ist,
durch eine möglichst frühzeitige und gefahrlose Ausschaltung der
Causa nocens eine sichere und schnelle Heilung zu garantieren, ehe
man ihn den unsicheren und niemals vorherzusehenden Zufällen des
weiteren Krankheitsverlaufes aussetzt.
Den radikalsten Standpunkt von allen vertritt zweifelsohne Ka-
rewski, wenn er rät, die Operation wenn möglich noch vor dem
Anfall zu machen, ein Vorschlag, der wegen allzu großer Möglichkeit
eventueller Luxusoperationen auf «ine prinzipielle Annahme von
irgendwelcher Seite wohl kaum jemals zu rechnen haben dürfte.
Immerhin darf man sich aber nicht verhehlen, daß man bisweilen
dennoch heute vor die Frage gestellt werden kann, in gewissem Sinne
vor dem Anfall zu operieren, vorausgesetzt, daß man unter dem
eigentlichen Anfall das übliche Bild der Periappendizitis versteht, eine
Auffassung, die wohl auch der Ansicht von Karewski entspricht,
wenn er ursprünglich zum sofortigen Eingriff bei den ersten Anzeichen
des Obertrittes der Erkrankung auf das Peritoneum rät. Es kommen
oimlich heute tatsächlich gar nicht so selten Fälle vor, in denen all-
zu ängstliche und vorsichtige Patienten, die eine oder mehrere bis-
weilen ganz kurze, vielleicht nur 1—2 Stunden dauernde Appendikular-
koliken ohne jedes Fieber durchgemacht haben, an den Chirurgen
mit der Frage oder mit dem direkten Verlangen herantreten, sie von
dem vermutlichen Friedensstörer zu befreien, ehe er ihnen zur Quelle
j.
eines ernsten Erkrankungszustandes wird. Dabei ist zu beachten, daß \
i)ei der heute fast allgemein verbreiteten Kenntnis von der Bedeutung
und Lage des sog. Blinddarms im Publikum fast jeder Schmerz von
kolikartigem Charakter in der rechten Unterbauchgegend als Blind-
darmentzündung, und vielfach gar nicht mit Unrecht verdächtigt wird.
Daß in solchen Fällen eine nachträgliche objektive Untersuchung kein
positives Ergebnis zu liefern braucht und daher absolut nicht als
Gegenbeweis von tatsächlich vorausgegangenen Appendikularbe-
Klia. Vortrige. N. F. Nr. 489/90/91. (Chirurgie Nr. 142/43/44.) Juni 1906. 32
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434 Ad. Ebner, [66
schwerden aufgefaßt werden darf» liegt auf der Hand. Vielfach wird
man allerdings vielleicht eine gewisse Bestätigung dafür durch den
behandelnden Arzt erhalten können, wenn eben während des Anfalls
ein Arzt dabeigewesen ist, was bei der Kürze der Schmerzdauer meist
aus Mangel an Zeit oder aus anfänglicher Indolenz seitens der Pa-
tienten nicht der Fall zu sein pflegt.
Ich pflege mich in solchen Fällen damit zu behelfen, daO ich, so-
bald die Patienten am Ort sind und im Falle eines richtigen Pari-
appendizitisanfalles jederzeit sofort in chirurgische Behandlung kommen
können, es ihrem eignen Ermessen freistelle, sich später bei den ge-
ringsten Fiebererscheinungen mit entsprechenden Beschwerden zur
sofortigen Operation einzufinden oder auf ihren eigenen Wunsch hin
die Operation sofort vornehmen zu lassen. Denn es ist menschlich
durchaus verständlich, daO vereinzelte Patienten, ehe sie dauernd das
Damoklesschwert eines nach mehreren Appendikularkoliken nur selten
ausbleibenden Periappendizitisanfalles mit der Notwendigkeit eines
operativen Eingriffs über sich fühlen wollen, sich lieber einer so-
fortigen Operation zwecks sicherer Ausschaltung einer derartigen
Möglichkeit unterziehen, die dann fast ausnahmslos durch die makro-
skopisch nachweisbaren Veränderungen am Appendix, wie Kotsteine,
Schwellung und Injektion der Mukosa oder der ganzen Wandung,
Knickungen, Retention des Inhaltes u. dgl. den Beweis erbringen wird
und auch bei uns tatsächlich im Laufe der letzten Jahre erbracht hat,
daO die Gefahr einer Luxusoperation in derartig vereinzelten Fällen
nicht allzuhoch einzuschätzen ist. Anders liegt in derartigen Fällen
schon die Sache, wenn die Patienten auf dem Lande wohnen, eine
größere Reise vorhaben, kurz, wenn sie sich in Lebensverhältnissen
befinden, wo sie nur schwer oder gar nicht sich jederzeit die Hilfe
des Chirurgen zugänglich machen können. Da erscheint es sicherer,
bereits in diesem Stadium, also gewissermaßen noch vor dem eigent-
lichen Anfall, zur Operation zu raten, da man nicht wissen kann,
unter welchen Umständen sie später einem etwa eintretenden und
möglicherweise recht schweren Anfall ausgesetzt sind. Es sind dieses
eben Fälle, die individuell beurteilt sein wollen und in denen dann
ausnahmsweise aus den Lebensverhältnissen oder der ausgesprochenen
Willensäußerung der Patienten heraus die Operation berechtigt er-
scheinen kann. Derartige Fälle werden sich sicher auch bei anderen
Chirurgen vorfinden, sobald sie ihr Material danach sichten wollten«
Daraus nun aber die Forderung einer prinzipiellen Operation noch
vor dem Anfall herzuleiten, liegt eine Veranlassung nicht vor, so-
lange man sicher ist, daß einem Patienten durch die Ablehnung dieser
Forderung kein Schaden erwachsen kann.
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67] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 435
Um noch kurz die Indikationsstellung ffir die Frühoperation der
Periappendizitis bei gleichzeitiger Gravidität zu streifen, so
sind sämtliche Autoren sich darin einig, daß die Gravidität an sich
eine erhöhte Indikation zum möglichst frühzeitigen operativen Eingriff
bildet, da sie in der Regel einen sehr ungünstigen Einfluß auf den
Verlauf und die Prognose der Erkrankung im Sinne einer wesentlich
erhöhten Gefahr der peritonealen Allgemeininfektfon ausübt. Rosner
geht deswegen so weit, die Operation sogar in denjenigen Fällen an-
zuraten, die nicht ganz sicher sind und einer Periappendizitis nur
verdächtig erscheinen. Ebenso raten Riese, Labhardt, G. Heaton
u. a. zum möglichst frühzeitigen Eingriff in derartigen Fällen mit
Rücksicht auf die erhöhte Infektionsmöglichkeit des Peritoneums.
Kümmel allein rät, wenn es nicht möglich ist, frühzeitig nach Beginn
der Erkrankung zu operieren, lieber bis zum Sicherheitsstadium zu
warten, immerhin ein etwas riskanter Vorschlag, da eben bis zu
diesem Stadium die Patienten dauernd der Gefahr einer Allgemein-
infektion des Peritoneums ausgesetzt bleiben. Gerade hier dürfte
vielmehr stets eine möglichst weitgehende Indikationsstellung zum
operativen Eingriff, sobald die Patientin in chirurgische Behandlung
gelangt, am empfehlenswertesten sein.
Als Gegenindikationen werden bezüglich der Frühoperation
von Ball besonders Tuberkulose, Herzfehler und Nierenerkrankungen
hervorgehoben. Namentlich bei letzteren glaubt auch Müller ganz
besonders vor einem operativen Eingriff im akuten Stadium warnen
zu müssen. Treten wir der Frage etwas näher, so werden wir bei
schweren Herzfehlern oder Nierenerkrankungen der Anschauung Balls
ohne weiteres beipflichten können, da hier der operative Eingriff an
sich gewissermaßen der Tropfen sein kann, welcher des Maß der aufs
äußerste herabgesetzten Lebens- und Leistungsfähigkeit des Körpers
zum Oberfließen bringt. Für die leichteren und mittelschweren Fälle
kann man aber Ball darin doch nicht ganz beistimmen, insofern ge-
rade Patienten mit Herz- oder Nierenerkrankungen um so eher vor
den üblen Zufällen der Periappendizitis zu bewahren sind, als der
ao sich schon in seiner Leistungsfähigkeit herabgesetzte Körper um
so schwerer mit einer Peritonealinfektion fertig werden und dann um
so leichter einer Allgemeininfektion des Peritoneums mit Herz- oder
Niereninsufflzienz erliegen wird. Man könnte daher in nicht allzu
schweren Herz- oder Nierenerkrankungen bei gleichzeitiger Peri-
appendizitis eher eine Indikation mehr zur möglichst frühzeitigen
Ausschaltung der Causa nocens zwecks Verhütung weiterer Kompli-
kationen erblicken, welche für den an sich in seiner Widerstandskraft
erheblich herabgesetzten Patienten eine wesentlich größere Gefahr
32*
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436 Ad. Ebner, [OS
involvieren können, als die vitale Schädigung, welche der kurz
dauernde und ungefährliche operative Eingriff ev. unter Äthernarkose
oder Lumbalanästhesie mit sich bringt. Auch hier wird es sich zum
mindesten dringend empfehlen, zu individualisieren und nicht ohne
weiteres in jeder Herz- oder Nierenerkrankung eine absolute Indikation
gegen einen möglichst frühzeitigen operativen Eingriff zu erblicken,
da die Zufälle des Krankheitsverlaufes wesentlich schlimmere Folgen,
als der operative Eingriff an sich zeitigen können.
Fassen wir nun zum Schluß noch einmal die Gründe, welche
zugunsten der Frühoperation innerhalb der ersten 48 Stunden sprechen,
kurz zusammen, so haben wir dieselben in folgendem zu erblicken:
1. Gegenüber dem stets unberechenbaren Verlauf der Periappen-
dizitis stellt die Frühoperation das einzige Mittel dar zur sofortigen
Beendigung des Krankheitsprozesses und zur sicheren, schnellen und
dauernden Wiederherstellung des Patienten.
2. Die Frühoperation allein vermag dem Patienten mit Sicherheit
die Vermeidung sämtlicher Früh- oder Spätfolgezustände der Peri-
appendizitis, wie Thrombosen, Embolien, metastatische Abszesse,
Pleuriten einerseits, sowie Adhäsionsbeschwerden und Narbenbruche
andererseits in Aussicht zu stellen.
3. Die Frühoperation ist für den Patienten ebenso ungefährlich
und für den Operateur vielfach leichter, wie die früher allgemein
bevorzugte Sicherheitsoperation, da sie wegen des Fehlens von Ad-
häsionen fast stets eine gute Übersicht des gesamten Operationsfeldes
und somit dem Chirurgen die Möglichkeit gewährt, mit kleinen
Schnitten auszukommen.
4. Die Frühoperation hat gegenüber der Spätoperation den Vorteil
einer radikaleren und schnelleren Heilung für den Patienten, da sie
einerseits stets die radikale Entfernung des Appendix und anderer-
seits fast ausnahmslos den primären Verschluß der Bauchwunde durch
Naht gestattet. Selbst bei Einlegen eines kleinen Sicherheitstampons
in zweifelhaften Fällen wird die Heilung immer noch schneller vor
sich gehen, als wenn man zur Inzision von Abszessen gezwungen ist,
nach welcher der Patient in der Regel den Appendix behält und sich
meist noch einer weiteren Operation zur Entfernung desselben unter-
ziehen muß.
5. Der Entschluß zur Operation fällt dem Patienten wesentlich
leichter im Schmerzanfall selbst, als später in dem schmerz- und be-
schwerdefreien Sicherheitsstadium.
In Erwägung dieser zahlreichen und unbestreitbaren Vorteile der
absoluten Frühoperation in den ersten 48 Stunden erscheint es daher
nicht nur berechtigt, sondern dringend geboten, den Praktiker immer
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09] Über den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 437
wieder darauf hinzuweisen, daß er in der Frühoperation das sicherste
Mittel in der Hand hat zur schnellen und dauernden Wiederherstellung
seiner Patienten in allen Fällen , bei denen nicht in 24 Stunden ein
völliger oder zum mindesten doch deutlich merkbarer Rückgang sämt-
licher Erscheinungen zu verzeichnen ist.
So grofi nun die Obereinstimmung der Autoren über die Indika-
tionsstellung und Zweckmäßigkeit der Frühoperation ist, so groß ist
andererseits zurzeit noch die Divergenz der Anschauungen über die
Vorzüge und Nachteile der
Zwischenoperation.
Es ist dieses so ziemlich das einzige Gebiet der Therapie, auf
dem heute noch nicht eine gewisse Übereinstimmung hat erzielt
werden können. Wie oben bereits erwähnt, verstehen wir unter
Zwischenoperation diejenige Operation, welche zeitlich in das
Zwischenstadium fällt, das vom 3. — 8. Tage der Erkrankung gerechnet
wird und demjenigen Zeitraum entspricht, welchen das Peritoneum
erfahrungsgemäß braucht, um durch feste Verwachsungen eine sichere
Umgrenzung und Abkapselung des Entzündungsherdes entstehen zu
lassen. Der Streit der Meinungen dreht sich nun darum, ob in
diesem 2^itraum der operative Eingriff an sich durch die leichtere
Lösung der noch frischen Adhäsionen und nachfolgende Infektion des
freien Peritoneums einerseits oder die Möglichkeit einer spontanen
Verschlimmerung und Allgemeininfektion des Peritoneums bei exspek-
tativem Verhalten andererseits die größere Gefahr für den Patienten
darstellt.
Die Gegner der Zwischenoperation wie Sonnenburg, Körte,
V. Eiseisberg, Haberer^ v. Bergmann, Lanz, Büngner, Israel,
Nordmann, Holmes, A. C. Bernays, W. Hagen, Landau, Treves
u. V. a. vertreten naturgemäß den ersteren Standpunkt. Sie halten
die Gefahr einer Lösung der Adhäsionen mit nachfolgender Allgemein-^
Infektion des Peritoneums in dem Zwischenstadium für so groß, daß
nur eine heftige Verschlimmerung der Erkrankung bzw. die drohende
Gefahr des spontanen Eintritts einer Allgemeinperitonitis das Risiko
eines derartig gefährlichen Eingriffs zu rechtfertigen vermag. Sie
suchen daher prinzipiell alle Fälle nach 48 Stunden ins Sicherheits-
stadium oder zum mindesten ins Spätstadium überzuführen, um dann
die etwa notwendige Spaltung der nunmehr sicher abgekapselten Ab-
szesse vorzunehmen.
Allerdings stellen auch einige der prinzipiellen Gegner der
Zwischenoperation die Indikation zum Eingriff in der Praxis weiter,
als die anderen und nehmen dadurch eine gewisse Mittelstellung zu
der Frage ein. Wenn z. B. Kümmel rät, im späteren Stadium nach
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438 Ad. Ebner, [70
48 Stünden nur bei abklingendem Fieber oder ÜeberFreiem Exsudat
abzuwarten^ so klingt das schon ganz anders , als wenn er ganz all-
gemein den Lehrsatz aufstellt, nach 48 Stunden lieber Eis und Opium
zu geben, falls nicht die Schwere des Anfalles den EingrifF notwendig
macht Im letzteren Fall ist gewissermaßen eine Verschlimmerung,
im ersteren Fall bereits das Ausbleiben eines deutlichen Rückganges
der Erscheinungen für ihn genügend als Indikation für den operativen
EingrifF im Zwischenstadium. Körte, v. Eiseisberg und Tilman
spalten Abszesse sofort nach der Diagnose auch im Zwischenstadium
ohne ihre weitere Abkapselung abzuwarten. Andere wiederum glauben
auch bei Abszessen die festere Abkapselung wenn irgend möglich ab-
warten zu müssen mit dem Messer in der Hand und unter exaktester
Beobachtung auf die Möglichkeit einer Spontanperforation der noch
frischen Verwachsungen hin.
Zu den Vertretern der radikalen Richtung haben wir alle diejenigen
zu rechnen, welche die Periappendizitis prinzipiell in jedem Stadium
und zu jeder Zeit, also auch im Zwischenstadium operativ anzugehen
pflegen, da sie teils auf Grund persönlicher Erfahrungen, teils auf
Grund wissenschaftlicher Erwägungen die Gefahr der peritonealen
Allgemeininfektion als Folge des Eingrifi^s nicht allzuhoch einschätzen
und die Bestätigung dafür in den guten Resultaten ihrer Statistiken
erblicken zu können glauben.
So hat, wenn wir die vorliegende Literatur einer kurzen Durchsicht
unterziehen, u. a. Dörffler seiner eigenen Angabe nach einen glän-
zenden, von ihm nie zuvor erreichten Erfolg erzielt, seitdem er in
seiner Praxis jeden Fall von Periappendizitis sofort operiert, der
irgendwie ernstere Erscheinungen zeigt. Und zwar versteht er unter
letzteren peritonitische Symptome im weitesten Sinne des Wortes.
Er hält jede Operation vor der Etablierung einer allgemeinen Peri-
tonitis für gefahrlos, leicht und sicher ausführbar und meint, daß
durch eine rechtzeitige Operation bei entsprechender Sachkenntnis
und Sorgfalt das Auftreten einer tödlichen Allgemeinperitonitis fast
mit absoluter Sicherheit vermieden werden kann. Selbst in zweifel-
haften Fällen ist er dafür, lieber eine Probelaparotomie zu machen,
als ein Menschenleben zu riskieren.
Auch Rehn stellt die Forderung auf, jede Blinddarmentzündung
operativ anzugehen, ehe sich die verderblichen Folgen der Erkrankung
ausgebildet haben. Sein Schüler Nötzel steht naturgemäß auf dem
gleichen Standpunkt, indem er sagt: „Wir kennen keinen Zeitpunkt,
in dem wir abwarten. Wir operieren jeden Appendizitisanfall nach
seiner Einlieferung ins Krankenhaus zu jeder Tages- und Nachtzeit'
Karewski meint, daß die Überleitung in das kalte Stadium zwar
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71] Ober den heutigen Stand der Erkennung U.Behandlung der Appendizitis. 439
häufig gelingen kann, daß sie aber nicht selten ein Spiel mit dem
Leben des Patienten ist. Da überhaupt jede Zeitbestimmung , jede
Beurteilung der Schwere oder Leichtigkeit der Symptome trügerisch
sein kann, hält er es fQr das richtigste in jedem Falle sofort einzu-
greifen.
Worcester halt die chirurgische Behandlung für das einzig rich-
tige, fügt dann aber etwas diplomatisch hinzu/ die Zeit der Operation
bestimme der Gang der Erkrankung, ein Rat, der bei der Allgemein-
heit seines Ausdrucks für den Praktiker wohl kaum von Wert sein
kann.
Krecke spricht sich für die Operation unter allen Umständen auch
ohne sichere Symptome der Eiterung aus.
Ebenso rät Delag6ni6re stets sofort zu operieren, in welchem
Stadium auch die Erkrankung bei der ersten Konsultation zur Be-
handlung kommt. Desgleichen operieren Rinne, v. Zwalenburg,
Hahn, L C. Stinson, A. H. Cordier jeden Fall zu jeder Zeit, da
Abwarten immer gefährlich sein kann.
Der Hauptverfechter des operativen Vorgehens in jedem, also
auch im Zwischenstadium ist Sprengel, nach dem die Periappendi-
zids am besten sofort nach gesicherter Diagnose operiert wird«
Denn «findet man dabei Eiter, so war die Operation gerechtfertigt,
findet man keinen, so ist sie unschädlich"^. Im übrigen begründet
Sprengel seinen radikalen Standpunkt des näheren damit, daß auch
ohne Operation der Zeitraum des Zwischenstadiums, absolut betrach-
tet, die höchste Zahl an Todesßillen aufweist, da innerhalb dieser
Zeit infolge des freien bzw. in Abgrenzung erst begriffenen Ent-
zfindungsprozesses die Gefahr einer peritonealen Allgemeininfektion
am größten ist und am leichtesten eine entscheidende Wendung zum
Schlimmeren eintreten kann. Gerade deswegen habe man ja, um dieses
gefahrliche Stadium zu vermeiden, den Vorteil der Frühoperation
allgemein anerkannt. Sprengel vermag daher um so weniger einzu-
sehen, weshalb man den Patienten bei späterer Aufnahme im Zwischen-
stadium erst den weiteren Gefahren desselben aussetzen solle, ohne
diesen durch einen sofortigen Eingriff mit Sicherheit vorzubeugen.
Absolute Klarheit über den Vorteil bzw. die Oberlegenheit der Zwi-
schenoperation kann eben nur eine vergleichende Statistik über die
Mortalität einer größeren Anzahl von Fällen bringen, die während
des Zwischenstadiums teils ohne, teils mit prinzipieller Operation
behandelt worden sind und nicht nur auf besonders schwere Indika-
tionen hin operiert sind. Solange eine solche Aufstellung fehlt, ist
ein abgeschlossenes Urteil über diese Frage wenigstens vom prakti-
schen Standpunkt aus nicht möglich und wird immer mehr oder
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440 Ad. Ebner, [72
weniger von den subjektiven Eindrücken und Erfahrungen des ein-
zelnen abhängen.
Vom theoretischen Standpunkt aus möchte ich eine Erwägung her-
vorheben, die von Professor Lexer, als überzeugtem Anhänger der
Zwischenoperation, häufig in seiner Vorlesung angeführt wird, und
die mir doch ganz erheblich zugunsten der Zwischenoperation zu
sprechen scheint. Wenn man nämlich den Entzündungsvorgang am
Appendix in seiner reaktiven Wirkung auf die Umgebung mit den
Entzündungsvorgängen am Furunkel vergleicht, so ist bei letzterem
einwandsfrei der experimentelle Nachweis durch Impfung geführt, daß
die durch Rötung, Infiltration und Schmerzhaftigkeit ausgezeichnete,
sogenannte reaktive Entzündungszone der Haut um den eigentlichen
Infektionsherd herum durch eine erhöhte Produktion von bakteriziden
und bakteriolytischen SchutzstofFen gegen eine Infektion mit dem Virus
des eigentlichen Herdes als immun zu bezeichnen ist.
In gleicher Weise bildet sich nun auch um den eigentlichen Ent-
zündungsherd am Appendix eine reaktive Entzündungszone aus, welche
wir makroskopisch an der stärkeren Injektion und Schwellung des
viszeralen Peritoneums der umgebenden Darmschlingen deutlich ab-
grenzen können. Soweit diese Injektion sich erstreckt, ist das Peri-
toneum analog dem experimentellen Nachweis am Furunkel als immun
zu bezeichnen gegen eine sekundäre Infektion vom primären Entzün-
dungsherd aus, da es bereits durch verstärkte Hyperämie und Er-
zeugung entsprechender SchutzstoH^e gewissermaßen seine Vorposten
als Sicherung gegen einen Überfall der feindlichen Truppen aufge-
stellt hat. Solange also der Operateur sich im Zwischenstadium
innerhalb dieser reaktiven Entzündungszone der Darmserosa hält, und
solange eine Verbreitung des infektiösen Virus über diese Zone hinaus
vermieden wird, ist eine Allgemeininfektion des Peritoneums mit
Sicherheit auszuschließen. Dieses zu erreichen wird im allgemeinen
Sache der Erfahrung und Technik des Operateurs sein. Daß es sich
erreichen läßt, dürften die bisher erreichten, durchaus ermutigenden
Erfolge der oben angeführten Vertreter der Zwischenoperation zur
Genüge beweisen. Man darf daher die Operation als solche wohl
kaum als besonders gefahrvoll bezeichnen, sobald der Operateur über
die nötige Erfahrung und Technik verfügt.
Ziehen wir nach dieser theoretischen Erwägung noch in Betracht,
daß das Spätstadium oder Abszeßstadium einerseits gerade denjenigen
Zeitraum darstellt, in welchem es am ehesten zur Ausbildung der
bekannten schweren Folgezustände der Periappendizitis, Thrombosen,
Embolien, metastatischer Abszesse u. dgl. kommt, und daß anderer-
seits bei dem so häufigen Gegensatz der klinischen Erscheinungen mit
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73] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 44 1
dem anatomisch-pathologischen Befund trotz genauester und sorgfältigster
Beobachtung gar nicht so selten bei der exspektativen Behandlung der
dringendste Zeitpunkt zur Operation noch vor dem Eintritt einer
peritonealen Allgemeininfektion versäumt werden kann, so dürften
vir vohl mit Recht zu dem Schluß gelangen, daß die tatsächlichen Ge-
fahren der Zwischenoperation doch wesentlich geringer einzuschätzen
sind, als die ZuiSUe und Folgezustände, welchen die Patienten gerade
durch das Zwischenstadium bzw. durch die prinzipielle Überleitung
der Erkrankung ins Spätstadium oder Sicherheitsstadium ausgesetzt
sein können.
Es ist daher wohl anzunehmen, daß nach weiteren günstigen Er-
fahrungen der radikaleren Operateure auch bei den heutigen Gegnern
der Zwischenoperation die Furcht vor den Gefahren des Eingriffs an
sich mehr und mehr schwinden wird, so daß sie selbst allmählich ihre
Indikationen weiter und weiter stellen und dann auf Grund eigener
Erfahrungen ihre Anschauung nach der radikaleren Richtung hin re-
vidieren werden. Alles in allem scheint mir die Zwischenoperation
ein Eingriff zu sein, über dessen Indikationsstellung und Zweckmäßig-
keit die Meinungen zwar noch geteilt sind, der aber mit der häufigeren
Anwendung und Erprobung auch seitens seiner heutigen Gegner den
Beweis seiner Berechtigung selbst erbringen dürfte, um so mehr als
bei ihm gleichwie bei der Frühoperation die radikale Entfernung des
erkrankten Appendix die Regel bildet und damit die Patienten gleichr
zeitig der Notwendigkeit eines zweiten operativen Eingriffs zwecks
definitiver Heilung enthoben werden.
Hinsichtlich der Technik ist dabei zu bemerken, daß durch frische
Verwachsungen und ev. in der Bildung begriffene Abszesse um den
Appendix herum die Übersicht des Operationsfeldes erheblich er-
schwert und daher die Anlegung eines größeren Schnittes zur Eröff-
oung der Bauchhöhle von vornherein erforderlich ist. Da man nun
aber bei direktem Vorgehen auf den Krankheitsherd durch die Bauch-
decken hindurch Gefahr laufen würde, durch absichtliche oder unab*
sichtliche Lösung der Adhäsionen die freie und gänzlich ungeschützte
Bauchhöhle zu infizieren, so wird von Rehn, Riedel, Sprengel,
Dörffler, Murphy, Moskowicz u. a. empfohlen, prinzipiell von der
freien Bauchhöhle aus gegen den Entzündungsherd vorzugehen und
zu diesem Zwecke die Bauchhöhle nicht direkt über, sondern dicht
neben dem Krankheitsherd zu eröffnen. Man kann dann unter guter
Obersicht über die gesamte Sachlage das freie Peritoneum durch ent-
sprechende Tamponade um den Entzündungsherd abschützen, um so in
Sicherheit an die Lösung der frischen Adhäsionen und die radikale
Entfernung des erkrankten Organes heranzugehen.
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442 Ad. Ebner, [74
Wesentlich kürzer können wir uns Fassen bezüglich der Operation
im Spät-, Not- und Sicherheitsstadium, über deren Zweckmäßigkeit
bzw. Notwendigkeit heute volle Einstimmigkeit herrscht. Ergibt es
sich doch von selbst, daß für
die Spätoperation
im Stadium der abgeschlossenen intraabdominalen Eiterung der alte
Lehrsatz »ubi pus, ibi evacua' mehr als irgendwo anders seine volle
Geltung behalten muß. Allerdings haben auch hier in den letzten
Jahren die günstigen Erfahrungen der radikaleren Operateure mit der
Sicherung der Bauchhöhle durch Tamponade und die dadurch herab-
geminderte Furcht vor der peritonealen Allgemeininfektion die Indi-
kationsstellung zum operativen Eingriff noch erheblich erweitert.
Während man sich nämlich früher aus Angst vor einer weiteren Ver-
breitung der Infektion nach Möglichkeit auf die Eröffnung der ober-
flächlich, dicht unter den Bauchdecken gelegenen Abszesse zu be-
schränken suchte und womöglich wartete bis sie einer direkten
Eröffnung von außen her zugänglich waren, gehen heute die oben-
genannten Autoren in gleicher Weise wie im Zwischenstadium auch
die abgekapselten Abszesse im Spätstadium prinzipiell durch die freie
Bauchhöhle an, da sie in der größeren Übersichtlichkeit und rich-
tigen Abtamponierung der Umgebung des Abszesses bei diesem Vor-
gehen eine bessere Sicherung des freien Peritoneums erblicken zu
müssen glauben, als in der direkten Eröffnung der Abszesse durch die
Bauchdecken hindurch, bei welcher unabsichtliche Eröffnungen des
freien Peritoneums infolge geringerer Obersicht viel leichter der Be-
obachtung entgehen und infolge Fehlens der schützenden Tamponade
auch leichter zur nachfolgenden Allgemeininfektion des Peritoneums
Anlaß geben können.
So erhält man nach Dörffler die besten Resultate, wenn man
sowohl in den frischen, wie in den verschleppten Fällen ausnahmslos
von der freien Bauchhöhle aus gegen den entzündlichen Tumor vor-
geht. Er eröffnet daher nach dem Vorgange von Rehn, Riedel und
Sprengel prinzipiell von vornherein die freie Bauchhöhle, um dann
unter Abdichtung des freien Peritoneums mit Gazekompressen stumpf
gegen die Resistenz vorzudringen, den Abszeß möglichst in Seitenlage
zu eröffnen und wenn möglich die Radikaloperation anzuschließen.
Sodann Dränage der Höhle durch Tamponade, Auswechseln des
Schutztampons am Peritoneum durch frische sterile Gaze und Verband.
Der nächstgrößere Verbandwechsel bzw. die Entfernung der Tam-
ponade wird nicht vor 8 Tagen vorgenommen, um eine genügende
Festigkeit der abschließenden Verwachsungen zu garantieren. Im
übrigen glaubt Dörffler, daß trotz der Tamponade in derartigen
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75] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 443
Fallen die Gefahr eines späteren Narbenbruches nicht allzugroO sei,
da es bei frühzeitiger Operation noch nicht zu erheblichen Ernährungs-
störungen der Fascie gekommen ist.
Rehn handelt auch hier nach dem Grundsatz, daO stets in der
Erkrankung und nie in der Operation die eigentliche Gefahr zu er-
blicken ist. Er empfiehlt sogar den Processus, wenn möglich, aufzu-
Sachen und zu amputieren und rät auch leichte Verwachsungen vor-
sichtig zu lösen, um sämtliche Buchten des Abszesses freizulegen.
Wenn er dann aber nur unter Einlegen eines Dräns in die Höhle rät,
die Bauchhöhle primär zu schließen bis auf die relativ kleine Öffnung
für das Dränrohr, so mag das ja wohl eine Berechtigung auf Grund
seiner persönlichen guten Erfahrungen haben. Wenn er vom theo-
retischen Standpunkt jedoch dafür anführt, daß gerade dieser exakte
Schluß der Bauchhöhle eine wichtige Vorbedingung für eine gute
Dränage sei, da dadurch der normale intraabdominale Druck wieder
hergestellt werde, so darf man dem vielleicht entgegenhalten, daß
es fraglich und zum mindesten noch nicht bewiesen ist, daß dieser
intraabdominale Druck das Hauptagens bei der Entleerung des Sekretes
ist, sondern daß dabei ein großer Anteil, wenn nicht der Hauptanteil
auf die kapillare Ansaugung seitens der Gazedränage einerseits und
auf die Vis a tergo der von hinten her nachdrängenden mehr und
mehr serösen Exsudation andererseits zu schieben ist. Wenigstens
scheint mir eine derartige Frage nicht unberechtigt, wenn man erwägt,
daß bei analogem Vorgehen an den Extremitäten auch nicht der Ge-
websdruck an sich, sondern die künstlich durch die Bier sehe Stauung
noch gesteigerte Vis a tergo des nachdrängenden serösen Exsudates
das eigentliche, rein mechanische Agens bei der Austreibung und
Entleerung der schädlichen Stoffe darstellt. Des weiteren ist dagegen
vielleicbt noch anzuführen, daß, rein mechanisch gedacht, ein geringerer
Querschnitt der DränageöfFnung unmöglich dasselbe leisten kann,
wie ein größerer Querschnitt, und daß diese Differenz wohl kaum
durch die in ihrer Wirkung noch etwas unsichere Erhöhung bzw.
Wiederherstellung des alten intraabdominalen Druckes ausgeglichen
wird. Im übrigen dürfte sich auch bei der geringsten Retention an
ii^endeiner Stelle der Abszeßhöhle die sekundäre Entleerung der-
selben nach der Methode von Rehn wesentlich schwieriger gestalten,
eine solche Retention aber von vorneherein auszuschließen dürfte
gerade bei dieser auf das geringste Maß beschränkten Anwendung der
Dränage ein genügender Grund nicht vorliegen. Ein besonderer
Anlaß zur Empfehlung der Versorgung der Abszeßhöhle nach dem
Vorgang von Rehn scheint mir danach nicht vorzuliegen, solange
nicht eine tatsächliche Überlegenheit dieser Methode über die alte.
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444 Ad. Ebner, [76
ausgiebigere Art der Dränage praktisch und wissenschaftlich ein-
wandsfrei nachgewiesen ist.
Trotz der guten Erfolge» welche die genannten Autoren mit ihrem
radikalen Vorgehen zu verzeichnen haben , steht die Mehrzahl der
Chirurgen noch auf dem älteren Standpunkt, bei der Inzlsion von
abgeschlossenen Abszessen, wenn irgend möglich, die Eröffnung der
freien Bauchhöhle zu vermeiden und den Appendix nur dann zu ent-
fernen, wenn er sich sozusagen dem Messer von selbst darbietet. Es
bleibt dann die definitive Entfernung des Appendix einer zweiten
Operation vorbehalten, die man bis zum nächsten Anfall verschieben
kann, wenn der Patient in der Lage ist, sich bei den ersten Anzeichen
desselben zur sofortigen Frühoperation einzufinden. Im anderen Falle
wird man bereits vorher im Sicherheitsstadium die Appendektomie
vornehmen, um den Patienten nicht unnötig der Möglichkeit und den
ZufSUen eines weiteren Anfalles ohne sofortige chirurgische Hilfe
auszusetzen.
Hinsichtlich der Indikationsstellung zum Eingriff kann für den
Praktiker nicht genug betont werden, daß der Eingriff am besten statt-
findet, sobald eine fühlbare und schmerzhafte Resistenz auch nur den
Verdacht einer umschriebenen Eiterung nahelegt. Wenn man nämlich
in Betracht zieht, daß immer noch und zwar gar nicht so selten Fälle
zur Operation eingeliefert werden, in denen bisweilen der Abszeß
bereits die Bauchdecken vorwölbt und in denen dann die In-
zision eine Unmenge von Eiter entleert, so fragt man sich immer
wieder, wie es heutzutage noch möglich ist, daß ein Arzt an die Re-
sorptionsmöglichkeit derartiger Exsudatmengen auch nur denken oder
andererseits eine festere Abkapselung des dauernd anwachsenden
Abszesses bei konservativer Behandlung erwarten kann, ohne sich
darüber klar zu werden, daß er auf diese Weise geradezu ein Spiel
mit dem Leben seiner Patienten treibt. Solche Fälle haben dann
nachträglich für den betreffenden Arzt noch das Bedauerliche an sich,
daß sich die mißhandelten Patienten spontan die gleiche Frage vor^
legen und trotz der gut gemeinten Beruhigungsversuche des Chirurgen
in einer für die wissenschaftlichen Fähigkeiten des Arztes wenig
schmeichelhaften Weise selbst zu beantworten pflegen.
Es muß daher immer wieder hervorgehoben werden, daß in jedem
Falle der praktische Arzt am sichersten geht, wenn er bei jeder Appen-
dizitis überhaupt, und um so mehr wenn er sie erst im Spätstadium
zu Gesicht bekommt, möglichst frühzeitig einen Chirurgen zu Rate
zieht, um sich auf dessen größere Erfahrung hinsichtlich der Indika-
tion zum operativen Eingriff zu stützen.
Kommen wir nun schließlich zu demjenigen Stadiun^, in welchem
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77] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 445
durch die eingetretene Allgemeininfektion des Peritoneums die Not
am gröOesten ist, und welches daher mit Recht die Bezeichnung
als Notstadium verdient, so ist bezüglich des operativen Eingriffs in
demselben, der
Notoperation,
zu bedenken, daß die Aussiciiten derselben naturgemäß um so günsti-
ger sind, je früher dieselbe erfolgt, und daO der entscheidende Wende-
punkt für eine günstige Prognose bereits nach Ablauf der ersten
48 Stunden gegeben ist. Es wird daher für dieses Stadium der alte
Grundsatz, lieber zu früh, wie zu spät zu operieren, eine doppelte
Geltung haben müssen, da man besser einen Patienten noch vor der
Allgemeinperitonitis operiert, als daß man in dem Bestreben, eine
Klarung und Sicherstellung der Diagnose herbeizuführen, die kost-
baren Stunden ungenützt verstreichen läßt. Es ist daher mit Recht
jeder einer Allgemeininfektion des Peritoneums auch nur verdächtige
Patient stets so zu behandeln, als wenn tatsächlich eine solche bereits
vorhanden wäre.
Mit Rücksicht auf den grundsätzlichen Unterschied bei der Pro-
gnose der Notoperation vor und nach den ersten 48 Stunden wird der
EingrifF innerhalb der ersten 48 Stunden seit Beginn der Allgemein-
iofektion des Peritoneums auch als Frühoperation schlechtweg be-
zeichnet. Da man aber darunter gemeinhin auch die absolute Früh-
operation in den ersten 48 Stunden der Erkrankung überhaupt ver-
stehen kann, habe ich im Gegensatz zu der letzteren die Benennung
der relativen Frühoperation gebraucht, da es sich dabei ja nicht um
eine absolut, sondern nur relativ frühzeitige Operation handelt, näm-
lich hinsichtlich des zeitlichen Beginns der peritonealen Allgemein-
infektion, und nicht der Erkrankung an sich.
Bezüglich der Indikationsstellung für den Eingriff herrscht mit
Rficksicht auf die günstige Prognose desselben innerhalb der ersten
24 Stunden* eine absolute Einigkeit über die strikte Notwendigkeit der
relativen Frühoperation. Über die eigentliche Notoperation nach
48 Stunden sind die Ansichten jedoch etwas geteilt, indem einzelne
Autoren auch dann prinzipiell stets operativ vorgehen, während an-
dere die Indikation zum EingrifF von Fall zu Fall stellen und sie von
dem Allgemeinzustand der Patienten in erster Linie abhängig machen
wollen. Letztere neigen zu der Annahme, daß der an sich bereits
sehr geschwächte Patient entweder dem operativen Eingriff direkt
erliegen könne, oder daß er zum mindesten dadurch allzusehr ge-
schwächt werde, um mit den im Körper bereits vorhandenen Gift-
stoffen fertig zu werden und so mittelbar den Folgen der Operation
erliegen müsse.
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446 Ad. Ebner, £78
In diesem Sinne macht u. a. auch Dörffler den Vorschlag nach
48 Stunden die Indikation für den Eingriff lieber von Fall zu Fall zu
entscheiden und den Eingriff zu unterlassen bei schlechtem Puls,
rascher Atmung und hochgradigem Meteorismus, kürz bei den üblichen
Anzeichen einer weit Fortgeschrittenen Peritonitis. Zu erwägen wäre
es seiner Meinung nach, ob der Eingriff sich noch lohnt, bei gutem
Puls und leidlichem Allgemeinbefinden des Patienten.
Nordmann will bei allgemeiner Peritonitis erst nach dem 5. Tage
mit Auswahl operieren, da sich dann vielleicht eine Reihe von Pa-
tienten noch erholen könne, welche sonst der Operation erliegen
würden, und namentlich da bei hochgradiger Darmlähmung die Aus-
sichten auf den Erfolg eines Eingriffs sich wesentlich verschlechterten,
wenn nicht gänzlich in Fortfall kämen.
Wieder andere wollen bei der Perforationsperitonitis überhaupt
erst das Schwinden der vorhandenen Shokerscheinungen abwarten,
da in diesem Zeitpunkt die Operation zu gefährlich sei. Dieser An-
schauung darf man wohl mit Lennander entgegenhalten, daß in
derartigen Fällen das beste Mittel gegen den Shok die Operation ist,
denn cessante causa, cessat effectus.
Auch Kocher hält die operative Behandlung der allgemeinen vom
Zwerchfell bis zum Becken sich erstreckenden Peritonitis für äußerst
undankbar, und zwar ebenfalls wegen des Shoks und der gesteigerten
Resorption von Giftstoffen, welche der operative Eingriff zur Folge
habe. Da nun nach experimentellen Untersuchungen von Cirle der
plötzliche Abfall des Blutdruckes, welcher als eigentliche Ursache des
Shokes aufzufassen ist, durch eine vorübergehende Ausschaltung der
arteriellen Blutzufuhr zu den Därmen zu verhindern sein soll, so
meint Kocher, daß danach die Frage diskussionsberechtigt erscheinen
könne, ob zu dem gleichen Zweck die vorübergehende Anlegung einer
Klemmzange am Mesenterium für die kurze Zeit der Eventration und
Reinigung der Därme in Betracht zu ziehen sei. Die Entscheidung
der Frage dürfte davon abhängig sein, ob sich jemand entschließt, dem
Vorschlage Kochers praktische Folge zu geben.
Trotz dieser Einwände der mehr individualisierenden Richtung
darf man wohl doch die z. Z. herrschende allgemeine Anschauung über
die Indikationssteliung zur Notoperation dahin definieren, daß selbst
in aussichtslos erscheinenden Fällen von allgemeiner Peritonitis mit
Darmlähmung der Shok einer unter Lokal- oder Lumbalanästhesie
oder Äthertropfnarkose ausgeführten Operation nicht ein derartiger
ist, daß man dem Patienten deswegen die letzte Chance zur Rettung
entziehen müßte, selbst auf die Gefahr hin, die eigene Operations-
statistik mit einem Todesfall mehr zu belasten. Denn die Fälle,
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79] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 447
welche im Stadium der Allgemeinperitonitis mit Darmlähmung auch
ohne Operation taisäcblicb durchkommen^ dürften zu den Ausnahmen
zu zählen sein, welche die Regel von der absoluten Aussichtslosig-
keit auch der konservativen Behandlung unter derartigen Umständen
bestätigen.
Im übrigen ist selbst in diesen Fällen der operative Eingriff um
so mehr in Betracht zu ziehen , als man ja in der namentlich von
Barth und Heidenhain empfohlenen mehrfachen Enterostomie
gleichzeitig ein Mittel zur Hand hat, die bereits geblähten und pa-
ralytischen Darmschlingen zu entlasten und ihnen dadurch eine
Möglichkeit mehr zur Erholung und Erneuerung der geschwundenen
Peristaltik zu gewähren.
So aussichtslos auch der operative Eingriff im vorgeschrittenen
Stadium der allgemeinen Peritonitis zu sein pflegt, so darf man ihn
mit gutem Gewissen doch wohl kaum unterlassen, da in der Regel
der Nutzen der Operation eine mögliche Shokwirkung derselben weit
überwiegen dürfte, um so mehr als wir heute in den intramuskulären
oder subkutanen Kochsalzinfusionen ein zuverlässiges Mittel gegen
letztere stets zur Verfügung haben.
Hinsichtlich des eigentlichen therapeutischen Prinzipes bei der
allgemeinen Peritonitis sei nur kurz hervorgehoben, daO dasselbe im
tdlgemeinen drei verschiedenen Indikationen zu genügen hat, nämlich
dem Bestreben 1. eine möglichst weitgehende Entlastung des Körpers
von Infektionserregern und deren Produkten zu erreichen, 2. eine
Kräftigung und Hebung der gesamten Körpervitalität im allgemeinen
and damit die Möglichkeit einer verstärkten Produktion von Abwehr-
stoffen herbeizuführen und 3. eine Kräftigung und Hebung der Ge-
websvitalität des Peritoneums und der gesunkenen bzw. gänzlich ge-
schwundenen Darmbetätigung im besonderen herbeizuführen.
Der ersten Indikation läßt sich nur durch den operativen Eingriff
gerecht werden, weicher in ausgiebigen und je nach der Schwere des
Falles mehr oder weniger zahlreichen Inzisionen der Bauchdecken mit
nachfolgender Drainage zu bestehen hat Diese Inzisionen werden in
der Regel beiderseits oberhalb und parallel dem Poupartschen Bande
^S^legt» wobei der Appendix wenn möglich gleichzeitig entfernt wird.
Dazu können dann nach Bedarf eine Inzision in der Linea alba, Ge-
geoinzisionen in der Lumbaigegend beiderseits, sowie Inzision und
Dränage durch Douglas oder Scheide hinzukommen, je nachdem eine
Verbreitung bzw. Lokalisierung der Entzündungsprodukte zu konsta-
tieren ist.
Von einer gleichzeitigen mechanischen Reinigung durch Tupfer,
oder Spülung mit antiseptischen Lösungen ist man längst zurückge-
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448 Ad. Ebner, [80
kommen, da erstere naturgemäß zu einer mechanischen und letztere
zu einer chemischen Schädigung der an sich in ihrer Vitalität herab-
gesetzten Gewebe führen muß. Die Mehrzahl der Autoren begnügt
sich vielmehr damit, durch ausgiebige Spälung der Därme mit physio-
logischer Kochsalzlösung eine vorsichtige mechanische Entfernung der
Erreger und ihrer Produkte bzw. eine Verdünnung derselben herbei-
zuführen, wobei man in schweren Fällen so weit geht, sämtliche Darm-
schlingen vor die Bauchhöhle zu lagern und im einzelnen einer gründ-
lichen Spülung mit Kochsalzlösung zu unterziehen.
Eine geringere Anzahl von Autoren will auch auf diese Spülung
verzichten, da sie glauben, daß der Nutzen der mechanischen Ent-
fernung einer Anzahl von Infektionserregern überwogen werde durch
die Gefahr einer weiteren Verbreitung der Erreger vermittelst der
Spülflüssigkeit in noch freie Buchten und Falten der Bauchfellserosa,
in denen sich diese dann ansiedeln und weitere Schädigungen ver-
ursachen könnten. Beide Teile behaupten mit ihrem Vorgehen gute
Erfahrungen gemacht zu haben, was an sich nicht unverständlich ist,
wenn man nämlich annimmt, daß das Spülverfahren praktisch nur
wenig mehr nützt, aber auch zum mindesten ebensowenig schädigt,
wie das rein konservative Verhalten gegenüber dem infizierten
Bauchfell.
Vom theoretischen Gesichtspunkt aus will mir die Annahme wahr-
scheinlicher vorkommen, daß das Spülverfahren doch eine gewisse
Überlegenheit haben müiite auf Grund folgender Erwägung. Ein un-
leugbarer Vorteil desselben besteht darin, daß es fragelos die absolute
Zahl der im Körper vorhandenen Infektionserreger vermindert und
dadurch die Produktion von Toxinen und Endotoxinen in erheblichem
Maße herabsetzen muß.
Des weiteren werden die noch am Bauchfell übrigbleibenden, zunächst
in gewissem Grade in größeren Haufen, bzw. konzentriert gelegenen
Bakterienansammlungen zwar fragelos in bisher nicht infizierte Gegenden
fortgerissen , aber doch andererseits auch auf eine viel größere und
zum Teil in ihrer Widerstandskraft noch nicht wesentlich herabgesetzte
Fläche des Peritoneums verteilt, das logischerweise durch die verän-
derte Verteilung der auch an absoluter Zahl verminderten Angreifer
auf eine gewissermaßen längere und entsprechend dünnere Front
gegenüber der nunmehr zur vollen Ausnutzung gelangenden und stellen-
weise mit frischen Truppen besetzten Verteidigungslinie der Festung
sicherlich mehr Chancen hat, über die nunmehr in kleinere Gefechts-
einheiten zerlegten Angreifer Herr zu werden, als die letzteren bei
ihrer geringeren Anzahl eine Bresche in die Festung zu legen.
Praktisch mag das vielleicht nicht von allzugroßer Bedeutung sein.
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81] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 449
theoretisch will mir die Entscheidung der Frage in diesem Sinne
jedoch als das wahrscheinlichere bedanken«
Der zweiten Indikation, der Kräftigung und Hebung der Lebens-
kraft und physiologischen Abwehrbetätigung des Körpers im allge-
meinen, dient vor allem die reichliche Verabfolgung von intramusku-
lären oder subkutanen Kochsalzinfusionen, von denen die ersteren
trotz größerer Schmerzhaftigkeit für die Patienten weitaus den Vorzug
verdienen, da sie schneller resorbiert und daher auch in weit größeren
Quantitäten gegeben werden können, ohne doch wie die letzteren
durch zeitweilige Ernährungsstörungen zu den bekannten Fascienne-
krosen zu fuhren, die dann von einzelnen wegen ihrer Resorptions-
temperaturen auf eine Infektion von außen her bzw. mangelhafte
Technik bei der Infusion geschoben zu werden pflegen. Andererseits
ist aber auch nicht zu vergessen, daß durch diese Infusionen überhaupt,
uod durch die subkutanen Infusionen bei ihrer langsameren Resorp-
tion ganz besonders, im Gewebe gegenüber den im Blut kreisenden In-
fektionserregern ein Locus minoris resistentiae geschaffen wird, und daß
es auf diese Weise sehr wohl an den Infusionsstellen zu Abszeßbildung
auf Grund einer Autoinfektion des Körpers kommen kann, die gleichfalls
mit einer Infektion von außen her gar nichts zu tun hat Vielfach wird
dann bereits der für Bact. coli typische, fakulente Geruch des Abszeß-
eiters diese Vermutung zur absoluten Sicherheit erheben können, ja ich
erinnere mich eines Falles, in dem bereits makroskopisch der Abszeß-
inhalt den vollkommenen Eindruck eines dünnflüssigen Stuhles machte.
Diese Autoinfektion ist eine Möglichkeit, an welche man gegebenen-
Mls wohl denken muß; sie ist aber andererseits bei der Seltenheit
ihres Auftretens kein Grund, deswegen die geradezu lebensrettenden
Kochsalzinfusionen zu unterlassen, welche wie oben erwähnt gleich-
zeitig als das sicherste und zuverlässigste Mittel zur Beseitigung einer
ev. vorhandenen Shokwirkung zu bezeichnen sind.
Von den früher beliebten intravenösen Kochsalzinfusionen ist man
inzwischen gänzlich abgekommen, da sie bei wesentlich umständlicherer
Technik absolut nichts mehr zu leisten vermögen, als die erheblich
einfacheren intramuskulären Infusionen.
Des ferneren wäre dann an eine Stärkung und Hebung der Herz-
tätigkeit und Blutzirkulation durch die üblichen Exzitantien, wie Alkohol,
Kampfer und Digitalis zu denken, die man bei häufigerem Erbrechen
entweder per rectum in Gestalt von kleinen Einlaufen oder auch sub-
kutan, soweit Kampfer und Digitalis in Betracht kommt, verabfolgen kann.
Inwieweit man durch die Anwendung spezieller oder polyvalenter
Heilsera, wie sie heute fabrikmäßig erzeugt und teils per rectum teils
subkutan verabfolgt werden, eine weitere Erhöhung der Abwehrbetäti-
Klln. Vortrige, N. F. Nr. 489/90/91. (Chirurgie Nr. 142/43/44.) Juni 190& 33
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450 Ad. Ebner, [82
gung tatsächlich erzielen kann, ist eine Frage, die beute noch nicht als
spruchreif zu bezeichnen und im allgemeinen von den ErFahrungeo
der einzelnen Autoren abhängig zu machen ist. Allerdings sind diese
Erfahrungen zurzeit noch so wenig ermutigend, daO die Mehrzahl der
Autoren auf die Anwendung des Mittels von vornherein verzichtet.
Das gleiche wäre von der perkutanen, intravenösen oder per
rectum empfohlenen Anwendung der von manchen ebenfalls hoch-
gepriesenen Silbersalze in Gestalt der Kollargolzusammensetzungen
zu sagen. Als praktisch wirksam haben sich bisher nur die Kochsalz-
infusion und die bekannten Herzexzitantien erwiesen.
Der dritten therapeutischen Indikation zur Hebung der lokalen Ge-
websvitalität des Peritoneums und der herabgesetzten oder gänzlich
aufgehobenen Peristaltik der Därme werden — abgesehen von der
eventuellen Enterostomle nach Barth — am ersten hohe und häufige
oder permanente Einlaufe mit physiologischer Kochsalzlösung per
rectum gerecht, die heute von allen Autoren ausnahmslos empfohlen
und angewandt werden und an Menge in der Regel 1—1^/2 Liter und
mehr betragen sollen. Wenn einzelne Autoren diesen Einlaufen noch
besondere Zusätze zwecks einer erhöhten Wirkung geben wollen, wie
beispielsweise Lennander mit 5% Traubenzucker und 3% Alkohol
und Weir mit 15 Tropfen einer 0,l%igen Adreanlinlösung statt des
Alkohols, so liegen über den tatsächlichen Wert derartiger Zusätze
zu wenig Erfahrungen vor, um ein abschließendes Urteil darüber zu
ermöglichen. Der Hauptwert der Einlaufe dürfte jedenfalls neben
der besseren Ernährung und Durcbspülung der Darmwandung in ihrer
rein mechanischen Einwirkung auf die Anregung der Darmtätigkeit
zu erblicken sein, indem sie gleichzeitig die Entstehung von Ver-
wachsungen bzw. fibrinösen Verklebungen der Därme unter sich zu
verhindern, wie ev. auch leichtere Verklebungen zu lösen geeignet sind.
Von medikamentösen Mitteln zur Anregung der gesunkenen Darm-
peristaltik sei der Vollständigkeit halber noch hingewiesen auf die
von Nordmann empfohlenen Koifeininjektionen, ferner auf die sub-
kutanen Injektionen von Atropin. sulfuricum und die neuerdings vielfach
in Aufnahme gelangten Injektionen von Physostigmin, das man in der
Maximaldosis von 0,001 dreimal pro Tag anzuwenden pflegt, und von
dem viele Autoren gute Erfolge gesehen haben.
Kurz zusammengefaßt hängt also bei der Allgemeininfektion des
Peritoneums in erster Linie das Leben des Patienten von einer mög-
lichst frühzeitigen Vornahme der lebensrettenden Notoperation ab,
welche jedoch nur als relative Frühoperation wirklich gute Aussicht
für die Heilung des Patienten zu bieten vermag. Nach Verlauf von
48 Stunden verschlechtert sich die Prognose sehr schnell und zwar
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83] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 451
direkt proportional der zeitlichen Entfernung des Eingriffs vom Beginn
der AllgemeininFektion des Peritoneums. Immerhin ist darin kein Grund
zu erblicken, selbst in verzweiFelten Fällen dem Kranken diese letzte
Chance zur Rettung zu versagen, da nach dem heutigen Stande der Tech-
nik die etwaige Shokwirkung eines derartigen Eingriffs die Vorteile des-
selben selbst in den schwersten Fällen kaum jemals überwiegen dürfte.
Es erübrigt sich schließlich noch die Besprechung der Behandlung
Im Sicherheitsstadium, dem Stadium der abgelaufenen bzw. chronischen
Perlappendizitis. Dieselbe hat heute in der Regel ebenfalls in der
radikalen Entfernung des Appendix durch den als
Sicherheitsoperation
von uns bezeichneten Eingriff zu bestehen. Es ist dieses diejenige
Operation, welche sozusagen den Anfang der so überaus segens-
und erfolgreichen chirurgischen Behandlung der Perlappendizitis ge-
bildet hat, und welche aus der Einsicht heraus entstanden ist, daO
eine definitive Heilung der Erkrankung erst mit der Entfernung des
Appendix möglich ist, da man ohne dieselbe nie vor Rezidivanfällen
sicher ist und der Patient sonst, wie Sprengel, glaube ich, sich
ausdrückt, sein Totenhemd in Gestalt des erkrankten Appendix stets
bei sich trägt. Es kann daher auch ohne die Entfernung des Appen-
dix nie von einer absoluten, sondern immer nur von einer relativen
Heilung des Patienten bezüglich des letzten akuten Anfalles, nicht
aber bezuglich der Erkrankung überhaupt die Rede sein.
Dieses ist denn auch der Grund gewesen, weswegen zunächst bei
den Eingriffen im Sicherheitsstadium in gleicher Weise, wie später
auch bei den Eingriffen im akuten Stadium die Indikationen immer
weiter gezogen sind. Während früher nämlich die Mehrzahl der
Autoren auf dem Standpunkt verharrte, nur nach einem schweren
Anfall den Appendix zu entfernen, und bei einem leichteren Auftreten
der Erkrankung, der sog. chronisch rezidivierenden Perlappendizitis,
erst 2—3 Anfälle abzuwarten, ehe man sich zum operativen Vorgehen
entschloß, ist heute hierin ebenfalls ein Umschlag nach der radikaleren
Richtung hin eingetreten insofern, als die Mehrzahl auch der konser-
vativsten Chirurgen bereits nach dem ersten, als solcher deutlich ge-
kennzeichneten Anfall von Perlappendizitis in allgemeiner Oberein-
stimmung die Entfernung des Appendix empfehlen, da man nie wissen
kann, wie schwer sich der nächste Anfall gestalten wird.
Eine Ausnahme davon kann man, wie oben erwähnt, nur bei den-
jenigen Patienten machen, welche durch ihren Wohnsitz jederzeit in
der Lage sind, bei den ersten Anzeichen des nächsten Anfalls sich
zur Frfihoperation einzufinden, und von denen man überzeugt sein
darf, daß sie dieses dann auch tatsächlich tun werden. Man kann auf
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452 Ad. Ebner, [84
diese Welse dem Einwand begegnen , daß die betreffenden Patienten
sonst vielleicht gar keinen Anfall mehr bekommen hätten, was ja schließ-
lich ausnahmsweise einmal zutreffen kann. Jedoch ist auch für diese
Fälle zu bedenken, daß der betreffende Patient selbst nach vielen Jahren
nicht vor einem neuen und schwereren Anfall sicher ist, da fraglos in
den meisten Fällen durch die vorausgegangenen pathologischen Ver-
änderungen am Appendix eine gewisse Prädisposition zum nächsten
Anfall bzw. zu einer neuen Erkrankung des Appendix zurückbleibt,
von der man nie voraussagen kann, unter welchen mehr oder minder
ungünstigen Verhältnissen der Patient von ihr betroffen werden kann.
Das beste Beispiel dafür, wie spät ein derartiger zweiter Anfall
eintreten kann, bietet Geheimrat Garre selbst dar, der mir g^enuber
sich häufig als Beispiel dafür anzuführen pfliegte, daß eine Appendi-
zitis auch bei konservativer Behandlung dauernd ausheilen könne, da
er als Knabe von 13 Jahren einen Anfall durchgemacht habe und
seitdem dauernd von Beschwerden verschont geblieben sei. Der
zweite Anfall trat dann in typischer Weise im Herbst 1007 auf und
erst die im Dezember 1907 erfolgte Sicherheitsoperation bietet nun-
mehr die sichere Gewähr einer dauernden Heilung. Es ist ja frag-
los, daß auch hier in dem zweiten Anfall gewissermaßen eine neue,
vom ersten Anfall unabhängige Erkrankung des Appendix nach so
langer anfallsfreier Zeit zu erblicken ist, es ist aber auch ebenso fhig-
los, daß durch eine gewisse Prädisposition auf der Grundlage der
Residuen des ersten Anfalls ein mittelbarer ätiologischer Zusammen-
hang mit demselben gegeben sein kann.
Im übrigen bietet die Sicherheitsoperation nach dem ersten Anfall
den weiteren Vorteil, daß sie technisch in der Regel äußerst einfacli
ist, da die Verwachsungen dann naturgemäß noch nicht so zahlreich
zu sein pflegen, wie nach mehreren Anfallen, und daß sie daher auch
dem Patienten die größte Sicherheit bietet für eine gefahrlose und
dauernde Wiederherstellung.
Trotz ihrer unbestreitbaren Vorzüge hat aber die Sicherheltsopc-
ration gegenüber der Frühoperation im ersten Anfall den Nachteil,
daß man mit gewissen Verwachsungen im Sicherheitsstadium als Re-
siduen der vorausgegangenen Entzündung fast immer zu rechnen hat
Diese pflegen ja in der Regel nicht derart zu sein, daß sie einen
wesentlichen Einfluß auf den Verlauf und die Technik der Operation
auszuüben vermöchten. Sie können aber auch vereinzelt nach
schweren Anfällen in solcher Anzahl, Ausbreitung und Stärke vor-
handen sein zwischen den um den Appendix herum gelegenen Därmen,
daß dadurch einerseits die Orientierung und das Aufsuchen des
Appendix innerhalb derselben ganz enorm erschwert wird und anderer-
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85] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 453
seits bei dem Versuch einer stumpfen Lösung derselben eher die
Darmwandung selbst nachgibt, als die breiten schwartigen und
schwieligen Verwachsungen zwischen den Därmen selbst. Man ist
dann wohl oder übel gezwungen, diese Verwachsungen mit dem Messer
zu durchtrennen und schwebt so bei der schwierigen Orientierung
ao sich in doppelter Gefahr, eine Verletzung des Darmes selbst her-
beizufuhren. Es können auf diese Welse in Ausnahmefällen Verhält-
nisse gegeben sein, welche den Eingriff technisch zu einer der schwie-
rigsten Operationen der gesamten Abdominalchirurgie gestalten können,
dessen Prognose dann natürlich auch eine entsprechend zweifelhafte ist.
Ich selbst erinnere mich an drei derartige Fälle, deren einer in
der Privatklinik von Professor Lexer und die beiden anderen in
meiner Privatklinik zur Operation gelangten. Alle drei Patienten
kamen nach verlängertem Krankenlager durch, jedoch stellte die
Operation in allen drei Fällen einen derartig schwierigen Eingriff dar,
daß sie zum mindesten den Namen einer Sicherheitsoperation kaum
rechtfertigen wflrde, wenn nicht eben derartige Fälle als Ausnahmen
zu bezeichnen wären, welche im übrigen nur die Regel bestätigen.
Diese Besorgnis vor stärkeren Verwachsungen hat nun zwei ver-
schiedene Richtungen bezüglich des Zeitpunktes für den Eingriff nach
schwereren Anfällen gezeitigt. Während nämlich die einen raten,
möglichst frühzeitig nach dem Abklingen der akuten Symptome ein-
zugreifen, da dann die Verwachsungen noch nicht so fest und relativ
leicht zu lösen sind, wollen die anderen möglichst bis zu einem Jahr
und darüber hinaus mit dem Eingriff warten, da dann erfahrungsge-
miß ein Teil der peritonealen Adhäsionen durch Resorption ge-
schwunden sein kann, oder sie ziehen, falls ein neuer Anfall da-
zwischen kommt, die absolute Prflhoperation im zweiten Anfall vor,
di nach ihrer Meinung infolge der entzündlichen Schwellung und
Durchtränkung der Gewebe während des akuten Stadiums sich die
Lösung der festen Adhäsionen weniger schwierig gestalten dürfte.
Welche von den beiden Anschauungen in diesen Fällen von „Ein-
mauerung des Appendix', wie v. Eiseisberg sie bezeichnet, vorzu-
ziehen ist, dürfte von den individuellen Erfahrungen des einzelnen ab-
liingig sein. Sicherer will mir persönlich die letztere mehr abwartende
Methode erscheinen, da man bei einem allzu frühzeitigen Vorgehen nach
dem Anftill doch zu sehr mit der Möglichkeit des Vorhandenseins voll-
virulenter Exsudatreste und entsprechend erhöhter Gefahr einer opera-
tiven Allgemeininfektion des Peritoneums zu rechnen haben dürfte.
In ganz besonders schweren Fällen dieser Art kann sich daher
bisweilen der Operateur intra operationem vor die Alternative gestellt
sehen, entweder^ wenn er den Appendix unter allen Umständen ent-
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454 Ad. Ebner, [86
fernen will, eine ausgedehnte Darmresektion in Gestalt der Entfernung
des untersten Ileum mit Cöcum und dem Beginn des Colon ascendens
zu machen, oder, falls er den Patienten nicht der Gefahr eines der-
artigen Eingriffs aussetzen will, die Bauchhöhle zunächst unverrichteter
Dinge zu schlieOen und bis zu dem nächsten Anfall abzuwarten. Eine
vermittelnde Stellung hierzu nimmt der Vorschlag v. Eiseisbergs ein,
in derartigen Fällen wenigstens durch die Anlegung einer Enteroana-
stomose zwischen Kolon und Ileum den Verwachsungsbezirk der Darm-
schlingen auszuschalten und so eine Entlastung desselben neben gleich-
zeitiger Vorbeugung eines späteren Verwachsungsileus herbeizuführen.
Wenn nun im übrigen auch die Möglichkeit derartiger Fälle von
schweren Verwachsungen fraglos als ein gewisser Nachteil für die
Sicherheitsoperation gegenüber der absoluten Frühoperation zu be-
zeichnen ist, so sind doch andererseits diese Fälle im Sicherheits-
stadium so auOerordentlich selten, daß sie einen Einfluß auf die günstige
Mortalitätsziifer der Sicherheitsoperation nicht auszuüben, daher auch
die Sicherheitsoperation als solche nicht zu diskreditieren vermögen.
Auf die technische Seite der an sich ja äußerst einfachen Sicher-
heitsoperation näher einzugehen, würde über den Rahmen unserer
Ausführungen hinausführen. Es genügt darauf hinzuweisen, daß heute
an Stelle des früher hauptsächlich bevorzugten pararektalen Schnittes
der sogenannte Zickzack- oder Wechselschnitt nach Riedel den Vor-
zug verdient, welcher lateral von der Rektusscheide angelegt unter
stumpfer Durchtrennung des Muse. obl. extemus, internus und trans-
versus in der Faserrichtung auf das Peritoneum vordringt und durch
eine möglichst ideale Restitutio ad integrum der Bauchdecken den
Vorteil einer absolut sicheren Ausschaltung der Möglichkeit späterer
Narbenhernien bietet. Bezüglich der Amputation des Appendix und
der Stumpfversorgung sei noch erwähnt, daß die Methoden dafür
heute so vielseitige sind, daß es nicht zu viel gesagt sein dürfte, wenn
man. behauptet, daß sich heute dazu fast jeder Chirurg seiner eigenen
Methode bedient. Der einzige Unterschied dieser Methoden besteht
meist nur in der technisch leichteren oder schwierigeren Ausführung
derselben, wobei für den einzelnen noch der Umstand in Frage kommt,
auf welche Methode er gewissermaßen besonders eingeschossen ist.
Bezüglich des Heilungsvorganges selbst läßt sich wohl keiner dieser
zahlreichen Methoden ein besonderer Vorzug und Nachteil nachsagen,
da sie in der Hand eines geübten Operateurs jederzeit gleich gute
Erfolge gezeitigt haben.
Hinsichtlich der medikamentösen Behandlung in denjenigen
Fällen, wo chirurgische Hilfe nicht zu erreichen ist, oder der Patient
— heute ein ziemlich seltener Fall — nicht zu der Erlaubnis eines
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87} Ober den beatigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 455
chirurgischen Eingriffis zu bewegen ist, kann nicht genug vor der
ganzlich mechanischen und kritiklosen Verabfolgung von Abführmitteln
gewarnt werden, wie sie noch heute vom Publikum und leider auch
gar nicht so selten von Ärzten In allen Fällen von Leibschmerzen,
verdorbenem Magen und sonstigen Verdauungsstörungen in Gestalt
von vorwiegend Rizinusöl und Kalomel verabfolgt zu werden pflegen,
vielfach sogar in den Fällen, welche vom Arzt bereits als Blinddarm-
entzündung richtig erkannt worden sind. Wohl kann ausnahmsweise
einmal in einem ganz leichten Falle mit chronischer Obstipation eine
derartige Medikation den Anfall kupieren, wie man die generelle
Anwendung dieses Mißbrauchs zu motivieren pflegt, in schwereren
Fallen kann sie dafär aber um so sicherer zur Beschleunigung der
drohenden Perforation und nachträglichen Verhinderung der schützen-
den Verklebungen in der Umgebung der Perforationsstelle neben
einem vermehrten Austritt von Darminhalt durch die Perforations-
stelle in die Bauchhöhle führen und so zur direkten Veranlassung der
nachfolgenden tödlichen Allgemeininfektion des Peritoneums werden.
Da man nun anerkanntermaßen keineswegs immer aus dem nach
außen projizierten Krankheitsbild auf die tatsächlichen pathologischen
Veränderungen am Wurmfortsatz selbst schließen kann, so ist meines
Erachtens jede Verabfolgung von Abführmitteln per os in derartigen
Fallen unter allen Umständen als ein Vabanquespiel mit dem Leben
des Patienten zu bezeichnen, dem eine wissenschaftliche Berechtigung
nicht zugestanden werden darf, solange nicht diagnostisch eine sichere
Obereinstimmung des äußeren und inneren Krankheitsbildes bei der
Periappendizitis herbeizuführen ist.
Derselben Indikation, den Darm zu endasten, können vorsichtige
Einlaufe mit reinem Öl, Wasser mit Öl und Glyzerin oder ähnlichen
Zusätzen in gleicher Weise gerecht werden, ohne gleichzeitig ein der-
artiges Risiko quoad vitam des Patienten nach sich zu ziehen.
In gleicher Weise ist auch vor der üblichen Verabfolgung von
Narkotizis, insbesondere des so beliebten Opiums zu warnen, welches
einerseits nur geeignet ist, durch Verdeckung der so überaus wichtigen
peritonealen Schmerzreaktion eine Verschlimmerung des Krankheits-
bildes in gefahrlicher Weise zu verschleiern und andererseits die an sich
so notwendige physiologische Darmtätigkeit in unnötiger Weise schwächt
und herabsetzt. In besonders schmerzhaften Pallien oder bei besonders
sensiblen Patienten können wohl ausnahmsweise kleine Morphium-
dosen zur Erleichterung des Patienten angewandt werden, bei denen
dann wenigstens die lokale Einwirkung auf den Darm in Fortfall kommt.
Im übrigen ist die beste Entlastung des Darmes in der Entziehung
bzw. Beschränkung der Nahrungsaufnahme auf das irgend zulässige
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456 Ad. Ebner, Ober d. heut. Stand d. Erkennung u. Behandlung d. Appendizitis [88
MindestmaO zu erblicken , so daO in der ersten Zeit am besten nur
dünner Tee, Schleimsuppe oder geeiste Milch c. stdl. teelöffielweise
und von manchen Autoren in den ersten Tagen überhaupt nichts ver-
abfolgt wird. Die Schwächung, welche die Patienten im allgemeinen
durch diese vorübergehende Nahrungsentziehung per os erleiden
können, steht in keinem Verhältnis zu dem Vorteil, welche diese ge-
wissermaßen rein physiologische Entlastung und Ruhigstellung des
Darmes von jeder Arbeit für den weiteren Entwicklungsverlauf der
Erkrankung selbst bietet, und kann außerdem durch kleine und häufige
Nähreinläufe von c. 2stdl. 200 g oder permanente. Kochsalzinfiision
per rectum bis zu einem gewissen Grade ausgeglichen werden.
Passen wir nun nach den obigen Ausführungen das Prinzip der
heutigen Anschauung über die Behandlung der Erkrankung des Wurm-
fortsatzes und ihrer Folgezustände kurz zusammen, so können wir
dieselbe in folgenden wenigen Sätzen präzisieren:
1. Das sicherste und gefahrloseste Mittel zur Beherrschung und
sofortigen Kupierung des Krankheitsprozesses und damit zur möglichst
schnellen und dauernden Wiederherstellung des Patienten ist die ab-
solute Frühoperation in allen Fällen, welche nicht innerhalb der ersten
24 Stunden einen entschiedenen Rückgang bzw. völliges Schwinden
sämtlicher Krankheitssymptome aufweisen.
2. Aber auch in den Fällen, welche für die Frühoperation zu spat
in die Hand des Arztes geraten, ist der sofortige Eingriff stets vor-
zuziehen, da die Gefahren auch des späteren Eingriffs in keinem Ver-
hältnis zu den Zufällen und Komplikationen des Krankheitsverlaufes
stehen, von denen der Patient bei der Oberführung in das Sicherheita-
stadium dauernd bedroht bleibt.
3. Bei abwartender Behandlung ist am besten eine rein physio-
logische Entlastung und Ruhigstellung des Darmes durch eine mög-
lichst weitgehende, wenn nicht vollständige Entziehung der Nahrungs-
aufnahme per OS in den ersten Tagen der Erkrankung anzustreben.
Der Ausfall an Nährstoffen kann durch entsprechend konzentrierte
und häufige, kleine Nährklistiere in gewissem Grade ersetzt werden.
4. Vor einer medikamentösen Entlastung des Darmes durch Abfuhr-
mittel per OS kann nicht dringend genug gewarnt werden, da durch
dieselben eine erhöhte Möglichkeit zur Beschleunigung der Perforation
und nachfolgenden Allgemeininfektion des Peritoneums gegeben wird.
5. Vor einer medikamentösen Ruhigstellung des Darmes durch
Opium und ähnliche Derivate muß gleichfalls gewarnt werden, da da-
durch gleichzeitig eine gefährliche Verschleierung des Krankheitsbildes
und eine Beeinträchtigung der physiologischen Gewebsvitalität und Be-
tätigung der Darmwand herbeigeführt wird. (Schluß folgt als Nr. 494/95.)
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492/93.
(Gynäkologie Nr. 179/80.)
Der praktische Arzt und die Händegefahr.
Von
Prof. Dr. F. Ahlfeld,
Marburg a. d. Lahn.
Mit acht Tafeln.
Kommt der angehende Arzt von der Universität, nach absolviertem
praktischem Jahre, aus den mit dem ganzen modernen Komfort aus-
gerüsteten Kliniken und Krankenhäusern in die Praxis, dann wird ihm
wohl bange, wie das in Zukunft werden soll. Naturgemäß muß er in
der Alltagspraxis vielerlei missen, wovon der gute Erfolg eines Ein-
griffs in der Klinik abzuhängen schien. — Nur darf er im Unterlassen
prophylaktischer Maßregeln nie unter das absolut Notwendige hinunter-
gehen.
Ganz besonders groß sind die Unterschiede der äußeren Bedingungen
in seiner geburtshilflichen Tätigkeit. Nicht zum geringsten beruhen
hier die Schwierigkeiten auf der in den meisten Kliniken und Lehr-
bfichem gepredigten Lehre vom Unvermögen, die Arzthand ungefährlich
zu machen, eine Lehre, auf der sich notgedrungen ein ganzes Gebäude
moderner Vorsichtsmaßregeln aufbauen muß, eine Lehre, die den ge-
wissenhaften Arzt zu öfteren Unterbrechungen seiner geburtshilflichen
Tätigkeit zwingt, wenn er nicht gar an der Möglichkeit, Geburtshilfe
neben seiner anderen Praxis treiben zu können, verzweifelt.
Meine Erfahrungen, die ich in dieser Abhandlung niedergelegt habe,
die sich gleichzeitig auf zahlreiche Experimente im Bezug auf Hände-
desinfektion stützen, sollten den Kollegen Mut machen, einer sorg-
samen Händedesinfektion zu vertrauen, wo andere Schutzmaßregeln
untunlich sind.
Es wurde meinen Auseinandersetzungen die Beweiskraft fehlen,
wollte ich einfach den jetzt gebräuchlichen Lehren andere entgegen-
setzen. Es war nötig, die Einwände der Gegner einzeln zu besprechen
und damit auch dem Leser zu ermöglichen, sich selbst ein Urteil zu
bilden, auf wessen Seite das Recht sei.
Klln. Vortrice, N. F. Nr. 402/93. (Gynikologie Nr. 179/80.) JuU 1906. 24
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314 F. Ahlfeld, [2
Nimmt der Leser zu dieser Arbeit noch die Nummer 310/11 der
Klinischen Vorträge hinzu, — Die Desinfelition der Hand des Chi-
rurgen und Geburtshelfers — dann kann er sich recht wohl über alle
Fragen, die in der Lehre von der Händedesinfektion und der geburts-
hilflichen Abstinenz haben besprochen werden müssen, Aufklärung ver-
schaffen, und ich hoffe gewiO, er wird sich meiner Überzeugung an-
schließen, daO bei gewissenhafter Händedesinfektion eine Schädigung
der dem Arzte anvertrauten Frauen nicht zu erwarten ist.
Ist es nicht verlorene Zeit und Mühe, immer und immer wieder
den Versuch zu machen, die fahrenden Persönlichkeiten, Chirurgen
und Gynäkologen, von der außerordentlichen Wirkung des Alkohols
als Händedesinfiziens zu überzeugen? Ist zurzeit Aussicht vorhanden,
eine Umstimmung der Meinungen herbeizuführen, wo die überwiegende
Mehrzahl der Fachkollegen sich auf eine bestimmte Ansicht, die Un-
zulänglichkeit der Heißwasser-Alkohol-Desinfektion, festgelegt hat? Ist
nicht gerade der jetzige Zeitpunkt besonders ungeeignet, wo im ver-
gangenen Jahre, auf dem Dresdener Gynäkologenkongreß, die beiden
Referenten über das Thema „Asepsis bei gynäkologischen Operationen^
Fritsch und Küstner, sich abweisend gegen meine Untersuchungen
und Resultate ausgesprochen haben, der erstere in einer ganz beson-
ders entschiedenen Form, und die Anwesenden sich mit diesen An-
schauungen einverstanden erklärt haben? ^)
Hätte ich nicht auf der anderen Seite die Beweise, daß trotz dieser
mächtigen Koalition, die, wie ich früher nachgewiesen habe, in der
Hauptsache einer Schule entspringt, der sich die anderen fügen, weil
die Mehrzahl der Urteilenden selbst keine eigenen Studien gemacht
hat, doch die Stimmen sich mehren, die dem Alkohol sein Recht zu-
gestehen, und hätte ich nicht selbst, bis in die neueste Zeit, weitere
Versuche angestellt, die in ihren Endresultaten mit meinen früheren
übereinstimmen und durch die ich, unter Benutzung überzeugender
neuer Methoden, die Gegengründe widerlegen zu können glaube, so
würde ich wenig Hoffnung haben, mit einem neuen Appell an die
Kollegen etwas auszurichten.
Aber ich will aus der Tätigkeit eines Lehrers für angehende Ärzte
nicht scheiden, ohne nochmals meine Überzeugung auszusprechen und
zu begründen, daß von allen Methoden, die Hand für chirurgische
1) Die Hinweise auf meine Publikationen über HSndedesinfektion gebe ich, um
Wiederholungen zu vermeiden, nur mit Zahlen. Die Zahl in Kursivziifern bezieht sich
auf das am Schlüsse angefügte Verzeichnis, die andere bedeutet die Seitenzahl
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3] Der praktische Arzt und die HIndegefahr. 315
und geburtshilfliche Eingriffe geeignet zu machen, bisher
die HeiOwasser-Alkohol-Desinfektion diesen Zweck am ein-
fachsten und besten erfüllt und daß, wenn auch der Gummi-
bandschuh für Anstaltsärzte und Spezialisten bis zu einem gewissen
Grade einen Ersatz für ungenügende Händedesinfektion bietet, er für
das Gros der Ärzte, für Hebammen und das niedere Heilpersonal
eine Errungenschaft minderen Wertes bleibt.
Ich beginne mit dem Referate über Versuche der Reinigung
der frisch infizierten Hand.
Im Sommersemester 1907 habe ich mich an die Beantwortung
einer Frage gemacht, die im Verhältnis zu ihrer eminenten Wichtig-
keit bisher nur sehr stiefmütterlich behandelt ist. Meine Versuche
sollten Aufschluß darüber geben, ob die mit virulenten Keimen
in Berührung gekommene Hand alsbald nach der Beschmut-
zung in einem Grade zu reinigen sei, daß eine weitere chi-
rurgische und geburtshilfliche Tätigkeit unbedenklich ge-
stattet werden könne.
Zurzeit lautet die Antwort nein. Der Arzt soll eine Handinfektion
zu umgehen versuchen; war sie aber dennoch erfolgt, so soll er eine
zeitliche Abstinenz von chirurgischer und geburtshilflicher Tätigkeit
einhalten, im Notfalle Gummihandschuhe gebrauchen. Eine, auch die
grfindlichste, Händedesinfektion genügt unter solchen Umständen
nicht; das ist die verbreitete Ansicht der Fachgenossen.
Auf die Frage, worauf sich diese Ansicht stützt, folgt unfehlbar
die Behauptung von der Unmöglichkeit einer absoluten Händekeim-
freimachung, und auf die Frage, welche Unterlagen für diese Behaup-
tung vorhanden sind, wird man von vunzähligen"^ Versuchen sprechen,
die alle zum gleichen Resultate geführt hätten.
Weshalb meine Resultate nicht die Berücksichtigung gefunden,
die sie verdienen, daran soll ich, wie mir Kollege Seh äff er sagt,
selbst die Schuld tragen: „Indem Sie den Unterschied zwischen einer
Sterilität in praktisch-chirurgischem Sinne und einer ,absoluten^ Steri-
lität nicht anerkennen, machen Sie es den Gegnern der Alkohol-
desinfektion leicht, Gegenbeweise zu erbringen und damit scheinbar
selbst die Methode zu diskreditieren.'' i)
Zu meiner Rechtfertigung und zur ferneren Berücksichtigung in
dieser Abhandlung folgendes:
Die Frage, ob eine Hand mittels der Heißwasser- Alkoholmethode
absolut keimfrei gemacht werden kann, muß in zwei Unterfragen
getrennt werden:
1) Aus einem Briefe.
24*
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316 F- Ahlfeld, [4
f 1. Dringt Meli einer Vorbereitung mit Heifiwasser und Seife der
[ Alkoliol so tief in die Haut ein, daß er die in den tieferen Sctiichten
befindliehen Keime erreicht, um sie abtöten zu können? und
l 2. werden bei einer gefibten und gewissenhaften Ausfuhrung der
f Methode iille Stellen der Hand vom Alkohol derart erreicht, daß der
^ Alkohol gegenüber den dort befindlichen Bakterien seine Schuldigkeit
tun kann?
' Da ich die erste Frage mit ja beantwortet habe und mit aller Ent-
schiedenheit der Annahme einer Scheindesinfektion entgegengetreten
bin — eine Überzeugung, die von den Gegnern nicht geteilt wird — ^
so habe ich nach dieser Seite hin von einer absoluten Wirkung
I gesprochen.
^ Die zweite Frage habe ich niemals mit ja beantwortet, da die Aus-
fährung der Desinfektion von der subjektiven Tätigkeit, auch von der
mehr oder weniger günstigen Beschaffenheit der Hände abhängt. Ich
kann daher nach dieser Seite hin niemals von einer Garantie für
Keimfreimachung reden. Die zu erreichen, liegt, günstige Bedingungen
vorausgesetzt, nur in der Macht des Ausführenden.
Daß, wenn alle nötigen Bedingungen zusammenkommen, die Hand
wirklich absolut steril werden kann, muß ich annehmen und nehme
ich an. Wie oft dies in Wirklichkeit eintriffst, das zu übersehen sind
wir außerstande. Können wir doch, wie Schaf fer ganz richtig be-
merkt, nicht einmal für die ohne Zweifel sterilisierbaren Gegenstände^
als Instrumente, Verbandmaterial, Gummihandschuhe usw., im Einzel-
falle sagen, sie seien tatsächlich steril. Und doch benutzen wir sie
vertrauensvoll unter Annahme des positiven Erfolges.
Wenn eine absolute Sterilität aber auch nur im Einzelfalle gelänge,
so hätte ich nicht zu viel gesagt, denn ich habe nur die Möglichkeit
einer solchen behauptet. Dabei wahre ich mich ausdrücklich, als ob
ich hiermit einen Rückzug eingeschlagen hätte, und füge deshalb hinzu:
Die Bedingungen, eine wirkliche Sterilität zu erreichen,
sind für viele Hände gegeben.
In einer früheren Arbeit^) habe ich, im bezug hierauf, mich so
ausgesprochen: „Mit der Behauptung, mittels der Heißwasser-Seifen-
{ Alkoholmethode läßt sich die Hand bis in die Tiefe der Haut steril
machen, deckt sich nun keineswegs eine Garantie für diesen Erfolg.
Der Prozentsatz der erreichten absoluten Sterilisierung der Hand
hängt von vielen Faktoren ab, immerhin aber von Faktoren, die bei
nicht zu schlechter Hautbeschaffenheit, bei gutem Willen des Handeln-
V den vorhanden sein können, Ausnahmen zugegeben.*"
\
^ 1) 26. 1838.
t
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5] Der praktische Arzt und die Händegefahr. 317
EiQ weiterer Grund, weshalb meine Methode sich niclit, wie qs
d^ Fall $^iq müßte, aUgemeine Geltung versclfafft hat, liegt in dem
Umstände, daQ zur Zeit, als sie sieh Terrain eroibern wollte, die Fabri-
kation von Gummibandschuheq gelange Wä^oQ diese nicht erfunden,
so wurde sich jetzt jeder gewissenhafte Operateur mittejls HeißwRSs^r«-
Seife-Alkohol desinfizieren. Vielleicht, daO er noch irgend etw^s
Oberfifissiges hinzufügte.
Der dritte Grund liegt in persdqlichen Verhältnissen, derep ich
in verschiedenen meiner Publikationen^) genügend Erwäbnuqg geti^n
habe. Ware die Empfehlung und das Eintreten für den Alkohol als
HandedesinBzlens von einer anderen Seite ausgegangen, dann wiirde
die Methode längst schon Gemeingut aller Chirurgen und Geburts-
helfer sein, und den Hebammen würde sie als einzige Desinfektion^-
fliethode verordnet werden.
Dies vorausgeschickt, gehe ich nun zu der Frage über, zu deren
Beantwortung ich die angegebenen Versuche gemacht l^abe, inwie-
weit die jetzige Anschauung von der Gefahr eineir Auto-
Infektion berechtigt ist und ob Abstinenz i^nd Gummihand-
schuh wirklich die einzig erlaubten Gegenmittel 8^4«
Von der Beantwortung dieser Fragen hängt meines Erachten^ 4i^
Existenz des praktischen Arztes ab. Fällt die Antwort dflbin aus, daß
eine frisch infizierte Hand in Bälde nicht gereinigt werden kann, so
muß der praktische Arzt, der sich vor derartigen Verunreinigungen
seiner Hand nicht schützen kann, chirurgische und g^burtahil^iche
Falle in der Hauptsache an Krankenhäuser verweisen.
Die Konsequenzen einer derartigen Beantwortung machen MQb
schon geltend. Unter dem Titel „Septicus^^ macht Foges in der
Gyaskologisohen Rundschau, 1007, Nr. 1 den Vorschlag, der Prlvfit-
arzt solle sich so verhalten, wie die Ärzte von gut geleiteten Anstaltf^n
es tun, die, um nicht mit septischem Material in Bertihrung zu kon^men,
die etwa erforderliche Behandlung eines verdächtigen Falles dem yor-
hmdenen aeptiachen Assistenten, dem Septicus, überlassen^ lim
diese Abstinenz auch in der AuOenpraxis sicher durchzuführen» sollen
io den grdOeren Städten wohlausgebildete Spezialisten vorhanden
sein, an die jeder infektiöse und infektionsverdächtige Fall i|bgetret«n
werden müßtet
G^en diesen Vorschlag lassen sich viele Einwand« bringnn* Vor
allem, daß er nur für große Städte in Frage kommen wfir^e, während
das Qpos der Ärzte sich selbst behelfen müßte« Weiter wäre es wohl
1) VerhandL der Deutsch. Gesellsch. für Gyn. 1001, IX, S. 237. — Deutsche
ned. Wocbenschr. 1004, Nr. 50, S. ISSQ. — Zentralbl. für Gyn. 1006, Nr, 3, a 76.
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318 F. Ahlfeld, [6
für das Publikum höchst fatal, wenn es von dem gewünschten Berater
und Helfer an den »Kindbettfieberarzt' gewiesen würde und damit
zugleich eine bedenkliche Prognose ausgesprochen wäre. Wer will
weiter, zumal im Beginn einer Erkrankung, sagen, ob ein Fall ein
septischer ist oder nicht? Sind wir doch gerade zurzeit in einer leb-
haften Diskussion, welche Fieberfalle man Kindbettfieber nennen soll,
welche nicht.
Und so könnte ich mit Gegengründen fortfahren. Ich glaube, der
Vorschlag hat keine Aussicht auf Verwirklichung, wenn auch ein
Düsseldorfer Kollege, Herr Dr. Wederhake, in einem Referate des
erwähnten Vorschlags uns mitteilt, daß Düsseldorf derartige Spezia-
listen schon aufweise, und sein Urteil dahin abgibt: „Man kann diesen
Vorschlag nur mit Freuden begrüßen und im Interesse der leidenden
Menschheit wünschen, daß von ihm recht ausgedehnt Gebrauch ge-
macht würde."
Geht man auf die Materie genauer ein, kritisiert man die einzelnen
Behauptungen, die als Grundlage von der Forderung der Non-Auto-
Infektion und Abstinenz dienen sollen, so kommt man auf so viele
unbewiesene Annahmen, daß man sich verwundern muß, wie eine so
ungenügend fundierte Lehre die Zustimmung unserer hervorragend-
sten Fachvertreter gewonnen hat.
Machen wir uns erst klar, was man unter Auto-Noninfektion und
unter Abstinenz versteht. Im Lehrbuche der operativen Gynäkologie
von Doederlein-Krönlg, 2. Auflage, finden wir, Seite 18, folgende
Definition: „Unter Noninfektion verstehen wir die möglichste Fem-
haltung oder Vermeidung des Kontakts unserer Hände mit infektiösem
Material, z. B. Eiter, Lochialsekret infizierter Wöchnerinnen usw/^
„Unter Abstinenz verstehen wir die zeitweise Suspension von asep-
tischen Operationen, wenn unsere Hände mit septischen oder sapri-
schen Stoffen in Berührung gekommen sind.^^
„Beide Maßnahmen, Noninfektion und Abstinenz, müssen beute
als gleichwertige Faktoren bei der Unsicherheit der chemischen Des-
infektion neben dieser für die Asepsis der Hände verlangt werden.^
Menge verschärft diese Anschauungen noch wesentlich. In v.
Winckels Handbuch der Geburtshilfe, 1. Band, 2. Hälfte, 1904, sagt
er, Seite 1106: „Durch die in der Berufstätigkeit sich immer wieder-
holenden Verunreinigungen mit Infektionsstoifen ist dafür gesorgt, daß
die Geburtshelferhand ihren drohenden Charakter so gut wie nie ver-
liert." „Der Arzt, besonders der allgemeine Praktiker, der sich prak-
tischer Arzt, Wundarzt oder Chirurg, und Geburtshelfer nennt, ist
vielleicht noch gefährlicher wie die Hebamme."
Geht schon aus diesen beiden Zitaten hervor, daß der praktische
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7] Der praktische Arzt und die Hlndegefahr. 319
Arzt, nach Menges Meinung, kaum in der Lage sein kann, jemals
eine ärztlich brauchbare Hand zu besitzen, so geht der folgende,
Seite 11Ö7 ausgesprochene Satz noch weit über diese Zitate hinaus:
Auch das Badewasser spielt als heterogene Infektionsquelle überhaupt
keine oder eine nur ganz untergeordnete Rolle, „vorausgesetzt, daß
das Bad für die Kreißende nicht von der gefährlichen Hand der
geburtsleitenden Person gerichtet wird^^ Also selbst die wohldesin-
fizierte Hand eines Arztes, einer Hebamme darf nicht in Berührung
mit dem für eine Gebärende zurechtgemachten Badewasser kommen,
weil die Gefahr besteht, die Hand könne Keime in das Badewasser über-
tragen, die dann auf dem Wege per vaginam Unheil anrichten könnten.
Da Frltsch, im Anschluß an Doederlein, Krönig und Menge,
sich in allerneuester Zeit als ein Hauptvertreter dieser Lehre bekennt
und in präziser Weise seinen Standpunkt gelegentlich eines Referats
fiber Asepsis bei gynäkologischen Operationen niedergelegt hat, so
halte ich mich im weiteren an diese neueste Publikation und setze
das kurze Referat^) verbotenus meinen Ausführungen voran:
„Abstinenz. Schwieriger liegt die Frage, wie wir die Hände
für die Wunde, die sie anlegen und berühren, ungefährlich machen
sollen. Dazu ist die erste, jetzt überall anerkannte Bedingung, daß
ein Operateur septische Kranke oder Leichenteile überhaupt
nicht anfaßt, daß er ferner unsaubere Sachen nie mit unbedeckten,
ungeschützten Händen resp. ohne Gummihandschuhe berührt. All-
gemein gilt diese Regel: Die Forderung der Noninfektion, wie es
Krönig nennt, und die Abstinenz, d. h. daß, wenn man zufallig oder
mit Bewufitsein septische Gegenstände doch berühren mußte, der
Operateur eine Zeidang, 3 oder 4 Tage, das Operieren unterläßt bzw.
daß ein Arzt, der dergleichen gefahrliche Sachen berührt, bei einer
Operation nicht assistiert, ja nicht einmal zuschaut. Selbstverständ-
lich werden dann Bäder und verschärfte Desinfektion gefordert.
Diese Forderung ist übrigens so alt als die Worte oder Begriffe:
bfektion und Desinfektion. Schon Semmel weis hat ja beides ver-
langt. Ein Operateur soll sich von infektiösen Menschen und Dingen
prinzipiell fernhalten. Kam doch schon vor Jahren ein Operateur in
Anklagezustand, weil er nach Spaltung eines Furunkels eine Laparo-
tomie gemacht hatte, obwohl er vor der Laparotomie sich sorgFältig
desinfizierte. Diese prinzipielle Noninfektion und Abstinenz gilt jetzt
überall als Grundsatz.^^
Soweit Fritsch. Setzen wir nun statt „Operateur'^ »Arzt, der zu
operieren gedenkt oder operieren muß^S übertragen wir, wie es ja
1) Verhandl. der Detttschen Gesellsch. für Gynäkologie 1007, XII, S. 472.
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320 ^ Ahlfeld, [8
auch Frltsch tut, die Frage aus der Klinik heraus auf die allgemeine
Praxis, so stehen wir zuerst vor der Frage: Welches sind ,,septisehe
Kranke^S ^^s sind ,,unsaubere Sachen^', was ,,septische Gegenstände^,
^»dergleichen gefiihrliche Sachen^S ^or deren Berührung sich der prak-
tische Arzt hüten soll?
Nun sind ja einige der gefährlichsten Krankheiten bekannt, deren
Giftstoffe, auf frische Wunden übertragen, mit einer gewissen Wahr-
scheinlichkeit wieder Blutvergiftung erzeugen. Aber können wir wiiiL-
lich diese Fälle in ihrem Beginn, vor der Berührung mit dem Kranken,
immer als solche zeitig genug erkennen, um Vorsichtsmaßregeln zu
treffen, um eine Behandlung abzulehnen? Genügt nicht schon der
Besuch in der Krankenstube, das Reichen der Hand, die der Kranken
den GruO bietet, Giftstoffe aufzunehmen? Soll man die Kranke, die
ihre Hoffnung auf den Arzt gesetzt hat, mit der Weisung wieder ver-
lassen, ein anderer Arzt, der Herr Septicus, solle die Behandlui^
übernehmen? Kann nicht die dadurch entstehende Verzögerung eines
Eingriffs, auch wohl die seelische Erregung, unheilvolle Folgen haben?
Und weiter, wenn nun der praktische Arzt sicher in letzter Zeit
es mit keinem der manifesten septischen, ich will sagen gefährlichen
Krankheitsfällen zu tun gehabt hat, kann er sich dann wirklich mit
ruhigem Gewissen darauf verlassen, daß er nidit doch irgend wo
und wie septische Stoffe berührt habe? Ist es nicht vielleicht rich-
tiger, jede Ärztehand zu jeder Zeit als eine solche anzusehen, die
ohne die sorgfältigste Händedesinfektion keinen chirurgischen, keinen
geburtshilflichen Eingriff wagen soll, bei dem eine Berührung mit
Wunden stattfindet?
Ich mag die Frage ansehen von welcher Seite ich will, es ergibt
sieh für den praktischen Arzt die Unmöglichkeit, operative (auch geburts-
hilfliche) Praxis zu treiben, wenn diese extremen Anschauungen, wie
sie im obigen Referate vertreten werden, sein Handeln bedingen müssen.
Ebensowenig komme ich mit Befriedigung über die Forderung der
Abstinenz hinweg.
Was ihre Dauer anbetrifft, so spricht Frltsch von 3 oder 4 Tagen.
Doederlein-Krönig stützen sich auf Zweifel und schreiben: »Van
Zweifel wird auf Grund klinischer Erfahrungen eine 3 Tage wahrende
Abstinenz verlangt und von einer großen Zahl Operateure gebilligt.*
Die deutsche Prüfungsordnung für das ärztliche Staatsexamen setzt
8 Tage fest. In der Hebammenpraxis werden 8 — 14 Tage Karenzzeit
angeordnet^)
1) Hauptversammlung des Preußischen Medizinalbamten-VereinSy Bericht vom
26. Sept. 1898, S. 25.
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H Der praktische Arzt und die Hlndegefahr. 321
Wie soll nun diese Zeit händereinigend wirken? Findet in diesem
Zeiträume eine Abscfauppung statt, die alle septischen Keime mit fort-
Biaoit? Oder soll die Zeit dazu dienen, durch häufige grfindliche
Reinigungen die »gefährlichen'' Keime zu beseitigen? Ließe sich dies
mit gutem Willen und Verständnis nicht in einer kürzeren Zeit aus-
fuhren?
»Wir gehend schreiben Doederlein-KrSnig, „hiervon der Vor-
aussetztmg aus, daß durch die stets vor sich gehende Abschuppung
der obersten Epidermisschichten die anhaftenden pathogenen Bakterien
mechanisch entfernt werden, oder daß sie durch die ihnen auf der
intakten Hautoberfläche aufgezwungene saprophytische Lebensweise
ihre Virulenz verlieren.*
AttsfOhrlicher geht Menge auf diesen Punkt ein. Seite 1296 im
zitierten Teile des v. Winckelschen Handbuchs setzt er auseinander,
auf welche Vorgänge der Haut die Reinigung zurückzufahren sei.
In keiner dieser Publikationen ist angegeben, auf welche Unter-
suchungen oder praktischen Erfahrungen sich diese Annahmen stützen.
Ob sie überhaupt richtig sind, ist wiederum eine der zu beantwor-
tenden Fr^en.
Kann — eine andere Frage — der Arzt in der Abstinenzzeit nicht
unbewußt von anderer Seite wieder eine Körperinfektion erfahren?
Sclmrierigkeiten fiber Schwierigkeiten, Fragen über Fragen, an deren
Beaatwortung man doch hätte eher gehen müssen, ehe man solche
rigorose Forderungen an den Arzt stellt.
Dieser Vorhalt scheint mir um so berechtigter, da ja F ritsch
selbst die Möglichkeit zugibt, durch eine besonders sorgfältige Hände-
desmfektioo wäre der praktische Arzt Imstande, sich derart zu rei-
nigen, daß er Optative Eingriffe aseptisch und mit gutem Erfolge
nsKhren könne. Im Fortlauf seines Referats heißt es: „Ich möchte
kier aber doch einschieben, daß ich auch nach zufälliger Verun-
reinigung der Hände eine erfolgreiche Desinfektion für möglich halte.
Habe ich doch Jahrzehnte hindurch mit unbedeckten Händen allerhand
septische Operationen gemacht und unmittelbar danach, allerdings
otch soif ßltigster, wenn ich so sagen darf, doppelter und dreifacher
Desinfektion, nach Oberdesinfektion, wieder aseptische Operationen
mit gutem Erfolge ausgeführt. Ich würde es nicht wieder tun, weil
ich es für prinzipiell unrichtig halte, ich habe es auch seit Jahren
eicht wieder getan; aber für möglich halte ich es auch heute nodi,
eine septisch verunreinigte Hand schnell wieder in dem Grade heim-
ürei zu machen, daß sie ungestraft eine aseptische Operation ausfahren
kann. Das muß man zur Beruhigung der Ärzte sagen, die doch oft
nicht anders handeln können."*
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322 F. Ahlfeld, [10
Mit der »Beruhigung' kann sich aber der praktische Arzt nicht
zufrieden geben. Er muß Sicherheit haben* Er muß auch Gewißheit
haben, daß, wenn er sich mittels einer bewährten Methode unter ge-
nauer Berücksichtigung aller zum Erfolg nötigen Punkte desinfiziert
hat, ihm eine Anklage keine Verurteilung bringen kann.
Auch Menge gibt bis zu einem gewissen Grade die Möglichkeit
zu, eine frisch infizierte Hand sofort zu reinigen: »Nachgewiesener-
maßen lassen sich die infektiösen Massen am leichtesten und voll-
kommensten von der Haut mechanisch wieder entfernen, wenn sie
noch nicht eingetrocknet waren/^
Gleich im nächsten Satze schränkt Menge aber den Ausdruck
»vollkommensten* erheblich ein: „Niemals wird aber die mit frisch-
infektiösem Materiale in Berührung gewesene Handhaut durch die
sofort angeschlossene mechanische und chemische Desinfektion ihres
gefährlichen Charakters absolut sicher entkleidet. Sie bleibt auch
nach diesen Reinigungsprozeduren verdächtig und stellt, besonders
wenn sie mit streptokokkenhaltigem Materiale in Kontakt getreten war,
den Geburtsleiter vor die Frage von der sogenannten Abstinenz.'
Versuche über Frischdesinfektion. Die obengestellte Frage
habe ich auf folgende Weise zu beantworten versucht:
Meine eigenen Finger, die meist 48 Stunden mit keinem Desin-
fiziens in Berührung gekommen waren, habe ich, wie es die Praxis
ergibt, mit den verschiedensten Stoffen beschmutzt, die man allgemein
als »infektiöse Stoffe' bezeichnet. Ich habe Mastitiseiter, Karzinom-
jauche, Eiter parametraner Abszesse, Zystitiseiter^ Lochien von puer-
peralkranken Frauen, Darmkot, Lochien nicht fiebernder Personen usw.
an die Hand gebracht und mich nach Beendigung der ärztlichen Mani-
pulation zunächst mit warmem Wasser, Seife und Bürste gereinigt,
wie man es in der Praxis ausführen kann. Dieser Reinigung habe
ich eine Alkoholwaschung mit Bürste oder Flanell folgen lassen und
dann wiederum die Oberfiäche der Hand auf Bakteriengehalt unter-
sucht.
Vorversuche bezogen sich auf die Beschaffenheit der Tages-
hand, d. h. der Hand, die absichtlich die Berührung ^infektiöser'
Stoffe vermieden hatte.
Zu diesen Versuchen benutzte ich Petrischalen, da es darauf an-
kam, die Zahl und Art der Kolonien zu bestimmen. In dieser ersten
Serie begnügte ich mich damit, die Fingerkuppen auf der Volar- und
auf der Nagelseite strichweise über den Agar weggleiten zu lassen.
Schon seit Jahren benutze ich diese Methode, um im Beginne des
Hebammenunterrichts den Schülerinnen zu zeigen, welch große Zahl
von Keimen sie an ihrer Tageshand haben, selbst wenn sie nicht mit
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11] Der praktische Arzt und die Händegefahr. 323^
Kranken und Wöchnerinnen zu tun hatten. Die so gewonnenen Bilder
sind derart überzeugend, daO sie weit besser wirken als lange Reden
und Auseinandersetzungen.
Für meine jetzigen Versuche war es aber nötig Festzustellen, daß
auch die gepflegte Arzthand, in diesem Falle die meinige, auch wenn
sie nicht in direkte Berührung mit »gefährlichen Fällen'' gekommen
war, stets durch einfaches Bestreichen der Agarplatte eine reiche Aus-
saat bewirkt.
Freilich auch in dieser Beziehung muO mit einiger Vorsicht das
Resultat beurteilt werden, denn tatsächlich sind nicht alle Kolonien,
die auf der Platte wachsen, Handkeime.
Obwohl ich die verwendeten Petrischalen mit einem kräftigen
Gummiring derart versah, daO die überstehende Platte fest an die
überragte angedrückt wurde, obwohl das Öffnen beim Bestreichen des
Agar mit dem Finger nur wenige Sekunden Zeit brauchte, kamen doch
io einem nicht geringen Prozentsatz Luftverunreinigungen vor. Vor
einer Täuschung schützte ich mich, wenigstens in etwas, daO ich die
Aussaat mit dem Finger in ganz bestimmten Figuren machte, die ich
mir dann im Protokoll einzeichnete. Wenn Keime weitab von diesen
Berührungsstellen sich entwickelten, so war ich berechtigt, sie als
nicht vom Finger stammend anzusehen.
Auch Sarwey^) hatte bei seinen Experimenten, obwohl er sich
größere Mühe gegeben hat, das Einfallen von Luftkeimen zu verhüten,
durchschnittlich auf vier bis fünf sterile Platten eine mit je ein bis
zwei aufgefallenen Luftkeimen.
Als Endresultat dieser Vorversuche ergibt sich, was zu erwarten
war: Die Tageshand, wenn sie nicht vorher mit einem Des-
infiziens in Berührung gekommen, bewirkte auf unseren
Agarplatten durch einfaches Bestreichen ausnahmslos eine
reiche Aussaat von Keimen.
Ich kann daher in den weiteren Experimenten mit gutem Recht
eine auffallende Abnahme der Keime als Folge einer ReinigungsmaO-
regel ansehen.
Um dem Leser ein Urteil zu ermöglichen, in welchem Grade die
Oberfläche der Hand ihren Keimgehalt ändert, wenn diese oder
jene Behandlung vorausgegangen ist, benutzte ich die Photographie,
weil damit, was Zahl und Verteilung, bis zu einem gewissen Grade
auch die Art der Kolonien anbetriffst, jede subjektive Deutung wegfällt.
Ich beginne mit der Darstellung der Bilder der Aussaat von der
1) Bakteriologische Untersttchungen fiber Händedesinfektion. Berlin 1005^
S. 25 u. f.
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324 F. Ahlfeld, [12
Tageshand von Frauen, die nichts mit Kranken zu tun hatten. Dazu
wählte ich die Hände von Schülerinoea, die frisch eingeireten waren
und die ersten 8 Tage des Kursus sich — ohne Destnfiziens — reinigen
gelernt hatten. Ich ließ auf die Agarplatte eine 3 schreiben.
Das Resultat zeigen die Abbildungen 1 und 2.^) Jedes Semescw,
wo ich dieses Experiment als Unterrichtsmittel benutzte, ergab sich
der gleiche Erfolg. Ich mache auf die abseits der Zahl befindlichen
Luftkeime aufmerksam.
Auch mit meiner Hand, die am Morgen mit Seife und Wasser ge-
waschen, mit keinem Desinfiziens in Berührung gekommen war, auch
keine Stoffe angefaßt hatte, die als septische oder py(^ene aufzufassen
waren, machte ich das gleiche Experiment und erzielte ähnliche Re-
sultate, wenn auch die Kolonien nicht in der Massenhaftlgkeit sich
zeigten wie auf den Platten der Schülerinnen. Siehe Fig. 3.
Nach diesen Vorversuchen nahm ich nun die Experimente mit
künstlicher Beschmutzung und gleich darauffolgender Reini-
gung vor. Was Plan und Ausführung anbelangt, muß ich die verschie-
denen Serien zunächst zusammen besprechen, um dann an Ort und
Stelle auf die Abweichungen einzugehen. Hingegen mochte ich nicht
unerwähnt lassen, daß, nachdem ich mehrere Wochen lang in kein
Krankenhaus gekommen war, mit Bewußtsein auch keine septischen
Stoffe berührt, mich in dieser Zeit auch nicht desinfiziert hatte, die
Abschabsei meiner Handoberfiäche in die Bauchhöhle mehrerer Miuse
und eines iVIeerschweinchens eingespritzt, keinerlei Entzflndungser-
scheinungen septischer Art hervorgerufen haben. Die Tiere blieben
vollständig munter.
Die Verhältnisse der Praxis nachahmend, nahm ich» nur mit der
Abweichung, keine Desinfektion der Hand vorauszuschicken, eine
Untersuchung von Frauen vor, die an den verschiedensten Erkran-
kungen litten und einen Ausfluß hatten, dessen Bestandteile man all-
gemein unt^ die „gefährlichen* Stoffb rechnet.
In der ersten Serie meiner Versuche strieh ich die so be-
schmutzten Finger alsbald' nach Beendigung der ärztlichen Vornahme
über eine Agarplatte ab, indem ich mit der Volarfläche und dann mit
der Nagelseite Figuren, als Striche, Bogen, Kreise, Zahlen auf die
Platte zeichnete.
Nun wusch ich die beschmutzte Hand zunächst mit warmem Wasser
(Wasserleitungswasser) in den Waschbecken meines Untersuchungs«
Zimmers und mit gewöhnlicher Toilettenseife und fügte dann die
1) Sämtliche Platten sind, wenn nicht speziell anders angegeben, 48 Stunden
nach der Beschickung photographiert worden.
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13] Der praktische Arzt und die Händegefahr. 325
Abbfirsmiig mit einer gewöhnlichen WurzelbGrste hinzU) die bis kurze
Zeit vorher in Alkohol gelegen hatte, aber etwa 5 Minuten lang in
strömendem warmem Wasser vom Alkohol befreit war. Beide Proze-
duren zusammen dauerten 3—4 Minuten. SchlieOlich wurde die Haut
im strömenden warmen Wasser von der Seife befreit und mit einem
reingewasc^enen, bis dahin nicht gebrauchten Handtuche die Hand^
speziell die Finger, abgetrocknet.
Jetzt erfolgte die zweite Aussaat, indem ich in gleicherweise,,
wie vorher mit den beschmutzten Fingern, nun mit den gereinigten
dieselben Figuren auf eine Agarplatte zeichnete.
Der Reinigung mit Wasser, Seife und Bärste folgte eine Alkohol-
desinfektion nach meiner Methode mit Bürste und Flanell und dann
eine Entlaugung der Hand in strömendem warmem Wasser, um den
Alkohol soviel als möglich zu beseitigen. Die feuchte Hand wurde
danach mit sterilem Mull gehörig getrocknet und eine dritte Aus-
saat vorgenommen, wiederum die gleichen Zeichen, die ich bei der
ersten und zweiten benutzt hatte.
Von den zahlreichen Versuchen gebe ich die Bilder einiger Plattea
und fuge das Gesamtresultat dieser Serie am Schlüsse an.
1. Untersuchung einer Frau mit jauchendem Portio -Karzinom.
Auf der Platte drei nahezu parallel laufende Striche. 48 Stundea
im Brutofen.
a) Testplatte: Zahllose Kolonien längs der drei Striche, mit
Bakterienarten, die nach okularer Besichtigung hauptsächlich
den Streptokokken und den Staphylokokken (aureus und albus)
angehören. Fig. 4.
b) Platte nach der Wasser und Seifenwaschung: Zwei Kolonien,,
keine Streptokokken. Fig. 5.
c) Platte nach der Alkoholdesinfektion: Eine Kolonie.
2. Untersuchung einer Frau, bei der ein jauchender Beckenabszeß
sich in die Scheide öffnet.
a) Testplatte: Drei Striche von drei zur Untersuchung benutzten
Fingern. Zahllose Kolonien. Fig. 6.
b) Platte nach der Wasser- und Seifenwaschung: Vier Kolonien.
Fig. 7.
c) Platte nach der Alkoholdesinfektion: Drei nebeneinander*
liegende Kolonien.
3. Öffnung einer vereiternden Brustdrüse. Der ausfließende Eiter
ergiefit sich über die Finger. I
a) Testplatte: Drei Finger, mit Eiter beschmutzt, sind über die i
Platte weggestrichen. Zahllose Kolonien. Fig. 8.
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328 F. Ahlfeld, [14
b) Platte nach der Wasser- und Seifenwaschung: Drei am Rande
gelegene Kolonien. Fig. 0.
c) Platte nach der Alkoholdesinfektion: Zwei Kolonien.
4. Untersuchung einer Wöchnerin mit übelriechendem Ausfluß.
a) Testplatte: Drei Fingerstriche. Zahllose Kolonien. Fig. 10.
b) Platte nach der Wasser- und Seifenwaschung: Drei Kolonien.
Fig. 11.
c) Platte nach der Alkoholdesinfektion: Eine eng zusammen-
liegende Gruppe aus mehreren Keimen entwickelt,
5. Untersuchung einer Wöchnerin mit Endometritis puerperalis»
hoch fiebernd.
a) Testplatte: Zwei Fingerstriche. Zahllose Kolonien. Fig. 12.
b) Platte nach der Wasser- und Seifen Waschung: Sehr viele
Kolonien.
c) Platte nach der Alkoholdesinfektion: Eine Kolonie ganz am
Rande. Fig. 13.
6. Untersuchung einer Frau mit jauchendem Beckenexsudat.
a) Testplatte: Zwei Fingerstriche mit zahllosen Kolonien. Ab-
seits zwei Luftkeime. Fig. 14.
b) Platte nach Wasser- und Seifenwaschung: Zwei Kolonien;
die eine aus einer Gruppe bestehend. Fig. 15.
c) Platte nach der Alkoholdesinfektion: Steril.
Selbstverständlich habe ich den Einwand zu erwarten, die Ab-
impfungsmethode sei eine viel zu zarte, nicht ausreichende. Der Ein-
wand ist voll berechtigt. Es sollen diese Versuche auch nur zunächst
beweisen, wie eine sofortige Reinigung der Hand, allein schon
mit Wasser, Seife, Bürste und Handtuch, die Zahl der frisch
aufgenommenen infektiösen Keime in staunenswerter Weise
sichtlich vermindern kann.
In einer zweiten Serie der Versuche veränderte ich deshalb die
Abimpfungsmethode, indem ich als zweiten Akt nicht das einfache
Bestreichen der Platte mit dem gereinigten Finger vornahm, sondern
ich faßte kleine sterile Mulläppchen mit einer sterilen Pinzette, rieb
die Finger, besonders die Nagelgegend kräftig ab, breitete das Mull-
läppchen auf der Agarplatte aus und drückte es mit steriler Pinzette
sanft dem Agar so auf, daß es ihm überall anlag.
Und, um das weiter anzuschließen, nahm ich in einer dritten
Serie der Versuche die Abimpfung der Hand, des Nagelsaums und
des Nagelfalzes mit sterilen Hölzchen vor, die mit steriler Schere
abgeschnitten auf die Agarplatte fallen gelassen wurden; auch drückte
ich sie mit zartem Druck gegen die Nährmasse.
Ich kann mich, was das Ergebnis dieser beiden Serien anbetrifft,
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15] Der praktische Arzt und die Händegefahr. 327
kurz fossen. Es unterschied sich nur sehr wenig von dem der ersten
Serie: Der Erfolg der einfachen \E^aschung mit heißem Wasser,
Seife und BGrste war ein eminenter. Die frisch der Hand auf-
gefugten Keime wurden auf diese Weise fast ganz oder ganz beseitigt.
Die bisherigen Versuche bezogen sich aber immer nur auf die
Quantität der nicht beseitigten Keime und ließen außerdem noch die
Möglichkeit zu, daß ein Teil dieser Keime nicht der Hand angehorte,
sondern als zufallige Verunreinigungen aufzufassen wan
Ich benutzte daher zu den weiteren Versuchen Bakterienarten^ die
man infolge ihrer subjektiven Färbung aus dem übrigen Bakterien-
gemisch herauskennen kann und die nur selten als Luftkeime vor-
kommen, das Bacterium coli und den Prodigiosus.
Von jeder dieser Serien sei ein Versuch als Paradigma beschrieben:
Beschmutzung zweier Finger und des Handrückens mit frischem
Dafmkot. — Abstreichen des Schmutzes auf eine Drigalski-Platte in
Form zweier Bogen mit der Volarfläche der beiden Finger, in Form
eines Striches mit der Ruckenfläche, Nagelgegend (I).
Waschen der Hand mit warmem Wasser und gewöhnlicher Seife,
um den gröbsten Schmutz zu entfernen. Danach Waschen mit Bflrste
und Seife zusammen, ungefähr 4 Minuten lang. Abtrocknen mit
reinem Handtuche. Nun die gleichen Figuren auf eine zweite Dri-
galski-Platte (II)*
Bfirsten der Hand mit Alkohol, 5 Minuten. Entfernen des Alkohols
durch Auslaugen in heißem Wasser, 5 Minuten. Abreiben der vorher
beschmutzten Finger mit einem kleinen sterilen Mulläppchen, das mit
steriler Pinzette gefaßt wurde. Ausbreiten und Gegendrücken dieses
Lappchens auf eine dritte Drigalski-Platte (III).
Als Kontrollversuch wurde ein steriles Mulläppchen ohne jede
sonstige Behandlung auf eine vierte Drigalski-Platte gelegt (IV).
Aller 24 Stunden Besichtigung der Platten und Eintragung in das
Protokoll:
In Platte I entwickelten sich schon nach 24 Stunden zahllose Keime
an der Stelle der Zeichnung, auch zeichneten sich die geimpften Par-
tien schon nach 24 Stunden durch eine deutiiche Rotfärbung aus, die
Wirkung des Bacterium coli, die am nächsten Tage noch intensiver
wurden.
Platte II blieb bis zum zweiten Tage vollständig keimfrei, auch
zeigte sich nirgends eine Rötung. Am 3. Tage waren zwei Kolo-
nien zu bemerken, die sich, nach Bestimmung im hygienischen Institut,
als Streptokokken erwiesen. Rötung trat nie ein.
Platte III blieb zunächst keimfrei. Am 3. Tage waren am Rande,
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328 F- Ahlfeld, [16
außerhalb des Zeichnuagsgebiets zwei Luftkeime au^egangen. Rötung
trat nicht ein.
Platte IV blieb keimfrei , zeigte niemals Rötung. In anderen Ver-
suchen blieben die Platten von Nebeninfektionen ganz frei und von
einem solchen Versuche gebe ich die Abbildung der Photographie.
Die Zeichnung geschah in Form eines Ringes. Natürlich fiel die
Photographie der Färbung der Platten halber nicht so deutlich aus»
wie die übrigen. Fig. 16.
Für die Versuche mit dem Prodigiosus ließ ich mir frische Kul-
turen aus dem hygienischen Institute geben, die, wie ich mich längere
Zeit hindurch überzeugte, sehr prompt sich weiter entwickelten. Ich
machte mir eine Aufschwemmung, die leicht rosa gefärbt war, tauchte
meine Hand in dieselbe ein und ließ die Masse zunächst antrocknen.
Wie sonst bei den beschriebenen Versuchen zeichnete ich nun mit
der Volar- und der Nagelseite Figuren auf eine Agarplatte (I), wusch
dann die Hand mit Wasser und Seife und bürstete sie ca. 4 — 5 Minu-
ten, wie immer die Nagelgegend ganz besonders berücksichtigend, und
zeichnete die gleichen Figuren auf eine Platte (II). Darauf kratzte ich
mit sterilen spitzen Hölzchen Nagelgegend, Nagelbett und Unter-
nagelraum aus und ließ die abgeschnittenen Spitzen in eine dritte
Schale gleiten, wo ich sie mit steriler Pinzette in den Agar etwas
eindrückte.
Die Platten blieben in Zimmerwärme stehen und auf Platte I ent-
wickelten sich regelmäßig zahllose Kolonien des intensiv roten Pilzes
in Form der gezeichneten Figuren.
Platte II blieb in einigen Versuchen ganz frei von Prodigiosus, in
anderen entwickelten sich einige wenige Kolonien.
Auf Platte III zeigten die Hölzchen, die ich zum Abkratzen der
Haut benutzt hatte, meist keine Kulturen, hingegen die, mit denen der
Unternagelraum und das Nagelbett ausgekratzt waren, zeigten, meist erst
nach mehreren Tagen, an der Spitze des Hölzchens eine sich nach
und nach ausbreitende Kultur.
Auch der Frage bin ich näher getreten, ob eine Hand, an der man
die Schmutzteile eine Stunde und darüber hat antrocknen lassen, mittels
heißem Wasser, Seife und Bürste in gleicher Weise oder wenigstens
annähernd so wie sofort nach der Beschmutzung sich reinigen läßt.
Zu dem Zwecke benutzte ich besonders Kotbeschmutzung und den
Prodigiosus. Nachdem ich die Hand mit besagten Stofi^en verunreinigt
hatte, zog ich einen sterilen Gummihandschuh an und behielt ihn 1 bis
IV2 Stunde an der Hand. Danach folgten dieselben Reinigungsproze-
duren, wie ich sie beschrieben habe.
Das Resultat unterschied sich kaum von dem der übrigen. Auch
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17] Der praktische Arzt und die Händegefahr. 329
nach dieser Zeit vermochte die intensive Waschung die Bakterien in
tuffiilliger Weise zu beseitigen.
Fasse ich nun die Endergebnisse der verschiedenartigen Versuche
zusammen, so darf ich mit Sicherheit behaupten:
Bakterien, die erst kurze Zeit vorher auf die Oberfläche
derHand gekommen sind, ohne daß man sie intensiv einrieb,
lassen sich durch eine gewissenhafte Reinigung mit warmem
Wasser, Seife und Bürste und Abtrocknen mit einem sauberen
Handtuche so weit entfernen, daß sie entweder nur in ein-
zelnen Exemplaren nachgewiesen werden konnten oder gänz-
lich beseitigt wurden.
Beim intensiven Einreiben, ebenso beim Einreiben auf eine schon
verletzte Hand, kann das Resultat negativ ausfallen, die Hand, wenn
es sich um pathogene Mikroorganismen handelt, geschädigt werden,
wie dies u. a. Lauenstein i), Engels^) und Opitz ^) begegnete. Wäh-
rend Lauenstein und Engels ein solches Vorkommnis als nicht
beweiskräftig gegen die Wirksamkeit der Desinfektionsmethode aus-
scheiden, benutzt es Opitz im entgegengesetzten Sinne.
Fügt man der eben beschriebenen gewissenhaften mecha-
nischen Reinigung noch eine genügende Abreibung mit Alko-
hol hinzu, so erreicht man bestimmt Keimfreiheit der Ober-
flache, in der Mehrzahl der Fälle auch eine solche der tieferen
Partien.
Die Bestätigung dieses letzteren Satzes konnte ich nach einer puer-
peralen Streptokokken-Autoinfektion an meiner und meines Assistenten
Hand durch bakterielle Untersuchung erbringen und zwar nicht nur
sofort nach der Reinigung, sondern auch nach einer halben Stunde
nach der Beschmutzung. ^)
AufFallenderweise ist die uns bisher interessierende Frage, inwie-
weit infizierte Hände durch sofortige gründliche Waschung
vom Infektionsstoff befreit werden können, nur sehr vereinzelt
experimentell behandelt worden. In verschiedenen Arbeiten wird von
der Möglichkeit einer sofortigen Beseitigung frisch aufgebrachter Stoffe
als von einer Tatsache gesprochen, aber nicht angegeben, auf welchen
Versuchen diese Tatsache beruht.
1) Munchener med. Wochenschrift 1902, Nr. 30, S. 1251.
2) Klinisches Jahrbuch 1905, 13. Bd., S. 610.
3) Berliner Klin. Wochenschr. 1898, Nr. 39 und Deutsche med. Wochenschrift
1Ö08, Nr. 51, S. 2064,
4) 20. 367.
Klin. Vortrage, N. F. Nr. 482/93. (Gynäkologie Nr. 179/80.) Juli 1906. 25
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330 F. Ahlfeld, [18
In der vorzüglichen Dissertation von Henke^) sind einige hierher-
gehörige Experimente berichtet. Henke wollte feststellen, ob die frisch
infizierte Hand schwerer keimfrei zu machen sei, wie man damals
annahm, als die Tageshand. Er fand das Gegenteil, also eine Be-
stätigung dessen, was auch meine Versuche ergeben haben.
Zu dem gleichen Resultate gelangte Seitz^), der seine Versuche
unter v. Esmarchs Leitung im Göttinger hygienischen Instinite
machte. Seine Ergebnisse decken sich mit den meinigen vollständig.
Selbst nach einer weit kürzeren Waschung (Seife, Wasser, steriles
Handtuch, eine Minute) gelang ihm bei 12 Versuchen die gänzliche
Entfernung der Kolibazillen, die vorher als Bestandteile frischer Fäzes
auf die Hand gebracht waren. Weniger günstig, wie auch in meinen
Versuchen, fielen die Versuche mit Prodigiosus aus.
Auch Gottstein^) benutzte den Prodigiosus. Es gelang ihm in
der Hälfte der Fälle den Prodigiosus schon mit heiOem Wasser, Seife *
und Bürste zu beseitigen, während die normalen Hautepiphyten auf
diese Weise in keinem Falle beseitigt werden konnten. Haegler^)
konnte mit Tusche oder KienruO beschmutzte Hände durch sorgfältige
Waschung wieder gänzlich reinigen. Waren aber die Hände rauh
geworden, gelang das Experiment nicht mehr.
Ziehen wir nun die praktischen Konsequenzen aus diesen gesammel-
ten experimentellen Ergebnissen, so diktieren sie dem Anstaltsleiter
wie dem praktischen Arzte und der Hebamme, in allen Fällen, wo
die Hand oder ein anderer Körperteil mit offenbar oder
zweifelhaft infektiösen Stoffen in Berührung gekommen ist,
sich nicht mit einer gewöhnlichen Waschung der beschmutz-
ten Teile zu begnügen, sondern sofort eine genaue, bestimmt
alle Teile der Hand — ev. anderer Körperteile — treffende
Reinigung mit warmem Wasser, Seife und Bürste vorzuneh-
men. Ist es möglich, auch an Ort und Stelle gleich eine
typische Alkoholdesinfektion auszuführen, dann bringt der
Arzt seine Hand wieder in den Zustand, wie er vor der In-
fektion war.
Wenn Klemm^) schreibt: „Natürlich werden wir ja stets nach opera-
tiven Eingriffen, nach Verbandwechseln, Untersuchungen an Kranken
1) über die Desinfektion infizierter Hände und die Notwendigkeit der geburts-
hilflichen Abstinenz. Inaug. Diss. Tübingen 18d3.
2) Ober Händeinfektion und -desinfektion. Zentralbl. für Bakteriologie usw.
1904, Bd. 37, S. 726.
3) Beiträge zur Klin. Chirurgie, Bd. 25, S. 67.
4) Händereinigung, Händedesinfektion und Händeschutz. Basel 1000. S. 191.
5) Deutsche Zeitschrift für Chirurgie Bd. 75, S. 541.
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19] Der praktische Arzt und die Händegefahr. 331
USW. die Hände genau so reinigen müssen, als ob wir eine aseptische
Operation ausführen wollen", so folgen dieser »natürlichen* Verpflich-
tung nur wenige, nicht einmal sämtliche Anstaltsleiter. Schindler^)
halt sogar diese Waschung für nutzlos. Auf die Frage: Kann die
Hebamme sich gegen die venerische Ansteckung im Beruf schützen?
antwortet Schindler: „KaumI Desinfizierende Waschungen nutzen
weder vorher noch nachher, sonst würden sich eben nicht fortgesetzt
Hebammen anstecken."" Daß sie vorher nichts nützen, ist selbstver-
ständlich. Wenn sie aber, nachher angewendet, nichts genützt haben,
dann sind sie entweder ungenügend gemacht, oder es hat eine Impfung
unter die Haut stattgefunden.
Hat ein Arzt gewissenhaft in der beschriebenen Weise gehandelt,
und ist er genötigt, kurze Zeit darauf einen Geburtsfall zu übernehmen
.oder eine Operation auszuführen, so braucht er nur die genau aus-
geffihrte verschärfte Desinfektion vorauszuschicken, um mit gleichen
Chancen zu operieren, als wenn er Gummihandschuhe verwendete.
Es braucht wohl nicht betont zu werden, daß er daneben den
Heidungsstficken als Infektionsträger die grollte Aufmerksamkeit zu-
zuwenden hat, die in einem solchen Falle natürlich gewechselt werden
müssen. Besonders wichtig erscheint es mir, auf die Gefahr hin-
zuweisen, die der gewöhnliche Handschuh mit sich bringt, den man,
wenn man den Kranken verläßt, ohne die Hand, soweit es geht, keim-
frei gemacht zu haben, natürlich innen beschmutzt und sobald man
ihn später benutzt, die inzwischen gereinigte Hand wieder infiziert.
Mit diesen meinen Schlußfolgerungen ist die Frage der Abstinenz
in einem anderen Sinne beantwortet, als dies bisher die meisten
Chirurgen und Gynäkologen tun. Es wird nicht ausbleiben, wie dies
früher auch geschehen: man wird Warnrufe vor diesem falschen
Propheten erschallen lassen.
Ich komme gleich ausführlich darauf zu sprechen, wie wenig be-
gründet die Anschauungen derer sind, die von einer Abstinenz einen
Erfolg erwarten. Hier sei das eine vorausgenommen, daß man dem
Studierenden und dem angehenden Arzte gegenüber mit der Anerkennung
eines Wertes der Abstinenz zugleich eine Diskreditierung der Hände-
desinfektion vornimmt „Denn durch diese Prohibitivmaßregel werden
selbstverständlich die Studierenden nicht gelehriger oder geschickter
in der Kunst der Händedesinfektion gemacht werden, als sie es ohne
dieselbe sind und daß die Desinfektion als solche durch das Warten
leichter gemacht würde — diese Vorstellung muß, wie ich genügend
1) Die venerische Ansteckung der Hebamme im Beruf, Berlin 1907, als Manu-
skript gedruckt; S. 21.
25*
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332 F- Ahlfeld, [20
gezeigt zu haben glaube, gänzlich fallen gelassen werden. Möglichst
genaue Vorschriften im Desinfizieren der Hände, möglichst strenge
Überwachung des Desinfektionsverfahrens vor den anzustellenden
Manipulationen an den Kranken^ fortgesetzte Bemühungen, das Hände-
desinfektionsverfahren immer noch vollkommener und sicherer aus-
zubilden, als es bisher ist — das sind die rationellen und wirksamen
ProhibitivmaOregeln gegen die Herbeiführung septischer usw. Infektionen
durch ungenügend gereinigte Hände der Studierenden, nicht aber die
Maßregel der , geburtshilflichen Abstinenz^ welche nur andere wich-
tige Fächer der Medizin schädigt, ohne der Geburtshilfe zu nützen/
So schreibt vor Erfindung der Handschuhe Henke in der obener-
wähnten Dissertation (Seite 38), und ich stimme ihm, die damaligen
Verhältnisse berücksichtigend, vollständig bei.
Um aber nicht mit Laboratoriumsexperimenten und theoretischen
Erwägungen allein meine Anschauungen zu stützen, auch um dem
• Praktikus Mut zu machen, unseren Erfahrungen zu trauen, will ich
zunächst kurz daran erinnern, daß auch schon in der vorantiseptischen
Zeit man mit einer sofortigen gründlichen Reinigung nach Infizierung
der Hand recht gute Erfolge aufzuweisen hatte.
Es ist bekannt, daß die Mehrzahl der Lehrer der Chirurgie früher
den Operationskursus an der Leiche morgens abhielt. Volk m an n^),
V. Bergmann, Schönborn u. a. operierten an der Leiche von
6—8 Uhr und trugen durchaus kein Bedenken, nach vorausgeschickter
gründlicher Händedesinfektion alsbald nachher die verschiedensten
Operationen vorzunehmen. Schönborn ^) spricht sich hierüber bestimmt
aus: „Während meiner Tätigkeit in Königsberg hielt ich im Sommer den
chirurgischen Operationskursus an Leichen morgens von 6—8 Uhr.
Soweit wie möglich vermied ich es allerdings an solchen Tagen, an
denen ich morgens Operationskursus gab, dann am Vormittage eine
Laparotomie zu machen; öfters war dies aber nicht zu umgehen; ich
mußte es doch tun. Der Wundverlauf solcher Fälle wich in nichts
von dem Verlauf derer ab, die ich im Winter, wo ich mit Leichen
nur ausnahmsweise in Berührung kam, ausführte.''
Es wird wohl kein Leser, nachdem ich dies referiert habe, den
Schluß machen, auch jetzt sollte der chirurgische Lehrer beim Unter-
richt die Gummihandschuhe weglassen. Das wäre töricht. Seit wir
in den Gummihandschuhen ein Mittel haben, um unsere Hände vor
Beschmutzung zu schützen, muß der Operateur an der Leiche solche
1) Zentralblatt für Chirurgie 1880, S. 419.
2) Der neue Operations- und Hörsaal der chirurgischen Universitätsklinik in
Wurzburg. Rede zur Eröffnung. Wiesbaden 1890.
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2i] Der praktische Arzt und die Händegefahr. 333
benutzen, es sei denn, daß für einzelne Operationen der Handscliuh
hinderlich wäre. Denn ich rede nicht der unnützen Selbstbe-
schmutzung das Wort, sondern mache nur auf die Mittel auf-
merksam, eine nicht zu umgehende Selbstbeschmutzung für
andere und für den Arzt selbst ungefährlich zu machen.
Auch ist es nicht ausgeschlossen, daß genaue Temperaturmessungen
doch auch in den Schönbornschen Fällen Unterschiede ergeben haben
wurden, die zuungunsten der nach Leichenbenutzung ausgeführten
Operationen sprechen würden.
Derartige Einwürfe kann man meinen eigenen Erfahrungen nicht
machen, da bei uns, wie bekannt, ununterbrochen die exakteste^ vom
Arzt vorgenommene, von mir kontrollierte Temperaturmessung aus-
geführt wurde, immer in der Absicht, diese Zahlen zu wissenschaftlich
verwertbaren Beweisen zu benutzen. In der mehr denn 25 Jahre
dauernden klinischen Tätigkeit habe ich den Praktikanten gegenüber
niemals Abstinenz eingeführt, habe ihnen nur zur Bedingung gemacht,
falls sie zu einer Geburt gerufen wurden, — was dem einzelnen vor-
her bekannt war — , sollten sie einen Rock anziehen, mit dem sie nicht
in den Krankensälen und bei Sektionen gewesen waren. Wenn aber
wegen einer interessanten Geburt schnell eine große Zahl Zuschauer
gerufen wurde, konnte auch diese Bestimmung nicht innegehalten
werden. Natürlich legte jeder, der den Gebärsaal betrat, vorher den
Rock ab und bekam einen großen weißleinenen Kittel, der den ganzen
Körper bis weit unterhalb der Knie bedeckte, so daß auch beim Sitzen
die müßigen Hände nicht mit den Beinkleidern in Berührung kamen.
Hingegen war die Desinfektion der Herren, die innere Unter-
suchungen oder Eingriffe vornehmen sollten, eine äußerst genaue und
zwar vom Jahre 1805 an ausschließlich mittels der Heißwasser-Alko-
holmethode. Handschuhe wurden nicht benutzt.
Und nun unsere Resultate: Trotzdem seit dieser Zeit bei nahezu
5000 Geburten im Durchschnitt 7 innere Untersuchungen von Prakti-
kanten und Hebammenschülerinnen ausgeführt wurden, sind an septi-
schen Prozessen nur 4 Wöchnerinnen gestorben, die von einem oder
mehreren Praktikanten untersucht waren:
Frau G. 1889, Nr. 288. Placenta praevia, zu Haus tamponiert, kam mit Fieber
in die Anstalt Entbindung durch Wendung und Extraktion; Plazentaldsung. Starb
nach 5 Wochen infolge von Thrombose und Pneumonie.
Frau M. 1891, Nr. 182. Wegen Ileus in der chirurgischen Klinik in Behandlung,
Zttr Entbindung uns zugeschickt. Spontane Geburt. Tod am 16. Tage infolge
Thrombophlebitis, Endometritis und beginnender Peritonitis.
Frau B. 1806, Nr. 40. Mit Fieber aus der Stadt uns zugeschickt. Deshalb
hohe Zange. Infiziert außerhalb durch die Hebamme. Schwere Infektion. Tod am
5. Tage.
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334 F. Ahlfcld, [22
•
Frau Seh. 1002, Nr. 325. Zwei Tage zu Hause gekreißt. Mit 39,0"" Fieber und
128—160 Puls eingeliefert. Perforation des absterbenden Kindes. Septische Peri-
tonitis. Laparotomie am 12. Tage. Tod am 15. Tage.
Nun^ von diesen 4 Todesfällen, an denen überhaupt Praktikanten
und die nicht innegehaltene Abstinenz die Schuld ganz oder zum Teil
tragen könnten, dürfte nur Fall M. 1891, Nr. 182 bei der Schuldfrage
in Anrechnung kommen, da die betreffende Patientin der chirurgischen
Klinik tatsächlich fieberfrei uns zugeführt wurde und bei der Sektion
die Quelle der Infektion nicht festgestellt werden konnte.
Wenn also bei vielen Tausenden von Untersuchungen Gebärender
durch Praktikanten von etwa 5000 Frauen nur eine als tödlich ge-
schädigt in Frage kommen kann, so ist das ein Resultat, das wohl
kaum von einer andern Klinik erreicht sein wird, ein Resultat, das un-
zweideutig dafür spricht, wie man auch ohne Einhalten einer Ab-
stinenzzeit, allein mit einer strengen Händedesinfektionsmethode, die
günstigsten Resultate erzielt.
Während dies Resultat, soweit septische Todesfälle in Frage
kommen, mit dem jeder anderen Entbindungsanstalt, vorausgesetzt,
daO regelmäßig von berufener Seite die Kontrolle durch Autopsie
erfolgt, verglichen werden kann, ist dasselbe mit dem anderen Grad-
messer, der Morbidität, nicht der Fall, da Differenzen von Zehntel-
graden, die für die Statistik ausschlaggebend sind, von der mehr oder
weniger exakten Vornahme der Temperaturmessung abhängig sind.
Ich kann daher nur, um die Wirkung der Untersuchungen von Prakti-
kanten festzustellen, unsere durch Jahre hindurch gleichmäßig vor-
genommenen Temperaturmessungen und Aufzeichnungen benutzen.
Ich scheide die Semesterzeit von der Ferienzeit, in der keine Prakti-
kanten gerufen wurden, und zwar 10 Jahre vor Einführung der Heiß-
wasser-Alkohol-Desinfektion und ungefähr ebensolange nach Ein-
führung der besagten Methode von 1898 bis 1907.
Semester Ferien
10 Jahre vorher 1737 Geburten 1263 Geburten mit
mit 61,4% fiebert. ») Wochenb. 62,0% fieberiosen Wochenb.
10 Jahre nachher 2267 Geburten 1566 Geburten mit
mit 72,5% fiebert. Wochenb. 67,5% fiebertosen Wochenb.
Danach ist in den letzten 10 Jahren das Resultat während der
Zeit, wo Praktikanten und Schülerinnen tätig waren, sogar erheblich
1) Unter fieberlosen Wochenbetten sind solche zu verstehen, die wShrend der
ganzen Zeit des Aufenthalts der Wöchnerin in der Anstalt nicht ein Mal über
dSfi** Temperatur aufwiesen. Auf Seite 529 habe ich die Strenge der Kontrolle
bei den Temperaturmessungen betont.
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23] Der praktische Arzt und die HSndegefahr. 335
besser als in der Zeit, wo nur Schfilerinnen untersuchten. Eine ge-
nügende Erklärung hierfür kann ich nicht geben. Ich käme nicht über
vage Vermutungen hinaus. Mir genügt, bewiesen zu haben, daß ohne
Abstinenzeinhaltung das Resultat für die Wöchnerinnen kein schlech-
teres ist, als nach dem Gesamtdurchschnitt, wie er sich für die letzten
etwa 4000 Geburten ergibt und rund 70% fieberlose Wochenbetten
aufweist.
Diese hohe Zahl für Fiebernde wird denen nicht auffallen, denen
die Verhandlungen über das Thema der Temperaturmessungen im
Wochenbette, das ich 1803 anregte >), bekannt sind. Damals hatte ich
die Genugtuung, daß mit wenigen Ausnahmen anerkannt wurde, wie
mtn bei exakter, streng überwachter Messung zu ganz anderen Resul-
taten kommt, als wenn das Personal die Thermometer besorgt und
nicht in der Absicht, auf Zehntel genau, zu wissenschaftlichen Zwecken,
den Quecksilberhöhestand festzustellen.
Wenn z. B. in neuerer Zeit Bürger berichtet^), an der Schauta-
schen Klinik sei nach Spontangeburten bei engem Becken ein Morbi-
ditatsprozent von 4,1 beobachtet, und Fehling sagt 3), »er habe in
StraOburg gewöhnlich zwischen 6 und 7% Fieber von 38,1 ab (Axilla)
für Fieber gerechnetes so muß dies Resultat unbedingt auf mangel-
hafter Thermometrie beruhen, vorausgesetzt, daß keine Wochenbetten
ausgelassen sind^ es sich um eine größere Reihe handelt und die
Beobachtung bis zum Abgange der Wöchnerin, mindestens 0 — 10 Tage,
fortgesetzt wurde.
Wie wichtig die genaue Bestimmung der Wochenbettstemperatur
ist, erhellt sehr deutlich aus einem Artikel Winters über Meldepflicht
der Hebammen bei Wochenbettfieber*). Winter schätzt die Tempera-
tursteigeningen in der Außenpraxis auf 5—10%! Welcher Irrtum!
Warum beachtet Winter nicht meinen Aufsatz^): »Kreisarzt und
Kindbettfieber', der in derselben Zeitschrift sich befindet, in der er
veröffentlicht hat? Dort habe ich festgestellt, daß in der Außenpraxis
28—30% Fieber bei vortrefflichen Hebammen, und vermutet, daß 40%
bei den gewöhnlichen Hebammen vorkommen.
Auch die Tatsache, daß wir in der Marburger Entbindungsanstalt
keine septische Station hatten, sondern die gering fiebernden Wöch-
nerinnen mit den übrigen zusammenliegen ließen, die schwer kranken
1) Zeitvshr. f. Geb. und Gynäk. Bd. 27, Seite 470 und Bd. 32, Seite 22 und
26, 1837.
2) Die Geburtsleitung bei engem Becken. Wien 1908. S. 122.
3) Hegars Beitrage Bd. XII, S. 494.
4) Zeitscbr. f. Mediz.-Beanite 1906, Nr. 3, S. 73. 5) ebd. 1906, Nr. 21.
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336 F. Ahlfeld, [24
hingegen in ein Einzelzimmer brachten, daß wir keinen septischen
Assistenten hatten, sondern der diensttuende Arzt bald eine gesunde
Wöchnerin zu besuchen, dann auch wieder eine Entbindung vorzu-
nehmen hatte, — und wir doch eine niedrigere Mortalität, als andere
Anstalten hatten, beweist, wie eine Abstinenz bei Vorsicht und ge-
wissenhafter Händedesinfektion überflussig ist
Da wir in den staatlichen Anstalten die jungen Mediziner nicht
für die Krankenhäuser, sondern ffir die allgemeine Praxis erziehen,
so habe ich im Unterricht immer darauf gehalten, Bedingungen zu
schaffen, die denen der Praxis nicht zu grell gegenüberstehen. Be-
sonders für die praktische Tätigkeit am Geburtsbett, die ja bislang
nur zum allerkleinsten Teile in Anstalten ausgeübt wird, meist unter
den wenig günstigen Verhältnissen der Alltäglichkeit, erscheint es mir
geradezu pädagogisch unrichtig, während der Unterrichtszeit einen
hygienischen Komfort und prophylaktische Maßregeln von einer Aus-
dehnung zu benutzen, die nie und nimmer später dem praktischen
Arzte zu Gebote stehen können.
Ich habe daher auch, wie in der allgemeinen Praxis, die jungen
Leute bald zu einer kranken Wöchnerin, bald zu einer Gebärenden
geführt.
Neuerdings hat man dieses Verfahren als eine Gewissenlosigkeit
gestempelt und es als unerlaubt bezeichnet, daß ein Lehrer der Ge-
burtshilfe dem praktischen Arzte mit einem solchen Beispiele vor-
angehe.
Da ich aber der Meinung huldige, der gewissenhafte Arzt kann in
Hinsicht auf Händedesinfektion dasselbe leisten wie ich, wie meine
Assistenten, meine Hebammen und Schülerinnen, so halte ich dafür,
daß dieser mein Rat eher eine Sicherheit bietet, als das Eingeständnis
der Unmöglichkeit der Händedesinfektion, das zweifelsohne im prak-
tischen Leben eine ungenügende Ausführung der Händereinigung zur
Folge haben muß.
In der vorantiseptischen Zeit sind trotz ganz mangelhafter Rei-
nigung der Hände, selbst wenn sie schwer infiziert waren, viele
Operationen und viele Geburtsfälle ohne jegliche Schädigung für die
Patienten und Gebärenden verlaufen. Derartige Fälle dürfen wir aber
keineswegs als Zeugnisse für meine oben vertretenen Anschauungen
anrufen, vielmehr darauf hinweisen, wie zu jener Zeit infolge dieser
Unvollkommenheit viele Menschen geschädigt worden sind.
Wenn man zur Jetztzeit zur Unterstützung der von mir Vertretenen
Ansicht beweisende Fälle bringen will, so muß man nachweisen, daß
man sich der Tragweite seiner Handlung voll bewußt war, also die
Virulenz des infizierenden Stofi^es kannte, die Desinfektion auf das
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25] I^er praktische Arzt und die Händegefahr. 337
gewisseDhafteste ausführte und die Operation oder geburtshilfliche
Vornahme eine solche war, die, was Infektionsgefahr anbetrifft, zu
den gefahrlichen gerechnet wird.
Derartige Fälle habe ich mir aus meiner Tätigkeit der letzten
Jalire genauer aufgezeichnet, wo ich selbst oder einer meiner Assi-
stenten unmittelbar nach Beschmutzung unserer Hände mit hochviru-
ienten Stoffen uns genötigt sahen, geburtshilflich einschreiten zu
müssen und dies aus anzugebenden Gründen ohne den Gebrauch
der Handschuhe getan haben.
Zwei dieser Fälle habe ich schon früher veröffentlicht^) und re-
feriere daher nur ganz kurz:
1. Nach einer Streptokokkenverunreinigung bei tödlich endendem
Puerperalfieber nahm ich die innere Untersuchung einer Ge-
bärenden vor. Wochenbett glatt verlaufend.
2. Schwere Sepsis in partu. Kaiserschnitt. Fast fieberloses Wochen-
bett.
Zu diesen füge ich folgende neueren Beobachtungen hinzu und
zwar etwas genauer, damit der Leser sieht, wie auf jeden einzelnen
Umstand geachtet ist
3. Vormittags zwischen 10 und 11 Uhr wurde ich veranlaßt, ein
jauchendes Scheidenkarzinom zu untersuchen, ob eine Radikal-
operation vorgenommen werden sollte oder nicht. Nach der
Untersuchung nahm ich sofort die ausgiebigste Waschung und
Alkoholdesinfektion vor.
Zwischen 11 und 12 Uhr konsultierte mich eine Dame, von
der ich wußte, sie war in der zweiten Hälfte der Schwanger-
schaft, wegen heftiger Leibschmerzen. Ich nahm vor der inneren
Untersuchung die ausgiebigste Händedesinfektion vor, bediente
mich aber eines sterilen Gummifingerlings. Die Untersuchung
ergab, daß die ahnungslose Dame sich in der Geburt befand,
so daß es zweifelhaft blieb, ob ich sie nach Hause zurückreisen
lassen konnte oder sie gleich in der Anstalt behalten mußte*
Die Entscheidung dieser für die Frau und für mich so wich-
tigen Frage hing davon ab, ob das Fruchtwasser abgegangen
war oder nicht, ob die Blase noch über dem tiefstehenden Kopfe
erhalten war oder nicht. Mit dem besten Willen konnte ich
das mit dem mit Gummistoff bekleideten Finger nicht fühlen,
mußte daher den Fingerling abstreifen und untersuchte nun
mit dem freien Finger. Die Blase stand noch. Doch zog die
1) 20, 307.
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338 F. Ahlfeld, [26
Dame vor, dazubleiben und nach wenigen Stunden trat die Ge-
ilnirt ein. Wochenbett fieberlos. Höchste Temperatur 37,5.
4. In den Weihnachtsferien 1006 war ich mit einem Assistenten
allein in der Anstalt. AuF der Station lag eine schwer puer-
peralkranke Wöchnerin, die auch der Krankheit erlag. Damit
der einzige Assistent freie Hand behielt für alle Geburtsfalle,
übernahm ich persönlich die Behandlung dieser Wöchnerin und
muOte sie am 6. Tage des Wochenbettes bei drohender Peri-
tonitis innerlich untersuchen, da ich einen Uterusriß befürchtete.
Diese Untersuchung geschah am Vormittag.
Nachmittag mußte eine ältere Erstgebärende mit äußerst
engen Genitalien, deren großes Kind in Steißlage sich befand,
entbunden werden. Der Assistent drängte seine Hand mit Muhe
durch die Genitalien, um den Versuch zu machen, einen FuO
herabzuholen. Es gelang ihm nicht. So war ich genötigt,
gleich selbst einzugreifen, was ich nach einer gründlichen Des-
infektion tat. Auch mir gelang es nicht. Ich ließ mir daher
den stumpfen Haken geben und mit großer Mühe glückte die
Anlegung und unter kräftiger Anstrengung auch die Extraktion,
nachdem ein tiefer Sc buch ar dt scher Schnitt die äußeren Geni-
talien weit gespalten hatte.
Das Wochenbett verlief unter geringer Fiebersteigerung.
Höchste Temperatur 38,8^ Mutter und Kind verließen, nacli-
dem die äußere Wunde geheilt war, gesund die Anstalt.
5. Am 28. Januar 1907 brachte man uns einen Fall von ver-
schleppter Querlage mit stinkendem Ausfluß und überaus starker
Gasentwicklung mit pestilenzialischem GestanlL Temperatur
vor Einlieferung 40,0. Dr. R., mein Assistent, nahm nachts die
Dekapitation vor, die ziemliche Schwierigkeiten bot und deshalb
über eine Stunde Hantierens in den Genitalien erforderte.
Gegen Mittag mußte eine Zange bei einer Erstgebärenden
angelegt werden, und Dr. R., nachdem er sich sehr gründlicli
desinfiziert hatte, entwickelte mittels mehrerer Traktionen das
kräftige Kind. Wochenbett absolut fieberlos. Höchste Tem-
peratur 37,8.
Man wird fragen, warum denn von der Benutzung der Gummi-
handschuhe abgesehen worden sei, da sie doch mindestens nichts ge-
schadet haben würden.
Für Fall 1 und 2 erübrigt sich diese Frage, da es zu jener Zeit
noch keine Gummihandschuhe gab. Für Fall 3 ist der Grund in dem
Berichte angegeben. In Fall 4 war ich der festen Überzeugung, daß
beim Eindrängen des stumpfen Hakens und beim Manipulieren mit
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27] Der praktische Arzt und die Händegefahr. 33g
demselben unzweifelhaft der Handschuh zerfetzt worden und da-
mit nicht nur überflüssig, sondern hindernd gewesen wäre, und das
gleiche befürchtete ich im Falle 5, wo das Zangen1)lau mit Mühe neben
dem eingekeilten Kopfe vorüber in die Höhe gedrängt werden mußte.
Aber auch im allgemeinen sehe ich für meinen Teil gern vom Ge-
brauche des Handschuhs ab, weil mir das feine Gefühl in den Fingern
und die freie Beweglichkeit derselben vermindert wird. Wiederholt
habe ich, mit dem Fingerling versehen, nicht fühlen können, ob die
Haare am vorliegenden Kopfe frei oder noch von den Eihäuten be-
deckt waren. Die Beschaffenheit der Schleimhaut, wie sie z. B. bei
beginnender Ausbreitung des Karzinoms gefühlt werden muß, kann
ich ohne Handschuh mit größerer Bestimmtheit feststellen. Bei der
Diagnose beginnender Schwangerschaft ist für mich die Konsistenz
des die Cervix füllenden Schleims ein nicht unwichtiges diagnostisches
Mittel. Mit dem Handschuh bin ich nicht in der Lage, die feineren
Konsistenzunterschiede zu erkennen.
Ich habe mich aber mit diesen subjektiven Empfindungen in der
praktischen Tätigkeit nicht zufrieden gegeben, sondern habe mit Hilfe
der Instrumente zur Prüfung des Tastsinnes, wie solche dem hiesigen
physiologischen Institute zu Gebote stehen, z. T. unter Mitarbeit des
Privatdozenten Dr. Loh marnn, experimentell den Verlust am Gefühl der
mit feinen Gummihandschuhen versehenen Hand gegenüber der un-
bedeckten Hand festgestellt. Selbstverständlich war nach allen Rich-
tungen hin eine Verminderung der Wahrnehmungsfähigkeit vorhanden,
am geringsten bei der Unterscheidung rauher und weniger rauher
Gewebe oder Gegenstände, stärker bei der Feststellung näher oder
entfernter liegender Tastempfindungen, noch stärker bei Bestimmungen
von Konsistenzgraden flüssiger und harbweicher Massen.
Von vielen Chirurgen und Gynäkologen wird berichtet, daß sie
beim alltäglichen Gebrauche der Handschuhe eine gleiche Feinfühlig-
keit erlangt haben wie zur Zeit, wo sie ohne Handschuhe operierten.
Ich will es gern glauben. Doch fehlt der Gegenbeweis, der nur zu
liefern wäre, wenn sie nun wieder längere Zeit ohne Handschuhe
operieren würden. Dann erst würden sie sagen können, ob nicht
doch der Handschuh einen Nachteil abgebe.
Pur die zahllosen Ärzte aber, die nicht durch fortdauernde Be-
nutzung des Handschuhs sich diese Fertigkeit erwerben, bildet sein
Gebrauch eine Herabsetzung der Fähigkeiten der Hand.
Kurz und gut, ich für meine Person begebe mich bei Be-
nutzung des Handschuhs wesentlicher Vorteile, die ich nur
missen dürfte, wenn ohne Gebrauch des Handschuhs sicher
eine Gefahr für die zu Untersuchende oder zu Operierende
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340 F. Ahlfeld, [28
entstände. Das ist aber bei meiner Hand nicht der Fall; wie ich
auch glaube, daß die meisten Ärzte diese Gefahr auf Null vermindern
können.
Bedenkt man nun noch die große Gefahr, die bei nicht genügend
gereinigter Hand durch Verletzung der Handschuhe entstehen kann,
so soll man doch ernstlich erwägen, ob die obligatorische Benutzung
des Handschuhs berechtigt ist.
Ich habe seinerzeit mich einmal so ausgesprochen i): „Der Gummi-
handschuh ist eine vorübergehende Modesache. "^ Dies Wort ist mir
vorgehalten, und ich gebe zu, daß ich damit meine Ansicht nicht richtig
wiedergegeben habe, denn nach einer Seite hin, nämlich zum Schutze
der eigenen Hand und in Fällen, wo eine Händedesinfektion ausge-
schlossen ist, besitzt der Gummihandschuh unzweifelhaft seinen Wert.
Ich habe in jener Publikation dies Urteil dahin begründet: »Die Hand-
schuhe werden eine Zeit hindurch von Spezialisten Verwendung finden;
in die allgemeine Praxis werden sie sich nicht einbürgern. Wir Lehrer
der Geburtshilfe sollen aber unsere Vorschläge, unsere Methoden,
soweit es geht, den Verhältnissen der allgemeinen Praxis anpassen.'
Mit dem Ausdrucke , vorübergehende Modesache* wollte ich sagen:
Ebenso wie vor Jahren auf die Empfehlung Listers alle Welt unter
Spray operierte, bis sich ergab, daß dieses Verfahren überflüssig,
sogar schädlich sei, so gebraucht auch jetzt alle Welt Gummihand-
schuhe, bis sich herausstellt, daß sie bei vielen Operationen über-
flüssig sind, insofern sogar schädlich werden können, indem sie das
Gefühl beeinträchtigen, das Fassen von schlüpfrigen Organteilen er-
schweren, ihre Vorbereitungen zum Anziehen die Narkose verlängern,
vor allem aber den Glauben an die Notwendigkeit einer exakten Hände-
desinfektion nehmen und damit zu einem Sichgehenlassen in der
Händepflege und Händereinigung führen, was wieder die weitere üble
Folge haben kann, daß bei Verletzungen der Handschuhe während
der Operation Infektionen von der Handoberfläche aus erfolgen.
Als Friedrich im Jahre 1808 die dünnen nahtlosen Gummihand-
schuhe empfahl^), fügte er warnend hinzu: „Will man den Gebrauch
der Handschuhe verallgemeinern, wozu mir eine Berechtigung nicht
vorzuliegen scheint, so ist zu bemerken, daß er der Raschheit des
Operierens auf alle Fälle schadet, den aseptischen Apparat unnötig
kompliziert, die allgemein menschliche Seite des eventuellen Ver-
trauens auf seinen Schutz die Strenge der sonstigen Händesterilisa-
tionsmaßnahmen gefährdet.'
1) 21. 847.
2) Zentralblatt für Chirurgie 1888, S. 449.
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29] Der praktische Arzt und die Händegefahr. 341
Der letztere Punkt, den ich eben und auch Früher schon öfter
hervoi^ehoben habe, scheint mir von größter Bedeutung. Frage sich
doch jeder Arzt, der einen Handschuh gebrauchen will, vor jedem
Gebrauche offen, weshalb nimmst du den Handschuh? Ich bin über-
zeugt, in der Mehrzahl der Fälle muß er sich sagen: Aus Bequem-
lichkeit, weil ich mich vorher und nachher nicht zu desinfizieren
brauche.
Der hohe Preis der Handschuhe würde nicht in Frage kommen,
hätten wir in den Handschuhen ein absolut sicheres Mittel gegen
den Tod durch Sepsis und gegen Wundeiterung. „Wir müßten lieber
hungern, als das Geld auf Kosten der Gesundheit und des Lebens
unserer Patientinnen sparen!^^ Diesem Ausspruche Fritschs^) fehlt
aber der Nachsatz: Da die Gummihandschuhe aber kein absolut
sicheres Mittel gegen Wundfieber und Tod sind, — und ich setze
hinzu, da wir sie durch eine gründliche Händedesinfektion ersetzen
können — , so kommt auch der hohe Preis in Frage und Fritsch
ist deshalb nicht berechtigt, dies Argument gegen den allgemeinen
Gebrauch „verwerflich" zu nennen.
In diesem Sinne spricht sich auch Bezirksarzt Dr. Walther^) aus:
„Wurden sich die Gummihandschuhe in der Hand der Hebamme
bewähren, so dürfte selbstverständlich der Kostenpunkt, der bei der
raschen Abnutzung von Bedeutung ist, kein Hindernis bilden. Sind
die Handschuhe aber unnötig oder gar in der Hebammenpraxis schäd-
lich, wozu solche unnütze Ausgaben?"
Für die geburtshilfliche Praxis ist es erwiesen, daß der Gebrauch
der Handschuhe keine Vorteile bringt. Es gibt keine Statistik, die
fiberzeugend nachweisen kann, daß bei dem Gebrauche der Hand-
schuhe eine nennenswerte Besserung erfolgte gegenüber den Anstalten,
wo strenge Händedesinfektion gefordert und geleistet wird.
Wie es sich in der Praxis der operativen Gynäkologie verhält,
kann ich nicht beurteilen. Nur erscheint mir die Statistik, dieKüst-
ner^) aufgestellt hat, um das Obergewicht der Handschuh-Operationen
zu beweisen, etwas sehr gedrechselt. Auch läßt Küstner unberück-
sichtigt, daß die Besserung proportional den Jahren erfolgt, also
ebensowohl die zunehmende technische Fertigkeit des Operateurs,
vielfach auch der Assistenten, als auch die strengere Auswahl der
Fälle eine wesentliche Rolle in der Besserung der Resultate mitspielt.
Ich bitte in dieser Beziehung auch die Einwürfe Schickeies und
1) Verband], der Deutsch. Ges. für Gyn. 1907, XII, S. 482.
^ Münchener med. Wochenschrift 1907, Nr. 6, S. 267.
3) Verh. d. Deutsch. Ges. für Gyn. 1907, XII, S. 571 f.
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342 F. Ahlfeld, [30
TauFfers gegenüber der Küstnerschen Statistik zu beachten (Verhandl.
der Deutschen Gesellsch. für Gynäkologie 1907, XII, Seite 682 u. 685).
Auch mache ich auf die neueste Publikation von Chrobak^) auFmerk-
sandy dessen Ansicht der meinigen sehr nahe steht.
Ich bin fest überzeugt, würde Küstner, ein Mann, der eine aus-
gezeichnete Technik besitzt und eine gewissenhafte Händedesinfektion
schätzt, ohne Handschuhe operieren, er würde die gleich guten Resul-
tate haben und einsehen, wie viel einfacher und angenehmer das
Operieren mit unbedeckten Händen ginge.
Es sollten sich doch einmal die Chirurgen und Gynäkologen hören
lassen, die ohne Handschuhe operieren. Von Tavel^) las ich, daß
er die Doederl ein sehen Versuche für durchaus nicht maßgebend
halte, ohne Handschuhe operiere und diese nur zum Schutz gegen
Infektion gebrauche. Auch Vogel 3) teilt aus der Bi ersehen Klinik
mit: „Bezüglich der Desinfektion der Hände des Operateurs wird
stets das Hauptgewicht auf die Prophylaxe zu legen sein. Hier liegt
der Hauptwert der Handschuhe, die von uns bei septischen Opera-
tionen benutzt werden, während wir uns für aseptische noch nicht
mit ihnen befreunden konnten. Die dicken, vor dem Zerreißen
sicheren, stören das Gefühl zu sehr, die dünnen sind zu leicht ver-
letzt und dann gefährlicher als keine Handschuhe.^^
Auf diese Gefahren, die durch Handschuhverletzungen entstehen,
machen Füth^) und Gottstein^) besonders aufmerksam. Unsere
eigenen Erfahrungen habe ich bereits früher veröffentlicht.®)
Im Anschluß an die Versuche über sofortige Reinigung der Hand
nach eben statrgefundener infektiöser Beschmutzung und infolge der
Betrachtung über den Wert der Abstinenz schien es mir nicht un-
zweckmäßig zu sein, den Vorgang der Selbstreinigung der Hand
etwas genauer zu studieren, zumal ich, wie oben schon ausgeführt,
nur Ansichten ausgesprochen fand, die auf Vermutungen beruhen,
sich aber nicht auf Versuche gründen.
Da ich nach meinem Austritte aus der Frauenklinik und nach Aufgabe
meiner Praxis meine Hand mit keinerlei KrankheitsstofiF in Berührung
zu bringen und deshalb auch keine chemische Händedesinfektion nötig
hatte, so benutzte ich einige Wochen zu diesen Versuchen.
Zu dem Zwecke gebrauchte ich den Prodigiosus und den Diplo-
1) Zentr. f. Gyn. 1908, Nr. 14, S. 458.
2) Korrespondenzbl. f. Schweizer Ärzte 1907, Nr. 22, S. 711.
3) Deutsche med. Wochenschrift 1905, Nr. 30, S. 1179.
4) Zentralbl. für Gynäkologie 1902, Nr. 39.
5) V. Bruns, Beitr. zur Klin. Chirurgie, Bd. 25, S. 97.
6) 29. 1957.
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31] Der praktische Arzt und die Händegefabr. 343
coccus citreus. Aus dem hygienischen Institute erhielt ich von beiden
Bakterien frische Kulturen, die sich, was ich gleich vorausschicken
will, durch Kontrollversuche als sehr lebensfähig erwiesen.
Anfiangs in schwächeren, später in stärkeren Aufschwemmungen
badete ich meine eine Hand und ließ die Masse antrocknen. Die
Hand wurde einen halben Tag lang, einmal 10 Stunden lang, nicht
mit Wasser in Berührung gebracht, und wenn eine Waschung dann
ausgeführt wurde, so geschah dies ohne Bürste, nur mit Seifenschaum
und Wasser, so kurz als möglich.
Ich sehe von der Aufführung der einzelnen Versuche ab, sondern
bringe nur die Resultate:
Der Prodigiosus, mochte die Hand schwächer oder stärker be-
schmutzt sein, war nach zweimal 24 Stunden und später nicht mehr
nachzuweisen. Nur bei längeren Nägeln blieb er unter dem Nagel
noch einige Zeit erhalten.
Der gelbe Luftpilz, Diplococcus citreus, mäßig reichlich die ganze
Hand beschmutzend, war 7 Tage lang, wenn auch nur in ganz ein-
zelnen Kolonien, an der Hand nachweisbar.
Inwieweit man die Resultate mit derartigen Bakterien, die nicht
zu den Hautparasiten gehören, auf die mit pyogenen Bakterien infi-
zierte Hand übertragen kann, ist freilich eine andere Frage. Gern
hätte ich auch mit diesen Versuche gemacht, doch weiß ich mit dem
besten Willen keinen Weg zu finden, um den Nachweis zu führen,
daß die zum Zwecke der Untersuchung auf die Haut gebrachte Spezies
nach so und so viel Zeit als Reste oder Abkömmlinge der Infektions-
masse anzusehen seien.
Hingegen sei hier noch eines Versuchs Erwähnung getan, den ich
anstellte, um zu sehen, ob die Hand durch stundenlange Erweichung
in sehr warmem Wasser ihren Keimgehalt auffallend ändere, wenn
von außen keine neuen Keime hinzukommen können.
Meine saubere Tageshand, die wochenlang nichts mit „infektiösen*
Stoffen zu tun gehabt hatte, auch nicht desinfiziert war, steckte ich in
ein steriles Waschbecken mit U/2 1 sterilem Wasser und ließ Becken,
Hand und Vorderarm mit einem sterilen Tuche bedecken. Eine halbe
Stunde lang bewegte ich zum öfteren Hand und Finger, nahm dann
die Hand hervor, rieb sie mit einem sterilen Handtuche ab und
brachte sie sofort in ein zweites und nach wieder halbstündiger Han-
tierung in ein drittes, viertes, fünftes Becken, jedesmal vor dem
Wechsel die Hand abreibend.
Aus jedem der fünf Becken wurden 10 ccm Wasser mit steriler
Pipette entnommen und in fünf sterile Reagenzgläser gebracht.
Am Schlüsse dieses 2V2Stündigen Verfahrens kratzte ich mit
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344 F- Ahlfeld, [32
Sterilen Hölzchen die Haut der Hand an verschiedenen Stellen sehr
kräftig ab und warf die Hölzchen in ein sechstes steriles Reagenzglas.
Unmittelbar nach Beendigung des Versuchs wurde aus den fünf
Reagenzgläsern je 1 ccm Flüssigkeit entnommen , in eine Petrischale
geschüttet und mit flüssigem Agar übergössen. Auch die Holzchen
wurden in einer Petrischale in gleicher Weise behandelt.
Nach 4 Tagen hatten sich in der Schale 3, 4 und 5 ungefähr dop-
pelt soviel Keime entwickelt, als in 1 und 2, während in der Schale
mit den Hölzchen eine mittlere Anzahl zu finden war.
Jedenfalls war ersichtlich, daß mit Aufweichung und Erwärmung
der Hand die Zahl der Keime sich vermehrt hatte.
Da ich infolge Aufgabe meiner klinischen Tätigkeit voraussichtlich
nicht wieder dazu kommen werde, durch experimentelle klinische
Untersuchungen und Beobachtungen weitere Beweise für den Wert
des Alkohols als Desinfektionsmittel der Haut, vornehmlich der
Hand, zu bringen, so sei es mir gestattet, den Stand der Frage bis
zum Schluß des Jahres 1907 zu fixieren.
Dies erscheint mir auch nötig, um der großen Zahl von Fach-
kollegen, die sich bei den widersprechenden Publikationen nicht Rat
wissen, was und wem sie nur eigentlich glauben sollen, einen Weg-
weiser zu verschafiFen.
Hängt doch von der Entscheidung der Frage, ob man, besonders
auch der praktische Arzt imstande ist, wenn er nur gewissenhaft ver-
fahrt, sich derart vorzubereiten, daß er einen chirurgischen, einen ge-
burtshilflichen Eingrifl^ vornehmen darf, ohne die ausgedehnten pro-
phylaktischen Hilfsmittel benutzen zu müssen, die jetzt in den modernen
Operations- und Entbindungssälen eingeführt sind, besonders auch,
ohne sich stets der Gummihandschuhe bedienen zu müssen.
Das Für und Wider den Alkohol ist gerade in den letzten
Jahren in recht auffälliger Weise zutage getreten. Ein Sammelwerk,
wie das v. Win ekel sehe, an dem zahlreiche Lehrer der Geburtshilfe
mitgearbeitet haben, mulJ ja von vornherein mit Dissonanzen in den
Anschauungen rechnen. Immerhin dürften diese doch für den Leser
in etwas gemildert sein, damit er sich selbst ein Urteil nach dieser
oder jener Seite hin schaffen könne. Wenn aber der Inhalt sich so
schroff gegenübersteht, wie in dem von Menge bearbeiteten Kapitel
über Antiseptik und Aseptik, Band I, 2. Teil und in dem v. Herff
geschriebenen über Händereinigung, Band III, 2. Teil, dann ist eine
Vermittlung nicht möglich. Nur der eine kann recht haben, der
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33] Der praktische Arzt und die Händegefabr. 345
andere lehrt etwas Falsches. Auf dem letzten Gynäkologeokoogresse,
Dresden 1007, waren beide Referenten, Fritsch und Küstner, Gegner
der Alkoholdesinfektion und damit auch Anhänger der Gummihand-
schuhe, Beide stützten sich auf das von anderen ausgesprochene
Axiom von der Unmöglichkeit, die Hand auf die Dauer einer Operation
keimfrei zu machen, obwohl ich durch verschiedenartige Experimente
nachgewiesen habe, daß dieses nicht nur mir, sondern vielen meiner
Assistenten und Schülerinnen fast regelmäßig gelungen ist. Wie Fritsch,
steUt auch Küstner an die Spitze seines zusammenfassenden Referats
den bisher noch mit Recht zu bestreitenden Satz: ,Es ist erwiesen, daß
die Haut des lebenden Menschen durch kein Mittel und keine Prozedur
keimfrei zu machen ist.'' Auch Doederlein führt sich in München
wieder mit der Behauptung ein, alle Versuche, die Hand des Opera-
teurs keimfrei zu machen, hätten die Unmöglichkeit ergeben.^)
Selbstverständlich muß sich auf solche Anerkennung der Unvoll-
kommenheit jeder Desinfektionsmethode ein Gebäude von Schutzmaß-
regeln aufbauen, das jetzt eine Höhe erreicht hat, daß der praktische
Arzt nicht mehr folgen kann.
Auf Paraffin- und Wachsüberzug der Hand folgten Handschuhe von
Seide und Leder. Dann Zwirnhandschuhe, Gummihandschuhe. Gummi-
handschuhe plus Zwirnhandschuhe und Zwirnhandschuhe plus Gummi-
handschuhe, Firnisüberzug der Hand und Betupfen des ersten Finger-
glieds mit Jodtinktur. Die unbedeckte Hand, als chirurgisches Werkzeug,
wurde geradezu verpönt und das Nonplusultra dieser Händefurcht
war der oben schon erwähnte Ausspruch M enges, der Arzt dürfe mit
seiner Hand kein Bad für eine Gebärende zurechtmachen.
Wie soll sich nun der Arzt, der selbst keine experimentellen Unter-
suchungen gemacht hat, Klarheit verschaffen, wenn er die wider-
sprechendsten Urteile hört. Auf der einen Seite: »Der Stern des
Alkohols, der so hellstrahlend aufgegangen war, ist wieder im Ver-
bleichen''^), und in demselben Handbuche: »Die Aufgabe des Alkohols
bedeutet einen Rückschritt in der Desinfektionsfrage*^), oder, wie der-
selbe Autor sich an anderer Stelle^) ausdrückt: »Ohne Alkohol keine
ausgiebige Desinfektion.""
Wenn einerseits der Referent^) einer Arbeit Schumburgs^), die
von ausgezeichneten Erfolgen bei der Alkoholdesinfektion berichtet,
sich zu dem Ausspruch veranlaßt sieht: »Dagegen ergibt sich der Sieg
1) Deutsche med. Wochenschrift 1907, Nr. 52, S. 21d9.
^ Menge, V. Winckels Handbuch, Bd. I, 2. Teil, S. 1215.
3) ▼. Herff, in v. Winckels Handbuch, Bd. III, 3. Teil, S. 781. — ^ 4) Münchener
med. Wochenschr. 1907, Nr. 21. — 5) Zentr. f. GynSk. 1907, Nr. 30, S. 949. —
Ö) Archiv für Klin. Chir. Bd. 79, Heft 1.
Klin. Vorträge, N. F. Nr. 4^/93. (Gjmakologie Nr. 179/äO.) Juli 1906. 26
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346 F. Ahlfeld, [34
des Alkohols auf der ganzen Linie des Kampfes gegen die Hande-
bakterien "^^ und andererseits Littauer^) den Handschuh als einziges
Rettungsmittel empfiehlt, „den Ählfeld, verblendet von dem
Werte seiner Alkoholdesinfektion, eine vorübergehende Modesache
nennt*.
Ich habe früher Gelegenheit genommen^), nachzuweisen, wie klein
die Zahl der Experimentatoren ist, soweit sie nach meiner Desinfek-
tionsmethode geprüft haben, auf deren Resultate sich das Axiom der
Unzulänglichkeit der HeiDwasser-Alkohol-Desinfektionsmethode gründet.
Füge ich noch hinzu, daß von den wenigen, die ausgedehntere Unter-
suchungen gemacht haben, die Resultate zum Teil derart waren, daß
bei Fortsetzung der Versuche das Ziel der absoluten Keimfreiheit der
Hand wahrscheinlich erreicht worden wäre^), Engels*), ein Gegner
der Methode, sogar, angesichts der Vorzüglichkeit seiner Resultate,
zu dem Ausspruch veranlaßt wird: »Das Resultat kann in uns mit
Recht den Glauben erwecken, daß nochmal eine Zeit kommen wird,
wo wir mit Hilfe bestimmt zusammengesetzter Desinfektionsgemische
doch eine vollständige Keimfreiheit der Hand erzeugen können*, so
sinkt die Zahl der gegnerischen Veröffentlichungen in ihrer Bedeutung
wesentlich herab.
Überdies sind zu den von mir in einer unvergleichlich größeren
Zahl ausgeführten Untersuchungen immer neue hinzugekommen, die,
auf noch strengeren Untersuchungsmethoden aufgebaut, zu denselben
Ergebnissen gelangen, wie die früheren.
Wenn sich trotz des Widerstandes und einer für wissenschaftliche
Fragen ungewöhnlichen Agitation gegen die Benutzung des Alkohols
als Desinfektionsmittel von selten einer einflußreichen Partei unter
den Gynäkologen dennoch von Jahr zu Jahr die Berichte über erfolg-
reiche bakteriologische Untersuchungen und über ausgezeichnete Resul-
tate bei der praktischen Anwendung mehren, so ist dies wohl ein
Beweis für die Richtigkeit meiner Vorschläge, wie er selten in einer
strittigen Frage erbracht wird.
Wenn Fritsch (Seite 187) sagt: »Gerade der Umstand, daß nie-
mand erreichte, allgemein gültige Gesetze aufzustellen, sondern daß
überall das gleiche Ziel von getrennt marschierenden Forschern erstrebt
wird, sichert auch einen ferneren Fortschritt und verhindert die Er-
starrung in selbstgefälliger Zufriedenheit'', so möchte ich dem ent-
gegenhalten, daß man gerade jetzt durch Empfehlung des uneinge-
1) Zentr. f. Gyn. 1907, S. 883. — 2) 20. 372. — 3) Paul u. Sarwey, Münch.
med. Wochenschr. 1899, Nr. 51, Tab. Nr. 3, Dr. Meyer. — 4) Klinisches Jahrbuch
1905, Bd. 13, S. 606 f.
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35] Der praktische Arzt und die Händegefahr. 347
schrankten Gebrauchs der Gummihandschuhe auf dem besten Wege
ist, zu »dieser Erstarrung in selbstgefälliger Zufriedenheit* zu gelangen
und möchte weiter zu bedenken geben, wie eine solche Sentenz, in
die allgemeine Praxis übertragen, in das Gegenteil umschlagen würde.
Der praktische Arzt und vor allem die Hebamme und das Warteper-
sooal, sie bedürfen einer festen Richtschnur in der Frage der Hände-
desinfektion. Es ist daher wünschenswert, im allgemeinen einer
Händedesinfektionsmethode den Vorzug zu geben. Dabei ist es jedem,
der das Gebiet vollständig überschaut, unbenommen, an deren Ver-
besserung weiter zu arbeiten oder eine andere, seiner Meinung nach
bessere Methode zu gebrauchen und zu empfehlen, wie auch Ab-
weichungen von der anerkannten Methode sich von selbst ergeben^
wenn ausnahmsweise diese Methode nicht vertragen wird.
Im Laufe der letzten Jahre haben sich durch eigene und anderer
Untersuchungen eine Reihe der strittigen Punkte wesentlich geklärt,
wodurch die Beurteilung der von mir vertretenen Desinfektionsmethode
auch dem Fernerstehenden erleichtert wird.
Ich nehme die Haupteinwürfe nochmals kurz durch, indem ich
in der Hauptsache nur neuere Beweismittel für und wider anführe,
aof ältere, schon zur Genüge besprochene, nur verweise.
Der zeitlich erste, von Krönig gemachte und bis auf den heutigen
Tag festgehaltene und in den Vordergrund gestellte Einwurf ist der
der Scheindesinfektion.
Mit dem Worte »Scheindesinfektion" hat Krön ig, wie die Öster-
reicher sich ausdrücken, einen großen , Schlager' getan. Für die
ungezählten Autpren, die selbst keine Versuche über Händedesinfektion
gemacht haben, — und da sind unsere bedeutendsten Chirurgen und
Gynäkologen nicht ausgeschlossen — genügt dieser Mann und dieses
Wort, um immer und immer wieder den Satz zu wiederholen, der
Alkohol härtet nur die oberste Schicht der Haut; aus diesem Grunde
gibt die Hand zeitweilig keine Keime von ihrer Oberfläche ab. Wird
die Oberfläche aber wieder weich, wie nach einem längeren Wasser-
bade, während einer Operation mit oder ohne Gummihandschuhe,
dann kommen die verheerenden Keime aus der Tiefe hervor und er-
gießen sich über das Operationsobjekt. Der Operateur ist bitter ge-
tauscht worden. Scheindesinfektion.
In der Tat würde der Vorgang sich derart abspielen, wenn man
eine Hand, gänzlich unvorbereitet, mit einem konzentrierten Alkohol
behandeln wollte. Der würde die oberste Schicht härten, in die Tiefe
nicht eindringen und die Bakterien der tieferen Schichten gänzlich
unberührt und lebensfähig belassen.
Anders aber bei unserer Desinfektionsmethode, bei der eine Be-
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348 F. Ahlfeld, [36
seitigung des oberflächlichen Hautfetts und ein Aufweichen der Haut
mit heißem Wasser vorausgehen muß, ehe der Alkohol zur Verwendung
kommt.
Die Scheindesinfektion könnte aber auch dadurch hervorgerufen
werden, daß die durch Alkohol erhärtete Oberfläche der Hand bei der
experimentellen Prüfung die Keime nicht abgeben kann^ wodurch ihre
Abtötung vorgetäuscht würde, ein Fehler des Experiments, der durch
ausgiebige Aufweichung der Oberhaut nach Ausführung der Alkohol-
waschung vermieden werden kann.
Obwohl ich in keiner Veröffentlichung unserer Desinfektionsexperi-
mente zu betonen unterlassen habe, wie die Händeprüfung niemals
ohne vorausgegangenes längeres Aufweichen der Hände erfolgt ist, so
sind doch meine Resultate von den Gegnern, zumeist auf jene Krönig-
sche Behauptung sich stützend, abgetan worden; auch noch, als ich
immer überzeugendere Experimente brachte: die Hand erst nach Auf-
weichung in warmer Fleischbrühe durch eine Stunde lang untersuchte
oder nach über eine Stunde dauernden Operationen unter dem Gummi-
handschuh. Alles half nichts. Es bleibt doch dabei, es war nur eine
Scheindesinfektion.
Auch Fritsch, der früher einmal^) die Tiefenwirkung anerkannt
hatte, als er schrieb: „Ahlfeld hat Keimfreiheit der Finger erzielt.
Daß er dies erreicht hat, hat er bewiesen'',- stellt sich neuerdings ent-
schieden auf die gegnerische Partei. ,^Die Idee, durch Alkohol die
Haut trocken und hart zu machen und dadurch die Abgaben von
Kokken der Hand zu verhindern, ist doch nicht richtig! Nicht fesseln
wollen wir die Kokken, sondern sie wegschaffen.'^ Von dieser
Anschauung der Alkoholwirkung ausgehend, empfiehlt Fritsch, »eine
auflockernde Sublimatwaschung dem Alkohol nachfolgen zu lassen',
„ein crimen laesae majestatis gegen die Alkoholschwärmer''.
Es ist wohl das erste Mal, daß man der kurzen auf den Alkohol-
gebrauch folgenden Sublimatwaschung die Bedeutung einer aufweichen-
den Waschung gegeben hat. In dieser Beziehung ist sie wohl gänzlich
wertlos.
Das Wort „Alkoholsch wärmer'^ kennzeichnet die Situation und
erklärt mancherlei. Einen Schwärmer behandelt man natürlich anders,
als einen ernsthaften Forscher. Man belächelt ihn, man bemideidet
ihn, hat aber nicht nötig, seinen Mitteilungen weitere Aufmerksamkeit
zu schenken. Er ist eben nicht zu bekehren. Habeat sibi.
„Schwärmer" darf man aber, meine ich, einen Kollegen nicht
1) Lehrbuch der Geburtshilfe. 1900. S. 123.
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37] Der praktische Arzt und die Händegefahr. 34g
oenaen, der unermüdlich einer für die Praxis enorm wichtigen Lehre
das Wort redet, sobald sie sich auf kontrollierbare Tatsachen stützt.
Auch die Folgerungen, die Fritsch aus der Annahme einer Schein-
desinfektion macht, fallen fort, wenn die Tiefenwirkung des Alkohols
bewiesen ist Er schreibt: «Gelänge es aber auch, die Hände für den
Moment des Beginns einer Operation keimfrei zu machen, so wissen
vir doch aus unendlich vielen Untersuchungen, daß am Ende einer
Operation die Verhältnisse ganz anders liegen als beim Beginn, daß
die Hände nicht keimfrei bleiben, obwohl sie es vielleicht einmal
waren,"
Das ist zweifellos richtig. Nur ist damit nicht gesagt und bewiesen,
die im Laufe einer Operation auf der Oberfläche der Hand nachweis-
baren Bakterien seien Handbakterien, die infolge einer bloßen Schein-
desinfektion im Laufe der Operation an die Oberfläche gekommen
wären. Es kann sich ebensowohl um Neuinfektion und dann Ober-
flächeninfektion handeln, die gleicherweise die behandschuhte Hand,
wie die vorher absolut keimfreie unbedeckte Hand betrefi^en kann.
Und, um das hier gleich anzufügen, läßt sich diese oberflächliche,
im Laufe der Operation auftretende Beschmutzung, wie im früheren
Abschnitt bewiesen ist, mit Leichtigkeit durch eine schnell ausgeführte
Waschung und Abreiben der feuchten Hand mit Alkoholflanell mit
Sicherheit beseitigen; eine Hantierung, die schneller auszuführen und
billiger ist, als das Ausziehen der benutzten und Anziehen von frischen
Gummihandschuhen, und überdies den Vorteil hat, daß dabei die
Handoberfläche sicherer keimfrei wird, als wenn unter dem ausge-
zogenen Handschuhe sich Keimmassen angesammelt haben, die beim
Ausziehen an die Außenwelt treten.
Mit der Zeit habe ich aber auch in dieser Frage einige Mitstreiter
bekommen, einen oder den anderen freilich wider seinen Willen.
So Schaf fer^), der dem Alkohol früher nur eine mechanische
Wirkung zusprach. Im Gegensatz zu Haegler, Krönig, Paul und
Sarwey, die sämtlich nach der Aufweichung der Hand im Gefolge
einer vorausgegangenen Desinfektion eine auffallende Vermehrung der
Keime feststellten, berichtet er über 15 Versuche, ,in denen ich 15 bis
35 Minuten die Hand nach der Desinfektion in sterilen Flüssigkeiten
aufweichte (zum Teil im sterilen Kasten) oder 1—2^/2 Stunden die
Hinde mit Gummihandschuhen überzog. In keinem einzigen Falle
stellte sich durch die Aufweichung der Hände eine irgendwie nennens-
werte Verschlechterung der Resultate ein''.
1) Experimentelle und kritische Beiträge zur Händedesinfektionsfrage. Berlin
1902. S. 72.
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350 F- Ahlfeld, [38
Weiter erwähne Ich Vogel ^), der die Kontrolle der desinfizierten
Hand im Schwitzkasten vornahm. „Dieses Resultat spricht gegen die
Annahme von Krön ig u. a., daß der Alkohol nur eine Scheindesio-
fektion bedinge, indem er die Haut gerbe, dadurch die Poren verschließe
und die Bakterien in der Tiefe abschließe.^ »Der Umstand, daß der
Schweiß nur wenig infiziert ist, spricht durchaus besonders für die
von Ahlfeld vertretene Ansicht, daß dem Alkohol eine nennenswerte
bakterizide Kraft und auch Tiefenwirkung zukommt. Eine ,GerbuDg'
der Haut mußte doch wohl auch die Sensibilität der Haut abstumpfen.
Ich betonte aber vorn schon, daß die mit Alkohol gewaschene Hand
gegen die Hitze viel empfindlicher ist.*
Reverdin und Massol^) kommen ebenfalls zu dem Resultat, daß
aus den Schweißdrüsen nur wenige Keime geliefert werden. „Eine
Infektion durch den Schweiß der Hände gibt es nicht. Wenn die
Untersuchung nach dem Schwitzen eine bemerkenswert größere Zahl
von Keimen, als vorher festgestellt war, ergibt, so ist die Waschung
der Hand eine ungenügende gewesen. Reichliche Schweißabsonderung
bedingt keine Gefahr für die Operation.""
Die keimtötende Fähigkeit des Alkohols gegenüber den vege-
tativen Formen der Bakterien, also gegenüber der Sepsis, dem Kind-
bettfieber, dem Wundfieber usw., die anfangs ebenfalls bestritten wurde,
hat jetzt von allen Seiten Bestätigung erhalten und zwar aucji im ein-
zelnen genau entsprechend den Resultaten von Untersuchungen, die
ich zuerst mit meinem Assistenten, Dr. Vahle^), zusammen angestellt
und veröffentlicht habe.
Besonders muß ich erwähnen, wie Schäffer seine frühere Stellung
zu dieser Frage verändert hat. Während er in seiner größeren Arbeit
aus dem Jahre 1902^) dem Alkohol gegenüber den an der Hand be-
findlichen Bakterien keine bakterizide Eigenschaft zuerkennt, sondern
den Erfolg als einen rein mechanischen erklärt, berichtet er 1904^):
»Viele Hunderte von Einzelversuchen aber, die ich seitdem angestellt,
haben mich gelehrt, daß der Alkohol allen bekannten Antiseptizis, auch
dem Sublimat in 1 pro mille Lösung — wenigstens feuchten Ob-
jekten und vegetativen Bakterienformen gegenüber — zum mindesten
gleichkommt.^
Ich halte es für wichtig, zum Verständnis von mancherlei Vor-
gängen etwas eingehender auf diese Anschauungsänderung einzugehen.
1) Deutsche med. Wochenschrift 1905, Nr. 30, S. 1179.
2) Revue mddicale de la Suisse Romande 1905, no. 1, p. 35.
3) 4. (1896). — 4) Experimentelle und kritische Beiträge zur Händedesinfektions-
frage. Berlin 1902. S. 66. — 5) Monatsschrift für Geb. u. Gyn. Bd. 19, S. 097.
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39] Der praktische Arzt und die Händegefahr. 351
Schaf Fer war durch folgenden Versuch i) zu der festen Oberzeugung
gekommen, der Alkohol besitze keine keimtötende Eigenschaft:
Er infizierte die Hände mit dem gelben Luftpilz, bürstete in einer Schale mit
150 g Alkohol 6 Minuten lang die Hände ab und goß den Alkohol mit den darin
schwimmenden Gerinnseln durch ein steriles Filter. Nachdem der Alkohol durch-
gelaufen war, wurde mit warmem sterilem Wasser der Filter und sein Inhalt von
Alkohol befreit und schließlich die Filterspitze herausgeschnitten und mit steriler
Bonillon in Petrischale gebracht.
Nach 4 Tagen waren 2—3000 gelbe Kolonien angegangen.
Schäffer, der diesem Versuche »ganz besondere Beweiskraft«
zuschreibt, notiert als Endresultat: ,,Aus diesem einfachen Versuch
gebt mit zwingender Notwendigkeit hervor, daß die keimtötende Kraft
des Alkohols nun und nimmer zur Erklärung seiner sterilisierenden
Wirkung ausreicht.''
Ich habe diesen Schaf ferschen Versuch wiederholen tlich nach-
gemacht und kann die Richtigkeit des Resultats nur bestätigen, nicht
aber den verallgemeinernden Schluß Schäffers, der Versuch be-
wiese, daß der Alkohol nicht bakterizid wirke, denn die folgenden
Versuche beweisen das Gegenteil und erklären den Mißerfolg.
Ich benutzte die gleiche Kultur des Diplococcus citreus, vermischte sie mit
10 com Alcohol absol. und schüttelte das Reagenzglas 10 Minuten. Diese Emulsion
vurde in einen sterilen Filter gegossen, um den Bodensatz untersuchen zu können.
Nachdem der Alkohol durch steriles Wasser aus dem Filter ausgelaugt war (ca. 6 Min.),
vurde die Filterspitze mit steriler Schere abgeschnitten, in eine Petrischale ge-
bracht, mit etwas Bouillon beschüttet und Agar darübergegossen.
Resultat: Die Unmasse von Keimen, die in dem Reagenzgläschen
sich vorfanden, wurden durch Alkohol in 10 Minuten bis auf 3 oder
4 abgetötet. Beobachtungszeit 0 Tage.
Dem Schäfferschen Versuche entspricht genau das Sängersche
Experiment«), über das ich früher^) schon berichtet habe. Die mit Sta-
phylococcus aureus vollgesaugten Streichholzstückchen wurden feucht
in absoluten Alkohol gebracht und dennoch zeigten sämtliche Gläschen
Keimwachstum. Auch Sänger machte denselben Schluß wie Schäffer:
»Es war also dadurch bewiesen, daß Alcohol absolutus auf Staphylo-
kokkus keinen nennenswerten desinfektorischen Einfluß besitzt.'' Auch
diese Versuche erwiesen sich, von mir nachgeprüft, als vollkommen
richtig, aber ebenso stellte ich fest, daß eine Staphylokokkenkultur
desselben Stammes, als Emulsion in Alkohol (96% und 64%) ge-
schüttelt, absolut abgetötet wurde.
Beide Versuche und ihre Gegenversuche bestätigen eine nun
1) Zit unter 4), Seite 65, Versuch 13 (ProtokoU Nr. 66).
2) Verhandl. d. Deutsch. Ges. für Chirurgie, 28. Kongr. Berlin 1899. S. 504.
3) 20. 353.
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352 F. Ahlfeld, [40
ziemlich allseits anerkannte Tatsache: Der Alkohol muO die Bak-
terien frei von gerinnbaren und kontraktionsfähigen Stoffen
finden, wenn er sie abtöten soll, und weiter: Mittels einer zu
starken Konzentration ist er im Beginn seiner Einwirkung
imstande, sich selbst solche Bakterienumhüllungen zu
schaffen.
Infolgedessen wirkt er gegenüber feuchten Bakterien abtötend,
trockene bilden um sich eine Hülle, müssen daher erst angefeuchtet
werden, wenn der Alkohol in sie eindringen und sie abtöten soll.
In diesem Sinne sprechen sich die meisten neueren Arbeiten aus.
Unter anderen experimentierten mit trockenen und feuchten Bakterien
Harrington und Walker.^) Sie prüften Bact. coli, B. pyocyaneus,
B. typhi, B. diphtheriae, anthracis, den Staphylococcus aureus und
albus und kamen zu folgenden Resultaten:
1. Auf trockene Bakterien ist absoluter bis 70%iger Alkohol wir-
kungslos.
2. Sporenfreie Bakterien, feucht mit 40 %igem Alkohol zusammen-
gebracht, werden in 5 Minuten getötet. Manche Konzentrationen
wirken schon in einer Minute.
3. Alkohol unter 40% wirkt langsam und unsicher.
4. Als geeignetste Konzentration gegen trockene wie feuchte Bak-
terien erweisen sich 60—70%.
5. Die Hülle der trockenen Bakterien ist für hoch konzen-
trierten Alkohol undurchdringbar. Wasserhaltiger Alkohol
gibt sein Wasser erst an die Hüllen ab und wirkt erst dann.
6. Bei feuchten Bakterien hat Alkohol über 70% keinen Vorteil
gegenüber dem weniger konzentrierten und man kann zur Hautdes-
infektion mit 60— 70%igem auskommen.
7. Gelingt es, die tiefer in der Haut liegenden Bakterien
mit Alkohol in Berührung zu bringen, so werden meist 5 Mi-
nuten zu ihrer Abtötung genügen.
Ruß^), der die vegetativen Formen der Handbakterien, die pyo-
genen Bakterien und das Bact. coli prüfte, konnte diese schnell mit
90— 70%igem Alkohol abtöten. Von 40% ab wird die Wirkung
mangelhaft. „Bei vorheriger mechanischer Reinigung mit Wasser,
Seife und Bürste werden die an der Haut haftenden oberflächlichen
Keime weggeschwemmt, die tiefer liegenden befeuchtet.^ „Bei dieser
Vorbereitung nehmen die Keime wohl soviel Wasser auf, daß ihre
1) Tbe germicidai action of alcool. Boston med. and surg. Journal 1903, Mty.
2) Zur Frage der Bakterizidie durch Alkohol. Zentralbl. für Bakter. usw. 1904,
Bd. 37, Heft 2, S. 280.
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41] Der praktische Arzt und die Händegefabr. 353
Hfille genügend gequollen ist, um den nun nachfolgenden Alkohol, sei
er nun absolut oder geringgradig verdünnt (—80%), vollen Eingang
zu gewähren/^
Auch Hansen^) bestätigt die Einwirkung des absoluten Alkohols
auf feuchte Bakterien und die der Verdünnungen auf angetrocknete.
Hansen, der an ekzemkranker Haut prüfte, bestätigt außerdem
die von mir festgestellte Tatsache^), daß er „weder unter den Haut-
noch unter den Ekzembakterien eine einzige sporenbildende Art^^ ge-
funden, somit seine Versuche sich nur mit vegetativen Formen befaßt
hatten.
Weiter erwähne ich noch, daß auch Füth^) neuerdings die bak-
terizide Eigenschaft des Alkohol anerkennt; wenigstens entnehme ich
dies seinen Worten: „Ahlfeld hat unstreitig recht, wenn er dem
Alkohol eine desinfizierende Wirkung zuschreibt."
Wirgirc^) setzt, „infolge des größeren Eindringungsvermögens^, die
keimtötende Kraft des konzentrierten Alkohols über die von zwei pro
mille Sublimat.
WeigP) verhinderte die Gerinnung der mit Alkohol in Berührung
zu bringenden StofiFe durch tropfenweises Einträufeln des Alkohols
und durch andauerndes Umschütteln und bestätigt ebenfalls die ent-
schiedene bakterizide Wirkung auf vegetative Formen.
Bei dieser Einmütigkeit der Laboratoriumsversuche bleibt nur die
Frage noch zu erledigen, ob der Alkohol auch die tiefsitzenden Bak-
terien der Haut erreicht. Experimentelle Versuche, unter meiner
Mitwirkung von Rieländer<<) und Fett^) ausgeführt, haben dies be-
wiesen. Dafür sprechen auch unsere Desinfektionsversuche, voraus-
gesetzt, daß unsere Verfahren die Kritik bestehen.
In einer umfangreichen Arbeit hat Sarwey^) unsere experimen-
tellen Verfahren als ungenügend darzustellen versucht. Ich will hier
nicht wiederholen, was ich gegen diese Schrift zu meiner Verteidigung
^Dgcgeben habe^), muß hingegen auf Grund neuerer Versuche und
Erfahrungen zunächst auf meine, von Sarwey so in den Hintergrund
gedrängte Befürchtung eingehen, ein Teil der Sarwey sehen Miß-
1) Tötende Wirkung des Äthylalkohols auf Bakterien und Hefen. Zentralbl.
für Bakt. usw. 1907, Bd. 45, S. 470.
2) 20. 346.
3) Zentralbl. f. Gynäk. 1906, Nr. 33, S. 925.
4) Zeitschr. für Hygiene u. Inf. 1904, Bd. 46, S. 617. 5) Arch. f. Hygiene
1902, Bd. 24, S. 273. 6) 22. 7) 23.
8) Bakteriologische Untersuchungen über Händedesinfektion und ihre Ergeb-
nisse für die Praxis. Berlin 1905.
9) 29.
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354 F. Ahlfeld, [42
erfolge, die er den nicht zu beseitigenden Handbakterien zuschreibt»
kommen auf Luft- und andersartige Nebeninfektion hinaus.
Im vergangenen Jahre habe ich, um auch in dieser Frage durch
eigene Versuche und Beobachtungen mir ein eigenes begründetes Ur-
teil zu schaffen, hauptsächlich mit Petrischalen und festen oder er-
starrenden Nährböden gearbeitet. Diese Experimente haben meine
Befürchtung voll bestätigt, daß die Gefahr einer Verunreinigung
bei Benutzung von Petrischalen viel größer ist als bei Ge-
brauch von Reagenzgläsern.
Die im hygienischen Institute gegossenen Schalen blieben dort erst
stets 24 Stunden zur Kontrolle im Brütofen und nachdem sie mir ab-
geliefert waren und ich sie, wie oben beschrieben, mit einem kräf-
tigen Gummiband versehen hatte, damit Deckel und Schale unter
keinen Umständen sich voneinander entfernen konnten, ließ ich sie
vor dem Gebrauche nochmals mindestens 24 Stunden im Brutraume
stehen.
Selbst von diesen unbenutzten, nicht geöffneten Schalen mußte eine
kleine Anzahl ausgeschieden werden. Von den auch nur sekunden-
weise geöffneten, zeigten etwa 20% Verunreinigungen, die ganz be-
sonders deutlich in den Fällen zu erkennen waren, wo ich auf festen
Nährboden Zahlen oder Figuren — wie oben beschrieben — gezeichnet
hatte und dennoch, weitab von dieser begrenzten Aussaat, einzelne
Keime, also Luftkeime, sich entwickelten.
In Obereinstimmung hiermit beobachteten Stähler und Winckler^)
bei Versuchen an 81 Frauen 50 mal Verunreinigung der von ihnen
verwendeten Platten durch Luftkeime, und Schäffer^) stellte experi-
mentell fest, daß es in einem beträchtlichen Verhältnis nicht gelingt,
Luftverunreinigungen von den Platten fernzuhalten. An anderer
Stelle (Seite 88) gibt er dieser Tatsache durch auffallenden Fettdruck
noch besonderes Gewicht: »Daher ist es unzweifelhaft, daß die etwas
größere Zahl von Kolonien, die nach der Alkoholbürstung bei der
Tageshand angegangen sind, lediglich der ganz unvermeidlichen
Luftinfektion anzurechnen ist.*
Bemerkenswert ist, daß auch Engels^) zugesteht, die ganz ver-
einzelten Keime, deren Entwicklung in seinen Versuchen mit 2% igem
Sublamin-Alkohol die absolute Sterilität verhindert haben, könnten
durch Versuchsfehler entstanden sein, indem beim Gießen der Platten
Eiterkeime aus der Luft übertragen worden sind.
1) Monatsschr. f. Geb. und Gyn. 1809, Juni, S. 737.
2) Experimentelle und kritische Beiträge zur Händedestnfektionsfrage. Beriin
1902. S. 32.
3) Klinisches Jahrbuch 1905, Bd. 13, S. 592.
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43] Der praktische Arzt und die HSndegefahr. 355
Gleich im Beginn meiner Desinfel^tionsversuche, 1805, fiel mir
diese Gefahr bei Benutzung der Schalen auf. Aus diesem Grunde
und um schnell viele Versuche machen zu können, wie es bei meiner
Versuchsanordnung notwendig war, verließ ich den Gebrauch der
Schalen und der festen Nährböden und benutzte Bouillon und Rea-
genzgläser, da die Luftverunreinigung beim Gebrauch letzterer auf ein
Minimum herabsinkt.
Seh äff er würde vielleicht zu noch günstigeren Resultaten zu-
gunsten der Heißwasser -Alkoholmethode gekommen sein, wenn er
aicht eine unbegründete Furcht vor dem Gebrauche flüssiger Nähr-
böden gehabt hätte. S. 29 schreibt er: „Manche Versuchsanordnungen
sind derart^ daß es fast verwunderlich erscheinen kann, wie überhaupt
auch nur in einem Falle Keimfreiheit erzielt werden konnte! Es gilt
dies ganz besonders bei der Verwendung flüssiger Nährböden zur
Prüfung der Händesterilität. Da ein einziger in die Bouillon gelangter
Keim innerhalb eines Tages sich vermillionenfacht und Trübung des
ganzen Röhrchens verursacht, da schon ein kurz dauerndes Öffnen
des Wattestopfens hierzu bisweilen genügt, da die Partikelchen, welche
von der Hand abgekratzt und in das Röhrchen versenkt werden, mit
Leichtigkeit Träger eines Luftkeims sein können, so läßt sich aus der
Trübung des Bouillon röhrchens über die Sterilisierbarkeit der Hand
nie und nimmer ein Schluß gewinnen.^^
Diese Folgerung hat doch nur eine Berechtigung, wenn die Bouillon
sich trübt, nicht aber, wenn sie klar bleibt, wie es bei meinen Ver-
suchen tausendfach (wörtlich genommen) der Fall gewesen ist.
Damit ist die Behauptung, flüssiges Nährmaterial im Reagenzglas sei
v^en der Gefahr der Luftinfektion ungeeignet, auf das glänzendste
widerlegt
Auch Sarweyi) findet sich mit diesem Resultat nicht auseinander:
»Müßten da nicht die meisten, wenn nicht alle Bouillonröhrchen
Ahlfelds getrübt sein, da doch bekanntlich bei der Bouillon ein
einziger Luftkeim genügt, um eine diffuse Trübung des ganzen Röhr-
chens hervorzurufen? Und doch erzielt Ahlfeld trotz alledem Steri-
lität seiner Bouillonröhrchen/^ Die beiden von Sarwey gemachten
Erklärungsversuche sind, was den ersten anbetrifft, es sei so viel
Alkohol mit übergeimpft, daß die Luftkeime sich nicht hätten ent-
wickeln können, hinFällig. Den zweiten verstehe ich nicht.
Küstner, in seinem Referate über diese Antikritik Sarweys,
1) Bakteriologische Untersuchungen über Handedesinfektion usw. Berlin 1905.
S.28.
2) Verhandl. der Deutschen Gesellsch. für Gynäk. 1007, Seite 252.
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356 F- Ahlfeld, [44
gebraucht den Ausdruck, im bezug auf die Abhaltung von Luftkeimen
seien meine Untersuchungen ^^aller Kanteten bar^^ Schon das glan-
zende Resultat, was ich eben erwähnt habe und das durch Schaf fers
und Sarweys Hervorheben dieser Tatsache noch mehr ins Licht
gestellt worden ist, müßte doch Kfistner veranlaßt haben, der An-
gelegenheit etwas mehr auf den Grund zu gehen. Er wurde dann
aus meinen Publikationen ersehen haben, daß ich die Versuche in
einem Räume gemacht habe, der abwaschbare Wände hatte, nur eiserne
und Glasgegenstände enthielt, und daß die Schülerinnen bis zu dem
Augenblicke, wo die Abnahme erfolgte, die Hand in sterilem Wasser
liegen hatten.
Daß in der Tat unser Entbindungsraum, wenn er so zum Ver-
suche vorbereitet war, arm an Luftkeimen war, beweist folgender,
alljährlich im Beginn des Hebammenunterrichts wiederholter Versuch.
Um den Schülerinnen zu zeigen, daß überall in der Luft Keime
vorhanden seien, stellte ich im Anfang der Stunde mehrere Petri-
schalen offen hin und ebenso eine Anzahl Reagenzgläser, die ich
bald mit sterilem Harn, bald mit Bouillon gefüllt hatte, und schloß
sie nach der Stunde wieder. Während sich, je nach der Sauberkeit
des Raumes — im Auditorium ungleich mehr, als im Entbindungs-
raume — auf der Agarbouillon der Schalen Keime entwickelten,
blieben die Reagenzgläser des öfteren vollständig klar, und statt
nach zwei, drei Tagen im Unterricht die Folgen der Luftinfektion
zeigen zu können, brachte ich unveränderte Flüssigkeit mit.
Da nun bei meinen Desinfektionsversuchen die Öffnungen der
Reagenzgläser vor Abnahme des Wattepfropfens, wie üblich, erhitzt
werden, und der heißere Luftstrom des Inneren in der Richtung zur
kälteren Außentemperatur abströmt, so ist dies, abgesehen von der
Kleinheit der Öffnung eines Reagenzglases, gegenüber der einer Petri-
schale, wieder ein Grund mehr, in der Luft suspendierte Keime von
der Öffnung wegzutreiben.
Ein einfacher Versuch, den ich oft wiederholt habe, überzeugt am
leichtesten: Stellt man zwei Petrischalen im gleichen Räume, die eine
auf eine erwärmte Unterlage (ich benutzte ein Glas mit heißem Wasser,
bedeckt mit einem Papier), die andere auf eine kalte, so entwickeln
sich auf der kalten Schale annähernd noch einmal so viel Luftkeime,
als auf der warmen.
Für den Gebrauch flüssiger Nährmedien zum Nachweis von Strepto-
kokken tritt auch, auf Grund umfangreicher Versuche, in neuerer Zeit
Zangmeister ein.^) „Ich verfüge heute über große Untersuchungs-
1) Zeitschr. für Geburtsh. und Gynäk. Bd. 58, S. 427.
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45] I^er praktische Arzt und die Händegefahr. 357
Serien, aus denen hervorgeht, daß flüssige Nährmedien zum Nach-
weis (sc. der Streptokokken) absolut nötig sind; in manchen Fällen
fehlte das Wachstum auf Agar (im Gegensatz zur Bouillon), selbst
wenn in dem betreffenden Sekret mikroskopisch der Nachweis der
Streptokokken schon erbracht war. Ich muß mich deshalb der be-
sonderen Empfehlung der flüssigen Nährböden durch Bumm^ an-
schließen.'*
Ich komme nun zum wichtigsten Punkte der Einwürfe gegen meine
Versuchsmethodik, wodurch eine Erklärung gebracht werden soll, auf
welche Weise meine guten Resultate, gegenüber denen „aller übrigen
Experimentatoren** zustande kämen. Es handelt sich dabei um den
Vorwurf der weniger intensiven Abimpfungsmethode.
Diesen Vorwurf machen mir Sarwey, Engels und Schäffer
die drei, die überhaupt allein meine Methode eingebender geprüft
haben.
Ich beschäftige mich zuerst mit den Arbeiten Paul-Sarweys und
Engels, die, wenigstens' in einer Versuchsreihe, mit zusammen 27
Versuchen, ganz gleichmäßig vorgegangen sind.
Daß ihre Versuche in einem sterilen Kasten vorgenommen sind,
hat, soweit es sich dabei um Abhaltung von Luftkeimen handelte, gar
keine Bedeutung für die Aufklärung der Differenz unserer Versuche,
denn bei meiner Versuchsanordnung sind, wie oben (Seite 550 u. flg.)
schon auseinandergesetzt, Luftkeime in störender Weise nicht in Frage
gekommen.
Soweit es sich um die von Sarwey betonte größere Aufweichung
der Hand im Schwitzbade des Kastens handelt, durch die tiefersitzende
Keime eher an die Oberfläche gebracht wurden, wird folgende Be-
trachtung gerechte Zweifel an der Bedeutung dieses Umstandes er-
wecken:
In Kolumne 9 der Paul-Sarweyschen Tabelle ist der Keimgehalt
der Hand nach einem 10 Minuten dauernden Wasserbade, das im
Anschluß an die Alkoholwaschung vorgenommen ist, festgelegt. Bis
zu diesem Stadium gleicht die Ausführung der Desinfektion und die
Versuchsanordnung genau der meinigen, nur daß ich den Keimgehalt
des Badewassers (Kolumne 8) nicht geprüft habe. Ja, ich habe sogar
die Aufweichung der Hand meist 15—20 Minuten andauern lassen.
Während nun in den 12 Versuchen Paul-Sarweys nur in einem
(Nr. 3, Dr. Meyer) danach die Hand keimfrei war, kam ich bei Proben
mit halbwegs geübten Schülerinnen auf 75% und darüber. Also bei
ganz gleicher Methode solch immense Unterschiede. Auch
1) Verhandl. der Deutschen Gesellsch. für GynSk. X, S. 584.
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358 F. Ahlfeld, [46
gegenüber den Engelsschen Resultaten (Tab. Seite 518) ist dieselbe
Tatsache zu berichten, aus der also unwiderruflich hervorgeht, daß
die Ursachen der Differenz nur in der Ausführung der Rei-
nigungs- und Desinfektionsmaßregeln der Hand oder in der
späteren Behandlung der nach dem Wasserbade gewonnenen
Handabschabsel liegen können.
Gewiß ist die auf die eben beschriebene Prozedur folgende Ab-
reibung der Hand mit heißem sterilem Sand oder Marmorstaub und
Untersuchung desselben auf seinen Keimgehalt eine sehr genaue
Prüfungsmethode. Unmöglich aber konnte deren Resultat befriedigend
ausfallen, wenn die Hände im Stadium vorher (Kolumne 9) ein unbe-
friedigendes Resultat ergaben. In dem einzigen Falle (Nr. 3, Dr.
Meyer), wo die Hände nach dem Bade steril waren, zeigte sich auch
der Keimgehalt des Sandes und der Handoberfläche gleich Null.
Gehen wir noch einen Schritt weiter und berücksichtigen wir die
Differenzen der Resultate der einzelnen Untersuchungen untereinander
bei vollständig gleicher Versuchsanordnung, so werden wir der Lösung
der Frage, woher die Differenz, wieder ein Stück näher kommen.
Schon in der Paul-Sarweyschen Tabelle muß es auffallen, daß ein
Experimentator, Dr. Meyer, obwohl der Keimgehalt seiner Hand vor
Beginn der Reinigung und nach der Heißwasser-Seifenwaschung, wie
bei den übrigen Versuchspersonen, ein überreicher war, dennoch
nahezu Keimfreiheit nach der Alkoholdesinfektion erreichte und auch
bei einem zweiten Versuche das beste Resultat aufwies.
So auch bei den Engelsschen Versuchen. Schaf fer^) macht darauf
aufmerksam, daß Engels bei den Kontrollversuchen meiner Methode
persönlich 100% „gute Resultate^^ erlangt habe, während die Ver-
suche der anderen Herren ein schlechteres Gepräge aufwiesen.
Engels^) erklärt diese Behauptung als nicht zu Recht bestehend.
Doch ist dem so, wie Schäffer angibt, denn Engels hat nicht be-
rücksichtigt, daß Schäffer unter „gute Resultate^^ alle die zusammen-
gefaßt hat, die 0—20 Keime aufwiesen.
In der Tat hat dann Engels in den 5 Versuchen, die er selbst
anstellte, 100% „gute Resultate^S in 10, die von anderen Untersuchern
gemacht sind, finden sich unter 130 Platten nur 116 „gute Resultate^
Also auch hier ein deutlicher Unterschied abhängig von der
Versuchsperson.
Und nehme ich nun gar erst die Versuche von Engels mit seinen
Alkoholgemischen hinzu und von diesen nur die mit Sublamin-Alkohol,
1) Monatsschr. für Geb. und Gyn. Bd. 19, S. 693.
2) Monatsschr. für Geb. und Gyn. Bd. 20, S. 249.
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47] Der praktische Arzt und die Händegefahr. 350
weil Seh äff er ^), und ich^), nachgewiesen haben, daß bei diesen
Versuchen der Alkohol das einzig wirksame Desinfizienz bedeutet,
die Versuche also mit den früheren auf eine Stufe zu stellen sind,
so Blässen die ausgezeichneten Resultate der Versuchsperson Engels
zugute geschrieben werden.
Inwieweit da die Verschiedenheit der Hände, inwieweit die an-
gewendete körperliche und geistige Intensität bei der Desinfektions-
ausfuhrung in Frage kommt, läßt sich aus der Ferne nicht feststellen.
Ich will auf diesen, obwohl für mich ungemein wichtigen Punkt nicht
weiter eingehen, da ich ihn zu wiederholten Malen s) schon be-
sprochen habe.
Nur einige, seit meiner letzten größeren Publikation^) zustimmende
Bemerkungen anderer Autoren seien hier noch erwähnt:
Danieisohn und Heß^) bringen einen sehr überzeugenden Be-
weis von der individuellen Verschiedenheit der Hände. Schon an
der mit Wasser und Seife gründlich behandelten Hand des Dr. Heß
lieflen sich vor der Desinfektion ungleich weniger Keime entnehmen,
«Is von der Hand des Dr. Danielsohn. Weit über 100—1000 bei
letzterem, meist unter 80, ja wiederholt gar keine bei ersterem.
Ein ahnliches Verhältnis bestand auch nach der Desinfektion.
Grasmann^) kommt bei seinen Händedesinfektionsversuchen eben-
falls zur Erklärung auffälliger Unterschiede der Resultate gleichartiger
Desinfektionsverfahren durch die Verschiedenheit der Hände der Ver-
suchspersonen.
Daß ich meine guten Resultate zum Teil den Versuchen an Frauen-
händen gemacht zuspreche, habe ich früher bereits erwähnt. 7)
Ebenso auch, wie körperliche und geistige Anstrengung zu einem
guten Resultate notwendig sind.^) Sehr treffend betont Klemm^) die
Anforderung an Intelligenz von selten des sich Desinfizierenden: „Wir
werden dabei sehen, daß der Vorgang der Händereinigung ein Prozeß
ist, der an die Intelligenz des Betreffenden, sei er nun Arzt oder
Laie, nicht unerhebliche Anforderungen stellt. Wer den ganzen kom-
plizierten Akt schablonenhaft behandelt, darf sich nicht wundern, wenn
seine Resultate hinter seinen Erwartungen und den Anforderungen,
1) Monatsschr. f. Geb. u. Gyn. Bd. 21, S. 193.
2) 29. 1954.
3) 20. 388.
4) 20.
5) Deutsche med. Wochenschr. 1902, Nr. 37, S. 662.
6) Mfinchener med. Wochenschr. 1907, Nr. 42 u. 43.
7) 29. 1955.
8) 20. 365.
0) Deutsche Zeitschr. für Chirurgie Bd. 75, S. 514.
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360 F. Ahlfeld, [48
die man zu stellen berechtigt ist, zurückbleiben. Es gehört zur richtig
durchgeführten Händedesinfektion ein ganz bedeutender Grad geistigen
Konzentrationsvermögens; nur wer über jene bakteriologische Fein-
fühligkeit verfügt und beständig mit einer scharfen Linse vor seinem
geistigen Äuge die einzelnen Etappen der Sterilisation verfolgt, wird
dem angestrebten Ziele, der möglichsten Keimfreiheit der Hand, am
nächsten kommen/^
Bei unseren Versuchspersonen, den Hebammenschülerinnen, habe
ich persönlich diese Aufmerksamkeit übernommen, indem ich während
der Ausführung ununterbrochen darauf hingewiesen habe, wie jetzt
diese, wie nun jene Stelle der Hände bei der Vorbereitung und bei
der nachfolgenden Behandlung mit Alkohol zu berücksichtigen sei,
und da die einzelne Versuchsperson, bei den ungemein zahlreichen
Versuchen, oft an die Reihe kam, so hatten meine Schülerinnen mehr
wie Ärzte und Praktikanten eine wohlgeleitete Desinfektion durch-
gemacht und Erfahrung darin.
Inwieweit in den Versuchen, die Krönig und Blumreich^) einer-
seits, Füth und Meißl^) andererseits angestellt haben, die dabei
tätigen Praktikanten und Hebammen den Anforderungen an die er-
forderliche Genauigkeit bei der Desinfektion entsprachen, kann ich
nicht beurteilen. Die Versuchsanordnung ist eine so komplizierte
und die Zahl der ausgeführten Versuche eine so geringe, daß diese
wenigen negativen Resultate mir nicht beweisend erscheinen gegen-
über meinen Versuchen, die schließlich auch an Genauigkeit der
Abnahmemethode kaum noch eine Steigerung zulassen.
Was würden Krön ig und Blum reich wohl für einen Schluß
gemacht haben, wenn die Hebamme Lahrsow ihre Hand nach be-
endeter Alkoholdesinfektion über eine Stunde lang unter Bewegung
der Finger in ein Standgefäß mit V2 Liter Nährbouillon gehalten hätte
und es wäre kein Wachstum erfolgt, die Bouillon wäre auf Wochen
hinaus klar geblieben? Hätten sie da nicht, wenn sie gerecht urteilen
wollten, sagen müssen: Bei einem derartigen Resultate ist es höchst
unwahrscheinlich, daß noch Keime an und in der Haut vorhanden
waren? Und so fiel ein unter meiner Leitung vorgenommener Ver-
such 3) aus, dem weiter die zahlreichen Versuche entsprechen, in
denen ich statt des Standgefäßes große Nummern von Gummihand-
schuhen benutzte, in denen die desinfizierte Hand in Nährbouillon
suspendiert war.
1) Munchener med. Wochenschr. 1900, Nr. 29, S. 1005.
2) Zentralbl. für Gynäk. 1906, Nr. 33, S. 920 und Arch. f. Gyn. Bd. 72, S. 383.
3) 29. 1955.
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49] Der praktische Arzt und die Händegefahr. 361
Ich meine doch, daß diese Methode an Genauigkeit den eben
erwähnten mindestens gleichkommt. Und fragt man mich, warum
ich, um die Richtigkeit meiner Behauptung von der Tiefenwirkung
des Alkohol zu beweisen, nicht auch die Krönigsche oder Füthsche
Probe gemacht habe, so muß ich auf die Schwierigkeiten hinweisen,
die ein derart komplizierter Weg mit sich bringt. Fehler sind unge-
mein schwer zu vermeiden und jeder Fehler täuscht einen Mißerfolg
in der Desinfektionsmethode vor, Mißerfolge, die erst ausgeglichen
werden, wenn man in großer Zahl diese Versuche wiederholen würde.
D^egen sind meine Handschuhversuche ungemein einfach auszu-
fuhren und wenn Sarwey ausnahmslos andere, d. h. ungünstige Er-
folge gehabt hat, als ich, was bleibt dann anderes übrig anzunehmen,
als daß doch wahrscheinlich die Händedesinfektion an Genauigkeit
zu wünschen übriggelassen hat, oder die nachträgliche Behandlung
des Handschuhinhalts hat Verunreinigung herbeigeführt.
DieBewertung der Händedesinfektionsexperimentegestaltet
sich, je nach ihrem positiven oder negativen Ausfalle, ganz verschieden.
Fällt nach sorgfältiger Händedesinfektion die bakterielle Untersuchung
ungünstig aus, so ist die Zahl der möglichen Ursachen, die teils bei
der Ausführung der Desinfektion, teils bei der experimentellen Prüfung
das Resultat beeinflußt haben können, eine sehr große. Fällt die
Prüfung aber günstig aus, sind keine Keime auf der Platte oder in
der Nährflüssigkeit aufgegangen, dann können die Ursachen, auch
wenn es sich um einen Scheinerfolg handelt, nicht in der mangel-
haften Händereinigung liegen, sondern nur in Prüfungsfehlern. Die
Zahl der Fehlerquellen ist daher eine viel geringere, der einzelne
Fehler leichter erkennbar.
Deshalb sind meine Resultate nach dieser Seite hin viel leichter
zu prüfen, als die der Gegner, die keine oder nur selten eine Keim-
freiheit erzielten und dies um so mehr, da meine Prüfungsmethoden
weniger kompliziert sind, als die der anderen und infolgedessen
auch in großer Zahl ausgeführt werden konnten.
Beim gegeneinander Abwerten der ungünstigen und günstigen Ex-
perimente darf ich zuletzt noch an den von mir bereits referierten^)
Ausspruch v. Behrings erinnern: „Schlechte Resultate zu bringen
ist leicht, gute sehr schwer.*^
Wenn ich jetzt noch einmal zusammenfassend den Vorgang schil-
dere, in welcher Weise die Heißwasser-Alkohol-Reinigung
desinfizierend auf die Hand wirkt, und daran anknüpfend die
einzelnen Momente der Ausführung der Methode anfüge, so kann
1) 20. 355.
KUn. Vortrige, N. F. Nr. 4821/93. (Gynäkologie Nr. 179/80.) Juli 1908. 27
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382 F. Ahlfeld, [50
der mit den Streitfragen weniger bekanme Leser sjch am schnellsten
einen Überblick verschaffen und dem Praktiker ist ge^au die Richiuiig
angegeben, die er einzuschlagen hat^ venn er a«f eine erfolgreiciie
Desinfektion seiner Hand rechnen wilL
Die Wirkung der Heifiwaaser-Alkohol-Desinfektion setzt
si^ aus mthrenen Komponenten znsammen, deren eincelne keinen
genügenden Erfolg erzielen , während richtige AnfeinandedSolge und
Znsammenwirken den Erfolg der Keitnabtotung bte in die tf^ren
Schichten mit sich bringen.
1. Durdi 4ie der Allcoholanwendung vorausgehende Waschung
der Hand mittels S^ife und BCrsie findet
a) *eine erste Entfernung der oberen Epithelschichton ffm^
b) erfolgt eine Verseifeog des oberfUichlichen HautVeiites nnd
c) eine Aufqueltung der tieferen Hautschichten.
2. Die Enifemang der obersten Epitbellagen wird ver^nillstindigt
durch Abspülen and durch Abreiben mit einem trocknen
mS&ig rauhen Handtnchie.
S. Wird nun auf diese so vy>rbereitete Haut konzentrierter
Alkohol mitreis Bürste oder Flanell verrieben,
a) ^ wirkt <der AHGOhol fettlösend^
b) dringt infolge Diffasion in «Me tieferen Schichten der dureli-
feuchtöten Haut> tätet, wahrsK:heiinlich durdi Wasserenteiehung,
die dott lebenden Bakterfen und, indeaa «r naoh «od nach die
nun obere Hautsdii<dit httwt, ermöglicht
; c) eiii weiteres mechanisches Entfernen der nun femeren Haai-
\ schuppen und mit ififien edner weiteren ScMcht ftakterten.
; Wird die Händedesinfektion unter diesen Gestehtqnmkten aus-
] gefehlt, 90 maß der Erfolg der sevn, dafi nach e^iner spüeren Auf-
weichung der obersten Schicht teine, oder unter Umrstäflden ntn* apSr-
[ liehe Ke^ime aus <der l^fe tiacfh oben traten,
l Der Erfolg muß anders smtfatten, wenn in umgekelniier IMhcn-
I folge verfahren wird:
Wendet mfifn erstt den Alkohol bih ohne ^vortiei4ge A»ftwktung
der H^aifl, so wirkt er getbend) n^riegt sidh «ellist den Weg in die
treferefi Schlch^ten, seJne fetilöseiide Eigenschtfft kann weniger wirk-
sam sein, und der Erfolg würde einfach in einem AMwdrsieny Ent-
fernen der oberen Schiebt bestehen.
Jede nachfolgende Aufwoichuag, m^ sie eiQ^eriiDenieU durch ein
Wassenbad erfolgen, mag sie bei Gek^geohek einer Openatioo, auch
unter dem Gummibandschuh durch Sohweiüproduktioa erftrigeo, oSset
den in der zweiten und tieferen Schicht der Haut sitzenden BiJLterJeo
den Weg auf die Oberfläche.
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51] Der praktische Arzt nad 4ie Händegefahr. 303
Bei dieser Art der Händedesitifekiion ist die Oberfläclie der Hand
fiir eine kur^e Zeit keiiMrm oder gir sieril; |e »ekr aber die Haut
aufircicbt, vin fo ahlreicber weniea cBe JBikterfen auf der Hand
werden, DieaeMetfaode, die wiralsSciiaell*Alkofaoldesinfektion*)
be^idiMii wollen» iac mir im Notfali und nur bei einetn sehr kurz
dauemdeo Eingriff za gebrauciaen.
Verveodet man ohne vnrhergegaiigene Aufareiduiog der Hand
sofort wasserhaltigen Alkohol, 60— 40%igeny so gibt der Alkohol zu-
siebst Waaaer zur AufqueUuag der Haut ab und fuhrt dann seine ad-
stt'ingierende Wirkung nieJu in dem Maße aus, wie der wasserarme.
Seiae bakterizide Wirkung iu deoientspoeehend geringer, wie auch
seiae Tiefenwirkung. Es erklärt aber diese Deuiwig die Differenzen
in den ExperlmenteOt wonaeb eiiuelne Uttteraadier beesens Resultate
mit gering kon^eiitri^rceoi, andere mU üäiker konzeatriertem beob-
achtet habea»
Bei der Ausführung der einzelnen Akte der Hindedes-
iafektiQQ siod« IWAir 3«rfid»$tob«igiuf(g der tten aagefilhrteii Punkte,
Einzelheiten von Wigh^gUH, »o^ 4er £rf<rig gesichert werden, und
» M für taiQU keine Frtge: mmefcer Mißerfolg im Experiment rührt
davon her, deJD mf ^Ufße Eiüi6lkm»% «icht geachiet ist
1, A^n b^mz9 warwee W9§s^^ U—4B'' C
*) l9 ^pu^Tpr Zi^lt 9|^$i Sfi}iviffit>ur^*) uwl v.. HtrfT^ Ifir diese SchneU-
desinfel^tion ein^etretei). Schuipburg eippO^blt diM ßeifenwaschung wegzulassen
and Alkohol von ca. 50 X mit Wattebäuschchen einzureiben. Die Keimver-
aii^eniBg tetrug um 99 X. Bei der Versuchsanordnung Ist die langdauernde Auf-
▼•ifteog d^r H4iid ia iiisKlem Wasser «aiterlassen. Aucfc nSchte ich nicht, wie
SchyQfturg e$ ^f^n )>^ ^j 4ifiP^r Vi^rsii^bsait dam mock an der Hand befind-
licben 4)^ohp} ja^^ EpjtwJPk)u^({9ft«RW4»ng 4j[>sprecben.
Mit Recht fragt proße^: ^pWarvin S^liupiburg nach diesen so ausgezeichnet
wirksamen Prozeduren noch die Anwendung eiiies Antiseptikums vorschlägt, ob-
voU er diese selbst Mr fiberflüssig erklärt, ist nicht einzusehen.*
h> in TH ist »9 daa Iu5«hst OMrk^irdfge Erseheinuag, daß die meisten
^^ri^a tti^lt ßynjlk^liigpf ^tff ^iia anülehfge Alkekoldesjafekdon noch das
Sobliinat fol^eii )aji§p;), p\n J^im^l, da^ a)s Häad^esinfiziens weit unter dem Al-
kohol rangiert und außerdem viele N^cht^ile bl^t.
Aach die neue von v. Herff eippfoh)ene Alkohol-Azeton-Desinfektion, ohne
▼Arhtsige Waschung, hake ich ffir eine Schnelldesfnfektion. Ich bin gerade mit
'^ ^fürwg b^PMMgt*
i^it I^pflit ^mp9el))t ßphuffbu^g %piM Methode ffir Kriegswecke und EilfUle.
Auch V. H^rff bctoi^f cl^i) Vpr^fil «lef Sclinelligkelt.
1) Archiv für Klin. Chirpfjjie, Bd. 79, Heft 1. — Deutsche med. Wochenschr.
i807, Nr. 41, S. 1712. — Deutsche med. Wochenschr. 1908, Nr. 8, S. 330.
2) Oerl, Korresp. f. Schweiser Arzte 1908, S. 50. — Hegars Beitr. Bd. 12, S.493.
^) brillier iUiq- Wapheoschr. IflOT, Nr. 28, S. 889. — Munchener med. Wochen-
«lir. 1897, Nr. W-
ZI*
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364 F. Ahlfeld, [52
2. Ehe man zu bürsten beginnt, schäume man die Hände tfichtig
mit Seife ein, reibe die Handflächen beider Hände gegeneinander,
auch die Finger der einen Hand zwischen die der anderen, krfimme
die Finger der einen Hand krallenartig in die der anderen, damit
auch die Fingerkuppen und der Unternagelraum beim Waschen mit
Seife genügend getroffen werde und spüle die Seife zu wiederholten
Malen im Wasser ab, um diese Prozedur mit Benutzung frischen
Wassers zu wiederholen.
3. Folgt Nagelkürzung und Reinigung des Unternagelraums und
des Nagelbetts. — Entgegen der von Haegler vertretenen und von
Engels akzeptierten Ansicht, der Nagel solle 3 mm lang bleiben,
plädiere ich für eine weitgehende Kürzung, so daß man mit Bürste
und Flanell den Unternagelraum direkt treffen kann.
4. Nochmalige kurze Waschung mit Seife, Abspülen.
5. Abreiben der Hand und der einzelnen Finger mit einem trocke-
nen Handtuche.
6. Nun folgtder Hauptakt der präliminaren Reinigung: das Bürsten
mit einer nicht zu kleinen kräftigen Wurzelbürste.
Die saubere Bürste wird in warmem Wasser ein wenig erweicht
— sie nimmt dann besser die Seife an — und nachdem man sie
mehrere Male über die Seifenfläche weggeführt hat, bürstet man die
Hand, genau achtgebend, daß auch jeder Teil derselben, jedes Fingers,
an Zeit und Intensität bei der Bürstung reichlich bedacht werde. Die
schwer zu reinigende faltenreiche Haut des Handrückens muß man
durch Faustbildung straffen und auch jeden einzelnen Finger beim
Bürsten bald einschlagen, bald strecken. Man denlte dabei besonders
auch an den Daumen, den man für gewohnlich nicht so stark zu
beugen pflegt. Ebenso muß man sorgfaltig darauf achten, daß die
Bürste den Unternagelraum gehörig mit berücksichtigt.
Diese Prozeduren (1—6) können bei Zeitüberfluß auf 10 Minuten
und darüber ausgedehnt werden, unter wiederholtem Erneuern des
warmen Wassers. Jedenfalls sollen sie nicht unter 5 Minuten dauern.
7. Abspülen der Seife und Abreiben der Hand und jedes einzelnen
Fingers mit einem trockenen Handtuche.
8. Zur nun folgenden Alkoholdesinfektion benutze man ein größeres
Gefäß und eine reichliche Menge 80— 00% igen Alkohols. Die Bürste
muß vorher in Alkohol gelegen haben. Wir fuhren sie in der Praxis .
in einem kleinen Glaszylinder mit, der oben durch einen Kork ver-
schlossen ist. Bei der Bürstung muß die Bürste tüchtig und oft in
Alkohol getaucht werden und man muß ebenso, wie bei der Heiß-
Wasserwaschung, genau jeden einzelnen Teil der Hand und jedes
Fingers vornehmen, die Hand also bald strecken^ bald beugen, zur
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53] Der praktische Arzt und die Händegefahr. 365
Faust ballen und die Nagelgegend besonders berücksichtigen. Zeit-
dauer mindestens 3 Minuten.
9. Nach der Bürstung folgt die Abreibung mit Flanell. Der sterile
Flaoellappen, 30 cm im Quadrat, wird in Alkohol getaucht, über die
zu desinfizierende Hand gestülpt und nun besonders die einzelne
Fingerkuppe durch stopfende und drehende Bewegungen mit dem
Alkohol in Berührung gebracht, die beste Methode, um bei kurz ge-
schnittenem Nagel den Alkohol unter die Nagelkuppe und in das
Nagelbett hineinzubringen. Zeitdauer 2 — 3 Minuten.
Damit ist die Desinfektion beendet. Soll aber eine experimentelle
Probe stattfinden, so muß der Alkohol aus der Haut mittels sterilen
Wassers ausgelaugt werden. Wir haben dann so verfahren:
10. Die desinfizierte Hand wird unmittelbar aus dem Alkohol in
eine sterile Waschschüssel, die mit 1^/2—21 sterilem, 45° C. warmem
Wasser gefüllt ist, gebracht. Die Schüssel stand schon vorher bereit
und ist mit einem sterilem Leintuch vollständig bedeckt. Das Tuch
wird an einer Stelle etwas gelüftet und die Hand schlüpft aus dem
Alkohol unmittelbar in die Heißwasserschüssel und bleibt, samt dem
Vorderarm, dauernd vom sterilen Tuche bedeckt.
Alle 5 Minuten wird eine zweite gleiche Schüssel daneben gestellt
und die Hand schlüpft wiederum unter dem Leinentuche in diese
Schussel. Wir haben meist drei Schüsseln benutzt, also 15 — 20 Mi-
outen Zeit • auf die Aufweichung und Auslaugung der Hand verwendet.
Wird von den 9 Manipulationen nur eine nicht mit der nötigen
Aufmerksamkeit gemacht oder gar unterlassen, so ist damit vielleicht
ein Grund gegeben, daß, falls eine bakterielle Untersuchung vorge-
nommen wird, das Endresultat nicht nach Wunsch ausfallt.
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Verzeichnis meiner und meiner Schüler Arbeiten
über Händedesinfektion.
1805.
1. Ahlfeld, Die Pflege der Hftnde und ihre Vorbereitung zur geburtshilflichen
Untersuchung. Allgem. Deutsche Hebammen-Zeitung Nr. 7.
2. — , Welche Faktoren sind bei der Desinfektion der Hand xu berücksichtigen?
Monatsschrift für Geburtsh. u. Gynäkol. Bd. 1, S. 262.
3. — y Die Desinfektion des Fingers und der Hand vor geburtshilflichen Unter-
suchungen und Eingriffen. Deutsche med. Wochenschr. Nr. 51.
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4. Ahlfeld und Vahle, Die Wirkung des Alkohols bei der geburtsbUflicbcQ
Desinfektion. Deutsche med. Wocbenschr. Nr. 6.
5. , Die Bedeutung des Chinosols als Antiseptikum. Zentralblatt ffir Gynä-
kologie Nr. 9.
6. Ahlfeld, Einige Bemerkungen zu der Arbeit des Herrn LeedhamoGreen: Ver-
suche über Spiritusdesinfektion der HInde. Deutsche med. Wocbensebrilt
Nr. 23.
7. Stoltenberg-Lerche, Zur Desinfektion der HSnde. Inaug. Dissert. Marburg.
1887.
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gemeine Praxis. Deutsche med. Wochenschrift Nr. 8.
1888.
8. Ahlfeld, Ober Desinfektion der Hände, speziell in der Hebammenpraxis.
Zeitschrift für Medizinalbeamte Nr. 17 u. 18.
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Medizinalbeamten-Vereins, Berlin, 20. September.
11. — , Bemerkungen zu dem Aufsatze des Herrn Dr. Tjaden über Desinfektion
der Hebammenhände. Zeitschrift für Medizinalbeamte Nr. 23.
1888.
12. Winckler, Beitrag zur Frage der Alkoholdesinfektion. Inaugural-Disserution
Marburg.
13. Ahlfeld, Der Alkohol als Desinflziens, ein Beitrag zur Lehre von der Haut-
und Händedesinfektion. Monatsschrift für Geburtsh. u. Gynäk. Bd. 10, S. 117.
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Zentralbl. für Gynäk. Nr. 26.
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Zentralbl. für Gynäk. Nr. 37.
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55] Literatur. 387
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Krönigs »Bemerkungen''. Zentralbl. für Gynäk. Nr. 45.
17. — , Der Seifenspiritus als HSndedesinfiziens. Eine Antwort auf die Berichtigung
der Professoren Paul und Sarwey. Zentralbl. für Gynäk. Nr. 42.
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19. Ahlfeld, Demonstration meiner Händedesinfektionsmethode, mit kulturellen
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Klin. Vorträge Nr. 310/311.
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21. Ahlfeld, Die Zuverlässigkeit der Heißwasser -Alkohol -Händedesinfektion.
Monatsschr. für Geb. und Gyn. Bd. 16, S. 843.
22. Rieländer, Der mikroskopische Nachweis vom Eindringen des Alkohols in
die Haut bei der Heißwasser-Alkohol-Desinfektion. Mit einem kurzen Vor-
wort von F. Ahlfeld. Zeitschrift für Geb. und Gyn. Bd. 47, Heft 1.
23. Fett, Ein weiterer Beitrag zum mikroskopischen Nachweis vom Eindringen
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für Geb. u. Gyn. Bd. 47, Heft 3.
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Lysol, Seifenkresol, Kresolseife. Zentralbl. für Gynäk. Nr. 32.
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anstalten, die dem Lehrzweck dienen, verhüten? Zentralbl. für Gynäk. Nr. 33.
26. — , Plazentalösung und Gummihandschuhe. Zugleich eine kurze Darstellung
des jetzigen Standes der Lehre von der Händedesinfektion. Deutsche med.
Vochenschrift Nr. 50.
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Nr. 11.
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1905.
29. Ahlfeld, Die Rehabilitierung der Hand als geburtshilfliches und chirurgisches
Werkzeug. Deutsche med. Vochenschr, Nr.. 49.
30. —, Die Sublimatgefahr. Allgem. Deutsche Hebammen-Zeitung Nr. 5.
1906.
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Alkohol-Händedesinfektion. Deutsche med. Woch. Nr. 42.
32. — , Kommentar zu dem Aufsatze Zweifels in Nr. 1 des Zentralblatts 1906.
Zentralbl. für Gynäk. Nr. 3.
1908.
33. Ahlfeld, Lysol und Kresolseife. Münchener med. Woch. Nr. 11.
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SammlkäiuVorträge, N.F.Nr.492/493. (Gynäkologie Nr, 179/180.)
Taf.L
Flg.1
Fig.2
Verlag von Johann Ambrosius Barth in Leipzig.
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Samml. klin, VorträgBy N. F. Nr, 492/493. (Gynäkologie Nr. 1 79/180.)
Taf.IV.
Flg. 7
Flg. 8
Verlag von Jobann Ambrosius Bartb in Leipzig
uigiTizea oy l^jOOQlC
SammL kUn. Vorträge, N. F. Nr. 492/493. {Gynäkologie Nr. 1 79/180,)
Taf.V.
FIg.9
Fig. 10
Verlag von Johann Ambrosius Barth in Leipzig.
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SammL klin. Vorträge, N. F. Nr. 492/493. {Gynäkologie Nr. 1 79/180.) Taf. VII 1.
Flg. 15
Flg. 16
Verlag von Jobann Ambrosius Bartb in Leipzig.
uigitizea Dy VjOOQIC
494/95.
(Chirurgie Nr. 145/46.)
Übet den heutigen Stand der Erkennung und
Behandlung der Appendizitis. IL
Erörtert an 550 von Geheimrat Garre behandehen Fällen.
Von
Dr. Ad. Ebner,
Königsberg- Pr.
Schluß von Nr. 489/90/91.
Wenden wir uns nun der Betrachtung der Fälle zu, die von 1804
bis 1907 unter Herrn Geheimrat Garr& an der Rostocker, Königs-
berger und Breslauer chirurgischen Klinik zur Behandlung gelangt
sind, so haben wir es im ganzen mit 550 Fällen zu tun, von denen
513 operativ und 37 konservativ behandelt worden sind. Die Bres-
lauer 177 Fälle verdanke ich einer Zusammenstellung von Herrn
Dr. Capelle, die nachträglich organisch in meine Arbeit von mir ein-
gefügt ist
Die operativ behandelten Fälle habe ich nach dem Stadium, in
welchem die Operation stattgefunden hat, in vier Kategorien eingeteilt.
Es werden unterschieden Fälle, die operiert sind:
a) im chronischen Stadium ^ Sicherheitsoperation, die im unge-
fährlichsten Stadium der Erkrankung vorgenommen wird und gleich-
zeitig dem Patienten die größte Sicherheit auf glatte und definitive
Heilung bietet.
b) im Stadium der zirkumskripten Periappendizitis bzw. der um-
schriebenen AbszeObildung = Spätoperation im Gegensatz zu der Fruh-
operation in den ersten 48 Stunden.
c) im Stadium der diffusen Periappendizitis bzw. ausgebreiteten
Peritonitis appendicularis » Notoperation, die im Stadium der äußer-
sten Not erfolgt aus der Notwendigkeit heraus, dem Patienten noch
KUn.Vortrigc, N. F. Nr.494/95. (Chirurgie Nr. 145/46.) Juli 1908. 34
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458 Ad. Ebner, [2
die letzten Chancen bei der vorhandenen Allgemelninfektion des Peri-
toneums zu bieten.
d) Innerhalb der ersten 48 Stunden nach Beginn des Schmerzan-
falls = (absolute) Frühoperation.
Ausnahmsweise iLann man bereits innerhalb 48 Stunden seit Be-
ginn des Anfalls vor einer mehr oder weniger diffusen Perlappendi-
zltls stehen. Dann wurde die Notoperation mit der absoluten Fruh-
operatlon zu Identifizieren sein.
Die Frage der Operation im Intermediären Stadium wird im Zu-
sammenhang mit den Spätoperationen näher erörtert werden, d& diese
Fälle nur ausnahmsweise bei dringender Indikation zur Operation
gelangten und sonst In der Regel erst nach dem 10. Tage operativ an-
gegangen wurden.
Nachfolgende kleine Tabelle gibt eine gedrängte Übersicht über
die Frequenz und die Mortalität der verschiedenen Kategorien in
den einzelnen Jahrgängen. Die Zahl der gestorbenen Fälle Ist darin
in Klammern beigefügt.
Sicherheitsop. Spätop. Notop. Frühop. Nicht op. Summa
1894/95
—
3
—
—
—
3
1895/96
—
2(1)
2(2)
—
2
6
1896/97
2
10
—
—
3
15
1897/98
6
5
—
—
4
15
1898/99
5
9
1(1)
—
2
17
1899/00
9
9
3(1)
—
1
22
1900/01
14
3(1)
—
2
19
1901/02
22
9
3(2)
—
3
37
1902/03
29
10(2)
3(3)
—
1
43
1903/04
43
9(1)
2(2)
1
1
56
1904/05
53
12(1)
2(2)
3
4
74
1905/06
49(1)
2ö(3)
3
7
2
67
1906/07
114(1)
8(6)
16
12(1)
176
Summa 346(2) 113(9) 27(19) 27 37(1) 550(31)
Man ersieht aus obiger Tabelle ein gleichmäßiges Ansteigen so-
wohl der Fälle in ihrer Gesamtheit, als auch der chronischen Fälle
von Jahr zu Jahr. Es ist dieses wohl als die Folge zu betrachten
der nicht nur bei den Ärzten , sondern auch im Publikum immer
weiter verbreiteten Kenntnis von dem schnellen und sicheren Erfolg
einer Operation namentlich im chronischen Stadium, gegenüber der
unsicheren Prognose bezüglich späterer Anfälle bei konservativer Be-
handlung.
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3] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 45g
Auffallend ist es^ daß trotzdem die Spät- und Notoperationen sich
der Zahl nach auf einem ziemlich gleichbleibenden Niveau bewegen.
Dieses konnte vielleicht die Folge der immer zahlreicheren Eingriffe
im chronischen Stadium sein, die bereits nach dem ersten Anfall
vielfach vorgenommen werden , so daß es naturgemäß immer seltner
zur Entstehung der schwereren Krankheitsbilder kommt, welche die
Spat- und die Notoperation erforderlich machen«
Hingegen bewegt sich die Zahl der Frfihoperationen, welche erst
mit dem Jahr 1903/04 einsetzt, in schnell aufsteigender Linie und
wird voraussichtlich mit der immer größeren Tendenz zum möglichst
frfihzeitigen Eingriff auch ferner noch ansteigen.
Bezüglich der Mortalität ergibt naturgemäß die Sicherheits-
operation das beste Ergebnis mit 2 Todesfällen an Peritonitis auf
346 Operationen. Das entspricht einem Prozentsatz von 0,58 Todes-
fallen, der mit den Ergebnissen anderer Statistiken ziemlich über-
einstimmt.
So hat Kümmel auf 695 Sicherheitsoperationen 4 Todesfälle =
0,57% zu verzeichnen. Die Todesursachen waren einmal Peritonitis,
zweimal Lungenembolie und einmal Pneumonie.
Haber er berichtet aus der v. Eiselsbergschen Klinik von 199Sicher-
Iieitsoperationen ohne Todesfall, ebenso hat Mikulicz in 5 Jahren
104 Sicherheitsoperationen ohne Todesfall zu verzeichnen gehabt.
Roux hat von 702 Sicherheitsoperationen einen Fall an Ileus und
einen anderen Patienten an Embolie verloren = 0,28% Mortalität.
Dagegen hat Sprengel auf eine erheblich höhere Zahl von Sicher-
heitsoperationen 0,86 Todesfälle zu konstatieren.
Hierzu ist zu bemerken, daß kleinere Statistiken wie die von
Haberer und Mikulicz leichter günstige Resultate liefern können,
als die größeren, bei denen gewisse Komplikationen leichter das
Gesamtresultat trüben werden. Man wird eben nie an einem größeren
Material aus verschiedenen Altersklassen gewisse postoperative Kom-
plikationen wie Embolien, Bronchopneumonien usw. ganz ausschalten
können. Diese Komplikationen dürften auch für die Zukunft die
Mortalität der Sicherheitsoperation nicht viel unter 1% herunter-
sinken lassen.
Wesentlich höher gestaltet sich nach unserer Tabelle die Mortalität
der Spätoperation im Stadium der umschriebenen Periappendizitis.
Es kommen hier auf 1 13 Operationen bereits 0 Todesfälle = 7,9%
Monalität.
Ein fast gleichartiges Verhältnis konnte Haberer konstatieren, der
auf 51 Fälle von Spaltung periappendizitischer Abszesse 3 Todesfälle
=5 5,9% zu verzeichnen hatte.
34*
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46Ö Ad. Ebner, [4
Auch Silbermark (Mosettig) berechnet bei den einfachen Formen
der Periappendizitis die Mortalität ebenfalls auf 6%.
Sprengel hat 5—10% Mortalität gefunden, wobei er allerdings
unterscheidet zwischen Früh- und Spätoperation der umgrenzten Peri-
appendizitis.
Dann eh 1 hat in der Berliner chirurgischen Klinik auf 44 peri-
appendizi tische Abszesse 5 Todesfälle gefunden » 11)6%, welche Zahl
noch die Kümmeische Mortalitätsziffer etwas übersteigt.
Nach diesen wenigen Vergleichszahlen dürfte die Durchschnitts-
ziffer der Mortalität bei operativer Behandlung der umschriebenen
bzw. abgekapselten Entzündung zwischen 5—10% schwanken. Dabei
ist zu berücksichtigen, daß das Material der einzelnen Statistiken er-
hebliche Verschiedenheiten aufweisen muD. Der Begriff der um-
schriebenen Periappendizitis liegt zwischen ziemlich weiten Grenzen,
je nachdem die Umgrenzung der Entzündung früh oder spät erfolgt
ist, und je nachdem ein kleinerer oder größerer Teil des Peritoneums
davon ergriffen ist. Es kann sich demnach dabei um Fälle von ganz
verschiedener Schwere handeln.
Ferner kann der Zeitpunkt der Operation ein ganz verschiedener
sein, je nachdem der Eingriff kurz nach Vorübergehen des interme-
diären, des Zwischenstadiums, also nach dem 7.— 8. Krankheitstage,
oder erst bei dem deutlichen Nachweis einer vorhandenen AbszeO-
bildung erfolgt. Dementsprechend sind auch die Unterschiede in den
Ergebnissen der einzelnen Zusammenstellungen zu erklären.
Die höchste Mortalitätsziffer finden wir naturgemäß bei der Not-
operation im Stadium der allgemeinen Periappendizitis bzw. Peri-
tonitis appendicularis diffusa. Es kommen daselbst nämlich auf
27 Operationen 19 Todesfälle = 70,4% mit tödlichem Ausgang.
Sämtliche geheilten Fälle außer 2 sind in den ersten 48 Stunden
nach dem mutmaßlichen Zeitpunkt der Perforation bzw. der akuten
Verschlechterung des Leidens, alle übrigen Fälle sind später zur
Operation gelangt. Um gleichwertige Ergebnisse zu erzielen, müßte
man für die Notoperation eigentlich nur die Fälle heranziehen, die
später als 48 Stunden nach erfolgter Perforation operiert sind, da
dieser Zeitpunkt bekanntlich die Grenze bildet zwischen günstiger
und ungünstiger Prognose für den weiteren Verlauf der betreffenden
Fälle. Nur darf man dabei nicht die Fälle vor 48 Stunden schlecht-
weg als Frühoperationen bezeichnen, sondern es empfiehlt sich, diese
Fälle unter dem Namen der relativen Frühoperation gehen zu lassen,
die ja viel später nach Beginn des Schmerzanfalles erst auf die rela-
tive Indikation der Perforation hin unternommen wird im Gegensatz
zu der absoluten Frühoperation, die allein auf die absolute Indi-
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S\ Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 461
katlon des Schmerzanfalles hin in jedem Falle Innerhalb der ersten
48 Stunden unternommen wird. Es liegt auf der Hand, daß mit dem
Hinzunehmen der relativen Frfihoperation das Gesamtresultat der
Spätoperation ein verschiedenes sein wird je nach der Zahl der
Fälle, die in den ersten 48 Stunden nach Eintritt der Perforation
operiert sind«
Dementsprechend erhöht sich in unserer Tabelle nach dem Aus-
scheiden der relativen Frflhoperationen die Mortalität von 70,4% für
alle Fälle bis auf 85%, während auf die (relative) Frflhoperation der
diffusen Periappendizitis bei unserer kleinen Statistik dann das Er-
gebnis von 14,3% Mortalität entfällt.
Haberer berichtet bei 33 Fällen von diffuser Periappendizitis von
25 TodesfiUlen. Das ergibt 76% Mortalität Sprengel findet 1901
die Mortalität der freien Periappendizitis bei Frfihoperation mit 44%,
bei Spätoperation mit 70%. Im Jahre 1005 hat dann derselbe Autor
auf 76 relative Frflhoperationen nur noch 4 Todesfälle « 4%, womit
er das Ergebnis unserer Aufstellung erheblich übertrifft, während auf
160 Spätoperationen nur 40 Todesfalle »25% Mortalität entfallen.
Letzteres Ergebnis namentlich muß als ein überaus gfinstiges bezeichnet
werden und ist wohl mit auf die frühere Operationszeit und die fort-
geschrittene Technik des Operateurs zurückzuführen*
Etwas schlechter, aber immer noch relativ günstig ist das Ergebnis
bei Silbermark, der auf die Frühoperation 10% und auf die Spät-
operation der freien Periappendizitis 45,9% Mortalität findet.
Wesentlich höher ist bereits die Mortalität bei Trendelenburg,
der auf 86 Fälle freier Periappendizitis mit 55 Todesfällen auf 64%
Mortalität kommt Und zwar heilten bei der Operation am ersten
Tage 86,6%, am zweiten Tage noch 48%, später dann 0% der ge-
samten Fälle. Damit übertrifft Trendelenburg noch das ungünstige
Ergebnis unserer Statistik der Notoperation nach 48 Stunden.
Dannehl an der Berliner Chirurg. Klinik unterscheidet bei seiner
Aufteilung zwischen Appendicitis perforativa, gangraenosa, akut pro-
gredienter und allgemeiner Periappendizitis. Fassen wir diese 4
Gruppen unter dem Titel der Periappendicitis destructiva zusammen,
so ergeben dieselben auf 57 Operationen 42 Todesfillle = 74,4 % Mor-
talität
v. Mikulicz hatte 1003 auf 24 Fälle von freier Entzündung nur
4 Heilungen = 83% Mortalität.
Mit am höchsten kommt Kümmel in seiner Aufstellung, der auf
82 Operationen 73 Todesfälle = 89% Mortalität konstatieren konnte.
Es schwanken demnach die Mortalitätsangaben der Notoperation
bei den einzelnen Zusammenstellungen zwischen 25—93%, je nach
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462 Ad. Ebner, [6
der Zahl der früher oder später operierten Fälle, welche darin ver-
treten ist, und nach der Auffassung des weiten Begriffes der allge-
meinen Peritonitis seitens der Autoren. Ein einheitlicheres Ergebnis
wird sich aus eben diesem Grunde gerade bei der Notoperation wohl
kaum jemals erzielen lassen.
Kommen wir schließlich zu der Mortalität der absoluten Früh-
operation in den ersten 48 Stunden nach dem Beginn des akuten
Schmerzanfalles überhaupt, so finden wir dieselbe in unserer kleinen
Zusammenstellung von 27 Fällen mit dem befriedigenden Ergebnis
von 0% vertreten. Den gleichen günstigen Prozentsatz finden wir
auch von Nordmann, C. Dowd, Dannehl, Karewski und anderen
Autoren angegeben^ während Mahar 2,4% und Israel 2% Mortalität
gefunden hat. Das günstige Ergebnis unserer Zusammenstellung wird
auf 2,9% Mortalität herabgesetzt, wenn wir die 7 Notoperationen
innerhalb 48 Stunden nach der Perforation noch hinzunehmen, die
ja in die Kategorie der absoluten Frühoperationen nicht eigentlich zu
rechnen sind, da sie zu einem anderen Zeitpunkt und aus anderer
Indikation heraus unternommen sind.
Die Differenz der Ergebnisse bei den verschiedenen Autoren er-
klärt sich hier wohl zum Teil aus der zeitlichen Verschiedenheit des
Beginns der Erkrankung mit dem Manifestwerden der ersten Sym-
ptome derselben. Der letztere Zeitpunkt kann naturgemäß für die
klinische Zeitberechnung des Operateurs der einzig maßgebende sein.
Da aber der Krankheitsprozeß oft schon eine Zeitlang vorher be-
standen haben kann, so kann der tatsächliche Zeitraum vom Beginn
der Erkrankung bis zu der angeblichen Frühoperation oft auch ein
erheblich längerer sein als 48 Stunden. Daraus erklären sich dann
einmal die auffallend weit vorgeschrittenen pathologischen Verände-
rungen, die bisweilen so früh zu konstatieren sind, und andererseits
eben die Mortalitätsdifferenzen, die einzelne Statistiken aufzuweisen
haben und auch ferner aufzuweisen haben werden.
Die Besprechung der Mortalität im Zwischenstadium, das be-
kanntlich vom 3. — 8. Krankheitstage in der Regel gerechnet wird,
behalte ich mir für die nähere Erörterung der Spätoperationen vor.
Wenden wir uns zunächst der näheren Besprechung der Sicher-
heitsoperationen im chronischen Stadium zu, so können wir die-
selbe ziemlich summarisch gestalten, da die einzelnen Fälle mit we-
nigen Ausnahmen nichts Abweichendes von dem typischen Krankheits-
verlaufe bieten.
Bezüglich des Geschlechts der Patienten finden wir dem Ergebnis
anderer Aufstellungen entsprechend vorwiegend das männliche Ge-
schlecht betroffen. Es entfallen von 346 Fällen 220 Erkrankungsfalle
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7] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 463
auf das männliche, 126 Fälle auf das weibliche Geschlecht. Das ent-
spricht analog den anderen Statistiken einem ganz erheblichen Unter-
schied der beiden Geschlechter, nämlich 63,6% männlichen und 36^4%
weiblichen Patienten,
Dannehl hat in seiner Aufstellung einen erheblich höheren Unter-
schied, nämlich 135 Männer und 52 Frauen gefunden. Diese Zahl
entspricht einem Verhältnis von 72,2%: 27,8%. Fast genau dasselbe
Prozentualverhältnis hat Hoffmann in seiner Sammelstatistik von
2131 Fällen mit 1544 Männern und 587 Frauen berechnet. Er erhielt
üämlich danach ein Verhältnis von 72,4%: 27,6%.
Auch Sprengel hat in seinen zahlreichen gesammelten Aufstel-
lungen der verschiedensten Autoren bis auf wenige Ausnahmen eine
fiberwiegende Beteiligung des männlichen Geschlechts an der Appen-
dixerkrankung feststellen können. Die Gründe fGr diese Erscheinung
haben wir bereits bei der Ätiologie der Erkrankung des näheren be-
sprochen«
Dem Alter nach verteilen sich die Patienten auf die einzelnen
Dezennien folgendermaßen: Von 1—10 Jahren: 16 Fälle, von 11 — ^20:
98, von 21—30: 124, von 31—40: 68, von 41—50: 27, von 51—60:
10 und von 61 — 70 Jahren 3 Fälle. Es ergibt sich hieraus ein er-
hebliches Ansteigen der Erkrankung vom 10. bis 30. Jahre. Danach
erfolgt ein ziemlich steiler Abfall der Frequenz bis auf nur 3 Fälle
Im letzten Dezennium.
Die Zahl der vorausgegangenen Anfälle bewegt sich zwischen
1—17 Anfällen von wechselnder Schwere und zwar war vorausge-
gangen 1 Anfall in 86 Fällen, 2 in 93, 3 in 76, 4 in 38, 5 in 26,
6 in 14, 7 in 4, 8 in 4, 9 in 1, 11 in 3 und 17 AnFälle in 1 Falle. Da-
nach entfällt auf die Mehrzahl der Operationen, nämlich 255, eine
Zahl von 1—3 vorausgegangenen Anfällen. Die darüber hinaus-
gehende Zahl der Anfälle verteilt sich auf nur 91 Fälle. Man ersieht
daraus, daO die Mehrzahl der chronischen Fälle verhältnismäßig früh
zur Operation gekommen ist.
DerZeitpunkt der Operation liegt innerhalb der ersten9Wochen
nach dem letzten Anfall in 208 Fällen. 129 Fälle verteilen sich auf
die 10.— 50. Woche nach dem letzten Anfall, während 9 Fälle nach
1 Jahr und noch später zur Operation gelangten I
Die Behandlungsdauer der chronischen Fälle beträgt 8 bis
20 Tage in 197 Fällen, 21—30 Tage in 106 Fällen, 31—40 Tage
in 22 Fällen, 41—50 Tage in 12 und 51—60 Tage in 9 Fällen.
Demnach liegt für die meisten Fälle, nämlich 303 Patienten, die
Behandlungsdauer zwischen 2 — 4 Wochen. Daß bei den übrigen
43 Fällen ein so langer Zeitraum von 31—60 Tagen zur Heilung
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464 Ad. Ebner, [8
erforderlich war, erklärt sich daraus, daß die Behaodlungsdauer
vom Zeitpunkt der Aufnahme ab gerechnet wird, und daO bei einer
Anzahl von Fällen erst eine gewisse Zeit zum Abklingen des letzten
Anfalles in der Klinik notwendig war, bevor zur Operation ge-
schritten werden konnte. Dazu kommen noch diejenigen Fälle, deren
Heilung sich durch postoperative Komplikationen nachträglich ver-
zögerte.
Der Processus vermiformis ist in sämtlichen 346 chronischen
Fällen entfernt worden.
Von anamnestischen Angaben findet man die fibliche Trias der
Appendizitis fast in allen Fällen vorausgegangen: Schmerz und Dnick-
empfindlichkeit in der Regio ileocoecalis, mehr minder hohes Fieber
und Obstipation. Seltner Übelkeit und Erbrechen und noch seltner
Durchfälle und Urinbeschwerden.
Blasenbeschwerden werden im ganzen in 17 Fällen angegeben.
Sie sind bedingt durch meist ältere Adhäsionen an der Blase als Re-
siduen des Obergreifens einer früheren Entzündung auf den mit einem
Peritonealüberzug bedeckten Teil der Blase. Der Prozentsatz von
5,0% dafür auf 346 Fälle dürfte als auffallend gering zu bezeichnen
sein.
Vorausgegangene Durchfälle sind bei 20 Patienten vermerkt
= 5,8%. Einmal war der betreffende Fall gleichzeitig mit Blasen-
beschwerden verbunden. In 2 Fällen (59 und 194) war früher ein
Durchbruch in den Darm erfolgt, der sich durch Eiterabgänge im
Stuhl äußerlich manifestierte.
Schmerzen in das rechte Bein ausstrahlend werden im Fall
108 und 96 angegeben. Im letzten Fall wurde auch gleichzeitig über
Schmerzen geklagt, die in die rechte Schulter ausstrahlten ähnlich
einem Anfall von Gallenkolik.
Eine Venen thrombose rechts gelegentlich eines früheren An-
falls hatte Fall 7 vor 4 Jahren durchgemacht. Seit 2^/2 Jahren be-
stand in dem Fall noch eine Eierstockentzündung links. Derselbe
Fall bekam dann während des Heilungsverlaufes nach der Appendek-
tomie eine Thrombophlebitis der Vena femoralis links, die die Be-
handlungsdauer auf 26 Tage verlängerte. Das Nähere über diese
Komplikation wird später besprochen werden. Die gleiche Kompli-
kation war in 3 Breslauer Fällen vorausgegangen, so daß sie mit
4 Fällen auf einen Prozentsatz von 1,1 % kommen.
Gallenkoliken ohne Ikterus sollen in einem Breslauer Fall so-
wie in meinem Fall 46 seit 8 Jahren bestanden haben. In letzterem
ist nur ein appendizitischer Anfall 8 Wochen vor der Aufnahme mit
hohem Fieber angegeben. Eine Revision der Gallenblase auf Steine
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9] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 465
ist intra operationem nicht erfolgt Die Gallenkoliken ohne Ikterus
dfirften vielleicht eher früheren katarrhalischen Appendikularkoliken
entsprochen haben, da der Processus in diesem Falle relativ hoch
verlagert gefunden wurde. Der Prozentsatz beträgt mithin 0,6%.
Das vorausgegangene Erbrechen soll in 2 Fällen (2 und 120)
einen blutigen Charakter gehabt haben: ob als Folge eines gleich-
zeitig vorhandenen Magengeschwüres oder einer Schleimhautblutung
durch die Anstrengung des vorausgegangenen Brechaktes Ist aus der
Krankengeschichte nicht zu ersehen«
Brustfellentzündung rechts mit reichlicher Eiterentleerung per
OS war im Fall 171 im AnschluD an einen vor 8 Wochen vorausge-
gangenen Appendizitisanfall aufgetreten und bis zur Aufnahme des
Patienten in die Klinik spontan zur Rückbildung gelangt. Ferner ist
diese Komplikation in 2 Breslauer Fällen verzeichnet ohne nähere
Angabe der Seite.
Ein Typhus war in 3 Fällen vor 1 Jahr vorausgegangen. Ob
dieser in einem ätiologischen Zusammenhang mit der letzten Eiiran-
kung stehen könnte, ist nicht zu sagen, da nach dem Journal eine
Untersuchung auf Typhusbazillen nicht vorgenommen ist Möglich
erscheint mir die Annahme, daß vereinzelt auch der angeblich voraus-
gegangene Typhusanfall bereits einem verkannten Appendizitisanfall
entsprochen haben kann.
Sicherer erscheint ein solcher Zusammenhang mit einer Infektions*
krankheit schon im Fall 168, wo der Anfall in direktem Anschluß an
eine vorausgegangene Masernerkrankung mit hohem Fieber als
erster Anfall überhaupt eingesetzt hatte. Sonst ist anamnestisch nur
noch in 2 Fällen ein Hinweis auf eine vorausgegangene Infektions-
krankheit in Gestalt einer Angina zu finden.
Erwähnt sei schließlich noch, daß in je 2 Breslauer Fällen , Leber-
schmerzen mit Ikterus*, sowie Adnexbeschwerden angegeben
werden. —
Ätiologisch sind äußere Veranlassungen für den Anfall nur sehr
selten, nämlich in 5 Fällen angegeben. Dieselben bestanden 3 mal
in einem Stoß gegen den Leib. In 1 dieser Fälle wurden die be-
kannten kleinen punktförmigen Hämorrhagien auf der Schleimhaut
des Appendix gefunden. Ob dieselben hier möglicherweise auf das
Trauma zurückzuführen sind, möchte ich nicht entscheiden, halte es
aber nicht für wahrscheinlich. In 2 weiteren Fällen war der Anfall
nach schwerer körperlicher Anstrengung bzw. nach schwerem Heben
und Tragen aufgetreten. In 5 Breslauer Fällen sind Appendizitis in
der Familie erwähnt; in diesen Fällen war fast immer die Länge des
Processus auffallend, die einmal sogar bis 17 cm betrug.
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466 Ad. Ebner, [10
Inzisionen zirkumskripter periappendizitischer Exsudate
waren vorausgegangen in 17 Fällen « 5% der Gesamtzahl.
Im Fall 78 hatte dieselbe vor 1 Jahr stattgefunden und war ohne
Fistelbildung geheilt.
Im Fall 122 war vor 3 Jahren ein periappendizitisches Exsudat
inzidiert worden. Im Anschluß daran blieb eine Fistel zurück, die
sich nach 0 Monaten spontan schloß. Es bildete sich dann allmählich
eine Narbenhernie aus, die bis zur Aufnahme bestand. Die Operation
ergab im Bruchsack der Narbenhernie die Flexura hepatica und den
Appendix mit grünlich fibrinösen Massen bedeckt. Die gegen die
Spin. ant. sup. unter der Haut gelegene Tasche war mit einem sero-
fibrinösen Exsudat gefüllt
Im Fall 159 war zuerst eine Heilung der Inzisionswunde eingetreten.
Später brach die Narbe wieder auf und entleerte eine Zeitlang Eiter^
um schließlich spontan zu heilen.
Eine Fistel war zurückgeblieben in 5 Fällen. Im Fall 203 war
bei einem vor 35 Wochen vorausgegangenen Anfall eine dreifache
Inzision wegen multipler Abszeßbildung notwendig geworden. Es
fand sich später eine alte Perforation an der Basis des Processus
vermiformis, die wohl für die Fistel verantwortlich zu machen ist
Im Fall 218 waren früher 2 Abszesse inzidiert worden, ob eine Fistel
zurückblieb ist nicht gesagt Dagegen stellte sich auch bei diesem
Patienten im Laufe der weiteren Zeit eine Narbenhernie ein. In
sämtlichen Fällen wurde die Fistel bzw. die Narbenhernie durch die
Operation glatt beseitigt.]^
Wenden wir uns nun dem intra operationem erhobenen Be-
fund zu, so finden wir zunächst ältere bzw. schwerere Verwachsungen
in 175 Fällen = 50,6% angeführt Leichtere Verwachsungen allein be-
standen in 127 Fällen - 36,7% der gesamten Fälle. Gar keine Ver-
wachsungen sind angegeben in 44 Fällen « 12,7%.
Was die Veränderungen am Appendix selbst anbelangt, so ist
eine Auftreibung bzw. Retention des Inhalts in 79 Fällen == 22,8% an-
gegeben.
Ulzerationen ohne Perforation finden sich in 12 Fällen = 3,4%.
Eine davon saß an der Spitze und befand sich kurz vor der Per-
foration. In 1 Falle fanden sich 2 und in 2 Fällen fand sich 1 bis
unter die Serosa reichende Ulzeration. Man sieht auch hier wieder,
wie dringend bisweilen die Indikation für einen operativen Eingriff sein
kann, ohne besondere äußere Warnungszeichen.
Perforationen am Appendix ließen sich nachweisen in 44 Fällen
= 12,7%. Bezüglich der Lokalisation derselben finden wir 12mal die
Spitze, 5 mal die Mitte und 11 mal die Basis bzw. das untere Drittel
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1 1] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 467
des Appendix angegeben. In 1 Fall zeigte nur noch eine binde-
gewebige Brücke von 6 cm Länge den Zusammenhang mit dem Frag-
ment des Processus an. In 3 Fällen war die Spitze mit dem Cöcum
verwachsen und in dieses hinein perforiert. In 3 Fällen handelte es
sich auch um Perforationen des Darmes in der Nähe des Processus.
Und zwar bestanden in 1 Fall davon gleichzeitig 2 Perforationen am
Dünndarm und 1 am Cöcum, im zweiten Fall eine Perforation an
der Basis des Processus und eine am Cöcum , und im dritten Fall
bestanden schließlich 2 Perforationen am Dünndarm, deren Charakter
als Rückperforationen im Krankenjournal in Erwägung gezogen wird.
Die gleiche Entstehungsmöglichkeit dürfte auch für die Darmperfora-
tionen der beiden anderen Fälle in Betracht zu ziehen sein. In den
übrigen Fällen ist eine nähere Angabe nicht vorhanden.
Eine Verdickung der Wand des Processus wird hervorgehoben
in 75 Fällen = 21,4%. Kleine Hämorrhagien der Schleimhaut
sind erwähnt nur in 4 Fällen = 1,1%.
Keine makroskopisch nachweisbare pathologische Ver-
änderung am Processus fand sich in 12 Fällen = 3,5%, in denen
danach abgesehen von dem mikroskopischen Befund, der in den Jour-
nalen nicht verzeichnet ist, die Operation als überflüssig erscheinen
konnte. Immerhin ist dieser Prozentsatz von 3,5%, in dem die Ope-
ration vielleicht nicht nötig war, doch als ein geringer zu bezeichnen
im Verhältnis zu den Fällen, ^reiche sämtlich die Operation dringend
indiziert erscheinen ließen. Interessant sind die von Dr. Capelle
zusammengestellten anamnestischen Angaben der 7 Breslauer Fälle
ohne makroskopischen Befund, welche ich hier kurz einschieben
möchte. Der erste derselben hatte angeblich vor 9 Jahren einen
einzigen leichten Anfall nach Trauma (Bauchaufschwung) erlebt und
kam wegen chronischer Obstipations- und Blasenbeschwerden zur
operativen Behandlung. Bei dem zweiten sprachen die von vornherein
milden Beschwerden ohne eigentlichen Anfall für eine sog. Appen-
dicitis larvata. Bei dem dritten Fall war 1 Jahr zuvor 1 schwerer,
11 wöchentlicher Anfall vorausgegangen. In 3 anderen Fällen war
schon die klinische Diagnose unklar geblieben, einmal gegen Hysterie,
das zweite Mal gegen eine gynäkologische Affektion (Adnexe) und das
dritte Mal gegen Dickdarmtuberkulose. Bei dieser letzten Patientin
waren seit 1 Jahre Durchfälle vorausgegangen und ziehende Schmerzen
in der Blinddarmgegend zurückgeblieben. Die Operation präsentierte
einen klinisch vorher festgestellten, hühnereigroßen, dem Cöcum auf-
sitzenden Tumor, der makroskopisch aus schwartigem Gewebe bestand
und mit dem Netz verwachsen war. In seiner Nähe lag der Appendix.
Ferner klarer Aszites im Peritoneum.
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468 Ad. Ebner, [12
Die mikroskopische Untersuchung des schwartigen Gewebes (Probe-
exzision) ergab keinen für Tuberkulose charakteristischen Befund.
Trotzdem blieb auch nach der Epikrise der Fall unklar und auf Dick-
darmtuberkulose suspekt.
Kotsteine fanden sich insgesamt in 37 Fällen » 10,7%. Davon
waren in 8 Fällen mehrere Steine gleichzeitig vorhanden und zwar
2 Steine in 4 Fällen, 3 Steine in 1 Fall und 4 Steine in 4 Fällen. In
1 Fall waren die Steine deudich facettiert. Die Gr6ße der Steine
wird zwischen erbsengroß bis bohnen- und mandelgroß, in 1 Fall als
haselnußgroß angegeben. In 1 Fall mit 4 Kotsteinen im Processus
hatten dieselben sämtlich Mandelgröße. Es gehört schon eine recht
starke Dilatation des Appendix dazu, um 4 derartige Steine beherbei^ en
zu können. Die Möglichkeit einer Druckwirkung und Ulzeration der
Wand ergibt sich in solchen Fällen wohl von selbst Ober die Loka-
lisation der Steine ist angegeben, daß in 6 Fällen dieselben außerhalb
des perforierten Appendix lagen. Darunter war 1 Fall mit 2 Steinen,
die beide außerhalb des Appendix gefunden wurden. Der im Innern
des Processus gelegene Stein saß in 3 Fällen über der Basis, in 1 Fall
in der Mitte und in 10 Fällen im distalen Ende bzw. in der Spitze
des Processus. In den übrigen Fällen ist die Lokalisation des Steins
nicht näher angegeben. Auch hiernach scheint entsprechend den Zu-
sammenstellungen anderer Autoren die Spitze und danach die Basis
die Prädilektionsstelle für die Lokalisatton der Kotsteine im Appendix
zu sein.
Der Inhalt des Processus wird, abgesehen von Steinen, ange-
geben als kotig in 11 Fällen, als schleimig-kotig in 10 Fällen, schlei-
mig in 20 Fällen, blutig-schleimig in 5 Fällen, eitrig in 22, schleimig-
eitrig in 3 Fällen und kotig-eitrig in 1 FalL In 1 Fall fanden sich
lebende Oxyuren im Processus. Man ersieht daraus ohne weiteres
entsprechend dem chronischen Stadium der Fälle den vorwiegend
schleimigen Charakter des Inhalts bei 35 Fällen, während nur in
25 Fällen der Inhalt eine mehr eitrige Beimengung zeigte. Ein Fremd-
körper im Appendix fand sich abgesehen von dem Fall mit Oxyuren
nur in 1 Fall in Gestalt zweier Haare, daneben war dünner Kot vor-
handen. In 2 Fällen wird angegeben, daß kein Inhalt gefunden sei.
Strikturen des Processus werden angegeben in 72 Fällen. Loka-
lisiert waren dieselben an der Basis 28mal, an der Spitze 24 mal, in
der Mitte 14 mal. In 5 Fällen ist eine Angabe über die Lage nicht
enthalten. In 1 Falle bestanden 2 Strikturen gleichzeitig, von denen
eine an der Basis und die andere an der Spitze saß. Über die Ätio-
logie derselben ist nur in 5 Fällen angegeben, daß sie von Narben
herrühren. Bei den übrigen muß es unentschieden bleiben, wie viele
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13] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 469
durch narbige Veränderungen von innen heraus, wie viele anderer-
seits durch adhäsive Abschnürungen und Knickungen von außen her
ihren Ursprung genommen haben.
Eine Obliteration des Lumens war vorhanden in 50 Fällen
= 14,4% der Fälle. Entsprechend der Lage der Strikturen saß sie
ebenfoUs am häufigsten an der Basis und Spitze, nämlich in 21 bzw.
15 Fallen. In der Mitte war sie am seltensten, nämlich 9 mal lokali-
siert. In 5 Fällen war das Lumen des gesamten Appendix in toto
obliteriert. Eine besondere Veranlassung für diese ausgedehnte Ob-
literation des Lumen ist aus den Krankengeschichten nicht zu er-
sehen.
Die Lage des Appendix ist angegeben in 124 Fällen. Richten wir
uns nach den in den Krankengeschichten gewählten Bezeichnungen,
so lag der Appendix nach innen oben 22 mal, nach innen unten 29 mal,
nach innen 4mal, nach innen hinten 3mal, nach hinten 13mal, nach
hinten oben 31 mal, nach hinten unten 44mal, nach hinten außen 7mal,
nach vorne oben 3mal, nach vorne unten 8mal, nach unten außen
14mal, nach oben außen 2mal, nach oben 6mal. In 3 Fällen war der
Processus sehr hoch (oberhalb der Nabellinie) gelegen. Danach ist
ßr unsere Fälle am häufigsten die Lage des Processus nach hinten
unten (44), nach hinten oben (31), dann nach innen unten (29), und
innen oben (22). Die übrigen Richtungen werden nur in ganz ge-
ringer und ziemlich gleichbleibender Zahl (2—13) vom Processus ein-
genommen.
Die Haltung des Processus wird beeinflußt durch seine Länge,
deren Angaben in unseren Fällen zwischen 2^/2—16 cm schwanken,
durch die Größe des Mesenteriolums und vornehmlich durch voraus-
gegangene, ihn fixierende Verwachsungen, als Folge früherer Ent-
zündungszustände. Diese begünstigen naturgemäß die Entstehung von
Knickungen und Retentionen und letztere führen dann im Circulus
vitiosus wieder zu neuen Entzündungsnachschüben. Genauere An-
gaben über die Haltung des Appendix sind enthalten in 74 Fällen.
Darunter lag eine Knickung an der Spitze in 16 Fällen, in der Mitte
in 12, und an der Basis in 5 Fällen vor. In 16 weiteren Fällen ist
die genauere Lage der Knickungsstelle nicht näher angegeben. In
5 Fällen war der Processus zusammengeknäult bzw. aufgerollt, in
2 Fällen schneckenförmig gekrümmt. In 6 Fällen wies der Pro-
cessus eine S-formige Krümmung um seine Achse auf, in 7 weiteren
Fällen wird er als spiralig gewunden bzw. geschlängelt bezeichnet. In
2 Fällen war er an der Knickungsstelle in seiner Kontinuität nur noch
durch eine 6 cm lange bindegewebige Brücke verbunden. In 1 Falle
wird die Haltung als „posthornförmig' bezeichnet. Eine doppelte
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470 Ad. Ebner, [14
Knickung lag in 4 Fällen vor, derart daß der Processus in seiner Lage
der Form eines Dreiecks entsprach. In sämtlichen Fällen war der
Processus in seiner Lage durch mehr weniger zahlreiche Adhäsionen
fixiert und wies mehrfach deutliche Retentionserscheinungen auf.
Größere Exsudatreste bzw. kleine, ältere Abszeßhöhlen
wurden in 57 Fällen gefunden « 16,5%. Die Größe der Abszeßhöhlen
schwankte zwischen Linsen- bis Pflaumengröße. In einem Fall war
der Processus in einen faustgroßen Tumor von Exsudatresten einge-
bettet. In einem anderen Fall fand sich eine Tuberkulose der rechten
Adnexe, sowie reichliche Verwachsungen der verdickten Tube mit dem
Cöcum. Die Adnexe wurde ebenfalls exstirpiert. Der Processus
selbst wies nur geringfügige Verwachsungen und sonst keine makro-
skopisch erkennbaren Veränderungen auf. Nach dem Befunde dfirfte
es sich in dem Falle wohl primär um eine rechtsseitige Adnextuber-
kulose gehandelt haben, die* erst sekundär zu einer Aifektion des
Processus geführt hat. Die Lage der Exsudatreste befand sich im
Becken 4mal, am Cöcum 13mal, darunter 2mal retrocöcal, am Ap-
pendix selbst 24 mal, darunter eine zweite Abszeßhöhle an der Wirbel-
säule; zwischen herangezogenen verklebten Dünndarmschlingen 2 mal,
am Mesenteriolum 4 mal, in dem einen Fall mit kleinen Fettnekrosen
verbunden. Letztere dürften vielleicht als Folge thrombotischer Ge-
fäßverschlüsse aufzufassen sein. In 19 Fällen ist über Lokalisation
der vorhandenen Exsudatreste nichts Näheres angegeben. Bezüglich
der Breslauer Fälle, bei denen die bakteriologische Untersuchung der
Eiterreste regelmäßig stattgefunden hat, bemerkt Dr. Capelle, daß
diese Reste keineswegs immer steril gefunden wurden. So konnten
in einem Falle Kolibazillen, in einem anderen Falle sogar Strepto-
kokken gezüchtet werden, trotzdem dieser letzte Fall erst nach einem
3 Monate langen anfallsfreien Zeitraum zur Operation kam. Auf die
12 Fälle der Breslauer Klinik berechnet würden diese 2 Fälle einem
Prozentsatz von 16,6% entsprechen, der jedoch bei der geringen
Zahl der Fälle einen besonderen Wert wohl kaum beanspruchen
dürfte.
Der Fall 124 allein verdient es wegen seines eigenartigen Befundes
näher angeführt zu werden. Von vornherein lag in dem Fall zunächst
der Verdacht auf einen Tumor vor. Der Patient klagte nur über
Schmerzen in der rechten Leistenbeuge beim Gehen. Palpatorisch
konnte man einen überhühnereigroßen, steinharten, beweglichen Tumor
über dem Lig. Poupartii in den Bauchdecken konstatieren. Die Haut
über demselben war verschieblich. Der Muse, rectus drängte bei
Kontraktionen den Tumor nach außen. Die Operation ergab die Mus-
l(ulatur über dem Tumor sulzig verändert. Der Darm saß zwischen
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15] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 471
Fase, transversa und Peritoneum, war der ersteren fest adhSrent und
auch vom Peritoneum nicht abzulösen. Er entsprach dem von oben
in den Tumor ziehenden Appendix. Die Hauptmasse des Tumors
bestand aus außerordentlich derbem Sehnengewebe, an welchem ein
Stfick Darmwand fest angewachsen war. Die Darmschleimhaut ließ
sich in einen Kanal verfolgen, der anscheinend dem Appendix ent-
sprach. In der Nähe der Spitze bestand im Bindegewebe ein fistulöser
Abszeß, der in eine walnußgroße buchtige Höhle überging. Der Tumor
wurde zusammen mit dem Appendix entfernt. Trotz der Tamponade
trat dann später noch ein Bauchdeckenabszeß auf, dem völlige Heilung
nachfolgte. Nach diesem Befunde könnte es sich hier um eine pri-
märe properitoneale Hernie des Appendix in der Bauchwand geban-
delt haben, bei der es erst sekundär zur entzündlichen Veränderung
des Appendix und seiner Umgebung gekommen ist Wenigsteps
scheint mir diese Annahme wahrscheinlicher, als der Vorgang einer
primären Periappendizitis mit Verlötung des Processus am Peritoneum
der Bauchwand und allmählicher Perforation des Peritoneum parietale
als Folge der Abszedierung. Wie es dann nachträglich zur properi-
tonealen Verlagerung des entzündeten und mit höchster Wahrschein-
lichkeit seiner Umgebung adhärenten Appendix gekommen sein könnte,
ist mir nicht recht erfindlich.
Der Verlauf der Fälle nach der Operation war in 266 Fällen
»76,8% ohne jede Störung und ohne Fieber. Eine Dränage der
Wunde war in 23 Fällen notwendig und zwar in 15 Fällen wegen
zurückgebliebener Abszesse und Exsudatreste, in 3 Fällen wegen Ein-
reiOens des brüchigen Appendix während der Auslösung desselben
aus den Verwachsungen.
Die Einnähung der Abszeß wand in die Bauchwunde wurde
bei einem intramural am Cöcum gelegenen Abszeß gemacht.
Die Eröffnung der alten Narbe mit Tamponade wurde nur Imal
am 12. Tage nach der Operation zur Ableitung eines retrocöcal ge-
legenen Abszesses notwendig.
Die Sekundärnäht mit Anfrischung der Wundränder konnte
uach 5 Tagen im Fall 122, in dem es sich um eine Narbenhernie mit
Appendix im Bruchsack handelte, gemacht werden. Der Fall heilte
dann per primam.
Störungen an der Wunde selbst traten ISmal auf. Es fand sich
eine Fadeneiterung in 8 Fällen, ein Hämatom der Bauchdecken in
2 Fallen, ein Bauchdeckenabszeß in 8 Fällen. In dem einen der letzten
beiden Fälle handelte es sich um einen Exsudatrest an der Basis des
Appendix, in dem anderen Fall um einen Appendix, der mit 4 Steinen
und Eiter gefüllt war. Außerdem ist 1 Fall hervorzuheben , bei deng
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472 Ad. Ebner, [16
sich post op. ein tiefer Abszeß bildete, der spontan in die Blase durch-
brach und dann zur glatten Heilung kam.
Störungen seitens der Lungen traten in 16 Fällen » 4,6%
ein. Es fand sich eine Lungenembolie leichteren Grades 3mal, eine
Pleuritis exsudativa dextra 2mal (darunter Imal infolge alter Lungen-
tuberkulose), leichte Bronchitis purulenta 4 mal, eine Pneumonie der
rechten Seite 7 mal, zum Teil sehr leicht. Wieweit bei den Lungen-
komplikationen die Narkose, die fast stets mit Äther ausgeführt wurde,
beteiligt sein kann, läßt sich aus den Krankenblättern nicht entschei-
den. In der Regel handelt es sich dabei um eine von der Bauchhohle
aus aufsteigende Infektion durch die Lymphgefäße des Zwerchfells hin-
durch, seltener durch kleine Gefäßembolien, als deren Voraussetzung
eine Infektion der Lymphgefäße in der Umgebung des Processus an-
zunehmen ist Wo diese jedoch bei dem Fehlen jeglicher Exsudat-
reste nicht als wahrscheinlich anzunehmen ist, muß man wohl an eine
Beteiligung der Narkose dabei durch Infektion der Lungen auf dem
Aspirationswege denken.
Eine Thrombophlebitis der Vena femoralis fand sich insge-
samt in 9 Fällen = 2,6%. Dieselbe war entsprechend den bisherigen
Erfahrungen in der Mehrzahl der Fälle, nämlich 6mal auf der linken
Seite gelegen. Der eine Fall hatte bereits vor 4 Jahren gelegentlich
eines Anfalles eine Thrombose der Femoralis rechts durchgemacht.
Der Fall ist bereits oben bei der Besprechung der Anamnesen naher
erwähnt worden. Die Behandlungsdauer wurde durch diese Kom-
plikation nur in 1 Falle auf 83 Tage verlängert, die übrigen Falle
gelangten trotzdem in 24 — 28 Tagen zur Heilung. Hinsichtlich der
Ätiologie bieten sämtliche Fälle nichts Besonderes dar, es sei denn
der Umstand, daß in sämtlichen Fällen der Schnitt am äußeren Rek-
tusrand angelegt ist Dieses ist von besonderem Interesse für die
Erklärung der Genese gerade der linksseitig gelegenen Trombosen der
Vena femoralis, die von Witzel angegeben ist. Danach kann es bei
gleichzeitiger Ligatur der Art. und Vena epigastrica zu einer Gerinnung
in den Wurzeln der Ven. epigastrica kommen, deren Fortsetzung nach
der linken Bauchseite auf dem Wege der Ven. epigastrica sinistra
zur Thrombose der Ven. femoralis sinistra fuhren kann. Es liegt auf
der Hand, daß der Schnitt am äußeren Rektusrand leicht zu einem
derartigen Vorgang die Veranlassung abgeben kann, insofern bei veit-
greifenden Hautnähten zufällig einmal die Ven. und Art. epigastrica
gleichzeitig mitgefaßt und ligiert werden kann. Von selteneren Kom-
plikationen sind schließlich noch aus der Breslauer Klinik postopera-
tive Stenosenerscheinungen in der Cöcalgegend zu nennen, die 2mal
beobachtet wurden und nach 3—4 Tagen spontan verschwanden. Ferner
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17] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 473
trat 2inal ein intermittierender Ikterus auf, der wohl auf katarrhali-
sclier Grundlage zustande gekommen ist.
Interessant dürfte zum Schluß noch neben einer näheren Erörterung
der tötlich verlaufenen Fälle die Fieberkurve eines Patienten aus der
Breslauer Klinik sein, der im Anfall zur Aufnahme gelangte. Er hatte
ein periappendizitisches Exsudat mit Fiebertemperatur bis 39^ und
einen der Temperatur entsprechend beschleunigten Puls. Plötzlich
zeigte Temperatur und Puls bei dem Patienten einen steilen Ab-
fall, die Temperatur blieb einige Tage unter 36"", der Puls unter 35
Schlägen pro Minute, ohne daß Anzeichen vorhanden waren, die für
eine Perforation eines Abszesses in die Blase oder Mastdarm ge-
sprochen hätten. Der Fall ist dann komplikationslos in das Sicher-
heitsstadium gekommen.
Gehen wir schließlich noch auf die beiden tödlich verlaufenen
Falle etwas näher ein, so handelte es sich bei dem ersten derselben
ttts der Königsberger Klinik um einen 22jährigen Patienten, der bereits
3 Anfalle durchgemacht hatte und 10 Wochen nach dem letzten Anfall
zur Operation gelangte. Klinisch wurde bei dem Patienten eine
hfihnereigroße Resistenz in der Ileocöcalgegend festgestellt. Die Ope-
ration ergab folgenden Befund: Das Cöcum war in reichlichen, alten
Verwachsungen der Bauchwand adhärent, bei Lösung derselben wurde
eine eitrige Lymphdrüse eröffnet. Der Appendix lag nach hinten und
lateral vom Cöcum, seine Spitze war in eine Granulationshöhle der
Wand am Cöcum eingebettet. Nach Entfernung des Appendix und
Auskratzung der Höhle wurde die Operation durch Tamponade der
Höhle beendet. Der Patient starb an einer allgemeinen Peritonitis,
die wohl ihren Ausgang von der eröffneten eitrigen Lymphdrüse ge-
nommen haben dürfte.
Bei dem zweiten Todesfall, der aus der Breslauer Klinik stammt,
handelte es sich um einen 22jährigen Arbeiter, der im 6wöchentlichen
Intervall nach dem ersten schweren Anfall operiert wurde. In ope-
ratione, die durch einen zu klein angelegten pararektalen Schnitt er-
schwert wurde, lagen Dünndarmschlingen mit starken Adhäsionen
vor, die nach unten und lateral teilweise an das Peritoneum parietale
heranzogen. Die Lösung dieser Adhäsionen machte große Schwie-
rigkeiten, ebenso die Entwicklung des Appendix, der 10 cm lang, nach
unten lateral umbog und mit der Spitze fest fixiert war. Bei der
Losung der Adhäsionen wurde eine Dünndarmschlinge angerissen,
die Läsion ging bis auf die Mukosa und wurde übernäht. Der Patient
ging 2 Tage nach der Operation an einer Allgemeininfektion des
Peritoneums zugrunde. Epikritisch wurde angenommen, daß bei der
Lösung der Verwachsungen höchstwahrscheinlich eine noch infektiöse
KUn. Vortrage, N. F. Nr. 494/05. (Chirurgie Nr. 145/46.) Juli 1906. 35
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474 Ad. Ebner, [18
Eiterhöhle eröffnet sei, und daß diese die tödliche Peritonitis
veranlaßt habe. Abgesehen davon stellte die Autopsie noch eine
Unterlappenpneumonie fest.
Wenden wir uns nun den Fällen zu, welche im Stadium der zir-
kumskripten Periappendizitis bzw. der abgekapselten Ab-
szeßbildung zur Operation gelangt sind, so verteilen sich dieselben
auf eo männliche und 43 weibliche Patienten = 61,6% : 38,4%, gegen
63,2% : 36,4% bei den chronischen Fällen.
Die Fälle verteilen sich auf die einzelnen Altersdezennien folgen-
dermaßen: 1.— 10. Jahre 11 Fälle, 11.— 20: 24, 21.— 30.: 29, 31. — 40.:
22, 41.— 50.: 13, 51.-60.: 9, 61.-70.: 3 und 71.— 80. Jahre 1 FalL
Auch hier halten sich die Zahlen vom 2.-4. Dezennium ziemlich
gleichmäßig, um dann steil wieder abzufallen.
Die Zahl der vorausgegangenen Anfälle bewegt sich zwischen
1—6 Anfällen von verschiedener, meist als sehr heftig geschilderter
Intensität der Erscheinungen und zwar ist vorausgegangen nur 1 An-
fall in 93 Fällen, 2 in 12, 3 in 4, 4 in 1, 5 in 1 und 6 Anfalle in
ebenfalls 1 Fall. Es fällt ohne weiteres ins Auge die weit fiber-
wiegende Zahl von 93 Fällen, bei denen 1 Anfall von solcher Schwere
vorausgegangen war, daß im Gefolge desselben der operative Ein-
griff in Gestalt einer Spätoperation notwendig wurde. Es stimmt
dieses mit der mehrfach beobachteten Erfahrungstatsache überein,
daß gerade die ersten Appendizitisanfälle vielfach die schwersten zu
sein pflegen.
Der Processus wurde entfernt nur in 22 Fällen »19,8% und
wurde zurückgelassen in 90 Fällen = 80,2%, entsprechend dem allge-
mein üblichen und anerkannten Grundsatz, den Processus nur dann
zu entfernen, wenn sich dieses ohne längeres Suchen und ohne Lösung
schützender Adhäsionen ermöglichen läßt.
Bezüglich des Zeitpunktes der Operation empfiehlt es sich,
hier von vornherein einen Unterschied zu machen zwischen den Fällen,
die wir nach der heutigen Auffassung als Intermediäroperationen be-
zeichnen müssen, und den Spätoperationen im eigendicben Sinne. Als
Intermediäroperation bezeichnet man bekanndich die Operation in
demjenigen Stadium, welches nach Richardson für die Frühoperation
zu spät und für die Spätoperation zu früh ist. Dieses „Zwischen-
stadium"", wie wir es nennen wollen, liegt also zeidich zwischen der
Früh- und Spätoperation der Periappendizitis.
Anatomisch läßt sich der Begriff des Zwischenstadiums genau um-
grenzen als Zeitraum vom Beginn der Miterkrankung des Peritoneums
bis zum Abschluß des Entzündungsvorganges gegen das freie Peri-
toneum. Zeidich läßt sich naturgemäß dieser Zeitraum nicht so gensu
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19] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 47$
umgrenzen, da namentlich für den Endtermin desselben zu viel ver-
schiedene und wechselnde Faktoren in Betracht kommen, wie Virulenz
der Infektionserreger bzw. Intensität des Entzündungsvorganges, Wider-
standsfähigkeit des Peritoneums, Verhalten des Patienten und auch
des Arztes in diesem Stadium u. a. m. Dementsprechend wird auch
von verschiedenen Autoren die Länge des Zwischenstadiums ver-
schieden berechnet. Der Beginn wird allgemein vom 3. Tage der
Erkrankung ab gerechnet. Der Endtermin schwankt zwischen dem
6. — 10. Tage der Erkrankung. Sprengel schlagt auf Grund seiner um-
fassenden Erfahrungen vor, das Zwischenstadium nur bis zum Beginn
des 6. Tages zu rechnen. Andere Autoren rechnen bei ihren Aufstel-
lungen mit dem 8. — 10. Tage. Dieser Zeitraum vom 6. — 10. Tage ist
wohl mit Sicherheit als die Grenze des Zwischenstadiums gegen das
Spätstadium zu bezeichnen. An welchem Tage innerhalb dieser Zeit
am häufigsten ein vollständiger Abschluß des peritonealen Entzündungs-
vorganges stattzufinden pflegt, läßt sich nach den bisherigen Angaben
noch nicht sicher entscheiden. Wir werden daher am besten als
Mittel des fraglichen Zeitraumes, den 8. Tag für unsere Betrachtungen
als Endtermin des Zwischenstadiums zu wählen haben.
Um präzise Resultate zu erhalten verlangt Sprengel, daß man
nicht die Gesamtzahl der Fälle, sondern nur die gesonderten Resultate
derjenigen Fälle heranziehen müsse, welche im Zwischenstadium bei
freier oder umschriebener (aber noch nicht abgeschlossener) Mitbe-
teiligung des Peritoneums zur Operation gelangt sind. Sprengel hat
nach diesem Prinzip 102 vom 3. — 5. Tag operierte Fälle eingeteilt
Darunter befinden sich 38 Fälle mit freier Peritonitis und 18 Todes-
fallen und 64 Fälle mit umschriebener Beteiligung des Peritoneums
und 2 Todesfallen. Er hat danach im Gegensatz zu anderen Autoren
die äußerst niedrige Mortalitätsziifer von 3 % für die Zwischenopera-
tion berechnen können.
Die Gegner dieser Anschauung, wie Körte, Kümmel, Garr^,
V. Eiseisberg, Sonnenburg u. a. führen gegen dieselbe efne er-
höhte Infektionsgefahr des Peritoneums bei operativem Vorgehen in
diesem Stadium an und stützen sich dabei auf die vqn den meisten
beobachtete erheblich höhere Mortalität 8—16% nach operativem Ein-
griff. Sie schlagen vielmehr ein individualisierendes Vorgehen von
Fall zu Fall vor, indem sie sich nur auf mehr weniger dringende
Indikationen bzw. deutliche Anzeichen einer akuten Verschlimmerung
hin in diesem Stadium zum operativen Eingriff entschließen. In den
übrigen Fällen halten sie es für zweckmäßiger und sicherer, die Pa-
tienten erst in das Spätstadium überzuführen, da ihnen dieses für den
notwendigen operativen Eingriff geeigneter erscheint.
35*
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476 Ad. Ebner, [20
Hierbei ist jedoch der Umstand in Betracht zu ziehen, daß unter
dieser Voraussetzung nur die schweren, auf dringende Indikationen
hin operierten Fälle für die Resultate im Zwischenstadium in Betracht
kommen. Es liegt auf der Hand, daß danach die Resultate schlechter
sein müssen, als bei denjenigen Autoren, die ohne Auswahl auch mit
Einschluß der leichteren Fälle im Zwischenstadium operieren. Eine
Beweiskraft für die Entscheidung der prinzipiellen Operation im
Zwischenstadium kann man somit diesen Zusammenstellungen kaum
unterlegen. Immerhin wird auch hier eine Gegenüberstellung der
Zwischenoperationen und Spätoperationen bzw. der Heilerfolge eines
allgemeinen Interesses nicht entbehren.
Von den gesamten 112 Fällen unserer Zusammenstellung nach
48 Stunden sind von dem 3. — 8. Tage seit Beginn des Anfalles zur
Operation gelangt 24 Fälle. Von diesen sind 2 Fälle gestorben, von
denen nach der Anamnese der eine am 6. Tage, der andere am
4. Tage operiert wurde. Im ersten Falle wurde wegen einer Ex-
sudatansammlung im Douglas die Inzision und Dränage per rectum
gemacht. Später wurde die Spaltung einer Bauchdeckenphlegmone
und verschiedener metastatischer Abszesse der Haut notwendig. Im
Eiter fanden sich Staphylokokken und Stäbchen. Der Patient ging
an multiplen Abszessen zugrunde. Inwieweit man durch ein gleich-
zeitiges Eingehen von oben her den Prozeß hätte beeinflussen
können, ist nachträglich kaum zu entscheiden. Der zweite tödlich
verlaufene Fall zeigte bei der Aufnahme eine deutliche Facies ab-
dominalis, leicht gespanntes Abdomen, sowie eine große Resistenz
in der rechten Beckenseite. Die Temperatur betrug 38"*, der Puls
128 Schläge in der Minute. Die Operation ergab vorliegende, frisch
verklebte Netzpartien, sowie von oben herkommenden stinkenden
Eiter an der Außenseite des Cöcums. Der Abszeßherd wurde nicht
gefunden. Der Patient starb am 4. Tage an fortschreitender Peri-
tonitis. Ein Obduktionsbefund ist nicht vorhanden. Hiernach würde
auf tmsere 24 Zwischenoperationen eine Mortalität von 8,3% ent-
fallen.
Ausgenommen bzw. nicht berechnet sind hierbei die Fälle, welche
mit einer entzündlichen Beteiligung des gesamten Peritoneums zur
Operation gelangten, und die auch nach der Auffassung von Sprengel
für die Beurteilung der Zwischenoperation fortfallen müssen, da für
diese die Prognose nach 48 Stunden heute kaum noch als zweifelhaft
gelten kann. Dieselben sind später unter einer besonderen Kategorie
zusammengefaßt. Es kommen hier auf 17 Fälle, die vom 3.-7. Tag
nach der Perforation operiert sind, tatsächlich auch nur 2 Heilungs-
fälle, was einer Mortalität von 82,2% entspricht.
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21] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 477
Von den übrigen 89 Fällen nach 48 Stunden wurden operiert in
der 2. Woche 21 Fälle, in der 3, Woche 24, 4. Woche 13, 5. Wochel2,
6. Woche 5, 8. Woche 3, 9. Woche 1, 10. Woche 3, 11. Woche und
spater 7 Fälle.
Auf dieselben entfallen im ganzen 7 Todesfälle, was einer Mortali-
tät von 7,9% entsprechen wQrde. Wir finden also bei dieser kleinen
Anzahl von Fällen ein Fallen der Mortalität um nur 0,4% gegenüber
den operativen Eingriffen im Zwischenstadium, ein Umstand, der zum
mindesten die Entscheidung der Frage nicht gegen die Zwischen-
operation beeinflussen dürfte.
Die Behandlungsdauer der gesamten 113 Fälle schwankt zwi-
schen 6 — 116 Tagen. Dieselben verteilen sich folgendermaßen: Die
Dauer der Behandlung betrug 1—10 Tage in 4 Fällen, 11—20 Tage
in 13, 12—30 in 25, 31—40 in 26, 41—50 in 16, 51—60 in 9, 61—70
in 8, 71—80 in 2, 81—90 in 3, 91—100 in 2, 101—110 in 2 und
111—120 Tage in 3 Fällen.
Danach liegt für die Mehrzahl der Fälle die Behandlungsdauer
zwischen 11—70 Tagen, und nur bei 12 Fällen erstreckt sich die Be-
handlung über 70 Tage hinaus. Bei 2 von den Fällen mit einer Be-
handlungsdauer unter 10 Tagen handelte es sich in dem einen um
eine rektale Punktion, die einige Tropfen Eiter lieferte, während die
nachfolgende Inzision ein negatives Resultat ergab. Nach afebrilem Ver-
lauf trat Heilung ein. Bei den anderen Fällen trat innerhalb der ersten
lOTage der Exitus an sekundärer, difl\iser,fibrinös-eitriger Peritonitis ein.
In den übrigen Fällen wurde vielfach erst längere Zeit nach der
Aufnahme operiert, bis ein Abklingen der akuten Erscheinungen zu
konstatieren war. Daraus erklärt sich die lange Behandlungsdauer
der betrefiPenden Fälle.
Bezüglich der Ätiologie sind Angaben nur in 9 Fällen vorhanden.
In 2 Fällen wird ein Diätfehler bzw. starkes Trinken, im 3. und 4.
Fall schwere körperliche Arbeit als Ursache des Anfalls beschuldigt.
Im 5. Fall hatte der Patient bei einem Fall mit dem Revolver, den er bei
sich trug, einen Stoß gegen den Leib erhalten. 10 Tage später stellten
sich die ersten Beschwerden ein. Im 6. Falle hatte Patient vor 4 Wochen
eine vereiterte Verletzung an der Sohle des rechten Fußes gehabt.
Vor 3 Wochen, also 8 Tage später, hatten die ersten Symptome der
Erkrankung eingesetzt. Inwieweit im letzten Fall ein tatsächlicher Zu-
sammenhang beider Erkrankungen besteht, ist mit Sicherheit nicht
festzustellen. Immerhin scheint hier eine solche Annahme nach dem
Prinzip post hoc ergo propter hoc nicht unberechtigt. Ferner werden
2 mal Abführmittel und Imal eine vorausgegangene doppelseitige Par-
otitis als Ursache bzw. als verschlimmerndes Moment erwähnt.
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478 Ad. Ebner, [22
Von den anamnestischen Angaben der einzelnen Falle dürfte
folgendes von Interesse sein.
Spontanperforationen waren dem operativen EingrifiP voraus-
gegangen insgesamt in 8 Fällen. Davon waren per rectum 2 Per-
forationen erfolgt: im Fall 6 vor 3 Jahren und im Fall 73 8 Tage vor
der Aufnahme ohne wesentliche Besserung der Erscheinungen. Per-
forationen in die Blase hatten in 2 Fällen stattgefunden. Fall 6, der
vor 3 Jahren eine Rektumperforation durchgemacht hatte, entleerte
5 Tage vor der Operation plötzlich reichliche Eitermengen mit dem
Urin. Dieselbe Erscheinung zeigte auch Fall 44 am 2. Tage nach der
Aufnahme. Im letzteren Fall war die vordere Vaginalwand der Pat.
stark geschwollen und empfindlich. Im zystoskopischen Bilde sah man
an der vorderen Blasenwand rechts von der Mittellinie ein rundliches,
pfennigstfickgroOes Geschwfir von bläulich-roter Farbe , anscheinend
geschlossen. Merkwürdigerweise wird gerade in diesem Fall in der
Anamnese ausdrücklich angegeben , daß keine Blasenbeschwerden
vorher bestanden.
Schließlich war noch eine Perforation in die Vagina Imal und in
die Bauchwand in 2 Fällen vorausgegangen. Im Fall 20 hatte eine
solche am Nabel vor 3 Tagen stattgefunden, nachdem bereits seit
3 Monaten iSchmerzen um den Nabel herum bestanden hatten. Aus
der Perforationsstelle in der Haut entleerte sich ziemlich reichlich übel-
riechender Eiter, welcher seine Herkunft leicht erraten ließ. Die
Operation ergab in der Abszeßhöhle einen freien Kotstein. 2 vor-
ausgegangene Perforationsstellen in der Bauchwand, deren Zeitpunkt
sich anamnestisch nicht bestimmen ließ, wurden in Fall 56 durch
Inzision rechts von der Linea alba freigelegt. Dieselben fährten direkt
in eine hühnereigroße zwischen den Därmen gelegene Abszeßhöhle.
Unter fieberhaftem Verlauf wurde dann später noch eine zweite In-
zision in der Mittellinie notwendig, worauf die weitere Heilung des
Falles ohne Störung verlief.
Das prozentuale Verhältnis der vorausgegangenen Perforationen
auf die Gesamtzahl der 113 Fälle berechnet sich danach auf 7,1%.
Urinbeschwerden bestanden in 11 Fällen » 9,7%. Dieselben
waren in 4 Fällen durch einen vorhandenen Douglasabszeß bedingt.
Im Fall 46 reichte die große Abszeßhöhle bis zur Symphyse. Im
Fall 48 lag ein Abszeß vor der Blase dicht über der Symphyse. Im
Fall 54 reichte die sehr große Eiterhöhle hinter der Blase bis zur
linken Inguinalgegend hinüber und nach unten bis an das Rektum
heran. Im Fall 57 und 59 ist nur ^ von einem großen Abszeß der
rechten Beckenschaufel die Rede, dessen Grenzen nicht näher ange-
geben werden. Im Fall 66 war auch nach der ErÖfi^nung der Bauch-
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23] Ol>ci' <len heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 479
höhle ein Infiltrat überhaupt nicht zu finden. Der Fall gelangte im
Jahr 1897/98 zur Operation. Man suchte damals, um eine weitere
Infektionsmöglichkeit des Peritoneums auszuschließen, nicht weiter
nach dem Appendix, und es trat dann nach einem Abfall der vorher
fieberhaften Temperatur eine glatte Heilung ein. Ob es sich in diesem
Fall überhaupt um eine Periappendizitis gehandelt hat, dürfte danach
fiist zweifelhaft erscheinen, wenigstens bietet der angegebene Opera-
tionsbefund keine sicheren Anhaltspunkte für diese Annahme dar.
In sämtlichen Fällen erklären sich auch hier die Beschwerden durch
ein Übergreifen des Entzündungsprozesses auf die Blase, soweit ein
solcher überhaupt nachzuweisen war.
Schmerzen in der rechten Brustseite mit Atmungsstörung
und hohem Fieber, also eine rechtsseitige pleuritische Aifektion war
im Fall 8 eingetreten, nachdem bereits 4 Wochen vorher in der
Rückengegend und im Leibe rechts wechselnde Schmerzen bestanden
hatten. Die Operation ergab in dem Fall gleichzeitig einen sub-
phrenischen Abszeß rechts, von dem augenscheinlich die Lungen-
aflPektion ihren Ausgang genommen hatte. Der Fall entspricht 0,9%
der Gesamtzahl.
Durchfälle abwechselnd mit starker Obstipation waren in 22
Fallen » 19,5% vorausgegangen. In 1 Falle bestand seit Beginn der
Erkrankung ein Ausfluß aus der Harnröhre, über dessen mikrosko-
pischen Charakter nichts Näheres angegeben ist. Es handelt sich in
dem Fall um einen Douglasabszeß, der durch eine Mitbeteiligung der
Prostata vielleicht die Veranlassung dazu gegeben hat. Urinbeschwer-
den, die an eine gleichzeitige Gonorrhöe denken lassen könnten, be-
standen in dem Falle nicht.
In 3 Fällen soll das vorausgegangene Erbrechen schließlich einen
fäkulenten Charakter angenommen haben, wohl als Folge einer
Verlegung des Darmlumens durch den Druck der Exsudatmenge.
Unbeweglichkeit bzw. Flexionskontraktur des rechten Beines
bestand in 7 Fällen. Dieselben werden im Zusammenhang mit den
postoperativen Komplikationen näher besprochen werden.
Wenden wir uns nun der klinischen und anatomischen Be-
trachtung unserer Fälle zu, so empfiehlt es sich wohl, zunächst die
9 gestorbenen Fälle im Zusammenhang zu besprechen.
Von diesen können wir zunächst Fall 9 ausscheiden, der an einer
akzidentellen Todesursache zugrunde ging. Es handelte sich dabei
um eine ziemlich frische Exsudatbildung in der Höhe der rechten
Spin. ant. sup. mit geringem Fieber, die ungefähr die Größe eines
Eies hatte. Der adhärente entzündlich veränderte Appendix war in
die Eiterhöhie eingebettet. Der Heilungsverlauf war völlig reaktionslos.
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480 Ad. Ebner, [24
Der betreifende Patient war jedoch in seinem Beruf als Reisender
starker Potator gewesen und ging infolgedessen am 6. Tage post op.
an einer akuten Herzschwäche elend zugrunde; hinzufugen möchte ich,
obwohl die Narkose nicht mit reinem Chloroform, sondern mit Billroth-
scher Mischung gemacht worden war und nicht übermäßig lang ge-
dauert hatte. Der Fall kommt somit für die Mortalität unserer
Statistik eigentlich in Fortfall und ist eher unter die Kategorie der
Spätchloroformtodesfälle zu rechnen.
Gleichzeitig ausscheiden müßte auch der Fall 84, bei dem es
fraglich erscheint, ob eine Periappendizitis überhaupt mit im Spiel
gewesen ist Der Fall bot klinisch durchaus das Bild einer solchen
Erkrankung dar mit einem gänseeigroßen fluktuierenden Exsudat auf
der rechten Beckenschaufel, fieberhafter Temperatur und einer gleich-
zeitigen Flexionskontraktur des rechten Oberschenkels. Das Exsudat
war bis unterhalb des Lig. Poupartii nachweisbar, weshalb hier auch
zunächst die Inzision vorgenommen wurde. Dieselbe entleerte reich-
lich dicken, kotigen Eiter aus einer von dicken Schwarten umgebenen
Höhle oberhalb des Lig. Poupartii. Von dieser aus hatte eine Senkung
längs des rechten Schenkelkanals stattgefunden, so daß die Schenkel-
gefaße freigelegt waren. Infolge weiterer Eitersenkung längs der
Schenkelgefäße wurde dann noch eine Inzision am Oberschenkel not-
wendig. Der Fall ging am 10. Tage post. op. an zunehmender Herz-
schwäche zugrunde. Die Sektion ergab ein Karzinom des Cöcum.
Da auch hierbei der Appendix nicht gefunden wurde, läßt sich weder
für noch gegen das gleichzeitige Vorhandensein einer Appendizitis
eine bestimmte Entscheidung treffen. Als primäre Ursache der Krank-
heitsvorgänge ist hier jedoch in jedem Fall wohl das bestehende
Cöcumkarzinom anzusehen, das ja möglicherweise sekundär zu einer
Affektion des Appendix geführt haben könnte.
War in diesem Falle das bestehende Karzinom übersehen worden,
so ging umgekehrt der Fall 49 an den Folgen einer irrtümlich auf
Karzinom gestellten Diagnose zugrunde. Die klinische Untersuchung
ergab in der Lumbaigegend eine bewegliche Dämpfung ohne eine
deutlich fühlbare Resistenz. Per rectum fühlte man einen das ganze
kleine Becken einnehmenden, teigigen Tumor, der nicht sicher ge-
deutet werden konnte. Die Laparotomie in der Lin. alba entleerte
freie, blutigseröse Flüssigkeit. In der Ileocöcalgegend fand sich ein
von fest verklebten Darmschlingen umgebener Tumor, der als ein
Karzinom angesprochen wurde. Im Mesenterium mehrere harte Drüsen,
die scheinbar diese Diagnose bestätigen mußten. Da eine Entero-
anastomose unmöglich war, wurde ein Anus praeternaturalis angelegt.
10 Tage später trat unter fieberfreiem Verlauf der Exitus unter
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25] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 481
Erscheinungen von Herzschwäche ein. Die Sektion ergab einen alten
periappendizitischen Abszeß ohne Perforation des Appendix und
eine sekundäre, diffuse fibrinös-eitrige Peritonitis, die ihren Ausgang
von dem alten Abszeß genommen hatte. Eine richtige Erkennung des
Operationsstatus bzw. eine rechtzeitige Entleerung de^ Abszesses hätte
hier wohl den bedauerlichen Ausgang verhindern können.
Von den übrigen 6 Todesfällen bieten 4 das typische Bild mul-
tipler metastatischer Abszesse dar, während 2 an fortschreiten-
der Peritonitis zugrunde gingen.
Im Fall 5 war bei dem 32jährigen Pat. zunächst ein Douglas-
abszeß per rectum inzidiert und dräniert worden. 10 Tage später
vurde die Spaltung eines Abszesses per abdomen notwendig. Im
weiteren Verlauf wurde noch die Spaltung einer Bauchdeckenphlegmone
und verschiedener Hautabszesse gemacht Im Eiter wurden Staphylo-
kokken und Stäbchen nachgewiesen. Der Pat. erlag schließlich nach
30tägiger mühe- und qualvoller Behandlung der fortschreitenden In-
fektion. Eine Sektion wurde nicht gestattet.
Im Fall 22 wurden zunächst per abdomen 3 Abszesse eröffnet.
Der Appendix war dicht unter der Spitze perforiert. Er wurde am-
putiert und enthielt in seinem Innern einen Kotstein. Trotz des bis
auf geringe Temperaturen fieberfreien Verlaufs wurde weiter die In-
zision eines periumbilicalen, dann eines retroperitonealen und schließ-
lich noch zweier intraperitonealer Abszesse notwendig. Der Pat.
starb nach 116tägiger Behandlung. Die Sektion ergab einen weiteren
Abszeß links oberhalb des Zwerchfells und multiple Leberabszesse
neben difiiiser Bronchitis.
Im Fall 41 wurde durch Schrägschnitt eine mit gashaltigem, stin-
kendem Eiter gefällte Höhle auf der rechten Beckenschaufel eröffnet.
Der Appendix ragte in die Höhle hinein und wurde amputiert. Von
der ersten erfolgte die Eröffnung einer zweiten nach links hinüber-
reichenden Höhle, die ca. 1 L. gleichartigen Eiters enthielt. Gegen-
inzision, Dränage und Tamponade. Nach 3 Wochen Verschlechterung
und Tod. Die Sektion ergab auch hier multiple, eitrige intraperitoneale
Herde. Daneben eine Thrombose beider Ven. iliacae, die bis in die
Unterschenkel reichte.
Die letzten 3 Fälle stammen aus der Breslauer Klinik. Der eine
von ihnen war am 13. Tage nach Beginn der Erkrankung der Eröff-
nung eines großen Douglasabszesses per rectum unterzogen worden.
Der Tod erfolgte 4 Tage nach der Operation unter den klinischen
Erscheinungen der Peritonitis. Die Autopsie ergab neben einem
großen Abszeß, der die ganze rechte Bauchhälfte vom Subphrenium
bis zur Fossa iliaca ausfüllte und gegen die übrige Bauchhöhle durch
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482 Ad. Ebner, [26
Adhäsionen geschlossen war, multiple kleinere Abszesse zwischen den
verklebten Dfinndarmschlingen. Der Appendix war mit einer Darm-
schlinge verklebt und zeigte eine erbsengroße Perforation in der Mitte«
Die 2 anderen Fälle gingen beide an fortschreitender Peritonitis
zugrunde. Der eine war am 4. Tage nach Beginn der Erkrankung
zur AbszeOinzision gelangt und ist bei den Zwischenoperationen näher
beschrieben worden. Der andere Fall war 5 Tage nach Beginn der
Erkrankung mit erhöhter Temperatur und Puls, sowie einer faust-
großen Resistenz in der rechten Unterbauchgegend zur Aufnahme ge-
kommen. Unter konservativer Behandlung trat am 12. und 13. Tage
eine plötzliche Exazerbation der Erscheinungen mit Schfittelfrost und
peritonitischen Symptomen ein, denen eine vorübergehende Besserung
folgte. Am 19. Tage war eine deutliche Vergrößerung des Exsudates
nachweisbar, die Inzision rechts ergab einen kleinen von reichlichen
Adhäsionen umgebenen Abszeß auf der rechten Beckenschaufel, sowie
median im Becken eine Resistenz, die auf Punktion Eiter entleerte,
worauf daselbst inzidiert und eine Abszeßhöhte entleert wurde. Der
Patient starb am 7. Tage nach der Operation unter dem klinischen
Bilde der fortschreitenden Peritonitis. Die Autopsie ergab eine
Pelveoperitonitis purulenta mit allgemeiner fibrinöser Peritonitis.
Außerdem fanden sich Netzadhäsionen, eine partielle Obliteration des
Appendix, Hepatitis, vereinzelte Abszesse in den beiderseitigen unteren
Lungenlappen und doppelseitige Pneumonie. Man darf den üblen
Ausgang des Falles demnach wohl mit Recht auf die sekundäre
Spontanperforation eines zunächst abgekapselten Abszesses in die
freie Bauchhöhle zurückführen, und die Annahme ist nicht von der
Hand zu weisen, daß dieser unglückliche Zufall bei einer weniger
konservativen Behandlung sich vielleicht hätte vermeiden lassen.
Der Fall spricht somit für die radikalere Anschauung bezüglich eines
operativen Vorgehens im Zwischenstadium, welche dadurch so früh
wie möglich die eigentliche Causa nocens zur Ausschaltung bringen
und den Patienten vor derartigen traurigen Zufällen bewahren will.
Für die Einteilung der gesamten Fälle nach anatomischem
Prinzip werden wir am besten nach dem ältesten Vorschlage Bam-
bergers unterscheiden zwischen den intra- und extraperitoneal ge-
legenen Abszessen.
Für die ersteren scheint mir von den zahlreichen Einteilungen, die
Sprengel anführt, diejenige von Rotter und von Gerster am
besten und einfachsten zu sein. Der letzteren gibt auch Sprengel
den Vorzug. Rotter unterscheidet: 1. Douglasabszesse, 2. Abszesse
der rechten Beckenschaufel, 3. Abszesse der Lumbaigegend, 4. Ab-
szesse der linken Beckenschaufel, 5. subphrenische Abszesse. Etwas
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27] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 483
anders ist die Einteilung von Gerster, der im übrigen ebenfalls 5 Ab-
teilangen unterscheidet: 1. den ileoinguinaleff Typus als den häufigsten,
2. den lumbalen oder posteroparietalen Typus, 3. den anteroparietalen
Typus, 4. den rektalen oder pelvlkalen Typus und 5. den mesocölia-
calen Typus. Den ileoinguinalen Typus könnte man a 'priori wohl
auf beide Seiten gleichzeitig beziehen. Daß Gerster darunter .den
Abszeß der rechten Beckenschaufel verstanden wissen will, ergibt
sich daraus, daß er ihn für den häufigsten Typus erklärt im Gegen-
satz zu dem seltenen Abszeß der linken Beckenschaufel, den er in
seiner Einteilung gar nicht weiter berücksichtigt hat.
Beiden Einteilungen gemeinsam ist L der Douglasabszeß » pelvi-
kaier Typus, 2. der Abszeß der rechten Beckenschaufel » ileoinguinaler
Typus, 3. Abszeß der Lumbaigegend == lumbaler oder posteroparietaler
Typus. R Otter hat dazu noch 4. den Abszeß der linken Becken-
schaufel und 5. die subphrenischen Abszesse angeführt. Gerster
nimmt noch hinzu 6. den anteroparietalen Typus und 7. den meso-
cöliacalen Typus. In den letzten beiden Punkten ergänzen sich beide
Einteilungen sehr glücklich und wir werden daher im folgenden ver-
suchen, unsere intraperitonealen Abszesse nach den obigen 7 Abtei-
lungen zu rubrizieren, zu denen ich noch als 8. Abteilung die mul-
tiplen Abszesse hinzufügen möchte.
Bei der Verteilung der Fälle auf die einzelnen Kategorien ist jedoch
zu bedenken, daß im Laufe der Entwickelung die einzelnen Abszeß-
formen leicht ineinander übergehen können, wenn auch nach Sprengel
dieser Vorgang für die beiden häufigsten Formen, den ileoinguinalen
und lumbalen Typus nur äußerst selten zutrefi^en soll. Ist es doch
bei sehr großen Abszessen selbstverständlich, daß sie sich von der
rechten Beckenschaufel nach irgendeiner Richtung, sei es unter die
Leber, sei es bis in die linke Inguinalgegend oder nach dem Douglas
zu, ausbreiten müssen. Durch spätere Teilung bzw. Verkleinerung
des Abszesses von einer Seite her, falls eben eine Resorption eintritt,
kann dann wohl der eine oder andere Typus der vorherrschende
werden. Solange man aber Abszesse in derartiger Größe vor sich
hat, wird man sie immer zu den Mischformen zählen müssen und im
Zweifel sein, zu welcher der obigen Abteilungen man sie zu rechnen
hat. Ich habe mir da in der Weise geholfen, daß ich derartige Ab-
szesse ohne weiteres zu dem ileoinguinalen Typus rechnete, da sie
nach Lage der Dinge von hier aus entstanden und nur durch ihr
Anwachsen die Grenzen nach der einen oder anderen Richtung ver-
legt hatten.
Des ferneren habe ich bei dem Vorhandensein mehrerer größerer
Abszesse dieselben auch unter den einzelnen Formen angeführt, so
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484 Ad. Ebner, [28
daß die betreffenden Fälle mehrfach angeführt sind. Es erschien mir
dieses wichtig für die Häufigkeit der einzelnen Abszeßformen und es
wären sonst einzelne Kategorien vollständig unter derjenigen der mul-
tiplen Fälle verloren gegangen, wie wir später genauer sehen werden.
Am zahlreichsten vertreten finden wir naturgemäß den 1. ileo-
inguinalen Typus.
Derselbe ist in 72 Fällen « 63,8% vorhanden. In 4 Fällen reichte
der große Abszeß bis in den Douglas' hinab. Sämtliche 4 Fälle bis
auf 1 wurden inguinal eröffnet und bis in den Douglas dräniert Nur
2 von ihnen wurden per rectum entleert, worauf glatte Heilung ein-
trat. In 3 anderen Fällen reichte der Abszeß bis zum Rippenbogen
hinauf. In 1 Fall wurde der alte Abszeß als Karzinom angesprochen
und erst durch die Sektion die Klärung der Sachlage herbeigeführt.
Die übrigen Fälle bieten keine Besonderheit dar und brauchen nicht
näher besprochen zu werden.
2. Der Abszeß der linken Inguinalgegend fand sich nur in
7 Fällen » 6,2% vor. Im Fall 17 bestand neben einem gänseeigroßen
Abszeß der rechten Beckenschaufel ein zweiter faustgroßer Abszeß
der linken Leistenbeuge^ mit gashaltigem stinkendem Eiter gefüllt
Nach einer Inzision beiderseits glatter Heilungsverlauf.
Im Fall 19 fand sich schon bei der Untersuchung nur eine Druck-
empfindlichkeit und Resistenz über dem linken Lig. Poupartii, die
die Inzision und Dränage nur der linken Inguinalgegend notwendig
machte. Es zeigte sich nun, daß die große dickwandige Abszeßhöhle
von vorne oben links sich nach hinten rechts und in den Douglas
hinein erstreckte und mit fäkulentem Eiter gefüllt war. Der Appendix
wurde nicht gefunden. Nach Ötägigem Fieber glatter Heilungsverlauf.
Im Fall 22 handelte es sich um eine walnußgroße Abszeßhöhle
links seitlich an der Bauchwand neben verschiedenen anderen Ab-
szessen. Der Fall wird bei den multiplen Abszessen näher besprochen
werden.
Im Fall 26 reichte die sehr große Abszeßhöhle von rechts unten
nach oben bis zum Rippenbogen und nach links bis zum linken Lig.
Poupartii hinüber. Der Fall ist also richtiger zur ersten Kategorie
zu rechnen und ist dort auch mitgezählt worden.
Im Fall 54 ließ sich sowohl rechts, wie links eine deutliche Resi-
stenz nachweisen. Die beiderseitige Inzision über der Leistengegend
ergab rechts eine mit ca. V2 ^ Ei^^i* gefüllte Höhle, die nach links
hinter der Blase herum bis auf die linke Seite derselben reichte. Die
zweite Höhle links enthielt ebenfalls 1 1 Eiter und erstreckte sich
nach unten bis in die Gegend des Rektums hin. Eine Verbindung
zwischen den beiden Höhlen ließ sich nicht nachweisen. Doch hat
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29] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 485
wohl die linke von der rechten ihren Ausgang genommen und erst
nachträglich ist es durch spätere Verklebungen zu einer Trennung
der beiden Höhlen gekommen.
3. Den lumbalen oder posteroparietalen Abszeß finden wir
nur in 10 von unseren Fällen » 8,8% vertreten.
Bei dem 1. Fall (3) handelte es sich um eine intraperitoneale,
paranephritlsche AbszeOhöhle neben einer gleichzeitigen extraperito-
nealen Höhle. Trotzdem der Fall durch Diabetes kompliziert war,
trat nach Inzision und Gegeninzision glatte Heilung ein.
Im 2. Fall bestand ein sehr hoch, direkt hinter der Leber ge-
legener Abszeß, der dem ebenfalls sehr hoch gelegenen und nach oben
umgeschlagenen Appendix entsprach. Auch hier trat trotz gleichfalls
vorhandenem Diabetes nach breiter Inzision und Dränage glatte Hei-
lung ein.
Im 3. Fall (15) war die Höhle von einem retrocöcal gelegenen
Appendix ausgegangen und bot sonst nichts Bemerkenswertes dar.
Der 4. Fall (31) zeigte bei normaler Temperatur in der rechten
Lendengegend eine handtellergroße Geschwulst ohne entzündliche Er-
scheinungen, von der ein Drittel oberhalb und zwei Drittel unterhalb
der 12. Rippe gelegen waren. Auf Druck ließ sich daselbst ein plät-
scherndes Geräusch hören. Der Inhalt lag dicht unter der Haut vor
der 12. Rippe. Ober der ganzen Resistenz war tympanitischer Darm-
schall vorhanden. Nach Anlegung einer 20 cm langen Inzision vom
unteren Rande der 12. Rippe nach abwärts zeigten sich unter der
ödematösen Muskulatur und Peritoneum harte Schwielen, darunter
schlaffe, glasige Granulationen mit einem unter der 12. Rippe ge-
legenen, freien Kotstein. Von hier aus fährte ein fingerlanger Gang
mit gleichen Granulationen bis hinter das Cöcum. Später erfolgte
Abgang von Winden und einer weißlichen Flüssigkeit aus der Drä-
nagestelle und es blieb eine kleine Kotfistel zurück. 2 Monate später
erfolgte dann die 2. Operation mit Naht einer Perforationsstelle am
Kolon und Tamponade. Der Appendix wurde auch jetzt nicht ge-
funden. Glatte Heilung ohne Fistelbildung.
Der 5. Fall (36) entsprach einem walnußgroßen Abszeß zwischen
Cöcum und lateraler Bauchwand und bietet sonst nichts Besonderes.
Im 6. Fall (67) handelte es sich um eine wurstförmige, hinter dem
Cöcum gelegene Abszeßhöhle mit stinkendem Eiter, die sich bis in
die Blasen- und linke Beckengegend hin erstreckte. Später wurde
dann noch die Eröffnung einer zweiten vor dem Rektum gelegenen
Höhle von der alten Wunde aus notwendig.
Im 7. Fall enthielt die große retrocöcale Höhle neben stinkendem
Eiter eine alte Blutung infolge einer vorausgegangenen Gefäßarrosion.
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486 Ad. Ebner, [30
Nach Inzision auf retroperitonealem Wege und lumbaler Gegen-
inzision trat Heilung mit Zurückbleiben einer kleinen Fistel an der
Dränagestelle ein. Die übrigen 3 Fälle der Breslauer Klinik liegen
mir in einem näheren Bericht nicht vor.
5. Dem anteroparietalen Typus dürften 5 Fälle =4,4% unserer
Zusammenstellung entsprechen, in denen der Abszeß nach vorn oben
hin gelegen war.
Im 1. Fall (8) handelte es sich um eine große, mit grünem, luft-
haltigem und stinkendem Eiter gefüllte Höhle, die an der vorderen
Bauchwand unterhalb des Zwerchfells gelegen war« Der Fall wurde
in seinem Verlauf durch eine Pleuritis serosa über der Leber kom-
pliziert, welche wegen Gefahr der Vereiterung die Resektion der 7.
bis 10. Rippe notwendig machte. Darauf glatte Heilung.
Im 2. Fall (13) bestand eine sehr große Höhle, die vom Nabel
nach oben bis zum Rippenbogen und nach links über die Lin. alba
hinausreichte. Nach Inzision und Drainage derselben wurde später
noch die sekundäre Eröffnung und Drainage eines Senkungsabszesses
vom Douglas aus notwendig.
Im 3. Fall (20) lag eine teils intra-, teils extraperitoneale Abszefl-
höhle vor. Die Patientin hatte seit 3 Monaten an inneren starken
Schmerzen um den Nabel herum gelitten. Auf Umschläge war vor
3 Tagen eine spontane Perforation und Entleerung von übelriechendem
Eiter am Nabel eingetreten, so daß nur noch eine Diszission der
Fistel mit Tamponade nötig war. Danach zeigte sich vom Nabel nacli
links gelegen eine größere Höhle in der Muskulatur (Rektus), während
nach rechts ein langer kommunizierender Gang bis in die Ileocöcal-
gegend führte, in welchem ein freier Kotstein lag. Der Abszeß hatte
sich also von der Ileocöcalgegend nach vorne oben bis zur Bauch-
wand ausgebreitet, hatte allmählich Peritoneum und Fase, transversa
perforiert und sich nun sekundär in der Muskulatur ausgebreitet,
während intraperitoneal bereits eine Resorption und Schrumpfung an
der Ausgangsstelle des Exsudats erfolgte. Der Fall bietet darin eine
gute Illustration zu den hinsichtlich der Einteilung der Abszesse ge-
machten Ausführungen.
Im 4. Fall bestand neben einer intraperitonealen Abszeßhöhle, die
sich von der Ileocöcalgegend bis zum Nabel erstreckte und gegen die
Blase hin abgeschlossen war, eine zweite kleinere Abszeßhöhle, die
vor der Blase dicht über der Symphyse, also vermutlich extraperi-
toneal gelegen war. Von dieser fährte ein breiter Gang nach oben
rechts hin, der jedoch eine weitere Kommunikation nicht erkennen
ließ. Es mußte also auch hier erst eine Perforation des Peritoneums
und der Fase, transv. stattgefunden haben, ehe es zu der Etablierung
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31] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 487
des antevesikal gelegenen Abszesses kommen konnte. Der S. Fall
wurde ebenfalls von oben eröffnet und bot keine Besonderheit dar.
Nächst dem ileoinguinalen Abszeß ist am häufigsten der 5. pelvi-
kale oderrektale Abszeß in unserer Zusammenstellung mit 24 Fällen
«23,9% vertreten. Von diesen verdienen nur wenige Fälle eine
nähere Erwähnung. So war im Fall 13 nach Inzision eines antero-
parietalen Abszesses eine sekundäre Eitersenkung nach dem Douglas
aufgetreten, welche die Eröffnung und Dränage per rectum notwendig
machte.
Umgekehrt wurde im Fall 5 nach Spaltung und Dränage eines
Douglasabszesses per rectum die weitere Spaltung eines zweiten Ab-
szesses per abdomen notwendig. Es war der Fall, in dem später eine
Bauchdeckenphlegmone und zahlreiche metastatische Abszesse der
Haut hinzukamen, an denen der Patient schließlich zugrunde ging.
Eine sehr große Höhle wurde im Fall 29 per rectum eröffnet
Man entleerte aus derselben nicht weniger als 2 1 Eiter. Der Heilungs-
verlauf war glatt.
Im Fall 40 wurde die im kleinen Becken gelegene Höhle von einer
anderen per abdomen inzidierten Höhle aus eröffnet. Es wurde von
oben her, aber auch gleichzeitig durch das Rektum dräniert. Unter
febrilem Verlauf trat Heilung ein.
Fall 42 enthielt neben dem Douglasabszeß weitere multiple Ab-
szesse und wird unter jener Kategorie näher besprochen werden.
6. Der mesocöliacale Abszeß ist nur in 4 Fällen == 3,5% der
Gesamtßille vertreten. Alle 4 Fälle gehören zu der Kategorie der
multiplen Abszesse. Einen Fall von reiner mesocöliacaler Abszeß-
bildung allein habe ich unter unseren 113 Fällen nicht finden können.
Derartige Fälle müssen naturgemäß äußerst selten sein, da bei der
stetigen Bewegung der Därme das Exsudat immer die Tendenz haben
wird, nach dem Punkte der Ruhe auszuweichen. Dieser entspricht
eben der vorderen und seitlichen Bauchwand und dort wird es natur-
gemäß auch am ehesten zu Abkapselungen und Verklebungen der
Darme kommen können.
7. Der subphrenische Abszeß ließ sich nur in 2 Fällen == 1,8%
konstatieren. Im Fall 8 trat später eine Pleuritis serosa über der
Leber ein. Nach Resektion der 7.— 10. Rippe glatte Heilung. Im
Fall 42 war ein subphrenischer Abszeß rechts und links gleichzeitig
mit anderen multiplen Abszessen vorhanden.
Nächst dem ileoinguinalen und pelvikalen Typus sind am häufigsten
8. die multiplen Abszesse mit 17 Fällen = 15% vertreten. Diese
haben naturgemäß auch die höchste Mortalitätsziffer von allen Kate-
gorien, indem auf sie weit über die Hälfte sämtlicher TodesPälle
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488 Ad. Ebner, [32
entfällt Ich habe zu dieser Kategorie alle Fälle mit mehr als einer
Abszeßhöhle gerechnet, da man sonst nach oben hin keine präzise
Grenze für diese Fälle ziehen kann.
Bei den meisten Fällen handelte es sich um eine Kombination
von 2 oder 3 der bereits oben beschriebenen Abszeßformen. Die ein-
zelnen Abszesse sind dort schon näher beschrieben worden, so dafi
wir uns hier damit begnügen können, nur kurz die verschiedenen
Kombinationen anzuführen. So finden wir im Fall 17 einen rechts-
und einen linksseitigen Abszeß der Leistengegend, im Fall 18, 40 und
56 einen ileoinguinalen Abszeß mit einem pelvikalen Abszeß kom-
biniert, während im Fall 77 zunächst ein pelvikaler Abszeß vorhanden
war, dem später ein zweiter Abszeß in der linken Leistenbeuge nach-
folgte. Ferner ist der rektale Typus im Fall 13 mit dem antero-
parietalen und im Fall 67 mit dem lumbalen oder posteroparietalen
Typus kombiniert. Eine Vereinigung von ileoinguinalem mit dem
anteroparietalen Typus findet sich im Fall 13 und mit dem meso-
cöliacalen Typus bzw. weiteren multiplen Abszessen im Fall 63. Eine
Vereinigung von extraperitonealem mit einem intraperitonealem Ab-
szeß bot Fall 3 in Gestalt zweier neben der rechten Niere gelegener
Abszesse, die nicht miteinander in Zusammenhang standen. Neben
diesen mehrfachen größeren Abszessen finden sich multiple Abszesse
im eigentlichen Sinne des Wortes nur in 4 Fällen, die zahlreiche
kleine und kleinste verstreute Abszesse aufweisen. Zu diesen ge-
hören auch die 3 Todesfälle im Fall 5, 22 und 41, die bereits oben
gelegentlich der Erörterung der gesamten 6 Todesfälle so eingehend
besprochen sind, daß hier darauf verwiesen werden kann.
Eine nähere Erwähnung verdient jedoch der einzige geheilte Fall.
Bei demselben (Fall 42) wurde zunächst am 4. Oktober eine große,
bis in das kleine Beeiden reichende Höhle rechts per abdomen er-
öffnet. Am 9. Oktober wurde eine lumbale Gegenöffnung angelegt.
Am 17. Oktober erfolgte die transpleurale Eröffnung des obener-
wähnten subphrenischen Abszesses links. Am 22. Oktober wurde die
Resektion der 11. Rippe und transpleurale Eröffnung des zweiten sub-
phrenischen Abszesses rechts gemacht. Am 7. November erfolgte
schließlich die Inzision eines Abszesses links unter dem Nabel. Der
Patient hatte also während der 64tägigen, mehr weniger fieberhaften
Behandlungsdauer 6 größere operative Eingriffe durchmachen müssen.
Wenn er schließlich als geheilt entlassen werden konnte, so hat wohl
das jugendliche Alter des Patienten von 10 Jahren ein gutes Teil zu
dem glücklichen Ausgang beigetragen.
Wenden wir uns nun den extraperitonealen Abszessen zu, so
teilen wir dieselben am besten in retro- und präperitoneal gelegene
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33] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 489
Abszesse ein und fügen den ersteren noch als besondere Unterabteilung
die retrofoszialen Abszesse hinzu«
Ffir die retroperitoneale Lokalisation können wir im ganzen 11
Falle => 9,7% anführen. Im Fall 3 handelte es sich um den oben er-
wähnten paranephritlschen Abszeß mit gleichzeitigem Diabetes. Im
Fall 22 bestanden gleichzeitig zahlreiche andere Abszesse. Im Fall 43
fand sich eine faustgroße retroperitoneale Höhle auf der rechten
Beckenschaufel, die ohne Eröffnung des Peritoneums auf retroperi-
toqealem Wege entleert werden konnte.
Im Fall 47 erstreckte sich der Eiter bis unter das Lig. Poupartii
hinunter, was allein schon als pathognostisches Merkmal für die retro-
peritoneale Lokalisation des Abszesses anzusehen ist, da sich intra-
peritoneale Abszesse stets oberhalb des Poupartschen Bandes nach
außen hin bemerkbar zu machen pflegen. Auch hier wurde die Ent-
leerung auf retroperitonealem Wege vorgenommen.
Im Fall 48 handelte es sich um eine große Höhle zwischen Peri-
toneum und Beckenschaufel. In der Tiefe war der Muse, psoas frei-
gelegt. Die Höhle stieg seitlich an der Wirbelsäule nach oben empor
und senkte sich nach unten in das Becken hinein bis zur Vagina.
Femer bestand eine Eitersenkung längs der Gefäße nach dem Ober-
schenkel zu. Hiernach ist nicht mit Sicherheit zu entscheiden, ob
etwa ein retrofaszialer Abszeß vorgelegen haben könnte. Nach der
Art des Befundes will mir das letztere wahrscheinlicher vorkommen,
wenngleich in dem Krankenblatt nur von einem retroperitonealen
Abszeß die Rede ist. Nach retroperitonealer Inzision fieberhafter
Verlauf und glatte Heilung.
Im Fall 68 reichte die große retroperitoneale Abszeßhöhle von der
Darmbeinschaufel bis zur rechten Niere an der Wirbelsäule aufwärts.
Nach Inzision trat unter fieberfreiem Verlauf glatte Heilung ein.
Als retrofaszialen Abszeß dürfen wir mit Sicherheit den Fall 30
ansprechen, bei dem es sich um eine reichliche Eiterentleerung direkt
aus dem Muse, ileopsoas handelte neben einem großen intraperi-
tonealen Abszeß, der von vorne her eröffnet wurde. Der ringförmig
gekrfimmte Appendix war retrocöcal gelegen und konnte entfernt
werden. Glatter Heilungsverlauf ohne Fistelbildung.
Als präperitoneale Abszesse werden in den Journalen die
Falle 51 und 52 = 1,8% bezeichnet. Danach bestanden in beiden Fällen
rechts über der Leistenbeuge vor dem Peritoneum gelegene Höhlen,
deren eine in Faustgröße mit fäkulentem, gashaltigem Eiter geffillt
war, während die andere in Hühnereigröße geruchlosen Eiter ent-
hielt Ob diese Höhlen von einem intra- oder retroperitonealen
Abszeß ihren Ausgang genommen haben, ist aus den Journalen nicht
Klln. Vortrige, N. F. Nr. 494/95. (Chirurgie Nr. 145/4a) Juli 1906. 36
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490 Ad. Ebner, [34
ZU ersehen. Im zweiten Fall scheint mir die gleichzeitig vorhandene
Flexionsstellung des rechten Beines für die letztere Annahme zu
sprechen«
Als dritten Fall könnte man noch hinzurechnen den Fall 56, bei
dem es von einer hühnereigroßen intraperitonealen Höhle aus in-
folge zweier Perforationen des Peritoneum parietale und der Fase*
transvers. zu einer großen Eiterhöhle innerhalb der Bauchwand ge-
kommen war.
Von Erscheinungen am Processus vermiformis im besonderen wird
vornehmlich die Häufigkeit von Perforationen und das Vorhandensein
von Kotsteinen von Interesse sein.
Diejenigen Fälle , in denen eine Perforation des Appendix aus-
drücklich angegeben ist, sind in verhältnismäßig geringer Anzahl ver-
treten. Das erklärt sich ohne weiteres aus der Tatsache, daß nur in
23 Fällen := 20,3% der Appendix aufgefunden bzw. entfernt werden
konnte. Von diesem Gesichtspunkt aus hat auch das prozentuale
Zahlenverhältnis der Perforationen keinen Wert, da in der über-
wiegenden Mehrzahl der übrigen Fälle mit größter Wahrscheinlichkeit
eine vorausgegangene Perforation anzunehmen ist. Mit Sicherheit
kann sie jedoch nur da angenommen werden, wo das Vorhandensein
eines freien Kotsteins in der Abszeßhöhle dafür spricht.
Unter den 23 Fällen von Amputation des Processus ist in 17 aus-
drücklich eine Perforation desselben angeführt. Und zwar lag dieselbe
in der Mitte des Processus 4mal, an der Spitze 7mal und an der Basis
in 2 Fällen. In einem Fall bestanden außer an der Spitze noch zwei
Perforationen an der Basis und in einem anderen Fall eine solche in
der Wand des Cöcum. Ferner fanden sich gleichzeitig bei einem
Fall zwei Perforationen am Dünndarm und eine am Cöcum, der
Processus war nekrotisch zerfallen, so daß man dieselben wohl als
Reperforationen mit Recht auffassen darf. Ebenso fanden sich in
einem anderen Fall zwei alte Perforationen am Cöcum, für die wohl
die gleiche Ätiologie zutreffen dürfte.
Das Vorhandensein eines Kotsteins wird ausdrücklich erwähnt nur
in 14 Fällen. Auch hier geht man nicht fehl in der Annahme, daß
bei der namentlich in früheren Jahren geübten einfachen Inzision der
Abszeßhöhle ohne genauere Revision derselben bisweilen ein in Ad*
häsionen eingebetteter Kotstein zugleich mit dem Processus der Wahr-
nehmung entgangen sein kann, ein Vorgang, der ja auch heute schließ-
lich nicht immer mit absoluter Sicherheit auszuschließen ist. Ob
ausnahmsweise in anderen Fällen eine Verflüssigung des Kotsteins in
dem Exsudat stattgefunden haben kann, ist eine Frage, über welche
die Akten noch nicht geschlossen sind.
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35] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 491
In jedem Fall erscheint die Annahme berechtigt, daß die tatsäch-
liche Zahl der vorhandenen Kotsteine etwas höher zu veranschlagen
ist, als die in den Journalen angegebene.
In den angegebenen 14 Fällen lag lOmal der Kotstein außerhalb
des Processus in der freien Abszeßhöhle , darunter einmal In der
Wand des Cöcum. In 1 Fall fanden sich zwei freie Kotsteine gleich-
zeitig vor. Nur in 2 Fällen lag der Stein innerhalb des Processus.
In 2 anderen Fällen ist eine genauere Lokalisation des Steines nicht
näher angegeben. In 6 von den Fällen wurde der Processus nicht
gefunden, bei den anderen wird ausdrüclüich eine Perforation des
Processus in den Journalen vermerkt. Die 6 Fälle sind trotzdem
mit Sicherheit als Perforationsfälle aufzufassen, so daß dadurch die
Zahl der sicheren Perforationen auf 23 Fälle steigt, eine Zahl, welche
immer noch als zu gering erscheinen muß für die Gesamtzahl von
113 Fällen.
Auf die sonstigen pathologisch-anatomischen Veränderungen am
Appendix näher einzugehen verlohnt sich einerseits nicht im Hinblick
auf die geringe Anzahl von 23 Fällen, in denen er überhaupt gefunden
ist Andererseits sind auch in diesen Fällen nur ganz vereinzelt
nähere Angaben darüber in den Journalen vorhanden, was sich viel-
leicht daraus erklären dürfte, daß auch hier meist das Bild durch
stark fortgeschrittene Nekrosen und Zerfallserscheinungen am Appen-
dix bereits ein stark verwischtes war.
Die Therapie bestand in sämtlichen Fällen in Inzision und Drä-
nage mit Jodoform- bzw. Isoformgaze, die in der Regel durch Ein-
legen eines dicken, durchlöcherten Gummi- oder Glasdräns unter-
stützt wurde. In einzelnen Fällen wurde eine Gegeninzision in der
Lumbaigegend oder im Rektum notwendig, durch welche dann eben-
falls dräniert wurde. Die reinen Douglasabszesse wurden sämdich
mit Inzision und Dränage vom Rektum aus behandelt, nachdem die
digitale Sphinkterdehnung vorausgegangen war. Die Inzision per ab-
domen wurde stets in ausgiebiger Länge gemacht, so daß sie einerseits
einen guten Oberblick über die Wundhöhle und das Operationsfeld
und andererseits eine ausgiebige Entleerung der Höhle durch Tupfer
und Spülungen ermöglichte. Stets wurde nach Möglichkeit die Er-
öffnung des freien Peritoneums zu vermeiden gesucht. Wo dieses
nicht möglich war, erfolgte der Schutz der freien Bauchhöhle sofort
mit provisorisch eingelegten Kompressen von steriler Gaze, die ihren
Zweck vollständig erfüllten. Am Schluß wurden die Inzisionen in der
Regel von den Wundwinkeln her bis auf die für die Dränage not-
wendige Öffnung verkleinert. In fast sämdichen Fällen trat in mehr
weniger kurzer Zeit nach dem operativen Eingriff die völlige Ent-
36*
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492 Ad. Ebner, [36
fieberung ein und hielt bis zur Heilung per granulat. an. Eine Aus-
nahme davon bildeten die Fälle, welche durch das Auftreten weiterej-
Abszesse oder sonstiger Komplikationen von dem gewöhnlichen Krank-
heitsverlauf abwichen. Hervorheben möchte ich noch, daß im Fall 43
nach 9 Tagen die Sekundärnaht gemacht wurde, und die glatte Hei-
lung derselben p. p. eintrat. Nur bei 4 Radikaloperationen der Bres-
lauer Klinik wurde primär geschlossen und zwar 2mal mit und Zmü
ohne Tampon.
Von Komplikationen der Erkrankung finden wir Diabetes
in 2 Fällen erwähnt. Im Fall 3 lag neben der intraperitonealen
eine extraperitoneale paranephritische Abszeßhöhle vor. Im Fall 9
handelte es sich um einen unter der Leber gelegenen Abszeß. In
beiden Fällen läßt die Lage der Abszesse an die Möglichkeit eines
ätiologischen Zusammenhanges der Erkrankung mit dem Diabetes
denken, so daß dann der letztere als sekundär aufeufassen wäre. Be-
wiesen wäre derselbe nur mit dem Aufhören des Diabetes nach Hei-
lung der Periappendizitis. Leider ist eine Angabe darüber in beiden
Krankengeschichten nicht zu finden. In beiden Fällen wurde jeden-
falls der Heilungsvorgang durch den Diabetes nicht beeinfiußt, was
eher für als gegen die Annahme eines derartigen Zusammenhanges
sprechen dürfte.
Erysipel trat bei einem präperitonealen Abszeß von der vorderen
Inzisionswunde aus auf. Der Fall verlief mit entsprechenden Tem-
peratursteigerungen^ kam aber auch zur Heilung. Wie zu erwarten war,
wurden in dem Abszeßeiter mikroskopisch Streptokokken nachgewiesen.
Seröse Pleuritis rechts trat nach Spaltung eines subphrenischen
rechtsseitigen Abszesses auf und machte die Resektion der 7. bis
10. Rippe notwendig. Die Infektion hat hier wohl in einer direkten
Durchwanderung der Erreger durch das Zwerchfell auf dem Lymph-
wege bestanden. Eine embolische Verschleppung auf dem Blutwege
dürfte für den Fall kaum zutrefi^end sein. Ein direkter Durchbruch
durch das Zwerchfell war abgesehen von der späteren Operation
schon durch den serösen Charakter des Exsudates mit Sicherheit
auszuschließen. Auch hier trat später glatte Heilung ein. Ferner
fand ich in je einem Fall eine trockene und eine exsudative PleuritiSy
die beide spontan zurückgingen.
Ein Abszeß links oberhalb des Zwerchfells wurde bei der
Sektion des Falles 22 gefunden, nachdem vorher bereits 5mal Abszesse,
darunter ein periumbilikaler, ein retroperitonealer und die übrigen
intraperitoneal gelegen, inzidiert waren. Auch hier ist nach deno
Sektionsbefund der obige Infektionsmodus als der wahrscheinlichste
anzunehmen.
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37] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 493
Eine Flexionskontraktur des Oberschenkels, die in der
Hauptsache auf eine Psoitis zurückzuführen sein dürfte, fand sich in
5 Fällen.
Dieselbe war im Fall 52 mit einem präperitonealen Abszeß rechts
verbunden. Das Vorhandensein der Flexionskontraktur scheint mir
für die Annahme zu sprechen, daß aus einem ursprünglich retroperi-
tonealen Abszeß durch Senkung bis zur Leistengegend und aufetei-
gende Infektion der Lymphgefäße oder Venen die präperitoneale Ab-
szedierung erst sekundär entstanden sein könnte. Zuin mindesten
dürfte der präperitoneale Abszeß allein kaum für die Ätiologie der
Flexionskontraktur in Betracht zu ziehen sein.
Eine Flexion des rechten Beins bestand ferner im Fall 22 seit
14 Tagen vor der Aufnahme. Es handelte sich um eine sehr große
teils retrocöcal, teils ileoinguinal gelegene Abszeßhöhle, in welcher
der Appendix nicltf gefunden wurde.
Ebenso bestand im Fall 23 bereits seit 4 Wochen vor der Auf-
nahme eine Unbeweglichkeit des rechten Hüftgelenks, die ihre Er-
klärung durch eine faustgroße retroperitoneale Abszeßhöhle mit einer
Senkung längs der Oberschenkelgefäße fand. Ganz ähnliche Verhält-
nisse bot der Fall 58. Auch hier bestand die Flexionskontraktur als
Folge eines auf dem Muse, psoas gelegenen Abszesses, der sich an
den Geßßen entlang nach dem Oberschenkel zu gesenkt hatte. Auch
hier war der Abszeß mit Sicherheit als retroperitoneal anzusprechen.
Als dritter Parallelfall dazu dient Fall 84, in dem bereits seit 10 Wochen
angeblich eine Lähmung des rechten Beins bestanden hatte, so daß der
Oberschenkel in Beugestellung gehalten wurde. Auch hier bietet die
Senkung der großen Abszeßhöhle bis unter das Leistenband die
sichere Gewähr, daß man es mit einem retroperitonealen Abszeß zu
tun hatte. Es war derjenige Fall, bei dem 10 Tage post op. die
Sektion die Diagnose eines Cöcumkarzinoms ergab, ohne daß der
Processus selbst gefunden wurde.
Eine Flexion beider Beine bestand im Fall 61 neben einer sehr
großen intraperitonealen Abszeßhöhle, die bis zur Blase und von
rechts nach links über die Mittellinie hinüber reichte. Der Processus
wurde nicht gefunden und erst später nach dem 12. Anfall im Sicher-
heitsstadium entfernt.
In sämtlichen 6 Fällen finden wir also 3, bei denen wir es un-
zweifelhaft mit einem retroperitonealen Abszeß zu tun haben, und
einen, bei dem es wahrscheinlich aber nicht bewiesen ist. In den
beiden übrigen Fällen wird der Abszeß als ein sehr großer intraperi-
toneal gelegener angegeben. Das Auftreten der Flexionskontraktur
ist bei retroperitonealen, und ganz besonders bei retrofaszialen
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404 Ad. Ebner, [38
Abszessen ein so häufiges, daß man sie heute mit Recht als ein patho-
gnostisches Merl^mal für dieselben bezeichnet Aber auch bei intra-
peritonealen EntzQndungsprozessen kann es leicht zu einer solchen
iLommen, selbst wenn diese zunächst nur in einer rein entzGndlichen
Affektion des retrocöcalen Peritoneum parietale ohne Abszedierung
bestehen.
So hat Sprengel einen solchen Fall beobachtet, in dem objektiv
bei der wegen Verdachts auf Appendizitis vorgenommenen Operation
weiter nichts nachweisbar war, als eine vermehrte Peritonealfiüssig-
keit und nur wenig entzündlich veränderte rechtsseitige Adnexe. Er
fährt in seinem Fall die Erscheinung auf eine entzündliche Reizung
des peritonealen Überzuges des Muse, ileopsoas zurück, die eine
Schmerzhaftigkeit bei jeder Dehnung des Muskels zur Folge haben
muß. Um diese zu vermeiden, wird dann das Bein von den Patienten
in willkürlich flektierter Stellung gehalten. Auch b^i anderen Autoren
findet man häufig Fälle, bei denen auf eine ausgesprochene Schmerz-
haftigkeit bei Bewegungen und namentlich bei Streckung des rechten
Beins im Hüftgelenk hingewiesen wird. Man hat darin wohl mit
Recht ein Frühsymptom einer entzündlichen Reizung des retrocöcalen
Peritoneum parietale zu erblicken, welche in der Regel ihren Ausgang
von einer Periappendizitis, bei weiblichen Patienten seltener auch
von einer rechtsseitigen Adnexitis genommen haben wird.
Bei vorgeschrittener intraperitonealer Abszeßbildung können dann
weiter myogene oder auch neurogene Ursachen für die Flexions-
kontraktur in Frage kommen, indem es zu einer infektiösen bzw.
toxischen Myositis des Muse, ileopsoas oder einer Neuritis des mit
dem Muskel hinter der Faszie verlaufenden Nerv, cruralis kommen
kann. Ebenso ist die Möglichkeit einer rein mechanischen Druck-
wirkung der sich ausdehnenden Abszeßwandung auf den Nerv, cru-
ralis nicht von der Hand zu weisen, deren Folgen sich ebenfalls in
Schmerzhaftigkeit bei Bewegungen und dadurch bedingter willkürlicher
Ruhestellung des rechten Beins in flektierter Haltung äußern werden.
Letztere Erklärung scheint mir auch für unsere beiden Fälle mit intra-
peritonealer Abszeßbildung zutreffend zu sein. Wenigstens spricht
einerseits die Größe der Abszesse für die Möglichkeit einer Druck-
wirkung auf den Nerv, cruralis, während andrerseits für entzündliche
Veränderungen am Muse, ileopsoas durch die Operation ein Nach-
weis nicht zu erbringen war. Alles in allem dürfte die Schmerz-
haftigkeit bei Bewegungen und spätere Kontrakturstellung des rechten
Beins als Frühsymptom beginnender Periappendizitis ein Merkmal
sein, dessen Bedeutung der Beachtung nicht dringend genug empfohlen
werden kann.
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39] Ü^CT den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 405
Eine Thrombose der linken Femoralvene fand sich im ganzen
imsly darunter Imal nach der Operation einer großen intraperitonealen
Abszeßhöhie rechts, die mit braungelbem, stinkendem Eiter angefüllt
war. Ober die Möglichkeit einer vorausgegangenen Unterbindung der
Art. und Vena epigastrica ist aus dem Journal nichts zu ersehen.
Der fieberfreie Verlauf scheint mir dafür zu sprechen, daß die Throm*
böse auf den Zusammenhang mit einer solchen zurückzuführen ist,
auf den ja oben bereits hingewiesen ist. Anderenfalls müßte man auf
die altere Anschauung zurückgreifen, welche die Ursache der links-
seitigen Thrombose in einer Erschwerung des Abflusses aus der linken
Vena femoralis in die rechts gelegenen Vena cava erblickt, indem der
Einmündungswinkel der linken Femoralvene erheblich stumpfer zu der
Vena cava verläuft, als derjenige der rechten Femoralvene.
Thrombose der rechten Femoralvene fand ich nur in 1 Falle.
Eine Thrombose beider Ven. iliac, die bis in die Unterschenkel
hinabreichte, ergab die Sektion des Falles 41. Schon 8 Tage nach
der Einlieferung trat in dem Fall eine klinisch nachweisbare Throm-
bose beider Unterschenkel unter hohem Fieber ein. Die Operation
ergab zwei große intraperitoneale Eiterhöhlen, deren rechts gelegene
200 ccm Eiter enthielt, während die größere links gelegene mit
ca. 1 1 Eiweiß gefüllt war. In diesem Fall ist die rein infektiöse
Natur der ausgedehnten Thrombophlebitis durch das ganze Krank-
heitsbild und den hohen Temperaturanstieg bei ihrem Beginn ein-
wandsfrei bewiesen.
Peritonitische Erscheinungen post op. traten nur in einem
Fall auf, gingen aber spontan zurück. Als ihre Veranlassung nahm
man eine intraabdominale rezidivierende Abszeßbildung auf, die sich
spontan zurückbildete.
Eine Fistelbildung bei der Entlassung der Patienten bestand
in 6 Fällen =5,3% der Gesamtfälle. Im ersten Fall fand sich an der
Basis des Processus eine Perforation neben einer Obliteration im
mitderen Drittel desselben. Nach Amputation des Processus war mit
Jodoformgaze dräniert worden.
Im 2. Fall bestand eine Perforation in der Mitte des Processus
neben einem bohnengroßen Kotstein, der die Basis des Processus
abschloß. Auch hier wurde der Processus amputiert und mit Jodo-
formgaze dräniert. Der Fall verlief subfebril. In beiden Fällen werden
die Fisteln als Kotfisteln bezeichnet.
Mit „eiternder Fistel" entlassen wurde der Patient im Fall 36. Es
handelte sich um einen walnußgroßen zwischen Cöcum und lateraler
Bauchwand gelegenen Abszeß mit stinkendem Eiter gefüllt. Der Pro-
cessus wurde nicht gefunden. Auch hier dürfte aller Wahr-
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496 Ad. Ebner, [40
scheinlichkeit nach eine Perforation des Processus vorausgegangen
sein.
Mit ^lileiner Fistel'' entlassen wurde Fall 30, bei dem ein retro-
faszialer und ein intraperitonealer Abszeß durch lateralen Rektus-
schnitt entleert war. Der Processus wurde gefunden und amputiert.
Es ist der einzige Fall mit Fistelbildung , bei dem ausdrücklich an-
geführt wird, daß am Processus keine Perforation vorhanden war.
Trotzdem bestand bei fast afebrilem Verlauf eine Eiterung fort, die
schließlich eine Fistel bestehen bleiben ließ.
Im Fall 74 blieben bei der Entlassung zwei Fisteln gleichzeitig be-
stehen. Der Processus wurde in dem ileoiaguinalen Abszeß nicht
gefunden. Ob eine Perforation stattgefunden hatte, ist ungewiß.
Ebensowenig ließ sich dieses im Fall 83 feststellen, da auch hier
nach Entleerung des ileoinguinalen Abszesses der Processus nicht
gefunden wurde. Über das spätere Schicksal der Fisteln findet sich
nur im Fall 33 die Angabe, daß nach einem Monat eine Spontan-
heilung eingetreten ist.
In 3 von den 6 Fällen mit Fistelbildung hat also eine Amputation
des Appendix stattgefunden, während derselbe in den anderen 3 Fällen
zurückgelassen werden mußte. In 3 Fällen hat vorher mit Sicherheit
eine Perforation stattgefunden, in 2 Fällen ist sie als wahrscheinlich
anzunehmen und in 1 Fall ist dieselbe mit Sicherheit auszuschließen.
Ob in den obigen Fällen das Lösen der Jodoformgazedränage an
der Stelle der Darmnaht zu einem Aufgehen derselben und Unter-
haltung der Fistelbildung geführt haben kann, läßt sich nachträglich
nicht entscheiden. Immerhin ist vielleicht für einzelne Fälle diese
Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen.
Eine Periappendicitis diffusa ist in 27 Fällen zur Operation
gelangt. Wir haben den Eingriff aus den oben angeführten Gründen
als Notoperation bezeichnet. Auf diese Notoperation entfallen im
ganzen 10 Fälle mit tödlichem Ausgang := 70,4% Mortalität.
Auf die beiden Geschlechter sind die Fälle ziemlich gleichmäßig
verteilt, indem 16 Männer und 11 Frauen davon betroffen sind.
Bezüglich des Alters verteilen sich die einzelnen Fälle folgender-
maßen: Von 1—10 Jahren 4 Fälle, von 11—20 7, von 21—30 4, von
31 — 40 6, von 51—60 3 und von 61—70 Jahren ebenfalls 3 Fälle.
Was die Anzahl der vorausgegangenen Anfälle anbelangt, so finden
wir in 20 Fällen = 74,1% nur 1 Anfall, in 6 Fällen = 22,2% 2 vor-
ausgegangene Anfalle und in 1 Fall = 3,7% 3 vorausgegangene An-
fälle angegeben. Es entspricht dieses der schon bei den Spätopera-
tionen hervorgehobenen und bestätigten Erfahrungstatsache von dem
vielfach besonders schweren Verlauf gerade der ersten Appendizitis-
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41] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 497
anfiUe, so daß man diesen gegenüber bezüglich der Prognose ganz
besonders miOtrauiscIi sein muß.
Der Zeitpunkt der Operation ist in diesen Fällen berechnet von
dem Zeitpunkt der Perforation bzw. des Beginns der Allgemein-
Peritonitis ab, soweit derselbe aus den in der Anamnese angegebenen
alarmierenden Symptomen zu ersehen war. In der Regel ließ sich
dadurch der Zeitpunkt mit ziemlicher Sicherheit festlegen.
Nach diesem Gesichtspunkt sind innerhalb der ersten 48 Stunden
nach der Perforation zur Operation gelangt 7 Fälle. Sämtliche Fälle,
außer 1, sind zur Heilung gelangt. Von den übrigen 20 Fällen sind
am 3. Tage 8 Fälle, am 4. Tage 3, am 5. Tage 4, am 6. Tage 1 und
noch später 4 Fälle operiert worden. Die beiden einzigen geheilten
Fälle davon sind am 3. und 5. Tage zur Operation gelangt.
Während wir hier also in den ersten 48 Stunden das relativ
günstige Ergebnis von 14,3% Todesfällen haben, steigt die Mortalitäts-
ziffer nach 48 Stunden steil auf 00% an.
Der Processus konnte gefunden und entfernt werden in 20 Fällen
*=74,1%, er wurde nicht gefunden und mußte zurückgelassen werden
in 6 Fällen » 22,2%, in 1 Fall ist es nach dem Journal unentschieden.
Die letzteren Fälle sind sämtlich Todesi311e, womit natürlich nicht
gesagt sein soll, daß dieses der alleinige Grund für den tödlichen
Ausgang war. Ein Grund mehr dazu wird das Zurückbleiben eines
in Zerfall begrifFenen Processus jedenfalls sein.
Bei den anamnestischen Angaben ist von besonderem Inter-
esse die Häufigkeit bzw. Konstanz der für die Perforation als patho-
gnostisch zu bezeichnenden Symptome. Von diesen kann wohl oft das
eine oder andere fehlen, immerhin wird das gleichzeitige Vorhanden-
sein der übrigen alarmierenden Symptome die eingetretene Ver-
schlimmerung des Krankheitsbildes nur selten verkennen lassen.
Der mehr weniger heftige und plötzlich einsetzende Charakter des
Schmerzanfalls wird fast in sämtlichen Fällen hervorgehoben. In der
Regel war derselbe mit Übelkeit verbunden und machte sich auch
den Patienten selbst durch seine schnell zunehmende Intensität gegen
den vorhergehenden Krankheitszustand deutlich bemerkbar. Meistens
ist der Schmerz als sehr heftiger Leibschmerz angegeben, seltener
wird derselbe in der Ueocöcalgegend lokalisiert.
Das Erbrechen setzte fast immer gleichzeitig mit dem Schmerz-
anfall ein und ist in sämtlichen Fällen vorhanden gewesen außer im
Fall 9. In diesem Fall ist es trotz einer bereits 4 Tage lang be-
stehenden Verhaltung von Stuhl und Winden nicht zum Erbrechen
gekommen. Über den Charakter des Erbrochenen ist im Fall 1 an-
gegeben, daß derselbe gallig war. Im Fall 7 war das Erbrochene
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408 Ad. Ebner, [42
kothaltig, es bestand seit 2 Tagen Verhaltung von Stuhl und Winden.
Sonst sind nähere Angaben darüber nicht vorhanden.
Verhaltung von Stuhl und Winden bestand in 15 Fällen und zwar
im Durchschnitt seit 2—3 Tagen, nur im Fall 13 allein wird der Zeit-
raum mit 7 Tagen angegeben. Trotzdem war das Erbrochene nicht
kothaltig, jedoch bestand gleichzeitig ein starker Meteorismus, sowie
ein Ödem beider Oberschenkel. In den übrigen Fällen bestand hart-
näckige Obstipation, außer Fall 15, der allein mit Durchfallen und
Erbrechen einsetzte, und Fall 5, bei dem 5 Tage vorher 2 Tage lang
Durchfälle bestanden hatten, und dann erst die übliche Obstipation
I einsetzte.
\ Urinbeschwerden sind nur in 2 Fällen angegeben. Im 1. Fall hatten
sie 1 Tag vor der Perforation, im anderen Fall bereits 14 Tage vorher
eingesetzt.
Die Temperatur war in 22 Fällen mehr oder weniger fieberhaft,
jedoch wird nur in 1 Fall ausdrücklich ein Schüttelfrost angeführt.
Eine vorausgegangene Verabfolgung von Abführmitteln ist nur in
4 Fällen erwähnt, von denen 3 zum Exitus kamen. Es ist aber ohne
weiteres anzunehmen, daß Abführmittel in einer weitaus höheren
i Mehrzahl von Fällen vorher genommen sind, da ja das Publikum und
leider auch noch ein Teil der Ärzte bei einem Anfall von Leibschmerz,
I und sei er auch als Blinddarmanfall angesprochen, den Patienten mit
Abführmitteln zu mißhandeln pflegt. Daß ein derartiges Verhalten
in allen schweren Fällen, die ja klinisch zunächst gar nicht fest-
zustellen sind, die Perforation beschleunigen und die Prognose der
nachfolgenden Peritonitis durch die künstlich angeregte Darmperi-
staltik ganz erheblich verschlechtern muß, liegt auf der Hand. Ob
I solche Fälle dann durch diejenigen aufgewogen werden, bei denen
I der Anfall durch Abführmittel, insbesondere das beliebte OL riclni,
I kupiert worden ist, erscheint doch recht fraglich. Zum mindesten
müßte einmal bewiesen werden, daß die letzteren Fälle ohne Abführ-
I mittel per os, allein durch Einlaufe und entsprechende Regelung der
Diät, nicht auch zur Heilung gekommen wären, und zum anderen
müßte man in der Lage sein, vor einer Ordination von Abführmitteln
I untrügliche klinische Kennzeichen für die Schwere oder Geringfugig-
I keit der am Processus tatsächlich vorhandenen pathologischen Ver-
änderungen anführen zu können. Solange das nicht der Fall ist,
wird jeder Arzt, der nach Ordination von Purgantien gelegentlich
eine sehr virulente und foudroyante Peritonitis auftreten sieht, sich
der schweren Verantwortung nicht entziehen können, durch seine
Medikation ein gut Teil zu dem bedauerlichen Ausgang des Falles
beigetragen zu haben.
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43] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 400
Aus dem klinischen Äufnahmebefund möchte ich nur kurz hervor-
heben, daß eine verstärkte bis brettharte Spannung der Bauchdecken
i^ 15 Fällen angeführt ist. Daneben bestand gleichzeitig im Fall 3
ein stark eingezogenes, kahnförmiges Abdomen, aus dem Magen wurde
mit dem Schlauch fäkulenter Mageninhalt entleert, trotzdem ist ana-
mnestisch das vorher Erbrochene nicht als fäkulent angegeben.
Meteorismus bestand in mehr oder weniger ausgeprägtem Grade
in 20 Fällen. Ein Ödem an der Haut des Abdomens rechts seitlich
fand sich im Fall 6, Ödem an beiden Fußgelenken bestand im Fall 13.
Eine Flexionsstellung beider Beine fand sich allein im Fall 7. Be-
zuglich der Ätiologie derselben verweise ich auf das oben Gesagte.
Vorwiegend kostaler Atemtypus wird hervorgehoben in 4 Fällen allein,
vermutlich dürfte derselbe sich jedoch auch in einem Teil der anderen
Fälle gefunden haben, da er ja bei allen stärkeren Affektionen des
ganzen Peritoneums nur selten zu fehlen pflegt. Bezüglich des Urins
wird im Fall 10 angegeben, daß derselbe Albumen und Indikan ent-
hielt, im Blute wurden bei dem Fall 56000 Leukozyten gezählt. Eben-
falls Indikan im Urin wurde auch im Fall 13 gefunden.
Wenden wir uns nun dem pathologisch -anatomischen Befund
unserer Fälle zu, so empfiehlt es sich wohl zunächst, die innerhalb
der ersten 48 Stunden operierten und geheilten Fälle gesondert zu
besprechen.
Im 1. Fall zeigte sich der Processus sehr verdickt, aufgebläht, mit
einer kleinen Perforation an der Basis. In der Umgebung dünn-
flüssiges, leicht getrübtes Exsudat, ebenso eine reichliche Ansammlung
desselben im Douglas. Das Netz zeigte in der Umgebung des Appen-
dix reichliche Adhäsionen mit dicken, fibrinösen Beschlägen, eben-
solche fanden sich am Cöcum.
Im 2. Fall war der Processus in der Richtung nach hinten oben
geknickt und in der Psoasgegend fixiert. In der Mitte war er voll-
ständig durchgebrochen. Im freien Peritoneum reichlich seröses, eitrig
getrübtes Exsudat, ebenso im Douglas. Das Cöcum war infiltriert,
mit leicht rauher Serosa.
Im 3. Fall war der Processus ebenfalls nach oben umgeknickt, sehr
hoch gelegen und in frische und ältere Verwachsungen eingebettet.
1 cm unterhalb der Spitze eine große Perforation, daneben zwei kleine
Kotsteine gelegen. Unter der Leber, sowie nach dem Becken zu eine
kleine Ansammlung eines serös-eitrig getrübten Exsudats, das sich
in geringerer Menge auch zwischen den freien Darmschlingen vor-
findet.
Im 4. Fall freies trüb-gelbliches Exsudat im Peritonealraum. Serosa
der Därme in der rechten Beckengegend injiziert, daselbst reichlich
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500 Ad. Ebner, [44
Verwachsungen mit dicken grau-gelblichen Belägen. Processus in
frische VerUebungen eingebettet, bleistiFtdick, in der Mitte eine kleine
Perforation.
Im 5. Fall war der Processus nach unten vollständig abgeknickt,
in Verwachsungen eingebettet und zeigte in der Mitte eine kleine
Perforation. Der Inhalt des Processus bestand aus Eiter. In der
Umgebung des Processus fand sich wenig dünnflüssiger Eiter zwischen
den vereinzelt verklebten Darmschlingen, der mit der offenen Perito-
nealhöhle in breiter Verbindung stand.
Im 6. Fall fand sich ein trübseröses Exsudat in der linken freien
Bauchhöhle. In der Ileocöcalgegend war das parietale Peritoneum
mit Darmschlingen verklebt, nach deren Lösung sich aus dem freien
Peritoneum serös-eitrige Flüssigkeit entleerte, nach unten zu ein grün-
lich verfärbtes Gewebe mit 100 ccm stinkenden Eiters. In diesem Ab-
szeß lag der perforierte gangränöse Appendix mit einem Kotstein.
Aus dem kleinen Becken entleerte sich ebenfalls stinkender Eiter.
Dieser Fall kam als der einzige von sämtlichen relativen Frühopera-
tionen zum Exitus an fortschreitender Peritonitis, die auch durch den
Sektionsbefund bestätigt wurde.
Im 7. Fall endlich fand sich ebenfalls ein trübes Exsudat in der
freien Bauchhöhle, sowie mehrere Abszesse zwischen leicht verklebten
Darmschlingen. Der Appendix war ohne frische Erscheinungen ad-
härent und lag in einer anscheinend alten AbszeOhöhle zwischen
Cöcum und Dünndarmschlingen. Der Fall entsprach einer Spontan-
perforation eines alten latenten perityphlitischen Abszesses. •
Allen Fällen gemeinsam ist also außer im 7. Fall eine Perforation
des Processus, ferner ein seröses, mehr oder weniger in Übergang
zur Eiterung begriffenes Exsudat der freien Peritonealhöhle, oder mit
dieser in breiter Verbindung stehend, und schließlich die übliche
Injektion und Trübung der Darmserosa, stellenweise mit fibrinösen
Beschlägen. In sämtlichen Fällen wurde der Processus entfernt und
die Bauchhöhle unter Verkleinerung der Inzisionswunde mit Jodoform-
gaze dräniert. Alle Patienten gelangten in einem Zeitraum von 17 bis
26 Tagen zur Heilung ohne Fistel, mit Ausnahme des Falles 2, bei
dem nach 20 Tagen noch die Inzision eines Douglasabszesses per
rectum notwendig wurde. Kotsteine wurden allein im Fall 3 und 6
gefunden. In ersterem Fall wurde wegen seines reaktionslosen Ver-
laufes 4 Tage post op. die Sekundärnaht gemacht, die dann p. p. zur
Heilung gelangte.
Besprechen wir in gleicher Weise nach dem Zeitpunkt der Ope-
ration geordnet die weiteren 20 Fälle, so finden wir bei den 8 am
3. Tage zur Operation gelangten Fällen folgenden Status :
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45] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 501
1. Fall 6. Freies jauchig-eitriges Exsudat mit abgegrenzten Eiter-
herden im Peritoneum und reichlichen Verklebungen. Processus nicht
gefunden. Die Sektion am 3. Tage post op. ergab eine Perforation
an der Spitze des Processus, daneben einen erbsengroßen Kotstein
in einem abgekapselten Abszeß.
2. Fall 12. Im freien Peritoneum seröses, gallig gefärbtes Exsudat.
Im kleinen Becken gränlich-gelber, mißfarben-jauchiger Eiter. Sämt-
liche Därme gebläht und intensiv gerötet. Processus nach dem kleinen
Becken zu abgeknickt, an der Basis eine bohnengroße und an der
Spitze zwei erbsengroße Perforationen.
3. Fall 14. Freies fäkulent- trübes Exsudat im Abdomen, diffuse
fibrinöse Darmverklebungen. Im kleinen Becken stinkender Eiter.
Processus in Verwachsungen eingebettet, fingerlang, mit der Tube
verklebt, entzfindlich verdickt. Breite Perforation in der Mitte', ein
bohnengroßer Kotstein im Processus. Ein zweiter Stein frei im
Becken liegend. Einige Dünndarmschlingen schwarzbraun, gangränös.
Der Processus wurde amputiert. Bereits einige Stunden post op. trat
der Exitus ein.
4. Fall 15. Eitrig-dünnes Sekret in reicher Menge im Peritoneum,
Fibrinauflagerungen am Cöcum und Dünndarm. Kein Abschluß gegen
die freie Bauchhöhle. Im Becken eine große, jauchig-stinkende Eiter-
ansammlung. Prozessus nicht gefunden. Nach 3 Tagen Exitus.
5. Fall 17. Trübes Exsudat im freien Abdomen, Darmserosa mit
Belägeii, in deren Wand der Processus mit einer Dünndarmschlinge
verwachsen ist, die um 120 "^ gedreht ist. Processus amputiert, Exitus.
6. Freies seröses Exsudat, leichte Injektion der freien Dünndarm-
schlingen und des Cöcum. Appendix ohne Perforation ins kleine,
Becken geschlagen, mit leicht injizierter Wand. Bei der Lösung reißt
die Spitze ab, worauf sich serös-eitrige Flüssigkeit aus seinem Lumen
entleert. Nach 24 Stunden Exitus. In dem makroskopisch klaren
Exsudat Bacterium coli: Exitus durch Endotoxinwirkung.
7. In der freien Bauchhöhle fökulente Exsudatmassen, Appendix
nicht gefunden. Exitus 2 Stunden post op. Die Sektion ergab eine
Kotsteinperforation des gangränösen Appendix mit mangelhafter Ad-
häsionsbildung, davon ausgehend diffuse, fäkulente Peritonitis.
8. Fäkulent-eitrige Peritonitis der rechten Bauchseite, ausgehend
von dem tief im Becken perforierten Appendix, serös-eitrige Perito-
nitis im übrigen Abdomen. Es ist dies einer der beiden noch nach
48 Stunden geheilten Fälle, der Patient konnte nach 5 Wochen ent-
lassen werden.
Auch hier finden wir in sämtlichen Fällen, außer im Fall 6, ein
trübes Exsudat im freien Peritoneum, jedoch bereits mit mehr eitrig-
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502 Ad. Ebner, [46
jauchigem Charakter, sowie größere Ansammlungen von fakulentem
Eiter im Douglas. Die Darmschlingen zeigen in ausgedehnterem
Maße starke, fibrinöse Beschläge und mehr oder weniger ausgedehnte
Verwachsungen, so daß es bereits zur Abkapselung von kleineren
und größeren Höhlen gekommen ist, die aber in allen Fällen mit der
freien Bauchhöhle kommunizieren. In 1 Fall (14) waren bereits
gangränöse Veränderungen einiger Darmschlingen vorhanden, die
vielleicht auf Ernährungsstörungen durch eitrige Gefaßverschlüsse
zurückzuführen sind. Wir sehen hier deutlich die Kennzeichen der
weiter fortgeschrittenen Peritonitis.
Der Processus wurde in 3 Fällen nicht bei der Operation ge-
funden infolge bereits vorhandener Verklebungen, die man wegen
der Infektionsgefahr nicht lösen wollte. In 2 Fällen davon ergab die
nachträgliche Sektion eine Perforation an der Spitze und daneben
einen freien Kotstein.
In den 5 anderen Fällen wurde der Processus gefunden und ent-
fernt. In 3 Fällen davon war eine Perforation an dem Appendix vor-
handen, neben der sich in 1 Fall 2 Kotsteine fanden, von denen einer
innerhalb, der andere außerhalb des Processus gelegen war.
Am 4. Tage wurden 3 Fälle operiert.
1. Fall 11. Fäkulenter Eiter im freien Peritoneum, Appendix in
der rechten Fossa iliaca fixiert, zeigt eine bohnengroße, gangränöse
Stelle mit Perforation, im Douglas reichlich Eiter. Stellenweise eitrige
Membranen auf der injizierten Darmserosa. Die Sektion ergab neben
freiem Eiter zahlreiche, kleine Abszesse und vergrößerte Mesenterial-
drüsen.
2. Fall 0. Stark geblähte und injizierte Dünndarmschlingen mit
freiem getrübtem Exsudat. Ein Appendix epiploic. der Flexura sigmoid.
zieht nach hinten oben und ist an der Radix mesenter. fixiert. Eben-
dahin zieht der in Verwachsungen eingehüllte Appendix. An seiner
Basis in den Adhäsionen ein kleiner Eiterherd. Dicht unterhalb der
Klappe eine Schnürfurche. Die Sektion ergab neben alten peritoni-
tischen Verwachsungen und einem vernarbten Geschwür der Pylorus-
klappe ein hämorrhagisches Infiltrat der Dünndarmwand und allgemeine
Peritonitis.
Der letzte Fall bietet kein klares Bild infolge der früheren, wohl
auf der Basis der PylorusafPektion entstandenen Peritonitis. Diese
hat dann wohl durch Strangulationen und Knickungen zu einer weiteren
Aifektion des Appendix geführt, von dem die zweite tödliche Peritonitis
ihren Ausgang genommen hat. Für die letztere Annahme scheint mir
wenigstens der an der Basis des Processus gelegene kleine Eiterherd
zu sprechen.
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47] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 503
3. Freies trabseröses Exsudat mit difiPus injizierten Dfinndarm-
schiingen. Stärkere grünlich -gallertige Exsudatmassen fuhren von
links durch das Becken nach rechts in die Ileococalgegend. Appendix
retrocöcal, im Bogen nach medial ziehend, perforiert, in einem Ab-
szeß gelegen. Die Dünndarmschlingen zum Teil stark gebläht, zum
Teil kollabiert« Zwischen beiden Abschnitten zieht ein l^/s cm breiter
Netzstrang hinweg, der nach rechts unten fixiert ist
Exitus 15 Tage post op. Autopsie verweigert. Der Fall weist
mit dem vorhergehenden insofern eine gewisse Ähnlichkeit auf, als
er eine Kombination von Perforationsperitonitis mit Strangileus dar-
stellt und der Netzstrang wohl als Residuum einer vorausgegangenen
Periappendizitis aufzufassen ist.
In allen 3 Fällen also ebenfalls freies eitriges Exsudat, nur im 1.
und 3. Fall eine Perforation, dagegen im 2. und 3. Fall die Residuen
einer früheren Peritonitis als Ursache der letzten Erkrankung.
Am 5. Tage nach der Perforation gelangten nur 4 Fälle zur Ope-
ration.
1. Fall 5. Dünner fakulenter Eiter im freien Peritoneum, fibrinös-
eitrige Beläge der Darmschlingen mit reichlichen Verklebungen. Pro-
cessus mit der hinteren Wand des Cöcum verwachsen, an der Spitze
eine linsengroOe Perforation. Im Douglas eine Menge eitrig-fäkulenten
Exsudats. Vor dem zentralen Ende im Processus ein Kotstein.
2. Fall 16. Im Abdomen ein freies, trübes Exsudat, rechtsseitlich
eine große in Abkapselung begriffene Eiterhöhle, Därme mit dünnen
Belägen, Processus gangränös und perforiert.
3. Freies eitriges Exsudat mit Belägen und Verklebungen der
Dannschlingen. Processus an der Spitze kolbig aufgetrieben, per-
foriert und gangränös.
4. Serös-eitriges Exsudat im freien Peritoneum, Appendix nicht
gefunden. Exitus nach 24 Stunden. Sektion verweigert.
In allen 4 Fällen bestand also ebenfalls freies eitriges Exsudat neben
einer Perforation des Processus in 3 Fällen, einmal mit einem Kot-
stein im Inneren des Processus. Nur der 2. Fall kam zur Heilung^
nachdem noch eine zweite Laparotomie oberhalb des Nabels vor-
genommen war zur Lösung einer Darmschlinge, welche durch perito-
oitische Verwachsungen Ileus verursachte.
Reichlich dünnflüssiger Eiter mit Fibrinflocken vermischt fand sich
auch bei dem am 6. Tage operierten Fall 7. Der Processus wurde
nicht gefunden. Die Sektion ergab diffuse Verklebungen der Darm-
schlingen, eine schmierige, gelb-grünliche Verfärbung des Peritoneums,
reichliche, muhiple Abszesse mit eitrig-kotigem Inhalt. Processus am
Cöcum gelegen, fast völlig zerstört. Zahlreiche Perforationen am
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504 Ad. Ebner, [48
Dünndarm, Cöcum und Kolon, die wohl als RackperForationen auf-
zufassen sind. Das in diesem Fall vorausgegangene Koterbrechen ist
nach dem obigen Befunde erklärlich.
Besonderes Interesse bietet der am 7. Tage zur Operation gelangte
Fall aus der Breslauer Klinik, insofern man zunächst einen voll-
kommenen, akuten Obturationsileus mit Sitz der Obturation am Dfino-
darm angenommen hatte, ohne Peritonitis. Die Operation ergab nur
wenig trübes freies Exsudat im Peritoneum mit blaurot geblähten
Darmschlingen. In der Ileocöcalgegend eitrig belegte Darmpartien in
Form eines Darmwandbruches, Dünndarmschlingen im kleinen Becken
kollabiert. Spontane Eröffnung eines rechtsseitigen stinkenden Douglas-
abszesses, in welchem der an seiner Spitze gangränöse und einen
Kotstein aufweisende Appendix fixiert war am Mesenterium einer
Dünndarmschlinge. Es handelte sich demnach um einen Fall von
Kombination eines rein mechanischen Ileus mit Appendizitis, bei
welchem der DarmverschluO eventuell in der Weise zustande ge-
kommen war, daß durch den an seiner Spitze fixierten Appendix eine
Dünndarmschlinge abgeschnürt sein konnte. Wahrscheinlich hatte
früher einmal bereits eine Appendizitis bestanden (Kotstein), die durch
die Einklemmung der Dünndarmschlinge zu neuem Aufflammen ge-
bracht wurde. Der Fall starb wenige Stunden nach der Operation.
Die restierenden 3 Fälle sind erst am 0., 14. und 35. Tage zur
Operation gelangt und nehmen daher eine besondere Stellung gegen
die obigen bis zum 6. Tage operierten Fälle ein. Sie bieten nicht
eigentlich das Bild der akuten allgemeinen Peritonitis dar, sondern
mehr das Bild einer Peritonitis fibrinopurulenta progrediens nach
Mikulicz, zum Teil übergehend in das Bild der akuten, allgemeinen
Peritonitis.
So ergab im Fall 13 die Operation am 0. Tage an der Spitze des
Processus eine Perforation, sowie einen bis in den Dquglas reichenden
Abszeß, der mit einem großen Abszeß der linken Lumbaigegend kom-
munizierte. Der Processus war nach unten umgeschlagen. Erst die
nachfolgende Sektion des kurz nach der Operation verstorbenen
Patienten ergab neben der zirkumskripten die gleichzeitig bestehende
allgemeine Peritonitis.
Ein ähnliches Bild ergab auch die Operation am 14. Tage im
Fall 10. Es bestand eine große, von trocknen, roten, fibrinös belegten
und verklebten Darmschlingen gebildete Höhle mit dickem, fakulentem
Eiter. Ein Gang führte von hier aus nach hinten oben in die Lenden-
gegend, ein anderer nach vorne und unten zwischen Nabel und Sym-
physe. Daselbst zwei Gegeninzisionen angelegt. Sonst überall Ver-
klebungen der Därme, die auch ein Auffinden des Processus unmög-
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49] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 505
lieh machten. Die Sektion nach 24 Stunden ergab eine Periappendicitis
perforativa, Pelveoperitonitis chron., Peritonitis diffusa acuta punilenta
und Salpingitis sinistra.
Eine chronische, eitrige Peritonitis mit abgeschlossenen intraperi-
tonealen multiplen Abszessen ergab schließlich die Operation am
35. Tage nach Beginn der Beschwerden im Fall 8. Die Spitze des
Appendix war in die Bauchhöhle und nach Verwachsung mit dem
Cöcum in das letztere perforiert« Ferner bestand eine RückperForation
in Kolon und Magen. Der Fall wurde noch dadurch kompliziert, daß
ein operativer Pneumothorax links mit Atelektase der linken Lunge
eine Resektion der linken IL Rippe notwendig machte.
Sämtliche drei letzten Fälle könnten somit nach einem Teil des
Befundes ebensogut unter den zirkumskripten Periappendiziten ange-
führt werden, wenn eben nicht die gleichzeitig vorhandene allgemeine
Peritonitis ihnen diesen gegenüber eine besondere Stellung zuweisen
würde. In allen drei Fällen lag ebenfalls eine Perforation des Appen-
dix vor.
Der eigentliche Zeitpunkt der Perforation läßt sich hier natur-
gemäß bei der langen Dauer der Erkrankung aus den Journalen nicht
mit Sicherheit ersehen, so daß der angegebene Zeitraum sich mehr
auf den Beginn der Beschwerden als auf den Zeitpunkt der Per-
foration beziehen dürfte. Im übrigen stimmen aber die anatomisch-
pathologischen Veränderungen der einzelnen Fälle mit dem angegebe-
nen Zeitraum auch bezüglich der Möglichkeit einer so lange bestehen-
den Perforation so ziemlich überein.
Kurz zusammengefaßt finden wir also in 21 Fällen eine Perforation
ausdrücklich angegeben, dagegen wurde ein Kotstein nur in 7 Fällen
gefunden. Im freien Peritoneum finden wir bis zum 3. Tage in allen
Fällen ein mehr seröses, leicht getrübtes Exsudat, das vom 3. bis
6. Tage eine deutlich eitrig -jauchige Beschaffenheit annimmt und zu
Ansammlungen im Douglas Neigung hat. Gleichzeitig eine fort-
schreitende Verklebung der Darmschlingen auf der Grundlage einer
fibrinösen Ausscheidung des Exsudates. Vom 0. Tage ab entweder
das Bild einer langsam fortschreitenden fibrinösen Peritonitis oder
einer zirkumskripten Periappendizitis mit sekundärer Perforation in
die freie Bauchhöhle und nachfolgender akuter Allgemeinperitonitis.
Die Therapie bestand bei sämtlichen Fällen in breiter Eröfi^nung
der Peritonealhöhle durch Medianschnitt, Schrägschnitt oder Schnitt
am lateralen Rektusrande, zu dem nach Bedarf eine Gegeninzision in
der Lumbaigegend oder auch im Douglas hinzugefügt wurde. Die
Dränage erfolgte stets in ausgiebiger Weise mit Jodoform- bzw. Iso-
formgaze und bisweilen gleichzeitig mit einem dicken, bis in den
KUn. VortrSge, N. F. Nr. 494/95. (Chirurgie Nr. 145/46.) Juli 1908. 37
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506 Ad. Ebner, [50
Douglas eingelegten Glasdrän. In Fällen mit dickem eitrigem Ex-
sudat wurde eine ausgiebige Spülung der Abdominalhöhle mit physio-
logischer Kochsalzlösung vorgenommen. Stark kollabierte Patienten
mit darniederliegender Darmtätigkeit erhielten zur Anregung derselben
reichlich Kochsalzeinläufe per rectum. Die Narkose wurde durchweg
mit Äther gemacht und nur auf eine besondere Indikation seitens der
Lungen wurde ausnahmsweise einmal Billrothsche Lösung verwandt.
Kommen wir zu den absoluten Frühoperationen, d. h. den-
jenigen Fällen, die bereits 48 Stunden nach Beginn der Erkrankung
überhaupt ohne Rücksicht auf das Fehlen schwerer Symptome zur
Operation gelangt sind, so ist deren Zahl verhältnismäßig gering, da
einerseits erst im Jahre 1903/04 mit der Frühoperation begonnen
wurde, und andererseits die Zahl der Fälle, welche so früh bereits
in die Hand des Chirurgen gelangt, an sich schon eine sehr be-
schränkte ist. Diese letzte Tatsache wird sich vermutlich ändern,
sobald auch die ausschlaggebenden Kreise der praktischen Ärzte mehr
und mehr von dem Nutzen der Frühoperation durchdrungen sind,
wie es z. B. von Sprengel aus der Umgebung von Braunschweig
und von Riedel aus der von Jena heute schon hervorgehoben wird«
Wir haben es daher im Laufe der Jahre 1903—1907 nur mit 27
Fällen von absoluter Frühoperation zu tun, die sämtliche glatt zur
Heilung gelangt sind.
Es handelte sich dabei um 16 = 59,2 % männliche und 1 1 := 40,8%
weibliche Patienten im Alter bis zu 40 Jahren. Davon entfallen auf
das erste Dezennium 1 Fall, auf das zweite Dezennium 8 Fälle, auf
das dritte U und auf das vierte 7 Fälle.
In 18 Fällen davon wird der Anfall als der erste angegeben, in
6 Fällen war bereits ein anderer Anfall vorausgegangen und nur in
2 Fällen handelte es sich um den dritten, sowie in einem Falle um
den vierten Anfall.
In sämtlichen Fällen wurde der Processus leicht gefunden und
entfernt.
Die Behandlungsdauer lag zwischen 12—20 Tagen in 7 Fällen,
zwischen 21—30 Tagen in 2, und zwischen 31 — 42 Tagen ebenfalls
in 2 Fällen.
Ein operativer EingrifiP war vorausgegangen allein im Fall 11, der
vor 2 Monaten bei dem ersten Anfall eine Inzision und Dränage des
Douglas durchgemacht hatte. Seitdem hatte der betr. Patient häufig
an Blasenbeschwerden gelitten, wohl als Folge der entzündlichen
Adhäsionen vom ersten Anfall her.
Von sonstigen Angaben aus der Anamnese sei hier einiges hervor-
gehoben, was allgemeineres Interesse bietet.
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51] Ober den heutigen Sund der Erkennung U.Behandlung der Appendizitis. 507
Die Temperatur wird als fieberliaft vor und bei der Aufnalime
angegeben in 20 Fällen. In 3 Fällen wird ein Schüttelfrost angeführt.
In 4 Fällen bestand kein Fieber und in 3 anderen Fällen ist weder
in der Anamnese, noch im Status eine Angabe über die Temperatur
vorhanden.
Erbrechen ging voraus in verschiedener Intensität und Häufigkeit
in 16 Fällen, während in den anderen 11 Fällen nur von Übelkeit
väbrend des Anfalles berichtet wird.
Die Schmerzen begannen mehr weniger heftig in der Magengegend
oder im ganzen Leibe und lokalisierten sich dann schnell in der Ueo-
cocalgegend. Vereinzelt werden sie gleich bei Beginn in der Gegend
des Appendix empfunden.
Im Fall 5 hatte Patient noch an dem Tage nach Beginn des An-
falls eine längere Wagenfahrt unternommen, worauf denn auch prompt
eine schnelle Verschlechterung seines Zustandes eintrat. Im Fall 8
hatte Patient nach Beginn des Anfalls noch die Schule besucht, worauf
am nächsten Tage eine rapide Verschlimmerung der Schmerzen und
häufiges Erbrechen bei jeder Nahrungsaufnahme auf die Schwere des
Leidens hinwies.
Bei der Aufnahme bestand deutlicher Meteorismus und Span-
nung der Bauchdecken in 20 Fällen, in einem Fall wird die letztere
als bretthart bezeichnet, Blasenkrampf war nur einmal vorhanden.
Die Druckempfindlichkeit wird als allgemein angegeben in
2 Fällen, in 24 Fällen war dieselbe besonders in der Ileocöcalgegend
lokalisiert, in einem Fall war eine stärkere Druckempfindlichkeit über-
haupt nicht vorhanden.
Eine deutliche Resistenz in der Ileocöcalgegend ließ sich in
14 Fällen nachweisen, dieselbe schwankte zwischen Hühnerei- bis
MannsfaustgröOe, und nur in einem Fall wird dieselbe als bleistift-
dicker Strang angegeben. In 2 Fällen ließ sich die Resistenz gleich-
zeitig vom Rektum aus nachweisen. In 2 anderen Fällen fehlte jede
klinisch nachweisbare Resistenz.
Indikan wurde im Urin nur im Fall 10 gefunden. In einem Fall
(6) war gleichzeitig eine urethrale Gonorrhöe vorhanden.
Bei der Durchsicht der anatomisch -pathologischen Operations-
befunde dieser Kategorie werden wir öfters finden, daß die patho-
logischen Veränderungen weit mehr fortgeschritten sind, als man nach
der kurzen Zeit seit dem angeblichen Beginn des Anfalls erwarten
sollte. Die Veränderungen entsprechen mit anderen Worten einem
spateren Stadium der Erkrankung, als dem, welches wir nach den
subjektiven Angaben des Patienten vor uns haben. Dieses erklärt
sich ohne weiteres aus der schon oben hervorgehobenen Erfahrungs-
37*
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508 Ad. Ebner, [52
tatsache, daß eben die klinischen Erscheinungen bisweilen in grellem
Gegensatz zu den pathologischen Veränderungen stehen können.
Die subjektiven Beschwerden können an sich schon gering sein,
und werden außerdem noch je nach Sensibilität des Patienten ver-
schieden stark empFunden werden. Sie können daher namentlich bei
Beginn der Erkrankung der Beobachtung völlig entgehen und gelangen
dem Patienten erst bei stärkerem Auftreten zur Wahrnehmung, der
von diesem Augenblick naturgemäß den Beginn der Erkrankung
rechnen wird.
Andererseits kann auch eine virulentere Infektion innerhalb kür-
zerer Zeit zu schweren anatomischen Veränderungen führen, als dieses
bei einer weniger virulenten Infektion der Fall sein wird.
Kurz zusammengefaßt stellen sich nun die Operationsbefunde nach
den Krankengeschichten folgendermaßen dar:
1. Processus in alte und frische Verwachsungen eingebettet, ver-
dickt. Er ist nach außen und unten umgeschlagen, die Wand ist stark
infiltriert und brüchig. Im^Douglas trübseröses Exsudat. Die Schleim-
haut des Processus zeigt grauweißliche, diphtherische Beläge.
2. Retention an der Spitze des Processus, keine Verwachsungen,
dagegen Hämorrhagien der Schleimhaut. Der Processus ist sehr
lang, nach hinten und oben umgeschlagen mit starker Schwellung der
Wand. An der Basis eine Striktur infolge einer alten Narbe. Die
Peritonealhöhle ist frei von Exsudat.
3. In der rechten Darmbeingrube wenig seröses Exsudat, das in
Reinkultur Streptokokken enthält. In einem zusammengeballten Netz-
klumpen der 10 cm lange, dicke und hochrote Processus. Peritoneum
parietale der hinteren Beckenwand stark injiziert, Mesenteriolum
ödematös verdickt.
4. Processus frei nach dem kleinen Becken ziehend, verdickt, ge-
rötet und geschwollen. Nahe der Spitze eine fünfpfennigstuckgroße,
gangränöse Stelle. Eiteransammlung im kleinen Becken. Ein zweiter
Abszeß unterhalb des Nabels nach links zur Mittellinie ziehend. Ver-
klebung der Därme am Peritoneum parietale.
5. Ziemlich reichliches, leicht getrübtes Exsudat im freien Ab-
domen, besonders im kleinen Becken angesammelt. Der entzündlich
veränderte Processus wird von dem zu einem Klumpen verbackenen
Netz in der rechten Beckenschaufel umschlossen. Darin ein Abszeß
mit braunem, stinkendem Eiter. Am Processus eine markstück-
große Gangränstelle, dahinter ein Kotstein in KirschkerngroOe.
6. Processus stark gerötet an der Spitze im kleinen Becken fixiert.
Die Serosa ist mit kleinen Knötchen besetzt, Mesenteriolum derb
ödematös geschwollen, mit einem großen Fibrinfetzen. Im kleinen
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53] Ober den beutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. SQQ
Becken eine geringe Menge nicht eitrigen Exsudates. Im Lumen des
Processus Eiter und Stuhl.
7. Processus nach oben geschlagen, in Netz eingebettet. An der
Basis eine erbsengroße Perforation, die ganze Basis brüchig mit
beginnender Gangrän. Processus stark aufgetrieben, in der Wand
kleine Eiterherde. Blutig-schleimiger Inhalt, ausgedehnte Nekrosen.
Geringes, seröses, freies Exsudat. Neben dem Processus in dem um-
gebenden Netzklumpen ca. ein Teelöffel voll Eiter. Obliteration des
Lumens.
8. Peritoneum ödematös, verbackene Darmschlingen, ein Netz-
klumpen bedeckt das kleine Becken, unter demselben reichlich ßku-
lenter Eiter. Processus in der AbszeOhöhle gelegen, ringförmig ge-
krümmt, an der Spitze eine linsengroOe Gangränstelle, dahinter ein
reiskorngroßer Kotstein.
9. Spitze des geschwollenen Appendix nach oben geschlagen, gegen
die Leber zu verwachsen. Basis des Appendix bis auf Pflaumen-
große aufgetrieben, Wandung stark injiziert. Kein Exsudat, keine
Fibrinbeschläge, Cöcalwand sehr brüchig, so daß die Nähte durch-
schneiden. Das Mesenteriolum wird auf den Stumpf genäht. Nahe
der Spitze eine Striktur. Schleimhaut an der dilatierten Stelle gangränös.
10. Im freien Peritoneum reichlich getrübtes, nicht ßikulentes Ex-
sudat, das sich besonders reichlich im kleinen Becken vorfindet und
dort einen deutlich fäkulenten Geruch annimmt. Processus in der
Nahe des Nabels zwischen Netz und Dfinndarmschlingen frisch ad-
harent. Bei der Auslösung Entleerung von fäkulentem Eiter aus
einem um den Appendix gelegenen Abszeß. Kolonwand ist infiltriert
11. Tiefere Muskelschichten, Faszie und Peritoneum infiltriert,
ödematös. Netz zu einem. Klumpen verbacken, vielfach mit Abszessen
durchsetzt. Resektion des Netzlappens. Zwischen Cöcum und Netz-
lappen eine Abszeßhöhle, die durch das Netz in die Bauchhöhle
durchgebrochen ist. In der Bauchhöhle und im Douglas freier Eiter.
Dannserosa spiegelnd. Processus 6 cm lang, an der Basis stenosiert,
daliinter ein Empyem mit 15(!) flachen, linsengroßen Kotsteinen« Die
Wandung des Processus ist trotzdem nirgends perforiert, nicht einmal
an einer Stelle ulzeriert.
12. Wenig freies seröses Exsudat, vorliegend injiziertes Netz, dar-
unter injiziertes Cöcum. Appendix nach hinten unten gelegen, in
Adhäsionen eingebettet, mit geschrumpftem Mesenteriolum.
13. Vorliegend infiltriertes Netz, nach rechts unten fixiert. Appen-
dix abgeknickt nach hinten oben, stark verändert durch alte und
frische Entzündung, basaler Teil verdickt. Unter dem infiltrierten
Netz dünnflüssiger Eiter.
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510 Ad. Ebner, [54
14. Vorliegend Adhäsionen. Appendix nach oben außen prall eri*
giert, injiziert, 13 cm lang, mit beginnender Perforation in der Mittei
15. Cöcum vorliegend, Appendix frei, 6 cm lang, ins kleine Becken
geschlagen, im ersten Stadium der Entzündung. An einer Stelle ein
gräuliches Infiltrat der Wandung des Appendix, im basalen Abschnitt
ein Kotstein.
16. Vorliegend Netz und Dünndarm, im Becken serofibrinöses,
nicht stinkendes Exsudat. Appendix leicht verklebt, nach unten ge-
schlagen, purpurrot, kleinfingerdick, mit weißen Fibrinfetzen. Keine
Perforation. Inhalt des Appendix eitriger Kot. Mesenteriolum in-
filtriert.
17. Cöcum vorliegend, nicht injiziert. Processus retrocöcal, der
Hinterwand des Cöcum breit aufliegend und hier fest verwachsen,
stark geschwollen und gerötet. Im Lumen ein langer, festsitzender
roter Thrombus, zu einer Stelle zwischen mittlerem und unterem
Drittel führend, wo die Wand gangränös und minimal perforiert ist
Im Becken serofibrinöses, nicht stinkendes Exsudat.
18. Leicht Exsudat im Becken. Appendix in alten, festen Ad-
häsionen, in der Tiefe fixiert, auf dem Cöcum festgewachsen, 10 cm
lang, enorm gebläht, injiziert, mit stinkendem Eiter und Konkrementen
als Inhalt, eines davon Dekubitalgangrän verursachend, die dicht vor
der Perforation steht.
10. Vorliegend Netz. Dem Cöcum anliegend injizierte Dünndarm-
schlingen. Appendix zwischen Cöcum und Dünndarm nach unten
über die Iliacalgefaße ins kleine Becken ziehend, in Adhäsionen ein-
gebettet, mit eitrig infiltrierter Wand. Bei Lösung der Adhäsionen
serös-eitriges Exsudat zwischen Dünndarmschlingen abgekapselt. Im
freien Peritoneum wenig seröse Flüssigkeit.
20. Appendix geschwollen, 6 cm lang, leicht gewunden, nicht ge-
knickt, Mesenteriolum infiltriert. Appendixserosa injiziert, mit leichten
fibrinösen Auflagerungen. Netzverklebungen an der Vorderseite des
Appendix, sein distales Ende frei in der Bauchhöhle.
21. Cöcum vorliegend, mobil, injiziert. Leichte Adhäsionen zwi-
schen Netz, Ileum und hinterem parietalem Peritoneum. Bei ihrer
Lösung einige Tropfen stinkenden Eiters. Daneben Appendix retro-
cöcal, hochgradig infiltriert, in breiten Adhäsionen mit Perforation.
22. Keine Verwachsungen, Appendix lang, frei, nicht injiziert, an
der Spitze derb. Freies Peritoneum ohne Befund.
23. Eigroßes in verdicktes Netz eingebettetes Exsudat dicht neben
dem Lig. Poupartii. Appendix im Exsudat, mit drohender Perforation
in der Mitte. Zwei Kotsteine. In den Adhäsionen zwei Teelöffel
serös-eitriger Flüssigkeit.
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55] Ober den heutigen Stand der Erkennung U.Behandlung der Appendizitis. 511
24. Appendix 7 cm lang, nach auOen oben hinten am Cöcum liegend,
verdickt, prall injiziert, in fibrinöses Exsudat eingebettet, an der Spitze
Perforation« Im freien Peritoneum wenig seröse Flüssigkeit.
25. Appendix nach oben geschlagen, außen am Cöcum, fettes
Mesenterium, fibrinös-eitriger Belag, wenig Serum im Peritoneum.
Processus hochrot, geschwollen, ohne Inhalt mit nekrotischer Schleim-
haut Mesenteriolum brüchig.
26. Appendix durch alte Adhäsionen retrocöcal fixiert. Wand
schwarz infolge beginnender Gangrän, Peritoneum frei von Eiter,
starker Gestank nach Bacter. coli.
27. Sofort nach Eröffnen des Peritoneums quillt stinkender, grün-
licher Eiter heraus, ca. 2 — 4 Teelöfi^el voll. Vorliegend stark ge-
blähtes Cöcum, injiziert im unteren Teil. Appendix nach hinten oben
geschlagen, fest adhärent, stark gerötet. Auf der Grenze zwischen
mittlerem und unterem Drittel eine große Perforation, aus der ein
kleiner Kotstein herauskommt. Der Perforation entspricht ein tiefes
Ulkus. In der Cöcalgegend stinkender Eiter.
Nach obigen Befunden finden wir weder ein seröses Exsudat,
noch eine Eiterung nur in 5 Fällen. In diesen Fällen waren die
Veränderungen vorwiegend auf den Processus beschränkt. Im Fall 2
bestand nur eine Retention an der Spitze mit zahlreichen Hämor-
rhagien der Schleimhaut und starker Schwellung der Wand. Trotz-
dem hatte der Fall mit Schüttelfrost eingesetzt und war bis zur
Operation mit geringem Fieber verlaufen. Der Fall dürfte dem ent-
sprechen, was Riedel unter einer Appendicitis granulär, haemor-
rhagica verstanden wissen will.
Im Fall 9 waren die Veränderungen am Processus erheblich weiter
vorgeschritten. Es bestand eine frische Verwachsung und eine Striktur
an der Spitze, sowie eine Retention und Gangrän der Wand an der
Basis. Bemerkenswert ist, daO, wie im Journal ausdrücklich hervor-
gehoben wird, trotz dieser vorgeschrittenen Veränderungen kein Ex-
sudat und keine fibrinösen Beläge der Serosa in der Umgebung be-
standen. Ob der erste Grad des Exsudats in Gestalt einer ödema-
tösen Schwellung der Darmserosa vorhanden war, wie sie namentlich
von Sprengel hervorgehoben wird, ist aus dem Journal nicht zu
ersehen. Die Ursache für die fehlenden Veränderungen in der Um-
gebung könnte man hier vielleicht in der Annahme erblicken, daO
durch eine Thrombose bzw. Verlegung der Lymphgefäße am Pro-
cessus eine weitere Verbreitung der in ihm enthaltenen Toxine ver-
hindert wurde. Derartige Fälle pflegen dann im Fall einer Perforation
dii übelste Prognose abzugeben, da dem Peritoneum nicht durch das
warnende Vorauseilen der Toxine eine Gelegenheit gegeben ist zur
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512 Ad. Ebner, [56
Vorbereitung von Schutzmaßregeln gegen die plötzliche Invasion der
Infektionserreger.
Einen fast normalen Befund bietet allein Fall 22 dar, bei welchem
es sich um einen langen, freien, nicht injizierten Appendix handelte,
der sich nur durch eine gewisse Derbheit an der Spitze auszeichnete.
Das Peritoneum war ohne Befund.
Erheblich fortgeschrittene Veränderungen am Appendix, wie im
Fall 0, fanden sich auch im Fall 20 und 26. Im ersteren Fall war
der Appendix geschwollen, seine Serosa injiziert, mit leichten fibri-
nösen Auflagerungen, sowie Netzverklebungen an seiner Vorderseite.
Das Mesenteriolum war ebenfalls infiltriert. Peritoneum sonst ohne
Befund. Im letzteren Falle handelte es sich um einen durch alte Ad-
häsionen retrocöcal fixierten Appendix, dessen Wand infolge beginnen-
der Gangrän bereits eine schwärzliche Verfärbung zeigte. Das Peri-
toneum war frei, zeigte aber einen auffallenden Geruch nach Bacter. coli.
Sämtliche 5 Fälle repräsentieren bei dem Mangel eines patho-
logischen Peritonealbefundes gewissermaßen das frühzeitigste Stadium
der gesamten 27 Frähfälle. Sie zeigen aber auch andererseits deut-
lich, in wie weiten Grenzen die Veränderungen am Appendix trotz
fehlender Peritonealreaktion sich bewegen können.
Ihnen am nächsten stehen die Fälle, bei denen wir ein leicht ge-
trübtes, seröses Exsudat im freien Bauchraum finden, ohne eine bereits
abgekapselte AbszeObildung. Dazu gehören im ganzen 10 Fälle.
Im Fall 1 bestand ein trübseröses, nicht abgekapseltes Exsudat im
Douglas. Der Processus war in reichlich alte und frische Verwach-
sungen eingebettet, seine Wand stark infiltriert und brüchig. Das
eben entstandene Exsudat hatte sich naturgemäß zunächst im Douglas
angesammelt.
Fall 3 ergab wenig seröses Exsudat auf der rechten Darmbein-
schaufel, ebenfalls mit reichlich schützenden Verwachsungen um den
entzündlich veränderten Processus. Trotzdem das Exsudat Strepto-
kokken enthielt, heilte der Fall nach primärer Naht der Bauchdecken
völlig reaktionslos. Es bestand nur 2 Tage nach der Operation
eine geringe Steigerung der Temperatur.
Ein geringes, freies seröses Exsudat im Douglas bestand schließ-
lich im Fall 6. Daneben fand sich ein leichtes Empyem des Pro-
cessus und wenig frische Verwachsungen. Sanat. p. p.
Im Fall 12 war neben dem geringen Exsudat ein nur wenig ver-
änderter, in Verwachsungen eingebetteter Appendix mit geschrumpftem
Mesenteriolum vorhanden. Ebenso im Fall 16 leichte Verklebuogen
an dem geschwollenen und geröteten, mit Fibrinfetzen bedeckten
Appendix. Das serofibrinöse Exsudat lag im Becken.
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57] Über den heutigen Stand der Erkennung U.Behandlung der Appendizitis. 513
Auch im Fall 17 und 18 war das leicht getrübte Exsudat im Becken
angesammelt. Im ersteren Fall zeigte der stark geschwollene und
gerötete Appendix, welcher mit der hinteren Wand des Cöcum breit
verwachsen war, in seinem Lumen einen festsitzenden, roten Throm-
bus, der auf eine gangränöse und perforierte Stelle der Wand zwischen
mitderem und unterem Drittel hinführte. Im letzteren Fall war der
Appendix gleichfalls auf dem Cöcum adhärent, enorm gebläht infolge
Retention seines Inhalts, der aus stinkendem Eiter und Konkrementen
bestand. Das eine derselben hatte eine Dekubitalgangrän verursacht,
die dicht vor der Perforation stand.
Im Fall 10 zeigte der in Adhäsionen gelegene Appendix eine eitrig
infiltrierte Wand und es fand sich neben dem freien auch abgekap-
seltes Exsudat zwischen verklebten Dünndarmschlingen vor.
Eine beginnende Perforation zeigte an seiner Spitze auch im Fall 24
der stark verdickte und prall injizierte Appendix, während es sich im
Fall 25 um einen hochroten, geschwollenen Processus handelte, dessen
Schleimhaut bereits nekrotisch war.
Das Charakteristikum dieser Gruppe bilden also neben dem leicht
getrübten, serofibrinösen Exsudat, das sich mit Vorliebe im kleinen
Becken anzusammeln pflegt, entsprechend dem fibrinösen Charakter
dieses Exsudates beginnende Verklebungen und Verwachsungen in der
Umgebung des Entzündungsherdes, aus denen bereits deutlich das
Bestreben des Körpers hervortritt, den Entzündungsherd von dem
übrigen Peritoneum auszuschalten.
Daneben sind die pathologischen Veränderungen am Appendix
durchweg erheblich vorgeschrittener als bei der ersten Gruppe, in
Gestalt von häufiger Retention des Inhaltes, Neigung zu Ulzeration
und Nekrose der Schleimhaut als Vorbereitung für die drohende bzw.
oaclifolgende Perforation seiner Wandung.
Die dritte Stufe nach dem pathologischen Befund würden die Fälle
einnehmen, bei denen es neben einem freien Exsudat bereits zu einer
umschriebenen Abszeßbildung gekommen ist, bzw. bei denen es um-
gekehrt nach älteren Entzündungsvorgängen durch eine neue Infektion
von hier aus zu einem neuen freien Exsudat gekommen ist. Welche
von den beiden Möglichkeiten vorliegt, läßt sich aus den pathologi-
schen Befunden nicht immer mit Sicherheit entscheiden.
Ein typisches Beispiel für den letzteren Vorgang bietet der Fall 11.
Bei diesem war der primäre Abszeß zwischen Cöcum und einem
Netzlappen gelegen. Durch eine Perforation in die freie Bauchhöhle
war es zu einem sekundären, freien, eitrigen Exsudat gekommen.
Im Netzlappen selbst bestanden multiple Abszesse. Der Processus
ragte in den Abszeß hinein und zeigte an der Basis eine Stenose,
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514 Ad. Ebner, [58
hinter der ein Empyem mit 15 flachen, linsengroOen Steinen ge-
legen war.
Zu dem ersteren Vorgang dürften die Fälle 5, 7 und 10 zu zahlen sein.
Im Fall 5 bestand neben einem um den Processus vom Netz ab-
gekapselten, fakulenten Abszeß ein freies, trübes Exsudat der Bauch-
höhle mit einer Ansammlung desselben im Douglas. Am Processus
selbst fand sich eine markstückgroße Gangrän mit einem Kotsteia
dahinter.
Im Fall 7 bestand ein geringes, seröses, freies Exsudat neben einem
kleinen Abszeß am Processus, sowie mehrere ganz kleine Abszesse
in der Wand des Processus selbst. Ferner befand sich an der Basis
des Appendix eine Perforation und umschriebene Gangrän der Wand.
Ebenso bestand auch im Fall 10 ein Abszeß mit frischen Ver-
wachsungen um den Processus herum, sowie ein reichlich serös-trübes,
freies Exsudat mit einer größeren Ansammlung im kleinen Becken.
Nur die letztere hatte einen fakulenten Geruch.
Am weitesten von allen ist der Fall 4 vorgeschritten, der ein freies
Exsudat überhaupt nicht mehr zeigte, sondern nur zwei abgekapselte
Abszesse aufwies, von denen der eine im Douglas, der andere unter-
halb des Nabels gelegen war. Der entzündlich veränderte Appendix
zog nach dem ersten Abszeß hin. Es bestanden ferner reichliche
Verwachsungen der Därme untereinander und mit dem Peritoneum
parietale um die Abszeßhöhle herum.
Fall 13 zeigte unter dem infiltrierten Netz dünnflüssigen Eiter,
während der nach hinten oben abgeknickte Appendix durch alte und
frische Entzündungsvorgänge stark verändert war und eine Verdickung
am basalen Teil aufwies.
Fall 21 ergab wenig stinkenden Eiter bei Lösung der Adhäsionen
zwischen Netz, Ileum und hinterem parietalem Peritoneum. Der hoch-
gradig infiltrierte Processus lag retrocöcal in Adhäsionen fixiert und
wies eine Perforation auf.
Ein eigroßes in verdicktes Netz eingeschlossenes Exsudat fand sich
im Fall 23. Der Appendix lag in dem Exsudat, enthielt zwei Kotsteine
nebst einer drohenden Perforationsstelle in seiner Mitte. Außerdem
fanden sich zwischen den Adhäsionen noch zwei Teelöfi^el einer serös-
eitrigen Flüssigkeit.
Fall 17 endlich zeigte in der Cöcalgegend stinkenden Eiter, während
der stark gerötete, nach hinten oben adhärente Appendix zwischen
mittlerem und unterem Drittel eine große Perforation aufwies, aus
welcher ein kleiner Kotstein im Begrifl^ war herauszutreten.
Schließlich möchte ich noch Fall 14 und 15 besonders anfuhren,
da bei ihnen mir eine Angabe über das Verhalten des Peritoneums
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59] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 515
nicht vorliegt^ so daß es zweifelhaft erscheint, in welche unserer drei
Gruppen von absoluten Frfihoperationen man sie einreihen kann. Im
Fall 14 werden Adhäsionen angegeben, während der nach oben auOen
prall erigierte und injizierte Appendix in der Mitte eine beginnende
Perforation aufwies. Fall 15 zeigte den ins kleine Becken geschlagenen
Appendix im ersten Stadium der Entzündung. Im basalen Abschnitt
desselben lag ein Kotstein, an einer Stelle der Wand war ein gräulich
verfarbtes Infiltrat vorhanden.
So bieten diese wenigen 17 Fälle, die nach den subjektiven An-
gaben der Fat. bereits in einem so kurzen Zeitraum nach Beginn des
Anfalls zur Operation gelangt sind, objektiv bereits ein so mannig-
faltiges Bild der pathologischen Entwicklungsvorgänge dar, daO man
muhelos die verschiedenen Stadien der Entwicklung daraus kon-
struieren kann. Sie bilden die beste Illustration für die weiten
Grenzen, in denen sich die Differenz zwischen subjektivem Krank-
heitsgefühl und objektivem Krankheitsbefund bei der Appendizitis
bereits im frühesten Stadium bewegen kann, und eine genauere Durch-
sicht der vorstehenden Operationsprotokolle dürfte manchem Gegner
der Frühoperation doch zu denken geben.
Man ersieht daraus, wie häufig man bei der Frühoperation der
Tatsache gegenüberstehen kann, daO man dem objektiven Befunde
nach keine Frühoperation, sondern eine Zwischenoperation zu machen
gezwungen ist. DaO trotzdem unsere sämtlichen Fälle glatt zur
Heilung gelangt sind, dürfte zum mindesten nicht gegen den Nutzen
weder einer Frühoperation, noch einer Zwischenoperation sprechen.
Man kann sich eben nicht präzise auf eine Operation der Appen-
dizitis nach einem zeitlich allein umgrenzten Stadium festlegen und
so wird auch mancher Gegner der Zwischenoperation dazu kommen,
gewissermaßen unabsichtlich eine Anzahl von Zwischenoperationen
(nach dem operativen Befund) zu machen, nach deren Verlauf sich
dann die Anschauungen der betrefi^enden Operateure auf Grund ihrer
eignen, wenn auch unfreiwilligen Erfahrungen zugunsten oder Ungunsten
der Zwischenoperation modifizieren dürften.
Die Erfahrungen der radikaleren Operateure, namentlich die von
Rehn und Sprengel, haben zur Genüge bewiesen, daß bei exaktem
Abtamponieren der übrigen Bauchhöhle ein Fortschreiten der In-
fektion auf das freie Peritoneum auch bei Lösung frischer, ent-
zündlicher Adhäsionen nicht so sehr zu fürchten ist, als man es
bis dahin allgemein getan hatte. Geht doch Rehn auf Grund seiner
guten Erfolge so weit, daß er prinzipiell abgekapselte Abszesse unter
Tamponade des Peri^neums durch die freie Bauchhöhle hindurch
eröffnet.
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516 Ad. Ebner, [60
Auf Grund dieser ein wandsfreien Erfolge eines radikalen Vor-
gehens darf man wohl annehmen, daß der Vorteil einer möglichst
frühzeitigen Entfernung der Infektionsquelle aus dem Korper angesichts
der verminderten Furcht vor der operativen Infektionsmöglichkeit des
freien Peritoneums auch die z. Z. noch ziemlich allgemein verbreitete
Abneigung gegen die Zwischenoperation voraussichtlich mehr und mehr
zum Schwinden bringen wird.
Die Therapie bestand neben der Amputation des Appendix, die
in allen Fällen gemacht wurde, in primärer Naht der Bauchdecken in
20 Fällen. Alle 20 waren völlig fieberfrei, bis auf Fall 3, der Strepto-
kokken im Exsudat hatte und 2 Tage lang mit Fieber post op. verlief.
Teilweise Naht der Bauchdecken und Dränage der Peritonealhöhle
mit Jodoformgaze und Gummi- oder Glasdrän wurde in 5 Fällen
gemacht. Alle 5 heilten ebenfalls völlig fieberfrei p. p. bis auf die
DränageöflPnung. Breite Tamponade ohne Naht wurde nur im Fall 4
und 5 gemacht In beiden Fällen war der Verlauf zuerst fieberhaft«
Im ersten Fall kam es noch zu einer Retention, und im zweiten Fall
wurde 0 Tage nach der Operation die Inzision eines metastatischen
Parotisabszesses links notwendig. Beide Fälle heilten dann glatt per
granulationem, jedoch muOte der letztere Fall mit einer Bauchfistel
entlassen werden. Bei den übrigen Fällen ist von persistierenden
Fistelbildungen nichts erwähnt. Von postoperativen Komplikationen
seitens der Breslauer Fälle (12 — 27) sei noch besonders hervorgehoben,
daß in 4 Fällen ein kleiner Bauchwandabszeß eintrat, der die Heilung
nicht wesentlich verzögerte. Ferner kam in je einem Fall dazu eine
leichte Bronchopneumonie, eine trockne rechtsseitige Pleuritis, eine
Thrombose der Vena poplitea dextra. In einem anderen Fall, bei
dem ein perforierter Appendix mit stinkendem Abszeß gefunden und
die Bauchhöhle trotzdem ohne Dränage geschlossen worden war,
mußte nach 21 Tagen ein Douglasabszeß inzidiert werden, der sich
vermutlich durch entsprechende Dränage bei der ersten Operation
hätte vermeiden lassen und daher nicht der Frfihoperation als solcher
zur Last gelegt werden kann. Zum Schluß mag noch einmal darauf
hingewiesen werden, daß das günstige Heilungsresultat dieser Fälle
sich nicht wesentlich verschlechtert, selbst wenn wir die Fälle hinzu-
nehmen, bei denen man in 48 Stunden nach Beginn der Beschwerden
bereits vor einer Perforationsperitonitis stand, in denen also die
Frühoperation mit der Notoperation identisch wurde. Wir erhalten
denn eine Mortalitätszifl^er von 2,9%,
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61] Ober den heutigen Stand der Erkennung U.Behandlung der Appendizitis. 517
Nicht operierte Fälle.
Ganz kurz können wir uns schließlich bei der letzten Gruppe von
37 nicht zur Operation gelangten Fällen fassen, die ja naturgemäß vom
pathologisch-anatomischen, wie vom chirurgischen Standpunkt aus
kein besonderes Interesse beanspruchen können.
Der Vollständigkeit halber möchte ich nur hervorheben, daß es
sich bez. des Geschlechts um 18 männliche und 19 weibliche
Patienten handelte. Dieselben verteilen sich auf die einzelnen Alters-
dezennien folgendermaßen: Von 10—20 Jahren 16 Fälle, von 21 — 30:
12, von 31—40: 4, von 41—50: 1, von 51—60: 1 und von 61—70 Jahren
ebenfalls 1 Fall.
Bei 27 Patienten handelte es sich um 1, bei 5 Pat. um 2, bei 4 Pat.
um 3, und bei 1 Patienten um 4 vorausgegangene Anfälle.
Von äußeren Traumen wird ätiologisch nur einmal »schweres Heben"*
und einmal eine »Quetschung mit einem 50 Pfund-Gewicht^ in der Ileo-
cöcalgegend angeführt. Im Fall 2 ging eine lakunäre Tonsillitis voraus,
die man wohl mit Recht in einen ursächlichen Zusammenhang mit der
exsudativen Appendixerkrankung bringen kann. Der betr. Patient sollte
spater zur Operation wiederkehren, hat sich aber nicht eingefunden.
Einen fieberfreien Verlauf zeigten im ganzen nur 10 Fälle. Ein
mehr weniger großes Exsudat bzw. Infiltrat war nachweisbar in 15 Fällen,
darunter 5 mal in der Ileocöcalgegend und Imal im Douglas lokali-
siert Schmerzhaftigkeit in der Ileocöcalgegend wurde 12 mal nach-
gewiesen. In 5 Fällen war kein Exsudat nachweisbar. 7 Patienten
verweigerten die Operation und wurden entlassen, 1 konnte wegen
gleichzeitiger Furunkulose nicht operiert werden und ist später nicht
mehr wiedergekommen, ebenso wurde 1 wegen fiorider Lues nicht
operiert.
Eine ganz besondere Stellung unter den fieberfreien Fällen nimmt
der Fall 23 ein, insofern es sich bei diesem um eine „Periappen-
dicitis sine appendice"" handelte. Bei dem Pat. war nämlich vor
1 Jahr nach zwei typischen Anfällen durch Geheimrat Garr^ der
Appendix entfernt worden. 7 Tage vor der Aufnahme hatten sich
nun bei dem Pat. ganz spontan allmählich zunehmende Schmerzen
in der Ileocöcalgegend eingestellt, die den gleichen Charakter hatten,
wie die früheren Schmerzanfälle, jedoch ohne Fieber und ohne Er-
brechen. Von dem behandelnden Arzt war bei Beginn der Erkrankung
ein kindskopfgroßer Tumor der Ileocöcalgegend konstatiert worden, der
sich bis zur Aufnahme in die Klinik um die Hälfte verkleinert hatte.
Sämtliche Fälle konnten als beschwerdefrei und relativ geheilt
entlassen werden.
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518 Ad. Ebner, [Q2
17 Fälle wurden mit Fieber eingeliefert. Dieselben konnten eben-
falls nach allmählichem Abfall des Fiebers in verschieden langer Zeit
als fieberfrei und relativ geheilt entlassen werden außer Fall 2, der
auf seinen ausdrücklichen Wunsch bereits nach 4 Tagen mit fieber-
hafter Temperatur entlassen werden mußte, und Fall 25 , der nach
42tägiger Behandlungsdauer schließlich ad exitum kam. Der betr.
Fat. hatte vor 18 Tagen eine Quetschung mit einem 50 Pfund-Gewicht
in der Ileocöcalgegend erlitten. Seit 6 Tagen war plötzlich heftiger Leib-
schmerz mit Fieber aufgetreten, seit 2 Tagen bestand Stuhlverhaltung,
seit 1 Tag häufiges Erbrechen. Der Fat. wurde mit einer Tem-
peratur von 40,1^ und einem kleinen, unregelmäßigen Puls von 120
Schlägen in der Minute eingeliefert. Rechts seitlich ließ sich eine
Dämpfung bis zum Rippenbogen hinauf nachweisen, eine Resistenz
war nicht mit Sicherheit zu ffihlen, jedoch bestand starke Druck-
schmerzhaftigkeit Der Patient verweigerte einen operativen Eingriff
und die Sektion nach 42 Tagen ergab schließlich eine Periappendizitis
mit Perforation, eitrige Peritonitis diflPusa, zahlreiche Räckperfora-
tionen in Dünndarm und Cocum. Ferner bestand eine Pneumonie
beider Unterlappen mit frischen pleuritischen Adhäsionen und ein
Tonsillarabszeß rechts.
Die Therapie bestand in allen Fällen in möglichst reizloser,
flüssiger Diät, Prießnitz oder Eisblase auf den Leib, ferner hohen
Einlaufen, um die Darmtätigkeit anzuregen. Opium wurde stets fort-
gelassen, um eine unnötige Trübung des Krankheitsbildes dadurch zu
vermeiden. Bei sehr großen Beschwerden wurde statt dessen Mor-
phium in kleinen Dosen verordnet.
Eine Spontanperforation in den Darm trat im Falle 8 und 9 auf.
In beiden Fällen erfolgte darauf ein Rückgang sämtlicher Erschei-
nungen unter weiterem afebrilen Verlauf. Eine Spontanperforation
vor 1 Monat hatte im Fall 20 stattgefunden. Trotzdem bildete
sich rechts seitlich wieder ein fieberhaftes Exsudat. Nachdem sich
dasselbe unter klinischer Behandlung verkleinert hatte und Patient
entfiebert war^ wurde Patient ohne Beschwerden entlassen.
Pleuritis fand sich außer in dem oben erwähnten verstorbenen
Fall 25 auch im Fall 9 auf der rechten Seite bei einem gleichzeitigen
Exsudat rechts im Abdomen. Nach einem Monat erst trat Temperatur-
abfall und Rückgang der Erscheinungen ein.
Den Ausdruck relative Heilung habe ich für die nicht operierten
Fälle absichtlich gebraucht aus der Erwägung heraus, daß man bei
diesen Fällen nie wissen kann, ob und wieviel Anfalle später noch
eingetreten sind, nachdem die betreifenden Patienten angeblich als
geheilt entlassen sind. Als absolut ist eine Heilung der Appendizitis
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03] Ober den heutigen Stand der Erkennung U.Behandlung der Appendizitis. 519
eben erst dann zu bezeichnen , wenn eine weitere rezidivierende Er-
krankung des Appendix mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann.
Es ergibt sich von selbst, daß dieses nur möglich ist nach der Ent-
fernung des Appendix auf operativem Wege.
Werfen wir zum Schluß einen kurzen Rückblick auf das Gesamt-
resultat unserer 550 Appendizitisfälle, so finden wir zunächst bezQg-
lich des Geschlechts das Gesamtverhältnis der männlichen und weib-
lichen Patienten durchaus entsprechend den Ergebnissen anderer
Autoren, wie folgende kleine Tabelle zeigt:
männlich weiblich
Garrfe 62 % 38 %
Dannehl (Berlin, Chirurg. Klinik) 72 , 27 „
Ho ff mann (Heidelberg) 72,4» 27,6».
Sprengel 64 „ 36 ,
Hermes (Sonnenburg) 60 „ 40 „
Es ergibt sich auch hier wieder die vorwiegende Beteiligung des
mannlichen Geschlechts an der Erkrankung, auf deren Gründe wir
bereits oben näher hingewiesen haben.
Auf die einzelnen Altersdezennien verteilen sich die Kategorien
unserer Einteilung folgendermaßen:
Sicherheitsop. Spätop. Notop. Frühop. Nicht op. Summa
1-10 Jahre 16 11 4 1 — 32
11-20 ,98 24 7 8 16 153
21-30 , 124 30 4 11 12 181
31-40 „68 22 6 7 4 107
41—50 «27 13 — — 3 43
51-60 «10 9 3 _ 1 23
61-70 «3 3 3 _ 1 10
71-80 « — 1 — — — 1__
Summa: 346 113 27 27 37 550
Es ergibt sich hieraus entsprechend den einzelnen Kategorien auch
für die Gesamtsumme der Fälle die höchste Frequenz in das zweite
und dritte Altersdezennium fallend, während in den weiteren Dezen-
nien ein schneller und ziemlich gleichmäßiger Abfall der Frequenz-
ziffer erfolgt. Es entspricht dieser Zeitraum eben demjenigen Alter,
in welchem die Patienten am häufigsten körperlichen Anstrengungen
und Traumen ausgesetzt sind, in welchem sie auch hinsichtlich der
Begehung von Diätfehlern, wie kaltes Trinken, Essen von unreifem
Obst, vernachlässigte Regelung des Stuhles und Nichtbeachtung etwaiger
Darmkatarrhe am unvorsichtigsten sind. Es liegt auf der Hand, daß
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in ge
93 66 38 26 14 4 4 1
3 1
346
. 93
12 4 2 1 1
113
. 20
6 1
27
. 18
6 2 1
27
. 27
6 3 1
37
520 Ad. Ebner, [64
die Folgen eines derartigen Verhalteos sich vornehmlich am Processus
als dem prädisponierten Locus minoris resistentiae des Digestioos-
traktus äuOern werden.
Eine kurze vergleichende Übersicht über die Zahl der voraus-
gegangenen Anfälle bei den einzelnen Kategorien dürfte folgende kleine
Tabelle gewähren:
Zahl der AnFälle bei den 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 17 Summa
1. Sicherheitsoperationen 06
2. Spätoperationen
3. Notoperationen.
4. Frühoperationen
5. Nichtoperierten
Summa: 254 123 76 42 27 15 4 4 1 3 1 550
Man ersieht hieraus , daß die Zahl der vorausgegangenen Anfalle
weitaus am höchsten ist bei den Sicherheitsoperationen, um bei den
Spätoperationen schon erheblich abzunehmen und noch steiler bei
den Not- und Frfihoperationen abzufallen. Absolut beurteilt sind da-
nach nahezu die Hälfte sämtlicher Fälle, nämlich 254, bereits nach,
bzw. bei dem ersten Anfall zur Operation gelangt, eine wenig g^
ringere Anzahl, nämlich 190 Fälle, sind nach dem zweiten und dritten
Anfall operiert worden. Mehr als drei Anfälle sind also nur in 97
Fällen vorausgegangen, was für die Gesamtzahl einem Prozentsatz von
nur 17,6% entsprechen würde. Es ist also die weitaus überwiegende
Mehrzahl, nämlich 82,4% unserer Fälle relativ früh zur Operation
gelangt.
Die Entfernung des Appendix konnte in sämtlichen Fällen, also
100% der Fälle, vorgenommen werden bei den Sicherheits- und Friili-
operationen. Am seltensten konnte er gefunden und entfernt werden
bei den Spätoperationen, nämlich in 22 Fällen = 19,8%. Die B^rfin-
dung dafür bieten einmal die bei diesen Fällen mehr weniger weit
vorgeschrittenen pathologischen Veränderungen, bei denen der Pro-
cessus bereits größtenteils nekrotisch zerfallen sein kann. Anderer-
seits kann der noch vorhandene Appendix vollständig eingebettet und
umhüllt sein von den schützenden Verwachsungen, welche die Wan-
dung der AbszeOhöhle bilden, so daß eine Auffindung desselben ohne
eine Kontinuitätstrennung der schützenden Wand und die Gefahr einer
Allgemeininfektion des Peritoneums nicht möglich ist. Daß der Pro-
cessus wesentlich häufiger, nämlich in 74,1% der Fälle, bei der Not-
operation gefunden und entfernt werden konnte, ergibt sich von selbst
aus der Erwägung, daß diese ja in einem erheblich früheren Stadium
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65] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 521
vorgenommen wird, in dem weder die Veränderungen am Processus,
noch die Verwachsungen in der Umgebung so weit vorgeschritten
sind, daß sie die Auffindung und Entfernung des Processus erschweren
konnten.
Über die Häufigkeit vorausgegangener Symptome und Kompli-
kationen für die einzelnen Kategorien der gesamten 550 Fälle, habe
ich folgende Tabelle zusammengestellt:
Chron. Fälle Spätfälle Notfälle Fruhfälle Nicht op.
1. Blasen-
beschwerden . . 17(4,9o/o) 11 (9,70/0) 2 (7,4%) 1 (3,7%) -
2. Durchfalle . , . 20(5,8 J 22(19,4 „) 3(11,1 „) 5(18,5«) —
3. Blut- oder Kot-
brechen .... 2(0,6 „ ) 3 (2,7 „ ) — — —
4. Schmerz im
rechten Bein . . 2(0,6 , ) 7 (6,2 „ ) — — —
5. Pleuritis .... 3(0,9 „) 1 (0,9„) — — —
6. Venenthrombose 4(1,2 „ ) — — — —
7. Frühere
Inzlsionen . , . 17(4,9 „) 5(4,4») — 1 (3,7„) —
8. Spontanperfor. in
andere Organe . 2(0,6 „ ) 7 (6,2 „ ) — — 2(5,4%)
Danach sind auf die Gesamtzahl der 550 Fälle berechnet frühere
Inzisionen vorausgegangen in 4,2%, Spontanperforationen in Blase
oder Darm gingen voraus in 2,0%. Ferner wurden Blasenbeschwerden
angegeben in 5,6%, Durchfalle in 8,5%, pathologisches Erbrechen in
0,9%, Schmerzen im rechten Bein in 1,6%, Pleuritis in 0,4% und
eine vorausgegangene Venenthrombose in 0,4%.
Eine vergleichsweise Betrachtung der Operationsbefunde am Pro-
cessus ergibt folgende Tabelle, die sich jedoch nur auf die 374 Ro-
stocker und Königsberger Fälle bezieht, da mir die anderen Zusammen-
stellungen der Breslauer Fälle nicht vorliegen:
Chron. FäUe SpätflUe Notfälle Frühfälle Sttmma
Strikturen , . 57(24,5%) — — 3(27,3%) 60(17,2%)
Obliteration. . 41(17,6,) — — 1 (9,1 „) 42(12,0,)
Retention. . . 60(25,8, ) — — 7(63,6,) 67(19,2,)
Perforation am
Processus . 33(14,2,) 17(19,5%) 16(84,2%) — 66(19,0,)
Perforation am
Darm . . . 3(1,3,) 2(2,3,) — — 5(1,4,)
Kotsteine und
Fremdkörper 30(12,8,) 13(14,9,) 4(22,2,) 3(27,3,) 47(13,9,)
Klin. Vorträge, N. F. Nr. 494/95. (Chirurgie Nr. 145/46.) Juli 1906. 38
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522 Ad. Ebner, [ÖO
Auf die Gesamtzahl der 340 operierten Fälle verteilt, finden wir
danach am häufigsten eine Retention des Inhalts im Processus ver-
treten mit 19,2%, ihr fast gleichkommend ist die Zahl der ausdruck-
lich angegebenen Perforationen am Processus mit 10,0%. Strikturen
werden in 17,2% angegeben und eine Obliteration des Lumens wird
in 12,0% dei; Fälle angeführt. Relativ selten, nämlich nur in 13,5%
wurden Kotsteine konstatiert. Am seltensten fand sich eine Perforation
am Darm in 1,4%, ebenso konnte nur in einem Fall » 0,3% ein Fremd-
körper im Processus gefunden werden. Interessant ist ferner an der
obigen Tabelle das Ansteigen der Frequenzzifier bei den Perforationen
von 14,2% bei den chronischen Fällen, auf 19,5% bei den Spätfällen
und schließlich auf den sehr hohen Prozentsatz von 84,2% bei den
Notfällen. Dieses erklärt sich daraus, daß bei den Sicherheitsope-
rationen ein großer Teil der früheren Perforationen teils durch gute
Vernarbung, teils durch überdeckende Adhäsionen der Beobachtung
entgeht, gleichwie auch bei den Spätoperationen in den zahlreichen
Fällen, in denen der Processus nicht zu finden ist, über das Vor-
handensein der höchstwahrscheinlich vorausgegangenen Perforation
eine Entscheidung vielfach nicht zu fallen ist. Es dürften demnach
für die zweite Kategorie noch zahlreichere Fälle der Beobachtung ent-
gehen als in der ersten Kategorie. Dagegen bildet für die Notoperation
als solche die Perforation die wesentlichste Indikation zum operativen
Vorgehen, sobald sie sich durch die ersten Reizerscheinungen des
Peritoneums manifestiert, und wird daher in diesen Fällen selten oder
nie der Beobachtung entgehen. Im übrigen ergibt sich schon aus der
Schwere der Fälle, daß für die letztere Kategorie die Häufigkeit der
Perforationen eine ganz besonders hohe sein muß, entsprechend
unserem Ergebnis von 84,2%.
Eine ähnliche Steigerung der FrequenzziflPer tri£Pt auch für das
Vorhandensein von Kotsteinen bei den einzelnen Kategorien zu.
Jedoch bewegt sich dieselbe in wesentlich gleichmäßigerer Linie auf-
wärts, als bei den Perforationen, indem sie von 12,4% bei den chro-
nischen Fällen auf 14,0% bei den Spätfällen ansteigt, um sich bei
den Notfallen auf 22,2% und bei den Frührällen schließlich auf 27,3%
zu erheben.
Hier entspricht jedoch das Ansteigen der FrequenzziflPer nicht wie
bei den Perforationen der Schwere der Fälle, indem hier die Zahl
bei den Frühoperationen am größten ist, während sie dort dafür am
niedrigsten bzw.^0 ist.
Wir können hier vielmehr konstatieren, daß sich das .Ansteigen
der FrequenzziflPer genau umgekehrt proportional verhält zu der Länge
des Zeitraums^ der seit Beginn der Erkrankung bis zur Vornahme
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67] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 523
des operativen Eingriffs verflossen ist. Da nun nach der Wahrscliein-
lichkeitsrechnung für alle 4 Kategorien der Prozentsatz des Vorhanden-
seins von Kotsteinen ein ziemlich gleichmäßiger sein dürfte, so scheint
mir die obige Beobachtung sich aus der Annahme zu erklären , daß,
je später der Zeitpunkt der Operation, die Steine um so eher der
Beobachtung entgehen können, oder daß in der Zwischenzeit viel-
leicht eine Zersetzung und Verflüssigung der Kotsteine durch irgend-
welche Fermente der meist zahlreich vorhandenen Leukozyten statt-
gefunden haben könnte. Für wahrscheinlicher und häufiger möchte
ich den letzteren Vorgang halten, denn namentlich für die chronischen
Falle ist ein so häufiges Übersehen von Steinen doch wohl auszu-
schließen, daß gegenüber den Frühfällen eine Difi^erenz von 14,9%
zustande käme. In jedem Fall scheint mir dieses gleichmäßige An-
steigen der Frequenzzifi^er von Kotsteinen umgekehrt zur Entfernung
der Operation vom Beginn der Erkrankung das Walten eines reinen
Zufalles auszuschließen.
Die gleichzeitige Perforation am Darm, die an sich ja selten zu
beobachten ist, weist bei den Spätfällen eine Steigerung auf 2,3%
gegenüber 1,3% bei den chronischen Fällen auf, ist also bei den
ersteren fast doppelt so häufig vertreten.
Ober die Lokalisation der Afiektionen am Processus gibt folgende
Tabelle Aufschluß, für die jedoch in der Hauptsache nur die chro-
nischen Fälle in Betracht kommen, da bei den anderen Kategorien
nur vereinzelt nähere Angaben darüber vorhanden sind.
Chron. Fälle .
SpatßUe. . .
Chron. Fälle .
Chron. Fälle .
Chron. Fälle .
Spitze
11(33,30/0)
7(36,8«)
24(42,1, )
5(17,2.)
11(26,8,)
Mitte
4(12,1<%;
4(22,2 ,
17(19,8,)
1 (3,4,)
8(19,5,)
)
Basis
8(24,2%) Perforation.
4(22,2,)
11(19,3,) Striktur.
— Kotstein.
19(46,3,) Obliteration.
Summa: 58(16,6%) 34 (9,7%) 42(12,0%)
Eine Obliteration des Appendixlumens in toto fand sich in 3 Fällen
»0,9% der operierten Fälle insgesamt
Man ersieht aus dieser kurzen Übersicht, daß für die Perforationen,
Strikturen und Kotsteine vornehmlich die Spitze des Processus in
Betracht kommt, während nur die Obliteration sich häufiger an der
Basis mit 46,3% gegen 26,8% an der Spitze findet. Dementsprechend
ist auch die Gesamtzahl der Afibktionen an der Spitze am höchsten
mit 16,6% nach einer Berechnung auf sämtliche 349 operierten Königs-
berger und Rostocker Fälle vertreten. Nach dieser zeigt die Basis
38»
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524 Ad. Ebner, [68
des Processus den höchsten Prozentsatz mit 12%, und an letzter Stelle
kommt die Mitte des Processus mit 0)7% der Gesamtfalle.
Wenden wir uns zum Schluß der Häufigkeit und Art der
postoperativen Komplikationen des Krankheitsverlaufes bei
den einzelnen Gruppen zu, so finden wir deren bei den Rostocker
und Königsberger Fällen im ganzen 31 an der Zahl, die einem Prozent«-
satz von 8,3% der gesamten 374 Fälle entsprechen. Von diesen ent-
fillt nach Gruppen berechnet der weitaus höchste Prozentsatz von
15% auf die Spätfalle, wie es ja bei dem langsamen Verlauf dieser
Fälle nicht anders zu erwarten ist. Ihnen folgen die Notfälle mit 10,6%
und die nicht operierten Fälle mit 8%. Erheblich seltener finden sich
naturgemäß die Komplikationen bei den chronischen Fällen mit 6%
und am seltensten bei den Frühfällen, die in ihrem Verlauf sämtlich
von Komplikationen frei geblieben sind.
Auf die Zahl der Komplikationen allein berechnet, finden wir am
häufigsten die Lungenafi^ektionen mit 45,1% sämtlicher Komplikationen
vertreten. Von diesen ist wiederum am zahlreichsten die Pleuritis
exsudativa dextra mit 10,6%, danach die Bronchitis purulenta und
Pneumonia dextra mit je 9,6% und am seltensten die Lungenembolie,
die mit 6,5 % in den Journalen verzeichnet ist.
Den Lungenafi^ektionen am nächsten steht die Flexionskontraktur
des rechten Oberschenkels mit 22,6%, die an Häufigkeit fast erreiclit
wird von der Thrombose der linken Vena femoralis mit 19,6%.
Schließlich folgt noch Diabetes in 0,6% und Erysipel in 3,2% samt-
licher Komplikationen des Krankheitsverlaufes.
Betrachten wir nun die einzelnen Gruppen auf die Art ihrer Kom-
plikationen näher, so finden wir zunächst bei den chronischen
Fällen am zahlreichsten die Lungenaffektionen mit 3,0% vertreten,
die sich aus Bronchitis purulenta und rechtsseitiger Pneumonie mit
je 1,3%, Pleuritis exsud. dext. mit je 0,8% und Lungenembolie mit
0,4% zusammensetzen. Erheblich geringer ist das Verhältnis der
Thrombose der linken Vena femoralis mit 1,7% zu konstatieren. Ein
akzidenteller Diabetes ist in 0,4% der Fälle verzeichnet.
Dagegen ist bei den Spät fällen weitaus am häufigsten die Flexions-
kontraktur des rechten Oberschenkels mit 6,9% der Fälle vertreten.
Von Lungenafi^ektionen findet sich allein die Pleuritis exsud« dext.
und zwar in gleicher Häufigkeit, wie die Thrombose der linken Ven.
femoral, und Diabetes in je 2,2% der Fälle angegeben. Schließlich
ist in einem Fall = 1,1% der Spätfälle ein Hauterysipel verzeichnet
Bei den Notfällen ist nur die Lungenembolie und Flexionskon-
traktur des rechten Oberschenkels in je einem Falle =: 5,3% angeführt,
während andere Komplikationen fehlen, und bei den nicht operierten
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69] Ober den heutigen Stand der Erkennung u. Behandlung der Appendizitis. 525
Fällen ist schließlich als einzige Komplikation die Pleuritis exsud.
dext. in 8% der Fälle zu konstatieren. Den letzteren beiden Resultaten
dürfte jedoch bei der geringen Anzahl von Notfällen und nicht ope-
rierten Fällen eine größere Bedeutung nicht beizumessen sein, da bei
so kleinen Zahlen leicht ein Zufallsergebnis in Frage kommen kann.
Werfen wir nun zum Schluß noch einen kurzen Rückblick auf die
Mortalität unserer gesamten 550 Fälle nach Gruppen geordnet, so
finden wir eine ansteigende Linie derselben in folgender Reihenfolge:
Frfihoperation 0%, Sicherheitsoperation 0,58%, nicht operierte Fälle
2,7%, Spätoperation 7,9%, Notoperation 70,4%. Stellen wir diesen
gegenüber das Verhalten der Komplikationen bei den einzelnen
Gruppen nach gleicher Reihenfolge geordnet, so finden wir: Früh-
operation 0%, Sicherheitsoperation 6%, nicht operierte Fälle 8%,
Spatoperation 15%, Notoperation 10,6%. Es ergibt sich daraus, daß
die Zahl der Komplikationen sich in einer der Mortalität genau ent-
sprechenden, ansteigenden Linie bewegt mit einziger Ausnahme der
Notoperationen, bei denen die Mortalität steil auf 70,4% in die Höhe
schnellt, während die Zahl der Komplikationen auf 10,6% von 15%
bei den Spätfällen herabsinkt. Diese Differenz erklärt sich jedoch
zwanglos aus der Annahme, daß es bei der überaus hohen und meist
sehr frühzeitigen Mortalität dieser Fälle an Zeit zu der Entstehung
der bei langsamerem Krankheitsverlauf üblichen Komplikationen an
anderen Organen mangelt. Also nicht nur hinsichtlich der Mortalität,
sondern auch hinsichtlich der Möglichkeit hinzutretender Kompli-
kationen hat die Sicherheitsoperation und ganz besonders die abso-
lute Frühoperation einen weiten Vorsprung vof dem operativen Ein-
grÜT in allen anderen Stadien der Appendizitis voraus.
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496.
(Gynäkologie Nr. 181.)
Oberblick über die Entwicklung der modernen
gynäkologischen Operationstechnik.
Vortragy gehalten auf der Versammlung der American gynecological Society
in Philadelphia (27. V. 1908).
Von
Prof. Dr. A. Martin,
Berlin.
Die Ehre vor dieser Versammlung zu sprechen weiO ich genügend
zu schätzen, da ich seit dem Jahre 1888 den innigen Wunsch empfinde,
für die Ernennung als Ehrenmitglied dieser Versammlung meinen Dank
persönlich abzustatten. Seit nahezu 40 Jahren fühle ich mich mit den
amerikanischen Fachgenossen nahe verbunden: damals hatte ich das
Gluck, einige ihrer glänzendsten Vertreter, Marion Sims, Emmet
und Gaillard Thomas persönlich kennen zu lernen. Seit jener Zeit
haben sich die Beziehungen auf eine groOe Zahl der hervorragendsten
Sohne dieses großen Landes weitergesponnen. 21 Jahre sind verflossen,
seitdem ich auf dem Meeting in Washington vielen von Ihnen begegnen
durfte. Die ehrenvolle Einladung zu unserem heutigen Meeting läOt
den seit jenen unvergeßlichen Tagen in mir lebendigen Wunsch, Sie
wiederzusehen, in schönster Weise in Erfüllung gehen.
Als ich in diesem Zusammenhang die Entwicklung der Gynäko-
logie in den letzten fünf Dezennien überblickte, reizte es mich be-
sonders zu verfolgen, welche Wege unser Tun und Handeln in diesem
Zeitraum durchlaufen hat.
Damals beschränkte sich unsere Therapie auf medikamentöse und
orthopädische Applikationen auf Vulva und Scheide. Zaghaft drang
man in die Uterushöhle vor. Eben hatte man in der Diszision des
engen Muttermundes nach dem Vorgehen von Sir James Simpson
und E. Martin einen wesentlichen Fortschritt erkannt, ebenso in der
Klin. Vortrige, N. F. 496. (Gynlkologle Nr. 181.) Juli 190B. 28
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370 A. Martin, [2
Verwendung des Chassaignacschen Ecraseur und der elektro-
kaustischen Schlinge — während man anfing, die noch sehr zweifelnd
erkennbaren abdominalen Neubildungen etwas zuversichtlicher durch
die Laparatomie anzugreifen, besonders nachdem Ätlee, Peaslee,
Spencer Wells, Baker Brown, Köberl6 und Keith mehr als
vereinzelte Erfolge erzielt hatten. Marion Sims war es vorbehalten,
ebenso wie Gustav Simon und Hegar der vaginalen Methode
durch die ausgiebigere Freilegung des Scheidengewölbes zur Plastik
am Collum und in der Scheide weitere Bahnen zu eröffnen. Emmets
Trachelorrhaphie und die erfolgreicheren Fisteloperationen von Simon
und Bozeman erschienen als Triumphe dieses Entwicklungsstadium.
Auch die intrauterine Therapie wurde durch die breite Dilatation der
Cervix (PreDschwamm und Laminaria, Ellingersches Dilatatorium)
und die Eröffnung des Kavum in dieser Zeit erfolgreich weiter aus-
gebildet. Es wurde damit der nachhaltigeren Einwirkung auf dessen
Mukosa frei Bahn geschaffen für Curette und medikamentöse Appli-
kationen.
Der nächste Schritt vorwärts geschah in der abdominalen Chirur-
gie: Nicht nur, daß wir lernten — mit Köberl6 und Keith, P6an und
Karl Schröder an der Spitze — neben den Ovarial- auch die Utenis-
geschwQlste anzugreifen: wir wagten uns auch an die entzündlicliea
Geschwulstmassen heran. Lawson Tait, Hegar und auch ich durften
damals die Möglichkeit derartiger abdominaler Operationen mit nicht
unbefriedigenden Erfolgen belegen. Sehr bald ergab sich, dafi manche
dieser Geschwulstmassen der ektopischen Eieinbettung ihre Entstehung
verdankten: wie wurden wir von der Häufigkeit dieser verhängnis-
vollen Komplikation überrascht!
Inzwischen hatte W. A. Freund den Weg gefunden, durch eine
Kombination abdominaler und vaginaler Operation das verhängnis-
vollste Übel, den Uteruskrebs, auszurotten. Zwar entsprachen zu-
nächst die Erfolge nicht den anfänglichen Erwartungen. Freunds
Operation wies aber Emil RieQ den Weg, der seit einem Jahrzehnt
in der Ausbreitung auf das pelvine Bindegewebe und die retro-
peritonealen Drüsen allgemein als die typische Karzinomoperation
angesehen wird.
Freunds Vorgehen gab den Anstoß, den karzinomatösen Uterus
auf vaginalem Wege auszurotten. Czerny, Billroth, Schröder folgten
dieser Anregung. Damit wurde ein gewaltiger Schritt vorwärts getan.
Wir lernten in der vaginalen Uterusexstirpation ein Mittel kennen,
um auch bei nicht malignen Erkrankungen mit dem Uterus seine er-
krankten Adnexorgane vaginal nicht nur zu exstirpieren, nein, sie auch
gegebenenfalls zu erhalten, nachdem wir ihre kranken Teile entfernt
L
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3] Oberblick fiber die Entwicklung der modernen gynSk. Operationstecbnik. 371
und ihre unwegsam gewordenen Abschnitte wieder wegsam gemacht
hatten.
Eine weitere Etappe bilden die Versuche, die bis dahin ortho-
pädisch behandelten Uterusdeviationen operativ zu heilen. Die Ideen
Singers und Olshausens haben ein weites Feld operativer Tätig-
keit eröffnet* Erst durch die Erfahrungen mit der Ventrifixur wurde
die Alexander-Adamsche Operation weiter verbreitet, um ihrer-
seits jene wesentlich in den Hintergrund zu schieben.
Den Siegeslauf der Laparatomie zu unterbrechen war Dührßen
undMackenrodt vorbehalten, als sie zu Anfang der letzten Dekade des
verflossenen Jahrhunderts einen sicheren vaginalen Weg in den Innen-
raum des kleinen Beckens und zu allen Beckenorganen zeigten. Fast
schien es, daß die Abdominaloperation nur den großen Geschwülsten
in der Bauchhöhle vorbehalten werden sollte! Nach kurzen Jahren
setzte die Reaktion ein, vornehmlich auf dem Gebiete der ektopischen
Schwangerschaft, dann auf dem der entzündlichen Adnexerkrankungen,
trotzdem wir durch die raumgebenden vulvo - vaginalen Inzisionen
DfihrOens und besonders die von Schuchardt angegebene seitlich
schräge, eine bessere Narbenbildung sichernde, lernten den Zugang
zum Scheidengewölbe und den darüber liegenden Gebilden sehr aus-
giebig fireizuiegen. Unverkennbar ist der Enthusiasmus für die vagi-
nalen Operationen im Laufe des jetzigen Jahrhunderts abgeflaut, so
daß heute selbst so überzeugte Vorkämpfer wie Mackenrodt davon
abrücken und sich des abdominalen Verfahrens in überwiegender
Häufigkeit bedienen.
Die operative Technik hat in dieser Beziehung eine eigenartige
Wellenbewegung durchlaufen. Nach einer kurzen Periode überwie-
gender Bevorzugung vaginaler Operationen entwickelte sich die Lapa-
ratomie zur Vorherrschaft, bis die vaginale Technik weiter ausgebildet
wurde. Dann aber gewinnt nach kurzen Jahren die Laparatomie wieder
einen Vorsprung, der anscheinend in sieghaftem Vordringen den vaginalen
Operationen einen sehr bescheidenen Platz übrigzulassen sich anschickt.
Wir fragen angesicht dieses Werdeganges, wie ist es überhaupt ge-
kommen, daß die gynäkologischen Operationen sich in dieser weitgehen-
den Weise entwickeln konnten? Der Weg wurde vorbereitet durch die
wachsende Einsicht in die pathologische Anatomie. Sie gab die Unter-
lage für die Diagnose, um deren Ausbildung B. S. Schultze, der Nestor
der deutschen Gynäkologen, sich hochverdient gemacht hat. Nicht erst
wenn der Tumor die Bauchdecken wölbt oder das kleine Becken von
den erkrankten Organen völlig verlegt wird, lernten wir die Prozesse
differenzieren. Nach Karl Ruges Rat entnehmen wir Teile der Uterus-
scUeimhaut und bauen auf deren mikroskopischen Bildern weitere
28*
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372 A. Martin, [4
Schlüsse auf. Heute kommen uns die biologisch-chemischen Methoden
zunutze, um durch das Kultur- und Impfverfahren, weiter durch die
Untersuchungen des Blutes, der Se- und Exkrete die Sachlage weit-
gehend klarzustellen — das wollen wir dankbar anerkennen, wenn
wir uns auch nicht darüber täuschen, daß nur zu oft noch viel mehr
Licht erwünscht ist. Gerade auf diesem Felde liegt noch viel Arbeit
vor uns. So z. B. gilt es noch den Zusammenhang zwischen Gen i tal-
leiden und Appendix und gewissen drüsigen Organen, die von Hegar
und Freund gegebene Anregung über die Bedeutung des InfantUismus
für die gesamte Pathologie zu erforschen und zutreffend zu bewerten.
Wir müssen rückhaltlos bekennen, unsere operative Tätigkeit wäre
einer solchen Ausdehnung nicht fähig gewesen, wenn wir nicht auf
opferreichem Wege durch die Antisepsis zur Asepsis durchgedrungen
wären. Sie alle haben diesen Entwicklungsgang selbst durchlebt; wir
vereinigen uns in der Huldigung für Holmes und Semmelweiß,
Pasteur, Koch und Lister, um nur diese Namen zu nennen. Die
Saat ihrer Arbeit ist in aller Welt aufgegangen und verbreitet ihren
Segen auf allen Gebieten der Medizin; nicht zuletzt aber sind wir
Gynäkologen es, die in heißem Bemühen mitgearbeitet haben. In der
unermüdlichen Ausgestaltung unserer operativen Technik beginnen
wir die reiche Ernte vor uns zu sehen. Seit einem Lustrum liegt
hinreichendes, modern bearbeitetes Material vor uns, um nicht nur
die primären Erfolge unserer Operationen an großen Zahlen zu prüfen
— wir sind in das Stadium der Kontrolle der Dauerresultate ein-
getreten. Wir dürfen uns nicht verhehlen, daß uns diese Prüfung
manche Enttäuschung eingetragen hat: sie hat uns Lücken und Fehl-
schlüsy gezeigt, die uns zur Selbstkritik und zu erneuter Arbeit anregen.
Betrachten wir nun unter dem Eindruck der so verschärften Kritik
den heutigen Stand unserer operativen Technik, so beansprucht die
Laparatomie den Vorzug unbeschränkter Klarstellung der pathologi-
schen Verhältnisse in der ganzen Bauchhöhle vor der vaginalen Ope-
ration. Das ist sicher weitgehend zuzugeben, wenn auch die letztere
in ihrer heutigen Ausbildung durch die breite Eröffnung des Becken-
bodens für den Raum unterhalb des Beckeneingangs — soweit es hier
lokalisierten Prozessen gilt — an Klarheit nichts zu wünschen übrigläßt.
Noch vor einem Lustrum mußte ein sehr schwerwiegender Einwand
gegen die Abdominaloperation in der statistisch unbestreitbar höheren
Lebensgefahr und in den oft ihr anhaftenden Komplikationen erblickt
werden.
Es ist ohne weiteres zuzugeben, daß in ersterer Beziehung wesent-
liche Fortschritte gemacht worden sind. Unsere Aseptik hat gegen früher
wesentlich durchgreifender den Feind, die septische Infektion, bekämpfen
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5] Oberblick über die Entwicklung der modernen gynäk. Operationstechnik. 373
gelehrt Er verfolgte um so mehr die Laparatomie, weil sie das Peri-
tooeum den pathogenen Keimen in größerer Ausdehnung Freilegt. Es
wird allgemein nach möglichster Abkürzung der Operation getrachtet.
Die Schädlichkeiten der Narkose werden verringert; die Inhalations-
narkose wird abgekürzt, durch die Lumbalanästhesie ersetzt. Die Für-
sorge für die Steigerung der Widerstandskraft der Kranken hat durch-
greifende und evidente Erfolge gezeitigt. Gleichzeitig damit ist die
Sicherheit der Bauchschnittvernarbung gewachsen. Die Schnittführung
nach Pfannenstiel verleiht der Narbe unbestreitbar eine nachhaltigere
Widerstandskraft gegen die herniöse Dehnung.
Das erkennen wir rückhaltlos an. Die Erfahrung lehrt uns aber,
daß diese Narben vor einer solchen Dehnung nicht mit voller Sicher-
heit geschützt sind. Selbst bei völlig aseptischem primärem Heilungs-
verlaufwerden die physiologischen Umbildungsvorgänge des weiblichen
Körpers (Schwangerschaft, Klimakterium) verhängnisvoll, noch mehr,
wenn etwa ungeeignete Dehnungsansprüche und erneute pathologische
Veränderungen hinzukommen. Erfolgt aber die Heilung aus irgend-
einem Zufall oder einer nicht erkennbaren Lücke der Asepsis nicht per
primam, dann wächst die Gefahr der Narbendehnung in erschrecken-
der Weise. Sicher erreichen die Meister im Fach lange Reihen un-
gestörter Heilung, aber auch sie sind nicht dagegen gesichert, daß aus
der Geschwulst, welcher die Operation gilt, eine Verunreinigung der
Bauchwunde eintritt. Die Gefahr wächst, wo es sich um die Operation
von Entzfindungsprodukten handelt, sie begleitet alle diejenigen Fälle,
in welchen eine Dränage des Operationsfeldes geboten erscheint.
Noch bedenklicher sind die Spätfolgen, welche wir auch nach
idealer primärer Heilung, nach einem ungestörten Operationsverlauf,
in erschreckender Häufigkeit aber nach der Lösung von Verwachsungen
eintreten sehen: die Verwachsungen der Intestina und des Omen-
tum mit der Bauchwunde untereinander und mit dem Stumpf
der entfernten Geschwülste. Die langjährige Kontrolle unserer
Operierenden lehrt uns die Bedeutung dieser Komplikationen mehr und
mehr würdigen. Keine Modifikation unserer Methoden schließt sie mit
Sicherheit aus; nicht die ängstliche Vermeidung einer Insultierung
des Peritoneum während der Operation, nicht die sogenannte Peri-
tonealisierung der entstandenen Defekte, nicht die Versuche durch
ölige Substanzen oder physiologische Kochsalzlösungen die Berührung
der betreffenden Organe zu beeinflussen, nicht die frühzeitige An-
regung des Motus peristalticus — geben sichere Gewähr gegen diese
Komplikationen. Sie bleiben der Laparatomie anhaften, jedenfalls in
einem verhängnisvoll größeren Maßstab als den vaginalen Opera-
tionen. Gewiß sind die Beckenorgane auch nach diesen gegen Ver-
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374 A. Martin, [6
wachsungen nicht gesichert; solche Verwachsungen treten aber, jeden-
falls soweit meine recht ausgiebigen Erfahrungen zeigen, wesentlich
seltener hervor.
Die Narbenbildung im Becken erfolgt — ich möchte sagen mit
konstanter Regelmäßigkeit, deren sehr seltene Ausnahmen eben die
Regel bestätigen — frei von Narbengeschwüren. Selbst da, wo es
notwendig, das Wundgebiet zu dränieren, wo infektiöses Material der
Tiefe entnommen wurde, sind Unregelmäßigkeiten der Narbe sehr
seltene Spätkomplikationen. Auch bei vaginalen Operationen werden
sicherlich gelegendich pathogene Keime über das Operationsgebiet
verschmiert; in der Regel kommt es sehr schnell zu einer Abkapse-
lung nach oben, Wundsekrete werden durch die Scheide entleert oder
jedenfalls von da aus leicht erreicht
Sicher bedarf es für die vaginalen Operationen einer bestimmten
Schulung, ich möchte sagen: einer minutiöseren Operationsarbeit.
Nicht immer will es leicht gelingen, das Scheidengewölbe freizulegen,
in das Peritoneum vorzudringen, die hier liegenden Organe dem Auge
zugängig zu machen: die eben erwähnten Vorteile lohnen reichlich
die aufgewandte Mühe. Mehr noch, als nach einer aseptisch und un-
blutig verlaufenden Laparatomie, gleichen vaginal operierte gesunden
Wöchnerinnen, welche nach Abschluß der Geburt nach kurzer Rast
ihres Lebens wieder froh werden.
Daß die modernen Narkosenverfahren einen Unterschied zwischen
beiden Methoden nicht bedingen, sei hier nur ebenso erwähnt, wie
daß für die Rekonvaleszenz nach keiner dieser Operationen heute
noch eine lange Dauer der Rückenlage verlangt wird. Je früher sich
die Kranke nach eigenem Behagen bewegt, dann das Bett verläßt, um
so sicherer bleiben ihr. die Gefahren der nachteiligen Rückwirkungen
einer strengen Rückenlage auf Herz und Darm erspart.
Daß die vaginalen Methoden nur für ein beschränktes Gebiet in
Frage kommen können, ist von vornherein anzuerkennen, aber es ist
nicht statthaft zu sagen, z. B. daß Tumoren des Uterus und der Ovarien
nur so lange vaginal angegriffen werden dürfen, als sie noch im Becken
liegen: eine solche Beschränkung kenne ich nicht! Die Grenze liegt
nicht darin, daß etwa die Tumoren nur mit einem sehr beschränkten
Segment in das Becken hineinragen, sie liegt in der freien Verschieb-
lichkeit. Auch kleine Geschwulstmassen, welche verwachsen sind,
soll man nicht vaginal angreifen; andererseits können aber auch um-
fangreichere vaginal operiert werden, wenn sie zerkleinerungsfahig
sind — solange ihre Oberfläche nicht durch peritonitische Ver-
wachsungen mit der Nachbarschaft schwer kontrollierbar geworden
ist. Gewiß können wir nach der Methode von D. v. Ott solche
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7] Überblick über die Entwicklung der modernen gynSk. Operationstecbnik. 375
Verwachsungen in manchem Falle auch dem Auge zugängig machen
und unter der Kontrolle der Beleuchtung sicher trennen — als Regel
betrachte ich solche Verwachsungen als Kontraindikationen. Ge*
legendich entgehen uns auch recht feste Verwachsungen noch vor der
Operation. Sehr oft weist die Anamnese auf eine vorausgegangene
Peritonitis hin. ^ir lernen auch in dieser Beziehung mit reifender
Erfahrung! Aber wenn wir schließlich unerwartet auf solche Ver-
wachsungen stoßen y was hindert uns, die vaginale Operation abzu-
brechen und abdominal zu Ende zu führen? Nur ganz vereinzelt bin
ich hierzu gezwungen gewesen , die Kranken haben keinen Nachteil
davon gehabt.
Da wir in wachsender Häufigkeit Frühstadien der Neubildungen
zur Beobachtung bekommen, diejenigen aber der Ovarien dann fiber-
wiegend häufig noch leicht beweglich sind, bevorzuge ich für diese
den vaginalen Weg.
Eine ideelle Konkurrenz zwischen beiden Methoden kommt außer
für die Neubildungen des Uterus für die plastischen Operationen im
Becken in Frage. Nur zu oft handelt es sich dabei um gleichzeitige
Erkrankung des Uterus selbst und der Adnexe. Diese Aufgabe hat an
Bedeutung außerordentlich gewonnen, seitdem uns neben den Lage-
anomalien die entzündlichen Adnexerkrankungen und ganz besonders
die ektopische Eiinsertion — fast möchte ich sagen täglich — Indika-
tionen für operative Eingriffe geben!
Die Frage der Uterus-Deviationen hat durch die guten Erfolge der
Alexander-Adamsschen Operationen für die vaginalen Methoden
in den Augen vieler an Bedeutung verloren und doch sehen wir dar-
nach recht häufig Mißerfolge, besonders aber in erschreckender Weise
Narbendehnungen und herniöse Ausstülpungen. Die Tatsache, daß
bis tieute noch immer neue Operationsmethoden zu ihrem Ersatz er-
funden werden, spricht eine beredte Sprache! Mag man die Vagini-
fixur, die Festlegung des Uterus an die Scheide, verlassen, so ver-
dient jedenfalls die Kürzung und Fixierung der Ligamenta rotunda
von der Scheide aus volle Beachtung. Ich habe die Vaginifixur un-
mittelbar nachdem Mackenrodt und Dührßen uns den Weg durch
das vordere Scheidengewölbe gezeigt, ganz besonders deswegen in
setir großer Ausdehnung geübt, weil sie uns gestattet, die so außer-
ordentlich häufigen perimetritischen Pseudomembranen zu lösen. Nur
in den Fällen ganz allgemeiner Verwachsung durch feste knorpelig
harte Schwielen stoßen wir dabei auf ernste Schwierigkeiten. Diese
Fälle wird man kaum vaginal angreifen. Viel bedeutungsvoller aber ist
es, daß nur zu oft schwer tastbare zarte Bänder und Zügel den Ute-
rus mit seiner Nachbarschaft verbinden; dabei ist ihm eine gewisse
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376 A. Martin, [8
Beweglichkeit geblieben. Diese Membranen sind sehr häufig die Ur-
sache der Mißerfolge der Alexander-Ada ms sehen Operation. Das
Verfahren von Goldspohn soll diesem Übel begegnen; es erfreut
sich in Deutschland nur eines beschränkten Kreises von Freunden.
Goldspohn selbst übt es nur noch sehr selten, besonders mitRfick-
sicht auf die in Amerika so oft betonte Notwendigkeit, bei allen ent-
zündlichen Genitalleiden die Appendix zu kontrollieren.
Der Einwand, daß die Vaginifixur der Entwicklung des schwangeren
Uteruskörpers hinderlich sei — ist hinfallig solange nicht das Korpus,
sondern die Gegend des unteren Uterinsegmentes festgelegt wird. Dann
entfaltet sich, wie hinreichend ausgedehnte Erfahrungen beweisen, das
Korpus ungestört als Fruchthalter. Unteres Uterinsegment und Cervix
dehnen sich während eines geduldig abgewarteten Geburtsverlaufes.
Die von Freund, Wertheim, Schauta, Pfannenstiel u.a. aus-
gehenden Vorschläge, durch die Einlagerung des umgestülpten Uterus
dem Vorfall der gesamten Genitalien zu begegnen, insbesondere aber
ihn zur Stütze der verlagerten Blase zu machen, geben eine weitere,
sehr bedeutungsvolle Indikation für vaginale Operationen.
Die Therapie der entzündlichen Adnexerkrankungen ist in
den letzten Jahren in ein neues Stadium gerückt, seitdem wir ihre
Ätiologie besser erkannt haben. Viel häufiger, als wir es früher an-
nehmen wollten, klingen die gonorrhoischen Infektionen in Tube und
Peritoneum nach einem akuten, oft sehr bedrohlichem Stadium ab.
Unter geeigneter Pflege tritt Heilung, ja bis zur vollen Funktions-
iahigkeit ein! Auch bei den septischen Erkrankungen und den tuber-
kulösen hat eine etwas ruhigere Auffassung Platz gegriffen: nur eine
Minorität dieser Fälle bietet eine Indicatio vitalis. Außerordentlich
häufig finden wir lange Zeit nach dem klinisch unverkennbaren ersten
Erkrankungsstadium diese Prozesse abgeheilt, sei es, daß uns eine
andere Erkrankung zur operativen Freilegung zwingt oder daß Rezi-
dive den Heilungsablauf stören. Dann treffen wir den Eiter einge-
trocknet, steril — dann finden wir dicke Schwarten und Schwielen,
die auf eine jahrelange Dauer der Erkrankung hinweisen. In der
Zwischenzeit haben sich die Trägerinnen subjektiv eines vortreff-
lichen Befindens erfreut! Neben solchen Fällen sehen wir andere,
die vor interkurrenten Störungen im Laufe einer langsamen Genesung
bewahrt, schließlich ohne Operation zu einer vollständigen Aus-
heilung kommen. Das mahnt uns doch sehr ernstlich zu erwägen,
ob es richtig ist, da wo eine ernste Lebensgefahr nicht vorliegt, gleich
diese Organe zu entfernen, zumal es sich sehr häufig um jugendliche
Personen handelt, bei Gonorrhöe, Tuberkulose, Wochenbetts- oder
Operationsinfektionen.
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9] Oberblick über die Entwicklung der modernen gynflk. Operationstechnik. 377.
Ob es vorzuziehen ist, in frischem Stadium, „ä chaud*' abdominal
oder vaginal zu operieren, wird viel behauptet und bestritten. Ich
habe es in den letzten Jahren vorgezogen, frisch entzündliche Fälle
vaginal zu operieren. Purulente Saktosalpingen, ausgedehnte peri-
und parametritische Abszesse inzidiere ich durch das Scheidengewölbe.
Unter Dränage genesen diese Kranken nicht nur bis zur völligen
Euphorie und normalem Lokalbefund; ich habe mehrfach darnach
Schwangerschaft und normales Wochenbett beobachtet. Aber die
große Mehrzahl dieser Fälle sehen wir im nicht frisch entzündlichen
Zwischenstadium. Wir entschließen uns erst dann zur Operation, wenn
die Allgemeinbehandlung und die eine Resorption befördernde Lokal-
tiierapie erfolglos geblieben sind. Dann kann man wenig umfang-
reiche Geschwülste dieser Art auch aus den alten Verwachsungen
sehr gut vaginal operieren. Umfangreichere Massen mit unklaren
Verwachsungen werden besser abdominal angegriffen.
Schwangere Tuben geben in ihrem Entwicklungsgang sehr ver-
schiedene Indikationen. Daß vorgeschrittenere Fälle, welche über et-
wa den dritten Monat hinausgekommen sind, zur Domäne der abdo-
minalen Operationen gehören, liegt auf der Hand. Vorher aber sind
ungestörte ektopische Schwangerschaften mit großer Sicherheit vagi-
nal zu operieren. Streitig ist die Wahl, wenn der Fruchtkapselaus-
bruch erfolgt. Auch hier ist zu unterscheiden, ob es zu einem Tuben-
hämatoffl gekommen ist oder zu einer Hämatokele; erstere habe ich
mit voller Sicherheit auch bei mehr als Faustgröße vaginal operiert,
ebenso auch letztere, wenn sie abgekapselt erschien. Die Blutstillung
ist vaginal mit voller Sicherheit durchzuführen, Koagula und Eisack
zu entfernen. Ich lasse gern, wenn es angängig ist, die entbundene
Tube zurück, getreu dem Grundsatz, nur das zu entfernen, was für
den Erfolg der Operation nötig ist. Aber ich konzediere rückhalt-
los, daß wir. bei mangelnder Übung, mangelnder Assistenz im Hause
der Patienten, auf dem Lande und unter sonst ungünstigen Verhält-
nissen rascher und sicherer durch die Laparatomie dazu kommen, die
blutende Tube zu versorgen, und das ist unsere erste Aufgabe in den
Fällen drohenden Verblutungstodes. Eventuelle Komplikationen der
Bauchnarbe müssen die vom Verblutungstod Geretteten mit in den
Kauf nehmen.
Erst in der letzten Zeit eröffnet Seh au ta dem vaginalen Verfahren
wieder eine weite Perspektive, indem er durch eine sehr weitgehende
vaginale Operation das CoUumkarzinom angreift. Er berichtet über
glänzende primäre und Dauererfolge an einem großen Material. Die
Exstirpation des parametranen Bindegewebes gelingt dabei sicher, wie
ich mich durch mehrfache Operationen an der Leiche überzeugt habe.
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378 A. Martin, Überblick über die Entwickl. der mod. gynSiK. Operationstechnik. [iQ
Schauta verzichtet auf die Exstirpation der retroperitonealen Drüsen!
Gewiß entfernt er sich damit von den heutigen Anschauungen der
Chirurgen, aber wir dürfen nicht verkennen, daß unsere bisherigen
Durchforschungen solcher exstirpierten Drüsen sehr ernste Bedenken
anregen. Hier stellt sich uns ein Problem, das unser aller Mitarbeit
herausfordert!
Ich bekenne mich, wie diese Skizze zeigt, als warmen Fürsprecher
der vaginalen Operation, soweit durch diese mit Aussicht auf sicheren
Erfolg dem Übel beizukommen ist. Auch für mich ist die Laparatomie
die technisch leichtere, sie ist mir aber ultima ratio. Nur zu oft drängen
wenig ausgedehnte, dabei aber recht beschwerliche, Leben und Lebens-
genuß behindernde Krankheitsprozesse zur Operation. Wir müssen dann
überlegen, ob wir nicht durch eine für uns vielleicht schwierigere, dafür
aber doch sicheren Erfolg versprechende Methode zum Ziele kommen.
Ich halte die Vermeidung einer Bauchschnittnarbe immerhin, selbst
wenn mit der abdominalen Operation eine größere Operationsgefahr
nicht verbunden ist, für sehr wesentlich im Interesse unserer Kranken.
Bemühen wir uns frühzeitig die Entwicklung der Krankheitsprozesse
zu erkennen, lernen wir in sorgsamer klinischer Beobachtung den
Werdegang derselben beurteilen, greifen wir rechtzeitig ein, wo ein
Eingreifen nicht zu umgehen ist, dann stehen wir oft vor der Mög-
lichkeit, insbesondere Neubildungen und entzündliche Prozesse zu
operieren, welche einer vaginalen Operation noch zugängig sind«
Ich verschließe mich nicht dem Einwand, daß da, wo eine Kon-
trolle des Wurmfortsatzes geboten erscheint, die Eröffnung der Bauch-
decken sicherer zum Ziele fuhrt. Aus eigener Anschauung habe ich
den Eindruck gewonnen, daß aus Furcht vor der Möglichkeit einer
späteren Appendizitis dieses Gebilde zweifellos oft ohne zwingende
Berechtigung exzidiert wird. Ebenso werden die Bauchdecken nur
zu häufig ohne dringende Indikation gespalten, wo ein einfacher vagi-
naler Eingriff vollständig zur Abhilfe vorhandener Erkrankungsprozesse
ausreichen würde.
Die vaginalen Operationen erfordern eine exaktere Diagnose, eine
minutiösere Technik. Innerhalb ihrer gegebenen Grenzen führen sie
sicher zum Ziele und bewahren in größerer Ausdehnung vor ver-
hängnisvollen Spätwirkungen als die abdominalen.
Mögen diese Ausführungen zu erneuter Verwendung dieser Metho-
den anregen!
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497/98.
(Gynäkologie Nr. 182/83.)
Die Erfolge und Dauererfolge der Hebosteotomie
an der Kieler Universitätsfrauenklinik.
Von
Privatdozent Dr. O. Hoehne^
Oberarzt der Universitätsfrauenklinik in Kiel.
Mit sechs Tabellen.
Über die operative Erweiterung des engen Beckens sind aus der
Kieler Universitätsfrauenklinik bisher zwei Publikationen hervorge-
gangen: H. Hohlweg, 4 Fälle von Pubiotomie, Z. F. Gyn. 1905, S. 1281
und die unter meiner Anleitung gefertigte Inaugural-Dissertation: C.
Salomon, Ein Beitrag zur Statistik der Pubiotomie (5 Fälle), Kiel 1907.
Auf diese Arbeiten zurückgreifend, und ferner fuOend auf den seit
dieser Zeit ausgeführten Schambeinschnitten möchte ich das hervor-
heben, was wir aus den zwar nicht sehr zahlreichen, aber gut aus-
gewählten und sorgfältig weiter beobachteten Fällen gelernt haben.
Im ganzen wurde bisher das Os pubis 20m al durchsägt, und zwar
wurde nur im 1. Falle die offene Durchschneidung des Knochens
nach Gigli vorgenommen, die nächsten 12 Fälle nach der Döder-
leinschen subkutanen Schnittmethode mit dem Döderleinschen
Instrumentarium behandelt und die letzten 7 Fälle nach der von
Kroemer^) angegebenen subpubischen Schnittmethode mit der
Bummschen Nadel operiert. Das Herumleiten der Nadel geschah
bei den nach Dödertein operierten Fällen von der oberen Inzisions-
wunde aus, meist nur unter indirekter Kontrolle des in die Scheide
gelegten Zeigefingers, während bei dem Kroem ersehen Verfahren
der in die untere Wunde eingeführte Zeigefinger zum unmittelbaren
Schutze der Harnblase gegenüber der von unten nach oben dringenden
1) P. Kroemer, Ober Versuche, den primären Verlauf und die Dauerresultate
der Hebosteotomie zu bessern. Hegars Beiträge zur Geb. u. Gyn. 1907, Bd. 12,
H. 2, S. 261 ff.
Kl in. Vorträge, N. F. Nr.487/9& (Gynäkologie Nr. 182/83.) August 1908. 29
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380 O. Hoehne, [2
Bu mm sehen Nadel und der umgekehrt wandernden Säge an der
hinteren Fläche des Os pubis lag.
Ich lasse nun zunächst die 20 Fälle in einer tabellarischen Ober-
sicht folgen (siehe diese); soweit sie schon publiziert sind, nur unter
Hervorhebung der wichtigsten Punkte, im übrigen mit genaueren An-
gaben, um dann an der Hand der Erfolge und Dauererfolge für Kind und
Mutter die Indikationsstellung und Technik der Operation zu beleuchten
und den Wert festzustellen, den diese Operation hinter und gegenüber
den bisher gültigen und geübten Verfahren für uns gewonnen hat.
Wenn man sich ein Urteil darüber verschaffen will, welchen Ge-
winn die Hebosteotomie gebracht hat, so muß man in Erwägung
ziehen, daß sie im wesentlichen eine Operation im Interesse des
Kindes ist bei einem Mißverhältnis zwischen dem Beckenkanal und
dem Kopf eines vollwertigen lebenden Kindes, sei es, daß das Miß-
verhältnis hervorgerufen ist durch größere Differenzen in den Maßen
von knöchernem Geburtsweg und Geburtsobjekt, sei es bei geringeren
Maßunterschieden durch mangelnde Konfigurationsmöglichkeit des
Schädels, durch Versagen der konfigurierenden Kräfte, durch ungün-
stige Einstellung des Kopfes, oder aber durch Summation von meh-
reren dieser Faktoren. Führen wir die Operation aus, so müssen
wir sicher sein, oder mindestens genügend begründete Aussicht haben,
daß das Kind, um dessentwillen wir das Mißverhältnis zwischen Kopf
und Becken auf dem Wege des beckenerweiternden Schnittes besei-
tigen, auch wirklich lebend geboren wird, und nicht nur lebend, son-
dern auch weiter existenzfähig zur Welt kommt. Stirbt das Kind
trotz der Beckendurchsägung intra partum oder an einer auf die Ent-
bindung, zurückzuführenden Schädigung ab, so war unsere Indikations-
stellung oder aber unser geburtshilfliches Verhalten nach Vollendung
der vorbereitenden Operation fehlerhaft, da wir ohne Berücksichtigung
des Kindes ein schonenderes Verfahren einschlagen konnten.
Wenn wir unser Material daraufhin prüfen, so finden wir, daß
tatsächlich alle 20 Kinder lebend entwickelt worden sind = 0% Mor-
talität. 1 Kind starb aber am 2. Wochenbettstage an einem diffusen
intrakraniellen Bluterguß (Fall 6). Der Kopf wurde nach Durch-
sägung des Schambeins ohne Schwierigkeit und ohne nennenswerten
Kräfteaufwand mittels Forceps in und durch das Becken hindurch ge-
zogen. Vor der Hebosteotomie waren außerhalb der Klinik energische
Zangentraktionen seitens des behandelnden Arztes ohne Erfolg ge-
blieben. Danach ist es wohl mehr als wahrscheinlich, daß der resul-
tatlose Forceps die subdurale Blutung und somit den Tod des Kindes
verschuldet hat. — Weist schon dieser Fall auf die verderbliche, das
kindliche Leben vernichtende Wirkung des hohen Forceps bei engem
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3] Die Erfolge und Dauererfolge der Het^osteotomie an der Kieler usw. 38t
Becken hin, so werden wir in dieser Auffassung noch bestärkt, wenn
wir die andern Fälle berücksichtigen, bei denen der Beckenerweiterung
ein Zangenversuch vorausging. Trotz schonender Traktion mit dem
Forceps, trotzdem beim Mißlingen sofort von weiteren Extraktions-
flianövern Abstand genommen wurde, und der Kopf nach Durchsägung
des Beckens dem Zangenzug leicht folgte, kam das bis zum Operations-
beginn ganz lebensfrische Kind in Fall 1 asphyktisch zur Welt und
wurde erst nach 20 Minuten zum Schreien gebracht. — In Fall 12
bewirkten kräftige, nicht zum Ziele führende Traktionen mit der
Simpson sehen Achsenzugzange eine lange und ziemlich tiefe Druck-
spar auf der linken Wange des Kindes. Nach der Durchtrennung
des Os pubis gelang die Beckenpassage des kindlichen Kopfes ohne
jeden Widerstand. — In Fall 16 endlich verursachte der dem Scham-
beinschnitr vorausgegangene allerdings recht energische Zangenversuch
eine ungewöhnlich starke Impression am linken Stirnbein und eine
nicht unbeträchtliche Weichteilverletzung am rechten Auge. Man muß
sich darüber wundern, daß das Kind überhaupt diese Verletzung
fiberstanden hat.
Aus diesen Erfahrungen geht zur Evidenz hervor, wie unrichtig es
istj der vorbereitenden Knochenoperation einen Entbindungsversuch
in Gestair der hohen Zange vorauszuschicken. Wir schädigen dadurch
das Kind in ganz unnötiger Weise, stellen den, eine exakte Indikations-
stellung vorausgesetzt, annähernd sicheren Erfolg für das kindliche
I^ben in Frage und machen den Nutzen der Operation illusorisch.
Ich gehe noch weiter und möchte behaupten, daß die beckenerweiternde
Operation in einem Fall, bei dem das Kind schon mittels hoher Zange
unter Anwendung großer Körperkraft bearbeitet worden ist, und
bei dem man die Überzeugung gewinnt, daß das Kind schon schwer
gelitten hat, nicht mehr berechtigt ist, weil wir die notwendige Ga-
rantie für ein lebensfrisches Kind trotz vorhandener regelmäßiger
Herztätigkeit nicht mehr bieten können. Im Anschluß an so rigorose
und in ihrer Wirkung resultatlose Entbindungsmanöver sollte nur noch
die Perforation die gegebene Operation sein. Früher, als wir die
Hebosteotomie nicht hatten, bzw. als sie noch nicht genügend fundiert
war, konnte man gegen eine Operation auf Biegen und Brechen nichts
einwenden. Wenn das Kind der Einwirkung der elementaren Gewalt
des hohen Forceps standhielt, so war das eben der Gewinn eines
Lebens. Jetzt darf man die hohe Zange bei engem Becken nur als
Versuch für die Fälle zugestehen, denen die Hebosteotomie versagt
bleiben muß. — Unter hoher Zange verstehe ich die Anwendung des
Forceps in jenen Fällen, bei denen der Kopf zwar fest auf den Becken-
eingang aufgepreßt ist und mit einem mehr oder weniger großen
29»
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382 O. Hoehnc, [4
Segment ins Becken hineinragt, aber weder mit seinem größten Um-
fang den Beckeneingang passiert hat, noch mit seiner größten Zirkum-
ferenz im Beckeneingang steht.
Im übrigen finden wir nur noch eine Kopfverletzung verzeichnet,
eine tiefe löffeiförmige Impression des hinteren Scheitelbeins (Fall 10).
In diesem Fall, der ursprünglich für den Kaiserschnitt aus relativer
Indikation bestimmt war (rachitisch plattes Becken mit Conj. vera
von 6,2 cm) konnte an der Indikationsstellung, wie wir später noch
sehen werden, nicht festgehalten werden« Das Kind wäre sicher ver-
loren gewesen und der Perforation verfallen, wenn man nicht noch
einen Rettungsversuch mit der Hebosteotomie gemacht hätte. Der
Versuch gelang, weil das Kind die mittlere Größe wenig überstieg,
die Schädelknochen weich und elastisch waren. Nur als Ausnahme
von der Regel gehört dieser Fall in den Rahmen der Hebosteotomie
hinein. Er zeigt nur zu deutlich, daß der Schambeinschnitt auch
seine Grenzen hat als Operation mit wirklichem Nutzeffekt. Sehr
große Mißverhältnisse lassen sich auch durch die operative Spaltung
des Beckenringes nicht beseitigen.
Dem Todesfall an intrakranieller Blutung reiht sich noch ein wei-
terer (Fall 13) an. Dieses Kind wurde durch Wendung und Extrak-
tion leicht asphyktisch entwickelt, durch bloße Hautreize scboell
wiederbelebt. Am 7. Wochenbettstage starb es plötzlich, nachdem es
noch 1 Stunde vorher reichlich Brust genommen hatte. Deutliche
Zeichen einer Erkrankung, speziell Fieber und Unruhe, waren nicht
hervorgetreten. Die Sektion ergab lediglich kleine pneumonische In-
filtrate der linken Lunge' (Aspirationspneumonie).
Demnach sind alle Kinder =100% lebend geboren worden,
aber nur 18 gesund aus der Klinik entlassen =»00%. Von diesen
18 entlassenen Kindern starben 2, offenbar infolge mangelnder Pflege,
nach 4 Wochen resp. 3 Monaten (Fall 4 u. 5).
Hätte man in den 20 Fällen die beckenerweiternde Operation nicht
vorgenommen, so wären die Kinder 16 mal sicher nicht lebend zur
Welt gekommen, 4 mal mit größter Wahrscheinlichkeit verloren ge-
wesen. Es ist demnach auf der Seite des Gewinnes ein
großer Erfolg zu buchen. Die Operation hat das voll gehalten,
was wir von ihr erwarteten. Sie hat die Mortalität der Kinder auf
ein Minimum beschränkt.
Von der im Interesse des Kindes unternommenen Operation mufi
man nicht allein einen Erfolg für das Kind verlangen, sondern auch
gleichzeitig eine Gefahrlosigkeit des operativen Eingriffes für
die Mutter. Es darf auf keinen Fall die kindliche Mortalität auf
Kosten der Mortalität und Morbidität der Mutter herabgesetzt werden.
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5l Die Erfolge und Dauererfolge der Hebosteotomie an der Kieler usw. 3g3
Von den 20 Müttern ist 1 gestorben »5% Mortalität. i) Dieser
Fall ist schon ausfülirlicli durch Hohlweg publiziert und in der
Dresdener Kongrefitabelle von Döderlein (Verh. d. D. Gesch.. f. Gyn4
Xlly S. 138, Nr. 50) registriert worden. Ich wiederhole, daß diese Frau
am 4. Wochenbettstage einer eiterigen (Staphylokokken) Peritonitis
erlegen ist, und daß die unmittelbar post partum placentae geschehepe
AbImpfung von der fötalen Fläche der Nachgeburt Staphylokokken
neben Bacterium coli ergeben hat, während die Knochenwunde bei
der Autopsie keine Spur von Reizung, geschweige denn Eiterung auf-
wies. Mit Recht ist wohl anzunehmen, daß diese Frau auch ohne
Hebosteotomie an der bereits bestehenden Infektion (vielfache Unter-
suchungen durch Hebamme und Arzt außerhalb der Klinik, über
3 Tage hin sich erstreckende Geburt bei vorzeitigem Fruchtwasser-
abfluß) zugrunde gegangen wäre. Somit würde dieser Fall die
Hebosteotomie sicherlich nicht direkt belasten und diskre-
ditieren. Aber man könnte einwenden, eine Perforation des zwar
lebenden, aber nicht mehr ganz intakten Kindes (Infektion des viele
Stunden offenen Eisackes) hätte die völlige Erweiterung der unnach-
giebigen Cervix (Bossischer Dilatator) unnötig gemacht, man hätte
langsamer und schonender operieren können; vielleicht wäre dann
auch die manuelle Plazentarlösung erspart geblieben. Da man einem
solchen Einwand nicht jede Berechtigung absprechen kann, darf man
diesen Todesfall nicht ohne weiteres aus der Mortalitätsquote der
Hebosteotomie streichen.
Von den der Mutter intra operationem drohenden Gefahren steht
in erster Linie die Blutung. Sie war in unsern 20 Fällen meist
gering oder nur mäßig stark, 7 mal ziemlich stark, anscheinend immer
rein venös und durch bloße Kompression ohne Schwierigkeit zu be-
herrschen. Am stärksten machte sie sich in Fall 5 geltend, wo im
ganzen Genitalgebiet ausgesprochene Varicenbildung vorhanden war.
Offenbar reichten die Varices, obwohl die weniger beteiligte Seite zur
Operation gewählt war, in das Sägeschnittgebiet nicht nur vor, son-
dern auch hinter dem Os pubis hinein. Bei sehr intensiver und aus-
gedehnter EntWickelung ektatischer Venen ist jedenfalls große Vorsicht
geboten. In unserem Fall entstand im Labium majus der Operations-
seite ein überhühnereigroßes Hämatom, das sich allmählich zurück-
bildete und nach 5 Wochen auf Haselnußgröße verkleinert war. Auch
zwei weitere Blutergüsse, ein hühnereigroßes Hämatom im Labium
majus sin. (Fall 1 1) und ein kleineres prävesicales Hämatom (Fall 2)
1) Korrekturbemerkung: Inzwischen sind 3 weitere Hebosteotomien mit glück-
lichem Ausgang für Mutter und Kind ausgeführt worden, so daß nunmehr bei
23 Fällen die mütterliche MortalitfltB=4^^ beträgt.
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384 O. Hoehne, [0
vereiterten nicht, sondern wurden langsam resorbiert, innerhalb
von 8 bzw. 6 Wochen. Schwerste Blutungen aus dem Sägebezirk
oder unangenehme Folgen von Blutergüssen im Bereich des
Knochenschnittes resp. dessen Umgebung haben wir demnach nicht
erlebt.
Als außerordentlich schwerwiegende Komplikation der Hebosteo-
tomie muß Ferner die Verletzung der Harnblase angesehen wer-
den. An unserem Material ist keine Läsion der Harnblase kon-
statiert worden. Falls eine solche passiert wäre, hätten wir sie wohl
mit Sicherheit finden müssen, da wir jedesmal am Schlüsse der Ope-
ration eine Kontrolle der Harnblase durch Auffüllen und sorgfaltiges
Forschen nach etwaiger Blutbeimengung vorgenommen haben. Die
Vermeidung einer Harnblasenläsion in unsern 20 Fällen führen wir
darauf zurück, daß bei dem rein subkutanen Operieren nur ein
stumpfes Führungsinstrument, die stumpfe Nadel von Döderlein^
unter Kontrolle von der Vagina aus angewandt wurde, während den
Schutz der Harnblase gegenüber der scharfen Bu mm sehen Nadel
immer der vom Kroem ersehen subpubischen Weichteilschnitt aus
hinter das Os pubis gelegte Zeigefinger übernahm. Bei einer großen
Serie von Operationen, wo man mit dem Zufall nicht mehr zu rech-
nen braucht, wird die Blasenverletzung, die in ihren gefährlichen
Konsequenzen recht deutlich durch die Hammerschlagsche^) Er-
fahrung gekennzeichnet ist, nur dann umgangen werden können, wenn
man prinzipiell Sägeführer und Säge nur unter direkter Fingerdeckung
um das Os pubis herumleitet. Würde sich herausstellen, was bisher
meines Wissens nicht beobachtet ist, daß noch nach Placierung der
Säge beim ersten Sägezug, also vor dem Verschwinden der Säge im
Knochen, die hinten anliegenden Gewebe (Harnblase, Durchtritts-
schlauch mit fötalem Kopf) angesägt werden können, so müßte auch
noch dieser Akt unter geeigneter Deckung vor sich gehen. — Aber
nicht nur eine unmittelbare Läsion wird durch solch Vorgehen ver-
mieden, sondern auch die nachträgliche Zerreißung der Harn-
blase beim Klaffen der Knochenwunde. Der von unten hinter
das Os pubis dringende Zeigefinger hat eben nicht nur den Zweck
des direkten Schutzes der umgebenden Weichteile, sondern «verfolgt
vor allem auch die Tendenz, die Harnblase und ihren Befestigungs-
apparat am Os pubis in ausreichendem Maße abzulösen. Zweifellos
schützt keine Technik der Hebosteotomie vor der schweren Kompli-
kation der Blasenläsion auch nur mit annähernder Sicherheit, wenn
1) S. Hammerschlag, Warnung vor poliklinischer Ausfuhrung der Hebosteo-
tomie. Zentralbl. f. Gyn. 1907, S. 1001—1003.
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7] Die Erfolge und Dauererfolge der Hebosteotomie an der Kieler usw. 385
nicht diese Ablösung von dem Os pubis vor der Knochendurchsägung
gescliieht, und die Harnblase so lange zurückgehalten wird, als in
ihrer unmittelbarsten Nähe Sägeführer oder Säge arbeiten. Denen,
die da einwenden, die Blutung sei bei der Ablösung der Harnblase
wesentlich stärker, entgegne ich, daß wir bezüglich der Blutstillung
nie Schwierigkeiten gehabt haben. Falls man nach Kroemer den
Klitorisschenkel vom absteigenden Schambeinast ablöst und sich dann
hart an die Hinterfläche des Os pubis hält, wird wohl kaum die
Blutung einen exzessiven Grad erreichen. Man vermeidet damit die
direkte Verletzung des Corpus cavernosum clitoridis, nennenswerter
arterieller Gefäße, des Plexus pudendalis und des Plexus vesicalis.
Außer der Blutung und der Harnblasenläsion sind die für den
Schambeinschnitt ihrer Lokalisation und Form nach typischen
Scheidenverletzungen zu fürchten, weil damit gerade das eintritt,
was man verhüten wollte: die Kommunikation der Knochenwunde mit
dem Geburtskanal. Einer von der Vagina ausgehenden Infektion der
Wunde mit ihren komplizierten Verhältnissen ist damit Tür und Tor
geöffnet
Solche kommunizierende Scheidenrisse haben wir nicht
weniger als 7 erlebt. In allen diesen Fällen wurde nach Döder-
lein, resp. in Fall 1 nach Gigli hebosteotomiert und 6mal wegen
fötaler, mütterlicher oder gemischter Indikation sofort im Anschluß an
die Hebosteotomie, 1 mal nach 33stündigem vergeblichen Warten
auf eine Spontangeburt mit Zange entbunden. Von den 12 nach
Döderlein operierten Fällen wies die Hälfte die kommunizierende
Scheidenverletzung auf. In welchen Fällen kam sie zustande? Es
handelte sich 4mal um Erstgebärende, 3mal um Zweitgebärende.
Zu diesen Erstgebärenden zählen 2 alte I p. mit allgemein gleich-
mäßig verengtem Becken und engen unnachgiebigen Weichteilen
(Fall 4: 38j. Ip. u. Fall 12: 31 j. Ip.), 1 28j. Rachitika mit plattem
Becken und schlecht dehnbaren Geburtswegen (Fall 6) und 1 21 j.
Parturiens mit allgemein verengt rachitisch-plattem Becken, bei der
das Journal betont, daß eine genauere digitale Beckenuntersuchung
wegen der Enge der Weichteile nur sehr schwer gelang (Fall 11). —
Von den 3 Zweitgebärenden hatten 2 ein allgemein gleichmäßig ver-
engtes Becken (Fall 1 u. Fall 7), die 3. ein rachitisch plattes, dabei
leicht allgemein verengtes Becken (Fall 9). Bei Fall 1 klaffte die nach
Gigli offen angelegte Knochenwunde um 7 cm, bei Fall 7 ist ein
enger und hoher Schambogen besonders hervorgehoben, und bei Fall 9
waren die Hypoplasie der Genitalien und die Narben von der 1. Ent-
bindung (Dammriß 2.^ und tiefe Scheidendamminzision) Momente,
welche die Erweiterung der Scheide erschwerten.
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386 O. Hoehne, [&
Die nach Döderlein hebosceotomierteo 6 Frauen ohne komaiu*
nizierende Scheidenverletzung waren 1 Ip., 2 II p«, 1 mp. und
2 IV p. Nach der Beckenform verteilt findet sich darunter kein
allgemein gleichmäßig verengtes Becken (im Gegensatz dazu
4 allgemein gleichmäßig verengte Becken mit kommunizie-
render Scheidenverletzung), 2 allgemein verengte rachitisch
platte und 4 rachitisch platte Becken. In keinem dieser Fälle war
der Schambogen verengt, 5 mal weit oder sogar sehr weit. Die Weich-
teile waren wohlentwickelt und für die Geburt gut vorbereitet;
speziell ist bei der einzigen von 5 in Betracht kommenden Erst-
gebärenden, die keinen kommunizierenden Scheidenriß erlitten hat,
nachdrücklich darauf hingewiesen, daß Damm und Scheide gut auf-
gelockert und dehnbar gewesen seien (Fall 3). Als entbindende Ope-
ration, die auch in diesen 6 Fällen unmittelbar an die Knochendurch-
sägung angeschlossen wurde, diente 2 mal die Zange und 4 mal die
innere Wendung und Extraktion.
Vergleichen wir die beiden gegenübergestellten Gruppen von Ope-
rationsfällen miteinander, so können wir leicht ersehen, daß nicht
allein das der Hebosteotomie auf dem Fuße folgende Entbindungs-
verfahren, speziell die Zange, an dem Zustandekommen der komnau'
nizierenden Scheidenverletzung die Schuld trägt, sondern noch andere
Faktoren für die Entstehung der unangenehmen Komplikation heran-
zuziehen sind, nämlich die Form des Beckenausgangs und die
Beschaffenheit derWeichteile. Ungünstig liegen in dieser Richtung
die Fälle von allgemein gleichmäßig verengtem und allgemein verengtem
platten Becken, weil mit der Allgemeinreduktion der Beckenlichtung
ganz gewöhnlich eine mangelhafte Entwickelung der weichen Geburts-
wege, speziell eine abnorme Enge der Scheide und eine Hypoplasie
der äußeren Genitalien einhergeht. Noch schwieriger können die Ver-
hältnisse werden, wenn dazu auch noch der Elastizitätsverlust der
Gewebe einer alten Erstgebärenden oder eine Narbenrigidität im Ge-
biete der Vagina und des Vestibulums komplizierend hinzutritt. —
Nach unseren Erfahrungen läßt sich das Bersten der Scheidenwand
entsprechend der Knochenwunde bei engem Beckenausgang und un-
günstiger Beschaffenheit der Weichteile, sei es Hypoplasie oder Rigidität,
mit der bisher besprochenen Operationstechnik (Gigli und Döderlein)
nicht verhüten; ob durch Abwarten der Spontangeburt, ist möglich,
aber keineswegs sicher. Jedenfalls darf man auf die Spontangeburt
schon deshalb nicht bauen, weil man jeden Augenblick gezwungen
werden kann, auf fötale oder mütterliche Indikation hin doch die Geburt
operativ zu beenden.
Wenn ich unsere Fälle daraufhin kritisch betrachte, so finde ich
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9] Die Erfolge und Dauererfolge der Hebosteotomie an der Kieler usw. 387
kaum einen heraus, bei dem man noch hätte warten können, und in
dem einzigen Fall, wo es geschah (Fall 11), warteten wir 33 Stunden
vergeblich auf die Spontangeburt, um dann doch nach der fSr die
Kreißende und für die Umgebung qualvollen Wartezeit mit 2^nge ent-
binden zu mfissen. Und die kommunizierende ScheidenzerreiQung,
deren Verhütung wir doch mit unserm Warten im Auge hatten, wurde
nicht vermieden.
So rationell und selbstverständlich auch das Abwarten der Spontan-
geburt zunächst erscheint, viel Nutzen darf man sich davon nicht ver-
sprechen, weil es gerade in den Fallen, wo wir es am nötigsten brauchen,
im Stich läOt Bei dem hypoplastischen Genitalapparat fehlt es eben
tn den eine Spontangeburt garantierenden Austreibungskräften. Naturlich
will ich nicht bestreiten, daß man in dem einen oder andern Fall mit
der Spontangeburt Erfolg haben kann, vielleicht auch einmal in solchem
Falle, wo voraussichtlich bei sofortiger operativer, vor allem Zangen-
entbindung eine schwerere Weichteilverletzung entstanden wäre. Im
Hinblick aber auf die so oft erforderliche schleunige Entbindung haben
wir alle Veranlassung, uns umzusehen, ob wir nicht imstande sind,
unsere Hebosteotomietechnik dem oiFenbar häufigen Bedürfnis der
sofortigen Geburtsbeendigung anzupassen und so zu verändern, daß
die kommunizierenden Scheidenrisse sich entweder ganz verhüten
lassen oder wenigstens zu den Seltenheiten gehören.
In der Tat meine ich, daß die Kroemersche Schnittffihrung, die
sich auf die Art und Form der bei Zangenoperation nach Hebosteotomie
▼on selbst zustande gekommenen Risse gründet, den natürlichen Ver-
hältnissen also Rechnung trägt, in hervorragender Weise den bisher
unvermeidlich scheinenden Weichteiltraumen vorzubeugen vermag. Seit
dem 1. 12. 07 haben wir 7 Hebosteotomien mit nachfolgender künst-
licher Entbindung (3 verschiedene Operateure) nach dieser Methode
ohne Rißkomplikation ausgeführt. Von diesen Fällen sondere ich 2
aus (Fall 17 u. 18), weil hier wegen des weiten Schambogens und der
günstigen Weichteilverhältnisse (Vp. u. IVp.) auch bei Anwendung
des Döderleinschen Verfahrens die Rißkomplikation nicht zu fürchten
gewesen wäre. In Fall 15 (allgemein verengtes rachitisch plattes
Becken mit gut mittelweitem Schambogen einer 24j. I p.) gelang es
trotz sehr enger Scheide mit Zuhilfenahme einer anderseitigen Scheiden-
damminzision ein mittelgroßes Kind durch innere Wendung und Extrak-
doa ohne Rißverletzung zu entwickeln. — In Fall 14 u. 19, 34 j. II p.
und 34j. IV p., wurde die Rißverletzung vermieden bei allgemein ver-
engtem rachitisch platten Becken mit hohem, engen Schambogen: innere
Wendung und Extraktion eines über mittelgroßen bzw. kleinen Kindes.
— In Fall 20 wurde bei allgemein gleichmäßig verengtem Becken mit
Klia. Vortrige, N. F. Nr. 497/98. (Gynikologle Nr. 192/S3.) August 1908. 30
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388 O. Hoehne, [10
engem und hohem Schambogen ein 4400 g schweres Kind, das in
2. unvollkommener SteißfuOlage sich eingestellt hatte, durch Extraktion
entwickelt. — In Fall 16 endlich glückte die Zangenextraktion eines
4330 g schweren Kindes bei einer 27j. IIp. mit allgemein gleichmäßig
verengtem Becken ohne Schädigung der so gefährdeten Scheidenpartie.
— Diese letzten beiden Beobachtungen fallen um so mehr ins Gewicht,
als wir bei allen andern allgemein gleichmäßig verengten Becken
(4mal: 2 Ip. u. 2 IIp.) die typische RiOverletzung mit der Döderlein-
«chen Methode nicht hatteii umgehen können. — Die von Kroemer*)
geratene gleichseitige Scheidendamminzision haben wir bisher nicht
in Anwendung gezogen. Bei abnormer Enge der Scheide ist die von
Pfannenstiel (Monatsschr. f. Geb. u. Gyn. 1906, Bd. 24, S.415) als
prophylaktischerEntspannungsschnittempfohleneSpaltung des Scheiden-
rohres auf der der Hebosteotomie entgegengesetzten Seite mit gutem
Erfolge angewandt worden.
Welchen Einfluß hatte denn nun die mit der Knochenwunde kom-
munizierende Scheiden Verletzung auf den Verl auf des Wochen-
bettes? Von den 7 Wochenbetten verliefen 2 fieberlos (nie-
mals Temperatur in axilla über 38,0°), bei absolut glatter Wundheilung
(Fall 1 u. 9). Beide Male wurde der kommunizierende Riß möglichst
exakt vernäht, das Vaginalrohr also wieder in sich geschlossen. Während
in Fall 1 die nach Gigli angelegte Hebosteotomiewunde ausgiebig nach
oben und unten mit Jodoformgazestreifen dräniert und nur die Haut-
wunde mit einigen Catgutnähten zusammengezogen wurde, erfolgte in
Fall 9 auch eine Naht der beiden Inzisionswunden oberhalb und unter-
halb des durchsägten Schambeins. — In Fall 4 blieb das große
Wundgebiet, trotzdem die Frau am 4. Wochenbettstage einer
Staphylokokkenperitonitis erlag, infolge unmittelbarer sorg-
fältiger Vernähung des kommunizierenden Scheidenrisses
laut Sektionsbefund frei von Infektion. — Im Fall 12 heilte die
dicht vernähte Scheidenrißwunde primär, ebenso die durch Naht ge-
schlossene obere Inzisionswunde; an der mit 2 langen Jodoform-
gazestreifen dränierten unteren Inzisionswunde aber stellte
sich bei zweimaliger Temperaturerhöhung auf 38,2° in axilla eine mäßig
starke eiterige Sekretion ein. — In Fall 11 wurden die beiden
Inzisionswunden sofort nach Durchsägung des Knochens vernäht und
ebenso der kommunizierende Scheidenriß, der nach langem vergeblichen
Warten auf Spontangeburt bei der dann unvermeidlich gewordenen
Zangenextraktion entstanden war. Unter leichtem Temperaturanstieg
entwickelte sich hier ganz allmählich eine Thrombose der linken Vena
1) P. Kroemer, 1. c, S. 262, Fig. 1.
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]]] Die Erfolge und Dauererfolge der Hebosteotomie an der Kieler usw. 389
femoralis ohne stärkere Schwellung des linken Beines. — In Fall 6
störte ein schmerzhaftes Ödem des Operationsgebietes und eine eiterige
Bronchitis mit pneumonischem Infiltrat im rechten Unterlappen das
Wochenbett. Die Erscheinungen wurden von einem leichten, bis
38,3'' in axilla ansteigenden Fieber begleitet, das gut 14 Tage hindurch
währte. Aus der schon längere Zeit völlig geheilten Rißwunde stieß
sich 2V2 Monate post hebosteotomiam ein dünner 3 cm langer und
^4 cm breiter Knochensequester ab. Es liegt nahe, anzunehmen, daß
eine Infektion des ausgedehnten Wundbezirkes auf embolischem Wege
zu dem entzündlichen Lungenprozeß, an Ort und Stelle zu der anfangs
unbemerkt gebliebenen Knochennekrose führte. — Fall 7 schließlich
zeigte die bedrohlichsten Folgeerscheinungen, eine schwere Thrombo-
phlebitis im Bereich der Knochen wunde und eine von hier ausgehende
Septikopyämie mit 2 Schüttelfrösten am 15. und 17. Wochenbettstage.
— Sicher ist es nicht zufällig, daß gerade diese beiden letzten Fälle
durch einen fieberhaften, und der letzte Fall sogar ernsten Verlauf des
Wochenbettes kompliziert waren. Die Ursache dafür ist in dem ünterr
lassen der sofortigen Naht des. kommunizierenden Scheidenrisses zu
suchen. Die Jodoformgazedränage nach der Scheide wirkte
nicht infektionshemmend, sondern infektionsfördernd. Hat
man die Entstehung einer kommunizierenden Scheidenverletzung nicht
verhüten können, so bietet der allseitige vollkommene Nahtabschluß
des Operationsgebietes, vor allem aber nach der Vagina zu, noch die
beste Gewähr für ein normales Wochenbett mit ungestörter Wund-
heilung. Sollte es trotzdem zu einer Infektion der Wunde kommen,
so ist jederzeit die Möglichkeit gegeben, dem entzündlichen Sekret
durch einfaches Öifnen der unteren Inzisionswunde genügenden Abfluß
2u verschafi^en und durch Einlegen eines Dränrohres eine Verhaltung
des Sekretes zu verhindern.
In den 13 Fällen, wo gröbere Weich teilverletzungen vermieden
wurden, bzw. Risse überhaupt nicht eintraten, war das Wochenbett
7inal fieberlos (Achselhöhlentemperatur nicht über 38,0''). In Fall 15
war 38,2'' am 10. Tage p. op. auf Koprostase, 38,5° am 23. Tage p. op.
auf eine Angina zu beziehen; im übrigen verlief die Rekonvaleszenz
ungestört. — 2mal (Fall 3 u. 14) fand das 39° etwas überschreitende
Fieber innerhalb der ersten 10 bzw. 8 Tage seine Erklärung in einer
ausgedehnten eiterigen Bronchitis, bei glatter Wundheilung und nor-
maler Genitalrückbildung. — Imal (Fall 5) verursachte ein vorüber-
gehendes schmerzhaftes Ödem der Operations- und angrenzenden
Inguinalgegend bei hühnereigroßem Hämatom im Labium majus leichte
Temperaturerhöhung (am 2. und 3. Wochenbettstage 38,4° in axilla,
sonst normale Temperatur). — In Fall 16 entwickelte sich bei nur an-
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agO O. Hoehne, [12
ISoglich starkem Ödem des linken Labium majus unter iächtigem Anstieg
der Körperwärme, bis zur Höchsttemperatur von 38,4 "^ in der Achsel*
höhle, und lange anhaltender ausgesprochener Pulsbeschleunigung ein
embolischer Prozeß der rechten Lunge. Der Sageschnitt war in diesem
Fall versehentlich durch das weit medtalwarts reichende For. obturatorium
bindurchgeführt worden. — Bei dem ISL Falle, der bereits fiebernd in
die Klinik eintrat, vermochte die Naht der Inzisionswunden, obwohl
sie sofort nach Durchsägung des Knochens noch vor der an die
Hebosteotomie anschließenden kunstlichen Entbindung mit vaginalem
Kaiserschnitt angelegt wurde, eine Infektion der Knochen wunde und
ihrer Umgebung nicht zu verhüten. Es folgte ein schwerer pyamischer
Zustand, der nach vier auf den 3.-5. Wochenbettstag sich verteilenden
Schüttelfrösten in ein leicht fieberhaftes Stadium fiberging und all-
mählich in Heilung auslief. Aus dem durch den unteren Inzisions*
schnitt dränierten Infektionsherd entleerte sich reichlich Eiter und
nekrotische Gewebsfetzen (Streptokokken, ebenso im Sekret des Genital*
traktus).
Die absolute Morbiditätsziffer des Wochenbettes bei unsem
Hebosteotomien mit kommunizierenden Scheiden rissen beträgt
demnach (5 von 7 Fällen) 71,4%, die auf Erkrankung des Heb-
osteotomie-Wundbezirkes reduzierte 57,1%. Bei unsem Heb-
osteotomien ohne kommunizierendeScheidenverletzungen da-
gegen beläuft sich die absolute Wochenbettsmorbidltät auf 46,1%
(6 von 13Fällen), die auf Erkrankungdes Knochenwundbereiches
reduzierte auf 23%. Fassen wir alle Wochenbettserkrankungen
der 20 Hebosteotomien zusammen, so erhalten wir eine Gesamt-
morbidität von 55%. Es handelte sich:
Imal um Koprostase, später in demselben Falle Angina,
2mal um ausgedehnte eiterige Bronchitis,
1 mal um eiterige Peritonitis (vor Einlieferung in die Klinik infiziert),
ohne Infektion der Hebosteotomiewunde,
7 mal um leichtere oder schwerere Erkrankungen der Hebosteotomie-
wunde und deren Folgen:
Imal leichte Eiterung aus der dränierten unteren Inzisionswunde,
Imal stärkeres Ödem im Wundbereich bei Hämatom des Labium
majus,
1 mal Scbenkelvenenthrombose auf der Operationsseite,
2 mal Thrombophlebitis mit Lungenembolie,
2 mal WundeiteruQg mit Pyämie.
Vorläufig ist die Wochenbettsmorbidltät nach Hebosteotomie
eine recht hohe. Es wird aber gelingen, sie künftig wesendicfa
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13] Die Erfolge und Dauererfolge der Hebosteotomie an der Kieler usw. 3g|
gfiiistiger zu gestalten. Wie unsere ErFahrungen lehren (Fall 4 u. 19),
miissen wir nur alle sicher infektiösen Fälle und solche, die
lußerhalb der Klinik bei langer Geburtsdauer, womöglich vorzeitigem
Blasensprung, vielfach von Arzt und Hebamme untersucht worden sind
uad uns auf Infektion sehr verdächtig erscheinen, von der Ope-
ration ausschließen, weil hier die Hebosteotomie für die schon
sehr gefährdete Mutter eine schwere Komplikation darstellt, während
die für die Mutter schonende Perforation des ohnehin womöglich schon
iflfizierteo Kindes die besten Chancen für die Erhaltung des mütter-
lichen Lebens bietet (cf. den Standpunkt Döderleins Verh. d. D. G.
f. Gyn. ig07, 12, S* 170 tf. und v. Franqu^s ebendaselbst S. 231).
Wir müssen ferner die Indikation nicht allein nach der Form des ver-
engten Beckeneingangs, sondern unter Berücksichtigung aller
Beckenverhältnisse, speziell des Beckenausgangs und -unter
besonderer Würdigung der weichen Geburtswege stellen und
mit einer gut ausgebildeten Technik die Gefahren der Hebosteotomie
(Blutung, Hämatombildung, Harnblasenverletzung, kommunizierende
Scheidenrisse und deren Folgen) sorgsam umgehen lernen. Alsdann
wird unter beträchtlicher Herabsetzung der MorbiditätsziflPer auch die
Wochenbettsdauer wesentlich verkürzt werden. Bei glattem Verlauf
der Operation und reaktionsloser Wundheilung braucht der Klinik-
aufenthalt nicht länger zu währen, als nach einer unkomplizierten
s|)ontanen Entbindung. In Fall 17 und 18 standen die Operierten am
8. Tage, in Fall 20 am 0. Tage auf und wurden am 14. bzw. 12. und
15. Tage nach Hause entlassen.
Da 1 Hebosteotomierte gestorben ist, und sich 1 (Fall 19) noch in
der Klinik befindet, sind im ganzen 18 Frauen zur Entlassung ge-
kommen. Sie waren sämtlich beschwerdelos, ihr Gang un-
gestört und schmerzfrei. — Eine dauernde Schädigung der Artt.
sacroiliacae infolge der Kontinuitätstrennung des Beckenringes ist bis
jetzt niemals eingetreten. Wohl klagte eine Frau (Fall 14: allgemein
verengtes rachitisch plattes Becken mit Conj. vera 8,1 cm) bei den
ersten Gehversuchen über leichtes Schmerzgefühl in der Kreuzdarm-
beinfuge auf der nicht operierten Seite. Dieser Schmerz war aber
binnen wenigen Tagen völlig geschwunden. Auch die noch in der
Klinik befindliche Frau (Fall 19: allgemein verengtes rachitisch plattes
Trichterbecken, auffallend schlecht aufschließbar) klagte während der
ersten Wochen p. op. über heftige Schmerzen im Kreuz, vor allem in
der Gegend der rechten Art. sacroiliaca. Die Schmerzen sind jetzt nach
ca. 6 Wochen nur noch angedeutet, die Kreuzdarmbeinfuge auf Druck
nicht empfindlich. Die Frau ist außer Bett und lernt allmählich immer
besser gehen, so daß voraussichtlich auch in diesem Fall ein gutes
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392 O. Hoehne, [14
definitives Gelivermögen erzielt wird. — Die Sägestelle markierte
sich bei der Aufnahme des Entlassungsbefündes entweder als eine
Delle oder als ein schmaler, bis höchstens Va ^m breiter Knochenspalt
Kallus wurde lOmal ganz vermißt, 8mal in geringer Menge und nur
1 mal als dickerer Wulst (Fall 1) gefunden. Die Knochenenden waren
meist nur leicht, manchmal gar nicht und 4mal deutlicher gegeneinander
verschieblich. Eine Schmerzhaftigkeit im Operationsgebiet bestand
niemals. Die Weichteilwunden, auch die Rißwunden in der Vagina,
waren dicht geschlossen und unempfindlich. Von den 3 intra opera-
tionem entstandenen Hämatomen waren nur noch Spuren vorhanden.
Bezüglich der vorderen Scheidenwand war ein Unterschied gegen-
über den Situsverhältnissen vor der Operation nicht zu konstatieren;
nur Imal zeigte sich eine Zystozele mäßigen Grades, die vor der
Operation nicht bemerkt worden war (Fall 11).
Betreffs des Dauererfolges ziehe ich nur die Hebosteotomierten
heran, bei denen die Operation mindestens Vs Jahr zurückliegt. Das
sind 12 Fälle, über deren Zustand und Ergehen ich entweder schrift-
lichen bzw. mündlichen Bericht erhalten habe (4 Fälle), oder die ich
selbst habe nachuntersuchen können (8 Fälle). Alle Frauen gaben
an, voll arbeitsfähig und in ihrem Gehvermögen nicht ge-
schädigt zu sein. In Fall 2 hatte einige Wochen hindurch leichtere
Ermüdbarkeit des der Operationsseite entsprechenden Beines ohne
nachweisbare Atrophie oder Degeneration der Muskulatur bestanden.
In den 8 nachuntersuchten Fällen (V2 Jahr bis 274 Jahr p. op.) wurde
an der Sägestelle kein oder kein nennenswerter Kallus, 2mal eine
schmale, wenig vorspringende Knochenleiste gefühlt. Ein wirklicher
Knochenspalt existierte in keinem Falle mehr; die nur in 1 Fall (Fall 11:
7 Mon. p. hebost.) noch etwas gegeneinander beweglichen Knochen-
enden hatten sich lückenlos zusammengefügt. Von einer Bruch-
pforte oder Vorwölbung eines Baucheingeweides im Operations-
gebiet war bisher bei genauester Untersuchung in keinem Falle etwas
zu entdecken. Die Zystozele in Fall 11 hatte sich nicht vergrößert
und machte keine Beschwerden. — Eine weitere Geburt haben wir
bei den Hebosteotomierten bis jetzt nicht zu beobachten Gelegenheit
gehabt. 1 Operierte (Fall 3) ist zur Zeit Gravida mens. Vin. Von
einem reellen Maßzuwachs der Conj. vera infolge der Knochendurch-
sägung haben wir uns in diesem Falle ebensowenig wie bei den andern
nachuntersuchten Frauen überzeugen können. Für die bevorstehende
Geburt haben wir die Wiederholung der Hebosteotomie geplant.
Entsprechend den guten primären Erfolgen für Kind und Mutter
und entsprechend den bisher günstigen Dauerresultaten ist die Zahl
der Hebosteotomien an unserer Klinik von Jahr zu Jahr gewachsen;
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15] Die Erfolge und Dauererfolge der Hebosteotomie an der Kieler usw. 393
es sind allmählich immer mehr Fälle von engem Becken der Heb-
osteotomie zugefallen, wie sich leicht aus der folgenden Obersicht er-
kennen läOf:
1003: 1 Fall,
1905: 3 Fälle,
1906: 5 Fälle,
1907: 7 Fälle,
1908: 4 Fälle im ersten Vierteljahr.
Wie stellen wir nun an unserer Klinik die Indikation für
die Hebosteotomie, und wie grenzen wir sie jetzt ab gegen-
über den konkurrierenden Operationen: hohe Zange, Per-
foration des lebenden Kindes, prophylaktische Wendung,
kunstliche Frühgeburt und Kaiserschnitt aus relativer In-
dikationPi)
Die Gefahren der hohen Zange bei engem Becken, speziell für
das Kind, habe ich schon bei der Besprechung unserer Hebosteotomie-
Kinder erläutert, ihre Unrichtigkeit als Voroperation vor der Heb-
osteotomie betont, und sie nur für die Geburtsfälle reserviert, bei
denen die beckenerweiternde Operation nicht vorgenommen werden
soll, weil die dazu notwendigen Vorbedingungen fehlen: erfahrener,
urteilsfähiger, technisch bewanderter Geburtshelfer, geschulte Assistenz,
geeignete Räumlichkeit. Hier darf die hohe Zange bei eingetretener
Konfiguration und günstiger Einstellung des Kopfes nur als Rettungs-
versuch für das Kind betrachtet werden, bei dessen Mißlingen trotz
energischer, aber nicht roher Handhabung des Instrumentes die Per-
foration des lebendes Kindes die alleinige logische Konsequenz ist.
-~ Muß man die hohe Zange außerhalb der Klinik als notwendiges
Obel anerkennen, so sollte sie in der Klinik aus der Reihe der geburts-
hilflichen Operationen bei engem Becken ganz gestrichen werden. Um
Mißverständnisse zu vermeiden, hebe ich noch einmal hervor, daß in
die Rubrik hohe Zange nicht solche Fälle eingereiht sind, bei denen
der Kopf bereits mit seiner größten Zirkumferenz im Beckeneingang
steht oder schon den Beckeneingang passiert hat. — Anders steht es
mit der Perforation des lebenden Kindes. Das Gebiet dieser
Operation ist ja außerordentlich eingeschränkt worden, gerade weil
1) J. Pfannenstiel, Die Indikationsstellung zur Behandlung der Geburt bei
Beckenenge. D. Med. Wochenschr. 1906, S. 1654—1656; J. Pfannenstiel, Dis-
kussionsbemerkung zu dem Vortrag Rübl, Zur Technik der Pubiotomie in der
Mittelrhein. Ges. f. Geb. u. Gyn. Monatsscbr. f. Geb. u. Gyn. 1906, Bd. 24, S. 415;
J. Pfannetastiel, Diskussion über beckenerweitemde Operationen. Verhandlungen
d. D. Ges. f. Gyn. 1907, XII, S. 351—356.
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304 O. Hoehne, [la
wir im Besitze der Hebosteotomie den hohen Forceps wenigstens
iLliniscb beseitigen konnten. Außerhalb der KlinilL bleibt die Perfo-
ration des lebenden Kindes nach erfolglosem hohen Forceps die vor*
geschriebene Operation. Aber auch in der Klinik wird ein gewisser
Prozentsatz lebender Kinder der Perforation anheimfallen, nämlich die
Kinder, die schon vor der Einlieferung der Kreißenden in die Klinik
mit hoher Zange vergeblich bearbeitet worden sind und nach
unserer Überzeugung schwer gelitten haben, und die Kinder
schwer infizierter oder auf schwere Infektion höchst ver-
dächtiger Gebärender. Bei diesen dürfen wir zwecks Entbindung
keine komplizierten Wundgebiete schaffen, weil wir sie gegen In-
fektion nicht zu schützen vermögen. Ohne die Garantie für die
Geburt eines intakten Kindes leisten zu können, würden wir mit
der Anlegung von Wunden die schon bedrohte Mutter noch mehr
gefährden, während wir ihr durch die viel weniger eingreifende und
schonendere Perforation des zwar lebenden, aber bereits mehr oder
weniger geschädigten Kindes weit bessere Chancen bieten. Freilich
ist es nicht inlmer leicht, darüber ins klare zu kommen, ob eine
fiebernde Kranke als infiziert anzusehen ist oder nicht. Sind wir
darüber im Zweifel, so entscheidet das Interesse der Mutter. — Was
die prophylaktische Wendung betrifi^, so gibt sie nur dann gute
Resultate, wenn es sich nicht um eine Enge des ganzen Geburts-
kanales, sondern nur um einen engen Beckeneingang handelt, also um
das platte Becken mit weitem Schambogen, und um weite deh-
nungsfähige Weichteile. Hat sich bei einem platten Becken mit
mäßig verkürzter Conj. vera, etwa bis 8 cm herunter, der Kopf un-
günstig eingestellt, in Hinterscheitelbeineinstellung, Stirnlage oder Ge^
Sichtslage, oder bleibt die Konfiguration des Kopfes bei der Vorder-
scheitelbeineinstellung ungenügend, so ist die prophylaktische Wendung
indiziert, vorausgesetzt natürlich, daß die Grö(}e und Härte des Kopfes
den Erfolg nicht illusorisch erscheinen lassen, und die Wendung über-
haupt noch ausgeführt werden darf. Allgemein gleichmäßig verengte
und allgemein verengte platte Becken, sowie auch platte Becken mit
engen oder rigiden Weichteilen eignen sich nicht für die prophylak-
tische Wendung, weil die schnell zu überwindenden Widerstände viel
zu groß sind (Pfannenstiel). Erscheint der Kopf bei plattem Becken
und mäßiger Verkürzung der Vera auffallend groß und hart, ist die
Zeit für die Wendung womöglich verpaßt, oder ist die Conj. vera
stärker verkürzt, etwa von 7,5 cm abwärts, so kommt nur die Heb-
osteotomie in Frage. Als untere Grenze für die Hebosteotomie bei
plattem Becken lassen wir 7 cm oder wenig darunter gelten. Ist der
Kopf nur mittelgroß und konfigurabel, der Beckenausgang sehr ge-
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17] Die Erfolge und Dauererfolge der Hebosteotomie an der Kieler usw. 395
rimnig, so kann man auch noch ausnahmsweise weiter mit der Vera-
grofie heruntergehen: Fall 3 Conj. vera von 6,6 cm und Fall 10 Conj.
Vera von 6^ cm. Mit solcher Verkürzung des geraden Durchmessers
im Beckeneingang sind wir bereits in das Gebiet des Kaiserschnittes
ms relativer Indikation eingetreten. Diese Operation war auch für
deo Fall 10 in Aussicht genommen.^ Die besonderen Umstände (ein-
gehende Narkosenuntersuchung seitens mehrerer Untersucher am Tage
vor der Geburt und unerwarteter Blasensprung mit Nabelschnurvorfall
bis vor die Vulva, bevor die Kreißende auf das Geburtsbett gelagert
Verden konnte) zwangen aber, auf die geplante Operation zu ver-
zichten. Die schnell ausgeführte Hebosteotomie und anschließende
Wendung und Extraktion unter Zuhilfenahme der Walcherschen
Hingelage ergab ein ausgetragenes lebendes Kind, allerdings mit
einer nicht unerheblichen Impression des hinteren Scheitelbeins. In
diesem Fall ist die Walchersche Hängelage mit Vorteil für das Kind
und ohne Schädigung der hinteren Beckengelenke ausgenutzt worden.
Gegpn ihre Anwendung bei der subkutanen Hebosteotomie ist nichts
einzuwenden (Werth), falls es sich nicht um ein schlecht aufschließ-
bares Becken mit geringer Exkursionsbreite der Artt. sacro-iliacae
hindelt
Ffir die allgemein gleichmäßig verengten und allgemein verengten
platten Becken mit engem Schambogen liegt die Indikation zur Heb-
osteotomie bei wesentlich größeren Maßen^ etwa bei einer Conj. vera
von S—ljS cniy und reicht bei ungünstiger Relation zum Kopf sogar
noch höher bis zu 9 cm Vera und mehr. Diese Fälle sind deshalb
$0 ungünstig, weil mit der allgemeinen Beckenverengerung ganz ge-
wöhnlich eine Hypoplasie und mangelhafte Dehnbarkeit der weichen
Geburtswege vergesellschaftet ist (Pfannenstiel). Außerdem pflegt
die Wehentätigkeit eine mangelhafte zu sein, und die Artt sacroiliacae
sind zuweilen so wenig beweglich, daß die Spaltung des Beckenringes
nar zu einem geringen Klaffen der Knochen wunde und somit nur zu
einem minimalen Raumgewinn führt* Bei diesen Beckenformen mit
der Hebosteotomie 7^5 cm Vera nach unten zu überschreiten ist sehr
riskant, weil dann die Kreuzdarmbeinfugen zu leicht geschädigt und
die Weichteile schwersten Verletzungen ausgesetzt werden. Hier be-
ginnt bei den allgemein verengten Becken der Kaiserschnitt aus rela-
tiver Indikation in sein Recht zu treten. — Welch schöne Erfolge mit
der Hebosteotomie auch bei \ien allgemein verengten Becken erzielt
Verden können, wenn man sie nur richtig wertet, ersieht man aus
Fall 14 u. 15. In Fall 14 (II p. mit allgemein verengtem rachitisch
1) R. Werth, Verhandl. d. D. Ges. f. Gyn. 1907, XII, S. 343 u. 344.
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396 O. Hoehne, [18
platten Becken: Conj. vera 8,1 cm) fiel bei 3markstuckgro0em Os ext
die kräftig pulsierende Nabelschnur vor. Nach Hebosteotomie und
Eröffnung des äußeren Muttermundes mittels drei Inzisionen wurde
ein gut mittelgroßes lebendes Kind durch Wendung und Extraktion
gewonnen. — In Fall 15 (Ip. mit allgemein verengtem rachitisch platten
Becken: Conj. vera 8,1 cm) machten sich Kompressionserscheinungen
der vorliegenden Nabelschnur bemerkbar bei unerweitertem Os ext.
Nach Aufheben aller Hindernisse (Hebosteotomie, vaginaler Kaiser-
schnitt, tiefe Scheidendamminzision) lieferte die Wendung und Ex-
traktion ein lebendes mittelgroßes Kind.
Wie sollen wir uns aber verhalten, wenn wir in der Schwanger-
schaft ein enges Becken zu beurteilen haben, wie stellen wir uns
zu der prophylaktischen Operation intra graviditatem, zu der
künstlichen Frühgeburt? Wir haben bei dem verarbeiteten Ma-
terial 6 mal Gelegenheit gehabt, 5—6—8 Wochen ante terminum über
die künstliche Frühgeburt zu entscheiden. Wir haben sie in diesen
Fällen abgelehnt; und zwar in Fall 7 (II p. mit allgemein gleichmäßig
verengtem Becken: Conj. vera 8,4 cm; relativ kleiner Kopf), weil wir
noch auf eine Spontangeburt bei ausgetragenem Kinde hofften, anderer-
seits bei eintretenden Schwierigkeiten die Hebosteotomie in Reserve
hatten. — In Fall 14 (II p. mit allgemein verengtem rachitisch platten
Becken: Conj. vera 8,1 cm, querer Durchmesser des Beckeneingangs
11,4 cm; enger Schambogen) erschien uns der Erfolg für das Kind
bei frühzeitiger Entbindung zu unsicher. — In Fall 2 (Up. mit all-
gemein verengtem rachitisch platten Becken: Conj. vera 6,9; weiter
Beckenausgang), in Fall 5 (IV p. mit allgemein verengtem rhachitisch
platten Becken: Conj. vera 7,0 cm; nicht verengter Schambogen), in
Fall 11 (Ip. mit allgemein verengtem rachitisch platten Becken:
Conj. veca 6,85 cm; mittelweiter Schambogen) und in Fall 13 (IV p.
mit rachitisch plattem Becken: Conj. vera 7,2 cm; sehr weiter Scham-
bogen) kam die künstliche Frühgeburt wegen der zu starken Ver-
kürzung der Conj. vera nicht in Frage. Wenn aber auch die Ein-
leitung der künstlichen Frühgeburt durch die Hebosteotomie eine
wesentliche Einbuße erfahren hat, so wird sie doch immer ihre Gel-
tung behalten. Als Maße kommen für sie in Betracht: bei allgemein
verengten Becken Verae von etwa 8—8,5 cm, bei platten Becken Verae
von etwa 8— 7,5 cm.*"-*) Falls die künstliche Frühgeburt bei den an-
gegebenen Maßen nicht früher als in cfer 36. Woche eingeleitet wird,
1) R. Werth, Diskussion über beckenerweiternde Operationen. Verb. d. D.
Ges. f. Gyn. 1907, XII, S. 345 u. 346.
2) J. Pfannenstiel, ebd. S. 352—356.
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19] Die Erfolge und Dauererfolge der Hebosteotomie an der Kieler usw. 39*^
SO ist die Chance des frühgeborenen Kindes sehr gut und die Pro-
gnose auch nach der Entlassung aus der Klinik günstig, falls es sich
um Mütter handelt^ die mit der Pflege des Kindes vertraut sind und
sich dieselbe angelegen sein lassen.
Die genannten Zahlen können natürlich nur einen Anhalts-
punkt für unser Handeln beim engen Becken geben. Jeder
Fall will nach genauester Feststellung der Becken- und Weichteilver-
hältnisse, nach Prüfung des Geburtsobjektes und seiner Relation zu
den Geburtswegen und nach Berücksichtigung des Allgemeinzustandes
der Mutter und der lebenswichtigen Organe für sich beurteilt werden.
Wir müssen streng individualisieren und nicht nur bezüglich
der Indikationsstellungy sondern auch bezüglich der Technik
der Operation, wenn wir uns für die Hebosteotomie entscheiden.
Handelt es sich um platte Becken oder um allgemein verengte platte
Becken mit weitem Beckenausgang, um eine gute Entwickelung, Ela-
stizität und Sukkulenz der weichen Geburt^wege, so brauchen wir die
Entstehung einer schwereren Rißverletzung nicht zu fürchten, wenn
wir uns einigermaßen an die festgesetzten Maße halten. Ob wir dann
nach Doderlein oder Kroemer operieren, ist in solchem Falle
gleichgültig. Ist aber ein enger Beckenausgang vorhanden (allgemein
gleichmäßig verengtes oder allgemein verengtes plattes Becken mit
hohem und engem Schambogen) und entsprechend hypoplastische,
enge und wenig dehnbare Weichteile, dann heißt es entspannen, wo
man nur kann. Unter solchen Umständen muß man die Scheiden-
wand an der so sehr gefährdeten Sägestelle mobilisieren, also die
Kroemersche Schnittführung wählen, ev. einen entspannenden
Scheidendammschnitt hinzufügen. Es macht durchaus den Eindruck,
als ob wir dadurch schwereren Rißverletzungen (Scheide und Harnblase)
aus dem Wege gehen können, zumal wenn wir gleichzeitig den Rat
Pfannenstiels^) berücksichtigen, beim Herumhebeln des Kopfes um
die Symphyse nicht die Sägestelle als Hypomochlion zu benutzen,
sondern den Kopf mehr nach hinten und unter Belastung der nicht
operierten Seite herauszuleiten. Haben wir uns in einem Falle mit
gunstigen Beckenausgangs- und Weichteilverhältnissen, bei dem wir
also die Entstehung eines kommunizierenden Scheidenrisses nicht zu
gewärtigen haben, für die Hebosteotomie entschieden, obwohl ein
saprämischer Zustand besteht oder mit der entfernten Möglichkeit
einer Infektion zu rechnen ist, so empfiehlt sich dagegen sicherlich
mehr das Döderleinsche Verfahren gegenüber dem Kroemerschen,
weil bei der Döderleinschen Methode die untere dem Genitalkanal
1) J. Pfannenstiel, Monatsschr. f. Geb. u. Gyn. 1906, Bd. 24, S. 415.
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308 O. Hoehne. [20
näherliegende WundöflTnung die bei weitem kleinere ist, und das
Knochenwundgebiet deshalb vor einer ev. drohenden Infektioa
seitens der Geburtswege leichter bewahrt bleiben kann. — Alle et-
waigen komplizierenden Rißverletzungen, sei es der Scheide, sei es
der Harnblase, müssen soFort durch Naht exakt geschlossen werden.
Auch ohne daß sich eine Verletzung der Harnblase ereignet hat, wird
zweckmäßig in den ersten Tagen ein Dauerkatheter eingelegt, weil
man auf diese Weise imstande ist, bei der Harnentleerung den Urin
von dem Wundgebiet fernzuhalten und häufigere intensivere Bewegungen
des durchsägten Beckens fürs erste zu verhüten. — Einen Becken-
gurt haben wir nur in den ersten 10 Fällen angewandt, dann aber
fortgelassen, weil sich eine derartige Fixierung des Beckenringes als
unnötig erwiesen hat. — Die unter exakter Vereinigung der Ränder
vernähten Inzisionswunden bleiben am besten ohne Deckverband und
nur unter dem Schutze eines desinfizierenden und austrocknenden
Streupulvers (Dermatol). Unter einem Heftpflasterverband kommt gar
zu leicht eine sekundäre Infektion der Wunde zustande.
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^
\
Geburtsverli
Opcn^
das Klod:
Dauer-Resultat
21. Y. 07, über 4J. aU:
Gesundes, kräftiges
Sind. Rechts vor dem
Tub. par. kleine nar-
bige Stelle ohne Haare.
SOstttndiger
ext. ganz eA- Nach
rk gebeugte :AvoU ar-
n Beckeneinffai t «W«-
Symphysegeni sgefühl.
«. T. «6,8% P 18.
le Herztöne da
fiig. Trotz kr&f
l«keit kein G<
.ritt. Verget
Ige.
I
i
ca. lOstttndiger .
hentttigkeit Os >•' ^^^ yvn. 06, gut V« J. aU
Fruchtwasseijcrer Er- 1 glnd prAohtig ge-
Bereits
publiziert
reflossen. Kopl ^ »«*"«"
ir dem Beckeneii Degene-
:it8 abgewichen; er Beln-
Ungestlirte hI»* gam
Kindes. T. ae^Wb««»-
diehen, gesund.
Gravid.
llstttndiger krft
Utifckeitbeierwc Igemein-
tswegen Zopf it terleibs-
Igung extramedi Bhindert.
dem Beckeneingi
t der Symphyse
r verlaufend; 1
■: 1 8tunde3frtonti»en^ *"
el kindliche Hei »ervorra-
emd regelm&ßig i rapf^i^SJ
entlich an Preque «*»« ^®"
*tzt. T. 87,6' m'e'*®'*^^^
ila. 't»*®' ^*"
et post.
ienpartie
i und gut
Inguinal-
Aen ersten 10 Mona-
I kräftig, dann „eng-
the Krankheit*', hat
t im 8. Lebensjahre
fen gelernt.
itiger Fruchtwas^ •gji^
Jh mehr als öOstüi Staphy-^^^hen alt, Todesur-
*ft sehr wechselnde« riechen- , nicht bekannt.
«keit 0$ ext. 5% ^ »«^4
.3f bewegUch auf d k« e**'l
«ingang; 1. SteUuf "<**^ "'
^Dfgeschwulst. Abi ^^ ^
hliehem Mekonium f^cizur
«imäßige Herztätig
.des. Keine Tend
)hung. Puls etwas n
. Kreißende fühlt i
d und erschöpft, i
Hohhoeg Z. f.
Gyn. 1905,
Kr. 42, S.1281.
Döderleins Kon-
greßtabellen
V. d. D. Ges.
f. Gyn. XII,
8. lie, Nr.l7.
Hohhoeg 1. c.
Döderleins Kon-
greßtabellen 1.
c. 8. 180. Nr.
67.
Hohhoeg 1. c.
Döderleins Kon-
greßtabelle 1.
c. 8. 180, Nr.
68.
Tab. I.
lodlkationsstellang :
Hohlweg 1. c.
Döderleins Kon-
greßtabelle
1. c. 8. 188,
Nr. 50.
Starkes Mißverhältnis
zwischen Kopf und
Beckeneingang.
Wegen der starken Ver-
kürzung der C. Vera
6 W. ahte terminum
auf die Einleitung der
künstlichen Frflhge-
burt verzichtet und
Hebosteotomie bei
rechtzeitiger Geburt
beschlossen.
Fötale Indikation zur
Geburtsbeendignng.
Starkes Mißverhältnis
zwischen dem ungün-
stig eingestellten Kopf
und Beckeneingang.
Leichter Temperatur-
anstieg intra partum.
Fötale und mütterliche
Indikation zurGeburts-
beendigung. Wegen
des dringenden Ver-
langens der „alten
Erstgebärenden" nach
einem lebenden Kinde
im Int-eresse des Kin-
des Hebosteotomie
nach pilatation mit
Bossi.
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Tab. IL
Resultat fUr das Kind:
Prlmires Daner-Reaaltat
I anasetngener Kna-
' schreit bald p. pari,
i/s cm, 8680 g.
Jim. bipar. 9,6, Diam.
Vto-occip. 11,6,
i. mento-occip.
Kopfumfang
!csm. Bei der Ent-
l^suiig Kind gesund
H gut gediehen.
iirj
' ausgetragener Kn.,
^^Jht asphyktlsch,
^.^ell wiederbelebt:
gl icm, 8210 g. Diam.
^ ^ar. 9,1, Diam. fron-
pecip. 11,1, Diam.
'^nto-occlp. 18,6.
^jj^umfang 86 cm.
^Ig^ochen sehr fest.
t 8 Monate alt, Todesur-
sache nicht bekannt.
irei
y Ende des 2. Wochenbettstages an düfuser
duraler Blutung. Sektümibefund: Ausgedehnte
ktung der HimoberflAche und der SchAdel-
ils. Frisches Gerinnsel und flttssiges Blut; im
m selbst keine Blutung.
^{gj ausgetrag. Knabe.
j.|. Jchte Asphyxie,
jQ^elle Wiederbeleb.:
^Qgjom 8830 g. Diam.
^rj^Mt. 9,7, Diam. fron-
j^gpccip. 11,7, Diam.
iljo^ito-occip. 18,2.
^f^fumfang 86,7 cm.
üfochen alt gesund
jlassen.
11
y. 07, llMonaUaU:
Kind gesund, gut ent-
wickelt.
11.08, «l>0ri Vi J. oft:
Gewicht annähernd
26 Pf. Kind gesund,
lauft gut.
Bereits
publiziert
C. StOomon Diss.
inaug. Kiel
1907.
C. Salomon 1. c.
C. Solmnon 1. c.
Indikationsstellung :
6 Wochen ante terminum
auf die Einleitung der
künstlichen Frühge-
burt verzichtet wegen
der durch direkte Mes-
sung gefundenen star-
ken Verkürsung der
C. Vera, und Hebosteo-
tomle bei ausgetrage-
nem Kinde beschlos-
sen.
FOtAle Indikation zur Ge-
burtsbeendigung. Im
Interesse des in un-
koiTigierbarer Hinter-
scheitelbeineinstellung
eingestellten Kindes
Hebosteotomie nach
vergeblichem Zangen-
versuch seitens des
behandelnden Arztes.
6 Wochen ante terminum
auf die Einleitung der
künstlichen Frühge-
burt verzichtet, weil
eine Spontangeburt
bei ausgetragenem
Kinde für mOglich
gehalten wird. Bei
eventuellem MiBver-
hAltnis Hebosteotomie
in SrwSgung gezogen.
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I
t
I
i
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Goa|le
4
Tab. III.
Resultat für das Kind:
Bereits
1
Indikatlonsstf llung :
Prim&res Dsner-Resnltat
publiziert
^d auBgetragenee Mftd-
29.y.07, »/«J.aftiKlnd
C. SalomoH 1. c.
Kopf gut eingC8tellt,dann
»
phen, schreit sofort
gesund, tehr iftU nU-
fötale Indikation zur
1
^aüt: 55 cm, 4490 g.
VfiekiU» wiegt 18 Pf.
Beendigung der Ge-
H>iam.bipar.9,6,Diam.
•
burt. Da das Kind
[jitemp. 8,7, Diam.
recht groß, die Mutter
1
'tronto-occip. 12,2,
dringend ein lebendes
1
biam. mento-occip.
Kind wünscht, nicht
^t 3, 0. Kopf umfeng
allein innere Wendung
^6 cm. Nach 4 Wochen
und Extraktion, son-
dern vorher Hebosteo-
Yohlbefinden, trinkt
tomie.
JTUt.
1
i
p!nd schwächlich, aiuge-
29.Vn.07, rMoiMrt«aft:
C. Salomon 1. c.
MütterUche Indikation
^tragenes M&dchen;
Qut mUwidteU, wiegt
zur Geburtsbeendi-
^%icht asphyktiBch,
ca. 14 Pf., sieht mun-
gung. Wendung kam
^Wlireit aber erst nach
ter aus.
* 80 Min. (Morphium- n.
Kontraktionsringes
1 Narkosewirkung).
nicht mehr in Frage,
^^0 cm, 2816 g. Diam.
daher Zange nach Heb-
''bipar. 8,5, Diam. fron-
oeteotomie.
l^o-occip. 11,1, Diam.
%iento-occip. 18 V«.
/lEopfumfang 82V« cm.
%opf gut konfigurabel
<^d atark konfiguriert..
N^ach 4 W. entlassen,
mdßia entwiekeU, elen-
des Aussehen. Trinkt
gut.
^!nd auageteagenes M&d-
6.1.08, r^/tMonaUaU:
Ä Wert^ Verh.
Am Tage vor dem Part.
^en. Leichte Aiphyzie,
gut mOwiektä und ganx
d. D. G. f.
ausgiebige Narkosen-
•VüineUe Wiederbeleb.
gesund. Die Impres-
Gyn. XII,
untersuchung seitens
<\}roße. 1 cm tiefe löf-
sion am Kopfe soll sieh
8. 848.
mehrerer Untersucher.
Mtelförmige Impression
ganx abgeflacht haben.
Überraschender Nabel-
^es rechten (hinteren)
schnurvorfall bis vor
'Scheitelbeines. 52 cm,
die Vulva wAhrend der
%280g. Diam. bipar.:
Lagerung auf das Kreifi-
8,2 Tiefe der Impr.,
bett. Deshalb Verzicht
8,7 ^Band der Impr.
auf die ursprünglich
I
piam. fronto-oocip.
geplante Sectio caesa-
11,2. Kopfumfang
rea aus relativer Indi-
;^8VsCm. Sch&delkno-
chen weich, elastisch.
such des Kindes durch
1 Nach 4 W. entlassen.
Hebosteotomie.
Bion flacher.
Ind ausgetragenes M&d-
8. I. 08» 7 MonaU aU:
Wegen der starken Ver-
, chen, kommt apnoisch
gut gediehen, gesund.
kürzung der C. Vera
i^zur Welt, schreit bald
Die Druckmarke am
die Einleitung der
llJauf Hantreize. Stark
Kopfe nicht mehr zu
künstlichen Frühge-
^konfigurierter Kopf,
sehen.
burt abgelehnt und die
g^das abgeflachte hin-
P'tere Scheitelbein mit
Hebosteotomie in Aus-
sicht genommen.
; markstückgroßer
Druckmarke vom Pro-
montorium. 52 cm.
3050 g. Diam. bipar.
8,8; entsprechend der
Druckmarke 8,8, Diam.
fronto-ocdp. 11,7.
Kopfumtang 84 cm.
r
Nach fast 8 Wochen
Digitized by v
; pvt entwiekeU und ge-
1
pund entlassen. >
Google —
\
■fc
Digitized by
Google
t=^
0 Resolttt für das Kind:
Primlres Dtner-Resulttt
Bereite
publiziert
Tab. IV.
Indlkatlonsstellttng :
[Il^d mit gutem Herz-
(fchlag geboren, atmet
linbald und schreit nach
^0 Min. kr&ftig. Kopf
uifttark nach dem Hin-
teitertiaupt auBgeiogen.
ckiric/« Zttng«ndruek9pur
n ttul der linlcen Wange,
io^ Auagetragenes H&d-
Wthen: 48 cm; 8450 g.
ll^igpiam.blpar. 9,5, Diam.
|(sa(ronto-occip. 12,1,
; »u^iam. mento-occip.
^ kei8,6. Kopf umfang
^ei^^/t cm. Nach an-
) B ^Ahemd 4 Wochen ^e-
p^ffd und gut «niwiekeU
,z|ntlas8en.
' 4
ti
an
c^d ausgetrag. Knabe.
eliCichte Asphyxie,
cUchneUe Wiederbeleb.
]i44 cm, 8880 g. Diam.
s;|ipar. 9,0, Diam. fron-
x1|D-oceip. 12,5, Diam.
tiento-occip. 12,8.
topfnmfkng 85 Vi cm.
rird am 7. Woehen-
tttttage Iran nach der
tahningsaufnahme
H im Bett gefunden,
"orher keine Unruhe,
ein Fieber. SßHtant-
ff und'. Kleine pneu-
monische Infiltrate
i^ipiraüim^pneumo-
ie). Kein Hinweis auf
lues: Leber, Lunge u.
tabelschnur frei von
^iroch&ten.
11. I. 08, ca. S MonaU
aU: Wohi^enäkrt und
munter. Oewichtl2Vt
Pf.
Mfltterliche Indikation
rar Oeburtsbeendl-
gung. Nach vergebli-
chem hohen Forceps
Versuch, der 6 J. in
steriler Ehe lebenden
»alten Erstgeb&ren-
den« durch Hebosteo-
tomie noch ein leben-
des Kind zu verschaf-
fen.
Bereits 8 Wochen ante
termlnum Hebosteo-
tomiebesohloasen. Ein-
leitung der künstlichen
Frühgeburt abgelehnt
mit Bttcksicht auf die
starke Verkflnung der
G. ven und auf den
dringenden Wunsch
der Gravida» ein Kind
mit möglichst grofien
Lebenschancen m be-
kommen.
ausgetragenes Mid-
!^en, nicht asphyk-
I, schreit bald krif-
51 cm, 8470 g.
iam. bipar.9,8» Diam.
temp. 8,8, Diam.
i onto-occip. 11,5,
mento-occip.
!,4. Kopf umfinge:
oOer 80 cm, kleiner
cm. Sehr harte
opfknochen. Nach
Wochen gemnd und
i etUwiekeU (4480 g)
tlassen.
Gut 0 Wochen ante ter-
mlnum Heboeteotoinie
beschlossen. Einlei-
tung der künstlichen
Frühgeburt abgelehnt
wegen der erheblichen
Verminderung d. Bek-
kenmaße'in gerader u.
querer Richtung, so
dafi trots noch relati-
ver Kleinheit des Und-
Hehen Kopfes der Er-
folg für das Kind bei
frühieltlger Entbin-
dung SU unsicher ist.
Zu der mütterlichen
Indikation kam noch
eine fötale durch den
Nabelschnurvorf^, der
SU einer früheren Aus-
führung der Operation ^jOOQIC
und SU künstlicher O
Erweiterung des Os
ext. rtffnMÄf»»«»»''«»«»-
Digitized by
Google
\ leb
ResuLraE Vnr das Klnd:
- 1/^
■ri
ch*?D. grazil, leicht«
Asphyxie; krft/tJgM
ächrd^n nach ca. 10
mn. &0 cm. ISöO g.
I>fjim^bipar.8,&r I^Ibai.
biteinr. 7.^ Dlam^
fronto-occip* 11,5,
Diam. mentü-occlp.
ja» 4. KopfamfaDg
34,9 em- Fraktur des
Haken OberBchenkel«
im oberen Drittül In-
folge Abgleltcna des
Fing«'?* beim Hflrpb-
liehen der linkfsn Hüft-
t> euj^e . X ach f a Jit 6 W ►
gfMtttd lind in {fnUm
ErnähruHfftzuttttndt
entlassspR. überwheQ-
kelfraktiu ohne we-
sentUt^he VerküriiiDiE
imd ohnn DJalokatlon
aeheilt (E5ntgctio*
gmnmK
^^^^Ind sehr groß nnd kiftf-
tig, Enabe. RegeltnIQi-
ger HerzHChlog, hold
laut«* Sehrelen. 63cnj,
4330 g; Diam. bipar.
»,5, Dlam.bitemp- ö.O,
Blaro. tronto-occip.
12, 2. PlüiKi. mento-
occlp. 14,1. Eopfum-
ninge: klelnef 38 cm»
^oJJef saVs cm. Sehr
sttuFk aiiflgecDgener
Kopf, tiefe löffeifdr-
«iiflc Imprettisn de*
Unken ätlrnbctna. ^aa-
fffftMtum am r^fcAfiffi
Jr#{r0. tiefe tfOiUtwunde
am latcTdlen Lidwln-
kel und an der Kon-
Jtinktiya des unt^rpn
Lides. Kaeh norma-
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ei
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WcilUe mait In dteum
yallfl noch ein teben*
des Kind erzielen, wo
doch schon Komprei^
sionwni^hefnungea dedf
Nabelschnur leiten« d*
Kopfes vorhanden wa*
ren, so konnte dies nur
geschehen durch Wen-
dung und Extraktion,
nachdem alle Hll^ver-
h*Jtnls«j *wi&t^hen Go-
biirtiiobjekt nnd t3e>
burtfiweg^'n beseitigt
waren (UeboAteotomle,
Hysterotomta ant. et
pont., Scheidendamm-
fnsiielon), EepoAltJon
der >'ahei«chiiur und
Abwarten der Spon-
tangeburt in Kupflaifti veraprach bei den Kompresaionacrschei-
nungen der ^'abelschnur keinen Erfolg. Die Wendnng niK-h
altefnjger Hysterotomie wu- ansalchtslofi, da es sich am ein all-
ffeman rwrinfflfit plattes Beeltn handelte. So tdit^ nur di$ Korn*
binaiifm von Hilf*ititctcmie mü rvigiRo/fm Kai9fr*thtiÜt Dbng.
Infolge der Gr60e des
£ind(ä (sehr Broe«r n.
kräftiger XMa) Mlü-
verbftitaia iwlschon
Kopf und dem nnr
mtOlg Yereitgten X^ek-
keut so daB troi£ ener-
(jiM^hec Wehen kein
Gcburtsfortechrltt.
Uiir die HebOÄteoto-
mie konnte dM Mifl-
verhiltnis beselttgKn.
Tab. V.
IndikaiJons^ieUung:
'11
lern WochenbettÄVcrlauJ gt^und eittlaa^n. Wiegt
[ fl Wochen alt 4«Sö g, ScbftdeUmpre»«ion &tJi<
, gegUcheu. Znngenlialon mit kaum «Ichtbarei
I ^'wbe geheilt.
■r i
, ,j^plnd Bchr groü^cr und
kräftiger Knabe, Kopl
fest, wenig konfigura-
beL OaJiE leicbte
Asphyxie. ImÜcI reget-
müOige Atmung. Säcoii
3970 g. Diam. hlpar,
e.ö, Diam. bitemp. 8,9,
Diam. fionto-occip.
llj, Diam. roento-
oceip. 13.&. Kopf um-
finge:' kleine 34 cm.
großer 37 cm. S&ch
14 Tagen fff*und ent-
Uüeen. Normale» Wo-
chenbett. Entla^ungs^
gewicht tSSOg.
nui4
1
I i
im
, ^
Innere Wendung vor
Ausfahrung der Heb-
Osteotomie erwogen,
aber wegen an großer
Gefahrdüng der Mut-
ter {Kopf »batjlnt fest
auf dem Deekefiein-
gang^ heirinnende €er-
Tlxdehnung) unterlas-
sen. Da dos Kind sehr
groD, der Kopf fest,
vor Anl cgu ng der Zange
Spaltung des Beckens.
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>.18
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Tab. VI.
Resttlut f&r das Kind:
PrimSres Dauer-Resultat
lusgetragenes, mit-
rofies M&dchen.
f mittelgrofi, mft-
lart. Keine Asphy-
bald kräftiges
'cien. 50 cm,
) g. Diam. bipar.
Diam. bitemp. 8,6,
m. fronto-occip.
, Biam. mento-
p. 12,4. Kopfam-
;e: kleiner 3S,6 cm,
ler 86 cm. 12 Tage
fftsiind enUassen.
angsgewicht 8660g
anseheinend ans-
agen, aber klein,
leben. Keine
hyxie, bald regei-
lige Atmnng und
tiges Schreien,
m, 2200* g. Diam.
kT. 8,7, Diam. bi-
p. 7,6» Biam. fron-
ecip. 10,8, Diam.
ito-ooeip. 11,6,
m. Bttboocipito-
(m. 8,6. Kopfnm-
(e: kleiner 30 cm,
Ber 82,6 cm. 6 Wo-
EL alt: gnt gediehen,
nd. Gewicht 2820 g.
sehr groBer, kr&f-
a Knabe. Keine
»hyide. 66 cm,
0 g. Diam. bipar.
Diam. bitemp. 9,0,
m. fronto-occip.
Diam. mento-
Ip. 18,0, Diam. snb-
[p.-bregm. 9,6.
pfumf&nge: kleiner
cm, großer 37 cm.
Tage alt gesund ent-
len. Abgangsge-
Bereits
publiziert
Indikatlonssteilttog :
Mit KOcksicht auf die bei
der 1. Gebart notwen-
dig gewordene Perfo-
ration und auf die bei
der Untersuchung nicht
unbetrftchtlich erschei-
nende GröBe des Kin-
des, speziell des Kopfes
wird der inneren Wen-
dung die Hebosteo-
tomie vorausgeschickt.
Trots Metareuryse inner-
halb von 6 Stunden
kein Geburtsfortschritt.
Da bei der narbigen
BeschAffenhelt der
ganzen Cervlx und bei
der schwachen Wehen-
Utigkeit eine baldige
Geburtsbeendigung
ausgeschlossen ist, das
bestehende Fieber und
die Wasserleere des
Uterus zum Eingreifen
dr&ngen, wird die Kom-
bination von Heb-
Osteotomie u. Hyste-
rotomie beschlossen.
Wegen des guten All-
gemeinbefindens der
Kreißenden wurde das
Fieber nicht fOr ein
infektiöses gehalten.
Die tehUchU Auf-
tehlüfibarkeU det Bek-
kens und die ungewÖkH'
Uehe Rigidität der
Certix weisen darauf
hin, daß für dieten
FaU küf^Hg nur die
Sectio eaeearea aue
relativer Indikation in
Frage kommt.
Geburtsstillstand infolge
des MiBverhUtnisses
zwischen dem mäfiig
allgemein gleichm&Big
verengten Becken und
dem sehr groBen Kinde.
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499.
(Gynäkologie Nr. 184.)
Ober Sterilität.^)
Von
Privatdozent Dr. August Mayer^
Oberarzt der UniversitSts-Frattenklinik Tübingen.
Unter dem hier abzuliandelnden Thema verstehe ich die Unfähig-
keit des geschlechtsreifen Weibes zur Fortpflanzung trotz eines in
normaler Weise stattfindenden geschlechtlichen Umganges.
Bei der großen Wichtigkeit der Sterilität im Haushalte der Familie,
des Staates und der Nationen ist es nicht zu verwundern, daß schon
die ältesten Völker ihr Augenmerk auf die Tauglichkeit zur Fort-
pflanzung richteten.
In ihren Sitten und Gebräuchen finden wir eine ganze Reihe Ein-
richtungen, die offenbar diesem Zwecke dienten oder doch mindestens
ihn nebenbei verfolgten.
So zerstören nach Ploß die chinesischen Kinderwärterinnen den
neugeborenen Mädchen den Hymen durch Einfuhren des Fingers in
die Scheide. Die Exzision der Klitoris in Abessinien soll darin ihren
Grund haben, daß die abessinische Klitoris wegen ihrer Größe den
späteren Zeugungsakt hindern oder erschweren könnte. In dieser
Weise beschnittene Weiber hält man in der Tat in Ecuador zur
Kohabitation und Fortpflanzung für fähiger und geschickter.
Die Sitte, junge heranwachsende Mädchen für einige Zeit aus dem
Dorfe zu entfernen und sie über ihre kommende Bestimmung zu
unterrichten, der Brauch, die eingetretene erste Menstruation als
Zeichen der erlangten Fortpflanzungsfähigkeit festlich zu begehen, die
dabei vorgenommenen Manipulationen, wie Kneten der Brüste, Ein-
schieben von Gegenständen in die Vagina lassen ihren Zweck ohne
weiteres erkennen.
1) Nach einer am 12. Februar 1908 gehaltenen Probevorlesung.
KUn. Vortr&ge. N. F. Nr. 489. (Gynäkologie Nr. 184.) Sept. 190& 31
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400 A. Mayer, [2
Nach indischem Brauche ist es für einen Vater eine Schande,
eine mannbare Tochter noch ledig zu Hause zu haben. Und bei
anderen Völkerschaften mußte Ehelosigkeit begründet werden, Ledig-
sein galt als Vergehen oder Schande, während Heirat und Zeugung
prämiiert wurden.
Im Alten Testamente sah man die Fruchtbarkeit als eine besondere
Gnade des Himmels an. Die Verpflichtung der alten Juden, die
kinderlose Witwe des Bruders zu heiraten, diente doch nur der Fort-
pflanzung.
Bei den Griechen und Römern brachte die Niederkunft einer Frau
nicht nur persönliche und geseUschafttidie, sondern auch rechtliche
Vorteile.
Im altdeutschen Rechte war Unfruchtbarkeit ohne weiteres ein Grund
zur Ehescheidung und tu Japtn kann man heute noch zu einer sterilen
Gattin eine zweite hinzunehmen.
Es ist sonach nicht zu verwundern, daß schon die alten Ärzte, wie
Hippokrates, Plinius u. a. sich mit der Sterilität beschäftigt haben.
Aus dem Mittelalter sei nur an die Ansicht von Soranus aus seiner
Abhandlung über die Zeichen der mutmaßlichen Fruchtbarkeit er-
innert: Da die große Mehrzahl der Ehen nicht um der Wollust willen,
sondern der Erzielung von Nachkommenschaft wegen geschlossen wird»
so ist es ganz sonderbar, daß man dabei mehr auf ahnenreiche Ab-
stammung und Vermögen Gewicht legt, statt zu berücksichtigen, ob
die Frau zur Konzeption fähig und zum Gebären gut gebaut ist.
Neben diesen altruistischen Interessen spielt die Sterilität auch
für das Einzelwesen nicht selten eine bedeutende Rolle. Wenn wir
für unsere heutige Zeit der Ansicht des unverbesserlichen Weiber-
feindes Schopenhauer, wonach jedes Weib, das kinderlos stirbt, den
einzigen Zweck, zu dem es taugt, verfehlt hat, auch nicht generell zu-
stimmen können, so drückt sich doch in dem von Ellen Key gefor-
derten »Rechte auf die Mutterschaft"" ein starker Trieb aus, den zu
befriedigen das Weib ein Bedürfnis und Recht habe. Ihre Worte
»Liebe will Zukunft, nicht Augenblicke"^ verraten die Sehnsucht nach
dem Kinde, den Mutterschaftstrieb.
In seinem bekannten Buche »Also sprach Zarathustra^ sagt Nietzsche:
»Alles im Weib ist ein Rätsel und alles im Weib hat seine Lösung:
Sie heißt Schwangerschaft. Der Mann ist für das Weib ein Mittel,
der Zweck ist immer das Kind.*
Gewiß betrachten nicht wenige Frauen der Gegenwart nicht das
Kind als unmittelbaren Zweck der Liebe, aber das Weib, das die
Mutterschaft überhaupt nicht und nie wünscht, ist doch wohl eine
Ausnahme.
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3] Ober SterilftSt. 401
Zar Utttsirati^n dafür, wie hoch eiazetne bervorrageode Geister dk
Mtitterscbaft einscbätrteii, genüge der kiir2e Hinweis darauf, daß Napo-
leon L die Frau fiir die beste biett, die am meisten Kinder geboren
hat. Und Zobi bezeichnet In seinem Romane ^Ptcondit^*^ als modernes
S^önheltsideal ein Weib mH einem Kinde an der Brust und einem
sn den Knien. (Kiscb.)
Ebe wir selbst die Frage beantworten, ob von unserem heutigen
irrrticben Standpunkt aus die Zeugung um jeden Preis so hoch zu
bewerten sei, wollen wir erst die Ursachen der Sterilitit untersucben.
1» der Formulierung des Themas liegt es begrfindet, daß die Tom
•Manne ansehenden Veranlassungen der SterilitSt unerdnert bleiben.
Da aber erfahrungsgemäß in ca. Vs ^^^^^ sterilen Ehen die Schuld
allein an dem Manne liegt, so sei eigens hervorgelioben, daß in praxi
keine gegen Sterilitit gerichtete Therapie efi^eleitet werden soll, ehe
die Potentia coCundi und generandl des Mannes erwiesen ist Erstere
muB anamnesiisch feststehen und bezuglich der letzteren legen wir
bekannrtioh ein sehr groBes Gewicht auf die normale Beweglichkeit
der Samenfaden unter dem Mikroskope. Die Verläßlichkeit dieses
Krlterimns hat Torkel in den letzten Tagen angezweifelt. Er weist
auf die Versuche von Pick hin, wonach die Spermafozoen des Frosches,
die durch Frierenlassen unbeweglicb waren, nach dem AufTrieren wieder
beweglich werden können, ohne indes befruchtungsfahig zu sein.
Noch schwerer ist die Beurteilung 6tr Sterilititsursachen beim
W^e: Das Ei ist uns fiberhaupt nicht zugingUch. Die Betastung
der Generafionsorgane ist sehr schwer und bei der Bewertung unserer
Befunde fahren sub|ektfve Momente leicht zu einer Oberwertung: so
spielt z. B. in Marienbad die Fettleibigkeit eine große Rotte als Sterilltits-
Ursache, in Franzensbad die Gonorrhöe und bei einem renommierten
Operateur das Myom, weil sich hier jeweils Kranke bestimmter Kate-
gcirien ansammeln. Unter den pirfnischen Jfidinnen fand Fraenkel die
Gonorrhöe weit seltener als SterilitStsursache denn sonst, weil sie bei
der frfihen Heirat der jungen Leute üt>erhaupt seltener sei.
Sodann ist die Fertilität der Frau an gewisse änfiere Momente ge-
knüpft, die zwar zum großen Teil selbstverständlich sind, die aber
dennoch berficksichtigt werden mflssen, um nicht fälschlich von Steri-
lität zu sprechen: Die Dauer der Geschlechtsreife wihrt in unserer
Zone ca. vom 16 — 50 Jahre. Die Unfruchtbarkeit |enseits dieser Grenzen
bedarf als physiologische Erscheinung keiner weiteren Erörterung.
Bei anderen Völkerschaften ist es wieder anders. MQtter im Alter
von 10 Jahren sott es z. B. bei den Buschmännern geben. Das frühe
Erlöschen der KonzeptionsRhigkeit bei den Orientalen Ist bekannt.
Frifchtbarkeit im höheren Alter findet sich am ehesten Im nördlichen
31^
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402 A. Mayer, [4
Europa: Irland, England, Dänemark, Schweden. Doch sind Konzep-
tionen jenseits des 50. Jahres im ganzen nicht gar so selten. Ich
kenne selbst einen Fall von Niederkunft im 58. Jahre, 28 Jahre nach
der letzten Geburt und 10 Jahre nach Eintritt des Klimax.
Während wir gewöhnt sind, Fruchtbarkeit nur zu finden in den
zeitlichen Grenzen der Menstruation, weicht dieser Fall hiervon er-
heblich ab. Er bestätigt die Ausnahme und illustriert die Tatsache,
daß Menstruation und Ovulation nicht immer nebeneinander hergehen
müssen. Anhaltende Amenorrhoe V'erbürgt ja noch nicht absolute
Sterilität. Wir kennen Beobachtungen von mehrfachen Niederkiinfien,
ohne daO die betreffenden Mütter einmal in ihrem Leben menstruiert
hätten.
Auch innerhalb der Grenzen des geschlechtsreifen Alters dürfen
wir noch nicht von Sterilität reden, wenn nicht gleich der ersten
Kohabitation die Konzeption folgt, wie es beim Tiere die Regel ist
Das ist wichtig für die Definition der sterilen Ehe. Nur in etwa 15%
aller Fälle erfolgt die erste. Geburt 10 Monate nach der Heirat, in
6% läßt sie 3 und mehr Jahre auf sich warten. Nach 5 Jahren aber
konzipieren nur noch V40 aller Frauen. Daraus ergibt sich, wie falsch
es ist, nach einjähriger Ehe von Sterilität zu reden. Mit einiger Wahr-
scheinlichkeit können wir das erst nach 3 oder besser noch nach
5 Jahren tun.
Zur Erklärung der zeitlichen Differenz im Eintritt der ersten Kon-
zeption nach der Heirat hat man auf verschiedene Momente hinge-
wiesen. Ich will nur einiges erwähnen: Statistische Erhebungen über
die Geburtenzahl haben ergeben, daß einzelne Monate ganz besonders
fruchtbar waren. Man hat danach ein allgemeines zeitliches Konzep-
tionsoptimum im Frühling annehmen wollen und glaubte, daß zwar
einesteils die in diese Zeit fallenden Feste und Vereinsversammlungen
die Vereinigung der Geschlechter begünstigen, andererseits aber doch
auch mit der Wiederkehr des Frühlings, der Besserung der Erwerbs-
und Nahrungsverhältnisse eine Hebung der Lebens- und Reproduk-
tionskraft verknüpft sei. Ein für die einzelne Frau verschiedenes zeit-
liches Konzeptionsoptimum hatCohnstein konstruieren wollen, da ihm
aufgefallen war, daß Mütter von mehreren Kindern immer um dieselbe
Jahreszeit niederkamen.
Sodann hat man dem Alter, in dem die Ehe eingegangen wird,
einen Einfluß zugeschrieben. Von den jugendlichen Frauen, die zwischen
15 und 10 Jahren heiraten, gebären nur etwa 20% innerhalb der ersten
10 Monate nach der Ehe, während diese Zahl z. B. bei denen, die
mit 33 heiraten, sich verdoppelt. (Kisch.)
Dazu kommt noch, daß zuweilen mangelhafte Übung im sexuellen
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5] Ober Sterilität. 403
Verkehr unfreiwillig, oder die soziale - Stellung und die von ihr
abhängenden wirtschaftlichen Verhältnisse den Zeitpunkt der ersten
Geburt freiwillig hinausschieben«
Diese allgemeinen Gesichtspunkte dürfen nicht unerörtert bleiben,
wenn es sich darum handelt, den Ursachen der Sterilität im Einzel-
falle nachzuspüren. Das Hauptgewicht ist aber doch auf die somatische
Untersuchung des speziellen Individuums zu legen«
Wenn wir bedenken, daß zur Reproduktion des Einzelwesens in
der Hauptsache drei Bedingungen seitens des Weibes erforderlich sind:
1. die Bildung und der Austritt eines Eies aus dem Follikel,
2. die Wegsamkeit der von Sperma und Ei zu durchwandernden
Bahnen,
3. die Möglichkeit der Beherbergung und Bebrütung des befruch-
teten Eies,
so zerfallen die Sterilitätsursachen in natürlicher Weise in drei große
Gruppen:
L Anomalien der Keimbildung^
IL Anomalien 9 die zur Kontalctbehindernng zwischen
Sperma und Ovulum führen,
III. Anomalien der Nidation und BebrUtung,
Sind die die Sterilität verursachenden Momente angeboren, dann
reden wir von angeborener, sind sie erworben, von erworbener
Sterilität.
Primäre Sterilität liegt vor, wenn nach 5 jähriger Ehe überhaupt
keine Konzeption erfolgt; sekundäre Sterilität haben wir, wenn min-
destens 5 Jahre lang nach einer Konzeption, mag sie mit Abort oder
rechtzeitiger Niederkunft enden, eine erneute Befruchtung nicht mehr
erfolgt.
Als absolute Sterilität bezeichnen wir den Zustand, bei dem ein
Konzeptionshindernis vorliegt, das auf keine Weise zu beseitigen ist,
z. B« Defekt des Uterus. Relativ steril nennen wir dagegen z. B« einen
potenten Mann, der mit einem bestimmten, zeugungsfähigen Weibe
einen befruchtenden Beischlaf nicht auszuüben vermag.
Ich habe diese einzelnen Termini angeführt, weil sie in der Lite*
ratur sehr durcheinander geschmissen werden und dadurch viel Ver-
wirrung angerichtet wird.
Betrachten wir nun
die Anomalien der Keimbildung!
Sie lassen sich wieder in drei Gruppen zerlegen:
a) In einer ersten Gruppe finden wir pathologisch-anatomische Ver-
änderungen lokaler Natur (am Ovarium);
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4MM A. AAsyer, [«
b) in ejaer zweites Gruppe handelt es sich um pailKilof isoh-tiM-
tomisohe Verüiiderungea allgemeiiier Natur <aiii äbf ifea Körper);
c) in einer dritten Gruppe haben wir keia anatomiscbea Subatrat.
lOm lJn4er dea die KeiraMMang beeiiitraclitjgendeii tokalea Aibk-
tioiiea verdienen zunächsi
die EntwickluagaanomaUen des Ovariuaia
Erwähnung.
Bei gäozlichem Fehlen der Ovarien ist dieSierilitat ohne weüeres
selbstverständlich.
Es genügt aber auch sehon der Defekt oder die mangelhafte
Entwicklung der funktionierenden Substanz, des Follikelapparates.
Sei es nun, daß überhaupt keine Eier gebildet werden, oder dafi diese»
nur mangelhaft gereift, im Follikel abortiv zugrunde gehen oder wenig-
stens nicht befruchtungsfähig sind. Eine etwa eintretende Menstruation
beweist nichts. Wir sehen sie ja auch bei vielen heranreifenden
Mädchen der Zeugungsfaliigkelt lange vorausgehen.
Die Diagnose dieser Zustände ist nicht leicht und trotzdem sehr
verantwortungsvoll.
Auf den Defekt oder die rudimentäre Ausbildung der Ovarien
deuten zuweilen schon die mangelliaft entwickelten sekundären Ge-
schlechtscharaktere hin. Zeichen von Hypoplasie und Infantiüsmus
am übrigen Genitale oder am KSrper sind weitvoüe faidizieii. Wegen
ihrer häufigen Vergeseltechaftung mit diesen Prozessen kommt einer
etwa bestehenden Tuberkulose oder Chlorose große Bedeutung zu«
Handelt es slcH um einen Defekt, dann fehlt heim Tastbefand das
Ovarium. Aber ntir der geübte Untersucher, der sich zutrauen darf,
keinen Schlupfwinkel übersehen zu haben, Hi berechtigt, mit einiger
Wahrscheinliehkeit Defeki der KeimdrGse anranehmen, wenn er sie
nicht gefühlt hat.
Das mangdhaft ausgebildete Orarium fShh sich bei Fehlen des
Pollikdapparates klein und an seiner Oberfläche glatt an. In einem
ib«ormen Hochatand haben wir «delleicht noch eine RemmiSEenz in-
itentiler Vtrhütnisse.
Selbstverständlich Ist nur die Beteiligung beider Ovarien von Be-
deutung, ich betone das, weil nach einer alten Theorie des Parme-
nides tind Anaxagoras die Knaben aus dem einen nnd die Mädchen
aus dem anderen Eierstock stammen sollen«
Nächst den Entwicklungsanomalien kommt den
Tumoren
(angeborenen und enrorbenen) eine Bedeutung zu.
Ovariaitumerem
verdrängen entweder das lunkoionierende Gewebe geoe oder die letzten
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7] « Ober Sterilität 4O5.
FolHkel erttegen dem Drucke der gegen sie vordriogefideii GeschvuteL
Indes besonders bei gutartigen Tumoren genügen noeh die minimtlsien
Ovariaireste zum ZustandeluiauDen einer Konzeption, wie das Zu-
sammentreifen von Kolossaltvisioren und Gravidität beweist.
Am radikalsten räumen die doppelseitigen malignen Gesehwfilste
lalc der funktionierenden Substanz auf. Dazu vermindern sie durch
schwere konsdtutionelie Sehidigungen die Reproduktionskrafit in sich
erheblich, so daß Sterilität elntt-eteif kann, oinchon anatomisch noch
Follikelgewebe nachzuweisen ist
Atich den
Uterustumoren
aittfl man einen Einfluß auf die Keimbereitung zuerkennen« Die bei
Uiemsmyom häuig zu beobaehtende kleinzystische Degeneration der
Ovarien stellt eine schwere Schädigung des FoUikdapparafes dar tisd
die von Bulius besdiriebene Angiodystrophia ovarfl bedeutet auch
aach Pfaanenstiel eine so eingreifende Emihrungssiörnng des Eier*
Stockes, daß seine normale Funktion aufhört. Indes darf ich die An*
sicht Hofmeiers nicht unerwähnt lassen, wonach bei Myom die Eier-
stocktiStiglEBit and dnoüit auch die Konzeptionsmöglichkeit länger als
sonst waehgehalten wird. Die Häufigkeit der Sterilität bei Myom ist
seiner Meinung nach nur eine sdieinbare. Aber er blieb mit seiner
Auflbssung ziemlich vereinzelt.
Unter den die Keimbildung störenden lokalen AfFektioncn wären
eadlich noch
entzündliche Prozesse
zu nennen, die sich im Innern des Eierstockes oder an seiner Ober^
fläche abspielen.
Parenchymatöse Entzündungen können die Eibildung durch Zer-
siönmg des Follikdappnrstes aufhetzen, durch Schädigung desseliien
die Eireifung erheblich beeinträchtigen oder doch durch Erkrankung
des Eies seihst die Befiruchfungsiahigkeit herabsetzen^ z. B. durch Ver-
änderungen an der Eiperipherle, die den Samenfiden den Eintritt
^nmo^Bsb madieo.
Erkrankungen, die vom Stroms aus auf das Parenchym übergreifen,
können selbstverständlidi dieselben Folgen 4uben. Gehen sie mit
chronischer Induration und Verdickung einher, wie bei Stauungspro-
z^nen z. & nach achweren unkompensiertea Herzfehlem, dann kann
der Follikelapparat dem Drucke des wuchernden Bindegewebes ganz
erliegen oder die Follikel werden von ihm so umlagert, dnfi sie nicht
mehr nach der freien Oberflache hin platzen können»
Diesen letztea Effdtt haben auch alle jene entzfindlicheo Erkran-
kungen, die mit Adhäsions- und Schwartenbildung an der Eier-
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406 A. Mayer, ^ [8
Stocksoberfläche einhergehen, auch ohne daß sie zu krankhaften Ver-
änderungen Im Ovarium selbst führen«
Fär alle die genannten Erscheinungen kommt ätiologisch die ganze
Summe der akuten und chronischen Entzündungen resp. Eiterungen,
die sich im Eierstock gelegentlich als Perioophoritis, Oophoritis oder
Pyovarium etablieren, in Betracht: Puerperalfieber, Strepto- und Sta-
phylokokkeninfektion bei irgendwelchen anderen Gelegenheiten, meta*
statische Eiterungen nach Sepsis, Typhus u. dgl., Tuberkulose und
Gonorrhöe.
Eine der wichtigsten Rollen spielt in praxi gerade die Gonorrhöe,
Freilich weniger durch Zerstörung des Parenchyms, als vielmehr durch
Veränderungen an der Oberfläche, die das Platzen des Follikels hindern.
Des anderen durch sie bedingten Momentes, der Verlegung des Tuben-
lumens, habe ich im nächsten Abschnitt zu gedenken.
Alle diese Prozesse können ausheilen. Und wenn der Follikel*
apparat nicht gänzlich zerstört ist, kann auch diese Form von Sterilität
heilbar sein.
Anhangsweise sei der Traumen gedacht, die direkt oder durch
Blutung das Ovarium zerstören, ähnlich wie es bei der von PloO be-
richteten Sitte oder Unsitte, junge Mädchen durch Zusammendrucken
der Eierstöcke steril zu machen, geschieht
Ib. Ich komme nun zu den Affektionen allgemeiner Natur
am übrigen Körper^ welche die Keimbildung hemmen können.
Sie können vorübergehende oder dauernde Sterilität verursachen.
Ihr Einfluß ist zuweilen sekundär an den Generationsorganen (Atrophie,
Klimacterium praecox) nachzuweisen, in anderen Fällen fehlt jede Spur
hiervon. Darum ist die Art ihrer Bedeutung auch nicht immer Uar,
aber das Faktum derselben steht fest. Gemeinsam ist ihnen allen
eine Konsumption der Kraft des Organismus. Diese Rolle spielen
Im Körperhaushalt:
a) jede Sorte lang anhaltenden Fiebers (Typhus, Puerperalfieber usv«),
ß) schwere Blutkrankheiten (Anämie, Leukämie usw.),
7) Stoffwechsel- und Konstitutionsanomalien (Diabetes, Fettleibigkeit,
Chlorose usw.),
6) schwere Nerven- und Geisteskrankheiten (Basedow, Psy-
chosen usw.),
e) eine Reihe Gifte, unter denen Alkohol und Morphium eine große
Rolle spielen,
C) chronische Infektionen (Lues und Tuberkulose usw.).
Ich kann sie nicht alle einzeln erörtern. Nur die wichtigsten:
Tuberkulose, Chlorose, Fettleibigkeit und Alkoholismus seien
herausgegrifi^en.
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0] Ober Sterilität. 407
Die Bedeutung der Tuberkulose liegt jedenfalls in der genannten
schweren konstitutionellen Schädigung« Die Konsumption der Körper-
kraft bedeutet eine Konsumption der Reproduktionskraft.
Bezüglich der Chlorose nahm man früher an, daß es durch mangel-
hafte Kongestion zu den Genitalien nicht zur Eireifung und zum
Platzen des Follikels komme. Heute halten wir die Chlorose für
eine Entwicklungskrankheit, die mit der konstitutionellen Minder-
wertigkeit den Keim zur Sterilität in sich trägt.
Auf die Rolle der Fettleibigkeit wirft die Beobachtung am Tier
ein bedeutungsvolles Licht. Die Tierzüchter wissen, daß Mästung der
Fertilität schadet. Die gemästete Truthenne hört auf Eier zu legen.
Am Menschen ist aufgefallen, daß während sonst unter ca. 10 Ehen
1 sterile sich befindet, dies bei Fettleibigen schon unter 4 der Fall
ist. Das ist schon Hippokrates bekannt gewesen, der die geringe
Fertilität der Szythinnen auf ihre Adipositas zurückführt. Amenorrhoe
oder spärliche Menstruation bei fetten Frauen deuten oft auf eine
mangelhafte Funktion der Ovarien hin. Die Wirksamkeit zahlreicher
gegen Sterilität empfohlener Badekuren hat in der Beseitigung der
Fettleibigkeit ihren Grund.
Worin liegt nun der Einfluß derselben begründet?
Zunächst ist daran zu erinnern, daß es sich für manche Fälle gar
nicht um Anomalien der Keimbildung handelt, sondern nur um mecha-
nische Kohabitationsbehinderung, die dann zu dem in Rede stehenden
Kapitel nicht gehört.
Für die Mehrzahl der Fälle müssen wir indes mit P. Müller an-
nehmen, daß die Ablagerung von Nährmaterial in Form einer Fett-
anhäufung die Bildungsvorgänge im Ovarium hindert, aber ohne eine
Änderung der Eierstöcke selbst zu verursachen, so daß nach Schwund
des Fettes wieder Ovulation eintreten kann.
F. Fraenkel sucht den Grund in einer ausbleibenden Rückbildung
des Corpus luteum. Dadurch sistiere die Ovulation und ihr folge
die Fettleibigkeit. Er weist auf das Tier hin, wo mit Persistenz des
Corpus luteum Ovulation und Brunst aufhören. Das zeitliche Verhältnis
zwischen Ausbleiben der Ovulation und Eintritt der Fettleibigkeit ist
also umgedreht, eine Reihenfolge, die wir auch für die klimakterischen
Veränderungen als möglich zulassen müssen. Ohne die Frage weiter
zu diskutieren, kann man jedenfalls das sagen: das Ovarium ist ein
feines Reagens auf die Vorgänge im Körperhaushalt. Seine Nicht-
ftinktion zeigt an, daß im Körper ein Übermaß von Ernährungsstoffen
entweder abnormer Weise wie beim Diabetes oder physiologischer
^eise wie bei der Laktation oder durch Ansatz an unrichtigen Stellen
und in unrichtiger Form (Adipositas) verbraucht wird.
Klln. Voptrige, N. F. Nr. 499. (Gynäkologie Nr. 184.) Sept 1906. 3^
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408 A. Mmyer, [10
Ob der mangelhaften sexuellen Erregsamkeit Fettleibiger eine Be-
deutung zukommt, wäre erst zu entscheiden , wenn es sicher fest-
stünde, daß Fettleibige, wie Schopenhauer meint, weniger erregbar
sind und daß die Voluptas sexualis auf das Zustandekommen der
Befruchtung Einfluß hat« Ich komme auf diese Frage noch zurficL
Auf die Möglichkeit, daß Alkohol die Fertilität beeinträchtige, ist
man namentlich in England aufmerksam geworden, wo bekanntlich
konzentrierte Alkohole konsumiert werden. Indes fand eine franzö-
sische Arbeit dies nicht bestätigt. Erhebungen über 402 Pariser
Arbeiterfamilien ergaben, daß 81 Trinkerehen unter ihnen sogar frucht-
barer waren, als die anderen. Wenn indes der Alkoholismus zu
schweren körperlichen Schädigungen geführt hat, dann kann er nach
ziemlich allgemeiner Ansicht die Konzeption hindern und zwar wahr-
scheinlich durch Beeinträchtigung des Keimes. In anderen Fällen
sollen auch chronische Oophoritis oder die beim Alkoholismus zu-
weilen einsetzende Fettleibigkeit eine Rolle spielen.
Ic. Haben wir bisher immer noch für die Erklärung einer Un-
fruchtbarkeit einen somatischen Befund verantwortlich machen können,
so fehlt dieser in einer dritten Gruppe von Sterilität ohne soma-
tischen Befund gänzlich. Es bleibt uns dann nur übrig, unsere Un-
kenntnis durch Hypothesen und rein empirisch gewonnene Tatsachen
zu bedecken.
Zunächst eine Reihe äußerer Momente. Solche sind z. B. der
Einfluß von Klima und Jahreszeit. Sie sind bekanntlich für die
Fruchtbarkeit des Tieres von großer Wichtigkeit. Für den Menschen
haben sie wenig Bedeutung. Wichtiger ist dagegen der plötzliche
Wechsel der Lebensweise und des Klimas: so sollen die Europäerinnen
in den Tropen ihre Fertilität verlieren, wie auch gewisse sonst wild-
lebende Tiere in der Gefangenschaft sich nicht mehr fortpflanzen, sei
es daß sie sich überhaupt nicht mehr begatten, oder die Begattung
fruchtlos bleibt.
Auf die Begünstigung der Fertilität durch Ernährungs- und
Temperaturverhältnisse hat schon Darwin hingewiesen. Nur
ein Beispiel I Die wilde Ente legt im Jahre 5—10 Eier, während ihre
zahme Schwester es auf 80—100 bringen kann. Im warmen Tauben-
schlag finden sich zuweilen schon im Januar Eier, während dies sonst
erst im Frühling der Fall ist.
Zu diesen äußeren Momenten kommen nun noch einige in den
Einzelwesen begründete hinzu.
Von altersher hat man die Blutsverwandtschaft als Grund der
Sterilität angesehen. Darum verbot schon Moses die Ehe zwischen
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11] Ober Sterilität. 400
nahen Blutsverwandten. Unsere Beobachtungen am Tiere belehren
uns desgleichen.
Das Aussterben vornehmer Familien hat man auf die Inzucht
zuruckgefährt. So fand z. B. Goehlert in einigen europäischen Herr-
scherhäusern 32% sterile Ehen gegen sonst ca. JiO%. Zur Erklärung
dieser Erscheinung hat man die Vermutung einer verringerten Ovu-
lation ausgesprochen. Diese soll in nervösen Einflüssen infolge der
instinktiven Abneigung gegen den leiblichen Vetter ihren Grund haben.
Damit haben wir nun die Frage nach der Bedeutung der Kon-
stitution, des Temperamentes und der Geschlechtslust be-
rührt Sie ist schwer zu beantworten. Oft genug stehen uns nur ganz
individuelle Anschauungen zu Gebote.
Zunächst der erste Punkt, Konstitution und Temperament.
Während der Koran die Frauen mit brauner Haut für fruchtbarer
hält als die mit heller, liegt doch wohl unter der Voraussetzung, daß
Liebe am besten auf dem Boden sexueller Harmonie gedeiht, dem
bekannten: «ich liebe die schlanken, die blonden, die Mädchen mit
bleichem Gesicht' eine gegenteilige Auffassung über die sexuelle
Brauchbarkeit zugrunde. In dem oben erwähnten Rat des Soranus,
man solle bei der Wahl einer Frau auf ihre vermutliche Fruchtbarkeit
Rücksicht nehmen, ist die Anerkennung von somatischen Zeichen der
sexuellen Leistungsfähigkeit ausgedrückt: Ein lebhafter brünetter Mann
und eine sanfte Blondine sollen besonders gut zueinander passen.
Die Bedeutung der Geschlechtslust, des Orgasmus, für die
Ausstoßung eines Eierstockeies wird sehr verschieden beurteilt. Sicher
ist jedenfalls das: zum Zustandekommen einer Konzeption ist der
Orgasmus des Weibes nicht unbedingt nötig. Die Schwängerung nach
Notzucht, oder, wenn man diese wegen der im letzten Augenblick viel-
leicht doch noch eingetretenen sexuellen Erregung nicht für stich-
haltig hält, die Konzeption in tiefer Narkose oder anderen bewußt-
losen Zuständen beweisen dies.
Dieser Argumentation steht aber eine andere nicht schlecht ge-
stützte Ansicht gegenüber. Zur Illustration der Bedeutung einer ge-
schlechtlichen Erregung für den Ablauf physiologischer Vorgänge
überhaupt wies schon Schopenhauer darauf hin, daß die jungen
Städterinnen bei der Fülle der sexuellen An- und Aufregungen früher
menstruieren, als ihre Schwestern auf dem Lande. Ja Kisch erzählt
von einer Dame, die nach eigener Aussage willkürlich konzipieren
könne, je nachdem sie sich zu geschlechtlicher Erregung hinreißen
lasse oder nicht Und bei gewissen Völkern soll sich auf das ab-
sichtliche passive Verhalten sub coitu ein direktes System zur Kon-
zeptionshinderung aufgebaut haben.
32*
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410 A. Mayer, [12
Auch bei uns kann man, wie Kisch hervorhebt, zuweilen die
Beobachtung machen, daß die treulose Ehefrau von ihrem Ehemann
trotz Erfüllung aller sonstigen Bedingungen nicht empfangt, während
sie vom Buhlen, zu dem sie die Liebe im Herzen trägt, schwanger
wird. Sie liefert uns. das Beispiel einer auf Dispareunie begrGndeten
relativen Sterilität. Ein bekannter historischer Beleg ist Napoleon L,
der aus seiner Ehe mit Josefine keine Kinder hatte, obschon sie schon
Nachkommen besaO, während er mit Marie Luise einen Sohn zeugte.
Der Wert, den van Swieten der sexuellen Erregung für das
Zustandekommen einer Konzeption beimaß, ergibt sich deutlich dar-
aus, daß er, wegen Sterilität der Kaiserin Maria Theresia gefragt, den
Rat gab: mamillam esse titillandam.
Indes so interessant diese ganze Untersuchung ist, ich kann nicht
weiter auf sie eingehen. Ihre Bewertung fällt zusammen mit der
Frage des weiblichen Sexualempfindens überhaupt. Das ist das Ge-
heimnis des Weibes. Aber wenn wir vom Standpunkte des sittlich
ernsten Arztes ein wenig hineinleuchten, dann können wir keine un-
berufenen Eindringlinge sein. Nur einzelne Proben der divergenten
Anschauungen I Nach Hegar empfindet das Weib sexuell weniger
als der Mann. Lombroso meint, daß sich das Weib sehr gerne
vom Manne umwerben läßt, aber seinen Wünschen gibt es sich nur
wie ein Opfertier hin. Und Adler hat sogar ein eigenes Buch ge-
schrieben über die mangelhafte Geschlechtsempfindung des Weibes.
Nach anderen Anschauungen ist das Weib überhaupt lauter Ge-
schlecht, eine breite Geschlechtsfläche und muß es sein, weil seine
ganze Karriere von der Sexualität abhängt. Kisch ist der Ansicht,
daß der Sexualtrieb des Weibes als eine machtvolle, elementare Ge-^
walt die Begattung verlangt, auch wenn Furcht vor Konzeption be-
steht oder von Konzeption keine Rede mehr sein kann. In Irren-
anstalten, wo alle anerzogenen Hemmungen wegfallen, soll sich das
deutlich zeigen. Einer solchen Auffassung entstammen wohl auch die
Worte Diderots: »Das einzige, was die Frau von Grund aus gelernt
hat, ist: das Feigenblatt, das ihre Stammutter Eva ihr vererbte, mit
Anstand zu tragen.*
Auch die Frauen selbst beurteilen den Sexualtrieb ihrer Stammes-
schwestern verschieden. Rosa Mayreder z. B. unterscheidet ver-
schiedene Typen.
Sie sehen, meine Herren, wir befinden uns auf einem sehr un-
sicheren Gebiete. Ein Untersucher hat diese Unsicherheit mit den
geistreichen Worten gekennzeichnet: ,,Die Frau ist ein Komma, der
Mann ein Punkt. Hier weist du woran du bist, dort lies weiter.''
Zum Schlüsse dieses ganzen Abschnittes noch der kurze Hinweis
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13] Ober Sterilität 411
darauf, daß die KeimbÜdung zuweilen beeinträchtigt wird durcli Homo-
sexualität und gesctilechtiictie Oberanstrengung, wie die Sterilität von
Prostituierten, auch beim Fehlen anderer Sterilitätsursachen zeigt.
Endlich nimmt man, so paradox es auch klingen mag, eine gewisse
erbliche Disposition an, entweder so, daß es sich um eine ererbte
schwere Entwicklungsfähigkeit der Eier handelt, oder so, daß den
Spermatozoen der Eintritt in das Ei erschwert ist, analog den Beob-
achtungen von Schenk, der an verschiedenen Tiereiern sah, daß der
Eintritt der Samenfäden verschieden schwer ist.
Die in früherer Zeit gemachte Annahme, daß die Frauen, die mit
einem männlichen Zwilling zur Welt kamen, steril seien wegen mangel-
hafter Ausbildung des Genitalapparates, besteht jedenfalls in diesem
Sinne nicht zu Recht.
Anomalien, die zu einer Kontaktbehinderung zwisehen
Sperma und Ovulum fUhren.
Sie zerfallen in drei Gruppen:
a) Momente, welche die Deportation des Samens im Scheiden-
gewölbe erschweren oder ausschließen,
b) Momente, welche die Retention des an normaler Stelle abge-
setzten Samens beeinträchtigen,
c) Momente, welche die Wanderung der Spermatozoen nach oben
unmöglich machen«
Zu der ersten Gruppe gehören kurz gesagt alle jene Anomalien,
die rein mechanisch oder auch nur reflektorisch eine Immissio
penis hindern.
Die mechanisch wirksamen sind angeborene Defekte oder rudi-
mentäre Entwicklung der Scheide, Verengerung des Introitus durch
Tumoren, Entzündungen, narbige Schrumpfungen, Totalprolapse usw.
Wenn gelegentlich auch die Ablagerung von Sperma am äußeren
Genitale für eine Konzeption genügen kann, so finden die Samenfäden
von hier aus doch nur ausnahmsweise den Weg nach oben, so daß
die Sterilität bei Erkrankungen der genannten Art gut verständlich ist.
Totalprolaps führt indes seltener zu Sterilität; denn es wird der
Vorfall bei der Kohabition reponiert oder, wenn dies nicht der Fall
ist, so kann unter Umständen das Sperma direkt in die Cervix uteri
ergossen werden.
Die reflektorisch ausgelösten Hindernisse der Kopulation werden
durch den Vaginismus dargestellt. Wir verstehen darunter eine
hochgradige Hyperästhesie des Introitus, so daß das Vordringen des
Penis einesteils wegen heftiger Schmerzen nicht mehr zugelassen wird,
anderenteils wegen krampfartiger Kontraktion des Constrictor cunni
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412 A. Mmyer, [I4
nicht möglich ist Ob dieser Erscheinung eine der vielen beschul-
digten anatomischen Veränderungen oder eine rein nervöse Ursache
(Abneigung gegen den Mann) zugrunde liegt, soll hier unerörtert bleiben.
Zum Verständnis der aufgestellten zweiten Gruppe (fehlende oder
mangelhafte Retention des Samens im Scheidengewölbe) weise ich zu-
nächst darauf hin, daO wir unter normalen Verhältnissen die Bildung
einer kleinen Samenlache im hinteren Scheidengewölbe, von der aus
die Aszension der Samenfäden stattfindet, annehmen. Dieser Mecha-
nismus kann gestört sein durch alle angeborenen oder erworbenen
Affektionen, bei denen das Scheidengewölbe fehlt oder räumlich redu-
ziert ist: Hypoplasie, Atrophie, entzündliche Veränderungen, Lage-
anomalien.
Mit dem Scheidengewölbe fehlt auch das Receptaculum seminis
und der Same fiieOt aus der Vagina ab, besonders wenn der Scheiden-
schluOapparat durch Erschlaffung und Defekte im Beckenboden und
Dammrisse Not gelitten hat, da nach Kisch gewöhnlich eine Kontrak-
tion des Constrictor cunni das Sperma eine Zeitlang unter einer ge-
wissen Spannung retiniert hält. Indes darf nicht unerwähnt bleiben,
daß nach anderer Ansicht gerade die Aktion des Konstriktor den
Samenabfluß befördert. So soll es Frauen geben, die durch willkür-
liche Kontraktion des Beckenbodens sich des Spermas im Strahl er-
ledigen, ehe Konzeption eintreten kann.
Ich komme nunmehr zu den Ursachen, welche die Wanderung
der Samenfäden nach oben erschweren. Sie zerfallen in mecha-
nische und chemische.
Unter den ersteren finden wir zunächst eine Kategorie, die den
Samenfäden den Zugang zum Wege, der in sich normal sein kaoo,
erschwert. Zum Verständnis wieder ein kurzer Hinweis auf die Phy-
siologie! Im Orgasmus soll der Uterus tiefer treten, sich der Glans
penis nähern oder es soll mindestens der in der Cervix steckende
Kristellersche Schleimpfropf in die Samenlache eintauchen, so daß an
ihm die Spermatozoen wie an einer Leiter emporsteigen. Wenn dem
so ist, dann fehlt mit dem ausbleibenden Orgasmus auch die be-
schriebene Leiter.
Eine ähnliche Erschwerung des Zuganges zum Uterus soll in der
Retroflexio liegen, weil die Portio in den Samensee nicht eintaucht
In einer zweiten Kategorie handelt es sich um Verlegung des
Pfades, auf dem die Wanderung nach oben stattfinden soll. Am
Collum uteri sind es neben, durch Narbenschrumpfung oder Tumoren
erworbenen Stenosen namentlich angeborene Verengerungen oder
Knickungen durch Lageanomalien, auf die Sims seinerzeit ein so großes
Gewicht legte. Wir sind heute geneigt, die Hauptursache der Sterilität
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15] Ober Sterilität 413
nicht in diesen meclianisclien Momenten zu suchen, sondern in
der, der abnormen Enge des Cervicalkanais oder der Lageanomalie
zugrunde liegenden Hypoplasie und konstitutionellen Minderwertigkeit.
Bei erworbenen Retroflexionen liegt die Schuld oft genug in den
gleichzeitig bestehenden entzündlichen Prozessen des Endo- oder Peri-
metriums, welch letztere die Lageanomalie veranlaßt haben können.
Im Cavum uteri kommen Verödung der Höhle durch Tumoren
oder medikamentöse Einwirkungen in Betracht. Bezüglich des letzten
Punktes sei an den Vorschlag von Pincus erinnert, die Vaporisation
des Cavum uteri zur Erzeugung von Sterilität auszuführen.
Der Tubenkanal kann eine Beeinträchtigung erfahren durch ange-
borene Schlängelung, durch Knickung infolge abnormer Verwachsungen
und Befestigungen und hauptsächlich durch entzündliche Verödungen
seines Lumens oder Verklebungen seines Fimbrienendes, wie wir sie
bei Tuberkulose, septischen Infektionen und Gonorrhöe oft finden.
Die Hauptrolle fällt in praxi der Gonorrhöe zu, auf deren ernste Be-
deutung zuerst Noeggerath in klassischer Weise hinwies. Wenn auch
die Angaben Doctors, daß über 80% aller Männer, und die Statistik von
Blaschko, wonach von den über 30 Jahre alten alle zweimal vor der Hei-
rat gonorrhoisch infiziert waren, die Wirklichkeit hinter sich läßt (Erb),
so illustriert sie doch die erschreckende Häufigkeit der Gonorrhoe
und ihre wichtige Rolle in der Ätiologie der Sterilität Sehr viele
Frauen empfangen zugleich mit dem Sperma die Gonokokken ihres
Mannes und werden steril oder die im ersten Wochenbett sich aus-
bildenden Pyosalpingen führen zur Einkindsterililät.
Anhangsweise sei hervorgehoben, daß man für die Wanderung
der Spermatozoen auch darin ein Hindernis erblickte, daß ein reich-
licher von oben kommender Sekretstrom sie herausschwemme oder
die Samenfäden durch ein besonders zähes Sekret sich nicht hindurch-
winden können.
Diesen Sekretanomalien kann auch noch ein chemischer Einfluß
auf die Beweglichkeit der Samenfäden anhaften. Es ist z. B. bekannt,
daß diese am besten gedeihen in dem alkalischen Cervixsekret, während
sie im sauren Sekret absterben (Katarrh). Solchen Änderungen der
Sekretreaktion liegt häufig ein bakterieller Prozeß zugrunde. Die
Bakterien können dabei das Endometrium so verändern, daß die
Spermatozoen untergehen oder vielleicht scheiden sie den Samen-
ßden gefahrliche Toxine aus. Wir wissen das noch nicht.
Anomalien der Nidation und Bebrütung des Eies.
Haben sich Ovulum und Sperma auch getroffen, so brauchen wir
fKr das Zustandekommen einer normalen Konzeption noch die Nidation
Wf dem Endometrium.
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414 A. Mayer, [16
Diese kann zunächst schon daran scheitern, daO das Tubenlumen
verlegt ist und das befruchtete Ei auf seiner Wanderung aufgehalten
wird. Ich verweise nur auf die ganze Ätiologie der Extrauterin-
gravidität.
Aber auch im Cavum uteri glücklich angekommen, hindern
lokale und allgemeine Erkrankungen die Implantation.
Unter den lokalen Affektionen nenne ich nur die angeborene
Unfähigkeit des Uterus, ein Ei zu beherbergen, wie sie so oft der
Hypoplasie eigen ist, ferner gut- und bösartige Tumoren, die bald
das Cavum uteri verlegen, bald die Schleimhaut gänzlich zerstören,
Lageanomalien, sämtliche entzündlichen, Erkrankungen des Endo-
metriums u. a. m. Hinsichtlich bakterieller Endometritiden sei für die
Gonokokken eigens darauf hingewiesen, daß nach mancher Ansicht eine
Eiimplantation auf einem gonorrhoischen Endometrium denkbar ist.
In anderen Fällen liegt die letzte Ursache in schweren konstitu-
tionellen Schäden, Stoff wechsel-Blutkrankheiten, Herz-Nierenleiden,
welche die Unfähigkeit der Eibebrütung bedingen. Solchen Momenten
kommt zuweilen eine um so größere Bedeutung zu, als es nach Ansicht
einzelner Autoren mit Ausnahme der Atresie für den Eintritt der
Spermatozoen ins Cavum uteri kein absolutes Hindernis gibt.
Sämtliche bis jetzt besprochenen Sterilitätsursachen werden wirk-
sam ohne unser Zutun, ja oft genug gegen unseren direkten Wunsch
und Willen. Von dieser unfreiwilligen Sterilität unterscheidet
sich die beabsichtigte, freiwillige, die wir kennen als fakultative
Sterilität und operative Sterllisierung.
Unter fakultativer Sterilität verstehen wir die absichtliche Hinde-
rung der Konzeption durch präventiven geschlechtlichen Verkehr. Den
bedeutenden Einfluß dieses Faktors illustriert eine Statistik von Korösi,
die sich auf die Fruchtbarkeit der Frauen zwischen 40 und 44 Jahren
erstreckt. Unter den Neuvermählten betrug sie ca. 20%, unter den
übrigen nur 5%. Da es sich um gleiches Alter handelt, kann die Ver-
minderung der Fertilität auf ^4 nur durch das Nichtwollen der langer
Verheirateten erklärt werden.
Die Idee, die Fortpflanzung zu modifizieren, ist alt, wie die Fest-
legung eines gesetzlichen Alters fär die Heirat, die Aus3etzung von
Kindern, Kindesmord, künstlicher Abort usw. zeigen. Zum ersten
Male trat gegen Ende des 18. und zu Anfang des 19. Jahrhunderts der
Engländer Thomas Robert Malthus öffentlich für sie ein. Er empfahl
Beschränkung der Fortpflanzung durch sexuelle Abstinenz und spate
Heirat, weil er für das Ausreichen der Nahrung fürchtete. Seine An-
schauungen fanden Beifall zunächst bei dem sog. Malthusschen Bund. Die
Malthussche Liga in England und der Sozialharmonische Verein in
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17] Ober Sterilitit. ^ 415
Deutschland empfahlen dann zu diesem Zwecke antikonzeptionelle
Mittel.
Aber trotzdem blieb diese ganze Lehre nicht unangefochten« Ich
nenne nur Liebig und Bebel, welche die Anschauung von der Unzu-
länglichkeit der Nahrung sehr in Frage zogen. «Die Menschen ver-
mehren, nicht sie vermindern , das ist der Rat, der im Namen der
Kultur an die Menschheit geht', ruft ein anderer Gegner des Malthus-
schen Systems. Roosevelt, der Präsident der Vereinigten Staaten,
sagt mit Bezug auf Konzeptionsverhinderung ^): Jene, welche sich ihrer
Verantwortlichkeit durch den Hang nach Unabhängigkeit, Bequemlich-
keit und Wohlleben entziehen, begehen ein Verbrechen gegen ihre
Rasse und sollten der Gegenstand der Verachtung und des Absehens
für ein gesundes Volk sein.
Doch wollen wir die gegenteilige Anschauung nicht minder gewich-
tiger Persönlichkeiten nicht ungehört lassen. Hegar empfiehlt die
Regulierung der Fortpflanzung, um die Qualität auf Kosten der Quan-
tität zu verbessern. Und der Hygieniker Grub er hält die Massen-
zeugung für nutzlos, weil ihr ein Massensterben entspricht Ja ein
Autor versteigt sich zu der Behauptung: „Die Zeit wird kommen, wo
jeder Patriot es als seine Pflicht ansehen wird, nicht im Krieg mög-
lichst viel Feinde zu töten, sondern im Frieden möglichst wenig
Kinder zu zeugen."^
Noch eine Reihe Momente individueller Natur, die sich auf Ge-
sundheit der Mütter und Kinder, wirtschaftliche Interessen u. a. be-
ziehen, sind von den sog. Neomalthusianisten beigebracht worden.
Ich kann auf sie nicht einzeln eingehen. Ihre hohe Bewertung in
Frankreich kommt zum Ausdrucke in dem bekannten: »Ah Tamour,
l'amour — c'est le plaisir d'un jour pour le regret d'neuf mois."
Ihnen wurden ebensoviele Bedenken ethischer, moralischer, recht-
licher Natur entgegengehalten.
Wir sehen Ansicht gegen Ansicht. Jede für sich gut gestützt. Wel-
cher soll der Arzt folgen, wo im eigenen Lager Fehde herrscht? So
stellt Forel die Forderung, man solle die Zeugung von der Befrie-
digung des Sexualtriebes trennen als allgemeinberechtigt auf, während
Saenger^) sagt: gut geschultes geburtshilfliches Personal wird mehr
zur Gesundung der Frauenwelt beitragen als die Humanitätsbestre-
bungen der Neomalthusianer . . . Woferne die Frau elend ist durch
Schädigungen im Wochenbett, so gilt es, diese zu beseitigen. Wofern
sie blaO ist infolge Mangels guter Nahrung, so ist es Aufgabe der
Gesellschaft, ihr zu helfen.
1) Zit. nach Kisch, 1. c. S. 420.
2) Zit. nach Kisch, I. c. S: 425.
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4t« A. Abiyer, [18
Wir iuben also keine Normen« Im eigenen InBcra mussea wir
die Entscheidung fär unser Handein suchen. »Wie würde ich fir
mich ia diesem Falle handeln?'', das ist die einzige rerllfliiche Ricbi-
schaur.
Daß es nicht Sache des Arztes sein kann, mit einem Rate rein die
Bequemlichkeit zn unterstOtzen, liegt in seinem Berufe begründet.
Daß er aber seinen Rat da nicht verweigert, wo die Mutterschaft
physische Gefahren bringt, ist eine Pflicht, die ihm eben wieder
sein Beruf auferlegt. Wenn es einem verkommenen Verbrecher von
der Straße erlaubt ist, in der Notwehr einen hochverdienten Mann zo
töten, dann muß es einer Frau erlaubt sein, durch Verhinderung der
Schwangerschaft ihr Leben zu retten.
Schwerer ist die Frage zu beantworten, ob auch soziale Rfick-
sichten den Arzt bestimmen sollen, antikonzeptionelle Mittel anzu-
raten« Kisch lehnt das rundweg ab. Es sei Sache der Nationalöko-
nomen, da zu helfen.
Wenn es sich nur um soziale Momente handelt, dann gehen
sie den Arzt als solchen nichts an; darin muß man Kisch beipflichten.
Aber wie oft sind Armut, schlechte Ernährung, mangelhafte Gesund-
heit, ausgehungerte, elende, widerstandslose Kinder zusammen ver-
gesellschaftet! Da berOhren sich die Indikationen des Arztes, des
Hygienikers, des Rassenhygienikers und des Nationalökonomen oft so
eng, daß man sie unmöglich trennen kann.
Ich kann auf die uns zu Gebote stehenden Mittel zur Erreichung
äer fakultativen Sterilität leider nicht mehr eingehen. Sie sind
zum Teil in den oben abgehandelten Sterilitatsursachen schon ge-
nannt und zerfallen in:
A. physiologische,
B. artifizieile.
Unter den physiologischen wäre zu nennen die gäozUche sexuelle
Abstinenz, wie sie Tolstoi in seiner Kreutzersonate predigt, die zeit*
wellige sexuelle Abstinenz nach Capellmann und Gohnstein, die auf
ein zeitliches Konzepiionsoptimum Rücksicht nimmt. Dieses besteht
nach Capelloiann vor und nach der Menstruation und nachCokn-
stein, wie erwfihnt, zu bestimmten, ffir jede Frau verschiedeaca
Jahreszeiten, die sich nach dem Mpoate der froheren Geburten be-
rechnen Jiassen. Allein das hat sich nicht bestätigt und das CapeU-
mannsche Verfahren ist zum mindesten unzuverlässig.
Die häufige Amenorrhoe und seltene Konzeption während der
Laktation ist bekannt. Man empfahl darum, die Männer sollen durch
Saugen an der Brust die Laktation wachhalten und so Sierilitäl känsdicb
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19] Ober Sterllkät. 417
henromifeii« ÄUeia a^ch dea amesteii Unierstichiuicco von Heil
kommt der Laktation nur etwa in 50% Ameftorrhöe ra und tatsächlich
imten vir trotz Laktttioo crneiice Koüztpüon aichi so seiften.
An die Bedeuciiiig der Nahrung und des Ofigasmtis des Weibes
habe ioh schofl eriaaert.
Die artifiziellen Mittel xerfattea in ttecbaaisciie, chemische
oad operatire.
Die ersten fibergebe idi ganz.
Die chemischen Mittel bestehen in medikamentösen SpHÜnngen*
Sie soUea entweder die Spermatozoea direkt alMoten oder physikalisdi
sie eliminieren durch Wegschwemmen.
An operativer SteriUaieruiic haben wir schon die Zerquetschung
der Ovarien kennen gelemt. Ob seiner ioUen Ungeheuerlichkeit er-
wähae ich den Vorsdilag Weiaholds« man solle dea jungen Mädchen
die Gealtalien bis zur Heirat durch eine metallische Verslegelnng ab-
tdiliefiea. Das erianert mü die bei gewissen Völkern fibliche Infiba-
Itdtm £«im Schutze der Keuschheit
Praktisch diskumbel sind der künstliche Abort, die Castratio
uterina darch Verschorfung des Endometriums nach Pinciis, die
K^astrattoti, gdegeadich die Uterusexstirpatioa unter Bdassnng
der Ovarien* Von der Castraiio uterina ist nicht viel zu isaltea; sie
ist uaEaverlassig nad gefährlich. Für die anderen Methoden l>edarf es
beaiaderer Indikacionea, die sich nach dea iSesonderhdien des Eineel-
Ules richten.
Das eigentliche Verfahren ist die Durchtrennung der
r«ben, die Tubensterilisatioo. Schon seit längerer Zeit beiunnt^
hat Kehrer sie besonders empföhlen. liire ladikatioassteiluag
stellt die größten Anforderungen an das ärzdiche Verantwortlichkeits-
bewußtsein. Man darf nicht vergessen: der Eingriff ist doch nicht
ganz ungefährlich; die Konzeptionsfähigkeit ist dauernd zerstört, die
vorhandenen Kinder können sterben und die Reue kommt zu spät
Namhafte Gynäkologen, wie Koßmann, lehnen sie daher ganz ab.
Kehrer selbst ließ sie nur zu nach gründlicher Belehrung der Ehe-
gatten, nach Beratung mit dem Hausarzte, nach schriftlicher Fesdegung
der Situation, wenn Schwangerschaft oder Geburt der Gesundheit der
Frau Schaden bringen.
Es gibt auch Operateure, die aus rein sozialen Momenten die
Tubensterilisation ausführen und die Genesung garantieren. Jedoch
die Möglichkeit, sich auch anders zu helfen, die eventuelle Gefahr
der Operation, um deretwillen sie zum Teil nicht gewünscht, zum
Teil vom Arzt abgelehnt wird, machen die Tubensterilisation aus
Gründen sozialer Natur zu einer seltenen Operation. Garantien aber»
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418 A. Mayer. [20
Wie die genannten^ halte ich für falsch und unerlaubt. Man kann in
der Medizin nichts garantieren.
Sie sind geeignet, ein leichtsinniges Verlangen nach der Operation
wachzurufen und bringen dann den Arzt nur in Verlegenheit, da er
ein solch unbegründetes, leichtsinniges Trachten nach künstlicher
Sterilisierung ablehnen muO; denn selbstverständlich muß sich das
ärztliche Gewissen gegen den Mißbrauch der Tubensterilisiening
kehren. Dies wird freilich nicht allzuoft der Fall sein, da einesteils
der'^EntschluO, sich operieren zu lassen, anderenteils das Bewußtsein
der dauernden Unfruchtbarkeit den Wunsch nach der Operation nur
selten aufkommen lassen.
Aus diesem Grunde wird es daher kaum dahin kommen, daß der
Staat an der Tubensterilisation Interesse hat, ähnlich wie an der absicht-
lichen Verstümmelung zum Zwecke der Militärdienstuntauglichkeit
M. H. Wir haben eine Summe Momente kennen gelernt, die Steri-
lität verursachen, die gleichzeitig zum großen Teil eine Konzeption
für Mutter, Kind, Familie und Staat auch gar nicht wünschenswert
erscheinen lassen. Angesichts ihrer wird oft die Sterilität als ein
Glück zu betrachten sein und sich manchesmal der Wunsch r^en,
daß die Heirat nicht die einzige Karriere des Mädchens wäre, ohne
die sie sonst brotlos ist. Wir haben soeben ein Gebiet verlassen, das
an den sitdichen Ernst des Arztes und an seine Kunst, zu individuali-
sieren die größten Anforderungen stellt. Feste Normen gibt es niciit
Die einzige Richtschnur für sein Handeln trägt der Arzt in
seiner eignen Brust. Und da zeigt sich dann so recht das Homersclie
„{Y|Tpo; Yotp eivYjp TcoXXtiv äv TaSto? aX>v(i)v** und das Billrothsche Wort:
i,nur ein guter Mensch kann ein guter Arzt sein"^.
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500/01 •
(Innere Medizin Nr. 147/48.)
Ober kardiopulmonale Geräusche.')
Von
Prof» Hermann Müller^
Zurieb.
Errando discimus. — Die eigenen Fehler und die Fehler anderer
sind in der Kunst der Diagnostik unsere besten Lehrmeister. Es
sind jetzt 16 Jahre her, daß ich zum erstenmal so recht eindringlich
auf eine Art von Herzgeräuschen aufmerksam wurde, welche schon
unzählige Male Anlaß zu Fehldiagnosen gegeben hat und tagtäglich
noch gibt.
Im Mai 1890 kam in meine Behandlung der 14jährige Jungling Albert B., Höscb-
gasse 45 Zürich V. Sohn eines Ktifermeisters. Der Jüngling hatte in der Primarschule
Masern und Scharlach durchgemacht und war in den letzten Jahren sehr viel
leidend; er var streng gewachsen, hatte hSuflg Nasenbluten und wurde von ver-
schiedenen Ärzten behandelt. Im Winter 1889/90 hatte er sehr viel die Schule
▼ersftumty wollte nie arbeiten. — Bei meinem ersten Besuche am 3. V. 1890 war
Pat bettlägerig, klagte über große Müdigkeit, über häufiges Herzklopfen und zeit-
weise Atemnot. Die Untersuchung ergab normale Gesichtsfarbe, gute Ernährung,
keine Anämie. Die Herzdämpfung schien etwas vergrößert zu sein, die
Unke Grenze war wenig außerhalb von der Mammillarlinie und die rechte ganz
venig außerhalb vom rechten Sternalrand, An der Herzspitze hörte ich ein lautes
blasendes, systolisches Geräusch und der 2. Ton an der Hörstelle der
Pnlmonalls war sehr deutlich akzentuiert.
Die Unterstichung der übrigen Organe ergab normalen Befund. Vom 3. bis
19. Mai besuchte ich den Pat. im ganzen 7 mal, untersuchte jedesmal das Herz und
hörte ein allerdings nicht immer gleichlautes systolisches Geräusch an der Mitra-
lis. Ich erklärte der Mutter, daß ich ein Geräusch am Herzen höre und annehmen
müsse, daß eine Herzklappe nicht vollkommen schließe, und daß der leichte Herz-
fehler wahrscheinlich auf den überstandenen Scharlach zurückzuführen sei. — Die
1) Nach einem Vortrage, gehalten an der LXXI. Versammlung des ärztlichen
Zentralvereins in Ölten 27. Okt. 1906 und in der Gesellschaft der Ärzte von Zürich
23. Febr. 1907,
Klln. Vortrigc, N. F. 500/01. (Innere Medizin Nr. I47/4a) Sept. 1908. 22
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310 Hermann Müller^ [2
Mutter kann beute noch erzählen, daß sie damals selbst das Obr auf die ent-
blößte Brust gelegt und ein „rauscbendes'* GerSusch wahrgenommen habe. Am
19. V. wurde Pat. von mir entlassen und ich sah ihn seither nie wieder. — Ich
hatte gar keinen Grund an der Richtigkeit meiner Diagnose, „ leichte Insuffi-
zienz der Mitralis'', zu zweifeln, denn ich hatte mehrere Male sehr sorgfiltig
untersucht und es schien alles zu stimmen. Da erfuhr ich einige Wochen später,
daß der Jungling von seiner Mutter noch zwei andern Ärzten zugeführt wurde and
daß beide keinen Klappenfehler konstatieren konnten; der eine derselben hat mir
das im 2. Akte einer ärztlichen Gesellschaft mitgeteilt. Pat. ist seit einigen Jahren
in Amerika verheiratet und befindet sich vollkommen wohl. Vom Vater habe ich
noch vor kurzer Zeit vernommen, daß anno 1890 vor mir 4 Ärzte seinen Sohn be-
handelt hatten und daß zwei derselben — sehr bekannte Zürcher Ärzte — eben-
falls einen Herzfehler konstatiert und eine kurze Lebensdauer vor-
ausgesagt hatten.
Der Fall hat mich zum genauem Studium des unerklärlichen Herz-
geräusches ^ das ich so sicher hörte und nicht als ein akzidentelles,
anämisches Blasen taxieren konnte^ und das zwei andere zuverlässige
Beobachter nach mir nicht mehr hörten, angeregt. In den folgenden
Jahren sind mir nun eine ganze Anzahl ähnlicher Fälle vorgekommen,
wo andere Ärzte die gleiche Fehldiagnose machten, die mir passiert
war. So habe ich mehrere junge Männer untersucht, die geängstigt
zu mir kamen, weil sie wegen Herzfehler militärfrei wurden, trotzdem
sie noch nie irgendwelche Beschwerden hatten. Bei der Untersuchung,
die bei der militärischen Ausmusterung in stehender Position yo^g^
nommen worden war, sei ein lautes Geräusch am Herzen gehört
worden. Ein anderes Mal stellte sich bei mir ein Herr zur Unter-
suchung ein, der wegen Herzfehler nicht in die Lebensversicherung
aufgenommen wurde. Und einmal konsultierte mich eine Frau, bei
der nach vorhergehender Untersuchung durch zwei Ärzte Herzfehler
konstatiert und deshalb der künstliche Abortus eingeleitet worden war.
Alle hatten keinen Herzfehler.
Ein besonders klassischer Fall, der mir unvergeßlich bleiben wird,
war im Jahre 1807 lange in meiner Beobachtung.
Herr Max M., geb. 17. VII. 1879 Zürich V, ist der einzige Sohn ans neoropatfaisch
starlL belasteter Familie. Eine Tante väterlicherseits ist seit vielen Jahren hoch-
gradig hysterisch, ich hatte sie selbst vor Jahren vorübergehend an nenröser
Stenokardie behandelt, und eine andere Tante, in deren Familie ich seit langer Zeit
Hausarzt bin, war einmal mit angioneurotischem ödem des Gesichtes behaftet Der
Vater hat schon öfter schwere Attacken von Gelenkneuralgien durchgemacht ood
der junge Mann selbst litt mehrere Male an sehr schmerzhaften Gelenkaffektiooen,
die ich unbedingt ffir neuralgisch erklären mußte. —
Am 20. Mai 1896 wurde ich mittags 12 Uhr zum Pat. gerufen wegen heftigsten
Schmerzen in der Umgebung des Nabels — da alle andern Erscheinungen fehlten,
hielt ich den Anfall für eine Neuralgie. — Von da an sah ich den Pat. nicht mehr
bis am 8. Jan. 1897. 8. Jan. vormittags nach einem raschen Gange plötzlich
heftige Schmerzen in der linken Schulter, Beengung auf der Brost,
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3] Ober kardiopulmonale Geräusche. 311
Jieftigstes Herzklopfen. II Uhr 45 mein erster Besuch — kein Fieber,
auffallend starker, erschütternder Herzstaß, Puls 100, kräftige, reine Herztöne.
— Abends 8 Uhr 2. Besuch. Den ganzen Tag ül>er var das Herzklopfen
wiederholt für die Umgebung und den Fat ä distance hörbar, manchmal
dabei ein „eigentümlich knackendes Geräusch** — „wie wenn der Wind
in feuchte, aufgehängte Wäsche bläst^; daher die Meinung des Fat. „daß an einer
Herzklappe etwas sei**. Abends 8 Uhr höre ich in der Nähe der Herzspitze etwas
inner- und oberhalb von derselben ein systolisches, anstreifendes, lecken-
des Geräusch — wie bei Ferikarditis — habe ich in meiner sorgfältig geführten
Krankengeschichte notiert. Zu gleicher Zeit habe ich mehrere Male auf einige
Fuß Entfernung ein knackendes Geräusch gehört , „wie wenn 2 Fingernägel
übereinander geknipst werden^. Das Geräusch war auch hörbar beim An-
halten des Atems und änderte sich nicht bei Lagewechsel. Ein solches
Geräusch hatte ich bisher noch nie gehört. Auf der Lunge war bei sorgfältigster
Untersuchung nichts Abnormes zu finden.
9. I. 1897. Heute den Tag über wiederholt das auf Entfernung hörbare Ge-
räusch yon der oben beschriebenen Qualität.
14. L Noch Klage über große Müdigkeit, Herzklopfen bei der leichtesten Er-
regung. Das anstreifende systolische Geräusch, das am 8. abends zu hören
var, habe ich bei den täglichen Untersuchungen nie wieder wahrge-
nommen.
17. L Abends zwischen 6 und 6V2 Uhr wieder plötzlicher Schmerz in der
linken Schulter,Schm erzen beim Atmen, heftigstes Herzklopfen und während
des Nachtessens am Tische laut hörbares, knackendes Geräusch.
19. L Letzte Nächte gut — heute Herzaktion ruhig, Subjektivbeflnden gut,
keine Schmerzen, kein Herzklopfen.
Im Laufe des Februar sah ich den Fat. nur 2 mal in meiner Sprechstunde, das
letzte Mal am 17. — jedesmal ganz normaler Herzbefund.
Am 3. März kommt Fat. wieder in meine Sprechstunde; er klagt über Herz-
klopfen und Schmerzen in der Herzgegend, die sich ab und zu noch einstellen.
Bei der Untersuchung, die ich diesmal nur in stehender Fosition vornahm, fand
ich normale Herzdämpfung und vollkommen reine Töüe und erklärte dem Fat.,
was ich schon so oft erklärt hatte, daß ich die Krankheit unbedingt für
eine Neurose halte. —
Am 6. März 1897 ging der Vater mit seinem Sohne in die Sprechstunde zu
einem andern Arzte A.; derselbe untersuchte, hörte am Herzen ein Geräusch, er-
klärte die Krankheit für eine Herzbeutelentzündung und stellte dem
Vater gegenüber eine ernste Frognose. Zur Sicherstellung seiner von der meinigen
so stark abweichenden Diagnose schickte der betreffende Kollege den Fat. direkt zu
einem dritten Arzte (B), derselbe hörte ebenfalls ein Herzgeräusch, das
von einer Herzbeutelentzündung herrühre, und kritisierte in höchst unkollegialer
Art meine ungenügende Untersuchung. Die beiden Herren Kollegen haben
den Fat. nur im Stehen untersucht; wer aber in einem schwieriger deut*
baren Falle bei der Herzuntersuchung die Vorsicht unterläßt, einen Kranken ab-
wechselnd im Stehen und Liegen zu untersuchen, der beweist, daß er in der Herz-
diagnostik nicht sonderlich bewandert ist, und hat kein Recht, die nach langer
sorgfältiger Beobachtung eines andern gemachte Diagnose über den Haufen zu
werfen, zumal wenn es sich um eine einzige, erste Untersuchung handelt. — Am
gleichen Abend (6. III. 1897) kam der Vater in größter Aufregung zu mir in die Foliklinik,
da sein Sohn nach dem Befunde zweier Ärzte eine Herzbeutelentzündung habe;
22*
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312 Hermann Muller, [4
er brachte mir einen Brief des einen (A) mit, worin mir derselbe schrieb : „Herr M.
Vater hat mich heute morgen wegen seines Sohnes Max iLonsultiert. Der Vater sagte
mir, daß Sie die Krankheit für eine Herzneurose erklärt hStten. Leider kann ich
mich dieser Diagnose nicht anschließen, ich glaube eher, daß es sich hier um
perikardistische Geschichten (ev. Verwachsung des Perikards) handelt und bin der
Meinung, daß beim Pat. Bettruhe für längere Zeit geboten ist. ... Sie verzeihen,
daß ich Ihnen bestimmte therapeutische Vorschläge mache, ich fürchte aber, daß
bei ambulanter Behandlung des Pat. schlimmere Dinge sich entwickeln könnten.*
-* Ich habe dem Vater erklärt, daß ich trotz alledem an meiner Diagnose „Herz-
neu rose** festhalte und habe noch am gleichen Abend den Pat. besucht und wieder
untersucht — im Liegen und im Stehen — und habe kein Geräusch mehr ge-
hört — auch nicht beim Vomüberbeugen des Rumpfes, und nicht bei starkem
Aufdrücken des Stethoskopes.
Auf Wunsch der Eltern habe ich den jungen Mann von da an wieder täglich
besucht, bei jedem Besuche sorgfältig untersucht und ich habe nichts gefunden,
was für Perikarditis verdächtig gewesen wäre.
7. III. und folgende Tage — Herzaktion ruhig, Herzstoß im 5. I. R. in der Pa-
rasternallinie, kräftig, eng umgrenzt, ideal reine Herztöne. Puls 56—60.
Am 12. März hat auf meinen ausdrücklichen Wunsch ein vierter Arzt (C), ein
ausgezeichneter Kenner der physikalischen Untersuchungsmethoden, den Pat ganz
objektiv, ohne von dem Vorhergegangenen nur eine Silbe gehört zu haben, unter-
sucht und in einem ausführlichen schriftlichen Befunde konstatiert, „daß das Herz
bei Herrn Max M. absolut normal sei**. Diesen Befund und meine ausfuhrliche
Krankengeschichte habe ich dem Kollegen A sofort zur Einsicht zugeschickt Da-
rauf schrieb er mir am 13. III. 1897. „Auch nach dem Berichte von C kann ich
unmöglich den Fall als Herzneurose auffassen; ich halte vielmehr trotzdem an
einer Affektion des Perikards fest^ Natürlich habe ich es jetzt aufgegeben, noch
weitere Belehrungsversuche zu machen.
Am 18. in. habe ich notiert: Heute ist sehr schön die pendelartige Be«
wegung des Herzens nach rechts zu beobachten — auch das spricht ganz
gegen Synechien des Herzbeutels. — Ich habe den Pat auch röntgenisieren lassen
— damals noch von Prof, Pernet im physikalischen Institut des Polytechnikums und
habe absolut nichts für Perikarditis Verdächtiges gefunden.
Am 18. und 19. III. ließ ich den Pat einen kurzen Spaziergang machen — am
19. III. nach dem Spaziergange 10 Uhr 30 vormittags wieder stenokardischer
Anfall — Müdigkeit in der linken Schulter, Schmerzen in der Herzgegend und
unter dem linken Schulterblatte, ausstrahlend in den ganzen linken Arm, lautes
Stöhnen; Angstgefühle, dabei sehr starkes Herzklopfen und auf Entfernung hör-
bares, eigentümliches, schwer zu beschreibendes, mit dem Pulse
zusammenfallendes Geräusch. Bei meiner Ankunft 12 Uhr 5 Anfall vorbei
-^ ruhige Herzaktion, reine Töne.
Am 10. IV. aus der Behandlung entlassen.
13. V. 1897 rasch vorübergehender Anfall. ^vpn Schmerzen im Abdomen.
Ende Dezember 1897 akqulrierte Pat in einem neuen ateno kardischen
Anfall ein präcordiales Emphysem (von Dr. S. meine Diagnose bestätigt) und
wurde davon vollständig geheilt (siehe Dissertation von Hermann Suter, med.
pract von Zürich).
Mitte Oktober 1898 waren die Eltern mit ihrem Sohne auf der Rückreise von
Berlin bei Erb in Heidelberg; derselbe diagnostizierte „Herzneurose".
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5] Über kardiopulmonale Geräusche. 313
Dezember 1808 — noch einmal kurzdauernder Schmerzanfall auf der Brust
Herztöne kräftig, rein. Febr. 1900 — heftige Supraorbitalneuralgie. (Influenza.)
1901 nur 2 malige Untersuchung, normaler Herzbefund.
1. VIII. 1902 kommt von Berlin und reist mit den Eltern nach Tarasp.
1. Jan. 1903 heftige Gesichtsneuralgie.
20. Jan. Untersuchung des Herzens — normaler Befund, nur Puls sehr labil,
Pat hat schon in Berlin Schwankungen von 45 bis 130 selbst konstatiert, seht*
starker Abusus tabacci — Zigaretten.
23. 1. den ganzen Tag Schmerzen in .der Herzgegend, Puls schwankt zwischen
40 und 70, selten ein Schlag aussetzend.
25. I. 1903 Befinden ganz gut, Puls beim Liegen 40, beim Stehen 48.
28. I. verreist wieder nach Berlin.
Im Septemb. 1906 habe ich den Pat. das letzte Mal gesehen und untersucht.
Das Herz verhält sich ganz ruhig und ist ganz normal. Pat. ist zur Zeit als Dr.
jur. in Paris tätig.
Ich habe mich etwas lange bei dieser interessanten Krankengeschichte
aufgehalten, weil ich aus meiner langjährigen Tätigkeit keinen Fall
kenne, der so drastisch illustriert, wie vorsichtig man in der Beurtei-
lung von Herzgeräuschen sein muO. Keiner der zahlreichen seither
von mir beobachteten Fälle zeigt so prägnant, welche große praktische
Bedeutung die Unterscheidung der sog. akzidentellen Geräusche von
den organischen, auf anatomischer Veränderung des Zirkulationsappa-
rates beruhenden, hat. — Jeder hat sein Steckenpferd; das meinige
ist von jeher die physikalische Diagnostik gewesen, ein Erbe meines
verehrten, ersten Chefs Biermers, des bekannten Meisters physika-
lischer Diagnostik. Als Assistent von Biermer (1872 — 74) und nach-
her als Sekundärarzt von Huguenin (1874—79) habe ich während
61/2 Jahren viele Kurse über physikalische Untersuchungsmethoden
erteilt für Anfänger und für Vorgerücktere, und als Direktor der Poli-
klinik habe ich mich von jeher mit Vorliebe mit der Pathologie des
Kreislaufs beschäftigt; seit vielen Jahren halte ich auch in der Poli-
klinik Übungen in der physikalischen Diagnostik und so bin ich all-
mählich in den Ruf gekommen, Spezialist für Herzkrankheiten zu sein
und infolgedessen sind mir schon seit Jahren mehr und mehr solche
Fälle zugekommen, wo scheinbar unerklärliche Herzgeräusche gefunden
werden konnten oder gefunden worden waren. Ich habe lange nach
einer Erklärung gesucht, aber keine gefunden.
Da bin ich endlich aufmerksam geworden auf das klassische Werk
des berühmten französischen Klinikers Potain. Es war im Spätherbst
des Jahres 1890, als ein Volontärarzt in der Poliklinik ein ISjähriges,
noch nicht menstruiertes Mädchen, das allerlei zu klagen hatte, Atem-
not, Herzklopfen usw. untersuchte und an der Hörstelle der Pulmo-
nalis ein systolisches und diastolisches blasendes Geräusch
gehört hatte, das in ihm den Verdacht auf Insuffizienz der Pulmonal-
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314 Hermann Müller, [6
klappen aufkommen lieO. Er übergab mir die Patientin zu näherer
Untersuchung, und da kam ich dazu, einen Herzklappenfehler, speziell
die von vornherein so ganz unwahrscheinliche Schlußunfahigkeit der
Pulmonalklappen mit Sicherheit auszuschließen. Bei der Fast eine
ganze Stunde dauernden Untersuchung fiel mir ein ganz ungewöhn-
licher Wechsel der Geräusche auf — ein fortwährendes Kommen und
Verschwinden und eine merkwürdige, zum Teil mit der Atmung zu-
sammenhängende Veränderung der Geräusche, besonders nachdem
das Mädchen längere Zeit auf dem Untersuchungsbette ausgeruht hatte.
Ich hatte den jungen Kollegen auf diesen auffallenden Wechsel und
auf das vollständige Fehlen von den Folgeerscheinungen eines Klappen-
fehlers aufmerksam gemacht und habe dann erfahren, daß die bei dem
jungen Mädchen gehörten Geräusche offenbar die von Potain be-
schriebenen kardiopulmonalen [k. p.] Geräusche sein müssen, welche
nicht im Herzen, sondern in der Lunge entstehen. Von dem Inhalte
des Potain sehen Werkes habe ich bis zum Winter 1902/03 allerdings
nichts anderes gewußt, als daß Potain die bisher für unerklärlich
geltenden Herzgeräusche (und überhaupt alle sog. anorganischen Ge-
räusche) für kardiopulmonale erklärt. Ich habe seit dem Jahre 1899
emsige Herzuntersuchungen gemacht und habe geglaubt, manche Ent-
deckung als der erste gemacht zu haben und fand dann bei genauer
Einsicht in das Potain sehe Werk die meisten meiner Entdeckungen
bereits gemacht. Die leihweise Überlassung des Werkes, das auf der
hiesigen Bibliothek nicht zu haben war und im Buchhandel vergriffen
ist, verdanke ich dem Kollegen Minnich von Zürich. Zu Anfang
des Jahres 1903 habe ich alle meine bis dahin gesammelten Fälle
einem Doktoranden, Otto Brunner von Laupersdorf, zur Bearbei-
tung übergeben. Seine erste und Hauptaufgabe war die Übersetzung
von Potain. Im Sommer 1903 ist die Doktordissertation erschienen
und am 14. klinischen Ärztetag in Zürich (14. VII. 1903) habe ich einen
Vortrag über meine damaligen Erfahrungen gehalten.
Ich hatte an jenem Tage gerade die günstige Gelegenheit 1. einen Privat-
patienten, einen 20jährigen russischen Studenten vorzustellen, der im vorher-
gehenden Jahre von 4 russischen Militärärzten untersucht und vegefl
Klappenfehler militärfrei geworden war und bei dem man im Stehen
ein lautes, blasendes, systolisches Geräusch an der Herzspitze hören
konnte, das unmittelbar nach dem Abliegen spurlos verschwand und
2. einen poliklinischen Patienten, einen 20jährigen Weber vom Lande, der an-
geblich einen Herzfehler hatte und bei dem im Liegen ein lautes, systo-
lisches Geräusch an der Mitralis zu hören war, das beim Stehen ganz ver-
schwand. (Jeder der Untersucher konnte sich überzeugen von dem ganz prompten
Erscheinen und Verschwinden des Geräusches bei Lagewechsel.)
Das Werk Potains, ein Muster aufmerksamer Forschung, ist die
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7] Ober kardiopulmonale Geräusche. 315
Frucht einer 14jährigen sorgfältigen klinischen Beobachtung, die er
offenbar gemeinsam mit seinem Chef de clinique H. Vaquez gemacht
hat. Bei einer Gesamtzahl von 4300 Patienten hat Potain 380 Fälle
mit anorganischen Geräuschen beobachtet; bei 44 Fällen wurde durch
die Sektion festgestellt, daß keine anatomische Veränderung der Ent-
stehung der Geräusche zugrunde lag. Bei Männern wurden die an-
organischen Geräusche in 6—9%, bei Frauen in 11,55% beobachtet.
Potain behandelt in eingehender Weise die verschiedenen Theorien,
welche bisher (1894) zur Erklärung der anorganischen Geräusche auf-
gestellt wurden, er widerlegt dieselben an Hand exakter klinischer und
experimenteller Untersuchungen und kommt zu dem Resultate: Die
anorganischen Geräusche können weder durch Hydrämie,
Anämie, noch auch durch funktionelle Insuffizienz, nicht
durch nervöse Störungen, veränderten Blutdruck oder durch
veränderte Strömungsgeschwindigkeit entstehen, sie können
nicht im Herzen entstehen, sie müssen außerhalb des Herzens
ihren Ursprung nehmen, und da sie mit den perikarditischen
(Potain) und pleuritischen Geräuschen nichts gemeinsam
haben, müssen sie in die Lungen verlegt werden.
Ich muß es mir leider versagen, auf die interessanten Auseinander-
setzungen und die nähere Begründung Potains einzugehen, und ver-
zichte auch darauf, alle die Theorien zu besprechen, die seit dem
Jahre 1894 von deutschen Autoren über die sog. funktionellen, akzi-
dentellen, anorganischen, nervösen Geräusche aufgestellt worden sind.
Die meisten derselben sind am grünen Tische ersonnen worden,
manche erscheinen im Dämmerlichte von sehr schwachfüßigen Not-
hypothesen — alle hätten das Licht der Welt gar nicht erblickt, wenn
die Lehre Potains bekannt gewesen wäre. Der Deutung besondere
Schwierigkeiten machten von jeher die anorganischen Geräusche an
der Hörstelle der Pulmonalis, wo nach dem übereinstimmenden Urteil
aller Beobachter ein Lieblingssitz der akzidentellen Geräusche ist.
Alle Versuche, die Geräusche an der Pulmonalis [resp. Hörstelle der
Pulmonalis] zu erklären, sind vollständig gescheitert und nicht mit
Unrecht hat seinerzeit v. Ziemßen die Pulmonalgeräusche als ab-
solut unerklärbar bezeichnet.
In der deutschen medizinischen Literatur — ich glaube, daß mir
keine wichtigere Arbeit entgangen ist — finden wir fast nichts über
die bedeutungsvolle Arbeit Potains, nur ganz selten und beiläufig
wird, wenn von den akzidentellen Geräuschen die Rede ist, Potain
zitiert, so finde ich z. B. im neuesten Lehrbuche über die Krankheiten
des Herzens und der Blutgefäße von Romberg an einer Stelle (S. 56),
wo von den Herzlungengeräuschen die Rede ist, die beiläufige
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316 Hermann Müller» [S
Bemerkung: »Potain geht aber entschieden zu weit» wenn er alle akzi-
dentellen Geräusche als Herzlungengeräusche deutet."^ Dagegen ist
unsern welschen Kollegen die Potainsche Lehre sehr wohlbekannt;
ich habe noch vor kurzem erfahren » daO die Professoren von
Lausanne^ de Cerenville und sein Nachfolger Bourget, in Vor*
lesung und Klinik auf die Souffles cardiopulmonaires ausführlich zu
sprechen kamen.
Am Schlüsse seiner Arbeit stellt Potain folgende Thesen auf:
1. Es entstehen in der Lunge unter dem Einflüsse der
Herzbewegung gewisse lokalisierte Atmungsgeräusche, welche
den Charakter und Rhythmus von Herzgeräuschen annehmen.
2. Der Mechanismus dieser Geräusche konnte in exakter
Weise festgestellt werden.
3. Diese Geräusche sind richtige blasende Geräusche
(souffles); sie haben eine groOe Ähnlichkeit mit den Geräuschen
bei Klappenfehlern.
4. Dennoch kann man sie fast immer mit Sicherheit von
denselben unterscheiden vermöge ganz bestimmter Merk-
male.
5. Diese Merkmale sind zweierlei Art; die einen beziehen
sich auf die Eigenschaften der verschiedenen Abarten der
Blasegeräusche, die andern auf das gleichzeitige Vorhan-
densein oder Fehlen einer organischen Herzaffektion.
6. Von allen Eigenschaften, welche diese Geräusche haben,
sind die wichtigsten und die zur Sicherung der Diagnose am
meisten geeigneten ihr Sitz und ihr Rhythmus. Gestutzt
darauf, kann man die kardiopulmonalen Geräusche mit bei-
nahe vollständiger Sicherheit erkennen.
7. Beinahe sämtliche der bisher sogenannten anorgani-
schen Geräusche sind Kardiopulmonalgeräusche.
Nach meiner langjährigen Erfahrung schließe ich mich in den
Hauptpunkten der Potainschen Lehre an, besonders aber über den
Mechanismus der Entstehung der k. p. Geräusche habe ich,
wie wir später genauer ausführen werden, eine ganz andere Auf-
fassung.
Ich habe in den letzten 7 Jahren in meiner Privatpraxis 184 Fälle
beobachtet (130 in der Sprechstunde und 54 in der Hauspraxis), bei
welchen k. p. Geräusche gehört werden konnten. Dazu kommen noch
etwa 50 ausgewählte Fälle aus der Poliklinik. Die letztere Zahl ent-
spricht natürlich bei weitem nicht der wirklichen Häufigkeit des Vor«
kommens; diese ausgewählten Fälle sind nur solche, wo Herzfehler
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Q] Ober kardiopulmonale Geräusche. 317
diagnostiziert worden waren und die mir von den Assistenzärzten ent-
weder zur polilLÜnischen Demonstration oder zur genauen Diagnose-
stellung zugewiesen wurden. Unter den Fällen meiner Privatpraxis
befinden sich nicht weniger als 31 (28 Schweizer, 2 Deutsche, 1 Russe),
die wegen Herzfehler militärfrei geworden sind. Dazu kommen noch
wenigstens ein halbes Dutzend poliklinischer Patienten, die ebenfalls
wegen Herzfehler militärfrei wurden.i) Bei ca. 70 weiteren Patienten
meiner Privatpraxis wurde von andern Ärzten die Diagnose „Herz-
fehler'^ gestellt. — Ich habe mehrere Kandidaten der Medizin oder
junge Ärzte untersucht, die an sich selbst einen Herzfehler diagnosti-
ziert hatten, und mehrfach habe ich Angehörige von Ärzten — meist
junge Leute — zur Untersuchung bekommen, bei denen Herzfehler
angenommen worden war. Unter den obenerwähnten 70 Fällen be-
finden sich vereinzelt solche, welche nicht in eine Lebensversicherungs-
gesellschaft oder nicht in eine Krankenkasse oder nicht in den Eisen-
bahndienst aufgenommen worden waren, oder solche, die zu irgend-
einem andern Zweck ein Gesundheitszeugnis nötig hatten, wurden mit
der Diagnose «Herzfehler"" vom untersuchenden Arzte überrascht.
Einmal hatte ich auch für die kantonale Frauenklinik einen Fall zu
begutachten, der wegen Herzfehler zur Einleitung des Abortus emp-
fohlen worden war. Einmal bekam ich auch einen Patienten zu unter-
suchen, der angeblich in Nauheim glücklich von seinem Herzfehler
kuriert wurde. (Ich will hier beifügen, daO nach meiner festen Über-
zeugung die sog. Heilungen von Klappenfehlern, über die verschiedene
ernste Beobachter berichten, auf falsche Diagnosen zurückzuführen
sind.)
Ich bin natürlich weit davon entfernt, genaue zifi^ernmäOige An-
gaben über die prozentuarische Häufigkeit der k. p. Geräusche und
über die Details der klinischen Untersuchung machen zu wollen, wie sie
Potain in vieljähriger Beobachtung auf einer stationären Klinik (und
in großer konsultativer Praxis) gesammelt hat. Dazu eignet sich das
hauptsächlich ambulante Material, das mir zur Verfügung stand, durch-
aus nicht. Mir ist es heute besonders darum zu tun, auf die
praktisch hochwichtige Bedeutung der k. p. Geräusche auf-
merksam zu machen und die Fehlerquellen aufzudecken,
welche so ungemein häufig zu der falschen Diagnose »Herz-
fehler"" führen. Die zahlreichen Fälle von anorganischen Geräuschen
1) Im Laufe des letzten Jahres (Okt. 1906— Okt. 1907) habe ich 8 weitere Fälle
(6 Schweizer und 2 Deutsche) untersucht, welche wegen Herzfehler militärfrei
wurden und ein vollständig gesundes Herz hatten. — Ich wage es nicht, zu be-
urteilen, welche Summe von Kraft durch die Fehldiagnose Herzfehler der Armee
verloren geht.
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318 Hermann Müller, [10
bei Anämischen und Chlorotischen lasse ich deshalb fast ganz unberück-
sichtigt — sie sind auch in meiner Statistik gar nicht mit aufgezahlt
und finden nur wegen besonders wichtiger Erscheinungen gelegent-
liche Erwähnung. Unter meinen Fällen sind solche, wo hervorragende
Diagnostiker die Fehldiagnose »Herzfehler^ gemacht haben, und wenn
mir dieser Irrtum früher selbst öfter als seit Jahren passiert ist, be-
fand ich mich in guter Gesellschaft. Ich bin auch überzeugt, daß
manch einer, wenn er diese Zeilen liest, sich an solche Fälle erinnert,
wo kürzere oder längere Zeit vorher er selbst oder ein anderer Arzt
einen Herzfehler gefunden hat, den er bei späteren Untersuchungen
nicht mehr finden konnte. Die individuelle Reaktion auf solche Er-
fahrungen ist eine recht verschiedene. Der eine geht gedankenlos an
ihnen vorbei, der andere, der vielleicht etwas mehr Temperament,
dafür aber weniger Sinn für Kollegialität hat, beschuldigt den Kollegen
der Unfähigkeit und sagt etwa, wie es mir einmal passiert ist: »Wenn
er ihr Leiden für ein nervöses erklärt, dann hat er sie nicht recht
untersucht."*
Historisches über die kardiopulmonalen Geräusche. Die
Angabe, daO es k. p. Geräusche gäbe, äußert schon Laennec, und es
ist recht interessant, wie der geniale Entdecker der Auskultation, der
die neue Untersuchungmethode schon zu einer staunenswerten Voll-
kommenheit gebracht hatte, sich ausdrückt: ^^Es gibt zwei Umstände,
bei welchen ein unerfahrener Beobachter an das Vorhandensein eines
blasenden Geräusches (bruit de soufile) glauben könnte, ohne daß es
wirklich vorhanden ist. Bei einigen Individuen überragen die Pleuren
und die vorderen Lungenränder das Herz und bedecken es beinahe.
Wenn man ein solches Individuum im Augenblick leicht auf-
geregter Herztätigkeit untersucht, so verändert die Diastole
des Herzens, indem das Herz die Lungenränder kompri-
miert und so die Luft daraus auspreßt, das Atmungsgeräusch in der
Art, daß es mehr oder weniger dem eines Blasebalges (souiflet)
oder eines weichen Holzraspeis (räpe ä bois douce) gleicht Aber
mit etwas Übung kann man dieses Geräusch sehr leicht von einem
wirklichen Herzgeräusche unterscheiden; es ist oberflächlicher
und man hört darunter den natürlichen Herzton, und wenn
der Kranke einige Momente den Atem anhält, so wird es
schwächer oder verschwindet ganz.*
Es leuchtet ein, daß Laennec das Vorkommen eines solchen Ge-
räusches als selten ansah. Laennec hat auch nie daran gedacht, aus
dem Vorkommen dieser Geräusche einen Schluß zu ziehen in bezug
auf die Entstehung der anorganischen Geräusche; denn er hielt an
seiner falschen Lehre von der Entstehung derselben fest. Nach
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11] über kardiopulmonale Geräusche. 319
Laennec haben noch viele andere Beobachter ähnliche Geräusche be-
schrieben.
Wintrich (1854) berichtet über auskultatorische Geräusche in den
Lungen, welche ohne Einfluß der In* und Exspiration hervorgerufen
werden, und sagt (S. 171) wörtlich folgendes: ,,In der Nähe des Herzens
habe ich schon ziemlich oft während der Kontraktion desselben ein
sanftes, schlürfendes Atmungsgeräusch gehört wie das in-
spiratorische. Es ist dies auch nichts anderes als eine Luft-
inspiration, durch die systolische Verkleinerung des Herzens
bedingt.** — Danach ist also Wintrich der erste, welcher diese
Geräusche auf eine Saugwirkung des Herzens zurückführte.
Im Jahre 1865 hat Bamberger, welchem zuerst die seltene Ge-
legenheit geboten wurde, die Herztätigkeit an einem 30jährigen Manne
zu studieren, bei welchem eine frische Stichwunde die unmittelbare
Palpation der Herzspitze gestattete, gemeinsam mit Kölliker Experi-
mente an Kaninchen angestellt, um die Herzbewegung zu beobachten,
und bei dieser Gelegenheit haben die beiden ^ eine die beiden Herz-
momente begleitende zuckende Hin- und Herbewegung des vordem
linken Lungenrandes beobachtet. ^Die Größe dieser Exkursion (Bam-
berger) mag etwa eine Linie (d. h. 3 mm) oder etwas darüber be-
tragen, sie ist aber außerordentlich frappant und in die Augen fallend
und macht etwa den Eindruck, als wäre der Lungenrand an das Herz
unverrückbar befestigt und müßte jeder Bewegung desselben folgen.
Ich habe öfter unter verschiedenen Umständen am linken
Lungenrande in der Nähe des Herzens ein feines, dem pneu-
monischen ganz ähnliches Knistern gehört, das genau mit jeder
Herzsystole zusammenfiel. Ich zweifle nun nicht, daß diese Erschei-
nung durch die oben beschriebene systolische Bewegung des Lungen-
randes bedingt wird, sobald sich in den Lungenzellen etwas Flüssig-
keit befindet/
In einem im Jahre 1863 publizierten Artikel „Über unerklärliche
Herzgeräusche** tut Skoda Erwähnung eines Geräusches, welches
1) Unabhängig von Bamberger und Kölliker hat Dr. Friedrich Ernst
von Zijrich die gleiche Beobachtung gemacht. Im gleichen Bande des Virchow*
sehen Archives (9. Bd. 1856 Nr. 10) in „Studien über die Herztätigkeit mit beson-
derer Berücksichtigung der an Herrn A. Grouxs Fissura sterni congenita gemach-
ten Beobachtungen"* berichtet Ernst (S. 283. 284) beiläufig: „Es läßt sich dieses
Verhalten der Lungenränder zu den Herzkontraktionen sehr anschaulich am Kanin-
chen beobachten. Wenn man in der Herzgegend die allgemeinen Decken, die M.
pectorales, die M. intercostales bis auf die feine, dünne Pleura sorgfältig abpräpa-
riert, ohne ]edoch die Pleura selbst zu verletzen, so sieht man die das Herz teil-
weise bedeckenden Lungenränder mit jeder Systole sich mehr verschieben, mit
jeder Diastole etwas zurücktreten.''
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320 Hermann Müller, [12
dadurch entsteht, daO die systolische Bewegung des Herzens in inten-
siverem Grade allenfalls in der angrenzenden Lunge ein gewisses
Quantum Luft verdrängt und diese Luft beim raschen Ausweichen ein
Rauschen erzeugt, welches natürlich mit der Systole des Herzens zu-
sammenfällt Man könnte hierbei noch weiter gehen und auch die
Entstehung eines diastolischen Geräusches für möglich erklären, da-
durch nämlich, daß die Luft während der Diastole des Herzens mit
einem gröOern Impetus in die angrenzenden Partien der Lungen ein-
strömt.
Gerhardt in seinem Lehrbuche der Perkussion und Auskultation
(Jena 1866, Tübingen 1884) berichtet über eine sehr häufige Erschei-
nung bei der Auskultation, die am besten als systolisches Vesi-
kuläratmen bezeichnet wird. — „Die Lungenränder folgen der Form-
veränderung des Herzens, nehmen bei der Systole mehr Luft auf, um
den Raum, der bei der Verkleinerung des Herzens frei wird, auszu-
füllen und geben so an den Grenzen des Herzens Veranlassung zu
einer eigenen Form des vesikulären Atmens. Selten hört man wirklich
während jeder Systole ein kurzes Geräusch von der BeschafFenheit
des vesikulären Atmens, häufig während der Inspiration eine mit jeder
Systole statthabende Verstärkung des Inspirationsgeräusches.*^
Nach Paul Niemeyer (1870) findet sich das Herz-Lungengeräusch
(pulsatile respiration, Thorburn — pulsatile pulmonic crepitatioD,
Richardson — systolisches und diastolisches Lungengeräusch, Fried-
reich — systolisches Vesikuläratmen, Gerhardt) am häufigsten an
der linken Seite der vordem Brustwand, es entsteht nur während der
In- und Exspiration und verschwindet bei angehaltenem Atem.
In den neuen Lehrbüchern über physikalische Diagnostik (Eich-
horst, 4. Auflage 1896, und Sahli, 4. Auflage 1905) ist im Kapitel
über die Auskultation der Lungen nur beiläufig als ein Geräusch, das
in den Lungen entsteht, das systolische Vesikuläratmen erwähnt. So
sagt Sahli (S. 218): „Das systolische Vesikuläratmen kommt
unter noch nicht näher bekannten Bedingungen hier und da bei Kranken
wie bei ganz Gesunden vor und hat keine pathologische Bedeutung.
Man hört es nur in der Nähe des Herzens. In wenig ausgesprochenen
Fällen äußert es sich bloß in einer systolischen Verstärkung des
gewöhnlichen Vesikuläratmens, während es in anderen Fällen
auch bei der Sistierung der Atmung hörbar ist. Seine Ent-
stehung ist jedenfalls abhängig von der mit der systolischen Volum-
verkleinerung des Herzens (M ei okar die) verbundenen negativen Druck-
schwankung im Innern des Thorax. Ich glaube, daß einzelne
vermeintliche akzidentelle Herzgeräusche nichts anderes sind
als solches systolisches Vesikuläratmen.*"
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13] Ober kardiopulmonale Geräusche. 321
Etwas eingehender hat schon im Jahre 1899 O. Rosenbach (das
Potain sehe Werk war auch ihm nicht bekannt) die Herzlungengeräusche
studiert. Auch er akzeptiert die von Wintrich und Bamberger
zuerst gegebene Erklärung, daO diese Geräusche den durch die Volums-
schwankungen des Herzens bedingten Luftströmungen ihre Entstehung
verdanken.
Daß gelegentlich kardiales Rasseln durch direkte mechanische Erschütterung,
hervorgebracht durch die Herzbewegung, erzeugt werden kann, wenn die infiltrierte
oder mit Kavernen durchsetzte Lunge in der Nähe des Herzens mit der Pleura
verwachsen ist, wollen wir nicht zu erwähnen vergessen. Diese Art der kardio-
pneumatischen Geräusche ist aber leicht zu erkennen und hat für unsere Betrach-
tung keine Bedeutung.
Bevor ich nun auf den Mechanismus dieser k. p. Geräusche ein-
gehe, wollen wir in Kürze die Beweise von Potain, daß sie
wirklich im Lungengewebe entstehen, anführen:
1. Die Geräusche haben immer ihr Maximum an den Rand-
zonen der Lunge — im Bereich der kleinen oder absoluten
Herzdämpfung werden sie niemals gehört. Alle Theorien,
die bisher zu ihrer Erklärung aufgestellt wurden, können widerlegt
werden.
2. Man kann aber auch direkt durch das Experiment beweisen,
daß die anorganischen Geräusche ihren Sitz und ihre Ent-
stehung in den Lungen haben. Man hört diese Geräusche nicht
selten bei Hunden und bei Pferden. Bei dem 4. Teil aller Hunde
in der Tierarzneischule in Paris fanden sich diese Geräusche vor und
die öfter gemachte nachherige Sektion ergab vollkommen normales
Herz und normale Klappen. Potain hörte eines Tages bei einem
Pferde oberhalb des Spitzenstoßes ein lautes Geräusch, das er nach
seinem Charakter für ein kardiopulmonales hielt. Die sofort vor-
genommene Sektion ergab vollständig gesundes Herz und normale
Klappen, An der Stelle des Geräusches war ein zungenförmiger Lappen
von Lungengewebe zwischen Herz und Thoraxwand eingeschoben. —
Noch überzeugender war folgender Versuch: Bei einem Hunde
sollte zu anderm Zwecke ein Experiment vorgenommen werden. Bei
der Auskultation des Herzens wurde ein ausgesprochenes, anorgani-
sches Geräusch gehört. Dr. Franck, ein Freund Potains, führte
nun an der betreifenden Stelle der Brustwand einen stumpfen Haken
in die Pleura ein, ohne daß Luft in die Pleurahöhle eindringen konnte.
Mit Hilfe dieses Hakens konnte der Lungenrand an der Stelle, wo
das Geräusch zu hören war, leicht zurückgeschoben werden und so-
fort verschwand das Geräusch. Ließ man dann die Lunge wieder ihren
alten Platz einnehmen, so kam wieder das ganz gleiche Geräusch zum
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322 Hermann Müller, [14
Vorschein. So konnte man nach Belieben das Geräusch verschwinden
und zum Vorschein kommen lassen.
3. Die anorganischen Geräusche verwandeln sich oft in
ausgesprochene Respirationsgeräusche und umgekehrt, je
nachdem der Einfluß des Herzens oder der Atmung vorherrscht Ein
Geräusch, das so sehr der Exzitation des Herzens und den Atem-
bewegungen unterworfen ist, kann nur in der Lunge entstehen und
nichts anderes sein als verändertes Vesikuläratmen.
Einen neuen höchst wertvollen Beweis, daß die akziden-
tellen Herzgeräusche in der Tat an den vorderen Lungen-
rändern^) entstehen, erblicke ich darin, daß sie experimentell
erzeugt werden können. Kollege Minnich von Zürich (und Weißen-
burg) hat mir mitgeteilt, daß bei Behandlung der Kaninchen mit
minimalen Dosen von Adrenalin, wobei, wie er gefunden hat, neben
der außerordentlichen Verstärkung der Herzaktion eine bedeutende
Verlangsamung des Rhythmus eintritt, häufig (durchaus nicht immer)
sehr starke Herzgeräusche zum Vorschein kommen. Diese Ge-
räusche sind am stärksten wahrnehmbar auf der Höhe der Adrenalin-
wirkung und verschwinden allmählich mit dem Abklingen derselben.
Am 16. November 1906 hat mir Kollege Minnich im hiesigen physio-
logischen Institut das Experiment (dabei wird die Herzgegend bis auf
die Pleura costalis vollständig freigelegt) demonstriert und ich habe
mich bei einem von drei Versuchen unzweifelhaft überzeugt, daß
beim Sinken der Herzaktion von 240 auf 140 Schläge ein sehr
deutliches, scharfes systolisches Geräusch zum Vorschein
kam, das allmählich wieder ganz verschwand.
Mechanismus der kardiopulmonalen Geräusche. Da die
k. p. Geräusche nach Potain nichts anderes sind als modifiziertes
Vesikuläratmen, so müssen sie auch auf die gleiche Art entstehen,
und, wie Laennec schon gelehrt hat, entsteht das Zellenatmen durch
Reibung der in die feinen Luftwege und Alveolen einströmenden Luft.
Die k. p. Geräusche sind in der großen Mehrzahl systolisch, sie ent-
stehen durch Aspiration der Luft. „Wenn das Herz bei der Systole
sich dreht und von der Thoraxinnenwand zurücktritt, so entsteht dort
ein luftleerer Raum, der wie eine Saugpumpe auf das umgebende
Lungengewebe einwirkt und auf dasselbe eine Aspiration ausübt. Die
Luft stürzt dann mit großer Vehemenz in die Alveolen und erzeugt
dadurch Geräusche, die durch den Rhythmus des Herzens mehr Herz-
als Atmungsgeräuschen gleichen. Die auffallende Erscheinung, daß
die k. p. Geräusche beinahe ausnahmslos durch ihre Beschaffenheit
1) Respektive an den PerikardialblSttern.
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15] Ober kardiopulmonale Geräusche. 323
und ihr Timbre sich von dem normalen Atmungsgeräusch tintersclieiden,
sucht Potain in folgender Weise zu erklären:
In 1 Minute erfolgen ungeßihr 16—18 Respirationen und im gleichen Zeit-
räume ca. 76 Herzschläge. Die Inspiration dauert 1,35 Sekunden, die Systole nur
0,26 Sekunden, mit andern Worten: die Systole ist von 5 mal kürzerer Dauer als
die Inspiration. Bei gewöhnlicher Inspiration beträgt die eingeatmete Luft etwa
Va Liter, d. h. ungefähr V? der gesamten Lungenkapazität. Aller Wahrscheinlich-
keit nach ist das ganz anders bei der lokalisierten Inspiration, welche durch das
Zurückweichen des Herzens von der Brustwand hervorgebracht wird. Durch die
diastolische Erweiterung können gewisse Partien der Lunge derart zwischen Herz-
und Brustwand komprimiert werden, daß die Luft vollständig ausgepreßt wird;
kommt nun die systolische Retraktion des Herzens, so stürzt eine 7mal größere
Luftmenge in die Alveolen und da dieses Einströmen in einer 5 mal kürzeren Zeit
stattfindet, so ist die Schnelligkeit der Strömung 35 mal größer als bei einer ge-
wöhnlichen Inspiration. Es darf uns deshalb nicht wundernehmen, daß die k. p.
Geräusche eine höhere Tonart, eine stärkere Intensität haben und daß sie wesentlich
rauber erscheinen.
Diese Theorie, so bestechend sie auf den ersten Blick erscheint,
ist völlig unhaltbar; sie leidet bei genauerer Prüfung an dem
Fehler, daO sie sich auf Prämissen aufbaut, die falsch sind.
Wenn man etwas näher darüber nachdenkt, so muß man füglich staunen,
mit welcher Bereitwilligkeit die zuerst von Wintrich, Bamberger
und Gerhardt aufgestellte Aspirationstheorie des sog. systolischen
Vesikuläratmens von allen nachfolgenden Autoren und auch von Potain
und Vaquez angenommen worden ist. Ganz unhaltbar und mit
den Gesetzen der Physik in Widerspruch stehend, ist besonders auch
die von Potain behauptete Annahme, daO in den Randzonen
der Lunge während der Diastole des Herzens die Luft voll-
ständig ausgepreßt werde und daO sich auf diese Weise die vom
Vesikuläratmen häufig so total verschiedene Qualität der k. p. Ge-
räusche erklären lasse. Ich selbst wurde zum prüfenden Nachdenken
zunächst dadurch veranlaßt, daß ich mehrere Male Geräusche am
Herzen hörte, welche die größte Ähnlichkeit mit dem zischen-
den Geräusche des gesprungenen Topfes hatten, so daß ich
unwillkürlich an eine ähnliche Entstehung erinnert wurde. Und dann
war es mir besonders unverständlich, wie durch Aspiration von
Luft durch die systolische Verkleinerung ein Strömungs-
geräusch auch während der Exspiration in einer der entwei-
chenden Luft entgegengesetzten Richtung zustande kommen könne.
Ebenso konnte ich die gar nicht selten vorkommenden diastoli-
schen funktionellen Geräusche nicht durch eine Luftaspira-
tion erklären. — Ich änderte deshalb meine frühere Ansicht und kam
auf die alte, schon von Laennec akzeptierte Erklärung zurück und
vertrat im Wintersemester 1903/04 bei poliklinischen Demonstrationen
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324 Hermann Müller, [16
die Lehre: „Wenn das Herz während der Austreibungszeit gegen die
Brustwand geschlagen wird, so wird die zwischen Herz und
Brustwand gelegene Lungenpartie gepreßt, dabei wird Luft
entleert und so entsteht das kardiopulmonale Geräusch.^
Dagegen machte mir ein Schüler, der in Physik besonders gut be-
wandert war, cand. med. Walter HeO (jetzt Assistenzarzt der ophtbal-
mologischen Klinik) Opposition und belehrte mich in einem längeren
schriftlichen Expose so, daß ich meine Erklärung wesentlich modifi-
zierte. Ich entnehme der ausfuhrlichen physikalischen Auseinander-
setzung nur einige Stellen:
jyDie Lungen stellen eine Summe kleiner Blasen vor, die durch ein System von
Röhren unter sich verbunden sind. Die Lungen besitzen einen hohen Grad von
Elastizität; gegen ihre Begrenzungsflächen, Herz und Brustwand, sind sie leicht
verschiebbar.*' — Es folgt eine physikalische Begründung,' welche lehrt, daß bei
der diastolischen Vergrößerung des Herzens die Lungen gleichmäßig komprimiert
und in toto ausweichen müssen, „Es ist unmöglich, daß an den Rändern
Luft ausgepreßt wird und daß dabei ein Luftstrom entsteht; ebenso verteilt
sich die Luft bei der systolischen Aspiration auf das ganze Röhren-
System und Alveolargebiet, nicht nur auf die Randpartien in der Nähe
des Herzens. (Nur bei einer Fixation der Lungen an der Brustwand wäre die
Entstehung von lokalisierten Luftströmen denkbar.) Gegen meine Theorie macht
W. Heß folgendes geltend:
„Auch in diesem Falle wird bei freibeweglichen Lungen kein Auspressen der
direkt getroffenen Lungenpartien erfolgen, sondern der gepreßte LungenteiJ wird
in toto zurückweichen.** ....
„Mit den Herzbewegungen gehen Verschiebungen der Lungenpartien einher —
diese können die Quelle von Geräuschen bilden, denn wenn 2 Flächen über-
einanderstreichen, muß immer ein Geräusch entstehen, nur ist es
unter normalen Verhältnissen so schwach, daß es vom menschlichen Ohr nicht
wahrgenommen wird. Es kann aber unter leicht denkbaren Bedingungen so an-
wachsen, daß es gehört wird. Ist die Länge der Lungenlamelle, welche keilförmig
zwischen Herz und Brustwand eingeschoben ist, relativ groß, (was besonders oft
an der Lingula der Fall ist) und ist die Herzbewegung genügend energisch,
so streicht die Lunge bei der Systole rasch an Herz und Brustwand vorbei, an die
es zudem noch angedrückt wird — ein stärkeres Reibegeräusch wird die
Folge sein."
Daß ein Teil der k. p. Geräusche lediglich als Reibegeräuscbe
aufzufassen sind, will ich nicht bestreiten, denn die Geräusche ähneln
recht oft leichten pleuritischen oder perikarditischen Reibegeräuschen.
Ich kann mich aber des Gedankens nicht erwehren, daO bei der
Entstehung der k. p. Geräusche noch eine andere Kompo«
nente — Schwingungen des ein System von elastischen Blasen
darstellenden Lungengewebes, verursacht durch die Erschüt-
terung des anschlagenden Herzens — eine wichtige Rolle spielt.0
1) Ich komme immer mehr dazu, die Erschütterung des Lungengewebes, welche
demselben bei der Quetschung des zwischen Herz und Brustwand eingeklemmten
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17] Ober kardiopulmonale GerSusche. 325
Doch ist diese spezielle Frage von geringerer Bedeutung, viel wich-
tiger ist der Nachweis, daß die Geräusche zweifellos nicht durch
Aspiration, durch Luftströmung entstehen.^) Ich könnte noch
manche Gründe dafür anführen; aber dazu fehlt mir jetzt die Zeit. —
Nur noch eins! Daß bei der systolischen Verkleinerung des Herzens
Luft aspiriert wird, kann mit Leichtigkeit experimentell nachgewiesen
werden. Die Aspiration findet statt durch Mund oder Nase. Die
gewöhnliche Atmungsgröße beträgt 500 ccm. Die Menge der bei der
systolischen Verkleinerung des Herzens aspirierten Luft ist jedenfalls
ganz bedeutend kleiner und sicher nicht größer als die Differenz des
während der Systole aus- und einströmenden Blutes, und da sich
dieses Volumen auf die ganze Lunge verteilen muß, so kann un-
möglich ein hörbares Geräusch durch die Luftströmung ent-
stehen. — Die Erfahrung lehrt, daß selbst bei Atmungszügen, wenn
dieselben oberflächlich sind, Geräusche nicht wahrgenommen werden.
An dieser Stelle mußte ich in Ölten (27. X. 1906) meinen Vortrag
abbrechen, weil die für die wissenschaftlichen Verhandlungen be-
stimmte Zeit abgelaufen war. — Bevor wir nun heute (23. Febr. 1907,
Gesellschaft der Ärzte von Zürich) dazu fibergehen, die klinischen
Eigenschaften der k. p. Geräusche, durch die wir dieselben von den
organischen Geräuschen unterscheiden können, näher zu studieren,
möchte ich Ihnen doch noch über einige bemerkenswerte Fälle, welche
ich seither beobachtet habe, referieren. Es sind im ganzen 27 Fälle,
über welche ich genaue Aufzeichnungen gemacht habe (5 davon sind
Frauen mit Morb. Basedowii — bei fast allen andern ist von anderer
Seite Herzfehler diagnostiziert worden).
i. Fall. Am 29. X. 1906 — 2 Tage nach meinen^ in Ölten gefaialtenen Vortrage
— kam in die mediz. Poliklinik der 20 jährige Schreiner Emil Sl. und verlangte ein
Zeugnis für das Österreich. Konsulat. Pat. war vor kurzem wochenlang im Spital
Lungenkeiles während der Austreibungszeit des Herzens erteilt wird, als die
Hauptquelle der k. p. Geräusche anzusehen. Wir werden später noch einmal auf
diesen Punkt zurückkommen.
1) Wir wollen das Geräusch, das durch die Bewegung des Herzens an den
Randzonen der Lungen teils durch Reibung teils durch Schwingungen des Lungen-
gewebes erzeugt wird, der Kürze halber als »Gewebegeräusch** bezeichnen. Als ein
solches Gewebegeräusch, hervorgebracht durch die Erschütterungen, welche den
Lungen durch das Einströmen von Luft in die feinsten Luftwege erteilt werden,
ist auch das inspiratorische vesikuläre Atmungsgeräusch aufzufassen. Die alte
Laenne Cache Theorie von der Entstehung des Vesikuläratmens durch Reibung des
inspiratorischen Luftstromes an der Wandung der feinen Bronchen und Infundibula
ist, wie schon P. Niemeyer, Gerhardt u. a. gelehrt haben, nicht korrekt. Auf
gleiche Weise muß auch nach unserer Meinung die Entstehung des systol. Knister-
rasseins erklärt werden und auch in vielen Fällen — wenn nicht immer — das
Geräusch des gesprungenen Topfes.
Klin. Vortrige, N. F. Nr. 500/01. (Innere Medizin Nr. 147/48.) Sept. 1908. 23
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326 Hermann Müller, [18
in Graz, er bringt von dort die Diagnose — Herzfehler und Neurasthenie — mit
Die Herzuntersuchung ergab: hart außerhalb vom Spitzenstoße, der an normaler
Stelle liegt, ein lautes, systolisches Geräusch, das sehr deutlich mit
einem Tone anfängt (mesosysiolisches Geräusch). — Alle Schüler, aufgefordert,
genau darauf zu achten, was in der Gegend der Herzspitze zu hören sei, vernehmen
deutlich, daß das systolische Geräusch dem Tone nachschleppt. Das Geräusch
verschwindet sofort und spurlos beim Aufrichten. — Herzdämpfung nor-
mal; keine Anamnese für Klappenfehler.
2. Fall. Frau Marie L., 48 J. Zürich. I. Diagnose: progressive, perniziöse
Anämie.
3. XI. 1906. Hämoglobin 18%. Rote Blutkörperchen 870000, weiße 4300.
5. XI. 1006. Gemeinsamer Besuch mit 2 Assistenten und 1 Praktikantin —
tiefste Anämie, wachsbleiche Farbe mit einem Stich ins Gelbe; bedeutende Atem-
not — positiver Jugularvenenpuls, deutliches systolisches Schwirren
zwischen Herzspitze und Sternum, Herzdämpfung nach rechts und
nach links verbreitert — lautes systolisches Geräusch an den Hör-
stellen der Mitralis undTrikuspidalis — das Geräusch beginn t ganz deutlicfa
ein kurzes Weilchen vor dem systolischen Tone — beim Abheben des Obres
vom Stethoskope ist das Geräusch noch auf kurze Entfernung hörbar; sehr schwaches,
systolisches, mit dem Tone beginnendes Geräusch an .den Hörstellen der Aorta und
Pulmonalis; diese Geräusche verschwinden ganz bei leichtem Abheben des Obres.
— Status pessimus — Dionin.
7. XL 1906. Der gleiche Befund.
10. XI. 1906. Befinden entschieden besser. Atemnot geringer. Geräusche an
M. und Tr. wie früher; an P. und A. fast kein Geräusch mehr hörbar.
14. XL Fortschreitende Besserung — Geräusche nehmen an M. und Tr. rasch
ab. — Von da an auffallende Besserung, die Herzdämpfung wurde normal und die Ge-
räusche verschwanden allmählich ganz bei rascher bedeutender Abnahme der Anämie.
Ich zweifle nicht daran, daß es sich hier um zwei Arten von Herzge-
räuschen handelt — die Geräusche an der Mitralis und Trikuspi-
dalis sind eine Folge von muskulärer Insuffizienz, verursacht durch
die fettige Degeneration des Herzmuskels (positiver Venenpuls, fühlbares
Schwirren, allseitige Vergrößerung der Herzdämpfung). — Heute befindet sich Pat.
ganz gut. (Pat. ist mittlerweile an einem Rezidiv der perniziösen Anämie gestor-
ben. Aug. 1907.)
3. Fall. Herr Max U., geb. l.VIIL 1887, wird mir vom Vater mit der Diagnose
„Mitralisinsuffizienz'' zugeschickt; der Klappenfehler wurde von 2 andern
Ärzten und auch bei der Rekrutierung festgestellt. „Dazu kommt noch' —
so schreibt der Vater — „eine exzessive Nervosität und Hypochondrie.
Erstere hat er sich bei der Vorbereitung zur Maturität, letztere durch unbefug-
tes Lesen meiner mediz. Literatur über Herzkrankheiten zugezogen."
6. XL 1906. Höhe 186 cm Brustumfang 99—103 cm. Herzstoß im 4. J. R. dau-
menbreit innerhalb von der Mammillarlinie. Herzdämpfung absolut normal; tadel-
los reine Töne — im Stehen und Liegen untersucht.
10. XL 1906. Befinden entschieden besser, seit Pat. weiß, daß er keinen Herz-
fehler hat, Puls 60. — Heute ist. Pat. von seinen neurasthenischen Herzbeschver-.
den vollständig befreit; meine Untersuchung und Diagnose hat nach Mitteilung des
Vaters Wunder gewirkt.
4. Fall. 10 jähriger Knabe, Sohn einer Lehferswitwe. Vor 1 Monat wurde von
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19] Ober kardiopulmonale Geräusche. 327
einem hiesigen Arzte ein »Herzfehler*' konstatiert. — Bei meiner Untersuchung
am 11. und 21. XII. 1906 normaler Herzbefund, keine Geräusche.
5. Fall. 17)ähriger Jüngling. — Angeblich Herzfehler.
15. XI. 1906. Starker Herzchok, sehr schöne pendelartige Herzbewegung,
alternierender Herzstoß; rauhes systolisches Geräusch an der Hörstelle
der Pulmonalis, verstärkter 2. Pulmonalton. — Geräusch verschwindet ganz
beim Aufrichten. — Im 10. Jahre Scharlach.
6. Fall. 18jährige Jungfrau. — Diagnose: Mitralklappeninsufflzienz; leichtes
mesosystolisches Geräusch an der Mitralis, wesentlich lauteres und
rauhes systol. Geräusch an der Hörstelle der Pulmonalis. — Eine längere
genaue Untersuchung ergibt mit Sicherheit, daß die Geräusche k. p. Ursprunges
sind.
7. Fall. Hermine K., Ingenieursfrau, wird von einem Prof. der Gynäkologie
einer auswärtigen Universität an Prof. Wyder in Zürich gewiesen mit der Empfeh-
lung, den künstlichen Abortus einzuleiten „wegen Herzfehler und Ankylose des
linken Kniegelenks*".
Bei der 1. Entbindung April 1904 Swöchentl., sehr hohes Fieber mit Po-
lyarthritis zuletzt im linken Knie, Herzaffektion, (Arthrit. gon.). — Dez. 1905
künstlicher Abortus „wegen des Herzens**. Pat. wird am 18. 1. 1907 von Prof. W.
zur Herzuntersuchung an mich gewiesen. Ich konstatierte — an der Herzspitze
ein systolisches Geräusch, das nach mehreren Minuten Ruhe ver-
schwand und beim Stehen gar nicht zu hören war.
8. Fall. Karl K., Architekt, geb. 13. XI. 1880 wurde seinerzeit in Meilen
militärfrei wegen Herzfehler, rekurrierte, da er sich absolut gesund fühlte
und gern Militärdienst tun wollte, wurde aber in Zürich bleibend untauglich erklärt
wegen Herzfehler — absolut normaler Herzbefund.
9. Fall. QtLH. 1907.) Anna P. geb. 18. 4. 1893 von Dr. N. MitralisinsufBzienz
diagnostiziert. — Früher keine Krankheiten, 1. Menstruation 25. XII. 1906 — sehr
deutlich mit T o n beginnendes systolisches Geräusch an der Herzspitze, gleich-
zeitig mit dem Ton beginnendes rauhes, systolisches Geräusch an der
Hörstelle der P. Das Geräusch an der Spitze verschwindet sofort
beim Aufrichten und das Geräusch an der Basis ändert Timbre und
Intensität.«
10. Fall. Frau Martine Pf., 30 J. Zürich III. — Morb. Basedowii 6. II. 1907.
War früher immer gesund, Frühjahr 1906 Atemnot, heftiges Herzklopfen, spontane
Heilung. Seit Neujahr 1907 angeblich fast plötzlich wieder an schweren Basedow-
erscheinungen erkrankt. Basedow auf den ersten Blick zu diagnostizieren. — Herz
normal groß. Puls 12(^—130. — Ungewöhnlich lautes, einem leichten Reibe-
geräusch ähnliches systolis ches Geräusch entlang dem ganz linken
Lungenrande, entlang dem rechten Sternalrande von der 3. bis zur 6.
Rippe — aber auch sehr deutlich im Bereich der ganzen absoluten
Herzdämpfung — keine Stelle der Herzoberfläche ist frei von dem Geräusch. —
17. IV. 1907. Das gleiche Geräusch in gleicher Ausdehnung habe ich nachher
noch mehrere Male gehört. Das Geräusch fängt in der Herzmitte und in der Ge-
gend der Herzspitze deutlich mit einem Tone an. — 27. IX. Pat ist seit Anfang Mai
vollständig geheilt, mit der Besserung stellte sich ein „kolossaler Appetit** ein,
heute Ernährung sehr gut, vollkommenes Wohlbefinden. — Herzaktion ruhig. An
der Hörstelle der Pulmonalis ist beim Liegen und beim Stehen noch ein lautes^
rauhes systol. Geräusch hörbar — an allen übrigen Stellen reine Herztöne.
11. FaU. Frau F., geb. 14. X. 1869. Zürich IIL — Morb. Basedowii und Ins
23*
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328 Hermann Müller, [20
mit Stenose der Mitralis. — Im Alter von 8 Jahren Scharlach , Polyarthritis —
3 Winter im Spital Münsterlingen, schon damals Herzfehler. Verheiratet seit 12
Jahren, 7 Kinder. — Präsystolisches Schwirren üher der Herzspitze, exqui-
sites präsystol. Geräusch an der Mitralis — längs dem ganzen rechten Ster-
nalrande vom 2. I. R. bis zur 6. Rippe ein systolisches anstreifendes
Geräusch.
12. Fall. Karl Bl. 3. XII. 1896. Chorea — wurde von mir bei Gelegenheit
anderer Demonstrationen heute vor 4 Wochen der Gesellschaft der Ärzte von
Zürich vorgestellt und da wurde von einem zur Untersuchung aufgeforderten Kolle-
gen konstatiert, daß das laute systolische Geräusch an der Mitralis sebr
deutlich dem Tone nachschleppte (daß das Geräusch mesosystollsch war),
an der Horstelle der P. war ebenfalls ein lautes, rauhes systolisches
Geräusch wahrnehmbar — die Geräusche nahmen in stehender Position ganz
bedeutend an Intensität ab.
13. Fall. Rosa E. geb. a 3. 1893 von Albisrieden. (15. II. 1907.) Früher keine
Krankheiten, seit 4 Tagen Erythema nodos. Die Herzdämpfung ist scheinbir
vergrößert — rechte Grenze 1 cm außerhalb vom rechten Stemalrand, die linke
1 cm nach außen von der Mammillarlinie — außerhalb und innerhalb vom
Spitzenstoße ein lautes blasendes Geräusch, das dem Tone nachschleppt,
lautes, rauhes systol. Geräusch an der Hörstelle der P.
14. Fall. Herr Richard H., Kaufmann von Bern, geb. 20. 4. 1872, Deutseber;
anno 1892 tauglich zu allen Waffengattungen erklärt, wurde bei der Aushebung an-
geblich gar nicht untersucht, weil er absolut beschwerdefrei war.
Aug. 1892 in Zürich von Dr. B. wegen Lebensversicherung untersucbt
und wegen »Herzfehler** nicht aufgenommen.
Am 9. XL 1892. Einrücken in Ludwigsburg — im Anfang des Dienstes mehrere
Male besonders nach Anstrengung Atemnot und wurde von 6 verschiedenen Ärzten
zu verschiedenen Tageszeiten in der Revierkrankenstube — immer im Stehen —
untersucht — immer Diagnose »Herzfehler*.
Vom 17. XII. 1892 bis Weihnachten im Lazarett in Ludwigsburg — wegen »Herz-
fehler'' zum Landsturm 2. Aufgebotes ohne Waffen versetzt. Pat. hat nach seiner
eigenen Aussage die Beschwerden sehr übertrieben, weil er gern militärfrei werden
wollte. Nie Scharlach, nie Gelenkrheumatismus, überhaupt nie eine emstlicbe
Krankheit. Arhythmie wurde schon in den Knabenjahren konstatiert.
Pat. erinnert sich sehr genau, daß in der Schule die Kameraden sich gelegentlicb
den Puls fühlten und daß bei ihm leichte Unregelmäßigkeit zu finden war.
4. XII. 1906. Seit 3 Monaten hie und da leichte Atemnot, hie und da plötzlich
ein tiefer Atemzug. Pat ist der festen Oberzeugung, daß er einen Herz-
fehler habe, der Gedanke hat ihn seit 1892 nie völlig verlassen. Höbe
182 cm, Körpergewicht 95 kg, stramme Haltung, tadelloses Aussehen; beim Liegen
Puls 76, beim Stehen 80, selten 1 Schlag aussetzend. Herzdämpfung normal,
Herztöne tadellos rein, Blutdruck 120 mm — nach der tonometr. Untersuchung
Puls beim Liegen und beim Stehen ganz regelmäßig. Diagnose: leichte Herzneu-
rose, Arhythmie, sicher kein Klappenfehler. Pat. ist höchst freudig fiberrascbt»
daß er keinen Klappenfehler hat.
Diese kleine Auswahl von Fällen, welche ich Ihnen soeben zur
Kenntnis gebracht habe, hat Ihnen ohne Zweifel zur Genüge gezeigt,
daO die Erkennung der anorganischen bzw. kardiopulmonalen Ge-
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21] Ober kardiopulmonale GerSuscbe. 329
rausche von der allergrößten praktischen Bedeutung ist; die Unter-
scheidung derselben von den Geräuschen, welche bei organischen
Herzaffektionen vorkommen, ist eine der dankbarsten Aufgaben des
Arztes. Niemand wird in Abrede stellen, daß die Diagnose der Herz-
krankheiten heutzutage wie vor Dezennien fast ausschließlich auf der
physikalischen Untersuchung beruht; ebensowenig wird man be-
zweifeln, daß die richtige Diagnose das einzig maßgebende für die
Prognose und die Behandlung der Herzkranken ist. Es ist das un-
bestrittene Verdienst von Potain, daß er zuerst in klarer und scharfer
Weise auf die Merkmale aufmerksam gemacht hat, welche uns ermög-
lichen, die akzidentellen Geräusche von den organischen zu unter-
scheiden. Diese Merkmale, mittelst deren wir die k. p. Geräusche
erkennen und von den organischen unterscheiden können, sind Eigen-
tümlichkeiten der Klangfarbe und der Tonhöhe, des Sitzes,
des Rhythmus und der Veränderlichkeit.
1. Die Klangfarbe, der Timbre der k. p. Geräusche ist außer-
ordentlich verschieden. Die Geräusche sind weich, leise, hauchend,
schlürfend, aber manchmal sind sie auch laut, scharf und rauh; sie sind
anstreifend, kratzend, schabend, ähneln den perikarditischen Geräuschen
und werden auch oft mit solchen verwechselt; ja sie werden gelegent-
lich auch sehr laut und können ganz selten auch auf Distanz gehört
werden. So wurde beispielsweise von Bari 6 ein Geräusch auf mehrere
Meter Distanz gehört, ohne daß bei der Sektion die geringste Spur
von Veränderung an den Klappen gefunden werden konnte, und ich
selbst habe einmal (bei dem eingangs ausführlich beschriebenen 2. Falle)
das von Wintrich zuerst beschriebene, auf Entfernung hörbare „systo-
lische Knacken^^ wahrgenommen. Ausnahmsweise habe ich ein zischen-
des Geräusch gehört — „wie wenn Dampf aus einer engen Röhre
strömt^S — Verhältnismäßig selten bekam ich das als systolisches
Knisterrasseln von Bamberger zuerst beschriebene und oft von ihm
gehörte Geräusch zu hören; immer habe ich das dem Knistern ähn-
liche Geräusch nur am Lungenrande gehört und zwar nur bei der
Systole — niemals bei der Inspiration.
In einem Falle war das systolische Knisterrasseln besonders deutlich
hörbar, aber nur genau an der Hörstelle der Aorta; das Geräusch ver-
schwand sofort beim Aufrichten des Patienten; es ist sicher nicht — wie
Bamberger gemeint hat — durch Bewegung von Sekret in den feinen
Luftwegen zu erklären. Nach meiner Erfahrung nimmt besonders oft
das Geräusch an der Hörstelle der Pulmonalis einen Charakter an,
der an Knistern erinnert, und ich möchte vermuten, daß Potain und
Vaquez die schwer genau zu bestimmende Geräuschart mit der von
ihnen öfter beobachteten Eigenschaft „d'un froissement" bezeichnet haben.
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330 Hermann Müller, [22
— Nicht so selten haben die Geräusche auch einen musikalischen
Charakter — sie sind giemend, tönend, singend — allerdings niemals
so laut wie die Stenosengeräusche der Aorta. Diese giemende, tönende
Eigenschaft der k. p. Geräusche verdient eine besondere Erwähnung,
da gerade diese musikalischen Geräusche vielfach als charakteristisch
für Klappenfehler, Abreißung von Sehnenfäden u. dgl. gelten. — Vor
allem hat der Timbre in einer großen Zahl der Fälle einen ganz ober-
flächlichen Charakter, wie schon Laennec ganz richtig bemerkt hat.
Diese Eigenschaft ist oft sehr deutlich ausgesprochen und hat für den-
jenigen, der große Obung und Erfahrung im Auskultieren hat, etwas
sehr Charakteristisches. Diese Eigenschaft ist aber weder konstant
genug, noch so leicht zu bestimmen, daß man ihr einen sehr großen
Wert zugestehen kann. Einer der bezeichnendsten Charaktere ist ein
dem Vesikuläratmen identisches Timbre.
Die Tonhöhe der k. p. Geräusche ist fast nie so hoch wie die
der Geräusche bei Klappenfehlern.
Die beiden Eigenschaften der Klangfarbe und der Ton-
höhe haben nur mäßigen diagnostischen Wert. Ganz an-
ders ist es mit dem Sitz und dem Rhythmus der Geräusche,
welche zu den sichersten Kennzeichen der k. p. Geräusche
gehören.
Region pi^a o ^^ ^"^^^^^^FfhairH^^"''^ pirlnhindibulairt
J<^j3^^ius^pexienne
Region JfiphDtrftCTJia^^^jt^^^/^^S^g^Ss^^ Region
. ^ apexienne propf dirt
Zones err^gions correspondanf aux foyera des Souffles cardiaques
Um den Sitz der Geräusche genau festzustellen, hat Potain die
Herzgegend in 3 Zonen eingeteilt:
1. Zone Basilaire — Herzbasiszone,
2. Zone Mesocardiaque — mittlere Herzzone,
2. Zone Apexienne — Zone der Herzspitze.
Jede von diesen drei Zonen hat er wieder in Unterabteilungen ein-
geteilt.
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23] Ober kardiopulmonale. Geräusche. 331
Die Herzbasiszone wird in 2 Unterabteilungen eingeteilt: in eine
reclitsgelegene (r6gion preaortique), welche dem Ursprünge der Aorta
entspricht, und in eine linksgelegene (r6gion preinfundibulaire), welche
über dem Conus arteriosus der Pulmonalis und dem Anfangsteile der
Puimonalarterie liegt An beiden Stellen kann man k. p. Geräusche
hören; an der Hörstelle der Aorta sind sie nach Potain und
Vaquez äußerst selten, an der Hörstelle der Pulmonalis sehr
häufig. Nach meiner persönlichen Erfahrung sind sie an der Hör-
stelle der Aorta doch etwas häufiger, als die beiden französischen
Autoren annehmen; dagegen stimmen alle Untersucher, welche über
akzidentelle Herzgeräusche geschrieben haben, darin überein, daß
diese Art von Geräuschen sehr häufig an der Hörstelle der
Pulmonalis gefunden wird.
In der mittleren Herzzone hat Potain 3 Regionen unterschieden:
die Gegend vor dem linken Ventrikel (region preventriculaire gauche),
die Sternalregion (region sternale) und die Xiphoidesgegend (region
xiphoidienne). In der ersten Region werden sehr häufig k. p.
Geräusche gehört, während sie in den beiden anderen Regi-
onen recht selten zu hören sind.
Die Zone der Herzspitze teilt Potain in 4 Abteilungen ein:
1. eine r6gion susapexienne — direkt oberhalb der Herzspitze,
2. eine region apexienne proprement dite — eigentliche Herz-
spitzengegend,
3. eine region endapexienne — innerhalb von der Herzspitze, und
4. eine region parapexienne — außerhalb von der Herzspitze.
An einer von diesen 4 Regionen (Potain), in der Gegend der
eigentlichen Herzspitze, bekommt man fast nie k. p. Geräusche
zu hören; das Geräusch der Mitralisinsuffizienz hat immer genau an
dieser Stelle seine maximale Intensität. Im Gegensatz dazu sind
die Geräusche, welche ihr Punctum maximum innerhalb oder
außerhalb von der Herzspitze haben, immer anorganisch. Wenn
das Geräusch seinen Sitz in der mittleren Herzzone über
dem linken Ventrikel oder in der Spitzenzone innerhalb oder
außerhalb von der Herzspitze hat — so lautet die Lehre von
Potain — dann ist der Sitz des Geräusches allein schon
pathognomonisch. An diesen Stellen wird nach Potain mehr als die
Hälfte aller k. p. Geräusche beobachtet. Fast jedes Geräusch
(Potain), welches seine maximale Intensität an der Hörstelle der
Aorta oder direkt an der Herzspitze hat, ist organisch.
Bei meinen eigenen Untersuchungen, welche — wie ich schon
früher mitgeteilt habe — hauptsächlich an ambulanten Kranken
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332
Hcrauma Mfiller,
[24
macht worden sind,, war es mir nicht möglich, so genau auf den Sitz
der k. p. Geräusche zu achten, wie Potain und Vaquez es getan
haben. Bei einer größeren Zahl der von mir beobachteten Fälle habe
ich die Art der von andern Ärzten wahrgenommenen Herzgeräusche
lediglich daran erkannt, daO ich bei meiner Untersuchung überhaupt
kein Geräusch gehört habe. Insbesondere habe ich der genauen
Lokalisation der Geräusche in der Spitzenregion weniger Aufmerk-
samkeit geschenkt als Potain. Ich verzichte deshalb ganz darauf, wie
Potain über die Häufigkeit des Vorkommens der k. p. Geräusche an
den verschiedenen Stellen des Herzens zahlenmäßige Angaben zu
machen — meine eigenen Erhebungen sind, trotzdem auch ich tabel-
larisch darüber Protokoll geführt habe, zu lückenhaft. Nur das möchte
ich mit besonderem Nachdrucke erwähnen, daO nach meiner eigenen
Erfahrung die Geräusche am allerhäufigsten im 2. l. R. links vom
Soufnes prtsque Ivujours organiques.
SouFHes ie plus souven^ organiques.
5ouPfle5 leplus souvenr anorganiques.
öouPfles ^ouJours anorganiques.
Sternum, d. h. an der Hörstelle der Pulmonalis, gehört werden und
daß demnächst die Herzspitzenregion ein Lieblingssitz der k. p. Ge-
räusche ist. — Zudem ist die Bestimmung des Sitzes der maximalen
Intensität der Geräusche nicht immer leicht, denn die Geräusche haben
oft mehrfache maximale Stellen; besonders oft werden sie gleichzeitig
an der Hörstelle der Pulmonalis und in der Herzspitzenregion gehört,
ohne daß von einer Fortleitung von der einen zur anderen Stelle die
Rede sein kann.
Endlich gibt es noch eine Gegend — Potain — , wo man
niemals anorganische (k. p.) Geräusche hört und wo keine
vorkommen können; in der mittleren Herzregion, da wo keine
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25] Ober kardiopulmonale Geräusche. 333
Lunge zwischen Herz- und Brustwand eingelagert ist, im
Bereich der absoluten oder kleinen HerzdämpFung. Dieser
Lehre, welche Potain bekanntlich als den ersten Beweis dafür an-
fuhrt, daß die k. p. Geräusche tatsächlich im Lungengewebe entstehen,
mfissenwir auf das nachdrücklichste widersprechen. Ich habe
— wie ich glaube — den sicheren Beweis erbracht, daß die
Potainsche (von Wintrich begründete) Erklärung von der Ent-
stehung der k. p. Geräusche eine physikalische Unmöglichkeit
ist; daß die Geräusche in den Randzonen der Lunge unmöglich durch
Aspiration von Luft entstehen können, daß sie vielmehr teils durch
Reibung der Perikardialblätter aneinander, teils durch Quetschung
bzw. Schwingungen des Lungengewebes in den Randzonen der Lungen
erzeugt werden. Die Perikardialblätter liegen fortwährend mit spiegel-
glatten Flächen dicht aneinander; während der Herzrevolution, mit der
Form- und Lageveränderung, welche damit verbunden ist, findet eine
Verschiebung des innem Blattes des Herzbeutels dem äußern gegen-
über statt. Dabei muß ein Geräusch entstehen, das aber meist
für jedes menschliche Ohr unhörbar ist. Wenn ein beson-
derer Druck stattfindet, wenn, die Reibung eine besonders
intensive ist, entsteht ein hörbares Geräusch — und zwar nicht
nur an den Randzonen der Lunge, da wo die Lunge zwischen Herz
und Brustwand eingekeilt ist, sondern auch — allerdings viel seltener
-^ im Bereiche der absoluten Herzdämpfung. Sehr selten hört man
im ganzen Umfange der absoluten Herzdämpfung ein anstreifendes,
reibendes Geräusch (z. B. im früher zitierten Fall 10).
Dagegen gar nicht so selten, wie vielfach angenommen wird, hört man
diese Geräusche an einer sehr eng umschriebenen Stelle links unten neben
dem Sternum beim Ansatz der 5. oder 6. Rippe. Die Geräusche an
dieser Stelle sind mir schon aus der Biermerschen Klinik bekannt
(1870—1874). Die erste eingehende Schilderung derselben findet sich
in der klassischen Arbeit von Johannes Sei tz — Zur Lehre von der
Oberanstrengung des Herzens. 1874 — , der die Geräusche schon
ganz richtig durch Anstreifen des Herzens an seine Umgebung erklärt
hat. Die Klangfarbe der Geräusche, an dieser Stelle ist leicht schabend,
leckend, kratzend, anstreifend; sie sind meist systolisch, kurz und dem
Tone angehängt. Mehrere Male habe ich aber bisher auch ein diasto-
lisches, kurzes Anstreifen gehört. i) Auch Johannes Seitz hat das
diastolische Anstreifen schon beschrieben. Einmal habe ich auch an
der gleichen Stelle im Bereiche der absoluten Herzdämpfung ein
1) Das diastolische kann sogar stärker and von etwas längerer Dauer als das
systolische sein.
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334 Hermann Müller, [26
deutlich tönendes, giemendes, systolisches Geräusch gehört (jän-
gere Frau mit Thrombose der Pulmonalarterien, 1907), ohne daO
nachher bei der Sektion etwas am Herzbeutel oder im Innern des
Herzens gefunden werden konnte. — Es können also durch ein-
faches Gleiten der glatten Perikardialblätter übereinander
tönende Geräusche erzeugt werden! — Man kann den Charakter
dieses akzidentellen perikardialen Geräusches ganz täuschend repro-
duzieren, wenn man die linke Hand auf das eigene linke Ohr auflegt
und mit dem Perkussionsfinger der rechten Hand auf den Rücken der
linken Hand eine leicht klopfende und gleichzeitig kurze, schleifende
Bewegung ausführt.
Wer immer sich die Mühe nimmt, bei der Auskultation des Herzens
besonders bei Herzschwäche oder bei Herzdilationen infolge chronischer
Muskelerkrankung auch die eben genannte etwas stiefmütterlich be-
handelte Stelle noch wenige Augenblicke zu behorchen, und wer es
namentlich nicht versäumt, diese Stelle auch im Stehen zu untersuchen,
der ist überrascht, wie oft dieses kurze leckende, anstreifende, leicht
schabende Geräusch gehört werden kann. Vielfach hat man diese
„akzidentellen Reibegeräusche^^ oder pseudoperikardialen Geräusche
auf abnorme Trockenheit des Herzbeutels oder auf Sehnenflecke zurück-
geführt.^) Noch häufiger aber wird fälschlich Herzbeutelentzündung
diagnostiziert. Leider können wir auf diese praktisch wichtigen Dinge
nicht näher eingehen, weil sie uns zu weit ab von unserm Thema führen
würden. — Es leuchtet ein, daß wegen der gleichartigen Ent-
stehung der sog. kardiopulmonalen oder Herzlungengeräusche
und der pseudoperikardialen Geräusche deshalb die Bezeich-
nung kardiopulmonale oder Herzlungengeräusche nicht korrekt ist; es
wäre darum — wie ich glaube — besser, diese Bezeichnung
ganz fallen zulassen, und einfach entweder von akzidentellen
oder falschen Herzgeräuschen zu reden im Gegensatz zu den
wahren Geräuschen, welche auf einer anatomischen Veränderung des
Herzens beruhen.
3. Die Art der Verbreitung der Geräusche ist bei den orga-
nischen und akzidentellen Schallerscheinungen eine recht verschiedene.
Die Geräusche, welche bei den Ventilfehlern entstehen, verbreiten sich
im allgemeinen mehr oder weniger vom Entstehungsherde und zwar
in einer Richtung, welche einem jeden Klappenfehler eigen ist. Die
organischen Geräusche pflanzen sich z. B. sehr oft gegen die Achsel-
höhle oder nach der Klavikula fort; sehr oft werden sie auch am
1) Jürgensen hat das falsche perikarditische Reiben für ein Herzmuskel-
geräusch erklärt und gar nicht so selten bei vielen Infektionskrankheiten gehört.
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27] Ober kardiopulmonale Geräusche. 335
Rücken, besonders links von der Wirbelsäule wahrgenommen oder sie
pflanzen sich weiter in die groOen Gefäße fort. Die k. p. Geräusche
sind öfter ganz zirkumskript, werden nur an einer ganz eng um-
grenzten Stelle, welche mit dem Trichter des Stethoskopes bedeckt
werden kann, gehört; sie pflanzen sich meist sehr wenig oder
gar nicht fort. Niemals — das muO nochmals mit größter Ent-
schiedenheit hervorgehoben werden — sind die valvulären Geräusche auf
einen so engen Raum begrenzt. Das ist für den erfahrenen Beobachter
von allergrößtem diagnostischen Wert — ein besonders zuverlässiges
physikalisches Zeichen. Hat in solchen Fällen, was öfter gerade am Ur-
sprünge der großen Gefäße zutrifft, der Klangcharakter der Geräusche
Ähnlichkeit mit den häufig engumschriebenen organischen perikardi-
tischen Geräuschen, dann wird leicht die falsche Diagnose «Perikar-
ditis^ gemacht. Allerdings können sich die k. p. Geräusche oft an
mehreren Stellen, ja sogar entlang dem ganzen linken oder — seltener
— dem rechten Lungenrande entwickeln, ohne daß es sich um eine
eigentliche Propagation handelt; da muß man dann genau auf den
Rhythmus achten.
4. Von viel größerem diagnostischen Werte als die Be-
stimmung des Sitzes ist für den praktischen Arzt die genaue Beob-
achtung des Rhythmus der Geräusche. Unter Rhythmus der Ge-
räusche verstehen wir die genauen Beziehungen derselben zu den
Phasen der Herzbewegung und zu den normalen Tönen.
Die k. p. (akzidentellen) Geräusche sind meistens systolisch.
Sie bieten bei scharfer Beobachtung einige Eigentümlichkeiten, die zu
erkennen von der größten Wichtigkeit ist. Zur genaueren Differen-
zierung derselben von den organischen Geräuschen unterscheidet
Potain holosystolische (o^o^ » ganz) Geräusche, d. h. solche, welche
die ganze Systole ausfüllen, und merosystolische {\Upo^ = Teil) Ge-
räusche, d. h. solche, welche nur einen Teil der Systole einnehmen.
Unter den merosystolischen Geräuschen unterscheidet Potain:
a) protosystolische (-pcoToc => der erste), die ganz im Anfange
der Systole entstehen und rasch aufhören,
b) mesosystolische (p.£ao; ^ Mitte), welche in der Mitte der
Systole beginnen und endigen, bevor man den zweiten Ton
hört, und
c) telosystolische (xilot; » Ende), welche nur gegen das Ende der
Systole gehört werden.
Bei den Klappenfehlern sind die Geräusche — Potain —
immer holosystolisch, sie füllen die ganze Systole aus. Die an-
organischen Geräusche sind fast immer merosystolisch, sie
nehmen nur selten die ganze Systole ein. Nach Potain ist der
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336 Hermann Mfiller, [28
mesosystolische Rhythmus der k. p. Geräusche weitaus der
häufigste; er ist nach Potain absolut charakteristisch ffirdie
k, p. Geräusche. —
Damit stimmt meine Erfahrung im großen und ganzen liberein und
wenn ich nicht so ganz feine Unterschiede im Rhythmus der Ge-
räusche wie Potain gemacht habe und speziell auf die Unterscheidung
von telosystolischen Geräuschen, welche innerhalb von der Herz-
spitze noch mehr verspätet als an den andern Stellen der Spitzen-
region entstehen sollen, keinen Wert lege, so möchte ich doch ein
ganz besonderes Gewicht darauf legen, daß namentlich dann, wenn
die Geräusche ihren Sitz über dem linken Ventrikel oder in
der Gegend der Herzspitze haben, das k. p. Geräusch sehr
deutlich mit einem Tone anfängt, während die Geräusche
an der Herzbasis, also hauptsächlich an der Hörstelle der
Pulmonalis, genau mit dem systolischen Tone einsetzen,
protosystolisch sind. — Die Schallerscheinungen, „welche sich an den
ersten Ton anschließen^^, „welche dem Tone nachschleppen oder an-
gehängt sind^^ — wie diese akustische Erscheinung von den verschie-
densten deutschen Autoren beschrieben wird — das perisystolische
Geräusch (Bamberger) und das prädiastolische Geräusch (Sahli)
sind sicher keine Insuffizienzgeräusche. Wir wollen die von Potain
gewählte Bezeichnung „mesosystolisches Geräusch^^ beibehalten.
Wir werden später noch hören, daß das Geräusch fast mathematisch
genau in der Mitte des systolischen Tones anfängt, denselben aller-
dings aber oft überdauert. So ist also das Verhalten eines Mitral-
klappengeräusches zum ersten Tone von größter Bedeutung für die
Diagnose^ und wer es durch Übung erlernt hat, streng auf den Rhythmus
eines systolischen Geräusches in der Herzspitzenregion zu achten, der
wird leicht diagnostische Irrtümer vermeiden.
Recht oft ist der mesosystolische Rhythmus so evident, daß auch
der weniger Geübte, wenn er einfach aufgefordert wird, ganz genau
die Aufmerksamkeit auf den Rhythmus zu konzentrieren, mit Leichtig-
keit' hört, daß das Geräusch erst ein kurzes Weilchen — ich will
hier schon bemerken, daß diese Zeit selbstverständlich der
Verschlußzeit entspricht — nach dem Beginn des ersten Tones
auftritt. Je größer die Übung des Untersuchers ist, desto rascher
erkennt er das besonders zuverlässige Auskultationsphänomen. Ist die
Entscheidung, ob ein Ton neben dem Geräusche hörbar ist und in
welchem Momente der Ton genau beginnt, schwierig zu treffen, so
kann man sich mit Vorteil des bekannten Kniffes bedienen und das
Ohr ganz wenig vom Stethoskope abheben — der Ton tritt dann oft
deutlicher hervor und der Rhythmus wird besser erkannt.
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29] Ot>cf kardiopulmonale Geräusche. 337
Die von Potain aufgestellte Regel, daß ein mesosysto-
lisches Geräusch sicher ein anorganisches sei, erfährt nur
eine Ausnahme, v. Noorden hat darauf aufmerksam gemacht, daß
bei Stenose der Aorta nicht selten das systolische Geräusch mit einem
Tone anfangt Ich selbst habe schon seit vielen Jahren in den Fällen
von Aortenstenose, bei denen die maximale Intensität des Geräusches
an der Herzspitze war, weshalb anderwärts Insuffizienz der Mitrallclappe
diagnostiziert wurde, die Diagnose Stenose der Aorta besonders des-
halb stellen können, weil das Geräusch sehr deutlich — sogar be-
sonders deutlich, der verlängerten Verschlußzeit entsprechend, mit
einem Tone angefangen hat.
Aber auch die diastolischen akzidentellen Herzgeräusche sind
nicht solche Raritäten, wie von vielen Autoren behauptet wird. Wohl
der erste, der das Vorkommen von einem diastolischen akzidentellen
Herzgeräusch bei einem Falle von höchster Oligämie nach kopiösen
Darmblutungen — Sektion: höchste Anämie, Verfettung des Herzens
— beschrieben hat, ist Friedreich (1862). Nach ihm haben King
(1871) und Strümpell (1876) je einen Fall von tiefer Anämie be-
schrieben, wo ebenfalls ein diastolisches Herzgeräusch zu hören war.
Ich selbst habe im Jahre 1877 in meiner Monographie „Die progres-
sive, perniziöse Anämie^^ (62 Fälle) 7 Fälle publiziert, bei denen in
sehr vorgerücktem Stadium der Krankheit, meist bei gleichzeitig vor-
handenem Venenpuls und nachweisbarer Dilatation der Herzhöhlen
(Herzverfettung) ein diastolisches Geräusch am Herzen zum Vorschein
kam. Eichhorst (1878) hat in 3 von 7 Fällen bei perniziöser Anämie
ebenfalls ein diastolisches akzidentelles Geräusch beobachtet. — Potain
hat 20mal diastolische Geräusche gefunden und zwar bei den ver-
schiedensten Krankheiten (mit Ausschluß der perniziösen Anämie, die
anscheinend von Potain nie beobachtet wurde). — Unter den ca.
260 Fällen, welche ich dieser Arbeit zugrunde gelegt habe, habe ich
8mal diastolische Geräusche beobachtet (also im ganzen 15 Fälle mit
diastolischem Geräusche — nicht mitgerechnet die Fälle von diasto-
lischem akzidentellen Reibegeräusch links unten neben dem Ster-
num)i).
Ich will heute nicht näher eingehen auf diese Fälle, nur das eine
möchte ich feststellen, daß auch die diastolischen akzidentellen
Geräusche unzweifelhaft in gleicher Weise entstehen wie
1) Die diastolischen Geräusche sind ebenfalls meist dem Tone angehängt (meso-
diastolisch). Ihr Sitz ist entweder die Herzbasis , nach Potain hauptsächlich an
der Hörstelle der Aorta oder an der Herzspitze, nach meiner eigenen Erfahrung
daselbst sogar häufiger.
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338 Hermann Müller, [30
die systolischen — durch Reibung der Perikardialblatter
aneinander bzw. durch Quetschung der Randpartien der
Lungen. Während der Diastole gleitet das Herz auf dem
gleichen Wege, den es während der Austreibungszeit gemacht
hat, zurück und nimmt genau seine ursprüngliche Stelle
wieder ein. Alle andern Erklärungsversuche, wie z. B., daß die
diastolischen Geräusche fortgeleitete Venengeräusche seien (Sahli,
Krehl u. a.), halten vor einer strengen Kritik nicht stand und sind
an Hand der einzelnen Beobachtungen mit Leichtigkeit zu widerlegeD.^
5. Die k. p. Geräusche sind recht häufig durch eine außer-
ordentliche Veränderlichkeit ausgezeichnet; sie können erscheinen,
verschwinden, Ort, Rhythmus und Klangfarbe können von einem Tag
auf den andern, ja von einem Augenblicke zum andern wechseln. So
kommt es oft vor, daß der eine Untersucher ein lautes Herzgerausch
wahrnimmt, das ein zweiter kurze Zeit nachher nicht mehr hören
kann. Die k. p. Geräusche sind auch veränderlich bezüglich ihres
Sitzes; ein Geräusch, das sich zuerst im 2. L R. links hörbar macht,
findet sich kurze Zeit später an der Spitze oder umgekehrt. Dieser
auffallende Wechsel ist z. B. bei der Chlorose schon lange bekannt,
aber nur vielfach wieder vergessen worden.
Der Wechsel der k. p. Geräusche findet entweder spontan
statt oder infolge von veränderter Herztätigkeit oder unter
dem Einflüsse von Änderung der Atmung oder bei Wechsel
der Lage des Patienten.
a) Es ist schon lange bekannt, daß im Beginne der Krankenunter-
suchung die Herzaktion oft aufgeregt ist. Schon Celsus hat den Rat
erteilt, den Puls nicht am Anfange der Untersuchung zu zählen, da er
dann leicht frequenter ist, und besonders Bamberger hat nachdrack*
lieh darauf aufmerksam gemacht, wie wichtig für die Vornahme der
Herzuntersuchung körperliche und psychische Ruhe des zu Unter-
suchenden sei, da sonst selbst der Geübte den gröbsten Täuschungen
ausgesetzt sei. Gar nicht selten hört man, wenn die Untersuchung
des Herzens mit der Auskulation angefangen wird, ein lautes systo-
lisches Herzgeräusch, das nach kürzerer oder längerer Ruhe auf dem
Untersuchungsbette vollständig verschwindet. Wiederholt habe ich
ein Geräusch nur ganz kurze Zeit, kaum eine Viertelsminute lang,
gehört. Meine Schüler erinnere ich deshalb öfter an die Regel, die
1) Wer sich für dieses spezielle Kapitel näher interessiert, findet in einer kiirz-
lieh erschienenen Zürcher Dissertation die von einem meiner Schüler (Charles
Favre, Ober diastolische, akzidentelle Herzgeräusche. 1907) die genaue Schilderung
der Potain sehen, meiner und der meisten bisher veröffentlichten Fälle.
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31] Über kardiopulmonale Geräusche. 339
Herzuntersuchung nicht mit der Auskultation, sondern mit der Inspek-
tion und Perkussion zu beginnen. Da man gewöhnlich eine Hörstelle
nur wenige Sekunden behorcht, macht man sehr leicht falsche dia-
gnostische Schlässe, wenn ein Geräusch am Herzen gehört wird.
Umgekehrt hat man die Behauptung aufgestellt — und in der
Sprechstunde des Arztes wird noch sehr häufig auf diese Art die
Funktion des Herzens geprüft—, daO manche organischen Herzgeräusche
erst durch Herumlaufen im Zimmer, durch einige Turnübungen oder
durch öfteres tiefes Einatmen u. dgl. hörbar gemacht werden können.
Das ist ein großer Irrtum! Alle Herzgeräusche, die in der Ruhe ganz
fehlen und erst bei Anregung der Herztätigkeit zum Vorschein kommen,
sind sicher akzidentelle. Auch die leichten perikardialen Reibege-
räusche, welche erst auf diese Weise bemerklich werden, sind keine
echten Reibegeräusche. Ja selbst die schwachen Geräusche, welche
durch Bewegung eine bedeutende Verstärkung erfahren, sind meist
keine organischen Geräusche.
b) Laennec, der berühmte Erfinder der Auskultation, der bekannt-
lich auch die anorganischen Geräusche schon genau kannte, hat geglaubt,
daß ein Herzgeräusch, welches seinen Sitz in der Lunge hat, ver-
schwinden müsse, wenn die Atmung unterbrochen wird. Viele Autoren
sind noch heute der Meinung, daß man so am leichtesten und ganz
rasch die Herzlungengeräusche erkennen und diagnostische Irrtümer
vermeiden könne. Das ist aber noch lange nicht immer . der Fall.
Hier und da verwandelt sich das k. p. Geräusch bei forcierter Ein-
atmung in ein sakkadiertes Geräusch. — Bei tiefer Einatmung kann
das k. p. Geräusch beträchtlich an Intensität abnehmen oder selbst
ganz verschwinden und bei der Exspiration wird es bedeutend stärker.
Auch das trifft aber lange nicht in allen Fällen zu. Hier und da
kommt es sogar nur auf der Höhe der Inspiration oder nur bei der
Exspiration zustande. Niemals erfährt ein im Innern des Her-
zens entstehendes Geräusch eine so erhebliche Änderung
der Stärke während der Ein- und Ausatmung. Die Abschwä-
chung der sicher organischen Geräusche, welche durch die Vorlage-
rung der Lunge bedingt wird, ist nach meiner Erfahrung niemals
beträchtlich.
c) Besonders charakteristisch und absolut beweisend für
die Diagnose ist der Wechsel der anorganischen Geräusche
bei Änderung der Lage des Kranken. Von einigen Autoren wurde
schon früh darauf hingewiesen, daß die anorganischen Geräusche bei
Lagewechsel einer Veränderung unterworfen sind, wie sie bei den
organischen Geräuschen nicht in gleichem Maße vorkommt. Herz-
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340 Hermann Müller, [32
geräusche, die nur im Liegen oder nur im Sitzen oder Stehen hörbar
sind, sind niemals Klappengeräusche. Recht häufig ist dieser Wechsel
ein ganz auffälliger; ein Geräusch, das im Liegen hörbar ist, kann
spurlos verschwinden beim Aufstehen oder umgekehrt. Geräusche,
die nur hier und da einmal in der rechten oder linken Seitenlage
gehört werden, sind niemals organische Geräusche. Auch Geräusche,
die bei Lagewechsel beträchtlich zu- oder abnehmen, sind sicher k. p.
Geräusche. Es muO deshalb mit gebührendem Nachdrucke
und wiederholt jedem, der eine Herzuntersuchung zumachen
hat, der Rat erteilt werden, die Untersuchung in verschie-
denen Positionen — im Liegen und im Stehen — vorzunehmen,
wenn ein Geräusch am Herzen gehört wird, und es ist selbst-
verständlich ganz gleich, ob die Untersuchung zuerst am Stehenden
oder am Liegenden vorgenommen wird. Mir macht es bestimmt den
Eindruck, daß besonders häufig im Stehen Herzgeräusche gehört
werden, die akzidenteller Natur sind. Ich selbst untersuche das Herz
fast immer zuerst in liegender Position des Kranken und ich halte es
geradezu für einen Kunstfehler, wenn — wie das so sehr häufig ge-
schieht — die Untersuchung des Herzens nur im Stehen vorgenommen
wird. — Wenn aber ein Geräusch bei Lagewechsel sich nicht ändert,
so ist es nicht notwendigerweise ein organisches Geräusch; denn
viele anorganischen Geräusche ändern sich kaum bei Lagewechsel. —
Die organischen Geräusche sind lange nicht in dem Maße einer Ver-
änderung fähig; sie sind im allgemeinen fix und verschwinden kaum
mehr. Wenn vielleicht eine Ausnahme zu machen ist für die Mitral-
stenose und die Trikuspidalisinsuffizienz, so dürfte die Diagnose meist
keine ernstlichen Schwierigkeiten bereiten, denn der erste dieser Herz-
fehler ist durch eine Reihe anderer physikalischer Erscheinungen
(perkussorischer und auskultatorischer) ausgezeichnet und der zweite
ist am positiven Venenpuls leicht zu erkennen.
6. Endlich ist für die Differentialdiagnose der Geräusche noch die
Palpation zu verwerten. Akzidentelle Geräusche werden nie-
mals durch das Gefühl wahrgenommen. Das Schwirren, welches
manchmal bei tiefen Anämien (z. B. bei der perniziösen Anämie) nach-
gewiesen werden kann, ist der fühlbare Ausdruck der durch die Ver-
fettung des Herzmuskels bedingten muskulären Insuffizienz.
Die Entstehung des Herzstoßes und der Herztöne. — Zum
Verständnis der physikalischen Phänomene, welche wir im vorher-
gehenden geschildert haben, sind einige Bemerkungen und physiolo-
gische Kenntnisse notwendig, und ich muß zunächst meine Ansicht
über die Entstehung des Herzstoßes und über die Entstehung der
Herztöne, die von den gangbaren Erklärungen in einigen nicht un-
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33] Ober kardiopulmonale: .Geräuscke. 341
iii^esentlichen Punkten ab axicht, feststellen. Die Literatur über ded
HerzstoO und über die Entstehung der Herztöne ist eine aufierordent-^
lieh große und es kann heute selbstverständlich nicht meine Aufgabe
sein, auf dieselbe näher einzugehen. Ich berücksichtige jetzt nur die
allerneuesten Lehrbücher bzw. die neuesten Auflagen derselben (Sahli,
Untersuchungsmethoden. i005. Romberg, Herzkrankheiten. 1906.
Hermann, Physiologie. 1905. Tigerstedt, Physiologie. 1907).
Bekanntlich hat Martius, der nach der Markiermethode (Marey)
die Herztöne nach dem Gehör auf der HerzstoOkurve mittels eines
elektrischen Signals verzeichnet hat, die Lehre aufgestellt, daß die
ganze Erscheinung des Herzstoßes in die Verschlußzeit fällt;
d. h« in die Zeit, in welcher noch alle Klappen geschlossen sind.
In seiner Abhandlung „Ober den Herzstoß des gesunden und kranken Men-»
sehen** (1894) sagt Martius: „Wir können den Vorgang des Herzstoßes ohne wei-
tere Hilfsmittel durch reine Betrachtung noch weiter analysieren. Wenn man einen
gut ausgebildeten Spitzenstoß eines jugendlichen Individuums aufmerksam befühlt^
so kann man meist deutlich 3 Phasen des Vorgangs unterscheiden: I. ein Vorge-
wölbtsein der Brustwand, 2. ein mehr oder weniger brüskes Zurücksinken derselben,.
3. eine Pause, während welcher nichts von Bewegung gefühlt wird.**
Dieser Lehre habe ich seinerzeit in einem Vortrage „Eine neue Theorie des
Herzstoßes (1896)** Opposition gemacht und habe gezeigt, daß wir — hie und da —
am Vorgange der Herzbewegung deutlich 4 Phasen unterscheiden können: 1. eine
kleine hügelige Hervorwölbung, 2. eine wellenförmige, pendelartige Bewegung nach
rechts, 3. 2 — 3 cm nach innen von der systolischen Hervorwölbung eine zweite etwas
weniger starke und weniger umfangreiche Hervorwölbung, welche nach der Aus-
kultation ganz deutlich mit dem 2. Tone zusammenfällt, 4. eine ächattenartige,
rückläufige blitzschnelle Bewegung von der Stelle des 2. Stoßes zur Stelle des 1.
(Das — wie ich glaube — von mir zuerst beschriebene Phänomen des doppelten
Herzstoßes habe ich als Ictus cordis alternans bezeichnet.) Die erste Hervorwöl-
bung führte ich — wie Martius — auf die Verschlußzeit zurück.
Ich hatte damals — wie Martius, R. Geigel und zahlreiche
andere — noch nicht genügend bedacht, daß wir mit dem einfachen
Gehör überhaupt gar nicht imstande sind, den Anfang ein^s
Herztones zeidich genau zu markieren. — Untersuchungen von Schmidt,
Härthle, Hilbert, Hochhaus u. a. haben außerdem gezeigt, daß
die Periode der Vorwölbung länger dauert als die Verschlußzeit, und
daß der Karotispuls beginnt, bevor das Ansteigen des Herzstoßes den
Gipfel erreicht hat. Die meisten modernen Kliniker haben deshalb
die Marti ussche Lehre, daß der Herzstoß eine Funktion der Ver-
schlußzeit sei, verlassen und geben nur zu, daß an der Bildung des
Herzstoßes die Formveränderung des Herzens während der
Verschlußzeit, die plötzlich eintretende Härte desselben den größten
Anteil haben. Auch das möchte ich bezweifeln und bin der Meinung,
daß der Herzstoß hauptsächlich in den Anfang der Austrei-
bungszeit fällt und wesentlich abhängig ist von der Be-
Klln. Vorträge, N. F. Nr. 500/01. (Innere Medizin Nr. 147/4a) Sept. 1908. 24
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342 Hermann Mfiller, [34
wegung des Herzens, welche dasselbe durch die Gerade-
streckung der Aorta, durch Spreizung des Aortenbogens beim
Ausströmen des Blutes erfährt. Durch eine einfache Fragestellung
bin ich dazu gekommen, die geläufige Lehre von der Entstehung des
HerzstoOes in diesem Sinne zu korrigieren. Ich habe mich gefragt:
Wie groß kann die Formveränderung des Herzens sein, die während
der Verschlußzeit entsteht, während welcher die Wandung des blut-
gefüllten Herzens sich um den inkompressiblen Inhalt zusammenzieht und
den Druck so steigert, daß die Taschenklappen erö£Pnet werden? Darauf
mußte ich antworten: Die Formveränderung des Herzens wäh-
rend der Verschlußzeit kann nur eine geringe sein undjeden-
falls nicht so groß, daß sie den sichtbaren Herzstofl erzeugen
kann.
Durch weitere Überlegung bin ich dazu gekommen, zu sagen:
1. Wenn der erste Ton an der Spitze wirklich ein Klappen-
ton ist und durch Spannung der Vorhofsklappen entsteht,
dann kann er nur so lange dauern wie die Verschlußzeit.
2. Der 1. Ton an der Herzbasis, der nach der bisher all-
gemein akzeptierten Lehre von Bamberger durch plötzliche
Spannung der Arterienwand im Wurzelgebiete der großen
Gefäße entsteht, muß etwas später eintreten als der 1. Ton
an den Atrioventrikularklappen.
Ich habe daraufhin gesucht und in Pflügers Archiv für Physiologie
(1804) eine oft zitierte, aber offenbar wenig beachtete Arbeit gefunden,
welche meine aprioristischen Schlußfolgerungen glänzend
bestätigt hat.
Einthoven und Geluk haben durch einen sehr ingeniösen Apparat unter
Anwendung eines äußerst empfindlichen Mikrophons die Herztöne aufgenommen
und zwar haben sie mittels eines Kapillarelektrometers die Stromschwankungen,
welche durch die Erregung eines stromdurchflossenen Mikrophons hervorgerufen
werden, photographisch registriert — unter gleichzeitiger Anwendung des Kardio-
graphen. Ich habe mich durch Rücksprache mit Kollegen Höber vergewissert,
daß die Versuchsanordnung von Einthoven von größter Zuverlässigkeit ist Mit
einer bisher unerreichten Genauigkeit bis auf einige Zehntausend-
stel einer Sekunde kann der Anfang jedes Tones bestimmt werden.
„Die Kurve C stellt das menschliche Kardiogramm dar, S ist die Zeitlinie,
deren jede Abteilung 0,02 Sekunden entspricht. Die breiten Streifen 1 und 2 be-
deuten den 1. und 2. Herzton. Der 1. Ton tritt eher an der Herzspitze als
im 2. Interkostal räum hervor; bei a fängt der 1. Spitzenton an, bei b der
1. Aorta- und Pulmonalton. (Weder vom 1. noch vom 2. kann der genaue Zeit-
punkt angegeben werden, worauf sie endigen; dieser Zeitpunkt muß irgendwo in
den schraffierten Stücken cd und fg gefunden werden.) An der Herzspitze ist der
1. Ton schon vorhanden — bei ' aai — vor dem Anfange des Kardiogrammes.
Dieses Ergebnis könnte auf verschiedene Weise gedeutet werden, wir gehen jedoch
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35]
Ober kardiopulmonale Geräusche.
343
nicht näher darauf ein, weil das Zeitintervall nur klein ist. Eine größere Be»
deutung hat die Tatsache, daß im 2. LR. der I.Ton in dem Augenblick
anfängt, wo ungefähr die Hälfte des anakroten Teiles des Kardio-
gramms vollendet ist (bbi).
„NE^enn wir uns die Frage stellen, welchem Umstände es zugeschrieben werden
muß, daß der 1. Ton als Aorta« oder Pulmonalton so viel später als der 1. Spitzen-
ton anfängt, so erblicken wir zwei Möglichkeiten. Entweder man hört im 2. Inter-
kostalraume als 1. Ton einen andern Schall als an der Herzspitze — und zwar
hervorgerufen durch die plötzliche Spannung der Arterienmembran
— oder die Semilunarklappen verhindern — solange sie noch geschlossen sind —
die Fortpflanzung des Tones von den Ventrikeln nach den Arterien. In beiden
Fällen wird der 1. Ton im 2. I. R. anfaj^gen müssen in dem Augenblicke, wo die
Semilunarklappen sich öffnen, und dariaus folgt, daß der Anfang dieses Tones
ein ausgezeichnetes Mittel darstellt, diesen Zeitpunkt zu bestimmen
(siehe das Kardiogramm bi).
Der Anfang des 2. Tones liegt im Kardiogramm bei Ci und gibt hier den Zeit-
punkt an, wo die Semilunarklappen geschlossen werden. Die ganze Herzsystole
muß also in 2 Perioden geteilt werden, die 1. aibi — durchschnittlich
0,061 Sekunden andauernd — worin der Druck in den Ventrikeln sich erhöht,
aber doch noch ungenügend bleibt, das Blut in die Arterien zu treiben — d ie 2.
biCi, die Austreibungsperiode des Blutes, anfangend mit der Öffnung,
endigend mit der Schließung der Semilunarklappen."
[äl.
I I I
I I I I
I I I I I I 1 I I I I I I I I I
Die genaue Prüfung des Einthoven sehen Kardiogrammes ergibt
in der Tat:
1. Erst am äußersten Ende der Systole sinkt das Plateau der Kurve,
das sich gegen die Abszisse neigt, kaum merklich unter die Stelle,
welche im aufsteigenden Schenkel während der Verschlußzeit erreicht
worden ist; daraus ergibt sich, daß die Ursache des normalen
Herzstoßes zur Hauptsache in der Bewegung zu suchen ist,
welche das Herz beim Auströmen des Blutes erfährt.
2. Die Äustreibungsperiode dauert fast 5mal länger als
die Verschlußzeit.
3. Der systolische Ton an der Herzspitze, der auch für das
Ohr erkennbar länger ist als der 1. Ton an den großen Gefäßen, nimmt
nicht ganz die Hälfte der Systole ein; er klingt ganz genau
24*
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344 Hermanii Muller, . [36
SO viel länger als der 1. Ton an der Herzbasis, als die Ver-
schlußzeit dauert.
4. Der 1. Ton an den großen Gefäßen dauert genau so
lange wie der 2. Herzton.
Die Pause zwischen den beiden Herztönen dauert etwas länger als
der systolische Ton. Es ist deshalb ganz falsch, wenn in einem be-
kannten Lehrbuche der Physiologie die Lehre verbreitet wird — „der
1. Herzton hält so lange an wie die Sysiole der Kammern''* Wäre
dem so, so würden wir ja gar keine Pause zwischen den beiden
Tönen hören, die beiden Töne müßten in einen verschmelzen. Aus
dem gleichen Grunde kann aber auch der L Herzton unmöglich aus-
schließlich ein Muskelton oder ein Spannungston sein, der während
der ganzen Systole durch Spannung der ganzen Umwandung des
Ventrikels erzeugt wird. Die Frage, ob nicht der Herzmuskelton als
Komponente des 1. Herztones anzunehmen sei, ist seit den Ex-
perimenten von Ludwig und Dogiel (1868), welche gezeigt haben,
daß man den ersten Ton auch am herausgeschnittenen, blutleeren
Herzen hört, oft und viel diskutiert worden und der Streit ist auch
heute noch nicht entschieden. Ich muß es mir versagen, hier auf die
Streitfrage näher einzugehen. Nur das muß erwähnt werden: Blut-
druckversuche am schlagenden Herzen haben gezeigt, daß die Druck-
zunahme, welche ja nur von der Zuckung abhängt, bis gegen das
Ende der Systole anhält, oft kurz vor dem 2. Tone erst ihren Höhe-
punkt erreicht. Desgleichen ergeben die Aktionsströme des mensch-
lichen Herzens, wie noch jüngst von Einthoven durch photogra-
phische Registrierung der Ausschläge seines Saitengalvanometers nach-
gewiesen worden ist, daß die Kammersystole einer einfachen Muskel-
zuckung gleichzustellen ist und nicht als eine summierte Zuckung aufge-
faßt werden kann. Zudem sind nach meiner Meinung die physikalischen
Bedingungen für das Zustandekommen eines Tones am herausge-
schnittenen blutleeren Herzen ganz andere als an dem blutgefüllten
lebenden Organe. Ich meinerseits bezweifle ganz entschieden, dai^
dem Herzmuskelton — wenn überhaupt ein solcher entsteht — ein
nennenswerter Anteil an der Bildung des 1. Herztones zugeschrieben
werden kann. Die klinische Erfahrung spricht gar nicht dafür und
es ist durchaus nicht nötig, die alte bewährte Lehre, daß die Herztöne i)
nur durch Spannung von elastischen Membranen entstehen, zu ver-
1) Daß der 1. Spitzenton aus 2 Komponenten besteht, ist übrigens schon lange
nachgewiesen worden. Wintrich hat vermittelst passender Resonatoren beide
Töne voneinander unterscheiden können: den helleren, kürzeren Klappentoo, sovie
das „tiefere, längere Muskelgeräusch ^.
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37] Ober kardiopulmonale Geräusche. 345
lassen. Wenn während der Verschlußzeit der Ventrikel plötzlich die
ganze Umwandung in Spannung versetzt wird^ ist es begreiflich^ daß
hiebei die zarten elastischen Vorhofklappen weit geeigneter zur Ton-
bildung sind als die dicke Muskulatur — das lehrt schon die Ent-
stehung des 2. Tones, der nach der unbestrittenen Annahme aller nur
.durch Spannung, durch den plötzlichen Schluß der Semilunarklappen
hervorgebracht wird. In gleicher Weise ist auch der rasch auf die
sehr elastische Äortenwandung ausgeübte Druck, bedingt durch das
nach Öffnen der Semilunarklappen hervorstärzende Blut, viel eher die
Ursache eines Tones als der bei der Herzkontraktion langsamer auf-
tretende, auf die viel weniger elastische Herzwandung erfolgende
Gegendruck des Blutes.
Der 1. Ton über den Kammern baut sich demnach aus 2
Bestandteilen auf: aus einem Tone, der durch Anspannung
der Vorhofsklappen (plus Semilunarklappen), und aus einem
Tone, der durch Schwingungen der elastischen Membran im
Wurzelgebiete der großen Gefäße erzeugt wird. In der Poli-
klinik pflege ich der Kürze halber die erste etwas kürzere Kompo-
nente des 1. Herztones als „Verschlußton'' und den 2. etwas längeren
Teil als »Austreibungston^ zu bezeichnen. — Der Austreibungs- oder
Gefaßton wird natürlich, da die Türe zwischen der. Kammer und
Aorta ofi^en ist, noch besser nach der Herzspitze fortgeleitet als der
2. Ton, der durch Schluß der Semilunarklappen entsteht und bei ver-
schlossener Türe nach der Hörstelle der Mitralis fortgeleitet wird. -
Der allgemeine Brauch, den 1. Ton an der Herzspitze oder rechts
unten am Sternum als Mitral- oder Trikuspidalklappenton zu bezeich-
nen, ist deshalb ganz unberechtigt und es wäre viel korrekter und
weniger irreleitend, vom systolischen Ton der linken oder der rechten
Kammer zu sprechen.
Ich rekapituliere:
1. Der Herzstoß entsteht hauptsächlich im Anfange der Austreibungs-
zeit bei der Bewegung des Herzens.
2. Es entstehen über dem Herzen sechs verschiedene Töne:
a) Vier systolische — je einer über den Ventrikeln und je einer
am Ursprünge der großen Gefäße. Die systolischen Töne
fangen nicht im gleichen Momente an. Der systolische Ton
an den großen Gefäßen erklingt etwas später als der systo-
lische über den Kammern; der systolische Ton an der Spitze
setzt sich aus zwei Teilen zusammen — aus dem eigentlichen
Klappentone und aus dem fortgeleiteten Gefäßton.
b) Die zwei diastolischen Töne entstehen über den Semilunar-
klappen der Aorta und Pulmonalis.
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346 Hermann Müller, [38
Auf Grund dieser einfachen und klaren, durch physiologische
Tatsachen erhärteten Lehre von der Entstehung des Spitzenstoßes und
der Herztöne, welche ich schon seit mehreren Jahren meinen Schülern
vortrage, und welche in dieser präzisen Form meines Wissens auf
keiner Klinik gelehrt wird, können wir nun die physikalischen Er-
scheinungen, welche wir früher geschildert haben, leicht verstehen.
Daß die akzidentellen Geräusche in der Spitzenregion und über dem
linken Ventrikel den so sehr charakteristischen mesosystolischen Rhyth-
mus haben, das macht nun dem Verständnis keine Mühe mehr. —
Nur beiläufig will ich noch bemerken, daO auch verschiedene andere
physikalische Erscheinungen, welche sich am Krankenbette zeigen und
deren Erklärung bisher großen Schwierigkeiten begegnete (gespaltener
— doppelter 1. Herzton — manche Fälle von Galopprhythmus — ver-
stärkter, paukender systolischer Ton bei Mitralstenose — lauter Herz-
ton bei hochgradiger Herzschwäche usw.), viel leichter zu erklären
sind, wenn wir uns an die Tatsache erinnern, daß der L Ton an
der Hörstelle der Mitralis (bzw. Trikuspidalis) aus zwei Tönen —
dem Mitralklappen- und dem Arterientone — besteht. Doch darauf
können wir jetzt nicht eingehen.
Ätiologie und Vorkommen. Wenn mir — wie das schon
öfter vorgekommen ist — der wohlbegründete Einwand gemacht wird,
warum nicht immer und bei allen Menschen k. p. (akzidentelle) Ge-
räusche gehört werden, da doch die Bedingungen zur Entstehung der-
selben scheinbar immer vorhanden sind, dann muß ich immer wieder
daran erinnern, daß nach unsern frühern physikalischen Erörterungen
in der Tat immer ein Geräusch entstehen muß, wenn bei der Herz-
revolution eine Verschiebung des Innern Blattes des Herzbeutels dem
äußern gegenüber stattfindet und das Herz an den Randzonen der
Lunge vorbeigleitet. Das Geräusch ist nur unter gewöhnlichen Ver-
hältnissen so schwach, daß es vom menschlichen Ohr nicht wahr-
genommen werden kann. Wenn der Druck der übereinander
gleitenden Flächen ein größerer wird und wenn die Ge-
schwindigkeit der Bewegung steigt, dann kann das Geräusch
so anwachsen, daß es gehört wird. —
Die Erfahrung lehrt nun, daß an den Stellen und bei den Indivi-
duen, wo eine dünne Schicht von Lungengewebe zwischen Herz und
Brustwand sich einschiebt, die Geräusche leichter entstehen — daher
besonders in der Gegend der Lingula des obern Lappens und da,
wo der Conus arter. der Pulmonalis der Lunge bzw. der Brustwand
am dichtesten anliegt. Die Dicke der Lungenränder und ihr Verlauf
ist großen individuellen Schwankungen unterworfen; so kann der linke
Lungenrand, wie genaue anatomische Untersuchungen (Anatom. Institut
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30] Ober kardiopulmonale Geräusche. 347
Zürich) ergeben haben, bis an den rechten Sternalrand und der rechte
Lungenrand bis nach links aber das Sternum reichen. Je dünner die
überlagernde Lungenschichte ist, desto leichter entsteht ein Geräusch.
Wenn die Randpartien der Lunge bei einer tiefen Inspiration sich
stark blähen, so kommt nicht so leicht ein Geräusch zustande oder
das Geräusch kommt erst bei der Exspiration zum Vorschein. Jeden-
falls ist der Verlauf und die Dicke der Lungenränder von wesent-
licher Bedeutung für den Wechsel der Geräusche bei Lageverände*
rung. Mit Zurückdrängung der Lungenränder, stärkerem Anliegen
der Herzens an die Brustwand muO es zusammenhängen, daß die
akzidentellen Geräusche besonders häufig nur in stehender Posi*
tion gehört werden — dabei wirkt natürlich wesentlich verstärkend
auf die Geräuscherzeugung mit die bei Nervösen so sehr häufig beob-
achtete Labilität des Pulses.
Der Grad der Atmungstätigkeit ist ebenfalls von Bedeutung.
Wenn die Herztätigkeit sich beschleunigt und der Atmungsrhythmus
gleichzeitig ein bedeutend rascheres Tempo annimmt — wie bei
starken körperlichen Anstrengungen — dann kommen k. p. Geräusche
selten zustande. Potain und Vaquez haben Untersuchungen bei
Turnern angestellt und haben bei intensiver körperlicher Arbeit keine
Geräusche beobachtet. Ich selbst habe schon im Jahre 1891 — da-
mals, um die Frage der akuten Herzdilatation zu studieren — bei
Turnern, welche sehr anstrengende Übungen — Schwingen im Knick-
stütz, ein- und zweihändiges Heben von 50 kg schweren Steinen vom
Boden bis zur Hochhebhalte — bis zur Erschöpfung ausführten, wohl
bedeutende Steigerung der Puls- und Atemfrequenz, aber in keinem
einzigen Falle eine Dilatation des Herzens oder ein Herzgeräusch
auftreten sehen.
Ganz anders verhält es sich, wenn die Herzfrequenz sich er-
höht und der Herzschlag gleichzeitig verstärkt wird, während
der Atmungsrhythmus der gleiche bleibt — da entstehen k. p. Ge-
räusche sehr gern. Beschleunigung der Herztätigkeit mit gleich-
zeitiger Verstärkung des Herzschlages beobachtet man in unserm
nervösen Zeitalter außerordentlich häufig.
Psychische Erscheinungen, leichte körperliche Bewegungen und die
verschiedensten andern Momente können die abnorm kräftige Herz-
aktion auslösen. Leichte Gemütsbewegungen sind ohne Zweifel die
Ursache, daß im Sprechzimmer des Arztes, bei der militärischen Unter-
suchung, bei den Untersuchungen für Lebensversicherungen^) u. dgl.
1) Die amerikanischen Ärzte Collom und Prince Morton (zit nach Po-
tain und Vaquez) haben bei Untersuchungen für Lebensversicherungen der erste
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348 Hermann Müller, [40
oft k. p. Geräusche gehört werden. Nicht mit Unrecht hat Vaquez
die Geräusche deshalb als bruits de consultation bezeichnet — Noch-
mals und mit besonderem Nachdrucke muß hervorgehoben werden,
daß die schon nach leichten Turnübungen . öfter auftretenden Herz-
geräusche nur auf die beschleunigte und verstärkte Herztätigkeit zurück-
zuführen sind* Oft genug habe ich beobachtet, daß bei einfachem
Wechsel aus der liegenden in die stehende Position plötzlich die
Pulsfrequenz um 20^ 40, ja sogar 60 Schläge gestiegen und dabei ein
lautes Herzgeräusch zum Vorschein gekommen ist^ das bei Eintritt
psychischer Ruhe wieder vollständig verschwand. Man findet diese
abnorm kräftige Herzaktion und gleichzeitige Beschleunigung der Herz-
tätigkeit und Herzgeräusche vor allem bei Morbus Basedowii (bei
dem die Geräusche fast nie fehlen), bei nervösen, hysterischen und
neurasthenischen Patienten, bei den verschiedensten Herz- und Gefafi-
neurosen, bei Chorea, in der ersten Hälfte der Schwangerschaft. Mao
hat bei diesen Affektionen die Geräusche vielfach als „nervöse' be-
zeichnet und einzelne haben auch unglaubliche Theorien für die Ent-
stehung vom Zentralnervensystem aus ersonnen. Man findet diese
abnorme, geräuscherzeugende Erregbarkeit des Herzens auch recht oft
im Alter der Pubertät, ohne daß eine besondere Nervosität nachzu-
weisen ist — oft genug tritt die verstärkte und beschleunigte Herz-
aktion auch ohne jede bekannte Ursache ein.
Auch bei der Chlorose und bei vielen Fällen von Anämie
ist offenbar die durch ihren Einfluß auf das Zentralnervensystem er-
zeugte Exzitation des Herzens die Ursache der Herzgeräusche. Soiig-
fältige Untersuchungen von Potain und Vaquez haben schon er-
geben, daß das Auftreten der sog. „anämischen^^ Geräusche gar nicht
abhängig ist von dem Grade der Chlorose und der Verminderung der
roten Blutkörperchen. Zahlreiche andere Gründe sprechen auch da-
gegen, daß die Geräusche bei Chlorose und Anämie auf einer funk-
tionellen Klappeninsuffizienz beruhen. Doch darauf will ich jetzt
nicht näher eingehen.
In gleichem Sinne wie die psychische Emotion wirkt auch
das Fieber herzerregend — alle sog. febrilen Geräusche sind nichts
anderes als akzidentelle Herzgeräusche. Man hört k. p. Geräusche gar nicht
selten am Anfange und im Verlaufe von fieberhaften Krankheiten,
besonders wenn nicht gleichzeitig die Atmung beschleunigt ist, wie
z. B. bei der Pneumonie, bei der man die Geräusche selten hört. —
Nach Potain und Vaquez, welche die Häufigkeit der k. p. Geräusche
27 mal unter 200 Fällen (d.h. in Vt) und der zweite sogar bei 35% der Untersuch-
ten anorganische Herzgeräusche gehört.
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41] Ober kardiopulmonale Geräusche. 349
bei den verschiedenen Krankheiten in einer Kurve graphisch dargestellt
haben, findet man die Geräusche — außer bei M. Basedowii und
Chlorose — am häufigsten bei Masern, Scharlach und beim akuten
Gelenkrheumatismus. Damit stimmt auch meine Erfahrung überein.
Auch die Herzgröße fibt einen Einfluß auf das Zustande-
kommen der k. p. Geräusche. Bei normal großem Herzen ent-
stehen die Geräusche viel häufiger als beim vergrößerten Organe.
»,En g^n^ral les petits cceurs soufi^lent et les grands coeurs sont silen-
cieux^^ (Vaquez). Daß das den französischen Autoren Potain und
Vaquez ofi^enbar nicht bekannte pseudoperikardiale Reiben besonders
gerne bei diktiertem Herzen entsteht, ist schon erwähnt; aber auch
die eigentlichen kardiopulmonalen Geräusche kann man nicht so selten,
wie die beiden französischen Autoren angeben, selbst bei ganz be-
deutender Dilatation des linken Ventrikels in der Spitzenregion 3 bis
6 cm außerhalb von der Mammillarlinie zu hören bekommen. Diese
Geräusche werden ganz allgemein als organische aufgefaßt — bedingt durch
relative Insuffizienz der Mitralklappen. Darüber später noch ein Wort.
Von wesentlicher Bedeutung für das Zustandekommen der
k. p. Geräusche ist auch der Stand des Zwerchfells. Bei Hoch-
schwangeren und bei vielen andern Menschen mit stärkerer Auf-
treibung des Unterleibs wird das Herz viel ausgedehnter der Brust-
wand angelagert und an das äußere Blatt des Herzbeutels angedrückt;
dadurch wird die Geräuschbildung begreiflicherweise sehr begünstigt.
So ist auch meines Erachtens das Geräusch zu erklären, welches ge-
legentlich willkürlich durch starkes Pressen bei ganz Gesunden hervor-
gerufen werden kann (Gerhardt). Daß im Alter von 10 — 14 — 16 Jahren
die Geräusche so häufig gehört werden, ist sicher zum Teil auf den
in diesem Alter beobachteten höheren Stand des Diaphragmas, auf die
umfangreichere Entblößung und das stärkere Anliegen des Herzens
an die Brustwand zurückzuführen. Vermehrter Druck der überein-
andergleitenden Flächen und die größere Wandständigkeit des Herzens ist
auch^ wie bereits hervorgehoben, sicher der Hauptgrund, daß die
Geräusche viel häufiger in stehender als in liegender Position gehört
werden. Durch stärkeres Andrücken der Gleitflächen werden auch
ohne allen Zweifel die Geräusche erzeugt, welche man durch starkes
Aufdrücken des Stethoskopes zur Wahrnehmung bringen kann.
Das Alter spielt bei der Entwicklung der k. p. Geräusche
eine große Rolle. Nach Potain, der auf seiner Klinik nur Kranke,
die das 15. Altersjahr überschritten hatten, beobachtete, kommen die k. p.
Geräusche am häufigsten im Alter von 15 — 30 Jahren vor. Ich kann
dies nach meiner Erfahrung bestätigen und kann ergänzend hinzufügen,
daß die Geräusche auch im Kindesalter recht oft zur Beobachtung
Kilo. Vorträge, N. F. Nr.500/01. (Innere Medizin Nr. 147/48.) Sept. 1906. 25
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350 Hermann Müller, [42
kommen. In der medizinischen Poliklinik » wo alljährlich mehrere
Tausend Kinder (bis 5000 auf eine Gesamtzahl von 15000 Patienten)
behandelt werden, habe ich in den letzten 8 Jahren, in welchen ich
mich besonders intensiv mit dem Studium der Herzgeräusche be-
schäftigte, k. p. Geräusche besonders oft bei Kindern vom 10. bis
14. Altersjahre beobachtet. — Hochsinger, Soltmann u. a. leugnen,
daß akzidentelle Herzgeräusche in den ersten 3 Lebensjahren vor-
kommen. Andere Beobachter (Rheiner, 1003, Cornelia de Lange,
1907, usw.) erheben dagegen Widerspruch; ich selbst habe schon seit
Jahren ab und zu einmal im frühesten Kindesalter Herzgeräusche
beobachtet, für die keine plausible Ursache zu finden war, und aus-
nahmsweise habe ich auch durch die Sektion das Fehlen einer ana-
tomischen Grundlage für die Bildung eines Herzgeräusches nach-
weisen können.
Vor kurzem hat Lüthje an einem großen Beobachtungsmaterial
nachgewiesen, daO im Kindesalter vom 6.— 16. Altersjahre akzidentelle
Geräusche an der Pulmonalis sehr häufig gefunden werden, „daß sie
fast als Regel gelten können^^ Lüthje hat 854 Schulkinder unter-
sucht und fand 612mal (71,6%) ein systolisches Geräusch (SOOmal schon
in der Ruhe, d. h. gleich nach dem Entkleiden, 103mal erst im An-
schluß an einige Turnübungen). Lüthje fand, daß die Geräusche im
Exspirium unverhältnismäßig an Stärke zunehmen, während sie im
tiefsten Inspirium unverhältnismäßig abnehmen oder ganz verschwinden.
Er nimmt an, daß die akzidentellen Geräusche am ungezwungensten
ihre Erklärung als „Pulmonalstenosen-Geräusche^^ finden — bedingt
durch die Raumverhältnisse an der Stelle, wo die Pulmonalis liegt,
und durch den Wechsel dieser Raumverhältnisse im In«- und Exspi-
rium. Leider muß ich es mir versagen, hier näher auf die Arbeit
von Lüthje einzugehen; wer dieselbe aber vorurteilslos bis in ihre
Einzelheiten verfolgt und meine Auseinandersetzungen über die Ent-
stehung der k. p. (akzidentellen) Geräusche einer nochmaligen Prüfung
unterzieht, der wird zugeben müssen, daß die kardiopulmonale Ent-
stehungstheorie der Geräusche weit einfacher und zutreffender ist.
Lüthjes Erklärung der Geräusche als Pulmonalstenosen-
geräusche ist eine physikalische Unmöglichkeit
Physikalisch undenkbar ist es auch, daß die akzid. Geräusche an der Höretelle
der Pulmonalis in der Arterie selbst durch die vermehrte Strömungsgeschwindig-
keit entstehen. Es ist nicht einzusehen, wie durch Erhöhung der Blutströmungs-
geschwindigkeit im Sinne der Weberschen Versuche endokardiale Geräusche nur
an der Pulmonalis entstehen sollen und nicht auch oder sogar eher an der Aorta,
wo nach der fibereinstimmenden Angabe aller Untersucher akzid. Geräusche nur
selten gehört werden. Ganz unmöglich ist es auch, die akzid. Geräusche in der
Herzspitzenrögion, wo sie bei Erwachsenen mindestens so häufig wie an der N9r-
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43] Ober kardiopttlffloaal« Geräusche. 351
stelle der Pulmoiralis ^funden werden, aus der vermehrten Strdmungsgeschwin«
4jgkeit zu erklären. Zugunsten der kardiopulmonalen Entstehung bzw. der Reibungs-
theorte aller akzid. Geräusche spricht selbstverständlich die Möglichkeit, die Ge-
räasche an allen Hörstellen einheitlich zu erklären. In der Verstärkung und
Beschleunigung des Herzschlages, in der psychischen Erregung, welche auch nach
Lüthje eine besondere Rolle für die Entstehung „des Pulmonalstenosen-Geräusches**
spielt, haben wir — wie das früher ausführlich auseinandergesetzt worden ist —
eine vollständig ausreichende Erklärung für die wesentliche Verstärkung der ge-
räuscherzeugenden Verschiebung zwischen Herz und Lungen (bzw. innerem und
äußerem Blatte des Herzbeutels).
Im Frühjahr und Sommer 1007 habe ich die von Lüthje gefundenen
Untersuchungsergebnisse einer Prüfung unterworfen und habe zum
Teil unter Mithilfe von langjährigen Assistenzärzten, die im Auskul-
tieren sehr bewandert sind, im Verlaufe von wenigen Monaten 300
gesunde Kinder (250 im Ambulatorium der medizinischen Poliklinik
und 50 in der Privatpraxis) untersucht und habe nur 85 mal, d. h.
in 28% aller untersuchten Fälle, Herzgeräusche gefunden. — Ich habe
in die kleine Statistik noch 80 Kinder im Alter von 0—6 Jahren aufge^
nommen und habe gefunden:
im Alter von 0 — 3 Jahren bei 30 Kindern Imal, d. h. in 2,5 %i)
M W 99 4 " 99 M ^^ 99 ® W >> W W '^ /o
» W » 7 10 „ „ 80 „ 26 „ „ „ „ 28%
w >» » II I" » M 122 „ 50 „ „ „ „ W /q
Herzgeräusche — in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nur „an
der Hörstelle der Pulmonalis^S Ich habe aber auch gar nicht
selten ebenfalls ein Geräusch in der Herzspitzenregion gefunden, und
konnte, wie das schon früher ausdrücklich hervorgehoben worden ist,
mit Sicherheit nachweisen, daß das Geräusch in der Gegend der Herz-
spitze nicht von der Pulmonalis einfach fortgeleitet war. Auffallend
häufig hat das Geräusch in der Gegend des Conus art. der Pulmo-
nalis, was ebenfalls schon früher betont worden ist, einen wesentlich
rauheren, kratzenden Charakter. — Ich habe also sehr viel seltener
als Lüthje (Lüthje im Alter von 7— 16 Jahren bei 71,6% — ich nur
bei 36%) bei gesunden Kindern Herzgeräusche nachweisen können.
Diese große Differenz in den Prozentzahlen ist unzweifelhaft so zu
erklären, daß Lüthje seine Massenuntersuchungen nur an den
stehenden Kindern und bei größerer psychischer Erregung
vorgenommen hat, während alle meine Untersuchungen bei größerer
körperlicher und psychischer Beruhigung — in Rückenlage auf
einem Untersucfaungsbette — gemacht worden aind.^)
1) Cornelia de Lange hat bei 1800 Kindern unter 4 Jahren nar 29mal (in
1)<{%) ak2id. Herzgertusche gefunden.
2) Lüthje fand bei den 854 von ihm untersuchten Kindern 70Smal eine
25*
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352 Hermann MfiUer, [44
Diagnose. Fär die Praxis ist es von allergrößter Bedeutung, die
akzidentellen Herzgeräusche von den sog. organischen unterscheiden
zu l^önnen. Recht oft ist die DifTerentialdiagnose zwischen den beiden
Geräuscharten nicht nur per exclusionem zu machen; denn wer durch
stete Übung die nötige Geschicl^lichlLeit sich erworben und ein in
allen akustischen Einzelheiten erfahrenes Ohr hat, und wer es erlernt
hat, seine Aufmerksamkeit scharf auf den Sitz, Rhythmus, Schall-
charakter und die Art der Ausbreitung der Geräusche zu richten, und
wer es nie unterläßt, das Herz in verschiedener Stellung des Patienten
zu behorchen, dem wird es recht oft möglich, schon bei der ersten
sorgfältigen Untersuchung eine bestimmte Diagnose zu stellen.
Langjährige Erfahrung hat mich gelehrt, daß hauptsächlich drei
organische Herzaffektionen öfter fälschlich diagnostiziert werden, wo
es sich um einfache akzidentelle Herzgeräusche handelt — Endokarditis,
Perikarditis und vor allem Schlußunfähigkeit der Mitralklappen. Ober
die beiden ersteren will ich mich kurz fassen, auf die so auffallend
häufig irrtümlich angenommene Insuffizienz der Mitralis muß ich not-
wendig noch etwas näher eingehen.
Die Diagnose Endokarditis wird viel zu oft gemacht Es kann
nicht genug zur Vorsicht gemahnt werden, nicht sofort an eine Endo-
karditis zu denken, wenn bei Scharlach, akutem Gelenkrheumatismus
und anderen fieberhaften Infektionskrankheiten schon in den ersten
Tagen der Erkrankung Geräusche am Herzen (Hörstelle der Pulmo-
nalis oder Spitzenregion) auftreten. Diese Geräusche können sicher
nicht' durch eine Veränderung der Klappen bedingt sein — lehrt ja
doch die Erfahrung, daß geringfügige und sogar tiefergreifende Ver-
änderungen an den Klappen bei der benignen Endokarditis das Spiel
Akzentuation des 2. Pulmonaltons (also in 82%). Ich habe die Verstärkang des
2. Tones an derJeHörstelle der Pulmonalis, die mir schon seit vielen Jthren
(siehe den eingangs erwähnten 1. Fall vom Jahre 1800) öfter auffiel, nur in 20%
der Fälle notiert. Es ist einleuchtend , daß bei der Diagnose i^Verstärkung des
2. Pulmonaltones** dem subjektiven Ermessen ein großer Spielraum gelassen ist,
hat ja doch bekanntlich Vierordt bei genauen Messungen gefunden, daß am ge-
sunden Menschen der 2. Pulmonalton etwas lauter klingt als der 2. Aortenton.
Jedenfalls habe ich schon seit langer Zeit diesem physikalischen Zeichen beson-
ders im jugendlichen Alter von 10 — 18 Jahren kein Gewicht beigelegt und mit der
ausdrücklichen Betonung, daß die Verstärkung des 2. Tones „an der Hörstelle der
Pulmonalis** wahrgenommen wird, möchte ich andeuten, daß nach meiner Auf-
fassung die Verstärkung des 2. Tones gar nicht notwendigerweise von der Pulmo*
nalis stammt, sondern daß vielmehr die Verstärkung des 2. Tones an der genann-
ten Hörstelle einfach durch Summation der beiden 2. Töne (Aorta und Pulmonalis)
entsteht. Mit dieser Erklärung ist — wie mir scheint -— »das physikalische Rätsel*
am einfachsten zu lösen.
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45] Über kardiopulmonale Geräusche. 353
der Klappen nicht hindern und daß gewöhnlich erst nach längerem
Bestehen der Entzündung^ besonders bei dem so häufigen Sitze an
den Mitralsegeln, die Ktappenfunktion gestört wird. — Bekanntlich
wird auch nicht allzuselten maligne Endokarditis diagnostiziert, wo
bei der nachfolgenden Sektion keine anatomische Veränderung an den
Klappen nachgewiesen werden kann.
Das gleiche gilt von der Perikarditis, die ebenfalls viel zu häufig
angenommen wird.^) Reibegeräusche, die an ganz umschriebenen
Stellen, besonders oft am Ursprünge der Lungenarterie wahrnehmbar
sind, die verschwinden oder kommen, wenn der Kranke seine Lage
ändert, Geräusche, die nur in aufrechtem Stehen oder nur in der
einen oder anderen Seitenlage gehört werden, Geräusche, die erst
beim Aufdrücken des Stethoskopes zum Vorschein kommen, sind - fast
nie Perikardialgeräusche.
Ganz auffallend häufig wird die Fehldiagnose „M i t r a 1 i n s u f f i z i e n z '^
gemacht. Mehr als in der Hälfte der Fälle, in der dieser Klappen*
fehler diagnostiziert worden ist, konnte ich in den letzten 8 Jahren
mit Bestimmtheit nachweisen, daß die Diagnose falsch war. — Es
erscheint mir zweckmäßig, an dieser Stelle zunächst einige physiolo*
gische Bemerkungen vorauszuschicken. Die Physiologie lehrt uns,
daß die Entleerung der linken Kammer durch eine Verkleinerung ihrer
Höhle im queren Durchmesser erfolgt, während der Längsdurchmesser
unverändert bleibt« Die rechte Kammer entleert ihren Inhalt durch
Verkürzung ihrer Länge und durch Heranziehung der Außenwand des
rechten Ventrikels an die Kammerscheidewand. Als wesentlich mit-
wirkender Mechanismus kommt hinzu, daß der Umfang der Herzbasis
und der Atrioventrikularöfi^nungen infolge von Kontraktion des von
Krehl u. a. nachgewiesenen, das Ostium umgebenden Muskelwulstes
in hohem Maße schmäler wird. Ein Umschlagen der Klappen in den
Vorhof und ein Aufblähen der Segel nach dem Vorhofe hin wird
durch die Sehnenfäden verhindert, welche sich nicht nur an den freien
Rändern, sondern auch an den Seitenflächen der Klappensegel an-
setzen. Die Vorhofsflächen der Klappensegel werden fast in ihrer
ganzenAusdehnungdichtaneinandergepreßt,undso kommt ein außer-
ordentlich sicherer Verschluß derOstien zustande, besonders des
lioken. Erinnern wir uns ferner an die wunderbare Leistungsfähigkeit des
Herzens, an seine Fähigkeit, sich sofort an die größten Anforderungen
1) So handelt es sich nach meiner Meinung bei der Angabe von Buttersack
(zitiert nach Eichborst 1904), daß 13,3% Schüler und 9% Rekruten im 2. linken
Interkostalraume „perikarditisches Reibegeräusch^ dargeboten hätten, sicher um
eine Verwechslung mit dem an dieser Stelle besonders häufig hörbaren k. p. Ge-
räusche.
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354 Hermann Mfiller, [46
anzupassen — ^^das Herz ist der vollendetste Motor, den die Welt
kennt^S ^^& Krehl so treffend —, erinnern wir uns daran, daß im
Tierversuche die Füllungen des Herzens um das 6 fache gesteigert
werden können, ohne daß das Herz versagt, dann werden wir nicht
glauben, daß geringfügige Störungen imstande sein können, diese
wunderbare Anpassungsfähigkeit zu stören. Niemals ist es möglich,
daß beim ganz gesunden Menschen die verstärkte Herztätigkeit den
Schluß der Mitralis verhindern und eine vorübergehende Insuffizienz
herbeiführen kann. Es ist auch ganz undenkbar, daß die leichte Mehr-
arbeit, welche einige Turnübungen verursachen, den Schluß der Klappen
durchbrechen und die Klappen, wenn auch nur vorübergehend, schluß-
unfähig machen können. Wissen wir ja doch, daß das Herz in gleicher
Weise die leichte Arbeit des Kreislaufs beim ruhenden Menschen
besorgt wie bei demjenigen, der die schwerste Arbeit verrichtet.
Wir unterscheiden 3 Arten von Schlußunfähigkeit der Mitral-
klappen — die relative, die muskuläre und die endokarditische.
Unter relativer Insuffizienz versteht man die Schlußunfähigkeit
der Klappen, die durch Dilatation des Insertionsringes der Klappen
ohne irgendwelche organische Veränderung zustande kommt. Das
Ostium wird mechanisch so weit gedehnt, daß die normal großen
Klappen nicht mehr zur Deckung genügen, zum Verschluß nicht mehr
ausreichen. Das Vorkommen solcher Insuffizienzen ist schon lange
bekannt; sie sind aber verhältnismäßig selten, nur an der Trikuspidalis
(bei Mitralklappenfehlern) und an der Aorta bei übermäßiger Dehnung
des Bulbus der Aorta (Aneurysma) etwas häufiger.
Die relative Insuffizienz der Mitralis ist jedenfalls äußerst
selten; ihr Vorkommen ist schon von Friedreich im Gefolge von
Aorteninsuffizienz beobachtet und durch genaue Messungen fest-
gestellt worden. Vielfach hat man auch angenommen, daß die systo-
lischen Geräusche, welche bei hochgradiger Dilatation des linken
Ventrikels, z. B. bei der idiopathischen Herzerweiterung, in der Spitzen-
region gehört werden, durch Ausweitung des Mitralostiums entstehen.
Diese Art von Geräuschen ist mir schon seit meiner Assistentenzeit
bekannt. Seitdem ich gelernt habe, die akzidentellen Geräusche von
den echten Insuffizienzgeräuschen zu unterscheiden, weiß ich, daß
selbst bei der hochgradigsten Dilatation des linken Ventrikels eine
relative Insuffizienz fast nie entsteht. Ein einfacher Lagewechsel, eine
geringe Drehung des Rumpfes nach rechts genügt oft, das Geräusch
sofort zum Verschwinden zu bringen, und neulich habe ich beispiels-
weise beobachtet, daß das vermeintliche Insuffizienzgeräusch kurze
Zeit vor dem Tode verschwand, als ein linksseitiger Hydrothorax die
Lunge vom stark erweiterten Herzen abgedrängt hatte. — Potain
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47] Ober kardiopulmonale Geräusche. 355
wies durch experimentelle Untersuchungen am herausgenommenen
Herzen nach, daO die Trlkuspidalklappen bei einer mäßigen Ausdeh-
nung des rechten Ventril^els insuFfizlent werden, während die Mitral-
klappen mit merkwürdiger Ausdauer schließen, wenn der Druck im
linken Ventrikel ganz bedeutend gesteigert und der Ventrikel ganz
erheblich dilatiert wird.
Von der relativen Insuffizienz, bei der das pathologisch erweiterte
Ostium wegen seiner Größe nicht mehr von den Segeln geschlossen
werden kann, ist als eine besondere Art der Schlußunfähigkeit des
Mitralostiums zu trennen die „muskuläre^^ Wenn wir uns noch-
mals vergegenwärtigen, daß für den prompten Verschluß der Mitral-
klappe nicht nur eine Verengerung des Insertionsringes durch die
ringförmigen Muskelzüge, sondern auch eine normale Funktion der
Papillarmuskeln erforderlich ist, so erscheint das Vorkommen einer
solchen Insuffizienz als sehr verständlich. Ungenügende, mangelhafte
Kontraktion des Herzmuskels infolge ungenügender Speisung mit arte-
riellem Blute und Erkrankungen des Herzmuskels durch akute oder
chronische Myokarditis werden vielfach als Ursache für die muskuläre
Insuffizienz betrachtet. Besonders in Deutschland und England wird
noch viel von „funktioneller^^ Insuffizienz der Mitralklappen gesprochen;
von vielen Autoren werden die akzidentellen Geräusche bei Chlorose
und Anämie so erklärt. Demgegenüber müssen wir nochmals hervor-
heben, daß bei den Anämien das Vorkommen der Geräusche gar nicht
abhängig ist von dem Grade der Anämie, daß es ganz leichte Formen
gibt mit sehr starken Geräuschen und sehr schwere Anämien, wo die
Geräusche bis zum letalen Ausgange vollständig vermißt werden
(perniziöse Anämie). Unverständlich ist auch, warum diese muskuläre
Insuffizienz so selten, an der Trikuspidalis beobachtet wird, bei der
bekanntlich Schlußunfähigkeit ohne Veränderung an den Klappen viel
leichter zustande kommt. Insuffizienz dieser Klappe wird nur dann
bei tiefer Anämie beobachtet, wenn die Herzmuskulatur stark fettig
degeneriert ist In solchem Falle kommt es auch gewöhnlich zu einer
muskulären Insuffizienz der Mitralis (siehe z. B. Fall 2). Nach meinem
Dafürhalten kann die Bezeichnung „anämischer Klappenfehler^^ kor-
rekterweise nur für die Fälle schwerer Anämie, welche mit Herzver-
fettung vergesellschaftet sind, gebraucht werden. Eine derartige („rela-
tive") muskuläre Insuffizienz bei hochgradiger Anämie mit Herzver-
fettung ist schon von Friedreich (1861) beschrieben worden.
Auch bei der akuten und chronischen Myokarditis kommt nach
meinen Erfahrungen die muskuläre Insuffizienz viel seltener vor, als
von manchen namhaften Autoren angenommen wird. Die meisten der
bei diesen Herzmuskelerkrankungen beobachteten „Mitralgeräusche"
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356 . Hermann Müller, [48
können bei genauer Beachtung der von mir früher ausführlich ge-
schilderten Merkmale der k. p. (akzidentellen) Geräusche als wirkliche
valvuläre Geräusche ausgeschaltet werden. Doch ist das in diesen
Fällen praktisch von geringer Bedeutung.
Sehr viel häufiger als die relative und muskuläre Insuffizienz der
Mitralklappe ist die endokarditische; sie macht selbstverständlich
die gleichen auskultatorischen Erscheinungen, die ich hier in Kürze
nochmals wiederholen will. Die Folgeerscheinungen, welche der
Ventilfehler, der allgemein als der häufigste Klappenfehler gilt, Für
das Herz und den Kreislauf hat, setze ich als bekannt voraus
und gehe hier nicht näher auf dieselben ein. — Das Herzgeräusch
bei SchluDunfähigkeit der Mitralis hat, da die Verschlußzeit fehlt,
einen sehr bestimmten Charakter; das Geräusch fängt ganz genau mit
der Systole an und dauert, da die Türe nach dem Vorhofe während
der ganzen Systole offen bleibt, solange an wie die Systole. Das
Geräusch hat seine maximale Intensität genau an der Herzspitze und
verbreitet sich von da nach der Achselhöhle, ja bis zum Rücken. Das
akzidentelle Geräusch an der Mitralis bleibt sehr oft ein kurzes Weilchen
hinter dem Anfange der Systole zurück, es ist dem Tone angehängt,
schleppt ihm nach und hat seinen Sitz viel mehr auf der Seite des
Spitzenstoßes und verbreitet sich wenig oder gar nicht nach der Achsel-
höhle. Ein Ton kann an der Mitralis, wenn die Klappe teilweise
zerstört ist und zum Schlüsse nicht mehr ausreicht, nicht entstehen,
denn Töne können an den Klappen, wie durch Bayer sichergestellc
worden ist, nicht mehr entstehen, sobald sie anatomisch verändert
sind. Die vielfach behauptete Annahme, daO der Rest der schwin-
genden Klappenmembran doch noch imstande sei, einen Ton zu pro-
duzieren, ist offenbar nicht richtig; der Ton, dea man allerdings sehr
oft bei einer unzweifelhaften Insuffizienz der Mitralklappen hört, ist
nach meiner Oberzeugung nichts anderes als der in den Arterien
(während der Austreibungszeit) entstehende GefaOton. Wer ein ge-
übtes Ohr und ein feines Gefühl für Rhythmus hat, wird bei
scharfer Aufmerksamkeit erkennen, daß der neben dem Geräusche
hörbare Ton ein kurzes Weilchen nach dem Anfange des Geräusches
auftritt. (Der zweite Ton, der bei Aorteninsuffizienz nicht selten neben
dem diastolischen Geräusche gehört wird, ist nach meiner Meinung
öfter nichts anderes als der 2. Pulmonalton.)
Eine besondere Besprechung verlangen noch die gar nicht seltenen
Fälle, wo bei vermeintlicher Insuffizienz der Mitralklappe nicht our
an der Herzspitze, sondern auch in der Gegend der PulmonalUappen
ein Geräusch zu vernehmen ist. Oft unterscheidet sich in diesen
Fällen das Schallphänomen seinem Klangcharakter nach ganz wesent-
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49] Über kardiopulmonale Geräusche. 357
lieh von demjenigen» welches an der Herzspitze gehört wird. Diese
auffallenda Erscheinung ist schon lange bekannt. Jos. Meyer, Barn-
berger, Skoda, Gerhardt haben das Geräusch fast jeder auf eigene
Weise zu erklären gesucht, auf unregelmäßige Schwingungen der dila-
tierten und in ihrem Tonus veränderten Pulmonalarterie, auf begin-
nende Sklerose zurückgeführt. Naunyn hat den Versuch gemacht,
das Geräusch, das nach seiner Angabe am lautesten etwa 2 Zoll vom
linken Sternalrande (»einem Orte, der nicht unerheblich differiert von
dem Punkte, wo in der Regel die von den Pulmonalklappen stammen-
den Geräusche gehört werden"") zu vernehmen ist, so zu erklären,
daO in solchem Falle das erweiterte linke Herzohr zwischen Pulmo*
nalis und Brustwand sich eindrängt und die das Geräusch erzeugende
Blutströmung in das Herzohr hineingeht. Diese Erklärung ist von
vornherein schon deshalb nicht anzunehmen, weil — wie schon er-
wähnt — das Geräusch an der Herzbasis häufig erheblich lauter,
rauher und kratzender ist als das an der Spitze, weshalb an eine ein-
fache Fortpflanzung gar nicht zu denken ist. Auch die von Cursch-
mann gegebene Erklärung für das stärkere Auftreten des Geräusches
an der Hörstelle der Pulmonalis besonders im Beginne des Klappen-
fehlers, wo der linke noch nicht hypertroph ierte Ventrikel und mit
ihm die Herzspitze durch den überfüllten rechten Ventrikel von der
Brustwand abgedrängt werden, kann unmöglich richtig sein. Ich habe
in früheren Jahren in jedem Semester wenigstens einen derartigen
Fall, wo das Herzgeräusch besonders laut an der Hörstelle der Pul-
monalis oder sogar nur daselbst zu hören war — es sind meist jugend-
liche Individuen gewesen — mit der Diagnose Mitralisinsuffizienz in
der Poliklinik vorgestellt. Seitdem ich gelernt habe, die kardiopul-
monalen Geräusche mit Sicherheit von den organischen zu differen-
zieren, ist mir kein derartiger Fall mehr vorgekommen. Schon Potain
hat das Naunynsche Geräusch mit Sicherheit als ein k. p. erklärt
und bestritt des bestimmtesten, daß es sich in diesen Fällen um einen
Klappenfehler handeln könne. Die Annahme von Lüthje, daß das
Geräusch an der Hörstelle der Pulmonalis, „das gerade bei einer
echten Mitralisinsuffizienz besonders leicht auftreten wird"", als das
Geräusch einer relativen Pulmonalstenose am ungezwungensten auf-
zufassen sei, haben wir als physikalisch unmöglich schon widerlegt.
Unzweifelhaft kann bei einer sichern Mitralinsuffizienz gelegentlich
auch ein akzidentelles (k. p.) Geräusch an der Hörstelle der Pulmonalis
zum Vorschein kommen, aber meist handelt es sich — nach meiner Er-
fahrung — in solchem Falle gar nicht um einen Mitralklappen-
fehler.
Es wären noch manche Einzelheiten und verschiedene andere ge-
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358 Hermann Muller, [50
legentliche Fehldiagnosen (Stenosen oder Insuffizienzen der Semilunar-
klappen usw.) zu besprechen, aber ich muß nun schlieDen»
Wenn es mir gelungen ist, das bisher so wenig beachtete, hervor-
ragende und sehr verdienstvolle Werk Potains vor der Gefahr, ver-
gessen zu werden, zu bewahren und wenn es mir selbst vergönnt war,
etwas mehr Licht in ein noch dunkles Gebiet der Herzdiagnostik zu
bringen, und wenn für den einen oder anderen Kollegen aus meinen
Ausführungen ein Nutzen für das ärztliche Erkennen auf einem emi-
nent wichtigen praktischen Gebiete erwächst, dann ist das Ziel dieses
Vortrages erreicht.
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Soltmann, Diagnost. Wert der funktionellen Herzgeräusche im Kindestlter.
Münchner med. Wochenschr. 1897, S. 1267.
Strümpell, Ein Fall von Anaemia splenica. Arch. der Heilkunde 1876.
Tigerstedt, Roh., Prof. in Helsfngfors, Lehrbuch der Physiologie des Menschen.
Leipzig 1907.
Wintrich, W. A., Prof. in Erlangen, Handbuch der speziellen Path. u. Ther. (Vir-
chow) Bd. 5, 1. Abt. Krankheiten der Respirationsorgane.
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502/03-
Hämaturie.
(Chirurgie Nr. 147/48.)
Von
P- J« de BruYne Ploos van Amstel,
Amsterdam.
Meine Praxis ermöglichte mir die Beobachtung mehrerer Patien-
ten, bei denen Hämaturie^ die hauptsächliche Krankheitserschei-
nung war.
Ich glaube 9 daß das Resultat dieser Beobachtungen hinlänglich
interessant ist um dasselbe den geehrten Lesern zu unterbreiten,
schon der Haupterscheinung „Hämaturie"' wegen, welche hier so in
den Vordergrund trat, als wäre sie hier nicht ein Symptom, sondern
die Krankheit selber.
Diese speziellen Fälle sollen mir das Material liefern zu nach-
stehender Besprechung, in welcher ich mich bemühen werde, die
.Hämaturie'' in das Licht der heutigen Wissenschaft zu stellen.
1. Am 15. Dezember 1897 wurde ich zu der Patientin N. d. 1. R. in O. gerufen.
Das Resultat der Untersuchung war folgendes:
Anamnese. Bis Anfang November desselben Jahres war die 24jihrige Frau
immer gesund gewesen, dann bemerkte sie plötzlich ohne jegliche Vorzeichen, daß
sich Blut in ihrem Urin absonderte.
Anfänglich hatte sie keine Veranlassung, diesem Umstände besonderes Gewicht
beizumessen, weil sie der Meinung war, daß diese blutige Absonderung durch die
Menstruation verursacht wurde.
Als jedoch die Hämaturie fortdauerte, wurde ein Arzt konsultiert, der ihr Bett-
ruhe und Milchdiät verordnete.
Als nun am 14. November sich nicht nur die Hämaturie verschlimmerte, sondern
die Patientin auch sehr starke Nierenschmerzen bekam, wurde ein zweiter Arzt
zu Rate gezogen, der sie sofort an einen Spezialisten für zystoskopische Unter-
suchungen verwies.
Dieser nun konstatierte folgendes: Die Blase war normal, das Blut stammte
aus dem linken Ureter, und die Patientin empfand auch gerade die heftigsten
Schmerzen in der linken Lendengegend»
Kilo. Vorträge, N. F. Nr. 502/03. (Chirurgie Nr. 147/4a) Sept. 1908. 39
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528 ^' J- ^^ Brulne Ploos van Amstel, [2
Die Urinuntersttchttng ergab auch jetzt außer erheblichen Quantitäten Blut
nichts Besonderes.
Auch die palpatorische Untersuchung hatte wenig Resultat: die Niere war weder
vergrößert, noch beweglich oder schmerzhaft bei Druck.
Aus dem absolut negativen Resultat der Untersuchung des Urines und der
Patientin erfolgte die Wahrscheinlichkeitsdiagnose auf essentielle Hämaturie.
Zwar wurde dem Gatten mitgeteilt, daß Nierenstein oder gar Nierentuberkolose
in diesem Falle keinesfalls ausgeschlossen seien, wenn auch die Untersuchung in
dieser Hinsicht nichts ergeben hatte.
Solange die Blutung als solche nicht gefihrllch wurde, war die Therapie wie
vorher: Ruhe und Milchdiät.
Die Hämaturie blieb jedoch trotz Ruhe und Diät bestehen und auch die Kolik*
schmerzen wiederholten sich, aus welchem Grunde die Patientin wiederum einen
anderen Arzt konsultierte.
Auch eine wiederholte zystoskopische Untersuchung ergab beinahe das nSm-
liche Resultat wie die vorige. Nur konnte als neues Symptom ein Nierentumor
konstatiert werden. Der Patientin wurde der Rat erteilt, sich dieses Geschwulstes
wegen in einem Krankenhause einer Operation zu unterziehen.
Dieser Vorschlag scheiterte jedoch an der Furcht der Patientin vor einer
Operation, und so nahm die Behandlung ihren Fortgang: Milchdiät, Ruhe, guter
Rat von guten Freunden und freundlichen Nachbarn, aber . . . ohne ärztliche Hilfe.
Status praesens am 15. Dezember, als ich die Patientin zum ersten Male sali:
Patientin sehr anämisch, Lungen, Herz und Temperatur normal. Kein Odem.
Abdomen etwas schmerzend in der linken Nierengegend, wo gleichzeitig ein deut-
licher Tumor fühlbar war.
Ich war daher zur Annahme geneigt, daß mein Kollege mit seiner jüngsten
Diagnose das Richtige getroffen hatte, als mir der Umstand, daß wohl kaum anzu-
nehmen sei, daß die Anwesenheit dieses Nierentumors bei allen ftiiberen Unter-
suchungen übersehen worden wäre, zum Nachdenken zwang.
Ein derartiges schnelles Wachstum wäre selbst von einem malignen Tumor,
beispielsweise einem Sarkom nicht zu erwarten, da dann ja in der Zeit von einigen
Wochen dieser große Tumor sich müßte entwickelt haben.
Dann fiel mir ein, daß des öfteren schon Koprostase in den Cöcura oder Kolon
für Nierentumor gehalten worden war, und überdies entsann ich mich des weisen
Ausspruches von Jenner: „a large enema will solve all doubt on this point*.
Und tatsächlich war nach einem Klysma und nach Anwendung von Oleum
ricini der Nierentumor gänzlich verschwunden.
Die Untersuchung des Urins ergab folgendes Resultat: Eiweiß in geringen
Quantitäten, hyaline, wie auch granulierte Zylinder, und rote und weiße Blutkör«
pereben. Die Reaktion des Urins war sauer. Die Anzahl der Zylinder bedeutend.
Bei der weiteren Behandlung: Ruhe, Milchdiät und Laxantia nahm die Anzahl
aller dieser im Urin enthaltenen Fremdkörper ab«
Etwa Mitte Januar war der Urin sogar ganz ohne Blut und enthielt nur noch geringe
Quantitäten Eiweiß und keine Zylinder, und einige Zeit später waren auch die letzte
Eiweißreste verschwunden. Hierdurch war ein Beweis geliefert gegen die Be-
hauptung Danforths^), daß die Anwesenheit granulierter Zylinder im Urin immer
eine ungünstige Prognose zur Folge haben müsse.
1) Danforth, The prognostic significance of Tube-casts. Medical News 1894.
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3] Hlmatttrie. 529
2. Ich sah Fräulein d. Hh. zum ersten Mal im 3. Februar 1906.
Anamnese. Patientin 16 Jahre alt, war stets wenn auch schwach so 4och gesund
gewesen. Sie hatte seit einiger Zeit Hämaturie, jedoch keine Nierenschmerzen.
Die HSmaturie trat nicht immer gleich stark auf, hin und wieder war der Urin
sogar vollkommen blutfrei.
Status praesens. Patientin ist ein zartes anämisches Mftdchen, und es waren
an ihr keine anderen Abweichungen zu konstatieren als Anämie und Schmerzen
bei Druck an der linken Niere.
Die Urinuntersuchung hatte ein negatives Resultat bis auf die roten Blut-
körperchen.
Patientin war nicht dazu zu bringen, sich einer zystoskopischen Untersuchung
zu unterziehen.
Mit absoluter Gewißheit ergab sich indessen aus dem Charakter der Blutung^
daß hier nicht von einer Blasenblutung die Rede sein konnte. Denn hier enthielt
nicht die letzte Quantität Urin das meiste Blut, welch letzteres ja nach Für-
bringer^) und Guyon^) das Hauptsymptom von Blasenblutungen ist, und auch
fehlten hier jegliche Blasenbeschwerden. Auch der fernere Verlauf bewies, daß die
Niere, in casu die rechte, die Ursache der Hämaturie war. Einmal hatte sie im
ferneren Verlauf Kolikschmerzen in der rechten Nierengegend.
Während der Dauer des ferneren Verlaufes der Krankheit, welche mit ftuhe
und Diät behandelt wurde, bemerkte man bei wiederholter Urinuntersuchung, daß
derselbe nicht immer frei von Eiweiß blieb.
Dann und wann enthielt der . Urin einige Tage lang Eiweiß. In dem jeweiligen
eiweißhaltigen Urin wurden auch Zylinder gefunden; diese blieben zwar nicht
gleichzeitig mit dem Eiweiß aus, verschwanden aber doch auch bald wieder« Die
Heftigkeit der Hämaturie stand in keinerlei Zusammenhange mit dem Eiweiß- bzw.
Zylindergehalt des Urins.
Nachdem dieser Zustand im ganzen 3 Monate gedauert hatte, verschwanden
für immer Hämaturie, Eiweiß und Zylinder, und die Patientin war wieder voll-"
kommen gesund.
3. Herr N., 55 Jahr alt, kam in meine Behandlung am 25. April 1906.
. Anamnese. Patient war nie krank gewesen, bis er vor ungefähr 7 Wochen
eine blutige Färbung seines Urins konstatierte*
Da der Patient viel auf Reisen sein mußte, konsultierte er vorderhand keinen
Arzt, überdies verschwand die Hämaturie nach 2 Tagen.
Nach etwa 1 Woche wiederholte sich das Bluturinieren, diesmal schon inten-
siver, aber auch nur während der Dauer weniger Tage.
So wiederholte sich nun die Hämaturie während einiger Wochen verschiedene
Male, trotzdem wurde keine ärztliche Hilfe herbeigezogen und ließ sich Hqrr N.*
in seiner geschäftlichen Tätigkeit nicht stören. Dann aber kam Nierenkolik hinzu,
die Herrn N. veranlaßte, sich unter Behandlung eines ,^ Arztes zu stellen.
Status praesens. Patient sah sehr müde und anämisch aus. Die Untersuchung
ergab keine Abweichungen der verschiedenen Organe. Die Nieren War^ beide'
palptbel, doch nicht merkbar vergrößert und auch nicht schmeißend bei Druck.
Der Urin enthielt nur rote Blutkörperchen.
1) FQrbringer, Die Krankheiten der Harn- und Geschlechtsorgane.
2) Guyon, Klinik der Krankheiten der Harnblase und Prostata. Bearbeitet
von Mendelsohn,
39*
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530 '^•J' ^® Brui'ne Ploos van Amstel, [4.
3 Tage nach der ersten Untersuchung bekam der Patient Fieber. Die Tem-
peratur stieg abends bis 39,5, und blieb die folgenden Tage zwischen 38 und 39,7.
Außerdem enthielt der Urin nun große Quantitäten Zylinder und Eiweiß.
Die Menge des Urins nahm stark ab, und an den Füßen und im Gesicht zeigteo
sich deutlich wahrnehmbare, wenn auch schwache Ödeme.
Dieser Zustand dauerte verschiedene Tage, dann verischlimmerte sich das Be-
finden; es kamen urämische und komatöse Erscheinungen hinzu, und am 12. Mal
erlag der Patient seinem Leiden.
4. Fräulein d. J. sah ich zum ersten Male im November 1906.
Anamnese. Patientin war bis vor etwa 10 Jahren stets gesund gewesen, fühlte
sich kräftig, war unermüdlich. So blieb es bis 1896. Dann zeigte sich Blat im
Urin, welches anfänglich für eine Folge unregelmäßiger Menstruation gehalten
wurde; der hinzugezogene Arzt jedoch konstatierte Hämaturie. Während der Dauer
zweier Jahre hielt die Hämaturie in abwechselnder Stärke an, bis im Jahre 189&
als neues Symptom ein frequentes Urinlassen hinzukam. Außerdem nahm der
Urin eine trübe und schmutzige Farbe an, wo er bis dahin trotz des Blutgehaltes^
klar gewesen. In dem Satz des Urins konnte man hin und wieder blutige Sub-
stanzen konstatieren. Die früher so starke Hämaturie blieb indessen aus.
Dagegen wurden die Nierenschmerzen viel heftiger.
Während der Hämaturie klagte sie über dumpfe Schmerzen in der rechten
Nierengegend; in diesem Stadium waren die Schmerzen kolikartig.
Die Urinuntersuchung, welche seit den ersten Krankheitsymptomen verscbie-^
dene Male vorgenommen wurde, sowohl während der Zeit der Hämaturie als auch
nachher ergab außer dem Finden der roten Blutkörperchen, während der Zeit der
Hämaturie, nie ein positives Resultat.
Jetzt aber enthielt der Urin Eiweiß, Zylinder, Epithelien und auch Tuberkel*
bazillen.
Eine zystoskopische Untersuchung ergab eine stark blutige R5te der Schleim-
haut des rechten Ureterelnganges. Dieselbe Röte wurde auch, zwar im geringereo
Maße, dafür aber fleckenähnlich auf der Schleimhaut des Trigonums konstatiert.
Willy Meyer sagt von diesem letzteren Symptom: „Es sind Fußspuren im
frischen Schnee**, worauf er folgen läßt, „und man erkennt aus ihnen mit wunder-
voller Deutlichkeit die Fußstapfen des Feindes in einem bis dahin noch unbe-
schrittenen Feld.*
Patientin wurde lokal auf Blasenleiden behandelt, doch ohne Erfolg. Später
habe ich sie aus den Augen verloren.
Bei allen diesen vorgenannten Fällen handelte es sich um Hätna-
turie. Eine Hauptfrage ist nun: stammte das Blut aus den Niere]^
oder aus der Blase?
Zu ihrer Beantwortung bedarf es beinahe durchweg einer zystosko-
pischen Untersuchung, wenn auch hin und wieder die Anamnese aus-
reichendes Material für die Diagnose liefert.
Der Beweis dafür, daß der Arzt ohne zystoskopische Untersuchung
leicht auf einen Irrweg geraten kann, liefert uns der bekannte Fall
von Passet, der eines Tages die Entdeckung machte, daß bei einer
Patientin, die er auf Blasenleiden behandelte, die Ursache der Hä-
maturie nicht in der Blase, sondern in den Nieren zu suchen sei.
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6] Hämaturie. 531
Auch das Ausspülen der Blase kommt als diagnostisches Hilfs-
mittel in Betracht.
Ist für den Arzt einmal die Tatsache erwiesen, daß das Blut aus
den Nieren stammt, so legt sich ihm die zweite Hauptfrage vor:
welche der beiden Nieren ist als Ursache des Übels zu
denunzieren?
Morris z.B. wäre die Beantwortung dieser Frage zustatte gekom-
men, als er in einem Falle von Hämaturie eine Niere entfernte,
während beide die Blutung verursachten. Bei einer zystoskopischen
Untersuchung ist solch ein Fehlgriff natürlich ausgeschlossen. Hat
man einmal konstatiert, daß beide Nieren, bzw. Ureter Blut absondern,
dann ist es zweckmäßig, beide Ausflüsse für sich zu untersuchen. Zu
diesem Zwecke nennen Silbermann, Weir, Ebermann, Hegar,
Fenwick u. a. verschiedene Instrumente und Methoden.
Simon aber war der erste, der uns den Weg für die Katheteri-
sierung beider Ureter zeigte. Nach ihm taten sich auf diesem Ge-
biete noch andere, wie Pawlik, Howard, Kelly, Morris, Thomp-
son, Boisseau, Caspar, Albarran, Berkeley, Hill, jedoch vor
allem Nitze hervor.
Es würde zu weit führen, hier alle die verschiedenen Instrumente
zu beschreiben.
Trotzdem war man stetig auf der Suche nach anderen Mitteln,
hauptsächlich um eine Scheidung der Blase zu ermöglichen. Der
erste, der dafür ein Instrument, „den Harnscheider" erfand, war Neu-
mann aus Guben, nach ihm: Harris, Dowes, Nicolich, Luys^),
Cathelin^. Erreicht man mit keiner dieser Methoden das erwünschte
Ziel, so bleibt noch das von Iversen vorgeschlagene Öffnen der Blase
<Epizystomie) mit anschließender Katheterisierung der Ureter.
Czerny und Braun empfehlen eine Nierenbeckenfistel, damit
nur der Urin aus der anderen Niere in die Blase gelangen kann.
Dieses Verfahren vermag, besonders nach der Vervollkommnung
von Pinner, entschieden Erfolge aufzuweisen.
Durch eine derartige Scheidung des Urins ist unbedingt die Her-
kunft des Blutes erwiesen, d. h. welche der beiden Nieren erkrankt ist.
Natürlich erkennt man auf diese Weise auch die verhältnismäßig
seltenen Fälle, bei denen nur eine Niere vorhanden ist.
Weiß man einmal, welche Niere erkrankt ist, so ist man doch
noch nicht berechtigt, dieselbe zu exstirpieren.
1) Luys, Die Sonderung des Urins der beiden Nieren. Zentralbi. für die
Krankheiten der Harn- und Sexualorgane 1002.
2) Cathelin, Les urines des deux reins receuillies s6par6ment avec le divi-
seur v6sical gradu6. Annales des Maladies des Organes gönito-urinaires 1902.
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532 ^' J* ^^ Brulne Ploos von Amstel, [§
Daza bedarf es der Überzeuguag, daß die andere Niere nlebt nur
relativ gesund, sondern auch imstande ist, die exstirpierte zu ersetzen.
Dea Forschungen Prof. van 't Hoffs verdanken wir eine neue
Wissenschaft, die »Kryoskopie ', welche uns die Diagnose einer
Niereninsuffizienz ermöglicht.
Wir wollen hier nicht näher auf die Technik und Lehre der
Kryoskopie eingehen.
Um letztere, in ihrer heutigen Vollkommenheit haben sich Dreser,
V. Koranyi, Lindemann, v. Illyes, Kövesi, Casper, Senator,
Moritz, Kümmel u. a. verdient gemacht.
Kümmel sagt: Um die Insuffizienz der Niere zu erweisen, bedarf es
L der Bestimmung des Harnstoffes;
2. der Bestimmung des Gefrierpunktes des Blutes ,-
3. der Bestimmung des Gefrierpunktes des Urins ;
4. der Gefrierpunktsbestimmung des jeder einzelnen Niere durch
den Uretherenkatheterismus entnommenen Urins.
Sein Ergebnis lautet :
1. Daß eine ungenügende Ausscheidung des Harnstoffes, ein Her*
untergehen der Tagesmenge unter die Hälfte, ca. 16g, die. Annahme
einer Niereninsuffizienz nahe legt und die eventuelle operative Ent-
fernung einer Niere bedenklich erscheinen läßt.
2. Bei normal funktionierenden Nieren beträgt die Gefrierpunkts-
emiedrigung des Blutes 0,56. Eine Niere mit normaler Arbeitsleistung
reicht zur Erhaltung des Gefrierpunktes auf 0,56 aus. Eine Zunahme
der Gefrleipunktserniedrigung auf 0,58—0,60 und darüber zeigt an,
daß beide Nieren mangelhaft funktionieren. Von einem operatives
Eingriff ist so lange Abstand zu nehmen, bis der Gefrierpunkt von
annähernd 0,56 erreicht ist. Einseitige Krankheit bedingt keine Stö*
rung des Gefrierpunktes des Blutes.
3. Die Gefrierpunktserniedrigung des Urins unter 0,9 legt die An-
nähme einer Niereninsuffizienz nahe.
4. Einen weit sichereren Anhaltspunkt über die Funktionsfahigkeit
jeder einzelnen Niere gibt die Untersuchung des jedem Organ ge-
sondert durch den Ureterenkatheterismus entnommenen Urins auf
Harnstoffmenge und vor allem Gefrierpunktserniedrigung.
In zweifelhaften Fällen wird man durch eine solche Untersuchung
beinahe immer zu einer richtigen Diagnose gelangen«
Außerdem steht uns noch ein ungefährlicher operativer Eingriff
explorativer Lumbaischnitt, zwecks lokaler Untersuchung und ev,
Nierenspaltung rur Verfügung,
h Kümmel^ Die Feststellung der Funktionsfähigkeit der Nierea vor operativeo
Eingriffen. Arcb. f. Uin. Chir. ioOO. Über. moderne Nierenchirurgie, ibre Dia^ose
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7] Hlmaturie. 533
tmd Resultate« Berliner klin. ^ochenschr. 1906. Die Grenzen erfolgreicher Nieren-
exstirpation und die Diagnose der Nephritis nach kryoskopischen Erfahrungen. Arch.
f. klin. Chir. Bd. 67.
2. V. Uly es und Kdvesi, Der Verdunnungsversuch im Dienste der funktio-
nellen Nierendiagnostik. Berliner klin. ^ocbenschr. 1002.
3. Caspar und Richter, Über funktionelle Nierendiagnostik. Berliner klin.
Wochenschr. 1000.
4. Richter, Neuere Fortschritte der Nierendiagnostik und ihre Bedeutung für
die Therapie. Die deutsche Klinik ai^ Eingange des 20. Jahrhundert.
5. Casper und Richter, \(^as leistet die funktionelle Nierendiagnostik?
Mitteil, aus den Grenzgebieten usw. Bd. 11.
6. Acbard et Castaigne, L'examen clinique des fonctions renales.
7. Dreser, Ober Diurese usw. Arch. f. exper. Path. u. Pharm. 1902.
8. Harris, A new and simple method of obtaining the urine separately from
the two kindneys in either sex. The Journ. of the Americ. med. Assoc. 1898.
9. Israel, ^as leistet der Ureterenkatheterismus in der Nierenchirurgie?
Berliner klin. Wochenschr. 1899.
10. Senator, Weitere Beiträge zur Lehre vom osmotischen Druck tierischer
Flüssigkeiten. Deutsch, med. Wochenschr. 1900.
11. V. Koranyi, Physiolog. und klin. Untersuchungen über den osmotischen
Druck tierischer Flüssigkeiten. Zeitschr. f. klin. Medizin 1896—1897.
Nierenblutung.
Sobald wir nun eine einseitige oder doppelte Nierenblutung kon-
statiert haben, ist unser nächstes Ziel, die Ursache der Nierenerkran-
kung zu erforschen.
Unser erster Gedanke ist dann die Existenz eines Nierentraumas.
Eine solche Nierenquetschung ruft beim Patienten fast immer einen
mehr oder weniger starken Urindrang hervor. In schlimmen Fällen
erfolgt dann sofort die Hämaturie, d. h. die Ausscheidung klaren Blutes;
ist die Quetschung weniger heftig, so mengt sich das Blut in der
Blase mit dem Urin und wird dann später als blutiger Urin ausge-
schieden. Bei geringer Blutung und leerer Blase kommt es oft vor,
daß das Blut in der Blase gerinnt und ihre Öffnung durch Koagula
verschlossen wird. Hierdurch wird die Zystoskopie erheblich er-
schwert, oft sogar unmöglich, aber die gleichmäßige Verteilung des
Blutes in der ausgeschiedenen Flüssigkeit berechtigt uns doch zur Dia-
gnose, daß hier nichteine Blasen-, sondern eine Nierenblutung vorliegt.
Großen Wert für die Diagnose hat in diesem Falle die Anamnese,
welche uns das etwaige Trauma deutlich erkennen läßt.
Menge!) macht uns aber noch besonders darauf aufmerksam, daß
auch eine schwache Blutung die Folge eines leichten Traumas sein
kann, und daß letzteres leicht übersehen wird.
1) Menge, Münch. med. Wochenschr. 1900.
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334 P* i' de BniTne Ploos van Amstel, [g
Er machte die Erfahrung, daß auch die vorherige Palpation eine
leichte Nierenblutung zur Folge haben kann.
Er untersuchte in 21 Fällen den Urin vor und nach der Palpation
und nur in 6 der 21 Fälle war der Urin nach der Palpation unver-
ändert. In 15 Fällen enthielt er Blut und Eiweiß und zwar mehr
Eiweiß als übereinstimmen konnte mit der anwesenden Quantität Blut.
Oftmals entsteht infolge des Traumas eine Nephritis , eine trau-
matische Nephritis, deren Schwere jedoch nicht immer im richtigen
Verhältnis zu der Beschaffenheit des Traumas steht (Edlefsen^).
Die Möglichkeit ist also nicht ausgeschlossen, daß das Nieren-
trauma übersehen wird und unsere Diagnose der Hämaturie uns also
auf falsche Fährte bringt. Dieses um so leichter, da häufig erst ge-
raume Zeit nach dem Entstehen des Trauma die Hämaturie eintritt,
während die Symptome des Trauma dann scheinbar so leichter Art
sind, daß der Patient ohne Störung seinen täglichen Geschäften nachgeht.
So erzählt Morris^) uns einen Fall von einem Jüngling, welcher
beim Fußballspiel einen Tritt in die Nierengegend erhielt, ruhig den
ganzen Mittag weiterspielte und erst spät am Abend nach mehrmaligem
Urinieren die Hämaturie entdeckte.
Auch kann es vorkommen, daß eine schon bestehende Hämaturie
einem erst später entstandenen Trauma zugeschrieben wurde. Daß
passierte in 1 Fall, über den Newman berichtet, von einem Jungen
von 15 Jahren, „who after striking his side had persistent hsematuria,
which on inquity was found to have occured on previous occasions
and to be due to a villous growth in the bladder*'«
Deshalb warnt auch Dr. Tiffany davor, in den Fällen, wo
beide anwesend sind, Hämaturie und Trauma zu kombinieren. Er
begründet seine Warnung durch reichliche Erfahrungen aus eigener
Praxis in puncto Hämaturie in der Gegend zwischen Washington und
den Capes of Cheasepeake. Die Anamnese ließ in den häufigsten
Fällen auf irgendein früheres Trauma schließen ; die Blutuntersuchung
ergab als Ursache Malaria.
Wenn auch, wie wir gesehen haben, das Trauma bei Hämaturie
eine große Rolle spielen kann, so kommt es doch bei der Besprechung
sämtlicher Ursachen der Hämaturie bei weitem nicht in Betracht.
So sah z. B. Küster 3) kaum 10 Fälle von Nierenquetschungen bei
1) Edlefsen, Nierenquetschung oder Nierenentzündung usw. Münch. med
Wochenschr. 1902.
2) Morris, Surgical diseases of the kindncy and Ureter 1901.
3) Küster, Zur Entstehung der subliutanen Nierenzerreißungen und der Wan-
derniere. Deutsche Ges. f. Chir. 1895.
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9] Hämaturie. 535
50000 Kranken in der Klinik in Basel; Morris in dem Middlessex
Hospital kaum 13 Fälle bei 2610 Sektionen und Herzog kaum 17
in den Sektionsprotokollen von 7805 Sektionen in dem Müncbener
pathologisch-anatomischen Institut.
Wenn bei einem Trauma die Nierenblutung Fortdauert, dann kann
ihre Ursache nicht länger in dem Trauma selber sein, wohl aber
^ine Nierenveränderung, welche als Folge des Traumas entstanden ist.
Dieses beweist auch der Fall von Nimier.^ Der 17jährige Pa-
tient von Nimier hatte sich in der linken Nierengegend ein heftiges
Trauma zugezogen. 8 Tage nachher entstand die Hämaturie, die nicht
verschwand und auch trotz vorbeigehender Besserung andauerte. Nach
Exstirpation der Niere wurde der Urin normal blutfrei. Die Unter-
suchung der Niere ergab außer sklerotischen Veränderungen auch
akute Entzündungsherde.
Ren mobilis.
Die Hämaturie ist selten eine Begleiterscheinung bei Ren mobilis.
Morris^) sagt hierüber: ^Hsematuria, in some cases to a rather
degree, has been met with in association with movable kidney. I have
explored the movable kidney in several instances, on account of pain
and haematuria, and I have found it congested; and after the Operation
the Symptoms have entirely ceased.*
Derartige Fälle wurden wahrgenommen durch Albarran, Israel,
Newman und Guyon.
Bei Guyon war es eine 38jährige Frau, die schon seit 2 Jahren
beinahe ohne Unterbrechung Nierenblutungen hatte. Sie unterzog sich
einer Operation, die Niere wurde freigelegt und aufgeschnitten, aber
das Resultat der Untersuchung war gering. Nur fand man, daß der
obere Nierenpol stark fixiert war, der wurde nun losgelöst und die
Niere reponiert und zwar mit dem Erfolge, daß die Hämaturie aus-
blieb. Ebenso ging es Albarran: auch er fand nichts an der Niere
selbst, aber er erlangte Heilung durch Reposition der Niere.
Newman jedoch fand außer Ren mobilis auch Nephritis. Welche
der beiden war nun die Ursache der Hämaturie?
Sehr richtig sagt darum Morris: ,When hsematuria occurs with a
movable kidney, lumbar exploration ought to be performed, and
nephrorraphy practised, after füll examination of the kidney and
downwards catheterisation of the Ureter have shown that no other
tangible cause for the hsemorrhage exists."
1) Nimier, Sur rhömaturie renale. Soc. de Chir. 1898.
2) Morris, Surgical diseases of the kidney and Ureter. 1901.
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536 P- J- de BruTtte Ploos vin Amstel, [10
Den Beweis für die Richtigkeit dieser Worte liefert uns der Fall
von Kingston Fowler.*)
Kingston Fowler behandelte eine Dame, welche wiederholt Anfalle
von NierenJLolik und Hämaturie hatte. Die Untersuchung ergab außer
dem Ren mobilis eine besondere tiefe Lage der Niere. Darauf wurde
zur Operation geschritten« Dr. Gould, welcher dieselbe verrichtete,
fand wohl einen Ren mobilis, aber derselbe verkehrte in einer i,ad-
vanced stage of cystic degeneration'.
Newman teilte in derselben Sitzung der Clinical Society zu London
noch einige Fälle mit. Bei dem ersten Patienten von Newman^ zeigte
sich: »Movable enlarged kidney with hypersemia from torsion of renal
vessels and ureter caused by strain. The Symptoms were severe
paroxysmal pain, haematuria, gastric disturbances, &c., simulating those
of renal colic." Dieser Patient fand auf operativem Wege Heilung.
Auch Cabot^) erzählt uns von einem Fall von Hämaturie bei Ren
mobilis.
Bemerkenswert war bei demselben der Umstand, daß die außer-
gewöhnlich heftige Blutung sofort bei der Reponierung der Niere nach-
ließ, um später beim Luxieren wieder mit alter Vehemenz einzutreten.
Anläßlich der Tatsache, daß Hämaturie oftmals geheilt wird durch
Freilegen der Niere, glaubt Cabot, daß es sich in jenen Fällen um
eine bewegliche Niere handelt. Die Inzision soll ein Adhäsion und
dadurch eine Fixierung der Niere verursachen.
Die Niere des vierzehnten Patienten von Israel*) war auch ab-
normal beweglich und die bei diesem Patienten bestehende Hämaturie
wurde auch geheilt durch Freilegen der Niere.
Israel sagt hierüber: „Daß die abnorme Mobilität der Niere in ur-
sächlichem Zusammenhange mit der Blutung gestanden habe, ist möglich,
da derartige Vorkommnisse bei Wandernieren schon beobachtet sind.
Aber der Zusammenhang ist nicht bewiesen, da (hier) zwischen dem
Schmerzanfall und Eintritt der Blutung 4—5 Wochen lagen und zur
Zeit der Hämaturie jede Empfindlichkeit fehlte.''
1) Kingston Fowler, Clinical Soc of London 11. December 1896. TlieBritisb
Medical Journ. 1896.
2) Newman, Increased vascular tension in the kidney a cause of renal paifl,
hsmaturia and albuminurla. The British Med. Journ. 1896.
3) Cabot, Severe hsematuria from movable kidney. Boston Med. and Snrg.
Journ. 1902.
4) Israel, Über den Einfluß der Nierenspaltung auf akute und chroniscfae
Krankheitsprozesse des Nierenparenchyms. Mitt. aus den Grenzgebieten der Me-
dizin und Chirurgie 1900.
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II] . Hämatttrie. 537
In unsern Fällen beweist die Untersuchung jedoch^ daß es sich
nicht um Ren mobilis handelte.
Schon seit geraumer Zeit war es bekannt^ daO Nierenblutung ein
Symptom der Hämophilie sein kann, aber Senator^ war eigent-
lich der erste, welcher den Begriff »Renale Hämophilie'' erläuterte.
Er erörtert folgenden Fall: Im Februar 1890 wurde er von einer
19jährlgeny an langwieriger Hämaturie leidenden Dame konsultiert.
Schon im Dezember 1887 war die Hämaturie konstatiert worden im
Anschluß an die Menstruation. Es bestand damals keine Anomalie
der Beckenorgane. Im September 1889 wiederholten sich die Nieren-
blutungen und hatten ununterbrochen stark fortgedauert, bis Senator
zu Rate gezogen wurde.
Die Untersuchung der kräftigen, wenn auch anämischen Patientin
ei^ab keine Abweichungen der Lungen und der Nieren. Der Urin
enthielt rote und weiße Blutkörperchen. Patientin war immer fieber-
frei gewesen. Ihr verhältnismäßig günstiges Befinden, sowie das
Resultat der Urinuntersuchung veranlaßte Senator, die Anwesenheit
der gewöhnlichen Ursachen der Nierenblutung, wie malignen Tumor,
Tuberkulose und Nierenstein auszuschließen.
Aber auch die mehr seltenen Ursachen, wie Thrombose der Nieren-
geßlße, Aneurysma der Nierenarterien, Varix von Nierenvenen, para-
sitäre oder tropische Chlorose usw. ließ er unberücksichtigt. Seine
Diagnose lautete: Hämophilie, auf familiärer^ hereditärer Grundlage
beruhende Neigung zu Blutungen, und zwar renale Hämophilie.
Die Anamnese bestätigte seine Diagnose (d. h. seiner Ansicht nach).
Die Patientin hatte vier Schwestern, welche gleichwie der Vater an-
dauernd von Nasenbluten geplagt wurden. Bei letzterem stellte sich
trotz vollkommen gesunder Lunge des öfteren Hämoptoe ein. Die
Großmutter väterlicherseits, welche im 58. Lebensalter starb, hatte
bis zu ihrem 57. Jahr heftige Menstrualblutungen gehabt. Patientin
selber war jedoch, außer obenerwähntem Falle, frei von Blutungen
gewesen.
Bei der zystoskopischen Untersuchung durch Dr. Nitze wurde kon-
statiert, daß es sich hier um Blutung der rechten Niere handelte. Das
Befinden der Patientin wurde zusehends schlechter und so wurde die
Niere auf operativem Wege entfernt.
Die exstirpierte Niere war, wie Senator uns mitteilt, makroskopisch
»ganz normal, was Gestalt, Größe und sonstiges Aussehen betraf*.
Nicht nur der Wundverlauf war günstig, sondern auch die Hämaturie
A) Senator; Ober renale HSmophilie. Berliner klin. Wochenscbr. 1801.
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538 P« J* de BruTne Ploos van Amstel, [i2
schien überwunden zu sein, so daß Patientin' wieder völlig gesund
wurde.
An einem Stück der Niere jedoch, das mikroskopisch untersucht
ward, konstatierte man eine ,,leichte Verfettung einzelner Epithelien'.
Der andere Teil wurde von O. Israel untersucht, und dieser be-
hauptete, daß mit Sicherheit festzustellen sei, daß j^keine irgendwie
ausgedehnte Nephritis bestand. Nur vereinzelte, sternförmige, ziemlicli
tief eingezogene Narben zeigten mikroskopisch das Bild einer be-
grenzten interstitiellen Nephritis'^.
Klemperer glaubt nicht, daß dieser Fall ^.renale Hämophilie'' in
dem Sinne Senators ist.
Erstens hatte diese Patientin vorher nie Blutungen, und Grandidier
trifft doch das richtige mit seiner Behauptung, daß meistens bereits
während der ersten zwei Lebensjahre j^apparaissent les premiers
symptömes h6mophiliques; aprös 22 ans on en est presque toujours
ä l'abri«.
Dieser Auffassung pflichtet Senator selber bei in dem Fall von
Schede, wo er die Altersgrenze als Argument gegen die Annahme der
Hämophilie als Ursache. der Hämaturie anführt.
Auch die Anamnese, in welcher nur die Rede ist von Nasen-
blutungen und heftiger Menstruation, kann nicht als kräftiges Argument
für die Diagnose in Betracht kommen.
Außerdem verlief die Zystoskopie ohne, und die Operation mit
normaler Blutung.
Nun sagt Senator zwar, daß die Erfahrung bestätigt hat, daß gerade
scharf geschnittene Wunden bei Hämophilen nicht so gefährlich sind
und nicht so stark bluten, aber Grandidier beschreibt uns doch, wie
in 40 Fällen der chirurgische Eingriff eine sehr starke Blutung nach
sich zog. Heyf eider beobachtete sogar einst eine heftige Blutung nach
der Vakzination.
Daß auch der von Senator mitgeteilte Fall, wo der Vater trotz ge-
sunder Lungen Hämoptoe hatte, wenig Wert für uns hat, ergibt der
Vortrag von Thorner in dem Verein für innere Medizin in Berlin.
Thorner behandelte einen ähnlichen Fall bei einer 36jährigen Dame;
zuerst glaubte er an eine hysterische Blutung, jedoch der fernere Ver-
lauf der Krankheit bewies, daß es ein Fall von Phthisis pulmonum war.
Auch bemerkt Gottschalk, daß Senators Patientin zyklische Albu-
minurie hatte, und das dürfte uns doch wohl veranlassen, einer anderen
Ursache als der Hämophilie nachzuspüren.
Klemperer ist der Ansicht, daß Patientin auch auf Neurasthenie
hin hätte behandelt werden müssen.
Senator selbst sagt jedoch hierüber: ^»Zyklische Albuminurie ist
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13] Hämaturie. 539
meist ein Zeichen einer selir leichten und schleichend verlaufenden
Nephritis,«
Auch sagt er, daß letztere erst seit kurzer Zeit bestehen kann, da
er vor der Operation keine Spur von ihr habe entdecken können:
doch das ist kein Beweis.
Debove^ sagte bei der Besprechung eines Falles von Nephritis
bei Bleiintoxikation: ^Uexamen de l'urine ne r^vgle pas le moindre
trace d'albumine, mais vous savez que pendant une p6riode plus ou
moins longue de leur Evolution, les nephrites peuvent exister, histo-
logiquement tout au moins, sans s'accompagner d'albuminurie,'
Der Umstand, daß Senator keine Spuren von Eiweiß entdeckte,
kann doch kein Beweis dafür sein, daß während der Untersuchung
die Nieren gänzlich normal waren, schließt doch nicht die Anwesen-
heit von Nephritis aus. Übrigens ist auch, wie wir bereits erörterten,
im Sektionsprotokoll von O. Israel schon die Rede von interstitieller
Nephritis.
Auch Henoch^), der den Namen zyklische Albuminurie unrichtig
findet, sagt: »Wenn auch einzelne Fälle völliger Heilung beobachtet
worden sind, so ist doch die ganze Sache noch dunkel und der Ver-
dacht einer schleichenden Nephritis nie ganz abzuweisen.'^
Heubner^) ist ebenfalls dieser Meinung.
Senator meint außerdem, daß zyklische Albuminurie nie solche
heftige Blutungen verursacht, wie gerade in diesem Falle, und ist der
Meinung, daß die Albuminurie aus der nicht exstirpierten Niere stammt,
und zwar infolge der Exstirpation.
Jedenfalls können wir nicht annehmen, daß Senators Fall ein hin-
reichender Beweis ist, um nur annähernd das Bestehen der renalen
Hämophilie, nach seiner Auffassung, zu bestätigen.
Warum sollte auch das Wesen der betn Hämophilie verschieden-
artig sein, nur weil zufällig das erste Symptom nicht eine Nieren-,
sondern z. B. eine Nasenblutung war?
Auch Klemperer findet diesen Fall von Senator durchaus nicht
beweisend. Er spricht von ^»Hämaturie der Bluter"*, nie von renaler
Hämophilie. Dies ist auch in der Tat die richtigste Auffassung, doch
dadurch wird auch Senators renale Hämophilie als selbständiges Krank-
heitsbild hinrällig.
Georg Elb^), ein Schüler Klemperers, hat in seiner Dissertation
1) Debove, Nephrite latente chez un saturnin. La Presse m6dica1e 1901.
2) He noch, Vorlesungen fiber Kinderkrankheiten.
3) Heubner^ Pädiatrische Arbeiten. Festschrift. Berlin 1890.
4) Georg Elb, Zur Kenntnis der renalen Hämophilie. Inaugural-Dissertat.
Berlin 1896.
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540 P* J' de Bruine PI008 van Amstel, [14
die renale Hämophilie erörtert. Er bespricht in derselben rwel Pille
aus der Klinik von v. Leyden, welche außerdem von Klemperer er-
örtert werden. In beiden Fällen bestand auch nicht der mindeste
Zweifel darfiber^ daß die Patienten an Hämophilie litten. Neb€n
anderen Blutungen wurde bei beiden Patienten auch Nierenblutuog
konstatiert.
Im völligen Einklänge mit diesen zwei Fällen sagt Elb: »Unter
renalen Hämophilie sind nur die Nierenblutungen notorischer Bluter
zu verstehen.*
Ein klassischer Fall von „Hämophilie der Bluter' ist durch Gros-
glik^) beschrieben. Auch dabei kommt Senators Fall zur Sprache und
ist Grosglik ebenfalls der Ansicht, daß der Name „renale Hämophilie
hier nicht richtig angewandt ist'. „Die Hämophilie ist ja eine Allge-
meinerkrankung; äußert sie sich aber ausschließlich in der Gestalt
renaler Blutungen, so kann man eben nur von einer Nierenblutuog
auf hämophiler Grundlage reden.'
Trotzdem bleibt für ihn das große Verdienst Senators, der
darauf hingewiesen hat, daß bei den sog. essentiellen Nierenblutungeo
auch wohl Fälle vorkommen, wo die Blutungen auftreten bei PatienteOi
welche an Hämophilie leiden.
Grandidier^) hat auch einen ähnlichen Fall beschrieben, wobei ein
31 jähriger Mann, der früher schon öfters an Nasen- und Zahnfleisch-'
blutungen litt, Anfälle von Hämaturie bekam.
Das Befremden, daß bei einer allgemeinen Krankheit wie der Hä-
mophilie Exstirpation der Niere nicht nur Heilung der Nierenblutung,
sondern auch dauernde Genesung der Hämophilie verursacht, beaüt«*.
wortete Senator mit der Behauptung, daß hier keine allgemeine Hämo-
philie bestand. Er sagt, daß es sich in diesem Falle nicht um sog.
allgemeine Hämophilie gehandelt hat, sondern daß nur in der Niere,
und zwar nur in der einen, Veränderungen vorgelegen haben mfissen,
auf Grund einer hämophilen Familiendisposition. Ferner sagt er auch,
daß die wirkliche Hämophilie durchaus nicht immer eine allgemeine ist.
Außer den vielen Einsprüchen, welche schon gegen diesen Fall
von Senator zu erheben sind, ist wohl das größte Bedenken dagegen,
daß er ihn erklären will mit Hilfe einer besonderen Form der uns in
Wesen und Ursache so wenig bekannten Krankheit Hämophilie.
1) Grosglik, Über Blutungen aus anatomisch unverlnderten Nieren. Sammluoi
klinischer Vorträge 203, Chirurgie 58.
2) Grandidier, Die Hämophilie oder die Bluterkrankheit.
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15] Hlmaturie. 541
Ein sehr interessanter Fall über ^.renale HSmophilie' wurde uns
mitgeteilt durch Passet^).
Die Patientin war Mutter von vier Kindern, deren ältestes 19 Jahre
alt war. Die Diagnose lautete auf Blasenblutung. Das Ergebnis der
Anamnese deutete nicht auf Hämophilie als Urheber der Krankheit
hin. Die zystoskopische Untersuchung wurde unterlassen, nicht nur
weil die Patientin dieselbe nicht wünschte, sondern auch weil das
Resultat infolge der heftigen Blutung zweifelhaft gewesen wäre. Bei
der mikroskopischen Untersuchung konnte nur die Anwesenheit von
Blut im Urin konstatiert werden. Die Blase wurde ausgespült mit
einer borsauren Lösung und dann wurde eine Injektion vorgenommen
mit 100 g l%iger Nitras-argenti-Lösung, welch letztere man eine
Minute auf die Blasenwand einwirken ließ. Scheinbar hatte dieseBe-
handlung den gewünschten Erfolg; jedenfalls ließ die Blasenblutung
nach. Auch jetzt noch verweigerte die Patientin die zystoskopische
Untersuchung. Nach 1^/2 Jahren trat die Blutung wieder auf mit ganz
gleichartigen Symptomen. Jetzt aber blieb jede Behandlung resultat-
los. Die unter Narkose vorgenommene Digitaluntersuchung ergab nichts
Besonderes; nur wurde ein Stück Blasenschleimhaut gefunden in der
Größe eines Zweimarkstückes „von grobkörniger Beschaffenheit und
bedeckt mit kurzen Trabekeln"". Endlich, nachdem die Blutung sechs
Wochen angehalten hatte, gab die Patientin ihre Zustimmung zur
Sectio alta, und nun wurde zum allgemeinen Erstaunen die Blase voll-
kommen normal befunden, während die Katheterisierung der Ureter
ergab, daß die Blutung aus der rechten Niere herrührte. Die Nieren-
operation, welche einige Tage später vorgenommen werden sollte^
wurde überflüssig, weil die Blutung aufhörte.
Passet erklärt uns, wie er zu einer falschen Diagnose gekommen
ist. Guyon^) sagt: »Eine Vermehrung des Blutgehaltes des Harns am
Ende des Urinierens beweist stets mit Sicherheit, daß die Blase selbst
die Quelle der Blutung ist.''
Auch Fürbringer sagt^): „Blasenblutung pflegt besonders blutreiche
letzte Harnportionen zu liefern.*'
Hier war dieses tatsächlich der Fall, so daß Passet annimmt, daß
das Blut sich gewissermaßen gleich als Sediment im Urin absonderte,
um somit in der Hauptsache erst mit der letzten Menge Urin abzu-
1) Passet, Ober Hämaturie und renale Hämophilie. Zentralbl. für die Krank-
heiten der Harn- und .Sexualorgane 1894.
2> Guyon, Klinik der Krankheiten der Harnblase und Prostata. Bearbeitet
von Mendelsohn.
3) Fürbringer, Die Krankheiten der Harn- und Geschlechtsorgane.
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542 ^» J* de Bruine Ploos van Amstel, [16
fließen, per scheinbare Erfolg der Nitras-argenti-Therapie war die
Ursache 9 daß Passet auf der falschen Fährte blieb. Erst nach der
letzten Operation kam Passet zu der Diagnose Hämophilie, Er sagt:
Nierenblutungen entstehen gewöhnlich infolge Nierentumor, Nieren-
tuberkulose, Nierenstein oder Nephritis suppurativa. Gegen Nieren«*
tumor sprechen hier die folgenden Momente: die Abwesenheit einer
palpabelen Geschwulst, keine Schmerzen und Kachexie und keine
Veränderungen des Urins. Tuberkulose war ausgeschlossen, weil in
dem Urin keine Tuberkelbazillen gefunden wurden, und wegen der
langen Dauer der Blutung und des Charakters derselben, welche bei
Tuberkulose nicht so profus zu sein pflegt. Die Argumente gegen
Nierentuberkulose waren nicht sehr stichhaltig, denn es ist eine irrige
Auffassung, daß die Blutung bei Nierentuberkulose weder von langer
Dauer, noch j)rofus sein kann» Nierenstein kam für ihn nicht in
Betracht, da die Patientin nie Nierenstein oder Sand ausgeschieden
hatte, und wegen der Abwesenheit von Kolik und Fieber. Auch diese
Beweisführung ist nicht ganz richtig, denn wir wissen, daß Nieren-
steine tatsächlich Blutungen verursachen können ohne Fieber und
Kolik, und außerdem erlaubt das Gestern in bezug auf das Ausscheiden
der Nierensteine keinerlei Schlußfolgerung auf das Heute. Der All-
gemeinzustand, d. h, der fieberfreie Zustand, der Patientin spricht sehr
gewichtig gegen Nephritis suppurativa. Demnach blieb Passet nichts
anderes übrig als anzunehmen, daß Hämophilie die Ursache des
Leidens war. Zum Durchführen dieser Diagnose bei der Mutter einer
19jährigen Tochter (es hatte sich früher nie Hämophilie bei ihr ge-
zeigt) bedurfte Passet eines neuen Begriffes: der relativen Hämophilie.
Unter relativer Hämophilie versteht Passet einen Zustand, bei welchem
hämophile Erscheinungen an dem Individuum oder in der Familie
bis zum Auftreten der Nierenblutung vorher nicht beobachtet wurden.
Dieser Begriff kleidet allerdings den Fall in das Gewand der Hämo-
philie, aber der Begriff Hämophilie wechselt dadurch seine Bedeutung.
Außerdem vergaß Passet aber, daß nicht nur die Nephritis suppura-
tiva, sondern auch andere Arten der Nephritis Ursache der Hämaturie
sein können, und somit wird sein Motiv (exclusionum) für die Dia-
gnose: renale Hämophilie hinfällig.
Nierensteine.
Nierenblutung ist eine der häufigsten Erscheinungen bei Nieren-
stein. Die Diagnose ist aber meistens schwierig. Zwei Fälle von
Brook^) zeigen uns die Schwierigkeit der Diagnose; dieselben sind von
1) Brook, Two cases of nephrolothotomy illustrating the value of heary
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17] Hämaturie. 543
großer Wichtigkeit, weil Brook uns das diagnostische Mittel nennt zur
Losung dieser Schwierigkeit. Die erste Patientin war ein 18 jähriges
Mädchen^ welches dem Swansea-Hospital überwiesen wurde, weil sie
schon seit 5 Jahren klagte über Schmerzen: ,,in the left iliac region^S
Zuerst kamen die Schmerzen immer gleichzeitig mit der Menstruation,
aber während der letzten 3 Jahre zu allen Zeiten. Die Unter-
suchung ergab Druckschmerzen des linken Ovariums. Der Urin zeigte
keine besonderen Merkmale. Bei der Operation fand man eine Ova-
rialzyste, welche entfernt wurde. Nach einer Periode von 2 Monaten
traten die Schmerzen wieder auf.
„The abdominal pain was now more general, but was most severe
about a point midway between the umbilicus and the anterior supe-
rior spine. It extented into the left flank, and deep pressure over the
kidney caused pain, but the seat of greatest tenderness corresponded
to that of the greatest pain.^^
Alle klassischen Symptome von Nierensteinen fehlten hier und doch
diagnostizierte McBurney Nierenstein, weil: „Heavy percussion
below the tip of the last rib caused acute stabbing pain in the loin."
Der zweite Patient, ein 22jähriger Mann, kam in das Krankenhaus
wegen Appendizitis. Auch hier zeigte der Urin keine besonderen
Merkmale. Die Schmerzen dauerten schon 3 Jahre hindurch, hatten
nie, auch nicht im Ruhestand, nachgelassen, verschlimmerten sich aber
bei jeder Anstrengung. The pain, which was situated in the right
iliac region, was most intense midway between the umbilicus and the
anterior superior spine. Die Schmerzen waren also genau dieselben
wie in dem vorhergehenden Falle, nur traten sie gerade auf der ent-
gegengesetzten Seite auf. Die rechte Niere war gar nicht oder doch
nur sehr wenig schmerzhaft bei Druck, but heavy percussion imme-
diately over the kidney caused stabbing pain in the loin. In beiden
Fällen bestätigte die Operation die Richtigkeit der Diagnose. Das
Gewicht der entfernten Steine betrug 123 bzw. 80 g, und nach der
Operation waren beide Patienten endgültig kuriert.
Jacobson erörtert in seinem Werke über „Operative Surgery"
dieses diagnostische Hilfsmittel, aber Jordan Lloyd war derjenige,
welcher es in das Licht der allgemeinen Aufmerksamkeit lenkte.
Bei meinen vier Fällen kam es nicht in Betracht, aber da, wo es
sich wohl um Nierenstein handelte, habe ich den großen diagnosti-
schen Wert kennen gelernt, und so wundert es mich, daQ nur Brook
percussion in tbe loin in the diagnosis of renal calculus. The British Medical
Journal 1806.
Klln. Vorträge, N. F. Nr. 50?/03. (Chirurgie Nr. 147/48.) Sept. 1908. 40
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544 P* J* <le BruTne Ploos van Amstel, [18
und Schede^) es in der Literatur berülirt haben. Hätte Israel^ das
Hilfsmittel gekannt, so hätte er vielleicht nicht gesagt: ,,Aber die
Sicherheit der Diagnose fehlt zunächst noch bei dem Nierenstein/
Allerdings die absolute Gewißheit bringt nur die Palpation des Nieren-
steins, und dazu ist eigentlich nur Gelegenheit vorhanden bei bloß-
gelegter Niere. Wenn es auch feststeht, daß bei einem Patienten
,früher^ Nierenstein entfernt wurde, so ist das noch kein Beweis da-
für, daß die Schmerzen ,jetzt^ auch auf Nierenstein zurückzuführen
sind. Wie wenig verläßlich die Kolik ist für die Diagnose, ersehen
wir aus einem Fall, den uns Israel berichtet, bei welchem unter Voraus-
setzung des Vorhandenseins von Nierenstein Inzision der Niere statt-
fand, aber ohne Resultat. Später ergab sich, daß es Lumbaineuralgie
war, verursacht durch den Anfang einer Spondylitis eines Brustwirbels.
Auch die Urinuntersuchung kann uns im Stiche lassen, ebenso die
Art der beobachteten Hämaturie. Zwar behauptet man, daß starke
Blutungen darauf schließen lassen, daß es sich nicht um Nierenstein,
sondern um einen Tumor handelt, aber es hat auch schon Fälle von
Nierenstein gegeben, deren Hauptsymptome profuse Blutungen waren.
Ebenso kann ich der Meinung nicht beipflichten, daß Ruhe oder Be-
wegung des Patienten einen direkten Einfluß auf die Stärke der Blu-
tung hat. Auch das Vorhandensein etwaiger Kristalle im Urin oder
das Fehlen derselben ist kein Anhaltspunkt.
Israel will deshalb in zweifelhaften Fällen die Niere bloßlegen und
hält diese Operation, von geübter Hand verrichtet, für durchaus un-
gefährlich. Ist auch dieses noch nicht hinreichend, so empfiehlt er
die Akupunktur. Wenn dieselbe auch nicht zum gewünschten Ziele
führt, so bleibt noch als letztes Mittel die Öffnung des Nierenbeckens
oder die Nierenspaltung. Die Nierenspaltung ist vorzuziehen, weil
Nierenwunden weniger gefährlich sind und schneller heilen als Wunden
des Nierenbeckens.
Nach Entfernung des Steines hat man die Wahl, entweder die
Heilung der Nieren wunde durch Nähen zu beschleunigen, oder die-
selbe ganz der Natur zu überlassen. Die erste Art hat den Nachteil,
daß die dabei abgesonderten Blutkoagula oft unter heftigen Schmerzen
durch den Ureter ausgeschieden werden müssen. Dafür wird aber die
Wunde schneller gestillt und bleibt die Wunde urinfrei. Tampooade
empfiehlt Tsrael nicht. Er berichtet sogar einen Fall mit tödlichefli
Ausgang, bei welchem ein nicht vorhandener Nierenstein durch Nieren-
1) Schede, Die Steinkrankheit der Harnwege und die Nierensteine. Handbuch
der praktischen Chirurgie von v. Bergmann, v. Bruns und v. Mikulicz. 1903.
2) J. Israel, Über Operation und Diagnose der Nierensteine. Berliner klio.
Wochenschr. 1891.
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19] Hämaturie. 545
Spaltung entfernt werden sollte* Bei der Sektion, welche 2 Stunden
nach Eintreten des Todes vorgenommen wurde, »zeigte sich eine
ideale primäre Verklebung der Nierenwunde^S Der Tod war einge-
treten unter Symptomen von Darmokklusion; durch den doppelten
Druck der Tamponade und des Druckverbandes war der Ileus ent*
standen, welcher dem Patienten verhängnisvoll wurde.
Jeder weiO zur Genfige aus seiner eigenen Praxis, daO solche
zweifelhafte Fälle oft vorkommen. IsraeP) sagt hierzu: „Die land-
läufige Meinung, daO das Steinleiden auf Grund seiner prägnanten
Paroxysmen am leichtesten unter allen Nierenkrankheiten zu erkennen
sei, entspringt einer ungenügenden Erfahrung/^ Wenn man dem Um-
stände Rechnung trägt, daß nur in sehr wenig Fällen der Stein mittels
Röntgenstrahlen gefunden werden kann oder palpabel ist, „so kann
auch die beste Diagnose nur auf ein hohes Maß von Wahrscheinlich-
keit Anspruch machen^^ Er begründet diesen Anspruch mit der großen
Zahl der Nierenoperationen, verrichtet von gewiegten Chirurgen, bei
welchen anstatt der erwarteten Nierensteine andere Krankheitsprozesse
gefunden wurden.
Ebensowenig wie die Hämaturie ein sicheres Kennzeichen für die
Diagnose ist, ebensowenig, sagt Israel, bedingt sie oft die Operation,
d. h. wenn man dabei ausschließlich urteilt nach der Vehemenz der
Blutungen. Die Diagnose auf Nierenstein wird in vielen Fällen noch
dadurch erschwert, daß der Zweifel bestehen bleibt, ob es sich nicht
vielleicht um Tuberkulose oder einen Tumor handelt. Deshalb sagt
Israel: Wenn die Diagnose nicht absolut feststeht, „dürfen wir uns
nicht bei der Vermutung eines Nierensteines oder gar der Verlegen-
heitsdiagnose einer essentiellen Hämaturie beruhigen, sondern müssen
durch eine Explorativoperation feststellen, ob ein bösartiges Leiden
zugrunde liegt, von dessen frühzeitiger Entdeckung die Zukunft des
Kranken abhängt^^
Auch ein Fall von Pepper^) zeigt uns die große Schwierigkeit der
Nierensteindiagnose. Sein Patient hatte Anfälle von heftiger Stein-
kolik, jedoch ohne Blutabsonderung. Auch Hämaturie trat zuweilen
auf, aber schmerzfrei. Pepper sagt hierzu: „In the first case the
abscence of hsematuria is remarkable considering. the frequency of
the attacks of pain and their violently paroxysmal nature. This seems
to Show US that the pain is caused more by distention of the kidney
1) J. Israel, Operationen bei Nieren- und Uretersteinen. Arcb. f. klin. Chir.
1000.
2) Pepper, Two cases of nephro-lithotomy. Recovery. Remarks. Tbe Lancet
40*
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546 P« J« de BruTne Ploos van Amstel, [20
owing to the ureteral office being temporarlly blocked by the calculus,
than to the movements of the latter/^
Das Gegenstück hierzu ist ein Fall von Schede. Der Patient starb
infolge tödlicher Nierenblutung, und diese war dadurch verursacht, daß
ein Stein im Nierenbecken einen Hauptast der Arteria renalis durch-
bohrt hatte.
Auch Rovsing^) empfiehlt eine Explorativoperation für alle jene
Fälle, bei denen eine exakte Diagnose nicht zu stellen ist. Er be-
kämpft entschieden die Behauptung Klemperers, daO eine Operation
unterbleiben muO, wenn z. B. die Ursachen einer Hämaturie unbekannt
sind. Klemperer steht auf dem Standpunkte der essentiellen Hämat-
urie, d. h. er glaubt an Blutungen gesunder Nieren. Rovsing dagegen
behauptet, daO bei Hämaturie ein negatives Resultat der Untersuchung
durchaus nicht heiOen soll: Nierenstein, Tumor oder Tuberkulose sind
ausgeschlossen. Er sagt: „Da solche Fälle (Blutungen aus gesunden
Nieren) so selten sind, daO sie als reine Ausnahmen bezeichnet werden
müssen, und da ernste Leiden nicht ausgeschlossen werden können,
muO stets bei einer unilateralen unerklärlichen Hämaturie ein explo-
rativer Lumbaischnitt gemacht werden, und zwar um so mehr, als ein
solcher erfahrungsgemäß heilend auf die Hämaturie einwirkt.^'
Zweifelt man daran, daO es sich um Nierenstein handelt, so kann
man auch eine Sondierung der Ureter von der Blase aus vornehmen.
Dieses ist nach den Verfahren von Kelly und Pawlik bei Frauen
weder schwierig, noch gefährlich. Man kann sich dabei sogar einer
metallenen Sonde bedienen. Bei Männern ist letzteres nicht möglich;
dazu bedarf es einer elastischen Sonde, aber auch damit hat Albarran
günstige Resultate erzielt. Diese Art der Untersuchung aber ist schwierig
und nicht ohne Gefahr, weil dabei leicht eine Infektion stattfinden kann.
Musser^): „I feel with Holländer, we can in a large number of cases
make a diagnosis without the aid of catheterisation and I appreciate
with him the danger of infection from below— of which he cites cases/^
Auch Morris^) ist der Meinung, daO diese Methode selten ange-
wendet werden wird. Er nennt sie: „difficult of application in tbe
male, not altogether free from danger and not always to be relied
upon as a result^^ Auch die Radiographie wurde in der letzten Zeit
ein Hilfsmittel für die Diagnostizierung der Nierensteine. Ringelaus
Hamburg war der erste, dem es gelang, deutliche Bilder der Nieren-
1) Rovsing, Ober unilaterale Hämaturien zweifelhaften Ursprungs und ihre
Heilung durch Nephrotomie. Zentralbl. für die Krankheiten der Harn- und Sexuil-
organe 1898.
2) Müsse r, Renal calculus. 1898.
3) Morris, Surgical diseases of the kidney and Ureter. 1901.
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21] Hämaturie« 547
Steine zu erzielen* Ihm Folgten Wagner und Leonard. Morris be-
streitet die Behauptung des letzteren, man müsse unter allen Umständen
mit Hilfe der Radiographie zu der richtigen Diagnose gelangen. Morris
sagt von den Röntgenstrahlen: „Hitherto they have afforded but little
reliable help in this direction.^^ Tüchtige Forscher, sagt er, haben
Schatten entdeckt von Steinen, die in Wirklichkeit nicht existierten,
und umgekehrt.
Auch in späteren Schriften bleibt Leonard') seiner Oberzeugung
treu. Er sagt: „The greatest value of the Röntgen ray in physical
diagnosis is not in penetrating all tissues but in producing differen-
tiations betw^een tissues that will lead to logical conclusioqs and ab-
solute diagnosis. Thus in examining for calculi we do not want rays
that will penetrate all tissues; we want a differentiation in the shadows
that will demonstrate beyond a doubt that all calculi, no matter what
their relative density, would cast shadows if present in the field exa-
mined. Such definition and differentiation make the negative diagnosis
absolute. The object, therefore, when examining for renal calculi by
this method oF diagnosis, is to obtain negatives in which the shadows
are shown of tissues less opaque than the least opaque calculus.
Where such definition is obtained it is certain that not even the smallest
calculus can escape detection, no matter what its composition is."
Nähere Einzelheiten zu dieser Untersuchung, welche hier nicht
näher erörtert werden soll, können wir u. m. finden in den Fort-
schritten auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen, Bd. 3, 1900, von
Albers-Schönberg,Levy-Dorn, Wagner, Lauenstein und Levy;
im Zentralblatt für Chirurgie von RingeP), im Lehrbuch der Röntgen-
untersuchung von Gocht, in den Annales des Maladies genito-urinaires,
1902, von Verhoogen (Le diagnostic des calculs du rein par la radio-
graphie) usw.
Leonard, The Roentgen Ray Diagnosis of Renal Calculus. Annais of Surgery
1900.
Nierentuberkulose.
Bei Nierentuberkulose kommen häufig Blutungen vor. Beinahe
immer ist das erste Symptom Polyurie ohne Veränderung des Urins
(Guyon). Aber an Stelle der Polyurie als ersten Symptoms können
1) Leonard, The Röntgen Method in the diagnosis of renal and ureteral
calculi. Medical News 1902.
2) Ringel, Diagnose der Nephrolithiasis durch Röntgenbilder. Zentralbl. f.
Chir. 1896.
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548 P* J- de Bntlne Ploos van Amstel, [22
Blutungen treten. Schede^) sagt hierzu : »»Wir sahen schon, daß Blutungen
bei der Nierentuberkulose zuweilen sehr früh und sehr heftig auftreten
können. Nicht selten sind sie das allererste Symptom der Krankheit
und nicht selten findet man die Nierenerkrankung dann noch aufier-
ordentlich gering."
Diese Blutungen können so schlimm sein, daß sie bereits im aller-
ersten Stadium der Krankheit einen chirurgischen Eingriff notwendig
machen. Albarran nahm zwei Nierenoperationen bei Hämaturie vor,
nachdem auf zystoskopischem Wege konstatiert worden war» welcher
Niere die Blutungen entstammten. In beiden Fällen war die Niere
scheinbar makroskopisch normal» und sogar nach dem Sektionsschoitt
war es äußerst schwierig, die vorhandenen wenigen Tuberkel anzudeuten.
Loumeau^) berichtet einen Fall eines 27jährigen Mädchens» welches
an hartnäckiger, keiner Behandlung weichender Hämaturie litt Die
Blutungen hielten bereits seit 8 Monaten an. Er verrichtete die Ex-
stirpation und fand in der makroskopisch normalen Niere nur vier
winzig kleine Tuberkel.
Wir ersehen hieraus» daß die Heftigkeit der Hämaturie oft in keinem
Verhältnisse steht zu der Ausdehnung des Tuberkuloseprozesses. So
können auch umgekehrt in den Nieren bedeutende Läsionen vor sich
gehen ohne Hämaturie. Dieses ist übrigens nicht nur der Fall bei
der Hämaturie» sondern auch bei vielen anderen Symptomen der
Nierentuberkulose. Tilden Brown^) beschreibt uns einen Fall, bei
welchem nicht ein einziges Symptom auf Nierentuberkulose deutete,
während tatsächlich beide Nieren erkrankt waren. Auch Morris spricht
von der Möglichkeit, daß alle Symptome: „are entirely absent or but
little marked^^ Auch erörtert er sehr richtig und mit Nachdruck:
„the difficulty of diagnosis^^ Gleicher Ansicht wie Morris ist King-
horn^).
Weitere Erörterungen der Hämaturie finden wir noch bei: Fagge:
„Heematuria is neither constant nor profuse/^ Bouman ^): Charakteristi-
schen Wert haben die durch Tuberkulose erweckten Blutungen nicht*'
Morris: „The heematuria is in many cases intermittent and quiteinde-
pendent of rest or exercise."
1) Schede, Die Tuberkulose der Niere. Handbuch der praktischen Cbirurgie
V. Bergmann, v. Bruns und v. Mikulicz. 3. Bd* 1903.
2) Loumeau, Nephrektomie wegen primärer Tuberkulose. 21. Congr&s de
Chirurgie. La Presse m^dicale. Ref. Zentralbl. für die Krankheiten der Harn- und
Sexualorgane 1898.
3) Tilden Brown, Tuberculose renale. Annales des maladies des organes
g6nito-urinaires 1898.
4) Kinghorn, Renal tuberculosls. Montreal Medical Journal 1901.
5) N. ^. Bouman, Haematuria in graviditate. 1901.
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23] Himaturie. 549
Und doch sind auch diese Merkmale nicht entscheidend fär die
Diagnose, weil es auch bei anderen NierenafFektionen vorkommen kann,
daß Ruhe oder Bewegung keinen EinfiuO ausüben auf den Grad der
Hämaturie. Schede sagt auch: ,,Weder Blutungen, noch Schmerzen,
noch Vergrößerungen der Niere haben etwas absolut Charakteristisches;
und selbst der röntgengraphische Nachweis von Steinen in der Niere
schließt nicht aus, daß sich zur Tuberkulose sekundär Steinbildung
gesellt hat, oder umgekehrt. Das einzige, dem Schede großen Wert
beimißt, ist die lokale Reaktion auf Tuberkulininjektionen, weil die-
selbe beim Fehlen der Tuberkulose ausbleibt. Schede warnt vor Über-
schätzung der Schwierigkeit, zu einer richtigen Diagnose zu gelangen:
„Fär unser therapeutisches Handeln ist diese, oft nicht mit voller
Sicherheit zu lösende Schwierigkeit der Differentialdiagnose glück-
licherweise nicht so wichtig. Wenn wir wissen, daß es sich um Eiter-
oder Steinniere, um Nierentuberkulose oder Neoplasma handeln kann,
so erwächst uns unter allen Umständen die Pflicht, die Niere bloß-
zulegen und uns eventuell durch den Sektionschnitt die nötige Sicher-
heit zu verschaffen."
Wie wir weiter oben sahen, ist dieses auch die Ansicht Israels.
Glaubt man die Diagnose „Nierentuberkulose" stellen zu dürfen,
so versteht es sich von selber, daß man wiederholt den Urin auf
Tuberkelbazillen untersucht. Häufig aber wird man diese letzteren,
sogar bei weit fortgeschrittener Nierentuberkulose, nicht vorfinden, und
außerdem zeigt van Leyden^) uns die gefährlichen Irrtümer, welche
diese Untersuchung nach sich ziehen kann. Sehr häufig werden nämlich
die Smegmabazillen, welche öfters mit dem Urin ausgeschieden werden
und in bezug auf Form und Farbenreaktion den Tuberkelbazillen sehr
ähnlich sind, für Tuberkelbazillen gehalten. Der Smegmabazillus ist
zwar schlanker und kommt nur selten gruppenweise vor, aber diese
Unterschiede sind meistens nicht ausreichend, um mit Bestimmtheit
den Bazillus zu definieren. In solchen Fällen ergibt natürlich nur die
Tierinokulation ein entscheidendes Resultat.
Auch Tuff ier*) wurde durch starke Hämaturie bei Nierentuberkulose
veranlaßt, Nephrotomie und Nephrektomie zu verrichten» In beiden
Fällen trat Heilung ein nach der Operation, aber bei der Patientin,
an welcher Nephrotomie verrichtet wurde, zeigte sich nach 2 Jahren
wieder Blut im Urin.
1) van Leyden, Ober die Diagnose der Nierentuberkulose. Berliner klin.
Wochenschr. 1896.
2) Tu ff i er, Die Ergebnisse von 153 Nierenoperationen. Vortrag gehalten auf
dem 12. internationalen Kongreß zu Moskau. Zentralbl. für die Krankheiten der
Harn- und Sexualorgane 1898.
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550 P* J- de Brulne Ploos van Amstel, [24
PaulRosenstein hält in den Fällen, bei welchen Zystoskopie aus-
geschlossen ist, die Palpation der Ureter für notwendig Für die Be-
stätigung der Diagnose ,,Nierentuberkulose^^ Bei dem Kongreß der
Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (6.— 9. April 1904) äußerte er
die Ansicht, daß der Ureter immer vom Anfang der Krankheit an
alteriert ist. Mit Hilfe der Vaginal- und der Rektalpalpation kann
man also konstatieren, welche der beiden Nieren erkrankt ist, und
braucht also nicht die Ureterkatheterisation vorzunehmen, welch letztere
übrigens bei tuberkulöser Blase erhebliche Schwierigkeiten mit sich
bringt.
Hämaturie und Nierentumor.
Nierenblutungen treten häufig bei Nierentumor auf und sind ge-
wissermaßen deren erstes Symptom. Chevalier^) kam zu dem Resultat,
daß dieses bei 26,6% aller von ihm beobachteten Fälle zutraf.
Der Urin ist dann rot oder, wenn das Blut bereits einige Zeit in
der Blase gestanden hat, bräunlich gefärbt. Israel nennt weiße oder
hellgelbe und rötliche wurmförmige Koagula charakteristische Merk-
male des Nierentumors.
Die Hämaturie kann aber auch während des ganzen Krankheits-
prozesses ausbleiben. Wagner 2) berichtet einen Fall von Nieren-
sarkom: „Hämaturie fehlte während des ganzen Krankheitsverlaufes/^
In diesem Fall, sagt Wagner, fehlten alle vier Hauptsymptome des
Nierentumors (wahrnehmbare Geschwulst, Schmerzen, Hämaturie und
Kachexie) bis auf die Schmerzen. Bei Erwachsenen bilden die Schmerzen
sogar in 28% der Fälle das Initialsymptom.
Doch kommt es vor, daß gewissermaßen alle Symptome sich gar
nicht oder nur sehr schwach zeigen. Zuweilen ergibt die Urinunter-
suchung ein positives Resultat, indem man Tumorzellen findet, aber
auch dieses Symptom kann fehlen. So berichtete Pinard in der
Societ6 d'anatomie et de Physiologie in Bordeaux im Jahre 1897 einen
Fall von Carcinoma renis. Der Tumor hatte die Größe eines Kinder-
kopfes, und hatte doch nie Urinbeschwerden oder Hämaturie veranlaßt
Gerade so fehlten diese Beschwerden und die Hämaturie in einem
gleichartigen Fall, den Taboulay berichtet (Soci6t6 des sciences medi-
cales, Lyon 1898). Auch hier konnte der Tumor ausschließlich durch
Palpation konstatiert werden. Gleichartiges beschreibt auchMaidlow').
1) Chevalier, De Tintervention chirurgicale dans les tumeurs malignes du
rein. Th^se Paris 1891.
2) Wagner, Zur Kasuistik des primären Nierensarkoms. Zentralbl. für die
Krankheiten der Harn- und Sexualorgane 1894.
3) Maidlow, A case of exstirpation of the kindney for sarcoma. Tbe Briüsb
Medical Journal 1898.
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25] Hämaturie. 551
Denaclarai) konstatiert, daO bei 68,88 von hundert Fällen die
Hämaturie das Initialsymptom des Nierentumors ist.
Aber auch wenn dem so ist, so muO man doch zugeben, daO die
Hämaturie bei Nierentumor keinen charakteristischen Wert hat. Zwar
liefert Guillet uns sieben Merkmale dieser Hämaturie, aber bei näherer
Betrachtung sehen wir, daß sie uns für die Diagnose wenig nützlich
sind. Was hilft es uns z. B. zu wissen, daO die Hämaturie bei Nieren-
tumor „meistens profus^^ ist? Dies ist um so mehr bedauerlich, da
diese Diagnose so besonders schwierig ist. Bereits Bright bedeutete
uns dieses: „I have known the enlarged kidney to be mistaken for
disease of the spieen^ of the ovary, of the uterus, and for a tumor
developed in the concave part of the lever; nor is it perhaps possible,
by the greatest care and the most precise knowledge, althogether to
avoid such errors."
Trotzdem versteht ein gewiegter Forscher, wie Israel es ist, sogar,
kleinere Tumoren, etwa in der GröOe eines kleinen Apfels oder einer
Kirsche, aufzufinden. Er nimmt dann die Untersuchung vor in der
von ihm empfohlenen „halben Seitenlage^S Auch empfiehlt er uns,
in dem Augenblicke des Überganges des Einatmens zum Ausatmen
die Spitzen des Zeige- und Mittelfingers unter den Rippenbogen ein-
dringen zu lassen, während gleichzeitig die andere Hand einen Druck
ausübt auf die Nierengegend, wodurch die infolge der Inspiration ge-
sunkene Niere in die alte Lage zurückkommen kann.
Noble ^) zeigt uns eine neue Untersuchungsmethode der angeblich
kranken Niere, und zwar die Probeinzision in der Nierengegend.
Nach Spaltung der Fettkapsel ist es nicht schwierig, die Niere von
dem umliegenden Gewebe loszulösen und dann mit zwei Fingern
jeden Teil der Oberfläche zu befählen. Er empfiehlt die absolut un-
gefährliche Methode hauptsächlich für eine Untersuchung auf Nieren-
steine hin. A priori würde sich also diese Methode auch eignen bei
Nierentumor, aber auch ich bin der Meinung, daß ein vollständiges
Freilegen der Niere gerade so ungefährlich ist und außerdem den Vor-
teil hat, daO der eventuelle Tumor sofort exstirpiert werden kann.
Auch WendeP) befürwortet das Freilegen der Niere, um eine
sichere Diagnose zu ermöglichen. Er sagt, daß das noch nicht sehr
erfreuliche Resultat der Operationen des Nierentumors nicht verursacht
1) Denaclara, Des hsematuries dans les n6oplasmes du rein. Th^se Lyon
loclcf*
2) Noble, A new method of examing the kidney, especially for stone. Medicai
News 1894.
3) Wendel, Die Entwicklung der Nierenchirurgie in den letzten Jahren. The-
rapeutische Monatsh. 1899.
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552 P- J- de Bniine Ploos Van Amstel, [26
wird durch einen Mangel der operativen Technik, sondern dadurch,
daß die Diagnose meistens zu spät gestellt wird, »Von Frfihsym-
ptomen ist der Schmerz und die Blutung besonders wichtig. Beide
sind aber inkonstant. In der Tat kann einer ausgedehnten Anwendung
probatorischer Operationen nicht eindringlich genug das Wort geredet
werden, da alle anderen Anhaltspunkte die Diagnose oft nicht hin-
reichend sichern können."
Es würde zu weit fähren, an dieser Stelle die Differentialdiagnose
näher zu erörtern; es seien nur einige weitere Krankheiten in der
Nierengegend hervorgehoben, welche leicht eine Verwechslung ver-
anlassen können.
1. Erweiterung der Lymphdrüsen.
2. Koprastase im Cöcum oder Kolon. Jen n er sagt hierzu: Again
collections of stools in the colon may be mistaken For an enlarged
kidney.
3. Bösartige Tumoren des Kolons.
4. Erweiterungen der Leber und der Milz.
5. Ovarialtumoren.
6. Blinddarmentzündung.
7. Supperitoneales Myom im graviden Uterus.
8. Tumoren des Omentums, des Pankreas und des Mesenteriums.
Den Weg in diesem diagnostischen Labyrinthe zeigt uns, im An-
schluß an die Ausführungen Israels Clado^), indem er uns den großen
Nutzen der Palpation vor Augen führt. Ich möchte aber nicht ver-
fehlen, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daß sich nach einer
gründlichen Palpation der Niere vielleicht Eiweißspuren im Urin
zeigen, welche aber keinen differential- diagnostischen Wert haben
(Schreiber*).
Tropische Hämaturie.
Zu den selteneren Ursachen der Hämaturie gehören auch ver-
schiedene Parasiten und zwar: Distomum haematobium Bilharz, Fila-
ria sanguinis, Strongylus gigas und der in Japan existierende Nepbro-
phages sanguinarius. Alle diese Parasiten zeigen sich eigentlich nur
in den Tropen. Morris sagt hierzu: „In the colder countries neither
1) Clado, Du ballottement r6nal, valeur diagnostique. M6decine contemporaine,
Journal de l'hydroth^rapie 1888.
2) Schreiber, Ober renalpalpatorische Albuminurie und ihre Bedeutung für
die Diagnose von Distopien, sowie von Tumoren im Abdomen. Zeitscbr. f. Uin.
Medizin Bd. 55.
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27] Hlmaturic. 553
parasites in the blood or urinary organs nor any lesion of the kidney
is discoverable/^
Und zeigt sich trotzdem hin und wieder ein solcher Fall in der
gemäßigten Zone, so wird die Anamnese fast immer ergeben, daß
sich der Keim der Krankheit bei einem Aufenthalte in den Tropen
gebildet hat. Derartiges erfuhren: Nitze^), Gutch^), Cobbold und
Simpson^).
Der Fall von Socoloff.
Noch seltener und merkwürdiger wie die Parasitenhämaturie ist der
Fall, den uns der russische Gelehrte Socoloff^) berichtet, und wir
können denselben gewissermaßen als ein Unikum in der Geschichte
der Hämaturie hinstellen,
Socoloffs Patient war ein Offizier, welcher im Jahre 1865 in
Sibirien großer Kälte ausgesetzt war. Während des Winters des ge-
nannten Jahres klagte er über fortwährende Müdigkeit, Schwindel und
permanentes Frostgefühl, besonders in den Füßen. Dazu kam Hämat-
urie mit leichten Schmerzen in der linken Nierengegend. Mit der
Hämaturie, welche nur wenige Stunden anhielt, verschwanden auch
die übrigen Symptome. Der gleiche Komplex von Symptomen wieder-
holte sich öfters, und zwar immer dann, wenn der Patient der Kälte
ausgesetzt war. Sein Leiden reagierte gewissermaßen unverzüglich
auf jedes Fallen und Steigen der Temperatur. Es war nicht möglich,
außer dem Temperaturwechsel eine Ursache der Krankheit zu ent-
decken. Von weiteren Fällen von Nierenblutung in seiner Familie
war dem Patienten nichts bekannt, und zwischen je zweien der oben-
genannten Anfälle fühlte er sich verhältnismäßig wohl. Um den Zu-
sammenhang zwischen Krankheit und Temperatur zu ergründen, ver-
ordnete Professor Botkin ihm am 12. März einen Spaziergang bei
einer Temperatur von 9^ Celsius.
Tatsächlich traten die erwähnten Symptome auf. Die Untersuchung
der ersten Urinmenge ergab viel Eiweiß und blutige Färbung, jedoch
kein Sediment. Eine Stunde später war der Urin vollkommen schwarz.
l)Nitze, Ober einen Fall von tropischer Hämaturie. Berliner med. Ges.
28. Januar 1801. Berliner klin. ^ochenschr. 1891.
2) Gutch, A case of haematuria due to Bilharzia. The British Medical Jour«
nal 1900.
3) Simpson, Remarks on a case of hsematuria from the presence of the
Bilharzia haematobia. The British Medical Journal 1872.
4) Socoloff, Ober einen Fall von wiederkehrender Nierenblutung im Zusam-
menhang mit jedesmaliger Erkältung der Integumenta communia. Berliner klin.
Vochenschr. 1874.
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554 P* J« de BruTne Ploos van Amstel, [28
Jetzt zeigten sich bei der mikroskopischen Untersuchung Blutkörper-
chen, ySie waren meistens entstellt; weiter fanden sich auch Faser-
stoff und Blutzylinder und gruppenweise unveränderte Nierenepithelien;
irgendwelche Kristalle konnte man selbst bei der genauesten Unter-
suchung nicht entdecken.''
Ein Spaziergang am 26. März bei einer Temperatur von 0 Grad
hatte genau dieselben Folgen, nur in weniger heftigem MaOe.
Zwischen beiden Anfällen war der Urin unverändert.
Socoloff erklärt den Fall folgendermaßen: Unter dem Einfluß der
Kälte periodisch auftretende Blutung der linken Niere. Der Gedanke
an Nierenblutung als Folge einer Entzündung der Nierensubstanz selbst
kann, nach Socoloff, mit einiger Gewißheit ausgeschlossen werden,
und zwar wegen des Umstandes, daß der Urin zwischen den einzelnen
Anfällen normal war.
Wenn wir nun auch zugeben müssen, daß dieser Fall erheblich
von dem üblichen Krankheitsbild der nephritischen Nierenblutungen
abweicht, so dürfen wir doch auch nicht vergessen, daß die Abwesen-
heit von Eiweiß und Fprmelementen durchaus kein Beweis ist gegen
Entzündungsprozesse der Nieren.
Außerdem kommt für Socoloff das Moment »Nierenstein"^ nicht
in Betracht. Diese Folgerung ist zum mindesten voreilig. Er sagt,
daß dazu die Schmerzen zu gering waren, und außerdem zeigte der
Urin nicht die charakteristischen Merkmale des Steines: Kristalle,
Sand usw.
Wenn nun aber der Stein z. B. eingekapselt wäre, und dadurch
würden die Symptome des Vorhandenseins fehlen, so hätte er doch
eine gewisse Reizung des Gewebes und infolgedessen Entzündung
verursacht, und die Spuren dieser Entzündung hätte man doch im
Urin wiederfinden müssen. Zwar enthielt das Sediment Schleim und
Eiterteile, aber deren geringe Menge konnte ebensogut der gleich-
zeitig vorhandenen chronischen Urethritis zugeschrieben werden. Eine
vorherige Ausspülung der Urethra hätte in dieser Hinsicht Gewißheit
geben können.
Socoloff erklärt seinen Fall folgendermaßen: Er setzt einen abge-
schwächten Tonus der Gefäße der linken Niere voraus. Diese Vor-
aussetzung gründet er auf verschiedene Symptome, wie z. B. Atrophie
der Muskeln der linken Hand und des linken Fußes, welche auf ein
Gehirnleiden syphilitischen Ursprunges hindeuten würden. Die nie-
drige Temperatur nun bewirkt ein Zurückströmen des Blutes in die
inneren Organe, also auch in die linke Niere, woselbst die Gefäße
stellenweise, infolge des obenerwähnten abgeschwächten Tonus, dem
erhöhten Blutandrange nicht widerstehen können. Er versucht dieser
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29] Hämaturie. 555
Erklärung weiteren Halt zu geben durch Hinweis auf den Umstand,
daß Professor Tetschenoff Hämaturie konstatierte nach dem Zer-
schneiden der Plexus renalis.
Auch diese Erklärung ist weither geholt. Übrigens ist der ganze
»Fall Socoloff* in meinen Augen ein vergebliches Suchen nachdem
Zusammenhange zwischen Ursache und Wirkung, und er wird auch
wohly da eine Nephrektomie oder Sektion nicht stattgefunden hat, stets
für uns ein interessantes klinisches Rätsel bleiben!
Einen annähernd gleichartigen Fall beschreibt HassaP).
Der Patient von Dr. Hassal hatte ebenfalls periodische Hämaturie,
war ebenfalls wohlauf während der Zwischenperiode, jedoch der Urin
enthielt unter dem Einfluß der Kälte außer Blut auch Nierenzylinder,
und die Behandlung weist darauf hin, daß Hassal an ein nephriti-
sches Leiden glaubte.
Auch Pavy2) beobachtete vier dergleichen Fälle, bei welchen der
Urin ebenfalls außer Blutteilen auch Nierenzylinder und bei zweien
derselben auch Oxalsäuren Kalk enthielt. Es wird sich also auch hier
nicht um Blutungen aus normalen Nieren handeln. Dasselbe halte ich
von dem Falle Socoloff, und glaube deshalb auch, daß Professor
Botkin mit seiner Hypothese: „über den Zusammenhang der Nieren-
blutung mit dem Leiden des zentralen vasomotorischen Apparates der
Nieren" den Nagel nicht weniger als auf den Kopf trifft.
Zu den seltenen Ursachen der Hämaturie gehört zweifellos die
Urinretention. Guyon^) hat es versucht, einen derartigen Fall durch
das Tierexperiment zu erklären.
Gleich selten ist gewiß die Hämaturie infolge Arzneigenusses: wie
z. B. nach Urotropine (Forbes, Milligan und Griffith*).
Den kuriosesten Fall von Hämaturie, dessen Verlauf an das Ko-
mische grenzt, berichtet uns Lepriore«^). Bei einer 20jährigen Frau
beobachtete er eine Veränderung in der Menstruation und zwar wie
Lepriore behauptet infolge einer „Excesse in Venere". Die Men-
struation wiederholte sich alle 8 Tage, dauerte gleich wie die hinzu-
kommende Hämaturie einige Stunden und hinterließ eine Retentio
1) Hassal, Intermitent or Winter-hsematuria. 1865.
2) Pavy, On paroxysmal hsematuria. Urine from a case of paroxysmal hsma-
turia. A case of paroxysmal hsmaturia.
3) Guyon, De rh^maturie au cours de la r^tention d'urine. Bulletin m6di-
cal 1803.
4) Griff! th, Hsematuria following the administration of urotropine. The
British Medical Journal 1901.
5) Lepriore, Un caso rarissimo di ematuria. Gazz. degli osped. e deUe clin.
1902. Zitiert in Monatsber. f. Urologie 1902.
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556 P* J* ^^ Bruine Ploos van Amstel, [30
urinae. Lepriore nahm die Katheterisierung vor, verschrieb Ergotin,
Tannin und Bettruhe und bekämpfte so mit Erfolg die Hämaturie. Es
gelang ihm außerdem die Hämaturie endgültig zu beseitigen, aber
nicht etwa auf therapeutischem Wege, sondern indem er dem Ehe-
paare den Rat erteilte, den Dreyer nennt ,,eine Hygiene des Ehe-
bettes*. Dreyer bezweifelt, auch mit Rücksicht auf die ungenaue
Untersuchung, stark, daO die Ursache hier tatsächlich in der Excesse
in Venere zu suchen sei.
Auch ich glaube nicht, daß Lepriore das Richtige getroffen hat,
dafür kommt Hämaturie in unserer Praxis zu vereinzelt vor.
Hämaturie und Schwangerschaft.
Als erster behandelt Guyon 1) die Nierenblutungen im Zusammen-
hange mit Schwangerschaft.
Während der 2. und 3. Schwangerschaft beobachtete er bei einem
seiner Patienten Hämaturie, welche ungefähr 2 Wochen dauerte und
sich in dunkelroter Färbung des Urins äußerte. Nach der Entbindung
zeigte die Hämaturie sich aufs neue und hielt nun 5 Monate an. Im
Hospital Necker verordnete Guyon der Wöchnerin, das Stillen des
Kindes einzustellen, und innerhalb 2 Tagen war die Hämaturie ver-
schwunden. Einige Tage später nahm Albarran, weil die Patientin
sich über Schmerzen in der rechten Nierengegend beschwerte, die
Nephrotomie vor. Die Operation ergab nicht als Resultat den Er-
wartungen entsprechend einen Tumor, sondern eine makroskopiscti
normale Ren mobilis.
In einem anderen Fall, welchen Guyon und Champetier de
Ribes beobachteten, zeigte die Hämaturie sich während der 4. und
5. Gravidität, und war das Ergebnis der zystoskopischen Untersuchung
eine renale Hämaturie. Nach der 5. Schwangerschaft zeigte sich die
Hämaturie auch unabhängig von der Gravidität, und da stellte sich
heraus, daß sie verursacht wurde durch Nierentuberkulose.
Auiler diesen 2 Fällen liefert Bouman^) uns noch 15. Es würde
nicht schwer fallen, diesen 17 Fällen noch verschiedene hinzuzufügen,
wie z. B. diejenigen von Chiaventone^).
Die beiden ersten Fälle stammen aus der Klinik von Treub. Die
1) Guyon, Sur les h6maturies r6nales et v6sicales. Annales des maladiesdes
organes g6nito-urinaires 1897. Annales des maladies g6nito-urinaires 1899. — Guyon
et Albarran, H^maturies de la grossesse. La Presse m6dicale 1899.
2) N. W. Bouman, Haematuria in gravidate. 1901.
3) Chiaventone, De rh6maturie de la grossesse. Annales des maladies des
organes g^nito-urinaires 1901.
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31] Hämaturie. 557
erste Patientin hatte bereits im 12jährigen Alter Hämaturie nach dem
Einnehmen von Pulver gegen Enuresis nocturna. Während der 1.
Schw^angerschaft schonte sie sich zu wenig und verhob sich. Am
nächsten Tage stellte die Hämaturie sich ein, dauerte 6 Tage und
wiederholte sich dann während dieser 1. Schwangerschaft nicht
Während der 2. Schwangerschaft stellte die Hämaturie sich wieder
ein, diesmal nach einer heftigen Gemütserregung, Die Untersuchung
der Blase und des Urins lieferte keine Anhaltspunkte. Der Zustand
der Patientin machte eine Unterbrechung der Schwangerschaft erfor-
derlich und man führte diese Unterbrechung durch den Eihautstich
herbei. Das Fruchtwasser sonderte sich ab, der Urin klärte sich all-
mählich und war 4 Tage später frei von Blut. Die Entbindung lieO
nach dem Eihautstich noch 18 Tage auf sich warten und hatte sodann
einen normale Verlauf. 8 Monate später wurde sie abermals wegen
Hämaturie in der Klinik aufgenommen, diesmal ohne Schwangerschaft.
Die Blase war ebenso wie das 1. Mal normal, der Urin dagegen ent-
hielt rote und weiße Blutteile aber keine Zylinder.
Nach 9tägiger Ruhe und Milchdiät verschwand die Hämaturie.
In der Literatur ist mehrfach die Rede davon, daß Hämaturie eine
künstliche Unterbrechung der Schwangerschaft veranlaßte. Einen
solchen Fall berichtet uns Jameson^): „Her ansemia having reached
an extreme degree I decided to induce labour."^ Dasselbe geschah
bei der 2. Schwangerschaft und in beiden Fällen erreichte die Unter-
brechung ihren Zweck: das Verschwinden der Hämaturie. Jameson
sagt: »I am inclined to regard the heematuria as due to congestion
of the kidney, from pressure in the renal vein by the enlarged womb.**
Diese Hypothese kann nicht richtig sein, denn in der ganzen Literatur
steht nicht ein einziges Mal geschrieben, daß Tumoren des Unterleibes
Hämaturie verursachen können.
Es ist unrichtig, diesen Fall als Haematuria graviditate zu bezeich-
nen, vielmehr kommt die Hämaturie hier nur als Begleiterscheinung
der Schwangerschaft in Betracht. Denn sonst müßte man einer an-
deren Ursache nachspüren für die Hämaturie während des nicht-
schwangeren Stadiums.
Auch in dem 2. Fall, ebenfalls aus der Treubschen Klinik, han-
delt es sich wahrscheinlich in der Hauptsache um eine hämorrha-
gische Nephritis. Bei der Untersuchung des Urins wurden Nierenzylinder
gefunden.
Im 3. Fall aus der Veitschen Klinik konnte neben der Schwanger-
1) Jameson, Hematuria as a cause of miscarriage. The British Medical
Journal 1900.
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558 P- J- de BruTne Ploos van Amstcl, [32
Schaft noch die Erweiterung und das Schmerzgefühl der rechten Niere
in Betracht kommen. Auch hier wurde die Schwangerschaft unter-
brochen und verschwand die Hämaturie nach der Entbindung. Die
Symptome der rechten Niere aber dauerten fort. Aller Wahrschein-
lichkeit nach bestand hier ein Kausalzusammenhang zwischen der
Hämaturie und der schmerzhaft vergrößerten rechten Niere, und nicht
zwischen der Hämaturie und der gleichzeitigen Schwangerschaft.
Auch in den beiden bereits oben erwähnten Fällen von Guyon
konstatierte man Abweichungen der Niere, und zwar Ren mobilis bzw.
Nierentuberkulose.
In einem 3. Fall von Guyon war die Hämaturie schon älteren
Datums und hatte sich schon beim Beginn der Schwangerschaft ge-
zeigt. Albarran nahm die zystoskopische Untersuchung vor und
konstatierte eine beiderseitige Nierenblutung bei normaler Blase. Das
Ausbleiben der Hämaturie fiel zusammen mit dem Ende der Schwan-
gerschaft. Es ist nicht möglich in diesem Falle den Beweis zu liefern,
ob die Nieren krank oder gesund waren.
Der nächste Fall von Guyon ist nicht eine Nieren- sondern eine
Blasenblutung. Auf zystoskopischem Wege sah er, daO das Blut der
erweiterten Venae der Gegend des Trigonums entstammte.
Der Krankheitsverlauf, den Kehrer >) uns berichtet, ist noch weniger
ein Beweis. Seine Patientin war die Tochter eines Hämophilisten
und war früher viel von Nasenbluten geplagt worden. Die Hämaturie
blieb nach dem 3. Monat der Schwangerschaft aus, und dann traten
die Nasenblutungen wieder in den Vordergrund. Es handelt sich also
hier einfach um eine Hämophilika, bei welcher Epistaxis und Häma-
turie natürliche Erscheinungen waren.
Dann folgen die beiden Fälle von Barton Cooke Hirst und
Byrd Joung.
In beiden Fällen wird uns nichts mitgeteilt, was als Beweis dienen
könnte, ob wir es mit gesunden oder kranken Nieren zu tun hatten.
Daudois^) berichtet uns folgendes: Bei einer 30jährigen Frau
wurde Nephrotomie verrichtet wegen Hämaturie und Seitenschmerzen.
Bei der Operation war absolut keine Abweichung zu konstatieren.
Später wurde die Frau schwanger und da kalkulierte man folgender-
maßen: Die Konzeption fand statt ausgerechnet 8 Tage vor dem Ein-
treten der Hämaturie, ergo, war der Zusammenhang zwischen der
Schwangerschaft und der Hämaturie bewiesen.
1) Kehr er, Arch. f. Gyn. 1870.
2) Daudois, L'h6maturie congestive symptomatique de la grossesse. Annales
de la Soci6t6 Beige de Chirurgie 1895.
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33] Hämaturie. 559
Treubi) berichtet von einer starken Hämaturie bei einer Schwan-
geren. Als die Hämaturie trotz der Beendigung der Schwangerschaft
fortdauerte und in dem Urin Tuberkelbazillen gefunden wurden, dachte
er an Nierentuberkulose. Dieses bestimmte ihn zur Nephropexie.
Die Operation ergab zwar keine Tuberkulose, aber doch eine Abwei-
chung der Niere. Man fand eine Erweiterung des Nierenbeckens und
einige Zysten, die eine trübe Flüssigkeit enthielten. Auch hier fehlt
wieder der Zusammenhang zwischen der Schwangerschaft und der
Hämaturie.'
Der Zusammenhang fehlt gleichfalls in dem Fall, den Fridondani
in der Gaz. med. de Pavia 1892 beschrieben hat. Es wurde bei der
Patientin wegen besonders heftiger Blasenblutungen der Abortus ein-
geleitet. Fridondani ist der Meinung, daß die Hämaturie durch
Erweiterung der Blasenkapillaren infolge der Schwangerschaft ent-
standen ist. Wie läßt sich damit vereinbaren, daß Blasenblutungen
eine so seltene Erscheinung bei Schwangerschaft sind?
Dann sind die Fälle von van de Wal, Niemeyer^, Stephan^)
und P. Yff*). Niemeyer behandelte seine Patientin noch während
5 Monate nach der Schwangerschaft, ohne daß die Hämaturie wieder
auftrat. Dieses wäre ja ein schwacher Beweis dafür, daß es sich hier
um Hämaturie infolge der Schwangerschaft handelte; Niemeyer
selber jedoch glaubte an Tuberkulose.
Stephan schreibt in seinem Fall die Hämaturie Blasenvaricen zu.
Yff fand keine Zylinder im Urin, wohl aber amorphe Mengen
Kalzium und Magnesiumphosphat. Hier kann also Nierenstein die
Ursache gewesen sein, oder der Urin selber, wenn derselbe eine starke
Salzlösung enthielt.
Keiner dieser Fälle kommt also in Betracht um den Beweis zu
liefern, daß es möglich ist, einen Zusammenhang zu konstatieren zwi-
schen Hämaturie und Schwangerschaft.
Chiaventone glaubt für die Erklärung der Hämaturie bei Schwan-
geren die fötale Intoxikationstheorie für Eklampsie in Anwendung
bringen zu dürfen.^) Die Richtigkeit hiervon möchte ich bezweifeln,
denn Eklampsie und Hämaturie treten selten gleichzeitig auf. Auch
1) Treub, Aonales de la Soci6t6 obst6tricale de France 1890.
2) Niemeyer, Haematuria graviditatis. Med. ^eekblad v. N. en Z. Nederland
1900—1901.
3) Stephan, Haematuria graviditatis. Med. Weekblad v. N. e. Z. Nederland
1900-1901.
4) Yff, Ben geval van haematuria graviditatis. Med. Weekblad etc. 1901—1902.
5) Molas, Contribution ä Tötude des h6morrhagies li^es k r6clampsie puer-
p6rale. Thfese de Paris 1877.
KHb. Vorträge, N. F. Nr. 502/03. (Chirurgie Nr. 147/48.) Sept. 1908. 41
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560 P- J* de BruTne Ploos van Amstel, [34
müßte man außerdem die üblichen Abweichungen der eUamptischen
Niere sowohl wie die übrigen Symptome der Eklampsie konstatieren
können.
Ist( also die Erklärung Chiaventones nicht ausreichend, auf
welchem Wege ist dann die richtige Erklärung zu finden?
Wie wir gesehen haben, kann Hämaturie auf vielerlei Art verur-
sacht werden. Die Schwangerschaft neutralisiert keineswegs eine
dieser Ursachen und deshalb ist es durchaus begreiflich, daß Häma-
turie auch bei schwangeren Frauen eintreten kann.
So betrachte ich denn die Hämaturie, welche sich bei Schwangeren
zeigt, nicht als eine bestimmte Art, sondern als eine zufällige und unab-
hängige Begleiterscheinung der Schwangerschaft. Der Name i^rhema-
turie de la grossesse"", wie Chiaventone sie nannte, ist also nicht
richtig.
Richtig dagegen ist die erste These Boumans: „Haematuria in
graviditate ist immer die Folge primärer Niereninsuffizienz.'' Even-
tuelle Blasenblutungen bleiben hierbei natürlich außer Betracht. Die
Ursache der Niereninsuffizienz jedes einzelnen Falles ist hier nicht die
Hauptsache. Die Hauptsache ist, daß die Hämaturie bei Schwangeren
auf verschiedene Art verursacht werden kann, wie Tuberkulose, Nieren-
stein, Tumor usw., aber die Schwangerschaft als solche nicht genannt
werden darf. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Schwangerschaft eine
bestehende Hämaturie ungünstig beeinflußt, weil die Schwangerschaft
nach der fötalen Intoxikationstheorie der Eklampsie den Nieren Ober-
haupt und besonders kranken Nieren nicht zuträglich ist. Aber auch
dem können wir keinen Glauben schenken. Wäre das Vorstehende
richtig, dann würde Hämaturie während der Schwangerschaft weit
häufiger vorkommen. In der ganzen Literatur sind kaum 20 Fälle zu
finden, inklusive den nicht ganz einwandfreien d. h. bei welchen auch
Nierentuberkulose oder Blasenblutungen die Ursache sein konnten.
AlbuttO spricht seinen sehr berechtigten Zweifel darüber aus,
daß Haematuria in graviditate verursacht werden könne durch mecha-
nische Ursachen wie z. B. starken Druck des vergrößerten Uterus. Dann
müßte die Hämaturie viel häufiger auftreten, auch bei anderen Unter-
leibstumoren.
Kurzdauernde Nierenblutung durch Oberanstrengung
nennt Klemperer*) jene Fälle, deren Ursache er körperlicher Über-
anstrengung meint zuschreiben zu müssen.
1) Albutt, Albuminuria in pregnancy. The Lancet 1897.
2) Klemperer, Ober Nierenblutungen aus gesunden Nieren. Deutsche med.
Wochenschr. 1897.
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35] Hämaturie. 561
Er erzählt, wie sich Nierenblutungen zeigten bei einem 45jährigen
Offizier nach einem Ritt von 7 Stunden und bei einem 26jährigen
Manne nach einer Radtour Berlin— Brandenburg und zurück.
Kl em per er sagt: ,yDie ^Nierenblutungen durch Überanstrengung^
sind meines Wissens in der Literatur noch nicht beschrieben/^ Dieser
Umstand wäre sonderbar, wenn tatsächlich Oberanstrengung Hämaturie
verursachen könnte. Aber auch nachdem Klemperer seine ,,Nieren-
blutungen durch Überanstrengung^^ der allgemeinen Aufmerksamkeit
näher gerückt hatte, wurden sie anderweitig nicht mehr wahrgenommen
oder in der Literatur erörtert. Im Jahre 1003, also ausgerechnet sechs
Jahre nach der Mitteilung Klemperers, nennt Schede^) im Zu-
sammenhang mit dieser Art der Hämaturie nur die Namen Klem-
perer, Leyden und Senator. Schede will sie einer Blutüberfüllung
zuschreiben, welche, wie er sagt, gleichermaßen durch Kongestion wie
durch Stauung hervorgerufen werden kann.
Die Literatur berichtet uns nichts von Nierenblutungen bei Soldaten
oder Sportfreunden, welche doch gewiß körperlichen Überanstrengungen
ausgesetzt sind. Es werden sich aber unter ihnen wenige, um nicht
zu sagen keine, befinden, deren Nieren nicht gesund sind. Daraus
könnte man den Schluß ziehen, daß die Hämaturie bei Überanstrengung
nur auftreten kann bei nicht völlig gesunden Nieren. Sie wäre dann
etwa als traumatische Nierenblutung zu betrachten. Das Trauma als
solches käme also bei gesunden Nieren nicht in Betracht.
Außerdem kann bei Nierenstein- und dergleichen Kranken Nieren-
blutung eintreten nach Überanstrengung, ohne jedoch durch letztere
verursacht zu werden. Sehr richtig betont deshalb Klemperer die
Wichtigkeit der Differentialdiagnose, hauptsächlich in bezug auf Nieren-
stein. Aber auch wenn man nach möglichst genauer Untersuchung
alle anderen Momente, welche als Ursache der Hämaturie in Betracht
kommen können, eliminiert hat, ist es fehlerhaft der Überanstrengung die
einzige Ursache zuzuschreiben. Wir wissen viel zu genau, daß, ohne
mikroskopische Untersuchung der Niere, Nierenstein und Nierentuber-
kulose bei Hämaturie nie mit absoluter Gewißheit auszuschließen sind.
Betrachtet man also die Klem per ersehen „Nierenblutungen durch
Überanstrengung^^ als Symptom, welches auf eine kranke Niere schließen
läßt, so weiß man von vornherein, daß diese Fälle zu den seltenen gehören.
Wir haben schon weiter oben gesagt, daß Leute, welche fortwährend
körperlicher Überanstrengung ausgesetzt sind, beinahe ohne Ausnahme
nicht an Nierenerkrankungen leiden werden, aber auf der anderen
1) Schede, Verletzungen und Erkrankungen der Nieren und Harnleiter. Hand-
buch der praktischen Chirurgie von v. Bergmann, v. Bruns und v. Mikulicz 1903.
41*
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S62 P' J- de BniTtte Ptoos van Amstel, [35
Seite werden Leute, deren Nitren nicht gesund sind, sich nicht dem
Sporte oder sonstiger körperlicher Oberanstrengung widmen.
Hämaturie als Begleiterscheinung anderer Krankheiten.
An erster Stelle muß hier die Malaria genannt werden.
In der Literatur finden wir diesbezöglieh nur einige vereinzelte
Fälle. Smith 0 und Claverie^) berichten uns 5 resp. 1 Fall. In
dem letzteren Fall war die Blutung sehr heftig. Sparkmann^) und
Smith sind der Meinung, daß Chinin bei Malariahamatitrie kontra-
indiziert ist.
Weiter kann die Hämaturie auftreten bei Intoxikations- und Infek-
tionskrankheiten, wie z. B. bei Febris typhoidea. Derartige Fälle be-
richten uns Guinon^), Robin, Greenhow, Duckworth, Lieber-
meister, Griesinger, Murchison, Amat u. a. Mir selber begeg-
nete in meiner Praxis ein Fall von akuter Miliartuberkulose^), aber
der Fall von Askanazy (Hämaturie bei Diabetes) liefert den Beweis,
daß man in derartigen Fällen ohne Sektion nicht ohne weiteres die
Miliartuberkulose oder die Diabetes als Ursache der Hämaturie be-
trachten darf. In dem Askanazy sehen Fall konstatierte man bei der
Sektion nephritische Läsion der Nieren.
Hämaturie bei gesunden Nieren.
Bei allen diesen Fällen ist es das Symptom der Nierenbluning,
welches am meisten in den Vordergrund tritt. Früher würde mao
sich di« Frage vorgelegt haben: Welche Krankheit ist die Ursache
dieser Nierenblutung? jetzt aber heißt es in erster Linie: Handelt es
sich überhaupt um eine kranke Niere oder um Blutungen aus gesunden
Nieren? Klemperer^) hat den Versuch gemacht, in einer sehr scbarf-
1) Smith, Malarial Hsmaturla. New York Med. Journal 1900.
2) Claverie, Observation de fi^vre intermittente tierce h^tnaturlque. Revse
<m6dica(e de l'Afriqoe du Nord 1901.
3) Sparkmann, Hcmorrhagic malarial fever; its treatment. The Therapen-
tic Gazette 1901.
4) Guinon, Fi^vre typhoide ä forme renale h^maturique survenant dans les
cours d'un purpura exanthömatique r^cidivant. Sociöt^ m^dicale des höpttaiix
1898. La Presse m^dical 1898.
5) de BruTne Ploos van Amstel, Über einen Fall von akuter Miliartabe^
kulose mit dem ausgeprägten Bilde des Abdominaltyphus. Berliner klin. Wochenschr.
1894.
6) Klemperer, Ober Nierenblutungen bei gesunden Nieren. Deutsche med.
Wochenschr. 1897.
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37] Hämaturie. 563
sinnigen Abhandlung den Beweis zu liefern, ^^daß ein Organ, welches
blutet, trotzdem gesund sein kann^^ Sogar unter Berücksichtigung
dieses Ausspruches wird man derMeinungProFessor P eis i) beipflichten
müssen, daß es ratsam ist, den sogenannten Hämaturien sine materia
ein gewisses Mißtraueq entgegenzubringen. Klemperer nennt iii
erster Linie die Menstruation, welche er, ebenso wie vor ihm bereits
Reckiinghausen, das physiologische Beispiel der neuropathischen
Nierenblutungen nennt. Dann nennt er uns Beispiele hysterischer
Blutungen, beschrieben von Cohen, Tittel, Huß, und im Anschluß
daran zwei Fälle aus eigener Erfahrung, bei welchen es sich um
Hämatemesis resp. Hämoptoe hysterischer Art handelte, weil Magen
und Lunge bei der Sektion keinerlei Abweichungen aufwiesen. Es
steht noch nicht fest, welche Erklärung für diese neuropathischen
Nierenblutungen die richtige ist. Brown-Sequard und Ebstein
betrachten sie als eine Reizung der vasomotorischen Nerven, welche
einen derartig erhöhten Druck auf die Blutgefäße nach sich zieht, daß
diese letzteren nicht mehr genügenden Widerstand zu leisten vermögen.
Vulpian glaubt an eine Lähmung der vasomotorischen Zentra mit Ab-
schwächung des Gefäßtonus und übermäßiger Füllung der kleineren
Blutgefäße.
Der Behauptung Brown-Sequards könnte man entgegnen, daß
in der ganzen Literatur nicht ein Fall aufzuweisen ist von neuropa-
thischer Apoplexie ohne Arteriosklerose.
Dasselbe gilt auch für die Behauptung Vulpians; weshalb findet
die übermäßige, bis zum Zerspringen gesteigerte Füllung der Blut-
gefäße nicht auch im Gehirn statt? Außerdem müßte man die Frage
aufwerfen, ob ein Organ, welches so hyperämisch ist, daß die Blut-
gefäße zerspringen, als gesund betrachtet werden darf. Was diese
Frage speziell mit Rücksicht auf die Nieren anbetrifft, zitiert Klem-
perer etwa 8 Fälle, um zu beweisen, daß tatsächlich Nierenblutungen
aus vollkommen gesunden Organen beobachtet worden sind. Den
ersten Fall nennt Sabatier^) selber „N6phralgie h^maturique^^ In
dem Untersuchungsprotokoll der wegen heftiger Lendenschmerzen und
Hämaturie exstirpierten Niere steht geschrieben: „On constate dans ce
rein quelque peu d'inflammation conjonctive sans aucune tendence k
la suppuration, mais d^terminant plutöt de 1^ sclerose.^^ Im Anschluß
an das Resultat dieser Untersuchung sagt Sabatier: „Les lesions, oa
1) Pel, Die Nierenentzündung (M. Brightii) vor d^m Forum der Chirurgen.
Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Medizin und Cliirurgie 1901.
2) Sabn^ier, N6yralgle hömaturique. N^phrectomie. Gu^rison. Revue de
Chirurgie 1889.
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564 P* J* cle BruTne Plöos van Amstel, [38
le voit, sont si peu affirm6es que nous n'hesiterons pas ä reconnaitre
rint6grit6 de Torgane enlev6."
Klemperer teilt ohne weiteres die Meinung Sabatiers in bezug
auf den gesunden Zustand derNiere, trotzdem er u. m. als Resultat
der mikroskopischen Untersuchung nennt: eine bindegewebige Ent-
zündung, ohne Tendenz zur Eiterung, sondern mehr sklerosierender
Natur.
In Wirklichkeit kann dieser Fall gelten als Beweis, daß Nephritis
sich äußern kann mit Kolik und Blutung.
Ebenfalls beschreibt Klemperer den ersten Fall von Anderson >).
Dieser Fall betraf ein 24 jähriges Mädchen, welches seit 4 Jahren
Anfälle von Lendenschmerzen und Hämaturie hatte. Anderson ver-
mutete die Anwesenheit von Nierenstein, welcher aber bei der Ope-
ration nicht gefunden wurde. Er legte die Niere frei. Als er sie aber
bei der direkten Inspektion und Betastung völlig normal fand, schloß
er die Wunde, ohne die Niere herausgenommen zu haben. Es trat
völlige Heilung ein.
Anderson selbst sagt, daß die Niere „was carefully examined by
palpation and acupuncture, but without the discovery of any abnor-
mality".
Es ist ohne Zweifel eine gefährliche Sache, bloß auf die mai^ro-
skopische Untersuchung hin die Behauptung aufzustellen, daß die
Niere vollkommen gesund ist. Daß Anderson nicht exstirpierte, ist
begreiflich; nicht begreiflich ist aber, daß Klemperer diesen Fall
hinstellt als einen Beweis für die Möglichkeit der Blutungen aus ge-
sunder Niere, denn es ist sehr wohl anzunehmen, daß evenmelle
nephritische Prozesse vorhanden waren und bei der Inspektion nicht
gefunden wurden.
Der Fall von Schüller^) bestätigt übrigens die Richtigkeit meiner
Vermutung. In diesem Falle handelte es sich um eine 49jährige Frau,
welche bereits seit 10 Monaten renale Hämaturie hatte, und zwar
kamen die Blutungen, wie die zystoskopische Untersuchung ergeben
hatte, aus der rechten Niere. Makroskopische Untersuchung sowie
Spaltung dieser rechten Niere ergaben keine Abweichung. Darauf
wurde die Kapsel abgezogen und die Wunde geschlossen. Die Blu-
tung hielt noch etwa 14 Tage an und blieb dann für immer fort. Die
mikroskopische Untersuchung eines durch eine Probeexzision entfernten
1) Anderson, Two cases of renal exploration for suspected calculus with
subsequent nephrectomy in one. The Lancet 1889.
2) Seh filier, Beitrag zur Lehre von den Blutungen aus anscheinend aorer-
Snderten Nieren. Wiener klin. Wochenschr. 1004.
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39] Hämaturie. 565
Nierenteilchens ergab, daß die Niere an chronischer Nephritis er-
krankt war.
Ebenso wie der Fall Anderson, ist auch der schon zitierte Fall
Passet^ kein starker Beweis für die Klemperersche Theorie.
In diesem Falle schloß man auf gesunde Nieren, ohne mikrosko-
pische, ja sogar ohne makroskopische Untersuchung derselben.
Passet nennt diese Blutung renale Hämophilie, während als einzige
Basis für diese Diagnose der Habitus haemophilicus des Patienten in
Frage kommen kann. Klemperer, welcher diese Diagnose bestätigt,
und außerdem betont, daß die Blasenspülung der Blutung ein Ende
gemacht hat, gerät hierdurch in Widerspruch mit sich selbst, weil
selbstverständlich das letztere das erstere ausschließt. Der Umstand,
daß die unnötige Blasenoperation ein so günstiges Resultat, das Aus-
bleiben der Blutung, aufzuweisen vermochte, darf lediglich ein Zufall
genannt werden. Dieser Fall darf also meiner Ansicht nach keines-
wegs in Betracht kommen als Beweis für die Möglichkeit der Blutungen
aus normalen Nieren. Die Diagnose auf renale Hämophilie bei einer
Frau mittleren Alters kann richtig sein, es fehlt aber jeglicher
Beweis dieser Diagnose.
Passet schweigt über die Einzelheiten der Urinuntersuchung und
konstatiert ausschließlich die Anwesenheit des Blutes. Ist damit denn
hierdurch die Möglichkeit des Vorhandenseins weiterer nephritischer
Prozesse ausgeschlossen? Korteweg^) sagt hierzu: Bei vielen Nieren-
operationen hat man konstatieren können, daß sogar bei einer Nephritis
in weit fortgeschrittenem Stadium der Urin eiweiß- und zylinderfrei
sein kann.
Gleich wenig beweist der Fall von Broca.^) Auch er diagnosti-
ziert auf renale Hämophilie, trotzdem keine Rede war von hereditärer
Belastung und die Historia morbi uns nichts berichtet von hämo-
philischen Blutungen vor dem Erscheinen der Hämaturie. Auch eine
kurz vorher stattgehabte Entbindung war in dieser Beziehung normal
verlaufen. Seine Patientin beklagte sich über Hämaturie und heftige
Schmerzen in der rechten Nierengegend. Im Urin wurden außer Blut
wohl Epithelien und Zylinder, aber keine Spur von Nierenstein ge-
funden. Als Bettruhe und Milchdiät erfolglos blieben, wurde zur Ope-
ration geschritten. Die Diagnose lautete auf Tuberkulose oder Tumor.
1) Passet, Über Hämaturie und renale Hämophilie. Zentralbl. für die Krank-
heiten der Harn- und Sexualorgane 1894.
2) Korteweg, Die Indikationen zur Entspannungsinzision bei Nierenleiden.
Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Med. und Chir, 1901.
3) Broca, Hämophilie renale et h^morrhagies renales sans 16sions connues.
Annales des maladies des organes g^nito-urinaires 1894.
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506 ^- J* <le BruTne Ploos van Amstel, [40
Die freigelegte Niere zeigte keine Erweiterung u;id war von normaler
Härte und Farbe, während auch die Untersuchung des NiercDbeckeos
und der Ureter kein positives Resultat ergab. Der erste Urin nach
der Operation war noch bluthaltig, dann aber blieb die Hämaturie
auS) und eine Untersuchung, welche 3 Jahre später stattfand, ergab,
daß Patientin vollkommen geheilt war. In diesem Falle Fehlt jeglicher
Beweis sowohl für die Diagnose Hämophilie renale, als auch dafür,
daß die blutende Niere vollkommen gesund war. Nehmen wir an,
daß die Blutungen tatsächlich durch Hämophilie verursacht wurden,
dann bleibt es doch unverständlich, daß diese Operation, welcher
von vornherein jeder praktische Nutzen bei einer Konstitutionskraok-
heit wie Hämophilie abgesprochen werden muß, Heilung bringen
konnte, auch wena.man an eine außerordentliche Lokalisation dieser
Krankheit glauben wollte. Und ebenso, wie bei den Klempererschen
Fällen, möchten wir auch hier bezweifeln, daß die Niere gesund war,
da dieses nicht auf mikroskopischem Wege festgestellt worden ist
Auch Israel^) ist der Meinung, daß das Freilegen der Niere keinen
großen Wert hat für die Diagnose.
Israel sagt hierzu: „daß allein eine ausgiebige Inzision der Niere
selbst Klarheit verschaffen könnte, da die einfache Freilegung nicht
mehr lehren würde, als die Abtastung des ganzen Organs durch die
unverletzten Bauchdecken". Allerdings war in seinem Fall die Ab-
tastung leicht vorzunehmen. Bei der 52jährigen Patientin Israels
stellte sich am 15. Januar 1893 plötzlich ohne jegliche Veranlassung
eine heftige Hämaturie ein, welche 11 Tage anhielt, und am 26. des-
selben Monats wurde wegen Nierentumor zur Operation geschritten.
Da die zystoskopische Untersuchung ergab, daß das Blut aus- der
linken Niere kam, wurde dieselbe freigelegt und darauf gespalten. Es
erfolgte eine genaue Untersuchung der gespaltenen Niere, „welche
nicht die geringste Abweichung von der Norm, weder abnorme Vasku-
larisation, noch Ekchymosen des Beckens oder des Nierenparenchyms
ergab.^^ Daraus folgerte Israel: „daß es sich um eine essentielle
Nierenblutung ohne anatomisch erkennbare Grundlage handeltet
Grosglik^) geht bei der Besprechung dieses Falles noch weiter: „Mit
einem Worte, die Niere war ganz gesund." Der bereits genannte Fall
von Schüler beweist, daß diese Folgerung nicht berechtigt ist. Nach
der Operation (die Schnittwunde wurde vernäht und die Niere reponiert)
blieb die Hämaturie dauernd aus. Israel kann zwar dieses günstige
1) Israel, Erfahrungen über Nierenchirurgie. Arch. f. klio. Chir. 180^ Bd. 47.
2) Grosglik, Ober Blutungen aus anatomisch unveränderten Niereiio Samm-
lung klin. Vortr. von Volkmann Nr. 203 (Chir. Nr. 58).
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41] Himaturie. 567
Resultat nicht erklären, aber betrachtet es doch als Indikation, um in
dergleichen Fällen zur Operation zu schreiten.
Ferner zitiert Klemperer noch einige Fälle von Legueu^). Bei
einem 26jährigen Patienten zeigte sich im Jahre 1885 Hämaturie mit
heftigen Schmerzen. Die Schmerzen hielten an, trotzdem der Urin
innerhalb weniger Stunden blutfrei war. Im nächsten Jahre wieder-
holte sich der Anfall und dabei blieb es nicht. Im ganzen wurde
noch etwa 40 mal Blut im Urin konstatiert; Nierenstein wurde jedoch
im Urin nicht gefunden. Als weitere Symptome sind zu nennen:
häufiges Erbrechen und Schmerzen im rechten Beine. Im Jahre 1891
wurde endlich zur Operation geschritten; die linke Niere wurde frei-
gelegt und, da man keinerlei Abweichung fand, wieder reponiert. Die
Hämaturie blieb aus, die Schmerzen ebenfalls, aber nur bis zu dem
Augenblicke, da der Patient erfuhr, daß außer der Nephrotomie keine
eigentliche Operation stattgefunden hatte.
Auch hier wurde also die Niere für gesund erklärt, weil makroskopisch
keine Abweichung konstatiert wurde. Die geringe Zuverlässigkeit der
makroskopischen Untersuchung beweist nicht nur der Schüllersche
Fall, sondern auch der Fall von Braatz^). Braatz verrichtete den
Sektionsschnitt wegen Nephralgie. Die anscheinend normale Niere
wurde natürlich nicht exstirpiert, sondern reponiert, und zwar mit dem
Resultat, daß eine 3jährige Heilung eintrat. Dann zeigten sich die-
selben Symptome von früher, worauf die Exstirpierung erfolgte. Die
mikroskopische Untersuchung ergab, daß die exstirpierte Niere tuber-
kulös war; ein jetzt genesener Herd muß also die Ursache der früheren
Beschwerden gewesen sein.
Auch der Fall von Schede^) ist für uns nicht ein beweisender in
dieser Hinsicht.
Klemperer, der uns diesen Fall mitgeteilt hat, sagt, daß ein
SOjähriger Mann seit 13 Monaten an Hämaturie litt. Die Diagnose
wurde gestellt auf Nierenstein, Tuberkulose oder Tumor, weshalb die
Operation beschlossen wurde. Nach Eröffnung der Blase und Kathe-
terisierung der Ureteren ergab sich, daß das Blut aus der rechten
Niere stammte. Klemperer sagt dazu: „Bei der Untersuchung ergab
sie sich als vollkommen gesund.^^ Schede jedoch teilt uns mit, dal][
schon während der Operation sich zeigte, daß die Nierensubstanz leicht
1) Legueu, Des növralgies r6aales. Annales des maladies des organes g6nito-
urinaires 1891.
2) Braatz, Über operative Spaltung der Niere. Deutsche med. Wochenschr.
1900.
3) Schede, Neue Erfahrungen über Nierenexstirpation. Jahrbuch der Ham-
burger Staatskrankenanstalten 1889.
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568 ^* J' de BruTne Ploos van Amstel, [42
zerreiOlich war. Auch bemerkt er noch, daß bei der pathologisch-
anatomischen Untersuchung außer Anämie und einigen kleinen Extra-
vasaten nichts Besonderes gefunden wurde.
Nun wissen wir, wie wir z. B. bei Eichhorst^) lesen, daß kleine
Extravasaten, ebenso wie das leicht Zerreißliche der Nierensubstanz
ffir die Diagnose großen Wert haben. Eichhorst sagt in Beziehung
zur Nephritis: „Einen außerordentlich häufigen, fast regelmäßigen
Befund stellen Hämorrhagien dar, die sich meist an das Gebiet der
Nierenrinde halten und den Umfang eines Stecknadelknopfes nur aus-
nahmsweise fiberschreiten. In bezug auf Konsistenz der entzfindeten
Organe ist zu bemerken, daß das Nierenparenchym ungewöhnlich
morsch und brüchig ist.^^
Schede bemerkt auch, daß die Urinuntersuchung kein positives
Resultat gab, nur einmal wurden in demselben Nierenbecken-Epithel
gefunden. Wenn man keinen besonderen Wert darauf legt, daß diese
Nierenbecken-Epithelien gefunden sind, so beweist die Abwesenheit
von Eiweiß und Formelementen der Niere nichts gegen die Diagnose
Nephritis. Wir wissen auch, daß Nierenzylinder fehlen können, und
zwar entweder ganz fehlen oder nach Sehrwald wohl anwesend, aber
durch das Pepsingehalt des sauren Urins aufgelöst. Auch Leichten-
stern und Sörensen haben konstatiert, daß bei Nephritis normaler
Urin abgesondert werden kann. Die Ursache davon kann sein eine
totale Anurie des kranken Nierengewebes, wodurch zeitweise nur von
gesundem Nierengewebe Urin abgesondert wird. Doch ist außerdem
die Abwesenheit von Eiweiß nicht Grund genug, die Diagnose Nephritis
zu verwerfen. Dieulafoy spricht in Rücksicht auf die Albuminurie,
wie von „un Symptome infiddle et inconstant^^ PeP) gibt uns noch
die Möglichkeit, daß in diesen Fällen wohl Eiweiß anwesend sein
kann, doch in so geringen Quantitäten, daß wir es mit unseren
Reagentien nicht beweisen können.
Auch Goodal und Bartels beobachteten Fälle von Nephritis,
wobei der Urin kein Eiweiß enthielt. Henoch^) sagt in dieser Hin-
sicht: „Aber auch hier wie überall in der Medizin gilt der Satz: Keine
Regel ohne Ausnahme. Es gibt unzweifelhafte Fälle, in welchen trotz
wiederholter Untersuchung des Urins (wenigstens mit den in der
Praxis gewöhnlich benutzten Methoden) weder Eiweiß, noch mikro-
skopische Elemente der Nephritis in demselben nachzuweisen sind.^'
Die Behauptung Klemperers, daß in dem Falle von Schede die
1) Eichhorst, Handb. der spez. Path. und Ther.
2) Pel, Die akute und chronische Nierenentzündung. (Morbus Brigthii.)
3) Henoch, Vorlesungen über Kinderkrankheiten.
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43] Hämaturie. 569
Niere sich als vollkommen gesund ergab, ist unrichtig und übertrieben.
Höchstens konnte man konkludieren, daß die Nieren vermutlich keine
ernstlichen Läsionen zeigen werden.
Auch zitiert Klemperer den Fall von Durham^).
Durham operierte eine 41jährige Frau wegen Schmerzen und
Hämaturie, die er einem Nierenstein zuschrieb. Bei der Operation
bestätigte sich diese Diagnose jedoch nicht, weshalb die Niere nicht
exstirpiert wurde. Da jedoch dieselben Beschwerden auch nach der
Operation Fortdauerten, wurde die Niere 2 Jahre später exstirpiert.
Die Patientin starb bald nach der Operation und die exstirpierte Niere
zeigte sich als normal.
Grosglik zitiert diesen Fall auch als zweifellosen Beitrag zu der
uns interessierenden Frage.
Mit dieser Behauptung beweist Grosglik nur, daß er einen Fall
zitiert, ohne ihn gelesen zu haben. Und er ist nicht der einzige, der
so zitiert. Klemperer, der den Fall auch bespricht, sagt, ihn gelesen
zu haben in dem British Medical Journal von 1889, während derselbe
beschrieben wurde in dem British M. J. von 1872. Klemperer sagt
auch: ^Deswegen wurde nunmehr die Niere ausgeschnitten; ein Stein
wurde nicht gefunden, die Niere erwies sich als gesund.'^ Daß die
Niere wirklich gesund sei, ist in der Beschreibung dieses Falles
in dem British M. J. nicht zu lesen.
Lannois^) nennt diesen Fall auch und erzählt uns dazu, daß der-
selbe eine 43jährige Frau betrifft, die schon seit 2 Jahren an hef-
tigen Schmerzen in der linken Nierengegend litt. „Croyant ä des
calculs, Durham fait une n6phrolithotomie, ne trouve pas de calculs
et en reste lä. Cinq mois plus tard, les douleurs ayant reparu, ex-
stirpation du rein, qui 6tait sain.*'
In Wirklichkeit verrichtete Durham bei dieser Patientin nie
Nephrolithotomie, sondern er legte einfach die Niere frei. Ferner
war hier nicht ein Zeitraum von 5 Monaten, sondern von 2 Jahren
zwischen beiden Operationen. Zum Schlüsse ersehen wir aus nichts
die Wahrheit der Worte von Lannois betreffs der Niere: „qui 6tait
sain*.
Auch Brodeur^) erzählt uns, daß Durham erst eine Nephrolitho-
tomie verrichtete.
1) Durham, Removal of the kidney. The British Medical Journal 1872, p. 534
und 565.
2) Lannois, De Texstirpation du rein ou n^phrectomie. Revue de Chirurgie
1881.
3) Brodeur, De rintervention chirurgicale dans les affections du rein. Th^se
de Paris 1886.
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570 ^' J- <le BruTne Ploos van Amstel, [44
Durham selbst sagt von diesem Falle nur Folgendes: „On Tues-
day, Mr. Durham removed the rlght kidney of a woman at Guy's
Hospital. The patient who is 43 years of age, is the same in whom
Mr. Durham exposed the kidney, whlch was removed on Tuesday,
with the expectation of finding a calculus in or about its pelvis. No
calculus being found on that occasion, and the kidney appearing
healthy, the wound was closed. The patient recovered from the effects
of the Operation well and the wound healed, but she was not relieved
from the severe pain, haematuria and other Symptoms, from which she
had suffered. The patient early on Thursday morning was apparently
progressing satisfactorily in every way; there being no sign of any
bad Symptom; the temperature was normal; the pulse beating ninety
per minute, and although weak, not more so than frequently had been
the case before the Operation; and the patient had less pain than she
had constantly suffered for long previously."
Das ist alles.
Dieser Fall ist, n'en d6plaise Grosglik, beweisend für nichts.
Höchstens sieht man wieder einmal daraus, daß das Extirpieren einer
Niere nicht ungefährlich ist, jedoch dafür braucht man keinen Beweis,
das ist eine alte Geschichte.
Was die Ursache ist, daß dieser anfanglich so gunstig verlaufende
Fall letal endet, erzählt Durham uns nicht. Das einzige, was wir hier-
über vernehmen, ist, das wir auf S. 565 (British Medical Journal 1872)
lesen: „Mr. Durham's Operation of exstirpation of the kidney has ended
fatally.^^ Dennoch macht dieser nichts beweisende Fall die Runde in
der Literatur und wurde dann entweder zitiert nach origineller Mit-
teilung!!! oder nach Legueus Zitat in seinem Artikel: „Des n^vral-
gies renales. Annales des maladies des organes g6nito-urinaires, 1891.
Der einzige, der Riesen Fall richtig zitiert, war Sabatier.^)
Er aber sagt uns, daß bei der ersten Operation das Freilegen der
Niere ,1a vue et la palpation permirent d'en reconnattre rint6grit6".
Nun wissen wir aus Erfahrung und aus der Literatur, wie wenig
man geben kann auf den makroskopisch scheinbar normalen Aspekt
einer freigelegten Niere.
Grosglik zitiert auch den zweiten Fall von Lauenstein^). Dieser
behandelte einen 42jährigen Seemann, der schon seit 12 Jahren
Schmerzen in der rechten Nierengegend hatte. Dazu traten im Jahre
1886 Beschwerden über Hämaturie und heftigen Urindrang; er mußte
1) Sabatier, Nephralgie h6maturique. N^phrectomie. Gu6rison. Revue- te
Chirurgie 1880.
2) Lauenstein, Zur Chirurgie der Nieren. Deutsche med. Wocbeaschn 1887;
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45] Hämaturie. 57 1
16 mal in 24 Stunden Urin lassen. In dem Urin selbst wurden außer
roten auch weiße Blutkörperchen gefunden.
Da die Urinuntersuchung jedoch nicht zu einer sicheren Diagnose
ffihrte, so wurde die Operation beschlossen, weil Lauenstein einen
großen Nierenstein vermutete. Im August 1886 wurde die Operation
verrichtet; die Niere wurde freigelegt, aber kein Stein gefunden. Auch
das Nierenbecken wurde geöffnet, aber auch ohne Resultat. Um die
Hilus in die Wunde zu ziehen, um so in das Nierenbecken zu ge-
langen, zog Lauenstein drei Fäden durch das Nierengewebe. Die
hierbei unwillkürlich verrichtete Akupunktur ließ auch nicht die An-
wesenheit eines Steines erkennen. Da man ferner auch nichts Abnor-
males an der Niere konstatieren konnte, wurde die Wunde tamponiert,
nach Reposition der Niere. Die Wunde heilte gut, und das weitere
Resultat war, daß der Mann vollkommen gesund wieder zur See ging,
und 3 Jahre später hatte Grosglik Gelegenheit zu konstatieren,
daß sein Patient noch immer total genesen war. Grosglik erzählt
uns diesen Fall unter dem Titel: Ȇber Blutungen aus anatomisch
unveränderten Nieren."
Lauenstein sagt in Beziehung auf das geöffnete Nierenbecken:
»Aus dem eröffneten, offenbar erweiterten Nierenbecken floß weder
Blut, noch Eiter.^ Auch wenn man sich der Ansicht Lauensteins
anpassen will, daß eine Niere mit erweitertem Nierenbecken trotzdem
normal ist, so fehlt hier doch jede pathologisch-anatomische Unter-
suchung und steht auch die Behauptung einer gesunden Niere ohne
jeglichen Beweisgrund.
Morris <) operierte einen jungen Mann von 20 Jahren, da derselbe
infolge heftiger Anfalle von Hämaturie, welche sich schon seit 10
Monaten wiederholten, sehr anämisch geworden war. Da der Patient
besonders über Schmerzen in der rechten Nierengegend klagte, wurde
die Operation der rechten Niere beschlossen. Morris sagt hierüber:
»The right kidney was cut into and thoroughly examined with nega-
tive result; nothing was found to explain the hsematuria, and no
improvement in the Symptoms resulted.' 10 Tage nach der Nephro-
tomie verrichtete er die Nephrektomie, weil die Hämaturie stets fort-
dauerte. Jedoch hörte dieselbe auch nach der Nephrektomie nicht auf
und starb der Patient am Tage nach der Operation. Morris sagt
über die exstirpierte Niere: ,,There was nothing in the naked-eye
appearances of the kidney removed, or of the left kidney or of the
bladder, or any part of the urinary System to explain the cause of
the haemorrhage. Neither a microscopic nor a bacteriologial exami-
1) Morris, Surgical diseases of the kidney and Ureter. 1901.
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572 ^' J* <le Brulne Ploos van Amstel, [46
nation ot the kidneys was, I regret to say, made, their naked-eye
appearances being so normal that further examination was unfortuna-
tely omitted." Mit den Worten: „I regret to say" beweist Morris,
daß er mit uns derselben Meinung ist, daß der makroskopische, den
»naked-eye"" Aspekt der Niere, selbst in scheinbar sicheren Fallen,
doch nicht überzeugend genug ist, um ohne mikroskopische Unter-
suchung zu einer unveränderten Niere zu konkludieren.
Lauenstein ist auch sehr schlecht zu sprechen über das dia-
gnostische Resultat seiner Operation.
Er konkludierte nicht, daß die Niere mit dem erweiterten Nieren-
becken gesund sei, sondern daß das Diagnostizieren auf dem Gebiete
der Erkrankungen der Harnwege mit Schwierigkeiten verknüpft ist.
Auch glaubt er nicht, daß der Erfolg dem Eingriffe zu verdanken
sei, denn er sagt, daß der fernere Verlauf befriedigender war, wie die
gestellte unrichtige Diagnose, und daß vollständige Genesung erfolgte,
»trotz des Eingriffes*.
Dieselbe Frage wegen des Resultates ist wohl auch zu stellen in
dem von Mannino^ mitgeteilen Fall über Hämaturie.
Mannino behandelte einen 2jährigen Knaben, bei welchem An-
fälle von Hämaturie bemerkt wurden, die bis zu 3 Tagen dauerten.
Angesichts des negativen Resultates der Blasenuntersuchung, mit Ruck-
sicht auf die Anwesenheit von Konkrementen, und weil die Eltern des
Kindes an Syphilis litten, nahm man an, daß man es hier nicht mit
Nierenstein, sondern mit hereditärer Syphilis zu tun habe. Die Dia-
gnose wurde dadurch sicher, weil eine Kur von 62 Tagen, während
welcher Zeit das Kind mit Quecksilber und Jodkali behandelt wurde,
totale Genesung als Resultat hatte. Nirgends findet man in der Lite-
ratur Hämaturie als Symptom von hereditärer Lues verzeichnet. Da-
zu kommt noch, daß man bei einem 2jährigen Kinde nicht so einfach
konstatieren kann, ob vielleicht nicht doch während der 62 Tage ein
kleiner Stein abgesondert wurde. Wenn dieses wohl der Fall war,
dann ist das gute Resultat der antisyphilitischen Behandlung zu be-
greifen, auch bei einem nicht syphilitischen Kinde. Jede Behandlung
würde dann wohl scheinbar die Ursache der Genesung gewesen sein.
Ebenso ist es mit dem Resultate der Behandlung von einem Patient
von Pope.2)
Dieser Patient litt seit 2^/2 Jahren an Hämaturie, „so persistant,
so continuous and moreover marked, considering the constant drain
1) Lorenzo Mannino, Hämaturieanfälle infolge von hereditärer Lues. U
Rlforma medica. Ref. Deutsche med. Wochenschr. 1887.
2) Pope, A case of persistant hflematuria; treatment; eure. The Lancet 1889.
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47] Hämaturie. 573
on the System, by such slight constitutional disturbance, that it may
be well to record it, with the treatment, which was happy succesful/*
Jede Behandlung war ohne Erfolg geblieben. Der Urin enthielt
eine große Quantität roter und eine geringere weißer Blutkörperchen.
Das spezifische Gewicht war 1024, und sagt Pope: „Supernatant
layer gave a faint trace oF albumen.^^ Pope meint, daß hier kein
Grund war, ein akutes oder subakutes Nierenleiden, Entzündung,
Steinleiden usw. zu diagnostizieren. Ebensowenig konnte man an
Parasiten denken, als: „I therefore made up my mind that the haemat-
uria was not symptomatic, so to speak, but in itself the result of
some functional failure of the kidney.^^
Hier haben wir also wieder die Diagnose Hämaturie aus einem
anatomisch normalen Organ, ohne daß dasselbe untersucht worden
ist und trotzdem die Anwesenheit von Eiweiß in dem Urin festge-
stellt wurde.
Die Behandlung blieb ohne Erfolg, bis eine Dosis Cascara gegen
die Obstipation angewendet wurde. Daraus konkludierte Pope die
Anwesenheit von „some altered condition of blood-pressure, in all
probability marked increase which caused the red blood cells to be
forced through the minute vessel walls into the secreting tubes thence
to be excreted, and therefore an eifoft was made to diminish this
increasing pressure". Um diesen Zweck zu erreichen, gab er Laxan-
tia und zwei „vapour baths" in jeder Woche. Die spätere Genesung
schrieb er seiner Behandlung gegen den erhöhten Blutdruck zu.
Daß durch Obstipation der Blutdruck so erhöht werden kann, daß
Nierenblutungen von solcher Heftigkeit verursacht werden, dürfte wohl
niemand glauben. In Wirklichkeit soll Blutdruckerhöhung in dem
Bauche, durch welche Ursache sie entstanden sei, doch wohl nie diese
zur Folge haben.
Klemperer behauptet, daß in allen seinen Fällen von Hämaturie
und Nierenkolikanfällen durch die Operation die vollkommene ana-
tomische Intaktheit der blutenden Nieren sicher festgestellt wurde.
Wir sehen aber, daß die angenommene Gesundheit oder anatomische
Intaktheit der Nieren in all diesen Fällen die Probe der Kritik nicht
bestehen kann, und verfällt somit auch die Erklärung, die er uns zu
diesen Blutungen gibt. Klemperer glaubt, daß die Blutungen ent-
standen sind durch Lähmung der vasomotorischen Nerven. Als ein-
zigen Beweis für diese Behauptung sagt er, daß es angioneurotische
Ödemen gibt, also gibt es auch angioneurotische Blutungen. Außer-
dem, meint er, kann der gute Erfolg von so verschiedenartigen Ein-
griffen, wie Freilegung der Niere, Akupunktur und Sektionschnitt,
wohl nicht anders erklärt werden, als eine Einwirkung auf das Nerven-
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574 ^' J* cle Brttlne P]oos van Amstel, [43
System. Wir werden aber sehen, dafl diese Operationen ihren Erfolg
verdanken der dadurch verursachten Verminderung der Spannung
des Nierengewebes.
Daß Klemperer selbst in dieser Hinsicht seine Ansicht wohl
etwas verändert hat, bemerkt man daraus , daß er in seinem Lehr-
buche sich über diesen Gegenstand nicht so positiv ausspricht.
Klemperer^) sagt darin in dem Kapitel „Die Krankheiten der
Nieren'': „Die Bedeutung der renalen Hämaturie ist in den meisten
Fällen eine symptomatische. Wohl hält er in einzelnen Fällen eiae
angioneurotische Hämaturie für möglich, aber wenn man gut unter-
sucht, dann folgt aus dieser Sachlage jedenfalls, daß man bei länger
dauernden Hämaturien immer von neuem zu untersuchen hat, ob
nicht irgendeine somatische Ursache für dieselben zu entdecken ist;
erst bei vollkommener Ergebnislosigkeit dieser Bemühungen darf man
sich der Diagnose der angioneurotischen Blutung zuwenden.''
Befolgt man diesen Rat von Klemperer genau, so wird man
finden, daß diese Diagnose nach genauer wiederholter Untersuchung
nicht mehr vorkommen wird.
Die Diagnose der angioneurotischen Blutung ist doch auch in Wirk-
lichkeit nicht viel mehr als eine Umschreibung der früheren essen-
tiellen Blutung, Nephralgie h^maturique oder lokalen Hämophilie. Mit
diesem Namen umschreibt man jedoch weniger das Krankheitsbild,
als die Unwissenheit über das Essentielle der Krankheit.
Je mehr man in der Literatur über diese Blutungen nachliest, desto
mehr Fälle findet man, wobei durch die mikroskopische Untersuchung
die richtige Diagnose gestellt wurde, während ohne dieselbe in vielen
dieser Fälle man sie wie Klemperersche angioneurotische Nieren-
blutung betrachten würde. So beschreibt Routier^) einen Krank-
heitsfall von einem 28jährigen, immer gesunden Mann, bei dem plötz-
lich in der Nacht Hämaturie auftrat. Nachdem dieselbe 17 Tage ge-
dauert hatte, trat rechtsseitige Nierenkolik hinzu, und zeigte die zysto-
skopische Untersuchung, daß das Blut aus der rechten Niere stammte.
Da man nun die Diagnose auf malignen Tumor stellte, wurde die Nephrek-
tomie bei dem inzwischen sehr anämisch gewordenen Patienten verrichtet.
Makroskopisch zeigte die ausgeschnittene Niere keine Abnormalität. Bei
der mikroskopischen Untersuchung aber war die Diagnose mit Ge-
wißheit auf beginnende primäre Nierentuberkulose zu stellen.
1) Klemperer, Lehrbuch der inneren Medizin. 1905.
2) Routier, Tuberculose renale. Hämaturie. N^phrectomie. Gu6rison. Annalcs
des maladies des organes g^nito-urinaires 1805.
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49] Hämaturie. 575
Trautenroth 1) erzählt auch einen ähnlichen Fall, wobei die Nieren-
blutung jedoch nicht von Kolik begleitet war. Auch hier wurde die
Nephrektomie beschlossen, da man einen malignen Tumor vermutete.
In der makroskopisch nicht veränderten Niere fand man nur ein
Blutkoagulum in dem Nierenbecken. Bei der mikroskopischen Unter-
suchung zeigte es sich aber, daß diese Niere diffus tuberkulös er-
krankt war.
Auch Israel^) teilt uns ähnliche Fälle mit. Einer seiner Patienten,
ein 58jähriger Herr, litt seit einiger Zeit an Hämaturie, zeitweise ohne
und dann wieder mit Kolikschmerzen. Während der Zeit, da er keine
Hämaturie hatte, war der Urin eiweißfrei. Die Urinuntersuchung
ergab weiter, dal! keine Zylinder, wohl aber Kristalle von Uraten ge-
funden wurden. Die Nieren waren nicht schmerzhaft beim Druck.
Bei absoluter Bettruhe blieb die Hämaturie während 6 Wochen
fon, kehrte jedoch unmittelbar nach körperlicher Bewegung zurück.
Israel legte nun die Niere frei wegen seiner Diagnose Nierenstein.
An der Niere war auch nach dem Sektionsschnitt nichts Abnormales
zu sehen, nur bemerkte man eine geringe Erweiterung des Nieren-
beckens. Der auch an Aortainsuffizienz leidende Patient starb 35 Stunden
nach der Operation, und nun bemerkte man bei der durch Professor
Hansemann verrichteten mikroskopischen Untersuchung, daß in beiden
Nieren eine diffuse Nephritis bestand. Ohne diese mikroskopische
Untersuchung würde auch dieser Fall beschrieben sein als essentielle
Nierenblutung.
Israel gibt uns noch eine Serie von 14 solcher Fälle. Für uns
sind von diesen Fällen von besonderer Wichtigkeit die Fälle 2 und 4,
welche er nennt: „Fälle mit mangelnder mikroskopischer Untersuchung,
ohne makroskopisch nachweisbare Veränderungen im Nierenparenchym,
ohne chemische und mikroskopische Anomalien des Urins, ohne Lage-
veränderungen der Niere." In diesen beiden Fällen war nicht von
Hämaturie die Rede, wohl aber hatten die beiden Patienten Nieren-
koliken. Beim Fall 2 war keine einzige Nierenanomalie zu konsta-
tieren, außer einer sehr starken Verwachsung mit der Nierenkapsel.
Auf Grund dieser starken perirenalen Verwachsung betrachtet Israel
diesen Fall als ein Nierenleiden, welches wahrscheinlich seinen Ur-
sprung hatte in einer vorangegangenen Perityphilitis. Er betrachtet
1) Trauten roth, Lebensgefährliche Hämaturie als erstes Zeichen beginnen-
der Nierentuberkulose. Mitteilungen aus den Grenzb. d. Med. u. Chir. 1895.
2) Israel, Ober den Einfluß der Nierenspaltung auf akute und chronische
Krankheitsprozesse des Nierenparenchyms. Mitteilungen aus den Grenzgebieten
der Med. und Chir. 1900.
Klln. Vorträge, N. F. Nr. 502/03. (Chirurgie Nr. 147/48.) September 1908. 42
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576 P- J- ^^ BruTne Ploos van Amstel, [50
Fall 4 als eine Lokalisation in der Niere von einem bestehenden
rheumatischen Leiden. Hier bestand in der Tat schon seit 8 Jahren
Gelenkrheumatismus^ und traten die Nierenkoliken sowohl zu gleicher
Zeit mit den Gelenkschmerzen auf, als auch einzeln. Diese rheuma-
tische Form des Nierenleidens erinnert uns sehr an die durch Mab-
baux^) beschriebene „Hematurie goutteuse^^ Doch sind Israel und
Mabbaux sehr verschiedener Ansicht in ihren Erklärungen betreffs
dieser wahrgenommenen Lokalisation eines rheumatischen oder arthri-
tischen Prozesses. Während Israel meint, es mit einer Lokalisation
von rheumatischen Prozessen in der Niere zu tun zu haben, sagt
Mabbaux, daß die Hämaturie nicht verursacht wird von einem be-
stehenden Nierenleiden, sondern zu betrachten ist als das erste und
oft einzige Symptom von einem arthritischen Leiden. Der dadurch
entstandene größere Gehalt des Blutes an Uraten ist dann Ursache
einer Nierenkongestion, und diese wieder von Nierenblutungen.
Den ersten Fall von Israel betrachtet er auch als eine gichtische
Affektion der linken Niere. Israel jedoch diagnostiziert hier einen
chronischen entzündlichen Prozeß der Niere mit akuten schmerz-
erregenden Exazerbationen, ohne nachweisbare Veränderungen des Urins.
PeP) will diese Diagnose nicht anerkennen, ebensowenig die von
Fall 1, wie von Fall 4. Er ist ungefähr derselben Meinung wie Mab-
baux. Pel ist überzeugt, daß sehr kristallreicher Urin auch ohne
Anwesenheit von Nierenstein imstande ist, Koliken mit Ureterkrampf, so-
wie Blutungen und sonstige Symptome von Nierenstein zu verursachen.
Israel betrachtet seinen vierten Fall wie eine kongestiv-entzund-
liche Lokalisation der rheumatischen Erkrankung in der Niere mit
intrakapsulärer Spannungserhöhung. Pel ist hiermit nicht einver-
standen, sondern betrachtet diesen Fall wie Lithiasis, ohne Anwesen-
heit von Nierenstein, aber mit sehr kristallreichem Urin.
Gegen diese Behauptung von Pel ist folgende praktische Erwägung
zu stellen. Bei allen Patienten mit Nierenstein ist der Urin sehr
kristallreich. Somit müßten also nach Pel dann auch ohne daß ein
Stein in den Ureter gelangt, nur durch den Einfluß des kristallreicben,
saturierten Urins, Blutungen und Kolikschmerzen auftreten. Doch ist
dieses bis jetzt noch nicht mit Sicherheit zu konstatieren gewesen.
Bei Patienten, bei denen wirklich Nierensteine anwesend sind, sielit
man nie Blutungen und Kolikschmerzen auftreten, ohne daß ein
Stein den Ureter passiert. Nun ist es wohl wahr, daß nicht nacli
1) Mabbaux, De rbömaturie goutteuse.
2) Pel, Die Nierenentzündung (M. Brightii) vor dem Forum der Chirurgen.
Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Med. und Cbir. 1901.
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51] Hämaturie. 577
jedem Anfall von Nierensteinkolik ein Stein «bgesondert wird;
oft sind dazu mehrere Anfälle notwendig. Solange sich der Stein
dann nicht gezeigt hat, kann man die konstatierten Symptome
dem Einfluß des kristallreichen Urins zuschreiben, anstatt dem
des Steines. Doch welcher Nutzen resultiert daraus für den Pa-
tient? Dasselbe können wir jedoch auch fragen in den Fällen, wo
man nach einer genauen Untersuchung, auch mit den besten und
neuesten Hilfsmitteln der Wissenschaft, Nierenstein mit Sicherheit
auszuschließen vermeinte. Dann ist die Diagnose von der bestimmten
Form der Lithiasis, die Pelsche Lithiasis, Grund genug, mit ihm zu
sagen, daß hier keine Indikation zur Operation besteht. In einzelnen
Fällen soll dadurch der Patient einer hinterher unnötigen Operation
entgehen, doch in wievielen Fällen wird wohl die nötige Operation
dadurch versäumt oder zu spät verrichtet werden? Zunächst müssen
wir auch nicht vergessen, daß die Diagnose der Pe Ischen Lithiasis
auf dasselbe herauskommt, wie die Diagnose essentielle Hämaturie,
nämlich einen Namen geben einer uns dunklen Krankheit.
Auch Morris 1) bespricht diese Streitfrage, wenn er abhandelt:
Lithiasis and nephralgia due to functional derangement of the urine.
Er sagt darüber: „There is a great resemblance between the Symptoms
of renal calculus and those of hyper-acid urine. There is no more
certain cause of pain in the loins, of frequent micturition, and even
of a slight amount of pus or blood in the urine, than very acid urine,
and urine overcharged with uric acid or calcium Oxalate crystals.*^
Demnach sollen also keine organischen Nierenveränderungen ent-
stehen, aber jedoch würden Fieber, Hämaturie und Pus in dem Urin,
selbst während eines Zeitraums von 1 — 2 Jahren, möglich sein. Hier-
bei können sich auch mehr oder weniger heftige Schmerzen in den
Lenden einstellen. Israel hat diese Behauptung von Pel im voraus
beantwortet. Israel macht uns darauf aufmerksam, daß in den Fällen
von Morris die Hämaturie stets wenig heftig war, daß dagegen Ei-
weiß im Urin ein konstantes Symptom war, und daß Morris sagt,
daß niemals „actual or permanent degeneration of the renal tissues^^
zu konstatieren war, während in seinen mikroskopisch untersuchten
Fällen wohl Nephritis gefunden war. Auch ist noch ein Argument
gegen die Behauptung von Pel, daß die Hämaturie und die Schmerzen
stets einseitig vorkommen, was unbegreiflich ist, wenn der Einfluß,
welcher davon die Ursache ist, der kristallreiche Urin auf beiden
Nieren stets ähnlich einwirkt.
1) Morris, Surgical diseases of the kidney and urpter including injuries mal«
formations and misplacements. 1901.
42»
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578 ^' h de Bruine Ploos van Amstel, [52
Aber man kann auch sagen, daß, wenn in der Tat diese Pelsche
Litbiasis Hämaturie und Nierenkoliken verursachen kann, auch das
Vorkommen von essentieller Hämaturie, von den Klempererscheo
Nierenblutungen aus gesunden Nieren eine Tatsache ist.
Pel selbst macht nicht diese natürliche Folgerung seiner Theorie.
Im Gegenteil mißtraut Pel dieser Form der Hämaturie. Mit ihm
sind wohl die meisten Mediziner der Ansicht, daß, falls diese Häma-
turie wirklich vorkommt, sie doch äußerst selten ist.
Das Urteil von Dsirne^) ist: «Nach genauem Studium der Literatur
bleiben nur wenige Fälle zurück, die diesen Formen entsprechen/
Auch Albarran^) ist sehr mißtrauisch gegenüber den beschriebeneo
Fällen von N6phralgies h6maturiques, und von Blutungen aus gesun-
den Nieren. Er will keinen einzigen Fall anerkennen, wobei keine
mikroskopische Untersuchung der Niere stattfand.
Noch eine Einwendung gegen die Pelsche Theorie ist, daß wenn
wirklich ein erhöhter Gehalt des Urins an Uraten und Oxalaten
Ursache wäre von Nierenblutungen aus gesunden Nieren, dann würden
diese Blutungen, besonders da ihnen so viel Aufmerksamkeit gewidmet
wird, viel mehr wahrgenommen werden.
Pel macht, hinsichtlich der Mitteilungen von Israel die Bemer-
kung, daß es unbegreiflich ist, daß diese Nierenblutungen mit Erfolg
bekämpft sind mit so verschiedenartigen Eingriffen, wie das Freilegen
der Niere, der Sektionsschnitt usw. Wir haben schon gesehen, dafi
diese Eingriffe nicht so abweichend sind in ihrem Einfluß auf das
Nierengewebe, denn durch alle diese Operationen wird die Spannung
des Nierengewebes vermindert. Aber man kann auch Pel die Frage
stellen, warum diese verschiedenen Eingriffe Erfolg haben können,
wenn man die Pelsche Lithiasis als Ursache der Blutungen betrachtet.
Pel wünscht, daß man in den Fällen von Pelscher Lithiasis nicht
zur Operation schreitet. Wir haben gesehen, daß dadurch vielleicht
eine notwendige Operation versäumt wird, aber doch kann man sich
der Ansicht Pels anschließen, wenn man den Rat von Morris dabei
befolgt.
Morris 3) sagt hierüber: «The diagnosis in such cases will be
cleared up by the improvement which fpllows upon alkaline treatment
or a course of piperazine. The citrate or tartrate of potash or soda,
1) Dsirne, Beitrag zur Frage der Nephrolithiasis, der Hydro- und Pyonephrose.
Monatsberichte für Urologie 1902.
2) Albarran, Diagnostic des h^maturies renales. Ann. des maladies des or-
ganes gönito-urinaires 189S,
3) Morris y Surgical diseases of the kidney and Ureter.
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53] Himaturie. 579
given every four hours during che day, neutraüses che acidity of the
urine as it is secreted, and thus the cause of the Symptoms disappears,
and with it the Symptoms themselves.''
In den Fällen von Pelscher Lithiasis kann man also» wie Pel es
will, nicht sofort operieren, aber erst einige Tage die Behandlung
von Morris probieren. Hat diese in kurzer Zeit keinen Erfolg, dann
gehe man bald zur Operation über.
Dsirne steht nicht allein mit seiner Meinung hinsichtlich der
Blutungen aus gesunden Nieren. So sagt z.B. Suter^): „Die essen-
tielle Hämaturie hat vor wenigen Jahren als ein bestehendes, wohl-
abgegrenztes Krankheitsbild noch eine bedeutende Rolle gespielt. Heute
sind sichere, nicht nur klinisch sondern auch pathologisch-anatomisch
konstatierte Fälle extrem selten.'' Auch Malherbe und Legueur^)
sind dieser Meinung, nur glauben sie, daß diese Fälle auch nicht
extrem selten, sondern niemals vorkommen. Ihre Konklusion war:
„II n'y a pas d'h^maturie essentielle. Toutes les hematuries sont
symptomatiques, et rel^vent d'une cause g6n6rale (toxique ou infecti-
euse) ou d'une aifection locale."^
Suter teilt uns einen sehr interessanten Fall mit, wobei klinisch
nur einseitige renale Hämaturie konstatiert wurde. Bei der Operation
schien die Niere makroskopisch normal zu sein. Wäre dieselbe also
nicht exstirpiert, sondern reponiert, dann wäre auch dieser Fall dia-
gnostiziert als essentielle Hämaturie, oder Nierenblutung aus gesunden
Nieren. Bei der Untersuchung bemerkte man jedoch, daO das Nieren-
becken krank war, besonders in der Umgebung der UreteröfFnung.
Bei der mikroskopischen Untersuchung zeigte es sich, daO die Dia-
gnose Angiomen, oder angiomatöse Entartung der Blasenschleimhaut
war. Wie Suter uns mitteilt, ist in der Literatur nur sehr wenig
betreffs dieser Läsion zu finden. Nur Fenwick^) beschreibt zwei
derartige Fälle. Der erste seiner Patienten litt schon seit 5 Jahren
an linksseitiger intermittierender Nierenblutung. Bei der Operation
fand er im Nierenbecken, daO eine der Papillen umgeben war von
einem Bündel Gefäße. Diese Papille wurde exstirpiert, mit dem Er-
folg, daß der Patient geheilt war von seiner Hämaturie. Fenwick
erzählt von der Untersuchung der exstirpierten Papille, daß hier nicht,
wie er gedacht hatte, ein Papillom anwesend gewesen sei, »but that
the vessels of the mucous membrane clothing the papilla were mark-
1) Suter, Ober einseitige renale Hämaturie bedingt durch Teleangiektasien des
Nierenbeckens. Zentralbl. für die Krankheiten der Harn- und Sexualorgane 1902.
2) Malherbe et Leg ueur, II n'y a pas d'h6maturie essentielle. Quatrifeme
Session de Tassociatlon fran9aise d'urologie. Paris 1900.
3) Fenwick, Renal papillectomy. British Medical Journal 1900.
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580 P* J* de Bruine PIoos van Amstel, [54
edly varicosed. There was no evidence of growth, but there was a
congestion of the vesseis with extravasation of blood and an increase
in the cellular stroma. This might be an early stage of a fibro-
matous condition, such as is not uncommon in the tips of the pa-
pillär«
Bei der zweiten 30jährigen Patientin, welche schon seit 14 Tagen
an heftigen Nierenblutungen litt, fand Fenwick in dem eröffneten
Nierenbecken, daß die Spitze einer Papille rot und varicös war.
Auch hier wurde diese Papille mit gutem Erfolg für den Patient ex-
stirpiert. Hierüber sagt er: „The vesseis in this part of the kidney
are distended with blood, and there is some extravasation.''
Diese Diagnose ist niemals zu stellen ohne Eröffnung des Nieren-
beckens. Je nach der Ausbreitung des Prozesses kann man die Niere
exstirpieren, oder nach Fenwick nur die kranke Papille entfernen.
Debersaques^) teilt uns noch einen Fall von essentieller Häma-
turie mit. Sein Patient, ein 38jähriger Mann, der nie zuvor krank war,
hatte schon seit 20 Jahren Schmerzen in der linken Nierengegend, und
seit 8 Jahren auch Anfälle von Hämaturie, und einmal auch eine
Nierenkolik. Wegen der großen Abmagerung des Patienten wurde
Operation beschlossen. Die Niere wurde freigelegt, zeigte sich
aber auch beim Sektionsschnitt, und bei Akupunktur vollkommen
normal und wurde deshalb wieder reponiert. Nach der Operation
blieben die Schmerzen und Blutungen während 3 Monaten fort Daß
dieser Fall ohne mikroskopische Untersuchung des Nierengewebes
nicht viel Wert für uns hat, als Beweis für das Bestehen der essen-
tiellen Nierenblutungen, spricht wohl von selbst.
Ebensowenig Wert für uns hat die durch Comby*) gestellte Dia-
gnose in einem, von ihm beschriebenen Fall von Hämaturie.
Bei einem 5jährigen Mädchen trat Hämaturie auf, welche nach
3 Wochen Bettruhe und Milchdiät wieder verschwand. Da bei seiner
Patientin andere Ursachen fehlten, und dieselbe behandelt war mit
Karbolinjektionen im Ohr, sollte nun, wie Comby dachte, der Karbol
wohl schuld haben an der Hämaturie. Auch Nitze äußert sich als
ein großer Gegner des Begriffes essentieller Hämaturie, als er bei
der Diskussion über den Vortrag von Klemperer sagte: „Es ist doch
eine sonderbare Gesundheit eines Organs, wenn aus demselben eine
1) Debersaques, Un cas d'h6maturie renale essentieUe. Nephrotomie.
Gu6rison. Annales de la Soci6t6 Beige de Chirurgie 1808.
2) Comby, Dangers du ph6nol chez l'enfant; h6maturie proyoqu6e ptr des
irrigations ph^niquöes de roreille cbez une fillette od cinq ans. Soci6t6 M^dicale
des Höpitaux 1808.
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55] Hämaturie. 581
tödliche oder wenigstens gefahrdrohende zur höchsten Anämie fähren-
de Blutung erfolgt/'
Solch ein Fall von tödlicher Hämaturie ohne bekannte Ursache
teilt Spencer 0 uns mit. Das Hauptsymptom war: increasing hae-
maturia, wogegen nichts, auch nicht die Infusion, etwas vermochte.
Auch die Sektion gab keine Erklärung von den Ursachen der tödlichen
Hämaturie.
Auch verurteilte Nitze den Begriff essentielle Hämaturie, als er
sagte: „Zurzeit ist für mich kein Unterschied in der Symptomatologie
eines Tumors und Fälle von essentieller Hämaturie. Beide bluten
oft kolossal, bei beiden pflegen die Kranken keinerlei Beschwerden
zu haben; kurz die Symptomatologie ist völlig die gleiche und wird
ganz durch die Blutung beherrscht.'
Auch Nitze muO daher bei jeder einigermaßen langdauernden
Hämaturie mit uns der Meinung sein, daß Freilegen der Nieren eine
Notwendigkeit ist. Mit großem Mißtrauen muß sicher auch die even-
tuelle Diagnose hysterische Hämaturie begrüßt werden. Solche zwei-
felhafte Fälle sind u. a. beschrieben von Guisy^).
Harris») beschreibt 2 Fälle von Hämaturie, wobei man keine
Ursache derselben finden konnte, und welche man deshalb auch wohl
zur hysterischen Hämaturie zählen konnte. Er sammelte noch 16 der-
artige Fälle aus der Literatur, auch um zu beweisen, daß in solchen
Fällen die Nephrotomie stets Erfolg hat und daher man sich niemals
für Nephrektomie entscheiden darf.
Hämaturie bei Nephritis.
Daß der Urin bei Nephritis Blut enthalten kann, war schon lange
bekannt. Wir denken hierbei nicht an die chronische hämorrhagische
Nephritis, von welcher PeH) sagt: »Nebst der Anwesenheit von Ödemen
und von mäßiger Hypertrophia cordis bildet hier der fast fortwährend
stark, wohl immer schon mit unbewaffnetem Auge wahrnehmbar hä-
morrhagische Harn das klinische Kriterium.*^
Bei den nephritischen Zuständen, welche wir im Auge haben,
fehlen Ödeme und Herzhypertrophie beinahe immer.
1) Spencer, Fatal hematuria of unknown origin. Clinical Society of London.
The British Medical Journal 1904.
2) Guisy, Trois cas d'h6maturie hystörique. Annales des maladles des orga-
nes g6nito-urinaires 1001.
3) Harris» Renal hsematuria without known lesions. Philadelphia medical
Journal 1898.
4) Pely Die akute und chronische Nierenentzündung. (Morbus Brightii.)
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582 ^* J' de BruTne Ploos van Amstel, [56
Wir haben es dann mit dem zu tun, was Naunyn^) nennt: Massen-
blutung aus den Nieren bei Nepliritis.
Sobald wir in der Literatur über diesen Gegenstand nachschlagen,
so stoßen wir immer wieder auf den großen Mann der Nierenchirur-
gie J. IsraeP).
Letzterer hat der Wissenschaft nicht allein auf dem Gebiete der
Nierenchirurgie enorme Dienste geleistet, sondern er hat uns auch
über diesen Gegenstand Klarheit gebracht.
Israel hat dabei auch bewiesen, daß Nephritis einseitig vorkommt.
Dennoch war er in dieser Hinsicht nicht der erste, sondern war
uns eine Mitteilung betreffs der unilateralen Nephritis mit Hämaturie
schon im Jahre 1897 durch de Keersmaeclier^) gemacht.
Die Patientin von de Keersmaecker, eine 43jährige Frau, be-
merkte im Dezember 1894 zuerst Blut in ihrem Urin, und zwar zu-
nächst in der Form von langgestreckten Fäden geronnenen Blutes.
Danach dauerte die Hämaturie ohne Unterbrechung fort, de Keers-
maecker diagnostizierte erst Zystitis, kompliziert mit Hämaturie ohne
bekannte Grundlage. Die zystoskopische Untersuchung der Blase er-
gab jedoch, daß dieselbe gesund war. Mit einem für diesen Fall neu
konstruierten Ureterendoskop konstatierte er, daß der Urin, welcher
von der linken Niere stammte, Blut enthielt, während der aus der
rechten Niere frei von Blut war.
Die Hämaturie dauerte ungefähr 3 Jahre, und dann entschloß de
Keersmaecker sich zur Nephrektomie. Bei der mikroskopischen
Untersuchung der exstirpierten Niere ergab sich, daß diese nephri-
tisch erkrankt war.
Die Blutung war in diesem Falle eine sehr heftige. Lecorche
und Talamon^) glauben, daß Hämaturie bei Nephritis nie heftig sein
könne; dieser Fall beweist, daß diese Ansicht fehlerhaft ist.
Bei der Diskussion über diesen Fall, sagte de Keersmaecker
sehr richtig, daß unrechterweise unter den Ursachen der Haematuria
renalis die Nephritis nicht genannt wird. Er im Gegenteil glaubt,
daß sie in den meisten Fällen die Hauptursache ist, und das nun
beobachtete unilaterale Auftreten der Nephritis sollte viele Bedenken
gegen diese Auffassung eliminieren. Depage ist nicht von derselben
1) Naunyn, Hämaturie aus normalen Nieren und bei Nephritis. Mitteiluogeo
aus den Grenzgebieten der Med. und Chir. 1900.
2) Israel, Über den Einfluß der Nierenspaltung auf akute und chronische
Krankheitsprozesse des Nierenparenchyms. Mitt. usw. 1900.
3) de Keersmaecker, N6phrite chronique unilaterale avec h6maturie con-
tinue pendant deux ans et demi. Annales de la Soci6t6 Beige de Chirurgie 1807.
4) Lecorche etTalamon, Traitd de l'albuminurie.
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57] Hämaturie. 583
Ansiebt, daß die Nephritis unilateral sein wurde, weil der eiweißfreie
Urin der anderen Niere kein entscheidender Beweis ist für das In-
taktsein der anderen Niere.
Debaissieux, Daudois,Lambotte und Gallet brachen in dieser
Diskussion noch eine Lanze für die essentielle Hämaturie, deren
Dasein durch die Mitteilungen von de Keersmaecker ernstlich in
Zweifel gebracht wurde*
Debaissieux beobachtete einen Fall von »hematurie r6nale essen-
tielle'', wobei er die Niere vollkommen normal befand. Nur konsta-
tierte er zwei kleine Knoten auf der Schleimhaut des Nierenbeckens.
Man ist jedoch nicht berechtigt, eine solche Niere vollkommen normal
zu nennen. Sehr wahrscheinlich ist es wohl, daß diese stecknadel-
kopfgroßen Knoten Tuberkel waren. Allein auch vor de Keers-
maecker hat CrookeO derartige Fälle von »Unilateral interstitional
Nephritis" beschrieben.
In den Fällen von Crooke war die Ursache Druck auf den Ureter,
und mikroskopisch fand er Läsionen »being histologically analogous,
if not identical, with the changes found in that form of disease known
as granulär contracting kidney"*. In dem einen Fall war es eine Zyste,
die bei einem 16jährigen Mädchen Druck verursachte, in dem andern
ein Sarkom, das auf den linken Ureter Druck ausübte. In beiden
Fällen, sagt Crooke, war die Niere an der anderen Seite „natural*.
In der Diskussion über diese Mitteilungen s^gte Carter, daß er
einen ähnlichen Fall beobachtet hatte. In diesem Fall war es ein
Aneurysma, das auf eine Niere Druck ausübte. Doran teilte dann mit,
daß er eine Anzahl solcher Fälle gesehen habe.
Wie interessant die Mitteilung von Crooke auch ist, und wie sehr
sie uns sicher eine Stütze sein kann für die Behauptung von Israel,
daß einseitige Nephritis vorkommt, so ist doch der hier beschriebene
Zustand so ganz anders, als der von den Fällen Israels, um die bei-
den auf eine Stufe zu stellen.
Senator^) protestiert gegen die Behauptung von Israel, daß ein-
seitige Nephritis möglich wäre. Er äußert sich darüber so positiv
wie möglich, indem er sagt: „Einen einseitigen Morbus Brightii gibt es
nicht, es müßte denn nur eine Niere vorhanden sein."^
Senator ist dabei gegen die Annahme, daß Nephritis die Ursache
von Hämaturie sein soll, in Fällen, wenn nur einzelne kleine Herde
1) Crooke, Unilateral interstitional Nephritis. Patbological Society of London.
The Lancet 1880.
2) Senator, Nierenkolik, Nierenblutung und Nephritis. Deutsche med.
Wochenschr. 1902.
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584 ^« J* de BruTne Ploos van Amstel, [53
in der exstirpierten Niere gefunden wurden. Als Beispiel nennt er
seinen durch uns zitierten Fall von renaler Hämophilie, der durch
verschiedene Schriftsteller auf Grund der milLrosliopischen Unter-
suchung von Prof. O. Israel als ein nephritischer Prozeß betrachtet
wurde. Als Beweis teilt er uns in einer Anmerkung mit, daß be-
wußte Dame seit 12 Jahren total gesund und frei von Hämaturie ist.
Diese Gesundheit spricht jedoch mehr für die frühere Anwesenheit
eines nephritischen Prozesses, als für die einer Allgemeinerkrankung,
wie die Hämophilie.
IsraeP) sagt: ,,Wenn es somit feststeht , daß Einseitigkeit der
Symptome kein Beweis für die Beschränkung der Erkrankung auf eine
Niere ist, so darf man doch bei den Fällen, welche nach einseitiger
Operation vollständig geheilt sind, annehmen, daß auch der Prozeß
wirklich nur eine Seite betroffen hat.*
Diese sehr deutlichen Worte dulden nicht viel Widerspruch, wenig-
stens, wenn man an einer Niere das Bestehen eines nephritischen
Prozesses konstatiert hat. Weniger fest steht der Fall jedoch, wenn
man die Ansicht Senators teilt, daß die Nephritis nur ein Symptom
ist von einer Allgemeinerkrankung, m. a. W. mit ihm glaubt, daß die
Nierenblutung ein Symptom einer Hämophilie ist.
Natürlich beantwortete Israel die obengenannten durch Senator
geäußerten Bemerkungen.
Israel gibt allein zu, daß, weil Morbus Brightii nun einmal der
historische Name für doppelseitige Nierenentzündung ist, ein ein-
seitiger Morbus Brightii auch nicht existieren kann. Doch sehr richtig
bemerkt er: „Damit soll aber nicht präjudiziert werden, daß nicht die
anatomischen Veränderungen einseitiger Nierenaifektionen identisch
sein können mit denen der doppelseitigen Brightschen Krankheit.'^
Zum Beweis von dieser Behauptung zitiert Israel einzelne Fälle
aus der Literatur. An erster Stelle nennt er uns einen Fall von
Rayer^. In diesem Falle starb ein 26jähriger Mann, nachdem er
3 Monate an Hämaturie gelitten hatte. Bei der Sektion fand man
eine chronische Nephritis in der linken Niere, während die rechte
Niere sich als normal erwies. Da hier jedoch die mikroskopische
Untersuchung fehlt, so kann man diesen Fall nicht als Beweis an-
erkennen.
1) Israel, Über den Einfluß der Nierenspaltung auf akute und chronische
Krankheitsprozesse des Nierenparenchyms. Mitteilungen usw. 1900. Nierenkolik,
Nierenblutung und Nephritis. Deutsche med. Wochenschr. 19Q2.
2) Ray er, Trait^ des maladies des reins. Paris 1S41.
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59] HSmaturie. 585
Auch nennt Israel noch den schon zitierten Fall von de Keers-
maecker; dann solche von Rovsing^), Pousson^ und Hofbauer').
In diesen vier Fällen hat man in der Tat zu tun mit einer inter-
stitiellen Nephritis mit ,,Massenblutung'S wobei nach Nephrektomie
der kranken Niere der Patient sich vollkommen genesen zeigte» und
der Urin kein Eiweiß oder Zylinder mehr enthielt. Doch kann man
erwidern, daß die Nephritis verlaufen kann, ohne daß Eiweiß oder
Zylinder in dem Urin gefunden werden, die Abwesenheit derselben
nicht das Recht gibt, zu konkludieren, daß die nicht exstirpierte Niere
gesund ist.
Senator sagt, daß bei Nephritis Eiweiß und Zylinder nicht an-
wesend zu sein brauchen, und daß diese Tatsache schon von Bright
bekannt war, und daß sie bestätigt ist von Bartels und v. Cassel.
Vielleicht kann man auch den Fall von Dorst^) hier nennen.
Dorst ist mit uns der gleichen Ansicht, daß die sog. essentielle
Hämaturie nur als ein Symptom zu betrachten ist und zwar als ein
Symptom von chronischer Nephritis. In seinem Fall von scheinbar
essentieller Hämaturie zeigte sich bei der mikroskopischen Unter-
suchung des entfernten Nierengewebes, daß eine Glomerulonephritis
bestand. Später zeigte sich, daß der Urin kein Eiweiß und Zylinder
mehr enthielt, so daß es sehr wahrscheinlich ist, daß die nephritische
Niere durch den Einfluß des Sektionsschnittes genesen sei, und daß
die andere Niere gesund war und blieb. Jedoch haben wir auch hier
dieselbe Bemerkung, daß die Abwesenheit von Eiweiß und Zylinder
nichts beweist betreffs der Gesundheit der Niere. Dasselbe gilt auch
für den von Nicolich s) beobachteten Fall.
In diesem Fall wurde die Niere exstirpiert und von den Histologen
in Wien als normal erklärt; erst eine spätere Untersuchung in dem
Hospital Necker von Albarran und Motz zeigte das Bestehen einer
Glomerulonephritis.
1) Rovsing, Ober unilaterale Hämaturie zweifelhaften Ursprungs und ihre
Heilung durch Nephrotomie. Zentralbl. für die Krankheiten der Harn- und Sexual-
organe 1898.
2) Pousson^De l'intervention chirurgicale dans les n6phrites m6dicales. Annales
des maladies des organes g^nito-urinaires 1902.
3) Hof bau er, Ein Fall von 2 jähriger unilateraler Nierenblutung. Mitt. aus den
Grenzgebieten der Med. und Chir. 1900.
4) Dorst, Een geval van pseudo-essentieele haematurie. Ned. Tijdschrift voor
Geneeskunde 1902.
5) Nicolich, Sur un cas de n6phrite h6morrhagique unilaterale. Comptes
rendus de TAssociation francaise d'urologie 1901.
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586 P- J- de BruTne Ploos van Amstel, [60
Auch Edebohi^) ist der Ansicht, daO eine unilaterale Nephritis
möglich ist. Er hat 18 Fälle von Nephritis ausfuhrlich beschrieben,
und nur in 9 dieser Fälle waren beide Nieren erkrankt. In 4 Fällen
war nur die linke , in 4 anderen Fällen nur die rechte Niere er-
krankt.
Edebohl war nicht erstaun t, als er diese unilaterale Nephritis
konstatierte. Wohl ist man daran gewöhnt, daß Nephritis fast immer
beiderseitig vorkommt, aber das wahrscheinlichste ist doch, daß im
allerersten Anfang der Krankheit nur eine der Nieren angegriffen ist.
Die gesunde Niere, oder besser das gesunde Nierengewebe ver-
richtet dann auch die Arbeit für die erkrankten Teile. Die Krank-
heitsursache wirkt aber auch ein auf die bisher gesunde Niere, und
in den meisten Fällen wird auch die zweite Niere krank, nur etwas
später als die erst erkrankte Niere. Wenn man nephritische Nieren
bei der Sektion beobachtet, dann findet man immer beide Nieren er-
krankt, aber man muß nicht vergessen, daß man Nephritis im Anfang
der Krankheit niemals zur Sektion bekommt; bei der Sektion sieht
man nur weiter fortgeschrittene Fälle.
Edebohl meint, daß er durch seine große praktische Erfahrung
imstande sei, makroskopisch konstatieren zu können, ob eine Nephritis
anwesend ist oder nicht. Wie groß nun auch seine Erfahrung sein
mag, so wird doch mancher, und mit Recht, an der Richtigkeit dieser
allein makroskopisch gestellten Diagnose zweifeln. Die Schwierigkeit
solch einer Diagnose wird illustriert durch den zitierten Fall von
Nicolich.
In der Tat, Männern, wiePousson und Albarran, ist es passiert,
daß eine von ihnen bei makroskopischer Untersuchung für gesund
gehaltene Niere bei der mikroskopischen Untersuchung sich als krank
erwies.
Edebohl, obgleich voll Vertrauen zu seiner Diagnose, fuhh sich
doch scheinbar nicht ganz sicher, wenigstens sagt er:
»In six of the eight cases in which chronic Bright's disease is
recorded as unilateral, the healthy condition of the other kidney was
verified at Operation, when both kidneys were brought out of the
wound for careful and critical examination. It cannot be denied that,
in some instances at least microscopical examination of a kidney
classed as healthy might have revealed evidences of incipient changes
of an inflammatory character; to the unaided sight however, and to
the touch, the organ was healthy."*
1) Edebohl, The eure of chronic Brights disease by Operation. Medical
Record 1001.
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61] Hämaturie. 587
Später gibt Edebohli) uns noch 72 Historiae morbi. Im ganzen
konstatierte er in 11 Fällen unilaterale Nephritis. Er sagt: »That the
diagnosis of chronic nephritis affecting one kidney only was made in
each case upon the signs and cbaracteristics presented upon inspec-
tion and palpation of the kidney at Operation; that it is not without
the pale of possibility that one or other kidney normal to sight and
touch might on microscopic examination have presented evidences of
slight or incipient inflammation.'
Die Unterstützung, die Israel also von Edebohl erhält» ist allein
von moralischem Werte, und als solche hat sie, in bezug auf die sehr
großen Erfahrungen und Verdienste von Edebohl, für uns sehr große
Bedeutung, ist aber nicht imstande, die Gegner, wie Senator, zu ent-
waffnen.
IsraeP) selbst gibt die von Edebohl gemachten Bedenken zu, in-
dem er sagt: „Der strikte Beweis der Einseitigkeit kann, streng ge-
nommen, nur durch die Sektion geführt werden/^
Mit dieser Erkenntnis fällt nicht die große Wahrscheinlichkeit, wohl
aber die Sicherheit, daß die so talentvoll gemachten Konklusionen von
Israel richtig sind.
Israel behauptete: „Es gibt einseitige Nephritiden.^^ Zum Glück
jedoch hat er lange nach der Diskussion mit Senator von Stich^)
den Beweis empfangen, daß seine These richtig sei.
Stich hat diesen Beweis geliefert mit der Beschreibung von einem
von ihm beobachteten Fall von einseitiger chronischer diffuser Nephritis
mit enormer Hämaturie.
Die Patientin von Stich, eine 30jährige Frau, erkrankte im März
1901 mit Symptomen von Hämaturie, wozu sich 2 Tage später
heftige Schmerzen in der rechten Nierengegend gesellten. Zystosko-
pische Untersuchung war unmöglich, da nach Ausspülungen der Blase
mit 8 1 1 %iger Borsäure die wegfließende Flüssigkeit stets rot gefärbt
blieb. Nach einigen Tagen kam allerdings ein Blutkoagulum zum Vor-
schein, das ein getreuer Abguß des Nierenbeckens und Ureters war,
so dal! die Tatsache, daß man mit einer Nierenblutung zu tun hatte,
1) Edebohl, The histories of seventy-two patients operated upon by the autor
for chronic Bright's disease up to the end of the year 1903. The surgical treatment
of Bright's disease 1904; Questions of priority in the surgical treatment of chronic
Bright's disease. Medical Record 1902; Renal decapsulation for chronic Bright's
disease. Medical Record 1903.
2) Israel, Nierenkolik, Nierenblutung und Nephritis. Deutsche med. Wochenschr.
1902.
3) Stich, Ober Massenblutungen aus gesunden und kranken Nieren. Mitt. aus
den Grenzgebieten der Med. und Chir. 1904.
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588 P- J- (ie Brulne Ploos van Amstel, * [52
allein dadurch schon feststand. Am 6. April starb die Patientin. Bei
der Sektion konstatierte man eine doppelseitige akute Pyelonephritis.
Die rechte Niere dagegen bot, abgesehen von diesen akuten Verände-
rungen^ das ausgesprochene Bild einer chronischen parenchymatösen
Nephritis.
Natürlich stehen diese Veränderungen nicht im kausalen Verband
mit den Abszessen , die in beiden Nieren gefunden wurden, infolge
des akuten Prozesses.
Castaigne und Rathery teilen auch einzelne Fälle von einseitiger
Nephritis in der Semaine Af6dicale 1902 mit, doch ihre drei Beob-
achtungen betrafen eiternde Nephritis, so daß sie nicht mit dem Fall
von Stich zu vergleichen sind. In der Tat ist der Fall von Stich
ein Unikum, jedoch der Name Stich, ein bekannter ernster Unter-
sucher, genügt, um ihn als Wahrheit zu betrachten. Ich habe in der
Literatur vergebens nach einem zweiten gleich beweiskräftigen Fall
gesucht, doch dieser eine macht die Konklusion von Israel, trotz der
Bekämpfung von Männern wie Senator, glaubwürdig.
Während ihres Lebens war bei der Patientin von Stich die chro-
nische Nephritis nicht zu diagnostizieren, da alle typischen Symptome
davon fehlten. Daß die gefundenen chronischen Veränderungen hier
nicht eine Folge waren von dem Übergang des akuten Prozesses in
einen chronischen Zustand^ ist schon daraus deutlich, daß die ganze
Krankheit der Frau nur 3 Wochen gedauert hatte.
Alle anderen möglichen Ursachen für die Nierenblutung und Nieren-
kolik waren hier, wie Stich mitteilt, auszuschließen. Vollkommen
richtig macht Stich daher diese Folgerung. In der großen Mehrzahl
der Fälle soll Morbus Brightii bilateral sein, aber sicher ist es, daß es
Fälle gibt, die, klinisch durch Hämaturie und Koliken ausgezeichnet,
anatomisch auf der kranken Seite das Bild einer diffusen chronischen,
parenchymatösen und interstitiellen Nephritis darbieten, während die
andere Niere normal ist.
Mit dieser Bestätigung von Stich ist also die geniale Arbeit von
Israel als eine neue Tatsache zu betrachten; wir Mediziner wissen
nun alle, daß es unzweifelbar einseitige Nephritis gibt.
Wenn wir langdauernde einseitige Hämaturie beobachteten, so wurde
früher nicht an Nephritis gedacht, sowohl weil Massenblutungen nur
äußerst selten dabei vorkamen und auch weil die Einseitigkeit der
Symptome ein wichtiges Argument gegen diese Diagnose war. Doch
dank Stich und vor allem dank der scharfen Beobachtung von Israel
wissen wir jetzt besser. Die sechste These von Israel ist; „Es gibt
Nephritiden mit anfallsweise auftretenden profusen Blutungen.' Senator
sagt betreffs dieser Mitteilung, daß sie zwar richtig, aber schon lange
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63] HSmaturie. 589
bekannt war. Richtig sagt Israel, daß einem so belesenen Manne
wie Senator wohl alles bekannt sein wird, was in der Literatur zu
finden ist, aber daß diese These gewiß der großen Mehrzahl der
Mediziner neu sein wird. Israel erinnert uns dabei an das berühmte
Lehrbuch von Rosenstein, worin man findet: „Fast niemals aber ist
in den chronischen Formen (der diffusen Nephritis) so viel Blut bei-
gemengt, daß der Urin tiefrot wird, meist zeigt er auch dann nur
Fleischwasserfarbe.*^
Auch in dem Lehrbuche von Pel: »Die akute und chronische
Nierenentzündung (Morbus Brightii)' wird das intermittierende Auftreten
von profusen Nierenblutungen nicht erwähnt. Pel sagt über die
chronisch diffuse Nephritis, daß die hämorrhagische Form zu erkennen
ist an dem fast fortwährend stark hämorrhagischen Harn.
Obwohl Senator zugibt, daß bei Nephritis Blutungen vorkommen
können, so will er doch nicht die Nephritis als Ursache der Hämaturie
betrachten, weil diese notfalls auch andere Ursachen haben könnte.
Als Beweis hierfür bezieht Senator sich auf den bekannten Fall
von Braatz^. Braatz legte eine Niere frei wegen Nephralgie, ver-
richtete auch den Sektionsschnitt und reponierte dann wieder die Niere,
weil es sich zeigte, daß diese Niere normal war. 3 Jahre später
exstirpierte er diese Niere, da die erst verschwundene Nephralgie
zurückgekehrt war. An dieser Niere konnte er nun einen tuberkulösen
Abszeß konstatieren, sowie tuberkulöse Eruptionen. Außerdem fand
er aber auch einen alten, schon geheilten tuberkulösen Herd, der wahr-
scheinlich die Ursache war der früheren Nephralgie. Nun könnte man
Senators Worte zitieren: „Dies ist gleichfalls richtig, aber gleichfalls
bekannt."
Wir wissen doch schon lange, daß es sehr wohl möglich ist, bei
der makroskopischen, ja selbst bei der mikroskopischen Untersuchung
eines Teiles des Nierengewebes, daß eine Nephritis nicht bemerkt
wird. . Senator erkennt den kausalen Verband zwischen Nephritis
und Hämaturie und doch will er die letztere zuschreiben einer un-
bekannten Ursache, auch in Fällen, wobei eine Nephritis konstatiert
ist. Damit kann gewiß niemand einverstanden sein.
Durch die Untersuchungen von Israel haben die Begriffe essen-
tielle und angioneurotische Hämaturie, sowie renale Hämophilie keinen
praktischen, sondern nur einen historischen Wert. Sehr richtig doch
sagt Israel, daß, wenn Senator leugnet, daß die negative mikrosko-
pische Untersuchung eines ausgeschnittenen Stückes Nierengewebes
1) Braatz, Ober operative Spaltung der Niere. Deutsche med. Wochenscbr.
1900.
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500 ^' J' <le BruTne Ploos van Amstel, [64
das Recht gibt, zu konkludieren, daß die nephritischen Veränderungen
in einem anderen Teil der Niere anwesend sind, diesen negativen
Resultaten der Untersuchung gewiß nicht das Recht gibt, die ganze
Niere für normal zu erklären.
Die ferneren Folgerungen von Israel sind:
Es gibt durch Nephritis erzeugte Nierenkoliken, welche Nieren-
steinkoliken gleichen.
Es gibt doppelseitige Nephritiden, welche nur einseitige Kolik er-
zeugen. Ein solcher Fall ist mitgeteilt von Martens^) in der Freien
Vereinigung der Chirurgen Berlins.
Es gibt schwere Nephritiden mit eiweißfreiem Urin und Abwesen-
heit von Zylindern.
Trotz großen Reichtums an hyalinen, gekörnten und epithelialen
Zylindern kann der Urin eiweißfrei sein.
Nephritische Blutungen können mit oder ohne Koliken eintreten
oder verlaufen. Die Blutung ist nicht die Ursache der Kolik. Beide
Erscheinungen sind Folgezustände der Nierenkongestion.
Eine große Zahl der bisher als Nephralgie, Nephralgie h^maturique,
angioneurotische Nierenblutung bezeichneten Krankheitsbilder sind auf
nephritische Prozesse zu beziehen.
Senator ist besonders nicht einig mit der Behauptung, daß in
diesen Fällen Nierenkongestion Ursache der Nierenblutung und Kolik
sei. Erstens macht er darauf aufmerksam, daß klinisch so oft Nieren-
kongestion konstatiert wurde, z. B. bei akuter Nephritis, Kompensations-
störungen usw., ohne daß dabei Nierenblutungen und Koliken auftreten.
Ferner weist er uns darauf, daß die Historia morbi der Fälle von
Israel nicht spricht für die Anwesenheit einer Nierenkongestion, da
wir in den meisten Fällen die Niere beschrieben finden als »auffallend
klein und weich"*, oder auch »die Niere zeigt keine Abweichung in
bezug auf Größe und Konsistenz"*.
Israel beantwortet diese Anfechtung seiner Thesen mit der Be-
merkung, daß seine Fälle nicht die einzigen sind, welche seine Behaup-
tungen beweisen, sondern daß die schon zitierten Fälle von Pousson,
Potherat, Albarran, de Keersmaecker, Harrison und Schede
auch dazu dienen können.
Die Hauptsache ist aber, daß Israel niemals behauptet hat, daD
fortdauernde Zustände von Spannungserhöhung in seinen Fällen an-
wesend sein müssen. Er sagt: »Vielmehr habe ich, was ja schon in
1) Martens, Ober einen Fall von chronischer Nephritis mit häufiger taftre-
tender einseitiger Nierenkolik und Nierenblutung. Deutsche med. Wochenscbr.
1902.
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65] Hämaturie. 501
dem Worte »Kongestion^ iniplicite liegt, von plötzlich auftretenden
und verschwindenden Fluxionen mit renaler Spannungszunahme ge-
sprochen. Wenn daher der Kongestionszustand nicht bei der Opera«
tion gefunden wird, so darf Senator nicht daraus schließen, daß er
nicht bestanden hat. Daß er in der Tat anwesend ist und gefunden
wird, wenn man zur richtigen Zeit operiert, beweist der dritte Fall
von Israel, wobei die Niere „auffallend resistent blau^^ war und alle
Symptome „intensiver Spannunjg und Kongestion^^ zeigte.
Senator ist auch nicht der Ansicht Israels, daß fast alle Fälle
von essentieller Hämaturie wirklich die Folge von nephritischen Pro-
zessen seien.
Senator sagt, daß man seine beiden Fälle und den Fall von
Sabatier unrichtigerweise für Nephritis angesehen hat Doch Israel
sagt mit Recht, daß diese drei Fälle nicht die einzigen seien, worauf
er sich berufen kann, sondern daß er auch noch nennen kann die
Fälle von Hofbauer% Pousson^), Poirier»), Desmons^), Peau«)
und Schede^.
In der Klinik von Professor Lichtheim zu Königsberg sind noch
eine Serie von 11 Fällen von chronischer Nephritis beobachtet, in deren
Verlauf »Massenblutungen'' mit und ohne Nierenschmerzen vorge-
kommen sind.
Diese Fälle sind beschrieben von Askanazy^).
In S von diesen Fällen ist die Diagnose Nephritis durch die
Autopsie bestätigt. In den anderen 8 Fällen war der klinische Ver-
lauf und die Urinuntersuchung derartig, daß an der Diagnose nicht
gezweifelt werden konnte.
Der interessanteste Fall von Askanazy ist sicher der zehnte. Bei
einem 34jährigen Manne, der an einem diabetischen Koma verschied,
war niemals Eiweiß in dem Urin zu konstatieren. Bei diesem Diabetiker
deutete die Untersuchung des Urins in keiner Weise darauf hin, daß
eine Nephritis vorlag. Während des Komas trat eine starke Hämat-
1) Hofbauer, Ein Fall von 2jahriger unilateraler Nieren blutung. Mitt. aus den
Grenzgebieten der Med. und Chir. 1900.
2) Pousson, De Intervention chirurgicale dans les n^phrites m^dicales. An-
nales des maladies des organes g6nito-urinaires 1902.
3) Poirier, Bull, de la Soc. de Chir. 10. mai 1809.
4) Desmons^ Association frangaise de Chirurgie. Congrfes 1898.
5) Brodeur, De Tintervention chirurgicale dans les affections du rein.
6) Schede^ Neue Erfahrungen über Nierenexstirpationen. Jahrbuch des Ham-
burger Stadtkrankenhauses 1889.
7) Askanazy, Profuse Hämaturien und kolikartige Schmerzen bei Nephritis.
Zeitschr. f. kliii. Med. 1906, Bd. 58.
Klln. Vortrige, N. F. Nr. 502/03. (Chirurgie Nr. l47/4a) Sept. 1908. 43
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502 P- J- ^^ Bruin« Ploes van Amttely [60
urle auf, iib4 bei d«- Sektion zeigte sicli eiae parenchfiBatöse N^hriiis»
die Uioiscli völlig sympttMiilos verlMfen war. Ohne Autopsie wire
dieser Fall vielleicht zu den essentiellen Hämaturien gereclinet wofdeo,
oder vielleicht hatte man daraus gefolgert, daß dergleichen Massen*
bltttiuigeo auch bei Diabetes vorkommen.
In einem der Fälle von Askanazy wurde als Ursache asgegebeo,
daO der Patient sich auf der Eisbahn erkältet hätte. Wie wir gesehen
haben, wurde Erkältung als Ursache der Hämaturie auch genannt Ton
Lewitt, Schede, Stich, Socoloff u. a.
In dem elften Fall wurde das Aufheben von einem schweren Sack
Kartoffeln als Ursache genannt.
In einigen Fällen trat die Hämaturie ohne, in anderen wieder mit
heftigen Nierenschmerzen auf. Manchmal irradiiertea die Schmerzen
in den Testikel oder in den Penis, was ja auch von Israel beob-
achtet ist und von ihm beschrieben ist in seiner »Chirurgische Klinik
der Nierenkrankheiten".
Auch Askanazy gibt zu, daO die Hämaturie bei Nephritis nickts
Eigentümliches hat, so daß man nicht daraus die Diagnose Nephritis
stellen kann. Wohl konkludiert er aus der Art des Auftretens, daß
wir dabei sicher nicht zu tun haben mit einer akuten Exazerbation
von einem chronischen Prozeß. Fieber und Hydrops sieht man doch
nur äußerst selten in diesen Fällen, und auch ist das meist einseitige
Auftreten der Blutungen nicht in Obereinstimmung mit dem Gedanl^en
an eine akute Exazerbation von einer doppelseitigen chroniscbea
Nephritis. Doch außerdem fehlen in diesen Fällen die schweren All*
gemeinerscheinungen während der Attacken, wie sie bei akuten Nepbri-
tiden kaum je vermißt werden dfirfen, besonders auch 4ie Symptome
urämischen Charakters.
Askanazy ist ein Anhänger von Israel, was anbelangt dessen
Meinungen fiber die Ursachen der Hämaturie bei Nephritis. Er sagt:
„Wir sind mit Israel der Ansicht, daß Hämaturien und kolikartige
Schmerzen bei nephritischen Prozessen auf dieselbe Ursache und zwar
auf paroxysmale Kongestionen zurückzuführen sind."
Askanazy hat noch eine sehr interessante Beobachtung gemacht,
die eine sehr kräftige Stütze ist für die Kongestionstheorie von Israel
Er selbst fand in den zur Sektion gekommenen Fällen Kongestionen
und Ekchymosen im Nierenbecken, wie ja auch vielfach von Guyoo,
Poirier, Naunyn, Pousson u. a. gefunden war. Dadurch kam er
auf den Gedanken, in den Sektionsprotokollen nachzuforschen, ob
diese Veränderungen auch zu konstatieren waren in den Fällen, welclie
ohne Hämaturie, ohne Massenblutungen verlaufen waren. Nun zeigte
es sich ihm, daß sich Blutungen auf der Nierenbeckenschleimhaut bei
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67] Hämaturte. 503
Nephritis relativ oft, sicherlich in V4 aller Fälle, vorfinden« Er be-
spricht danach, daß diese Ekchymosen nur entstehen können durch
venöse Stasis, Entzfindung und Kongestion, und kommt dann zu dem
Satz, daß die Ekchymosen bei Nephritis als Residuen voraufgegangener
Kongestionen aufzufassen und auch die Massenblutungen bei Nephri-
tikern auf die nämliche Ursache zurückzuführen sind«
Die erste Behauptung Israels ist somit eine feststehende Tatsache
geworden durch die Mitteilung von Stich, und die anderen genannten
Thesen hat er ruhmvoll selbst verteidigt gegen die Anfälle von Se-
nator und anderen. Auch seine neunte Konklusion: „Die Inzision
der Niere beeinflußt in vielen Fällen den nephritischen Prozeß und
seine Symptome günstig'', ist richtig. Mit der Besprechung dieser
Konklusion kommen wir vollauf in das Gebiet der Nierenchirurgie.
Der große Freund der chirurgischen Eingriffe bei Morbus Brightii ist
jedoch nicht so sehr Israel, als Edebohl. Harrison^) war jedoch
der erste, der bei Nephritis operierte, sei es auch, ohne es zu wollen.
Er suchte nach Eiter, ohne diesen zu finden, und sagt: „This was not
the case, I closed the proceeding with the feeling, that I had made
an error in diagnosis."" Trotz der unrichtigen Diagnose heilte der
Patient schnell nach der Operation von seinen früheren Beschwerden,
isbenso wie von der Operation selbst. Die früheren Beschwerden
waren Nierenschmerzen und Albuminurie. Der zweite Patient von
Harrison wurde operiert wegen Nierenstein, welche Diagnose gestellt
wurde wegen Hämaturie, Kolikschmerzen und Albuminurie. Kein Stein
wurde gefunden, aber doch war der Patient wieder ganz gesund nach
der Operation. Auch der dritte Patient von Harrison wurde ope-
riert wegen Nierenstein, „but no calculus could be discovered^^ Jedoch
genas auch dieser Patient vollkommen.
Es würde hier zuweit führen, das Für und Wider des chirurgischen
Eingriffes bei Nephritis n^her zu besprechen. Natürlich haben die
Gegner so wie Pel nicht zu hohe Erwartungen. Pel sagt auch noch,
daß die Hämaturie selbst schon eine Verminderung der Nierenspannung
verursacht, doch vergißt er dabei, daß die Nierenblutung nicht gleich
zu stellen ist mit einem chirurgischen Eingriff, und außerdem schreitet
man oft zur Operation, um die geföhrliche Hämaturie zu bestreiten.
Es sei genug, aufler Harrison noch einige Namen von Männern
1) Harrison, On the treatment of some form? of albuminuria bi reni-punctura.
Tbe British Medical Journal 1896; Renal tension and its treatment by surgical
means. The British Medical Journal 1901; A contribution to the study of some
forma of albuminuria associated with kidney-tension and their treatment. The
Lancet 1896.
43*
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504 ^' J- de Braxne Ploos van Amstel, [68
zu nennen, die sich auf diesem Gebiete verdienstlich gemacht haben
ohne zu behaupten, daß nicht vielleicht noch mehr sind, welche nicht
genannt wurden. So nennen wir: IsraeP)) EdebohP), Pousson'),
Ferguson*), Mongour^), Scheben«), Wolff^, Cailld»), Guite-
ras»), Stern^o), Nouene"), Henry«), Kortewegi»), WendeP*),
Bakesi*), Rovsing^»), Herxheimer und Walker HalP^ u. a.
1) Israel, Ober den Einfluß der Nierenspaltung auf akute und chronische
Krankheitsprozesse des Nierenparenchyms. Mitteilungen aus den Grenzgebieten
der Med. und Chir. 1901.
2) Edebohl, The eure of chronic Brights disease by Operation. Medical
Record 1901; Surgical treatment of Brighfs disease. 1904.
3) Po US so n, De Tintervention chirurgicale dans certatnes vari^tds de näphrites
m^dicales. Association frangaise d'urologie 1899; De Tintervention chirurgicale dans
les n^phrites inPectieuses aigues et dans les n^phrites chrontques. Revue de Chi-
rurgie 1901 ; Contribution ä la Physiologie pathologique de Tincision et de l'exstir-
pation du rein. Annales des maladies des organes g6nito-urinaires 1901 ; Discussion
sur la n6phrotomie dans les ndphrites m^dicales. Gazette hebdomadaire des
Sciences mddicales de Bordeaux 1902; De l'intervention chirurgicale dans les
n^phrites m^dicales. Annales des maladies des organes g6nito-urinaires 1902.
4) Ferguson, Surgical treatment of nephritis or Brighfs disease. Medical
Standard 1899.
5) Mongour, De la n^phrotomie dans les ndphrites m^dicales chroniques,
Journal de M6decine de Bordeaux.
6) Scheben, Beitrag zur Wirkungsweise der Edebohlschen Operation. Münch-
ner med. Wochenschr. 1906.
7) Wolff, Ober die Erfolge der Nephrorrhaphie auf Grund der nach dem Ver-
fahren von Herrn Professor Rose in Bethanien operierten Fllle. Deutsche
Zeitschr. f. Chir. 1807.
8) Caill6, Chronic parenchymatosis nephritis in a child treated by renal
decapsulation. Arch. of Pediatrics 1902.
9) Guit^ras, The surgical treatment of Brighfs disease. New York medical
Journal 1902.
10) Stern, Beitrag zur Frage der chirurgischen Behandlung der chronischen
Nephritis. 75. Versammlung der deutschen Naturf. und Ärzte 1903, CasseL
11) NouSne, Traitement chirurgicale des ndphrites. Th&se Paris de 1903.
12) Henry, Nephropexy in a case of chronic nephritis. American Journal of
the med. science 1903.
13) Korteweg, Die Indikationen zur Entspannungsinzision bei Nierenleiden.
Mitt. aus den Grenzgebieten der Med. und Chir. 1901.
14) Wendel, Die Entwicklung der Nierenchirurgie In den letzten Jahren. Thera-
peutische Monatsh. 1899.
15) Bakes, Ein neues Verfahren zur operativen Therapie der chronischen Ne-
phritis. Zentralbl. f. Chir. 1904.
16) Rovsing, Zur Behandlung der chronischen Morbus Brightii durch Nephro-
lysis und Nephrokapsektomie. Zentralbl. f. Chir. 1904.
17) Herxheimer und Walker Hall, Über die Entkapselung der Niere. Vir-
chows Arch. 1905.
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69] Hämaturie. 505
Diagnose.
Der erste Fall ist in vieler Hinsicht interessant.
Wir sehen hier plötzlich ohne frühere Symptome Hämaturie in
sehr heftiger Weise auftreten und jeder Behandlung trotzen. Dazu
kam nur heftige Nierenkolik, weiter war nichts zu finden. Es war
also ein klassischer Fall von essentieller Hämaturie oder Klem per er sehe
Nierenblutungen aus gesunden Nieren. Dann konstatierte man einen
Nierentumor, der sich erwies als eine Anhäufung von Fäzes. Wahr-
scheinlich war diese Koprostase entstanden unter dem Einfluß der
Nierenkolik. Jenner doch sagt: ^Nephritic colic will cause loss of
power in the colon, and so induce constipation, thus favouring the
idea that the patient has intestinal colic.''
Nun jedoch war das bisher dunkle Krankheitsbild deutlich geworden.
Eiweiß und Zylinder gaben das Recht, die Diagnose auf Nephritis zu
stellen. Mit diesem Falle ist auch die Ansicht von Lecorche und
Talamon^) widerlegt, daß Hämaturie bei Nephritis nicht heftig sein
könne.
Soweit ist dieser Fall ein Analogon von dem von Schüler^). In
diesem Fall bestand bei einer 40jährigen Frau seit 10 Monaten Hämat-
urie. Die freigelegte rechte Niere, woraus die Blutung stammte, war
makroskopisch und auf dem Sektionsschnitt vollkommen normal, aber
die mikroskopische Untersuchung von einem exstirpierten kleinen Stück
Nierengewebes bewies die Anwesenheit einer Nephritis.
Überdies aber gab die Patientin Zustimmung, sich die Ureter kathe-
terisieren zu lassen, und nun zeigte sich, daß Eiweiß und Zylinder nur
aus der Niere, woraus auch das Blut kam, stammten.
Hiermit ist, sei es auch nicht mit absoluter Sicherheit, das Be-
stehen der einseitigen Nephritis bewiesen. An der absoluten Gewiß-
heit fehlt, daß wir die Einwendung zugeben müssen, daß die Abwesen-
heit von Eiweiß und Zylinder in dem Urin der anderen Niere nicht
sicher die Gesundheit derselben beweist. Die Wahrscheinlichkeit ist
jedoch groß, daß es hier der Fall ist.
Auch in dem zweiten Fall ist unsere Diagnose Nephritis. Das
eigenartige von dem Fall war, daß hier zyklische Albuminurie be-
stand, was in Zusammenhang mit der gleichzeitigen Anwesenheit von
Zylindern ein Beweis ist, daß zyklische Albuminurie und Nephritis zu-
sammengehören, wie Henoch, Heubner u. a. schon behaupteten.
Unglücklicherweise wollte der Patient sich nicht einer zystoskopi-
1) Lecorch6 et Talamon, Trait6 de ralbuminurie. 1888.
2) Schüler, Beitrag zur Lehre von den Blutungen aus anscheinend unver-
änderten Nieren. Wiener klin. Wochenschr. 1904.
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506 ^- J* ^^ Brulne Ploos yan Amstel, [70
sehen Untersuchung unterwerfen, wodurch nicht zu konstatieren war,
ob die Hämaturie ein- oder doppelseitig war.
Morris passierte es, daß er die Doppelseitigkeit der Hämaturie
erst nach der Exstirpation der einen Niere konstatierte, wonach die
Blutung fortdauerte und der Patient sukkumbierte.
Der dritte Fall endete als eine gewöhnliche hämorrhagische Nephritis.
Das wichtige von diesem Falle war aber das Debfitieren unter dem
ausgeprägten Bilde einer essentiellen Hämaturie. Wahrscheinlich be-
standen hier im Anfang schon geringe nephritische Veränderungen io
einer Niere. Später änderte sich das Bild. Akute Exazerbation des
Leidens führte zu einer doppelseitigen hämorrhagischen Nephritis.
Auch der vierte Fall kennzeichnet sich durch das Debütieren unter
dem Bilde einer essentiellen Hämaturie. Später, viel später erst be-
merkte man das Bestehen von Tuberkulose von Blase und Niere. Die
Untersuchung ergab, daß nur eine Niere ert&rankt war, und wegen der
Richtigkeit der Worte Zucke rk and Is^: „Noch schwerer aber fallt ins
Gewicht, daß bei langer Dauer des Prozesses die andere Niere nie-
mals intakt bleibt^*, wurde das Exstirpieren der kranken Niere naturlich
in Beratung genommen, aber wegen der gleichzeitig anwesenden Blaseo-
tüberkulose nicht verrichtet
Auch hier werden wahrscheinlich in der ersten Zeit des Leidens,
als Hämaturie noch das einzige Symptom war, wohl schon tuber-
kulöse Veränderungen in der Niere bestanden haben, und ist dieser
Fall daher ein warnendes Beispiel, ja stets dem Rat Israels zu folgen
und bei jeder lange dauernden Hämaturie ohne bekannte Ursache die
Niere frei zu legen zur richtigen Diagnostik.
Doch sind auch dann Irrtümer nicht immer zu vermeiden, wie ein
durch Israel selbst mitgeteilter Fall beweist.
IsraeP) beschreibt einen Fall von Carcinoma renis, wobei er auch
aufmerksam macht auf die Schwierigkeit der Diagnose eines Nieren-
tumors wegen der Eigentümlichkeit des infiltrierten Karzinoms, keine
Formveränderung, keine Vergrößerung der Niere erkennen zu lassen.
Die linke Niere war hier angegriffen von Karzinom, aber aus der
rechten Niere stammte eine Hämaturie, verursacht durch einen da an-
wesenden Nierenstein. Die zystoskopische Untersuchung hätte hier
gewiß nicht die karzinomatöse, sondern die gesunde Niere, worin d^
Nierenstein, zur Operation angewiesen. Wir müssen daher nie ver-
gessen, falls wir eine plausibele Ursache für die Hämaturie gefunden
1) Zuckerkand!, Ober die Behandlung der Nierentuberkulose. Deutsche
med. Wochenschr. 1906.
2) Israel, Erfahrungen über Nierenchirnrgie. Arch. f. kthi. Chir. 189(.
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71] Hämaturie. 507
haben, daran zu denken, lob nicht viellelckt ein anderes Nieren-
leiden Veranlassung derselben war.
Kfimmel^) gab auf dem Kongreß der Deutseben Gesellschaft für
Chirurgie im Jahre 1004 den Rat, in FaUen, wo Nieremuberkulose
einseitig isl, die kranke Niere zu exstirpieren trotz der gleicherzeit
bestehenden Blasentuberkulose* Eine einmal vorhandene Blasentuber-
kulose heilt man am besten durch Entfernung der die Infektion ver-
anlassenden. Niere. Eine Blasentuberkulose sollte man niemals ope-
rieren, dagegen die die Infektion veranlassende Niere möglichst früh
entfernen.
Konklusionen.
1. Es gibt keine essentielle Hämaturie.
2. Renale Hämaturie muß stets als Symptom einer Nierenaffektion
betrachtet werden.
3. Von den hier gemeinten Nierenaffektionen kommt in erster Linie
Nephritis in Betracht. Die Hämaturie kann dabei sehr profus sein.
4. Einseitige Nephritis existiert nicht nur, sondern sie ist aller
'VTahrscheinlichkeit nach im Anfangsstadium immer einseitig.
5. Eine Nephritis kann schon längere Zeit bestehen, ohne daß der
Urin Zylinder oder Eiweißspuren aufweist.
6. Auch bei Nephritis treten Nierenkoliken auf, die den Nierenstein-
koliken nicht in Heftigkeit nachstehen.
7. In jedem einzelnen Fall von langwieriger Hämaturie schreite
man nach einer in jeder Hinsicht möglichst sorgfältigen Untersuchung
zur Freilegung und Spaltung der Niere zur Feststellung der Diagnose.
Sehr richtig sagt Grosglik: „Die chirurgische Behandlung aller dunklen
Nierenblutungen schützt uns zweifellos vor unangenehmen Enttäuschun-
gen, welchen wir bei exspektativem Verfahren ausgesetzt sein können.^
8. Und aus noch einem weiteren Grunde schreite man zur vor-
erwähnten Operation, und zwar, weil die Erfahrung uns gelehrt hat,
daß sich das Bild der Nephritis zufolge der Nierenspaltung in günstigem
Sinne ändert.
0. Exstirpation der Niere soll möglichst umgangen werden. Richtig
ist das Urteil Nepveus^) zu dieser Operation: Cette Operation
^dphrectomie) aurait pu 8tre 6vit6e dans la plupart des cas oü eile
est pratiqu6e. Elle aurait pu 8tre remplacee par des op6rations plus
sures et tout aussi bonnes. Jusqu'ici cette op6ration nous semble
devoir Stre condamn6e par la saine critique et par Tart.
1) Kümmely Die Frühoperation der Nierentuberkulose. Verliandlungen der
deutschen GeseUechaft ffir Chirurgie. Kongreß 1904. Zentralbl. f. Chir. 1904.
2) Nepveu, De l'exstirpation du rein. Archives gön^rales de M6decine 1875.
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598 ^' J' cle BruTne Ploos van Amstel, HImaturie. [72
10. Schreitet man trotzdem zur Exstirpation, so darf diese nur
stattfinden nach vorheriger kryoskopischer Untersuchung.
Ächard^) empfiehlt hierfür folgende Methode: Eine subkutane
Injektion mit 0,05 g Methylenblau. Bei normal funktionierenden Nieren
nimmt die Ausscheidung bereits nach 15—30 Minuten ihren Anfangs
während innerhalb 35—60 Stunden alles entfernt ist. Ist dieses jedoch
erst innerhalb 3—4 Tagen der Fall, so besteht Niereninsuffizienz.
11. Trotzdem verlasse man sich nie ausschließlich auf eine, wenn
auch noch so vollständige kryoskopiscite Untersuchung. Der Stock-
mannsche Fall doch beweist den Stockmannschen Ausspruch: „Die
Methode stimmt im allgemeinen, aber nicht im besonderen.^^
Außerdem nehme man die kryoskopische Untersuchung erst vor,
nachdem die Diagnostizierung nach älteren Untersuchungsmethoden
stattgefunden hat. Wiener sagt sogar in The New York Medical
Journal vom 0. März 1901 (Blood in the Urin as a Symptom and the Dia-
gnosis of its source), daß man in dem Falle die Kryoskopie nicht
nötig hat.
Der 48jährige Patient von Stockmann 2) hatte heftige Schmerzen in
der rechten Lendengegend und der Urin enthielt sowohl Eiter und
Blut, als auch Blasenepithelien. Zystoskopie war in diesem Falle un-
möglich. Der wachsenden Beschwerden wegen, zu denen sich auch
heftiges Erbrechen gesellte, beschloß man die Exstirpation der rechten
Niere, da die Diagnose rechtsseitigen Nierenstein oder Tuberkulose
ergeben hatte. Da die Gefrierpunktsbestimmung des Blutes die nor-
male Ziffer 0556 ergab, durfte man voraussetzen, daß die andere Niere
richtig funktionierte. Die Operation fand jedoch nicht statt, da der
Patient starb. Die Sektion ergab das Fehlen der rechten Niere, wah-
rend die linke Niere sehr erweitert und tuberkulös war. Die an-
wesende Niere hatte natürlich bereits seit vielen Jahren die fehlende
ersetzt und, seit der tuberkulösen Affektion, hatten die gesunden Ge-
webeteile die Arbeit des erkrankten Gewebes übernommen. Somit
war der Gleichgewichtszustand trotz des tuberkulösen Prozesses nicht
gestört. Dieser Fall stimmt also vollständig überein mit dem Tier-
experiment von Tuffier, Wolff und Kümmel, nämlich daß man
allmählich eine Niere ganz und von der anderen einen 3/4 Teil ent-
fernen kann, ohne daß dadurch der Tod des Tieres eintritt Eine
normale Gefrierpunktsziffer des Blutes bedingt also nur einen Gleich-
gewichtszustand, weiter nichts.
1) Achard, Die Diagnose der funktionellen Nierenstörungen. Prager med.
Wochenscbr. 1901.
2) Stock mann, Ist die Gefrierpunktsbestimmung des Blutes ein ausschlage
gebendes Hilfsmittel für die Nierenchirurgie? Monatsber. f. Urologie 1002.
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504/07.
(Innere Medizin Nn 149/52.)
Die klinische Diagnose der Pulmonal-
arterienskleroset
Von
Privatdozent Dr. Adolf Posselt^
Innsbruck.
In der Pathologie der Pulmonalarterie im weiteren Sinne zieht
der Kliniker in den Kreis diagnostischer Erwägung bestimmte ange*^
borene Bildungsanomalien, Klappenfehler, Stenosen- und Aneurysma-
bildung, wobei seit je die außerordentlichen Schwierigkeiten der
Diagnose betont werden, daher auch die so häufigen Fehldiagnosen
leicht erklärbar sind.
Die Sklerose der Pulmonalarterie betrachtete man als
Domäne des pathologischen Anatomen.
Zur Illustrierung der großen Seltenheit des Befundes findet man
immer wieder die Häufigkeitsskalen der Arteriosklerose in den ver-
schiedenen Gefäßregionen von Lobstein, Rokitansky, Huchard
zitiert.
Die Atherosklerose der Lungenschlagader i) kann als primäres
Leiden oder als sekundäre Erscheinung auftreten.
Von ersterem figurieren in allen Handbüchern, Herzpathologien
und sonstigen Berichten stereotyp nur die Beobachtungen von KI ob,
Romberg und Aust (obwohl, wie hier nur nebenbei bemerkt sei,
eine nicht zu unterschätzende, allerdings schwer zugängliche Literatur
hierfiber besteht und bei fast sämtlichen, auch die obigen elnge-
1) Auf spezielle pathologisch-anatomische und histologische Verhältnisse bei
der Arteriosklerose der Pulmonalis konnte in vorliegender klinischer Abhandlung
nicht eingegangen werden.
Klln. Vorträge. N. F. Nr. 504/07. (Innere Medizin Nr. 149/52.) Okt. 1908 26
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362 Adolf Posselt, [2
schlössen, der streng primäre Charakter der Kritik kaum standzu-
halten vermag).
Unter den Beobachtern herrscht bezuglich der sekundären Pulmo-
nalarteriensklerose so ziemliche Obereinstimmung, daß man bei Lungen-
und Herzaffektionen noch relativ am häufigsten solche sklerotische
Prozesse bei der Mitralstenose antrifft.
Zumeist werden in den Krankengeschichten ganz allgemein ge-
haltene Angaben über nicht charakteristische Symptome, die sich
direkt oder indirekt auf das Herz beziehen » gemacht: Druck in der
Herzgegend, Stechen in der Tiefe, Beklemmung, Herzklopfen, Schwer-
atmigkeit Von objektiven Befunden: Herzhypertrophie.
Die bekannten oft zitierten Fälle primärer Sklerose von Kleb,
Romberg, Aust und Laache boten das Bild eines kongenitalen
Vitiums, wie auch zumeist die klinische Diagnose lautete.
Bisher wurde überhaupt kaum noch ein Versuch einer
klinischen Diagnose der Pulmonalarteriensklerose gemacht
Ich beschränke mich hier darauf, einige Ansichten und Bemer-
kungen verschiedener Kliniker und Ärzte wiederzugeben.
Nach Zehetmayer (1845) läßt die geringe Zahl der bekannt ge-
wordenen Fälle in diagnostiacfaer Beziehung bis jetzt keine gehaltvolle
Ausbeute sammeln»
Der Zustand läßt sich, dem Ausdruck Bambergers (1857) zufolge,
bis jetzt Weder im Leben erkennen noch behandeln.
Nach De Bumtn (1858) setzt der vorliegende Prozeß keine spe-
zifischen Erscheinungen.
Klob.(1865) vermutet wohl, daß sein Fall möglicherweise einige
Anhaltspunkte zu einer Diagnostik derartiger Erkrankungen bieten
könnte«
Ganz ablehnend verhält sich Saun 6 (1877)| wenn er schreibt:
«Während des Lebens gibt es kein einziges Symptom, welches deo
Verdacht auf Bestehen eines Atheroms der Pulmonalarterie recht-
fertigen würde.''
Rombergs (1891) Ansicht geh! dahin, daß die Pulmonalsklerose
im allgemeinen klinisch symptomlos bleibe, es trete kein neuer Zug
zu dem ursprunglichen Krankheitsbild Sie bilde einen mehr zufalligeo
Befund bei der Autopsie. Klinisches Interesse rufe sie erst hervor,
wenn sie — ohne das ISestehen eines Klappenfehlers oder-hocbgradiger
Lungenveränderungen — zu starker Verengerung der Pulmonalaste
geführt habe.
Da Rombergs und Austs (1802) Fälle unter den klinischen
Symptonten eines angeborenen Herzfehlers verliefen, dürfte es nach
letzterem schwer fallen, beide Erkrankungen klinisch auseinander zo
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3] Die klinische Diagno«« itfr PiUfVonalarteriensklerose. 303
halteo. Eiae Uiniüobe SyiQptpnuifologte dieser Knuikfaett ist nach
Reiche! (1804) seines Wissens noch Diehc gewicboet Allerdings ist
Schrötters (1901) Meinung nach die Möglichkeit, die Eitrankung
auch im Leben zu erkennen, bei sorgfälliger Untersuqhtuig nicht aus-
geschlossen.
Schwartz (1007) kommt zu dem Schlüsse, daß Sklerose derAr^-
ria pulmonalis in den allermeisten Fällen symptomlos verlaufe. In
wenigen Fällen sehr hochgradiger Sklerose könne klinisch ein be-
sonderes Krankeitsbild zustande kommen, ähnlich dem Morbus coeru-
leus, stärkste Cyanose, Dyspnoe, Husten.
In allerjüngster Zeit glaubt Kitamura (1908) zu dem Ausspruch
berechtigt zu sein, »daß die Kliniker so gut wie gar keine Erfahrungen
über Sklerose der Pulmonalarterieo gesammelt haben^.
Das Resümee aus allem ist so ziemlich die vdllige Ableugnung
der Möglichkeit einer klinischen Diagnose der Athefoscle-
rosis pulmonalis.
Diesem absoluten Pessimismus gegenüberzutreten und an der Hand
von Eigenbeobachtungen zu zeigen, daß das Efkemien des Zustandes
während des Lebens unter i>estinunten Umstäiiden zweifellos gelingt,
sei Aufgabe unserer Darlegungen^).
Mehr als IV2 Dezennien verfolgte ich an klinischen und ambu-
lanten Kranken das abzuhandelnde Thema.
Um die ohnehin komplizierten und oft schwer zu deutenden Ver-
hältnisse nicht noch mehr zu komplizieren, werden hier, wo es sich
vor allem um lüinische Semiologie handelt, eine Reihe von Prozessen
ausgeschaltet:
Kongenitale Fehler und Mißbildungen, Pulmonalstenosen und Aneu-
rysmabildungen am Gefäße, die zu derartigen atherosklerotischea Vor-
gängen Veranlassung bilden, resp. zum Teil mit diesen in Korrelattoii
oder direkt von ihuM abhangig sein können.
Von den nachfolgenden zehn Eigenbeobachtungen (zumeist an
der Innsbrucker medizin. Klinik gemacht) betreffen die ersten drei
zufällige Obduktionsbefunde, die anderen sieben sind einer klinischen
Analyse zugänglich.
Unter ihnen bestand zweimal Aortensklerose mit Insuffizienz
der Semilunaren, die übrigen fünf Fälle beziehen sich auf Mitral-
stenosen.
Bei denen der letzten Kategorie wurde auf Grund der früheren
1) In einer vorläufigen Mitteilung (Munchener fned. Wochenschr. Aug. 1908
Nr. 31) legte ich die Hauptpunkte dar .Meli eiaein am 28. Jvai 1908 in der Inns-
brucker wissenschaftlichen ÄrztegesellschaPt gehaltenen Vortrag.
26*
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364 Adolf Posselt, [4
Beobachtungen und Epikrise zweimal eine Wahrscheinlichkeits- und
einmal eine sichere klinische Diagnose auf Atherosclerosis pul«
monalis gestellt,
- . Für die gutige Überlassung der Sektionsprotokolle bin ich Herrn
Prof. Pommer, Vorstand des pathologisch-anatomischen Institutes,
zu besonderem Danke verpflichtet.
K^ Eigenbeobachtungen.
Ö^ ft-"*^^ I. Fritz B., 67 jähriger verheirateter Pensionist, Eintritt an der medizin. Klinik
0 y^ am 5. September 1902.
Klinische Diagnose: Cirrhosis hepatis, Hydrops ascites, Venenektasien im
Ösophagus. Peritonitis chronica. Myodegeneratio cordis incipiens. Broncbo-
pneumonia. Alkoholismus chronicus. Arteriosklerose.
Ausgesprochener schwerer Alkoholiker. Zu wiederholten Malen stärkere Diar-
rhöen. In letzterer Zeit öfters Erbrechen. Seit langen Jahren ist Pat. auffallend
vergeßlich.
Seit mehreren Wochen Zunahme des Bauchumfanges, Atemnot, Urinverminde-
rung. Öfters Schmerzen in der Leber- und Milzgegend.
Status: Großer, mäßig kräftiger, abgemagerter Mann mit deutlich schmutzig
gelblichem Kolorit und dem sonstigen Habitus der Cirrhotiker. Zunge trocken^
rissig, gelb belegt.
Deutliche ausgebreitete bronchitische Zeichen.
Mäßiges Lungenemphysem. Herzspitzenstoß nicht fühlbar. Töne abgeschwächt,
rein. Puls im allgemeinen ziemlich kräftig. Mäßige Sklerose der Radialarterie.
Übrige Arterien vielleicht etwas rigider.
Ab^lomen ausgedehnt (02 cm), namentlich in den seitlichen Partien; freier
Flüssigkeitserguß deutlich nachweisbar«
Milzdämpfung stark verbreitert (über 10 cm) reicht nach vorne fast bis zum
Rippenbogenrand.
Leberdämpfung von der achten Rippe an mit tympanitischem Beiklang. Leber-
oberfläche anscheinend uneben, Resistenz der Leber vermehrt. Im 24 stündigen ver-
minderten, hochgestellten, braunroten Harn kein Eiweiß, Spuren von Gallenfarbstoff.
Therapie; KalomeL Entsprechende Diät,
14. IX. Erbrechen von dunkelbraunschwarzen flüssigen Massen in der Menge
von 1 100 ccm.
26. (Ausstrahlende?) Schmerzen im 1. Arm.
Abdomen stark aufgetrieben. Singultus.
Von Mitte Oktober an Zunahme des Aszites. Ödem am rechten Rippen*
bogenrand*
Im Oktober wiederholt dumpfe brennende Schmerzen hinter dem Brustbeine»
vermehrte Stauungssymptome. Zyanotisches Kolorit.
Universelle Stauungskatarrhe. Schweratmigkeit.
Unter Benommenheit, Herzschwäche und bronchopneumonischen Symptomen
Exitus letalis am 5. November 1902.
Sektion: 7. November 1902 (Prot..Nr. 6227/278).
Pathol. anat. Diagnose:
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5] Die klinische Diagnose der Puliiionalarteriensklerose. 305
Cirrhosis hepatis im Stadium vorgeschrittener Schrumpfung. Dilatatio cordis.
Atrophie, parenchymatöse und fettige (?) Degeneration des Myokards, Hochgradige
Sklerose der Brustaorta und z.T. auch der Arteria pulmonalis. Mächtige,
liochgradig verkalkte, sklerotische Wucherungen an der Mündung der linken Arteria
coronaria. Weitgehende Einengung der rechten Koronararterienmündung durch myo-
karditische verkalkte Bildungen. Ausgeprägter chronischer Speiseröhren-Magen-»
Darmkatarrh. Ödem und hypostat. Pneumonie der hinteren Lungenbezirke.
(Die Klappen des Ost, atr.-ventric. .sin* etwas verdickt, Sehnenfäden kurz»)
II. Johann L., 76 jähriger verwitweter Gärtner von Bozen (wegen Zystitis an
der medizin. Klinik in Behandlung), kam am 17. November 1803 in das mediz.
Ambulatorium (Atnbul. Prot-Nr. 1264) mit der Klage über Kreuzschmerzen, Schwäche
in den. Beinen und Schwindel, , Die klinische Diagnose lautete auf; Vertigo^ Ar-
teriosclerosis, Hypertrophia cordis praecipue ventriculi dextri. Ana>
mnestisch wurde eruiert, daß der Mann in früheren Jahren Blattern und Malaria
zu überstehen hatte. Vor 3 Jahren Harn- und ätuhlverhaltung durch ca. 3—4 Tage,
mit Schwächegefühl in den Beinen. Wegen Klagen, die auf ein Rückenmärksleiden
und psychische Störungen hindeuteten, wurde Pat. an das Ambulatorium der neuro-
psjrchiatr. Klinik verwiesen.
An letzterer Klinik (Vorstand Herr Prof. Anton) erfolgte. am selben. Tage
(17. November 1893) die Aufnahme (Prot.-Nr. 183)* Im folgenden sei nur die Ana-
mnese und die auf den uns hier interessierenden Befund der Thoraxorgane bezüg-
lichen Daten gebracht. Vor 5 Wochen merkte der. Kranke, daß seine Beine
schwächer wurden und daß er sich nur mit Mühe fortbewegen konnte. Zeitweise
heftige Schmerzen im Kreuze. Wiederholt Anfälle von Schwindel und Flimmern
vor den Augen, so daß sich Pat. an der Wand halten mußte, um nicht umzufallen.
Verschlechterung des Gesichtssinnes. Er müsse auch öfter urinieren als sonst
und der Harn habe einen starken, unangenehmen Geruch.
Es wird auch eine auffällige Verschlechterung des Gedächtnisses angegeben.
Ohne auf die näheren Befunde in neurol.-psych. Hinsicht einzugehen, genüge, daß
die Diagnose auf Myelo-Meningitis chronica gestellt wurde. Es findet sich die An-
gabe: Herzdämpfung ziemlich innerhalb normaler Grenzen. Herztöne im allgemei-
nen rein. Es finden sich weiter keine besonderen, auf den Zustand der 6rustorgane
bezüglichen Angaben. Am 20. Januar 1894 gebessert entlassen.
Am 29. desselben Monates erfolgt jedoch gleich wiederum die zweite Aufhahme
an derselben Klinik. Durch 3 Tage hatte sich Pat. ganz wohl gefühlt, am 4. trat
wieder Zittern an den Beinen und Schwäche auf. Das Gehen verschlechterte sich,
zugleich ging der Urin unwillkürlich ab.
Schmerzen und Stuhlbeschwerden fehlten. Während des Spitalaufenthaltes
wechselten heftige Diarrhöen mit Verstopfung ab« Zustand sehr wechselnd.
Am 5« Mai 1894 Entlassung. Neuerliche (3.) Spitalsaufnahme am 10. Juni des-
selben Jahres, Aufenthalt bis 17. September.
In der Krankengeschichte finden sich keine besonderen Bemerkungen bezüglich
des Verhaltens von Lunge und Herz. Einige Male Schwindelanfälle. Allmähliche
Besserung des Gesamtbefundes und der Rückenmarksleiden-Symptome.
4. Aufenthalt vom 12. Oktober bis 11. Dezember 1894. Nach dem Austritt so-
fortige neuerliche Verschlechterung des Zustandes, so daß er sich am 12. Oktober
wiederum aufnehmen ließ. Am 8. November bereitete ihm eine jüngst entstandene
Hernie Schmerzen* Vom 11.— 18. November Auftreten von Husten, der wiederholt
bei Tag und Nacht eintrat, dann nachließ.
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306 Adolf PosMlt^ [a
Vom dO. Noveoftber bis & Deseniber Dfarrböen, «n 3. Dezenber etwfts bdhere
Tempefitnr. Harn normal.
Die lettte Aufnahme erfolgte am 14. Jannar 1895. Am 18. ist scblecbter Schlaf
and etwas »nregelffllftiger Ptila notiert.
In der Nacbt des 20. stand Pit. auf ond war tfntvbig, laut, und mmorfe herum,
ist nicht gut orientiert.
Es findet sieb folgender Status angegeben; Mittelgroßes Individutim von senilem
Aussehen, seMecbtem Emlbningssustand. Scbläfenarterien geschliiigelty nhlen
sich rigide an* Beide Infk-aorbitaL auf Dmek schmerziiaft« Gerontonen an beiden
Auges, Cataracta inci|>ieiis. Linke Pupille etwas weiter als rechte. Hersttae
klisgead. Dentlicber Tremor der HSnde.
18. I. Pat. schwach, neigt wieder xn Dfarrh9en. Vinifend der Nacht Verwirrt-
heit Transfer, auf die psychlatr. Abteilung.
24. I. starke Diarrhöen. 25. I. Pulsus irregul.
26. I. dreistilndiger Schüttelfrost (Temp. 39,7). Puls 104.
Ober dem 1. Unterlappeo broncbiaL Exspir., vereinzelte Rasselgerluscbe. 18. IL
Zystitis.
Im weiteren Verlauf zunehmende Verworrenheit.
Hinsichtlich des Herz- und Lungenbefnndes finden sich keine niheren Notlzeo.
Am 9. Vir. 1895 Exitus letalis IIV« Uhr nachts.
Die klinisch^ Dts'gnose lautete:
Arteriosklerose. Myelitis chronica auf arteriosklerot. Basis. De-
menria senilis.
Außerdem laut Protokoll der mediz. Klinik und Ambulatorium: Hypertropbta
veittricul. dextr. cordis. Bronchitis chron. Cystitls chronica.
Sektion am 10. Juli 1895. Prot-Nr. 3761/144.
Körper mittelgroß, krfiftig, etwas abgemagert.
Beide Lungen frei, Pleuren zart. Im Herzbeutel ca. 30 g leicht molkig ge-
trQbter, gelbHcher Flüssigkeit. Kleine Blutungen an den Pleuren. Epikard fiettreicb,
stark venös injiziert^ Ußt die Arterien als verdickte geschlängelte Streifen durcb-
schimmern.
Lungen Obi^rall lufthatttg, blutreich, die vorderen Rinder gedunsen.
Herz mittelgroß, rechter Ventrikel verbreitert uUd schlaff.
In beiden Höhlen lockere Bln^ und Fibringerinnsel, sowie im linken Venuikel
auch flfissiges Blut.
Der rechte Ast der Pulmonalarterie ist bis auf einen kleinen oben necb
freien Spalt völlig verlegt durch eine an der nnferen lateralen und auch an der
medialen Vand innig anhaftende Tbrombusmasse, deren seitliohes und unterstes
Gebiet ins Veiftgelblicbe veritrbt erscheint «nd sehr schlottrig, wie ödematös isi;
deren übriger größerer Teil bis auf ein 2 cm dicjMs Wandgebfet vMlif unterge-
gangen ist in einer mit brauner Flüssigkeit erfüllten Erweicbongsböhle* Auch In
antem Teile des Thrombus hochgradige, nur eine dünne Wandpartie übriglassende
zentrale Erweichung^ Der untere Teil ist ebenfalls wandstindig fiiüerL
Die Aorta ist hochgradig erweitert und arterlosklerotlsoh, sie mifit
im Umfang oa. 12 cm.
Der bei der Durchscbneidung der Pulmonalis zur Durcbtrennvng konunende
Thrombus seut sich bis auf eine Strecke von 3 cm oberhalb der Klappen ia dsa
Summ der Pulmonalis fort und sitzt da aa der hintern Wsnd, dieselbe aaf eise
Strecke von 5 cm des im ganzen 12—14 cm weiten Umfangss eianehaend. Der
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7] Die klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 397
grötere rechts- und nach vorn gewendste Teil des Lumens ist oifen. Vaad der
Pulmonalis Ober 1 mm diclc^ Intlma gerunzelt.
Im Bereiche der FIxationsstelle des Thrombus ein bis auf 3 cm
dickes knorpeliges, hartes, sklerotisches Randgebiet bemerkbar.
Die Zipfelklappen an den Rändern verdickt, ebenso die Aortenklappen, die
letzteren sehr stark ausgedehnt. Die Konorarostien sehr weit. Linker Ventrikel
etwa 1 — IVscm dick; Herzmuskel auffallend dunkel, gesittigt braun-blaurot. Tra-
bekel im linken Herzen ziemlich mager. Die des rechten Herzens massig, dick.
Konus der Pulmonalis sehr weit und 7 mm dick. —
In den peripheren Teilen des Zirkulationsapparates waren keinerfei thrombo-
tische Verinderangen auffindbar.
Diagnose: PrimSre Thrombose der rechten Arteria pulmonalis mit
beinahe völliger Verlegung des Lumens. Arteriosklerose der Pulmo-
nalis. Exzentrische Hypertrophie des rechten Herzens.
Atrophie des Gehirns. Chronische Ösophagitis. Hochgradige Bronchitis pu-
rulenta. Cystitis chronica mit exsentr, Hypertrophie der Blase, reichlieher Diver-
tikel- und Steinbildung.
Das Priparat wird im Museum des patboL anatem. Institutes unter der Sig-
natur C 03 b (neue Signatur C 136) aufbewahrt. (AnfaogateU der PulmoBalis nait
wandstindigem, zentral erweichten Thrombus. Stamm der rechten Arteria pulmonaUa
mit ftist voUstiudig obturierenden, zentrel erweichten, gemischten Thromben.)
III. Am patholog.-anat. Institut (Vorstand Herr Prof. Pommer) kam am 13. Ja*
»«ar 1906 nsehetehender Fall sur Obduktton (Prot-Nr. 7264/10). Barbara B^ 00 jih-
rige Hausmagd von Innebruck.
Arztl. Diagnose: Degeneratio cordis.
Fettreiche, stark Odematdse Leiche. Hirn atrophisch, GeflOe an der HImbasis
hochgradig arteriosklerotisch. Stauung. Beiderseitiger mäßiger Hydrothorax. Dber-
all Luft in den Lungen.
Herz stark fettbewachsen. Residuen von Perikarditis. Geringes Hydro-
perfkard.
Venen des Ösophagus sehr weit. Epithel verdickt.
Im Kehlkopfeingang Blutungen und Ödem. In den Bronchien stark trübe
Schleimflocken. Lungen stark pigmentiert und atrophisch.
Wand des linken Ventrikels beträchtlich hypertrophisch (2Vscm), Ostlum atrio-
ventriculare sinistrum nur für einen Finger durchgängig. Sehnen"
fäden stark verkürzt und verdickt. Bikuspidalis verwachsen« Wand
des rechten Ventrikels ebenfalls hypertrophiert. Muskel fettdurchwacbscu, Farbe
des Herzfleisches fahlbraun* dasselbe brüchige
Aorta ungewöhnlich weit, Kiappeii lert» scblußfähig^ Intima der Arteria
pulmonalis arteriosklerotisch verdickt, ebenso an der Aorta.
Milz etwas vergrößert.
PatboL anatom. Diagnose:
Stenose des Ostium atrioventriculare sin. infolge abgeheilter Endokar-
ditis der Bikuapidalis. Ezzentrisehe Hypertrophie, beeonders des linken Ventrikels.
Tr&be Sehwellung des Myokards und Fettdurchwachsung desselben im rechten,
ödem dsT Lunge. Alrophie des Pareschyms. Arteriosklerose der basilarea
Hirnarterien, Brustaorta und Arteria pulmonalis, Cbron. Racben-Öso-
phagtts-Magen-Darmkatarrh. Allgemeine Adipoeitas, Potatrix.
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368 Adolf Posselt, [8
Von den Angehörigen und dem behandelnden Arzt konnte nur so viel in Er-
fahrung gebracht werden, daß die Kranke schon seit langem herzleidend war.
Wegen Zunahme der Beschwerden (Atemnot, Ödeme usw.) wurde am 11. Jan.
H. Dr. P. gerufen, welcher die Kranke in fast präagonalem Zustand mit den Er-
scheinungen allerhöchstgradiger Herzinsuffizienz antraf.
Während des Lebens sollen öfters Anfälle von starker Blauverfärbung mit Atem-
beklemmungen bestanden haben.
IV. Zu wiederholten Malen stand vom Jahre 1891—1806 die 1801 im 30. Lebens-
jahr stehende Fabriksarbeitersfrau Maria F., geb. zu Matarello in Südtirol, wohn-
haft Innsbruck, ambulatorisch und klinisch an der mediz. Klinik in Behandlung.
1. Aufnahme. 3. XL 1801—16. L 1802. Diagnose: Insufflc« valv. bicuspid. In-
sufflc. cordis« Es wurden verordnet: Digitalis, KaL jod., KalomeL
2. Aufnahme. 1. IIL 1891—24. IIL 1892. Diagnose: Stenosis et insjufflcientia valv.
bicuspid. Degeneratio cordis.
3. Aufnahme. 3. IX. — 1. X. 1893. Insufflc. cordis. Insufflc. bicuspidal« Cyanosis.
4. Aufnahme« 7. L— 24. IL 1895. Vitium cordis. Insufflc. et Stenosis val?uL
mitralis. Degeneratio cordis. Cyanosis. Albuminuria lev. grad.
5. Aufhahme« 30. XL 1895—10. IL 1696. Stenosis et insufflc. valvul. mitralis.
Degeneratio et insufflcientla cordis. Cyanosis permagna. Polyarthritis, rheumatica.
Jnduratio cyanotica hepatis et renum. (Infarct. pulmon.?) Pleuritis obsoleta.
6. Aufnahme. 2. VI.— 9. VII. 1896. Stenosis et insufflc. valv. mitral. Degeneratio
cordis. Cyanosis permagna. Polyarthritis.
7. Aufnahme. 8. XL— 4. XII. 1896. Stenosis et insulf. valv. mitralis. Degeneratio
et insufflc. cordis hypertroph. Cyanosis permagna. Induratio cyanotica bepatis
et renum. Albuminuria. (Herzfehlerlunge.) Ad flnem Hydrops.
Die Kranke wurde in ihrer Jugend wegen DrQsenabszessen am Halse operiea
JAit ca. 15 Jahren überstand sie eine sehr schwere, Qber 6 Monate dauernde Glieder-
sucht, Gelenksrheumatismus, welcher in Zwischenräumen von ungeftbr
2 Jahren noch 2 mal wiederkehrte. Während der nächsten Zeit hatte sie durch
1 Vs Jahre in der Schweiz an Bauchschmerzen zu leiden, worauf sie sich völlig e^
holte. Im Jahre 1883 heiratete die Pat.
Nach der ersten Entbindung, Mai 1885, bekam sie Herzklopfen und Mattigkeit^
litt an Schweratmigkeit beim Gehen, besonders beim Stiegensteigen.
Der Urin verminderte sich und es traten kurze Zeit geringe Anschwellungen
der Füße und des Bauches auf. Es erfolgten noch 3 Geburten (2mal Forceps).
Nach jedesmaliger Entbindung hatte sie die gleichen Erscheinungen und es ver-
schlechterte sich immer der Zustand. Es traten auch leichte vorübergehende Ödeme
in der Knöchelgegend auf.
Während ihrer beiden ersten Spltalsaufhahmen gingen die Beschwerden aof
entsprechende Medikation immer sehr rasch zurück.
3. Aufnahme 3. Sept. 1893! Seit ihrer letzten Entbindung, am 16. Aug. 1893 liegt
die Kranke immer zu Bette und klagt über Herzklopfen, Schweratmigkeit and
Schwäche. (Nach der Entbindung sei auch das Handgelenk etwas angescbwoilen
gewesen.) Ihre 4 Kinder sind alle In sehr frühem Alter gestorben.
Status: Pat. ist von schwächlichem Körperbau, Muskulatur schlaff, Ernährungs-
-zustand schlecht. Dieselbe befindet sich stets in sitzender Stellung Im Bette, ringt
nach Atem; ihr Benehmen ist ängstlich« Ihre Stimme schwach und tonlos.
Die allgemeine Hautdecke und die sichtbaren Schleimhäute blaß, llvid; geringes
Ödem an den Beinen und der Abdominalhaut angedeutet Puls klein, arhytbmisch.
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9] Die klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 369
Beschleunigte, dyspnoische Respiration« Expektoration gering« Leicht eitrig-schlei*
miges Sputum.
Kopf klein. Gesichtsfarbe livid mit einer Spur subikterischer Verfärbung. Hals
mißig lang, an der linken Seite unter dem Unterkieferwinkel 2—3 unregelmäßige,
etwas vertiefte alte Narben (von Drusenabszessen aus der Kinderzeit herrührend).
Thorax ziemlich breit, fiac^. Lungengrenzen normal, überall voller Lungen*
schall und vesikuläres Atmen, reichlich trockene und feuchte Rasselgeräusche über
den unteren Lungenpartien.
Das Herz zeigt nach oben und rechts etwas erweiterte Grenzen. Beginn der
absoluten Dämpfung im 3. I. R. Nach rechts reicht dieselbe bis zur Sternalmitte.
Spitzenstoß ziemlich schwach unter der Mammilla im 5. L R. Epigastrische Pulsa*
tion. Die Auskultiuion ergibt ein über der Herzspitze am deutlichsten wahrzuneh-
mendes, den 1. Herztpn begleitendes, jedoch nicht ganz verdeckendes, pfauchendes
Geräusch von wechselnder Stärke. Die übrigen Töne rein. Z Pulmonalton
akzentuiert. Leichtes diastolisches Vibrieren im 2. 1. L R. <-
Abdomen: In der Höhe des Rippenbogens, vom 10. Brustwirbel beiläufig nach
vorne zu bis genau zur Medianlinie eine gürtelförmig angeordnete Reihe von flachen
erbsen- bis bohnengroßen, ziemlich unregelmäßigen, doch rundlichen, im Zentrum
heller, am Rande dunkelbraun pigmentierten Narben, an welchen früher heftiges
Jucken auftrat. Dieselben sollen aus Blasen, welche 2 Tage vor der letzten Ent-
bindung auftraten, entstanden sein (Herpes zoster). Bauchdecken ziemlich stark
gespannt, Bauch aufgetrieben.
Lebergrenzen innerhalb gewöhnlicher Ausdehnung.
Beine ödematös. Therapie: Bettruhe, Digitalis,. Milchdiät«
Während ihres 5. Aufenthaltes stellten sich wieder Gelenkschwellungen und
die Erscheinungen eines hämorrhagischen Lungeninfarktes ein. Durch einige Tage
auffallende Dyspnoe und höchstgradige Zyanose, Verfallensein.
Ebenso war während des 6. Spitalaufenthaltes ein neuerlicher Anfall von Po-
lyarthritis rheumatica vorhanden. (2. Juni 1806.) Vor 5 Tagen habe sie sich wie-
derum erkältet. In der Früh konnte sie nicht mehr aufetehen. Pat. hatte Schmerzen
in der linken Schulter, in beiden Ellbogengelenken und beiden Kniegelenken.
Die Gelenke waren gerötet und geschwollen. Bei der Aufnahme sind auch
Schmerzen im linken Hüftgelenk aufgetreten, die bis zur Wirbelsäule ausstrahlen.
Die Kranke klagt über Beklemmung, Herzklopfen, Husten, Auswurf und Atemnot.
Es besteht sehr starke Zyanose, ausgesprochene Dyspnoe, jedoch keine
Ödeme. Urin leicht vermindert, sauer, Chloride vermindert, Diazoreaktion negativ,
reichlich Albumen. Auf Bettruhe, Milchdiät, Natr. salicyl., Salol, Bäder ließen die
Schmerzen bald nach.
In der Zusammenfassung der Befunde während ihrer letzten Spitals«
aufeathalte wurde nachstehendes notiert:
Es handelt sich um eine ziemlich kleine, abgemagerte, enorm zyanotis.che
Frau. Dieselbe kam immer höchst zyanotisch und mehr weniger dyspnoisch zur
klinischen Aufnahme, wobei die Blausucht graduell stets stärker war wie
die Atemnot.
Die Stauung in den Lungen und parenchymatösen Organen, die kolossale Zya-
nose beherrschte immer das ganze Krankheitsbild dieses Vitium cordis. Ödeme,
früher nur in sehr geringem Grade vorübergehend vorhanden, traten vollkommen
in den Hintergrund.
Herzbefund. Verbreiterung der Herzdämpfung nach rechts bis gegen die rechte
Sternallinie, im 2. linken I. R. knapp am Sternum eine ca. 1 Va cm betragende Ver-
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370 Adolf Posselt, [10
kiirzung des Perkussionsschailes, etwas Druckempflndlicbkeit daselbst, speziell bei
vorgebeugtem Oberkörper.
SystoHscbee und mittinter dieses an StSrke and Schirfe fibertreffendes diasto-
Hscbes Geräuscb an der Herzspitze.
Akzentuierang des 2. Pulmonaltones, manchmal nndentliefaes, inkenstaotes,
leicht schwirrendes Geräusch fiber der Pulmonalis.
Puls klein, weich, öfters sehr unregelmißig. Zaw«ilen stirkere Tachykardie
und hochgradige Arhythmie. Hie und da anfallsweise stechende Sehmerzen in der
Oberforustgegend mit Angst verbunden.
Im Vergleich zu den frQheren Befunden am Herzen, traten nach und nach die
Symptome der Insuffizienz der Mitralklappe gegenfiber den^i der Stenose immer
mehr zurück, so daß schließlich Ton diesen beiden ZnatAndeo am Ostinn atrio*
ventric sin. weitaus die Stenosierung das Obergewieht bekam.
Auf Gebrauch von Digitalis, Spartein, Strophantus und Milchdiät besserte sidi
immer ziemlich rasch der Zustand. Manchmal wurden Digitaliepriparale scUecfat
vertragen» weshalb zu den angeführten andern Mittehi und zu Adonis vcnuüia» Diu-
retln, Koffein gegriffen wurde. Während die Atemnot verhiltttlsailßig mach lu
beeinflussen war, ging die Zyanose nicht zurück.
7. und letzter Aufenthalt vom 8. November bis 4. Dezember 1896L Fat achlecbt
genährt, abgemagert. Gesiebt (besonders Nase und Vangen^ dann die Endphalangea
enorm zyanotisch. Dsbei zeigt die Frau außerdem einen Stich ins IkSensehe
(subikterische Verfärbung) Dyspnoe. Die Kranke sitzt aufrecht im Bette» kla0
fiber Herzklopfen, Präkordialangst, zusammenschnfirendes Geffihi» Schmerzen in
der Herzgegend und Lnfümnger. Auswttrf bei quälendem Husten unregelmäßig,
manchmal spärlich und mehr zähe, hie und da etwas reichlicher. Herzgegend
leicht vorgewölbt Herztätigkeit ungemein lebhaft, aebr arhythmisch, freqnent
Ober der ganzen Herzgegend ausgebreitetes pulsstorisches Wogen. Von Zeit zs
Zeit sieht man systolische Einzlehiingen im 4. nnd 5. L iL zwischen Stemtl-
und Psplilsrtinie. Die erregte, weithin sichtbare, wogende Herzaktion steht im auf*
ftiUenden Gegensatz zum schwachen, weichen, leicht komprimierbsren Puls.
Die perknssorische Untersucbung des Herzens ist etwas erschwert, jedoch kans
eine wesentliche Verbreiterung der Herzdämpfung nach rechts bis fiber dea
rechten Stemalrsnd, fast bis zur rechten Parastemallinie konstatiert werden.
Im 2. linken Interkostalraum an der oben angegebenen Stelle findet sich eine
kleine Zone gedämpften Schslles. Pulsatorische Phänomene dsselbst nicht nach-
weisbar, vielleicht etwas Druckempflndlichkeit, die fibrigens auch welter nsch ab*
wärts zu manchmal auftritt
An der Herzspitze besteht ein weiches, ziemlich langgezogenes, undentlichee
systolisches, hie und ds präsystolisches Geräusch von mehr schsbendem Charakter.
Bei gewissen Stellungen tritt ein viel lauteres, iedoch kürzeres, pftmchsndes, diar
stolisches Geräusch hervor, dss im weiteren Verlsuf dss Dominierende wird und
sich mitunter am deutlichsten im 3. linken I. R. am Stemalrand findet
Akzentuierung des 2. Pulmonaltones, dabei fiber der Pulmonalis inkonstante^
nicht recht zu lokalisierende, und nichts Charakteristisches darbietende Gerimsehe
verschiedenen, einige Male schabenden Charakters, zeitweise mit Andeutung von
Spaltung. Keine Reibegeräusche. An der Herzspitze zumeist diastolisches, leicht
rieselndes Schwirren palpabel.
Bei der Betastung der Lebergegend fühlt man eine erhöhte Resistenz, aaf
Druck leichte Empfindlichkeit
Abdomen mäßig aufgetrieben. Flfissigkeitserguß erheblicheren Grades nicht
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11] Die kliniscbe Diagnose der Pulidonalarteriensklerose. 371
vorflBdlicb. Es bestehen keiserlei Ödeme. Die auffallend dünnen Beine
zeigen trockene, abschilfernde, leicht in Falten aufhebbare Haut.
Urin vemlnderty 800 ccm, mäAig getrübt, anturiert, zeigt mißtgen Eiveißgehalt
und hyaline Zylinder. Die mikroskopische Untersuchung des Auswurfs läßt Eiter*
kdrpercben and sehr zahlreiche typische Herzfehlerzellen erkennen.
Die Blutuntersuchnng ergibt Qber 6 Mill. rote Blutkörperchen im Kobikmill.
Bei einer Visite klagte die Prau plötzlich über krampfhafte in die Hefe gehende
Herzschmerzen, zugleich zeigte sie Schwelfiausbmch, BlSsse and inßerst ängstlichen
Gesichtsausdruck. Nach einigen Minuten hörte der Anfall aaf und es trat wieder
das gewöhnliche Bild starker Blausucht auf.
Vibread des letzten Spitalsaufentbaltes besteht aufflllige Idioeynkmie gegen
DigitaHsprlparate, weshalb die eben erwähnten Mittel zar Anwendang gelangen.
Es maobt sich Immer mehr und mehr hochgradige Heninsaffisiens metMIch,
welche sich ganz besonders in der Richtung der böcbstgradigen Blausucht
und Atemnot dokumentiert.
Das Hers arbeitet ungemein angestrengt, der Puls anssetcend, s^r anregel-
miBig, Im höchsten MaBe weich and kompriraierbar.
Gegen die Anfalle ron Asthma cardiale findet wiederholt Nttrof^yverin mit
gtttem symptomatischem Erfolg Anwendung, späterhin gegen die Koflapsawsiinde
Reizmittel.
Anfangs D^Beml>er erst machen sich leichte Ödeme in der Knöehelgegend be-
merkbar. Hammenge gering. Eiweißgefaalt zugenommen.
1. XIL Arhythmie und Schwäche des Pulses höchstgradlg.
Unter Zunahme der Dyspnoe und der tiefschwarzblauen Verfärbung Eintritt
von Kollaps und Erstickungsanfällen. Äther- und Kampferinjektionen. Reizmittel.
\7achsen der Ödeme, Benommenheit, exzessive Herzschwäche. Exitus letalis am
4. Dezember 1896 um 6V2 Uhr abends.
Die klinische Diagnose lautete: Stenosis et insufficientia valvulae mitralis sub-
sequ. hypertrophia ventrfc. dext. cordls. Degeneratio et insufficientia cordis hyper-
trophicae. Cyanosis permagna. Induratio .cyanotica hepatls et renum. Albuminuria
(Nephrit, chron.). Hochgradige Stauungs(Herzfehler)]unge. Zum Schluß Ödeme.
Es wurde der Verdacht auf eine Perikardialsynechie ausgesprochen. Hin-
sichtlich der Arteria pulmonalis mußte die Diagnose in suspenso bleiben.
Fär eine sneurysmatische Erweiterung wsren zu wenig Symptome da.
Daß aber die Pulmonalarterie in Mitleidenschaft bei diesem eigenartigen und
schwere« Herzfehler gezogen wurde, wurde bei jedem Aufenthalt klarer; nur konnten
die diesbezüglichen Symptome nicht recht in eine bestimmte Kategorie eingereiht
werden. Nicht undenlU)ar war eine infolge Verwachsung mit der Umg/sbung (vom
Herzbeutel aus) aufgetretene Verzerrung, zumal Spuren obsoleter Pleuritis bestanden.
Der Gedanke an eventuelle sklerotische Prozesse wurde wegen der exzessiven
Stsunag in der Lange und der riesigen Zyanose auch rege (eine susgesprochene
Arteriosklerose an den peripheren Arterien fehlte). Es wurde bei dieser Kran-
ken während der letzteren klinischen Aufenthalte bei verschiedentlichen Ge-
legenbeilen (Demonstrationen in Kursen und Vorlesungen) wiederholt die Wahr-
sebetolichkeitsdiagnose, daß bei dem bestellenden Vitium cordis, speziell der immer
stärker hervortretenden Mitralstenose, eine Sklerose der Pulmonalarterie vor-
liegen könne, ausgesprochen und die hierfür maßgebenden Zeichen analysiert
Sektion 5. Dez. 1806. Prot Nr. 4154/285.
Körper klein, schwächlich; untere Extremitäten ödematös, blaß. Zyanose des
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372 Adolf Posselt, [12
Gesichtes. Totenstarre an den unteren ExtremitStea erhalten« Unterleib as^e-
trieben.
Pacbymeningitls interna haemorrh. Atrophia cerebri, chron. ödem der Me-
ningen.
Im Rachen und Luftwegen mit Blut Termengter Schleim. Schleimhäute blaß.
Beide Lungen bis auf die unteren Partien gleichmäßig fixiert.
Diese von dicken Adhäsionsstringen, zwischen welchen etwa Vs 1 klarer, seröser
Flüssigkeit angehäuft ist^ an das Zwerchfell angeheftet
Perikard in ganzer Ausdehnung mit dem Herzen verwachsen.
Die Lunge ziemlich voluminös, dicht, teils mit schaumarmer, teils mit feia-
schaumiger Flüssigkeit infiltriert, auffallend rot gefärbt, sehr zäh, jedoch schlaff.
Bei Durchschneidung der rechten Lunge fiUlt auf, daß ein überdoppeltdaumen-
breiter Pulmonalast zum größten Teil durch einen haftenden geschichteten Throm-
bus verstopft ist An der Verwachsungsmembran des Perikardiums zerstreute
Blutaustritte.
Herz sehr groß, stumpf, die Spitze zum größten Teil vom rechten Ventrikel
gebildet, der Länge nach 12 cm, der Bereite nach 14 cm, der Dicke . nach über
10 cm messend, nicht kontrahiert In den Herzhöhlen viel Fibrin uQd Blutgerin-
nungen. Das Ostium atrioventriculare sinistr» nur für die Spitze eines kleinen
Fingers durchgängig.
. Die Bikuspidalklappe sehr verdicke und verkürzt Der Aortazipfel überragt von
verkalkten, rauhen Erhebungen in der Ausdehnung einer Bohne. Der Papillär-
muskel desselben stark ausgezerrt, die Sehnenfäden kurz, kaum Vs bis 1 cm lang,
säulenähnlich verdickt Der linke Vorhof sehr weit, sein Endokard verdickt Der
linke Ventrikel ziemlich weit, seine Wand bis IV2 cm dick. Im hohen Grade er-
weitert ist der rechte Vorhof und Ventrikel.
Die Wand des Conus pulmonalis bis Ober 1 cm dick, die unteren Teile der
Wand des rechten Ventrikels bis IVs cm dick, die Trikuspidal- und Pulmonalklappen
zart. Die Trabekel und Papillarmuskeln fettig gelb, die peripheren Schichten des
Herzmuskels dunkel rotzyanotisch. In der Aorta und deren Zweigen keine
auffallend sklerotischen Veränderungen, ebensowenig in den Gebimtr-
terien, diese blaß.
Die Arteria pulmonalis hat im Bereiche der Klappen einen Umfang von
7 cm, die Aorta beiläufig V2 cm oberhalb der Klappen.
Im Gebiet der Teilung der rechten Pulmonalis, weit hineinreichend in
die ersten Äste derselben, eine hochgradige Erweiterung, so daß derUmfug
der Teilungsstelle der rechten Pulmonalis bis über 9 cm beträgt, dabei die Wan-
dung hier und in den weiteren Ästen, sowie auch in der beiläufig 6 cm weiten
linken Pulmonalis reichlich gebuckelt und uneben, mit weißlieben
Höckerchen und Strichelchen bezeichnet Die rechtsseitige und vordere
Wandpartie der rechten Pulmonalarterle mit einem über 3 cm breiten und 1 cm
dicken geschichteten Thrombus besetzt, der sich in den angegebenen Pulmonal-
arterienast der rechten Lunge fast obturierend fortsetzt Von der zentralwärts ge-
wendeten Spitze dieses Thrombus erscheint, zum Teil überdeckt, ein bis auf 1 cm
oberhalb der Pulmonalklappen (Kommissur zwischen der rechten und linken) sich
erstreckendes, 3 eckig gestaltetes, bis 3 cm langes, unter dem Thrombus 1 cm breites
Feld, beiläufig V2 cm unter der übrigen Intimafläche der Pulmonalis gelegen.
Dieses vertiefte Feld ist mit einer blassen, glatten Bekleidungsschicht ausge-
stattet, die Ränder desselben sind abgerundet, wie etwas gewulstet und leicht nacb
außen verzogen.
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13] Die klinische Diagnose der Pnlmonalarterienskierose. 373
Eine fthnliche 4 cm lange, überwiegend gleiclnnäßig l^s cm breite Aasein- \y^
anderweicbnng der innersten Wandschichte der Pulmonalis erstreckt sich von dem
Teilungsspom des Hauptstammes der Pulmonalis in das Gebiet der erweiterten
rechten Pulmonalis hinauf. Auch die Ränder dieser Zusammenhangstrennung sind
abgerundet und etwas nach außen gekrempelt. Die Basis leicht wellig, faltig, grau»
rötlich, durch dieselbe schimmern die dunklen Substanzen der benachbarten
Lungen« und Lymphdrüsengebilde zum Teil durch. Die faltige Flftche dabei nirgends
rauh, zerfasert, sondern ebenfalls mit einer glatten aber durchscheinend dünnen
Schichte überzogen. Dieser Auseinanderweichung schließt sich ein halb bohnen«
großer, haftender, welliger Thrombus an. An der Basis der Auseinanderweichung
selbst nur einige Spuren von Blutgerinnung.
Geringgradiger Aszites; hochgradiger Stauungskatarrh des Magens und Darms ;
zyanotische Induration der Milz (14 : 9 : 6)«
Atrophische Muskatnußleber. Zyanose der durch interstitielle Nephritis granu-
lierten und amyloid entarteten Niere.
Pathologisch anatomische Diagnose:
Exzentrische Hypertrophie des Herzens, besonders des rechten, in-
folge Stenose des Ostium atrioventriculare sinist, Insuffizienz der
Bikuspidalis. Adhäsive Perikarditis. Cbron. interstitielle Nephritis mit
Amyloid. Beiderseitige adhäsive Pleuritis.
Hochgradige Sklerose und Erweiterung der Pulmonalacterien, be-
sonders der rechten und unvollständig abgeheilte Ruptur der letzte-
ren. Thrombose derselben. Rote Induration der Lungen. Zyanose der Leber
Nieren, Milz. Allgemeiner Hydrops.
V. Peter M., 34)ährig., led. Bauemtaglöhner von Völs, stand wiederholt ambula-
torisch und klinisch an der mediz. Klinik des Innsbrucker allgem. Krankenhauses
in Behandlung.
16. IX. 1890 Ambulat. Diagnose: Insufflc. mitraL Stenorkardie?
Am 29. Januar 1892 Prot. Nr. 64/307 wurde er wegen Husten, Auswurf, leichter
Dyspnoe aufgenommen.
Diagnose: Vitium cordis. Insulf. et Stenosis valvuL bicuspid. Phthisis pul-
monum incip.? Intumescentia glanduL lymphat. colli. Am 5. Februar wurde er in
wesentlich gebessertem Zustande entlassen.
Später stellte er sich im Ambulatorium vor und zwar im Mal und mehrmals
im September desselben Jahres, Als Diagnose ist Stenosis et insuflficientia valvulae
mitralis vermerkt.
Am 17. November 1892 kam Pat., unter Prot. Nr. 482/2793 der mediz. Männer-
klinik neuerdings zur Aufnahme und machte folgende Angaben:
Der Vater starb mit 78 Jahren, die Mutter mit 77. Krankheit unbekannt
Hereditäre Verhältnisse ohne Belang.
Patient will bis ungefähr -^ eine genaue Angabe läßt sich nicht erzielen —
zum Jahre 1874 vollständig gesund gewesen sein, um welche Zeit ihn nach einer
Erkältung ein Gelenkrheumatismus befallen habe, von 3 wöchentlicher Dauer,
mit Beteiligung fast aller Gelenke. Nach 2 Jahren, 1876, wiederholte sich die
Polyarthritis rheumatica, 7—8 \7ochen dauernd. Schon nach der ersten Attacke,
ganz besonders aber im Anschluß an die zweite, bemerkte er das Auftreten von
Herzklopfen bei stärkeren Bewegungen und daß er damals als junger Burche seinen
Altersgenossen bei weiteren Ausflügen, beim Laufen usw. nicht habe nachkommen
können. Im Jahre 1878 akquirierte er angeblich einen Typhus, weswegen er in fast
2monat]icher Spitalsbehandlung verblieb.
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374 ^M Posselt, [U
Die Naefaforechnng im AuAiahflisprotokoll ergiib jedoob, dsA der damels 23jlhr.
Kranke im Jahre 1878 vom M« Oktober bis 30. November an der medix. Klinik,
Prot Nr. 402/1682, vegen Endoksnlitis (tmd Perikarditis?) In Bebaodlimc ssud
wobei sieb der Vermerk findet, daft Pat. mit einer hisuffieientia ▼ahr. bteuspidalit
binausging.
Nach dieser Zeit haben sich inerst schwach auftretende, dann immer mehr
sich steigernde Atembeschwerden bemerkbar gemacht, erst spiter mehr oder mhi-
der starkes Anschwellen der Fflße in der Kn6chelgegend, manchmal aueh solches
der Waden. Seit anfongs 1802 steigerten sich die Beschwerden so, daft dor Mano
arbeitsunfihig wurde. Neben Atemnot, Herzklopfen leidet er an Husten md
Stechen in der rechten Seite, auf welcher er allein nur zu liegen imstande ist, und
an Schmerzen in der Herzgegend.
Status: Pat. mittelgroß, mäßig gut genährt, klagt über starke Asemnoty Herz-
klopfen, Hasten und geschwollene Füße.
Gesicht zyanotisch. Hals dick. Rechts, hinten und außerhalb des M. stemo-
cleido-mastoideus eine weiche, pulsierende, verdrangbare, fast hühnereigroße Ad-
schwellong. In der linken Supraklavlkalargnibe, wie auch In der rechten, einige
vergrößerte Lymphdrüsen fühlbar.
Thorax gut gewölbt. Respiration symmetrisch, angestrengt, beschleunigt. Die
Herzgegend vorgewölbt.
Die PeilfiUslon ergibt in der rechten Supraklavikulargnibe und den gleichseitigen
Interkostalräumen bis zur 6. Rippe relative Dämpfung, von dort nach abwärts ab-
solute Dämpfung bis 4 Querflnger unter den Rippenbogen in der Papillarlinie.
Links oben voller Lungenschall. Die absolute Herzdämpfung beginnt im 4. iater-
kostalraum. Die Herzdämpfung überschreitet nach links die linke Papillarlinie um
IV2 Querflnger und reicht nach rechts bis zur Medianlinie.
Hinten über der ganzen rechten Thoraxbälfte relative Dämpfung, links Tolkr
Lungenschall. An der Herzspitze systolisches Schwirren fühlbar. Spitzenstoß im
6. LR. paipabel.
Auskultation: Ober der rechten Lunge unbestimmtes Atmen und beiderseits
reichliche feuchte Rasselgeräusche. An der Herzspitze, aaraentlich im 6. L R. ein
systolisches und diastolisches Geräusch, welch ersteres weit nach aufwärts 2a
hörbar ist Im Epigastrium pulsatorische Erschütterung sichtbar.
Abdomen ausgedehnt und freie Flüssigkeit nachweisbar.
Mtlzdäiapfung vergrößert, namentlich im Längsdurchmesser. Die unteren Ex-
tremitäten stark ödematös geschwollen. Temp. normal. Puls frequeot, usgleicii-
mäßig, arhythmisch, sehr schwach. Hammenge vermindert, spez. Gew. lO^a Setkt.
sauer, Eiweiß reichlich.
19. XL 1 pro mille Albumen. Nach Gebrauch von Digitalis, Strophantus und
Koffein nimmt die Diurese zu, vorübergehende Besserung. Am 27. Nov. Puls kräf-
tiger, gleichmäßiger, normale 24stündige Harnausscheidung.
Am 5. Dezember stellen sich wieder sehr starke Zyanose, dann Ödeme oad
Atembeschwerden ein, welche nach DIgttalisgebrauch bald zurückgeben.
Am 20. Dezember waren die Ödeme ganz geschwunden, die Respiratieo ver-
hältnismäftig leicht. Der Ernährungszustand läßt jedoch viel zu wünschen iibris.
Von 2Mt zu Zeit Anfälle von Zyanose und Oppression aaf der Brust mit
Schmerzen in der oberen Herzgegend in die Tiefe zu.
Die klinische Diagnose lautete:
Insuflicientia et Stenosis vahrulae mitralis. Hypertropbia fcntriculi deztri cor-
dis. Cyanosis. Hydrops universalis.
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15] I^ie klinische Diagnose der Pufanonalarteriensklerose. 375
Pieofltis dextra. Albumiottria.
Am 29. Deaember wird der Mann gebeasert entlaeseo.
Nach kurzem Aufenthalt in seinem Heimatsdorf stellte sich Pat. jedoch bald
wiederum an der mediz. Klinik ein und fand daselbst am 11. Januar 1803 abermals
Aufnahme, Prot. Nr. 20/102 der med. Männerklinik. Die oben angeführten Be-
schwerden hatten unterdessen wieder ganz besonders zugenommen. Pat leidet
unter Beängstigung und Atemnot, Hydropsien haben sich abermals eingestellt,
die Zyanose erreicht hohe Grade. Nachdem Digitalis 4 Tage ohne besonderen
Erfolg verabreicht wurde, bekam der Kranke Jodkali, Strophantus und Kalomel,
neben Milchdiät. Die Diurese erreicht dann fast die Norm. Wiederholte Schmerz-
anfälle in den obersten Herzabschnitten mit Angstgef&hl und Unruhe. Variable
rieselnd-schabende Geräusche über der Herzbasis gegen links zu. Schon während
seines früheren Aufenthaltes war im Verlaufe des Dezembers bei der Auskul-
tation des Herzens zu konstatieren, daß das diastolische Geräusch immer prä-
gnanter wurde, )a zum Schluß prävalierte.
Auch jetzt herrschte bei der Auskultation weitaus das diastolische Geräusch,
das in ziemlich weitem Umfang an der Spitze zu hören war, Tor. Zeitwelse war
dasselbe an der Herzbasis (2. linker Rippenknorpel) am lautesten zu hdren.
Stattungsbronchitis. Verkürzung des Schalles im 2. linken I. R. von der Sternal-
bis etwas außsrhalb der Paraslernallinie. Ein dumpfes, undentliches, systolisches
schwirmndes Geräusch an der Basis des Herzens, namentlich gegen den 2. linken
L R. zu, rasch wechselnd. Der Breitendurchmesser der HerzdämpAinc hat nach
rschts zu beträchtlich sugenoraraen.
Am 15. Januar Auftreten von stechenden Schmerzen L. h« und daselbst Dämpfnng
mit unbestimmten Atmen und feuchten Rasselgeräuschen links unten. HAmorrhagi-
sches Sputum.
Rechts hinten unten ebenfalls Dämpfungszone mit abgeschwichten Atmen,
unbestimmten Rasselgeräuschen.
Unter zunehmender Dyspnoe, hochgradiger Zyansse Exitus letalis am 23. Januar
1803 Vt2 Uhr nachts.
Die klinische Diagnose lautete:
Stenosis et insufficientia valvulae mitralis. Hyportropfaia et dila-
tatio Passiva ventriculi dextri cordis.
Cyanosis. Degener. et insuffic. cordis.
Hydrops universalis. Infarctus haemorrhag. pulmon.
Pleuritis obsol. dextr., reo. sin.
Sektion am 24. Januar 1803. Prot Nr.3150/16 path. anat Diagnose:
Endocarditis ohron. cum stenosi ostü atrioventricuL sin. et insuffic. valvulae
bicuspidaJis. Hypertrophia excentrica cordis dext. eximia. Dilatatio atrii sin. eximia,
vsntric. sin. lev. gradus» kifarct suppurat. Job» Inf. pula. sin. subsequ. exsudato
sero-flbrinoso sin. partim occluso. (Pneumothorax partialis.)
Thrombosis arteriae pulmonalis dextrae partim obtur.
Endarteriitis arteriae pulmonalis eximia.
Atelectasis indurat. partial. pulmon. dext Induratio fusca pulmenum, cyasotica
renum, hepatis, lienis.
Catarrb. cyanot intestini praec. grassi et veatrtc.
Der größte Teil des linken Oberlappeas fest angewachsen. Die rechte Lunge
im ganzen Umfang ziemlich fest angeheftet
Die rechte Lunge bis auf wenige teils rundlich fleckige, teils im Bereich
großer, mit weißen Thrombusroassen verstopfter Arterien des Unterlappens strahlig
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376 Adolf Posselt, [16
in das Lungengewebe hineingreifender Züge, lufthaltig, gedunsen, mit schaumiger
Flüssigkeit inflltrirt, in den strahligen Partien im Bereich der thrombosierten Ar-
terien teils nur atelektisch, teils fibrös verdichtet, derb.
Die thrombosierten Arterienstftmme des Unterlappens, sowie mehrere erbsen-
bis haselnußgroße, briunlich pigmentierte schwielig umgrenzte Infarkte In ihrer
Nachbarschaft lassen sich durch das Gewebe hindurch als Knoten fühlen.
Bronchien erweitert. Die Lunge im allgemeinen ziemlich blutarm, von eigen*
tümlich, gelbrötlicher Färbung. Das Gewebe der Lunge durchwegs substanzreicher.
Ähnlich verhält sich der Oberlappen der rechten Lunge und Teile des Mittel-
lappens, welche lufthaltig, in ihrem Gewebe verdichtet, eigentümlich gelbrötlich
gefärbt, hie und da atelektisch und fibrös verdichtet sind.
Das Perikard des rechten Ventrikels an der Vorderfläche sowie des rechten
Vorhofes mit ausgebreiteten zum Teil netzförmigen Sehnenflecken überdeckt. Der
Anfangsteil der Pulmonalis mit dem Herzbeutel durch feste bindege-
gewebige Membranen verwachsen; an der Hinterfläche des linken Ventrikels
teils zottige Bindegewebsmembranen, teils strahlige Verdichtungen.
Daß Herz sehr groß, besonders breit, es mißt: 12 cm in der Länge» 15 cm in
der Breite und 9-^10 cm in der Dicke, ist in beiden Ventrikeln kontrahiert.
Das linke Herz erscheint als kleiner Anhang des mächtig vergrößerten recbteo
Herzens, Das Fettgewebe des Perikardium spärlich. Die Unke Herzhöhle mit
locker geronnenem Blute strotzend erfüllt. Das Ostium atrioventricul. nur
fürl Finger durchgängig. In den rechten Herzhöhlen mäßige Mengen lockerer
Blutgerinnsel und Fibrin. Ostium atrioventriculare dext. sehr weit.
Valv. tricuspidalis bis auf feine warzige Exkreszenzen am Rande ohne wesent-
liche Veränderung. Die Valvula bicuspidalis hingegen ist in allen ihren Teilen
verdickt, verkürzt, der Aortazipfel von knotigen verkalkten Einlagerungen einge-
nommen, die zum Teil auf der Oberfläche hervorragen; besonders im linken Teile
feine warzige Exkreszenzen, Die Sehnenfäden zum Teil miteinander verwachsen^
zum Teil verdickt. Die Ansätze der Sehnenfäden an der hinteren Fläche des
Aortenzipfels zu einem nur durch eine kleine Spalte geteilten, 1 cm breiten, 2—3 mm
dicken Seile vereinigt. Die Papillarmuskeln nicht auffällig verändert. Konus der
Pulmonalis mächtig erweitert. Die \7and bis zu 1 cm dick. Die Trabeltel
bis zu fast kleinfingerdicken Strängen vorspringend. Die Klappe der Art. pulmo-
nalis blaß, zart.
Aortaklappen schließen und sind bis auf geringe Verdickung und Herabzerrung
nicht wesentlich verändert. Koronarostien weit.
Linker Vorhof sehr weit, das Endokard strahlig weiß verdichtet.
Der linke Ventrikel in den unteren Teilen kaum 1 cm dick, in den oberen
IVscm, während die \7and des rechten Ventrikels 12 mm dick ist. Herzmaslei
braunrot.
Die oben angegebenen Thromben in den Arterien des rechten Unter
lappens lassen sich in Form randständiger, fest fixierter, meist ge-
mischter, ziemlich derber Thromben hinauf verfolgen bis an die
Abgangsstelle der Äste II. Ordnung. Diese und die kleinen Pulmontl-
arterien zeigen strahlig-fleckige Sklerosierungen der Intima (Museam*
Präparat, alte Signatur C 93d, neue C 135 des pathol. anatom. Museums).
VL Georg L., 29 J., led. Schankbursche, stand vom 27. März bis 5. Mai 1902
an der medizin. Klinik wegen eines schweren Herzfehlers in Behandlung. Prot
Nr. 273/1324 der med. Männerklinik.
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17] Die klinische Diagnose der Pulmonalartenensklerose. 377
Die Anamnese ergab, daß der Vater des Pat. mit 56 Jahren einem Herzleiden
eiiag, Mutter und 4 Geschwister leben.
Er selbst hat vor 3 Jahren Gelenkrheumatismus, vor 2 Jahren eine Rezidive
überstanden, wobei sich Herzerscheinungen meldeten.
In der Folge alle Symptome eines sich entwickelnden Herzklappenfehlers.
Der Mann, von gutem Ernährungszustand, kräftig gebaut, zeigt schon in ge-
wöhnlicher Bettlage beträchtliche Dyspnoe und ganz außerordentlich starke
Zyanose. Leicht subikterische Verfärbung der Skleren.
Enorme Herzhypertrophie, speziell des linken Ventrikels. Wogend undulierende
Herzaktion in verbreitertem Umfang, hebender Spitzenstoß. Schwirren in beträcht-
licher Ausdehnung an der Herzspitze. Daselbst lang gezogenes systolisches Ge-
räusch, das gegen den Sternalrand zu rasch abnimmt. An der Basis außerdem ein
kurzes, scharfes, diastolisches, ziemlich rauhes Geräusch über der Aorta, das sich
auch gegen die linke Sternallinie zu fortpflanzt. Pulsus celer. Arterienphänomene.
Die der Palpation zugänglichen Arterien vielleicht eine Spur rigider, namentlich im
Verhältnis zum jugendlichen Alter.
Die klinische Diagnose lautete: Insufflc. semil. aortae. Hypertrophia excent.
ventric. sin. Insuff. valv. bicusp. (relat.?). Hypertrophia ventr, dext. Insufflc.
cordis. Arteriosclerosis.
Während des Spitalaufenthaltes stellten sich wiederholt Schmerzen unter dem
Brustbein einhergehend mit Angst- und Beklemmungsgefuhl ein. Der Charakter
derselben war zu wenig ausgesprochen, so daß es in suspenso bleiben mußte, ob
es sich um wirkliche stenokardische Anfälle oder um Retrosternalschmerz bei
Arteriosklerose der Aorta handelte. Die Zyanose zeigte periodische Verschlimme-
rungen.
Manchmal waren die Geräusche an der Herzbasis eigentümlich schnurrend, von
förmlich musikalischem Charakter.
Kardiaka. Nach Bedarf Exzitantien.
Im weiteren Verlauf Zunahme der Oppression, Dyspnoe und Zyanose und der
Stauungserscheinungen. Auftreten von Ödemen, Stauungsbronchitis. Infarzierung
der Lunge.
Unter den Symptomen höchstgradiger Herzinsufflzienz Exitus letalis am 5. Mai.
Sektion am 6. Mai 1902. Prot.-Nr. 6066/108. Herzbefund (auszugsweise):
Vernarbte Endoarteriitis der Aorta und ihrer Klappen mit Loslösung des
Insertionsgebietes des Taschenrandes der hinteren Semilunarklappe der Aorta und
Umstülpung des dadurch frei gewordenen mittleren Teiles der hinteren Klappe,
Exzentr. Hypertrophie, besonders des 1. Ventrikels.
Stauungsinduration der Lunge. Infarkt im Mittellappen der r. Lunge.
Art. coron. sin. sehr eingeengt, rechte erweitert.
Im Wurzelgebiet der Pulroonalarterie eine die Intima in ihrem
ganzen Umfang betreffende, sich auf IV2 — 2 cm in das Gefäß er-
streckende Trübung und weißliche endoarteriitische Verdickung der
Intima.
VIL Anton P., 55 J., verh. Schlosser (Prot. Nr. 282/1388), am 2. April 1902 an
der medizin. Klinik aufgenommen.
Familienkrankheiten kennt der Pat. keine.
Mit 19 Jahren überstand er Variola.
Seit ungefähr 1 Jahr verspürt er heftige Schmerzen in der linken Seite,
Klln. Vortrige, N. F. Nr.504/07. (Innere Medizin Nr. 149/52.) Okt. 1908. 27
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378 Adolf Posselt, [18
speziell in der Herzgegend, und Atemnot Herzklopfen fehlt Mitunter
Hustenreiz. Ödeme besteben seit ungefähr 4 Wochen an beiden Beinen. Der
Schlaf ist durch asthmatische Anfälle gestört
Status: Sehr großer, kräftig gebauter Mann von entsprechendem Ernährungs-
zustand. Allgemeiner Hydrops. Hochgradige Ödeme an den unteren Extremitäten.
Mäßige Anasarka der Bauchdecken. Gesicht anämisch, Lippen und Wangen
zyanotisch, Skleren zeigen leicht gelblichen Stich.
Hals kräftig, Thorax breit, gut gewölbt Herzgegend stark vorgewölbt, bei etwas
kräftigerer Perkussion schmerzhaft Die Herzdämpfung reicht nach rechts bis zur
ParaSternallinie, nach links IV2 Querflnger über die linke Papillarlinie. Arhythmie.
Leise Töne. Über dem oberen Teil des Sternum und dem Manubrium langes dia-
stolisches Geräusch. Arterien rigid. Pulsus celer. Temp. subnormal.
Sensorium nicht ganz fret
Klinische Diagnose: Insufficientia semtlunarum aortae. Arterio-
sclerosis. Hypertrophia ventric. sin. cordis. Dilatatio cordis passiva. Degeneratio
et insufficientia myocardii. Volumen pulmonum auctum. Bronchitis. Cyanosis.
Intumescentia hepatis. Induratio cyanotica hepatis et renum. Stauungsalbuminurie.
Hydrops universalis. Icterus.
Therapie: bigitalis, Diuretin, Kalomel, Agurin, Jodnatrium (im Verlaufe des
ganzen Aufenthaltes) abwechselnd bei entsprechender Indikation zur Anwendung
gelangt
DruckgefQhl, Beklemmung in der Herzgegend, GefQhl von Enge, Stechen, manch-
mal Zusammenschnüren, Brennen in der Tiefe am Sternum in den oberen Ab-
schnitten. Keine Anfälle von Herzbräune.
Nach und nach übertrifft die bläuliche Verfärbung das anämische Aussehen.
Wiederholt nach Körperbewegungen Attacken von Zyanose mit Angstgefühlen, Be-
klemmungen und Herzschmerzen, dabei sehr unregelmäßige Herztätigkeit Das
diastolische Geräusch in verbreitertem Umfange nach links im 2. L R. bis über
die ParaSternallinie hörbar.
20. IV. Ödeme und Zyanose beträchtlich zugenommen.
Passive Dilatation des Herzens, 1. Ventrikel reicht bis zur vorderen Axillar-
linie. An der Herzspitze sehr dumpfe, undeutliche, verschwommene Töne. In der
Papillarlinie ein aus der Ferne kommendes diastolisches Geräusch, das nach auf-
wärts zu immer deutlicher wird. Ober dem Sternum ein kurzes, undeutliches,
weiches, systolisches und ein sehr ausgesprochenes, langes, scharfes, diastolisches
Geräusch. Am 21. wurde wegen den enormen Hydropsien die Kapillarpunkcion an
den unteren Extremitäten vorgenommen, durch welche am 21. und 22. über 10 1
Flüssigkeit entleert wurden. Dieselbe zeigte ein spez. Gew. von 1007 und war nur
mäßig eiweißhaltig.
Die Besserung war nur von geringer Dauer. Rasche Zunahme der Ödeme,
Benommenheit Hämorrhagien am Handrücken und am linken Unterschenkel.
Anfangs Mai zeigten sich sehr ausgebreitete Hauthämorrhagien, besonders am
Fuß- und Handrücken und an den Unterschenkeln. Am 7. beträchtliches Infiln-at
am 1. Unterschenkel, Abhebung der Epidermis. Tags darauf Bildung zweier gans-
eigroßer, mit blutigem Inhalt erfüllter pemphigusartiger Blasen in der Gegend des
linken Sprunggelenkes und des Fußrückens.
Ikterische Verfärbung ausgesprochen. Unter Zunahme des Ikterus, der Zyanose,
des Hydrops, Somnolenz und Schwäche Exitus letalis am 12. Mai 1902.
Sektion am 4. Mai 1902. Prot-Nr. 6072/116.
Diagnose: Hochgradige Aortensklerose und Dilatation mit sklero-
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19] l^ie klinische Diagnose der Pttlmonalarteriensklerose. 379
tischer Schrumpfung der Aortenklappen. Insuffizienz derselben. Exzen-
trische Hypertrophie des linken und des rechten Herzens hohen Grades mit braun-
atrophischer und fbttiger Degeneration.
Allgemeine Zyanose mit auffallenden Hämorrhagien der allgem.
Decke besonders und pemphigusartiger Blasenbildung.
Kruppöse Pneumonie des r. Unter- und 1. Oberlappens, hier kombiniert mit
hämorrhagischer Infarzierung. Fettnekrose des Pankreas.
Herz michtig vergrößert, schlaff, von abgestumpfter Form, mißt vom Ursprung
der Pttlmonalis bis zur Spitze 16, im Querdurchmesser 17 cm, der Dicke nach 8
bis 9 cm. Gewicht des Organs 850 g. — Atrioventric.-Ostien so weit, daß sie für
4 — 5 Finger durchgängig sind. Ihre Klappen groß, zart, ausgezerrt. -~
Die Innenfläche der bis 3 mm dicken, hochgradig erweiterten Aorta, sowie deren
große Äste von ausgebreiteten netzförmigen und streifigen Verdickungen einge-
nommen. An zahlreichen Stellen Verkalkungsplatten in die höckerig unebene
sklerotische Intima eingelagert.
Die Koronararterien weit, jedoch nicht artiosklerotisch verändert.
Klappen der Pulmonalis zart, schließen. Konus weit.
In den größeren Ästen der r. Pulmonalis nur flussiges und locker geronnenes
Blut. Keine Thromben bemerkbar. Stammgebiet der Arteria pulmonalis
stark fleckig sklerosirt. Beim Aufschneiden der mittleren Äste finden
sich einzelne Trübungen und leichte sklerotische Verdickungen.
VIII. Emilie St., 43). led. Bonne, kam am 13. November 1903 an der medizin.
Klinik zur Aufnahme und machte folgende Angaben:
Der Vater starb an Darmtuberkulose, die Mutter an Gedärmverschlingung. Pat.
machte mit 10 Jahren Blattern, mit 16 Jahren linksseitige Pneumonie durch; sie
war immer sehr schwächlich und zu Lungenerkrankungen disponiert.
Seit Jahren leidet die Kranke an periodischen Kopfschmerzen, Erbrechen und
Herzpalpitationen, Herzschmerzen und zeitweiligen stärkerem Angstgefühl. Früher
w^ill sie am Urin keine besonderen Abnormitäten bemerkt haben, erst seit ihrem
ca. Otägigen Aufenthalt in Innsbruck lasse derselbe eine beträchtliche Trübung und
Verminderung erkennen. Gleichzeitig haben sich Herzklopfen, Kopfschmerzen und
Schwächegefühl verschlimmert. Seit einigen Tagen Anschwellung der Beine und
etwas schwererer Atem.
Aufnahme am 13. Nov. 1903.
Pat. groß, kräftig, gut genährt. Allgemeine Hautdecke anämisch. Ödem in der
Fußknöchelgegend.
Livide Gesichtsfarbe, anfallsweise stärkere Zyanose. Zeitweise wieder mehr
anämisch.
L. h. u. verkürzter Schall, trockene und feuchte Rasselgeräusche. Herz nach
rechts und links verbreitert, Spitzenstoß außerhalb der Mammillarlinie. Herzaktion
verbreitert, stürmisch, unregelmäßig. Nur mit Mühe hie und da undeutliche systoL?
oder diastolische Geräusche wahrzunehmen.
Pulsationen im Epigastrium. Puls angedeutet celer, hochgradig arhythmisch
<ca. 130 i. d. M.). Wiederholte Tachykardieanfälle bis 145. Übelkeit. Schwindel.
Harn sehr stark vermindert, 300 cm. Albumen 472^00* Spärliche Formelemente
<Zylinder), Nierenepithelien und Eiterkörperchen. Stuhl unregelmäßig, eher ange-
halten.
Inf. digital.
14. XI. Puls 1661 nur sehr schwer fühlbar. Natr. brom. Digital. Eisbeutel,
leichter Exophthalmus.
27*
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380 Adolf Posselty [20
In der Folge Zunahme der Kopfschmerzen, schlechtes Sehen, Schwindel, Tachy*
kardieanfälle höchsten Grades. Enorme Arhythmie. Heiserkeit. Erbrechen. Oppres-
sion in der Herzgegend mit anfallsweisen dumpfen Schmerzen daselbst.
22. XI. L. h. u. gedämpfter Schall, verstärkter Pektoralfremitus. Blutiges Spu-
tum. 23. Erbrechen, starke Ödeme an den Beinen. 24. Kältegefühl in den Beinen.
Die linke untere Extremität fühlt sich kühl an. Verschlechterung des Sehver-
mögens. Benommenheit, weiterhin Bewußtlosigkeit. Kalte Schweiße, höchstgradige
Pulsschwäche. Kampferinjektionen. Hochgradige Zyanose des Gesichts. Auch das
r. Bein schwillt an. Zunehmender Kollaps. Am 25. XI. 1 Uhr nachts Exitus letalis
unter Erscheinungen von Lungenembolie (?).
Die klinische Diagnose lautete: Vitium cordis. Stenosis (et insuffic?)
valv. mitralis. Myodegeneratio et insufficienta cordis hypertrophicae.
Anaemia. Cyanosis. Nephritis parenchym. chron. Uraemia. Bronchopneumonia.
Thrombos. crur. sin. Infarct. haemorrh. pulm. (?).
Die am pathologisch-anatomischen Institut am 26. November 1903 vorgenommene
Sektion (Prot.-Nr. 6543/274) ergab nachstehenden Befund (auszugsweise).
Patholog.-anatomische Diagnose:
Stenose des Ostium atrio-ventric. sin. und Insuffizienz der Vtiv.
bicuspidalis infolge chron. Endokarditis mit exzentr. hochgradiger Hypertrophie
des r. Herzens, Dilatation der Arteria pulmonalis und ihrer Äste und
Arteriosklerose derselben bei Synechien beider Lungen, insbesondere des
Unterlappens mit Fixation der umgekrämpelten Ränder rechterseits nach vor 10 J.
überstandener Pleuropneumonie.
Obturierende Thrombose der Art. pulmonalis des 1. Unter-
lappens. Wandständiger erweichter Thrombus der rechten Art
pulm. mit ausgedehnten hämorrhag. Infarzierungen, besonders d. r. Unterlappens
(ohne Hämoptöe-Erscheinungen).
Thrombose des I. Herzohrs. Embolie der Aorta abdom. an der Bifurkation und
der Teilung der r. Iliaca comm. mit fortgesetzter frischer und älterer Thrombose
in der 1. bzw. r. Iliaca externa. — Arterioskler. nephrit. Narben in beiden Nieren
bei hochgrad. Arteriosklerose der Ursprungsstellen der Äste der Aorta abdom., der
Art. renalis.
Sekundäre Tracheo-Bronchiektasien in beiden Unterlappen. Lungenränder z. T.
angewachsen an das mediast. Pleurablatt. Lungenränder berühren sich, r. 3 1 klarer
seröser Flüssigkeit. Links 2—3 1.
Herz:
Länge des Herzens 9,5 cm, r. Ventrikel 11 mm dick.
Dicke des L Ventrikels 14 mm. Breite des Herzens 10 cm.
Umfang der Aorta 9,5 — 10 cm.
Umfang der Arteria pulmonalis oberhalb der Klappen 8 cm.
R. Ventrikel sehr verdickt, beide Ventrikel kontrahiert. Ost. atrioventric sin.
für den kleinen Finger durchgängig.
Die Ränder der Klappen besetzt mit rauhen verkalkten Besätzen. Die Sehnen-
ßden auf IV2 cm Kürze reduziert. Hintere Klappe in ganzer Ausdehnung verdickt.
Stamm der Art. pulmonalis frei. Der Durchmesser sehr stark bis auf 9 cm und
darüber erweitert.
Die Art. pulm. enthält in ihrem Stamme und Teilungsstelle nur Leicbengerinnsel.
Aus dem r. ersten Aste und aus dem großen unteren Aste der linken Lunge ragen
thrombot. Massen vor, welche den linken unteren Ast total obturieren und z. T.
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21] Die klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 381
ziemlich innig an der Arterienwand angeheftet sind. Nehen dem Thrombus der r.
Pulmonalis bleibt noch ein ziemlich großer Teil des Lumens offen.
Dieser Thrombus ist ebenfalls fixiert, dabei aber bis auf eine dünne Rand*
schichte zu einer chokoladebraunen dünnen Flüssigkeit erweicht. In der Fortsetzung
dieses Thrombus die unteren Äste des r. Unterlappens durch Thrombusmassen total
obliteriert
Thrombose des L Unterlappens nur in beschränkter Ausdehnung. In beiden
Ästen der Pulmonalarterie außer der hochgradigen Erweiterung und relativen Dünn-
heit der \7inde z. T. vorragende linsengroße, gelbe Flecken bemerkbar. Solche
Felder auch verfalgbar in die Arterien des linken Oberlappens, wo sie frei von
Thromben sind. Die oberen nicht thrombosierten Äste der r. Pulmonalarterie
zeigen sehr auffillige sklerotische Flecken.
Über einen weiteren Fall von hochgradiger Sklerose der Pulmonalarterie bei
Stenose und Insuffizienz der Valvula bicuspidalis (und geringgradiger Insuffizienz der
Aortenklappen), ebenfalls ein noch jugendliches Individuum betreifend, kann in
Kürze nachstehendes berichtet werden.
IX. Johann P., 22j. lediger Schneider von Telfs, aufgenommen an der medi-
zinischen Klinik am 17. November 1902 (Prot.-Nr. 807/4871).
Schon im Jahre 1897 suchte er ambulatorisch Hilfe wegen seiner Herzbeschwerden
(18. Mai 1897), wobei ihm schon damals Spitalsaufnahme empfohlen wurde. Er ver-
blieb bis 3. Juli 1897 in klinischer Behandlung. Diagnose: Stenosis et insufflcientia
valvulae bicuspidalis. Cyanosis permagna.
Auch in der Folge frequentierte er ab und zu das Ambulatorium, wobei sich
stets deutlich die Zeichen des genannten Herzfehlers mit starker Zyanose, jedoch
ohne Dyspnoe und sonstigen auffälligeren Stauungssymptomen ausgeprägt fanden.
Attfhahme 1902. Anamnese:
In der Kindheit habe Pat. Preisen gehabt. Sonstige Krankheiten sollen keine
bestanden haben. Im 12. Lebensjahr stellte sich Herzklopfen bei rascheren Be-
wegungen, namentlich beim Laufen ein, zu welchem sich in späteren Jahren er-
schwertes Atmen hinzugesellte. Schwerere Arbeiten brauchte er nicht zu verrichten.
Anfangs lernte er Buchdruckerei, später wurde er Schneider.
Nach der Spitalsbehandlung 1897 (s.o.) fühlte er sich einige Jahre besser. Seit
1 Jahr verschlechterte sich sein Befinden. Er bekam öfters Schwindelanflllle, es
wurde ihm dann schwarz vor den Augen. Diese Anfälle steigerten sich manchmal
bis zur Bewußtlosigkeit. Eine Anschwellung der Füße bildete sich auf medikamen-
töse Behandlung wieder zurück.
Seit Monatsfrist verschlimmerte sich sein Zustand derart, daß er wieder Spitals-
hilfe aufsuchte.
Seine Beschwerden bestehen in Atemnot, Schwäche, heftigem Herzklopfen,
Ödemen der Beine. Außerdem klagt er über ein spannendes Gefühl im Abdomen,
Schmerzen in der Herz- und Lebergegend, Husten.
Status: Mittelgroßer, kräftig gebauter, ziemlich gut genährter Mann mit kräftig
entwickelter Muskulatur. Zeitweise Dyspnoe. Sehr starke Zyanose der Wangen,
Ohren, Nase, Lippen. Diese Teile, ebenso die Finger, Knie und Zehen fühlen sich
kühl an. Thorax ziemlich breit, mittellang, mäßig gewölbt.
Perkussionsschall h. und namentlich rechterseits etwas verkürzt Ober diesen
Partien sehr zahlreiches feinblasiges und Knisterrasseln, über den übrigen Lungen-
partien mittelblasige unbestimmte Rasselgeräusche.
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382 Adolf Posselt, [22
Mäßiger Herzbuckel. Spitzenstoß im 5. I. R. außerhalb der Papillarlinie.
Kein Schnurren oder Seh wirren bei der Palpation wahrnehmbar. Herzdimpho^
beginnt am unteren Rand der 3b Rippe, reicht nach rechts etwas über den rechten
Sternalrand hinaus, nach links bis zur Mammillarlinie.
Am linken Sternalrand von der Ansatzstelle des 2. linken Rippenknorpels bis in
die Herzdämpfung übergehend eine ca. 1 — U/s Querfinger breite DSmpfungszone an-
gedeutet. Auf stärkere tiefere Perkussionsschläge hier eine gewisse Druckempfind-
lichkeit, die anscheinend bei vorgebeugtem Oberkörper ausgesprochener wird. Ve^
breiterte unregelmäßige Herzaktion sichtbar.
Bei der Auskultation kann man etwas unten und außen von der MammiUi
ein lautes systolisches, blasendes Geräusch konstatieren, daneben öfters auch eis
präsystolisches, selten auch deutlich diastolisches blasendes Rauschen. In der
Ruhe die Geräusche nicht besonders stark; bei Bewegungen, namentlich bei Rumpf-
beugen tritt das diastolische Geräusch stärker hervor und wird dann mehr nach
oben gegen den linken Sternalrand zu bis zum Ansatz des 3. linken Rippenknorpels
als schärferes, lauteres, hauchend-schabendes Geräusch wahrgenommen.
Während der Bettruhe nur geringe, bei selbst mäßigen Bewegungen ausge-
sprochene Arhythmie.
Die Zyanose steigert sich beim bloßen Aufrichten im Bett zu beträchtlicher
Intensität. Mitunter direkte Anfälle von tief schwarzblauer Verfärbung, ohne gleich*
zeitige Steigerung der Atemnot.
Puls sehr klein, weich, leicht unterdrückbar, arhythmisch. Blutdruck 70 mm Hg.
Periphere Arterien kaum, Arteria radialis vielleicht eine minimale Spur rigider.
Die Leberdämpfung reicht in der Mammillarlinie gut IV2 Querflnger über den
Rippenbogen. Die Lebergegend bei der Palpation etwas schmerzhaft. Milzdämpfnog
sowohl im Breiten-, wie im Längsdurchmesser bedeutend vergrößert.
Sputum schaumig -schleimig. In demselben hie und da kleine bräunliche
Stellen bemerkbar, die mikroskopisch Herzfehlerzellen aufweisen.
24stündige Harnmenge verringert. Harn hochgestellt, lei^t getrübt, braunrot
enthält Eiweiß in mäßiger Menge.
Die tägliche Harnausscheidung ziemlich variabel.
Stuhlgang etwas unregelmäßig. Temperatur normal.
Respiration 25^28. Puls 80—00.
Kardiaka. Agurin. Worauf die Harnmenge vorübergehend etwas steigt, am
nach einigen Tagen wieder zu sinken.
Im weiteren Verlauf rasche Zunahme der Kompensationsstörungen. Die Herz-
dämpfung überschreitet fast die rechte ParaSternallinie. Passive Dilatation und
Hydroperikard. Deutlicher Flüssigkeitserguß im Abdomen. Die Hydropsien nehmen
rasch zu trotz aller angewandten Mittel (Diuretin, Kalomel usw.).
Die Arhythmie nimmt zu. Beim Aufrichten des Oberkörpers und öflem Vo^
wärtsbeugen des Rumpfes erscheint das diastolische Geräusch von größerer Inten-
sität am linken Sternalrand mehr gegen die Herzbasis zu.
Unter Zunahme aller Stauungserscheinungen erfolgt am 27. November 7 Uhr
früh der letale Ausgang.
Als klinische Diagnose wurde vermerkt:
Stenosis et insufficientia valv. mitralis subsequ. hypertrophia cor-
dis praecip. ventric. dext. Stauungsbronchitis. Oedema pulm. chron. Cyanosis.
Stauungskatarrh des Magens. Induratio cyanot. hepatis et renum. Stauungsmitz-
tumor. Hydrops universalis.
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23] Die klinische Diagnose der Palmonalarteriensklerose. 383
Der Umstand, daß der Kranke schon in sehr weit vorgeschrittenem Zustand
zur klinischen Aufnahme kam und nicht ganz 2 Wochen bis zum letalen Ende
vergingen, erschwerte die Analyse. In den epikritischen Notizen finden die enorme
Zyanose, die eigenartigen Anfille Würdigung.
Nachdem bereits vor 5 Jahren die ausgesprochensten Zeichen der Mitralstenose
vorlagen und auch bei den ambulatorischen Vorstellungen diese auffallenden Sym-
ptomenkomplexe bestanden, dachte man daran, ob nicht hier auch ein derartiger
Prozeß zugrunde lag. Die kurze Beobachtungszeit und der desperate Zustand, in
welchem er zur Aufnahme kam, erlaubten jedoch keine genauere Präzisierung.
Sektion 1. Dezember 19Q2 (Prot.-Nr. 6240/290).
Patholog.-anatomische Diagnose:
Hochgradige exzentrische Hypertrophie des r. Herzens bei Stenose
und Insuffizienz der 1. Atrioventricular-Klappe.
Geringradige Insuffizienz der Aortenklappen infolge vernarbter Endokarditis.
Geringgradige Endocarditis verrucosa der Pulmonalklappen, hoch-
gradige Sklerose der Arteria pulmonalis. Hochgradige Stauungsinduration
der Lunge, der Milz, der Leber und der Niere.
Stauungskatarrh in den Bronchien und im Digestionstraktus. Ödem und Ana-
sarka. Hydroperikard und Hydrops ascites. Adhäsive Pleuritis, Perihepatitis
und Perisplenitis. Adhäsive Pachymeningitis mit mäßiger Hyperostose der Tabula
vitrea.
Allgemeines Ödem und hochgradige Zyanose.
Die r. Lunge im ganzen Umfang, die linke besonders in den unteren und seit-
lichen Teilen angewachsen, im frei gebliebenen Teile der L Thoraxhöhle etwa 1 1
klare seröse Flüssigkeit.
Im Herzbeutel 500 g klare, seröse Flüssigkeit von rötlicher Färbung.
Herz sehr groß, namentlich stark verbreitert. Spitze vom r. Ventrikel gebildet.
Herz bei 15 cm lang, 16 cm breit, im r. Ventrikel ca. 12 cm dick. Gewicht des
Herzens 627 g. Epikard im Bereiche der vorderen Koronararterienäste des r. Ven-
trikels mit Verdickungsstreifen besetzt
Solche finden sich auch an der Pulmonalis. Umfang der Aorta an der Basis
in der Gegend des Ansatzes der Klappen 6,5 cm. Umfang der Pulmonalis an der
entsprechenden Stelle 9,5 cm.
Das Herz schlaflP, in seinen Höhlen strotzend erfüllt mit fiüssigem und locker
geronnenem Blut und Fibringerinnseln.
Das Ostium atrioventric. sin. kaum für die Kuppe des Zeigefingers durchgängig.
Das Ostium atrioventr. dextr. bequem für 4 Finger durchgängig. Die beiden Segel
der Bikuspidalis miteinander verwachsen und außerdem die Sehnenfäden zumeist
untergegangen in einem dicken, kurzen, kaum 0,5cm langen Strange, welcher im ver-
dickten unteren Gebiet des Klappensegels inseriert. Der obere Teil des im ganzen
3 cm langen Aortensegels dünn, durchscheinend, wie ausgezerrt. Papillarmuskeln
ziemlich dick. Dagegen die Wand des 1. Ventrikels kaum 11—12 mm dick. Der
ziemlich stark verdickte linke Vorhof mit weißem Endokard ausgestattet. Die Triku-
spidalis zart und nicht besonders verändert, vorderer Zipfel etwas stark ausgezerrt,
wie vergrößert.
Die Wand des erweiterten r. Ventrikels mißt im Konusteil 1 cm, im Spitzenteil
bis 14 mm.
Pulmonalarterie, auch im Ursprungsgebiet mit sklerotischen
Flecken ausgezeichnet, hat einen Umfang von 9 cm. Die Aorta hin-
gegen auffallend enge, zeigt nur einen Umfang von 5,5«-6 cm.
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384 Adolf Posselt, [24
Klappen der Aorta, zwischen denen eingegossene Flüssigkeit allmShIicb ab-
fließt, erweisen sich im Durchmesser und Längsrichtung verkürzt, besonders in
ersterem. In ihren Kommissuren verwachsen, bis auf die ziemlich weiten Fundus-
gebiete der Taschenbuchten höckerig verdickt und eingekerbt. Hier und da kleine
rötliche Fleckungen an denselben bemerkbar. In größererAusdehnungeine
feine Auflagerung von Hellergröße geronnenen Blutes im Be-
reiche feinwarziger Erhabenheiten an der linksseitigen Pulmonal-
arterienklappe bemerkbar. Hochgradige Sklerose der Intima der
Pulmonalarterie. Herzohren enthalten Fibringerinnsel. Die Koronarostien von
gewöhnlichen Dimensionen.
Die Aorta in ihrem Bereiche und auch im.Bogenteil nur mißig
diffus sklerosiert. In den großen Ästen zerstreute sklerotische Flecken. Der
Umfang der Brustaorta beträgt 4 cm.
(Präparat des pathol.-anatomischen Museums Signatur C 122.)
X. Vom Jahre 1897—1004 stand zu wiederholten Malen in ambulatorischer und
klinischer Behandlung der medizinischen Klinik Marie S., damals (1897) 28jährige
Malersfrau.
Mehrere Jahre magenleidend. Zugleich mit Magenschmerzen habe sich Herz-
klopfen eingestellt, namentlich bei anstrengenden Arbeiten. Nach und nach hätten
sich die Herzbeschwerden verschlimmert. Mitunter stechende Schmerzen in der
Herzgegend mit Oppressionsgefühl.
Gelenkrheumatismus hat die Kranke nie gehabt, Lues wird negiert
Die wiederholten eingehenden Untersuchungen ergaben als klinische Diagnose:
Insufflcientia valvulae mitralis mit mäßigen Stenosenerscheinungen. Hypertrophie
des rechten Ventrikels. Auffallende Zyanose bei Fehlen stärkerer Stauungserscbei-
nungen, Ödemen und Dyspnoe.
Ende der 90er Jahre gelang es des öfteren, die mäßigen Kompensationsstörungen
durch Ruhe, entsprechendes Regimen und Medikation wieder zu beheben.
Bei jedesmaliger Neuaufnahme traten allmählich die Stenosensymptome an der
Mitralklappe in den Vordergrund, so daß während der klinischen Aufenthalte und
der häufigen ambulatorischen Behandlung seit 1901 weitaus die Stenose im klinischen
Bilde überwog.
Während eines klinischen Aufenthaltes im November 1901 trat vorübergehend
Ikterus mit Leberschwellung auf. Die ersten Zeichen von Ödemen machten sich
erst im Januar 1902 bemerkbar, gingen jedoch auf Digitalis rasch zurück.
Aus dem Status im November 1901 sei nachstehendes hervorgehoben: Fat.
sehr klein, von schlechtem Ernährungszustand, enorme Zyanose, Wangen
und Lippen tief dunkelblau.
Jetzt auch zeitweise etwas stärkere Dyspnoe.
Herzdämpfung im 3. I. R. bereits absolut bis zum oberen Rand der 6. Rippe;
nach rechts bis zur rechten Parastemal-, nach links überschreitet sie um 1 Quer-
flnger die Papillarlinie.
Eine Spur kürzeren Schalles in Streifenform am linken Stemalrand von der
Ansatzstelle des 2. linken Rippenknorpels abwärts von ca. 1—1 Vi Querfingerbrette.
An der Herzspitze systolisches und ausgesprochenes diastolisches Schwirren
mit der aufgelegte^i Hand fühlbar. Spitzenstoß in der Breite einer Fingerkuppe
knapp außer der 1. Papillarlinie im 5. I. R.
An der Herzspitze undeutlich kurzes, weiches, systolisches und ausgesprochenes,
schärferes, langgezogenes, mehr schabendes diastolisches Geräusch bis außerhalb
der Papillarlinie zu verfolgen. 2. Pulmonalton etwas akzentuiert.
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25] I>ie klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 385
Epigastrische Pulsation angedeutet. Herzperkussion unten nicht schmerzhaft.
Am oberen linken Stemalrand auf Druck kaum, auf rasche, tiefe Perkussionsschlige
leicht empfindlich.
Periphere Arterien zeigen keinerlei Schlängelung oder Rigidität. Puls klein,
weich, leicht zusammendriickbary mäßig arhythmisch.
Die Kranke wurde zu wiederholten Malen in der Vorlesung, den klinischen
Visiten und in Kursen vorgestellt, wobei speziell das allmähliche Oberwiegen der
Stenose über die Insuffizienz der Mitralklappe und das Bestehen auffälliger Zyanose
hervorgehoben wurde. Gerade die Differenz zwischen der anfallsweise
hochgradigen Zyanose und der verhältnismäßig sehr geringen Dyspnoe,
Fehlen vonÖdemen und sonstigen Stauungssymptomen war durch
Jahre hindurch immer wieder zu konstatieren.
Zum ersten Male gab ich im November 1901 meiner Vermutung, daß hier bei
der Kranken mit hochgradiger Bikuspidalstenose und Insuffizienz und konsekutiver
Hypertrophie des rechten Ventrikels eine Endartereriitis und Arteriosklerose
der Pulmonalis bestehe, Ausdruck.
Im weiteren Verlaufe der eingehenden klinischen Beobachtungen der Kranken,
die in der Folge noch oft klinische und ambulatorische Hilfe suchte, wurde diese
Vermutung durch allmähliches Deutlicherwerden aller Zeichen, die ich für diese
klinische Diagnose verwerten zu können glaubte, immer mehr befestigt, so daß ich
diesen Krankheitsfall in den klinischen Aufnahmsprotokollen und im Ambulatorium
stets mit folgender Diagnose führte: Stenosis et insufficientia valvulae
mitralis, subsequ. hypertrophia ventriculi dextri cordis.
Cyano.sis permagna. Endarteriitis et arteriosclerosis pulmonalis.
Unter welcher Diagnose die Frau wiederholt demonstriert wurde.
Während der klinischen Aufnahme im Sommer 1902 (14. — 19. VII.) machte sich,
neben der hochgradigen Blausucht, Dyspnoe und geringes Ödem an den Fuß-
knöcheln bemerkbar.
Dabei war der Puls verhältnismäßig nicht schwach, jedoch leicht unregelmäßig.
Die Herzdämpfung überschreitet jetzt nach rechts die ParaSternallinie.
Das kurze, dumpfe systolische Geräusch an der Herzspitze tritt immer mehr
an Stärke zurück, während das diastolische Geräusch mit seiner größten Intensität
mehr gegen den linken Stemalrand zu rückt und viel lauter, rauh, schabend wird.
Ober dem Pulmonalostium ein leises, leicht rieselndes Geräusch, das sich an
keine bestimmte Phase hält. Akzentuierung des 2. Pulmonaltones.
Auf Digitalis, Brom, Bettruhe, Eisbeutel usw. gehen in Bälde die Ödeme zurück,
der Atem wird freier, der Appetit besser. Die Zyanose zeigt am wenigsten einen
Nachlaß. Bei rascheren Körperbewegungen oder psychischen Momenten Anfälle
von stärkerer Blausucht mit Angstgefühl, Beklemmungen und Schmerzen in der
Oberherzgegend.
Die Kranke verlangte nach jedesmaliger Erleichterung ihres Zustandes schon
nach kurzem immer wieder ihren Austritt.
Beim Verlassen des Spitals am 19. Juli waren die Geräusche viel weniger
intensiv, zeitweilig fast verschwunden, dafür der 1. Ton an der Spitze akzentuiert,
und der 2. unreine Ton mit leisem diastolischen Geräusch verdoppelt.
Bei Körperbewegungen tritt auf kurze Zeit das diastolische Geräusch weiter
nach oben zu am Stemalrand (3. I. R.) stärker und schärfer hervor.
Im Verlaufe der Jahre 1902 und 1903 erfolgte noch mehrmals ambulatorische
und klinische Behandlung. Das Befinden verschlechterte sich allmählich. Dyspnoe
und Ödeme nahmen etwas zu, gingen jedoch nach entsprechender Behandlung
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386 Adolf Posselt, [26
wieder zurück. Einige Male überfielen die Kranke AngstzustSnde mit Erblassen
und heftigen Schmerzen an der Herzbasis, zugleich kleiner, unregelmäßiger Puls.
Die ganz besonders hochgradige Zyanose steigerte sich periodisch, wobei unter
Auftreten stärkerer Arhythmie dumpfe Schmerzen in der Herzgegend bestanden.
Die Kranke klagt dann über ein zusammenschnürendes Gefühl und in die Tiefe
der linken Seite ausstrahlende Schmerzen, die in der oberen Herzgegend ihre
höchste Intensität erreichen. Gewöhnlich stemmte sie sich dann mit den Ellbogen
rückwärts an und hielt sich vollkommen ruhig, wobei sie eine Erleichterung wah^
nahm. Es besteht ausgesprochene Hypertrophie und Dilatation des rechten Ven-
trikels (voussure).
Von den in ihrer Intensität wechselnden Geräuschen prävaliert weitaus das
diastolische, das sich ganz besonders schon nach geringfügigen Körperbewegungen,
namentlich bei raschem Rumpfvorbeugen am linken Stemalrand, in seiner größten
Stärke entsprechend dem Ansatz des linken 3. Rippenknorpels und noch etwas nach
aufwärts zu als rauhes, schabend kratzendes, lautes, meist etwas geteiltes (wachtel-
schlagartiges) Geräusch kenntlich macht.
Ein leiseres, nicht streng an die Herzphasen gebundenes, auch in die Systole
fallendes, schwirrend rieselndes Geräusch pflanzt sich noch etwas weiter nach oben
links zu fort.
Der Dämpfungsstreifen (s. o.) etwas ausgesprochener und breiter. Bei kurzem,
starken Perkussionsschlag Empfindlichkeit daselbst. Leichte Albuminurie.
Im Sommer 1902 besserte sich das Allgemeinbefinden und die subjektiven Be-
schwerden. Der Blutdruck stieg auf 120—130 (Tonometer von Gärtner).
Im Verlaufe des Jahres 1903 mehrmalige ambulatorische Vorstellung, klinische
Behandlung zu wiederholten Malen.
U. A. vom 16.— 29. Juli 1903. Die Kranke ist wieder sehr stark zyanotisch.
Wiederholte Schmerzattacken vom Brustbein nach links gegen Parasternal- und
Mammillarlinie zu, einhergehend mit Schwäche, Obelkeiten und Blaßwerden, bald
darauf wieder ganz auffällige Zyanose.
Arhythmie, Dyspnoe und Stauungssymptome stärker. Jugularvenen strotzend
gefüllt. Andeutung von Bulbuspuls, hier und da auch Spur von venösem Leber-
puls. Symptome vorübergehender relativer Trikuspidalinsuffizienz (?) angedeutet
Blutdruck vermindert.
1904: Aufnahme Januar und Juli. 5. L— 26. L: Auf Digitalis Ansteigen der
Diurese (von 400 auf 1400 ccm), um bald darauf wieder abzusinken. Zunahme der
Ödeme an den unteren Extremitäten, Bildung von Hydrops ascites. Myodegeneratio
cordis hypertrophicae. Wiederholt Koffein und Digitalis.
Ebenso während der 2. Aufnahme vom 30. VI.— 10. VII. 1904.
Am 5. VIL Dränage (IV2 1).
Exitus am 10. Juli 1904.
Sektion 12. Juli 1904 (Prot. Nr. 6739/155): Hochgradige Stenose und In-
suffizienz der Valvula mitralis mit bedeutender Hypertrophie und Dilatation
besonders des linken Vorhofes und des rechten Herzens. Hydroperikard.
Lobulär pneumon. Herde in den hinteren Anteilen des linken Obeiiappens,
neben Ödem und Induration der Lunge. Hydrothorax. Fettige Degeneration der
Nieren, neben trüber Schwellung und alten nephrit. Absumptionen. In der linken
Niere an der Vorderfläche ein vernarbter Infarkt. ' Starke groblappige Cirrhose and
Stauung in der Leber. Chron. Gastroenteritis.
Hydrops ascites 5—6 1.
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27] Die klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 387
Die Valv. mitralis in ihren Zipfeln stark verdickt, dieselben miteinander ver-
wachsen, so daß sie nur noch für einen Finger passierbar; die Chordae tendineae
fehlen fast vollständig. Der linke Ventrikel klein» zusammengezogen, wie atrophisch.
Der linke Vorhof dagegen weit, ausgedehnt, besonders auch das linke Herzohr.
Aorta von gewöhnlichem Umfang. Intima glatt und eben.
Pulmo na larterie in ihrem Anfangsteil, oberhalb des Klappenringes, gleich-
mäßig erweitert, in ihrer Wand beträchtlich verdickt, zeigt eine fast allge-
meine Verdickung, Verhärtung und Verkalkung der Intima bedeutenden
Grades.
Die arteriosklerotischen Ein- und Auflagerungen und Verkalkungen reichen bis
in die Hauptäste des GeHßes.
Im folgenden sei eine übersichtliche Darstellung der Lite-
ratur gebracht und zwar nur solcher Beobachtungen, bei denen auch
klinische Befunde vorliegen und deshalb in den Rahmen dieser
Abhandlung passen.
Kompliziertere Bildungsanomalien, gelegentliche zufällige Befunde
oder solche von rein pathologisch-anatomischem und histologischem
Interesse konnten hier nicht berücksichtigt werden.
Für die Einbeziehung der Literatur bewogen mich folgende Er-
wägungen: Fürs erste existiert eine Darlegung vom klinischen Stand-
punkt aus überhaupt noch nicht, zweitens fand eine Reihe solcher
Mitteilungen bisher keinerlei Beachtung und Verwertung, drittens ist
ein Großteil der hier einschlägigen Literatur sehr schwer zugänglich
und zerstreut. Per parenthesin möchte ich bemerken, daß ich fast
sämtliche der folgenden Arbeiten im Original nachgesehen.
Aus der ältesten Literatur existiert ein Beispiel von Blausucht
infolge von Verknöcherung der Lungenarterienhaut beiBlan-
card, den auch S6nac anführt (Trait^ de la structure du coeur, de
son action et de ses maladies. Paris. 2 t. 1749. [1774 ed. Portal.]).
In der heute noch lesenswerten Abhandlung von Kreysig (Die
Krankheiten des Herzens. Berlin 1816. Bd. 3, S. 119) findet sich nach-
stehende Krankengeschichte:
(21. Fall.) Ein junger Mensch, 22 Jalire alt, von kleiner und magerer Statur,
in seinem 18. Jahre noch ganz bartlos, hatte eine blaurote Gesichtsfarbe und stark
aufgetriebene Venen der Haut. Jede Bewegung, vorzüglich in freier Luft, trieb ihm
das Blut nach dem Kopfe, die Backen wurden dann blau, und bei starker Bewegung
bluteten Lippen und Mund.
Das Atmen war immer beengt und durch Husten unterbrochen, besonders bei
Körperbewegungen. Herzklopfen quälte ihn oft. Seit einiger Zeit litt er an heftigen
Rheumatismen.
Ein Quacksalber behandelte ihn mit schweißtreibenden und erhitzenden Mitteln,
worauf Fieber, große Beklommenheit des Atems, Heiserkeit und heftiges Herzklopfen
eintraten. Die Zufälle verschlimmerten sich immer mehr, der Kranke verlor das
Bewußtsein und starb.
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388 Adolf Posselt, [28
Bei der Leichenöffnung fand man die Brust an der linken Seite erhabener und
aufgetriebener. Das Herz zeigte eine größere Breite als gewöhnlich, die Spitze war
stumpfer, sonst erschien es wohlgebildet, ohne Veränderung seiner Substanz und
ohne Klappenfehler.
Die Lungenpulsader war da, wo sie sich in ihre beiden großen Äste teilt, in
ihrer Textur sehr verändert. Der rechte Ast war an einer Stelle so weich,
daß er bei der Berührung sogleich zerriß. Daneben waren seine Häute
verdickt und das Lumen sehr verkleinert Die verdickte Stelle erschien
äußerlich brandig. Mehrere Zweige waren fast ganz verschlossen, zum Teil foltig
und eingeschrumpft und konnten kein Blut mehr gefuhrt haben. Die Venen des
Körpers waren sehr erweitert. (Leber groß.)
Nach Kreysig ist diese Verengung und Unwegsamkeit der Lungenarterie
nicht angeboren, sondern er vermutet deren Entstehung in den ersten Kinderjahren.
Durch die Behandlung mit reizenden Mitteln sei der Zustand verschlimmert und
eine schleichende Entzündung der kranken Teile hervorgebracht worden, deren
Folgen der Kranke erlag.
Ebenda wird (IL T. 1. Abschn. S. 430) eine alte Beobachtung von
Kinglake (London med. Journ. 1789, voL X, pars IV. p. 341 und
Sammlung f. prakt. Ärzte 13. Bd., 3. St., S. 385) zitiert.
Bei dieser handelte es sich um ein zartes Frauenzimmer von 23 Jahren, bei
welchem auf äußere Veranlassung Schmerzen im Herzen entstanden, schreckliches
Klopfen und Gefühl von Erstickung sich beigesellten, welche Zufälle mit Ohn-
mächten abwechselten.
Bei der Sektion fand man innerhalb des rechten Herzohrs und der rechten
Kammer einige polypöse Konkretionen von verschiedener Größe anhängen; die
größten hatten den Umfang einer welschen Nuß, sie nahmen mehr als die Hälfte
von den Höhlen des rechten Herzens ein. In den Häuten des Stammes der
Lungenschlagader, einen halben Zoll über den Klappen derselben,
entdeckte man eine harte steinigte Substanz, ungefähr ein halbes
Quentchen schwer, welche die Höhle der Schlagader sehr verengerte.
Lungen ohne Geschwüre. Es heißt dann: „Wer sieht nicht, daß die Zufälle dieser
Kranken Folge der Verengerung der Lungenarterie waren, wie bei der Blausucht
und bei Klappenfehlern.'*
Gelegentlich der ausführlichen und für seine Zeit geradezu epoche-
machenden Besprechungen über Angina pectoris kommt Kreysig (1. c.
II. Th., 1. Abschn., S. 525) bei dem Abschnitte, der über Verwechslung
der Angina pectoris mit Fehlern der Klappen und Verengerungen der
groOen Arterienstämme nahe am Herzen handelt, auf einen hier ein-
schlägigen Befund von S toll er zu sprechen.
Stöller (Hufelands Journal der prakt. Heilk. 17. Bd., 2. Stück) fuhrt einen
komplizierten Krankheitsfall als Angina pectoris an. AnfäUe von Angst und
Schmerzen auf der Brust, die in die Arme ausstrahlten bei einem 56jäbr. Manne,
der wiederholt Pneumonien überstanden hatte und bei dem ein Lungengescbwür
aufging.
Diese Zufälle legten sich nach Aderlässen. Nach 13 Jahren kehrten sie wieder,
bis er einem erlag (Januar 1792). Bei der Sektion fand sich nach StGllers eignem
Bericht: die Lungen überall adhärent. »Das Herz von ungewöhnlicher Größe, aber
schlaff und blutleer, sonderlich in der linken Höhle. Die halbmondförmigen Klappen
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29] I^ie klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 389
der Lungenpulsader im Zustand der Verknöcherung, die großen Geflße an ihren
Anfilngen steif und knorpelicht und voll von dickem schwarzen Blut. Die Kranz-
arterien und Venen wurden leider nicht besonders untersucht."
Huguiers (Mem. sur le diagnost. Arch. gen. de med. Fevr. 1834)
Beobachtung betrifft
eine 73jihrige Frau. Seit 5—6 Jahren krank. Brustbeschwerden und Bron-
chitis. Herzklopfen. Sehr unregelmäßige Herztätigkeit. Schmerzen in der Herz-
gegend. Nekropsie: an der Trikuspidalklappe mehrere kleine verknöcherte Flecken.
Die Mundung und eine Klappe der Pulmonalarterie zeigen verknöcherte Verwach-
sung. Die 3 Klappen etwas verdickt.
Die Arteria pulmonalis von ihrem Ursprung bis zur Bifurkation, die Aorta von
der Konkavität des Bogens bis zum 2. Lendenwirbel fast vollständig verknöchert.
Die nicht verknöcherten Partien sind verdickt und viel leichter brüchig. Die
ganzen verknöcherten Plaques finden sich in Intima und Media. An einigen Stellen
die innere Haut destruiert^ an anderen ulzeriert Manche Ossificationen sind gra-
nuliert, über das Innere des Gefäßes vorspringend.
Bei Tiedemann (Von der Verengung und Schließung der Puls-
adern in Krankheiten. Heidelberg, Leipzig 1843) findet sich eine Notiz
über einen Fall der Literatur, der zweifellos als Thromboarteriitis
pulmonalis zu gelten hat (S. 140) (obwohl derselbe nicht direkt hier-
her gehört bietet er doch einiges Interesse).
„Die Lungenpulsader kommt ebenfalls bisweilen entzündet vor und ihre innere
Haut schwitzt gerinnbare Lymphe aus, wie aus folgender Beobachtung (L'£sp6rance
1835, 5. mart. no. 25) erhellt. Eine Wäscherin wurde nach einer heftigen Verkältung
von Magenschmerz, großer Beklemmung des Atems und heftigem Fieber befallen.
Plötzlich wurde ihr Antlitz aufgetrieben und blaurot. Die Augen traten vor und
die Kranke fiel besinnungslos nieder. — Bei der Sektion fand man das Herz von
großem Umfang und mit schwarzem dickflüssigem Blute gefüllt. Die rechte Kammer
enthielt ein großes schwärzliches Blutkoagulum, welches ihren Wandungen fest an-
hing und sich in die Lungenpulsader und ihren größeren Verzweigungen fortsetzte.
Die innere Haut dieser Arterie war rauh, flockig und zeigte hier und da kleine weiß-
liche Flecken, an denen das Blutgerinnsel fest ansaß. An mehreren Stellen konnte
man membranöse Schichten ablösen, welche Faserstoff oder plastischer Lymphe
glichen. Die innere Haut ließ sich leicht stückweise ablösen.^
Adlers (NonnuUae de morbis arteriae pulmonalis. Dissert. Vratis-
laviae 1855):
40jähriger Kranker zeigte Schmerzen in der Brust, Husten und Engatmigkeit.
Hämoptoe. Anämie. Plötzlicher Exitus.
Dieser Fall von Pulmonalsklerose mit Thrombose ist dadurch ausgezeichnet,
daß keine Klappenaffektionen und keine Sklerose der übrigens engeren Aorta vor-
handen waren.
Bei Klinger (Beobachtungen über die Verstopfung der Lungen-
arterie durch Blutgerinnsel. [Dieselben wurden während der früheren
Assistentenzeit des Verf. an der Würzburger med. Klinik gesammelt.]
Arch. f. physiol. Heilkunde 1855, XIV. Jahrg., S. 362) fand ich einen
hierher gehörigen Kasus, der ebensowenig wie die vorausgehenden
Fälle in der Literatur berücksichtigt wurde«
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300 Adolf Posselt, [30
Aus der Krankengeschichte sei nur das Relevante gebracht (S. 371).
Fall 4. Kunigunde N., 40 Jahre alt. 21. XL 1851 Aufnahme im Juliushospital.
Diagnose: Atheroma arteriae pulmonalisi).
Pat. ist kräftig gebaut, will von Jugend auf brustleidend gewesen sein und oft
an Blutspeien, Husten, Dyspnoe gelitten haben. Vor 7 Jahren soll dieses
Übel sich so gesteigert haben, daß sie über 1 Jahr bettlägerig war, worauf sie sich
einigermaßen erholte. Vor 3 Jahren gesellte sich zu ihren asthmatischen Zu-
fällen Ödem der Füße, seit 6 Wochen war ihr Zustapd sehr quälend und die by-
dropischen Erscheinungen nahmen mehr überhand.
Stat. praes.: Pat. von starkem Körperbau ist etwas abgemagert, Hautfarbe
livid, Lippen blaurot, gedunsen, ebenso Wangen, Petechien auf Brust,
Bauch, Extremitäten und Rücken: Intumeszenz der Halsvenen, leichte Undulation
derselben ohne Geräusch. Hauttemperatur kühl. Puls nicht beschleunigt, schwach,
Orthopnoe, pfeifende Respiration, 40mal in der Minute. Mäßiger Aszites und
Ödem der Füße. Urin sehr spärlich, enthält keine fremden Bestandteile. Scrobi-
culum cordis gespannt, hervorgetrieben, schmerzhaft, besonders beim Druck, ebenso
Schmerzen im rechten Hypochondrium (seit 6 Wochen).
Herzchok schwach, an gewohnlicher Stelle fühlbar. Herzhypertrophie. Herztöne
normal, schwach. Zweiter Pulmonalton akzentuiert. Verschiedene Diuretika und
Drastika ohne Erfolg. Digestion gestört. Beständiges Würgen und Erbrechen.
Letzteres durch Laudanum gestillt.
Anasarka tritt hinzu, die Schmerzen im rechten Hypochondrium nehmen zu,
das Ödem der Füße ist enorm, hiezu kommt Ödem der Genitalien. Höchste Dys-
pnoe, besonders paroxysmenweise, Husten gering. Expektoration fehlt. Li vor des
Gesichtes ist bedeutend, die Conjunctiva bulbi wird ikterisch.
26. Dezember, deplorabler Zustand. Pat. ist am ganzen Körper geschwollen,
Stickparoxysmen, verbunden mit Würgen und Erbrechen. Im Urin sind Spuren von
Gallenfarbstoff nachweisbar. 28. Dezember letaler Ausgang.
Sektion: Allgemeiner Hydrops.
Perikardium stark ausgedehnt, hat die Lungen ganz zurückgedrängt, enthält ca.
18 Unzen einer hellen ikterischen Flüssigkeit, mehrere Sehnenflecke nebst fadeo-
artigen Adhäsionen zwischen den beiden Blättern, Herz sehr ausgedehnt und groß,
besonders der rechte Ventrikel stark dilatiert und hypertrophisch, im rechten Herz-
ohr ein großes, altes Gerinnsel, die Ventrikel und Vorhöfe beiderseits gefüllt mit
cruorreichen Gerinnungen. Klappen normal. Lungen an den Spitzen verwachsen,
im linken Pleurasack etwas seröses Exsudat, im rechten ein großes, abgesacktes
seröses Exsudat zwischen Wirbelsäule, Zwerchfell und Lunge, die in ihrem untereo
Lappen luftleer komprimiert ist; die übrigen Partien der rechten wie linken Lunge
sind lufthaltig, etwas hyperämisch und ödematös. Bronchien stark gerötet, besonders
links, wo an einzelnen Stellen die Hyperämie bis zu Extra vasation in der Schleim-
haut gediehen ist.
Die Innenfläche der Arteria pulmonalis, besonders in den Ver-
zweigungen ersten und zweiten Grades sehr dilatiert, fettig athero-
matös degeneriert (die Aorta zeigt auffallend wenig atheromatöse
Stellen), kleinere Pulmonaläste (von der Größe eines Gänsefeder-
kieles) sind an mehreren Stellen durch Gerinnsel verstopft
1) Ob diese Diagnose „intra vitam' gestellt wurde, ist nicht ersichtlich. Aach
findet sich keinerlei epikritische Bemerkung oder Motivierung für sie.
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31] Die klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 391
LancereauXy Note relative a quelques faits d'obstruction des
vaisseaux veineux et de Tartere pulmonaire; caract^res non douteux
de caillots emboliques; produits organis6s (n6o-membranes) au sein
de Tartöre pulmonaire et des veines, Comptes rendus de la Soc. de
biologie 1861, XIIL ann. t. III, p. 119
berichtet 1. (S. 124) über einen 70jährigen Mann, Schuster, Alkoholiker mit
Dyspnoe, gedunsenem blaurotem Gesicht. Diagnose einer Dilatation des rechten
Herzens, Lungenödem. Gestorben 19. Mai 1861. Bei der Nekropsie: Herzvergröße-
rung, Erweiterung und Verfettung des rechten Ventrik. Thrombot. Verstopfung der
Teilung des rechten Astes der Pulmonalis. Befund an der Art. pulmon.:
„Dilatation \€ghre de l'art&re pulmonaire ä la surface de laquelle apparaissent
de nombreuses piaques jaunätres un peu dures et saillantes; assez fr6quentes dans
les grandes divisiöns, ces piaques deviennent beaucoup plus rares dans les petites.*
Hypertrophie und Dilatation des linken Herzens. Alteration der Koronararterien
und der Arterien der unteren Extremitäten.
2. 57j8hrigen Mann, Juwelier, mit einem Herzleiden, speziell Mitralstenose.
Ödem der unteren Extremitäten, Rasseln auf der Lunge. Exzessive Dyspnoe. Ober-
stand Rheumatismus und Pneumonie. Gestorben 20. Juni 1861.
Autopsie: Reehte Lunge angewachsen.
Ausgedehnte Thrombose der Pulmonalis.
Befund an der Lungenarterie: „Cette art^re est dilat^e, sa paroi 6paissie offre
ä sa surface interne, rougeätre, inject6e sur quelques points, d'abondantes piaques >
jaunätres et graisseuses.'' ^"'"^
Das linke Ostium atrioventriculare verengt und kaum für den kleinen Finger^^.Vv) <r|^**^<..^
durchgängig, das korrespondierende Herzohr hypertrophiert. In der Höhe der Cc-^-v^«'-^
Botallischen Öffnung trifft man eine Membran von 1—2 cm Länge , am Gewebe *? r=^ > v^ w^ V
adhärent, aus Bindegewebe bestehend. v^iw^Vy,.^.
Verf. glaubt, daß das organisierte Produkt (Endarteriitis) der fibrinösen Thromben-
bildung vorausgegangen ist, daß es die Ursache und nicht die Folge war.
Den mikroskopischen Befund erbringt er in einer weiteren Mitteilung 1. c. p. 162.
Weitere Berichte gibt
Martineau, D6gen6rescence ath6roinateuse des art^res pulmo-
naires droite et gauche; r6tr6cisseinent et insufiisance de Torifice
mitral; apoplexie pulmonaire; caillots dans les dernidres ramifications
des art^res pulmonaires. Comptes rend. de la Soc. de biologie 1861)
Xin. ann.) p. 163.
39jährige Näherin. Herzpalpitationen, Oppression, unregelmäßiger Herzschlag.
Insuffizienz der Mitralis, Hämoptoe (hämorrh. Infarkte).
Sektion: Hypertrophie der rechten Ventrikelwand. Aortenklappen normal.
Einige atheromatöse Plaques an der Intima der Aorta, sonst aber an keinem andern
Teil des arteriellen Systems. Stamm und beide Äste der Arteria pulmonalis ohne
pathol. Veränderung.
Atheromatöse, fettige Entartung der Zweige der Pulmonalarterie, hochgradig in
den kleinsten Ästen, besonders der zu den hämorrhagischen Herden fuhrenden, in
denselben fibrinöse, festhaftende, das ganze Kaliber verstopfende Pfropfe.
Für das Entstehen dieser macht Verf. die fettige und atheromatöse Entartung
der Pulmonalarterienäste und die Herzaffektion verantwortlich.
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392 Adolf Posselt, [32
Derselbe, Caillots dans les artöres pulmonaires droite et gauche;
d6g6n6rescence ath6romateuse de ces art&res; apoplexie pulmonaire;
retrecissement et insuffisance de l'orifice auriculo-ventriculaire gauche.
Comptes rendus des s6anc. de la Soc. de biologie Paris 1861, XIII.
Ann., p. 106 (Klinik Tardieu).
54jährige Taglöhnerin. Früher rheumatische Schmerzen. Seit 2 Jahren Herz-
klopfen. 5 Tage vor Spitalseintritt Ödem der Beine. Asthmatische Anfllle. Status:
Lungenemphysem und Bronchitis. An der Herzspitze systol. Geriusch. Puls klein,
weich, sehr frequent.
Später hämorrhagische Sputa, zunehmende Dyspnoe, Herzschwäche.
Autopsie: Die Äste der Lungenarterie sind der Sitz einer bemerkenswerten
Veränderung, die sich jedoch in beiden nicht in gleicher Stärke zeigt.
In der linken Lunge, wo man weniger zahlreiche und weniger Tolumindse hä-
morrhagische Herde trifft als in der rechten, sieht man in dem zum Unterlappen
ziehenden Lungenarterienast da und dort an der Innenfläche des Gefäßes gelbliche
sehr harte atheromatöse Stellen. Beim Aufechneiden begegnet man denselben
hauptsächlich nur in solchen Zweigen, die zu den hämorrhagischen Stellen fuhren.
Zugleich ist in einer gewissen Entfernung das Kaliber der Arteriolen völlig obli-
teriert durch einen schwärzlichen Pfropf, der an der Innenfläche des Gefäßes fest-
haftet. Die gleiche Veränderung trifft man in den andern zu den genannten Herden
ziehenden Arteriolen.
In der rechten Lunge läßt sich die gleiche Läsion der Pulmonalarterie kon-
statieren. Nur ist hier der Prozeß in noch viel höherem Grade vorhanden.
Der zum Unterlappen ziehende Ast ist durch einen harten, an der Peripherie
gelblich gefärbten Pfropf vollständig verlegt. Derselbe ist im Zentrum mehr
schwärzlich und adhäriert an der Innenfläche.
Die Thrombenbildung setzt isich fort in die Verzweigungen der Arterien, vor-
zuglich der zu den hämorrhagischen Infarzierungen führenden.
Die atheromatöse Veränderung ist viel ausgeprägter als in der linken Arterie
Die gelblichen Plaques sind sehr hart, viel ausgebreiteter und umgreifen das ganze
Kaliber der Geßße. Diese Veränderung trifft man jedoch nicht in den zu gesunden
Lungenpartien führenden Zweigen des Gefäßes.
Das Mitralostium war der Sitz sehr schwerer endokarditischer Ver-
änderungen. Die Aortenklappen intakt. An der Aorta mäßige Atheromatöse.
Hinsichtlich seiner Beobachtung gelangt Martineau zu folgender Annahme:
Die primäre Ursache der Lungenhämorrhagien wäre in der Veränderung der Lungen-
arterie gelegen, hierzu gesellte sich die hochgradige organische Herzläsion, durch
Zusammenwirken dieser beiden Ursachen kam es im Verlaufe der Blutstauung in
diesen gewissen Arterien zur Bildung der Thromben in den Pulmonalarterien.
J. Klob (Bericht über die Ergebnisse der in der pathol. anatom.
Anstalt des k. k. Krankenhauses Rudolph-Stiftung vorgenommenen
Obduktionen. Bericht der k. k. Krankenanstalt Rudolph-Stiftung in
Wien vom Jahre 1865. Wien 1866) liefert die Beschreibung eines
primären Falles:
S. 185. Endarteriitis pulmonalis deformans.
„Die Endarteriitis deformans in der Pulmonalarterie wird besonders
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33] I>>e klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 393
dann das Interesse des Anatomen in Anspruch nehmen, wenn sie die
gleichartige Erkrankung in der Aorta übertrifft, oder aber gar ohne
diese vorkommt, wie dieses in einem Falle beobachtet wurde.
Soweit reicht nun vielleicht das Interesse des Anatomen allein,
wenn nun aber infolge dieser Erkrankung so erhebliche Verände-
rungen in der Kapazität der Lungenarterienbahn entstehen, daß all-
gemeine Zirkulationsstörungen bis zum allgemeinen Hydrops auftreten,
dann muß auch der praktische Arzt Notiz von einem Falle nehmen,
dessen anatomische Veränderungen sich nicht nur in einen rein
logischen Kausalnexus bringen lassen, welcher auch einigen Anhalts-
punkt zu einer Diagnostik derartiger Erkrankungen liefern dürfte.*^
SOjähriger Pfründner. Allgem. Hydrops und Zyanose. Anämie und leichtes
Ödem der Lungen, exzentrische Hypertrophie des rechten Ventrikels mit starker
Dilatation des rechten Vorhofes. Pulmonalarterie im Stamme weit, die Innenfläche
derselben sehr ungleichförmig, stellenweise wie parallel runzelig, stellenweise in
Plaques der unregelmäßigsten Form und Größe prominierend.
In ihren Verästlungen in der Lunge ebenfalls Verdickung der Intima, welche
mitunter so bedeutend ist, daß ein querdurchschnittener Ast das Lumen stark ex-
zentrisch erkennen läßt. Etwa von den Ästen 3. Ordnung an läßt sich im all-
gemeinen behaupten, daß das Lumen der Arterien auffällig enger wurde, so daß
dasselbe am Durchschnitte von Ästen 5.-6. Ordnung kaum nadelstichgroß erschien,
wobei das starre Gefäß eine Wanddicke von nahezu 1 mm (also 2 mm Durchm.)
hatte, so daß diese Äste als feste weißgelbe Stränge die Lungensubstanz durch-
setzten.
Es wurde also durch die Endarteriitis deformans eine Verengerung der Lungen-
arterienbahn in bedeutendem Grade hervorgerufen, aus welcher sich die übrigen
anatomischen Veränderungen leicht erklären lassen. Die Lunge war entsprechend
blutarm, doch hatte natürlicherweise ihre Ernährung nicht gelitten. Die Bronchial-
blennorrhöe ist vielleicht auch daraus zu erklären, daß infolge des abnehmenden
Blutdruckes in den Kapillaren zwischen Lungenarterie und Venen eine Hyperämie
des nutritiven Gefäßapparates der Lungen zustande kam.
In ähnlicher Weise wie die französischen pflegen die englischen
Autoren bereits im umfangreichen Titel ihrer Mitteilung den Befund
niederzulegen.
Conway Evans, Mode of causation of arterial atheroma; illu-
strated by a case of atheromatous disease of the pulmonary artery, in
association with extreme contraction (congenital) of the left auriculo-
ventricular orifice and hypertrophy of the right ventricle. Transact.
of the pathol. Soc. 1866, vol. XVII, p. 90.
Hjähriger Knabe. Hatte vor 3 oder 4 Jahren Husten und Beklemmung auf
der Brust, speziell während des Winters. Vor Spitalsaufnahme beginnende Ödeme
im Gesicht und den Füßen; konnte jedoch noch arbeiten. Niemals Polyarthritis
oder eine andere schwerere Krankheit. — Gerötete Wangen, ängstlicher Ausdruck»
schnelle Atmung, Orthopnoe. Sternum ungewöhnlich vorgewölbt, respirat. Thorax-
verschiebbarkeit vermindert. Vesikul. Atmen mit lauten Rasselgeräuschen. Deut-
Klln. Vortrage, N. F. Nr. £04/07. (Innere Medizin Nr. 149/52.) Okt. 1908. 28
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394 Adolf Posselt, [34
lieh systolisches Geräusch an der Herzspitze. Puls 80, regelmäßig. Ödeme und
Aszites. Kein Albumen.
Diagnose: MitralaffeXtion, Bronchitis und Emphysem. 3 Wochen nach der
Aufnahme Tod. Sektion: Lungenkongestion und Emphysem, besonders des rechten
Randes. Herzhypertrophie, speziell Dilatation und Hypertrophie des rechten Ven-
trikels, derselbe verdickt. Linker Vorhof und Aurikel erweitert. Rechtes Atrio-
ventrikularostium stark erweitert.
Pulmonalarterie erweitert, ihre Auskleidung bis zur Teilung stark verdickt,
Wandung dicker als die der Aorta. Die Innenfläche besetzt mit zahlreichen gelb-
lichen Atheromplaques sowohl im Stamm als in den Verteilungen. Aorta von
gewöhnlicher Dicke der Wand, aber verengert, kein Atherom in Aorta oder größeren
Gefäßen. Alle drei Aortenklappen verkürzt und verdickt (kongenital?). Mitralostiom
verengt (trichterartig).
Ein kombiniertes Vitium betrifft nachstehender Kasus:
Deroye (Bullet, de la Soc. anatom. 1870, p. 166. Höpital de la
Pitie, serv. de M. le pro f. Lasfegue).
44jährige Näherin. Eintr. 11. Febr. 1870.
Nie rheumatische Beschwerden. Immer gesund. Seit vorigem Dezember Beine
etwas angeschwollen und zwar gegen Abend zumeist in der Maleolargegend. Seit
2 Jahren hustet sie öfter und bekommt leicht Schnupfen. Der Atem war kurz, bei
geringen Anstrengungen Herzklopfen. Vor 4 Tagen ohne besonderen Grund Hä-
moptoe, die noch andauert, dabei intensive Dyspnoe und rasche Zunahme der An-
schwellungen. Status: Lupus im Gesicht, Respiration erschwert. Sehr starke
Anasarka.
Verbreiterte Herzpulsation. Bei der Auskultation zwei Geräusche. Das eine,
systolische, sehr deutlich an der Herzspitze, das andre, diastolische, an der Basis,
aber weniger ausgeprägt, reichliches Rasseln. Jugularvenen ausgedehnt, jedoch
kein Venenpuls bemerkbar. Links pleurit. Reiben. Reichliches Rasseln über den
Lungen. L. v. o. kavernöses Rasseln. Exitus 24.
Sektion: Rechte Lunge angewachsen. Hepatisationen und Erweichungen. Im
rechten Oberlappen bronchiektat. Kaverne. Embolien, Infarktbildungen, pneumo-
nische Infiltrationen. Linke Lunge innig mit dem Perikard verwachsen. Concretio
pericardii. Linker Oberlappen emphysematös. In den hinteren Partien Embolie
und Blutungsherde.
Herz enorm, Aorteninsuffizienz, Stenose und Insuffizienz des Mitral-
ostiums. Die Oberfläche der Aorta zeigt nirgends im Verlaufe Atherom-
b 11 düng, bloß zwei Semilunarklappen sind verdickt und atheromatös.
Die Pulmonalarterie dagegen zeigt an ihrer Innenfläche gelbliche,
nicht ulzerierte atheromatöse Erhabenheiten. Obwohl die Klappen der
Pulmonalarterie weich und zart sind, trifft man am freien Rand einer derselben
einen kleinen, harten, hervorragenden Tumor von Erbsengröße. An einer andern
Klappe sind kleine gelbliche Granulationen von gleicher Natur vorhanden. Ver-
größerte harte Mußkatnußleber.
Einen Fast analogen Fall weiß Cadet de Gassicourt (Bull, de U
Soc. anat. 1872, p. 248. Hopital Saint- Antoine. [VI. Beob. bei Saune])^)
zu berichten.
1) Path.- anat. Bericht: Rosapelly, Etat scl6ro-ath6romateux de l'artdre pol-
monaire droit; aIt6rations des valvules pulmonaires, tricuspide; caillot autocbtooe
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35] Die klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 305
37jihriger Tischler (April 1873) gibt an, HSmoptöe gehabt zu haben, vor einigen
Monaten rechtsseitige Pleuritis. Rechtss. pleurit. Erguß zu konstatieren; über der
oberen Hälfte derselben Seite ergibt die Auskultation Zeichen einer sehr vorge*
schrittenen Phthise. Starke Dyspnoe, bis zur Orthopnoe.
Das abgemagerte Gesicht zyanotisch. Puls klein, unregelmäßig, heftige Herz-
aktion, Halsvenen turgescent. Blasendes Geräusch an der Herzspitze. Die Gegen-
wart der Mitralläsion zusammen mit der LungenafPektion erklärt zur Genüge die
Schwere des Allgemeinzustandes. Exitus 4. Mai.
Sektion: Bei Eröffnung des Thorax finden sich 2 I Flüssigkeit in der rechten
Pleurahöhle.
Das Herz ist voluminös, links eher hypertrophisch, rechts dilatiert Stenose
und Insuffizienz des Mitralostiums und der Aorta. Im Bogen der Aorta
einige kleine atheromatöse Flecken. Ebenso wenige erhabene atheromatöse Plaques
in dem linken Herzohr.
Im rechten Herzen trifft man keine ähnlichen Veränderungen, als am Ursprung
der Lungenarterie, wo zahlreiche atheromatöse Plaques vorhanden sind.
In der rechten Lunge Stauung, im Mittellappen hämorrhagischer Herd. Der rechte
Lungenarterienast erweitert, verdickt, die innere Oberfläche uneben
infolge barter atberomatös«r Plaques von hornartigem Aussehen.
Thrombotischer Pfropf in dem Pulmonalarterienast beider hämorrhagischer
Herde.
Die Intima der Pulmonalarterie ist in ihrer ganzen Ausdehnung
verdickt, sie zeigt eine große Menge von Plaques und Unebenheiten,
deren Struktur analog ist denen, welche sich in der Aorta entwickeln.
Sie bestehen aus Lamellen von homogener Substanz, in deren Interstitien sich
zellige Elemente finden mit Fortsätzen. In der unmittelbaren Nachbarschaft der
Media sind diese zelligen Elemente ersetzt durch vereinzelte oder gehäufte fettige
Granulationen in Form länglicher Haufen. Andre Plaques sind atheromatös in
ihrer ganzen Dichte. Der Thrombus im rechten Zweige der Pulmonalarterie hängt
an der Wand im Bereiche eines Sklerosen Plaque und zeigt an jener Stelle in
einer Ausdehnung von 2—3 mm den Anfang einer Organisation. Er enthält an
dieser Stelle Elemente von bindegewebiger Beschaffenheit ähnlich der Intima,
Yeos (Disease of the pulmonary arter ies; hypertrophy of the
right ventricle. Dublin Qu. I. M. Sc. 1873, LV. May, p. 480) Bericht
besagt folgendes:
Eine Frau, welche bereits schon vor längerer Zeit an Rheumatismusanfällen
mit Endokarditis litt, zeigte ausgesprochene Erscheinungen von Mitralstenose. Es
bestanden öfters AnßUe von Dyspnoe, Zyanose, Husten, Hämoptoe und Herz-
klopfen.
An der Spitze des Herzens hört man ein lautes systolisches, an der Basis ein
leises, doppeltes Geräusch.
Zuletzt Ödeme und Aszites.
Obduktion: Hypertrophie des rechten Ventrikels; der rechte war in seiner
^and dicker als der linke, die Semilunarklappe intakt, die Trikuspidalklappe leicht
dans le tronc de cette art^re; infarctus pulmonaires. Mort, autopsie. Bull, de la
Soc. anat. Paris 1872, XLVII, 2. s., t. XVII, p. 248.
28*
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396 Adolf Posselt, [36
verdickt. Die Mitralklappe ist verdickt, verhärtet, ihr Orificium faßt
nur die Spitze des kleinen Fingers. Die Aortenklappen sind ebenfalls erkrankt,
die Aorta ist gesund, der linke Ventrikel etwas hypertrophiert. Lungen empbyse«
matös, ihr vorderer Rand infiltriert; mehrere hämorrhagische Infarkte.
Die Pulmonalarterie ist von den Semilunarklappen angefangen bis in die
feinsten Verzweigungen erkrankt. Sie ist unregelmäßig erweitert und hat ihre
Elastizität verloren. Ihre Intima ist durchgehends von harten, vorherrschend
gelben Flecken besetzt, von denen einige an ihrer Oberfläche rauh sind
und das gewöhnliche Aussehen atheromatöser Ulzerationen haben.
Die Erkrankung scheint ihren stärksten Grad in den kleineren Ästen erreicht
zu haben, einen geringeren jedoch in der unmittelbaren Nähe des Herzens. Die
zu den Lungeninfarkten führenden Gefäße sind durch Fibrinpfrdpfe obliteriert,
welche fest an der Gefäßwand haften.
Wegen des klinischen Symptoms der Hämoptoe verdient nach-
folgende Notiz mit anschließender Diskussion Beachtung.
Vignier, Bulletins de la Soci6te anatomique, Paris 1873, p. 526, berichtet über
den Herzbefund bei einem mit sehr starkem Herzklopfen und mit einem alten Herz-
leiden behafteten, plötzlich verstorbenen Kranken.
Man fand bei der Autopsie eine hochgradige Stenose der Mitralis, atheromatöse
Plaques in der Pulmonararterie und infarktähnliche Herde in der Lunge. In der
Nachbarschaft dieser Herde waren die Arterien erkrankt. Lancereaux, welcher
die Präparate sah, erklärt diese Erkrankung als Arteriitis. Es existieren in ähnlicher
Weise Infarkte in Nieren und Milz. Demnach der große und kleine Kreislauf in
gleicherweise erkrankt ist. Vignier vertritt den Standpunkt, daß das rechte Herz
intakt und die Lungenarterie erkrankt, während das schwer erkrankte linke Herz
das Blut in eiqe nahezu gesunde Aorta befördert.
Charcot glaubt, daß hier zwei Störungen zusammentreffen, die eine in den
Lungenarterien, die andre im Parenchym der Lunge selbst, und daß es unmöglich
ist, zu sagen, welche von diesen beiden vorausgegangen, ob die Arteriitis die Ur-
sache oder die Folge der (hämorrhagischen) Infarktherde war.
Voisin, Bulletins de la Soc. anatomique 1874, p. 517. (Höpital
temporaire de la rue de Sövres, Serv. de M. Damaschino.) 3, Beob.
bei Saune.
45jähriger Kunsttischler, eingetreten 2. April 1874.
Während des Krieges 1870 bekam er ein Erkältungsfieber, das den Winter über
dauerte und sich in den folgenden Jahren während der kalten Jahreszeit wiederholte.
1873 Hämoptoe, angeblich 1 1 Blut ausgehustet. Seitdem schwanden die
Kräfte und er mußte die Arbeit aufgeben. Er bekam Atembeschwerden, Herz-
klopfen, Gesicht wurde zyanotisch. Nachtschweiße. 5 Tage vor Spitalseiotritt
Ödem der Beine, bis zu den Knien. 15. April auffällige Zyanose, Lippen blau.
Jugularvenen ausgedehnt, Venenpuls. Herzstoß nicht fühlbar, leichte Voussure.
Dämpfung vergrößert, im Längsdurchmesser 12—13 cm messend, bis zur Mitte des
Stern ums reichend. Verlängerte Systole an der Spitze. Systol. Geräusch am Angul.
Ludovici, am Rand des Sternums das Geräusch sehr deutlich, manchmal verdoppelt
An der Basis der 2. Ton etwas klingend. Puls klein, unregelmäßig. Arterien
atheromatös.
Ober der Lunge Rasselgeräusche, über beiden Spitzen kavernöse. Eitriger
Auswurf. Abends etwas Fieber. 20. April: Ödeme stärker, ebenso die Zyanose.
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37] I>ie klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 397
SpSter Aszites. Rasseln in der Lunge sehr reichlich. Digitalis. Schlechtes All-
gemeinbefinden. 25. Exitus.
Autopsie: Das Herz beträchtlich vergrößert. Trikuspidalinsuffizienz, jedoch
keine Störung im linken Herzen. Die Aorta zeigt bloß einige atberomatöse
Stellen. Die Lungenarterie dagegen weist zahlreiche atberomatöse
Plaques auf, welche man bis zu den kleinen Endverzweigungen ver-
folgen kann. In der rechten Lungenspitze weite Kaverne im verdichteten Gewebe.
Im übrigen zerstreute (Knötchen) Granulationen. In der linken Spitze Kaverne,
2 Finger breit, das Gewebe weniger verdichtet als rechts. Alte verkreidete Tuberkel
und disseminierte Knötchen.
Saune, De Fathörome de l'artfere pulmonaire. Thfese de Paris
1877, no. 367. Beobachtung (Höpital de Pitie, Prof. Peter).
38 jähriger Diener, Eintritt 26. L 1877, leidet an Herzklopfen beim Gehen,
welches jede Arbeit unmöglich macht. Beträchtliche Dyspnoe und Ödem der Beine.
Die Herzpalpitationen bestehen schon lange, denselben sind Attacken von Gelenks-
rheumatismus vorausgegangen, welchen er vor 12 Jahren das erste Mal hatte. Seit
der Zeit leidend. Oppression, schlechte Verdauung. Anämisch. Sublkterische Ver-
färbung der Skleren und der Haut. Wangen leicht zyanotisch. Puls klein, unregelmäßig.
An der Aorta zweifaches Geräusch (Insuffic. et Stenosis), das systolische
ist viel stärker. Präsystolisches lang dauerndes, rauhes Geräusch über der Mi-
tralis. Später Abdominalpunktion. Im weiteren Verlauf Zunahme der Ödeme und
der Atemnot. Urinverminderung. Tod 20. März.
Sektion: Linke Lunge Lungenödem, besonders an den hinteren Partien. Ver-
dickung der adhärenten Pleura. In den Bronchien der rechten Lunge schleimig-
eitriger Inhalt.
Das Herz ist enorm vergrößert. Das festangewachsene Perikard kann nur mit
großer Mühe abgelöst werden. Diese Adhärenzen sind in der ganzen Ausdehnung
des Perikards vorhanden. Die Aortenklappen sind schlußunfähig, sehr stark
verdickt, geschrumpft, das Oriflcium ist leicht verengt. Unter den Klappen rechts
von der Mitralis ist ein indurierter Plaque auf dem Endokard. Zwei Sehnen, aus-
gehend von der oberen Partie des Papillarmantels, inserieren sich an der Ven-
trikelwand.
Die Mitralis ist sehr deformiert und das verengte Oriflcium nimmt
eben nur die Spitze eines Zeigefingers auf. Die rechte vordere Klappe ist
geschrumpft und zeigt am freien Rande eine Dicke von V2 cm. Die Sehnen, die
sich an ihr inserieren, sind verdickt und verkürzt. Die hintere Klappe ist eingerollt
and gleichmäßig verdickt. Der rechte Ventrikel stark ausgedehnt, leichte fettige
Entartung. Die Pulmonalarterie zeigt atberomatöse Plaques in der Höhe
der Klappen. Atberomatöse Plaques finden sich in ihrem Verlauf in
der Lunge, sind unregelmäßig, durchscheinend, ein wenig vorspringend
und sind namentlich deutlich am Sporn der Bifurkation. Die Aorta
ist nicht sehr atheromatös, man findet nur sehr kleine Plaques in der Höhe
des Aortenbogens. Hydrops ascites. Intumescentia hepatis. Milzschwellung,
perisplenitische Flecke.
G. Crooke, Pulmonary endarteritis. Transact. of the Pathol. Soc.
London 1888, XXXIX, p. 61.
34jähriger Mann. Als Kind Scharlach. Vor 5 Jahren Gelenksrheumatismus.
Keine Syphilis. Vor 19 Monaten Atembeschwerden, Schmerzen in der linken Brust-
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398 Adolf Posselt, [3g
Seite und am Rücken. Wfihrend der ersten Hälfte dieses Zeitraumes konnte er
noch arbeiten, allmähliche Verschlechterung. Bei der Aufnahme Dyspnoe, leichte
Ödeme.
Herzspitzenstoß im 5. I. R. 3/^ Zoll außerhalb der Papillarlinie. Lautes systo-
lisches Geräusch über dem Mitral- und Trikuspidalostium bis zur Axillarlinie.
Leises über der Aorta, doch nicht über dem Pulmonarostium, 2. Pulmonalton stariL
akzentuiert Basalbronchitis. Unter größter Atemnot Exitus.
Obduktionsbefund: Stenose des Mitralostiums mit ihren gewöhnlichen
Folgen und außerdem ausgedehnte Atherombildung an den Zweigen der Pulmonal-
arterie, stellenweise Thrombenbildung und Bindegewebswucherung in der Umgebung
der Gefäße; der Stamm der Arterie, sowie der Conus arteriosus dexter dilatiert
Die Arterien des großen Kreislaufes erschienen dickwandig, aber frei von Atherom.
Die ausführlich gegebenen Krankengeschichten der beiden primären
Fälle, welche Romberg und Aust beobachteten, rechtfertigen eine
eingehende Darstellung ihrer Befunde.
E. Romberg (Ober Sklerose der Lungenarterie. [Aus der mediz.
Klinik zu Leipzig.] Deutsch. Arch. f. klim Mediz. 1891, Bd. 48, S. 197).
Der hereditär nicht belastete, 24 jährige Pat., Gärtner, hatte als Kind die Ma-
sern, vor 11,2 Jahren Muskelrheumatismus, der ohne Fieber verlief und bald heilte.
Nie Gelenksrheumatismus. Keine luetische Infektion. Hat stets mäßig gelebt. Sein
jetziges Leiden begann ganz allmählich vor ca. IV4 Jahren mit Kurzatmigkeit,
Druck in der Magengegend. Die Kurzatmigkeit nahm immer mehr zu. Zeitweise
stellten sich Kopfschmerzen, öfters Schwindelanfälle ein. Gleichzeitig fiel der Um-
gebung des Pat. auf, daß seine früher gesunde Gesichtsfarbe bläulich wurde.
Namentlich nach körperlicher Anstrengung will Pat. oft „blitzblau" aus-
gesehen haben.
Trotz seiner Kurzatmigkeit konnte Pat. bis vor wenigen Wochen seine aller-
dings nicht schwere Arbeit verrichten. Über Herzklopfen oder stärkere Anschwel-
lung der Füße hat Pat. nie zu klagen gehabt.
Status (28. Juli 1890): Kräftig gebauter, leidlich genährter Mann. Maßige
Dyspnoe.
Resp. 24. Leichter Ikterus. Hochgradige Zyanose der Haut und der
sichtbaren Schleimhäute. An den Wangen und der Streckseite der Vorder-
arme und Hände Haut dunkelblau. Keine Ödeme. Herzgegend im ganzen etwas
vorgewölbt.
Eine zunächst als Spitzenstoß imponierende systolische Erschütterung findet sieb
im 4. I. I. R. 7,5 cm links von der Mittellinie, deutlich sichtbar und sehr resistent
Fortpflanzung in die Umgebung.
Neben dieser eine schwache systol. Erschütterung im 5. I. R. in der linken
Mammillarlinie. Keine epigastrische Pulsation. Die Perkussion ergibt eine starke
Verbreiterung der Herzdämpfung nach rechts und links. Die relative Dämpfung
findet sich im 5. r. I. R. 7 cm rechts von der Mittellinie, links vom Sternum an
der oberen 3. und im 5. 1. I. R. 15 cm links von der Mittellinie. Im Gegensatz zo
der relativen ist die absolute Herzdämpfung nur nach links hin verbreitert. Ihre
Grenzen sind an den genannten Stellen der linken Sternalrand, obere 4., linke
Mammillarlinie.
ri:. Bei der Auskultation hört man in der Gegend der starken Palsation, am lau-
testen an der Stelle des scheinbaren Spitzenstoßes ein systolisches, weiches, den
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39] I^ie klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 399
1. Ton verdeckendes Geräusch und am Ende der Systole ein kurzes, sehr scharfes
Geräusch. \7ährend das 1. nur im 3. und 4. I. R. hörbar ist, wird das 2. nach der
Auskultationsstelle der Pulmonalis hin sehr deutlich fortgeleitet. Man hört hier
vor ihm den 1. und nach ihm den akzentuierten 2. Pulmonalton. Über der Aorta
sind die Töne sehr viel leiser als über der Pulmonalis. Venen des Halses nicht
erweitert Puls klein. Arterie wenig gefüllt^ weich. Mäßiges Volum, pulmon. auct.
Leber vergrößert. Harn konzentriert, eiweiß- und gallenfarbstoffhaltig. Subnormale
Temperatur des Kranken höchst auffallend.
Vom 10. Aug. an Zyanose zunehmend, Puls schwächer. Dann starke den
Atem versetzende Schmerzen in der linken Seite des Thorax unter dem Rippen-
bogen. Respirationsfrequenz stieg auf das Doppelte. Ängstlicher Gesichtsausdruck.
14. August Zunahme der Schwäche, Puls unfuhlbar. Exitus letalis.
Annahme eines kongenitalen Herzleidens.
Die Sektion (Dr. Lochte) ergab eine außerordentlich verbreitete hochgra«»
dige Sklerose der Lungenarterie mit konsekutiver Hypertrophie der
rechten Herzhälfte. Das Herz ist fast doppelt so groß als die Faust des
Mannes« Seine der Brustwand zugekehrte Fläche ist gänzlich von dem stark ver-
größerten rechten Ventrikel gebildet. Vom linken Ventrikel ist fast nichts sichtbar.
Am herausgenommenen Herzen erscheint von vorn gesehen der linke Ventrikel
nur als ein Anhängsel des rechten, während auf der Hinterfläche beide Ventrikel
annähernd gleiche Dimensionen zeigen. Die Vergrößerung des rechten Herzens
betrifft also hauptsächlich den Conus arteriosus, wie auch aus den Maßen her-
vorgeht :
Größter Umfang des ganzen Herzens 30 cm
„ „ n linken Ventrikels U „
„ „ „ rechten „ 19 „
Von diesen 19 cm kommen auf den Conus arteriosus (von der Mitte des Sep-
tums bis zur rechten Herzkante) 13cm, auf die Hinterfläche (in gleicher Weise
gemessen) nur 6 cm. Fast noch verschiedener als die Größe der Ventrikel ist die
der Herzohren. Das linke ist kaum halb so groß als das rechte. Es erscheint
sogar kleiner als normal. Rechter und linker Vorhof verhalten sich entsprechend.
Am aufgeschnittenen Herzen fällt der enorme Unterschied zwischen rechter und
linker Herzhälfte noch mehr in die Augen. Die Wand des rechten Ventrikels ist
verdickt (z. B. am Ansatz des Herzohrs auf 6 cm). Die Trabekeln stark hypertro-
phisch. Das Foramen ovale ist am vorderen oberen Rande für einen Bleistift von
3 mib Durchmesser eben durchgängig. Die Öffnung wird durch einen 7 mm langen
Kanal gebildet, ist also von links her durch die Valvula foram. oval, reichlich
gedeckt.
Umfang des Ost. tricuspid. 10 cm. Klappen zart.
Der rechte Ventrikel ist besonders im Conus arteriosus stark dilatiert. Seine
Wand verdickt. Auf der rechten Kante (2,5 cm unterhalb des Sept. atrio-ventr.)
mißt sie 20 mm, von denen 9 mm auf die kompakte Muskulatur, 11 mm auf die
enorm hypertrophischen Trabekeln kommen. Im Conus arteriosus ist die Wand
ebensodick, aber es entfallen nur 5 mm auf die kompakte Muskulatur. Das Herz-
fleisch ist derb, graurot.
Mit bloßem Auge ist keine Verfettung, keine Scbwielenbildung nachweisbar.
Nur unmittelbar unter dem Ansatz der Pulmonalklappen zeigen sich unter dem
Endokard zahlreiche feinste weiße Linien und Punkte. Mikroskopisch sind die
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40Q Adolf Posselt, [40
Muskelfasern völlig intakt. An einzelnen Stellen wenig ausgedehnte Inflltrations-
herde und kleine bindegewebige Schwielen. Die gut schließenden Pulmonalkltppeo
sind zart, glatt. Die Lungenarterie zeigt unmittelbar über den Klappen keine Be-
sonderheiten. Ihr Umfang beträgt hier 85 mm, am Klappenansatz 80 mm, unmittel-
bar darunter 00 mm. Die Venae pulmonales sind an ihrer Einmfindung in den
linken Vorhof eng, für einen dünnen Bleistift eben durchgSngig. Der linke Vor-
hof ist eher etwas kleiner als normal. Die Dicke seiner Wand beträgt 2—Z mm,
nur die Hälfte von der des rechten.
Umfang des Ostiüm mitrale 10 cm. Die Klappen zart, glatt, ihre Sehnenfäden
nicht verdickt. Der linke Ventrikel ist ziemlich eng und besitzt nur wenig ausge-
bildete Trabekel. Das keinen Defekt zeigende Septum ventric. ist von rechts ber
etwas in den Ventrikel hinein vorgewölbt. Die Wanddicke beträgt im venösen Teil
12—15 mm, im arteriellen 10 mm. Aortenklappen zart, glatt.
Die Aorta ist auffallend eng. Umfang dicht oberhalb der Klappen 00 mm,
am Ansatz des Ductus Botalli 50 mm.
Der Ductus Botalli ist in seiner ganzen Länge geschlossen. Koronararterien
und Venen bieten nichts Besonderes.
Während die Aorta, von der Enge in ihrem ganzen Verlauf abgesehen, und
ihre Hauptäste sich völlig normal verhalten, zeigt die Lun gen arter ie bis in
ihre feinsten Verzweigungen hochgradige Veränderungen. IhrLumen
ist bis zur 2. Teilungf in der Lunge selbst ziemlich gleichmäßig er-
weitert (Umfang des rechten Astes 50 mm, des linken 40mm), dann in den
kleineren Ästen deutlich verengert. Die Verengerung wird um so hoch-
gradiger, je kleiner das Kaliber der betreffenden Zweige wird. Sie scheint sämt-
liche Verzweigungen gleichmäßig zu betreffen. —
Die Intima sämtlicher Verästelungen zeigt mehr oder minder ausgebildete
sklerotische Veränderungen. Zahlreiche, mäßig in das Lumen vorragende
Erhabenheiten von verschiedenster Gestalt und Größe bedecken die Innenfliche,
an einzelnen Stellen, z. B. im linken Hauptast, so dicht, daß kaum ein Fleck von
der Erkrankung verschont ist. Die Prominenzen sind durchscheinend, gelb. Ihre Ober-
fläche ist glatt. Ihre Ränder gehen allmählich in die normale Umgebung über. Diese
sklerotischen Veränderungen bedingen an den größeren Ästen eine nicht unbedeu-
tende Verdickung der Wand, an den kleineren außerdem die erwähnte Verengerung.
Außerdem fand sich eine lockere, aber totale Verklebung der rechtsseitigen
Pleurablätter ohne stärkere Schwartenbildung; Ödem und Hyperämie der wenig
pigmentierten, völlig normalen Lungen. —
C. Aust, Kasuistischer Beitrag zur Sl^lerose der Lungenarterie.
Aus dem Altonaer Krankenhaus. Münchener med. Wochenschn 1862,
September, S. 689.
25 jähriger Arbeiter, hereditär nicht belastet, hat in den ersten Lebensjahren
lange Zeit an englischer Krankheit und später vielfach an Lungen- und Magen-
katarrh gelitten. Rheumatismus oder sonstige zu Herzaffektionen führende Erkran-
kungen will Pat. niemals fiberstanden haben, luetische Infektion und Potatorium
stellt er entschieden in Abrede.
Von Profession Bäcker, gab jedoch diese Beschäftigung auf und war vom 16.
bis 19. Lebensjahr Glasbläser, wobei er Einatmung heißer Luft bei anstren-
gender Lungentätigkeit ausgesetzt war. Später suchte er sich leichtere Arbeit
Seit IV4 Jahren schon bei geringer körperlicher Anstrengung Atemnot, zeitweise
Präkordialangst. Periodenweise Durchfälle, Leibschmerzen.
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41 Di« klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 401
Aufnahme Aug. 1891. Blasse Gesichtsfarbe mit deutlicher Zyanose.
Ödeme fehlen. Atmung etwas beschleunigt. Herzdämpfung beginnt im 2. I. R.
reicht nach rechts IV2 Finger breit über den r. Sternalrand hinaus und links bis
zur linken Mammillarlinie. Der 1. Ton an der Spitze unrein und geht in der Rich-
tung nach dem Proc. xiphoid. und dem mittl. Sternum allmählich in ein kurzes Ge-
räusch über. Der 2. Ton an der Spitze leise, nach oben zu diastol. Geräusch im
2. linken I. R. von rauschendem Charakter. Im 2. r. I. R. Herztöne leise und dumpf,
kein deutliches Geräusch.
Herzaktion regelmäßig. Puls klein. Digitalis. Im weiteren Verlauf stärkere
Verbreitung der Herzdärapfung nach rechts. Später Zeichen von Infarkt. Ende Sept.
geringe Ödeme an den unteren Extremitäten. Puls unfuhlbar, Dyspnoe und Zyanose
mit starken Exazerbationen.
Es konnte keine sichere klinische Diagnose gestellt werden, Insuff. semilun.
aortae oder Insuff. semil. pulmon. waren mit einer Reihe von Erscheinungen nicht
stimmend. Die ungewöhnliche Dyspnoe und Zyanose (trotz Digitalis
usw.) legten bei dem Mangel an aasgesprochenen sonstigen Stauungs-
erscheinungen (insbesondere an Ödemen) die Wahrscheinlichkeit
eines bestehenden kongenitalen Herzfehlers nahe.
Sektionsbefund (25. IX.) (auszugsweise): Die Querschnitte der Lungen-
arterie auffallend weit, ihre Wandungen verdickt und starr. Herz enorm
vergrößert. Der stark dilatierte rechte Vorhof ist schwappend gefüllt mit leicht
geronnenem Blut, seine Wand stark hypertroph iert (größte Wanddicke 0,6 cm).
Der rechte Ventrikel stark dilatiert, die Wand enorm verdickt (2 cm), die Pa-
pillarmuskeln vergrößert. Endokard zart. Trikuspidalklappe intakt.
Die Pulmonalarterie ist stark erweitert, der innere Umfang am
Klappenansatz mißt 9,5 cm, während oberhalb der Klappen eine deutliche
Tendenz zu aneurysmatis eher Erweiterung besteht (größter Umfang
10,2 cm).
Die Lungenvenen sind an ihrer Einmündungssteile in den linken Vorhof für
den kleinen Finger kaum durchgängig. Die ganze linke Herzhälfte entspricht
etwa der Größe eines Kinderherzens; der linke Vorhof kommt in seinem
Rauminhalt etwa dem rechten Herzohr gleich. Muskulatur schwach entwickelt.
Das Endokard zeigt eine grobe, strahlige Strichelung. Die Mitralklappe zart,
intakt. Der kleine enge linke Ventrikel wird von dem rechten halbmondförmig
umlagert, seine Wand ist dünn (1 cm); die Papillarmuskeln wenig entwickelt.
Die Aorta ist eng, für den kleinen Finger kaum durchgängig. Innerer Um-
fang dicht oberhalb der Semilunarklappen 6,6 cm, im Brustteil 4 cm, im Bauchteil ^^
3,5 cm. Klappen zart, vollkommen intakt, die Intima weist einige wenige athero- (^,rv,|#)^^^r
matöse Einlagerungen auf. Ductus Botalli vollkommen obliteriert, Koronararterien ^, u, v<
ohne Besonderheiten. ^
Hochgradige Veränderungen zeigt die Arteria pulmonalis mit
ihren Asten. Vom Anfangsteile bis in die kleinsten makroskopisch
noch erkennbaren Verzweigungen zeigt die Intima der im ganzen ver-
dickten und starren Arterienwand dichte, teils plattenartige gelbe
Prominenzen mit glatter Oberfläche und verwaschenen Rändern, teils
feine, in der Längsachse des Gefäßes verlaufende, erhabene Striche-
lung. Während die großen und mittleren Äste eine erhebliche Erweiterung auf-
weisen, ist das Lumen der kleineren und kleinsten Verzweigungen deutlich ver-
engt. —
Die Ätiologie dieses Falles ist völlig dunkel.
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402 Adolf Posselt, [42
Als schädigende Momente werden angesehen: das langdauernde angestrengte
Einatmen heißer Dämpfe und die Obliteration der einen Pleurahöhle.
„Das am stärksten hervortretende Symptom der Erkrankung bildete die allmäh-
lich bis zu enormer Hochgradigkeit zunehmende Zyanose und Dyspnoe bei völligem
Mangel von Ödemen , ein Verhalten , das bei dem relativ jugendlichen Alter des
Pat. zunächst die Annahme eines kongenitalen Herzdefektes mit abnormer Mischung
von venösen mit arteriellem Blute wohl rechtfertigte.^
Folgende Beobachtung von subakuter und subchronischer Endar-
teriitis der Pulmonalis will ich hier vorzüglich aus dem Grund ein-
reihen, weil der Autor auch in klinisch-diagnostischer Hinsicht ver-
wertbare Momente zu erblicken glaubt. Infolge der kontinuierlichen
Einschwemmung kleiner embolischer Partikelchen in die Lungenar-
terienzweige entstand ein subakutes, der Tuberkulose ähnliches klini-
sches Bild.^
Reiche (Arteriitis pulmonalis. Jahrbücher der Hamburger Staats-
krankenanstalten Jahrg. 1891/02, Bd. 3. Hamburg und Leipzig 1804,
S. 287.)
1. 17jährige Blumenmacherin. Keine heredit., keine luet. Momente. Beginn des
Leidens mit Herzklopfen, Husten und Appetitlosigkeit. Schmerzen in der linken
Brustseite, in letzter Zeit Kurzluftigkeit. Keine Gliederschmerzen. Schmächtig
gebaut, sehr abgemagert, anämisch. Starke Verkrümmung der BrustwirbelsSuIe.
Vortreibung des Sternums. Pleurit. Reiben 1. h. und r. M.
Normale Herzdämpfung. Ober ihr Schwirren fQhlbar. An allen Ostien ein
diastolisches Geräusch. Frequente, regelm. Herztätigkeit.
Während der Folge irreguläre Temperaturen, vereinzelte Fröste.
Keine Bazillen im Sputum. Später Ödeme an den Unterschenkeln. Tempera-
turschwankungen, Milzschwellung. Große Euphorie. Gelegentlich Brustschmerzen
und vermehrter Husten. Dämpfung über der rechten Spitze, bronchial. Exspiriam.
Ödeme zunehmend, Spuren von Albumen. Urin vermindert, große Schwäche
plötzlicher Exitus. (Krankheitsdauer 3 Wochen.) Sektion: Perikard durch Flüssig-
keit ausgedehnt. Herz in toto vergrößert, quergestellt. Hypertrophie des rechten
und linken Ventrikels.
Auf den Pulmonalklappen mehrere weißliche , knötchenartige kleine Gebilde,
nicht über Stecknadelkopfgröße. Aorta glatt, unverändert. Das Anfangsstück der
Pulmonalis zeigt in einer Höhe von mehreren Zentimetern oberhalb der Semüu-
narklappen an der Seite, an der es der Aorta anliegt, eine fast markstückgroße
rundliche Region mit papillösen Exkreszenzen, an denen Thromben festhaften. Eine
größere Zahl bis bohnengroße Infarkte speziell in den Oberlappen verschiedenen
Alters und verschiedener Größe. Keine Tuberkulose. Mikroskop. Untersuchung
der Effloreszenzen in der Art. pulmonalis auf Bazillen nach Weigert negativ.
2. 21 jähriger Schneider. Im 7. Jahre Diphtherie. Nie Polyarthritis, Scharlacb
oder Lues. Vor IV2 Wochen heftiges profuses Nasenbluten. Mattigkeit* Fieber-
gefühl, Durchfall. Durst. Appetitmangel. Dumpfer Kopfschmerz. Husten und
Brustbeschwerden bestanden nicht. Blässe der Haut und Schleimhäute. Später leichte
Schmerzen in der rechten Brustseite. Herzdämpfung normal. Spitzenstoß kaum
fühlbar. (5. I. R.) — Töne an der Spitze rein. An der Herzbasis, am lautesten über
der Art. pulmonalis ein systolisches Geräusch, bei der Diastole ein kurzer, reiner
Ton. Kein Fr6missement. Über beiden Jugularvenen leichtes Sausen. Halsvenen
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43] Die klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 403
nicht geschwellt Radialpuls kräftig, geringe Dikrotie« Ober der rechten Spitze und
r. h. u. verkürzter Schall. Im Sputum keine Bazillen. Temperaturanstieg. Me-
teorismus. Roseola?
Rechts über der Klavikel und links nach außen vom Herzen RasselgerSusche.
Roseola verschwunden. Diarrhoen. Gelegentlich schmerzloses Erbrechen. Blässe,
keine Zyanose. Weiterhin beiderseits unter Klavikel tympanit. Beiklang. In den
Spitzen spärliches Rasseln. ^ Links seitlich umschriebenes pleuritisches Reiben.
Herztöne rein, frequent. 2. Pulmonalton leicht akzentuiert. —
Über dem oberen Sternum und besonders deutlich nach links von demselben
hört man (seit 3 Tagen) ein lautes, in seiner Lautheit aber variierendes Geräusch
(sausend, an- und abschwellend), das nicht absetzt, aber in diesem An- und Ab-
schwellen den Herzphasen isochron, also systolisch und diastolisch erscheint. Es
wird nicht zum Rücken fortgelpitet. Kein fühlbares Fr6missement. Jugularvenen
kaum sichtbar; über ihnen ein leises Nonnengeräusch. Keine Zyanose, Blässe. Wenig
schmerzloser Husten. Schüttelfrost. Meteorismus. — Ober dem oberen Sternum
und am lautesten über dem linken 2. Rippenknorpel ist dauernd jenes weiche,
mehr oder weniger deutlich an die beiden Herzphasen gebundene Geräusch hörbar.
Milz vergrößert. Auswurf weißschaumig, zum Teil mit blutigen Streifen unter-
mischt. Atmung weniger frequent. Sehr geringe Zyanose. Unruhe, Benommen-
heit. Exitus. (Krankheitsdauer 3 Wochen.) Sektion: Rechter Ventrikel mäßig
dilatiert. Endokard intakt. Klappen zart. Aorta glatt. In der Art. pulmonalis 3 — 4 cm
oberhalb der Semilunarklappeil mit breiter Basis aufsitzender Thrombus. Nach
dessen Fortnahme liegt in der Pulmonalarterienwand eine ungefähr 5 pfennigstück-
große leicht erhabene Fläche zutage mit unregelmäßigen, welligen Rändern. Bron-
chopneumonische Herde. Embolus. Staphylococcus pyog. aureus.
Wenn auch nachstehender Kasus wegen der ätiologischen und speziellen patho-
logischen Verhältnisse etwas abweicht, verdient er doch der klinischen Erschei-
nungen halber kurze Erwähnung.
Gotthardt (Ein Fall von Endarteriitis verrucosa der Arteria pulmonalis.
Inaug.-Diss. München 1896).
18 jähriges Mädchen, seit früher Jugend häufig Herzklopfen, seit 2 Jahren kränk-
lich. Abgemagert, zyanotische Gesichtsfarbe.
Verbreiterung der Herzdämpfung nach rechts und links. Im 2. und 3. linken
Interkostalraum starke sichtbare Pulsation und Dämpfung. Ober den Ostien systo-
lische und diastolische Geräusche. Die Diagnose wurde gestellt auf: Dilatatio
cordis dext. et sin. Aneurysma aortae; Pericarditis adhaesiva (Cor villosum).
Phthisis apicis sinistri. Später Ödeme, welche wiederholt auf Digitalis zurück-
gingen. Exitus. Sektion: Hochgradige Hypertrophie und Dilatation des Herzens,
Endocarditis verrucosa der Pulmonalklappen; Endarteriitis verrucosa der Arteria
pulmonalis. Pericarditis flbrinosa. (Primäre Erkrankung: Tuberkulose der linken
Lunge, Pericarditis.)
Laache (Om Sklerose af arteria pulmonalis og erhervet „morbus
caeruleus**. Norsk Magazin for Laegevidenskaben 1890, no. 1) ver-
fügt über zwei Eigenbeobachtungen der seltenen primären Arterio-
sklerosis der Pulmonalis.
Beim 1. Fall, 50jährige Frau, mit den klin. Erscheinungen einer idiopath. Herz-
hypertrophie zeigte die Sektion außer dieser erhebliche Arteriosklerose der Aorta,
ferner, daß die Intima der Pulmonalis bedeckt war mit ^zerstreuten , weißlichen,
bis bohnengroßen, etwas erhabenen Flecken ohne Verkalkung". Während die Skle-
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404 Adolf Posselt, [44
rose der Pulmonalarterie hier eine Nebenrolle spielte, hatte sie in dem 2. von
Laacbe beobachteten Falle eine prädominierende Stellung, wobei das klinische
Bild des Morbus caeruleus bestand.
Ein 50jShrige, etwas neuropathisch veranlagte Frau war in ihrem 36. Lebens-
jahre, etwa 1 Jahr nach einer etwas rätselhaften Vergiftung mit Apfelkuchen am
ganzen Körper zyanotisch geworden. Häufig sehr starke Beklemmungen. Sie litt
dann später viel an Husten. Sonstige Stauungserscheinungen fehlten. (Hatte auch eine
vorübergehende Parese des rechten Armes und Beines.) Ödeme erst kurz vor
dem Exitus, dann aber rasch zunehmend. Im Status erwähnt: außerordentlicb
starke Zyanose, verbreiterte Herzdämpfung, besonders nach rechts, Spitzenstoß
an normaler Stelle, 2. Pulmonalton akzentuiert, allgemeiner Hydrops; keine Kolben-
finger. — Die Autopsie ergab: erhebliche Vergrößerung des rechten Ventrikels
und Atriums, weniger des linken, geringes Atherom der Aorta, der Stamm der
Pulmonalis bis zu 10cm Umfang erweitert, auch die peripherischen
Verzweigungen dilatiert, überall zahlreiche gelbe, konfluierende, prominente
Plaques ohne Verkalkung. In der rechten Lunge einige Infarkte. Muskatnußleber
und Nierenzyanose. — Die Ursache blieb dunkel, Alkoholismus und Syphilis
auszuschließen.
Für unsere klinischen Besprechungen gewinnt nachstehende Publi-
kation, die ebenfalls den deutschen Autoren vollkommen unbekannt
geblieben ist, eine besondere Bedeutung.
J. H. Bryant, Functional pulmonary incompetence, and dilatation
and atheroma of the pulmonary arteries, as complications of mitral
Stenosis. Guy 's Hospital reports 1901, vol. LV, p. 83 berichtet über
funktionelle Pulmonalinsufiizienz und Dilatation und Atherom der
Pulmonalarterien als Komplikation von gleichzeitiger Mitralstenose bei
verschiedenen gesammelten Fällen ärztlicher Beobachtung.
Es werden die ausführlichen Krankengeschichten von 16 diesbe-
züglichen Fällen mitgeteilt, von denen 9 obduziert und bei 7 klinische
Diagnosen gemacht wurden (7 mal war Zyanose notiert, 6 mal Ödeme
der Füße).
1. 36jahriges Fräulein. Mit 16 Jahren Typhus, mit 21 Jahren Scharlach.
Zyanose. Mitralstenose. Annahme einer Pulmonalarterien-Erweiterung.
Keine Ödeme. Sektion: Verzweigungen der Pulmonalarterie atheromatös, spe-
ziell in der rechten Seite und rechten Oberlappen. Klappen normal, Nodulus Arantii
verdickt. Freie Ränder herabgezogen. Arteria pulmonalis erweitert und dicker als
normal, fast so dick wie die Aorta.
2. 40jährige Frau. Mit 15 Jahren rheumat. Fieber. Herzpalpitationen. Spiter
leichte Ödeme.
Anämische Schmerzen. Pulsat. im 2. I. R. links. Epigastr. Einziehung. Ab-
dominalpunktion. Sektion: Pleuraladhäsionen. Frische Infarkte in den Lungen.
Pulmonalarterien verdickt, erweitert und atheromatös. Thromben in denselben.
Die Pulmonalarterie selbst erweitert.
3. 41jährige Frau. Schweratmigkeit und Ödeme. Stets schwere Arbeit Rheo-
matismus.
Diagnose: Mitralstenose. Trikuspidalinsuff. und -Stenose.
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45] I^ie klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 405
Puls irregulSr und beschleunigt. Sehr starke Zyanosis. Pulsation der Hals-
venen. Mäßiges Ödem der Beine. Sektion: Zyanose. Rechte Oberlappenpleura
verdickt, ebenso links.
Trikuspid. leicht verdickt. Vegetationen auf der Mitralklappe , sie selbst stark
verdickt und verkalkt.
Pulmonalarterie verdickt (fast so stark wie die Aorta) und erweitert. Beide
Aste stark verdickt und atheromatös, ebenso die kleineren.
4. 32jShrige Frau. Anasarka und Dyspnoe. Rheumatismus in der Familie.
Widerholt Polyarthritis. Zyanose. Pulmonarthrombose.
Sektion: An den Pulmonarklappen (11,4cm Umfang) zweifellose Schlußun-
fShigkeit. In der Arterie atheromatdse Flecken.
5. aOjftbriger Mann. Vor 5 Jahren Polyarthritis. Spater Pleuritis sicca. Mitral-
und Trikuspidalinsuff. Kleine Blutaustritte in der Haut.
* Sektion: Zahlreiche Petechien und Ekchimosen. Pleuraadhäsionen.
Pulmonalverzweigungen verdickt und atheromatös. Erweiterung des Stammes.
Mitralis verdickt und verkalkt, Stenose. Aortenklappen verdickt und adhärent,
doch scblußflhig. Hämaturie.
6. 22jähriger Mann. Herzpalpitationen und Schmerzen in der Brust. Vater
und Mutter herzkrank. Mit 8 Jahren Scharlach. Attacken von Herzzuständen und
Schwäche.
Linke Seite der Brust in der Nähe des Sternums vorgetrieben.
Sektion: Beträchtliche Arteriosklerose und Verdickung der Pulmonalarterien.
Arteria pulmonalis beträchtlich erweitert. Atherom begann von der ersten
Teilung an.
7. 27jährige Frau. Wiederholte akute Rheumatismen. Mitralstenose und Peri-
karditis. Später wiederholte Polyarthritis. Blässe und Zyanose. Weicher und
schneller Puls. Weiterhin trockene Pleuritis. Plötzlich Dyspnoe, Exitus. Sektion:
Leichtes Ödem der Beine. Alte und frische Pleuritis. Totale Perikardsynechie.
Verdickung der Trikuspidalis. Erweiterung der Pulmonalarterie, bedeutend weiter
als die Aorta. Intima verdickt, die größeren Äste atheromatös.
8. 25 jährige Frau. Vor 6 Jahren Rheumatismus. Mitralstenose und Trikuspidal-
insuff. Blaß und dyspnoisch. Keine Zyanose. Ödem der Beine und vielfach Blut-
austritte. Im weiteren Verlauf zunehmende Zyanose und Orthopnoe.
Sektion: Hochgradige Zyanose. Ödem der Beine. Pleuraadhäsionen.
Braune Induration und Lungeninfarkt. Perikard verdickt. Die Säume der
Aortenklappe verdickt und eingerollt. Trikuspidalis verdickt und insuflTiz.? Pul-
monalarterie weiter als Aorta, bedeutend dicker und zeigt atheromatöse Flecken.
9. Mann. 2 mal rheumatisches Fieber. Ödeme. Schwerer Atem. Blutiger
Auswurf. Pleuritis sicca. Dyspnoe. Sektion: Empyem der rechten Pleura. Perikard
überall verwachsen. Am rechten VentrilLcl verkalkte Masse.
Erweiterung der Pulmonalis und ihrer Äste. Intimaverdickungen. Kein Atherom.
Zahlreiche verkalkte und fibröse Flecken in der Aorta, speziell im Beginn.
BrOnings Untersuchungen über das Vorkommen der Angio-
sklerose im Lungenkreislauf, Zieglers Beitn z. path. Anat. 1001,
Bd. 30, S. 457, betreffen eingehende pathologisch-anatomische und
histologische Befunde und kommen für klinische Zwecke kaum in
Betracht.
Nachdem in den meisten Publikationen nachstehende Arbeit voll*
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406 Adolf Posselt, [46
Ständig unberücksichtigt blieb, sei sie etwas ausführlicher gebracht,
zumal in bezug auf unser spezielles Thema die klinischen Befunde
genauer detailliert erscheinen,
Percy Kidd, Sequel to a case shown at the society in 1001 as
congenital morbus cordis; diifuse endoarteriitis of the pulmonary
arterial System. Clin, society of London 1904.
21 jähriges Mädchen, litt von Kindheit an an Herzkrämpfen und Dyspnoe. Hatte
weder Muskel- noch Gelenksrheumatismus. Pat. war leicht zyanotisch, die End-
phalangen der Finger zeigten jedoch keine kolbige Auftreibung.
Herz hypertrophisch, namentlich im rechten Anteil. Ictus cordis im 5. linken
I. R. in der Mammillarlinie, starke Pulsation im 3.-5. I. R., die bis zum rechten
Sternalrand reichte. Die Herzdämpfung begann in der linken ParaSternallinie an
der 3. Rippe und reichte etwas außer die Mammillarlinie nach links und ettlas
innerhalb des rechten Sternalrandes nach rechts.
Auskultatorisch lauter, kurzer, knackender Ton über der ganzen Herzgegend
hörbar, ähnlich dem ersten Ton bei Mitralstenose. Das Maximum Tand sich über
dem Pulmonalostium, gelegentlich konnte man hier auch ein kurzes diastolisches
Geräusch nach dem 2. Ton hören; der 1. Ton war überall rein, weich, von
keinem Geräusch begleitet. Lungen und die übrigen Organe gesund. Nach
Anamnese, Symptomen und Aussehen der Kranken und bei der Hypertrophie des
rechten Herzens schien es ganz klar, daß es sich in diesem Falle um eine an-
geborene Herzerkrankung handelte. Als solche stellte ihn auch Kidd früher in
der med. Gesellschaft vor. Plötzlich bekam Pat. Erbrechen, starke Dyspnoe, Leber-
schwellung, Ödeme an den Knöcheln und andere Stauungserscheinungen. Exitus.
Obduktionsbefund: Das ganze Herz, Ventrikel und Vorhof beträchtlich erweitert
und hypertrophiert, namentlich schien der Ventrikelanteil des Trikuspidalostiums
dilatiert, die Pulmonalklappen waren an ihren Zipfeln und in ihrem Zentrum mit
kleinen Flecken besetzt, welche den Eindruck frischer endokardialer Wucherungen
machten. Sonst waren die Klappen sämtlich gesund. Weder die Aorten- noch die
Pulmonalklappen waren schlußunfähig. Nichts fand sich, was die Hypertrophie
und Dilatation des rechten Herzens erklären konnte. Myokard und Kranzgefiße
intakt. Die Aorta zeigte sehr leichte Arteriosklerose oberhalb der Klappen. Die
Pulmonalarterie war deutlich atheromatös in ihrem Stamm und ihren
großen Verzweigungen, selbst die kleinen Arterienäste in den Lungen wiesen
Arteriosklerose höheren Grades auf. Die Gefäße, welche die einzelnen Lungen-
läppchen versorgten, waren mit zahlreichen gelblichen Flecken besetzt, die Wan-
dungen zeigten breite atheromatöse Plaques. Verkalkungen waren nicht vorhanden.
Mikroskopisch fanden sich selbst in den feinsten Lungenarterien-Verästelungen alle
Zeichen chronischer Endarteriitis. Die Tunica intima war verdickt, die Kapillaren
in den Lungen geschlängelt, ihre Wandungen etwas verdickt.
Kidd vermutet y der schon aus frühester Jugend her datierenden
Beschwerden wegen, daß die Arterienerkrankung wahrscheinlich schon
aus dem intrauterinen Leben stamme.
Torhorsts (Die histologischen Veränderungen bei der Sklerose der Pulmonal-
arterie. Zieglers Beitr. z. pathol. Anat. 1904, Bd. 36, S. 210) Mitteilungen umfassen
die pathologisch-anatomischen, speziell histologischen Veränderungen in einer
Reihe von Pulmonalsklerosenfällen, bei denen nur in aller Kürze klinische Diagnosen
ohne nähere Befunde beigefügt werden.
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47] I^ie klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 407
Dasselbe jSßt sich von der Arbeit Ehlers (Zur Histologie der Arteriosklerose
der Pulmonalarterie. Inaug-Diss. Bonnjan. 1005 und Virchows Arch. 1905, Bd. 178,
S. 427) sagen.
Im Comite m6dical, 1900, S. 2. Februar, berichteten Boinet und
Poesy (Ath6rome de Tartöre pulmonaire. Marseille medical 1906^
43. ann., no. 5, p. 151) über:
eine 57 jährige Kranke. Mittlerer Ernährungszustand. Zyanose des Gesichtes,
Lippen violett. Sehr zahlreiche Venenausdehnungen an den Wangen und der Nase.
Beträchtliche Dyspnoe. Keine infektiösen oder rheumatischen Affektionen vorher*
Seit 8 Monaten Ödeme der Beine. Schweratmigkeit mit Exazerbationen. Be-
klemmungen, nervöse Anfälle mit Schwäche, Aufgeregtheit, Krämpfen.
Schwacher Herzschlag. Doppeltes Geräusch während der Systole in breiter
Ausdehnung bis zur Axillarlinie. 2. Ton an Aorta und Pulmonalis schwach.
Kein Venenpuls an der lugularis. Schwacher, leicht unterdruckbarer, unregel-
mäßiger Radialpuls. Emphysem speziell der Oberlappen.
Bronchitis. Im Auswurf blutige Streifen. ,
Sektionsbefund: Im linken Oberlappen in den größeren Gefäßen schwarz-
braune Infarktpfröpfe, ebenso im rechten. Im Unterlappen Stauung.
Herz vergrößert, linke Aurikel ausgedehnt.
Mitralinsuffizienz. Aortenatherom mit Erweiterung des Bogens.
Trikuspidalinsuffizienz. Atheromatöse Plaques von 5 mm Länge, bis 1 cm Um-
fang vom Ursprung der Pulmonalarterie. Klappen der Pulmonalis normal.
Rechtes Herzohr sehr erweitert und hypertrophiert. Die Ränder der Trikus-
pidalklappe infiltriert und fibrös verdichtet.
Mönckeberg (Über die genuine Arteriosklerose der Lungenarterie.
Deutsche med, Wochenschr. 1907, 1. Aug., Nr. 31, S. 1243) verfügt
über 2 Erkrankungsfälle der primären Art.
1. Fall: 33jährige unverheiratete Dame, die schon vor der klinischen Aufnahme
längere Zeit in ärztlicher Behandlung stand.
Erkrankte Januar 1906, nachdem sie vorher immer gesund gewesen, mit Zeichet)
von Anämie und allgemeiner Nervosität.
Innere Organe ohne abnormes Verhalten. Im Februar leichte Verbreiterung
der Herzdämpfung nach rechts, an allen 4 Ostien Geräusche, am lautesten über
der Mitralis. Puls klein und stark beschleunigt.
Wegen leichtem Fieber und Albuminurie wurde damals die Diagnose auf
Endokarditis gestellt. Ende März Verschlimmerung. Erbrechen und heftige
Schweiße, Urinverhaltung und Ödeme traten zeitweise auf. Die Haut bekam eine
bräunlich livide Färbung.
Leichte Protrusio bulbi und Graefes Symptom in geringem Maße, jedoch
keine Schilddrüsenschwellung. Aufgeregtheit und schlechter Schlaf.
5. April klin. Aufnahme. Starke Zyanose, geringer Exophthalmus. Herz be-
3 4-12
trächtlich vergrößert: -j^o •
An der Spitze ein systolisches Geräusch konstant, ein diastolisches zeitweise.
Tachykardie, jedoch regelmäßiger Puls. Tremor.
Urin vermindert, Spuren von Eiweiß. Blutdruck 125, später 117. Temp. normal.
Atmung und Puls beschleunigt.
Man dachte an eine Forme fruste des Morbus Basedow, doch wurde auch
eine Myokarditis in Erwägung gezogen. Herzschwäche. Exitus 22. IV.
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408 Adolf Posselt, [48
Vom Sektionsbefund sei nur das Wichtigste gebracht. Keine Zeichen fiir
Morb. Basedowii und Addisonii. Herz bedeutend vergrößert und zwar nur im
rechten Ventrikel und Vorhof. Ersterer derb und starrwandig, während die Wan.
düng des linken außerordentlich schlaff war. Auffallende Weite des Stammes und
der beiden HauptSste der Pulmonalarterie.
Beträchtliche Erweiterung des rechten Ventrikels, seine Wand bis zu 8 mm
verdickt. Venöses Ostium erweitert, Trikuspidalis und Pulmonalklappen zart, f^ei
beweglich, von entsprechender Größe.
Der Klappenapparat des engen linken Ventrikels zeigte nichts Pathologisches,
ebenso Endo- und Myokard ohne Besonderheiten. Während die normal weite Aorta
eine völlig glatte Innenfläche darbot, sah man an der Pulmonalarterie und ihren
Hauptästen einzelne fleckige und streifige, wenig erhabene gelblichweiße Promi-
nenzen auf der Innenfläche. Lungen lufthaltig. Die größeren Zweige der Lungen-
arterie auffallend starr und dickwandig. Starke Stauung an den Organen des großen
Kreislaufes. Bei mikroskopischer Untersuchung zeigte es sich, daß die skleroti-
schen Prozesse in den Lungengefäßen eine weit größere Ausdehnung hatten. Die
Intimawucherung war an den kleineren und kleinsten Ästen relativ noch viel hoch-
gradiger.
2. Fall: 56 jähriger Mann. Klagen über Hinfälligkeit und Atemnot, Klopfen
und Unruhe des Herzens. Die Untersuchung ergab eine Mitralinsuffizienz im Stadium
gestörter Kompensation, starke Herzvergrößerung, besonders in der Breite, systol.
Geräusch an der Spitze, starke Leberschwellung, Ödeme der Beine. Auf Koffein
und Diuretin Besserung auf 4 Wochen. Gegensatz zwischen guter Herztätigkeit
und Puls einer- und großer Leber und Ödemen andererseits. Weiterhin stärkere
Ödeme und Atemnot. Darreichung von Digitalis versagte.
Befund an der Poliklinik: Starke Zyanose, Ödeme an Rumpf, Beinen und Händen.
5:11.5
Radialispuls nicht zu fühlen. Starker Venenpuls. Herz vergrößert. — r^— . An
der Basis ein nicht besonders lauter 2. Ton. Leber vergrößert, derb. Leberpuls
(Aszites?). Links Hydrothorax. Pat. starb bereits am selben Morgen nach der
Aufnahme im Bade. Diagnose: Insufficientia cordis. Insufficientia valvulae
mitralis.
Aus dem Sektionsbefund: Linke Lunge seitlich oben und hinten fiächenhaft,
unten nur strangförmig verwachsen. Rechte in ganzer Ausdehnung teils flächen-
teils strangförmig verwachsen.
Herz im ganzen stark vergrößert. Rechter Ventrikel stark erweitert. Wand ver-
dickt, starr. Endokard zart. Pulmonaltaschen groß, zart. Ost. ven. dext. für
4 Finger bequem durchgängig. Vorhof mäßig erweitert.
Linker Ventrikel nicht erweitert. Wand von entsprechender Dicke.
Myokard bräunlichrot, schlaff, Endokard zart, Ansatzrand der Aortentaschen
und am vorderen Mitralsegel leicht verdickt. Mitralostium für 2 Finger bequem
durchgängig. Klappensegel groß, freibeweglich.
Demnach Hypertrophie des rechten Herzens ohne organische Klappenverän-
derung. — Autochthoner Thrombus im Pulmonalarterienstamm, der das Lumen
des Stammes und rechten Hauptastes nicht ganz verlegte, so daß eine Passage
freiblieb, durch die ein wahrscheinlich aus der Vena cava inf. stammender Em-
bolus in die zum rechten Ober- und Unterlappen gehenden Äste hineinfahren
konnte. Der Thrombus war infolge ausgesprochener Arteriosklerose der Pulmonalis
entstanden, wobei das Gefäß weit war, mit stark verdickten Wandungen. Die Er-
krankung erstreckt sich nach der mikroskop. Untersuchung nicht so weit in die
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49] I)ic klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 409
kleineren Genße wie beim früheren Fall, dagegen waren die größeren stSrker be-
fallen.
Einengungen der Gefäße durch Intimawucheningen, dabei vielfach erweiterte
kleinere Äste ohne Intimawucherungen.
Da es sich auch hier um ein jugendliches Individuum handelt
(wie in den Fällen Romberg und Aust), möchte der Verf. möglicher-
weise eine angeborene Alteration der Lungengefaßwände annehmen,
die zu einer vorzeitigen Schwächung mit Schädigungen der Gefäß-
wand und reparatorischen Wucherungen der Intima geführt haben.
Beim folgenden Krankheitsfall standen die Lungenblutungen im
Vordergrund des klinischen Bildes.
Seh war tz (Über einen Fall von abundanter Lungenblutung bei
Mitralstenose und hochgradiger Sklerose der Arteria pulmonalis.
Münchner med. Wochenschr. 1907, Nr. 13).
30 jähriger M. Kein Potus, keine Geschlechtskrankheiten. Mit 24 Jahren Auf-
treten von Herzklopfen und Engigkeit bei raschem Gehen und Treppensteigen.
Vor 3 Jahren Bluthusten und wesentliche Verschlimmerung der Engigkeit. In
der Folge mehrmals Hämoptoe. Dez. 1904 plötzlich heftiger Anfall von Atemnot
mit krampfartigen Schmerzen in der Brust, 1 Tag lang sehr viel Blut ausgeworfen.
Weiterhin mehrmalige solche Anfälle.
Vom Status sei hervorgehoben: Haut sehr anämisch. Lippen zyanotisch,
Dyspnoe. Herzverbreiterung nach rechts, weniger nach links. Spitzenstoß 6. I. R.
1 Querf. außerhalb der Mammillarlinie.
Sehr verstärkter 1. Ton an der Spitze mit typischem präsystolischen Geräusch
und verstärkter 2. Ton. Herzaktion rhythmisch, beschleunigt.
Halsvenen pulsieren synchron mit dem Spitzenstoß« Fühlbare Arterien nicht
sklerotisch. Während des klinischen Aufenthaltes fast täglich Hämoptöeanfälle.
(Hemiplegie.) Exitus.
KllnischeDiagnose: Vitium cordis valvuläre (Mitralstenose und -Insuffizienz
Trikuspidalinsuffizienz), Herzfehlerlunge, multiple Lungenembolien und -infarkte,
pneumonische Prozesse im rechten Unterlappen. Embolie der linken Art. fossae
Sylvii.
Anatomische Diagnose: Embolie der linken Art. fossae Sylvii« Mitralstenose,
Trikuspidalstenose, braune Induration der Lunge. Blutungen in die Bronchien.
Arteriosklerose der Arteria pulmonalis. Milz- und Niereninfarkte. Blutungen
in die Magenschleimhaut.
In einer Arbelt Rößles (Ober Hypertrophie und Organkorrelation.
Münchner med. Wochenschr. 1908, 25. Febr., Nr. 8, S. 377) fand ich
zwei Fälle anscheinend primärer, nur mäßiger Sklerose, die jedoch
für klinisch-diagnostische Zwecke nicht in Betracht kommen.
Kitamura (Ober die Sklerose der Pulmonalarterie bei fortgesetz-
tem übermäßigen Biergenuß. Ztschr. f. klin. Med. 1008, Bd. 65, S. 14)
beschuldigt übermäßigen Biergenuß als Ursache.
Sein FaU betraf einen 33jährigen M. Potator. Fettsucht. Zyanose. Keine
Ödeme.
Die Pulmonalarterien sowohl in den großen, als auch in den kleinen Ästen
Klln. Vortrige, N. F. Nr.504/07. (Innere Medizin Nr. 149/52.) Okt. 19(». 29
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410 Adolf Posselt, [50
auffallend weit und klaffend. Die Intima zeigt schon in den großen Ästen, in
zunehmendem Maße aber nach den mittleren und kleineren Ästen hin, zahlreiche
gelbweiße, z. T. konfluierende beetartige Erhebungen.
Herz stark vergrößert. Verdickung der Ventrikel winde, speziell der rechten.
Klappen und Endokard zart und intakt. Muskel nirgends von Fett durchwachsen.
Die Intima der Aorta zeigt nur spärliche und kleine gelbweiße Verdickungen.
In allerjüngster Zeit berührte auf dem französischen Internisten-
kongreß als Korreferent Jaquet (Les formes cliniques de Tarterio-
sclerose. X. Congr. fran?. de medec. interne, Genfeve. 3 — 5. Sept. 1908.
La Sem., med. 1908, no. 37, p. 437) das Thema. Nach ihm sind die
atheromatösen Veränderungen der Pulmonalarterie nicht ausgesprochen
selten, sie bieten jedoch nur ausnahmsweise ein bestimmtes klinisches
Bild. Manchmal indessen kann die Pulmonalarteriensklerose schwere
Störungen hervorrufen, welche ungefähr an die Symptome der Pul-
monalstenose erinnern.
Bei einer Eigenbeobachtung bestanden die Erscheinungen in starker Dyspnoe,
Zyanose und Erweiterung des rechten Herzens, einem systolischem Geriusch an
der Basis mit Verdoppelung des 2. Tones. (Außerdem Leberschwellung und leichte
Albuminurie.)
Die Autopsie ergab ein Atherom des Stammes und der großen Äste der Pul-
monalarterie, Dilatation und Hypertrophie des rechten Ventrikels.
Die Arterien des großen Kreislaufs waren mit Ausnahme der Nierenarterie ft'ei
von Sklerose.
Die Arteria pulmonalis ist das funktionelle Gefäß des Re-
spirationsorg anes; als korrespondierende abführende Gefäße
dienen die Venae pulmonales, welche arterielles Blut führen.
Die zwei Arteriae bronchiales gelangen aus der Aorta zur Lungenwurzel; sie sind
die Vasa nutritia für Bronchien, Pulmonalarterienwand und Lungenbindegewebe.
Geringe Anastomosen bestehen mit der Art. pulmonalis.
Die zugehörigen Venae bronchiales führen das Blut nur yon den größeren
Bronchien zurück nach dem Hilus und münden in die Azygos oder die Anonyaia.
Die Venen der kleineren Bronchien gehen dagegen in die Venae pulmonales über,
wodurch eine wichtige Beziehung zwischen diesen infolge des gemeinsamen Ab-
flusses besteht.
Wird der Abfluß des Blutes der Venae pulmonales z. B. bei Mitralstenose e^
Schwert, so werden auch die Bronchialvenen mächtig erweitert.
Das bis zu einem gewissen Grad mögliche vikariierende Eintreten der Broncbial*
arterien bei Lungenarterienverstopfung oder hochgradiger Einengung wird schofl
in der älteren Literatur gewürdigt (hierüber bringt unter anderen Tiedemann
eigene und fremde Befunde), eingehender beschäftigte sich hiermit Küttner,
worüber bei Hart (Ober die Embolie der Lungenarterie. Deutsch. Arch. f. Uio.
Med. 1905, Bd. 84, S. 448) Näheres zu lesen ist.
Bei Atherosklerose der Lungenschlagader sind im Verhalten des
ganzen Systems verschiedene Möglichkeiten vorhanden:
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51] Die klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 411
Bei geringeren Graden beschränkt sich die Veränderung auf sklero-
tische Fleckungen, verteilt auf größere oder kleinere Gefäßbezirke ohne
Beeinflussungen des Lumens.
Daß derartige anatomische, oft fast eher histologische Vorgänge
nicht ins Bereich klinisch-diagnostischer Erwägungen fallen, ist selbst-
redend»
Bei höheren Graden stellt sich eine wesentliche Änderung der
Konsistenz mehr weniger weiter Gefäßwandungsbezirke ein, Elastizi-
tätsverlust, nach vorausgehender Erschlaffung, Starrheit, verschieden-
gradige Verengung der kleineren und kleinsten Gefaßverzweigungen,
welche einerseits eine gleichmäßige, bis mehr oder weniger aneurys-
matische Erweiterung des Stammes oder von Hauptästen, andererseits
eine allgemeine ziemlich gleichmäßige Verengerung des gesamten Ge-
fäßes vom Ursprung an bedingen kann.
In seltenen Fällen ist eine allgemeine gleichmäßige Erweiterung
vom Stamm an bis in die feinsten Verästelungen möglich.
Daß die obliterierende Endarteriitis der feinen und allerfeinsten
Lungenarterienäste (z. B. in den Fällen von Aust, Romberg, Kidd,
Mönckeberg, Rößle) in bezug auf klinische vorzüglich „Lokal^
symptome^^ ein differentes Bild zu der hochgradigen Sklerose des
Stammes der Pulmonalis zustande bringt, mag hier gleich hervorgehoben
sein. Letztere Endarteriitis höchsten Grades, die Arteriosklerose
des Wurzelgebietes, der großen Äste und deren Verzweigungen,
ohne besondere Beeinflussung des Kalibers mit ausgesprochener
ausgedehnter Verhärtung und Verkalkung, haben wir bei unseren
Besprechungen über die klinische Diagnose dieser Affektion bei^
der physikalischen Untersuchung in allererster Linie im
Auge.
Thoma sieht die Ursache der Arteriosklerose in einer primären Erkrankung ^
der Gefößwand selbst und räumt der Veränderung der Vasa vasorum nur eine ^ ^jU#v><^^ l
untergeordnete, sekundäre Stellung ein. ju > " i^ ^ * '"^ ^
Während Huchard in eben dieser Alteration der Vasa vasorum das Primäre
erblickt, bedingt durch eine erhöhte Wandspannung der Arterie, welche ihrerseits
wiederum mit einem gesteigerten Tonus der Gefäßmuskulatur, mit einem GefäB-
krampf in Zusammenhang gebracht wird.
Ähnlichen Annahmen neigte bereits Köster zu. Zunächst leiden die Vasa
vasorum, in welchen sich ein endarteriitischer Prozeß etabliert. Hierdurch wird
das an ihrer peripheren Ausbreitung liegende Gewebe der Intima schlechter ernährt
and Vorbedingungen für regressive Metamorphosen geschaffen. Nach reaktiver
Bindegewebshypertropbie greift der Prozeß auf Media und Adventitia über.
Nach Josu6 (Pathog6nie de l'arterioscl^rose. Soc. biol. LXIII, 29. Oct. 1907)
ist die Arteriosklerose das Resultat der Verteidigungsmittel, die der Organismus auf-
bietet, um die Funktionsfähigkeit der Arterien zu erhalten. Hierbei kommen jedoch
außer den produktiven auch degenerative Veränderungen zustande, so daß man die
Arteriosklerose als eine Verletzung zwecks Verteidigung auffassen kann.
29*
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\
412 Adolf Posselt, [52
^ir dürfen nicht vergessen, daß der Vorgang in den Geßßen sich nicht an ein
allgemeingültiges Schema hält, daß es auf die Raschheit oder Langsamkeit der Eot-r
Wicklung, den Ort, die Ausdehnung, den Grad ankommt, daß dabei die Beschaffen-
heit des Herzens bzw. das Stadium der ursprünglichen Herzaffektion, Zustand der
Lunge, die Umgebung beider (Perikard und Pleura) ankommt.
Was die Zeitdauer betrifft, so wäre mit Thoma ganz besonders zu bedenken,
daß eben die Wurzel des Obels die abnorme Dehnbarkeit in den Anfangsstadien
ausmacht und erst in der späteren Entwickelung durch Verdickung der Intima eine
Korrektur der Schädigung, dann aber durch Schwund der Elastizität, Verhärtungs-
und Sklerosierungsprozesse, Kalkablagerung usw. eine völlige Starrheit eintritt.
Was nun die bei Mitralstenose obwaltenden Verhältnisse anlangt, so folgert
Gerhardt (Ober die Kompensation von Mitralfehler. Arch. f. experim. PatboU
1901, Bd. 25, S. 186) aus seinen Versuchen, daß verstärkte Arbeit des rechten Ven-
trikels das durch eine Mitralstenose gesetzte Hindernis kompensieren kann, und
deutet sonach die bei diesem Fehler regelmäßig vorkommende Hypertrophie des
rechten Ventrikels als echte Kompensationserscheinung. Es ist jedoch eine ver-
hältnismäßig starke Steigerung des Pulmonalarteriendruckes^) nötig, damit der
Aortendruck beeinflußt wird. Damit werden aber an die Elastizität der Lungen-
arterien und -kapillaren erhöhte Ansprüche gestellt. Zur Mitralstenosenkompen-
sierung müssen sie annähernd doppelt so großem Drucke standhalten wie in
der Norm. In der menschlichen Pathologie drückt sich dieses in der starken Hyper«
trophie des rechten Herzens aus. Infolge der dauernd gesteigerten Belastung der
Lungengefäße müssen diese ähnliche Veränderungen erleiden, wie die des großen
Kreislaufs unter ähnlichen Bedingungen: Wandverdickung und Einbuße der Elasti-
zität, Letztere bedeutet aber ihrerseits wieder eine Erschwerung der Arbeit des
rechten Herzens, welche stärkere Hypertrophie erfordert.
Es bildet sich sonach ein Circulus vitiosus aus, der die Kreislaufsverhältnisse
trotz anfänglicher Kompensation des Klappenfehlers dauernd verschlechtert. --
Für das Verständnis des ganzen Prozesses und einer Reihe klinischer Sym-
ptome ist nicht minder wichtig ein zweiter derartiger Circulus vitiosus, der sich in
den Vasa nutritia, den Bronchialarterien abspielt. An verschiedenen Stellen wurde
^ der schlechten Füllung des linken Ventrikels und der Umstände gedacht, die eine
Füllung hier ganz besonders erschweren, infolgedessen auch die Blutversorgung io
diesen Gefäßen leidet, was wiederum eine Steigerung des Prozesses in den Lungen-
arterienwandungen zur Folge haben muß. In diesen Stadien resultiert daraus und
durch den mächtigen Oberdruck von innen eine starke Gefäßüberdehnung, infolge
deren die Vasa vasorum komprimiert und geschädigt werden.
Aus allem, aus der hier niedergelegten Literatur und unseren Eigen-
beobachtungen geht hervor, daß unter allen Herzaifektionen die Mitral-
stenose weitaus die Prädilektion für die Entwickelung des Prozesses
in der Lungenschlagader abgibt.
Ganz und gar Ober das Ziel schießt Jedoch Rattone (Arch. per le
scienze med. 1885, t. IX, no. 1), wenn er behauptet, daß das Atherom
der Pulmonalis sich konstant bei Stenosen der Mitralis findet,
1) Das Blutdruckverhältnis in der Pulmonalarterie zur Aorta geben unter anderen
an: Beutrer und Marey mit 1 : 3, Goltz und Gaule mit 2:5.
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53] Die klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 413
wenn er auch die Beschränkung beifügt: die eine bedeutendere Hyper-
trophie des rechten Ventrikels zur Folge hatten.
Beim Studium des vorliegendes Gegenstandes wurde ich veranlaßt,
ein möglichst großes Material von Herzkranken mit Mitralstenose in
den klinischen und Sektionsprotokollen, in sonstigen Publikationen,
Statistiken, Krankenhausberichten, kasuistischen Mitteilungen, Sammel-
referaten u. dgl. auf das Vorkommen dieses Prozesses in den Lungen-
gefäßen durchzuprüfen, wobei ich zu dem Resultat gelangte, daß
wirklich ausgesprochene Fälle von Atherosclerosis pulmonalis ganz
entschieden trotzdem auch bei diesem Herzfehler selten sind. Dies
gilt nicht allein für die an und für sich nicht allzu häufige reine
Mitralstenose, sondern auch für die Kombination dieser mit Insuffizienz
und Vorwiegen ersterer. Immerhin ist aber das von uns in obigem
erbrachte Material reichlich genug, um auch für den Praktiker volle
Beachtung zu verdienen.
Es sind zum Zustandekommen solcher Prozesse unzweifel-
haft noch eine Reihe von Paktoren nötig, die sich recht kompli-
ziert gestalten können.
Eine gewisse angeborene Kleinheit und Schwäche des linken Ven-
trikels mit geringerer Widerstandsfähigkeit der Lungengefäße (wofür
das so häufig konstatierte jugendlichere Alter spricht). Enge der Pül-
monalvenen, Hypoplasie der Aorta, wiederholte Einwirkungen schwerer
infektiöser Prozesse besonders in der Jugend.
Abgesehen von dem Vorkommen bei Entwicklungsstörungen des \^y^
Herzens wird der für manche Fälle geltende kongenitale Charakter
durch Erscheinungen gekennzeichnet, die alle Zeichen einer kongenitalen
Endokarditis tragen.
Um den Rahmen der vorliegenden Mitteilung nicht zu überschreiten,
können nur einige Momente in gedrängtester Kürze gestreift werden.
So verdient hervorgehoben zu werden, daß bei beiden jugendlichen ^
Individuen (24 und 25 Jahre) von Romberg und Aust mit anschei-
nend primärer Aneriosklerose sehr auffällige Enge der Aorta vor- ^^ ' x -^^
banden war (beidesmal vollständige rechtsseitige Pleurasynechie). *" ^
Im Falle Rombergs bestand eine für die Auffassung des Prozesses
ungemein wiebtige Störung, auf die merkwürdigerweise weder er noch
andere Bearbeiter des Themas Rücksicht nahmen, nämlich „eine ganz
beträchtliche Verengerung der Pulmonalvenen^S Es heißt: „Die
Venae pulmonales sind in ihrer Einmündung in den linken Vorhof
eng, für einen dünnen Bleistift eben durchgängig.^^ Daß eine derartige
Verengung nicht gleichgültig für den Blutkreislauf in der Lunge sein
kann und daß dadurch eine Ursache für wesentliche Drucksteigerung
in der Pulmonalarterie gegeben erscheint, ist ohne weiteres ersichtlich.
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414 Adolf Posselt, [54
Im schlieOlichen Endresultat dürfte sie dem durch Mitralstenose
ausgelösten gleichkommen.
Demnach wird auch verständlich, wenn ich an anderer Stelle sagte,
daß die ,,rein primäre^^ Natur einiger dieser Beobachtungen sehr
cum grano salis aufzufassen ist.
Auch in unseren beiden Fällen IX und X von Mitralstenose mit
hochgradiger Atherosis der Pulmonalartie zeigten die Pulmonalvenen
auffallend enge Lumina, was um so mehr Berücksichtigung verdient}
als ja bekanntlich als gewöhnliches Verhalten bei der Stenosierung
des linken Atrioventrikulär- Ostiums naturgemäß eine ganz außer*
ordentliche Ausdehnung des linken Vorhofes, die sich auch stets auf
die Mündungen der Pulmonalvenen erstreckt, resultiert
Die Verengerung der Pulmonalvenen (vielleicht manchmal
angeboren, zum Teil jedenfalls auch auf extrauterine Prozesse infek-
tiöser Natur bei frühzeitiger Polyarthritis, Variola usw.) würde auch
die direkte unmittelbare Beeinflussung der Zirkulationsverhältnisse in
der Lungenschlagader und die daraus resultierenden Folgezustände
recht plausibel erscheinen lassen und verdient jedenfalls in Zukunft
vollste Beachtung.
Die Ätiologie soll wenigstens in dieser Mitteilung nur vom prak-
tisch-klinischen Standpunkt aus berücksichtigt werden. Wir begnügen
uns deshalb mit dem bloßen Hinweis, daß der Pulmonalsklerose eine
separate Stellung gebührt, relativ unabhängig von dem Prozeß im
sonstigen arteriellen System, daher nur äußerst selten als Teilerschei-
nung allgemeiner Arteriosklerose auftritt; sie kann auch mitunter bei
gewissen Bildungsanomalien des Herzens und der großen Gefäße ge-
funden werden.
Nachdem Mitralstenose^) noch relativ am häufigsten diesen
Prozeß im Gefolge hat, wird es uns gar nicht wundernehmen, daß
wir des öfteren in der Anamnese Attacken von schwerer Polyarthritis
rheumatica finden. Mehrfach läßt sich auch die Kombination von
Pneumonien, Emphysem und Perikarditis mit solchen konstatieren.
Daß letztere für die Ausbildung derartiger Befunde begünstigend wirken
können infolge Zirkulationsstörungen und mechanischer Momente
(Druck, Kompression, Verzerrung), bedarf wohl keiner weiteren Aus-
einandersetzung.
In akuter Weise kann aber auch die Intima und im weiteren Ver-
lauf die ganze Wand des Gefäßes direkt durch bakterielle Wirkung
1) Auf das Auftreten von Pulmonalsklerose bei Mitralstenose wiesen zuerst und
vor allem Dittrich (1S50), Rlinger (1855), Heschl (1855) und Bamberger
(1857) hin.
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55] ' I)ie klinische Diagnose der Palmonalarteriensklerose. 415
oder zum mindesten durch die Toxine bei Infektionen ISdiert werden,
wodurch als Resultat auch ulzerierende und sklerotische Veränderungen
gesetzt werden können (Diplokokkeninfektion, Strepto- und Staphylo-
kokken, gonorrhoische Infektion).
Ohne auf die diesbezügliche Literatur einzugehen, mögen hier
einige Beispiele mit klinischen Erscheinungen Platz finden, ganz be-
sonders deshalb, weil in den Lehr- und Handbüchern und den ein-
schlägigen kasuistischen Arbeiten diesem Moment gar keine Rechnung
getragen wird. Dieselben dienen demnach auch als Paradigma für
akutes Entstehen solcher Prozesse.
Nyssens, Un cas d'endart^rite pulmonaire v6g6tante et uicereuse. Infection
streptococcique. La Presse M^dicale Beige 12. Mars 1893, 45. ann., no. 11, p. 81.
Mädchen von 22 Jahren. Blässe, Erbrechen. Konstantes Geräusch an der
linken Seite des Sternums. Milztumor. Später etwas Zyanose. Weiterbin Er-
brechen, Fieber, Schweratmigkeit.
Sektion: Herz 430 g schwer.
«Autour des art^res aorte et pulmonaires 11 existe de Texsudat avec villositös
8OUS forme de plaques d'epaissement, et surtout sur l'artöre pulmonaire. Les val-
▼ules pulmon. sont transparents et souples mais ä leur Insertion elles pr^sentent
des points d'induration des train6es de scl6rose.
Falle ri, Un caso di endoarterite deir arteria pulmonare. Riforma medica 1899,
no. 254. Ref. Ztrlbl. f. inn. Med. 1900, Nr. 31, S. 787.
Eine Pneumonie des linken oberen Lungenlappens, die zur Induration geführt,
eine frische des linken unteren Lappens, doppelseitige serös-flbrinöse Pleuritis^
ulzerierende polypöse Endoarteriitis der Semilunarklappen der Pulmonalis, ausge-
breitete fibrinöse Meningitis war der Krankheitsbefund, welchen Palleri be-
schreibt. Es gelang ihm, aus allen Krankheitsherden Reinkulturen von Diplococcus
Fränkel zu erzielen; auch gingen alle mit diesen Kulturen geimpften Kaninchen
prompt an Septikämie ein. Als Seltenheit betont Palleri, daß das Herz wie alle
übrigen großen Gefäße sich vollständig gesund erwies und nur die Lungenarterie
an dem Krankheitsprozesse Anteil nahm.
Miura (Virchows Arch. Bd. 111» und Mitteilungen der mediz. Fakultät der
Universität Tokio 1890, IV, 5) beschreibt bei Kakkepatienten Veränderungen an der
Pulmonalarterie, die als Vorstufen von Arteriosklerose betrachtet werden können.
Fürth und Weber, Maligne gonorrhöische Endarteriitis der Arter. pulmonalis.
Edinburgh Medic. Journ. 1905, voL XVIII, p. 33. Ref. Fortschr. d. Med. 1905,
S. 891.
27J. M., seit einigen Monaten Gonorrhöe, unregelmäßiges Fieber mit Frösten,
leichte Zunahme der Pulsfrequenz. Geräusch im 2. linken I. R. (Perikarditisver-
dacht). 4 Monate später neben einem systolischen ein lang gezogenes diastolisches
Geräusch neben deutlichem 2. Pulmonalton. Hypertrophie des r. und 1. Herzens.
Albuminurie. Tod 7 Monate nach der Aufnahme im Spital.
Sektion: Herzklappen normaL In derArt. pulm. 2 cm oberhalb der Pulmonal-
klappe eine rauhe, ca. V lange und 3 mm vorragende warzige Effloreszenz, in
welcher zwar Streptokokken, aber keine typischen Gonokokken gefunden wurden.
Die Erweiterung der Pulmonalis bot für das diastolische Geräusch keine ge-
nügende Erklärung, jedenfalls nicht für die frühere Zeit des Auftretens.
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416 Adolf Posselt^ [56
Dem chronischen Alkoholismus wird von französischen Autoren
eine ätiologische Bedeutung bei der Pulmonalarterien-SUerose zuge-
schrieben.
Nach Lancereaux (Caillots d6velopp6s dans Tartfere pulmonaire a la suite
d'exc&s alcooliques. Compt. rend. de la Soc. de biologie, 1861, ann. XIII., p. 162)
existiert eine Form der chronischen Arteriitis, welche von den Autoren noch nicht
beschrieben ist und sich durch Produktion neuer Membranen an der Intima charakte-
risiert. Diese Arteriitis findet sich besonders in der Pulmonalis. Als Ätiologisches
Moment glaubt Lancereaux Alkoholismus beschuldigen zu können.
Einem anderen französischen Autor, Huchard (Causes et pathog^nie de
Tart^rioscl^rose, 1889, und Maladies du coeur et des vaisseaux, 1882) zufolge virke
der Alkohol in erster Linie auf die Lebersubstanz ein und rufe weiterhin haupt-
sächlich arteriosklerotische Veränderungen in den Pulmonalarterien hervor, eine
Anschauung, die, wie Brüning (Untersuchungen über das Vorkommen der Angio-
jsklerose im Lungenkreislauf. Zieglers Beitr. z. path. Anat. 1901, XXX, S. 457) mit
Recht bemerkt, wohl von keinem anderen Forscher geteilt wird.
Mehrfach fand ich in der Literatur einen Hinweis auf Münzinger. Aus dessen
Arbeit^(pas Tübinger Herz. Deutsch. Arch. f. klin. Mediz. 1877, Bd. 19., S. 449)
ist jedoch keinerlei Ausbeute für klinisch-diagnostische Zwecke, unseren Prozeß
anlangend, erhältlich.
S. 758: „Mannigfaltig gestaltet sich das Krankheitsbild (nämlich das vom Verf.
geschilderte, infolge Oberanstrengung auftretende Herzleiden der Tübinger Wein-
hauer), wenn von den Lungen aus (dem Emphysem, der atberomatösen Entartung
der Pulmonakrterie), dem Gebiete der Arterien des großen Kreislaufs (Atherom),
neue Bedingungen eingreifen, welche wohlgeeignet sind, ein verworren erschei-
nendes und schwer zu enträtselndes Ganzes zu gestalten.**
Ober besondere Arteriosklerose der Pulmonalis weiß dieser Autor jedoch nicht
zu berichten. In einem Fall, 55 j. M., wird allerdings angegeben: „Pulmonalis mäßig
erweitert, schwach atheromatös**; ebendasselbe wird auch von der Aorta bemerkt
In einem anderen, 50 j. M., heißt es von Pulmonalis und Aorta: „Etwas er-
weitert, leicht fettig degeneriert.*'
In jüngster Zeit kommt Kitamura (Ober die Sklerose der Pul-
monalarterie bei fortgesetztem übermäijigen BiergenuQ. Ztsclir. f. klin.
Mediz. 1008, Bd. 65, S. 14) auf das Tliema zu sprechen, indem er
reichliclien BiergenuO als ursächliches Moment beschuldigt. Es stelle
sich bei diesem eine echte Plethora, eine absolute Vermehrung der
Blutmenge mit konsekutiver Herzhypertrophie ein, wobei sich die Er-
schwerung der Zirkulation, besonders im Lungenkreislauf, geltend
mache.
In unseren Fällen war eine derartige Ätiologie vollständig zu negieren.
Nur Fall I betraf einen ausgesprochenen Potator mit Leberzirrhose
und Herzdegeneration, bei dem der Prozeß in der Lungenschlagader
als zufälliger Sektionsbefund angetroffen wurde.
Was speziell den übermäßigen Biergenuß anbelangt, so würde hier
das kompetenteste Urteil in dieser Frage wohl außer jedem Zweifel
dem Münchener pathologischen Institut zustehen.
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57] I^ic klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 417
Auf eine diesbezügliche Anfrage hatte Herr Prof. Dürck von dem
genannten Institut die Güte mitzuteilen, „daß solche Fälle sicher mit
tibermäßigem Biergenuß nichts zu tun hatten^S Ein Fall der letzteren
Zeit des Institutes betraf ein junges Mädchen.
Im Gegensatz zur Aorta spielt bei den Schädigungen dieses Ge-
fäßes Lues ganz sicherlich nur eine sehr untergeordnete Rolle. Näher
hierauf einzugehen, wurde uns von unserem klinischen Thema zu weit
abseits führen.
In letzter Zeit lenkte wiederum Wiesel in mehreren Mitteilungen i)
die Aufmerksamkeit auf die Erkrankungen arterieller Gefäße im Ver-
laufe akuter Infektionen.
Für die Beurteilung und das Verständnis mancher Vorkommnisse,
die im folgenden auseinandergesetzt werden, scheint mir von Wichtig-
keit, daß auch Schädigungen der Vasomotoren durch infektiöse Pro-
zesse behauptet werden (Romberg).
Bei Durchsicht der Literatur in bezug auf unser Thema muß einem
die häufige Erwähnung durchgemachter Infektionskrankheiten auffallen,
wobei ich gerade mehrfach Überstehen verschiedenartiger schwerer
solcher antraf.
In der Anamnese unserer Kranken figuriert, abgesehen von zumeist
sehr schwerer und wiederholter Polyarthritis rheumatica, die zu
Endokarditis mit konsekutivem Vitium cordis führte, Typhus, Pneu-
monie, Perikarditis, bei 3 Fällen in jüngeren Jahren ^^Variola^^
Dieser schweren Infektionskrankheit bin ich geneigt, eine entschiedene
Bedeutung in der Ätiologie des abzuhandelnden Prozesses
beizulegen.
Verschiedenerseits wurden Befunde von Gefäßalterationen nach Blattern erhoben.
Tiedemann (S. 172) z. B. schreibt, daß Entzündung der inneren Haut der Puls-
adern oft in Begleitung hitziger, mit Fieberbewegungen verbundener exanthema-
tiscber Krankheiten eintrete, namentlich bei Masern, Scharlach und Pocken.
Auch in sonstigen älteren deutschen Hand- und Lehrbüchern über Herzkrank-
heiten finden sich solche Hinweise.
Tanchon (Edinburgh Journal of medical sciences July 1816) fand bei einer
großen Anzahl von an Pocken Verstorbenen die verschiedensten Grade von Ent-
zündungen der inneren Fläche des Herzens und der großen Gefäße. Er beschreibt
hierbei die verschiedensten Veränderungen der Gefäße, wobei es wiederholt zu
beträchtlichen Verdickungen kam.
In dem bekannten Falle Gilewskis (Wien. med. Wochenschr. 1868, Nr. 33)
1) Zeitschr. f. Heilk. 1905 und 1907. Ober Schädigungen der Gefäßwand durch
Infektionskrankheiten, die dann zu Sklerose führen, liegen Untersuchungen vor
unter andern von Simnitzi, Seitz und Saltykow. Thayer, Beziehungen zwi-
schen akuten Infektionen und Arteriosklerose. Deutsche mediz. Wochenschr. 1904.
L. B. S. 1515.
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418 Adolf Posselt, [5g
von kombiniertem Herzfehler mit Aneurysma und hochgradiger Arteriosklerose der
Pulmonalis überstand der Kranke Blattern, Typhus, Wechselfieber, Lungenentzündung,
Gelenkrheumatismus.
Nach Thoma leidet die Dehnbarkeit und Elastizität der Gefäße bei Diphtherie
und Variola.
Speziell diese verursache, wie Huchard glaubt, unter besonderen Umständen
eine akute Endarteriitis.
Schrötter läßt allerdings die Frage offen, ob dieses auch für die Arterio-
sklerose gelte.
Martin (Revue de M6d. 1881, t I, p. 369) wies bei Infektionskrankheiten,
namentlich bei Pocken, herdweise Veränderungen an den Gefäßen, Aorta usw. nach,
welche herdweise Arteriosklerose auf eine Arteriitis der Vasa vasorum zurück-
geführt wird.
Von Immermann (Variola. Nothnagels Spez. Path., Bd. IV, 2. H. 1896) wird
unter Komplikationen und Nachkrankheiten nur Perikarditis, in einzelnen Fällen
Endokarditis ulcerosa und marantische Thrombose angeführt
Von einer Reihe von Autoren wurden nach akuten Infektionen, speziell Typhus
und Variola, akute Arteriitis, die häufig in einen chronischen Zustand, Arterio-
sklerose, überging, beobachtet (Ducastel, Brouardel, Blachez, Landouzy und
Siredey).
Anhangsweise möchte ich beifügen, daß in einem von mir beobachteten Falle
von Pulmonalkonusstenose mit Septumdefekt i), bei dem schwere endokarditische
Prozesse am Konus und Klappenapparat, endarteriitische Fleckungen an der Arterie
selbst bestanden, in früher Jugend Blattern (mit 17 Jahren Pneumonie) durch-
gemacht wurden.
Die Möglichkeit des klinisclien Erkennens des Prozesses
ist von Haus aus an das Vorhandensein einiger Bedingungen geknäpft:
1. entsprechendes Stadium (je hochgradiger und fortgeschrittener
die Erscheinungen der Kompensationsstörungen und Herzensinsuffizienz,
desto weniger Aussicht bietet sich für sie).
2. genügende Ausbildung des Prozesses selbst, der Intensität und
Extensität nach.
3. sehr lange Beobachtungsdauer.
(Bei unseren letzten zwei Patienten erstreckte sie sich auf 5 und
7 Jahre.)
In der klinischen Symptomatologie ist für das Auftreten der
allgemein klinischen Symptome das Befallensein der kleineren
und kleinsten Gefäße (Endarteriitis obliterans), für die Setzung der
lokalphysikalischen Befunde das hochgradige Befallenwerden des
Ursprungsgebietes, Stammes der Arterie und der großen
Äste maßgebend.
Wir wollen von der Atherosclerosis pulmonalis bei Mitral-
1) S. Pommer, Wiener klin. Wochenschr. 1904. (s. u.)
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50] Die klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 410
Stenose ohne wesentliche Alteration der Kaliberverhältnisse des Ge-
fäßes ausgehen.
Bei der physikalischen Herzuntersuchung wollen wir der-
jenigen Erscheinungen gedenken, welchen eine direkte oder indirekte
semiologische und diagnostische Bedeutung zukommt oder durch das
Zusammentreffen gewisser Umstände eine solche erlangen.
Bei der Inspektion weisen alle Zeichen (verbreiterte undulierend-
pulsierende Herztätigkeit, epigastrische Pulsation, Pulsationen in der
Konusgegend) auf eine mächtige Hypertrophie des rechten Ventri-
kels hin.
Sichtbare Pulsationen im 2. linken Interkostalraum lassen wohl zu-
meist eher komplikative Verhältnisse vermuten: Adhäsionen, Retrak-
tionen am Perikard oder der benachbarten Pleura, Erweiterungen und
Aneurysmabildungen des Gefäßes.
Daß die Hergegend im allgemeinen meist recht beträchtlich hervor-
gewölbt, demnach die Herzbuckel (Voussure)bildung eine in der Regel
ganz besonders auffallend starke ist, darf uns unter solchen Umständen
nicht wundernehmen, zumal es sich ja so häufig um verhältnismäßig
noch recht jugendliche Personen handelt.
Das mittelst Palpation bei Mitralstenosefällen wahrzunehmende
diastolische Schwirren an der Herzspitze rückt manchmal im Verlaufe
der Beobachtung sukzessive mehr nach aufwärts gegen den linken
Sternalrand zu (vgl. Auskultation).
Wahrscheinlich dürfte das einige Male mit der aufgelegten Hand
nachgewiesene leichte rieselnde Schwirren in der Pulmonalgegend auf
Bildung von endarteriitischen Verdickungen und Rauhigkeiten zurück-
zuführen sein.
Durch die Herzperkussion läßt sich sowohl bei den genuinen
als den auf Mitralstenose beruhenden Fällen eine ganz besonders auf-
fällige Vergrößerung des rechten Herzens feststellen. Dieser
höchst beträchtlichen Verbreiterung der Herzdämpfung nach rechts,
die bereits schon nachweisbar ist zu einer Zeit, wo nach allem übrigen
noch kein Grund für eine derartige das Maß des Gewöhnlichen weit
überschreitende Kompensation vorzuliegen scheint, steht die Kleinheit
des linken Ventrikels gegenüber.
In gleicher Weise, wie man bekanntlich einen Dämpfungsstreifen
am obersten rechten Sternalrand auf die arteriosklerotische Aorta be-
zieht, möchte ich den wiederholt nachzuweisenden und im Verlaufe
langer klinischer Beobachtung an Extensität der Ausdehnung und
Intensität der Schallerscheinung immer deutlicher werdenden Dämp-
fungsstreifen am obersten linken Sternalrand (und angrenzenden
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420 Adolf Posselt, [60
2. I. R.) auf die atherosklerotische Pulmonalarterie zurück-
führen 1).
Allerdings ist dieser Rückschluß erst dann erlaubt, wenn durch
genaue diiferential- diagnostische Erwägungen anderweitige Prozesse
in diesem Gebiete ausgeschlossen werden können.
Der Empfindlichkeit bei tiefen Perkussionsschlägen und
der Haut in dieser Region, wie sie einige Male bestand, muQ gedacht
werden.
Unter bestimmten Verhältnissen dürfte auch die Untersuchung in
stark vorneüber gebeugter Haltung (Zunahme der Breite des
Dämpfungsstreifens und der Intensität desselben in diesem Gebiet,
stärkere lokale Druck- und Perkussionsempfindlichkeit) brauchbare
Aufschlüsse geben.
Dieser Abschnitt der physikalischen Herzuntersuchung würde des inneren Zu-
sammenhanges entbehren, bliebe das Verhältnis der beiden Ventrikel zueinander
unbesprochen, dem eben hier auch ein gewisser semiologischer Wert innewohnt.
Das Verhalten des linken Ventrikels bei Mitralstenose hängt von der Blutmenge ab,
welche er noch zu bekommen in der Lage ist. Bei geringen Graden tritt keine
auffallende Erscheinung ein. Stellt sich aber ein Mißverhältnis zwischen dem durch
die Stenose erzeugten Hindernis und der Kraft des rechten Ventrikels ein, so
leidet die Füllung, die Arbeit sinkt und die Muskulatur atrophiert.
Bei der Mitralstenose wird der Druck in der Pulmonalarterie, wie die Tierver-
suche Gerhardts und die von Moritz am Modell dartun, wesentlich erhöht.
In der Aorta sinkt der Blutdruck, es macht sich eine schlechte Füllung und
geringe Spannung bemerkbar.
Diese Verhältnisse machen sich in noch höherem Grade bei der gleichzeitigen
Sklerose der Lungenarterie geltend und kommen physikalisch-diagnostisch in einem
ganz besonders hohen Grad der Vergrößerung des rechten Ventrikels
bei Kleinheit des linken zum Ausdruck. Die bei den Obduktionen erhobenen Be-
funde erhärten dies: der hochgradig vergrößerte rechte Ventrikel verdrängt den
kleinen, unansehnlichen, geschrumpften linken nach hinten und umgreift ihn förmlich.
Der sozusagen rudimentäre linke Ventrikel erscheint fast als unbedeutender Appendix.
Bei abweichendem Verhalten war die Ursache unschwer zu erkennen: gleich-
zeitige stärkere Aortenatheromatose, Insuffizienz der Semilunaren, beträchtliche
Arteriosklerose peripherer Gebiete, interstitielle Nephritis, schließlich vorausge-
gangene Insuffizienz der Mitralis.
Eine wertvolle Bereicherung der Herzuntersuchung auf Verkalkungs-
prozesse liefert die Röntgendurchleuchtung. Man kann mittels
dieses Verfahrens bei Schonung pathologischer Präparate verkalkte
Stellen im Myo- und Perikard, an den Klappen, an den Koronar-
arterien nachweisen. In dieser Hinsicht bietet auch der Nachweis
von Atherosklerose der Pulmonalarterie, deren Sitz und Aus-
1) Eine bandförmige Dämpfung links neben dem Sternum im 2. I. R. wurde
bereits von Hamernjk und Gerhardt auf eine Erweiterung der Arteria pulmo-
nalis bezogen.
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61] Die klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 421
breitung an solchen Präparaten großen Vorteil, weil dadurch derartige
für Sammlungen wertvolle Objekte vollständig geschont bleiben.
Wesentlich schwieriger gestaltet sich naturgemäß, der Respirations-
und Herzbewegungen halber, die Untersuchung am Lebenden. Die
technische Unvollkommenheit der damaligen Apparate gestattete keine
unzweifelhaften Schlüsse aus den Befunden zu ziehen.
Daß der allerdings etwas undeutliche, verwaschene Schatten im
2. linken Interkostalraum längs der Sternallinie bei der Röntgenunter-
suchung auf die arteriosklerotisch veränderte und mäßig erweiterte
Pulmonalarterie zu beziehen ist, wird um so wahrscheinlicher und
sicherer, als Weinberger^) (Atlas der Radiographie der Brustorgane.
Wien, Emil Engel) durch wiederholte, an Sektionen bestätigte rönt-
genographische Untersuchungen feststellte, daß ein so gelagerter Schatten
durch die erweiterte Pulmonalarterie bedingt ist, worauf auch Hödl-
moser (Ztschr. f, klin. Mediz. 1004, Bd. 54, S. 122) hinweist.
Die Verhältnisse des Röntgenogrammes bei erweitertem linken Vor-
hof und erweiterter Pulmonalis berührten anläßlich der Besprechung
der Rekurrenslähmung bei Mitralstenose Schrötter, Ztschr. f. klin.
Med., Bd. 43, Alexander, Berl. klin. Woch. 1904, S. 135, und
Frischauer, Wiener klin. Wochenschr. 1905, S. 1383.
Nach Bittorf (Die Bedeutung des linken mittleren Herzschatten-
bogens. Fortschr. aus d. Geb. d. Röntgenstrahlen. Bd. 9, H. 1) ist
der linke mittlere Herzschattenbogen normalerweise vorwiegend von
der Arteria pulmonalis und zum geringen Teil vom linken Herzohr
gebildet.
Während er die Sichtbarkeit des linken Vorhofes beim Gesunden
und Kranken bestreitet, läßt de la Camp (Mediz. Klinik 1905, Nr. 53,
S, 1381) denselben bei sehr starker Vergrößerung, z, B. Mitralstenose
bei dorsoventraler Durchleuchtung, am Schattenrande teilnehmen.
Letztere Konstatierung ist gerade für unsere Besprechung von be-
sonderer Wichtigkeit, weil sie zur Vorsicht der Deutung der auf die
Pulmonalis bezüglichen Befunde bei Mitralstenose gemahnen muß.
« Eine übersichtliche Darstellung der Verhältnisse bringen in aller-
jüngsterZeit Brugsch und Schittenhelm (Lehrbuch klinischer Unter-
suchungsmethoden. Urban u. Schwarzenberg 1908. S. 236 und 255).
1) Weinberg er, Ober die durch Erweiterung der Pulmonalarterie im Radio-
gramme entstehende Schattenform. Ber. des Kongr. f. Radiologie 1902. Derselbe,
Wiener klin. Wochenschr. 1903, Nr. 42: „Im Radiogramme, entsprechend dem zweiten
Interkostalraum, eine Verbreiterung des der Pulmonalarterie zukommenden
Schattens.**
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422 Adolf Posselt, [62
Meines Erachtens ließen sich auch für manche der seltensten Falle
primärer Pulmonalsklerose (bei denen Verengung der Pulmonalvenen-
mündungen vorliegt) bei der Röntgenuntersuchung verwertbare Anhalts-
punkte und zwar in folgender Weise finden: bei Mitralstenose resultiert
infolge der Dilatation des linken Vorhofs und rechten Kammer eine Art
Medianstellung des Herzens, die sich im Röntgenbild als solche aus-
drückt (mitralkonfiguriertes Herz Holzknechts).
Falls die Ursache in dem Hindernis gelegen ist, das die Einengung
der Pulmonalvenenmündungen liefert, wie in dem ersten Fall, entfallt
daher die Dilatation des linken Vorhofes, was sich im Röntgenbild
durch eine andere Konfiguration des linken oberen Randes aussprechen
wird, wie bei der Mitralstenose mit ihrer konsekutiven mächtigen
Vorhofserweiterung und dem daraus resultierenden Durchleuchtungs-
bild.
Von größtem Interesse und differential-diagnostischem Werte für die
Erkennung dieser beiden Zustände wären meines Erachtens Aufnahmen
von Elektrokardiogrammen (Einthoven) nach Kraus und Nico-
lai 0-
Liegt eine Mitralstenose zugrunde, würde sich selbe in einer mäch-
tigen Entwicklung der Vorhofszacke kund tun, der andere Fall (Pul-
monalvenenverengerung) durch ein völliges Ausbleiben oder nur mini-
malste Andeutung einer solchen markiert sein.
Ebenso dürfte eine Förderung der Frage von der ösophagealen
Kardiogramm-Methode 2) zu erwarten sein.
1) Kraus und Nicolai (Über das Elektrokardiogramm unter normalen und
pathologischen Verhältnissen. Berliner klin. Wochenschr. 1907, S. 765 und 811)
bringen die Kurve bei Mitralstenose mit präsystolischem Geräusch und Schnapp,
(röntgenorthographisch starke Ausladung des mittleren Bogens des linken Her2-
Schattenrandes).
Am Elektrokardiogramm entspricht der zugehörigen Hypertrophie und Erweite*
rung des linken Atriums eine Verlängerung, Verstärkung und bzw. eine Trennung
der Vorhofsystole in 2 (oder selbst mehr) Zeiten. Demgegenüber ist der 2. Teil des
Kammerelektrogramms auffallend kümmerlich. A. Hoff mann (Ober das mensch-
liche Elektrokardiogramm. Rhein, westpbäl. Gesellsch. f. inn. Med. Düsseldorf, Min
1908) hält allerdings eine genaue Deutung wegen der noch nicht genügenden Sicher-
stellung der Bedeutung der einzelnen Teile zurzeit noch nicht für möglich.
2) Vergl. Minkowski, Die Registrierung der Herzbewegungen am linken Vor-
hofe. Deutsche mediz. ^ochenschr. 1906, Nr. 31, S. 1246.
Derselbe, Zur Deutung der Herzarhythmien mittels des ösophagealen Kar-
diogramms. Zeitschr. f. klin. Mediz. 1907, Bd. 62, S. 371.
Rautenberg, Neue Methode der Registrierung der Vorhofpulsationen vom
Ösophagus aus. Dem. 19. Nov. 1906. Vereinsbeil. d. Deutschen med. Wochenschr.
1907, Nr. 9, S. 394. Berliner klin. Wochenschr. 1907, Nr. 21. Münchner med.
Wochenschr. 1907, Nr. 50.
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63 Die klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 423
Alle drei Untersuchungsmethoden, Elektrokardiogramm, ösophageales
Kardiogramm und Röntgenaufnahme, erlangen namentlich dann einen
Wert, wenn sich wegen nicht charakteristischen oder ganz fehlenden
auskultatorischen Zeichen (s. d.) einer Diagnose auf physikalischer
Basis besondere Schwierigkeiten entgegenstellen.
Die stets fortschreitende Technik der Röntgendiagnostik dürfte wohl
den Nachweis erheblicherer sklerotischer und Verkalkungsprozesse an
der Pulmonalis, speziell am Stamm des Gefäßes, auch für den Fall
ermöglichen, daß keine gleichzeitige Dilatation besteht. Das theore-
tische Postulat hierfür wäre eine ungewöhnliche Verstärkung der
Intensität des oberen Anteiles des linken mittleren Bogens
im allgemein mitralkonflgurierten Herzbild. Letzteres in voller Aus-
bildung bei Mitralstenose, ohne die Zeichen der linken Vorhofsdilata-
tion bei Pulmonalvenenverengung.
Das Röntgenogramm ist jedoch hinsichtlich eines Schattens an der
angegebenen Stelle durchaus nicht eindeutig.
Es können sich in der genannten Gegend Pleuraschwarten, Perikard-
verdickungen, chronische Pneumonie, Tumoren usw. entwickeln, die
ganz ähnliche Bilder liefern.
Es gilt eben hier das bei der Perkussion Gesagte.
In ganz speziellen Fällen wirkt, in weiterer Verfolgung des Themas
der pathologischen Prozesse in der Umgebung des Gefäßes, der gleich-
zeitige Nachweis bestimmter solcher für die klinische Diagnose unter-
stfitzend. Vor allem gilt dieses für die in diesem Gebiete lokalisierten
Perikardsynechien weiterer Ausbreitung und Mächtigkeit.
Die anatomischen Verhältnisse lassen es erklärlich scheinen, daß infolge der
leichteren Möglichkeit des Obergreifens von der Aorta aus die Perikarditis mit
ihren Folgezustanden: Synechien und Obliterationen, eher bei mit Aortenaffektionen
komplizierten Fällen statthatte.
U. a. Deroye (1870). Aorteninsuffizienz, Stenose und Insuffizienz des Mitral-
ostiums. Linke Lunge innig mit dem Perikard verwachsen. Concretio pericardii.
Saun 6 (1877). Insuffic. et Stenosis aortae. Mitralstenose. Das festangewach-
sene Perikard kann von dem enorm vergrößerten Herzen nur mit großer Muhe ab-
gelöst werden. Die Adhärenzen sind in der ganzen Ausdehnung des Perikards
vorhanden. — Perikardobliterationen ebenfalls bei Bryant.
Derselbe, Die Registrierung der Vorhofpulsationen von der Speiseröhre aus.
Deutsches Arch. f. klin. Med. 1907, Bd. 91, 8. 251.
Derselbe, Zur Physiologie der Herzbewegung. Zeitschr. f. klin. Med. 1908,
Bd. 65.
Janowski, Berichte der Warsch. med. Gesellsch. 1907, H. 4, S. 442.
Derselbe, Über die Bedeutung des ösophagealen Kardiogramms für die ge-
naue Diagnose der Stokes- Adam sehen Krankheit usw. Wiener med. Wochenschr.
1908, 12. Sept., S. 2017.
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424 Adolf Posselt, [64
Mehrmals fand sich bei den Fällen unserer Eigenbeobachtungen Perikarditis,
zuweilen schon anamnestisch, mehrmals auch klinisch nachweisbar.
Im Falle III mit Mitralstenose, hochgradiger Erweiterung der Aorta bei Arterie*
Sklerose der Brustaorta Residuen von Perikarditis,
Es braucht sich jedoch durchaus nicht immer bei einem bestehenden Aorten-
prozeß die Perikarditis zu entwickeln.
So blieb Fall VII mit primärer hochgradiger Aortensklerose , Dilatation, In-
suffizienz der Klappen trotz des hohen Grades dieser Prozesse frei von Perikard-
erscheinungen.
Ungleich wichtiger für die Pathologie und Klinik der Athero-
scierosis pulmonalis ist der Nachweis, daß die Perikarditis von
dieser GefäOaffektion ihren Ausgang nehmen oder umgekehrt,
wenn nicht alleinige, so doch sicherlich eine Mitursache für
Pulmonalsklerose abgeben kann.
Bei Fall IV wurde intra vitam der Verdacht auf „Perikardialsynechie"
ausgesprochen^). Mitralstenose und Insuffizienz. Es bestanden hier
allerdings keine auffälligen Veränderungen an der Aorta, wohl aber
ausgedehnte beiderseitige Lungenadhäsionen. Perikard in ganzer Aus-
dehnung mit dem Herzen verwachsen.
Eine überstandene Endo- und fragliche Perikarditis fand sich im
alten Krankenprotokoll aus dem Jahre 1878 bei Fall V. vermerkt.
Auch bei diesem Kasus mit Mitralstenose und Insuffizienz war
ohne auffällige Aorten Veränderung der Anfangsteil der Pulmonalis mit
dem Herzbeutel durch feste bindegewebige Membranen verwachsen,
und es ist hier nach allem zweifellos, daß die „Perikardsynechie" im
innigsten Zusammenhang mit dem sklerotischen Prozeß der Pulmonalis
stand, der überhaupt die Tendenz zu bindegewebigen Sklerosierungen,
Obergreifen auf die Nachbarschaft mit Adhäsionen und strahligen Ein-
ziehungen zeigte.
Die Ergebnisse der Auskultation weitaus am relevantesten er-
fordern wegen Mannigfaltigkeit der Beziehungen und ihrer allgemeinen
und prinzipiellen Bedeutung eine eingehendere Darstellung und Be-
sprechung,
Bei oftmaliger wiederholter gFündlicher Auskultation an verschie-
denen Punkten der Herzbasis und deren Nachbarschaft, vermochte
1) Wegen der allseits anerkannten Schwierigkeit der klinischen Diagnose einer
Perikardverwachsung, die auch unser Thema tangiert, sei darauf verwiesen,
daß diese in letzterer Zeit eine wesentliche Förderung erhielt. Ich verweise auf:
Ortner, Ober Concretio et Accretio cordis, Mediastinitis flbrosa partialis und die
Entstehung echter systolischer Herzeinziehungen. Medizin. Klinik 1907, Nr. 37,
S. 1069; Derselbe, Zur Genese und Bedeutung echter systolischer Spitzenstoß-
einziehungen und eines abnormen Hochstandes des Aortenbogens in der Incisart
sterni. Deutsche med. \^ochenschr. 1906, Nr. 15, S. 630.
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65] I^ie klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 425
man nicht selten eigenartig rieselnde Geräusche, die sich zumeist an
die Systole hielten, am linken Sternalrand in der Höhe des 2. Inter-
kostalraums und von da weiter nach links hinüber zu hören.
Am Zustandekommen dieser an der Pulmonaliswurzel und deren
näherer Umgebung zu hörenden, nach Körperbewegung manchmal
deutlicher, lauter und rauher werdenden Geräusche därften jedenfalls
verschiedene Momente partizipieren: die Unebenheiten durch die
Intimaverdickungen, Rauhigkeiten der Kalkauflagerungen dieser, die
Starrheit und Derbheit des Rohres, Adhäsionen mit der Umgebung,
die eine gewisse Zerrung ausüben.
Daß auch Wirbelbildung im Stamme der Lungenarterie mitwirken
könne, wie Romberg für seinen Fall vermutet, ist sehr wahr-
scheinlich.
Die ungewöhnlich starke Akzentuierung des 2. Pulmonaltones er-
klärt sich ohne weiteres aus der hochgradigen Hypertrophie des rechten
Ventrikels und der Drucksteigerung im Pulmonalkreislauf.
Wenn wir mit anderen Autoren annehmen dürfen, daß am 2,
„klingenden^^ Aortenton bei schwerer Atherosklerosis des Gefäßes
neben dem unter höheren Druck erfolgenden Klappenschluß die Reso-
nanzverstärkung teilhat, die durch die Verdickung, Starrheit und Ein-
lagerung von Kalkplatten am Gefäße ausgelöst wird, so dürfte wohl
auch folgerichtig eine ähnliche Annahme für die Lungenschlagader
zum mindestens in der Weise gestattet sein, daß der Prozeß modifi-
zierend auf akustische Wahrnehmungen in dieser Gegend einzuwirken
vermag.
Der Übersichtlichkeit halber und zum besseren Verständnis des
Folgenden soll von den für die Klinik in erster Linie in Betracht
kommenden, auf Mitralfehler beruhenden Krankheitsfällen ausge-
gangen werden.
Bekanntlich wird in manchen Fällen von Mitralinsuffizienz das systolische
Geräusch am lautesten im 2. linken Interkostalraum gehört.
Die Fortpflanzung der Herzfehlergeräusche in der Richtung des Blutstromes ist
ja eine recht typische Erscheinung.
Naunyn (Ober den Grund, weshalb hin und wieder das systolische Geräusch
bei der Mitralinsuffizienz am lautesten in der Gegend der Pulmonalklappe zu ver-
nehmen ist. Berlin, klin. Wochenschr. 1868, Nr. 17, S. 189) interpretiert diese
spezielle Lokalisation in folgender Weise:
Der Entstehungsort ist im linken Herzohr zu suchen, welches etwa 2 Zoll
(5,4 cm) nach außen vom linken Sternalrande sich um die Pulmonalarterie herum-
schlagend der Brustwand am nächsten kommt Am besten wird es eben mit dem
systolisch rückläufigen Blutstrom, durch den es entsteht, in dessen Richtung fort-
geleitet, weshalb es hier lauter ist als an der Herzspitze. Der Grund, warum jedoch
dieses nicht regelmäßig zustande kommt, liegt, wie sich Naunyn durch Messungen
KUn. Vorträge, N. F. Nr. 504/07. (Innere Medizin Nr. 149/52.) Okt. 1908. 30
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426 Adolf Posselt, [66
überzeugen konnte, in der verschiedenen Länge des Herzohres. Kürzere treten
nicht so nahe an die Brustwand.
Von Dichtigkeit für unsere Darlegungen ist die weitere Angabe dieses For-
schers, daß bei gleichzeitiger Insuffizienz und Stenose, wenn das ersterer ent-
sprechende Geräusch auch am bezeichneten Ort am lautesten, das diastolische da-
gegen, besser präsystolische, konstant am stärksten in der Gegend der Herzspitze
zu hören ist.
Für die Lautheit des Geräusches in der Pulmonalgegend macht Sahli die zu-
meist sehr beträchtliche Erweiterung des linken Vorhofes an und für sich schon
verantwortlich.
Nach Curschmann (Ober eine eigentümliche Lokalisation des systolischen
Geräusches, besonders bei frischen Mitralklappenfehlern. Arbeiten aus der mediz.
Klinik Leipzig. 1803) findet sich diese Lokalisation vorwiegend bei frisch entstan-
denen Klappenfehlern, bei älteren rückt es wieder an die Herzspitze, wofür er fol-
gende Erklärung gibt: Der linke Vorhof und mit ihm das Herzohr wird oft gleich
anfangs erweitert und rückt damit der Brustwand näher. Durch die später ein-
setzende Vergrößerung des rechten Herzens wird das ganze linke Herz wieder von
der Brustwand entfernt.
Bekanntlich ist die Prädilektionsstelle für akzidentelle, anorganische, anämische
Geräusche im allgemeinen die Herzbasis, und wurden eben zur Erklärung dieser
systolischen Geräusche eine Menge Ursachen herangezogen.
Quincke (Berlin, klin. Dochenschr. 1870, Nr. 21) macht für akzidentelle Ge-
räusche in der Pulmonalarterie außer den gewöhnlichen noch folgende Ursachen
verantwortlich :
Einmal ein Mißverhältnis in der Weite zwischen Lungenarterie tind ihrem Conus
arteriosus,
und zweitens eine Abplattung der Pulmonalarterie durch die abnormerweise ihr
anliegende Brustwand.
Wenn Geräusche sehr häufig fehlen, wo doch sonst alle Bedingungen hterfir
vorhanden wären, wie bei Mitralstenose, so führt er dieses darauf zurück, daß in
solchen Fällen die Abplattung der Art. pulm. nicht bedeutend genug ist, um zu
merklichen Stromwirbeln Veranlassung zu geben.
Lüthje (Zur physikalischen Diagnostik am Herzen, speziell über systolische
Geräusche an den Valvulae mitrales und pulmonales. Ärztl. Verein z. Frankfurt,
17. XIL 1906. Münch. med. Wochenschr. 1907, Nr. 10, S. 495. Mediz. Klinik 1906,
Nr. 16) ist geneigt, systolische Geräusche bei Kindern, die man am lautesten
über der Pulmonalis hört, durch eine möglicherweise aufgetretene Lageveränderung
zwischen Sternum und Arteria pulmonalis zu erklären und eine richtige Pulmonal-
stenose anzunehmen, ebenso macht er auf solche Pulmonalgeräusche bei Mitral-
insuffizienz aufmerksam, während Albrecht (Der Herzmuskel, seine Bedeutung f&r
Physiologie, Pathologie und Klinik. Berlin 1903. S. 525) dagegen derartige Geräusche
in einen Zusammenhang mit einer Dilatation am Conus pulmonalis bringen will.
Welche Erklärung können wir, unter der Voraussetzung, daß keloe
Bildungsanomalien und ähnliche Störungen vorliegen, für das in der
Pulmonalgegend im Verlaufe der Beobachtung immer deut-
licher werdende diastolische Geräusch geben?
Bei der ausgesprochenen Schlußunfähigkeit der Semilunar-
klappen der Aorta, wie sie in unserem Falle VII (55j. M.) vorlag,
muß nach allem eine abnorme Querleitung des diastolischen
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67] Die klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 427
Geräusches nach links angenommen werden, wofür wir auch noch
andere Eigenbeobachtungen haben. In dieser Deutung bestärkt mich
eine Beobachtung an der Klinik von Insuffizienz der Semilunaren der
Aorta, eine junge Frau betreffend, die in den Jahren 1892—95 wieder-
holt ambulatorisch und klinisch behandelt wurde.
A. E.y im Jahre 1894 25jährige Friseursfrau.
War in den Kinderjahren wiederholt schwer und durch lange Zeit krank. Im
12. Lebensjahr schwere Halsentzündung. Mit 18 Jahren verheiratet, in rascher Folge
5 Geburten. Schon seit der ersten gewisse Herzbeschwerden, Atemnot. Grazile,
anämische Frau, Wangen und Ohren livid zyanotisch verfärbt Herzbuckel, stark
wogende Pulsation in der Herzgegend, Spitzenstoß nach aus- und abwärts gedrängt,
hebend. Ungemein starkes diastolisches Schwirren im 2. und 3. linken Interkostal-
raum zu palpieren und zwar mehr gegen die ParaSternallinie zu.
Herzdämpfung nach rechts bis zur Median-, nach links bis 2 Querflnger außer-
halb der PapillaHinie verbreitert, im Längsdurchmesser verlängert. Ober der Mitte
des Sternums und namentlich gegen die linke Seite im 2. und 3. L R. entsprechend
der Parastemal- bis gegen die Papillarlinie zu ein lautes, schabendes, lang ge-
zogenes diastolisches Geräusch. Alle ausgesprochenen Zeichen der Aorteninsuffl-
zienz vorhanden (Pulsus celer, Kapillarpuls, sichtbare Pulsation der mittleren und
selbst kleinen Arterien, Tönen der Gefäße, Gefäßgeräusche an der Cruralis usw.).
Keinerlei Anhaltspunkte für ein Aneurysma der Aorta oder Pulmonalis, ebenso-
wenig fQr PuImonalinsufRzienz.
Klinische Diagnose: Insufflcientia semilunarum aortae. Insufficientia mitralis
relativa.
Bezüglich des abnorm nach links gelagerten diastolischen Geräusches wurde
die Vermutung ausgesprochen, daß es sich um eine abnorme Querleitung desselben
vielleicht infolge Arteriosklerose beider Gefäße der Aorta und Pulmonalis oder Ver-
zerrunig durch Pseudomembranen, vielleicht auch beides, handle.
Bei den übrigen Beobachtungen ist jedoch mangels aller Symptome»
die gerade diesem Fehler in so charakteristischer Weise eigen sind,
das Bestehen desselben ausgeschlossen.
Das diastolische Geräusch könnte seine Entstehung einer wirk-
lichen oder einer relativenlnsuffizienz derPulmonal'arterien-
Klappen verdanken.
Abgesehen davon, dal^ erstere ganz enorm selten ist» spricht wolil
auch gegen diese der Umstand , daß in der weitaus überwiegenden
Mehrzahl der Fälle eine sehr ausgesprochene Akzentuierung des 2. Pul-
monaltones bestand.
Die Möglichkeit, daß hierbei stöts zwei Klappen iloch schließend die
Betonung, die dritte geschrumpft und insuffizient das Geräusch ver-
ursachte, ist wohl ganz in das Reich der Unwahrscheinlichkeit zu
verbannen.
Für die relative Pulmonalklappeninsuffizienz bei Mitralstenose und
Pulmonalarteriensklerose trat in erster Linie Bryant 1904 (1. c.)' ein,
dem anscheinend die sehr ausführliche Arbeit Pawii^skis schon aus
30*
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428 Adolf Posselt, [68
dem Jahre 1894 (allerdings nur Für die Mitralstenose allein) entgangen
war.
In der Literaturkasuistik wurden, um nicht bei jedem einzelnen Falle
das gleiche wiederholen zu müssen, die Auskultationsergebnisse Bryants
nicht berücksichtigt. Derselbe gibt in jedem seiner Fälle mehr oder
weniger ausgesprochene, kürzere oder längere diastolische Geräusche
mehr gegen die Basis, gegen die Pulmonalis zu, an.
Der historischen Treue sind wir schuldig, bevor wir Bryants
Schlüsse darlegen, das von Pawii^ski Vorgebrachte in allergedräng-
tester Kürze zu erwähnen.
Pawiriski (Ober relative InsuFfizienz der Lungenarterienklappen.
Deutsch. Arch. F. klin. Mediz. 1894, Bd. 52, S. 519) Führt ein diasto-
lisches am linken Sternalrand in der Höhe des 3., zuweilen 4. I. R.
(schwächer in der ParaSternallinie und im 2. I. R.), das er bei kom-
pensierten Mitralstenosen mehrmals hörte, auF eine relative Insuffizienz
der Pulmonalarterienklappen zurück. Er hat dasselbe gewöhnlich bei
jungen, gut genährten Individuen weiblichen Geschlechts gehört, das-
selbe ist jedoch keineswegs konstant.
Trotz dieser relativen InsuFfizienz trete keine Zyanose auF.
Die Gründe, warum er das Geräusch auF eine relative Pulmonal-
insuFfizienz und nicht u. a. als Fortgeleitetes Mitralgeräusch ansieht,
werden von ihm eingehend dargelegt.
Wie hier gleich vorausgeschickt werden soll, erwähnt Bryant mit
keinem Worte die Möglichkeit einer klinischen Diagnose der Pulmonal-
arteriensklerose und zieht auch die klinischen BeFunde der von ihm
obduzierten Fälle diesbezüglich in gar keine weitere Erörterung. Ffir
ihn dreht sich die ganze Frage um den Nachweis der relativen
InsuFFizienz der Pulmonalarterienklappen. In nähere Details
einzugehen, würde uns zu weit Führen, es mögen hier nur die Schluß-
Folgerungen Platz finden.
Als Resultat einer starken Mitralstenose wächst der Blutdruck beträchtlich in
den Lungenarterien. Infolge dieses gesteigerten Blutdrucks wieder werden die
kleinsten Äste der Pulmonalarterie dilatiert, hypertrophisch und atheromatös. Ferner
bewirkt der gesteigerte Blutdruck in der Pulmonalarterie eine Dilatation der Arterie
selbst und auch ihres Ostiums.
Infolge der Erweiterung der Lungenarterie und ihres Ostiums wiederum findet
ein Rückströmen von Blut in den rechten Ventrikel wegen funktioneller Insuffizienz
der Klappen statt« Das hauptsächlichste klinische Symptom dieser funktionellen
Pulmonalinsufflzienz besteht in einem leichten, diastolischen Geräusch über der
linken Seite des oberen Brustabschnittes; der Punkt, an dem dieses Geräusch am
deutlichsten und am häufigsten hörbar ist, befindet sich im 3. linken Interkostal-
raum in der Mitte zwischen dem linken Sternalrand und der linken Mammillarlinie.
Obgleich klinisch diese Pulmonalinsuffizienz deutlich wahrnehmbar ist, so kann
doch bisweilen die ev. Sektion an der Leiche weder eine Insuffizienz der Klappen,
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69] I^ie klinische Diagnose der Pulmonalarteriensltlerose. 429
noch eine Dilatation der Pulmonalarterie aufdecken. Dieses Fehlen eines tatsSch-
lichen Befundes ist aber kein Beweis dafQr, daß nicht bei Lebzeiten wirklich eine
Schlußunfihigkeit der Lungenarterie bestanden hat. Die Erklärung dieses letzten
Vorganges ist folgende: Die ElastizitSt der Pulmonalarterie ist nicht ständig durch
den wechselnden Blutdruck in der Pulmonalis beeinträchtigt worden und sobald
der Blutdruck sank, hat sich das Gefäß wieder auf seine normale Größe zusammen-
gezogen.
Zu Bryants Ansicht ist Folgendes zu bemerken:
Wie aus seinen Auskultationsschemata ersichtlich, waren die dia-
stolischen Geräusche zumeist in ziemlich großem UmFang wahrnehm-
bar und reichte das Gebiet häufig in der linken Sternallinie weit nach
abwärts. Nur in einigen Fällen beschränkte sich das diastolische
Geräusch auF eine ganz kleine Zone in der Pulmonalgegend.
Die Annahme Bryants einer relativen PulmonalklappeninsuFfizienz
besteht in gleicher Weise wie die von Pawinski schon Früher ent-
wickelte bei einer Reihe von Mitralstenosen zu Recht, allerdings wird
hier das Gebiet wirklicher relativer Insuffizienzen immer mehr ein-
zuengen sein, wenigstens nach dem, was verschiedene Kliniker und
Experimentalpathologen über selbe denken.
Mdgnus-Alsleben (Versuche über relative KlappeninsuFfizienzen.
Arch. F. exper. Pathol. u. Pharmak. 1907, Bd. 57, S. 48) gibt zwar
die Möglichkeit der experimentellen Erzeugung relativer Klappen-
insuFfizienzen an den VorhöFen zu, doch ist eine solche nur unter
ganz extremen Bedingungen zu erzielen. AuF die Kinik übertragen,
möchte er relative InsuFfizienzen Für recht selten halten und zur Er-
klärung eines so häufigen Vorkommens, wie die akzidentellen Geräusche
darstellen, nur in beschränktem Maße heranziehen.
Wir geben auch ohne weiteres zu, daß in manchen Fällen von
Pulmonalarteriensklerose bei Mitralstenose das diastolische Geräusch
über der Pulmonalis möglicherweise auF eine derartige relative Insuffi-
zienz ihres Klappenapparates bezogen werden kann; eine Verallgemeine-
rung jedoch läßt dieses auskultatorische Phänomen nicht zu. Es sind
nämlich, wie ja die einFach mechanischen Verhältnisse wohl ohne
weiteres plausibel machen, alle jene Fälle ausgeschlossen, bei denen
gleich vom Klappenringe an eine Verdickung, Verdichtung und Starre
des Gefäßes Platz gegriffen. Daß unter solchen Umständen auch eine
wesentliche und sogar sehr hochgradige Steigerung des intravaskulären
Pulmonaldruckes eine derartige Ausdehnung, die zu einer relativen
SchlußunFähigkeit hätte Führen können, ein Ding der Unmöglichkeit
ist, braucht wohl keine besondere Begründung.
Bei Durchsicht von Bryants gesammelten Fällen zeigt es sich
denn auch, daß selbe Fast durchweg die Lokalisation an den großen
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430 Adolf Posselt, [70
und kleinen Verzweigungen zeigten, eine hochgradige Alteration des
Stammes war vielleicht nur eip einziges Mal zu supponieren.
Wie ich gjleich hier unterstreichen möchte, erlangen deanocii
Bryants Fälle für verschiedene im Folgenden darzulegende Momente
große Wichtigkeit und sind ganz besonders die auskultatorischen Be-
funde als recht gut verwertbare diagnostische Mitbehelfe für unsere
Aifektion zu betrachten, obwohl der Autor nach dieser Richtung nichts
verlauten läßt.
Die bei den allermeisten Fällen der Literatur, auch die Bryants
eingeschlossen, und bei unseren Eigenbeobachtungen zu konstatierende
ausgesprochene, oft ganz ungewöhnlich starke Akzentuierung des 2. Pul-
monaltones darf hierbei fuglich doch auch in allererster Linie auf
semiotische Verwertung, speziell gegen obige Verallgemeinerung An-
spruch erheben.
Pawiiiskis Eigenbeobachtungen von relativer Pulmonalinsufßzienz
bei Mitralstenose bilden in ihrem Verhalten, wie aus unseren weiteren
Auseinandersetzungen hervorgeht, eine Bestätigung für unsere aus-
kultatorischen diagnostischen Momente, wenn auch nur im exklusiven
Sinne. Es konnten bei denselben keinerlei weitere von uns fest-
gestellten Symptome der Sklerose gefunden werden, im Gegenteil
zeichnete sie u. a. das Fehlen von Zyanose aus. Auch bei den Sektionen
fand sich keine Spur von Atherosclerosis pulmonalis.
Auf ein für die Diagnose der Insuffizienz der Pulmonalklappen ver-
wertbares Zeichen, exspiratorische Verstärkung des in seinem Beginne
als Schwirren fühlbaren diastolischen Geräusches, machten Bernhard
(Deutsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 18) und Gerhardt (Verh. des
Kongr. f. inn. Med. 1902, XL) aufmerksam.
Auf dieses Gerfaardtsche Symptom wurde von Bryant, wie er
selbst angibt, nicht geprüft.
In unseren Fällen konnte irgendeine respiratorische Beeinflussung
des Geräusches mit Sicherheit nicht nachgewiesen werden.
Die bekanntlich enorm seltenen „akzidentellen diastolischen Herz-
geräuscbe** wurden von Sahli .hei Chlorose als während dieser Phase verstirkte
Anteile sehr starken Nonnensausens konstatiert. (Über derartige Geräusche findet
sich auch Genaueres bei Tripier und Devic in Bouchards Pathol. g6n6r. tIV.)
Krehl (Pathol. Physiol. 5. Aufl. 1907. S. 104) stimmt Sahli bei, daß ein Teil
der so ungemein seltenen diastolischen akzidentellen Geräusche fortgeleitete Venen-
geräusche sind. „In anderen Fällen ist das ausgeschlossen, und dann ist gegen-
wärtig nicht einmal eine Vermutung über den Ursprung mdglicli.^
Übrigens findet sich in den verschiedensten ausgezeichneten Lehr- und Hand-
büchern (u.a. Gerhardt, Eulenburg, ^olle und Weintraud) ^eine Erwähnung
dieser und der nächstfolgenden Verhältnisse.
^ie hier gleich vorweggenommen werden soll, ist das hier in Rede
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71] Die klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 431
Stehende fortgeleitete diastolische Mitralsteno3engeräusch jedoch un-
schwer von derartigem blasenden Sausen zu unterscheiden, ganz be-
sonders wegen seines Rhythmus und akustisch ganz anderen Charakters,
ebenso dürfte die Differenzierung der übrigens sehr seltenen kardio-
pulmonären Geräusche mit dem eigenartigen Knacken^) keine allzu
großen Schwierigkeiten machen. Im übrigen gibt ja im ersten Falle
die Anämie und Chlorose, im letzteren Pulmonalaffektionen (starke
Adhäsionen, Kavernen, Schwielenbildungen usw.) den richtigen Finger-
zeig.
Verdoppelung des 2. Herztones an der Basis infolge asynchronen
Schlusses der Aorten- und Pulmonalklappen ist nicht selten bei hoher
Lungenarterienspannung infolge Mitralstenose zu hören und zeigt das
Punctum maximum zumeist am linken Sternalrand und im 2. Inter-
kostalraum.
Im Mittelpunkt der Besprechung über die auskultatorischen
Zeichen steht die Möglichkeit der abnormenLokalisation oder
der Fortleitung des diastolischenGeräusches von der zweifel-
los bestehenden Mitralstenose aus gegen die Basis, speziell
die Pulmonalarterie zu.
Die Kliniker sind wolil darüber einig, daß nur in den allerseltensten Fällen eine
Fortleitung des diastolischen Geräusches von der Mitralklappe gegen die Basis zu
stattfindet. Tripier und Devic (S6miologie du coeur et des vaisseaux. Bouchard,
Trait6 de Pathol. g6n6r. t. IV), die in grundlichster Weise diese Verhältnisse er-
örtern, konnten niemals eine Fortpflanzung des Geräusches bis zur Basis fest-
stellen.
Von Steell (The auscultatory signs of mitral Stenosis: a Statistical enquiry.
Med. Chron. 1895, Sept.) rührt eine Obersiebt tiber die physikalischen Befunde bei
60 Eigenbeobachtungen von Mitralstenose her.
Von den diastolischen Geräuschen waren 30% auf die Spitze beschränkt, 36,7%
waren zugleich an der Spitze und oberhalb derselben zu hören und außerdem waren
bloß in 13,3% der Fälle ein diastolisches Geräusch nur oberhalb der
Spitze zu konstatieren. »Die Deutung dieser letzteren war nach ihm
überhaupt sejir unsicher, wie denn die Kenntnisse über die diastolischen Ge-
räusche seiner Meinung nach noch mangelhaft sind.'*
Bei V. Jürgensen (Erkrankungen der Kreislaufsorgane, Herzklappenfehler.
Nothnagels Spez. Path. 1903, XV, S. 81) fand ich folgenden Passus:
„Bisweilen hört man das diastolische Geräusch (bei Mitralstenose) auch in dem
2. linken Interkostalraum, in der Gegend der Pulmonalarterie oder etwas nach außen
davon, sogar, wenn etwa an der Herzspiue noch ein systolisches Geräusch besaht,
deutlicher als an ihr. Es ist solches Verhalten auffallend, da die Richtung des
Blutstromes, welcher das Geräusch bewirkt, vom Vorhof gegen den Ventrikel ge-
richtet ist (Liebermeister).''
1) Dieses Geräusch ist ungemein charakteristisch. Ich möchte es mit dem
Knacken vergleichen, das manche Leute durch rasches, starkes Abbiegen ihrer Finger-
gelenke hervorbringen können.
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432 Adolf Posselt, [72
Von dem Autor werden jedoch keine Erklärungsversuche fQr dieses exzeptionelle
Verhalten, auch keine näheren Umstände angegeben, unter denen es sich findet
Sahli (Lehrbuch. 5. Aufl. 1908) läßt zwar die präsystolischen Geräusche bei
Mitralstenose an der Herzspitze am lautesten sein (wohl auch diastolische), von
den rein diastolischen Mitralgeräuschen dagegen gibt er an (S. 357), daß sie häufig,
trotz der nach der Herzspitze gehenden Richtung des Blutstromes mehr gegen den
Vorhof zu am besten gehört werden, wohl deshalb, weil sie im Anfang der Diastole
entstehen, wo der linke Vorhof weit, der linke Ventrikel dagegen noch eng ist
Nach Sahli ist es möglich, daß man mitunter bei ein und demselben Falle an der
Herzbasis mehr den rein diastolischen, gegen die Herzspitze dagegen mehr den
präsystolischen Anteil hört
Bei einer einfachen unkomplizierten Mitralstenose wurde
jedoch eine derartige ganz abnorme Lokalisation des Geräusches allen
physikalischen Gesetzen zuwider sein. Abgesehen von sonstigen un-
günstigen Verhältnissen muß die einfache Erwägung, daß sich hierbei
das Geräusch ganz entgegengesetzt der Blutstromrichtung fortpflanzen
müßte, zur Widerlegung dieser Annahme genügen.
Im Gegenteil wissen wir ja, daß man gerade beim Aufsuchen des
diastolischen (in der Regel präsystolischen) Geräusches bei der Mitral-
stenose infolge der durch den hypertrophischen, sehr stark ver-
größerten rechten Ventrikel nach hinten und links verdrängten Lage
des linken, zumeist sehr weit nach links gehen muß. Dieses Moment
und die geringe Fortpflanzung des Geräusches nach aufwärts wird
doch in allen Lehr- und Handbüchern als Charakteristikum für das
diastolische Geräusch der Mitralstenose angeführt.
Um zu obigen Notizen von Steell und Sahli Stellung zu nehmen,
wäre es ja in Übereinstimmung mit unseren Behauptungen vielleicht
gar nicht ausgeschlossen, daß diese seltenen Fälle gerade solchen mit
Pulmonalsklerose vergesellschafteten entsprachen.
Es verlohnt sich wohl nach unseren Darlegungen der Mühe, diesen
Verhältnissen in Zukunft näher nachzugehen.
Jedenfalls erachte ich es als erwähnenswert, daß eben bei mehreren
unserer Fälle von Mitralstenose mit Atherosklerose der Pulmonalis
eigentümlicherweise das nach allgemeinem Urteil so ungemein seltene
rein „diastolische'' Geräusch bestand, sogar in einem solchen Falle,
wo Insuffizienz vorausging, deren Erscheinungen aber nach und nach
durch die der Stenose so verdrängt wurden, daß schließlich diese
allein zur Geltung kamen.
Wenn Sahli die Vermutung ausspricht, daß den verschiedenen
Unterarten der diastolischen Geräusche (die Kompliziertheit der Ein-
teilungen seitens verschiedener Forscher sei nur nebenbei bemerkt)
möglicherweise verschiedene Grade der Stenose entsprechen, so
möchte ich dem hinzufügen, daß unseres Erachtens als ein weiteres
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73] ^^^ klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 433
Moment hierfQr das Verhalten der Pulmonalarterie in Betracht zu
ziehen wäre.
Nach unserenBeobachtungen scheint ein rein diastolisches
Geräusch mit auffällig basaler Lokalisation bei Mitralste-
nose sehr den Verdacht auf gleichzeitige Atherosclerosis
pulmonalis zu rechtfertigen, speziell in Verbindung mit unge-
wöhnlich starker Zyanose, fOr die alle sonstigen Momente zur Er-
klärung nicht hinreichen.
Der Vollständigkeit halber sollen auch einige recht seltene Vorkommnisse, die
jedoch zu unseren Darlegungen in Beziehung stehen, Platz finden:
In einer Mitteilung Duroziers (Du souffle veineux Simulant Tinsuffisance
aortique — Lithiase biliaire et maladies du coeur. L'union m6d. 1885, no. 126)
fand ich das Auftreten eines diastolischen Geräusches über der Basis am Sternum
bei einer 40jahrigen Frau mit den Erscheinungen einer Mitralstenose.
Dieses Geräusch entwickelte sich erst im Verlaufe des Spitalsaufenthaltes. Es
bestand Hypertrophie und Dilatation des rechten Ventrikels, Lebervenenpuls. Bei
der Nekropsie das linke venöse Ostium kanalförmig verengt, nur für 1 Bleistift
durchgängig. Aortenostium und Klappen intakt. Durozier vermutet eine all-
gemeine Neigung zu Schrumpfungsprozessen und glaubt, daß das diastolische Ge-
räusch über dem Sternum in der Vena cava entstanden sei.
Ein auskultatorischer Befund Voisins (1874) ist von Interesse. Bei dem
45jährigen Kranken bestand bei auffallender Zyanose ein systolisches Geräusch am
Angulus Ludovici, am Rand des Sternums das Geräusch sehr deutlich, manchmal
verdoppelt. 2. Ton an der Basis klingend. Bei der Obduktion fand sich beträcht-
liche Herzhypertrophie, Trikuspidalinsufflzienz, jedoch keine Störung im linken
Ventrikel. Ausgedehnte Atheromatose der Pulmonalis bis in die kleinen
Endverzweigungen zu verfolgen. — Wir dürfen der Vermutung Raum geben,
daß hier die auskultatorischen Verhältnisse bei Trikuspidalinsufflzienz durch die
Pulmonalaifektion in ähnlicher Weise beeinflußt wurden.
Falls sich sohin trotzdem eine abnorme Fortleitung eines diasto-
lischen Geräusches bei Mitralstenose (bei reinen unkomplizierten
Fällen konnte ich, per parenthesim bemerkt, keine einzige derartige
Beobachtung machen) konstatieren läßt, so müssen folgerichtig ganz
eigenartige exzeptionelle Verhältnisse vorliegen.
Und solche sind eben in der arteriosklerotischen Ver-
dickung und Verhärtung der Pulmonalis gegeben.
Durch die Verdichtung, Verdickung und Starrheit des Pulmonal-
arterienrohres wird ein Widerlager geschaflFen, das zur Fortpflanzung
und Verstärkung vibrierender Herzgeräusche sicherlich eine physika-
lische Grundlage abgeben kann.
Durch die schweren arteriosklerotischen Prozesse an diesem
Gefäßrohr, das von Haus aus doch viel dünner, schlafi^er, weicher
gegenüber der Aorta ist, muß die Änderung der physikalischen Be-
schaffenheit um so schwerwiegender sein. Die frühere elastische,
weiche, nachgiebige Suspension hat sich sonach wenigstens teilweise
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^34. Adolf Posselt, [74
in eine unnachgiebige, derbe, starre Fixation verwandelt, zu deren
Verstärkung noch ev. periarterielle Verdickungen, Verwachsungen,
Membranbildungen mit sekundär möglichen Verzerrungen beitragen
können.
Es sei hier ein Vergleich gestattet, dessen Mängel mir wohlbe-
wüßt sind, der aber trotzdem die Sache vielleicht etwas verständlicher
machen wird* Wenn jemand eine dünne, elastisch federnde Metall-
oder Hartgummiplatte an einem Ende mit der Hand frei hält, am
anderen durch Anschlagen zur Schwingung bringt, so wird sich ein
dumpfes, wenig intenses, schwirrendes Geräusch bemerkbar machen.
Bringt man jedoch diese elastische Platte, oder besser ein solches
Rohr in eine starre Zwinge, so wird sich das nun viel lautere,
schärfere Geräusch ganz besonders gegen den Fixationspunkt hin
fortpflanzen und das horchende Ohr gerade an dieser Stelle den
stärksten Eindruck bekommen, namentlich dann, wenn die Fixations-
stelle zugleich, wie es für unser Verhältnis zutrifi^t, einen resonanz-
verstärkenden Hohlraum darstellt. Vorstehendes bezieht sich auf
die Schwingungen der Wand selbst. Hinsichtlich der Verhältnisse der
durchströmenden Flüssigkeit läßt sich nach dem Weberschen Vor-
gang für unseren speziellen Fall kaum eine richtige Anordnung, die
diesem ganz entsprechen würde, trefi^en.
Bei hochgradiger Mitralstenose und Atherosklerose der Pulmonai-
arterie findet sich, wie die Autopsien beweisen, geradezu eine Um-
wälzung der physikalischen Verhältnisse und Relationen der einzelnen
Herzabschnitte und der großen basalen Gefäße.
Der rechte Ventrikel mächtig erweitert und verdickt (mechanische
Korrelation) prävaüert über den unbedeutenden, verkleinerten und
geschrumpften linken Ventrikel^), so daß ersterer in Ausdehnung,
Fassungsvermögen, Wanddicke diesen um mehrfaches übertreflPen kann.
(Das Verhalten des linken Vorhofes hängt in speziellen Fällen, z. T.
vom Grade der Stenose ab [dabei starke Dilatation], andrerseits von
der Beschaifenheit der Lungenvenenmündungep [bei Stenose dieser
konsekutive Verkleinerung des schlecht gefüllten Vorhofes]).
In ähnlicher Weise hat sich der Zustand zuungunsten der Aorta
mit zumeist beträchtlicher Ausdehnung und Wandverdickung des
Wurzelgebietes der Pulmonalarterie verändert, wobei noch die Starre
und Rigidität dieser letzteren hinzukommt.
Die mechanischen Aufhänge- und Schwerpunktsverhältnisse des
1) Das linke Jierz wird häufig, ganz besonders auch bei den primären Athero-
sklerosen wie en miniature, den Dimensionen nach einem kindlichen Herzen gl^cb,
angegeben.
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75] I^ie klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 435
Organs müssen sonach eine ganz wesentliche Alteration erlitten haben*
Dafi diese Verschiebung der Massen auf den Schwerpunkt, die Torsion
der Gefäße (Aorta und Pulmonalis bilden gewissermaßen ein Stück
eines nach links gewundenen Spiralganges), das Drehungsmoment, die
Herzbewegungen und Kontraktionen der einzelnen Abschnitte einen
Einfluß ausüben müssen, bedarf keiner näheren Begründung^ ebenso
daß hierdurch mannigfache Bedingungen für Modifikationen der Fort-
leitung von Herzgeräuschen gegeben erscheinen.
Wenn auch nur in indirekter Beziehung stehend, verdient Hervor-
gehoben zu werden, daß in der von Ortner (Wiener klin. Wochen-
schrift 1897, Nr. 33, S. 753) inaugurierten Literatur über Rekurrens-
lähmung bei Mitralstenose verschiedenerseits eingehende Erörterungen
über die Größen Verhältnisse, Lage und Dislokationen der hier in
Betracht kommenden basalen Abschnitte gebrachit werden.
So erwähnt u. a. Kraus das auffällig nach vorn und oben Ge-
schobensein der Pulmonalis, ebenso Frischauer, wie durch den
mächtig erweiterten linken Vorhof die Pulmonalarterie emporgehoben
und nach vorn geschoben werden könne.
Daß alle die geschilderten Momente und die förmliche Umwälzung
der physikalischen Verhältnisse eine Änderung der auskultatorischen
Ergebnisse und eine Fortpflanzung des diastolischen (auch präsysto-
lischen) Mitralgeräusches gegen das Pulmonaiostium zu bedingen
können, dürfte wohl nach allem recht wahrscheinlich geworden sein.
Eine wesentliche Stütze erfährt diese unsere Annahme durch das
charakteristische Verhalten des Geräusches, das abgesehen
vom rein diastolischen, auch im präsystolischen, im Rhythmus
(wachtelschlagartig) und in seinem sonstigen Verhalten die
mitrale Provenienz erkennen läßt.
Bei der Ortsveränderung des diastolischen Geräusches gegen die
Basis und zwar dem 2. 1. L R. zu muß dem ganz allmählichen suk-
zessiven Eintreten und dem langsamen Aufwärtsrücken des
Punctum maximum Rechnung getragen werden. Hierin möchte
ich einen wichtigen Fingerzeig für den Zusammenhang mit den auch
nur allmählich sich ausbildenden pathologisch-anatomischen Verände-
rungen an dem Geßißrohr erblicken, die schließlich zu immer stärkerer
Derbheit, Starrheit, Dicke und Unnachgiebigkeit der Pulmonalarterien-
wandung führen, wodurch eine ganz langsame, allmähliche Entwicklung
dieser Resonanzverstärkung statthat.
Plötzliche oder zum mindesten recht rasche Änderungen der Lautheit, des
Ortes, selbst Charakters von Herzgeräuschen können durch Setzung von Herz-
thromben entstehen, mehr subakut oder subchronisch durch Ausbildung von Herz-
schwielen, in beiden Fällen durch Änderung der mechanischen Zusammenziehungs-
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436 Adolf Posselt, [76
und Ausdehnungsfähigkeit der Muskelfasern ganzer Abschnitte des Herzens, durch
Änderung ihrer Elastizität und Dichte, ihrer Eigenschwingungen infolge Bildung
von, wenn es zu sagen erlaubt ist, Knotenpunkten.
Meines Erachtens durften diese Verhältnisse auch diagnostische Würdigung
beanspruchen, ganz besonders hinsichtlich vorliegenden Vitiums, da bekanntlich die
Mitralstenose, wie auch Minkowski hervorhebt, physikalisch-diagnostisch von der
arteriosklerotischen Myokarditis oft schwer zu unterscheiden ist.
Es erlangt sonach auch hier die zeitliche Ausbildung und Raschheit des
Ablaufes bestimmter Zeichen einen gewissen semiologischen Wert.
Nach allem, wie ich mir die Verhältnisse zurecht zu legen suchte,
dürFte, meiner Ansicht nach, eine Deutung der bekannten und oft
zitierten Fälle Rombergs und Austs von anscheinend primärer
Sklerose der Lungenarterie, deren Erklärung bisher aussteht, doch
möglich sein. Merkwürdigerweise wurde auf die speziell im Falle
Rombergs ganz auffällige Enge der Lungenvenen nicht Bedacht ge-
nommen^). Der diesbezügliche Befund lautet: Die Venae pulmo-
nales sind an ihrer Einmündung in den linken Vorhof eng,
für einen dünnen Bleistift eben durchgängig.
Nachdem von der Beschaffenheit ihrer Wandung nichts angegeben
erscheint, kann allerdings kein Urteil abgegeben werden, ob nicht in
ihnen, wie ja wiederholt pathologisch-anatomisch und histologisch
nachgewiesen wurde, ähnliche Verdickungs- und Verhärtungsprozesse
mit Verkleinerung des Lumens vorlagen, wie in den Arterien.
Das wahrscheinlichere (wenn auch nicht absolut sichere) ist es
jedoch, daß der Zustand auffallender Enge der Pulmonalvenen an-
geboren war; dafür spricht wohl das eklatante Zurückgebliebeo-
sein des ganzen linken Herzens. Vom linken Ventrikel ist bei
der Eröffnung sonst nichts sichtbar. Ausschließlich dem rechten Ven-
trikel gehört die stark abgerundete Herzspitze an. Von vorne gesehen
erscheint der linke Ventrikel nur als ein Anhängsel des rechten,
während auf der Hinterfläche beide Ventrikel annähernd gleiche Di-
mensionen zeigen (Herzmaße [s. o.]).
Das linke Herzohr ist kaum halb so groß als das rechte, es er-
scheint sogar kleiner als normal. Der enorme Unterschied zwischen
rechter und linker Herzhälfte fällt am aufgeschnittenen Herzen noch
mehr in die Augen. Der linke Vorhof ist eher etwas kleiner
als normal. Die Dicke seiner Wand beträgt 2—3 mm, nur die Hälfte
von der des rechten. Der linke Ventrikel ist ziemlich eng und besitzt
nur wenig ausgebildete Trabekel. Aortenklappen zart, Aorta auf-
fallend eng.
Aus der ganzen Beschreibung können wir auf Verhältnisse zwischen
1) Rombergs Annahme nach ein sekundärer Befund, s. S. 87.
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77] I^ie klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 437
beiden Herzhälften mit direkter Umkehr der Norm schließen, ein
Befund, wie er z. B.. höchstgradigen Mitralstenosen eigen ist, wobei
außerdem noch infolge der Pulmonalvenenverengung die Restrinktion
des linken Vorhofes dazu kommt.
Der Zustand braucht ja nicht in dem landläufigen Sinne angeboren
zu sein^), wie die wirklichen Herzklappenfehler und Entwicklungs-
storungen; es kann sich wohl z. T. auch um eine lokalschlechtere Ent-
wicklung der Lungenvenen und ein Zurückbleiben während des wei-
teren Wachstums gehandelt haben, eine ähnliche Hypoplasie, wie sie
an der Aorta (hier vielleicht mehr sekundär) bestand. Der schließliche
Effekt bei einer derartigen wesendichen Restrinktion der Lungenvenen
ist wohl ganz analog dem Bestehen einer Mitralstenose.
Vor IV2 Jahr bestand Muskelrheumatismus, vor IV4 Jabr setzte sein jetziges
Leiden ein; ersterem dürfte wobi bierbei nur die Rolle eines auslösenden Momentes
für lange schon Vorbereitetes zukommen.
Infolge der auffälligen Pulmonalvenenverengerung Stauung durch das
gesamte Lungengefäßgebiet auf die Pulmonalis und das rechte Herz,
Drucksteigerung, mit abnormer Inanspruchnahme des Gefäßes und
des rechten Ventrikels (reaktive Korrelation) reaktive Endarteriitis und
Sklerose.
Die Verengerung der Mehrzahl der kleineren Pulmonalverzweigungen scheint
allerdings nicht recht im Einklang zu stehen. Dieselbe fand jedoch nach Romberg
nur auf Kosten der Wandverdickung statt. Bei noch bestehender Elastizität hätte
hier immer noch eine vorherige Ausdehnung statthaben können.
Es scheint mir hierbei auch eine Art Circulus vitiosus bestanden
zu haben. Der enorm erweiterte und stark hypertrophische rechte
Ventrikel hat jedenfalls die Tätigkeit des enorm kleinen, fast ge-
schrumpften linken noch mehr behindert, hierfür spricht ja auch, daß
selbst noch im Leichenbefund das Septum ventriculorum von rechts
her in den Ventrikel hinein vorgewölbt erscheint, um wie viel mehr
muß diese Ausbauchung tntra vitam zur Geltung gekommen und der
Füllung des linken Ventrikels hinderlich gewesen sein. Die schlechte
Ansaugung des Lungenvenenblutes tat ihr übriges. Wir dürfen des-
halb unter diesen Verhältnissen sozusagen eine Stenosierung des
ganzen linken Herzens durch den mächtig ausgedehnten enorm hyper-
trophischen rechten Ventrikel annehmen, wodurch der Kreis ge-
schlossen erscheint.
Ganz ähnliches gilt vom Falle Austs.
Das Herz war enorm vergrößert. Die in situ sichtbare Vorder-
fläche desselben ist fast ausschließlich von der rechten Ventrikelwand
1) Vgl. übrigens die kongenitalen Störungen bei fötaler Endokarditis (auch im
Hnken Herzen), welche sozusagen eine exzessive Steigerung der vorliegenden Ver-
hältnisse darstellen. Vierordt (I. c. S. 149 und 150).
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438 Adolf Posselt, [78
gebildet 9 während von der linken Ventrikelwand nur ein schmalei^
Saum, etwa 3—4 cm oberhalb der Spitze beginnend, sichtbar ist.
Der stark dilatierte rechte Vorhof ist schwappend gefüllt mit Blut, seine Wand
stark hypertrophiert. Der rechte Ventrikel ebenso, die Wand enorm verdickt (2 cffl),
die Papillarmuskeln bis auf das Zwei- bis Dreifache vergrößert. Herzfleisch derb,
einzelne Papillarmuskeln mit myokarditischen Schwielen durchsetzt. Pulmonalarterie
stark erweitert, innerer Umfang am Klappenansatz 9,5 cm, oberhalb der Klappen
deutliche Tendenz zu aneurysmat. Erweiterung (größter Umfang 10,2).
Die Lungenvenen sind an ihrer Einmündungsstelle in den linken
Vorhof für den kleinen Finger kaum durchgängig.
Die ganze linke HerzhälFte entspricht etwa der Große
eines Kinderherzens; der linke Vorhof kommt in seinem
Rauminhalt etwa dem rechten Herzohr gleich. Die Muskulatur
ist schwach entwickelt.
Das Endokard zeigt eine grobe ^ strahlig angeordnete Stricheluog.
Mitralklappe zart, intakt. Der kleine, enge linke Ventrikel wird
von dem rechten Ventrikel halbmondförmig' umlagert, seine
Wand ist dünn (1 cm). Papillarmuskeln wenig entwickelt. Die Aort^
ist eng, für den kleinen Finger kaum durchgängig. Innerer
Umfang dicht oberhalb der Semilunarklappen 6,6, im Brustteil 4 cih,
im Bauchteil 3,5 cm. Klappen zart, intakt, die Intima weist einige
wenige atheromatöse Einlagerungen auf.
Halten wir diese anatomischen Befunde im Gedächtnis, so werden,
wie sich aus folgendem ergibt, für unsere obige Annahme die hierbei
erhobenen eigenartigen auskultatorischen Erscheinungen eine
kräftige Stütze bilden.
Bei Rombergs (Deutsch. Arch. f. klin. Med. 1891, 48. Bd., S. 197) Kranken
(24)ährigen Mann) wurde nachstehendes konstatiert:
Bei der Auskultation hört man in der Gegend der starken Pulsation (4. LR.),
am lautesten an der Stelle des scheinbaren Spitzenstoßes ein systolisches, weiches,
den ersten Ton verdeckendes Geräusch und am Ende der Systole ein kurzes, sbbt'
scharfes Geräusch« Während das erste nur im 3. und 4. 1. R. hörbar ist^ wird das
2. nach der Auskultationsstelle der Pulmonalis hin sehr deutlich fortgeleitet. Man
hört hier vor ihm den 1. und nach ihm den akzentuierten 2. Pulmonalton.
Ober der Aorta sind die Töne sehr viel leiser als über der Pulmonalis.
Austs (München, media?: V^ochenschr. 1892, 27. Sept., S. 689) Notizen besagen:
25jähriger Mann, blaß mit deutlicher Zyanose. Der 1. Ton an der Spitze ist unrein
und geht in der Richtung nach dem Proc. xiphoid. und dem mittleren Teil des
Sternums allmählich in ein deutliches kurzes Geräusch über, wird nach dem oberen
Teil des Sternums wieder schwächer und undeutlicher.
Der 2. Ton an der Spitze ist leise und geht unmittelbar in ein die ganze Dia-
stole ausfüllendes leises Geräusch über, welches in der Richtung nach dem oberen
Teil des Sternums deutlicher wird und im 3. linken Interkostalraum in prägnantester
Weise einen rauschenden Charakter, wie bei Insuffizienz der großen Gefäße, zeigt
Im 2. rechten I. R. und dem angrenzenden Sternalteile sind die Herztöne leise and
dumpf, ein deutliches Geräusch ist daselbst nicht zu konstatieren.
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7d]' I>>e klinische Diagnose der PulmonaUrteriensklerose. 439
Ini weiteren Verlaufe wechselt der Befund, indem das systolische GerSusch
zeitweise schwächer wird, selbst gelegentlich ganz verschwindet, das diastolische
dagegen in Charakter und Intensität unverändert bleibt.
Weiteres scheinen für unsere Behauptungen folgende Befunde zu sprechen:
Kidd (Clin. Soc. of London 1904). 21 jähriges Mädchen. Auskultatorisch ein
lauter, kurzer, knackender Ton über der ganzen Herzgegend hörbar, ähnlich dem
1. Ton bei Mitralstenose. Das Maximum fand sich über dem Pulmonalostium, ge-
legentlich konnte man hier auch ein kurzes diastolisches Geräusch nach dem 2. Ton
hören. Der erste Ton war überall rein, weich, von keinem Geräusch begleitet.
Romberg und Aust möchten das systolische Geräusch an der
Pulmonalis z. T. auf eine Wirbelbildung im Stamme der Lungen-
arterien beziehen.
,,Über die Entstehung des am Ende der Systole hörbaren, scharfen
Geräusches kann Romberg sich jedoch kein Urteil bilden.'^ Ober-
haupt bietet nach ihm die Pathologie seines Falles manche Schwierig-
keiten, die man wohl zu deuten versuchen, aber nicht mit Sicherheit
erklären kann.
Aust glaubt die etwas ungewöhnliche Lokalisation des zweifellos
durch relative Insuffizienz der Arteria pulmonalis hervorgerufenen
diastolischen Geräusches durch die Hypertrophie des rechten Ven-
trikels und Vorhofes und die dadurch bedingte Oberlagerung und
Verdrängung der linken Herzhälfte genügend erklären zu können.
Nach obigen ausfährlich dargelegten anatomisch -physikalischen
Hefzverhältnissen können wir, ohne der Sache Zwang anzutun, eine
formliche Stenosierung des linken Herzens und mithin des linken
Atrioventrikularostiums durch Druck von außen annehmen.
Es dürfte nun nicht allzugewagt sein, anzunehmen, daß an dem
so schwer zu deutenden diastolischen Geräusch ein von dieser sozu-
sagen äußeren Mitralstenose fortgeleitetes partizipierte, wobei außer-
dem eine eben durch dieselben Umstände resultierende relative Pul-
monalinsuffizienz im Sinne Bryants mit ihrem Geräusch Anteil
haben konnte.
Wieviel dann auf das eine oder andere im einzelnen Fall zu setzen
ist, entzieht sich intra vitam vorderhand jeglicher Beurteilung.
Wir wissen aus zahlreichen Beispielen, daß einerseits schwere
angeborene Herzfehler ohne jegliche Geräusche am Herzen verlaufen
können, andererseits, daß gerade von den erworbenen Vitiis die Mi-
tralstenose^) dasselbe Verhalten zeigen kann.
1) U. a. konnte Hilton Fagge 40 Fälle mit genauem ObduktfonsbefUnd sam-
meln, bei denen keine Spur von Geräuschen zu entdecken war.
Der enormen Seltenheit und des klinisch-diagnostischen Interesses halber soll
auch der entgegengesetzten Möglichkeit: funktionelle Mitralstenose, Pseudomitral-
Stenose (wohl noch sehr fraglichen Charakters) gedacht werden.
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440 Adolf Posselt, [SO
In der Praxis können wir daher in einem konkreten Falle mit
allen sonstigen bisher entwickelten klinischen Zeichen vor die Ent-
scheidung gestellt werden, denselben auch ohne Bestehen auskulta-
torischer Phänomene einzureihen. Daß hier die Diagnose auf große
Schwierigkeiten stößt, ist Fraglos.
Eine äußerst sorgfältige Anamnese (wie das Verhalten bei der
Geburt und frühesten Kindheit war, ob gewisse Infektionskrankheiten,
speziell Polyarthritis, Variola, Scharlach bestanden), die eigenartigen
Zyanosekrisen und typischen AnISlle (Hypercyanosis intermittens an-
giosclerotica dolorosa [adyspnoica] s* u.) können im jeweiligen Falle
einen Fingerzeig geben.
Im großen und ganzen würde Infantilismus mit trophischen Stö-
rungen und Verminderung des Intellektes^), ebenso ausgesprochene
Trommelschlegelfingerbildung eher für ein kongenitales Vitium
sprechen; weiterhin sind Anfälle von Kopfschmerz, Schwindel, ganz
besonders aber Ohnmachtsanwandlungen und vor allem konvulsivische
und epileptiforme Zustände diesem in erster Linie eigen.
In Zusammenfassung der auskultatorischen Phänomene, vor
allem bei Beurteilung des interessanten diastolischen Geräusches
in der Pulmonalostiumgegend, gelangen wir zu dem Ergebnis, daß
ebensowenig die Verallgemeinerung für stetes Vorhandensein einer
relativen PulmonalklappeninsufAzienz, wie die, daß ihm unter allen
Umständen eine Fortleitung des diastolischen resp. präsystolischen
Mitralstenosengeräusches zugrunde liegt, zutrifft. Die auf anatomischea
Veränderungen aufgebaute physikalische Möglichkeit ist für beides
ausschlaggebend.
Eine relative Semilunarenschlußunfahigkeit wird dann zu suppon*
nieren sein, wenn es sich um eine Atherosklerose der großen Äste,
Dmitrenko.Le r6trecissement mitral relatif. Rev.dein6d. 1907, t. XXVII, p. 286.
Periis, Kasuist. Beitrag zur Kenntnis der anorganischen prSsystol. GerSuscbe
an der Herzspitze. Inaug.-Dissert. Berlin 1907.
Ceconi (Mitralspasmus, Riforma med. 1908, no. 30) gibt die Krankengeschichte
und den Obduktbefund eines Falles, in dem klinisch die Diagnose Mitralstenose
zweifellos war.
Bei der Autopsie bloß Hypertrophie und Dilatation des r. Ventrikels bei nor-
malem Verhalten sämtlicher Klappen, weshalb eine funktionelle Mitralstenose oder
Pseudomitralstenose anzunehmen sei, über deren Ursachen die Ansichten noch
geteilt sind.
1) Um die ÄhnUchkeit beider Zustande noch größer zu gestalten, kommt es
nämlich in seltenen Fällen auch bei der Mitralstenose, wie u. A. Brissaud,
Me eklen, Ferranini erwähnen, zu einem Zuruckbl^ben der körperlichen und
geistigen Entwicklung. Inwieweit jedoch hier bis zu einem gewissen Grad kon«
genitale Momente mitwirken, möge dahingestellt bleiben.
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81] Die klinische Diagnose dertPulmonalarterienslclerose. 441
Verzweigungen usw. handelt mit hauptsächlichem Freibleiben oder
nur sehr geringer Entwicklung im Stamm und vor allem bei Nach-
giebigkeit dieses und des erweiterten Wurzelgebietes und Klappen-«
ringes.
Andererseits setzt die Fortleitung des Mitralgeräusches zur Basis
ein ganz besonderes Prävalieren des Prozesses in den Stammbezirken
voraus.
Schließlich ist es nach der Lage der Dinge gar nicht ausgeschlossen,
sondern sogar sehr wahrscheinlich, daß gegebenen Falls beide Momente
konkommittieren, wobei es nach der Natur des jeweiligen Kasus darauf
ankommt/ welches von ihnen vorherrscht.
Bei unseren Darlegungen setzten wir immer ein gewisses Unbe-
einflußtsein der Kaliberverhältnisse des Gefäßes voraus.
Wir dürfen das Kapitel über die physikalische Untersuchung nicht
schließen, ohne in allergedrängtester Kürze zum wehigsten der beiden
Extreme: hochgradigste Verengerung und der Aneurysmabildung zu
gedenken.
Es würde auch zu weit führen, alle hier möglichen Verhältnisse
und Kombinationen zu besprechen.
Je mehr sich die Stenosierung dem PulnH)nalklappenringe nähert,
um so ähnlicher werden die dadurch gesetzten Erscheinungen denen
der Klappenstenose sein.
Je entfernter selbe zur Ausbildung kooimt, desto mehr treten die
Erscheinungen in ihr Rechte auf welche eine Reihe von Autoren (na-
mentlich auch bei von außen gesetzten Hindernissen) hingewiesen
haben:
Litten, Ober Verengerungen im Stromgebiete der Lungenarterie,
über deren Folgen und die Möglichkeit, dieselben während des Lebens
zu diagnostizieren. Berl. klin. Wochenschr. 18i32, S. 425.
Aufrecht, Systolische und diastolische Geräusche, entstanden
durch Verengerung des Strombettes des linken Pulmonalastes. Arch.
f. klin. Mediz. 1876, Bd. 18.
Mader, Beiträge zur Auskultation des Herzens und der großen
Gefäße. Wien, mediz. Wochenschr. 1903, Nr. 1.
Weinberger, Über periphere Verengerung der Pulmonalarterien
und die klinischen Zeichen derselben. Wiener klin. Wochenschr. 1903
Nn 42 und Nachtrag Nr. 44.
Weiß, Zur Diagnose der langsamen Verstopfung der Lungen-
arterie. Ztschr. f. klin. Medizin 1907, LXII, S. 481.
Klin. Vortrage, N. F. Nr. 501/07. (Innere Medizin Nr. 149/52) Okt. 1906. 31
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442 Adolf Posselt, [82
Das andere Extrem stellt die Erweiterung bis zur wirklichen
Aneurysmabildung dar, wobei bezüglich der klinischen Diagnose
letzterer hingewiesen sei u. a. auf: Skoda (1864), Gilewski (Wiener
mediz. Wochenschr. 1868), Buchwald (Deutsche mediz. Wochenschr.
1878), Storch (L-Diss. Breslau 1899), Lissauer (Virchows Arcli.
1905, CLXXX) und vor allem auf Henschen (Das Aneurysma arteriae
pulmonalis. Volkmanns Sammlung klin. Vortr. 1906. Inn. Mediz.
Nr. 126/127).
Aufs äußerste kompliziert können die Verhältnisse durch die ver-
schiedenartigsten Kombinationen beider werden.
Bei sehr eingehender und durch große Zeiträume hindurch mög-
licher Untersuchung dürfte sich die klinische Diagnose auch hinsicht-
lich der Kaliberverhältnisse weiter ausbauen lassen, wenigstens in
bezug auf extremes Verhalten nach beiden Richtungen hin, in ganz
besonders günstigen Fällen vielleicht sogar auf verschiedene Kombi-
nationen solcher Verhältnisse.
Unter den klinischen Erscheinungen verdienen Lungenblu-
tungen, die oft abundant sein und sich über geraume Zeit hinziehen
können, unser vollstes Augenmerk.
Bekanntlich spielt die «h^moptysie cardiaque' in den Mit-
teilungen französischer Autoren in der Herzpathologie eine große
Rolle.
Als Ursache kommen vor allem in Betracht Embolie der Arteria
pulmonalis, venöse Stauung, insbesondere in Verbindung mit Degene-
ration der Geßß wände, wobei der erhöhte Druck zu Dilatation, ka-
pillärer Aneurysmen- und Varizenbildung, Dehiszenzen der alteriertea
Gefäßschichten und zu Berstungen und Blutungen führt.
Als zugrunde liegende Herzaffektionen dominieren weitaus Mitral-
fehler und hier wiederum am häufigsten Stenosen.
Unter 72 Fällen von »hemoptysie cardiaque"^ Dorgeins (Th&se de
Bordeaux 1894/95) wurde 27 mal Mitralstenose, 16 mal Mitralinsuffizienz,
lOmal Kombination beider gefunden. Ausnahmsweise erklärt erPul-
monalsklerose als Ursache von Hämoptoe (Fälle von Lancereaux
und Cruveilhier).
In dieser Fassung ist der Satz sicherlich nicht zutreffend. Die
Seltenheit bei der Lungenarteriensklerose ist nur so aufzufassen, dafi
diese gegenüber den übrigen Störungen in der Frequenz in den
Hintergrund tritt.
An und für sich ist aber gerade die Pulmonalsklerose durch öftere
Hämoptoe ausgezeichnet.
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83] ^^^ klinische Diagnose der Pulihonalarteriensklerose. 443
Um einige Beobachtungen aus der Literatur herauszugreifen, seien
u. a, erwähnt solche von Klinger (1855), Bristowe (1860), Marti-
neau (1861), Deroye (1870), Rosapelly (1872), Saun6 (1872), Yeo
(1873), Voisin (1874), Kirchner (1883), Rattone (1885), Wilbou--
schewitch (1891), Bryant (1001), McPhedran u. Mackenzie (1903),
Bosc (1904), Schwartz (1907).
Einige Male waren mehr oder weniger auch launisch ausgesprochene
hämorrhagische Infarzierungen die Ursache (z. B. bei Deroye, Saune,
Rosapelly). — Im Falle Schwartz^) standen die Lungenblutungen
weitaus im Vordergrunde aller klinischen Erscheinungen. Für den
Kliniker gewinnen das höchste Interesse jene Fälle, bei denen ein
primäres Herzleiden und die Zeichen eines Lungeninfarktes nicht nach-
weisbar sind. Daß hier die Annahme einer Tuberkulose der Lunge
mit Hämoptoe sehr naheliegt, ist ohne weiteres begreiflich.
s. Bosc, Endocardite pulmonaire aigue avec r6trec. ayant simul6 la
tuberc. pulm. Bull. Soc. de p6diat. Paris 1904, VI, p. 299.
Auch im Falle Schwartz wurde der Kranke bei der Aufnahme der
Tuberkulosenstation zugewiesen.
Im Gegensatz zu Schwartz, der in der Literatur keine einwandsfreien Fllle
von Lungenblutung infolge Ruptur der Pulmonalis finden konnte und angibt, daß
unter den von ihm erwähnten Umstlnden von abnormer Zerreißlichkeit der Gefiß-
wand keine Rede sein kann, möchte ich auf einige Literaturangaben hinweisen, die
diese seltene Möglichkeit dartun und auch Eigenbeobachtungen hierfür erbringen.
FQr eine leichtere Zerreißlichkeit spricht schon die Angabe Tiedemanns, daß
man an mehreren Stellen membranöse Schichten ablösen konnte, wobei sich speziell
leicht die innere Haut des Gefäßes stückweise ablösen ließ.
Nach Bamberger (Lehrbuch. 1857) hat der Prozeß häufig Gefäßrupturen und
infolgedessen hämorrhagische Infarkte zur Folge.
Endarteriitis und Atherom kann Rattone (I.e.) zufolge auch primär zu Lungen-
hämorrhagien führen.
Bei V. Jürgensen (Herzklappenfehler. Nothnagels Spez. Path. 1903, XV,
S. 83—86) fand ich eine Notiz, die die abnorme Lädierbarkeit und Zerreißlichkeit
des Gefäßes unter solchen Umständen bekundet.
Beobachtung II: Hochgradige Muskelschwäche des Herzens, welche die An-
wesenheit einer Mitralinsuffizienz und der Stenose des Ostium venosum
sinistrum nicht erkennen ließ. Geringe Stenose des Ostium venös, dext.
Hydrops fehlt trotz schwerer Erscheinungen von Herzschwäche vollkommen.
Tod durch Verschluß der linken Carotis cerebralis. 58j. Frau. 3Vj Jahre
klinische Beobachtung.
Bei der Sektion fand sich zudem die Pulmonalarterie in ihrer Wand verdickt,
ebenso ihre Verzweigungen in der Lunge, deren Intima an vielen Stellen verfettet,
brüchig erscheint und in großen Fetzen leicht abziehbar ist.
1) Schwartz, Über einen Fall von abundanter Lungenblutung bei Mitralstenose
und hochgradiger Sklerose der Arteria pulmonalis. Münchener med. Wochenschr.
1907, Nr. 13.
31»
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444 Adolf Posselc, [84
Wenn auch hier nicht in die näheren pathologisch-anatomisclien
und histologischen Verhältnisse eingegangen werden kann, so erlangt
doch der Rupturbefund an der Pulmonalarterie in unserem Falle IV
wegen der ungewöhnlichen Seltenheit solchen Vorkommnisses erhöhtes
Interesse. Es zeigte sich bei dieser 45jährigen Frau bei der Nekropsie
Stenose und Insuffizienz der Mitralis, adhäsive Perikarditis, Pleuritis,
hochgradige Sklerose und Erweiterung der Pulmonalarterien, besonders
der rechten, und eine ganz beträchtliche, in die Breite und
Tiefe weitreichende Ruptur dieser letzteren in unvollstän-
diger Abheilung.
Unser Fall VIII kann als Beispiel dafür dienen, daß es trotz aller-
höchstgradiger hämorrhagischer Infarzierung deriLunge klinisch durcti-
aus nicht zu Hämoptoe zu kommen braucht.
Andererseits möchte ich auch vom klinisch-diagnostischen Stand-
punkt aus hervorheben, daß des öfteren recht langdauernde Lungen-
hämorrhagien ohne jeglichen Infarktcharakter (weder in den klinischen
Symptomen, noch im objektiven physikalischen Befund) in Erscheinung
traten, welche bis zu einem gewissen Grade sogar einen bedingten
diagnostischen Wert beanspruchen können.
Aus meiner Praxis ist mir ein Fall erinnerlich, der eine Frau anfangs der 40er
Jahre betraf, welche an eigentQmlichem periodischen Bluthusten litt und desbtlb
bei den Angehörigen auch als phthisisch galt. Vollkommen negativer physikalischer
Befund, trotz sorgfältigster Sputum Untersuchungen niemals Bazillen. Mäßige Hyper-
trophie des rechten Ventrikels, leichte Zyanose, Atmen vollkommen frei. Andeumng
neurotischer Symptome. Von ihr und den Angehörigen wird die bestimmteste An*
gäbe gemacht, daß sich die Lungenblutungen häufig zur Zeit der Periode einstellen,
diese jedoch dann immer ausbliebe.
Tuberkulose war auszuschließen, ebenso Hämophilie. loh faßte den Fall so
auf, daß ich eine besonders leichte Vulnerabilität der Lungengefäße annahm (mög-
licherweise durch endarteriitisch-degenerative Prozesse bedingt) und ihn nach allem
in das hypothetische und wohl sehr fragliche Gebiet der vikariierenden Menstrutl-
blutungen einreihte.
Wenn nach obigem in außerordentlich seltenen Fällen eine abnorme
Zerreißlichkeit der Gefaßwände vorkommen kann, so stellt doch dieser
Modus ein verschwindend kleines Kontingent der Fälle von Lungen-
blutungen. Die Hauptursache für diese liegt in den Kapillaren der
Stauungslunge.
Mit einer gewissen Reserve möchte ich nach allem das Verhalten
bezüglich der Lungenblutungen derart resümieren, daß bei ausge-
sprochener Mitralstenose oder Erkrankungsfallen, die teils an diese,
teils an kongenitale Vitia cordis erinnern, länger dauernde und öfters
sich wiederholende Lungenblutungen ohne Infarktcharakter den Ver-
dacht auf Endarteriitis (Sklerose) der Pulmonalis erwecken können.
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85] Die klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 445
Wenn auch von keiner ausschlaggebenden Bedeutung, so doch
immerhin bemerkenswert und differential-diagnostisch nicht ganz wert-
los erscheint mir der Mangel von kolbigen Auftreibungen der
Endphalangen^ Trommelscfal egelfingern i).
Wie Rfihle (1877) hervorhebt, gehören die stärksten Grade der
Trommelschlegelfinger (kolbige Auftreibung der dritten Phalanx,
Krümmung des Nagels) besonders jenen angeborenen Herzfehlern an,
welche mit erheblicher Zyanose verbunden sind.
Speziell im Hinblick auf letztere Tatsache erlangt das Fehlen dieser
Bildung bei der Atherosclerosis pulmonalis trotz höchstentwickelter
Zyanose eine gewisse differential-diagnostische Dignität.
Laache (1890) und Kidd (1004) heben bei ihren Beobachtungen
ausdrücklich den Mangel dieses Symptomes hervor.
Es wird wohl des öfteren der au^älligen, oft tiefdunkelblauen bis
blauschwarzen Verfärbung der Endphalangen, auch der Fingernägel
gedacht, aber ausdrückliche Hervorhebung obigen klinischen Befundes
traf ich nicht an. Nachdem die Trommelschlegelfingerbildung eine so
ungemein auffällige und stets gewürdigte klinische Erscheinung dar-
stellt, hätten die Beschreiber sicherlich ihrer gedächt. Auch in unseren
Fällen bestand zwar mehrfach allerstärkste dunkelblaue Färbung der
Endphalangen, speziell der Nägel, zu einer kolbigen Auftreibung der-
selben kam es jedoch nie. ^
Allerdings gibt es eine nicht unbedeutende Literatur über Fehlen von Zyanose
und Trommelschlegelfinger bei angeborenen Vitia cordls, selbst bei sehr erheblichen
Entwickiungsstörungen (worüber Vierordt, Nothnagels Spez. Path. eingehender
berichtet). Auch wir verfügen über eine hier einschlägige Beobachtung:
Bei einem 25jlhrigen Mi^nne E. G. konnte i^h folgende klinische Diagnose
stellen (auszugsweise) : Vitium cordis congenit. Stenosis ostii pulmonalis.
Hypertrophia ventriculi dextri. Defectus septi ventriculorum. Anae-
mia, Cyanosis. In-sufficienta cordis.
Die Obduktion bestfltigt die klinische Diagnose 2). Der auf das Herz bezügliche
Befund lautete:
Defekt im vorderen (membranösen) Septum der Herzventrikel mit teilweiser
ringförmiger Verengerung des Konus der Pulmonalis.
Insuffizienz der Klappen der Pulmonalarterie bei ausgebreiteter verruköser
Endokarditis dieser, sowie der Aortenklappen und des oberhalb der Verengerung
sehr erweiterten Konus der Pulmonalis.
1) In letzterer Zeit fand das Thema eine übersichtliche Darstellung von E. Eb-
stein (Zur klinischen Geschichte und Bedeutung der Trommelschlegelflnger.
Deutsches Arcb. f. kiin. Med. 1907, Bd. 89, S. 67), in welcher er schließlich dem
Ausspruch NTests: „Clubbing is one of those phenomena with which we are all
so familiär that we.appear to know more about it than we really do*' vollkommen
beipflichtet.
2) 8. Pommer, Bericht über 2 FSlte von Pulmonalstenose. Wiener klin.
Wochenschr. 1904, Nr. 27, S. 762.
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446 Adolf Pösselt, [gft
Offenes Foramen ovale. Enge der Aorta im Isthmüs^ebiete, exzentrische Herz-
bypiertrophie.
Der Fall ist dadurch ausgezeichnet, daß er zu den vorwiegend mit Anämie ver-
gesellschafteten gehört (die Zyanose trat lange Zeit in den Hindergrund), und daß
keine Spur einer Trommelscblegelfingerbildung statthatte (s. Vierordt, I.e., S.89).
Unter den klinischen Symptomen der Pulmonalarteriensklerose
nimmt die zumeist ganz besonders hochgradige Zyanose in ihrem
eigenartigen Verhalten als Frfihsymptom eine dominierende Stellung
ein.
Bis zu einem gewissen Grade ist wohl ein bläuliches Kolorit be-
dingt durch die primären Ursachen oder indirekte Prozesse: Mitral-
fehler, vor allem Stenosen (violettbläuliche Facies mitralls), Perlkard-
verwachsungen, Pleuraadhäsionen u. dgl.
Die Blausucht findet sich aber auch in hohem Maße entwickelt bei
der reinen, genuinen Sklerose des Gefäßes.
Als diagnostisch zu verwertendes Moment kommt ihr jedoch nicht
so sehr die zumeist ganz ungewöhnliche Intensität als der Umstand
zu, daß sie schon zu einer Zeit, wo die anderen Erscheinungen venig
ausgebildet sind, im Vordergrund des klinischen Bildes steht und mit
dem sonstigen BeiPund (am Herzen, Lunge, Allgemeinsymptome) und
dem verhältnismäßig guten Kompensationszustand nicht recht in Ein-
klang zu bringen ist. Es drückt sich dies in der oft lange Zeit per-
sistierenden, höchst auffallenden Differenz aus zwischen der
enormen Biausucht und dem Fehlen von anderweitigen Stau-
ungen, Ödemen, Dyspnoe oder nur sehr schwachen und zeitlich
späten Ausbildung letzterer.
Es verlohnt sich, diesen Verhältnissen etwas ausführlicher an der
Hand der Literatur und unserer Eigenbeobachtungen nachzugehen.
Allgemein gehaltene Andeutungen lassen sich schon aus zerstreuten
Bemerkungen der älteren Literatur herauslesen.
Kr ey sing (Die Krankheiten des Herzens. Berlin 1816. T. II, Abt. 2,
S. 824) schließt bei der Unterscheidung der Blausucht aus angeborenen
Fehlern des Herzens von der aus Fehlern der Lunge herrührenden
(im Hinblick auf einen Fall von Green, Philosoph, transact., no. 454,
IV., welcher in der Leiche einer SOjährigen Frau das eirunde Loch
sehr weit offen fand, dabei selbe jedoch im Leben nicht blausfichtig
gewesen), „daß zu diesem Bildungsfehler noch andere Be-
dingungen hinzukommen müssen, wenn Blausucht entstehen
solle; und in der Tat scheinen diese nach den vorhandenen Fällen
teils in einer krankhaften Veränderung der Lungenarterie,
teils in anderen organischen Metamorphosen des Herzens zu be-
stehen."
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37] I)ie klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 447
Durch ganz bedeutende zyanotische Verfärbung zeichneten sich
u. a. aus die Fälle von Broca, Klinger (1855), de Buman (1858),
Lancereaux (1861), Klob (1865), Tommasi Crudeli (1868), Rosa-
pelly (1872), Voisin (1874), Sainton (1875), Saune (1877), Bryant
(1901), RoliestOQ (1002).
In den krankengeschichtlichen Notizen bei Kidd (1604) wird aller-
dings anfanglich nur eine leichte Zyanose erwähnt; daß der Fall jedoch
für einen angeborenen Herzfehler gehalten wurde, deutet darauf hin,
daß dieses Symptom im weiteren Verlaufe doch erheblicher hervor-
getreten sein mußte.
Hohe Grade erreichte sie bei der Kranken Boinets und Poesys
(1906). Dasselbe traf für beide Fälle Mönckebergs (1907) zu-
Auch der fettsüchtige Potator Kitamuras (1908) zeigte starke
Zyanose, wenigstens dem Sektionsbefunde nach.
Romberg (Deutsch. Arch. f. klin. Mediz. 1891, Bd. 48, S. 197)
führt unter den klinischen Eigentümlichkeiten bei den Allgemein-
erscheinungen das völlige Fehlen von Ödemen bei der außer-
ordentlich hochgradigen Zyanose als besonders merkwürdig an.
Diese hochgradige Zyanose läßt sich nach ihm nicht mit Sicher-
heit erklären»
Nachdem wir bei verschiedenen Gelegenheiten auf seinen Erklärungs-
versuch zurückkommen müssen, möge derselbe im folgenden dargelegt
werden:
Die Mehrzahl der feineren Verzweigungen der Pulmonalis war verengt, wie die
Verkleinerung des Lungenvenenkalibers beweist 9. Die abnormen, dadurch gesetzten
Widerstände wurden aber dennoch fast vollständig überwunden. «Das stärker
arbeitende und kräftiger sich kontrahierende Herz treibt*' — um mit den Worten
Cohnheimszu reden — „durch die verkleinerte Blutbahn ebensoviel Blut und
überwindet . . . sich entgegenstellende Widerstände so vollständig, daß ... die
normale Menge Blut in der Zeiteinheit die Lunge passiert.** Es ist klar, daß dann
die Stromgeschwindigkeit sich entsprechend der Verengerung der Lungengefäße
steigern wird. Die Zeit, während welcher das Blut mit den Alveolarepithelien in
Berührung ist, wird eine gegen die Norm verkürzte sein. Die Oxydation des Hämo-
globins, die Abgabe der Kohlensäure wird eine mangelhaftere und das Blut wird
mehr oder minder venös in die Lungenvenen gelangen.** Für diese seine Hypothese,
daß die Strombeschleunigung ausreicht, um die ungenügende Lüftung
des Blutes zu erklären, führt Romberg auch die Ansicht Bohrs ins Feld, der
zufolge die Lüftung des Blutes nicht ausschließlich auf der Diffusion der Gase
beruhe, sondern durch „eine Art von Sekretionsprozeß, analog den Auscheidungs-
prozessen in den Drüsen** vor sich gehe. Indem nun Romberg diese Verhält-
nisse, wie sie z. B. an den Speicheldrüsen bestehen, auf die Lunge überträgt, sagt
er: Nehmen wir die normalen Stromverhältnisse als die besten für einen hin-
reichenden Gaswechsel an, so folgt daraus für unsern Fall eine schwere Schädigung
desselben; denn das sezernierende Lungenparenchym erhielt zwar annähernd die
1) Vgl. oben S. 436.
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448 Adolf Possele, [8g
jaormale M^nge Blut, aber ea war in jedem Ausenblick^mit einer wesentlicb kleineren
Blutmenge als unter normalen Verbältnisaen in Berfibrung.
Bei diesem Erkiflrungsversucb für die hochgradige Zyanose glaubt Romberg
die von Cohnheim angezogene Verdickung der Kapillarwandungen umgehen zu
können.
Nach Aust (MQnchener medizin. NTochenschr. 1802, S. 680) ist die Ätiologie
seines Falles von primärer Sklerose der Pulmonalis in völliges Dunkel gehüllt
Als schädigende Momente kämen in Betracht: das langandauemde angestrengte
Einatmen heißer Dämpfe >) und die Obliteration der einen Pleurahöhle.
„Das am stärksten hervortretende Symptom der Erkrankung bildete
die allmählich bis zu enormer Hochgradigkeit zunehmende Zyanose
und Dyspnoe bei völligem Mangel von Ödemen, ein Verhalten, das bei dem
relativ jugendlichen Alter des Patienten ^^unächst die Annahme eines kongenitalen
Herzdefektes mit abnormer Mischung von venösem mit arteriellem Blute wohl
rechtfertigte.*'
Neusse r (Über Zyanose. Wiener klin. Tochenschr. 1893, Nr. 32, S. 501^ be-
richtet in aller Kürze über den Prozeß wie folgt: „Bei Sklerose der Lungenarterie,
auch ohne aneurysmatische Erweiterung derselben, bestand in den von Kl ob and
Ro mberg veröifentiichten Fällen intra vitam hochgradige Zyanose mit Hypertrophie
des rechten Ventrikels, systolischen Geräuschen an der Herzspitze, akzentuiertem
2. Pulmonalton und kleinen, weichen Radialpulsen. Das Merkwürdige dieser
Pälle liegt in der außerordentlich hochgradigen Zyanose bei völligem
Fehlen von ödem bis zum Tode.*
Laache (Norsk. Magaz. f. Laegevid. 1899, Nr. 1) betont ausdrücklieb, daß die
Kranke ganz das Bild des Morbus caeruleus bot.
Er geht die in der Literatur mitgeteilten Fälle von Arteriosklerose der Pulmo-
nalis durch und findet bei den meisten keine auffallende Zyanose erwähnt. Nur
der von Rom borg gleiche dem mitgeteilten klinisch ganz auffallend.
Nach Laache fehlt für den Grad der Zyanose noch eine ausrei-
chende Erklärung.
Durch Stauung allein ist sie nicht bedingt, zumal ja in seinem Falle gar keine
Stenose, sondern nur Erweiterung vorlag. Auch er weist auf die Möglichkeit hin,
daß die Theorie Bohrs richtig sei, nach der die Respiration nicht eine Dilfusion,
sondern eine Sekretion darstelle, so daß es sich in diesen Fällen um eine Behinde-
rung der Ausscheidung der CO| handle.
Die hochgradige Zyanose in seinen beiden Fällen ist Mönckeberg (Deutsche
mediz. Vochenschr. 1907, Nr. 31, S. 1243) geneigt, mit Romberg auf die mangel-
hafte Sauerstoffaufnahme des Blutes in den Lungen infolge der erhöhten Strom-
geschwindigkeit zurückzuführen.
1) Bezüglich des obigen schädlichen Momentes möchte ich daran erinnern, daß
nach Fran^ois-Franck (Trav. du labor. doMarey IV. 188a 379) beim Einblasen
stark reizender Gase in die Lunge eine Blutdrucksenkung resultiert Dabei ist noch
die schädigende Wirkung hoher Temperaturen mit zu berücksichtigen. Ungewöhn-
lich starke und sehr wechselnde thermische Einflüsse beschuldigt Öhler (Deutsches
Arch. f. klin. Med. 1908, Bd. 92) als ätiologisches Moment für das Entstehen von
Dyskinesia intermittens brachiorum (s. u.).
2) Vollkommen gleichlautend spricht sich Neusser in neuester Zeit aus (Aus-
gewählte Kapitel der klinischen Symptomat. und Diagnostik. 3. Heft. Dyspnoe und
Zyanose. Braumüller 1907. S. 157).
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89] I)ie klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 440
Schwartz vergleicht das Krankheitsbild, welches bei Pulmonalsklerose su*
Stande kommen kann, mit dem Morbus caeruleus.
Wenn auch Kitamura (1. c.) bei seinem Kranken, einem 33 j. Kellner, der
täglich 30 Glas Bier und reichliche Mengen von Wein und Schnaps trank, keine
näheren klinischen Symptome angab (der Mahn wurde mit den Zeichen hochgradiger
Herzschwiche in das Krankenhaus eingeliefert, wo er kurz darauf starb), so ver-
dienen doch zwei Sektionsbefunde besonders hervorgehoben zu werden, da sie
einen Rückschluß auf die im Leben bestandenen Verhlltnisse gestatten: die starke
Zyanose des Gesichtes und das Fehlen jeglicher Ödeme.
Falls Bohrs (Ober die Gasspannungen im lebenden arteriellen
Blute. Zentralbl. f. Physiologie 1887, 1. Okt., Nr. 14, S. 293) Ansichten,
die er auch wiederholt in späteren Publikationen erläuterte und auf
die sich Romberg und Laache berufen, zu Recht bestehen, würde
dadurch allerdings eine Reihe von hier vorhandenen Symptomen,
namentlich die beträchtliche Zyanose bei geringer . Dyspnoe befrie-
digend erklärt werden können.
Barcroft (Zur Lehre vom Blutgaswechsel in den verschiedenen
Organen. Ergebnisse der Physiol. 1908, VII, S. 720) wendet, als die
ernsteste Kritik von Bohrs und Henriques Resultaten, ein, daß sie
den Stoffwechsel der Lunge selbst ignorieren. Die Lunge ist nicht ^y^
nur eine sekretorische Drüse, sondern auch eine tätige solche. Die
Energie, dank welcher sie den Sauerstoff von einem Ort niedrigerer
Spannung zu einem Ort mit höherer Spannung befördert, muß auf
Kosten des Gasstoffwechsels des Lungengewebes geschehen.
Als ungünstiger Faktor bei der supponierten Strombeschleunigung
stellt sich die Rauhigkeit der Gefäßintima der Pulmonalis und deren
Elastizitätsverringerung dar, was eine um so mehr erhöhte Inanspruch-
nahme des rechten Ventrikels involviert.
Als weiterer Umstand wäre in Betracht zu ziehen, daß die be-
fallenen Individuen recht oft in jugendlichem und mittlerem Alter und
beiläufig zur Hälfte weiblichen Geschlechtes waren ^).
Dies glaubte ich deswegen hervorheben zu sollen, weil ja bekanntlich
der Dicke der Haut und der Blutschichte ein wesentlicher Anteil
an der bläulichen Färbung zugeschrieben wird.
Diese Annahme findet sich zuerst in ausführlicher Welse begründet
von Peacock, Gases of malformation of the heart. London, R. Barrett,
1864.
Derselbe, On malformations of the human heart etc. Churchill,
1858, IL Ed. 1866.
In diesen Arbeiten wird das Thema in extenso besprochen. Das
Ergebnis fand auch Aufnahme bei Füller (Krankheiten des Herzens
1) Unseren Untersuchungen zufolge gestaltete sich das Verhiltnis
M : W = 27 : 25.
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450 Adolf Posselt, [90
und der groOen GefaOe, übersetzt von Schultzen. Berlin 1864.
XL Kap., S. 185).
Eingehende Würdigung erfuhr der Gegenstand durch Vierordt
(Ober Zyanose. Verh. des Kongr. f. inn. Mediz. XVIII, 1900, S. 307).
Nach ihm wird die blaue Farbe der Haut u. a. bestimmt durch die
Dicke der Blutschichte und der überlagernden Hautschichte, welch
beide Faktoren wieder in verschiedenem Maße zur Gesamtwirkung
beitragen können.
S. auch Vierordt, Angeb. Herzkrankh., S. 29.
Wiederholt findet sich in der Literatur und bei unseren Fällen
Ausdehnung der kleinsten Hautgefäßchen und Oberfällung derselben
verzeichnet.
Wir müssen uns hier mit dem bloßen Hinweis auf verschiedene
andere Momente, die einen Einfluß für das Auftreten und den Grad
der Zyanose erlangen können, begnügen:
Vermehrung der roten Blutkörperchen^) in der Volumseinheit,
stärkere Konzentrierung und Eindickung des Blutes.
Literatur u. a. bei Grawitz (Klin. Pathologie des Blutes, S. 609).
In zwei Fällen unserer Eigenbeobachtungen von zyanotischen Mitral-
stenotikern mit Pulmonalsklerose bestanden ebenfalls derartige Ver-
hältnisse (s. Krankengeschichten).
Es bestehen zweifellos vielerlei Analogien mit der Blausucht bei
angeborenen Herzfehlern. Vgl. Neuss er (1. c, Kap. Dyspnoe).
Hub er (Charit6-Annalen 1905, XXIX, S. 18) führt die Ursache der Blausucht
bei angeborenen Herzfehlern auf eine Reihe von Ursachen zurück: Vermtschnns
des arteriellen und venösen Blutes und Vermehrung des Hftmoglobingehaltes und
der roten Blutkörperchen bei ungefähr normalem, absolutem Sauerstoffgehalt Dazu
kommt noch die Stauung des dickflüssigen Blutes, die die kleinen Gefäße erweitert
und so die dunkle Farbe mehr hervortreten läßt.
Nach Buhl (Beitrag zur pathologischen Anatomie der Herzkrankheiten. Zeitschr.
f. Biologie 1880, Bd. XVI, S. 215) gebühre bei kongenitalen Herzfehlern, wenigstens
für das Ostium pulmonale und das übrige rechte Herz, der mehr oder minder spät
auftretenden, aber immer mehr zunehmenden, nicht entzündlichen Endarteriitis
obliterans oder auch frischen endokarditischen Prozesses ein wesentlicher Anteil
bei der Spätzyanose.
Bei den Mitralfehlern, daher auch bei der Stenose, ist die Zyanose
im Grunde genommen eine Respirationszyanose.
Die eigenartige, periodische Steigerung^ und die direkten Anfalle
1) Vereinzelt steht die Annahme Kitamuras da (s. o.). Derselbe plädiert für
eine echte Plethora, eine absolute Vermehrung der Blutmenge, bei reichlichem
Biergenuß als Ursache für die Pulmonalsklerose mit Herzhypertrophie, wobei sich
die Erschwerung der Zirkulation besonders im Lungenkreislauf geltend gemacht
habe.
2) Natürlich sind hiebei Schwächezustände' des rechten Ventrikels nicht ge-
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91] Die klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 45 t
machen es durch die Art und Weise des Eintretens und der BegleiN
erscheinungen bei vorliegender AffekLtion sehr wahrscheinlich, daß
dabei reflektorische vasomotorische Einflüsse vorhanden sein müssen.
Hierfür sprechen das Bestehen von SchweiOausbrüchen, Frösteln,
Parästhesien, lokale Ausdehnung feinster Hautgefäßchen. Zweimal
kam es sogar zur Bildung von pemphigusartigen Zuständen.
Es hat förmlich den Anschein, daß diese periodischen Steigerungen
der Zyanbse bis zu einem gewissen Grad als regulatorische Hilfs-
aktion zur zweckmäßigen Blutverteilung zum Teile eine kompensierende
Bedeutung für die Entlastung des Lungenkreislaufs zuzuerkennen sei ^).
Das krisenhafte Auftreten auf gewisse äußere Veranlassungen, psy-
chische Reize hin und das Gebundensein an die Schmerzattacken legt
den Gedanken an einen reflektorischen Charakter sehr nahe.
Um Wiederholungen zu vermeiden, muß darauf verwiesen werden,
daß manches von dem bisherigen Besprochenen und das Nächstfolgende
auch für die Dyspragia (s. u.) Geltung hat.
Wenn auch außerordentlich spärlich, liegen doch immerhin Angaben
vor, welche die Möglichkeit des Auftretens von Zyanose durch
Vasomotoreneinfluß unter gewissen Umständen dartun.
Tordöus (De la cyanose. Journ. de m6dec. chir. et pharm. Bruxeües 1889,
LXXXVIII, p. 38. Derselbe, Un cas de cyanose n6vropatbique. Ibid. 1890, XC,
p. 545) bringt eine Reihe von vorübergehenden, neuropathischen Zyanosefällen, u. a.
bei einem 7 monatlichen Kind wihrend des Zahnausbruches.
Marseilte gedenkt einer Beobachtung Biards, nach der eine Frau während
menstrueller Störungen Zyanose bekam.
Bibliographie bei Gran eher (Cyanose. Dict. encycl. des scienc. m6d. 1883.
I. S. XXIV. p. 501).
Auch an das Auftreten lokaler Zyanose (u. a. Passow) sei erinnert.
Rosenbach (Ein FaU vop halbseitiger, im Anschluß an starke Körperbewegungen
auftretender Zyanose des Gesichts. Ztrbl. f. Nervenheilk. 1886, S. 231) sah bei
einem Qjihrigen Knaben nach Körperbewegungen die ganze rechte Gesichtshllfte,
inkl. Ohren exquisit blau gefärbt erscheinen (Temperaturerhöhung). Die linke war
auffallend blaß und kühl, bei körperlicher Ruhe bekamen beide Hälften wieder
meint, solche wurden sich wohl im klinischen Gehaben kenntlich machen. Eben-
sowenig bezieht sich das obige auf enorme Steigerungen bis zu allerintensivsten
Gradea durch dazutretende Pulmonalthrombosen.
1) Das Gebiet der Regulierungsvorgänge durch Vasomotorenwirkung infolge
von Reflexvorgängen ist noch dunkel. Nach Fran^ois-Franck (Arch. de Physiol.
1896, p. 193) können außer pressorischen Reflexen auf den großen Kreislauf auch
solche auf den kleinen ausgelöst werden. Die dadurch bedingte Abnahme des
Blutzuflusses zum linken Herzen soll regulatorisch den gesteigerten Blutdruck im
großen Kreislauf herabsetzen. Nach Krehl ist es sehr wohl möglich, daß die
außerordentliche Ausbildung der Hautgefäße am Menschen denselben einen ganz
anderen Einfluß auf den allgemeinen Blutdruck zuwendet, als das am Tiere der
Fall ist.
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452 Adolf Posselt, [92
gleiches Aussehen. Bei fortgesetzter Bewegung ging die blaue Färbung In eine
blaurote über (die Seite wird glühend heiß und endlich bricht Schweiß aus)^ Keine
Sympathikus- oder Herzanomalien nachweisbar. Nach Rosen b ach ist die ver-
änderte Blutzirkulation das Primäre, die Schweißsekretion das -Sekundäre. Er
vermutet eher das Ausbleiben des Schweißes auf der anderen Seite als das Patho-
logische. Die Ursache erblickt er in einer lokalen Relaxation der Gefäßwände auf
einer individuellen Disposition, nicht auf Lähmung oder Reizung von Vasomotoren
beruhend.
Ein allgemeingültiges Verhalten bezüglich der Dyspnoe festzu*
stellen geht nicht an, da sich je dieselbe nach den ursprünglichen
Affektionen, dem jeweiligen Zustand des Herzens» den m^lichen
sonstigen Komplikationen richtet.
Am auffälligsten war der wiederholt erhobene Befund ganz beträcht-
licher Differenz zwischen den geringen Graden derselben,
auch anderer Stauungserscheinungen und der ungemein inten-
siven Zyanose.
Weiterhin, daß die Schweratmigkeit gar nicht selten lange Zeit
fehlte, sich nur bei Körperanstrengungen einstellte und, wie aus man-
chen krankengeschichtlichen Notizen ersichtlich, mitunter Vorliebe für
krisenhaftes, anfallsweises Auftreten zeigte»
In Übereinstimmung mit dem gewöhnlichen Befund bei den ursprung-
lichen Störungen zeigte sich bei unseren Fällen überhaupt nur eine
leichte Neigung zu Verlängerung der Inspiration ^).
Die Paroxysmen, wie sie während der Dyspragia intermittens pul-
monalis statthatten, stellten sozusagen nur eine exzessive Steigerung
der Inspirationsphasen, die enorm vertieft und verlängert wurden, dar.
An dyspnoischen Mitralstenotikern zeigte Kraus^ daß sich kein vorwiegend in-
oder exspiratorischer Charakter oder Zeichen erschwerten EinstrOmens der Luft
in die Lungen bemerklich machten. Es handelte sich nur um eine einfache Be-
schleunigung und Vertiefung der Respiration (Hyperpnöe).
' Bei kardialem Asthma macht sich eine Neigung zur Verflachung der Kurven
bemerkbar; bei dieser verflachten Atmung ist der inspiratorische Schenkel durch
seinen Abfall^ den geringen Winkel, den er mit der Abszisse bildet, und seine
geringe Höhendimension charakterisiert. Die Respirationspause ist kaum angedeutet.
Die Frequenz wechselt sehr.
Die geschilderten Anfälle bei Atherosclerosis pulmonalis unter-
scheiden sich demnach ebenso vom gewöhnlichen Asthma cardiale als
dem bei Koronarsklerose auftretenden (s. Hofbauer, Semiologie und
Differentialdiagnostik der verschiedenen Arten von Kurzatmigkeit auf
Grund der Atemkurve. G. Fischer, Jena 1904).
So wie bei allen übrigen Erscheinungen und Symptomenkomplexes
1) Eine solche findet sich unter den Herzkrankheiten spezieU beim Asthma
cardiale, der Perikarditis und bestimmten Klappenfehlern unter gewissen Umsrindea.
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93] I^ie klinische Diagnose der Pnlmonalarteriensklerose. 453
kommt es ganz besonders auch bei der Form der Dyspnoe darauf an,
wie lange und oft man einen derartigen Kranken beobachten
konnte und vor allem, in weichem Stadium man ihn kennen
lernte. In den Endstadien verwischen sich die markanten Erschei-
nungen und es steht im Mittelpunkt aller die schwerste Herzinsuffi-
zienz mit allen ihren Konsequenzen.
An dieser Stelle möchte ich auch in Kürze darauf hinweisen, daß
die difFerenten Ansichten über das Verhältnis des Prozesses zum
Lungenemphysem ^) sich vielleicht in der Weise zurechtlegen ließen,
daß es zwar als unterstützendes Moment in manchen Fällen, ähnlich
wie Pleura- und Perikardaffektionen (vorzüglich ausgedehnte Adhä-
sionen), wirken kann, daß aber allen diesen Alterationen sicherlich kein
entscheidender Einfluß zusteht, wenn man bedenkt, wie enorm häufig
Lungenemphysem gerade auch mit den genannten Störungen vergesell-
schaftet ist, ohne daß man auch nur leise Ansätze zu solchen Gefäß-
veränderungen nachweisen könnte.
Früher stellte man sich die Beeinträchtigung der Atmung infolge
Druckerhöhung in den Lungengefäßen so vor, daß die stark gefüllten,
unter hohem Druck stehenden Lungenkapillaren sich in das Lumen
der Alveolarräume vorbuchten.
Die von Basch experimentell konstatierte »Lungenstarrheif"
bei Stromhindernissen in den Lungengefäßen stimmt mit manchen
klinischen und pathologisch-anatomischen Erfahrungen nicht überein.
An den einfachen Stauungslungen des Menschen zeigt sich weder
Schwellung noch Starrheit 3).
In jüngster Zeit hat H. E. Hering nachgewiesen, daß beim ruhig
liegenden, spontan atmenden Tier (Kaninchen) nach relativer Insuffi-
zienz des linken Herzens (Kompression des freigelegten Arcus aortae
ohne Thoraxeröffnung) erhebliche Lungenhyperämie ohne ob-
jektiv wahrnehmbare Dyspnoe vorhanden sein kann.
1) Saun6 macht auf das häufige Zusammentreffen mit Lungenemphysem auf-
merksam (7mal unter 12 FSllen), dem Laache beistimmen möchte, während Rune-
berg (II. Nordischer Kongreß fiir Innere Medizin. Christiania, Aug. 1898) im Ge-
genteil bemerkt, daß bei Lungensklerose und Emphysem trotz des hohen Druckes
Sklerose der Lungenarterien selten ist.
2) Gegen die Versuche Baschs und seiner SchQler macht Gerhardt (Arch.
f. exp. Path. 1001, Bd. 25) den Einwand, daß sie zumeist mit außerordentlich großen
Druckschwankungen arbeiten, wie sie in der menschlichen Pathologie kaum vor-
kommen. Daß die Blutstauung zu einer Erweiterung der Alveolen und Vergrößerung
des Lungenluftraums führe, gibt er zu, dieselbe sei jedoch so gering, daß sie eine
für die LungenlQftung kaum in Betracht kommende Größe darstelle. Die dadurch
erzeugte Starrheit ist dabei zu unbedeutend, um eine merkliche Erschwerung des
Luftzutrittes zu verursachen.
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454 Adolf Posselt, [94
Die GefSßstauung in der Lunge scheint mithin auf die Atmung
nicht so sehr eine unmittelbare als eine mittelbare Einwirkung zu haben.
Infolge der schlechteren Ernährung der spezifischen Gewebselemente
(an der Bronchialschleimhaut und den Alveolareplthelien) sinkt die
Widerstandsfähigkeit gegenüber mannigfachen Reizen und Schädlich-
keiten, speziell gegen Infektionserreger (sekundäre Bronchitis usw.).
Unter Zugrundelegung des TIgerstedtschen Schemas ist bei der natürlichen
Atmung bei der Inspiration die Ansaugung des Blutes nach dem rechten Herzeo
zunehmend, die Diastole erleichtert, die Weite der Lungengefäße zunehmend, die
Strömung des Blutes in den Lungengefäßen erleichtert (Blutzufuhr nach dem linken
Herzen, erst Abnahme, dann Zunahme). Die Gefäße des großen Kreislaufs wer-
den weiter.
Die aktive Inspirationsstellung durch Anstemmen der Arme und langsames
tiefes Einatmen, wie es im Anfalle bestand, hat demnach einen kompensatorischen
Charakter gegen den supponierten Spasmus der Lungengefäße i). Infolge dieser
Stellung sollte dem entgegengewirkt werden, was in erster Linie dadurch erzielt
wird, daß sich durch die Inspiration die Lungengefäße erweitern und sich stärker
mit Blut füllen, die Strömungsgeschwindigkeit in ihnen zunimmt.
Der Blutdruck in der Arteria pulmonalis ist abhängig von der durch die rechte
Herzkammer ausgeworfenen Blutmenge und von dem Widerstand in der Ge<
fäßbahn.
Die zur Verfügung stehende Blutmenge wird bedingt durch die aus dem Veoen-
system dem Herzen zuströmende, die ihrerseits auf den Vorgängen im Aortensysteoi
beruht, zum Teil aber auch auf den bei den verschiedenen Respirationsphasen wech-
selnden Zuflußmengen zu der Brusthöhle.
Wie verhält es sich nun aber mit dem Druck in der Pulmonalarterfe während
der Inspiration?
In der Norm findet während dieser Phase eine Ansaugung in den intratho-
rakalen Venen statt.
Man würde nun erwarten, daß durch die vermehrte Blutzufuhr während der
Inspiration der Druck in der Lungenarterie steigen müsse. Tatsächlich sinkt aber
unter normalen Verhältnissen, wie zuerst Talma am Hunde, Tigerstedt am
Kaninchen nachwies, der Druck während dieser Phase im rechten Ventrikel, um
während der Exspiration zu steigen. »Die Erklärung liegt darin, daß der erniedrigte
intrathorakale Druck auch auf den Inhalt des relativ schwachwandigen rechten
Ventrikels wirkt und so ein Herabgehen des in ihm herrschenden Druckes bewirkt
Aber auch dieses für die Norm geltende minimale Sinken des Blutdruckes
kommt für unsere pathologischen Befunde nicht in Betracht. Da ja doch der
rechte Ventrikel ungemein hypertrophisch, in seiner Wand (ähnlich dem linken)
mächtig verdickt ist, wodurch obiges Moment wegfällt.
Es kommt demnach, allem obigen zufolge, die Inspiration dem Lungenkreislauf
zugute; Rubow (Untersuchungen über die Atmung bei Herzkrankheiten. Ein Bei-
trag zum Studium der Pathologie des kleinen Kreislaufes. Deutsches Arch. f. klin.
Mediz. 1908, Bd. 02, S. 255) drückt ebenfalls die Vermutung aus, daß eine tiefe
Respiration mit verlängertem Inspirationstadium die für die Lungen-
zirkulation günstigste Respirationsart sein dürfte.
1) s. Dyspragia Intermittens pulmonalis (Angina hypercyanotica).
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95] Die klinische Diagnose der Palmonalarterlensklerose. 455
Wiederholt wurde festgestellt, daß bei vielen Leuten wihrend der Inspiration
eine Beschleunigung der Pulsfrequenz eintritt.
Sicherlich ist die Lungenblähung und das Emphysem in manchen
Fällen eine direkte Folge der Pulmonalatherose^ wobei ich bei längerer
Beobachtungszeit an den klinischen Kranken den Eindruck gewann,
daß nach der Art und Weise des Atmens, dem Aufstemmen, die sich
ausbildende Lungenblähung als .sekundärer Zustand, ja mitunter als
eine Art Kompensationseinrichtung gelten kann.
In dieser Hinsicht hat die Theorie Bohrs^), dem sich Rubow
(Ober die Atmung bei Herzkrankheiten. Klinische Untersuchungen
aus dem Kgl. Frederiks Hospital, Nordisk Forlag, Kopenhagen 1907)
anschließt, sehr viel Bestechendes, nach der die Dyspnoe lediglich
auf der Anstrengung beruht, die Lungen stark ausgedehnt zu erhalten,
wodurch die Lungenkapillaren gestreckt und deshalb leichter passabel
werden, mithin auch durch Verringerung des Widerstandes im Lun-
genkreislauf die Arbeit für das Herz erleichtert werde.
In der Tat dürfte dies bei kaum einer anderen Störung mehr zu-
treffen und seine Berechtigung haben wie bei der Atherosclerosis
pulmonalis, wenigstens unseren Erfahrungen zufolge.
In den vorgeschritteneren Stadien muß zur Erzielung dieser kom-
pensatorischen Blähung um so größere Anstrengung und Kraft auf-
gebracht werden, als doch der Wegfall oder zum mindestens der
hochgradige Verlust der Gefäßelastizität und die eintretende Starre
der kleineren und kleinsten Gefäße in die Wagschale fällt.
Es ist wohl zweifellos, daß die Affektion jahrelang latent bleiben
kann, was auch schon Saune (1877) hervorhebt. Nach ihm läßt die
Wiederkehr von Dyspnöeanfällen, welche sich namentlich erst in einer
vorgerückten Periode der Krankheit zeigen, kein besonderes Zeichen
bei der Auskultation erkennen.
Dies erkläre sich aus der Möglichkeit des Einströmens der Luft
und daß die teilweise Asphyxie nur dem Mangel an Blut zuzuschrei-
ben ist.
Romberg (1. c. S. 206) führt die Dyspnoe auf den Sauerstoff-
mangel des Blutes zurück. »Dieselbe war im Vergleich zu der
enormen Zyanose recht unbedeutend.^^)
1) Bohr (Die funktionellen Änderungen in der Mittellage und Vitalkapazität
der Lungen. Ztschr. f. klin. Med. Jan. 1907, Bd. 88) betrachtet das akute Lungen-
emphysem nicht als eine Schädigung der Lunge, sondern als einen kompensato-
rischen, zweckmäßigen Vorgang, das chronische nicht als primären Verlust der
Lungenelastizität, sondern als zweckmäßige Anpassung an die Verödung der
Longenoberfläche.
2) Ihre Geringfügigkeit möchte er vielleicht — von der absoluten Ruhe des
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456 Adolf PoBselt, [90
Das Ausbleiben des Dyspnoe selbst bei gesteigerter Muskelarbeit
bei hochgradiger Zyanose, wie es bei »angeborenen Herzfehlern' (was
hier Für die prinzipielle Frage nicht releviert) möglich ist, sucht
Neusse r (Dyspnoe und Zyanose. 1907. S. 89) dadurch zu erklären,
daß für die SauerstofFversorgung der Gewebe, bzw. den SauerstoiF-
verbrauch andere regulatorische Kräfte aufkommen: Änderung der
Strömungsgeschwindigkeit des Blutes durch kompensatorische Herz-
hypertrophie, Vermehrung des respirationsfahigen Hämoglobins, Poly-
zythämie, vermehrte Konzentration des Blutes durch Austritt von
Plasma. Außerdem dürfte nach ihm aber auch durch Angewöhnung
das Sauerstoifbedürfnis des Organismus herabgesetzt werden und das
Atmungszentrum seine Erregbarkeit gegen die erhöhte VenositSt des
Blutes einbüßen.
Für die verhältnismäßige Geringfügigkeit der Atembeschwerden
spricht wohl auch der häufig in den Krankengeschichten der Litera-
tur und unserer Eigenbeobachtungen wiederkehrende Befund, daß die
Kranken noch jahrelang arbeitsfähig waren, allerdings zumeist nur
für leichtere Verrichtungen; außerdem verdient daran erinnert zu
werden, daß bei verschiedenen Patienten, z. B. zwei unserer Kasuistik,
durch die längste Zeit periodische Störungen medikamentös wieder
leicht zu beheben waren.
Die von Neuss er herangezogenen Momente finden nach jeder
Hinsicht ihre Bestätigung^ speziell in unserer Kasuistik. In ganz be-
sonderem Maße imponierte ja die ungewöhnlich starke Hypertrophie
des rechten Ventrikels als Ausdruck der Organkorrelation; in den
darauf untersuchten Fällen ergaben sich ziemlich hohe Hämoglobin-
werte, einige Male war eine ausgesprochene Polyzythämie nach-
weisbar.
Als wichtige Erklärungsgründe erscheinen mir die langsame An-
wöhnung an das verminderte SauerstofFbedürfnis, wofür wir ja so
zahlreiche Analogien besitzen, ferner die Untererregbarkeit des At-
mungszentrums.
Sicherlich darf auch nach unseren Erfahrungen dem langen
Ausbleiben stärkerer sekundärer Bronchitis eine nicht zu unter-
schätzende Rolle zugeschrieben werden.
Dieser günstige Faktor muß vor allem der guten Kompensation
durch die mächtige hypertrophische rechte Herzkammer zugeschrieben
werden. Es hat aber nebstbei förmlich den Anschein, als wenn unter
Kranken abgesehen — auf die außerordentlich langsame Zunahme des Saae^sto^^
mangels bis zu dem Grade, in welchem er den Kranken kennen lernte, zuriirt-
führen.
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97] I^ic klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose: 457
besonderen Umständen die Pulmonalsklerose bis zu einem gewissen
Grade als kompensierende Komponente dyspnoischer Störungen hier-
bei auftreten könne.
Alles in allen genommen scheinen doch die Umstände, welche zu
dieser auffälligen Differenz zwischen schwerer Zyanose und
verhältnfsmäßig geringen Atemstörungen führen, einer Er-
klärung zugänglich zu sein.
Diezugleich mit Steigerung der Zyanose anfallsweise auftretenden,
mit Unruhe, Angst und Beklemmung einhergehenden Herz-Lungen-
schmerzen (von der Herzbasis in die Tiefe der Lunge strahlend)
erinnern uns in ihrem ganzen Charakter und der Art und Weise des
Auftretens unwillkürlich an mehrere andere fast analoge, ebenfalls auf
arteriosklerotischer Basis beruhenden Krankheitserscheinungen und
fordern zu einem Vergleich auf mit dem sog. »intermittierenden
Hinken"*, der Claudication intermittente Charcots, der Dys-
basia angiosclerotica Erbs bei Arteriosklerose der Extremitäten-
arterien ^), oder der mit Anfällen von Schmerzen in der Nabelgegend,
starkem Spannungsgefühl, Meteorismus und Obstipation einhergehen-
den »Dyspragia intermittens angiosclerotica intestinalis''
Ortners 2) bei Intestinalarteriensklerose, welche beide Symptomen-
komplexe wiederum in Analogie mit der Angina pectoris gebracht
werden.
Nach allem, was ich sah, dürften sich diese krisenartigen Zu-
stände bei Arteriosclerosis pulmonalis ebenfalls in das Ge-
biet dieser intermittierenden Dyspragien einreihen lassen,
wobei man sich stets vor Augen halten muß, daß die Analyse und
Deutung der hier auftretenden Erscheinungen wegen der noch viel-
fach ungeklärten und strittigen physiologischen und pathologischen
Vorgänge ungleich schwieriger als in allen übrigen Regionen sich
gestaltet.
1) Auch für die oberen Extremitäten wurde ein ähnlicher Symptomenkomplex
festgestellt. Steuder, Ein Fall von Dyskinesia intermittens angiosclerotica brachii.
St. Petersburger med. Wochenschr. 1907, Nr. 4. Oehler, Ober einen bemerkens-
werten Fall von Dyskinesia intermittens brachiorum. Deutsches Arch. f. klin. Med.
1908, Bd. 92, S. 154.
2) Ortner, Zur Klinik der Angiosklerose der Darmarterien (Dyspragia inter-
mittens angiosclerotica intestinalis) nebst einem Beitrage zur Klinik des intermit-
tierenden Hinkens und des Stokes-Adamschen Symptomenkomplexes. Volk-
manns Samml. klin. Vortr. (Inn. Med.) 1903, Nr. 102.
Klla. Vorträge, N. F. Nr. 504/07. (Innere Medizin Nr. 149/52.) Okt. 1908. 32
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458 Adolf Posselt, [98
Vielleicht ließen sich diese fast krisenartigen Anfälle bezeichnen
als „Dyspragia intermittens angiosclerotica pulmonalis"^.
Eben bei Vergleich der hier möglichen klinischen Symptomenkom-
plexe: Angina pectoris, Asthma cardiale und den Huchardschen
Aortenbeschwerden wurde ich veranlaßt, diesen krisenhaften Zufallen
eine gesonderte Stellung anzuweisen und ihre Deutung zu versuchen.
In unseren Fällen war auch klinisch zwischen den Zuständen von
(Herz-Lungengefäß-)Schmerz und Herz angst zu unterscheiden.
Wie sich letztere ganz besonders bei Aortenwurzelsklerose und den
nächsten Gefäßgebieten finden kann, so auch hier bei der Athero-
sclerosis pulmonalis, wobei auch d^ gewissermaßen der krampfhafte
Schmerz auf die allernächsten Gebiete übergreifen kann.
Ein Irradiieren des Schmerzes, wie bei der Stenokardie, war ent-
schieden weniger ausgeprägt, wenigstens nicht in so weite Gebiete.
An einem sehr reichen klinischen Beobachtungsmateriale hatte ich
Gelegenheit Stenokardieanfälle aller möglichen Stadien, Grade und
Abstufungen genau zu verfolgen, ebenso Asthma cardiale-Anfälle.
Diese beiden Erscheinungskomplexe sind so oft und eingehend
besprochen worden, daß hier kein Wort zu verlieren ist.
Mehrfach werden bei Aortensklerosen schmerzhafte Sensationen,
ein gewisses Unbehagen am oberen Sternum, ein Druck längs des
Sternums, ein Brennen daselbst angegeben, die Huchard einer Aor-
titis zuschreiben möchte 0*
Die in Rede stehenden Attacken zeigen entschieden ein von den
genannten Zuständen dilFerentes Verhalten und dokumentieren sich
in anfallsweise auftretendem, mit nervösen Störungen, Angst, Unruhe,
Schwäche, Oppression einhergehenden Druck- und Schmerzgefühl in
der Herzwurzelgegend am Manubrium sterni, vorzüglich gegen den
linken 2. und 3. Interkostalraum zu (ein stärkeres seitliches Ausstrahlen
fehlt, die Schmerzen werden immer in die Oberbrustgegend und in
die Tiefe der Lunge zu lokalisiert), verbunden mit hochgradiger Zya-
nose, zu der das verhältnismäßig frei Atmen (fehlende oder nur ganz
unbedeutende Dyspnoe) in auffälligem Kontrast steht. Das der Steno-
kardie eigene Vernichtungsgefühl fehlte.
1) Schon Thoma hat auf Schmerzen bei Arteriosklerose aufmerksam gemacht
Stengel (Nervous manifestations of arteriosclerosis. Amer. journ. of the med.
scienc. 1906. Febr.) bringt die Arteriosklerose mit verschiedenen peripheren, ner-
vösen Symptomen in Zusammenhang; so fuhrt er ebenfalls plötzlich auftretende
Schmerzen in der Brust fast ähnlich wie bei Stenokardie, zumeist aber mehr diffus
auf Atheromatose der Aorta thoracica zurück.
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99] Die klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 459
Diese kardiopulmonäre Angina tritt erst bei vollentwickelter Krank*
beit, auf dem Höhepunkt und späterhin in Erscheinung, was auah mit
den anatomischen Veränderungen in Einklang zu bringen wäre. Die
GefäOintima wird als empfindungslos angegeben, es ist deshalb auch
naheliegend, daß diese Beschwerden, Schmerzen und sonstigen Sym-
ptome erst den späteren Stadien eigen sind, wenn bereits vorgeschrit-
tenere und in die Tiefe greifende Veränderungen vorliegen*
Die Hauptregion des lokalen spontanen Schmerzes war das Gebiet
im linken Abschnitt des Manubrium sterni und in der 2. und 3.
Rippenknorpelgegend. Mehrfach bestand auch hier besonders bei
tiefer Perkussion in vorgebeugter Haltung Empfindlichkeit bis Druck-
schmerz. Sehr variabel in seiner Stärke und Ausdehnung war der
reflektierte Schmerz bei Kneifen der Haut, Nadelstichen u. dgl., mit-
unter zeigte er eine etwas weitere Area, eine stärkere Ausbreitung
wurde jedoch auch hier vermißt.
Ich möchte hier mit Krehl (1. c. p. 111) zu bedenken geben, ob
es sich überhaupt bei Herzangst und Herzschmerzen im allgemeinen
nicht vielleicht um ganz besondere Störungen handelt, die im Zentral-
nervensystem entstehen und vom Herzen ausgelöst werden. Dies
würde sogar den Vorstellungen der ältesten Beobachter am meisten
entsprechen.
Diese (sitveniaverbo)Lungenarterien-Schmerzanfälle könnten
.entweder auf Spasmen der kleinsten Lungengefäße oder (wodurch die
Analogie mit der Angina pectoris noch mehr gesteigert würde) auf
solche der Vasa vasorum, in diesem Falle der Bronchialarterien zu-
rückzuführen sein, wobei die Möglichkeit besteht, einerseits, daß die
Schmerzen durch den Krampf in diesen selbst entstehen oder daß
dieselben infolge akuter Ischämie der Pulmonarwandungen ein-
treten.
Wir müssen Romberg (Über Arteriosklerose. 21. Kongr. f. inn.Med.
1904) ganz beipflichten, wenn er auf die Paradoxheit hinweist, daß
die sklerotischen Arterien, welche den gewöhnlichen Reizen nicht
mehr in normaler Weise zu entsprechen vermögen, auf krankhafte
nervöse Einflüsse hin mit krampfartiger Verengerung oder lähmungs-
artiger Erweiterung reagieren.
Die sklerotische Gefäßveränderung allein ist nicht imstande, eine
befriedigende Erklärung für die Zustände der Angina pectoris, inter-
mittierenden Hinkens usw. zu geben. Als funktionelles Moment wird
die Abhängigkeit von vasomotorischen Nerveneinflüssen angenommen
(Erb, Kaufmann und Pauli, Goldflam, Ortner, Breuer).
Nach Muskelanstrengungen und ähnlichem wird die Gefäßwand
stärker gespannt, die Gefäßnerven reagieren mit einem reflektorischen
32»
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460 Adolf Posselt, [100
OefäOkrampf 1), wodurch ischämische Muskel- und außerdem Gefäß-
sohmerzen entstehen, auf welche besonders Weber und Nothnagel
das Hauptgewicht legen.
Unter allen Gefäßregionen, in denen sich auf sklerotischer Basis
beruhende Dyspragien ausbilden können, gestalten sich die Verhält-
nisse bei der Lungenschlagader, dem venöses Blut führenden funktio-
nellen Gefäß, das in seinen Wandungen selbstverständlich durch
arterielles Blut der Vasa vasorum ernährt wird, am eigenartigsten.
Gerade letzteres Moment läßt die Vermutung aufkommen, daß viel-
leicht unter gewissen Umständen Alterationen im Chemismus eine
Rolle bei dem in Rede stehenden Prozeß wenigstens indirekt spielen
können.
Die ältesten Fälle der hier einschlägigen Kasuistik sind einer kli-
nische Analyse kaum zugänglich, gleichwohl finden sich hier immer
wieder Schmerzen in der Herzgegend^ die verschieden geschildert
werden, angegeben.
Im Falle Stöller glichen selbe vollständig der Angina pectoris;
nachdem jedoch kein Befund bezüglich der Koronargefäße mitgeteilt
wird, ist keine Entscheidung zu treffen^).
Huguiers Kranke, bei der sich eine vollkommene Verknöcherung
der Pulmonalis fand, hatte an heftigen Schmerzen in der Herzgegend
zu leiden«
Nach der Beschreibung muß Adlers Fall als primärer gelten» Die
Schmerzen in der Brust wurden durch die finale Thrombose gesteigert.
Martineaus Kranke, bei der nur Oppression angegeben erscheint,
zeigte Stamm und beide Äste des Gefäßes frei, nur in den feinsten
Ästen Veränderungen. Oppression auf der Brust, lange vor Ödemen
hatte der kranke Knabe von Conway Evans.
Heftige Schmerzanfälle in der Brust bestanden bei den Kranken
Crookes (Mitralstenose, Aorta frei von jeglichem Atherom).
Rombergs Kranker hatte bei Beginn der Erscheinungen an Druck
in der Magengegend, gegen Ende der Krankheit an starken, den Atem
versetzenden Schmerzen in der linken Seite des Thorax, unter dem
Rippenbogen, zu leiden, für die kein anatomisches Substrat gegeben
erschien. Ein objektiver Grund für dieselben war nicht nachweisbar.
1) Oppenheim (Intermittierendes Hinken und neuropathischeDiatbese. Deutsche
Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. 17) ist der Hauptvertreter der Annahme einer auf
nervöser Grundlage entstehenden spastischen Kontraktion in den Arterien.
2) Bei Durchsicht der krankengeschichtlichen Aufzeichnungen S töllers hatte
ich entschieden den Eindruck, daß es sich um Stenokardieanffllle handelte. (Ty-
pische in die Arme ausstrahlende Schmerzen vom Sternum ausgehend, dabei Blässe,
Vernichtungsgefühl usw.)
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101] Die klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 46I
Die Respirationsfrequenz stieg auf das Doppelte. Der Gesichtsaus-
drucl^ wurde ängstlicli.
Ausdrückliclie Anfälle von Präkordialangst notiert Aust bei seinem
Kranken. »Dyspnoe und Zyanose mit starken Exazerbationen^ ist ein
weiterer Befund.
Laaches allerdings neuropathische Frau klagte häufig über sehr
starke Beklemmungen.
Das 21jährige kranke Mädchen Kidds litt von Kindheit an an
»Herzkrämpfen*.
Bei Boinet und Poesy findet sich angegeben: Schweratmigkeit mit
Exazerbationen, Beklemmungen, nervöse Anfälle mit Schwäche, Auf*
geregtheit und Krämpfen.
Bevor im Falle Schwartz die Lungenblutungen auftraten, stellten
sich plötzlich heftige Anfalle von Atemnot mit krampfartigen Schmerzen
in der Brust ein.
Weit entfernt behaupten zu wollen, daß sich diese Zustände mit
der von uns aufgestellten Dyspragia intermittens pulmonalis decken,
begnügen* wir > uns auf das paroxysmusartige dieser Beschwerden,
speziell von Schmerzen und Oppression in der Herzgegend in diesen
krankengeschichtlichen Notizen hinzuweisen.
Wir konnten uns wiederholt überzeugen, daß die von uns oben
geschilderten Schmerzanfälle vorzüglich durch körperliche An-
strengungen und psychische Affekte provoziert wurden. Als erstere
muß man natürlich hier schon geringfügige Hantierungen, rasche Be-
wegungen, Drehen, Bücken u. dgl. bezeichnen.
Übrigens sei auch an dieser Stelle erinnert, daß gar nicht wenige
Kranke trotz ihrer Beschwerden oft noch jahrelang wenigstens leich-
terer Arbeit nachgehen konnten.
Für die Beurteilung dieser Schmerzzustände releviert in erster
Linie der Umstand, daß wir in der allerüberwiegendsten Mehr*
zahl Mitralstenotiker vor uns haben. Nun ist es eine lange be-
kannte Tatsache, daß weitaus am häufigsten Aortenfehlerkranke (wegen
Übergreifen der AfFektion auf die Koronarien und die Aorta selbst)
tatsächlich an Schmerzen leiden, während Patienten mit Mitralfehlern
von solchen vielmehr verschont bleiben.
Nothnagel (Schmerzhafte Empfindungen bei Herzerkrankungen.
Zeitschr, f. klin. Med. 1891 , Bd. 19, S. 209) notierte unter 483 Herz-
Klappenfehlern bei 22 Fällen von Mitralstenose nur in 18% Herz-
schmerzen, bei 82% fehlten selbe.
Die Tatsache, daß gerade bei Aortaklappenfehlern die schmerzhaften Sensa-
tionen so sehr viel häufiger sind als bei andren Klappenfehlern drängt zur An-
aahme, daß veniger der Herzmuskel als vielmehr das Gefäß hiebei beteiligt ist.
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462 Adolf Posselt» [102
Weitere Mitteilungen brachte derselbe Autor über GeAfischnierz (Wiener Uin.
Wocbenschr. 1893, Nr. 46 und 47). In der Diskussion (S. 854) weist Schrötter
darauf hin, daß nicht allein Angiospasmus mit Schmerz vergesellschaftet sei, bei der
angioparalytischen Form der Migräne fände sich kein geringerer Schmerz. Die Ge-
fäßschmerzen fanden wiederholt ihre Interpretatoren z. B. Laache (Zur Lehre too
den Schmerzen, sog. vaskulären Ursprunges), Ortner (1. c.) u. a.
Hare (The diagnosis and relief of cardial paio. Philadelphia
polyclin. 1898^ no. 50) gibt eine ausführliche Darstellung der Schmerzen
bei Herzleiden.
Nach ihm ist ebenfalls der Schmerz nur äußerst selten bei
Mitralstenose, wobei er hervorhebt, daß diese Störung überhaupt
nur selten und nur schwer von anderen vielleicht gleichzeitigen Affek-
tionen zu scheiden ist und weil der Schmerz sich meist entwickelt im
vorgerückten Stadium , wenn die Herzaktion unregelmäßig wird und
sich verschiedene andere Erscheinungen bemerkbar machen. Er ver-
mutet, daß diese mitunter bei Stenose der Mitralis auftreten-
den, der Stenokardie ähnlichen Schmerzen von einer be-
sonders starken Dilatation des Vorhofes herrühren.
Wenn nun einerseits bei Aortenfehlern mit Sklerose und Äthero-
matose des Gefäßes so ungemein häufig, bei Mitralstenose so selten
Schmerzen, speziell Paroxysmen auftreten, so müssen wir unwillkür-
lich nach dem Grund forschen , der für das «Auftreten bei letzteren
verantwortlich zu machen ist Derselbe ist meiner Oberzeugung nach
in erster Linie in der Atherosclerosis pulmonalis gelegen, wofür
ich folgende Momente ins Treffen führe:
1. die Analogie mit den Aortenverhältnissen.
2. Falls Hare mit der Dilatation des Vorhofes recht hätte, müßten
ja alle halbwegs stärkeren Stenosefälle Schmerzen zeigen, die bei den
stärksten Vorhofsdilatationen am heftigsten auftreten würden.
Das ist aber, wie ich mich in einer größeren Reihe von Eigenfällen,
denen der Literatur, speziell auch den mit Rekurrenslähmung verge-
sellschafteten, überzeugen konnte, durchaus nicht der Fall.
3. Liegt in den Angaben Hares über Auftreten erst in den vor-
gerückteren Stadien, dem stenokardieähnlichen Charakter und wegen
der Beschuldigung des Vorhofes jedenfalls auch von ihm konstatierten
basalen Lokalisation eine Bestätigung unserer Ansicht.
4. Wäre ein sehr wichtiger Beweis das Vorkommen derartiger
basaler Schmerzen mit ihrem charakteristischen Gepräge in Fällen,
die, wie wir oben dargelegt, ihre Entstehung Pulmonalvenenverengun-
gen verdanken, bei denen naturgemäß die Vorhofsausdehnung vermißt
wird.
5. Dürfte, was sehr in die Wagschale fällt, der obige Prozentsatz
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103] I)Ie klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 463
schmerzhafter Mitralstenosen mit den mit Atherosklerose der Lungen-
gefäße behafteten im großen und ganzen übereinstimmen.
In Zukunft müßte demnach ganz besonders dem Zusammen-
treffen von Schmerzen, obigen auskultatorischen Erschei-
nungen und der Blausucht Rechnung getragen werden.
In Zusammenfassung des Symptomenkomplexes der Dyspragia
intermittens angiosclerotica pulmonalis (oder vom rein symp-
tomatologischen Standpunkt, der Hypercyanosis intermittens
angiosclerotica pulmonalis dolorosa adyspnoica) können wir
kurz rekapitulierend sagen: .
Es handelt sich um ein ^urch verschiedene Momente (rasche
Körperbewegungen, psychische Emotionen, Dyspesie mit Obstipation
und Meteorismus und ähnliches) ausgelöstes oder begünstigtes krisen-
haftes Auftreten von Schmerzen in der Gegend der Herzbasis (gegen
die Tiefe der Lunge zu ausstrahlend), mit Aufregung, Unruhe, be-
klemmendem Angstgefühl einhergehend, mit denen fast stets eine be-
trächliche Steigerung der Zyanose vergesellschaftet Ist, ohne daß es
zu besonderer Atemnot zu kommen braucht, wobei im Gegenteil zur
intensiven Blausucht längere Zeit die relativ leichte Atmung auffällig
kontrastiert.
Die Mannigfaltigkeit der für die ätiologischen Verhältnisse zu be-
schuldigenden Ursachen und die sonstige Variabilität der klinischen
Erscheinungen, beides Folgen der so zahlreich möglichen Kombina-
tionen sonstiger Störungen, erschweren naturgemäß eine allgemein-
gültige zutreffende Erklärung.
Wenn ich dennoch eine solche wage, so geschieht es mit dem
Bewußtsein, in dieser durch den Zusammenfluß so verschiedenartiger
Möglichkeiten schwierigen Materie, die von Haus aus leider noch
allzuviel des Ungeklärten enthält, Theorien aufzustellen, die durch
weitere klinische Beobachtungen und Experimente gestützt werden
müssen.
In diesen vorzüglich für' den Praktiker und die klinische Beobachtung be-
stimmten Umrissen des abzuhandelnden Gegenstandes muß ich mich darauf be-
schränken, hinzuweisen, daß die Forscher, so sehr ihre Ansichten in vielen Punkten
divergieren, in der außerordentlichen Schwierigkeit gerade dieser Experimente über-
einstimmen.
Und eben bei diesen sind, wie aus unseren klinischen Besprechungen unzwei-
deutig zu folgern, eine große Reihe einfacher und weiterhin immer komplizierterer
experimenteller Prüfungen notwendig, weil eben hier allzuviel zusammentrifft:
Funktion zweier Organe, deren Wechselbeziehungen, Ernährung, Nerven beeinflussung
und Störungen mannigfaltigster Art.
Die Möglichl^eit gleichzeitigen Bestehens verschiedener Prozesse
und die Mannigfaltlgl^eit solcher Kombinationen verwischt den Typus
der einzelnen Symptome und erschwert deren Analyse.
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464 Adolf Posselt, [IO4
So bestanden bei Fall I, 67 jähriger Mann, Alkoholist mit Leber*
Zirrhose, Arteriosklerose und Myodegeneratio cordis nach seinen und
seiner Angehörigen Aussagen angeblich niemals typische Stenokardie-
anfalle; allerdings war es schwer, von dem Kranken etwas heraus*
zubringen.
Während des Spitalaufenthaltes werden ein einziges Mal »rheu-
matische"* Schmerzen im linken Arm angegeben.
Es bestanden drückende Schmerzen am Brustbein, Oppressions-
gefühl. Die klinischen Symptome waren derart, daß eine rechte Ein-
reihung unmöglich war; bei der Nekropsie: Hochgradige Sklerose der
Brustaorta und Pulmonalis, ganz besonders starke Verkalkungen der
Koronarien und Einengungen ihrer Mündungen, Myodegeneratio
cordis.
An der Mitralklappe Verdickungen, außerdem Verkürzung der
Sehnenfäden.
Vom klinischen Standpunkte aus müssen wir ein ungewöhnlich
langes Latentbleiben nach beiden Richtungen hin annehmen mit spätem
Eintreten wenig ausgesprochener Symptome von Angina pectoris und
nicht charakteristischer für die PulmonalarterienalFektion.
Die zweifellos bestehende, auf alkoholischer Basis beruhende psy-
chische Minderwertigkeit erschwerte, wie erwähnt, die Analyse der
Befunde und die nähere Detaillierung der Verhältnisse.
Im Falle IV, 39jährige Frau, mit eigentlich Sjähriger Beobachtungs-
zeit, hatte die Frau immer wieder schwere Anfälle von Polyarthritis.
Es bestanden starke Zyanose mit Dyspnoe, schwere Stauungs-
katarrhe. Bei Zusammenhalt aller Befunde konnte der Verdacht auf
vorliegende Komplikation ausgesprochen werden.
Der 34 jährige Mann (Fall V), (mit wiederholtem Gelenksrheumatis-
mus, Endo- und Perikarditis, Typhus) zeigte bei seiner Mitralstenose
eine Reihe obiger charakteristischer Momente. Wegen der für diese
AlFektion wenigstens kurzen Beobachtungszeit wurde eine Diagnose
quoad Pulmonalarterie in suspenso gelassen; ebenso bei dem nächsten
Pat., 29jährigen Mann (Fall VI), mit Polyarthritis, in dessen Familie
Herzleiden zu Hause waren.
Es bestand Aortensklerose und Insuffizienz der Semilunaren mit
enorm starker, im Herzbefund selbst nicht motivierter Zyanose, Hy-
pertrophie des rechten Ventrikels und Fortpflanzung des diastolischen
Geräusches nach links. Ganz das gleiche gilt vom nächsten, mit ihm
völlig kongruenten Fall VII, bei welchem nur eine einmonatliche
Beobachtungszeit bis zum letalen Ausgang zu verzeichnen war.
Durch das gleichzeitige Bestehen einer Reihe der verschiedensten
Komplikationen bei Fall VIII, eine 43 jährige Frau betreifend (Anamnese:
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105] Die klinische Diagnose der Pultnonalarterlensklerose. 405
Blattern, Pneumonie) und zwar Mitralstenose, Myodegeneratio cordis,
Anämie, Zyanose, Nephritis, Urämie, Bronchopneumonie (Synechien
beider Lungen) wurde der Typus vollkommen verwischt, abgesehen
von dem weit vorgeschrittenen Zustand und dem nur 12tägigen Spital-
aufenthalt.
Im IX. Falle konnte ich auf Grund der früheren Erfahrungen und
der schon früher wiederholten Untersuchungen und langen Beobach-
tungsmöglichkeit mit höchster Wahrscheinlichkeit, bei Fall X mit
Sicherheit die Diagnose auf Atherosclerosis pulmonalis bei Mitral-
stenose stellen.
Bei der Kleinheit, schlechten Füllung des linken Ventrikels und
der für die Behinderung der Blutströmung in diesem maßgebenden
Verhältnisse ist es begreiflich, daß wir bei manchen Beobachtungen
die Kombination von „Anämie mit Zyanose'' antreffen. Auf Anfalle
von Schwäche des linken Ventrikels sind dann die hierbei notierten
Zufälle von Kopfschmerzen, Schwindel, Schwarzsehen, Übelkeiten u. dgl.
zurückzuführen (u. a. Fall VIII und X).
Bei Berücksichtigung aller Möglichkeiten wird es uns nicht wunder-
nehmen, daß öfters schon frühe schwere Zeichen von Herzschwäche,
Stauungszuständen, Stauungskatarrhen usw. auftreten können.
Gerade wie Angina pectoris mit Dyskinesia intermittens vergesell-
schaftet sein kann, wie u.a. aus der Mitteilung Cursch mann s (Ober
vasomotorische Krampfzustände bei echter Angina pectoris. Deutsche
mediz. Wochenschr. 1908, Nr. 38) hervorgeht, so liegt die Kombination
von Stenokardie mit Dyspragia intermittens pulmonalis nahe, im
weiteren die mit wirklichem Asthma cardiale.
Bei der Angina pectoris überwiegen, wie bekannt,, die Männer
(nach Gauthier z. B. 78,8%), als Mittelzahlen finden sich durch-
schnittlich 80% angegeben. Bei der Atherosclerosis pulmonalis
partizipieren beide Geschlechter fast in gleicher Zahl (M : W
= 27 : 25).
Gewissermaßen prämonitorische Zeichen gehen jedoch schon
geraume Zeit voraus. So zeigten z. B. zwei von unseren Kranken
durch viele Monate hindurch rasch eintretende Steigerung der Zyanose
mit allgemeinem Unbehagen, Frösteln und kaltem Schweiß.
Vielleicht ließen sich diese initialen Zyanosekrisen mit der primären
Sklerose der Vasa vasorum in Zusammenhang bringen und zwar da-
durch ausgelösten Zirkulationsstörungen.
In Zukunft müßte der zeitlichen Entwicklung und Ausbildung der
klinischen Erscheinungen noch näher Rechnung getragen werden.
Zu wiederholten Malen war der Einfluß psychischer Affekte und.
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466 Adolf Posselt» [100
äußerer Reize für das Auslösen oder Stärkerwerden auch solcher Zu-
stände unverkennbar.
Es darf uns daher nicht wundernehmen, daß mitunter eine Arhyth-
mie des Pulses während derselben eine Zunahme erfuhr.
Durch längere Zeit stellten sich die vollentwickelten Anßlle, in
Analogie mit der Angina pectoris, erst bei rascheren Bewegungen,
Bücken, Umdrehen, raschem Gehen, Aufheben von schweren Gegen-
ständen, Einwirkung von Kältereizen (z. B. beim Verlassen des warmen
Zimmers im Winter) ein.
Späterhin überfielen sie die Kranken beim bloßen Aufrichten im
Bette, sogar bei ruhiger Lage^), und es mischten sich immer mehr
schwere dyspnoische Zustände, manchmal direktes Asthma cardlale bei.
Je geringfügiger die auslösende Ursache, desto ungünstiger gestaltet
sich im allgemeinen die Prognose.
Die klinischen Erscheinungen, die hierbei beobachtet werden können, stehen
im Einklang mit dem von Heidenhain hervorgehobenen Verhalten der Blutver-
teilung auf sensible Reize; es erweitem sich nach ihm in der Regel die Hautgefiße
auf reflektorische Reizung, wfihrend sich die inneren Gefäße verengem, wodurch
ein gewisser Antagonismus zwischen oberflächlichen und tieferen Gefäßen statthat
Im allgemeinen scheinen bei drucksteigernden Reflexen die Genße der inneren
Organe meist verengt zu werden, während zu gleicher Zeit die der Haut und Ske*
lettmuskeln mehr oder weniger erweitert werden. Bei dracksenkenden Reflexen
ist das Umgekehrte der Fall. Der Antagonismus zwischen Haut und inneren Or-
ganen ist jedoch kein absoluter.
Das bei der Zyanose Erwähnte findet seine natürliche Ergänzung in den Be-
funden, die den innigen Zusammenhang vasomotorischer Reizerscheioungen in den
kleinen Hautgefäßen bei ähnlichen Symptomenkomplexen im Anfalle dartun:
Hagelstam, Ober intermitt. Hinken als Symptom von Arteriosklerose. Deutsche
Ztschr. f. Nervenheilk. 1901, XX, S. 65. Higier, ibid. 1901, Bd. 19.
Brissaud, Claudication intermittente douloureuse. Rev« neuroK 1899, no. 13^
Goldflam, Neurol. Zentralbl. 1901, S. 197.
Die weite Entfernung stünde mit der physiologischen Erfahrung in keinem
Widerspruch. Es können Körperteile, welche vom Verbreitungsgebiet der zurzeit
gereizten zentripetalen Nerven weit entfernt liegen, bei sensibler Reizung eine
refiektorische Verengerung oder Erweiterung ihrer Gefliße zeigen.
U. a. erwähnen Dastre und Mo rat (Rech. exp. sur le syst, vaso-mot.) als
Folge einer Ischiadikusreizung Gefäßerweiterung in den Teilen des Kopfes, welche
vom Halssympathikus gefäßerweiternde Nerven erhalten.
Für die in Rede stehenden Verhältnisse ist es nun von ganz besonderem In-
teresse, daß die gleichen Forscher eben diese Nerven auch durch Reizung des
N. laryngeus superior und des Lungenvagus in Tätigkeit versetzen konnten.
Auf dieses Verhalten beziehen sie dann auch die Gesichtsrote,
welche Lungenkrankheiten zu begleiten pflegt^).
1) Jedem Praktiker gilt mit Recht das Eintreten von Stenokardieanfällen schon
bei vollkommener Ruhe, namentlich nachts, als böses Omen.
2) Ich erinnere hiebei (abgesehen von der hektischen Röte der Lunge^tuhe^
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107] I>>e klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 467
Beim bekannten Zusammenhang zwischen Nase und Lungenaffektionen (Asthma
bronchiale) ist es bemerkenswert, daß Franck (Arch. de physiol. 1889, p. 550) bei
Reizung der Schleimhaut eine Gefißerwelterung im ganzen Kopf bemerkte, die auf
der entsprechenden Seite am stärksten war.
Die Steigerung der Zyanose während der Anfälle möchte ich als
Reflex infolge der Schmerzanfälle ansehen. Nachdem von Haus aus
schon Zyanose und Neigung zu Erweiterung der HautgefäOe besteht,
ist es erklärlich, daß ein Reiz viel leichter in schon präformierten
Bahnen und ausgefahrenen Geleisen sich bewegt.
Im Gegensatz zu diesem, wenn es zu sagen erlaubt ist, Dolor caeru-
leus, ist der Angina pectoris, bei der an und für sich infolge der Aorten-
störung Anämie vorherrscht, ein Dolor pallidus eigen. Im ersteren
Falle scheint demnach eher Hautvasomotorenlähmung (Relaxation der
Gefäße), im zweiten Falle eher Spasmus zu bestehen*). Auch andere
Momente scheinen für einen gewissen Antagonismus der Verhältnisse
bei Affektionen dieser beiden Gefäße zu sprechen (s. u.).
Die mechanischen Verhfiltnisse des Lungenkreislaufes ermöglichen in der Norm
ein Durchströmen mit der geringsten Verschwendung von Kraft.
Wie verhält sich der Widerstand in den peripheren Gefäßgebieten der Pulmo-
nalis zum Blutdruck in derselben.
Daß ersterer im allgemeinen ein nur sehr geringer ist und daß nur sehr be-
trächtliche Veränderungen der Gefäßweite einen merklichen Einfluß auszuüben
vermögen, wird auf Grund der Lichtheimschen Versuche angenommen, der am
kuraresierten Hunde ^U <ies gesamten Pulmonalgefäßgebietes ausschalten konnte,
ohne daß dadurch der Druck im großen Kreislauf im mindesten herabgesetzt
wurde«).
Tigers tedt führt die stärkere Durchströmung des restlichen Gefäßgebietes
auf Grund von Injektionsversuchen darauf zurück, daß schon unter normalen
Verhältnissen die Blutverteilung in den Lungenabschnitten eine außerordentlich
verschiedene ist. Daß der Widerstand in den Lungengefäßen ein sehr geringer ist,
ergibt sich auch aus der ungemein großen Strömungsgeschwindigkeit im Pulmonal-
gebiet (Stewart, Tigerstedt, 2—4 Sekunden).
kulose) an das alte Peter- Franksche Symptom der gleichseitigen Gesichtsrötung
bei Pneumonie.
1) S. Nothnagels Angina pectoris vasomotoria. D. Arch. f. klin. Mediz. IIL
2) Landgraf (Klinisches und Experimentelles zur Lehre von der Embolie der
Lungenarterie. Zeitschr. f. klin. Med. Bd. 20) erhielt vollkommen entgegengesetzte
Resultate. Er unterband am spontan atmenden Kaninchen ohne Eröffnung der
Pleurahöhlen die linken Arteria pulmonalis. Die sehr schwierige Operation gelang
nur in 4 Fällen, wobei jedoch auf die Kompression der linken Lungenarterie prompt
ein Sinken des Aortendruckes folgte. Dabei füllte sich der Stamm der Lungen-
arterie, dann sah man die rechte Kammer sich erweitern und zugleich das linke
Herzohr blasser werden« (Aortenkurve sank auf die Hälfte und stieg mit dem Auf-
hören der Kompression wieder an.) Landgraf meint, daß die Lichtheimschen
Ergebnisse nur für kuraresierte und künstlich respirierte Tiere Geltung hätten. Bei
einer Wiederholung dieser Versuche durch Tigerstedt konnten die Angaben
Landgrafs nicht bestätigt werden.
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468 Adolf Posselt, [108
Tigerstedt (Ober den Kreislauf nach Bindung der Unken Lungenarterie.
Skand. Arch. f. PbysioL 1907, XIX, 4 und 5, p. 231) stellte an kuraresierten Kanin-
chen fest, daß durch temporäre Abklemmung der linken Lungenarterie die Sekundeo-
volumina der linken Herzkammer zwar abnehmen, daß die Abnahme aber im großen
und ganzen als sehr geringfügig zu erachten ist. Es genügt demnach, nach Aus-
schaltung der einen Lunge der noch übriggebliebene Teil des kleinen Kreislaufs,
um das linke Herz mit etwa derselben Blutmenge wie vorher zu speisen. Auch
der Blutdruck im großen Kreislauf erfährt hierbei nur unwesentliche Änderungen.
Der Lichtheim sehe Versuch ist nur so zu erklären, daß hiebei der rechte
Ventrikel sein Blut durch den offenen Teil der Geßßbahn mit noch erhöhter Ge-
schwindigkeit treibt.
In den normalen Partien der Lunge werden die Gefäße erweitert, bald jedoch
vermag ihre Dilatation allein das Hindernis nicht mehr auszugleichen und nun
steigt auch der Druck in der Pulmonalarterie stärker an.
Bei diesem dem Körperkreislauf entgegengesetzten Verhalten hängt es ganz
von der Stärke und Ausbreitung des Hindernisses ab, wie weit es durch Gefai^-
dllatatlon, wie weit es durch verstärkte Herzaktion ausgeglichen wird, was in jedem
Fall das Verhalten des Ventrikels beeinflußt, dessen Arbeit sich vergrößert und
bei längerem Bestehen Hypertrophie seiner Wandung herbeiführt.
Die mechanischen Verhältnisse beider großen Gefaßs.tämme an
der Herzwurzel verdienen ebenfalls eine Berücksichtigung.
Bei Sklerosierung und Erweiterung der Aorta vermag die ohnehin
weiche, nachgiebige Pulmonalis leicht auszuweichen; anders umge-
kehrt — , etabliert sich ein derartiger Prozeß mit Erweiterung an der
Pulmonalis 9 so setzt die starre, stark gespannte Aorta einen Wider-
stand entgegen. Eine Prädilektionsstelle der Pulmonalsklerose ist quo
nach Reiche anscheinend die Stelle, die der Aorta ascendens unver-
schieblich anliegt Nun verlaufen im Bindegewebe zwischen den bei-
den Gefäßen Herznervengeflechte (Nervus depressor).
Eine Ausdehnung der Pulmonalis, zumal wenn sie mit Verhärtung
der Wand und gewissen periarteriitischen Vorgängen vergesellschaftet
ist, kann nun zu einem Druck, Verzerrung u. dgl. der Nerven und
konsekutiven Reiz- oder Lähmungserscheinungen führen.
Nach Köster, Tschermak, Hirsch und Stadler ist der Nervus
depressor nicht ein Reflexnerv des Herzens, sondern der Aorta. Diese
hat in ihrem Anfangsteil die Bedeutung eines. »Windkessels'' (das systo-
lisch ausgeworfene Blut aufzuspeichern und zu verteilen). Als wesent-
lichste Funktion des Depressors scheint, da er durch Steigerung des
Füllungsdruckes im Aortenbogen erregt wird, die Verhütung der Ober-
dehnung dieses Windkessels zu bestehen. Eine Beeinflussung dieser
Funktion infolge derartiger geschilderter pathologischer Pulmonal-
arterienprozesse scheint demnach der Örtlichkeit nach nicht ausge-
schlossen zu sein und es dürften möglicherweise auch Anomalien der
Blutverteilung im großen Kreislauf z. T. hierauf beruhen»
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109] 1^1^ klinische Diagnose der Pulmonalarteriensklerose. 469
Wenn auch an anderer Stelle noch eingehender über das Tierexperiment
zu berichten sein wird, so mögen doch hier schon einige Tatsachen gestreift
werden, die bei tierexperimentellen Untersuchungen gefunden, uns zur Erklärung
oder zum näheren Verständnis mancher hier niedergelegten klinischen Befunde
dienen können.
Der Einfluß gewisser infektiöser Schädlichkeiten für das Entstehen der Arterio-
sklerose wurde auch experimentell geprüft.
Von Klotz (Experimental production of arteriosclerosls. Brit. med. journ.
1906, II.) wurden nach mehrfachen intravenösen Injektionen von Typhus- und
Streptokokkenkulturen Veränderungen in der Aorta und Arteria pulmonalis gefunden.
Die Intima wies Verdickungen auf, die durch Bindegewebsproliferation nach vor-
heriger Verfettung des subendothelialen Gewebes zustande gekommen waren; die
Elastica interna war in mehrere Lamellen gespalten und die Wucherung von Binde-
gewebe erstreckte sich bis in die innersten Schichten der Media; Verkalkungen,
Ausbuchtungen waren nie vorhanden.
Die Seltenheit des Prozesses in der Lungenarterie lassen im ganzen wohl auch
die Tierexperimente erkennen, wobei hier natürlich in nähere pathologisch-
anatomische und histologische Details und Streitfragen nicht eingegangen werden
kann.
'Grober (Massenverhältnisse des Herzens bei künstlicher Arterienstarre. Ver-
handl. des XXIV. Kongr. f. inn. Med. 1907, S. 449) konstatierte bei Adrenalininjek-
tionen, daß die Nekrosen am stärksten an der Aortenwand oberhalb des Zwerch-
fells, nur selten an der Bauchaorta vorhanden waren, nie dagegen in den Splancbni-
kus-, den Extremitäten- und den Lungenarterien.
Ober die positiven Befunde sind die Akten noch nicht geschlossen.
Cox (Experim. Beitr. zur patholog. Anatomie der Lungenentzündung. Zieglers
Beitr. V. 1889) erhielt bei Tieren, die durch Injektion von Krotonöl in die Bronchien
pneumonisch gemacht waren, eine Entzündung der Adventitia, Media und selbst
4er Intima der Lungenarterien, die nach wenigen Tagen zu einem sehr beträcht-
h'chen Dickenzuwachs der Intima führte.
Schon Friedländer (Experim. Untersuchungen über chron. Pneumonie usw.
Virchows Arch. 1878, Bd. 68) erzielte dieses bei Durchschneidung der Nervi
recurrentes.
Dagegen macht Jores (Wesen und Entwicklung der Arteriosklerose. Wiesbaden,
Bergmann, 1903) geltend, daß die Pulmonalisintima des Kaninchen schon ohne Er-
krankung oft eine sehr erhebliche Dicke annehmen könne.
D'Amato (Weitere Untersuchungen über die von den Nebennierenextrakten
bewirkten Veränderungen der Blutgefäße und anderer Organe. Berl. klin. Wochen-
schrift 1906) sah bei seinen Versuchen einmal ein kleines Aneurysma in den
Lungenarterien (zuweilen degenerative, Veränderungen in der Media und Adventitia
der Hohlvenen).
Braun (Ober Adrenalinarteriosklerose. Sitzungsber. der Kais. Akad. d.Wissensch.
Wien. Math.-naturw. Klasse, 1907, Bd. III, 116) machte sehr schwache aber häufige
Adrenalininjektionen. Die stärkste Intimaverdickung wird dabei an einer Lungen-
arterie beschrieben.
Nach Heubner (Experim. Arteriosklerose. Ergebn. der inneren Medizin 1908,1,
S. 280) scheint die von Friedländer deutlich beschriebene Umwandlung eines
anfangs auftretenden Granulatjonsgewebes in derbes Bindegewebe innerhalb der
Intima deutlich darzutun, daß er einen reaktiven Prozeß als Folge des künstlich
gesetzten Entzündungsreizes vor sich gehabt hat.
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/
470 Adolf Posselt, [1 {q
Wegen des Jores sehen Befundes (s. o.) von Verdickungen auch normaler Pul-
monalarterienintima bei Kaninchen möchte Heubner dem Braun sehen Ergebnis
<s. o.) nur sehr beschränkte Bedeutung zuerkennen.
Eine umfassende Darstellung der Frage nach den Vasomotoren
der Arteria pulmonalis ist wohl hier nicht gut möglich.
Cohnheim und Lichtheim nehmen an, daß die Arterien im
Lungenkreislauf keinen durch Vasomotoren unterhaltenen Tonus be-
sitzen.
Der Einfluß der Gefäßnerven ist nach Knoll für den kleinen
Kreislauf allerdings viel geringer als im großen.
Es bedarf im ersteren ganz beträchtlich stärkerer Einwirkungen,
um einen Effekt hervorzurufen.
Durch Reizung des Sympathikus erfolgt ein Steigen des Druckes
in der Pulmonalis und ein Sinken desselben in der Aorta.
Auf Grund experimenteller Studien gelangt Frangois-Franck
(Recherches sur Taction du systöme nerveux sur la circulation pul-
monaire ä l'etat normal et pathologique. Bull, de l'acad. de m6d. 1896,
no. 6) zu dem Resultat, daß in der Tat den Lungenarterien die Fähig-
keit zukommt, sich auf verschiedene sensible Reize energisch zu kon-
trahieren.
Eine reflektorische Einwirkung auf die Vasomotoren der Lungen-
gefäße wird bei der sog. Potain sehen Krankheit 0 supponiert.
Bei schmerzhaften Magen- und Leberaffektionen kann eine wesent-
liche Vergrößerung des rechten Herzens nachgewiesen werden, ein-
hergehend mit den Symptomen von Blutstauung in demselben. Letztere
werden auf einen Krampf der Pulmonalarterie bezogen, der von den
Magen- und Lebernerven reflektorisch ausgelöst wird.
Pagano (Arch. ital. di Biol. 1900, vol. XXXIII) konnte von der Pulmonilis
aus keinerlei Reflex auf die Schlagfrequenz des Herzens auslösen.
Broie und Rüssel (Journ. of Pbysiol. 1900, XXVI, 98) erhielten nach Reizung
der pulmonalen Vagusäste eine Blutdrucksenkung (vielleicht infolge Verengerong
der Lungengefäße nach Ansicht von Fran^ois-Franck).
Die ganz verschiedenen Wirkungen einer Reihe von Giften auf
die Gefäße des großen und kleinen Kreislaufs (vergl. Tigerstedt,
Der kleine Kreislauf. Ergebn. der Physiol. 1903, II) dokumentieren
die Eigenartigkeit der Lungengefäße im Verhältnis zu denen des großen
Kreislaufs, sowie deren Selbständigkeit und Unabhängigkeit
Velich (Ober die Einwirkung des Nebennierenextraktes auf den
Blutkreislauf. Wien, mediz. Wochenschr. 1898, S. 1257) kam zu dem
Versuchsergebnis, daß Nebennierenextrakt in größeren Dosen nicht
1) Potain, Rapports de la dilatation cardiaque avec les afFections du fote.
Journ. de m6d. et de cbir. 1898, April 4.
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111] Die klinische Diagnose der Pulmonalarterienskierose. 471
allein den Druck Im großen Kreislauf, sondern auch den in der
Arteria pulmonalis steigert,. In kleinerer Menge bewirkte er keine
Drucksteigerung im kleinen Kreislauf, obgleich der Aortendruck zu
gleicher Zeit von 80 auf 260 mm Hg anstieg.
Nolf (Action des injections intraveineuses de propepton sur la
pression dans Tart^re et la veine pulmonaires. M6m. cour. et autres
M6m. publ. par l'Acad. des Scienc. de Belgique 1903, 63, p. 1) gibt
an, daß bei Injektion von Grüblers oder Wittes Pepton neben der
längstbekannten Druckabnahme im großen Kreislauf eine in der Regel
bedeutende und dauernde Drucksteigerung in der Lungenarterie, sowie
ein entsprechender Druckabfall im linken Vorhof eintritt. Die nähere
Analyse der Erscheinungen ergab, daß hierbei die Lungenvasomotoren
tätig waren; es liegt hier eine deutliche Gefäßkontraktion in den
Lungen vor.
Die Traube-Heringschen Wellen der Blutdruckkurve sollen der
Ausdruck der direkten Beeinflussung des vasomotorischen Zentrums
durch das Atemzentrum sein, und nach Hering durch eine rhyth-
mische Irradiation der Erregungen des Atemzentrums auf das vaso-
motorische Zentrum entstehen.
Auch die Pulmonalarterie läßt diese Wellen erkennen, allerdings mit
geringerer absoluter Amplitude.
Nach Durchschneidung des Annulus Vieussenii beiderseits (von
welchem nach Frangois Franck die sympathischen Vasomotoren der
Lunge ausgehen) verschwinden die Wellen in der Arteria pulmonalis.
F. B. Hof mann (Allgemeine Physiologie des Herzens. Nagels
Handb. der Physiol. Bd. I. 1005) legt in ausführlicher Weise mit Be-
rücksichtigung der gesamten Literatur die Experimente dar, die den
Beweis für die Existenz von Gefaßnerven für die Lunge zu erbringen
imstande seien (S. 298), wobei er zu dem Schlüsse gelangt, daß alles
zusammengenommen heute die Existenz von Vasomotoren für die
Lungengefäße ziemlich wahrscheinlich ist, wobei jedoch über deren
nur geringe Wirkung alle Autoren übereinstimmen.
Strubell (Ober vasomorische Einflüsse im kleinen Kreislaufe. Ver-
handl. des XX. Kongr. f. inn. Mediz. 1902, S. 404, und Ober die Vaso-
motoren der Lungengefäße. Arch. f. Physiol., Jahrg. 1906, Supplem.-Bd.
S. 328) tritt auf Grund seiner Experimente bei Verwendung kombinierter
Messung des Arteriendruckes und linken Vorhofsdruckes für die Exi-
stenz von Vasomotoren in den Lungengefäßen (Pneumovasomotoren)
ein und vermutet, daß die Bronchokonstriktion (Lungenblähung) und
die Vasokonstriktion (Lungenvolumen-Verkleinerung und Sinken des
Vorhofsdruckes) nacheinander auftreten.
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472 Adolf Posselt, [112
Anhangsweise sei hinzugefügt, daß Krogh (Verhandl. der biolog.
Gesellsch. in Kopenhagen, 28. Febr. 1907) den Nachweis eines vaso-
motorischen Systems in der Lunge der Schildkröten erbrachte.
Vielerlei Fragen sind uns jedoch bezüglich der Lungenvasomotoren
noch dunkel: ob sie einen Tonus besitzen, unter welchen Bedingungen
eine normale Erregung stattfindet, wie die Regulierung der Blutzufuhr,
zu der sie zweifellos in Beziehung stehen, erfolgt.
In neuester Zeit stellte sich bei der experimentellen Erforschung
ein gewisser Antagonismus oder zum mindesten ein diffe-
rentes Verhalten zwischen Pulmonalarterie und Koronar-
arterien heraus (vgl. oben).
Langendorff (Über die Innervation der Koronargefäße. Ztrlbl. f.
Physiol. 1907, Bd. 21, S. 551) kam zu dem unerwarteten Resultate,
dal} Suprarenin und Adrenalin erschlaffend auf die Muskulatur dieser
Gefäße wirken, während dieselben Stoffe die Muskulatur der Lungen-
arterie zur Kontraktion veranlassen. Damit steht im Einklang, daß
Sympathikusreizung beim isolierten Herzen eine Erweiterung der
Koronargefäße bedingt.
Dieses Verhalten fordert zu weiteren Untersuchungen auf, da hieraus
mancherlei Einblicke in Verhältnisse, die auch die Klinik lebhaft inter-
essieren, zu erhoffen sind.
Die präzise Fragestellung, die unserer Mitteilung zugrunde liegt,
lautete:
Unter welchen Umständen ist eine klinische Diagnose der
Pulmonalarteriensklerose möglich?
Auf Grund eines bei der relativ großen Seltenheit des Befundes
reichlich zu nennenden Beobachtungsmateriales kam Ich zu folgenden
Schlußsätzen:
Eine klinische Diagnose der Atherosclerosis pulmonalis ist (falls
die Kranken in einem entsprechenden Stadium und durch sehr lange
Zeit beobachtet werden können):
A. unter Voraussetzung einer primären Mitralstenose möglich
und bei Anwesenheit nachstehender Symptome und Erschein
nungskomplexe mit allergrößter Wahrscheinlichkeit zu stellen:
L bei physikalischer Untersuchung:
1. Dämpfungszone am oberen linken Sternalrand und den
benachbarten Gebieten mit Druck- und Perkussionsemp-
findlichkeit (besonders in bestimmter Lage).
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113] ' Die kliirisobe' Diagnose der Pülmonalarteriendklerose. 473
2. auch für diese Aifektion ungewöhnlich starke Verbreite-
rung der Herzdämpfung nach rechts.
3. Verhalten der oberen Anteile des mittleren Bogens bei
Röntgendurchleuchtung.
4« allmähliches Aufwärtswandern des diastolischen Schwirrens
und des diastolischen (präsystolischen) Geräusches gegen
das Pulmonalostium zu.
IL klinischen Symptomen :
1. auffallende Zyanose als Frühsymptom und lange Zeit hin-
durch bestehende ausgesprochene Differenz zwischen die-
ser und der fehlenden oder geringen Dyspnoe, sonstigen
Stauungserscheinungen, Ödemen.
2. Auftreten der Anfälle der Dyspragia intermittens angio-
sclerotica pulmonalis (Angina hypercyanotica).
3. trotz hochgradiger Zyanose Fehlen der Trommelschlegel-
fingerbildung.
4. Wiederholte abundante Lungenblutungen ohne ausgespro-
chenen Infarktcharakter.
B. Unter genauer Berücksichtigung vorliegender Momente ist auch
das klinische Erkennen der so überaus seltenen pri-
mären Pulmonalsklerose in das Bereich der Möglich-
keit gerückt.
Wir werden bei Vorhandensein obiger Erscheinungen und Fehlen
der Zeichen eines wirklichen Vitium cordis (Mitralstenose) an einen
derartigen atherosklerotischen Prozeß der Lungenschlagader denken,
ganz besonders wenn es sich um eigenartige zweifelhafte Herzaffek-
tionen handelt^ die einem angeborenen Vitium cordis ähnlich erscheinen.
Hierbei verdienen namentlich basale diastolische Geräusche am
Pulmonalostium ohne Zeichen von Insuffizienz der Klappen, auffällige
Hypertrophie der rechten Herzkammer, das Prävalieren der Zyanose
fiber sonstige Stauungserscheinungen (Dyspnoe, Ödeme), Attacken von
basalen Schmerzen mit dem Charakter der Dyspragia intermittens pul-
monalis, Fehlen von Trommelschlegelfingerbildung besondere Berück-
sichtigung.
Einen weiteren Hinweis bildet das verhältnismäßig noch jugendliche
Alter und vorausgegangene schwere Infektionskrankheiten (Polyarthritis,
Perikardaffektionen, »Variola").
Es soll hier nochmals daran erinnert sein, daß Mitralstenosen und
gewisse angeborene Herzfehler, die einen ganz ähnlichen klinischen
Befund bieten, beide mitunter sehr hohen Grades, infolge Fehlens
auskultatorischer Erscheinungen einer sicheren Diagnose ganz unge-
w'öhnliche Schwierigkeiten bereiten können. Die dargelegten Momente
Klln. Vortrige, N. F. Nr. 504/07. (Innere Medizin Nr. 149/52.) Okt. 1006. 33
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474 Adolf PoMeh^ Die UtniMdie DitigoDee dM PalnmiiltrtiriiBflBklerose. [414
durften auch einenMitbebelf bieten auf DiffbreotiäldUgoose und Em-
ziiferung derartiger räCseUiafter Henikriinkbeitefl.
C FnUs die PulmonalsUerose bei der viel seltener mit ihr kom-
binierten Sklerose und InsufficientU semtlunar.ttmaortae auf-
tritt, geben einige klinische Eigeoheiteii ebenfalls einen Fingerzeig zur
diagnostischen Verwertung.
Solche sind statt der zu erwartenden blassen Facies* aortica aus-
gesprochene Zyanose, die ebenso wie eine bestehende Hypertrophie
des rechten Herzens durch andere Ursachen nicht erklärt werden kann,
namentlich wenn die Zyanose aqfallsweisen Charakter zeigt. Ferner
eine abnorme Querleitung des diastolischen Gerfiusches nach links.
Eine Analyse der Dyspragia pulmonalia gestaltet sich wegen der
Möglichkeit gleidizeitiger Stenokardie schwieriger.
Allgemein und schematisch für den gesamten Prozeß ausgedrückt,
liegen den subjektiven und allgemein klinischen Symptomen mehr die
Aifektion der kleinen Gefäße (Endarteriitis obliterans) zugrunde,
während für das Zustandekommen der obiektiven Befunde, speziell
der physikalischen Untersuchung, das Befallensein des Stammes mehr
releviert.
Vorstehende Notizen bezwecken vor allem die Aufmerksamkeit der
Kliniker auf die bisher nur als zufälliger Sektionsbefund rangierende
Atherosclerosis pulmonalis hinzulenken und sie zu weiteren Be-
obachtungen und Untersuchungen Ober die von uns behauptete Mög-
lichkeit der klinischen Diagnose des Leidens zu veranlassen.
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(Gynäkologie Nr. 185.)
Die wechselseitigen Bezietiungen der innersekre-
torisctien Organe, insbesondere zum Ovarium.
Zugleich ein Beitrag zur Lehre von der Menstruation.
Von
Dr. Otfried O. Fenner,
Wien.
In den letzten Jahren ist so viel Material in bezug auf die innere
Sekretion verschiedener Organe aufgestapelt worden, wobei wieder-
holt auch auf das Ovarium Rücksicht genommen wurde, daß es sich
der Mühe lohnt, alle diesbezüglich bekannten Tatsachen von einem
einheitlichen Gesichtspunkte aus zusammenzufassen, um so mehr, als
sich aus dieser Betrachtung einige neue Anschauungen zu ergeben
scheinen. Dies soll im folgenden versucht werden«
I. Theorie der Menstruation.
Meine diesbezüglichen Studien haben mich vor allem zu der Er-
kenntnis geführt, daß man mit keiner der bisher bekannten Theorien
der Menstruation sein Auskommen findet. Wollen wir aber das Ver-
hältnis der anderen sekretorischen Organe zum Ovarium verstehen,
so müssen wir vor allem über die Funktion der Genitaldrüsen Klar-
heit gewinnen.
Nachdem eine Reihe von Theorien verlassen wurde, kam man auf
Grund der Born-Fränkelschen Theorie zu der Anschauung, daß ein
durch die periodische Funktion des Ovariums in ihm produzierter,
an die Blutbahn abgegebener Stoff es ist, der • den Anstoß zu den
menstruellen und Schwangerschaftsveränderungen gibt. Man ist sich
nicht ganz klar darüber, ob es das Corpus luteum oder die inter-
Klln. Vorträge, N. F. Nr. 506. (Gynikologle Nr. 185.) Sept. 1908. 32
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422 Otfried O. Fellncr, [2
stitiellen Zellen sind, welche hier in Betracht kommen. Die Funktion
des Ovariums soll eine Kongestion der Sexualorgane und ferner eine
Toxämie, aber auch zugleich eine Entgiftung des Organismus hervor-
rufen. Diese beiden einander widersprechenden Funktionen will man
sich oder vielmehr könnte man sich nur so erklären, daß das Ova-
rium giftige Stoffe an den Organismus abgibt, während die Entgif-
tung dadurch stattfindet, daß diese Stoffe durch die Menstruation aus-
geschieden werden. Nach dieser Anschauung wäre also das Ovariam
den den Organismus vergiftenden innersekretorischen Organen zuzu-
zählen. Ich werde später zeigen, daß alle den Organismus vergiften-
den Substanzen Blutdrucksteigerung hervorrufen. Wir wissen aber, daß
das Eierstockssekret Blutdrucksenkung bewirkt. Schon dieser Umstand
spricht einigermaßen gegen die herrschende Anschauung. Der beste
Prüfstein für die Funktion eines innersekretorischen Organes sind
jene Erscheinungen, welche nach der Exstirpation des Organes auftreten.
Nach der ausführlichsten diesbezüglichen Arbeit von Mandl undBür-
ger^ erlischt mit dem Erlöschen der Funktion des Ovariums die Menstru-
ation und die Menstruationswelle. Schon hier stoßen wir auf einen
Widerspruch in der Literatur. Ohishausen hat nach Kastration
wegen Myom noch 3 mal typische Menstruation auftreten gesehen.
Neuerer Zeit hat Gellhorn^) einen Fall veröffentlicht, wo nach Exstir-
pation der Ovarien noch immer Menstruation auftrat, bis man einen
Peritonealstrang durchtrennte. In beiden Fällen könnte man eventuell
an das Zurückbleiben von Ovarialresten oder eines überzähligen Eier-
stocks denken, van de Velde hat durch Darreichung von Ovarial-
tabletten auch im Klimakterium Menstruation erzeugen können, sofern
man unter Menstruation Blutung versteht. Das gleiche ist Gellhorn
gelungen. Man könnte derlei Erfahrungen ohne Zweifel auf die un-
bedingte Abhängigkeit der Menstruation von Ovarialsubstanzen be-
ziehen. Und doch stimmt dies nicht ganz. F. Deales^) zeigte ebenso
wie Ficarelli und Holterbach, daß man Brunsterscheinungen beim
Tiere, die man sicherlich biologisch, insbesondere bei Hunden, an
denen ersterer experimentierte, der Menstruation gleichstellen kann,
durch Yohimbin zu erzielen vermag. Daraus müssen wir folgern,
daß die Menstruation (Blutung) ein dem Uterus eigentümlicher Vor-
gang ist, der durch jede Substanz, welche ebenso wie das Ovarium zu
Blutüberfüllung im Uterus führt, hervorgerufen werden kann. Viel-
1) Die biologische Bedeutung der Eierstöcke nach Entfernung der Gebirmutter.
Deuticke 1904.
2) Menstruation ohne Ovarien. Zentralbl. f. Gyn. 1907^ Bd. 40.
3) Berliner klin. Wochenscbr. 1907, Bd. 42.
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3] Die wechselseitigen Beziehungen der innersekretorischen Organe usw. 423
leicht gehört auch hierher die ursprünglich Pflfiger-StraOmannsche
Anschauung, daß Druclierhöhung im Ovarium Hyperamie der Uterus-
schleimhaut erzeugt. Umgekehrt könnte man eine Erscheinung, welche
bisher eine Erklärung nicht gefunden hat, nämlich das Ausbleiben der
Menstruation i. e. Blutung bei Fisteln auf das Fehlen eines druck-
erhöhenden Momentes, nämlich das Fehlen der Blasenfüllung zurück-
führen.
Ich habe im vorhergehenden nur auf das äußere Moment der
Menstruation, nämlich die Blutung, Rücksicht genommen, und schon
hier zeigte es sich, daß eine unbedingte Abhängigkeit der Blutung
vom Ovarium nicht besteht Noch mehr zeigt sich dies bei Betrach-
tung der Sekretionserscheinungen. Ich will hier gar nicht darauf ein-
gehen, daß bei der Annahme, die Tätigkeit des Ovariums erzeuge
die Vergiftung und löse bei maximaler Tätigkeit oder Anhäufung der
Stoffe die Entgiftung aus, der Zustand des Ovariums zur Zeit der
Menstruation stets derselbe sein müsse, und doch sind bis jetzt sekre-
torische Veränderungen in den interstitiellen Zellen, eine allmähliche
periodische Zunahme und Abnahme des Sekrets nicht nachgewiesen.
Auf noch größere Unregelmäßigkeiten stoßen wir bei der Annahme,
daß die Menstruation mit der FoUikelreifung in ursächlichem Zusam-
menhang steht. Ich verweise hier auf die Arbeit von Ancel und
Villemin^) und von Leopold und A. Ravano^). Ja, es gibt Ver-
suche, die zeigen, daß die Menstruation auch von anderen Drüsen
abhängig ist, so von der Schilddrüse. Französischen Autoren, so
Faveau de Courmelles, und später M. Fränkel ist es gelungen,
durch Bestrahlen der Schilddrüse die Menstruation i. e. die äußeren
Zeichen derselben, die Blutung, ganz zu sistieren oder zu schwächen.
Wenn wir vollends zu den Ausfallserscheinungen übergehen, so
läßt sich meiner Ansicht nach die Theorie, daß der Uterus gleichsam
nur der Ausführungsgang des Eierstockes ist, nicht recht festhalten.
Es fst wohl richtig, daß man sich die Erscheinungen des Klimak-
teriums durch den Ausfall der Eierstockstätigkeit ohne weiteres er-
klären kann, ebenso wie die strumipriven Symptome durch den Aus-
fäll der Schilddrüsentätigkeit. Aber schon hier ist es sehr auffallend,
daß der Ausfall der Eierstockstätigkeit ähnliche Symptome macht, wie
nach der bisherigen Theorie in der prämenstruellen Zeit und in den
ersten Tagen der Menstruation, die maximale Tätigkeit des Ovariums
beziehungsweise die Anhäufung der Sekretionsprodukte des Ovariums.
Wird der Uterus entfernt, und werden die Ovarien belassen, so er-
1) Soci6t6 de Biologie. Juillet 1907.
2) Arch. f. Gyn. Bd. 83, H. 3.
32*
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424 -Otfned O. FeUner« [4
Hecht zwftf zttaäebat die Memtl^iiaiioii als sidnharer Auadeuck d^
Oyarialtätlgkeit, die Welle aber bleibt erbalten.: Ich frage nun, wie
in diesen Fällen eigentlich Emgifftnig zustande kommt. Es ist ja
richtig t daß nicht allzuseiten die Schilddrüse bypertrophiert. Man
kannte also annehmen» daß hier die Entgiftung durch die Schilddrüse
stattfindet. Dies alles setzt aber voraus, daß tatsächlich das Ovarium
eine blutdrucksteigernde Drüse ist, was sicherlich nicht zutriifr. Nun
treten in einer Reihe von Fällen Molimina menstnialia auf. Darunter
versteht man nervöse Erscheinungen» die mit Blutdrucksteigerung
einhergeben» und gerade zu der Zeit» welche jener entspricht» in der die
Menstruation eintreten sollte» sich äußern. Daß die Erscheinungen mit
dem Hochstande des Blutdruckes zusammenfallen» davon konnte ich
mich wiederholt überzeugen. Ich verfüge überdies über zwei Blutdruck-
kurven von Frauen» denen der Uterus entfernt wurde. Die Kurve
zeigt» ähnlich wie die von Mandl und Bürger veröffentlichte» eine
der normalen Menstruationswelle ganz analoge Gestalt mit Molimioa
menstrualia auf dem Höhepunkt des Blutdruckes. Diese Erscheinung
mußte also nach der herrschenden Anschauung auf das Ovarium be-
zogen werden ) indem die Anhäufung der sekretorischen Produkte
schließlich zu den Beschwerden führt» während die Entgiftung durch
irgendein uns derzeit noch unbekanntes Organ» vielleicht durch
die Schilddrüse erfolgt. Merkwürdigerweise finden sich hier auch
regelrechte Ausfallserscheinungen» nach Mandl und Bürger in 47%»
während Molimina menstrualia nur in 26% vorhanden sind. Diese
also ziemlich häufigen Erscheinungen sind bei Aufrechterhaltung der
derzeit herrschenden Theorie schwer zu erklären. Sie treten zu der
Zeit auf» wo die Welle gerade nicht sehr hoch ist» oder ein plötz-
liches Ansteigen und ein ebenso plötzlicher Abfall nachweisbar ist
Man nimmt in diesen Fällen zu der wahrscheinlich richtigen Anseht
Zuflucht» daß hier die Ovarien nicht funktionieren. So richtig aucli
die Tatsache an sich sein mag, in das Schema paßt sie logischer-
weise nicht hinein. Wenn die Steigerung der Sekretion der Ovarien»
beziehungsweise die Anhäufung der Stoffe zu den Molimina menstru-
alia führt» kann doch unmöglich der Wegfall eben dieser Stoffe die
gleichen Erscheinungen hervorrufen. Denn zwischen Molimina men-
strualia und Ausfallerscheinungen besteht nur der Unterschied» daß
erstere in und zu bestimmten Zeiten wiederkehren» letztere aber häu-
figer und in unregelmäßigen Intervallen.
Vollends unverständlich bleiben aber bei dieser Theorie die Tah
Sachen» die sich aus der Mitentfernung der Ovarien ergeben. Bei
Mitentfernung der Ovarien treten in 73% Symptome auf. Man sollte
annehmen» daß wenn das Organ» welches tatsächlich bei stärkster
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5] Die wechselseitigen Beziehungen der innersekretorischen Organe usw. 425
S^kretioA die Symptome erzeugt, entfertit wird, keine Symptome m^hr
auftreten) welche wir sonst auf die Sekretion dieses Organs bezielien^
Es sollten also logischerweise bei Entfernung des Uterus samt Adnexen
im Oegenteil keine Ausfallserscheinungen auftreten. Belassen wir eines
oder beide Ovarien, so finden sich in 67% Symptome. Ich möchte
nun meinen, dafi der Unterschied so gering ist, daß man eigentlich
den Ovarien fast keinen Einfluß auf die Ausfallssymptome zuschreiben
sollte. Aber vielleicht ist die Heftigkeit der Symptome eine geringere.
Heftige Symptome bei Belassen der Ovarien in 15%, bei Wegnahme
der Ovarien in 19%. Bei Belassen des vergiftenden Oi^ans also auch
höher als bei Wegnahme desselben. Und tatsachlich haben wir ja
alle die auf größere oder geringere Erfahrungen gestützte Ansicht, daß
die Ovarien die Ausfallserscheinungen mi4dern. Die Tatsachen stehen
kl strengstem Widerspruch zu der Theorie der vergiftenden Wirkung
des Ovariums. Wir fühlen uns unbedingt zu der Ansicht gedrängt,
daß das Ovarium ein entgiftendes Organ ist. Dann ist auch
der Ausdruck Ausfallserscheinungen gerechtfertigt. Es ergebe also
diese Anschauung die Theorie, daß im Körper Stoffwechselvorgänge
sich abspielen, die zu einer allmählichen zunehmenden Intoxikation
mit begleitender Blutdrucksteigerung fähren, die schließlich die Sekre-^
tion des Ovariums auslösen; diese Sekrete wirkeü nun auf den Uterus
ein, der durch äußere Sekretion uiid Blutung die giftigen Stoffe aus-
scheidet; vielleicht werden durch das Ovarialsekret dirett die giftigen
Staffwechselprodukte entgiftet. Blutdrucksenkung ist die Folge*
Prüfen wir diese Theorie an einigen Tatsachen. Totalexstirpatlon
des inneren Genitales muß zu Ausfallserscheinungen führen, da die
Entgiftung durch das Ovarium fehlt. Größtenteils treten aber andere
Organe ein, so anerkanntermaßen die Schilddrüse, deren Tätigkeit die
Entgiftung besorgt. Werden beide Ovarien belassen oder auch nur
eines, so treten die Ausfallserscheinungen etwas sehener auf; das
Ovarium sezerniert ja und kann die Stoffwechselprodtikte entgiften, es
fehtt die Sekretion des Uterus und die Blutung, daher kommt es doch
und zwar nicht so selten zu Symptomen. Die Welle bleibt eriialten,
Molimina treten auf, denn die Entgiftung erfolgt periodisch. In diese
Theorie passen auch sehr gut die Beobachtungen Gellhorns ttnd
van de Veldes, dffß Ovarialtabletten die Menstruationsbhituiig aus-
lösen können.
Aber auch diese Theorie kann nicht voll befriedigen. Es ist s^u*
nächst auffallend, daß der Körper beim geschlechtsreifen Weibe zur
Entgiftung noch des Ovariums bedarf, während vorher und nachher
die anderen entgiftenden Drüsen ausreichend Man könnte dies auf
ein Plus an toxischen Stoffen beziehen. TatsäcbHch ^ricfht fa vieles
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426 Otfried O. Fellner, [6
dafür. Niemals erreicht im normalen Zustand der Blutdruck die Höbe
wie zur prämenstruellen Zeit. Hierzu kommen die prämenstruellen
Vergiftungserscheinungen. Es liegt nun nahe, in der eireifenden Tätig-
keit dieses Plus zu suchen, derart, daß durch das Heranreifen der
Eier toxische Produkte gebildet wurden. Dagegen spricht so manches,
vor allem die zeitliche Unabhängigkeit der Eireifung von der Periode.
Ferner beginnt nicht selten die Eireifung vor der Menstruation und
überdauert dieselbe. Wir sehen bei Haustieren oft die Brunst ein-
treten ohne Reifung von Eiern. Nach Hensen fallen bei Kaninchen
brünstige Erregung und Eiablösung nicht immer zusammen. Bei den
Fledermäusen ^) sind Brunst und Ovulation durch Monate voneinander
getrennt, v. Winckel^ erwähnt eine Frau mit 17 Schwangerschaften,
die gerade zu der Zeit, wo sie nicht menstruierte, schwanger wurde.
Sprungreife Follikel beobachtete man im Klimakterium, Schwanger-
schaft vor Eintritt der Menstruation sowohl in der Pubertät, wie auch
in der Laktationsperiode. Dann ist es kaum glaublich, daß die FoUikel-
flüssigkeit — und nur um diese kann es sich handeln — giftig sei,
da doch das Ei in ihr aufwächst.
Ich meine, daß dieses Plus an Toxinen vom Uterus geliefert
werden könqte. Der Uterus würde sonach zu den inner-
sekretorischen Organen vergiftender, blutdrucksteigernder
Natur zu rechnen sein. Wir werden sehen, daß sich mancherlei Er-
scheinungen dadurch zwanglos erklären lassen, daß sich dann das
Sekretionspaar Uterus-Ovarium mit Leichtigkeit in die Serien der
anderen innersekretorischen Organe einfügen läßt, .daß wir so zu
einer allen Erscheinungen gewachsenen Menstruationstheorie kommen,
und daß schließlich einige Tatsachen für die innersekretorische Funk-
tion des Uterus zu sprechen scheinen.
Nicht ganz uninteressant ist diesbezüglich die Tabelle II von Mandl
und Bürger: Supravaginale Amputation, Totalexstirpation des Uterus
per laparotomiam mit Belassung eines oder beider Ovarien. Die
Fälle von supravaginaler Amputation geben in 57%, die von Total-
exstirpation in 42% Ausfallserscheinungen; dies ist um so auffallender,
als sich bei der Nachuntersuchung die Ovarien bei supravaginaler
Amputation stets in gutem Zustande befanden, während sie bei Total-
exstirpation des Uterus 4 mal nicht palpabel waren, Imal sich eine in
ihrer Größe nicht genau bestimmbare Resistenz vorfand. Dies spricht
wohl sehr dafür, daß das schlechtere Resultat auf den Uterusrest zu-
1) R. Mull er, Sexualbiologie. Berlin^ L. Marcus, 1907.
2) Handbuch d. Geburtsb. I.
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7] Die wechselseitigen Beziehungen der innersekretorischen Organe usw. 427
rückzuführen ist. Dieser Befund ist auch deshalb von grolier Be-
deutung, da nachMandl und Bürger ein Abhängigkeitsverhältnis der
Ovarien vom Uterus nicht bestehen soll, wir also nicht annehmen
dürften, daß der Unterschied in dem Zustande der Ovarien gelegen
ist. Dem ist aber nicht so; wir werden später sehen, daß die Sekre-
tion des Ovariums doch vom Uterus bis zu einem gewissen Grade ab-
hängig sein dürfte, und ich sehe gerade die obigen Nachuntersuchungen
als einen Beweis dafür an, daß eine solche Abhängigkeit besteht.
Wäre ferner das Ovarium das vergiftende Organ, so wäre wohl die
größere Zahl der Ausfallserscheinungen bei erhaltenem Ovarium ver-
ständlich; da es aber ein entgiftendes Organ ist, so müssen wir die
größere Zahl der Ausfallserscheinungen auf den Uterusrest
beziehen.
Auf den ersten Blick spricht nur eine Tatsache gegen die hier ver-
tretene Ansicht, nämlich die Tatsache, daß Totalexstirpation des inneren
Genitale in V4 ^^^ P^lle mit Ausfallserscheinungen einhergeht; da der
Uterus als vergiftendes Sekretionsorgan wegfallt, so sollten auch Aus^
fallserscheinungen fehlen. Diese Überlegung ist nicht richtig; denn
ich setzte oben auseinander, daß das Ovarium nicht allein entgiftend
auf das eventuelle Uterussekret wirke, sondern auch auf andere Stoff-
wechselprodukte, daß das Uterussekret nur ein Plus darstelle. Der
Wegfall der Ovarien schlägt aber gewaltig Bresche in die Reihe der
entgiftenden Organe, die nun plötzlich die Aufgabe des Ovarium über^
nehmen müssen, das bis dato die übrigen erfolgreich unterstützt, viel-
leicht sogar vertreten hat. Können die anderen durch Hypersekretion
den Ausfall decken, beispielsweise die Thyreoidea, die sehr häufig
vergrößert befunden wird, dann fehlen Ausfallserscheinungen gewöhn-
lich. In einer großen Zahl von Fällen sind diese aber in mäßiger
Weise, nur in 19% in heftiger Weise vorhanden. Es ist nämlich noch
weiter zu berücksichtigen, daß die Hypertrophie der Thyreoidea, wie
wir später sehen werden, auch nicht ohne Konsequenzen bleibt, daß
wieder antagonistische Organe die verstärkte Tätigkeit der Schild-
drüse zum Teil wettmachen. Ist einmal in das Konzert der
sekretorischen Organe ein Mißton gekommen, dann gelingt
es kaum mehr, volle Harmonie zu erzielen.
Im Widerspruch mit diesen Ausführungen stehen die drei Beob-
achtungen Abels 1), wo bei Erhaltensein von Korpusschleimhautteilen
die Menstruation fortdauerte und Ausfallserscheinungen fehlten. Die
Zahl der Fälle gegenüber denen aus der Klinik Schauta und anderen
1) Dauerfolge der Zweifeischen Myomektomie. Arcb. f. Gyn. Bd. 57.
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428 Otfried O. Fellner, [g
ähnlichen spater zitierten, welche die gegenteilige Erfahrung ergeben,
ist so gering, daß man hier nur von einer Zußiligkeit sprechen iLann.
Deutlicher ergibt sich die Richtigkeit der Theorie aus folgenden
weiteren Erfahrungen. Es muß hier zunächst auf das Verhalten der
Ovarien nach Exstirpation des Uterus näher eingegangen werden.
Durch die Untersuchungen von Mandl und Bürger, BurckhardO»
Henckel (Zeitschr. f. Geb., Bd. 58, H. 3) u. a. wurde der Anschein
erweckt, als ob die Ovarien vollkommen intakt blieben. Keitler
fand, daß etwa 12—13 Monate nach vollzogener Uterusexstirpation
reifende und sprungreife größere und kleinere Follikel, Corpora lutea
und PrimärfoUikel vorhanden waren. Anders sahen die Befunde nach
3 Jahren aus. Mandl und Bürger fanden Degenerationserscheinungen
am Ei und auffallend viele zystisch veränderte Follikel. Es war eine
gewisse Hemmung in der Eireifung vorhanden. Ähnliche Befände
zeigten 4 Fälle Holzbachs (Arch. f. Gynäkol. 80, 2). Es war eine
„hinreichende Menge funktionstüchtigen Ovarialgewebes^^ vorhanden.
Dennoch hatten alle 4 Frauen Beschwerden. Trotz dieser Befunde
sind alle Autoren der Ansicht, daß diese Ovarien punkto Sekretion
normal sind. Nimmt man an, daß die Sekretion des Ovariums von
den Luteinzellen abhängig ist, daß diese sich aber nur nach dem
Sprunge eines reifen Follikels bilden, so muß man insbesondere in
Rücksicht auf die Befunde von Mandl und Bürger sagen, daß hier
sehr wenig Material für die Bildung der Luteinzellen vorhanden war.
Wenn fast alle größeren Follikel zystisch entarten, wobei die Eier zu-
grunde gehen, dann muß es logischerweise höchst gelten zur FoUikel-
reife, zum FoUikelsprunge und zur Bildung von Luteinzellen komn^en«
Fünr Anhänger der Luteinzellen-Sekretionstheorie müßten
6.olche Ovarien wohl als funktionsuntüchtig gelten. Es käme
da nur ein Befund in Betracht, der freilich von den Autoren nicht
erwähnt und wohl auch nicht gemacht wurde. Ich muß hier auf meine
demnächst erscheinende Arbeit über die Tätigkeit des Ovariums in der
Schwangerschaft^) hinweisen. Ich fand nämlich, konform mit anderen
Autoren, daß in der Schwangerschaft die größeren Follikel fast regel-
mäßig zystiscb degenerieren, daß sich aber gleichzeitig die Theca in-
terna in Luteinzellen, FoUikelluteinzellen will ich sie nennen, verwandelt
(Wallart, Seitz usw.). Diese FoUikelluteinzellen haben nun meiner
Ansicht nach sekretorische Funktionen. Wäre die Bildung solcher
F(^likelluteinzellen an den zurückgelassenen Ovarien beobachtet worden,
so könnte man immerhin von einer relativen Funktionstüchtigkett
1) Ober Ausfallserscheinungen nach abdomineller Myotomie mit ZurücUassung
der Ovarien. Berliner Gynäkologenkongr.
2) Arch. f. Gynfik.
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0] Die wechselseitigen Beziehaogen der innersekretorischen Organe usw. 429
sprechen« Dieser Befund scheint aber nicht vorzuliegen , denii er
wurde nicht erhoben.
Ich verfuge über kein derartiges Präparat, von Menschen stammend.
Aber ich röntgenisierte einmal den trächtigen Uterus eines Kaninchens
unter möglichster Abdeckung der Ovarien, es kam zum Abortus, zur
Atrophie des Uterus, und nach einigen Monaten nahm ich die Ovarien
heraus. Sie zeigten ein ähnliches Bild, wie dasjenige, welches Neu^
mann und ich bei Bestrahlung der Ovarien trächtiger Kaninchen er-
hoben haben ^): zystische Degeneration der größeren Follikel; einzelne
Follikel zeigten aber einen Follikelluteinzellenbesatz. Dieser Befund
läßt sich leider nicht verwerten, weil er erstens und vor allem noch
vereinzelt ist, weil einige Trächtigkeiten vorausgegangen sind, und
weil bei dem großen Reichtum der Kaninchenovarien an Follikel-
luteinzellen nicht zu entscheiden ist, ob die Zellen wirklich erst auf
Grundlage^ der Degeneration der Follikel entstanden sind.
Bei dem derzeitigen Stand scheint es also festzustehen, daß von
einer normalen Sekretion der zurückgelassenen Ovarien auf
Grundlage der Luteinzellensekretion nicht die Rede sein
kann.
Steht aber die innersekretorische Funktion mit den interstitiellen
Zellen in Zusammenhang, so wären die bisher erhobenen Befunde in
keiner Hinsicht beweisend; denn auf diese wurde keine Rücksicht ge-
nommen. In dem oben erwähnten Kaninchenovarium ließen sich viel-
leicht Merkmale einer Degeneration auffinden. Die Zellen waren
kleiner, das Protoplasma vakuolisiert, die Kerne hin und wieder kario-
lytisch verändert, Befunde ganz ähnlich denen, wie wir sie an den
röntgenisierten Ovarien erheben konnten. Sieht man von den Zysten
ab, so war das Ovarium entschieden kleiner als de norma. Aber
ich will aus diesem vereinzelten Befund keine Schlüsse ziehen. Nur
das eine will ich nochmals hervorheben, daß die bisher erhobenen
Befunde keinen Schluß zulassen Ober die Funktionstfichtigkeit der
interstitiellen Zellen, daß also alle Autoren nicht berechtigt waren,
aus den von ihnen erhobenen Befunden auf eine normale
Sekretion der zurückgelassenen Ovarien zu schließen, daß
vielmehr einige von ihnen erhobenen Befunde und die mei-
i^igen das Gegenteil wahrscheinlicher machen.
Auffallend ist es nun andererseits, daß sich vielfach bei
Nachuntersuchungen, wie in den oben zitierten Fällen aus der
Klinik Schauta, das Ovarium verkleinert erwies oder überhaupt nicht
1) Der Einfluß der Röntgenstrahlen auf die Eierstöclse trächtiger Kaninchen
und auf die Trächtigkeit. Zeitschr. f. Heilkunde Bd. 28, H. 3.
Klin. Vorträge, N. F. Nr. 508. (Gynäkologie Nr. 185.) Sept. 1908. 33
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430 Otfried O. Fellner, [10
aufgefunden werden konnte. Dies ist um so auffallender, als, da die
zystische Degeneration anfangs, oft auch später überall angetroffen
wurde, eigentliqh das Ovarium vergrößert sein sollte. Man muß also
trotz der freilich pathologischen FoUikelreife mit einem Zugrundegeben
der Eierstöcke rechnen, wenigstens in vielen Fällen. Dieses Zugrunde-
gehen, das sich ja auch innersekretorisch durch die Ausfallserschei-
nungen dokumentiert, wird nun von vielen Autoren mit der Gefäß-
versorgung in Zusammenhang gebracht. Mir scheint es nicht recht
plausibel, daß nach Wegnahme des Uterus das Ovarium so schlecht
versorgt werden sollte, daß es zugrunde geben müsse. Es spricht
wohl alles dafür, daß sich hier in diesem gefäßreichen Bezirk, ebenso
wie anderwärts, Kollateralbahnen entwickeln, worauf schon Henckel
hinweist. Und dann ist noch ein zweites Moment zu berücksichtigen,
auf das auch Henckel aufmerksam macht, daß nämlich degenerative Ver-
änderungen (am eireifenden Parenchym) frühestens ein Jahr nach
Entfernung des Uterus festzustellen sind. Es besteht also keine Ab-
hängigkeit von der Gefäßversorgung. Ich meine, daß sich diese Be-
funde vielleicht durch eine Abhängigkeit der innersekretorischen
Funktion des Ovariums von der hypothetischen des Uterus
erklären ließen.
Diese Abhängigkeit zeigt sich noch anderwärts. Bei Myomen
kommen stark vergrößerte Ovarien vor, und der histologische Befund
spricht wohl für eine Steigerung der Sekretion dieser Ovarien. Ich
fand in diesen Myomovarien neben stark vergrößerten Blutgefäßen,
stark vermehrtem Bindegewebe eine große Zahl von Follikeln in Zysten
umgewandelt. Ober den Epithelbesatz einzelner dieser Zysten läßt
sich streiten, die Begrenzung vieler wird aber von vielen Lagen proto-
plasmareicher Zellen gebildet, deren Abstammung aus Körnerzellen
der Theka unzweifelhaft ist, wie auch die völlige Analogie mit den
FoUikelluteinzellen im Ovarium Schwangerer. Manche Autoren suchen
nun den Grund für diese Steigerung in einer gesteigerten Toxinbildung
im Myom; es ist fraglich, ob dieses wirklich zu einem vermehrten Stoff-
wechsel Anlaß gibt, es liegt meiner Ansicht nach vielleicht näher, die
Ursache in einer gesteigerten Sekretion der Uterusschleimhaut zu
suchen. Daß bei Myomen die Uterusinnenfläche an und für sich ver-
größert ist, brauche ich kaum zu erwähnen, außerdem ist sehr häufig
die Schleimhaut mächtiger, und der relative Drüsenreichtum größer,
auch ist der Intervall zwischen den Blutungen häufig ein kürzerer,
also ein rascheres und stärkeres Ansteigen der Toxizität. Demgegen-
über hypertrophiert meiner Vermutung nach das Ovarium, seine
stärkere Funktion ist an der starken, langandauernden Blutung zu er-
kennen. Daß die Ursache nicht im Myom, sondern in der Schleim-
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11] Die wechselseitigen Beziehungen der innersekretorischen Organe usw. 43 1
haut gelegen i»ty dafür spricht der zeitweilige Erfolg der Auskratzung;
dieselbe kann unmöglich auf die Stoffwechselvorgänge im Myom einen
Einfluß ausüben t sondern auf die Schleimhaut selbst , indem diese
längere Zeit braucht, um dieselbe Mächtigkeit wie früher zu erlangen.
Einen weiteren Beweis für die Abhängigkeit des Ovariums vom Uterus
sehe ich in der Verkleinerung der Myomovarien nach Enukleation der
Myome.
Man könnte zwar gerade diese Erfahrungstatsache zugunsteü der
Ansicht Henckels verwerten, daß die Steigerung der Funktion des
Qvariums direkt auf die Myome bzw. ihre Kapsel zu beziehen ist.
Aber mit Rücksicht auf die oben angeführte Beobachtung hinsichtlich
der Auskratzung ist wohl nur die Erklärung zulässig, daß die Aus-
schälung auf die Uterusschleimhaut einwirkt, wofQr wir ja Beweise
genug haben, und daß die Rückbildung der Schleimhaut die Rück-
bildung der Ovarien zur Folge hat. He n ekel führt als weitere Stütze
seiner Ansicht an, daß Ausfallserscheinungen nadi Exstirpation myo-
matöser Uteri sehr häufig sind, daß er aber nach Bxstirpation von karzi-
nomatösen Uteri diese sehr selten beobachtet hat. Demgegenüber
ist es aber auffallend, daß wir nach Exstirpation von Uteri aus an-
deren Gründen, beispielsweise bei Prolaps, Adnextumoren, doppel-
seitigen Ovarialzysten Ausfallserscheinungen sehr häufig sehen. Es
läßt sich daher, glaube ich, aus diesen Beobachtungen nur das eine
schließen, daß der Uterus irgendeinen Einfluß auf die Ausfallserschei-
nungen hat. Des weiteren meint He n ekel, daß in den Fällen von
Erhaltung der Menstruation durch Konservierung eines Uterusrestes
bei gleichzeitig bestehenden Ausfallserscheinungen der vorhandene
Uterusrest groß genug war zur Erzeugung der Antikörper, um der bis
dahin gesteigerten Ovarialfunktion entgegenzuwirken. Gerade hier
zeigt .sich die Unzulänglichkeit der Henckelschen Erkläi;uQg, da
damit die Lehre von der antitoxischen Funktion der Ovarien, die
durch zahllose Versuche und therapeutische Anwendung desOvarial-
extraktes sichergestellt zu sein scheint, bankrott erklärt wird. Meiner
Ansicht nach liegt die Erklärung viel näher, daß das Fehlen der Aus-
fallserscheinungen, in einem Teil der Fälle darauf zurückzuführen ist,
daß das Stückchen Uterusrest genügte^ um die Ovarialfunktion zu er-
halten, daß aber in den Fällen, wo Ausfallserscheinungen auftraten,
die Ovarialfunktion nur soweit erhalten blieb, daß es zwar zur Blu-
tung, aber nicht zur genügenden Entgiftung des Organismus kam.
Dies stünde in Analogie mit den Ausfallserscheinungen, die wir auch
meist gelegentlich der Menstruation beobachteten und auf Hypo-
funktion des Ovariums zurückführen. Daß meine Erklärung wahr-
scheinlicher zu sein dünkt, wird auch durch die Beobachtung
33*
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432 Otfried O. Fellner, [12
Heiickels bestätigt, daß nämlich nach Enukleation von Myomen Aus-
fallserscheinungen nicht vorkommen. Wenn tatsächlich das Muskel-
gewebe um die Myome antitoxisch wirkt, müßte der Wegfall dieses
Gewebes — nach Henckel wird das Myom mitsamt der Kapsel ent-
fernt — insbesondere bei der gesteigerten Ovarialtätigkeit zu Ausfalls-
erscheinungen führen. Henckel stellt in einer weiteren Arbeit die
interstitiellen Myome in Gegensatz zu den subserösen und submukösen
und meint von letzteren, daß hier die Menstruation zur regelmäßigen
Zeit erlischt und daß ferner hier keine spezifischen Veränderungen
an den Ovarien vorkommen. Dem kann ich nicht zustimmen. Unter
den 6 von mir untersuchten Myomovarien fand sich 1 bd rein
submukOsem Myom. Es zeigte ganz dieselben Veränderungen wie die
anderen, ganz abgesehen davon, daß im allgemeinen doch die An-
sicht vorherrscht, daß bei submukösem Myom die Menstruation nicht
zur gesetzmäßigen Zeit erlischt. Ich ging auf diesen Gedankengang
Henckels genau ein, da er doch mit ziemlicher Deutlichkeit darauf
hinweist, daß dem Uterus eine innere Sekretion zukommen dürfte.
Außerdem möchte ich noch kurz erwähnen, daß sich diese Ab-
hängiglceit des Ovariums vom Uterus auch noch sehr deutlich in der
Schwangerschaft dokumentiert, worauf ich in einer anderen Arbeit
zurückkommen werde; nur so viel sei hervorgehoben^ daß ich dort den
Nachweis dafür zu bringen versuche, daß sich das Ovarium in der
Schwangerschaft in dem Zustande erhöhter sekretorischer Tätigkeit
befinde.
Läßt sich nun die hypothetische sekretorische Funktion des Uterus
auch histologisch nachweisen? In der prächtigen Arbeit von Hitsch-
mann und Adler^) ist von einer sekretorischen Tätigkeit derUterus-
drfisen im prämenstruellen Stadium die Rede. Dies ist aber eine
Sekretion nach außen, die ihren Höhepunkt kurz vor der Blutung
erreicht. An ein einfaches Durchwandern des Sekretes durch das
Epithel ist wohl nicht zu denken. Die Granulierung und Vakuolisie-
rung des Protoplasmas, die ich auch an analogen eigenen Präparaten
nachweisen konnte, läßt sich nur so deuten, daß gewisse Stoffe dem
Blute entnommen werden und vermittels der Granula die Permeabi-
lität erlangen. Können wir nun annehmen, daß es sich hier einfach
um Ausscheidung blutdrucksteigernder, toxischer Substanzen handelt,
die irgendwo im Körper gebildet werden? Also um eine einfache
Filtration? Ich glaube, daß damit die Tatsachen nicht übereinstimmen.
Aus den Beschreibungen sowohl als auch aus eigenen Befunden geht
hervor, daß bereits in der prämenstruellen Zeit die sekretorische
1) Monataschr. f. Geburtshilfe, Januar 1908.
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13] Die wechselseitigen Beziehungen der innersekretorischen Organe usw. 433
Tätigkeit eine ganz bedeutende ist, und gerade zu dieser Zeit steigt
der Blutdruck noch immer bedeutend an, gerade zu dieser Zeit zeigen
sich Intoxikationserscheinungen. Es wäre nun denkbar ^ und viel-'
leicht sprechen die Vakuolen an der Basis der Zellen dafür — , daß
durch die Tätigkeit dieser Zellen, ähnlich anderen sekretorischen, dem
Blute Stoffe entnommen werden, die schließlich zur Ausscheidung
kommen, wobei die Schlacken dieses Stoifwecbselyorganges das ge-
suchte Toxin darstellen. Der Höhepunkt der äußeren Sekretion wäh-
rend der Menstruation stellt nach der Beschreibung der Autoren
geradezu ein Zugrundegehen dieser Zellen dar. Und so wäre es
leicht erklärlich, warum in der prämenstruellen Zeit, wo die sekre-
torische Tätigkeit der Drüsen einsetzt, ein Ansteigen der Toxizität
statthat, und mit dem Höhepunkt der Sekretion, in dem nicht allein
relativ viel ausgeschieden wird, sondern die die Toxizität bedingenden
Zellen zugrunde gehen, die Toxizität abnimmt, ganz abgesehen von der
antagonistischen Wirkung des Ovarialsekretes. Noch ein weiterer
Befund an der Uterusschleimhaut fällt auf, und das ist die starke
Granulierung der Bindegewebszwischenzellen. Ich will hier nur auf
die Versuche Schückings hinweisen, der aus dem Fruchthalter ein
Metrotoxin darstellte, das nicht allein giftig wirkte, sondern auch
Blutungen erzeugte. Sieht man in der Deciduazelle den Ausdruck für
die Hypertrophie der Bindegewebszelle infolge gesteigerter Sekretion,
wie in der FolHkelluteinzelle die Steigerung der Sekretion der Theka-
zelle, so könnte man vielleicht auch an eine sekretorische Funktion
der Bindegewebszwischenzellen denken, die in der Gravidität zu Deci-
duazellen hypertrophiert sind. Man würde dann begreiflich finden,
warum gerade zur Zeit der Menstruation sich Deciduazellen finden
und warum gerade die Dysmenorrhöe mit einer gesteigerten Decidua-
bildung einhergeht. Man könnte die nervösen Erscheinungen der Dysme-
norrhöe als Folge der starken Intoxikation infolge der gesteigerten
Sekretion durch Hypertrophie der Bindegewebszellen bis zur Decidua-
zelle ansehen. Ein sicherer Schluß aus der Histologie der Uterus-
schleimhaut auf das Bestehen der inneren Sekretion des Uterus läßt
sich freilich derzeit nicht ziehen.
Ein Bestätigung dieser Ansicht von der Sekretion des Uterus und
weiterhin von der Abhängigkeit der Ovarialsekretion und Ovarialerhal-
tung von der uterinen Sekretion wäre gegeben, wenn wir ähnliche Befunde
beim Manne erheben könnten. Tatsächlich liegen solche Versuchs-
ergebnisse vor. Sarralach und Pares^) haben Hunden die Prostata
entfernt. Hierauf fehlten alle Sekretionserscheinungen an den übrigen
1) Zur Physiologie der Prostata und des Hodens. Soci6t6 de biol. de Paris
28. XII. 1907.
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434 Otfried O. Fellner, [14
Geschlechtsorganen und es trat Atrophie des Hodens auf. Verffitterte
man Glyzerinextrakte der Prostata, so kam es nicht zur Atrophie des
Hodens, und auch die Ejakulation war möglich. Spermatozoen zeigten
sich Im Sperma. Es wäre also dann die Prostata innersekretorisch
dem Uterus, die Hoden dem Ovarium gleichzustellen.
Aus allen diesen Erfahrungen ergibt sich die Vermutung, daß der
Uterus intern sezerniert, daß dieses Sekret einen Teil jener
Toxine bilde, welche das Ansteigen der Welle bewirten,
daß das Ovarium entgiftet, und daß zwischen beiden Sekre-
tionen und Organen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht.
Dies stimmt recht gut mit den Erfahrungen Grammatikatis ^), daß
die Molimina menstrualia nach Zurücklassen der Ovarien mit viel
schwereren Erscheinungen einhergehen, daß hier die Störungen viel
schwerer sind als nach Kastration. Ähnlich lauten auch die Äuße-
rungen von Fehling^) und Alterthum«). Aus einer Arbeit von
Buschbeck ^) geht hervor, daß bei Zurücklassen der Ovarien in der
ersten Zeit zwar Beschwerden vorhanden waren, daß sie später aber
aufhörten. Wenn bei Zurücklassen der Ovarien Störungen vorhanden
sind, so kann man dies nur so erklären, daß diese Ovarien, obwohl
sie vielleicht äußerlich und auch mikroskopisch nichts Abnormes,
insbesondere hinsichtlich der Eireifung (obwohl auch hier gegen-
teilig zu deutende Befunde vorliegen) boten, doch sekretorisch in-
sufflzient waren, wie ich vermute deshalb, weil die antagonistische
Sekretion des Uterus fehlte. Allmählich treten andere Organe für
das Ovarium ein, und so wird das Gleichgewicht wieder hergestellt.
Auf einige hier nicht zitierte Arbeiten will ich nicht eingehen; sie
stützen sich entweder auf anatomische Befunde, wobei das Erhalten-
sein der Ovulation als beweisend für das Erhaltensein der Sekretion
aufgefaßt wird, eine Annahme, der man sicherlich nicht zustimmen
kann, zum Teil stützen sie sich auf eine so kleine Zahl von Fällen,
daß sie dem Vergleich mit dem großen und sorgfaltig beobachteten
Material aus der Klinik Schauta nicht standhalten. Und deshalb
nahm ich im vorhergehenden insbesondere auf dieses Rücksicht.
Ein Punkt wird zwar vielfach hervorgehoben, aber nicht besonders
berücksichtigt, und kommt in den Statistiken nicht zum Ausdrucke:
Es ist das Alter der Pat. Es wurde vielfach beobachtet, daß bei
älteren Pat. die Kastration zumeist ohne Beschwerden verläuft. Von
1) Zcntralbl. f. Gyn. 1889, VII.
2) Beitr. zur Geburtsh. Bd. 1.
3) Beitr. zur Geburtsb. Bd. 2 und I. D. Freiburg 1895.
4) Arch. f. Gyn. Bd. 56.
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15] Die wechselseitigen Beziehungen der innersekretorischen Organe usw. 435
diesem Gesichtspunkte aus sollten ältere Frauen aus den Vergleichs-
Statistiken ganz ausgeschieden werden, was nirgends geschieht. Obiges
Faktum ist natürlich leicht zu erklären; die interne Sekretion bei die-
sen alternden Organen durfte eine allmählich abnehmende sein, und
andere Organe springen, soweit dies notwendig ist, für sie ein. Wird
hier kastriert, so werden minderwertige, mehr oder minder bereits
nebensächliche Organe entfernt, die Ausfallserscheinungen fehlen oder
sind sehr gering.
Von neueren Arbeiten sei zunächst die von Burckhard^) erwähnt.
Zurücklassung der Ovarien macht das Auftreten der Molimina häufig
(22 %), ändert nichts an der Häufigkeit der Ausfallserscheinungen. Für
uns ist besonders bemerkenswert, daß die supravaginale Amputation
ungünstigere Resultate in bezug auf die Ausfallserscheinungen gibt
als die Totalexstirpation, also völlige Obereinstimmung mit den Schlüs-
sen, die ich oben aus Tabelle II der Arbeit von Mandl und Bürger
gezogen habe.
Aus der Arbeit Werths^) sei folgendes hervorgehoben. Bei Mit-
nahme der Ovarien in 84% Ausfallserscheinungen. Bei supravaginaler
Amputation mit Belassung der Ovarien in ca. 65 % Ausfallserscheinun-
gen. Die nach 3 Jahren untersuchten Fälle ergaben aber in 85% Ausfalls-
erscheinungen. Die geringe Verminderung der Zahl der Ausfallserschei-
nungen kurz nach der Operation läßt sich leicht dahin erklären, daß
entsprechend der relativ geringeren Sekretion aus dem Uterusstumpf
die Ovarialsekretion sich zunächst mitunter als suffizient erwies; später
reichte entweder die Sekretion des Uterus nicht mehr aus, um die
der Ovarien zu erhalten, oder die Sekretion des Uterusstumpfes si-
stierte, wodurch es auch zum Funktionsstillstand des Ovarium kam,
und so traten Ausfallserscheinungen auf und zwar in gleicher Häufig-
keit wie bei Mitnahme der Ovarien. Daß in 6 Fällen Menstruationsblu-
tungen bei gleichzeitigen Ausfallserscheinungen bestanden, spricht
wohl zugunsten der hier vertretenen Theorie, daß die Sekretion der
Ovarien abhängig ist von der Sekretion des Uterus. Da letztere hier
nur eine geringe ist, kann nach der hier vertretenen Theorie erstere
auch nur gering sein, und es fehlt daher oft eine ausreichende Ent-
giftung. Die übrigen hier nicht erwähnten Arbeiten (s. diesbezüglich
das Buch von Mandl und Bürger) geben zu ähnlichen Schlüssen
Anlaß wie die zitierten.
Was die Zeit des Eintrittes der Ausfallserscheinungen anlangt^
so ist es klar, daß bei Mitentfernung der Ovarien, dem plötz-
1) Zeitschr. f. Geburtsh. Bd. 43.
2) Klin. Jahrb. 1902, Jena.
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436 Oftried O. Fellner, [16
liehen Wegfall eines entgiftenden Organes, die Ausfallserscheinungen
zumeist sofort einsetzen (48%), während bei Belassung erst die all«
mählich einsetzende sekretorische Insuffizienz der Ovarien die Erschei-
nungen entstehen läßt (30% gleich nach der Operation).
Nur nebenbei sei erwähnt, daß die viel zitierte Statistik eine Abhängig-
keit der Atrophie des äußeren Genitals von der Sekretion kaum er-
kennen läßt. Wenn die Atrophie bei Belassung der Ovarien in 25%,
sonst in 36% auftritt, so liegt es wohl näher an mangelhafte Ernährung
infolge der schlechten Gefäßversorgung zu denken. Die Atrophie
müßte sonst doch häufiger sein.
Einzelne Details in der Menstruationstheorie blieben noch zu er-
läutern. Wodurch wird die Blutung hervorgerufen, durch das hypo-
thetische Uterus- oder Ovarialsekret? Ich meine durch letzteres,
welches Störungen im Uteruskreislauf zu erzeugen imstande ist Ich
verweise diesbezfiglich auf die Beobachtungen Gellhorns, der durch
Ovarialtabletten Blutungen hervorrief, ebenso auf die Erfahrungen
van de Veldes. Daß es sich hier nur um Blutüberfällung handelt,
zeigt die Mitteilung Temesvarys^ die sich auf viele Erfahrungen
anderer Autoren stützt, daß man nämlich durch Senfkataplasmen auf
die Brust die Menstruation (sc. Blutung) hervorrufen könne. Ich
verweise auf die schon erwähnten Versuche vonFicarelli und Hol-
terbach und jene von Deal es. Hervorrufung der Brunst durch Yo-
himbin betreffend. Von Interesse ist auch der Fall von Blondel
und SendraP). Nach Verlust der Menses kam es zu einem Glau-
kom, das auch die Iridektomie nicht beseitigen konnte. Durch Ova-
rienkapseln, Apiol, Aloe und Eisentartarat gelang es die Menses her-
vorzurufen und das Glaukom zu heilen. Hierher gehören auch wohl
die Erfolge der Organotherapie bei Chlorose.
Auch die langdauernden Blutungen bei Myom lassen sich auf
die verstärkte Sekretion der Myomovarien zurückführen. Es
könnte zwar auch die vermehrte Sekretion der hyperplastischen Uterus-
schleimhaut die starken Blutungen verursachen; aber Rön^enbe-
strahlungen der Ovarien bei Myom mit ihrer guten, sofortigen Wir-
kung auf die Blutungen (Faveau de Courmelles, M. Fränkel usw.)
sprechen wohl entschieden für die Anschauung, daß es das Ovarial-
sekret ist, das die Blutungen erzeugt. Es sind überhaupt die Resultate
der Röntgenbestrahlungen, die mit aller Deutlichkeit darauf hinweisen,
daß das Ovarialsekret die Blutungen hervorruft. Man könnte zwar
bei obigen Versuchen an Myomovarien meinen, daß die Verringerung
der Sekretion der Ovarien auf die Uterusschleimhaut einwirke, und
1) Journ. of obstetr. 1903.
2) La Gyn6c. F6vr. 1904.
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17] Die wechselseitigen Beziehungen der innersekretorischen Organe usw. 437
daß so erst die Blutungen beeinflußt werden. Aber solche Rückbil-
dungen der Uterusschleimhaut — und nur darum könnte es sich
handeln — auf Grund des verringerten trophischen Einflusses der
Ovarien brauchen erfahrungsgemäß erst längere Zeit^ die Schwächung
der Blutung tritt aber sofort ein. Und so möchte ich wohl annehmen,
daß die Blutung durch das Ovarialsekret hervorgerufen wird.
Nur die obenerwähnten Versuche von Schficking scheinen da-
gegen zu sprechen; denn das Metrotoxin erzeugt auch Blutungen.
Vielleicht erfolgt die Blutung auf dem Umwege über die Ovarien,
indem durch das Metrotoxin das Ovarium zur Sekretion angeregt wird,
und so die Blutung einsetzt; ebenso wie ich mir vorstelle, daß durch
die starke Vergiftung des Organismus von selten des hypothetischen
Uterussekretes die Sekretion des Ovariums maximal gesteigert wird
und die Blutung erzeugt.
Nicht zu entscheiden ist derzeit die Frage ^ ob die interstitiellen
Zellen des Ovariums oder die Luteinzellen die Träger der Sekretion
sind. Es scheint doch ein kleiner Unterschied zwischen diesen Zellen
zu bestehen. Denn Lampe rt^) beobachtete eine hohe Giftigkeit
des Extraktes der gelben Körper, eine Giftigkeit, welche die Eier-
stöcke ohne gelben Körper nicht besitzen. Für die Abhängigkeit
der Menstruation von den Luteinzellen sprechen neuerdings die
Untersuchungen von P. Ancel und F. Vi 11 em in 2). Sie fanden
eben gesprungene Follikel nur bei Frauen, welche 14 Tage vor-
her die Regel hatten, wo also die nächste Periode in 12 Tagen
hätte stattfinden sollen. Der gelbe Körper bilde sich zur Zeit der
Periode aus und degeneriere unmittelbar nachher. Zu ähnlichen Re-
sultaten führen die beiden Autoren auch Versuche mit Ektopie des
Ovariums 3), Versuche, die freilich nicht ganz einwandsfrei sind, eben-
sowenig wie die Deutung. Die Bemerkung, daß die Zellen der Glande
interstitielle keine Veränderung zeigten, ist wohl absolut nicht verwert-
bar. Zu anderen Schlüssen kommen Leopold und Ravano^). Es
kann (freilich größtenteils auf Grund makroskopischer Beobachtungen)
Ovulation ohne Menstruation vorkommen und Menstruation ohne Ovu-
lation. Die letztere fand in mehr als einem Drittel der Fälle nicht
gleichzeitig mit der Menstruation statt. Immerhin ergibt sich meines
Erachtens doch in der Mehrzahl der Fälle eine gewisse Abhängigkeit der
Menstruation von der Ovulation, andererseits neige ich zu der Ansicht,
daß die interstitiellen Zellen gleichfalls innersekretorische
1) Comptes rendus de la Soc. de biol. Janv. 1907.
2) Soc. de biol. Paris Juillet 1907.
3) Soc. de biol. Paris AoQt 1907.
4) Soc. de biol. Paris Juillet 1907.
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438 Otfried O. Fellner, [lg
Kraft besitzen^ vielleicht in gleichem Sinne, aber in relativ ver-
mindertem Maße wie die Luteinzellen. Ich verweise diesbezüg-
lich und hinsichtlich der sonstigen Literatur auf meine anderen
einschlägigen Arbeiten^). Auch die Untersuchungen von Regaudund
Dubreuil (Soc. de biol. de Paris F6vr. 1008) können mich nicht
vom Gegenteil überzeugen. Insbesondere auf Grundlage des makro-
skopischen Aussehens und des Gewichtes der Ovarien kommen die
beiden Autoren zu dem Schlüsse » daß zwischen der Glande inter-
stitielle und der Brunst ein Zusammenhang nicht bestehe. Es handelt
sich hier jedenfalls um Sekretionserscheinüngen, und dies^ lassen sich
wohl zur Zeit der Brunst und kurz nachher nicht mehr nachweisen.
Ich würde daher der Ansicht zuneigen, daß die Entgiftung des
Organismus durch die innere Sekretion der interstitiellen
Zellen und der Luteinzellen erfolgt. Die Tätigkeit der inter-
stitiellen Zellen dürfte eine geringe sein und während der ganzen
Dauer des Intervalls bestehen, da diese Zellen zur Zeit der Menstrua-
tion nicht wesentlich anders aussehen als sonst. Vielleicht erfahrt
diese Sekretion zur Zeit der Menstruation eine Steigerung, doch fehlt
hiefür noch jeder histologische Beweis; nur der Umstand, daß es eine
Menstruation ohne Eireifung gibt (Leopold und Ravano, Hensen,
Müller u. a.) spricht für diese Annahme. Außerhalb der Menstru-
ation ist natürlich diese sekretorische Tätigkeit der interstitiellen Zellen
sehr gering, sie vermag der vermuteten Tätigkeit des Uterus nicht
kräftig entgegenzuarbeiten. Unabhängig von diesen Vorgängen reifen
Eier. Hat ein Follikel eine entsprechende Größe erreicht, so springt
er, die Granulosazellen, welche das Ei bisher ernährt haben, gehen
zugrunde, und der starke Blutzufluß zum Follikel, der bisher von den
Granulosazellen absorbiert wurde, führt zur Hypertrophie der Theka-
zetlen; die Luteinzellen sezernieren und vermehren sich, sobald die
maximale Toxizität des Blutes ihre Sekretion anregt, also zur prä-
menstruellen Zeit, kurz nachher degenerieren sie. Diese Theorie ist
also nicht an eine bestimmte Zeit des FoUikelsprunges gebunden und
trägt der Erfahrung Rechnung, daß der Follikelsprung zumeist vor
1) O. O. Fellner, Neuere Ergebnisse aus den Forschungen über das Corpus
luteum. Med. Klinik 1906,42. — O. O. Fellner und F. Neumann, Ober
Röntgenbestrahlung der Ovarien in der Schwangerschaft. Zentralbl. f. G3rn. 1906» 22.
Der Einfluß der Röntgenstrahlen auf die Eierstöcke trächtiger Kaninchen und auf
die Trichtigkeit. Z'eitschr. f. Heilkunde Bd. 28, H. 7. — Über den Einfluß des Cbo-
lins und der Röntgenstrahlen auf den Ablauf der Gravidität. Muncheaer med.
Wochenschr. 1907, 23. Ferner meine demnächst erscheinenden Arbeiten: ^^Ober
die Tätigkeit des Ovariums in der Schwangerschaft^ . und „Zur Histologie des
Ovariums in der Schwangerschaft".
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19] Die wechselseitigen Beziehungen der innerseketrorischen Organe usw. 439
der Periode erfolgt. Auch dieser Umstand ist nunmehr leicht zu er-
klären, da die zunehmende Sekretion der interstitiellen Zellen zu einer
zunehmenden Blutfülle der Ovarien und somit zu einer allmählich
sich steigernden besseren Ernährung des Eies führt.
Sollte sich die Annahme einer Uterussekretion weiterhin bestätigen,
so ergibt sich folgende Theorie der Menstruation, die freilich noch einiger
starker Stützen bedarf: Durch die innersekretorische Tätigkeit
des Uterus kommt es zu einer allmählich sich steigernden
Vergiftung des Organismus, welche wahrscheinlich die Se-
kretion der interstitiellen Ovarialzellen steigert, welche
Steigerung wieder zu einer stärkeren Blutfülle in den Ge-
nitalgefäßen und somit zur Reifung der Follikel führt, und
ihr Maximum vor der Periode erreicht, demnach die Berstung des
Follikels gewöhnlich vorher eintreten läßt. Durch den Wegfall
des Eies werden die Thekazellen besser ernährt und entwickeln sich
zu Luteinzellen. Die maximale Vergiftung des Organismus
löst eine starke Sekretion, vielleicht der interstitiellen Zellen, sicher
aber der Lutefnzellen aus. Diese Sekretion wieder entgiftet
nicht allein den Organismus durch ihre antagonistische Wirkung,
sondern führt auch zu Blutungen aus dem Genitale, wodurch ein
weiterer Faktor der Entgiftung gebildet wird. Schließlich löst sie
auch die äußere Sekretion der inzwischen herangewachsenen Drüsen
aus. Was hier ausgeschieden wird, ist fraglich. Mag sein da&uterine
Sekret, ein weiterer Faktor der Entgiftung, mag sein das ovarielle
Sekret; vielleicht auch beide. Daß ovarielles Sekret auch mit se-
zerniert wird, dafür spricht der Umstand, daß wie BelH) nachge-
wiesen hat, durch den Uterus Kalk ausgeschieden wird, und anderer-
seits die Tätigkeit des Ovariums mit Kalkausscheldung einhergeht.
Dies ist die Theorie, die sich auf Grund eigener Untersuchungen
und der bisherigen Forschungsergebnisse ergibt. Manches bedarf
natürlich noch sehr der Bestätigung, andererseits kann jede neue Tat-
sache die Theorie ganz oder zum Teil umstürzen, aber soweit die
heutigen Kenntnisse reichen, scheint sie meiner Ansicht nach alles
zu erklären.
II. Die innersekretorischen Organe und das Ovarium.
Um das Verhältnis der innersekretorischen Organe zum Ovarium
verstehen zu können, muß man sich vorerst über das Verhältnis der
einzelnen Organe zueinander im allgemeinen klar sein. Bei der
1) Brit. med. Jöurn. 1907, 2716.
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440 Otfried O. Felloer, [20
genauen Durchsicht der Literatur drängen sich folgende Leitsätze auf,
deren Richtigkeit durch die Literaturangaben bewiesen werden soll.
Wir haben im wesentlichen 3 Paare von sekretorischen Drüsen zu
unterscheiden: Ovarien und Uterus, Schilddrüse und Nebenniere (es
dürften da antagonistisch noch andere Drüsen in Betracht kommen,
doch erwähne ich der Einfachheit halber nur die bedeutendste) und
die Hypophysis. Letztere sezerniert sowohl blutdrucksteigernde als
auch blutdrucksenkende Substanzen, doch überwiegt zumeist die erstere,
wie in allen anderen Paaren. Die Tätigkeit dieser Drüsen ist wohl
so aufzufassen: Im Organismus gehen eine Reihe von Stoffwechsel-
vorgän^fen vor sich, unter denen giftige, blutdrucksteigernde das
Übergewicht haben. Um hier regulierend einzuwirken, sind bei den
höheren Tieren und beim Menschen innersekretorische Organe ein-
geschaltet, die diese Stoffe unschädlich machen, was insbesondere
hinsichtlich der Psyche und der Intelligenz von Wichtigkeit ist, die
aber gleichzeitig den Blutdruck herabsetzen. Da dies aber natürlich
das Leben gefährden würde, sind noch blutdrucksteigernde Organe
vorhanden. Schaltet man ein blutdrucksteigerndes Organ aus, so
müßten natürlich die anderen hypertrophieren. Hier fehlen größten-
teils entsprechende Versuche, und hinsichtlich des inneren Genitales
muß man auf die hier herrschenden speziellen Verhältnisse Rücksicht
nehmen, da Exstirpation der Ovarien zur Atrophie des Uterus führt,
und wahrscheinlich umgekehrt Exstirpation des Uterus mit der Zeit
häufig die sekretorische Insuffizienz oder allgemeine Atrophie der
Ovarien zur Folge hat, wie ich oben ausgeführt habe»
Steigerung der Tätigkeit eines blutdrucksteigernden Organes hat
verstärkte Tätigkeit nicht allein des zugehörigen antagonistischen
Organes, sondern aller anderen zur Folge z. B. Myom— Myomovarium
(Metrorrhagien) — Struma — ^Myomherz, unter der Voraussetzung, daß
obige Hypothese betreffs der Uterussekretion richtig ist. Steigerung
der Tätigkeit eines entgiftenden Organes kann Steigerung aller blut-
drucksteigernden und konsekutiv auch aller entgiftenden Drüsen zur
Folge haben: Basedow — verstärkte Menstruation* Doch ist hier
zu bedenken, daß die Steigerung der sekretorischen Tätigkeit der
Schilddrüse die Entgiftung des Organismus konstant in so starkem
Maße besorgt, daß die Tätigkeit des Ovariums kaum angeregt wird,
und es daher zum Ausbleiben der Menstruation und schließlich
zur Atrophie des Genitales kommen kann. (S. weiter unten.) Und so
sehen wir Basedow bald mit verstärkter Blutung, bald mit Atrophie
der Genitalien einhergehen. Wegfall oder Verminderung der Tätigkeit
eines entgiftenden Organes führt zur kompensatorischen Hypertrophie
der anderen entgiftenden Drüsen — Kastration (Klimax) — Struma.
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21] Die wechselseitigen Beziehungen der innersekretorischen Organe usw. 441
Fällt die Tätigkeit eines entgiftenden Organes zur Zeit fort, in der die
Sekretion der Genitalien noch keine Rolle spielt, so können diese
nicht hypertrophieren. Die gleichzeitige Hypertrophie der anderen
entgiftenden Organe und die konsekutive Verminderung der Sekretion
der antagonistischen Druse macht wahrscheinlich die Sekretion der
Genitaldrüse, welche später einsetzen sollte, fiberflüssig. Es kommt
zur Atrophie des Genitales.
Vergleicht man die physiologischen Wirkungen des Uterus- und
Ovarialsekretes, so stößt man auf große Schwierigkeiten, da die ver*
schiedenen Literaturangaben insbesondere hinsichtlich der Ovarien
zumeist diametral entgegengesetzt sind« Es ist dies auch nach dem
obenerwähnten leicht verständlich. Bei der Unkenntnis einer inner-
sekretorischen Tätigkeit des Uterus wurde manches auf die Ovarien be«
zogen, was vielleicht auf den Ausfall beider Organe oder nur des Uterus
zu beziehe^ ist. Ich will mich im folgenden bemühen, mich auf die
Angaben zu stützen, die verwertbar sind, das sind die Erscheinungen
oach Einverleibung von Ovarialsubstanz, oder unmittelbar nach der
Kastration. Zwischen Tyreoidea und Ovarien herrscht eine
gewisse Übereinstimmung der Funktionen. Thyreoidea steigert
den Sauerstoffverbrauch, jedoch bei weitem weniger als Ovarialextrakt
(Perrin und Blum^). Thyreoidea verringert den Fettgehalt des Or*
ganismus, Kastration und Klimakterium gehen mit starker Fettbildung
einher. Thyroidea setzt den Blutdruck herab 2) und ebenso das
Ovarium. Schilddrüse begünstigst das Haarwachstum, ebenso di^
Hoden. Thyreoidea erzeugt Drucksteigerung der Diurese^), Senator^
Parkon und Papinian sahen Vermehrung der Ausscheidung der Urate
nach Darreichung von Eierstockspräparaten, Verminderung nach Ent«-
fernung der Eierstöcke, das gleiche beobachtete Jeandelize nach
Thyreoidektomie. Thyreoidea vermindert die Zurückhaltung das Kal-
ziums (Moraczewski, Parkon und Papinian), ebenso das Ovarium»
Erweiterung der Gefäße durch Schilddrüse und Eierstock (Hall ion^).
Was die Ausscheidung der Phosphate anlangt, so wird diese durch
Darreichung von Ovarin vermehrt (Caratullo und Tarulli, Go-
mez), durch die Kastration vermindert, ebenso ist sie bei Myxödem
vermindert, nur Jeandelize fand eine Vermehrung der Phosphate
nach Thyreoidektomie. Worauf dieser Widerspruch beruht, ist mir
1) Rev. m^d. de Test Janv. 1906.
2) Oliver und Schata, Haskoock, Gley, Langlois.
3) Lobenstine, Bull, of the lying in hosp. of the City of New York. Dec.
1905.
4) Soc. de biol. de Paris Juillet 1907.
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442 btfried O. Fellner, [22
nicht klar. Was den Einfluß auf das Knochensy^stem betriffit, so sehe
ich auch hier völlige Obereinstimmung: ich komme darauf spater
zurück.
V. Eiseisberg fand, daß junge Tiere nach Schilddrfisenexstirpa-
tion atrophische .Genitalorgane bekamen. Hofmeister beobachtete
nach Entfernung der Schilddrüse Frühreife der Follikel. Lanz be-
richtet) daß Böcklein wie Zicklein in der ersten Jugend tyreoidekto-
miert die Fortpflanzungsfahigkeit absolut einbüßen; im fortpflanzungs-
fähigen Alter thyreoidektomierte Tiere können die Fortpflanzungs-
fähigkeit völlig verlieren. Hierher gehören auch die Versuche von
Bleib treu, der nach Bestrahlung der Schilddrüse Rückgang der
Trächtigkeit beobachtete, ebenso wie Neu mann und ich nach Be-
strahlung der Ovarien %
Ob die frühzeitige FoUikelreifung als Versuch einer kompensatori-
schen Hypertrophie, der alsbald aufgegeben wurde, anzusehen ist, will
ich dahingestellt sein lassen, sicherlich geht aus allen anderen Ver-
suchen hervor, daß Verlust der Schilddrüsenfunktion in früher
Jugend mit Atrophie der Ovarien einhergeht, entsprechend der
obigen Deutung. Hinsichtlich der Einbuße der Fortpflanzungsfahig-
keit bei älteren Tieren und hinsichtlich des Rückgangs der Trächtig-
keit sei auf eine andere Arbeit (Tätigkeit der Ovarien in der Schwanger-
schaft) verwiesen.
Daß umgekehrt Kastration Hypersekretion der Schilddrüse zur
Folge hat, ist bereits erwähnt. So beobachteten Parkon und Gold-
stein >) eine 21jährige Frau, die 6 Monate nach der Kastration eine
Vergrößerung der Schilddrüse auf das Dreifache aufwieß. Perrin und
Bläu^) berichten über einen Fall von Morbus Basedowii,der nachKastra-
tion aufgetreten war, und durch Darreichung von Ovarienextrakt
zurückging. Texion e^) fand, daß Exstirpation der Eierstöcke bei
Hunderi zur vermehrten Tätigkeit der Thyreoidea, schließlich aber zur
Atrophie führt. Von großem Interesse ist ein Fall von Grimsdale.
Es trat erhebliche Besserung des bestehenden Morbus Basedowii nach
^ 1) O. O. Fellner und F. Neumann, Der Einfluß der Röntgenstrahlen auf die
Eierstöcke trächtiger Kaninchen und auf die Trichtigkeit Zeitschr. f. Heilkunde
Bd. 28, H. 7; Dieselben, Ober den Einfluß des Cholins und der Röntgenstrahlen
auf den Ablauf der Gravidität. Münchner med. Wochenschr. 1007, 10; Ober
Röntgenbestrahlung der, Ovarien in der^ Schwangerschaft. Zentralbl. f. Gjm.
1906, 22.
2) Spitalul 1907, 22.
3) Revue m6d. de Test Janv. 1906.
4) North of Engl, obstetr. Soc. May 1904.
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23] Die wechselseitigen Beziehungen der innersekretorischen Organe usw. 443
doppelseitiger Salpingo-^Oophorektomle auf^ die wegen schwerer Dysme-
norrhöe ausgeffihrt wurde. Die Struma blieb. AusFaliserscheinungen
stellten sich nicht ein. Wir haben also ursprünglich eine Störung
des sekretorischen Gleichgewichtes gehabt, nämlich eine übermäßige
Funktion der entgiftenden Organe, insbesondere der Schilddrüse, aber
auch des Ovariums (Dysmenorrhöe!); der Wegfall eines Organes führte
zur besseren Bilanzierung, also zur erheblichen Besserung der Sym-
ptome; die Struma blieb, denn da$ Ovarium wurde durch die Sphild-
drüse ersetzt, so gut, daß Ausfallserscheinungen fehlten. Cessa^)
beobachtete gleichfalls Hypertrophie der Schilddrüse nach Abtragung
der Testikel wie der Ovarien, ebenso Mathieu das Auftreten von
Basedow nach Kastration.
Ober die Steigerung der ovariellen Sekretion (Osteomalazie) wird
in einer anderen Arbeit gesprochen werden. Doch sei hier auf das
Anschwellen der Schilddrüse während der Menstruation hingewiesen,
wobei es bis zum Ausbruch von Basedowsymptomen kommen kann,
wie dies Hermann Cohn in seiner Dissertation beschreibt.
Bei Hyposekretion des Ovariums müssen entsprechend den obigen
Auseinandersetzungen Störungen ähnlich den Basedowsymptomen auf-
treten, da die Schilddrüse zum Teil die Aufgabe des Ovariums über-
nimmt. Tatsächlich berichtet Da Ich 6 2) über solche Krankheitsfalle,
die mit vasomotorischen Störungen und solchen nervöser und dys-
peptischer Natur einhergingen. Die Behandlung mit Ovarialt^bletten
gab gute Resultate.
Auch die Chlorose wird als eine Hyposekretion des Ovariums
aufgefaßt (Prenant, Charrin, Spillmann und Etienne und De-
mange^). Ferner sei auf die Untersuchung von Lacl&re und Le-
vat, die eine Erhöhung der Toxizität des Blutserums Chlorotischer
fanden^ hingewiesen. Von besonderem Interesse sind die Versuche
von R. Breuer und von Seiler^). Bei Kastration nimmt die Anzahl
der roten Blutkörperchen und die Menge des Hämoglobins ab. Wird
hernach der Uterus entfernt, so steigt die Zahl der Blutkörperchen
und die Menge des Hämoglobins wieder. Dieses Ergebnis stimmt
recht gut mit dem oben vermuteten Antagonismus zwischen Ovarien
und Uterus. Dementsprechend hatte die oyarielle Therapie ziemlich
günstige Erfolge (Muret, Spillmann und Etienne, Jacobs, Jayle).
Es muß ferner bei Chlorose Hypertrophie der Schilddrüse nicht
1) Soc. m6d. de Boul. Mars 1904.
2) Gazette des höp. Juillet 1908.]
3) Th^se de Nancy 1898.
4) Gesellsch. der Ärzte, Wien. Juli 1903.
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444 Otfried O. Fellner, [24
selten sein (Hayem, Perrin und Blum^). Auch die bei Chlorose
auftretende Neuritis optica kann nach Berger und Loewy^) auf die
Hypersekretion der Schilddrüse zurückgeführt werden, da Coppez
(Soc. Beige d'ophthalmologie 1903) als Folge von starker medikamen-
töser Darreichung von Extrakt der Thyreoidea das Auftreten von Neu-
ritis optica beobachtete.
Hierher gehören auch die Fälle von Basedowscher Krankheit, die
während des Klimakteriums entstanden sind, so 3 Fälle von Parisot
(Bull. m6d. Janv. 1906).
Wenn auch manche Autoren die Basedowsche Krankheit mit einer
Degeneration der Schilddrüse in Zusammenhang bringen wollen, so
fehlen doch hierfür strikte Beweise, und wir wollen in folgendem
daran festhalten, daß diese Krankheit mit einer Steigerung der Sekre-
tion der Schilddrüse einhergeht. Über das Inkonstante des Befundes
an den Genitalien und die Erklärung hierfür habe ich mich schon
oben geäußert Kleinwächter ') hat Atrophie der Genitalien mit
Ausnahme des Uterus beobachtet; gerade dieses Erhaltenbleiben des
Uterus stimmt recht gut mit obiger Theorie. Sänger konnte zwar
einen derartigen Zusammenhang nicht finden.^) Daß tatsächlich häufig
weder eine Atrophie des Uterus, noch zum mindesten eine solche des
eireifenden Parenchyms auftritt, beweisen die Fälle von Schwanger-
schaft bei Morbus Basedowii trotz Ausbleibens der Regel, wie ich^)
einen solchen publiziert habe. Unter 72 Kranken Kochers hatten
nur 3 Patientinnen normale und starke Regeln. Von 8 Fällen Wil-
sons (Lancet Nov. 1906) war bei dreien die Blutung eine schwache
oder fehlte ganz, während 2 sehr starke Blutungen hatten. In einem
dieser Fälle ging eine Atrophie des äußeren und inneren Genitales
mit dem Ausbleiben der Menstruation und dem Auftreten der Base-
dowsymptome einher.
Gerade solche Fälle lassen die Vermutung aufkommen, daß mit-
unter vielleicht das Ausbleiben der Sekretion des Ovariums das Pri-
märe und die Basedowsymptome das Sekundäre sind. Denn tatsäch-
lich kommen ja in anderen Fällen stärkere Blutungen vor (Branwell,
Simpson). Langdauernde Blutungen (Gillebert d'Hercourt, Finck,
Cheadle, Haby, Kelly, Tillaux, Collin, Sansom, Sallier), ja
1) Rev. m6d. de Test Janv. 1906.
2) Über Augenerkrankungen sexuellen Ursprungs bei Frauen. Wiesbaden,
Bergmann, 1906.
3) Zeitschr. f. Geb. 1889, 16.
4) Geb. Gesellsch. Leipzig, Mai 1889.
5) O. O. Fellner, Die Beziehungen innerer Krankheiten zu Schwangerschaft
usw. Wien, Deuticke, 1903.
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2S] Die wechselseitigen Beziehungen der innersekretorischen Organe usw. 445
selbst Dysmenorrhöe sind, beispielsweise von Wilson publiziert. Im
fibrigen möchte ich nochmals auf das oben Gesagte hinweisen, daß
Basedow höchstwahrscheinlich deshalb zum Ausbleiben der Men-
snmation fährt, weil die Hypersekretion der Schilddrüse eine kon-
tinuierliche," so starke Entgiftung des Organismus herbeiführt, daß es
nicht zur Auslösung einer genügenden Sekretion des Ovariums kommt
(normaler Uterus). Daß diese Inaktivttät schließlich zur Atrophie führt,
ist selbstverständlich.
Der Wegfall der Tätigkeit der Schilddrüse — Myxödem — zu
einer Zeit, wo die Genitalien noch keine Rolle spielen, führt, wie
bereits oben erwähnt und erklärt, zu Aplasie der Keimdrüsen.
Was die Dercumsche Krankheit betrifft, welche von Sicard und
Russyi) nach Ovariotomie beobachtet wurde, so können die Erschein
nungen wohl auf den Ausfall der Eierstöcke bezogen werden. Loe-
ning^) denkt an Schilddrüsenveränderungen. Bei der Seltenheit dieser
Erkrankung könnte man sich das Entstehen derselben so erklären, daß
in diesen Fällen die Schilddrüse von vornherein nicht imstande war,
die sonst zumeist auftretende Hypersekretion nach Exstirpation der
Ovarien zu leisten und daher atrophierte.
Es wäre schließlich auch noch auf die Erfolge der Opotherapie >)
hinzuweisen. Es ist hier darauf Rücksicht zu nehmen, daß es fast
gleichgültig zu sein scheint, von welchem entgiftenden Organ man
bei Steigerung einer blutdrucksteigernden Sekretion oder bei Ausfall
bzw. Verminderung einer entgiftenden Sekretion das Präparat benützt.
Darauf wurde zu wenig Rücksicht genommen, und es wurden oft aus
den Erfolgen der Opotherapie direkte Schlüsse auf die Erkrankung
jenes Organs gezogen, von dessen Darreichung man Erfolge sah; und
dies wird man sicherlich bei Berücksichtigung der hier vertretenen
Theorien für nicht zutreffend finden. Wenn Amenorrhoe bei fetten
Personen durch Schilddrüse günstig beeinflußt wird (Philipps^), so
muß diese Amenorrhoe nicht in der Schilddrüse ihre Ursache haben,
sondern es wird gleichzeitig eine Steigerung der Schilddrüsenfunktion
und somit entsprechend den obigen Theorien eine Steigerung der
Sekretion aller entgiftenden Drüsen herbeigeführt. Wenn Blutungen
bei Darreichung von Schilddrüse mitunter geringer werden, sobald es
sich um Myome handelt, so müssen wir berücksichtigen, daß durch
1) Soc. ni6d. des Höpitaux de Paris Oct 1903.
2) Kongreß f. innere Med. München, April 1906.
3) Siehe auch O. O. Fellner, Die Opotherapie in der GynftlLologie. Therap.
Rundschau 1907, 29.
4) Lancet Mai 1901.
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446 Otfried O. Fellner, [26
die reichliche Zufuhr entgiftenden Sekretes die durch die ft'eülch
hypothetische Hypersekretion der myomatösen Uterusschleimhaut her-
beigeführte Intoxikation nicht jene Höhe wie sonst erreicht, und in-
folgedessen auch die Blutung eine geringere ist. Auch Perlsee^)
hatte mit Schilddrüse bei abnormer menstrueller Blutung guten Erfolg.
Aus dieser Zusammenstellung ergibt sich eine völlige Analogie
der Funktionen des Ovariums und der Schilddrüse. Von einem
Antagonismus, wie ihn manche Autoren annehmen, kann wohl keine
Rede sein.
Bezüglich der Hypophysis habe ich bereits oben erwähnt, daß ich
mit Vincent^) annehme, daß sie zwei verschiedene Stoffe sezemiert,
einen in Alkohol und Äther unlöslichen blutdrucksteigernden und einen
löslichen blutdrucksenkenden; für gewöhnlich überwiegt ersterer. Wir
haben es also mit der Vereinigung eines entgiftenden Organes und
seines Antagonisten zu tun. Dementsprechend hat nach Mislawski
Reizung der Seehügel eine starke Blutdrucksteigerung, Pulsverlang-
samung, Stillstand der Herztätigkeit und Veränderung der Atmung zur
Folge. Dieser Anschauung braucht es nicht unbedingt zu wider-
sprechen, wenn durch Darreichung von Hypophysenextrakt die Phos-
phorausscheidung und ebenso die Stickstoffausscheidung vermehrt wird,
freilich beide nur in unbedeutendem Maße; denn es ist zu bedenken,
daß hier zwei Antagonisten verabreicht worden.
Nach Rogowitsch^) tritt die Hypophysis vikariierend für die ent-
fernte Schilddrüse ein. Dies schließt man aus der Vergrößerung der-
selben. Es kann sich dabei selbstverständlich nur um jene Teile der
Schilddrüse handeln, die entgiftender Natur sind. Zerstörung der
Hypophysis hat nach Vassale und Sacchi dieselben Erscheinungen
wie die Entfernung der Schilddrüse zur Folge; auch hier müssen wir
auf den Wegfall des entgiftenden Teiles des Organes Rücksicht nehmen.
Andererseits hat, wieFichera angibt, Entfernung der Keimdrüse Ver-
größerung der Hypophysis zur Folge, ganz entsprechend den obigen
Leitsätzen. Tand 1er und Groß bestätigen diese Angabe. Es ist
interessant, daß, wie die beiden Autoren angeben, diese Vergrößerung
in einem Falle keine akromegalischen Symptome zur Folge hatte,
wohl der beste Beweis dafür, daß es sich um eine vikariierende Ver-
größerung handelt.
Akromegalie nennt man eine Erkrankung, die mit einer Ver-
größerung der Hypophysis einhergeht, und welche heute zumeist auf
1) Prager med. Wochenschr. 1906, Bd. 24.
2) Journ. of exper. Med. 1898.
3) Zieglers Beitrage 1889.
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27] I^ie wechselseitigen Beziehungen der innersekretorischen Organe usw. 447
dne Oberfunktion der Hypophysis zurückgeffihrt wird. Hierfür spreclien
auch jene Fälle^ wo nach Entfernung des Tumors die Erscheinungen
der Akromegalie schwanden (Hochenegg). Es fragt sich nun^ ob die
AkromegaÜe mit einer Überfunktion des entgiftenden oder des blut-
drucksteigernden Teiles des Gehirnanhangs zusammenhängt. Man
sah gute Erfolge mit Schilddrüsenbehandlung (Fröhlich, v. Frankl-
Hoch wart)'. Dies würde dafür sprechen, daß in diesen Fällen die
blutdrucksteigernde Komponente vermehrt ist. Doch ist, wie Bar-
tels^) erwähnt, zu bedenken, daß die Besserung gerade in solchen
Fällen (Berger, Bartels) dann eintritt, wenn das Präparat nicht
mehr verabreicht wird. Da das nicht in allen Fällen vorkommt, so
könnte man sich die Besserung so erklären, daß durch die Dar-
reichung des Schilddrüsenextraktes die antagonistische Komponente,
also die blutdrucksteigernden Drüsen zur Tätigkeit allmählich angeregt
werden, und daß die überdauernde Überfunktion dieser Drüsen die
Besserung herbeiführt; es wäre dann die Akromegalie die Folge-
erscheinung einer Vergrößerung der Hypophysis, die vor allem auf
einer vermehrten Funktion der blutdrucksenkenden Komponenten be-
ruht Schwer zu erklären ist dann, wieso die Darreichung von Hypo-
physensubstanz zu einer Besserung der Symptome führt (Axenfeld,
Elschnig, Fleischl, Uthof). Man müßte sich dann vorstellen, daß
in diesem Tumor das ganze blutdrucksteigernde Gewebe zugrunde
gegangen ist, und daß die Zuführung der entgiftenden Substanz durch-
Hypophysenextrakt zur Herbeiführung einer Entgiftung genügt, was
nicht sehr plausibel erscheint, wie denn überhaupt die Erklärung der
therapeutischen Erfolge auf Grund der vorerwähnten Annahmen der
Schwierigkeiten genug bietet.
Geht man aber, was logischer zu sein scheint, von der letzteren
Erfahrung aus, so ist anzunehmen, daß bei der Vergrößerung der
akromegalischen Hypophysis das blutdrucksteigernde Gewebe zugrunde
gegangen ist, und daher die Zuführung von Hypophysenextrakt von
Nutzen ist. Die Besserung nach Aufhören der Behandlung mit Schild-
drüsenextrakt ist dann viel leichter in logischer Weise zu erklären*
Während der Darreichung von Schilddrüsenextrakt werden die der
Schilddrüse direkt antagonistischen Drüsen zur vermehrten Tätigkeit
angeregt und hypertrophieren. Der augenblickliche Effekt auf die Akro-
megalie wird daher, da sich das künstlich zugeführte Sekret mit der
durch die Darreichung erzeugten Hypersekretion der Antagonisten so
ziemlich das Gleichgewicht hält, ein sehr geringer sein. Setzen wir
die Schilddrüsenmedikation aus, dann dauert die Sekretion der hyper-
1) Naturwissenschaftlicher Verein Straßburg^ Nov. 1907.
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448 Otfried O. Pellner, [28
trophierten antagonistischen Drüsen noch eine Zeltlang an, ohne dafi
entgiftende Substanz zugeführt wird, und der Überfunktion des blut-
drucksenkenden Sekretes der akromegalischen Hypophysis wird da-
durch entgegengearbeitet. Dieser Anschauung entsprechend, die ich
nach dem heutigen Stande der Erfahrungen akzeptieren möchte, ohne
mich aber, da mir eigene Untersuchungen diesbezüglich nicht zu
Gebote stehen, dafür einzusetzen, würde die akromegalische tiypophysis
einer Drüse entsprechen, welche vorwiegend entgiftendes Sekret
produziert; sie wäre also, was ihren EinfluQ auf die anderen Drusen
betrifft, der Schilddrüse und dem Ovarium gleichzustellen.
Wir finden dementsprechend bei der Akromegalie die Schilddrüse
sehr häufig vergrößert, und wie Pineles (Volkmanns Sammlung kUo.
Vorträge 242) beobachtet hat, finden sich unter den konstanten Er-
scheinungen der Akromegalie eine Anzahl Störungen, die sich beim
Morbus Basedowii wiederfinden. Mendel beschreibt einen Fall von
Hypophysentumor, Struma, Persistenz der Thymus, Mastitis und
zystischen Tumor der Ovarien, A. FränkeP) einen Fall von Hypo*
physentumor, Struma, knotiger Verdickung im Pankreas und Ovarial-
zyste. Ebenso findet sich nach Claude') bei Morbus Basedowii Akro-
megalie. Dies stimmt mit den obigen Leitsätzen, daQ Hyperftinktion
einer entgiftenden Drüse die der andern zur Folge hat. Ebenso hat
auch Überfunktion der Schilddrüse das gleiche an der Hypophysis zur
Folge. Ja, es gibt Autoren, wie Petrin') und Mendel^), welche in
Fällen von Akromegalie ohne Veränderung der Hypophysis annehmen,
daß hier die Schilddrüse dieselbe Rolle spielt, wie die Hypophysis.
Die Möglichkeit wohl zugegeben, ist zu berücksichtigen, daß wir auch
mikroskopisch kaum in der Lage sind, zu entscheiden, ob die Hypo-
physis normal sezerniert hat. Diese gleichzeitige Veränderung an der
Schilddrüse und Hypophysis erklärt auch den Befund Holmgrens^),
daß Patienten im Pubertätsalter mit Morbus Basedowii eine aboorm
große Körperlänge erreichen. Ferner kommt, wie ich hier vorweg-
nehmen will, in der Gravidität, die — darüber soll in einer anderen
Arbeit ausführlich die Rede sein — mit vermehrter Tätigkeit des
Ovariums einhergeht, nicht selten eine Hypertrophie der Hypophysis
vor. Ich verweise diesbezüglich auf die von Halban und erst vor
kurzem von Tandler und Groß erwähnten akromegalischen Symptome
in der Schwangerschaft.
1) Soc. de biol. 1905, t. 50.
2) Virchows Arch. 1907.
B> Verein für Innere Med. 1. April* 1901.
4) Berliner klin. Wochenschr. 1900.
5) Hygiea Bd. 18.
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29] Die wechselseitigen Beziebmigeii der innersekretorischen Organe usw. 449
Es wftre ferner noch* auf Zeichen der Atrophie «n den Genindien
bei Akromegiüle hinzuweisen« Verschiedentlich wird angegeben, d«fi
Akromegalie mit Aufhören der Menstruation einhergefat (siehe oben).
Man darf dies nicht ohne weiteres als eine Atrophie des Genitales
auffassen, denn es wird bei der Amenorrhoe der Akromegaliscfaen der
Uterus meist normal angetroffen. Ich möchte daher diese Amenorrhoe
ibnlich wie die Basedowamenorrhöe auffassen. Durch die Steigerung
der entgiftenden TätiglLcit der Hypophysis (vermehrt durch die gleich-
zeitige HyperselLretion der Tyreoidea) wird eine solche Entgiftung des
Organismus herbeigeführt, daß es nicht zur Auslösung einer genügenden
Ovarialsekretion, einer Menstruation kommt (normaler Uterus !). Schließ-
lich kann auch hier die Untätigkeit zur Atrophie führen. Schmidt-
Rimpler^) hat den ersten anatomisch festgestellten Fall von Hirntumor
beobachtet, der unter Erscheinungen der Amenorrhoe und Sehnerven-
atrophie einherging. Hier handelte es sich aber um einen Uterus
infantilis. In anderen Fällen, so in denen von Axenfeld^), Yama-
gucki»), BayerthaH), Abelsdorf*), L. Müller«), Karafiath^), ist
zu mindest das gleichzeitige Auftreten der Amenorrhoe mit der
Erkrankung des Hirnanhangs wahrscheinlich. Patellani®) hat 200
solcher Fälle zusammengestellt. Hierzu stehen natürlich die Befunde
von Tandler und Groß nicht im Widerspruch. Diese fanden patho-
logische Veränderungen des Epithels der Samenkanälchen und der
Zwischenzellen, sowie totale Rückbildung der Primordialfollikel. Die
beiden Autoren neigen mehr zu der Ansicht, daß die primäre Ver-
änderung in der Keimdrüse sitzt, weil in sehr vielen Fällen die ge-
störte Funktion der Keimdrüse die erste Manifestation der Akromegalie
ist. Man muß hier, glaube ich, sehr vorsichtig sein. Die Störung
der Menstruation ist ein augenfälliges Symptom; ich wüßte aber nicht,
welches Symptom der Akromegalie in der ersten 2^it so augenfällig
wäre. Nur Röntgenuntersuchungen gleich bei Ausbleiben der ersten
Regel könnten hier vielleicht eine Entscheidung bringen. Gegen die
von Tandler und Groß favorisierte Annahme würde außer der nor-
malen BeschafPenheit des Uterus die Beobachtung sprechen, daß Akro-
1) Die Erkrankungen des Auges im Zusammenhange mit anderen Erkrankungen.
Wien, Holder, 1896.
2) Vereinig. Sudwestdeutscher Irrenärzte 1902.
3) Klln. Monatsbl. f. Augenheilk. XLI.
4) S6m. M6d. 1905, t. 47.
5) Arch. f. Augenheilk. XXI.
6) S6m. M6d. 1905, t. 47.
7) Ibid.
8) Gyn. Ges. Mailand, Sept. 1906.
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450 Otfried O. Fellner, [30
megalie nicht selten von einer Schwangerschaft her datiert wird, was
auch Tandler und Groß erwähnen. Denn die Schwangerschaft geht,
wie ich an anderer Stelle zu erweisen suche, mit einer vermehrten
Tätigkeit des Ovariums einher. Es wfirde daher die Akromegalie von
einem Zeitpunkte ihren Anfang nehmen, wo die Tätigkeit des Ovariums
verstärkt ist. Bei solchen Angaben muß man aber, wie ich schon in
früheren Arbeiten erwiesen habe, sehr vorsichtig sein. Vor allem
pflegen Frauen ihre ganze Zeitrechnung auf Schwangerschaften einzu-
richten: Das war damals, als ich zum drittenmal schwanger war.
Dann aber ist zu bedenken, daß nicht allein Krankheitserscheinungen
in der Schwangerschaft aggravieren, sondern auch unter anderen in
der Schwangerschaft regelmäßig auftretenden Störungen solche sind,
die zu dem Bilde der Akromegalie gehören. Was die Fettleibigkeit
bei Hypophysenerkrankung betrifi^t, aufweiche A. Fröhlich aufmerksam
gemacht hat, so muß man hier wohl zwischen der Akromegalie und
der Unterentwicklung der Hypophysis unterscheiden. Der Fall von
traumatischer Verletzung der Hypophysis (Madelung) gehört in die
letztere Gruppe. Bei Hypofunktion oder Wegfall der gesamten Hypo-
physissekretion haben wir denselben Zustand vor uns wie nach Total-
exstirpation des Genitales. Wegfall einer entgiftenden Drfise fährt
zur Fettentwicklung, ebenso wie dies bei Myxödem der Fall ist. Fett-
entwicklung bei Akromegalie aber, wo es zu einer Hypofunktion des
Ovariums oder gar schließlich zur Atrophie des Genitales gekommen
ist, muß notwendigerweise auf das Ovarium zurückgeführt werden.
Es läßt sich also auch aus diesem Verhalten kein Schluß auf das
Primäre der Hypofunktion des Genitale ziehen. Am meisten wider-
spricht aber dieser Ansicht das gleichzeitige Vorkommen der Akro-
megalie und der Schwangerschaft. War jene vor dieser vorhanden,
dann ist sicher die Atrophie des Genitales nicht das Primäre. Ent-
stand die Akromegalie aber in der Schwangerschaft, dann kann sie
erst recht nicht mit einer Unterfunktion des Ovariums in Zusammen-
hang gebracht werden. Ich neige also mehr zu der Ansicht, daß die
Veränderung der Hypophyse das Primäre ist.
Streng hiervon zu trennen ist der Riesenwuchs bei Infantilismus
und bei frühzeitig Kastrierten. Tand 1er und Groß legen bei dem
Knochenwachstum das Schwergewicht auf die Schilddrüse. Tatsächlich
spielen frühzeitige extra- und intrauterine Erkrankungen der Schild-
drüse beim Zustandekommen des Infantilismus eine große Rolle. Da-
gegen wird von Sanctis und anderen Autoren angeführt, daß es schwere
und leichte Infantilismusformen gibt, bei denen die Schilddrüse wohl-
erhalten ist. Es muß auch auf die anderen Drüsen hinsichdich des
Knochenwachstums Rücksicht genommen werden, vor allem auf die
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31] Die wechselseitigen Beziehungen der innersekretorischen Organe usw. 451
Thymus. Basch hat gezeigt, daß Tiere nach Exstirpation der Thymus-
drfise einen viel grazileren Knochenbau aufwiesen ^ und daß nach
Knochenbrüchen die Kallusbildung eine sehr geringe war. Ich zitiere
ferner Tandler und Groß: Es ist eine längst bekannte Tatsache, daß
die Thymus des Menschen durchschnittlich nach dem 2. Lebensjahre
im Wachsen stehen bleibt , während ihre Involution knapp vor dem
Beginn der Pubertät anfangt. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß
die Reifung der Geschlechtsdruse die Involution der Thymus hervor-
ruft. Bei kastrierten Rindern bleibt die Thymus länger bestehen als
bei nichtkastrierten (Calzolari, Henderson, Goddal). Wir selbst
konnten feststellen, daß bei früh kastrierten Tieren die Thymus per-
sistiert. Aber auch Einwirkung der Thymus auf die Keimdrüse wurde
schon beschrieben. Noel Paton hat mitgeteilt, daß bei Meerschwein-
chen nach Entfernung der Thymus angeblich eine Gewichtszunahme
der Testikel zu konstatieren sei. Dies spricht meiner Ansicht nach
wohl mit Deutlichkeit dafür, daß die Thymus in die gleiche Ordnung
wie Schilddrüse und Ovarium zu stellen ist, daß die Aufgabe der
Thymus, freilich in verstärktem Maße, später vom Ovarium über-
nommen wird. Es darf daher nicht .wundernehmen, daß bei Infanti-
lismus, sowie bei frühzeitig Kastrierten die Thymus persistiert.
Pierre Marie, Lannois u. a. haben nachgewiesen, daß die Hyper-
trophie der Hypophysis während des Wachstums Riesenwuchs, nach-
her Akromegalie hervorrufe. Tandler und Groß legen großes Ge-
wicht auf die Schilddrüse. Ich meine, daß hier alle innersekretorischen
Organe in ihrer gegenseitigen Wechselwirkung von Belang sind.
Es läßt sich hier eine Skala aufstellen: je geringer die Kraft der
entgiftenden Organe, desto geringer das Wachstum; hierbei ist natürlich
auf die möglicherweise bestehende antagonistische Wirkung des Uterus
Rücksicht zu nehmen. Hinsichtlich der Akromegalie ist auch beispiels-
weise Indem ans i) der Ansicht, daß nicht die Hypophysis allein die
Ursache ist, sondern auch Störungen des Thyreoidalsystems und der
Genitaldrüsen. Beim chondrodystrophischen Zwerg haben wir vielleicht
eine normale Hyphophysis, eine in ihrer Sekretion schwache Schild-
drüse, normales Ovarium, normales Genitale. Der kretinistische
Zwerg hat eine Vergrößerung der Hypophysis, eine mangelhaft funk-
tionierende Schilddrüse, Hypoplasie des Genitales. Beim normalen
Menschen kommt die normale Schilddrüsensekretion, das normale
Genitale hinzu und fällt die Vermehrung der Hypophyslssekretion
fort. Die Osteomalazie zähle ich auch zu den Erkrankungen, wo ein
1) Nederl. Tijdschr. v. Geneesk. 2. III. 1908.
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452 Otfriod O, Fellnar^ , [32
Koocbenwachstuoi ^fattfindei«!) Hier haben wir verstärkte Tätigkeit
der Hypophyse, der Schilddrüse, des Ovariums und des Uterus. Bei
Akromeg^lie verstärkte Tätigkeit der Hypof^ysis, Schilddrüse, FehleiKle
des Ovariums und wahrscheinlich fast normale des Uterus« Stärkstes
Längenwachstum beim Kastrierten: verstärkte Tätigkeit der Hypophyse,
der Schilddrüse, normale der Thymus, fehlende des Ovarium uad
Uterus. Freilich ist hier zu bemerken, .da& die Angaben^ nicht ein-
deutig sind. So hat Cesca (Soc. med, Chirurg, de Boulogne, Mars
1004) nach Abtragung des Testikels wie des Ovariums Hypertrophie der
Schilddrüse und der Nebenniere beobachtet, während Parathyreoidea,
Hypophysis und Thymus keine Veränderungen zeigten.
Was das Verstreichen der Epiphysenfugen betrifft, so scheint dies
als Reifeerscheinung an das Obergehen der Sekretion von der Thymus
auf das Genitale gebunden zu sein. Mit der Pubertät verschwinden
die Epiphysenfugen. Bei frühzeitig Kastrierten bleiben diese bestehen
und ebenso beim kretinistischen Zwerg, der ein hypoplastisches Geni-
tale und häufig Persistenz der Thymus aufweist; während beim chondro-
dystrophischen Zwerg die Epiphysenfugen frühzeitig verstreichen, jeden-
falls infolge frühzeitiger Sekretion des Genitales. Vielleicht spielt
beim Verstreichen der Fugen die beginnende Sekretion des Uterus
eine Rolle.
Es wäre schließlich noch daraufhinzuweisen, daß manche Autoren,
so Berger undLoewy^), die Amenorrhoe nicht mit der Hypophysis
in Zusammenhang bringen, sondern mit dem Hydrocephalus internus.
Sie berufen sich hierbei auf 2 Fälle von Herbst') mit Stauungspapille,
Amenorrhoe und Hydrozephalus. In einem derselben schwand die
Stauungspapille nach der Lumbalpunktion; gleichzeitig trat eine Besse-
rung der Sehschärfe und das Wiedererscheinen der Menstruation auf.
Mit Rücksicht aber auf die obigen Tierversuche und Krankengeschichten
liegt es wohl näher anzunehmen, daß der Hydrozephalus Stauung
oder Kompression in der Hypophysis und so ähnliche Veränderung
in der Sekretion derselben zur Folge hatte wie Hirntumoren und solche
der Hypophysis selbst.
Ebenso wie Unterfunktion der Ovarien zur Hyperfunktion der an-
deren entgiftenden Organe führt, so ist dies auch bei Myxödem der
1) Siehe O. O. Fell n er, Die Beziehungen innerer Krankheiten zur Schwanger-
schaft usw. Wien, Deuticke, 1903 und die demnächst erscheinende Arbeit: Ober die
Tätigkeit des Ovariums in der Schwangerschaft.
2) 1. c.
3) Wiener klin. Wochenschr. 1902.
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33] Die wechselseitigen Beziehungen der innersekretorischen Organe usw. 453
Fall, und finden wir auch hier Akromegalie (Pineles^)) Huisman^),
Greeve^).
Die Thymus steht in vollkommener Analogie zur Schilddruse und
zum Ovarium. Auszüge der Thymus wirken nach Svehla^) puls-
beschleunigend und blutdruckerniedrigend. Die Thymus verringert
auch die Zurückhaltung des Kalziums. Über ihre Wechselbeziehung
zum Ovarium wurde bereits oben das Wichtigste angeführt. Nach all
dem bisher Angeführten kann es nicht wundernehmen, daß wir bei
Basedow nicht gar so selten Persistenz und Hypertrophie der Thymus-
drüse finden. Gierke^) konnte 42 solcher Fälle aus der Literatur
zusammenstellen. Auch bei Akromegalie müßte man a priori an-
nehmen, daß sich öfters Thymuspersistenz findet. Ich verweise auf
die früher erwähnten Fälle von Mendel und A. Fränkel. Nagel
gibt an, daß die Autoren bald den Schwund, bald die Persistenz der
Thymus angeben.
Abtragung des Testikels wie des Ovariums hat nach Cecca nebst
Hypertrophie der Schilddrüse auch eine solche der Nebennieren
zur Folge. Ebenso fand Marchand bei einem Falle von Hermaphro-
ditismus femininus Atrophie der Ovarien und Hypertrophie der Neben-
nieren. Theodossiew«) beobachtete bei Tieren 10 Monate nach der
Kastration vor allem Hyperplasie der Rindenzellen. Es sei ferner auf
die Hypersekretion der Nebennieren in der Schwangerschaft hinge-
wiesen. Auf den Antagonismus zwischen Tyreoidea und Nebennieren
haben Loeper und Courzow aufmerksam gemacht.
Auch das Pankreas gehört in die Reihe der entgiftenden Drüsen.
Bei Akromegalie findet sich vielleicht Hypertrophie des Pankreas
(Mendel, A. Fränkel). Andererseits führt Exstirpation des Pankreas
zu Hyperaktivität der Schilddrüse (Lorand^. Innig, wenn auch zu
wenig beachtet, sind die Beziehungen des Diabetes zum Genitale. Die
Periode wird immer schwächer, bis sie schließlich ganz erlischt.
Gleichzeitig setzt eine allmählich zunehmende Atrophie des Uterus
und eine solche, sekundäre, der Ovarien (Hofmeier) ein. Eine Er-
klärung für diese Tatsache wage ich nicht auszusprechen, da sie der-
zeit zuviel der Theorien und Hypothesen enthalten würde. Das gleiche
1) Volkmanns Samml. klin. Vortr. 242.
2) Therapie der Gegenwart 1903, Bd, 44.
3) New York. med. Journ. vol. 82.
4) Arch. f. exper. Pathologie 1900, Bd. 43.
5) Münchner med. Wochenschr. 1907, Bd. 16.
6) Russki Wratsch Febr. 1906.
7) Pres. m6d. 1904, 27.
Kilo. Vorträge, N.F Nr. 508. (Gynäkologie Nr. 185.) Sept. 1908, 34
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454 Otfried O. Fellner, Die wechselseitigen Bezieh, d. innersek. Organe usw. [34
gilt für die Tatsache, daO Diabetes häufiger bei Männern vorkommt.
Bouchardet^) berechnet 172 Männer auf 53 Frauen.
Von obigen Regeln einigermaßen abweichend sind die Angaben
einzelner Autoren wie Kleinwächter^) und Jahreiß^), welche auch
stärkere Blutungen bei Diabetes beschreiben. Es handelt sich hier
aber meist um Myome, wie überhaupt bei Myomen Diabetes nicht
selten ist (Naunyn^) 8 Fälle unter 400 diabetischen Individuen,
Boas 5) 12 unter 366). Mit aller Reserve möchte ich die Vermu-
tung aussprechen, daß hier eine starke Sekretion des Uterus be-
steht, die vielleicht hinsichtlich der Glykosurie der Nebennierensekre-
tion gleichzustellen ist. A. Glies gibt an, daß Glykosurie nach Ent-
fernung des Myoms prompt schwindet.
Schwieriger zu erklären sind die Fälle von Imlach«), Beyea'),
Giles^), Gottschalk^) und der meine^). Es handelte sich um
Schwinden der Zuckerausscheidung nach Entfernen der Adnexe oder
des Uterus. Hier kämen zwei Momente in Betracht, eventuell der
Wegfall einer blutdrucksteigernden Drüse, andererseits der Umstand,
daß vielleicht durch den Wegfall der Eierstöcke die anderen ent-
giftenden Drüsen, darunter auch das Pankreas, hypertrophieren dürften.
Ganz im Widerspruch mit den sonstigen Erfahrungen steht ein
anderer von mir publizierter Fall, wo einige Zeit nach Exstirpation
eines Myoms Diabetes auftrat.
Wenn ich das wichtigste Ergebnis dieser Studie kurz zusammen-
fasse, so haben wir in einem Teil der Hypophysis, in der Schild-
drüse, dem Pankreas, der Thymus und der Ovarien blutdrucksenkende
Drüsen vor uns, die sich gegenseitig vertreten können, und welchen
ein Teil der Hypophysis, die Nebenniere und vielleicht der Uterus
als blutdrucksteigernde Drüsen antagonistisch gegenüberstehen.
1) De la glycosurie ou diabMe sucr6. Paris 1875.
2) Zeitschr. f. Gyn. 1900, Bd. 43.
3) Zentralbl. f. Gyn. 1901, Bd. 2.
4) Der Diabetes mellitus. Nothnagels Handb. 1878.
5) Hufeland-Gesellsch. 20. Nov. 1902.
6) Brit. med. Journ. July 1885.
7) Amer. Journ. of obstetr. 1900.
8) Brit. med. Journ. 1900.
9) O. O. Fellne r, Über den Diabetes in der Chirurgie. Wiener klin. Wochenschr.
1903, Bd. 34.
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509.
(Innere Medizin Nr. 153.)
Die Seekrankheit und ihre Verhütung.
Von
J. A. van Trotsenburg^
Offleier van gezondheid 1« kl. (Konigl. NiederL Marine).
/
Obgleich die Frage der Seel^rankheit schon oft das Interesse der
Forscher erregt hat, und die Literatur über diesen Gegenstand gerade-
zu unQbersehbar geworden ist, hat man doch nur sehr geringe Fort-
schritte gemacht in der Bekämpfung dieser höchst unangenehmen
Krankheit. Auf zweierlei Weise hat man sie zu verhüten versucht,
nämlich :
1. durch Mittel, die die unerwünschten Schiffsbewegungen möglichst
zu vermindern suchen.
Diese Mittel beruhen größtenteils auf dem Prinzip, das zuerst
von Bessemer beschrieben ist in seinem: „Projet de Salon
suspendu contre le mal de mer"^.
Sie haben nur wenig Anwendung gefunden und sind in dieser
Hinsicht von späteren Bestrebungen nicht übertroffen, die in
anderer Weise automatisch die Schiffsbewegungen zu vermindern
suchten (Schwerdt, Rosenbach u. a.).
Diese Mittel beeinflussen am wenigsten die Bewegungen des
Schiffes in senkrechter Richtung, die gerade von Seekranken
am meisten gefürchtet werden. Sie haben große technische
Schwierigkeiten und niemals den gewünschten Zweck ganz er-
reicht; sie werden deshalb hier außer Betracht bleiben.
2. durch Mittet, die die Empfänglichkeit des Individuums für die
Schiffsbewegungen zu vermindern suchen.
Je nach den verschiedenen Vorstellungen, die sich die Schrift-
steller über Seekrankheit hinsichtlich der Genese dieses Leidens
Kilo. Vortrage, N. F. Nr. 509. (Innere Medizin Nr. 153.) Nov. 1908. 34
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476 J- A* ▼AB Trotsenburgy [2
gebildet haben, sind auch die von ihnen empfohlenen Maßnahmen zur
Verhütung oder Bekämpfung verschieden. Ehe wir die verschiedenen
Theorien der Seekrankheit besprechen, werden wir uns zuvor die
Symptome der Krankheit kurz ins Gedächtnis zurückrufen:
In der übergroßen Mehrzahl der Fälle ist die Seekrankheit eine
akute, selten länger als eine Woche dauernde Erkrankung. Sie fangt
mit einer leichten Unlust an, al$ V^^äufer einer tief elenden psychi-
schen Depression, und ist begfeitet von objektiven Symptomen wie:
Anämie, Gähnen, Speichelfluß, J4ahrung^verwdgerung und Erbrechen^
Respirations- und Zirkulationsveränderungen, Störungen der Digestion
(gewöhiilich OI}stipatlon),J(leinef ^chwacbejf Puls^ imd beiJjingerer
Dauer:' Abmagerung. Auch Verminderung 'der HarnäDsonderung bei
Erhöhung der Konzentration schejnt ziemlich konstant zu sein. Rey-
nolds i) berichtet, daß er wiederholt Zucker im Urin der Seekranken
gefunden hatte. Auch scheint die Seekrankheit s^hr oft auf die Men-
struation und Schwangerschaft störend einzuwirken.
Schwerdt^) fand während einer Seereise bei sich selbst intra-
abdominale Druckschwankungen, die abhängig von den Schiffsbewe-
gungen waren. Er meint, daß dadurch Zirkulationsstörungen entstehen
mußten, die man willkürlich Vermindern könne durch tiefes Einatmen
beim Heruntergehen des Schiffskörpers und Ausatmen beim Herauf-
gehen desselben. Dadurch würde der „Insplrations-Klappen-
schluß' (d. h. der Klappenschluß der Oberschenkelvenen bei der
intraabdominalen Druckerhöhung während der Inspiration) zusammen-
fallen mit dem „Senkungs-Klappenschluß' <d. h. dem Klappen-
schluß durch Rückstoß des Blutes am Ende der niedergehenden Be-
wegung des Schiffes). Ebenso werden dann »Exspirations-'' mit
„Hebungs-Klappenöffnung' zusammenfaUen. Auf analoge Weise
bewirkt man instinktiv ein Zusammenfallen von ,,Arbeits-Klappen-
schluß' mit Jnspirations-Klappenschluß^ dadurch, daß man
jede schwere Arbeit mit einer tiefen Inspiration anfängt. Schwerdts
Darlegung gibt eine theoretische Erklärung zu der schon langst be-
kannten empirisch gefundenen Bedeutung der Atmungsregulierung nach
den Bewegungen des Schiffes. —
Wenn eine heruntergehende Bewegung schnell und kräftig auftritt^
erweckt sie bei den meisten Menschen reflektorisch eine krampfhafte
Inspiration, die oft von einer Kontraktion der Bauchmuskeln begleitet
1) T. T. Reynolds, On the nature and treatment of sea-sickness. L4incet
1884.
2) Dr. C. Schwerdt, Beiträge zur Ursache und Vorschläge zur Verhütung der
Seekrankheit. Jena 1902.
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3] Die Seekrankheit und ihre Verhütung. 477
ist. Durch die Unregelmäßigkeit und Kompliziertheit der SchifFsbe-
wegungen wird aber die praktische Anwendung dieser Atmungsregu-
lierung gewöhnlich sehr schwer, wo nicht unmöglich.
Die subjektiven Erscheinungen der Seekrankheit sind sehr ernst.
Zu welch einem bedauernswürdigen psychischen Elend sie führen,
wurde von Riese *) treffend und schön wie folgt beschrieben:
«Die Vorstellungen sind außerordentlich matt und die Phantasie
erschrecklich träge. Bleierne Trägheit lähmt auch die Glieder; eine
bodenlose Interesselosigkeit hat sich unserer bemächtigt, eine grenzen-
lose Blasiertheit, In welcher nichts, was uns interessierte, irgend-
welchen Reiz auf uns auszuüben vermag. Die ganze Welt erscheint
grau in grau gemalt; es ist eine vollkommene Paralyse der Lebens-
lust. Dies ist das Stadium, wo der Mensch am liebsten allein ist, wo
er jeder Konversation ausweicht, und schon in seinem konventionellen
Standpunkt zu wanken beginnt. Mühsam sucht er noch den Gesetzen
der Höflichkeit zu folgen und Teilnahme an .der menschlichen Gesell-
schaft zu erheucheln, oder über einen Scherz zu lächeln, aber sein
Gesicht, dessen Blässe mittlerweile mit dem seiner Gedanken zu wett-
eifern beginnt (denn es reiht sich jetzt eine zweite Symptomenreihe
an die psychischen), hat einen eigentümlich starren Ausdruck erlangt,
und sein Lächeln straft ihn Lügen; es ist ein Risor sardonicus, eine
wahre Karikatur auf die Lustigkeit. Es liegt in diesem Zustand, In
diesem vergeblichen Ankämpfen, welches der beginnenden Seekrank-
heit charakteristisch ist, gerade die eigentümliche Komik, welche dieselbe
zum Schaden ihrer Opfer nicht verleugnen kann und die besonders
an dem Starken und Selbstbewußten hervortritt. Gerade an ihm hat
der allmähliche Übergang von stolzester renommistischer Sicherheit
durch stillen Zweifel an den eigenen Kräften zur demütigsten Ergebung
etwas ungemein Komisches für den, welcher nicht im Banne der Krank-
heit steht. Man sieht, wie immer mehr und mehr der Versuch, das
Gefühl der persönlichen Würde auch in der äußeren Haltung auszur
prägen, aufgegeben wird, und wie die stolzeste Gestalt zu einem kläg-
lichen Bilde des Jammers zusammensinkt. Das Gesicht bekommt durch
jenes ,Erstarren des MuskelspielsS wie es Stein bach bezeichnet, etwas
Fremdartiges, was man schwer beschreiben kann, etwas Wachsfiguren-
artiges; es ist, als wäre jeder geistige Zug aus dem Gesichte gewichen
und nur gewissermaßen die Maske desselben geblieben. Gut bekannte
Gesichter kommen uns in diesem Zustande fremd vor, am fremd-
artigsten dasjenige, welches uns der Spiegel zeigt.'
Wer niemals seekrank war, und auch nie Gelegenheit hatte, an
1) E. Riese, Die Seekrankheit. Dissert. Berlin 1888. 8. 15.
34«
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478 J- A. vÄn Trotsenbiirs, [4
ernsten Formen der Seekrankheit leidende Personen zu beobtcliten)
wird sich kaum eine richtige Vorstellung dieses Zustandes der hochsteo
Verzweiflung bilden können. Des Dichters Wort:
„Only those who brave its dangers
Comprehend its mysteries^^
gilt wohl zu allererst dem wunderlichen Stadium, in dem man g^ea
,,dangers^^ wie gegen ,,mysteries^^ völlig gleichgültig Ist. —
Riese vergleicht den psychischen Zustand von schwer Seekranken
mit den schwersten Depressionszuständen der Melancholie; Fonssa-
grives^) beschreibt diese völlige Apathie wie folgt:
„Chez beaucoup de personnes 11 y a un tel brisement des forees,
qu'elles gisent sur le pont camme des masses inertes sans s'inqui6ter
du lieu oü elles sont, souillant leur v£tements de leurs dvacuatlons et
la vie c6r6brale est tellement domin^e par cet 6tat d'angoisse, que les
deux sentiments les plus puissants et les plus vivaces chez la femme,
celui de la pudeur et celui de la maternit6, sont quelque fois, comme
on l'a fait remarquer, momentan6ment meconnus.^^
Auch hat die Seekrankheit viel Ähnlichkeit mit akuter Nikotinver-
giftungy wie mancher aus Erfahrung wissen wird.
Mit der obigen Beschreibung der objektiven und psychischen Er-
scheinungen ist das Krankheitsbild noch nicht erschöpft. Dazu gebort
noch: Schwindel, Übelkeit, oft auch Hyperästhesie für üble Gerfiche,
bisweilen auch für Geräusche, und als weniger konstante Symptome
Kopfschmerz, Angst und Beklommenheitsgefühl.
Als Komplikationen werden von den meisten Forschem genannt:
1. Frühgeburt und Abortus. Wegen des geburtsbeschleunigenden
Einflusses werden von verschiedenen befugten Autoren (u. a. Fonssa-
grives, Foucauet) Seefahrten den Schwangeren abgeraten.
2. der Ausbruch von Psychosen. Die Seekrankheit wird in diesen
Fällen gewöhnlich als Gelegenheitsursache betrachtet. Dieselbe Rolle
spielt sie in einigen anderen krankhaften Zuständen, wie z. B. bei der
Inkarzeration von Hernien, oder beim Durchbruch eines Magen-
geschwürs.
Ein Symptom, der Schwindel, verdient vor allem besondere Auf-
merksamkeit. Denn so oft wir Schwindel schnell und einigermaßen
heftig auftreten sehen, wird er von anderen Erscheinungen begleitet,
die mit zu dem Bilde der Seekrankheit gehören.
Unser Gleichgewichtsgefühl resultiert aus zahlreichen Empfindungen,
die auf mehreren verschiedenen Wegen (Gesichtssinn, Labyrinth, Tast-
sinn, Muskel- und Gelenksinn) die Zentralorgane erreichen, und auf
1) Fonssagrives, Trait6 d'hygi^ne navale. Paris 1877.
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5] Die Seel;rtDtfaeil «idd iihre^y^rhütung. 470
Stelluiigsätaderüngeö dnsers Kärpera im Rauin^: mit bestimmten^ .«ms|
aus der £rfaforang bekannten: :Äniderttngenr(CQagiecep.^. Unter der rich^
tigen> ZusafaoäienwJricung. zahlreicher sensibler undsensocischer Emp^
findkingen kann man sich eine gute Orientierüilg «ttgefähr so »entstanden
denken y wie durch Zusammenwirkung von mehrerea JnstruAienten
Inrnionisch» Musik hervargebracht werden kann. Die Orientierung
einerseits, wie dib Harmonie: andererseits braudben. mtht daroh: Aus-^
fiiU eines Teiles des Ganien verloren zu gehen; Jedoch ist dies der
Filii duf'ch unharmonisches Mitarbeiiet eines der Konstituenten. ,,Wenn
wif^V 'sagt Hitzig^), ^,die mannigfoltigen Erscheinungen von Schwindel
voa< einem Ihnen gemeinscbaftlichen .Gesichtspunkte ajus ins 'Auge
fassbn, so ergibt sich^ daß sie sowohl durch Aifekcionen der peri**
pheren Endapparate^ wie der zuleitenden Bahnen, wie auch endlich
des Zentralorgans, ini dem sidi> alle diese Bahnen vereinigen, hervor«
gebracht^ andererseits aber auch durch die Einwirkung jener ver*
schiedenen exzito-motorischen Apparate bis zu einem gewissen Grade
attsgeglidven werden k&nnen. Der Vestibularapparat, der Sehapparat
und der kinästhetische Apparat spielen hierbei die gleiche Rolle. So
verschieden did Folgen der Eirigrlffie in^eis^Ampullarsystemj der.Total-
exstirpatioo des Kleinhirns, die Libmttng eines Augenmuskels, ein
Kleinhirntumbr, oder die graue Degeneration der Hinterstränge auch
erscheinen mögen, so sind sie ebensowohl wie ihre Ausgleichung auf
dasselbe Prinzip zurückzuführen/^
Bei einer ersten Seefahrt werden in allen oben genannten Bahnen
desorientierende Reize den Zentralorganen zugeführt. Kein einziger
Punkt des ganzen Gesichtsfeldes bleibt unbeweglich, alles wirbelt in
unregelmäßigster Weise durcheinander, was anfanglich den Eindruck
eines ganz ungewöhnlichen Wirrwarrs macht; Inzwischen stören zahl-
reiche ungewöhnliche Reize, vom Vestibülarapparat ausgehend, die
normale Punktion des Kleinbims. Der kinästhetische Apparat bereitet
uns gleichfalls die größten Überraschungen. Die sonst so konstante
Druckempfindung gegen die Fußsohlen ändert sich jetzt fortwährend.
Beim Gehen hat man kaum seine Muskelinnervatlon für eine be**
stehende Neigung richtig dosiert, so geht es uns dabei wie jemandem,
der das Pappmodell eines schweren Gewichtes hebt. Ehe man sich
von einem Fehlgriff Rechenschaft geben kann, ist man schon wieder
das Opfer eines folgenden geworden. Diese Reize bewirken durch
ihren fortwährenden Wechsel eine vollständige Desorientierung, welche
zu einer an Ratlosigkeit grenzenden Verwirrung fuhren kann. Bei
1) Hitzig, Der Schwindel (Vertigo). Spez. Path. und Ther. von H. Nothnagel
Bd. 12, T. 2. .; > .
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480 J* A. van Trotsenburg, [q
großer Anstrengung gelingt es anfänglich noch das Gleichgewichts-
gefühl zu behalten, dadurch nämlich^ daß man soviel wie möglich die
ungewöhnlichen Reize zu entwirren versucht. Diese Wahrnehmung
wurde schon 1874 von Th. Abrahamsz^ gemacht, die er ungefähr
^ie folgt beschreibt:
„Nicht durch Zerstreuung im Gespräch oder Spiel während der
ersten Anwandlung gelingt es dem Erbrechen zuvorzukommen, sondern
dadurch, daß man genau acht gibt, und die Schiffsbewegungen studiert
in allen ihren verschiedenen Phasen und Abweichungen. Nur auf
diese Weise gelang es uns, das Erbrechen zu verhüten, indem wir
jedoch auch jetzt noch, nach langer Erfahrung, ein Gefühl von Unbe-
behagen empfinden, wenn wir uns bei mehr oder weniger stürmischem
Wetter mit Sachen beschäftigen, die uns verhindern, die Bewegungen
zu observieren. Jede Ableitung rächt sich; sobald man sozusagen nicht
mehr weiß, wo das Schiff in seiner Bewegung im Räume geblieben
ist, fühlt man sich schwindlig/^
Auch Riese machte an sich selbst eine übereinstimmende Beob-
achtung und sagt:
„Bis zum Abend des ersten Tages kämpfte ich erfolgreich gegen
die feindliche Macht, dann erfolgte die Übergabe; doch ich habe das
deutliche Bewußtsein, daß ich dieselbe durch ein willkürliches Wider-
streben ziemlich lange hinausschob. Ich habe das Gefühl, daß mir
dies dadurch gelang, daß ich mir der Schwankungen des Schiffes und
des eigenen Körpers so weit als möglich bewußt blieb.
Ich suchte mich also in den verschiedenen, stets wechselnden
Lagen im Raum zu orientieren und mir meiner augenblicklichen
Stellung zu demselben in jedem Moment möglichst klar zu bleiben.
Ich kann versichern, daß ich darin ganz wesentlich unterstützt wurde
durch ein beständiges Festhalten des Horizontes mit den Augen.
Solange mir dies gelang, wurde ich nicht seekrank; erst als es mir
bei den immer komplizierteren Bewegungen des Schiffes nicht mehr
möglich war, mir innerlich über meine Schwankungen klar zu bleiben
und sie gleichsam gegen den stabilen Raum zu normieren, erfaßte
mich ein eigentümliches Schwindelgefühl: es war nicht mehr, als ob
ich im feststehenden Räume schwankte, sondern der Raum schien mit
einem Male um mich sich schwankend zu bewegen, er schien seinen
festen Bestand verloren zu haben, und jede Möglichkeit, die Bewe-
gungen des eigenen Körpers zu kontrollieren, hörte mit einem Mjle auf/
Und weiter auf S. 70 seiner Arbeit über: ^Die Seekrankheit':
„Dieser Moment des Insuffizientwerdens des Orientierungssinnes ist
1) Nederlandsch Tijdschrift voor Geneeskunde 1874^ lO.Jaarg. II, p. 237.
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7] Die Seekrankheit und ihre Verhütung. 481
dadurch charakterisiert, daß der Beobachter das Gefühl hat, als
drehten sich die Gegenstände um ihn, und, auch wenn er die Augen
schließt, als drehe sich der Raum um ihn. Äußerlich ist dieser
Moment des einsetzenden Schwindels charakterisiert durch ein Starr-
werden des Blicks, hervorgerufen (wie Purkyne nachgewiesen hat)
durch eine plötzliche Fixation des Augapfels, der bis dahin (d. h.
solange eine Orientierung im Räume möglich war) ruckweise den
Achsendrehungen des Körpers gefolgt ist.' —
Beim Entstehen des Desorientationsgefühles tritt auch das dringende
Bedürfnis auf, sich hinzulegen. Die Stabilität ist im Liegen gesicherter
und die desorientierenden Reize sind geringer an Zahl und Stärke.
Ziemlich schnell kann sich dann das Wohlbefinden ansehnlich bessern,
und besonders ist dies bei denjenigen der Fall, denen ein erfrischen-
der Schlaf zu Hilfe kommt, das ausgestandene Elend zu vergessen und
das gestörte Nervengleichgewicht zur Ruhe zu bringen.
Anfänglich wird aber noch jeder Versuch, sich aufzurichten, das
Gefühl hervorbringen, daß die Gewöhnung an die Schiffsbewegungen
nicht so schnell eintritt, als man sich beim Liegen dachte. Denn bei^
einem Wetter, das eine mäßige Bewegung des Schiffes unterhält, ge-
wöhnen sich die meisten Seekranken nur sehr allmählich, im Laufe
einiger Tage, ans Meer.
Die Prognose der Seekrankheit ist günstig. Sterbefälle als Folge
der Seekrankheit allein sind niemals mit Sicherheit wahrgenommen;
zurückbleibende Störungen ebensowenig. Wo in der Literatur einige
Male der Tod eines Patienten ausschließlich der Seekrankheit zuge-
schrieben wurde, lassen sich doch gegen die Diagnose ernste Be-
denken erheben. Guepratte, der in den »Bulletins de l'acadämie
de m6dicine IX' den Zusammenhang zwischen Seekrankheit und zwei
von ihm angeführten Sterbefällen an Enzephalitis und Gastroenteritis be-
streitet, behauptet: »On a vu survenir chez quelques personnes des
h6mat6m^ses dont la terminaison a 6t6 funeste'^, ohne aber einen be-
stimmten Fall zu beschreiben. H. Otto Schnitze beschrieb: „Two
cases of fatal hemorrhage from laceration of the mucosa of the Oeso-
phagus by vomiting'' (Proceedings of the New- York pathological So-
ciety, Nov. 1906, n. s. vol. 6, no. 6).
Bei beiden Patienten war der Blutung langwährendes Erbrechen
vorangegangen, bei einem der beiden infolge von Seekrankheit. Bei
der Obduktion wurden in beiden Fällen zwei longitudinale Risse in
der Schleimhaut des Ösophagus gefunden, obwohl die Schleimhaut
bei mikroskopischer Untersuchung nichts Abnormes darbot. Auch
wenn man gegen diesen sonderbaren Fall keine Bedenken erheben
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482 1 Jw A. rill :TiromehlJarg^ p
will, v^itd mm^ mit ROckskfht duf - die 4fig^heu0ne> Zobl iderdOpfer, dto
die Seekrankhek - seh Huiklepten von ' Jabnea ^erfordert^ die gilfisilge
Prognose nichtsdestoweniger aufrecht'erbalieiiiniäs^eiu bNfib in betbeff
der Dauer i&t die Prognose «icht tiinner gänst)^*^ ZwarTerscliwiadeA
die Erseheinungeii der Krankheit inuner ^ehrsohaeU bd Beöndf^ng^
der Ursache (bei Beendigtiag oder Unterbnechuiig(d6i^Seereise)ytabef
bei weiten Refsen findet ihan nioht selten; dstfl' einige Leute sich sehr
langsam und schwer ans Meer gew^nen.; Es tuk wenig £ur ^Srche^^
ob man' die Seekrankheit iii solchen Pälkn als cht'oftische' bfezete&hen
wilt oder nicht. <RIese hat ]gegen diese' Benenntin^^Bedesikeiiv' wvü
die Krankheit verschwindet^ sobald ihre Ut^äche ^ndet)'^ Aber hifl'^
sichtlich der Erscheinungen, die viel weniger heftig siM "tu^te ifn:An^
fang der Seekrankheit, ist die Uniersdieidttng in akute ttnd 4;hF0flls6kpe
m:>rmen ganz berechtigt. FQr Berufeiseeleute Ist» eine - scdche Ober*
empfindlichkeit eine sfehlinniie Eigens^chaFr, xtie jede neiib Seefahrt -au
einer neuen Qualerei miacht; /Denn : ein« solcher chronisQher See-
kranker ist auf dem Meere fest immer verstimmt^ • er leidet an^Dt*
gestidnssförungen, Obstit^ktion, hiat wenig oder gar keinen Appeütunct
fahit je nach der Wittei'ung mehr oder weniger Neigiing^ zum Br-
brechen ; er ist an&mi^h und leider oft an- Kopfechmerz. Jedoch kaott
er meist im Gegensatze zu dem akut Seekranken > seine Arbeit ver*
richten und nimmt auch, obschon mit Unlust, Teil an der Unter-
haltung. Dali sogar eine solche OberempfindHchkisit die Möglichkeit
nicht ausschließt, eine ruhmreiche Latrfbahn als Sdenlann zu maches»
bewiesen Nelson lind Tegetthoff, die beide zu dieser Rubrik der
Überempfindlichen, die von St^inb^ach^) aufe—SX der M^ischheH
geschätzt wird, gehörten.
Havelberg^ sucht die Ürsfache der ÜbefempÜndlichkelt in eioef
Magenneurose. Da aber äie mir bekannten^ fibörMipfindlichen See^
leute im Hafen und auf dem Lande eine mdellose Magenfunktlön
hatten, kann mich diese Erklärung für die mir bekannten Fälle nicht
befriedigen. Mir sind ein Dutzend solcher flberempflndlicheA mioo-
liehen Personen bekannt, aä denen mir auffiel, dafl keinbr von ihaeo
raucfhte bzw. priemte. Die Hälfte davon waren Berul^seetetiie, bei
denen übrigens das Verschmähen des Genußmittels Tabak selten; isf»
Mehrere Autoren berichten von Überempftndlichkeit bei hysterischen
Personen; bei den mir bekannten zwölfen ^konnte aber auch von
hysterischer Anlage nicht die Rede sein.
1) Stein bach, Zur Pathologie der Seekrankheit. Wiener Med. Presse 1878.
2) Havel berg, Hyperaziditätüiid Seekrankheit. Festschrift f. Salko^ski, Berifti.'
ä. ISi.'
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9]. Die Seekrankheit und ihre Verhütung. 483
Bei den Überempfindlichen fangt auf der ersten Reise die See-
krankheit unter den heftigsten Erscheinungen an,
Fournier beschrieb: »Un cas grave de mal de mer** in den
»Archives de m6d. navale 1874". Er fand die Symptome so gefahr-
drohend, daß er es für nötig hielt, das von Forget genannte „rem^de
specifique et unique du mal de mer' anzuwenden, d. h. den Patienten
ans Land zu setzen.
Ich hatte selbst Gelegenheit, einen Patienten zu untersuchen, der
3 Wochen lang seekrank gewesen war, bevor er in meine Behand-
lung kam. Es war ein junger Matrose, der eine Seefahrt von Holland
nach Westindien gemacht hatte. Dieser 18jährige Seemann hatte
während der Überfahrt sehr wenig Nahrung zu sich genommen und
sich sehr oft erbrochen. Er wurde wie ein Schwerkranker von zwei
Gehilfen ins Schiffsläzarett getragen, und war duselig, schläfrig,
apathisch, sehr anämisch und abgemagert, und konnte vor Schwäche
nicht stehen. Die Körpertemperatur schwankte den ersten Tag zwischen
38,2 und 38,7^ Celsius und blieb während der folgenden Tage noch
etwas erhöht. Die Zunge war fleckig belegt, fullginös, und der Patient
zeigte noch deutlich Speichelfluß. Der Puls war kaum fühlbar und
sehr Frequent, aber regelmäßig. Das Herz war etwas dilatiert und an
der Herzspitze hörte man ein systolisches Geräusch. Die Muskeln
waren äußerst schlaff, die Reflexe stark erhöht. Die Haut zeigte
starke Dermographie. Der Harn enthielt keinen Zucker, aber eine
Spur von Eiweiß. Jedoch hatte der Mann auch früher an Albuminurie
gelitten, und es blieb auch nach seiner Wiederherstellung ein wenig
Albumen in seinem Harn.
Auf vor Anker liegendem Schiffe, bei Bettruhe und kräftiger Nah-
rung besserte sich der Zustand des Patienten schnell. Während der
ersten Tage schlief er fast fortwährend zwischen seinen Mahlzeiten,
Am 12. Tage nach seiner Ankunft in Westindien fühlte sich der Pa-
tient wiederhergestellt, obgleich er noch ein wenig unsicher auf den
Füßen stand und es ihm schwindlig wan Er wog damals 101 Pfund,
und hatte schon sichtlich an Gewicht zugenommen. Zwei Monate
später wog er 115 Pfund. Bei nur wenig bewegtem Schiffe wurde
dieser Matrose später immer wieder seekrank. Er fühlte sich dann
unbehaglich, hatte Kopfschmerz, und mußte sich oft erbrechen. Aber
doch hatte er sich so weit ans Meer gewöhnt, daß er fast augenblick-
lich nach dem Erbrechen wieder essen konnte, sich nicht mehr zu
stützen brauchte, um sein Gleichgewicht zu behalten, auch hatte er
das unangenehme Gefühl, als ob sich ihm alles vor den Augen drehte,
verloren. Nur bei stürmischem Wetter konnte er sich oft nicht be-
Klln. Vorträge, N. F Nr. 509. (Innere Medizin Nr. 153.) Nov. 1908. 35
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484
J. A. van Trotsenburg,
[10
herrschen. Er wurde dann irgendwo liegend im Schiffe gefunden und
war so apathisch, daß er auf Fragen kaum antwortete. .
Unempfindlichkeit für Seekrankheit ist bei Erwachsenen gewiß viel
seltener wie Überempfindlichkeit. Ob unter normalen Umständen
bei einer ersten Seefahrt auf kleinem, beweglichem Schiffe und bei
stürmischem Wetter völlige Unempfindlichkeit überhaupt vorkommt,
ist sehr zweifelhaft, ausgenommen bei Säuglingen und sehr kleinen
Kindern. Denn dem Säuglingsalter scheint, wie fast alle Forscher
einstimmig zugeben, Unempfindlichkeit für Seekrankheit eigen.
Riese, der besonders auf diesen Punkt geachtet zu haben angibt,
hat niemals einen seekranken Säugling gesehen, dagegen oft ,die
schwer seekranke Mutter in absoluter Passivität und Hilflosigkeit,
und daneben in eigentümlichem Gegensatz zu ihr das Kind, welches
in naiver Rücksichtslosigkeit und völliger Frische unbekümmert an
der Mutter herumspielt''.
W. Hesse ^) bestimmte auf einer Seefahrt die Veränderung des
Körpergewichtes von 44 Passagieren, unter denen 2 Säuglinge und
1 2jähriges Mädchen waren. Er teilte die Seekranken nach der Hef-
tigkeit der Krankheit in drei Gruppen ein und kam zu folgendem
Resultat, welches die Gewichtsverluste während einer Woche bei
leicht stürmischem Wetter angibt:
Jede Personverlicrt
durcbschnitdicb
0,75 Pfd.
1,5 .
4,8 ,
Nicht seekrank
Seekrank 1. Grad
2. .
Zahl
12
10
18
verlieren
wiegen zusammen
zusammen
1440,5 Pfd.
9 Pfd.
1328,5 „
15 .
2486,5 „
86,25 ,
552 „
51 «
• « 3. „ 4 552 „ 51 . 12,75 „
Nur 5 Personen zeigten Gewichtszunahme, am meisten (3 Pfund)
einer der beiden Säuglinge« Der andere Säugling nahm 1 Pfund ab.
Das 2 jährige Mädchen war leicht seekrank und verlor 3 Pfund.
Hesse bemerkt, wie gewöhnlich die Seekrankheit der Mutter auch
dem Säugling schadet, erstens weil die Milchsekretion meist zu wSs*
sehen übrigläßt, und zweitens, weil seekranke Mütter oft ihre Kinder
schrecklich vernachlässigen.
Die Therapie der Seekrankheit ist ebenso reich an Mitteln wie
arm an Erfolg. Selbst wer sonst auf Arzneien schwört, pflegt gegen
Seekrankheit kein Mittel zu brauchen, weil fast jeder Laie davon über-
zeugt ist, daß dagegen doch nichts zu tun sei, so daß die Mittel sogar
1) Dr. V7. Hesse, Ein Beitrag zur Seekrankheit. Arch. d. Heilkunde 1S74,
25. Febr., XV, S. 134.
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11] Die Seekrankheit und Ihre Verhütung. 485
ihren suggestiven Wert verlieren. Doch kann Ratschlägen, wie den
folgenden, ein gewisser Wert nicht abgesprochen werden. Man soll
wenigstens eine Stunde vor Anfang der Seefahrt eine kräftige Mahl-^
zeit zu sich nehmen; beim Auftreten vom Schwindel sich hinlegen,
für kräftige Ventilation Sorge tragen, außerdem noch versuchen, ob
eine Leibbinde einige Erleichterung gewährt, wie einige Autoren be-
haupten an sich selbst empfunden zu haben. Einige Seekranke fühlen
einen günstigen Einfluß von permanenter Bauchlage. Wenn das Schiff
vornehmlich stampft, kann man demjenigen, welcher noch für solche
Ratschläge empfänglich ist, anraten, die Respiration nach den Schiffs-
bewegungen zu regulieren, in der Weise, wie es schon im Anfang
dieses Aufsatzes beschrieben Wurde. Möglicherweise hat auch Kopf-
stauung nach der Bier sehen Methode, wie es Simon^) empfiehlt,
einigen Einfluß durch Milderung der von Hirnanämie abhängigen
Erscheinungen.
Es würde zu weit führen, hier alle Theorien der Seekrankheit aus-
führlich kritisch zu besprechen. Kürze halber wird dieser ausge-
breitete Gegenstand hier einigermaßen schematisch behandelt. Bei
der Beurteilung dieser Theorien muß man nicht nur die Erscheinungen
der Seekrankheit in Betracht ziehen, sondern auch die Unterschiede
in der Empfindlichkeit und die der Gewöhnung berücksichtigen. In
dieser Hinsicht sind folgende, von den meisten Forschern überein-
stimmend konstatierte Tatsachen von Interesse:
K Die Erscheinungen sind um so schllmmef, je größer, unregel-
mäßiger und zusammengeset2iter die Schiffsbewegungen sind. Die
Bewegung um des Schiffes Querachse (Stampfen) mit ihren großen
Aussc^hlägen hat viel mdhr Bedeutung als die um des Schiffes Längs-
achse (Rollen).
2. Liegende Stellung mildert die Erscheinungen.
3. Säuglinge und sehr kleine Kinder sind unempfindlich. Frauen
sind im allgemeinen empfindlicher als Männer.
4. Bei weitem die Mehrzahl der Menschen gewöhnt sich im Laufe
einiger Tage an die Schiffsbewegungdn. Diese Immunität ist aber
sehr relativ. Sie kann auf die Dauer beim Aufenthalt auf dem Lande
wieder ganz verloren gehen und gilt nicht für viel kleinere Schiffe
oder für Weit stürmischeres Wetter.
5. Einige Leute sind überempfindlich. Die akute Seekrankheit
nimmt bei ihnen eine mehr chronische Form an, und jede Seefahrt
stört aufs neue das Wohlbefinden.
1) J. Simon j Biersche Kopfstauung als Mittel gegen Seeicrankheit. Therapie
der Gegenwart Jan. 1907.
35*
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48Q • J« A- V*" Trptsenburg, [12
Und weiterhin dürfen die Theorien der Seekrankheit nicht in
Widerspruch kommen mit zahlreichen angestellten Beobachtungen über
das physiologische und pathologische Gleichgewicht.
Unter den zahlreichen aufgestellten Theorien der Seekrankheit gibt
es viele, die so oberflächlich und ungenügend die Erscheinungen er-
klären, daß jede Kritik überflüssig erscheint. Zu dieser Rubrik können
diejenigen Theorien gerechnet werden, die alle Erscheinungen der
Furcht vor der Seereise zuschreiben, wie guch diejenigen, die in der
Seekrankheit einzig und ausschließlich nur einen optischen Schwinde)
sehen wollen* Auch die Theorie, welche die Seekrankheit als eine
Intoxikation betrachten will, infolge Einatmung von zerstäubtem See-
wasser, gehört hierher, wie auch endlich die Theorie, die die Er-
scheinungen der Seekrankheit aus Irritationen der Valleixschen Druck-
punkte ableiten will.
Cornelius^), der Autor der letztgenannten, noch ziemlich modernen
Theorie, nieint durch Massage der Druckpunkte oder durch sog. Fest-
legen derselben mittels Pelotten die Erscheinungen der Seekrankheit
bedeutend mildern zu können, wenn nur, fügt er vorsichtshalber hinzu,
das Wetter nicht zu stürmisch ist. — Nachdem er an sich selbst
Untersuchungen angestellt hatte, konkludierte er, daß durch Druck-
punktbehandlung in „kürzester Zeit eine sonst nicht zu erwartende
Gewöhnung an die Schifi^sbewegungen^ eintrat.
Die übrigen Theorien kann man übersichtlich in drei Gruppen
teilen, zwischen denen aber viele Übergänge und Kombinationen be-
stehen. — Die erste Gruppe, die der mechanischen Theorien, meint,
daß die Schiifsbewegungen durch Erschütterungen und Schwankungen
in den Geweben einiger oder aller Organe mechanische Änderungen
hervorbringen.
Die zweite Gruppe, die man Refiextheprien nennen kann, sieht in
den Schifl^sbewegungen Reize, die von den sensiblen Nerven und
Sinnesorganen aufgefangen, auf reflektorischem Wege die Erscheinungen
der Seekrankheit erwecken.
Die dritte Gruppe, die der psychischen Theorien, sucht die Ur-
sache der Krankheit in einer bewußten Gleichgewichtsstörung, in
einem Gefühl von Desorientierung im Räume. Zu den bekanntesten
mechanischen Theorien gehören die von Fonssagrives, der in einer
zentrifugalen Bewegung der Zerebrospinalflüssigkeit die Ursache der
Seekrankheit suchte, ferner die von Larrey, der Seekrankheit als
eine Art leichter Hirnerschütterung betrachtet, ein 96branlement des
1) Cornelius, Berliner klin. Wocbenscbr. 1903, S. 673 und Jahresbericht Ober
die Fortschr. der Neurol. und Psychiatrie 1903, S. 414.
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13] Die SeelLrankheit und Ihre VBrhütttng. 487
molecules du cerveau', towie die von KSraüdren; der die Reibungen
und Erschütterungen der Unterleibsorgane als Urheber der Seekrankheit
ansah. Wollaston, der meinte, ein einfaches physikalisches Experi-
ment auf eine komplizierte biologische Frage anwenden zu können,
glaubte, das Blut werde bei niedergehender Bewegung des SchifFes
(wie das Quecksilber in feinem Barometer, tias schnell sinkt) leicht
dem Gehirn zufließen, indem der Rückfluß zu gleicher Zeit erschwert
sei und infolgedessen entstünden Hirnkongestionen. Obgleich Wol-
lastons Theorie einige Anhanger zählte, fand sie mehr Gegner, die
in Hirnanämie die Ursache der Seekrankheit gefunden zu haben
meinten. Auch fehlte es nicht an solchen, die den Mittelweg ein-
schlugen, d. h., die die Erscheinungen der Seekrankheit einer be-
ständigen Abwechslung von Anämie und Hyperämie des Gehirns zu-
schrieben. Diese Theorien der Zirkulationsstörungen sind nicht alle
zu den mechanischen Theorien zu rechnen, denn viele dachten sich
die Zirkulationsänderungen auf reflektorischem Wege entstanden. Die
von Schwerdt gegebene Vorstellung der Zirkulationsstörungen, welche
mit Wollastons Theorie einige Übereinstimmung hat, ist doch viel
plausibler als jene, erstens, weil sie den Ktappenapparat mit in Be-
tracht zieht und zweitens, weil sie sich auf Teile des Zirkulations-
systems bezieht, in denen nur sehr geringe Spannungen und kleine
Stromgeschwindigkeiten herrschen. Außerdem aber sucht Schwerdt
in jenen Zirkulationsstörungen nicht die einzige Ursache der See-
krankheit; er untersuchte sich selbst und war nicht seekrank. Pflanz^)
fand manometrisch Blutdruckschwankungen, die abhängig von den
SchiiTsbewegungen waren. Sie waren aber nicht größer als diejenigen,
welche die täglichen Bewegungen des Menschen begleiten, und wurden
deswegen von ihm nur als Symptom, nicht als Ursache der Seekrank-
heit betrachtet.
Alle mechanischen Theorien haben den großen Nachteil, daß sie
zwei wichtige Tatsachen (nämlich die Immunität der kleinen Kinder
und die Gewöhnung an die Bewegungen des Schiffes) nicht befriedi-
gend erklären können. Fonssagrives nannte selbst die Gewöhnung:
»pierre d'achoppement de toutes les theories mecaniques du mal de
mer* und verwarf aus diesem Grunde später wieder seine eigene
Theorie.
Riese weist weiter darauf hin, daß so heftige mechanische Er-
schütterungen, wie diese Theorien voraussetzen, uns auf dem Meere
nicht treffen. Ganz richtig bemerkt er: „Man lege den Kopf an die
1) O. Pflanz, Zur Ätiologie der Seekrankheit. Wiener klin. Wochenschr.
1903, S. 896.
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488 , J. A. ytn Trotecpburfo [14
Wand ^ioes scbutternden Wagens oder selbst an die 6neiterwao4
des verhältnismäßig leise dahingleitenden Eisenbahpwageos, und mao
wird ziemlich 3tarke Erschütterungen empfinden, wenigstens, mit
denen verglichen^ die man etwa verspürt, wenn man den Kopf an
den Mast, an die Reiling oder sonst einen festen Bestandteil des
Schiffes lehnt. Meist wird man hier überhaupt keine Erschütterung
wahrnehmen.f^
Seeschiffe haben gefwöl^nlich eine; so enorme Inertie, daß die
Schiffsbewegungen sehr allipählich ineinander übergehen, ausgenommen
sehr kleine Fahrzeuge, die oft heftig erschüttern und stoßen können.
Folgende Bemerkung Rieses:
^Das Bier bleibt auch bei starken (Schiffs-]Schwarnkungen ganz
ruhig im Glase und fließt nur. aus, wenn etwa das Glas zu stark ge-
neigt wird; auch spritzt es weder hin^s, noch wird es hinausge-^
schleudert, es. folgt eben einfach der Schwerkraft"", ist im allgemeinen
richtig, doch wo es sich um sehr kleine Schiffe oder sehr stürmisches
Wetter handelt, kann ihre Zulässigk^it nur eiqe bedingt^ sein.
Au$ seinen Wahrnehmungen schließt Riese, daß >,die mecha-
nischen Einwirkungen auf Schiffen weit geringer sind» a:ls mancher-
lei mechanische Einwirkungen,, welche der menschliche Körper bei
den verschiedensten Gelegenheiten im gewöhnlichen Leben un-
beschadet erträgt. Daß ein Reiter ein gefülltes Glas nicht wohl
würde transportieren können, liegt* auf der Hand, auch in einem
gewöhnlichen Wagen würde der Inhalt wahrscheinlich durch mecha-
nische Kräfte verschüttet werden, doch ich glaube, selbst beim
gewöhnlichen Gange sind die Erschütterungen, denen der Körper
ausgesetzt ist, größere^ als sie ihm von dem Schiffe mitgeteilt
werden."
Ungeachtet dieser zahlreichen und begründeten Einwände gegen
jede mechanische Theorie der Seekrankheit, und obgleich völlig damit
bekannt, hat vor kurzem Rosenbach i) aufs neue versucht, das Krank-
heitsbild mechanisch zu erklären. Nach ausführlichen Betrachtungen,
in denen eine sachliche Widerlegung der oben genannten Bedenken
meines Erachtens nicht zu finden ist, kommt Rosenbach zu dem
Resultate (S. 161, Seekr. als Typus der Kinetosen):
„daß für die Entstehung des Symptomenkomplexes der Seekrank-
heit (und aller Kinetosen). vor allem intra- und interenergetische
(intermolekulare) Störungen verantwortlich zu machen sind» Sie treten
ein, wenn besonders starke und ungewohnte Impulse, in specie die
1) Prof. Dr. O. Rosenbach, Die Seekrankheit als Typus der Kinetosen.
Wien 1896 und „Die Seekrankheit*" in Nothnagels Path. und Ther. Bd. 12» T. 2.
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15] Die Seekrankheit und ihre Verhütung. 489 .
Schiffsbewegung, das durch eine besondere Form der Oberflächen-
spannung bewirkte künsdiche (innere) Gleichgewicht des gesamten
Organismus oder seiner einzelnen Teile (funktionellen Einheiten) so
wesendich in Frage stellen^ daß die vorhandenea reaktiven Kräfte
(die latente Reserveenergie) nicht imstande sind, die normalen Be-
ziehungen der Teile wiederherzustellen. Wir nehmen also an, daß
überall da, wo äußere oder Innere Impulse zu einer starken, Inter-
und intramolekularen Erschütterung (Veränderung des dynamischen
Gleichgewichtes) der kleinen und größeren Komplexe führen, die
Störung zuerst in einer Anomalie der außerwesentlichen (intra- und
interorganischen) Arbeit, d. h. in einer Veränderung der sämtlichen
wahrnehmbaren (tonischen und sthenischen) Funktionen der betreffen-
den Organe respektive des ganzen Organismus, zum Ausdrucke
kommen wird.''
9 Wir sind somit geneigt, die abnorme Sekretion des Magens, die
abnormen peristaltischen Bewegungen, das Erbrechen usw., auf eine
bestimmte mechanische Beeinflussung des Organgewebes selbst (eine
Betriebsstörung) zurückzuführen, und glauben, daß Leber, Darm, Ge-
hirn, Nervenplexus in derselben Weise direkt mechanisch in Mit-
leidenschaft gezogen werden, ohne daß dabei ein Nerveneinfluß primär
im Spiele ist, obwohl wir die gleichzeitige (koordinierte) Alteration
der Psyche und des Nervengewebes, das ja, wie jedes andere Gewebe
ebenfalls mechanisch irritiert werden kann, durchaus nicht in Abrede
stellen. Es kann natürlich in einem Falle das Gehirn allein, es können
in einem anderen auch die Abdominalorgane für sich affiziert sein;
doch sind wohl die Störungen in letzteren, sowie kombinierte Affek-
tionen, die stärkeren und häufigeren.^
Außer dieser mechanisch verursachten Form der Seekrankheit er-
kennt Rosenbach auch das Bestehen einer psychischen Form an,
denn auf Seite 163 liest man weiter:
„Neben der Form der Seekrankheit, die auf durchaus realer Basis,
also bei direkter Beeinflussung der sichtbaren Gehirnmasse durch
grobe Schwingungen zustande kommt (somatische Form), müssen wir
die auf rein psychischer Basis (oder höchstens durch geringe optische
Sinnesreize) entstandene besonders berücksichtigen, da hier die Ent-
stehung, der Störungen auch ohne Zuhilfenahme eines Gleichgewichts-
zentrums allein aus der Erregung von Unlustgefühlen (Vorstellungen)
erklärt werden kann, was namendich dadurch bewiesen wird, daß die
Krankheit auch bei vollkommen ruhiger See auftritt, und daß durch-
aus ähnliche Erscheinungen auch auf dem Festlande bei gewissen
psychischen Erregungen beobachtet werden.^
a
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400 J. A. van Trotsenburg, [16
Rosenbach geht in seinen energetischen Betrachtungen so weit,
daß er die durch die Seekrankheit verursachten Störungen in einem
Organismus einfach analog achtet mit einer Trennung der Kontinuität
oder einer Veränderung des Aggregatzustandes bei nicht organisierten
Massen:
9 Wir bezeichnen den Effekt dieser Verschiebungen bei organisierten
Komplexen als eine Veränderung des Tonus und der Funktion, bei
nicht organisierten Massen als Veränderung des Aggregatzustandes.*
(S. 4, Seekrankheit als Typus der Kinetosen.)
Es liegt auf der Hand, daß sich diese Theorie schwer vereinigen
läßt mit der Immunität der Säuglinge, was Rosenbach auch selbst
eingesehen hat, und schon daraus hervorgeht, daß er die Säuglings-
immunität in ihrer Allgemeinheit leugnet. Soweit er aber doch die
geringe Empfindlichkeit der kleinen Kinder zugeben muß, erklärt er
sie wie folgt; (S, 200)
»Je kunstvoller also die Oberflächenspannung eines Körpers an
sich ist, desto größer ist die Arbeit für die richtige Spannung der
kleinen, die Komplexe der Organe zusammensetzenden Teile unter
der Wucht eines mächtigen, ungewohnten Impulses, und darum werden
die Störungen bei den überaus wirkungsvollen Schwankungen des
Schiffes für die meisten Erwachsenen so beträchtlich. Die Bedeutung
von Stößen, wie sie die Schiffsbewegung darstellt, ist dagegen für
Körper ohne besondere Komplikation der Oberflächenspannung und
des räumlichen Gleichgewichtes außerordentlich gering, und so emp-
findet der Säugling die Einwirkungen relativ am geringsten, da sein
Organismus eben noch nicht die Einrichtungen des vollkommenen
Präzisionsapparates für das Gleichgewicht aller Teile hat, wie der
Organismus des Erwachsenen. Um ein Beispiel zu brauchen, so sind
die kunstvollen Spannungen der Gewölbe der Paläste beim Erdbeben
mehr gefährdet als die in einfachem Gleichgewichte, konstruierten
Hütten aus Holzfachwerk.''
Auf Seite 17 derselben Arbeit gibt Rosenbach noch zahlreiche
andere Argumente für die kindliche Immunität, die aber an Gehalt
die obigen nicht viel übertreffen.
Rosenbachs philosophisch-energetische Betrachtungen machen oft
den Eindruck, auf weit weniger festem Boden zu stehen, als ein
Schiff im Sturm bietet. Wie er in der Tatsache der Gewöhnung an
den Einfluß des stürmischen Meeres eine der wichtigsten Stützen für
seine Theorie zu sehen vermag (S. 185, Seekr. als Typus d. Kinet.),
ist mir aus seiner Darlegung nicht klar geworden.
Wie ich schon oben bemerkte, bilden die Theorien der Zirkulations-
störungen einen Übergang von den mechanischen zu den Reflex-
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17] Die Seekrankibeit und ihf& Verhütung. 491
iheorien. Denn viele, die die Erschelnuageo der Seekrankheit ableiten
wollen aus einer Hyperämie oder Anämie des Gehirns, denken sich
diese Zirkulationsstörungen auf mechanische Weise entstanden, wieder
andere kümmern sich nicht um die Frage, wie die Anaemia cerebrl zu-
stande kommt, sondern konstatieren nur eine Übereinstimmung zwischen
akuter Hirnanämie und Seekrankheit.
Hagen-Torn^) endlich (und mit ihm viele andere) sieht in der
Seekrankheit: ,,eine Reflexerscheinung, bedingt durch die Unmöglich-
keit der Anpassung an die stets sich verändernden Beziehungen des
Körpers zur Umgebung. Das Ende defr Reflexschleife ist die Kon-
traktion der GehirngefaOe, wie Prof. Binz es annimmt''.
Binz^) betrachtet Anaemia cerebri als nächstliegende Ursache der
Seekrankheit und beruft sich auf Krämer^), der bei 44 Seekranken
anämische Fundus oculi fand. — Reynolds^) meint, die Erscheinungen
der Seekrankheit wären bedingt durch Druckschwankungen in den
Ampullen derCanales semicirculares, während Butler-Savory<^) genau
den ganzen Reflexbogen beschreibt, ausgehend von »the two terminal
branches of the auditory nerve to the Cochlea and semlcircular canals.
The Upper division of the auditory nerve is connected at the base of
the internal auditory meatus with the geniculate ganglion of the facial
nerve and this latter in its turn gives off fibres which pass to the
trunk of the pneumogastric by means of its auricular brauch; there
is thus a complete chain of nerve fibres starting from the terminal
branches of the auditory and finishing with the terminal branches of
the pneumogastric, distributed over both surfaces of the stomach. The
Stimulation of the auditory nerve would be caused by the movement
of the endolymph, set up by the motion of the ship. From there the
Stimulation would pass through the various secretory and vase-dilator
fibres of the fascial to the submaxillary and sublingual glands &c.«
Diejenigen Theorien, die die Seekrankheit als verursacht ansehen
durch ungewöhnliche Reize des Labyrinths, stützen sich auf die Über-
einstimmungen zwischen den Erscheinungen der Seekrankheit und
denjenigen, welche durch känstliche Reize, Beschädigung oder Exstir-
1) O. Hagen -Tom, Über die Seekrankheit. Zentralbl. f. Inn. Med. 1903,
S. 607.
2) Karl Binz, Über die Seekrankheit. Zentralbl. f. Inn. Med. 1903, Nr. 9 und
1904, Nr. 11.
3) L. Kramer, Über die Seekrankheit. Prager Med. Wochenschr. 1892, Nr. 40
und 41.
4) Reynolds, On the Nature and treatment of sea-sickness. Lancet 1884,
p. 1161.
5) Butler Savory, British Med. Journal 1901, I, p. 767.
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402 J» A. rtn Trot^eaburg, [18
pation der Cinales semicirculares auftreten. Sie können ohne Zweifel
am Krankheitsbilde viel erklären, aber viernachlässigen mit Unrecht
diejenigen Reize, welche auf optischen und kinästhetischen Bahnen
zur Entstehung von Desorientierung beitragen und die, wenn sie aUein
auftreten, ebenfalls einen der Seekrankheit ähnlichen Symptomen-
komplex erwecken. So versuchte u. a. Abrahamsz das Bild der See-
krankheit ganz von letztgenannten Ursachen (ungewöhnliche Gesichts-
und Gefühlsempfindungen) abzuleiten. Seine Vorstellung und die
oben beschriebene ergänzen sich gegenseitig und zeigen dann große
Obereinstimmung mit den von Riese gegebenen Darlegungen über
die Entstehung der Seekrankheit. Nur wird seine Neigung zur Loka-
lisierung eines statischen Zentrums und eines pathologisch-anatomischen
Ortes der Seekrankheit heute weniger Anhänger finden als damals, als
er seine Inauguraldissertation schrieb und man mit Lokalisieren größeren
Erfolg hatte als jetzt.
Anhänger von rein psychischen Theorien werden heute wahrschein-
lich sehr selten sein, obgleich eine rein psychische Form der Seekrank-
heit ebensowenig verneint werden kann wie Schwindel auf ausschließlich
psychischer Grundlage. Schwindel beim Hinabseben von hohen Ge-
bäuden^ oder bei einseitiger Augenmuskellähmung, oder bei einer wohl-
bekannten Kirmesbelustigung, welche den fast in Ruhe bleibenden Be-
suchern die Illusion gibt, 360 Grad rundzuschaukeln (sog. Hexenschaukel),
sind dafür einige aus vielen Beispielen. Daß hysterische Personen
auf nahezu und sogar auch auf ganz unbewegtem Schiffe Seekrank-
heitserscheinungen zeigen können, wird niemand wundern, der mit
Hysterie ein wenig bekannt ist. Aber auch bei Gesunden spielen
wahrscheinlich psychische Einflüsse eine große Rolle. Dafür sprechen
verschiedene Umstände, wie z. B. die schon zitierte Wahrnehmung
einiger Schriftsteller, daß man willkürlich das Ausbrechen der See-
krankheitserscheinungen einige Zeit unterdrücken kann, oder man
wenigstens den Eindruck hat, es zu können. Dafür spricht ferner der
so oft konstatierte Einfluß psychischer Infektion, die besonders bei
Seekrankheit von großer Bedeutung ist und vielen aus Erfahrung be-
kannt sein wird. Weiter ist die Tatsache bekannt, daß seekranke
Neulinge unter den Matrosen unter der suggestiven Behandlung ihrer
älteren Kameraden sich schnell zu gewöhnen pflegen. Dery^) meint,
das bei alten Seeleuten für solche Fälle bekannte Rezept, die Dar-
reichung von Seewasser in- und auswendig, im Notfalle aufgezwungen,
solle sich gut bewähren. — Solange die Homöopathie dafür keine
bessere Erklärung an die Hand gibt, wird man in dieser Therapie
1) D6ry, Die Seekrankheit. Allgem. milit.-ärztl. Zeitung 1871.
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19] Die SeeKrAoUieitinidilir«' Verhütung. 403
schwerlich etwas anderes nt^iS^uggestive Wirkung vermuten köotien.
r— Und endlich das so hSuüge Bestreben; Empfindlichkeit für See-
krankheit zu verneinen^ und in Seekrankheit nur eine Schwäche oder
Mangel an Willenskraft zu sehen. y,Man erhäit^S sagt Rosenbach^
)iVon Kriegern und Seekranken nur selten wahrheitsgetreue Auf-
sohlässe^S und Neuhaus meint: »»Wollte man den äblichen Prahlereien
Glauben schenken» so wurden mindiestens 00% nie seekrankes indem
Riese hierzu bemerkt: „Es ist ein jedem SchifFsarzt bekannter Um*
stt^nd« daß Passagiere» besonders Herren» die an nicht zu schwerer
Seekrankheit leiden» dies nie gern wahrhaben mögen» sondern ihre
Indisposition lieber auf alle möglichen anderen Dinge» Diatfehler usw.»
zu schieben pjlegen/'
Objge Übersicht der Seekrankheitstheorien kann in keiner Hinsicht
auf Vollständigkeit Anspruch machen^ es ist nicht viel mehr als eine
Blumenlese aus der so umfangreichen Literatur. Man kann kaum einen
Jahrgang, von irgendeiner medizinischen Zeitschrift zur Hand nehmen»
ohne darin auf neue Theorien der Seekrankheit zu stoßen. Es ist
kaum möglich» die ganze Literatur zu übersehen» und ich habe nur
naeh der Aufspürung und Erwähnung der wichtigsten Grundlagen der
zahlreichen Theorien getrachtet.
Wenn wir nun die Seekrankheit betrachten als eine bewußte Des-
orientation im Räume, kombiniert mit einer Reihe reflektorischer
Störungen, eins wie da$ andere hervorgebracht von ungewöhnlichen
optischen» kinästhetischen und Labyrinthreizen» dann werden die
Seite 485 genannten Eigentümlichkeiten der Krankheit befriedigend er-
klärt werden können. Die sub 1 und 2 genannten Kriterien brauchen
keinen weiteren Kommentar. Daß Säuglinge» die noch jeder Orientie-
rung im Räume entbehren» immun sind für Desorientierung» kann
unsere Betrachtung nur stützen» daß sie aber auch unempfindlich sind
für die Labyrinthreize, die sie auf beweglichem Schiffe treffen, könnte
nicht a priori erwartet werden. Es ist mir nicht gelungen» in der
Literatur Wahrnehmungen beschrieben zu finden» die auf Unempfind-
lichkeit der Säuglinge für Achsendrehung, galvanische oder thermische
Labyrinthreize hinweisen. Der hiesige Herr Professor Schutter» mit
dem ich hierüber Rate pflog, war auf meine Bitte bereit» diese Frage
mit mir zu untersuchen; wir fanden, daß 6 Kinder unter 1 Jahre alt
keinen kalorischen Nystagmus zeigten. Untersucht wurde mit Wasser
von 25'' Celsius, wobei normale ältere Kinder eine kräftige und
minutenlang nach dem Experimente nachbleibende Reaktion zeigten.
Ein in der Entwickelung zurückgebliebenes 2jähriges Kind» das wegen
kongenitaler Hüfteluxation nicht gehen noch stehen konnte, zeigte
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494 J. A. van Trotsenburg, [2
auch keinen kalorischen Nystagmus, während ein normales lV2iibriges
Kindchen eine Spur von Reaktion zeigte. Aus diesen Untersuchungen
wird es wahrscheinlich, daß der Vestibularapparat In der Zelt funk-
tionsfähig wird, wo die Kinder das Gehen erlernen.
Die Für Seekrankheit größere Empfindlichkeit der Frauen ist in
Übereinstimmung mit ihrer allgemeinen höheren Irritabilität, und
demzufolge sind auch nervöse und hysterische Naturen besonders
empfindlich.
Die Tatsache der Gewöhnung, und die Frage, wie diese zustande
kommt^ verdient besondere Aufmerksamkeit, insofern die Frage für
die Prophylaxe der Seekrankheit große Bedeutung hat.
Vergleicht man den erfahrenen Seemann mit dem Neuling auf dem
beweglichen Boden, dann fallen uns bedeutende Unterschiede auf. Der
Neuling bewegt sich sowohl objektiv wie subjektiv in sehr unsicherem
Gleichgewichte. Er muß sich fortwährend stützen; und will er sich
von einem Ort zum anderen bewegen, so tut er es am liebsten in dem
Augenblicke, wo das Verdeck durch die Horizontalfläche geht. Zur
Fortsetzung seines beabsichtigten Rückganges wartet er wiederum
eine gleiche Gelegenheit ab. Wenn er eine Schiffsbewegung mit
einer zweckmäßigen Körperbewegung zu beantworten versucht, tut er
dies nur selten in der richtigen Weise und erinnert dabei an den
Schlittschuhläufer oder Radfahrer, der sich zum erstenmal an das Studium
dieses Sports wagt. Der erfahrene Seemann hingegen ist vollkommen
gut equilibriert. Beim Stehen, Gehen, Sitzen: fortwährend kompen-
siert er automatisch die Schiffsbewegungen derart, daß sein Oberkörper
immer ungefähr die vertikale Lage behält. Der erfahrene Aufwärter
z. B. trägt ohne Mühe ein Brett mit gefällten Gläsern zu den Passa-
gieren als etwas Selbstverständliches, ohne eine Miene zu verziehen.
Auf Photographien, welche am Bord fahrender Schiffe aufgenommen
sind, kann man sich leicht von diesem Equilibrieren der Seeleute
überzeugen. Viele, wenn nicht die meisten, tun es ganz unbewußt,
oder denken nur daran, wenn die Schiffsbewegungen sehr groß werden.
Wo dieses Equilibrieren zeitweise unterlassen wird, z. B. wenn man
sich in irgendeine Arbeit zu sehr vertieft, tritt bisweilen überraschend
wieder ein Gefühl von Unbehagen auf, welches dadurch zu bekämpfen
ist, daß man seine Arbeit auf einige Zeit unterbricht. So sah ich
einmal einen erfahrenen, und sonst für Seekrankheit nicht be-
sonders empiiinglichen Heizer auf nur mäßig bewegtem Schiffe un-
wohl werden beim Bemalen eines Brettes, das zu einer festlichen
Gelegenheit dienen sollte und von diesem Heizer (der, wie ich
glaube, früher Anstreicher gewesen war) bei fahrendem Schiffe be-
arbeitet wurde. Beim Schreiben und Lesen während stürmischen
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21) Die Seekrankheit und ihre Verhütung. 495
Wetters bemerkte ich oft auch an mir selbst^ daß dann und wann Unter"»
brechung dieser Arbeit nötig war, um mein Wohlbefinden zu behalten«
Wie aus einer schon früher zitierten Bemerkung von Abrahamsz
hervorgeht, machte dieser Forscher auch dieselbe Erfahrung. Das
fortwährende Equilibrieren verursacht nach einer Seefahrt auf kleinem,
beweglichem Schiffe bei ungünstigem Wetter beim Anslandtreten ein
Gefühl in den Füßen, welches an dasjenige erinnert, das man bei
den ersten Schritten nach ein^r Schlittschuhfahrt hat.
Das Equilibrieren. ist ein wichtiges Wehrmittel gegen die Schiffs-
bewegungen, die dadurch als Labyrinthreize sehr geschwächt werden.
Leider aber kann man die Bewegungen in senkrechter Richtung nicht
kompensieren, und wahrscheinlich steht deswegen das „Stampfen^ in
weit schlechterem Rufe als das „Rollen"* des Schiffes. Die Frage
taucht jetzt auf, ob das schon beschriebene chronische Fortbestehen
der Seekrankheits- Erscheinungen bei Oberempfindlichen dem mangel-
haften Erlernen des zweckmäßigen automatischen Kompensieren der
Schiffsbewegungen zugeschrieben werden kann. Zur Beantwortung
dieser Frage wurde von mir untersucht, ob Oberempfindlichkeit für
Seekrankheit zusammengeht mit Störungen der Empfindlichkeit für
Neigungsänderungen. Mit Hilfe eines improvisierten Goniometers,
das mit einer Winde geräuschlos bewegt werden konnte, wurden bei
ungefähr 100 Schiffspersonen nacheinander folgende Größen bestimmt:
1. die Schwelle (Schw).
2. die kleinste Neigungsänderung, die nötig war, um aufs neu«
eine Empfindung zu geben (dR).
. 3. die MinJmum-Neigungsänderung, nötig, um eine Empfindung zu
geben, ausgehend von einer Neigung von W (dR*").
4. derselbe Wert bei einem Neigungswinkel von aO"" (dR^o).
Immer wurden die Personen ohne Schuhe, mit herabhängenden
Armen, geschlossenen Augen und bei gleichem Stande der Füße unter-
sucht. Die Werte für: Schw, dR, dR*® und dR^® wurden gemessen in
zwei verschiedenen Stellungen, die die Stampf- und Rollbewegung eines
Schiffes nachahmten. Da aber die für seitliche Neigungsänderungen
gefundenen Werte nicht nennenswert verschieden waren von denen,
die bei Neigungen nach hinten und vorn gefunden wurden, nehmen
wir jedesmal aus beiden den mitderen Wert. Eine gleiche Geschwin-
digkeit von Neigungsänderung bei jeder Untersuchung wurde möglichst
dadurch verbürgt, daß immer derselbe Seesoldat die Winde drehte.
Die Forderung, daß die Bewegungen übereinstimmend sind, und daß
man sie für genaues Ablesen jedesmal muß hemmen können, ohne
daß dabei fühlbare Stöße entstehen, bestimmt die größte Geschwindig-
keit, die man brauchen kann. Diese Geschwindigkeit wird ungefähr
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496 J- A. van Trotsenbupg, {22
äbereinstimmen mit derjenigen, die ein cQchtiges SeeschlflP bei miSig
bewegter See zeigt.
Jeder gefundene Wert wurde einige Male kontrolliert, und aus
mehreren Wahrnelimungen jedesmal ein Mittelwert berechnet. Oft
geschah es, daO die erste Neigung erst bei 6, 8 oder mehr Graden
perzipiert wurde, obgleich doch niemals die Schwelle so hoch war.
Ließ man doch die Neigung wieder abnehmen, dann wurde schon
„Nieder* gerufen, ehe wieder der Horizontalstand erreicht war, und
ein zweites Mal wurde schon bei viel weniger als 6 Graden das ,Auf*
gehört. Ausgenommen die ersten unrichtigem Wahrnehmungen, stimmten
die gefundenen Werte bei Wiederholung der Untersuchungen gut
überein.
Aus 100 Wahrnehmungen wurden folgende Mittelwerte berechnet:
Schw: dR dRw dR»
1,96° 1,45° 1,29° 1,23°
1,53° 1,64°
Für dR*'^ und dR^» wurden zwei Werte gefunden, da sich zeigte,
daß gewöhnlich die Empfindlichkeit für Netgungszunahme bedeutend
größer war als fOr Abnahme. Die oberhalb des Striches stehenden
Ziffern haben immer Beziehung auf Zunahme, die unterhalb desselben
stehenden auf Abnahme der Neigung. Die untersuchte SchifPsmann-
schaft bestand aus Personal der niederländischen Marine und war
zusammengesetzt aus Leuten von verschiedene^ Alter und in Ober-
einstimmung damit von verschiedener Befahrenheit. Da die alteren
dieser Seeleute oft auffallend höhe Ziffern zeigten, so lag es auf der
Hand, die Untersuchten in zwei Altersklassen einzuteilen, wobei fol-
gende Mittelwerte gefunden wurden:
Tftbell
e I.
Geboren vor 1880
Geboren nach 1880
Mittelwerte aus 37 Fallen
Mittelwerte aus 63 Fallen
Schw:
2,20'*
1,82°
dR
1,60*
• 1,36°
dR"
1,35*
f,26°
1,57"
1,52°
dRio
1,27°
1,21°
1,72°
' 1,59°
Die älteren, mehr befahrenen Seeleute (d. h« seetitehtige, mit
Schiffsarbeiten vertraute Leute, die schon ozeanische Reisen gemacht
haben; der Gegensatz dazu sind. Halbbefahrene und Unbefahrene)
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23] I^ie Seekrankheil und ibre Verhütung. 4ff1
zeigten also Immer höhere ZiflPern als die jOngeren. Ähnliche Unter-
schiede in Empfindlichkeit wurden auch gefunden, wenn man das Jahr
1885 nimmt als Grenze zur Verteilung in zwei Altersgruppen:
Tabelle IL
Geboren vor 1885 Geboren nach 1885
Mittelwerte aus 60 Fällen Mittelwerte aus 40 Fflllen
Schw: 2,12^ 1,73^
dR 1,54^ 1,32^
dRio
dR2o
1,24°
1,41°
1,17°
1,49°
In Westindien, wo ich diese Untersuchungen anstellte, hatte ich
keine Gelegenheit, ganz Unbefahrene (Leute, die noch nie auf dem
Meerewaren), zu untersuchen, was nötig gewesen wäre, um ausfindig
zu machen, ob im allgemeinen das Alter Einfiuß auf die Empfindlich-
keit für Neigungsänderungen ausübe, oder ob die geringere Empfind-
lichkeit der älteren Seeleute einer gewissen Abstumpfung als Folge
des langen Aufenthaltes auf dem Meere zugeschrieben werden müsse.
Hier in Groningen hatte ich Gelegenheit, Unbefahrene zu unter-
suchen. Ich hätte nun ein Goniometer nach v. Stein zu meiner
Verfügung und die mit diesem Apparate gefundenen Werte können
nicht ohne weiteres mit denen verglichen werden, die mit Hilfe
meines primitiven Goniometers gefunden wurden. Aber auf Unter-
schieden der Empfindlichkeit, abhängig^ von Alter und Geschlecht,
konnte mit dem genauem Apparate um so besser untersucht werden.
Aus 100 Wahrnehmungen bei Personen in demAlter von 15—50 Jahren
wurden folgende Mittelwerte berechnet:
Tabelle
III.
Geboren vor 1885
Geboren nacb 1885
50 FSIle
50 Falle
Schw:
0,9425°
0,94°
dR
0,869°
0,836°
dR"
0,763°
0,988°
0,729°
1,063°
dRw
0,663°
0,674°
0,983°
0,997°
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408
J. A. van Trotsenburg,
[24
Wie aus obiger Tabelle hervorgeht , wurden bedeutende Unter-
schiede» die abhängig vom Alter waren, nicht gefunden. Offenbar
sind die Ziffern von Tab» III bedeutend niedriger als die der beideo
ersten Tabellen. Dieses wird wohl teils den Unterschieden der bei
beiden Untersuchungsreihen benutzten Apparate zugeschrieben werden
müssen y teils aber auch der Unbefahrenheit der zuletzt untersuchten
Personen. Die auf mich selbst sich beziehenden Werte, die ich mit
Hilfe des Goniometers nach v. Stein fand, waren etwas größer als
die Hälfte der früher mit dem einfachen Apparate gefundenen Werte.
Aber damals diente ich auf einem fahrenden Schiffe, während ich
mich jetzt seit mehr als einem Jahre auf dem Lande aufhalte.
Bei Vergleichung beider Geschlechter wurden folgende Werte ge-
funden :
Tabelle IV.
Schw:
dR
dRio
dR2o
Männer
50 Fälle
0,985**
0,92°
0,78°
1,034°
0,644°
0,952°
Weiber
50 Fälle
0,844°
0,79°
0,729°
1,008°
0,654°
0,963°
Möglicherweise sind also die Weiber etwas empfindlicher für
Neigungsänderungen als die Männer, aber die Unterschiede sind sehr
klein und verschwinden ganz bei Zunahme der Neigung.
Vergleichen wir jetzt von 6 für Seekrankheit fiberempfindlichen
Seeleuten die ffir sie gefundenen Werte mit denjenigen, die auf Grund
ihrer Befahrenheit zu erwarten waren, dann finden wir:
Schw.
Tabelle V.
dR
dR«>
dR«
Nr. 1 geb. 1866
2
n 1870
3
n 1882
4
n 1882
5
n 1887
6
» 1888
Erwart.
Wahrn.
Erwart.
Wahrn.
Erwart.
Wahrn.
Erwart.
2^
1,75
1,60
1,75
1,35
1,57
1,5
1,5
1,25
1,27
1,72
id.
2-
id.
1,5
id.
1,26
1,5
1,25
id.
1,21
1,82
1,25
1,36
«,-
1,52
i;»
1,59
id.
1-
id.
1-
d.
0,75
1
id.
1,73
1-
1,32
»-
1,24
1,41
1,—
1,25
1,17
1,49
id.
2,5
id.
1,75
id.
1,5
1,5 1
id.
Wabm.
1^
1,5
>.-
1,75
1^
1.5
1.5
1-
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2S) Die SeekYiififthftit und mre Verhütung. 40g
-^ Dafl:^^ iit): kt^semeintn; die fOr Seekrankheit ^'Üb€if!ell1piindtfdlen^^tö^
Neigungsänderungen nicht weniger empfindlich sind als andere, 8<]in*>
dern eher empfindlicher, gebt hieraus. hef vor. Die Unterschiede sind
aber gering und außerdem schwankend., Nummer 6 bezpg sich auf
den 'Matrosen, dessen Krinkengeschighte obeü beschriebe^ wurde, und
der von allen am meisten überempfindlich für Seekrankheit war und
döph Rir t^eiguhgsänderungen Ünterernpfindjlchieit zeigte, '^ür die
Diagnose der Üherempfiiidlichkeit für Seekrankheit sind diese Unter-
suchungen off^enfear unzu^-eichend. Es muß fetzt* noch auf eine Be-
sonderheit der Ziffern hingewiesen werden, d'e in der Tabelle mit
einem ^ angedeutet, ist. Obwohl gleich große Zahlen für Zu- und
Abnahnie der r^eigung auch bei Nlchtüberempfindlichen für Seekrankheit
picht selten waren, so'wurd^ ein solches umgekehrtes Verhältnis, das
aul größere Empfindlichkeit für Abnahme alis fiir ^Zunähme der
Keigurig hinweist, nur bei diesen beiden für Seekrankheit Ober-
em{>findlichen gefunden.. Ob es vön^edeutüng ist, wage ich nicht
zu entschefden, jedenfalls aber wäre es ciine Anregung, zu untersuchen,
oib vietleiqht auf einem Fahrstuiile ein ärmlicher inyefgerTypus' deut-
licher zum Vorschein' koqfimeh wurde! Leider hattfe icife dazu keine
Gelegerihdt.
Aus obigem können' wir schließen, daß Überempfindtichkeit JFÜr
Seekrankheit nicht mjangelhafter Empfindlichkeit für Neigungsaiide-
run^en und infolgedessen unvollständiges autömaÜ^ches Equitibrieren
zugeschrieben werden kann. Dagegen spricht außerdem die Tat-
sache, daß chronische Seekranke oft zwar das Rollen^ aber nicht
dds Stampfen des Schifies vertragen. Es ist deswegen wahrschein-
licher, daß Überempfindlichkeit für Seekrankheit auf einer Refiex-
liyperasthesie beruht. Die bewußte Desorientierung, die immeb die
akute Seekrankheit begleitet, fehlt der chronischen, die möglicherweise
ganz aus reflektorischen Störungen gebildet wird; Die Idiosynkrasie
für l'abak, die die meisten Überempfindlichen für Seekrankheit zeigen,
weist auch (mit Rücksicht auf die große Ähnlichkeit von akuter Nikotin-
vergiftung und Seekrankheit) in jene Richtung. Auch mäßige und
sogar starke Rauchejr pflegen bei stürmischem Wetter oft den Gebrauch
dieses Genußmittels zu mäßijgeh oder zeitweise ganz 6fnzustellen, weil
wahrscheinlich Nikotin die Reizbarkeit derjenigen Teile des Nerveö-
systems erJiÖht, die auch von den Schifi^sbewegungen irritiert werden.
Aus später von mir eingezogenen Erkundigungen hat sich noch wieder-
holt ergeben, daß Überempfi'ndlictikeit für Seekrankheit und für Nikotin
oft zu^njinneogehen. Die Antithese hierzu trifi^t aber nicht zu« Nicht-
raucher sind keineswegs immer besonders empfinttticb, weder für
Nikotin, hoch für Seekrankheit. Starke Raucher scheinen aber
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500 J- A. van Trotsenburg, [26
selten oder niemals zu den für Seekrankheit Oberempfindlichen zu
gehören.
Prophylaxis.
Obgleich die Natur uns den Weg selbst gezeigt hat, auf welchem
man die Verhütung der Seekrankheit erhoffen kann, so hat man in
dieser Richtung doch nur selten ernstliche Versuche angestellt und
niemals mit einiger Beharrlichkeit durchgeführt. — Die Versuche,
sich gegen Seekrankheit mittels nachgeahmter Schiffsbewegungen zu
immunisieren, datieren schon aus dem 18. Jahrhundert, als Erasmus
Darwin verordnete, durch Schwingungen in einer Schaukel einige
Wochen vor Beginn einer Seefahrt sich an ungewöhnliche Bewegungen
zu gewöhnen, v. Rochlitz^) erfand einen Apparat, um die Schiffs-
bewegungen nachzuahmen, den er ^.Philatlanticum"^ nannte und der auf
der Wiener Weltausstellung ausgestellt war. Rosenbach >) beschreibt
einen Apparat, „Krinoline^^ genannt, welcher Glockenform hat. „Die
mit äußeren Sitzen versehene, in der gebräuchlichen Weise aufge-
hängte Glocke (Krinoline) wird vermittelst eines im Innern befindlichen
Seiles abwechselnd um ihre Längsachse gedreht und periodisch nach
abwärts gezogen, so daß etwa eine schraubenförmige Schaukelbewegung
mit recht beträchtlicher Höhe der Windungen resultiert."
Die Bewegungen, die von diesen Apparaten ausgehen, haben große
Ähnlichkeit mit denjenigen des heutigen Karussells. Obgleich mit Hilfe
dieser Apparate Erfolg bis jetzt noch nicht erreicht wurde^ erwartete
auch Rosenbach von ähnlichen Versuchen gute Erfolge und sieht in
künstlicher Gewöhnung nichts „schlechtweg Unerreichbares", aber:
„Diese Apparate geben, vielleicht mit Ausnahme des vorher geschil-
derten glockenförmigen, zwar die Form, aber durchaus nicht die ge-
nauen Verhältnisse der Schwankungen eines größeren Schiffes wieder;
denn die Schwingungen und ihre Wucht sind zu klein."
In der Tat wird man von den Übungsapparaten einen genügend
großen Ausschlag der Schwingungen fordern müssen. Von der Wucht
aber und deren Bedeutung für die Frage der Seekrankheit scheint
Rosenbach sonderbare Vorstellungen gehegt zu haben. Denn Seite
108 lesen wir: „Das Gefühl des Fallens beim Herabgleiten des Schiffes
oder, richtiger, das Bewußtsein der Innervationsimpulse, die wir geben
müßten, um den Fall aufzuhalten, und die reaktive Arbeit der unter
diesen Umständen ohne Ichbewußtsein (reflektorisch) ihren Zusammen-
hang erhaltenden Massenteile (Organe) wird jedenfalls viel beträcht-
1) K. V. Rochlitz, Die Seekrankheit und das Mittel sie zu verhüten, das Phil-
atlanticum. Pest 1873.
2) O. Rosenbach, Die Seekrankheit als Typus d. Kinetosen. S. 19.
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27] I^ie Seekrankheit und ihre Verhütung. 501
lieber sein, als die Empfindungen und Bewegungsimpulse, die unter
gewöhnlichen Verhältnissen bei einem kaum 10 Fuß tiefen Falle aus-
gelöst werden, da eben die besondere Wucht der fallenden Masse des
Schiffes y die wir nolens volens mit unseren Reaktionsbestrebungen
kompensieren müssen, [eine schwere Arbeit!] besonders in Betracht
kommt" „Mit andern Worten: Die Wucht des mit dem Schiffe
fallenden Organismus entspricht nicht der Körpermasse (und der
Höhe des Falles), sondern der Körpermasse plus der Masse des
Schiffes, so daß in der bekannten Formel — ^~^ f^r M die Masse des
Schiffes plus der des Körpers zu setzen ist.""
Und etwas weiter: „Der Effekt des Impulses, den wir als Wucht
der Bewegung bezeichnen, und von dem die Anforderungen an
die Kompensationsfähigkeit des Organismus abhängen^), muß
beim Aufsteigen wesentlich kleiner sein als beim Absteigen' usw.
Und endlich Seite 199:
»Die verschiedene Wucht der beiden Bewegungsformen, der kine-
tische Effekt resp. die Größe der abnormen Wirkung des
Stoßes auf den Körper^) würde sich also etwa durch die Formel
(^^^^^ (beim Fallen) und Q^IZ^ (beim Steigen) ausdrücken
lassen' usw.
Aus obigem geht genügend hervor, welche Bedeutung Rosen-
bach der kinetischen Energie des Schiffes für das Entstehen der See-
krankheit beimißt. In Obereinstimmung damit glaubt er auch mit Unrecht,
daß man auf kleinen Schiffen weniger der Gefahr ausgesetzt ist, see-
krank zu werden, als auf großen Schiffen, und daß ,ydas Fahren im
Kahne nur selten die Erscheinungen der Seekrankheit hervorruft'. —
Die Behauptung Abrahamsz', „daß derjenige, der vom Verdecke einer
großen Fregatte lachend Stürme hat angesehen, oft ein ganz anderes Ge-
sicht macht bei einer Kahnfahrt auf einer Reede bei stürmischem Wetter',
wird bei erfahrenen Seeleuten ohne Zweifel mehr Glauben finden. Von
einem im Dienste zur See grau gewordenen Kauffahrteikapitän erfuhr ich
einmal, daß er,^ als er in einer Ferienzeit eine kleine Vergnügungsreise
mit einem Fischer mitmachte, auf dem kleinen Fischerbote so seekrank
wurde, daß der Schiffer die Vermutung aussprach: sein Gast sei wahr-
scheinlich noch nie auf dem Meere gewesen. Auch meine eigene Er-
fahrung ist ganz in Widerspruch mit der Meinung Rosenbachs.
Meine Laufbahn zur See fing ich auf einem kleinen Schiffe an, einem
1) Von mir gesperrt.
2) Von mir gesperrt.
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120'Tonden girofien Soboner^ ^Während der (ersten! und: auciv sofort
etwas siüf misscheil Tage war ich« ordentliicb jseekrbnk, und »udispaier
föhlte ich' mich: auf diesem Söhiflfeheft hei stfirmstoheinvWetter.oft unrr
beha^ich« Bei Wechsel . def^Mannsehafti wurdien. in.d^ Reg^^die
neu angekommenen Matrosen äuF diesem Schiffe seekrank^ ^aek dann>
wenn es schon mehr oder: weniger erMirene -Seeleute waren.
Auf großen Schiffen bin ich später niemals seekrank gewesen^ ob*
gleich, ich oft stürmis^es Wetter hatte. . Während einer Kahnfahrt
von einigen Sti^indep Dauer; längs der Küste yop Curagao, bei schö-
nem Wetter und nur mäßig bewegtem Meere, sah ich einmal von etwa
einem Dutzend erfahrener Seeleute 3 seekrank werden. Diese, für
Seekrankheit nicht Überempfindlichem,, würden bei gleichem Wetter
auf einem großen Schifife nicht die gering^e Spur von Seekrankheit
gefühlt habenw Eine Wahrnehmung RosenbachS) daß bei Passage
auf Kähnen durch starke Brandung gewöhnlich nieiiiand von 4er See-
krankheit ergriffen wurde, muß wahrscheinlich. der zu geringen Dauer
jener Kahnfahjrten rugesohriebert werden. , . ■
Aber in einiger Hinsieht haben doch kleine Sdiiffe YorzSge vor
großen. Die Scbiffsbewegungen sindu auf kleinen Fahrzeugen bess^
zu übersehen^ sie sind außerdem einfacher und die Orientierung ist
deshalb leichter. Aber ein kleines Schiffchen wird jedesmal von nur
einer Welle bewegt, und infolge der großen Leichtigkeit leistet es
weniger Widerstand gegen den Wechsel der Bewegungen, sq daß die
verschiedenen Phasen schnell und oft stoßweise ineinander übergehen.
Infolge der geringen Länge ist beim Stampfen der Hebelarm kurz,
und ungeachtet sehr großer Winkelausschläge bleiben die Bewegungen
in vertikaler Richtung relativ klein. Da aber kleine Schiffe von j^er
Welle im Ganzen gehoben werden, wird ihnen dabei jedesmal eine
Bewegung in vertikale Richtung mitgeteilt ungeßhr so groß wie der
Höheunterschied Zwischen Welleagipfel und Wellental. Große Schiffe
hingegen werden von mehreren Wellen gleichzeitig bew^t. Ihr
enormes Trägheitsvermögen leistet jeder Bewegungsänderung großen
Widerstand, und madtt dadurch die Bewegungen sehr langsam und
allmählich ineinander fibergehend. Die resultierende Bewegung ist
immer eine Funktion zahlreicher Faktoren, die teils abhängig
sind von äußeren Umständen <die verschiedenen WeHenschlagslangen
der Meere; die Kursrlehtung des Schiffes im Verband mit der Wellen«
und Windrichtung; und die zeitliche Beschaffenheit vom Winde un4
Meer), teils aber von Eigenschaften des Schiffes selbst, nameotlidi
von Form, Größe, Masse und Geschwindigkeit des Fahrzeuges. Jedes
Schiff hat deswegen einen ihm eigenen Bewegungsmodus, der auf
kleinen Schiffen im allgemeinen schnell ist mit großen Winkelaus-
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20] Die Seekranklielt und ihre Verhfitang. 503
schtägen; auf großen SohifFen träge und mit kleineren Winkelaus^
schlagen. Die Reize, die uns auf kleinen Schiffbn treffen, sind also im
Vergfleich mit denen auf großen Schiffen zahlreicher, der Obergang
ist schneller, aber die Orientierung ist leichter und die Bewegungen
in senkrechter Richtung sind möglicherweise etwas kleiner. Theore*
tisch kann man daraus nicht schließen was besser ertragen wird, die
Bewegungen der kleinen, oder die der großen SchiflPe, aber die Er-
fahrung spricht zugunsten der letztgenannten. Dieses hat für die Pro-
phylaxe große Bedeutung. Rosenbach fordert von seinem Stand-
punkte zur künstlichen Gewöhnung an die Schiffsbewegungen Obungs-
apparate von so enormen Massen, daß sie in dieser Hinsicht mit
großen Seeschiffen zu vergleichen sind. Von unserm Standpunkte
aus ist jene Forderung ganz unnötig, um so mehr weil man sich auf
kleinen Schiffen mehr oder weniger überimmunisieren kann für die
Bewegungen der größeren, während das Umgekehrte nicht möglich
ist. Nötig für eine Obungsschule wäre unseres Erachtens ein Zimmer-
chen von einigen Meter im Quadrat, worin man durch Aufhängen
von Gardinen, Pendeltischen, Hängelampen usw. Sorge trägt für
die nötigen optischen Reize. Das Zimmerchen muß bewegbar sein
um zwei senkrecht aufeinander stehende Achsen, die im Gleichge-
wichtsstande beide in der Horizontalfläche liegen müssen. Es muß
sowohl um jede Achse besonders als um beide gleichzeitig bewegbar
sein. Um eine der beiden Achsen soll die Bewegung einen Hebelarm
haben von wenigstens 12 m Länge, damit die Ausschläge genügend
groß werden.
Technisch wird man dies dadurch erreichen können, daß man eine
Bahn bildet bestehend aus einem Teil eines Kreisbogen, von 12, oder
wo nötig, mehr Meter langem Radius, und längs demselben die im-
provisierte Schiffskajüte bewegen läßt. Man wird aber auch denselben
Effekt erreichen können mit Hilfe eines Apparates, der außer Bewe-
gungen in senkrechter Richtung, wie ein Fahrstuhl, gleichzeitig Dreh-
bewegungen zuläßt, um zwei, im Gleichgewichtsstande beide in der
Horizontalfläche gelegene, Achsen. Möglichst muß man die Bewegun-
gen in Obereinstimmung zu bringen suchen mit den Schiffsbewegungen.
Der erfahrene Seemann fühlt an einer Schiffsbewegung wie ungefähr
die folgende ausfallen wird, auch dann, wenn er sich im Unterschiffe
befindet. Wahrscheinlich wird dies darauf beruhen, daß nach einem
Ausschlag in irgendeiner Richtung der aus der Vertikale bewegte
Schwerpunkt des Schiffes dahin zurückneigt. Infolgedessen bestehen
die Schiffsbewegungen aus einem Gemisch vieler interferierenden
Pendelbewegungen, die jede absonderlich den Pendelbewegungstypus
(Geschwindigkeit umgekehrt proportional dem Sinus des Ausschlags-
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504 J- A. van Trotsenburg, Die Seekrankheit und ihre Verhütung. [30
Winkels) deutlich zeigen würden, aber auch in ihrer Zusammenwirkung
dessen Charakter immer mehr oder weniger beibehalten.
Schreitet man in systematischer Weise von einfachen zu mehr zu-
sammengesetzten Bewegungen, so wird man das zweckmäßige Equili-
brieren wahrscheinlich sehr schnell lernen können, und es wird leicht
sein dies, wenn nötig, mit Hilfe irgendeines Indikators zu kon-
trollieren. Und die Gewöhnung, die in ungünstigem seekrankem
Zustand in wenigen Tagen aufzutreten pflegt, wird unter günstigen
Umständen wahrscheinlich in bedeutend kürzerer Zeit erworben wer-
den können. Obgleich keinesweges blind für die technischen Schwie-
rigkeiten die zmt Errichtung einer zweckmäßigen Obungsschule über-
wunden werden müssen, halte ich andererseits einen übertriebenen
Optimismus nicht für erforderlich um ein solches Unternehmen als
ausführbar und aussichtsvoll zu erachten. Obgleich die Seekrankheit
praktisch nicht grolle Bedeutung hat, wegen der, mit wenigen Aus-
nahmen, so schnell eintretenden Gewöhnung und der geringen Ge-
fahren, so wäre es doch für diejenigen, die sich auf den schon seit
längerer Zeit geplanten und wahrscheinlich in absehbarer Zeit zu-
stande kommenden Seesanatorien einer Kur unterziehen wollen, von
nicht geringem Vorteil, wenn sie sich vorher gegen die Folgen der
unangenehmen Schiifsbewegungen immunisiert hätten.
Groningen, Juni 1008.
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510^
(Gynäkologie Nr. 186.)
Beitrag zum Kampf gegen das Puerperalfieber.
Von
Dr. Emil Ekstein,
Teplitz (Bdhmeo).
Die dritten fünf Jahre geburtshilflicher Praxis^).
Die in rastlosem Eifer vor- und aufwärts strebende Wissenschaft
rüttelt an allem Alten, an durch Dezennien, ja oft jahrhundertelang be-
stehenden Institutionen. Nichts bleibt vor diesem Ansturm des wissen-
schaftlichen Fortschrittes unberührt. Rücksichtslos wird alles ins
Wanken gebracht, was nicht mehr auf zeitgemäßen Fundamenten
steht, was althergebrachte Gewohnheit ohne logische Berechtigung
fortbestehen ließ.
Diese reorganisatorische Strömung macht sich auf allen Gebieten
geltend.
Auch auf dem Gebiete der altehrwürdigen Geburtshilfe, die in
festgefügten Bahnen durch Jahrzehnte gelehrt und geübt wurde,
macht sich diese Strömung geltend. Die Geburtshilfe als Wissen-
schaft xcrr e^oxrjv und die Sozialhygiene der Geburtshilfe werden in
neue Bahnen gelenkt, die vom streng wissenschaftlichen Standpunkte
bislang zwar noch keine vollkommen einwandfreie Ebnung erfahren
konnten, denn dazu ist eben noch die Zeit zu kurz.
Erfreuliches und Unerfreuliches wurde bei diesen reorganisatori-
schen Bestrebungen gezeitigt und es werden noch Jahre vergehen,
ehe ein solcher Ruhepunkt gefunden werden wird, wie er eben durch
Jahrzehnte einem Dolcefarniente gleich geherrscht hat.
1) „Die ersten und zweiten fünf Jahre geb. Praxis- ** Verlag von Carl Marhold,
Halle 1901 u. 1904.
KU n. Vorträge, N. F. Nr. 510. (Gynäkologie Nr. 186.) Dez. 1908. 35
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456 Hmil Ekstein, [2
In je ruhigere Bahnen die Schwesterwissenschaft der Geburtshilfe,
die Gynäkologie gelangt, mit um so größerer Unruhe wird an
der modernen Ausgestaltung unserer gesamten Geburtshilfe gearbeitet
und ffirwahr, es gibt da noch viel und vieles zu tun, um dem moder-
nen fortschrittlichen Geist unserer Zeit gerecht zu werden.
Der geburtshilfliche Praktiker, ob Spezialist oder praktischer Arzt,
der bislang mit einer gewissen Gemütsruhe seiner Tätigkeit zu ob-
liegen gewohnt war, hat bei dieser Reorganisation der Geburtshilfe
allerdings keinen leichten Stand mehr, wenn er den festen Grund unter
sich immer mehr ins Schwanken geraten sieht. Das Gefühl der Sicher-
heit, das ihn in seiner Tätigkeit bislang begleitete, muß ihn verlassen,
wenn er diesen neuen Werdegang in der Geburtshilfe nur so leichthin
verfolgt, denn in erschöpfender Weise dies zu tun, ist auch beim
besten Willen infolge des Übermaßes der einschlägigen Literatur nicht
möglich.
Wenn auch das Gros der fundamentalen Lehren unserer Geburts-
hilfe bislang nicht ins Wanken geriet, so sind es doch die Indika-
tionen für das geburtshilfliche Eingreifen und das ganze operative Vor-
gehen, last not least das ganze Verhalten in bezug auf Anti- und Asepsis,
die heute mehr denn je in Diskussion stehen. Eine chirurgische Ära
scheint bereits Basis in der Geburtshilfe fassen zu sollen und mit
Messer, Säge, Dilatatorien u. a. m. werden der Frucht alle Hindernisse
von Seite der mütterlichen Geburtswege prompt aus dem Wege ge-
räumt. Der lange nicht verstreichen wollende Zervikalkanal wird mit
Fingern und Instrumenten gedehnt, Mißverhältnisse des Beckens zum
kindlichen Schädel oder umgekehrt werden mittels Symphysen- oder
Schambeindurchtrennung behoben, extraperitoneal wird die Frucht
durch das untere Uterinsegment durch Cöliotomie oder Kolpotomie
zutage befördert u. a. m. Es macht den Eindruck, wie ich an anderer
Stelle schon hervorhob, als ob man den goldenen Geduldsfaden des
Geburtshelfers ganz wesentlich verkürzen, die ganze Geburt mit der
Raschlebigkeit unserer ganzen Zeit konform zu rascherem Ende als
bisher führen wollte. —
Dazu kommt noch die moderne Auffassung der Entstehung der In-
fektion in bezug auf das Puerperalfieber und der dementsprechend um-
gestaltete Vorgang bei der Händedesinfektion, der geradezu Bruch mit
allem Althergebrachten bedeutet. Wasser- und Seifenwaschung werden
als überflüssig für eine Händedesinfektion, unser bislang souve-
ränes Desinfektionsmittel Sublimat nach genannten Waschungen als
wirkungslos bezeichnet, u. a. m. Und gerade diese letztere Umwälzung
trifft den geburtshilflichen Praktiker ganz besonders hart und bringt
ihn geradezu mit seinem Gewissen in Konflikt. Wo die Grenze zwischen
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3] Beitrag zum Kampf gegen das Puerperalfieber. 457
Recht und Unrecht suchen, wo dieselbe finden, wenn noch dazu die
Unbilden der Praxis mit Macht hereinstürzen?.
Das Schicksal ist ein teurer Lehrmeister für jeden Menschen.
Für den ärztlichen Praktiker, hier den geburtshilflichen Praktiker, der
längere Zeit bereits in Praxis steht, ist die Erfahrung zwar auch ein
teurer Lehrmeister, aber trotz alledem ein nicht immer ganz zuver-
lässiger.
Im allgemeinen ist ja jedes Schematisieren vom wissenschaftlichen
Standpunkte aus zu verdammen, speziell in der Geburtshilfe, sowie
überhaupt in der Medizin ist dasselbe ganz undenkbar. Post hoc,
ergo propter hoc besteht hier keineswegs zu Recht, und wenn es in
noch so vielen Fällen den Anschein hat, als ob dem doch so wäre,
darf post hoc, ergo propter hoc doch nicht zum Dogma werden.
Wenn ich in einer Reihe von Publikationen immer mit behauptet
habe, daO die Geburtshilfe der Kliniken lehrt, wie dieselbe sein soll,
und die geburtshilfliche Praxis lehrt, wie dieselbe ist, so muß im
Lichte der neueren Forschung diese dogmaartige Anschauung zum
Falle kommen, denn die geburtshilfliche Poliklinik hat einen ganz ge-
waltigen Beweis für die Hinfälligkeit dieser Behauptung erbracht.
Hier bin ich auf dem Punkte angelangt, wo über die angestrebten
Wandlungen, die die Sozialhygiene der Geburtshilfe erfahren muß,
gesprochen werden soll. Bevor ich mich darüber verbreite, möchte
ich einer Arbeit Otto v. Herffs »Im Kampfe gegen das Kindbett-
fleber'', ein Mahnwort an Ärzte % eingehend gedenken und dieselbe in
kurzen Zügen darlegen, was in erster Linie im Interesse des ärztlichen
Praktikers, dem mit Spezialliteratur sich zu befassen keine Zeit übrig-
bleibt, geschieht.
Otto V. Herffs Arbeit bedeutet meiner an anderer^) Stelle auf-
gestellten Meinung nach den Beginn der Tätigkeit der Klinik auf dem
Gebiete der Sozialhygiene der Hausgeburten und es wäre in erstem
und einzigem Interesse der endlichen Bekämpfung des Puerperalfiebers
in der geburtshilflichen Praxis wünschenswert, wenn alle geburts-
hilflichen Kliniker und Lehrer auf der Bahn, die Otto v. Her ff be-
treten, demselben folgen würden. Dann würden auch alle Praktiker
mit ganzer Kraft mit in die Schranken treten zum Kampf gegen das
Puerperalfieber, die Vorschläge einzelner würden rascher und fester
Wurzel fassen und nicht wie bisher einfach literarischen Wert besitzen.
Pasteur, Koch, Lister haben durch ihre Arbeiten die Bekämp-
fung des Kindbettfiebers in Bahnen gelenkt, auf denen geburtshilfliche
1) Sammlung klinischer Vorträge Nr. 487. Ambrosius Barths Leipzig.
2) „Kllnsiche und Hausgeburten^ GynSk. Rundschau 1008.
35*
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458 Hmil Eksteiii, [4
Kliniken und Anstalten zu einem vollständigen Siege über das Kind-
bettfieber gelangt sind, wo die Zahl der Kindbettfieberfälle in der ge-
burtshilflichen Praxis auf etwa ein Drittel (?) der früheren vermindert
wurde. Weiter ist man aber in der geburtshilflichen Praxis nicht ge-
kommen, es ist ein Stillstand eingetreten und Opfer über Opfer fallen
dieser Krankheit alljährlich anheim, eine beschämende Tatsache für
die Ärztewelt. Der Schlendrian bei den VorbeugungsmaOregeln und
die stoische Untätigkeit der Beteiligten trugen die Schuld an diesen
Mißständen. In den Händen des Arztes liegt die Zukunft der Vor-
beugung des Kindbettfiebers und es muß mit der Anschauung ge-
brochen werden, daß es für antiquiert gilt, sich mit dieser für Staat
und Familie gleich wichtigen Frage zu beschäftigen. Die Anschauung
über die Entstehung des Kindbettfiebers durch ex^ und enanthrope
Keime ist vollkommen gefestigt, die Selbstinfektion eine nicht zu leug-
nende Tatsache. Gegen beide Infektionswege muß gekämpft werden,
gegen die exanthropen Keime durch das Streben nach Keimfreiheit
aller mit der Gebärenden in Berührung kommenden Gegenstände.
So leicht dies für die durch Hitze sterilisierbaren Gegenstände ist,
so schwer ist dies für die Haut und Hände zu erreichen.
Alle Methoden, die die Haut aufweichen, arbeiten einer Keimfrei-
heit entgegen, darunter auch die Seifenwasser- Waschung.
Die Keimauswanderung wird eingeschränkt und selbst völlig ge-
hemmt, je trockener die Haut ist, je mehr sie einschrumpft.
Alle Methoden, die dieser Forderung nicht gerecht werden, müssen
ungünstige Ergebnisse zeitigen, in erster Linie Wasser und Seife, wie
alle Maßnahmen, die mit einer Wasserwaschung schließen, denn sie
arbeiten der Keimabsperrung entgegen.
Die Alkoholwaschung vereinigt die Prinzipien der mechanischen
und chemischen Reinigung in sich.
Heißwasser und Seife allein gibt schlechte Ergebnisse, nur die
mechanische Wegscheuerung mittels Sand, Marmorstaub, Kieselgur mit
nachträglichem festen Abreiben mittels eines rauhen trockenen Hand-
tuches vermindert die Zahl der Keime, durch das trockene Abreiben
werden die losgelösten Spaltpilze gründlich entfernt. Heißwasser und
Seife plus Desinfiziens im Wasser ist nicht besser als eine Heißwasser-
reinigung mit Sand, Saposilikseife plus Abreiben mit einem rauhen
Tuch.
Diese Methode muß als unzuverlässig fallen gelassen werden, das
mechanische Prinzip des Wegscheuerns der Oberflächenkeime, ver-
bunden mit der Einsperrung der Tiefenkeime wird in Zukunft die
Technik der Hautreinigung beherrschen.
Wenn durch die bisherigen Arten der Desinfektion, Heißwasser-
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5] Beitrag zum Kampf gegen das Puerperalfieber. 459
Seifenwaschung plus Desinfiziens nicht mehr Infektionsfälle zustande
kamen, so liegt dies daran, daß glücklicherweise die gewöhnlichen
Hautkeime der Tageshand eine geringe Virulenz besitzen und nur
selten schaden.
Die Hand eines Arztes, der sich nicht streng von Infektionsstoffen
fernhält, ist unleugbar gefährlicher als eine noch so schmutzige Tages-
band einer entarteten Hebamme. An ersterer Hand werden öfters
gefährliche Keime haften, an letzterer brauchen sie nicht vorhanden
zu sein.
Die großen Opfer, die das Kindbettfieber alljährlich fordert, müssen
das ärztliche Gewissen schärfen, sie müssen dazu führen, die Methoden
der Heißwasser-Seifen-Reinigung plus Desinfiziens, gelöst in Wasser,
vollständig zu verwerfen. Asepsis, gewährleistet durch mechanische
Maßnahmen, ist das Ziel, das erstrebt werden muß. Das mechanische
Prinzip der Entfernung der Oberflächenkeime neben einer Einsperrung
der Tiefenkeime durch Einschrumpfung und Entwässerung der Haut
kann nur der Heißwasser-Seifenwaschung im Sinne Ahlfelds folgen,
noch besser ist es, diese vollständig fallen zu lassen, weil sie dem
Prinzlpe der Eintrocknung der Haut entgegenarbeitet.
Die Desinfektionsmethode wird denkbar einfach und abgekürzt, sie
wird zu einer Schnelldesinfektion ohne irgend an Zweckmäßigkeit ein-
zubüßen. Ohne Alkohol keine irgendwie genügende Keimarmut oder
Keimfreiheit. Die Alkoholwaschung muß daher bei jeder Desinfektion
an den Schluß gesetzt werden. Nach Reinigung der Nägel wird die
Tageshand (nach Schumburg) unter Verzicht auf Wasser und Seife
mittels Watte, Gaze oder Flanell -r- keine Handbürsten! — mit einer
Lösung von zwei Teilen Alkohol und einem Teil Äther bei einem
Zusatz von V2proz. Salpetersäure durch 4 — 5 Minuten abgerieben.
Diese Art der Desinfektion besitzt auffallend auch eine Dauerwir-
kung, was bei länger währender Operation in Betracht kommt, v. Her ff
benützt statt des Ätherzusatzes Azeton mit bestem Erfolg.
Die Erkenntnis früherer Jahre, daß eine Keimfreiheit der Hand
durch die damals üblichen Desinfektionsmethoden in einer praktisch
zu verwertenden Zeit nicht zu erzielen ist, führte zur Entdeckung und
Einführung der Gummihandschuhe, sowie der Handschuhe in den
verschiedensten Kombinationen von Gummi und Trikot, welche eben
durch verschiedene Methoden keimfrei zu machen waren. So wurden
Handschuhe als bestes Prophylaktikum gegen Kindbettfieber betrachtet,
selbstredend insolange dieselben undurchlässig resp. undurchlöchert
blieben«
Mit behandschuhten Händen zu untersuchen und zu operieren war
und ist nicht jedermanns Sache; dies der eine Nachteil, die leichte
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460 Emil Ekstein, [^
Zerreißlichkeit der Handschuhe der zweite dauernde Nachteil, die
eben dem Gebrauch der Handschuhe anhaften. Letzteren Nachteiles
wegen blieb auch beim Handschuhgebrauch die strengste Desinfektion
der Hände Conditio sine qua non.
Nachdem die Ergebnisse der Kliniken durch den Gebrauch der
Handschuhe gebessert worden und die Älkoholmethode inzwischen zu
Ansehen gelangte , so bedeutet der Gebrauch der Handschuhe eben
nur einen Schutz der eigenen Hand gegen Beschmutzung mit infek-
tiösem Material und Schutz gegen eigene Erkrankung (Syphilis) und
bietet die Möglichkeit der eigenen Tätigkeit, wenn die Haut der eigenen
Hände eben nicht ganz frei von Verletzungen, Rillen und Schrunden
ist, wo sich eben nicht selten angriifsfähige Formen von Spaltpilzen
mit Vorliebe aufzuhalten pflegen.
Der wahre Wert der Handschuhe liegt demnach in der sogenannten
Noninfektion. Diese beabsichtigte Keimabsperrung der Hände durch
Handschuhe wird aber auch durch Einreiben der Haut mit Öl, Fett,
Vaselin, Jodipin, Jodbenzinlösung, Jodazeton, Gaudanin oder Chiro-
soter bewirkt, so daß die Handschuhe in der Tat entbehrlich scheinen»
Die Scham der Frau keimfrei zu machen ist schwer angänglich
wegen der Zartheit der Haut. Die bisherige grändliche Desinfektion
mit Sublimat illusorisch. Alkohol-Azeton-Reinigung, die nur in Nar-
kose durchzuführen ist, gibt in bezug auf Keimverarmung gute Resul-
tate, selbstredend nach erfolgtem Rasieren der Scham.
Die Forderung, die Scheide von Eigenkeimen zu befreien, läßt sieb
schwer erzielen, hingegen läßt sich eine Abschwemmung der lose
sitzenden Spaltpilze eher erreichen.
ScheidenspOlungen sind von Vorteil, die Berechtigung, ja der
Nutzen vorbeugender Scheiden- und Gebärmutterspülungen scheinen
durch klinische Erfahrung in jeder Beziehung sichergestellt zu sein.
Die Schwere des Geburtstraumas spielt eine wesentliche Rolle
in der Entstehung des Kindbettfiebers. Durch das Geburtstrauma
können ex- und enanthrope Keime der Wöchnerin gefahrlich werden.
Je geringer das Geburtstrauma, desto ungünstiger die Bedingung ffir
die Infektion. Je ausgedehnter ein Operationstrauma ist, je näher
dieses an der Plazentarinsertionsstelle liegt, desto größer die Gefiihr
für die Wöchnerin. Der ungünstige Einfluß des Traumas läßt sieb
nur durch tadellose Asepsis und Antisepsis paralysieren.
Übersehen und Geringschätzen des Traumas ist neben ungenügender
Desinfektion eine der Hauptursachen, daß das Kindbettfieber nicht
abnehmen will.
Also keine Eingrifi^e, keine Operation ohne strengste Anzeigen,
d. h. also nur bei eintretender Gefahr für Mutter und Kind, kein fiber-
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7] Beitrag zum Kampf gegen das Puerperalfieber. 4SI
flüssiges Hinelamischen des Arztes, mehr Konservatismus in der Ge-
burtshilfe! Abwartende Geburtsleitun^, gestützt auf vorbeugende Ein-
griffe, Geduld und weitgehendstes Vertrauen in die Naturkräfte ist
in ihren Endresultaten nicht nur völlig gleich, sondern muß auf die
Dauer besser sein als die abwartende Geburtsleistung, gestützt auf
Kaiserschnitt und Beckenspaltung.
Abgesehen von der Einführung einer zuverlässigen Desinfektion
und der Verminderung des Geburtstraumas muß die Nachgeburts-
periode sorgfältiger geleitet, die Ausstoßung der Nachgeburt geduldig
den Naturkräften überlassen werden, denn dadurch nur wird die manu-
elle Plazentarlösung um so weniger oft vorgenommen zu werden brau-
chen. Bei Wehenschwäche der Gebärenden soll nur dann operiert
werden, wenn Gefahren für Mutter und Kind vorhanden sind. Durch
Darreichung von Sekale muß dann für eine rasche Kontraktion des
Uterus zwecks Vermeidung von Nachblutung gesorgt werden.
Verhaltene Plazentarteile sind unter allen Umständen zu entfernen,
Eihautreste, ja selbst den retinierten ganzen Eihautsack zu entfernen
ist unnötig und gefährlich.
Im Wochenbett ist durch Ergotin und heiße Scheidenspülungen für
eine rasche Rückbildung des Uterus Sorge zu tragen.
Während des Wochenbettes ist, wenn irgend möglich, keinerlei
operativer Eingriff, insbesondere kein Eingriff innerhalb der Gebär-
mutter vorzunehmen.
Der Kampf gegen eine mißverstandene chirurgische Ära der Ge-
burtshilfe muß aufgenommen werden, denn die Vieltuerei mancher
Ärzte stellt nur allzuhäufig die Hauptursache des Stillstandes, ja der
Zunahme des Kindbettfiebers dar.
Die Regierung möge aber auch ihrerseits sich ihrer Pflichten auf
diesem Gebiete erinnern und mit ihren Machtmitteln die Ausmerzung
bedenklicher Auswüchse auf dem Gebiete der Vorbeugung des Kind-
bettfiebers', insbesondere bei den Desinfektionsvorschriften für Heb-
ammen erleichtern.
Dieser kurze Bericht der geradezu fundamentalen Leitsätze aus der
Arbeit v. Herffs wird so manchem Geburtshelfer zu denken geben
und ich gestehe, daß ich bei Veröffentlichung meiner » zweiten
fünf Jahre geburtshilflicher Praxis'' schon eine gewisse Vorahnung
hatte, daß große Dinge in unserer Geburtshilfe sich vorbereiten.
Meine Ahnungen sind, wie die Arbeit v. Herffs zur Genüge doku-
mentiert, vollkommen berechtigt gewesen.
Daß wir Ärzte mit unserer Anti- resp* Asepsis, wie sie bisher
üblich war, durch die Erfolge der neueren Forschung, trotz der oft
langjährigen Erfahrungen in gutem Sinne, brechen Werden müssen.
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462 Emil Ekstein, [8
dafür ist die Autorität v. Herffs entscheidend und nach unseren Er-
fahrungen in der geburtshilflichen Praxis auf dem flachen Lande, unter
den denkbar schlechtesten sozialen Verhältnissen unserer Gebärenden,
ist es nach den Ausführungen v. Herffs gewiß der Noninfektion der
Beteiligten zuzuschreiben, daß die Erfolge noch so sind, wie sie eben
sind, und nicht direkt unserer Anti- resp. Asepsis, in deren Betätigung
sich unwillkürlich so manche Lücke einstellen mußte, wodurch dieselbe
eben nicht mehr einwandfrei wurde. Der Vergleich der geburtshilf-
lichen Poliklinik mit der geburtshilflichen Praxis xar l^o/^v und die
in derselben für die neue Desinfektionsmethode in Anspruch genom-
menen guten Resultate, dürfte jedoch nicht so ganz richtig sein, wie
V. Herff dies gemeiniglich anzunehmen beliebt.
Städte, die heute Universitätspolikliniken besitzen, weisen in bezug
auf die Armengeburtshilfe denn doch weit salubrere soziale Verhält-
nisse auf, als dies in unseren Arbeiterwohnungen auf dem flachen
Lande der Fall ist. Der Faustschlag, den jede hygienische, ja oft
geradezu nur menschliche Anforderung an eine Wohnung, geschweige
denn Einrichtung hier erhält, ist vielmals zu wuchtig, als daß man
da auch nur im geringsten daran denken könnte, mit Anti- oder Asepsis
einen Erfolg erreicht zu haben. Der Erfolg ist da und ganze Reihen
von Erfolgen, die man in den Jahren unter solchen ganz tristen Ver-
hältnissen erzielt, bestärken in der Ansicht, daß es eben die Non-
infektion ist, die hier den guten Erfolg zeitigt. Ich führe diese Tat-
sache hier nur wiederum an, um der Behauptung v. Herffs in bezug
auf Noninfektion vom Standpunkte des in schwierigsten Verhältnissen
oft arbeitenden Praktikers die ihr gebührende Würdigung zu verleihen.
Damit möchte ich aber auch das herbe Urteil v. Herffs fiber die
Ärzte in bezug auf Mangelhaftigkeit im Vorgehen in der geburtshilf-
lichen Praxis im allgemeinen in gewisser Beziehung etwas abschwächen.
Wie allgemein bekannt werden ca. 90—92% aller Geburten durch
Hebammen geleitet und besorgt, ohne daß überhaupt ein Arzt zuge-
zogen wird, und selbst zugegeben, daß dieses Prozentverhältnis noch
zu hoch gegriffen ist, so muß mir jeder geburtshilfliche Praktiker zu-
gestehen, daß gerade in der Wochenstube die Intelligenz des Arztes
am wenigsten zur Wirkung gelangen kann. Wie schon De Lee ganz
richtig bemerkt, steht man in Laienkreisen auf dem Standpunkt, daß
die Niederkunft als ein natürlicher Vorgang keiner speziellen Für- und
Vorsorge bedarf und nur sehr spärlich hat sich bislang dank der
minderwertigen und unwürdigen Propaganda des Gros unserer unin-
telligenten Hebammen das Gegenteil dieser Anschauung noch bei weitem
nicht den Eingang verschafft, wie dies v. Herff verlangt und wie er
es eben von uns Ärzten verlangt. Ich stimme v. Herff vollkommeo
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gl Beitrag zum Kampf gegen das Puerperalfieber. 463
bei, wena er die Teilnahmslosigkeit der Ärzte gegenüber einer Sanie-
rung unserer ganzen Geburts- und Wochenbettshygiene entsprechend
ins Treffen führt, aber von einer Schuld der Ärzte an dem Nichtauf*
hören des Kindbettfiebers kann füglich nicht in dem Maße gesprochen
werden, wie dies v. Her ff tut. Die Erfahrung lehrt, daO bei der in
erster Linie herrschenden Unintelligenz des Gros der Hebammen und
bei der im Laienpublikum noch so weit verbreiteten Indolenz ein
geradezu nimmerermüdender Enthusiasmus dazu gehört, immer wieder
für Reformen sich fruchtlos einzusetzen, wobei noch dazu die Staats-
behörden diesen Bestrebungen gegenüber sich konsequent passiv ver-
halten. Nur die harte Notwendigkeit, seinem Gewissen zu folgen,
läßt gegenüber der bekannten Morbidität und Mortalität die Feder
nicht zur Ruhe kommen. Der geburtshilfliche Praktiker, der aber
noch allgemeine Praxis zu treiben gezwungen ist, kann, weder der
Not gehorchend, noch dem eigenen Triebe, unmöglich reformierend
wirken, denn dazu hat er weder Zeit noch Gelegenheit, seine volle
Kraft dafür einzusetzen. Der Spezialist, der ja heute in ganz wesent-
licher Stärke vertreten ist, kann und muß sich mit all diesen Fragen
befassen und nur die Fruchtlosigkeit dieser Bemühungen in bezug
auf praktische Erfolge hat die Reihe der vorkämpfenden Spezialisten
bislang nicht allzugroß werden lassen. Dazu kommt noch, daß es
bis vor nicht zu langer Zeit an einer Organisation zur Bekämpfung
des Kindbettfiebers gefehlt hat, die in der Vereinigung zur Förderung
deutschen Hebammenwesens eben erst ihren Anfang genommen zu
haben scheint.
Der Vorwurf v. Herffs muß in dieser Beziehung die Ärzte hart
treffen und dürfte in Rücksicht auf die unumgängliche Mitarbeiter-
schaft der Ärzte gewiß eine Milderung erfahren müssen, was schon
in Anbetracht der geschilderten Sachlage nur gerecht erscheint.
Soll im Kampfe gegen das Kindbettfieber die Vorbeugung desselben
in Zukunft in den Händen der Ärzte liegen, worin als Grundprinzip
das Femhalten der Gefahren der Fremdkeime und Eigenkeime gelegen
ist, dann könnte dies, wie die Dinge heute liegen, nur in der Weise
erreicht werden, wenn die Forderung, »die Geburt gehört dem Arzte*,
realisiert werden könnte. Insolange aber als geburtshilfliches Heil-
personal Hebammen fungieren, deren Ausbildung Unintelligenz nicht
ausschließt, insolange wird auch jede Tätigkeit des Arztes in genannter
Weise von vornherein als fruchtlos bezeichnet werden müssen.
Anders wird es und muß es sich selbstredend gestalten in bezug
auf das Fernhalten der Eigenkeime was die eigene Person des Arztes
anbelangt. Wenn die Ärzte im allgemeinen in der Aufnahme neuer
Methoden etwas skeptisch geworden sind, so liegt dies zumeist in der
Kilo. Vortrige, N. F. Nr. 510. (Gynäkologie Nr. 186.) Dez. 1908. 36
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464 Emil Ekstein, [[0
vorschnellen Enunziation derselben durch ihre Erfinder, sei es die
Klinik oder der Arzt selbst. Die Erfahrung lehrt uns diesbezfiglich
zur Genüge, daß dieser Skeptizismus in der Tat seine Berechtigung
besitzt Die neuen Lehren, wie sie v. Her ff in einer ganz apodik-
tischen Weise enunziert, deren schlagende Erfolge die Klinik aufzu-
weisen hat, verdienen in allererster Linie die höchste Anerkennung
des Praktikers, wird doch damit klinisch und bakteriologisch erprobt
eine Methode der Händedesinfektion empfohlen, die in einer prak-
tisch zu verwertenden Zeit eine Keimfreiheit oder hochgradige Keim-
verarmung mit Sicherheit zu erreichen ermöglicht, ja geradezu ga-
rantiert.
Hatte der Praktiker bislang keine Veranlassung, in die ihm an der
Klinik gelehrten Methode der Händedesinfektion, Heißwasser-Seifen-
waschung plus Desinfektionslösung, gewisse Zweifel bezüglich ihrer
Wirksamkeit zu setzen und wurde ihm diese ganze Prozedur zur starren
Methode, so kann und darf derselbe nach den v. Her ff gemachten
Darlegungen keinen Augenblick mehr schwanken, sich dieser neuen
Richtung zu verschließen.
Von dem Gedanken einer Abkürzung der Heißwasser -Alkohol-
Sublimatdesinfektion ausgehend habe ich selbst den Versuch gemacht,
in meiner Praxis in dem bekannten Kölner Wasser Sublimat, Salizyl-
und Borsäure wirksam zur Lösung zu bringen und nach erfolgter Heiß-
wasser-Seifenwaschung Hände und Arme damit abzureiben i). Zer-
setzungsvorgänge, die sich bei längerem Stehen dieser Lösung ein-
stellten, machten einen weiteren Gebrauch aber unmöglich und es
erscheint nicht ausgeschlossen, daß bei längerem und intensivem Ge-
brauch Intoxikationserscheinungen auftreten würden. Jedenfalls aber
hatte ich bei diesem Desinfektionsversuche die Keimabsperrung be-
zweckt, der Wegscheuerung der Keime aber nicht Rechnung getragen.
Und gerade die Wegscheuerung der Keime erscheint mir das Haupt-
moment; dieselbe ist aber bei der in der Praxis üblichen Heißwasser-
Seifenwaschung in einem gewöhnlichen Waschbecken von vornherein
ausgeschlossen. Durch die Art der Waschung in den gebräuchlichen
Waschbecken mit oder ohne Bürste werden doch die Hände immer
wieder mit den Keimen in Kontakt gebracht, geradezu imprägniert
Anders verhält es sich mit dieser Waschung beispielsweise bei
Laparatomien. Hier werden die Hände und Arme mit Schmierseife
und Marmorsand vorerst durch einige Minuten gründlich abgerieben,
massiert Hernach werden Hände und Arme in strömendem Wasser
von diesem Seifen-Marmorsandgemisch befreit, in Sublimat und her-
1) Zentralbl. f. Gyn. 1907.
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1 1] Beitrag zum Kampf gegen das Puerperalfieber. 465
nach erst in Alkohol abgerieben. So habe ich die Desinfektion bis
jetzt geübt und in der letzten Serie von 80 Laparatomien keine Infek-
tion, keinen Todesfall erlebt. Trotz alledem werde ich nach Abscheuern
der Haut der Hände und Arme die Wasserabspälung ausschalten, des-
gleichen die Sublimatdesinfektion und mich nur des Alkohols bedienen.
Jedenfalls wird aber auch in der geburtshilflichen Praxis die HeiO-
wasser-Seifenwaschung im stehenden Wasser von nun an fallen, und
die von v. Her ff angegebene Methode benfitzt werden. Wie ich
später darlegen werde, habe ich in allen meinen in den dritten
5 Jahren von mir durchgeführten Fällen von Abortus und Geburten
keinen einzigen Fall von Infektion zu verzeichnen. Dazu muO ich
aber bemerken, daO ich auf das strengste den Standpunkt der Auto-
Noninfektion stets zu wahren suche. Ich beschränke mich in meiner
Praxis striktest auf mein Gebiet, Geburtshilfe und Gynäkologie, und
komme dabei nur höchst selten in die Lage, eitrige oder infektiöse
Erkrankungen zu behandeln, die dann aber nur gynäkologischer Art
sind. Peinlichste Körperpflege und ständige peinliche Reinhaltung
der Hände sind selbstverständlich. Unter diesen Umständen habe ich
immer das sichere Gefühl, auch ohne jedwede vorherige Desinfektion
geburtshilflich gynäkologisch tätig sein zu können. Empfiehlt Foges
in seiner bekannten Arbeit den Septikus, so möchte ich dem entgegen
den Aseptikus empfehlen. Der praktische Arzt, der allgemeine Praxis
treibt, kann bei seinem Dienste im allgemeinen und speziell als Kassen-
arzt in erster Linie, wo er oft 40 — 50 Kranken zu ordinieren und oft
die gleiche Zahl Visiten bei den verschiedensten Kranken zu machen
hat, den Standpunkt der Noninfektion kaum wahren, also nicht aseptisch
bleiben: das ist gewiß ein Ding der Unmöglichkeit. Aseptisch kann der
Spezialist, speziell der Gynäkologe und Geburtshelfer am ehesten noch
sein, weniger schon der vielbeschäftigte Chirurge.
Ist es auch durch Tatsachen erwiesen, daß ohne diese Schaffung
von Septikus und Aseptikus die praktische Medizin ganz gute Resul-
tate erzielte, so handelt es sich doch stets um die Prophylaxe, die
bekanntermaßen die beste Medizin ist Oberblicke ich die letzten
30 Jahre, so kenne ich vereinzelte Fälle, wo Wöchnerinnen an Schar-
lach beispielsweise zugrunde gegangen sind, wo der behandelnde Arzt
eben Scharlachfälle in Behandlung hatte, desgleichen sah ich eine Lapa-
ratomierte an fudroyanter Sepsis zugrunde gehen, wo ein Assistent bei
der Operation an einer akuten Koryza litt, u. a. m.
Wenn ich heute so vielmals auf ärztlichen Tafeln lese: Frauen-
und Kinderarzt, so schwebt mir stets der obenzitierte Fall vor Augen.
Ich halte diese Praxis einfach für unvereinbar und befinde mich mit
meiner Ansicht wohl in bester Gesellschaft. Die geburtshilfliche
36*
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466 Emil Ekstein, [12
Praxis jerfordert ganz apodiktisch den Status auto-noninFectionis von
Seite des Arztes und es l^ann wohl niemand sich der Ansicht mehr
verschließen, daß — cessante causa cessat effectus — damit die funda-
mentalste Vorbeugung gegen das Kindbettfieber erreicht wird.
Hätte diese Erkenntnis vor 60 Jahren zu Beginn der Ära Semmel-
weis bereits Platz gegriffen, so wäre dem furchtbaren »Möttersterben*
auch ohne Chlorkalkwaschung der Hände wirksam Einhalt geboten
worden.
Wie peinlich wird heute der Leser des Lehrbuches von Scan-
zoni aus dem Jahre 1855 berührt, wenn er die Ansichten dieses so
an Erfahrung reichen Geburtshelfers über das Kindbettfieber liest,
wenn er über geburtshilfliche Operationen unterrichtet wird, und mit
keinem Ton dabei einer Reinigung der Hände gedacht wird ; wie selt-
sam berührt es den Leser, wenn er das Lehrbuch des großen Schroe-
der vom Jahre 1886 durchblättert und diesem wichtigsten Faktor in
der Verhütung der Infektion noch nicht die ihm zukommende Wür-
digung erfahren sieht.
Es muß als einen der größten Triumphe unserer Wissenschaft be-
zeichnet werden, in einer so verhältnismäßig kurzen Spanne Zeit nicht
allein zu einer richtigen Erkenntnis der Entstehung des Kindbettf ebers
gelangt zu sein, sondern auch, wie dies unsere Kliniken dokumentieren,
diese wirksamen Vorbeugungsmaßregeln geschaffen zu haben.
Gegenüber dieser Tatsache muß es in der Tat beschämend för
uns Ärzte wirken, in der geburtshilflichen Praxis ein Fortbestehen
des Kindbettfiebers konstatiert zu sehen. Das bedeutet einen herben
Wermutstropfen in dem Freudenbecher unseres wissensc^fdicbea
Könnens.
Es kann kein Zweifel bestehen, daß nach wie vor der praktische
Arzt Geburtshilfe treiben muß und daß nach wie vor unter solckea
Umständen der Status auto-noninfectionis von demselben niemals mit
Sicherheit erreicht werden wird.
Zur teilweisen Milderung dieses Mißverhältnisses wird es sidi da-
her empfehlen, daß gerade der praktische Arzt, der in seiner ausge-
dehnten mannigfachen Berufstätigkeit niemals sicher ist, plötzlich zv
einer Entbindung gerufen zu werden, dem Gebrauche der Gummi-
handschuhe wenigstens in vermehrter Welse Rechnung trägt, um sldi,
resp. seine Hände und Arme in erster Linie vor Besehmuming mit
infektiösem Material zu schützen, und der Alkoholbewegung bei der
Händedesinfektion den größtmöglichsten Vorschub leistet
Galt es bislang als feststehende Norm, die Gebärende und Wöch-
nerin als ein „noli me tangere'' zu betrachten, so geriet audi die Basle
dieser Norm teilweise ins Schwanken.
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13] Beitrag zum Kampf gegen das Puerperalfieber. 407
Die emineaten Erfolge der Chirurgie auf Basis der Anti- und
Asepsis begaBnen bei den gleiclien Erfolgen in der Gynäkologie auch
für die Geburtshilfe Schule zu machen und binnen kurzem etablierte
sich eine chirurgische Ära vorerst in der klinischen Geburtshilfe,
derea Lorbeeren aber auch die geburtshilfliche Praxis nicht schlafen
zu lassen scheinen.
Die Kluft zwischen den Verhaltnissen der Klinik und denen der
Praxis ist aber in jeder Beziehung eine derartig große, daß an eine
Überbrückung nur sehr schwer zu denken ist und allfällige Versuche
zu großen Enttäuschungen geführt haben.
Der Ruf nach Konservatismus in der Geburtshilfe dürfte daher
seiae vollständige Berechtigung besitzen, um noch rechtzeitig Mißge-
schicke hintanzuhalten, wie sie in der Gynäkologie durch die einstige
Rabies operandi heraufbeschworen wurden. Sicher ist es, daß der
moderne Geburtshelfer chirurgische Schulung genossen haben muß,
um auch lege artis in der konservativen Geburtshilfe auf der Höhe
der Leistungsfähigkeit zu stehen.
Darüber detailliert zu sprechen, erachte ich für überflüssig. Auf
das nachdrücklichste muß aber vor dem voreiligen, ungeduldigen Ver-
schieben unserer gesunden geburtshilflichen Indikationen gewarnt wer-
den, die sich auf eine Abkürzung der ersten Geburtsperiode beziehen,
wofür die Gründe ja hinlänglich allgemein bekannt sind.
Was die Indikationen der zweiten Geburtsperiode, der Expulsions-
periode anbelangt, so stehen dieselben auf solch wissenschaftlich
einwandfreier Basis, daß daran in keiner Weise gerüttelt zu werden
braucht.
»Du sollst dein Kind in Schmerzen gebären'', ist ja für die Ge*
bärenden und deren Umgebung ein harter Schicksalsspruch und für-
wahr, die Eroifnungsperlode bewahrheitet denselben mehr denn eigent*
lieh nötig.
Es entspringt deshalb einem natfirlichea Bedürfnis einer jeden
Gebärenden und dem Wunsch deren Umgebung, diese schmerzens-
reiche Zeit, wenn schon nicht in der Eröifnungsperiode, so doch
woügstens in der Expulsionsperiode abzukürzen.
Gehört es zu den segensreichsten Erfolgen unserer Wissenschaft,
Schmerzen zu bannen, so gehört es zu den schönsten Erfolgen unserer
Geburtshilfe, den Arzt in die Lage zu versetzen, die Schmerzens-
perlode der Geburt ebenfalls abkürzen zu können und zwar ist es die
Expulsionsperiode.
Voraussetzung strengster Natur bleibt es natürlich immer, daß alle
Indikationen erfüllt sind, dies tun zu können, und alle Möglichkeiten
vorhanden sind, dies ohne Schädigung der Gebärenden zu leisten.
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468 Emü Ekstein, [14
Man vergegenwärtige sich die Expulsionsperiode einer Primipara,
wie nach Blasensprung, Verstrichensein des Muttermundes und bei
fixiertem Kopf des Kindes die Wehentätigkeit und die Anstrengung
des Mitpressens während derselben den ganzen Organismus der Ge-
barenden in gewaltige Aufregung und Aufruhr versetzt Und da
sollte es als ärztliche Polypragmasie gedeutet werden» bei Vorhanden-
sein aller geforderten Vorbedingungen durch eine vorsichtige Forzeps-
applikation diesen Qualen ein Ende zu bereiten? Eine solche Poly-
pragmasie muO als Akt der Menschlichkeit bezeichnet werden, der
unter wissenschaftlich erprobten SchutzmaOregeln ausgeführt sogar als
segensreich bezeichnet werden kann und diese Abkürzung unter ge-
nannten Bedingungen als geradezu indiziert bezeichnet werden. Hier
unter allen Umständen auch bei nicht vorhandener Gefahr für Mutter
und Kind den Naturkräften zu vertrauen, wäre meines Erachtens ein
falsch bewerteter Konservativismus.
Anders verhält es sich selbstredend bei der Behandlung der Nach-
geburtsperiode, wo es für eine voreilige und unzeitige Nachgeburts-
lösung ohne irgendwelche dringende Indikation keine Entschuldigung
gibt.
Daß die chirurgische Betätigung in der Geburtshilfe, wie sie an so
vielen Kliniken geübt wird, für die Praxis nicht vorbildlich sein kann
und darf, bedarf trotz der wenigen gegenteiligen Behauptungen gewiß
keiner näheren Erörterung.
Zur Entfernung der Eigenkeime der Scheide werden neuerdings
bei Geburten Scheidenspülungen mit verschiedenen Desinfektions-
lösungen empfohlen, desgleichen zur besseren Involution des Uterus
im Wochenbette.
Ich selbst habe die Ära der indikationslosen Scheiden- und Uterus-
spülungen mitgemacht und ebenfalls die Ära, wo mit der Scheiden-
spülung bei Geburten und im Wochenbett gründlich gebrochen wurde.
Präventive Scheidenspülungen bei infektiösen Prozessen der Scheide
hauptsächlich bei Gonorrhöe der Schwangeren und Gebärenden, Utenis-
spülungen aus demselben Grunde bei Wöchnerinnen blieben ja stets
im Gebrauch. Heute wird der Scheidenspülung als Vorbeugungsmittel
gegen das Kindbettfieber wieder das Wort gesprochen analog der
Entfernung der Blutkoagula aus der Scheide post partum im Sinne
Zweifels.
So einwandfrei die diesbezüglichen Erfolge der Klinik anzuerken-
nen sind, so zweifelhaft muß dies Verfahren in der geburtshilflichen
Praxis erscheinen, nachdem doch daselbst in einer großen Zahl der
Fälle gerade durch die Scheidenspülung Fremdkeime in die Scheide
eingebracht werden können, was insbesonders für die Praxis der
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15] Beitrag zum Kampf gegen das Puerperalfieber. 469
Hebammen gilt, wo ein Mutterrohr und ein Irrigator für die Besor-
gung der Gebärenden und Wöchnerinnen verwendet wird. Auch ist
die Herstellung der Desinfel:tionslösung nicht in allen Häusern ein-
wandfrei zu erzielen, so daß vom Standpunl:te der breiten geburts-
hilflichen Praxis dieses Verfahren hier wohl nicht für eine Verallge-
meinerung zu empfehlen sein dürfte. Ob durch diese einfachen
Scheidenspülungen in der Tat alle Eigenkeime aus der faltenreichen
Scheide entfernt werden l:önnen, dafür ist der Beweis wohl noch nicht
erbracht und scheint auch nicht so einfach zu erbringen zu sein.
Eigenl:eime werden vor gynäkologischen Operationen durch Ausreiben
der Vagina wohl leichter entfernt werden können, nachdem es durch
das Vorziehen des Uterus mittels Kugelzange möglich ist, die Scheide
zu entfalten und alle Falten zum Verschwinden zu bringen, kurz die
Scheide unter Kontrolle der Augen gründlich klar zu machen. All
dies ist bei Schwangeren und Gebärenden sowie Wöchnerinnen nur aus
ganz zwingenden Gründen möglich.
Eine große Beobachtungsreihe in der Praxis, die aber in einschlä-
giger Weise kontrolliert wird, ist nicht so leicht zu erbringen, weshalb
nach den alten Erfahrungen die obligatorische präventive Scheiden-
spülung der allgemeinen Praxis für absehbare Zeit vorenthalten bleiben
dürfte.
Seit Beginn meiner geburtshilflichen Praxis stehe ich auf dem
Standpunkte der obligatorischen Verabreichung von Sekalepräparaten
post abortum et partum, aber stets erst nach vollständiger Entleerung
des Uterus. Ober die Zweckmäßigkeit dieser Medikation zu sprechen,
bedarf es keiner Worte, dieselbe liegt vollständig klar zutage. Leider
vermißt man in der geburtshilflichen Praxis noch sehr häufig diese
die Uterusinvolution so sehr begünstigende Therapie, die gleichzeitig
eine prominente Vorbeugung gegen Infektion bildet. In dieser Beziehung
wäre eine Verallgemeinerung der Anwendung der Sekalepräparate
von Seite der Geburtshilfe treibenden Ärzte und Hebammen sehr
geboten, selbstredend in streng individualisierender Weise; in erster
Reihe nach geburtshilflichen Eingriffen, aber auch nach spontanen
Geburten, wenn die Nachwehen eben in nicht genügender Stärke vor-
Jianden sind.
Nach der Darlegung gewisser von v. Her ff vom Standpunkte des
Praktikers eingehend besprochener Verhältnisse der geburtshilflichen
Praxis im allgemeinen müßte es mir in der Folge obliegen, die Mängel
unserer Sozialhygiene der Hausgeburten, die eine Minderwertigkeit
der Vorbeugung des Kindbettfiebers involvieren, aufzuzählen, Mängel,
für deren schädigendes Fortbestehen dem Arzt absolut keine Schuld
trifi^t, die er beim besten Willen eben nicht zu beseitigen vermag.
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470 l^il Ekstein, [\%
wobei seine Hilf- und Machtlosigkeit gegenüber der großen Indolenz
des Laienpublikums und dem passiven Verhalten der Staatsbehörden
vollständig Entschuldigung finden muß. Ich kann es mir hier füglich
versagen, über all diese großen Unterlassungssünden, die konstant be^
gangen werden, zu sprechen, habe ich dies nur allzuoft beinahe
durch 6 Jahre, und leider stets ohne entsprechenden Erfolg in einer
großen Reihe von Monographien getan« Ich hege zuversichtliche
Hoffnung, daß die gesamte geburtshilfliche Neuorganisation, wie sie
eben heute immer noch ihrer Lösung harrt, auf rein akademischen
Boden gestellt, durch unsere Kliniker und Lehrer der Geburtshilfe
in gemeinsamer Arbeit und Einverständnis mit den geburtshilflichen
Praktikern und — den Staatsbehörden endlich doch einmal diejenige
Würdigung finden wird, um ohne Rücksicht auf materielle Kosten in
einwandfreier moderner Weise zur Durchführung zu gelangen.
Speziell in Österreich wurde im Jubiläumsjahre Kaiser Franz
Josef I. von Sr. Majestät selbst die Parole für Jubiläumsstiftungea
»fürs Kind^ ausgegeben. Millionen werden gesammelt und wahrschein-
lich thesauriert werden.
So edel, so ideal und so praktisch notwendig diese ganze Bewe-
gung in der Tat ist, so hat man direkt das Elend des Kindes im Auge
gehabt, hat dabei aber ganz der Mutter vergessen, deren Elend mit
dem des Kindes leider nur zu oft unzertrennlich verquickt ist. Nicht
altein »fürs Kind"", nein, für »Mutter und Kind"" ist zu sorgen und in
erster Reihe zu verhüten, daß dem Sterben der Mütter in der höchsten
Betätigung ihrer weiblichen Pflicht Einhalt geboten wird, worunter in
erster Reibe die Vorbeugung gegen das Kindbettfleber zu verstehen ist
Die tägliche Erfahrung lehrt, daß eine Entbindung in einer wohl-
geleiteten Anstalt unter allen Umständen in bezug auf Infektion sicherer
absolviert wird als im Hause. Die tägliche Erfahrung lehrt, daß unsere
Bezirkskrankenhäuser nicht nur an einem chronischen Platzmangel
leiden, sondern nicht einmal freiwillig, sondern nur der höchsten Noc
gehorchend, eine Gebärende aufnehmen, geschweige denn eine arme
Schwangere, die ihrer schwersten Stunde erst entgegensieht. In echt
bureaukratischerÄngstlichkeitwirddieAusgestaltungderBezirkskranken-
häuser, dem Durchschnitt der Aufnahmen von beispielsweise 5 Jahren
entsprechend, hintangehalten, es wird einfach gespart und gespart, um ja
nur in bezug auf Ausgaben dem Bezirke keine größere Lasten aufzubür-
den. Diesen einem Zeitalter der Hygiene und Humanität absolut nicht
entsprechenden Zuständen wäre durch diese angesammelten Fonds
»fürs Kind" ein Ende zu bereiten und durch Errichtung von Gebär-
abteilungen an jedem Bezirksspital für Mutter und Kind in menschen-
würdiger Weise zu sorgen. Dazu kommt noch, daß zur Abhilfe und
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n] Beitrag zum Kampf gegen das Puerperalfieber. 471
endgültigen Beseitigung dieses chronischen Platzmangels mit all den
traurigen Konsequenzen jede Stadt von mindestens 10000 Einwohnern
zu verhalten wäre» ein Krankenbaus für seine Bewohner zu schaffen,
damit das Bezirkskrankenhaus eben für die kleineren Orte des Bezirkes
reserviert bliebe. Dies nur nebenbei.
In der Vorbeugung des Kindbettßebers werden wir wohl nicht eher
erfolgreich vorwärts schreiten, insolange nicht durch Gründung eines
selbständigen Sanitätsressorts im Ministerium mit gleichzeitiger Errich-
tung von „sozialen Gesundheitsämtern'' die gesundheitliche Volks-
wohlfahrt der großen Erfolge unserer medizinischen Wissenschaft voll
und ganz teilhaftig gemacht werden wird. Einer zu errichtenden Lehr-
kanzel für Sozialhygiene muß es vorbehalten bleiben, ein wirksames,
initiatives Bindeglied zwischen Sanitätsministerium und Gesundheits-
ämtern zu bilden. Mehr als durch Kriegsschiffe, Luftballons und
Kanonen würde so das Volkswohl bewahrt werden. Dann und nur
dann wird das von Semmelweis so sehnlich erwartete Zeitalter
hereinbrechen, in welchem inn- und außerhalb der Gebärhäuser der
ganzen Welt nur Fälle von Selbstinfektion vorkommen.
Zur Besprechung der in den dritten 5 Jahren von mir behandelten
geburtshilflichen Fällen übergehend, stehen mir 335 Fälle zur Ver-
fügung. (Siehe nächste Seite.)
Ad L Die verhältnismäßig geringe Zahl von spontanen Geburten,
die hier verzeichnet sind, dokumentiert zur Genüge, wie ungern der
Arzt heute noch in der Wochenstube gesehen wird und wie zäh und
fest die Frauenwelt an der Hebamme festhält.
Dagegen wäre von vornherein nichts einzuwenden, wenn die Minder-
wertigkeit des Gros unserer Hebammen nicht mit in Frage käme und
gerade in Rücksicht auf das starre Festhalten der Frauen ist die bis-
herige Minderwertigkeit der Hebammen, das Fehlen der nötigen In-
telligenz in diesem Stande nicht genug zu tadeln. Schuld an dieser
Unterlassung einer höheren Bewertung des Hebammenstandes und
der konsequenten exakten Ausbildung trägt der Staat und in erster
Reihe ist der Staat für die JFolgen verantwortlich. Es kann gar kein
Zweifel bestehen, daß es dem Arzte ganz unmöglich ist, eine Geburt
von Anbeginn bis Ende zu leiten, denn dazu fehlt ihm unbedingt die
Zeit. Hier liegt die Indikation für den Hebammenstand, für einen
Hebammenstand aber, der vermöge seiner Intelligenz und guten Aus-
bildung den Anforderungen einer lege artis Geburtsleitung gewach-
sen ist.
Ad IL Die verhältnismäßig große Zahl von Abortusfällen ist ein
Zeichen unserer Zeit. Über die Ätiologie der einzelnen Fälle zu
sprechen ist unmöglich, der Praktiker gewöhnt es sich ab, bei diesen
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472 Emü Ekstein» [18
Tabellarische Übersicht.
Zahl der glatter TodesfiUe Todesfllle
Fälle Verlauf der Mütter der Kinder
I. Spontane Entbindung. 13 13 — 1 (Lues)
IL Abortus 156 156 — —
III. Abortus artefic. Nr. VII 14 14 — 10
IV. Forceps 53 53 — 3
V. Perforation .... 3 3 — —
VI. Wendung 12 12 — 10
VII. Bigemini 6 6 — —
VIII. Retentio placentae p.
part 12 12 — —
IX. Naht von spontanen
Dammrissen ... 5 5 — —
X. Atonia uteri .... 2 2 — —
XI. Eklampsie .... 2 2 — 1
XII. Placenta praevia . . 4 4 — 4
XIII. Gravidit. extrauterina 14 13 1 —
XIV. Processus puerperalis 12 12 — —
XV. Retroversio-flexio
uteri gravidi ... 24 23 1 —
XVI. Sectio caesarea ... 1 — 1 .1
XVII. Apoplexia in gravi-
ditate 1 1 — —
XVIII. Discisio septi vaginae
p. part. spontan. . 1_ 1 — —
335 332 3 30
Fällen strenge nachzuforschen; wohin dies fähren würde, ist nur zu
bekannt Was die eigentliche Therapie bei Abortus anbelangt, stehe
ich nach wie vor auf dem Standpunkte, daß das aktive Verfahren,
wie ich dies in meinen Publikationen <) detailliert dargestellt habe,
das rationellste Verfahren bildet, die Restitutio ad integrum in kür-
zester Zeit herbeizuführen und dabei den Vorzug der Schmerzlosig«
keit besitzt. In bezug auf die Möglichkeit der Infektion ist es bei der
Anschauung, die wir über unsere Händedesinfektion besitzen, jeden-
falls schwerer möglich mittels Instrumenten zu infizieren als mittels
Finger. Was die Uterusperforation anbelangt, so ist dieselbe, wie ich
dies in einer meiner letzten Arbeiten >) geschildert habe, auszuschließen,
wenn eben stets lege artis vorgegangen wird.
Unter den 156 Fällen sind Fälle von Abortus putridus schwerster
Natur zu verzeichnen, die mit bestem Erfolge auch zweizeitig behan-
delt wurden, wenn eben die Zervix nicht fingerdurchgängig war.
Erwähnung möge ein Fall von Monstrosität des Uterus und der
1) Therapie bei Abortus. Stuttgart, Enke, 1901. 2) Gyn. Rundschau 19Q&
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19] Beitrag zum Kampf g^S^n ^^^ Puerperalfieber. 473
Scheide finden. Bei einer 28jährigen Erstgebarenden traten im
IL Monate der Gravidität Blutungen ein. Bei der Untersuchung fand
sich ein Uterus bicornis duplex cum vagina septa, wovon der links-
gelegene Uterus gravid war. Der Befund glich vollkommen dem von
Nagel in Veits Handbuch beschriebenen» in der Gebäranstalt der
Charit6 beobachteten Falle. Erwähnt möge noch werden, daß ich die
Mehrzahl der behandelten Fälle von Abortus am 3. und 5. Tage be-
suchte und am 8. — 10. Tage zur Nachuntersuchung in meiner Ordi-
nation wieder sah. Bei einer gewissen Zahl von Fällen wurde so
wegen konstatierter Retroversio oder Retrofiexio uteri die Einlegung
eines Fritsch-Hodge-Pessares nötig , das nach V4 — V2 Jahre bei zwei-
monatlichem Wechseln wieder entfernt werden konnte. Gerade der
nach Abortus verhältnismäßig oft eintretenden Uterusverlagerungen
wegen halte ich eine kräftige Uterusmassage nebst reichlichen Gaben
von Sekalepräparaten nach Entleerung des Uterus, ferner die Nach-
untersuchung in der Rekonvaleszenz für dringend indiziert. Tägliche
Scheidenspälungen mit einer Kai. jodat.- Jodtinkturlösung bis zum
Wiedereintritt der Menstruation beeinflussen die Involution des Uterus
nach Abortus auf das beste.
Ad III. Getreu dem an der Schule gelehrten Konservativismus in
der Geburtshilfe habe ich Gelegenheit genommen, 14mal die künst-
liche Frühgeburt bei 12 Frauen einzuleiten. Bei 6 Frauen wurde
wegen hochgradiger Beckenenge, allgemein verengtem Becken, rachi-
tischem und kyphoskoliotischem Becken die Frühgeburt im VIII. Monat
eingeleitet. All diese Frauen hatten schwere Wendungen mit totem
Kinde und Perforation bereits überstanden. Bei 1 Frau, die bereits
2mal Perforation durchgemacht hatte, wurde innerhalb 3 Jahre die
Frühgeburt im VIII. Monate 2 mal eingeleitet. In 1 Falle wurde nach
sicherem Nachweise des Abgestorbenseins der Frucht im VII. Monate
ebenfalls die Frühgeburt eingeleitet. In allen Fällen habe ich die
Frühgeburt mittels Einführung der Knappschen Bougie eingeleitet,
wobei die spontane Entbindung in 24 — 36 Stunden erfolgte. Leider
blieben die Kinder nicht am Leben.
Den Abort im I. — IV. Monat wurde eingeleitet in einem Falle
von unstillbarem Erbrechen, wo jede Therapie erfolglos blieb, weiters
bei einer Zwergin, deren Becken selbst für die Geburt eines Sieben-
monatkindes zu klein war, bei einer an Osteomalakie leidenden Frau,
bei einer an Morbus Brighti Leidenden und bei einer Frau, die
wegen Graviditas extrauterina von mir einige Jahre vorher operiert
worden war.
Den Abort im L— IV. Monate leitete ich ausschließlich durch
die intrauterine Tamponade ein. 24 Stunden nach dieser Tamponade
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474 Emil Ekstein, [20
wurde die instrumenteile Ausräumung des Uterus vorgenommen. Sämt-
liche Fälle hatten einen glatten Verlauf.
Ad IV. In 51 Fällen wurde der Forceps bei Schädellagen, in
2 Fällen bei Steißlagen angelegt.
Meinen Standpunkt in bezug auf die Indikationen der Zange habe
ich bereits klargelegt; der günstige Verlauf aller meiner Fälle recht-
fertigt denselben zur Genüge.
Es ist dabei aber auch eine ganz große Zahl von Fällen zu ver-
zeichnen, wo der Forceps bei hochstehendem fixiertem Kopf mit oder
ohne vollständige Entfaltung des unteren Uterinsegmentes zur Anwen-
dung kam. Im letzteren Falle habe ich es in 2 Fällen erlebt, daß
das untere Uterinsegment während 3 — 4tägigen Kreißens nicht zur
Entfaltung kam, sondern als gerade ßngerdurchgängiger Zapfen
erhalten blieb. Durch zwei nach rechts und links hinten unten ge-
richtete Inzisionen wurde dasselbe gespalten und dann die Extraktion
mittels Forceps vorgenommen. Nach Ablauf der III. Geburtsperiode
wurden die Inzisionen mittels Knopfnähten wieder vereint; die Ope-
ration wurde in Narkose vorgenommen, während bei den anderen
Entbindungen mittels Forceps die Narkose nicht in Anwendung kam.
wie ich dies bereits in meiner diesbezüglichen Arbeit i) geschildert habe«
2 mal wurde der Forceps zwecks Vornahme des Accouchement
forc6 zur Anwendung gebracht, in beiden Fällen wegen hochgradiger
Eklampsie bei Erstgebärenden, wobei der Muttermund nicht voll-
ständig verstrichen war. Im einen Falle war das Kind lebend ge-
boren, im anderen Falle tot, nachdem die Entwicklung langsam vor-
genommen werden mußte, um eben keine schweren Verletzungen der
Mutter hervorzurufen. Beide Mütter machten eine glatte Rekonvale-
szenz durch.
In 2 Fällen wurde die Kopfzange bei Steißlage zur Anwendung
gebracht und zwar mit dem gleichguten Erfolge für Mutter und KincL
Von Kindern habe ich 3 Todesfälle bei Forzeps zu verzeichnen,
einen bei Eklampsie, die beiden anderen bei bestehendem großen
Mißverhältnis zwischen Becken und Schädel.
Ad V. Die 3 Perforationen wurden mittels Auvardschen In-
strumentes ausgeführt.
Der erste Fall betrifft eine 34jährige Ilpara. Die ersten beiden
Entbindungen erfolgten mittels Forceps; im Jahre 1809 führte ich die
Ventrofixatio uteri bei Retroversio-flexio uteri fixata aus. 4 Jahre
später wurde Pat. wieder gravid. Durch das Mißverhältnis zwischen
kindlichem Kopf und mütterlichem Becken blieb der Kopf durch
1) Prager med. Wochenschr. 16. Jahrg.
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21] Beitrag zum Kampf gegen das Puerperalfieber. 475
3 Tage beweglich über dem Beckeneingang. Am 3. Tage erst wurde
ich zur Entbindung zugezogen; da war der Kopf bei verstrichenem
Muttermund im Beckeneingang fixiert. Ein Zangenversuch mißlang,
wobei es unter größter Kraftanstrengung nicht möglich war, den Kopf
ins Becken zu ziehen; hierauf führte ich die Perforation aus. Das
Kind war in der Tat abnorm stark. Die Ventrifixur des Uterus be-
einflußte in keiner Weise den Geburtsverlauf, sondern lediglich das
erwähnte Mißverhältnis. Glatter Verlauf mit Erhaltenbleiben der
Normallage des Uterus.
Der 2. Fall betrifi^t eine 24jährige Frau, die 1 mal bereits im II. Monate
abortiert hatte. Ich wurde zur Gebärenden gerufen, als die Geburt
bereits 4 Tage im Gange war. Ich konnte eine floride Osteomalakie
mit typischer Veränderung des Beckens konstatieren. Bei der überaus
starken Entwicklung des Kindes und der langen Geburtsdauer kam
nur die Perforation in Frage. Dieselbe wurde in Narkose ausgeführt.
Trotz der Narkose war es bei vollständig verstrichenem Muttermund
nicht möglich, den perforierten Kindesschädel durch das Becken hin-
durch zu bekommen. Nachdem konstatiert wurde, daß das Mißver-
hältnis zwischen Kindesschädel und Becken dieses Hindernis bildete,
wurde das Auvardsche Instrument abgenommen und die Wendung
des perforierten Kindes in der vorsichtigsten Weise vorgenommen.
Dieselbe gelang und machte die Entwicklung des nachfolgenden Kindes-
schädels trotzdem noch große Schwierigkeit.
Ein Dammriß 2. Grades konnte dabei nicht verhindert werden.
Trotz dieses großen Eingrifffes verlief das Wochenbett fieberfrei.
Die puerperale Osteomalakie heilte nach 2 Jahren durch Phosphor-
behandlung insoweit aus, daß bei weiter bestehender Deformität des
Rumpfes und Beckens die großen Knochenschmerzen im Bereiche
der Arme und Beine zum Schwinden gebracht wurden. Das Kind
wog etwas über 5 kg.
Im 3. Falle handelte es sich um eine luetische 26jährige Ilpara
mit plattem rachitischem Becken. Die Geburt war bereits 4 Tage
im Gange als ich zugezogen wurde. Muttermund bequem für 4 Finger
durchgängig, Schädel des Kindes im Beckeneingang, nicht fixiert.
Die Perforation in Narkose wurde leicht ausgeführt, ein linksseitiger
Riß der Zervix, der bei der Extraktion zustande kam, wurde mittels
4 Knopfnähten geschlossen. Fieberloser Verlauf.
In bezug auf die Zuverlässigkeit des Au vard sehen Instrumentes,
das ich seit dessen Bekanntwerden benütze, kann ich nur berichten,
daß dasselbe seinen Zweck stets vollkommen erfüllte, wenn auch die
Applikation manchmal und insbesonders dann, wenn der Muttermund
nicht vollkommen verstrichen ist, die allergrößte Vorsicht erfordert.
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476 Emil Ekstein, [22
Ad VI. Was die Ausführung der Wendung anbelangt, so muß ich, wie
in meinen beiden vorhergegangenen Berichten^nur immer wieder darfiber
klagen, daß die Berufung des Arztes mehr minder spät erfolgte, wo-
durch die hohe Mortalität der Kinder ihre Begründung finden mag.
In 5 Fällen wurde aus Querlage mit oder ohne Nabelschnurvorfall
gewendet und dabei 1 Kind lebend zur Welt gebracht.
In 2 Fällen wurde bei hohem Querstand, in 1 Falle bei Gesichts-
lage gewendet und ebenfalls nur 1 Kind lebend zur Welt gebracht
In 3 Fällen wurde die Wendung bei Querlage mit Armvorfall aus-
geführt, wobei alle 3 Kinder tot zur Welt gebracht wurden.
Sämtliche Fälle hatten ein fieberfreies Wochenbett durchgemacht.
Ad VII. Zwillingsgeburten gestalteten sich folgendermaßen:
1. 28jährige Illpara. Spontane Emtbindung, Knabe, Mädchen.
2 medial adhärente Plazenten.
2. 25jährige Ipara. Hydramnios, Blasensprengung. I.Knabe For-
ceps, 2. Knabe spontan. 1 Plazenta.
3. 34jährige IVpara. Doppelte Fußlage, Nabelschnurvorfall, Ex-
traktion, totes Mädchen, Wendung nach Blasensprengung, Extraktion,
lebender Knabe. 2 getrennte Plazenten.
4. 32jährige Ipara. Protrahierter Geburtsverlauf, Forceps, le-
bender Knabe, Fußlage, Extraktion, lebender Knabe. 1 Plazenta.
5. 25jährige Ipara. Kam V2 Jahr vor der Schwangerschaft wegen
Retroversio uteri mobilis in Behandlung. Fritsch-Hodge-Pessar Nr. IV.
6 Monate trägt die Frau das Pessar; als sie wieder zum Wechsel des
Ringes kommt, ist sie einen Monat schwanger. Im 3. Schwanger-
schaftsmonate wird das Pessar entfernt. Am normalen Ende der
Schwangerschaft spontane Geburt von 2 Mädchen. 1 Plazenta.
6. 32jährige Ilpara. 1. Schwangerschaft Abortus m. IL Im 7. Monat
der bestehenden Schwangerschaft plötzlicher Wasserabfluß, ohne jedr
wede Wehentätigkeit. Am 2. Tage Forceps, lebendes Mädchen, Wen-
dung, lebendes Mädchen. 1 Plazenta.
Sämtliche Fälle hatten glatten Wochenbettsverlauf.
Ad VIII— XII. ist nichts Wesentliches zu bemerken.
Ad XIII. Von 15 bei 14 Frauen beobachteten Extrauteringravidi-
täten habe ich in 0 Fällen durch Laparatomie die schwangere Tube
entfernt. Darunter ist eine Frau innerhalb 2 Jahre 2mal lapara-
tomiert worden, das erste Mal wegen linksseitiger, das zweite Mal wegen
rechtsseitiger Tubargravidität. In 4 Fällen führte die expektative Be-
handlung bei eingetretener Hämatozelenbildung zur Spontanausheilung.
Ein Fall Graviditas tubaria m. III. starb während der Vorbereitung zur
Operation. An anderer Stelle wird eingehend über diese Fälle ge-
sprochen werden.
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23] Beitrag zum Kampf gegen das Puerperalfieber. 477
Ad XIV. Die puerperalen Infektionen, die nach spontanen Geburten
und Abortus zur Beobachtung kamen, kamen mit Ausnahme eines Falles
unter Leitung von Hebammen zustande.
In 3 Fällen wurde Puerperalfieber als AUgemeininfektion ohne
Nachweis lokaler Erscheinungen beobachtet, in 2 Fällen Phlegmasia
alba dolens mit parametranen Exsudaten, in 1 Falle Thrombose der
rechten Vena femoralis mit rechtsseitigem parametranen Exsudat und
in 5 Fällen mehr minder ausgebreitete Pelveoperitonitis.
Die letzteren Fälle hatten einen sehr langsamen Verlauf in bezug
auf Resorption der Exsudate. Im akuten Stadium wurde bei allen
Fällen Unguentum Cred6 in ausgiebiger Weise zur Anwendung ge-
bracht und hat es den Anschein, daß diese Therapie, vorschriftsmäßig
ausgeführt, auf die Herabsetzung der Temperaturen einen günstigen
Einfluß auszuüben vermag. Die Temperaturen fielen nach der Ein-
reibung konstant, was um so auffälliger war, als Antipyretika nicht
verabreicht wurden.
Teplitzer Badekuren hatten eine vorzügliche Wirkung auf die Re-
sorption der Exsudate und erlebte ich, daß eine Frau, die nach Zwil-
lingen an einem bis zur Nabelhöhe reichenden linksseitigen Becken-
exsudat 2 Jahre nach dieser Erkrankung wieder konzipierte, gebar
und ein fieberfreies Wochenbett durchmachte. Teplitzer Thermal- und
Thermal -Moorbäder halte ich für ganz vorzügliche Unterstützungs-
mittel zwecks Resorption von Beckenexsudaten.
Sämtliche 11 Frauen kamen zwar mit dem Leben davon, allein
einige von ihnen stehen heute noch in Behandlung.
Das Puerperalfieber, jenes traurige Kapitel in der geburtshilflichen
Praxis, richtet derartige Verheerungen im weiblichen Organismus an
und führt zu solch schweren Schädigungen desselben, daß es nichts
weniger als dringend erscheint, dieses Kapitel zur öfi^entlichen Dis-
kussion zu stellen, wie dies 1909 durch die Deutsche Gynäkologische
Gesellschaft in Straßburg geschehen wird. Es wird sich sehr emp-
fehlen, daß die geburtshilflichen Praktiker sich rege an dieser Dis-
kussion beteiligen, um den Klinikern Material und Vorschläge für eine
endliche Bekämpfung desselben auch in der geburtshilflichen Praxis
zu liefern.
Ad XV. Eine verhältnismäßig große Zahl von Rückwärtslagerung
des schwangeren Uterus gibt Beweis dafür, wie häufig dieselbe vor-
kommt, insbesonders bei Arbeiterinnen. Zum weitaus größten Teile
bildet diese Lageveränderung neben großen Allgemeinbeschwerden
die Ursache zum Abortus.
Ich kann in bezug darauf auf die Arbeit R. Chrobaks^) verweisen.
1) Volkmannsche Sammlung 377, 1904.
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478 Eniil Ekstein, Beitrag zum Kampf gegen das Puerperalfieber. [24
Bei einer kleinen Zahl der Fälle gelang es durch Pessartherapie
den Abortus zu vermeiden. Bestand Blutung und währten die Be-
schwerden schon längere Zeit, so war auch durch diese Behandlung
der Abortus nicht mehr aufzuhalten. In einem Falle war die Retro-
flexio uteri gravidi 2mal bereits die Ursache des Abortus; es wurde
nach erfolgtem Abortus von dem betreffenden Arzte eben nicht nach-
untersucht. In einem Falle bei Retroflexio uteri gravidi m. IV. incar-
cerati, bei einer hochfiebernden, ganz heruntergekommenen Frau mit
den hochgradigsten Inkarzerationsbeschwerden wurden durch Wochen
von verschiedenster Seite die verschiedensten Medikationen ohne rich-
tige Diagnosenstellung erfolglos angewandt. Es konnte kein Zweifel
bestehen, daß auch intrauterin planlos eingegriffen worden war, denn
die Frau war eben bereits septisch und starb bei der Aufnahme ins
Hospital. Es handelte sich um eine purulente Peritonitis, ausgegangen
von dem septischen Uterusinhalt.
In 3 Fällen nur kam es durch die Pessartherapie zum Fortbestehen
der Schwangerschaft bis zum normalen Ende; es waren dies Fälle,
wo nach Eintritt der Schwangerschaft plötzlich heftige Kreuzschmerzen
mit Blasenbeschwerden eingetreten waren, ohne daß eine Blutung auf
eine Unterbrechung der Schwängerschaft hatte schließen lassen. Jedes-
mal war das Heben einer schweren Last die Ursache der Lageverän-
derung des Uterus.
In 4 anderen Fällen wurde in typischer Weise die Ausräumung
des Uterus vorgenommen und gleichzeitig nach Reposition des Uterus
ein Pessar eingeführt. Reichliche Ergotingaben nebst Jodjodkali-
spülungen führten eine kräftige Involution des normal gelagerten Uterus
herbei.
Ad XVI. Dieser Fall, in dem es sich um eine Spontanruptur des
Uterus am normalen Schwangerschaftsende nach vorheriger Sectio
caesarea mit Fritschschem Fundalschnitt handelt, ist ausführlich im
Zentralblatt für Gynäkologie 1904 beschrieben worden.
Ad XVI und XVIII ist nichts Bemerkenswertes zu berichten.
Am Ende meines Berichtes angelangt, kann ich nach drei Quin-
quennien praktisch geburtshilflicher Tätigkeit nur wärmstens empfehlen,
den Konservativismus im Sinne von v. Herff in der geburtshilflichen
Praxis strengstens zu wahren und zu pflegen. Dabei ist es natürlich
unerläßlich, den Status auto-noninfectionis strenge im Auge zu be-
halten und unaufhörlich auf dem Gebiete der Sozialhygiene das Un-
mögliche zu verlangen um das Mögliche zu erreichen.
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