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Full text of "Sammlung klinischer Vorträge: Gynäkologie"

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J   ,J 


Boston 

Medical  Library 

8  The  Fenway, 


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^81  (Serie  XVII,  Heft  I)  Gynäkologie  Nr. 


Sammtung 

Klinischer  Vorträge 

begründet  von  Riqhard  von  Volkmann 

Neue  Folge 

herausgegeben  von 

O.  Hildebrand      "^ 
Friedrich  Müller  und  Franz  von  Winckel 


Frauenleben  und  -leiden  am  Äquator 
und  auf  dem  Polareise 


von 

Prof.  Dr.  F.  v.  Winckel 

München 


1908 

Verlag  von  Johann  Ambrosius  Barth  in  Leipzig 


Dörrienstraße  16 

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_1-,    IM     «C/\  C"l~— 1~-.-»- 


Sdlipyrin 


das  seit  18  Jabren  auf  das  beste  bewSbrte  Speziflkum  gegen  Influenza 
leistet  aucb  ausgezeichnete  Dienste  bei 

211  reicMicber  inett$frttation  m 
M  mettstrttdtiotis-Bescbwerdeii 

jedes,  auch  des  klimakterischen  Alters.  (Dosis:  Dreimal  täglich  ein 
Gramm.)  Vom  Beginne  der  Menses  gebraucht,  fibertrlfft  Salipyrin  weit 
die  Seeale-  und  Hydrastis- Präparate,  indem  es  die  Dauer  und  Stärke 
der  Menstrualblutung  ganz  erheblich  vermindert.  —  Sehr  schätzens- 
wert ist  dabei  zugleich  die  nervenberuhfgende  Wirkung  des  Salipyrins, 
das  frei  von  schädlichen  Nebenwirkungen  ist.  Eingehende  Unter- 
suchungen in  den  Frauenkliniken  von  Prof.  Dr.  Löhlein-Gießen  f,  Prof.  Dr. 
Martin-Berlin  und  Privatdozent  Dr.  Beuttner-Genf  u.a.  haben  die  Be- 
deutung des  Salipyrlns  bei  Gebftrmutterblutungen  bestätigt. 

Scopotnorpbin 

(Scopolamin  —  Morphin) 

zeigt  von  den  seitherigen  Handelspräparaten  in  physiologischer  Hinsicht  die 
reine  Scopolaminwirkung  ohne  Nebenwirkung.  Nach  den  Veröffentlichungen 
::  ::  hervorragender  Ärzte  mit  außerordentlichem  Erfolge  angewendet  ::  :: 

1.  zur  Totalnarkose    (Scopolamin -Narkose    nach 

Korff), 

2.  zur  Halbnarkose, 

3.  als  Analgeticum  und  Sedativum  zur  Beruhigung 

Aufgeregter,  zur  Schmerzstillung,  nament- 
lich bei  inoperablen  Karzinomen* 


liquidum 


tbiol 


siccum 


zum    Aufpinseln,    bildet   auf   der    Haut    einen 
elastischen  unschwer  abwaschbaren  Firnis. 


zum  Aufstreuen,  ist  ein  braunes  Pulver,  wel- 
ches zu  Trockenverbänden  angewendet  wird. 


Hervorragendes  Heilmittel  der  Schwefel-Therapie  (Thioi  enthält  ca.  12o/o 
Schwefel)  sowohl  bei  Hautleiden,  Verbrennungen,  Gicht  und  Rheumatis- 
mus, als  auch  besonders  bei 

Frauenleiden. 

Bei  den  verschiedenartigsten  entzündlichen  Reizzuständen  des  Genital- 
traktes kommt  Thiol  mit  bestem  Erfolge  zur  Anwendung.  Es  hat  sich  als 
ein  schmerzlinderndes  und  die  entzündliche  Reizung  beseitigendes 
Mittel  erwiesen.  Eine  angenehme  Nebenwirkung  ist  die  adstringierende 
Tiefenwirkung  auf  die  Schleimhaut.  Spezielle  Indikationen:  Peritonale 
Reizungen,  Endometritis,  Erosionen,  para-  und  perimetrische  Exsudate, 
Parametritis,  Pruritus  vulvae,  Mastitis,  Rhagaden  der  Brustwarzen  usw. 

Zur  Anwendung  gelangen:  Thiol  liquid,,  Thiol-Tampons,  Thiol-Glycerin, 
Thiol-Collodium,  Thiol  sicc,  Thiol  mit  Adeps  benzoatus, 

Thiol  hat   einen    angenehmen,   schwach    an       Thiol  Ist  beständig  in  seiner  Zusammensetzung, 
Juchten  erinnernden  Geruch    und  läQt  sich  wasserlöslich,  ungiftig  und  löst  keine  Reiz- 

aus der  Wäsche  leicht  entfernen.  eracheinnngen  aus. 

Literatur  und  Proben   stehen  den  Herren  Ärzten  kostenlos  zu  Diensten. 

J.D.  RIEDEL  A..G.,  BERLIN  N.39. 


/(Sff 


(Gynäkologie  Nr.  175.) 


Frauenleben  und  -leiden  am  Äquator  und  auf 

dem  Polareise. 

Von 

F.  V.  Winckel, 

München. 


Seit  das  Deutsche  Reich  einen  großen  Kolonialbesitz  erworben 
hat,  hat  es  auch  die  Pflicht  übernommen^  sich  zunächst  mit  den  zahl- 
reichen Völkerschaften)  die  diese  Kolonien  bewohnen,  genau  bekannt 
zu  machen.  Wir  stehen  jetzt  erst  in  den  Anfangen  dieser  Kenntnisse 
und  das,  was  wir  bisher  von  denselben  erworben  haben,  ist  herzlich 
wenig.  Dabei  ist  das  uns  bereits  Bekannte  auch  nur  zum  kleinsten 
Teil  durch  Ärzte,  zum  größten  Teil  dagegen  durch  Reisende,  Missio- 
nare, Kaufleute,  Farmer  und  Offiziere  erworben  und  recht  häufig, 
namentlich  was  ärztliche  Angaben  betriift,  auf  Mißverständnissen  be- 
ruhend. Immerhin  bildet  es  eine  Basis,  von  der  die  weitere  For- 
schung ausgehen  muß;  jedes  Erforschen  ist  nur  eine  Stufe  zu  etwas 
Höherem.  Es  ist  nun  interessant  zu  beobachten,  wie  die  vorhin  er- 
wihnten  Laien  bei  ihren  Wahrnehmungen  sich  oft  auch  eingehend 
mit  dem  weiblichen  Teil  jener  Völkerschaften  beschäftigt  haben  und 
uns  in  ihren  Schriften  eine  Menge  von  Tatsachen,  die  zur  allgemeinen 
Gynäkologie  gehören,  mitgeteilt  haben.  Ich  denke  dabei  namendich 
an  die  Publikationen  des  Grafen  Joachim  Pfeil,  Studien  und  Beob- 
achtungen aus  der  Südsee,  Braunschweig  1809,  welche  sich  auf  die 
Kanaken  beziehen,  ein  Volk,  welches  noch  heutzutage  in  der  Steinzeit 
id>t.  Mir  schweben  femer  vor  die  Wanderungen  und  Forschungen 
im  Nordhinterlande  von  Kamerun,   die  Franz  Hutter,    ein  baye- 

Klla.  Vortrige    N.  F.  Nr.  481.  (GynUologie  Nr.  175.)    Mal  190&  16 


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212  F.  V.  Winkel,  [2 

rischer  Artilleriehauptmann,  bei  einem  hochkultivierten  Negervolke 
1801—1803  machte  und  1902  publizierte.  Mit  diesen  beiden  Schrift- 
stellern und  ihren  Beobachtungen  an  am  Äquator  lebenden  Völkern 
möchte  ich  dann  die  Beobachtungen  von  Schliephake  (1885), 
V.  Nordenskjöld  (1886),  Nelson  (1899),  Nansen  (1903)  und  Amund- 
sen  (1907)  an  den  Frauen  der  arktischen  Zone  vergleichen,  da  die 
letzteren,  die  Eskimos,  zum  größten  Teil  auch  noch  i(i  der  Stein- 
zeit leben  und  die  Bedingungen  für  ihre  Existenz  und  ihr  Fortkonimen 
so  außerordentlich  von  denen  jener  äquatorialen  Völker  verschieden 
sind,  daß  man  a  priori  die  Einwirkung  des  Klimas,  des  Lichtes,  der 
Ernährung  und  Kleidung,  der  Beschäftigung,  der  Bewegung  zu  er- 
kennen vermuten  könnte,  und  jedenfalls  gewaltige  Verschiedenheiten 
zwischen  jenen  und  diesen  in  jeder  Beziehung  für  sehr  wahrschein- 
lich halten  könnte,  was  aber,  wie  wir  bald  erkennen  werden,  keines- 
wegs den  Tatsachen  entspricht. 

Beginnen  wir  zunächst  mit  dem  Werke  von  Franz  Hutter, 
welches  von  Forschern  wie  Wißmann  als  ein  ganz  ausgezeichnetes 
anerkannt  worden  ist,  so  hat  derselbe,  obwohl  er  auch  kein  Arzt, 
sondern  ein  Laie  ist,  eine  Menge  trefflicher  sozialer,  anthropologischer 
und  ethnographischer  Wahrnehmungen  in  den  Jahren  1891 — 1893  in 
jenen  Ländern  gemacht. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  bei  dem  Verkehr  mit  wildfremden 
Völkern  die  Heilkunde  immer  eine  große  Rolle  spielen  muß,  und 
daß  diese  gerade  in  Krankheiten  bei  dem  Fremden  Hilfe  und  Rettung 
suchen.  So  wurde  denn  auch  Hutter  bei  einer  großen  Ruhrepidemie 
im  Balidorf  im  Jahre  1892  Tag  für  Tag  zu  solchen  Kranken  geholt 
und  ist  von  Haus  zu  Haus  mit  Opium  und  Dowerschen  Pulvern,  mit 
Milch  und  Liebigs  Fleischextrakt  und  mit  Karbolsäure  zur  Desinfektion 
gewandert.  Ja,  noch  mehr,  eines  Tages  erschien  ein  hochschwangeres 
Weib  in  seiner  Hütte  mit  der  Bitte,  er  solle  ihr  bei  ihrer  Nieder- 
kunft helfen.  Darauf  hatte  er  sich  zu  Hause  nun  doch  nicht  vor- 
bereitet und  so  sagte  er  ihr  denn  auch,  daß  er  davon  nichts  ver- 
stünde. Aber  schon  seine  Gegenwart  beruhigte  jene  und  so  bat  sie 
ihn,  gleichwohl  in  seinem  Hause  bleiben  zu  dürfen.  Nachdem  ihr 
dieses  gestattet,  ging  die  Geschichte  vor  sich  unter  seiner  passiven 
Assistenz,  was,  wie  er  selbst  meinte,  wohl  das  beste  war. 

Ehe  wir  aber  feststellen,  was  Hutter  in  anthropologischer,  ethno- 
graphischer, ärztlicher  und  gynäkologischer  Beziehung  uns  Neues  ge- 
bracht hat  und  wir  seine  Beobachtungen  an  der  Negerin  mit  den- 
jenigen des  Grafen  Pfeil  an  der  Kanakin  vergleichen,  müssen  wir 
einige  geschichtliche  Daten  vorausschicken:  Am  14.  Juli  1884  hißte 
Dr.  Gustav  Nachtigal  als  Reichskommissär   tinter  dem  Donner  der 


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3]  Frauenleben  und  -leiden  am  Aqu^^tor  und  auf  dem  Polareise.  213 

Kanonen  der  »Möwe"*  am  Kamerunflusse  die  deutsche  Flagge  und 
stellte  damit  dieses  Gebiet  unter  Schutz  und  Oberhoheit  des  deutschen 
Kaisers.  Nachdem  der  Kaufmann  Robert  Flegel  1870,  1882—1885 
verschiedene  Reisen  auf  dem  Benue  gemacht  hatte,  wurden  von 
Dr.  Eugen  Zintgraff  1886,  1887—1889  und  1891—1893  drei  Expedi- 
tionen in  das  Nordhinterland  von  Kamerun  unternommen,  deren  erste 
1886  die  Inangriffnahme- der  Erforschungen  der  unbekannten  Hinter- 
lander NordlLameruns  begann,  deren  letzte  aber  durch  die  siegreichen 
Batut-  und  Bandeng-Aufstände  fast  vernichtet  wurde.  Infolgedessen 
schickte  das  Auswärtige  Amt  den  Hauptmann  Hutter  mit  Waffen  und 
Munition  zu  seiner  Hilfe.  Dieser  traf  im  Juni  auf  der  Barombistation 
mit  Dr.  Zintgraff  zusammen.  Hier  wurde  der  Plan  zu  einem  neuen 
Vordringen  nach  der  Station  Bali  bürg  entworfen,  von  der  Zintgraff 
vertrieben  worden  war.  Dieser  Zug  gelang  ihnen  und  sie  trafen  am 
25.  August  1891  wieder  in  Baliburg  ein,  so  daß  Hutter,  nach  Ein- 
richtung der  Station  von  Anfang  des  Jahres  1892  an,  seine  wissen- 
schaftlichen Beobachtungen  daselbst  anstellen  konnte.  Leider  aber 
wurden  diese  bereits  am  1.  Januar  1893  auf  Befehl  des  Auswärtigen 
Amtes  wieder  abgebrochen  und  der  Rückmarsch  zur  Küste  angetreten. 

In  dem  ganzen  Werk  von  Hutter  ist  nun  bloß  vom  Nordhinter- 
land von  Kamerun,  vom  Monga-Maloba  bis  zum  Benue  die  Rede. 

Hutter  macht  mit  Recht  darauf  aufmerksam,  daß  gründliche  und 
richtige  Einblicke  in  ethnographische,  kulturelle,  soziale  und  sprach- 
liche Verhältnisse  nur  durch  monate-  und  jahrelange  Arbeiten  auf 
einer  Station  zu  erwerben  seien.  Auf  dem  Marsche  käme  natur- 
gemäß nur  die  geographische  Forschung,  insbesondere  die  Wege- 
aufnahme zustande,  das  übrige  werde  höchstens  auf  Grund  von  Er- 
zählungen und  Ausfragen  der  Eingeborenen  ermittelt,  ohne  es  durch 
persönliche  Beobachtungen  und  Vergleichungen  auf  seinen  Wert  und 
Unwert  prüfen  zu  können.  Er  unterscheidet  weiter  die  hinter  der 
Küste  gelegene  Waldlandschaft  mit  ihren  hohen  Temperaturen^ 
ihrem  feuchten  Boden,  ihren  schlechten  Wegen  durch  den  Urwald 
und  sein  Dunkel  von  der  höher  gelegenen  Qraslandschaft,  wo  der 
Urwald  geendet  hat,  mannshohes  Gras,  ein  harter  Boden,  eine  dich- 
tere, höher  kultiviertere  und  gesündere  Bevölkerung  sich  befindet,  in 
deren  Mitte  die  Station  Baliburg  liegt.  Bei  Schilderung  derselben 
wendet  er  sich  zunächst  zur  Besprechung  und  Widerlegung  zahlreicher 
falscher  Vorstellungen  über  den  Körper  und  Geist  des  Negers, 
die  meist  in  der  Oberhebung  der  weißen  Rasse  ihren  bewußten  oder 
unbewußten  Grund  hätten.  Der  Neger  sei  durchaus  nicht  so  häßlich, 
wie  allgemein  angenommen  werde,  sein  Körper  sei  unverhüllt  und 
lasse    sich    mit    seinen    schönen   Formen    ebenso    wie    mit    seinen 

16* 


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214  F-  V.  Winckel,  [4 

brechen  leicht  fibersehen  undHutter  sagt,  er  stehe  nicht  an,  gerade- 
zu zu  behaupten:  der  vorurteilsfreie  Vergleich  eines  geistig  und  körper- 
lich gut  entwickelten  Vertreters  aus  dem  Volke  eines  weißen  (kauka- 
sischen) Stammes  und  eines  geistig  und  körperlich  gut  entwickelten 
Vertreters  eines  der  Hochlandstämme  im  Hinterland  von  Kamerun- 
falle nicht  zum  Nachteile  des  Letzteren  aus.  Vergleiche  er  aber 
minderwertige  Repräsentanten  der  beiden  Farben,  so  komme  er  zu 
demselben  Ergebnis,  wovon  er  nur  die  Kfistenbevölkerung,  die  Dualla, 
ausnehme. 

Je  weiter  Hutter  ins  Innere  vordrang,  um  so  mehr  wuchs  die  Be- 
völkerungsdichtigkeit —  auf  100  km  10000,  auf  den  nächsten  70km 
20000  —  und  auch  die  eigene,  nicht  dem  Weißen  abgelernte  und 
abgeschaute  Kultur. 

In  anthropologischer  Hinsicht  bemerkt  Hutter  als  auffallend 
die  geringe  Breite  der  mittleren  Körperpartie  um  Hüften 
und  Becken,  namentlich  beim  weiblichen  Geschlechte,  so  daß  man, 
hinter  einer  Anzahl  Neger  gehend,  auf  den  ersten  Blick  die  beiden 
Geschlechter  nicht  zu  unterscheiden  vermöge. 

Die  bei  den  Männern  oft  so  stark  entwickelte  Nackenmuskulatur 
sei  ebenso  wie  das  häufig  fibermäßige  Hervortreten  des  Unterleibs 
bei  Weibern  und  Kindern  und  die  damit  vielfach  verbundene  starke 
Krümmung  der  Wirbelsäule,  eine  Folge  frühzeitiger,  starker  Arbeit 
und  schweren  Tragens. 

Die  Ausdünstung  des  Waldlandnegers  sei  ihm,  wenn  derselbe 
nicht  schwitze,  nicht  aufgefallen;  wenn  er  aber  schwitze,  so  sei  der 
Geruch  ein  widerlich  süßlicher;  übrigens  sei  der  Schweiß  auch  bei 
den  Weißen  bekanntlich  nicht  wohlriechend;  ferner  sei  der  Neger  im 
Wald-  und  Grasland  sehr  reinlich:  wo  immer  nur  ein  Bächlein  riesle, 
ein  Tümpel  sich  finde,  da  bade  und  plätschere  groß  und  klein 
fleißig  und  mehrmals  des  Tages,  während  bei  uns  doch  die  Wasser- 
scheu in  breiten  Schichten  der  IBevölkerung  herrsche. 

Im  Gegensatz  zu  den  Negern  fand  Graf  Pfeil  bei  den  Kanaken 
völligen  Wassermangel,  da  auf  den  kleinen  Inseln  des  Bismarck- 
archipels  überhaupt  keine  Quellen  sind  und  die  Bewohner  das 
wenige  Wasser,  welches  sie  benötigen,  dadurch  erhalten,  daß  sie  in 
der  Nähe  des  Strandes  Löcher  in  den  Sand  graben,  in  die  langsam 
ein  wenig  Seewasser  einsickert.  Es  wird  dadurch  filtriert  und  seines 
Salzgehaltes  beraubt,  behält  aber  trotzdem  einen  so  unangenehmen 
Geschmack,  daß  es  für  Europäer  völlig  ungenießbar  ist.  Hieraus  er- 
klärt er  auch  die  große  Unsauberkeit  der  Kanakin  und  ihr  ge- 
ringes Reinigungsbedürfnis,  womit  übrigens  ihr  öfters  von  ihm  er- 
wähntes Baden  in  der  See  nicht  recht  übereinstimmt. 


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5]  Frauenleben  und  -leiden  am  Äquator  und  auf  dem  Polareise.  215 

Die  Ansiedelungen  im  westafrikanisclien  Urwalde,  wozu  natürlich 
aucli  die  Pflanzungen,  die  Farmen,  gerechnet  werden  müßten,  seien 
nach  Hu tt er  so  recht  deutlich  ein  Gegenbeweis  gegen  die  gedanken- 
lose Mär  von  der  Faulheit  des  Negers;  sie  widerlegten  aufs  gründ- 
lichste die  Redensart,  daß  in  den  Tropen  den  Leuten  alles  einfach  in 
den  Mund  wachse.  Die  Ansiedler  hätten  von  jeher  schwer  arbeiten 
müssen  und  müßten  es  auch  jetzt  noch,  zumal  mit  ihren  primitiven 
Messern  und  Äxten. 

Als  Beweis  der  Reinlichkeit  der  Neger  schildert  Hutter  auch  die 
Anlage  und  Benutzung  ihrer  Aborte.  An  verschiedenen  Stellen 
seien  lange  Schneusen  in  den  Wald  gehauen,  an  deren  Enden  lange 
Baumstämme  auf  dem  Boden  oder  auf  niedrigen  hölzernen  Gabeln 
lägen;  dahinter  befanden  sich  meist  tiefe  Gruben,  also  genau  wie  die 
Latrinenanlagen  bei  unseren  Truppenbiwakplätzen.  Aber  die  Art  und 
Weise  der  Benutzung  habe  ihn,  als  er  sie  das  erstemal  gesehen,  in 
einen  minutenlangen  Lachanfall  versetzt.  Sie  fände  nämlich  nicht  in 
der  bei  uns  gebräuchlichen  Art  statt,  sondern  Männlein  und  Weiblein 
durcheinander  stiegen  rücklings  vorsichtig  und  bedächtig  hinauf,  um 
dann,  glücklich  oben  angelangt,  die  Hockstellung  mit  tiefer  Kniebeuge 
einzunehmen.  Wie  Spatzen  auf  einem  Telegraphendraht  habe  ihn  so 
ein  Gruppenbild  angemutet.  Übrigens  sei  in  jedem  Graslandgehöfte 
ein  großer  Lehmtopf  eingegraben,  der,  mit  Gras  bedeckt,  von  Zeit 
zu  Zeit   in  den  Bach  oder  sonstwohin  entleert  werde. 

Als  auffallend  bezeichnet  Hutter  die  Scheu  des  Negers,  dem 
Weißen  beim  Essen  zuzusehen;  wolle  man  sich  von  der  oft  so  lästi- 
gen Neugier  der  Eingeborenen  befreien,  so  brauche  man  nur  An- 
stalten zum  Essen  zu  treffen:  sofort  ziehe  sich  alles  zurück.  Auch 
würden  nach  den  Mahlzeiten  sorgfaltig  die  Zähne  gestochert  und 
sehr  häufig  noch  des  weiteren  durch  Reiben  mit  Holzstückchen  ge- 
säubert. 

Die  Tätowierung  kommt  bei  den  Weibern  derBanyangs  ebenso 
wie  bei  den  Männern,  aber  ausnahmslos  in  ornamentaler  Art  vor; 
in  gleicherweise  fanden  sie  Graf  Pfeil  und  Meyer  und  Parkin- 
son bei  den  Kanakinnen.  Aber  während  die  Kanakin  ihre  Zähne 
meist  grundlich  schwärzt  und  es  besonders  modern  bei  derselben  ist, 
die  der  rechten  Seite  des  Ober-  und  der  linken  Seite  des  Unterkiefers 
zu  schwärzen  und  die  anderen  weiß  zu  lassen  und  umgekehrt,  fand 
Hutter  bei  den  Negerinnen  keine  Spur  von  Färbung,  dagegen  wurden 
ilinen  die  oberen  Mittelzähne  ausgebrochen  und  vielfach  die  beiden 
unteren  Mittelzähne  zugespitzt« 

Was  Nachtigal  von  den  Baghirmis  sagt,  hebt  Hutter  auch 
von  den  Balinegern  hervor:  daß  sie  psychisch  und  intellektuell  aus-> 


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216  P«  V.  WiiKjkel,  [Ö 

gezeichnet  veranlagt  seien  >  und  daß  kein  Gedanke  an  irgendwelclie 
körperliche  oder  geistige  Minderwertigkeit  oder  Vernachlässigung 
seitens  der  Natur  aufkommen  könne. 

Es  komme  bei  den  Negern  Sklaverei  vor,  aber  die  Form  der- 
selben sei  milde,  das  gehe  schon  aus  der  Sitte  hervor,  die  Sklaven 
in  eigenen  Dörfern  wohnen  zu  lassen.  Auch  hier  habe  die  Haus- 
sklaverei ein  patriarchalisches  Verhältnis  angenommen.  Man  dflrfe 
überhaupt  die  Bewohner  eines  Landes,  in  dem  die  Eltern  ihre  Kinder 
zum  Verkauf  als  Sklaven  anböten,  wie  Hutter  selbst  es  einige  Male 
im  Waldlande  erlebte,  nicht  mit  unserem  bisweilen  übertriebenen 
Gefühlsmaßstabe  messen.  Sklavenjagden  gäbe  es  nicht,  nur  Einzel- 
verkauf und  Wegfangen  einzelner,  sowie  Verwendung  kriegsgefange- 
ner  Männer  und  Weiber;  wobei  aber  zu  bemerken  sei,  daß  die  Kriege 
nicht  zu  diesem  Zweck  geführt  würden. 

Übrigens  herrsche  im  Kriege  Mordgier  und  Beutelust,  Weiber  und 
Vieh  würden  weggeschleppt  und  Hutter  beobachtete,  wie  auf  dem 
Marktplatze  eines  erstürmten  Dorfes  zwei  Balikrieger  sich  um  ein 
Weib  rauften,  der  eine  zog  sie  am  Arme,  der  andere  an  ihren  Beinen. 
Dabei  war  dem  einen  durch  einen  furchtbaren  Hieb  das  ganze  Ge- 
sicht zerfleischt,  der  andere  aber  hielt  sich  mit  der  einen  Hand  die 
aus  einer  breiten  Bauch  wunde  hervorquellenden  Eingeweide,  ihre 
Beute  aber  ließen  sie  nicht  fahren. 

Menschenfresser  sind  die  Balineger  nicht,  während  die  Kanaken 
in  der  Tat  noch  das  Menschenfleisch  mitsamt  ihren  Frauen  als  eine 
große  Delikatesse  betrachten. 

Die  tödlichste  Beleidigung,  die  der  Bali  seinem  Gegner  zufügen 
könne,  sei  die  Drohung,  daß  er  die  Geschlechtsteile  seiner  Eltern 
verstümmeln  werde,  offenbar  damit  letztere  unfähig  gemacht  würden, 
nochmals  einen  solchen  Menschen  hervorzubringen. 

Noch  eine  den  Negern  überhaupt  aufoktroyierte  Eigenschaft  be- 
spricht Hutter,  und  das  ist  der  ihm  angeblich  innewohnende  über- 
mäßige Geschlechtstrieb.  Bei  den  ihm  bekannt  gewordenen 
Stämmen  sei  derselbe  jedenfalls  nicht  vorhanden  gewesen.  Auch 
hierin  dürften  wir  uns  nicht  über  den  Schwarzen  höherstehend  dünken, 
jener  sei  eben,  wie  bei  uns  auch,  individuell  verschieden. 

Unter  den  vielen  Momenten,  die  dem  Europäer  in  den  Tropen 
besonders  gefährlich  seien,  deren  Opfer  meistens  dem  sogenannten 
tückischen  Klima  aufgebürdet  würden,  nennt  Hutter  besonders  den 
übermäßigen  Alkohol-  und  Geschlechtsgenuß.  Er  sei,  sagt  Hutter, 
kein  Mäßigkeitsvereinler  und  ein  guter  Bayer,  aber  gerade  das  schwere 
bayerische  Exportbier  halte  er  für  das  tödlichste  Gift  unter  den  Tropen. 


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7]  Frauenleben  und  -leiden  am  Äquator  und  auf  dem  Polareise.  217 

Ein  mäßiger  Genuß  von  Alkohol  sei  als  anregendes  Mittel  in  den 
sudliclien  Breiten  bisweilen  nützlich,  sogar  notwendig. 

Von  jeher  war  das  Klima  der  westafrilLanischen  Küste  berüchtigt 
und  gefürchtet  wegen  des  so  oft  tödlichen  Fiebers,  der  Malaria.  Die 
Gefahr  desselben,  meint  Hutter,  werde  allerdings  überschätzt,  da 
hauptsächlich  die  ungesunde  Lebensweise  des  Europäers  die  Schuld 
an  derselben  trage,  dann  aber  auch  die  Unvorsichtigl^eit,  längere  Zeit 
sich  ohne  KopfbedeclLung  den  senkrechten  Strahlen  der  Äquatorial- 
sonne auszusetzen.  —  Eine  ebenfalls  in  den  westafrikanischen  Tropen 
recht  häufig  vorkommende  Krankheit  ist  die  Ruhr,  die  stets  bedenk- 
lich und  ernst  zu  nehmen  sei,  auch  weil  sich  nicht  selten  ein  Fieber- 
anfall dazu  gesellt.  Sie  herrsche  auch  unter  den  Negern  nicht  selten 
epidemisch,  und  1802  fielen  ihr  im  Februar  und  März  vom  Bali- 
stamme unter  6000  Köpfen  nicht  weniger  als  600  Leute  zum  Opfer. 

In  dritter  Reihe  sind  nach  Zahl  und  Häufigkeit  ihres  Auftretens 
im  Innern  Kameruns  Hautkrankheiten  mannigfacher  Art,  fast  die  erste 
Stelle  einnehmend,  von  denen  Hutter  auch  oft  in  qualvoller  Weise 
heimgesucht  wurde.  Auch  bei  den  Kanaken  kommen  Malaria, 
Dysenterie,  Hautafl^ektionen,  wie  wir  durch  Graf  Pfeils  Werk  er- 
fahren, recht  häufig  vor. 

Wenn  Hutter  beobachtet  zu  haben  glaubte,  daß  bei  beiden  Ge- 
schlechtem der  Neger  Nabelbrüche  sich  häufig  fänden,  so  werden  sie 
ihm  wohl  wegen  der  mangelnden  Bekleidung  häufiger  aufgefallen 
sein,  da  der  Europäer  auch  recht  oft  daran  leidet,  sie  aber  verdeckt 
trägt 

Mißbildungen  des  ganzen  Körpers  wie  Höcker,  Verwachsungen 
u.  dgl.  sah  Hutter  beim  Neger  nie,  wohl  aber  öfter  Elephantiasis 
scroti  mehrmals  bis  zur  Größe  eines  Kürbis;  merkwürdig,  daß  er 
dieselbe  nicht  auch  an  den  weiblichen  Genitalien  beobachtete.  Einige- 
mal fand  er  bei  beiden  Geschlechtern  stets  zwischen  der  großen  und 
der  zweiten  Zehe  eine  sechste  Zehe,  aber  ohne  Nagelglied.  —  Krebs 
htnd  Hutter  einige  Male  im  Banyangland  bei  den  Frauen  an  den 
Brüsten,  bei  den  Männern  an  der  Nase.  Daß  Geschlechtskrankheiten 
existierten,  schloß  Hutter  aus  der  Anwendung  pflanzlicher  Mittel 
gegen  dieselben,  jedoch  sollen  sie  nur  leichteren  Grades  sein,  wahr- 
scheinlich Gonorrhöe,  wogegen  die  Banyangs  einen  Absud  der 
Blätter  des  Waldbaumes,  genannt  Ndakwa,  verwendeten. 

Gegen  Erkältung  wird  Pfeffer  gekaut  und  gegessen.  Gegen 
Unterleibsbeschwerden  wird  heißes  Palmöl  innerlich  und  äußerlich 
gebraucht  und  außerdem  werden  Klistiere  in  einer  nachher  zu  schil- 
dernden Weise  gesetzt. 

Bei  der  Ruhr  suchen  die  Neger  durch  Tanz,  Geschrei  undLärm- 


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218  F.  V.  Winckcl,  fg 

machen   mit   allen   möglichen   Instrumenten   die  ,,Krankheit  in  den 
Busch  zu  jagen"*, 

Palmwein,  Palmöl  und  Kolanuß  spielen  bei  verschiedenen  Krank- 
heiten eine  große  Rolle,  außerdem  aber  auch  Umschnürung  und  Ab- 
schnfirung  des  erkrankten  Gliedes;  dann  ferner  Bähungen  mit  dem 
Mist  der  Haustiere. 

Skarifikationen  werden  an  der  linken  Seite  gegen  Milzvergröße- 
rung ausgeführt  und  Schröpfen  mit  Aufsetzen  von  kleinen  Antilopen- 
hörnchen; die  Blutung  wird  durch  Auflegen  von  Mist  gestillt. 

Die  allgemein  übliche  Beschneidung  der  Knaben  wird  erst  im 
Alter  von  10—12  Jahren  vorgenommen  und  die  Wunde  gleichfalls  mit 
Mist  verbunden. 

Von  einer  Kaste  von  Ärzten  oder  Medizinmännern  existiert  bei 
den  Balis  nichts,  wohl  aber  eine  große  Menge  abergläubischer  Ge- 
bräuche, die  den  bei  uns  noch  oft  angewandten  Sympathiemitteln  in 
vieler  Beziehung  gleichen. 

Die  Hauptfeinde  des  Menschen  aus  der  Tierwelt  sind  nicht 
die  Leoparden,  Elefanten,  Krokodile  und  Schlangen,  sondern  die 
Ratten,  Ameisen,  Sandflöhe  und  Fliegen.  Namentlich  die  Sandfiöhe 
bohren  sich  heimtückisch  unter  die  Nägel  der  Zehen,  erzeugen  dort 
Geschwüre  und  machen  den  Menschen  oft  für  Wochen  vollkommen 
marschunfähig.  Sie  sollen,  ein  Gastgeschenk  Amerikas,  erst  Anfang 
der  siebziger  Jahre  durch  ein  Schiff  an  der  afrikanischen  Westküste 
eingeschleppt  worden  sein. 

Nach  dieser  mehr  allgemeinen  Einleitung  wenden  wir  uns  nun  zu 
den  uns  hier  am  meisten  interessierenden  Beobachtungen  Hutters 
an  der  Wald-  und  Graslandnegerin  und  begleiten  diese  von  der 
frühesten  Kindheit  bis  zum  Tode,  indem  wir  auch  hier  die  Angaben 
Hutters  mit  denen  des  Grafen  Pfeil  über  dieKanakin  vergleichen. 

Eine  Kindererziehung  in  unserem  Sinne  gibt  es  bei  der  Negerin 
nicht.  Die  meisten  Mütter  stillen  wohl  ihre  Kinder  selbst,  gewöhn- 
lich fast  ein  Jahr;  bei  den  Kanaken  werden  die  Kinder  gewöhnlich 
bis  sie  laufen  können  gestillt,  ja  manchmal,  wenn  keine  neue 
Schwangerschaft  eintritt,  bis  zum  vierten  Jahre.  Nicht  selten  wird 
neben  der  Mutterbrust  noch  andere  Nahrung  gegeben ;  so  beobachtete 
Hutter  einmal,  wie  eine  in  seiner  Nähe  hockende,  völlig  nackte 
Negerin  ihr  Kind  fütterte,  indem  sie  ihm  bald  die  Brust  reichte,  bald 
im  Munde  zerkauten  Mais  in  seinen  Mund  spuckte.  Diese  ekelhafte 
Sitte  des  Vorkauens  ist  nicht  bloß  bei  den  Negerinnen  beobachtet» 
sondern  kam  vor  nicht  langer  Zeit  auch  noch  bei  deutschen  Ammen 
öfters  vor.  Graf  Pfeil  sah  im  Bismarckarchipel,  wie  ein  Kanake  ein 
etwa  einjähriges  Kind  mit  großen  Mengen  junger  Kokosnuß  fütterte,  die 


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9]  Frauenleben  und  -leiden  am  Äquator  und  auf  dem  Polareise.  219 

es  gierig  verschlang;  das  Kind  verzehrte  fast  eine  ganze  Kokosnuß, 
ohne  die  mindeste  Verdauungsstörung  dadurch  zu  bekommen.  Bei 
Unterleibsbeschwerden  der  Kinder  werden  ihnen  von  der  Negerin 
Klistiere  gesetzt,  indem  sie  ein  ungefähr  20cm  langes,  hornähnliches 
Holzrohr  mit  dem  spitzen  Ende  in  den  After  einführen,  oben  Wasser 
hineinschütten  und  nun,  den  Mund  in  den  Trichter  pressend,  statt 
einer  Spritze  aus  Leibeskräften  das  Wasser  in  den  Darm  blasen; 
ebenso  werden  auch  Erwachsenen  Klistiere  gegeben. 

Zur  Arbeit  werden  die  Säuglinge,  die  noch  nicht  laufen  können, 
mitgenommen,  indem  sie  rittlings  auf  der  Hüfte  der  Mutter  oder  im  Rücken 
auf  einem  um  die  Stirn  derMutter  und  unter  dem  kleinen  Allerwertesten 
führenden  Bande  getragen,  sich  mit  ihren  Händchen  an  Arm,  Schul- 
tern und  Brust  anklammern.  Die  Kanakin  schleppt  ihre  kleinen 
Kinder  auch  in  reitender  Stellung  auf  ihrer  Hüfte  mit;  hier  fixiert 
durch  ein  in  Form  eines  Schals  um  sie  geschlagenes,  auf  der  ent- 
gegengesetzten Schulter  geknüpftes  Pandänusblatt.  Graf  Pfeil  be- 
merkt dabei,  daß,  solange  die  Kanakenkinder  klein  seien,  sie  mit- 
unter ganz  niedlich  wären,  obwohl  sie  den  Negerkindern  in  keiner 
Weise  zur  Seite  gestellt  werden  könnten. 

Bei  den  Balinegern  überwiegen  die  Langschädel;  doch  bezweifelt 
Hutter,  ob  dies  von  Geburt  aus  das  gewöhnliche  sei  und  nicht 
bloß  zustande  komme,  weil  es  bei  den  Negerinnen  allgemeine  Sitte  sei, 
den  kleinen  Kindern  durch  Streichen  und  steten  Druck  eine  lang- 
gestreckte, eiförmige  Kopfgestalt  zu  geben. 

Der  Eintritt  der  Pubertät  wird  bei  der  Negerin  festlich  be- 
gangen. Sie  muß  sich  um  diese  Zelt  in  ihre  Behausung  zurückziehen. 
Dann  wird  ihr  Menstrualblut  in  einer  Schale  aufgefangen,  die  ganze 
Verwandtschaft  sammelt  sich  im  Gehöft  der  glücklichen  Eltern  und 
besichtigt  in  Abwesenheit  des  jungen  Mädchens  die  herumgezeigten 
Beweise. 

Bei  der  Beschneidung  der  Knaben  findet  dagegen  keine  Fesdich- 
keit  statt,  ebensowenig  bei  der  Geburt  eines  Kindes  und  dessen  Namen- 
gebung. 

Die  Ehe  trägt  den  monogamischen  Charakter;  daher  gibt  es  nur 
eine  unter  gewissen  Zeremonien  geheiratete  Frau  als  legitime  Gattin. 
Die  Ehe  zwischen  Blutsverwandten  auf-  und  absteigender  Linie  und 
zwischen  Geschwistern  ist  verboten,  gleiche  Bestimmungen  gelten 
nach  Graf  Pfeil  auch  bei  den  Kanaken.  Dem  Manne  der  Negerin 
ist  der  Verkehr  mit  Sklavinnen  gestattet,  in  der  Zeit,  während  sich 
seine  Frau  der  Kohabitation  enthält,  z.  B.  während  der  Regel,  während 
eines  Teils  der  Schwangerschaft  und  solange  sie  ihr  Kind  stillt. 
Nicht  gestattet  ist  dem  Manne  der  Verkehr  mit  andern  verheirateten 


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120  F-  V.  Winckcl,  [10 

Frauen  oder  anderen  als  Sklavenmädchen.  Während  aber  beim 
Weibe  der  Ehebruch  schwer,  oft  mit  dem  Tode  bestraft  wird,  muß 
der  Verfuhrer  nur  eine  schwere  Buße  zahlen.  Das  Verhalten  der  Kanaken 
ihren  Frauen  gegenüber  hat  Graf  Pfeil  nicht  ganz  klar  dargestellt. 
Denn  wenn  er  sagt:  Ehescheidungen  sind  bei  ihnen  nicht  häufig,  Ehe- 
bruch wird  als  Unart  betrachtet  und  durch  eine  Geldbuße  bestraft  — 
so  steht  damit  in  Widerspruch  seine  spätere  Angabe:  Eheliche  Un- 
treue kommt  im  allgemeinen  selten  vor,  weil  sie  am  Weibe  mit  Todes- 
strafe geahndet  werden  darf  und  die  noch  spätere:  Die  Weiber  in 
Neumecklenburg  hätten  das  Recht,  ihre  Gunst  vor  und  nach  der 
Heirat  beliebig  zu  verschenken,  in  grellem  Widerspruch.  Viel- 
weiberei ist  nach  Graf  Pfeil  bei  den  Kanaken  durchaus  die  Regel,  doch 
findet  man  selten  mehr  als  zwei  und  kaum  je  mehr  als  sechs  Weiber 
im  Besitz  eines  Mannes.  Die  Weiber  selbst  sind  durchaus  nicht 
gegen,  sondern  für  dieselbe,  weil  ihnen  dadurch  Teilnehmerinnen 
ihrer  Arbeit  in  Garten  und  Feld  erwachsen.  Wie  tief  im  Obrigen 
die  Kanakin  unter  der  Negerin  steht,  geht  aus  der  Angabe  des  Grafen 
Pfeil  hervor,  daß  es  die  Miteinwohner  eines  Hauses  gar  nicht  als 
lästig  empfanden,  Zeugen  des  geschlechtlichen  Umganges  von  Ehe- 
paaren zu  sein,  während  Hutter  mehrfach  betont,  daß  der  Geschlechts- 
akt von  den  Negern  nie  in  der  Öffentlichkeit  vollzogen  werde. 

Die  mosaische  Forderung  der  Unberfihrtheit  des  Weibes  kennt 
der  Wald-  und  Graslandneger  nicht;  er  bevorzugt  bei  der  Wahl  seiner 
Gattin  sogar  ein  Mädchen,  das  bereits  Kinder  in  die  Ehe  mitbringt, 
und  urteilt  von  einer  Maid  ohne  solche  Aussteuer  ,,Die  scheine  nicht 
liebenswert  und  fruchtbar  zu  sein,  sonst  hätte  sie  wohl  schon  einen 
Liebhaber  gefunden^  ganz  wie  die  oberbayrischen  Bauern. 

Hutter  fand  bei  den  Graslandnegerinnen,  im  Gegensatz  zu  dem 
federnden,  elastischen  Gang  der  Männer,  einen  steifen  unschönen 
Gang;  dagegen  die  Gelenkigkeit  der  Füße  und  namentlich  der  Zehen, 
welche  geradezu  als  Finger  benutzt  würden,  um  Gegenstände  vom 
Boden  aufzuheben,  sehr  überraschend,  ebenso  wie  die  schlanken 
Hüften  an  den  meist  schön  gebauten  Körpern  der  Weihen 

Trotz  dieser  schmalen  Hüften  solle  das  Gebären  leicht  und  gut 
vonstatten  gehen.  Ober  das  Verhalten  bei  der  Niederkunft  teilt 
Hutter  mit,  daß  bei  derselben  dem  eignen  Manne  der  Zutritt  zu  der 
Hütte  der  Kreißenden  untersagt  sei.  In  dem  einen,  oben  schon  er- 
wähnten Falle,  den  Hutter  in  seiner  Wohnung  beobachtete,  war  die 
Geburt  in  etwas  mehr  als  drei  Stunden  in  hocke ndör  Stellung  be- 
endet. Kind  und  Nachgeburt  gingen  gut  ab.  Die  Nabelschnur  wurde 
von  der  Kreißenden  selbst,  etwa  25  cm  vom  Kinde  entfernt,  mit  den 
Nägeln  abgezwickt  und   durchgerissen,  eine  Unterbindung  derselben 


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n]  Frauenleben  und  -leiden  am  Äquator  und  auf  dem  Polareise.  221 

fand  nicht  statt.  Gegen  Abend  kehrte  die  Mutter  mit  ihrem  Neuge- 
borenen wieder  ins  Dorf  zurück.  —  Auch  hat  Hutter  nicht  selten 
gehört,  daß  Weiber,  die  in  den  Farmen  von  den  Geburtswehen  über«^ 
rascht  werden,  ganz  allein  gebären  und  an  dem  gleichen  Tage  mit  dem 
Kinde  den  oft  stundenlangen  Rückweg  nach  Hause  antraten,  eine  Be- 
obachtung, die  man  auch  bei  höher  kuhivierten  Frauen,  den  Euro- 
päerinnen, wenn  sie  auf  einem  Wege,  einer  Fahrt  oder  bei  der  Arbeit 
auf  dem  Felde  von  der  Geburt  überrascht  werden,  häufig  machen 
kann.  Die  hockende  Stellung  und  das  Abreißen  der  Nabelschnur 
soll  bei  den  Negerinnen  ganz  allgemein  gebräuchlich  sein.  —  Anders 
ist  das  Verhalten  der  Kanakin  bei  ihrer  Entbindung:  Fühlt  dieselbe 
den  Tag  ihrer  Entbindung  herannahen,  so  begibt  sie  sich  an  den 
Meeresstrand  und  wirft  sich,  belastet  mit  einem  Stein,  den  sie  in  beiden 
Händen  trägt,  in  die  Brandungswelle.  Diese  ist  mitunter  so  stark, 
daß  ein  Entgegenstemmen  und  Aufrechtstehen  unmöglich  ist;  das  Weib 
wird  niedergeworfen,  steht  aber  mutig  auf,  um  sich  von  neuem  der 
Brandung  entgegenzuwerfen.  Natürlich  ist  es  unmöglich,  dieses  Spiel 
lange  auszuhalten,  ein-  bis  zweimalige  Wiederholung  genügt.  Sie 
glauben  sich  damit  eine  leichte  Entbindung  und  dem  Kinde  Wohl- 
befinden gesichert  zu  haben.  Darauf  zieht  sich  die  Kreißende  in  die 
Hütte  zurück,  wohin  ein  bis  zwei  Freundinnen  sie  begleiten;  während 
der  Niederkunft  nimmt  sie  eine  kniende  Stellung  ein.  Wie,  nach 
Hutters  Angaben,  Mißbildungen  des  Körpers  weder  im  Wald-  noch 
in  Grasland  bei  den  Negern  gefunden  werden,  offenbar  weil  daselbst 
mißgebildete  Kinder  gleich  nach  der  Geburt  getötet  werden, 
so  behauptet  auch  Graf  Pfeil  von  den  Kanakinnen,  daß,  da  man  niemals 
mißgestaltete  Kinder  bei  ihnen  zu  sehen  bekomme,  dies  auf  die  von 
den  Müttern  oft  ausgeführte  heimliche  Tötung  des  Kindes  zurück- 
zuführen sei,  indem  sie  durch  Zuhatten  seines  Mundes  dasselbe  er- 
stickten, oder  so  lange  auf  sein  Herz  drückten,  bis  es  zu  schlagen 
aufhöre. 

Auch  in  bezug  auf  die  Fruchtbarkeit  scheinen  sich  die  Kanakin 
und  Negerin  sehr  nahe  zu  stehen.  Vier  bis  fünf  Kinder  seien  bei 
der  Kanakin  schon  sehr  viel,  drei  sei  die  gewöhnliche  Zahl  —  nach 
Pfeil;  und  Hutter  bemerkt  ebenfalls,  daß  die  Fruchtbarkeit  der 
schwarzen  Rasse  nicht  so  bedeutend  sei,  als  man  gewöhnlich  annehme. 
Hutter  fond  als  Durchschnittsstärke  der  Familie  im  engeren  Sinne  im 
Waldland  5 — 6  Köpfe,  2  Eltern  und  3 — 4  Kinder,  und  ebenso  im  Gras- 
land, wo  die  Bevölkerung  ihm  viel  dichter  und  kultivierter  erschien; 
der  Unterschied  zwischen  diesen  beiden  Völkern  und  den  viel  höher 
kultivierten  in  bezug  auf  diesen  Punkt  ist  also  außerordentlich  gering. 

Das  Verhalten  der  Brüste  der  Negerin   schildert  Hutter  wie 


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222  P-  V.  Winckcl,  [12 

Folgt:  Im  eigentlichen  Grasland  sitzen  die  Brüste  der  Weiber  ge- 
wöhnlich auf  schmaler  Grundfläche  auf,  ragen  weit  hervor  und  endigen 
in  zapfenförmiger  Brustwarze.  Man  kann  sie  also  im  allgemeinen 
als  stark,  wenigstens  als  voll  bezeichnen,  die  Form  ist  häufig  konisch. 
Rasch  senken  sie  sich  aber  und  werden  häufig  bald  hängend;  bei 
jungen  Mädchen  aber  sind  sie  fast  stets  straff  und  fest  und  man  be- 
kommt nicht  selten  bei  solchen  klassisch  schöne,  herb  jungfräuliche 
Formen  zu  sehen.  Bei  den  Bali-njong  sah  Hutter  ein  Weib,  dessen 
rechte  Brust  tadellos  geformt  war,  während  die  linke  ganz  schlapp 
weit  herabhing.  Aber  die  hängende  Form  in  der  Ausdehnung,  wie  sie 
im  Waldlande  häufig  zu  sehen,  beobachtete  Hutter  bei  den  sehnigeren 
und  mageren  Graslandnegerinnen  nie«  Bei  einer  Waldlandnegerin 
fand  er  beide  Brüste  so  schlaff,  daO  die  linke  bis  zur  Scham,  die 
rechte  bis  über  den  Nabel  herabhing,  jede  Brust  eine  lange  Haut- 
falte und  unten  daran  kugelförmig  noch  aufgetrieben  mit  auffallend 
langer  Warze.  Bei  dem  frühzeitigen  Herabsinken  der  Brüste  ist 
offenbar  der  Mangel  der  Kleidung  und  wohl  auch  das  lange  Stillen 
der  Kinder  schuld.  In  Mabesse  sah  Hutter  ein  Weib  mit  ganz  zer- 
fressenen Brüsten:  die  eine  bot  eine  große  eiternde  Fläche  dar,  die 
andere  hing  „in  Fetzen '^  herunter;  ob  hier  Karzinom  oder  Mastitis 
vorlag,  ist  aus  der  Beschreibung  nicht  mit  Sicherheit  zu  entnehmen. 

Wie  in  Deutschland  zur  Zeit  der  Minnesänger,  so  herrscht  bei  den 
Negern  jener  Gegenden  noch  jetzt  eine  Sitte,  wonach  der  Häuptling 
eines  Dorfes  für  den  angekommenen  Weißen  außer  Ziegen,  Schafen, 
Schweinen,  Hühnern,  Palmwein  und  Durrabier  auch  junge  Frauen 
und  Mädchen  seines  Haushaltes  als  lebende  Gastgeschenke  sendet. 
Hierin  haben  die  Waldstämme  ein  ziemlich  weites  Gewissen,  indem 
das  Oberhaupt  der  Familie  oder  der  Ehemann  nicht  eben  selten  aus 
den  Reizen  seiner  weiblichen  Angehörigen  durch  Anbieten  derselben 
zur  Benutzung  Kapital  zu  schlagen  sucht  und  auch  im  Graslande  ist 
die  Sitte  allgemein  üblich,  daß  der  Häuptling  aus  seinem  Haushalte 
junge  Weiber,  die  er  als  seine  Töchter  bezeichnet,  was  übrigens  nicht 
wörtlich  zu  nehmen  ist,  zur  geschlechtlichen  Benutzung  übersendet. 

Wie  wenig  die  Kleidung  der  Negerin  als  Verhüllung  betrachtet 
wird,  erfuhren  Hutter  undZintgraff  in  drolliger  Weise.  Sie  hatten 
nämlich  zur  würdigen  Feier  eines  Tanzes  zwei  Stationsfrauen  ein  Paar 
weiße,  lange  Frauenhemden  geschenkt;  nun  stolzierten  dieselben  damit 
an  und  als  sie  sich  zu  jener  Füßen  zum  Palmweineinschenken  nieder- 
kauerten, hoben  sie  in  gänzlicher  Verkennung  ihres  Zweckes  die 
Hemden  hoch  bis  über  die  Hüften,  damit  sie  ja  nicht  schmutzig  würden. 
Die  jungen  Mädchen  und  Frauen  gehen  bis  nach  der  Geburt  des  ersten 
Kindes   vollkommen   nackt;  höchstens  daß  sie  bisweilen  eine  dünne 


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13]  Frauenleben  und  -leiden  am  Äquator  und  auf  dem  Polareise.  223 

Schnur  um  die  Hüften  tragen.  Nachher  haben  sie  an  dieser  Schnur 
handbreite  kleine  SchQrzchen  vorn  und  rückwärts.  An  Stelle  der  Be- 
kleidung ist  das  fast  ausnahmslos  geübte  Einreiben  des  Korpers  mit 
Rotholz  gebräuchlich.  Ein  Schamgefühl  ist  den  Negern  nicht  ange- 
boren, sondern  wird  ihnen  höchstens  anerzogen.  Gibt  man  den  Leuten 
Zeug  zur  Verhüllung  der  Scham ,  so  verstehen  sie  nicht  warum:  der 
oder  die  eine  hält  es  sich  an  den  Kopf,  sie  drapieren  es  anderswo, 
weil  es  ihnen  da  besser  gefalle,  oder  lassen  es  vielleicht  am  bezeich- 
neten Platze,  nur  weil  es  dem  Geschmack  zufällig  entspricht. 

Worin  besteht  nun  die  tägliche  Beschäftigung  der  Weiber? 
Hutter  spricht  von  einer  Arbeitsteilung  zwischen  den  beiden  Ge- 
schlechtern. Die  Feldarbeit  obliege  fast  ausschließlich  den  Weibern; 
beim  Hausbau  bestände  ihre  Arbeit  lediglich  im  Wasserherbeischleppen. 
Dagegen  werde  das  Korbflechten,  die  Anfertigung  von  Taschen,  Stricken 
und  Mützen,  das  Spinnen  des  Fadens  mit  der  Spindel  nur  von  den 
Männern  besorgt,  während  die  älteren  Weiber  die  Anfertigung  stärkerer 
Fäden  ausführten.  Das  Herbeischleppen  der  Lebensmittel  aus  den 
Farmen,  sowie  von  Feuerholz,  die  Zubereitung  der  Speisen  und  die 
Kinderpflege  sei  selbstverständlich  auch  Sache  der  Weiber.  Das  Fleisch 
werde  in  Wasser  gesotten,  oder  in  Palmöl  gekocht,  ebenso  die  Pfianzen- 
nahrung.  Vielfach  würden  aus  den  Knollenfrüchten  allein,  oder  auch 
mit  Mais,  Maismehl,  Erdnüssen  und  Bananenmehl  zusammengeknetet 
Klöße  geformt,  die  ihre  rundliche  Form  durch  Reiben  an  den 
Bäuchen  der  die  Küche  besorgenden  Weiber  erhielten  und  in 
Palmöl  gesotten  würden.  Aus  der  heißen  Öltunke  würden  sie  dann 
mit  gespreizten  Fingern  ganz  oder  in  Stückchen,  die  noch  rasch  mund- 
gerecht geknetet  würden,  herausgefischt  —  jedenfalls  eine  recht  appe- 
titliche Bereitung. 

Bei  den  Negern  nehmen  beide  Geschlechter  ihre  Mahlzeiten  in 
hockender  Stellung  gemeinsam  ein,  bei  den  Kanaken  speisen  dieselben 
nicht  gemeinschafdich,  sondern  die  Männer  zuerst  und  die  Frauen  be- 
kommen nachher  den  Rest. 

Im  Behandeln  der  Haare  sind  Negerin  und  Kanakin  wieder  bei- 
nahe einander  gleich.  Bei  der  Kanakin  werden  dieselben  entweder 
künstlich  gekräuselt,  oder  auch  ganz  abgeschabt,  so  daß  der  Kopf  kahl 
erscheint;  an  den  Genitalien  werden  die  Schamhaare  meist  von  den 
Mädchen  und  Frauen  selbst  entfernt.  Die  Banyangweiber  gefallen 
sich  in  den  tollsten  Haartrachten.  Wollte  man,  sagt  Hutter,  sie  alle 
beschreiben,  so  gäbe  es  ein  eigenes  Buch  und  ein  noch  dickeres  mit 
2^ichnungen  derselben,  denn  mit  Worten  könne  man  diese  Figuren 
nicht  wiedergeben  —  so  im  Waldlande.  Bei  den  Balis  rasieren  sich 
die  Weiber  den  Kopf  meist  ganz  kahl,  oder  es  bleibt  in  der  Mitte  ein 


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224  F.  V.  Winckel,  [14 

von  der  Stirn  nach  rückwärts  in  den  Nacken  sich  ziehender  länglicher 
Haarwulst.  Zur  Zeit  nach  der  Regel  und  nach  Geburten  rasieren 
sich  die  Weiber  die  Schamhaare,  auch  die  Augenbrauen  und  die 
Haare  in  den  Achselhöhlen;  die  abgetragenen  Haare  werden  aber 
nicht  weggeworfen,  sondern  in  einem  Blatte  verbrannt.  Das  Rasieren 
selbst  üben  meist  alte  Frauen  mit  kleinen  Messern  aus,  indem  sie 
zuerst  die  betreffende  Körperstelle  mit  Rotholz  einreiben,  mit  Wasser 
befeuchten,  dann  die  kleinen  Messerchen  mit  ihren  Schnittflächen  an- 
einanderreihend schärfen  und  nun  die  Haare  abschaben.  —  Beim 
Tragen  von  Lasten  werden  die  schweren  Körbe  meist  auf  dem 
Kopf  getragen:  zur  Verminderung  des  Druckes  legen  sich  die  Weiber 
kranzförmig  aus  Blättern  geflochtene  Polster  zwischen  Kopf  und  Korb, 
ganz  wie  bei  uns  die  Bäuerinnen  einen  flachen  Kranz  aus  Zeug  auf- 
legen. 

Dem  jüngsten  wie  dem  ältesten  Weibe  ein  schier  unzertrennlicher 
Begleiter  ist  die  Tabakspfeife.  Hutter  sagt,  er  habe  nicht  so  leicht 
ununterbrochene  Raucher  gesehen,  wie  im  Hinterlande  von  Nord- 
kamerun. Alles  rauche  daselbst  vom  Kinde  bis  zum  Großvater  und 
zur  Großmutter.  Das  Schnupfen  komme  dagegen  im  Hochlande  nur 
in  Bamesson  noch  häufig  vor,  sonst  weit  weniger  im  Waldlande. 
Auch  bei  den  Kanaken  rauchen  beide  Geschlechter  aus  kurzen  tönernen 
Pfeifen  leidenschaftlich  und  beginnen  schon  in  sehr  frühen  Jahren. 
Graf  Pfeil  sah,  wie  ein  Kanake  einem  Säugling  sogar  die  Pfeife 
zwischen  die  Lippen  steckte.  Schnupfen  und  Kauen  von  Tabak  will 
er  dagegen  niemals  beobachtet  haben. 

Eine  Hauptfreude  ist  der  Negerin  und  Kanakin  der  Tanz.  Bei 
den  Kanaken  tanzen  Männer  und  Knaben  allein,  die  Weiber  aber  mit 
den  Mädchen  zusammen.  Die  Negerin  tanzt  viel  graziöser  als  die 
Kanakin,  zum  Teil  aber  auch  sehr  ausgelassen.  Hutter  beschreibt 
z.B.  folgenden  Tanz,  den  Nachtigal  auch  bei  den  Baghirmis  beob- 
achtete: Zwei  Tänzerinnen  wirbeln,  sich  fortgesetzt  drehend  und  mit 
den  Händen  über  dem  Kopfe  zusammenklatschend,  aufeinander  los  und 
der  Gipfel  der  Kunst  besteht  darin,  in  der  letzten  Drehung  mit  den 
Gesäßen  aufeinanderzuprallen.  Glückt  der  Zusammenstoß,  so  federn 
die  elastischen  Puffer  oft  derart,  daß  das  Gleichgewicht  oft  bedenklich 
verloren  geht,  natürlich  zum  größten  Gaudium  der  Zuschauer. 

Grobsinnliches  Gepräge  zeigen  zwei  weitere  Tänze.  Die  Weiber 
stehen  in  einer  Reihe  und  wiegen  sich  tanzend  auf  der  Stelle.  Eine 
verläßt  ihren  Platz  und  kauert  sich  der  Reihe  nach  vor  jeder  der 
andern  nieder,  die  im  Tanz  fortfahren,  während  die  Kauernde  sie  mit 
der  Hand  über  den  Bauch  und  namentlich  an  den  Genitalien  streichelt. 
Ab  und  zu  neigt  sich  die  also  Geliebkoste  mit  dem  Oberkörper  nieder 


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15]  Frauenleben  und  -leiden  am  Äquator  und  auf  dem  Polareise.  225 

und  reicht  der  Huldigenden  die  Brust,  woran  diese  saugt.  Derselbe 
Vorgang  wird  von  jeder  einzelnen  mit  allen  wiederholt. 

Der  zweite  Tanz  ist  so:  Aus  dem  Halbkreis  tritt  eins  der  Weiber 
hervor  und  wiegt  sich  ein  Bein  vorwärtsgestellt  auf  die  Hüften  ge- 
stemmt im  gleichen  Takt  wie  die  übrigen.  Eine  zweite  folgt  und  Brust 
an  Brust  mit  der  Solotänzerin  schiebt  sie  eins  ihrer  Beine  zwischen 
die  der  letzteren.  Zusammen  ahmen  sie  nun  die  Bewegungen  der 
Kohabitation  nach.  Der  übrige  Tanzkreis  begleitet  diese  Bewegungen 
mit  stets  rascher  werdendem  Gesang,  zuletzt  wird  von  allen  das  Wort 
otchakeni  ausgestoßen,  beide  Tänzerinnen  treten  zurück  und  werden 
durch  ein  anderes  Paar  abgelöst.  Übrigens  tanzen  auch  bei  den  großen 
Festen  der  Neger  beide  Geschlechter  stets  getrennt. 

Bei  ihren  Tänzen  singen  die  Frauen  bald  laut,  bald  leise,  in  der 
Regel  obszöne  Lieder,  zum  Teil  eintönig,  hier  und  da  aber  mit  einem 
gewissen  Wohlklang  und  Rhythmus. 

Die  Negerinnen  berauschen  sich  zuweilen  im  Palmwein,  die 
Kanakin  soll  sich  durch  übermäßiges  Betelkauen  öfter  einen  tiefen 
Rausch  verschaffen. 

Endlich  ist  der  Negerin  wie  der  Kanakin  auch  ein  bestimmtes 
Verhalten  beim  Tode  ihres  Mannes  vorgeschrieben.  Beginnt 
nämlich  bei  einem  Neger  der  Todeskampf,  dann  rennen  die  männ- 
lichen Angehörigen  bald  vor  das  Haus  hinaus,  bald  umtanzen  sie  das 
Sterbelager,  schreien  und  spektakeln  mit  allen  möglichen  Musik- 
instrumenten, besonders  mit  der  Rassel  —  10—20  hohlen  halbrunden 
an  einem  Ring  befestigten  Eisenstäbchen  —  um  die  bösen  Geister  zu 
verscheuchen;  dabei  beginnen  die  Weiber  in  der  Hütte  um  das  Lager 
kauernd  Klagegesänge  in  eigenartigen  bald  einförmigen,  bald  gellenden 
Tonen.  Diese  Totenklagen  werden  auch  nach  dem  Tode  mit  Unter- 
brechungen fortgesetzt.  Der  Leichnam  wird  in  Stoffe  bänderartig 
eingehüllt,  die  Betsetzung  erfolgt  in  ausgestreckter  Lage  und  stets  in 
dem  zu  Lebzeiten  bewohnten  Hause.  In  Bamesson  wird  die  Leiche 
meist  unter  der  Schwelle  eingegraben.  Viel  härter  sind  noch  die  Vor- 
schriften für  die  Kanakin:  Ehe  der  Leichnam  ihres  Mannes  in  ein 
Kanoe  gelegt  wird,  verbleibt  er  mehrere  Tage  in  dem  bisherigen 
Wohnhause.  Hier  haben  ihm  seine  Frauen  Gesellschaft  zu  leisten  und 
niemand  darf  währenddessen  das  Haus  betreten.  Den  Frauen  wird 
ihre  Nahrung  hineingereicht.  Nur  die  hervorragenden  reichen  Kanaken 
werden  in  offenen  Kanoes  der  Verwesung  ausgesetzt,  die  weniger  be- 
deutenden werden  in  ihren  eigenen  Häusern  begraben.  Der  Erdboden 
wird  aufgewühlt  und  der  Körper  langausgestreckt  hineingelegt.  Die 
Frauen  müssen  nun  das  Haus  weiter  bewohnen  und  ihr  Hauswesen 
auf  dem  frischen  Grabe  des  Verstorbenen  weiterführen.   Die  Weiber 


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226  F.  V.  Winckel,  [10 

ßrben  bei  jedem  TrauerFalle  ihre  Gesichter  schwarz,  die  Männer  nur, 
wenn  der  Verstorbene  ein  Mann  war.  —  Übrigens  kommen  auch  Ver- 
brennungen von  Leichen  in  Neumecklenburg  vor  und  Ferner  Versen* 
kungen  von  Leichen  in  die  See,  indem  dieselben  mit  einer  aus  Kokos- 
palmenblättem  geflochtenen  Matte  umhaut  und  mit  einem  Steine 
beschwert  werden.  Frauen  sollen  daselbst  stets  ihre  letzte  Ruhestätte 
in  dieser  Weise  finden. 

So  ist  die  Stellung  der  Frau  bei  den  Kanaken  denn  doch  immer 
viel  niedriger  wie  bei  den  Negern:  die  Kanakin  kann  vom  Mann  ver- 
schenkt, verkauft,  getötet  werden,  nur  ihre  materielle  Stellung  ist  in- 
sofern  als  sie  Alleinbesitzerin  alles  des,  von  ihr  in  die  Ehe  gebrachten 
Heiratsgutes  bleibt  und  alles  dessen,  was  sie  sich  während  der  Ehe 
zu  erwerben  vermag,  besser  wie  bei  der  Negerin  ja  sogar  bei  der 
Europäerin.  Durch  diese  ihre  materielle  Unabhängigkeit  vom  Manne 
und  weil  sie  in  der  Ehe  der  fleißigere,  mithin  wohlhabendere  Teil  ist, 
ist  das  Entwürdigende  ihrer  sonstigen  Stellung  mehr  ausgeglichen  und 
sie  steht  doch  dem  anderen  Geschlecht  ziemlich  selbständig  gegenüber. 

Auch  die  Negerin  ist  physisch  und  sozial  tiefer  stehend,  als  ihr 
Mann,  für  den  sie  zu  arbeiten  und  dem  sie  Kinder  zu  gebären  hat; 
aber  drückend  empfindet  sie  diese  Stellung  nicht.  Ältere  Neger, 
namentlich  Häuptlinge,  erweisen  ihren  alten  Müttern  oft  eine  geradezu 
liebevolle  Verehrung.  Solche  Matronen  sind  dann  bei  den  geheimsten 
Palavern  zugegen  und  haben  geradezu  Sitz  und  Stimme  im  Rat  und 
nicht  zu  unterschätzenden  EinfiuO.  Wenn  diese  Vertrauungsstellung 
die  Hauptfrau  auch  selten  einnimmt,  so  kommt  es  doch  auch  vor.  — 
Jedenfalls  ist  das  Weib  dem  Neger  zum  mindesten  ein  wertvolles 
Eigentum  und  die  Anwesenheit  der  Weiber  in  einem  Dorfe  gibt  dem 
Weißen  das  beruhigende  Gefühl,  daß  augenblicklich  wenigstens  keine 
Feindseligkeit  geplant  ist. 

Man  darf  dabei  aber  auch  nicht  vergessen,  daß  die  Kanaken  noch 
auf  der  allerniedrigsten  Kulturstufe  stehen  und  heute  noch  in  der 
Steinzeit  leben,  d.  h.  ihre  WafPen  und  Geräte  aus  Muscheln  und  Steinen 
herstellen  und  weder  Bronze  noch  Eisen  kennen,  während  der  Neger 
den  Speer  und  das  Gewehr  führt,  Hämmer  und  Äxte  und  Messer  kennt 
und  Eisen  und  Messing. 

Wenn  nun  auch  weder  von  Dr.  Hutter,  noch  vom  Grafen  Pfeil 
in  den  von  ihnen  durchforschten  Gegenden  besondere  sexuelle  Ano- 
malien wie  Elephantiasis  der  weiblichen  Genitalien,  Lageveränderungen 
derselben,  ferner  namentlich  die  Existenz  von  größeren  Geschwülsten 
wie  Eierstocksgewächse  und  Tumoren  des  Uterus  gesehen  oder  erwähnt 
worden  sind,  so  ist  es  darum  doch  nicht  wahrscheinlich,  daß  dieselben 
bei  jenen  Völkerschaften  überhaupt  nicht  oder  auch  nur  viel  seltener. 


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17]  Frauenleben  und  -leiden  am  Äquator  und  auf  dem  Polareise.  227 

wie  bei  den  höher  kultivierten  Völkern  vorkämen.   Es  ist  )a  allerdings 
z.  B.  vom  Gebärmutterkrebs  längere  Zeit  behauptet  worden,  daß  er 
bei  den  Negerinnen  viel  seltener,  wie  bei  der  weißen  Frau  vorkäme, 
aber  mit  Unrecht,  denn  sowohl  durch  Middleton  Michel  und  J.  S. 
Billings  ist  schon  vor  IV2  Jahrzehnten  festgestellt  worden,  daß  die 
Mortalität  an   Krebs   bei    den  Negerinnen  ebensogroß   wie  bei   den 
Weißen  ist  und  mit  den  übrigen  genannten  Anomalien  wird  es  wohl 
ebenso  sein.    Allerdings  gibt  es  eine  ausgezeichnete  ärztliche  Schrift 
über  die  akuten  Infektionskrankheiten  bei  den  Negern  der  äquatorialen 
Küsten  Westafrikas  von  Dr.  A.  Plehn  (Virchows  Archiv  Bd.  174  Splh.). 
Diese  stützt  sich  auf  Beobachtungen  an  15000  Eingeborenen  aus  Kamerun 
und  seiner  Umgebung  und  hat  festgestellt,  daß  die  Neger  der  Bantu- 
familien  verschiedenen  Krankheitseinfiüssen   sich   ziemlich   überein- 
stimmend und  vielfach  anders,  als  die  kaukasische  und  gelbe  Rasse 
(Chinesen,  Malayen)  verhalten.    So  fehlen  bei  jenen  z.  B.  Tuber- 
kulose, Skrofulöse  und  Rhachitis  fast  ganz;  Syphilis  trat  vollkommen 
zurück.    Während  die  auf  Madagaskar  lebenden  malayischen  Hovas 
von  der  Syphilis  völlig  durchseucht  sind,  haben  die  madagassischen 
Neger  trotz  reichlicher  Infektionsgelegenheit  nicht  von  der  Syphilis 
zu  leiden.  Bösartige  Neubildungen,  Lepra  sind  sehr  selten.    Puerpe- 
ralerkrankungen  und  Erysipel  sind  ebenfalls  selten.     Gonorrhöe  ist 
außerordentlich  verbreitet,  soll  aber  sehr  schnell  heilen  (?!).    Charak- 
teristisch für  die  Pathologie  des  äquatorialen  Westafrikas,  besonders 
des  Kamerungebietes  sei  also  das  Zurücktreten  der  chronischen  Krank- 
heiten hinter  den  akuten.    Und  hierin  liegt  allerdings  ein  gewaltiger 
Unterschied  zwischen  diesen  Völkerschaften  und  denen  in  Grönland 
und  am    magnetischen  Nordpol  lebenden^  wie  wir  später  erfahren 
werden. 

Wenn  wir  uns  nun  vom  fernen  Süden  nach  dem  äußersten  Norden 
zu  den  Bewohnern  des  Polareises  wenden  und  uns  bei  den  Eskimos 
nach  der  Stellung,  den  Arbeiten  und  Pflichten  des  Weibes  umsehen, 
so  könnte  es  manchem  meiner  Leser  erscheinen,  als  ob  dieser  Ober- 
gang zu  unvermittelt  geschehe,  als  ob  zwischen  der  Kanakin,  der 
Kamerunnegerin  und  der  Frau  des  Eskimos  wohl  gar  keine  Verbindung 
bestände,  als  ob  deren  Existenzen  viel  zu  verschieden  seien,  um  über- 
haupt einen  Vergleich  miteinander  zu  gestatten.  Dem  ist  aber 
durchaus  nicht  so.  Es  ist  ein  besonderes  Verdienst  von  Fritjof 
Nansen,  nachgewiesen  zu  haben,  daß  bei  den  grönländischen  Eskimos 
Mythen  existieren,  deren  Wiege  im  fernen  Innern  Asiens  zu  suchen 
ist,  ja  solche  Mythen  gefunden  zu  haben,  die  unzweifelhaft  Grönland, 
Sudafrika  und  die  Fidschi-Inseln  verbinden.  Auch  hat  Nansen  (I.  c. 
p.  257  ff.)  konstatiert,    daß   die  Möglichkeit,  daß  solche  Mythen  an 

Klia.  Vortrage,  N.  F.  Nr.  481.  (Gynäkologie  Nr.  175.)    Mai  1906.  17 


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228  F.  V.  Winckel,  [18 

mehreren  Stellen  zugleich  entstanden  sein  könnten,  hier  ausgeschlossen 
sein  müßte,  weil  sie  zu  viele  und  zu  charakteristische  Obereinstimmungs- 
punkte besäßen.  Daraus  schließt  er  also,  daß  der  Verkehr  zwischen 
den  alten  Norwegern  und  Eingeborenen  Grönlands  durchaus  nicht  so 
oberflächlich  sein  konnte,  wie  man  gewöhnlich  annehme. 

Schicken  wir  aber,  ehe  wir  auf  den  gynäkologischen  Teil  dieser 
Skizzen  eingehen,  einige  Bemerkungen  über  die  Eskimos  im  ganzen 
voraus,  so  rechnet  Nansen  sie  (1.  c.  p.  16)  zu  den  mittelgroßen 
Völkern  und  erwähnt  von  den  Frauen,  daß  bei  ihnen  die  schmalen 
Hüften  und  die  auffallend  kleinen  Hände  und  Füße  zu  sehen 
seien;  die  ersteren  erklärt  er  dadurch,  daß  die  Eskimofrauen  soge- 
nannte runde,  die  Europäerinnen  aber  flache,  breite  Becken  haben. 
Dasselbe  sagt  Hutter  von  den  Kamerunnegerinnen,  an  denen  er  die 
schlanken  Hüften  und  den  meist  schön  gebauten  Körper  bewunderte. 
Was  die  Dichtigkeit  der  Bevölkerung  betrifl^t,  so  zählte  Nansen  1889 
5614  Personen,  darunter  2501  Männer,  also  3025  Weiber,  also  auf 
einen  Mann  kamen  1,16  Frauen;  dagegen  fand  Kapitän  Holm  (Nansen 
1.  c.  p.  104)  in  Imarsivik  auf  der  Ostküste  Grönlands  auf  21  Einwohner 
nur  5  Männer.  Im  ganzen  hat  aber  die  Bevölkerung  in  den  letzten 
Jahrzehnten  in  jenen  Gegenden  sehr  abgenommen  (von  30000  auf  der 
Westküste  vor  IV2  Jahrhunderten  auf  10117  i.  J.  1889).  Denn  während 
die  in  das  Land  übergesiedelten  Europäer,  die  sich  ja  im  Grunde  von 
den  Eskimos  ernähren,  sich  oft  Reichtum  erwerben  und  im  Überflusse 
leben,  verarmen  die  Eskimos. 

Die  Gesetze,  auf  denen  der  grönländische  Heidenstaat  basiert,  sind 
dabei  nach  Möglichkeit  in  der  Praxis  durchgeführter  Sozialismus  und 
in  dieser  Beziehung  christlicher,  als  irgendein  christlicher  Staat. 

Bei  der  Geburt  eines  Sohnes  jubeln  die  Eltern,  bei  derjenigen 
einer  Tochter  sind  sie  unzufrieden..  Aber  die  Eskimos  hängen  mit 
auOergewöhnlicher  Liebe  an  ihren  Kindern  und  tun  alles,  was  sie  ihnen 
an  den  Augen  absehen  können.  Sie  werden  auch  sehr  lange  gestillt; 
3 — 4  Jahre  sind  nicht  ungewöhnlich,  Nansen  (1.  c.  p.  128)  erlebte 
sogar  10 — 12  Jahre.  Zuweilen  versucht  sogar  eine  Frau,  die  noch 
nicht  geboren  hat,  ein  ihr  geschenktes  Kind  anzulegen,  da  erzählt 
Amundsen  (1.  c.  p.  240)  eine  reizende  Geschichte,  wie  eine  solche 
dem  Säugling  rasch  einen  Schluck  Wasser  in  den  Mund  aus  dem  ihren 
einfließen  läßt.  Bei  der  Gelegenheit  erfahren  wir  auch,  daß  dieselbe 
Eskimofrau  als  Lutschbeutel  dem  Säugling  ein  einfaches  Stück  Speck 
in  den  Mund  steckt,  durch  das  ein  langer  Stecken  gebohrt  ist,  damit 
jenes  Stück  nicht  verschluckt  werden  kann.  Jede  Züchtigung  der 
Kinder  wird  vermieden,  deshalb  sind  denn  auch  die  Kinder  unter 
sich  sehr  verträglich,  nie  zänkisch.    Die  Mutter  lebt  mit  den  Kindern 


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19]  Frauenleben  und  -leiden  am  Äquator  und  auf  dem  Polareise.  229 

Stets  in  denselben  Räumen  und  trägt  sie  draußen  auf  ihrem  Rücken 
im  Amaut  mit  zur  Arbeit.  Bis  das  Kind  volle  zwei  Jahre  alt  ist,  wird 
es  in  diesem  Sack  nackt  auf  dem  nackten  Rücken  der  Frau  getragen 
und  Amundsen  (1.  c.  p.  240)  sah,  wie  Säuglinge  beim  Herausnehmen 
aus  dem  warmen  Platz  mehrere  Minuten  lang  bei  einer  Temperatur 
von  bis  — 50<>  Celsius  splitternackt  gehalten  wurden,  ohne  daß  es  ihnen 
im  geringsten  schadete I  Schon  frühzeitig  werden  die  Kinder  an  die 
Arbeit  gewöhnt.  Ein  kleiner  Knirps  von  5—6  Jahren  kann  in  einem 
Tage  große  Bündel  Dorsche  vom  Angeln  nach  Hause  bringen 
(Amundsen  1.  c.  p.  245),  kleine  Bogenschützen  vom  Netschjillistamme 
bildet  Amundsen  auf  p.  283  ab.  Die  Mädchen  werden  gleichfalls  früh 
an  ihren  Beruf  gewöhnt,  sie  lernen  nähen  und  müssen  der  Mutter  im 
Hause  zur  Hand  gehen.  Wenn  die  Eskimos  sich  begegnen,  so  be* 
grüßen  sie  sich  nicht  nach  unserer  Art  durch  Küssen,  sondern 
pressen  die  Nasen  aufeinander  und  schnupfen  sich  zu.  Mit 
den  Eskimos  teilen  auch  die  Bewohner  der  Marquesas-Inseln  (10<^ 
sudl.  vom  Äquator  und  14^  westl.  Länge)  nach  Langsdorff  die  Sitte, 
daß  sie  bei  der  Begrüßung  die  Nasen  gegeneinander  drücken  (Stoll, 
Das  Geschlechtsleben,  1.  c.  p.  232). 

Bei  den  Eskimos  erklärt  Amundsen  dieses  aus  den  unappetitlichen 
Beschäftigungen,  die  sie  mit  dem  Munde  ausführen;  so  bildet  er  eine 
Eskimofrau  ab,  die  ihrem  Manne  mit  den  Zähnen  den  Stiefel  an  der 
Ferse  abzieht  (1.  c.  p.  243),  wobei  es  sie  gar  nicht  genieren  soll,  daß  sie 
den  Mund  voll  von  dem  Schmutz  der  Nässe  bekommt,  in  die  der 
Mann  den  Tag  über  getreten  ist.  Aber  noch  verblüffender  wirkt  es 
auf  den  Europäer,  sagt  Nansen  (1.  c.  p.  110)^  wenn  wir  die  Eskimo- 
frauen ein  Fell  aus  der  stinkendenden  Urintonne,  die  vor  ihrer  Türe 
steht,  nehnnen,  hineinbeißen  und  dann  zu  bearbeiten  anfangen  sehen. 
Für  sie  ist  der  Mund  die  dritte  Hand.  Daher  haben  die  alten  Weiber 
dort  oben  auch  auffallend  kurze  abgestumpfte  Vorderzähne. 

Merkwürdig  ist  die  Rolle,  die  der  Urin  im  Leben  des  Eskimo- 
weibes spielt.  Zuerst  wird  er  zum  Waschen  der  Haut  benutzt:  sie 
lieben  den  Geruch,  der  ihnen  von  alledem  anhaftet,  nennen  ihn  jung- 
fräulich und  halten  ihn  für  ein  wirksames  Zaubermittel  zum  Anlocken 
der  Männer;  dann  benutzen  sie  den  Urin  um  das  Haar  geschmeidig 
und  glänzend  zu  machen  und,  damit  es  sich  in  einen  straff  und  auf- 
recht stehenden  Knoten  recht  fest  zusammendrehen  läßt,  baden  sie  es 
vor  dem  Frisieren  in  Urin;  außerdem  wird  er  zum  Erweichen  der 
Seehundfelle  gebraucht.  Hinsichtlich  des  Waschens  mit  Urin  bemerkt 
Nansen  (1.  c.  p.  242),  daß  dies  ein  uralter  Gebrauch  zu  sein  scheine. 
Man  fände  ihn  schon  in  den  heiligen  Büchern  der  Parsen  erwähnt. 
So  stehe  in  der  Vendidad  8, 13,  daß  die  Leichenträger  sich  mit  Urin 

17* 


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230  F.  V.  Winckel,  [20 

nicht  von  Männern  oder  Weibern,  sondern  von  kleinen  Tieren  oder 
Zugtieren  wasciien  sollen.  Das  würde  wohl  eine  religiöse  Vorschrift 
sein  und  nicht  wie  bei  den  Eskimos  sich  aus  dem  Mangel  an  warmem 
Wasser  erklären  lassen, 

Bei  den  Eskimomädchen  tritt  während  der  arktischen  Nacht  4 
Monate  lang  die  Menstruation  nicht  ein  und  obwohl  sie  meist  mit 
14  Jahren  heiraten  und  auch  konzipieren,  bekommen  sie  die  Menses 
doch  zuweilen  erst  mit  dem  19.— 20.  Jahr  (Cook,  Newyork  Journ.  of 
gynecol.  and  obstetr.  1894  Febr. — April),  v.  Haven  fand,  daß  von  100 
Grönländerinnen  88  die  erste  Menstruation  zwischen  15—17  Jahren  be- 
kamen, bei  5  trat  sie  früher,  bei  7  erst  nach  diesem  Alter  ein  und  Mac- 
Diarmid  hat  von  den  Eskimoweibern  behauptet,  daß  sie  nur  im  Sommer 
ihre  Regel  hätten,  er  schreibt  somit  der  Winterkälte  eine  hemmende  Ein- 
wirkung zu.  Von  andern  wird  dieser  Einfluß  bestritten  und  bei  den  Eski- 
mos, wo  schon  nach  kaum  eingetretener  Pubertät  ein  reger  Geschlechts- 
genuß beginnt,  wird  dieser  wahrscheinlich  für  den  früheren  Eintritt  der 
Menses  und  deren  Wiederkehr  auch  in  der  arktischen  Nacht  maßgebend 
sein.  Der  Vollbluteskimo  verheiratet  sich  sobald  er  eine  Frau  versorgen 
kann,  weil  er  weiblicher  Hilfe  bedarf,  um  seine  Felle  zu  gerben,  seine  Klei- 
der zu  nähen.  Er  verheiratet  sich  oft  schon  bevor  er  zeugungsfähig  ist, 
und  auf  der  Ostküste  von  Grönland  ist  es  nach  Nansen  etwas  ganz  ge- 
wöhnliches (1.  c.p.  116),  daß  er  drei«-  bis  viermal  verheiratet  gewesen  ist, 
ehe  jener  Zeitpunkt  eintritt.  Ehezeremonien  finden  nicht  statt.  Der  Eskimo 
schleppt  ein  Mädchen,  was  ihm  gefällt,  ohne  weiteres  in  sein  Haus. 
Nach  Amundsen  (1.  c.  p.  242)  soll  das  Mädchen,  wenn  sie  14  Jahre 
alt  ist,  den  Bräutigam  aufsuchen  oder  er  zu  ihr  kommen  und  mit  ihr 
im  Hause  der  Eltern  wohnen  —  so  wäre  es  bei  den  Neochtjilli-Eskimos 
am  magnetischen  Nordpol.  Nach  Nansen  aber  (1.  c.  p.  117)  durfte 
sich  bei  den  grönländischen  Eskimos  das  Mädchen  unter  keiner  Be- 
dingung merken  lassen,  daß  sie  den  Freier  haben  wollte,  selbst  wenn 
sie  noch  so  verliebt  in  ihn  war,  und  mußte  sich  bei  der  Entführung 
sehr  sträuben,  jammern  und  klagen.  Vielweiberei  ist  bei  den 
Eskimos  gestattet,  die  meisten  guten  Seehundsfänger  haben  daher  zwei 
Frauen,  aber  nie  mehr.  Dalager  erwähnt,  daß  seinerzeit  auf  der  West- 
küste Grönlands  kaum  der  zwanzigste  Teil  der  Grönländer  zwei,  sehr 
selten  drei  und  nur  ausnahmsweise  vier  Frauen  gehabt,  doch  habe  er 
einen  Mann,  der  elf  Weiber  gehabt,  gekannt  (Nansen  1.  c.  p.  120  Anm.). 

Bei  den  Eskimostämmen  an  der  Beringstraße  gelten  nach  Nelson 
die  zum  ersten  Male  menstruierenden  Mädchen  als  unrein  für  40  Tage. 
Sie  müssen  sich  in  einem  Winkel  des  Hauses  aufhalten,  mit  dem  Ge- 
sicht gegen  die  Wand  gekehrt,  stets  ihre  Kapuze  über  ihren  Kopf 
ziehen   und  ihre  Haare  wirr  über   die  Augen   hängen   lassen.     Das 


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21]  Frauenleben  und  -leiden  am  Äquator  und  auf  dem  Polareise.  231 

Haus  dürfen  sie  nur  des  Nachts  verlassen,  wenn  alles  schläFt.  Im 
Sommer  beziehen  sie  ein  rohes  Obdach  außerhalb  des  Hauses.  Nach 
Ablauf  der  vorgeschriebenen  Frist  baden  sie,  ziehen  neue  Kleider  an 
und  Icönnen  nun  geheiratet  werden. 

Bei  dem  Kuskokwin-Eskimo  am  untern  Yukon  werden  nach  Nelson 
häufig  schon  Kinder  miteinander  verheiratet  und  zwar  die 
Madchen  oft  mit  3 — 5  Jahren.  Sie  bleiben  dann  bei  ihren  Eltern  und 
der  junge  Gatte  zieht  zu  diesen  in  ihr  Haus.  Ebenso  bei  den  Cum- 
berland-Eskimos.  Und  während  sonst,  wie  wir  erfahren  werden,  die 
Ehen  unter  Blutsverwandten  bei  den  Eskimos  verpönt  sind,  heiraten 
dieUnalit-Eskimos  an  der  BeringstraOe  gern  Cousinen  und  andere 
Blutsverwandte,  weil  man  annimmt,  daß  diese  bei  Hungersnot  ihre 
Nahrung  mit  dem  Manne  teilen,  während  eine  Frau  aus  fremder 
Familie  dem  Manne  die  Vorräte  stehlen  würde  (Nelson).  —  Nach 
Bessels  kohabitiert  der  Inuit  (Eskimo)  mit  besonderer  Vorliebe  von 
hinten.  Männer  wie  Frauen  liegen  nackt  in  der  Nacht  dicht  anein- 
ander unter  einem  Seehundsfell,  dem  Gast  macht  man  Platz,  indem 
man  nur  ein  wenig  rückt.  Die  Frauen  prostituieren  sich  während  der 
Abwesenheit  ihrer  Gatten.  Außerdem  aber  gibt  es  auch  noch  Pro- 
fessionshuren, jedoch  selten. 

Ehen  zweier  Geschwisterkinder  untereinander,  wie  über- 
haupt zwischen  nahen  Verwandten,  sind  im  allgemeinen 
nicht  erlaubt.  Nicht  einmal  Pflegegeschwister,  die  zufällig  zu- 
sammen erzogen  sind,  dürfen  sich  heiraten.  Dasselbe  Verbot  findet 
sich  unter  wenig  verschiedenen  Formen  bei  den  Hindus,  den  Chinesen, 
in  der  griechischen  Kirche,  bei  den  Altkatholiken,  zum  Teil  auch  bei 
den  Slavonen,  den  Indianern  und  vielen  andern.  —  Die  Scheidung 
der  Ehe  ist  ebenso  leicht  fertig  wie  die  Heirat.  Ist  der  Mann  seiner 
Frau  überdrüssig,  so  braucht  er  sich  nur  von  ihr  zu  retirieren,  wenn 
er  sich  schlafen  legt  und  dabei  kein  Wort  zu  sprechen,  dann  sammelt 
am  nächsten  Morgen  die  Frau  ihre  Kleider  und  kehrt  in  aller  Stille 
in  ihr  Vaterhaus  zurück. 

Der  Hauptzweck  der  grönländischen  Ehe  ist  unbedingt  die  Kinder- 
erzeugung, unfruchtbare  Weiber  sind  geringgeschätzt,  unfruchtbare 
Ehen  werden  oft  aufgelöst.  Die  Fruchtbarkeit  der  Grönländer  und 
amerikanischen  Eskimos  ist  gering,  2 — 4  Kinder  in  jeder  Ehe  ist  die 
Regel,  wenn  auch  Beispiele  von  6—8,  ja  noch  mehr  vorkommen. 
Zwillinge  sind  selten.  Die  Niederkunft  der  Grönländerinnen  ist  ge- 
wöhnlich leicht,  doch  kommen  bisweilen  auch  schwere  Entbindungen 
vor;  dann  halten  sie  nach  Egede  (Nansen  1.  c.  p.  127)  der  Gebärenden 
ein  Nachtgeschirr  über  den  Kopf  in  der  Einbildung,  daß  die  Ent- 
bindung dann  leichter  und  schneller  gehe.    Eine  solche  Verwendung 


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232  F-  V.  Winckcl,  [22 

dieses  Möbels,  sagt  Nansen,  dürfte  einzig  dastehen.  Die  heidnischen 
Grönländer  töten  alle  Mißgeburten,  die  für  nicht  lebensßhig  ge- 
haltenen kranken  Kinder  und  alle  kleinen,  deren  Mutter  bei  der  Geburt 
stirbt,  falls  keine  andere  Frau  sie  säugen  kann.  Gewöhnlich  werden 
die  ersteren  ausgesetzt  oder  ins  Meer  geworfen. 

Nach  Klutschack  wird  das  Eskimoweib  durch  die  Entbindung 
auf  volle  vier  Wochen  „unrein*;  sie  wird  schon  vier  Wochen  vorder 
Niederkunft  von  dem  Gatten  getrennt  und  in  eine  separate  Behausung 
gebracht,  zu  der  nur  die  Frauen  Zutritt  haben.  Bei  den  östlichen 
Eskimos  geschieht  die  Entbindung  von  dem  ersten  Kinde,  in  dem  ge- 
wöhnlichen Igloo  (Hütte),  bei  allen  späteren  muß  sie  ein  besonderes 
zu  ihrem  Gebrauch  gebautes  Igloo  beziehen  (Hall),  der  Mann  darf  bei 
der  Entbindung  nicht  zugegen  sein.  Auch  die  in  den  westlichen 
Gegenden  wohnenden  Eskimofrauen  müssen* in  einer  kleinen  Hütte 
gebären,  in  welcher  sie  zusammen  mit  dem  Aas  irgendeines  Tieres 
eingeschlossen  werden.  In  dieser  Hütte  bleibt  die  Kreißende  ganz 
allein  und  ohne  Hilfe.  Smith  besuchte  mehrere  dieser  Hütten,  deren 
jede  eine  Wöchnerin,  ein  Neugeborenes,  und  eine  sehr  kleine,  die  eine 
Hündin  und  einen  Wurf  junger  Hunde  enthielt.  Übrigens  durch- 
schneiden die  Eskimofrauen  nach  Holm  den  Nabelstrang  mit  einer 
Muschelschale,  die  Graslandnegerin  zerreißt  ihn  mit  den  Nägeln. 

Die  Eskimofrauen  kommen  wegen  ihres  breiten  Beckens  leicht 
nieder  und  sterben  sehr  selten  im  Wochenbett.  Nach  der  Niederkunft 
dürfen  sie  eine  Zeitlang  die  Hütte  nicht  verlassen,  bisweilen  erst 
nach  zwei  Monaten;  nachdem  sie  dann  ihre  Kleider,  die  sie  nie  wieder 
tragen,  mit  einem  andern  Anzug  vertauscht  haben,  besuchen  sie  alle  um- 
liegenden Häuser,  dürfen  aber  ein  volles  Jahr  nicht  allein  essen.  Bei 
den  Grönländerinnen  dürfen  die  Wöchnerinnen  nicht  unter  freiem 
Himmel  essen,  aus  ihrem  Wassergefäß  darf  niemand  trinken,  niemand 
bei  ihrer  Lampe  einen  Span  anzünden,  und  sie  selbst  dürfen  eine 
Zeitlang  nicht  darüber  kochen. 

Auch  darf  der  Mann,  wenn  seine  Frau  in  Wochen  liegt,  außer  dem 
allernötigsten  Fang,  nichts  arbeiten,  weil  sonst  das  Kind  sterben  würde; 
er  ist  auch  mit  der  Wöchnerin  unrein:  Residuen  eines  sogenannten 
Männerkindbettes. 

Bei  Unfruchtbarkeit  wenden  sie  Hersagen  von  Zauberformeln 
an,  oder  binden  Stücke  von  Schuhsohlen  der  Europäer  um.  Denn 
da  sie  sehen,  daß  diese  fruchtbar  sind,  meinen  sie  durch  die  Sohlen, 
die  einem  Europäer  als  Unterlage  gedient,  werde  deren  Kraft  in  ihre 
Kleider  übergehen  usw.  Aber  sie  benutzen  auch  einen  Angekok 
d.  h.  einen  ihrer  Propheten  und  Gelehrten,  die  die  Männer  bezahlen, 
um  der  Unfruchtbarkeit  der  Frauen  abzuhelfen.  —  Das  Anbieten  der 


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23]  Frauenleben  und  -leiden  am  Äquator  und  auf  dem  Polareise.  233 

Frauen  der  Eskimos  als  lebende  Gastgeschenke,  wie  es  im 
deutschen  Mittelalter  zur  Zeit  der  Minnesänger  ja  auch  noch  vorkam, 
ist  bei  den  amerikanischen  Eskimos  noch  heute  sehr  gebräuchlich  und 
Amundsen  lernte  nur  einen  Ogluli-Eskimo  kennen:  Nulieu,  von  dem 
er  sagt:  Ich  glaube  fast,  er  war  der  einzige  Eskimo,  der  seine  Frau 
nicht  feilbot  (Amundsen  1.  c.  p.  247).  Auch  kommt  der  Frauenaus- 
tausch öfter  vor.  Trotz  alledem  behauptet  Nansen,  daß  die  Eskimo- 
frau eine  bedeutende  Rolle  in  der  grönländischen  Gesellschaft  spiele, 
da  sie  in  der  Regel  gut  behandelt  werde  und  daß,  wenn  man  mit 
ihr  in  ihrem  Hause  zusammenlebe,  man  durchaus  nicht  den  Ein- 
druck empfange,  daß  sie  irgendwie  unterdrückt  oder  zurückgesetzt 
wfirde.^)  Alle  Männer  wie  Frauen  sind  leidenschaftliche  Anhänger  des 
Kaffees  und  leider  auch  des  Branntweins.  Ihre  Nahrung  besteht 
übrigens  aus  Fischen,  Seehundileisch  und  Speck  und  Tran.  Zu  Zeiten 
großen  Hungers  kommt  es  übrigens  aucli  vor,  daß  Frauen  sogar 
Hundekot,  well  in  demselben  Reste  von  unverdauten  Fischen  und 
Hundetalg  sich  fanden  (Amundsen  1.  c.  p.  277/278),  aufspeisten. 

Daß  die  Eskimofrauen  sich  auch  einer  widerwillig  konzipierten 
Frucht  zu  entledigen  verstehen,  geht  aus  folgender  Beschreibung 
Bessels  hervor.  ^Ähnlich  wie  sich  im  missionarisierten  Grönland 
die  Schwangeren  des  Kaminstockes  (ein  Stück  Holz  zur  Ausweitung 
der  nassen  Fußbekleidung)  zu  diesem  Zwecke  bedienen,  so  benutzen 
die  Itanerinnen  des  Smith-Sundes  entweder  den  Peitschenstiel  oder 
einen  anderen  Gegenstand  und  klopfen  oder  pressen  sich  damit  gegen 
das  Abdomen,  welche  Prozedur  des  Tages  mehrmals  wiederholt  wird. 
Eine  andere  Art  der  Abtreibung  der  Leibesfrucht  besteht  in  der  Per- 
foration der  Embryonalhüllen,  einer  Operation,  die  uns  in  gelindes 
Staunen  versetzt.  Eine  dünngeschnitzte  Walroß-  oder  Seehundrippe 
ist  an  ihrem  einen  Ende  messerschneidenartig  zugeschärft,  während 
das  entgegengesetzte  Ende  stumpf  und  abgerundet  ist.  Das  erstere 
trägt  einen  aus  gegerbtem  Seehundsfell  genähten  zylindrischen  Über- 
zug, der  an  beiden  Enden  offen  ist  und  dessen  Länge  derjenigen  des 
schneidenden  Teiles  des  Knochenstückes  entspricht.  Sowohl  an  das 
obere  als  an  das  untere  Ende  dieses  Futterals  ist  ein  15 — 18  Zoll 
langer  Faden  aus  Renntiersehne  befestigt.  Wird  diese  Sonde  in  die 
Vagina  eingeführt,  so  ist  der  schneidende  Teil  durch  den  Lederüber- 
zug gedeckt.  Wenn  die  Operierende  weit  genug  in  die  Geschlechts- 
öffnung eingedrungen  zu  sein  glaubt,  so  übt  sie  einen  sanften  Zug 
auf  den  am  unteren  Ende  des  Futterals  befestigten  Faden  aus.    Hier- 

1)  Amundsen  (1.  c.  p.  242)  sagt:  in  Wirklichkeit  sei  die  Stellung  der  Frau  bei 
den  Eskimos  auf  der  Halbinsel  Boothia  Felix  nicht  mehr  und  nicht  weniger  als  die 
eines  Haustieres. 


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234  F.  V.  Winckel,  [24 

durch  wird  selbstverständlich  die  Messerschneide  bloßgelegt,  worauf 
eine  halbe  Umdrehung  der  Sonde  vorgenommen  wird,  verbunden  mit 
einem  Stoß  nach  oben  und  innen.  Nachdem  die  Ruptur  der  Embryo- 
nalhüllen  erfolgt,  zieht  man  das  Instrument  wieder  zurück;  zuvor  aber 
wird  ein  Zug  am  oberen  Faden  des  Messerfutterals  ausgeführt,  um 
den  scharfen  Teil  der  Sonde  zu  bedecken  und  hierdurch  einer  Ver- 
letzung des  Geschlechtskanals  vorzubeugen. 

B esseis  erfuhr,  daß  diese  Operation  von  den  Schwangeren  stets 
selbst  an  sich  ausgeführt  wird.  (Ploß-Bartels,  Das  Weib,  XIII.  Aufl., 
I.  926,  1905.) 

Nelson  berichtet  außerdem  von  den  Eskimos  an  der  Beringstraße, 
daß  sie  früher  die  Töchter,  wenn  sie  keinen  Mangel  an  denselben 
hatten,  gleich  nach  der  Geburt,  oft  aber  auch  erst  im  Alter  von 
4 — ^6  Jahren  töteten.  Sie  führten  sie  zu  einem  Begräbnisplatz,  stopften 
ihnen  Mund  und  Nase  mit  Schnee  zu  und  ließen  sie  liegen,  oder  sie 
brachten  sie  auf  das  Eis  oder  in  die  Tundra  und  ließen  sie  dort  in 
der  Kälte  oder  im  Schneesturm  umkommen. 

Die  Hütten  der  Grönländer-Eskimos  stehen  auf  dem  ausgegrabe- 
nen Boden  des  Landes,  in  dessen  Vertiefung  ein  schmaler,  enger 
Gang  hineinführt;  das  Dach  ist  flach,  etwas  gewölbt,  n/j — 2  m 
über  dem  Boden.  Die  Eskimo  in  King  Williams-Land  bauen  sich 
gegen  Ende  des  Herbstes  Wohnungen  aus  Eisquadern,  die  nach  oben 
durch  einen  dreieckigen  Eisblock  geschlossen  sind;  sie  werden  tm 
Winter  durch  die  Specklampe  erleuchtet  und  erwärmt.  Im  Sommer 
tritt  an  die  Stelle  der  Eiskammern  das  Zelt.  Dasselbe  steht  auf 
einem  mit  vielen  Renntierfellen  bedeckten  Moosboden.  Die  Zelt- 
wände selbst  sind  aus  Renntier-  und  Seehundfellen  zusammengenäht 
und  werden  durch  große  Steine  am  Rand  der  Zeltdecke  festgehalten; 
in  den  Zelten  soll  es  oft  sehr  warm  sein. 

Was  die  Frauenarbeit  betrifft,  so  ist  das  Gerben,  das  Kajak- 
beziehen und  Nähen  der  Häute,  ferner  das  Abziehen  der  Seehunde 
und  Zerlegen  der  Beute  nach  bestimmten  Regeln  und  Verteilung  der- 
selben, dann  das  Bereiten  des  Essens,  das  Nähen  der  Kleider  und 
Verrichten  aller  häuslichen  Arbeiten,  außerdem  aber  das  Bauen  der 
Häuser,  Schlagen  der  Zelte  und  Rudern  der  Frauenboote  ihre  Auf- 
gabe, daneben  ist  noch  der  Kapelanfang  als  einziger  Fang,  den  die 
Frauen  treiben,  und  manchmal  eine  gewisse  Hilfe  beim  Seehunds- 
fang zu  erwähnen.  Das  Ausnehmen  der  erlegten  Vögel,  und,  wie  er- 
wähnt, das  Ausziehen  der  Pelzstiefel  des  Mannes  kommt  ebenfalls  der 
Frau  zu.  Die  Frauen  —  nur  ein  einziges  Mal  sahAmundsen  (I.e. 
p.  321)  einen  an  der  Nase  tätowierten  25  jährigen  Mann,  der  von 
seiner  Kindheit  an  gelähmt  war  und  als   Angekok  (Zauberer)  in 


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25]  Frauenleben  und  -leiden  am  Äquator  und  auf  dem  Polareise.  235 

hohem  Ansehen  stand  —  der  Utchickchalli-Eskimo  tätowieren  sich 
auch  an  Armen  und  Schenkeln»  wie  Amundsen  (1.  c«  p.  288  u.  289) 
abbildet,  aber  auch  an  den  Augen,  Wangen  und  Halse,  indem  ein  mit 
Tran  getränkter  und  mit  LampenruO  geschwärzter  Faden  mittels  einer 
Nadel  in  regelmäßigen  Abständen  durch  die  Haut  gezogen  wird.  Der 
abgestreifte  Ruß  bleibt  in  der  Haut  zurück  und  heilt  in  dieselbe  ein 
<cf.  Otto  StoU,  Geschlechtsleben,  Leipzig,  Veit  S.  75  und  Abbild.  S.  79): 
der  Aberglaube,  daß  die  Schädel  der  Weiber,  die  nicht  so  tätowiert 
sind,  im  Himmel  zu  Trangeschirren  würden  (Paul  Egede),  soll  die 
Ursache  dieser  Tätowierung  sein. 

Die  Behandlung  der  Haare  bei  den  Eskimos  geschieht  bloß 
aus  Bequemlichkeit:  Kurzschneiden  bei  den  Männern,  Zusammen^ 
drehen  und  Aufbinden  bei  den  Frauen  —  wie  erwähnt  mit  Hilfe  des 
Urins,  um  sie  glänzender  und  geschmeidiger  zu  machen.  —  Von 
Krankheiten,  welche  die  Eskimos  dem  Eindringen  der  Kultur  wahr- 
scheinlich zu  verdanken  haben,  ist  in  erster  Linie  die  Tuberkulose  zu 
nennen,  deren  rapides  Fortschreiten  in  Grönland  von  Nansen  (I.e. p.290) 
teils  auf  die  schlechtere  Kleidung,  teils  darauf  geschoben  wird,  daß  sie 
letzt  das  ganze  Jahr  hindurch  in  ihren  feuchten,  ungesunden  Häusern, 
wo  die  Ansteckungskeime  den  vorzüglichsten  Nährboden  finden,  leben 
müssen.  Endlich,  daß  sie  europäische  Kost  haben,  während  früher 
ihre  fette  Kost  und  besonders  der  Speck  sie  vorzüglich  widerstands- 
fähig gegen  diese  Krankheit  machte.  Weiter  haben  die  Pocken  einen 
großen  Teil  der  Bevölkerung  hingerafft.  Merkwürdig  aber  ist,  daß 
die  Grönländer  zum  großen  Teil  freigeblieben  sind  von  Syphilis. 
Sie  ist  dort  oben,  sagt  Nansen  (1.  c.p.  291),  nur  an  einer  Stelle  zu 
finden,  nämlich  in  Arsuk  in  Südgrönland,  wo  man  die  Krankheit  zu 
isolieren  sucht.  Trotzdem  hat  sie  um  sich  gegriffen  und  es  ist  leider 
Aussicht  vorhanden,  daß  sie  sich  ausbreiten  und  die  ganze  Bevölke- 
rung auch  auf  diese  Weise  verseuchen  wird.*  —  Die  Sonnenwend- 
feier, das  Kelandispiel,  schildert  Amundsen  (1.  c.  p.  278—281)  als 
einen  langweiligen  Tanz  der  Erwachsenen  und  der  Kinder,  mit  Ge- 
sang und  Trommelbegleitung,  wobei  es  ihm  unbegreiflich  erschienen 
sei,  worin  das  Vergnügen  bei  diesem  Tanz  bestehe.  Bei  jeder  Arbeit 
wird  gesungen,  aber  eine  einförmige  Melodie. 

In  bezug  auf  den  Tod  der  Frau  sagt  Dalager  (Nansen,  I.e. 
p.  113):  Einer  Frau,  die  mit  dem  Tode  ringt  und  sich  keines  be- 
sondern Ansehens  erfreut,  kann  es  wohl  passieren,  daß  sie  lebendig 
begraben  wird,  wovon  wir  am  Orte  vor  kurzem  ein  Beispiel  hatten, 
das  recht  jämmerlich  war,  indem  mehrere  erzählten,  daß  sie  die  Be- 
grabene noch  lange  Zeit  im  Grabe  nach  einem  Trunk  hätten  rufen 
hören.    Der  eigentliche  Grund  hierfür  soll  bei  den  Eskimos  in  der 


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236  F.  V.  Winckel,  [26 

übermäOigen  Furcht  derselben  vor  der  Berührung  mit  einem  Toten 
liegen.  Infolgedessen  ziehen  sie  dem  Sterbenden,  ganz  gleich»  ob 
Mann  oder  Frau,  oft  schon  lange  vor  dem  Eintreten  des  Todes  die 
Leichenkleider  an  und  trefFen  alle  Vorbereitungen  zum  Hinausbringen 
und  Begraben  der  Leiche,  während  der  Kranke  ihnen  von  seinem 
Lager  aus  zusieht.  Die  Toten  werden  sofort  nach  ihrem  Abscheiden 
hinausgebracht  und  zwar,  wenn  sie  in  einem  Hause  gestorben  sind, 
'durch  das  Fenster,  wenn  in  einem  Zelt,  durch  eine  eigens  für 
diesen  Zweck  in  die  Hinterwand  gemachte  Öffnung.  Auf  der  Ost- 
käste  wird  jedoch  nach  Holm  die  Leiche  auch  mittelst  eines  ihr  um 
die  Beine  gebundenen  Riemens  von  Seehundsleder  aus  dem  Hausgang 
hinausgeschleift  (Nansen,  1.  c.  p.  217). 

Die  Toten  werden  entweder  begraben  oder  ins  Meer  geworfen. 
Den  Männern  werden  ihre  Habe  wie  Kajak,  Waffen  und  Anzüge,  den 
Frauen  ihre  Nähutensilien,  Krummesser  auf  oder  neben  das  Grab, 
beim  Versenken  in  das  Meer  an  den  Strand  gelegt. 

Wer  den  Toten  hinausgetragen  hat  oder  ihn  oder  etwas  ihm 
Zugehöriges  berührt  hat,  ist  für  einige  Zeit  unrein  und  muO  sich 
nach  Vorschrift  der  Angekoker  gewisser  Speisen  oder  Arbeiten  ent- 
halten. 

Der  Tod  flößte  den  Eskimos  nach  Amundsen  (1.  c.  p.  208)  nicht 
die  geringste  Furcht  ein.  Waren  sie  krank  oder  ging  es  ihnen  schlecht, 
dann  nahmen  sie  mit  aller  Seelenruhe  Abschied  vom  Leben  und  er- 
stickten sich.  Während  unsers  Verkehrs  mit  ihnen  kamen  zwei 
solcher  Fälle  vor.  —  Die  guten  Menschen  kommen  nach  ihrer  An- 
sicht auf  den  Mond,  die  bösen  in  die  Erde  hinab. 

Daß  die  Eskimos  noch  heute  in  der  Steinzeit  leben,  wurde  so- 
wohl von  Nansen  (I.e.  p. 288)  wie  Amundsen  (I.e.  p.227)  bewiesen, 
da  sie  keine  andere  Art  des  Feueranzündens  kennen,  wie  zwei  Stücke 
Holz  aneinanderzureihen  und  noch  Lanzen,  Pfeile  und  Bogen  aus 
Renntierhorn  gebrauchen,  außerdem  zum  Fangen  der  Fische  sich  nur 
der  Spieße  aus  Renntierhorn  bedienen.  Wenn  man  daraus  aber  auf 
einen  minderwertigen  Verstand  derselben  schließen  wolle,  so  täte  man 
ihnen  unrecht,  da  die  anscheinend  so  primitiven  Gegenstände  sich 
den  vorhandenen  Bedürfnissen  und  Verhältnissen  so  gut  angepaßt  er- 
wiesen, wie  sie  nur  die  Erfahrung  und  ein  kluges  Ausprobieren  durch 
die  Jahrhunderte  hindurch  hergestellt  haben  konnten. 

Wenn  wir  zum  Schluß  nun  uns  die  Frage  vorlegen,  welche  Ober- 
einstimmungen in  dem  Leben  des  Weibes  am  Äquator  und  am  Pole 
zu  finden  sind,  so  müssen  wir  zunächst  noch  die  genauere  geographi- 
sche Lage  ihrer  Länder  angeben:  so  liegt  die  Balistation  von  Zint- 
graff  etwa   ?<>   nördlich   vom   Äquator   und    auf  dem   10. <>  östlicher 


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27]  Frauenleben  und  -leiden  am  Äquator  und  auf  dem  Polareise.  237 

Länge;  Kaiser  Wilhelmsland»  der  Bismarckarchipel,  Neumecklenburg 
und  Neupommern  liegen  8— 10<>  südlich  vom  Äquator  zwischen  dem 
140.  und  155.<>  östlicher  Länge,  und  die  Gefilde,  welche  von  den 
verschiedensten  Stämmen  der  Eskimos  eingenommen  werden,  er- 
strecken sich  über  ganz  Grönland  vom  60.  über  den  80.<>  nördlicher 
Breite  und  vom  30. — 50.^  westlicher  Länge;  dann  in  Nordamerika: 
Baffinland,  Boothia  Felixland,  King  William-Land,  Victorialand  bis 
nach  Alaska  und  zur  Behringstraße  in  einer  Breite  von  65 — 80^  nörd- 
lich und  zwischen  dem  60. — I6O.0  westlicher  Länge.  Sie  liegen  also 
75--800  in  vertikaler  Richtung  und  160—2800  in  transversaler  Richtung 
voneinander  entfernt,  und  während  die  Nordkamerunneger  und  die 
Kanaken  ziemlich  eng  umgrenzte  Völkerschaften  darstellen,  sind  die 
Stämme  der  Eskimos  außerordentlich  zahlreich  und  haben  schon  in 
vielen  der  erwähnten  Gegenden  unter  dem  Eindringen  der  Kultur 
sehr  gelitten,  so  daß  an  manchen  Orten  fast  nur  noch  Misch- 
linge von  Europäern  und  Eskimos  existieren.  Am  unberührtesten 
waren  wohl  noch  die  von  Amundsen  besuchten  und  beschriebenen 
(1.  c.  p.  225^339)  Netschjilli-Eskimos;  während  die  Bewohner  an  der 
wesdichen  amerikanischen  Küste,  die  Kagmalli -Eskimos,  unter  der 
Zivilisation  bereits  so  gelitten  hatten,  daß  sie,  die  mehrere  hundert 
Familien  stark  gewesen,  im  Jahre  1005  schon  auf  ganz  wenige  zu- 
sammen geschmolzen  waren. 

Werfen  wir  nun  einen  kurzen  Rückblick  auf  das  bisher  Mitgeteilte 
zum  Vergleich  der  Lebensgewohnheiten  der  verschiedenen  Stämme,  so 
können  wir  beim  Vergleich  der  Eskimostämme  mit  den  Kamerun- 
negerinnen und  Kanakinnen  vier  Gruppen  unterscheiden: 

In  der  ersten  Gruppe  finden  wir  fast  völlige  Oberein- 
stimmung in  bezug  auf  folgende  Punkte:  Die  Ehe  zwischen  Bluts- 
verwandten ist  verboten;  die  Geburten  sind  in  der  Regel  leicht  und 
finden  in  hockender,  kniender  oder  liegender  Haltung  statt.  Die 
Kinder  werden  lang  und  sehr  lang  gestillt  Mißgestaltete  werden 
getötet  Die  Säuglinge  werden  auf  dem  Rücken  oder  der  Hüfte 
der  Mutter  getragen.  Die  Fruchtbarkeit  ist  nicht  beträchtlich,  sie 
schwankt  zwischen  zwei  und  vier  Kindern.  Tätowierungen  kommen 
fast  ausnahmslos  bei  Frauen  vor.  Das  Anbieten  der  Frauen  ist  allen 
gemeinsam. 

Sehr  ähnlich  ist  das  Verhalten  in  bezug  auf  die  Ehe.  Zwar  zeigt 
dieselbe  bei  den  Kamerunnegern  den  monogamischen  Charakter,  doch 
ist  dem  Manne  der  Negerin  der  Verkehr  mit  Sklavinnen  gestattet  zu 
der  Zeit,  in  der  sich  seine  Frau  der  Kohabitation  enthält,  z.  B.  wäh- 
rend der  Regel,  der  Schwangerschaft  und  Säugungsperiode.  Bei  den 
Kanaken  und  Eskimos  gilt  Vielweiberei,  jedoch  meist  nur  mit  zwei 


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238  F-  V.  ^inckely  Frauenleben  und  -leiden  am  Äquator  und  auf  dem  Polareise.   [28 

Frauen.  —  Durch  den  Eintritt  der  Menses  — -  der  bei  den 
Kamerunnegern  festlich  begangen  wird  —  wird  das  Mädchen  „un- 
rein"^ und  von  der  Familie  getrennt.  In  bezug  auf  die  Beschäfti- 
gung der  Frauen  ist  dieselbe,  was  häusliche  Arbeit,  Pflege  und  Er^ 
Ziehung  der  Kinder,  Herstellung  von  Gerätschaften  und  Unterstützung 
des  Mannes  In  mancherlei  Arbeiten  betrifft,  ebenfalls  sehr  ähnlich. 

Zur  dritten  Gruppe,  die  uns  zeigt,  daß  das  Verhalten  der 
Stämme  wenigstens  ähnlich  ist,  rechnen  wir  ihr  Verhalten  zum 
Weibe  und  die  Stellung,  die  sie  dem  Weibe  einräumen. 

Die  niedrigste  Stellung  nimmt  offenbar  die  Kanakin  ein;  sie 
kann  vom  Mann  verschenkt,  gekauft,  getötet  werden,  indessen  ist  sie 
materiell  von  ihm  unabhängig,  da  das,  was  sie  mit  in  die  Ehe  ge- 
bracht und  in  ihr  miterworben  hat,  ihr  auch  bleibt.  Auch  die  Ne- 
gerin steht  physisch  und  sozial  tiefer  als  ihr  Mann,  doch  ist  sie  ein 
wertvolles  Eigentum  desselben  und  die  Matronen  haben  oft  eine  hohe 
Vertrauensstellung.  Von  der  Eskimofrau  aber  sagt  Nansen,  daD 
sie  eine  bedeutende  Rolle  in  der  Gesellschaft  spiele,  da  sie  in  der 
Regel  gut  behandelt  werde,  und  in  der  Tat:  bei  den  zahlreichen  Ab- 
bildungen von  Ehepaaren,  die  uns  Amundsen  geliefert  hat,  kann 
man  überall  fröhliche  Frauengesichter  und  mit  den  Kindern  zusammen 
auch  ein  wirkliches  Familiengliick  bewundern  —  so  gering  sind  ihre 
Anspräche  an  das  Leben  —  so  groO  ist  ihre  Genügsamkeit. 

Die  wichtigsten  Unterschiede  zwischen  den  genannten  Völker- 
stämmen existieren  endlich  in  Beziehung  auf  Krankheiten,  von 
denen  dieselben  befallen  werden,  und  hier  sind  die  Eskimos  ent- 
schieden in  der  ungünstigsten  Lage,  insofern  sie  durch  die  immer- 
mehr fortschreitende  Zivilisation,  durch  die  Abnahme  ihrer  Haupt- 
ernährungsquelle (der  Seehunde),  durch  den  zunehmenden  Brannt- 
weingenuD,  durch  die  Verschlechterung  ihrer  Wohnungs-  und 
Kleidungsverhältnisse  und  ihre  um  sich  greifende  Verarmung  immer 
mehr  die  Beute  von  verheerenden  Krankheiten,  wie  Tuberkulose, 
Skrofulöse,  Rhachitis,  Pocken  und  Syphilis  werden.  Die  weit  gün- 
stigere Lage,  in  der  sich  in  dieser  Beziehung  die  Neger  und  Kanaken 
befinden,  haben  wir  früher  schon  besprochen.  Obwohl  auch  für  sie 
der  Alkohol  ein  furchtbares  Gift  ist,  welches  immer  mehr  verbreitet 
wird,  so  ist  doch  die  Menge  von  Momenten,  welche  die  Eskimo- 
stämme fortwährend  dezimieren,  eine  so  große,  daß  sowohl  Nansen 
als  Amundsen  auf  die  näherrückende  Gefahr  einer  vollständigen 
Vernichtung  derselben  in  ergreifender  Weise  aufmerksam  gemacht 
haben.   Hoffen  wir,  daß  deren  Warnungsrufe  nicht  ungehört  verhallen! 

München,  31.  Januar  1908. 


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Aus  der  experimentell-biologischen  Abteilung  des  Pathologischen 
Institutes  zu  Berlin.    Vorstand:  Professor  Dr.  Ad.  Bickel. 


482/84. 

(Innere  Medizin  Nr.  144/46.) 

Experimentelles  und  Klinisches 
zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  der  Magensaft- 
sekretion durch  Medikamente. 


Von 

Dr.  P.  Rodarit 

Privatdozent  an  der  Untveraitit  Zürich. 


Die  genauere  Kenntnis  der  Bedeutung  der  Magensaftsekretion  für 
die  Diagnose,  die  Pathologie  und  die  Therapie  der  Magenkrankheiten 
ist  eine  verhältnismäßig  noch  junge  Errungenschaft  der  Medizin.  Be- 
deutend alter  sind  diesbezügliche  Studien  der  Physiologie,  während 
die  Pathologie  bis  vor  wenigen  Jahrzehnten  die  Erkrankungen  des 
Magens  nur  mit  geringer  Liebe  erforscht  hat.  Dieses  Gebiet  der 
inneren  Medizin  wurde  stiefmütterlich  behandelt,  bis  es  Forschern  wie 
KuOmaul,  Ewald,  Riegel  u.  a.  gelang,  die  bisherigen  diesbezüg- 
lichen Kenntnisse  gründlich  umzuarbeiten  und  fruchtbar  zu  erweitern. 
An  diese  Namen  knüpft  sich  eine  neue,  moderne  Periode  in  der  Pa- 
thologie und  Therapie  der  Verdauungsorgane,  vor  allem  charakterisiert 
durch  eine  präzise  Diagnose  gegenüber  den  unklaren  Begriffen  der 
alteren  Epoche  vor  diesen  Forschern.  Mag  es  beispielsweise  angeführt 
werden,  daß  man  bei  Durchsicht  der  älteren  Literatur  in  den  40er 
Jahren  bei  der  Klassifizierung  der  Magenaffektionen  kaum  zwischen 
anderen  Krankheitsbildern  unterscheidet,  als  zwischen  dem  höchst 
unklaren  und  fast  von  jedem  Autor  anders  definierten  Begriffe  der 
.Dyspepsie'',  wobei  nicht  einmal  der  Unterschied  zwischen  anatomisch 
gegebener  Grundlage  und  funktioneller  Art  gemacht  wird,  ferner  zwischen 
Ulcus  und  Carcinoma  ventriculi,  der  Magenerweiterung  und  der  seit  Jahr^- 
zehnten  klinisch  nicht  mehr  bekannten  Gastromalacie,  besonders  der 
Kinder,   welche  heutzutage  nicht    mehr   als   ein   Krankheitsbild   sui 

KlIiL  Vorträge,  N.  F.  Nr. 482/84.    (Innere  Medizin  Nr.  144/46.)    Mai  1906.  17 


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238  P.  Rodari,  [2 

generis,  sondern  als  eine  postmortale  Veränderung  aufgefaßt  wird.  — 
In  den  50er  Jahren  unterscheidet  man  noch  in  der  Literatur  zwischen 
„Magenentzündung^  und  „krankhafter  Verdauung'^  wie  wenn  diese 
Bezeichnungen  wirklich  Gegensätze  wären.  So  unklar  eben  waren 
die  darunter  verstandenen  Begriffe.  Kaum  klarer  sind  diese  im 
folgenden  Jahrzehnt,  in  den  60er  Jahren,  wo  man  mit  dem  Worte 
„Gastritis"^  einzig  das  bezeichnet,  was  die  neuere  Medizin  phleg- 
monöse Gastritis  nennt,  während  man  für  „Gastritis^  im  modernen 
Sinne  noch  immer  den  unklaren,  verwirrenden  Begriff  „Dyspepsie' 
braucht. 

Einen  Fortschritt  in  der  weiteren  Aufhellung  dieser  dunklen  Be- 
griffe bilden  die  Arbeiten  zweier  Engländer,  welche  in  pathologisch- 
anatomischer Hinsicht  einige  Krankheitsbilder  des  Magens,  besonders 
die  entzündlichen  Veränderungen  der  Schleimhaut,  die  Gastritis  gut 
beschreiben:  so  die  mikroskopischen  Studien  von  Handfield  Jones') 
über  die  Gastritis  atrophicans,  den  wir  damit  als  Entdecker  dieser 
Affektion,  wenigstens  im  anatomischen  Sinne,  bezeichnen  können,  und 
die  umfassendere  unter  Virchows  Leitung  durchgeführte  sehr  gute  Ab- 
handlung von  Fox^)  über  die  Mikroskopie  verschiedener  Magen- 
affektionen. 

Die  neue  Ära  auf  diesem  Gebiet  beginnt  mit  der  Einführung  der 
Magenpumpe  durch  KuOmauP)  im  Jahre  1869,  welcher  diese  ameri- 
kanische Erfindung  in  erster  Linie  nicht  zu  diagnostischen,  sondern 
therapeutischen  Zwecken  praktisch  anwandte,  und  zunächst  diese 
Methode  auf  die  Behandlung  der  chronischen  Magenerweiterung  in 
Form  von  Spülungen  mit  alkalischen  Mineralwässern  und  Medikamenten 
(Sodalösungen  und  Karbolsäurelösungen)  beschränkte. 

Einen  erheblichen  Schritt  weiter,  sowohl  in  der  Diagnose  zunächst^ 
wie  nach  und  nach  auch  in  der  Therapie  hat  uns  Ewald^)  gebracht 
4iirch  die  Einführung  seiner  ebenso  einfachen  wie  genialen  Unter- 
suchungsmethode, des  Probefrühstückes.  Diese  Methode  hat  vor  allem 
über  die  Sekretions  Verhältnisse  des  Magens  Klarheit  verschafft, 
und  es  ist  dabei  ein  nicht  geringes  Verdienst  Ewalds,  die  Gastritis 
als  ein  polymorphes  Krankheitsbild  erkannt  und  beschrieben  zu  haben, 
bei  dessen  einzelnen  Differenzierungen  gerade  die  Art  der  Sekretion 
ausschlaggebend  ist.    Damit  wurden  die  alten  verworrenen  Begriffe 


1)  Assoc.  med.  Journ.  Oct.  1853. 

2)  Lancet  Juli  1853. 

3)  Deutsches  Arch.  f.  klin.  Med.  1869,  Bd.  6. 

4)  Berl.  klin.  Wochenschr.  1888,  Nr.  36. 


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3]       Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      239 

der  Gastritis  und  Dyspepsie  des  weitern  voneinander  getrennt,  nach- 
dem Leube^)  1878  die  Dyspepsie  als  eine  Erlirankung,  resp.  Teil- 
erkranlLung  ohne  anatomisclie  Grundlage  charakterisiert  und  damit 
von  der  Gastritis  als  einer  Krankheitsform  mit  anatomischem  Sub- 
strate von  primär  oder  sekundär  lokalem  Charakter  scharf  geschieden 
hatte.  —  Hand  in  Hand  mit  der  Abgrenzung  der  Gastritis  von  der 
Dyspepsie  geht  auch  die  weitere  Trennung  anderer  anatomisch  gege- 
bener Erkrankungen  von  den  rein  funktionellen  „nervösen"^  Störungen, 
und  damit  erfolgt  auch  die  wissenschaftlich  präzisere  Feststellung  des 
BegrifiPes  einer  Magenneurose.  Die  Magenneurosen  werden  nun, 
und  diese  Einteilung  besteht  noch  immer  zu  Recht,  in  sensible,  moto- 
rische und  sekretorische  unterschieden.  Diese  Einteilung  ist  nicht 
pathologischer,  sondern  in  erster  Linie  physiologischer  Natur,  und  so 
bilden  diese  drei  Verhältnisse,  in  denen  sich  die  Hauptfunktionen  der 
Verdauungsorgane  abspielen,  die  Basis  für  die  Diagnose  und  die 
Therapie  auch  bei  den  Krankheiten  der  Verdauungsorgane,  speziell 
des  Magens  mit  anatomischer  Grundlage.  Was  diese  letztere  anbelangt, 
lassen  sich  die  anatomischen  Veränderungen  am  kranken  Magen  nach 
folgenden  groOen  schematischen  Grundzfigen  unterscheiden,  welche 
in  gewissem  MaDe  auch  bestimmten  klinischen  Bildern  entsprechen: 
Ifl  der  Muskularis  unterscheidet  man  hypertrophische  und  atrophische 
Prozesse,  Entzfindungen  (Gastritis  phlegmonosa),  ferner  Substanzver- 
luste (Ulkus)  und  Neoplasmen  (Sarkome);  in  der  Mukosa  spielen 
entzQndliche  Vorgänge  die  Hauptrolle,  die  teilweise  zu  analogen 
Prozessen  führen  (Hypertrophie  und  Atrophie  der  Schleimhaut, 
Gastritis  hypertrophica  und  atrophica),  ferner  sind  vorwiegend  hier 
Substanzverluste  (Erosionen  und  Ulkus),  sowie  Neoplasmen  (Karzinom) 
lokalisiert.  Hand  in  Hand  mit  diesen  anatomischen  Prozessen,  häufig 
and  teilweise  als  direkte  Folgen  dieser  lokalen  Vorgänge,  gehen 
Funktionsstörungen  der  Drüsensekretion  vor  sich,  sei  es,  daß  der 
Drfisenapparat  anatomisch  von  der  Schleimhauterkrankung  mit  ergriffen 
wird,  sei  es^  daß  er  in  bloß  funktioneller  Art  nervöse  Impulse  erhält. 
Dies  betrifft  sowohl  die  Schleim-  als  auch  die  Magensaftdrfisen. 

Das  Studium  dieser  Drfisenfunktion  unter  physiologischen  und  be- 
sonders pathologischen  Verhältnissen  soll  nun  die  Aufgabe  dieser 
Arbeit  sein,  in  dem  Sinne,  daß  im  folgenden  dargelegt  werden  soll, 
wie  die  Magensaftsekretion  durch  Medikamente  in  engerem  und  wei- 
terem Sinne  des  Wortes  (z.  B.  Mineralwässer)  beeinflußt  werden  kann, 
und  unter  welchen  Umständen  eine  solche  Beeinflussung  vom  klinisch- 
therapeutischen Standpunkte  aus  indiziert  ist. 


1)  Deutsches  Arcb.  f.  klin.  Med.  1873,  Bd.  23. 

17* 


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240  P.  Rodari,  [4 

Im  Interesse  einer  einheitlichen  Darstellung  soll  hierbei  in  erster 
Linie  die  Literatur  seit  Anfang  der  40er  Jahre  bis  auf  die  neueste 
Zeit  eingehend  berücksichtigt  werden.  Zur  Aufklärung  einiger  strittiger 
Punkte,  sowie  zur  Kenntnis  einiger  bisher  nicht  untersuchten  Fragen 
sollen  des  weiteren  einige  tierexperimentelle  Untersuchungen  einen 
Beitrag  liefern.  Außerdem  sollen  Beobachtungen  aus  der  eigenen 
Praxis  versuchen,  einige  theoretisch-experimentelle  Fragen  mit  der 
praktisch-klinischen  Therapie  in  Einklang  zu  bringen. 

Neben  der  Motilität  spielt  die  Sekretion,  d.  h.  der  Chemismus  des 
Magens  eine  große  Rolle,  welche  in  der  Physiologie  besonders  ein- 
gehend gewürdigt  worden  ist.  Freilich  verkennt  auch  die  Pathologie 
die  Wichtigkeit  dieser  Rolle  nicht,  soweit  es  die  Diätetik  betrifft.  Haben 
doch  besonders  die  Forschungen  des  letzten  Jahrzehntes,  welche  durch 
Pawlows  bahnbrechende  Untersuchungen  einen  mächtigen  Impuls 
erhielten,  nachgewiesen,  daß  der  Verdauungsapparat  unter  physiolo- 
gischen und  pathologischen  Bedingungen  auf  die  einzelnen  Bestand- 
teile der  Nahrung  (Eiweiß,  Fett,  Kohlenhydrate,  Wasser,  Salze  und 
Genußmittel)  in  geradezu  spezifischer  Weise  reagiert,  und  aus  diesen 
Beobachtungen  sind  wichtige  Schlußfolgerungen  für  die  diätetische 
Therapie  gezogen  worden.  Nun  aber  ist  das  Stiefkind  der  modernen 
Therapie,  die  Pharmakologie,  auch  hier  etwas  stiefmütterlich  behandelt 
worden.  Allerdings  treffen  wir  in  der  Literatur  schon  seit  manchen 
Jahrzehnten  klinisch-experimentelle  Beobachtungen  über  die  Phar- 
makodynamik einzelner  chemischer  Verbindungen  und  Medikamente 
auf  den  Verdauungsapparat  an,  und  die  letzten  Jahre  haben  uns  ver- 
schiedene sehr  interessante  Arbeiten  tierexperimenteller  Art  geliefert, 
aber  trotzdem  waren  diese  Beobachtungen  bisher  zu  keinen  strikten 
systematisch  aufgebauten  Direktiven  für  die  medikamentöse  Therapie 
der  Magendarmerkrankungen  verwertet  worden.  Dieses  habe  ich  in 
meinem  Buche:  „Grundriß  der  medikamentösen  Therapie  der  Magen- 
und  Darmkrankheiten''  (Wiesbaden,  Verlag  J.  F.  Bergmann,  II.  A.  1906) 
zu  tun  versucht  und  möchte  hierfür  auch  in  dieser  vorliegenden 
kleineren  Arbeit  einen  weiteren  Beitrag  liefern. 

Die  Erkrankungen,  bei  denen  die  Art  der  Sekretion  eine  große 
Rolle  spielt,  betreffen  in  erster  Linie  die  Schleimhaut  des  Magens  in 
Form  einer  diffusen  Entzündung  und  einer  Sekretionsanomalie.  Diese 
bestehen  bei  den  einzelnen  Krankheitsbildern  entweder  für  sich  allein 
(Beispiele:  Gastritis  chronica  simpIex,  ohne  Sekretionsstörungen, 
Hyperchlorhydria  nervosa  ohne  Entzündung  der  Mukosa),  oder  sie 
sind  in  den  häufigeren  Fällen  miteinander  verbunden  (Beispiel: 
Gastritis  chronica  subacida,  Gastritis  hyperacida,  Entzündung  und 
Sekretionsstörung,  ferner  Ulkus  mit  Hyperazidität  und  sekundärem 


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5]        Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      241 

Katarrh).  Die  Kombination  von  Entzündung  mit  Sekretionsstörung 
ist  das  Häufigere.  Bei  einzelnen  Formen  ist  die  Entzündung  das 
Primare  und  die  Sekretionsanomalie  ein  Folgezustand  hiervon  (Bei- 
spiek  Gastritis  chronica  simplex,  welche  nach  und  nach  in  eine  suba- 
zide  Form  übergeht),  in  anderen  Fällen  liegen  die  Verhältnisse 
umgekehrt  vor  (Beispiel:  Nervöse  Hyperchlorhydrie,  die  in  eine 
Gastritis  acida  übergeht).  Für  die  Therapie  ist  nun  die  Tatsache  von 
großer  Bedeutung,  daß  der  enge  Zusammenhang  zwischen  Entzündung 
und  Sekretionsanomalie  sich  auch  in  der  Einwirkung  der  Pharmako- 
dynamik der  einzelnen  Körper,  Nahrung  und  besonders  Medikamente 
auf  den  Magen  geltend  macht,  d.  h.  diejenigen  Mittel,  welche  die 
Entzfindnug  bekämpfen,  bekämpfen  zugleich  auch  die  Sekre- 
tionsstörung und  umgekehrt,  diejenigen,  welche  die  Sekretions- 
anomalie in  ungünstigem  Sinne  beeinflussen,  verschlimmern 
zu  gleicher  Zeit  auch  den  Ent2ündungsvorgang. 

Diese  Reaktion  des  kranken  Magens  auf  die  betreffenden  chemischen 
Koqper  vereinfacht  die  Therapie.  Freilich  gibt  es  auch  hier,  wie  auf 
allen  Gebieten  der  Medizin  Ausnahmen,  aber  im  großen  und  ganzen 
besteht  diese  Regel  zu  Recht,  wie  in  folgenden  Ausführungen  klar- 
gelegt werden  soll. 

Die  Beeinflussung  der  Sekretion  durch  die  einzelnen  Arten  chemi- 
scher Körper  resp.  Medikamente  erfolgt  auf  keine  einheitliche  Art 
und  Weise.  Die  betreifenden  Substanzen  setzen  den  Hebel  ihrer 
Wirkung  an  verschiedenen  Orten  an,  das  Produkt  oder  die  manifeste 
Äußerung  dieser  Wirkung  offenbart  sich  dann  vornehmlich  in  der  Art 
der  Magendrüsenfunktion,  d.  h.  der  Magensaftabscheidung.  Nach 
pharmakodynamischen  Prinzipien  kann  man  folgende  Arten  von  die 
Magensekretion  beeinflussenden  Körpern  unterscheiden: 

I.  Körper,  welche  vom  Zentralnervensystem  aus  die  Sekretion 
beeinflussen.  Die  Reaktion  der  Magendrüsen  ist  hier  keine  spezifische, 
sondern  eine  bloße  Teilerscheinung,  eine  Mitbeteiligung  an  der  Reaktion 
verschiedener  Organe  auf  die  betreffende  Substanz. 

II.  Körper,  welche  durch  primäre  Erregung  anderartiger  nervöser 
Impulse  (z.  B.  Geschmacksnerven)  sekundär  die  Magendrüsenfunktion 
beeinflussen. 

IIL  Körper,  die  ihre  Dynamik  lokal  im  Magen  ansetzen,  aber 
direkt  auf  die  Magendrüsen  einwirken. 

IV.  Körper,  die  auf  dem  Blutwege  auf  die  Magensaftabscheidung 
einwirken  (rektale  Anwendung  succogener  und  pepsinogener  Sub- 
stanzen). 

Diese  Einteilung  ist  vom  physiologisch -pharmakodynamischem 
Standpunkte  aus  wohl  interessant,  vom  Gesichtspunkte  der  Therapie 


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242  P.  Rodari,  [6 

aus  aber  empfiehlt  sich  eine  mehr  praktische  Einteilung  nach  der 
chemischen  Beschaffenheit  der  Substanzen.  Bei  der  Besprechung 
der  betreffenden  Körper  soll  natürlich  obige  Einteilung  auch  berück- 
sichtigt werden. 

So  wollen  wir  Folgende  Hauptgruppen  von  die  Magensaftabscheidung 
beeinflussenden  Körpern  unterscheiden: 

I.  Das  Wasser,  die  Kohlensäure,  die  Alkalien  und  Typen 
von  Mineralwässern. 

IL  Gewisse  Adstringentien. 

IIL  Gewisse  Metalle. 

IV.  Gewisse  Nervengifte  der  Alkaloidreihe  (nach  Schmiede- 
berg). 

V.  Die  Stomachika  (im  engeren  Sinne  des  Wortes). 

Wenn  nun  nach  diesem  Plane  die  Beeinflussung  der  Magensaft- 
sekretion in  pharmakodynamischem  und  therapeutischen  Sinne  unter- 
sucht werden  soll,  so  muß  man  sich  zunächst  vergegenwärtigen,  daß 
eine  genaue  experimentelle  Erforschung  dieser  Verhältnisse  erst 
durch  die  von  Pawlow  eingeführte  und  von  seinen  Schülern  weiter 
ausgebeutete  Methode  möglich  geworden  ist.  Auch  meine  Unter- 
suchungen, soweit  sie  tierexperimenteller  Natur  sind,  wurden  nach 
dieser  Methode  an  der  experimentell-biologischen  Abteilung  des 
Pathologischen  Institutes  zu  Berlin  angestellt,  indem  ich  hierfür  Hunde 
benutzte,  welche  zum  Teil  von  Herrn  Prof.  Dr.  Bickel,  zum  Teil  von 
mir  selbst  nach  Pawlow  operiert  worden  waren.  Es  sei  mir  gestattet, 
an  dieser  Stelle  auf  die  Art  und  das  Prinzip  der  Technik  dieser 
Operation  kurz  einzugehen. 

Die  Pawlow  sehe  Operation  hat  zunSchst  eine  Analogie  in  der  viel  älteren 
Methode  von  Thiry,  der  schon  im  Jahre  1864  am  Dünndarm  von  Hunden  einen 
nach  außen  mündenden  Blindsack  herstellte.  Aus  einer  Darmschlinge  schnitt 
Thiry  ein  zylindrisches  Stück  Darm  heraus,  bildete  aus  diesem  einen  Blindsack, 
der  nach  innen  (nach  dem  Darme  zu)  abgeschlossen  war  und  nach  außen  offen  in 
die  Bauchwunde  eingeniht  wurde.  So  konnte  reiner,  nicht  mit  Darminhalt  ver- 
mischter Darmsaft  gewonnen  werden.  Diesen  Gedanken  verwertete  später  Heiden- 
hain,  indem  er  einen  solchen  Blindsack  aus  dem  Fundus  des  Magens  bildete. 
Dieser  Blindsack  ergoß  so  sein  Sekret  nach  außen  und  die  Drüsenarbeit  in  diesem 
war  in  gewissem  Grade  der  Abklatsch  in  verkleinerten  Maßstabe  von  der  Drüsen- 
arbeit des  großen  Magens.  Dieses  Spiegelbild  war  aber  ein  ungenaues,  ein  ver- 
zerrtes, weil  Heidenhain  durch  die  Art  der  Schnittführung  bei  seiner  Operation 
die  Vaguszweige  zum  großen  Teil  durchschnitten  hatte.  Pawlow  ging  nun  bei  der 
Verbesserung  dieser  Methode^)  von  der  Erkenntnis  aus,  daß  die  Drüsenfunktion  des 
kleinen  Magens  nur  dann  mit  derjenigen  des  großen  Magens  parallel  läuft  und 
qualitativ  wie   quantitativ    koinzidiert,    wenn    die  am   Magen    längs    verlaufenden 


1)  Vgl.  Pawlow,  Die  Arbeit  der  Verdauungsdrüsen.  Verlag  von  J.  F.  Bergmann, 
Wiesbaden  1898. 


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7]       Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      243 

Vigusverzweigungen  bei  der  Operation  intakt  gelassen  werden.  Nach  diesem  Prinzip 
vird  auch  an  der  experimentell-biologischen  Abteilung  des  Pathologischen  Institutes 
in  Berlin  operiert.  Hierzu  werden  nur  ausgewachsene,  große,  kriftige  und  gesunde 
Hunde  verwendet.  Vor  der  Operation  bekommt  das  nüchterne  Tier  eine  Morphium- 
dosis von  0,05  subkutan,  einerseits  damit  es  eventuelle  Nahrungsreste  noch  tüchtig 
ansbricht,  andererseits  zur  Erleichterung  der  Narkose.  Auf  dem  Operationstische 
anfgespannt,  wird  das  Tier  am  Abdomen  rasiert,  mit  Schmierseife  gewaschen  und 
mit  Sublimatldsung  und  Alkohol  desinfiziert.  Äthernarkose.  Die  Vorbereitungen 
des  Operateurs  und  des  Materials  zur  Operation  entsprechen  genau  den  Grund- 
atzen der  Aseptik  wie  bei  Operationen  am  Menschen.  Mittels  eines  ca.  15  cm 
langen  medianen  Lingschnittes  wird  dfe  Bauchhöhle  eröffbet  und  der  Magen  wird 
in  toto  hervorgezogen.  In  der  Längsachse  des  Organes,  im  Fundusteile  an  der 
großen  Kurvatur,  wird  dieses  nun  da,  wo  man  den  Blindsack  abtrennen  will,  mit 
zwei  einander  parallel  verlaufenden,  ca.  2  cm  voneinander  getrennten  Klemmzangen 
(Darmklemmen)  abgeklemmt. 

Nach  Unterbindung  der  auf  der  Serosa  verlaufenden  Zweige  der  Arteria  coron. 
ventr.  wird  nun  zwischen  den  Klemmen  die  vordere  und  hintere  Magenwand  ge- 
nannt Der  Schnitt  an  der  großen  Kurvatur,  etwa  2  cm  von  Pylorus  entfernt,  wird 
10—12  cm  fortgesetzt,  immerhin  so,  daß  am  obersten  Teile  des  Fundus  noch  eine 
intakte  Brücke  von  5—6  cm  Breite  besteht.  Dadurch  wird  der  Magen  in  einen 
großen  und  einen  kleinen  Teil  geschieden,  aus  denen  der  große  und  der  kleine 
Magen  gebildet  werden. 

Abnahme  der  Klemmen,  Unterbindung  der  blutenden  kleineren  Geßße.  Sodann 
wird  von  den  Schnittflichen  der  beiden  getrennten  Magenteile  aus  die  Mukosa  ab- 
pripariert,  wobei  Muskularis  und  Serosa  nicht  verletzt  werden  sollen.  Am  großen 
Magen  erfolgt  die  Abtrennung  der  Schleimhaut  in  einer  Breite  von  1V2— 2  cm,  am 


Grosser  I 

Kleiner  Magen 


kleinen  Magen  hingegen  von  2V2~3  cm.  Die  beiden  Magenteile  sollen  nun  an 
ihren  Grundflächen  verschlossen  werden,  und  zwar  zuerst  der  große  Magen.  Hierzu 
werden  zunächst  die  abpriparierten  Schleimhautflichen  der  vorderen  und  hinteren 
Magenwand  durch  Tabakbeutelnaht  miteinander  nach  innen  vernäht;  dann  erfolgt 
die  Naht  der  Muskularis  und  der  Serosa.  Ähnlich  ist  der  Vorgang  am  kleinen 
Magen;  nur  handelt  es  sich  hier  in  erster  Linie  darum,  diesen  zu  einem  wirklichen 
Blindsacke  zu  gestalten,  in  der  Art  und  Weise,  daß  keine  offene  Kommunikation 
zwischen  der  intakt  gebliebenen  Brücke  und  dem  kleinen  Magen  bestehen  darf. 
Deshalb  wird  aus  seiner  abpräparierten  Schleimhaut  eine  Kuppel  gebildet,  deren 
Konvexität  nach  der  Brücke  gerichtet  ist.  Darauf  wird  auch  der  kleine  Magen  ge- 
schlossen, zunächst  durch  Tabakbeutelnaht  die  Schleimhaut,  resp.  die  Ränder  der 


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244 


P.  Rodari, 


(8 


Sero6d 


Mu6cutdri5 
MucMa 


eptum 


Kleiner  Magen 


Kuppel,  dann  erfolgt  die  Naht  der  Muskulatur  und  der  Seresa.  Großer  und  kleiner 
Magen  sind  so  durch  ein  zweifaches  Septum  getrennt:  einerseits  durch  die  an  dieser 

Stelle  intakte  Sohleimhautkuppel 
des  kleinen  Magens,  andererseits 
durch  die  in  der  Mitte  vernähten 
eigenen  Mukosa  (des  großen 
Magens  an  der  Brücke). 

Der  kleine  Magen  stellt  so 
ein  zylinderförmiges  distal  zu- 
gespitztes Gebilde  vor,  dessen 
Öffhung  nun  in  die  Bauchwunde 
eingenftht  wird.  Letztere  wird 
bis  auf  die  AusmQndung  des 
Blindsackes  durch  drei  Etagen- 
nShte  geschlossen  und  mitjodo- 
forrogaze  und  Jodoformkollodium 
bedeckt.  —  Ein  solch  operiertes 
Tier  ist  bei  günstigem  Verlaufe 
nach  etwa  einer  Woche,  höchsten 
10 Tagen  experimentierfihig,  wie- 
wohl in  den  meisten  FSllen  trotz  aller  Vorsichtsmaßregeln  die  Heilung  der  Bauch- 
wunde, d.h.  ihrer  Muskulatur  und  Haut  per  primam  nur  ausnahmsweise  erreich- 
bar ist. 

Zur  Vornahme  der  unten  beschriebenen  Experimente  wurden  nur  Tiere  ver- 
wendet, welche  sich  von  der  Operation 
-Kleiner Magen  8"*  ^^^^^^  hatten,  munter  waren,  mit 

gutem  Appetit  fraßen  und  keine  Tem- 
^Perforierter  Gummidrain  peraturerhöhungen  aufwiesen.  Auch 
wurden  die  Tiere  erst  dann  benutzt, 
wenn  das  aus  dem  Blindsack  aufge- 
fangene Sekret  von  Wundprodukten 
(Blut,  Eiter)  möglichst  rein  war.  Die 
Hauptbedingung  zur  Versuchsanord- 
nung ist  nun  ein  vollständiges  Nfich- 
temsein  der  Tiere,  d.  h.  die  auf  die 
Nahrung  erfolgende  Sekretion  mußte 
gSnzlich  abgelaufen  sein.  Die  Tiere 
wurden  also  nüchtern  gestellt.  Bei 
Fütterung  ausschließlich  mit  Pferde- 
fleisch war  dies  schon  nach  10  bis 
12  Stunden  der  Fall,  auf  eine  ge- 
mischte auch  viel  Kohlehydrate  ent- 
haltende Kost  hin  mußte  man  bis 
zur  völligen  Versiegung  der  Sekretion 
durchschnittlich  14— 16  Stunden  warten. 
— -  Das  nüchterne  Tier  wird  nun  in  einem  Gestelle  aufgestellt  und  am  Vorder*  und 
Hinterkörper  zur  möglichsten  Ausschaltung  der  Ermüdung  mit  Tüchern  leicht 
suspendiert.  Es  soll  dabei  möglichst  im  psychischen  Gleichgewichte  bleiben,  ds 
seine  Intelligenz  nach  Pawlows  klassischen  Versuchen  auf  Störungen  auch  mit 
besonderen  Sekretipnsvorgingen  Im  Magen  reagieren  kann.  Vor  allem  darf  das  Tier 
keine  Nahrung  sehen  oder  riechen,  denn  sofort  würde  die  damit  assoziierte  Vor- 


4ft 


Flasche 


Klemme  — z 

Graduierter 
Me66cylinder 


Qummldraln 


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9]       Experimentelles  und  KUnisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      245 

stelluns  des  Fressens,  die  Freßlust  „psychischen  Appetitsaft''  auslösen  und  damit 
den  Gang  der  Versuche  erheblich  verändern.  Im  umgekehrten  Sinne  würde  Ärger 
wirken  (z.B.  Vorbalten  einer  Katze  nach  Bickels  Versuch). 

In  die  Öffoung  des  Blindsackes  wird  nun  ein  Gummidrain  eingeführt,  welches 
mit  der  sog.  «Pincussohnschen  Magenflasche''  verbunden  wird.  Der  Apparat 
wird  mittels  einer  um  den  Leib  des  Hundes  geschlungenen  Binde  festgehalten. 

Aus  dieser  Flasche  wird  von  Zeit  zu  Zeit  der  Magensaft  entnommen  und  unter* 
sacht,  wie  weiter  unten  niher  beschrieben  werden  soll. 

Betrachten  wir  nun  die  BeeinfluObarkeit  der  Magensekretion  in 
physiologischer  und  therapeutischer  Hinsicht  durch  die  Körper  der 
oben  aufgestellten  Gruppe  und  zwar  zunächst  durch: 


L  Das  Wasser,  die  Kohlensäure, 
Alkalien  und  Typen  von  Mineralwässern. 

Das  Quellwasser,  wie  das  chemisch  reine  destillierte  Wasser  ist 
ffir  die  Magensaftsekretion  keine  ganz  indifferente  chemische  Ver** 
bindung.  Daß  es  eine  geringe  Sekretion  im  Magen  hervorruft,  werden 
wir  in  den  folgenden  Versuchen  öfters  sehen. 

Eine  erheblich  größere  Anregung  erfährt  die  Drüsensekretion  des 
Magens  durch  die  im  Wasser  suspendierte  Kohlensäure.  Vom 
klinischen  Standpunkte  aus  wird  diese  schon  im  Jahre  1884  von 
Jaworski')  empfohlen,  indem  dieser  Autor  ihr  einerseits  eine  Steige- 
rung der  darniederliegenden  Sekretion  bei  subaziden  Formen  von 
Magenaffektionen  nachrühmt,  andererseits  ihr  auch  eine  tonisierende 
Wirkung  auf  die  Atonie  der  Muskeln  zuschreibt.  Durch  Anregung 
der  Magensaftabscheidung  soll  sie  auch  den  Appetit  befördern.  Diese 
Auffassungen  bestätigt  Pentzoldt.^)  Die  Salzsäuresekretion  des 
Magens  beginnt  nach  seinen  Beobachtungen  früher  unter  der  Ein- 
wirkung der  Kohlensäure  und  erreicht  höhere  Grade,  auch  die  Moti- 
lität des  Magens  wird  gesteigert,  indem  die  Aufenthaltsdauer  der 
Speisen  im  Magen  je  nach  deren  Beschaffenheit  um  V2— %  Stunden 
abgekürzt  wird.  Weidert^)  bestätigte  neulich  diese  klinischen  Beob« 
achtungen.  In  neuester  Zeit  hat  Pincussohn^)  den  sekretions- 
steigernden  Einfluß  der  COg  auf  die  Magensaftabscheidung  an  Paw- 
lowschen  Hunden  experimentell  nachgewiesen,  indem  er  in  der 
Mehnahl  der  Fälle  eine  quantitative  Steigerung  und  eine  qualitative 
Erhöhung  (erhöhte  Konzentration)  des  Sekretes  fand.    Schmiede- 


1)  Berl.  klin.  Wochenschr.  1884,  Nr.  33. 

2)  Deutsches  Arcb.  f.  klin.  Med.  1902,  Bd.  73. 

3)  Inaugoraldisttrtation   ErlaDgen  1903. 

4)  Arbeiten  aus  dem  Path.  Inst,  zu  Berlin  1906. 


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246  P.  Rodari,  [la 

berg^)  verlegt  den  Angriffspunkt  dieses  chemischen  Körpers  auf  die 
Schleimhaut  bzw.  die  Drüsen  des  Magens  selbst,  indem  er  sich  dar- 
über folgendermaßen  äußert: 

„Die  Erklärung  für  die  heilsamen  \7irkungen  dieser  gasförmigen  Säure  ist  darin 
zu  suchen,  daß  sie  auch  bei  Gegenwart  von  Alkalien  wirksam  bleibt.  Sie  durch- 
dringt die  Magenwandung  von  allen  Seiten  und  wird  dann  nicht  wie  andere  Säuren 
in  den  Geweben  vollständig  neutralisiert,  sondern  ist  hier  bei  genügender  Menge 
gleichzeitig  als  Bikarbonat  und  im  absorbierten  Zustande  erhalten.  In  dieser  \7eise 
vermag  die  C02  die  Funktion  der  Gewebe  anzuregen,  ohne  die  wesentlichen  Eigen- 
schaften der  Alkalien  aufzuheben.  Dazu  kommt  als  weiteres  günstiges  Moment, 
daß  die  Erregung  stets  eine  mäßige  bleibt  und  daher  niemals  durch  ein  Übermali 
schaden  kann.^ 

Diese  pharmakologischen  Wirkungen  der  CO2  indizieren  ihre  An- 
wendung sowohl  bei  akuten,  wie  auch  bei  gewissen  subaziden  Formen 
von  chronischen  Gastritiden  und  anderen  mit  Sekretionsverminderung 
einhergehenden  Magenerkrankungen.  Auch  die  Wirkung  mancher 
Mineralwässer  beruht  teilweise  auf  der  Anwesenheit  von  CO2  (siehe 
unten). 

Von  nicht  geringerer,  eher  noch  von  größerer  therapeutischer 
Bedeutung  für  die  Sekretionsbeeinflussung  der  Tätigkeit  der  Magen- 
drüsen sind  die  Alkalien.  Zur  Gruppe  der  Alkalien  in  engerm 
Sinne  rechnet  Schmiedeberg  pharmakologisch  „alle  Verbindungen 
der  Alkali-  und  Erdmetalle,  welche  basische  Eigenschaften  (alkalische 
Reaktion)  besitzen  und  keine  giftig  wirkenden  Komponenten  enthalten'^. 
Therapeutisch  kämen  die  Salze  der  Alkali-,  der  Erdalkalimetalle  und 
der  Magnesiumgruppe  in  Betracht,  in  praktisch-klinischer  Hinsicht 
und  pharmakodynamisch  erforscht  sind  nur  einzelne  Verbindungen 
bestimmter  Vertreter  dieser  Gruppen. 

Unter  den  Salzen  der  Alkalimetalle,  überhaupt  unter  allen  hier  in 
Anwendung  kommenden  Alkalien  spielt  therapeutisch  die  wichtigste 
Rolle  das  Kochsalz,  das  Natriumchlorid;  in  erster  Linie  deshalb, 
weil  es  neben  der  CO2  in  den  Kochsalzq^uellen  den  einzigen 
pharmakodynamisch  wirkenden  Bestandteil  bildet,  da  andere  chemische 
Körper  nur  in  minimaler  Quantität  vorhanden  sind.  Bei  den  Phy- 
siologen und  Klinikern  war  die  Frage  der  Wirkung  von  Na  Gl  auf 
die  Magensaftsekretion  eine  langumstrittene.  In  klinisch-experimeii- 
teller  Hinsicht  standen  sich  die  Stimmen  maßgebender  Forscher  ein- 
ander entgegengesetzt  gegenüber:  Beispielsweise  schrieb  Frerichs^) 
dem  NaCl  eine  günstige  Einwirkung  auf  die  Magensaftabscheidung 
und  auf  den  Peptonisierungsvorgang  im  Magen  zu,  während  Reich- 
mann^)   eine   gegenteilige  Wirkung  des  Kochsalzes   annahm.     Diese 

1)  Grundriß  der  Pharmakologie.  1906. 

2)  Vgl.  Boas,  Diagnostik  und  Therapie  der  Magenkrankheiten.  1907. 

3)  Arch.  f.  exp.  Pathologie  und  Pharmakologie  1887,  Bd.  24. 


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11]      Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      247 

soll  Dicht  in  einer  Steigerung,  sondern  in  einer  Hemmung  der  Drüsen- 
tätigkeit beruhen  und  zwar  nicht  allein  bei  starken  Konzentrationen 
(S— 10%),  sondern  auch  bei  schwachen  Lösungen  (1—2%).  Die  Ab- 
nahme der  Azidität  erklärt  Reichmann  einerseits  durch  Annahme 
einer  den  Mageninhalt  neutralisierenden  Transsudation  aus  den  Blut- 
gefäßen, andererseits  durch  vermehrte  Schleimabsonderung.  —  Löwen- 
thal^)  weist  hingegen  auf  die  klinischen  Erfolge  hin,  die  er  durch 
Berieselung  des  Magens  mit  warmer  physiologischer  NaCl-Lösung 
erzielt.  Die  verminderte  Sekretion  konnte  er  hierdurch  bedeutend 
erhöhen. 

Das  entscheidende  Wort  in  dieser  Kontroverse  hat  zunächst  seit 
Jahrzehnten  die  Empirie  gesprochen,  welche  durch  die  gewiegten 
Stimmen  reichlicher  Erfahrung  von  Ewald,  Riegel,  Boas  u.  a.  ge- 
äußert wurde,  daß  der  mehrwöchige  Gebrauch  gewisser  Kochsalz- 
quellen subazide  Zustände  der  Magensekretion  erheblich  bessern,  ja 
sogar  zur  Heilung,  d.  h.  zur  normalen  Azidität  führen  könne.  Solche 
Beobachtungen  kann  auch  der  Praktiker  vielfach  machen,  und  auch 
ich  ^  habe  darauf  hingewiesen,  daß  der  zu  lange  fortgesetzte  Gebrauch 
einer  Kochsalzquelle  eine  Gastritis  subacida  in  eine  hyperacida  über- 
fuhren kann. 

Warum  steht  in  diesem  Falle  die  Empirie  in  einem  Gegensatze 
zu  den  Resultaten  der  Untersuchung  mancher,  gewiß  auch  recht  zu- 
verlässiger Beobachter,  wie  z.B.  Reichmanns?  Aus  verschiedenen 
Gründen:  Erstens  ist  die  Wirkung  der  NaCl-Lösungen  und  -Quellen 
auf  den  kranken  menschlichen  Magen  keine  rasche,  sondern  stellt 
sich  erst  nach  längerer  Anwendung  (Kuren  von  mehreren,  3—4  Wochen) 
ein;  zweitens  ist  diese  Wirkung  an  eine  bestimmte,  besonders  nach 
oben  abgegrenzte  Konzentration  an  Kochsalz  gebunden;  drittens  ist 
nicht  nur  nach  klinischen  Erfahrungen,  sondern  auch  nach  Analogie 
meiner  eigenen,  allerdings  mit  andern  Medikamenten  durchgeführten, 
unten  erwähnten  Untersuchungen  anzunehmen,  daß  die  entzündlich 
veränderte  Magenschleimhaut  wohl  auch  auf  das  Na  Gl  wenigstens 
graduell  anders  reagiert  als  die  anatomisch  intakte  Mukosa. 

Die  empirischen  Tatsachen  haben  im  Laufe  der  letzten  Jahre  eine 
einwandsfreie  Bestätigung  ihrer  Richtigkeit  in  biologischen  Experi- 
menten gefunden,  welche  am  Pathologischen  Institut  zu  Berlin  an 
nach  Pawlow  operierten  Hunden  angestellt  wurden.  So  prüfte  zu- 
nächst Bickel^)  die  Kochsalzquellen,  speziell  den  Wiesbadener 
Kochbrunnen,  und  kam  zu  folgenden  Resultaten: 

1)  Berl.  lilin.  Wochenschr.  1893,  Nr.  47  tf, 

2)  Berl.  iLün.  Wochenschr.  1906,  Nr.  23. 

3)  Berl.  iLlin.  Wochenschr.  1906,  Nr.  2. 


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248  P.  Rodarl,  [12 

«Die  KohlensSure  und  das  Kochsalz  der  Kochsalzwässer  begünstigen  die  sekre- 
torische Arbeit  der  Magenschleimhaut.  Bei  einem  Vergleich  des  Einflusses  der 
Kochsalzwässer  mit  demjenigen  gewöhnlichen  Leitungswassers  findet  man,  daß 
große  Unterschiede  hinsichtlich  der  abgeschiedenen  Sekretmenge  jedenfalls  nicht 
bestehen,  daß  man  aus  den  Sekretionskurven  höchstens  die  Tendenz  herauslesen 
kann,  es  werde  durch  die  Kochsalzwässer  die  Saftproduktion  befördert.  Bei  einem 
Hunde  mit  chronischem  subazidem  Katarrh  des  großen  und  des  kleinen 
Magens  erfuhr  unter  dem  Eindruck  der  Gabe  eines  Kochsalzwassers  der  Säuregehalt 
des  vom  kleinen  Magen  abgeschiedenen  Sekretes  eine  deutliche  Steigerung.* 

Einen  Schritt  weiter  ging  Baumstark^),  der  ebenfalls  zuerst  am 
Tierexperimente  nachwies,  daß  die  Intensität  der  Saftsteigerung  bei 
den  verschiedenen  Kochsalzquellen  variiert,  indem  bei  den  Hom- 
burger  Quellen  die  Fähigkeit  der  Saftvermehrung  als  bedeutend 
großer  festgestellt  wurde  als  die  des  Wiesbadener  Kochbrunnens* 
An  der  Hand  vieler  einwandfreier  Versuche  nimmt  Baumstark  für 
die  Homburger  Kochsalzwässer  in  Anspruch: 

„daß  sie  nicht  wie  die  von  Bickel  und  seinen  Mitarbeitern  untersuchten  Koch- 
salzwässer höchstens  die  Tendenz  einer  Saftvermehrung  erkennen  lassen,  sondern 
daß  sie  die  Saftsekretion  der  Magenschleimhaut  beim  Tier  und  dem  erwachsenen 
Menschen  in  außerordentlich  starkem  Maße,  um  durchschnittlich  74,1  %  (gegen- 
über der  Wirkung  gewöhnlichen  Wassers)  erhöhen.^ 

Von  größter  Wichtigkeit  für  die  Therapie  ist  nun  der  Umstand^ 
daß  dieser  Autor  durch  einen  glücklichen  Zufall  die  Frage  der 
Obertragbarkeit  dieser  Resultate  vom  Tierexperiment  auf 
den  Menschen  lösen  konnte.  Baumstark  konnte  nämlich  an  einem 
von  Prof.  Gluck  wegen  vollständiger  Ösophagusstenose  operierten 
23jährigen  Mädchen  mit  gesunder  Magenschleimhaut  experimentieren. 
Der  Patientin  war  vor  8  Jahren  eine  Gastrostomie  und  vor  einem 
Jahre  zu  therapeutischen  Zwecken  eine  Ösophagotomie  angelegt. 
Der  zentrale  Ösophagusteil  wurde  vernäht  und  versenkt,  der  peri- 
phere zu  einer  Ösophaguslistel  ausgebildet.  Zur  Erhaltung  des  Kau- 
aktes, der  Einspeichelung  des  Bissens  und  zur  Ermöglichung  der 
Speichelverdauung  konnten  Ösophagus-  und  Mageniistel  durch  einen 
Schlauch  miteinander  verbunden  werden.  An  dieser  Patientin  ex- 
perimentierte nun  Baumstark  mit  den  verschiedenen  Kochsalz- 
quellen von  Homburg  und  kam  zu  dem  obenerwähnten,  das  Tier- 
experiment völlig  bestätigenden  Resultate.  Besonders  bemerkenswert 
dabei  ist  der  Umstand,  daß  beim  Menschenexperiment  „die  Ver- 
dauung der  quantitativen  Magensaftabscheidung  dem  Kochsalzgehalt 
der  verschiedenen  Brunnen  proportional  ist.  Das  Optimum  liegt  beim 
Landgrafbrunn  mit  1,4%  Na  Gl,  dann  folgt  die  Elisabethquelle  mit 
etwa  1  %  Kochsalzgehalt  und  erst  zuletzt  der  Ludwigsbrunnen  mit  nur 


1)  Arch.  f.  Verdauungskrankheiten  1906,  Bd.  12,  Heft  3. 


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13]      Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      249 

0,7%.*  Diese  Beobachtungen  sprechen  gegen  die  bisher  übliche  em- 
pirische Annahme  eines  Optimums  bei  ungefähr  1%  und  einer  Ab- 
nahme der  Wirk:ungy  wenn  ein  Wasser  mehr  als  etwa  1%  Kochsalz 
enthalf. 

Des  weitern  ist  für  die  Praxis  an  dieser  Arbeit  der  Umstand 
wichtig,  daß  Baumstark  am  Tierexperiment  nachweisen  konnte,  daß 
die  sekretionssteigernde  Wirkung  der  Na  Cl -Wässer  nur  dann  eintritt, 
wenn  das  Wasser  erstens  nüchtern  gegeben,  und  zweitens  die 
Nahrung  erst  dann  aufgenommen  wird,  wenn  das  Mineralwasser 
den  Magen  vollständig  verlassen  hat,  d.  h.  die  Verdauungs- 
periode muß  von  der  Mineralwasserveräbreichung  durch  eine  ge- 
nügend lange  Pause  getrennt  sein.  Kochsalzbeimengung  zur  Nahrung 
hemmt  nämlich  die  Saftabscheidung  in  hohem  Grade;  an  Tierexperi- 
menten  war  die  Gesamtsaftmenge  der  Na  Cl -Wasserperiode  um  43 
bzw.  58,8%  herabgesetzt  gegenüber  der  Gesamtsaftmenge  der  Wasser- 
periode (150  ccm  mit  150  ccm  Milch).  Diese  Hemmung  der  Sekretion 
durch  Na  Cl- Lösungen,  bei  oder  nach  der  Mahlzeit  aufgenommen, 
bestätigt  auch  Frl.  Rozenblat^)an  ähnlichen  Versuchen,  nach  welchen 
die  Intensität  der  Saftverminderung  der  Konzentration  an  Kochsalz 
proportional  ist,  je  konzentrierter  die  Lösung,  desto  intensiver  wird 
die  Abscheidung  des  Magensafts  gehemmt.  Auch  die  Sekretions- 
steigerung vor  der  Mahlzeit  eingenommen  wird  hier  bestätigt,  am 
besten  ist  die  Wirkung,  wenn  das  Wasser  eine  Stunde  vor  der  Ver- 
dauungsperiode genommen  wird. 

Mit  den  gleichen  Resultaten  studierten  Rheinb.oldt  die  Wirkung 
des  Kissinger  Rakoczy -Wassers,  Heinsheimer^)  die  der  Baden- 
Badener  Hauptstollenquelle  und  Sasaki^)  die  des  Ostseewassers. 

Damit  ist  durch  diese  übereinstimmenden  Ergebnisse  die  sekretions- 
steigernde Wirkung  des  NaCl  und  der  Kochsalzwässer  endgültig  er- 
wiesen, aber  damit  noch  nicht  die  Art  und  Weise,  wie  diese  Wirkung 
zustande  kommt:  ihr  Mechanismus.  Schmiedeberg  sucht  diesen, 
soweit  es  sich  um  eine  Erklärung  der  günstigen  Wirkung  bei  gewissen 
Magenerkrankungen  (subaziden  Gastritiden)  handelt,  in  einer  Art  nutri- 
tiver Reizung  des  Gewebes  der  Schleimhaut  und  damit  auch  der 
Drüsen*    So  äuOert  er  sich  folgendermaßen: 

«Bei  chronischen  Erkrankungen  des  Magens  ist  der  kurgemSße  Gebrauch  der 
Kochsalzquellen  in  vielen  Fällen  vorteilhaft.  Die  Besonderheit  der  Salzwirkung 
gegenüber  anderen  Reizmitteln  ist  darin  zu  suchen,  daß  die  Salzlösung  nicht  bloß 
die  Oberfläche  bespult,  sondern  gleichsam  in  breitem  Strome  tief  in  die  Schichten 


1)  Inauguraldissertation  Berlin  1907. 

2)  Arch.  f.  Verdauungskrankheiten  1906,  Bd.  12,  Heft  2. 

3)  Ebenda,  Heft  3. 


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250  P.  Rodari,  [14 

der  Magenschleimhaut  eindringt  und  die  Ernährungszustände  derselben  infolge  der 
konstanten  und  ein  gewisses  Maß  nicht  überschreitenden  nutritiven  Reizung 
in  günstiger  Weise  verändert.** 

Diese  Auffassung  gewährt  uns  aber  noch  keine  genauere  Einsicht 
in  den  Mechanismus  der  Salzwirkung  auf  die  Drüsenfunktion.  Dies 
sucht  Wohlgemut  hl)  an  Tierexperimenten  zu  erreichen,  aber  trotz 
seines  interessanten  Endresultates  muß  die  Frage,  ob  hierbei  eine 
direkte  Einwirkung  auf  die  Magen-  resp.  Drüsennerven  stattfindet, 
oder  ob  die  Blutintervention  zu  Hilfe  genommen  werden  muß,  offen 
gelassen  werden.  Wohlgemuth  hat  nachgewiesen,  daß  das  in  den  Magen 
eines  chlorarmen  Hundes  (mehrtägige  Fütterung  mit  ausschließlich 
ausgekochtem  Pferdefleisch)  eingeführte  NaCl  einen  solchen  Reiz  auf 
die  Magenschleimhaut  bzw.  Magennerven  auszuüben  vermag,  daß  der 
Magen,  der  bis  dahin  (im  Chlorhunger)  nur  äußerst  spärliche  Mengen 
von  Saft  produzierte,  fast  mit  einem  Schlage  einen  reichen  Saftstrom 
von  annähernd  normaler  Konzentration  entwickelt.  Ob  es  sich  hier 
um  eine  direkte  Einwirkung  auf  die  Magenschleimhaut  und  Magen- 
nerven handelt,  oder  ob  diese  vom  Blute  aus  erfolgt,  das  dabei  eine 
Anreicherung  durch  Kochsalz  erfahren  hat,  läßt  der  Autor  dahingestellt. 
Daß  in  der  Tat  in  das  Blut  eingeführtes  Kochsalz  die  Sekretion  der 
Magendrüsen  erhöht,  haben  Versuche  von  Braun,  Grützner  und 
Boas  übereinstimmend  ergeben. 

Bei  der  Frage  nach  der  Pharmakodynamik  der  Mineralwässer  spielt 
in  neuester  Zeit  die  Radioaktivität  eine  gewisse  Rolle.  So  stellten 
Bergeil  und  Bickel^)  am  natriumhaltigen  Wiesbadener  Kochbrunnen 
eine  Erhöhung  der  fermentativen  (Pepsin-)  Wirkung  des  Magensaftes 
durch  Messung  der  peptischen  Eiweißverdauung  nach  Mette  fest, 
während  emanationsfreies  Wiesbadener  Wasser  auch  die  Pepsin- 
wirkung, ähnlich  wie  die  Salzsäureabscheidung  während  der  Ver<- 
dauungsperiode  eingenommen,  hemmt,  und  Rheinboldt^)  wies  an 
der  Kissinger  Rakoczyquelle,  sofern  diese  frische  Radiumemanation 
enthält,  oder  nach  deren  Verlust  (nach  48  Stunden)  dieselbe  wieder 
auf  künstlichem  Wege  nach  dem  System  Bergell^)  zugeführt  bekam, 
eine  bakterizide  Wirkung  (auf  den  Bacillus  prodigiosus)  nach.  Die 
ersten  beiden  Autoren  streifen  nur  beiläufig  die  Frage,  ob  die  Radio- 
aktivität auch  die  Menge  'der  Salzsäureabscheidung  beeinflusse,  und 
kommen  dabei  zur  Auffassung  einer  indifi^erenten  Einwirkung  des 
Radiums.   Dies  veranlaßte  mich  die  Einwirkung  radioaktiven  Salzes 


1)  Arb.  aus  dem  Patholog.  Institut  zu  Berlin  1905. 

2)  Kongr.  Wiesbaden  1905  und  Zeitschr.  f.  klin.  Med«  1905,  Bd.  58,  Heft  3. 

3)  Berl.  klin.  Wochenschr.  1906,  Nr.  20. 

4)  Arb.  aus  dem  Pharmakol.  Institut  Berlin  1906. 


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15]     Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      251 

auf  die  Saftabscheidung  am  Tierexperimente  nachzuprüfen.  Dazu  be- 
nutzte ich  sog.  Emanosalkapseln  nach  den  Angaben  von  Reitz 
durch  die  Höchster  Farbwerke  dargestellt.  Die  Radiumemanation 
ist  dann  an  0,5  g  NaCl  gebunden.  Die  Radioaktivität  beträgt  20000 
Voh  pro  Stunde,  d.  h.  löst  man  eine  solche  Kapsel  in  einer  beliebigen 
Quantität  Wasser  auf,  etwa  in  200  g,  und  ^  prüft  man  den  Einfluß 
dieser  Lösung  auf  die  Leitungsfähigkeit  eines  abgeschlossenen  Luft- 
raumes, so  erleidet  ein  in  diesen  Raum  hineingebrachtes  Elektroskop 
pro  Stunde  einen  Spannungsabfall  von  20000  Volt,  gemessen  am 
Sengler-Sievekingschen  Apparat  (Mitteilung  vom  Erfinder  Dr.  Hans 
Reitz,  Berlin-Schmargendorf)*  Die  Versuchsanordnung  war 
folgende:  Zwei  nach  Pawlow  operierte  Hunde  wurden  nüchtern  ge- 
stellt. Zunächst  wurde  ihnen  je  200  ccm  Leitungswasser  mit  Zusatz 
von  0,5  bzw.  1,0  g  NaCl  entsprechend  einer  resp.  zwei  Emanosal- 
kapseln durch  die  Schlundsonde  eingegossen.  Darauf  wurde  die  aus 
dem  kleinen  Magen  in  der  Zeiteinheit  von  einer  halben  Stunde  sezer- 
nierte  Saftmenge,  sowie  das  während  der  ganzen  Sekretionsdauer 
abgeschiedene  Saftquantum  gemessen  und  untersucht.  Diese  Werte 
dienen  als  Vergleich  zu  der  analogen  Versuchsanordnung,  bei  welcher 
an  Stelle  des  Emanosal  das  entsprechende  Quantum  gewöhnlichen 
Kochsalzes  gegeben  wurde. 

Versuch  Nr.  1  am  Hund  „Karo*. 


200  ccm  destilliertes  Wasser 
+  0,5g  NaCl 

9h'30 

200  ccm  destilliertes  Wasser 
+  0,5  g  NaCl  als  Emanosal 

=  V4% 

11  h  45 

Zelt 

10  h  — 
10  h  30 
11h  — 
11h  30 
11h  45 

Menge 

5,5     . 

2,8 
0,9 
0,6 
0,0 

Zelt 

12  h  15 
12  h  45 

1  h  15 
Ih  45 
2h  — 

2  h  15 

Menge 

3,8 
3,0 
1,6 
2,0 
0,4 
0,0 

1'/«  Stunden 
Sekretionsd« 

9,8  ccm 
Gesamtquant. 

2  Stunden 
Sekretionsd. 

10,8  ccm 
Gesamtquant. 

Aus  diesem  und  den  folgenden  drei  Versuchen  ergibt  sich  eindeutig, 
daß  die  Radiumemanation  auf  die  Sekretionssteigerung,  d.  h.  auf  die 
Absonderung  der  Salzsäure  keinen  besonderen  Einfluß  hat.  Die  Radio- 
aktivität verhält  sich  also  gegenüber  der  Magen  saftabscheidung  indiffe- 
rent und  hat  für  die  Verdauung  nachBickel  und  Bergeil  nur  in  dem 
Sinne  eine  positive  Bedeutung,  daß  sie  die  Aktivität  des  eiweißver- 
dauenden Fermentes,  des  Pepsins,  fördert.  Da  aber  nach  den  gleichen 


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j 


252 


P.  Rodari, 
Versuch  Nr.  2  am  Hund  »Max«. 


[16 


200  ccm  destilliertes  \7asser 
+  0,5  g  NaCl 

=     V4% 

9h  30 

200  ccm  destilliertes  Wasser 
+  0,5  g  Na  Gl    als   Emanosal 

11  h  45 

Zelt 

10h  — 
10h  30 
11h  — 
11  h  15 

Menge 

0,1 
0,2 
0,1 
0,0 

Zelt 

11h  45 
12  h  15 
12h  30 

Menge 

0,1 
0,2 
0,0 

IV4  Stunden 
Sekretionsd. 

0,4  ccm 
Gesamtquant. 

3/4  Stunden 
Sekretionsd. 

0,3  ccm 
Gesamtquant. 

Versuch  Nr.  3  am  Hund  „Karo". 


200  ccm  destilliertes  Wasser 
+  1  g  NaCl 
=  0,50/0 

2  h  15 

200  ccm  destilliertes  Wasser 
+  1  g  NaGl  als  Emanosal 
=  0,5% 

4  h  15 

Zeit 

2h  45 

3  h  15 
3h  45 
4h  — 

4  h  15 

Menge 

2,5 
1,8 
1,6 
0,6 
0,1 

Zeit 

4h  45 
5  h  15 
5h  30 
5h  45 
6h  — 

Menge 

4,0 

2,2 
0,6 
0,2 
0,0 

IV2  Stunden 
Sekretionsd. 

6,6  ccm 
Gesamtquant. 

11/4  Stunden 
Sekretionsd. 

7,0  ccm 
Gesamtquant. 

Versuch  Nr.  4  am  Hund  „Max*. 


200  ccm  destilliertes  Wasser 
+  1  g  NaCl 
=  0,5% 

12  h  30 

200  ccm  destilliertes  Wasser 
+  1  g  NaCl  als  Emanosal 
=  0,5% 

2  h  15 

Zeit 

1  h  — 
1  h  30 
2h  — 

Menge 

0,2 
0,3 
0,0 

Zelt 

2h  45 
3  h  15 
3  h  45 
4h  — 

Menge 

0,3 
0,8 
0,2 
0,0 

1  Stunde 
Sekretionsd. 

0,5  ccm 
Gesamtquant. 

IV4  Stunden 
Sekretionsd. 

Iß  ccm 
Gesamtquant. 

Untersuchungen  jedes  Mineralwasser  seine  Radiumemanation  nach 
höchstens  48  Stunden  verliert,  ist  exportiertes  Mineralwasser  nicht 
mehr  radioaktiv.  Die  Radioaktivität  ist  eine  Eigenschaft  nur  des  an 
der  Quelle  getrunkenen  Wassers  und  darin  dürfte  auch  ein  Faktor 


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17]      Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      253 

liegen,  warum  Trinkkuren  am  betreffenden  Orte  besser  wirken  als  zu 
Hause  durchgeführt. 

Wenn  wir  unter  den  Alkalien  weiter  Umschau  nach  Verbindungen 
halten,  welche  einen  unzweifelhaft  steigernden  Einfluß  auf  die  Salz- 
saureabschetdung  im  Magen  haben,  so  treffen  wir  nach  neuesten 
Untersuchungen  zunächst  auf  gewisse  Kalkverbindungen,  Kalzium- 
salze* Birk^)  hat  das  dem  NaCl  analoge  Kalziumchlorid  CaCl2 
am  Menschen  geprüft  und  ist  zu  dem  Resultate  gelangt,  daß  es  die 
Verdauung  des  Ewald  sehen  Probefrühstückes  um  ca.  15  Minuten  ab- 
kürzt dadurch,  daß  es  in  Dosen  von  schon  1,0  g  eine  vermehrte  Magen- 
saftabscheidung  hervorruft.  Damit  ließe  sich  die  klinische  Indikation 
aufstellen,  bei  Subaziditätszuständen  das  CaCl2  ähnlich  wie  das  NaCl 
zu  geben,  wenn  diese  Verbindung  nicht  eine  korrosive  Wirkung  auf 
die  Magenschleimhaut  hätte  und  eine  ungünstige  Wirkung  auf  das 
Herz  ausüben  würde,  wodurch  ihre  klinische  Anwendung  hinfällig  wird« 

Eine  analoge  sekretionssteigernde  Wirkung  wird  nach  Mayedas^) 
Tierexperimenten  auch  dem  Kalziumhydroxyd  Ca(OH)2,  d.  h.  dem 
mit  diesem  Salze  gesättigten  Wasser,  Kalkwasser  (Lösungsverhältnis 
1 :  600)  zugeschrieben  und  zwar  soll  die  Sekretionssteigerung  ungefähr 
io  dem  Maße  erfolgen,  wie  diejenige  der  weiter  unter  erwähnten 
Lithiumsalze.    Aus  der  folgenden  chemischen  Gleichung: 

Ca(OH)2  +  HgO  +  2HC1  =  CaClg + SH^O 

ist  meiner  Ansicht  nach  die  sekretionssteigernde  Wirkung  analog  den* 
Untersuchungen  von  Birk  auf  das  durch  Einwirkung  der  HCl  ent- 
stehende Kalziumchlorid  CaClg  zurückzuführen,  so  daß  dem  unzer- 
setzten  Ca(OH)2  ein  spezifischer  Sekretionseinfluß  nicht  zugeschrieben 
werden  kann.  Überhaupt  ist  bei  der  Frage  der  Pharmako- 
dynamik der  Medikamente  nicht  das  Medikament  als  solches 
als  von  Einfluß  auf  die  Magensekretion  anzusehen,  sondern 
die  durch  Einwirkung  der  Magensalzsäure  auftretende 
Spaltung  der  Substanz  und  eventuell  die  Neubildung  eines 
weiteren  chemischen  Körpers,  wie  uns  auch  die  folgenden  eigenen 
Versuche  näher  Aufschluß  geben  werden. 

Von  Heinsheimer^)  wurde  un^er  den  Kalksalzen  das  Kalzium-^ 
Karbonat  CaCOs  einer  eingehenden  tierexperimentellen  Prüfung 
unterzogen  und  zwar  in  Sprozentigen  Lösungen.  Das  Resultat  war 
ein  analoges  zur  Wirkung  des  CaClg  und  des  Ca(OH)2.  Statt  der 
bisher    angenommenen    sekretionshemmenden    und    säurebindenden 

1)  Inauguraldissertation  Erlangen  1904. 

2)  Biochem.  Zeitschr.  1907,  Bd.  2,  Heft  4—6. 

3)  Med.  Klinik  1906,  Nr.  24. 

Klio.  Vortrige,  N.  F.  Nr.  482/84.    (Innere  Medizin  Nr.  144/46.)    Mti  1908.  lg 


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254  P-  Rodari,  [18 

Wirkung  veranlaßt  das  CaCOs  eine  stärmische  Steigerung  der  Saft- 
absonderung, eine  lange  Zeit  hindurch  anhaltende  Sekretion  enormer 
Saftmengen.  Gleichzeitig  steigt  auch  die  Gesamtazidität  erheblich. 
Wie  kann  nun  dieses  im  Wasser  unlösliche  Salz  einen  solchen  Effekt 
ausüben?  Heinsheimer  erklärt  es  folgendermaßen:  Größere  Mengen 
des  CaCOs  verharren  im  Magen  längere  Zeit  und  unterliegen  hier 
der  Einwirkung  der  freien  Salzsäure,  welche  Kohlensäure  frei  macht. 
Diese  nunmehr  schußweise  immer  wieder  frei  werdende  CO2  ist  es, 
die  als  mächtiges  Reizmittel  auf  die  Drüsensekretion  einwirkt.  Meiner 
Auffassung  nach  ist  diese  Erklärung  nicht  einwandfrei,  aus  dem  Grunde, 
daß,  wie  wir  unten  sehen  werden,  die  beim  Nas  COs  und  NaOHCOs 
ebenfalls  stürmisch  freiwerdende  CO2  hier  keine  Sekretionssteigerung 
auszulösen  vermag.  Aus  diesem  negativen  Analogon  möchte  ich  die 
sekretionssteigernde  Wirkung  in  einem  anderen  Körper  als  in  der 
Kohlensäure  suchen,  nämlich  wiederum  in  dem  sich  im  Magen  unter 
Einfluß  der  HCl  bildenden  CaCls: 

CaC08+H20  +  2HCl  =  C02+CaCl2+2H20. 

Diese  Untersuchungen  erweisen  die  bisher  üblich  gewesene  An- 
schauung, daß  die  Kalksalze,  speziell  das  Kalkwasser  und  der  kohlen- 
saure Kalk  bei  der  Hyperazidität  resp.  Hyperchlorhydrie  therapeutisch 
indiziert  seien,  als  nicht  mehr  haltbar. 

Die  Reihe  der  sekretionssteigernden  Alkalien  ist  in  neuester  Zeit 
durch  Lithiumsalze  erweitert  worden.  Mayeda^)  hat  durch  das 
biologische  Experiment  am  Lithium hydroxyd  und  am  Lithium- 
karbonat eine  den  entsprechenden  Kalkverbindungen  analoge  Wirkung 
auf  die  Magendrüsen  nachgewiesen. 

Beim  Li2C08  tritt  schon  bei  einer  Konzentration  von  0,25%  eine 
deutliche  HCl-Steigerung  auf,  die  in  stärkerer  Lösung  von  0,35  und 
0,5  %  entsprechend  intensiver  wird.  Beim  LiOH  tritt  diese  Anregung 
der  Sekretion  schon  bei  einer  Konzentration  von  0,16%  auf,  welche 
an  Wirkung  derjenigen  vom  LisCOa  in  0,25  prozentiger  Lösung  un- 
gefähr gleichkommen  soll.  Auch  bei  diesen  beiden  Verbindungen 
liegt  die  Vermutung  nahe,  daß  die  sekretorische  Wirkung  auf  das  im 
Magen  durch  die  HCl-Einwirkung  entstehende  Chlorid,  das  LiCl, 
das  Analogon  zum  CaClg  in  letzter  Instanz  zurückzuführen  ist. 

Durch  eigene  biologische  Experimente  kann  ich  die  Reihe  der 
sekretionsfördernden  Medikamente  um  ein  weiteres  erweitern,  über 
dessen  Wirkung  bisher  die  Ansichten  der  Autoren  entgegengesetzt 
lauten.   Es  ist  das  Natrium  citricum,  speziell  das  neutrale  zitro- 


1)  Bloch.  Zeitschn  1907,  Bd.  2,  Heft  4—6. 


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19]     Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      255 

nensaure  Natrium.  Boas ^)  rechnet  diesen  Körper  pharmakologisch 
unter  diejenigen  Verbindungen,  welche  gleich  einzelnen  Salzen  der 
Alkili-  und  Erdalkalireihe  (s.  u.  Natriumkarbonat,  Natriumbikarbonat, 
Magnesia  usta,  Magnesia  ammoniophosphorica,  Magnesia  sulfurica) 
die  Sekretion  herabsetzen,  und  empfiehlt  so  das  Natrium  citricum 
allein  oder  in  Verbindung  mit  den  erwähnten  Alkalien  und  Erdalkalien 
zur  Bekämpfung  der  Sekretionssteigerungszustände.  —  Nun  aber  kommt 
Lach6ny>)  bei  seinen  Versuchen  mit  Natrium  citricum  zur  Annahme, 
daß  dieses  unabhängig  von  der  dabei  angewendeten  Diät  nicht  nur 
ein  gutes  Mittel  gegen  Schmerzen  bei  Gastritis,  Ulkus  und  nervösen 
Hyperästhesien  sei,  daß  es  ferner  die  Motilität  anrege,  sondern,  daO 
es  auch  auf  die  Magensaftsekretion  steigernd  wirke,  indem  bei  seiner 
Anwendung  die  Menge  der  Chloride  und  der  freien  Salzsäure  zunähme. 
Diese  der  Boasschen  Ansicht  widersprechende  Annahme  veranlaßte 
mich,  das  zitronensaure  Natrium  am  Tierexperimente  zu  prüfen.  An 
zwei  Pawlowschen  Hunden  wurden  je  zwei  Beobachtungen  mit  einer 
3prozentigen  und  je  zwei  mit  einer  lOprozentigen  Lösung  von  neu- 
tralem Natrium  citricum  angestellt.  Der  Verlauf  der  Sekretions^ 
Perioden  bei  Leitungswasser  ohne  und  mit  Zusatz  von  zitronensaurem 
Natrium  war  folgender: 


Versuch  Nr.  5  am  Hund  „Karo*. 


200  ccm  Leitungswasser 

200  ccm  Leitungswasser 

+  6  g  Natrium  citricum 

=  3% 

9h  30 

10  h  — 

Z«lt 

Menge 

Zeit 

Menge 

9h  — 

2,4 

10  h  30 

0,2 

9h  30 

1,1 

11h  — 

3,0 

9h  45 

04 

11  h  30 

1,6 

10  h  — 

0,0 

12  h  — 

3,0 

12  h  30 

1,2 

9h  — 

0,0 

1  Stunde 

3,9  ccm 

2V2  Stunden 

9,0  ccm 

Sekretionsd. 

Gesamtquant. 

Sekretions- 

Gesamtquant 

Gesamtazidität 

dauer 

Gesamtaziditat 

116 

124 

1)  Diagnostik  und  Therapie  der  Magenkrankheiten.  5.  Aufl.,  1907. 

2)  Th&se  de  Paris  1906. 


18* 


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256 


P.  Rodari, 


[20 


Versuch  Nr.  6  am  Hund  -Moor«. 


200  com  Leitungswasser 

200  ccm  Leitungswasser 
+  6g  Natrium  citricum 

8h  30 

=  3% 

10  h  — 

Zelt 

Menge 

Zeit 

Menge 

9h  — 

9h  30 

•    9h  45 

10  h  — 

1.0 
0,8 
0,6 
0,0 

10  h  30 
11h  — 
11h  30 
12  h  -< 
12  h  30 
12  h  45 
1  h  — 

4,0 
3,2 
2,1 
3,0 
1,2 

0,0 

1  Stunde 

2,4  ccm 

21/2  Stunden 

13,7  ccm 

Sekretions- 
dauer 

Gesamtquant. 
Gesamtazidität 

Sekretions- 
dauer 

Gesamtquant. 
Gesamtaziditit 

148 

146 

Versuch  Nr.  7  am  Hund  „Karo* 


200  ccm  Leitungswasser  . 

200  ccm  Leitungswasser 

+  20gr  Natrium  citricum 

=  10% 

9h  30                            1 

Ih  10 

Zeit 

Menge 

Zeit 

Menge 

9h  — 

2,4 

1  h  40 

0,5 

9h  30 

1,1 

2  h  10 

4,0 

9h  45 

0,4 

2h  40 

3,2 

10  h  — 

o;o 

3  h  10 

0,6 

3h  40 

0,5 

4  h  10 

0,3 

4h  25 

0^ 

4h  55 

0,0 

1  Stunde 

3,9  ccm 

3^/4  Stünden 

9,3  ccm 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

dauer 

Gesamtaziditit 

dauer 

Gesamtaziditat 

116 

126 

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21]      Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      257 
Versuch  Nr.  8  am  Hund  „Moor"*. 


200  ccm  Leitungswasser 

200  ccm  Leitungswasser 

+  20  g  Natrium  citricum 

=   10% 

8h  30                              1 

1  h  10 

Zeit 

Menge 

Zeit 

Menge 

9h  — 

1,0 

1  h  40 

3,7 

9h  30 

0,8 

2  h  10 

3,0 

9h  45 

0,6 

2h  40 

2,2 

10  h  — 

0,0 

3  h  10 

2,0 

3h  40 

1,5 

4  h  10 

05 

4h  25 

0,3 

4  h  40 

0,0 

1  Stunde 

2,4  ccm 

3  Stunden 

13,2  ccm 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

dauer 

Gesamtazidität 

dauer 

Gesamtaziditit 

138 

144 

Diese  Versuche  ergeben  übereinstimmend  folgende  Tatsachen: 

1.  Das  Natrium  citricum  steigert  in  allen  Versuchen  so- 
wohl die  Sekretionsdauer,  als  auch  das  Sekretionsquantum, 
erstere  um  etwa  das  2V2— 3fache,  letztere  um  etwa  das  3  bis 
Sfache  gegenüber  der  Leitungswasserperiode. 

2.  Dabei  wird  auch  die  Tendenz  beobachtet,  die  Qualität 
des  Sekretes  zu  erhöhen,  resp.  das  Sekret  prozentual  konzen- 
trierter zu  machen.  Die  diesbezüglichen  Werte  der  Durch- 
schnittsgesamtazidität sind  aber  so  gering  ausgesprochen, 
daß  sie  sich  innerhalb  der  physiologischen  Schwankungen 
bewegen  und  deshalb   eine  positive  Deutung  nicht  zulassen. 

3.  Der  Wechsel  in  der  Konzentration  der  Lösungen  (3  oder 
10%)  ist  auf  den  Sekretionsverlauf  in  den  verschiedenen 
Phasen,  in  der  Gesamtmenge  der  Durchschnittsazidität  und 
der  Zeitdauer  der  Sekretion  ohne  Einfluß,  d.  h.  es  finden  sich 
ungefähr  die  gleichen  Werte  bei  der  schwächeren  und  bei 
der  stärkeren  Konzentration. 

Damit  ist  erwiesen,  daß  die  von  Boas  vertretene  Qualifikation 
des  Natrium  citricum  als  eines  Antazidums  nicht  haltbar  ist,  daß  wir 
im  Gegenteil  in  diesem  Präparate  ein  sekretionssteigerndes  Mittel 
von  ausgesprochener  Wirkung  besitzen. 

Der  chemische  Vorgang  im  Magen  ist  einfacher: 
Na  citr. + HCl  =  NaCl + Ac.  citr. 

Die  Sekretionssteigerung  ist  hier  auf  beide  Produkte  in  der  Glei- 
chung zurückzufuhren,  sowohl  auf  das  NaCl  wie  auch  auf  das  Ac.  citr. 


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258  P.  Rodari,  [22 

Gehen  wir  unter  den  Alkalien  und  Erdalkalien  zu  denjenigen  Körpern 
Qber,  welche  auf  die  Drfisensekretion  des  Magens  hemmend  wirken, 
bzw.  die  Magensaftabscheidung  verringern.  Die  erste  Stelle  nimmt 
nach  den  neuesten  Untersuchungen  hier  das  Natrium  bicarboni- 
cum  ein.  Seine  Wirkung  war  bis  vor  kurzem  eine  vielumstrittene. 
Ältere  Autoren,  wie  du  Mesnil,  Linossier,  Lemoine,  Schule  u. 
a.,  nahmen  an,  „daß  kleine  Gaben  die  Salzsäuresekretion  anregen, 
größere  hemmen,  schließlich  aber  wieder  den  Reiz  zu  erneuter 
Sekretion  abgeben"^^).  So  betont  besonder  Linossier^),  daß  man 
kleinen  Gaben  von  Natr.  bic.  eine  exzitierende,  d.  h.  sekretionsbe- 
fördernde  Wirkung  zuschreiben  müsse,  während  größere  Dosen  um- 
gekehrt wirken  sollen.  Schwartzkopff^)  hat  an  24  Selbstversuchen 
konstatiert,  daß  das  doppelkohlensaure  Natron  in  Gaben  von  1 — 3  g 
nach  dem  Probefrühstfick  eingenommen  zwar  die  prozentuale  Azidität 
herabsetze,  während  dabei  die  absolute  Säuremenge  eine  bedeutende 
Steigerung  erfahre.  Zum  ersten  Male  einigermaßen  Klarheit  in  diese 
einander  widersprechenden  Auffassungen  brachten  die  ausgedehnten 
Versuchsreihen  Reichmann s^),  welcher  dem  Natr.  bic.  wenigstens 
jede  Säuresteigerung  abspricht.  Er  kommt  zu  dem  Resultate,  daß  so- 
wohl schwache  wie  starke  Lösungen,  mögen  sie  dem  nüchternen 
Magen  zugeführt,  oder  kurze  Zeit  nach  der  Mahlzeit  gegeben  werden, 
nie  eine  Steigerung  der  Sekretion  zur  Folge  hätten.  Nach  dem  Essen 
genommen  verringert  Natr.  bic.  selbstverständlich  durch  Neutralisation 
resp.  Bindung  der  freien  HCl  die  qualitative  Azidität,  steigert  sie 
aber  niemals  quantitativ.  In  diesem  Zustande  erblicken  Reichmann 
und  mit  ihm  auch  Boas  u.  a.  ein  ziemlich  indifferentes  sympto- 
matisches Mittel  zur  momentanen  Linderung  der  Obersäuerung  des 
Magens.  Debove^)  schreibt  dem«  Natr.  bic.  eine  ausgesprochene 
sekretionshemmende  und  säuretilgende  Wirkung  zu,  indem  er  es  bei 
Ulcus  ventriculi  in  Dosen  von  2,0  vor  und  4,0  nach  dem  Essen  gibt, 
in  der  Absicht,  dadurch  die  schädliche  Einwirkung  des  Magensaftes 
auf  die  Geschwüre  zu  vermeiden. 

Der  Frage  einer  ausgesprochenen  pharmakodynamischen  Wirkung 
des  Natr.  bic.  auf  die  Funktion  der  Magendrüsen  ist  man,  nachdem 
in  der  Literatur  diese  Kontroversen  jahrelang  in  Ruhe  gelassen  wurden, 
erst  in  den  letzten  Jahren  näher  getreten  und  zwar  ist  es  das  Verdienst 
Bfckels    und    seiner    Schüler,    am    biologischen    Experimente,    an 

1)  Nach  Boas  zitiert. 

2)  Bull,  th^rap.  1896,  p.  155  ss. 

3)  Inauguraldissertation  Würzburg  1892. 

4)  Ther.  Mitt.  März  1895. 

5)  Gaz.  h6bd.  1884,  no.  18. 


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23]      Experimeotelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      259 

Pflwlowschen  Hunden  zunächst,  sodann  auch  am  Menschen  (obener- 
wähnte Patientin  von  Gluck)  endlich  über  die  vieiumstrittene  Frage 
einer  relativen  Indifferenz,  d.  h.  bloß  momentan  einer  säurebindenden 
oder  einer  -steigernden  oder  einer  hemmenden  Wirkung,  Klarheit 
verschafft  zu  haben.  So  wies  unter  Bickels  Leitung  Heinsheimer^) 
nach,  daß  das  Natr.  bic.  nur  eine  Sekretionshemmung,  niemals  eine 
Steigerung  zur  Folge  hat,  und  zwar  eine  leichte  Verminderung  der 
Safhnenge  und  der  Azidität  schon  bei  schwachen  Lösungen  von  1  %, 
eine  sehr  starke  und  längere  Zeit  andauernde  Herabsetzung  bei 
höherer  Konzentration,  5  ^^  und  zwar  betrifft  diese  Herabsetzung 
auch  hier  nicht  nur  die  Quantität,  sondern  auch  die  Qualität  (Kon- 
zentration) der  HCl.  Zu  dem  gleichen  Resultate  kommt  auch  die  Arbeit 
von  Frl.  Rozenblat^),  nach  welcher  die  hemmende  Kf-aft  des  Natr. 
bic.  derjenigen  des  Natrium  carbonicum,  der  Soda,  ungefähr  gleich- 
kommen soll:  Eine  ^/sprozentige  Lösung  beider  Salze  soll  imstande 
sein,  selbstverständlich  nüchtern  gegeben,  die  Sekretion  gegenüber 
derjenigen  von  Leitungswasser  bis  um  30  %  herabsetzen,  während 
4prozentige  Lösungen  eine  Reduktion  bis  zu  70%  bedingen  können. 
Wie  schon  erwähnt  ist  die  Wirkung  des  Natriumkarbonates  der- 
jenigen des  -bikarbonates  im  Prinzipe  gleich.  Ober  dieses  Salz  liegen 
interessante  klinische  Beobachtungen  von  Mathieu  und  Laboulais^) 
vor,  welche  mit  den  neuesten  tierexperimentellen  Forschungen  ganz 
im  Einklang  stehen.  Nach  den  klinischen  Versuchen  dieser  Autoren 
hatten  zwar  Gaben  von  0,5—1  %  NasCOs,  eine  halbe  Stunde  vor  dem 
Ewald  sehen  Probefrühstück  genossen,  keinen  deutlichen  Einfluß  auf 
die  Sekretion,  wohl  aber  Dosen  von  3  g.  Diese  Konzentration  setzte 
den  Prozentgehalt,  sowie  die  Menge  der  gebundenen  und  der  freien 
HCl  erheblich  herab,  besonders  1  Stunde  vor  dem  Probefrühstück 
gegeben.  Dieser  sekretionshemmende  Einfluß  war  nicht  nur  von 
momentaner,  sondern  auch  längerer  Dauer  und  hatte  kurativen  Cha- 
rakter bei  einem  an  Hyperchlorhydrie  leidenden  jungen  Manne,  bei 
dem  die  Sekretion  nach  Htägigem  Einnehmen  von  täglich  4  g,  d.  h. 
von  je  1  g  Natr.  carbon.  und  2  g  bei  der  Mahlzeit  qualitativ  und 
quantitativ  erheblich  herabgesetzt  werden  konnte.  —  Experimentell 
wurde  die  Sekretionshemmung  durch  Soda  schon  von  Pawlow^)  be- 
obachtet.   Er  äußert  sich  darüber: 

»Keine  einzige  der  angewandten  Sodalösungen  von  0,05—1  %  vermochte,  wie 
sie  in  der  Menge  von  150  com  in  den  großen  Magen  eingebracht  wurde,  auch  nur 

1)  Med.  Klinik  1906,  Nr.  24. 

2)  Inauguraldissertation  Berlin  1907. 

3)  Gaz.  des  hdp.  1894. 

4)  Arb.  der  Verdauungsdrüsen,  S.  124. 


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260  P.  Rodari,  [24 

einen  Tropfen  Saft  aus  dem  kleinen  Magen  zu  treiben;  es  floß  höchstens  Schleim 
heraus.  Somit  hatte  die  Gegenwart  der  Soda  im  Wasser  die  safttreibende  Wirkung  des 
letzteren  herabgesetzt.  Diese  Tatsachen  verdienen  eine  große  Beachtung  sowohl 
wegen  ihres  klinischen  Interesses,  als  auch  besonders  aus  physiologischen  Gründen.* 

BickeU)  hat  diese  Angaben  Pawlows  vollauf  bestätigt  und  er- 
weitert. Auf  Sodalösungen  von  0,5—1  %  bleibt  die  Bildung  eines 
sauren  Saftes  aus,  und  aus  dem  kleinen  Magen  fließt  höchstens  etwas 
Schleim  heraus.  Auch  unter  pathologischen  Verhältnissen  hatBickel 
diese  hemmende  Wirkung  festgestellt.  So  versiegt  die  durch  Pilo- 
karpininjektion  hervorgerufene  mächtige  Sekretionssteigerung  schon 
wenige  Minuten  auf  die  Darreichung  der  Sodalösung  hin,  und  das 
Sekret  nimmt  alkalische  Reaktion  an.  Die  vermehrte  Speichelab- 
sonderung dauert  indessen  unverändert  fort.  Die  Art  der  Wirkung 
dürfte  wohl  in  einer  Lähmung  der  Drüsenfunktionen  zu  suchen  sein. 
—  Die  Sekretionshemmung  resp.  -herabsetzung  durch  Natr.  carbon- 
ist auch  von  Heinsheimer  und  Rozenblat  beobachtet  worden  (s.  o.). 
Als  Beispiel  für  die  sekretionsherabsetzende  Wirkung  eines  alkalischen 
Mineralwassers,  möchte  ich  die  experimentellen  Untersuchungen  von 
Sasaki2)  über  das  Vichy-Wasser  anführen.  Dieses  bildet  einen 
deutlichen  Gegensatz  zu  den  alkalisch  muriatischen  Quellen,  wie  das 
Emser-  und  das  Selterswasser  und  besonders  zu  den  Kochsalzquellen, 
welche  beide  Arten  die  Sekretion  deutlich  steigern.  —  Den  sekretions- 
hemmenden  Einfluß  weisen  deutlich  auch  die  Bittersalze  auf.  So 
hat  Birks)  das  Analogon  zum  NaCl  und  CaClg,  das  Magnesium- 
chlorid, MgClg,  einen  Bestandteil  der  Bitterwässer,  klinisch  geprüft 
und  seine  sekretions-  und  verdauungsverzögernde  Wirkung  am  Probe- 
frühstück festgestellt:  Dosen  von  2,0 — 4,0  g  sollen  die  Verdauung  der 
letzteren  um  ca.  15  Minuten,  Dosen  von  10  g  um  etwa  60  Minuten 
verlangsamen.  —  Am  Tierexperimente  hat  Heinsheimer*)  beim 
Natrium  sulfuricum  und  bei  der  Magnesia  sulfurica  schon  in  Konzen- 
trationen von  3  %  eine  energische  Herabsetzung  der  quantitativen 
HCl-Abscheidung  konstatiert,  während  sich  der  Aziditätsgrad,  der  pro- 
zentuale HCl-Gehalt,  schwankend  verhielt. 

Physiologisch  interessant  und  von  klinischer  Bedeutung  an  allen 
den  erwähnten  Resultaten  mit  den  Alkalien  und  den  Bittersalzen  ist 
die  durchweg  beobachtete,  durch  das  Mettsche  Verfahren  nachge- 
wiesene, gleichzeitige  Herabsetzung  auch  des  proteolytischen 
Fermentes,  der  Pepsinkraft.    Tichomicow^)    betont  vor   allem 

1)  Berl.  Klin.  Wochenschr.  1905,  Nr.  128. 

2)  Arch.  f.  Verdauungskrankheiten  1906,  Bd.  12,  Heft  3. 

3)  1.  c. 

4)  1.  c. 

5)  Wratsch  1905,  no.  2. 


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25]     Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      261 

den  eingreifenden  Einfluß  der  Alkalien  auF  das  Pepsin,  in  dem  Sinne, 
daß  diese  die  aktive  Form  des  Fermentes  in  die  inaktive  überFühren 
sollen,  wobei  sich  möglicherweise  Salze  des  Fermentes  bilden  können. 
Als  Prototyp  Für  die  Verkörperung  der  sekretionshemmenden 
Wirkung  der  Bittersalze  figuriert  nach  den  obenerwähnten  Unter- 
suchungen Sasakis  das  Hunyadi-Janos-Bitterwasser,  dessen  graphisch 
dargestellte  Sekretionskurve  zeitlich  und  quantitativ  erheblich  unter 
derjenigen  vom  alkalischen  Vichy-  und  besonders  vom  Leitungswasser 
verläuft 


IL  Gewisse  Adstringentlen. 

Unter  dieser  Gruppe  sollen  einige  pharmakologisch  wichtige  Körper 
besprochen  werden,  welche  teilweise  schon  seit  vielen  Jahrzehnten 
empirisch  im  Rufe  einer  besonderen  Heilwirkung  auf  den  kranken 
Magen  stehen. 

So  eingehend  die  Alkalien  und  Bittersalze  in  ihrem  Einflüsse  auf 
den  Sekretionsverlauf  im  Magen  untersucht  worden  sind,  so  wenig 
Aufmerksamkeit  hat  man,  wenigstens  in  experimenteller  Hinsicht,  den 
Adstringentlen  zugewendet.  Aber  auch  in  der  Pathologie  ist  die 
pbarmakodynamisch-klinische  Bedeutung  dieser  Körper  nicht  ein- 
gehend berücksichtigt  worden.  In  bezug  auf  ihre  Wirkung  auf  die 
anatomisch-chemische  Grundlage  jeder  Magenerkrankung,  die  Ent- 
zündung und  den  Chemismus  finden  sich  sowohl  in  den  Lehrbüchern 
der  Pathologie  wie  der  Pharmakologie  nur  oberflächliche  Andeutungen 
ohne  präzise  Betonung  ihres  difl^erenten  oder  indifl^erenten  Einflusses 
der  betrefl^enden  chemischen  Körper. 

Bei  der  Frage  der  Indikation  zur  Anwendung  gewisser  Adstringentlen 
bei  Magenerkrankungen  bin  ich  zunäohst  theoretisch  von  der  Idee  aus- 
gegangen, daß  ein  Adstringens,  dessen  Wirkung  (nach  Schmiedeberg) 
in  praktischer  Beziehung  darin  besteht,  ,,die  Intensität  der  Vorgänge 
zu  vermindern,  welche  bei  der  Entzündung  Platz  greifen,  also 
Schwellung  und  Wucherung  der  zelligen  Gewebselemente  zu  mäßigen 
oder  zu  beseitigen,  sowie  eine  übermäßige  Schleimsekretion  zu  unter- 
drücken und  die  Exsudat-  und  Eiterbildung  zu  hemmen'',  diesen  Ein- 
fluß mutatis  mutandis  auch  auf  die  Schleimhaut  des  Magens  ausüben 
und  die  Sekretionsvorgänge  dabei  nicht  unbeeinflußt  lassen  sollte. 
Durch  praktische  Erfahrungen  von  der  prinzipiellen  Richtigkeit  dieser 
zwar  naheliegenden,  aber  in  der  Literatur  bisher  kaum  angedeuteten 
Ansicht  belehrt,  habe  ich  in  meinem  „Grundriß  der  med.  Therapie 
der  Magen-  und  Darmkrankheiten''  die  Indikation  aufgestellt,  Erkran- 
kungen des  Magens  mit  Sekretionssteigerung,  besonders  entzündlicher 


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262  P-  Rodari,  [26 

Art,  medikamentös  doch  lieber  mit  gewissen  Adstringentien,  als  mit 
indifferenten  Mitteln  (z.  B.  Amaris)  zu  behandeln  und  in  einer  kleinen 
Publikation^)  habe  ich  einige  typische  klinische  Beispiele  dafür  ange- 
führt. Einfach  scheinen  die  Verhältnisse  a  priori  da  zu  liegen,  wo 
man  zunächst  nur  mit  einer  entzündeten  Schleimhaut  des  Magens  zu 
tun  hat.  Warum  sollten  die  Adstringentien  hier  nicht  ebensogut 
entzündungsbekämpfend  wirken,  wie  bei  einer  anderen  entzündeten 
Mukosa?  Auch  noch  einfach  dürfte  die  Frage  ihrer  Wirkung  bei  einer 
Entzündung  mit  Sekretionssteigerung  sein.  Wenn  hier  die  Sekretions- 
steigerung ein  Folgezustand  der  Entzündung  ist,  so  dürfte  man  zum 
voraus  erwarten,  daß  Hand  in  Hand  mit  den  Heilungsvorgängen  der 
Entzündung  auch  die  Sekretion  geregelt  würde.'  Anders  verhält  es 
sich  mit  der  Frage  nach  der  sekretortschen  Wirkung  einiger  Adstrin- 
gentien auf  die  nicht  entzündlich  veränderte  Magenschleimhaut,  weil 
bisher  diesbezügliche  experimentelle  Untersuchungen  nur  spärlich 
angestellt  wurden,  und  deren  Verlauf  noch  zu  keinem  einheitlichen 
Resultate  geführt  hat. 

An  der  Hand  von  Experimenten  an  Pawlowschen  Hunden  soll 
nun  im  folgenden  versucht  werden,  diesen  Fragen  eine  experimentell- 
biologisch begründete  genauere  Antwort  zu  geben. 

Beginnen  wir  zunächst  mit  den  Wismutverbindungen.  —  Unter 
diesen  spielt  therapeutisch  von  jeher  eine  groDe  Rolle  das  Bismu tum 
subnitricum,    das    Magisterium    bismuti    von    der    chemischen 

Formel  Bi<^Q    ^    Die  alten  Ärzte  wandten  es  als  ein  Universalmittel 

gegen  alle  Arten  von  Magenkrankheiten  an.  Die  klinische  Beobachtung, 
daß  es  bei  Übersäuerungszuständen  des  Magens  besonders  indiziert 
sei,  treffen  wir  bei  Oppolzer^)  an,  welcher  dem  Präparate  eine 
bessere  Wirkung  als  den  Antacidis  (kohlensaure  Magnesia  und  kohlen- 
saurer Kalk)  zuschreibt.  Hannon^)  empfiehlt  in  ähnlicher  Indikation 
das  Bismutum  subcarbonicum,  dem  er  vor  dem  Bismutum  sub- 
nitricum den  Vorzug  gibt.  Eine  Erklärung  für  die  Wirkung  des  Bis- 
mutum subnitricum  bei  Magen-  und  Darmkatarrhen  gibt  Bricka^)^ 
indem  er  hierfür  ein  Freiwerden  von  Säure  im  Magen-Darmkanal  an- 
nimmt, welche  als  leichtes  Kaustikum  auf  die  Mukosa  wirkt,  und  die 
Unwirksamkeit  des  Bismutum  carbonicum  wird  dadurch  erklärt, 
daß  keine  kaustisch  wirkende  Säure  frei  werde.  Zur  Entfaltung  dieses 
Effektes  müsse  aber  das  Präparat  in  reichlich  großen  Dosen  und  mit 

1)  Berl.  klin.  Wochenschr.  1906,  Nr.  28. 

2)  Zeitschr.  der  k.  k.  Gesellsch.  der  Arzte,  Wien,  Januar  1857. 

3)  Presse  m6d.  1856,  no.  46/5Q. 

4)  Thhse  Strasbourg  1864. 


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27]      Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      263 

einem  gewissen  Quantum  Wasser  vor  der  Mahlzeit  gegeben  werden. 
Femer  seien  Differenzen  im  Sauregehalte  des  Mittels  Für  dessen  Wir- 
kung nicht  ohne  Bedeutung,  indem  stark  basische  Präparate  unwirksam 
seien.  —  Eine  weitere  interessante  Beobachtung  treffen  wir  bei  Dun  bar  ^) 
an,  der  dem  Bismut  in  solchen  Fällen  eine  besondere  Heilwirkung 
zuschreibt,  wo  die  Zunge  rot  und  die  Papulae  fungiformes  vergrößert 
seien.  Dies  trifft  nun  gewöhnlich  bei  Hyperazidität  zu,  und  daraus 
können  wir  den  Schluß  ziehen,  daß  Dunbar  bei  Sekretionssteigerungen 
vom  Bismut  gute  ErFolge  sah,  bzw.  dieses  sekretionshemmend  wirkte. 
—  Schwartzkopff«)  schreibt  bei  seinen  obenerwähnten  klinischen 
Versuchen  dem  Bismutum  subnitricum  keine  ausgesprochene  sekre- 
tionshemmende  Wirkung  zu.  Die  Magensaftabscheidung  nach  Dar- 
reichung einer  Wismutaufschwemmung  kam  meistens  qualitativ  und 
quantitativ  derjenigen  nach  WasserauFnahme  gleich. 

Die  neuere  Literatur  beschäftigt  sich  fast  nur  mit  den  physikalischen 
Eigenschaften  der  Wismutsalze,  d.  h.  mit  ihrer  Fähigkeit  auf  Substanz- 
defekte (Erosionen  und  Ulzera)  der  Magenschleimhaut  eine  schätzende 
Decke  zu  bilden  und  so  die  lädierten  Stellen  vor  der  Einwirkung  des 
sauren  Magensaftes  zu  schützen.  Daneben  wird  eine  Sekretions- 
liemmung  nur  beiläufig  erwähnt,  ohne  darauf  des  näheren  einzugehen. 
So  äußert  sich  vom  klinischen  Standpunkte  aus  Boas^),  nachdem  er 
die  Fle in  ersehe  Ulkusbehandlung  mit  großen  Wismutdosen  (10  bis 
20  g  pro  die)  besprochen,  folgendermaßen: 

^Matthes^)  hat  die  gunstigen  Erfolge  Fletners  bestätigt  und  führt  sie  auf 
Gmnd  experimenteller  Erfahrungen  darauf  zurGck,  daß  das  eingeführte  Wismut  eine 
Schleimseketion  hervorruft  und  das  Wismutschleimgemisch  eine  schützende  Decke 
für  etwaige  Substanz  Verluste  liefert.  Fuchs^)  konnte  diese  Beobachtung  dahin  er- 
veitem,  daß  das  Wismut  mit  Schleim  vermischt  zu  Wismutoxyd  reduziert  wird. 
Diesen  schließen  sich  vom  klinischen  Standpunkte  Rosenheim,  Savelieff, 
Crimer,  Witthauer,  Stintzing,  Riegel  im  wesentlichen  an." 

Pentzoldt  und  Boas  selbst  verhalten  sich  abwartend.  —  Weiter 
sagt  Boas: 

yKontraindiziert  ist  die  Wismutbehandlung  bei  Magenaffektionen  mit  stark 
Terminderter  Salzsäureabscheidung  mit  Ausnahme  von  hämorrhagischen  Erosionen 
und  ulzerierenden  Geschwülsten." 

Die  Auffassung  des  Pharmakologen  über  die  Einwirkung  des  Wis- 
mutes auf  den  Magen  vertritt  Heinz<^)  wie  folgt: 

1)  Practitioner,  Sept  1882. 

2)  1.  c. 

3)  Diagnostik  und  Therapie  der  Magenkrankheiten.  1907,  5.  Aufl. 

4)  Zentralbl.  f.  innere  Med.  1894,  Nr.  1. 

5)  Deutsche  med.  Wochenschr.  1903,  Nr.  14. 

6)  Lehrb.  der  Arzneimittellehre  1907. 


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264  P-  Rodari,  [28 

„Man  wendet  das  Bismutum  subnitricum  innerlich  an  bei  rundem  Magenge- 
schwür, bei  Hyperchlorhydrie,  sowie  bei  allen  Formen  von  Kardialgie.  Die  günstige 
Wirkung  auf  das  Magengeschwür  rührt  offenbar  davon  her,  daß  das  Wismutsubni- 
trat auf  dem  Geschwür  einen  dasselbe  völlig  auskleidenden  Oberzug  bildet,  der  es 
vor  mechanischen,  wie  chemischen  Insulten  durch  die  Ingesta  schützt.  Bei  Kar- 
dialgie, die  durch  übermäßige  Salzsäureproduktion  seitens  der  sonst  gesunden  Schleim- 
haut bedingt  ist  (Auftreten  der  Schmerzen  ca.  '/^  Stunden  nach  der  Mahlzeit,  zur 
Zeit  des  Auftretens  der  freien  HCl  im  Magen),  gibt  man  das  Wismutsubnitrat  eine 
halbe  Stunde  nach  dem  Essen.** 

Schmiedebergi)  vertritt  mehr  die  Ansicht  einer  chemischen  (nicht 
vorwiegend  physikalischen)  Wirkung  des  Wismutes  auFdieMagenmukosa: 

„Das  basisch  salpetersaure  Wismut  (Magisterium  bismuti)  ist  in  Wasser  unlSs- 
lich  und  deshalb  unter  gewöhnlichen  Verhiltnissen  unwirksam«  Selbst  in  den  Magen 
kann  das  völlig  arsenfreie  Präparat  in  größerem  Mengen  gebracht  werden,  ohne 
Schaden  zu  verursachen.  Doch  wird  dabei  ein  kleiner  Teil  in  der  sauren  Magen- 
flüssigkeit gelöst  und  wirkt  dann  adstringierend  und  antiseptisch. 
Da  die  Lösung,  d.  h.  die  Umwandlung  in  die  wirksame  Verbindung  durch  die  Ver- 
dünnung der  Magensäure  beschränkt  ist,  so  kann  man  dieses  Präparat  in  solchen 
Fällen  mit  Vorteil  anwenden,  in  denen  es  darauf  ankommt,  einen  gleichmäßigen 
gelinden  Grad  jener  Wirkung  längere  Zeit,  wochen- und  selbst  monatelang, 
zu  unterhalten.'* 

Experimentell  wurde  das  Bismutum  subnitricum  bisher  nicht  ein- 
gehend und  nur  von  einem  einzigen  Autor,  Heinsheime r 2),  auf 
seine  Sekretionswirkung  im  Magen  geprüft.  In  seiner  mehrfach 
zitierten  Arbeit  hat  Heinsheimer  nebenbei  das  Bismutum  sub- 
nitricum auf  dessen  sekretorische  Wirkung  geprüft  und  ist  zu  dem 
Resultate  gelangt,  daß  Sprozentige  Aufschwemmungen  zwar  keine  deut- 
liche Verminderung  der  Azidität,  aber  eine  entschiedene  Herabsetzung 
der  Saftmenge  zur  Folge  hätten,  während  a^/sprozentige  Aufschwem- 
mungen einen  nur  geringern  Einfluß  auf  die  Sekretionsgröße  auf- 
weisen. 

Durch  die  folgenden  Versuche  an  Pawlowschen  Hunden  bezwecke 
ich  nun  die  Einwirkung  einiger  Wismutpräparate  auf  die  Magen- 
sekretion genauer  zu  prüfen.  —  Zunächst  das  Bismutum  sub- 
nitricum. Unter  den  oben  beschriebenen  Vorbereitungen  und  Vor- 
aussetzungen nahmen  die  einzelnen  Versuche  folgenden  Verlauf: 


1)  1.  c. 

2)  1.  c. 


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29]      Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      265 
Versuch  Nr.  9  am  Hund  «Karo*. 


200  ccm  Leitungswasser 

200  ccm  Leitungswasser 

+  10  g  Bismutum  subnitricum 

8h  55 

=  5% 

11  h  - 

Zeit 

Menge 

Zeit 

Menge 

9h  25 

9h  55 

10  h  22 

10  h  55 

0,3 
3,3 
4,0 
0,Q 

11h  30 

12  h  — 

15  h  30 

1  h  — 

1  h  30 

2h  — 

3,0 
1,6 
0,7 

0,0 

U/s  Stunden 

7,6  ccm 

2V2  Stunden 

6,7  ccm 

Sekretions- 
dauer 

Gesamtquant. 
Gesamtazidität 

Sekretions- 
dauer 

Gesamtquant. 
Gesamtazidität 

132 

128 

Versuch  Nr.  10  am  Hund  «Moor*. 


200  ccm  Leitungswasser 

200  ccm  Leitungswasser 

+  10g  Bismutum  subnitricum 

8h  55 

=  5% 

11  h- 

Zeit 

Menge 

Zcit 

Menge 

9h  25 
9h  55 

10  h  25 
10  h  40 

2,0 
1,5 
1,0 
0,0 

11  h  30 

12  h  — 
12  h  20 

1  h  — 

2,0 
1,6 
0,5 
0,0 

1^/4  Stunden 

4,5  ccm 

1^/2  Stunden 

4,1-  ccm 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

dauer 

Gesamtazidität 

dauer 

GesamtaziditSt 

134 

126 

Versuch  Nr.  11  am  Hund  »Karo«. 


200  ccm  Leitungswasser 

8h  55 

200  ccm  Leitungswasser 

+  20  g  Bismutum  subnitricum 

=  10% 

2h  — 

Zell 

9h  25 
9h  55 

10  h  25 
10  h  55 

Menge 

0,3 
3,3 
4,0 
0,0 

Zeit 

2h  30 
3h  — 
3h  30 
4h  — 

Menge 

1.8 
1^ 
0,4 
0,0 

IVs  Stunden 
Sekretions- 
dauer 

7,6  ccm 
Gesamtquant. 
Gesamtazidität 
132 

1V2  Stunden 
Sekretions- 
dauer 

3,7  ccm 
Gesamtquant. 
Gesamtaziditit 
126 

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266 


P.  Rodari, 
Versuch  Nr.  12  am  Hund  .Karo". 


[30 


200  ccm  Leitungswasser 

Sil  55 

200  ccm  Leitungswasser 

+  20  g  Bismutum  subnitricum 

=  10% 

2ti  30 

Zeit 

9h  25 

9  h  55 

10  h  25 

10  h  40 

Menge 

3,0 

1,5 
1,0 
0,0 

Zeit 

2h  30 
3h  — 
3h  30 
4h  — 

Menf« 

0,0 
0,2 
0,0 
0,0 

IV4  Stunden 
Sekretions- 
dauer 

4y5ccm 
Gesamtquant. 
Gesamtazidität 
134 

1  Stunde 
Sekretions- 
dauer 

O^ccm 
Gesamtquant 
Gesamtaziditit 
? 

Versuch  Nr.  13  am  Hund  ,Karo*. 

200  ccm  Leitungswasser 

7li  30 

200  ccm  Leitungswasser 

+  ]0g  Bismutum  subnitricum 

=  50/0 

1  h  — 

Zeit 

8h  — 
8h  30 
9h  — 
9  h  15 
9h  30 
9h  45 

Menge 

Iß 
2,2 
1,8 
1,0 
0,6 
0,0 

Zeit 

1  h  30 
2h  — 
2h  30 
3h  — 
3h  30 
3h  45 

Menge 

2,0 
4,0 

1,* 
0,6 

0,2 

Oft 

IS/4  Stunden 
Sekretions- 
dauer 

6,9  ccm 
Gesamtquant. 
Gesamtazidität 
120 

21/4  Stunden 
Sekretions- 
dauer 

8^  ccm 
Gesamtquant. 
Gesamtaziditit 
150 

Vers 

uch  Nr.  14  am  Hund  »N 

ero*. 

200  ccm  Leitungswasser 

200  ccm  Leitungswasser 
+20g  Bismutum  subnitricum 

8h 

__ 

=  10% 

3h  — 

Zeit 

Menge 

Zelt 

Menge 

8h  30 

9h  —   . 

9h  30 

10  h  — 

10  h  30 

2,0 

1,8 
0^ 
0,0 

3h  30 
4h  — 
4h  30 

4  h  45 
5h  — 

5  h  15 
5h  30 

1,8 
2,2 
2,0 
0,8 
0,6 
0,3 
0,0 

2  Stunden 

5,2  ccm 

2  Stunden 

7,7  ccm 

Sekretions- 
dauer 

Gesamtquant. 
Gesamtazidität 

Sekretions- 
dauer 

Gesamtquant. 
Gesamtazidität 

128 

130 

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31]      Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      267 
Versuch  Nr.  15  am  Hund  »Max*. 


200  com  Leitungswasser 

7h  30 

200  ccm  Leitungswasser 

+  10g  BIsmutum  subnitricum 

=  5% 

1  h  30 

Zelt 

Sh  -^ 
8h  30 
9h  — 
9  h  15 
9h  30 
9h  45 

Menge 

3^ 
2,4 
2,0 
1,6 
0,8 
0,0 

Zeit 

2h  — 
2h  30 
3h  — 
3h  30 

Menge 

2,5 
0,2 
0,2 
0,0 

l»/4  Stunden 
Sekretions- 
dauer 

lOyO  ccm 
Gesamtquant. 
Gesamtazidität 
150 

IV2  Stunden 
Sekretions- 
dauer 

2,9  ccm 
Gesamtquant. 
Gesamtaziditit 
120 

Wenn  wir  aus  den  vorstehenden  Bismutversuchen  uns  die  Frage 
der  sekretorischen  Wirkung  des  Bismut  subnitricum  auf  die  Drüsen- 
funktion  des  Magens  vorlegen,  so  müssen  wir  uns  zunächst  den 
chemischen  Vorgang  vergegenwärtigen »  der  durch  Einwirkung  der 
HCl  des  Magens  auf  das  Bismutsalz  vor  sich  geht.  Dieser  entspricht 
folgender  Gleichung: 


Bi<(g^»+  HCl  =  H  NO3  +  Bl^ 


In  diesem  Resultate  der  Salzsäureeinwirkung  ist  der  sekretorische 
Einfluß,  wie  wir  des  nähern  weiter  unten  sehen  werden,  nicht  auf 
das  Bismutoxychlorid,  sondern  auf  die  Salpetersäure  zurfickzufiihren. 

Bei  der  Durchsicht  obiger  Versuche  treffen  wir  einen  dreifachen 
Typus  der  Reaktion  derMagenschleimhaut  auf  das  Bismutum  subnitricum 
an:  l.Eine  typische  Sekretionshemmung,  indem  dieQuantität  und  wahr- 
scheinlich auch  die  Qualität  des  Sekretes  herabgesetzt  wird;  bei  letzterer 
sind  allerdings  physiologische  Schwankungen,  wie  wir  im  Verlaufe  dieser 
Untersuchungen  mehrfach  antreffen  werden,  in  Berücksichtigung  zu 
ziehen,  und  dadurch  liegen  keine  eindeutigen  Verhältnisse  vor.  Auf 
alle  Fälle  kann  man  hier  eine  Neigung  zur  Herabsetzung  der  Magen- 
saftsekretion durch  das  Bismutum  subnitricum  annehmen.  Diese  Art 
der  Reaktion  derMagenschleimhaut  dürfte  den  gewöhnlichen  Reaktions- 
typus der  Magensekretion  gegenüber  dem  Bismutnitrat  bilden,  ist 
aber  nur  bei  einer  normalen^nicht  entzündlichen  Schleimhaut, 
nach  unseren  Versuchstieren  zu  schließen,  anzutreffen.  2.  Einen  rela- 
tiven Indifferentismus  der  Magenschleimhaut  gegenüber  dem  Bismut- 
nitrat.   Dieses  dürfte  der  seltenere  Reaktionstypus  und  ebenfalls  bloß 


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268  P.  Rodari,  [32 

bei  normaler  Magenschleimhaut  anzutreffen  sein.  3.  Einen  Reaktions- 
typus im  Sinne  einer  ausgesprochenen  Hemmung  der  Sekretion  und 
zwar  bloß  bei  einer  entzündlich  veränderten  Magenschleimhaut.  Die 
Erklärung  hierfür  will  ich  in  den  folgenden  Experimenten  zu  geben 
versuchen. 

Diese  in  drei  verschiedenen  Arten  verlaufenden  Versuche  lassen 
uns  über  die  Wismutwirkung  auf  die  Sekretionsverhältnisse  der 
Magenschleimhaut  folgende  Schlüsse  ziehen: 

I.Aus  allen  sieben  Versuchen  ergibt  sich  vor  allem  fibereinstimmend 
der  Umstand,  daß  dem^Bismutum  subnitricum  auf  jeden  Fall  keine 
sekretionssteigernde  Wirkung  zugeschrieben  werden  kann. 

2.  In  der  Mehrzahl  der  Versuche  zeigt  in  Obereinstimmung  mit 
biologisch*experimentellen  Untersuchungen  (Heinsheimer  und  nach 
meinen  eigenen  klinischen  Beobachtungen)  das  Bismutum  subnitricum 
eine  deutliche  Hemmung  auf  die  Magensaftsekretion  und  zwar  aus- 
gesprochen auf  die  Quantität  der  Salzsäure  und  andeutungsweise  auch 
auf  die  Qualität  (prozentualer  HCl-Gehalt). 

3.  Mehr  ausnahmsweise  reagiert  die  Magensaftsekretion  in  ziem- 
lich indifferenter  Weise  auf  die  Einwirkung  des  Bismutum  subnitri- 
cum. Die  Erklärung  hierfür,  warum  in  den  einen  Fällen  die  Drüsen- 
sekretion im  Sinne  einer  Irritation,  in  den  anderen  in  indifferenter 
Weise  reagiert,  ist  wenigstens  aus  manifesten,  anatomischen  Gründen 
nicht  ersichtlich,  weil  es  sich  in  beiden  Fällen  um  eine  anatomisch 
intakte  Schleimhaut  handelt.  In  Ermangelung  einer  besseren  Er- 
klärung müßte  man  sich  mit  derjenigen  einer  »individuellen  Prä- 
disposition"  für  größere  und  geringere  Empfindlichkeit  gegenüber 
dem  einwirkenden  Agens  behelfen. 

4.  Die  im  Sinne  einer  Entzündung  veränderte  Schleim- 
haut des  Magens  reagiert  auffallend  auf  die  Einwirkung  des 
Bismutum  subnitricum  mit  einer  erheblichen  Sekretions- 
herabsetzung, die  bedeutend  unter  der  sub  2  angeführten  steht 
(Versuch  am  Hunde  „Max"  mit  chronischer  Gastritis). 

Diese  Art  der  Reaktion  der  entzündeten  Magenschleimhaut, 
im  Gegensatz  zur  anatomisch  intakten  Mukosa,  ist  nicht  nur  eine  dem 
Bismutum  subnitricum  gegenüber  eigentümliche,  sondern,  wie  wir  weiter 
unten  sehen  werden,  teilweise  in  allerdings  gegensätzlichem  Endeffekte 
auch  gegenüber  anderen  Wismutverbindungen,  sowie  auch  weiteren 
nicht  dem  Wismut  angehörenden  Adstringentien. 

Die  folgenden  Experimente  befassen  sich  mit  einem  neuen  Prä- 
parate, dem  Bismutum  bitannicum^),  dem  doppeltgerbsauren 


1)  Chem.  Fabrik  von  Heyden. 


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33]     Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      269 

Bismutum.  Das  Bismutum  tannicum  hat  in  der  Therapie  keine 
Relle  gespielt,  wir  finden  es  in  der  Literatur  kaum  erwähnt.  Bei- 
spielsweise spricht  ihm  Gutmann^)  jeden  therapeutischen  Wert  bei 
Magen-  und  DarmaFfektionen  ab  und  empfiehlt  an  seiner  Stelle  das 
Bismutum  salicylicum.  —  Dem  neuen  Präparate  sollen  theoretisch 
gewisse  Vorzuge  vor  dem  alten  eigen  sein.  So  äußert  sich  die  Fabrik 
im  Prospekte:  »Das  bisherige  Bismutum  tannicum  enthält  ein  schwer 
abspaltbares  Tanninmolekfil,  das  neue  Präparat  enthält  außerdem  noch 
ein  zweites  Tanninmolekül,  welches  leicht  abspaltbar  ist.  Das  Bis- 
mutum bitannicum  besitzt  deshalb  eine  stärkere  Tanninheilwirkung  bei 
gleichzeitiger  Abwesenseit  von  unangenehmen  Eigenschaften  des  freien 
Tannins.* 

Zunächst  habe  ich  das  Präparat  an  einem  Hunde  mit  gesunder 
Magenschleimhaut  geprüf t: 


Versuch  Nr.  16  am  Hund  »Nero*. 


200  com  Leitungswasser 

200  ccm  Leitungswasser 
+  20  g  Bismutum  bitannicum 

8h 

_ 

-''"^0         5. 

_ 

Zelt 

Menge 

Zeit 

Menge 

8h  30 

9h  — 

9h  30 

10  h  — 

10  h  15 

3,0 
2,2 
1,8 
0,1 
0,0 

2h  30 
3h  — 
3h  30 
4h  — 
4h  30 
5h  — 

2,8 
5,4 
7,0 

6,8 
4,2 
3,4 

Fütterung 

um  5  Uhr 

P/g  Stunden 

7,1  ccm 

Über  21/2  St. 

29,6  ccm 

Sekretions- 
dauer 

Gesamtquant. 
Gesamtazidität 

Sekretions- 
dauer 

Gesamtquant. 
Gesamtaziditat 

132 

180 

Wir  sehen  aus  diesen  Versuchen  eine  erhebliche  Steigerung 
der  Sekretionsmenge  und  der  Sekretionsdauer;  die  Azidität  ist  nicht 
nennenswert  beeinflußt. 

Einen  anderen  Verlauf  nimmt  das  Experiment  mit  dem  Hunde  mit 
chronischer  Gastritis  (mit  normaler  Azidität): 


1)  Deutsche  med.  Wochenschr.  1886,  Nr.  22. 

Kl {o.  Vorträge,  N.  F.  Nr.  482/84.    (Innere  Medizin  144/46.)    Mai  1908. 


19 


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270 


P.  Rodari, 
Versuch  Nr.  17  am  Hund  -Max". 


134 


200  ccm  Leitungswasser 

200  ccm  Leitungswasser 

+  10  g  Bismutum  bitannicum 

=  5% 

8h  30 

Uh  30 

Zeil 

Menge 

Zeit 

Menge 

9h  — 

3,1 

12  h  — 

1,6 

9h  30 

3,2 

12  h  30 

1,6 

10  h  — 

2,2 

1  h  — 

1,8 

10  h  30 

2,4 

1  h  30 

0,3 

11h  — 

1,4 

2h  — 

2,0 

11  h  15 

1,5 

2  h  15 

0,6 

11  h  40 

0,1 

2h  30 

0,1 

2V2  Stunden 

13,9  ccm 

2V2  Stunden 

8,0  ccm 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

dauer 

Gesamtazidität 

dauer 

Gesamtazidität 

142 

138 

Diesem  Versuche  liegt  eine  Fehlerquelle  zugrunde:  Das  Tier  war 
am  Abend  vorher  später  als  gewohnt  gefüttert  worden,  so  daß  es  am 
Morgen  des  Versuchstages  nicht  ganz  nüchtern  bzw.  die  physiologische 
Sekretion  auf  die  Fütterung  noch  nicht  völlig  abgeklungen  war;  des- 
halb ist  beim  Leitungswasserversuch  sowohl  die  Sekretionsdauer  als 
das  Sekretionsquantum  im  Vergleiche  mit  ähnlichen  Experimenten  am 
gleichen  Hunde  erheblich  gesteigert.  Diese  Steigerung  beeinträchtigt 
dadurch  den  Resultatwert  des  darauf  folgenden  Experimentes.  Vgl. 
folgenden  Versuch: 

Versuch  Nr.  18  am  Hund  »Max*. 


200  ccm  Leitungswasser 

8h  — 

200  ccm  Leitungswasser 

+  10  g  Bismutum  bitannicum 

=  5% 

lOh  30 

Zeit 

8h  30 
9h  — 
9h  30 
10  h  — 
10  h  15 
10  h  30 

Menge 

0,4 
0,6 
0,6 
0,4 
0,3 
9,0 

Zeit 

11h  — 

11  h  30 

12  h  — 

Menge 

0,6 
0,3 
0,1 

2  Stunden 
Sekretions- 
dauer 

2,3  ccm 
Gesamtquant. 
Gesamtazidität 
136 

1  Stunde 
Sekretions- 
dauer 

1,0  ccm 
Gesamtquant. 
Gesamtazidität 
appr.  120 

Sehr  interessant  ist  hier  wiederum  die  Tatsache,  daß  der  sekre- 


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35]      Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      271 

torische  Apparat,  wenn  der  Schleimhaut  entzündliche  Veränderungen 
zugrunde  liegen,  anders  als  bei  gesunden  Verhältnissen  reagiert:  statt 
der  Steigerung  der  Sekretion  haben  wir  hier  eine  ausgesprochene 
Hemmung.  Beide  Versuche  sind  mit  dem  gleichen  Tiere  angestellt. 
Bei  dem  einen  ist  die  Sekretionsdauer  durch  das  Präparat  nicht  be- 
einflußt, wohl  aber  die  Sekretionsmenge  um  ca.  60%  geringer;  bei 
dem  anderen  ist  sowohl  die  Dauer  wie  das  Quantum  erheblich  herab- 
gesetzt und  beträgt  kaum  die  Hälfte  der  Werte  der  Wasserperiode. 
Im  Experiment  Nr.  17  liegt  aber,  wie  erwähnt,  ein  Fehler  vor.  In 
allen  drei  Fällen  ist  der  prozentuale  HCl -Gehalt  des  Magensaftes 
nicht  nennenswert,  d.  h.  nicht  außerhalb  der  physiologischen  Schwan- 
kungen beeinflußt. 

Der  chemische  Vorgang  im  Magen  ist  demjenigen  beim  Bismutum 
subnitricum  analog: 

Bi .  bitannic.+  HCl  =  Bi<^j  +  Acid.  tannic. 

Daß  auch  hier  nicht  das  Bismutoxychlorid  das  wirksame  Agens 
sein  kann,  ergibt  sich  schon  durch  den  Vergleich  mit  der  Wirkung 

der    sekre- 


des  Bism.  subnitr.    Wäre  in  beiden  Fällen  das  Bi/^« 


tionssteigernde  Körper,  so  müßten  das  Bismut.  subnitr.  und  das  Bis- 
mut.  bitann.  genau  die  gleiche  sekretorische  Wirkung  sowohl  auf  den 
gesunden  wie  auch  auf  den  entzündeten  Magen  ausüben.  Da  dies  aber 
nicht  der  Fall  ist,  muß  diese  spezifische  Wirkung  in  der  frei- 
gewordenen Säure  zu  suchen  sein,  also  im  Tannin,  ähnlich  wie  in 
den  anderen  Versuchen  in  der  Salpetersäure.  —  Übrigens  hat  Herr 
Prof.  Bickel  nachträglich  auf  meine  Bitte  hin  den  Einfluß  des 
Acid.  tannic.  selbst  an  Tierexperimenten  geprüft  und  folgendes  ge- 
funden: 

1.  Versuch  (Bickel). 


150  ccm  Leitungswasser 

150  ccm  1  prozentige  wässerige 
Lösung  von  Acidum  tannicum 

Zelt 

llh-bisllh30 
Ilh30bisl2h— 
12h— bisl2h30 
12h30b]slh  — 

Menge 

0,6 
0,4 
0,6 
0,2 

Zelt 

1  h  —  bis  1  h  30 
1  h  30  bis  2  h  — 
2h  — bis2h30 
2h30bis3h  — 

Menge 

0,2 
0,0 
0,0 
0,0 

2  Stunden 
Sekretionsd. 

1,8  ccm 
Gesamtquant. 

1/2  Stunde 
Sekretionsd. 

0,2  ccm 
Gesamtquant. 

19* 


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272  P-  Rodari,  [36 


2.  Versuch  (Bickel). 

200ccm  1  prozentige  Lösung  von  Acidum  tannicum  ruFen  überhaupt 
keine  Sekretion  hervor. 


Das  Tannin  hat  also  nach  meinen  Versuchen  eine  sekretions- 
steigernde  Wirkung  und  zwar  da,  wo  die  Schleimhaut  intakt  ist.  Die 
adstringierende  Wirkung  muß  hier  eine  nur  wenig  intensive  und  sehr 
oberflächliche  sein  und  äußert  sich  in  ihrem  Endeffekte  als  eine 
Irritation,  eine  Anregung  der  Drüsennerven  bzw.  der  Drüsentätigkeit. 
Im  anderen  Falle  ist  der  Endeffekt  ein  umgekehrter,  eine  Depression, 
eine  Hemmung.  Die  entzündete,  hyperämische  und  aufgelockerte 
Mukosa  läßt  eine  intensivere  Adstringierung  zustande  kommen,  d.  h. 
die  eiweißhaltigen  und  leimgebenden  Substanzen  der  Schleimhaut 
zeigen  unter  den  Vorgängen  der  Entzündung  die  schon  physiologisch 
vorhandene  Affinität  zum  Tannin  in  erhöhtem  Maße.  Hand  in  Hand 
mit  der  Adstringierung  geht  auch  die  Hemmung  der  Sekretion.  Es 
ist  dies  ein  typisches  Beispiel  für  den  engen  Zusammenhang  zwischen 
Entzündung  und  Sekretionsstörung  und  für  einen  gewissen  Parallelis- 
mus in  der  medikamentösen,  therapeutischen  Beeinflußbar- 
keit der  Entzündung  und  der  Sekretionsanomalie,  wie  dies 
schon  in  der  Einleitung  dieser  Arbeit  angedeutet  wurde. 

Des  weitern  wurde  eine  Bismutsalizylverbindung,  ebenfalls  ein 
neues  Präparat,  untersucht,  das  Bismutum  bisalicylicum.  Die 
Fabrik  äußert  sich  folgendermaßen  über  das  Präparat:'  Bismutum  bi- 
salicylicum  ist  6ine  unlösliche  Verbindung  von  1  Atom  Wismut  mit  2Mole- 
külen  Salizylsäure,  von  denen  daseineMolekül  unter  Bildung  des  gewöhn- 
lichen Bismutum  salicylicum  sehr  leicht  abgespaltet  wird.  Die  abgespaltete 
Salizylsäure  wird  in  dem  Maße,  wie  sie  entsteht,  sofort  resorbiert.  Die 
Abspaltung  des  anderen  Moleküls  Salizylsäure  aus  dem  intermediär  ent- 
stehenden gewöhnlichen  Bismutum  salicylicum  erfolgt  wesentlich  schwe- 
rer. Das  neue  Bismutum  bisalicylicum  wirkt  mit  der  einen  Hälfte  seiner 
Salizylsäure  sehr  prompt,  mit  der  anderen  Hälfte  dagegen  genau  wie 
das  bekannte  Bismutsalizylat  allmählich.  Deshalb  zeichnet  sich  das 
Bismutum  bisalicylicum  nicht  nur  als  Magen-,  Darmantiseptikum  vor 
dem  Bismutum  salicylicum  aus,  sondern  auch  als  schnell  und  stark 
wirkendes  Salizylmittel.''  Zunächst  wurde  auch  hier  das  Präparat  an 
einem  Hunde  mit  intakter  Magenschleimhaut  geprüft : 


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37]     Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      273 


Versuch  Nr.  19  am  Hund  «Karo' 


200  ccm  Leitungswasser 

200  ccm  Leitungswasser 

+  10gBismutum  bisalicylicum 

=  5% 

7h  dO 

9h  45 

Zelt 

Menge 

Zeit 

Menge 

8h  — 

\ß 

10  h  15 

12,5 

8h  30 

2,2 

10  h  45 

10.0 

9h  — 

1,8 

11  h  15. 

5,8 

9  h  15 

1,0 

11  h  45 

1,2 

9h  30 

0,6 

12  h  45 

0,0 

9h  45 

0,0 

13/4  Stunden 

6,9  ccm 

21/2  Stunden 

29,5  ccm 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

dauer 

Gesamtazidität 

dauer 

Gesamtazidität 

120 

132 

Die  sekretionssteigernde  Wirkung  ist  hier  eine  auffallende.  Die 
Sekretionsperiode  ist  etwa  doppelt  so  groD,  die  Sekretionsmenge  etwa 
dreimal  stärker  als  bei  der  Wasserperiode.  Die  Azidität  scheint  ge- 
steigert zu  sein,  immerhin  nicht  in  typischer  Weise. 

Nun  folgen  drei  Versuche  an  Hunden  mit  der  chronischen  Gastritis. 
A  priori  dürfte  man  hier  vielleicht  auf  eine  Analogie  zu  den  vorher- 
gehenden Versuchen  gefaßt  sein,  allein  dies  ist  hier  nicht  zutreffend, 
wie  uns  folgende  Versuche  beweisen: 


Versuch  Nr.  20  am  Hund  ,Max* 


200  ccm  Leitungswasser 
9h  as 

200  ccm  Leitungswasser 

+  6  g  Bismutum  bisalicylicum 

=  3% 

11  h  33 

Zeit 

10  h  05 

10  h  35 

11  h  05 
11  h  35 

Menge 

0,2 
0,5 
0,6 
0,0 

Zeit 

10  h  05 

12  h  35 

1  h  05 

1  h  35 

2h  05 

Menge 

0,2 
0,6 
1,2 
0,2 
0,0 

U/2  Stunden 
Sekretions- 
dauer 

1,3  ccm 
Gesamtquant. 
Gesamtazidität 
ca.  140 

2  Stunden 
Sekretions- 
dauer 

2,2  ccm 
Gesamtquant. 
Gesamtazidität 
146 

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274 


P.  Rodari, 
Versuch  Nr.  21  am  Hund  »Max«. 


[38 


200  ccm  Leitungswasser 

200  ccm  Leitungswasser 

+  10  g  Bismut.  bisalicylicum 

=  5% 

7h  30 

9  h  45 

Zelt 

Menge 

Zeit 

Menge 

8h  — 

3^ 

10  h  15 

8,5 

8h  30 

2,4 

10  h  45 

5.5 

9h  — 

2^ 

11  h  15 

5,4 

9  h  15 

1,6 

11  h  45 

2,6 

9h  30 

0,8 

11  h  45 

4,2 

9h  45 

0,0 

1  h  15 

1,2 

1  h  30 

0,1 

13/4  Stunden 

10,2  ccm 

31/4  Stunden 

27,5  ccm 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

dauer 

Gesamtaziditfit 

dauer 

Gesamtazidität 

150 

125 

Versuch  Nr.  22  am  Hund 

,Max«. 

200  ccm  Leitungswasser 

8  h  45 

200  ccm  Leitungswasser 

+  10  g  Bismut.  bisalicylicum 

=  5% 

Ib  45 

Zeit 

9  h  15 

9  h  45 

10  h  15 

10  h  45 

11  h  45 

Menge 

4,0 
1,0 
0,2 
1,0 
0,0 

Zeit 

2  h  15 
2h  45 

3  h  15 
3b  45 
4h  — 

4  h  15 

Menge 
4,4 

»,2 
0,4 
0,2 
0,0 

2V8  Stunden 
Sekretions- 
dauer 

6,2  ccm 
Gesamtquant. 
Gesamtazidität 
138 

2  Stunden 
Sekretions- 
dauer 

7,4  ccm 
Gesamtquant 
Gesamtaziditat 
142 

In  allen  der  drei  letzten  Versuche  wird  durch  Einwirkung  des  Bis- 
mutum  bisalicylicum  die  Sekretionsdauer  und  die  Sekretionsmenge 
erheblich  gesteigert:  im  ersten  Versuch  etwa  um  das  Doppelte,  im 
zweiten  etwa  das  Dreifache  und  im  dritten  Versuche  weniger  auf- 
fallend, immerhin  noch  um  etwa  25%.  Hier  dürfte  der  Umstand  die 
geringere  Sekretionssteigerungsfähigkeit  erklären,  daO  diesem  Wismut- 
versuche ein  Experiment  mit  Albargin,  einer  sekretionshemmenden 
Substanz,  ziemlich  unmittelbar  vorangegangen  und  daß  als  Nachwir- 
kung davon  die  Drüsensekretion  weniger  erregbar  war,  als  wenn 
eine  Wasserperiode  unmittelbar  vorausgegangen  wäre.    Der  Einfluß 


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39]      Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      275 

auf  die  prozentuale  Azidität  ist  auch  hier  nicht  typisch,  er  schwankt 
innerhalb  physiologischer  Grenzen  bald  im  Sinne  einer  leichten 
Steigerung,  bald  einer  geringen  Hemmung.  Der  die  Sekretion  direkt 
anregende  Körper  ist  hier  die  im  Magen  freiwerdende  Salizylsäure. 
Diese  hat  also  einen  sekretionssteigernden  Einfluß,  sowohl  auf  die 
gesunde  wie  auf  die  entzündliche  Magenschleimhaut'  Das  Bismutum 
bisalicyücum  wie  folgerichtig  auch  das  Bismutum  salicylicum  können 
also  niemals  zur  Erzielung  einer  Herabsetzung  der  Sekretion  ver- 
wendet werden.  Dieses  gegensätzliche  Verhalten  der  Bismutsalizylate 
zu  dem  Bismutum  subnitricum  und  dem  Bismutum  bitannicum  läOt 
sich  pharmakologisch  vielleicht  dadurch  einigermaßen  erklären,  daß  der 
schwer  löslichen  Salizylsäure,  im  Gegensatze  zur  Salpeter-  und  Digallus- 
säure (Tannin)  eine  lokal  ätzende  Wirkung  abgeht.  Dadurch  kommt  es 
auch  nicht  zu  einer  Adstringierung  der  Magenschleimhaut.  Die  Phar- 
makodynamik dürfte  also  hier  eine  ganz  andere  sein  und  ihr  freilich 
nicht  ein  klares  chemisch-anatomisches  Substrat  zugrunde  liegen,  wie 
dem  Tanninsalze.  Dementsprechend  ist  auch  der  Endeffekt  der  Wirkung 
ein  anderer. 

Zum  Abschluß  dieser  Wismutversuche  habe  ich,  lediglich  von 
praktischen  Gründen  geleitet,  zwei  Körper  untersucht,  welche  in  der 
neueren  medikamentösen  Theraipe  häufig  in  Verbindung  mit  Bismutum 
subnitricum  verordnet  werden,  das  Anästhesin  und  Orthoformum 
novum.  Da  die  Hauptindikation  ihrer  internen  Anwendung  das  Ulcus 
ventriculi  ist,  halte  ich  es  für  geboten,  sich  über  den  Einfluß  dieser 
Lokalanästhetika  auf  die  Magensaftabscheidung  zu  orientieren  und  lasse 
deshalb  zunächst  Versuche  über  Aufschwemmungen  mit  Anästhesin  resp. 
Orthoform  ohne  Zusatz  von  Bismutum  subnitricum  folgen. 

Die  beiden  folgenden  Versuche  sind  am  Hunde  mit  dem  Magen- 
katarrh vorgenommen. 

Versuch  Nr.  23  am  Hund  „Max". 


200  ccm  Leitungswasser 

200  ccm  Leitungswasser 

+  2  g  Anästhesin 

=   1% 

7  h  45 

10  h  45 

Zeit 

Menge 

Zeit                           Meage 

8  h  05 

0,4 

U  h  15                   0,7 

8h  45 

0,0 

11  h  55 

0,5 

9h  - 

0,0 

12  h  - 

0,2 

9  h  15 

0,0 

12  h  15                   0,0 

Va  Stunde 

0,4  ccm 

1  Stunde 

1,4  ccm 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

dauer 

Gesamtazidität 

dauer 

Gesamtazidität 

? 

140? 

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276 


P.  Rodari, 


[40 


Versuch  Nr.  24  am  Hund  .Max' 


200  ccm  Leitungswasser 

200  ccm  Leitungswasser 

+  2  g  Anisthesin 

=  1  % 

8h  30 

lOh  30 

Zelt 

Menge 

Zeit 

Menge 

9h  — 

2,5 

11h  — 

2,5 

9h  30 

1,0 

11  h  15 

1,6 

10  h  — 

2,1 

11  h  45 

1,5 

10  h  15 

0,3 

12  h  15 

1,2 

10  h  30 

0,0 

12  h  45 

0,8 

1  h  45 

0,8 

2  h  15 

0,6 

2h  45 

0,2 

3h  — 

0,0 

n/a  Stunden 

Sfi  ccm 

4  Stunden 

0,2  ccm 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

dauer 

Gesamtazidität 

dauer 

Gesamtazidität 

128 

134 

Der  erste  Versuch  zeigt  die  Tendenz  zu  einer  Steigerung,  der 
zweite  eine  Steigerung  mäßigen  Grades  in  bezug  auf  die  Saftmenge 
und  eine  relativ  längere  Sekretionsperiode.  Auch  hier  läßt  sich  keine 
besonders  typische  Beeinflussung  der  Azidität  konstatieren. 

Ein  ähnliches  Bild  bieten  die  drei  folgenden  Versuche  mit  Ortho- 
form  (Orthoformum  novum): 


Versuch  Nr.  25  am  Hund  «Karo*. 


200  ccm  Leitungswasser 

7  h  45 

200  ccm  Leitungswasser 

+  2  g  Orthoformum  novum 

=   1  ^L 

gh  15 

Zell 

8  h  15 
8  h  45 
9h  — 
9h  15 

Menge 

0,3 
0,2 
0,1 
0,0 

Zelt 

9  h  45 
10  h  15 
10  h  30 
10  h  45 

1  Stunde 
Sekretions- 
dauer 

Menge 

0,0 
0,5 
0,3 
0,0 

1  Stunde 
Sekretions- 
dauer 

0,6  ccm 
Gesamtquant. 
Gesamtazidität 

? 

0,8  ccm 
Gesamtquant. 
GesamtaziditSt 

? 

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41]      Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      277 
Versuch  Nr.  26  am  Hund  »Max*. 


200  com  Leitungswasser 

7  h  45 

200  ccm  Leitungswasser 
+  2  g  Orthoformum  novum 
=  1% 

9  h  15 

Zeit 

8  h  15 

8  h  45 
9h  — 

9  h  15 

Menge 

0,4 
0,0 
0,0 
0,0 

Zeit 

9h  45 
10  h  15 
10  h  30 
10  h  45 

Menge 

0,0 
0,9 
0,4 
0,0 

1/2  Stunde 
Sekretions- 
dauer 

0,4  ccm 
Gesatntquant. 
Gesamtazidität 

? 

1  Stunde 
Sekretions- 
dauer 

1,3  ccm 
Gesamtquant. 
Gesamtaziditit 
140? 

Versuch  Nr.  27  am  Hund  „Max*. 


200  ccm  Leitungswasser 

200  ccm  Leitungswasser 

+   10  g  Orthoformum  novum 

8h 

„ 

=  0,5% 

2h  — 

Zeit 

Menge 

Zeit 

Menge 

8h  30 

9h  — 

9h  30 

10  h  — 

10  h  15 

4,0 
1,4 
1,6 
0,4 
0,1 

2h  30 
3h  — 
3h  30 
4h  — 
4h  30 

0,7 
1,0 
0,3 
0,2 
0,0 

P/4  Stunden 

7,5  ccm 

2  Stunden        !  2,2  ccm 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

Sekretions-         Gesamtquant. 

dauer 

Gesamtazidität 

dauer            .Gesamtazidität 

136 

128 

Auch  hier  tritt  in  zwei  Versuchen  die  Neigung  des  OrthoForms  zu- 
tage die  Sekretion  zu  erhöhen,  aber  in  bedeutend  weniger  aus- 
gesprochener Weise  als  beim  Anästhesin.  Im  dritten  Versuch  hin- 
gegen findet  sich  eine  Sekretionshemmung,  welche. ihre  Erklärung  in 
einem  unmittelbar  vorausgegangenen  Albarginversuche  finden  dürfte. 
Die  ganz  leichte  Sekretionssteigerung  äußert  sich  sowohl  beim  Hund 
mit  gesunder,  als  auch  beim  Hunde  mit  entzündeter  Magenschleim- 
haut. Da  beim  Anästhesin  und  beim  Orthoform  der  gleiche  Hund 
(mit  der  Gastritis)  unter  den  gleichen  Bedingungen  zum  Experimen- 
tieren diente,  dürfen  wir  die  Anästhesin-  und  die  Orthoformversuche 
in  ihren  Resultaten  miteinander  vergleichen  und  wohl  den  Schluß 
ziehen,  daß  das  Orthoform  die  Magenschleimhaut  bzw.  die  Magen- 
drüsen weniger  „reizt"'  als  das  Anästhesin.    Ob  die  beiden  chemisch 


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J 


278 


P.  Rodari, 


[42 


komplizierten  Körper,  Derivate  der  Amidobenzoesäure  (Para-Amido- 
benzoesäureäthylester  =  Anäsfhesin),  resp.  der  Oxybenzoesäure  (Meta- 
amido-para-Oxybenzoesäuremethylester  =  Orthoformum  novum)  durch 
die  einwirkende  HCl  Veränderungen  erleiden,  ist  Fraglich,  jedenfalls 
sind  aber  erhebliche  Umbildungen  nicht  möglich,  und  so  müssen  wir 
wohl  annehmen,  daß  diese  Körper  als  solche  die  Wirkung  auf  die 
Sekretion  ausüben,  und  daß  diese  keine  erheblich  irritative  ist. 

Nun  folgt  je  ein  Versuch  eines  Gemisches  von  Orthoform  bzw. 
Anästhesin  und  Bismutum  subnitricum  im  Verhältnis  1 :  Og  auf  200g 
Wasser,  also  ungefähr  in  einer  therapeutisch  üblichen  Dosis.  Die 
Experimente  sind  am  gleichen  Tiere  (mit  Gastritis)  durchgeführt. 

Versuch  Nr.  28  am  Hund  „Max*. 


200  ccm  Leitungswasser 

8h  30 

200  ccm  Leitungswasser 

+  9  g  Bismutum  subnitricum 

=  1  g  Orthoformum  novum 

11  h  — 

Zeit 

9h  — 
9h  30 
10  h  — 
10  h  30 
10  h  45 
11h  — 

Menge 

1,0 
2,0 
0,6 
1,9 
0,8 
0,1 

Zeit 

11  h  30 

12  h  — 
12  h  30 

1  h  — 
Ih  30 

Menge 

0,2 
1,4 
1,3 
1,0 
0,1 

2  Stunden 
Sekretions- 
dauer 

6,4  ccm 
Gesamtquant. 
Gesamtazidität 
130 

2  Stunden 
Sekretions- 
dauer 

4,0  ccm 
Gesamtquant. 
Gesamtaziditit 
128 

Versuch  Nr.  29  am  Hund  «Max* 


200  ccm  Leitungswasser 

200  ccm  Leitungswasser 

+  9  g  Bismutum  subnitricum 

=  1  g  Anästhesin 

8h  30 

Ih  30 

Zeit 

Menge 

Zelt 

Menge 

9h  — 

9h  30 

10  h  — 

10  h  30 

10  h  45 

11  h 

1,0 
2,1 
0,6 
1,9 
0,8 
0,1 

2h  — 
2h  30 
3h  — 
3  h  15 
3h  30 

0,6 
0,8 
1,0 
0,6 
0,1 

2  Stunden 

6,5  ccm 

11/2  Stunden 

3,1  ccm 

Sekretions- 
dauer 

Gesamtquant. 
Gesamtazidität 

Sekretions- 
dauer 

Gesamtquant. 
Gesamtaziditit 

130 

132 

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43]      Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      279 

Diese  Versuche  ergeben  eine  deutliche  Herabsetzung  der  Sekretions- 
oienge.  Sie  sind  sehr  interessant,  weil  sie  einerseits  die  obener- 
wähnte sekretorische  Hemmung  des  Bismutum  subnitricum  bestätigen, 
andererseits,  weil  in  dem  Gemische  die  hemmende  Komponente  (das 
Bismutum  subnitricum)  die  steigernde  (das  Anästhesin  resp.  Ortho- 
form)  an  Wirkung  übertrifft,  und  weil  dadurch  die  Resultante  eine 
ausgesprochene  Hemmung  ist.  —  Ober  die  prozentuale  Azidität  läßt 
sich  auch  hier  nichts  Charakteristisches  sagen. 

Die  Versuche  könnten  auch  den  Schluß  zulassen,  daß  das  Anästhe- 
sin die  hemmende  Wismutwirkung  weniger  beeinträchtigen  würde  als 
das  Orthoform.  Demgegenüber  ist  zu  sagen,  daß  der  Anästhesin- 
versuch  im  Anschluß  an  das  OrthoFormexperiment  gemacht  worden 
ist,  wo  also  eine  hemmende  Nachwirkung  auf  den  Drüsenapparat 
(wegen  der  Wismutkomponente)  nicht  ausgeschlossen  war.  Der  Unter- 
schied in  den  gefundenen  Mengewerten  ist  überdies  hier  zu  klein, 
um  daraus  bindende  Schlüsse  auf  eine  spezifische  Anästhesin-  oder 
Onhoform-Komponentenwirkung  zu  ziehen.  Das  Hauptinteresse  ist 
das  Resultat  dieser  Versuche,  daß  ein  Gemisch  dieser  therapeutisch 
wichtigen  Medikamente  sekretionshemmend  wirkt. 

Seit  vielen  Jahrzehnten  hat  das  Argentum  nitricum  sich  des 
Rufes  eines  guten  «Magenmitteis''  erfreut.  Schon  im  Jahre  1829 
wurde  es  von  Johnson^)  gegen  die  Magenschmerzen  von  Epileptikern 
als  lokales  Analgetikum  angewendet.  In  einer  Art  Monographie  über 
das  Präparat  empfiehlt  es  Krüger^)  bei  Gastromalacie,  ferner  bei 
Pyrosis  gastrica  und  cardiaca,  sowie  auch  bei  Gastralgia  nervosa. 
Lane^)  schreibt  die  gleichen  therapeutischen  Eigenschaften  dem 
weniger  kaustisch  wirkenden  Silberoxyd  zu.  Auf  die  Pharmako- 
dynamik des  Arg.  nitr.  geht  Küchenmeister^)  näher  ein,  indem  er 
bei  Empfehlung  des  Medikamentes  gegen  Ulcus  ventriculi  darauf  hin- 
weist, daß  es  die  Eigenschaft  habe,  mit  den  Albuminaten  gallert- 
artige Verbindungen  einzugehen  und  nach  erfolgter  Ätzung  des  Ge- 
schwüres dasselbe  mit  einer  Decke  von  koaguliertem  Eiweiß  zu 
versehen,  ähnlich  wie  die  Gerbsäure,  die  arsenige  Säure,  der  Blei- 
essig, der  Alaun  usw.  Mit  den  Jahren  hat  das  Arg.  nitr.  bei  Magen- 
krankheiten, besonders  beim  Ulkus,  immer  mehr  Anhänger  gefunden, 
wie  Ewald,  Liebermeister,  Rosenheim,  Boas,  Lion  u.a.,  aber 
auch  Gegner,  wie  Rosenthal,  Roßbach  und  Nothnagel. 


1)  Nach  Baibakoff  zitiert  (siehe  unten). 

2)  Prakt.  und  krit.  Mitteilungen  von  Pfaff^  7.  Jahrg.  1841. 

3)  Lancet,  July  1841. 

4)  Wiener  med.  Wochenschr.  1854,  Nr.  14  und  15. 


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280  P.  Rodari,  [44 

Die  Mehrzahl  der  Autoren,  welche  das  salpetersaure  Silber 
bei  Magenerkrankungen  anwenden,  halten  besonders  diejenigen  Zu- 
stände als  für  die  Silbertherapie  geeignet,  welche  mit  einer  Steige- 
rung der  HCl-Sekretion  verbunden  sind,  von  der  Annahme  aus- 
gehend, daß  das  Präparat  sekretionshemmend  auf  die  DrüsenFunktion 
des  Magens  wirke.  Diese  Frage  nach  der  Beeinflußbarkeit  der  Magen- 
saftabscheidung  durch  das  Arg.  nitr.  hat  neulich  Baibakoff^)  klinisch 
eingehend  geprüft  und  ist  zu  dem  Resultate  gelangt,  daß  in  der  Mehr- 
zahl der  Fälle  das  Medikament  eine  säuresteigernde  Wirkung  be- 
sonders in  quantitativer,  prozentualer  Hinsicht  aufweise.  Dieser 
Autor  hat  durch  das  Probefrühstück  von  Ewald  sowohl  Sekretions- 
neurosen als  auch  Gastritiden  mit  normaler  und  anormaler  Azidität, 
sowie  Fälle  von  Ulcus  ventriculi  geprüft  und  hat  als  Resultat  seiner 
Untersuchungen  die  Indikation  aufgestellt,  das  Arg.  nitr.  bei  Zuständen 
von  Subazidität,  besonders  von  schleimigem  Katarrh  zu  verordnen, 
während  seine  Anwendung  bei  denjenigen  Magenerkrankungen,  die 
mit  einer  gesteigerten  Azidität  einhergehen,  kontraindiziert  sei.  Dabei 
gibt  der  Autor  aber  auch  an,  daß  manche  seiner  Fälle  mit  einer 
Sekretionsherabsetzung  auf  die  Arg.  nitr.- Anwendung  reagiert  hätten; 
mithin  ist  die  Wirkung  des  Präparates  auf  die  Magendrüsenfunktion 
keine  einheitliche,  d.  h.  sie  kann  unter  Umständen  eine  hemmende 
sein.  Worin  dieser  doppelte  Modus  der  Sekretionswirkung  besteht, 
resp.  warum  der  eine  Magen  im  Sinne  einer  Irritation,  der  andere 
einer  Depression  reagiert,  hat  der  Autor  nicht  untersucht  und  in 
dieser  Unterlassung  liegen,  meiner  Ansicht  nach,  die  Mängel  obiger  In- 
dikationsaufstellung. Aus  Analogie  zu  den  anderen  hier  besprochenen 
Tierexperimenten  habe  ich  nun  versucht,  in  der  Frage  der  Einwirkung 
der  Silbersalze  auf  experimentell-biologischem  Wege  einige  Klarheit 
zu  verschaffen  und  habe  als  Prototypen  der  Silberwirkung  nicht  das 
Arg.  nitr.  als  solches,  sondern  zwei  organische  Silberverbindungen 
geprüft,  denen  ich  aus  pharmakologischen  und  klinischen  Gründen 
vor  dem  Salpetersilber  den  Vorzug  gebe,  das  Protargol  und  das 
Albargin. 

Das  Protargol,  ein  Silbereiweißderivat  mit  8,3%  Silber  in  orga- 
nischer Bindung,  wurde  zuerst  in  einer  0,5  prozentigen  Lösung  an 
einem  Hunde  mit  normaler  Beschaffenheit  der  Magenschleimhaut  ge- 
prüft ürid  der  Versuch  verlief  folgendermaßen: 


1)  Arch.  f.  Verdauungskrankheiten  1906,  Bd.  12,  Heft  1. 


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45]      Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      281 
Versuch  Nr.  30  am  Hund  „Nero**. 


200  ccm  Leitungswasser 

200  ccm  Leitungswasser 

+  1  g  Protargol 

=  0,5% 

8h 

— 

10  h  15 

Zeit 

Menge 

Zeit 

Menge 

8h  30 

2,0 

10  h  45                   5,8 

9h  — 

«^ 

11  h  15                  6,0 

9h  30 

1,8 

11  h  45 

6,2 

10  h  — 

0,2 

12  h  15 

2,3 

10  h  15 

0,0 

12  h  45 

2,0 

1  h  15 

1,8 

1  h  45 

0,8 

2  h  15 

0,5 

2  h  45                   0,4 

3h—       ,            0,2 

13  4  Stunden 

5^  ccm 

41/4  Stunden 

26,0  ccm 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

dauer 

Gesamtazidität 

dauer 

GesamtaziditSt 

123 

134 

Aus  diesem  Versuche  ergibt  sich  eine  hochgradige  Steigerung  der 
Sekretionsmenge  in  der  Zeiteinheit  (von  ^/g  Stunde),  des  Gesamt- 
sekretionsquantums  um  etwa  das  Fünffache  gegenüber  der  Wasser- 
periode und  der  Se&retionsdauer  um  mehr  als  das  Doppelte.  In 
bezug  auf  die  prozentuale  Azidität  scheint  die  Neigung  zu  einer 
leichten  Erhöhung .  derselben  zu  bestehen,  jedoch  auch  hier  in  keiner 
typischen  Weise. 

Ein  ganz  anderes  Bild  hingegen  bieten  die  folgenden  vier  Ver- 
suche am  Hunde  mit  der  chronischen  Gastritis  (ohne  Aziditäts- 
störung). 

Versuch  Nr.  31  am  Hunde  ,,Max". 


200  ccm  Leitungsw 

asser 

200  ccm  Leitungswasser 

+  1  g  Protargol 

=  0,5% 

8h  30 

3h  — 

Zeit 

. 

Menge 

Zeil 

Menge 

9h  — 

2,5 

3h  30 

2,8 

9h  30 

1,0 

4h  — 

0,6 

10  h  — 

2,1 

4h  30 

! 

0,2 

10  h  15 

0,3 

5h 

0,1 

10  h  30 

0,0 

11/2  Stunden 

5,9 

ccm 

11/2  Stunden 

3,7 

ccm 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

dauer 

Gesamtaziditit 

dauer 

Gesamtazidität 

128 

122 

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282 


P.  Rodari, 


[46 


Versuch  Nr.  32  am  Hund  ,Max*. 


200  ccm  Leitungswasser 

200  ccm  Leitungswasser 

+  1  g  Protargol 

=  0,5  % 

8h  30 

2h  30 

Zeit 

Menge 

Zeil 

Menge 

9h  — 

3,1 

3h  — 

0,5 

9h  30 

3,5 

3h  30 

1,0 

10  h  — 

2,2 

4h  — 

0,4 

10  h  30 

2,4 

4h  30 

0^ 

11h  — 

1,0 

5h  - 

0,0 

11  h  15 

1,6 

11  h  30 

0,1 

2V2  Stunden 

13,9  ccm 

2  Stunden 

2,1  ccm 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

dauer 

Gesamtaziditit 

dauer 

GesamtaziditSt 

142 

134 

Nicht  ganz 

nüchtern ! 

Versuch  Nr.  33  am  Hund  „Max* 


200  ccm  Leitungswasser 

200  ccm  Leitungswasser 

+  1  g  Protargol 

-  0,2% 

8h 

— 

1  h  30 

Zeit 

Menge 

Zeil 

Menge 

•8h  30 

0,4 

2h  — 

0,3 

9h  — 

0,6 

2h  30 

0,1 

9h  30 

0,6 

3h  — 

0,1 

10  h  — 

0,4 

10  h  15 

0,3 

• 

10  h  30 

0,0 

2  Stunden 

2,3  ccm 

1  Stunde 

0,5  ccm 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

dauer 

Gesamtaziditit 

dauer 

Gesamtazidität 

136 

134 

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47]      Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      283 
Versuch  Nr.  34  am  Hund  «Max*. 


200  ccm  Leitungswasser 

8h  — 

200  ccm  Leitungswasser 
+  1  g  Protargol 
=  0,5% 

10  h  15 

Zeit 

8h  30 
9h  — 
9h  30 
10  h  — 
10  h  30 

Menge 

4,0 
1,4 
1,6 
0,4 
0,1 

Zeit 

10  h  45 

11  h  15 

11  h  45 

12  h  — 

Menge 

2,2 
0,6 
0,2 
0,0 

2  Stunden 
Sekretions- 
dauer 

7,5  ccm 
Gesamtquant. 
Gesamtazidität 
136 

n/4  Stunden 
Sekrettons- 
dauer 

3,0  ccm 
Gesamtquant. 
Gesamtazidität 
140 

Aus  allen  diesen  vier  Versuchen  ergeben  sich  hier  bei  einer  ent- 
zfindlich  veränderten  Magenschleimhaut  gerade  die  umgekehrten  Ver- 
haltnisse wie  beim  nicht  entzündeten  Organe:  Die  Sekretion'  ist  er- 
heblich herabgesetzt,  im  ersten  und  dritten  Versuche  dieser  Reihe  auf 
etwa  die  Hälfte,  im  zweiten  und  vierten  auf  etwa  ein  Fünftel  gegen- 
fiber  der  Wirkung  von  Leitungswasser.  Die  Sekretionsdauer  ist  der- 
jenigen des  Wassers  ungefähr  gleich,  eher  noch  kleiner  und  beträgt 
bloß  die  Hälfte  bis  ein  Drittel  der  Absonderungszeit  beim  entsprechen- 
den Versuche  am  Hunde  mit  intakter  Schleimhaut. 

In  analoger  Weise  wurde  das  AI  barg  in  in  den  gleichen  Konzen- 
trationen wie  das  Protargol  geprüft.  Zunächst  wiederum  an  einem 
Hunde  mit  intakter  Magenschleimhaut. 


Versuch  Nr.  35  am  Hund  „Nero*. 

200  ccm  Leitungswasser 

200  ccm  Leitungswasser 

+  0,4  g  Albargin 

«  0,2% 

10  h  — 

2h  — 

Zeit 

Menge 

Zelt 

Menge 

10  h  30 

3,0 

2h  30 

4^ 

11  h  — 

3,0 

3h  — 

6,0 

11  h  30 

1,2 

3h  30 

3.8 

12  h  — 

2,2 

4h  — 

1,2 

12  h  30 

2,0 

4h  30 

0,8 

1  h  — 

1,6 

5h  — 

0,4 

Ih  30 

1,0 

5  h  15 

0,2 

2h  — 

0,5 

5h  30 

0,0 

4  Stunden 

14,5  ccm 

3  Stunden 

17,2  ccm 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

dauer 

Gesamtazidität 

dauer 

GesamtaziditSt 

140 

144 

Nicht  ganz 

nüchtern! 

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284 


P.  Rodari, 


[48 


An  diesem  Experimente  ist  vor  allem  ein  Fehler  zu  korrigieren: 
Das  Tier  wurde  am  Vorabend,  durch  ein  Versehen  des  Wärters,  statt 
mit  Pferdefleisch  mit  gemischter  Nahrung  („Charit6-Futter*)  gefüttert, 
welches,  wie  oben  erwähnt,  eine  bedeutend  längere  Sekretionsdauer 
zur  Folge  hat.  Daher  war  der  Hund  am  Versuchstage  nicht  »ganz 
nüchtern'',  sonst  hätte  die  Magensaftabscheidung  auf  Leitungswasser 
nicht  4  Stunden  beanspruchen  kennen.  Bei  völliger  Nüchternheit 
beträgt  die  relativ  lange  Sekretionsdauer  bei  diesem  Tiere  in  den 
anderen  Versuchen  nur  1^/2 — 2  Stunden.  Trotzdem  haben  wir  im  vor- 
liegenden Experiment  eine  Erhöhung  des  Sekretionsquantums,  welche 
bei  Ausschaltung  des  erwähnten  Versuchsfehlers  einen  bedeutend 
höheren  relativen  Wert  gewinnen  würde.  Wir  kommen  damit  zu  dem 
Resultat,  daß  das  Albargin  analog  dem  Protargol  auf  den  anatomisch 
intakten  Magen  eine  die  Sekretion  anregende  Wirkung  ausübt.  Die 
prozentuale  Gesamtazidität  ist  nicht  wesentlich  beeinflußt. 

Wie  liegen  nun  diese  Verhältnisse  bei  einer  entzündlich  ver- 
änderten Magenschleimhaut?  Die  Antwort  hierauf  geben  uns  folgende 
Versuche: 


Versuch  Nr.  36  am  Hund  »Max*. 


200  ccm  Lei 

tungswasser 

200  ccm  Leitungswasser 

+  1  g  Albargin 

=  0,5  % 

8  h  45 

11  h  — 

Zeit 

j             Menge 

Zeit 

1 

Menge 

9  h  15 

4,0 

11  h  30 

i 

0,8 

9  h  45 

1        1,0 

12  h  — 

2,0 

10  h  15 

0,2 

12  h  30 

1 

1,8 

10  h  45 

1        1,0 

1  h  — 

0,6 

11  h  — 

1        0,0 

1  h  15 

0,2 

1 

1 

Ih  30 

5,4 

0,0 

P/4  Stunden    1  6,2  ccm 

2  Stunden 

ccm 

Sekretions- 

I Gesamtquant. 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

dauer 

Gesamtazidität 

dauer 

Gasamtazidität 

1            138 

138 

Nicht  ganz  nüchtern! 

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40]       Escperimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      285 
Versuch  Nr.  37  am  Hund  »Max'. 


200  com  Leitungswasser 

8h  — 

200  ccm  Leitungswasser 
+  0,4  g  Albargin 

Zeit 

8h  30 

9h  — 

9h  30 

10  h  — 

10  h  15 

10  h  30 

Menge 

0,4 
0,6 
0,6 
0,4 
0,3 
0,0 

Zeit 

12  h  30 
Ih  — 
Ih  30 

Menge 

0,2 
0,2 
0,0 

2  Stunden 

Sekretions- 

dauer 

2,3  ccm 
Gesamtquant. 
Gesamtazidität 
136 

1  Stunde 
Sekretions« 
dauer 

0,4  ccm 
Gesamtquant. 
GesamUzidität 

? 

Versuch  Nr.  38  am  Hund  »Max' 


200  ccm  Leitungswasser 

200  ccm  Leitungswasser 

+  1  g  Albargin 

»  0^  % 

8h 

— 

12h- 

Zeit 

Menge 

Zelt 

Menge 

8h  30 

4,0 

12  h  30 

0,3 

9h  — 

1,4 

Ih  — 

1,3 

9h  30 

1,6 

1  h  30 

0,3 

10  h  — 

04 

2h  — 

oll 

10  h  30 

0,1 

2  Stunden 

7,5  ccm 

IVs  Stunden 

2,0  ccm 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

dauer 

Gesamtaziditit 

dauer 

Gesamtazidität 

135 

138 

Vers 

uch  Nr.  30  am  Hund  „Max*. 

200  ccm  Leitungswasser 

200  ccm  Leitungswasser 

+  1  g  Albargin 

=  0,50/0 

8h 

— 

10  h  15 

Zeit 

Menge 

Zelt 

Menge 

8h  30 

1,2 

10  h  45 

0,2 

9h  — 

0,8 

11  h  15 

0,2 

9h  30 

0,7 

11h  45 

0,2 

10  h  — 

0,2 

12  h  15 

0,2 

10  h  15 

0,0 

12  h  45 

0,0 

l*/4  Stunden 

2,9  ccm 

2  Stunden 

0,8  ccm 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

dauer 

GesamtazidltSt 

dauer 

Gesamtazidität 

144 

140? 

Rita.  Vortrige,  N.  F.  Nr.  482/84.    (Innere  Medizin  Nr.  144/46.)    Mal  1908. 


20 


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286  P-  Rodari,  [50 

Bei  Versuch  Nr.  36  bandelt  es  sich  um  den  gleichen,  vorstehend 
erwähnten  Versachsfehler;  trotzdem  das  Tier  nicht  ganz  nüchtern 
war,  ist  auch  hier  eine  Reduktion  der  Sekretion,  allerdings  unerheb- 
lich, zu  konstatieren.  Viel  typischer  ist  diese  sekretionshemmende 
Wirkung  in  den  drei  folgenden  Experimenten  ausgedrückt:. Das  ab- 
geschiedene Magensaftquantum  beträgt  bloß  ein  Drittel,  ein  Viertel, 
sogar  bloß  ein  Fünftel  der  auf  Leitungswasser  abgeschiedenen  Menge. 
Die  Sekretionsdauer  ist  in  keiner  ausgesprochenen  Weise  beeinflußt, 
durchschnittlich  überhaupt  nicht  verkürzt,  die  prozentuale  Salzsaure 
scheint  auch  hier  auf  Albargin  eine  leichte  Reduktion  zu  erfahren, 
immerhin  in  den  Grenzen  der  physiologischen  Schwankungen  und 
reagiert  also  auch  auf  dieses  Adstringens  nicht  typisch. 

Vergleichsweise  bestehen  zwischen  Protargol  und  Albargin  analoge 
pharmakodynamische  Wirkungen  auf  den  Magendrüsenapparat,  ent- 
sprechend der  analogen  chemischen  Beschafl^enheit  beider  Präparate. 
Wenn  nun  aber  das  Argentum  nitricum  in  beiden  Medikamenten  der 
aktive  Bestandteil  ist,  so  könnte  man  aus  theoretischen  Gründen  er- 
warten, daß  derjenige  Körper,  der  mehr  Arg.  nitr.  enthält,  das  Albargin 
(15%  Ag),  auch  pharmakodynamisch  wirksamer  resp.  mehr  sekretions- 
hemmend  wäre  als  das  silberärmere  Protargol  (8,3%  Ag).  Dies  ist 
aber,  nach  den  vorstehenden  biologischen  Versuchen  zu  schließen, 
nicht  der  Fall:  Beide  Präparate  üben  ungefähr  die  gleiche  intensive 
Wirkung  auf  die  Magendrüsensekretion  aus.  Mithin  ist  der  Effekt 
nicht  vom  prozentualen  Gehalt  an  Silber  abhängig  und  somit  auch 
nicht  vom  Quantum  des  bei  beiden  Körpern  durch  Einwirkung  von 
HCl  entstehenden  Silberchlorids,  AgCl.  Gewisse,  nicht  aufgeklärte 
Eigentümlichkeiten  in  der  individuellen  organischen  Beschaffenheit 
der  Körper  scheinen  auch  hier  eine  Rolle  zu  spielen. 

In  neuester  Zeit  sind  auch  einige  Adstringentlen  der  Ferri-  und 
Ferro  reihe  auf  ihre  Einwirkung  auf  die  Magensaftabscheidung  unter- 
sucht worden  und  zwar  von  Feigl.^)  Die  Eisenverbindungen  haben 
in  der  direkten  Behandlung  von  Magenerkrankungen  keine  große  Rolle 
gespielt;  höchstens  zur  Behandlung  der  konsekutiven  Anämie  wandte 
man  gewisse  Eisenpräparate  an.  Bourget')  hat  vor  einigen  Jahren 
eine  Eisenbehandlung  des  Ulcus  ventriculi  empfohlen,  die  einerseits 
bezweckt,  direkt  blutstillend  zu  wirken,  andererseits  auch  die  Anämie 
zu  bekämpfen.  Die  Methode  besteht  in  Magenspülungen  mit  2pro- 
zentigen  Eisenchloridlösungen   mit  Zusatz  von   V2  prozentigem   Kali 


1)  Biocb^m.  Zeitscbr.  1908,  Bd.  5,  Heft  L 

2)  Therap.  Monatshefte^  Juni  1900  und  Krankh.  des  Magens  und  ihre  Behandl. 
Wiesbaden  1906. 


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51]     Expenmentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      287 

chloricum,  ZurücUassung  von  50 — 60g  dieser  Lösung  im  Magen  und 
nach  5  Minuten  Fällung  des  Eisens  durch  Trinken  einer/2prozentigen 
Natrium  bicarbonicum-Lösung.  Darin  liegt  auch  ein  direktes,  die 
SelLretion  herabsetzendes  Moment. :  Eine  experimentelle  Begründung 
dieser  Methode  lieferten  die  Untersuchungen  von  Feigl  über  den 
sekretorischen  Einfluß  des  Eisenchlorids  FeCls  (Ferrum  sesqui- 
chloratum  der  Pharmakopoe).  Lösungen  von  0^5%  haben  zu  dem 
Resultate  geführt,  daß  «Ferrichloridlösungen  bzw.  darin  als  wesentliches 
Moment  die  Ferri-Ionen  eine  Verkürzung  des  Sekretionsvorganges  auf 
mindestens  die  Hälfte  der  Zeit  geben.  Diese  sezernierte  Saftmenge 
bäh  sich  durchschnittlich  auf  ein  Drittel  der  Menge  nach  der  Ver- 
abreichung von  Wasser."  —  Im  Gegensatz  hierzu  ist  den  Ferro- 
sulfatlösungen  ein  wesentlicher,  starker  Einfluß  auf  die  Drüsentätig- 
keit abzusprechen.  Sie  sollen  nur  in  geringen  Grenzen  eine  Hemmung 
verursachen  und  vor  allem  die  Zeitdauer  der  Sekretion  nicht  ver- 
kürzen. Eine  ähnliche,  mehr  indifi^erente  Wirkung  übt  das  kolloidale 
Ferrihydroxyd  aus,  während  das  Ferricitrat,  welches  Feigl,  ver- 
anlaßt durch  meine  Versuche  mit  Natriumeitrat  (s.  ob.),  prüfte,  in 
analoger  Weise,  wie  dieser  Körper,  nur  in  bedeutend  geringerem 
Grade  sich  als  sekretionstreibend  erwies.  Von  größerer  praktischer 
Bedeutung  sind  gleichartige  experimentelle  Untersuchungen  desselben 
Autors  mit  Typen  von  Eisen  wässern.  Das  Roncegnowasser,  in 
welchem  auf  die  Magendrüsen  die  Komplexwirkung  des  Eisens  und 
des  Arsentrioxyds  (arsenige  Säure)  zur  Geltung  kommen,  erwies  sich 
als  sekretiohshemmend,  was  auf  die  Ferri-Ionen  zurückzuführen  ist, 
da  das  AsOs  als  solches  erregend  wirken  solle.  Umgekehrt  steigert 
der  ebenfalls  Eisen  enthaltende  Schwalbacher  Stahlbrunnen  die  Se- 
kretion, und  zwar  wegen  der  in  ihm  enthaltenen  freien  CO2,  deren  Phar- 
makodynamik auf  die  Drüsenfunktion  in  irritativem  Sinne  stärker 
ausgeprägt  ist  als  diejenige  depressiver  Art  des  Eisens.  Aus  dieser 
Autagonistenwirkung  eines  Salzgemisches  (resp.  Mineralwassers)  geht 
als  Resultante,  als  Endefi^ekt  die  stärkere  COa-Wirkung  hervor.  Auf 
rein  experimentellem  Wege  gibt  die  obenerwähnte  Arbeit  von  Rozen- 
blat  mit  einem  Gemische  von  Natrium  bicarbonicum  und  Natrium- 
clilorid  lehrreichen  Aufschluß. 


HL  Gewisse  Metalle. 

Der  Frage  nach  der  ev.  Einwirkung  metallischer  Elemente  auf 
die  Magensekretion  ist  zum  ersten  Male  am  biologischen  Tierexperi- 
mente  durch  meine  Untersuchungen  nähergetreten  worden.    Hierzu 

20* 


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288  P.  Rodari,  [52 

veranlaOte  mich  eine  Publikation  von  G.  Klemperer^).  Dieser 
Autor  ging  von  dem  GrundgedaniLen  aus,  bei  der  Behandlung  des 
Ulcus  ventriculi  und  der  Darmblutungen  ein  Ersatzpraparat  für  die 
unter  Umständen,  allerdings  sehr  selten,  giftig  wirkenden  Wismut- 
verbindungen (besonders  Bismutum  subnitrlcum)  zu  finden,  welches 
im  Magen-  wie  Darmsaft  unlöslich,  unresorbierbar  und  ungiftig  sein 
solle,  ferner  die  Schleimhäute  in  keiner  Weise  reizen  dfirfe  und  sich 
mit  der  Gewebslymphe  bzw.  dem  Magenschleim  zu  einem  festen  Ge- 
rinnsel vereinigen  mfisse.  Eine  solche  ideale  Substanz  glaubte 
Klemperer  in  feinst  gepulvertem,  metallischem  Aluminium,  der 
Aluminiumbronze,  gefunden  zu  haben,  welche,  um  eine  Aufischwem- 
mung  In  Wasser  zu  erleichtern,  mit  einer  Glyzerinpaste  verrieben  ist 
Das  Präparat  wird  von  den  Chemischen  Werken  in  Charlottenburg 
hergestellt  in  Pastillen  zu  5  g,  d.  h,  2,5  g  Aluminium  pulverisatum 
+  1,5  g  Glyzerin  +  1,0  g  Wasser  und  Escalin  (Schorfbildner,  von 
eschara  =  Schorf)  genannt.  Klemperer  erblickt  die  Indikation  zur 
therapeutischen  Verwendbarkeit  des  Präparates  an  Stelle  des  Bis- 
mutum subnitrlcum  nicht  nur  in  den  oben  erwähnten  Eigenschaften, 
sondern  auch  in  den  beiden  Umständen  noch,  daß  es  einerseits  die 
Fähigkeit  habe,  die  Magenschleimhaut  und  besonders  Defekte  der- 
selben (Ulzera)  mit  einer  dichten,  fest  anhaftenden  und  damit  mecha- 
nisch schützenden  Decke  zu  überziehen,  andererseits  auch,  und  dies 
deutet  der  Autor  allerdings  nur  indirekt  an,  daß  es  die  Sekretion 
nicht  erheblich  alteriere.  So  sagt  er:  »Auf  den  Säuregehalt  des 
Magensaftes  hat  das  Escalin  hier  keine  vermindernde  Wirkung  aus- 
geübt, wie  denn  auch  die  Beschwerden  bei  nervöser  Hyperaziditiit 
des  Magens  durch  das  Mittel  nicht  beeinflußt  wurden.  Es  schien  mir 
beinahe,  als  ob  man  diese  Tatsache  differential-diagnostisch  verwerten 
könnte.« 

In  Anbetracht  der  Rolle,  welche  die  Hyperazidität  bei  Ulcus  ven- 
triculi spielt,  prüfte  ich  am  Tierexperiment  nach  Pawlow  das  Es- 
calin auf  seine  sekretorische  Wirkung  und  zwar  zunächst  an  vier  ver- 
schiedenen Hunden  mit  gesunder,  nicht  entzündeter  Schleimhaut  in 
folgenden  acht  Versuchen: 


1)  Ther.  der  Gegenwart,  Mai  1907. 


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53]     Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      289 


Versuch  Nr.  40  am  Hund  »Karo'. 


200  com  Leitungswasser 

200  ccm  Leitungswasser 

+  1  Tablette  Bscalin 

s  2,5  g  metall.  Aluminium 

9  h  24 

llh  03 

Zeit 

Mence 

Zeit 

MeAge 

9h  40 

0,2 

11  h  33 

3,6 

9  h  51 

0,9 

11  h  53 

4,0 

10  h  17 

3,7 

12  h  13 

0,8 

10  h  27 

0,6 

12  h  33 

1,5 

10  h  40 

0,6 

12  h  53 

1,4 

10  h  55 

0:0 

1  h  13 

3,0 

Ih  33 

1,6 

2h  03 

0,0 

n/4  Standen 

6,0  ccm 

3  Stunden 

15,9  ccm 

Sekretions* 

Gesamtquant. 

Sekretions* 

Gesamtquant 

dauer 

GesamtaziditSt 

dauer 

Gesamtazidität 

i           110 

108 

Versuch  Nr.  41  am  Hund  »Bernhardiner  I*. 


200  ccm  Leitungswasser 

200  ccm  Milch 

+  1  Tablette  Escalin 

s  2,5  g  metall.  Aluminium 

9b26 

llh  30 

Zeit 

Menge 

Zeit 

Menge 

9  h  42 

0,0 

11  h  50 

1,6 

9h  53 

0,0 

12  h  10 

1,3 

10  h  18 

0,2 

12  h  30 

2,0 

10  h  29 

0,0 

12  h  50 

1^0 

10  h  39 

0,1 

1  h  10 

2,0 

10  h  50 

0,0 

Ih  30 

1,1 

1  h  50 

0,6 

2h  20 

0,0 

Va  Stunde 

0,3  ccm 

2V2  Stunden 

9,6  ccm 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

dauer 

Gesamtazidität 

dauer 

Gesamtazidität 

? 

110 

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290  P.  Rodarl, 

Versuch  Nr.  42  am  Hund  »Bernhardiner  II*. 


[54 


200  ccm  Leitungswasser 

200  ccm  Leitungswasser 

*    ' 

■ 

+  1  Tablette  Escalin 

^  2,5  g  metall.  Aluminium    . 

9h  30 

llh  15 

Zeit 

Menge 

Zelt 

Menge 

9h  45 

0,1 

11  h  35 

0,2 

9h  55 

0,2 

11  h  55 

1,4 

10  h  20 

0,1 

12  h  15 

3,8 

10  h  30 

0,1 

12  h  35 

6,0 

10  h  40 

0,1 

12  h  55 

1,2 

10  h  50 

0,0 

1  h  15 

2/) 

Ih  35 

1,0 

2  h  15 

2,4 

2  h  45 

2,3 

5h  — 

0,5 

Die  Sekretion 

dauert  fort 

1  Stunde 

0,6  ccm 

Ober  5Va  St. 

20,8  ccm 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

beobachtete 

Gesamtquant. 

dauer 

Gesamtazidität 

Sekretions- 

Gesamtzaiditit 

? 

dauer 

142 

Versuch  Nr.  43  am  Hund  »Moor**. 


200  ccm  Leitungswasser 

200  ccm  Leitungswasser 

—  1  Tablette  Escalin 

—  2,5  g  metall.  Aluminium 

9h  33                              i 

11  h  22 

Zeit 

Menge 

Zeit 

Menge 

9h  45 

0,8 

11  h  42 

1,6 

9h  55 

0,6 

12  h  02 

1,4 

10  h  25 

1,4 

12  h  22 

0,8 

10  h  35 

0,6 

12  h  42 

0,6 

10  h  45 

0,4 

Ih  02 

2,6 

10  h  55 

0,3 

1  h  22 

1,3 

12  h  05 

0,2 

1  h  42 

1,0 

llh  15 

0,2 

2  h  22 

;        1,0 

llh  20 

0,0 

2  h  52 

6,0 

5h  — 

5,0 

Die  Sekretion 

dauert  fort 

13/4  Stunden 

4,5  ccm 

Über5Stunden  '  21,3  ccm 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

beobachtete       Gesamtquant. 

dauer 

Gesamtazidität 

Sekretions- 

Gesamtazidität 

124 

dauer 

132 

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55]      Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      291 
Versuch  Nr.  44  am  Hund  ^Karo*. 


200  ccm  Leitungswasser          | 

200  ccm  Leitungswasser 

+  1  Tablette  Escalin 

=  2,5  g  metaU.  Aluminium 

8h  35                             1 

Uh  12 

Zeit 

Menge 

Zeit 

Menge 

81]  50 

2,4 

11  h  45 

9,0 

9h  05 

1,6 

12  h  15 

2,5 

9h  20 

1,0 

12  h  45 

3,0 

9h  35 

0,4 

1  h  15 

1,8 

10  h  05 

1,0 

1  h  45 

1           1,3 

10  h  35 

1,4 

2  h  15 

6,1 

10  h  05 

0,0 

2h  45 

2,4 

3  h  15 

2,0 

3h  45 

i            1,5 

4  h  15 

4,0 

1 

4  h  45 

!           4,5 

Die  Sekretion 

dauert  fort 

l^U  Stunden 

7,&  ccm 

Über  5  Stunden 

38)0  ccm 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

beobachtete 

Gesamtquant. 

dauer 

Gesamtazidität 

Sekretiöns* 

Gesamtazidität 

130 

dauer 

135 

Versuch  Nr.  45  am  Hund  „Bernhardiner  I*. 


200  ccm  Leitungswasser 

200  ccm  Leitungswasser 

+  1  Tablette  Escalin 

=  2,5  g  metall.  Aluminium 

8h40 

10h32 

Zeit 

Meote 

Zeit 

Menge 

8h  55 

0,0 

11  h  02 

2,4 

9  h  10 

0,0 

11  h  32 

i           3,4 

9h  25 

0,0 

12  h  02 

3,6 

9h  30 

'■          0,1 

12  h  32 

1,6 

10  h  10 

!            0,0 

1  h  02 

3,0 

1  h  32 

3,0 

i 

2  h  02 

2,0 

2  h  32 

i           5,0 

3  h  02 

2,5 

3h  45 

2,0 

1 

4  h  02 

1,8 

4  h  32 

1,5 

Die  Sekretion 

1 

•    dauert  fort 

1  Stunde 

0,1  ccm' 

Ober  51/2  St.. 

31,8ccm 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

beobachtete 

Gesamtquant. 

dauer 

Gesamtazidität 

Sekretions- 

Gesamtazidität 

\ 

? 

dauer 

104 

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292  P*  Rodari, 

Versuch  Nr.  46  am  Hund  »Bernhardiner  11^ 


[56 


200  ccm  Ltitungsvftsser 

200  ccm  Leitungsvaster 

+  1  Tablette  Escalin 

»  2,5  g  metall.  Aluminium 

8b  45 

11  h  15 

Zeit 

Menge 

Zeit 

Menge 

9h  — 

0^ 

11h  45 

5,0 

9  h  15 

0,6 

12  h  15 

10,5 

9h  30 

0,8 

12  h  45 

8,5 

9  h  45 

0,1 

1  h  15 

8,3 

10  h  15 

0,4 

Ih  41 

64 

10  h  45 

1,0 

2  h  15 

6,5 

10  h  55 

0,3 

2h  45 

5,3 

11  h  05 

0,0 

3  h  15 

4:5 

3h  45 

3,5 

4  h  15 

6,0 

4h  45 

4,0 

Die  Sekretion 

dauert  fort 

2  Stunden 

3,2  ccm 

Über5Stunden 

.  67,7  ccm 

Sekretions- 

Gestmtqutnt. 

beobachtete 

Geaamtquant. 

dftuer 

Gesamttziditlt 

Sekretions* 

Gesamtaziditit 

130 

dauer 

116 

Versuch  Nn  47  am  Hund  »Moor^ 


200  ccm  Leitungswasser 

200  ccm  Leitungswasser 

+  1  Tablette  Escalin 

s  2,5  g  metall.  Aluminium 

8h  50 

lOh  30 

Zeit 

Menge 

Zeit 

Menge 

9h  05 

0,1 

'       Uh- 

1,0 

9h  20 

0,0 

11h  30 

2,0 

9h  55 

0,1 

12  h  — 

2,2 

9h  50 

0,0 

12  h  30 

1,5 

1  h  — 

2,0 

Ih  30 

2,5 

2h  — 

2,5 

2h  30 

3,0 

3h  — 

2,0 

3h  30 

1,0 

4h  — 

2,1 

4h  30 

1,8 

Die  Sekretion 

dauert  fort 

V*  Stunden 

0,2  ccm 

Ober  51/2  St. 

23,6  ccm 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

Sekretions« 

Gesamtquant. 

dauer 

Gesamtaziditit 

dauer 

Gesamtaziditit 

? 

118 

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57]      Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      203 

Diese  Versuche  geben  ein  unerwartetes ,  verblüffendes  Resultat: 
durchweg  eine  sehr  bedeutende,  teilweise  sogar  eine  stürmische 
Steigerung  der  Sekretionsdauer  und  der  Gesamtsekretion.  Die  pro- 
zentuale Azidität  war  bald  erhöht ,  bald  verringert,  immerhin  nicht 
typisch  beeinflußt  Dafür,  daß  nicht  die  Glyzerinkomponente  des 
Escalins  die  Steigerung  hervorruft,  spricht  wohl  der  Versuch,  dessen 
Resultat  auch  beiläufig  Kast^)  bestätigt. 

Versuch  Nr.  48  am  Hund  »Max*. 


200  ccm  Leitungswasser 

7  b  45 

200  ccm  Leitungswasser 

+  1,5  g  Glyzerin 

»  Gehalt  einer  Escalinpastile 

12  b  15 

Zelt 

8  h   15 
8h  45 
9h  — 

9  h  15 

Menge 

0,4 
0,0 
0,0 
0,0 

Zeit 

12  h  45 
Ih  15 
Ih  45 

Menge 

0,3 
0,1 
0,0 

V^  Stunde 
Sekretions- 
dauer 

0,4  ccm 
Geaamtquant. 
Gesamtaziditit 
? 

Va  Stunde 
Sekretions- 
dauer 

0,4  ccm 
Gesamtquant. 
Gesamtaziditit 

? 

Diese  erhebliche  Sekretionssteigerungsßlhigkeit  des  Escalins  wurde 
von  Bickel^)  auch  am  Menschenexperiment  festgestellt,  und  dieser 
Autor  äußert  sich  darüber  folgendermaßen;  «Alle  Metalle,  welche  bei 
Gegenwart  verdünnter  Salzsäure  Wasserstoff  entwickeln,  wie  z.  B. 
Eisen,  Mangan,  Aluminium  usw.  wirken  reizend  auf  die  Magendrüsen 
und  rufen  eine  lebhafte  Sekretion  hervor.  Metalle,  die  in  dem  oben- 
genannten Sinne  keine  Wasserstoffeotwickler  sind,  wie  z.  B.  metalli- 
sches Wismut,  Silber,  Gold,  verhalten  sich  gegen  die  Magenschleim- 
haut indifferent. 

Escalin,  eine  Aluminiumglyzerinpaste,  zersetzt  sich  im  mensch- 
lichen Magensafte  unter  Wasserstoffentwicklung  und  ruft  eine  sehr 
starke  Saftsekretion  hervor.  Rodari  hat  letzteres  zuerst  an  Magen- 
blindsackhunden entdeckt;  Bickel  bestätigte  es  an  einem  von  Gluck 
operierten  ösophagotomierten  Magenfistelmenschen.  Das  Escalin  ist 
demnach  wegen  seiner  stark  reizenden  und  safttreibenden  Eigen- 
schaften beim  Ulcus  ventriculi  nicht  indiziert.  Auch  eine  spezifische 
blutstillende  Wirkung  ließ  sich  im  Tierversuche  nicht  nachweisen."" 

1)  Arch.  f.  Verd.-Krankh.  1906,  Bd.  12,  Heft  6. 

2)  Bert.  Klin.  Wochensclir.  1907,  Nr.  30  und  33. 


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294 


P.  Rodari, 


[58 


Ober  das  mit  Escalin  angestellte  Experimentum  ad  hotninem  äußerte 
sich  neulich  BickeU)  folgendermaOen: 


1.  Versuch  (Bickel).       2.  Versuch  (Bickel). 


ISOcctn Wasser  ISOccm Wasser 

ISOccmWasser 

150ccm  Wasser 

■ 

— 3Escalintabl. 

— 3Escalintabl. 

Sekretionsmenge 

Sekretionsmenge 

9^ 

12,5 

3.7 

19,4 

9,1 

8,0 

2,0 

2,6 

2,15 

7,6 

9,0 

0,9 

1,0 

3,6 

3,2 

3,1 

1,75 

5,8 

8,8 

14,0 

1,8 

4,5 

8,1 

10,2 

3,4 

5,5 

10,8 

7.9 

1,1 

8,8 

5,6 

0,8 

1.1 

10,4 

1.4 

5,4 

0,15 

9,9 

0,2 

14,4 

0,15 

0,0 

4,2 



0,0 

7,6 

Die  Seliretion 

Die  Sekretion 

dauert  fort 

dauert  fort 

Sa.  30,9  ccm          76,6  ccm 

52,8  ccm             90,4  ccm 

Sekretio 

nsmenge 

Sekretionsmenge 

Klemperer  hat  nun  gegen  dieses  abfällige  Urteil  Bickels  in  der 
Publikation  von  Mai 2)  energisch  Stellung  genommen.  Mai  stellt 
einen  sekretionssteigernden  Einfluß  des  Präparates  entschieden  in 
Abrede,  indem  er  die  Wirkung  des  Escalin  bei  20  Patienten  mit  nor- 
malen,  subaziden  und  hyperaziden  Zuständen  des  Magens  prüft,  wo- 
bei er  allerdings  nicht  unterscheidet,  ob  es  sich  um  Gastritiden  oder 
Neurosen  des  Magens  handelt.  Wie  verhält  es  sich  nun  bei  solchen 
diametralen  Gegensätzen  mit  der  endgültigen  Antwort  nach  der  klini- 
schen Brauchbarkeit  des  Escalins?  Diese  geben  zum  Teil  meine  fol- 
genden zwei  Versuche  an  eiiiem  Hunde  mit  chronischer  Gastritis 
(ohne  Aziditätsanomalie). 


1)  Berl.  Klin.  Wochenschr.  1907,  No.  48. 

2)  Tberap.  der  Gegenwart,  November  1907. 


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591 


Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      205 
Versuch  Nr.  49  am  Hund  »Max*. 


200  ccm  Leitungswasser 

200  ccm  Leitungswasser 

+  1  Escalint^blette 

=  2,5  metalli  Aluminium 

8h  — 

lb30 

Zeit 

Menge 

Zeit 

Menge 

8h  30 

1^ 

2h  —      . 

0,1 

9h  — 

0,8 

•   2h  30 

0,1 

9h  30 

0,7 

3h  — 

0.2 

10  h  — 

0,2 

10  h  15 

0,0 

l»/4  Stunden 

2,9  ccm 

11/2:  Stunden 

0,4  ccm 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

Sekretions- 

Gesamtquant. 

dauer 

Gesamtazidität 

dauer 

Gesamtazidität 

, 

119 

p 

Versuch  Nr.  50  am  Hund  »Max*. 


200  ccm  Leitungswasser 

8h  30             . 

2P0  ccm  Leitungswasser 

—  1  Escalintablette 

—  2,5  g  metall.  Aluminium 

12  h  — 

Zeit 

9h  — 

9  h  30 

10  h  — 

10  h  30 
11h  — 

11  h  30 

Menge 

1,8 

1,0 

0,6 

0,4  ^ 

0,2 

0,0 

Zeit 

12  h  3Ö 
1  h  — 
1  h  30 
2h  — 
2h  30 

Menge 

0,7 
0.4 
0^ 
0,0 
0,0 

2*  '2  Stunden 
Sekretions- 
dauer 

4,0  ccm 
Gesamtquant. 
Gesamtazidität 
124 

IV2  Stunden 
Sekretions- 
dauer 

1,3  ccm 
Gesamtquant. 
Gesamtazidrtit 
appr.  120 

Diese  Experimente  sind  von  einer  prinzipiellen  Bedeutung,  erstens, 
weil  sie  im  allgemeinen  einen  weiteren  Beitrag  liefern  Für  die  von 
mir  festgestellte,  andersartige,  gewissermaßen  spezifische  Reaktion  der 
entzündeten  Magenschleimhaut  gegenüber  derjenigen  der  intakten  Mukosa 
auf  gewisse  Körper;  zweitens,  weil  sie  im  speziellen  den  Beweis  liefern,. 
daß  auch  das  Escalin,  bzw.  das  metallische  Aluminium,  in  seinem 
Effekte  auf  die  Magendrüseiisekretion  ein  Analogon  zu  diesen  Körpern 
bildet. 

Inwieweit  also  das  Präparat  Klemperers,  nach:  diesen  Versuchen 
wenigstens  zu  schließen,  zur  Behandlung  von  Magenerkranküngen  an- 


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296  P.  Rodari,  [60 

gezeigt  ist,  soll  noch  in  den  epikritischen  SchluObemerkungen  zu 
dieser  Arbeit  näher  erörtert  werden.  An  dieser  Stelle  erübrigt  es, 
noch  auf  die  Art  der  Pharmakodynamik  der  Escalineinwirkung  auf  die 
HCl-Sekretion  des  Magens  näher  einzugehen. 

Zunächst  ist  es  feststehend,  daß  die  Sekretionssteigerung  bei  nicht 
entzandlicher  Schleimhaut  eine  speziRsche  Wirkung  des  metalli- 
schen Aluminiums  ist  und  nicht  etwa  auf  die  Glyzerinkomponente 
zurückgeführt  werden  kann  (vergl.  Versuch  Nr.  48).  Fei  gl  hat  m^ine 
Experimente  wiederholt,  und  zwar  erstrecken  sich  seine  Versuche  auf 
zwei  Hunde,  deren  Magenschleimhaut,  den  Resultaten  nach  zu 
schließen,  intakt  war.  So  kommt  Feigl  zu  dem  prinzipiell  gleichen 
Resultate  wie  ich  in  den  ersten  acht  Escalinversuchen. 

Auf  welche  Faktoren  soll  nun  die  Sekretionssteigerung  zurück- 
geführt werden?  Da  das  Aluminium  in  feingepulvertem  Zustande  sich 
selbst  in  sehr  wenig  konzentrierter  HCl  leicht  löst,  und  dabei  diese 
Säure  verzehrt,  sollte  man  theoretisch  erwarten,  daß  es  schon 
dadurch  die  Sekretion  in  herabsetzendem  Sinne  hemmen  würde. 
Außerdem  könnte  von  der  dabei  entstehenden  Chloridverbindung 
eine  adstringierende  und  damit  auch  sekretionshemmende  Einwirkung 
erwartet  werden.  Ist  doch  der  chemische  Vorgang  folgender: 
A1+  3HC1=A1C13  +  4H. 

Die  experimentellen  Versuche  (meine  ersten  acht  Versuche  und 
diejenigen  Feigls)  ergeben  aber  gerade  das  umgekehrte  Verhalten: 
keine  Hemmung,  sondern  eine  ganz  erhebliche  Steigerung.  Bickel 
und  Feigl  erklären  dieses  Phänomen  durch  die  Einwirkung  des  frei- 
werdenden WasserstoiFes  auf  die  Magendrüsen,  bzw.  deren  Nerven 
und  suchen  eine  Erklärung  hierfür  in  dem  analogen  Verhalten  der 
Kohlensäure,  als  eines  Sekretionssteigerers  par  excellence  (am  Tier- 
experimente durch  Weidert  und  Pincussohn  nachgewiesen,  siehe 
oben).  —  Warum  ist  nach  diesen  Autoren  gerade  der  Wasserstoff 
das  sekretionstreibende  Agens?  Erstens,  weil  der  im  Magen  durch  die 
Salzsäure  nicht  chemisch  beeinflußte  Überschuß  von  unlöslichem 
metallischen  Aluminium,  der  neben  dem  versetzten  Aluminium  vor- 
handen ist,  als  ungelöster  Körper  chemisch  nicht  wirken  (»corpora 
non  agunt  nisi  soluta""),  ebensowenig  rein  mechanisch  eine  Wirkung 
nach  analogen,  auf  Fremdkörper  im  Magen  bezüglichen  Untersuchun- 
gen von  Pawlow  und  Bickel  (Talk)  ausüben  könne.  Zweitens,  weil 
das  sehr  leicht  lösliche  und  zerfließliche  Aluminiumchlorid  AICI3 
rasch  aus  dem  Magen  weggeschwemmt  werde,  so  daß  es  keine  erheb- 
liche Wirkung  entfalten  könne.  Mithin  wäre  dies  nur  in  einer  Wasser- 
stoiFentwicklung,  ähnlich  der  Kohlensäureentstehung  und  ihrer  ent- 
sprechenden Wirkung  zu  suchen. 


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01]      Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      297 

Wie  können  wir  diese  Theorie  mit  den  letzten  Versuchen  am 
Gastritis-Hunde  in  Einl^lang  bringen,  wo  das  Präparat  erheblich  se- 
kretionshemmend  wirkt?  Soll  in  dem  einen  Falle  (gesunde  Schleim« 
haut)  der  Wasserstoff  auf  die  Drüsenarbeit  irritativ,  in  dem  anderen 
Falle  (Entzündung  der  Mukosa)  depressiv  wirken?  Dies  wäre  zwar 
möglich,  obwohl  sonstige  Beobachtungen  über  derartig  gegensätzliche 
Wasserstoffwirkungen  auf  den  Magen  fehlen.  Deshalb  läßt  es  sich 
auch  denken,  und  dies  scheint  mir  persönlich  die  wahrscheinlichere 
Deutung  zu  sein,  daß  in  der  chemischen  Umsetzung  AI  +  3 HCl 
=  AICI3  +  3H  die  Chloridverbindung  das  wirksame  Agens  wäre. 
Um  so  leichter  ist  diese  Theorie  erklärlich,  wenn  wir  uns  erinnern, 
daß  wir  in  AICI3  eine  Verbindung  besitzen,  die  trotz  des  leichten 
speziRschen  Gewichtes  des  Aluminiums  in  ihrer  lokalen  Wirkung 
sich  gleich  wie  die  entsprechenden  Verbindungen  von  schweren  Me- 
tallen verhalt  (Schmiedeberg).  Wir  haben  somit  ein  kräftiges  Ad- 
stringens vor  uns,  das  auf  die  kranke  (entzündete)  Magenschleimhaut 
so  wirkt,  wie  das  Silberchlorid  AgCI,  welches  bei  der  Einwirkung 
der  HCl  des  Magens  auf  anorganische  und  organische  Silberverbin- 
biadungen  (Argent  nitricum,  Protargol,  Albargin,  s.  oben)  entsteht 
Nach  meiner  oben  besprochenen  Theorie  einer  größeren  AfHnität  der 
Adstringentien  zu  den  chemischen  Bestandteilen  einer  entzündeten 
Schleimhaut  behufs  Bildung  des  diffusen,  adstringierenden  Vorganges 
und  damit  auch  der  Adstringierung,  resp.  Hemmung  der  Sekretion 
gegenüber  der  nicht  entzündeten  Schleimhaut,  ist  die  Annahme  nahe* 
liegend,  daß  hier  die  Sekretionshemmung  auf  die  Einwirkung 
des  Aluminiumchlorids  und  nicht  des  Wasserstoffes  zurück- 
zuführen ist.  Ebenso  dürfte  die  Steigerung  bei  gesunden,  anato- 
misch intakten  Verhaltnissen  der  Magenschleimhaut,  nach  den  oben 
angefahrten  Versuchen  zu  schließen,  auf  der  Wirkung  der  gleichen 
Verbindung  beruhen,  nur  mit  dem  Unterschiede  eben,  daß  es  hier 
nicht  zu  einer  Adstringierung  in  chemisch -physikalischem  Sinne, 
sondern  zu  einer  mehr  funktionellen,  allerdings  noch  nicht  näher  auf« 
geklärten  Irritation  der  Magendrüsen  resp.  ihrer  Nerven  kommt. 
Diese  Theorie  scheint  mir  die  Doppelwirkung  des  Aluminiums  bzw. 
desEscalins  besser  zu  erklären,  als  die  Wasserstofftheorie  von  Bickel 
und  Feigl. 

Feigl  hat,  veranlaßt  durch  meine  Escalin-  bzw.  Aluminium- 
versuche, weitere  reine,  metallische  Elemente  geprüft:  Beim 
Mangan  fand  er  eine  dem  Aluminium  analoge  lebhafte  Steigerung 
der  Sekretion,  bei  Zinn  eine  minimale  Anregung,  beim  Wismut  eine 
völlige  Indifferenz,  ebenso  beim  Silber  und  Gold.  In  bezug  auf  das 
Eisen  hat  Feigl  schon  vor  meinen  Aluminiumuntersuchungen  eine 


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298  P-  Rodari,  [62 

erhebliche  Sekretionssteigerung  dieses  Metalles  konstatiert.  —  Seine 
Untersuchungen  erstrecken  sich  teilweise  auf  von  mir  operierte  und 
experimentell  benutzte  Hunde,  teilweise  auf  andere  Tiere,  bei  denen 
es  sich  jedenfalls  um  normale,  nicht  entzündliche  Magenschleimhaut 
gehandelt  hat. 

Zum  Abschluß  meiner  eigenen  experimentellen  Untersuchungen 
möchte  ich  noch  einen  Umstand  erwähnen,  der  sich  wie  ein  roter 
Faden  durch  die  sämtlichen  Versuche  zieht  und  den  ich  jeweilen  bei 
jedem  Experimente  angedeutet  habe:  Es  handelt  sich  um  die  rela- 
tive Konstanz  des  prozentualen  Salzsäuregehaltes  des  Magen- 
saftes gegenüber  der  auch  durch  Medikamente  bedingten  Variabili- 
tät der  Magensaft-  resp.  Salzsäuremenge. 

Daß  es  sich  um  eine  Beeinflussung  dieser  letzteren  als  solcher, 
und  nicht  etwa  beispielsweise  um  eine  Steigerung  durch  Trans- 
sudation  von  Wasser  aus  der  Magenwand  in  das  Innere  des  Magens 
handelt,  beweist  der  Umstand,  daß. die  Gesamtazidität  bei  der  Steige- 
rung der  Quantität  nicht  herabgesetzt  wird.  Schon  Paw.low  hat 
betont,  daß  es  ihm  so  gut  wie  nie  gelungen  sei,  die  prozentuale  Salz- 
^äurereaktion  typisch  in  einer  Weise  zu  verändern,  daß  dabei  nicht 
physiologische  Schwankungen  diese  unerheblichen  Konzentrations- 
änderungen erklären  könnten,  und  es  ist  das  Verdienst  Bickels, 
durch  viele  Experimente  diese  Andeutungen  auch  für  die  klinisch 
wichtigen  Anschauungen  und  Erkenntnisse  erweitert  zu  haben.  Auch 
betont  dieser  Autor  die  Konstanz  der  Magensaftkonzentration  gegen- 
über der  Schwankung  in  der  Magensaftmenge.  —  Nachuntersuchungen 
der  Ergebnisse  der  Tierexperimente  und  der  oben  erwähnten  öso- 
phagotomierten  Magenfistel-Patientin  von  Bickel  durch  Homberg, 
Röder,  Sommerfeld  und  Rubow  haben  ergeben,  daß  der  reine 
unverdünnte  Magensaft  des  Menschen  ungefähr  identisch  ist  mit  dem- 
jenigen des  Hundes,  indem  seine  Konzentration  zwischen  0^4—0,5% 
schwanken  soll,  innerhalb  dieser  Grenzen  aber  auch  konstant  bleibt. 
Diese  übereinstimmenden  Beobachtungen,  welche  einen  neuen  Beweis 
für  die  Übertragbarkeit  der  Resultate  der  Tierexperimente  auf  den 
Menschen  liefern,  veranlaßten  BickeM),  dem  klinisch  bisher  gut 
fundierten  Bilde  der  Hyperazidität  (Hyperchlorhydrie)  als  einer 
qualitativen  Sekretionssteigerung  die  physiologische  Basis  zu 
nehmen,  indem  er  nachwies,  daß  bei  gleicher  sekretorischer,  aber 
ungleicher  motorischer  Leistung  des  Magens  der  Mageninhalt  ver- 
schieden sauer  reagieren  kann.     Je   nachdem   nämlich   das  Probe- 


1)  Bioch.  Zeitschr.,  Bd.  1,   Heft  1  und  2,   1906.    Deutsche   med.  Wocbenschr. 
No.30,  1907.    Zeitschr.  f.  physik.  und  diätet.  Therapie,  Bd.  11,  1907/08. 


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63]     Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      299 

frühstück  in  den  Darm  befördert  worden  ist,  bekommt  man  beim 
Ausliebern  mehr  oder  weniger  reinen  Magensaft,  der  je  reiner  um 
so  saurer  reagiert,  als  wenn  er  mit  dem  ProbefrühstQck  stark  ver- 
dünnt ist.  So  kommt  Bickel  zum  Resultate,  daO  die  Motilitäts« 
zustande  (normale  Motilität,  Hypermotilität  und  Submotilität  resp. 
Atonie)  die  Konzentration  des  am  Menschen  durch  das  Probefrühstück 
eotnommenen  Magensaftes  in  physiologischer  Weise  beeinflussen.  Auf 
weitere  wichtige  Einzelheiten  dieser  sehr  interessanten  Arbeit  kann 
ich  hier  nicht  näher  eingehen.  Ich  möchte  nur  noch  darauf  hin- 
weisen, daß  auch  meine  Tierexperimente  dafür  sprechen,  daO  Hyper- 
chlorhydrie  und  Hypersekretion  im  Grunde  genommen  dasselbe  sind, 
d.h.  daß  die  Hyperchlorhydrie  eine  durch  besondere  Moti- 
litätsverhältnisse  beeinflußte  Hypersekretion  ist*  —  Diese 
Autoren  erwähnen  auch  bei  einzelnen  Versuchen  einen  gewissen 
Parallelismus  zwischen  der  Magensaft-  bzw.  Säuresekretion  und  der 
Verdauungskraft  des  Pepsins.  Ich  selbst  habe  diese  Fermentkraft 
Dicht  bei  allen  Versuchen  geprüft,  sondern  nur  hier  und  da  bei 
einzelnen  Körpern  nach  dem  Mett sehen  Verfahren  Stichproben  an- 
gestellt, wobei  ich. den  Eindruck  bekommen  habe,  daß  die  Hemmung 
der  Sekretion  in  allerdings  unerheblicher  Weise  auch  die  peptische 
Kraft  herabsetzt^  während  diese  bei  der  Steigerung  der  Magensaft- 
abscheidung  gegenüber  der  Verdauungskraft  der  Wasserperiode  keine 
wesentlichen  Unterschiede  aufweist. 

Im  Interesse  der  Vollständigkeit  dieser  Arbeit  kommen  noch  zwei 
Gruppen  von  die  Magensaftabscheidung  beeinflussenden  Substanzen 
zur  kurzen  Erörterung. 


IV.  Gewisse  Gifte  der  Alkaloldrelhe. 

Ich  gehe  auf  diese  Verhältnisse  hier  nur  summarisch  ein,  einer- 
seits Weil  ich  an  der  Hand  der  wichtigeren  klinischen  Literatur  schon 
in  meinem  Buche  ihre  therapeutische  Bedeutung  und  Indikation  be- 
sprochen habe,  andererseits  weil  ich  mich  in  dieser  Arbeit  mit  der 
tierexperimentellen  Untersuchung  dieser  Gruppe  nicht  befaßt  habe  und 
somit  darin  auch  nichts  Neues  zur  Kenntnis  ihrer  Wirkung  auf  die 
Magensekretion  beitragen  kann. 

Die  hier  in  Betracht  kommenden  Vertreter  der  Alkaloidreihe  stehen 
in  der  Art  ihrer  Pharmakodynamik  in  striktem  Gegensatze  zu  den 
chemischen  Körpern  der  bisher  besprochenen  Gruppen.  Diese  setzen 
ihre  Wirkung  auf  die  Magendrüsenfunktion  lokal  im  Magen  selbst  an, 
die  Derivate  der  Alkaloidreihe  wirken  in  erster  Linie  auf  das  Nerven- 


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300  P-  Rodari,  f64 

System  und  speziell  auf  das  zentrale  Nervensystem,  auf  dem  Blutwege 
können  sie  auch  die  Magensaftsekretion  beeinflussen.  Die  Reaktion 
der  Magendrüsen  ist  hier  meistens  nur  eine  Teilerscheinung,  eine 
Mitbeteiligung  an  der  Reaktion  anderer  Drüsen. 

Die  betreffenden  Alkaloide  spielen  gegenüber  den  obenerwähnten 
ersten  zwei  Gruppen  als  Mittel  zur  Regulierung  der  Sekretion,  resp. 
BekämpFung  der  Sekretionsanomalien  eine  sehr  kleine  Rolle,  einmal 
weil  sie  heftige  Nervengifte  sind,  sodann  auch  weil  sie  keine  spezifische, 
nur  den  Magendarmkanal  betreffende  Wirkung  ausüben.  Sie  kommen 
nur  als  Adjuvantien  in  Verbindung  mit  den  spezifisch  wirkenden 
Alkalien  und  Adstringentien  zur  therapeutischen  Anwendung  und  sind 
dabei  nicht  unentbehrlich. 

Folgende  sind  sekretionssteigernde  Alkaloidgifte:  In  erster  Linie 
das  Morphin.  Die  alte  Lehre  über  dessen  Sekretionswirkung  auf  die 
Magendrüsen  lautete  bis  zu  Riegel s^)  Untersuchungen  gerade  umge^ 
kehrt.  Das  Morphin  sollte  eine  typische  Sekretionshemmung  bewirken. 
Riegel  hat  nun  sowohl  an  Pawlowschen  Hunden,  wie  an  klinischen 
Versuchen  den  strikten  Nachweis  erbracht,  daß  das  Morphin  bei  sub- 
kutaner, wie  rektaler  Anwendung  zunächst  allerdings  die  Sekretion 
hemmt,  ungefähr  während  der  ersten  V4— 1  Stunde,  daß  dann  aber 
eine  Steigerung  der  Sekretionsmenge  nach  und  nach  sich  einstellt, 
welche  diejenige  der  nicht  morphinisierten  Versuchsobjekte  weit  über- 
schreitet. V.  Aldor^)  hat  diese  Versuche  am  Menschen  wiederholt 
und  bestätigt  und  ebenso  Hirsch'),  der  am  Hundeexperimente  nach 
der  anilinglichen  Hemmung,  mit  welcher  zugleich  ein  Spasmus  des 
Pylorus  besteht,  eine  geradezu  enorme  Saftsekretion  beobachtet  hat« 
die  seiner  Ansicht  nach  zentralen  Ursprunges  ist.  Kürzlich  hat 
Pewsner^)  auch  das  salzsaure  Äthylmorphin,  das  Dionin  experi- 
mentell geprüft  mit  dem  Resultat,  daß  der  Steigerung  hier  keine 
Hemmung  vorausgehe,  sondern  daß  erstere  sofort  eintrete.  Nach  dem 
gleichen  Autor  hat  das  Physostigmin  eine  dem  Morphin  analoge 
Wirkung:  auch  zunächst  eine  Hemmung,  dann  eine  Steigerung,  während 
das  Pilokarpin,  wie  das  Dionin  nur  in  intensiverer  Art,  eine  Sekre- 
tionssteigerung ohne  vorausgegangene  Herabsetzung  bewirkt  Die 
Sekretionsanregung  dieses  Präparates  hat  ebenfalls  zuerst  Riegel  an 
Tierexperimenten  und  an  klinischen  Versuchen  nachgewiesen.  Alle 
diese  Mittel  beeinflussen  nur  die  Quantität,  niemals  aber  die  Qualität 
des  Magensaftes,  dessen  Konzentration  ziemlich  konstant  bleibt. 

1)  Zeitschr.  f.  klin.  Med.  1899,  Bd.  27  und  ebenda  1900  Bd.  40. 

2)  Ebenda. 

3)  Zentralbl.  f.  innere  Med.  1900,  Nr.  2. 

4)  Biochem.  Zeitschr.  1907,  Bd.  2,  Heft  4—6. 


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05]     Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      301 

Als  sekretionsherabsetzendes  Medikament  hat  das  Atropin 
eine  gewisse  therapeutische  Bedeutung,  besonders  in  Gestalt  des 
Extractum  belladonnae.  Es  ist  wiederum  das  Verdienst  Riegels, 
experimentell  und  klinisch  die  hochgradige  Fähigkeit  des  Atropins, 
die  Sekretionsmenge  herabzusetzen,  untersucht  zu  haben.  Am  Probe- 
fruhstfick  konstatierte  Riegel  auch  eine  qualitative  Reduktion  des 
HCl-Gehaltes.  Nach  den  oben  angeführten  Ergebnissen  Bi ekel s  über 
Identität  von  Hypersekretion  und  Hyperchlorhydrie  sind  bei  diesen 
Befunden  Riegels  Fehlerquellen  nicht  ausgeschlossen.  Die  neuesten 
Untersuchungen  P ewsners  am  Hunde  betonen  die  Konstanz  des  HCl- 
Gehaltes  auch  bei  der  Herabsetzung  des  Quantums  durch  Atropin. 
Nach  diesem  Autor  hat  das  Euphthalmin  eine  dem  Atropin  analoge 
saftherabsetzende  Wirkung. 

Die  gleiche  Eigenschaft  wird  von  Pickardt^)  dem  Skopolamin 
(Scopolaminum  hydrobromicum)  zugeschrieben.  Dieser  Autor  hat  das 
intensiv  wirkende  Präparat  in  mehreren  Fällen  in  Dosen  von  0,0003 
zveimal  täglich  bis  zu  4  Wochen  lang  ohne  jede  Nebenwirkung  bei 
Gastrosukorrhoe  mit  sehr  gutem  Erfolge  angewendet. 


V.  Die  Stomachlka. 

Trotz  des  auf  eine  spezifische  Einwirkung  auf  den  Magen  hin- 
deutenden Namens  ist  gerade  die  Pharmakodynamik  dieser  Mittel 
gegenüber  derjenigen  der  vier  vorstehenden  Gruppen  am  wenigsten  aus- 
geprägt, bzw.  untersucht.  Die  Stomachika  haben  für  die  sekretorische 
Funktion  des  Magens  eine  relativ  geringe  Bedeutung,  und  ich  darf 
diese  hier  wohl  nur  insoweit  kurz  besprechen,  als  dies  zu  den  Aus- 
fuhrungen in  meinem  Buche  eine  Ergänzung  bedeutet. 

Zunächst  kommen  hier  die  Amara  in  Frage.  Die  durch  Buch- 
heim^)  und  Schrenk^)  begründete  und  vielfach  vertretene  Ansicht, 
daO  die  Amara  infolge  ihres  Tanningehaltes  die  Magensaftsekretion 
hemmen,  ist  durch  neuere  Untersuchungen  an  Pawlow  sehen  Hunden 
als  unhaltbar  erwiesen  worden.  So  fand  Borissow*),  daO  nach  ihrer 
Aufnahme  eine  Sekretionssteigerung  im  Magen  auftritt,  die  aber  nicht 
durch  lokale  Drüsenreizung  im  Magen  zu  erklären  sei,  sondern  nur 
auf  reflektorischem  Wege  (nach  Art  des  Appetitsaftes)  durch  Reizung 
der  Geschmacksnerven  zustande  kommt.    Diesen  Standpunkt  nimmt 


1)  Therap.  der  Gegenwart,  Juni  1903. 

^  Beiträge  zur  ArzneimitteUehre.  Leipzig  1849. 

3)  Intttg.-Di88ertation  Dorpat  1849. 

4)  Arch.  f.  exp.  Patb.  und  Pharmak.,  1904,  Bd.  51,  Heft  4  u.  6. 

Klin.  Vorträte,  N.  F.  Nr.  48^/84.    (Innere  Medizin  Nr.  144/46).    Mal  190&  21 


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302  P.  Rodtri,  [W 

auch  Straschesko^)  ein.  Einen  Scliritt  weiter  geht  Hoppe^),  der 
diese  Steigerung  nicht  nur  als  einen  Reflex  von  den  Geschmacks- 
und Riechnerven  ausgehend  auffaßt,  sondern  der  daneben  auch  einen 
reflektorisch-chemischen  Einfluß  von  der  Magen-  und  Darmschleimhaut 
mitwirken  läßt.  Nach  Hoppe  entfalten  aber  alle  Bittermittel  ihre 
sekretionssteigernde  Wirkung  nicht  an  sich,  sondern  nur  wenn  nach 
ihrer  Einnahme  dem  Tiere  Nahrung  beigebracht  wird.  Große  Mengen 
der  Amara  hingegen  sollen  aber  eine  Hemmung  der  Sekretion  be- 
dingen. 

Die  Salzsäure  hat  als  Stomachikum  in  den  letzten  Jahren  an 
ihrem  früheren  Ansehen  viel  eingebüßt,  seitdem  die  Untersuchungen 
von  Heichelheim  und  Kramer,  ferner  Riegels,  v.  Noordens  und 
Honigmanns  ihr  jeden  Charakter  als  Magensafttreiber  abgesprochen 
haben.  (Sie  ist  ein  vorzüglicher  Treiber  der  Pankreassekretion.)  Nur 
Bickel^)  und  Heinsheimer^)  schreiben  ihr,  ähnlich  Hoppe  den 
Amaris,  eine  sekretionserregende  Wirkung  zu,  wenn  nach  ihrer  Ein- 
nahme Nahrung  verabreicht  wird,  und  zwar  besteht  diese  Sekretions- 
erregung nur  beim  Hunde  mit  einer  chronischen  subaziden  Gastritis. 
Die  HCl  befähigt  nach  diesem  Autor  also  nur  die  kranke  Magen- 
schleimhaut zu  erhöhter  sekretorischer  Arbeit,  während  die  gesunde 
darauf  nicht  reagiert. 

Das  Orexinum  tannicum  soll  nach  Hoppe  auch  nur  bei  Gastritis 
eine  leichte  Sekretionssteigerung  bedingen,  während  bei  gesunder 
Magenschleimhaut  die  Sekretion  in  keiner  Weise  alteriert  wird.  Es 
ist  dies  eine  Bestätigung  analoger  Beobachtungen  am  Menschen  von 
Glücksziegel«),  Mathes<»)  und  Kornfeld?). 

Das  neueste  Stomachikum,  das  Acidol  (Betainchlorhydrat  =  Chlor- 
hydrat von  Trimethylaminoessigsäure)  ist  von  Heinsheimer®)  auf 
seine  sekretorische  Wirkung  an  Tierexperimenten  geprüft  worden. 
Das  Präparat  zerfallt  in  wäßriger  Lösung  in  HCl  +  Betainsäure.  Es 
enthält  nach  Flatow  23,78  %  HCl.  Die  Betainkomponente  ist  nach 
diesem  Autor  für  die  Magensaftsekretion  völlig  indifferent.  Die  frei 
werdende  HCl-Komponente  soll,  insoweit  unmittelbar  nach  Einnahme 
des  Präparates  Nahrung  genommen  wird,  die  Saftsekretion  zu  Anfang 


1)  Wratsch  1905,  Nr.  2. 

2)  Berl.  Klin.  Wochensclir.  1905,  Nr.  33,  u.  Inftug.-Dis8ert.  Berlin  1906. 

3)  Berl.  Klin.  Wochenschr.  1905,  Nr.  28. 

4)  Arch.  f.  Verdauungskrankh.  1904,  Bd.  12,  Heft  2. 

5)  Prager  med.  Wochenschr.  1890,  Nr.  13,  nach  Hoppe  zitiert. 

6)  Münchner  med.  Wochenschr.  1891,  nach  Hoppe  zitiert. 

7)  Wiener  klin.  Wochenschr.  1891,  nach  Hoppe  zitiert 

8)  Arch.  f.  Verdauungskrankh.  1906,  Bd.  12,  Heft  2,  nach  Hoppe  zitiert. 


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67]      Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      303 

der  Verdauungsperiode  leicht  steigern;  diese  Reizung  soll  aber  bald 
abklingen.  Der  therapeutische  Wert  dieses  Präparates  dürfte  also, 
nach  diesen  Tierversuchen  zu  schließen,  nicht  hoch  anzuschlagen  sein. 


Epikrise. 

Welche  Schlüsse  für  die  praktische  Therapie  können  wir  aus 
den  vorstehenden  Erörterungen  und  Untersuchungen  ziehen? 

Die  Konsequenzen  aus  Untersuchungen  am  Tierexperimente  ge- 
zogen, insofern  ihnen  ein  gewisser  therapeutischer  Wert  inneliegen 
soll,  müssen  auf  den  kranken  Menschen  übertragen  werden  können. 
Daß  eine  solche  Übertragung  zulässig  ist,  haben  die  ausgedehnten 
Experimenta  ad  hominem  von  Bickel,  Heinsheimer  u.  a.  nicht  nur 
wahrscheinlich  gemacht,  sondern  auch  bewiesen.  Ganz  besonders 
spricht  der  Bickel  sehe  Versuch  am  ösophagotomierten  Magenfistel- 
mSdchen  (mit  gesunder  Magenschleimhaut)  mit  dem  zuerst  von  mir 
untersuchten  Escalin  für  die  Analogie  zwischen  der  Reaktion  des 
Hunde-  und  des  Menschenmagens  und  damit  auch  für  die  Zulässigkeit 
von  Schlüssen  therapeutisch-klinischer  Natur  aus  dem  Tierexperiment 
auf  den  Menschen. 

Von  einer  prinzipiellen  Bedeutung  aus  meinen  Untersuchungen  ist 
in  erster  Linie  der  durch  die  Prüfung  verschiedenartiger  Medikamente 
eruierte  Umstand,  daß  die  gesunde  und  die  kranke  Magen- 
schleimhaut durchaus  nicht  in  gleicher  Weise  auf  den 
gleichen  Körper  sekretorisch  reagieren.  Dies  ist  hier  für  die 
in  der  Magentherapie  wichtigsten  Adstringentien  nachgewiesen,  so  für 
gewisse  Bismutverbindungen,  wie  z.  B.  in  ausgesprochener  Weise  für 
das  Bismutum  bitannicum  und  weniger  intensiv  für  das  Bismutum 
subnitricum.  Damit  ist  aber  nicht  gesagt,  daß  die  gesunde  und  kranke 
Mukosa  auf  jeden  Körper  der  betreffenden  Reihe  einander  gegen- 
sätzlich reagieren.  Maßgebend  für  die  Art  der  Sekretion  ist  die  Ein- 
wirkung einer  der  durch  die  HCl  des  Magens  frei  werdenden 
Komponente.  Beispielsweise  wirkt  die  Salizylsäurekomponente  am 
Bismutum  bisalicylicum  unter  allen  Umständen  sekretionsbe- 
fördemd,  sowohl  auf  die  gesunde  wie  auf  die  kranke  Magenschleim- 
haut. —  In  typischer  Weise  haben  wir  die  einander  entgegengesetzt 
verlaufenden  Sekretionzustände  beim  gesunden  und  beim  entzündeten 
Magen,  bei  den  organischen  Derivaten  des  Argentum  nitricum, 
beim  Protargol  und  Albargin.  Noch  auffallender  sind  diese  Ver- 
hältnisse beim  Escalin  ausgeprägt. 

Welche  Schlüsse  ergeben  sich  daraus  für  die  medikamentöse 
Therapie  einzelner  Magenerkrankungen? 

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304  P-  Rodari,  [68 

Zunächst  die  Tatsache,  daß  der  diagnostische  Unterschied  zwischen 
Magenneurosen  als  einer  Erkrankung  mit  völlig  intakter  Schleimhaut 
und  Gastritis,  möge  sie  primärer  oder  sekundärer  Natur  sein,  möge 
sie  für  sich  allein  bestehen  oder  eine  Begleiterscheinung  eines  andern 
Magenleidens  sein  (z.  B.  Ulkus),  auch  in  therapeutischer  Hinsicht, 
soweit  dabei  die  Bekämpfung  einer  Sekretionsanomalie  in  Frage 
kommt,  zu  Recht  besteht.  Es  ist  also  nicht  gleichgültig,  kurzweg  von 
„subaziden  oder  superaziden  Zuständen^  des  Magens  zu  reden  und  je 
nachdem  neben  der  diätetischen  Behandlung  ein  Medikament  zu  ver- 
abreichen. Die  Frage,  welches  Medikament  im  individuellen  Falle  in 
Betracht  kommt,  entscheidet  einzig  die  Untersuchung  am  Patienten, 
nicht  seine  subjektiven,  wenn  manchmal  auch  charakteristisch  schei- 
nenden Angaben,  sondern  die  physikalische  und  chemische  Prüfung 
des  Magenchemismus,  des  Mageninhaltes.  Die  einfachsten  und  zu- 
verlässigsten Mittel  unserer  Diagnostik  hierfür  sind:  die  Spülung 
des  nüchternen  Magens  und  die  Prüfung  des  Spülwassers  auf  das 
Vorhandensein  oder  Fehlen  eines  wesentlichen  Schleimgehaltes  und 
das  altbewährte  Probefrühstück  nach  Ewald.  Dieses  werde  zu- 
nächst untersucht  auf  das  Vorhandensein  oder  Fehlen  der  die  Ent- 
zündung charakterisierenden  Merkmale  (Schleimverhältnisse  usw.), 
sodann  auf  die  Äziditätsverhältnisse.  Sind  diese  abnorm,  so  unter- 
scheidet man  in  der  Grundlage  dieser  Abnormität,  ob  ein  entzünd- 
licher oder  ein  rein  nervöser  Zustand  vorliegt.  Die  anatomische 
Beschaffenheit  der  Magenschleimhaut  entscheidet  dann  in  erster  Linie, 
welches  unter  den  von  mir  untersuchten  Medikamenten  zur  Anwendung 
kommen  soll.  So  würde  sich  beispielsweise  die  Indikation  ergeben, 
eine  Gastritis  hyperacida  mit  Protargol  oder  Albargin  zu  behandeln, 
während  bei  einer  nervösen  Hypersekretion  diese  Präparate  strikte 
kontraindiziert  erscheinen.  Umgekehrt  erscheinen  diese  Präparate  als 
indiziert  bei  der  Behandlung  einer  nervösen  Subazidität,  weil  sie  auf 
diesem  Boden  mächtig  sekretionsanregend  wirken^  während  ihre  An- 
wendung bei  der  Gastritis  subacida  therapeutisch  unlogisch,  geradezu 
paradox  sein  würde. 

Das  Bismutum  subnitricum  hat  im  Gegensatze  zu  den  erwähnten 
Körpern  einen  relativ  indi£Perenten  Einfluß  auf  die  Sekretion  des 
anatomisch  intakten  Magens;  hier  und  da  sieht  man  in  den  Ver- 
suchen die  Tendenz  zur  Saftherabsetzung,  eine  solche  ist  aber  ausge- 
sprochener bei  der  entzündeten  Magenschleimhaut.  Das  Anwendungs- 
gebiet des  Präparates  ist  also  hier  ein  größeres  in  dem  Sinne,  weil 
es  sowohl  bei  entzündlichen,  wie  nicht  entzündlichen  Hyperaziditäts- 
zuständen  gegeben  werden  kann.  Die  vorliegenden  Versuche  mit  dem 
Präparate   haben    die   von   mir  anderen    Ortes  geäußerte  klinische 


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69]      Experimentelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      305 

Beobachtung,  daß  das  Bismutum  subnitricum  eine  säureherabsetzende 
Eigenschaft  besitze,  bestätigt,  während  die  gleiche  Ansicht  über  das 
Argentum  nitricum  (bei  Hyperaziditäten  überhaupt)  nach  Versuchen 
mit  seinen  Derivaten  einer  Modifizierung  bedarf. 

Der  Umstand,  daß  die  Adstringentien  in  ihrer  Wirkung  auf  die 
Migensaftabscheidung  bisher  kaum  experimentell  und  überhaupt  nicht 
vergleichsweise  bei  gesunder  und  entzündeter  Magenschleimhaut  ge- 
prüft worden  sind,  erklärt  auch  die  über  ihren  sekretorischen  Einfluß 
in  der  Literatur  einander  widersprechenden  Angaben,  Die  Lösung 
dieser  Widersprüche  liegt  nun  in  der  Erkenntnis  der  verschieden- 
artigen Reaktionsfähigkeit  der  Magenschleimhaut  gegenüber  gewissen 
Adstringentien,  je  nach  der  anatomischen  Beschaffenheit  der  erstem. 

Besonderes  Interesse  geben  die  praktischen  Ergebnisse  dieser  Unter- 
suchungen für  die  Frage  der  Therapie  bei  Ulcus  ventriculi.  Es 
ist  ja  eine  wesentliche  Aufgabe  der  Therapie,  die  häufig  bestehende 
Hypersekretion  zu  bekämpfen,  überhaupt  die  Sekretion,  welche  die 
Heilung  des  Ulkus  durch  chemische  Irritation  verzögert,  herabzusetzen. 
Eines  alten  Rufes  für  die  Behandlung  des  Ulcus  ventriculi  erfreut 
sich  das  Bismutum  subnitricum.  Die  meisten  Autoren  schreiben  ihm 
nur  eine  physikalisch-mechanische  Wirkung  als  Deckmittel  des  Sub- 
stanzverlustes zu.  Meine  Experimente  haben  erwiesen,  daß  dem 
Präparate  auch  eine  chemische  sekretionsherabsetzende  Wirkung  inne- 
wohnt, die  bei  der  nicht  entzündeten  Schleimhaut  zwar  gering,  bei  der 
entzündlich  veränderten  aber  intensiver  ist. 

Die  beiden  Lokalanästhetika,  welche  bei  der  symptomatischen 
UliLustherapie  sich  gut  bewährt  haben,  und  gewöhnlich  als  Zusatz  zum 
Bismutum  subnitricum  verordnet  werden,  das  Orthoform  und  das 
Anästhesin,  haben  zwar  keinen  sekretionshemmenden  Einfluß  auf  die 
Drfisenfunktion,  sondern  die  Tendenz  zu  einer  unerheblichen  Steigerung 
derselben.  In  Verbindung  resp.  in  einem  mechanischen  Gemenge  mit 
dem  Bismut  wiegt  die  Komponente  des  letzteren  in  ihrem  Einflüsse 
auf  die  Magenschleimhaut  vor  mit  dem  Resultate  einer  Sekretions- 
herabsetzung. Diese  Medikation  hat  also  nicht  nur  eine  praktische, 
sondern  auch  eine  experimentell  begründete  Basis.  —  Als  Ersatzmittel 
ffir  das  Bismutum  subnitricum  kann  die  Bismuttanninverbindung, 
das  Bismutum  bitannicum  in  Frage  kommen,  jedoch  nur  unter  ge- 
wissen, bei  den  folgenden  Präparaten  zu  erörternden  Umständen.  Die 
Bismutsalizylverbindungen  hingegen  erscheinen  bei  allen  Zu- 
ständen, wo  die  Sekretion  nicht  gesteigert,  sondern  herabgesetzt  werden 
soll,  als  kontraindiziert. 

Auch  die  Ulkusbehandlung  mit  Argentum  nitricum  und  seinen 
Derivaten,  die  viele  Freunde  aber  auch  viele  Gegner  hat,  dürfte 


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306  P.  Rodari,  [70 

durch  diese  experimentell-biologischen  Untersuchungen  eine  pharma- 
kodynamisch  festere  Basis  erhalten.  Hier  ist  ausschlaggebend  für  die 
Frage,  soll  ein  Ulkus  mit  Argen  tum  nitricum  bzw.  Protargol  oder 
Albargin  behandelt  werden,  oder  muß  man  eine  andere  Therapie  ein- 
schlagen, die  diffuse  Beschaffenheit  der  Magenschleimhaut,  d.  h.  die 
Feststellung  des  Vorhandenseins  oderFehlens  eines  Katarrhs 
neben  dem  Ulkus.  —  Über  das  summarische  Verhältnis  der  Ulcera 
ventriculi  mit  und  ohne  diffuse  Gastritis  findet  man  sowohl  in  der 
pathologisch-anatomischen,  wie  in  der  klinischen  Literatur  wenig  An- 
gaben. Rütimeyer^)  erwähnt  bei  25  Fällen  einen  Prozentsatz  von 
68  %  =  Va  mit  und  32  =  1/3  ohne  konkomitierende  Gastritis. 

Das  Verhältnis,  ob  Gastritis  da  sei  oder  fehle,  ist  bisher  für  die 
Therapie  kaum  verwertet  worden,  und  doch  spielt  diese  Frage  für  die 
Argentumbehandlung  nach  dem  Ergebnis  der  betreffenden  Tierversuche 
die  Hauptrolle.  Darnach  zu  schließen  darf  man  wohl  die  Indikation 
aufstellen,  nur  solche  Fälle  von  Ulcus  ventriculi  mit  Argentum 
nitricum  und  seinen  Derivaten,  wie  Protargol  und  Albargin, 
zu  behandeln,  welche  mit  einer  diffusen  Gastritis  kom- 
pliziert sind,  während  die  Silbertherapie  bei  Magenge- 
schwüren ohne  Gastritis  kontraindiziert  ist  und  durch  die 
Bismutbehandlung  ersetzt  werden  soll. 

Das  Prinzipielle  an  diesen  Beobachtungen  findet  auch  eine  Stütze 
in  der  analogen  Wirkung  des  Escalins  auf  die  anatomisch  gesunde 
und  die  entzündete  Magenschleimhaut  des  Hundes  und  in  den  heftigen 
Kontroversen  Bickels,  der  den  experimentellen,  und  Klemperer, 
der  den  klinischen  Standpunkt  vertritt.  Diese  heftige  Fehde  wurde 
zunächst  durch  meine  Experimente  an  Hunden  mit  intakter  Magen- 
schleimhaut veranlaßt,  indem  Bickel  diese  Untersuchungen  ausdehnte, 
bestätigte  und  einen  weiteren  Beleg  in  seinem  Experimente  am 
Mädchen  mit  intakter  Magenschleimhaut  fand.  Die  hierbei  durchweg 
auftretende  enorme  Sekretionssteigerung  veranlaßt  Bickel,  dem  Escalin 
jede  Brauchbarkeit  als  Ulkusmedikament  abzusprechen,  während 
Klemperer  an  klinischen  Beobachtungen  zu  dem  Resultate  gekommen 
sein  will,  im  Escalin  ein  dem  Bismutum  subnitricum  mindestens 
gleichkommendes,  wenn  nicht  dasselbe  sogar  weit  übertreffendes  Ersatz- 
mittel für  dieses  gefunden  zu  haben.  —  Die  Entscheidung,  wer  hier  recht 
hat,  geben  meine  Versuche  am  Hunde  mit  der  chronischen  Gastritis. 
Diese  Experimente  zeigen  beim  Escalin  ein  gleiches,  wenn  auch 
intensiv  stärker  ausgeprägtes  Verhalten,  wie  gewisse  Adstringentien, 


1)  Geogr.  Verbreitung  und  Diagnose  des  Ulcus  ventriculi  rotundum.  Wiesbaden 
1906. 


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71]     Experimeotelles  und  Klinisches  zur  Kenntnis  der  Beeinflussung  usw.      307 

z.  B.  Protargol  und  Albargin.  Die  nicht  entzündlich  veränderte  Magen- 
sclileimhaut  reagiert  auf  das  Escalin  mit  einer  stürmischen  Sekretion, 
die  entzündete  Mukosa  mit  einer  erheblichen  Sekretionsherabsetzung. 
Darin  liegt  des  Rätsels  Lösung  und  so  kann  man  sagen ,  daß  beide 
Gegner  in  gewissem  Maße  recht  haben.  —  Gewiß  hat  das  Escalin 
eine  enorme  safttreibende  Wirkung.  Diese  trifft  aber  nach  meinen 
Untersuchungen  über  Escalin  und  nach  anderen  analogen  Beispielen 
nur  für  den  Fall  einer  nicht  entzündlich  veränderten  Beschaffenheit 
der  Magenschleimhaut  zu^  während  bei  einer  Gastritis  (idiopathischer 
oder  symptomatischer  Art,  also  auch  beim  Ulkus)  die  Wirkung  des 
Escalins  das  reine  Gegenteil  ist:  eine  typische  Sekretionshemmung.  — 
Die  Frage  nach  der  therapeutischen  Verwendbarkeit  des  Escalins  beim 
Ulcus  ventriculi  kann  mithin  folgendermaßen  beantwortet  werden:  Auf 
alle  Fälle  ist  das  Escalin  da  strikte  kontraindiziert,  wo  gastritische 
Zustände  an  der  Magenschleimhaut  fehlen,  mithin  auch  bei 
Ulcus  ventriculi  ohne  konkomitierende  Gastritis.  Wohl  aber 
scheint,  nach  dem  Tierversuche  zu  schließen,  das  Präparat  beim  Ulkus 
mit  Gastritis  indiziert  zu  sein.  Für  solche  Fälle  mag  also 
Klemperer  seinem  Präparate  eine  gewisse  therapeutische  Bedeutung 
einer  sekretorischen  Herabsetzung  neben  der  supponierten  hämostyp- 
tischen  Wirkung  zuschreiben.  — 

Es  dürfte  eine  dankbare  Aufgabe  der  klinischen  Untersuchung  sein, 
an  einer  großen  Versuchsreihe  von  Patienten  die  hier  gezogenen 
Schlüsse  weiter  zu  prüfen. 


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485. 

(Gynäkologie  Nr.  176.) 

Hyperemesis  gravidarum'). 


Von 


Dr.  Adam  Czyzewicz  jun., 

Lemberg. 


Es  werden  wohl  nicht  viele  pathologische  Zustände  bekannt  sein, 
wo  die  Beschreibungen  und  Ansichten  betreffs  der  Entstehungsursache 
so  verschieden  wären,  wie  bei  Hyperemesis  gravidarum.  Die  ältesten 
Zeiten  überließen  uns  in  Manuskripten  und  zahlreichen  Publikationen 
Andeutungen,  welche  als  Beweis  dienen,  daß  die  eigentümliche  Krank- 
heit schon  in  den  ersten  Entwicklungsstufen  der  ärztlichen  Wissen- 
schaft bemerkt  wurde  und  daß  es  nie  an  Proben  fehlte  um  ihrer  Ur- 
sache näher  zu  kommen  und  sie  richtiger  zu  behandeln.  Es  kann  dies 
such  nicht  wundern,  da,  wie  allgemein  bekannt,  das  Erbrechen  sehr 
oft  in  den  ersten  Schwangerschaftsmonaten  vorkommt,  und  unstillbares 
Erbrechen  nur  ausschließlich  bei  Schwangeren,  die  immer  mit  spe- 
zieller Ehrfurcht  und  Achtung  behandelt  waren,  zu  trefiPen  ist.  Diese 
losen  Andeutungen,  mehr  oder  weniger  gründlichen  Beschreibungen 
und  Proben,  der  Krankheitsursache  näher  zu  kommen,  hat  P.  Jaffe 
in  seinem  Aufsatze  über  unstillbares  Erbrechen  in  vortrefflicher  Weise 
zusammengestellt.  Nach  seinen  Angaben  geschieht  der  Krankheit  schon 
in  den  Werken  von  Paul  von  Ägina  Erwähnung.  Schon  dieser 
trachtet  sie  als  spezielle  Krankheitsform  zu  eliminieren,  und  gibt  ihr 
den  Namen  „Vomitus  assiduus*,  betrachtet  sie  aber  als  nicht  gefährlich 
für  Mutter  oder  Kind.  Seine  Lehre  blieb  lange  Zeit  unverändert,  sie 
ist  im  16.  Jahrhundert  in  Mercados  Werken  aufzufinden,  und  erst 
iml8.Jahrhundert  forschen  nach  der  Ursachedes Leidens Mauriceau  und 

1)  Aus  der  Klinik  der  k.  k.  Hebammenschule  des  Prof.  Dr.  A.  Czyzewicz  in 
Umberg.  Vortrag,  gehalten  am  25.  Juli  1007  in  der  gynftkolog.  Sektion  des  X.  Kon- 
gretaet  polnischer  Ärzte  und  Naturforscher  in  Lemberg. 

Klln.  Vortrige,  N.  F.  Nr.  485.    (Gynäkologie  Nr.  176.)    Mai  1906.  18 


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240  Adam  Czyzewicz  jun.,  [2 

Delamotte  und  glauben  dieselbe  in  einer  Sympathie  zwischen  Magen 
und  Gebärmutter,  was  einen  gegenseitigen  Einfluß  ermöglicht,  ge- 
funden zu  haben. 

Die   erste   Hälfte   des    19.  Jahrhunderts   hat  nicht  viel  geändert. 
Außer  einer  Arbeit  von  Burns  (1809)  hinterließ  sie  aber  die  Ober- 
zeugung, daß  die  Krankheit  nicht  so  gefahrlos  ist,  wie  dies  Paul  von 
Ägina   geglaubt   hat,   und  doch  in   einzelnen  Fällen  schlecht  enden 
kann.    Die  Angst  vor  diesem  argen  Ausgange  hat  Simons  (1813)  be- 
wogen, zum  ersten  Male   die  Schwangerschaft   im  7.  Mondesmonate 
wegen  Hyperemesis  zu  unterbrechen.   Endlich  gab  1848  Dubois  eine 
ausführliche  Beschreibung  der  Krankheit  und  gleich  darauf  nahm  die 
Pariser  Akademie  die  weiteren  Forschungen  in  ihre  Hände,  um  zu- 
nächst festzustellen,  ob  und  wann  eine  Unterbrechung  der  Schwanger- 
schaft berechtigt  ist.    Von  nun  an  macht  die  Lehre  vom  unstillbaren 
Erbrechen  rasche  Fortschritte,  und  liefert  bald  den  Beweis,  daß  die 
Krankheit  gar  nicht  so  einfach  ist,  wie  das  früher  angenommen  wurde. 
Trotz  zahlreicher  Forschungen,  die  jahrjährlich  sie  aufzuklären  suchen, 
und  zwar  von  verschiedenen  Standpunkten,  bleibt  sie  bis  heute  ein  Rätsei, 
eines  von  den  wenigen,  an  deren  Lösung  Arbeiten  vieler  Gelehrten 
scheitern.    Der  klinische  Verlauf,   die   der  Mutter  und   dem  Kinde 
drohenden  Gefahren,  das  Verhalten  verschiedener  Organe  und  die 
Sektionsbefunde  sind  schon  genügend  bekannt,  die  Ätiologie  und  Heil- 
kunde bildet  dagegen  so  ein  Gemenge  von  verschiedenen  Ansichten, 
daß  selbst  die  Orientierung  darin  schwer  wird.    Fast  jeder,  welcher 
daran  gearbeitet  hat,  vertritt  eine  andere  Anschauung,  auf  eine  kleine 
Zahl  seiner  eigenen  Fälle  gestützt,  da   angesichts  der  Seltenheit  der 
Krankheit   niemand   über   eine  größere  einheitliche  Statistik  verfügt, 
fast  jeder  gibt  eine  Reihe  glücklich  mit  seiner  Methode,  die  in  anderer 
Händen  als  vollkommen  wertlos  erscheint,  geheilter  Fälle  an.    Der 
Effekt  langjähriger  Nachforschungen  ist  dieser,  daß  ein  praktischer 
Arzt,  nach  Durchmusterung  der  Literatur  über  Hyperemesis  gravi- 
darum, nicht  nur  kein  klares  Bild  über  die  Ätiologie  und  Therapie 
der  Krankheit  hat,  sondern  das  Vertrauen  zu  wissenschaftlichen  For- 
schungen  verliert  und   in   so  ein  Gemenge  von  direkt  sich  wider- 
sprechenden Ansichten  gelangt,  daß  er,  sich  selbst  überlassen,  zufallig 
eine  der  vielen  Thesen  aufnimmt  und  danach  handelt,  indem  er  ganz 
recht  bemerkt,  daß  bis  zur  definitiven  Entscheidung  des  Streites  exakte 
Methoden  der  Therapie  nicht  gestellt  werden  können.    Dem  thera- 
peutischen Effekt  entsprechend  entstehen  Anhänger  und  Gegner  der 
einen  oder  der  anderen  Ansicht  und  der  wissenschaftliche  Kampf  ent- 
brennt von  neuem. 

Ehe  ich  die  Ursache  erörtere,  warum  so  verschiedene  Anschau- 


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3]  Hyperemesis  gravidarum.  241 

uogen  bestehen  können  und  sie,  soweit  es  geht,  in  Ordnung  bringe, 
will  ich  zunächst  l^urz  die  bisher  angegebenen  referieren.  Eine  chrono- 
logische Reihenfolge  führt  hier  nicht  zum  Ziele,  da  viele  ältere  schon 
langst  vergessene  Ansichten  oft  von  neuem  auftauchen  und  es  scheint 
mir  besser,  alle  die  Hypothesen  nach  pathologischen  Prozessen,  worin 
sie  die  Ursache  suchen,  einzuteilen,  wie  dies  auch  J.  W.Williams 
getan  hat. 

Den  publizierten  Hypothesen  entsprechend,  kann  die  Hyperemesis 
gravidarum  durch  folgende  Annahmen  aufgeklärt  werden: 

1.  Sie  kann  auftreten  bei  Krankheiten  des  Magens. 

2.  Sie  kann  auf  reflektorischem  Wege  zustande  kommen. 

3.  Sie  kann  auf  nervöser  Basis  beruhen. 

4.  Sie  kann  als  eine  Toxämie  betrachtet  werden. 

Ad.  1.  Fälle  von  unstillbarem  Erbrechen  Schwangerer  bei  Magen^ 
krankheiten  sind  nicht  selten  beschrieben  worden  und  zwar  bei  Ent- 
zündungen des  Magens,  Karzinom  (Zäborszky),  Gastromalakie, 
Ulcus  rotundum,  bei  Erosionen  der  Magenschleimhaut,  pathologischen 
Zuständen  des  Darmes  usw.,  überall  ist  aber  von  Anfang  an  die 
Meinung  vertreten,  daß  man  in  diesen  Fällen  eigentlich  nicht  von 
Hyperemesis  gravidarum  als  klinisch  isolierter  Krankheitsform  sprechen 
dtff,  da  Erbrechen  auch  bei  nicht  schwangeren  Personen  aufgetreten 
wäre,  und  die  Schwangerschaft  nur  als  sekundäre  Ursache  angesehen 
Verden  kann.  Vorwiegend  ist  aber  bei  vielen  Forschern  dieser 
Gruppe  die  Ansicht  angedeutet,  daß  Krankheiten  des  Intestinaltraktus 
das  Zustandekommen  von  unstillbarem  Erbrechen  erleichtern,  daß 
sie  also  zwar  nicht  als  primäre,  wohl  aber  als  sekundäre  Ursache 
gelten  können. 

Ad.  2.  Die  lange  Zeit  sehr  verbreitete  reflektorische  Theorie  hat 
auch  noch  jetzt  zahlreiche  Anhänger.  Im  allgemeinen  beruht  sie  auf 
Anastomosen  zwischen  den  Ästen  des  N.  vagus  und  N.  sympathicus, 
wovon  der  erste  den  Magen-  und  Darmtraktus  versorgt,  der  andere 
vorwiegend  unten  in  der  Bauchhöhle  zahlreiche  Ganglien  im  Bereiche 
der  Genitalorgane  bildet  und  sich  auch  aber  alle  Bauchorgane  ver- 
breitet, überall  mit  Ästen  des  N.  vagus  anastomisierend.  Es  geht  schon 
aus  diesem  Bilde  klar  hervor,  daß  Reize,  aus  den  Geschlechtsteilen 
stammend,  leicht  entweder  auf  direktem  Wege  oder  auf  indirektem 
durch  die  Medulla  spinalis,  übertragen  werden  und  Magensymptome 
hervorrufen  können.  Auf  diesem  innigen  Zusammenhange  beider 
Nervengebiete  und  auf  dieser  Leichtigkeit  im  Übersenden  der  Reize 
haben  viele  ihre  Ansichten  basiert  und  da,  trotz  Existenz  derselben 
Verhaltnisse  bei  jeder  Frau,  unstillbares  Erbrechen  sehr  selten  vor- 
kommt und  nur  ausschließlich  bei  Schwangeren,  die  Tatsache  durch 

18* 


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242  Adam  Czyzewicz  Jun.,  [4 

Anüahme  von  pridisponierenden  Momenten,  z.  B.  barmtraktuskraok- 
heiten,  nervöser  Reizbarkeit,  duröh  die  Schwangerschaft  gesteigert 
usw.^  zu  erörtern  gesucht.  Meinungsdifferenzen  sind  hier  Fast  nicht 
zu  finden.  Was  aber  den  eigentlichen,  die  Krankheit  hervorrufenden 
Reiz  anbetrifft,  sind  die  Ansichten  sehr  verschieden  und  es  werden 
fast  alle  Frauenkrankheiten  in  Rede  gezogen.  Es  wird  nun  nach  der 
Ursache  gesucht  bei  Erosionen  des  Scheidenteiles,  Entzündungen  der 
unteren  Hälfte  der  Gebärmutter  oder  der  oberen  und  des  Peritoneum 
(Horwitz),  in  endometritischen  Prozessen  (Jaggard),  Krankheiten 
der  Eihäute,  übermäßiger  Ausdehnung  der  Gebärmutter  bei  Hydram- 
nios  oder  Zwillingen,  Bildung  von  Molen,  Rigidität  des  Muttermundes 
(Kehrer)  oder  auch  der  Gebärmutter  in  toto,  weiter  in  ieiner  Reiz- 
barkeit der  Gegend  des  inneren  Muttermundes  (Bantock,  Mueller), 
Cervixrissen  (Sänger),  in  einer  reflektorischen  Wirkung  der  wachsen- 
den Gebärmutter  (Baisch,  Oelschläger).  Anämie  des  Peritoneums 
wegen  starker  Spannung  auf  dem  sich  vergrößernden  Uterus  (Tusz- 
kai),  einer  Gehirnanämie  beim  Aufstehen  vom  Bette  (Evans),  in 
Schwangerschaftswehen  (Gottschalk).  Deviationen  der  Gebärmutter 
vorwiegend  Retroflexio  und  folgendem  Druck  auf  die  Nervenganglien 
(Graily  Hewitt),  im  Drucke  auf  diese  Ganglien  durch  Exsudate, 
oder  später  zurückbleibende  Adhäsionen,  vorwiegend  im  Bereich  des 
Promontoriums  (Müller),  einer  gesteigerten  Magensaftabsonderung 
neben  reflektorischer  Wirkung  des  schwangeren  Uterus  (Monin),  in 
einer  reflektorischen  Pyloruskontraktion  oder  Zusammenziehung  der 
Muskeln  des  ganzen  Intesttnaltraktus  (Goffroy),  einer  reflektorisch 
auf  Grund  von  Frauenkrankheiten  mit  Gravidität  kompliziert  auf- 
tretenden Neurosis  ventriculi  (Sutugin),  einer  Reizung  des  Spinal- 
brechzentrums direkt  durch  Druck  der  Gebärmutter  oder  auch  indirekt 
(Windscheid)  und  in  vielen  anderen  pathologischen  Zuständen. 

Wie  oben  angedeutet,  stammt  diese  Theoriengruppe  aus  ältester 
Zeit  und  hat  auch  bis  heute  zahlreiche  Anhänger,  verliert  aber,  an- 
gesichts neuer  Forschungen,  die  auf  ganz  anderem  Wege  zur  Auf- 
klärung der  Krankheit  schreiten,  immer  mehr  ihren  Boden.  Sie  be- 
stand immer  und  besteht  auch  noch  jetzt  aus  dem  Grunde,  daß  sehr 
oft  die  Heilung  bestehender  Frauenkrankheiten  einen  segensreichen 
Einfluß  auf  das  Erbrechen  hat;  es  ist  nur  absolut  nicht  festzustellen, 
ob  diese  Besserung  post  hoc  oder  propter  hoc  eingetreten  war. 

Ad  3.  Die  Neurosentheorie  verdankt  ihre  Verbreitung  den  Ar- 
beiten von  Ahlfeld  und  Kaltenbach,  obwohl  sie  schon  viel  früher 
aufgebaut  wurde  in  den  Publikationen  von  Krieger,  Eulenburg, 
Anquetin,  Braxton  Hicks,  welche,  auf  negativen  Befund  der 
Autopsien  gestützt,  zur  Annahme  von  nervösen  Ursachen  neigten  und 


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5]  Hyperemesis  gravicfarum.  243 

war  soleheQ,  die  tödlich  sein  köanen,  ohne  Spuren  zu  hinterlassen. 
Ihre  Lehre  war  aber  wenig  bekannt  bis  zur  Zeit,  wo  eine  Polemik 
um  Priorität  zwischen  Chazan,  AhlFeld  und  Kaltenbach  sie  all- 
gemein verbreitet  hat«  Als  Ausgangspunkt  in  dieser  Hypothesen- 
gruppe wird  eine  Nervenkrankheit  angenommen,  und  zwar  geben  die 
zwei  ersten  als  Ursache  diverse  Neurosen  an,  die  alle  einen-  identi- 
schen EinBuO  auf  das  Entstehen  der  Hyperemesis  haben  sollen,  der 
letztere  dagegen  speziell  die  Hysterie.  Diesem  wissenschaftlichen 
Streite  haben  sicl^  gleich  zahlreiche  Diskussionen  in  gynäkologischen 
Gesellschaften  und  Zeitungen  angeschlossen,  zwischen  den  Anhängern 
der  neuen  Lehren  (Muret,  Frank,  Gräfe,  Dorff,  Opitz,  Klein, 
Schäffer)  und  ihren  Gegnern  (Windscheid,  Zweifel,  Feinberg), 
Diskussionen,  wo  jeder  durch  immer  neue  Beweise  seine  Anschauung 
zu  begründen  suchte  und  die,  trotz  enormer  Arbeitsausdehnung,  nicht 
our  zu  keiner  einheitlichen  Ansicht  fiber  die  Ätiologie -der  Krankheit 
geführt,  sondern  nur  den  ganzen  Standpunkt  noch  bedeutend  mehr 
verwickelt  haben. 

Ad  4.  Die  jüngste  von  allen,  erst  in  letzter  Zeit  aufgestellte,  tox- 
imische  Theorie  wurde  auch  anfangs  nicht  so  allgemein  anerkannt, 
vie  die  anderen,  und  blieb,  als  mehrere  Forscher  sie  angenommen 
haben,  auch  nicht  einheitlich  sondern  gleich  in  mehrere  Gruppen  ein- 
geteilt Ihre  Grundsteine  sind  in  der  Arbeit  von  Fischl  (1884)  zu  finden. 
Er  nimmt  zwar  auch  eine  nervöse  Prädisposition  an,  glaubt  aber,  daß 
tis  eigentliche  Ursache  eine  Koprostase  mit  Bildung  anormaler  che- 
mischer Prozesse  beschuldigt  werden  kann.  Neun  Jahre  später  publi- 
ziert Lindemann  (1803)  ein  Sektionsprotokoll  nach  Hyperemesis 
gravidarum  und  beschreibt  ausführlich  Veränderungen  der  Leber, 
Milz  und  Nieren  als  parenchymatöse  und  fettige  Degenerationen, 
Entzfindungszustände  der  peripheren  Nerven,  bei  wenig  Aushungerungs- 
erscheinungen und  stellt  als  erster  die  Meinung  auf,  daO  angesichts 
des  Sektionsbefundes,  der  lebhaft  an  eine  chronische  Vergiftung  er- 
ionert,  die  Hyperemesis  als  Vergiftung  mit  noch  unbekannten  Toxi- 
nen angesehen  werden  darf.  Dies  war  der  Ausgang  der  ganzen 
Theorie,  und  als  ihn  V.  Antouchevitsch  (1897)  in  einer  Sitzung 
des  Ärztekongresses  in  Moskau  von  neuem  aufgenommen  und  auf  die 
Ähnlichkeit  zwischen  der  Hyperemesis  und  den  Symptomen  bei 
Tieren,  denen  man  eine  Nahrung  ohne  Natrium  und  Kalium  gereicht, 
verwiesen  hat,  beginnen  Untersuchungen  des  Stoffwechsels,  Beob- 
achtungen der  Krankheit  vom  neuen  Standpunkte  und  die  Theorie  ist 
im  Aufschwung  begriffen. 

Die  Anhänger  dieser  Hypothese  sind  insofern  einig,  daß  sie  als 
Ursache  des   unstillbaren  Erbrechens  eine  Vergiftung  mit  im   Blut 


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244  Adaxn  Czyzewicz  jun.,  [^ 

deponierten  Stoffen  annehmen  und  insofern  verschiedener  Meinung,  daO 
sie  verschiedene  Stoffe  beschuldigen.  Immer  heben  sie  aber  hervori 
daß  die  Theorie  nicht  auf  alle  Fälle  von  Hyperemesis  passen  kann. 
Alle  diese  Nachforschungen  gaben  als  Resultat  eine  Reihe  von  ver- 
schiedenen Ansichten,  je  nach  dem  Körper,  welcher  als  Agens  be- 
schuldigt war.    Sie  sind  folgende: 

a)  Türen ne  sucht  die  Giftquelle  in  einer  Absonderung  des 
Corpus  luteum,  welches  als  Drüse  mit  innerer  Ausscheidung  an- 
gesehen werden  muß.  Ihr  Produkt  ruft  normal  eine  Hyperämie  der 
Genitalorgane  hervor,  vor  und  während  der  Periode,  allgemeine 
Symptome  bei  amenorrhoischen  Frauen,  und  mutmaßliche  Schwanger- 
schaftssymptome, die  bei  nervöser  Prädisposition  sich  bis  zur  Hyper- 
emesis steigern  können.  Die  Ursache,  daß  die  Erscheinungen  bei 
Nichtschwangeren  fehlen,  wäre  darin  zu  suchen,  daß  das  Gift  vom 
menstruellen  Blute  fortgeschwemmt  wird;  die  Periode  wäre  nun  als 
eigentliche,  gewöhnliche  Folge  der  Wirkung  des  Corpus  luteum-Giftes 
anzusehen.  In  Fällen,  wo  die  Menstruation  aufhört,  also  auch  in 
der  Schwangerschaft,  gelangt  das  Gift  in  den  Blutkreislauf  und  ruft 
Vergiftungserscheinungen  hervor. 

b)  Dirmoser  hält  die  Hyperemesis  für  eine  Autointoxikation  mit 
Produkten  eines  anormalen  Stoffwechsels  im  Darmtraktus  und  spe- 
zialisiert dies  folgendermaßen:  Die  Nerven  des  Darmes  und  Magens 
stehen  in  enger  Verbindung  mit  denen  der  Genitalorgane,  und  in 
normalem  Zustande  üben  die  letzteren  ihren  regulierenden  Einfluß 
auf  den  Magen  im  Wege  der  Anastomosen  zwischen  N.  vagus  und  R 
sympathicus  aus.  Die  Vergrößerung  der  Gebärmutter,  Veränderung 
der  Eierstöcke,  des  Peritoneums  usw.  in  der  Schwangerschaft  übt 
einen  mächtigen  Reiz  auf  die  hier  liegenden  Nervenenden  und  ruft 
reflektorisch  eine  Behinderung  der  Magenfunktion,  ja  sogar  antiperi- 
staltische  Bewegungen  hervor.  Demzufolge  kommt  es  zu  anormalen 
Fäulnisprozessen,  zur  Bildung  giftiger  Körper  und  angesichts  der 
verlangsamten  Peristaltik  zu  deren  leichter  Einsaugung.  Das  Ganze 
kann  wohl  bei  gesunden  Frauen,  um  so  eher  bei  nervös  belasteten 
vorkommen. 

Kurz  gesagt  hält  also  Dirmoser  das  unstillbare  Erbrechen  für 
eine  Autointoxikation  mit  anormalen  Stofiwechselprodukten  und  be- 
gründet seine  Ansicht  in  erster  Reihe  mit  atypischen  Harnbestand- 
teilen, wie  Azeton,  Indoxyl,  Skatoxyl,  Schwefelverbindungen  usw.^  die 
er  in  seinen  Fällen  in  größerer  Menge  nachgewiesen  hat. 

c)  Pinard,  Champetier  de  Ribes  und  Bouffe  de  Saint  Blaise 
halten  die  Krankheit  für  eine  Vergiftung  auf  Grund  einer  schlechten 
Leberfunktion,  und  als  Stützpunkt  nehmen  sie  Sektionsbefunde  an,  wo 


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7]  Hyperemesis  gravidarum.  245 

in  der  Leber  Veränderungen  wie  bei  Atrophia  hepatis  flava  fest- 
gestellt wurden.  Auch  früher  waren  schon  ähnliche  Befunde  bekannt, 
aur  nicht  zur  Aufklärung  der  Ätiologie  des  unstillbaren  Erbrechens 
herangezogen.  Im  Jahre  1879  hat  sie  schon  Matthews  Duncan  ge- 
funden, später  Stone,  Ewing  und  Edgar,  aber  erst  J.  Whitridge 
Williams  hat  im  Jahre  1005  auf  Grund  von  drei  beobachteten  Fällen, 
durch  grundliche  Untersuchung  des  Stofi^wechsels  die  Hypothese 
wissenschaftlich  begründet.  Diese  Untersuchung  lehrte,  daß,  von  An- 
fang der  Krankheit  an,  im  Urin  Ammoniak  zu  finden  ist,  und  zwar  in 
großer  Menge,  bis  46%  (gegen  normal  3—5%),  was  entweder  für 
schwere  Schädigung  der  Leber  spricht  oder  für  Existenz  eines 
saueren  Giftes  im  Blutkreislauf,  das  zu  neutralisieren  ist  —  später 
kann  man  auch  Eiweiß  konstatieren.  Dieser  Befund  beweist  eine 
primäre  Läsion  der  Leber  und  sekundäre  der  Nieren  durch  das  im 
Blut  kreisende  Toxin. 

d)  Karl  Behm  sucht  1903  die  Vergiftungsursache  im  Fruchtei. 
Nach  dieser  Meinung  ist  die  Hyperemesis  gravidarum  eine  Intoxi- 
kation, von  der  Eioberfläche  ausgehend,  wahrscheinlich  synzytialen  Ur- 
sprunges, und  als  Beweis  dient  die  Tatsache,  daß  nicht  nur  bei 
kranken,  sondern  auch  bei  gesunden  Schwangeren  Zottenelemente  im 
mutterlichen  Blute  zu  treflPen  sind.  Wenn  man  dabei  beachtet,  daß 
das  Erbrechen  gewöhnlich  mit  Beginn  der  Schwangerschaft  sich  ein- 
steilt und  in  5 — 6  Wochen  seinen  Höhepunkt  erreicht,  d.  h.  zu  einer 
Zeit,  wo  an  einem  großen  Teile  der  Eioberfläche  Zotten  zugrunde 
gehen,  das  Chorion  laeve  bildend,  so  ist  es  wahrscheinlich,  daß 
Zottenelemente,  speziell  das  Synzytium,  in  das  mütterliche  Blut  ge- 
langen und  die  Vergiftung  verursachen  können.  Auch  die  Tatsache, 
daß  mit  der  vollkommenen  Entwicklung  der  Plazenta^  d.  h.  im  4  bis 
5.  Schwängerschaftsmonat,  das  Erbrechen  gewöhnlich  zu  Ende  geht, 
spricht  für  diese  Ansicht. 

Die  Ursache  der  Krankheit  wäre  somit  im  Synzytium  zu  suchen, 
und  alle  Krankheiten  des  Genitalapparates,  Neurosen  usw.  als  prä- 
disponierendes oder  die  Krankheit  verschlimmerndes  Moment  zu 
halten. 

e)  Die  letzte  Hypothese  sucht  die  Ursache  der  Vergiftung  der 
Schwangeren  in  Produkten  des  Fruchteies  (Clivio)  oder  in  Stoff- 
wechselprodukten der  Frucht  (Czempin,  Starzewski).  Der  erste 
von  den  dreien  publizierte  1001  seine  Ansicht,  daß  das  Fruchtei 
giftige  Substanzen  absondert,  welche,  in  das  mütterliche  Blut  gelangt, 
eine  Intoxikation  hervorrufen,  unter  anderem  durch  Erbrechen  ge- 
kennzeichnet; bei  regelwidriger  Funktion  des  Intestinaltraktus,  Krank- 


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246  Adam  Czyzewicz  jun.,  [8 

heiten  der  Geschlechtsorgane,  Neurosen  usw.  kann  dann  leicht  das 
Erbrechen  sich  zu  einer  Hyperemesis  steigern. 

Czempin  trat  mit  seiner  Meinung  zuerst  1803  in  einer  Dis- 
kussion im  Berliner  physiologischen  Institut  auf  und  muß  somit  als 
Vater  der  Theorie  von  der  Vergiftung  der  Mutter  durch  das  Kind 
angesehen  werden.  Zu  dieser  Kenntnis  war  er  durch  Untersuchung 
der  Plazentastruktur  gelangt.  Es  war  ihm  klar,  daß  ein  so  koiHpli- 
ziertes  Organ  gewiß  wohl  auch  seine  spezielle  Funktion  haben  muß 
und  von  dem  Standpunkte  ausgehend  hat  er  seine  Hypothese  ent- 
wickelt: Die  wachsende  Frucht  bildet  eine  ganze  Menge  von  Giften, 
welche,  in  das  mätterliche  Blut  gelangt,  eine  Intoxikation  hervorrufen. 
Tatsächlich  kommt  es  dazu  im  Anfange  der  Schwangerschaft,  da  die 
Plazenta  noch  nicht  fähig  ist,  das  Gift  zu  neutralisieren.  Als  Sym- 
ptome treten  hervor:  Erbrechen,  Kopfweh,  Kopfschwindel  usw.  Später 
binden  die  Plazentarzellen  das  Gift  und  der  mätterliche  Organismus 
bildet  Gegengifte,  zum  Neutralisieren  der  doch  ins  Blut  herein- 
geschwemmten Gifte  bestimmt,  und  die  obigen  Symptome  ver- 
schwinden. Bei  regelwidriger  Funktion  des  Fruchtkuchens  können 
die  fötalen  Gifte  in  das  mutterliche  Blut  in  größeren  Mengen  gelangen 
und  unstillbares  Erbrechen  oder  Eklampsie  hervorrufen. 

Die  letzte  Arbeit,  von  J.  Starzewski  in  den  Jahren  1895—1897 
in  unserer  Schule  durchgeführt  und  im  Jahre  1906  veröffentlicht, 
hebt  den  Begriff  einer  „Schwangerschaftsinfektion"  hervor  und  klärt 
ausführlich  die  Symptome  einer  physiologischen  und  pathologischen 
Gravidität  mit  dem  Eindringen  von  fötalen  Stoffwechselprodukten  in 
das  mütterliche  Blut  auf.  Dieses  Exkret  des  Fruchteies  übt  seinen 
Einfluß  auf  Drüsen  des  mütterlichen  Körpers  aus  und  zwar  höchst- 
wahrscheinlich auf  dem  Wege  einer  atypischen  Funktion  des  Nerven- 
systems und  auch  durch  direkte  Wirkung  auf  die  Drüsensubstanz. 

»Wir  dürfen  nicht  fehlgehen  —  sagt  Starzewski  im  physio- 
„logischen  Teile  —  wenn  wir  in  analoger  Weise  auch  das  Er- 
ybrechen  Schwangerer,  jenes  so  überaus  häufige  Symptom  der 
»Schwangerschaftsinfektion,  erklären.  Auch  hier  hätten  wir  zwei 
»Ursachen:  die  eine,  die  indirekte,  die  durch  das  zentrale  Nerven- 
»system  wirkende,  die  andere,  die  direkte,  der  Reizzustand,  in 
»welchen  die  Magenwand  durch  das  Fruchteiexkret  versetzt  wird, 
»dessen  Ausscheidung  vielleicht  ebenso,  wie  die  des  Morphins, 
»durch  die  Magenschleimhaut  in  die  Magenhöhle  erfolgt.  In 
»unseren  gegen  dieses  Leiden  gerichteten  therapeutischen  Maß- 
»nahmen  ist  auch  diese  Erklärung  gerechtfertigt.  Denn  einer- 
»seits  erzielen  wir  gute  Resultate,  wenn  wir  Mittel  verabreichen, 
»welche  die  Reizbarkeit  des  Nervensystems  herabsetzen,  andrer- 


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0]  Hyperemesis  gravidaram.  247 

«seit  schafiPen  wir  den  Kranken  bedeutende  Linderung,  wenn  wir 
»deren  Magen  einer  systematischen  Spülbehandlung  unterziehen." 

Und  im  pathologischen  Teile  schreibt  er  weiter,  daß,  wenn  die 
Fähigkeit  des  mütterlichen  Organismus,  ein  wirksames  Schwanger- 
schaftsantitoxin zu  bilden,  bei  Schwangerschaftsinfektion  zu  gering  ist, 
die  Symptome  nach  Ende  der  ersten  Schwangerschaftshälfte  nicht 
schwinden,  sondern  im  Gegenteil  noch  manchmal  zunehmen.  Hier- 
her gehört  unter  anderen  auch  die  Hyperemesis  gravidarum. 

So  sieht,  in  kurzen  Zügen,  das  Bild  unseres  Wissens  über  die 
Hyperemesis  gravidarum  aus,  dies  ist  das  Ansichtengemenge,  das  wir 
von  unseren  Vorgängern  geerbt  haben.  Wenn  jemand  daraus  eine 
klare  Vorstellung  der  Ätiologie  der  Krankheit  gewinnen  wollte,  ohne 
eigene  Erfahrung  in  Frage  zu  ziehen,  so  möchte  er  sehr  bald  zur 
Oberzeugung  kommen,  daß  dies  nicht  möglich  ist.  Er  dürfte  auch 
nicht  einer  von  diesen  Theorien  den  Vorzug  geben,  auf  das  allgemeine 
Ansehen  des  einen  oder  des  anderen  Verfassers  gestützt,  da  hier  im 
ganzen  die  glänzendsten  Namen  sich  gegenseitig  bekämpfen. 

Eine  Lösung  des  Rätsels  ist  nicht  weit  zu  suchen;  sie  springt 
von  selbst  in  die  Augen  mit  Aufstellung  der  Ansicht,  daß  die  Krank- 
heit, von  der  alle  sprechen,  keine  einheitliche  Form  ist,  sondern  ein 
Konglomerat  von  verschiedenen  pathologischen  Prozessen,  die  nur 
das  Symptom  des  schwer  zu  stillenden  Erbrechens  gemein  haben, 
sonst  aber  verschieden  voneinander  sind.  Bis  neulich  war  es 
ganz  ähnlich  mit  der  InBuenza,  von  der,  auf  Grund  zahlreicher 
Untersuchungen,  immer  mehr  Fälle  isoliert  werden  und  die  dem- 
zufolge immer  seltener,  aber  immer  mehr  bekannt  und  speziali- 
siert wird. 

In  vielen  Aufsätzen  habe  ich  die  Ansicht  gefunden,  daß  das  un- 
stillbare Erbrechen  aus  verschiedenen  Ursachen  entstehen  kann,  nir- 
gends dagegen  mit  der  Meinung,  daß  man  mit  dem  Namen  Hyper- 
emesis nur  einige  Krankheitsformen  mit  gründlich  definierten  Sym- 
ptomen und  Verlauf  belegen  darf,  den  Rest  dagegen  mit  ihrer  eigenen 
Bezeichnung  nennen  muß.  Und  doch  sollte  es  so  sein,  da  doch  grund- 
sätzlich Erbrechen  auf  hysterischer  Basis  oder  bei  Pylorusverengung 
wegen  Karzinom  von  einem  bei  allgemeiner  Vergiftung  verschieden 
ist  Wir  sind  eben  nur  gewohnt,  jedes  Erbrechen  bei  einer  Schwan- 
geren der  Schwangerschaft  zuzuschreiben  und  jedes,  welches  mit  ge- 
wöhnlichen Mitteln  nicht  zu  stillen  ist,  und  wobei  es  zu  Sinken  des 
Korpergewichtes  aus  irgendwelcher  Ursache  kommt,  mit  dem  Namen 
Hyperemesis  zu  belegen,  mit  einem  Namen,  der  eigentlich  nur  leerer 
Schall  ist  und  gar  nicht  existenzberechtigt.  Als  Beweis  zahlreiche 
Protokolle  von  Sektionen,  welche  bei  Schwangeren  mit  Hyperemesis 

KilB.  Vortrige,  N.  F.  Nr.  485.    (Gynäkologie  Nr.I7a)    Mil  1908.  19 


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248  Adam  Czyiewicz  jun.,  [10 

Carcinoma  pylori,  Peritonitis/ Tuberkulose  usw.  gefunden  haben. 
Daß  in  diesen  Fällen  nicht  eine  anormale  Krankheitsursache,  sondern 
ein  Diagnosenfehler  vorlag,  liegt  auf  der  Hand*  Und  so  kann  es 
nachher  nicht  wundern,  daß  einer  als  Grund  der  Hyperemesis  Hy- 
sterie, der  andere  Retroflexion  oder  Druck  auf  Nervenganglien  usw. 
angibt,  und  daß  jeder  in  diesen  Fällen  seine  Ansicht  mit  gutem 
therapeutischen  Effekte  bekräftigt,  es  kann  aber  auch  nicht  wundern, 
daß,  wenn  der  andere  die  Anschauung  des  ersten  annimmt,  er  leicht 
auf  einen  Fall  treffen  kann,  wo  die  angebotene  Behandlung  wirkungs- 
los bleibt  und  der  klinische  Verlauf  eine  ganz  andere  Ursache  zutage 
fördert.  Sie  hatten  beide  zwei  verschiedene  Krankheiten  vor  sich, 
die  nur  ähnliche  Symptome  aufgewiesen  haben,  was  ja  leicht  vor- 
kommen kann.  Als  Beispiel  will  ich  nur  den  Schmerz  in  der  Herz- 
grube hervorheben.  Er  stellt  sich  bei  Krankheiten  des  Magens,  des 
Herzens,  der  Leber,  bei  frühzeitiger  Perimetritis  usw*  ein.  Wenn 
man  diesen  Schmerz  als  selbständige  Krankheit  ansehen  wollte,  so 
könnte  man  auch  verschiedene  Ursachen  und  Behandlungsmethoden 
angeben. 

Wie  also  oben  angedeutet,  kann  ich  die  Hyperemesis  gravidarum, 
oder,  bei  anderer  Benennung,  den  Vomitus  gravidarum  perniciosus^ 
nicht  für  eine  selbständige  Krankheit  halten,  sondern  muß  sie  als 
Symptomenkomplex  bezeichnen,  der  aus  verschiedenen  Ursachen 
entstehen  kann  und  demgemäß  verschiedenen  Krankheiten  zugeschrieben 
werden  muß. 

Beweise  dafür  liefert  eine  Durchmusterung  publizierter  Beschrei- 
bungen des  Leidens.  Kaltenbachz.B.  gibt  an,  daß  er  bei  seinen  Pa- 
tientinnen Merkmale  der  Hysterie  gefunden  hat,  viele  andere  treten 
dem  gleich  entgegen,  Williams  konstatierte  im  Urin  größere  Ammo- 
niakmengen und  erst  sub  ßnem  Eiweiß,  Dirmoser  erwidert  ihm 
gleich,  daß  Eiweiß  oft  von  Anfang  an  vorkommt,  Ammoniak  ganz 
wenig  zu  finden  ist,  dagegen  Indoxyl  und  Skatoxyl  vermehrt  sind 
usw.  usw.  Man  kann  nicht  glauben,  daß  so  ernste  Forscher  Irrtümer 
in  kardinalen  Untersuchungen  begehen,  oder  nicht  wahren  Befund 
veröffentlichen,  und  es  ist  viel  rationeller  anzunehmen,  daß  sie  vor 
zwei  verschiedenen  Krankheiten  gestanden,  die  sie  zwar  diagnosti- 
ziert und  genügend  erklärt,  aber  falsch  mit  demselben  Namen  belegt 
haben. 

Wo  ist  nun  die  Ursache  dieser  Verwirrung  zu  suchen?  Es  ist  mir 
vollkommen  klar,  daß  sie  im  Namen  des  Leidens  liegt,  der  keinen 
pathologischen  Prozeß,  sondern  nur  ein  Krankheitssymptom  bezeich- 
net. „Hyperemesis  gravidarum*'  sagt  nur,  daß  bei  einer  schwangeren 
Frau  Erbrechen  vorkommt,  welches  mit   unseren  Mitteln   nicfiit  zu 


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11]  Hyperemesis  gravidarum.  249 

sdllen  ist  —  «Vomitus  gravidarum  perniciosus''  ist  insofern  eine 
bessere  Bezeichnung,  daß  sie  gleich  den  gefährlichen  EinfluO  auf  die 
Patientin  andeutet.  An  diesen  schon  existierenden  Namen  wurden 
erst  später  Symptome  angekettet»  welche  teilweise,  was  das  Erbrechen, 
Verminderung  des  Körpergewichtes,  Verhalten  des  Pulses  usw.  an- 
betrifft, übereinstimmen,  oder  wieder  sich  gegenseitig  bekämpfen,  wie 
z.  B.  im  Verhalten  der  Temperatur,  des  Urins,  im  Krankheitsverlauf, 
der  Prognose,  dem  Ausgang  usw.  Dieser  Fehler  steht  in  unserer 
Nomenklatur  nicht  vereinzelt  da  und  beruht  auf  der  Benennung  der 
Krankheit  nach  einem  ihrer  Symptome,  wenn  auch  nach  dem  am 
meisten  charakteristischen.  Fast  bis  vor  kurzem  haben  alle  »Icterus  gra- 
vis* bei  Neugeborenen  diagnostiziert,  statt  von  »Sepsis*  zu  sprechen, 
»Icterus  catarrhalis*,  statt  „Duodenitis*  oder  »Cholangitis  catarrhalis* 
mit  Ikterus  und  auch  jetzt  tun  dies  noch  viele.  Ganz  ähnlich  kann 
man  heute  noch  Diagnosen  antreffen,  wie  »Epistaxis*",  »Hämaturia*, 
»Hamatemesis*  usw.,  obschon  sie  alle  überzeugt  sind,  daß  dies  keine  Be- 
zeichnungen einer  selbständigen  Krankheit  sind.  Mit  Aufschwung  der 
aratlichen  Wissenschaft  werden  diese  Namen,  als  Diagnosen,  vertrieben 
und  bleiben  nur  als  Bezeichnung  einzelner  Symptome,  und  nirgends 
in  Krankenhäusern  sind  sie  mehr  auf  den  Tafeln  zu  sehen.  Nur 
einzig  für  Krankheiten,  von  denen  wir  eigentlich  nicht  wissen,  was 
sie  sind,  haben  sie  sich  noch  erhalten.  In  der  Geburtshilfe  gibt  es 
solcher  zweie:  die  Eklampsie  und  Hyperemesis.  Die  erste  besitzt 
glficklicherweise  einen  Namen,  der  nichts  sagt  von  ihren  Symptomen, 
und  daher  ungestört  auch  weiter  bestehen  kann,  die  zweite  gibt  von 
Anfang  an  durch  ihre  Benennung  eine  falsche  Vorstellung,  weil  sie 
nicht  auf  die  Krankheit  selbst,  sondern  auf  ihr  Zeichen  hinweist. 

Nach  dem  Gesagten  sollte  man  eigentlich  die  ganze  Krankheit, 
samt  ihrem  Namen,  aus  dem  medizinischen  Wörterbuche  streichen. 
Bisher  war  das,  angesichts  unserer  Angewöhnung,  nicht  möglich, 
ich  bin  aber  fest  überzeugt,  daß  sie  später  auch  wirklich  ver- 
schwinden wird.  Vorläufig  will  ich  sie  nur  auf  einzelne  Kom- 
ponenten zerlegen,  dieselben  dort  einreihen,  wo  sie  hingehören  und 
eine  Gruppe  isolieren,  welcher  ich  den  Namen  »Hyperemesis 
gravidarum  vera"*  gebe  und  denselben  so  lange  gebrauche,  bis  er 
durch  einen  besseren,  die  eigentliche  Krankheitsursache  bezeichnen- 
nenden,  vertreten  wird. 

Auf  diesem  Wege  müssen  zunächst  die  Fälle  eliminiert  werden, 
deren  Ursachen  man  schon  in  allgemein  bekannten  pathologischen 
Zuständen  gefunden  hat.  In  erster  Reihe  treten  die  Fälle  zur  Seite, 
wo  Erbrechen  durch  Magen-  und  Darmkrankheiten  hervorgerufen 
wird,  da  es  doch  bei  Magenkarzinom,  Bauchfellentzündung  usw.  zur 

19* 


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250  Adam  Czyiewicz  jun.,  [12 

Regel  gehört,  auch  wenn  die  Patientin  nicht  schwanger  ist,  und  da  es, 
von  Kachexie  begleitet,  auch  bei  Männern  zustande  kommen  kann. 
Die  Schwangerschaft  ist  dabei  nur  ein  zufalliger  Befund.  Sie  kann 
zwar  den  Zustand  verschlimmern,  indem  eine  den  Schwangeren  eigen- 
tümliche Reizbarkeit,  wahrscheinlich  auf  Grund  der  Graviditätsinfektion 
im  Sinne  Starzewskis,  hinzutritt,  man  kann  dies  aber  höchstens  als 
Kombination  zweier  Ursachen:  der  physiologischen  Gravidität  und 
der  pathologischen  Magenkrankheit,  ansehen  und  von  einem  ver- 
schlimmernden Einfluß  der  Schwangerschaft  z.  B.  auf  Magenkrebs 
sprechen,  nie  aber  von  einer  speziellen  Krankheitsform,  der  Hyper- 
emesis  und  nie  deren  eigentliche  Ursache  im  graviden  Uterus  suchen, 
die  eigentliche  Krankheit  als  Nebensache  betrachtend.  In  diesem 
Falle  muß  die  erste  Diagnose  bestehen  und  nur  hinzugefügt  werden, 
daß  deren  Symptome  bei  bestehender  Schwangerschaft  verschlimmert 
werden.  Nur  so  ein  Standpunkt  kann  einer  wahren  Kritik  wider- 
stehen. 

Dasselbe  gilt  auch  für  die  Neurosen theorie.  Auch  hier  kann  das,  neben- 
bei fast  immer  stillbare,  Erbrechen  auf  Grund  einer  Neurose  mit  dem, 
welches  als  Symptom  einer  oft  durch  Degenerationen  tödlichen  Krank- 
Tieit  auftritt,  nicht  identifiziert  werden.  Daß  eine  bestehende  Hysterie  ver- 
schiedene Symptome  zahlreicher  Krankheiten  nachahmen  kann,  ist  allge- 
mein bekannt,  aber  trotzdem  unterscheidet  doch  niemand  als  spezielle 
Krankheit  z.  B.  eine  Hemiplegie  und  teilt  sie  nicht  in  eine  auf  Grund 
von  Gehirnveränderungen  entstandene  und  eine  zweite  funktionelle, 
sondern  jeder  diagnostiziert  die  Grundkrankheit  und  fügt  eine  Be- 
schreibung ihrer  momentanen  Symptome  bei.  So  muß  man  auch 
Hysterie  erkennen,  wenn  man  ihre  charakteristischen  Merkmale  ge- 
funden, und  beifügen,  daß  sie  im  gegebenen  Falle  die  Symptome  der 
Hyperemesis  nachahmt.  Es  kommt  dies  vorwiegend  bei  Schwangeren 
vor  und  kann  gedeutet  werden  entweder  als  Kombination  zweier 
Krankheitszustände  oder  als  Neurose,  die  angesichts  psychischer  Reize 
und  der  Oberzeugung,  daß  Erbrechen  in  der  Gravidität  leicht  vor- 
kommen kann,  diese  Form  angenommen  hat.^  Daß  so  ein  psychischer 
Einfluß  wohl  möglich  ist,  dafür  liefert  den  Beweis  ein  mir  bekannter 
Fall,  wo  einige  Male  wegen  Hyperemesis  ein  Abort  eingeleitet  wurde, 
bis  endlich  dieselben  Symptome  einmal  außerhalb  der  Schwanger- 
schaft zutage  getreten  —  und  sehr  leicht  geheilt  wurden.  Es  ist 
vollkommen  klar,  daß  eine  antihysterische  Behandlung  in  diesem 
Falle  auch  während  der  Schwangerschaft  prompt  wirken  und  neue  An- 
hänger der  Kaltenbachschen  Theorie,  die  doch  ganz  auf  Fällen  von 
Hysterie  sub  forma  einer  Hyperemesis   basiert  ist,  schaffen  möchte. 

Dasselbe  gilt  auch  für  alle  anderen  Neurosen,  um  so  mehr,  da  sie 


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13]  Hyperemesis  gravidarum.  251 

in  der  Gravidität  gesteigert  sind.  Bei  der  Besprechung  der  Hyper- 
emesis gravidarum  müssen  nun  alle  diese  Fälle  zur  Seite  gesclioben 
Verden,  weil  sie  keine  Hyperemesis  sind,  nur  andere  Krankheiten, 
veil  sie  eine  andere,  nicht  symptomatische,  sondern  ursächliche  Be- 
handlung verlangen  und  die,  wenn  nur  die  Grundkrankheit  heilbar 
ist,  auch  sehr  leicht  geheilt  werden. 

Die  reflektorische  und  toxämische  Hypothese  erfordern  eine  be- 
sondere Besprechung.  Was  die  erste  anbetrifft,  ist  es  wahrlich 
schwer,  die  Hyperemesis  als  Symptom  von  Erosionen,  Deviationen, 
Entzündungen  der  Genitalien  usw.  anzuschauen,  da  dies  mit  dem 
lokalen  Charakter  dieser  Krankheiten  in  Widerspruch  steht  und  irre- 
leiten muß  und  es  scheint  viel  begreiflicher,  wie  dies  schon  immer 
öfter  in  der  Literatur  hervorgehoben  wird,  anzunehmen,  daß  der  Zu- 
sammenhang zwischen  den  beiden  Leiden  ein  zufälliger  ist  und  sie  auf- 
einander keinerlei  Wirkung  ausüben.  Wenn  man  in  der  Praxis  alles 
genau  beobachtet,  so  trifft  man  oft  Fälle,  wo  z.  B.  eine  Retroflexion 
neben  einer  ausgesprochenen  Hysterie  besteht,  und  trotzdem  tritt  in 
der  Schwangerschaft  keine  Hyperemesis,  ja  überhaupt  kein  Erbrechen 
auf.  Wenn  die  reflektorische  Theorie  wahr  wäre,  so  müßten  gerade 
solche  Fälle  voranstehen,  was  aber  gar  nicht  übereinstimmt.  Das- 
selbe gilt  auch  für  Entzündungen  der  Genitalien,  Erosionen  usw.  und 
diese  Tatsachen  haben  auch  viele  Forscher  gezwungen,  den  Einfluß 
von  Frauenleiden  auf  den  Magen  zu  bezweifeln.  —  Der  Reflex,  sei 
es  direkt  oder  indirekt,  auf  dem  Wege  eines  Spinalzentrum,  durch 
Druck  auf  neben  der  Gebärmutter  liegende  Nervenganglien  hervor- 
gerufen, kann  auch  nicht  erhalten  werden,  da  sehr  oft  neben  dem 
Uterus  Geschwülste  liegen,  die  einen  bedeutend  stärkeren  Druck  ausüben, 
wie  die  schwangere  Gebärmutter,  und  trotzdem  kein  unstillbares  Er- 
brechen außerhalb  der  Schwangerschaft  hervorrufen.  Während  der 
Gravidität  ist  nur  ein  Fall  von  Lapeyre  1901  beschrieben,  wo  ein 
Ovarialkystom  neben  Schwangerschaft  und  Hyperemesis  bestand  und 
wo  ein  Beweis  erbracht  wurde,  daß  die  letztere  nur  von  der 
Schwangerschaft  abhängig  war  und  die  Exstirpation  des  Tumor  er- 
folglos blieb. 

Tuszkais  Ansicht  hat  schon  vor  mir  W.  J.  Brock  1883  widerlegt, 
indem  er  angegeben  hat,  daß  die  Hyperemesis  vorwiegend  bei  Mehr- 
geschwängerten vorkommt,  wo  bei  Schlafi^heit  der  Muskeln  und  des 
Muttermundes  eine  gesteigerte  Spannung  der  Gebärmutterwand  und 
des  Peritoneum  nicht  annehmbar  ist  Er  fügt  nebenbei  noch  hinzu, 
daß  die  Krankheit  bei  Rigidität  des  Muttermundes  nicht  vorkommt, 
was  auch  wirklich  wahr  ist  und  gegen  Reizung  des  Muttermundes 
als  Ursache  spricht. 


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252  Adam  Czy^ewicz  jun.,  [14 

Das  Gesagte  zusammenfassend,  kann  man  wohl  behaupten,  daß 
bei  verschiedenen  pathologischen  Zuständen  der  Genitalorgane,  ein 
bis  jetzt  mit  dem  Namen  Hyperemesis  gravidarum  belegter  Sym- 
ptomenkomplex vorkommen  kann,  daß  aber  kein  Beweis  vorliegt,  ihn 
als  Reflex  zu  bezeichnen.  Im  Gegenteil  spricht  viel  dafür,  daß  er 
kein  Reflex  ist,  und  daß  man  nach  seiner  Ursache  in  einer  ganz  an- 
deren Richtung  forschen  muß. 

Es  bleibt  noch  zuletzt  die  toxämlsche  Theorie.  An  sie  will  ich 
mich  wenden  und  nach  ihr  den  mit  dem  Namen  Hyperemesis  gravi- 
darum belegten  Symptomenkomplex  zu  deuten  trachten.  Zunächst 
sind  hier  nach  Dirmosers  Ansicht  entstandene  Fälle  auszuschließen. 
Wenn  die  Krankheit  eine  Autointoxikation  aus  dem  Darmtraktus  sein 
sollte,  so  müßten  diese  Fälle  überhaupt  den  Darmintoxikationen,  wie  z.B. 
nach  Genuß  von  faulendem  Fleisch,  nach  atypischen  Verdauungs- 
prozessen usw.  angereiht  werden  und  den  ganzen  Symptomenkomplex 
darf  man  dann  wieder  nicht  für  eine  selbständige  Krankheit,  sondern 
muß  sie  für  eine  Erscheinung  der  Vergiftung  halten.  Gegen  die  An- 
nahme, daß  die  Schwangerschaft  reflektorisch  die  Peristaltik  der  Därme 
hemmt,  oder  gar  Antiperistaltik  hervorruft,  spricht  die  Tatsache,  daß  bei 
Uterustumoren,  z.  B.  Myomen,  kein  Erbrechen  vorkommt,  nur  speziell 
bei  Gravidität.  Es  muß  somit  gerade  in  der  letzteren  die  Ursache 
gesucht  werden. 

Ganz  ähnlich  kann  man  auch  die  Leber  nicht  beschuldigen.  Ge- 
gegebenenfalls  müßte  es  doch  einmal  vorkommen,  daß  die  Leber 
auch  außerhalb  der  Schwangerschaft  insuffizient  wird,  und  es  müßte 
dann  zu  einer  Hyperemesis  gravidarum  bei  einer  nicht  graviden 
Frau  oder  gar  bei  einem  Manne  kommen,  wo  doch  die  Krankheit 
schon  nicht  speziell  mit  der  Schwangerschaft  zusammenhängen  und 
ihren  Namen  verdienen  könnte.  Viel  eher  ist  es  anzunehmen,  daß 
die  Leberveränderungen  sekundär  sind,  durch  ein  im  Blute  kreisen- 
des, den  Schwangeren  eigentümliches,  also  mit  der  Schwangerschaft 
im  engen  Zusammenhange  stehendes  Gift  hervorgerufen. 

Nolens,  volens  sind  wir  genötigt,  die  Ursache  der  Hyperemesis  in 
der  schwangeren  Gebärmutter  zu  suchen,  und  da  diese  sich  von  einer 
nicht  schwangeren  nur  durch  das  darin  sich  entwickelnde  Ei  unter- 
scheidet, in  dem  Eie  selbst.  Mit  Turennes  Ansicht,  daß  diese  Ur- 
sache in  der  Ausscheidung  des  Corpus  luteum  liegt,  kann  ich  nicht 
einig  werden,  da  so  ein  gelbes  Körperchen  bei  jeder  Schwangeren 
existiert  und  trotzdem  Hyperemesis  zu  seltenen  Erscheinungen  gehört 
und  da  Turenne  auch  die  Menstruation  als  Folge  derselben  Aus- 
scheidung ansieht,  obwohl  heute  allgemein  gelehrt  wird,  daß  die  Men- 
struation und  Ovulationen  in   keinem    ursächlichen  Zusammenhange 


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15]  Hyperemesis  gravidarum.  253 

Stehen  und  eine  Periode  vor  der  Ovulation  zustande  kommen  kann, 
also  zur  Zeit,  wo  noch  kein  Corpus  luteum  existiert.  Wenn  man 
nun  für  den  Ausgangspunkt  das  Fruchtei  halten  will,  so  ist  nur  zwischen 
der  synzytialen  Theorie  und  der  Schwangerschaftsinfektion  zu  wählen. 
Vir  haben  noch  zu  wenig  Belege ,  um  zwischen  diesen  beiden  An- 
sichten zu  entscheiden,  weil  deren  Anatomie  und  Chemie  kaum  an* 
gefongen  ist,  schon  jetzt  sind  aber  zwei  Punkte  zu  konstatieren, 
welche  zur  Annahme  der  Schwangerschaftsinfektion  drängen,  und 
zwar: 

1.  Hyperemesis  kommt  bei  Dissemination  des  Chorionepithelioma 
malignum  nicht  vor,  obwohl  hier  das  Synzytialgewebe  überall  in 
Metastasen  zu  finden  ist,  und  es  gerade  da  seine  spezifische  Wirkung, 
Erbrechen  hervorzurufen,  entfalten  sollte,  wenn  es  eine  solche  besitzt. 

2.  Es  ist  allgemein  bekannt,  daß  Erbrechen  nach  Absterben  der 
Frucht  sistiert,  wenn  auch  eine  Fehlgeburt  noch  gar  nicht  im  Gange 
ist  und  das  Synzytium  noch  seine  Lebensfähigkeit  bewahren  konnte. 

Dieser  Weg  der  Deduktion  führt  also  zur  Behauptung,  daß  der 
als  »Hyperemesis  gravidarum*  oder  ,,Vomitus  gravidarum 
perniciosus*  bekannte  Symptomenkomplex  die  Folge  einer 
Schwangerschaftsinfektion  im  Sinne  Starzewskis  ist  oder, 
anders  gesagt,  die  Folge  der  Vergiftung  der  Mutter  durch 
Exkrete  der  Frucht.  Ob  sich  das  bei  aktiver  Mitbeteiligung  der 
Plazenta  vollzieht,  wie  dies  Czempin  will,  oder  auch  ohne  diese, 
bin  ich  nicht  imstande  zu  entscheiden.  Natürlich  handelt  es  sich 
hier  nur  speziell  um  eine  Form  der  Hyperemesis,  wo  keine  aus- 
reichende Ursache  zu  finden  ist,  denn  anderenfalls  ist  sie  nur  ein 
Symptom*  des  bestehenden  Leidens,  d.  h.  nur  eine  Form,  für  die  ich 
den  Namen  Hyperemesis  bis  zu  der  Zeit,  wo  sie  entsprechender  benannt 
wird,  bewahrt  habe.  Jedenfalls  auch  diese  ist  nur  ein  Symptom 
einer  allgemeinen  Toxämie,  wo  die  Frucht  als  Agens  gilt,  eines  patho- 
logischen Zustandes,  welcher  bei  vermehrter  Toxizität  der  Frucht- 
exkrete,  oder  verminderter  Widerstandsfähigkeit  der  Mutter  zustande 
kommt.  Diese  Toxämie  verursacht  aber  so  zahlreiche  pathologische 
Veränderungen,  daß  man  darin  spezielle  Gruppen  als  einzelne  Krank- 
heitsformen zu  unterscheiden  berechtigt  ist.  Als  solche  gilt  nach 
meiner  Ansicht  die  Hyperemesisform,  für  die  ich  den  Namen  , Hyper- 
emesis Vera*  vorschlage,  im  Gegensatze  zur  ,,Hyperemesis 
spuria"",  die  durch  verschiedene  Krankheiten  verursacht  sich  nicht 
als  wissenschaftliche  Einheit  isolieren  läßt,  ähnlich  wie  z.  B.  die 
Angina  pectoris  spuria. 

Wenn  meine  Meinung  auch  wirklich  wahr  ist,  so  müssen  die 
konstatierten  Symptome,  nicht  nur  die  klinischen,  sondern  auch  die 


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254  Adam  Czyiewicz  jun.,  [16 

Sektionsbefunde  ein  Merkmal  der  Toxämie  tragen,  die  doch  ihre 
Grundursache  ist  und  dementsprechend  möchte  ich  an  diesem  Platze 
kurze  Krankengeschichten  von  Fällen,  die  mir  in  der  hiesigen  k.  k. 
Hebammenschule  zur  Beobachtung  kamen,  anschließen. 

1.  Nr.  767,  1903/4.  M.  S.,  eine  27]ährige  Hausmeistersehefrau  aus  Lemberg» 
aufgenommen  am  10.  VIII.  1904.  Eine  NuUipara,  die  seit  22.  V.  1904  amenorrhoiscb 
war,  und  daraus  auf  bestehende  Schwangerschaft  schloß.  Durch  die  ganze  Zeit 
litt  Pat.  an  heftigem  Erbrechen,  welches  zunächst  ein  paarmal  des  Tages,  später  gleich 
nach  jedem  Bissen  sich  einstellte.  Infolgedessen  kam  es  zu  Kräfteverfall  und  Ab- 
magerung. 

Die  Untersuchung  ergab  eine  hochgradige  Abmagerung  und  Erbrechen  tatsäch- 
lich nach  jedem  verschluckten  Bissen.  Das  Erbrochene  bestand  aus  unverdauten, 
eben  genossenen  Speisen  und  Flüssigkeiten,  mit  Magenschleim  vermischt.  —  Der 
vergrößerte  Uterus,  mit  allen  Zeichen  einer  etwa  3monatlichen  Schwangerschaft, 
reichte  bis  3  Querfinger  über  die  Symphyse.  Gut  beweglich  war  er  vollkommen 
frei  von  krankhaften  Veränderungen.  Ganz  ähnlich  auch  die  Adnexe.  Im  Bereich 
der  sensiblen  Nerven  keinerlei  Veränderungen.  Neurosen  ausgeschlossen.  Im  Urin 
eine  Spur  von  Eiweiß. 

Die  Diagnose  „Hyperemesis  gravidarum**,  war  nach  obigem  Befunde  sicher  und 
da  keinerlei  Erkrankungen  irgendwelcher  Organe  einen  Anhaltspunkt  gaben,  mußte 
deren  Ursache  in  einer  Schwangerschaftsinfektion  gesucht  werden.  Da  keine 
momentane  Lebensgefahr  drohte,  habe  ich  beschlossen,  das  Leiden  bei  Erhaltung 
der  Schwangerschaft  zu  behandeln.  Es  wurde  ausschließlich  flüssige  Diät  gereicht, 
vorwiegend  Milch,  dann  nur  eiskalte  Geträiike  in  ganz  kleinen  Dosen,  Mittel,  welche 
die  Reizbarkeit  des  Magens  (Kokain)  oder  die  allgemeine  (Brom)  vermindern,  Orexin 
usw.  Der  Zustand  blieb  unverändert.  \7ie  früher  trat  Erbrechen  nach  jedem 
Bissen  und  Schluck  auf,  die  Kachexie  vergrößerte  sich  immer  mehr,  der  Puls 
wurde  immer  schneller,  obwohl  gut  gespannt,  die  Temperatur  erreichte  nur  selten 
37,20  C.  Die  Urinuntersuchung  ergab  weiterhin  Eiweißspuren  und  nicht  vermin- 
derte Chlorsalze.  Es  wurde  nun  eine  Ernährung  per  anum  eingeleitet  und  gleich- 
zeitig Kochsalzlösung-Eingießungen  auf  demselben  \7ege  gemacht.  Mit  dem  Mo- 
mente sistierte  das  Erbrechen,  alle  anderen  Symptome  blieben  aber  unverändert. 
Die  Urinuntersuchung  ergab  am  20.  VIIL  1904  einen  vermehrten  Eiweißgehalt  und 
im  Sedimente  waren  neben  zahlreichen  Blasen-  und  Nierenbeckenepithelien,  ein- 
zelnen körnigen  Zylindern  und  Leukozyten,  auch  Kristalle  von  Leuzin  und 
Tyrosin  und  Fettsäurenadeln  zu  finden.  In  Angesicht  dieses  letzten  Befundes 
—  da  ich  das  Erscheinen  von  Leuzin,  Tyrosin  und  Fettsäure  im  Harnsediment  für 
ein  Signum  mali  ominis  bei  Hyperemesis  halte  —  und  der  Tatsache,  daß  jede 
Probe  einer  Ernährung  per  os  Erbrechen  von  neuem  hervorgerufen  hat,  wurde  ein 
Abort  eingeleitet.  Da  eine  dreimalige  Tamponade  der  Cervix  und  des  unteren 
Uterussegmentes  keine  Geburtstätigkeit  hervorzurufen  imstande  war  und  der  allge- 
meine Zustand  sich  schnell  verschlimmerte,  wurde  am  24.  VIIL  1904  der  Halskanal 
mit  dem  Bossischen  Dilatatorium  erweitert  und  das  Fruchtei  mit  Abortzange  und 
Curette  entfernt.  Trotzdem  und  trotz  reichlich  angewandter  Exzitantien  kam  die 
Frau  ad  exitum  etwa  24  Stunden  nach  der  Fehlgeburt. 

Die  Autopsie  ergab  neben  allgemeiner  Anämie  eine  hochgradige  fettige 
Degeneration  aller  Organe.  Am  meisten  ausgeprägt  war  sie  in  der  Leber 
und  den  Nieren,  in  etwas  geringerem  Grade  im  Herzmuskel  und  auf  der  inneren 
Seite  der  Aorta.    Im  Genitalapparat  war  keine  Veränderung,  die  man  zur  Deutung 


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17]  Hyperemesis  gravidarum.  255 

ier  Hyperemesis  auf  reflektorischem  Wege  heranziehen  könnte,  zu  finden,  im  Darm-: 
traktus  kaum  eine  leichte  chronische  Gastritis. 

2.  Nr.  505, 1905/6.  A.  M.,  eine  42jahrige  Schullehrersfrau  aus  Rzeszow,  am  10.  IV. 
1906  aufgenommen.  Sie  hat  4 mal  spontan  geboren,  zuletzt  vor  5  Jahren.  Die 
letzte  Periode  Anfang  Januar  1906.  Von  nun  an  Erbrechen,  ohne  Unterschied,  ob 
Nahrung  genommen  war,  oder  nicht.  Die  Untersuchung  ergab  eine  hochgradige 
Kachexie,  bei  kleinem,  frequenten  Puls  und  normaler  Temperatur  und  Urin.  Die 
schwangere  Gebärmutter  reichte  3  Querflnger  unterhalb  des  Nabels,  und  war,  wie 
aoch  die  Adnexe,  vollkommen  frei  von  Veränderungen.  Zeichen  irgendwelcher 
Neurose  fehlten.  Hartnäckiges  Erbrechen  gleich  nach  Einnahme  irgendwelcher 
Nahrung  oder  Getränk, 

Angesichts  der  hochgradigen  Kachexie  wurde  in  diesem  Falle  von  Anfang  an 
eise  Ernährung  per  clysma  eingeleitet  und  gleichzeitig  Brom,  anfangs  per  os,  später 
per  anum  gegeben.  Nach  2  Tagen  hat  das  Erbrechen  aufgehört.  Trotzdem  ging 
die  Kachexie  immer  weiter,  der  schnelle,  leicht  zu  unterdrückende  und  verän- 
derliche Puls  wurde  immer  kleiner,  die  Temperatur  blieb  dauernd  unter  37^  C,  im 
Urin  war  nur  ein  normaler  Befund  zu  konstatieren.  Endlich  erlag  Pat.  am  23.  IV. 
1906,  9  Uhr  früh. 

Der  künstliche  Abort  wurde  in  diesem  Falle  nicht  eingeleitet,  weil  das  Er- 
brechen au^ehört  hatte  und  der  schlechte  Allgemeinzustand  das  nicht  erlaubte. 

Die  Autopsie  ergab  eine  hochgradige  fettige  Degeneration  aller 
Organe,  vorwiegend  des  Herzmuskels  und  eine  leichte  ikterische  Verfärbung. 
Nebenbei  eine  Herzdilatation  und  allgemeine  Anämie.  Dazu  nocli  Gallensteine 
ohne  irgendwelche  Komplikation.  In  der  Gebärmutter  eine  5 monatliche  Schwanger- 
schaft und  sonst  nichts,  was  zur  Deutung  der  Hyperemesis  auf  reflektorischem 
Vege  herangezogen  werden  könpte.  Eine  bakteriologische  Untersuchung  der  Milz 
ergib  negativen  Befund. 

3.  Nr.  587,  1905/6,  M.  P.,  eine  21jährige  Unterofflziersfrau  aus  Lemberg,  auf- 
poommen  am  18.  V.  1906.  Eine  Nullipara,  die  Ende  Februar  1906  zum  letzten 
Male  menstruiert  hat.  Seit  dieser  Zeit  schwanger,  litt  sie  an  unaufhörlichem  Er* 
brechen.  Die  Untersuchung  ergab  eine  schwach  gebaute,  sehr  heruntergekommene 
Person,  ohne  irgendwelche  nervöse  Erscheinungen,  mit  normaler  Körpertemperatur 
und  sehr  schwach  gespanntem  Puls  132.  Die  schwangere,  sukkulente  Gebärmutter 
lag  in  Hyperanteflexion  und  reichte  mit  ihrem  Grunde  bis  2  Querfinger  oberhalb  der 
Schamfuge.  Sonst  war  sie  sowohl  wie  die  Adnexe  frei  von  pathologischen  Ver- 
Inderungen.  Im  Urin  0,05%  Eiweiß,  Chlorsalze  verschwunden,  und  im  Sedimente 
zahlreiche  hyaline,  körnige  und  mit  Epithelzellen  bedeckte  Zylinder,  Scheiden-, 
Blasen-  und  Nierenbeckenepithelzellen  nebst  spärlichen  Leukozyten.  Außerdem 
▼iel  Kreatinin  und  ein  nicht  näher  zu  bestimmender,  stark  reduzierender  Körper 
(nicht  Zucker).  Erbrechen  trat  gleich  nach  jedem  Schlucke  von  Nahrung  oder 
Trank  auf. 

Es  wurde*  gleich  kalte  Milch,  \7ein  und  Brom  per  os  gereicht,  da  sich  aber  der 
Zustand  nicht  besserte,  schon  am  nächsten  Tage  die  Kranke  per  rectum  ernährt 
neben  gleichzeitiger  Verabfolgung  von  Klysmen  mit  einer  physiologischen  Koch- 
ulzldsung.  Trotzdem  hörte  das  Erbrechen  nicht  auf  und  ein  geringer  Ikterus  trat 
•nf.  Erst  am  22.  V.  1906  war  der  Vomitus  zu  Ende  und  in  dem  gesättigten  Urin 
traten  Spuren  von  Chlorsalzen  auf.  Es  schien  als  ob  es  der  Kranken  besser  ginge, 
nur  bei  Nacht  warf  sie  sich  im  Bette  herum  und  phantasierte.  Am  nächsten  Tage 
btt  sie  schon  kalte  Milch  vertragen,  verfiel  aber  am  24.  V.  1906  abends  in  einen 


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256  Adam  Czyzewicz  jun.,  [18 

Kollaps,  welcher  nach  einigen  Stunden  zum  Tode  ffihrte.    Durch  diese  ganze  Zeit 
blieb  die  Temperatur  unter  37°,  und  der  Puls  über  120. 

Die  Autopsie  ergab  eine  parenchymatöse  Degeneration  des  Herz- 
muskels und  eine  fettige  der  Leber,  derintima  der  Aorta,  und  der 
Nieren,  wo  nebenbei  oder  vielleicht  aus  diesem  Grunde  schon  eine  subakute 
Entzündung  zustande  gekommen  war.  Im  Magen  eine  alte,  chronische  Gastritis, 
im  Uterus  ein  3 monatliches  Fruchtei  und  daneben,  in  der  Höhe  des  inneren  Mutter- 
mundes ein  etwa  haselnußgroßes,  gegen  die  Höhle  wachsendes  Fibrom,  von  alten 
Blutgerinnseln  umgeben.    Sonst  keine  Veränderungen  im  Genitalapparat. 

Ein  Blick  auf  die  Symptome  und  den  Verlauf  obiger  Fälle  be- 
stätigt die  klinische  Diagnose:  Hyperemesis  gravidarum  und  der 
Sektionsbefund  aller,  die  eigentümliche  Ähnlichkeit  untereinander, 
was  die  hochgradigen,  parenchymatösen  und  fettigen  Degenerationen 
aller  Organe  anbetrifft.  Solche  Degenerationen  sind  meistens  nach 
Intoxikationen  mit  fertigen  Giften  oder  Toxinen  infektiöser  Krank- 
heiten zu  finden,  so  daß  in  einem  meiner  Fälle  von  der  Milz  bak- 
teriologische Kulturen,  zwecks  Konstatierung  einer  Infektion  gemacht 
wurden,  im  anderen  Falle  viel  diskutiert  war,  ob  nicht  eine  Phosphor- 
vergiftung vorliegt.  Dies  ist  um  so  wichtiger,  da  in  diesen  zwei 
Fällen  keine  Veränderungen  zu  finden  waren,  die  für  das  Entstehen  des 
Erbrechens  verantwortlich  gemacht  werden  könnten*  Im  dritten  Falle 
lag  ein  Fibrom  in  der  Gegend  des  inneren  Muttermundes  vor,  das 
man  als  Ursache  beschuldigen  konnte.  Da  dies  aber  zur  Klärung 
der  hochgradigen  Degenerationen  unzureichend  ist  und  auch  nicht 
als  Todesursache  gelten  kann,  bleibt  es  höchstwahrscheinlich,  daß 
diesem  Fibrom  nur  eine  untergeordnete  Bedeutung  beikommt  und 
nach  der  Krankheitsursache  wo  anders  zu  forschen  ist. 

Es  weisen  also  die  obigen  Fälle  auf  eine  Vergiftung,  mit  der  Sektion 
bestätigt,  und  wenn  man  das  früher  Gesagte  heranzieht,  auf  eine  Ver- 
giftung mit  StoiFwechselprodukten  des  Kindes,  d.  i.  auf  eine  Schwanger- 
schaftsinfektion. 

Ähnliche  Sektionsbefunde  sind  auch  mehrere  bekannt.  Seit  der 
Zeit,  wo  Lindemann  einen  publiziert  und,  theoretisch  erwägend,  die 
Meinung  aufgestellt  hat,  daß  dieses  Bild  sehr  einer  Vergiftung  ähnelt, 
waren  schon  mehrere  Fälle  veröffentlicht,  so  von  Duncan,  Stone, 
Eving,  Williams  zehn  fremde  und  drei  eigene  Fälle  und  alle  kon- 
statieren Organdegenerationen  in  dem  Grade,  daß  sie  einen  Verdacht 
auf  Vergiftung  erwecken. 

Das  sagen  Fälle,  wo  ein  Forschen  nach  der  Krankheitsursache  auf 
dem  Wege  der  Autopsie  möglich  war.  Die  anderen  Ansichten  ba- 
sieren ihre  Beweise  auf  guten  klinischen  Erfolgen.  Wer  nicht  iurare 
in  verba  magistri  will,  sondern  sich  selbst  zu  überzeugen  trachtet, 
weiß  gut,  wie  viel  höher  die  erste  Methode  steht,  und  daß  eigentlich 


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19]  Hyperemesis  gravidarum.  257 

nur  sie  allein  zur  Aufklärung  der  Krankheit  und  ihrer  Ursache  ge- 
schaffen ist.  Nur  Sektionen  können  beweisen  und  diese  sprechen 
bei  der  Hyperemesis  für  eine  Vergiftung,  d.  h.  kommen  zu  derselben 
Schlußfolgerung,  zu  welcher  ich  früher  auf  theoretischem  Wege 
gelangt. 

Alles  zusammenfassend  komme  ich  zur  Überzeugung,  daß  die 
Hyperemesis  vera  als  ein  Komplex  von,  für  eine  Form  der 
Schwangerschaftsinfektion  im  Sinne  Starzewskis  charakteri- 
stischen Symptomen,  alle  anderen  Formen  auf  anderer  Ursache 
beruhend,  d.i^dieHy per  emesisspuria,  als  Symptomen  komplex 
verschiedener  anderer  mit  der  Schwangerschaft  komplizierten 
Krankheiten  anzusehen  sind.  So  eine  Definition  ist  erst  imstande,  die 
Hyperemesis  zu  einer  einheitlichen  Krankheitsform  zu  erheben,  wovon 
Dicht  nur  die  Symptome  und  der  Verlauf  bekannt  sind,  wie  dies  bis  jetzt 
derFallwar,sondern  welche  auch  eine  einheitliche  pathologische  Anatomie 
und  Ätiologie  besitzt,  d.  h.  alles,  was  von  einem  kompletten  Krank- 
heitsbilde verlangt  wird*  Und  wenn  noch  die  folgenden  Jahre  einen 
anderen,  nicht  mehr  ein  Symptom,  nur  das  Meritum  der  Krankheit 
bezeichnenden  Namen  bringen  oder  wenigstens  einen,  der  nichts  im 
voraus  sagt,  erst  dann  wird  mit  dem  Worte:  Hyperemesis  auch  das 
ganze  Gewirr  unserer  Ansichten  verschwinden  und  ein  klares,  voll- 
kommenes Krankheitsbild  hervorkommen. 

Schon  heute  will  ich  versuchen,  ein  kurzes  Bild  dieses  Leidens 
zu  entfalten,  die  früher  besprochene  Ätiologie,  und  die  aus  Sektions- 
befunden bekannte  und  mit  Veränderungen  bei  chronischer  Vergiftung 
identische  pathologische  Anatomie  ausgenommen. 
Symptome: 

Bei  Schwangeren,  vorwiegend  Primiparen,  treten  fast  von  Anfang 
der  Schwangerschaft,  Nausea  und  Erbrechen  auf,  nüchtern  oder  in 
einiger  Zeit  nach  dem  Essen.  Nebenbei  die  mutmaßlichen  Schwanger- 
schaftszeichen, oft  gesteigert,  wie  Appetitlosigkeit,  Verlangen  nach 
früher  nicht  genossenen  Speisen  oder  auch  nach  nicht  genießbaren, 
vorwiegend  nach  saueren  Speisen,  manchmal  Speichelfluß,  Depressions- 
zustande, häufiges  Urinieren,  Anämie,  Stuhlverhaltung  usw.  Das  Er- 
brechen wird  immer  öfter,  kommt  in  immer  kürzerem  Zeiträume 
nach  dem  Essen  und  Trinken,  so  daß  endlich  ein  Zustand  eintritt, 
vo  jeder  Bissen  oder  Schluck  Erbrechen  hervorruft.  Zunächst  werden 
genossene  Speisen  und  Getränke,  später  Magenschleim,  oft  bei  leerem 
Magen  mit  Galle,  oder  sogar  Blut  vermengt,  erbrochen.  Gleichzeitig 
ist  eine  rasche  Abmagerung  und  ein  Sinken  des  Körpergewichtes  zu 
konstatieren. 

Sehr  bald  kommt  es  zu  Erbrechen,  ohne  Rücksicht  aufs  Essen.  Es 


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258  Adam  Czyzewicz  jun.,  [20 

tritt  viele  Male,  bei  Tag  und  N^cht,  auf,  sogar  bei  Kranken,  die  gar 
nichts  genießen,  sogar  bei  solchen,  die  per  rectum  ernährt  werden* 
Zu  seiner  Hervorrufung  reicht  der  Geruch  von  Speisen,  oder  sogar 
ein  Gedanke  davon,  aus.  Ein  peinlicher  Durst  kommt  jetzt  gewöhn- 
lich vor,  wenn  auch  der  Hunger  nicht  die  Kranke  plagt.  Die  Zunge 
findet  man  in  diesem  Stadium  trocken,  dicht  belegt,,  oft  bilden  sich 
Zahnfleischgeschwüre  und  ein  Obelriechen  aus  dem  Munde.  Neben- 
bei Stuhlverhaltung  und  nicht  getrübtes  Bewußtsein.  Zuletzt  kommt 
ein  Kollaps,  Ohnmächten,  Delirien,  vorwiegend  bei  Nacht,  Halluzina- 
tionen, Sopor  und  endlich  auch  der  Tod.  Das  Erbrechen  hört  sub 
finem  auf. 

Die  Untersuchung  ergibt  durch  die  ganze  Zeit  der  Krankheit  fast 
immer  einen  negativen  Befund.  Außer  einer  Schwangerschaft  sind 
keine  Krankheiten  der  Genitalorgane  zu  konstatieren,  auch  keine  im 
Darmtraktus,  keine  Neurosen,  keine  Allgemeinkrankheiten.  Erst  am 
Höhepunkte  der  Erkrankung  kann  man  eine  Vergrößerung  der  Leber 
finden  und  ihren  runden,  weichen,  schmerzhaften  Rand  palpieren, 
manchmal  eine  Vergrößerung  der  Milz  und  endlich  sub  finem  einen 
leichten  Ikterus.  Dies  alles  sind  Zeichen '  einer  so  vorgeschrittenen 
Krankheit,  daß  schon  hochgradige  Organdegenerationen  bestehen,  die 
aller  Wahrscheinlichkeit  nach  nicht  mehr  behoben  werden  können. 

Der  Temperaturverlauf  sagt  nichts.  Gewöhnlich  bleibt  die  Tem- 
peratur unter  37 <>  C,  ausnahmsweise  steigt  sie  um  einige  Zehntelgrad 
höher  oder  fällt  sub  finem  unter  36^  C  herunter. 

Der  Puls  wird  gleich  von  Anfang  an  beschleunigt  und  kommt  bald 
auf  100—140.  Er  ist  leicht  veränderlich  und  zwar  nicht  nur  nach 
physischer  Arbeit,  sondern  auch  psychischen  Reizen  folgend.  An- 
fangs gut  gespannt,  wird  er  immer  kleiner  und  weicher,  bis  zum  faden- 
förmigen. 

Urin  immer  in  geringer  Menge,  die  der  genossenen  und  erbroche- 
nen Flüssigkeit  entspricht.  Oft  wird  nicht  mehr  als  200—300  cm  in 
24  Stunden  abgesondert.  Dementsprechend  ist  er  auch  saturiert,  von 
hohem  spezifischen  Gewichte,  sauer,  oft  mit  einem  Satze  von  Uraten. 
Seine  chemische  Zusammensetzung  liefert  nicht  viel  Wichtiges.  An- 
fangs eiweißfrei,  später  mit  einer  geringen  Eiweißmenge,  die  immer 
sich  vermehrt.  Chlorsalze  bleiben  lange  Zeit  unverändert,  trotz  Ver- 
lust erheblicher  Salzmengen  durch  Erbrechen.  Eine  Verminderung 
oder  gar  ein  Verschwinden  von  Chlorsalzen  im  Urin  beweist  eine 
hochgradige  allgemeine  Kachexie.  Indikan  gewöhnlich  vermehrt, 
Zucker  und  Azeton  abwesend,  Kreatin  und  Kreatinin  manchmal  in 
großen  Mengen.  Die  Diazoreaktion  wurde  von  Walzer  konstatiert; 
ich  fand  sie  nie  in  meinen  Fällen  und  fand  auch  in  der  Literatur 


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21]  Hyperemesis  gravidarum.  259 

keine  weiteren  Berichte  darüber.  Im  Sediment  findet  man  mit  deni 
Momente,  wo  chemisch  Eiweiß  zu  konstatieren  ist,  auch  hyaline,  körnige 
und  mit  Epithelien  bedeckte  Harnzylinder,  die  auf  Degeneration  der 
Nieren  weisen.  Daneben  gewöhnliche  Bestandteile  des  Harnsedimentes. 
Manchmal  kommen  Kristalle  von  Leuzin,  Tyrosin  und  Fettsäurenadeln 
vor,  wovon  ich  bisher  nirgends  gelesen  und  was  ich  für  ein  sehr 
schlimmes  Zeichen  hochgradiger  Fettdegenerationen  halte. 

Die  Diagnose  basiert  auF  der  Anamnese,  der  Feststellung  von 
Erbrechen  gleich  nach  dem  Essen  und  Trinken,  oder  auch  ohne  dem, 
mehrmals  täglich,  und  einer  Konstatierung  des  Sinkens  des  Körper- 
gewichtes. Nach  meiner  Meinung  sind  das  die  zwei  wichtigsten 
Symptome. 

Es  müssen  ferner  alle  Erkrankungen  des  Intestinaltraktus,  der  Ge- 
nitalorgane und  alle  Neurosen  ausgeschlossen  werden,  d.  i.  alle  Krank- 
heiten, die  Erbrechen  direkt  oder  indirekt  hervorrufen  könnten.  Nur 
bei  Kranken,  wo  als  Ätiologie  nur  einzig  und  allein  die  Schwanger- 
schaft beschuldigt  werden  kann,  darf  die  Diagnose  auf  Hyperemesis 
gravidarum  vera,  d.  h.  eine  spezielle  Form  der  Schwangerschafts- 
infektion, gestellt  werden. 

Die  Prognose  ist  mindestens  sehr  zweifelhaft,  wenn  nicht  direkt 
schlecht.  In  Publikationen,  wo  die  Mortalität  aller  Fälle  berechnet 
vurde,  wo  also  bei  der  großen  Seltenheit  der  Hyperemesis  vera  min- 
destens V4  nicht  dazu  gehören,  findet  man  meist  hohe  Zahlen  der 
Sterblichkeit.  Meine  drei  Fälle  waren  alle  tödlich  und  ich  glaube, 
daß  alle  anderen,  wo  eine  entsprechende  Therapie  nicht  gleich  von 
Anfang  an  eingeleitet  wurde,  auch  so  enden  werden.  Das  ist  aber 
am  öftesten  der  Fall.  Jedenfalls  wird  die  Prognose  eine  schlechte, 
wenn  schon  Zeichen  von  Degeneration  der  Leber,  der  Nieren  und  des 
Herzens  zu  finden  sind  und  eine  sehr  schlechte,  wenn  im  Harnsedi- 
mente Leuzin,  Tyrosin  und  Fettsäuren  erscheinen. 

Therapie.  Die  angezeigte,  ursächliche  Therapie  ist  bis  jetzt  nicht 
möglich,  da  nicht  nur  Antitoxine  gegen  das  Schwangerschaftsgift  un- 
bekannt sind,  sondern  auch  das  Gift  selbst.  Vorläufig  müssen  nur  die 
allgemeinen  Maßnahmen  getrofi^en  werden,  wie  bei  jeder  Vergiftung,  es 
muß  also  das  Gift  möglichst  eliminiert  oder  wenigstens  verdünnt  und 
die  Tätigkeit  der  Ausscheidungsorgane  gesteigert  werden.  Was  das 
erste  anbetrifft,  kann  ich  nicht  viel  auf  Venäsektion  rechnen,  da  dabei 
zusammen  mit  dem  Gifte  auch  das  für  so  schwache  Patienten  kost- 
bare Blut  mit  verloren  geht.  Ausnahmsweise  kann  sie  aber  auch  in 
Frage  kommen.  Dagegen  sind  das  Blut  verdünnende,  subkutane  oder 
iatravenöse    Infusionen    physiologischer    Kochsalzlösung    oder    auch 


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260  Adam  Czyzewicz  jun.,  [22 

Eingießungen  durch  den  Darm  sehr  am  Platze  und  können  viel  Gutes 
leisten. 

Zur  Hebung  der  Tätigkeit  aller  Ausscheidungsorgane  sind  zahl- 
reiche pharmazeutische  Präparate  angegeben,  wovon  nach  individueller 
Ansicht  des  behandelnden  Arztes  alle  subkutan  oder  per  anum  ge- 
reicht werden  können.  In  den  meisten  Fällen  bringt  das  aber  keinen 
Nutzen,  wegen  der  frühzeitigen  Degenerationen  der  Leber,  Nieren  usw. 

Sehr  wichtig  ist  die  symptomatische  Behandlung,  weil  sie  Zeit  zu 
gewinnen  erlaubt  und  die  Patientin  bis  zu  dem  Momente  erhalten 
kann,  wo  sie  entweder  Fähig  sein  wird,  genügend  Antitoxin  zu  pro- 
duzieren, oder  auch,  wo  die  Schwangerschaftsinfektion  von  selbst  er- 
lahmt. Das  wichtigste  ist  hier  eine  entsprechende  Diät  bei  ganz 
ruhiger  Lagerung  auf  dem  Rücken.  Am  besten  vertragen  die  Kran- 
ken kalte  Flüssigkeiten,  oft  und  in  kleinen  Dosen  gereicht,  und  zwar 
am  liebsten  kalte,  süße  Milch.  In  anderen  Fällen  wird  ausgezeichnet 
kalte  Limonade,  Kognak,  Wein  oder  Champagner  vertragen.  Ich  sah 
einmal  einen  momentanen,  obwohl  vorübergehenden,  Effekt,  nach 
löiFelweiser  Darreichung  einer  Mischung  von  ausgestandenem  Soda- 
wasser mit  saurem  Wein.  Nachhelfen  kann  man  mit  pharmazeutischen 
Präparaten  wie  Tra.  amara,  Tra.  Chinae,  Tra.  nucis  vomicae,  Kokain 
in  Tropfen  usw.,  oder  durch  Einführung  größerer  Bromdosen  per 
rectum.  Ich  wiederhole  aber  ausdrücklich,  daß  ich  alle  diese  Mittel 
nicht  als  Heilmittel  ansehe,  sondern  als  Präparate,  welche  die  Reiz- 
barkeit des  Magens  oder  die  allgemeine  vermindern,  ohne  auf  die, 
als  Grundursache  bestehende,  Schwangerschaftsinfektion  einen  Ein- 
fluß zu  haben. 

Es  bleibt  nur  noch  die  Frage  einer  künstlichen  Unterbrechung  der 
Schwangerschaft  zu  besprechen.  In  der  Überzeugung,  daß  die  Hyper- 
emesis  Folge  einer  Vergiftung  der  Mutter  durch  Stoffwechselprodukte 
der  Frucht  ist,  muß  ich  den  künstlichen  Abort  als  Regel  aufstellen, 
weil  es  schwer  anzunehmen  wäre,  daß  entweder  das  Ei,  welches  so 
viel  Gift  produziert,  daß  dies  eine  schwere  Erkrankung  der  Mutter 
hervorruft,  diese  Produktion  einstellen  könnte,  oder  daß  die  Patientin 
die  nötige  Menge  von  Antitoxinen  bei  ihrer  Erschöpfung  bilden 
könnte,  wenn  sie  dies  früher  bei  noch  guten  Kräften  nicht  imstande 
war.  Dieser  Behandlung  steht  aber  die  Tatsache  im  Wege,  daß  wir  ge* 
genwärtig  nicht  gleich  die  Hyperemesis  vom  physiologischen  Erbrechen 
Schwangerer  zu  unterscheiden  wissen,  erst  wenn  das  Leiden  voll- 
kommen ausgebildet  ist.  Und  auch  jetzt  muß  noch  etwas  Zeit  ver- 
loren gehen,  um  zu  erfahren,  ob  das  Erbrechen  nicht  Folge  einer 
Magen-  oder  Darmkrankheit,  einer  Neurose  usw.  ist,  und  um  eine 
Reihe  empirischer  Mittel  durchzuprobieren,  da  wir  bei  heutigem  Stande 


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23]  Hyperemesis  gravidArum.  261 

der  Wissenschaft  noch  nicht  positiv  die  Schwangerschaftsinfektion 
beweisen  können.  Gewöhnlich  klären  das  Leiden  erst  Zeichen  von 
Organdegenerationen,  wie  Vergrößerung  der  Leber,  Ikterus,  Eiweiß 
und  Zylinder  im  Urin,  Herzschwäche  usw.  auf,  leider  schon  zu  spät. 
Ein  Abort  in  diesem  Stadium  ist  fast  immer  nutzlos,  weil  die  De- 
generationen wichtiger  Organe  schon  selbst  auch  zum  Tode  fähren. 
Die  Sache  verhält  sich  um  so  schlimmer,  als  die  Frauen  an  Schwanger- 
scliaftserbrechen  so  gewöhnt  sind,  daß  sie  viel  zu  spät  sich  melden, 
wo  eigentlich  schon  gar  nichts  mehr  zu  tun  ist. 

Wenn  ich  nun  zum  Schlüsse  meine  Therapie  der  Hyperemesis, 
vie  ich  sie  in  der  Praxis  durchführe,  angeben  wollte,  so  möchte  ich 
folgendes  Schema  aufstellen:  Wenn  irgendwelche  Krankheiten  ver- 
schiedener Organe,  welche  Symptome  einer  Hyperemesis  spuria  her- 
vorrufen können,  vorliegen,  so  müssen  zunächst  diese  möglichst  bald 
zum  Schwinden  gebracht  werden,  z.  B.  Erosionen  durch  Ausbrennen 
oder  mit  Tra.  jodi  fortior,  Retroflexion  durch  Heben  der  Gebär- 
mutter und  deren  Fixieren  mit  einem  Pessar,  Neurosen  durch  große 
Bromdosen  usw.  und  gleichzeitig  sehr  strenge  Diät,  eventuell  auch 
Ernährung  per  clysma  verordnet  werden.  Hilft  dies  in  kurzer  Zeit  nicht, 
oder  sind  keine  Krankheiten  im  Körper  zu  finden,  die  eine  Hyperemesis 
Ycra  wahrscheinlich  machen,  so  ist  gleich  eine  Ernährung  per  rectum  am 
Platze  mit  gleichzeitigen  Eingießungen  physiologischer  Kochsalzlösung 
oder  subkutanen  Infusionen,  und  wenn  dies  ohne  Erfolg  und  es  die 
Kräfte  der  Patientin  erlauben,  ein  künstlicher,  möglichst  rascher  Abort. 
Es  ist  dies  das  letzte  Mittel,  das  aber  bei  schon  bestehenden  Degene- 
rationen auch  sehr  problematisch  wirkt.  Als  ärgstes  Zeichen  betrachte 
ich  die  Konstatierung  von  Leuzin,  Tyrosin  und  Fettsäuren  im  Urin- 
sediment,  weil  dies  für  hochgradige  Verfettung  der  Organe,  wie  bei 
Atrophia  hepatis  flava  spricht. 


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262  Adam  Czyzewicz  jun.,  [24 


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25]  Hyperemesis  gravidarum«  263 

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Zweifel,  Zentralbl.  f.  Gyn.  1889,  Nr.  13. 

Zweifel,  Zentralbl.  f.  Gyn.  1900,  Nr. 30. 


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486. 

(Chirurgie  Nr.  141.) 

Ergebnisse   funktioneller  Magenuntersuchungen 

belGastroenterostomierten  hinsichtlich  der  Früh- 

und  Spätresultate'). 

Von 

Stabsarzt  Dr.  Neuhaus^ 

Berlin. 


Die  Fragen,  ob  nach  einer  Gastroenterostomie  Galle  allein  oder  zu-  / 
sammen  mit  Pankreassaft  im  Magen  vorkommt,  ob  dieses  Vorkommen  \ 
ein  dauerndes  oder  .nur  zeitweiliges  ist,  ob  und  in  welchen  Quanti- 
täten die  beiden  Drüsensekrete  im  Magen  vertragen  werden,  beant-  ' 
Worten  nicht  alle  Autoren  in  gleichem  Sinne. 

Wir  haben  deshalb  an  unserem  ziemlich  reichlichen  Gastroentero- 
stomie^Material  versucht,  einen  Beitrag  zur  Klärung  dieser  Fragen 
zu  liefern,  und  einen  Teil  der  gastroenterostomierten  Patienten  nach- 
untersucht. Dabei  kam  es  uns  vor  allem  darauf  an,  nicht  nur  kurze 
Zeh  nach  Anlegung  der  Gastroenterostomie  eine  funktionelle  Magen- 
prufung  vorzunehmen,  sondern  gerade  diejenigen  Fälle  erweckten  unser 
besonderes  Interesse,  bei  denen  die  Operation  schon  längere  Zeit  zu-  | 
rficklag.  Daraus  ergibt  sich  von  selbst,  daß  wir  unsere  Untersuchungen 
mit  wenigen  Ausnahmen  nur  an  solchen  Patienten  ausgeführt  haben, 
▼eiche  wegen  gutartiger  Leiden  gastroenterostomiert  worden  sind, 
bfolge  der  enormen  Fluktuation  des  Gros  der  Berliner  Bevölkerung 
ist  es  leider  nicht  immer  gelungen,  der  früheren  Patienten  wieder 
liabhaft  zu  werden;  zum  Teil  bekamen  wir  auch  von  ihnen  die  Er^ 
Uarung,  daO  sie  sich  seit  der  Operation  völlig  wohl  fühlten  und  des- 
halb keinen  Grund  hätten,  eine  funktionelle  Magenuntersuchung  vor- 
nehmen zu  lassen;  sie  scheuten  sich  eben  vor  der  Einführung  des 
Magenschlauches. 

Wir  haben  infolgedessen  von  unserem  reichen  Gastroenterostomie- 

1)  Aus  der   chirurgischen   Universitätsklinik    der  Königl.   Charit^  zu   Berlin 
Direktor:  Geheimrat  Professor  Dr.  O.  Hildebrand. 

Klin.  Vortrige,  N.  F.  Nr.  486.    (Chirurgie  Nr.  141.)    Mii  1906.  25 


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336  Dr.  Neuhaus,  [2 

'  Material  nur  17  Fälle  nachuntersuchen  können.  15  von  diesen  hatten 
/  ein  benignes  Magenleiden;  in  2  Fällen  bestand  ein  Carcinoma  ven- 
triculi.  Der  Zeitraum,  welcher  bei  den  einzelnen  Patienten  vom  Tage 
der  Anlegung  der  Gastroenterostomie  ab  bis  zur  Nachuntersuchung 
/  verstrichen  war,  differiert  sehr.  Das  Maximum  betrug  5  Jahre,  das 
Minimum  3  Wochen.  Entweder  ist  die  Gastroenterostomia  antecolica 
anterior  mit  Suspension  der  zuführenden  Schlinge  ausgeführt,  oder 
eine  Braunsche  Enteroanastomose  der  Gastroenterostomie  ohne  Sus- 
pension hinzugefügt  worden. 

Um  Wiederholungen  zu  vermeiden,  und  um  eine  Beurteilung  und 
etwaige  Nachprüfung  der  in  den  nachfolgenden  Tabellen  aufgeführten 
Ergebnisse  zu  ermöglichen,  geben  wir  zunächst  einige  Erläuterungen, 
in  welcher  Weise  bei  den  Untersuchungen  verfahren  worden  ist. 

Wir  haben  zwei  Arten  von  Probemablzeiten  gegeben;  die  eine  entspricht  etwa  der 
von  Sahli  angegebenen  und  enthält  sehr  viel  Fett:  500  g  Butter,  250  g  Mehl,  300  g 
Wasser  und  etwas  Salz  wurden  auf  dem  Herdfeuer  miteinander  vermengt  und  ge- 
kocht, so  daß  eine  dünnflüssige,  graubraune  Suppe  daraus  entstand.  Von  dieser  sehr 
fettreichen  Suppe  wurden  etwa  400  ccm  verabreicht;  die  andere  Probemahlzeit  ent- 
sprach der  nach  Ewald  benannten:  1  Becher  Tee,  ca.  350  ccm,  und  1  Schrippe. 
Die  Probemahlzeit  wurde  entweder  morgens  gegen  8V2  Uhr  nüchtern  gegeben, 
nachdem  am  Abend  vorher  bei  der  Abendmahlzeit  gegen  6  Uhr  etwa  10—12  Back- 
pflaumen gereicht  worden  waren.  Zeigten  sich  nun  morgens  beim  Aushebern,  was 
ca.  1^/2  Stunden  nach  der  Probemahlzeit  geschah,  noch  Reste  von  den  Pflaumen,  so 
wurde  das  Ergebnis  dieser  Probemahlzeit  nicht  verwertet,  sondern  an  einem  an- 
deren Tage  nochmals  eine  Probemahlzeit  gereicht,  aber  nunmehr  vorher  der  Magen 
ausgewaschen.  Wir  sind  uns  sehr  wohl  bewußt,  daß  eine  absolut  sichere  Kontrolle, 
ob  der  Magen  leer  ist,  lediglich  dadurch  geleistet  werden  kann,  daß  mit  dem  Magen- 
schlauch ausgehebert  und  ausgewaschen  wird.  Da  es  uns  aber  im  wesentlichen 
auf  den  Nachweis  von  Galle  und  Pankreassaft  im  Magen  überhaupt  ankam,  und 
nicht  auf  eine  ganz  genaue  Untersuchung  des  Magensaftes,  so  haben  wir  uns  im 
Gebrauch  der  immerhin  nicht  angenehmen  Schlundsonde  im  Interesse  der  Unter- 
suchten auf  das  allemötigste  beschränkt.  Übrigens  kann  man  wohl  mit  Recht  für 
die  meisten  Fälle  annehmen,  daß  der  Magen  leer  ist,  wenn  man  morgens  von  den 
abends  vorher  verabreichten  Backpflaumen  beim  Aushebern  nichts  mehr  findet,  da 
erfahrungsgemäß  Backpflaumen  relativ  schwer  den  Pylorus  passieren.  Für  unsere 
Zwecke  genügte  die  eingeschlagene  Methode  völlig;  zum  einwandsfrelen  Studium 
der  Magensaftsekretion  dürfte  allerdings  wohl  eine  Auswaschung  des  Magens  vor 
dem  Probefrühstück  unerläßlich  sein. 

Zur  Bestimmung  der  Motilität  des  Magens  haben  wir  das  von  Matthieu  an- 
gegebene Verfahren  zu  Hilfe  genommen.  Es  besteht  das  bekanntlich  darin,  daß 
man  nach  dem  Aushebern  dem  Patienten  durch  den  Magenschlauch  gleich  noch- 
mals 300  ccm  Wasser  in  den  Magen  bringt,  das  Wasser  im  Magen  möglichst  ver- 
teilt und  dann  exprimieren  läßt.  Dann  wird  der  Grad  der  Gesamtazidität  sowohl 
des  unverdünnten,  wie  des  mit  300  ccm  Wasser  verdünnten  Mageninhalts  in  der 
üblichen  Weise  mit  ^/lo  Normalnatronlauge  unter  Anwendung  von  Phenolphtalein 

300    b 

als  Indikator  bestimmt;  darauf  wird  nach  der  Formel  x  » '-z--   der  im  Magen 

a  —  p 


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3]  Ergebnisse  funktioneller  Magenuntersuchungen  usw.  337 

verbliebene  und  durch  Aushebern  nicht  gewonnene  Rest  der  Probemahlzeit  be> 
rechnet,  wobei  a  den  Aziditfitsgrad  des  unverdünnten,  b  den  des  mit  300  ccm  Wasser 
verdünnten  Mageninhaltes  bedeutet.  Die  Matthieusche  Formel  ist  allerdings  be- 
mgWeh  ihrer  absoluten  Zuverlässigkeit  angegriffen  worden.  Jedenfalls  gibt  sie  die 
Möglichkeit  einer  annfihernden  Bestimmung  des  im  Magen  verbliebenen  Restes  der 
Probemahlzeit  und  ermöglicht  somit  einigermaßen  die  Beurteilung  der  Magenfunk- 
tion hinsichtlich  der  Motilität.  Man  kennt  dann  nfimlich  die  Menge  —  in  Kubik- 
zentimetern ausgedrückt  —  der  durch  Aushebern  direkt  zurückgewonnenen  Probe- 
mahlzeit und,  nach  der  Matthieuschen  Formel  berechnet,  auch  den  Rest  —  eben- 
falls in  Kubikzentimetern  ausgedrückt  —  der  nicht  durch  Aushebern  zurückge- 
wonnenen, aber  noch  im  Magen  vorhandenen  Probemahlzeit.  Beide  Zahlen  addiert 
man  und  zieht  ihre  Summen  von  der  ebenfalls  bekannten  Menge  der  gereichten 
Probemahlzeit  ab;  die  sich  ergebende  Zahl  muß  die  Menge  der  in  den  Darm  be- 
förderten Probemahlzeit  angeben. 

Zum  Nachweis  des  Pepsins  und  seiner  Wirkung  haben  wir  uns  'des  Mett- 
schen  Verfahrens  bedient.  Dünne  Glasröhrchen  von  1 — 2  mm  Dicke  wurden  mit 
tössigem  Hühnereiweiß  durch  Ansaugen  möglichst  gleichmäßig  unter  Vermeidung 
von  Luftblasen  gefüllt;  in  siedendem  Wasser  wurde  das  Eiweiß  zum  Gerinnen  ge- 
bracht. Kleine  Stücke  von  diesem  mit  Eiweiß  gefüllten  Röhrchen  wurden  dann  in 
der  attf  Pepsin  zu  untersuchenden  Flüssigkeit  in  den  Brutschrank  (370)  gestellt; 
nach  24  Stunden  konnte  man  an  den  Röhrchen  die  Menge  des  verdauten  Eiweiß 
ablesen.  Wir  haben  fast  immer  2  Schälchen  mit  Mageninhalt  zur  Untersuchung  auf 
Pepsin  angesetzt,  eins  ohne  Salzsäurezusatz,  eins  mit  einem  Zusatz  von  Salzsäure, 
ond  zwar   so    viel,  daß  Congo   deutlich  positive  Reaktion  gab. 

Mit  Hilfe  des  von  P.  BergelP)  aus  der  Seidenraupe  dargestellten  Seidenpeptons 
varen  vir  in  der  Lage,  in  sehr  exakter  Weise  den  Mageninhalt  auf  Pankreassaft  zu 
nmersuchen.  Die  Methode  hat  sich  uns  als  äußerst  scharf  und  brauchbar  erwiesen; 
sie  hat  mit  absoluter  Eindeutigkeit  den  Nachweis  von  Pankreassaft  führen  lassen,  wo 
die  sonst  bekannten  Verdauungsproben  ein  keineswegs  sicheres  und  zweifelsfreies 
Resultat  ergeben  haben.  Wir  haben  nämlich^  als  wir  unsere  Untersuchungen  anfingen, 
neben  der  Probe  mit  Seidenpepton  regelmäßig  auch  eine  Probe  mit  Blutfibrin  angesetzt. 
Dabei  hat  sich  jiach  unseren  Erfahrungen  die  Oberlegenheit  der  Bergellschen 
Seidenpeptonprobe,  was  Exaktheit  und  Sicherheit  in  der  Beurteilung  anbetrifft,  ein- 
vandsfrei  ergeben.  Bergeil  hat  nämlich  gefunden,  daß  das  im  Pankreassaft  vorhan- 
denes Trypsin,  das  Eiweiß  verdauende  Ferment  des  Pankreassaftes,  mit  dem  Seiden- 
pepton in  alkalischer  Lösung,  am  besten  bei  Brutschranktemperatur,  Tyrosin  bildet. 
Venn  man  also  zu  einer  auf  Pankreassaft  zu  untersuchenden  Flüssigkeit  Seiden- 
pepton zusetzt  —  etwa  5  ccm  Untersuch ungffüssigkeit  und  0,5  g  Seidenpepton  -- 
nod  die  Mischung  nach  Alkalisierung  mit  Ammoniak  oder  Natron  bicarb.  für 
24—36  Stunden  einer  Temperatur  von  37 0  C  aussetzt,  so  ist  beim  Nachweis  von 
Tyrosinkristallen  der  Beweis  geliefert,  daß  die  zu  untersuchende  Flüssigkeit  Trypsin, 
tlso  Pankreassaft,  enthält.  Gewöhnlich  haben  wir  die  Kristalle  schon  nach  12—16 
Standen  nachweisen  können.  Mit  dem  im  Magensaft  vorhandenen,  Eiweiß  ver- 
danenden  Fermente  bildet  das  Seidenpepton  kein  Tyrosin,  auch  dann  nicht,  wenn 
man  den  Magensaft  stark  alkalisch  macht.    Wir  haben  bei  15  Patienten ,  die  nicht 


1)  Herr  Professor  Berge  11  war  so  liebenswürdig,  mir  eine  Portion  des  von 
ihm  dargestellten,  im  Handel  schwer  erhältlichen  Fibrinseidenpeptons  für  diese  Ver- 
suche zur  Verfügung  zu  stellen,  wofür  ich  auch  an  dieser  Stelle  nochmals  bestens 
danke. 


25* 


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338  Dr.  Neuhaus,  *       [4 

wegen  eines  Magenleidens,  sondern  aus  Irgendeinem  anderen  Grunde  sich  auf  der 
Klinik  in  Behandlung  befanden,  daraufhin  Versuche  angestellt,  ohne  jemals  die  Bildung 
der  Tyrosinkristalle  feststellen  zu  können.  Die  Untersuchung  auf  Tyrosinkrisulle 
geschieht  ohne  Mühe  mit  Hilfe  des  Mikroskops.  Man  bringt  einige  Platinösen  von 
dem  Filtrat  des  in  vorstehender  Weise  behandelten  Mageninhalts  auf  einen  Objekt- 
träger unter  das  Mikroskop  und  sieht  meist  auf  den  ersten  Blick  in  sehr  schöner, 
absolut  einwandsft*eier  Weise  die  Tyrosinkristalle  in  ihrer  typischen  Form,  deut- 
licher wie  sie  in  irgendeinem  Lehrbuch  abgebildet  sind.  Am  leichtesten  waren 
sie  meist  am  Rande  des  Deckglases  zu  finden.  Es  sind  feine  Nadeln,  die  einen 
gelblichen  Schimmer  haben;  dieser  tritt  am  deutlichsten  in  Erscheinung,  wenn  die 
Nadeln  dicht  beieinander  liegen;  dann  sind  sie  in  Büschel-  oder  Doppelbüschelform 
angeordnet;  oft  bilden  sich  auch  Rosetten.  Um  uns  vor  Verwechselung  mit  Fett- 
säurenadeln zu  schützen,  ein  Einwand,  der  ja  in  Anbetracht  der  reichlich  Fett  ent- 
haltenden Sahlischen  Probesuppe  gemacht  werden  könnte,  haben  wir,  wenn  irgend- 
welche Zweifel  auftauchten,  durch  Zusatz  von  Reagenzien  die  Sachlage  geklärt. 
Tyrosin  ist  in  heißem  Wasser,  Ammoniak  und  verdünnter  Salz«  oder  Salpetersäure 
leicht  löslich,  unlöslich  in  Äther  und  Alkohol;  Fettsäurenadeln  werden  aber  durch 
Äther  und  erwärmten  Alkohol  aufgelöst,  während  Säuren  sie  nicht  angreifen. 

Der  Nachweis  von  Galle  war  gewöhnlich  schon  aus  dem  bloßen  Anblick  des 
Ausgeheberten  zu  stellen,  wir  haben  aber  immer  mittels  der  Gmellnschen  Probe 
auf  Oallenfarbstoffe  eine  genauere  Kontrolle  ausgeübt. 

Wir  lassen  nun»  in  Gruppen  angeordnet,  Obersicbtstabellen  von  den 
Ergebnissen  unserer  Untersuchungen  folgen. 

Die  Gruppe  A  umfaßt  7  Patienten,  bei  denen  eine  Gastro- 
enterostomia  anterior  antecolica  gemacht  worden  ist.  Der  Zeitraum 
zwischen  der  Anlegung  der  Magendarmfistel  und  der  funktionellen 
Magenuntersuchung  variiert  zwischen  5  Jahren  und  1 V2  Monaten.  Wenn 
wir  zunächst  einen  Blick  auf  die  in  der  Tabelle  stark  umrahmten 
Spalten  8  und  9  werfen,  welche  das  Untersuchungsergebnis  über  Bei- 
mengung von  Galle  und  Pankreassaft  zum  Mageninhalt  enthalten,  so 
finden  wir,  daß  sich  bei  diesen  sämtlichen  7  Fällen  Galle  und  auch 
Pankreassaft  im  ausgeheberten  Mageninhalt  hat  nachweisen  lassen. 
Wenn  wir  sagen  »Pankreassaft",  so  ist  das  in  gewissem  Sinne  nicht 
ganz  exakt  ausgedrückt,  indem  es  richtiger  Trypsin  heißen  müOte« 
Da  aber  das  Trypsin  einen  wesentlichen,  integrierenden  Bestandteil 
des  Pankreassaftes  ausmacht,  so  dürfte  mit  dem  Nachweis  von  Trypsin 
der  Beweis  für  die  Anwesenheit  von  Pankreassaft  überhaupt  als  ge- 
liefert zu  erachten  sein.  Bei  den  meisten  dieser  Patienten  haben  wir 
die  Magenuntersuchung  zweimal  vorgenommen;  es  hat  sich  nie  eine 
Differenz  zwischen  den  beiden  Untersuchungen  hinsichtlich  der  Bei- 
mengung von  Galle  und  Trypsin  ergeben. 

Ganz  anders  gestaltet  sich  das  Untersuchungsresultat  bei  den  unter 
Gruppe  B  untergebrachten  4  Patienten,  bei  denen  auch  eine  einfache 
Gastroenterostomia  anterior  anticolica  angelegt  worden  ist. 

Wir  sehen  hier  in  den  beiden  stark  umrahmten  Spalten,  welche 


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5]  Ergebnisse  funktioneller  Magenuntersuchungen  usw.  330 

den  Befund  über  Galle  und  Trypsin  im  Mageninhalt  enthalten,  immer ' 
einen  negativen  Ausfall  der  Untersuchung  verzeichnet;  auch  hier  isti 
mit  einer  Ausnahme  in  jedem  Falle  zweimal  untersucht  worden;  ein 
Unterschied  zwischen  den  beiden  Untersuchungen  ist  niemals  vor- 
handen gewesen.  Der  Zeitraum  zwischen  Anlegung  der  Magendarm- 
fistel und  der  Nachuntersuchung  schwankt  zwischen  2  Jahren  3  Monaten 
und  1  Jahr  4  Monaten. 

Die  dann  folgende  Gruppe  C  weicht  hinsichtlich  der  Operation 
etwas  von  den  beiden  anderen  ab;  während  bei  Gruppe  A  und  B  nur 
eine  einfache  Gastroenterostomia  anterior  antecolica  angelegt  worden 
ist,  haben  wir  bei  den  unter  dieser  Gruppe  verzeichneten  Fällen  eine 
Braunsche  Enteroanastomose  hinzugefügt« 

Betrachten  wir  zunächst  den  III.  und  IV.  Fall  auf  Tabelle  C. 
Beide  haben  in  der  Rubrik  8  und  9  ein  positives  Ergebnis  zu  ver- 
zeichnen; bei  beiden  ist  also  Galle  und  Pankreassaft  im  Magen  nach- 
weisbar gewesen.  Wir  möchten  aber  hervorheben,  daß  die  Unter- 
suchung relativ  kurze  Zeit  nach  der  Operation  vorgenommen  worden 
ist  (3  Wochen  und  IV2  Monate  post  op.).  Bei  dem  Fall  II  ist  in  Ab- 
ständen von  einem  oder  zwei  Monaten  im  ganzen  fünfmal  untersucht 
vorden;  die  erste  Untersuchung  fand  einen  Monat,  die  letzte  acht 
Monate  nach  der  Operation  statt.  Während  nun  bei  den  ersten  vier 
Untersuchungen  immer  Galle  und  Trypsin  im  Mageninhalt  nachweis- 
bar waren,  fehlte  beides  bei  der  letzten ,  acht  Monate  nach  der 
Operation  vorgenommenen  Untersuchung.  Beachtenswert  ist  auch 
bei  Fall  II  die  Rubrik  7;  bei  den  ersten  vier  Untersuchungen  fehlte 
stets  freie  Salzsäure,  bei  der  fünften  dagegen,  wo  Galle  und  Trypsin 
nicht  nachweisbar  waren,  fand  sich  freie  Salzsäure.  Bei  Fall  I  hat 
die  Untersuchung  alle  vier  Male  keine  Galle  und  kein  Trypsin  er- 
geben; die  erste  Untersuchung  wurde  drei  Monate  post  op.  ausge- 
führt 

In  der  letzten  Gruppe  D  sind  zwei  Fälle  untergebracht,  bei  denen 
der  Pylorus  völlig  geschlossen  ist;  die  einzige  Verbindung  zwischen 
Magen  und  Darm  besteht  also  an  der  Gastroenterostomie-Stelle. 

Bei  dem  Fall  I  handelte  es  sich  um  eine  ausgedehnte  Ätzstriktur 
am  Pylorus.  Die  Patientin  hatte  ein  Conamen  suicidii  mit  roher 
Salzsäure  begangen;  sie  hatte  sich  den  Ösophagus  und  auch  den 
Magen  ganz  erheblich  verätzt.  Während  sie  bei  uns  wegen  ihres 
Ösophagus  auf  der  Klinik  behandelt  wurde,  entwickelte  sich  unter 
unseren  Augen  der  völlige  Verschluß  des  Pylorus.  Der  Magen  nahm 
eine  enorme  Dilatation  an;  er  stand  schließlich  mit  seiner  großen 
Kurvatur  an  der  Symphyse  und  war  wie  eine  große,  die  ganze  Bauch- 


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340 


Dr.  Neuhaus, 


[6 
Gruppe 


1 

•           1 

2 

3 

Wann  ntch- 

Probe- 

Farbe  und 

untersacht? 

mthlzeit 

Gerach 

I.    Arbeiter  S.    Vor  5  Jahren  außerhalb 

5  Jahre 

vor  Relapa- 

grünlich 

wegen    chronischer   Magenbeschwerden 

post  op. 

rotomie 

ranzig 

mit  Stauungszuständen  GE.  ant.  antecol. 

Dezember 

mit  Murphyknopf. 

1907 

Dezember  07  auf  der  Klinik. 

Sahli 

Relaparotomie  wegen  Ektasie  des  Ma- 

nach Relapa- 

grünlich 

gens.     Stauungsbeschwerden.    Murphy- 

rotomie 

ranzig 

knopf  im  Magen.    Anastomosenöffnung 

Februar 

für   kleinen   Finger   nicht   durchgängig. 

1908 

Knopf  entfernt. 

Sahli 

IL    Arbeiter  G.     Traumatische    Pylorus- 

2 Jahre 

16.  XII.  07 

grünlich 

stenose;  dauernd  Erbrechen,  Ektasie  des 

9  Monate 

Sahli 

ranzig 

Magens  ziemlich  stark. 

post  op. 

5.  IV.  07  GE.  ant.  antecol. 

III.    Frau   S.     Wegen    Dilatatio    ventriculi 

2  Jahre 

8.  VIL  07 

grünlich 

mit  Stauungsbeschwerden  am   15.  I.  06 

post  op. 

Sahli 

ranzig 

GE.  ant.  antecol. 

17.  I.  08 

•  grünlich 

Sahli 

ranzig 

IV.    Frau  R.    Dilatatio  ventriculi  mit  chro- 

2 Jahre 

15.  I.  08 

grünlich 

nischen  Magenbeschwerden  (Erbrechen). 

post  op. 

Sahli 

ranzig 

19.1.  06  GE.  ant.  antecol. 

10.  II.  08 

grünlich 

Sahli 

ranzig 

V.    Frau  Gl.    Sanduhrmagen  und  Dilatatio 

3  Monate 

15.  VII.  07 

grünlich 

ventriculi,  chronische  Magenbeschwerden 

post  op. 

Sahli 

ranzig 

auf  dem  Boden  eines  Ulcus. 

17.  VII.  07 

grün- 

12.  IV.  07  GE.  ant.  antecol. 

Ewald 

bräunlich 
sauer 

VI.    Frl.  H.    Gare,  pylori. 

IV2  Monate 

4.  IX.  07 

grünlich 

20.  VII.  07  GE.  ant.  antecol. 

post  op. 

Sahli 

ranzig 

Zur  Resektion  ungeeignet. 

VII.    Frau  G.    Gare,  pylori;    zur  Resektion 

IV2  Monate 

15.  XII.  07 

grünlich 

ungeeignet,    deshalb   GE.  ant.  antecol. 

post  op. 

Sahli 

ranzig 

am  3.  X.  07. 

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A. 


Ergebnisse  funktioneller  Magenuntersucbungen  usw. 


341 


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Moiilitit  des 

Maiou 

5 

Reaktion 
mitUcicmas 

6 

Gesamt- 
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7 

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Probe 

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Klio.  Vortrige,  N.  F.  Nr.486.    (Chirurgie  Nr.  141.)    Mal  1906. 


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344 


Dr.  Neuhaus, 


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11]  Ergebnisse  funktioneller  Magenuntersuchungen  usw.  345 

höhle  ausfüllende,  ziemlich  prall  gespannte  Zyste  durch  die  dünnen 
Bauchdecken  palpabel.  Bei  der  Operation  zeigte  sich^  daß  der  Pylorus 
völlig  undurchgängig  war.  Die  Magenwand  selbst  war  sehr  verändert; 
sie  war  enorm  brüchig;  die  Fäden  schnitten  bei  der  Naht  sehr  leicht 
durch;  die  Serosa  zeigte  entzündliche  Veränderungen;  sie  war  verdickt 
und  spiegelte  nicht  wie  es  normalerweise  sein  muß.  Es  wurde  in  diesem 
Falle  eine  besonders  große  Anastomosenöffnung  angelegt.  In  dem  IL  Fall 
ist  der  Pylorus  wegen  Karzinoms  reseziert  worden.  Die  Resektions- 
stelle wurde  völlig  geschlossen  und  eine  Gastrojejunostomie  angelegt^ 
also  nach  Billroth  II  operiert.  Die  einzige  Passage  zwischen  Magen 
und  Darm  bestand  also  wiederum  nur  an  der  Anastomosenöffnung. 
Bei  beiden  Patienten  hat  die  funktionelle  Magenuntersuchung  dauernd 
Galle  und  Trypsin  im  Mageninhalt  ergeben.  Die  Untersuchungen 
sind  nicht  etwa  gleich  nach  der  Operation  vorgenommen  worden,  son- 
dern haben  bis  zu  9  Monaten  nach  dem  operativen  Eingriff  statt- 
gefunden. 

Was  lehren  uns  nun  unsere  Untersuchungsergebnisse? 

Wir  haben  bei  unseren  Fällen  in  den  ersten  Wochen  und  Monaten] 
nach  der  Gastroenterostomie  stets  Galle  und  Pankreassaft  —  wenn^' 
vir  den  Nachweis  des  Trypsins  für  identisch  mit  dem  Nachweis  des! 
Panh*eassaftes  ansehen  —  im  Magen  gefunden  ^  das  heißt  bei  der! 
Gastrojejunostomia  anterior  antecolica  mit  und  ohne  Anastomose! 
Brauns.  Hinsichtlich  der  Gastrojejunostomia  retrocolica  posterior  stehen 
uns  eigene  Erfahrungen  nicht  zur  Seite,  da  wir  diese  Methode  nur 
selten  üben;  es  ist  aber  nicht  einzusehen,  warum  die  Verhältnisse  bei- 
dieser  Methode  anders  liegen  sollten  als  bei  der  anterior.  Auch  über 
die  sogenannten  Y-Methoden  haben  wir  keine  eigenen  Erfahrungen. 
Wir  machen  für  gewöhnlich  weder  die  vonRoux^)  besonders  geübte 
Gastrojejunostomia  ypsiliformis  retrocolica  posterior,  noch  die  von 
Rotgans ^  vor  einiger  Zeit  wieder  empfohlene  Gastrojejunostomia 
ypsiliformis  antecolica  anterior,  eine  Operation,  welche  übrigens  schon 
1883  von  Wölfler^,  allerdings  nur  an  Hunden,  ausprobiert  und  für 
bestimmte  Fälle  angegeben  worden  ist.  Die  Doyen  sehe  Methode^) 
der  Gastroenterostomie,  welche  darin  besteht,  daß  in  einer  Sitzung 
eine  Magenjejunumfistel,  eine  Enteroanastomose  zwischen  zu-  und  ab- 
führendem Schenkel  und  schließlich  noch  eine  Resektion  der  zuführen* 


1)  Kocher^  Chirurg.  Operationslehre.  1907.  S.  859. 

2)  Rotgans,  Gastroenterostomia  ypsiliformis  antecolica  anterior.  Wien.  klin. 
Randschau  1904  und  Nederl.  Tijdschrift  vor  Genesk.  1902,  I,  no.  23.  Ref.  ZentralbL 
1902,  S.  1100. 

3)  Wölfler,  Vortrag  auf  dem  Chirurgenkongrei^  1883. 

4)  Doyen,  Revue  de  Chirurgie  1897,  p.  1030. 

26» 


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346  I^i*.  Neuhaus,  [12 

den  Darmschlinge  gemacht  wird,  schaffe  dieselben  ZirkulationsverhälN 
nisse  für  den  Darminhalt  wie  die  Y-Methoden  und  dürfte  infolgedessen, 
was  das  Einfließen  von  Galle  und  Panl^reassaft  in  den  Magen  anbetriift, 
denselben  Effekt  haben  wie  die  Y-Methoden.  Wegen  ihrer  Kompliziert^ 
heit  und  der  zeitraubenden  Resektion  des  zuführenden  Schenkels  ist 
sie  aber  nicht  zu  empfehlen.  Bei  der  Gastroduodenostomia  wird  sich 
ebenfalls  kein  Darmsaft  im  Mageninhalt  finden  lassen,  es  sei  denn,  daß 
Doyen  mit  seiner  Behauptung,  daß  der  Duodenalsaft  auch  rückläufig 
in  den  Magen  fiießen  kann,  recht  hat. 

Daß  bei  den  Y-Methoden  das  Einfiießen  von  Galle  und  Pankreas- 
saft  in  den  Magen  fortfällt,  ist  durchaus  plausibel.  Wenn  sich,  wie 
in  einem  von  Kaiser^)  mitgeteilten  Falle,  dabei  doch  Galle  im  Magen- 
inhalt finden  sollte,  so  ist  das  nicht  anders  zu  erklären,  als  daß  durch 
antiperistaltische  Bewegungen  des  Darmes  sein  Inhalt  in  den  Magen 
getrieben  wird.  Für  gewöhnlich  bilden  die  Y-Methoden  ein  Hindernis 
für  das  Einfiießen  von  Darminhalt  in  den  Magen.  Das  beweisen  auch 
die  in  der  Literatur  niedergelegten  klinischen  Beobachtungen.  Sehr 
instruktiv  ist  in  dieser  Hinsicht  die  Leidensgeschichte  eines  fünfmal 
laparotomierten  Kollegen,  welche  TaveP)  mitteilt  Im  November  1896 
wurde  von  Sick  bei  dem  Herrn  wegen  Hyperchlorhydrie  zunächst 
eine  Gastroenterostomia  antecolica  isoperistaltica  nach  Kocher  an  der 
großen  Kurvatur  in  der  Pars  pylorica  angelegt.  Sehr  bald  stellten  sich 
Erscheinungen  ein,  welche  auf  ein  mangelhaftes  Funktionieren  der 
Magenfistel  schließen  ließen.  Es  bestand  Anorexie,  dauernd  fader, 
pappiger  Geschmack,  Aufstoßen  und  Übelkeiten.  Es  wurde  deshalb 
im  Januar  1897  von  Mikulicz  konsultiert,  welcher  relaparotomierte 
und  zur  Beseitigung  der  beschriebenen  Beschwerden  eineBraunsche 
Anastomose  anlegte;  nebenbei  machte  er  eine  Gastroenterostomoplastik, 
da  die  Magendarmfistel  nur  noch  bleistiftdick  war.  Es  trat  jedoch  da- 
nach keine  Besserung  des  Zustandes  ein. 

Kausch^)  erwähnt  übrigens  diesen  Patienten  in  seiner  Arbeit  aus 
der  Mikuliczschen  Klinik  als  Beweis  für  die  allerdings  nur  selten,, 
aber  doch  mitunter  vorkommenden  Fälle,  in  denen  das  Einfließen  von 
Galle  in  den  Magen  schwere  Schädigungen  mit  sich  bringt,  und  in 
denen  es  auch  durch  weitere  Eingriffe  nicht  gelingt,  den  Gallenfluß 
in  den  Magen  zu  beseitigen. 

Die  anfängliche  Besserung  nach  der  von  v.  Mikulicz  vorgenom- 

1)  O.  Kaiser,  Ober  die  Erfolge  der  Gastroenterostomie.  Deutsch.  Zeitschr. 
für  Chirurgie  Bd.  61. 

2)  Tavel,  Le  reflux  dans  la  gastroent6rostomie.   Revue  de  Chirurg.  1901,  no.  12. 

3)  Kau  seh,  Ober  funktionelle  Ergebnisse  nach  Operationen  am  Magen.  Mit« 
teilungen  aus  den  Grenzgebieten  der  Medizin  und  Chirurgie.  4.  Bd.  1899. 


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13]  Ergebnisse  funktioneller  Magenuntersuchungen  usw.  347 

menen  Operation  hielt  nämlich  nur  kurze  Zeit  an,  so  daß  im  Juni  1897 
Kocher  wegen  der  genannten  Beschwerden  zu  Rate  gezogen  wurde. 
Es  wurde  wiederum  die  Abdominalhöhle  geöffnet.  Man  fand  die  zu- 
fuhrende Schlinge,  welche  unter  ziemlich  spitzem  Winkel  in  den  Magen 
einmündet,  als  etwas  zu  kurz;  ihr  Mesenterium  komprimierte  das  Colon 
transversum.  Infolgedessen  wurde  das  Mesenterium  der  zuführenden 
Schiinge  gedehnt  und  eine  Fältelung  und  Einengung  der  letzteren  nach 
y.  Hacker  vorgenommen,  um  auf  diese  Weise  das  Einfließen  von 
Darmsaft  in  den  Magen  zu  erschweren.  Die  Besserung  der  alten  Be- 
schwerden war  nur  sehr  gering,  so  daß  schon  zwei  Monate  später 
zum  vierten  Male  zur  Laparotomie  geschritten  werden  mußte.  Dieses 
Mal  trennte  Tavel  den  Pylorus  von  dem  Duodenum,  und  als  hiernach 
noch  immer  keine  Beseitigung  der  geschilderten  Magenbeschwerden 
eintrat,  resezierte  Tavel  in  einer  fünften  Sitzung  die  zuführende  Je- 
juDumschlinge.  Nunmehr  verschwanden  die  Beschwerden  endgültig, 
nachdem  also  ein  Zustand  geschaffen  war,  welcher  dem  nach  einer 
Doyenschen  Gastroenterostomie  entspricht. 

Wenn  wir  uns  nun  weiter  in  der  Literatur  bezüglich  des  Vor- 
kommens von  Galle  und  Pankreassaft  im  Magen  nach  Gastroenterosto- 
mien umsehen,  so  finden  wir  ein  nicht  unbeträchtliches  Variieren  in 
den  diesbezüglichen  Mitteilungen.  Obalinski  und  Jaworski^)  haben '^^ 
anscheinend  zuerst  Untersuchungen  über  den  Einfluß  von  Operationen 
tm  Magen  hinsichtlich  der  Wiederherstellung  der  gestörten  Funktion 
dieses  Organs  angestellt  und  zwar  bei   einer  Patientin,  die  wegen 
Pyloniskarzinom  in   „typischer  Weise*  pylorektomiert  worden  war; 
2Vi  Monate  post  op.  ist  noch  mehrfach  Galle  im  ausgeheberten  oder  | 
erbrochenen  Mageninhalt  gefunden  worden.    Heins  heim  er  2)  hat  an  \ 
2wei  Patienten,  bei  denen  wegen  Ulcusnarben  mit  konsekutiver  Stenose 
eine  Gastrojejunostomie  gemacht  worden   war,  eingehendere   StofP- 
vechseluntersuchungen  angestellt.    Bei  dem  einen  Patienten  war  die 
Nachuntersuchung  einen  Monat  post  op.  vorgenommen  worden.  Hier 
ergab  sich  normale  Verdauungskraft  des  Darmes  für  alle  Nahrungs- 
stoiFe,  insbesondere   eine   vorzügliche  Fettausnutzung.     Der  andere 
Patient  war  zwei  Jahre   vor  der  Stoffwechseluntersuchung  operiert 
worden;  bei  ihm   fand  Heinsheimer  eine  extrem  gute  Eiweißaus-^ 
outzung,  aber  schlechte  Resorption  von  Fett.    Für  beide  Fälle  findet  \ 
rieh  jedoch  keine  Angabe,  ob  Galle  oder  Pankreassaft  im  Magen  war.  \ 
Die  Arbeit  bringt  also  eigentlich  keinen  Beitrag  zu  der  uns  momentan 


1)  Obalinski  und  Jaworski,  Wien.  klin.  Wochenschr.  1889»  Nr.  5  und  17. 
9  Heinsheimer,  Stoffwechseluntersuchungen   bei  zwei   Ffillen  von  Gastro- 
enterostomie.   Mitteilungen  aus  dem  Grenzgebiete  1896,  2.  Bd.,  S.  348. 


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348  ^^'  Neuhaus,  [14 

interessierenden  Frage;  sie  wird  auch  von  uns  nur  aus  dem  Grunde 
zitiert,  weil  in  der  einschlägigen  Literatur  diese  Mitteilung  Heins- 
heimers  mehrfach  Berücksichtigung  gefunden  hat.  Für  die  Frage, 
ob  Galle  oder  Pankreassaft  im  Mageninhalt  sich  befanden,  kann  sie 
natürlich  nicht  in  Betracht  kommen.  Ebenso  verhält  es  sich  mit  der 
stellenweise  zitierten  Arbeit  Siegels ^  über  funktionelle  Erfolge  nach 
I  Operationen  am  Magen.  In  derselben  wird  zwar  hervorgehoben,  daß 
i  in  allen  Fällen  »Rückfluß  von  Galle  in  den  Magen"^  nicht  beobachtet 
'  sei.  Es  ist  aber  damit  ofl^enbar  gemeint,  daß  es  nicht  zum  Girculus 
vitiosus  gekommen  sei.  Von  einer  Ausheberung  und  Untersuchung 
des  Mageninhaltes  post  op.  ist  nichts  vermerkt,  also  auch  wohl  nicht 
vorgenommen.  Infolgedessen  hat  auch  die  Siegeische  Arbeit  für  die 
Beantwortung  unserer  Frage  keine  Bedeutung.  Ferner  hat  Kaenschke>> 
1802  aus  der  Mikuliczschen  Klinik  über  drei  Fälle  berichtet,  bei  denen 
er  Untersuchungen  über  das  funktionelle  Resultat  von  Operationen  am 
Magen  angestellt  hat;  2  Magenresektionen  und  1  Gastroenterostomie 
nach  V.  Hacker  unter  Anwendung  von  einer  ca.  50  cm  langen  Jejunal- 
schlinge.  Von  der  Gastroenterostomie  wird  mitgeteilt,  daß  zunächst 
der  Erfolg  der  Operation  zufriedenstellend  gewesen  sei,  dann  aber 
sei  es  sehr  oft  zu  galligem  Erbrechen  gekommen,  oftmals  fünf-  bis 
sechsmal  in  der  Nacht;  bei  der  Magenspülung  sei  auch  das  Spülwasser 
anfangs  meist  grünlich  verßrbt  gewesen  und  habe  die  Gallenfarbstoff- 
reaktion  gegeben.  Offenbar  ist  also  Galle  im  Magen  gewesen;  allem 
Anschein  nach  hat  aber  auch  die  Anastomose  nicht  ordentlich  funk- 
tioniert; die  Entleerung  nach  dem  aboralen  Darmteil  hin  scheint  Schwie- 
rigkeiten gemacht  zu  haben.  Bezüglich  der  beiden  Resektionsfälle 
findet  sich  keine  spezielle  Angabe  hinsichtlich  des  Befundes  von  Galle 
im  Magen.  Es  wird  nur  allgemein  bemerkt,  daß  das  sekretorische 
Verhalten  bei  allen  Patienten  in  übereinstimmender  Weise  durch  die 
Operation  nicht  beeinflußt  worden  sei.  Leider  findet  sich  in  der  Arbeit 
auch  nicht  vermerkt,  welche  Methode  der  Pylorusresektion  angewandt 
worden  ist.  Nur  die  II.  Billrothscbe  Methode  hat  natürlich  infolge 
Benutzung  einer  Jejunumschlinge  zur  Bildung  einer  Kommunikation 
zwischen  Magen  und  Darm  nach  völligem  Verschluß  der  Resektioos- 
stelle  dieselben  Verhältnisse  wie  eine  Gastroenterostomie,  während 
bei  der  I.  Billrothschen  Methode  durch  das  Einpflanzen  des  Duo- 
denums in  den  Magen  wesentlich  andere  Wechselbeziehungen  zwischen 


1)  Siegel^   Ober  die  funktionellen  Erfolge  nach  Operationen  am  Magen.    A^i^ 
teilung  aus  dem  Grenzgebiet  1806,  1.  Bd.  S.  328. 

2)  Kaenschke,   Untersuchungen   über  das  funktionelle  Resultat  von  Opera* 
tionen  am  Magen.    Deutsch,  med,  Wochenschr.  1892,  Nr.  49. 


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15]  Ergebnisse  funktioneller  Magenuntersuchungen  usw.  34g 

Magen  und  Darm  geschafPen  werden.  Bei  der  I.  Bit Iroth sehen  Me-) 
chode  ist  nur  dann  Galle  im  Magen  zu  erwarten,  wenn  antiperistaltisch . 
der  Darminhalt  bewegt  wird,  während  bei  normaler  Peristaltik  kein  1 
Grund  fGr  den  Eintritt  von  Darmsäften  in  den  Magen  ersichtlich  ist 
Wurde  also  die  I.  Bill rothsche  Methode  angewandt  worden  sein,  so 
wurde  der  von  Kaenschke  mitgeteilte  Befund  (dauerndes  Fehlen  von 
Galle  im  Magen)  u.E.  durchaus  erklärlich  sein.  Nun  sagen  Mikulicz 
und  Kausch  im  Handbuch  der  praktischen  Chirurgie  1903  S.  175 
Anmerkung,  daß  »früher"^  in  der  Breslauer  Klinik  ,,ausschlie01ich  die 
I.  Billrothsche  Methode'  angewandt  worden  sei.  Man  ist  also  wohl 
in  Anbetracht  des  Umstandes ,  daß  die  Kaenschkesche  Veröffentlichung 
aus  der  Mikuliczschen  Klinik  im  Jahre  1892  erschienen  ist,  berech- 
tigt zu  schließen,  daß  in  den  beiden  in  Rede  stehenden  Fällen  auch 
die  I.  Billrothsche  Methode  angewandt  worden  ist.  Damit  verlieren 
aber  die  beiden  Kaenschkeschen  Resektionsfälle  hinsichtlich  der 
Frage,  ob  Galle  nach  einer  Gastroenterostomie  im  Magen  zu  erwarten 
sei,  ihre  Bedeutung. 

Grundzach  und  Mintz^)  und  Mintz^)  teilen  einen  Fall  mit,  bell 
welchem  wegen  narbiger  Pylorusstenose,  Hypertrophie  des  Pylorus 
und  konsekutiver  Magendilatation  eineGastroenterostomie  nachWölfler 
ausgeführt  wurde.  Neun  Monate  später  stellte  sich  die  Patientin  mit 
einer  Gewichtszunahme  von  54  Pfund  wieder  vor;  Magenbeschwerden 
bestanden  nicht  mehr;  Magendimensionen  waren  normal;  chemische 
ttnd  motorische  Tätigkeit  war  ebenfalls  normal;  nüchtern  fand  sich  im 
Magen  etwas  alkalisch  reagierender,  speisefreier  Inhalt.  Von  der  An-  [ 
Wesenheit  von  Galle  oder  Pankreassaft  im  Magen  ist  nichts  vermerkt. 

Rosenhei.m^)  demonstrierte  in  der  Berliner  med.  Gesellschaft' 
Oktober  1894  3  Patienten,  bei  denen  Hahn  wegen  Karzinom  (2mal) 
resp.  wegen  gutartiger  Pylorusstenose  (Imal)  Gastroenterostomie  ge-v 
macht  hatte.  Die  Operation  lag  4  resp.  9  Monate  zuräck.  Rosen- 
heim gab  an,  daß  bei  den  beiden  Karzinom  fällen  eine  befriedigende 
Besserung  hinsichdich  Sekretion  und  Motilität  des  Magens  nach  der 
Operation  zu  verzeichnen  gewesen  sei;  bei  den  Patienten  mit  gut- 
artiger Pylorusstenose  sei  die  sekretorische  und  motorische  Funktion 
des  Magens  durchaus  normal  geworden.  Angaben,  ob  jemals  Galle 
oder  Pankreassaft  im  Magen  gewesen  sind  oder  ob  daraufhin  unter- 
sucht worden  ist,  finden  sich  nicht  in  der  Arbeit. 

1)  Grundzach  und  MintZy  Medycyna  1803  und  Revue  de  m6d.  1883,  no.  11. 

2)  Mintz,  Operative  Behandlung  der  Magenkrankheiten.   Zeitschr.  f.  klin.  Med. 
1804,  Bd.  25. 

3)  Rosenheim,  Ober  das  Verhalten  der  Magenfunktion  nach  Ausfuhrung  der 
Gastroenterostomie.    Berl.  klin.  Wochenschr.  1804,  Nr.  50. 


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350  ^r,  Neuhaus.  [15 

I  Dumin')  hat  3  Fälle  mitgeteilt,  bei  denen  wegen  gutartiger  Stenose 
des  Pylorus  Gastroenterostomie  gemacht  worden  ist^  Die  letzten 
funktionellen  Magenuntersuchungen  sind  relativ  kurze  Zeit  post  op. 
gemacht  worden  (bis  zu  5  Monaten).   Du  min  weist  am  Schluß  seiner 

I  Arbeit  ausdrücklich  nochmals  darauf  hin,  daß  „kein  einziges  Mal  im 

I  Mageninhalt  die  Anwesenheit  einer  ^größeren   Quantität^  Galle   be- 

I  obachtet  worden  sei*.  Demgemäß  muß  sich  also  doch  etwas  Galle 
im  Magen  befunden  haben.  Auf  Pankreassaft  ist  nicht  untersucht 
worden. 

I  Carle  und  Fantino^)  haben  bei  allen  ihren  Operierten  bald  nach 
der  Operation  sowohl  im  nfichternen  Zustand  als  verschiedene  Stunden 
nach  der  Mahlzeit  Galle  im  Magen  beobachtet.  Die  Beimengung  von  Galle 
ist  bei  den  nach  derWölfl  ersehen  Methode  Operierten  meist  reichlicher 
gewesen  als  nach  der  v.  Hacker  sehen  Operation;  allerdings  ist  auch 
bei  den  nach  v.  Hacker  Operierten  verschiedentlich  recht  reichliche 
Beimengung  von  Galle  zum  Mageninhalt  gefunden  worden.  Carle 
und  Fantino  bemerken  dann  ausdrücklich,  daß  der  Rückfluß  nach 
und  nach  seltener  wurde ,  bis  er  bei  vielen  Operierten  verschwand; 
sie  heben  ferner  hervor:  ^»bei  vielen,  nicht  bei  allen''.  „Dies  geschah 
in  einem  bis  zu  vielen  Monaten  wechselnden  Zeitraum,  was  auf 
Rechnung  eines  um  die  neue  Öfl^nung  gebildeten  Sphinkters  zu  setzen 
ist."  Sie  erklären  sich  den  Rückfluß  in  der  ersten  Periode  in  der 
Weise,  daß  sie  zunächst  eine  mangelhafte  oder  noch  ganz  fehlende 
Funktion  eines  an  der  Gastroenterostomieöffnung  neu  zu  bildenden 
Sphinkters  annehmen;  später,  wenn  sich  der  Sphinkter  gebildet  haben 
soll,  bleibt  der  Rückfluß  der  Galle  aus. 

I  Kausch^)  ist  der  Ansicht,  daß  nach  der  Gastroenterostomie  in 
allen  Fällen  meist  geringe  Mengen  Galle  im  Magen  sich  befinden. 
Dieses  Verhalten  soll  das  ganze  Leben  hindurch  bestehen  bleiben, 
indessen  nur  selten  Beschwerden  verursachen. 

;  Hartmann  et  Soupault,^)  welche  ziemlich  eingehend  und  ge- 
nau über  die  funktionellen  Resultate  ihrer  Magenoperationen  (Pylorus- 


1)  Dumin,  Ober  die  Resultate  der  Gtstroenterostomie  bei  narbiger  Verengerung 
des  Pylorus.    Berl.  klin.  Wocbenschr.  1894,  Nr.  4,  S.  90. 

2)  Carle   und   Fantino,  Beitrag  zur  Pathologie  und  Therapie  des  Magens. 
Arch.  f.  klin.  Chir.  Bd.  56. 

3)  Kausch,  Ober  funktionelle  Ergebnisse  nach  Operationen  am  Magen.    Mit- 
teilungen aus  den  Grenzgebteten  der  Medizin  und  Chirurgie  1899,  4.  Bd.,  S.  463. 

4)  Hartmann  et  Soupault,  Les  r6sultats  61oign68  de  la  gastroent6rostomie. 
Revue  de  Chirurgie  1899,  p.  137. 


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17]  Ergebnisse  funktioneller  Magenuntersuchungen  usw.  351 

resektionen  und  Gastroenterostomien)  berichten,  teilen  mit,  daß  sie 
bei  allen  ihren  Gastroenterostomien,  einerlei  ob  nach  der  Wölfler- 
schen  oder  v.  Hackerschen  Methode  verfahren  worden  sei,  mit  Aus- 
nahme eines  einzigen  Falles,  stets  Galle  im  Magen  gefunden  hätten, 
oft  in  ganz  beträchtlichen  Quantitäten.  Dabei  ist  zu  bemerken,  daß 
alle  diese  Untersuchungen,  welche  einen  positiven  Gallenbefund  er- 
geben haben,  relativ  kurze  Zeit  post  operationem  (im  Maximum  ein 
halbes  Jahr)  vorgenommen  sind.  Nur  in  dem  einen  Falle  (Obs.  VII), 
bei  welchem  keine  Galle  im  Magen  gefunden  wurde,  fand  die  Unter- 
suchung IV4  Jahr  post  op.  statt.  Hier  wurde  nämlich  bei  einer 
56jährigen  Frau  am  27.  Juli  1897  wegen  eines  Ulcus  ventriculi  eine 
Gastroenterostomia  anterior  antecolica  mit  gutem  Erfolge  angelegt. 
Am  16.  Dezember  1897  fand  sich  noch  bei  einer  funktionellen  Magen- 
untersuchung Galle  im  Magen.  Die  nächste  Untersuchung  fand  am 
17.  Oktober  1898  statt  und  hierbei  wurde  keine  Galle  mehr  im  Magen 
gefunden.  Bemerkenswert  sind  aus  der  Arbeit  von  Hartmann  et 
Soupauit  auch  noch  zwei  andere  Fälle,  bei  denen  wegen  dauernden, 
galligen  Erbrechens  eine  Braun  sehe  Anastomose  zur  Gastroenterosto- 
mie hinzugefügt  werden  mußte  (Obs.  V  u.  IX).  Der  eine  von  ihnen 
(Obs.V)  war  am  25.  Mai  1897  wegen  Gastritis  nach  Wölfler  gastro- 
enterostomosiert  worden.  Wegen  galligen,  oft  rezidivierenden  Er- 
brechens mußte  zu  Anfang  März  1898  eine  Enteroanastomose  hinzu- 
gefugt werden.  Die  Beschwerden  hörten  sofort  auf;  eine  6  Wochen 
nach  der  Anlegung  der  Enteroanastomose  vorgenommene«  funktionelle 
Untersuchung  ergab  aber  noch  Galle  im  Magen.  Die  nächste  funk- 
tionelle Magenuntersuchung  wurde  am  20.  Oktober  1898,  also  1  Jahr 
5  Monate  nach  der  Gastroenterostomie,  gemacht,  und  nun  fand  sich 
keine  Galle  mehr  im  Magen.  Bei  dem  anderen  Falle  (Obs.  IX)  wurde 
wegen  Carcinoma  pylori  eine  Gastroenterostomie  angelegt;  es  ergab 
sich  gleich  bei  der  Operation  die  Notwendigkeit,  eine  Braunsche 
Anastomose  hinzufügen  zu  müssen.  Eine  funktionelle  Magenunter- 
suchung wurde  in  diesem  Falle  kaum  4  Wochen  post  op.  gemacht. 
Es  fand  sich  Galle  im  Magen.  Später  konnte  nicht  mehr  untersucht 
werden;  der  Patient  erlag  seinem  Leiden. 

Auch  Terrier  und  Hartmann^)  haben  in  der  ersten  Zeit  nach! 
der  Gastroenterostomie  stets  die  Anwesenheit  von  Galle  im  Magen  | 
konstatiert;  andererseits  werden  mehrere  Fälle  aufgeführt,  bei  denen  \ 
spater  keine  Galle  mehr  im  Magen  gefunden  wurde.  In  einem  Falle  ' 
(Obs.  XVI)  fanden  sie  schon  5  Monate  post  op.  keine  Galle  im  Magen 
mehr.    Im  übrigen  ist  das  Material,  auf  welches  Terrier  und  Hart- 


1)  Terrier  et  Hartmann,  Chirurgie  de  l'^stomac.  Paris,  Steintaeil  1899. 


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352  Dr.  Neuhaus,  [18 

mann  sich  stützen,  ziemlich  dasselbe,  welches  Hartmann  und  Sou- 
pault  in  ihrer  vorstehend  zitierten  Arbeit  benutzt  haben. 
j        Kelling^)   hält   das  Durchströmen   von  Galle  und  Pankreassaft 
1  durch  den  Magen  mit  dem  Wohlbefinden  für  vereinbar. 

Kappeier  ist  anderer  Ansicht;  er  meint,  die  Galle  sei  gleich- 
gültig für  den  Magen,  der  Pankreassaft  aber  nicht,  und  Tavel^) 
äußert  sich  in  ähnlichem  Sinne,  wenn  er  sagt:  si  la  Penetration  de  la 
bile  est  indifferente  ä  la  digestion  stomacale,  il  n'est  pas  toujours  de 
mSme  de  la  p€n6tration  du  suc  pancr6atique. 
j  Krönlein^)  faßte  sein  Resümee  auf  dem  Chirurgenkongreß  1906 
auf  Grund  der  Ergebnisse  seiner  Zusammenstellung  über  den  Er- 
folg der  Gastroenterostomie  bei  Ulcus  ventriculi  dahin,  daß  «der 
häufig  auftretende  Rückfluß  von  Galle  in  den  Magen  keine  ausge- 
sprochenen Beschwerden  zur  Folge  habe  und  nach  längerer  Zelt 
zu  verschwinden  scheine;  der  Rückfluß  von  Pankreassaft  sei  relativ 
,  selten  nachweisbar'. 

Schließlich  ist  Katze nst ein ^)  durch  experimentelle  Untersuchungen 
an  Hunden  zu  der  Ansicht  gekommen,  daß  der  Einfluß  von  Galle  und 
Pankreassaft  in  den  Magen  nach  einer  Gastroenterostomie  (anterior 
und  posterior)  nicht  nur  nicht  schade,  sondern  zur  Heilung  eines 
Ulcus  ventriculi  direkt  beitrage  infolge  Neutralisation  des  aziden  resp. 
'  superaziden  Magensaftes.  Das  Einfließen  soll  in  der  ersten  Zeit  nach 
der  Operation  dauernd,  später  periodisch  erfolgen;  und  zwar  soll  der 
Fettgehalt  der  Nahrung  infolge  reflektorischer  Anregung  der  Ab- 
sonderung von  Galle  und  Pankreassaft  in  quantitativer  Hinsicht  von 
Bedeutung  sein. 

Eine  Bestätigung  der  Katzen  st  einschen  Theorie  hat  an  drei 
gastroenterostomierten  Patienten  DesideriusBaläs^)  gefunden.  Wir 
möchten  aber  hervorheben,  daß  Katzenstein  undBaläs  ihre  Unter- 
suchungen immer  sehr  bald  nach  Anlegung  der  Gastroenterostomie 
angestellt  haben. 

Es  ergibt  sich  also,  daß  die  Mitteilungen  und  Ansichten  der  Autoren 
nicht  unbeträchtlich  difi^erieren.    Die  einen  haben  dauernd  Galle  im 


1)  Ke  11  ing,  Studien  zur  Chirurgie  des  Magens.  Langenbecks  Archiv  1900,  S.  308. 

2)  Tavel,  Le  reflux  dans  la  gastroent6rostomie.  Revue  de  Chirurg.  1901,  no.  12. 

3)  Krön  lein,  Selbstbericht  Qber  Chirurgenkongreß  1906.  Zentralbl  f.  Chir. 
1906,  S.  94. 

4)  Katzenstein,  Ober  die  Änderung  des  Magen  Chemismus  nach  Gastro« 
enterostomie  und  den  EinfluB  dieser  Operation  auf  das  Ulcus  und  Carcinoma  ven- 
triculi. Deutsch,  med.  Wochenschr.  1907,  Nr.  3  und  4. 

5)  Desiderius  Baläs,  Beiträge  zur  Lehre  der  Hyperazidität.  Deutsche  med. 
Wochenschr.  1908,  Nr.  1. 


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19]  Ergebnisse  funktioneller  Magenuntersuchungen  usw.  353 

Magen  gefunden,  die  anderen  nicht;  die  einen  glauben  an  eine  Un- 
schädlichkeit des  Gallenzuflusses  zum  Magen,  die  anderen  nicht;  die 
einen  sind  der  Ansicht,  daß  Galle  allein  für  den  Magen  indifferent 
sei,  der  Pankreassaft  aber  nicht;  die  anderen  halten  beide  Sekrete  für 
nicht  nur  nicht  indifi^erent,  sondern  bei  Ulcus  ventriculi  für  sogar 
heilsam  und  erwünscht. 

Beschäftigen  wir  uns  nun  zunächst  mit  der  Frage,  ob  Galle  allein 
im  Magen  vertragen  wird,  so  kann  es  keinem  Zweifel  mehr  unter- 
liegen, daß  dieselbe  sich  auch  in  größeren  Mengen  jahrelang  im 
menschlichen  Magen  finden  kann,  ohne  irgendwelche  Beschwerden  zu 
verursachen.  Freilich  werden  in  der  Literatur  vereinzelte  Fälle  mit- 
geteilt, wo  die  Anwesenheit  von  Galle  im  Magen  nach  einer  Gastro- 
enterostomie Erbrechen,  pappigen  Geschmack,  Unbehagen  usw.  her- 
vorgerufen haben  soll.  Ob  aber  in  diesen  Fällen  tatsächlich  die 
Galle  schuld  an  den  geklagten  Beschwerden  gewesen  ist,  oder  ob  sie 
nur,  weil  nach  der  Gastroenterostomie  im  Magen  vorhanden^  mit  dem 
Erbrechen  herausbefördert  worden  ist,  während  der  Grund  des  Er- 
brechens ein  ganz  anderer  war,  das  ist  keineswegs  mit  Sicherheit 
klargestellt.  Jedenfalls  gibt  es  doch  zu  denken,  daß  diesen  wenigen 
Fallen,  wo  angeblich  die  Galle  im  Magen  das  den  Brechreiz  auslösende 
Moment  gewesen  sein  soll,  so  viele  Beobachtungen  entgegenstehen, 
wo  die  Galle  unbeanstandet  jahrelang  vertragen  wird.  Sollte  nicht  mit 
weit  größerer  Wahrscheinlichkeit  angesichts  der  letzterwähnten  Tat- 
sache die  Annahme  berechtigt  sein,  daß  bei  jenen  wenigen  Ausnahme- 
fallen irgendeine  andere  Schädlichkeit  der  Grund  der  Beschwerden 
gewesen  ist,  z.  B.  chronischer  Circulus  vitiosus  infolge  nicht  ganz 
funktionierender  Anastomose,  Fortbestehen  der  vor  der  Operation 
vorhandenen  Sekretionsanomalien,  nervöse  Beschwerden  usw.?  Wir 
möchten  in  Übereinstimmung  mit  Kelling^)  und  Hartmann  etSou- 
pault^  besonders  letzteren  Punkt  als  Grund  für  die  Beschwerden 
annehmen,  vorausgesetzt  natürlich,  daß  ein  organischer  Fehler,  z.  B. 
ein  chronischer  Circulus  vitiosus,  fehlt. 

Den  besten  Beweis  für  die  Unschädlichkeit  der  Galle  im  Magen 
liefern  diejenigen  Fälle,  bei  denen  mit  Sicherheit  nur  die  Galle  allein 
in  den  Magen  gelangt;  in  dieser  Hinsicht  mangelt  es  uns  nicht  an 
experimentellen  und  klinischen  Beobachtungen  an  Hunden  und  an 
Menschen:  die  Unschädlichkeit  großer  Quantitäten  Galle  für  den 
Magen  beim  Tiere  ist  experimentell  zuerst  von  M.  Dastre^)  nach- 

1)  Ke  11  ingy  Studien  zur  Chirurgie  des  Magens.  Langenbecks  Archiv  1900,  S.  306. 
^  Hartmann  et  Soupault,  Fresse  m^dic.  1899,  14. 

3)  Dastre,  Recherches  sur  Taction  de  la  bile  sur  la  digestion  gastrique.  Ar» 
chiyes  de  Physiologie  Paris  1890,  t.  II,  p.  316. 


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354  Dr.  Neuhaus,  [20 

gewiesen  worden.  Dastre  legte  bei  Hunden  Magenfisteln  an  und 
führte  durch  dieselben  Ochsengalle  in  verschieden  großen  Quantitäten 
und  zu  verschiedenen  Stadien  der  Verdauung  in  den  Magen  ein,  ohne 
jemals  irgendwelchen  Nachteil  davon  zu  sehen.  Ruggero  Oddi^) 
hat  dann  bei  Hunden  den  Ductus  choledochus  unterbunden  und  eine 
Cholezystgastroanastomose  angelegt;  die  gesamte  produzierte  Galle 
mußte  also  in  den  Magen  gehen;  irgendeine  schädliche  Folge  hat 
jOddi  davon  nicht  gesehen. 

i       Masse^)  hat  dieses  Experiment  bei  einer  größeren  Anzahl  von 

l Hunden  nachgeprüft;   das  Ergebnis  war  dasselbe  wie  bei  Oddi;   die 

Tiere  haben  ein  Jahr  und  länger  nach  der  Operation  gelebt  und  an 

Gewicht  zugenommen.  Bei  der  Sektion,  die  bei  einigen  Tieren  3/4  Jahr 

nach  der  Operation  vorgenommen  wurde,  erwies  sich  der  Verschluß 

I  des  Choledochus  als  vollkommen  intakt.  Chlumski^)  hat  durch  seine 

i  experimentellen  Untersuchungen  an  Hunden  ebenfalls  die  Ungefähr- 

Jichkeit  der  Beimengung  von  Galle  zu  Mageninhalt  bestätigt. 

Aber  nicht  allein  für  Tiere,  auch  für  Menschen  liegen  bereits  in 
der  Literatur  Mitteilungen  vor,  die  eine  Bestätigung  der  durch  Tier- 
experiment gewonnenen  Erfahrung  bringen.  Daß  die  diesbezüglichen 
Mitteilungen  nicht  zahlreicher  sind,  erklärt  sich  aus  der  Tatsache,  daß 
für  gewöhnlich,  falls  sich  die  Notwendigkeit  der  Anlegung  einer 
Anastomose  zwischen  Gallenblase  und  dem  Magendarmtraktus  ergibt,  der 
Darm  zur  Anastomosenbildung  benutzt  wird.  So  hat  z.  B.  im  Jahre  1902 
Radsiewski^)  56  Fälle  von  künstlicher  Gallenblase-Darmfistel  —  teils 
mit  dem  Dünndarm,  teils  mit  dem  Dickdarm  —  zusammengestellt. 
Hinter  dieser  Zahl  bleiben  allerdings  die  Fälle  von  Gallenblasen- 
Magenfistel  zurück. 

Wickhoff  und  Angelberger^)  waren  die  ersten,  welche  eine 
'  Cholecystgastrostomie  an  Menschen  machten  wegen  starker  Ver- 
wachsung nach  Cholelithiasis  und  Kompression  des  Choledochus, 
welche  zu  einem  völligen  Passagehindernis  für  die  Galle  geführt 
hatte.  Der  Erfolg  der  Operation  war  durchaus  zufriedenstellend. 
Selbst  in  den  ersten  Tagen  nach  der  Operation  trat  kein  galliges  Er- 
brechen ein.  Der  Patient  verließ  3  Monate  nach  der  Operation  ge- 
heilt das  Krankenhaus,  ohne  irgendwelche  Beschwerden.    Er  hatte  an 


1)  Ruggero  Oddi,  Azione  della  bile  sulla  digestione  gastrica.  Perugia  1887. 

2)  Masse,  De  la  chol^cystogastrostomie.    Congr^s  fran^ais  de  Chirurgie,  Paris 
1898,  p.  300. 

3)  Chlumski,  Beitr.  z.  klln.  Chir.  Tübingen,  Bd.  20. 

4)  Radsie  wski,  Mitteüungen  a.  d.  Grenzgebieten  der  Mediz.  u.  Chir.  1902,  Bd.  9, 
S.  659. 

5)  M.  Wickhof  und  Fr.  Angelberger,   Wien.  klin.  Wochenschr.  1893,  S.325. 


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21 J  Ergebnisse  funktioneller  Magenuntersuchungen  usw.  355 

Körpergewicht  während  der  Behandlung  zugenommen.  Terrier^)! 
machte  wegen  einer  PankreaskopFgeschwulst  dieselbe  Operation  mit  i 
gleich  gutem  Effekt.  Monod^)  legte  bei  einem  infolge  Karzinom  des  Pan- 
kreas ikterisch  gewordenen  Menschen  eine  Cholecystgastrostomie  an;  der  | 
Patient  starb  allerdings  schon  am  Tage  nach  der  Operation.  Quenu^)  ; 
undjaboulay^)  machten  wegen  Tumor  resp.  Verhärtung  des  Pankreas-  ' 
kopfes  je  eine  Anastomose  zwischen  Gallenblase  und  Magen.  Die 
vor  der  Operation  bestehenden  Erscheinungen  von  Gallenstauung 
gingen  prompt  zurück;  die  völlige  Ableitung  von  Galle  nach  dem 
Magen  hin  machte  sich  in  keiner  Weise  unangenehm  bemerkbar. 
Krumm  ^)  legte  wegen  Neubildung  im  Pankreaskopf  mit  Ektasie  der 
Gallenblase  infolge  Verschlusses  des  Choledochus  bei  einem  stark 
Ikterischen  ebenfalls  eine  Cholecystgastrostomie  an.  Das  Duodenum 
war  wegen  zahlreicher  Verwachsungen  nicht  geeignet  zur  Anastomose. 
Auch  hier  wurde  die  Entleerung  der  gesamten  Galle  in  den  Magen 
ohne  Erbrechen  hervorzurufen  und  unter  allmählicher  Entfärbung  der 
Haut  gut  vertragen.  Ferner  hat  O.  Hildebrand  während  seiner 
Baseler  Tätigkeit  4  mal  eine  Anastomose  zwischen  Gallenblase  und 
Magen  angelegt.  Im  Jahre  1902  veröffentlichte  Hildebrand <^)  einen 
Fall,  bei  welchem  er  mit  gutem  Erfolg  die  in  Rede  stehende  Anasto- 
mose wegen  dauernden  Gallenflusses  aus  einer  nach  einer  Chole- 
lithiasisoperation  zurückgebliebenen  Fistel  vorgenommen  hatte.  Die 
Galle  im  Magen  wurde  dauernd  gut  vertragen;  die  Fistel  schloß  sich. 
Eine  Anastomose  mit  dem  Dünndarm  war  unmöglich  gewesen  wegen 
ausgedehnter  Verwachsungen.  Ein  Jahr  später  machte  Hildebrand^) 
Mitteilung  von  3  anderen  Fällen,  bei  welchen  er  die  Fistelbildung 
zwischen  Magen  und  Gallenblase  mit  demselben  guten  Erfolge  aus- 
geführt hatte.  2  mal  handelte  es  sich  um  Karzinom  des  Pankreas,  ein- 
mal um  ein  Gallenblasenkarzinom  mit  sekundärer  Geschwulstbildung. 
Die  anatomischen  Verhältnisse  lagen  ähnlich  so,  wie  in  dem  zuerst 
beschriebenen  Falle.    Kürzlich  haben  wir  auf  der  Klinik  in  einem 


1)  Terrier,  Kemarques  sur  deux  cas  Tun  de  chol6cystoduod6nostoinierautre 
de  choI6cysto-gastrostomie.    Revue  de  Chirurg.  1896^  p.  169. 

2)  Monody  Bull,  et  m6m.  de  la  soc.  de  Chirurg,  de  Paris  1896^  p.  546. 

3)  Qu6nUy  Bull,  et  m^m.  de  la  soc.  de  Chirurg,  de  Paris  1896,  no.  18,  p.  558. 

4)  Jaboulay,  Lyon  mödical  1898,  no.  47. 

5)  Krumm,  Munch.  med.  Wochenschr.  1901,  Nr.  2. 

6)  O.  Hildebrand,    Beiträge  zur  operativen  Chirurgie.    Langenbecks  Archiv 
66  p.  347. 

7)  O.  Hildebrand,  Ein  weiterer  Beitrag  zur  Cholocystogastrostomie.  Deutsche 
Zcitschr.  für  Chir.  B.  66  S.  379. 


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356  I^r.  Neuhaus,  [22 

Falle  von  inoperabelem  Karzinom  an  der  Papilla  Vateri,  welches  er* 
hebliche  Gallenstauung  mit  hochgradigem  Ikterus  verursacht  hatte, 
wiederum  eine  Cholecystgastrostomie  gemacht.  Der  Erfolg  war  der- 
•  selbe  gute  wie  in  den  früheren  Fällen.  Auch  KehrO  teilte  auf  dem 
Chirurgenkongreß  1903  mit,  daß  er  solche  Cystogastrostomie  in 
12  Fällen  gemacht  habe,  ohne  daß  die  Galle  die  Magenverdauung 
irgendwie  gestört  habe. 

Wir  kommen  nun  zu  der  Frage,  ob  und  wieviel  Pankreassaft  sich 
nach  einer  Gastroenterostomie  im  Magen  befindet  und  wie  es  mit  der 
Toleranz  des  Magens  gegen  das  Sekret  der  Bauchspeicheldruse  steht? 
Wie  wir  gesehen  haben,  finden  sich  zwar  in  der  Literatur  zahlreiche 
Mitteilungen  über  das  Vorhandensein  von  Galle  im  Mageninhalt  nach 
einer  Gastroenterostomie;  von  Pankreassaft  ist  aber  relativ  selten  die 
Rede.  Und  doch  ist  es  eigentlich  selbstverständlich,  daß  nicht  nur 
Galle,  sondern  auch  Pankreassaft  in  den  Magen  kommen  muß,  wenn 
einmal  eine  Anastomose  zwischen  Magen  und  Jejunum  existiert.  Man 
hat  aber  offenbar  seltener  bisher  darauf  geachtet.  Es  erklärt  sich  das 
auch  zwanglos  daraus,  daß  die  Beimengung  von  Galle  zum  Magen- 
inhalt infolge  ihrer  Farbe  viel  leichter  sich  manifestiert,  als  das 
Pankreassekret.  Katzen  stein 2)  hat  nun,  wie  gesagt,  durch  seine 
Experimente  an  Hunden  nachgewiesen,  daß  sich  regulär  bei  der 
Gastroenterostomia  anterior  antecolica  und  posterior  retrocolica  einige 
Monate  nach  Operation  nicht  nur  Galle,  sondern  auch  Pankreassaft 
im  Magen  findet,  ohne  irgendwelche  Störungen  zu  machen«  Es  kann 
sich  jedoch  dabei  immer  nur  um  mehr  oder  minder  große  Bei- 
mengungen von  Pankreassaft  zum  Mageninhalt  handeln.  Wenn  es 
auch  für  die  Galle  erwiesen  ist,  daß  das  gesamte  produzierte  Leber- 
sekret seinen  Weg  durch  den  Magen  in  den  Darm  nehmen»  kann,  ohne 
Schädigung  des  Organismus  und  anscheinend  auch  ohne  selbst  eine 
wesentliche  Alteration  seiner  Wirksamkeit  zu  erleiden.  —  die  Stühle 
sind  bei  Cholecystgastrostomien  nicht  acholisch  — ,  so  ist  das  für  den 
Pankreassaft  in  seiner  Totalität  anscheinend  nicht  der  Fall.  Wenigstens 
scheinen  die  bisher  vorliegenden  Experimente  und  klinischen  Er- 
fahrungen dagegen  zu  sprechen.  Chlumskiy^)  hat  an  Hunden  das 
Duodenum  10  cm  unterhalb  der  Papilla  Vateri  durchschnitten,  die  zu- 
führende Schlinge  nahe  der  Kardia  in  den  Magen  eingenäht  und  das 
abführende  Darmstück  mit  dem  Pylorusteil  verbunden,     cfr.  Fig.  a. 

1)  Kehr,    Chirurgenkongreß  1903,  S.76. 

2)  Katzenstein,  1.  c. 

3)  Chlumskig:  Ober  die  Gastroenterostomie.  Beiträge  zur  Klin.  Chirurgie  1898 
und  Weitere  Erfahrungen  über  die  Gastroenterostomie.  Beiträge  zur  Klin.  Chi- 
rurgie 1900. 


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23] 


Ergebnisse  funktioneller  Magenuntersuchungen  usw. 


357 


Alle  drei  in  dieser  Weise  operierten  Hunde,  bei  denen  also  das 
gesamte  Sekret  von  Leber  und  Pankreas  in  den  Magen  gelangte, 
starben  unter  den  Symptomen  hochgradigen  Durstgefühls,  der  Appetit- 
losigkeit und  der  Abmagerung.  Bei  zwei  anderen  Hunden  durch- 
schnitt Chlumskiy,  um  nur  den  Pankreassaft  in  den  Magen  zu  leiten, 
den  Dünndarm  nahe  dem  Duodenum;  das  orale  Ende  wurde  unter- 
bunden, das  aborale  in  die  vordere  Magenwand  eingepflanzt,  der  Ductus 
choledochus  durchschnitten  und  unterbunden,  und  schließlich  eine 
Verbindung  zwischen  Gallenblase  und  dem  abführenden  Darmstück 
hergestellt,    cfr.  Fig.  b. 


Zwerchfell 


CaUenbLase-"" 


Fig.  a. 

Beide  Hunde  starben  unter  denselben  Symptomen  wie  oben.  So- 
mit schien  der  Beweis  gebracht  zu  sein,  daß  das  Tier  zugrunde  geht, 
wenn  der  Pankreassaft  vollständig  in  den  Magen  eingeleitet  wird. 

Steudel  gelang  es  aber,  einen  Hund,  bei  dem  er  das  Jejunum 
durchschnitten,  den  oralen  Schenkel  durch  eine  Okklusionsnaht  ver- 
schlossen und  den  aboralen  Schenkel  in  den  Magen  eingenäht  hatte, 
18  Tage  bei  normaler  Freßlust  am  Leben  zu  halten,  cfr.  Fig.  c. 
Das  Tier  starb  an  einem  Nahtdefekt.  Es  mußte  also  Galle  und 
Pankreassaft  vollständig  in  den  Magen  durch  den  Pylorus  gegangen 
sein.  Dieses  Ergebnis  schien  gegen  die  Chlumskiy sehen  Versuche 
zu  sprechen.  Chlumskiy  selbst,  der  die  Steudelsche  Versuchs- 
anordnung nachgeprüft  und  auch  bei  dieser  Modifikation  einen  Hund 
durchgebracht  hat,  erklärt  die  Differenz  zwischen  den  Resultaten  seiner 
und  Steudels  Versuchen  dadurch,  daß  er  das  schädigende  Moment 
bei  seinen  Versuchen  in  dem  beständigen  Zufluß  von  Galle  und  Pan- 


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358 


Dr.  Neuhaus, 


[24 


kreassaft  zum  Magen  sieht,  während  bei  den  Steu  de  Ischen  Versuchen 
sich  Galle  und  Pankreassaft  während  der  Verdauung  im  Duodenum 
sammle,  und  der  zunächst  geschlossene  Pylorus  erst  dann  sich  öfFne 
und  den  Zufluß  von  Galle  und  Pankreassaft  in  den  Magen  gestatte, 
wenn  die  Ansammlung  von  Flüssigkeiten  im  Duodenum  sehr  groß  und 
die  Magenverdauung  schon  beendet  sei.  Das  Einfließen  der  Sekrete 
der  beiden  großen  Unterleibsdriisen  finde  also  bei  Steudels  Ver- 
suchsanordnung nicht  kontinuierlich,  sondern  periodisch  statt,  und 
hierin  liege  die  Erklärung  der  Differenz  der  Versuchsergebnisse.  Eine 
Stütze  seiner  Anschauung  bekam  Chlumskiy  durch  den  Fall,  den 
Ledderhose^)  auf  dem  Chirurgenkongreß  1899  vorstellte.  Bei  einer 
Duodenalsteoose  unterhalb  der  Papilla  Vateri  durch  Tumor  mit 
kopiösem,  galligem  Erbrechen  hat  Ledderhose  eine  Gastroenterosto- 
mia  anterior  antecolica  mit  gutem  Resultat  gemacht.  Da  das  Hindernis 
an  der  Papilla  Vateri  saß,  so  wurde  sicherlich  neben  der  Galle  auch 
Pankreassaft  in  den  Magen  entleert.  Der  Patient  erbrach  nach  der 
Operation  nicht  mehr.  Ledderhose  nahm  an,  daß  die  Hauptmenge 
der  Galle  und  des  Pankreassaftes  durch  den  Pylorus  in  den  Magen 
und  dann  in  den  Darm  fließe,  jedoch  infolge  der  vorhandenen  nor- 
malen Verschlußfähigkeit  des  Pylorus  nicht  kontinuierlich,  sondern 
nur  zeitweise,  hauptsächlich  wohl  gegen  Ende  der  Verdauung. 


'MiU 


Jejutuint> 


Fig.  d. 


Kelling2)  ist  jedoch  nicht  der  Ansicht,  daß  der  Pankreassaft  eine 
so  unheilvolle  Wirkung  ausübt,  wie  Chlumskiy  annimmt.  Er  teilt 
mit,  daß  es  ihm  gelungen  sei,  durch  Experiment  einem  Hunde  sämt- 
liche Galle  und  sämtlichen  Pankreassaft  durch  den  Magen  fließen  zu 

1)  Ledderhose,  Ein  Fall  von  Gastroenterostomie  wegen  Stenose  des  unteren 
Duodenums.    Chirurgenkongreß  1899. 

2)  Kelling,  Studien  zur  Chirurgie  des  Magens.  Langenbecks  Archiv  1900, 
S.  310  u.  313. 


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25]  Ergebnisse  funktioneller  Magenuntersuchungen  usw.  35g 

lassen.    Der  Hund  sei  ganz  munter  gewesen,  habe  Appetit  gehabt/ 
habe  normalen  Stuhl  abgesetzt  und   sei  8  Wochen    nach  der   Ope- 
ration genau  so  schwer  gewesen  wie  vorher.    Die  Art  des  Kelling- 
schen  Versuches  demonstriert  nebenstehende  Fig.  d. 

Das  Jejunum  wurde  dabei  unterhalb  des  Durchtrittes  durch  die  Radix 
mesenterii  durchschnitten,  das  obere  vom  Duodenum  kommende  Ende 
wurde  in  den  Fundus  zirkulär  eingenäht;  der  Pylorus  wurde  ver- 
schlossen; das  abführende  Ende  des  Jejunums  wurde  in  die  hintere 
Wand  des  Pylorusteiles  direkt  oberhalb  der  Pylorusunterbindung  zir- 
kulär eingenäht.   Kelling  sucht  die  Todesursache  der  Chlumskiy- 
schen  Hunde  nicht  in  dem  Zufluß  von  Pankreassaft  zum  Magen  und 
der  sich  daraus  ergebenden  Verdauungsstörungen,  sondern  in  moto- 
rischen Störungen,  welche  dadurch  bedingt  sein  sollen,  daß  das  ge- 
füllte Duodenum  eine  Hemmung  auf  den  Magen  ausübt.  Seine  Expe- 
rimente haben  ihm  ergeben,  ^daß  Füllung  des  Duodenums  die  Ent- 
leerung des  Magens  erheblich  verzögert*,  ein  Resultat,  welches  mit 
der  v.  Meringschen^)  Behauptung  im  Einklang  steht,  „daß  durch  die 
Füllung  des  Duodenums    eine  Sistierung  der  Magenentleerung  statt 
hat'.   Der  Unterschied  zwischen  den  Chlumskiy sehen  und  Kelling- 
schen  Versuchen  besteht  eben  darin,  daß  Kelling  der  Chlums- 
kiyschen    Versuchsanordnung    noch    einen    Verschluß   des  Pylorus 
hinzugefügt  hat.    Dadurch  ist  die  Füllung  des  Duodenums  vom  Magen 
aus  unmöglich  geworden;  mithin  ist  nach  Kellings  Auffassung  die 
Hemmung  weggefallen,  welche  das  gefüllte  Duodenum  auf  den  Magen 
ausüben  kann,  damit  ist  die  Ursache  beseitigt,  daß  der  Magen  nicht 
die  Kraft  entwickeln  kann,  welche  er  braucht,  um  seinen  Inhalt  durch 
die  Jejunalfistel  auszutreiben. 

Wir  haben  nun  die  Versuche  nach  Chlumskiys  Anordnung  an  drei ' 
Hunden  nachgeprüft  und  sind  zu  demselben  Resultat  gekommen  wie 
Chlumskiy;  die  Hunde  sind  sämtlich  innerhalb  8  Tagen  gestorben 
und  zwar  nicht  an  Peritonitis;  beide  Darmschlingen,  die  also  an  ver* 
schiedenen  Stellen  in  den  Magen  (Kardia-  resp.  Pylorusnähe)  ein- 
genäht waren,  zeigten  keinerlei  Differenz  in  ihrem  Füllungsgrade;  sie 
waren  beide  ziemlich  leer;  dagegen  war  der  Magen  außerordentlich 
gedehnt  und  schlaff  mit  schwärzlichen,  dünnflüssigen  Massen  gefüllt. 
Das  Bild  war  bei  alten  drei  Hunden  dasselbe. 

Auch  die  Kellingsche  Versuchsanordnung  —  also  noch  eine 
Unterbindung  des  Pylorus  nach  dem  Einpflanzen  der  beiden  Darm- 
enden in  den  Magen  —  haben  wir  an  zwei  Hunden  nachgeprüft.  Die 


1)   V.  Mering,      15.  Kongreß   für   innere   Medizin  1897.      Zur    Funktion  des 
Mtgen8. 


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360  ^r-  Neuhaus,  [26 

Tiere  sind  ebenfalls  beide  nach  5—6  Tagen  eingegangen;  das  Sek- 
tionsergebnis war  dasselbe  wie  bei  den  nach  Chlumskiy  operierten 
Hunden. 

Unseres  Erachtens  scheint  die  Frage  nach  der  Anwesenheit  und 
Schädlichkeit  des  Pankreassaftes  im  Magen  folgendermaßen  zu  beant- 
worten zu  sein.  Sicher  ist,  daß  Pankreassaft,  und  oft  in  nicht  geringen 
Mengen,  wenn  man  ein  einigermaßen  proportionales  Verhalten  zwischen 
Leber  und  Pankreasabsonderung  annimmt,  im  Magen  nach  einer  Gastro- 

'  jejunostomie  vorkommt.  Allem  Anschein  nach  hat  aber  das  perio- 
dische Einfließen  des  Darmsaftes  in  den  Magen,  wie  das  ja  bei  einer 
Gastrojejunostomie  ganz  zweifellos  entsprechend  dem  periodischen 
Verhalten  beim  Austreten  des  Sekretes  aus  den  beiden  Drüsen  in  den 
Darm  der  Fall  ist,  doch  eine  gewisse  Bedeutung.  Außerdem  fließt 
sicherlich  bei  einem  Gastroenterostomierten  nicht  aller  Pankreassaft 

i  in  den  Magen.  Ob  der  Magen  sämtlichen  Pankreassaft  verträgt,  scheint 
noch  nicht  absolut  einwandsfrei  klar  gestellt  zu  sein.  Praktisch  ist 
diese  Frage  hinsichtlich  der  Gastroenterostomie  aber  auch  von  un- 
tergeordneter Bedeutung;  in  dieser  Hinsicht  ist  mit  der  Erkenntnis 
völlig  Genüge  geschehen,  daß  der  menschliche  Magen  diejenigen 
Mengen  von  Pankreassaft,  welche  durch  eine  Gastroenterostomie- 
öfi^nung  eintreten,  ohne  Schädigung  enthalten  kann.  Die  Ansicht  der 
Autoren,  welche  das  Einfließen  von  Pankreassaft  in  den  Magen 
überhaupt  als  gefährlich  ansehen,  ist  demgemäß  als  irrtümlich  und 
widerlegt  zu  bezeichnen« 

Wie  haben  wir  uns  nun  zu  erklären,  daß  wir  nicht  bei  allen  unseren 

[  Gastroenterostomierten  Galle  und  Pankreassaft  im  Mageninhalt  haben 

1  nachweisen  können?  Z.  B.  hat  sich  bei  den  unter  Gruppe  B  unter- 
gebrachten 4  Patienten  der  Nachweis  niemals  führen  lassen;  auch  bei 
Gruppe  C  (Gastrojejunostomie  mit  Braunscher  Anastomose)  hat  sich 
bei  Fall  I  (4mai  untersucht)  überhaupt  nicht,  bei  Fall  II  (6mal  unter- 
sucht) nur  in  der  ersten  Zeit  post  op.  Galle  und  Pankreassaft  im 
Magen  gefunden.  Der  Grund  dafür  kann  unseres  Erachtens  nur  da- 
rin gesucht  werden,  daß  bei  denjenigen  Fällen,  wo  wir  Galle  und 
Pankreassaft  im  Magen  nicht  nachweisen  konnten,  die  Anastomosen- 
öfi^nung  nicht  mehr  funktioniert  hat.  Es  is  sonst  gar  nicht  zu  ver- 
stehen, warum  bei  gutem  Funktionieren  der  Fistel  zwischen  Magen 
und  Darm  kein  Darmsaft  in  den  Magen  eintreten  sollte.  Wir  müssen 
uns  den  Vorgang  etwa  folgender  Art  vorstellen:  In  der  ersten  Zeit 
nach  der  Gastroenterostomie  findet  bei  allen  Patienten  ein  Einfließen 
von  Galle  und  Pankreassaft  in  den  Magen  statt,  und  zwar  ist  es  gleich- 
gültig, ob  die  vordere  oder  hintere  Gastrojejunostomie  gemacht  worden 
ist;  das  Hinzufügen  der  Braunschen  Anastomose  scheint  an  diesem 


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27]  Ergebnisse  funktioneller  Magenuntersuchungen  usw.  361 

Befunde  zunächst  nichts  zu  ändern.  Bei  den  Y-Methoden  halten  wir 
es  für  wahrscheinlich^  daO  Galle  und  Pankreassaft  von  vornherein  im 
Magen  fehlen  können;  eigene  Erfahrungen  stehen  uns  in  dieser  Hin- 
sicht, wie  gesagt,  nicht  zur  Seite. 

Im  Laufe  der  Zeit  scheint  sich  aber  unter  gewissen  Umständen 
ein  Verschluß  des  Lumens  der  Anastomose  mehr  und  mehr  auszu- 
bilden. Es  kann  sich  allerdings  nur  um  einen  Verschluß  in  funkti- 
onellem, nicht  in  anatomischem  Sinne  handeln;  im  Effekt  können  aber 
beide  gleich  sein.  Daß  es  zu  einem  anatomischen  Verschluß,  also  zu 
einer  völligen  Verwachsung  der  Anastomosenränder  für  gewöhnlich 
nicht  kommen  kann,  ist  durchaus  plausibel,  da  ja  die  Ränder  der 
Anastomosenöffnung  mit  Schleimhaut  oder  Narbe  bedeckt  sind  und 
.  nachträglich  ohne  blutige  Anfrischung  nicht  verwachsen  können. 

Ein  funktioneller  Verschluß  der  Anastomose  ist  aber  sehr  wohl 
denkbar.  Drei  Faktoren  sind  es,  die  u.  E.  den  funktionellen  Ver- 
schluß herbeiführen.  Erstens  die  Narbenschrumpfung  der  Anasto- 
mosenränder. Daß  dieselbe  eintritt  und  daß  sie  besonders  dann, 
venn  nicht  ganz  exakt  die  Schleimhautränder  miteinander  vernäht 
sind,  ziemlich  erheblich  sein  kann,  ist  außer  Frage.  TaveU)  hat  erst 
kfirzlich  wieder  auf  die  Möglichkeit  aufmerksam  gemacht,  daß  die 
Anastomosenränder  bei  nicht  ganz  exakter  Schleimhautnaht  sich  bald 
nach  der  Operation  sogar  wieder  völlig  vereinigen  können,  so  daß  die 
ganze  Anastomose  illusorisch  wird.  Eine  schlechte  Mukosanaht  dispo- 
niere enorm  zu  narbiger  Kontraktion;  es  könne  sogar  eine  völlige  Ste- 
nose entstehen.  Gräser^)  hat  sich  in  ähnlichem  Sinne  ausgesprochen: 
besonders  beim  Murphyknopf  sah  er  mehrmals  nachträgliche  Ver- 
Uebung  der  Anastomosenstelle. 

Diese  unerwünschten  Verengungen  und  völligen  Verklebungen  der 
Anastomose  haben  auch  mit  dazu  beigetragen,  den  Murphyknopf  zu 
diskreditieren  und  vor  allem  eine  exakte  Schleimhautnaht  zu  verlan- 
gen. Rotgans^)  hat  zur  Vermeidung  dieses  Mißerfolges  empfohlen, 
ein  ovales  Stuck  aus  der  Magenwand  zu  exzidieren.  Sicherlich  wird 
man  dadurch  die  Gefahr  einer  Stenose  der  AnastomoseöiFnung  ver- 
mindern. 

Der  zweite  zur  Verengerung  führende  Faktor  liegt  in  der  Änderung, 
die  der  Magen  in  der  Art  seiner  Entleerung  nach  der  Operation  durch- 
macht. Wenn  nämlich  die  Gastroenterostomie,  wie  es  sehr  oft  der 
Fall  ist,  wegen  Stauungsbeschwerden  mit  Dilatation  und  Atonie  der 


l)Tavel,  1.  c. 

2)  Gras  er,  Chirurgenkongreß  1906. 

3)  Rotgans,  1.  c. 


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362  Dr.  Neuhaus,  [28 

Magenmuskulatur  gemacht  ist,  so  wird  zunächst  nach  Anlegung  der 
neuen  Öffnung  eine  gute  Entleerung  des  Magens  durch  die  Anasto- 
mose stattfinden.  Zunächst  steht,  da  doch  die  Gastroenterostomie  bei 
einem  dilatierten,  atonischen  Magen  am  tiefsten  Punkte  der  Curvatura 
major  angelegt  wird,  die  Anastomosenstelle  am  tiefsten  und  wird  in- 
folgedessen auch  als  hauptsächlichste  Austrittsöffnung  vom  Mageninhalt 
benutzt.  Sobald  sich  aber  unter  den  neuen,  günstigen  Endeerungs- 
bedingungen  der  Magen  von  seiner  Dilatation  und  Atonie  erholt  hat, 
d.  h.  also  sich  verkleinert  und  seine  Muskulatur  wieder  gekräftigt  hat, 
wählt  der  Mageninhalt  nicht  mehr,  wie  zu  Anfang,  die  känstliche 
Anastomose  als  Austrittsstelle,  sondern  wieder  den  normalen  Pylorus. 
Es  hängt  das  zum  Teil  davon  ab,  weil  bei  nicht  dilatiertem  Magen 
der  Druck  im  Pylorusteil  am  größten  ist.  Cannon  und  Blake ^)  haben 
das  durch  ihre  Experimente  an  mit  Wismutbrei  gefütterten  Katzen,  bei 
denen  sie  den  Gang  der  Nahrung  röntgenographisch  kontrollierten,  in 
Übereinstimmung  mit  den  von  Moritz  und  v.  Pfungen  mitgeteilten 
Beobachtungen  nachgewiesen.  AuchPower^)  undRogers^)  sind  der 
Ansicht,  daO  der  Mageninhalt  nicht  längere  Zeit  nach  Anlegung  der 
Gastroenterostomose  die  künstliche  Anastomosenöffnung  benutzt,  son- 
dern bald  wieder  den  alten  Weg  durch  den  Pylorus  nimmt. 

Als  drittes  Moment  für  die  Verengerung  des  Anastomosenlumens 
kommt  dann  noch  folgendes  in  Betracht:  Wir  wissen,  daO  die  Schleim- 
haut im  Magen  und  Darm  sehr  reichlich  bemessen  ist,  bedeutend 
reichlicher  als  z.  B.  die  Serosa.  Daher  kommt  es  auch,  daß  bei 
Füllung  eines  Magens  oder  Darmes  bis  zum  Platzen  zunächst  nur 
Serosarisse  entstehen.  Die  Schleimhaut  liegt  im  Darm  und  Magen 
nicht  glatt,  sondern  bildet  zahlreiche  Falten  und  Erhebungen;  außer- 
dem ist  sie  gegen  ihre  Unterlage  sehr  verschieblich.  Wir  können 
uns  davon  bei  jeder  Magendarmoperation  überzeugen,  haben  wir  doch 
dabei  sehr  oft  mit  dem  lästigen  und  störenden  Schleimhautprolaps  zu 
kämpfen.  Diese  Vorstülpung  kann  so  bedeutend  sein,  daß  bei  mäßiger 
Füllung  des  Magens  ein  nicht  zu  großer  Schnitt  in  die  Magenwand 
sogar  für  Flüssigkeiten  völlig  verstopft  wird.  Kelling^)  hat  bei 
Hunden  nach  Eröffnung  der  Bauchhöhle  ein  Stück  des  Magens  an 


1)W.B.  Cannon  and  J.B.  Blake  (Boston) ,  Gastroenterostomie  and  pyloro- 
Plastik,  an  experimental  study  by  means  of  the  Röntgen  rays.  Division  of  surgery 
of  the  med.  school  of  Harward  university.    Boston. 

2)  D'Arcy  Power,  A  years  gastrojejunostomies.  St.  Bartholomews  hospital 
reports  1905,  vol.  XLI. 

3)  Rogers,  On  the  present  Status  of  the  Operation  of  gastroenterostomie. 
Annales  of  surgery  1904,  no.  4. 

4)  Kelling,    Studien  zur  Chirurgie  des  Magens.  Langenbecks  Archiv  1900  S.  9. 


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29]  Ergebnisse  funktioneller  Magenuntersuchungen  usw.  353 

das  Peritoneum  parietale  angenäht,  wie  bei  einer  zweizeitigen  Gastro- 
stomie. Wurde  dann  der  Schnitt  im  Magenfundus  angelegt  und  fielen 
die  Schleimhautränder  so  vor,  daß  sie  sich  in  den  Schnitt  der  Mus- 
kularis einklemmten,  so  entstand  daraus  ein  ziemlich  wasserdichter 
Verschluß.  Auf  derselben  physiologischen  Eigenschaft  beruht  auch 
zum  Teil  die  Erfahrungstatsache,  daß  ein  glatter  Magen-  oder  Darm- 
schuß mit  einem  geringkalibrigen  Projektil  nicht  immer  an  Peritonitis 
zugrunde  geht. 

Wenn  wir  also  resümieren,  so  sind  es  u«  E«  drei  Momente,  welche 
zu  diesem  funktionellen  Verschluß  der  Anastomosenöffnung  führen. 
Erstens  die  mehr  oder  minder  hochgradige  Narbenschrumpfung  an  der 
Anastomosenstelle,  zweitens  die  Verkleinerung  der  Magendarmfistel, 
welche  mit  der  Verkleinerung  des  ganzen  dilatierten  Magens  durch 
Beseitigung  der  Dilaution  Hand  in  Hand  geht,  und  drittens  der  bei 
der  mobilen  Schleimhaut  so  leicht  mögliche  Schleimhautprolaps  in 
Verbindung  mit  der  das  ganze  Hohlorgan  verkleinernden  Muskel- 
kontraktion beim  Verdauungsakte,  und  zwar  kommen  dabei  für  die 
Anastomose  im  wesentlichen  die  Längsmuskeln  in  Betracht. 

Freilich  ist  auch  die  Ansicht,  vertreten  worden,  daß  ein  Ver- 
schluß an  der  Anastomose  aus  dem  Grunde  einträte,  weil  sich 
dort  ein  neuer  Sphinkter  gebildet  habe.  Carle  und  Fantino^)  haben 
z.  B.  diese  Ansicht  geäußert.  Das  ist  aber  sicherlich  nicht  der  Fall. 
Einmal  ist  es  von  vornherein  u.  E.  nicht  recht  einleuchtend,  wie  es 
kommen  soll,  daß  sich  an  der  Anastomosenstelle  ein  neuer  Schließ- 
muskel, der  doch  immer  einen  ziemlich  komplizierten  Apparat  dar- 
stellt, bilden  soll,  und  zweitens  kann  man  sich,  wie  wir  es  an  meh- 
reren, mit  Gastroenterostomose  versehenen  Hundemägen  getan  haben, 
an  mikroskopischen  Schnitten  keineswegs  davon  überzeugen,  daß  an 
der  Anastomosenstelle  eine  besondere  Anhäufung  von  Muskulatur  vor- 
handen ist.  Man  sieht  im  mikroskopischen  Bilde  die  vom  Darm  resp. 
Magen  herrührenden  Gewebsschichten  zu  einem  mehr  oder  minder 
starken  Wulst  vereinigt.  Der  Wulst  wird,  je  länger  die  Anastomose 
bestanden  hat,  um  so  flacher;  man  sieht  auch  an  der  früheren  Naht- 
stelle einige  Bindegewebszüge,  aber  von  einer  besonderen  Anhäufung 
von  muskulären  Elementen  haben  wir  nichts  finden  können. 

Mit  dieser  unserer  Auffassung  hinsichtlich  der  Anastomosenstelle 
steht  die  Tatsache  im  Einklang,  daß  bei  all  den  Fällen  unter  Gruppe  B, 
die  also  keine  Galle  und  keinen  Pankreassaft  im  Magen  nachweisbar 
hatten,  die  Anlegung  der  Anastomose  bereits  längere  Zeit  —  Minimum 


1)  Carle  und  Fantino,     Beitrag  zur  Pathologie  und  Therapie   des  Magens. 
Langenbecks  Archiv  Bd.  56. 


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364  I^r-  Neuhaus,  [SO 

i  Jahr  4  Monate  —  zurücklag.  Daß  während  dieses  Zeitraumes  eine 
Reparation  der  Dilatation  und  Atonie  stattfinden  kann,  dürfte  außer 
allem  Zweifel  sein. 

Sehr  nahe  liegt  natürlich  der  Einwurf,  wie  es  denn  kommt,  daß 
aber  bei  den  unter  Gruppe  A  untergebrachten  7  Patienten  Galle  und 
Pankreassaft  im  Magen  nachweisbar  waren.  Diese  Fälle  mit  positivem 
Ergebnis  von  Galle  und  Pankreassaft  im  Magen  scheiden  sich  in  zwei 
Klassen.  Die  erste  Klasse  umfaßt  diejenigen  Fälle,  welche  sehr  bald 
nach  der  Operation  nachuntersucht  worden  sind,  und  bei  denen  sich 
naturgemäß  Galle  und  Pankreassaft  im  Magen  finden  mußten,  weil 
sich  in  so  kurzer  Zeit  eine  etwa  vorhandene  Dilatation  und  Atonie 
des  Magens  nicht  hat  zurückbilden  können.  In  diese  Klasse  gehören 
die  Fälle  V,  VI,  VII  der  Gruppe  A.  Bei  allen  diesen  hat  die  Zeit- 
dauer von  der  Operation  bis  zur  Nachuntersuchung  im  Maximum 
drei  Monate  betragen.  Für  die  Fälle  I— IV,  die  auch  Galle  und  Pan- 
kreassaft im  Magen  haben,  kann  eine  befriedigende  Erklärung  nur  da- 
durch gegeben  werden,  daß  man  annimmt,  entweder  hat  sich  die 
Dilatation  und  Atonie  aus  irgendwelchen  Gründen,  die  oftmals  nicht 
völlig  klar  zutage  liegen,  nicht  zurückgebildet  oder  es  hat  von  vorn- 
herein keine  erhebliche  Dilatation  und  Atonie  vorgelegen,  so  daß  ein 
Schrumpfen  des  Magens  und  damit  auch  der  Anastomosenöifnung 
nicht  eintreten  konnte.  Sehr  bemerkenswert  und  instruktiv  ist  in 
dieser  Hinsicht  der  Fall  I  unter  Gruppe  A.  Der  Patient  ist  vor  fünf 
Jahren  auswärts  wegen  dauernder  Magenbeschwerden  gastroenterosto- 
tniert  worden.  Es  wurde  eine  Gastroenterostomia  anterior  antecolica 
mit  Hilfe  des  Murphyknopfes  gemacht.  Das  Befinden  besserte  sich 
nicht  wesendich  und  der  Patient  schleppte  sich  fünf  Jahre  lang  in 
ziemlich  desolatem  Zustande  weiter.  Schließlich  ließ  er  sich  auf 
unsere  Klinik  wegen  seiner  dauernden  Magenbeschwerden  aufnehmen. 
Wir  fanden  bei  der  funktionellen  Magenuntersuchung  einen  enorm 
dilatierten  Magen,  dessen  untere  Grenze  etwa  handbreit  unterhalb 
des  Nabels  stand;  im  Mageninhalt  war  sehr  viel  Galle  und  Pankreas- 
saft. Die  daraufhin  vorgenommene  Relaparotomie  bestätigte  unseren 
Befund  hinsichdich  der  enormen  Dilatation;  wir  fanden  außerdem  im 
Magen  den  2V2  cm  im  Durchmesser  großen  Murphyknopf.  Die  Ana- 
stomosenstelle  war  kaum  für  die  Kuppe  des  kleinen  Fingers  durch- 
gängig, also  nicht  1  cm  im  Durchmesser  groß.  Es  ist  klar,  daß  in 
diesem  Falle  die  Verengerung  der  anfänglich  doch  mindestens  2V2  cm 
betragenden  Anastomosenstelle  lediglich  durch  Narbenschrumpfung 
stattgefunden  haben  muß,  denn  eine  Verengerung  der  Anastomose  in- 
folge Rückgang  der  Magendilatation  im  allgemeinen  war  angesichts  des 
noch  vorliegenden,  enorm  dilatierten  Magens  naturgemäß  ausgeschlossen. 


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31]  Ergebnisse  funktioneller  Magenuntersuchungen  usw.  365 

Der  im  Magen  liegen  gebliebene  Murphyknopf  hat  u.  E.  den  Grund  für 
das  Fortbestehen  der  Dilatation  und  Atonie  abgegeben;  es  ist  sehr 
wohl  denkbar,  daß  der  dicke  Knopf  sich  gegen  den  Pylorus  gelegt 
und  die  Entleerung  des  Magens  beeinträchtigt  hat.  Wir  haben  den 
Knopf  entfernt,  sonst  aber  an  der  Anastomosenstelle,  die  ja,  wenn 
auch  nur  sehr  gering,  doch  noch  durchgängig  war,  nichts  gemacht. 
Der  Patient  hat  sich  nach  der  Operation  sehr  erholt  und  seine  bis- 
herigen Beschwerden  verloren.  Er  hat  nicht  mehr,  wie  vor  der  Ope- 
ration,  an  kopiösem  Erbrechen  gelitten,  dagegen  an  Körpergewicht 
zugenommen.  Leider  war  die  Zeit,  während  der  wir  ihn  auf  der 
Abteilung  hatten,  zu  kurz,  um  die  Möglichkeit  einer  Ruckbildung  der 
Dilatation  des  Magens  und  damit  eine  Ausschaltung  der  Anastomosen- 
öifnung  zu  beobachten.  ^ 

In  ähnlicher  Weise  müssen  alle  die  Fälle  erklärt  werden,  welche  ^ 
nach  längerer  Zeit  noch  Galle  und  Pankreassaft  im  Magen  aufweisen. 
Die  Anastomose  ist  offen  geblieben,  weil  sich  aus  irgendeinem 
Grunde  die  Dilatatio  ventriculi  nicht  zurückgebildet  hat.  So  ist  z.  B. 
auch  bei  Fall  n  unter  Gruppe  A  das  Verhalten  des  Magens  völlig  klar. 
Der  Patient  hatte  eine  Verschüttung  mit  starker  Quetschung  des  Ab- 
domens erlitten  und  etwa  4 — 5  Monate  nach  dem  Unfall,  allmählich 
einsetzend,  mehr  und  mehr  stärker  werdende  Stauungsbeschwerden 
von  selten  seines  Magens  bekommen.  Die  chemische  Untersuchung 
seines  Mageninhalts  ergab  die  typischen,  oftmals  für  Karzinom  ver- 
werteten Resultate  einer  Magenstauung:  keine  freie  Salzsäure,  reichlich 
Michsäure,  schlecht  angedautes  Probefrühstück,  lange  Bazillen  usw.  Wir 
konnten  unter  diesen  Umständen  ein  Pyloruskarzinom  nicht  mit 
Sicherheit  ausschließen,  machten  die  Laparotomie  und  fanden  am 
Pylorus  zahlreiche,  bindegewebige  Verwachsungen,  welche  eine  Steno- 
sierung  des  Pylorus  und  anschließenden  Duodenums  bewirkt  hatten. 
Wir  lösten  die  Verwachsungen,  fügten  aber  sofort  in  Erinnerung  der 
Tatsache,  daß  sich  solche  Verwachsungen  fast  immer  wieder  bilden, 
gleich  eine  Gastrojejunostomie  hinzu*  Seit  der  Operation  ist  der 
Mann  wieder  arbeitsföhig,  ohne  Magenbeschwerden  zu  haben.  Er  ist, 
wie  die  Tabelle  zeigt,  2  Jahre  9  Monate  post  op.  von  uns  nachunter- 
sucht worden.  Hier  ist  der  Pylorus  ziemlich  sicher  fast  ganz  oder 
ganz  geschlossen.  Der  Mageninhalt  ist  also  auf  einen  anderen 
Ausgang  angewiesen.  Den  bildet  die  Anastomose,  die  sich  unter  die- 
sen Umständen  naturgemäß  nicht  schließen  kann.  Für  die  Fälle  III 
und  IV  sind  wir  nicht  in  der  Lage  eine  detaillierte  Erklärung  geben  zu 
können^  warum  sich  bei  ihnen  nicht  wieder  der  alte  Entleerungsmodus 
durch  den  Pylorus  mit  sekundärer  Unwegsamkeit  der  Anastomosen- 
öffnung  eingestellt  hat. 


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366  I^r-  Neuhaus,  [32 

Daß  bei  völlig  geschlossenem  Pylorus  die  Magendarmftstel  sich 
nicht  schließen  kann,  ist  selbstverständlich.    Dementsprechend  findet 
man  auch  bei  solchen  Fällen  immer  Galle  und  Pankreassaft  im  Magen. 
Wir  verweisen  in  dieser  Hinsicht  auf  die  beiden  Fälle  unter  Gruppe  D. 
Fall  I  hatte  ein  Conamen  suicidii  mit  roher  Salzsäure  begangen;   es 
bestand  eine  schwere  Ösophagusstriktur,  derentwegen  die  Patientin  auf 
der  Klinik  behandelt  wurde;  es  entwickelte  sich  unter  unseren  Augen 
eine  völlige  Stenose  des  Pylorus.    Der  Magen  wurde  ad  maximum 
dilatiert;  er  reichte  schließlich  nach  2 — ^3  Tagen ,  in  denen   die  Ste- 
nose manifest  wurde,  fast  bis  zur  Symphyse.   Wir  machten  die  Laparo- 
tomie und  fanden  den  Pylorus  völlig  undurchgängig.    Eine  Gastro- 
jejunostomie  half  dem  bedrohlichen  Zustande  ab.  Diese  Patientin  hat 
natürlich,  da  bei  völlig  geschlossenem  Pylorus  der  Mageninhalt  ledig- 
lich auf  die  neue  AnastomosenöiFnung  angewiesen  ist,  dauernd  Galle 
und  Pankreassaft  im  Magen,  da  ja  die  Magendarmfistel  unter  diesen 
Umständen  naturgemäß  offen  bleiben  muß.   Genau  so  liegen  die  Ver- 
hältnisse  bei   dem   anderen  Fall   unter  Gruppe  D.    Ihm  ist  wegen 
Pyloruskarzinom  eine  Pylorusresektion  nach  Billroth  II,  also  völliger 
Pylorusverschluß  und  Anastomose  zwischen  Magen  und  Jejunum,  ge- 
macht worden.   Diese  Öffnung  ist  nunmehr  die  einzig  abführende  am 
Magen;  infolgedessen  schrumpft  sie  nicht  wegen  des  dauernden  Ge- 
brauches;  der  Magen   enthält  aber  auch   dauernd  Galle  und   Pan- 
kreassaft. 

Bei  den  Gastroenterostomien  mit  Braupscher  Enteroanastomose 
scheint  zunächst  stets  Galle  und  Pankreassaft  im  Magen  zu  sein, 
später  jedoch  nicht  mehr.  Wir  haben  vier  derartige  Fälle  nachunter- 
sucht, welche  unter  Gruppe  C  untergebracht  sind;  zwei,  Fall  III  und 
IV,  bei  denen  die  Zeit  zwischen  Operation  und  Nachuntersuchung 
allerdings  erst  sehr  kurz  war  (bis  zu  IV2  Monaten),  hatten  Galle  und 
Pankreassaft  im  Magen.  Bei  Fall  I  (4  mal  nachuntersucht)  hat  sich 
vom  4.  Monate  ab  niemals  mehr  Galle  und  Pankreassaft  im 
Magen  nachweisen  lassen.  Der  Fall  II  war  besonders  bemerkenswert 
Hier  war  bis  zum  6.  Monate  post  op.  Galle  und  Pankreassaft  im 
Magen  nachweisbar;  die  Patientin,  eine  stark  nervöse,  um  nicht  zu 
sagen  hysterische  Person,  welche  wegen  eines  Ulcus  ventriculi  operiert 
worden  war,  litt  nach  der  Operation  angeblich  noch  dauernd  unter 
Magenbeschwerden.  Erst  vom  7.  Monate  ab  fielen  die  Nachuntei^ 
suchungen  hinsichtlich  Galle  und  Pankreassaft  im  Magen  negativ  aus; 
gleichzeitig  damit  ging  es  der  Patientin  auch  objektiv  besser.  Es 
scheint,  als  ob  sich  bei  Gastroenterostomien  mit  Braunscher  Anasto- 
mose im  allgemeinen  relativ  bald  nach  der  Operatipn  Zirkulations- 
verhältnisse herausbilden,  die  ein  Einfließen  von  Galle  und  Pankreas- 


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33]  Ergebnisse  funktioneller  Magenuntersucbungen  usw.  367 

saft  in  den  Magen  zu  verhindern  vermögen.  Daß  das  auch  bei  diesen 
Fallen  lediglich  durch  Verengerung  resp.  Verschluß  der  Anastomosen- 
Öffnung  bedingt  wird,  glauben  wir  jedoch  nicht  Die  Art  der  Darm- 
Schaltung  ist  wohl  hier  das  schwerwiegende  Moment,  wenngleich  es 
feststeht,  daß  die  Braunsche  Anastomose  keineswegs  das  Einfließen 
von  Galle  und  Pankreassaft  in  den  Magen  zu  inhibieren  vermag. 
Naturgemäß  wird  auch  die  Lage  der  Stelle,  an  welcher  die  Entero- 
anastomose  gemacht  worden  ist,  in  dieser  Hinsicht  von  Bedeutung 
sein.  Liegt  sie  nahe  an  der  Gastroenterostomie,  so  ist  die  Möglich- 
keit des  Einfließens  von  Darminhalt  aus  dem  zuführenden  Schenkel 
in  den  Magen  größer,  als  wenn  sie  weiter  davon  entfernt  liegt. 

Es  würde  nicht  in  der  Absicht  dieser  Arbeit  liegen  und  auch 
ihren  Rahmen  bei  weitem  überschreiten,  wenn  wir  die  in  den  Ta- 
bellen dieser  Arbeit  niedergelegten  Befunde,  welche  sich  auf  den 
Chemismus  des  Magens  nach  einer  Gastroenterostomie  beziehen, 
genügend  würdigen  wollten.  Wir  behalten  uns  deshalb  eine  ein- 
gehendere Besprechung  dieses  Teiles  unserer  Untersuchungen  vor. 


Klin.  Vortrage,  N.  F.  Nr.  486.    (Chirurgie  Nr.  141.)    Mal  1908.  27 

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487^ 

(Gynäkologie  Nr.  l??.) 

Im  Kampfe  gegen  das  Kindbettfieber. 

Ein  Mahnwort  an  Ärzte. 

Von 

Otto  von  HerflP, 

Basel. 


M.  H.t  ySollte,  was  Gott  verhüten  möge,  mir  niclit  ge- 
gönnt sein,  diese  glüclLliche  Zeit,  in  welclier  in  und  außer- 
halb der  Gebärhäuser  der  ganzen  Welt  nur  Fälle  von  Selbst- 
infektion vorkommen,  mit  eigenen  Augen  zu  schauen,  so 
wird  die  Oberzeugung,  daß  diese  Zeit  früher  oder  später 
nach  mir  unaufhaltsam  kommen  muß,  noch  meine  Todes- 
stunde erheitern''  so  schrieb  dereinst  Semmel  weis  in  wehmütiger 
Stimmung. 

Die  großen  Arbeiten  Pasteurs,  Robert  Kochs  und  Listers,  die 
Antisepsis  und  die  Asepsia  verbreiteten  sich  überall,  aber  außerhalb  der 
Gebärhäuser  will  das  Kindbettfleber  noch  immer  nicht  verschwinden. 
Zwar  ist  die  Zahl  dieser  Fälle  auf  etwa  ein  Drittel  der  früheren  ver- 
mindert worden,  aber  seit  Jahren  ist  ein  Stillstand  eingetreten,  da 
und  dort  steigt  die  ZiiFer  der  Todesfälle  dieser  sicher  vermeidbaren 
Erkrankung  —  so  z.  B.  in  den  großen  Städten  Preußens,  in  Bayern 
um  nur  einiges  zu  erwähnen.  Ist  diese  nicht  wegzuleugnende  Tat- 
sache nicht  im  höchsten  Grade  beschämend  für  die  Ärztewelt,  wird 
sie  nicht  um  so  trauriger,  wenn  man  bedenkt,  wie  alljährlich  zahl- 
lose Menschenleben,  vieles  Familienglück  einer  unbegreiflichen  Gleich- 
gültigkeit auf  diesem  Gebiete,  nicht  selten  einem  Schlendrian  in  den 
Vorbeugungsmaßregeln   gegen    das  Kindbettfieber  geopfert  werden? 

Kilo.  Vortrige,  N.  F.  Nr.  487.  (Gynäkologie  Nr.  177.)   Juni  1006.  20 


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266  Otto  von  Herff,  [2 

Viele  Tausende  von  Wöchnerinnen  erliegen  jährlich  einer  nahezu 
sicher  vermeidbaren  Erkrankung,  trotzdem  rührt  sich  fast  niemand 
hierin  nachdrücklichst  Wandel  zu  schaffen,  das  Übel  mit  der  Wurzel 
auszureißen.  1) 

So  groß  die  Verdienste  der  chirurgischen  Ära  der  Geburtshilfe  für 
den  engen  Bezirk  der  operativen  Eingriffe  sein  mögen,  so  hat  sie 
leider  vielfach  die  Aufmerksamkeit  von  diesen  Fragen  abgelenkt. 
Gilt  es  doch  gegenwärtig  da  oder  dort  als  „antiquierf"  sich  mit  diesen 
für  die  Allgemeinheit,  den  Staat,  der  Familie  so  überaus  wichtigen 
Fragen  zu  beschäftigen!  Trotz  alledem,  die  Frage  der  Vorbeu- 
gung des  Kindbettfiebers  muß  immer  wieder  auf  die  Tagesord- 
nung gesetzt  werden,  das  Gewissen  so  manchen  Arztes  muß  immer 
wieder  und  wieder  aufgerüttelt  werden,  schließlich  werden  diese 
Tropfen  die  Gleichgültigkeit  aushöhlen,  das  von  Semmelweis  so 
sehnlich  erwartete  Zeitalter  heranbrechen  lassen!  Hierzu  sind  Sie, 
meine  Herren  Kollegen,  die  berufensten  Vertreter!  Helfen  Sie  in  erster 
Linie  nach  besten  Kräften  die  Ursachen  der  betrübenden  Häufigkeit 
des  Kindbettfiebers  freizulegen,  um  sie  endgültig  zu  beseitigen!  In 
Ihren  Händen  liegt  die  Zukunft  der  Vorbeugung  des  Kindbettfiebers, 
nicht  in  denen  der  Gebäranstalten,  die  mit  diesem  Feinde  vielfach 
schon  fertig  geworden  sind! 

Soll  ein  Feind  bekämpft  werden,  so  müssen,  alle  seine  Schliche 
und  Angriffsseiten  bekannt  werden,  man  muß  die  eigenen  Schwächen 
klaren  Auges  erkennen,  um  dem  Angriff  sicher  begegnen  zu  können. 
Hierzu  sollen  meine  Ausführungen  einen  kleinen  Beitrag  geben,  in 
der  Hoffnung,  daß  Sie  sich,: meine  Herren,  auch  rühren  und  Ihrerseits 
zu  diesen  doch  gewiß  für  die  Allgemeinheit  und  die  Familie  ungemein 
wichtigen  Fragen  Stellung  nehmen,  daß  Sie  Ihre  wertvolle  Erfahrung 
der  Allgemeinheit  nicht  vorenthalten! 

Kindbettfieber  ist  eine  .Wundinfektionskrankheit,  die  in  ihrer 
schweren  Form  fast  nur  durch.  Übertragung  von  Lebewesen,  d.  h. 
Spaltpilzen,  sehr  selten  Sproßpilzen,  die  aus  dritter  Quelle  stammen, 
d.  h.  durch  Fremdkeime,  die  nicht  in  deo  Geschlechtsteilen  der 
Frau  hausen,  entsteht.  Eine  solche  Übertragung  kann  durch  das  ärzt- 
liche Personal  —  Arzt,  Hebamme,  Vorgängerin  —  stattfinden,  oder  sie 
erfolgt  durch  den  Ehemann  beim  Beischlaf,  gelegentlich  auch  durch 


1)  Obertrifft  doch  z.  B.  in  Preu&en  die  Zahl  der  im  Kindbette  gestorbenen 
Frauen  —  darunter  befinden  sieb  die  Opfer  des  Kindbettfiebers  —  die  Verluste  an 
Typbus  ganz  erheblicb.  Es  starben  an  Typhus  1905  und  1906  je  0,73  und  0,62,  im 
Kindbett  aber  2,13  und  1,97  auf  10000  lebende  Frauen  berechnet.  Wie  wurden  sich 
die  Verhältnisse  gestaltet  haben,  wenn  Männer  in  gleicher  Zahl  diesen  Leiden  aus- 
gesetzt wären?    Würde  nicht  alles  in  Bewegung  gesetzt  werden? 


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3]  Im  Kampfe  gegen  das  Kindbettfleber.  267 

die  Wöchnerin  durch  Selbstuntersuchen.  Selten  sind  ein  Bad  oder 
andere  Eingriffe,  Katheterisation,  Ausspülung  mit  schmutzigem  oder 
zerbrochenem  Mutterrohre  usw.  die  Ursache.  Zieht  man  die  alltäg- 
lichen kurzen  Wundfieber  (Resorptionsfieber)  ab,  so  werden  die  Eigen- 
keime, jene  Spaltpilze,  die  in  den  Geschlechtsteilen  der  Kreißenden 
oder  Wöchnerinnen  hausen,  ihrer  Trägerin  nur  sehr  selten  von  sich 
aus  gefährlich.  Diese  Eigentümlichkeit  der  Eigenkeime,  sie  findet'  sich 
ja  an  vielen  andern  Stellen  des  Körpers  vor,  läßt  sich  vielleicht  da- 
durch erklären,  daß  auch  die  Spaltpilze,  wie  so  viele  andere  Lebe- 
wesen, die  Eigenschaft  besitzen,,  sich  ihnen  irgendwie  schädlichen 
und  ungünstigen  Lebensbedingungen  anzupassen.  Sie  gewöhnen  sich 
und  schützen  sich  gegen  die  Schutzvorrichtungen  des  Körpers,  so 
daß  sie  diesen  nicht  erliegen,  kurz,  sie  werden  immunfest,  serum- 
fest. Auf  der  andern  Seite  gewöhnt  sich  der  Körper  an  die 
Anwesenheit  dieser  seiner  Feinde,  indem  er  an  Ort  und  Stelle  die 
Gewebe  örtlich  schützt,  so  daß  diese  den  Angriffen  der  Spaltpilze 
nicht  erliegen. 

Auf  der  Hand  liegt  es,  daß  durch  solche  Verhältnisse  eine  Harm- 
losigkeit der  Spaltpilze,  eine  Verminderung  ihrer  Angriffskraft  (Viru- 
lenz) vorgetäuscht  wird,  die.  in  Wirklichkeit  nicht  vorhanden  i^t.  Aber 
diese  anscheinend  so  harmlosen  Eigenkeime  werden  bei  einem  andern 
Menschen  als  gerade  bei.  dem  Wirt  die  schlimmste  Erkrankung  aus- 
losen, sie  werden  sich  als  sehr  bösartig  erweisen,  wenn  sie  in 
Geweben  des  Wirtes  eingepflanzt  werden,  die  durch  irgendeinen  Um- 
stand in  ihrer  Widerstandskraft  irgendwie  geschwächt  oder  nicht  mehr 
wie  vorher  geschützt  sind.  Als  solche  Umstände  sind  bekannt:  mecha- 
nische Schädigungen  der  Gewebe  durch  Quetschung,  Zerreißung,  all- 
gemeine Schwächung  des  Körpers  durch  Blutverluste,  durch  Krank- 
heit wie  Diabetes  usw. 

Die  Eigenkeime  der  Geschlechtsteile  der  Frau,  insbesondere 
Streptokokken^  die  ja  so  oft  in  der  Scheide  ganz  gesunder  Frauen  hau- 
sen, sind  fast  nur  dann  zu  fürchten,  wenn  sie  unmitteTbar  in  frische, 
zumal  gequetschte  Wunden,  die  begreiflicherweise  noch  nicht  geschützt 
sein  können,  eingepflanzt  werden.  Am  ehesten  wird  diese  Bedingung 
durch  ein  Trauma  gesetzt.  Diese  Gefahr  ist  also  fast  nur  bei  Operatio- 
nen, die  Verletzungen  irgendwelcher  Art  mit  sich  bringen,  zu  fürch- 
ten. Unter  diesen  Umständen  kann  die  Gefahr  seitens  dieser  Eigen- 
leime, dieser  Art  von  Selbstinfektion,  vermittelt  durch  ein  Trauma 
sehr  groß  werden.  Diese  „Selbstinfektion*  lernt  man  beim  Gebrauch 
der  Gummihandschuhe  in  ihrer  ganzen  Wichtigkeit  kennen.  Ihr  Vor- 
kommen ist  übrigens  nicht  auf  die  Frau  und  ihre  Geschlechtsteile 
beschränkt,  sondern  jeder  Chirurg  lernt  sie  in   allen  KörperhöHlen 

20* 


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268  Otto  von  Herif,  [4 

gründlichst  kenn.en  —  an  ihrem  Vorhandensein  ist  nicht  im  mindesten 
zu  zweifeln,  es  sei  denn,  daß  man  eine  Vogel-Strauß  Politik  treiben  will. 
Die  Möglichkeit  dieser  Selbstansteckung  vermittelt  durch  Gewebs- 
schädigung  kennen  zu  lernen  ist  außerordentlich  wichtig.  Aus  solcher 
Tatsache  folgt,  daß  ein  Kindbettfieber  nach  irgendeinem  Eingriff, 
nach  einer  Untersuchung  noch  lange  nicht  auf  einen  notwendigen, 
ursächlichen  Zusammenhang  mit  irgendeiner  Infektion  mit  Fremd- 
keimen schließen  läßt  —  es  sei  denn  daß  Eigenkeime  mit  an  Sicher- 
heit grenzender  Wahrscheinlichkeit  als  Urheber  ausgeschlossen  werden 
können.  Das  gilt  ganz  besonders  bei  Anklagen  gegen  Ärzte  und  vor 
allem  gegen  Hebammen,  den  Sündenböcken  für  so  viele  ärztliche 
Verstöße. 

Alle  Vorbeugungsmaßregeln  gegen  Kindbettfieber  müssen 
den  Hauptwert  auf  das  Fernhalten  von  Fremdkeimen  legen, 
doch  darf  die  Gefahr  der  Eigenkeime  durchaus  nicht  unter- 
schätzt oder  gar  ganz  außer  acht  gelassen  werden.  Auch 
dieser  Möglichkeit,  insbesondere  der  Selbstinfektion  ver- 
mittelt durch  ein  Trauma  muß  nachdrücklichst  begegnet 
werden. 

Diesen  beiden  wichtigsten  Aufgaben  einer  wirksamen  Vorbeugung 
des  Kindbettfiebers  in  der  Theorie  gerecht  zu  werden,  erscheint  sehr 
leicht,  in  der  Praxis  aber  begegnet  deren  Lösung  den  größten  Schwierig- 
keiten, wie  alljährlich  die  zahllosen  Opfer  des  Kindbettfiebers  nur  zu 
beredt  predigen. 

Eine  Übertragung  von  Fremdkeimen  durch  das  ärztliche  Personal 
—  Arzt,  Hebamme  —  läßt  sich  mit  allergrößter  Sicherheit  vermeiden, 
wenn  für  Keimfreiheit  aller  benutzten  Gegenstände,  insbesondere 
auch  der  Hände,  gesorgt  wird. 

Ungemein  leicht,  auch  in  der  allgemeinen  Praxis,  läßt  sich  dieser 
wichtigsten  Forderung  durch  Kochen  der  Instrumente,  Bürsten,  Schutz- 
tücher, eines  Teiles  des  Nahtmateriales  nachkommen.  Zudem  werden 
Verbandstoffe,  die  zuverlässig  in  Dampf  sterilisiert  sind,  überall  zu  billi- 
gen Preisen  abgegeben  —  nur  darf  allerdings  eine  angebrochene  Büchse 
nicht  ohne  erneute  Sterilisation  wieder  benutzt  werden.  Seide,  noch 
besser  und  billiger  Zelloidinzwirn,  Silk,  Draht  lassen  sich  leicht  kochen. 
Catgut,  das  bei  Dammnähten  den  Vorzug  verdient,  läßt  sich  ebenso 
leicht  durch  Jodlösungen  keimfrei  machen  oder  als  trockenes  Jod- 
catgut  kaufen.^)  Kochen  und  Dämpfen  sterilisieren  am  besten.  Beides 


1)  Auch  an  dieser  Stelle  sei  darauf  hingewiesen,  daß  trockenes  jodiertes  Catgut 
in  vorzüglicher  Art  von  der  Firma  Billmann  in  Mannheim  hergestellt  und  ver- 
trieben wird. 


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5J  Im  Kampfe  gegen  das  Kindbettfieber.  260 

ist  fiberall  leicht  zu  haben  ^  ihre  Anwendung  verursacht  nirgends 
nennenswerte  Schwierigkeiten. 

Nach  Gro  fie  kann  jederzeit  auf  jedem  beliebigen  Feuer  eine  genügende  Dampf- 
sterilisation wie  folgt  vorgenommen  werden.  Auf  dem  Boden  eines  großen  Gefäßes, 
etva  eines  Topfes  wird  ein  kleineres  gestellt,  das  die  zu  reinigenden  Sachen 
aufoimmt.  Gießt  man  in  das  größere  Gefäß  etwa  200  ccm  Wasser  (ein  großes 
Wasserglas)  und  deckt  das  Ganze  zu,  so  genügen  10  Minuten  des  Kochens,  um  eine 
genügende  Keimfreiheit  zu  sichern. 

Nur  die  Reinigung  der  Haut  und  der  Hände  begegnet  den  aller- 
größten Schwierigkeiten.  Am  leichtesten  lassen  sich  die  Hände 
reinigen )  am  schwersten  die  äußere  Scham.  Die  Desinfektion 
dieses  Teiles  ist  so  schwierig,  daß  von  einer  befriedigenden  Lösung 
dieser  Aufgabe  zurzeit  nicht  die  Rede  sein  kann. 

An  der  Hand  läßt  sich  mit  Sicherheit  eine  solche  Keimverarmung, 
die  an  Keimfreiheit  grenzt  und  die  die  längste  geburtshilfliche  Ope- 
ration überdauert,  erzielen.  Allerdings  jene  wenigen  Keime,  die  in 
der  Tiefe  der  Haut  vergraben  liegen,  entziehen  sich  allen  Schädigungen 
der  Desinfizientien.  Sie  können  aber  nach  und  nach  auf  die  Haut- 
oberfläche auswandern,  wenn  sie  nicht  irgendwie  zuverlässig  in 
ihrer  tiefen  verborgenen  Lage  festgehalten  werden  —  solches  ist 
aber  heutzutage  sehr  gut  zu  erreichen. 

Alle  Methoden,  die  die  Haut  aufweichen,  arbeiten  einer 
Keimfreiheit  entgegen,  darunter  auch  die  Seifenwasser- 
waschung.  Eine  Keimauswanderung  wird  eingeschränkt  und 
selbst  völlig  gehemmt,  je  trockener  die  Haut  ist,  je  mehr  sie 
einschrumpft. 

Mit  Hilfe  dieser  beiden  wichtigsten  Prinzipien  läßt  sich  mit  einer 
an  Sicherheit  grenzenden  Wahrscheinlichkeit  zum  mindesten  eine 
Keimverarmung,  die  an  Keimfreiheit  grenzt,  wenn  nicht  von  vorn- 
herein eine  Keimfreiheit  erzielen.    Die  Mittel  hierzu  sind  folgende: 

Mechanische  Beseitigung  jener  Spaltpilze,  die  auf  der  Hautober- 
fläche  hausen,  durch  Reiben  und  Scheuern  bei  gleichzeitiger  Auf- 
lösung der  Schmutz-  und  Fettschichten  mit  nachfolgender  Einsperrung 
der  Keime,  die  in  den  zahllosen  Fältchen  der  Haut,  in  den  Haar- 
balgen, in  den  Drüsen,  zwischen  lockern  Hornzellen  der  mechani- 
schen Entfernung  unzugänglich  geblieben  sind.  Lebhaft  zu  begrüßen  ist 
es  Daturlich,  wenn  zugleich  mit  dieser  Maßnahme  eine  chemische  Ab- 
tötung  der  zugänglichen  Keime  erfolgt,  soweit  solches  in  den  wenigen 
Minuten,  die  eine  solche  Reinigung  praktisch  dauern  kann,  überhaupt 
möglich  ist. 

Alle  Desinfektionsmethoden,  die  dieser  Forderung  nicht  gerecht  wer- 
den, müssen  ungünstige  Ergebnisse  zeitigen,  in  erster  Linie  Wasser  und 
Seife   wie    alle   jene  Maßnahmen,    die    mit    einer  Wasserwaschung 


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270  Otto  von  Herff,  [6 

schließen.  Alle  diese  arbeiten  den  mechanischen  Prinzipien  der  Keioi- 
absperrung  geradezu  entgegen»  sie  erleichtern  den  Hautkeimen  der  Tiefe 
das  Auswandern  anstatt  ihnen  dieses  zu  erschweren  —  und  das  Ist 
im  Prinzip  gewiß  falsch. 

Das  mechanische  Prinzip  des  Wegscheuerns  der  Ober- 
flächenkeime verbunden  mit  einer  Einsperrung  der  Tiefen- 
keime (Schleich),  meine  Herren,  wird  in  Zukunft  die  Technik 
der  Hautreinigung  beherrschen. 

Der  Glaube  an  die  rasche  Wirksamkeit  auch  der  stärksten  Anti- 
septika bei  der  Hautreinigung  —  Halogene,  Sublimat,  Sublamin,  Hy- 
drargyrumoxycyanat  —  ist  leider  noch  sehr  verbreitet,  er  verschuldet 
so  manches  Unglück.  Alle  diese  Mittel  brauchen  für  ihre  Wirkung 
in  reinen  Lösungen  längere  Zeit,  es  ist  unmöglich,  daß  sie  in  wenigea 
Minuten  Keime,  die  in  Schmutz  und  Fett  irgendwie  eingehüllt  liegen, 
abtöten  —  diese  allbekannte  Tatsache  wird  vielfach  übersehen.  Es 
ist  ja  so  viel  bequemer,  einige  Pastillen  in  eine  Schüssel  Wasser  zu 
werfen  und  sein  Gewissen  damit  zu  beruhigen.  Das  ist  nicht  nur  ge- 
dankenlos, sondern  oft  genug  auch  gewissenlos. 

Keime,  die  in  Flüssigkeiten  frei  schweben  oder  die  der  Oberfläche 
irgendwelcher  Gegenstände  —  Glasperlen,  Seidenfäden  —  anhaften, 
sind  durch  Antiseptika  bei  entsprechendem  Zeitaufwand  leicht  und 
sicher  zu  töten.  Liegen  Spaltpilze  im  Fett  oder  Schmutz  wohl  ver- 
borgen, so  versagt  die  keimtötende  Kraft  der  Antiseptika  während  der 
kurzen  Zeit  einer  noch  so  sehr  verlängerten  Desinfektion  vollständig, 
auch  die  stärksten  Mittel  zerschellen  an  einer  Umhüllung,  die  an  der 
Tageshand  aus  Staub,  Eiweiß  und  Fett  gebildet  wird.  Das  sind  gewiß 
Binsenwahrheiten,  Tatsachen,  meine  Herren,  aber  wie  viele  Ärzte,  ge- 
schweige denn  Hebammen,  die  allerdings  an  ihre  Vorschriften  ge- 
bunden sind,  beachten  sie  Tag  für  Tag  nicht? 

Das  an  sich  logisch  richtige  und  zutreffende  Prinzip  der  chemischen 
Abtötung  der  Hautkeime,  die  bestenfalls  nur  die  Oberflächen-  aber 
nicht  die  Tiefenkeime  sicher  trefl^en  kann,  hat  die  Hautdesinfektion  in 
eine  Sackgasse  geführt,  aus  der  sich  viele,  weil  sie  gestützt  wird  durch 
die  herrschende  Lehrmeinung  und  ihre  einleuchtende  Folgerichtigkeit, 
nicht  mehr  herausfinden  werden. 

Die  Alkoholwaschung  vereinigt  in  sich  die  Prinzipien  der  mecha- 
nischen und  der  chemischen  Reinigung,  allerdings  besonders  stark 
das  erstere  in  glücklichster  Weise.  Der  Weingeist  muß  daher  voll- 
ständig in  den  Vordergrund  treten  —  bis  etwas  Besseres  mit  der  Zeit 
gefunden  werden  wird. 

Heißwasser  und  Seife  allein  ergibt  schlechte  Ergebnisse,  weil  die 
Haut  aufgelockert  und  der  Schmutz  aufgewühlt  wird.   Vielfach  erhält 


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7]  Im  Kampfe  gegen  das  Kindbettfleber.     .  271 

man  den  Eindruck,  daß  durch  eine  solche  Reinigung  erst  recht  die 
Menge  der  Keime  vermehrt  wird.  Nur,  wenn  gleichzeitig  eine  nach- 
druckliche mechanische  Scheuerung  der  Haut  mit  Sand,  Marmor,  vor 
allem  mit  Kieselgur  (Saposilikseife),  gefolgt  von  einem  festen  Abreiben 
mit  einem  rauhen  trocknen  Handtuche  stattfindet,  kann  die  Zahl  der 
Keime  einigermaßen  vermindert  werden.  Durch  das  trockne  Abreiben 
werden  die  losgelösten  Spaltpilze  gründlicher  entfernt.  Nicht  selten 
laßt  sich  eine  weitgehende,  aber  leider  noch  nicht  genügende  Keim- 
verarmung herbeiführen.  Dieser  Seifenwaschung  noch  eine  Reinigung 
mit  irgendeinem  Desinfizienz  in  Wasser  folgen  zu  lassen,  kann  die 
Verhältnisse  nicht  wesentlich  verbessern,  weil  in  so  kurzer  Zeit  kein 
Desinfizienz  die  Keime  töten,  jene  der  Tiefe  überhaupt  schädigen 
kann.  1) 

Heißwasser  und  Seife  plus  Desinfiziens  in  Wasser  ist 
nicht  besser  als  eine  Heißwasserreinigung  mit  Sand,  Saposi- 
likseife plus  Abreiben  mit  einem  rauhen  Tuche.  Diese 
Methode  muß  als  unzuverlässig  fallen  gelassen  werden. 

Die  noch  so  weit  verbreitete  Anwendung  dieser  ^^Desinfektion'' 
ist  zweifellos  mit  in  erster  Reihe  daran  schuld,  daß  das  Kindbettfieber 
nicht  abnehmen  will,  sondern  im  Gegenteil  vielfach  noch  im  Zunehmen 
begriiFen  ist.  Diese  Art  der  Reinigung  wäre  auch  schon  lange  vollstän- 
dig verlassen  worden,  wenn  nicht  glücklicherweise  die  gewöhnlichen 
Hautkeime  einer  Tageshand   im  ganzen  genommen  eine  geringe  An- 


1)  Gewiß  bewirkt  die  Seife  eine  gute  mechanische  Reinigung,  da  sie  durch  ihr 
freies  Alkali  Schmutzteile  auf-  und  loslöst,  diese  Teile  durch  den  Seifenschaum, 
der  durch  saure  Fettsalze  erzeugt  wird,  lockert  und  sie  einhüllt.  Diese  mechanische 
Reinigung  reiner  Seife  wird  in  der  Saposilikseife  durch  feine  Kieselgurkristalle  ganz 
aaßerordentlich  gesteigert  —  die  Haut  wird  sichtlich  geglättet  durch  Abscheuem 
der  lockeren  Hornzellen.  Zu  dieser  allbekannten  mechanischen  Wirkung  gesellt 
sieb,  jedoch  nur  freiliegenden  Keimen  gegenüber  eine  nicht  unbeträchtliche  keim- 
tötende Kraft.  Diese  ist  nach  Raß  am  bedeutendsten  bei  einer  heißen  20prozen- 
tigen  Seifenlösung,  sofern  sie  mit  destilliertem  Wasser  hergestellt  wird.  Auch  kann 
die  Wirkung  durch  Zusatz  von  Kresol  oder  Phenol  zu  gleichen  Teilen  beträchtlich 
gesteigert  werden,  so  daß  3prozentige  Phenolseifenlösungen  dieser  Art  genügen. 
Jeder  Gehalt  an  Kalk  im  Wasser  vermindert  jedoch  die  Wirkung.  Auf  Grund  dieser 
Untersuchungen  versuchte  ich  20— SOprozentige  Seifenlösungen,  ich  erreichte  jedoch 
keine  Keimverarmung,  da  die  keimtötende  Kraft  der  Seife  offenbar  für  die  Keime 
der  Tiefe,  die  geborgen  liegen,  nicht  ausreicht. 

Wird  nach  der  Seifenwaschung  ein  Quecksilbersalz  angewandt,  z.  B.  Sublimat, 
Sttblamin,  so  liegt  die  Gefahr  nahe,  daß  durch  Reste  der  Seife,  oder  durch  einen 
etwaigen  Kalkgehalt  des  Wassers  diese  Verbindungen  gebunden  oder  ausgefäUt  und 
in  ihren  antiseptischen  Wirkungen  geschwächt  werden.  Quecksilberoxycyanat  macht 
allerdings  eine  Ausnahme,  es  müßte  daher  den  obigen  Stoffen  weit  vorgezogen 
▼erden. 


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272  Otto  von  Hcrif,  [8 

griifskraft  (Virulenz)  besäßen,  und  daher  nur  selten  schadeten.  Wurde 
und  wird  doch  noch  auf  Erden  in  unzähligen  Fällen  Geburtshilfe  mit 
ungereinigten  Händen  getrieben  und  dennoch  erkranken  und  sterben 
die  wenigsten  dieser  Frauen!  Weil  nicht  jedesmal  nach  einer  solchen 
Reinigung,  die,  wie  wir  jetzt  sicher  wissen,  ungenügend  ist,  eine  In- 
fektion erfolgt,  wird  bei  so  manchem  Arzte  der  Trugschluß  begünstigt, 
daß  diese  Methode  für  die  Bedürfnisse  der  Praxis  völlig  ausreiche. 
Wer  bürgt  aber,  meine  Herren,  dafür,  daß  sich  nicht  gelegentlich,  viel- 
leicht ausnahmsweise  auf  der  Tageshand  höchst  angriifskräftige  Spalt- 
pilze Z.B.Streptokokken  eingenistet  haben?  Eine  Möglichkeit,  die  aus 
naheliegenden  Gründen  sicherlich  am  ehesten  und  am  häufigsten  an 
den  Händen  der  Ärzte,  vielleicht  seltener  an  den  Händen  der  Hebam- 
men eintreten  kann. 

Die  Hand  eines  Arztes,  der  sich  nicht  streng  von  infek- 
tiösen Stoffen  fernhält,  ist  erheblich  gefährlicher  als 
eine  noch  so  schmutzige  Tageshand  einer  entarteten  Heb- 
amme. An  ersterer  Hand  werden  öfters  gefährliche  Keime 
haften,  an  letzterer  brauchen  sie  nicht  vorhanden  zu  sein. 

Tausendfältig  sind  die  Beweise  für  diese  Tatsache.  Immerhin  möge  hier  darauf 
hingewiesen  werden,  daß  Stöckel  (Miinch.  med.  Wochenschr.  1908,  S.  45)  jüngsthin 
wieder  ein  solch  warnendes  Beispiel  aufführte.  Ein  Arzt,  dessen  Hand  mit  Anginaeiter 
beschmutzt  wurde,  untersuchte  seine  eigene  Frau  nach  gründlichster  Desinfektion  — 
trotzdem  starb  sie  am  Kindbettfieber.  Der  Fall  beweist,  daß  entweder  diese  gründ- 
liche Desinfektion,  deren  Methode  leider  nicht  erwähnt  wird,  trotz  der  besten  Absicht 
doch  nicht  gründlich  gewesen  ist,  weil  sie  es  an  sich  nicht  sein  konnte,  oder  daß 
ein  anderer  ursächlicher  Zusammenhang  vorgelegen  haben  kann,  der  Anginaeiter  un- 
schuldig gewesen  ist.  Im  ersten  Falle  wäre  das  Unglück  mit  einer  der  modernen 
Alkoholmethoden  vermieden  worden. 

Ganz  ungezwungen  erklärt  es  sich,  warum  so  manches  Kindbett- 
fieber durch  das  ärztliche  Personal,  insbesondere  durch  den  Arzt 
veranlaßt  wird  trotz  tatsächlich  gründlichster  und  gewissenhaf- 
tester Desinfektion  —  allerdings  etwa  nach  der  ungenügenden  Heiß- 
wasserreinigung plus  einem  Desinfizienz  in  Wasser.  Man  zerbricht 
sich  den  Kopf,  man  forscht  nach  allen  möglichen  entfernten  Ursachen 
—  aber  an  das  Nächstliegende,  an  die  angewandte,  notwendig  unge- 
nügende Reinigung,  meine  Herren,  wird  nicht  gedacht.  Hat  doch 
diese  in  so  und  so  vielen  Fällen  genützt^  freilich  nur,  und  das  wird 
übersehen,  weil  die  Keime  der  Tageshand  verhältnismäßig  harmlos  sind 
und  sich  zufälligerweise  keine  angriffskräftigen  darunter  befunden 
haben.  Eine  Selbsttäuschung,  die  schon  sehr  viel  Unheil  angerichtet 
hat  und  leider  noch  weiterhin  Unglück  herbeiführen  wird! 

Die  großen  Opfer,  die  das  Kindbettfleber  alljährlich  fordert, 
müssen  das  ärztliche  Gewissen  schärfen^  sie  müssen  dazu  führen,  die 


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g]  Im  Kampfe  gegen  das  Kindbettfleber.  273 

Methode  der  Heißwasserseifenreinigung  plus  einem  Desinflzienz  geg- 
last in  Wasser  vollständig  zu  verwerfen. 

Asepsis  gewährleistet  durch  mechanische  Maßnahmen, 
meine  Herren,  ist  das  Ziel  das  erstrebt  werden  muß  —  darin 
hat  Schleich  durchaus  recht! 

Das  mechanische  Prinzip  der  Entfernung  der  Ober- 
flächenkeime neben  einer  Einsperrung  der  Tiefenkeime 
durch  Einschrumpfung  und  Entwässerung  der  Haut  muß  in 
der  Händereinigung  den  breitesten  Raum  einnehmen.  Eine 
solche  Reinigung  kann  einer  Heißwasserseifenwaschung 
folgen  (Ahlfeld).  Noch  besser  freilich  ist  es  diese  vollständig 
fallen  zu  lassen,  weil  sie  dem  Prinzipe  der  Eintrocknung 
der  Haut  entgegenarbeitet.  Die  Desinfektionsmethode  wird 
denkbar  vereinfacht  und  abgekürzt,  sie  wird  zu  einer  Schnell- 
desinfektion  (Schumburg),  ohne  irgendwie  dabei  an  Zuverläs- 
sigkeit einzubüßen. 

Der  nächstliegende  und  überall  erreichbare  Stoff  ist  der  Weingeist. 
Ohne  Alkohol  keine  irgendwie  genügende  Keimarmut  oder  Keimfreiheit 
heißt  es  überall  und  mit  vollem  Recht  meine  Herren!  Folgt  aber  der 
Anwendung  des  Alkohols,  der  die  Haut  eintrocknen  und  einschrumpfen 
laßt,  überdies  Keime  tötet  und  weithin  in  die  Tiefe  der  Haut  eindringt, 
eine  Wasserwaschung  plus  Desinfiziens  in  Wasser  —  Fürbringersche 
Methode  —  so  wird  die  Haut  wieder  aufgeweicht.  Das  Schlußergebnis 
wird  verschlechtert,  weil  das  wichtigste  mechanische  Prinzip  einer 
Keimverarmung  der  Haut  und  damit  auch  der  Alkoholanwendung 
vernichtet  oder  doch  ganz  wesentlich  abgeschwächt  wird.  Viel  zweck- 
mäßiger und  vernünftiger  wäre  es  doch,  wenn  jene,  die  sich  nun  ein- 
mal von  der  Vorstellung  durchaus  nicht  freimachen  können,  als  ob 
z.  B.  Sublimat  oder  gar  Lysol  in  wenigen  Minuten  Spaltpilze,  die  in 
Eiweiß- oder  Fetthüllen  oder  sonstwie  geschützt  liegen,  töten  oder  irgend- 
wie unschädlich  machen  können,  die  Alkoholwaschung  am  Schlüsse 
setzen,  also  Heißwasser,  Seife  plus  Desinfiziens  in  Wasser  plus 
Alkohol  anwenden.  Oder,  was  kürzer  und  weit  bequemer  wäre,  dem 
Weingeist  gleich  das  gewünschte  Desinfiziens  zufügen,  somit  sich 
nach  Engels  Methode  reinigen,  d.  h.  Heißwasser,  Seife  plus  Desinfi- 
ziens in  Alkohol  gelöst  z.  B.  2  %  Bazillol,  Lysoform  oder  5  %  Formizin 
(Ffith)  od.  dgl.  m.  anwenden. 

Die  Heißwasser-Alkoholdesinfektion  mit  oder  ohne  Zu- 
satz eines  Desinflzienz  —  Ahlfeld,  Engelj  ist  für  alle, 
die  Heißwasser  und  Seife  nicht  fallen  lassen  mögen,  die  zur- 
zeit beste.  Sie  gewährleistet  die  größtmögliche  Zuverläs- 
sigkeit und   Sicherheit    ihrer   Wirkung.     Nicht    selten   wird 

Klitt.  Vortrige,  N.  F.  Nr.487.    (Gynäkologie  Nr.  177.)    Juni  1908.  21 


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274  Otto  von  Herff,  [10 

eine  Keimfreiheit  erzielt,  unter  allen  Umständen  aber  eine 
Keimverarmungy  die  an  Keimfreilieit grenzt,  die  daher  prak- 
tiscti  einer  solchen  gleichkommt. 

Ahl Felds  Reinigung,  wie  übrigens  die  nach  Engel  empfiehlt  sich 
auch  aus  dem  Grunde  ganz  besonders  für  den  Hausarzt  und  die 
Hebamme,  weil  sie  weit  bequemer  und  einfacher  ist  als  die  Für- 
bringersche  Methode. 

Seife  wie  Wasser  weichen  die  Haut  auf,  sie  befördern  das  Aus- 
wandern der  Tiefenkeime  ohne  sie  zu  vernichten.  Sollte  es  daher 
nicht  zweckmäßiger  sein,  diese  beiden  Mittel  in  der  Händereinigung  voll- 
ständig fallen  zu  lassen? 

Wasser  schaltet  die  Seifenspiritusreinigung  nach  Mikulicz 
und  Vollbrecht  aus.  Die  Endergebnisse  sind  leider  ungleich,  wohl 
infolge  der  verschieden  starken  Aufweichung  der  Haut  durch  den 
alkalischen  Seifenzusatz.  Neben  weitgehendster  Keimverarmung  findet 
man  Fälle  mit  ungenügender  Wirkung,  ohne  daß  der  Grund  ersichtlich 
wäre.  Immerhin  ist  die  Methode  praktisch  brauchbar  und  wird  auch 
zurzeit  von  vorzüglichen  Chirurgen  durchgehendst  angewandt. 

Wasser  und  Seife  vermeidet  Schumburg,  dem  unzweifelhaft  das 
Verdienst  zukommt,  die  Frage  der  sichern  Schnelldesinfektion  unter- 
sucht und  der  Lösung  nähergebracht  zu  haben.  Schumburgs  Ergeb- 
nisse werden  unter  anderen  von  Kolle  und  Tavel  in  Bern,  denen 
ich  mich  anschließe,  bestätigt  Nach  Reinigung  der  Nägel  wird  die 
Tageshand  unter  Verzicht  auf  Wasser  und  Seife  mittelst  Watte,  Gaze 
oder  Flanell,  was  ich  vorziehe,  um  die  so  gefährlichen  ungekochten 
Bürsten  auszuschalten,  mit  einer  Lösung  von  zwei  Teilen  Alkohol  auf 
einen  Teil  Äther  bei  einem  Zusatz  von  ^4  %  Salpetersäure  abgerieben. 
MeineVersuche  wurden  mit  und  ohne  vorgängige  Reinigung  der  Nägel 
—  letzteres  soll  natürlich  nicht  als  Vorbild  dienen  —  teils  mit  einer 
Lösung  von  zwei  Teilen  Alkohol  und  einem  Teil  Azeton,  teils  tnit 
Alkohol  und  Azeton  zu  gleichen  Teilen  ausgeführt.  Die  Tageshand 
wurde  mit  dieser  Lösung  und  einem  Flanelllappen,  der  einmal  ge- 
wechselt wurde,  kräftig  abgerieben.  Die  Ergebnisse  sind  in  jeder  Be- 
ziehung zufriedenstellend.  Von  beiden  Händen  zugleich  gingen  in 
der  Regel  nur  2—3—4  Keime,  die  sehr  wohl  aus  der  Luft  stammen 
konnten,  auf,  ab  und  zu  blieben  die  Platten  steril  —  d.  h.  es  wurde 
eine  Keimverarmung,  die  an  Keimfreiheit  grenzt,  die  praktisch  einer 
Keimfreiheit  gleichkommt,  erzielt.  Diese  Schnelldesinfekiion,  die  nicht 
mehr  wie  4 — 5  Minuten  in  Anspruch  nimmt  und  nur  eine  einzige 
Maßnahme  erfordert,  ist  denkbar  kurz  und  bequem.  Durch  Eintrock- 
nen und  Entwässern  der  Haut  wird  den  Spaltpilzen,  die  noch  an  der 
Hand  haften  geblieben  sind,  die  wesentlichsten  Bedingungen  für  ein 


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]  I]  Im  Kampfe  gegen  das  Kindbettfieber.  275 

Auskeimen  entzogen,  sie  iLÖfifieii  sicli  während  der  Dauer  einer  Ope- 
ration nicht  vermehren.  AIlLohol-Azeton  ^irkt  daher  außerordentlich 
emwicklungshemmend  auf  Reime  der  Tiefe  wie  der  Oberflache. 

Das  auffallendste  an  dieser  Desinfektionsmethode  ist  aber  die 
Dauerwirkung.  Bei  einer  ganzen  Anzahl  langdauernder  Operationen, 
die  nach  dieser  Scbnelldesinfektion  und  ohne  Handschuhe  ausgeführt 
wurden,  bei  denen  also  genug  Luftkeime  auf  die  Hände  fallen  konnten, 
fanden  sich  bei  der  SchluOentnahme,  selbst  wenn  dieser  ein  8—10 
Minuten  langes  Aufweichen  der  Haut  mit  ^/lo  %  Natronlauge  vorausge- 
gangen war,  nur  spärliche  Keime  an  beiden  Händen  zugleich  vor.  Die 
Zahlen  schwankten  zwischen  0  und  18,  nach  einer  Nafronlaugeauf* 
weichung  zwischen  1— 36  —  d.  h.  weniger  als  Luftkefme  auf  die  Hände 
wahrend  der  Operationszeit  gefallen  sein  konnten.  Die  Dauerwirkung 
erstreckt  sich  auf  1—2  Stunden  nach  der  Desinfektion.  Sie  wird  nicht 
durch  häufiges  Abwaschen  der  Hände  in  sterilem  Kochsalzwässer  oder 
dinth  Aszites  oder  durch  Blut  und  sonstige  Körpersäfte  vermindert. 
Die  Desinfektion  ist  so  sicher,  daß  Handschuhe  überflüssig  erscheinen 
konnen.i) 

Kein  Zweifel,  daß  die  Schumburgsche  Metkode,  namentlich  in 
meiner  Abänderung  mit  Azeton,  eine  ganz  ausgezeichnete  und  zu- 
verlässige Sehnelldesinfekiion  istj  diCy  insbesondere  letztere,  alles 
Winschhare  leistet. 

Scbumburg  and  neuerdings  ▼.  Brunn  haben  auch  Versuche  mit  reinem  Wein- 
geist, mit  des»  gewöhnlichen  denaturierten  Brennspiritus  angestellt,  die  recht  zu^ 
friedenstellend  ausgefallen  sind.  Eigene  Versuche  habe  ich  damit  noch  nicht  aus- 
föbren  können,  auch  ist  mir  über  eine  Dauerwirkung,  die  doch  die  Hauptsache  bei 
allen  Desinfekttonsmethoden  ist,  noch  nichts  bekannt  geworden. 

Azeton  habe  ich  statt  Äther  gewählt,  einmal  weil  es  billiger  als  dieser  ist, 
sodann  und  in  erster  Linie  weil  es  vermöge  seiner  fettlösenden  Eigenschaft  ein 
itMgezeichnetes  Putzmittel  für  die  Haut  ist,  weil  es  ein  vorzüglicher  Ersatz  für 
Seife  ist,  das  entgegengesetzt  der  Seife  die  Haut  nicht  aufweicht,  sondern  diese, 
gleichzeitig  in  vorzüglicher  Weise  eintrocknet  und  härtet.  Die  Tiefenkeime  werden 
derart  eingesperrt,  daß  die  ^/lo  prozentige  Natronlaugenaufweichung  nicht  genügt, 
sie  zu  befreien,  geschweige  denn  andere  Flüssigkeiten,  wie  steriles  Kochsalzwasser, 
Aszites,  Blut  usw.  Venig  angenehm  ist  der  Geruch  des  Azetons;  immerhin  ist  er 
geringer  als  jener  des  Äthers.  Leider  ist  Azeton  feuergefährlich,  so  daß  Vorsicht 
bei  Licht  durchaus  geboten  ist.  Meiner  Erfahrung  nach  reizt  Azeton  die  Haut  nicht, 
im  Gegenteil  beobachte  ich,"  daß  ein  eingewurzeltes  Alkoholekzem  meiner  Hände 
sich  bessert.  Die  Ketone  sollen  eine  geringe  keimtötende  Eigenschaft  besitzen, 
dech  scheint  diese  bei  dem  Azeton  sehr  schwach  zu  sein,  indes  habe  ich  über 
diesen  Punkt  nur  geringe  Erfahrung. 

Wederhake  (Deutsch,  med.  Wochenschr.  1907,  Nr.  15)  empfiehlt  eine  Jod- 
tetrachlormethanlösung,  besonders  auch,  weil  sie  sehr  tief  in  die  Haut  eindränge. 
Vasser  und  Seife  sind  ebenfalls  nicht  erforderlich.    Tetrachlormethan,   CCI4,  ist 

1)  Herr  Dr.  Oeri  wird  demnächst  diese  Versuche  genauer  mitteilen. 

21* 


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276  Otto  von  Herif,  [12 

nicht  feuergefihrlich ,  es  Idst  mit  Leichtigkeit  öle,  Paraffin,  Kautschuk  —  ich  habe 
bisher  keine  Gelegenheit  gehabt,  mich  mit  dieser  Methode  näher  zu  befassen. 

Die  Kenntnis,  daß  es  mit  keiner  der  früheren  Desinfektions- 
methoden, insbesondere  der  FOrbringerschen,  gelingt,  eine  an 
Keimfreiheit  grenzende  Keimverarmung  der  Hände  auf  die  Dauer 
zu  erzielen,  führte,  da  sich  die  Zwirnshandschuhe  Halsteds  (1801) 
nicht  bewährten,  zur  Einführung  der  Gummihandschuhe  durch 
Zoege  von  Manteuffel  (1895).  Diese  wurden  von  Friedrich 
wesentlich  verbessert.  Als  Vorläufer  der  Handschuhe  kann  die  Emp- 
fehlung Murphys  (1894)^)  gelten,  die  Hände  mit  einer  4prozenti- 
gen  Guttaperchabenzinlösung,  das  Operationsfeld  mit  dem  rascher 
trocknenden  Guttaperchaazeton  zu  bestreichen  —  auf  welche  Vor- 
schläge ich  noch  später  zu  reden  kommen  werde.  Gummihand- 
schuhe lassen  sich  durch  Dampf,  weniger  zweckmäßig  durch  Kochen, 
im  Notfalle  auch  durch  Heißwasserseife  und  Alkohol  sicher  keim- 
frei machen  —  das  ist  nicht  zu  bezweifeln,  doch  dürfen  sie  keine 
Löcher  haben,  das  ist  unbedingte  Voraussetzung.  Der  Vorteil  der 
sicheren  Keimfreiheit  ist  so  groß,  daß  manche  in  deren  Gebrauch 
das  beste  Prophylaktikum  gegen  Kindbettfieber  sehen  (Döderleio). 
Leider  haften  den  Handschuhen  mancherlei  Nachteile  an,  die  damit 
nicht  aus  der  Welt  geschafft  werden,  daß  sie  als  nicht  stichhaltig 
kurzweg  erklärt  werden.  Auch  verfügen  wir  jetzt  über  Methoden 
der  Händereinigung,  die  eine  solche  Keimarmut  in  wenigen  Minuten 
in  der  bequemsten  Weise  gewährleisten,  daß  man  sich  füglich  fragen 
muß,  ob  die  Handschuhe  tatsächlich  eine  solch  größere  Sicherheit 
gewähren,  daß  ihre  nicht  unbeträchtlichen  Nachteile  gerne  in  den 
Kauf  zu  nehmen  wären.  Besonders  zu  erwähnen  sind:  die  Glätte, 
ferner  die  Herabsetzung  des  Tastgefühles,  die  geringe  Haltbarkeit 
und  Kostspieligkeit,  nicht  zu  vergessen  die  Zerreißlichkeit.  Ich  bin 
seit  vielen  Jahren  an  Handschuhe  und  Fingerlinge  gewöhnt,  aber  noch 
heute  ist  mir  bei  gewissen  geburtshilflichen  Eingriffen  die  Glätte  und 
die  Herabsetzung  des  feinen  Tastgefühls  höchst  unangenehm.  So  wird 
mir  das  Sprengen  der  Eihäute  außerordentlich  erschwert,  die  Ablösung 
der  Placenta  unsicherer,  das  Fühlen  einzelner  Eihautfetzen  fast  unmög- 
lich gemacht.  Habe  ich  doch  vor  wenigen  Wochen  erlebt,  daß  ein 
sehr  tüchtiger  und  gewandter  Arzt,  der  das  Fehlen  eines  Plazentar- 
lappens  erkannte,  diesen  trotz  sorgsamster  Abtastung  der  Uterushöhle 
nicht  finden  konnte,  schließlich  glaubte  sich  geirrt  zu  haben.  Aber 
einige  Tage  später  wurde  ein  handtellergroßes  Plazentarstück  ausge- 
stoßen!   Grund?    Die  Austastung  war  wegen  Lues  mit  Handschuhen 


1)  Journal  of  American  Association  1904,  no.  12. 

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13]  Im  Kampfe  gegen  das  Kindbettfleber.  277 

vorgenommen  worden«  Welche  Schwierigkeiten  mag  drum  ein  Arzt, 
der  nicht  so  wie  ich  an  den  täglichen  Gebrauch  von  Handschuhen 
und  Fingerlingen  gewöhnt  ist,  zu  überwinden  haben,  muß  nicht  sein 
Eingreifen  unsicher  werden?  Man  erkundige  sich  nur  einmal  da- 
nach! Und  was  die  Zerreißlichkeit  anbelangt,  so  sah  ich  erst  neulich 
auf  meinem  Kreißsaale,  wie  bei  einer  allerdings  etwas  schwierigen  Ex- 
traktion nach  Deventer-M Oller  ein  neuer  Handschuh  quer  einriß  und 
in  Fetzen  ging!  Das  hatte  im  vorliegenden  Falle  ja  nichts  zu  sagen,  da 
zuvor  die  Hand  nach  Ahlfeld  zum  mindesten  keimarm  gemacht 
vorden  war,  und  diese  Keimarmut  sich  unter  einem  trockenen 
Handschuhe  nachweislich  stundenlang  erhält.  Wie  oft,  meine  Herren, 
entstehen  kleine  Risse,  wie  oft  haben  neue  Handschuhe  ganz  kleine  und 
kleinste  Defekte?  Man  achte  doch  nur  einmal  darauf!  Ist  die  Hand 
nicht  vollkommen  trocken,  bildet  sich  ein  »Handschuhsaft'',  der  oft 
genug  voll  Spaltpilzen  ist,  so  quillt  er  nach  außen  und  kann  infizieren. 
Auf  der  andern  Seite  können  Flüssigkeiten  von  außen  unter  den  Gummi 
eindringen  und  den  Arzt  erheblich  gefährden.  Unter  allen  Umstän- 
den zwingt  die  Zerreißbarkeit  der  Handschuhe  die  Hand  zuvor  auf 
das  allersorgfältigste  zu  reinigen.  Geschieht  solches  mit  einer  der 
besprochenen  Alkoholmethoden,  die  ja  eine  anhaltende,  weitest- 
geliende  Keimarmut,  die  an  Keimfreiheit  grenzt,  die  unter  allen  Um- 
standen für  die  Dauer  einer  geburtshilflichen  Operation  weit  aus- 
reicht, sicher  gewährleisten,  so  sind  Handschuhe  eigentlich  überflüssig, 
da  sie  praktisch  kaum  einen  größeren  Schutz  verleihen  können.^) 
Das  sind  Tatsachen,  die  sich  durch  noch  so  volltönende  Worte  der 
eigenen  Oberzeugung  des  Gegenteils  nicht  aus  der  Welt  schaßten  lassen 
und  die  keinen  anderen  logischen  Schluß  gestatten  als  den  eben  ge- 
falirten.  Handschuhe  haben  auch  in  der  Tat  die  Ergebnisse  der  Kliniken 
nicht  im  geringsten  zu  bessern  vermocht,  was  doch  unbedingt  der 
Fall  sein  müßte,  wenn  wirklich  den  Handschuhen  ein  so  großer  Vor- 
teil zukommen  würde.  Um  diesen  Punkt  gehen  die  Anhänger  der 
Handschuhe  herum  —  aber  damit  wird  diese  wichtige  Tatsache  nicht 
ausgeschaltet!  Der  Nichtgebrauch  der  Handschuhe  bedeutet  daher 
noch  lange  nicht  einen  Mangel  an  Gewissenhaftigkeit  (Jung)  oder 
gar  einen  Leichtsinn,    wie  kurzsichtige  Kritik,    der   die  Wertigkeit 


1)  So  schreibt  DurUcher  in  der  Ärztlichen  Rundschau  1907,  Nr. 33  aus  der 
Praxis  heraus:  Den  geübten  Praktiker  kann  zwar  hier  (d.  h.^bei  zuvor  mit  Eiter  be- 
scbmutzten  Hfinden)  das  Operieren  mit  Gummihandschuhen  große  Vorteile  bieten; 
der  Anflnger  wird  aber  durch  die  Tastsinnesbeschrfinkung  für  die  Handschuhe  weniger 
Sjnnpathie  bekunden.  —  Jedenfalls  kommen  die  ganz  vereinzelten  Keime,  die  sich  von 
einer  Hand  ohne  Handschuhe  entfernen  lassen,  nicht  in  Betracht,  gegenüber  der 
Menge  Keime  der  Scham  und  Scheide,  die  mit  verschleppt  werden. 


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278  Otto  von  Herff,  [14 

der  neueren  D^infektionsmethoden  offenbar  vollständig  unbekannt 
geblieben  ist,  behaupten  konnte. 

Der  tuDerordentlich  unschätzbare  Wert  der  Handschuhe  liegt  auf 
einem  anderen  Gebiete: 

Schutz  der  eigenen  Hand  gegen  Beschmutzung  mit  gefährlichen 
Fremdkörpern  aas  anderen  Quellen,  Schutz  gegen  eigene  Erkraw- 
hang,  Ermöglichung  der  eigenen  Tätigkeit,  wenn  die  Hand  nicht 
ganz  frei  von  kleinsten  Rillen,  Schrunden  und  Wunden  aller  Art 
ist.  Gerade  diese  unscheinbaren  Hautverletzungen  beherbergen  Spalt- 
pilze, darunter  gewiß  nicht  selten  angriffskräftige  Formen ,  die,  als 
Fremdkeime  in  frische  Geburtswunden  eingepflanzt,  die  schwersten 
Erkrankungen  auszulösen  vermögen. 

In  der  Ermöglichung  des  Eigenschutzes,  der  sogenannten  Noninfek- 
tion,  liegt  der  wahre  Wert  der  Handschuhe,  der  selbst  ein  unersetz- 
licher wäre,  wenn  dieser  Eigenschutz  sich  nicht  auf  dem  Wege  Mur- 
phys in  billigerer  Weise  ermöglichen  ließe!  Eine  tiefe  Wahrheit  liegt 
in  Kochers  Anschauung,  gewiß  eines  der  maßgebendsten  Chirurgen 
der  Jetztzeit,  dem  nicht  Mangel  an  Gewissenhaftigkeit  oder  gar  Leicht- 
sinn vorgeworfen  werden  kann,  daß  man  nicht  während  einer  Opera- 
tion, sondern  in  der  Zwischenzeit  Handschuhe  tragen  solle! 

Betont  muß  werden,  daß  ein  Selbstschutz  nur  bei  unverletzten  Handschuhen 
vorhanden  ist.  Zweimal  habe  ieh  trotz  Handschuh  Wundrose  an  meinem  linken 
Arm  davongetragen,  der  Gummi  mußte  kleinste  Lficher  besessen  haben.  Daß  in 
solchen  Pillen  die  Gefahr  bei  Handschuhen  größer  ist  als  ohne  diese  liegt  auf  der 
Hand.    Immerhin  scheinen  diese  persönlichen  Erfahrungen  Ausnahmen  zu  sein. 

Der  richtige  und  sachgemäße  Gebrauch  von  Handschuhen  verein- 
facht nicht  die  Desinfektion,  sondern  erschwert  und  verteuert  sie  nament- 
lich nicht  unerheblich«  Höhere  Ansprüche  an  die  Gewissenhaftigkeit,  an 
die  Bequemlichkeit  und  an  die  Zeit  des  Arztes  werden  gestellt,  als 
es  irgendeine  der  bewährten  Alkoholmethoden  nach  Ahlfeld,  Engel, 
oder  Schumburgs  Schnelldesinfektion  fordern.  Das  sind  Gründe 
genug,  um  danach  zu  streben,  die  Handschuhe  für  die  Praxis  über- 
flussig zu  machen« 

Die  unverkennbaren  Nachteile  der  Handschuhe,  das  Bestreben, 
deren  Vorteile  auch  auf  andere  Weise  zu  erreichen,  insbesondere  das 
mechanische  Prinzip  der  Keimeinsperrung  in  der  Händereinigung 
(Schleich)  zu  vervollkommnen,  führte  zu  aussichtsreichen  Ver- 
suchen, die  Hautkeime  in  ihren  Schlupfwinkeln  fest  zu  bannen. 
Der  Versuche  Murphys,  eine  Art  Gummihandschuh  zu  scha£Fen, 
habe  ich  soeben  gedacht,  ich  selbst  besitze  darüber  keine  Erfahrung. 

In  einfacher,  allerdings  in  wenig  sicherer  Weise  läßt  sich  der 
Forderung  der  Keimabsperrung  nachkommen  durch  das  von  alters 


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15]  Im  Kampfe  gegen  das  Kindbettfieber.  279 

her  bekannie  Einreiben  der  Haut  mit  Öl,  überhaupt  mit  Fett  oder 
Vtseline.  Ich  selbst  habe  fOr  das  Operationsfeld  mit  gutem  Erfolge 
liogere  Zeit  Jodipin  verwandt.  Alle  diese  Mittel  verschmieren,  außer-* 
dem  kann  man  sich  leicht  davon  überzeugen,  daß  sie  nicht  sicher 
sind,  weil  sie  sich  zusamt  den  Hautkeimen,  die  nicht  abgetötet  wurden, 
abstreifen  lassen.  Durchaus  brauchbar  ist  die  Desinfektionsmethode 
Heußners:  5 — 10  Minuten  langes  Abreiben  der  trockenen  Hand  mit 
IVoo  Jodbenzinlösung,  —  statt  dessen  habe  ich  Jodazeton  mit  gleicher 
Wirkung  versucht,  —  welcher  etwa  10%  ParafSnöl  zur  Schonung  und 
Deckung  der  Haut  zuzusetzen  ist  Verlangt  muß  aber  werden,  daß 
solche  Schutzmittel  eintrocknen  und  der  Haut  fest  anhaften,  wenn 
sie  Gummihandschuhe  ersetzen  sollen.  D  öder  lein  verwendet  daher 
gelöstes  Guttapercha,  Gaudanin  im  Handel  genannt,  doch  ist  dieses 
Mittel,  abgesehen  von  der  Umständlichkeit  seiner  Anwendung,  auf 
einem  Operationsfeld  sehr  brauchbar,  aber  nicht  für  die  Hände  ge- 
eignet. 

Viel  zweckmäßiger  erscheint  das  Wichsen  (Bohnen)  der  Haut  mittelst 
Chirosoter,  einer  Lösung  verschiedener  Wachsarten  in  Tetrachlor- 
kohlenstoff, die  geßirbt  und  ungefärbt  in  den  Handel  kommt^)  Diese 
Wachslösung,  die  besonders  von  Klapp  empfohlen  wird,  gewährleistet, 
selbst  wenn  sie  auf  eine  völlig  unvorbereitete  Tageshand  aufgetragen 
wird,  eine  solche  weitgehende  Keimarmut,  die  an  Keimfreiheit  grenzt, 
wie  sie  nur  mit  den  Alkoholmethoden  erreicht  werden  kann.  Diese 
ist  zudem  dauernd,  weil  Tiefenkeime  nicht  mehr  auswandern  können 
und  der  Wachsüberzug  nicht  so  bald  abblättert.  Zur  Anwendung 
eignen  sich  nach  den  Versuchen  Meißners,  dem  ich  hier  folge,  so- 
wie nach  meinen  eigenen  Erfahrungen  —  ich  verwende  seit  langem 
Chirosoter  zur  Abdeckung  aller  Operationsfelder,  einschließlich  des 
der  Scham  mit  allerbestem  Erfolge  —  eine  möglichst  trockene  Haut 
oder  eine  solche,  die  mit  Seifenspiritus  oder  nach  Ahlfelds  Me- 
thode, oder,  noch  besser,  mittelst  der  Schumburg-Schnelldesin- 
fektion  oder  mit  Alkohol-Azeton  gereinigt  wurde.  Je  trockener  die 
Haut,  die  Hände  sind,  desto  besser  haftet  der  Chirosoterüberzug,  desto 
sicherer  und  dauernder  werden  die  Spaltpilze  auf  und  in  der  Haut 
festgeleimt.  Sollen  Unternagelräume,  deren  Bedeutung  übrigens  über* 
trieben  wird,  gewichst  werden,  so  müssen  die  Nägel  so  kurz  wie  nur 
möglich  geschnitten  werden,  eine  Forderung,  die  auch  sonst  gestellt 


1)  Chirosoter^  der  leicht  flüchtig  aber  nicht  feuergefährlich  ist,  wird  von  der 
Firma  Krewel  u.  Ko.,  Köln  a.  Rhein  hergestellt.  Die  mit  Sudanrot  gefärbte  Lösung 
ist  besonders  für  das  Operationsfeld  zu  empfehlen,  weil  dadurch  ein  Zuviel  und 
somit  unangenehme  Hautreizungen  leicht  vermieden  werden. 


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280  Otto  von  Herff,  [16 

werden  muß.  Gigerl-  und  Chinesennägel  bei  einem  Operateur  weisen 
auf  höchst  üble  Gewohnheiten  in  der  Desinfektion  hin.  Der  Chiro- 
soter  ist  erheblich  billiger  als  Gummihandschuhe,  steht  jederzeit  bereit, 
läßt  sich  leicht  mitfOhren  und  bedarf  als  nicht  feuergefahrlich  keiner 
besonderen  Vorsicht.  Ferner  ist  dieses  Mittel  ein  gutes  Hautkosme- 
tikum  und  erleichtert  den  Selbstschutz.  Als  Nachteil  teilt  der  Chi- 
rosoterüberzug  die  Schlüpfrigkeit  mit  den  Gummihandschuhen,  auch 
vertragen  einzelne  Personen  den  Tetrachlorkohlenstoff  nicht.  Ich 
wenigstens  bekomme  eine  stark  juckende  Hautentzündung,  die  mehrere 
Tage  anhält,  doch  bin  ich  in  dieser  Beziehung  ausnahmsw'eise  be- 
sonders empfindlich.  In  den  recht  zahlreichen  Fällen,  in  denen  ich 
bei  Scheidenoperationen  Chirosoter  auf  die  doch  so  empfindliche 
äußere  Scham  angewandt  habe,  sind  bisher  keine  besonderen  Reiz- 
erscheinungen aufgetreten.  Mit  einem  solchen  Wachshandschuh 
läßt  sich  das  Prinzip  des  Selbstschutzes,  d.  h.  der  Nonin- 
fektion,  in  weitestgehender  Weise  durchführen.  Ich  freue 
mich  hier  sagen  zu  können,  daß  Kollegen  sich  dieses  Schutzmittels 
mit  bestem  Erfolge  z.  B.  bei  Sektionen  bedienen  und  damit  sehr  zu- 
frieden sind.  Diese  ziehen  den  Chirosoter  entschieden  den  so  leicht 
verletzbaren  und  teuren  Handschuhen  vor.  Meine  Herren,  ich  stehe 
daher  nicht  an  zu  erklären: 

Der  Chirosoterüberzug,  das  Wichsen  der  Hand,  besonders 
aber  der  Haut  ist  eine  Methode,  die  der  Beachtung  der  Ärzte 
in  jeder  Beziehung  wert  ist,  die  namentlich  auf  dem  Gebiete 
des  Selbstschutzes  die  so  wichtige  Handschuhfrage  in  glück- 
lichster Weise  zu  lösen  scheint.  Die  Handschuhe  erscheinen 
entbehrlich.  Chirosoter  und  Schumburgsche  Schnelldesin- 
fektion neben  Ahlfelds  oder  Engels  Methode  leisten  über- 
dies auf  dem  Operationsfeld  das  zurzeit  Erreichbare. 

Die  Anwendung  des  Chirosoters  ist  erheblich  einfacher  als  die  des  Gaudanins 
und  daher  ist  es  diesem  vorzuziehen.  Nach  Reinigung  der  UntemagelrSume  wird 
auf  die  möglichst  trockene  Hand  der  Chirosoter  unter  Berücksichtigung  der  Nagel- 
räume aufgesprüht  oder  auch  einfach  aufgegossen  und  in  die  Haut  fest  einge- 
rieben. Will  man  die  Hand  oder  die  Haut  eines  Operationsfeldes  zuvor  reinigen, 
was  doch  gewiß  nur  von  größten  Vorteil  sein  kann,  so  geschehe  dieses  nach  einer 
der  Alkoholmethoden,  insbesondere  mit  Alkohol-Azeton,  um  eine  möglichste  Trocken- 
heit zu  erzielen.  Jodlösungen  erübrigen  sich  von  selbst,  ein  Punkt,  der  wegen 
etwaiger  Hautreizungen  nicht  ganz  ohne  Bedeutung  ist. 

Die  Scham  einer  Frau  keimfrei  zu  machen,  ist  eine  noch  un- 
gelöste Aufgabe,  da  die  zarte  Haut  dieser  Teile  sehr  empfindlich  ist. 
Und  doch  muß  bei  dem  ungeheuren  Reichtum  an  Spaltpilzen,  der 
gerade  dieser  Gegend  eigentümlich  ist,  diese  Frage  erledigt  werden, 
weil  bei  einem  operativen  Eingriff  jederzeit  die  Gefahr  der  Keimver- 
schleppung in  die  Tiefe  der  Teile  besteht. 


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17]  Im  Kampfe  gegen  das  Kindbettfieber.  281 

Die  wohl  allgemein  übliche  und  außer  mir  ohne  Narl^ose  be- 
folgte Reinigung  mit  Heißwasser-Seife  plus  Desinfiziens  (Sublimat)  in 
Wasser  hat  nicht  mehr  Wert  als  irgendeine  gewöhnliche  Seifen- 
waschung, welch  letztere  ja  als  völlig  ungenügend  genugsam  bekannt 
ist.  Man  untersuche  nur  einmal  diese  Gegend  auf  ihren  Keimgehalt 
und  man  wird  überrascht  sein  von  dem  geringen  Ergebnis  dieser  „gründ- 
lichen Desinfektion''.  Man  begreift  aber  auch,  wie  so  manche  durch 
scharfe  Logik  ausgezeichnete  Geburtshelfer  von  einer  solchen  Schein- 
desinfektion völlig  absehen  wollen,  die  Scham  unberührt  lassen, 
um  deren  Keime  nicht  noch  mehr  aufzurühren  und  in  Bewegung  zu 
setzen  zumal  auch  ein  sorgfältig  enthaarter  Haarboden  sich  mit  solchen 
Mitteln  nicht  im  geringsten  keimarm  machen  läßt. 

Die  besten  Ergebnisse  an  der  Scham  erhielt  ich  mit  einer  Alkohol- 
Azetonreinigung.  Mehrfach  gelang  es  mir,  eine  sehr  weitgehende 
Keim  Verarmung  zu  erzielen,  niemals  aber  Keimfreiheit  wie  an  der 
Hand.  Bei  gynäkologischen  Eingriffen  suche  ich  sie  mir  mit  einem 
Chirosoterüberzug  zu  sichern.  Aber  eine  solche  Reinigung  läßt  sich 
ohne  Narkose  nicht  durchführen,  sie  ist  somit  für  die  gewöhnliche 
Geburtshilfe  ausgeschlossen.  Gegenwärtig  wende  ich  vor  einem  ge- 
burtshilflichen Eingriffe,  sofern  er  Narkose  erfordert,  Ahlfelds  Me- 
thode, auch  Mikulicz'  Seifenspirituswaschung  an.  Vielleicht  gehe 
ich  aber  zum  Alkohol-Azeton  über,  ob  mit  Chirosoterüberzug,  das 
weiß  ich  allerdings  noch  nicht.  Ich  halte  diese  Frage  übrigens  für 
ziemlich  nebensächlich. 

Die  zurzeit  bestehende  Unmöglichkeit,  die  weibliche  Scham  ohne  Narkose 
irigendwie  keimfrei  zu  machen,  verbunden  mit  der  tfiglichen  Erfahrung,  daß  die  hier 
hausenden  Spaltpilzarten  in  der  Regel  verhältnismäßig  unschuldig  für  ihre  Trä- 
gerin sind,  sofern  sie  nicht  in  frische  Geburtswunden  durch  ein  Trauma  eingepflanzt 
▼erden,  hat,  wie  gesagt,  einzelne  Geburtshelfer,  so  Krön  ig,  dazu  geführt,  auf 
jedvelche  Reinigung  der  Schamgegend  zu  verzichten.  Ich  gehe  nicht  so  weit,  weil 
ich  der  Ansicht  bin,  daß  man  stets  das  zurzeit  Erreichbare  leisten  soll,  wenn  es  auch 
zunächst  noch  so  unvollkommen  ist.  Immerhin  muß  ich  nach  besserer  Erkenntnis  der 
Sachlage  den  scharfen  Ausdruck,  den  ich  in  meiner^Abhandlung  über  das  Kindbett- 
fleber  gebraucht  habe,  nämlich,  daß  die  Unterlassung  der  Reinigung  der  Scham 
ein  Kunstfehler  sei,  als  viel  zu  weitgehend  zurücknehmen.  Ich  betone  aber,  daß 
durch  Rasieren  der  Scham  und  ihre  Reinigung  mit  einer  der  Alkoholmethoden  eine 
recht  beträchtliche  Keimverarmung  erzielt  wird,  die  so  ganz  ohne  Wert  doch  nicht 
sein  dürfte,  daß  bei  Anwendung  des  Chirosoters  eine  Keimverarmung,  die  an  Keim- 
freiheit grenzt,  zu  erreichen  ist. 

Die  Forderung)  die  Scheide  von  ihren  Eigenkeimen  zu  befreien, 
läßt  sich  theoretisch  wohl  begründen,  praktisch  stößt  aber  eine  solche 
Mafiregel  auf  große  Schwierigkeiten,  sicherlich  ist  sie  aber  in  vielen 
Fallen  unnötig.  Durch  Scheidenspaiungen  läßt  sich  eine  Keimfreiheit 
gar  nicht  oder  doch  sehr  schwer  erzielen,  hingegen  ist  eine  weit- 


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282 


Otto  von  Herif, 


118 


gehende  Keimverarmung,  bedingt  durch  Abschwemmen  der  lose  sitzen- 
den Spaltpilze,  eher  zu  erreichen. 

Bei  normaler  Geburt  mit  geringstem  Geburtstrauma  sind  die 
Scheidenkeime  kaum  zu  fürchten,  zumal  viele  von  ihnen  unter 
der  Geburt  durch  das  Fruchtwasser,  nachhaltiger  jedoch  durch  den 
Fruchtkörper  und  die  Nachgeburt  ausgewischt  werden.  Die  übrig- 
gebliebenen Spaltpilze  steigen  erst  zu  einer  Zeit  im  Verlaufe  des 
Wochenbettes  in  die  Gebärmutter,  zu  der  die  Geburtswunden  bereits 
geschützt  sind,  schwere  Erkrankungen  kaum  noch  zustande  kommen 
können.  Von  Vorteil  sind  daher  nach  meiner  Erfahrung  und  Ober- 
zeugung —  und  darin  fühle  ich  mich  eins  mit  Fehling  —  Scheide- 
spülungen vor  einer  jeden  geburtshilflichen  Operation.  Unbedingt  not- 
wendig sind  sie  bei  mangelhaftem  Schluß  des  Scheidenmundes  infolge 
Dammriß,  bei  Vorfällen  aller  Art,  zumal  wenn  gleichzeitig  Cervixrisse 
vorhanden  sind.  Auch  bei  einer  Infektion,  kenntlich  an  Fieber  unter 
der  Geburt  oder  an  einem  übelriechenden  Ausfluß»  sind  sie  am  Platze, 
ferner  wenn  zwischen  dem  Eisacke  und  der  Uteruswand  operiert 
werden  muß,  z.  B.  vor  und  nach  Nachgeburtslösungen.  Für  diese 
letzteren  beiden  Fälle  müssen  als  weitere  Vorbeugungsmaßregel  neben 
den  Scheidenspülungen  noch  Gebärmutterausspülungen  ausgeführt 
werden.  Die  Überlegung  ist  gewiß  nicht  falsch,  die  Möglichkeit 
muß  zugegeben  werden,  daß  mit  der  Verminderung  der  Zahl  der  Keime 
die  Wahrscheinlichkeit,  daß  solche  in  Geburtswunden  verschleppt 
werden  oder  selbständig  einwandern,  entsprechend  geringer  wird. 
Überdies  ist  die  Zahl  der  eigentlichen  Krankheitserreger,  deren  Angriffs- 
kraft infolge  ungenügender  Ernährung  zunächst  noch  geschwächt  ist, 
klein.  Jedenfalls  können  solche  Ausspülungen  nicht  schaden,  sondern 
nur  nützen. 

Die  Berechtigung,  ja  den  Nutzen  vorbeugender  Scheiden- 
und  Gebärmutterausspülungen  glaube  ich,  durch  meine  und 
anderer  klinische  Erfahrung  in  jeder  Beziehung  sicher  ge- 
stützt zu  sehen. 

Immer  und  immer  wird  gegen  Scheidenspülungen  der  Vorwurf  erhoben, 
daß  solche  schaden,  selbst  von  Verteidigern  der  Spülungen  vor  Operationen, 
wiewohl  ein  etwaiger  Schaden  sich  in  solchen  Fällen  ganz  besonders  geltend 
machen  müßte,  was  aber  hierbei  direkt  verneint  wirdi  Die  glänzenden  Er- 
gebnisse der  Kliniken,  bei  denen  grundsätzlich  vorbeugende  Scheidenspülungen 
gemacht  werden,  lehren  laut  das  Gegenteil,  sie  werden  daher  bei  Erörterung  dieser 
Fragen  gern  als  unbequem  beiseite  geschoben!  Insbesonders  die  Ziffern  Würz- 
burgs  unter  Hofmeier^)  mit  nunmehr  über  9000  Geburten,  bei  denen  Sublimat- 


1)  Weitere  Beispiele  siehe  Das  Kindbettfieber  in  v.  Winckels  Handbuch  der 
Geburtshilfe  Bd.  3,  2.  Teil. 


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19]  Im  Kampfe  gegen  das  Kindbettfieber.  283 

anaspaloiigen  gemacht  worden  sind,  beweisen  in  einwandfreier  Weise,  weil  es  sich 
am  konstante  Ergebnisse  lundelt,  —  die  Fehlergrenze  Hegt  unter  1  —  daß  die 
Scheidenspiiluagen  keinerlei  Schaden  angerichtet  haben.  Beobachtet  wurden,  bei 
11^%  GesamtmorbiditSt,  7,3%  Kindbettfieber,  worunter  nur  2,3%  schwere  Formen 
gewesen  sind.  Einen  Nutzen  mag  man,  wenn  man  durchaus  will,  weil  Vergleichs- 
zahlen  fehlen,  trotz  dieser  glänzenden  Ergebnisse  bestreiten,  aber  einen  Sehaden 
2tt  behaupten  erscheint  widersinnig. 

In  solchen  heiklen  Fragen  können  kleine  Zahlen  nichts  beweisen.  Ich  habe 
solches  bereits  Baisch  gegenüber  an  anderer  Stelle  rechnerisch  nachgewiesen  und 
bin  noch  nicht  widerlegt  worden,  i)  Baisch  wiederholt  (Medizinische  Klinik 
1907,  S.  281),  daß  Scheidenspülungen  schadeten,  da  bei  seinen  Gespülten  um  das 
Doppelte  mehr  Fieber  als  bei  den  Nichtgespülten  beobachtet  wurde.  Urteilen  Sie 
selbst,  meine  Herren!  Mit  der  ZuveriSssigkeit  eines  wissenschaftlichen  Experimen- 
tes soll  bewiesen  worden  sein,  daß  Scheidenspülungen  vor  der  Geburt  immer 
schidlich  seien.    Denn  von 

500  Nichtgespülten  fieberten  insgesamt  8%,  davon  genital  5,2% 
500  Gespülten  ,  „     12,8%,      „  «      10,0% 

d.h.  es  fanden  sich  Unterschiede  zuungunsten  der  Nichtgespülten  von  4,8%.  Die  Wahr- 
scheinlichkeitsrechnung, die  Ba  isch  freilich  außer  acht  läßt,lehrt  nun,  daß  für  gleiche 
Reihen  von  500  Nichtgespülten  derProzentsatz  der  Genitalflebernden  zwischen  rund 2,4% 
QQd  7,9%  schwanken  kann,  bei  den  Gespülten  zwischen  6,2%  und  13,7  %,  bei  den  Insge- 
samtflebernden  bei  den  Nichtgespülten  zwischen  rund  3,3%  und  12,7%  und  bei  den 
Gespulten  von  7,5  %  und  18,5  %  =  d.  h.  beide  Reihen  der  äußersten  Möglichkeiten 

l>erühren  sich.  Bei  500 Fällen  beträgt  die  Fehlergrenze  ±  0,0276,  wenn  —  =  0,05  =  5% 

ist  und   bei    10%  1—  =  0,lo|  ±  0>0379I   Baisch  hat  trotz  des  Unterschiedes  von 

4^%,  der  geringer  ist  als  der  wahrscheinliche  Fehler,  daher  kein  Recht  mit  der 
Sicherheit  eines  Experimentes  zu  behaupten,  daß  ein  Schaden  durch  die  Aus- 
spülungen entstanden  ist,  daß  das  Spiel  des  Zufalles  in  seinen  Reihen  sicher 
ausgeschlossen  werden  kann.  Würzburgs  Erfahrungen  müssen  doch  zur  größten 
Vorsicht  auffordern!  Meine  eigenen  Untersuchungen  auf  diesem  Gebiete,  die 
freilich  noch  nicht  abgeschlossen  sind,  ergaben  bei  3  %  Therapogenscheiden- 
Spülungen  und  bei  einer  Fiebergrenze  von  37,9^  Achselmessung,  daß  unter 
1800  Gespülten  rund  15%  fieberten,  darunter  vom  Genital  aus  8%,  gegenüber 
dem  früheren  Durchschnitt  von  11,03%  unter  4735  Geburten  der  Jahre  1902/1906. 
Es  läßt  sich  daher  eine  Besserung  von  3%  bei  den  Gespülten  ausrechnen.  Trotz- 
dem würde  es  einen  sehr  groben  Fehler  meinerseits,  der  ich  von  der  Notwendigkeit 
der  Wahrscheinlichkeitsrechnung  überzeugt  bin,  bedeuten,  wenn  ich  diese  Besserung 
schon  jetzt  als  eine  sichere  Folge  der  Therapogenausspülungen  ausposaunen  wollte, 
denn  bei  1000  beträgt  der  mögliche  Fehler  bei  10%  noch  immer  ±  0,0270,  bei 
2000  ±0,019!  Man  bedenke  nur,  daß  in  dem  ersten  Viertel  dieser  Fälle  6,7%,  im 
zweiten  9,8%,  im  dritten  8,5%  und  im  vierten  6,5%  Genitalfieber  gezählt  wurden, 
Zihlen,  die  untereinander  natürlich  gleichwertig  sind.  N  u r  d u r c h^H eranziehung 
der  Wahrscheinlichkeitsrechnung    wird  die  vergleichende  Statistik 


1)  Baisch,  Der  Einfluß  der  Scheidendesinfektion  auf  die  Morbidität  im  Wochen- 
bett Arch.  f.  Gyn.  1906,  Bd.  19,  Heft  2. 

2)  Jahresbericht  des  Frauenspitals  Basel  Stadt  für  das  Jahr  1906,  S.  46. 


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284 


Otto  von  Herff, 


[20 


wissenschaftlich  verwertbare  Ergebnisse   erzielen  —  diese  Erkenntnis 
muß  sich  auch  auf  dem  Gebiete  der  Medizin  unbedingt  Bahn  brechen  I 

Unrichtig  ist  die  stets  wiederkehrende  Behauptung,  daß  schwere  Erkrankungen 
oder  gar  Todesfälle  nach  Eigenansteckungen  nicht  vorkommen  können,  daß  Kreißende, 
die  ausnahmsweise  auf  diese  Art  erkranken,  nur  leichte  Fieber  bekommen.  Die 
Ergebnisse  aller  Kliniken,  die  ausschließlich  mit  Handschuhen  untersuchen,  lehren 
eindringlichst,  daß  trotzdem  schwere  Erkrankungen,  wenn  auch  vielleicht  nur  auf 
dem  Umwege  eines  Geburtstraumas  vorkommen.  Auch  diese  Kliniken  haben  über 
Verluste  an  Anstaltsinfektionen  zu  klagen  so  gut  wie  die  anderen.  Zeigten  doch 
auch  in  Tübingen  unter  Döderleins  Leitung  jene  Kreißenden,  die  wihrend  der 
Geburt  innerlich  nicht  untersucht  wurden,  d.  h.  die  leichtesten  und  gunstigsten  aller 
Geburten ,  die  an  sich  die  geringsten  Aussichten  auf  eine  Infektion  darbieten,  noch 
immer  rund  5%,  wenn  auch  zumeist  leichtes  Fieber  (Bai seh).  Ganz  harmlos  sind 
die  Eigenkeime  der  Frau  durchaus  nicht  Es  kommt  nur  auf  die  Bedingungen  an, 
die  sie  vorfinden,  diese  können  gelegentlich  auch  so  beschaffen  sein,  daß  die 
schlummernde  Angriffskraft  gesteigert  wird.  Unter  anderen  hat  ja  Natvig  das 
Aufsteigen  eines  Streptokokkus  der  Süßeren  Scham  in  die  Tiefe  der  Geschlechtsteile 
und  eine  dadurch  bewirkte  Infektion  nachgewiesen,  die  leicht  hätte  tödlich  werden 
können. 

Keinem  Zweifel  kann  es  unterliegen,  daß  eine  zweckmäßige  wirk- 
lich zuverlässige  Desinfektion  des  ärztlichen  Personales  —  Arzt, 
Hebamme  —  aller  Gegenstände,  die  mit  der  Kreißenden  in  Berüh- 
rung kommen,  sowie  der  Gebärenden  selbst,  soweit  dieses  zurzeit 
erreichbar  ist,  sofort  und  dauernd  die  Zahl  der  schweren  oder 
tödlich  endigenden  Kindbettfieber  auf  eine  Mindestzahl  sinken  lassen 
wird.  Aussicht  ist  aber  nur  dann  vorhanden,  wenn  das  Geburtstrauma 
möglichst  klein  ausfällt^  wenn  es  nicht  durch  ein  Operationstrauma 
vergrößert  wird.  Eine  Bedingung,  die  in  ihrer  Wichtigkeit  gleich 
hinter  der  Forderung  einer  zuverlässigen  Desinfektion  kommt. 

Betrachten  wir  einmal,  meine  Herren,  diese  wichtige  Bedingung 
näher! 

Eine  ganz  besonders  hervorragende  Rolle  in  der  Vorbeugung  des 
Kindbettfiebers  spielt  nicht  allein  die  Einschränkung  der  inneren 
Untersuchungen,  sondern  weit  mehr  die  Vermeidung  aller  nicht 
unbedingt  notwendigen  Operationen,  d.  h.  die  Herabsetzung  des 
Geburtstrauma  auf  das  physiologisch  unvermeidbare  Mini- 
mum. 

Eine  bekannte,  von  Friedrich  bewiesene  Tatsache  ist,  daß  ein 
großer  Unterschied  darin  liegt,  ob  Krankheitserreger  nur  locker  einer 
Wundoberfläche,  wie  nach  einer  gewöhnlichen  Geburt  aufliegen,  oder 
ob  sie  mit  Kraft  in  eröff^nete  Gewebsspalten  eingeimpft  werden,  wie 
es  bei  Operationen  leicht  geschieht.  Das  Trauma  ist  nicht  die 
einzige,  aber  eine  der  wichtigsten  Bedingungen  für  das  Ent- 
stehen eines  Kindbettfiebers! 

Eine   uns  Ärzte   tief  beschämende  Tatsache  ist  es  leider,  daß    in 


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21]  Im  Kampfe  gegen  das  Kindbettfieber.  285 

allen  Landern  in  der  Vorgeschichte  und  damit  auch  als  Ursache 
schwerer  Kindbettfieberformen  Operationen  häufig  erwähnt  werden. 
Von  vielen  Ärzten  werden  unnötige  Eingrifft  —  Luxus-,  Erlösungs- 
vorbeugende Zangen  —  ausgeführt.  Diese  bevorzugen  merkwürdiger- 
weise auch  die  für  eine  Infektion  gefährlichste  Operation,  die  manuelle 
Plazentarlösung.  Alle  diese  Eingrifft  nehmen  mit  der  Häufigkeit  der 
Ärzte  zu.  Eine  merkwürdige  Erscheinung,  die  durch  Furcht  vor  un- 
lauteren Wettbewerb,  die  durch  eine  gewisse  Abhängigkeit  einfluß- 
reicher Hebammen  erklärt,  aber  nicht  entschuldigt  wird.  Die  Narkose, 
ein  ungerechtfertigtes  Vertrauen  in  eine  oft  obendrein  völlig  ungenü- 
gende, wenn  auch  sonst  gewiß  sehr  oft  sehr  gewissenhaft  durch- 
geführte Desinfektion  —  Heißwasser,  Seife  plus  Desinfiziens  in  Wasser 
—  verleitet  gar  zu  leicht  zu  häufigeren  Eingriffen  als  dieses  bei  unseren 
Voreltern,  die  das  Kindbettfieber  zu  fürchten  alle  Ursache  hatten,  üb- 
lich gewesen  zu  sein  scheint! 

Freilich,  eine  rasche^  dabei  schonende  Untersuchung  mit  kurz 
geschnittenen  Nägeln,  die  nicht  verletzt,  erhöht  die  Gefahr  nicht. 
Wenn  es  sich  gezeigt  hat,  daß  bei  behandschuhten  Fingern  die  Zahl 
der  Untersuchungen  ohne  wesentlichen  Einfluß  auf  das  Vorkommen 
von  Fieber  ist  (Bai seh),  so  liegt  die  Ursache  nicht  darin,  daß  die 
Keime  der  Scheide  oder  der  Scham  harmlos  sind,  sondern  darin, 
daß  Schüler,  Studenten  und  Hebammen,  mit  Handschuhen  keine  oder 
doch  nur  selten  Verletzungen  machen  können.  Die  Handschuhe  ver- 
mindern auf  diese  Weise  die  Möglichkeit  der  Einpflanzung  von  Eigen- 
keimen in  die  Gewebe  —  das  ist  zuzugeben.  Weiß  doch  ein  jeder 
Lehrer,  wie  viel  Mühe  es  kostet,  bis  die  Hände  der  Anfänger  in 
den  Tuschierkursen  weich  geworden  sind  —  ein  Ziel,  das  zu  den  vor- 
nehmsten Aufgaben  eines  Lehrers  auf  diesem  Gebiete  gehört. 

Gestatten  Handschuhe  eine  ausgebreitetere  Anwendung  der  Ope- 
ration, ermöglichen  sie  die  Anbahnung  einer  ungefährlichen  echten 
chirurgischen  Ära  der  Geburtshilfe?  Das  sind,  meine  Herren,  wichtige 
Fragen,  die  das  Wohl  der  werdenden  Mutter  tief  berühren.  Nein, 
und  abermals  nein,  muß  die  Antwort  lauten.  Eines  nämlich  kann  keine 
noch  so  sorgfältig  gereinigte  Hand,  kein  Gummihandschuh,  -kein 
Chirosoter,  nichts,  nämlich  die  Vermeidung  einer  Verschleppung  von 
Keimen  aus  den  äußeren  Geschlechtsteilen,  aus  der  Scheide,  selbst 
aus  der  Cervix  in  die  Gebärmutterhöhle,  gegebenenfalls  an  und 
in  die  Plazentarstelle ,  solange  es  nicht  gelingt,  eine  weitgehende 
Keimverarmung  der  Geburtswege  herzustellen!  Freilich  sind  das 
Keime,  die  bei  spontanen  Geburten  sehr  selten  schwerste  Er- 
krankungen auslösen,  weil  sie  bei  diesen  in  die  Gebärmutterhöhle 
nicht  verschleppt  werden,  weil  sie    in   selbständiger  Einwanderung 


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286 


Otto  von  HerfF, 


[22 


an  4ie  große  Wunde  des  Endometriums  erst  dann  gelangen,  wcon 
diese  Breschen  in  den  gesunden  Geweben  schon  längst  geschützt 
sind*  Die  Spaltpilze  finden  keine  günstigen  Bedingungen,  keine  be- 
sondere Gelegenheit  zur  Entfaltung  und  Wirkung  ihrer  Angriffskraft. 
Werden  aber  die  gleichen  Keime  in  einem  Einzelfalle  in  eben  ent- 
standene^  oft  genug  noch  gequetschte  oder  sonstwie  geschädigte  Wunden, 
etwa  bei  Gelegenheit  eines  operativen  Eingriffes  —  trotz  sonst  Tötlig 
keimfreier  Hand  —  Handschuh!  —  unmittelbar  eingeimpft,  so  werden 
diese  Spaltpilze,  die  sonst  harmlos  erscheinen,  ihre  unheilvolle  Tätigkeit 
unbehindert  durch  Schutzvorrichtungen  des  Körpers,  die  noch  nicht 
zur  Stelle  sein  können,  entfalten.  Das  kann  nicht  oft  genug  wieder- 
holt und  gepredigt  werden. 

So  erklärt  es  sich  ungezwungen,  wie  ein  Trauma,  insbesonders 
die  Setzung  gequetschter,  zerrissener  Wunden  unter  der  Geburt,  noch 
weit  gefährlicher  allerdings  im  Wochenbett  und  bei  Eingriffen  an 
der  Piazentarstelle,  die  allergunstigsten  Bedingungen  für  den  Ausbruch 
einer  schweren  Erkrankung  abgeben  kann. 

Die  Schwere  des  Geburtstraumas  spielt  eine  wesentliche 
Rolle  in  der  Entstehung  des  Kindbettfiebers;  das  Trauma  ver- 
schuldet, daß  nicht  nur  Fremdkeime,  sondern  auch  harm- 
lose Eigenkeime  der  Wöchnerin  gefährlich  werden. i)  Je 
geringer  das  Geburtstrauma  ausfällt,  desto  ungunstigere 
Bedingungen  für  eine  Infektion  liegen  vor,  je  ausgedehn- 
ter ein  Operationstrauma  ist,  je  näher  dieses  an  der  Pia- 
zentarstelle liegt,  desto  größer  die  Gefahr  fär  die  Wöchnerin 
—  das  sind  Sätze,  die  ein  jeder  Geburtshelfer  sich  fest  einprägen 
muß,  nach  denen  er  sein  Handeln  einzurichten  hat.  Zweifellos  läßt 
sich  der  ungünstige  Einfluß  des  Traumas  durch  eine  tadellose  Asepsis 
und  Antisepsis  paralysieren,  aber  wehe,  wenn  sie  irgendwie  unge- 
nügend sind,  wie  leider  so  oft  in  der  Hauspraxis. 

Das   Übersehen,    das   Geringschätzen  des  Traumas,  meine 


I)  Zahlreich  sind  die  Beispiele,  die  beweisen,  daß  Eigenkeime  durch  ein  Trauma, 
erst  ihre  wahre  Natur  zeigen.  Hier  möge  ein  solches  Platz  finden.  Während  der  ersten 
Niederschrift  dieser  Zeilen  mußte  ich  wegen  schweren  Blutungen,  nach  bis  dahin  fieber- 
freiem Wochenbett,  einige  Plazentarreste  entfernen.  Dies  geschah  von  mir  selbst 
in  schonendster  Weise  mit  dem  Finger,  die  Hand  war  mit  einem  sicher  keimfreien 
Handschuh  geschützt,  der  auch  nach  dem  leichten  Eingriffe  sich  als  unverletzt  er* 
wiesen  hat.  Vor  und  nach  dem  kurzen  Eingriffe  wurde  der  Uterus  reichlich  mit 
Jodalkohol  durchgespult.  Trotzdem  rasche  Entwicklung  einer  Staphylokokkämie,  Metro- 
lymphangttis,  Metroplebitis  purulenta,  Amputatio  uteri  supravaginalis,  erhebliche 
Besserung,  schließlich  Tod  an  Verschleppungsbakteriamie  —  alles  bedingt  durch 
Infektion  mit  Eigenkeimen  begünstigt  durch  ein  Trauma. 


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23]  Im  Kampfe  gegen  das  Ktndbettfleber.  287 

Herren,  ist  neben  einer  ungenügenden  Desinfektion  eine  der 
Hauptursachen,  daß  das  Kindbettfieber  nicht  abnehmen  wilK 
Hier  müssen  Sie  in  gemeinsamer  Tätigl^eit  den  Hebel  kräftig  ansetzen, 
um  dieses  Hemmnis  des  Fortschrittes  im  Kampfe  gegen  das  Kindbett- 
8eber  wegzuräumen!  Besondere  Schwierigkeiten  gibt  es  dabei  nicht 
za  fiberwinden.  Es  heißt  nur,  keine  Eingriffe,  keine  Operation  ohne 
strengste  Anzeigen  ausführen,  als  welche  ohne  alle  Zweifel  nur 
gehen  können:  vorhandene  oder  sicher  eintretende  Gefahr  für  Mutter 
und  Kind.  In  allen  anderen  Fällen  wird  die  Geburt  ohne  Schaden 
für  Mutter  und  Kind  verlaufen,  wenn  der  Arzt  nicht  überflüssiger- 
weise sich  hineinmischt. 

Denken  Sie,  meine  Herren,  stets  an  die  möglichen  Folgen  eines 
Traumas,  an  die  Begünstigung  einer  Infektion  durch  Eigenkeime,  an 
eiae  Verschlimmerung  einer  solchen,  die  durch  Fremdkeime  im  Be- 
griffe steht  zu  entstehen  und  Sie  werden  an  der  Hand  einer  zuverlässigen 
Handereinigung  die  glänzenden  Erfolge  der  Gebäranstalten  über- 
trumpfen. Lassen  Sie  sich  nicht  durch  das  leicht  mißzuverstehende 
Schlagwort  „operative  Ära  der  Geburtshilfe*  in  der  Ausübung  der  bei- 
den größten  Tugenden  des  Geburtshelfers,  die  der  Geduld  und  des 
weitgehendsten  Vertrauens  in  die  Naturkräfte  erschüttern.  Leisten  Sie 
den  größten  Widerstand  der  so  weit  verbreiteten  Neigung  zu  überflüssi- 
gen Operationen  und  Sie  werden  sich  innere  Befriedigung  holen,  Sie 
werden  sich  überzeugen,  nur  genützt  und  nicht  geschadet  zu  haben, 
Sie  werden  die  innere  Kraft  finden,  standzuhalten  gegenüber  ab- 
sprechendem Urteile  dummer  Hebammen  oder  unsauberer  Kollegen,  die 
io  unlauterem  Wettbewerb  ihr  Heil  suchen!  Kein  Zweifel,  daß  Sie 
auf  die  Dauer  auf  der  ganzen  Linie  den  Sieg  erringen  werden!  Frei- 
lich werden  noch  einige  Jahrzehnte  vorübergehen,  bis  eine  mißver- 
standene Ära  der  operativen  Geburtshilfe  in  ihrer  ganzen  Gefährlich- 
keit erkannt  worden  ist. 

Mit  Recht  wird  Boer  als  leuchtendes  Vorbild  genannt.  Aber, 
meine  Herren,  es  genügt  nicht,  von  diesem  großen  Geburtshelfer  zu 
reden,  man  muß  mit  der  Tat  beweisen,  daß  seine  Lehren  auch  be- 
henigt  werden! 

Das  physiologische  Geburtstrauma  ist  beim  engen  Becken  am 
größten.  Wird  dieses  noch  durch  ein  Operationstrauma  verschlimmert, 
so  kann  an  der  Hand  einer  ungenügenden  Antisepsis  das  Schicksal 
der  Wöchnerin  leicht  ein  trauriges  werden.  Daher  auch  die  bekannte 
Tatsache  der  so  viel  schlechteren  Voraussage  des  engen  Beckens  in 
der  Hauspraxis.  Die  Frage  der  Verminderung  des  schwereren  Ge- 
burtstraumas des  engen  Beckens,  sei  es  durch  Vermeidung  von  Ope- 
rationen, sei  es  durch  Näherung  des  Traumas  auf  das  Maß  eines  nor- 


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288  Otto  von  Herff,  [24 

malen  Beckens,  meine  Herren,  sind  in  der  Hauspraxis  wichtigste 
Fragen  der  Vorbeugung  des  Kindbettfiebers,  die  durchaus  eingehend 
erörtert  werden  müssen. 

Von  jeher  habe  ich  gelehrt  —  und  diese  Lehre  habe  ich  von 
meinen  Lehrern  Kaltenbach  und  Fehling  übernommen  — ,  daß  bei 
etwa  Vio  flli^i'  engen  Becken  keine  Kunsthilfe  nötig  ist.  Sie  können 
dieses  in  meiner  Geburtshilflichen  Operationslehre,  1893,  Seite  145, 
nachlesen.  Eine  alte  Lehre  —  daher  ist  es  grundfalsch,  wenn  immer 
wieder  und  wieder  betont  wird,  daß  erst  die  moderne  Geburtshilfe 
das  Ziel  erreicht  hat,  der  Natur  mehr  wie  bisher  zu  ihrem  Recht  ver- 
holfen  zu  haben.  Konservative  Behandlung  der  Geburten  des  engen 
Beckens,  heißt  es  heute  auf  der  ganzen  Linie,  aber  auch  früher  lautete 
die  gleiche  Losung.  Der  Konservatismus  in  der  Behandlung  des 
engen  Beckens  ist  durchaus  nicht  modern,  er  ist  vielmehr  recht  alt. 
Verschieden  sind  nur  die  Mittel,  die  angewandt  werden,  wenn  der 
Konservatismus  scheitert  oder  voraussichtlich  nicht  zum  Ziele  führen 
wird,  wenn  es  sich  darum  handelt,  der  werdenden  Mutter  die  Schrecken 
einer  Geburt  bei  engen  Becken  zu  mildern.  Letztere  Aufgabe  wird 
allerdings  trotz  ihrer  Humanität  heutzutage  als  unmodern  verschrieen 
und  totgeschwiegen.  Und  doch  besteht  ein  sehr  wesentlicher  Unter- 
schied, der  Sie,  meine  Herrn  der  Hauspraxis,  ganz  besonders  inter- 
essieren muß.  Hier  Konservatismus  in  der  Behandlung  des  engen 
Beckens  mit  Hilfe  vorbeugender  Eingriffe,  die  für  die  Mutter  kaum 
gefährlich  sind,  allerdings  etwas  mehr  Kinder  fordern,  dort  Konserva- 
tismus mit  Hilfe  der  großen  geburtshülflichen  Operationen  des  Kaiser- 
schnittes und  der  Beckenspaltungen,  die  unter  allen  Umständen  für 
die  Mütter  gefahrlich  sind,  wenn  sie  auch  einer  Anzahl  von  Kindern 
mehr  das  Leben  retten,  aber  sie  fallen  für  die  Hauspraxis  aus. 
Die  moderne  Behandlung  brüstet  sich  damit,  daß  dabei  die  größte  Zahl 
von  Spontangeburten  beobachtet  wird,  ohne  weitergehende  Gefähr- 
dung der  Mütter  und  der  Kinder,  ihr  stehe  die  alte  Lehre  in  jeder  Be- 
ziehung nach.  Auch  dieser  Ausspruch  entspricht  nicht  den  Tat- 
sachen,  ist  daher  falsch!    Hier  der  Beweis: 

Der  Konservatismus,  der  im  Frauenspital  Basel-Stadt  herrscht, 
dürfte  überall  bekannt  sein  und  wird  von  keiner  anderen  Anstalt  der 
Jetztzeit  übertroffen.  Beweis  hierfür:  unter  rund  8000  Geburten  meiner 
Leitung  sind  in  rund  0,5  %  der  Fälle  Erzwungene  Entbindungen, 
so  übersetze  ich  das  Accouchement  force,  vorgenommen  worden. 
Darunter  befinden  sich  Erweiterungen  mit  dem  vorzüglichen  Instru- 
mente von  Bossi:  5,  vaginale  Hysterotomien:  3,  Erweiterung  nach 
Harris  und  Bonnaire:  3,  Anwendung  von  Tarniers  Erweiterer:  12, 
der  Rest  betrifi^t  Hystereurysen,  diese  fast  alle  bedingt  durch  Placenta 


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25]  Im  Kampfe  gegen  das  Kindbettfleber.  280 

praevia.    Der   Konservatismus  wird  weiterhin   damit  bewiesen ,  daß 
bei  über  4000  Geburten  mit  beinahe  400  engen  Becken  nur  siebenmal 
die  Hebosteotomie  ausgeführt  worden  ist  und  dabei  ist  kein  einziges 
lebendes  Kind  perforiert  worden.    Und  wie   verhält   es   sich  damit 
anderswo?    Ich  las  vor  kurzem ,   daß   in  einer   großen  Anstalt    auf 
noch  nicht    1000  Geburten  sechsmal  dieser  Eingriff  in  einem  Jahre 
voi^enommen  wurde!    Und  wie  oft  hört  man  bei  viel  weniger  Ge- 
burten, selbst  aus  der  Tätigkeit  von  Hausärzten  heraus ,  über  30 — 40 
vaginalen   Kaiserschnitten   reden?     Konservativ    ist  daher  auch   die 
Behandlung  des  engen  Beckens,  allerdings  mit  Hilfe  vorbeugender 
Eingriffe,  Insbesondere  der  künstlichen  Frühgeburt.    Dieser  Eingriff 
ist  nicht  nur  im  Interesse  der  Kinder,  sondern  ganz  besonders  auch 
zu  Nutz  und  Frommen  der  Mütter  vorzunehmen,  um  ihnen  ein  größeres 
Gebunstrauma  zu  ersparen  —  so  schrieb  ich  in  meiner  vorher  er- 
wähnten Geburtshilflichen   Operationslehre,   Seite  03.    Das  Mildern 
eines  gesteigerten  Geburtstraumas  auf  das  physiologische  Maß  ist  der 
Hauptzweck  der  künstlichen  Frühgeburt,  nicht  etwa  die  Vermeidung 
der  Tötung  eines  lebenden  Kindes.  Wer  das  nicht  einsehen  will,  der 
schließt  absichtlich  seine  Augen  vor  einer  unbestreitbaren  Tatsache, 
er  will  nicht  das  Wesen  dieser  so  segensreichen  Operation  erkennen. 
Dieser  Zweck  ist  von  der  größten  Bedeutung.    Er  ist  leicht  zu  er- 
reichen, wenn  zur  Einleitung  der  Geburt  der  Blasenstich ,  der  an  sich 
gar  kein  Trauma  wie  etwa  die  Hystereuryse  mit  nachfolgender  Wen- 
dung setzt,  vorgenommen   wird.     Und    wie   gestalten   sich   die   Er- 
gebnisse? 

Unter  12420  Geburten  (1896—1006)  fanden  sich  in  Basel  1150  enge 
Becken  =  9,3  %.  Von  diesen  1150  Geburten  endigten  917  ohne  Kunst- 
hilfe =79,8%.  Unter  den  Operationen  sind  erwähnenswert  14  Kaiser- 
schnitte mit  zwei  Verlusten,  drei  Schamfugenschnitte  mit  einem  Tode 
und  vier  Schambeinschnitte,  d.  h.  21  groOe  geburtshilfliche  Eingriffe 
neben  allerdings  einer  großen  Anzahl  von  künstlichen  Frühgeburten, 
120,  neben  einigen  wenigen  vorbeugenden  Wendungen,  da  ich  im  all- 
gemeinen ein  Gegner  dieses  letzteren  Eingriffes  bin.  In  Basel  betrug 
die  Summe  der  groOen  Eingriffe  1,9%  gegenüber  6,1  %  bei  Döder- 
lein  in  Tübingen.  Geboren  wurden  1159  Kinder,  von  denen  116  tot 
geboren  oder  doch  innerhalb  der  nächsten  Stunden  oder  Tage  starben 
=  10  %  Sterblichkeit.  Darunter  befanden  sich  aber  19  vor  der  Geburt 
abgestorbene  luetische  Früchte.  Werden  diese,  wie  billig  abgezogen, 
so  beträgt  die  Sterblichkeit  der  Kinder  8,5  %. 

Von  den  1150  Frauen  sind  12  gestorben  —•  alle  bis  auf  eine  bei 
operativem  Eingriff.  Die  mütterliche  Sterblichkeit  beträgt  somit  rund 
10,5%  ohne  jedwelchen  Abzug.    Die  Todesursachen  waren  fünfmal 


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200 


Otto  Ton  Herff, 


[21 


•1, 


Utertisrüptur,  dreimal  Verblutung  an  Atonia  uteri  (einmal  zugleicl 
Cervixruptur),  viermal  an  Kindbettfieber,  darunter  einmal  nach  Scham' 
beinschnitt,  zweimal  nach  Kaiserschnitt,  einmal  nach  Zange,  woruntei 
zwei  dieser  Frauen  bereits  infiziert  eingelieFert  worden  waren.  Dei 
Behandlung  des  Beckens  erlagen  somit  zwei  Frauen  =  0,17  %  un< 
diese  Opfer  entsprechen  dem  modernen  Konservatismus  in  der  Be 
handlung  des  engen  Beckens  und  hätten  vielleicht  durch  Opferunj 
der  Kinder  vermieden  werden  können.  1)  Werden  alle  Temperatur 
Steigerungen,  die  37,0  <>  in  der  Achsel  übersteigen,  in  Rechnung  gesetzt 
so  fieberten  16%, 


Behandlung 

5" 

3 

1' 

1 

1 

II 

^1 

ä   a 

Summe  der  vor- 
beugenden Eln- 
(rlffe 

II 
SS 

|| 

flu  ;§ 

a  Si 

n 

0 

J3 

4 

Kindersterblich- 
keit ohne  je- 
den Abzug 

tu 

Sterblichkeit 

derMQtterohne 

jeden  Abzug 

Leipzig  (Zweifel) 

7M 

21,6 

2,1 

2,5 

0,5 

5,1 

2,4 

4,8  3,7 

8,5 

9,9 

? 

t 

Tübingen  (Döder- 
lein)     •    .    .    . 

80,0 

20,6 

1,0 

0,6 

0,5 

2,2 

0,6 

2,1 

4,0 

6,1 

6,5 

? 



Basel  (Bumm,  v. 
Herff)  1896-1906 

79,8 

20,2 

2,9 

2,2 

10,4 

15,5 

0,06 

0,6 

1,2 

1.9 

10,2 

8,5 

10,5 

Obersicht  d.  Ope- 
rationen in 

917 

232 

72«) 
(6,0%) 

633) 
(5,3%) 

120*) 

180 

25») 

(2,1%) 

7 

14 

21 

119 

100«) 

127) 

Basel  1)     .    .    . 

1)  In  diese  Rubrik  sind  alle  operativen  Eingriffe  jeder  Art,  mit  Ausnahme  der 
i^enigen  Extraktionen  aus  Beckenendlagen,  29,  verzeichnet.  2)  Darunter  34  hohe 
Zangen.  3)  Darunter  26  vorbeugende  Wendungen,  die  in  den  letzten  6  Jahren  nicht 
mehr  ausgeführt  wurden.  4)  Durch  die  kunstliche  Frühgeburt  wurden  89,4%  Kinder 
lebend  geboren  und  79,7%  lebend  entlassen.  5)  Eine  Perforation  des  lebenden 
Kindes  (1900).  6)  19  Kinder  waren  vor  der  Geburt  infolge  Lues  gestorben.  7)  Die 
Todesffille,  ohne  jeden  Abzug,  bestanden  aus  5  Frauen,  die  mit  Uterusrupturen 


1)  Während  der  Niederschrift  dieser  Zeilen  bildete  sich  bei  einer  Kreißenden 
mit  leicht  verengtem  Becken,  Conj.  vera  =  9  cm,  aber  mit  einem  sehr  großen  Kinde 
mit  sehr  hartem  Kopf  rasch  eine  Physometra  aus.  Das  Kind  lebte,  so  versuchte 
ich  die  Entwicklung  mit  meiner  Achsenzugzange —  vergeblich  I  Da  der  fötale  Herz- 
schlag noch  gut  war,  folgte  Hebosteotomie  nach  Bumm.  Blasen  Verletzung,  Epi- 
seotomie.  Kind  frisch  lebend.  Dieses  wurde  durch  das  Fruchtwasser  infiziert  und 
erlag  in  der  dritten  Woche  einer  Lungenentzündung.  Die  Mutter  mußte  ein  schweres 
Krankenlager  durchmachen,  das  jetzt  nach  drei  Monaten  noch  nicht  zu  Ende  ist 
und  wahrscheinlich  mit  einer  dauernden  Schädigung  der  Blasentätigkeit  endigen 
wird.  Wäre  es  für  die  Mutter  nicht  zweckmäßiger  gewesen ,  die  Frucht  angebohrt 
zu  haben,  das  Endergebnis  wäre  fürwahr  ein  besseres  gewesen  I 


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27]  Im  Kampfe  gegen  das  Kindbettfieber.  291 

zur  Vollendung  der  Geburt  der  Anstalt  überwiesen  worden  sind  (3  mal  Kranioklasie, 
1  mal  Zange,  1  mal  Extraktion  aus  Fußlage).  2  Frauen  wurden  infiziert  eingeliefert 
(Imal  Zange,  Imal  Kaiserschnitt);  3  Frauen  verbluteten  sich  an  Atonia  uteri  (Imal 
spontane  Geburt,  1  mal  Zange,  1  mal  künstliche  Frühgeburt  mit  Wendung  und  Per- 
foration). 2  Frauen  wurden  in  der  Anstalt  infiziert  (Imal  Kaiserschnitt  [1896],  Imal 
Schamfugenschnitt  [1897]).  Will  man  die  drei  Todesfllle  an  Verblutung  der  Art  der 
Behandlung  des  engen  Beckens  zuschieben,  so  wären  dieser  5  Mütter  =  0,4  %  er- 
legen. 

Meine  Herren,  das  sind  genau  die  gleichen  Ergebnisse,  wie  sie  die 
modernste  Behandlung  erzielt.  So  steht  Tübingen,  wenn  man  die 
Wahrscheinlichkeitsrechnung  berücksichtigt,  mit  seinen  80  %  Spontan- 
geburten, 6,6  %  Kindersterblichkeit  und  0,1  %  mütterlichen  Verlusten 
Basel  gegenüber  völlig  gleich  und  dabei  hat  Basel  ein  Drittel  weniger 
große  Eingriffe  zum  groOen  Vorteil  der  Mütter  zu  verzeichnen!^)  Es 
kann  ja  nicht  ausbleiben,  daß  auf  die  Dauer  Kaiserschnitte  und  Becken- 
spaltungen die  Todesfalle  der  Mütter  erheblich  vermehren  müssen. 
Femer  ist  zu  bedenken,  daß  nach  künstlichen  Frühgeburten  das 
Wochenbett  wie  ein  jedes  andere  verläuft  und  keinerlei  Dauerschädi- 
gungen folgen,  daß  nach  Kaiserschnitten  und  Beckenspaltungen  ein 
mehr  oder  weniger,  zum  mindesten  unbequemes,  häufiger  schmerz- 
haftes, selbst  langes  Krankenlager  folgen  kann,  daß  nach  den  großen 
EiDgriffen  dauernde  Schädigungen  der  Gesundheit  in  Gestalt  von 
Hernien,  Senkungen,  Vorfallen,  Störungen  der  Harnentleerung  und 
Behinderung  der  Gehfähigkeit  durchaus  nicht  selten  sind.  Wo  in 
aller  Welt,  meine  Herren,  kann  man  ein  solches  langes  und  trauriges 
Sündenregister  der  künstlichen  Frühgeburt,  deren  Hauptzweck  die 
Herabsetzung  des  pathologisch  gesteigerten  Geburtstraumas  des  engen 
Beckens  auf  das  physiologische  Maß  ist,  aufstellen  —  es  sei  denn, 
daß  man  der  Wahrheit  ins  Gesicht  schlagen  will?  Aber  totgeschwiegen 
wird  diese  Tatsache  in  einem  fort! 

Der  Satz  ist  somit  bewiesen:  Die  abwartende  Geburtsleitung  ge- 
stutzt auf  vorbeugende  Eingriffe  ist  in  ihren  Endergebnissen  nicht  nur 
völl^  gleich,  sondern  muß  auf  die  Dauer  besser  sein  als  die  abwar- 
tende Geburtsleitung  gestützt  auf  Kaiserschnitt  und  Beckenspaltungen. 
Wer  der  Richtschnur  folgt:  vor  allem  die  Mutter  und  dann  das  Kind, 
wer  die  Mutter  sicher  und  in  jedem  Falle  vor  dauerndem  Schaden 


1)  Bei  einer  Wahrscheinlichkeit  von  0,9953  berechnet  sich  der  wahrscheinliche 
Fehler  in  Leipzig  wie  in  Tubingen  auf  etwa  ±  4%  bei  800  Fällen,  in  Basel  auf 
±3,5%  bei  1000  Fällen  und  20%  operative  Geburten.  Daraus  folgt,  daß  die  Er- 
gebnisse dieser  zwei  Anstalten  mit  größter  Wahrscheinlichkeit  gleichwertig  sind, 
selbst  f&r  den  Fall,  daß  die  Extraktionen  aus  Beckenendlagen  als  „operative  Ein- 
griffe* einbezogen  werden  und  die  Zahl  der  operativen  Geburten  in  Basel  mit 
22,7%  in  Rechnung  gesetzt  werden. 


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292 


Otto  von  Herff, 


[28 


bewahren  will,  wer  in  der  allgemeinen  Hauspraxis  steht^  der  weiß 
nunmehr,  welchem  Konservatismus,  ob  dem  älteren  oder  dem  moder- 
nen Pinards  er  zu  folgen  hat.  Lassen  Sie  sich  darin,  meine  Herrn, 
nicht  beirren,  forschen  sie  selber  nach,  denn  gar  zu  leicht  werden 
heutigen  Tages  unbequeme  Tatsachen  übergangen. 

Eine  Rückkehr  zur  alten  Lehre,  zunächst  den  Verlauf  der  Geburt 
genau  zu  verfolgen,  um  Störungen  zu  verhüten,  dann  einzugreifen, 
wenn  wirklich  Gefahr  droht,  vorzubeugen,  wenn  solche  zu  erwarten  ist, 
muß  unbedingt  verlangt  werden,  dafür  müssen  wir  Lehrer  der  Geburts- 
hilfe mit  allem  unsern  Einfluß  einstehen  I  Dann,  aber  nur  dann  wird 
die  Zahl  der  Kindbettfieber  in  Stadt  und  Land  rasch  abnehmen,  das 
bessere  Zeitalter,  nach  dem  sich  Semmelweis  vergeblich  gesehnt  hat, 
zur  Wirklichkeit  werden.  Fort  also  mit  einer  mißverstandenen  ope- 
rativen Ära  der  Geburtshilfe!  Helfen  sie  diese  zu  bekämpfen,  meine 
Herren,  und  sie  werden  sich  den  Dank  der  Menschheit,  wenn  auch 
erst  in  der  Zukunft  erwerben! 

Daß  das  Trauma,  d.  h.  die  Setzung  von  zerrissenen,  gequetschten  Wunden,  Ge- 
websquetschungen,  die  bis  zur  Zermalmung  der  Gewebe  gehen  können,  durch  Ope- 
ration eine  verhängnisvolle  Rolle  in  den  Ursachen  des  Kindbettfiebers  spielt,  ist 
eine  Tatsache,  die  sich  nicht  wegleugnen  läßt.  Hierfür  habe  ich  in  meiner  Ab- 
handlung über  Kindbettfleber  manche  Beweise  beigebracht.  Neuerdings  hat  Dohrn^) 
nachgewiesen,  daß  unter  den  Entstehungsursachen  der  KindbettfieberßUle  am  häu- 
figsten (ca.  25%)  ärztliche  Eingriffe  —  manuelle  Plazentarlösungen,  Wendungen  und 
Zangen,  besonders  die  ,pLuxuszange^  —  aufgeführt  werden  müssen.  In  S2%  lag 
die  Schuld  nicht  an  der  Hebamme  allein,  in  18%  an  der  Hebamme  —  das  sind 
doch  Zahlen  die  sehr  zu  denken  geben.  Mögen  doch  die  Regierungen  derartige 
höchst  wertvolle  Untersuchungen  anordnen  und  nachhaltig  unterstützen. 

Auch  He  gar  2)  kommt  in  seiner  jüngsten  Abhandlung:  „Die  operative  Ära  der 
Geburtshilfe **  auf  diese  Frage  in  dankenswertester  Weise  zurück.  Ich  entnehme 
daraus  folgende  kleine  Tabelle,  die  die  Verhältnisse  in  Baden  beleuchtet. 


i. 

^  a 

0 

i>   u   L 

ö^. 

•55  g 

Mortalität  nach 
Operationen  In 
%  aller  Todcaf. 

Jahrgänge 

Zahl  der  G 
burten 

1 
l 

il 
1'^ 

<*  s 

■^1 

Zahl  der  Op 
rationen  zu 
Zahl  der  G 
burten 

5  1 

1* 

Mortalititln 
der  Opera 
tionen 

Mortalität  na 
Operationen 
%der  Geburt 

1870-72 

171832 

— 

— 

6909 

1  :  24,8 

364 

5,2 

0,212 

. — 

1873—77 

302070 

2444 

0,809 

13178 

1:22,9 

763 

5,8 

0,253 

31,3 

1878-82 

285721 

2046 

0,716 

13204 

1:21,6 

682 

5,2 

0,258 

33,3 

1883—87 

271283 

2035 

0,750 

17533 

1 :  15,4 

555 

3,2 

0,204 

27,2 

1)  Sonderabdruck  aus  dem   offiziellen  Bericht  der  22.  Hauptversammlung  des 
preußischen  Medizinalbeamtenvereines. 

2)  Beiträge  zur  Geburtshilfe  und  Gynäkologie  1907,  12.  Bd.,  2.  Heft,  auch  Volk- 
manns klin.  Vorträge  Nr.  351. 


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29]  Im  Kampfe  gegen  das  Kindbettfieber,  293 

Hegar  (Qhrt  aus,  daß  die  Sterblichkeit  nach  Operationen  ^U—^U  der  Gesamt- 
sterblichkeit beträgt.  Die  Sterblichkeit  nach  Operationen,  in  Prozenten  der  Opera- 
tionen ausgedrückt,  ist  in  der  Zeit  mit  gutausgebildeter  Asepsis  entschieden  geringer 
als  in  den  Perioden  ohne  alle  oder  mit  unvollkommener  Asepsis. 

Die  Sterblichkeit  nach  Operationen,  in  Prozenten  sämtlicher  Geburten  ausge- 
drückt, ist  dagegen  in  der  Zeit  mit  vollkommener  und  ohne  alle  Asepsis  fast  vollständig 
gleich.  Das  berechtigt  zum  Schluß,  daß  die  größere  Frequenz  der  Operationen  in 
der  aseptischen  Zeit  1 :15,4,  im  Gegensatz  zu  der  geringeren  Frequenz  1 :  25  in  der 
Zeit  ohne  alle  Asepsis,  das  wieder  verdarb,  was  die  Asepsis  und  wohl  auch  bessere 
Technik  Gutes  erzielte.  Fürwahr,  Altmeister  Hegar  hat  leider  auch  für  die  neueste 
Zeit  nur  allzusehr  recht! 

Welch  Unheil  eine  mißverstandene  chirurgische  Ars  der  Geburtshilfe  an- 
zurichten vermag,  zeigt  eine  Empfehlung,  die  ich  soeben  lese,  nämlich  die  norm  sie 
Gebartsdauer  abzukürzen,  und  die  sich  in  der  Nummer  1  der  Berliner  klinischen 
Wochenschrift  dieses  Jahres  vorfindet.  Unglaublich,  aber  doch  wahr,  hier  wird  die 
.prophylaktische  Zange*  bei  weitem  übertroffen!  Theodor  Landau  schlägt  vor, 
die  ErÖffnungszeit,  wohlgemerkt  bei  normalen  Geburten,  durch  digitale  Erweiterung 
des  Muttermundes  entsprechend  dem  Verfshren  von  Bonnaire  und  Harris  abzu- 
kürzen. Die  Entschuldigung  Landaus,  daß  ja  bei  Gebrauch  von  Handschuh  und 
Desinfektion  der  Kreißenden  (I)  keine  Infektion  zu  erwsrten  steht,  ist  so  recht  be- 
zeichnend für  unsere  Zeit,  der  man  das  Motto  geben  könnte:  Nur  nicht  auf  den 
Grund  gehen,  hübsch  auf  der  Oberfläche  bleiben  I  Mag  sein  —  ich  kann  dies  nicht 
beurteilen  — ,  daß  in  einer  mehrfachen  Millionenstadt  für  einen  vielbeschäftigten 
Spezialisten  ein  dringendes  Bedürfnis  vorliegt  eine  normale  Eröffhungsperiode  ab- 
zakürzen  —  aber  mit  solchen  Vorschlägen  verschone  man  die  zahlreichen  Ge- 
burtshelfer, die  über  die  vornehmste  Tugend  einer  solchen  „Geduld*^  noch  ver- 
logen und  die  durchaus  nicht  der  Ansicht  sind,  es  müsse  nunmehr  alles  mit 
Elektrizitätsgeschwindigkeit  gehen.  Nein,  eine  solche  üble  Vielgeschäftigkeit  ver- 
dient als  wissenschaftlicher  Unfug  auf  das  schärfste  öffentlich  getadelt  zu  werden. 
Solches  zu  tun  liegt  im  dringenden  Interesse  der  werdenden  Mütter,  in  meinem 
eigenen  Interesse  als  Lehrer  angehender  Ärzte  um  zu  verhindern,  daß  solche 
Ritschläge  einer  mißverstandenen  operativen  Ära  der  Geburtshilfe  befolgt  werden. 

Derselbstverständlichen  Forderung,  nur  auf  strengste  Anzeige  hin  zu  operieren,  wird 
mir  von  Kalt, einem  älteren  erfahrenen  Geburtshelfer,  vorgehalten i),  daß  solches  in 
der  Hauspraxis  nicht  möglich  sei.  Es  heißt  dort:  „Solange  es  viele  Frauen  gibt,  denen 
die  nötige  Geduld  zur  Abwartung  des  natürlichen  Geburtsverlaufes  fehlt,  sondern 
die  mit  beharrlichem  Ungestüm  die  künstliche  Befreiung  von  ihren  Leiden  verlangen, 
worin  sie  vom  ängstlich  besorgten  Ehemann  und  andern  Anverwandten  mit  kate- 
gorischen Imperativen  unterstützt  werden  und  das  Können  und  Erwerben  des  Arztes 
noch  in  Frage  gestellt  wird,  solange  dieser  Arzt  noch  vielen  Berufspflichten  anderer 
Rlientelschaft  im  Momente  nachkommen  soll,  welche  Pflichten  ihm  nicht  stunden- 
lange Versäumnisse  bei  Geburten  gestatten,  so  lange  ist  eben  oft  die  Macht  der 
Verhältnisse  stärker  bestimmend,  als  die  exakte  wissenschaftliche  Indikationsstellung 
und  —  der  Arzt  unterliegt  eben  der  stärkeren  nienschlichen  Beeinflussung! >) 


1)  Die  ausschließliche  Benutzung  von  Entbindungsanstalten  zur  Abwicklung  des 
Geburtsvorganges  und  der  Wochenbettspflege.    Dissert.  Zürich  1007. 

2)  Gewiß  ist  es  sehr  erfreulich,  wenn  ein  erfahrener  praktischer  Geburtshelfer 
sich  entschließt,  öffentlich  zu  diesen  Fragen  Stellung  zu  nehmen.  Auch  ich  habe 
in  einer  fünfjährigen  Tätigkeit  als  Hausarzt  diese  Umstände  gründlichst  kennen 


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294  Otto  von  Herff,  [30 

Die  Verhältnisse  sind  so,  wie  sie  Kalt  schildert.  Ich  gestehe  aber  offen,  daß 
ich  mich  gescheut  haben  wurde,  so  ohne  weiteres  zu  sagen,  daß  die  Geburtshelfer 
sich  von  der  Kreißenden  und  ihrer  Umgebung,  also  von  Laien,  die  Operationsan- 
zeige gegen  besseres  Wissen  stellen  lassen,  i)  Die  tieferen  Gründe  sind  meines 
Erachtens  andere  unid  die  soll  man  auch  mitteilen.  Diese  sind  in  der  Furcht  vor  un- 
lauterem Wettbewerb  inkoUegiaJer  ^rzte  zu  suchen  —  tust  du  meinen  Willen  nicht, 
so  wird  es  ein  anderer  gerne  tun,  heißt  es  gelegentlich  —  und  leider  finden  sich 
solche  Ärzte,  die  der  Kreißenden  und  ihrer  Umgebung  zuliebe  ohne  weiteres  deren 
Wünsche  erfüllen,  um  womöglich  den  standhaften  und  gewissenhaften  Arzt  bloßzu- 
stellen und  sich  als  Retter  aus  der  angeblichen  Not  preisen  zu  lassen.  Ferner  die 
Abhängigkeit  so  manchen  Arztes  von  einer  einflußreichen,  allmächtigen  Hebamme,  die 
sich  ärgert,  wenn  ein  Arzt  sich  erkühnt,  ihre  Anzeigen  nicht  zu  befolgen  usw. 
Gewiß  sind  es  sehr  traurige  Verhältnisse,  auch  lassen  sie  es  begreifen  und  selbst 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  entschuldigen,  wenn  Ärzte  ihrer  Macht  unterliegen. 
Wo  solches  stattfinden  kann,  sind  aber  die  Ärzte  schuld,  sie  haben  die  Pflicht  in 
gemeinsamer  Tätigkeit  sich  von  diesen  Verhältnissen  zu  befreien.  Solches  läßt 
sjch,^  meiner  Erfahrung  nach,  in  weitgehender  Weise  erreichen  —  man  muß  nur 
den  richtigen  Willen  haben,  unlauteren  Wettbewerb  zu  ersticken  und  gegen  ein- 
gebildete und  übermütige  Hebammen  gemeinsam  Front  zu  machen. 

Der  weitere  Einwand  Kalts,  daß  die  Asepsis  und  Antisepsis  in  der  Hauspraxis 
nicht  durchführbar  sei,  ist  nicht  stichhaltig.  Jede  gut  geleitete  geburtshilfliche 
Poliklinik,  die  doch  nichts  weiter  ist  als  Hausgeburtshilfe  bei  den  Ärmsten,  beweist 
dieses  ohne  weiteres.  So  verfügt  die  geburtshilfliche  Poliklinik  meiner  Anstalt,  die  von 
üerrnDr.  Lab  hardt  geführt  wird,über  nahe  an  lOOOHilfeleistungen  unter  der  Ah  Ifeld- 
schen  Heißwasser- Alkoholdesinfektion  und  dank  strenger  Operationsanzeige  ohne 
einen  Verlust  an  Kindbettfieber.  Und  wie  viele  ältere  erfahrene  Geburtshelfer  gibt 
es  —  allerdings  keine  Anhänger  einer  mißverstandenen  chirurgischen  Ära  der  Ge- 
burtshilfe, sondern  Schüler  BoSrs  —  die  in  vieljähriger  Tätigkeit  keinerlei  Verlust 
An  Kindbettfieber  erlebt  haben!  Der  Einwurf  Kalts  ist  nicht  nur  an  sich  nicht 
richtig,  sondern  er  ist  sehr  bedenklich,  weil  er  gar  zu  leicht  ein  schwaches  Ge- 
wisse9  ganz  einzuschläfern  vermag,  und  dem  laisser  faire  das  Wort  nur  zu  sehr 
jedet.  Man  muß  nur  recht  wollen ,  so  geht  auch  die  Desinfektion  im  Hause,  in 
einer  Hütte! 

Besonders  günstige  Bedingungen  für  die  Einpflanzung  von  Genitalkeimen  bietet 
das  Einlegen  von  Fremdkörpern  aller  Art  in  die  Gebärmutter,  vor  allen  die  so  belieb- 
ten Ausstopfungen  mit  Gaze,  selbst  wenn  sie  mit  Antiseptika  —  Xeroform,  Vioform, 
Jodoform,  usw.  —  durchtränkt  sind,  aber  auch  das  Einführen  von  Gummiballons 
(Hystereuryse).  Aus  diesem  Grunde  empfehle  ich  daher  die  Einleitung  der  künst- 


gelernt, mich  aber  nicht  gebeugt.    Wie  dies  geschehen  kann,  das  lehrt  ein  jeder 
von  uns  seinen  Schülern  im  Operationskurs! 

1)  Selbst  „Spezialisten''  —  traurig  genug  —  lassen  sich  ihre  Anzeigen  durch 
die  Umgebung  der  Kreißenden  stellen!  So  lese  ich:  Das  andere  Mal  sah  ich  mich 
in  einem  Dorf  einer  älteren  Erstgebärenden,  ihren  Angehörigen  und  dem  Kollegen 
gegenüber  (sie!)  genötigt,  3  Tage  nach  dem  Blasensprung  und  am  3.  Tage  der 
Wehen  die  Geburt  zu  beenden.  Manuelle  Dilatation  des  rigiden  Muttermundes, 
äußerst  langwierige  Zangenextraktion  des  im  Beckeneingange  kaum  feststehen- 
den Kopfes  usw.  Fürwahr,  ein  treffendes  Beispiel  für  die  Irrwege  der  chirurgischen 
Ära  der  Geburtshilfe! 


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31J 


Im  Kampfe  gegen  das  Kindbettfleber, 


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296 


Otto  von  Herff, 


[3 


liehen  Frühgeburt  mit  dem  Blasenstich,  welche  Methode  zweifellos  in  der  Hau 
praxis  erheblich  bessere  Ergebnisse  ergeben  wird,  zumal  die  vielfach,  so  jGngsth; 
noch  von  Hannes,  behaupteten  schweren  Nachteile  des  frühzeitigen  Blasensprung< 
nur  in  gewissen  Lehrbüchern,  nicht  aber  am  Kreißbette  zu  finden  sind.  Möge 
diese  Gegenstände  noch  so  sicher  keimfrei  gemacht  werden,  sie  können  jederze 
Keime  mitverschleppen,  wie  denn  alle  sogenannte  antiseptische  Gaze  in  kurzesti 
Zeit  von  zahlreichen  Spaltpilzen  durchwachsen  wird. 

Mit  der  Einführung  einer  zuverlässigen  Desinfektion  und  der  Vei 
minderung  des  Geburtstrauma  auf  ein  Minimum  sind  die  Vorbeugung! 
maßregeln  noch  nicht  alle  erschöpft.  Auch  diese  mögen  heute  kur 
angeführt  werden,  wiewohl  sie  an  Wichtigkeit  zurückstehen.  Die  ge 
fährlichsten  Eingriffe  sind  jene,  die  sich  an  der  Plazentarstelle,  wi 
überhaupt  außerhalb  des  Chorionssackes  abspielen  —  ein  Satz,  de 
Ihre  größte  Beachtung  fordert.  Wie  gefährlich  die  Lösung  der  Nach 
geburt  ist,  von  welch  großer  Wichtigkeit  eine  sachgemäße  Leitung  de 
Nachgeburtsperiode,  die  diesem  Eingriff  vorbeugt  und  auf  wenig 
Fälle  beschränkt,  sein  muß,  geht,  meine  Herren,  ohne  weiteres  au! 
folgenden  Zahlen  hervor.  Nach  Seeligmann ^)  wurde  in  Hamburj 
in  den  Jahren  1896 — 1905  1123  mal  die  Lösung  der  Nachgeburt  ge 
macht,  davon  starben  232  Frauen,  d.  h.  20,8  %I  Kein  Zweifel,  daß  vieh 
dieser  Infektionen  durch  Ärzte,  wenn  auch  nur  mittelbar  durch  Ver 
schleppung  und  Einpflanzung  von  Scheide-  und  Schamkeimen  in  di( 
Plazentarstelle  selbst,  veranlaßt  worden  sind. 

Ich  schließe  daraus,  nfeine  Herren: 

Je  sorgfältiger  die  Nachgeburtsperiode  geleitet  wird,  d.  h.  je  ge- 
duldiger die  Ausstoßung  der  Nachgeburt  den  Naturkräften  überlassen 
wird,  desto  weniger  leicht  werden  Nachblutungen  eintreten  y  destc 
seltener  wird  es  zur  Verhaltung  der  Plazenta  oder  einiger  ihre) 
Abschnitte  kommen,  desto  eher  entfällt  die  Notwendigkeit,  die  fäi 
eine  Infektion  so  gefährliche  manuelle  Plazentarlösung  vornehmen  zu 
müssen. 

Eine  Verminderung  der  Zahl  dieser  gefährlichen  Eingriffe  ist  sicher 
zu  erwarten,  wenn  bei  Wehenschwäche  nicht  wegen  dieser,  sondern 
nur  trotz  dieser  eingegriffen  wird,  d.  h.  wenn  die  Wehenschwäche  an 
sich  keine  Anzeige  zur  Beendigung  einer  Geburt  gibt,  sondern  nur 
deren  Folgezustände,  sofern  diese  Gefahr  für  Mutter  und  Kind  be- 
dingen. Muß  einmal  trotz  der  bestehenden  Wehenschwäche  eine 
Operation  vorgenommen,  etwa  die  Zange  angelegt  werden,  so  müssen 
Sie  in  einer  solchen  Zwangslage  sich  gegen  eine  etwaige  Nachblutung 
durch    rechtzeitige   Darreichung   von   Ergotin    vor   Beendigung   der 


1)  Zentralbl.  f.  Gyn.  1908,  S.  107. 


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33]  Im  Kampfe  gegen  das  Kindbettfieber.  297 

Geburt  so  gut,  wie  es  geht,  sichern^),  einen  Rat,  den  ich  schon  lange 
(Geburtsh.  Operationslehre  Seite  180)  lehre.  Daß  unter  allen  Umstän- 
den verhaltene  Plazentarteile,  wenn  deren  Fehlen  erkannt  wird, 
alsbald  zu  entfernen  sind,  brauche  ich  Ihnen  gegenüber  nicht  näher 
auszuführen.  Dagegen  ist  die  Entfernung  verhaltener  Eihäute, 
selbst  des  ganzen  Eihautsackes  völlig  unnötig  und  gefahrlich,  selbst 
bei  keimfreier  Hand,  weil  ein  Mitverschleppen  von  Genitalkeimen  in 
die  Uterushohle  niemals  sicher  vermieden  werden  kann.  Wie  mir 
eine  viethundertfShige  Beobachtung  innerhalb  20  Jahren  lehrt,  genügt 
es  in  alten  solchen  Fällen,  während  der  ersten  Woche  des  Kindbettes 
Ergotin  darzureichen  und  zweimal  täglich  die  Scheide  auszuspülen. 

Dafi  häufiger  einfache  leichte  Temperatursteigerungen  nach  Verhaltung  von 
Eihäuten,  in  Basel  15%  gegen  8—9%,  eintreten,  ist  richtig.  Diese  haben  aber 
alcbts  zu  bedeuten,  wenn  man  sich  nicht  zu  unnötigen  und  um  diese  Zeit  des 
Wochenbettes  sehr  gefährlichen  Eingriffen,  wie  etwa  Ausschabungen,  verleiten  läßt. 

Die  Vorbeugung  des  Kindbettfiebers  im  Wochenbett  befolgt  die 
gleichen  Grundsätze  wie  während  der  Geburt.  AuOer  Abspülen  der 
Scham  ist  gegebenen fiills  durch  Ergotin  und  heiße  Scheidenspülungen 
Sorge  zu  tragen  für  eine  rasche  Rückbildung  der  Gebärmutter,  nötigen« 
falls  für  eine  raschere  Ausstoßung  verhaltener  Eihäute  oder  Blutge- 
rinnsel, bei  übelriechendem  Wochenflusse  selbst  ohne  Fieber,  gegen  Blu-> 
tungen  infolge  mangelhafter  Rückbildung  oder  Thrombenlösungen. 
Solcher  Spülungen  wären  zwei  bis  dreimal  täglich  mit  3  %  Bazillol, 
3%  Therapogen,  2%  Seifenkresol ,  auch  wohl  mit  Chlorwasser  1:3 
oder  Jodwasser  1 :  3000  anzuordnen. 

Von  der  allergrößten  Wichtigkeit  aber  ist  der  Grundsatz:  Während 
des  Wochenbettes  ist,  wenn  irgend  möglich,  keinerlei  operativ 
verjEingriff,  insbesondere  keiner  innerhalb  der  Gebärmutter 
vorzunehmen.  Auch  die  sekundäre  Naht  ist  zu  unterlassen,  ich  habe 
nach  solcher  mehrfach  Wöchnerinnen  an  Verschleppungsbakteriämie 
sterben  sehen«  Und  wie  oft  sind  nicht  nach  unnötigen  Ausschabungen 
wegen  verhaltener  Eihaut  oder  aus  sonst  einem  sehr  notwendigen 
GruQde,  z.  B.  nach  einer  Entfernung  von  Plazentarpolypen,  schwere 
und  tödliche  Erkrankungen  ausgelöst  worden?  Kein  Handschuh,  keine 
AvsspüliiQgen,  keine  Einpinselunge^n  schützen  sicher  vor  Einimpfung 
der  Spaltpilze  des  Wochenflusses,  unter  welchen  sich  auch  bei  völlig 
gesunden  Frauen  in  sehr  vielen  Fällen  die  gefürchteten  Streptokokken 


1)  Unter  deo  viele«  gangbaren  Ergotinpräparaten  verdient  im  Bereiche  der  Ge- 
burtshilfe das  Sekakornin  die  erste  Stelle,  während  in  der  gynäkologischen  Praxis 
<las  Extractum  secalis  oornuti  fluidum  vorzuziehen  ist. 

KUn.  Vortrige.  N.  F.  Nr.  487.    (Gynäkologie  Nr.  177.)   Juni  1908.  22 

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Otto  von  Herff,    Im  Kampfe  gegen  das  Kindbettfleber. 


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befinden,  in  die  frischen  Wunden,  die  bei  diesen  Eingriffen  unbedingt 
entstehen  müssen. 

Auf  eine  besonders  strenge  Ruhelage  einer  sonst  gesunden  Wöch- 
nerin zu  dringen,  ist  gewiß  übertrieben  und  unnötig!  Etwa  2 — 3  Tage 
Rückenlage,  dann  Seitenlage,  am  5.  Tage  Aufsitzen  und  am  Anfang  dei 
zweiten  Woche  Aufstehen  sollte  vollkommen  genügen.  Eine  längere 
Bettruhe  ist  nur  nach  besonders  schweren  Geburten,  nach  Verletzungeo 
—  Dammrissen  —  nach  Blutungen,  bei  Verhaltung  von  Eihäuten  wie 
überhaupt  bei  minderwertiger  Körperentwicklung  und  selbstverständ- 
lich bei  Erkrankungen  aller  Art,  besonders  streng  bei  Wundinfektionen, 
nötig. 

Meine  Herren!  Ich  bin  am  Schlüsse  meiner  kurzen  Übersicht  der 
wichtigsten  VorbeugungsmaOregeln  des  Kindbettfiebers  angekommen  — 
jene  während  der  Schwangerschaft  fallen  in  das  Gebiet  der  Hygiene 
dieser  Zeit.  Wenn  ich  noch  einmal  das  Wesentliche  zusammenfassen 
darf,  so  kann  ich  nur  das  wiederholen,  was  ich  früher  gesagt  habe: 

Je  ausgedehnter,  je  tiefer  eine  Verletzung  unter  der  Ge- 
burt gesetzt  wird,  desto  größer  ist  die  Wahrscheinlichkeit 
des  Ausbruches  eines  Kindbettfiebers,  das  besonders  dann 
gefährlich  werden  wird,  wenn  die  Schädigung  unter  dem  Deck- 
mantel einer  Scheinantisepsis  gesetzt  wird.  Eigenkeime,  die 
sonst  kein  Unheil  anrichten.  Fremdkeime,  die  etwa  von  der 
Hand  einer  Hebamme  herrühren  und  zunächst  verhältnis- 
mäßig harmlos  sind,  werden  durch  ein  Trauma  —  Zange, 
Plazentarlösung  —  gar  zu  leicht  in  die  Tiefe  der  Gewebe  —  in 
Wunden,  in  die  Plazentarstelle  —  eingepreßt.  Sie  können 
nunmehr  unbehelligt  von  den  wirksamsten  Schutzwehren  des 
Körpers,  die  noch  nicht  zur  Stelle  sein  können,  ihre  unheil- 
volle Tätigkeit  widerstandslos  entfalten.  So  stellt  die  Viel- 
tuerei mancher  Ärzte  zu  guter  Letzt  und  häufig  die  Haupt- 
ursache des  Stillstandes,  ja  der  Zunahme  des  Wochenbett- 
fiebers dar! 

Ergreifen  Sie,  meine  Herrn,  die  Initiative,  bekämpfen  Sie 
nachdrücklichst  eine  mißverstandene  chirurgische  Ära  der 
Geburtshilfe,  es  wird  Ihnen  sicher  ein  köstlicher  Sieg  über 
das  Kindbettfieber  erblühen.  Die  Regierungen  mögen  aber 
auch  ihrerseits  sich  ihrer  Pflicht  auf  diesem  Gebiete  er- 
innern und  mit  ihren  Machtmitteln  die  Ausmerzung  bedenk- 
licher Auswüchse  auf  dem  Gebiete  der  Vorbeugung  des 
Kindbettfiebers,  insbesonders  bei  den  Desinfektionsvor- 
schriften für  Hebammen  erleichtern! 


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488, 

(Gynäkologie  Nr.  178.) 

Ober  abdominale  und  vaginale  Köliotomien. 

Eine  ver^eichende  Studie  über  den  Wert  und  die  Leistungs- 
fähigkeit beider  Operationen  nebst  Bemerkungen  zur  Indikations- 
stellung und  Technik,*) 

Von 

J.  Pfannenstlely 

Kiel. 


Dank  der  Fortschritte  auf  dem  Gebiete  der  pathologischen  Ana- 
tomie einerseits  und  der  Vervollkommnung  der  allgemeinen  chirurgi- 
seilen  Technik  andrerseits  haben  die  Köliotomien  im  Laufe  der 
Jalire  eine  derartige  Entwicklung  erreicht,  daß  es  dem  Operateur  er- 
möglicht ist,  mit  großer  Zuversicht  an  den  Eingriff  heranzugehen. 

Nicht  zum  wenigsten  hat  zu  dieser  Vervollkommnung  beigetragen  die 
durcb  die  Einführung  der  vaginalen  Köliotomie  in  die  gynäkologische 
Operationstechnik  hervorgerufene  Konkurrenz  zwischen  den  beiden 
Operationsverfahren  der  abdominalen  und  der  vaginalen  Köliotomie. 
Beide  Operationsarten  sind  heute  in  einer  Weise  ausgearbeitet,  daß  es 
uDs,  rein  technisch  betrachtet,  in  der  Tat  möglich  ist,  beinahe  alle 
gynäkologischen  Eingriffe,  die  wir  an  interperitoneal  gelegenen  Or- 
ganen zu  erledigen  haben,  auf  beide  Arten  auszuführen,  durch  den 
abdominalen  und  durch  den  vaginalen  Weg. 

Es  ist  dalier  vielleicht  an  der  Zeit,  einmal  Umschau  zu  halten  über 
das  gesamte  Arbeitsgebiet  und  die  Leistungsfähigkeit  festzustellen,  welche 
den  beiden  genannten  Operationsverfahren  innewohnt.    Daß  sie  beide 

1)  Vortrag,  bestimmt  für  den  am  20.-28.  Mai  1908 >zu  Philadelphia  tagenden 
Kongreß  der  American  Gynecological  Society* 

Klia.  Vorträge,  N.  F.  Nr.  488.    (Gynäkologie  Nr.  17&)    Juni  1906.  23 


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300  J-  Pfannenstiel,  [2 

ihre  Vorzüge  haben,  ist  klar;  sonst  würden  sie  nicht  nebeneinander 
bestehen  können.  Aber  wo  Licht  ist,  ist  auch  Schatten.  Es  gilt 
daher  vor  allem,  neben  den  Vorzügen  auch  der  Nachteile  zu  ge- 
denken, welche  die  beiden  Methoden  in  sich  tragen  und  danach  zu 
konstatieren,  auf  welchem  Wege  wir  die  uns  anvertrauten  Patienten 
am  schnellsten  und  sichersten  zu  dem  Ziele  einer  guten  und  dauer- 
haften Heilung  zu  führen  vermögen. 

Bei  der  Wahl  eines  Operationsverfahrens  spielen  naturgemäß  zum 
nicht  geringen  Teil  rein  äußerliche  Momente  eine  gewisse  Rolle,  vor 
allem  die  persönliche  Übung  und  Gewohnheit  des  Operateurs,  sowie 
gewiaae  Liebhabereien.  Allein  dieae  Gesichtspunkte  sollten  niemals 
maßgebend  sein  bei  der  Wahl  eines  Operations  Verfahrens,  sondern 
einzig  und  allein  das  leibliche  Wohl  des  Kranken.  Auch  ästhetische 
Rücksichteui  wie  die  Schönheit  oder  Sichtbarkeit  einer  Narbe  sollte 
nicht  schwer  in  die  Wagschale  fallen,  es  ist  vielmehr  derjenige 
Weg  vorzuziehen,  welcher  sowohl  primär  wie  sekundär  die 
besten  Chancen  darbietet  für  Leben  und  Gesundheit  des 
Menschen. 

Vergleichen  wir  von  diesem  Gesichtspunkte  die  beiden  Operations- 
verfahren  ganz  im  allgemeinen  miteinander,  so  ist  es  klar,  daß  die 
abdominale  Köliotomie  ganz  bedeutende  Vorzüge  besitzt:  Die 
Möglichkeit,  die  Öffnung  in  der  Bauchwandung  beliebig  groß  anzu- 
legen, eracblieOt  den  Vorzug  der  größtmöglichen  Obersiebt  über 
das  Operationsfeld  im  engeren  und  weiteren  Sinne«  Die  zu 
operierenden  Organe  können  ohne  allzu  große  Dislokation  in  Angriff 
genommen  werden.  Die  Operation  kann  mit  einer  Sorgfalt  durch- 
geführt werden,  wie  sie  besser  nicht  gedacht  werden  kann.  Wir 
können  mit  der  gleichen  Sicherheit  dem  Prinzipe  des  Konservativis- 
mus und  des  Radikalismus  Sorge  tragen,  je  nach  den  Erfordernissen 
des  Falles.  GanzabgeaebenvonderMQgUGhkeit,diedemVerlaufdergroßen 
Gefaßstämme  folgenden  Lymphdrüsen  wo  es  nötig  ist  aufzusuchen,  gibt 
es  keine  größere  Obersicht  über  die  so  schwer  zugänglichen  Befesti- 
gungsstellen  der  inneren  Genitalien«  Die  Laparotomie  gestattet  auch 
am  sichersten  eine  Schonung  der  benachbarten  Organe.  Die  Ope- 
ration kann  ohne  Schwierigkeiten  des  Zuganges  auf  Nachbarorgane 
ausgedehnt  werden,  wie  Blase,  Ureteren,  Rektum,  Flexur  und  die 
Appendix  des  Blinddarmes,  wie  auf  andere,  höher  gelegene  Organe 
des  Leibes,  Därme,  Netz,  Mesenterium,  Gallenblase,  Magen  usw.  Die 
Laparotomie  gibt  uns  auch  am  raschesten  Gewißheit  über  die  Grenzen 
der  Operabilität.  Die  Laparotomie  gestattet  ferner  in  ganz  besonders 
sorgfaltiger  Weise  die  intraperitonealen  Wundflächen  mit  Peritoneum 
zu  versorgen  und  trägt  damit  wesentlich  bei  zur  Venneidung  stören* 


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i]  Ober  abdominale  und  vaginale  Köliotomien.  30i 

der  Verwachsungen  in  der  Bauchhöhle  und  zur  Verhütung  des  post-* 
operativen  Ileus.  Endlich  gewahrt  die  Laparotomie  die  Möglichkeiti 
bei  solchen  Neubildungen»  welche  eine  gewisse  Neigung  haben»  durch 
Implantation  von  GeschwulstteHchen  in  der  Bauchhöhle  oder  in  der 
Schnittnarbe  Metastasen  tn  bilden»  solche  Implantationen  zu  ver- 
hfiten.  Bs  kommen  hier  besonders  die  epithelialen  Ovarialtumoren 
in  Betracht»  welche  auch  in  Gestalt  der  ganz  gutartigen  Kystome  zu 
dieser  Form  von  Metastasenbildung  neigen.  Bei  hinreichend  großer 
Öffaung  in  der  Bauchwandung  und  sorgfaltiger  Technik  in  der  Her- 
ausbeförderung der  Geschwulst,  sei  es  mit»  sei  es  ohne  Verkleinerung 
der  Kystome»  gelingt  es,  die  Entstehung .  von  Narbenimplantationen 
2u  verhindern.  In  dieser  Beziehung  ist  die  abdonlinale  Operation 
der  vaginalen  ganz  entschieden  überlegen»  Insofern  das  ganz  be- 
sonders schädliche  Morcellieren  der  Tumoren  in  Wegfall  kommt» 
velches  bei  dem  vaginalen  Operieren  oft  nicht  zu  vermeiden  ist  In» 
wieweit  das  bei  der  Indikationsstellung  bezüglich  der  Ausführung  der 
Ovariotomie  von  Wichtigkeit  ist,  soll  noch  gezeigt  werden. 

Die  Nachteile  und  Gefahren  der  Laparotomie  liegen  in  der 
komplizierten  Zusammensetzung  der  Baüchdecken»  die  wir  durch» 
scliüeiden  müssen»  und  in  der  hinter  Därmen  versteckten  Lage  der 
Genitalien.  Ersterer  Umstand  hat  die  Narbenhernie  Im  Gefolge 
gehabt,  letzterer  hat  viel  schlimmere  Obelstände  gezeitigt:  die  Gefahr 
tiüer  Schädigung  des  Bauchfells  in  grOOerem  Umfang  mit  ihren 
Folgen  für  die  Rekonvaleszenz  und  für  das  Leben  der  Kranken  durch 
Eifitrttt  perltonitischer  Entzündung. 

Allein  diese  Nachteile  haben  an  Bedeutung  Verloren  durch 
Verbesserung  der  Asepsis  und  Technik»  und  wir  können 
beute  sagen,  daß  es  mit  großer  Sicherheit  gelingt»  ebenso^ 
vohl  Narbenhernien  vollkommen  zu  vermeiden,  wie  den 
Eintritt  einer  Peritonitis  zu  verhüten»  vorausgesetzt»  daß  wir 
ta  einem  aseptischen  Operationsobjekt  zu  arbeiten  haben* 

Es  ist  deshalb  die  Laparotomie  das  gegebene  Verfahren  für  alle 
im  Sinne  der  Asepsis  reinen  Fälle  von  Neubildungen»  Blutergüssen 
und  Mißbildungen»  aber  auch  von  chronischen  Entzündungen  der 
Geattalien»  sie  ist  also  das  gegebene  Verfahren  für  die  gutartigen  Neu- 
bildungen des  Uterus  (Myome),  für  die  Tumoren  der  Ovarien»  Tuben 
und  Ligamente»  für  die  Extrauteringravidität»  für  komplizierte  Oyna<* 
tresien»  für  die  chronische  Pelveoperitonitis  adhaesiva  usw. 

Nicht  absolut  vermeidbar  sind  die  geschilderten  Gefahren  der  ab* 
dominalen  Köliotomie»  wenn  es  sich  handelt  um  ein  nicht  asepti« 
scbes  Operationsobjekt  Hier  kann  der  vaginale  Wtg  der  bessere 
Mn.   Es  ist  klar»  daß  man  einen  intraperitoneal  gelegenen  abgekapselten 

23» 


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^2  J*  Pfannenstiel,  [4 

Eiterherd,  einen  BeckenabszeD  oder  eine  verfauchte  Hämaiozele  oder 
einen  im  Douglas  verlöteten  Tuben-  oder  OvarialabszeO  nicht  auf 
dem  Wege  an  gesunden  Därmen  vorbei,  also  abdominal,  zur  Endeerung 
bringen  wird.  Ebenso  kann  es  wichtiger  sein,  infizierte  Organe,  sofern 
sie  überhaupt  der  Exstirpation  bedürfen,  vaginal  zu  entfernen,  also 
ein  infiziertes  Myom  oder  total  vereiterte,  mit  multiplen  Abszessen 
durchsetzte  chronisch  kranke  innere  Genitalien.  Aber  es  muß  auch 
die  Gewähr  gegeben  sein,  daß  das  infektiöse  Material  durch  solchen 
Eingriff  sicher  und  vollkommen  entfernt  wird  und  daß  die  Prinzipien 
des  Konservativismus  und  des  Radikalismus  je  nach  der  Individualität 
des  Falles  gewahrt  bleiben. 

Der  Scheidenbauchschnitt  hat  im  allgemeinen  den  Vor- 
zug, daß  die  Operation  besser  vertragen  wird  und  daß  selten 
eine  sichtbare  oder  störende  Narbe  zurückbleibt.  Daß  die  Operation 
besser  vertragen  wird,  drückt  sich  aus  in  einer  besseren  Mortalitäts- 
statistik und  in  einer  glatteren  Rekonvaleszenz.  Das  trifi^  bei  der 
vaginalen  Köliotomie  gewiß  zu,  allein  bei  näherer  Betrachtung  stellt 
sich  heraus,  daß  dieser  Satz  nur  für  eine  bestimmte  Kategorie  von 
Fällen  gilt.  Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  eine  vaginale  Total- 
exstirpation  des  karzinomatösen  Uterus  bessere  Resultate  gibt  als  eine 
abdominale,  selbst  wenn  dieselbe  nicht  radikal  ausgeführt  wird.  Es 
ist  ebenso  sicher,  daß  bei  nicht  ganz  vollkommener  subjektiver 
Asepsis  die  vaginalen  Resultate  besser  sind  als  die  abdominalen. 
Darüber  hat  uns  die  frühere  Zeit  zur  Genfige  belehrt.  Aber  in 
heutiger  Zeit  hat  die  vaginale  Fixation  des  Uterus  keine  bessere 
Mortalitätsstatistik  als  die  ventrale  Fixation,  und  auch  die  vaginale 
Ovariotomie  steht  in  den  Fällen,  in  denen  sie  überhaupt  gut  ausfuhr- 
bar ist,  nicht  besser  als  die  gleiche  Operation  vom  Abdomen  aus- 
geführt. Hat  man  also  ein  aseptisches  Operationsobjekt  vor  sich,  so 
stehen  sich  beide  Operationswege  von  diesem  Gesichtspunkte  aus 
gleich  und  nur  bei  der  Operation  an  einem  nicht  aseptischen  Organ, 
wie  z.  B.  an  einem  karzinomatösen  Uterus  oder  auch  nur  bei  unvoll- 
kommener Asepsis  des  Operateurs  macht  sich  der  Unterschied  geltend. 
Die  Ursache  ist  nicht  schwer  zu  finden.  Sie  liegt  in  der  bereits 
vorhin  erwähnten  Lagerung  der  Genitalien  unterhalb  der  Därme. 
Sind  weder  am  Operationsobjekt  noch  an  den  Händen  des  Operateurs 
krankmachende  Keime,  so  schadet  die  Berührung  der  Därme  nicht. 
Sind  aber  solche  Keime  vorhanden,  so  ist  der  Weg  an  den  Därmen 
vorbei  geßihrlich,  während  das  subintestinale  Operieren  besser  ver- 
tragen wird. 

Das  gleiche,  was  von  der  Mortalitätsstatistik  gesagt  wurde,  gilt 
natürlich   für  die  Rekonvaleszenz  nach   der  Operation.     Bei  der 


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5]  Ober  abdominale  und  vaginale  Köliotomien.  303 

heutigen  Asepsis  und  Technik  hat  die  ventrale  Fixation  oder  die 
Ovariotomie  keine  schlechtere  Rekonvaleszenz  als  die  Vaginofixation 
oder  die  vaginale  Ovariotomie,  besonders  seitdem  die  Kranken  nach 
dem  Leibschnitt  nicht  mehr  so  unnötig  lange  Bettruhe  halten. 

Daß  eine  Kolpoköliotomie  fOr  gewöhnlich  keine  sichtbare  Narbe 
hinterläßt,  ist  klar.  Aber  wenn  man  überhaupt  auf  das  kosmetische 
Resultat  Wert  legt,  was  ich  für  recht  unwesentlich  halte,  so  läßt  sich 
durch  eine  gut  ausgeführte  Technik  und  eine  sorgfältige  Naht  die 
Bauchnarbe  sehr  dünn  und  fein  gestalten,  ja,  sie  kann  sogar  fast  un- 
sichtbar gemacht  werden,  wie  ich  noch  zu  erläutern  haben  werde. 

Zuweilen  ist  die  vaginale  Narbe  zwar  »unsichtbar^,  aber  doch 
recht  lästig  und  dauernd  schmerzhaft,  sowohl  die  im  Scheidengewölbe 
liegende  als  ganz  besonders  die  Scheidendammnarbe,  welche  nach 
schwierigen,  eine  große  Inzision  erfordernden  Operationen  entsteht. 
Ich  habe  sowohl  in  der  eigenen  Praxis  als  in  der  von  andern  Ope- 
rateuren sehr  häßliche  Narben  gesehen,  Narben,  welche  die  Patienten 
besonders  beim  Siezen  und  Gehen  hinderten,  Narbenbeschwerden, 
wie  man  sie  heutzutage  bei  der  Laparotomie  gar  nicht  mehr  zu  sehen 
bekommt» 

Und  damit  komme  ich  auf  die  Nachtelle  der  Kolpoköliotomie 
zu  sprechen,  welche  gipfeln  in  der  zu  kleinen  Öffnung  mit  allen 
ihren  Folgen.  In  der  Zeit,  in  denen  die  vaginalen  Operationen  aus- 
gearbeitet wurden,  hat  diese  kleine  Öffnung  großen  Schaden  gestiftet 
und  sogar  manches  Opfer  durch  ungenügende  Blutstillung,  durch 
Verletzung  von  Blase,  Urethren  und  Mastdarm  und  durch  Fehler  in 
der  Asepsis  gefordert.  Heutzutage,  wo  die  Indikation  für  diese 
Operation  enger  begrenzt  worden  ist,  ist  es  besser  geworden,  aber 
der  Obelstand  der  kleinen  Öffnung  macht  sich  immer  wieder  von 
neuem  geltend,  besonders  seitdem  wir  die  innigen  Beziehungen 
zwischen  dem  Blinddarm  und  den  inneren  Genitalien  kennen  gelernt 
und  die  Notwendigkeit  eingesehen  haben,  die  Radikaloperation  beim 
Karzinom  zu  erweitern.  Alle  Operationen,  bei  denen  ein  vollständi- 
ger Überblick  über  das  ganze  Operationsgebiet  nebst  seiner  näheren 
und  ferneren  Umgebung  notwendig  ist,  passen  nicht  für  den  vaginalen 
Schnitt. 

Es  eignet  sich  deswegen  die  Scheidenoperation  im  all- 
gemeinen nicht  für  die  Karzinome  der  inneren  Genitalien. 
Daß  die  bösartigen  Ovarialneubildungen  auf  vaginalem  Wege 
radikal  und  sorgfältig  nicht  zu  entfernen  sind,  darüber  ist  man  sich 
wohl  allerseits,  im  klaren,  und  ebenso  wird  das  Uteruskarzinonri 
von  den  meisten  Führern  der  gynäkologischen  Wissenschaft  abdo* 
minal  erledigt.    Nur  Seh auta   operiert  vaginal   mit  seinem   eigens 


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J.  Pfannenstiel, 


[« 


dazu  ausgearbeiteten  erweiterten  Verfahren.  Die  Zukunft  muß  ent-^ 
scheiden,  ob  dieses  Verfahren  in  summa  die  gleiche  Leistung  aufzu* 
weisen  hat,  wie  die  abdominale  Operation.  Daß  der  Vaginaüst  auf 
die  Drüsenentfernung  verzichtet,  halte  ich  nicht  fOr  so  bedenklich, 
aber  ob  die  Ausräumung  der  Parakolpien  und  Parametrien  bezflglich 
Radikalismus  einerseits  und  Schonung  der  Nacbbarorgane  andrer- 
seits ebenso  vollkommen  ausfällt  wie  bei  abdominalem  Operleren, 
das  erscheint  mir  fraglich.  Mein  Standpunkt  bezüglich  des  Uterus- 
karzinoms ist  in  der  Berl.  klin.  Woche  1005,  Nr»  27  gekennzeichnet. 
Im  allgemeinen  soll  der  Uteruskrebs  abdominal  erledigt  werden. 
Aber  wir  sollten  die  guten  Erfahrungen,  die  wir  in  früherer  Zeit  mit 
der  vaginalen  Exstirpation  gewisser  Karzinomarten  gemacht  haben, 
ausnützen  und  solche  Fälle  auswählen  lernen  und  sie  für  die  zweifel- 
los mit  geringerer  primärer  Mortalität  belastete  vaginale  Exstirpation 
reservieren.  Es  sind  das  gewisse  Formen  von  Portio-  und  von 
Korpuskarzinom,  nämlich  solche,  die  sich  noch  im  Beginn  der  Aus- 
breitung befinden,  die  erst  in  höherem  Lebensalter  auftreten  und  die 
hart,  bindegewebsreich  und  zellarm  sind.  Speziell  an  der  Portio 
kommen  in  Betracht  die  am  eigentlichen  Muttermund  beginnenden 
Karzinome.  Alle  diese  Formen,  welche  langsam  wachsen  und  wenig 
zur  Drüseninfektion  neigen,  können  getrost  vaginal  erledigt  werden. 
Alle  andern,  besonders  die  weiter  vorgeschrittenen  Fälle,  die 
weicheren,  zellreichen  Formen,  die  jugendlichen  Fälle,  besonders 
aber  alle  Cervixkarzinome  sollten  ebenso  wie  die  primären  vaginalen 
Karzinome  vom  Abdomen  aus  so  radikal  wie  möglich  in  Angriff  ge- 
nommen werden* 

Von  den  gutartigen  Neubildungen  der  inneren  Genitalien 
werden  die  Myome,  wenn  sie  eine  gewisse  Größe  überschreiten,  am 
besten  abdominal  erledigt.  Ich  bin  von  der  weitgehenden  Anwendung 
der  vaginalen  Operadon  wieder  etwas  zurückgekommen,  nachdem 
ich  gesehen  habe,  daß  die  Resultate  in  denjenigen  Fällen,  die  durch 
ihre  geringfügige  Größe  sich  auch  für  das  vaginale  Verfahren  eignen, 
auch  bei  abdominalem  Operieren  nicht  schlechter  sind.  Oberkinds« 
kopfgroße  Myomen  werden  schonender  und  sorgfältiger  abdominal 
erledigt,  aber  auch  bei  kleineren  Tumoren  ziehe  ich  die  Laparotomie 
vor,  wenn  der  Introitus  und  die  Scheide  eng,  virginell  und  straff  sind, 
weil  mir  der  Schnitt  durch  die  Bauchdecken  schonender  erscheint 
als  der  paravaginale  Hilfsschnitt.  Nur  eine  Indikation  anerkenne 
Ich  für  die  vaginale  Myotomie^  das  ist  die  Operation  bei  be- 
stehender Infektion  eines  myomatösen  Uterus.  Es  sind  das 
meist  ziemlich  harmlose  Infekdonen  mit  saprämischen  Mikroben,  bei 
denen  aber  doch  die  abdominale  Operation  schlechter  vertragen  wird 


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7]  Ober  abdominale  und  vaginale  Köliotomien.  305 

als  die  vaginale.  In  aolchen  Fällen  soll  man  sich  bemühen^  vorauso- 
gesetzt,  daÜ  der  vaginale  Zugang  nicht  2u  eng  ist,  womöglich  auch 
noch  die  flberklndskopfgfoßen  Tumoren  unter  geschickter  Zeratilck- 
luog  vaginal  zu  entfernen.  Dazu  gehört  besondere  Obung^  ein  be» 
sonderes  Instrumentarium  und  eine  gute  Assistenz. 

Was  die  Ovarien  tum  oren  anlangt,  so  sind  von  vornherein  von 
der  vaginalen  Operation  auszuschließen  alle  soliden  und  alle  malignen 
Tumoren^  sowie  alle  durch  Verwachsung,  intraligamentären  Sitz,  Stiel- 
torsion und  andre  Störungen  komplizierte  Fälle.    Aber  auch  die  un- 
komplizierten, zystischen  Tumoren  werden  besser  abdominal  entfernt, 
weil  auf  diese  Weise  am  sichersten  der  Implantation  von  Geschwulst- 
teiichen  in  der  Bauchhöhle  vorgebeugt  wird.    Die  kleine  Öffnung  im 
Scheidengewölbe  bei  der  Kolpoköliotomie  bringt  es  mit  sich,  daß  die 
Geschwulst    oftmals    nicht    ohne   Morcellement   zerkleinert   werden 
kaan,  was  bei  allen  epithelialen  Neubildungen  entschieden  zu  ver- 
werfen  ist.    Es  sollte  deshalb  die  vaginale  Ovariotomle  allgemein 
bllen  gelassen  werden.    In  den  einfachen  Fällen  ist  sie  überflflssig 
und  der  Laparotomie  an  Erfolg  nicht  nachstehend.    In  den  schwieri- 
|ea  Fällen,  besonders  bei  den  parvllokulären  Kystomen  und  ganz  be- 
sonders  bei  den   bösartigen  Tumoren    ist  sie   geradezu  gefährlich. 
Alle  diese  Zustände  sind  nun  aber  ebenso  wie  die  zuvor  genannten 
Komplikationen  nicht  mit  Sicherheit  vor  der  Operation  zu  diagnosti- 
zieren.   Ich  lehne  deshalb  die  vaginale  Ovariotomle  trotz  ihrer  oft 
bequemen   Ausführbarkeit    im   Prinzip    ab.    Ausnahmen   von  dieser 
Indikationsstellung  werden  ebenso  wie  bei  den  Myomen  auch  bei  den 
Ovarialtumoren  gemacht  werden  mfissen.    Bei  der  Einklemmung  eines 
zystischen  Tumors  sub  partu  kann  gelegentlich  die  vaginale  Operation 
vorzuziehen  sein  usw. 

Eine  besondere  Stellung  nehmen  ein  die  Ovarialabszesse  bzw.  die 
vereiterten,  unilokulären.  Im  Becken  liegenden  Tumoren.  Hier  empfehle 
ich  folgendes  Verhalten:  Es  wird  zunächst  durch  vorsichtige  Probe- 
punktion mit  danner  Nadel  die  Art  der  in  dem  Abszeß  enthaltenen 
Bakterien  festgestellt.  Findet  sich  ein  septischer  Inhalt,  so  soll  vaginal 
inzidiert  und  die  Ausheilung  der  Abszeßhöhle  abgewartet  werden,  um 
spater  den  Tumor  abdominal  zu  entfernen.  Bei  harmlosen  Bakterien, 
ebenso  bei  allen  größeren  und  multilokularen  Tumoren  ist  ohne 
Zaudern  abdominal  zu  operieren,  mit  großem  Bauchschnitt  und  unter 
dem  Bestreben,  den  Tumor  möglichst  unzerkleinert  zu  entfernen. 

Was  die  entzündlichen  Erkrankungen  anlangt,  so  wurde  der 
abszedierenden  Formen  schon  gedacht.  Sofern  das  infektiöse  Material 
vollständig  entfernt  werden  kann,  soll  der  vaginale  Weg  bevorzugt 
werden.    Bei  den  chronischen  Entzündungen  jedoch   ist   schon  mit 


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J.  Pfannenstiel, 


I 


Rücksicht  auf  die  Erfordernisse  des  konservativen  Handelns  der  fibei 
sichtliche  Weg  der  abdominalen  Operation  der  zweifellos  bessere.  Sc 
viel  wie  möglich  das  Ovarium  schonen,  muß  die  Losung  sein,  b< 
allen  chronisch  entzündlichen  Erkrankungen  einschließlich  der  Tubei 
kulose  der  Innern  Genitalien«  Die  Tube  und  der  Uteruskörper  sin 
bei  allen  entzündlichen  Erkrankungen  viel  stärker  gefährdet  als  de 
Eierstock,  sie  bedürfen  deshalb  —  vorausgesetzt,  daß  überhaupt  eio 
Operation  indiziert  ist  —  in  der  Regel  viel  mehr  der  radikalen  Em 
fernung.  Vor  allem  allem  aber  ist  mit  Rücksicht  auf  die  so  häufig 
Mitbeteiligung  des  Processus  vermiformis  an  der  chronischen  En 
Zündung  die  Laparotomie  angezeigt. 

Zu  der  chronischen  .  Entzündung  der  Genitalien  gehört  auch  di 
chronische  Pelveoperitonitis.  Sofern  dieselbe  andauernde  Be 
schwerden  macht,  ist  die  abdominale  Operation  auszuführen.  AucI 
die  mit  chronischer  Pelveoperitonitis  verbundene  Retroflexio  utei 
(sog.  ,»Retroflexio  uteri  fixati"*)  gehört  zu  dem  Bereich  der  Laparotomie 
nicht  der  vaginalen  Operation. 

Auch  die  Extrauterinschwangerschaft  wird  am  besten  pe 
laparotomiam  erledigt.  Gewiß  ist  es  möglich^  die  Tube  auch  durci 
die  Kolpoköliotomie  zu  entfernen,  aber  angesichts  des  weichen  un( 
morschen  Zustandes  der  Gewebe  ist  ein  schonendes  und  exakt  blut 
stillendes  Operieren  allein  durch  die  Laparotomie  zu  gewährleisten 
Nur  die  verjauchte  Hämatozele  ist  wie  ein  Beckenabszeß  zu  behandeli 
uud  vaginal  zu  inzidieren. 

Die  komplizierten  Gynatresien  gehören  gleichfalls  der  Laparo 
tomie,  während  der  einfache  Hämatokolpos  natürlich  von  unten  z( 
entleeren  ist.  Bei  allen  höher  gelegenen  Atresien  kommt  man  an 
besten  abdominal  zum  Ziele  und  braucht  dabei  den  konservativen  Ge 
danken  nicht  aus  dem  Auge  zu  verlieren.  Man  kann  sogar,  wie  ict 
gezeigt  habe^),  unter  Umständen  die  fehlende  Verbindung  zwischei 
dem  durch  retiniertes  Blut  ausgedehnten  Uteruskavum  und  den 
Scheidenrest  herstellen  und  zwar  mit  dem  Effekt  der  vollen  Funktioo 

Was  die  Lageveränderungen  der  Genitalien  anlangt,  so  steb( 
ich  auf  dem  Standpunkt,  daß  hier  im  allgemeinen  viel  zu  viel  operier 
wird.  Meistens  ist  überhaupt  keine  Lagekorrektion  angezeigt.  Wc 
dies  der  Fall  ist,  handelt  es  sich  in  der  Regel  um  kompliziertere  Fälle. 
Der  Deszensus  und  Prolapsus  der  Ovarien  kann  gelegentlict 
Beschwerden  machen.  Es  ist  klar,  daß  hier  nur  die  Laparotomie  zu 
helfen  vermag,  durch  Ovariopexie. 

1)  Pfannen'stiel  in  Festschrift  für  Fritsch,  Leipzig,  Breitkopf  u.  Härte!  190% 
S.  344  ff. 


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9]  Ober  abdominale  und  vaginale  Köliotomien.  307 

Die  Retroflexio  uteri  bedarf  in  uDkomplizierteö  Fällen  niemals 
der  Lagekorrektion.  Zu  den  Komplikationen  gehört  die  Pelveoperi- 
tonitis,  von  welcher  bereits  die  Rede  war.  Hier  ist  die  ventrale 
Operation  angezeigt,  bestehend  in  Lösung  der  Verwachsungen  ein- 
schließlich der  erforderlichen  Operationen  an  den  Adnexen  mit  nach-^ 
folgender  Ventrlfixur,  um  den  Uterus  aus  dem  Verwachsungsgebiet 
herauszuheben.  Die  andere  überaus  häufige  Komplikation  der  Retro- 
üexio  ist  die  TotalerschlafFung  des  Organs  und  die  Senkung  der 
Scheide.  Schlaffheit  des  Isthmus  uteri  (unteres  Uterinsegment)  und 
Atonie  der  Beckenbodenmuskulatur  gehen  fast  immer  Hand  in  Hand. 
Zu  diesem  Krankheitsbild  gehört  dann  neben  andern  splanchnopto* 
tischen  Erscheinungen  (Wanderniere,  Senkung  des  Magens  und  Quer- 
darms usw.)  auch  die  Zystozele.  Alle  diese  Erschlaffungszustände  des 
Urogenitalapparates  lassen  sich  nicht  auf  dem  abdominalen  Wege  heilen. 
Hier  ist  die  einzige  Methode,  welche  auf  einen  Dauererfolg  bezüglich 
der  Beckenorgane  rechnen  kann,  eine  richtig  ausgeführte  vaginale 
Fixation  des  Uterus,  verbunden  mit  Kolporrhaphie  und  Dammplastik. 
Weder  die  Ventrifixur  noch  die  Alexander-Adamsche  Operation  gibt 
gute  dauernde  Resultate:  der  schlaffe  Uterus,  welcher  durch  ebenso 
schlaffe  Bandapparate  nicht  genügend  gehalten  ist,  bleibt  trotz  ventraler 
oder  inguinaler  Fixation  nicht  in  der  durch  die  Operation  hergestell- 
ten «Normallage'',  wenn  man  überhaupt  von  einer  solchen  sprechen 
darf,  er  senkt  sich  wieder,  ev.  unter  Ausbildung  von  langgedehnten 
Fixationsbändern,  und  das  Rezidiv  ist  da.  Vor  allem  aber  besteht  die 
Gefahr  der  Wiederausbildung  einer  Zystozele  mit  ihren  Folgen  für 
Uterus  und  Scheide.  Diese  läßt  sich  durch  eine  ihren  Hebel  allein  am 
Corpus  uteri  ansetzende  Operation  nicht  beheben,  im  Gegenteil:  durch 
eine  ventrale  oder  inguinale  Befestigung  des  Uterus  wird  die  Blase 
noch  stärker  in  der  Richtung  nach  abwärts  gedrängt,  so  daß  die  besten 
Kolporrhaphiemethoden  nicht  standhalten.  Und  mit  dem  Zystozelen- 
rezidiv  tritt  das  Prolaps-  und  Retroflexionsrezidiv  ein.  Hier  kann  nur 
die  Interposition  des  Uterus  zwischen  Scheide  und  Blase  helfen,  also 
die  vaginale  Operation,  bestehend  in  einer  Kombination  von  gut  aus- 
geführter Vaginofixation  mit  entsprechender  Colphorrhapia  anterior, 
posterior  und  Dammplastik. 

Mit  diesen  Ausführungen  habe  ich  natürlich  nur  die  hauptsäch- 
lichsten Indikationen  besprechen  können;  es  würde  mir  die  Zeit 
fehlen,  um  noch  andere,  vielleicht  auch  nicht  ganz  unwichtige  Ge- 
sichtspunkte heranzuziehen.  Ich  kann  resümieren,  daß  nach  meiner 
Auffassung  und  nach  meiner  Erfahrung  für  die  intraperitonea- 
len gynäkologischen  Operationen  die  abdominale  Kölio- 
tomte   bei    weitem    den    Vorzug     verdient,     daß    aber  auch 


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308  J.  PfAnnenstiel,  [10 

für  die  KolpokOliotomie  eine  Anzahl  ziemlich  scharf 
umgrenzter  Indikationen  übrigbleibt.  Hat  man  noch  vor  nicht 
langer  Zelt  Grund  gehabt,  das  Prinzip  aufzustellen:  was  irgend  der 
vaginalen  Operation  zugänglich  ist,  soll  vaginal  erledigt  werden,  so 
haben  die  Fortschritte  in  der  Asepsis  und  in  der  Technik  der  letzten 
10  Jahre  diesen  Grundsatz  geändert.  Die  Asepsis  hat  bedeutend 
gewonnen  durch  die  Einführung  des  Alkohols  in  die  Händedesinfek- 
tion, sowie  die  Verwendung  der  Gummihandschuhe  und  andrer  MaD« 
nahmen  zur  Verbesserung  des  Wundschutzes.  Die  Technik,  welche 
eine  Zeitlang  etwas  vernachlässigt  war  in  dem  irrigen  Glauben,  daß 
die  Antisepsis  die  Hauptsache  sei,  ist  wieder  mehr  zu  ihrem  Recht 
gekommen.  Wir  sind  heute  mehr  denn  je  überzeugt,  daO  die  Scho* 
nung  der  biologischen  Kräfte  des  Körpers  von  großer  Wichtigkeit 
ist,  sowohl  bezüglich  der  allgemeinen  Vitalität  wie  ganz  besonders  der 
lokalen  Gewebsfunktion,  daß  wir  geschickt,  schnell  und  sorgiSltig 
operieren  müssen,  daß  aber  die  Sorgfalt  wichtiger  ist  als  die  Schnellig- 
keit. Die  Organe  und  Gewebe  sind  vor  unnützen  Berührungen  und  be- 
sonders vor  stärkerem  Druck  zu  bewahren.  Die  lang  anhaltende  Kom- 
pression der  Bauchdecken  durch  Spekula,  namentlich  durch  die  selbst- 
haltenden, ist  zu  meiden.  Das  Bauchfell  ist  vor  Luftkeimen  und 
sonstigen  Schädlichkeiten  zu  schützen,  die  Därme  sollen  womöglich 
nicht  eventrieirt  werden.  Desinflzientien  sind  von  Wunden  und  Bauch- 
fell fernzuhalten.  Die  Beckenhochlagerung  soll  nicht  zu  steil  sein 
und  nicht  zu  lange  andauern,  nicht  allein  wegen  der  stärkeren  Be- 
lastung des  Zwerchfells  durch  Intestina  mit  ihren  Folgen  für  die 
Atmung,  sondern  auch  weil  dadurch  eine  zu  intensive  Hyperämie  des 
Peritoneums  entsteht.  Die  Blutstillung  soll  peinlich  genau  sein.  Die 
interperitonealen  Wunden  sind  sorgfältigst  mit  Peritoneum  zu  über* 
nahen.  Drainage  und  Tamponade  sind  nach  Möglichkeit  zu  vermeiden. 
Als  Nahtmaterial  ist  für  die  versenkten  Nähte  Catgut  vorzuziehen  und 
Silkwormgut  für  die  Haut.  Die  Vor-  und  Nachbehandlung  des  Kran- 
ken soll  auf  die  Schonung  seiner  Kräfte  Bedacht  nehmen  und  so  viel 
wie  möglich  den  physiologischen  und  individuellen  Verhältnissen  an- 
gepaßt sein. 

Als  beste  Methode  für  die  abdominalen  Köliotomien 
empfehle  ich  meinen  suprasymphysären  Faszienquerschnitt, 
welcher  bei  richtiger  Anwendung  für  etwa  */io  aller  gynäkologischen 
Laparotomien  gut  anwendbar  ist.  Der  Schnitt  durch  die  Haut  kann 
erforderlichenfalls  von  einer  Spina  des  Darmbeins  zur  andern  geführt 
werden,  der  Schnitt  durch  die  Aponeurosen  kann  bequem  über  die 
lateralen  Ränder  der  Musculi  recti  nach  außen  verlängert  werden, 
wobei    die   Musculi    obliqui    entsprechend    ihrer   Paserrichtung    zu 


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11]  Über  abdominale  und  vaginale  Köliotomien.  30^ 

spahea  siod.  Die  Ablösyng  der  Aponeuroscn  vom  Musculus  rectus 
soll  nach  oben  bis  zum  Nabel»  nach  unten  bis  zur  Symphyse  getien» 
wobei  die  Musculi  pyramidales  an  der  Faszienplaite  bleiben.  Wenn  als- 
dann die  Musculi  recti  und  das  Bauchfell  in  der  Linea  alba  getrennt 
sind,  dann  haben  vir  eine  sehr  groOe  Öffnung  der  Bauchwand, 
welche  für  die  größten  und  eingreifendsten  Operationen  geeignet  ist 
und  besonders  das  Operieren  in  der  Tiefe  und  in  den  Seitenteilen 
des  Beckens  erleichtert.  Ich  habe  bei  nahezu  1000  Operationen  nicht 
einmal  nötig  gehabt,  zu  dem  Querschnitt  einen  Längsschnitt  durch 
die  Faszie  in  der  Richtung  nach  oben  über  den  Nabel  hinaus  hinzu- 
zufügen. Die  Naht  der  Bauchdecken  wird  in  vier  Etagen  ausgeführt: 
1.  Bauchfell,  2.  Rektusmuskeln,  3,  Aponeurose,  4.  Haut,  Die  Peri- 
toneal- und  Muskelnaht  wird  mit  einem  fortlaufenden  Catgutfaden 
ausgeführt,  die  Fasziennaht  ebenso  mit  einem  Catgutfaden,  die  Haut- 
naht mit  Silkwormknopfnähten,  Auf  sorgfältige  Blutstillung  (zur 
Vermeidung  von  Hämatomen)  und  genaue  Vereinigung  und  Adap- 
tiening  der  Wundränder  lege  ich  den  größten  Wert.. 

Diese  Art  des  Leibschnittes  hat  den  großen  Vorteil,  daß  er  den 
Därmen  schon  bei  mäßiger  Beckenhochlagerung  großen  Schutz  vor 
der  Außenwelt  gewährt  und  damit  einer  Reihe  von  Schädigungen 
vorbeugt.  Es  macht  sich  dies  sehr  deutlich  bemerkbar  in  der  Mor- 
tilitatsstatistiL  Ich  hatte  in  der  Zeit  von  1002—1904  bei  456  Fällen 
von  Faszienquerschnitt  eine  Gesamtsterblichkeit  von  5,34%  und  in 
der  gleichen  Zeit  bei  104  Längsschnitten  in  der  Linea  alba  eine 
solche  von  9,25%,  wobei  ich  bemerken  muß,  daß  in  der  Summe  der 
Quersehnittfälle  auch  die  unsere  moderne  Statistik  stark  belastenden 
Uteniskarzinomoperationen,  sowie  andere  an  einem  nicht  aseptischen 
Objekt  auszuführenden  Operationen  enthalten  sind. 

Die  Rekonvaleszenz  vollzieht  sich  leichter  und  die  Heilung  geht 
rascher  vonstatten  bei  den  mit  Querschnitt  Operierten»  namentlich 
seitdem  ich  nach  dem  Vorbilde  amerikanischer  Operateure  und  in 
Deutschland  nach  dem  Vorgange  Krön igs  die  Kranken  zeitig  auf- 
stehen und  sich  bewegen  lasse* 

Die  Heilung  der  Bauchdecken  war  eine  absolut  gute  (prima  in- 
tentio)  in  95,4%  bei  Querschnitt  gegenüber  94,4%  bei  Längsschnitt. 
Erscheint  auch  dieser  Unterschied  minimal,  so  spricht  er  doch  in*' 
sofern  zugunsten  des  Faszienquerschnittes,  als  ich  gerade  die  eitrigen 
uad  infektiösen  Erkrankungen  durch  den  Querschnitt  zu  erledigen 
pflege,  vor  allem  auch  das  Uteruskarzinom,  die  Peritoneal*  und 
Geniultuberkulpse  und  die  entzündlichen  Ädnexerkrankungen, 

In  innigem  Zusammenhang  mit  der  Bauchdeckenbeilung  steht  die 
Beschaffenheit  der  zurückbleibenden  Narbe  und  die  Frage  der  Bauch« 


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310 


J.  Pfannenstiel, 


[12 


hernie.  Die  Narbe  ist  äußerst  fein,  niemals  breit  oder  entstelleircty 
sie  verschwindet  entsprechend  der  Spaltrichtung  der  Haut  in  der 
Unterbauchgegend  allmählich  mehr  und  mehr,  zuweilen  bis  zur  volli- 
gen  Unsichtbarkelt,  meist  wird  sie  verdeckt  durch  die  Querfalte  der 
Haut,  welche  dieser  Gegend  eigentümlich  ist.  Narbenhernien  wurden 
in  dem  Gesamtmaterial  beobachtet  in  0,94%,  wobei  ich  bemerke,  daß 
dieselben  ausschließlich  in  den  Fällen  von  Bauchdeckeneiterung  ein- 
traten. In  den  Fällen,  in  denen  prima  intentio  zu  verzeich- 
nen war,  ist  Omal  eine  Hernie  beobachtet  worden  (bei  mehr 
als  300  nach  Jahr  und  Tag  untersuchten  Fällen). 

In  den  verhältnismäßig  seltenen  Fällen,  in  denen  ich  einen 
Längsschnitt  in  der  Linea  alba  ausfähre  (bei  sehr  großen,  soliden 
Tumoren,  bei  Komplikationen  derart,  daß  eine  Operation  am  Nabel 
oder  in  höher  gelegenen  Regionen  der  Bauchhöhle  erforderlich  ist), 
halte  ich  nach  den  bisherigen  Erfahrungen  die  Schnittfflhrung  nach 
Lennander  und  die  von  Ch.  Noble  geübte  Fasziennaht  für  die 
besten  Methoden. 

Bezüglich  der  Kolpoköliotomietechnik  kann  ich  mich  kurz 
fassen:  Ich  halte  den  Weg  durch  das  vordere  Scheidengewölbe,  also 
zwischen  Blase  und  Cervix,  mit  Döderlein  für  entschieden  ge- 
künstelt, wenn  ich  auch  zugeben  muß,  daß  die  Operation  eine  bessere 
Obersicht  zu  geben  pflegt  als  die  Kolpotomia  posterior.  Da  ich  beide 
Operationen  nur  noch  selten  und  ausnahmsweise  ausführe,  so  unter- 
lasse ich  es,  an  dieser  Stelle  auf  Einzelheiten  der  Technik  dieser 
Operationsmethode  einzugehen« 

Bei  Beckenabszessen  ist  der  Weg  durch  das  hintere  Scheiden- 
gewölbe selbstverständlich.  Bei  vaginalen  Totalexstirpationen  indi- 
vidualisiere ich,  indem  ich  zuweilen  vorn,  zuweilen  hinten  den 
Schnitt  beginne.  Die  mediane  Durchschneidung  des  Uterus  oder 
sonstige  Zerstücklung  kann  ratsam  sein.  Ist  die  Radikaloperation 
wegen  Vereiterung  der  Genitalien  erforderlich,  so  kann  es  wünschens- 
wert sein,  Dauerklemmen  für  2  Tage  anzulegen  und  Jodoform- 
gazedrainage  anzuwenden.  Sonst  ist,  "wenn  irgend  möglich,  das  Peri- 
toneum und  die  Scheidenwunde  sorgfältig  in  Etagen  zu  schließen. 

Für  die  Prolapsoperation  ist  das  vordere  Scheidengewölbe  der 
gegebene  Weg.  Ich  lege  hier  Wert  darauf,  die  Blase  nicht  allein  in 
der  Mitte,  sondern  auch  an  der  Seite  vollkommen  von  Cervix  und 
Scheide  abzutrennen,  um  sie  möglichst  vollständig  nach  oben 
schieben  und  den  Uterus  zwischen  Blase  und  Scheide  einschalten  zu 
können«  Es  ist  dies  die  einzige  Möglichkeit,  um  dem  Wiedereintritt 
einer  Zystozele  vorzubeugen.  Die  Annähung  des  Uterus  an  die  Scheide 
soll  ferner  nicht  am  Fundus,  sondern  im  oberen  Drittel  der  vorderen 


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13]  Ober  abdominale  und  vaginale  Köliotomien.  311 

Korpusflache  geschehen.  Der  vorn  auszuschneidende  Scheidenlappen 
(Colporrhaphia  anterior)  soll  nicht  zu  breit  sein,  statt  dessen  ist  die 
Scheide  seitlich  etwas  zu  unterminieren,  um  dem  Uterus  Platz  zu 
schauen  für  die  Interposition.  Die  Naht  der  Scheide  soll  ausgeführt 
werden,  ohne  daß  die  Portio  vor  die  Vulva  gezogen  wird,  weil  es 
sonst  nicht  gelingt,  die  Portio  hinten  und  mehr  oben  zu  erhalten. 
Eine  entsprechende  Kolpoperineorrhaphie  vervollständigt  die  Ope- 
ration, indem  sie  den  gesunkenen  Genitalien  einen  neuen,  festen 
Halt  und  Untergrund  verschafft. 

Hiermit  schließe  ich  meine  Ausführungen,  indem  ich  mir  voll- 
kommen bewußt  bin,  daß  ich  nicht  alle  bei  der  operativen  Behand- 
lung der  interperitonealen  Genitalerkrankungen  in  Betracht  kommen- 
den Gesichtspunkte  erörtert  habe.  Es  genügte  mir,  die  allgemeinen 
Grundsätze  zu  besprechen,  welche  nach  meiner  Auffassung  bei  der 
Wahl  der  Operationsmethoden  gelten  sollten,  und  zu  zeigen,  wie  es 
möglich  ist,  diesen  Grundsätzen  Rechnung  zu  tragen.  Im  übrigen 
muß  natürlich  das  Bestreben  walten,  so  viel  wie  möglich  zu  indivi- 
dualisieren, zum  Heile  des  Patienten,  und  weiterhin  die  Fortschritte 
zu  verwerten,  welche  wir  von  der  chirurgischen  Kunst  noch  zu  er- 
warten haben. 


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489/90/91. 

(Chirurgie  Nr.  142/43/44.) 

Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  und 
Behandlung  der  Appendizitis.  L 

Erörtert  an  550  von  Geheimrat  Garre  behandelten  Fällen. 

Von 

Dn  Ad.  Ebner, 

Königsberg-Pr. 


Nur  selten  haben  sich  innerhalb  kurzer  Zeit  auf  dem  therapeutischen 
Gebiet  einer  ErkranlLung  so  tiefgreifende  Änderungen  der  Anschau- 
ungen sowohl  der  internen  Ärzte,  wie  der  Chirurgen  vollzogen,  wie 
auf  dem  der  Erkrankung  des  Wurmfortsatzes  und  ihrer  Folgezustände. 
Zu  danken  ist  dieser  Fortschritt  im  wesentlichen  den  immer  weiter 
gestellten  Indikationen  der  Chirurgen,  welche  schließlich  zum  opera- 
tiven Eingriff  in  jedem  Stadium  der  Erkrankung  geführt  haben.  So 
gewährte  die  Autopsie  in  vivo  einen  immer  größeren  Einblick  in  die 
z.  T.  so  außerordentlich  verderblichen  und  heimtückischen  Verände- 
rungen dieses  Organs  und  warf  ein  immer  helleres  Licht  auf  das  grelle 
Mißverhältnis,  das  namentlich  auch  in  einem  frühen  Stadium  schon 
zwischen  den  geringen  klinischen  Erscheinungen  und  der  Schwere 
der  anatomischen  Veränderungen  an  dem  erkrankten  Organ  selbst  be- 
stehen kann. 

Durch  dieses  Mißverhältnis  drängte  sich  dann  immer  noch  mehr 
die  Notwendigkeit  einer  möglichist  weitgehenden  Indikationsstellung 
zum  operativen  Eingriff  auf,  so  daß  man  heute  allgemein  die  Appen- 
dizitis nicht  nur  bei  Ärzten,  sondern  auch  schon  großenteils  im  Pu- 
blikum als  eine  Krankheit  anerkennt,  bei  der  dem  Chirurgen  nicht  nur 
das  letzte,  sondern  am  richtigsten  bereits  das  erste  Wort  mitzureden 
zusteht,  welche  im  wahren  Sinne  des  Wortes  als  eine  chirurgische 
Erkrankung  zu  bezeichnen  ist. 

Klin.  Vortrige,  N.  F.  Nr.  489/90/91.    (Cbinirsie  Nr.  142/43/44.)   Juni  1906.  28 


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370 


Ad.  Ebner, 


( 


i 


Dementsprechend  ist  innerhalb  einer  verhältnismäßig  kurzen  Zei 
das  Anschwellen  der  Äppendizitisliteratur  —  Sprengel  fuhrt  in  seiner 
Standärtwerk  über  Appendizitis  allein  117  Seiten  Literatur  an  —  eii 
so  gewaltiges  geworden,  daß  es  fär  den  Spezialisten  schwer  und  fu 
den  praktischen  Arzt  kaum  noch  möglich  ist,  dieselbe  in  ihrem  vpllei 
Umfange  zu  übersehen  und  sich  in  dem  zum  Teil  noch  recht  ausein 
andergehenden  Streit  der  Meinungen  zurechtzufinden,  die  verschieden 
artigen  Benennungen  und  Einteilungen  dieser  Erkrankung  auseinander 
zuhalten  und,  was  vor  allem  für  den  Patienten  das  wichtigste  ist,  ii 
den  verschiedenen  Stadien  der  Erkrankung  den  richtigen  Zeitpunt 
zur  Operation  herauszufinden,  in  welchem  er  seinen  Patienten  den 
Chirurgen  zu  überliefern  hat,  ohne  ihn  erst  der  Gefahr  einer  Allge 
meinperitonitis  auszusetzen  und  damit  die  Chancen  seiner  Heilunj 
wesentlich  zu  verschlechtern  oder  ihn  zum  mindesten  einem  langei 
und  quälenden  Krankenlager  zu  überliefern. 

Das  idealste  im  Interesse  des  Patienten  wäre  ja  fraglos  die  schoi 
von  manchen  Chirurgen  und  theoretisch  mit  Recht  gestellte  Forderung 
zu  jeder  als  Appendizitis  auch  nur  verdächtigen  Erkrankung  einet 
Chirurgen  frühzeitig  hinzuzuziehen.  Demgegenüber  darf  man  abei 
nicht  verkennen,  daß  einerseits  noch  lange  Zeit  vergehen  dürfte,  hh 
die  Berechtigung  dieser  Forderung  allgemeine  Anerkennung  bei  den 
praktischen  Ärzten  finden  wird,  die  ja  vielfach  noch  gewöhnt  sind,  in 
der  Appendizitis,  bzw.  den  einzelnen  Anfällen,  die  sie  ja  meist  nui 
zu  sehen  bekommen,  eine  relativ  harmlose  Erkrankung  zu  erblicken. 
Andererseits  sind  aber  auch  bei  dem  besten  Willen  die  Ärzte  aul 
dem  Lande  oder  in  kleineren  Städten  gar  nicht  in  der  Lage,  gleicli 
einen  Chirurgen  an  der  Hand  zu  haben,  auf  dessen  Erfahrung  sie  bei 
Überwachung  ihres  Falles  sich  stützen  könnten. 

Es  wird  also  nach  wie  vor  das  Schicksal  der  meisten  Appendizitis- 
kranken  lediglich  in  der  Hand  der  praktischen  Ärzte  liegen,  und  es 
werden  nach  wie  vor  diese  auch  die  Verantwortung  für  den  Erfolg 
oder  Mißerfolg  eines  operativen  Eingriffs  zu  tragen  haben.  Denn  dar- 
über darf  heute  kein  Zweifel  mehr  herrschen,  daß  fast  niemals  die 
Operation  als  solche  —  unter  Voraussetzung  der  notwendigen  Technik 
und  Erfahrung  des  Operateurs  —  die  Verantwortung  bei  einem  Miß- 
erfolg zu  tragen  hat,  sondern  ausschließlich  der  mehr  oder  minder 
günstige  Zeitpunkt,  in  welchem  der  Kranke  in  die  rettende  Hand  des 
Chirurgen  gelangt^  mit  anderen  Worten  der,  welcher  diesen  Zeitpunkt 
zu  bestimmen  hat,  und  das  wird  fast  immer  der  praktische  Arzt  sein. 

Für  diesen  möchte  ich  daher  in  erster  Linie  die  im  Laufe  von 
12  Jahren  an  der  Rostocker,  Königsberger  und  Breslauer  chirur- 
gischen Klinik  gemachten  Beobachtungen  verwerten,  die  sich  auf  550 


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3]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.  371 

vofi  Herrn  Geheimrat  Garre  behandelte  bzw.  operierte  Fälle  er- 
strecken, für  deren  gütige  Überlassung  ich  an  dieser  Stelle  nicht  ver- 
fehlen möchte,  meinem  ehemaligen,  sehr  verehrten  Chef,  Herrn  Ge- 
heimrat Garr^,  meinen  ergebensten  Dank  zum  Ausdruck  zu  bringen. 

Dabei  gleichzeitig  ein  möglichst  kurzes  und  übersichtliches  Bild 
der  bisher  in  der  Literatur  niedergelegten  Anschauungen,  soweit  sie 
für  die  Betätigung  des  praktischen  Arztes  am  Krankenbett  in  Frage 
kommen,  in  dieser  anspruchslosen  Studie  zu  liefern,  soll  in  erster 
Linie  mein  Bestreben  sein. 

Es  liegt  daher  im  Interesse  der  Kürze  und  Übersichtlichkeit  unserer 
Abhandlung,  wenn  wir  unsere  Aufmerksamkeit  vor  allem  der  Be- 
nennung, Einteilung,  Entstehung,  Erkennung  und  Behandlung 
der  Appendizitis  zuwenden  und  uns  mit  anderen  Worten  auf  die 
rein  klinische  Seite  der  Appendizitis  beschränken.  Wer  sich  auch  über 
die  pathologisch-anatomischen  Veränderungen  näher  zu  informieren 
wfinscht,  dem  seien  die  eingehenden  Monographien  von  v.  Brunn, 
Fowler,  Körte,  Sonnenburg,  Rotter  und  ganz  besonders  das 
Standardwerk  von  Sprengel  zur  eingehenden  Durchsicht  empfohlen. 

Wenden  wir  uns  zunächst  der  Benennung  der  Erkrankung  des 
Wurmfortsatzes  zu,  so  hat  sich  als  die  in  Deutschland  am  meisten 
gebrauchte  von  den  verschiedenen,  vorgeschlagenen  Bezeichnungen 
die  Perityphlitis  herausgeschält.  Der  Ausdruck  stammt  noch  aus  jener 
Zeit  her,  in  der  man  den  Ausgangspunkt  der  Erkrankung  vielfach  in 
dem  Typhlon,  dem  eigentlichen  Blinddarm,  erblickte,  woher  ja  auch 
die  volkstümliche  Bezeichnung  der  Blinddarmentzündung  ihren  Aus- 
gang genommen  hat.  Diese  Anschauung  fand  ihren  Ausdruck  in  der 
zuerst  von  Sahli  widerlegten  Lehre  von  der  Typhlitis  stercoralis, 
deren  Ursache  man  in  Kotstauungen  im  Typhlon  erblicken  zu  müssen 
glaubte.  Im  Gegensatz  zu  der  intraperitonealen  Entzündung  um  das 
Typhlon  herum,  der  Perityphlitis,  hat  man  die  extraperitoneal  bzw. 
retrocöcai  gelegene  Entzündung  als  Paratyphlitis  bezeichnet.  Im  Ein- 
klang dazu  hat  dann  Küster  als  dritten  Ausdruck  die  Epityphlitis, 
die  Entzündung  des  Epityphlon,  des  auf  dem  Typhlon  gelegenen  An- 
hangs, hinzugefügt.  Diese  letztere  Bezeichnung  insbesondere  kann  man 
nicht  als  sehr  glücklich  betrachten,  denn  in  logische  Analogie  mit  den 
ersten  Bezeichnungen  gebracht  heißt  sie  weiter  nichts,  als  eine  auf 
dem  Typhlon  gelegene  Entzündung,  gleichwie  die  Perirjrphlitis  einer 
um  das  Typhlon  gelegenen  Entzündung  entspricht.  Es  ist  kein  lo- 
^scher  Grund  vorhanden,  warum  hier  mit  dem  Begriff  einer  Ent- 
zündung und  ihrer  Lokalisation  plötzlich  der  Begriff  eines  neuen  Organs 
^  im  Gegensatz  zum  Typhlon  —  verbunden  werden  soll,  das  die 
relativ  wenig  bekannte  Bezeichnung  Epityphlon  trägt.  Zum  mindesten 

28* 


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372  Ad.  Ebner,  [4 

setzt  diese  Benennung  voraus ,  daß  jeder  Leser  wissen  muß,  was 
Küster  darunter  verstanden  wissen  will,  denn  aus  der  reinen  Analogie 
mit  der  Peri-  und  Paratyphlitis  allein  geht  eine  richtige  Deutung  dei 
Epityphlitis  im  Sinne  der  Auffassung  von  Käster  doch  nicht  hervor 

Auch  Küster  hat  sich  bei  seinem  Vorschlage  wohl  von  der  Er- 
wägung leiten  lassen,  daß  es  wenig  logisch  erscheint,  eine  Erkrankung 
unter  Übergehen  des  eigentlichen  Ausgangspunktes  derselben  nacb 
einem  anderen  in  der  Nähe  gelegenen  Organ  zu  benennen,  das  ic 
keiner  näheren  Beziehung  zu  derselben  steht,  als  der,  welche  man  aus 
früheren  und  mittlerweile  unrichtig  befundenen  Anschauungen  hin- 
sichdich  der  Ätiologie  der  Erkrankung  herleiten  kann.  Dann  müßte 
er  aber  konsequenterweise  von  der  Epityphlitis  eine  Periepityphlitis 
und  Paraepityphlitis  ableiten,  was  kaum  zu  einer  wesentlichen  Ver- 
einfachung und  leichteren  Unterscheidung  der  BegrifFe  für  den  Prak- 
tiker führen  dürfte» 

Viel  näher  liegend,  klarer  und  den  tatsächlichen  Verhältnissen  ent- 
sprechend ist  wohl  für  die  Erkrankung  des  Appendix  allein  die  einfache 
Bezeichnung  Appendizitis,  wie  sie  zuerst  in  Amerika  von  Fitz  1886 
vorgeschlagen  und  zunächst  von  den  amerikanischen  Ärzten,  namentlich 
von  Senn  vertreten  und  eingeführt  worden  ist.  Diese  Bezeichnung 
hat  denn  auch  mittlerweile  derartigen  Anklang  gefunden,  daß  sie  heute 
die  antiquierte  Perityphlitis  überall,  namentlich  bei  den  englisch  spre- 
chenden Nationen,  mehr  und  mehr  in  den  Hintergrund  drängt. 

Auch  Sprengel  hält  den  Ausdruck  Perityphlitis  nicht  mehr  für 
zeitgemäß  und  findet,  daß  die  Bezeichnung  Appendizitis  entschiedene 
Vorzüge  hat,  wenn  man  das  erste  sprachliche  Grauen  überwunden 
hat.  »Sie  ist  kurz,  eignet  sich  für  weitere,  wenn  auch  formell  nichi 
einwandfreie  Ableitungen,  wie  Endoappendizitls,  Peri-  und  Paraappen- 
dizitis,  ist  sachlich  unseren  heutigen  Anschauungen  absolut  entspre- 
chend und  in  fast  allen  Kulturländern,  außer  vielleicht  in  Deutschland 
eingebürgert.* 

Küster  hält  der  Benennung  entgegen,  daß  sie  den  Fehler  dei 
Zusammenstellung  eines  lateinischen  Namens  mit  einer  griechischeo 
Endung  habe.  Da  wir  heute  aber  in  der  Medizin  eine  ganze  Reihe 
ähnlicher  Zusammenstellungen  bereits  haben,  an  denen  niemand  An- 
stoß nimmt,  und  da  der  Gesichtspunkt  der  reinen  Zweckmäßigkeil 
doch  wichtiger  sein  dürfte,  als  der  einer  sprachreinen  Ableitung  und 
Zusammenstellung  unserer  Nomenklatur,  so  wird  man  trotz  der  philo- 
logischen Bedenken  den  Ausdruck  auch  ferner  beibehalten  dürfen« 
Daraus  die  Möglichkeit  einer  Verwechslung  mit  den  Appendices  epi- 
ploicae  herzuleiten,  wie  sie  Hoffmann  in  einer  Arbeit  bei  Küster 
für  wahrscheinlich  hält,  erklingt  doch  etwas  gezwungen,  da  einmal 


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5]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.  373 

reine  Entzündungen  der  Appendices  epiploicae  äußerst  selten  sind, 
wenn  sie  idiopathisch  überhaupt  vorkommen,  und  da  andererseits  die 
Appendizitis  bereits  viel  zu  sehr  im  Sprachgebrauch  auch  in  Deutsch- 
land eingebfirgert  ist,  als  daO  jemand  einen  anderen  Begriff  damit 
verbinden  wärde,  als  den  einer  Erkrankung  des  Appendix.  In  gleicher 
Weise  entspricht  auch  der  Gebrauch  des  männlichen  Artikels  für 
Appendix  durchaus  dem  Sprachgebrauch,  indem  das  an  Stelle  des 
deutschen  Wurmfortsatzes  oder  des  lateinischen  Processus  vermiformis 
getretene,  zunächst  weniger  gebrauchte  Fremdwort  den  männlichen 
Artikel  (desselben)  übernommen  hat.  Spricht  doch  auch  der  Luft- 
schiffer in  wissenschaftlichen  Werken  stets  von  dem,  und  nirgends 
von  der  Appendix  des  Ballons.  Man  darf  eben  dem  Sprachgebrauch 
nicht  jede  Berechtigung  absprechen.  Er  setzt  sich  schließlich  in  der 
Praxis  dennoch  stets  durch,  wenn  auch  vom  theoretischen  Standpunkt 
aus  die  rein  wissenschaftlichen  Ableitungen,  wie  die  Appendix  u.  a. 
durchaus  zu  Recht  bestehen  bleiben. 

Wie  weit  man  im  übrigen  mit  rein  sprachlichen  Ableitungen  kommen 
kann,  zeigt  sehr  schön  die  seinerzeit  von  Nothnagel  vorgeschlagene 
Bezeichnung  Skolekoiditis,  die  von  der  griechischen  Benennung  des 
Appendix  „Skolekoeides  apophysis""  abgeleitet  ist  und  den  Vorzug  einer 
für  manche  ziemlich  schwierigen  Aussprache  mit  einer  sprachreinen 
Ableitung  der  Endung  verbindet.  Zudem  klingt  die  Bezeichnung  wegen 
des  nur  wenig  bekannten  griechischen  Ableitungswortes  für  die  Mehr- 
zahl so  Fremd,  daO  sie  außer  vom  rein  sprachlichen  Gesichtspunkt 
wohl  kaum  eine  Berechtigung  zur  Erwerbung  des  Bürgerrechtes  in 
unserer  Nomenklatur  hat.  Tatsächlich  habe  ich  sie  auch  in  keiner 
Einteilung  außer  bei  Rose  erwähnt  gefunden. 

Der  von  manchen  gebrauchte  Ausdruck  Perityphlitis  appendicularis 
ßr  den  gleichen  Krankheitszustand  drückt  ja  die  Ätiologie  richtig  im 
Adjektivum  aus,  warum  man  aber  die  Periappendizitis  nicht  vorziehen 
soll,  die  denselben  Begriff  ebenso  klar,  nur  kürzer  zum  Ausdruck  bringt, 
ist  nicht  einzusehen. 

Früher  oder  später  wird  die  Bezeichnung  aller  Voraussicht  nach 
wohl  die  alleinherrschende  werden,  sowohl  der  Logik,  wie  der  Zweck- 
mäßigkeit nach.  Einstweilen  ist  der  von  früher  übernommene  Aus- 
druck der  Perityphlitis  ein  so  festgewurzelter,  daß  man  noch  auf  Jahre 
hinaus  mit  ihm  zu  rechnen  haben  wird.  Nur  soll  man  sich  dabei 
gegenwärtig  halten,  daß  er  einen  Krankheitszustand  betrifft,  der  bereits 
über  den  Appendix  hinausgegriffen  hat.  Er  entspricht  somit  einem 
sekundären  Stadium  der  Erkrankung,  in  welchem  allerdings  erst  die 
meisten  Ärzte  ihre  Patienten  zu  Gesicht  bekommen,  und  für  diese  Fälle 


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374  Ad.  Ebner,  [6 

besteht  wenigstens  vom  anatomischen  Gesichtspunkt  aus  die  Perityph- 
litis zu  Recht. 

Gehen  wir  nun  zu  der  Einteilung  der  Appendizitis  in  die 
einzelnen  Stadien  der  Erkrankung  über,  so  finden  wir  darin  bei  den 
verschiedenen  Autoren  gewisse  prinzipielle  Unterschiede,  je  nachdem 
die  Einteilung  auf  rein  ätiologisch-genetischer,  topographischer,  patho- 
logischer oder  klinischer  Basis  erfolgt  ist.  Da  nun  die  meisten  Ein- 
teilungen weniger  auf  Grund  der  rein  klinischen  Symptome,  als  auf 
Grund  der  Autopsie  —  sei  es  in  vivo  oder  in  mortuo  —  und  auf 
Grund  eines  Vergleiches  bzw.  einer  Resfimierung  des  hierbei  gebotenen 
Befundes  mit  den  vorherigen  klinischen  Symptomen  aufgestellt  worden 
sind,  so  wird  naturgemäß  für  die  meisten  der  Einteilungen  der  patho- 
logisch-anatomische Gesichtspunkt  der  hauptsächlich  maßgebende  sein, 
während  der  klinische  erst  in  zweiter  Linie  kommt. 

Daß  dabei  eine  vollständige  Übereinstimmung  zwischen  beiden  Ge- 
sichtspunkten nur  schwer  oder  gar  nicht  zu  erzielen  ist,  ergibt  sich  aus 
der  Tatsache,  daß  in  vielen  Fällen  die  klinischen  Symptome  mit  den 
per  autopsiam  erhobenen  Befunden  entweder  wenig  übereinstimmten 
oder  gar  in  einem  schreienden  Mißklang  dazu  standen.  Es  liegt  da- 
her auf  der  Hand,  daß  bei  Einteilungen,  welche  mehr  oder  weniger 
beiden  Punkten  gerecht  zu  werden  suchen,  auch  theoretisch  der  Ein- 
klang zwischen  beiden  Punkten  nur  schwer  herbeizufuhren  ist,  zum 
mindesten  wird  dieser  Einklang  für  die  Praxis  vielfach  nur  ein  schein- 
barer sein. 

Für  den  Praktiker  wird  daher  in  erster  Linie  eine  rein  klinische 
Einteilung  in  Frage  kommen,  und  daß  diese  eine  möglichst  einfache 
sein  wird  und  muß,  ergibt  sich  einmal  aus  der  Forderung  einer  mög- 
lichst großen  Übersichtlichkeit  und  Klarheit  derselben,  sowie  aus  der 
Erwägung  heraus,  daß  gerade  die  einfachste  und  kürzeste  klinische 
Einteilung  am  ehesten  allen  pathologisch-anatomischen  Gesichtspunl^ten 
gerecht  zu  werden  vermag,  ohne  durch  ein  zu  subtiles  Eingehen  auf 
die  Einzelheiten  den  Mißklang  zwischen  klinischen  und  pathologischen 
Befunden  unnötig  zum  Ausdruck  zu  bringen.  So  sehr  auch  die  Ein- 
teilungen auf  rein  pathologisch-anatomischer  Basis  vom  theoretisch 
wissenschaftlichen  Standpunkt  aus  zu  schätzen  sind,  so  sind  sie  den- 
noch praktisch  undurchführbar,  da  sie  eben  klinisch  nicht  zu  machen 
sind. 

Daß  man  namentlich  in  letzter  Zeit  seitens  unserer  klinischen 
Autoren  immer  mehr  Wert  darauf  legt,  dieser  richtigen  Erkenntnis 
Ausdruck  zu  verleihen,  ergibt  sehr  schön  eine  vergleichende  Durch- 
sicht der  früheren  Einteilungen  im  Gegensatz  zu  den  heutigen.  Es 
tritt  dabei'  eine  immer  größere  Einfachheit  und  ein  immer  größeres 


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7]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.   375 

Vorwiegen  des  rein  klioischen  Gesichtspunktes  in  die  Erscheinung. 
Kommt  es  doch  für  den  praktischen  Arzt  sowohl)  wie  für  das  Wohl 
des  Kranken  vielmehr  darauf  an,  an  der  Hand  einer  kurzen  und  fiber- 
sichdichen  Einteilung  auf  rein  klinischer  Basis  schnell  und  präzise  den 
richtigen  2^itpunkt  zum  rettenden  operativen  Eingriff  bestimmen  zu 
können,  als  in  dem  Bestreben,  einer  möglichst  subtilen  Einteilung  die 
Diagnose  seines  Falles  anzupassen,  Gefahr  zu  laufen,  daß  dieser  wich* 
tige  Zeitpunkt  versäumt  wird. 

Die  schönste  und  subtilste  Diagnose  nützt  eben  in  solchen  Fällen 
dem  Patienten  nichts,  wenn  sie  nicht  schnell  gestellt  wird  und  wenn 
dabei  in  jedem  nicht  ganz  leichten  Fall  nicht  der  Gesichtspunkt  der 
einzig  maßgebende  ist:  Wann  ist  es  Zeit  zum  operativen  Ein- 
griff, wann  kann  oder  wann  muß  der  Arzt  pflichtgemäß  den 
Patienten  der  Hand  des  Chirurgen  überliefern? 

Zum  Schluß  möchte  ich  noch  einige  Sätze  Sprengeis  anführen, 
in  denen  er  in  geradzu  klassischer  Weise  für  die  Vorzüge  einer  rein 
klinischen  Einteilung  eintritt:  »Der  von  einigen  (Sonnenburg)  auf- 
gestellte Grundsatz,  daß  nur  diejenige  Einteilung  wissenschaftlich  be- 
rechtigt sei,  welche  auf  pathologisch-anatomischer  Grundlage  beruhe, 
ist  theoretisch  anfechtbar,  praktisch  undurchführbar  und  tatsächlich 
unmöglich. '^  Man  darf  eben  nicht  vergessen,  daß  die  angewandte 
Wissenschaft  in  erster  Linie  für  den  Praktiker  und  Patienten  da  ist. 

Ferner:  »Jede  Klassifizierung  nach  pathologisch-anatomischen  Grund- 
sätzen muß  in  der  ideellen  Absicht  unternommen  werden,  io  der  Praxis 
ihren  Prüfstein  zu  finden.  Solange  wir  sie  nur  mit  dem  exstirpierten 
Wurmfortsatz  vor  uns  probat  erfinden,  bleibt  sie  von  des  Gedankens 
Blässe  angekränkelt.'^ 

Wenn  ich  nun  auch  nicht  im  einzelnen  auf  die  verschiedenen  Ein- 
teilungen vorwiegend  deutscher  Autoren  des  näheren  eingehe  bzw. 
dieselben  besonders  anführe,  da  dieselben  lediglich  vom  theoretischen 
Gesichtspunkt  aus  Interesse  darbieten,  so  möchte  ich  doch  in  einem 
kurzen  Hinweis  auf  dieselben  versuchen,  dem  Praktiker  ein  Bild  von 
dem  Reichtum  an  solchen,  sowie  den  Gesichtspunkten  zu  geben, 
welche  für  die  Autoren  dabei  maßgebend  waren.  Diejenigen,  welche 
sich  eingehender  dafür  interessieren,  verweise  ich  auf  die  außer- 
ordentlich umfassende  Zusammenstellung  der  Einteilungen,  welche 
Sprengel  allerdings  nicht  nach  vergleichenden  Gesichtspunkten,  son- 
dern nach  chronologischer  Reihenfolge  geordnet  in  seinem  Standard- 
werk bringt. 

Zunächst  den  rein  ätiologisch-genetischen  Standpunkt  vertritt 
eine  Einteilung,  welche  Halm  1905  angegeben  hat.  Er  geht  dabei 
von  dem  Grundsatz  aus,  daß  die  Appendizitis  als  eine  rein  bakterielle 


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Ad.  Ebner, 


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Erkrankung  zu  bezeichnen  sei^  welche  endemischen  Charakter  besitzt, 
und  macht  dementsprechend  seine  Unterscheidung  nach  der  Art  der 
verschiedenen  Infektionserreger,  die  dabei  in  Betracht  kommen  können. 

Einen  mehr  ätiologisch-pathologischen  Gesichtspunkt  ver- 
treten die  Einteilungen  vonCzerny,  Sonnenburg  und  Federmann. 
Dabei  legt  Sonnenburg  besonderen  Wert  auf  die  Betonung  des  ätio- 
logischen Momentes  und  hebt  gleich  Czerny  den  Perforationsvorgang 
durch  eine  besondere  Abteilung  für  denselben  besonders  hervor. 
Federmann  vertritt  naturgemäß  die  gleiche  Einteilung  wie  Sonnen - 
bürg  mit  dem  Unterschied»  daß  er  zu  der  Appendicitis  Simplex  auch 
die  serös-fibrinöse  Exsudation  im  freien  Peritoneum  hinzunimmt,  nicht 
ganz  in  Obereinstimmung  mit  der  Auffassung  seines  Chefs  Sonnen- 
bürg,  da  eine  solche  Exsudation  nicht  stattfinden  kann,  wenn  das  Peri- 
toneum absolut  gesund  ist,  wie  es  Sonnenburg  für  seine  Appendicitis 
Simplex  ausdrücklich  hervorhebt. 

Im  übrigen  hebt  auch  Federmann  die  Identität  der  perforativen 
Peritonitis  mit  der  zirkumskript-eitrigen  Peritonitis  und  ebenso  der 
gangränösen  Appendizitis  mit  der  freien,  progredienten  Peritonitis  in 
der  Art  seiner  Einteilung  hervor.  Wenn  es  nun  für  die  Mehrzahl 
der  Fälle  auch  zutreffen  mag,  daß  eine  Perforation  in  der  Regel  von 
einer  zirkumskripten  Peritonitis  und  eine  Gangrän  des  Processus  von 
einer  progredient-diffusen  Peritonitis  gefolgt  sein  wird,  so  wird  es 
doch  eine  große  Anzahl  von  Fällen  geben,  für  welche  diese  Identität 
und  somit  auch  die  Einteilung  Sonnenburg s  nicht  zutreffend  ist. 
Zudem  kann  erwiesenermaßen  der  Perforationsvorgang  am  Appendix 
derartig  larviert  in  seinen  klinischen  Äußerungen  verlaufen,  daß  er 
als  solcher  klinisch  überhaupt  nicht  kenntlich  ist,  so  daß  er  als  Unter- 
scheidungsmerkmal für  eine  Einteilung  vom  klinischen  Standpunkt  aus 
wenig  geeignet  erscheint. 

Es  liegt  in  der  Natur  der  Sache  begründet,  daß  wir  bei  den  pa- 
thologisch-anatomischen Einteilungen  auch  die  der  ältesten 
Autoren  vertreten  finden,  da  diesen  ja  zunächst  die  pathologischen 
Obduktionsbefunde  die  einzigen  Unterscheidungsmerkmale  für  eine 
Einteilung  liefern  konnten.  So  unterscheidet  Bamberger  1853  in 
einer  der  ältesten  Einteilungen  zwischen  intraperitonealen  Entzün^ 
düngen,  meist  vom  Processus  oder  vom  Cöcum  ausgehend,  die  schlecht- 
hin als  Typhlitis  bezeichnet  werden,  und  extra^  oder  retroperitonealen 
Entzündungen  in  dem.  der  hinteren  Cöcalwand  angelagerten  Binde- 
gewebe, die  als  Perityphlitis  bezeichnet  werden.  Es  fällt  hierbei  auf, 
daß  man  damals  dem  Begriff  der  Perityphlitis  dieselbe  Bedeutung 
unterschob,  welche  wir  heute  durch  die  Bezeichnung  Paratyphlitis 
zum  Ausdruck  bringen,   während  man  die  Typhlitis   in   erweiterter 


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9]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.  377 

Bedeutung  entsprechend  unserer  heutigen  Perityphlitis  für  die  Intra- 
peritoneal lokalisierten  EntzQndungsvorgänge  in  Anwendung  brachte. 
Oppolzer  hebt  bereits  1858  diesen  Unterschied  sehr  richtig  hervor, 
indem  er  unter  Perityphlitis  die  Entzündung  des  serösen  Oberzuges 
der  Darmgebilde  und  unter  Paratyphlitis  die  Entzündungen  im  retro- 
cöcalen  Bindegewebe  versteht,  eine  Auffassung,  die  bis  heute  ihre 
Gültigkeit  nicht  verloren  hat.  Von  neueren  Einteilungen  könnte  man 
hierzu  rechnen  diejenige  von  Carl  Beck  1898,  Bloß  1894  und  von 
Bfingner  1904.  Dieselben  vertreten  vorwiegend  den  pathologischen 
Gesichtspunkt  und  geben  im  einzelnen  Unterschiede,  die  man  wohl 
mit  dem  Appendix  in  der  Hand  nach  Eröffnung  der  Bauchhöhle  — 
wie  Sprengel  sagt  —  zu  machen  in  der  Lage  ist,  die  aber  rein  kli- 
nisch zu  machen  für  den  Praktiker  unmöglich  ist. 

Etwas  mehr  dem  pathologisch -klinischen  Standpunkt  nähern 
sich  Roux  1892,  Rotter  1896,  Dörffler  1898,  Jonescu  1903.  Je- 
doch finden  wir  bei  Roux  wieder  dem  Perforationsvorgang  eine  beson- 
dere Abteilung  eingeräumt,  was  aus  den  oben  besprochenen  Gründen 
nicht  sehr  glücklich  erscheint.  Auch  Sahli  äußert  sich  mit  Recht 
gegen  eine  derartige  Gruppierung  nach  perforativen  und  nicht  perfora- 
tiven  Formen,  weil  sie  nicht  immer  wesentlich  verschiedene  Krank- 
heitsbilder hervorzurufen  brauchen. 

Rotter  unterscheidet  einfach  zwischen  der  Perityphlitis  circum- 
scripta und  diffusa,  indem  er  dabei  den  Begriff  der  primären  Appen- 
dizitis unter  den  sekundären  derPeriappendizitis  unterordnet.  Letzteres 
erscheint  mir  etwas  unmotiviert,  da  beide  Begriffe  klinisch  gut  von- 
einander zu  trennen  sind. 

Den  Mißklang  des  pathologischen  und  klinischen  Prinzips  der  Ein- 
teilungen und  die  daraus  resultierende  Unbrauchbarkeit  derselben  für 
den  Praktiker  hat  besonders  Hans  Dörffler  empfunden^  der  selbst 
als  praktischer  Arzt  tätig  ist.  Trotzdem  hat  er  bei  seinem  Versuch 
einer  derartigen  Einteilung  vom  rein  praktischen  Gesichtspunkt  aus 
sich  nicht  ganz  vom  pathologischen  Prinzip  freimachen  können,  wie 
seine  Unterscheidung  zwischen  Periappendicitis  serosa  und  suppurativa 
beweist,  die  man  aus  dem  Vorhandensein  oder  Fehlen  des  Fiebers 
vor  eingetretener  Abkapselung  doch  nicht  immer  mit  Sicherheit  machen 
kann.  Ebenso  erscheint  mir  seine  Gleichstellung  der  perforativen  mit 
der  eitrigen  Periappendizitis,  von  denen  die  letztere  der  weitere  Be- 
griff ist,  nicht  zweckmäßig,  da  in  vielen  Fällen  die  Perforation  als 
klinisches  Unterscheidungsmerkmal  versagt  und  andererseits  nicht  jede 
eitrige  auch  eine  Perforationsperitonitis  zu  sein  braucht. 

Dagegen  ist  die  Einteilung  von  Jonescu  ziemlich  frei  von  patho- 
logischen Anklängen  bis  auf  das  Hervorheben  der  septischen  oder 


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378 


Ad.  Ebner, 


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eitrigen  Peritonitis  und  die  gesonderte  Abteilung  der  AppendicitU 
hypertoxica,  die  wohl  richtiger  als  Periappendizitis  zu  bezeichnei 
wäre.  Einen  Unterschied  zwischen  allgemeiner  Peritonitis  appen- 
diculari3  und  appendikulärer  Septhämie  zu  machen  ist  ebenfalls  nicb 
empfehlenswert,  da  beide  Formen  dieselben  Veränderungen  und  Sym- 
ptome aufweisen  können  und  sich  nur  durch  größere  Virulenz  der  Er- 
reger und  entsprechend  vermehrte  Schnelligkeit  des  deletären  Verlaufes 
der  Erkrankung  voneinander  unterscheiden,  ein  Punkt,  der  auch  bei 
Sprengel  entsprechende  Berücksichtigung  gefutiden  hat. 

Als  rein  klinisch  darf  man  wohl  die  Einteilungen  von  Rose. 
Broca,  Scholz,  Riedel  und  Sprengel  bezeichnen,  von  denen  die 
Einteilung  von  Rose  mehr  durch  ihre  Eigenart,  als  durch  ihre  Brauch- 
barkeit Beachtung  verdient  Am  kürzesten  und  relativ  zweckmäßigste! 
erscheinen  mir  die  Einteilungen  der  letzteren  Autoren,  von  denen 
Scholz  einfach  zwischen  leichten,  mittelschweren  und  schweren  Fällen 
unterscheidet.  Auch  Riedel  hält  eine  Trennung  vom  anatomisch- 
pathologischen Standpunkt  nicht  für  statthaft  und  schlägt  vor,  nui 
zwischen  Appendicitis  non  purulenta  und  purulenta  zu  unterscheiden. 
In  beiden  Einteilungen  haben  jedoch  meines  Erachtens  die  klinisch  er- 
kennbaren und  trennbaren  Erscheinungen  des  Peritoneums  zu  wenig 
Beachtung  gefunden,  so  daß  sie  nach  dieser  Richtung  etwas  über  das 
Ziel  hinausschießen  dürften. 

Diesen  Nachteil  vermeidet  die  Einteilung  von  Broca,  ohne  im  üb- 
rigen dadurch  an  Übersichtlichkeit  und  Kürze  einzuhüllen.  Es  wird 
darin  nämlich  unterschieden: 

1.  akute  einfache  Appendizitis  (ohne  Peritonitis), 

2.  zirkumskripte  Peritonitis  (adhäsive  oder  eitrige), 

3.  diffuse  Peritonitis  (septische  oder  eitrige), 

4.  chronische  Appendizitis  (mit  oder  ohne  akute  Anfälle). 

Die  drei  letzten  Abteilungen  faßt  Sprengel  in  eine  zusammen,  in- 
dem er  gleichwie  Riedel  und  Scholz  nur  zwei  Gruppen  unterscheidet, 
die  er  als  Appendicitis  Simplex  und  Appendicitis  destructiva  bezeichnet 
Eine  Trennung  in  A.  ulcerosa,  perforativa  und  gangraenosa  hält  Sprengel 
für  hinfallig,  da  sie  in  der  Peritonealhöhle  die  gleichen  Veränderungen 
verursachen,  worauf  bereits  oben  gelegentlich  der  Appendicitis  hyper- 
toxica  von  Jonescu  hingewiesen  ist. 

Wenn  man  nun  trotz  der  zahlreichen  und  zum  Teil  recht  brauch- 
baren Einteilungen  es  wagen  darf,  eine  weitere  Einteilung  vorzuschlagen] 
so  werden  für  dieselbe  vom  Standpunkt  des  Praktikers  allein  das 
klinische  und  das  therapeutische  Prinzip  in  Frage  kommen.  Ersteres 
wird  vornehmlich  beherrscht  von  den  Reiz-  bzw.  Entzündungserschei- 
nungen des  Peritoneums.    Durch  sie  allein  wird  der  Stand  der  Er- 


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11]  Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.  379 

krankung  klinisch  erkennbar  nach  auOen  projiziert»  ganz  gleich  ob  die- 
selben von  einer  Gangrän,  Perforation  oder  Ulzeration  ihren  Ausgang 
genommen  haben.  Diese  allein  können  also  für  eine  klinisch  verwert- 
bare Einteilung  in  Betracht  zu  ziehen  sein. 

Folgen  wir  von  diesem  Gesichtspunkt  aus  dem  durchschnittlichen 
Entwicklungsgang  der  Erkrankung,  so  werden  sich  gewisse  klinisch 
in  der  Regel  trennbare  Stadien  ergeben,  bei  denen  jedoch  zu  be- 
denken ist,  daß  die  Erkrankung  günstigenfalls  in  einem  frühen  Sta- 
dium abbrechen  kann,  so  daß  die  späteren  Stadien  fortfallen,  daß  sie 
aber  ungünstigenfalls  —  bei  großer  Virulenz  oder  massenhaftem  Ein- 
bruch der  Erreger  in  das  Peritoneum  und  verminderter  Widerstands- 
fihigkeit  desselben  —  die  früheren  Stadien  so  schnell  durchmachen 
bzw.  überspringen  kann,  daß  diese  so  gleichfalls  in  Fortfall  kommen 
können.  Eine  Möglichkeit,  die  ja  für  die  Wandlung  der  Indikations- 
stellung zum  operativen  Eingriff  in  den  letzten  Jahren  ausschlaggebend 
geworden  ist. 

Nach  dieser  Reihenfolge  der  Vorgänge  würde  sich  dann  folgende 
Einteilung  ergeben,  deren  klinische  Unterscheidungsmerkmale  und  Vor- 
gange wir  gelegendich  der  Besprechung  der  Symptomatologie  der 
Appendizitis  näher  erörtern  werden: 

1.  Appendicitis  Simplex.  Peritoneum  völlig  frei.  Die  Erkrankung 
hat  noch  nicht  auf  die  Serosa  übergegriffen  und  begreift  in  sich  den 
Katarrh  des  Appendix  mit  vermehrter  Schleimabsonderung  und  die 
weiter  fortgeschrittene  Form  der  Erkrankung,  welche  sich  durch  Granu- 
lationsgewebe zwischen  den  tubulösen  Drüsen  und  Neigung  zu  Blu- 
tungen des  Bindegewebes  auszeichnet  und  von  Riedel  als  Appendicitis 
granulosa  haemorrhagica  bezeichnet  wird.  Diese  letztere  darf  man  wohl, 
abgesehen  von  akzidentellen  Ursachen,  auf  die  wir  später  zu  sprechen 
kommen  werden,  für  die  Mehrzahl  der  Fälle  als  Ausgangspunkt  der 
Erkrankung  betrachten. 

2.  Periappendicitis  incipiens.  Die  Erkrankung  hat  auf  die 
Serosa  des  Appendix  und  seiner  näheren  Umgebung  übergegriffen, 
aber  sich  noch  nicht  fest  gegen  die  Umgebung  abgegrenzt.  Ich  habe 
dieses  Stadium  bisher  in  keiner  Einteilung  erwähnt  gefunden,  halte 
aber  dessen  besondere  Aufstellung  und  Umgrenzung  auch  vom  klini- 
schen Standpunkt  aus  für  berechtigt  und  notwendig,  da  vom  therapeu- 
tischen Standpunkt  aus  dieses  Stadium  tatsächlich  bereits  eingeführt 
und  benannt  worden  ist.  Es  ist  dieses  das  sogenannte  intermediäre 
Stadium  der  Erkrankung,  das  heute  besonders  aktuell  ist  durch  den 
noch  nicht  einwandsfrei  entschiedenen  Streit  der  Meinungen  über  die 
Indikationsstellung  zum  operativen  Eingriff  während  desselben.  Einer- 


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380  Ad;  Ebner,  [12 

seits  spricht  die  therapeutische  Aufstellung  dieses  besonderen  inter- 
mediären Stadiums  dafär,  daß  man  es  auch  klinisch  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  von  den  anderen  Stadien  unterscheiden  kann,  worauf 
wir  später  näher  zu  sprechen  kommen  werden,  und  andererseits  tritt 
für  die  weitere  Umgrenzung  desselben  die  Erfahrungstatsache  ein,  daO 
der  Zeitraum  vom  Übertritt  der  Entzündung  auf  das  Peritoneum  bis 
zur  festen  Umgrenzung  derselben  in  der  Regel  sich  bis  zum  achten 
Krankheitstage  abzuspielen  pflegt.  Diese  beiden  Gründe  lassen  es 
meines  Erachtens  gerechtfertigt  erscheinen,  wenn  man  dieses  tatsachlich 
vorhandene  und  therapeutisch  bereits  im  Gebrauch  befindliche  Stadium 
der  Appendizitis  auch  für  die  klinische  Einteilung  derselben  gesondert 
anführt.  Wenn  die  ursprünglich  von  der  zeitlichen  Umgrenzung  ab- 
geleitete Bezeichnung  des  intermediären  Stadiums  in  unserer  Ein- 
teilung durch  Periappendicitis  incipiens  ausgedrückt  wird,  so  geschieht 
das,  um  das  diesem  Zeitraum  in  der  Regel  entsprechende  Verhalten 
des  Peritoneums  zum  Ausdruck  zu  bringen  und  damit  gleichzeitig  eine 
Übereinstimmung  mit  den  anderen  Bezeichnungen  unserer  Einteilung 
herbeizuführen. 

3.  Periappendicitis  (und  Paraappendicitis)  circumscripta. 
Die  über  die  Serosa  des  Appendix  hinausgegangene  Entzündung  des 
Peritoneums  ist  zur  Abgrenzung  und  zum  festen  Abschluß  gekommen. 
Dieselbe  kann  serofibrinöser  Natur  oder  der  Regel  nach  mehr  purulenter 
Natur  mit  entsprechender  Exsudatbildung  sein,  die  meist  in  einem 
deutlich  lokalisierten  Palpationsbefunde  nachweisbar  ist.  Zeitlich  würde 
dieses  Stadium  dem  sogenannten  Spätstadium  entsprechen. 

4.  Periappendicitis  diffusa,  entsprechend  der  Peritonitis  appen- 
dicularis  diffusa  purulenta,  welche  ohne  Begrenzung  entweder  schub- 
weise fortschreitend  (Peritonitis  fibrinopurulenta  appendicularis  von 
Mikulicz),  oder  gleichmäßig  sich  in  schnellem  Tempo  verbreitend 
(Peritonitis  appendicularis  libera  nach  Sprengel  oder  acuta  progre- 
diens),  oder  gewissermaßen  mit  einem  gewaltigem  Sprunge  auf  einmal 
innerhalb  kürzester  Zeit  (appendikuläre  Septhämie  oder  Appendicitis 
hypertoxica  bei  Jonescu,  foudroyante  allgemeine  septische  Peritonitis 
bei  Dörffler)  das  gesamte  Peritoneum  ergreift.  Die  Schnelligkeit  ihres 
Fortschreitens  ist  abhängig  von  der  Zahl  und  Virulenz  der  angreifenden 
Erreger  einerseits  und  der  natürlichen  Widerstandskraft  des  Perito- 
neums andererseits. 

5.  Die  abgelaufene  oder  chronisch  rezidivierende  Peri- 
appendizitis  bzw.  das  chronische  Stadium  mit  dem  völligen  Rück- 
gang sämtlicher  akuten  und  subakuten  Entzündungserscheinungen  des 
Peritoneums  und  den  aus  den  zurückgebliebenen  Entzqndungsresten 
resultierenden,  meist  nur  wenig  hervortretenden  Beschwerden,  welche 


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13]  Ober  den  hetttigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.  381 

klinisch  neben  der  Anamnese  der  Diagnose  die  einzige  Handhabe  dar- 
bieten. 

Vom  rein  therapeutischen  Standpunkt  hat  s|ich  zur  Fest- 
legung der  operativen  Indikationsstellung  und  Prognose  in  den  ein- 
2ehien  Stadien  der  Erkrankung  eine  etwas  andere  Einteilung  heraus- 
gebildety  welche  nach  zeitlichen  Umgrenzungen  des  Krankheitsverlaufes 
au^estellt  ist,  sich  aber  im  großen  und  ganzeü  mit  unserer  klinischen 
Einteilung  decken  muO,  da  beide  nach  denselben  Gesichtspunkten,  die 
klinische  nach  den  tatsächlich  vorhandenen  und  die  therapeutische 
nach  den  erfahrungsgemäß  vorauszusetzenden  Veränderungen  des  er- 
krankten Peritoneums,  gemacht  worden  sind. 

Eine  entsprechende  Zusammenstellung  beider  Einteilungen  würde 
sich  daher  folgendermaßen  gestalten: 

1.  Das  Frühstadium  der  Erkrankung  (absolute  Frühoperation), 
velches  umgreift  den  ersten  und  zweiten  Tag  vom  Beginn  der  Er- 
krankung gerechnet.  Die  gewonnenen  Operationsbefunde  in  demselben 
entsprechen  in  der  Regel  der  Appendicitis  simplex,  sowie  häufig  der 
Periappendicitis  incipiens. 

2.  Das  Zwischenstadium  (Intermediärstadium)  Vom  dritten  bis 
achten  Tage  der  Erkrankung  gerechnet,  entspricht  dem  von  uns  unter 
Periappendicitis  incipiens  verstandenen  Erkrankungszustand  des  Peri- 
toneums.   (Zwischenoperation  =  Intermediäroperation.) 

3.  Das  Spätstadium  vom  neunten  Tage  der  Erkrankung  ab  ge- 
rechnet, entspricht  der  Periappendicitis  circumscripta  (Spätoperation). 

4.  Das  Notstadium  (Notoperation)  oder  richtiger  Zuspätstadium, 
welches  naturgemäß  zeitlich  nicht  umgrenzt  ist,  der  therapeutischen 
Vollständigkeit  halber  jedoch  ebenfalls  angeführt  werden  muß  und  der 
Periappendicitis  diffusa  entspricht.  Therapeutisch  sind  bei  ihm  die 
ersten  beiden  Tage  vom  Beginn  der  diffusen  Erkrankung  ab  von 
Wichtigkeit  wegen  der  relativ  günstigen  Prognose  für  den  operativen 
Eingriff  während  derselben  (relatives  Frühstadium;  relative  Früh- 
operation). 

5.  Das  chronische  Stadium,  in  welchem  die  Operation  die  größte 
Sicherheit  bietet:  Sicherheitsstadium;  Sicherheitsoperation. 

Rein  schematisch  würde  sich  also  folgende  Parallele  ergeben: 

1.  Absol.  Frfihstadium  »  Appendicitis  simplex  oder  Periappendi- 
citis incipiens :  absolute  Frühoperation. 

2.  Zwischenstadium  »Periappendicitis  incipiens:Zwischenoperation. 

3.  Spätstadium  =>  Periappendicitis  circumscripta  :  Spätoperation. 

4.  Notstadium  =  Periappendicitis  diffusa :  Notoperation  in  48  Std.; 
relatives  Frühstadium :  relative  Frühoperation. 


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382 


A4.  Ebner, 


[1 


5.  Sicherheitsstadium  =  Periappendicitis  chronica :  Sicherheitsopc 
ration. 

Ich  glaube,  daß  eine  derartige  Einteilung,  welche  in  gleicher  W^eis 
den  klinischen  und  therapeutischen  Gesichtspunkten  gleichzeitig  ge 
recht  zu  werden  vermag  ohne  an  Übersicht  und  Verständlichkeit  z 
verlieren,  am  ehesten  dem  Bedürfnis  des  Praktikers  genügen  dfirfii 
zur  Orientierung  am  Krankenbett  sowohl,  wie  in  der  an  einer  ver 
schiedenartigen  Benennung  gleicher  oder  korrespondierender  Begriff 
noch  laborierenden  Literatur.  Im  übrigen  hat  sie  den  Vorteil,  dal 
sie  den  häufigen  Verwechselungen  zwischen  Intermediär  =  Zwischen 
Stadium  und  Intervall  =  Sicherheitsstadium  definitiv  ein  Ende  macht. 

Das  Bestreben  für  korrespondierende  Begriffe  die  entsprechende! 
Bezeichnungen  beizubehalten  ist  auch  der  Grund  gewesen,  weswegei 
ich  in  meiner  Einteilung  die  sonst  übliche  Bezeichnung  der  Peritoniti: 
nicht  gebraucht  habe,  gleichwie  Rotter  bereits  1896  in  seiner  Ein 
teilung  der  Perityphlitis  circumscripta  die  P.  diffusa  als  den  korre 
spondierenden  Ausdruck  gegenübergestellt  hat.  Ich  glaube,  daß  siel 
dieses  aus  Gründen  der  Logik  und  der  Einfachheit  empfiehlt.  Jed< 
über  den  Appendix  hinausgeschrittene  Entzündung  ist  eben  eine  Peri 
tonitis,  ganz  gleich  ob  sie  umgrenzt  oder  nicht  umgrenzt  ist.  Für  di< 
umgrenzte  Entzündung  hat  man  der  Ätiologie  Rechnung  getragen,  in< 
dem  man  dafür  ausdrücklich  den  korrespondierenden  Ausdruck  dei 
Periappendicitis  circumscripta  geprägt  hat.  Für  die  nicht  umgrenzte 
Entzündung  geht  man  wenig  konsequent  von  dem  eben  geprägtei 
Ausdruck  wieder  ab,  und  bringt  die  Ätiologie  bzw.  die  primäre  Er- 
krankung im  Adjektivum  zum  Ausdruck,  um  eine  vorherrschendt 
Krankheitserscheinung  sekundärer  Natur  durch  den  Gebrauch  des 
Substantivs  für  dieselbe  plötzlich  ganz  besonders  zum  Ausdruck  zi 
bringen. 

Das  wäre  berechtigt,  wenn  der  erstere  Ausdruck  weniger  klar  wäre 
Das  ist  aber  nicht  der  Fall.  Man  kann  unter  einer  diffusen  odei 
progredienten  Periappendizitis  unmöglich  etwas  anderes  verstehen 
als  eine  Peritonitis  appendicularis  diffusa  oder  progrediens,  nur  muC 
man  sich  im  letzteren  Fall  zur  Bezeichnung  desselben  Begriffes  eines 
weiteren  Wortes  bedienen.  Sowohl  der  Logik,  wie  der  Einfachheil 
wegen  verdient  aber  meines  Erachtens  in  solchen  Fällen  der  kürzere 
und  korrespondierende  Ausdruck  zur  Bezeichnung  artgleicher  Begriffe 
stets  den  Vorzug. 

Sprengel  hält  dem  entgegen,  er  vermöge  nicht  einzusehen,  warum 
man  einer  Peritonitis,  die  vom  Appendix  ausgeht,  nicht  einen  selb- 
ständigen Namen  geben  soll,  wenn  man  andererseits  der  Peritonitis 
nach  Magen-  und  Darmperforationen  doch  auch  ihren  richtigen  Namen 


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15]  Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.   383 


L  Das  wäre  berechtigt,  wenn  man  die  Peritonitis  als  selbständige 
Erkninkungsform  hinstellen  will.  Letzteres  geht  aber  wohl  nicht  an, 
da  sie  tatsächlich  in  einem,  wie  im  anderen  Fall  den  mehr  oder 
veniger  ausgeprägten  Folgezustand  einer  Erkrankung  des  Appendix, 
des  Magens  oder  sonst  eines  Organs  der  Abdominalhöhle  darstellt. 
Jedenfalls  ist  bisher  eine  idiopathische  Peritonitis  von  keiner  Seite 
Bichgewiesen  worden.  In  beiden  Fällen  scheint  mir  daher  eine  be- 
sondere Berechtigung  nicht  vorzuliegen,  die  primäre  Erkrankung 
plötzlich  durch  einen  Folgezustand  derselben  zum  Ausdruck  zu 
bringen. 

Die  Art  dieser  Bezeichnung  stammt  wohl  noch  aus  der  Zeit,  als 
man  zunächst  nur  mit  der  Peritonitis,  als  dem  äußerlich  manifesten 
Symptom  der  Erkrankung  zu  rechnen  pflegte  und  mangels  genügender 
ätiologischer  Klarstellung  in  vielen  Fällen  keine  andere  Wahl  übrig- 
blieb. Nachdem  sich  dieses  geändert  hat,  und  man  in  jedem  Fall  die 
Peritonitis  als  Folgeerscheinung  der  Erkrankung  eines  anderen  Or- 
gans betrachten  muß,  scheint  mir  die  Beibehaltung  dieses  Gebrauchs 
ffir  die  Erkrankung  anderer  Organe  der  Bauchhöhle  ein  gleich  kon- 
servatives Verhalten  gegenüber  der  im  Vordergrund  des  Interesses 
stehenden  Appendizitis  nicht  mehr  zu  rechtfertigen.  Einen  Beweis 
dtffir  darf  man  wohl  in  der  ausdrücklich  geprägten  und  gebrauchten 
Periappendicitis  circumscripta  erblicken,  welche  logischerweise  auch 
eine  Periappendicitis  diffusa  zur  Voraussetzung  haben  muß. 

Gehen  wir  nun  zu  der  Ätiologie  und  Genese  der  Appendi- 
zitis über,  so  finden  wir,  daß  einzelne  früher  mehr  weniger  willkür- 
lich angenommene  Faktoren  allmählich  völlig  ausgeschieden  sind.  So 
darf  man  auf  Grund  der  Ausführungen  von  Sahli  und  anderer  Autoren 
die  Theorie  von  der  Typhlitis  und  Perityphlitis  stercoralis  heute  mit 
Recht  als  der  Vergangenheit  angehörig  betrachten. 

Ebensowenig  haben  sich  für  den  Zusammenhang  des  häufigeren 
Konstatierens  der  Appendizitis  mit  dem  vermehrten  Gebrauch  email- 
lierter Kochgeschirre,  von  denen  sich  abgesprungene  Teile  im  Ap- 
pendix festsetzen  sollten,  irgendwelche  Anhaltspunkte  ergeben.  Viel- 
mehr dürfte  sich  das  anscheinend  vermehrte  Auftreten  der  Appendi- 
zitis erheblich  zwangloser  erklären  lassen  durch  die  wesentlichen 
Fortschritte  auf  diagnostischem  Gebiet  einerseits  und  die  erhöhte 
Aufmerksamkeit,  welche  seitens  der  praktischen  Ärzte  dieser  Erkran- 
kung zugewendet  wird,  andererseits.  Jeder  erfahrenere  Arzt  wird  bei 
Erkrankungen  des  Intestinaltraktus  stets  die  Appendizitis  in  den  Be- 
reich seiner  Erwägungen  mit  einbeziehen  und  wird  so  dieselbe  viel- 
fach bereits  in  ihren  ersten  Anfängen  zu  konstatieren  in  der  Lage 
sein,  Fälle,  die  früher  als  Darm-  und  Magenkatarrhe,   Darmkoliken 


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384  Ad.  Ebner,  [16 

oder  generell  als  Bauchfellentziindungen  angesprochen  wurden  und  so 
der  Statistik  völlig  entgangen  sind. 

Ferner  hat  man  früher  dem  Vorhandensein  von  Fremdkörpern  eine 
alku  groOe  Wichtigkeit  hinsichtlich  der  Ätiologie  der  Erkrankung  bei- 
gemessen. Man  hat  wohl  in  einer  Anzahl  von  Fällen  Fremdkörper 
verschiedenster  Art  im  Appendix  gefunden^  die  allerdings  die  Veran- 
lassung zu  den  weiteren  pathologischen  Erscheinungen  bilden  konnten 
und  teilweise  auch  gebildet  haben.  Im  Verhältnis  zu  der  Gesamtzahl 
der  Erkrankungen  sind  jedoch  diese  Fälle  so  selten,  daß  sie  für  die 
Ätiologie  der  Appendizitis  nur  eine  ganz  untergeordnete  Bedeutung 
in  Anspruch  nehmen  können. 

Ebenso  hat  auch  die  Annahme  einer  zerstörenden  Wirkung  von 
Darmparasiten  auf  den  Appendix  nach  Metschnikoff  sich  niclit  als 
haltbar  erwiesen.  Sie  werden  vielmehr  in  der  Regel  auf  den  Pro- 
cessus die  gleiche  Wirkung  wie  jeder  andere  Fremdkörper  ausfiben 
durch  gelegentliche  Okklusion  seines  Lumens  mit  nachfolgender  Reten- 
tion und  den  entsprechenden  Folgeerscheinungen.  Eine  spezielle  Wir- 
kung derselben  kann  nur  unter  der  Voraussetzung  in  Frage  kommen, 
daß  sie  imstande  sind,  kleine  Kontinuitätstrennungen  des  Epithelbelages 
der  Schleimhaut  zu  setzen,  welche  zur  Eingangspforte  für  eine  bak- 
terielle Invasion  werden  könnten.  Diese  Voraussetzung  wird  für  ver- 
einzelte Arten  von  Darmparasiten  zwar  zugegeben,  aber  auch  bei 
diesen  nur  in  äußerst  seltenen  Fällen  erfüllt  sein. 

Gänzlich  haltlos,  wenn  auch  nicht  ohne  Interesse  ist  die  von 
Rubin  aufgestellte  Möglichkeit  eines  Zusammenhanges  der  Zurück- 
haltung von  Winden  mit  pathologischen  Veränderungen  am  Appendix. 

Kommen  wir  nun  zu  den  tatsächlich  für  Ätiologie  der  Appendizitis 
in  Betracht  kommenden  Ursachen,  welche  heute  allgemeine  Anerkennung 
gefunden  haben,  so  werden  wir  dieselben  im  Interesse  einer  besseren 
Obersicht  am  besten  folgendermaßen  einteilen: 

1.  Somatische  Ursachen  a)  kongenitaler,  b)  erworbener  Natur. 

2.  Ursachen,  die  durch  das  Lebensalter  oder  das  Geschlecht  der 
Patienten  prädisponierend  in  Frage  kommen. 

3.  Ursachen  äußerer  Natur  bedingt  durch  a)  Lebensweise  und  Er- 
nährung, b)  Klima,  c)  Traumen,  d)  bakterielle  Invasion. 

Bezüglich  der  somatischen  Ursachen  ist  von  Wichtigkeit  die 
anatomische  Beschaffenheit  des  Appendix  und  seines  Mesenteriolums 
einerseits,  sowie  das  Verhalten  der  umliegenden  Organe  andererseits. 
Namentlich  bei  dem  ersten  Punkte  tritt  die  Möglichkeit  einer  mehr 
weniger  hereditären  Disposition  zur  Erkrankung  in  den  Vordergrund. 
Es  kann  durch  eine  besondere  Länge  des  Appendix,  welche  nach  ein- 
wandfreien Beobachtungen   auch   erblich   vorkommt,  eine  vermehrte 


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17]  Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.  385 

Gelegenheit  zu  Knickungen  des  Lumens  und  Retention  des  Inhalts 
gegeben  werden,  namentlich  wenn  damit  noch  ein  kurzes  Mesenteriolum 
verbunden  ist,  das  an  sich  schon  eine  gewisse  Knickung  des  Appen- 
dix bedingen  kann. 

Neben  einer  abnorm  geringen  Widerstandsfähigkeit  der  Wandung 
überhaupt  kann  nach  Hansemann  auch  eine  herabgesetzte  Widerstands- 
fihigkeit  der  Gerlachschen  Klappe  von  besonderer  Bedeutung  für 
die  Zirkulation  bzw.  Stauung  von  Darminhalt  im  Processus  mit  ihren 
Folgezustanden  sein.  Diese  verminderte  Widerstandsfähigkeit  kann 
in  beiden  Fällen  sowohl  kongenitaler,  wie  erworbener  Natur  sein. 
Kongenital  kann  es  ferner  durch  intrauterine  Entzündungsvorgänge 
zu  einer  Verwachsung  des  Testikels  mit  dem  Appendix  kommen,  wo- 
bei der  Testikel  ihn  bei  seinem  Deszensus  mit  hinunternimmt,  oder 
es  kann  nachträglich  der  Appendix  mit  dem  Cöcum  in  den  offen 
gebliebenen  Processus  vaginalis  hinabgleiten  und  hier  einer  Abklem- 
mung oder  Einschnürung  unterliegen,  die  eine  Appendizitis  im  Bruch- 
sack zur  Folge  hat.  Daß  diese  Fälle  nicht  ganz  selten  sind,  beweist 
die  Tatsache,  daß  in  der  Albertschen  Klinik  unter  250  Bruchopera- 
tionen der  Appendix  9  mal  (=3,6%)  im  Bruchsack  gefunden  wurde. 
Dagegen  fand  May  dl  unter  443  Hernien  nur  llmal  das  Cöcum  mit 
oder  ohne  Appendix  im  Bruchsack  =  2,5%  der  Fälle. 

Desgleichen  kann  als  Folge  intrauteriner  Entzündungen  eine  be- 
sondere Kürze  und  Abknickung  des  Mesenteriolums  zurückbleiben 
(Sprengel),  auf  deren  Folgen  oben  bereits  hingewiesen  ist. 

Bezüglich  der  Einwirkung  anderer  Organe  auf  den  Appendix  hat 
Karl  Beck  1808  auf  das  Verhalten  der  Wanderniere  hingewiesen. 
Er  beobachtete  nämlich  3  Fälle,  in  denen  eine  rechtsseitige  Wander- 
niere den  nach  -hinten  gerichteten  Appendix  gegen  das  Darmbein 
druckte  und  so  nach  seiner  Meinung  zu  einer  Verlegung  des  Lumens 
und  Zirkulationsstörung  die  Veranlassung  abgab.  Auch  Edebohls 
weist  auf  die  Bedeutung  der  rechtsseitigen  Wanderniere  für  die  Ent- 
stehungsmöglichkeit einer  Appendizitis  hin,  und  zwar  soll  dieselbe 
durch  Druck  auf  die  Ven.  mes.  sup.  und  sekundäre  Stauung  im  Ap- 
pendix zustande  kommen.  Sprengel,  gleichwie  Fueth  und  Hadra, 
kann  sich  diesen  letzteren  Gründen  von  Edebohls  nicht  anschließen, 
namendich  da  Hyperämie  heute  noch  weniger,  als  früher  zu  den  ent- 
scheidenden Bedingungen  der  Entzündung  gehört.  Letzteres  dürfte 
jedoch  nur  für  die  warme  Hyperämie  zutreffen.  Sobald  es  auf  Grund 
der  obigen  Vorgänge  zu  einer  kalten  Hyperämie  wirklich  kommen 
sollte,  dürften  die  Vorbedingungen  für  Ernährungsstörungen  der  Wand 
und  sekundäres  Vordringen  der  Entzündungserreger  durchaus  gegeben 
sein.    Die  Richtigkeit  der  Annahme  von  Edebohls  dürfte  also  von 

KliB.  Vortrage,  N.  P.  Nr.  489/00/91.    (Chirurgie  Nr.  142/43/44.)    Juni  1908.  29 


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386 


Ad.  Ebner, 


[1^ 


dem  Grade  der  Stauung  abhängig  zu  machen  sein,  welche  eine  rechts- 
seitige Wanderniere  auf  den  Appendix  ausüben  könnte.  DaO  diesei 
so  hoch  sein  sollte,  ist  allerdings  kaum  anzunehmen  und  zum  min- 
desten bisher  nicht  bewiesen. 

Von  erworbenen  anatomischen  Ursachen  werden  vor  allem  Kot- 
steine im  Lumen,  sowie  Narbenstrikturen,  Knickungen  und  Verwachsun- 
gen als  Residuen  früherer  Entzündungen,  sei  es  am  Appendix  selbst 
sei  es  in  seiner  Umgebung,  den  Anlaß  zu  den  folgenden  und  meisi 
schwerer  verlaufenden  Anfällen  bilden  können.  Ausnahmsweise  kann 
auch  eine  Torsion  des  Appendix  um  seine  Längsachse,  sowie  dei 
Druck  von  Tumoren  anliegender  Organe  die  Veranlassung  zu  einei 
Störung  der  Blut-  oder  Kotzirkulation  im  Appendix  abgeben. 

Auch  dem  Lebensalter  kann  eine  gewisse  Wichtigkeit  für  die 
Prädisposition  zur  Appendizitis  nicht  abgesprochen  werden.  So  soll 
einerseits  nach  den  Untersuchungen  von  Monti  und  Sonnenburj 
bei  Kindern  in  den  ersten  Lebensjahren  der  Appendix  eine  besondere 
Neigung  zu  Knickungen  haben,  die  dann  zu  den  entsprechenden  Folge- 
erscheinungen führen  können.  Andererseits  soll  nach  Mynter  aucli 
durch  ein  überwiegendes  Vorhandensein  von  Lymphgewebe  im  Ap- 
pendix während  des  jugendlichen  Alters  eine  größere  Neigung  zui 
Erkrankung  gegeben  sein.  Trotzdem  erkranken  jedoch  nach  Hanse- 
mann Kinder  vor  dem  dritten  Lebensjahr  relativ  selten  an  Ap- 
pendizitis, da  die  Gerlachsche  Klappe  in  diesem  Alter  noch  nichi 
genügend  ausgebildet  ist  Der  Zusammenhang  des  Appendix  mit  dem 
Cöcum  besteht  dann  in  einer  breiten,  mehr  trichterförmigen  Kom- 
munikationsöffnung,  so  daß  es  seltner  zu  Stauungen  des  Inhalts  im 
Appendix  kommen  kann. 

Ebenso  ist  auch  im  höheren  Lebensalter  die  Disposition  zur  Er- 
krankung eine  erheblich  geringere,  da  dann  ein  starker  Schwund  dei 
lymphatischen  Gewebsbestandteile  der  Wandung  des  Appendix  ein- 
zutreten pflegt.  Gleichzeitig  wird  erfahrungsgemäß  die  Disposition 
zur  Bildung  von  Kotsteinen  im  höheren  Lebensalter  eine  wesentlicl] 
geringere.  So  hat  Ribbert  bei  Kindern  unter  5  Jahren  keinen  Kot- 
stein und  im  Alter  von  5 — 20  Jahren  doppelt  so  häufig  Kotsteine  ge- 
funden, als  nach  dieser  Zeit.  Tatsächlich  ist  auch  nach  den  über- 
einstimmenden Berichten  sämtlicher  Autoren  das  häufigste  Auftreten 
der  Erkrankung  in  das  Alter  von  10—30  Jahren  zu  verlegen. 

Daß  auch  das  Geschlecht  von  Wichtigkeit  für  Ätiologie  der  Ap- 
pendizitis ist,  beweist  die  empirisch  erwiesene  Tatsache,  daß  die  Er- 
krankung bei  dem  männlichen  Geschlecht  erheblich  häufiger  vorkommt^ 
als  bei  dem  weiblichen.  Diese  Beobachtung  findet  ihre  Erklärung 
nach  der  Mehrzahl  der  Autoren  in  der  besseren  Blutversorgung  des 


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19]  Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u,  Behandlung  der  Appendizitis.  387 

Appendix  durch  das  Llg.  appendico-ovaricum  bei  dem  weiblichen 
Geschlecht,  wobei  allerdings  zu  bedenken  ist,  daß  z.  Z.  nach  Sprengel 
die  Existenz  des  Lig.  appendico-ovaricum  noch  keineswegs  unbe- 
stritten dasteht.  Zum  mindesten  sind  über  die  Häufigkeit  seines  Vor- 
handenseins sichere  Angaben  bisher  nicht  gemacht  worden.  Zwar 
erscheint  das  weibliche  Geschlecht  während  der  Zeit  der  Menses 
bföonders  für  eine  Erkrankung  des  Appendix  disponiert  wegen  der 
Starkeren  Blutstauung  und  Schwellung  der  Genitalorgane  in  dieser 
Zeit,  an  welcher  der  Appendix  naturgemäß  einen  gewissen  Anteil  hat 
durch  seine  Gefäßverbindungen  im  Lig.  appendico-ovaricum.  Davon 
kann  jedoch  für  die  Appendizitis  nur  eine  stärkere  Schwellung  und 
dadurch  bedingte  Verlegung  des  Appendixlumens  in  Betracht  kommen, 
da  nach  den  neueren  Anschauungen  in  der  vermehrten  Blutzufuhr  zum 
Appendix  innerhalb  dieser  Zeit,  soweit  sie  zu  einer  warmen  Stauung 
fuhrt,  eher  ein  entzündungsverringernder,  als  befördernder  Faktor  zu 
erblicken  wäre.  Ob  und  wie  häufig  aber  die  Schwellung  des  Appen- 
dix auf  derartiger  Grundlage  eine  so  hochgradige  werden  kann,  wird 
von  entsprechenden  Untersuchungen  abhängig  zu  machen  sein,  die 
z.  Z.  noch  ausstehen. 

Gegenüber  dieser  ganz  kurzen  Zeit  einer  vielleicht  etwas  vermehr- 
ten Disposition  beim  weiblichen  Geschlecht  ist  das  männliche  Ge- 
schlecht durch  sein  ganzes  äußeres  Berufsleben  in  einem  viel  höheren 
Grade  Traumen  und  InfektionsmögUchkeiten  ausgesetzt  und  hat  da- 
her unter  viel  zahlreicheren  Gelegenheitsursachen  zu  leiden,  als  das 
veibliche  Geschlecht.  Dazu  kommt  noch,  daß  Männer  durch  kaltes 
Trinken,  fibermäßiges  Rauchen  u.  dgl.  viel  eher  zu  vorübergehenden 
oder  chronischen  Darmkatarrhen  die  Veranlassung  geben,  durch 
welche  dann  eine  verminderte  Widerstandsfähigkeit  und  erhöhte  In- 
fektionsmöglichkeit der  Darm  Wandung  bedingt  wird,  als  deren  Locus 
minoris  resistentiae  der  Appendix  ja  ohnedies  zu  betrachten  ist 

Von  äußeren  Einwirkungen  auf  den  Appendix  werden  vor 
allem  Lebensweise,  Ernährung,  Klima,  Traumen  und  Infektionen  des 
Körpers  allgemeiner  Natur  in  Frage  kommen. 

So  ist  als  ein  wichtiges  Moment  für  die  Ätiologie  allgemein  an- 
erkannt die  übertriebene  bzw.  sehr  reichliche  Fleischnahrung,  wie  sie 
namentlich  in  Amerika,  England  und  Norddeutschland  genossen  wird, 
im  Gegensatz  zu  den  Japanern  und  verschiedenen  Eingeborenen- 
stammen  Afrikas,  denen  die  Fleischnahrung  durch  Religionskult  oder 
örtliche  Verhältnisse  mehr  weniger  entzogen  ist.  Die  Seltenheit  bzw. 
das  gänzliche  Fehlen  der  Appendizitis  bei  diesen  Volksstämmen  steht 
im  strikten  Gegensatz  zu  der  Häufigkeit  der  Erkrankung  bei  den  er- 
steren  (Kümmel,  Lange,  Beck  u.a.).    Auf  Grund  dieser  Beobach- 

29* 


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388 


Ad.  Ebner, 


[2C 


P 


tung  ist  man  wohl  früher  zu  der  Annahme  einer  Prädisposition  ge* 
wisser  Nationen  für  die  Appendizitis  gelangt. 

Bezüglich  des  Klimas  ist  es  gleichfalls  erwiesen,  daß  der  Aufent- 
halt in  den  Tropen  entsprechend  der  größeren  Häufigkeit  von  Darm- 
erkrankungen bei  Europäern  überhaupt  auch  eine  entsprechende  Ver- 
mehrung der  Krankheitsfalle  an  Appendizitis  zur  Folge  hat.  Ebensc 
können  die  Jahreszeiten  insofern  von  gewissem  Einfluß  sein,  als  ii 
den  Sommermonaten  eine  vermehrte  Gelegenheit  zu  Magen-  und  Darm- 
störungen gegeben  ist. 

Auch  Traumen  verschiedenster  Art  können,  sei  es  als  auslösende 
Ursache  einer  latent  bestehenden  Reizung,  sei  es  als  primäre  Ursache 
überhaupt  den  Anlaß  zu  einer  Appendizitis  abgeben.  So  weisen  untei 
anderen  Nimier  und  Sachs  auf  Fälle  von  körperlichen  Oberanstren- 
gungen  hin,  die  eine  Appendizitis  zur  Folge  hatten.  Ebenso  vertrit 
auch  Neumann  in  einer  Arbeit  an  der  Bachmannschen  Klinik  di< 
Möglichkeit,  daß  am  normalen  Appendix  eine  Erkrankung  auf  trau 
matischer  Grundlage  entstehen  könne,  und  stellt  selbst  10  Fälle  diesei 
Art  zusammen.  Nun  dürfte  es  ja  einerseits  schwer  sein  mit  Sicher 
heit  zu  beweisen,  daß  in  solchen  Fällen  tatsächlich  ein  normaler  Ap 
pendix  vor  dem  Trauma  vorgelegen  habe.  Spricht  doch  das  Fehlei 
subjektiver  Beschwerden  bekanntlich  nicht  sicher  gegen  das  Vorhan 
densein  einer  reinen  Appendizitis,  die  noch  nicht  durch  eine  stärken 
Stauung  im  Appendix  oder  durch  Obergreifen  des  Entzündungspro 
zesses  auf  die  Serosa  zu  Reizerscheinungen  des  Peritoneums  geführ 
hat.  Andererseits  kann  aber  ebensowenig  ein  zwingender  Bewei; 
gegen  die  Möglichkeit  angeführt  werden,  daß  es  unter  besondere] 
Umständen,  bei  besonders  dünnen  und  weiten  Bauchdecken,  wie  z.  B 
bei  Frauen  mit  Rektusdiastase  u.  a.,  gelegentlich  durch  ein  Traum; 
zu  Quetschungen  der  Wandung  des  Appendix  kommen  kann,  welchi 
zur  Schädigung  der  Gewebsvitalität  bzw.  Blutungen  und  Kontinuitäts 
trennungen  der  Schleimhaut  führen  und  so  eine  mehr  weniger  groQi 
Eingangspforte  für  eine  bakterielle  Invasion  schaffen  können. 

Allerdings  kann  man  mit  Neu  mann  und  Hoffmann  annehmen 
daß  in  der  Regel  dazu  ein  Kotstein  erforderlich  sein  wird.  Wem 
es  dabei  nach  Neu  mann  auch  durch  die  Mitwirkung  der  Bauchpress 
allein  zu  Zerrungen  an  der  Stelle  des  Kotsteines  kommen  soll,  di 
eine  nachfolgende  Läsion  und  Infektion  der  Schleimhaut  bedingei 
können,  so  kann  man  dieser  Möglichkeit  wohl  beistimmen,  aus  Gründen 
die  ich  inzwischen  in  einem  Gutachten  näher  entwickelt  habe,  welche 
ich  über  einen  derartigen  Fall  aus  der  Prof.  Lexer sehen  Privat 
klinik  abgegeben  und  in  der  Berliner  klinischen  Wochenschrift  pu 
bliziert  habe.  Sprengel  hält  es  überhaupt  für  ausgeschlossen,  daßdt< 


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21]  Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.  38& 

mechanische  Quetschung  eines  Kotsteines  gegen  die  Wandung  zu  Ap- 
pendizitis fähren  könne  oder  daß  ein  mit  infel^tiösem  Material  ge- 
füllter Appendix  durch  einen  Stoß  gegen  die  Bauchwand  oder  die 
Bauchpresse  allein  zum  Bersten  gebracht  werden  könne.  Diese  An- 
nahme Sprenglers  scheint  doch  etwas  zu  weit  zu  gehen.  Bei  nor^ 
malen  Bauchdecken  dürfte  allerdings  für  einen  völlig  gesunden  Appen- 
dix ohne  Kotstein  ein  Trauma  ziemlich  bedeutungslos  sein,  was  auch 
der  Anschauung  von  Sonnenburg  entspricht.  Bei  dem  Zusammen- 
fallen einer  bereits  primär  am  Appendix  vorhandenen  pathologischen 
Veränderung  oder  eines  Kotsteines  im  normalen  Appendix  mit  einem 
Trauma  kann  letzteres  doch  als  auslösende  Ursache  eines  nachfol- 
genden Anfalles  sehr  wohl  in  Betracht  kommen.  Daß  ein  Trauma 
gewissermaßen  indirekt  schließlich  auch  auf  einen  normalen  Wurm- 
fortsatz ohne  Kotstein  einwirken  kann,  scheint  mir  ein  von  Fink 
veröffentlichter  Fall  zu  beweisen,  in  dem  sich  2  Stunden  nach  einem 
Fall  auf  den  Bauch  ein  typischer  Appendizitisanfall  ohne  jegliche  vor- 
ausgegangene Krankheitserscheinungen  entwickelte.  Nach  einem 
zweiten  Appendizitisanfall  wurde  die  Operation  vorgenommen  und  er- 
gab eine  Stildrehung  des  langgestielten  Wurmfortsatzes  mit  nachfol- 
gender Behinderung  des  Sekretabilusses  und  den  entsprechenden  Folge- 
erscheinungen. Man  dürfte  nicht  fehlgehen,  wenn  man  diese  Stiel- 
drehung in  Anbetracht  des  Fehlens  vorausgegangener  Erscheinungen 
und  des  zeitlichen  Zusammenhanges  der  Erkrankung  mit  dem  Unfall 
in  ursächlichen  Zusammenhang  mit  dem  vorausgegangenen  Unfall 
bringt. 

Das  wichtigste  Moment  für  die  Ätiologie  der  Appendizitis,  das 
heute  als  grundlegend  für  die  Genese  dieser  Erkrankung  in  ihren  ver- 
schiedenen Erscheinungsformen  allgemeine  Anerkennung  gefunden 
hat,  ist  das  der  bakteriellen  Infektion.  Tatsächlich  hat  man  den 
Appendix  sowohl  seiner  Gestalt,  wie  seinem  makroskopischen  und 
histologischen  Bau  nach  als  einen  wahren  Prädilektionsort  für  die  An- 
siedlung  einer  jeden  Infektion  im  Digestionstraktus  anzusehen.  Und 
zwar  wird  in  der  Regel  die  Infektion  von  dem  Darmlumen  ihren  Aus- 
gang nehmen.  Wenn  auch  ausnahmsweise  wirklich  einmal  eine  In- 
fektion auf  dem  Blutwege  zustande  kommen  könnte,  wie  es  nach  den 
Versuchen  von  Josuö  an  Kaninchen  den  Anschein  hat,  so  ist  diesem 
lafektionsmodus  für  den  Menschen  zum  mindesten  eine  sehr  geringe 
Bedeutung  beizumessen.  Ob  die  Erreger  im  übrigen  auf  endogenem 
Wege  auch  die  unverletzte  Schleimhaut  des  Wurmfortsatzes  zu  pas- 
sieren vermögen,  wird  an  mancher  Stelle  angezweifelt  und  ist  zum 
mindesten  bis  heute  noch  nicht  einwandfrei  bewiesen.  Andererseits 
steht  aber  auch  nichts  der  Annahme  im  Wege,  daß  bei  Herabsetzung 


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390  Ad.  Ebner,  [22 

der  Widerstandskraft  des  Körpers  und  der  allgemeinen  oder  5rt- 
liehen,  natürlichen  Gewebsvitalität  durch  die  Aufnahme  von  Toxinen 
in  das  Blut  in  gleicher  Weise  eine  Einwanderung  von  Bakterien 
durch  das  unverletzte  Epithel  stattfinden  kann,  wie  andererseits  die 
nachgewiesene  Auswanderung  der  Leukozyten  ebenfalls  durch  das 
unverletzte  Epithel  tatsächlich  stattfindet. 

Fär  die  besondere  Prädisposition  des  Appendix  zur  Infektion  vom 
anatomischen  Standpunkt  aus  genügt  es  auf  den  Reichtum  an  Lymph- 
knötchen  bzw.  lymphadenoidem  Gewebe  der  Wandung  hinzuweisen, 
das  nach  Mynter  besonders  im  jugendlichen  Appendix  hervortritt 
und  diesen  somit  noch  stärker  zur  infektiösen  Erkrankung  disponiert. 
Dieser  Reichtum  des  Organs  an  lymphadenoidem  Gewebe  ist  ja  auch 
für  Sahli  der  Grund  gewesen,  es  in  Parallele  mit  den  Gaumenton- 
sillen  zu  stellen,  indem  es  für  die  häufigen  Erkrankungen  des  Dige- 
stionstraktus  die  gleiche  Rolle  spielt,  wie  die  Rachen-  bzw.  Gaumen- 
tonsillen  für  diejenige  des  Pharynx.  In  Analogie  dazu  hat  Sahli  die 
Bezeichnung  der  Angina  des  Wurmfortsatzes,  der  Angina  appendicu- 
laris,  vorgeschlagen,  welche  recht  geeignet  ist,  die  Ähnlichkeit  der 
Vorgänge  zum  Ausdruck  zu  bringen.  Daß  damit  auch  ein  ganz  be- 
sonderer ätiologischer  Zusammenhang  zwischen  Angina  tonsillaris  und 
Appendizitis  ausgedrückt  werden  soll,  muß  ausdrücklich  verneint 
werden.  Auch  Sprengel  kann  nach  seinen  Erfahrungen  dem  ätio- 
logischen Zusammenhang  zwischen  Angina  tonsillaris  und  Appendi- 
zitis eine  besondere  Bedeutung  nicht  beimessen,  da  er  diese  beiden 
Erkrankungen  nicht  häufiger  nebeneinander  gefunden  hat,  als  andere 
Erkrankungsformen  auch.  Sie  hat  eben  den  gleichen  Einfluß  auf  den 
Appendix,  wie  ihn  andere  Infektionskrankheiten  schließlich  auch 
haben  können.  — 

Verfolgen  wir  nun  den  Vorgang  der  Genese  der  bakteriellen 
Appendizitis  weiter,  so  kommt  es  nach  Asch  off  im  mittleren  Alter 
durch  Verminderung  des  Drüsenreichtums  an  zirkumskripten  Stellen 
zum  Vorhandensein  von  Lakunen,  so  daß  auf  diese  Weise  die  Epithei- 
schicht  durch  eine  Lücke  in  der  Muscularis  mucosae  direkt  mit  der 
Submukosa  in  Verbindung  treten  kann.  In  diesen  Lakunen  kann 
dann  um  so  leichter  eine  Retention  von  Sekret  und  Infektionserregern 
stattfinden,  die  weiter  zu  einer  Druckarrosion  des  Epithels  mit  nach- 
folgender Infektion  der  Wandung  des  Processus  führen  kann,  gänz- 
lich analog  den  Vorgängen  bei  der  Angina  lacunaris. 

Was  nun  die  Erreger  selbst  anbelangt,  so  wird  es  sich  ja  bei  dieser 
Infektion  in  der  Regel  um  Bacterium  coli  commune,  meist  in  Ver- 
bindung mit  Staphylo-  und  Streptokokken  handeln.  Außer  diesen  ist 
es  aber  Tavel  und  Lanz  gelungen,  noch  eine  große  Reihe  anderer 


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23]  Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.  391 

Bakterien  im  Appendix  nachzuweisen,  als  da  sind:  B.  capsulatus,  B. 
fusirormis,  B.  foetidus  liquefaciens,  B.  pyocyaneus,  Rotz-,  Tetanus  und 
tecanusähnliche  Bazillen,  Staphylococcus  aureus,  Coccus  conglomeratus, 
Diplococcus  intestinalis  maj.  und  min.,  Spirillen,  ferner  Typhus  und  Ak- 
tinomyceserreger. 

Auffallenderweise  haben  dieselben  Autoren  gerade  in  normalen 
Appendizes  mehrere  Bakterienspezies  zugleich  (bis  zu  6)  gefunden, 
wahrend  unter  den  pathologisch  veränderten  Appendizes  10%  steril 
gefunden  wurden.  Je  weiter  die  pathologischen  Veränderungen  der 
Appendizes  vorgeschritten  waren,  desto  geringer  war  die  Zahl  der 
verschiedenen  Bakt^rienarten,  welche  sich  darin  feststellen  ließen.  Bei 
den  kalten  appendizitischen  Abszessen  fand  man  sogar  in  75%  der 
Falle  völlige  Sterilität,  eine  Tatsache,  welche  die  Verfasser  durch  eine 
vermehrte  Leukozytenansammlung  und  daraus  resultierende  verstärkte 
Phagozytose  während  der  Entzündung  zu  erklären  versuchen.  Es  er- 
scheint nicht  unberechtigt,  diese  Vorgänge  in  eine  gewisse  Analogie 
mit  der  Theorie  über  die  Heilungsvorgänge  bei  der  Bi ersehen  Stau- 
ung zu  setzen. 

Als  weitere  Faktoren  für  die  erhöhte  Infektionsmöglichkeit  der 
Wandung  des  Processus  vermiformis  kommen  einerseits  die  ungeheure 
Menge  von  Bakterien  im  Verhältnis  zu  dem  geringen  Lumen,  dem 
geringen  Querschnitt  der  Wand  und  der  geringen  Flächenausdehnung 
der  Schleimhaut  des  Processus  und  andererseits  die  vielfach  durch 
Stauungen  des  Inhaltes  gesteigerte  Virulenz  der  Erreger  in  Betracht. 
Diese  Verhältnisse  in  Verbindung  mit  der  lymphadenoiden  Beschaffen- 
heit des  histologischen  Baues  der  Wandung  des  Processus  sind  wohl- 
geeignet, denselben  zu  einem  Locus  minoris  resistentiae  des  gesamten 
Digestionstraktus  zu  machen,  der  besonders  leicht  auf  eine  Infektion 
der  Verdauungswege  reagieren  muß. 

Diesen  unverhältnismäßig  reichlichen  und  virulenten  Offensivfak- 
toren steht  ferner  noch  gegenüber  die  relativ  leicht  herabsetzbare 
Defensivkrafk  der  Wandung  infolge  der  einseitigen  Blutversorgung  des 
Appendix,  die  ja  dem  Endbezirk  der  im  Mesenteriolum  verlaufenden 
Arterie  entspricht.  Es  kann  dadurch  sehr  leicht  zu  Ernährungsstö- 
rungen der  Wand  kommen,  sobald  ein  genügender  Zufluß  oder  Ab- 
fluß des  Blutes  durch  pathologische  Gefaßveränderungen  primärer 
oder  sekundärer  Natur  in  Frage  gestellt  wird,  insbesondere  ist  auch 
an  die  schlechte  Gefäßversorgung  der  Spitze  des  Appendix  bei  pri- 
märer Kürze  des  Mesenteriolums  zu  denken,  auf  die  Karewski  hin- 
gewiesen hat. 

Ob  diese  Gefäßveränderungen  nun  primärer  oder  sekundärer  Natur 
sind,  kommt  für  die  verderblichen  Folgen  derselben  wenig  in  Betracht 


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392  Ad.  Ebner,  [24 

und  wird  auch  nicht  immer  leicht  zu  entscheiden  sein.  So  hält 
V.  Brunn  die  sekundäre  Entstehung  der  Gefäßerkrankungen  für  wahr- 
scheinlichen Er  gelangt  zu  dieser  Anschauung  durch  einen  Vergleich 
der  Art,  des  Sitzes  und  der  Ausdehnung  der  Gefäßerkrankungen  mit 
den  pathologischen  Veränderungen  an  der  Wandung  des  Processus. 
Allerdings  kann  für  einzelne  Fälle  die  Möglichkeit  zugegeben  werden, 
daß  die  Gefaßveränderungen  als  die  primäre  Aifektion  die  Veran- 
laßung für  weitere  und  stärkere  Entzündungsvorgänge  abgegeben  hätten. 
Jedoch  ist  die  direkte  Notwendigkeit  eines  solchen  Zusammenhanges 
nirgends  ersichtlich. 

Ebenso  hält  O.  Nordmann  die  Thrombose  der  Mesenterialvenen 
stets  für  eine  sekundäre  Erkrankung,  der  primär  eine  Verengerung 
bzw.  Stauung  im  Processus  durch  Veränderungen  seines  Lumens 
vorausgegangen  ist. 

Als  sicher  sekundärer  Natur  spricht  v.  Brunn  die  Veränderungen 
an  den  Lymphgefäßen  an,  an  denen  er  eine  Erweiterung,  Anfüllung 
mit  mono-  und  polynukleären  Leukozyten,  Lymphangitis  und  Throm- 
bose in  akuten  Fällen,  sowie  Intimaverdickungen  und  Obliteration  in 
abgelaufenen  Fällen  beobachten  konnte. 

Auch  Karewski  hält  die  primären  Zirkulationsstörungen  und  em- 
bolischen Vorgänge  für  selten. 

Kehren  wir  nach  dieser  kurzen  Abschweifung  zu  der  bakteriellen 
Invasion  des  Appendix  zurück,  so  muß  in  der  Regel  für  dieselbe  noch 
ein  rein  mechanisches  Moment  dazukommen.  Dieses  wird  fast  stets 
durch  Verengerung  bzw.  Verschluß  des  Lumen  infolge  Knickung, 
Narbenstriktur  oder  Kotsteine  geboten,  welche  eine  Retention  und 
Stauung  des  Inhaltes  mit  Steigerung  der  Virulenz  und  vermehrter  Re- 
sorption desselben  durch  die  Lymphgefäße  zur  Folge  haben  kann. 
Insbesondere  können  nach  Roux  und  Trachenberg  die  Kotsteine 
durch  eine  Art  kugelventiläbnlicher  Wirkung  die  schnelle  Entstehung 
einer  Stauung  begünstigen. 

Auf  diese  Weise  können  dann  infolge  starker  Dehnung  der  Wand 
einerseits  kleine  Dehnungsgeschwüre  im  Sinne  von  Kocher  und 
Prutz  zustande  kommen.  Andererseits  ist  es  zum  mindesten  nicht 
ausgeschlossen,  daß  es  infolge  dauernden  Druckes  eines  Kotsteines 
oder  Fremdkörpers  auf  eine  Stelle  der  Wand  zu  einer  Zirkulations- 
störung der  Wand  und  oberflächlichen  Erosion  der  geschwollenen 
Schleimbaut  im  Sinne  der  Dekubitalgeschwüre  von  Nothnagel 
kommen  kann.  Letzteres  kann  jedoch  nur  eintreten,  wenn  eine  Ein- 
klemmung des  Kotsteins  bzw.  ein  Erlöschen  der  Peristaltik  des  Pro- 
cessus eine  Verlagerung  des  Kotsteins  nicht  mehr  zustande  kommen  läßt. 
Die  Mehrzahl  der  Autoren  neigt  zu  der  Anschauung,  daß  die  größere 


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25]  Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.  303 

Gefährlichkeit  der  Kotsteine  weniger  in  ihren  mechanischen  Eigen- 
schaften, denn  in  ihrer  Einwirl^ung  als  konzentrierte  Bakterienanhäu- 
fuogenzu  erblicken  ist.  Diese  können  naturgemäß  schon  auf  dem  Lymph- 
wege allein  zu  einer  Infektion  des  Peritoneums  und  den  entsprech- 
enden Folgeerscheinungen  führen.  Gehen  wir  bei  dieser  Gelegenheit 
etwas  näher  auf  die  Bedeutung  ein,  welche  den  Kotsteinen  für  die 
Ätiologie  und  Genese  der  Appendizitis  beizumessen  ist,  so 
Baden  wir  in  der  letzten  Zeit  mehr  und  mehr  die  Tendenz,  den  ur- 
sachlichen Zusammenhang  zwischen  Kotsteinen  und  Appendizitis  er* 
heblich  einzuschränken,  wenn  nicht  gänzlich  zu  negieren,  namentlich 
soweit  das  rein  mechanische  Moment  in  Betracht  kommt. 

Die  hauptsächlichsten  Vertreter  dieser  Anschauung  haben  wir  vor- 
nehmlich in  Aschoff  und  Sprengel  zu  erblicken.  Beide  sind  ge- 
neigt dem  Vorhandensein  eines  Kotsteines  einen  größeren  Einfluß 
auf  den  Verlauf,  als  auf  die  Entstehung  der  Erkrankung  zuzuschreiben. 
Beide  gelangen  auf  Grund  ihres  Untersuchungsergebnisses,  das 
Aschoff  an  130  exstirpierten  Wurmfortsätzen  des  Rotterschen  Ma- 
terials und  Sprengel  an  seinem  eigenen  großen  klinischen  Material 
erhoben  hat,  zu  der  Ansicht,  daß  eine  rein  mechanische  Einwirkung 
eines  Kotsteines  im  Sinne  einer  Appendizitis  ohne  gleichzeitige  bzw. 
vorausgegangene  Mitwirkung  einer  Infektion  von  der  Hand  zu  weisen 
sei.  Wieweit  aber  bei  der  gegebenen  Möglichkeit  einer  Infektion  im 
Darmtraktus  der  Stein  eine  solche  erleichtern  bzw.  begünstigen  kann, 
scheint  mir  eine  Frage  zu  sein,  die  durch  die  Darlegungen  Aschoffs 
und  Sprengeis  nicht  genügend  klargelegt  wird,  zum  mindesten  nicht 
IQ  negativem  Sinne  entschieden  werden  kann.  Wenn  vielmehr  beide 
die  Bedeutung  des  Kotsteines  ohne  gleichzeitige  Infektionsmöglichkeit 
ganzlich  ableugnen,  so  darf  man  dem  wohl  ohne  weiteres  zustimmen. 
Wenn  sie  hingegen  bei  gleichzeitiger  Infektionsmöglichkeit  die  Infek- 
tion als  den  primären  Vorgang  unabhängig  vom  Kotstein  und  die  Be- 
deutung des  Kotsteines  erst  in  sekundären  Krankheitsvorgängen  an- 
nehmen zu  müssen  glauben,  so  darf  man  hierin  vielleicht  doch  eine 
etwas  zu  weit  gehende  Schlußfolgerung  aus  ihren  Untersuchungser- 
gebnissen erblicken,  wie  ich  versuchen  will  im  folgenden  des  näheren 
auszuführen. 

Wenn  Aschoff  z.  B.  sagt,  daß  eine  nicht  bakterielle,  durch  ein- 
fache Einklemmung  des  Kotsteines  hervorgerufene  Reizung  des  Wurm- 
fortsatzes äußerst  selten,  wenn  überhaupt  beweisbar  ist,  so  ist  dem 
durchaus  beizupflichten,  was  die  Schwierigkeit  der  Beweisführung  für 
einen  derartigen  Vorgang  anbelangt.  Andererseits  ist  aber  nicht  recht 
einzusehen,  warum  es  nicht  ähnlich  dem  Hydrops  der  von  Asch  off 
vergleichsweise  herangezogenen  Gallenblase  auf  Grund  von  Steinver- 


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304  Ad.  Ebner,  [26 

Schluß  gelegentlich  auch  zu  einer  Sekretverhaltung  im  Processus  auf 
der  gleichen  Grundlage  kommen  kann,  da  doch  fragelos  ein  vorhan- 
dener Kotstein  durch  dauernde  Apposition  zu  einer  Größe  anwachsen 
kann,  welche  in  einem  absoluten  Mißverhältnis  zu  der  Größe  und  Deh- 
nungsfahigkeit  des  Lumens  des  Processus  steht,  so  daß  eine  Verenge- 
rung bzw.  Verlegung  des  Lumens  daraus  resultieren  kann.  Wenn  da- 
gegen die  dauernde  Peristaltik  des  Wurmfortsatzes  angeführt  wird,  so 
ist  dazu  zu  bemerken,  daß  diese  einmal  individuell  äußerst  verschieden 
sein  kann  je  nach  Länge,  Form,  Lage  und  Haltung  des  Wurmfort- 
satzes und  dem  sonstigen  Allgemeinzustand  des  Individuums  und  ferner, 
daß  gerade  diese  infolge  eines  erhöhten  Reizes  durch  den  als  Fremd- 
körper wirkenden  Kotstein  schließlich  zu  vermehrten  und  verstärkten 
Kontraktionen  an  der  Stelle  des  Kotsteines  gelangen  und  so  schließ- 
lich selbst  zu  Einklemmung  des  Steines  beitragen  kann.  Es  liegt 
ferner  auf  der  Hand,  daß  trotz  einer  gewissen  Steigerungsfabigkeit 
die  Leistungsfähigkeit  der  Wurmfortsatzperistaltik  doch  immerhin  eine 
begrenzte  ist  und  daß  sie  bei  entsprechender  Vergrößerung  des  Kot- 
steines an  einer  Grenze  anlangen  kann,  wo  sie  eine  Verschiebung 
und  Verlagerung  des  Kotsteines  nicht  mehr  zu  bewirken  vermag. 
Daß  daraus  dann  ebenfalls  Einklemmungserscheinungen  resultieren 
können,  ergibt  sich  von  selbst. 

Ohne  eine  derartige  Annahme  wäre  es  zum  mindesten  schwierig, 
die  tatsächlich  vorhandenen  und  palpatorisch  auch  durch  entsprechen- 
des Schmerzgefühl  nachweisbaren  Erscheinungen  der  Appendikular- 
koliken  zu  erklären,  welche  ja  vielfach  ohne  Fieber  und  sonstige  kli- 
nische Erscheinungen  verlaufen  und  wieder  abklingen  können,  und 
welche  somit  vielfach  das  einzige  objektive  Merkmal  vorübergehender 
Retentionserscheinungen  im  Appendix  bilden. 

Allerdings  werden  von  einzelnen  Autoren  derartige  Koliken  auch 
auf  rein  entzündliche  Vorgänge  allein  zurückgeführt.  Bei  der  kurzen 
Dauer  derselben  von  bisweilen  nur  1—2  Stunden  scheint  mir  aber 
eine  derartige  Erklärung  für  diese  Fälle  nicht  auszureichen.  Da  natur- 
gemäß die  Patienten  in  einem  derartigen  Stadium  schnell  vorüber- 
gehender und  fieberfreier  Appendikularkoliken  selten  oder  fast  nie 
zur  Operation  gelangen,  läßt  sich  zum  mindesten  ebensowenig  gegen 
als  für  die  Annahme  einer  derartigen  Möglichkeit  vorbringen,  durch 
die  aber  andererseits  allein  die  klinischen  Erscheinungen  eine  genü- 
gende Erklärung  finden  dürften. 

Daß  damit  in  der  Regel  entzündliche  Erscheinungen  auf  Grund 
eines  früher  oder  später  einsetzenden,  leichteren  oder  schwereren 
Infektionsvorganges  der  Wandung  Hand  in  Hand  gehen,  wird  auch 
von  den  Vertretern  einer  größeren  Bedeutung  des  Kotsteines  für  die 


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27]  Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.  395 

Genese  der  Appendizitis  ohne  weiteres  zugegeben,  nur  wird  von  den- 
selben dem  Vorhandensein  bzw.  der  mechanischen  und  bakteriellen 
Einwirkung  des  Kotsteines  auf  den  Processus  durch  primäre  oder 
gleichzeitige  Retention  des  Inhaltes  und  Dehnung  der  Wandung  des 
Appendix  eine  gewisse  Erleichterung  des  an  sich  vorauszusetzenden 
Infektionsvorganges  zugeschrieben  bzw.  die  Möglichkeit  einer  primären 
Beteiligung  des  Kotsteines  bei  dem  Infektionsvorgange  damit  ange- 
nommen. Asch  off  selbst  gibt  das  in  gewissem  Sinne  zu,  indem  er 
sagt,  dafi  bei  der  Infektion  eines  einen  Stein  enthaltenden  Wurmfort- 
satzes der  Stein  die  Lokalisation  der  Entzündung  an  einer  bestimmten 
Stelle  begünstigt  und  damit  dem  schwereren  Verlauf  der  Erkrankung 
bzw.  einer  verzögerten  Heilung  Vorschub  leistet.  Mithin  erblickt  doch 
Aschoff  selbst  ein  prädisponierendes  Moment  in  dem  Vorhandensein 
eines  Kotsteines  im  Falle  einer  gegebenen  Infektionsmöglichkeit,  das 
nach  seiner  Anschauung  allerdings  erst  sekundär  in  Tätigkeit  tre- 
ten soll. 

Auch  Sprengel  gelangt  auf  Grund  seiner  zahlreichen  Operations- 
befunde zu  folgenden  Schlußsätzen:  1.  Ein  Kotstein  kann  einen  An- 
fall nicht  herbeiführen,  da  er  beliebig  lange  im  Wurmfortsatz  liegen 
lann,  ohne  daß  ein  Anfall  erfolgt.  2.  Ein  Kotstein  kann  nicht  durch 
einen  einfachen  Dekubitus  zur  Perforation  führen,  da  Sprengel  ihn 
vielfach  frei  schwimmend  im  gestauten  Sekret  gefunden  hat.  3.  Ein 
Kotstein  kann  eine  Abflußbehinderung  des  Sekretes  nicht  bewirken, 
da  Sprengel  ihn  nicht  nur  im  proximalen  Teil  der  Erweiterung  des 
Lumens,  sondern  an  beliebiger  Stelle  gefunden  hat.  Diesen  Thesen 
ist,  ohne  eine  gleichzeitig  gegebene  Infektionsmöglichkeit  bzw.  ohne 
eine  bereits  vorhandene  Infektion  des  Appendix  ohne  weiteres  zuzu- 
stimmen. Wie  liegen  die  Verhältnisse  aber  im  letzteren  Falle,  mit 
dem  man  es  doch  in  der  Regel  zu  tun  hat?  Da  gibt  Sprengel 
gleich  Aschoff  zu,  daß  der  an  sich  vom  Kotstein  unabhängig  ent- 
stehende Infektionsprozeß  in  der  Nähe  des  Kotsteines  intensiver  ver- 
läuft infolge  eines  verstärkten  Reizes  durch  den  letzteren,  und  daß 
es  auf  diese  Weise  eher  zur  Verschwellung  des  Lumens  an  dieser 
Stelle  mit  entsprechenden  Folgeerscheinungen  kommen  kann.  Daß 
im  übrigen  der  Kotstein  eine  positive  Bedeutung  für  die  Entwicklung 
der  Appendizitis  haben  muß,  beweist  für  ihn  auch  die  Tatsache,  daß 
Ribbert  bei  Appendizitis  5mal  soviel  Kotsteine  gefunden  hat,  als  bei 
nicht  an  Appendizitis  erkrankten  Personen,  eine  Tatsache,  die  in 
gleicher  Weise  auch  für  die  häufigere  und  leichtere  Entstehung 
einer  Appendizitis  auf  der  Grundlage  eines  vorhandenen  Kotsteines 
sprechen  könnte. 

Meines  Erachtens  läßt  sich  nun  aus  den  persönlichen  Beobachtungen 


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396 


Ad.  Ebner, 


[28 


und  Untersuchungsergebnissen  der  beiden  Autoren  etwas  Positives 
weder  für  noch  gegen  ihre  Anschauung  anführen,  solange  man  nicht 
in  der  Lage  ist  im  einzelnen  Falle  nachzuweisen,  ob  der  Kotstein 
tatsächlich  primär  vorhanden  war  oder  erst  sekundär  entstanden  ist« 
Dieses  dürfte  jedoch  im  allgemeinen  ziemlich  schwierig,  wenn  nicht 
unmöglich  sein. 

Wenn  Sonnenburg  hierzu  ganz  allgemein  den  Grundsatz  auf- 
stellt, daß  jeder  Kotstein  als  ein  Zeichen  voraufgegangener  Entzün- 
dung anzusehen  und  somit  als  sekundäre  Krankheitserscheinung  auf- 
zufassen ist,  so  dürfte  er  sich  damit  weder  mit  der  Mehrzahl  der 
Autoren  im  Einklang  befinden,  noch  einen  einwandsfreien  Beweis  für 
diese  Anschauung  zu  erbringen  in  der  Lage  sein. 

Vielmehr  wird  fast  allgemein  die  Möglichkeit  des  primären  Vor- 
handenseins eines  Kotsteines  in  dem  an  sich  normalen  bzw.  unver- 
änderten Wurmfortsatz  als  Folge  verminderter  Peristaltik  des  Darmes 
im  allgemeinen  und  des  Appendix  im  besonderen  bei  chronisclier 
Obstipation  usw.  ohne  weiteres  zugegeben.  Andererseits  liegt  es  auf 
der  Hand,  daß  bei  einem  katarrhalisch  bzw.  entzündlich  veränderten 
Wurmfortsatz  die  Bedingungen  für  die  Entstehung  eines  Kotsteines 
ungleich  günstigere  sind  und  mit  entsprechender  Einschränkung  die 
Sonnenburgsche  Anschauung  für  eine  große  Anzahl  von  Fällen 
zu  Recht  besteht. 

Beweisend  wären  demnach  die  Fälle  Sprengeis  für  seine  An- 
schauung von  der  primären  Bedeutungslosigkeit  des  Kotsteines  hin- 
sichtlich der  Ätiologie  und  Genese  der  Appendizitis  erst  dann,  wenn 
bei  denselben  die  sekundäre  Entstehung  des  Kotsteines  nach  einem 
voraufgegangenen  Anfall  mit  Sicherheit  auszuschließen  wäre,  da  in 
letzterem  Falle  das  Verhalten  bzw.  die  Lage  des  Kotsteines  im  Appen- 
dix nach  ganz  anderen  Gesichtspunkten  zu  beurteilen  wäre. 

Des  ferneren  will  mir  die  Tatsache,  daß  ein  Kotstein  beliebig 
lange  im  Appendix  liegen  kann,  ohne  daß  ein  Anfall  erfolgt,  nicht 
recht  als  Beweis  dagegen  einleuchten,  daß  im  Fall  einer  gegebenen 
Infektionsmöglichkeit  der  Infektionsvorgang  und  somit  die  Entstehung 
des  Anfalls  dadurch  mehr  oder  weniger  erleichtert  und  begünstigt 
werden  kann.  Man  braucht  eben  nur  anzunehmen,  daß  in  den  Fällen« 
in  denen  ein  Kotstein  beliebig  lange  gelegen  hat,  ohne  daß  ein  An- 
fall erfolgte,  eine  entsprechend  erhöhte  Infektionsmöglichkeit  ausge- 
blieben ist.  Beweiskräftig  wären  solche  Fälle  erst  dann,  wenn  bei 
allen  die  gleiche  Infektionsmöglichkeit  seitens  des  Darmtraktus  sei  es 
durch  Darmkatarrhe,  erhöhte  Virulenz  der  Darmbakterien  u.  dgl.  ge- 
geben wäre,  bzw.  wenn  sämtliche  Fälle  unter  den  gleichen  Bedingun- 
gen gestanden  hätten.     Solange  etwas  derartiges  aber  nicht  experi- 


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29]  Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.  397 

menceli  hergestellt  und  bewiesen  wird,  sind  doch  wohl  klinisch  die 
Bedingungen  der  einzelnen  Fälle  zu  verschieden,  als  daß  allein  das  Vor- 
handensein eines  Kotsteines  und  das  Ausbleiben  eines  Anfalles  trotz 
desselben  in  einer  Anzahl  von  Fällen  für  die  Bedeutungslosigkeit  des 
Kotsteines  hinsichtlich  der  Erleichterung  eines  Infektionsvorganges 
am  Appendix  als  beweiskräftig  zu  betrachten  wäre. 

Ebensowenig  will  mir  die  Tatsache,  daß  Sprengel  in  einer  An- 
zahl von  Fällen  den  Kotstein  freischwimmend  in  dem  retinierten 
Sekret  gefunden  hat,  beweiskräftig  dafür  erscheinen,  daß  nicht  in 
anderen  Fällen  nach  eventuell  vorausgegangener  Infektion  und  Schwel- 
lung der  Wand  der  eingeklemmte  Kotstein  in  seiner  gleichzeitigen 
Eigenschaft  als  Fremdkörper  und  konzentrierte  Bakterienanhäufung 
durch  seine  intensive  und  dauernde  Berührung  mit  der  Wand,  welche 
ihrerseits  durch  Kontraktionen  der  Muskelschicht  eine  gewisse  Rei- 
bung der  Schleimhaut  auf  dem  Stein  erzeugen  kann,  eine  erleichterte 
bzw.  vergrößerte  Möglichkeit  des  Eindringens  der  Infektionserreger 
gerade  an  dieser  Stelle  der  Wand  gewähren  kann,  wodurch  dann  der 
Bildung  einer  Ulzeration  mit  nachfolgender  Perforationsmöglichkeit 
ein  erheblicher  Vorschub  geleistet  wird.  Man  kann  eben  ohne  weiteres 
die  rein  mechanische  Entstehung  eines  Dekubitus  mit  eventueller 
Perforation  auf  der  Grundlage  eines  Kotsteines  von  der  Hand  weisen, 
ohne  deswegen  doch  jegliche  mechanische  und  bakterielle  Mitwirkung 
des  Kotsteines  bei  der  Entstehung  eines  intensiveren  lokalen  Infek- 
tionsvorganges ableugnen  zu  müssen,  der  zu  einer  Perforation  mittel- 
bar auf  der  Grundlage  eben  dieses  Kotsteines  wohl  führen  kann.  Die 
Falle  Sprengeis  beweisen  demnach  einwandsfrei,  daß  bei  ihnen 
selbst  und  damit  sehr  häufig  ein  derartiger  Vorgang  wohl  auszu- 
schließen ist.  Daraus  aber  die  Unmöglichkeit  eines  derartigen  Vor- 
ganges für  sämtliche  Fälle  überhaupt  herleiten  zu  wollen,  scheint  mir 
eine  etwas  zuweitgehende  Schlußfolgerung  zu  sein. 

Was  nun  schließlich  die  Verneinung  der  Möglichkeit  einer  Behin- 
derung des  Sekretabflusses  im  Appendix  durch  einen  Kotstein  anbe- 
langt, so  scheint  mir  die  Tatsache,  daß  Sprengel  den  Stein  nicht 
nur  im  proximalen  Ende,  sondern  auch  an  beliebiger  Stelle  des  er- 
weiterten Lumens  gefunden  hat,  ebenfalls  keinen  ganz  einwandsfreien 
Beweis  dafür  zu  liefern  auf  Grund  folgender  Erwägungen.  Wenn 
man  nämlich  primär  die  Einklemmung  des  Kotsteines  und  Sekret- 
stauung im  distalen  Ende  des  Appendix  als  Folge  dieser  Einklemmung 
zunächst  zugibt,  so  wird  im  Falle  einer  fortschreitenden  Stauung  des 
Sekrets  und  entsprechender  Erweiterung  des  Lumens  distal  vom  Kot- 
stein naturgemäß  zunächst  das  Lumen  in  der  Mitte  des  distalen  Endes, 
dann  aber  auch  nach  der  Spitze  und  der  Verschlußstelle  zu,  mit  einem 


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308 


Ad.  Ebner, 


[30 


^! 


Wort  nach  den  beiden  Enden  hin  im  Durchschnitt  erweitert  werden. 
Physikalisch  ausgedrückt  wird  das  zunächst  einen  Zylinder  darstellende 
Lumen  des  distalen  Teiles  das  Bestreben  haben,  in  die  Form  eines 
Ovals  mit  dauernd  abnehmendem  Längsdurchmesser  und  zunehmen- 
dem Querdurchmesser  überzugehen,  das  ideal  gedacht  schließlich  in 
der  Kugelform  enden  würde. 

Welches  werden  nun  die  Folgen  dieses  Vorganges  auf  den  ein- 
geklemmten Kotstein  sein  können?  Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  da- 
raus auch  eine  Erweiterung  des  Lumens  an  der  Stelle  des  Kotsteines 
resultieren  muß,  die  zur  Abhebung  der  prall  gespannten  Wand  vom 
Kotstein  und  damit  zur  Aufhebung  der  Einklemmung  führt,  dergestalt 
daß  der  Kotstein,  sekundär  frei  geworden,  nunmehr  im  freien  Raum 
dem  Gesetz  der  Schwere  folgend  seinen  Platz  verläßt  und  später  am 
tiefsten  Punkt  der  Höhle  bzw.  »frei  schwimmend"  im  Sekret  gefun- 
den wird.  Letzteres  ist  naturgemäß  stets  spezifisch  leichter  als  der 
Kotstein,  so  daß  von  einem  eigentlichen  Schwimmen  desselben  im 
Sekret  der  Höhle  keine  Rede  sein  kann.  Er  wird  sich  vielmehr  in 
derartigen  Fällen  stets  am  tiefsten  Punkt  der  mit  dem  Stauungssekret 
gefüllten  Höhle  aufhalten. 

Ist  es  nun  proximal  neben  bzw.  vor  dem  Kotstein  durch  die  in- 
tensiveren Entzündungsvorgänge  seiner  Umgebung  inzwischen  zu  einer 
selbsttätigen  Verlegung  des  Lumens  vermittelst  der  geschwellten 
Schleimhaut  und  entzündlich  fibrinöser  Verklebung  derselben  gekom- 
men, so  können  sich  ohne  weiteres  Befunde  ergeben,  wie  sie  Sprengel 
bei  seinen  Fällen  erhoben  hat,  die  dann  leicht  zu  der  Annahme  ver- 
leiten können,  daß  dieser  erst  sekundär  auf  der  Grundlage  des  ein- 
geklemmten Steins  entstandene,  selbsttätige  Verschluß  des  Lumens 
primär  und  ohne  Zutun  des  nunmehr  frei  im  Lumen  vorhandenen 
Kotsteines  zustande  gekommen  sei. 

Ist  dagegen  der  proximal  neben  dem  Kotstein  gelegene  Verschluß 
nicht  fest  oder  nicht  dicht  genug,  so  kann  sich  durch  die  zwar  nicht 
fest  schließende,  aber  immerhin  verengte  Stelle  des  Lumens  ein  Teil 
des  gestauten  Sekretes  entleeren  und  man  findet  dann  distal  von  der 
vorhandenen  Verengerung  in  dem  mitderweile  wieder  mehr  zusammen- 
gefallenen Lumen  des  Wurmfortsatzendes  den  Kotstein  ^.an  beliebiger 
Stelle'',  scheinbar  ohne  jeden  Zusammenhang  mit  der  stenosierten 
Stelle  des  Lumens  vor. 

Wenn  nun  ein  derartiger  Vorgang  auch  nicht  allen  entsprechenden 
Fällen  Sprengeis  voraufgegangen  zu  sein  braucht,  so  darf  man  doch 
einerseits  die  Möglichkeit  eines  derartigen  Vorganges  vom  physi- 
kalischen Standpunkt  aus,  dessen  Anwendung  berechtigt  erscheint, 
nicht  ganz  von  der  Hand  weisen  und  andererseits  müßte  Sprengel 


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31]  Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  des  Appendizitis.  3gQ 

in  seinen  Fällen  einen  derartigen  Vorgang  mit  Sicherheit  auszu* 
schließen  in  der  Lage  sein,  ehe  man  die  von  ihm  angeführten  Fälle 
als  einwandsfreien  Beweis  für  seine  Anschauung  gelten  lassen  dürfte. 
Sie  beweisen  allenfalls  die  Möglichkeit,  daß  eine  Behinderung  des 
Sekretabflusses  durch  einen  Kotstein  im  Lumen  des  Appendix  nicht 
einzutreten  braucht,  siebeweisen  aber  meines  Erachtens  noch  lange 
nicht  die  Unmöglichkeit,  daß  eine  Behinderung  des  Sekretabflusses 
durch  einen  Kotstein  eintreten  kann,  womit  dann  auch  die  mecha- 
nische Bedeutung  der  Kotsteine  für  die  Ätiologie  und  Genese  der 
Appendizitis  doch  nicht  so  kategorisch  von  der  Hand  zu  weisen  sein 
würde. 

Daß  ein  Kotstein  an  sich  ohne  eine  entsprechende  Gelegenheits- 
ursache in  Gestalt  einer  erhöhten  Infektionsmöglichkeit  oder  eines  : 
Traumas  keine  Appendizitis  hervorrufen  wird,  ist  zu  selbstverständ- 
lich, als  daß  es  einem  Zweifel  unterliegen  könnte.  Daß  deswegen  aber  [ 
der  Kotstein  unter  Voraussetzung  einer  derartigen  Gelegenheitsursache  !' 
als  prädisponierendes  Moment  für  die  Erkrankung,  sei  es  nun  mecha- 
nischer oder  bakterieller  Natur  oder  beides  zugleich,  seine  Bedeutung 
nicht  behalten  sollte,  scheint  mir  danach  eine  Annahme,  die  sehr  \ 
weitgehend  und  zum  mindesten  noch  nicht  genügend  bewiesen  ist.  [ 

Die  heute  noch  geteilten  Anschauungen  über  die  Rolle  des  Kot- 
steines bei  der  Genese  der  Appendizitis  mögen  es  gerechtfertigt  er-  1 
scheinen  lassen,  wenn  ich  dieser  Frage  einen  größeren  Raum  ein-  « 
geräumt  habe,  als  es  eigentlich  dem  Rahmen  dieser  Arbeit  entsprechen  » 
durfte.  ; 

Daß  .gelegentlich  auch  ein  Trauma  durch  umschriebene  Gewalt-  j 

einwirkung  gegen  den  Leib  bei  latenten  pathologischen  Veränderungen 
des  Processus  oder  einem  mit  einem  Kotstein  versehenen  normalen  - 

Processus  einen  akuten  Infektionsanfall  durch  Kontinuitätstrennungen  | 

der  Wand  bzw.  Ernährungsstörungen  der  Wand  auslösen  kann,  ist 
ohne  weiteres  anzunehmen  und  wird  auch  von  den  meisten  Autoren  j 

zugegeben.    Für  den  normalen  Processus  ohne  Kotstein   ist  jedoch  | 

eine  derartige  Einwirkung  eines  Traumas  bisher  mit  Sicherheit  nicht  \. 

erwiesen,  und  dürfte  sich  selbst  unter  Voraussetzung  einer  derartigen 
Möglichkeit  ein  Beweis  für  den  vorherigen  Normalzustand  des  Pro- 
cessus stets  nur  aus  Wahrscheinlichkeitsgründen  bzw.  per  exclusionem 
erbringen  lassen.  Jedenfalls  sprechen  die  theoretischen  Erwägungen 
mehr  gegen,  als  für  die  Möglichkeit  eines  derartigen  Vorganges. 

Eine  Begünstigung  der  pathologischen  Vorgänge  kann  nach 
Aschoff  stattfinden  durch  ein  Hypertrophie  der  Wurmfortsatztonsille, 
die  nach  seiner  Meinung  nicht  einer  chronisch  fortschreitenden,  de- 
struierenden  Entzündung  entspricht  und  uns  in  ihrer  Ätiologie  noch 


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400  Ad.  Ebner,  [32 

ebenso  unbekannt  ist,  wie  die  chronische  Hypertrophie  der  Gaumen- 
tonsillen.  Durch  die  byperplastische  Entwicklung  und  das  Aneinander- 
rücken der  Noduli  kann  es  dann  im  ersten  Stadium  der  Entzündung 
zu  der  Entstehung  einer  körnigen,  granulösen  Beschaifehheit  der 
Schleimhaut  kommen,  die  zu  der  Bezeichnung  Appendicitis  granulosa 
geführt  hat.  In  dieser  Appendicitis  granulosa  hat  man  wohl  mit  der 
Mehrzahl  der  Autoren  das  Anfangsstadium  der  Erkrankung  zu  er- 
blicken, aus  dem  sich  dann  die  weiteren  Folgezustände  und  patholo- 
gischen Veränderungen  des  Appendix  langsamer  oder  schneller  ent- 
wickeln, je  nach  der  Virulenz  der  Entzündungserreger  einerseits  und 
der  Widerstandskraft  des  Gewebes  andererseits. 

Die  vielfach  in  dem  ersten  Stadium  beobachteten,  kleinen,  stig- 
mataähnlichen, über  die  ganze  Schleimhaut  des  Processus  in  mehr 
weniger  großer  Ausdehnung  disseminierten  Blutungen,  über  deren 
Genese  die  Akten  noch  nicht  geschlossen  sind,  haben  für  Riedel  die 
Veranlassung  zu  der  Bezeichnung  Appendicitis  gfanulosa  haemorrhagica 
gegeben,  indem  Riedel  diese  Blutungen  als  eine  primäre  Manifestation 
der  Entzündung  auffaßte,  gleichwie  man  dyspeptische  oder  enteritische 
Alterationen  am  Verdauungstraktus  beobachtet  hat,  die  sich  ebenfalls 
durch  punktförmige,  flächenhafte  oder  zirkuläre  Blutungen  in  die 
Schleimhaut  charakterisierten.  Ich  möchte  dabei  besonders  auf  die  an 
der  Magenschleimhaut  bei  schweren  Infektionen  des  Darmtraktus 
(Peritonitis)  beobachteten,  stigmataähnlichen  Blutungen  hinweisen, 
welche  bekanntlich  auf  eine  destruierende  Toxinwirkung  der  Entzfin- 
dungserreger  auf  die  Epithelien  der  Drüsenausmündungen  zurückge- 
führt werden,  indem  die  Toxine  zugleich  mit  dem  Sekret  der  Drusen 
in  den  Magen  abgesondert  werden. 

Ob  in  ähnlicher  Weise  entweder  die  Toxine  der  im  Processus 
selbst  retinierten  und  gerade  hier  in  unverhältnismäßig  reichlicher 
Menge  vorhandenen,  lebenden  Bakterien  oder  andererseits  die  Endo^ 
toxine  der  im  Processus  infolge  erhöhter  Schutztätigkeit  der  Gewebe 
abgetöteten  Erreger  auf  die  Epithelien  der  Appendixschleimhaut  ein- 
wirken können,  ist  eine  Frage,  die  sich  vielleicht  zur  Diskussion 
stellen  ließe.  Namentlich  bei  den  Endotoxinen  dürfte  vielleicht  durcli 
das  Freiwerden  und  die  Einwirkung  proteolytischer  Fermente  seitens 
der  Leukozyten  auf  die  Epithelzellen  eine  derartige  Möglichkeit  sich 
nicht  ganz  von  der  Hand  weisen  lassen.  — 

Auch  Lotheisen  vertritt  entschieden  die  Ansicht,  daß  diese  ka- 
pillaren Blutungen  als  eine  Folge  bzw.  ein  Symptom  der  Appendi- 
zitis aufzufassen  sind,  welches  fast  immer  im  geraden  Verhältnis  zu 
den  Beschwerden  steht,  die  die  Patienten  vor  der  Operation  gehabt 
haben. 


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33]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.    401 

Aschoff,  Bayer,  Th.  Landau  und  Fränkel  halten  dagegen 
diese  Blutungen  für  sekundär  und  fahren  sie  auf  traumatische  Insulte 
zurück,  denen  der  Processus  intra  Operationen!  ausgesetzt  sei.  Ka* 
revski  meint,  daß  auf  traumatischem  Wege  wohl  kleine  Sugillationen 
entstehen  können,  daß  man  diese  aber  anstandslos  von  Blutungen  patho« 
logischer  Natur  zu  unterscheiden  in  der  Lage  sei.  Lauenstein  und 
Revenstorff  fuhren  gegen  die  Entstehung  der  miliaren  Blutungen 
auf  artifiziellem  Wege  an,  daß  diese  Blutungen  immer  nur  in  der 
Schleimhaut  unb  niemals  in  der  Serosa  oder  Subserosa  beobachtet 
werden.  Dieses  wäre  unverständlich,  wenn  die  Unterbindung  die  Ver- 
anlassung dazu  bilden  wurde.  Auch  die  Häufigkeit  ihres  Auftretens 
bei  an  sich  verschiedenen  Krankheitszuständen  des  Processus  spricht 
gegen  solche  Annahme.  Beide  Autoren  sind  daher  geneigt,  in  voraus- 
g^angenen  Entzündungsvorgängen  die  Ursache  der  Blutungen  zu  er- 
blicken. 

Daß  im  übrigen  eine  Stauung  den  Blutungen  keinesfalls  zugrunde 
li^en  kann,  beweist  die  Tatsache,  daß  man  am  Processus  zuerst  die 
Vene  und  dann  die  Arterie  unterbunden  hat,  ohne  daß  derartige  Blu- 
tungen in  die  Erscheinung  getreten  wären. 

Sprengel  hat  ebenfalls  durchaus  den  Eindruck  gewonnen,  daß 
diese  Blutungen  nicht  als  Folge  eines  Traumas,  sondern  als  besondere 
hämorrhagische  Form  der  Entzündung  aufzufassen  sind. 

Auch  wir  haben  in  einer  Reihe  von  Fällen  Gelegenheit  gehabt, 
derartige  kleine,  oberflächliche,  fast  über  die  ganze  Schleimhaut  des 
Processus  disseminierte  Blutungen  zu  beobachten,  deren  Entstehung 
auf  traumatischem  Wege  durch  den  operativen  Eingriff  sich  mit  Sicher- 
heit ausschließen  ließ.  Vielmehr  boten  diejenigen  Sugillationen,  die 
durch  operative  Handgriffe,  Fassen  mit  Zangen,  Abbinden  usw.  ent- 
standen waren,  in  jedem  Falle  ein  ganz  wesentlich  anderes  Bild  dar, 
tls  diese  sich  ganz  gleichmäßig  über  die  sonst  völlig  intakte  Schleim- 
haut ausbreitenden,  punktförmigen  Hämorrhagien. 

Neuerdings  hält  Asch  off  in  seiner  letzten  Arbeit  sogar  dafür, 
daß  derartige  miliare  Blutungen  auf  der  Appendixschleimhaut  über- 
haupt keine  pathologische  Bedeutung  haben,  da  er  solche  Blutungen 
viel  reichlicher  und  ausgedehnter  in  normalen  Wurmfortsätzen  ge- 
funden habe,  als  in  solchen  mit  beginnender  Entzündung.  Er  glaubt 
daher  energisch  gegen  eine  Auffassung  dieser  Blutungen  als  Zeichen 
eines  chronischen  Reizzustandes  Widerspruch  erheben  zu  müssen.  Ob 
damit  die  Frage  über  die  Herkunft  dieser  miliaren  Blutungen  als  ab- 
geschlossen zu  gelten  hat,  wird  von  der  Bestätigung  dieser  Auffassung 
und  Beobachtung  durch  andere  Autoren  abhängig  zu  machen  sein. 

KllB.  Vortrage,  N.  F.  Sr,4Sß/90J9l.    (Chirarfle  Nr.  142/43/44.)   Juni  190S.  30 


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402  Ad.  Ebner,  [34 

Immerhin  bleibt  selbst  bei  Annahme  dieser  Auffassung  die  Frage  nacti 
der  Entstehung  dieser  Erscheinung  in  einem  normalen  Darmabschoitt 
auch  ferner  noch  eine  oifene,  und  diese  Tatsache  möge  es  erklären, 
daß  ich  den  Anschauungen  der  Autoren  über  dieses  Thema  etwas 
mehr  Raum  gewidmet  habe. 

Fassen  wir  nach  dieser  kurzen  Abschweifung  das  Hauptmoment 
bei  der  Entstehung  der  Appendizitis  noch  einmal  kurz  zusammen,  so 
entspricht  dieses  einer  endogenen,  bakteriellen  Infektion  nicht 
spezifischer  Natur  vom  Darmlumen  aus.  Zum  Eintritt  derselben 
sind  gewisse  Voraussetzungen  erforderlich,  die  wir  unter  dem  Aus- 
druck einer  erhöhten  Disposition  zur  Erkrankung  zusammen- 
fassen. Diese  werden  meistens  durch  Stauungsvorgänge  im  Appendix 
hervorgerufen,  die  zu  veränderten  Druckverhältnissen  im  Appendtx- 
lumen,  Erhöhung  der  Virulenz  und  Menge  der  Bakterien  (Kotsteine!), 
Ernährungsstörungen  der  Wand  und  Herabsetzung  der  Widerstands- 
kraft des  Gewebes  führen. 

Bevor  wir  nun  zu  der  Erkennung  der  Appendizitis  übergehen, 
empfiehlt  es  sich  zum  besseren  Verständnis  derselben  in  den  einzel- 
nen Stadien  kurz  den  Verlauf  des  Entzündungsvorganges  am 
Bauchfell  zu  erörtern.  Dieser  allein  vermag  uns  ja  ein  Bild  von 
dem  jeweiligen  Stande  der  Erkrankung  zu  liefern  und  nach  diesem  allein 
ist  ja  demgemäß  unsere  obige  Einteilung  getroffen  worden,  der  wir 
auch  bei  der  Erörterung  der  Erkennungsmerkmale  in  den  einzelnen 
Stadien  nach  Möglichkeit  entsprechen  werden. 

Folgen  wir  zunächst  der  Anschauung  Sprengeis  über  das  Wesen 
der  Entzündung  am  Peritoneum,  so  haben  wir  deren  erste  Äußerung 
in  einer  ödematösen  Schwellung  der  Darmserosa  zu  erblicken.  Diese 
bildet  die  Vorstufe  zu  der  Ausscheidung  eines  serösen  Exsudates  in 
die  freie  Bauchhöhle,  das  später  eine  fibrinöse  Beimengung  erhalt. 
Das  seröse  Exsudat  ist  in  der  Regel  als  steril  zu  bezeichnen  und  ent- 
spricht einer  Schutzvorrichtung  des  Körpers  vermöge  seiner  bakteri- 
ziden bzw.  bakteriolytischen  und  antitoxischen  Eigenschaften.  Die 
Menge  dieses  serösen  Exsudates  wird  in  der  Regel  abhängig  sein  von 
der  Schwere  und  Ausbreitung  der  Infektion  einerseits,  wie  der  ent- 
sprechenden Abwehrbetätigung  des  Peritoneums  andererseits.  Ob  es  da- 
nach berechtigt  ist,  wenn  Moskowicz  alle  Fälle  mit  einem  freien 
serösen  Exsudat  in  der  Bauchhöhle  als  prognostisch  besonders  schwer 
bezeichnet,  erscheint  mir  zweifelhaft,  insofern  dieses  Exsudat  wohl  für 
eine  Infektion  aber  auch  gleichzeitig  für  die  Fähigkeit  des  Körpers 
spricht,  seinen  Angreifern  erfolgreich  entgegenzutreten.  Die  fibrinöse 
Beimengung  des  serösen  Exsudat  entspricht  einer  weiteren  Schutzvor- 
richtung   des    Körpers    durch    ihre  Bestimmung,   Verklebungen  der 


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35]  Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.   403 

Dannschlingen  und  so  eine*  Umgrenzung  des  Entzündungsvorganges 
herbeizufuhren. 

Als  letzte  Stufe  der  Entzündung  folgt  schließlich  die  Ausscheidung 
von  Leukozyten  in  das  serofibrinöse  Exsudat,  deren  Menge  von  der 
Starke  des  Entzfindungsreizes  d,  h.  der  Virulenz  und  Menge  der  ein* 
gedrungenen  Erreger  abhängig  zu  machen  ist. 

Sprengel  setzt  sich  mit  seiner  Anschauung  in  einen  bewußten 
Gegensatz  zu  Hägler  und  Sonnenburg,  indem  er  ohne  den  Vor- 
aasgang  eines  serösen  Exsudats  die  Ausscheidung  von  Fibrin  für  un- 
möglich halt.  Er  erblickt  eben  in  der  letzteren  einen  Fortschritt 
der  Entzündungsäußerung  und  ist  zu  dieser  Anschauung  auf 
Grund  der  Erfahrungstatsache  gelangt,  daß  er  an  seinem  gewaltigen 
Material  von  Frühoperationen  nicht  einen  einzigen  Fall  ohne  dieses 
Exsudat  beobachten  konnte.  Sprengel  leugnet  daher  auch  naturge- 
mäß das  Vorhandensein  einer  selbständig  fortschreitenden  Form  der 
tbliäsiven  Peritonitis  im  Sinne  Nothnagels  vollständig. 

Demgegenüber  halten  Hägler  und  Sonnenburg  den  Eintritt 
einer  alleinigen  fibrinösen  Verklebung  des  Appendix  mit  seiner  Um- 
gebung ohne  ein  seröses  Exsudat  für  möglich.  Sie  erblicken  also  in 
der  Fibrinausscheidung  eine  verschiedene  Form  derEntzündungs- 
außerung,  die  nach  Hägler  auf  eine  geringere  Virulenz  der  Erreger 
zurfickzuführen  ist.  Sonnenburg  erblickt  in  dieser  Form  den  Aus- 
druck einer  chemisch-toxischen  Peritonitis  d.  h.  einer  durch  die  Wir- 
kung ausgeschiedener  Toxine  oder  Endotoxine  oder  beider  zusammen 
hervorgerufenen  Entzündung,  bei  welcher  Bakterien  selbst  noch  nicht 
in  den  Peritonealraum  eingedrungen  sind. 

Wägen  wir  nun  beide  Anschauungen  gegeneinander  ab,  so  dürfte 
zunächst  der  Beweis  für  das  tatsächliche  Vorhandensein  einer  che- 
misch-toxischen Peritonitis  im  Sinne  Sonnenburg s  sich  schwer  er- 
bringen lassen.  Es  müßte  dazu  nachgewiesen  werden,  daß  die  Peri- 
tonealhöhle völlig  bakterienfrei,  und  daß  vor  oder  auch  zugleich  mit 
der  rein  fibrinösen  Ausscheidung  nicht  doch  ein  mit  bakteriziden 
Eigenschaften  ausgestattetes  Exsudat  —  sei  es  auch  in  noch  so  ge- 
ringer Menge  —  ausgeschieden  wäre,  das  die  etwa  in  den  Peritoneal- 
raum eingedrungenen  Bakterien  zum  Absterben  gebracht  haben  könnte. 
Im  anderen  Fall  wäre  es  dann  keine  chemisch-toxische,  sondern  eine 
infektiöse  Entzündung,  mit  der  wir  es  zu  tun  hätten. 

Gibt  man  selbst  diese  Möglichkeit  ohne  weiteres  zu,  so  ist  immer 
noch  für  den  Begriff  der  chemisch-toxischen  Peritonitis  zu  erwägen, 
daß  ja  im  Grunde  die  infektiöse  Peritonitis  ebenfalls  auf  einer  che- 
misch-toxischen Wirkung  der  eingedrungenen  lebenden  und  abge- 
storbenen Bakterien  bzw.  Ihrer  entsprechenden  Stoffwechselprodukte 

30* 


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404 


Ad.  Ebner, 


[36 


beruht  Danach  ist  also  die  Art  des  Reizes  bei  der  chemisch-toxischen 
Peritonitis  die  gleiche,  wie  bei  der  infektiösen  Peritonitis.  Der  grund- 
legende Unterschied  zwischen  beiden  besteht  eben  nur  in  dem  Fehlen 
oder  Vorhandensein  der  Erreger  im  Peritonealraum.  Es  dürfte  daher 
auch  bezüglich  des  Reizzustandes  der  Unterschied  zwischen  beiden 
nicht  in  einer  verschiedenen  Art,  sondern  in  einem  verschiedenen 
Grade  desselben  zu  erblicken  sein. 

Danach  erscheint  es  aber  nicht  recht  verständlich,  daß  ein  an  sich 
gleichartiger  Reiz  auf  das  gleiche  Gewebe  in  verschiedenem  Grade 
ausgeübt  eine  gänzlich  andere  Form  der  Entzündung  bzw.  der  Ab- 
wehrbetätigung des  Gewebes  zur  Folge  haben  sollte.  Dafi  auch  Hägler 
selbst  den  Reiz  als  den  gleichen,  nur  in  verschiedener  Stärke  annimmt, 
erhellt  schon  daraus,  daß  er  für  die  chemisch-toxische  Peritonitis 
bzw.  die  primäre  Fibrinausscheidung  nur  eine  geringere  Virulenz  der 
Bakterien  zur  Voraussetzung  macht. 

Der  Begriff  der  chemisch-toxischen  Peritonitis  hat  daher  in  diesem 
Zusammenhang  etwas  theoretisch  Gekünsteltes  an  sich,  ohne  darum 
einer  Erklärung  der  biologischen  Vorgänge  Im  Sinne  von  Hägler  und 
Sonnenburg  zwanglos  gerecht  werden  zu  können. 

Demgegenüber  will  es  mir  als  ein  Vorzug  der  Sprengeischen 
Anschauung  erscheinen,  daß  er  von  vornherein  auf  eine  so  feine 
Unterscheidung  der  Begriffe  verzichtet,  vielmehr  nur  mit  einem  stär- 
keren oder  schwächeren  Reiz  auf  das  Peritoneum  und  dementsprechend 
sich  stufenweise  steigernder  Abwehrbetätigung  des  Peritoneums  recli- 
net.  Als  Ausdruck  der  letzteren  findet  die  nachfolgende  fibrinöse 
Beimengung  des  vorausgehenden  serösen  Exsudates  vom  rein  biolo- 
gischen Standpunkt  aus  eine  ungezwungenere  und  logischere  Er- 
klärung, als  im  ersten  Fall.  Wenn  nämlich  ohne  weiteres  zuzugeben 
ist,  dafi  gegenüber  einem  rein  serösen,  leicht  resorbierbaren  Exsudat 
in  einer  fibrinösen,  viel  langsamer  zurückgehenden  Ausscheidung 
und  Verklebung  der  größere  Effekt  zu  erblicken  ist,  so  erscheint  es 
durch  einen  einfachen  Rückschluß  wenig  einleuchtend,  daß  gerade 
dieser  größere  Effekt  nach  Hägler  und  Sonnen  bürg  theoretisch  auf 
Grund  eines  geringeren  Reizes  zustande  kommen  können  sollte. 

Den  gleichen  Vorteil  wird  uns  die  Anschauung  Sprengeis  für 
die  Erklärung  des  Verbreitungs-  und  Umgrenzungsvorganges  der  Ent- 
zündung am  Peritoneum  gewähren.  Werfen  wir  nämlich  die  nahe- 
liegende Frage  auf,  warum  das  serofibrinöse  Sekret  im  Sinne  Spren- 
geis in  der  Nähe  des  Entzündungsherdes  zu  Verklebungen  fSbrt, 
während  das  im  Überschuß  gebildete  Exsudat  resorbiert  wird,  so 
finden  wir  von  Sprengel  selbst  eine  Erklärung  für  diese  Frage  nicht 
angegeben.    Die  geringere  Beweglichkeit  des  Appendix  bzw.  die  An- 


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37]    Ül>«r  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.   405 

nähme  einer  verringerten  örtlichen,  auf  toxischen  Wirkungen  be- 
ruhenden Darmbewegung  dürfte  als  eine  rein  mechanische  Erklärung 
der  Vorgänge  kaum  genfigen. 

Treten  wir  nun  an  der  Hand  der  Sprengel  sehen  Anschauung 
den  Vorgängen  naher,  so  können  wir  zunächst  die  Art  des  Reizes  als 
ervas  Gegebenes  betrachten,  daß  nur  in  seiner  Stärke  wechseln  wird. 
Es  liegt  nun  auf  der  Hand,  daß  die  Stärke  dieses  Reizes  nach  der 
Peripherie  des  Entzündungsherdes  eine  geringere,  der  Reiz  an  der 
Peripherie  ein  schwächerer  sein  muß,  als  nach  der  Mitte  des  Ent- 
zündungsherdes zu.  Mathematisch  gesprochen  muß  die  Stärke  des 
Reizes  sich  proportional  der  Entfernung  vom  Ausgangspunkt  der  Ent- 
zündung verringern«  Dementsprechend  wird  auch  die  Abwehrbe- 
titigung  des  Peritoneums  nach  der  Peripherie  hin  eine  geringere  sein 
müssen,  als  nach  der  Mitte  des  Entzündungsherdes. 

Es  wird  also  im  Sinne  der  Auffassung  von  Sprengel  logischer- 
weise nach  dem  Appendix  hin  das  seröse  Exsudat  über  einen  größeren 
Reichtum  an  Fibrin  verfügen,  als  nach  der  Peripherie  zu.  Die  Folge 
dieser  äußerst  zweckmäßig  gesteigerten  Abwehrbetätigung  des  Bauch- 
fells wird  sich  in  einer  erhöhten  Neigung  der  Darmserosa  zu  Ver- 
Uebungen  in  der  Umgebung  des  Appendix  äußern,  während  das  Pe- 
ritoneum in  der  Peripherie  erst  die  dem  geringeren  Reiz  entsprechende 
Vorarbeit  geleistet  hat.  Ist  der  Zweck  der  Abwehr  erreicht,  nehmen 
die  VerUebungen  und  die  Umgrenzung  des  Entzündungsvorganges  zu, 
so  wird  entsprechend  dem  Fortfallen  des  Reizes  zunächst  distal  die 
geringe  Fibrinausscheidung  fortbleiben,  die  etwa  vorher  noch  nach 
den  Grenzen  der  Verklebung  zu  stattgefunden  hat.  Es  wird  dann 
weiter  die  rein  seröse  Ausscheidung  ebenfalls  aussetzen,  und  es  wird 
dann  mit  Leichtigkeit  die  Resorption  des  im  Überschuß  ausgeschie- 
denen, vorwiegend  oder  rein  serösen  Exsudates  erfolgen  können. 

Ist  andererseits  die  Zahl  und  Virulenz  der  Angreifer  eine  der- 
artige, daß  das  Peritoneum  nicht  mehr  zur  Entfaltung  seiner  vollen 
Abwehrbetätigung  kommt,  so  wird  zwar  das  seröse  Exsudat  noch  zu- 
stande kommen,  hingegen  die  fibrinöse  Ausscheidung  bereits  versagen. 
Das  Peritoneum  vermag  den  vordringenden  Angreifern  keinen  Wall 
mehr  entgegenzusetzen  und  wird  von  denselben  widerstandslos  über- 
schwemmt und  geschädigt. 

Eine  derartige  Erklärung  der  Entzündungsvorgänge  am  Peritoneum 
scheint  mir  zwanglos  und  logisch  genug  zu  sein,  um  einen  Beweis 
mehr  für  die  Richtigkeit  der  auf  persönliche  Erfahrung  am  Lebenden 
gestützten  Anschauung  von  Sprengel  zu  bilden.  Sie  dürfte  anderer- 
seits auch  vom  rein  biologischen  Standpunkt  aus  der  absoluten  Zweck- 
mäßigkeit der  Entzündungsvorgänge  am  Körper  am  ehesten  gerecht 


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406 


Ad.  Ebner, 


[38 


werden,  wie  sie  ja  neuerdings  auch  von  Bier  gelegentlich  seiner 
Hyperämielehre  besonders  hervorgehoben  wird. 

Wohl  kann  man  auf  Grund  der  Annahme  einer  zeitlich  geson- 
derten Abwehrbetätigung  des  Peritoneums  einerseits  und  der  Gefäße 
andererseits  —  entsprechend  einer  zeitlich  verschiedenen  Einwirkung 
der  Toxine  und  Endotoxine  auf  das  eine  oder  andere  der  Gewebe 
—  zu  ähnlichen  Schlußfolgerungen  gelangen,  wie  sie  der  Auffassung 
von  Hägler  und  Sonnenburg  entsprechen.  Solange  aber  eine 
derartige,  zunächst  nur  hypothetische  Annahme  nicht  experimentell 
bewiesen  ist  und  solange  sie  nicht  eine  gleiche  ungezwungene  und 
logische  Erklärung  der  biologischen  Vorgänge  zu  liefern  vermag,  wie 
die  Sprengeische  Auschauung,  dürfte  der  Vorzug  der  letzteren  An- 
schauung unbestreitbar  bleiben. 

Es  erscheint  daher  berechtigt,  wenn  wir  den  weiteren  Ausfuhrungen 
diese  Anschauung  von  Sprengel  zugrunde  legen. 

Bei  der  Appendicitissimplex  ist  nach  unserer  Umgrenzung 
dieses  Krankheitsbegriffs  jede  entzündliche  Beteiligung  des  Peritoneums 
ausgeschlossen,  wobei  wir  absichdich  den  Begriff  bzw.  den  Unter- 
schied zwischen  einer  chemischen  und  infektiösen  Reizung  des  Peri- 
toneums beiseite  lassen,  den  man  gewöhnlich  unter  der  Bezeichnung 
Peritonismus  und  Peritonitis  auseinanderzuhalten  pflegt. 

Es  liegt  danach  auf  der  Hand,  daß  die  äußerlich  feststellbaren 
Merkmale  und  Beschwerden  der  Appendicitis  Simplex  ganz  geringe 
sein  müssen,  so  daß  sie  in  der  Tat  dem  Patienten  selbst  und  vielfach 
auch  der  Aufmerksamkeit  des  Arztes  in  ihrer  eigentlichen  Bedeutung 
entgehen  können. 

Demgemäß  hebt  u.  a.  auch  Karewski  besonders  hervor,  daß  die 
eigentliche  Appendicitis  granulosa  haemorrhagica  —  und  naturgemäß 
ebenso  der  einfache  Appendixkatarrh  —  ohne  jeden  klinisch  ins  Auge 
fallenden  Anfall  verlaufen  kann.  Wenn  jedoch  Karewski  das  gleiche 
bei  einer  Beteiligung  der  Serosa  unter  allmählich  fortschreitender 
Tiefenwirkung  des  Prozesses  für  möglich  hält,  so  würde  einmal  dieser 
Krankheitszustand  nach  unserer  Auffassung  bereits  unter  den  Begriff 
der  Periappendicitis  incipiens  fallen.  Des  ferneren  dürfte  bei  der 
bekannten  hohen  Empfindlichkeit  des  Peritoneums  ein  derartiges  Fort- 
fallen der  Schmerzerscheinungen  zu  den  äußersten  Seltenheiten  ge- 
hören, die  dann  ein  ganz  allmähliches  Einschleichen  des  Reizes  bzw. 
der  Entzündung  zur  Voraussetzung  haben  müßten. 

Am  häufigsten  wird  noch  bei  der  Appendicitis  Simplex  eine  ge- 
wisse Neigung  der  Patienten  zu  Verdauungsstörungen  ins  Auge  fallen, 
insofern  häufig  eine  hartnäckige  Obstipation  besteht,  die  bisweilen 
durch    anfallsweise,    nur   schwer  zu   beseitigende   Durchfalle  unter- 


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39]    Ober  den  beutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.   407 

brochen  sein  kann.  Es  kann  ferner  zeitweilig  Neigung  zu  Flatulenz, 
Appetitlosigkeit,  leichte  Obelkeit,  Gefühl  von  Völle  und  Aufgetrieben- 
heic  des  Leibes  namentlich  rechts  bestehen.  Kurz  es  handelt  sich 
meist  um  leichte  Verdauungsstörungen  allgemeiner  Natur,  die  zunächst 
auf  das  Vorhandensein  eines  örtlichen  Leidens  hinzuweisen  wenig  ge- 
eignet sind. 

Erheblich  deutlicher  kann  das  Bild  werden,  wenn  es  infolge 
Schwellung  der  Schleimhaut,  Verschluß  durch  einen  Kotstein  oder 
Yorübergehende  Knickungen  zu  Stauungserscheinungen  im  Appendix 
kommt  Diese  können  durch  eine  rein  mechanische  Dehnung  und 
Zerrung  der  bekleidenden  Serosa  zu  deutlich  hervortretenden  Be- 
schwerden und  Schmerzanfällen  fähren,  die  meist  nach  der  Magen- 
gegend hin  ausstrahlen  oder  einen  ausgeprägt  örtlichen  Charakter 
haben  und  in  der  Ileocöcalgegend  gelegen  sind.  Es  sind  dieses  die 
unter  dem  Namen  Appendikularkoliken  allgemein  bekannten  Er- 
scheinungen, die  stundenlang  ohne  Temperatursteigerung  oder  sonstige 
Störungen  anhalten  können  und  dann  ebenso  plötzlich  und  vielfach 
für  immer  schwinden,  wie  sie  gekommen  sind,  sobald  die  Stauung 
eine  vorübergehende  ist 

Ausnahmsweise  einmal  wird  dabei  auch  eine  Temperaturerhöhung 
zustande  kommen  können  infolge  einer  erhöhten  Aufsaugung  von  Toxi- 
nen und  Endotoxinen  durch  den  erhöhten  Innendruck  im  Appendix. 
Dieselbe  fällt  aber  meistens  in  24  Stunden  mit  der  Lösung  der  Stau- 
ung und  dem  Rückgang  der  Schmerzerscheinungen  wieder  ab. 

Eines  derartigen  Falles  erinnere  ich  mich  aus  meiner  Praxis,  den 
ich  hier  kurz  anführen  möchte.  Ein  13jähriger  Knabe  erkrankte 
mit  typischen  Schmerzen  in  der  Gegend  des  Mc  Burneyschen  Punktes 
und  mit  deutlich  ausgesprochener  lokaler  Druckempfindlichkeit  Am 
Abend  desselben  Tages  zeigte  die  Temperatur  einen  steilen  Anstieg 
auf  39,6,  der  Processus  war  durch  die  dünnen  Bauchdecken  deutlich 
fühlbar  und  schmerzhaft,  so  daß  ich  dem  Vater  des  Pat  für  den 
nächsten  Tag  die  Operation  in  Aussicht  stellte,  falls  nicht  wesentliche 
Besserung  eingetreten  wäre.  Am  nächsten  Tage  war  und  blieb  die 
Temperatur  völlig  normal,  der  Schmerz  in  der  Ileocöcalgegend  war 
nur  noch  auf  Druck  in  geringem  Grade  vorhanden  und  am  nächsten 
Tage  völlig  geschwunden.  Der  Patient  ist  seitdem  —  es  ist  jetzt 
etwa  3  Jahre  her  —  gänzlich  beschwerdefrei  geblieben.  Was  mich 
trotz  der  hohen  Temperatur  bewog  zu  warten,  war  das  fast  völ- 
lige Fehlen  der  reflektorischen  Bauchdeckenspannung  rechts  und  der 
nur  wenig  beschleunigte,  in  seiner  Stärke  unveränderte  Puls  des 
Patienten.  Der  Fall  beweist  wieder  den  Vorteil  der  Empfehlung  von 
Sprengel,  erst  24  Stunden  abzuwarten  und  nur  dann  operativ  vor- 


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408 


Ad.  Ebner, 


[40 


zugehen,  wenn  innerhalb  dieser  Zeit  nicht  eine  entschiedene  Wendung 
zum  Bessern  eingetreten  ist. 

Im  anderen  Falle  würde  man  eben  Gefahr  laufen,  häufig  eine 
gänzlich  rückbildungsfahige  Appendicitis  simplex  vorzufinden  und 
damit  eine  Luxusoperation  zu  machen,  die  durch  nichts  gerechtfertigt 
erscheint.  Allerdings  käme  man  dadurch  dem  Vorschlag  Kare- 
ws kis  nahe,  der  am  liebsten  bereits  jede  Appendizitis  noch  vor 
dem  Anfall  operieren  möchte.  Dieser  Vorschlag  erscheint  aber  schon 
aus  der  obigen  Erwägung  heraus  viel  zu  weitgehend,  als  daO  er 
ernstere  Beachtung  finden  könnte. 

Im  allgemeinen  wird  also  die  Appendicitis  simplex  keine  örtlichen 
oder  allgemeinen,  ins  Auge  fallenden  Erscheinungen  hervorrufen,  es 
sei  denn,  daß  durch  Stauungsvorgänge  im  Appendix  Schmerzempfin- 
dungen oder  Resorptionsfieber  von  meist  schnell  vorübergehendem 
Charakter  ausgelöst  werden. 

Das  Bild  ändert  sich  mit  dem  Übergreifen  des  Entzündungspro- 
zesses auf  das  viszerale  bzw.  parietale  Peritoneum  sofort  und  wir 
haben  damit  die 

Periappendicitis  incipiens 
vor  uns. 

Diese  ist  zunächst  eine  schneller  oder  langsamer  fortschreitende 
bis  zu  dem  Moment,  wo  entweder  eine  Umgrenzung  des  Entzündungs- 
vorganges eintritt  und  sie  zu  einer  Periappendicitis  circumscripta 
wird,  oder  wo  das  unaufhaltsame  Fortschreiten  des  Entzündungsvor- 
ganges zur  AUgemeininfektion  des  Peritoneums  führt,  und  sie  zur 
Periappendicitis  diffusa  bzw.  Peritonitis  appendicularis  diffusa  wird. 
Aus  der  Schnelligkeit  oder  Langsamkeit  des  Vorganges  noch  beson- 
dere Bezeichnungen  herzuleiten,  wie  akut  fortschreitende  Peritonitis, 
foudroyante  Peritonitis,  peritoneale  Septhämie  u.  dgl.,  trägt  wohl  zur 
Vermehrung  der  Nomenklatur,  nicht  aber  zum  leichteren  Verständnis 
und  zur  leichteren  Unterscheidung  der  einzelnen  Krankheitssta- 
dien bei« 

Entsprechend  der  allgemeinen  Entzfindungslehre  äußert  sich  auch, 
am  Peritoneum  der  erste  Grad  derselben  in  einer  starken  Hyperämie 
der  Serosa,  die  zu  einer  ödematösen  Schwellung  des  Gewebes  führt 
Dieser  Vorgang  wird  bei  der  Empfindlichkeit  des  Peritoneum  bereits 
die  ersten  Schmerzempfindungen  auslösen. 

Je  nach  der  Heftigkeit  und  Schnelligkeit  des  Vorganges  wird  der 
Charakter  der  Schmerzen  ein  verschiedener  sein,  |a  er  kann  wie  eben 
besprochen  ganz  oder  fast  ganz  in  vereinzelten  Fällen  ausbleiben, 
wenn  die  Entzündung  sich  gewissermaßen  ins  Peritoneum  ein- 
schleicht.   Es  können  sich  dann  in  der  gleichen  schleichenden  Weise 


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41]   Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.   409 

die  weiteren  entzündlichen  Vorgänge  mehr  oder  weniger  im  Peri- 
toneum ausbreiten  und  langsam  in  das  chronische  Stadium  übergehen, 
ohne  daß  Patient  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  einen  Blinddarm- 
anfall  durchgemacht  hätte. 

Dieser  gewissermaßen  larvierte  Verlauf  der  Erkrankung  hat  nun 
für  Ewald  die  Veranlassung  zu  ein^r  weiteren  Vermehrung  unserer 
Nomenklatur  durch  die  Bezeichnung  Appendicitis  larvata  abgegeben» 
womit  ausgedrückt  werden  soll,  daß  es  eigentlich  eine  Periappendi- 
zitis  ist,  die  sich  durch  eine  besonders  langsame  und  leichte  Art 
des  Infektions-  und  Entzündungsvorganges  am  Peritoneum  auszeichnet. 
Ewald  hat  dafiir  noch  besondere  Erkennungszeichen  aufgestellt,  die 
er  als  lokaler  Druckschmerz»  Gurren  von  Darmschlingen»  örtliche 
leichte  Auftreibung »  Magensymptome,  Flatulenz  und  häufig  Colica 
mucosa  bezeichnet.  Diese  Merkmale  sind  aber  im  allgemeinen  die- 
selben» wie  bei  jeder  anderen  Periappendizitis  auch»  nur  daß  eben 
entsprechend  den  leichteren  örtlichen  Entzündungsvorgängen  die 
örtlichen  Erscheinungen  mehr  in  den  Hintergrund  und  dadurch  die 
leichten  allgemeinen  Erscheinungen  mehr  in  den  Vordergrund  treten» 
so  daß  das  ganze  Krankheitsbild  sich  mehr  der  Appendicitis  simplex 
nähern  kann  und  im  großen  und  ganzen  nach  der  Schwere  der  Er- 
scheinungen ein  Mittelding  zwischen  der  Appendizitis  und  Periap- 
pendicitis  incipiens  bilden  wird.  Ob  es  sich  darum  empfiehlt»  die 
Appendizitisnomenklatur  um  einen  neuen  Begriff  mehr  zu  belasten» 
muß  dahingestellt  bleiben.  Auch  Geheimrat  Garr&  kann  sich  ab- 
solut nicht  mit  der  Appendicitis  larvata  Ewalds  befreunden»  da 
schließlich  fast  jede  Erkrankung  hin  und  wieder  einen  verschleierten 
oder  larvierten  Symptomenkomplex  zeigen  kann»  wie  z.  B.  die  Pneu- 
monie und  insbesondere  die  zentrale  Pneumonie»  die  Pankreatitis» 
selbst  die  Osteomyelitis  mit  wenig  virulenten  Keimen.  Nicht  die 
Appendizitis  hat  nach  ihm  die  Larve  vor  dem  Gesicht»  sondern  eher 
der  Arzt  einen  Schleier  vor  den  Augen. 

So  häufig  der  Schmerz  das  erste  Anzeichen  ist»  welches  die  Auf- 
merksamkeit des  Patienten  und  des  Arztes  auf  den  Erkrankungszustand 
im  Abdomen  lenkt»  so  häufig  kann  die  Bestimmung  dieser  Erkrankung 
erschwert  werden  durch  die  verschiedenartige  Lokalisation  des 
Schmerzes.  Durch  eine  Ausstrahlung  des  Nervenreizes  im  Plexus 
meseraicus  sup.  kann  es  zu  Schmerzempfindungen  in  der  Magen-  und 
Nibelgegend»  ferner  in  der  Leber-  und  Gallenblasengegend»  der  rechten 
und  bisweilen  auch  der  linken  Nierengegend  kommen.  Schließlich 
sollen  vereinzelt  im  frühesten  Stadium  von  Karewski  als  prämoni- 
torische  Blasenstörungen  bezeichnete  Beschwerden  beim  Urinieren  vor- 
kommen» ohne  daß  ein  krankhafter  Befund  zu  erheben  wäre. 


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410 


Ad.  Ebner, 


[42 


Die  Ursache  der  Schmerzen  erblickt  Kelling  in  einem  Reiz- 
zustand des  Plexus  ileocolicus  durch  entzündliche  Vorgänge  am  Ap- 
pendix. Von  hier  aus  kann  dann  eine  Ausstrahlung  der  Schmerz- 
empfindungen in  andere  Plexusgebiete  erfolgen. 

Sprengel  weist  darauf  hin,  daO  nur  das  parietale  Peritoneum 
empfindlich  ist,  welches  durch  die  Interkostalnerven»  die  Lumbal-  und 
Sakralnerven  versorgt  wird.  Das  viszerale  Peritoneum  hält  er  für 
unempfindlich,  da  seine  Versorgung  durch  das  Gebiet  des  N. 
sympathicus  und  N.  vagus  erfolgt.  Im  übrigen  nimmt  auch  Sprengel 
an,  daß  der  Schmerz  im  Zusammenhang  mit  den  krankhaften  Ver- 
änderungen am  Peritoneum  steht,  da  der  zuerst  allgemeine  Charakter 
desselben  sich  mit  der  Umgrenzung  der  Entzündung  in  einen  mehr 
örtlichen  umzuwandeln  pflegt.  Auch  Sprengel  sieht  in  der  akut 
entzündlichen  Schwellung  und  dem  Ödem  des  Peritoneums  die  erste 
Ursache  zur  Auslösung  der  entzündlichen  Schmerzempfindung. 

Karewski  und  Lennander  schieben  nur  einen  Teil  der  Schmerzen 
auf  den  peritonealen  Reiz-  bzw.  Entzündungszustand  und  erblicken 
die  Ursache  für  den  anderen  Teil  der  Schmerzen  in  einer  Lymph- 
angitis  des  Mesenteriums,  die  ihren  Ausgang  von  den  Lymphgefäßen 
des  Mesenteriolum  aus  nehmen  kann. 

Daß  nebenbei  durch  etwaige  Darmkoliken  ebenfalls  Schmerzemp- 
findungen ausgelöst  werden  können,  liegt  auf  der  Hand.  Dieselben 
werden  in  der  Regel  jedoch  nur  für  das  vorgeschrittenere  Stadium 
der  Periappendizitis  in  Betracht  kommen. 

Die  eigentliche  Lage  der  Schmerzen,  sowie  ihre  größte  Heftig- 
keit wird  sich  naturgemäß  früher  oder  später  am  Ausgangspunkte 
der  Entzündung,  dem  Processus,  konzentrieren,  insbesondere  wird 
sich  hier  die  Empfindlichkeit  auf  Druck  am  stärksten  ätißern,  was 
bekanntlich  zu  der  Festlegung  einer  typischen  Schmerzstelle  unter 
der  Bezeichnung  des  McBurneyschen  Punktes  geführt  hat.  Diese 
besteht  so  oft  zurecht,  als  eben  der  Appendix  entsprechend  gelegen 
ist.  Bei  der  Verschiedenheit  seiner  Lage  ist  dieses  jedoch  durchaus 
nicht  immer  der  Fall,  so  daß  davor  gewarnt  werden  muß,  diesem 
Punkte  eine  übertriebene  Bedeutung  beizulegen.  Kelling  ist  sogar 
geneigt  anzunehmen,  daß  dieser  Punkt  einem  rein  nervösen  Druck- 
punkt entspricht,  und  daß  daher  die  Annahme  irrig  ist,  man  müsse 
bei  ausgesprochener  Druckempfindlichkeit  an  dieser  Stelle  immer  den 
empfindlichen  Processus  unter  den  Fingern  haben.  Einen  weiteren 
Beweis  dafür  erblickt  er  in  der  Tatsache,  daß  man  auch  bei  einer 
Reihe  anderer  Erkrankungen  diese  Erscheinung  gefunden  hat.  Eine 
weitere  Betätigung  dafür  könnte  man  ferner  in  einer  Beobachtung 
erblicken,  auf  die  Professor  Lexer  öfters  hinzuweisen  pflegt,  nämlich 


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43]  Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  und  Behandlung  der  Appendizitis.  411 

daß  man  bei  verdächtigen  Fällen  oft  an  der  korrespondierenden 
Stelle  links  die  gleiche  Druckempfindlichkeit  seitens  der  Patienten 
angegeben  erhält.  Wir  haben  dieses  oft  nachgeprüft  und  bestätigt  ge- 
funden. 

Zur  frühzeitigen  Erkennung  des  Ausgangspunktes  und  der 
Umgrenzung  der  Schmerzen  sind  nun  von  einzelnen  Autoren  beson- 
dere Untersuchungsmethoden  vorgeschlagen»  die  namentlich  in  zweifel- 
haften Fällen  von  Vorteil  sein  können  und  z.  T.  dem  Bestreben  ent- 
sprungen sind,  den  Appendix  der  Palpation  besser  zugänglich  zu 
machen. 

So  rät  Lenzmann,  bei  der  Untersuchung  den  Patienten  das  rechte 
Bein  aktiv  heben  zu  lassen  in  der  Annahme,  dal}  auf  diese  Weise 
der  sich  kontrahierende  M.  ileopsoas  den  Appendix  gegen  die  Bauch- 
decken hin  hebt  und  ihn  so  dem  untersuchenden  Finger  näher  bringt. 
Ob  dieser  Vorteil  aber  durch  die  beim  Heben  des  rechten  Beines 
sich  verstärkende  Spannung  der  Bauchdecken  nicht  aufgehoben  wird, 
erscheint  zum  mindesten  fraglich. 

In  gleicher  Weise  rät  Meltzer  zunächst  einen  tieferen  Druck  in 
der  Ileocöcalgegend  bzw.  der  Gegend  des  McBurneyschen  Punktes 
auszuüben  und  während  dieses  Druckes  das  rechte  Bein  des  Pat. 
zu  beugen.  Auf  diese  Weise  ist  dann  der  auf  dem  Ileopsoas  liegende 
Appendix  einem  stärkeren  Druck  ausgesetzt  und  wird  schmerz- 
hafter. 

Neuerdings  weist  Blumberg  auf  ein  besonderes  Frühmerkmal  der 
beginnenden  Periappendizitis  hin,  das  auch  Ewald  bestätigen  kann. 
Es  soll  danach  bei  langsamem  Eindrücken  der  Bauchdecken  am  Sitz 
der  auf  das  Peritoneum  übergreifenden  Entzündung  der  Schmerz  auf 
plötzliches  Nachlassen  dieses  Druckes  stärker  sein,  als  während  des 
Druckes  selbst.  Eine  weitere  Bestätigung  dieser  Beobachtung  seitens 
anderer  Autoren  steht  jedoch  zurzeit  noch  aus. 

Ploenies  gibt  eine  besondere  Untersuchung  der  perkutorischen 
Druckempfindlichkeit  an,  die  er  bei  vorsichtiger  Anwendung  für  un- 
gefihrlicher  hält,  als  die  Palpation.  Als  Vorzüge  seiner  Methode 
fGhrt  er  an,  daß  dadurch  eine  scharfe  Umgrenzung  des  Krankheits- 
herdes ermöglicht  werde  und  daß  ferner  damit  eine  Verschleierung 
des  Bildes  durch  Umgehung  der  bestehenden  Muskelspannung  aus- 
geschaltet werde.  Neuerdings  gibt  Rovsing  ein  Merkmal  an,  das 
recht  zeitgemäß  sogar  in  einer  großen  Anzahl  von  Tageszeitungen 
abgedruckt  worden  ist  Danach  soll  bei  Druck  und  Aufwärtsstreichen 
in  der  linken  Bauchseite,  dem  rückwärtigen  Verlauf  des  Colon  de- 
scendens  entsprechend,  durch  das  Zurückdrängen  des  Darminhaltes 
gegen  die  Ileocöcalklappe  hin  eine  deutliche  Schmerzempfindung  an 


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412 


Ad.  Ebner, 


[44 


der  Stelle  des  entzfindeten  Appendix  bzw.  in  der  Ileocöcalgegend  aus- 
gelöst werden.  Es  muß  sich  erst  zeigen,  ob  es  ein  pathognomonisches 
Symptom  ist. 

SchlieOlich  sei  der  Vollständigkeit  halber  noch  erwähnt  der  Hin- 
wels Kümmels  auf  umschriebene  Hauthyperästhesien ,  welche  den 
Headschen  Zonen  entsprechen  und  am  häufigsten  in  der  Gegend  des 
Mc  Burneyschen  Punktes  vorkommen  sollen.  Ebenso  hat  auch 
Peiser  die  Beobachtung  von  Sensibilitätsstörungen  der  Haut  bzw.  der 
Bauchdecken  über  Eiterungen  in  9  Fällen  machen  können.  Und  zwar 
bestand  in  6  Fällen  eine  Hypästhesie,  in  2  Fällen  Hyperästhesie  und 
in  einem  Falle  erst  Hyper-  und  später  Hypästhesie.  Letztere  Merk- 
male sind  wegen  ihrer  Seltenheit  nur  von  untergeordneter  Bedeutung 
und  kommen  naturgemäß  mehr  für  die  Periappendicitis  circumscripta, 
als  für  die  beginnende  Periappendizitis  in  Frage. 

Als  Folge  der  Schmerzhaftigkeit  des  Peritoneums  kommt  es  dann 
zur  Entstehung  einer  reflektorischen  Bauchdeckenspannung 
rechts,  die  man  wohl  am  einfachsten  als  eine  reflektorische  Still- 
stellung der  Bauchdecken  zum  Schutz  des  entzündeten  und  bei  jeder 
Bewegung  schmerzhaften  Teiles  des  Peritoneums  auffassen  darf. 

Sprengel  erblickt  in  ihr  die  Folge  des  zum  serösen  Exsudat  Füh- 
renden Reizzustandes  des  Peritoneums  und  führt  sie  als  ausge- 
sprochenes Merkmal  für  ein  vorhandenes  bzw.  in  Entstehung  be- 
griffenes Exsudat  an,  mit  dessen  Verschwinden  auch  die  Spannung 
der  Bauchdecken  zurückgehen  soll. 

Die  weitere  Folge  dieser  reflektorischen  Bauchdeckenspannung  ist 
eine  respiratorische  Bauchdeckenstarre  der  rechten  Inguinal- 
gegend,  die  bei  Besichtigung  des  Patienten  vom  Fußende  her  ins  Auge 
fällt.  Da  von  Küster  besonders  auf  sie  hingewiesen  ist,  wird  sie 
auch  als  Küstersches  Symptom  bezeichnet.  Küster  führt  sie  auf 
eine  kleinzellige  Infiltration  im  extraperitonealen  Gewebe  zurück, 
welche  die  Elastizität  der  tiefen  Bauchmuskeln  aufheben  und  die 
Folge  der  beginnenden  Eiterung  sein  soll.  Zwangloser  erscheint  mir 
auch  hierfür  die  gleiche  Erklärung,  wie  wir  sie  für  die  reflektorische 
Bauchdeckenspannung  angeführt  haben. 

Entsprechend  dieser  respiratorischen  Bauchdeckenstarre  Küsters 
weist  Sprengel  ebenfalls  als  Frühmerkmal  auf  eine  Verringerung  der 
Zwerchfellatmung  bzw.  einen  vorwiegend  kostalen  Atmungstypus  hin, 
der  namentlich  bei  männlichen  Patienten  von  Bedeutung  ist,  da  ja 
bei  Frauen  auch  im  normalen  Zustand  infolge  des  Schnürens  der 
kostale  Atmungstypus  zu  überwiegen  pflegt»  Seine  Entstehung  bei 
der  Periappendizitis  verdankt  er  wohl  gleichfalls  dem  Bestreben  der 


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45]    Cfber  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  U.Behandlung  der  Appendizitis.    413 

Padenten  durch  Einschränkung  der  Zwerchfellbewegung  das  Peritoneum 
möglichst  ruhig  zu  stellen. 

Körte  halt  die  reflektorische  Bauchdeckenspannung  rechts  für  das 
sicherste  Zeichen  der  beginnenden  Periappendizitis.  Immerhin  muQ 
man  dabei  sicher  sein,  die  bei  jeder  Berührung  auch  normaler  Bauch- 
decken vielfach  eintretende  Spannung  der  Muskulatur  ausschalten  zu 
können.  Ein  Vergleich  der  rechten  Seite  gegen  die  linke  wird  dabei 
in  der  Regel  entscheidend  sein  und  darf  daher  nie  unterlassen  werden. 

Ferner  kommt  es  wohl  durch  Schwellung  der  Serosa  einerseits,  so- 
wie durch  toxische  Einflüsse  auf  die  Innerv^ation  der  Darmschlingen 
andererseits  häufig  zu  einem  geringen  Meteorismus,  der  nach 
Dörffler  vorwiegend  rechts  auftritt  und  sich  naturgemäß  auf  die 
Umgebung  des  beginnenden  Krankheitsherdes  beschränkt.  Dieser 
Meteorismus  ist  so  gering,  daß  er  zunächst  nicht  weiter  ins  Auge 
filit  Er  bewirkt  jedoch  nach  Sprengel  eine  Kantenstellung  der 
Leber,  bei  welcher  die  Leberdämpfung  in  der  Mammillarlinie  bis- 
weilen fast  vollständig  fehlen  kann.  Auch  Oppenheim  weist  auf 
dieses  Fehlen  der  Leberdämpfung  als  besonderes  Erkennungszeichen 
einer  vom  Processus  ausgehenden  örtlichen  Entzündung  hin  und  führt 
diese  Erscheinung  ebenfalls  auf  einen  äußerlich  meist  nicht  zur  Wahr- 
nehmung gelangenden  Dickdarmmeteorismus  zurück. 

Daß  entsprechend  der  örtlichen  Herabsetzung  der  Darmtätigkeit 
eine  meist  ziemlich  hartnäckige  Verhaltung  von  Stuhl  und  bisweilen 
auch  von  Winden  eintreten  kann,  ergibt  sich  nach  dem  obigen  von 
selbst 

Die  Temperatur  antwortet  in  der  Regel  auf  den  Einbruch  der 
Entzündung  in  das  Peritoneum  mit  einem  deutlich  erkennbaren  An- 
stieg und  bewegt  sich  entsprechend  dem  Fortschreiten  der  Entzündung 
weiter  in  aufsteigender  Linie.  Vereinzelt  können  ausnahmsweise  auch 
Schüttelfröste  auftreten,  während  andererseits  bei  geringer  Virulenz 
und  sehr  langsamem  Fortschreiten  der  Infektion  und  des  Entzündungs- 
reizes auf  das  Peritoneum  die  Steigerung  der  Temperatur  bisweilen 
gänzlich  fortbleiben  kann. 

Als  ein  besonderes  Zeichen  drohender  bzw.  ausgebrochener  Peri- 
tonitis weist  Krogius  darauf  hin,  daß  in  solchen  Fällen  die  Mast- 
darmtemperatur nicht  mehr  in  dem  gewöhnlichen  Verhältnis  zur 
Achselböhlentemperatur  steht,  sondern  wesentlich  höher  ist  als  sonst. 
Krogius  selbst  führt  an,  daß  er  bei  annähernd  normaler  Achsel- 
höhlentemperatur bis  40<>  C  im  After  gemessen  habe.  Dieses  Zeichen 
ist  einerseits  um  so  wertvoller,  als  es  jederzeit  leicht  nachzuweisen 
ist  Andererseits  ist  dabei  zu  bedenken,  daß  es  von  der  Entfernung 
des  £ntzündungsprozesses  bzw.  der  Hyperämie  vom  Rektum  abhängig 


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414 


Ad.  Ebner, 


[4< 


ist.  Es  wird  daher  bei  hoch^itzendem  Processus  um  die  Zeit  spate 
zum  Ausdruck  kommen,  welche  die  Entzändung  braucht  bis  zu  ihre 
Entwicklung  in  die  Gegend  des  Rektums  hin. 

Rostowzew  hebt  als  weiteres  Vorzeichen  seitens  der  Temperatu 
für  den  weiteren  Verlauf  der  Erkrankung  hervor,  daß  bei  der  Peri 
appendizitis  die  höchste  Temperatur  in  der  Regel  nicht  von  4—6  Uh 
nachmittags,  sondern  von  9—10  Uhr  abends  gemessen  wird.  Nac 
der  Häufigkeit  dieser  späteren  Höchsttemperatur  am  Abend  wil 
Rostowzew  die  Schwere  des  Falles  bemessen  und  sucht  hierfür  de 
Beweis  an  der  Hand  einer  selbstgefertigten  Tabelle  zu  erbringei 
Weitere  Bestätigungen  dieser  Beobachtung  bleiben  einstweilen  abzu 
warten. 

Der  Puls  ist  meist  entsprechend  der  Temperatur  von  größere 
Frequenz  als  normal,  jedoch  in  der  Regel  nicht  kleiner,  sondern  ehe 
noch  etwas  voller  als  vorher.  Sprengel  erblickt  in  einer  wesent 
liehen  Zunahme  der  Pulsbeschleunigung  eine  erhöhte  Indikation  fü: 
die  Dringlichkeit  des  operativen  Eingriffs. 

Ferner  kommt  es  entsprechend  der  fortschreitenden  entzfindlichei 
Reizung  auf  das  Peritoneum  zu  stärkerer  Übelkeit,  Aufstoßen  um 
Brechreiz,  sowie  in  meist  größeren  Zwischenräumen  zu  Erbrechen 
In  ganz  vereinzelten  Fällen  ist  Blutbrechen  beobachtet  worden,  da^ 
dann  wohl  als  Ausdruck  einer  besonders  schweren  Allgemeinvergiftuoj 
stets  von  der  übelsten  Vorbedeutung  gewesen  ist. 

Als  Ergänzung  zu  der  perkutorischen  Druckempfindlichkeit  nact 
PI  ö  nies  sei  noch  daraufhingewiesen,  daß  man  auch  in  frühen  Stadiec 
der  Entzündung  eine  leichte  perkutorische  Dämpfung  erhaltei 
kann,  welche  auf  den  vermehrten  Perkussions widerstand  durch  di( 
geschwellten  und  ödematösen  Gewebe  zurückgeführt  wird.  Ein  Wider- 
spruch gegen  diese  Annahme  ist  in  dem  oben  erwähnten  geringen 
Dickdarmmeteorismus  wohl  kaum  zu  erblicken,  da  durch  letzteren  nui 
die  Höhe  oder  Tiefe  des  Tones,  hingegen  durch  den  vermehrten 
Widerstand  des  Gewebes  die  Stärke  des  Perkussionstones  geändert 
wird. 

Entsprechend  dieser  Schwellung  der  Gewebe  bei  geringem  ort- 
lichen Meteorismus  kann  man  bisweilen  an  der  Stelle  der  Entzündung 
das  Gefühl  einer  undeutlichen,  schmerzhaften  Schwellung 
unter  den  Fingern  haben,  falls  man  nicht  in  der  Lage  ist,  den  ge- 
schwellten und  meist  äußerst  empfindlichen  Processus  selbst  nacii- 
weisen  zu  können.  Letzteres  ist  jedoch  vielfach  wegen  der  reflekto- 
rischen Bauchdeckenspannung  mit  Schwierigkeiten  verknüpft. 

Bei  sehr  tiefem  Sitz  des  Appendix  in  der  Nähe  der  Blase  kann 
es  ausnahmsweise  auch  früh  bereits  zu  Blasenstörungen  kommen, 


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47]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.   415 

die  sich  von  den  sog.  prämonitorischen  Blasenstörungen  Karewskis 
dadurch  unterscheiden ,  daß  sie  einer  pathologisch  -  anatomischen 
Grundlage  nicht  entbehren.  In  der  Regel  werden  jedoch  Blasen- 
Störungen,  wenn  es  überhaupt  dazu  kommt,  erst  nach  einer  Zeit  ein- 
setzen, welche  dem  Vorrücken  der  Entzündung  bis  in  die  Blasengegend 
entspricht 

Kommen  wir  nun  schlieOlich  zu  der  in  neuerer  Zeit  mehr  und 
mehr  in  Aufnahme  gelangenden  Bestimmung  der  Leukozyten- 
werte, so  leistet  nach  dem  übereinstimmenden  Urteil  fast  sämtlicher 
Kliniker  diese  Methode  gerade  in  den  ersten  48  Stunden,  wo  es  am 
meisten  darauf  ankäme,  fast  nichts  zur  Klärung  der  Sachlage.  Ebenso 
Ist  auch  für  die  späteren  Stadien  der  Erkrankung  die  Methode  nicht 
als  absolut  zuverlässig  zu  bezeichnen. 

So  hält  Rehn  die  Leukozytenzählung  nicht  nur  für  überflüssig, 
sondern  auch  für  gefährlich,  weil  man  sich  durch  derartige  Zählungen 
in  Sicherheit  wiegen  kann  und  dadurch  unter  Umständen  den  richtigen 
Zeitpunkt  zur  Operation  versäumt.  Auch  er  bezweifelt  die  Zuver- 
lässigkeit der  Methode  für  eine  Anzahl  von  Fällen  auf  Grund  seiner 
Erfahrungen. 

Nach  Ch.  Juillard  ist  die  Leukozytenzählung  in  den  ersten 
48  Stunden  ohne  Bedeutung,  dagegen  soll  sich  bei  eiterbildenden 
Formen  die  Kurve  2 — ^3  Tage  lang  über  25000  erheben. 

Wassermann  hat  ebenfalls  einige  Mißerfolge  dieses  Merkmals 
gesehen,  insofern  er  Fälle  beobachten  konnte,  bei  denen  trotz  vor- 
handener Eiterung  keitie  Leukozytose  da  war. 

Rüssel  kann  ebenfalls  in  der  Leukozytosenbestimmung  kein  aus- 
schlaggebendes Merkmal  erblicken.  Auch  Körte  kann  die  Leukozyten- 
zahlung nicht  für  die  Frühdiagnose  verwerten,  da  er  dadurch  oft  Ent- 
täuschungen erlebt  hat. 

Nach  Nordmann  leistet  die  Leukozytenbestimmung  in  den  ersten 
48  Stunden  gar  nichts.  Auch  er  fand  trotz  erhöhter  Leukozytenzahl 
einen  normalen  Wurmfortsatz.  Ebenso  konnte  trotz  starker  Vermeh- 
rung der  Leukozyten  in  anderen  Fällen  der  operative  Eingriff  ohne 
Schaden  hinausgeschoben  werden.  Im  Gegensatz  hierzu  bestand  in 
einem  Falle  eine  normale  Leukozytenzahl  trotz  des  Vorhandenseins 
einer  ausgedehnten  Eiterung. 

Nach  Hochenegg  kann  auch  bei  Douglasabszessen  die  Leuko- 
zytose vollständig  fehlen. 

Federmann  sieht  nicht  in  einer  einzelnen  Zählung,  sondern  In 
der  Anlegung  einer  Kurve  die  Bedeutung  der  Leukozytose.  Damit 
spricht  er  ihr  bezüglich  ihres  Wertes  für  die  Indikationsbestimmung 
der  absoluten  Frühoperation  ebenfalls  das  Urteil.    Das  Ansteigen  und 


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416 


Ad.  Ebner, 


K 


Fallen  der  Leukozytose  bewegt  sich  nach  seiner  Ansicht  parallel  d( 
Temperatur,  demnach  kann  in  den  ersten  48  Stunden  die  Leukozytos 
wohl  das  Zeichen  einer  Infektion,  aber  noch  keiner  Eiterung  seil 
Die  Appendicitis  Simplex ,  womit  wohl  die  Periappendicitis  incipiei 
gemeint  ist,  hat  nach  ihm  in  den  ersten  2—3  Tagen  stets  unter  2000( 
weswegen  er  für  das  Frühstadium  die  Leukozytose  ausdrücklich  ß 
wertlos  erklärt  Dagegen  kann  bei  einem  Empyem  des  Appendix  de 
Leukozytenwert  bis  auf  25000  steigen,  während  wieder  umgekehrt  b< 
einer  derartigen  Leukozytenzahl  nicht  unbedingt  ein  eitriger  Proze 
vorhanden  zu  sein  braucht.  Nach  den  ersten  5  Tagen  hält  Feder 
mann  eine  Leukozytenzahl  über  20000  für  ein  sicheres  Anzeiche 
einer  wachsenden  Eiterung,  während  andererseits  das  Fehlen  de 
Leukozytose  in  diesem  Stadium  nicht  gegen  eine  vorhandene  Eiteruo 
zu  sprechen  braucht.  Mit  anderen  Worten  spricht  also  im  Frühstadiur 
nach  Federmann  eine  hohe  Leukozytose  nicht  unbedingt  für,  uni 
im  späteren  Stadium  das  Fehlen  der  Leukozytose  nicht  gegen  da 
Vorhandensein  einer  Eiterung. 

Sprengel  faOt  seine  Ansicht  und  Erfahrung  über  die  Leuko 
zytose  in  5  Thesen  zusammen,  die  ich  nachfolgend  wörtlich  anführe 

1.  Die  Leukozytose  ist  bei  den  Frühformen  geringer,  als  bei  dei 
Spätformen. 

2.  Die  Leukozytenwerte  steigern  sich  anscheinend  sowohl  in  Ab 
hängigkeit  von  den  Veränderungen  am  Wurmfortsatz,  als  auch  voi 
denen  am  Peritoneum.  Demnach  erreichen  sie  ihren  höchsten  Gnu 
bei  den  Fällen  von  Appendicitis  destructiva  im  Spätstadium. 

3.  Für  die  Frühformen  sind  die  Ergebnisse  weniger  regulär,  all 
für  die  Spätformen.  Es  kommen  hohe  Leukozytenwerte  bei  der  Appen« 
dicitis  Simplex  und  bei  geringen  Veränderungen  am  Peritoneum  vor 
und  umgekehrt  niedrige  Leukozytenwerte  bei  schweren  Veränderungei 
am  Wurmfortsatz  und  am  Peritoneum. 

4.  Ein  so  charakteristischer  Unterschied  zwischen  den  Leukozyten« 
werten  bei  Appendicitis  circumscripta  serofibrinosa  und  purulenta 
wie  manche  Autoren  annehmen,  ergibt  sich  nach  meinen  Zahlen  nicht 

5.  In  allen  Stadien  der  Appendizitis  gibt  es  Fälle,  bei  denen  di( 
Leukozytenwerte  in  keiner  Weise  die  nach  den  lokalen  Befunden  zi 
erwartenden  Änderungen  aufweisen. 

Sein  Urteil  faßt  Sprengel  ablehnend  kurz  zusammen:  Die  Methode 
ist  unzuverlässig  und  läOt  uns  gerade  in  den  Fällen  im  Stich,  in  denea 
es  außerordentlich  darauf  ankäme,  für  den  Kranken  etwas  daraus 
schließen  zu  können. 

Wertvoll  kann  jedoch  die  Leukozytenbestimmung  zuweilen  seio 
zur  Unterscheidung  der  Periappendizitis  gegen  andere  Krankheits*- 


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49]   Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.    417 

zustande.  So  will  Berndt  sie  zur  Unterscheidung  zwischen  Typhus 
und  Periappendizitis  heranziehen,  da  sie  am  Anfang  des  ersteren 
vermindert,  bei  letzterer  hingegen  erhöht  sei.  Das  gleiche  gilt  von 
der  Unterscheidung  der  Peritonitis  gegen  Ileus,  worauf  von  Feder- 
mann  besonders  hingewiesen  wird.  DaO  sie  im  übrigen  bei  sehr 
schwerer  Peritonitis  ebenfalls  fehlen  kann,  kommt  spSter  noch  zur 
Sprache. 

Günstig  für  die  Leukozytose  sind  anscheinend  die  Erfahrungen 
von  Curschmann,  der  die  Leukozytenvermehrung  als  Merkmal  vor- 
handener Eiterung  noch  über  die  Temperatur  stellt,  da  letztere  leicht 
duschen  könne,  die  erstere  hingegen  zuverlässig  sei. 

Auch  G.  Nilson  hält  nächst  dem  Ergebnis  von  Eiter  bei  einer 
Probepunktion  (!)  die  Leukozytose  f&r  das  sicherste  Zeichen  des  Vor* 
handenseins  von  eitrigem  Exsudat  in  der  Bauchhöhle.  Allerdings 
meint  er  dann  mit  vorsichtiger  Einschränkung,  dal}  dieses  Merkmal 
den  Ausschlag  geben  könne,  wenn  die  übrigen  Erscheinungen  ent* 
sprechend  festgestellt  sind.  DaO  im  übrigen  die  Probepunktion  als 
diagnostisches  Hilfsmittel  bei  einer  periappendizitischen  Eiterung  heute 
nur  noch  historischen  Wert  beanspruchen  kann,  darüber  dürfte  man 
einem  Zweifel  wohl  von  keiner  Seite  mehr  begegnen. 

Fassen  wir  nun  unsere  bisherigen  Ausführungen  über  die  Peri- 
appendicitis  incipiens  noch  einmal  kurz  zusammen,  so  ist  für  die  Er- 
kennung derselben  auf  folgende  Anzeichen  besonders  zu  achten: 

1.  Anamnestisch:  Vorangegangene  Magen-  und  Darmbeschwerden 
allgemeiner  Natur,  Neigung  zu  Verstopfung,  bisweilen  plötzliche 
Durchfalle. 

2.  Allgemeine,  später  meist  in  der  Ileocöcalgegend  umgrenzte  Leib- 
schmerzen mit  entsprechender  Druckempfindlichkeit  des  Abdomen. 

3.  Reflektorische  Bauchmuskelspannung,  vornehmlich  rechts. 

4.  Respiratorische  Bauchdeckenstarre,  vornehmlich  rechts. 

5.  Oberwiegend  kostaler  Atmungstypus,  bzw.  etwas  oberflächliche 
and  entsprechend  beschleunigte  Atmung. 

6.  Kantenstellung  der  Leber  mit  Schwinden  der  Leberdämpfung 
in  der  rechten  Mammillarlinie. 

7.  Andauernder,  langsamer  oder  schneller  Temperaturanstieg,  ver- 
einzelt Schüttelfrost. 

8.  VergröDerter  Unterschied  zwischen  Achselhöhlen-  und  Mast- 
darmtemperatur. 

9.  Andauernde,  schnelle  oder  langsame  Vermehrung  der  Leuko- 
zytenwerte, sobald  sie  mit  dem  übrigen  Krankheitsbilde  übereinstimmt. 

10.  Übelkeit  und  Brechreiz,  vereinzelt  Erbrechen. 

KUn.  Vortrige,  N.  F.  Nr.  488/90/91.  (Chirurgie  Nr.  142/43/44.)    Juni  1906.  31 


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Ad.  Ebner, 


[S 


11.  Mehr  oder  weniger  ausgesprochene  Stuhlverhaltung»  bisweile 
heftige  Durchfälle. 

12.  Leichte,  dem  Verhältnis  zur  Temperaturerhöhung  entsprechend 
Beschleunigung  des  in  der  Stärke  unveränderten  Pulses. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  dal}  diese  Merkmale  sowohl  im  einzelne 
wie  in  ihrer  Gesamtheit  mit  dem  weiteren  Vordringen  der  Entzändui 
im  Peritoneum  stärker  hervortreten  werden.  Andererseits  wird  ni 
mendich  in  den  ersten  Anfängen  der  Entzündung  das  eine  oder  andei 
von  ihnen  nur  angedeutet  sein  oder  auch  gänzlich  fehlen  könnei 
Immerhin  wird  bei  genügender  Beachtung  der  angeführten  Merkmal 
und  entsprechender  Bewertung  derselben  in  ihrem  Zusammenhao 
als  geschlossenes  Krankheitsbild  die  Erkennung  der  Periappendiziti 
auch  in  ihrem  frühesten  Stadium  nicht  allzuviel  Schwierigkeiten  bietei 
namentlich,  wenn  man  sich  stets  den  Satz  von  Karewski  gegenwärti 
hält,  daß  jeder  Mensch  mit  chronischen,  schmerzhaften  Darmstörunge 
der  Periappendizitis  verdächtig  ist,  solange  keine  andere  Ursache  ds 
für  nachgewiesen  ist. 

Wesentlich  klarer  durch  die  ausgesprochenere  Lokalisierung  de 
Erscheinungen  bietet  sich  im  Falle  einer  Umgrenzung  des  Entzündungs 
Vorganges  das  Bild  der 

Periappendicitis  circumscripta 
dem  Untersucher  dar. 

Vor  allem  wird  fast  immer  ein  abgeschlossenes  Exsudat  i 
Gestalt  einer  mehr  oder  minder  deutlich  durch  Perkussion  und  Pal 
pation  nachweisbaren  Resistenz  in  der  Ileocöcalgegend  vorhanden  seil 
Die  Lage  dieses  Exsudats  kann  je  nach  der  Lage  des  Processus  ein 
erheblich  verschiedene  sein.  Es  kann  nach  oben  bis  unter  die  Lebei 
nach  innen  bis  über  die  Linea  alba,  nach  unten  bis  in  den  Douglfl 
und  bei  retrocöcaler  Entwicklung  in  die  Lumbaigegend  verlagert  seit 
woran  in  zweifelhaften  Fällen  zu  denken  ist. 

Die  am  Anfang  recht  ausgesprochene  Schmerzhaftigkeit  un< 
Druckempfindlichkeit  des  Exsudates  kann  mit  der  Dauer  seines  Be 
Stehens  mehr  und  mehr  zurückgehen  und  bei  länger  bestehenden  Ab 
szessen  schlieOlich  völlig  fehlen. 

Die  Temperaturerhöhung  gelangt  in  der  Regel  mit  der  Um 
grenzung  der  Entzündung  zum  Stillstand  und  kann  sich  dann  nocl 
eine  gewisse  Zeit  lang  in  ziemlich  gleichbleibender  Höhe  bewegen 
Sie  kann  aber  auch  bei  groiSen  Abszessen  nach  einiger  Zeit  wiede 
zur  Norm  abfallen,  da  die  immer  stärkeren  Verwachsungen  und  fibri 
nösen  Beläge  der  Abszeßwandungen  eine  Verminderung  und  schließ 
lieh  eine  Aufhebung  der  Resorption  von  Giftstoffen  durch  den  Körpe 
herbeizufuhren  vermögen.     Bei   längerem   Bestehen  kann  dann  dei 


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51]   Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.    419 

Inhalt  der  Abszesse  völlig  steril  werden.  So  hat  Noetzel  etwa  75% 
der  alten  periappendizitischen  Abszesse  als  steril  nachweisen  können. 

Der  Puls  ist  entsprechend  der  Temperatur  meist  etwas  beschleu- 
nigt, in  seiner  Spannung  jedoch  nicht  wesentlich  beeinträchtigt. 

Als  Unterscheidungsmerkmal  gegen  die  noch  nicht  abgegrenzte 
Periappendizitis  ist  nach  Sprengel  besonders  auf  das  normale  Ver- 
halten der  Atmung,  sowie  den  Rückgang  bzw.  das  völlige  Fehlen 
der  reflektorischen  Bauchdeckenspannung  hinzuweisen.  Dieses 
erklart  sich  aus  dem  Fortfallen  des  nunmehr  umgrenzten  entzündlichen 
Reizes  auf  das  freie  Peritoneum,  das  seinen  weiteren  Ausdruck  in 
dem  Fehlen  bzw.  in  dem  Rückgang  des  freien  Exsudates  in  der  Bauch- 
höhle findet. 

Aus  dem  gleichen  Grunde  hört  in  dem  Stadium  der  umschriebenen 
Periappendizitis  auch  das  Erbrechen  auf  und  fängt  erst  wieder  an 
bei  weiterem  Fortschreiten  und  neuen  Nachschüben  der  Entzündung. 

Zu  achten  ist  auch  auf  die  oben  erwähnten  Sensibilitätsstö- 
rungen der  Haut,  die  Peiser  über  Eiterungen  beobachtet  hat. 

Besondere  Schwierigkeiten  für  die  Erkennung  können  bisweilen 
die  retrocöcalen  bzw.  retroperitoneal  gelegenen  Abszesse  bilden,  da 
sie  durch  ihre  Lage  der  Palpation  und  Perkussion  schwerer  zugäng- 
lich sind.  Hier  wird  meist  eine  willkürliche  Haltung  des  rechten 
Oberschenkels  in  leichter  Beugung  und  AulSenrotation,  sowie 
starke  Schmerzhaftigkeit  bei  Bewegung  des  rechten  Oberschenkels  ein 
deutliches  Merkmal  zur  Klärung  der  Sachlage  bilden.  Das  gleiche 
Zeichen  bieten  naturgemäß  auch  die  retrofascial  gelegenen  Abszesse 
dar,  deren  Unterscheidung  gegen  die  retrocöcalen  und  retroperito- 
oealen  Abszesse  sich  im  weiteren  Verlauf  durch  ihr  Austreten  unter- 
halb des  Poupartschen  Bandes  auf  den  Oberschenkel  ermöglichen 
laßt  Bei  entzündlicher  Verlötung  des  Processus  mit  dem  Peritoneum 
parietale  retrocöcal  wird  sich  schon  frühzeitig  diese  Schmerzhaftigkeit 
bemerkbar  machen  infolge  einer  Zerrung  des  gereizten  Peritoneums 
tuf  dem  M.  ileopsoas  durch  Bewegungen  des  rechten  Beines  im  Hüft- 
gelenk. Dadurch  kann  bisweilen  schon  im  Stadium  der  Periappen- 
dicitis  incipiens  ein  Hinweis  auf  die  retrocöcale  Lage  des  Processus 
gegeben  sein.  Verstärkter  Mastdarm-  und  Blasentenesmus,  sowie 
schleimige  Beimengung  im  Stuhl  werden  häufig  auf  eine  Lokali- 
sierung der  Eiterung  im  Douglas  hinweisen,  welche  ihre  Bestätigung 
durch  eine  digitale  Untersuchung  vom  Mastdarm  aus  findet. 
Letztere  sollte  bei  der  Häufigkeit  der  Douglasabszesse  in  keinem  Falle 
von  Periappendizitis  unterlassen  werden,  wenn  die  Untersuchung  be- 
gründeten Anspruch  auf  Vollständigkeit  machen  will. 

Femer    kann    es    in    vereinzelten    Fällen    durch   Druck  großer 

31* 


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Ad.  Ebner, 


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fl 


Abszesse  gegen  ein  Darmlumen,  seltner  durch  Knickungen  von  Darm- 
schlingen  infolge  breiter  oder  strangFörmiger  Verwachsungen  zu  aus- 
gesprochenem Ileus  kommen,  über  dessen  Ursache  die  Heranziehung 
der  übrigen  Krankheitsmerkmale  einen  Zweifel  kaum  übriglasset 
wird.  Auf  der  gleichen  mechanischen  Grundlage  kann  bei  unvoll- 
kommenem Darmverschluß  ein  entsprechender  Meteorismus  in  di< 
Erscheinung  treten. 

Auf  die  etwas  unsichere  Rolle  der  Leukozytose  auch  in  diesen 
Stadium  der  Erkrankung  ist  bereits  oben  hingewiesen  worden.  Mai 
wird  sie  hier  in  der  Regel  nachweisen  können,  solange  einerseits 
Giftstoffe  der  Bakterien  vom  Blute  aufgenommen  werden,  und  solang! 
andererseits  der  Körper  genügend  Kraft  besitzt,  um  sich  in  ent- 
sprechender Weise  gegen  die  Schädigung  zur  Wehr  setzen  zu  können 
Aus  diesem  Grunde  darf  man  wohl  mit  Lennander  das  Vorhanden- 
sein der  Leukozytose  als  ein  günstiges  Vorzeichen  für  den  weiteren 
Verlauf  der  Erkrankung  betrachten. 

Mit  dem  Nachlassen  des  Übertritts  von  Toxinen  in  das  Blut  odei 
auch  mit  dem  Versagen  der  Widerstandskraft  des  Körpers  wird  natur- 
gemäß parallel  dem  Fallen  der  Temperatur  auch  die  Leukozytenmenge 
wieder  zurückgehen.  Der  Rückgang  der  Leukozytose  kann  daher  so- 
wohl auf  eine  Besserung,  wie  eine  Verschlimmerung  des  Leidens  hin- 
weisen und  sie  kann  daher  auch  hier  nur  einen  bedingten  Wert  im 
Zusammenhang  mit  den  übrigen  Krankheitserscheinungen  zur  Ergän- 
zung des  gesamten  Krankheitsbildes  beanspruchen. 

Kurz  zusammengefaßt  wird  demnach  die  Periappendicitis  circum- 
scripta durch  den  deutlichen  Rückgang  der  vorausgegangenen  allge- 
meinen Entzündungserscheinungen  des  Peritoneums,  durch  die  mehr 
oder  weniger  ausgesprochene  Umgrenzung  der  örtlichen  Krankheits- 
erscheinungen, welche  meist  leicht  den  Nachweis  einer  umschriebenen 
intraabdominalen  Eiterung  gestatten,  für  die  Erkennung  von  allen 
Stadien  der  Periappendizitis  die  geringsten  Schwierigkeiten  darbieten. 

Wesentlich  schwieriger  können  die  Verhältnisse  bei  der 
Periappendicitis  diffusa 
liegen,  um  so  mehr  als  sie  sich  je  nach  Zahl  und  Virulenz  der  Err^er 
einerseits  und  Widerstandskraft  des  Peritoneums  andererseits  so  schnell 
entwickeln  kann,  daß  fast  explosionsartig  eine  Infektion  des  gesamten 
Peritoneums  stattfindet.  Auf  diese  Weise  kann  man  bisweilen  im 
Augenblick  der  Periappendicitis  incipiens  schon  vor  einer  Periappen- 
dicitis diffusa  stehen,  gleichwie  andererseits  aus  einer  Periappendicitis 
circumscripta  durch  äußere  Insulte  oder  sonstige  Gelegenheitsursachen 
jederzeit  sekundär  eine  Allgemeininfektion  des  Peritoneums  zustande 
kommen  kann. 


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53]   Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.    421 

Man  ist  daher  vom  Beginn  der  Periappendizitis  ab  keinen  Augen- 
blick sicher  y  plötzlich  vor  der  Tatsache  einer  Allgemeininfektion  des 
Peritoneums  zu  stehen  und  wenn  je,  so  hängt  hier  das  Leben  des 
Patienten  von  einer  möglichst  frühzeitigen  Erkennung  des  Krankheits- 
znstandes  und  der  sofortigen  Einleitung  des  einzig  möglichen  Heil« 
Verfahrens^  nämlich  des  operativen  Eingriffs,  ab.  Man  wird  daher  gut 
mn,  sich  jederzeit  bei  Abwägung  der  Merkmale  gegenwärtig  zu  halten^ 
daß  es  für  den  Patienten  und  den  Arzt  von  geringerem  Nachteil  ist^ 
wenn  gelegentlich  ein  Fall  auf  Grund  einer  allzu  vorsichtigen  Diagnose 
noch  vor  der  Peritonitis  zur  sofortigen  Operation  gelangt,  als  wenn 
in  dem  Bestreben  eine  möglichst  exakte  Diagnose  zu  stellen,  der  Zeit* 
pnnkt  zum  Eingriff  versäumt  und  der  Kranke  einem  sicheren  Ende 
äberliefert  wird. 

Jeder  einer  Peritonitis  auch  nur  verdächtige  Fall  ist 
demnach  für  die  Therapie  als  eine  vollgültige  Peritonitis 
zu  behandeln. 

Die  Erkennung  der  peritonealen  Allgemeininfektion  kann  sich 
m  Anfang  gerade  der  schwersten  Fälle  um  so  schwieriger  gestalten, 
als  durch  die  Schwere  der  Infektion,  durch  die  Obermacht  der  An- 
greifer die  zunächst  als  gegebene  Größe  zu  betrachtenden  Verteidigungs- 
kräfte des  Körpers  über  den  Haufen  gerannt  werden,  so  daO  eine 
Entfaltung  derselben  gleich  von  Anbeginn  völlig  ausgeschlossen  wird. 
Auf  diese  Weise  kann  der  größte  Teil  der  sonst  klinisch  wahrnehm- 
baren Kennzeichen  in  Fortfall  geraten,  und  von  der  Erfahrung  und 
Kenntnis  des  Arztes  wird  es  abhängen,  auch  ohne  dieselben  bzw.  ge- 
rade wegen  des  Fehlens  derselben  die  Schwere  des  Krankheitszu- 
standes richtig  zu  würdigen. 

In  der  Mehrzahl  der  Fälle  wird  jedoch  der  Körper  erst  nach  einer 
kfirzeren  oder  längeren  Zeit  des  Kampfes  seiner  Schutzkräfte  und 
Scbutzstoffe  gegen  den  andringenden  Feind  erliegen.  In  diesem  Sta- 
dium werden  sich  dann  naturgemäl}  die  Anzeichen  des  Kampfes  nach 
anfien  in  der  gleichen  Weise,  wie  bei  der  Periappendicitis  incipiens, 
nur  in  entsprechend  höherem  Grade  kenntlich  machen. 

Der  Schmerz  ist  entsprechend  der  größeren  Ausdehnung  der  Ent- 
zündung des  Peritoneums  in  verstärktem  Grade  im  ganzen  Leibe 
vorhanden  und  wird  bereits  bei  leisem  Druck  auf  die  Baüchdecken^ 
sowie  bei  geringen  Bewegungen  des  Patienten  sich  besonders  heftig 
bemerkbar  machen.  Bisweilen  kann  daneben  noch  eine  erhöhte  Emp- 
findlichkeit der  Ileocöcalgegend  bestehen,  die  namentlich  bei  aktiven 
and  passiven  Beugungen  des  rechten  Beines  zum  Ausdruck  kommt. 
Ganz  zuverlässig  ist  aber  auch  dieses  Merkmal  nicht,  insofern  als  es 
bei  sehr  schweren  Fällen  wohl  durch   eine  toxische  Schädigung  der 


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422 


Ad.  Ebner, 


[5- 


Nerven  zu  einem  fast  völligen  Fortfall  der  Schmerzempfindung  kommt 
und  man  wird  daher  gut  tun,  diese  Möglichkeit  immer  im  Auge  z\ 
behalten. 

Ebenso  kann  auch  bei  einem  Ausgang  der  Allgemeininfektion  voi 
einem  tief  im  kleinen  Becken  liegenden  Appendix  die  Empfindlichkei 
der  Bauchdecken  verhältnismäßig  lange  fehlen.  Auch  hier  kann  man 
wenn  man  sich  zu  sehr  auf  dieses  Merkmal  verläßt  und  die  erforder 
liehe  Untersuchung  per  rectum  unterläßt,  leicht  die  ersten  48  Stundet 
ungenützt  verstreichen  lassen  und  damit  die  Prognose  für  die  Heilunj 
des  Patienten  nahezu  völlig  ungünstig  gestalten. 

Ganz  besonders  möchte  ich  darauf  hinweisen,  daß  auf  den  soge- 
nannten Perforationsschmerz  wenig  oder  nichts  zu  geben  ist,  di 
er  in  einer  großen  Anzahl  von  Fällen  völlig  fehlen  kann,  während  ei 
in  zahlreichen  anderen  Fällen  durch  die  vorausgegangenen  Schmerzen 
und  Beschwerden  derart  verdeckt  wird,  daß  er  dem  Patienten  nicht 
besonders  aufßUlt. 

Allerdings  wird  sich  namentlich  die  schnelle  Ausbreitung  der 
Entzündung  auf  ein  größeres  Gebiet  auch  durch  schnelle  Zunahme 
der  Schmerzen  nicht  nur  an  Ausdehnung,  sondern  auch  an  Heftigkell 
bemerkbar  machen.  Da  aber  diese  allgemeine  Schmerzhaftigkeit  ge- 
rade am  Beginn  der  Periappendizitis  ebenfalls  in  gewissem  Grade 
vorhanden  ist,  so  wird  in  diesem  Stadium  eine  Unterschätzung. der- 
selben in  ihrer  Bedeutung  bisweilen  vorkommen  können.  ^  Dagegen 
dürfte  in  einem  späteren  Stadium  die  plötzliche  Zunahme  der  bereits 
im  Abklingen  begriffenen  Beschwerden  schon  eher  den  Fortgang  der 
Entzündung  ins  Auge  fallen  lassen. 

Ein  Frühzeichen  der  diffusen  Periappendizitis  bildet  ferner  die 
entsprechend  der  Verallgemeinerung  der  Entzündung  beiderseits 
bestehende  Rektusspannung  im  Gegensatz  zu  der  nur  rechts- 
seitigen Spannung  bei  der  Periappendicitis  incipiens. 

Diese  Spannung  kann  sich  mit  der  Zunahme  der  entzündlichen 
Veränderungen  derart  verstärken,  daß  die  Bauchdeeken  eingezogen 
und  bei  der  Betastung  bretthart  erscheinen  können.  Man  hat  dann 
den  typischen  Anblick  des  kahnförmig  eingezogenen  Abdomens 
vor  sich.  Infolge  Fehlens  der  Schmerzhaftigkeit  des  Peritoneums  kann 
gerade  bei  den  schwersten  Fällen  auch  die  beiderseitige  Rektusspan- 
nung in  Fortfall  kommen. 

Um  eine  weitere  Ruhestellung  des  Peritoneums  zu  ermöglichen, 
wird  ferner  wie  bei  der  Periappendicitis  incipiens  die  Bewegung  des 
Zwerchfells  reflektorisch  eingeschränkt  und  wir  werden  daher  neben 
dem  Stillstand  der  Bauchdecken  gleichzeitig  auf  den  vorwiegend  oder 
rein  kostalen  Atmungstypus  zu  achten  haben.    Entsprechend  der 


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55]   ^^^^  ^^  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.    423 

geringeren  Tiefe  der  Atembewegung  fällt  eine  erliebliche  B  es  etile  u- 
nigung  der  Atmung  ins  Auge. 

Die  Temperatur  wird  in  der  Regel  auf  den  erhöhten  Reiz  durch 
einen  entsprechenden  Anstieg,  seltner  mit  Schüttelfrösten  antworten. 
Sie  zeichnet  sich  im  übrigen  durch  einen  völlig  atypischen  Verlauf 
aus  und  kann  bei  den  schwersten  Fällen,  gleich  den  übrigen  Anzeichen 
völlig  versagen.  Das  ist  besonders  zu  beachten  bei  denjenigen 
schweren  Allgemeininfektionen  des  Peritoneums,  welche  plötzlich  ohne 
besondere  Vorboten  oder  vorausgegangene  Schmerzanfälle  einsetzen 
und  infolge  des  Fehlens  der  üblichen  Warnungszeichen  bisweilen  zu 
der  Annahme  einer  leichten  Periappendicitis  incipiens  führen  können, 
bis  der  unaufhaltsame  Kollaps  zu  spät  die  Schwere  des  Krankheits- 
zustandes erkennen  läßt. 

Im  weiteren  Verlauf  der  Erkrankung  bildet  der  Abfall  der  Tem- 
peratur bei  Fortbestand  der  übrigen  schweren  Allgemeinerscheinungen 
ein  übles  Vorzeichen  als  Merkmal  beginnenden  Kollapses  und  führt 
zu  der  bekannten  Kreuzung  der  Temperatur-  und  Pulskurve,  der  fast 
ausnahmslos  das  Kreuz  als  Abschluß  der  Krankengeschichte  nachzu- 
folgen pflegt. 

Steiler,  plötzlicher  Temperaturabfall  bei  länger  bestehender  Peri- 
tppendizitis  soll  nach  W.  H.  Bennet  das  häufigste  Zeichen  einer 
Appendixperforation  sein.  In  der  Regel  wird  dieser  Abfall  aber  von 
einem  um  so  höheren  Temperaturanstieg  bisweilen  auch  mit  Schüttel- 
frost gefolgt  sein. 

Auf  die  oben  erwähnte  Differenz  zwischen  Mastdarm-  und  Achsel- 
hShlentemperatur  nachKrogius  ist  besonders  in  zweifelhaften  Fällen 
als  wertvolles  Hilfsmittel  zu  achten. 

Das  sicherste,  stets  zuverlässige  Zeichen  bildet  allein  die  Be- 
schaffenheit des  Pulses,  der  sich  durch  zunehmende  Beschleuni- 
gung bei  geringer  und  immer  schwächer  werdender  Spannung  der 
Gefaßwand  auszeichnet.  Durch  die  Regelmäßigkeit  seiner  Veränderung 
kann  er  in  zweifelhaften  Fällen  allein  ausschlaggebend  sein  und  ver- 
dient daher  die  ebenso  zweckmäßige,  wie  bezeichnende  Benennung 
des  Peritonealpulses  in  vollem  Maße.  Auf  die  besonders  üble 
Vorbedeutung  seines  Mißverhältnisses  zur  Temperatur  ist  oben  hin- 
geviesen.  Erwähnt  sei  noch,  daß  nach  Kümmel  bei  Perforation 
des  Appendix  gleich  dem  Abfall  der  Temperatur  auch  eine  vorüber- 
gehende Verlangsamung  des  Pulses  auftreten  kann,  die  dann  aber 
gleich  dem  folgenden  Temperaturanstieg  einer  zunehmenden  Beschleu- 
aigung  des  Pulses  Platz  macht. 

Übelkeit  und  Erbrechen  nimmt  zunächst  entsprechend  dem 
Starkeren  Peritonealreiz  an  Häufigkeit  und  Heftigkeit  zu,   kann  aber 


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424 


Ad*  Ebner, 


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im  weiteren  Fortschritt  der  Erkrankung  nach  Sprengel  schließlich 
aufhören.  Diese  Erscheinung  ist  wohl  ebenfalls  als  Folge  einer  toxi- 
schen Schädigung  bzw.  Lähmung  der  sensiblen  Nervenfunktionen  auf- 
zufassen»  welche  vermutlich  ebensowenig  den  zentripetalen  Reiz  nach 
dem  Brechzentrum  zu  übermitteln  in  der  Lage  sind,  wie  die  moto- 
rischen Nerven  den  zentrifugalen  Reiz  bei  der  schwindenden  Peri- 
staltik der  Därme.  DaO  in  schweren  Fällen  diese  Schädigung  bereits 
sehr  früh  einsetzen  und  daher  auch  das  Erbrechen  fast  gänzlich  in 
Fortfall  kommen  kann,  liegt  auf  der  Hand.  Auf  die  besonders  üble 
Vorbedeutung  des  Blutbrechens  ist  bereits  oben  hingewiesen.  Es 
verdankt  seine  Entstehung  bisweilen  aufierordentlich  zahlreichen 
punktförmigen  Blutungen  auf  der  Magenschleimhaut,  welche  von 
Nietzsche  und  Dieulafoy  auf  die  Wirkung  mit  dem  Magensaft  aus- 
geschiedener Toxine  zurückgeführt  werden.  Ob  diese  Erklärung  für 
alle  Fälle  zutreffend  ist,  muO  dahingestellt  bleiben,  daß  der  Erschei- 
nung in  jedem  Falle  rein  toxische  Ursachen  zugrunde  liegen,  ist  wohl 
zweifellos. 

Der  bei  der  Periappendicitis  incipiens  bereits  erwähnte,  sehr  Früh- 
zeitig einsetzende  lokale  Meteorismus  führt  auch  hier  schnell  zu 
der  Kantenstellung  der  Leber,  so  daß  das  Frühzeichen  des  Leb  er - 
hochstandes  naturgemäß  für  diese  Fälle  erhöhte  Geltung  behält. 

Entsprechend  der  toxischen  oder  auch  entzündlichen  Schädigung 
der  motorischen  Nerven  durch  eine  Lymphangitis  des  Mesenteriums 
kommt  es  dann  schnell  zu  einer  fortschreitenden  Lähmung  mit  nach- 
folgenden Meteorismus  sämtlicher  Darmschlingen.  Da  nun  mit 
der  fortschreitenden  Lähmung  der  motorischen  und  sensiblen  Nerven 
auch  die  Bauchdeckenstarre  entsprechend  nachläßt,  so  werden  schließ- 
lich die  einzelnen  geblähten,  meist  unbeweglichen  Darmschlingen 
durch  die  schlaff  gewordenen  Bauchdecken  deutlich  sichtbar,  und  wir 
haben  dann  das  typische  Bild  des  paralytischen  oder  dynami- 
schen Ileus  vor  uns.  Solange  dieser  Ileus  auf  einzelne  tiefer  ge- 
legene Darmbezirke  beschränkt  ist,  wird  er  sich  gleichzeitig  durch 
periodisches,  grünlich-galliges,  später  kotiges  Erbrechen  kenntlich 
machen.  Bei  weiterem  Fortschreiten  der  Lähmungserscheinungen  hört 
dieses  ebenfalls  auf  und  allein  die  völlige  Verhaltung  von  Stuhl  und 
Winden  weist  neben  dem  meist  vorhandenen  allgemeinen  Meteorismus 
auf  das  Versagen  der  Darmtätigkeit  hin. 

Fälle  in  diesem  Stadium  lassen  die  Operation  als  aussichtslos 
erscheinen,  da  die  allgemeine  Intoxikation  des  Körpers  dann  bereits 
zu  sehr  fortgeschritten  ist.  Es  ist  daher  nicht  Sache  des  Operateurs, 
der  solche  Fälle  noch  operiert  um  dem  Kranken  die  letzte  Rettungs- 
möglichkeit zu  bieten,  wenn  sie  trotzdem  tödlich  verlaufen,  sondern 


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57]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.    425 

Sache  des  Arztes,  der  den  Fall  zu  spät  der  rettenden  Hand  des  Chi- 
rurgen überliefert. 

Die  Leukozytose  zeigt  auch  hier  ein  der  Temperatur  ziemlich 
parallel  laufendes  Verhalten.  Sie  weist  eine  deutliche  Erhöhung  auf» 
solange  der  Körper  noch  verteidigungsföhig  ist  Der  Abfall  der 
Leukozytose  ist  stets  als  Zeichen  beginnender  Allgemeininfektion  auf- 
zufassen und  spricht  bei  dem  Fortbestehen  der  übrigen  schweren 
Erscheinungen  gleich  dem  Temperaturabfall  für  einen  ungünstigen 
Ausgang  der  Erkrankung.  Demgemäß  ist  eine  hohe  Leukozytose  bei 
klinischer  Annahme  einer  Allgemeininfektion  für  den  weiteren  Ver- 
lauf der  Erkrankung  bzw.  für  die  Heilungsaussichten  auf  operativem 
Wege  als  günstiges  Vorzeichen  aufzufassen.  In  ganz  schweren  Fällen 
wird  gleich  der  Temperatur  auch  die  Leukozytose  von  Anfang  an 
versagen  und  kann  dann  gänzlich  in  Fortfall  kommen.  Erwähnt  sei 
noch,  daß  Rüssel  in  normalen  Leukozytenwerten  bei  Kranken  mit 
schweren  Allgemeinerscheinungen  einen  sicheren  Hinweis  auf  eine 
stattgehabte  Perforation  erblicken  will. 

Im  Urin  kann  nach  Lennander  vereinzelt  eine  geringe  Albuminurie 
auf  eine  allgemeine  Infektion  bzw.  Intoxikation  hinweisen,  gleichwie 
bisweilen  Indikan  als  Folge  eines  tiefsitzenden  dynamischen  Ileus 
nachweisbar  sein  kann.  Beide  Merkmale  können  wegen  der  Selten- 
heit und  des  späten  Auftretens  derselben  für  die  Erkennung  vom 
Gesichtspunkt  der  Therapie  aus  nur  untergeordnete  Bedeutung  bean- 
spruchen. 

Desgleichen  kann  es  in  vereinzelten  Fällen  zu  allgemeinem  Ik- 
terus kommen,  der  auf  hämatogener  Grundlage  entstanden ,  als 
Zeichen  schwerer  Allgemeinintoxikation  stets  von  übler  Vorbedeutung 
sein  wird. 

Schließlich  möchte  ich  neben  der  bekannten  Facies  abdomi- 
nalis, die  je  nach  der  Schwere  des  Falles  früher  oder  später  auf- 
treten wird,  und  neben  der  Trockenheit  der  Zunge  noch  auf  eine 
Injektion  der  Konjunktiven  hinweisen,  die  mir  bisweilen  am  Be- 
ginn schwerer  Allgemeininfektionen  des  Peritoneums  aufgefallen  ist, 
selbst  in  Fällen,  wo  die  Temperatur,  die  Spannung  der  Bauchdecken 
und  im  ersten  Beginn  auch  der  Puls  in  gewissem  Grade  im  Stich  liefi. 

Kurz  zusammengefaßt  ist  also  für  die  Erkennung  der  Allgemein- 
infektion des  Peritoneums  vom  Appendix  aus  auf  folgende  Merkmale 
das  Augenmerk  zu  richten: 

1.  Peritonealpuls  mit  zunehmender  Beschleunigung  unter  dauern- 
der Abnahme  der  Spannung  der  Gefäßwand. 

2.  Hoher  Temperaturanstieg  mit  atypischem  Verlauf,  Differenz 
zwischen  Achselhöhlen-  und  Mastdarmtemperatur. 


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426  Ad.  Ebner,  [58 

3.  Trockenheit  der  Zunge,  bisweilen  Injektion  der  Konjunktiven. 

4.  Spontane  Schmerzliaftigkeit  des  ganzen  Leibes  namentlich  bei 
Bewegungen  und  vornehmlich  solchen  des  rechten  Beines. 

5.  Starke  Druckempiindlichkeit  des  ganzen  Leibes,  namentlich  in 
der  Ueocöcalgegend. 

6.  Reflektorische  Bauchdeckenstarre  beiderseits. 

7.  Beschleunigter,  vorwiegend  oder  rein  kostaler  Atmungstypus. 

8.  Fehlen  der  Leberdämpfung  in  der  rechten  Mammillarlinie« 

9.  Übelkeit  mit  periodischem,  heftigen  Erbrechen. 

10.  Örtlicher,  später  allgemeiner  Meteorismus,  dynam.  Ileus. 

12.  Facies  abdominalis. 

13.  Albuminurie,  Indikanurie  in  seltenen  Fällen. 

14.  Hämatogener  Ikterus  bei  schwerer  Intoxikation. 

15.  Vereinzelt  Schwellung  und  schmerzhafte  Vorwölbung  der  vor- 
deren Rektalwand. 

In  ganz  schweren  Fällen  kann  fast  reaktionslos,  allein  unter  ent- 
sprechender Veränderung  des  Pulses  schneller  Verfall  und  Tod  ein- 
treten. 

Kommen  wir  schlieOlich  noch  zur  Erkennung  der  chronischen 
Periappendizitis,  der  Periappendizitis  im  Sicherheitsstadium,  so 
wird  für  diese  in  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  die  voran- 
gegangene Anamnese  bereits  entscheidend  sein.  Die  subjektiven 
Beschwerden  sind  meist  geringer  Natur  und  äufiern  sich  in  mangel- 
hafter Verdauung  bzw.  Neigung  zu  chronischer  Obstipation,  bisweilen 
unterbrochen  von  plötzlichen  Durchfällen  nach  Diätfehlem  oder  auch 
spontan,  ferner  in  einem  Gefühl  von  Druck  und  Völle  in  der  Ueo- 
cöcalgegend, sowie  leichtem  Meteorismus  der  rechten  Bauchseite. 
Objektiv  ist  vielfach  gar  nichts,  in  vielen  Fällen  jedoch  die  Reste 
früherer  Entzündungen  in  Gestalt  einer  undeutlichen  Resistenz  in  der 
Ueocöcalgegend  nachweisbar,  die  bisweilen  auf  Druck,  seltener  auch 
spontan  etwas  schmerzhaft  ist. 

Wirklich  heftige  und  sogar  das  Leben  bedrohende  Beschwerden 
können  in  vereinzelten  Ausnahmefällen  einsetzen,  wenn  es  durch  Ab- 
knickung  und  Abschnürung  von  Dünndarm-  oder  Dickdarmschlingen 
auf  Grund  alter  Verwachsungen  zu  einem  rein  mechanischen  Ileus 
kommt,  der  sich  dann  meist  durch  entsprechende  Unruhe,  Steifung 
und  Auftreibung  der  höher  gelegenen  Darmschlingen  bei  gleich- 
zeitigem Fehlen  eines  Temperaturanstiegs  leicht  in  seinem  ursach- 
lichen Zusammenhang  erkennen  läßt. 

Derartige  FäUe  von  chronischem  Adhäsionsileus  hat  Federmann 
in  einer  Anzahl  von  6  auf  500  Appendizitisoperationen  gefunden, 
was    einem    Prozentsatz    von    1,2%  entsprechen  würde.     Er  weist 


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59]    Ob^r  ^^^  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.    427 

darauF  hin,  daß  der  Stuhlgang  bei  diesen  Fällen  lange  Zeit  erhalten 
sein  kann»  und  rät  prophylaktisch  zur  frühzeitigen  Eröffnung  von 
periappendizitischen  Abszessen  zwecks  Verhütung  größerer  Ad- 
häsionen. 

Selbst  10  Jahre  nach  einer  überstandenen  Periappendizitis  hat 
Subbotltsch  noch  einen  derartigen  Fall  von  Ileus  beobachten  können, 
der  infolge  Abschnürung  einer  Darmschlinge  durch  einen  alten  peri- 
tonitischen Strang  entstanden  war.  Auch  in  der  Breslauer  Klinik  ist 
unter  Geheimrat  Garr^  ein  ähnlicher  Fall  zur  Operation  gelangt,  der 
in  der  nachfolgenden  Zusammenstellung  der  operativen  Fälle  eine 
entsprechende  Würdigung  gefunden  hat. 

Die  Vermeidung  derartiger,  wenn  auch  seltener,  so  doch  um  so 
schwererer  Folgeerscheinungen  dürfte  einen  Grund  mehr  bilden  zur 
prinzipiellen  Vornahme  der  Frühoperation  oder,  wenn  die  Patienten 
erst  später  zur  Behandlung  gelangen,  zum  sofortigen  Eingriff  auch  im 
Zwischenstadium,  um  damit  Abszeß-  und  Adhäsionsbildung  möglichst 
von  vornherein  zu  verhindern. 

Für  die  Differentialdiagnose  der  Periappendizitis  möchte 
ich  mich  an  dieser  Stelle  nur  mit  einigen  kurzen  Hinweisen  begnügen, 
da  es  ja  auf  der  Hand  liegt,  daß  bei  der  Verlagerungsmöglichkeit 
des  Appendix  dafür  in  vereinzelten  Fällen  fast  jedes  Organ  der 
rechtsseitigen,  ja  sogar  der  gesamten  Bauchhöhle  in  Betracht  kommen 
kann. 

Hinsichtlich  der  Nierenerkrankungen  wird  bei  Wanderniere, 
Nierensteinen  und  Nierentumor  in  der  Regel  das  Fehlen  derTempe- 
ratursteigerung  vor  Verwechselungen  schützen,  und  wenn  neuerdings 
die  am  falschen  Orte  festgewachsene  Niere  nach  Riedel  bisweilen 
Fieber  machen  kann,  so  dürfte  das  doch  nur  für  außerordentlich 
seltene  Ausnahmefalle  in  Betracht  zu  ziehen  sein.  Bei  Nierensteinen, 
Tuberkulose  und  Tumor  der  Niere  werden  gelegentliche  Blutungen 
im  Urin  vielfach  das  erste  Anzeichen  der  Erkrankung  bilden.  Bei 
Pyelitis  und  entzündlichen  Erkrankungen  der  Niere  wird  der  mikro- 
skopische und  chemische  Urinbefund  die  Unterscheidung  leicht  er- 
möglichen, abgesehen  von  den  zystoskopischen  Untersuchungsme- 
thoden, die  ja  schließlich  dem  praktischen  Arzt  nicht  ohne  weiteres 
zugänglich  sind.  Bei  einer  großen  Mehrzahl  der  Nierenerkrankungen 
ist  ferner  ganz  besonders  auf  die  eigenartigen,  in  dem  Ureter  der  er- 
krankten Niere  zur  Blase  ausstrahlenden  Sensationen  zu  achten,  die  in 
den  meisten  Fällen  den  Patienten  auch  als  solche  zum  Bewußtsein 
gelangen  und  auf  Befragen  sei  es  als  schmerzhafte,  sei  es  als  eigen- 
artige Empfindungen  angegeben  werden.  Schließlich  sei  noch  auf 
den  vielfach  deudich  gürtelartigen  Charakter  der  Schmerzempfindung 


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428  Ad.  Ebner,  [60 

hingewiesen  y  der  gerade  bei  Nierenerkrankungen  häufig  in  stärkerem 
oder  geringerem  Grade  in  die  Erscheinung  zu  treten  pflegt. 

Hinsichtlich  der  Unterscheidung  von  Leberaffektionen  sei  nur 
kurz  auf  das  Ausstrahlen  der  Schmerzempfindung  in  den  Rücken  und 
vornehmlich  die  rechte  Schulter ,  auf  die  meist  nachweisbare  Ver- 
größerung oder  Druckempfindlichkeit  der  Leber  bzw.  Gallenblase,  auf 
den  meist  nach  der  Einnahme  von  Speisen  einsetzenden  und  am 
Abend  nach  dem  Schlafengehen  periodisch  sich  steigernden  Charakter 
der  Beschwerden,  auf  die  Verschieblichkeit  der  etwa  fühlbaren  Re- 
sistenz mit  der  Atmung,  auf  den  vielfach  ausgesprochenen  Wider- 
willen gegen  Fleischnahrung,  auf.  ev.  Ikterus,  acholischen  Stuhl  und 
Hautjucken  hingewiesen,  alles  Merkmale,  deren  teilweises  oder  ge- 
samtes Vorhandensein  eine  Klärung  des  Krankheitsbildes  in  der  R^el 
nicht  allzu  schwierig  gestalten  dürfte. 

Die  rechtsseitigen  Adnexaffektionen  bei  Frauen  werden  sich 
vielfach  bereits  anamnestisch  durch  voraufgegangene  Menstruations- 
störungen, sowie  den  Nachweis  vorangegangener  Genitalinfektion  er- 
kennen lassen.  Klinisch  wird  hierfür  als  besonderes  Unterscheidungs- 
merkmal das  oben  erwähnte  Blumbergsche  Symptom  von  seinem 
Autor  empfohlen,  wofür  jedoch  weitere  Bestätigungen  außer  von 
Ewald  z.  Z.  noch  ausstehen.  Tatsächlich  können  diese  Fälle  klinisch 
noch  am  ehesten  zu  Fehldiagnosen  Anlaß  geben,  wobei  allerdings 
nicht  zu  vergessen  ist,  daß  bei  der  nahen  Nachbarschaft  der  beiden 
Organe  eine  Kombination  von  Appendizitis  mit  rechtsseitiger  Adnex- 
erkrankung  nicht  gerade  als  Seltenheit  zu  betrachten  ist. 

Daß  im  übrigen  vereinzelt  eine  fieberhafte  Enteritis  und  auch 
Typhus  zu  Fehldiagnosen  führen  kann  und  auch  geführt  hat,  sei 
noch  nebenher  erwähnt.  Bei  ersterer  werden  entsprechende  schlei- 
mige oder  zellige  Beimengungen  im  Stuhl,  bei  letzterem  die  bakterielle 
Diagnose  vor  Verwechslungen  schützen  können.  Daß  andererseits 
gerade  auf  der  Grundlage  einer  infektiösen  Enteritis  sich  äußerst  bös- 
artige Erkrankungen  des  Appendix  entwickeln  können,  ist  oben  bereits 
des  näheren  hervorgehoben  worden. 

Schließlich  sei  der  Vollständigkeit  halber  noch  an  die  Magen- 
und  Pankreasaffektionen  gedacht,  die  gleichfalls  bisweilen  wohl 
Zweifel  in  der  Diagnose  entstehen  lassen  können,  aber  in  der  Regel 
durch  den  ausgesprocheneren  und  lokalisierteren  Charakter  der  Be- 
schwerden für  die  Unterscheidung  von  Appendixafi^ektionen  keine 
allzu  großen  Schwierigkeiten  bieten  werden. 

Wenden  wir  uns  nun  der 

Therapie  der  Appendizitis 
zu,  so  liegt  es  in  der  Natur  der  Sache,  daß  wir  uns  der  heutigen 


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61]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.  420 

Anschauung  entsprechend  vornehmlich  mit  der  chirurgischen  Seite  der- 
selben zu  beschäftigen  haben  werden.  Hierbei  wird  es  sich  zunächst 
um  die  Indikationsstellung  und  Prognose  nach  der  Anschauung  der 
einzelnen  Autoren  in  den  verschiedenen  Stadien  der  Erkrankung 
handeln  und  wir  werden  uns  daher  am  besten  unserer  vorausge- 
gangenen Einteilung  gemäO  im  einzelnen  mit  der  Früh-,  Zwischen-, 
Spat-,  Not-  und  Sicherheitsoperation  zu  beschäftigen  haben. 

Von  diesen  allen  steht  heute  im  Brennpunkt  des  Interesses  die 
Frage  der  absoluten  Fruhoperation  und  der  Zwischenoperation,  wäh- 
rend bezüglich  der  Anschauung  über  die  Zweckmäßigkeit  der  Spät-, 
Not-  und  Sicherheitsoperation  wesentliche  Differenzen  unter  den 
Autoren  kaum  noch  zu  verzeichnen  sind.  Es  erscheint  daher  gerecht- 
fertigt, wenn  wir  über  die  ersteren  beiden  Operationen  die  Ansichten 
der  Autoren  einer  etwas  eingehenderen  Würdigung  unterziehen,  wo- 
bei manche  Änderung  derselben  nach  der  radikaleren  Richtung  hin 
auch  bei  den  sich  zuerst  ablehnend  verhaltenden  Klinikern  im  Laufe 
der  letzten  Jahre  namentlich  hinsichtlich  der  Frühoperation  zu  ver- 
zeichnen ist. 

So  macht  Kümmel,  der  sich  vorher  abwartend  verhielt  und  nur 
im  äußersten  Notfall  eingriff,  seit  März  1904  wegen  des  stets  unbe- 
rechenbaren Verlaufes  der  Erkrankung  prinzipiell  die  Frühoperation, 
sobald  nach  12—24  Stunden  die  Erscheinungen  nicht  geschwunden 
sind  oder  sich  gesteigert  haben.  Er  steht  auf  dem  präzisen  Stand- 
punkt, jede  als  solche  erkannte  Appendizitis  zu  operieren  und  zwar 
je  eher,  je  besser. 

Interessant  ist  auch  die  Änderung  im  Standpunkt  von  Sonnen- 
burg, wenn  er  auch  nicht  ganz  so  entschieden,  wie  die  anderen 
Autoren  für  die  Frühoperation  eintritt.  Er  versuchte  bis  1905  nach 
Möglichkeit  die  Operation  stets  in  das  Sicherheitsstadium  zu  verlegen. 
Noch  1905  führt  er  gegen  die  Frühoperation  den  etwas  theoretischen 
Einwurf  an,  daß  bei  hochgradiger  Infektion  und  Toxinwirkung  selbst 
die  früheste  Operation  versagen  kann,  und  daß  es  zum  mindesten 
zweifelhaft  ist,  ob  die  Frühoperation  immer  eine  schnellere  Heilung 
der  Krankheit,  wie  ein  später  vorgenommener  Eingriff  erzielen  kann. 
Trotzdem  ist  er  seit  diesem  Zeitpunkt  zwar  nicht  zum  ausgesprochenen 
Anhänger  der  Frühoperation  geworden,  betätigt  aber  dennoch  in  der 
Praxis  die  Gepflogenheit,  alle  nicht  ganz  leichten  Fälle  innerhalb  der 
ersten  48  Stunden  zu  operieren.  Merkwürdigerweise  glaubt  er  diese 
Erweiterung  seiner  Indikationsstellung  zum  operativen  Eingriff  auf 
eine  Änderung  des  Materials  zurückführen  zu  sollen,  das  ihm  in  den 
letzten  Jahren  zugegangen  ist. 

Helferich  hält  bedingsweise  die  Frühoperation  für  berechtigt,  da 


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430  Ad.  Ebner,  [62 

es  besser  sei»  zu  sagen,  der  Patient  wäre  auch  ohne  Operation  ge- 
rettet worden,  als  der  Patient  wäre  noch  durch  die  Operation  zu 
retten  gewesen. 

Sprengel  operiert  jede  Appendizitis,  sobald  nicht  innerhalb  der 
ersten  24  Stunden  ein  entscheidender  ROckgang  aller  Symptome  er- 
folgt, und  zwar  in  jedem  Stadium. 

Rehn  hält  bereits  1901  als  einer  der  ersten  neben  Sprengel  die 
Entfernung  des  Appendix  im  akuten  Anfall  für  das  einzig  sichere 
Mittel,  die  Mortalität  der  Erkrankung  auf  ein  Minimum  herabzu- 
drucken, indem  er  ganz  besonders  hervorhebt,  daß  die  Operation  im 
Anfall  ebenso  leicht,  oft  leichter  und  sicher  nicht  gefährlicher  als  im 
Sicherheitsstadium  ist.  Auch  1905  tritt  er  wiederum  warm  fOr  die 
FrOhoperation  ein,  indem  er  den  akuten  Anfall  nur  für  eine  Phase 
der  meist  chronischen  Erkrankung  erklärt,  deren  Blitz  nicht  nur  erhellt, 
sondern  auch  zünden  kann,  ohne  daO  man  sagen  kann,  was  dabei  in 
Flammen  aufgeht.  Als  besonderen  Vorzug  der  Frühoperation  rühmt 
er  die  sichere  und  radikale  Heilung  unter  Vermeidung  späterer  Folge- 
zustände. 

Karewski  hält  die  frühzeitige  Entfernung  des  Appendix  ebenfalls 
für  das  einzig  rationelle  und  ist  daher  dafür,  in  jedem  Falle  sofort  zu 
operieren.  Da  man  den  Verlauf  der  Appendizitis  nie  mit  Sicherheit 
voraussagen  kann,  erscheint  ihm  die  Appendektomie  angezeigt,  sobald 
irgendwelche  Krankheitserscheinungen  mit  Sicherheit  auf  diesen  Teil 
des  Darmtraktus  hinweisen,  und  zwar  möglichst  sofort  nach  dem 
Obergreifen  der  Erkrankung  auf  das  Peritoneum.  Wenn  möglich,  soll 
man  sogar  auch  bei  leichteren  Beschwerden  noch  vor  dem  Anfall, 
also  gewissermaßen  vor  dem  Obergreifen  der  Entzündung  auf  das 
Peritoneum  operieren,  eine  Forderung,  auf  die  wir  später  noch  näher 
zurückkommen  werden. 

Nach  V.  Eiseisberg  ist  die  Frühoperation  in  allen  rechtzeitig  in 
Behandlung  kommenden  Fällen  auszuführen.  Den  gleichen  Stand- 
punkt vertritt  naturgemäß  auch  sein  Assistent  Haber  er,  wenn  er 
andererseits  auch  die  Frühoperation  nicht  für  ebenso  ungefährlich 
halten  möchte,  wie  die  Sicherheitsoperation:  „Alles  in  allem  ist  die 
Frühoperation  sicher  die  idealste  Behandlungsmethode  der  Periappen- 
dizitis,  weil  sie,  ohne  die  weitere  Entwicklung  des  Prozesses  abzu- 
warten, denselben  mit  einem  Male  abschneidet "* 

Lennander  hält  es  gleichfalls  für  den  Kranken  am  besten,  wenn 
er  im  Verlauf  der  nächsten  Stunden  zur  Operation  gelangt,  sobald 
die  Diagnose  auf  akute  Appendizitis  gestellt  ist  und  der  geringste 
Grund  zur  Beunruhigung  vorhanden  ist.   Namentlich  bei  dem  zweiten 


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63]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  U.Behandlung  der  Appendizitis.   431 

AnftU  rat  er  zum  Eingriff»   da  die  Diagnose  dann  klar  ist   und   der 
Anfall  damit  sofort  abgeschnitten  wird. 

Carl  Beck  ist  ebenfalls  dafür»  lieber  früher»  wie  zu  spät  zu  ope- 
rieren und  hält  für  die  sicherste  Therapie  die  frühzeitige  Entfernung 
des  Appendix,  besonders  da  die  Operation  als  solche  gänzlich  unge- 
fiihrlich  ist. 

Riese  führt  als  weiteren  Vorzug  der  Operation  an»  daß  den  Pa- 
tienten im  Schmerzanfall  der  Entschluß  zur  Operation  wesentlich 
leichter  fällt»  während  sich  manche  in  dem  schmerzfreien  Sicherheits- 
stadium nachträglich  eines  anderen  besinnen  und  die  Operation  immer 
weiter  hinausschieben»  bis  der  nächste  schwere  Anfall  sie  in  die  Hände 
des  Chirurgen  zurücktreibt. 

Riedel  hält  außer  bei  ganz  leichten  Fällen  die  absolute  Frühope- 
ration» womöglich  bereits  5—10  Stunden  nach  dem  Beginn  des  An- 
hlls  für  weitaus  am  besten. 

Payr  ist  für  die  absolute  Frühoperation»  da  man  entgegen  der 
Ansicht  von  Sonnenburg  aus  dem  klinischen  Bilde  nie  mit  Sicher- 
heit auf  den  anatomischen  Befund  schließen  kann»  und  rät  besonders 
bei  medianer  oder  nach  unserer  Benennung  mesocöliacaler  Lage  des 
Appendix  zwischen  losen  Darmschlingen  möglichst  frühzeitig  ein- 
lugreifen. 

Dörffler  ist  von  der  Überlegenheit  der  Frühoperation  fest  über- 
zeugt und  glaubt  damit  dem  Patienten  das  Sicherste  zu  raten.  Als 
einen  besonderen  Vorzug  der  Frühoperation  führt  er  an»  daß  sie  in 
einem  Zeitpunkt  stattfindet»  wo  das  Peritoneum  noch  widerstands- 
und  leistungsfähig  ist»  daß  man  dabei  eine  leichtere  Übersicht  des 
Operationsfeldes  und  damit  auch  eine  leichtere  Entfernung  des  Appen- 
dix hat  Er  ist  überzeugt»  daß  mit  dem  Augenblick  der  Frühoperation 
in  allen  nicht  ganz  leichten  Fällen  die  Mortalität  der  Appendizitis  auf 
0%  herabsinken  wird. 

Tilmann  empfiehlt  die  Frfihoperation  bei  allen  vorher  gesunden» 
mit  akutem  Erbrechen  erkrankten  Appendizitispatienten»  während  er 
bei  chronischen  und  rezidivierenden  Formen  nur  im  Falle  einer 
akuten  Verschlimmerung  eingreift  und  sonst  im  Sicherheitsstadium 
operiert 

Müller  (Hildebrand)  drückt  sich  etwas  gewunden  aus»  wenn 
er  sagt»  daß  jede  Periappendizitis  dem  Chirurgen  gehört»  ob  sie  ope- 
riert werden  muß  oder  nicht»  daß  ferner  am  besten  eine  exakte  Be- 
obachtung und  möglichst  frühe»  aber  nicht  Frühoperation  sei»  denn 
die  letztere  könne  zwar  manches  Leben  retten»  aber  auch  manches 
lerstören»  eine  Behauptung»  für  welche  Müller  in  ihrem  Nachsatz 
wohl  schwerlich  Beweise  erbringen  kann.    Namentlich  warnt  er  vor 


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432 


Ad.  Ebner, 


164 


der  Frühoperation  bei  bestehender  Nephritis,  die  er  für  sehr  gefahr- 
lich hält  und  von  der  vielfach  Todesfälle  in  der  Literatur  berichtet 
würden,  eine  Frage,  auf  die  wir  bei  der  zusammenhängenden  Er- 
örterung der  Gegenindikationen  der  Frühoperation  noch  näher  zurück- 
kommen werden. 

Körte  hält  die  Frühoperation  in  48  Stunden  nur  in  wirklich 
schweren  Fällen  für  angezeigt,  ein  etwas  dehnbarer  Begriff,  da  er 
von  dem  klinisch  projizierten  Krankheitsbild  des  Kranken,  seinem 
eventuell  gänzlich  verschiedenen  anatomischen  Befund  und  der  äußerst 
individuellen  Beurteilung  des  mehr  oder  minder  erfahrenen  und 
wissenschaftlich  durchgebildeten  Arztes  abhängig  ist,  und  somit  in 
seinen  Grenzen  kaum  festgelegt  werden  kann. 

Gussenbauer  meint  kurz  und  treffend,  man  müsse  mehr  um  das 
Leben  des  Patienten,  denn  um  seinen  Wurmfortsatz  besorgt  sein. 

Hahn  hält  im  Gegensatz  zu  der  etwas  pessimistischen  Anschauung 
Sonnenburg s,  daß  bisweilen  auch  die  früheste  Operation  versagen 
könne,  nach  eigener  10 jähriger  Erfahrung  dafür,  daß  die  Operation 
im  frühesten  Zeitpunkt  und  bei  guter  Dränage  selbst  bei  eingetretener 
Perforation  ebenso  gut  ist,  wie  ohne  eine  Perforation,  da  er  dabei 
nicht  einen  Todesfall  hatte.  Entscheidend  dafür  ist  naturgemäß  der 
möglichst  geringe  Zeitraum  zwischen  dem  Perforationsvorgang  und 
der  nachfolgenden  Operation. 

Borelius  hebt  als  einen  weiteren  Vorzug  der  Frühoperation  her- 
vor, daß  man  innerhalb  48  Stunden  stets  primär  nähen  kann,  selbst 
wenn  der  Appendix  gangränös  aussieht  und  sich  freies  Exsudat  in 
der  Bauchhöhle  vorfindet,  da  dieses  in  der  Regel  rein  serös  und  dann 
als  steril  zu  bezeichnen  ist. 

Landau  rät  auch  bei  gleichzeitigen  Frauenleiden  möglichst  vor 
48  Stunden  zu  operieren. 

S  tan  ton  führt  als  einen  Grund  mehr  für  die  Frühoperation  an, 
daß  man  am  ersten  Tage  des  Anfalls  bereits  die  Erkrankung  nicht 
allein  auf  die  Schleimhaut  des  Appendix  beschränkt,  sondern  in  allen 
Schichten  der  Wand  verbreitet  vorfinden  könne. 

Hoff  mann  (Küster)  operiert  ebenfalls,  sobald  bei  der  typischen 
Erkrankung  das  Fieber  länger  als  36  Stunden  hoch  bleibt. 

Von  weiteren  Vertretern  der  prinzipiellen  Frühoperation  in  allen 
nicht  ganz  leichten,  bzw.  in  48  Stunden  zurückgehenden  Fällen  seien 
noch  genannt:  Mynter,  Lanz,  Bloß,  Wette,  Dieulafoy,  Gallet, 
W.  Meyer-New  York,  O.  Hartmann,  Legueu,  Poirier,  Segond, 
Chaput,  Championni^re,  Routier,  Tuffler,  Rüssel,  Dennis, 
Roux,  Rotter,  Schnitzler,  v.  Mosettig,  S.  Perman,  Israel, 
Holmes,   Ochsner,   v.  Bergmann,   A.  C.  Bernays,   F.  Bauer, 


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05]    Ober  den  beutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.    433 

G.  Heaton,  W.  Hagen»  Trendelenburg,  Ceccherelli,  Kleman, 
Webster  und  Dowd. 

Dieser  kurze  Literaturüberblick,  der  im  übrigen  durchaus  keinen 
Anspruch  auf  Vollständigkeit  erheben  will»  dürfte  immerhin  bereits 
zur  Genfige  beweisen,  eine  wie  große  Obereinstimmung  unter  der 
überwiegenden  Mehrzahl  der  Autoren  über  den  unbedingten  Wert 
der  absoluten  Frühoperation  herrscht,  mit  dem  einzigen  mehr  indi- 
viduellen Unterschied,  daß  der  eine  sie  bei  etwas  leichteren,  der 
andere  sie  bei  etwas  schwereren  Erscheinungen  bzw.  bei  fehlender 
Ruckbildung  derselben  in  den  ersten  24—48  Stunden  zum  Prinzip 
erhebt.  Allen  gemeinsam  ist  jedenfalls  die  Erkenntnis  und  das  Be- 
streben, dem  Patienten,  sobald  die  Krankheit  als  solche  erkannt  ist, 
durch  eine  möglichst  frühzeitige  und  gefahrlose  Ausschaltung  der 
Causa  nocens  eine  sichere  und  schnelle  Heilung  zu  garantieren,  ehe 
man  ihn  den  unsicheren  und  niemals  vorherzusehenden  Zufällen  des 
weiteren  Krankheitsverlaufes  aussetzt. 

Den  radikalsten  Standpunkt  von  allen  vertritt  zweifelsohne  Ka- 
rewski,  wenn  er  rät,  die  Operation  wenn  möglich  noch  vor  dem 
Anfall  zu  machen,  ein  Vorschlag,  der  wegen  allzu  großer  Möglichkeit 
eventueller  Luxusoperationen  auf  «ine  prinzipielle  Annahme  von 
irgendwelcher  Seite  wohl  kaum  jemals  zu  rechnen  haben  dürfte. 
Immerhin  darf  man  sich  aber  nicht  verhehlen,  daß  man  bisweilen 
dennoch  heute  vor  die  Frage  gestellt  werden  kann,  in  gewissem  Sinne 
vor  dem  Anfall  zu  operieren,  vorausgesetzt,  daß  man  unter  dem 
eigentlichen  Anfall  das  übliche  Bild  der  Periappendizitis  versteht,  eine 
Auffassung,  die  wohl  auch  der  Ansicht  von  Karewski  entspricht, 
wenn  er  ursprünglich  zum  sofortigen  Eingriff  bei  den  ersten  Anzeichen 
des  Obertrittes  der  Erkrankung  auf  das  Peritoneum  rät.  Es  kommen 
oimlich  heute  tatsächlich  gar  nicht  so  selten  Fälle  vor,  in  denen  all- 
zu ängstliche  und  vorsichtige  Patienten,  die  eine  oder  mehrere  bis- 
weilen ganz  kurze,  vielleicht  nur  1—2  Stunden  dauernde  Appendikular- 
koliken  ohne  jedes  Fieber  durchgemacht  haben,  an  den  Chirurgen 
mit  der  Frage  oder  mit  dem  direkten  Verlangen  herantreten,  sie  von 
dem  vermutlichen  Friedensstörer  zu  befreien,  ehe  er  ihnen  zur  Quelle 


j. 


eines  ernsten  Erkrankungszustandes  wird.   Dabei  ist  zu  beachten,  daß  \ 

i)ei  der  heute  fast  allgemein  verbreiteten  Kenntnis  von  der  Bedeutung 
und  Lage  des  sog.  Blinddarms  im  Publikum  fast  jeder  Schmerz  von 
kolikartigem  Charakter  in  der  rechten  Unterbauchgegend  als  Blind- 
darmentzündung, und  vielfach  gar  nicht  mit  Unrecht  verdächtigt  wird. 
Daß  in  solchen  Fällen  eine  nachträgliche  objektive  Untersuchung  kein 
positives  Ergebnis  zu  liefern  braucht  und  daher  absolut  nicht  als 
Gegenbeweis    von     tatsächlich    vorausgegangenen    Appendikularbe- 

Klia.  Vortrige.  N.  F.  Nr.  489/90/91.  (Chirurgie  Nr.  142/43/44.)    Juni  1906.  32 


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434  Ad.  Ebner,  [66 

schwerden  aufgefaßt  werden  darf»  liegt  auf  der  Hand.  Vielfach  wird 
man  allerdings  vielleicht  eine  gewisse  Bestätigung  dafür  durch  den 
behandelnden  Arzt  erhalten  können,  wenn  eben  während  des  Anfalls 
ein  Arzt  dabeigewesen  ist,  was  bei  der  Kürze  der  Schmerzdauer  meist 
aus  Mangel  an  Zeit  oder  aus  anfänglicher  Indolenz  seitens  der  Pa- 
tienten nicht  der  Fall  zu  sein  pflegt. 

Ich  pflege  mich  in  solchen  Fällen  damit  zu  behelfen,  daO  ich,  so- 
bald die  Patienten  am  Ort  sind  und  im  Falle  eines  richtigen  Pari- 
appendizitisanfalles  jederzeit  sofort  in  chirurgische  Behandlung  kommen 
können,  es  ihrem  eignen  Ermessen  freistelle,  sich  später  bei  den  ge- 
ringsten Fiebererscheinungen  mit  entsprechenden  Beschwerden  zur 
sofortigen  Operation  einzufinden  oder  auf  ihren  eigenen  Wunsch  hin 
die  Operation  sofort  vornehmen  zu  lassen.  Denn  es  ist  menschlich 
durchaus  verständlich,  daO  vereinzelte  Patienten,  ehe  sie  dauernd  das 
Damoklesschwert  eines  nach  mehreren  Appendikularkoliken  nur  selten 
ausbleibenden  Periappendizitisanfalles  mit  der  Notwendigkeit  eines 
operativen  Eingriffs  über  sich  fühlen  wollen,  sich  lieber  einer  so- 
fortigen Operation  zwecks  sicherer  Ausschaltung  einer  derartigen 
Möglichkeit  unterziehen,  die  dann  fast  ausnahmslos  durch  die  makro- 
skopisch nachweisbaren  Veränderungen  am  Appendix,  wie  Kotsteine, 
Schwellung  und  Injektion  der  Mukosa  oder  der  ganzen  Wandung, 
Knickungen,  Retention  des  Inhaltes  u.  dgl.  den  Beweis  erbringen  wird 
und  auch  bei  uns  tatsächlich  im  Laufe  der  letzten  Jahre  erbracht  hat, 
daO  die  Gefahr  einer  Luxusoperation  in  derartig  vereinzelten  Fällen 
nicht  allzuhoch  einzuschätzen  ist.  Anders  liegt  in  derartigen  Fällen 
schon  die  Sache,  wenn  die  Patienten  auf  dem  Lande  wohnen,  eine 
größere  Reise  vorhaben,  kurz,  wenn  sie  sich  in  Lebensverhältnissen 
befinden,  wo  sie  nur  schwer  oder  gar  nicht  sich  jederzeit  die  Hilfe 
des  Chirurgen  zugänglich  machen  können.  Da  erscheint  es  sicherer, 
bereits  in  diesem  Stadium,  also  gewissermaßen  noch  vor  dem  eigent- 
lichen Anfall,  zur  Operation  zu  raten,  da  man  nicht  wissen  kann, 
unter  welchen  Umständen  sie  später  einem  etwa  eintretenden  und 
möglicherweise  recht  schweren  Anfall  ausgesetzt  sind.  Es  sind  dieses 
eben  Fälle,  die  individuell  beurteilt  sein  wollen  und  in  denen  dann 
ausnahmsweise  aus  den  Lebensverhältnissen  oder  der  ausgesprochenen 
Willensäußerung  der  Patienten  heraus  die  Operation  berechtigt  er- 
scheinen kann.  Derartige  Fälle  werden  sich  sicher  auch  bei  anderen 
Chirurgen  vorfinden,  sobald  sie  ihr  Material  danach  sichten  wollten« 
Daraus  nun  aber  die  Forderung  einer  prinzipiellen  Operation  noch 
vor  dem  Anfall  herzuleiten,  liegt  eine  Veranlassung  nicht  vor,  so- 
lange man  sicher  ist,  daß  einem  Patienten  durch  die  Ablehnung  dieser 
Forderung  kein  Schaden  erwachsen  kann. 


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67]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.  435 

Um  noch  kurz  die  Indikationsstellung  ffir  die  Frühoperation  der 
Periappendizitis  bei  gleichzeitiger  Gravidität  zu  streifen,  so 
sind  sämtliche  Autoren  sich  darin  einig,  daß  die  Gravidität  an  sich 
eine  erhöhte  Indikation  zum  möglichst  frühzeitigen  operativen  Eingriff 
bildet,  da  sie  in  der  Regel  einen  sehr  ungünstigen  Einfluß  auf  den 
Verlauf  und  die  Prognose  der  Erkrankung  im  Sinne  einer  wesentlich 
erhöhten  Gefahr  der  peritonealen  Allgemeininfektfon  ausübt.  Rosner 
geht  deswegen  so  weit,  die  Operation  sogar  in  denjenigen  Fällen  an- 
zuraten, die  nicht  ganz  sicher  sind  und  einer  Periappendizitis  nur 
verdächtig  erscheinen.  Ebenso  raten  Riese,  Labhardt,  G.  Heaton 
u.  a.  zum  möglichst  frühzeitigen  Eingriff  in  derartigen  Fällen  mit 
Rücksicht  auf  die  erhöhte  Infektionsmöglichkeit  des  Peritoneums. 
Kümmel  allein  rät,  wenn  es  nicht  möglich  ist,  frühzeitig  nach  Beginn 
der  Erkrankung  zu  operieren,  lieber  bis  zum  Sicherheitsstadium  zu 
warten,  immerhin  ein  etwas  riskanter  Vorschlag,  da  eben  bis  zu 
diesem  Stadium  die  Patienten  dauernd  der  Gefahr  einer  Allgemein- 
infektion  des  Peritoneums  ausgesetzt  bleiben.  Gerade  hier  dürfte 
vielmehr  stets  eine  möglichst  weitgehende  Indikationsstellung  zum 
operativen  Eingriff,  sobald  die  Patientin  in  chirurgische  Behandlung 
gelangt,  am  empfehlenswertesten  sein. 

Als  Gegenindikationen  werden  bezüglich  der  Frühoperation 
von  Ball  besonders  Tuberkulose,  Herzfehler  und  Nierenerkrankungen 
hervorgehoben.  Namentlich  bei  letzteren  glaubt  auch  Müller  ganz 
besonders  vor  einem  operativen  Eingriff  im  akuten  Stadium  warnen 
zu  müssen.  Treten  wir  der  Frage  etwas  näher,  so  werden  wir  bei 
schweren  Herzfehlern  oder  Nierenerkrankungen  der  Anschauung  Balls 
ohne  weiteres  beipflichten  können,  da  hier  der  operative  Eingriff  an 
sich  gewissermaßen  der  Tropfen  sein  kann,  welcher  des  Maß  der  aufs 
äußerste  herabgesetzten  Lebens-  und  Leistungsfähigkeit  des  Körpers 
zum  Oberfließen  bringt.  Für  die  leichteren  und  mittelschweren  Fälle 
kann  man  aber  Ball  darin  doch  nicht  ganz  beistimmen,  insofern  ge- 
rade Patienten  mit  Herz-  oder  Nierenerkrankungen  um  so  eher  vor 
den  üblen  Zufällen  der  Periappendizitis  zu  bewahren  sind,  als  der 
ao  sich  schon  in  seiner  Leistungsfähigkeit  herabgesetzte  Körper  um 
so  schwerer  mit  einer  Peritonealinfektion  fertig  werden  und  dann  um 
so  leichter  einer  Allgemeininfektion  des  Peritoneums  mit  Herz-  oder 
Niereninsufflzienz  erliegen  wird.  Man  könnte  daher  in  nicht  allzu 
schweren  Herz-  oder  Nierenerkrankungen  bei  gleichzeitiger  Peri- 
appendizitis eher  eine  Indikation  mehr  zur  möglichst  frühzeitigen 
Ausschaltung  der  Causa  nocens  zwecks  Verhütung  weiterer  Kompli- 
kationen erblicken,  welche  für  den  an  sich  in  seiner  Widerstandskraft 
erheblich  herabgesetzten  Patienten   eine  wesentlich   größere  Gefahr 

32* 


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436  Ad.  Ebner,  [OS 

involvieren  können,  als  die  vitale  Schädigung,  welche  der  kurz 
dauernde  und  ungefährliche  operative  Eingriff  ev.  unter  Äthernarkose 
oder  Lumbalanästhesie  mit  sich  bringt.  Auch  hier  wird  es  sich  zum 
mindesten  dringend  empfehlen,  zu  individualisieren  und  nicht  ohne 
weiteres  in  jeder  Herz-  oder  Nierenerkrankung  eine  absolute  Indikation 
gegen  einen  möglichst  frühzeitigen  operativen  Eingriff  zu  erblicken, 
da  die  Zufälle  des  Krankheitsverlaufes  wesentlich  schlimmere  Folgen, 
als  der  operative  Eingriff  an  sich  zeitigen  können. 

Fassen  wir  nun  zum  Schluß  noch  einmal  die  Gründe,  welche 
zugunsten  der  Frühoperation  innerhalb  der  ersten  48  Stunden  sprechen, 
kurz  zusammen,  so  haben  wir  dieselben  in  folgendem  zu  erblicken: 

1.  Gegenüber  dem  stets  unberechenbaren  Verlauf  der  Periappen- 
dizitis  stellt  die  Frühoperation  das  einzige  Mittel  dar  zur  sofortigen 
Beendigung  des  Krankheitsprozesses  und  zur  sicheren,  schnellen  und 
dauernden  Wiederherstellung  des  Patienten. 

2.  Die  Frühoperation  allein  vermag  dem  Patienten  mit  Sicherheit 
die  Vermeidung  sämtlicher  Früh-  oder  Spätfolgezustände  der  Peri- 
appendizitis,  wie  Thrombosen,  Embolien,  metastatische  Abszesse, 
Pleuriten  einerseits,  sowie  Adhäsionsbeschwerden  und  Narbenbruche 
andererseits  in  Aussicht  zu  stellen. 

3.  Die  Frühoperation  ist  für  den  Patienten  ebenso  ungefährlich 
und  für  den  Operateur  vielfach  leichter,  wie  die  früher  allgemein 
bevorzugte  Sicherheitsoperation,  da  sie  wegen  des  Fehlens  von  Ad- 
häsionen fast  stets  eine  gute  Übersicht  des  gesamten  Operationsfeldes 
und  somit  dem  Chirurgen  die  Möglichkeit  gewährt,  mit  kleinen 
Schnitten  auszukommen. 

4.  Die  Frühoperation  hat  gegenüber  der  Spätoperation  den  Vorteil 
einer  radikaleren  und  schnelleren  Heilung  für  den  Patienten,  da  sie 
einerseits  stets  die  radikale  Entfernung  des  Appendix  und  anderer- 
seits fast  ausnahmslos  den  primären  Verschluß  der  Bauchwunde  durch 
Naht  gestattet.  Selbst  bei  Einlegen  eines  kleinen  Sicherheitstampons 
in  zweifelhaften  Fällen  wird  die  Heilung  immer  noch  schneller  vor 
sich  gehen,  als  wenn  man  zur  Inzision  von  Abszessen  gezwungen  ist, 
nach  welcher  der  Patient  in  der  Regel  den  Appendix  behält  und  sich 
meist  noch  einer  weiteren  Operation  zur  Entfernung  desselben  unter- 
ziehen muß. 

5.  Der  Entschluß  zur  Operation  fällt  dem  Patienten  wesentlich 
leichter  im  Schmerzanfall  selbst,  als  später  in  dem  schmerz-  und  be- 
schwerdefreien Sicherheitsstadium. 

In  Erwägung  dieser  zahlreichen  und  unbestreitbaren  Vorteile  der 
absoluten  Frühoperation  in  den  ersten  48  Stunden  erscheint  es  daher 
nicht  nur  berechtigt,  sondern  dringend  geboten,  den  Praktiker  immer 


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09]    Über  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.  437 

wieder  darauf  hinzuweisen,  daß  er  in  der  Frühoperation  das  sicherste 
Mittel  in  der  Hand  hat  zur  schnellen  und  dauernden  Wiederherstellung 
seiner  Patienten  in  allen  Fällen ,  bei  denen  nicht  in  24  Stunden  ein 
völliger  oder  zum  mindesten  doch  deutlich  merkbarer  Rückgang  sämt- 
licher Erscheinungen  zu  verzeichnen  ist. 

So  grofi  nun  die  Obereinstimmung  der  Autoren  über  die  Indika- 
tionsstellung und  Zweckmäßigkeit  der  Frühoperation  ist,  so  groß  ist 
andererseits  zurzeit  noch  die  Divergenz  der  Anschauungen  über  die 
Vorzüge  und  Nachteile  der 

Zwischenoperation. 

Es  ist  dieses  so  ziemlich  das  einzige  Gebiet  der  Therapie,  auf 
dem  heute  noch  nicht  eine  gewisse  Übereinstimmung  hat  erzielt 
werden  können.  Wie  oben  bereits  erwähnt,  verstehen  wir  unter 
Zwischenoperation  diejenige  Operation,  welche  zeitlich  in  das 
Zwischenstadium  fällt,  das  vom  3. — 8.  Tage  der  Erkrankung  gerechnet 
wird  und  demjenigen  Zeitraum  entspricht,  welchen  das  Peritoneum 
erfahrungsgemäß  braucht,  um  durch  feste  Verwachsungen  eine  sichere 
Umgrenzung  und  Abkapselung  des  Entzündungsherdes  entstehen  zu 
lassen.  Der  Streit  der  Meinungen  dreht  sich  nun  darum,  ob  in 
diesem  2^itraum  der  operative  Eingriff  an  sich  durch  die  leichtere 
Lösung  der  noch  frischen  Adhäsionen  und  nachfolgende  Infektion  des 
freien  Peritoneums  einerseits  oder  die  Möglichkeit  einer  spontanen 
Verschlimmerung  und  Allgemeininfektion  des  Peritoneums  bei  exspek- 
tativem  Verhalten  andererseits  die  größere  Gefahr  für  den  Patienten 
darstellt. 

Die  Gegner  der  Zwischenoperation  wie  Sonnenburg,  Körte, 
V.  Eiseisberg,  Haberer^  v.  Bergmann,  Lanz,  Büngner,  Israel, 
Nordmann,  Holmes,  A.  C.  Bernays,  W.  Hagen,  Landau,  Treves 
u.  V.  a.  vertreten  naturgemäß  den  ersteren  Standpunkt.  Sie  halten 
die  Gefahr  einer  Lösung  der  Adhäsionen  mit  nachfolgender  Allgemein-^ 
Infektion  des  Peritoneums  in  dem  Zwischenstadium  für  so  groß,  daß 
nur  eine  heftige  Verschlimmerung  der  Erkrankung  bzw.  die  drohende 
Gefahr  des  spontanen  Eintritts  einer  Allgemeinperitonitis  das  Risiko 
eines  derartig  gefährlichen  Eingriffs  zu  rechtfertigen  vermag.  Sie 
suchen  daher  prinzipiell  alle  Fälle  nach  48  Stunden  ins  Sicherheits- 
stadium oder  zum  mindesten  ins  Spätstadium  überzuführen,  um  dann 
die  etwa  notwendige  Spaltung  der  nunmehr  sicher  abgekapselten  Ab- 
szesse vorzunehmen. 

Allerdings  stellen  auch  einige  der  prinzipiellen  Gegner  der 
Zwischenoperation  die  Indikation  zum  Eingriff  in  der  Praxis  weiter, 
als  die  anderen  und  nehmen  dadurch  eine  gewisse  Mittelstellung  zu 
der  Frage  ein.    Wenn  z.  B.  Kümmel  rät,  im  späteren  Stadium  nach 


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438  Ad.  Ebner,  [70 

48  Stünden  nur  bei  abklingendem  Fieber  oder  ÜeberFreiem  Exsudat 
abzuwarten^  so  klingt  das  schon  ganz  anders ,  als  wenn  er  ganz  all- 
gemein den  Lehrsatz  aufstellt,  nach  48  Stunden  lieber  Eis  und  Opium 
zu  geben,  falls  nicht  die  Schwere  des  Anfalles  den  EingrifF  notwendig 
macht  Im  letzteren  Fall  ist  gewissermaßen  eine  Verschlimmerung, 
im  ersteren  Fall  bereits  das  Ausbleiben  eines  deutlichen  Rückganges 
der  Erscheinungen  für  ihn  genügend  als  Indikation  für  den  operativen 
EingrifF  im  Zwischenstadium.  Körte,  v.  Eiseisberg  und  Tilman 
spalten  Abszesse  sofort  nach  der  Diagnose  auch  im  Zwischenstadium 
ohne  ihre  weitere  Abkapselung  abzuwarten.  Andere  wiederum  glauben 
auch  bei  Abszessen  die  festere  Abkapselung  wenn  irgend  möglich  ab- 
warten zu  müssen  mit  dem  Messer  in  der  Hand  und  unter  exaktester 
Beobachtung  auf  die  Möglichkeit  einer  Spontanperforation  der  noch 
frischen  Verwachsungen  hin. 

Zu  den  Vertretern  der  radikalen  Richtung  haben  wir  alle  diejenigen 
zu  rechnen,  welche  die  Periappendizitis  prinzipiell  in  jedem  Stadium 
und  zu  jeder  Zeit,  also  auch  im  Zwischenstadium  operativ  anzugehen 
pflegen,  da  sie  teils  auf  Grund  persönlicher  Erfahrungen,  teils  auf 
Grund  wissenschaftlicher  Erwägungen  die  Gefahr  der  peritonealen 
Allgemeininfektion  als  Folge  des  Eingrifi^s  nicht  allzuhoch  einschätzen 
und  die  Bestätigung  dafür  in  den  guten  Resultaten  ihrer  Statistiken 
erblicken  zu  können  glauben. 

So  hat,  wenn  wir  die  vorliegende  Literatur  einer  kurzen  Durchsicht 
unterziehen,  u.  a.  Dörffler  seiner  eigenen  Angabe  nach  einen  glän- 
zenden, von  ihm  nie  zuvor  erreichten  Erfolg  erzielt,  seitdem  er  in 
seiner  Praxis  jeden  Fall  von  Periappendizitis  sofort  operiert,  der 
irgendwie  ernstere  Erscheinungen  zeigt.  Und  zwar  versteht  er  unter 
letzteren  peritonitische  Symptome  im  weitesten  Sinne  des  Wortes. 
Er  hält  jede  Operation  vor  der  Etablierung  einer  allgemeinen  Peri- 
tonitis für  gefahrlos,  leicht  und  sicher  ausführbar  und  meint,  daß 
durch  eine  rechtzeitige  Operation  bei  entsprechender  Sachkenntnis 
und  Sorgfalt  das  Auftreten  einer  tödlichen  Allgemeinperitonitis  fast 
mit  absoluter  Sicherheit  vermieden  werden  kann.  Selbst  in  zweifel- 
haften Fällen  ist  er  dafür,  lieber  eine  Probelaparotomie  zu  machen, 
als  ein  Menschenleben  zu  riskieren. 

Auch  Rehn  stellt  die  Forderung  auf,  jede  Blinddarmentzündung 
operativ  anzugehen,  ehe  sich  die  verderblichen  Folgen  der  Erkrankung 
ausgebildet  haben.  Sein  Schüler  Nötzel  steht  naturgemäß  auf  dem 
gleichen  Standpunkt,  indem  er  sagt:  „Wir  kennen  keinen  Zeitpunkt, 
in  dem  wir  abwarten.  Wir  operieren  jeden  Appendizitisanfall  nach 
seiner  Einlieferung  ins  Krankenhaus  zu  jeder  Tages-  und  Nachtzeit' 

Karewski  meint,  daß  die  Überleitung  in  das  kalte  Stadium  zwar 


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71]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  U.Behandlung  der  Appendizitis.    439 

häufig  gelingen  kann,  daß  sie  aber  nicht  selten  ein  Spiel  mit  dem 
Leben  des  Patienten  ist.  Da  überhaupt  jede  Zeitbestimmung ,  jede 
Beurteilung  der  Schwere  oder  Leichtigkeit  der  Symptome  trügerisch 
sein  kann,  hält  er  es  fQr  das  richtigste  in  jedem  Falle  sofort  einzu- 
greifen. 

Worcester  halt  die  chirurgische  Behandlung  für  das  einzig  rich- 
tige, fügt  dann  aber  etwas  diplomatisch  hinzu/ die  Zeit  der  Operation 
bestimme  der  Gang  der  Erkrankung,  ein  Rat,  der  bei  der  Allgemein- 
heit seines  Ausdrucks  für  den  Praktiker  wohl  kaum  von  Wert  sein 
kann. 

Krecke  spricht  sich  für  die  Operation  unter  allen  Umständen  auch 
ohne  sichere  Symptome  der  Eiterung  aus. 

Ebenso  rät  Delag6ni6re  stets  sofort  zu  operieren,  in  welchem 
Stadium  auch  die  Erkrankung  bei  der  ersten  Konsultation  zur  Be- 
handlung kommt.  Desgleichen  operieren  Rinne,  v.  Zwalenburg, 
Hahn,  L  C.  Stinson,  A.  H.  Cordier  jeden  Fall  zu  jeder  Zeit,  da 
Abwarten  immer  gefährlich  sein  kann. 

Der  Hauptverfechter  des  operativen  Vorgehens  in  jedem,  also 
auch  im  Zwischenstadium  ist  Sprengel,  nach  dem  die  Periappendi- 
zids  am  besten  sofort  nach  gesicherter  Diagnose  operiert  wird« 
Denn  «findet  man  dabei  Eiter,  so  war  die  Operation  gerechtfertigt, 
findet  man  keinen,  so  ist  sie  unschädlich"^.  Im  übrigen  begründet 
Sprengel  seinen  radikalen  Standpunkt  des  näheren  damit,  daß  auch 
ohne  Operation  der  Zeitraum  des  Zwischenstadiums,  absolut  betrach- 
tet, die  höchste  Zahl  an  Todesßillen  aufweist,  da  innerhalb  dieser 
Zeit  infolge  des  freien  bzw.  in  Abgrenzung  erst  begriffenen  Ent- 
zfindungsprozesses  die  Gefahr  einer  peritonealen  Allgemeininfektion 
am  größten  ist  und  am  leichtesten  eine  entscheidende  Wendung  zum 
Schlimmeren  eintreten  kann.  Gerade  deswegen  habe  man  ja,  um  dieses 
gefahrliche  Stadium  zu  vermeiden,  den  Vorteil  der  Frühoperation 
allgemein  anerkannt.  Sprengel  vermag  daher  um  so  weniger  einzu- 
sehen, weshalb  man  den  Patienten  bei  späterer  Aufnahme  im  Zwischen- 
stadium erst  den  weiteren  Gefahren  desselben  aussetzen  solle,  ohne 
diesen  durch  einen  sofortigen  Eingriff  mit  Sicherheit  vorzubeugen. 
Absolute  Klarheit  über  den  Vorteil  bzw.  die  Oberlegenheit  der  Zwi- 
schenoperation kann  eben  nur  eine  vergleichende  Statistik  über  die 
Mortalität  einer  größeren  Anzahl  von  Fällen  bringen,  die  während 
des  Zwischenstadiums  teils  ohne,  teils  mit  prinzipieller  Operation 
behandelt  worden  sind  und  nicht  nur  auf  besonders  schwere  Indika- 
tionen hin  operiert  sind.  Solange  eine  solche  Aufstellung  fehlt,  ist 
ein  abgeschlossenes  Urteil  über  diese  Frage  wenigstens  vom  prakti- 
schen Standpunkt   aus   nicht   möglich   und  wird   immer  mehr   oder 


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440  Ad.  Ebner,  [72 

weniger  von  den  subjektiven  Eindrücken  und  Erfahrungen  des  ein- 
zelnen abhängen. 

Vom  theoretischen  Standpunkt  aus  möchte  ich  eine  Erwägung  her- 
vorheben, die  von  Professor  Lexer,  als  überzeugtem  Anhänger  der 
Zwischenoperation,  häufig  in  seiner  Vorlesung  angeführt  wird,  und 
die  mir  doch  ganz  erheblich  zugunsten  der  Zwischenoperation  zu 
sprechen  scheint.  Wenn  man  nämlich  den  Entzündungsvorgang  am 
Appendix  in  seiner  reaktiven  Wirkung  auf  die  Umgebung  mit  den 
Entzündungsvorgängen  am  Furunkel  vergleicht,  so  ist  bei  letzterem 
einwandsfrei  der  experimentelle  Nachweis  durch  Impfung  geführt,  daß 
die  durch  Rötung,  Infiltration  und  Schmerzhaftigkeit  ausgezeichnete, 
sogenannte  reaktive  Entzündungszone  der  Haut  um  den  eigentlichen 
Infektionsherd  herum  durch  eine  erhöhte  Produktion  von  bakteriziden 
und  bakteriolytischen  SchutzstofFen  gegen  eine  Infektion  mit  dem  Virus 
des  eigentlichen  Herdes  als  immun  zu  bezeichnen  ist. 

In  gleicher  Weise  bildet  sich  nun  auch  um  den  eigentlichen  Ent- 
zündungsherd am  Appendix  eine  reaktive  Entzündungszone  aus,  welche 
wir  makroskopisch  an  der  stärkeren  Injektion  und  Schwellung  des 
viszeralen  Peritoneums  der  umgebenden  Darmschlingen  deutlich  ab- 
grenzen können.  Soweit  diese  Injektion  sich  erstreckt,  ist  das  Peri- 
toneum analog  dem  experimentellen  Nachweis  am  Furunkel  als  immun 
zu  bezeichnen  gegen  eine  sekundäre  Infektion  vom  primären  Entzün- 
dungsherd aus,  da  es  bereits  durch  verstärkte  Hyperämie  und  Er- 
zeugung entsprechender  SchutzstoH^e  gewissermaßen  seine  Vorposten 
als  Sicherung  gegen  einen  Überfall  der  feindlichen  Truppen  aufge- 
stellt hat.  Solange  also  der  Operateur  sich  im  Zwischenstadium 
innerhalb  dieser  reaktiven  Entzündungszone  der  Darmserosa  hält,  und 
solange  eine  Verbreitung  des  infektiösen  Virus  über  diese  Zone  hinaus 
vermieden  wird,  ist  eine  Allgemeininfektion  des  Peritoneums  mit 
Sicherheit  auszuschließen.  Dieses  zu  erreichen  wird  im  allgemeinen 
Sache  der  Erfahrung  und  Technik  des  Operateurs  sein.  Daß  es  sich 
erreichen  läßt,  dürften  die  bisher  erreichten,  durchaus  ermutigenden 
Erfolge  der  oben  angeführten  Vertreter  der  Zwischenoperation  zur 
Genüge  beweisen.  Man  darf  daher  die  Operation  als  solche  wohl 
kaum  als  besonders  gefahrvoll  bezeichnen,  sobald  der  Operateur  über 
die  nötige  Erfahrung  und  Technik  verfügt. 

Ziehen  wir  nach  dieser  theoretischen  Erwägung  noch  in  Betracht, 
daß  das  Spätstadium  oder  Abszeßstadium  einerseits  gerade  denjenigen 
Zeitraum  darstellt,  in  welchem  es  am  ehesten  zur  Ausbildung  der 
bekannten  schweren  Folgezustände  der  Periappendizitis,  Thrombosen, 
Embolien,  metastatischer  Abszesse  u.  dgl.  kommt,  und  daß  anderer- 
seits bei  dem  so  häufigen  Gegensatz  der  klinischen  Erscheinungen  mit 


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73]   Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.     44 1 

dem  anatomisch-pathologischen  Befund  trotz  genauester  und  sorgfältigster 
Beobachtung  gar  nicht  so  selten  bei  der  exspektativen  Behandlung  der 
dringendste  Zeitpunkt  zur  Operation  noch  vor  dem  Eintritt  einer 
peritonealen  Allgemeininfektion  versäumt  werden  kann,  so  dürften 
vir  vohl  mit  Recht  zu  dem  Schluß  gelangen,  daß  die  tatsächlichen  Ge- 
fahren der  Zwischenoperation  doch  wesentlich  geringer  einzuschätzen 
sind,  als  die  ZuiSUe  und  Folgezustände,  welchen  die  Patienten  gerade 
durch  das  Zwischenstadium  bzw.  durch  die  prinzipielle  Überleitung 
der  Erkrankung  ins  Spätstadium  oder  Sicherheitsstadium  ausgesetzt 
sein  können. 

Es  ist  daher  wohl  anzunehmen,  daß  nach  weiteren  günstigen  Er- 
fahrungen der  radikaleren  Operateure  auch  bei  den  heutigen  Gegnern 
der  Zwischenoperation  die  Furcht  vor  den  Gefahren  des  Eingriffs  an 
sich  mehr  und  mehr  schwinden  wird,  so  daß  sie  selbst  allmählich  ihre 
Indikationen  weiter  und  weiter  stellen  und  dann  auf  Grund  eigener 
Erfahrungen  ihre  Anschauung  nach  der  radikaleren  Richtung  hin  re- 
vidieren werden.  Alles  in  allem  scheint  mir  die  Zwischenoperation 
ein  Eingriff  zu  sein,  über  dessen  Indikationsstellung  und  Zweckmäßig- 
keit die  Meinungen  zwar  noch  geteilt  sind,  der  aber  mit  der  häufigeren 
Anwendung  und  Erprobung  auch  seitens  seiner  heutigen  Gegner  den 
Beweis  seiner  Berechtigung  selbst  erbringen  dürfte,  um  so  mehr  als 
bei  ihm  gleichwie  bei  der  Frühoperation  die  radikale  Entfernung  des 
erkrankten  Appendix  die  Regel  bildet  und  damit  die  Patienten  gleichr 
zeitig  der  Notwendigkeit  eines  zweiten  operativen  Eingriffs  zwecks 
definitiver  Heilung  enthoben  werden. 

Hinsichtlich  der  Technik  ist  dabei  zu  bemerken,  daß  durch  frische 
Verwachsungen  und  ev.  in  der  Bildung  begriffene  Abszesse  um  den 
Appendix  herum  die  Übersicht  des  Operationsfeldes  erheblich  er- 
schwert und  daher  die  Anlegung  eines  größeren  Schnittes  zur  Eröff- 
oung  der  Bauchhöhle  von  vornherein  erforderlich  ist.  Da  man  nun 
aber  bei  direktem  Vorgehen  auf  den  Krankheitsherd  durch  die  Bauch- 
decken hindurch  Gefahr  laufen  würde,  durch  absichtliche  oder  unab* 
sichtliche  Lösung  der  Adhäsionen  die  freie  und  gänzlich  ungeschützte 
Bauchhöhle  zu  infizieren,  so  wird  von  Rehn,  Riedel,  Sprengel, 
Dörffler,  Murphy,  Moskowicz  u.  a.  empfohlen,  prinzipiell  von  der 
freien  Bauchhöhle  aus  gegen  den  Entzündungsherd  vorzugehen  und 
zu  diesem  Zwecke  die  Bauchhöhle  nicht  direkt  über,  sondern  dicht 
neben  dem  Krankheitsherd  zu  eröffnen.  Man  kann  dann  unter  guter 
Obersicht  über  die  gesamte  Sachlage  das  freie  Peritoneum  durch  ent- 
sprechende Tamponade  um  den  Entzündungsherd  abschützen,  um  so  in 
Sicherheit  an  die  Lösung  der  frischen  Adhäsionen  und  die  radikale 
Entfernung  des  erkrankten  Organes  heranzugehen. 


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442  Ad.  Ebner,  [74 

Wesentlich  kürzer  können  wir  uns  Fassen  bezüglich  der  Operation 
im  Spät-,  Not-  und  Sicherheitsstadium,  über  deren  Zweckmäßigkeit 
bzw.  Notwendigkeit  heute  volle  Einstimmigkeit  herrscht.  Ergibt  es 
sich  doch  von  selbst,  daß  für 

die  Spätoperation 
im  Stadium  der  abgeschlossenen  intraabdominalen  Eiterung  der  alte 
Lehrsatz  »ubi  pus,  ibi  evacua'  mehr  als  irgendwo  anders  seine  volle 
Geltung  behalten  muß.  Allerdings  haben  auch  hier  in  den  letzten 
Jahren  die  günstigen  Erfahrungen  der  radikaleren  Operateure  mit  der 
Sicherung  der  Bauchhöhle  durch  Tamponade  und  die  dadurch  herab- 
geminderte Furcht  vor  der  peritonealen  Allgemeininfektion  die  Indi- 
kationsstellung zum  operativen  Eingriff  noch  erheblich  erweitert. 
Während  man  sich  nämlich  früher  aus  Angst  vor  einer  weiteren  Ver- 
breitung der  Infektion  nach  Möglichkeit  auf  die  Eröffnung  der  ober- 
flächlich, dicht  unter  den  Bauchdecken  gelegenen  Abszesse  zu  be- 
schränken suchte  und  womöglich  wartete  bis  sie  einer  direkten 
Eröffnung  von  außen  her  zugänglich  waren,  gehen  heute  die  oben- 
genannten Autoren  in  gleicher  Weise  wie  im  Zwischenstadium  auch 
die  abgekapselten  Abszesse  im  Spätstadium  prinzipiell  durch  die  freie 
Bauchhöhle  an,  da  sie  in  der  größeren  Übersichtlichkeit  und  rich- 
tigen Abtamponierung  der  Umgebung  des  Abszesses  bei  diesem  Vor- 
gehen eine  bessere  Sicherung  des  freien  Peritoneums  erblicken  zu 
müssen  glauben,  als  in  der  direkten  Eröffnung  der  Abszesse  durch  die 
Bauchdecken  hindurch,  bei  welcher  unabsichtliche  Eröffnungen  des 
freien  Peritoneums  infolge  geringerer  Obersicht  viel  leichter  der  Be- 
obachtung entgehen  und  infolge  Fehlens  der  schützenden  Tamponade 
auch  leichter  zur  nachfolgenden  Allgemeininfektion  des  Peritoneums 
Anlaß  geben  können. 

So  erhält  man  nach  Dörffler  die  besten  Resultate,  wenn  man 
sowohl  in  den  frischen,  wie  in  den  verschleppten  Fällen  ausnahmslos 
von  der  freien  Bauchhöhle  aus  gegen  den  entzündlichen  Tumor  vor- 
geht. Er  eröffnet  daher  nach  dem  Vorgange  von  Rehn,  Riedel  und 
Sprengel  prinzipiell  von  vornherein  die  freie  Bauchhöhle,  um  dann 
unter  Abdichtung  des  freien  Peritoneums  mit  Gazekompressen  stumpf 
gegen  die  Resistenz  vorzudringen,  den  Abszeß  möglichst  in  Seitenlage 
zu  eröffnen  und  wenn  möglich  die  Radikaloperation  anzuschließen. 
Sodann  Dränage  der  Höhle  durch  Tamponade,  Auswechseln  des 
Schutztampons  am  Peritoneum  durch  frische  sterile  Gaze  und  Verband. 
Der  nächstgrößere  Verbandwechsel  bzw.  die  Entfernung  der  Tam- 
ponade wird  nicht  vor  8  Tagen  vorgenommen,  um  eine  genügende 
Festigkeit  der  abschließenden  Verwachsungen  zu  garantieren.  Im 
übrigen   glaubt   Dörffler,   daß   trotz   der  Tamponade  in  derartigen 


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75]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.    443 

Fallen  die  Gefahr  eines  späteren  Narbenbruches  nicht  allzugroO  sei, 
da  es  bei  frühzeitiger  Operation  noch  nicht  zu  erheblichen  Ernährungs- 
störungen der  Fascie  gekommen  ist. 

Rehn  handelt  auch  hier  nach  dem  Grundsatz,  daO  stets  in  der 
Erkrankung  und  nie  in  der  Operation  die  eigentliche  Gefahr  zu  er- 
blicken ist.  Er  empfiehlt  sogar  den  Processus,  wenn  möglich,  aufzu- 
Sachen  und  zu  amputieren  und  rät  auch  leichte  Verwachsungen  vor- 
sichtig zu  lösen,  um  sämtliche  Buchten  des  Abszesses  freizulegen. 
Wenn  er  dann  aber  nur  unter  Einlegen  eines  Dräns  in  die  Höhle  rät, 
die  Bauchhöhle  primär  zu  schließen  bis  auf  die  relativ  kleine  Öffnung 
für  das  Dränrohr,  so  mag  das  ja  wohl  eine  Berechtigung  auf  Grund 
seiner  persönlichen  guten  Erfahrungen  haben.  Wenn  er  vom  theo- 
retischen Standpunkt  jedoch  dafür  anführt,  daß  gerade  dieser  exakte 
Schluß  der  Bauchhöhle  eine  wichtige  Vorbedingung  für  eine  gute 
Dränage  sei,  da  dadurch  der  normale  intraabdominale  Druck  wieder 
hergestellt  werde,  so  darf  man  dem  vielleicht  entgegenhalten,  daß 
es  fraglich  und  zum  mindesten  noch  nicht  bewiesen  ist,  daß  dieser 
intraabdominale  Druck  das  Hauptagens  bei  der  Entleerung  des  Sekretes 
ist,  sondern  daß  dabei  ein  großer  Anteil,  wenn  nicht  der  Hauptanteil 
auf  die  kapillare  Ansaugung  seitens  der  Gazedränage  einerseits  und 
auf  die  Vis  a  tergo  der  von  hinten  her  nachdrängenden  mehr  und 
mehr  serösen  Exsudation  andererseits  zu  schieben  ist.  Wenigstens 
scheint  mir  eine  derartige  Frage  nicht  unberechtigt,  wenn  man  erwägt, 
daß  bei  analogem  Vorgehen  an  den  Extremitäten  auch  nicht  der  Ge- 
websdruck an  sich,  sondern  die  künstlich  durch  die  Bier  sehe  Stauung 
noch  gesteigerte  Vis  a  tergo  des  nachdrängenden  serösen  Exsudates 
das  eigentliche,  rein  mechanische  Agens  bei  der  Austreibung  und 
Entleerung  der  schädlichen  Stoffe  darstellt.  Des  weiteren  ist  dagegen 
vielleicbt  noch  anzuführen,  daß,  rein  mechanisch  gedacht,  ein  geringerer 
Querschnitt  der  DränageöfFnung  unmöglich  dasselbe  leisten  kann, 
wie  ein  größerer  Querschnitt,  und  daß  diese  Differenz  wohl  kaum 
durch  die  in  ihrer  Wirkung  noch  etwas  unsichere  Erhöhung  bzw. 
Wiederherstellung  des  alten  intraabdominalen  Druckes  ausgeglichen 
wird.  Im  übrigen  dürfte  sich  auch  bei  der  geringsten  Retention  an 
ii^endeiner  Stelle  der  Abszeßhöhle  die  sekundäre  Entleerung  der- 
selben nach  der  Methode  von  Rehn  wesentlich  schwieriger  gestalten, 
eine  solche  Retention  aber  von  vorneherein  auszuschließen  dürfte 
gerade  bei  dieser  auf  das  geringste  Maß  beschränkten  Anwendung  der 
Dränage  ein  genügender  Grund  nicht  vorliegen.  Ein  besonderer 
Anlaß  zur  Empfehlung  der  Versorgung  der  Abszeßhöhle  nach  dem 
Vorgang  von  Rehn  scheint  mir  danach  nicht  vorzuliegen,  solange 
nicht  eine  tatsächliche  Überlegenheit  dieser  Methode   über  die   alte. 


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444  Ad.  Ebner,  [76 

ausgiebigere  Art  der  Dränage  praktisch  und  wissenschaftlich  ein- 
wandsfrei  nachgewiesen  ist. 

Trotz  der  guten  Erfolge»  welche  die  genannten  Autoren  mit  ihrem 
radikalen  Vorgehen  zu  verzeichnen  haben ,  steht  die  Mehrzahl  der 
Chirurgen  noch  auf  dem  älteren  Standpunkt,  bei  der  Inzlsion  von 
abgeschlossenen  Abszessen,  wenn  irgend  möglich,  die  Eröffnung  der 
freien  Bauchhöhle  zu  vermeiden  und  den  Appendix  nur  dann  zu  ent- 
fernen, wenn  er  sich  sozusagen  dem  Messer  von  selbst  darbietet.  Es 
bleibt  dann  die  definitive  Entfernung  des  Appendix  einer  zweiten 
Operation  vorbehalten,  die  man  bis  zum  nächsten  Anfall  verschieben 
kann,  wenn  der  Patient  in  der  Lage  ist,  sich  bei  den  ersten  Anzeichen 
desselben  zur  sofortigen  Frühoperation  einzufinden.  Im  anderen  Falle 
wird  man  bereits  vorher  im  Sicherheitsstadium  die  Appendektomie 
vornehmen,  um  den  Patienten  nicht  unnötig  der  Möglichkeit  und  den 
ZufSUen  eines  weiteren  Anfalles  ohne  sofortige  chirurgische  Hilfe 
auszusetzen. 

Hinsichtlich  der  Indikationsstellung  zum  Eingriff  kann  für  den 
Praktiker  nicht  genug  betont  werden,  daß  der  Eingriff  am  besten  statt- 
findet, sobald  eine  fühlbare  und  schmerzhafte  Resistenz  auch  nur  den 
Verdacht  einer  umschriebenen  Eiterung  nahelegt.  Wenn  man  nämlich 
in  Betracht  zieht,  daß  immer  noch  und  zwar  gar  nicht  so  selten  Fälle 
zur  Operation  eingeliefert  werden,  in  denen  bisweilen  der  Abszeß 
bereits  die  Bauchdecken  vorwölbt  und  in  denen  dann  die  In- 
zision  eine  Unmenge  von  Eiter  entleert,  so  fragt  man  sich  immer 
wieder,  wie  es  heutzutage  noch  möglich  ist,  daß  ein  Arzt  an  die  Re- 
sorptionsmöglichkeit derartiger  Exsudatmengen  auch  nur  denken  oder 
andererseits  eine  festere  Abkapselung  des  dauernd  anwachsenden 
Abszesses  bei  konservativer  Behandlung  erwarten  kann,  ohne  sich 
darüber  klar  zu  werden,  daß  er  auf  diese  Weise  geradezu  ein  Spiel 
mit  dem  Leben  seiner  Patienten  treibt.  Solche  Fälle  haben  dann 
nachträglich  für  den  betreffenden  Arzt  noch  das  Bedauerliche  an  sich, 
daß  sich  die  mißhandelten  Patienten  spontan  die  gleiche  Frage  vor^ 
legen  und  trotz  der  gut  gemeinten  Beruhigungsversuche  des  Chirurgen 
in  einer  für  die  wissenschaftlichen  Fähigkeiten  des  Arztes  wenig 
schmeichelhaften  Weise  selbst  zu  beantworten  pflegen. 

Es  muß  daher  immer  wieder  hervorgehoben  werden,  daß  in  jedem 
Falle  der  praktische  Arzt  am  sichersten  geht,  wenn  er  bei  jeder  Appen- 
dizitis überhaupt,  und  um  so  mehr  wenn  er  sie  erst  im  Spätstadium 
zu  Gesicht  bekommt,  möglichst  frühzeitig  einen  Chirurgen  zu  Rate 
zieht,  um  sich  auf  dessen  größere  Erfahrung  hinsichtlich  der  Indika- 
tion zum  operativen  Eingriff  zu  stützen. 

Kommen  wir  nun  schließlich  zu  demjenigen  Stadiun^,  in  welchem 


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77]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.   445 

durch  die  eingetretene  Allgemeininfektion  des  Peritoneums  die  Not 
am  gröOesten  ist,  und  welches  daher  mit  Recht  die  Bezeichnung 
als  Notstadium  verdient,  so  ist  bezüglich  des  operativen  Eingriffs  in 
demselben,  der 

Notoperation, 
zu  bedenken,  daß  die  Aussiciiten  derselben  naturgemäß  um  so  günsti- 
ger sind,  je  früher  dieselbe  erfolgt,  und  daO  der  entscheidende  Wende- 
punkt für  eine  günstige  Prognose  bereits  nach  Ablauf  der  ersten 
48  Stunden  gegeben  ist.  Es  wird  daher  für  dieses  Stadium  der  alte 
Grundsatz,  lieber  zu  früh,  wie  zu  spät  zu  operieren,  eine  doppelte 
Geltung  haben  müssen,  da  man  besser  einen  Patienten  noch  vor  der 
Allgemeinperitonitis  operiert,  als  daß  man  in  dem  Bestreben,  eine 
Klarung  und  Sicherstellung  der  Diagnose  herbeizuführen,  die  kost- 
baren Stunden  ungenützt  verstreichen  läßt.  Es  ist  daher  mit  Recht 
jeder  einer  Allgemeininfektion  des  Peritoneums  auch  nur  verdächtige 
Patient  stets  so  zu  behandeln,  als  wenn  tatsächlich  eine  solche  bereits 
vorhanden  wäre. 

Mit  Rücksicht  auf  den  grundsätzlichen  Unterschied  bei  der  Pro- 
gnose der  Notoperation  vor  und  nach  den  ersten  48  Stunden  wird  der 
EingrifF  innerhalb  der  ersten  48  Stunden  seit  Beginn  der  Allgemein- 
iofektion  des  Peritoneums  auch  als  Frühoperation  schlechtweg  be- 
zeichnet. Da  man  aber  darunter  gemeinhin  auch  die  absolute  Früh- 
operation in  den  ersten  48  Stunden  der  Erkrankung  überhaupt  ver- 
stehen kann,  habe  ich  im  Gegensatz  zu  der  letzteren  die  Benennung 
der  relativen  Frühoperation  gebraucht,  da  es  sich  dabei  ja  nicht  um 
eine  absolut,  sondern  nur  relativ  frühzeitige  Operation  handelt,  näm- 
lich hinsichtlich  des  zeitlichen  Beginns  der  peritonealen  Allgemein- 
infektion, und  nicht  der  Erkrankung  an  sich. 

Bezüglich  der  Indikationsstellung  für  den  Eingriff  herrscht  mit 
Rficksicht  auf  die  günstige  Prognose  desselben  innerhalb  der  ersten 
24  Stunden*  eine  absolute  Einigkeit  über  die  strikte  Notwendigkeit  der 
relativen  Frühoperation.  Über  die  eigentliche  Notoperation  nach 
48  Stunden  sind  die  Ansichten  jedoch  etwas  geteilt,  indem  einzelne 
Autoren  auch  dann  prinzipiell  stets  operativ  vorgehen,  während  an- 
dere die  Indikation  zum  EingrifF  von  Fall  zu  Fall  stellen  und  sie  von 
dem  Allgemeinzustand  der  Patienten  in  erster  Linie  abhängig  machen 
wollen.  Letztere  neigen  zu  der  Annahme,  daß  der  an  sich  bereits 
sehr  geschwächte  Patient  entweder  dem  operativen  Eingriff  direkt 
erliegen  könne,  oder  daß  er  zum  mindesten  dadurch  allzusehr  ge- 
schwächt werde,  um  mit  den  im  Körper  bereits  vorhandenen  Gift- 
stoffen fertig  zu  werden  und  so  mittelbar  den  Folgen  der  Operation 
erliegen  müsse. 


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446  Ad.  Ebner,  £78 

In  diesem  Sinne  macht  u.  a.  auch  Dörffler  den  Vorschlag  nach 
48  Stunden  die  Indikation  für  den  Eingriff  lieber  von  Fall  zu  Fall  zu 
entscheiden  und  den  Eingriff  zu  unterlassen  bei  schlechtem  Puls, 
rascher  Atmung  und  hochgradigem  Meteorismus,  kürz  bei  den  üblichen 
Anzeichen  einer  weit  Fortgeschrittenen  Peritonitis.  Zu  erwägen  wäre 
es  seiner  Meinung  nach,  ob  der  Eingriff  sich  noch  lohnt,  bei  gutem 
Puls  und  leidlichem  Allgemeinbefinden  des  Patienten. 

Nordmann  will  bei  allgemeiner  Peritonitis  erst  nach  dem  5.  Tage 
mit  Auswahl  operieren,  da  sich  dann  vielleicht  eine  Reihe  von  Pa- 
tienten noch  erholen  könne,  welche  sonst  der  Operation  erliegen 
würden,  und  namentlich  da  bei  hochgradiger  Darmlähmung  die  Aus- 
sichten auf  den  Erfolg  eines  Eingriffs  sich  wesentlich  verschlechterten, 
wenn  nicht  gänzlich  in  Fortfall  kämen. 

Wieder  andere  wollen  bei  der  Perforationsperitonitis  überhaupt 
erst  das  Schwinden  der  vorhandenen  Shokerscheinungen  abwarten, 
da  in  diesem  Zeitpunkt  die  Operation  zu  gefährlich  sei.  Dieser  An- 
schauung darf  man  wohl  mit  Lennander  entgegenhalten,  daß  in 
derartigen  Fällen  das  beste  Mittel  gegen  den  Shok  die  Operation  ist, 
denn  cessante  causa,  cessat  effectus. 

Auch  Kocher  hält  die  operative  Behandlung  der  allgemeinen  vom 
Zwerchfell  bis  zum  Becken  sich  erstreckenden  Peritonitis  für  äußerst 
undankbar,  und  zwar  ebenfalls  wegen  des  Shoks  und  der  gesteigerten 
Resorption  von  Giftstoffen,  welche  der  operative  Eingriff  zur  Folge 
habe.  Da  nun  nach  experimentellen  Untersuchungen  von  Cirle  der 
plötzliche  Abfall  des  Blutdruckes,  welcher  als  eigentliche  Ursache  des 
Shokes  aufzufassen  ist,  durch  eine  vorübergehende  Ausschaltung  der 
arteriellen  Blutzufuhr  zu  den  Därmen  zu  verhindern  sein  soll,  so 
meint  Kocher,  daß  danach  die  Frage  diskussionsberechtigt  erscheinen 
könne,  ob  zu  dem  gleichen  Zweck  die  vorübergehende  Anlegung  einer 
Klemmzange  am  Mesenterium  für  die  kurze  Zeit  der  Eventration  und 
Reinigung  der  Därme  in  Betracht  zu  ziehen  sei.  Die  Entscheidung 
der  Frage  dürfte  davon  abhängig  sein,  ob  sich  jemand  entschließt,  dem 
Vorschlage  Kochers  praktische  Folge  zu  geben. 

Trotz  dieser  Einwände  der  mehr  individualisierenden  Richtung 
darf  man  wohl  doch  die  z.  Z.  herrschende  allgemeine  Anschauung  über 
die  Indikationssteliung  zur  Notoperation  dahin  definieren,  daß  selbst 
in  aussichtslos  erscheinenden  Fällen  von  allgemeiner  Peritonitis  mit 
Darmlähmung  der  Shok  einer  unter  Lokal-  oder  Lumbalanästhesie 
oder  Äthertropfnarkose  ausgeführten  Operation  nicht  ein  derartiger 
ist,  daß  man  dem  Patienten  deswegen  die  letzte  Chance  zur  Rettung 
entziehen  müßte,  selbst  auf  die  Gefahr  hin,  die  eigene  Operations- 
statistik  mit   einem   Todesfall   mehr   zu  belasten.    Denn   die    Fälle, 


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79]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.    447 

welche  im  Stadium  der  Allgemeinperitonitis  mit  Darmlähmung  auch 
ohne  Operation  taisäcblicb  durchkommen^  dürften  zu  den  Ausnahmen 
zu  zählen  sein,  welche  die  Regel  von  der  absoluten  Aussichtslosig- 
keit auch  der  konservativen  Behandlung  unter  derartigen  Umständen 
bestätigen. 

Im  übrigen  ist  selbst  in  diesen  Fällen  der  operative  Eingriff  um 
so  mehr  in  Betracht  zu  ziehen ,  als  man  ja  in  der  namentlich  von 
Barth  und  Heidenhain  empfohlenen  mehrfachen  Enterostomie 
gleichzeitig  ein  Mittel  zur  Hand  hat,  die  bereits  geblähten  und  pa- 
ralytischen Darmschlingen  zu  entlasten  und  ihnen  dadurch  eine 
Möglichkeit  mehr  zur  Erholung  und  Erneuerung  der  geschwundenen 
Peristaltik  zu  gewähren. 

So  aussichtslos  auch  der  operative  Eingriff  im  vorgeschrittenen 
Stadium  der  allgemeinen  Peritonitis  zu  sein  pflegt,  so  darf  man  ihn 
mit  gutem  Gewissen  doch  wohl  kaum  unterlassen,  da  in  der  Regel 
der  Nutzen  der  Operation  eine  mögliche  Shokwirkung  derselben  weit 
überwiegen  dürfte,  um  so  mehr  als  wir  heute  in  den  intramuskulären 
oder  subkutanen  Kochsalzinfusionen  ein  zuverlässiges  Mittel  gegen 
letztere  stets  zur  Verfügung  haben. 

Hinsichtlich  des  eigentlichen  therapeutischen  Prinzipes  bei  der 
allgemeinen  Peritonitis  sei  nur  kurz  hervorgehoben,  daO  dasselbe  im 
tdlgemeinen  drei  verschiedenen  Indikationen  zu  genügen  hat,  nämlich 
dem  Bestreben  1.  eine  möglichst  weitgehende  Entlastung  des  Körpers 
von  Infektionserregern  und  deren  Produkten  zu  erreichen,  2.  eine 
Kräftigung  und  Hebung  der  gesamten  Körpervitalität  im  allgemeinen 
and  damit  die  Möglichkeit  einer  verstärkten  Produktion  von  Abwehr- 
stoffen herbeizuführen  und  3.  eine  Kräftigung  und  Hebung  der  Ge- 
websvitalität  des  Peritoneums  und  der  gesunkenen  bzw.  gänzlich  ge- 
schwundenen Darmbetätigung  im  besonderen  herbeizuführen. 

Der  ersten  Indikation  läßt  sich  nur  durch  den  operativen  Eingriff 
gerecht  werden,  weicher  in  ausgiebigen  und  je  nach  der  Schwere  des 
Falles  mehr  oder  weniger  zahlreichen  Inzisionen  der  Bauchdecken  mit 
nachfolgender  Drainage  zu  bestehen  hat  Diese  Inzisionen  werden  in 
der  Regel  beiderseits  oberhalb  und  parallel  dem  Poupartschen  Bande 
^S^legt»  wobei  der  Appendix  wenn  möglich  gleichzeitig  entfernt  wird. 
Dazu  können  dann  nach  Bedarf  eine  Inzision  in  der  Linea  alba,  Ge- 
geoinzisionen  in  der  Lumbaigegend  beiderseits,  sowie  Inzision  und 
Dränage  durch  Douglas  oder  Scheide  hinzukommen,  je  nachdem  eine 
Verbreitung  bzw.  Lokalisierung  der  Entzündungsprodukte  zu  konsta- 
tieren ist. 

Von  einer  gleichzeitigen  mechanischen  Reinigung  durch  Tupfer, 
oder  Spülung  mit  antiseptischen  Lösungen  ist  man  längst  zurückge- 


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448  Ad.  Ebner,  [80 

kommen,  da  erstere  naturgemäß  zu  einer  mechanischen  und  letztere 
zu  einer  chemischen  Schädigung  der  an  sich  in  ihrer  Vitalität  herab- 
gesetzten Gewebe  führen  muß.  Die  Mehrzahl  der  Autoren  begnügt 
sich  vielmehr  damit,  durch  ausgiebige  Spälung  der  Därme  mit  physio- 
logischer Kochsalzlösung  eine  vorsichtige  mechanische  Entfernung  der 
Erreger  und  ihrer  Produkte  bzw.  eine  Verdünnung  derselben  herbei- 
zuführen, wobei  man  in  schweren  Fällen  so  weit  geht,  sämtliche  Darm- 
schlingen  vor  die  Bauchhöhle  zu  lagern  und  im  einzelnen  einer  gründ- 
lichen Spülung  mit  Kochsalzlösung  zu  unterziehen. 

Eine  geringere  Anzahl  von  Autoren  will  auch  auf  diese  Spülung 
verzichten,  da  sie  glauben,  daß  der  Nutzen  der  mechanischen  Ent- 
fernung einer  Anzahl  von  Infektionserregern  überwogen  werde  durch 
die  Gefahr  einer  weiteren  Verbreitung  der  Erreger  vermittelst  der 
Spülflüssigkeit  in  noch  freie  Buchten  und  Falten  der  Bauchfellserosa, 
in  denen  sich  diese  dann  ansiedeln  und  weitere  Schädigungen  ver- 
ursachen könnten.  Beide  Teile  behaupten  mit  ihrem  Vorgehen  gute 
Erfahrungen  gemacht  zu  haben,  was  an  sich  nicht  unverständlich  ist, 
wenn  man  nämlich  annimmt,  daß  das  Spülverfahren  praktisch  nur 
wenig  mehr  nützt,  aber  auch  zum  mindesten  ebensowenig  schädigt, 
wie  das  rein  konservative  Verhalten  gegenüber  dem  infizierten 
Bauchfell. 

Vom  theoretischen  Gesichtspunkt  aus  will  mir  die  Annahme  wahr- 
scheinlicher vorkommen,  daß  das  Spülverfahren  doch  eine  gewisse 
Überlegenheit  haben  müiite  auf  Grund  folgender  Erwägung.  Ein  un- 
leugbarer Vorteil  desselben  besteht  darin,  daß  es  fragelos  die  absolute 
Zahl  der  im  Körper  vorhandenen  Infektionserreger  vermindert  und 
dadurch  die  Produktion  von  Toxinen  und  Endotoxinen  in  erheblichem 
Maße  herabsetzen  muß. 

Des  weiteren  werden  die  noch  am  Bauchfell  übrigbleibenden,  zunächst 
in  gewissem  Grade  in  größeren  Haufen,  bzw.  konzentriert  gelegenen 
Bakterienansammlungen  zwar  fragelos  in  bisher  nicht  infizierte  Gegenden 
fortgerissen ,  aber  doch  andererseits  auch  auf  eine  viel  größere  und 
zum  Teil  in  ihrer  Widerstandskraft  noch  nicht  wesentlich  herabgesetzte 
Fläche  des  Peritoneums  verteilt,  das  logischerweise  durch  die  verän- 
derte Verteilung  der  auch  an  absoluter  Zahl  verminderten  Angreifer 
auf  eine  gewissermaßen  längere  und  entsprechend  dünnere  Front 
gegenüber  der  nunmehr  zur  vollen  Ausnutzung  gelangenden  und  stellen- 
weise mit  frischen  Truppen  besetzten  Verteidigungslinie  der  Festung 
sicherlich  mehr  Chancen  hat,  über  die  nunmehr  in  kleinere  Gefechts- 
einheiten zerlegten  Angreifer  Herr  zu  werden,  als  die  letzteren  bei 
ihrer  geringeren  Anzahl  eine  Bresche  in  die  Festung  zu  legen. 
Praktisch   mag  das  vielleicht  nicht  von  allzugroßer  Bedeutung  sein. 


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81]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.  449 

theoretisch  will  mir  die  Entscheidung  der  Frage  in   diesem   Sinne 
jedoch  als  das  wahrscheinlichere  bedanken« 

Der  zweiten  Indikation,  der  Kräftigung  und  Hebung  der  Lebens- 
kraft und  physiologischen  Abwehrbetätigung  des  Körpers  im  allge- 
meinen,  dient  vor  allem  die  reichliche  Verabfolgung  von  intramusku- 
lären oder  subkutanen  Kochsalzinfusionen,  von  denen  die  ersteren 
trotz  größerer  Schmerzhaftigkeit  für  die  Patienten  weitaus  den  Vorzug 
verdienen,  da  sie  schneller  resorbiert  und  daher  auch  in  weit  größeren 
Quantitäten  gegeben  werden  können,  ohne  doch  wie  die  letzteren 
durch  zeitweilige  Ernährungsstörungen  zu  den  bekannten  Fascienne- 
krosen  zu  fuhren,  die  dann  von  einzelnen  wegen  ihrer  Resorptions- 
temperaturen auf  eine  Infektion  von  außen  her  bzw.  mangelhafte 
Technik  bei  der  Infusion  geschoben  zu  werden  pflegen.  Andererseits 
ist  aber  auch  nicht  zu  vergessen,  daß  durch  diese  Infusionen  überhaupt, 
uod  durch  die  subkutanen  Infusionen  bei  ihrer  langsameren  Resorp- 
tion ganz  besonders,  im  Gewebe  gegenüber  den  im  Blut  kreisenden  In- 
fektionserregern ein  Locus  minoris  resistentiae  geschaffen  wird,  und  daß 
es  auf  diese  Weise  sehr  wohl  an  den  Infusionsstellen  zu  Abszeßbildung 
auf  Grund  einer  Autoinfektion  des  Körpers  kommen  kann,  die  gleichfalls 
mit  einer  Infektion  von  außen  her  gar  nichts  zu  tun  hat  Vielfach  wird 
dann  bereits  der  für  Bact.  coli  typische,  fakulente  Geruch  des  Abszeß- 
eiters diese  Vermutung  zur  absoluten  Sicherheit  erheben  können,  ja  ich 
erinnere  mich  eines  Falles,  in  dem  bereits  makroskopisch  der  Abszeß- 
inhalt den  vollkommenen  Eindruck  eines  dünnflüssigen  Stuhles  machte. 

Diese  Autoinfektion  ist  eine  Möglichkeit,  an  welche  man  gegebenen- 
Mls  wohl  denken  muß;  sie  ist  aber  andererseits  bei  der  Seltenheit 
ihres  Auftretens  kein  Grund,  deswegen  die  geradezu  lebensrettenden 
Kochsalzinfusionen  zu  unterlassen,  welche  wie  oben  erwähnt  gleich- 
zeitig als  das  sicherste  und  zuverlässigste  Mittel  zur  Beseitigung  einer 
ev.  vorhandenen  Shokwirkung  zu  bezeichnen  sind. 

Von  den  früher  beliebten  intravenösen  Kochsalzinfusionen  ist  man 
inzwischen  gänzlich  abgekommen,  da  sie  bei  wesentlich  umständlicherer 
Technik  absolut  nichts  mehr  zu  leisten  vermögen,  als  die  erheblich 
einfacheren  intramuskulären  Infusionen. 

Des  ferneren  wäre  dann  an  eine  Stärkung  und  Hebung  der  Herz- 
tätigkeit und  Blutzirkulation  durch  die  üblichen  Exzitantien,  wie  Alkohol, 
Kampfer  und  Digitalis  zu  denken,  die  man  bei  häufigerem  Erbrechen 
entweder  per  rectum  in  Gestalt  von  kleinen  Einlaufen  oder  auch  sub- 
kutan, soweit  Kampfer  und  Digitalis  in  Betracht  kommt,  verabfolgen  kann. 

Inwieweit  man  durch  die  Anwendung  spezieller  oder  polyvalenter 
Heilsera,  wie  sie  heute  fabrikmäßig  erzeugt  und  teils  per  rectum  teils 
subkutan  verabfolgt  werden,  eine  weitere  Erhöhung  der  Abwehrbetäti- 

Klln.  Vortrige,  N.  F.  Nr.  489/90/91.    (Chirurgie  Nr.  142/43/44.)   Juni  190&  33 


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450  Ad.  Ebner,  [82 

gung  tatsächlich  erzielen  kann,  ist  eine  Frage,  die  beute  noch  nicht  als 
spruchreif  zu  bezeichnen  und  im  allgemeinen  von  den  ErFahrungeo 
der  einzelnen  Autoren  abhängig  zu  machen  ist.  Allerdings  sind  diese 
Erfahrungen  zurzeit  noch  so  wenig  ermutigend,  daO  die  Mehrzahl  der 
Autoren  auf  die  Anwendung  des  Mittels  von  vornherein  verzichtet. 

Das  gleiche  wäre  von  der  perkutanen,  intravenösen  oder  per 
rectum  empfohlenen  Anwendung  der  von  manchen  ebenfalls  hoch- 
gepriesenen Silbersalze  in  Gestalt  der  Kollargolzusammensetzungen 
zu  sagen.  Als  praktisch  wirksam  haben  sich  bisher  nur  die  Kochsalz- 
infusion und  die  bekannten  Herzexzitantien  erwiesen. 

Der  dritten  therapeutischen  Indikation  zur  Hebung  der  lokalen  Ge- 
websvitalität  des  Peritoneums  und  der  herabgesetzten  oder  gänzlich 
aufgehobenen  Peristaltik  der  Därme  werden  —  abgesehen  von  der 
eventuellen  Enterostomle  nach  Barth  —  am  ersten  hohe  und  häufige 
oder  permanente  Einlaufe  mit  physiologischer  Kochsalzlösung  per 
rectum  gerecht,  die  heute  von  allen  Autoren  ausnahmslos  empfohlen 
und  angewandt  werden  und  an  Menge  in  der  Regel  1—1^/2  Liter  und 
mehr  betragen  sollen.  Wenn  einzelne  Autoren  diesen  Einlaufen  noch 
besondere  Zusätze  zwecks  einer  erhöhten  Wirkung  geben  wollen,  wie 
beispielsweise  Lennander  mit  5%  Traubenzucker  und  3%  Alkohol 
und  Weir  mit  15  Tropfen  einer  0,l%igen  Adreanlinlösung  statt  des 
Alkohols,  so  liegen  über  den  tatsächlichen  Wert  derartiger  Zusätze 
zu  wenig  Erfahrungen  vor,  um  ein  abschließendes  Urteil  darüber  zu 
ermöglichen.  Der  Hauptwert  der  Einlaufe  dürfte  jedenfalls  neben 
der  besseren  Ernährung  und  Durcbspülung  der  Darmwandung  in  ihrer 
rein  mechanischen  Einwirkung  auf  die  Anregung  der  Darmtätigkeit 
zu  erblicken  sein,  indem  sie  gleichzeitig  die  Entstehung  von  Ver- 
wachsungen bzw.  fibrinösen  Verklebungen  der  Därme  unter  sich  zu 
verhindern,  wie  ev.  auch  leichtere  Verklebungen  zu  lösen  geeignet  sind. 

Von  medikamentösen  Mitteln  zur  Anregung  der  gesunkenen  Darm- 
peristaltik sei  der  Vollständigkeit  halber  noch  hingewiesen  auf  die 
von  Nordmann  empfohlenen  Koifeininjektionen,  ferner  auf  die  sub- 
kutanen Injektionen  von  Atropin.  sulfuricum  und  die  neuerdings  vielfach 
in  Aufnahme  gelangten  Injektionen  von  Physostigmin,  das  man  in  der 
Maximaldosis  von  0,001  dreimal  pro  Tag  anzuwenden  pflegt,  und  von 
dem  viele  Autoren  gute  Erfolge  gesehen  haben. 

Kurz  zusammengefaßt  hängt  also  bei  der  Allgemeininfektion  des 
Peritoneums  in  erster  Linie  das  Leben  des  Patienten  von  einer  mög- 
lichst frühzeitigen  Vornahme  der  lebensrettenden  Notoperation  ab, 
welche  jedoch  nur  als  relative  Frühoperation  wirklich  gute  Aussicht 
für  die  Heilung  des  Patienten  zu  bieten  vermag.  Nach  Verlauf  von 
48  Stunden  verschlechtert  sich  die  Prognose  sehr  schnell  und  zwar 


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83]  Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.   451 

direkt  proportional  der  zeitlichen  Entfernung  des  Eingriffs  vom  Beginn 
der  AllgemeininFektion  des  Peritoneums.  Immerhin  ist  darin  kein  Grund 
zu  erblicken,  selbst  in  verzweiFelten  Fällen  dem  Kranken  diese  letzte 
Chance  zur  Rettung  zu  versagen,  da  nach  dem  heutigen  Stande  der  Tech- 
nik die  etwaige  Shokwirkung  eines  derartigen  Eingriffs  die  Vorteile  des- 
selben selbst  in  den  schwersten  Fällen  kaum  jemals  überwiegen  dürfte. 

Es  erübrigt  sich  schließlich  noch  die  Besprechung  der  Behandlung 
Im  Sicherheitsstadium,  dem  Stadium  der  abgelaufenen  bzw.  chronischen 
Perlappendizitis.  Dieselbe  hat  heute  in  der  Regel  ebenfalls  in  der 
radikalen  Entfernung  des  Appendix  durch  den  als 

Sicherheitsoperation 
von  uns  bezeichneten  Eingriff  zu  bestehen.  Es  ist  dieses  diejenige 
Operation,  welche  sozusagen  den  Anfang  der  so  überaus  segens- 
und  erfolgreichen  chirurgischen  Behandlung  der  Perlappendizitis  ge- 
bildet hat,  und  welche  aus  der  Einsicht  heraus  entstanden  ist,  daO 
eine  definitive  Heilung  der  Erkrankung  erst  mit  der  Entfernung  des 
Appendix  möglich  ist,  da  man  ohne  dieselbe  nie  vor  Rezidivanfällen 
sicher  ist  und  der  Patient  sonst,  wie  Sprengel,  glaube  ich,  sich 
ausdrückt,  sein  Totenhemd  in  Gestalt  des  erkrankten  Appendix  stets 
bei  sich  trägt.  Es  kann  daher  auch  ohne  die  Entfernung  des  Appen- 
dix nie  von  einer  absoluten,  sondern  immer  nur  von  einer  relativen 
Heilung  des  Patienten  bezüglich  des  letzten  akuten  Anfalles,  nicht 
aber  bezuglich  der  Erkrankung  überhaupt  die  Rede  sein. 

Dieses  ist  denn  auch  der  Grund  gewesen,  weswegen  zunächst  bei 
den  Eingriffen  im  Sicherheitsstadium  in  gleicher  Weise,  wie  später 
auch  bei  den  Eingriffen  im  akuten  Stadium  die  Indikationen  immer 
weiter  gezogen  sind.  Während  früher  nämlich  die  Mehrzahl  der 
Autoren  auf  dem  Standpunkt  verharrte,  nur  nach  einem  schweren 
Anfall  den  Appendix  zu  entfernen,  und  bei  einem  leichteren  Auftreten 
der  Erkrankung,  der  sog.  chronisch  rezidivierenden  Perlappendizitis, 
erst  2—3  Anfälle  abzuwarten,  ehe  man  sich  zum  operativen  Vorgehen 
entschloß,  ist  heute  hierin  ebenfalls  ein  Umschlag  nach  der  radikaleren 
Richtung  hin  eingetreten  insofern,  als  die  Mehrzahl  auch  der  konser- 
vativsten Chirurgen  bereits  nach  dem  ersten,  als  solcher  deutlich  ge- 
kennzeichneten Anfall  von  Perlappendizitis  in  allgemeiner  Oberein- 
stimmung die  Entfernung  des  Appendix  empfehlen,  da  man  nie  wissen 
kann,  wie  schwer  sich  der  nächste  Anfall  gestalten  wird. 

Eine  Ausnahme  davon  kann  man,  wie  oben  erwähnt,  nur  bei  den- 
jenigen Patienten  machen,  welche  durch  ihren  Wohnsitz  jederzeit  in 
der  Lage  sind,  bei  den  ersten  Anzeichen  des  nächsten  Anfalls  sich 
zur  Frfihoperation  einzufinden,  und  von  denen  man  überzeugt  sein 
darf,  daß  sie  dieses  dann  auch  tatsächlich  tun  werden.   Man  kann  auf 

33* 


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452  Ad.  Ebner,  [84 

diese  Welse  dem  Einwand  begegnen ,  daß  die  betreffenden  Patienten 
sonst  vielleicht  gar  keinen  Anfall  mehr  bekommen  hätten,  was  ja  schließ- 
lich ausnahmsweise  einmal  zutreffen  kann.  Jedoch  ist  auch  für  diese 
Fälle  zu  bedenken,  daß  der  betreffende  Patient  selbst  nach  vielen  Jahren 
nicht  vor  einem  neuen  und  schwereren  Anfall  sicher  ist,  da  fraglos  in 
den  meisten  Fällen  durch  die  vorausgegangenen  pathologischen  Ver- 
änderungen am  Appendix  eine  gewisse  Prädisposition  zum  nächsten 
Anfall  bzw.  zu  einer  neuen  Erkrankung  des  Appendix  zurückbleibt, 
von  der  man  nie  voraussagen  kann,  unter  welchen  mehr  oder  minder 
ungünstigen  Verhältnissen  der  Patient  von  ihr  betroffen  werden  kann. 

Das  beste  Beispiel  dafür,  wie  spät  ein  derartiger  zweiter  Anfall 
eintreten  kann,  bietet  Geheimrat  Garre  selbst  dar,  der  mir  g^enuber 
sich  häufig  als  Beispiel  dafür  anzuführen  pfliegte,  daß  eine  Appendi- 
zitis auch  bei  konservativer  Behandlung  dauernd  ausheilen  könne,  da 
er  als  Knabe  von  13  Jahren  einen  Anfall  durchgemacht  habe  und 
seitdem  dauernd  von  Beschwerden  verschont  geblieben  sei.  Der 
zweite  Anfall  trat  dann  in  typischer  Weise  im  Herbst  1007  auf  und 
erst  die  im  Dezember  1907  erfolgte  Sicherheitsoperation  bietet  nun- 
mehr die  sichere  Gewähr  einer  dauernden  Heilung.  Es  ist  ja  frag- 
los, daß  auch  hier  in  dem  zweiten  Anfall  gewissermaßen  eine  neue, 
vom  ersten  Anfall  unabhängige  Erkrankung  des  Appendix  nach  so 
langer  anfallsfreier  Zeit  zu  erblicken  ist,  es  ist  aber  auch  ebenso  fhig- 
los,  daß  durch  eine  gewisse  Prädisposition  auf  der  Grundlage  der 
Residuen  des  ersten  Anfalls  ein  mittelbarer  ätiologischer  Zusammen- 
hang mit  demselben  gegeben  sein  kann. 

Im  übrigen  bietet  die  Sicherheitsoperation  nach  dem  ersten  Anfall 
den  weiteren  Vorteil,  daß  sie  technisch  in  der  Regel  äußerst  einfacli 
ist,  da  die  Verwachsungen  dann  naturgemäß  noch  nicht  so  zahlreich 
zu  sein  pflegen,  wie  nach  mehreren  Anfallen,  und  daß  sie  daher  auch 
dem  Patienten  die  größte  Sicherheit  bietet  für  eine  gefahrlose  und 
dauernde  Wiederherstellung. 

Trotz  ihrer  unbestreitbaren  Vorzüge  hat  aber  die  Sicherheltsopc- 
ration  gegenüber  der  Frühoperation  im  ersten  Anfall  den  Nachteil, 
daß  man  mit  gewissen  Verwachsungen  im  Sicherheitsstadium  als  Re- 
siduen der  vorausgegangenen  Entzündung  fast  immer  zu  rechnen  hat 
Diese  pflegen  ja  in  der  Regel  nicht  derart  zu  sein,  daß  sie  einen 
wesentlichen  Einfluß  auf  den  Verlauf  und  die  Technik  der  Operation 
auszuüben  vermöchten.  Sie  können  aber  auch  vereinzelt  nach 
schweren  Anfällen  in  solcher  Anzahl,  Ausbreitung  und  Stärke  vor- 
handen sein  zwischen  den  um  den  Appendix  herum  gelegenen  Därmen, 
daß  dadurch  einerseits  die  Orientierung  und  das  Aufsuchen  des 
Appendix  innerhalb  derselben  ganz  enorm  erschwert  wird  und  anderer- 


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85]  Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.   453 

seits  bei  dem  Versuch  einer  stumpfen  Lösung  derselben  eher  die 
Darmwandung  selbst  nachgibt,  als  die  breiten  schwartigen  und 
schwieligen  Verwachsungen  zwischen  den  Därmen  selbst.  Man  ist 
dann  wohl  oder  übel  gezwungen,  diese  Verwachsungen  mit  dem  Messer 
zu  durchtrennen  und  schwebt  so  bei  der  schwierigen  Orientierung 
ao  sich  in  doppelter  Gefahr,  eine  Verletzung  des  Darmes  selbst  her- 
beizufuhren. Es  können  auf  diese  Welse  in  Ausnahmefällen  Verhält- 
nisse gegeben  sein,  welche  den  Eingriff  technisch  zu  einer  der  schwie- 
rigsten Operationen  der  gesamten  Abdominalchirurgie  gestalten  können, 
dessen  Prognose  dann  natürlich  auch  eine  entsprechend  zweifelhafte  ist. 

Ich  selbst  erinnere  mich  an  drei  derartige  Fälle,  deren  einer  in 
der  Privatklinik  von  Professor  Lexer  und  die  beiden  anderen  in 
meiner  Privatklinik  zur  Operation  gelangten.  Alle  drei  Patienten 
kamen  nach  verlängertem  Krankenlager  durch,  jedoch  stellte  die 
Operation  in  allen  drei  Fällen  einen  derartig  schwierigen  Eingriff  dar, 
daß  sie  zum  mindesten  den  Namen  einer  Sicherheitsoperation  kaum 
rechtfertigen  wflrde,  wenn  nicht  eben  derartige  Fälle  als  Ausnahmen 
zu  bezeichnen  wären,  welche  im  übrigen  nur  die  Regel  bestätigen. 

Diese  Besorgnis  vor  stärkeren  Verwachsungen  hat  nun  zwei  ver- 
schiedene Richtungen  bezüglich  des  Zeitpunktes  für  den  Eingriff  nach 
schwereren  Anfällen  gezeitigt.  Während  nämlich  die  einen  raten, 
möglichst  frühzeitig  nach  dem  Abklingen  der  akuten  Symptome  ein- 
zugreifen, da  dann  die  Verwachsungen  noch  nicht  so  fest  und  relativ 
leicht  zu  lösen  sind,  wollen  die  anderen  möglichst  bis  zu  einem  Jahr 
und  darüber  hinaus  mit  dem  Eingriff  warten,  da  dann  erfahrungsge- 
miß  ein  Teil  der  peritonealen  Adhäsionen  durch  Resorption  ge- 
schwunden sein  kann,  oder  sie  ziehen,  falls  ein  neuer  Anfall  da- 
zwischen kommt,  die  absolute  Prflhoperation  im  zweiten  Anfall  vor, 
di  nach  ihrer  Meinung  infolge  der  entzündlichen  Schwellung  und 
Durchtränkung  der  Gewebe  während  des  akuten  Stadiums  sich  die 
Lösung  der  festen  Adhäsionen  weniger  schwierig  gestalten  dürfte. 
Welche  von  den  beiden  Anschauungen  in  diesen  Fällen  von  „Ein- 
mauerung  des  Appendix',  wie  v.  Eiseisberg  sie  bezeichnet,  vorzu- 
ziehen ist,  dürfte  von  den  individuellen  Erfahrungen  des  einzelnen  ab- 
liingig  sein.  Sicherer  will  mir  persönlich  die  letztere  mehr  abwartende 
Methode  erscheinen,  da  man  bei  einem  allzu  frühzeitigen  Vorgehen  nach 
dem  Anftill  doch  zu  sehr  mit  der  Möglichkeit  des  Vorhandenseins  voll- 
virulenter  Exsudatreste  und  entsprechend  erhöhter  Gefahr  einer  opera- 
tiven Allgemeininfektion  des  Peritoneums  zu  rechnen  haben  dürfte. 

In  ganz  besonders  schweren  Fällen  dieser  Art  kann  sich  daher 
bisweilen  der  Operateur  intra  operationem  vor  die  Alternative  gestellt 
sehen,  entweder^  wenn  er  den  Appendix  unter  allen  Umständen  ent- 


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454  Ad.  Ebner,  [86 

fernen  will,  eine  ausgedehnte  Darmresektion  in  Gestalt  der  Entfernung 
des  untersten  Ileum  mit  Cöcum  und  dem  Beginn  des  Colon  ascendens 
zu  machen,  oder,  falls  er  den  Patienten  nicht  der  Gefahr  eines  der- 
artigen Eingriffs  aussetzen  will,  die  Bauchhöhle  zunächst  unverrichteter 
Dinge  zu  schlieOen  und  bis  zu  dem  nächsten  Anfall  abzuwarten.  Eine 
vermittelnde  Stellung  hierzu  nimmt  der  Vorschlag  v.  Eiseisbergs  ein, 
in  derartigen  Fällen  wenigstens  durch  die  Anlegung  einer  Enteroana- 
stomose  zwischen  Kolon  und  Ileum  den  Verwachsungsbezirk  der  Darm- 
schlingen auszuschalten  und  so  eine  Entlastung  desselben  neben  gleich- 
zeitiger Vorbeugung  eines  späteren  Verwachsungsileus  herbeizuführen. 

Wenn  nun  im  übrigen  auch  die  Möglichkeit  derartiger  Fälle  von 
schweren  Verwachsungen  fraglos  als  ein  gewisser  Nachteil  für  die 
Sicherheitsoperation  gegenüber  der  absoluten  Frühoperation  zu  be- 
zeichnen ist,  so  sind  doch  andererseits  diese  Fälle  im  Sicherheits- 
stadium so  auOerordentlich  selten,  daß  sie  einen  Einfluß  auf  die  günstige 
Mortalitätsziifer  der  Sicherheitsoperation  nicht  auszuüben,  daher  auch 
die  Sicherheitsoperation  als  solche  nicht  zu  diskreditieren  vermögen. 

Auf  die  technische  Seite  der  an  sich  ja  äußerst  einfachen  Sicher- 
heitsoperation näher  einzugehen,  würde  über  den  Rahmen  unserer 
Ausführungen  hinausführen.  Es  genügt  darauf  hinzuweisen,  daß  heute 
an  Stelle  des  früher  hauptsächlich  bevorzugten  pararektalen  Schnittes 
der  sogenannte  Zickzack-  oder  Wechselschnitt  nach  Riedel  den  Vor- 
zug verdient,  welcher  lateral  von  der  Rektusscheide  angelegt  unter 
stumpfer  Durchtrennung  des  Muse.  obl.  extemus,  internus  und  trans- 
versus  in  der  Faserrichtung  auf  das  Peritoneum  vordringt  und  durch 
eine  möglichst  ideale  Restitutio  ad  integrum  der  Bauchdecken  den 
Vorteil  einer  absolut  sicheren  Ausschaltung  der  Möglichkeit  späterer 
Narbenhernien  bietet.  Bezüglich  der  Amputation  des  Appendix  und 
der  Stumpfversorgung  sei  noch  erwähnt,  daß  die  Methoden  dafür 
heute  so  vielseitige  sind,  daß  es  nicht  zu  viel  gesagt  sein  dürfte,  wenn 
man. behauptet,  daß  sich  heute  dazu  fast  jeder  Chirurg  seiner  eigenen 
Methode  bedient.  Der  einzige  Unterschied  dieser  Methoden  besteht 
meist  nur  in  der  technisch  leichteren  oder  schwierigeren  Ausführung 
derselben,  wobei  für  den  einzelnen  noch  der  Umstand  in  Frage  kommt, 
auf  welche  Methode  er  gewissermaßen  besonders  eingeschossen  ist. 
Bezüglich  des  Heilungsvorganges  selbst  läßt  sich  wohl  keiner  dieser 
zahlreichen  Methoden  ein  besonderer  Vorzug  und  Nachteil  nachsagen, 
da  sie  in  der  Hand  eines  geübten  Operateurs  jederzeit  gleich  gute 
Erfolge  gezeitigt  haben. 

Hinsichtlich  der  medikamentösen  Behandlung  in  denjenigen 
Fällen,  wo  chirurgische  Hilfe  nicht  zu  erreichen  ist,  oder  der  Patient 
—  heute  ein   ziemlich  seltener  Fall  —  nicht  zu  der  Erlaubnis  eines 


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87}  Ober  den  beatigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.    455 

chirurgischen  Eingriffis  zu  bewegen  ist,  kann  nicht  genug  vor  der 
ganzlich  mechanischen  und  kritiklosen  Verabfolgung  von  Abführmitteln 
gewarnt  werden,  wie  sie  noch  heute  vom  Publikum  und  leider  auch 
gar  nicht  so  selten  von  Ärzten  In  allen  Fällen  von  Leibschmerzen, 
verdorbenem  Magen  und  sonstigen  Verdauungsstörungen  in  Gestalt 
von  vorwiegend  Rizinusöl  und  Kalomel  verabfolgt  zu  werden  pflegen, 
vielfach  sogar  in  den  Fällen,  welche  vom  Arzt  bereits  als  Blinddarm- 
entzündung richtig  erkannt  worden  sind.  Wohl  kann  ausnahmsweise 
einmal  in  einem  ganz  leichten  Falle  mit  chronischer  Obstipation  eine 
derartige  Medikation  den  Anfall  kupieren,  wie  man  die  generelle 
Anwendung  dieses  Mißbrauchs  zu  motivieren  pflegt,  in  schwereren 
Fallen  kann  sie  dafär  aber  um  so  sicherer  zur  Beschleunigung  der 
drohenden  Perforation  und  nachträglichen  Verhinderung  der  schützen- 
den Verklebungen  in  der  Umgebung  der  Perforationsstelle  neben 
einem  vermehrten  Austritt  von  Darminhalt  durch  die  Perforations- 
stelle in  die  Bauchhöhle  führen  und  so  zur  direkten  Veranlassung  der 
nachfolgenden  tödlichen  Allgemeininfektion  des  Peritoneums  werden. 

Da  man  nun  anerkanntermaßen  keineswegs  immer  aus  dem  nach 
außen  projizierten  Krankheitsbild  auf  die  tatsächlichen  pathologischen 
Veränderungen  am  Wurmfortsatz  selbst  schließen  kann,  so  ist  meines 
Erachtens  jede  Verabfolgung  von  Abführmitteln  per  os  in  derartigen 
Fallen  unter  allen  Umständen  als  ein  Vabanquespiel  mit  dem  Leben 
des  Patienten  zu  bezeichnen,  dem  eine  wissenschaftliche  Berechtigung 
nicht  zugestanden  werden  darf,  solange  nicht  diagnostisch  eine  sichere 
Obereinstimmung  des  äußeren  und  inneren  Krankheitsbildes  bei  der 
Periappendizitis  herbeizuführen  ist. 

Derselben  Indikation,  den  Darm  zu  endasten,  können  vorsichtige 
Einlaufe  mit  reinem  Öl,  Wasser  mit  Öl  und  Glyzerin  oder  ähnlichen 
Zusätzen  in  gleicher  Weise  gerecht  werden,  ohne  gleichzeitig  ein  der- 
artiges Risiko  quoad  vitam  des  Patienten  nach  sich  zu  ziehen. 

In  gleicher  Weise  ist  auch  vor  der  üblichen  Verabfolgung  von 
Narkotizis,  insbesondere  des  so  beliebten  Opiums  zu  warnen,  welches 
einerseits  nur  geeignet  ist,  durch  Verdeckung  der  so  überaus  wichtigen 
peritonealen  Schmerzreaktion  eine  Verschlimmerung  des  Krankheits- 
bildes in  gefahrlicher  Weise  zu  verschleiern  und  andererseits  die  an  sich 
so  notwendige  physiologische  Darmtätigkeit  in  unnötiger  Weise  schwächt 
und  herabsetzt.  In  besonders  schmerzhaften  Pallien  oder  bei  besonders 
sensiblen  Patienten  können  wohl  ausnahmsweise  kleine  Morphium- 
dosen zur  Erleichterung  des  Patienten  angewandt  werden,  bei  denen 
dann  wenigstens  die  lokale  Einwirkung  auf  den  Darm  in  Fortfall  kommt. 

Im  übrigen  ist  die  beste  Entlastung  des  Darmes  in  der  Entziehung 
bzw.  Beschränkung  der  Nahrungsaufnahme  auf  das   irgend  zulässige 


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456     Ad.  Ebner,  Ober  d.  heut.  Stand  d.  Erkennung  u.  Behandlung  d.  Appendizitis     [88 

MindestmaO  zu  erblicken ,  so  daO  in  der  ersten  Zeit  am  besten  nur 
dünner  Tee,  Schleimsuppe  oder  geeiste  Milch  c.  stdl.  teelöffielweise 
und  von  manchen  Autoren  in  den  ersten  Tagen  überhaupt  nichts  ver- 
abfolgt wird.  Die  Schwächung,  welche  die  Patienten  im  allgemeinen 
durch  diese  vorübergehende  Nahrungsentziehung  per  os  erleiden 
können,  steht  in  keinem  Verhältnis  zu  dem  Vorteil,  welche  diese  ge- 
wissermaßen rein  physiologische  Entlastung  und  Ruhigstellung  des 
Darmes  von  jeder  Arbeit  für  den  weiteren  Entwicklungsverlauf  der 
Erkrankung  selbst  bietet,  und  kann  außerdem  durch  kleine  und  häufige 
Nähreinläufe  von  c.  2stdl.  200  g  oder  permanente.  Kochsalzinfiision 
per  rectum  bis  zu  einem  gewissen  Grade  ausgeglichen  werden. 

Passen  wir  nun  nach  den  obigen  Ausführungen  das  Prinzip  der 
heutigen  Anschauung  über  die  Behandlung  der  Erkrankung  des  Wurm- 
fortsatzes und  ihrer  Folgezustände  kurz  zusammen,  so  können  wir 
dieselbe  in  folgenden  wenigen  Sätzen  präzisieren: 

1.  Das  sicherste  und  gefahrloseste  Mittel  zur  Beherrschung  und 
sofortigen  Kupierung  des  Krankheitsprozesses  und  damit  zur  möglichst 
schnellen  und  dauernden  Wiederherstellung  des  Patienten  ist  die  ab- 
solute Frühoperation  in  allen  Fällen,  welche  nicht  innerhalb  der  ersten 
24  Stunden  einen  entschiedenen  Rückgang  bzw.  völliges  Schwinden 
sämtlicher  Krankheitssymptome  aufweisen. 

2.  Aber  auch  in  den  Fällen,  welche  für  die  Frühoperation  zu  spat 
in  die  Hand  des  Arztes  geraten,  ist  der  sofortige  Eingriff  stets  vor- 
zuziehen, da  die  Gefahren  auch  des  späteren  Eingriffs  in  keinem  Ver- 
hältnis zu  den  Zufällen  und  Komplikationen  des  Krankheitsverlaufes 
stehen,  von  denen  der  Patient  bei  der  Oberführung  in  das  Sicherheita- 
stadium  dauernd  bedroht  bleibt. 

3.  Bei  abwartender  Behandlung  ist  am  besten  eine  rein  physio- 
logische Entlastung  und  Ruhigstellung  des  Darmes  durch  eine  mög- 
lichst weitgehende,  wenn  nicht  vollständige  Entziehung  der  Nahrungs- 
aufnahme per  OS  in  den  ersten  Tagen  der  Erkrankung  anzustreben. 
Der  Ausfall  an  Nährstoffen  kann  durch  entsprechend  konzentrierte 
und  häufige,  kleine  Nährklistiere  in  gewissem  Grade  ersetzt  werden. 

4.  Vor  einer  medikamentösen  Entlastung  des  Darmes  durch  Abfuhr- 
mittel per  OS  kann  nicht  dringend  genug  gewarnt  werden,  da  durch 
dieselben  eine  erhöhte  Möglichkeit  zur  Beschleunigung  der  Perforation 
und  nachfolgenden  Allgemeininfektion  des  Peritoneums  gegeben  wird. 

5.  Vor  einer  medikamentösen  Ruhigstellung  des  Darmes  durch 
Opium  und  ähnliche  Derivate  muß  gleichfalls  gewarnt  werden,  da  da- 
durch gleichzeitig  eine  gefährliche  Verschleierung  des  Krankheitsbildes 
und  eine  Beeinträchtigung  der  physiologischen  Gewebsvitalität  und  Be- 
tätigung der  Darmwand  herbeigeführt  wird.     (Schluß  folgt  als  Nr.  494/95.) 


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492/93. 

(Gynäkologie  Nr.  179/80.) 

Der  praktische  Arzt  und  die  Händegefahr. 

Von 

Prof.  Dr.  F.  Ahlfeld, 

Marburg  a.  d.  Lahn. 
Mit  acht  Tafeln. 


Kommt  der  angehende  Arzt  von  der  Universität,  nach  absolviertem 
praktischem  Jahre,  aus  den  mit  dem  ganzen  modernen  Komfort  aus- 
gerüsteten Kliniken  und  Krankenhäusern  in  die  Praxis,  dann  wird  ihm 
wohl  bange,  wie  das  in  Zukunft  werden  soll.  Naturgemäß  muß  er  in 
der  Alltagspraxis  vielerlei  missen,  wovon  der  gute  Erfolg  eines  Ein- 
griffs in  der  Klinik  abzuhängen  schien.  —  Nur  darf  er  im  Unterlassen 
prophylaktischer  Maßregeln  nie  unter  das  absolut  Notwendige  hinunter- 
gehen. 

Ganz  besonders  groß  sind  die  Unterschiede  der  äußeren  Bedingungen 
in  seiner  geburtshilflichen  Tätigkeit.  Nicht  zum  geringsten  beruhen 
hier  die  Schwierigkeiten  auf  der  in  den  meisten  Kliniken  und  Lehr- 
bfichem  gepredigten  Lehre  vom  Unvermögen,  die  Arzthand  ungefährlich 
zu  machen,  eine  Lehre,  auf  der  sich  notgedrungen  ein  ganzes  Gebäude 
moderner  Vorsichtsmaßregeln  aufbauen  muß,  eine  Lehre,  die  den  ge- 
wissenhaften Arzt  zu  öfteren  Unterbrechungen  seiner  geburtshilflichen 
Tätigkeit  zwingt,  wenn  er  nicht  gar  an  der  Möglichkeit,  Geburtshilfe 
neben  seiner  anderen  Praxis  treiben  zu  können,  verzweifelt. 

Meine  Erfahrungen,  die  ich  in  dieser  Abhandlung  niedergelegt  habe, 
die  sich  gleichzeitig  auf  zahlreiche  Experimente  im  Bezug  auf  Hände- 
desinfektion  stützen,  sollten  den  Kollegen  Mut  machen,  einer  sorg- 
samen Händedesinfektion  zu  vertrauen,  wo  andere  Schutzmaßregeln 
untunlich  sind. 

Es  wurde  meinen  Auseinandersetzungen  die  Beweiskraft  fehlen, 
wollte  ich  einfach  den  jetzt  gebräuchlichen  Lehren  andere  entgegen- 
setzen. Es  war  nötig,  die  Einwände  der  Gegner  einzeln  zu  besprechen 
und  damit  auch  dem  Leser  zu  ermöglichen,  sich  selbst  ein  Urteil  zu 
bilden,  auf  wessen  Seite  das  Recht  sei. 

Klln.  Vortrice,  N.  F.  Nr.  402/93.    (Gynikologie  Nr.  179/80.)    JuU  1906.  24 


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314  F.  Ahlfeld,  [2 

Nimmt  der  Leser  zu  dieser  Arbeit  noch  die  Nummer  310/11  der 
Klinischen  Vorträge  hinzu,  —  Die  Desinfelition  der  Hand  des  Chi- 
rurgen und  Geburtshelfers  —  dann  kann  er  sich  recht  wohl  über  alle 
Fragen,  die  in  der  Lehre  von  der  Händedesinfektion  und  der  geburts- 
hilflichen Abstinenz  haben  besprochen  werden  müssen,  Aufklärung  ver- 
schaffen, und  ich  hoffe  gewiO,  er  wird  sich  meiner  Überzeugung  an- 
schließen, daO  bei  gewissenhafter  Händedesinfektion  eine  Schädigung 
der  dem  Arzte  anvertrauten  Frauen  nicht  zu  erwarten  ist. 


Ist  es  nicht  verlorene  Zeit  und  Mühe,  immer  und  immer  wieder 
den  Versuch  zu  machen,  die  fahrenden  Persönlichkeiten,  Chirurgen 
und  Gynäkologen,  von  der  außerordentlichen  Wirkung  des  Alkohols 
als  Händedesinfiziens  zu  überzeugen?  Ist  zurzeit  Aussicht  vorhanden, 
eine  Umstimmung  der  Meinungen  herbeizuführen,  wo  die  überwiegende 
Mehrzahl  der  Fachkollegen  sich  auf  eine  bestimmte  Ansicht,  die  Un- 
zulänglichkeit der  Heißwasser-Alkohol-Desinfektion,  festgelegt  hat?  Ist 
nicht  gerade  der  jetzige  Zeitpunkt  besonders  ungeeignet,  wo  im  ver- 
gangenen Jahre,  auf  dem  Dresdener  Gynäkologenkongreß,  die  beiden 
Referenten  über  das  Thema  „Asepsis  bei  gynäkologischen  Operationen^ 
Fritsch  und  Küstner,  sich  abweisend  gegen  meine  Untersuchungen 
und  Resultate  ausgesprochen  haben,  der  erstere  in  einer  ganz  beson- 
ders entschiedenen  Form,  und  die  Anwesenden  sich  mit  diesen  An- 
schauungen einverstanden  erklärt  haben?  ^) 

Hätte  ich  nicht  auf  der  anderen  Seite  die  Beweise,  daß  trotz  dieser 
mächtigen  Koalition,  die,  wie  ich  früher  nachgewiesen  habe,  in  der 
Hauptsache  einer  Schule  entspringt,  der  sich  die  anderen  fügen,  weil 
die  Mehrzahl  der  Urteilenden  selbst  keine  eigenen  Studien  gemacht 
hat,  doch  die  Stimmen  sich  mehren,  die  dem  Alkohol  sein  Recht  zu- 
gestehen, und  hätte  ich  nicht  selbst,  bis  in  die  neueste  Zeit,  weitere 
Versuche  angestellt,  die  in  ihren  Endresultaten  mit  meinen  früheren 
übereinstimmen  und  durch  die  ich,  unter  Benutzung  überzeugender 
neuer  Methoden,  die  Gegengründe  widerlegen  zu  können  glaube,  so 
würde  ich  wenig  Hoffnung  haben,  mit  einem  neuen  Appell  an  die 
Kollegen  etwas  auszurichten. 

Aber  ich  will  aus  der  Tätigkeit  eines  Lehrers  für  angehende  Ärzte 
nicht  scheiden,  ohne  nochmals  meine  Überzeugung  auszusprechen  und 
zu  begründen,  daß  von  allen  Methoden,  die  Hand  für  chirurgische 


1)  Die  Hinweise  auf  meine  Publikationen  über  HSndedesinfektion  gebe  ich,  um 
Wiederholungen  zu  vermeiden,  nur  mit  Zahlen.  Die  Zahl  in  Kursivziifern  bezieht  sich 
auf  das  am  Schlüsse  angefügte  Verzeichnis,  die  andere  bedeutet  die  Seitenzahl 


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3]  Der  praktische  Arzt  und  die  HIndegefahr.  315 

und  geburtshilfliche  Eingriffe  geeignet  zu  machen,  bisher 
die  HeiOwasser-Alkohol-Desinfektion  diesen  Zweck  am  ein- 
fachsten und  besten  erfüllt  und  daß,  wenn  auch  der  Gummi- 
bandschuh für  Anstaltsärzte  und  Spezialisten  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  einen  Ersatz  für  ungenügende  Händedesinfektion  bietet,  er  für 
das  Gros  der  Ärzte,  für  Hebammen  und  das  niedere  Heilpersonal 
eine  Errungenschaft  minderen  Wertes  bleibt. 

Ich  beginne  mit  dem  Referate  über  Versuche  der  Reinigung 
der  frisch  infizierten  Hand. 

Im  Sommersemester  1907  habe  ich  mich  an  die  Beantwortung 
einer  Frage  gemacht,  die  im  Verhältnis  zu  ihrer  eminenten  Wichtig- 
keit bisher  nur  sehr  stiefmütterlich  behandelt  ist.  Meine  Versuche 
sollten  Aufschluß  darüber  geben,  ob  die  mit  virulenten  Keimen 
in  Berührung  gekommene  Hand  alsbald  nach  der  Beschmut- 
zung in  einem  Grade  zu  reinigen  sei,  daß  eine  weitere  chi- 
rurgische und  geburtshilfliche  Tätigkeit  unbedenklich  ge- 
stattet werden  könne. 

Zurzeit  lautet  die  Antwort  nein.  Der  Arzt  soll  eine  Handinfektion 
zu  umgehen  versuchen;  war  sie  aber  dennoch  erfolgt,  so  soll  er  eine 
zeitliche  Abstinenz  von  chirurgischer  und  geburtshilflicher  Tätigkeit 
einhalten,  im  Notfalle  Gummihandschuhe  gebrauchen.  Eine,  auch  die 
grfindlichste,  Händedesinfektion  genügt  unter  solchen  Umständen 
nicht;  das  ist  die  verbreitete  Ansicht  der  Fachgenossen. 

Auf  die  Frage,  worauf  sich  diese  Ansicht  stützt,  folgt  unfehlbar 
die  Behauptung  von  der  Unmöglichkeit  einer  absoluten  Händekeim- 
freimachung,  und  auf  die  Frage,  welche  Unterlagen  für  diese  Behaup- 
tung vorhanden  sind,  wird  man  von  vunzähligen"^  Versuchen  sprechen, 
die  alle  zum  gleichen  Resultate  geführt  hätten. 

Weshalb  meine  Resultate  nicht  die  Berücksichtigung  gefunden, 
die  sie  verdienen,  daran  soll  ich,  wie  mir  Kollege  Seh  äff  er  sagt, 
selbst  die  Schuld  tragen:  „Indem  Sie  den  Unterschied  zwischen  einer 
Sterilität  in  praktisch-chirurgischem  Sinne  und  einer  ,absoluten^  Steri- 
lität nicht  anerkennen,  machen  Sie  es  den  Gegnern  der  Alkohol- 
desinfektion  leicht,  Gegenbeweise  zu  erbringen  und  damit  scheinbar 
selbst  die  Methode  zu  diskreditieren.'' i) 

Zu  meiner  Rechtfertigung  und  zur  ferneren  Berücksichtigung  in 
dieser  Abhandlung  folgendes: 

Die  Frage,  ob  eine  Hand  mittels  der  Heißwasser- Alkoholmethode 
absolut  keimfrei  gemacht  werden  kann,  muß  in  zwei  Unterfragen 
getrennt  werden: 


1)  Aus  einem  Briefe. 

24* 


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316  F-  Ahlfeld,  [4 

f  1.  Dringt  Meli  einer  Vorbereitung  mit  Heifiwasser  und  Seife  der 

[  Alkoliol  so  tief  in  die  Haut  ein,  daß  er  die  in  den  tieferen  Sctiichten 

befindliehen  Keime  erreicht,  um  sie  abtöten  zu  können?  und 

l  2.  werden  bei  einer  gefibten  und  gewissenhaften  Ausfuhrung  der 

f  Methode  iille  Stellen  der  Hand  vom  Alkohol  derart  erreicht,  daß  der 

^  Alkohol  gegenüber  den  dort  befindlichen  Bakterien  seine  Schuldigkeit 

tun  kann? 

'  Da  ich  die  erste  Frage  mit  ja  beantwortet  habe  und  mit  aller  Ent- 

schiedenheit  der  Annahme  einer  Scheindesinfektion  entgegengetreten 
bin  —  eine  Überzeugung,  die  von  den  Gegnern  nicht  geteilt  wird  — ^ 
so  habe  ich   nach   dieser  Seite  hin  von  einer  absoluten  Wirkung 

I  gesprochen. 

^  Die  zweite  Frage  habe  ich  niemals  mit  ja  beantwortet,  da  die  Aus- 

fährung der  Desinfektion  von  der  subjektiven  Tätigkeit,  auch  von  der 
mehr  oder  weniger  günstigen  Beschaffenheit  der  Hände  abhängt.  Ich 
kann  daher  nach  dieser  Seite  hin  niemals  von  einer  Garantie  für 
Keimfreimachung  reden.  Die  zu  erreichen,  liegt,  günstige  Bedingungen 
vorausgesetzt,  nur  in  der  Macht  des  Ausführenden. 

Daß,  wenn  alle  nötigen  Bedingungen  zusammenkommen,  die  Hand 
wirklich  absolut  steril  werden  kann,  muß  ich  annehmen  und  nehme 
ich  an.  Wie  oft  dies  in  Wirklichkeit  eintriffst,  das  zu  übersehen  sind 
wir  außerstande.  Können  wir  doch,  wie  Schaf fer  ganz  richtig  be- 
merkt, nicht  einmal  für  die  ohne  Zweifel  sterilisierbaren  Gegenstände^ 
als  Instrumente,  Verbandmaterial,  Gummihandschuhe  usw.,  im  Einzel- 
falle sagen,  sie  seien  tatsächlich  steril.  Und  doch  benutzen  wir  sie 
vertrauensvoll  unter  Annahme  des  positiven  Erfolges. 

Wenn  eine  absolute  Sterilität  aber  auch  nur  im  Einzelfalle  gelänge, 
so  hätte  ich  nicht  zu  viel  gesagt,  denn  ich  habe  nur  die  Möglichkeit 
einer  solchen  behauptet.  Dabei  wahre  ich  mich  ausdrücklich,  als  ob 
ich  hiermit  einen  Rückzug  eingeschlagen  hätte,  und  füge  deshalb  hinzu: 
Die  Bedingungen,  eine  wirkliche  Sterilität  zu  erreichen, 
sind  für  viele  Hände  gegeben. 

In  einer  früheren  Arbeit^)  habe  ich,  im  bezug  hierauf,  mich  so 
ausgesprochen:  „Mit  der  Behauptung,  mittels  der  Heißwasser-Seifen- 

{  Alkoholmethode  läßt  sich  die  Hand  bis  in  die  Tiefe  der  Haut  steril 

machen,  deckt  sich  nun  keineswegs  eine  Garantie  für  diesen  Erfolg. 
Der  Prozentsatz  der  erreichten  absoluten  Sterilisierung  der  Hand 
hängt  von  vielen  Faktoren  ab,  immerhin  aber  von  Faktoren,  die  bei 
nicht  zu  schlechter  Hautbeschaffenheit,  bei  gutem  Willen  des  Handeln- 

V  den  vorhanden  sein  können,  Ausnahmen  zugegeben.*" 

\  

^  1)  26.  1838. 


t 


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5]  Der  praktische  Arzt  und  die  Händegefahr.  317 

EiQ  weiterer  Grund,  weshalb  meine  Methode  sich  niclit,  wie  qs 
d^  Fall  $^iq  müßte,  aUgemeine  Geltung  versclfafft  hat,  liegt  in  dem 
Umstände,  daQ  zur  Zeit,  als  sie  sieh  Terrain  eroibern  wollte,  die  Fabri- 
kation von  Gummibandschuheq  gelange  Wä^oQ  diese  nicht  erfunden, 
so  wurde  sich  jetzt  jeder  gewissenhafte  Operateur  mittejls  HeißwRSs^r«- 
Seife-Alkohol  desinfizieren.  Vielleicht,  daO  er  noch  irgend  etw^s 
Oberfifissiges  hinzufügte. 

Der  dritte  Grund  liegt  in  persdqlichen  Verhältnissen,  derep  ich 
in  verschiedenen  meiner  Publikationen^)  genügend  Erwäbnuqg  geti^n 
habe.  Ware  die  Empfehlung  und  das  Eintreten  für  den  Alkohol  als 
HandedesinBzlens  von  einer  anderen  Seite  ausgegangen,  dann  wiirde 
die  Methode  längst  schon  Gemeingut  aller  Chirurgen  und  Geburts- 
helfer sein,  und  den  Hebammen  würde  sie  als  einzige  Desinfektion^- 
fliethode  verordnet  werden. 

Dies  vorausgeschickt,  gehe  ich  nun  zu  der  Frage  über,  zu  deren 
Beantwortung  ich  die  angegebenen  Versuche  gemacht  l^abe,  inwie- 
weit die  jetzige  Anschauung  von  der  Gefahr  eineir  Auto- 
Infektion  berechtigt  ist  und  ob  Abstinenz  i^nd  Gummihand- 
schuh wirklich  die  einzig  erlaubten  Gegenmittel  8^4« 

Von  der  Beantwortung  dieser  Fragen  hängt  meines  Erachten^  4i^ 
Existenz  des  praktischen  Arztes  ab.  Fällt  die  Antwort  dflbin  aus,  daß 
eine  frisch  infizierte  Hand  in  Bälde  nicht  gereinigt  werden  kann,  so 
muß  der  praktische  Arzt,  der  sich  vor  derartigen  Verunreinigungen 
seiner  Hand  nicht  schützen  kann,  chirurgische  und  g^burtahil^iche 
Falle  in  der  Hauptsache  an  Krankenhäuser  verweisen. 

Die  Konsequenzen  einer  derartigen  Beantwortung  machen  MQb 
schon  geltend.  Unter  dem  Titel  „Septicus^^  macht  Foges  in  der 
Gyaskologisohen  Rundschau,  1007,  Nr.  1  den  Vorschlag,  der  Prlvfit- 
arzt  solle  sich  so  verhalten,  wie  die  Ärzte  von  gut  geleiteten  Anstaltf^n 
es  tun,  die,  um  nicht  mit  septischem  Material  in  Bertihrung  zu  kon^men, 
die  etwa  erforderliche  Behandlung  eines  verdächtigen  Falles  dem  yor- 
hmdenen  aeptiachen  Assistenten,  dem  Septicus,  überlassen^  lim 
diese  Abstinenz  auch  in  der  AuOenpraxis  sicher  durchzuführen»  sollen 
io  den  grdOeren  Städten  wohlausgebildete  Spezialisten  vorhanden 
sein,  an  die  jeder  infektiöse  und  infektionsverdächtige  Fall  i|bgetret«n 
werden  müßtet 

G^en  diesen  Vorschlag  lassen  sich  viele  Einwand«  bringnn*  Vor 
allem,  daß  er  nur  für  große  Städte  in  Frage  kommen  wfir^e,  während 
das  Qpos  der  Ärzte  sich  selbst  behelfen  müßte«  Weiter  wäre  es  wohl 


1)  VerhandL  der  Deutsch.  Gesellsch.  für  Gyn.  1001,  IX,  S.  237.  —  Deutsche 
ned.  Wocbenschr.  1004,  Nr.  50,  S.  ISSQ.  —  Zentralbl.  für  Gyn.  1006,  Nr,  3,  a  76. 


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318  F.  Ahlfeld,  [6 

für  das  Publikum  höchst  fatal,  wenn  es  von  dem  gewünschten  Berater 
und  Helfer  an  den  »Kindbettfieberarzt'  gewiesen  würde  und  damit 
zugleich  eine  bedenkliche  Prognose  ausgesprochen  wäre.  Wer  will 
weiter,  zumal  im  Beginn  einer  Erkrankung,  sagen,  ob  ein  Fall  ein 
septischer  ist  oder  nicht?  Sind  wir  doch  gerade  zurzeit  in  einer  leb- 
haften Diskussion,  welche  Fieberfalle  man  Kindbettfieber  nennen  soll, 
welche  nicht. 

Und  so  könnte  ich  mit  Gegengründen  fortfahren.  Ich  glaube,  der 
Vorschlag  hat  keine  Aussicht  auf  Verwirklichung,  wenn  auch  ein 
Düsseldorfer  Kollege,  Herr  Dr.  Wederhake,  in  einem  Referate  des 
erwähnten  Vorschlags  uns  mitteilt,  daß  Düsseldorf  derartige  Spezia- 
listen schon  aufweise,  und  sein  Urteil  dahin  abgibt:  „Man  kann  diesen 
Vorschlag  nur  mit  Freuden  begrüßen  und  im  Interesse  der  leidenden 
Menschheit  wünschen,  daß  von  ihm  recht  ausgedehnt  Gebrauch  ge- 
macht würde." 

Geht  man  auf  die  Materie  genauer  ein,  kritisiert  man  die  einzelnen 
Behauptungen,  die  als  Grundlage  von  der  Forderung  der  Non-Auto- 
Infektion  und  Abstinenz  dienen  sollen,  so  kommt  man  auf  so  viele 
unbewiesene  Annahmen,  daß  man  sich  verwundern  muß,  wie  eine  so 
ungenügend  fundierte  Lehre  die  Zustimmung  unserer  hervorragend- 
sten Fachvertreter  gewonnen  hat. 

Machen  wir  uns  erst  klar,  was  man  unter  Auto-Noninfektion  und 
unter  Abstinenz  versteht.  Im  Lehrbuche  der  operativen  Gynäkologie 
von  Doederlein-Krönlg,  2.  Auflage,  finden  wir,  Seite  18,  folgende 
Definition:  „Unter  Noninfektion  verstehen  wir  die  möglichste  Fem- 
haltung oder  Vermeidung  des  Kontakts  unserer  Hände  mit  infektiösem 
Material,  z.  B.  Eiter,  Lochialsekret  infizierter  Wöchnerinnen  usw/^ 
„Unter  Abstinenz  verstehen  wir  die  zeitweise  Suspension  von  asep- 
tischen Operationen,  wenn  unsere  Hände  mit  septischen  oder  sapri- 
schen  Stoffen  in  Berührung  gekommen  sind.^^ 

„Beide  Maßnahmen,  Noninfektion  und  Abstinenz,  müssen  beute 
als  gleichwertige  Faktoren  bei  der  Unsicherheit  der  chemischen  Des- 
infektion neben  dieser  für  die  Asepsis  der  Hände  verlangt  werden.^ 

Menge  verschärft  diese  Anschauungen  noch  wesentlich.  In  v. 
Winckels  Handbuch  der  Geburtshilfe,  1.  Band,  2.  Hälfte,  1904,  sagt 
er,  Seite  1106:  „Durch  die  in  der  Berufstätigkeit  sich  immer  wieder- 
holenden Verunreinigungen  mit  Infektionsstoifen  ist  dafür  gesorgt,  daß 
die  Geburtshelferhand  ihren  drohenden  Charakter  so  gut  wie  nie  ver- 
liert." „Der  Arzt,  besonders  der  allgemeine  Praktiker,  der  sich  prak- 
tischer Arzt,  Wundarzt  oder  Chirurg,  und  Geburtshelfer  nennt,  ist 
vielleicht  noch  gefährlicher  wie  die  Hebamme." 

Geht  schon  aus  diesen  beiden  Zitaten  hervor,  daß  der  praktische 


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7]  Der  praktische  Arzt  und  die  Hlndegefahr.  319 

Arzt,  nach  Menges  Meinung,  kaum  in  der  Lage  sein  kann,  jemals 
eine  ärztlich  brauchbare  Hand  zu  besitzen,  so  geht  der  folgende, 
Seite  11Ö7  ausgesprochene  Satz  noch  weit  über  diese  Zitate  hinaus: 
Auch  das  Badewasser  spielt  als  heterogene  Infektionsquelle  überhaupt 
keine  oder  eine  nur  ganz  untergeordnete  Rolle,  „vorausgesetzt,  daß 
das  Bad  für  die  Kreißende  nicht  von  der  gefährlichen  Hand  der 
geburtsleitenden  Person  gerichtet  wird^^  Also  selbst  die  wohldesin- 
fizierte Hand  eines  Arztes,  einer  Hebamme  darf  nicht  in  Berührung 
mit  dem  für  eine  Gebärende  zurechtgemachten  Badewasser  kommen, 
weil  die  Gefahr  besteht,  die  Hand  könne  Keime  in  das  Badewasser  über- 
tragen, die  dann  auf  dem  Wege  per  vaginam  Unheil  anrichten  könnten. 

Da  Frltsch,  im  Anschluß  an  Doederlein,  Krönig  und  Menge, 
sich  in  allerneuester  Zeit  als  ein  Hauptvertreter  dieser  Lehre  bekennt 
und  in  präziser  Weise  seinen  Standpunkt  gelegentlich  eines  Referats 
fiber  Asepsis  bei  gynäkologischen  Operationen  niedergelegt  hat,  so 
halte  ich  mich  im  weiteren  an  diese  neueste  Publikation  und  setze 
das  kurze  Referat^)  verbotenus  meinen  Ausführungen  voran: 

„Abstinenz.  Schwieriger  liegt  die  Frage,  wie  wir  die  Hände 
für  die  Wunde,  die  sie  anlegen  und  berühren,  ungefährlich  machen 
sollen.  Dazu  ist  die  erste,  jetzt  überall  anerkannte  Bedingung,  daß 
ein  Operateur  septische  Kranke  oder  Leichenteile  überhaupt 
nicht  anfaßt,  daß  er  ferner  unsaubere  Sachen  nie  mit  unbedeckten, 
ungeschützten  Händen  resp.  ohne  Gummihandschuhe  berührt.  All- 
gemein gilt  diese  Regel:  Die  Forderung  der  Noninfektion,  wie  es 
Krönig  nennt,  und  die  Abstinenz,  d.  h.  daß,  wenn  man  zufallig  oder 
mit  Bewufitsein  septische  Gegenstände  doch  berühren  mußte,  der 
Operateur  eine  Zeidang,  3  oder  4  Tage,  das  Operieren  unterläßt  bzw. 
daß  ein  Arzt,  der  dergleichen  gefahrliche  Sachen  berührt,  bei  einer 
Operation  nicht  assistiert,  ja  nicht  einmal  zuschaut.  Selbstverständ- 
lich werden  dann  Bäder  und  verschärfte  Desinfektion  gefordert. 

Diese  Forderung  ist  übrigens  so  alt  als  die  Worte  oder  Begriffe: 
bfektion  und  Desinfektion.  Schon  Semmel  weis  hat  ja  beides  ver- 
langt. Ein  Operateur  soll  sich  von  infektiösen  Menschen  und  Dingen 
prinzipiell  fernhalten.  Kam  doch  schon  vor  Jahren  ein  Operateur  in 
Anklagezustand,  weil  er  nach  Spaltung  eines  Furunkels  eine  Laparo- 
tomie gemacht  hatte,  obwohl  er  vor  der  Laparotomie  sich  sorgFältig 
desinfizierte.  Diese  prinzipielle  Noninfektion  und  Abstinenz  gilt  jetzt 
überall  als  Grundsatz.^^ 

Soweit  Fritsch.  Setzen  wir  nun  statt  „Operateur'^  »Arzt,  der  zu 
operieren  gedenkt  oder  operieren  muß^S  übertragen  wir,  wie  es  ja 


1)  Verhandl.  der  Detttschen  Gesellsch.  für  Gynäkologie  1007,  XII,  S.  472. 

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320  ^  Ahlfeld,  [8 

auch  Frltsch  tut,  die  Frage  aus  der  Klinik  heraus  auf  die  allgemeine 
Praxis,  so  stehen  wir  zuerst  vor  der  Frage:  Welches  sind  ,,septisehe 
Kranke^S  ^^s  sind  ,,unsaubere  Sachen^',  was  ,,septische  Gegenstände^, 
^»dergleichen  gefiihrliche  Sachen^S  ^or  deren  Berührung  sich  der  prak- 
tische Arzt  hüten  soll? 

Nun  sind  ja  einige  der  gefährlichsten  Krankheiten  bekannt,  deren 
Giftstoffe,  auf  frische  Wunden  übertragen,  mit  einer  gewissen  Wahr- 
scheinlichkeit wieder  Blutvergiftung  erzeugen.  Aber  können  wir  wiiiL- 
lich  diese  Fälle  in  ihrem  Beginn,  vor  der  Berührung  mit  dem  Kranken, 
immer  als  solche  zeitig  genug  erkennen,  um  Vorsichtsmaßregeln  zu 
treffen,  um  eine  Behandlung  abzulehnen?  Genügt  nicht  schon  der 
Besuch  in  der  Krankenstube,  das  Reichen  der  Hand,  die  der  Kranken 
den  GruO  bietet,  Giftstoffe  aufzunehmen?  Soll  man  die  Kranke,  die 
ihre  Hoffnung  auf  den  Arzt  gesetzt  hat,  mit  der  Weisung  wieder  ver- 
lassen, ein  anderer  Arzt,  der  Herr  Septicus,  solle  die  Behandlui^ 
übernehmen?  Kann  nicht  die  dadurch  entstehende  Verzögerung  eines 
Eingriffs,  auch  wohl  die  seelische  Erregung,  unheilvolle  Folgen  haben? 

Und  weiter,  wenn  nun  der  praktische  Arzt  sicher  in  letzter  Zeit 
es  mit  keinem  der  manifesten  septischen,  ich  will  sagen  gefährlichen 
Krankheitsfällen  zu  tun  gehabt  hat,  kann  er  sich  dann  wirklich  mit 
ruhigem  Gewissen  darauf  verlassen,  daß  er  nidit  doch  irgend  wo 
und  wie  septische  Stoffe  berührt  habe?  Ist  es  nicht  vielleicht  rich- 
tiger, jede  Ärztehand  zu  jeder  Zeit  als  eine  solche  anzusehen,  die 
ohne  die  sorgfältigste  Händedesinfektion  keinen  chirurgischen,  keinen 
geburtshilflichen  Eingriff  wagen  soll,  bei  dem  eine  Berührung  mit 
Wunden  stattfindet? 

Ich  mag  die  Frage  ansehen  von  welcher  Seite  ich  will,  es  ergibt 
sieh  für  den  praktischen  Arzt  die  Unmöglichkeit,  operative  (auch  geburts- 
hilfliche) Praxis  zu  treiben,  wenn  diese  extremen  Anschauungen,  wie 
sie  im  obigen  Referate  vertreten  werden,  sein  Handeln  bedingen  müssen. 

Ebensowenig  komme  ich  mit  Befriedigung  über  die  Forderung  der 
Abstinenz  hinweg. 

Was  ihre  Dauer  anbetrifft,  so  spricht  Frltsch  von  3  oder  4  Tagen. 
Doederlein-Krönig  stützen  sich  auf  Zweifel  und  schreiben:  »Van 
Zweifel  wird  auf  Grund  klinischer  Erfahrungen  eine  3  Tage  wahrende 
Abstinenz  verlangt  und  von  einer  großen  Zahl  Operateure  gebilligt.* 
Die  deutsche  Prüfungsordnung  für  das  ärztliche  Staatsexamen  setzt 
8  Tage  fest.  In  der  Hebammenpraxis  werden  8 — 14  Tage  Karenzzeit 
angeordnet^) 


1)  Hauptversammlung  des  Preußischen  Medizinalbamten-VereinSy  Bericht  vom 
26.  Sept.  1898,  S.  25. 


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H  Der  praktische  Arzt  und  die  Hlndegefahr.  321 

Wie  soll  nun  diese  Zeit  händereinigend  wirken?  Findet  in  diesem 
Zeiträume  eine  Abscfauppung  statt,  die  alle  septischen  Keime  mit  fort- 
Biaoit?  Oder  soll  die  Zeit  dazu  dienen,  durch  häufige  grfindliche 
Reinigungen  die  »gefährlichen''  Keime  zu  beseitigen?  Ließe  sich  dies 
mit  gutem  Willen  und  Verständnis  nicht  in  einer  kürzeren  Zeit  aus- 
fuhren? 

»Wir  gehend  schreiben  Doederlein-KrSnig,  „hiervon  der Vor- 
aussetztmg  aus,  daß  durch  die  stets  vor  sich  gehende  Abschuppung 
der  obersten  Epidermisschichten  die  anhaftenden  pathogenen  Bakterien 
mechanisch  entfernt  werden,  oder  daß  sie  durch  die  ihnen  auf  der 
intakten  Hautoberfläche  aufgezwungene  saprophytische  Lebensweise 
ihre  Virulenz  verlieren.* 

AttsfOhrlicher  geht  Menge  auf  diesen  Punkt  ein.  Seite  1296  im 
zitierten  Teile  des  v.  Winckelschen  Handbuchs  setzt  er  auseinander, 
auf  welche  Vorgänge  der  Haut  die  Reinigung  zurückzufahren  sei. 

In  keiner  dieser  Publikationen  ist  angegeben,  auf  welche  Unter- 
suchungen oder  praktischen  Erfahrungen  sich  diese  Annahmen  stützen. 
Ob  sie  überhaupt  richtig  sind,  ist  wiederum  eine  der  zu  beantwor- 
tenden Fr^en. 

Kann  —  eine  andere  Frage  —  der  Arzt  in  der  Abstinenzzeit  nicht 
unbewußt  von  anderer  Seite  wieder  eine  Körperinfektion  erfahren? 
Sclmrierigkeiten  fiber  Schwierigkeiten,  Fragen  über  Fragen,  an  deren 
Beaatwortung  man  doch  hätte  eher  gehen  müssen,  ehe  man  solche 
rigorose  Forderungen  an  den  Arzt  stellt. 

Dieser  Vorhalt  scheint  mir  um  so  berechtigter,  da  ja  F ritsch 
selbst  die  Möglichkeit  zugibt,  durch  eine  besonders  sorgfältige  Hände- 
desmfektioo  wäre  der  praktische  Arzt  Imstande,  sich  derart  zu  rei- 
nigen, daß  er  Optative  Eingriffe  aseptisch  und  mit  gutem  Erfolge 
nsKhren  könne.  Im  Fortlauf  seines  Referats  heißt  es:  „Ich  möchte 
kier  aber  doch  einschieben,  daß  ich  auch  nach  zufälliger  Verun- 
reinigung der  Hände  eine  erfolgreiche  Desinfektion  für  möglich  halte. 
Habe  ich  doch  Jahrzehnte  hindurch  mit  unbedeckten  Händen  allerhand 
septische  Operationen  gemacht  und  unmittelbar  danach,  allerdings 
otch  soif  ßltigster,  wenn  ich  so  sagen  darf,  doppelter  und  dreifacher 
Desinfektion,  nach  Oberdesinfektion,  wieder  aseptische  Operationen 
mit  gutem  Erfolge  ausgeführt.  Ich  würde  es  nicht  wieder  tun,  weil 
ich  es  für  prinzipiell  unrichtig  halte,  ich  habe  es  auch  seit  Jahren 
eicht  wieder  getan;  aber  für  möglich  halte  ich  es  auch  heute  nodi, 
eine  septisch  verunreinigte  Hand  schnell  wieder  in  dem  Grade  heim- 
ürei  zu  machen,  daß  sie  ungestraft  eine  aseptische  Operation  ausfahren 
kann.  Das  muß  man  zur  Beruhigung  der  Ärzte  sagen,  die  doch  oft 
nicht  anders  handeln  können."* 


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322  F.  Ahlfeld,  [10 

Mit  der  »Beruhigung'  kann  sich  aber  der  praktische  Arzt  nicht 
zufrieden  geben.  Er  muß  Sicherheit  haben*  Er  muß  auch  Gewißheit 
haben,  daß,  wenn  er  sich  mittels  einer  bewährten  Methode  unter  ge- 
nauer Berücksichtigung  aller  zum  Erfolg  nötigen  Punkte  desinfiziert 
hat,  ihm  eine  Anklage  keine  Verurteilung  bringen  kann. 

Auch  Menge  gibt  bis  zu  einem  gewissen  Grade  die  Möglichkeit 
zu,  eine  frisch  infizierte  Hand  sofort  zu  reinigen:  »Nachgewiesener- 
maßen  lassen  sich  die  infektiösen  Massen  am  leichtesten  und  voll- 
kommensten von  der  Haut  mechanisch  wieder  entfernen,  wenn  sie 
noch  nicht  eingetrocknet  waren/^ 

Gleich  im  nächsten  Satze  schränkt  Menge  aber  den  Ausdruck 
»vollkommensten*  erheblich  ein:  „Niemals  wird  aber  die  mit  frisch- 
infektiösem Materiale  in  Berührung  gewesene  Handhaut  durch  die 
sofort  angeschlossene  mechanische  und  chemische  Desinfektion  ihres 
gefährlichen  Charakters  absolut  sicher  entkleidet.  Sie  bleibt  auch 
nach  diesen  Reinigungsprozeduren  verdächtig  und  stellt,  besonders 
wenn  sie  mit  streptokokkenhaltigem  Materiale  in  Kontakt  getreten  war, 
den  Geburtsleiter  vor  die  Frage  von  der  sogenannten  Abstinenz.' 

Versuche  über  Frischdesinfektion.  Die  obengestellte  Frage 
habe  ich  auf  folgende  Weise  zu  beantworten  versucht: 

Meine  eigenen  Finger,  die  meist  48  Stunden  mit  keinem  Desin- 
fiziens  in  Berührung  gekommen  waren,  habe  ich,  wie  es  die  Praxis 
ergibt,  mit  den  verschiedensten  Stoffen  beschmutzt,  die  man  allgemein 
als  »infektiöse  Stoffe'  bezeichnet.  Ich  habe  Mastitiseiter,  Karzinom- 
jauche,  Eiter  parametraner  Abszesse,  Zystitiseiter^  Lochien  von  puer- 
peralkranken  Frauen,  Darmkot,  Lochien  nicht  fiebernder  Personen  usw. 
an  die  Hand  gebracht  und  mich  nach  Beendigung  der  ärztlichen  Mani- 
pulation zunächst  mit  warmem  Wasser,  Seife  und  Bürste  gereinigt, 
wie  man  es  in  der  Praxis  ausführen  kann.  Dieser  Reinigung  habe 
ich  eine  Alkoholwaschung  mit  Bürste  oder  Flanell  folgen  lassen  und 
dann  wiederum  die  Oberfiäche  der  Hand  auf  Bakteriengehalt  unter- 
sucht. 

Vorversuche  bezogen  sich  auf  die  Beschaffenheit  der  Tages- 
hand, d.  h.  der  Hand,  die  absichtlich  die  Berührung  ^infektiöser' 
Stoffe  vermieden  hatte. 

Zu  diesen  Versuchen  benutzte  ich  Petrischalen,  da  es  darauf  an- 
kam, die  Zahl  und  Art  der  Kolonien  zu  bestimmen.  In  dieser  ersten 
Serie  begnügte  ich  mich  damit,  die  Fingerkuppen  auf  der  Volar-  und 
auf  der  Nagelseite  strichweise  über  den  Agar  weggleiten  zu  lassen. 

Schon  seit  Jahren  benutze  ich  diese  Methode,  um  im  Beginne  des 
Hebammenunterrichts  den  Schülerinnen  zu  zeigen,  welch  große  Zahl 
von  Keimen  sie  an  ihrer  Tageshand  haben,  selbst  wenn  sie  nicht  mit 


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11]  Der  praktische  Arzt  und  die  Händegefahr.  323^ 

Kranken  und  Wöchnerinnen  zu  tun  hatten.  Die  so  gewonnenen  Bilder 
sind  derart  überzeugend,  daO  sie  weit  besser  wirken  als  lange  Reden 
und  Auseinandersetzungen. 

Für  meine  jetzigen  Versuche  war  es  aber  nötig  Festzustellen,  daß 
auch  die  gepflegte  Arzthand,  in  diesem  Falle  die  meinige,  auch  wenn 
sie  nicht  in  direkte  Berührung  mit  »gefährlichen  Fällen''  gekommen 
war,  stets  durch  einfaches  Bestreichen  der  Agarplatte  eine  reiche  Aus- 
saat bewirkt. 

Freilich  auch  in  dieser  Beziehung  muO  mit  einiger  Vorsicht  das 
Resultat  beurteilt  werden,  denn  tatsächlich  sind  nicht  alle  Kolonien, 
die  auf  der  Platte  wachsen,  Handkeime. 

Obwohl  ich  die  verwendeten  Petrischalen  mit  einem  kräftigen 
Gummiring  derart  versah,  daO  die  überstehende  Platte  fest  an  die 
überragte  angedrückt  wurde,  obwohl  das  Öffnen  beim  Bestreichen  des 
Agar  mit  dem  Finger  nur  wenige  Sekunden  Zeit  brauchte,  kamen  doch 
io  einem  nicht  geringen  Prozentsatz  Luftverunreinigungen  vor.  Vor 
einer  Täuschung  schützte  ich  mich,  wenigstens  in  etwas,  daO  ich  die 
Aussaat  mit  dem  Finger  in  ganz  bestimmten  Figuren  machte,  die  ich 
mir  dann  im  Protokoll  einzeichnete.  Wenn  Keime  weitab  von  diesen 
Berührungsstellen  sich  entwickelten,  so  war  ich  berechtigt,  sie  als 
nicht  vom  Finger  stammend  anzusehen. 

Auch  Sarwey^)  hatte  bei  seinen  Experimenten,  obwohl  er  sich 
größere  Mühe  gegeben  hat,  das  Einfallen  von  Luftkeimen  zu  verhüten, 
durchschnittlich  auf  vier  bis  fünf  sterile  Platten  eine  mit  je  ein  bis 
zwei  aufgefallenen  Luftkeimen. 

Als  Endresultat  dieser  Vorversuche  ergibt  sich,  was  zu  erwarten 
war:  Die  Tageshand,  wenn  sie  nicht  vorher  mit  einem  Des- 
infiziens  in  Berührung  gekommen,  bewirkte  auf  unseren 
Agarplatten  durch  einfaches  Bestreichen  ausnahmslos  eine 
reiche  Aussaat  von  Keimen. 

Ich  kann  daher  in  den  weiteren  Experimenten  mit  gutem  Recht 
eine  auffallende  Abnahme  der  Keime  als  Folge  einer  ReinigungsmaO- 
regel  ansehen. 

Um  dem  Leser  ein  Urteil  zu  ermöglichen,  in  welchem  Grade  die 
Oberfläche  der  Hand  ihren  Keimgehalt  ändert,  wenn  diese  oder 
jene  Behandlung  vorausgegangen  ist,  benutzte  ich  die  Photographie, 
weil  damit,  was  Zahl  und  Verteilung,  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
auch  die  Art  der  Kolonien  anbetriffst,  jede  subjektive  Deutung  wegfällt. 

Ich  beginne  mit  der  Darstellung  der  Bilder  der  Aussaat  von  der 


1)  Bakteriologische    Untersttchungen    fiber    Händedesinfektion.     Berlin    1005^ 
S.  25  u.  f. 


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324  F.  Ahlfeld,  [12 

Tageshand  von  Frauen,  die  nichts  mit  Kranken  zu  tun  hatten.  Dazu 
wählte  ich  die  Hände  von  Schülerinoea,  die  frisch  eingeireten  waren 
und  die  ersten  8  Tage  des  Kursus  sich  —  ohne  Destnfiziens  —  reinigen 
gelernt  hatten.    Ich  ließ  auf  die  Agarplatte  eine  3  schreiben. 

Das  Resultat  zeigen  die  Abbildungen  1  und  2.^)  Jedes  Semescw, 
wo  ich  dieses  Experiment  als  Unterrichtsmittel  benutzte,  ergab  sich 
der  gleiche  Erfolg.  Ich  mache  auf  die  abseits  der  Zahl  befindlichen 
Luftkeime  aufmerksam. 

Auch  mit  meiner  Hand,  die  am  Morgen  mit  Seife  und  Wasser  ge- 
waschen, mit  keinem  Desinfiziens  in  Berührung  gekommen  war,  auch 
keine  Stoffe  angefaßt  hatte,  die  als  septische  oder  py(^ene  aufzufassen 
waren,  machte  ich  das  gleiche  Experiment  und  erzielte  ähnliche  Re- 
sultate, wenn  auch  die  Kolonien  nicht  in  der  Massenhaftlgkeit  sich 
zeigten  wie  auf  den  Platten  der  Schülerinnen.    Siehe  Fig.  3. 

Nach  diesen  Vorversuchen  nahm  ich  nun  die  Experimente  mit 
künstlicher  Beschmutzung  und  gleich  darauffolgender  Reini- 
gung vor.  Was  Plan  und  Ausführung  anbelangt,  muß  ich  die  verschie- 
denen Serien  zunächst  zusammen  besprechen,  um  dann  an  Ort  und 
Stelle  auf  die  Abweichungen  einzugehen.  Hingegen  mochte  ich  nicht 
unerwähnt  lassen,  daß,  nachdem  ich  mehrere  Wochen  lang  in  kein 
Krankenhaus  gekommen  war,  mit  Bewußtsein  auch  keine  septischen 
Stoffe  berührt,  mich  in  dieser  Zeit  auch  nicht  desinfiziert  hatte,  die 
Abschabsei  meiner  Handoberfiäche  in  die  Bauchhöhle  mehrerer  Miuse 
und  eines  iVIeerschweinchens  eingespritzt,  keinerlei  Entzflndungser- 
scheinungen  septischer  Art  hervorgerufen  haben.  Die  Tiere  blieben 
vollständig  munter. 

Die  Verhältnisse  der  Praxis  nachahmend,  nahm  ich»  nur  mit  der 
Abweichung,  keine  Desinfektion  der  Hand  vorauszuschicken,  eine 
Untersuchung  von  Frauen  vor,  die  an  den  verschiedensten  Erkran- 
kungen litten  und  einen  Ausfluß  hatten,  dessen  Bestandteile  man  all- 
gemein unt^  die  „gefährlichen*  Stoffb  rechnet. 

In  der  ersten  Serie  meiner  Versuche  strieh  ich  die  so  be- 
schmutzten Finger  alsbald' nach  Beendigung  der  ärztlichen  Vornahme 
über  eine  Agarplatte  ab,  indem  ich  mit  der  Volarfläche  und  dann  mit 
der  Nagelseite  Figuren,  als  Striche,  Bogen,  Kreise,  Zahlen  auf  die 
Platte  zeichnete. 

Nun  wusch  ich  die  beschmutzte  Hand  zunächst  mit  warmem  Wasser 
(Wasserleitungswasser)  in  den  Waschbecken  meines  Untersuchungs« 
Zimmers  und  mit  gewöhnlicher  Toilettenseife  und   fügte  dann  die 


1)  Sämtliche  Platten  sind,  wenn  nicht  speziell  anders  angegeben,  48  Stunden 
nach  der  Beschickung  photographiert  worden. 


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13]  Der  praktische  Arzt  und  die  Händegefahr.  325 

Abbfirsmiig  mit  einer  gewöhnlichen  WurzelbGrste  hinzU)  die  bis  kurze 
Zeit  vorher  in  Alkohol  gelegen  hatte,  aber  etwa  5  Minuten  lang  in 
strömendem  warmem  Wasser  vom  Alkohol  befreit  war.  Beide  Proze- 
duren zusammen  dauerten  3—4  Minuten.  SchlieOlich  wurde  die  Haut 
im  strömenden  warmen  Wasser  von  der  Seife  befreit  und  mit  einem 
reingewasc^enen,  bis  dahin  nicht  gebrauchten  Handtuche  die  Hand^ 
speziell  die  Finger,  abgetrocknet. 

Jetzt  erfolgte  die  zweite  Aussaat,  indem  ich  in  gleicherweise,, 
wie  vorher  mit  den  beschmutzten  Fingern,  nun  mit  den  gereinigten 
dieselben  Figuren  auf  eine  Agarplatte  zeichnete. 

Der  Reinigung  mit  Wasser,  Seife  und  Bärste  folgte  eine  Alkohol- 
desinfektion nach  meiner  Methode  mit  Bürste  und  Flanell  und  dann 
eine  Entlaugung  der  Hand  in  strömendem  warmem  Wasser,  um  den 
Alkohol  soviel  als  möglich  zu  beseitigen.  Die  feuchte  Hand  wurde 
danach  mit  sterilem  Mull  gehörig  getrocknet  und  eine  dritte  Aus- 
saat vorgenommen,  wiederum  die  gleichen  Zeichen,  die  ich  bei  der 
ersten  und  zweiten  benutzt  hatte. 

Von  den  zahlreichen  Versuchen  gebe  ich  die  Bilder  einiger  Plattea 
und  fuge  das  Gesamtresultat  dieser  Serie  am  Schlüsse  an. 

1.  Untersuchung  einer  Frau  mit  jauchendem  Portio -Karzinom. 
Auf  der  Platte  drei  nahezu  parallel  laufende  Striche.  48  Stundea 
im  Brutofen. 

a)  Testplatte:  Zahllose  Kolonien  längs  der  drei  Striche,  mit 
Bakterienarten,  die  nach  okularer  Besichtigung  hauptsächlich 
den  Streptokokken  und  den  Staphylokokken  (aureus  und  albus) 
angehören.   Fig.  4. 

b)  Platte  nach  der  Wasser  und  Seifenwaschung:  Zwei  Kolonien,, 
keine  Streptokokken.   Fig.  5. 

c)  Platte  nach  der  Alkoholdesinfektion:  Eine  Kolonie. 

2.  Untersuchung  einer  Frau,  bei  der  ein  jauchender  Beckenabszeß 
sich  in  die  Scheide  öffnet. 

a)  Testplatte:  Drei  Striche  von  drei  zur  Untersuchung  benutzten 
Fingern.    Zahllose  Kolonien.   Fig.  6. 

b)  Platte  nach  der  Wasser-  und  Seifenwaschung:  Vier  Kolonien. 
Fig.  7. 

c)  Platte  nach  der  Alkoholdesinfektion:  Drei  nebeneinander* 
liegende  Kolonien. 

3.  Öffnung  einer  vereiternden  Brustdrüse.   Der  ausfließende  Eiter 

ergiefit  sich  über  die  Finger.  I 

a)  Testplatte:  Drei  Finger,  mit  Eiter  beschmutzt,  sind  über  die  i 

Platte  weggestrichen.   Zahllose  Kolonien.   Fig.  8. 


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328  F.  Ahlfeld,  [14 

b)  Platte  nach  der  Wasser-  und  Seifenwaschung:  Drei  am  Rande 
gelegene  Kolonien.    Fig.  0. 

c)  Platte  nach  der  Alkoholdesinfektion:  Zwei  Kolonien. 

4.  Untersuchung  einer  Wöchnerin  mit  übelriechendem  Ausfluß. 

a)  Testplatte:  Drei  Fingerstriche.    Zahllose  Kolonien.   Fig.  10. 

b)  Platte  nach  der  Wasser-  und  Seifenwaschung:  Drei  Kolonien. 
Fig.  11. 

c)  Platte  nach  der  Alkoholdesinfektion:  Eine  eng  zusammen- 
liegende Gruppe  aus  mehreren  Keimen  entwickelt, 

5.  Untersuchung  einer  Wöchnerin   mit  Endometritis  puerperalis» 
hoch  fiebernd. 

a)  Testplatte:  Zwei  Fingerstriche.    Zahllose  Kolonien.    Fig.  12. 

b)  Platte  nach  der  Wasser-  und  Seifen  Waschung:  Sehr  viele 
Kolonien. 

c)  Platte  nach  der  Alkoholdesinfektion:  Eine  Kolonie  ganz  am 
Rande.   Fig.  13. 

6.  Untersuchung  einer  Frau  mit  jauchendem  Beckenexsudat. 

a)  Testplatte:  Zwei  Fingerstriche  mit  zahllosen  Kolonien.    Ab- 
seits zwei  Luftkeime.   Fig.  14. 

b)  Platte  nach  Wasser-  und  Seifenwaschung:  Zwei  Kolonien; 
die  eine  aus  einer  Gruppe  bestehend.    Fig.  15. 

c)  Platte  nach  der  Alkoholdesinfektion:  Steril. 
Selbstverständlich  habe  ich  den  Einwand  zu  erwarten,  die  Ab- 

impfungsmethode  sei  eine  viel  zu  zarte,  nicht  ausreichende.  Der  Ein- 
wand ist  voll  berechtigt.  Es  sollen  diese  Versuche  auch  nur  zunächst 
beweisen,  wie  eine  sofortige  Reinigung  der  Hand,  allein  schon 
mit  Wasser,  Seife,  Bürste  und  Handtuch,  die  Zahl  der  frisch 
aufgenommenen  infektiösen  Keime  in  staunenswerter  Weise 
sichtlich  vermindern  kann. 

In  einer  zweiten  Serie  der  Versuche  veränderte  ich  deshalb  die 
Abimpfungsmethode,  indem  ich  als  zweiten  Akt  nicht  das  einfache 
Bestreichen  der  Platte  mit  dem  gereinigten  Finger  vornahm,  sondern 
ich  faßte  kleine  sterile  Mulläppchen  mit  einer  sterilen  Pinzette,  rieb 
die  Finger,  besonders  die  Nagelgegend  kräftig  ab,  breitete  das  Mull- 
läppchen auf  der  Agarplatte  aus  und  drückte  es  mit  steriler  Pinzette 
sanft  dem  Agar  so  auf,  daß  es  ihm  überall  anlag. 

Und,  um  das  weiter  anzuschließen,  nahm  ich  in  einer  dritten 
Serie  der  Versuche  die  Abimpfung  der  Hand,  des  Nagelsaums  und 
des  Nagelfalzes  mit  sterilen  Hölzchen  vor,  die  mit  steriler  Schere 
abgeschnitten  auf  die  Agarplatte  fallen  gelassen  wurden;  auch  drückte 
ich  sie  mit  zartem  Druck  gegen  die  Nährmasse. 

Ich  kann  mich,  was  das  Ergebnis  dieser  beiden  Serien  anbetrifft, 


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15]  Der  praktische  Arzt  und  die  Händegefahr.  327 

kurz  fossen.  Es  unterschied  sich  nur  sehr  wenig  von  dem  der  ersten 
Serie:  Der  Erfolg  der  einfachen  \E^aschung  mit  heißem  Wasser, 
Seife  und  BGrste  war  ein  eminenter.  Die  frisch  der  Hand  auf- 
gefugten Keime  wurden  auf  diese  Weise  fast  ganz  oder  ganz  beseitigt. 
Die  bisherigen  Versuche  bezogen  sich  aber  immer  nur  auf  die 
Quantität  der  nicht  beseitigten  Keime  und  ließen  außerdem  noch  die 
Möglichkeit  zu,  daß  ein  Teil  dieser  Keime  nicht  der  Hand  angehorte, 
sondern  als  zufallige  Verunreinigungen  aufzufassen  wan 

Ich  benutzte  daher  zu  den  weiteren  Versuchen  Bakterienarten^  die 
man  infolge  ihrer  subjektiven  Färbung  aus  dem  übrigen  Bakterien- 
gemisch herauskennen  kann  und  die  nur  selten  als  Luftkeime  vor- 
kommen, das  Bacterium  coli  und  den  Prodigiosus. 

Von  jeder  dieser  Serien  sei  ein  Versuch  als  Paradigma  beschrieben: 

Beschmutzung  zweier  Finger  und  des  Handrückens  mit  frischem 

Dafmkot.  —  Abstreichen  des  Schmutzes  auf  eine  Drigalski-Platte  in 

Form  zweier  Bogen  mit  der  Volarfläche  der  beiden  Finger,  in  Form 

eines  Striches  mit  der  Ruckenfläche,  Nagelgegend  (I). 

Waschen  der  Hand  mit  warmem  Wasser  und  gewöhnlicher  Seife, 
um  den  gröbsten  Schmutz  zu  entfernen.  Danach  Waschen  mit  Bflrste 
und  Seife  zusammen,  ungefähr  4  Minuten  lang.  Abtrocknen  mit 
reinem  Handtuche.  Nun  die  gleichen  Figuren  auf  eine  zweite  Dri- 
galski-Platte (II)* 

Bfirsten  der  Hand  mit  Alkohol,  5  Minuten.  Entfernen  des  Alkohols 
durch  Auslaugen  in  heißem  Wasser,  5  Minuten.  Abreiben  der  vorher 
beschmutzten  Finger  mit  einem  kleinen  sterilen  Mulläppchen,  das  mit 
steriler  Pinzette  gefaßt  wurde.  Ausbreiten  und  Gegendrücken  dieses 
Lappchens  auf  eine  dritte  Drigalski-Platte  (III). 

Als  Kontrollversuch  wurde  ein  steriles  Mulläppchen  ohne  jede 
sonstige  Behandlung  auf  eine  vierte  Drigalski-Platte  gelegt  (IV). 

Aller  24  Stunden  Besichtigung  der  Platten  und  Eintragung  in  das 
Protokoll: 

In  Platte  I  entwickelten  sich  schon  nach  24  Stunden  zahllose  Keime 
an  der  Stelle  der  Zeichnung,  auch  zeichneten  sich  die  geimpften  Par- 
tien schon  nach  24  Stunden  durch  eine  deutiiche  Rotfärbung  aus,  die 
Wirkung  des  Bacterium  coli,  die  am  nächsten  Tage  noch  intensiver 
wurden. 

Platte  II  blieb  bis  zum  zweiten  Tage  vollständig  keimfrei,  auch 
zeigte  sich  nirgends  eine  Rötung.  Am  3.  Tage  waren  zwei  Kolo- 
nien zu  bemerken,  die  sich,  nach  Bestimmung  im  hygienischen  Institut, 
als  Streptokokken  erwiesen.    Rötung  trat  nie  ein. 

Platte  III  blieb  zunächst  keimfrei.    Am  3.  Tage  waren  am  Rande, 


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328  F-  Ahlfeld,  [16 

außerhalb  des  Zeichnuagsgebiets  zwei  Luftkeime  au^egangen.  Rötung 
trat  nicht  ein. 

Platte  IV  blieb  keimfrei ,  zeigte  niemals  Rötung.  In  anderen  Ver- 
suchen blieben  die  Platten  von  Nebeninfektionen  ganz  frei  und  von 
einem  solchen  Versuche  gebe  ich  die  Abbildung  der  Photographie. 
Die  Zeichnung  geschah  in  Form  eines  Ringes.  Natürlich  fiel  die 
Photographie  der  Färbung  der  Platten  halber  nicht  so  deutlich  aus» 
wie  die  übrigen.    Fig.  16. 

Für  die  Versuche  mit  dem  Prodigiosus  ließ  ich  mir  frische  Kul- 
turen aus  dem  hygienischen  Institute  geben,  die,  wie  ich  mich  längere 
Zeit  hindurch  überzeugte,  sehr  prompt  sich  weiter  entwickelten.  Ich 
machte  mir  eine  Aufschwemmung,  die  leicht  rosa  gefärbt  war,  tauchte 
meine  Hand  in  dieselbe  ein  und  ließ  die  Masse  zunächst  antrocknen. 

Wie  sonst  bei  den  beschriebenen  Versuchen  zeichnete  ich  nun  mit 
der  Volar-  und  der  Nagelseite  Figuren  auf  eine  Agarplatte  (I),  wusch 
dann  die  Hand  mit  Wasser  und  Seife  und  bürstete  sie  ca.  4 — 5  Minu- 
ten, wie  immer  die  Nagelgegend  ganz  besonders  berücksichtigend,  und 
zeichnete  die  gleichen  Figuren  auf  eine  Platte  (II).  Darauf  kratzte  ich 
mit  sterilen  spitzen  Hölzchen  Nagelgegend,  Nagelbett  und  Unter- 
nagelraum aus  und  ließ  die  abgeschnittenen  Spitzen  in  eine  dritte 
Schale  gleiten,  wo  ich  sie  mit  steriler  Pinzette  in  den  Agar  etwas 
eindrückte. 

Die  Platten  blieben  in  Zimmerwärme  stehen  und  auf  Platte  I  ent- 
wickelten sich  regelmäßig  zahllose  Kolonien  des  intensiv  roten  Pilzes 
in  Form  der  gezeichneten  Figuren. 

Platte  II  blieb  in  einigen  Versuchen  ganz  frei  von  Prodigiosus,  in 
anderen  entwickelten  sich  einige  wenige  Kolonien. 

Auf  Platte  III  zeigten  die  Hölzchen,  die  ich  zum  Abkratzen  der 
Haut  benutzt  hatte,  meist  keine  Kulturen,  hingegen  die,  mit  denen  der 
Unternagelraum  und  das  Nagelbett  ausgekratzt  waren,  zeigten,  meist  erst 
nach  mehreren  Tagen,  an  der  Spitze  des  Hölzchens  eine  sich  nach 
und  nach  ausbreitende  Kultur. 

Auch  der  Frage  bin  ich  näher  getreten,  ob  eine  Hand,  an  der  man 
die  Schmutzteile  eine  Stunde  und  darüber  hat  antrocknen  lassen,  mittels 
heißem  Wasser,  Seife  und  Bürste  in  gleicher  Weise  oder  wenigstens 
annähernd  so  wie  sofort  nach  der  Beschmutzung  sich  reinigen  läßt. 

Zu  dem  Zwecke  benutzte  ich  besonders  Kotbeschmutzung  und  den 
Prodigiosus.  Nachdem  ich  die  Hand  mit  besagten  Stofi^en  verunreinigt 
hatte,  zog  ich  einen  sterilen  Gummihandschuh  an  und  behielt  ihn  1  bis 
IV2  Stunde  an  der  Hand.  Danach  folgten  dieselben  Reinigungsproze- 
duren, wie  ich  sie  beschrieben  habe. 

Das  Resultat  unterschied  sich  kaum  von  dem  der  übrigen.    Auch 


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17]  Der  praktische  Arzt  und  die  Händegefahr.  329 

nach  dieser  Zeit  vermochte  die  intensive  Waschung  die  Bakterien  in 
tuffiilliger  Weise  zu  beseitigen. 

Fasse  ich  nun  die  Endergebnisse  der  verschiedenartigen  Versuche 
zusammen,  so  darf  ich  mit  Sicherheit  behaupten: 

Bakterien,  die  erst  kurze  Zeit  vorher  auf  die  Oberfläche 
derHand  gekommen  sind,  ohne  daß  man  sie  intensiv  einrieb, 
lassen  sich  durch  eine  gewissenhafte  Reinigung  mit  warmem 
Wasser,  Seife  und  Bürste  und  Abtrocknen  mit  einem  sauberen 
Handtuche  so  weit  entfernen,  daß  sie  entweder  nur  in  ein- 
zelnen Exemplaren  nachgewiesen  werden  konnten  oder  gänz- 
lich beseitigt  wurden. 

Beim  intensiven  Einreiben,  ebenso  beim  Einreiben  auf  eine  schon 
verletzte  Hand,  kann  das  Resultat  negativ  ausfallen,  die  Hand,  wenn 
es  sich  um  pathogene  Mikroorganismen  handelt,  geschädigt  werden, 
wie  dies  u.  a.  Lauenstein i),  Engels^)  und  Opitz ^)  begegnete.  Wäh- 
rend Lauenstein  und  Engels  ein  solches  Vorkommnis  als  nicht 
beweiskräftig  gegen  die  Wirksamkeit  der  Desinfektionsmethode  aus- 
scheiden, benutzt  es  Opitz  im  entgegengesetzten  Sinne. 

Fügt  man  der  eben  beschriebenen  gewissenhaften  mecha- 
nischen Reinigung  noch  eine  genügende  Abreibung  mit  Alko- 
hol hinzu,  so  erreicht  man  bestimmt  Keimfreiheit  der  Ober- 
flache,  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  auch  eine  solche  der  tieferen 
Partien. 

Die  Bestätigung  dieses  letzteren  Satzes  konnte  ich  nach  einer  puer- 
peralen Streptokokken-Autoinfektion  an  meiner  und  meines  Assistenten 
Hand  durch  bakterielle  Untersuchung  erbringen  und  zwar  nicht  nur 
sofort  nach  der  Reinigung,  sondern  auch  nach  einer  halben  Stunde 
nach  der  Beschmutzung.  ^) 

AufFallenderweise  ist  die  uns  bisher  interessierende  Frage,  inwie- 
weit infizierte  Hände  durch  sofortige  gründliche  Waschung 
vom  Infektionsstoff  befreit  werden  können,  nur  sehr  vereinzelt 
experimentell  behandelt  worden.  In  verschiedenen  Arbeiten  wird  von 
der  Möglichkeit  einer  sofortigen  Beseitigung  frisch  aufgebrachter  Stoffe 
als  von  einer  Tatsache  gesprochen,  aber  nicht  angegeben,  auf  welchen 
Versuchen  diese  Tatsache  beruht. 


1)  Munchener  med.  Wochenschrift  1902,  Nr.  30,  S.  1251. 

2)  Klinisches  Jahrbuch  1905,  13.  Bd.,  S.  610. 

3)  Berliner  Klin.  Wochenschr.  1898,  Nr.  39  und  Deutsche  med.  Wochenschrift 
1Ö08,  Nr.  51,  S.  2064, 

4)  20.  367. 

Klin.  Vortrage,  N.  F.  Nr.  482/93.    (Gynäkologie  Nr.  179/80.)   Juli  1906.  25 


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330  F.  Ahlfeld,  [18 

In  der  vorzüglichen  Dissertation  von  Henke^)  sind  einige  hierher- 
gehörige Experimente  berichtet.  Henke  wollte  feststellen,  ob  die  frisch 
infizierte  Hand  schwerer  keimfrei  zu  machen  sei,  wie  man  damals 
annahm,  als  die  Tageshand.  Er  fand  das  Gegenteil,  also  eine  Be- 
stätigung dessen,  was  auch  meine  Versuche  ergeben  haben. 

Zu  dem  gleichen  Resultate  gelangte  Seitz^),  der  seine  Versuche 
unter  v.  Esmarchs  Leitung  im  Göttinger  hygienischen  Instinite 
machte.  Seine  Ergebnisse  decken  sich  mit  den  meinigen  vollständig. 
Selbst  nach  einer  weit  kürzeren  Waschung  (Seife,  Wasser,  steriles 
Handtuch,  eine  Minute)  gelang  ihm  bei  12  Versuchen  die  gänzliche 
Entfernung  der  Kolibazillen,  die  vorher  als  Bestandteile  frischer  Fäzes 
auf  die  Hand  gebracht  waren.  Weniger  günstig,  wie  auch  in  meinen 
Versuchen,  fielen  die  Versuche  mit  Prodigiosus  aus. 

Auch  Gottstein^)  benutzte  den  Prodigiosus.  Es  gelang  ihm  in 
der  Hälfte  der  Fälle  den  Prodigiosus  schon  mit  heiOem  Wasser,  Seife  * 
und  Bürste  zu  beseitigen,  während  die  normalen  Hautepiphyten  auf 
diese  Weise  in  keinem  Falle  beseitigt  werden  konnten.  Haegler^) 
konnte  mit  Tusche  oder  KienruO  beschmutzte  Hände  durch  sorgfältige 
Waschung  wieder  gänzlich  reinigen.  Waren  aber  die  Hände  rauh 
geworden,  gelang  das  Experiment  nicht  mehr. 

Ziehen  wir  nun  die  praktischen  Konsequenzen  aus  diesen  gesammel- 
ten experimentellen  Ergebnissen,  so  diktieren  sie  dem  Anstaltsleiter 
wie  dem  praktischen  Arzte  und  der  Hebamme,  in  allen  Fällen,  wo 
die  Hand  oder  ein  anderer  Körperteil  mit  offenbar  oder 
zweifelhaft  infektiösen  Stoffen  in  Berührung  gekommen  ist, 
sich  nicht  mit  einer  gewöhnlichen  Waschung  der  beschmutz- 
ten Teile  zu  begnügen,  sondern  sofort  eine  genaue,  bestimmt 
alle  Teile  der  Hand  —  ev.  anderer  Körperteile  —  treffende 
Reinigung  mit  warmem  Wasser,  Seife  und  Bürste  vorzuneh- 
men. Ist  es  möglich,  auch  an  Ort  und  Stelle  gleich  eine 
typische  Alkoholdesinfektion  auszuführen,  dann  bringt  der 
Arzt  seine  Hand  wieder  in  den  Zustand,  wie  er  vor  der  In- 
fektion war. 

Wenn  Klemm^)  schreibt:  „Natürlich  werden  wir  ja  stets  nach  opera- 
tiven Eingriffen,  nach  Verbandwechseln,  Untersuchungen  an  Kranken 


1)  über  die  Desinfektion  infizierter  Hände  und  die  Notwendigkeit  der  geburts- 
hilflichen Abstinenz.    Inaug.  Diss.  Tübingen  18d3. 

2)  Ober   Händeinfektion  und   -desinfektion.     Zentralbl.  für   Bakteriologie  usw. 
1904,  Bd.  37,  S.  726. 

3)  Beiträge  zur  Klin.  Chirurgie,  Bd.  25,  S.  67. 

4)  Händereinigung,  Händedesinfektion  und  Händeschutz.    Basel  1000.  S.  191. 

5)  Deutsche  Zeitschrift  für  Chirurgie  Bd.  75,  S.  541. 


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19]  Der  praktische  Arzt  und  die  Händegefahr.  331 

USW.  die  Hände  genau  so  reinigen  müssen,  als  ob  wir  eine  aseptische 
Operation  ausführen  wollen",  so  folgen  dieser  »natürlichen*  Verpflich- 
tung nur  wenige,  nicht  einmal  sämtliche  Anstaltsleiter.  Schindler^) 
halt  sogar  diese  Waschung  für  nutzlos.  Auf  die  Frage:  Kann  die 
Hebamme  sich  gegen  die  venerische  Ansteckung  im  Beruf  schützen? 
antwortet  Schindler:  „KaumI  Desinfizierende  Waschungen  nutzen 
weder  vorher  noch  nachher,  sonst  würden  sich  eben  nicht  fortgesetzt 
Hebammen  anstecken.""  Daß  sie  vorher  nichts  nützen,  ist  selbstver- 
ständlich. Wenn  sie  aber,  nachher  angewendet,  nichts  genützt  haben, 
dann  sind  sie  entweder  ungenügend  gemacht,  oder  es  hat  eine  Impfung 
unter  die  Haut  stattgefunden. 

Hat  ein  Arzt  gewissenhaft  in  der  beschriebenen  Weise  gehandelt, 
und  ist  er  genötigt,  kurze  Zeit  darauf  einen  Geburtsfall  zu  übernehmen 
.oder  eine  Operation  auszuführen,  so  braucht  er  nur  die  genau  aus- 
geffihrte  verschärfte  Desinfektion  vorauszuschicken,  um  mit  gleichen 
Chancen  zu  operieren,  als  wenn  er  Gummihandschuhe  verwendete. 

Es  braucht  wohl  nicht  betont  zu  werden,  daß  er  daneben  den 
Heidungsstficken  als  Infektionsträger  die  grollte  Aufmerksamkeit  zu- 
zuwenden hat,  die  in  einem  solchen  Falle  natürlich  gewechselt  werden 
müssen.  Besonders  wichtig  erscheint  es  mir,  auf  die  Gefahr  hin- 
zuweisen, die  der  gewöhnliche  Handschuh  mit  sich  bringt,  den  man, 
wenn  man  den  Kranken  verläßt,  ohne  die  Hand,  soweit  es  geht,  keim- 
frei gemacht  zu  haben,  natürlich  innen  beschmutzt  und  sobald  man 
ihn  später  benutzt,  die  inzwischen  gereinigte  Hand  wieder  infiziert. 

Mit  diesen  meinen  Schlußfolgerungen  ist  die  Frage  der  Abstinenz 
in  einem  anderen  Sinne  beantwortet,  als  dies  bisher  die  meisten 
Chirurgen  und  Gynäkologen  tun.  Es  wird  nicht  ausbleiben,  wie  dies 
früher  auch  geschehen:  man  wird  Warnrufe  vor  diesem  falschen 
Propheten  erschallen  lassen. 

Ich  komme  gleich  ausführlich  darauf  zu  sprechen,  wie  wenig  be- 
gründet die  Anschauungen  derer  sind,  die  von  einer  Abstinenz  einen 
Erfolg  erwarten.  Hier  sei  das  eine  vorausgenommen,  daß  man  dem 
Studierenden  und  dem  angehenden  Arzte  gegenüber  mit  der  Anerkennung 
eines  Wertes  der  Abstinenz  zugleich  eine  Diskreditierung  der  Hände- 
desinfektion vornimmt  „Denn  durch  diese  Prohibitivmaßregel  werden 
selbstverständlich  die  Studierenden  nicht  gelehriger  oder  geschickter 
in  der  Kunst  der  Händedesinfektion  gemacht  werden,  als  sie  es  ohne 
dieselbe  sind  und  daß  die  Desinfektion  als  solche  durch  das  Warten 
leichter  gemacht  würde  —  diese  Vorstellung  muß,  wie  ich  genügend 


1)  Die  venerische  Ansteckung  der  Hebamme  im  Beruf,  Berlin  1907,  als  Manu- 
skript gedruckt;  S.  21. 

25* 


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332  F-  Ahlfeld,  [20 

gezeigt  zu  haben  glaube,  gänzlich  fallen  gelassen  werden.  Möglichst 
genaue  Vorschriften  im  Desinfizieren  der  Hände,  möglichst  strenge 
Überwachung  des  Desinfektionsverfahrens  vor  den  anzustellenden 
Manipulationen  an  den  Kranken^  fortgesetzte  Bemühungen,  das  Hände- 
desinfektionsverfahren immer  noch  vollkommener  und  sicherer  aus- 
zubilden, als  es  bisher  ist  —  das  sind  die  rationellen  und  wirksamen 
ProhibitivmaOregeln  gegen  die  Herbeiführung  septischer  usw.  Infektionen 
durch  ungenügend  gereinigte  Hände  der  Studierenden,  nicht  aber  die 
Maßregel  der  , geburtshilflichen  Abstinenz^  welche  nur  andere  wich- 
tige Fächer  der  Medizin  schädigt,  ohne  der  Geburtshilfe  zu  nützen/ 
So  schreibt  vor  Erfindung  der  Handschuhe  Henke  in  der  obener- 
wähnten Dissertation  (Seite  38),  und  ich  stimme  ihm,  die  damaligen 
Verhältnisse  berücksichtigend,  vollständig  bei. 

Um  aber  nicht  mit  Laboratoriumsexperimenten  und  theoretischen 
Erwägungen  allein  meine  Anschauungen  zu  stützen,  auch  um  dem 
•  Praktikus  Mut  zu  machen,  unseren  Erfahrungen  zu  trauen,  will  ich 
zunächst  kurz  daran  erinnern,  daß  auch  schon  in  der  vorantiseptischen 
Zeit  man  mit  einer  sofortigen  gründlichen  Reinigung  nach  Infizierung 
der  Hand  recht  gute  Erfolge  aufzuweisen  hatte. 

Es  ist  bekannt,  daß  die  Mehrzahl  der  Lehrer  der  Chirurgie  früher 
den  Operationskursus  an  der  Leiche  morgens  abhielt.  Volk m an n^), 
V.  Bergmann,  Schönborn  u.  a.  operierten  an  der  Leiche  von 
6—8  Uhr  und  trugen  durchaus  kein  Bedenken,  nach  vorausgeschickter 
gründlicher  Händedesinfektion  alsbald  nachher  die  verschiedensten 
Operationen  vorzunehmen.  Schönborn  ^)  spricht  sich  hierüber  bestimmt 
aus:  „Während  meiner  Tätigkeit  in  Königsberg  hielt  ich  im  Sommer  den 
chirurgischen  Operationskursus  an  Leichen  morgens  von  6—8  Uhr. 
Soweit  wie  möglich  vermied  ich  es  allerdings  an  solchen  Tagen,  an 
denen  ich  morgens  Operationskursus  gab,  dann  am  Vormittage  eine 
Laparotomie  zu  machen;  öfters  war  dies  aber  nicht  zu  umgehen;  ich 
mußte  es  doch  tun.  Der  Wundverlauf  solcher  Fälle  wich  in  nichts 
von  dem  Verlauf  derer  ab,  die  ich  im  Winter,  wo  ich  mit  Leichen 
nur  ausnahmsweise  in  Berührung  kam,  ausführte.'' 

Es  wird  wohl  kein  Leser,  nachdem  ich  dies  referiert  habe,  den 
Schluß  machen,  auch  jetzt  sollte  der  chirurgische  Lehrer  beim  Unter- 
richt die  Gummihandschuhe  weglassen.  Das  wäre  töricht.  Seit  wir 
in  den  Gummihandschuhen  ein  Mittel  haben,  um  unsere  Hände  vor 
Beschmutzung  zu  schützen,  muß  der  Operateur  an  der  Leiche  solche 


1)  Zentralblatt  für  Chirurgie  1880,  S.  419. 

2)  Der   neue  Operations-  und  Hörsaal   der   chirurgischen  Universitätsklinik  in 
Wurzburg.    Rede  zur  Eröffnung.    Wiesbaden  1890. 


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2i]  Der  praktische  Arzt  und  die  Händegefahr.  333 

benutzen,  es  sei  denn,  daß  für  einzelne  Operationen  der  Handscliuh 
hinderlich  wäre.  Denn  ich  rede  nicht  der  unnützen  Selbstbe- 
schmutzung  das  Wort,  sondern  mache  nur  auf  die  Mittel  auf- 
merksam, eine  nicht  zu  umgehende  Selbstbeschmutzung  für 
andere  und  für  den  Arzt  selbst  ungefährlich  zu  machen. 

Auch  ist  es  nicht  ausgeschlossen,  daß  genaue  Temperaturmessungen 
doch  auch  in  den  Schönbornschen  Fällen  Unterschiede  ergeben  haben 
wurden,  die  zuungunsten  der  nach  Leichenbenutzung  ausgeführten 
Operationen  sprechen  würden. 

Derartige  Einwürfe  kann  man  meinen  eigenen  Erfahrungen  nicht 
machen,  da  bei  uns,  wie  bekannt,  ununterbrochen  die  exakteste^  vom 
Arzt  vorgenommene,  von  mir  kontrollierte  Temperaturmessung  aus- 
geführt wurde,  immer  in  der  Absicht,  diese  Zahlen  zu  wissenschaftlich 
verwertbaren  Beweisen  zu  benutzen.  In  der  mehr  denn  25  Jahre 
dauernden  klinischen  Tätigkeit  habe  ich  den  Praktikanten  gegenüber 
niemals  Abstinenz  eingeführt,  habe  ihnen  nur  zur  Bedingung  gemacht, 
falls  sie  zu  einer  Geburt  gerufen  wurden,  —  was  dem  einzelnen  vor- 
her bekannt  war  — ,  sollten  sie  einen  Rock  anziehen,  mit  dem  sie  nicht 
in  den  Krankensälen  und  bei  Sektionen  gewesen  waren.  Wenn  aber 
wegen  einer  interessanten  Geburt  schnell  eine  große  Zahl  Zuschauer 
gerufen  wurde,  konnte  auch  diese  Bestimmung  nicht  innegehalten 
werden.  Natürlich  legte  jeder,  der  den  Gebärsaal  betrat,  vorher  den 
Rock  ab  und  bekam  einen  großen  weißleinenen  Kittel,  der  den  ganzen 
Körper  bis  weit  unterhalb  der  Knie  bedeckte,  so  daß  auch  beim  Sitzen 
die  müßigen  Hände  nicht  mit  den  Beinkleidern  in  Berührung  kamen. 

Hingegen  war  die  Desinfektion  der  Herren,  die  innere  Unter- 
suchungen oder  Eingriffe  vornehmen  sollten,  eine  äußerst  genaue  und 
zwar  vom  Jahre  1805  an  ausschließlich  mittels  der  Heißwasser-Alko- 
holmethode.    Handschuhe  wurden  nicht  benutzt. 

Und  nun  unsere  Resultate:  Trotzdem  seit  dieser  Zeit  bei  nahezu 
5000  Geburten  im  Durchschnitt  7  innere  Untersuchungen  von  Prakti- 
kanten und  Hebammenschülerinnen  ausgeführt  wurden,  sind  an  septi- 
schen Prozessen  nur  4  Wöchnerinnen  gestorben,  die  von  einem  oder 
mehreren  Praktikanten  untersucht  waren: 

Frau  G.  1889,  Nr.  288.  Placenta  praevia,  zu  Haus  tamponiert,  kam  mit  Fieber 
in  die  Anstalt  Entbindung  durch  Wendung  und  Extraktion;  Plazentaldsung.  Starb 
nach  5  Wochen  infolge  von  Thrombose  und  Pneumonie. 

Frau  M.  1891,  Nr.  182.  Wegen  Ileus  in  der  chirurgischen  Klinik  in  Behandlung, 
Zttr  Entbindung  uns  zugeschickt.  Spontane  Geburt.  Tod  am  16.  Tage  infolge 
Thrombophlebitis,  Endometritis  und  beginnender  Peritonitis. 

Frau  B.  1806,  Nr.  40.  Mit  Fieber  aus  der  Stadt  uns  zugeschickt.  Deshalb 
hohe  Zange.  Infiziert  außerhalb  durch  die  Hebamme.  Schwere  Infektion.  Tod  am 
5.  Tage. 


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334  F.  Ahlfcld,  [22 

• 
Frau  Seh.  1002,  Nr.  325.    Zwei  Tage  zu  Hause  gekreißt.    Mit  39,0""  Fieber  und 
128—160  Puls  eingeliefert.    Perforation  des  absterbenden  Kindes.    Septische  Peri- 
tonitis.   Laparotomie  am  12.  Tage.    Tod  am  15.  Tage. 

Nun^  von  diesen  4  Todesfällen,  an  denen  überhaupt  Praktikanten 
und  die  nicht  innegehaltene  Abstinenz  die  Schuld  ganz  oder  zum  Teil 
tragen  könnten,  dürfte  nur  Fall  M.  1891,  Nr.  182  bei  der  Schuldfrage 
in  Anrechnung  kommen,  da  die  betreffende  Patientin  der  chirurgischen 
Klinik  tatsächlich  fieberfrei  uns  zugeführt  wurde  und  bei  der  Sektion 
die  Quelle  der  Infektion  nicht  festgestellt  werden  konnte. 

Wenn  also  bei  vielen  Tausenden  von  Untersuchungen  Gebärender 
durch  Praktikanten  von  etwa  5000  Frauen  nur  eine  als  tödlich  ge- 
schädigt in  Frage  kommen  kann,  so  ist  das  ein  Resultat,  das  wohl 
kaum  von  einer  andern  Klinik  erreicht  sein  wird,  ein  Resultat,  das  un- 
zweideutig dafür  spricht,  wie  man  auch  ohne  Einhalten  einer  Ab- 
stinenzzeit, allein  mit  einer  strengen  Händedesinfektionsmethode,  die 
günstigsten  Resultate  erzielt. 

Während  dies  Resultat,  soweit  septische  Todesfälle  in  Frage 
kommen,  mit  dem  jeder  anderen  Entbindungsanstalt,  vorausgesetzt, 
daO  regelmäßig  von  berufener  Seite  die  Kontrolle  durch  Autopsie 
erfolgt,  verglichen  werden  kann,  ist  dasselbe  mit  dem  anderen  Grad- 
messer, der  Morbidität,  nicht  der  Fall,  da  Differenzen  von  Zehntel- 
graden, die  für  die  Statistik  ausschlaggebend  sind,  von  der  mehr  oder 
weniger  exakten  Vornahme  der  Temperaturmessung  abhängig  sind. 
Ich  kann  daher  nur,  um  die  Wirkung  der  Untersuchungen  von  Prakti- 
kanten festzustellen,  unsere  durch  Jahre  hindurch  gleichmäßig  vor- 
genommenen Temperaturmessungen  und  Aufzeichnungen  benutzen. 
Ich  scheide  die  Semesterzeit  von  der  Ferienzeit,  in  der  keine  Prakti- 
kanten gerufen  wurden,  und  zwar  10  Jahre  vor  Einführung  der  Heiß- 
wasser-Alkohol-Desinfektion  und  ungefähr  ebensolange  nach  Ein- 
führung der  besagten  Methode  von  1898  bis  1907. 

Semester  Ferien 

10  Jahre  vorher    1737   Geburten  1263  Geburten  mit 

mit  61,4%  fiebert. »)  Wochenb.  62,0%  fieberiosen  Wochenb. 

10  Jahre  nachher  2267  Geburten  1566  Geburten  mit 

mit  72,5%  fiebert.  Wochenb.  67,5%  fiebertosen  Wochenb. 

Danach  ist  in  den  letzten  10  Jahren  das  Resultat  während  der 
Zeit,  wo  Praktikanten  und  Schülerinnen  tätig  waren,  sogar  erheblich 


1)  Unter  fieberlosen  Wochenbetten  sind  solche  zu  verstehen,  die  wShrend  der 
ganzen  Zeit  des  Aufenthalts  der  Wöchnerin  in  der  Anstalt  nicht  ein  Mal  über 
dSfi**  Temperatur  aufwiesen.  Auf  Seite  529  habe  ich  die  Strenge  der  Kontrolle 
bei  den  Temperaturmessungen  betont. 


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23]  Der  praktische  Arzt  und  die  HSndegefahr.  335 

besser  als  in  der  Zeit,  wo  nur  Schfilerinnen  untersuchten.  Eine  ge- 
nügende Erklärung  hierfür  kann  ich  nicht  geben.  Ich  käme  nicht  über 
vage  Vermutungen  hinaus.  Mir  genügt,  bewiesen  zu  haben,  daß  ohne 
Abstinenzeinhaltung  das  Resultat  für  die  Wöchnerinnen  kein  schlech- 
teres ist,  als  nach  dem  Gesamtdurchschnitt,  wie  er  sich  für  die  letzten 
etwa  4000  Geburten  ergibt  und  rund  70%  fieberlose  Wochenbetten 
aufweist. 

Diese  hohe  Zahl  für  Fiebernde  wird  denen  nicht  auffallen,  denen 
die  Verhandlungen  über  das  Thema  der  Temperaturmessungen  im 
Wochenbette,  das  ich  1803  anregte  >),  bekannt  sind.  Damals  hatte  ich 
die  Genugtuung,  daß  mit  wenigen  Ausnahmen  anerkannt  wurde,  wie 
mtn  bei  exakter,  streng  überwachter  Messung  zu  ganz  anderen  Resul- 
taten kommt,  als  wenn  das  Personal  die  Thermometer  besorgt  und 
nicht  in  der  Absicht,  auf  Zehntel  genau,  zu  wissenschaftlichen  Zwecken, 
den  Quecksilberhöhestand  festzustellen. 

Wenn  z.  B.  in  neuerer  Zeit  Bürger  berichtet^),  an  der  Schauta- 
schen Klinik  sei  nach  Spontangeburten  bei  engem  Becken  ein  Morbi- 
ditatsprozent  von  4,1  beobachtet,  und  Fehling  sagt 3),  »er  habe  in 
StraOburg  gewöhnlich  zwischen  6  und  7%  Fieber  von  38,1  ab  (Axilla) 
für  Fieber  gerechnetes  so  muß  dies  Resultat  unbedingt  auf  mangel- 
hafter Thermometrie  beruhen,  vorausgesetzt,  daß  keine  Wochenbetten 
ausgelassen  sind^  es  sich  um  eine  größere  Reihe  handelt  und  die 
Beobachtung  bis  zum  Abgange  der  Wöchnerin,  mindestens  0 — 10  Tage, 
fortgesetzt  wurde. 

Wie  wichtig  die  genaue  Bestimmung  der  Wochenbettstemperatur 
ist,  erhellt  sehr  deutlich  aus  einem  Artikel  Winters  über  Meldepflicht 
der  Hebammen  bei  Wochenbettfieber*).  Winter  schätzt  die  Tempera- 
tursteigeningen  in  der  Außenpraxis  auf  5—10%!  Welcher  Irrtum! 
Warum  beachtet  Winter  nicht  meinen  Aufsatz^):  »Kreisarzt  und 
Kindbettfieber',  der  in  derselben  Zeitschrift  sich  befindet,  in  der  er 
veröffentlicht  hat?  Dort  habe  ich  festgestellt,  daß  in  der  Außenpraxis 
28—30%  Fieber  bei  vortrefflichen  Hebammen,  und  vermutet,  daß  40% 
bei  den  gewöhnlichen  Hebammen  vorkommen. 

Auch  die  Tatsache,  daß  wir  in  der  Marburger  Entbindungsanstalt 
keine  septische  Station  hatten,  sondern  die  gering  fiebernden  Wöch- 
nerinnen mit  den  übrigen  zusammenliegen  ließen,  die  schwer  kranken 


1)  Zeitvshr.  f.  Geb.  und  Gynäk.    Bd.  27,  Seite  470  und   Bd.  32,  Seite  22  und 
26,  1837. 

2)  Die  Geburtsleitung  bei  engem  Becken.    Wien  1908.    S.  122. 

3)  Hegars  Beitrage  Bd.  XII,  S.  494. 

4)  Zeitscbr.  f.  Mediz.-Beanite  1906,  Nr.  3,  S.  73.        5)  ebd.  1906,  Nr.  21. 


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336  F.  Ahlfeld,  [24 

hingegen  in  ein  Einzelzimmer  brachten,  daß  wir  keinen  septischen 
Assistenten  hatten,  sondern  der  diensttuende  Arzt  bald  eine  gesunde 
Wöchnerin  zu  besuchen,  dann  auch  wieder  eine  Entbindung  vorzu- 
nehmen hatte,  —  und  wir  doch  eine  niedrigere  Mortalität,  als  andere 
Anstalten  hatten,  beweist,  wie  eine  Abstinenz  bei  Vorsicht  und  ge- 
wissenhafter Händedesinfektion  überflussig  ist 

Da  wir  in  den  staatlichen  Anstalten  die  jungen  Mediziner  nicht 
für  die  Krankenhäuser,  sondern  ffir  die  allgemeine  Praxis  erziehen, 
so  habe  ich  im  Unterricht  immer  darauf  gehalten,  Bedingungen  zu 
schaffen,  die  denen  der  Praxis  nicht  zu  grell  gegenüberstehen.  Be- 
sonders für  die  praktische  Tätigkeit  am  Geburtsbett,  die  ja  bislang 
nur  zum  allerkleinsten  Teile  in  Anstalten  ausgeübt  wird,  meist  unter 
den  wenig  günstigen  Verhältnissen  der  Alltäglichkeit,  erscheint  es  mir 
geradezu  pädagogisch  unrichtig,  während  der  Unterrichtszeit  einen 
hygienischen  Komfort  und  prophylaktische  Maßregeln  von  einer  Aus- 
dehnung zu  benutzen,  die  nie  und  nimmer  später  dem  praktischen 
Arzte  zu  Gebote  stehen  können. 

Ich  habe  daher  auch,  wie  in  der  allgemeinen  Praxis,  die  jungen 
Leute  bald  zu  einer  kranken  Wöchnerin,  bald  zu  einer  Gebärenden 
geführt. 

Neuerdings  hat  man  dieses  Verfahren  als  eine  Gewissenlosigkeit 
gestempelt  und  es  als  unerlaubt  bezeichnet,  daß  ein  Lehrer  der  Ge- 
burtshilfe dem  praktischen  Arzte  mit  einem  solchen  Beispiele  vor- 
angehe. 

Da  ich  aber  der  Meinung  huldige,  der  gewissenhafte  Arzt  kann  in 
Hinsicht  auf  Händedesinfektion  dasselbe  leisten  wie  ich,  wie  meine 
Assistenten,  meine  Hebammen  und  Schülerinnen,  so  halte  ich  dafür, 
daß  dieser  mein  Rat  eher  eine  Sicherheit  bietet,  als  das  Eingeständnis 
der  Unmöglichkeit  der  Händedesinfektion,  das  zweifelsohne  im  prak- 
tischen Leben  eine  ungenügende  Ausführung  der  Händereinigung  zur 
Folge  haben  muß. 

In  der  vorantiseptischen  Zeit  sind  trotz  ganz  mangelhafter  Rei- 
nigung der  Hände,  selbst  wenn  sie  schwer  infiziert  waren,  viele 
Operationen  und  viele  Geburtsfälle  ohne  jegliche  Schädigung  für  die 
Patienten  und  Gebärenden  verlaufen.  Derartige  Fälle  dürfen  wir  aber 
keineswegs  als  Zeugnisse  für  meine  oben  vertretenen  Anschauungen 
anrufen,  vielmehr  darauf  hinweisen,  wie  zu  jener  Zeit  infolge  dieser 
Unvollkommenheit  viele  Menschen  geschädigt  worden  sind. 

Wenn  man  zur  Jetztzeit  zur  Unterstützung  der  von  mir  Vertretenen 
Ansicht  beweisende  Fälle  bringen  will,  so  muß  man  nachweisen,  daß 
man  sich  der  Tragweite  seiner  Handlung  voll  bewußt  war,  also  die 
Virulenz  des  infizierenden  Stofi^es  kannte,  die  Desinfektion  auf  das 


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25]  I^er  praktische  Arzt  und  die  Händegefahr.  337 

gewisseDhafteste  ausführte  und  die  Operation  oder  geburtshilfliche 
Vornahme  eine  solche  war,  die,  was  Infektionsgefahr  anbetrifft,  zu 
den  gefahrlichen  gerechnet  wird. 

Derartige  Fälle  habe  ich  mir  aus  meiner  Tätigkeit  der  letzten 
Jalire  genauer  aufgezeichnet,  wo  ich  selbst  oder  einer  meiner  Assi- 
stenten unmittelbar  nach  Beschmutzung  unserer  Hände  mit  hochviru- 
ienten  Stoffen  uns  genötigt  sahen,  geburtshilflich  einschreiten  zu 
müssen  und  dies  aus  anzugebenden  Gründen  ohne  den  Gebrauch 
der  Handschuhe  getan  haben. 

Zwei  dieser  Fälle  habe  ich  schon  früher  veröffentlicht^)  und  re- 
feriere daher  nur  ganz  kurz: 

1.  Nach  einer  Streptokokkenverunreinigung  bei  tödlich  endendem 
Puerperalfieber  nahm  ich  die  innere  Untersuchung  einer  Ge- 
bärenden vor.    Wochenbett  glatt  verlaufend. 

2.  Schwere  Sepsis  in  partu.  Kaiserschnitt.  Fast  fieberloses  Wochen- 
bett. 

Zu  diesen  füge  ich  folgende  neueren  Beobachtungen  hinzu  und 
zwar  etwas  genauer,  damit  der  Leser  sieht,  wie  auf  jeden  einzelnen 
Umstand  geachtet  ist 

3.  Vormittags  zwischen  10  und  11  Uhr  wurde  ich  veranlaßt,  ein 
jauchendes  Scheidenkarzinom  zu  untersuchen,  ob  eine  Radikal- 
operation vorgenommen  werden  sollte  oder  nicht.  Nach  der 
Untersuchung  nahm  ich  sofort  die  ausgiebigste  Waschung  und 
Alkoholdesinfektion  vor. 

Zwischen  11  und  12  Uhr  konsultierte  mich  eine  Dame,  von 
der  ich  wußte,  sie  war  in  der  zweiten  Hälfte  der  Schwanger- 
schaft, wegen  heftiger  Leibschmerzen.  Ich  nahm  vor  der  inneren 
Untersuchung  die  ausgiebigste  Händedesinfektion  vor,  bediente 
mich  aber  eines  sterilen  Gummifingerlings.  Die  Untersuchung 
ergab,  daß  die  ahnungslose  Dame  sich  in  der  Geburt  befand, 
so  daß  es  zweifelhaft  blieb,  ob  ich  sie  nach  Hause  zurückreisen 
lassen  konnte  oder  sie  gleich  in  der  Anstalt  behalten  mußte* 
Die  Entscheidung  dieser  für  die  Frau  und  für  mich  so  wich- 
tigen Frage  hing  davon  ab,  ob  das  Fruchtwasser  abgegangen 
war  oder  nicht,  ob  die  Blase  noch  über  dem  tiefstehenden  Kopfe 
erhalten  war  oder  nicht.  Mit  dem  besten  Willen  konnte  ich 
das  mit  dem  mit  Gummistoff  bekleideten  Finger  nicht  fühlen, 
mußte  daher  den  Fingerling  abstreifen  und  untersuchte  nun 
mit  dem  freien  Finger.    Die  Blase  stand  noch.    Doch  zog  die 


1)  20,  307. 


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338  F.  Ahlfeld,  [26 

Dame  vor,  dazubleiben  und  nach  wenigen  Stunden  trat  die  Ge- 
ilnirt  ein.    Wochenbett  fieberlos.    Höchste  Temperatur  37,5. 

4.  In  den  Weihnachtsferien  1006  war  ich  mit  einem  Assistenten 
allein  in  der  Anstalt.  AuF  der  Station  lag  eine  schwer  puer- 
peralkranke  Wöchnerin,  die  auch  der  Krankheit  erlag.  Damit 
der  einzige  Assistent  freie  Hand  behielt  für  alle  Geburtsfalle, 
übernahm  ich  persönlich  die  Behandlung  dieser  Wöchnerin  und 
muOte  sie  am  6.  Tage  des  Wochenbettes  bei  drohender  Peri- 
tonitis innerlich  untersuchen,  da  ich  einen  Uterusriß  befürchtete. 
Diese  Untersuchung  geschah  am  Vormittag. 

Nachmittag  mußte  eine  ältere  Erstgebärende  mit  äußerst 
engen  Genitalien,  deren  großes  Kind  in  Steißlage  sich  befand, 
entbunden  werden.  Der  Assistent  drängte  seine  Hand  mit  Muhe 
durch  die  Genitalien,  um  den  Versuch  zu  machen,  einen  FuO 
herabzuholen.  Es  gelang  ihm  nicht.  So  war  ich  genötigt, 
gleich  selbst  einzugreifen,  was  ich  nach  einer  gründlichen  Des- 
infektion tat.  Auch  mir  gelang  es  nicht.  Ich  ließ  mir  daher 
den  stumpfen  Haken  geben  und  mit  großer  Mühe  glückte  die 
Anlegung  und  unter  kräftiger  Anstrengung  auch  die  Extraktion, 
nachdem  ein  tiefer  Sc  buch  ar  dt  scher  Schnitt  die  äußeren  Geni- 
talien weit  gespalten  hatte. 

Das  Wochenbett  verlief  unter  geringer  Fiebersteigerung. 
Höchste  Temperatur  38,8^  Mutter  und  Kind  verließen,  nacli- 
dem  die  äußere  Wunde  geheilt  war,  gesund  die  Anstalt. 

5.  Am  28.  Januar  1907  brachte  man  uns  einen  Fall  von  ver- 
schleppter Querlage  mit  stinkendem  Ausfluß  und  überaus  starker 
Gasentwicklung  mit  pestilenzialischem  GestanlL  Temperatur 
vor  Einlieferung  40,0.  Dr.  R.,  mein  Assistent,  nahm  nachts  die 
Dekapitation  vor,  die  ziemliche  Schwierigkeiten  bot  und  deshalb 
über  eine  Stunde  Hantierens  in  den  Genitalien  erforderte. 

Gegen  Mittag  mußte  eine  Zange  bei  einer  Erstgebärenden 
angelegt  werden,  und  Dr.  R.,  nachdem  er  sich  sehr  gründlicli 
desinfiziert  hatte,  entwickelte  mittels  mehrerer  Traktionen  das 
kräftige  Kind.     Wochenbett  absolut  fieberlos.     Höchste  Tem- 
peratur 37,8. 
Man  wird  fragen,  warum  denn  von  der  Benutzung  der  Gummi- 
handschuhe abgesehen  worden  sei,  da  sie  doch  mindestens  nichts  ge- 
schadet haben  würden. 

Für  Fall  1  und  2  erübrigt  sich  diese  Frage,  da  es  zu  jener  Zeit 
noch  keine  Gummihandschuhe  gab.  Für  Fall  3  ist  der  Grund  in  dem 
Berichte  angegeben.  In  Fall  4  war  ich  der  festen  Überzeugung,  daß 
beim  Eindrängen  des  stumpfen  Hakens  und  beim  Manipulieren  mit 


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27]  Der  praktische  Arzt  und  die  Händegefahr.  33g 

demselben  unzweifelhaft  der  Handschuh  zerfetzt  worden  und  da- 
mit nicht  nur  überflüssig,  sondern  hindernd  gewesen  wäre,  und  das 
gleiche  befürchtete  ich  im  Falle  5,  wo  das  Zangen1)lau  mit  Mühe  neben 
dem  eingekeilten  Kopfe  vorüber  in  die  Höhe  gedrängt  werden  mußte. 

Aber  auch  im  allgemeinen  sehe  ich  für  meinen  Teil  gern  vom  Ge- 
brauche des  Handschuhs  ab,  weil  mir  das  feine  Gefühl  in  den  Fingern 
und  die  freie  Beweglichkeit  derselben  vermindert  wird.  Wiederholt 
habe  ich,  mit  dem  Fingerling  versehen,  nicht  fühlen  können,  ob  die 
Haare  am  vorliegenden  Kopfe  frei  oder  noch  von  den  Eihäuten  be- 
deckt waren.  Die  Beschaffenheit  der  Schleimhaut,  wie  sie  z.  B.  bei 
beginnender  Ausbreitung  des  Karzinoms  gefühlt  werden  muß,  kann 
ich  ohne  Handschuh  mit  größerer  Bestimmtheit  feststellen.  Bei  der 
Diagnose  beginnender  Schwangerschaft  ist  für  mich  die  Konsistenz 
des  die  Cervix  füllenden  Schleims  ein  nicht  unwichtiges  diagnostisches 
Mittel.  Mit  dem  Handschuh  bin  ich  nicht  in  der  Lage,  die  feineren 
Konsistenzunterschiede  zu  erkennen. 

Ich  habe  mich  aber  mit  diesen  subjektiven  Empfindungen  in  der 
praktischen  Tätigkeit  nicht  zufrieden  gegeben,  sondern  habe  mit  Hilfe 
der  Instrumente  zur  Prüfung  des  Tastsinnes,  wie  solche  dem  hiesigen 
physiologischen  Institute  zu  Gebote  stehen,  z.  T.  unter  Mitarbeit  des 
Privatdozenten  Dr.  Loh  marnn,  experimentell  den  Verlust  am  Gefühl  der 
mit  feinen  Gummihandschuhen  versehenen  Hand  gegenüber  der  un- 
bedeckten Hand  festgestellt.  Selbstverständlich  war  nach  allen  Rich- 
tungen hin  eine  Verminderung  der  Wahrnehmungsfähigkeit  vorhanden, 
am  geringsten  bei  der  Unterscheidung  rauher  und  weniger  rauher 
Gewebe  oder  Gegenstände,  stärker  bei  der  Feststellung  näher  oder 
entfernter  liegender  Tastempfindungen,  noch  stärker  bei  Bestimmungen 
von  Konsistenzgraden  flüssiger  und  harbweicher  Massen. 

Von  vielen  Chirurgen  und  Gynäkologen  wird  berichtet,  daß  sie 
beim  alltäglichen  Gebrauche  der  Handschuhe  eine  gleiche  Feinfühlig- 
keit erlangt  haben  wie  zur  Zeit,  wo  sie  ohne  Handschuhe  operierten. 
Ich  will  es  gern  glauben.  Doch  fehlt  der  Gegenbeweis,  der  nur  zu 
liefern  wäre,  wenn  sie  nun  wieder  längere  Zeit  ohne  Handschuhe 
operieren  würden.  Dann  erst  würden  sie  sagen  können,  ob  nicht 
doch  der  Handschuh  einen  Nachteil  abgebe. 

Pur  die  zahllosen  Ärzte  aber,  die  nicht  durch  fortdauernde  Be- 
nutzung des  Handschuhs  sich  diese  Fertigkeit  erwerben,  bildet  sein 
Gebrauch  eine  Herabsetzung  der  Fähigkeiten  der  Hand. 

Kurz  und  gut,  ich  für  meine  Person  begebe  mich  bei  Be- 
nutzung des  Handschuhs  wesentlicher  Vorteile,  die  ich  nur 
missen  dürfte,  wenn  ohne  Gebrauch  des  Handschuhs  sicher 
eine  Gefahr  für  die  zu  Untersuchende  oder  zu  Operierende 


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340  F.  Ahlfeld,  [28 

entstände.  Das  ist  aber  bei  meiner  Hand  nicht  der  Fall;  wie  ich 
auch  glaube,  daß  die  meisten  Ärzte  diese  Gefahr  auf  Null  vermindern 
können. 

Bedenkt  man  nun  noch  die  große  Gefahr,  die  bei  nicht  genügend 
gereinigter  Hand  durch  Verletzung  der  Handschuhe  entstehen  kann, 
so  soll  man  doch  ernstlich  erwägen,  ob  die  obligatorische  Benutzung 
des  Handschuhs  berechtigt  ist. 

Ich  habe  seinerzeit  mich  einmal  so  ausgesprochen  i):  „Der  Gummi- 
handschuh ist  eine  vorübergehende  Modesache. "^  Dies  Wort  ist  mir 
vorgehalten,  und  ich  gebe  zu,  daß  ich  damit  meine  Ansicht  nicht  richtig 
wiedergegeben  habe,  denn  nach  einer  Seite  hin,  nämlich  zum  Schutze 
der  eigenen  Hand  und  in  Fällen,  wo  eine  Händedesinfektion  ausge- 
schlossen ist,  besitzt  der  Gummihandschuh  unzweifelhaft  seinen  Wert. 
Ich  habe  in  jener  Publikation  dies  Urteil  dahin  begründet:  »Die  Hand- 
schuhe werden  eine  Zeit  hindurch  von  Spezialisten  Verwendung  finden; 
in  die  allgemeine  Praxis  werden  sie  sich  nicht  einbürgern.  Wir  Lehrer 
der  Geburtshilfe  sollen  aber  unsere  Vorschläge,  unsere  Methoden, 
soweit  es  geht,  den  Verhältnissen  der  allgemeinen  Praxis  anpassen.' 

Mit  dem  Ausdrucke  , vorübergehende  Modesache*  wollte  ich  sagen: 
Ebenso  wie  vor  Jahren  auf  die  Empfehlung  Listers  alle  Welt  unter 
Spray  operierte,  bis  sich  ergab,  daß  dieses  Verfahren  überflüssig, 
sogar  schädlich  sei,  so  gebraucht  auch  jetzt  alle  Welt  Gummihand- 
schuhe, bis  sich  herausstellt,  daß  sie  bei  vielen  Operationen  über- 
flüssig sind,  insofern  sogar  schädlich  werden  können,  indem  sie  das 
Gefühl  beeinträchtigen,  das  Fassen  von  schlüpfrigen  Organteilen  er- 
schweren, ihre  Vorbereitungen  zum  Anziehen  die  Narkose  verlängern, 
vor  allem  aber  den  Glauben  an  die  Notwendigkeit  einer  exakten  Hände- 
desinfektion nehmen  und  damit  zu  einem  Sichgehenlassen  in  der 
Händepflege  und  Händereinigung  führen,  was  wieder  die  weitere  üble 
Folge  haben  kann,  daß  bei  Verletzungen  der  Handschuhe  während 
der  Operation  Infektionen  von  der  Handoberfläche  aus  erfolgen. 

Als  Friedrich  im  Jahre  1808  die  dünnen  nahtlosen  Gummihand- 
schuhe empfahl^),  fügte  er  warnend  hinzu:  „Will  man  den  Gebrauch 
der  Handschuhe  verallgemeinern,  wozu  mir  eine  Berechtigung  nicht 
vorzuliegen  scheint,  so  ist  zu  bemerken,  daß  er  der  Raschheit  des 
Operierens  auf  alle  Fälle  schadet,  den  aseptischen  Apparat  unnötig 
kompliziert,  die  allgemein  menschliche  Seite  des  eventuellen  Ver- 
trauens auf  seinen  Schutz  die  Strenge  der  sonstigen  Händesterilisa- 
tionsmaßnahmen gefährdet.' 

1)  21.  847. 

2)  Zentralblatt  für  Chirurgie  1888,  S.  449. 


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29]  Der  praktische  Arzt  und  die  Händegefahr.  341 

Der  letztere  Punkt,  den  ich  eben  und  auch  Früher  schon  öfter 
hervoi^ehoben  habe,  scheint  mir  von  größter  Bedeutung.  Frage  sich 
doch  jeder  Arzt,  der  einen  Handschuh  gebrauchen  will,  vor  jedem 
Gebrauche  offen,  weshalb  nimmst  du  den  Handschuh?  Ich  bin  über- 
zeugt, in  der  Mehrzahl  der  Fälle  muß  er  sich  sagen:  Aus  Bequem- 
lichkeit, weil  ich  mich  vorher  und  nachher  nicht  zu  desinfizieren 
brauche. 

Der  hohe  Preis  der  Handschuhe  würde  nicht  in  Frage  kommen, 
hätten  wir  in  den  Handschuhen  ein  absolut  sicheres  Mittel  gegen 
den  Tod  durch  Sepsis  und  gegen  Wundeiterung.  „Wir  müßten  lieber 
hungern,  als  das  Geld  auf  Kosten  der  Gesundheit  und  des  Lebens 
unserer  Patientinnen  sparen!^^  Diesem  Ausspruche  Fritschs^)  fehlt 
aber  der  Nachsatz:  Da  die  Gummihandschuhe  aber  kein  absolut 
sicheres  Mittel  gegen  Wundfieber  und  Tod  sind,  —  und  ich  setze 
hinzu,  da  wir  sie  durch  eine  gründliche  Händedesinfektion  ersetzen 
können  — ,  so  kommt  auch  der  hohe  Preis  in  Frage  und  Fritsch 
ist  deshalb  nicht  berechtigt,  dies  Argument  gegen  den  allgemeinen 
Gebrauch  „verwerflich"  zu  nennen. 

In  diesem  Sinne  spricht  sich  auch  Bezirksarzt  Dr.  Walther^)  aus: 
„Wurden  sich  die  Gummihandschuhe  in  der  Hand  der  Hebamme 
bewähren,  so  dürfte  selbstverständlich  der  Kostenpunkt,  der  bei  der 
raschen  Abnutzung  von  Bedeutung  ist,  kein  Hindernis  bilden.  Sind 
die  Handschuhe  aber  unnötig  oder  gar  in  der  Hebammenpraxis  schäd- 
lich, wozu  solche  unnütze  Ausgaben?" 

Für  die  geburtshilfliche  Praxis  ist  es  erwiesen,  daß  der  Gebrauch 
der  Handschuhe  keine  Vorteile  bringt.  Es  gibt  keine  Statistik,  die 
fiberzeugend  nachweisen  kann,  daß  bei  dem  Gebrauche  der  Hand- 
schuhe eine  nennenswerte  Besserung  erfolgte  gegenüber  den  Anstalten, 
wo  strenge  Händedesinfektion  gefordert  und  geleistet  wird. 

Wie  es  sich  in  der  Praxis  der  operativen  Gynäkologie  verhält, 
kann  ich  nicht  beurteilen.  Nur  erscheint  mir  die  Statistik,  dieKüst- 
ner^)  aufgestellt  hat,  um  das  Obergewicht  der  Handschuh-Operationen 
zu  beweisen,  etwas  sehr  gedrechselt.  Auch  läßt  Küstner  unberück- 
sichtigt, daß  die  Besserung  proportional  den  Jahren  erfolgt,  also 
ebensowohl  die  zunehmende  technische  Fertigkeit  des  Operateurs, 
vielfach  auch  der  Assistenten,  als  auch  die  strengere  Auswahl  der 
Fälle  eine  wesentliche  Rolle  in  der  Besserung  der  Resultate  mitspielt. 
Ich  bitte  in  dieser  Beziehung  auch   die  Einwürfe  Schickeies   und 


1)  Verband],  der  Deutsch.  Ges.  für  Gyn.  1907,  XII,  S.  482. 
^  Münchener  med.  Wochenschrift  1907,  Nr.  6,  S.  267. 
3)  Verh.  d.  Deutsch.  Ges.  für  Gyn.  1907,  XII,  S.  571  f. 


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342  F.  Ahlfeld,  [30 

TauFfers  gegenüber  der  Küstnerschen  Statistik  zu  beachten  (Verhandl. 
der  Deutschen  Gesellsch.  für  Gynäkologie  1907,  XII,  Seite  682  u.  685). 
Auch  mache  ich  auf  die  neueste  Publikation  von  Chrobak^)  auFmerk- 
sandy  dessen  Ansicht  der  meinigen  sehr  nahe  steht. 

Ich  bin  fest  überzeugt,  würde  Küstner,  ein  Mann,  der  eine  aus- 
gezeichnete Technik  besitzt  und  eine  gewissenhafte  Händedesinfektion 
schätzt,  ohne  Handschuhe  operieren,  er  würde  die  gleich  guten  Resul- 
tate haben  und  einsehen,  wie  viel  einfacher  und  angenehmer  das 
Operieren  mit  unbedeckten  Händen  ginge. 

Es  sollten  sich  doch  einmal  die  Chirurgen  und  Gynäkologen  hören 
lassen,  die  ohne  Handschuhe  operieren.  Von  Tavel^)  las  ich,  daß 
er  die  Doederl  ein  sehen  Versuche  für  durchaus  nicht  maßgebend 
halte,  ohne  Handschuhe  operiere  und  diese  nur  zum  Schutz  gegen 
Infektion  gebrauche.  Auch  Vogel 3)  teilt  aus  der  Bi ersehen  Klinik 
mit:  „Bezüglich  der  Desinfektion  der  Hände  des  Operateurs  wird 
stets  das  Hauptgewicht  auf  die  Prophylaxe  zu  legen  sein.  Hier  liegt 
der  Hauptwert  der  Handschuhe,  die  von  uns  bei  septischen  Opera- 
tionen benutzt  werden,  während  wir  uns  für  aseptische  noch  nicht 
mit  ihnen  befreunden  konnten.  Die  dicken,  vor  dem  Zerreißen 
sicheren,  stören  das  Gefühl  zu  sehr,  die  dünnen  sind  zu  leicht  ver- 
letzt und  dann  gefährlicher  als  keine  Handschuhe.^^ 

Auf  diese  Gefahren,  die  durch  Handschuhverletzungen  entstehen, 
machen  Füth^)  und  Gottstein^)  besonders  aufmerksam.  Unsere 
eigenen  Erfahrungen  habe  ich  bereits  früher  veröffentlicht.®) 

Im  Anschluß  an  die  Versuche  über  sofortige  Reinigung  der  Hand 
nach  eben  statrgefundener  infektiöser  Beschmutzung  und  infolge  der 
Betrachtung  über  den  Wert  der  Abstinenz  schien  es  mir  nicht  un- 
zweckmäßig zu  sein,  den  Vorgang  der  Selbstreinigung  der  Hand 
etwas  genauer  zu  studieren,  zumal  ich,  wie  oben  schon  ausgeführt, 
nur  Ansichten  ausgesprochen  fand,  die  auf  Vermutungen  beruhen, 
sich  aber  nicht  auf  Versuche  gründen. 

Da  ich  nach  meinem  Austritte  aus  der  Frauenklinik  und  nach  Aufgabe 
meiner  Praxis  meine  Hand  mit  keinerlei  KrankheitsstofiF  in  Berührung 
zu  bringen  und  deshalb  auch  keine  chemische  Händedesinfektion  nötig 
hatte,  so  benutzte  ich  einige  Wochen  zu  diesen  Versuchen. 

Zu  dem  Zwecke  gebrauchte  ich  den  Prodigiosus  und  den  Diplo- 


1)  Zentr.  f.  Gyn.  1908,  Nr.  14,  S.  458. 

2)  Korrespondenzbl.  f.  Schweizer  Ärzte  1907,  Nr.  22,  S.  711. 

3)  Deutsche  med.  Wochenschrift  1905,  Nr.  30,  S.  1179. 

4)  Zentralbl.  für  Gynäkologie  1902,  Nr.  39. 

5)  V.  Bruns,  Beitr.  zur  Klin.  Chirurgie,  Bd.  25,  S.  97. 

6)  29.  1957. 


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31]  Der  praktische  Arzt  und  die  Händegefabr.  343 

coccus  citreus.  Aus  dem  hygienischen  Institute  erhielt  ich  von  beiden 
Bakterien  frische  Kulturen,  die  sich,  was  ich  gleich  vorausschicken 
will,  durch  Kontrollversuche  als  sehr  lebensfähig  erwiesen. 

Anfiangs  in  schwächeren,  später  in  stärkeren  Aufschwemmungen 
badete  ich  meine  eine  Hand  und  ließ  die  Masse  antrocknen.  Die 
Hand  wurde  einen  halben  Tag  lang,  einmal  10  Stunden  lang,  nicht 
mit  Wasser  in  Berührung  gebracht,  und  wenn  eine  Waschung  dann 
ausgeführt  wurde,  so  geschah  dies  ohne  Bürste,  nur  mit  Seifenschaum 
und  Wasser,  so  kurz  als  möglich. 

Ich  sehe  von  der  Aufführung  der  einzelnen  Versuche  ab,  sondern 
bringe  nur  die  Resultate: 

Der  Prodigiosus,  mochte  die  Hand  schwächer  oder  stärker  be- 
schmutzt sein,  war  nach  zweimal  24  Stunden  und  später  nicht  mehr 
nachzuweisen.  Nur  bei  längeren  Nägeln  blieb  er  unter  dem  Nagel 
noch  einige  Zeit  erhalten. 

Der  gelbe  Luftpilz,  Diplococcus  citreus,  mäßig  reichlich  die  ganze 
Hand  beschmutzend,  war  7  Tage  lang,  wenn  auch  nur  in  ganz  ein- 
zelnen Kolonien,  an  der  Hand  nachweisbar. 

Inwieweit  man  die  Resultate  mit  derartigen  Bakterien,  die  nicht 
zu  den  Hautparasiten  gehören,  auf  die  mit  pyogenen  Bakterien  infi- 
zierte Hand  übertragen  kann,  ist  freilich  eine  andere  Frage.  Gern 
hätte  ich  auch  mit  diesen  Versuche  gemacht,  doch  weiß  ich  mit  dem 
besten  Willen  keinen  Weg  zu  finden,  um  den  Nachweis  zu  führen, 
daß  die  zum  Zwecke  der  Untersuchung  auf  die  Haut  gebrachte  Spezies 
nach  so  und  so  viel  Zeit  als  Reste  oder  Abkömmlinge  der  Infektions- 
masse anzusehen  seien. 

Hingegen  sei  hier  noch  eines  Versuchs  Erwähnung  getan,  den  ich 
anstellte,  um  zu  sehen,  ob  die  Hand  durch  stundenlange  Erweichung 
in  sehr  warmem  Wasser  ihren  Keimgehalt  auffallend  ändere,  wenn 
von  außen  keine  neuen  Keime  hinzukommen  können. 

Meine  saubere  Tageshand,  die  wochenlang  nichts  mit  „infektiösen* 
Stoffen  zu  tun  gehabt  hatte,  auch  nicht  desinfiziert  war,  steckte  ich  in 
ein  steriles  Waschbecken  mit  U/2  1  sterilem  Wasser  und  ließ  Becken, 
Hand  und  Vorderarm  mit  einem  sterilen  Tuche  bedecken.  Eine  halbe 
Stunde  lang  bewegte  ich  zum  öfteren  Hand  und  Finger,  nahm  dann 
die  Hand  hervor,  rieb  sie  mit  einem  sterilen  Handtuche  ab  und 
brachte  sie  sofort  in  ein  zweites  und  nach  wieder  halbstündiger  Han- 
tierung in  ein  drittes,  viertes,  fünftes  Becken,  jedesmal  vor  dem 
Wechsel  die  Hand  abreibend. 

Aus  jedem  der   fünf  Becken  wurden  10  ccm  Wasser  mit  steriler 
Pipette  entnommen  und  in  fünf  sterile  Reagenzgläser  gebracht. 
Am   Schlüsse    dieses    2V2Stündigen   Verfahrens    kratzte    ich    mit 


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344  F-  Ahlfeld,  [32 

Sterilen  Hölzchen  die  Haut  der  Hand  an  verschiedenen  Stellen  sehr 
kräftig  ab  und  warf  die  Hölzchen  in  ein  sechstes  steriles  Reagenzglas. 

Unmittelbar  nach  Beendigung  des  Versuchs  wurde  aus  den  fünf 
Reagenzgläsern  je  1  ccm  Flüssigkeit  entnommen ,  in  eine  Petrischale 
geschüttet  und  mit  flüssigem  Agar  übergössen.  Auch  die  Holzchen 
wurden  in  einer  Petrischale  in  gleicher  Weise  behandelt. 

Nach  4  Tagen  hatten  sich  in  der  Schale  3,  4  und  5  ungefähr  dop- 
pelt soviel  Keime  entwickelt,  als  in  1  und  2,  während  in  der  Schale 
mit  den  Hölzchen  eine  mittlere  Anzahl  zu  finden  war. 

Jedenfalls  war  ersichtlich,  daß  mit  Aufweichung  und  Erwärmung 
der  Hand  die  Zahl  der  Keime  sich  vermehrt  hatte. 


Da  ich  infolge  Aufgabe  meiner  klinischen  Tätigkeit  voraussichtlich 
nicht  wieder  dazu  kommen  werde,  durch  experimentelle  klinische 
Untersuchungen  und  Beobachtungen  weitere  Beweise  für  den  Wert 
des  Alkohols  als  Desinfektionsmittel  der  Haut,  vornehmlich  der 
Hand,  zu  bringen,  so  sei  es  mir  gestattet,  den  Stand  der  Frage  bis 
zum  Schluß  des  Jahres  1907  zu  fixieren. 

Dies  erscheint  mir  auch  nötig,  um  der  großen  Zahl  von  Fach- 
kollegen, die  sich  bei  den  widersprechenden  Publikationen  nicht  Rat 
wissen,  was  und  wem  sie  nur  eigentlich  glauben  sollen,  einen  Weg- 
weiser zu  verschafiFen. 

Hängt  doch  von  der  Entscheidung  der  Frage,  ob  man,  besonders 
auch  der  praktische  Arzt  imstande  ist,  wenn  er  nur  gewissenhaft  ver- 
fahrt, sich  derart  vorzubereiten,  daß  er  einen  chirurgischen,  einen  ge- 
burtshilflichen Eingrifl^  vornehmen  darf,  ohne  die  ausgedehnten  pro- 
phylaktischen Hilfsmittel  benutzen  zu  müssen,  die  jetzt  in  den  modernen 
Operations-  und  Entbindungssälen  eingeführt  sind,  besonders  auch, 
ohne  sich  stets  der  Gummihandschuhe  bedienen  zu  müssen. 

Das  Für  und  Wider  den  Alkohol  ist  gerade  in  den  letzten 
Jahren  in  recht  auffälliger  Weise  zutage  getreten.  Ein  Sammelwerk, 
wie  das  v.  Win  ekel  sehe,  an  dem  zahlreiche  Lehrer  der  Geburtshilfe 
mitgearbeitet  haben,  mulJ  ja  von  vornherein  mit  Dissonanzen  in  den 
Anschauungen  rechnen.  Immerhin  dürften  diese  doch  für  den  Leser 
in  etwas  gemildert  sein,  damit  er  sich  selbst  ein  Urteil  nach  dieser 
oder  jener  Seite  hin  schaffen  könne.  Wenn  aber  der  Inhalt  sich  so 
schroff  gegenübersteht,  wie  in  dem  von  Menge  bearbeiteten  Kapitel 
über  Antiseptik  und  Aseptik,  Band  I,  2.  Teil  und  in  dem  v.  Herff 
geschriebenen  über  Händereinigung,  Band  III,  2.  Teil,  dann  ist  eine 
Vermittlung   nicht   möglich.    Nur   der   eine   kann   recht   haben,  der 


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33]  Der  praktische  Arzt  und  die  Händegefabr.  345 

andere  lehrt  etwas  Falsches.  Auf  dem  letzten  Gynäkologeokoogresse, 
Dresden  1007,  waren  beide  Referenten,  Fritsch  und  Küstner,  Gegner 
der  Alkoholdesinfektion  und  damit  auch  Anhänger  der  Gummihand- 
schuhe, Beide  stützten  sich  auf  das  von  anderen  ausgesprochene 
Axiom  von  der  Unmöglichkeit,  die  Hand  auf  die  Dauer  einer  Operation 
keimfrei  zu  machen,  obwohl  ich  durch  verschiedenartige  Experimente 
nachgewiesen  habe,  daß  dieses  nicht  nur  mir,  sondern  vielen  meiner 
Assistenten  und  Schülerinnen  fast  regelmäßig  gelungen  ist.  Wie  Fritsch, 
steUt  auch  Küstner  an  die  Spitze  seines  zusammenfassenden  Referats 
den  bisher  noch  mit  Recht  zu  bestreitenden  Satz:  ,Es  ist  erwiesen,  daß 
die  Haut  des  lebenden  Menschen  durch  kein  Mittel  und  keine  Prozedur 
keimfrei  zu  machen  ist.''  Auch  Doederlein  führt  sich  in  München 
wieder  mit  der  Behauptung  ein,  alle  Versuche,  die  Hand  des  Opera- 
teurs keimfrei  zu  machen,  hätten  die  Unmöglichkeit  ergeben.^) 

Selbstverständlich  muß  sich  auf  solche  Anerkennung  der  Unvoll- 
kommenheit  jeder  Desinfektionsmethode  ein  Gebäude  von  Schutzmaß- 
regeln aufbauen,  das  jetzt  eine  Höhe  erreicht  hat,  daß  der  praktische 
Arzt  nicht  mehr  folgen  kann. 

Auf  Paraffin-  und  Wachsüberzug  der  Hand  folgten  Handschuhe  von 
Seide  und  Leder.  Dann  Zwirnhandschuhe,  Gummihandschuhe.  Gummi- 
handschuhe plus  Zwirnhandschuhe  und  Zwirnhandschuhe  plus  Gummi- 
handschuhe, Firnisüberzug  der  Hand  und  Betupfen  des  ersten  Finger- 
glieds mit  Jodtinktur.  Die  unbedeckte  Hand,  als  chirurgisches  Werkzeug, 
wurde  geradezu  verpönt  und  das  Nonplusultra  dieser  Händefurcht 
war  der  oben  schon  erwähnte  Ausspruch  M  enges,  der  Arzt  dürfe  mit 
seiner  Hand  kein  Bad  für  eine  Gebärende  zurechtmachen. 

Wie  soll  sich  nun  der  Arzt,  der  selbst  keine  experimentellen  Unter- 
suchungen gemacht  hat,  Klarheit  verschaffen,  wenn  er  die  wider- 
sprechendsten Urteile  hört.  Auf  der  einen  Seite:  »Der  Stern  des 
Alkohols,  der  so  hellstrahlend  aufgegangen  war,  ist  wieder  im  Ver- 
bleichen''^), und  in  demselben  Handbuche:  »Die  Aufgabe  des  Alkohols 
bedeutet  einen  Rückschritt  in  der  Desinfektionsfrage*^),  oder,  wie  der- 
selbe Autor  sich  an  anderer  Stelle^)  ausdrückt:  »Ohne  Alkohol  keine 
ausgiebige  Desinfektion."" 

Wenn  einerseits  der  Referent^)  einer  Arbeit  Schumburgs^),  die 
von  ausgezeichneten  Erfolgen  bei  der  Alkoholdesinfektion  berichtet, 
sich  zu  dem  Ausspruch  veranlaßt  sieht:  »Dagegen  ergibt  sich  der  Sieg 

1)  Deutsche  med.  Wochenschrift  1907,  Nr.  52,  S.  21d9. 

^  Menge,  V.  Winckels  Handbuch,  Bd.  I,  2.  Teil,  S.  1215. 

3)  ▼.  Herff,  in  v.  Winckels  Handbuch,  Bd.  III,  3.  Teil,  S.  781.  — ^  4)  Münchener 
med.  Wochenschr.  1907,  Nr.  21.  —  5)  Zentr.  f.  GynSk.  1907,  Nr.  30,  S.  949.  — 
Ö)  Archiv  für  Klin.  Chir.    Bd.  79,  Heft  1. 

Klin.  Vorträge,  N.  F.  Nr. 4^/93.    (Gjmakologie  Nr.  179/äO.)  Juli  1906.  26 


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346  F.  Ahlfeld,  [34 

des  Alkohols  auf  der  ganzen  Linie  des  Kampfes  gegen  die  Hande- 
bakterien "^^  und  andererseits  Littauer^)  den  Handschuh  als  einziges 
Rettungsmittel  empfiehlt,  „den  Ählfeld,  verblendet  von  dem 
Werte  seiner  Alkoholdesinfektion,  eine  vorübergehende  Modesache 
nennt*. 

Ich  habe  früher  Gelegenheit  genommen^),  nachzuweisen,  wie  klein 
die  Zahl  der  Experimentatoren  ist,  soweit  sie  nach  meiner  Desinfek- 
tionsmethode geprüft  haben,  auf  deren  Resultate  sich  das  Axiom  der 
Unzulänglichkeit  der  HeiDwasser-Alkohol-Desinfektionsmethode  gründet. 
Füge  ich  noch  hinzu,  daß  von  den  wenigen,  die  ausgedehntere  Unter- 
suchungen gemacht  haben,  die  Resultate  zum  Teil  derart  waren,  daß 
bei  Fortsetzung  der  Versuche  das  Ziel  der  absoluten  Keimfreiheit  der 
Hand  wahrscheinlich  erreicht  worden  wäre^),  Engels*),  ein  Gegner 
der  Methode,  sogar,  angesichts  der  Vorzüglichkeit  seiner  Resultate, 
zu  dem  Ausspruch  veranlaßt  wird:  »Das  Resultat  kann  in  uns  mit 
Recht  den  Glauben  erwecken,  daß  nochmal  eine  Zeit  kommen  wird, 
wo  wir  mit  Hilfe  bestimmt  zusammengesetzter  Desinfektionsgemische 
doch  eine  vollständige  Keimfreiheit  der  Hand  erzeugen  können*,  so 
sinkt  die  Zahl  der  gegnerischen  Veröffentlichungen  in  ihrer  Bedeutung 
wesentlich  herab. 

Überdies  sind  zu  den  von  mir  in  einer  unvergleichlich  größeren 
Zahl  ausgeführten  Untersuchungen  immer  neue  hinzugekommen,  die, 
auf  noch  strengeren  Untersuchungsmethoden  aufgebaut,  zu  denselben 
Ergebnissen  gelangen,  wie  die  früheren. 

Wenn  sich  trotz  des  Widerstandes  und  einer  für  wissenschaftliche 
Fragen  ungewöhnlichen  Agitation  gegen  die  Benutzung  des  Alkohols 
als  Desinfektionsmittel  von  selten  einer  einflußreichen  Partei  unter 
den  Gynäkologen  dennoch  von  Jahr  zu  Jahr  die  Berichte  über  erfolg- 
reiche bakteriologische  Untersuchungen  und  über  ausgezeichnete  Resul- 
tate bei  der  praktischen  Anwendung  mehren,  so  ist  dies  wohl  ein 
Beweis  für  die  Richtigkeit  meiner  Vorschläge,  wie  er  selten  in  einer 
strittigen  Frage  erbracht  wird. 

Wenn  Fritsch  (Seite  187)  sagt:  »Gerade  der  Umstand,  daß  nie- 
mand erreichte,  allgemein  gültige  Gesetze  aufzustellen,  sondern  daß 
überall  das  gleiche  Ziel  von  getrennt  marschierenden  Forschern  erstrebt 
wird,  sichert  auch  einen  ferneren  Fortschritt  und  verhindert  die  Er- 
starrung in  selbstgefälliger  Zufriedenheit'',  so  möchte  ich  dem  ent- 
gegenhalten, daß  man  gerade  jetzt  durch  Empfehlung  des  uneinge- 


1)  Zentr.  f.  Gyn.  1907,  S.  883.  —  2)  20.  372.  —  3)  Paul  u.  Sarwey,  Münch. 
med.  Wochenschr.  1899,  Nr.  51,  Tab.  Nr.  3,  Dr.  Meyer.  —  4)  Klinisches  Jahrbuch 
1905,  Bd.  13,  S.  606  f. 


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35]  Der  praktische  Arzt  und  die  Händegefahr.  347 

schrankten  Gebrauchs  der  Gummihandschuhe  auf  dem  besten  Wege 
ist,  zu  »dieser  Erstarrung  in  selbstgefälliger  Zufriedenheit*  zu  gelangen 
und  möchte  weiter  zu  bedenken  geben,  wie  eine  solche  Sentenz,  in 
die  allgemeine  Praxis  übertragen,  in  das  Gegenteil  umschlagen  würde. 
Der  praktische  Arzt  und  vor  allem  die  Hebamme  und  das  Warteper- 
sooal,  sie  bedürfen  einer  festen  Richtschnur  in  der  Frage  der  Hände- 
desinfektion.  Es  ist  daher  wünschenswert,  im  allgemeinen  einer 
Händedesinfektionsmethode  den  Vorzug  zu  geben.  Dabei  ist  es  jedem, 
der  das  Gebiet  vollständig  überschaut,  unbenommen,  an  deren  Ver- 
besserung weiter  zu  arbeiten  oder  eine  andere,  seiner  Meinung  nach 
bessere  Methode  zu  gebrauchen  und  zu  empfehlen,  wie  auch  Ab- 
weichungen von  der  anerkannten  Methode  sich  von  selbst  ergeben^ 
wenn  ausnahmsweise  diese  Methode  nicht  vertragen  wird. 

Im  Laufe  der  letzten  Jahre  haben  sich  durch  eigene  und  anderer 
Untersuchungen  eine  Reihe  der  strittigen  Punkte  wesentlich  geklärt, 
wodurch  die  Beurteilung  der  von  mir  vertretenen  Desinfektionsmethode 
auch  dem  Fernerstehenden  erleichtert  wird. 

Ich  nehme  die  Haupteinwürfe  nochmals  kurz  durch,  indem  ich 
in  der  Hauptsache  nur  neuere  Beweismittel  für  und  wider  anführe, 
aof  ältere,  schon  zur  Genüge  besprochene,  nur  verweise. 

Der  zeitlich  erste,  von  Krönig  gemachte  und  bis  auf  den  heutigen 
Tag  festgehaltene  und  in  den  Vordergrund  gestellte  Einwurf  ist  der 
der  Scheindesinfektion. 

Mit  dem  Worte  »Scheindesinfektion"  hat  Krön  ig,  wie  die  Öster- 
reicher sich  ausdrücken,  einen  großen  , Schlager'  getan.  Für  die 
ungezählten  Autpren,  die  selbst  keine  Versuche  über  Händedesinfektion 
gemacht  haben,  —  und  da  sind  unsere  bedeutendsten  Chirurgen  und 
Gynäkologen  nicht  ausgeschlossen  —  genügt  dieser  Mann  und  dieses 
Wort,  um  immer  und  immer  wieder  den  Satz  zu  wiederholen,  der 
Alkohol  härtet  nur  die  oberste  Schicht  der  Haut;  aus  diesem  Grunde 
gibt  die  Hand  zeitweilig  keine  Keime  von  ihrer  Oberfläche  ab.  Wird 
die  Oberfläche  aber  wieder  weich,  wie  nach  einem  längeren  Wasser- 
bade, während  einer  Operation  mit  oder  ohne  Gummihandschuhe, 
dann  kommen  die  verheerenden  Keime  aus  der  Tiefe  hervor  und  er- 
gießen sich  über  das  Operationsobjekt.  Der  Operateur  ist  bitter  ge- 
tauscht worden.    Scheindesinfektion. 

In  der  Tat  würde  der  Vorgang  sich  derart  abspielen,  wenn  man 
eine  Hand,  gänzlich  unvorbereitet,  mit  einem  konzentrierten  Alkohol 
behandeln  wollte.  Der  würde  die  oberste  Schicht  härten,  in  die  Tiefe 
nicht  eindringen  und  die  Bakterien  der  tieferen  Schichten  gänzlich 
unberührt  und  lebensfähig  belassen. 

Anders  aber  bei  unserer  Desinfektionsmethode,  bei  der  eine  Be- 

26* 


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348  F.  Ahlfeld,  [36 

seitigung  des  oberflächlichen  Hautfetts  und  ein  Aufweichen  der  Haut 
mit  heißem  Wasser  vorausgehen  muß,  ehe  der  Alkohol  zur  Verwendung 
kommt. 

Die  Scheindesinfektion  könnte  aber  auch  dadurch  hervorgerufen 
werden,  daß  die  durch  Alkohol  erhärtete  Oberfläche  der  Hand  bei  der 
experimentellen  Prüfung  die  Keime  nicht  abgeben  kann^  wodurch  ihre 
Abtötung  vorgetäuscht  würde,  ein  Fehler  des  Experiments,  der  durch 
ausgiebige  Aufweichung  der  Oberhaut  nach  Ausführung  der  Alkohol- 
waschung vermieden  werden  kann. 

Obwohl  ich  in  keiner  Veröffentlichung  unserer  Desinfektionsexperi- 
mente zu  betonen  unterlassen  habe,  wie  die  Händeprüfung  niemals 
ohne  vorausgegangenes  längeres  Aufweichen  der  Hände  erfolgt  ist,  so 
sind  doch  meine  Resultate  von  den  Gegnern,  zumeist  auf  jene  Krönig- 
sche  Behauptung  sich  stützend,  abgetan  worden;  auch  noch,  als  ich 
immer  überzeugendere  Experimente  brachte:  die  Hand  erst  nach  Auf- 
weichung in  warmer  Fleischbrühe  durch  eine  Stunde  lang  untersuchte 
oder  nach  über  eine  Stunde  dauernden  Operationen  unter  dem  Gummi- 
handschuh. Alles  half  nichts.  Es  bleibt  doch  dabei,  es  war  nur  eine 
Scheindesinfektion. 

Auch  Fritsch,  der  früher  einmal^)  die  Tiefenwirkung  anerkannt 
hatte,  als  er  schrieb:  „Ahlfeld  hat  Keimfreiheit  der  Finger  erzielt. 
Daß  er  dies  erreicht  hat,  hat  er  bewiesen'',-  stellt  sich  neuerdings  ent- 
schieden auf  die  gegnerische  Partei.  ,^Die  Idee,  durch  Alkohol  die 
Haut  trocken  und  hart  zu  machen  und  dadurch  die  Abgaben  von 
Kokken  der  Hand  zu  verhindern,  ist  doch  nicht  richtig!  Nicht  fesseln 
wollen  wir  die  Kokken,  sondern  sie  wegschaffen.'^  Von  dieser 
Anschauung  der  Alkoholwirkung  ausgehend,  empfiehlt  Fritsch,  »eine 
auflockernde  Sublimatwaschung  dem  Alkohol  nachfolgen  zu  lassen', 
„ein  crimen  laesae  majestatis  gegen  die  Alkoholschwärmer''. 

Es  ist  wohl  das  erste  Mal,  daß  man  der  kurzen  auf  den  Alkohol- 
gebrauch folgenden  Sublimatwaschung  die  Bedeutung  einer  aufweichen- 
den Waschung  gegeben  hat.  In  dieser  Beziehung  ist  sie  wohl  gänzlich 
wertlos. 

Das  Wort  „Alkoholsch wärmer'^  kennzeichnet  die  Situation  und 
erklärt  mancherlei.  Einen  Schwärmer  behandelt  man  natürlich  anders, 
als  einen  ernsthaften  Forscher.  Man  belächelt  ihn,  man  bemideidet 
ihn,  hat  aber  nicht  nötig,  seinen  Mitteilungen  weitere  Aufmerksamkeit 
zu  schenken.    Er  ist  eben  nicht  zu  bekehren.    Habeat  sibi. 

„Schwärmer"  darf  man   aber,   meine   ich,   einen  Kollegen  nicht 


1)  Lehrbuch  der  Geburtshilfe.  1900.  S.  123. 


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37]  Der  praktische  Arzt  und  die  Händegefahr.  34g 

oenaen,  der  unermüdlich  einer  für  die  Praxis  enorm  wichtigen  Lehre 
das  Wort  redet,  sobald  sie  sich  auf  kontrollierbare  Tatsachen  stützt. 

Auch  die  Folgerungen,  die  Fritsch  aus  der  Annahme  einer  Schein- 
desinfektion macht,  fallen  fort,  wenn  die  Tiefenwirkung  des  Alkohols 
bewiesen  ist  Er  schreibt:  «Gelänge  es  aber  auch,  die  Hände  für  den 
Moment  des  Beginns  einer  Operation  keimfrei  zu  machen,  so  wissen 
vir  doch  aus  unendlich  vielen  Untersuchungen,  daß  am  Ende  einer 
Operation  die  Verhältnisse  ganz  anders  liegen  als  beim  Beginn,  daß 
die  Hände  nicht  keimfrei  bleiben,  obwohl  sie  es  vielleicht  einmal 
waren," 

Das  ist  zweifellos  richtig.  Nur  ist  damit  nicht  gesagt  und  bewiesen, 
die  im  Laufe  einer  Operation  auf  der  Oberfläche  der  Hand  nachweis- 
baren Bakterien  seien  Handbakterien,  die  infolge  einer  bloßen  Schein- 
desinfektion im  Laufe  der  Operation  an  die  Oberfläche  gekommen 
wären.  Es  kann  sich  ebensowohl  um  Neuinfektion  und  dann  Ober- 
flächeninfektion handeln,  die  gleicherweise  die  behandschuhte  Hand, 
wie  die  vorher  absolut  keimfreie  unbedeckte  Hand  betrefi^en  kann. 

Und,  um  das  hier  gleich  anzufügen,  läßt  sich  diese  oberflächliche, 
im  Laufe  der  Operation  auftretende  Beschmutzung,  wie  im  früheren 
Abschnitt  bewiesen  ist,  mit  Leichtigkeit  durch  eine  schnell  ausgeführte 
Waschung  und  Abreiben  der  feuchten  Hand  mit  Alkoholflanell  mit 
Sicherheit  beseitigen;  eine  Hantierung,  die  schneller  auszuführen  und 
billiger  ist,  als  das  Ausziehen  der  benutzten  und  Anziehen  von  frischen 
Gummihandschuhen,  und  überdies  den  Vorteil  hat,  daß  dabei  die 
Handoberfläche  sicherer  keimfrei  wird,  als  wenn  unter  dem  ausge- 
zogenen Handschuhe  sich  Keimmassen  angesammelt  haben,  die  beim 
Ausziehen  an  die  Außenwelt  treten. 

Mit  der  Zeit  habe  ich  aber  auch  in  dieser  Frage  einige  Mitstreiter 
bekommen,  einen  oder  den  anderen  freilich  wider  seinen  Willen. 

So  Schaf fer^),  der  dem  Alkohol  früher  nur  eine  mechanische 
Wirkung  zusprach.  Im  Gegensatz  zu  Haegler,  Krönig,  Paul  und 
Sarwey,  die  sämtlich  nach  der  Aufweichung  der  Hand  im  Gefolge 
einer  vorausgegangenen  Desinfektion  eine  auffallende  Vermehrung  der 
Keime  feststellten,  berichtet  er  über  15  Versuche,  ,in  denen  ich  15  bis 
35  Minuten  die  Hand  nach  der  Desinfektion  in  sterilen  Flüssigkeiten 
aufweichte  (zum  Teil  im  sterilen  Kasten)  oder  1—2^/2  Stunden  die 
Hinde  mit  Gummihandschuhen  überzog.  In  keinem  einzigen  Falle 
stellte  sich  durch  die  Aufweichung  der  Hände  eine  irgendwie  nennens- 
werte Verschlechterung  der  Resultate  ein''. 


1)  Experimentelle  und  kritische  Beiträge  zur  Händedesinfektionsfrage.    Berlin 
1902.  S.  72. 


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350  F-  Ahlfeld,  [38 

Weiter  erwähne  Ich  Vogel ^),  der  die  Kontrolle  der  desinfizierten 
Hand  im  Schwitzkasten  vornahm.  „Dieses  Resultat  spricht  gegen  die 
Annahme  von  Krön  ig  u.  a.,  daß  der  Alkohol  nur  eine  Scheindesio- 
fektion  bedinge,  indem  er  die  Haut  gerbe,  dadurch  die  Poren  verschließe 
und  die  Bakterien  in  der  Tiefe  abschließe.^  »Der  Umstand,  daß  der 
Schweiß  nur  wenig  infiziert  ist,  spricht  durchaus  besonders  für  die 
von  Ahlfeld  vertretene  Ansicht,  daß  dem  Alkohol  eine  nennenswerte 
bakterizide  Kraft  und  auch  Tiefenwirkung  zukommt.  Eine  ,GerbuDg' 
der  Haut  mußte  doch  wohl  auch  die  Sensibilität  der  Haut  abstumpfen. 
Ich  betonte  aber  vorn  schon,  daß  die  mit  Alkohol  gewaschene  Hand 
gegen  die  Hitze  viel  empfindlicher  ist.* 

Reverdin  und  Massol^)  kommen  ebenfalls  zu  dem  Resultat,  daß 
aus  den  Schweißdrüsen  nur  wenige  Keime  geliefert  werden.  „Eine 
Infektion  durch  den  Schweiß  der  Hände  gibt  es  nicht.  Wenn  die 
Untersuchung  nach  dem  Schwitzen  eine  bemerkenswert  größere  Zahl 
von  Keimen,  als  vorher  festgestellt  war,  ergibt,  so  ist  die  Waschung 
der  Hand  eine  ungenügende  gewesen.  Reichliche  Schweißabsonderung 
bedingt  keine  Gefahr  für  die  Operation."" 

Die  keimtötende  Fähigkeit  des  Alkohols  gegenüber  den  vege- 
tativen Formen  der  Bakterien,  also  gegenüber  der  Sepsis,  dem  Kind- 
bettfieber, dem  Wundfieber  usw.,  die  anfangs  ebenfalls  bestritten  wurde, 
hat  jetzt  von  allen  Seiten  Bestätigung  erhalten  und  zwar  aucji  im  ein- 
zelnen genau  entsprechend  den  Resultaten  von  Untersuchungen,  die 
ich  zuerst  mit  meinem  Assistenten,  Dr.  Vahle^),  zusammen  angestellt 
und  veröffentlicht  habe. 

Besonders  muß  ich  erwähnen,  wie  Schäffer  seine  frühere  Stellung 
zu  dieser  Frage  verändert  hat.  Während  er  in  seiner  größeren  Arbeit 
aus  dem  Jahre  1902^)  dem  Alkohol  gegenüber  den  an  der  Hand  be- 
findlichen Bakterien  keine  bakterizide  Eigenschaft  zuerkennt,  sondern 
den  Erfolg  als  einen  rein  mechanischen  erklärt,  berichtet  er  1904^): 
»Viele  Hunderte  von  Einzelversuchen  aber,  die  ich  seitdem  angestellt, 
haben  mich  gelehrt,  daß  der  Alkohol  allen  bekannten  Antiseptizis,  auch 
dem  Sublimat  in  1  pro  mille  Lösung  —  wenigstens  feuchten  Ob- 
jekten und  vegetativen  Bakterienformen  gegenüber  —  zum  mindesten 
gleichkommt.^ 

Ich  halte  es  für  wichtig,  zum  Verständnis  von  mancherlei  Vor- 
gängen etwas  eingehender  auf  diese  Anschauungsänderung  einzugehen. 


1)  Deutsche  med.  Wochenschrift  1905,  Nr.  30,  S.  1179. 

2)  Revue  mddicale  de  la  Suisse  Romande  1905,  no.  1,  p.  35. 

3)  4.  (1896).  —  4)  Experimentelle  und  kritische  Beiträge  zur  Händedesinfektions- 
frage.  Berlin  1902.    S.  66.  —  5)  Monatsschrift  für  Geb.  u.  Gyn.  Bd.  19,  S.  097. 


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39]  Der  praktische  Arzt  und  die  Händegefahr.  351 

Schaf Fer  war  durch  folgenden  Versuch i)  zu  der  festen  Oberzeugung 
gekommen,  der  Alkohol  besitze  keine  keimtötende  Eigenschaft: 

Er  infizierte  die  Hände  mit  dem  gelben  Luftpilz,  bürstete  in  einer  Schale  mit 
150  g  Alkohol  6  Minuten  lang  die  Hände  ab  und  goß  den  Alkohol  mit  den  darin 
schwimmenden  Gerinnseln  durch  ein  steriles  Filter.  Nachdem  der  Alkohol  durch- 
gelaufen war,  wurde  mit  warmem  sterilem  Wasser  der  Filter  und  sein  Inhalt  von 
Alkohol  befreit  und  schließlich  die  Filterspitze  herausgeschnitten  und  mit  steriler 
Bonillon  in  Petrischale  gebracht. 

Nach  4  Tagen  waren  2—3000  gelbe  Kolonien  angegangen. 

Schäffer,  der  diesem  Versuche  »ganz  besondere  Beweiskraft« 
zuschreibt,  notiert  als  Endresultat:  ,,Aus  diesem  einfachen  Versuch 
gebt  mit  zwingender  Notwendigkeit  hervor,  daß  die  keimtötende  Kraft 
des  Alkohols  nun  und  nimmer  zur  Erklärung  seiner  sterilisierenden 
Wirkung  ausreicht.'' 

Ich  habe  diesen  Schaf  ferschen  Versuch  wiederholen  tlich  nach- 
gemacht und  kann  die  Richtigkeit  des  Resultats  nur  bestätigen,  nicht 
aber  den  verallgemeinernden  Schluß  Schäffers,  der  Versuch  be- 
wiese, daß  der  Alkohol  nicht  bakterizid  wirke,  denn  die  folgenden 
Versuche  beweisen  das  Gegenteil  und  erklären  den  Mißerfolg. 

Ich  benutzte  die  gleiche  Kultur  des  Diplococcus  citreus,  vermischte  sie  mit 
10  com  Alcohol  absol.  und  schüttelte  das  Reagenzglas  10  Minuten.  Diese  Emulsion 
vurde  in  einen  sterilen  Filter  gegossen,  um  den  Bodensatz  untersuchen  zu  können. 
Nachdem  der  Alkohol  durch  steriles  Wasser  aus  dem  Filter  ausgelaugt  war  (ca.  6  Min.), 
vurde  die  Filterspitze  mit  steriler  Schere  abgeschnitten,  in  eine  Petrischale  ge- 
bracht, mit  etwas  Bouillon  beschüttet  und  Agar  darübergegossen. 

Resultat:  Die  Unmasse  von  Keimen,  die  in  dem  Reagenzgläschen 
sich  vorfanden,  wurden  durch  Alkohol  in  10  Minuten  bis  auf  3  oder 
4  abgetötet.    Beobachtungszeit  0  Tage. 

Dem  Schäfferschen  Versuche  entspricht  genau  das  Sängersche 
Experiment«),  über  das  ich  früher^)  schon  berichtet  habe.  Die  mit  Sta- 
phylococcus  aureus  vollgesaugten  Streichholzstückchen  wurden  feucht 
in  absoluten  Alkohol  gebracht  und  dennoch  zeigten  sämtliche  Gläschen 
Keimwachstum.  Auch  Sänger  machte  denselben  Schluß  wie  Schäffer: 
»Es  war  also  dadurch  bewiesen,  daß  Alcohol  absolutus  auf  Staphylo- 
kokkus keinen  nennenswerten  desinfektorischen  Einfluß  besitzt.''  Auch 
diese  Versuche  erwiesen  sich,  von  mir  nachgeprüft,  als  vollkommen 
richtig,  aber  ebenso  stellte  ich  fest,  daß  eine  Staphylokokkenkultur 
desselben  Stammes,  als  Emulsion  in  Alkohol  (96%  und  64%)  ge- 
schüttelt, absolut  abgetötet  wurde. 

Beide  Versuche    und    ihre    Gegenversuche    bestätigen    eine    nun 

1)  Zit  unter  4),  Seite  65,  Versuch  13  (ProtokoU  Nr.  66). 

2)  Verhandl.  d.  Deutsch.  Ges.  für  Chirurgie,  28.  Kongr.    Berlin  1899.  S.  504. 

3)  20.  353. 


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352  F.  Ahlfeld,  [40 

ziemlich  allseits  anerkannte  Tatsache:  Der  Alkohol  muO  die  Bak- 
terien frei  von  gerinnbaren  und  kontraktionsfähigen  Stoffen 
finden,  wenn  er  sie  abtöten  soll,  und  weiter:  Mittels  einer  zu 
starken  Konzentration  ist  er  im  Beginn  seiner  Einwirkung 
imstande,  sich  selbst  solche  Bakterienumhüllungen  zu 
schaffen. 

Infolgedessen  wirkt  er  gegenüber  feuchten  Bakterien  abtötend, 
trockene  bilden  um  sich  eine  Hülle,  müssen  daher  erst  angefeuchtet 
werden,  wenn  der  Alkohol  in  sie  eindringen  und  sie  abtöten  soll. 

In  diesem  Sinne  sprechen  sich  die  meisten  neueren  Arbeiten  aus. 
Unter  anderen  experimentierten  mit  trockenen  und  feuchten  Bakterien 
Harrington  und  Walker.^)  Sie  prüften  Bact.  coli,  B.  pyocyaneus, 
B.  typhi,  B.  diphtheriae,  anthracis,  den  Staphylococcus  aureus  und 
albus  und  kamen  zu  folgenden  Resultaten: 

1.  Auf  trockene  Bakterien  ist  absoluter  bis  70%iger  Alkohol  wir- 
kungslos. 

2.  Sporenfreie  Bakterien,  feucht  mit  40  %igem  Alkohol  zusammen- 
gebracht, werden  in  5  Minuten  getötet.  Manche  Konzentrationen 
wirken  schon  in  einer  Minute. 

3.  Alkohol  unter  40%  wirkt  langsam  und  unsicher. 

4.  Als  geeignetste  Konzentration  gegen  trockene  wie  feuchte  Bak- 
terien erweisen  sich  60—70%. 

5.  Die  Hülle  der  trockenen  Bakterien  ist  für  hoch  konzen- 
trierten Alkohol  undurchdringbar.  Wasserhaltiger  Alkohol 
gibt  sein  Wasser  erst  an  die  Hüllen  ab  und  wirkt  erst  dann. 

6.  Bei  feuchten  Bakterien  hat  Alkohol  über  70%  keinen  Vorteil 
gegenüber  dem  weniger  konzentrierten  und  man  kann  zur  Hautdes- 
infektion mit  60— 70%igem  auskommen. 

7.  Gelingt  es,  die  tiefer  in  der  Haut  liegenden  Bakterien 
mit  Alkohol  in  Berührung  zu  bringen,  so  werden  meist  5  Mi- 
nuten zu  ihrer  Abtötung  genügen. 

Ruß^),  der  die  vegetativen  Formen  der  Handbakterien,  die  pyo- 
genen  Bakterien  und  das  Bact.  coli  prüfte,  konnte  diese  schnell  mit 
90— 70%igem  Alkohol  abtöten.  Von  40%  ab  wird  die  Wirkung 
mangelhaft.  „Bei  vorheriger  mechanischer  Reinigung  mit  Wasser, 
Seife  und  Bürste  werden  die  an  der  Haut  haftenden  oberflächlichen 
Keime  weggeschwemmt,  die  tiefer  liegenden  befeuchtet.^  „Bei  dieser 
Vorbereitung  nehmen  die  Keime  wohl  soviel  Wasser  auf,  daß  ihre 


1)  Tbe  germicidai  action  of  alcool.    Boston  med.  and  surg.  Journal  1903,  Mty. 

2)  Zur  Frage  der  Bakterizidie  durch  Alkohol.   Zentralbl.  für  Bakter.  usw.  1904, 
Bd.  37,  Heft  2,  S.  280. 


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41]  Der  praktische  Arzt  und  die  Händegefabr.  353 

Hfille  genügend  gequollen  ist,  um  den  nun  nachfolgenden  Alkohol,  sei 
er  nun  absolut  oder  geringgradig  verdünnt  (—80%),  vollen  Eingang 
zu  gewähren/^ 

Auch  Hansen^)  bestätigt  die  Einwirkung  des  absoluten  Alkohols 
auf  feuchte  Bakterien  und  die  der  Verdünnungen  auf  angetrocknete. 

Hansen,  der  an  ekzemkranker  Haut  prüfte,  bestätigt  außerdem 
die  von  mir  festgestellte  Tatsache^),  daß  er  „weder  unter  den  Haut- 
noch  unter  den  Ekzembakterien  eine  einzige  sporenbildende  Art^^  ge- 
funden, somit  seine  Versuche  sich  nur  mit  vegetativen  Formen  befaßt 
hatten. 

Weiter  erwähne  ich  noch,  daß  auch  Füth^)  neuerdings  die  bak- 
terizide Eigenschaft  des  Alkohol  anerkennt;  wenigstens  entnehme  ich 
dies  seinen  Worten:  „Ahlfeld  hat  unstreitig  recht,  wenn  er  dem 
Alkohol  eine  desinfizierende  Wirkung  zuschreibt." 

Wirgirc^)  setzt,  „infolge  des  größeren  Eindringungsvermögens^,  die 
keimtötende  Kraft  des  konzentrierten  Alkohols  über  die  von  zwei  pro 
mille  Sublimat. 

WeigP)  verhinderte  die  Gerinnung  der  mit  Alkohol  in  Berührung 
zu  bringenden  StofiFe  durch  tropfenweises  Einträufeln  des  Alkohols 
und  durch  andauerndes  Umschütteln  und  bestätigt  ebenfalls  die  ent- 
schiedene bakterizide  Wirkung  auf  vegetative  Formen. 

Bei  dieser  Einmütigkeit  der  Laboratoriumsversuche  bleibt  nur  die 
Frage  noch  zu  erledigen,  ob  der  Alkohol  auch  die  tiefsitzenden  Bak- 
terien der  Haut  erreicht.  Experimentelle  Versuche,  unter  meiner 
Mitwirkung  von  Rieländer<<)  und  Fett^)  ausgeführt,  haben  dies  be- 
wiesen. Dafür  sprechen  auch  unsere  Desinfektionsversuche,  voraus- 
gesetzt, daß  unsere  Verfahren  die  Kritik  bestehen. 

In  einer  umfangreichen  Arbeit  hat  Sarwey^)  unsere  experimen- 
tellen Verfahren  als  ungenügend  darzustellen  versucht.  Ich  will  hier 
nicht  wiederholen,  was  ich  gegen  diese  Schrift  zu  meiner  Verteidigung 
^Dgcgeben  habe^),  muß  hingegen  auf  Grund  neuerer  Versuche  und 
Erfahrungen  zunächst  auf  meine,  von  Sarwey  so  in  den  Hintergrund 
gedrängte  Befürchtung  eingehen,  ein  Teil  der  Sarwey  sehen  Miß- 


1)  Tötende  Wirkung   des   Äthylalkohols   auf  Bakterien   und  Hefen.    Zentralbl. 
für  Bakt.  usw.  1907,  Bd.  45,  S.  470. 

2)  20.  346. 

3)  Zentralbl.  f.  Gynäk.  1906,  Nr.  33,  S.  925. 

4)  Zeitschr.   für  Hygiene  u.  Inf.    1904,  Bd.  46,   S.  617.       5)  Arch.  f.  Hygiene 
1902,  Bd.  24,  S.  273.        6)  22.        7)  23. 

8)  Bakteriologische  Untersuchungen   über  Händedesinfektion  und  ihre  Ergeb- 
nisse für  die  Praxis.    Berlin  1905. 

9)  29. 


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354  F.  Ahlfeld,  [42 

erfolge,  die  er  den  nicht  zu  beseitigenden  Handbakterien  zuschreibt» 
kommen  auf  Luft-  und  andersartige  Nebeninfektion  hinaus. 

Im  vergangenen  Jahre  habe  ich,  um  auch  in  dieser  Frage  durch 
eigene  Versuche  und  Beobachtungen  mir  ein  eigenes  begründetes  Ur- 
teil zu  schaffen,  hauptsächlich  mit  Petrischalen  und  festen  oder  er- 
starrenden Nährböden  gearbeitet.  Diese  Experimente  haben  meine 
Befürchtung  voll  bestätigt,  daß  die  Gefahr  einer  Verunreinigung 
bei  Benutzung  von  Petrischalen  viel  größer  ist  als  bei  Ge- 
brauch von  Reagenzgläsern. 

Die  im  hygienischen  Institute  gegossenen  Schalen  blieben  dort  erst 
stets  24  Stunden  zur  Kontrolle  im  Brütofen  und  nachdem  sie  mir  ab- 
geliefert waren  und  ich  sie,  wie  oben  beschrieben,  mit  einem  kräf- 
tigen Gummiband  versehen  hatte,  damit  Deckel  und  Schale  unter 
keinen  Umständen  sich  voneinander  entfernen  konnten,  ließ  ich  sie 
vor  dem  Gebrauche  nochmals  mindestens  24  Stunden  im  Brutraume 
stehen. 

Selbst  von  diesen  unbenutzten,  nicht  geöffneten  Schalen  mußte  eine 
kleine  Anzahl  ausgeschieden  werden.  Von  den  auch  nur  sekunden- 
weise geöffneten,  zeigten  etwa  20%  Verunreinigungen,  die  ganz  be- 
sonders deutlich  in  den  Fällen  zu  erkennen  waren,  wo  ich  auf  festen 
Nährboden  Zahlen  oder  Figuren  —  wie  oben  beschrieben  —  gezeichnet 
hatte  und  dennoch,  weitab  von  dieser  begrenzten  Aussaat,  einzelne 
Keime,  also  Luftkeime,  sich  entwickelten. 

In  Obereinstimmung  hiermit  beobachteten  Stähler  und  Winckler^) 
bei  Versuchen  an  81  Frauen  50 mal  Verunreinigung  der  von  ihnen 
verwendeten  Platten  durch  Luftkeime,  und  Schäffer^)  stellte  experi- 
mentell fest,  daß  es  in  einem  beträchtlichen  Verhältnis  nicht  gelingt, 
Luftverunreinigungen  von  den  Platten  fernzuhalten.  An  anderer 
Stelle  (Seite  88)  gibt  er  dieser  Tatsache  durch  auffallenden  Fettdruck 
noch  besonderes  Gewicht:  »Daher  ist  es  unzweifelhaft,  daß  die  etwas 
größere  Zahl  von  Kolonien,  die  nach  der  Alkoholbürstung  bei  der 
Tageshand  angegangen  sind,  lediglich  der  ganz  unvermeidlichen 
Luftinfektion  anzurechnen  ist.* 

Bemerkenswert  ist,  daß  auch  Engels^)  zugesteht,  die  ganz  ver- 
einzelten Keime,  deren  Entwicklung  in  seinen  Versuchen  mit  2% igem 
Sublamin-Alkohol  die  absolute  Sterilität  verhindert  haben,  könnten 
durch  Versuchsfehler  entstanden  sein,  indem  beim  Gießen  der  Platten 
Eiterkeime  aus  der  Luft  übertragen  worden  sind. 

1)  Monatsschr.  f.  Geb.  und  Gyn.  1809,  Juni,  S.  737. 

2)  Experimentelle  und  kritische  Beiträge  zur  Händedestnfektionsfrage.  Beriin 
1902.  S.  32. 

3)  Klinisches  Jahrbuch  1905,  Bd.  13,  S.  592. 


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43]  Der  praktische  Arzt  und  die  HSndegefahr.  355 

Gleich  im  Beginn  meiner  Desinfel^tionsversuche,  1805,  fiel  mir 
diese  Gefahr  bei  Benutzung  der  Schalen  auf.  Aus  diesem  Grunde 
und  um  schnell  viele  Versuche  machen  zu  können,  wie  es  bei  meiner 
Versuchsanordnung  notwendig  war,  verließ  ich  den  Gebrauch  der 
Schalen  und  der  festen  Nährböden  und  benutzte  Bouillon  und  Rea- 
genzgläser, da  die  Luftverunreinigung  beim  Gebrauch  letzterer  auf  ein 
Minimum  herabsinkt. 

Seh  äff  er  würde  vielleicht  zu  noch  günstigeren  Resultaten  zu- 
gunsten der  Heißwasser -Alkoholmethode  gekommen  sein,  wenn  er 
aicht  eine  unbegründete  Furcht  vor  dem  Gebrauche  flüssiger  Nähr- 
böden gehabt  hätte.  S.  29  schreibt  er:  „Manche  Versuchsanordnungen 
sind  derart^  daß  es  fast  verwunderlich  erscheinen  kann,  wie  überhaupt 
auch  nur  in  einem  Falle  Keimfreiheit  erzielt  werden  konnte!  Es  gilt 
dies  ganz  besonders  bei  der  Verwendung  flüssiger  Nährböden  zur 
Prüfung  der  Händesterilität.  Da  ein  einziger  in  die  Bouillon  gelangter 
Keim  innerhalb  eines  Tages  sich  vermillionenfacht  und  Trübung  des 
ganzen  Röhrchens  verursacht,  da  schon  ein  kurz  dauerndes  Öffnen 
des  Wattestopfens  hierzu  bisweilen  genügt,  da  die  Partikelchen,  welche 
von  der  Hand  abgekratzt  und  in  das  Röhrchen  versenkt  werden,  mit 
Leichtigkeit  Träger  eines  Luftkeims  sein  können,  so  läßt  sich  aus  der 
Trübung  des  Bouillon  röhrchens  über  die  Sterilisierbarkeit  der  Hand 
nie  und  nimmer  ein  Schluß  gewinnen.^^ 

Diese  Folgerung  hat  doch  nur  eine  Berechtigung,  wenn  die  Bouillon 
sich  trübt,  nicht  aber,  wenn  sie  klar  bleibt,  wie  es  bei  meinen  Ver- 
suchen tausendfach  (wörtlich  genommen)  der  Fall  gewesen  ist. 
Damit  ist  die  Behauptung,  flüssiges  Nährmaterial  im  Reagenzglas  sei 
v^en  der  Gefahr  der  Luftinfektion  ungeeignet,  auf  das  glänzendste 
widerlegt 

Auch  Sarweyi)  findet  sich  mit  diesem  Resultat  nicht  auseinander: 
»Müßten  da  nicht  die  meisten,  wenn  nicht  alle  Bouillonröhrchen 
Ahlfelds  getrübt  sein,  da  doch  bekanntlich  bei  der  Bouillon  ein 
einziger  Luftkeim  genügt,  um  eine  diffuse  Trübung  des  ganzen  Röhr- 
chens hervorzurufen?  Und  doch  erzielt  Ahlfeld  trotz  alledem  Steri- 
lität seiner  Bouillonröhrchen/^  Die  beiden  von  Sarwey  gemachten 
Erklärungsversuche  sind,  was  den  ersten  anbetrifft,  es  sei  so  viel 
Alkohol  mit  übergeimpft,  daß  die  Luftkeime  sich  nicht  hätten  ent- 
wickeln können,  hinFällig.    Den  zweiten  verstehe  ich  nicht. 

Küstner,    in  seinem   Referate   über   diese  Antikritik   Sarweys, 


1)  Bakteriologische  Untersuchungen  über  Handedesinfektion  usw.    Berlin  1905. 
S.28. 

2)  Verhandl.  der  Deutschen  Gesellsch.  für  Gynäk.  1007,  Seite  252. 


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356  F-  Ahlfeld,  [44 

gebraucht  den  Ausdruck,  im  bezug  auf  die  Abhaltung  von  Luftkeimen 
seien  meine  Untersuchungen  ^^aller  Kanteten  bar^^  Schon  das  glan- 
zende Resultat,  was  ich  eben  erwähnt  habe  und  das  durch  Schaf  fers 
und  Sarweys  Hervorheben  dieser  Tatsache  noch  mehr  ins  Licht 
gestellt  worden  ist,  müßte  doch  Kfistner  veranlaßt  haben,  der  An- 
gelegenheit etwas  mehr  auf  den  Grund  zu  gehen.  Er  wurde  dann 
aus  meinen  Publikationen  ersehen  haben,  daß  ich  die  Versuche  in 
einem  Räume  gemacht  habe,  der  abwaschbare  Wände  hatte,  nur  eiserne 
und  Glasgegenstände  enthielt,  und  daß  die  Schülerinnen  bis  zu  dem 
Augenblicke,  wo  die  Abnahme  erfolgte,  die  Hand  in  sterilem  Wasser 
liegen  hatten. 

Daß  in  der  Tat  unser  Entbindungsraum,  wenn  er  so  zum  Ver- 
suche vorbereitet  war,   arm  an  Luftkeimen  war,  beweist  folgender, 
alljährlich  im  Beginn  des  Hebammenunterrichts  wiederholter  Versuch. 
Um  den  Schülerinnen  zu  zeigen,  daß  überall  in  der  Luft  Keime 
vorhanden  seien,  stellte  ich  im  Anfang  der  Stunde  mehrere  Petri- 
schalen offen  hin  und  ebenso  eine  Anzahl  Reagenzgläser,  die  ich 
bald  mit  sterilem  Harn,  bald  mit  Bouillon  gefüllt  hatte,  und  schloß 
sie  nach  der  Stunde  wieder.  Während  sich,  je  nach  der  Sauberkeit 
des  Raumes  —  im  Auditorium  ungleich  mehr,  als  im  Entbindungs- 
raume  —  auf  der  Agarbouillon  der  Schalen  Keime  entwickelten, 
blieben  die  Reagenzgläser  des  öfteren  vollständig  klar,  und  statt 
nach  zwei,  drei  Tagen  im  Unterricht  die  Folgen  der  Luftinfektion 
zeigen  zu  können,  brachte  ich  unveränderte  Flüssigkeit  mit. 
Da   nun   bei   meinen  Desinfektionsversuchen   die  Öffnungen  der 
Reagenzgläser  vor  Abnahme  des  Wattepfropfens,  wie  üblich,  erhitzt 
werden,  und  der  heißere  Luftstrom  des  Inneren  in  der  Richtung  zur 
kälteren  Außentemperatur  abströmt,  so  ist  dies,  abgesehen  von  der 
Kleinheit  der  Öffnung  eines  Reagenzglases,  gegenüber  der  einer  Petri- 
schale, wieder  ein  Grund  mehr,  in  der  Luft  suspendierte  Keime  von 
der  Öffnung  wegzutreiben. 

Ein  einfacher  Versuch,  den  ich  oft  wiederholt  habe,  überzeugt  am 
leichtesten:  Stellt  man  zwei  Petrischalen  im  gleichen  Räume,  die  eine 
auf  eine  erwärmte  Unterlage  (ich  benutzte  ein  Glas  mit  heißem  Wasser, 
bedeckt  mit  einem  Papier),  die  andere  auf  eine  kalte,  so  entwickeln 
sich  auf  der  kalten  Schale  annähernd  noch  einmal  so  viel  Luftkeime, 
als  auf  der  warmen. 

Für  den  Gebrauch  flüssiger  Nährmedien  zum  Nachweis  von  Strepto- 
kokken tritt  auch,  auf  Grund  umfangreicher  Versuche,  in  neuerer  Zeit 
Zangmeister  ein.^)    „Ich  verfüge  heute  über  große  Untersuchungs- 


1)  Zeitschr.  für  Geburtsh.  und  Gynäk.    Bd.  58,  S.  427. 


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45]  I^er  praktische  Arzt  und  die  Händegefahr.  357 

Serien,  aus  denen  hervorgeht,  daß  flüssige  Nährmedien  zum  Nach- 
weis (sc.  der  Streptokokken)  absolut  nötig  sind;  in  manchen  Fällen 
fehlte  das  Wachstum  auf  Agar  (im  Gegensatz  zur  Bouillon),  selbst 
wenn  in  dem  betreffenden  Sekret  mikroskopisch  der  Nachweis  der 
Streptokokken  schon  erbracht  war.  Ich  muß  mich  deshalb  der  be- 
sonderen Empfehlung  der  flüssigen  Nährböden  durch  Bumm^  an- 
schließen.'* 

Ich  komme  nun  zum  wichtigsten  Punkte  der  Einwürfe  gegen  meine 
Versuchsmethodik,  wodurch  eine  Erklärung  gebracht  werden  soll,  auf 
welche  Weise  meine  guten  Resultate,  gegenüber  denen  „aller  übrigen 
Experimentatoren**  zustande  kämen.  Es  handelt  sich  dabei  um  den 
Vorwurf  der  weniger  intensiven  Abimpfungsmethode. 

Diesen  Vorwurf  machen  mir   Sarwey,  Engels   und  Schäffer 
die  drei,  die   überhaupt  allein  meine  Methode   eingebender  geprüft 
haben. 

Ich  beschäftige  mich  zuerst  mit  den  Arbeiten  Paul-Sarweys  und 
Engels,  die,  wenigstens'  in  einer  Versuchsreihe,  mit  zusammen  27 
Versuchen,  ganz  gleichmäßig  vorgegangen  sind. 

Daß  ihre  Versuche  in  einem  sterilen  Kasten  vorgenommen  sind, 
hat,  soweit  es  sich  dabei  um  Abhaltung  von  Luftkeimen  handelte,  gar 
keine  Bedeutung  für  die  Aufklärung  der  Differenz  unserer  Versuche, 
denn  bei  meiner  Versuchsanordnung  sind,  wie  oben  (Seite  550  u.  flg.) 
schon  auseinandergesetzt,  Luftkeime  in  störender  Weise  nicht  in  Frage 
gekommen. 

Soweit  es  sich  um  die  von  Sarwey  betonte  größere  Aufweichung 
der  Hand  im  Schwitzbade  des  Kastens  handelt,  durch  die  tiefersitzende 
Keime  eher  an  die  Oberfläche  gebracht  wurden,  wird  folgende  Be- 
trachtung gerechte  Zweifel  an  der  Bedeutung  dieses  Umstandes  er- 
wecken: 

In  Kolumne  9  der  Paul-Sarweyschen  Tabelle  ist  der  Keimgehalt 
der  Hand  nach  einem  10  Minuten  dauernden  Wasserbade,  das  im 
Anschluß  an  die  Alkoholwaschung  vorgenommen  ist,  festgelegt.  Bis 
zu  diesem  Stadium  gleicht  die  Ausführung  der  Desinfektion  und  die 
Versuchsanordnung  genau  der  meinigen,  nur  daß  ich  den  Keimgehalt 
des  Badewassers  (Kolumne  8)  nicht  geprüft  habe.  Ja,  ich  habe  sogar 
die  Aufweichung  der  Hand  meist  15—20  Minuten  andauern  lassen. 

Während  nun  in  den  12  Versuchen  Paul-Sarweys  nur  in  einem 
(Nr.  3,  Dr.  Meyer)  danach  die  Hand  keimfrei  war,  kam  ich  bei  Proben 
mit  halbwegs  geübten  Schülerinnen  auf  75%  und  darüber.  Also  bei 
ganz  gleicher  Methode   solch   immense  Unterschiede.    Auch 


1)  Verhandl.  der  Deutschen  Gesellsch.  für  GynSk.  X,  S.  584. 


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358  F.  Ahlfeld,  [46 

gegenüber  den  Engelsschen  Resultaten  (Tab.  Seite  518)  ist  dieselbe 
Tatsache  zu  berichten,  aus  der  also  unwiderruflich  hervorgeht,  daß 
die  Ursachen  der  Differenz  nur  in  der  Ausführung  der  Rei- 
nigungs-  und  Desinfektionsmaßregeln  der  Hand  oder  in  der 
späteren  Behandlung  der  nach  dem  Wasserbade  gewonnenen 
Handabschabsel  liegen  können. 

Gewiß  ist  die  auf  die  eben  beschriebene  Prozedur  folgende  Ab- 
reibung der  Hand  mit  heißem  sterilem  Sand  oder  Marmorstaub  und 
Untersuchung  desselben  auf  seinen  Keimgehalt  eine  sehr  genaue 
Prüfungsmethode.  Unmöglich  aber  konnte  deren  Resultat  befriedigend 
ausfallen,  wenn  die  Hände  im  Stadium  vorher  (Kolumne  9)  ein  unbe- 
friedigendes Resultat  ergaben.  In  dem  einzigen  Falle  (Nr.  3,  Dr. 
Meyer),  wo  die  Hände  nach  dem  Bade  steril  waren,  zeigte  sich  auch 
der  Keimgehalt  des  Sandes  und  der  Handoberfläche  gleich  Null. 

Gehen  wir  noch  einen  Schritt  weiter  und  berücksichtigen  wir  die 
Differenzen  der  Resultate  der  einzelnen  Untersuchungen  untereinander 
bei  vollständig  gleicher  Versuchsanordnung,  so  werden  wir  der  Lösung 
der  Frage,  woher  die  Differenz,  wieder  ein  Stück  näher  kommen. 
Schon  in  der  Paul-Sarweyschen  Tabelle  muß  es  auffallen,  daß  ein 
Experimentator,  Dr.  Meyer,  obwohl  der  Keimgehalt  seiner  Hand  vor 
Beginn  der  Reinigung  und  nach  der  Heißwasser-Seifenwaschung,  wie 
bei  den  übrigen  Versuchspersonen,  ein  überreicher  war,  dennoch 
nahezu  Keimfreiheit  nach  der  Alkoholdesinfektion  erreichte  und  auch 
bei  einem  zweiten  Versuche  das  beste  Resultat  aufwies. 

So  auch  bei  den  Engelsschen  Versuchen.  Schaf  fer^)  macht  darauf 
aufmerksam,  daß  Engels  bei  den  Kontrollversuchen  meiner  Methode 
persönlich  100%  „gute  Resultate^^  erlangt  habe,  während  die  Ver- 
suche der  anderen  Herren  ein  schlechteres  Gepräge  aufwiesen. 
Engels^)  erklärt  diese  Behauptung  als  nicht  zu  Recht  bestehend. 
Doch  ist  dem  so,  wie  Schäffer  angibt,  denn  Engels  hat  nicht  be- 
rücksichtigt, daß  Schäffer  unter  „gute  Resultate^^  alle  die  zusammen- 
gefaßt hat,  die  0—20  Keime  aufwiesen. 

In  der  Tat  hat  dann  Engels  in  den  5  Versuchen,  die  er  selbst 
anstellte,  100%  „gute  Resultate^S  in  10,  die  von  anderen  Untersuchern 
gemacht  sind,  finden  sich  unter  130  Platten  nur  116  „gute  Resultate^ 

Also  auch  hier  ein  deutlicher  Unterschied  abhängig  von  der 
Versuchsperson. 

Und  nehme  ich  nun  gar  erst  die  Versuche  von  Engels  mit  seinen 
Alkoholgemischen  hinzu  und  von  diesen  nur  die  mit  Sublamin-Alkohol, 


1)  Monatsschr.  für  Geb.  und  Gyn.    Bd.  19,  S.  693. 

2)  Monatsschr.  für  Geb.  und  Gyn.    Bd.  20,  S.  249. 


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47]  Der  praktische  Arzt  und  die  Händegefahr.  350 

weil  Seh  äff  er  ^),  und  ich^),  nachgewiesen  haben,  daß  bei  diesen 
Versuchen  der  Alkohol  das  einzig  wirksame  Desinfizienz  bedeutet, 
die  Versuche  also  mit  den  früheren  auf  eine  Stufe  zu  stellen  sind, 
so  Blässen  die  ausgezeichneten  Resultate  der  Versuchsperson  Engels 
zugute  geschrieben  werden. 

Inwieweit  da  die  Verschiedenheit  der  Hände,  inwieweit  die  an- 
gewendete körperliche  und  geistige  Intensität  bei  der  Desinfektions- 
ausfuhrung  in  Frage  kommt,  läßt  sich  aus  der  Ferne  nicht  feststellen. 
Ich  will  auf  diesen,  obwohl  für  mich  ungemein  wichtigen  Punkt  nicht 
weiter  eingehen,  da  ich  ihn  zu  wiederholten  Malen s)  schon  be- 
sprochen habe. 

Nur  einige,  seit  meiner  letzten  größeren  Publikation^)  zustimmende 
Bemerkungen  anderer  Autoren  seien  hier  noch  erwähnt: 

Danieisohn  und  Heß^)  bringen  einen  sehr  überzeugenden  Be- 
weis von  der  individuellen  Verschiedenheit  der  Hände.  Schon  an 
der  mit  Wasser  und  Seife  gründlich  behandelten  Hand  des  Dr.  Heß 
lieflen  sich  vor  der  Desinfektion  ungleich  weniger  Keime  entnehmen, 
«Is  von  der  Hand  des  Dr.  Danielsohn.  Weit  über  100—1000  bei 
letzterem,  meist  unter  80,  ja  wiederholt  gar  keine  bei  ersterem. 
Ein  ahnliches  Verhältnis  bestand  auch  nach  der  Desinfektion. 

Grasmann^)  kommt  bei  seinen  Händedesinfektionsversuchen  eben- 
falls zur  Erklärung  auffälliger  Unterschiede  der  Resultate  gleichartiger 
Desinfektionsverfahren  durch  die  Verschiedenheit  der  Hände  der  Ver- 
suchspersonen. 

Daß  ich  meine  guten  Resultate  zum  Teil  den  Versuchen  an  Frauen- 
händen gemacht  zuspreche,  habe  ich  früher  bereits  erwähnt.  7) 

Ebenso  auch,  wie  körperliche  und  geistige  Anstrengung  zu  einem 
guten  Resultate  notwendig  sind.^)  Sehr  treffend  betont  Klemm^)  die 
Anforderung  an  Intelligenz  von  selten  des  sich  Desinfizierenden:  „Wir 
werden  dabei  sehen,  daß  der  Vorgang  der  Händereinigung  ein  Prozeß 
ist,  der  an  die  Intelligenz  des  Betreffenden,  sei  er  nun  Arzt  oder 
Laie,  nicht  unerhebliche  Anforderungen  stellt.  Wer  den  ganzen  kom- 
plizierten Akt  schablonenhaft  behandelt,  darf  sich  nicht  wundern,  wenn 
seine  Resultate  hinter  seinen  Erwartungen  und  den  Anforderungen, 

1)  Monatsschr.  f.  Geb.  u.  Gyn.    Bd.  21,  S.  193. 

2)  29.  1954. 

3)  20.  388. 

4)  20. 

5)  Deutsche  med.  Wochenschr.  1902,  Nr.  37,  S.  662. 

6)  Mfinchener  med.  Wochenschr.  1907,  Nr.  42  u.  43. 

7)  29.  1955. 

8)  20.  365. 

0)  Deutsche  Zeitschr.  für  Chirurgie  Bd.  75,  S.  514. 


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360  F.  Ahlfeld,  [48 

die  man  zu  stellen  berechtigt  ist,  zurückbleiben.  Es  gehört  zur  richtig 
durchgeführten  Händedesinfektion  ein  ganz  bedeutender  Grad  geistigen 
Konzentrationsvermögens;  nur  wer  über  jene  bakteriologische  Fein- 
fühligkeit  verfügt  und  beständig  mit  einer  scharfen  Linse  vor  seinem 
geistigen  Äuge  die  einzelnen  Etappen  der  Sterilisation  verfolgt,  wird 
dem  angestrebten  Ziele,  der  möglichsten  Keimfreiheit  der  Hand,  am 
nächsten  kommen/^ 

Bei  unseren  Versuchspersonen,  den  Hebammenschülerinnen,  habe 
ich  persönlich  diese  Aufmerksamkeit  übernommen,  indem  ich  während 
der  Ausführung  ununterbrochen  darauf  hingewiesen  habe,  wie  jetzt 
diese,  wie  nun  jene  Stelle  der  Hände  bei  der  Vorbereitung  und  bei 
der  nachfolgenden  Behandlung  mit  Alkohol  zu  berücksichtigen  sei, 
und  da  die  einzelne  Versuchsperson,  bei  den  ungemein  zahlreichen 
Versuchen,  oft  an  die  Reihe  kam,  so  hatten  meine  Schülerinnen  mehr 
wie  Ärzte  und  Praktikanten  eine  wohlgeleitete  Desinfektion  durch- 
gemacht und  Erfahrung  darin. 

Inwieweit  in  den  Versuchen,  die  Krönig  und  Blumreich^)  einer- 
seits, Füth  und  Meißl^)  andererseits  angestellt  haben,  die  dabei 
tätigen  Praktikanten  und  Hebammen  den  Anforderungen  an  die  er- 
forderliche Genauigkeit  bei  der  Desinfektion  entsprachen,  kann  ich 
nicht  beurteilen.  Die  Versuchsanordnung  ist  eine  so  komplizierte 
und  die  Zahl  der  ausgeführten  Versuche  eine  so  geringe,  daß  diese 
wenigen  negativen  Resultate  mir  nicht  beweisend  erscheinen  gegen- 
über meinen  Versuchen,  die  schließlich  auch  an  Genauigkeit  der 
Abnahmemethode  kaum  noch  eine  Steigerung  zulassen. 

Was  würden  Krön  ig  und  Blum  reich  wohl  für  einen  Schluß 
gemacht  haben,  wenn  die  Hebamme  Lahrsow  ihre  Hand  nach  be- 
endeter Alkoholdesinfektion  über  eine  Stunde  lang  unter  Bewegung 
der  Finger  in  ein  Standgefäß  mit  V2  Liter  Nährbouillon  gehalten  hätte 
und  es  wäre  kein  Wachstum  erfolgt,  die  Bouillon  wäre  auf  Wochen 
hinaus  klar  geblieben?  Hätten  sie  da  nicht,  wenn  sie  gerecht  urteilen 
wollten,  sagen  müssen:  Bei  einem  derartigen  Resultate  ist  es  höchst 
unwahrscheinlich,  daß  noch  Keime  an  und  in  der  Haut  vorhanden 
waren?  Und  so  fiel  ein  unter  meiner  Leitung  vorgenommener  Ver- 
such 3)  aus,  dem  weiter  die  zahlreichen  Versuche  entsprechen,  in 
denen  ich  statt  des  Standgefäßes  große  Nummern  von  Gummihand- 
schuhen benutzte,  in  denen  die  desinfizierte  Hand  in  Nährbouillon 
suspendiert  war. 


1)  Munchener  med.  Wochenschr.  1900,  Nr.  29,  S.  1005. 

2)  Zentralbl.  für  Gynäk.  1906,  Nr.  33,  S.  920  und  Arch.  f.  Gyn.    Bd.  72,  S.  383. 

3)  29.  1955. 


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49]  Der  praktische  Arzt  und  die  Händegefahr.  361 

Ich  meine  doch,  daß  diese  Methode  an  Genauigkeit  den  eben 
erwähnten  mindestens  gleichkommt.  Und  fragt  man  mich,  warum 
ich,  um  die  Richtigkeit  meiner  Behauptung  von  der  Tiefenwirkung 
des  Alkohol  zu  beweisen,  nicht  auch  die  Krönigsche  oder  Füthsche 
Probe  gemacht  habe,  so  muß  ich  auf  die  Schwierigkeiten  hinweisen, 
die  ein  derart  komplizierter  Weg  mit  sich  bringt.  Fehler  sind  unge- 
mein schwer  zu  vermeiden  und  jeder  Fehler  täuscht  einen  Mißerfolg 
in  der  Desinfektionsmethode  vor,  Mißerfolge,  die  erst  ausgeglichen 
werden,  wenn  man  in  großer  Zahl  diese  Versuche  wiederholen  würde. 
D^egen  sind  meine  Handschuhversuche  ungemein  einfach  auszu- 
fuhren und  wenn  Sarwey  ausnahmslos  andere,  d.  h.  ungünstige  Er- 
folge gehabt  hat,  als  ich,  was  bleibt  dann  anderes  übrig  anzunehmen, 
als  daß  doch  wahrscheinlich  die  Händedesinfektion  an  Genauigkeit 
zu  wünschen  übriggelassen  hat,  oder  die  nachträgliche  Behandlung 
des  Handschuhinhalts  hat  Verunreinigung  herbeigeführt. 

DieBewertung  der  Händedesinfektionsexperimentegestaltet 
sich,  je  nach  ihrem  positiven  oder  negativen  Ausfalle,  ganz  verschieden. 
Fällt  nach  sorgfältiger  Händedesinfektion  die  bakterielle  Untersuchung 
ungünstig  aus,  so  ist  die  Zahl  der  möglichen  Ursachen,  die  teils  bei 
der  Ausführung  der  Desinfektion,  teils  bei  der  experimentellen  Prüfung 
das  Resultat  beeinflußt  haben  können,  eine  sehr  große.  Fällt  die 
Prüfung  aber  günstig  aus,  sind  keine  Keime  auf  der  Platte  oder  in 
der  Nährflüssigkeit  aufgegangen,  dann  können  die  Ursachen,  auch 
wenn  es  sich  um  einen  Scheinerfolg  handelt,  nicht  in  der  mangel- 
haften Händereinigung  liegen,  sondern  nur  in  Prüfungsfehlern.  Die 
Zahl  der  Fehlerquellen  ist  daher  eine  viel  geringere,  der  einzelne 
Fehler  leichter  erkennbar. 

Deshalb  sind  meine  Resultate  nach  dieser  Seite  hin  viel  leichter 
zu  prüfen,  als  die  der  Gegner,  die  keine  oder  nur  selten  eine  Keim- 
freiheit erzielten  und  dies  um  so  mehr,  da  meine  Prüfungsmethoden 
weniger  kompliziert  sind,  als  die  der  anderen  und  infolgedessen 
auch  in  großer  Zahl  ausgeführt  werden  konnten. 

Beim  gegeneinander  Abwerten  der  ungünstigen  und  günstigen  Ex- 
perimente darf  ich  zuletzt  noch  an  den  von  mir  bereits  referierten^) 
Ausspruch  v.  Behrings  erinnern:  „Schlechte  Resultate  zu  bringen 
ist  leicht,  gute  sehr  schwer.*^ 

Wenn  ich  jetzt  noch  einmal  zusammenfassend  den  Vorgang  schil- 
dere, in  welcher  Weise  die  Heißwasser-Alkohol-Reinigung 
desinfizierend  auf  die  Hand  wirkt,  und  daran  anknüpfend  die 
einzelnen  Momente  der  Ausführung  der  Methode  anfüge,  so  kann 

1)  20.  355. 

KUn.  Vortrige,  N.  F.  Nr.  4821/93.    (Gynäkologie  Nr.  179/80.)    Juli  1908.  27 


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382  F.  Ahlfeld,  [50 

der  mit  den  Streitfragen  weniger  bekanme  Leser  sjch  am  schnellsten 
einen  Überblick  verschaffen  und  dem  Praktiker  ist  ge^au  die  Richiuiig 
angegeben,  die  er  einzuschlagen  hat^  venn  er  a«f  eine  erfolgreiciie 
Desinfektion  seiner  Hand  rechnen  wilL 

Die  Wirkung  der  Heifiwaaser-Alkohol-Desinfektion  setzt 
si^  aus  mthrenen  Komponenten  znsammen,  deren  eincelne  keinen 
genügenden  Erfolg  erzielen ,  während  richtige  AnfeinandedSolge  und 
Znsammenwirken  den  Erfolg  der  Keitnabtotung  bte  in  die  tf^ren 
Schichten  mit  sich  bringen. 

1.  Durdi  4ie  der  Allcoholanwendung  vorausgehende  Waschung 
der  Hand  mittels  S^ife  und  BCrsie  findet 

a)  *eine  erste  Entfernung  der  oberen  Epithelschichton  ffm^ 

b)  erfolgt  eine  Verseifeog  des  oberfUichlichen  HautVeiites  nnd 

c)  eine  Aufqueltung  der  tieferen  Hautschichten. 

2.  Die  Enifemang  der  obersten  Epitbellagen  wird  ver^nillstindigt 
durch  Abspülen  and  durch  Abreiben  mit  einem  trocknen 
mS&ig  rauhen  Handtnchie. 

S.  Wird  nun  auf  diese  so  vy>rbereitete  Haut  konzentrierter 
Alkohol  mitreis  Bürste  oder  Flanell  verrieben, 

a)  ^  wirkt  <der  AHGOhol  fettlösend^ 

b)  dringt  infolge  Diffasion  in  «Me  tieferen  Schichten  der  dureli- 
feuchtöten  Haut>  tätet,  wahrsK:heiinlich  durdi  Wasserenteiehung, 
die  dott  lebenden  Bakterfen  und,  indeaa  «r  naoh  «od  nach  die 
nun  obere  Hautsdii<dit  httwt,  ermöglicht 

;  c)  eiii  weiteres  mechanisches  Entfernen  der  nun  femeren  Haai- 

\  schuppen  und  mit  ififien  edner  weiteren  ScMcht  ftakterten. 

;  Wird   die  Händedesinfektion   unter   diesen  Gestehtqnmkten  aus- 

]  gefehlt,  90  maß  der  Erfolg  der  sevn,  dafi  nach  e^iner  spüeren  Auf- 

weichung der  obersten  Schicht  teine,  oder  unter  Umrstäflden  ntn*  apSr- 

[  liehe  Ke^ime  aus  <der  l^fe  tiacfh  oben  traten, 

l  Der  Erfolg  muß  anders  smtfatten,  wenn  in  umgekelniier  IMhcn- 

I  folge  verfahren  wird: 

Wendet  mfifn  erstt  den  Alkohol  bih  ohne  ^vortiei4ge  A»ftwktung 
der  H^aifl,  so  wirkt  er  getbend)  n^riegt  sidh  «ellist  den  Weg  in  die 
treferefi  Schlch^ten,  seJne  fetilöseiide  Eigenschtfft  kann  weniger  wirk- 
sam sein,  und  der  Erfolg  würde  einfach  in  einem  AMwdrsieny  Ent- 
fernen der  oberen  Schiebt  bestehen. 

Jede  nachfolgende  Aufwoichuag,  m^  sie  eiQ^eriiDenieU  durch  ein 
Wassenbad  erfolgen,  mag  sie  bei  Gek^geohek  einer  Openatioo,  auch 
unter  dem  Gummibandschuh  durch  Sohweiüproduktioa  erftrigeo,  oSset 
den  in  der  zweiten  und  tieferen  Schicht  der  Haut  sitzenden  BiJLterJeo 
den  Weg  auf  die  Oberfläche. 


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51]  Der  praktische  Arzt  nad  4ie  Händegefahr.  303 

Bei  dieser  Art  der  Händedesitifekiion  ist  die  Oberfläclie  der  Hand 
fiir  eine  kur^e  Zeit  keiiMrm  oder  gir  sieril;  |e  »ekr  aber  die  Haut 
aufircicbt,  vin  fo  ahlreicber  weniea  cBe  JBikterfen  auf  der  Hand 
werden,  DieaeMetfaode,  die  wiralsSciiaell*Alkofaoldesinfektion*) 
be^idiMii  wollen»  iac  mir  im  Notfali  und  nur  bei  einetn  sehr  kurz 
dauemdeo  Eingriff  za  gebrauciaen. 

Verveodet  man  ohne  vnrhergegaiigene  Aufareiduiog  der  Hand 
sofort  wasserhaltigen  Alkohol,  60— 40%igeny  so  gibt  der  Alkohol  zu- 
siebst Waaaer  zur  AufqueUuag  der  Haut  ab  und  fuhrt  dann  seine  ad- 
stt'ingierende  Wirkung  nieJu  in  dem  Maße  aus,  wie  der  wasserarme. 
Seiae  bakterizide  Wirkung  iu  deoientspoeehend  geringer,  wie  auch 
seiae  Tiefenwirkung.  Es  erklärt  aber  diese  Deuiwig  die  Differenzen 
in  den  ExperlmenteOt  wonaeb  eiiuelne  Uttteraadier  beesens  Resultate 
mit  gering  kon^eiitri^rceoi,  andere  mU  üäiker  konzeatriertem  beob- 
achtet habea» 

Bei  der  Ausführung  der  einzelnen  Akte  der  Hindedes- 
iafektiQQ  siod«  IWAir  3«rfid»$tob«igiuf(g  der  tten  aagefilhrteii  Punkte, 
Einzelheiten  von  Wigh^gUH,  »o^  4er  £rf<rig  gesichert  werden,  und 
»  M  für  taiQU  keine  Frtge:  mmefcer  Mißerfolg  im  Experiment  rührt 
davon  her,  deJD  mf  ^Ufße  Eiüi6lkm»%  «icht  geachiet  ist 

1,  A^n  b^mz9  warwee  W9§s^^  U—4B''  C 


*)  l9  ^pu^Tpr  Zi^lt  9|^$i  Sfi}iviffit>ur^*)  uwl  v..  HtrfT^  Ifir  diese  SchneU- 
desinfel^tion  ein^etretei).  Schuipburg  eippO^blt  diM  ßeifenwaschung  wegzulassen 
and  Alkohol  von  ca.  50  X  mit  Wattebäuschchen  einzureiben.  Die  Keimver- 
aii^eniBg  tetrug  um  99  X.  Bei  der  Versuchsanordnung  Ist  die  langdauernde  Auf- 
▼•ifteog  d^r  H4iid  ia  iiisKlem  Wasser  «aiterlassen.  Aucfc  nSchte  ich  nicht,  wie 
SchyQfturg  e$  ^f^n  )>^  ^j  4ifiP^r  Vi^rsii^bsait  dam  mock  an  der  Hand  befind- 
licben  4)^ohp}  ja^^  EpjtwJPk)u^({9ft«RW4»ng  4j[>sprecben. 

Mit  Recht  fragt  proße^:  ^pWarvin  S^liupiburg  nach  diesen  so  ausgezeichnet 
wirksamen  Prozeduren  noch  die  Anwendung  eiiies  Antiseptikums  vorschlägt,  ob- 
voU  er  diese  selbst  Mr  fiberflüssig  erklärt,  ist  nicht  einzusehen.* 

h>  in  TH  ist  »9  daa  Iu5«hst  OMrk^irdfge  Erseheinuag,  daß  die  meisten 
^^ri^a  tti^lt  ßynjlk^liigpf  ^tff  ^iia  anülehfge  Alkekoldesjafekdon  noch  das 
Sobliinat  fol^eii  )aji§p;),  p\n  J^im^l,  da^  a)s  Häad^esinfiziens  weit  unter  dem  Al- 
kohol rangiert  und  außerdem  viele  N^cht^ile  bl^t. 

Aach  die  neue  von  v.  Herff  eippfoh)ene  Alkohol-Azeton-Desinfektion,  ohne 
▼Arhtsige  Waschung,  hake  ich  ffir  eine  Schnelldesfnfektion.  Ich  bin  gerade  mit 
'^  ^fürwg  b^PMMgt* 

i^it  I^pflit  ^mp9el))t  ßphuffbu^g  %piM  Methode  ffir  Kriegswecke  und  EilfUle. 
Auch  V.  H^rff  bctoi^f  cl^i)  Vpr^fil  «lef  Sclinelligkelt. 

1)  Archiv  für  Klin.  Chirpfjjie,  Bd.  79,  Heft  1.  —  Deutsche  med.  Wochenschr. 
i807,  Nr.  41,  S.  1712.  —  Deutsche  med.  Wochenschr.  1908,  Nr.  8,  S.  330. 

2)  Oerl,  Korresp.  f.  Schweiser  Arzte  1908,  S.  50.  — Hegars  Beitr.  Bd.  12,  S.493. 
^)  brillier  iUiq-  Wapheoschr.  IflOT,  Nr.  28,  S.  889.  —  Munchener  med.  Wochen- 

«lir.  1897,  Nr.  W- 

ZI* 


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364  F.  Ahlfeld,  [52 

2.  Ehe  man  zu  bürsten  beginnt,  schäume  man  die  Hände  tfichtig 
mit  Seife  ein,  reibe  die  Handflächen  beider  Hände  gegeneinander, 
auch  die  Finger  der  einen  Hand  zwischen  die  der  anderen,  krfimme 
die  Finger  der  einen  Hand  krallenartig  in  die  der  anderen,  damit 
auch  die  Fingerkuppen  und  der  Unternagelraum  beim  Waschen  mit 
Seife  genügend  getroffen  werde  und  spüle  die  Seife  zu  wiederholten 
Malen  im  Wasser  ab,  um  diese  Prozedur  mit  Benutzung  frischen 
Wassers  zu  wiederholen. 

3.  Folgt  Nagelkürzung  und  Reinigung  des  Unternagelraums  und 
des  Nagelbetts.  —  Entgegen  der  von  Haegler  vertretenen  und  von 
Engels  akzeptierten  Ansicht,  der  Nagel  solle  3  mm  lang  bleiben, 
plädiere  ich  für  eine  weitgehende  Kürzung,  so  daß  man  mit  Bürste 
und  Flanell  den  Unternagelraum  direkt  treffen  kann. 

4.  Nochmalige  kurze  Waschung  mit  Seife,  Abspülen. 

5.  Abreiben  der  Hand  und  der  einzelnen  Finger  mit  einem  trocke- 
nen Handtuche. 

6.  Nun  folgtder  Hauptakt  der  präliminaren  Reinigung:  das  Bürsten 
mit  einer  nicht  zu  kleinen  kräftigen  Wurzelbürste. 

Die  saubere  Bürste  wird  in  warmem  Wasser  ein  wenig  erweicht 
—  sie  nimmt  dann  besser  die  Seife  an  —  und  nachdem  man  sie 
mehrere  Male  über  die  Seifenfläche  weggeführt  hat,  bürstet  man  die 
Hand,  genau  achtgebend,  daß  auch  jeder  Teil  derselben,  jedes  Fingers, 
an  Zeit  und  Intensität  bei  der  Bürstung  reichlich  bedacht  werde.  Die 
schwer  zu  reinigende  faltenreiche  Haut  des  Handrückens  muß  man 
durch  Faustbildung  straffen  und  auch  jeden  einzelnen  Finger  beim 
Bürsten  bald  einschlagen,  bald  strecken.  Man  denlte  dabei  besonders 
auch  an  den  Daumen,  den  man  für  gewohnlich  nicht  so  stark  zu 
beugen  pflegt.  Ebenso  muß  man  sorgfaltig  darauf  achten,  daß  die 
Bürste  den  Unternagelraum  gehörig  mit  berücksichtigt. 

Diese  Prozeduren  (1—6)  können  bei  Zeitüberfluß  auf  10  Minuten 
und  darüber  ausgedehnt  werden,  unter  wiederholtem  Erneuern  des 
warmen  Wassers.  Jedenfalls  sollen  sie  nicht  unter  5  Minuten  dauern. 

7.  Abspülen  der  Seife  und  Abreiben  der  Hand  und  jedes  einzelnen 
Fingers  mit  einem  trockenen  Handtuche. 

8.  Zur  nun  folgenden  Alkoholdesinfektion  benutze  man  ein  größeres 
Gefäß  und  eine  reichliche  Menge  80— 00%  igen  Alkohols.  Die  Bürste 
muß  vorher  in  Alkohol  gelegen  haben.  Wir  fuhren  sie  in  der  Praxis . 
in  einem  kleinen  Glaszylinder  mit,  der  oben  durch  einen  Kork  ver- 
schlossen ist.  Bei  der  Bürstung  muß  die  Bürste  tüchtig  und  oft  in 
Alkohol  getaucht  werden  und  man  muß  ebenso,  wie  bei  der  Heiß- 
Wasserwaschung,  genau  jeden  einzelnen  Teil  der  Hand  und  jedes 
Fingers  vornehmen,   die  Hand  also  bald  strecken^   bald  beugen,  zur 


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53]  Der  praktische  Arzt  und  die  Händegefahr.  365 

Faust  ballen  und  die  Nagelgegend  besonders  berücksichtigen.    Zeit- 
dauer mindestens  3  Minuten. 

9.  Nach  der  Bürstung  folgt  die  Abreibung  mit  Flanell.  Der  sterile 
Flaoellappen,  30  cm  im  Quadrat,  wird  in  Alkohol  getaucht,  über  die 
zu  desinfizierende  Hand  gestülpt  und  nun  besonders  die  einzelne 
Fingerkuppe  durch  stopfende  und  drehende  Bewegungen  mit  dem 
Alkohol  in  Berührung  gebracht,  die  beste  Methode,  um  bei  kurz  ge- 
schnittenem Nagel  den  Alkohol  unter  die  Nagelkuppe  und  in  das 
Nagelbett  hineinzubringen.    Zeitdauer  2 — 3  Minuten. 

Damit  ist  die  Desinfektion  beendet.  Soll  aber  eine  experimentelle 
Probe  stattfinden,  so  muß  der  Alkohol  aus  der  Haut  mittels  sterilen 
Wassers  ausgelaugt  werden.    Wir  haben  dann  so  verfahren: 

10.  Die  desinfizierte  Hand  wird  unmittelbar  aus  dem  Alkohol  in 
eine  sterile  Waschschüssel,  die  mit  1^/2—21  sterilem,  45°  C.  warmem 
Wasser  gefüllt  ist,  gebracht.  Die  Schüssel  stand  schon  vorher  bereit 
und  ist  mit  einem  sterilem  Leintuch  vollständig  bedeckt.  Das  Tuch 
wird  an  einer  Stelle  etwas  gelüftet  und  die  Hand  schlüpft  aus  dem 
Alkohol  unmittelbar  in  die  Heißwasserschüssel  und  bleibt,  samt  dem 
Vorderarm,  dauernd  vom  sterilen  Tuche  bedeckt. 

Alle  5  Minuten  wird  eine  zweite  gleiche  Schüssel  daneben  gestellt 
und  die  Hand  schlüpft  wiederum  unter  dem  Leinentuche  in  diese 
Schussel.  Wir  haben  meist  drei  Schüsseln  benutzt,  also  15 — 20  Mi- 
outen Zeit  •  auf  die  Aufweichung  und  Auslaugung  der  Hand  verwendet. 

Wird  von  den  9  Manipulationen  nur  eine  nicht  mit  der  nötigen 
Aufmerksamkeit  gemacht  oder  gar  unterlassen,  so  ist  damit  vielleicht 
ein  Grund  gegeben,  daß,  falls  eine  bakterielle  Untersuchung  vorge- 
nommen wird,  das  Endresultat  nicht  nach  Wunsch  ausfallt. 


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Verzeichnis  meiner  und  meiner  Schüler  Arbeiten 
über  Händedesinfektion. 

1805. 

1.  Ahlfeld,  Die  Pflege  der  Hftnde  und   ihre  Vorbereitung  zur  geburtshilflichen 

Untersuchung.    Allgem.  Deutsche  Hebammen-Zeitung  Nr.  7. 

2.  — ,  Welche  Faktoren  sind  bei  der  Desinfektion  der  Hand  xu  berücksichtigen? 

Monatsschrift  für  Geburtsh.  u.  Gynäkol.  Bd.  1,  S.  262. 

3.  — y  Die  Desinfektion   des  Fingers  und  der  Hand   vor  geburtshilflichen  Unter- 

suchungen und  Eingriffen.    Deutsche  med.  Wochenschr.  Nr.  51. 

1886. 

4.  Ahlfeld  und  Vahle,  Die  Wirkung  des  Alkohols   bei  der  geburtsbUflicbcQ 

Desinfektion.    Deutsche  med.  Wocbenschr.  Nr.  6. 
5. ,  Die  Bedeutung  des  Chinosols  als  Antiseptikum.    Zentralblatt  ffir  Gynä- 
kologie Nr.  9. 

6.  Ahlfeld,  Einige  Bemerkungen  zu  der  Arbeit  des  Herrn  LeedhamoGreen:  Ver- 

suche über  Spiritusdesinfektion  der  HInde.    Deutsche  med.  Wocbensebrilt 
Nr.  23. 

7.  Stoltenberg-Lerche,  Zur  Desinfektion  der  HSnde.   Inaug.  Dissert.  Marburg. 

1887. 

8.  Ahlfeld,  Die  Heiflwasser- Alkoholdesinfektion  und  ihre  Einfuhrung  io  die  tU' 

gemeine  Praxis.    Deutsche  med.  Wochenschrift  Nr.  8. 

1888. 
8.  Ahlfeld,   Ober  Desinfektion   der  Hände,   speziell   in   der  Hebammenpraxis. 
Zeitschrift  für  Medizinalbeamte  Nr.  17  u.  18. 

10.  — ,  Thesen  und  Diskussion   auf  der  XV.  Hauptversammlung  des  Preußischen 

Medizinalbeamten-Vereins,  Berlin,  20.  September. 

11.  — ,   Bemerkungen   zu   dem  Aufsatze   des  Herrn  Dr.  Tjaden  über  Desinfektion 

der  Hebammenhände.    Zeitschrift  für  Medizinalbeamte  Nr.  23. 

1888. 

12.  Winckler,  Beitrag  zur  Frage  der  Alkoholdesinfektion.    Inaugural-Disserution 

Marburg. 

13.  Ahlfeld,  Der  Alkohol  als  Desinflziens,  ein  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Haut- 

und  Händedesinfektion.  Monatsschrift  für  Geburtsh.  u.  Gynäk.  Bd.  10,  S.  117. 

14.  ~,  Ein  Nachwort  zur  Puerperalfieberdebatte  des  letzten  Gynäkologenkongresses. 

Zentralbl.  für  Gynäk.  Nr.  26. 

1800. 

15.  Ahlfeld,  Einige  Bemerkungen  zu  den  Tübinger  Händedesinfektions versuchen. 

Zentralbl.  für  Gynäk.  Nr.  37. 


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55]  Literatur.  387 

16.  Ahlfeld,  Scheindesinfektion.    Ein   offenes  ^ort  auf  Herrn  Privatdozenten  Dr. 

Krönigs  »Bemerkungen''.    Zentralbl.  für  Gynäk.  Nr.  45. 

17.  — ,  Der  Seifenspiritus  als  HSndedesinfiziens.    Eine  Antwort  auf  die  Berichtigung 

der  Professoren  Paul  und  Sarwey.    Zentralbl.  für  Gynäk.  Nr.  42. 
IS.  — ,  Prüfung  des  Lysoforms  als  Händedesinfiziens.  Zentralbl.  für  Gynak.  Nr.  51. 

1901. 

19.  Ahlfeld,   Demonstration  meiner  Händedesinfektionsmethode,   mit  kulturellen 

Resultaten.    Verhandl.  der  Deutschen  Gesellschaft  für  Gynäkologie.   Gießen. 

20.  — ,  Die  Desinfektion  der  Hand  des  Geburtshelfers  und  Chirurgen.    Sammlung 

Klin.  Vorträge  Nr.  310/311. 

1902. 

21.  Ahlfeld,     Die    Zuverlässigkeit    der    Heißwasser -Alkohol -Händedesinfektion. 

Monatsschr.  für  Geb.  und  Gyn.  Bd.  16,  S.  843. 

22.  Rieländer,   Der   mikroskopische  Nachweis   vom  Eindringen   des  Alkohols  in 

die  Haut  bei   der  Heißwasser-Alkohol-Desinfektion.    Mit  einem  kurzen  Vor- 
wort von  F.  Ahlfeld.    Zeitschrift  für  Geb.  und  Gyn.  Bd.  47,  Heft  1. 

23.  Fett,   Ein   weiterer  Beitrag   zum   mikroskopischen  Nachweis   vom   Eindringen 

des  Alkohols  in  die  Haut  bei  der  Heißwasser-Alkoholdesinfektion.    Zeitschr. 
für  Geb.  u.  Gyn.  Bd.  47,  Heft  3. 

24.  Ahlfeld,   Ergänzungsblatt  3  und  8  zum   Preußischen   Hebammen -Lehtbuch. 

Lysol,  Seifenkresol,  Kresolseife.    Zentralbl.  für  Gynäk.  Nr.  32. 

1904. 

25.  Ahlfeld,   Lassen   sich   Infektionen   mit  tödlichem  Ausgange   in  Entbindungs- 

anstalten, die  dem  Lehrzweck  dienen,  verhüten?  Zentralbl.  für  Gynäk.  Nr.  33. 

26.  — ,   Plazentalösung  und  Gummihandschuhe.    Zugleich   eine  kurze  Darstellung 

des  jetzigen  Standes  der  Lehre  von  der  Händedesinfektion.    Deutsche  med. 
Vochenschrift  Nr.  50. 

27.  —y  Manuelle  Plazentalösung   ohne   Gummihandschuhe.    ZentralbL  für  Gynäk. 

Nr.  11. 

28.  — ,  Seifenkresol  contra  Lysol.    Deutsche  med.  Wochenschr.  Nr.  51. 

1905. 

29.  Ahlfeld,  Die  Rehabilitierung  der  Hand  als  geburtshilfliches  und  chirurgisches 

Werkzeug.    Deutsche  med.  Vochenschr,  Nr.. 49. 

30.  —,  Die  Sublimatgefahr.    Allgem.  Deutsche  Hebammen-Zeitung  Nr.  5. 

1906. 

31.  Ahlfeld,  Weitere  Beweise   für  die   dauernde  Tiefenwirkung  der  Heißwasser- 

Alkohol-Händedesinfektion.    Deutsche  med.  Woch.  Nr.  42. 

32.  — ,  Kommentar   zu   dem   Aufsatze   Zweifels   in   Nr.  1    des   Zentralblatts  1906. 

Zentralbl.  für  Gynäk.  Nr.  3. 

1908. 

33.  Ahlfeld,  Lysol  und  Kresolseife.    Münchener  med.  Woch.  Nr.  11. 


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SammlkäiuVorträge,  N.F.Nr.492/493.   (Gynäkologie  Nr,  179/180.) 


Taf.L 


Flg.1 


Fig.2 


Verlag  von  Johann  Ambrosius  Barth  in  Leipzig. 


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Samml.  klin,  VorträgBy  N.  F.  Nr,  492/493.  (Gynäkologie  Nr.  1 79/180.) 


Taf.IV. 


Flg.  7 


Flg.  8 


Verlag  von  Jobann  Ambrosius  Bartb  in  Leipzig 

uigiTizea  oy  l^jOOQlC 


SammL  kUn.  Vorträge,  N.  F.  Nr.  492/493.  {Gynäkologie  Nr.  1 79/180,) 


Taf.V. 


FIg.9 


Fig.  10 


Verlag  von  Johann  Ambrosius  Barth  in  Leipzig. 


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SammL  klin.  Vorträge,  N.  F.  Nr.  492/493.  {Gynäkologie  Nr.  1 79/180.)  Taf.  VII 1. 


Flg. 15 


Flg.  16 


Verlag  von  Jobann  Ambrosius  Bartb  in  Leipzig. 

uigitizea  Dy  VjOOQIC 


494/95. 

(Chirurgie  Nr.  145/46.) 

Übet  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  und 
Behandlung  der  Appendizitis.    IL 

Erörtert  an  550  von  Geheimrat  Garre  behandehen  Fällen. 

Von 

Dr.  Ad.  Ebner, 

Königsberg- Pr. 
Schluß  von  Nr.  489/90/91. 


Wenden  wir  uns  nun  der  Betrachtung  der  Fälle  zu,  die  von  1804 
bis  1907  unter  Herrn  Geheimrat  Garr&  an  der  Rostocker,  Königs- 
berger und  Breslauer  chirurgischen  Klinik  zur  Behandlung  gelangt 
sind,  so  haben  wir  es  im  ganzen  mit  550  Fällen  zu  tun,  von  denen 
513  operativ  und  37  konservativ  behandelt  worden  sind.  Die  Bres- 
lauer 177  Fälle  verdanke  ich  einer  Zusammenstellung  von  Herrn 
Dr.  Capelle,  die  nachträglich  organisch  in  meine  Arbeit  von  mir  ein- 
gefügt ist 

Die  operativ  behandelten  Fälle  habe  ich  nach  dem  Stadium,  in 
welchem  die  Operation  stattgefunden  hat,  in  vier  Kategorien  eingeteilt. 
Es  werden  unterschieden  Fälle,  die  operiert  sind: 

a)  im  chronischen  Stadium  ^  Sicherheitsoperation,  die  im  unge- 
fährlichsten Stadium  der  Erkrankung  vorgenommen  wird  und  gleich- 
zeitig dem  Patienten  die  größte  Sicherheit  auf  glatte  und  definitive 
Heilung  bietet. 

b)  im  Stadium  der  zirkumskripten  Periappendizitis  bzw.  der  um- 
schriebenen AbszeObildung  =  Spätoperation  im  Gegensatz  zu  der  Fruh- 
operation  in  den  ersten  48  Stunden. 

c)  im  Stadium  der  diffusen  Periappendizitis  bzw.  ausgebreiteten 
Peritonitis  appendicularis  »  Notoperation,  die  im  Stadium  der  äußer- 
sten Not  erfolgt  aus  der  Notwendigkeit  heraus,  dem  Patienten  noch 

KUn.Vortrigc,  N.  F.  Nr.494/95.    (Chirurgie  Nr.  145/46.)    Juli  1908.  34 


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458  Ad.  Ebner,  [2 

die  letzten  Chancen  bei  der  vorhandenen  Allgemelninfektion  des  Peri- 
toneums zu  bieten. 

d)  Innerhalb  der  ersten  48  Stunden  nach  Beginn  des  Schmerzan- 
falls  =  (absolute)  Frühoperation. 

Ausnahmsweise  iLann  man  bereits  innerhalb  48  Stunden  seit  Be- 
ginn des  Anfalls  vor  einer  mehr  oder  weniger  diffusen  Perlappendi- 
zltls  stehen.  Dann  wurde  die  Notoperation  mit  der  absoluten  Fruh- 
operatlon  zu  Identifizieren  sein. 

Die  Frage  der  Operation  im  Intermediären  Stadium  wird  im  Zu- 
sammenhang mit  den  Spätoperationen  näher  erörtert  werden,  d&  diese 
Fälle  nur  ausnahmsweise  bei  dringender  Indikation  zur  Operation 
gelangten  und  sonst  In  der  Regel  erst  nach  dem  10.  Tage  operativ  an- 
gegangen wurden. 

Nachfolgende  kleine  Tabelle  gibt  eine  gedrängte  Übersicht  über 
die  Frequenz  und  die  Mortalität  der  verschiedenen  Kategorien  in 
den  einzelnen  Jahrgängen.  Die  Zahl  der  gestorbenen  Fälle  Ist  darin 
in  Klammern  beigefügt. 

Sicherheitsop.       Spätop.  Notop.         Frühop.    Nicht  op.        Summa 


1894/95 

— 

3 

— 

— 

— 

3 

1895/96 

— 

2(1) 

2(2) 

— 

2 

6 

1896/97 

2 

10 

— 

— 

3 

15 

1897/98 

6 

5 

— 

— 

4 

15 

1898/99 

5 

9 

1(1) 

— 

2 

17 

1899/00 

9 

9 

3(1) 

— 

1 

22 

1900/01 

14 

3(1) 



— 

2 

19 

1901/02 

22 

9 

3(2) 

— 

3 

37 

1902/03 

29 

10(2) 

3(3) 

— 

1 

43 

1903/04 

43 

9(1) 

2(2) 

1 

1 

56 

1904/05 

53 

12(1) 

2(2) 

3 

4 

74 

1905/06 

49(1) 

2ö(3) 

3 

7 

2 

67 

1906/07 

114(1) 

8(6) 

16 

12(1) 

176 

Summa         346(2)  113(9)  27(19)         27         37(1)  550(31) 

Man  ersieht  aus  obiger  Tabelle  ein  gleichmäßiges  Ansteigen  so- 
wohl der  Fälle  in  ihrer  Gesamtheit,  als  auch  der  chronischen  Fälle 
von  Jahr  zu  Jahr.  Es  ist  dieses  wohl  als  die  Folge  zu  betrachten 
der  nicht  nur  bei  den  Ärzten ,  sondern  auch  im  Publikum  immer 
weiter  verbreiteten  Kenntnis  von  dem  schnellen  und  sicheren  Erfolg 
einer  Operation  namentlich  im  chronischen  Stadium,  gegenüber  der 
unsicheren  Prognose  bezüglich  späterer  Anfälle  bei  konservativer  Be- 
handlung. 


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3]     Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.    45g 

Auffallend  ist  es^  daß  trotzdem  die  Spät-  und  Notoperationen  sich 
der  Zahl  nach  auf  einem  ziemlich  gleichbleibenden  Niveau  bewegen. 
Dieses  konnte  vielleicht  die  Folge  der  immer  zahlreicheren  Eingriffe 
im  chronischen  Stadium  sein,  die  bereits  nach  dem  ersten  Anfall 
vielfach  vorgenommen  werden ,  so  daß  es  naturgemäß  immer  seltner 
zur  Entstehung  der  schwereren  Krankheitsbilder  kommt,  welche  die 
Spat-  und  die  Notoperation  erforderlich  machen« 

Hingegen  bewegt  sich  die  Zahl  der  Frfihoperationen,  welche  erst 
mit  dem  Jahr  1903/04  einsetzt,  in  schnell  aufsteigender  Linie  und 
wird  voraussichtlich  mit  der  immer  größeren  Tendenz  zum  möglichst 
frfihzeitigen  Eingriff  auch  ferner  noch  ansteigen. 

Bezüglich  der  Mortalität  ergibt  naturgemäß  die  Sicherheits- 
operation das  beste  Ergebnis  mit  2  Todesfällen  an  Peritonitis  auf 
346  Operationen.  Das  entspricht  einem  Prozentsatz  von  0,58  Todes- 
fallen, der  mit  den  Ergebnissen  anderer  Statistiken  ziemlich  über- 
einstimmt. 

So  hat  Kümmel  auf  695  Sicherheitsoperationen  4  Todesfälle  = 
0,57%  zu  verzeichnen.  Die  Todesursachen  waren  einmal  Peritonitis, 
zweimal  Lungenembolie  und  einmal  Pneumonie. 

Haber  er  berichtet  aus  der  v.  Eiselsbergschen  Klinik  von  199Sicher- 
Iieitsoperationen  ohne  Todesfall,  ebenso  hat  Mikulicz  in  5  Jahren 
104  Sicherheitsoperationen  ohne  Todesfall  zu  verzeichnen  gehabt. 
Roux  hat  von  702  Sicherheitsoperationen  einen  Fall  an  Ileus  und 
einen  anderen  Patienten  an  Embolie  verloren  =  0,28%  Mortalität. 

Dagegen  hat  Sprengel  auf  eine  erheblich  höhere  Zahl  von  Sicher- 
heitsoperationen 0,86  Todesfälle  zu  konstatieren. 

Hierzu  ist  zu  bemerken,  daß  kleinere  Statistiken  wie  die  von 
Haberer  und  Mikulicz  leichter  günstige  Resultate  liefern  können, 
als  die  größeren,  bei  denen  gewisse  Komplikationen  leichter  das 
Gesamtresultat  trüben  werden.  Man  wird  eben  nie  an  einem  größeren 
Material  aus  verschiedenen  Altersklassen  gewisse  postoperative  Kom- 
plikationen wie  Embolien,  Bronchopneumonien  usw.  ganz  ausschalten 
können.  Diese  Komplikationen  dürften  auch  für  die  Zukunft  die 
Mortalität  der  Sicherheitsoperation  nicht  viel  unter  1%  herunter- 
sinken lassen. 

Wesentlich  höher  gestaltet  sich  nach  unserer  Tabelle  die  Mortalität 
der  Spätoperation  im  Stadium  der  umschriebenen  Periappendizitis. 
Es  kommen  hier  auf  1 13  Operationen  bereits  0  Todesfälle  =  7,9% 
Monalität. 

Ein  fast  gleichartiges  Verhältnis  konnte  Haberer  konstatieren,  der 
auf  51  Fälle  von  Spaltung  periappendizitischer  Abszesse  3  Todesfälle 
=5  5,9%  zu  verzeichnen  hatte. 

34* 


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46Ö  Ad.  Ebner,  [4 

Auch  Silbermark  (Mosettig)  berechnet  bei  den  einfachen  Formen 
der  Periappendizitis  die  Mortalität  ebenfalls  auf  6%. 

Sprengel  hat  5—10%  Mortalität  gefunden,  wobei  er  allerdings 
unterscheidet  zwischen  Früh-  und  Spätoperation  der  umgrenzten  Peri- 
appendizitis. 

Dann  eh  1  hat  in  der  Berliner  chirurgischen  Klinik  auf  44  peri- 
appendizi tische  Abszesse  5  Todesfälle  gefunden  »  11)6%,  welche  Zahl 
noch  die  Kümmeische  Mortalitätsziffer  etwas  übersteigt. 

Nach  diesen  wenigen  Vergleichszahlen  dürfte  die  Durchschnitts- 
ziffer der  Mortalität  bei  operativer  Behandlung  der  umschriebenen 
bzw.  abgekapselten  Entzündung  zwischen  5—10%  schwanken.  Dabei 
ist  zu  berücksichtigen,  daß  das  Material  der  einzelnen  Statistiken  er- 
hebliche Verschiedenheiten  aufweisen  muD.  Der  Begriff  der  um- 
schriebenen Periappendizitis  liegt  zwischen  ziemlich  weiten  Grenzen, 
je  nachdem  die  Umgrenzung  der  Entzündung  früh  oder  spät  erfolgt 
ist,  und  je  nachdem  ein  kleinerer  oder  größerer  Teil  des  Peritoneums 
davon  ergriffen  ist.  Es  kann  sich  demnach  dabei  um  Fälle  von  ganz 
verschiedener  Schwere  handeln. 

Ferner  kann  der  Zeitpunkt  der  Operation  ein  ganz  verschiedener 
sein,  je  nachdem  der  Eingriff  kurz  nach  Vorübergehen  des  interme- 
diären, des  Zwischenstadiums,  also  nach  dem  7.— 8.  Krankheitstage, 
oder  erst  bei  dem  deutlichen  Nachweis  einer  vorhandenen  AbszeO- 
bildung  erfolgt.  Dementsprechend  sind  auch  die  Unterschiede  in  den 
Ergebnissen  der  einzelnen  Zusammenstellungen  zu  erklären. 

Die  höchste  Mortalitätsziffer  finden  wir  naturgemäß  bei  der  Not- 
operation im  Stadium  der  allgemeinen  Periappendizitis  bzw.  Peri- 
tonitis appendicularis  diffusa.  Es  kommen  daselbst  nämlich  auf 
27  Operationen  19  Todesfälle  =  70,4%  mit  tödlichem  Ausgang. 
Sämtliche  geheilten  Fälle  außer  2  sind  in  den  ersten  48  Stunden 
nach  dem  mutmaßlichen  Zeitpunkt  der  Perforation  bzw.  der  akuten 
Verschlechterung  des  Leidens,  alle  übrigen  Fälle  sind  später  zur 
Operation  gelangt.  Um  gleichwertige  Ergebnisse  zu  erzielen,  müßte 
man  für  die  Notoperation  eigentlich  nur  die  Fälle  heranziehen,  die 
später  als  48  Stunden  nach  erfolgter  Perforation  operiert  sind,  da 
dieser  Zeitpunkt  bekanntlich  die  Grenze  bildet  zwischen  günstiger 
und  ungünstiger  Prognose  für  den  weiteren  Verlauf  der  betreffenden 
Fälle.  Nur  darf  man  dabei  nicht  die  Fälle  vor  48  Stunden  schlecht- 
weg als  Frühoperationen  bezeichnen,  sondern  es  empfiehlt  sich,  diese 
Fälle  unter  dem  Namen  der  relativen  Frühoperation  gehen  zu  lassen, 
die  ja  viel  später  nach  Beginn  des  Schmerzanfalles  erst  auf  die  rela- 
tive Indikation  der  Perforation  hin  unternommen  wird  im  Gegensatz 
zu  der   absoluten  Frühoperation,   die  allein  auf  die  absolute  Indi- 


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S\     Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.    461 

katlon  des  Schmerzanfalles  hin  in  jedem  Falle  Innerhalb  der  ersten 
48  Stunden  unternommen  wird.  Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  mit  dem 
Hinzunehmen  der  relativen  Frfihoperation  das  Gesamtresultat  der 
Spätoperation  ein  verschiedenes  sein  wird  je  nach  der  Zahl  der 
Fälle,  die  in  den  ersten  48  Stunden  nach  Eintritt  der  Perforation 
operiert  sind« 

Dementsprechend  erhöht  sich  in  unserer  Tabelle  nach  dem  Aus- 
scheiden der  relativen  Frflhoperationen  die  Mortalität  von  70,4%  für 
alle  Fälle  bis  auf  85%,  während  auf  die  (relative)  Frflhoperation  der 
diffusen  Periappendizitis  bei  unserer  kleinen  Statistik  dann  das  Er- 
gebnis von  14,3%  Mortalität  entfällt. 

Haberer  berichtet  bei  33  Fällen  von  diffuser  Periappendizitis  von 
25  TodesfiUlen.  Das  ergibt  76%  Mortalität  Sprengel  findet  1901 
die  Mortalität  der  freien  Periappendizitis  bei  Frfihoperation  mit  44%, 
bei  Spätoperation  mit  70%.  Im  Jahre  1005  hat  dann  derselbe  Autor 
auf  76  relative  Frflhoperationen  nur  noch  4  Todesfälle  «  4%,  womit 
er  das  Ergebnis  unserer  Aufstellung  erheblich  übertrifft,  während  auf 
160  Spätoperationen  nur  40  Todesfalle  »25%  Mortalität  entfallen. 
Letzteres  Ergebnis  namentlich  muß  als  ein  überaus  gfinstiges  bezeichnet 
werden  und  ist  wohl  mit  auf  die  frühere  Operationszeit  und  die  fort- 
geschrittene Technik  des  Operateurs  zurückzuführen* 

Etwas  schlechter,  aber  immer  noch  relativ  günstig  ist  das  Ergebnis 
bei  Silbermark,  der  auf  die  Frühoperation  10%  und  auf  die  Spät- 
operation der  freien  Periappendizitis  45,9%  Mortalität  findet. 

Wesentlich  höher  ist  bereits  die  Mortalität  bei  Trendelenburg, 
der  auf  86  Fälle  freier  Periappendizitis  mit  55  Todesfällen  auf  64% 
Mortalität  kommt  Und  zwar  heilten  bei  der  Operation  am  ersten 
Tage  86,6%,  am  zweiten  Tage  noch  48%,  später  dann  0%  der  ge- 
samten Fälle.  Damit  übertrifft  Trendelenburg  noch  das  ungünstige 
Ergebnis  unserer  Statistik  der  Notoperation  nach  48  Stunden. 

Dannehl  an  der  Berliner  Chirurg.  Klinik  unterscheidet  bei  seiner 
Aufteilung  zwischen  Appendicitis  perforativa,  gangraenosa,  akut  pro- 
gredienter und  allgemeiner  Periappendizitis.  Fassen  wir  diese  4 
Gruppen  unter  dem  Titel  der  Periappendicitis  destructiva  zusammen, 
so  ergeben  dieselben  auf  57  Operationen  42  Todesfillle  =  74,4  %  Mor- 
talität 

v.  Mikulicz  hatte  1003  auf  24  Fälle  von  freier  Entzündung  nur 
4  Heilungen  =  83%  Mortalität. 

Mit  am  höchsten  kommt  Kümmel  in  seiner  Aufstellung,  der  auf 
82  Operationen  73  Todesfälle  =  89%  Mortalität  konstatieren  konnte. 

Es  schwanken  demnach  die  Mortalitätsangaben  der  Notoperation 
bei  den  einzelnen  Zusammenstellungen  zwischen  25—93%,  je  nach 


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462  Ad.  Ebner,  [6 

der  Zahl  der  früher  oder  später  operierten  Fälle,  welche  darin  ver- 
treten ist,  und  nach  der  Auffassung  des  weiten  Begriffes  der  allge- 
meinen  Peritonitis  seitens  der  Autoren.  Ein  einheitlicheres  Ergebnis 
wird  sich  aus  eben  diesem  Grunde  gerade  bei  der  Notoperation  wohl 
kaum  jemals  erzielen  lassen. 

Kommen  wir  schließlich  zu  der  Mortalität  der  absoluten  Früh- 
operation in  den  ersten  48  Stunden  nach  dem  Beginn  des  akuten 
Schmerzanfalles  überhaupt,  so  finden  wir  dieselbe  in  unserer  kleinen 
Zusammenstellung  von  27  Fällen  mit  dem  befriedigenden  Ergebnis 
von  0%  vertreten.  Den  gleichen  günstigen  Prozentsatz  finden  wir 
auch  von  Nordmann,  C.  Dowd,  Dannehl,  Karewski  und  anderen 
Autoren  angegeben^  während  Mahar  2,4%  und  Israel  2%  Mortalität 
gefunden  hat.  Das  günstige  Ergebnis  unserer  Zusammenstellung  wird 
auf  2,9%  Mortalität  herabgesetzt,  wenn  wir  die  7  Notoperationen 
innerhalb  48  Stunden  nach  der  Perforation  noch  hinzunehmen,  die 
ja  in  die  Kategorie  der  absoluten  Frühoperationen  nicht  eigentlich  zu 
rechnen  sind,  da  sie  zu  einem  anderen  Zeitpunkt  und  aus  anderer 
Indikation  heraus  unternommen  sind. 

Die  Differenz  der  Ergebnisse  bei  den  verschiedenen  Autoren  er- 
klärt sich  hier  wohl  zum  Teil  aus  der  zeitlichen  Verschiedenheit  des 
Beginns  der  Erkrankung  mit  dem  Manifestwerden  der  ersten  Sym- 
ptome derselben.  Der  letztere  Zeitpunkt  kann  naturgemäß  für  die 
klinische  Zeitberechnung  des  Operateurs  der  einzig  maßgebende  sein. 
Da  aber  der  Krankheitsprozeß  oft  schon  eine  Zeitlang  vorher  be- 
standen haben  kann,  so  kann  der  tatsächliche  Zeitraum  vom  Beginn 
der  Erkrankung  bis  zu  der  angeblichen  Frühoperation  oft  auch  ein 
erheblich  längerer  sein  als  48  Stunden.  Daraus  erklären  sich  dann 
einmal  die  auffallend  weit  vorgeschrittenen  pathologischen  Verände- 
rungen, die  bisweilen  so  früh  zu  konstatieren  sind,  und  andererseits 
eben  die  Mortalitätsdifferenzen,  die  einzelne  Statistiken  aufzuweisen 
haben  und  auch  ferner  aufzuweisen  haben  werden. 

Die  Besprechung  der  Mortalität  im  Zwischenstadium,  das  be- 
kanntlich vom  3. — 8.  Krankheitstage  in  der  Regel  gerechnet  wird, 
behalte  ich  mir  für  die  nähere  Erörterung  der  Spätoperationen  vor. 

Wenden  wir  uns  zunächst  der  näheren  Besprechung  der  Sicher- 
heitsoperationen im  chronischen  Stadium  zu,  so  können  wir  die- 
selbe ziemlich  summarisch  gestalten,  da  die  einzelnen  Fälle  mit  we- 
nigen Ausnahmen  nichts  Abweichendes  von  dem  typischen  Krankheits- 
verlaufe bieten. 

Bezüglich  des  Geschlechts  der  Patienten  finden  wir  dem  Ergebnis 
anderer  Aufstellungen  entsprechend  vorwiegend  das  männliche  Ge- 
schlecht betroffen.    Es  entfallen  von  346  Fällen  220  Erkrankungsfalle 


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7]     Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.    463 

auf  das  männliche,  126  Fälle  auf  das  weibliche  Geschlecht.  Das  ent- 
spricht analog  den  anderen  Statistiken  einem  ganz  erheblichen  Unter- 
schied der  beiden  Geschlechter,  nämlich  63,6%  männlichen  und  36^4% 
weiblichen  Patienten, 

Dannehl  hat  in  seiner  Aufstellung  einen  erheblich  höheren  Unter- 
schied, nämlich  135  Männer  und  52  Frauen  gefunden.  Diese  Zahl 
entspricht  einem  Verhältnis  von  72,2%:  27,8%.  Fast  genau  dasselbe 
Prozentualverhältnis  hat  Hoffmann  in  seiner  Sammelstatistik  von 
2131  Fällen  mit  1544  Männern  und  587  Frauen  berechnet.  Er  erhielt 
üämlich  danach  ein  Verhältnis  von  72,4%:  27,6%. 

Auch  Sprengel  hat  in  seinen  zahlreichen  gesammelten  Aufstel- 
lungen der  verschiedensten  Autoren  bis  auf  wenige  Ausnahmen  eine 
fiberwiegende  Beteiligung  des  männlichen  Geschlechts  an  der  Appen- 
dixerkrankung feststellen  können.  Die  Gründe  fGr  diese  Erscheinung 
haben  wir  bereits  bei  der  Ätiologie  der  Erkrankung  des  näheren  be- 
sprochen« 

Dem  Alter  nach  verteilen  sich  die  Patienten  auf  die  einzelnen 
Dezennien  folgendermaßen:  Von  1—10  Jahren:  16  Fälle,  von  11 — ^20: 
98,  von  21—30:  124,  von  31—40:  68,  von  41—50:  27,  von  51—60: 
10  und  von  61 — 70  Jahren  3  Fälle.  Es  ergibt  sich  hieraus  ein  er- 
hebliches Ansteigen  der  Erkrankung  vom  10.  bis  30.  Jahre.  Danach 
erfolgt  ein  ziemlich  steiler  Abfall  der  Frequenz  bis  auf  nur  3  Fälle 
Im  letzten  Dezennium. 

Die  Zahl  der  vorausgegangenen  Anfälle  bewegt  sich  zwischen 
1—17  Anfällen  von  wechselnder  Schwere  und  zwar  war  vorausge- 
gangen 1  Anfall  in  86  Fällen,  2  in  93,  3  in  76,  4  in  38,  5  in  26, 
6  in  14,  7  in  4,  8  in  4,  9  in  1,  11  in  3  und  17  AnFälle  in  1  Falle.  Da- 
nach entfällt  auf  die  Mehrzahl  der  Operationen,  nämlich  255,  eine 
Zahl  von  1—3  vorausgegangenen  Anfällen.  Die  darüber  hinaus- 
gehende Zahl  der  Anfälle  verteilt  sich  auf  nur  91  Fälle.  Man  ersieht 
daraus,  daO  die  Mehrzahl  der  chronischen  Fälle  verhältnismäßig  früh 
zur  Operation  gekommen  ist. 

DerZeitpunkt  der  Operation  liegt  innerhalb  der  ersten9Wochen 
nach  dem  letzten  Anfall  in  208  Fällen.  129  Fälle  verteilen  sich  auf 
die  10.— 50.  Woche  nach  dem  letzten  Anfall,  während  9  Fälle  nach 
1  Jahr  und  noch  später  zur  Operation  gelangten  I 

Die  Behandlungsdauer  der  chronischen  Fälle  beträgt  8  bis 
20  Tage  in  197  Fällen,  21—30  Tage  in  106  Fällen,  31—40  Tage 
in  22  Fällen,  41—50  Tage  in  12  und  51—60  Tage  in  9  Fällen. 
Demnach  liegt  für  die  meisten  Fälle,  nämlich  303  Patienten,  die 
Behandlungsdauer  zwischen  2 — 4  Wochen.  Daß  bei  den  übrigen 
43  Fällen   ein   so   langer  Zeitraum   von  31—60  Tagen  zur  Heilung 


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464  Ad.  Ebner,  [8 

erforderlich  war,  erklärt  sich  daraus,  daß  die  Behaodlungsdauer 
vom  Zeitpunkt  der  Aufnahme  ab  gerechnet  wird,  und  daO  bei  einer 
Anzahl  von  Fällen  erst  eine  gewisse  Zeit  zum  Abklingen  des  letzten 
Anfalles  in  der  Klinik  notwendig  war,  bevor  zur  Operation  ge- 
schritten werden  konnte.  Dazu  kommen  noch  diejenigen  Fälle,  deren 
Heilung  sich  durch  postoperative  Komplikationen  nachträglich  ver- 
zögerte. 

Der  Processus  vermiformis  ist  in  sämtlichen  346  chronischen 
Fällen  entfernt  worden. 

Von  anamnestischen  Angaben  findet  man  die  fibliche  Trias  der 
Appendizitis  fast  in  allen  Fällen  vorausgegangen:  Schmerz  und  Dnick- 
empfindlichkeit  in  der  Regio  ileocoecalis,  mehr  minder  hohes  Fieber 
und  Obstipation.  Seltner  Übelkeit  und  Erbrechen  und  noch  seltner 
Durchfälle  und  Urinbeschwerden. 

Blasenbeschwerden  werden  im  ganzen  in  17  Fällen  angegeben. 
Sie  sind  bedingt  durch  meist  ältere  Adhäsionen  an  der  Blase  als  Re- 
siduen des  Obergreifens  einer  früheren  Entzündung  auf  den  mit  einem 
Peritonealüberzug  bedeckten  Teil  der  Blase.  Der  Prozentsatz  von 
5,0%  dafür  auf  346  Fälle  dürfte  als  auffallend  gering  zu  bezeichnen 
sein. 

Vorausgegangene  Durchfälle  sind  bei  20  Patienten  vermerkt 
=  5,8%.  Einmal  war  der  betreffende  Fall  gleichzeitig  mit  Blasen- 
beschwerden verbunden.  In  2  Fällen  (59  und  194)  war  früher  ein 
Durchbruch  in  den  Darm  erfolgt,  der  sich  durch  Eiterabgänge  im 
Stuhl  äußerlich  manifestierte. 

Schmerzen  in  das  rechte  Bein  ausstrahlend  werden  im  Fall 
108  und  96  angegeben.  Im  letzten  Fall  wurde  auch  gleichzeitig  über 
Schmerzen  geklagt,  die  in  die  rechte  Schulter  ausstrahlten  ähnlich 
einem  Anfall  von  Gallenkolik. 

Eine  Venen thrombose  rechts  gelegentlich  eines  früheren  An- 
falls hatte  Fall  7  vor  4  Jahren  durchgemacht.  Seit  2^/2  Jahren  be- 
stand in  dem  Fall  noch  eine  Eierstockentzündung  links.  Derselbe 
Fall  bekam  dann  während  des  Heilungsverlaufes  nach  der  Appendek- 
tomie eine  Thrombophlebitis  der  Vena  femoralis  links,  die  die  Be- 
handlungsdauer auf  26  Tage  verlängerte.  Das  Nähere  über  diese 
Komplikation  wird  später  besprochen  werden.  Die  gleiche  Kompli- 
kation war  in  3  Breslauer  Fällen  vorausgegangen,  so  daß  sie  mit 
4  Fällen  auf  einen  Prozentsatz  von  1,1  %  kommen. 

Gallenkoliken  ohne  Ikterus  sollen  in  einem  Breslauer  Fall  so- 
wie in  meinem  Fall  46  seit  8  Jahren  bestanden  haben.  In  letzterem 
ist  nur  ein  appendizitischer  Anfall  8  Wochen  vor  der  Aufnahme  mit 
hohem  Fieber  angegeben.    Eine  Revision  der  Gallenblase  auf  Steine 


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9]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.   465 

ist  intra  operationem  nicht  erfolgt  Die  Gallenkoliken  ohne  Ikterus 
dfirften  vielleicht  eher  früheren  katarrhalischen  Appendikularkoliken 
entsprochen  haben,  da  der  Processus  in  diesem  Falle  relativ  hoch 
verlagert  gefunden  wurde.    Der  Prozentsatz  beträgt  mithin  0,6%. 

Das  vorausgegangene  Erbrechen  soll  in  2  Fällen  (2  und  120) 
einen  blutigen  Charakter  gehabt  haben:  ob  als  Folge  eines  gleich- 
zeitig vorhandenen  Magengeschwüres  oder  einer  Schleimhautblutung 
durch  die  Anstrengung  des  vorausgegangenen  Brechaktes  Ist  aus  der 
Krankengeschichte  nicht  zu  ersehen« 

Brustfellentzündung  rechts  mit  reichlicher  Eiterentleerung  per 
OS  war  im  Fall  171  im  AnschluD  an  einen  vor  8  Wochen  vorausge- 
gangenen Appendizitisanfall  aufgetreten  und  bis  zur  Aufnahme  des 
Patienten  in  die  Klinik  spontan  zur  Rückbildung  gelangt.  Ferner  ist 
diese  Komplikation  in  2  Breslauer  Fällen  verzeichnet  ohne  nähere 
Angabe  der  Seite. 

Ein  Typhus  war  in  3  Fällen  vor  1  Jahr  vorausgegangen.  Ob 
dieser  in  einem  ätiologischen  Zusammenhang  mit  der  letzten  Eiiran- 
kung  stehen  könnte,  ist  nicht  zu  sagen,  da  nach  dem  Journal  eine 
Untersuchung  auf  Typhusbazillen  nicht  vorgenommen  ist  Möglich 
erscheint  mir  die  Annahme,  daß  vereinzelt  auch  der  angeblich  voraus- 
gegangene Typhusanfall  bereits  einem  verkannten  Appendizitisanfall 
entsprochen  haben  kann. 

Sicherer  erscheint  ein  solcher  Zusammenhang  mit  einer  Infektions* 
krankheit  schon  im  Fall  168,  wo  der  Anfall  in  direktem  Anschluß  an 
eine  vorausgegangene  Masernerkrankung  mit  hohem  Fieber  als 
erster  Anfall  überhaupt  eingesetzt  hatte.  Sonst  ist  anamnestisch  nur 
noch  in  2  Fällen  ein  Hinweis  auf  eine  vorausgegangene  Infektions- 
krankheit in  Gestalt  einer  Angina  zu  finden. 

Erwähnt  sei  schließlich  noch,  daß  in  je  2  Breslauer  Fällen  , Leber- 
schmerzen mit  Ikterus*,  sowie  Adnexbeschwerden  angegeben 
werden.  — 

Ätiologisch  sind  äußere  Veranlassungen  für  den  Anfall  nur  sehr 
selten,  nämlich  in  5  Fällen  angegeben.  Dieselben  bestanden  3 mal 
in  einem  Stoß  gegen  den  Leib.  In  1  dieser  Fälle  wurden  die  be- 
kannten kleinen  punktförmigen  Hämorrhagien  auf  der  Schleimhaut 
des  Appendix  gefunden.  Ob  dieselben  hier  möglicherweise  auf  das 
Trauma  zurückzuführen  sind,  möchte  ich  nicht  entscheiden,  halte  es 
aber  nicht  für  wahrscheinlich.  In  2  weiteren  Fällen  war  der  Anfall 
nach  schwerer  körperlicher  Anstrengung  bzw.  nach  schwerem  Heben 
und  Tragen  aufgetreten.  In  5  Breslauer  Fällen  sind  Appendizitis  in 
der  Familie  erwähnt;  in  diesen  Fällen  war  fast  immer  die  Länge  des 
Processus  auffallend,  die  einmal  sogar  bis  17  cm  betrug. 


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466  Ad.  Ebner,  [10 

Inzisionen  zirkumskripter  periappendizitischer  Exsudate 
waren  vorausgegangen  in  17  Fällen  «  5%  der  Gesamtzahl. 

Im  Fall  78  hatte  dieselbe  vor  1  Jahr  stattgefunden  und  war  ohne 
Fistelbildung  geheilt. 

Im  Fall  122  war  vor  3  Jahren  ein  periappendizitisches  Exsudat 
inzidiert  worden.  Im  Anschluß  daran  blieb  eine  Fistel  zurück,  die 
sich  nach  0  Monaten  spontan  schloß.  Es  bildete  sich  dann  allmählich 
eine  Narbenhernie  aus,  die  bis  zur  Aufnahme  bestand.  Die  Operation 
ergab  im  Bruchsack  der  Narbenhernie  die  Flexura  hepatica  und  den 
Appendix  mit  grünlich  fibrinösen  Massen  bedeckt.  Die  gegen  die 
Spin.  ant.  sup.  unter  der  Haut  gelegene  Tasche  war  mit  einem  sero- 
fibrinösen  Exsudat  gefüllt 

Im  Fall  159  war  zuerst  eine  Heilung  der  Inzisionswunde  eingetreten. 
Später  brach  die  Narbe  wieder  auf  und  entleerte  eine  Zeitlang  Eiter^ 
um  schließlich  spontan  zu  heilen. 

Eine  Fistel  war  zurückgeblieben  in  5  Fällen.  Im  Fall  203  war 
bei  einem  vor  35  Wochen  vorausgegangenen  Anfall  eine  dreifache 
Inzision  wegen  multipler  Abszeßbildung  notwendig  geworden.  Es 
fand  sich  später  eine  alte  Perforation  an  der  Basis  des  Processus 
vermiformis,  die  wohl  für  die  Fistel  verantwortlich  zu  machen  ist 
Im  Fall  218  waren  früher  2  Abszesse  inzidiert  worden,  ob  eine  Fistel 
zurückblieb  ist  nicht  gesagt  Dagegen  stellte  sich  auch  bei  diesem 
Patienten  im  Laufe  der  weiteren  Zeit  eine  Narbenhernie  ein.  In 
sämtlichen  Fällen  wurde  die  Fistel  bzw.  die  Narbenhernie  durch  die 
Operation  glatt  beseitigt.]^ 

Wenden  wir  uns  nun  dem  intra  operationem  erhobenen  Be- 
fund zu,  so  finden  wir  zunächst  ältere  bzw.  schwerere  Verwachsungen 
in  175  Fällen  =  50,6%  angeführt  Leichtere  Verwachsungen  allein  be- 
standen in  127  Fällen  -  36,7%  der  gesamten  Fälle.  Gar  keine  Ver- 
wachsungen sind  angegeben  in  44  Fällen  «  12,7%. 

Was  die  Veränderungen  am  Appendix  selbst  anbelangt,  so  ist 
eine  Auftreibung  bzw.  Retention  des  Inhalts  in  79  Fällen  ==  22,8%  an- 
gegeben. 

Ulzerationen  ohne  Perforation  finden  sich  in  12  Fällen  =  3,4%. 

Eine  davon  saß  an  der  Spitze  und  befand  sich  kurz  vor  der  Per- 
foration. In  1  Falle  fanden  sich  2  und  in  2  Fällen  fand  sich  1  bis 
unter  die  Serosa  reichende  Ulzeration.  Man  sieht  auch  hier  wieder, 
wie  dringend  bisweilen  die  Indikation  für  einen  operativen  Eingriff  sein 
kann,  ohne  besondere  äußere  Warnungszeichen. 

Perforationen  am  Appendix  ließen  sich  nachweisen  in  44  Fällen 
=  12,7%.  Bezüglich  der  Lokalisation  derselben  finden  wir  12mal  die 
Spitze,  5 mal  die  Mitte  und  11  mal  die  Basis  bzw.  das  untere  Drittel 


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1 1]   Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.   467 

des  Appendix  angegeben.  In  1  Fall  zeigte  nur  noch  eine  binde- 
gewebige Brücke  von  6  cm  Länge  den  Zusammenhang  mit  dem  Frag- 
ment des  Processus  an.  In  3  Fällen  war  die  Spitze  mit  dem  Cöcum 
verwachsen  und  in  dieses  hinein  perforiert.  In  3  Fällen  handelte  es 
sich  auch  um  Perforationen  des  Darmes  in  der  Nähe  des  Processus. 
Und  zwar  bestanden  in  1  Fall  davon  gleichzeitig  2  Perforationen  am 
Dünndarm  und  1  am  Cöcum,  im  zweiten  Fall  eine  Perforation  an 
der  Basis  des  Processus  und  eine  am  Cöcum ,  und  im  dritten  Fall 
bestanden  schließlich  2  Perforationen  am  Dünndarm,  deren  Charakter 
als  Rückperforationen  im  Krankenjournal  in  Erwägung  gezogen  wird. 
Die  gleiche  Entstehungsmöglichkeit  dürfte  auch  für  die  Darmperfora- 
tionen der  beiden  anderen  Fälle  in  Betracht  zu  ziehen  sein.  In  den 
übrigen  Fällen  ist  eine  nähere  Angabe  nicht  vorhanden. 

Eine  Verdickung  der  Wand  des  Processus  wird  hervorgehoben 
in  75  Fällen  =  21,4%.  Kleine  Hämorrhagien  der  Schleimhaut 
sind  erwähnt  nur  in  4  Fällen  =  1,1%. 

Keine    makroskopisch    nachweisbare   pathologische  Ver- 
änderung  am  Processus   fand  sich  in  12  Fällen  =  3,5%,  in  denen 
danach  abgesehen  von  dem  mikroskopischen  Befund,  der  in  den  Jour- 
nalen nicht  verzeichnet  ist,   die  Operation  als  überflüssig  erscheinen 
konnte.   Immerhin  ist  dieser  Prozentsatz  von  3,5%,  in  dem  die  Ope- 
ration vielleicht  nicht  nötig  war,  doch  als  ein  geringer  zu  bezeichnen 
im  Verhältnis  zu  den  Fällen,  ^reiche  sämtlich  die  Operation  dringend 
indiziert  erscheinen  ließen.    Interessant   sind  die  von  Dr.  Capelle 
zusammengestellten   anamnestischen  Angaben  der  7  Breslauer  Fälle 
ohne  makroskopischen   Befund,   welche    ich    hier  kurz   einschieben 
möchte.     Der  erste   derselben   hatte   angeblich  vor  9  Jahren   einen 
einzigen  leichten  Anfall  nach  Trauma  (Bauchaufschwung)  erlebt  und 
kam  wegen   chronischer   Obstipations-   und  Blasenbeschwerden  zur 
operativen  Behandlung.   Bei  dem  zweiten  sprachen  die  von  vornherein 
milden  Beschwerden  ohne  eigentlichen  Anfall   für  eine  sog.  Appen- 
dicitis  larvata.    Bei   dem   dritten  Fall  war  1  Jahr  zuvor  1  schwerer, 
11  wöchentlicher  Anfall  vorausgegangen.    In   3    anderen  Fällen  war 
schon  die  klinische  Diagnose  unklar  geblieben,  einmal  gegen  Hysterie, 
das  zweite  Mal  gegen  eine  gynäkologische  Affektion  (Adnexe)  und  das 
dritte  Mal  gegen  Dickdarmtuberkulose.    Bei  dieser  letzten  Patientin 
waren  seit  1  Jahre  Durchfälle  vorausgegangen  und  ziehende  Schmerzen 
in  der  Blinddarmgegend  zurückgeblieben.    Die  Operation  präsentierte 
einen  klinisch  vorher  festgestellten,  hühnereigroßen,  dem  Cöcum  auf- 
sitzenden Tumor,  der  makroskopisch  aus  schwartigem  Gewebe  bestand 
und  mit  dem  Netz  verwachsen  war.   In  seiner  Nähe  lag  der  Appendix. 
Ferner  klarer  Aszites  im  Peritoneum. 


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468  Ad.  Ebner,  [12 

Die  mikroskopische  Untersuchung  des  schwartigen  Gewebes  (Probe- 
exzision) ergab  keinen  für  Tuberkulose  charakteristischen  Befund. 
Trotzdem  blieb  auch  nach  der  Epikrise  der  Fall  unklar  und  auf  Dick- 
darmtuberkulose suspekt. 

Kotsteine  fanden  sich  insgesamt  in  37  Fällen  »  10,7%.  Davon 
waren  in  8  Fällen  mehrere  Steine  gleichzeitig  vorhanden  und  zwar 
2  Steine  in  4  Fällen,  3  Steine  in  1  Fall  und  4  Steine  in  4  Fällen.  In 
1  Fall  waren  die  Steine  deudich  facettiert.  Die  Gr6ße  der  Steine 
wird  zwischen  erbsengroß  bis  bohnen-  und  mandelgroß,  in  1  Fall  als 
haselnußgroß  angegeben.  In  1  Fall  mit  4  Kotsteinen  im  Processus 
hatten  dieselben  sämtlich  Mandelgröße.  Es  gehört  schon  eine  recht 
starke  Dilatation  des  Appendix  dazu,  um  4  derartige  Steine  beherbei^ en 
zu  können.  Die  Möglichkeit  einer  Druckwirkung  und  Ulzeration  der 
Wand  ergibt  sich  in  solchen  Fällen  wohl  von  selbst  Ober  die  Loka- 
lisation der  Steine  ist  angegeben,  daß  in  6  Fällen  dieselben  außerhalb 
des  perforierten  Appendix  lagen.  Darunter  war  1  Fall  mit  2  Steinen, 
die  beide  außerhalb  des  Appendix  gefunden  wurden.  Der  im  Innern 
des  Processus  gelegene  Stein  saß  in  3  Fällen  über  der  Basis,  in  1  Fall 
in  der  Mitte  und  in  10  Fällen  im  distalen  Ende  bzw.  in  der  Spitze 
des  Processus.  In  den  übrigen  Fällen  ist  die  Lokalisation  des  Steins 
nicht  näher  angegeben.  Auch  hiernach  scheint  entsprechend  den  Zu- 
sammenstellungen anderer  Autoren  die  Spitze  und  danach  die  Basis 
die  Prädilektionsstelle  für  die  Lokalisatton  der  Kotsteine  im  Appendix 
zu  sein. 

Der  Inhalt  des  Processus  wird,  abgesehen  von  Steinen,  ange- 
geben als  kotig  in  11  Fällen,  als  schleimig-kotig  in  10  Fällen,  schlei- 
mig in  20  Fällen,  blutig-schleimig  in  5  Fällen,  eitrig  in  22,  schleimig- 
eitrig in  3  Fällen  und  kotig-eitrig  in  1  FalL  In  1  Fall  fanden  sich 
lebende  Oxyuren  im  Processus.  Man  ersieht  daraus  ohne  weiteres 
entsprechend  dem  chronischen  Stadium  der  Fälle  den  vorwiegend 
schleimigen  Charakter  des  Inhalts  bei  35  Fällen,  während  nur  in 
25  Fällen  der  Inhalt  eine  mehr  eitrige  Beimengung  zeigte.  Ein  Fremd- 
körper im  Appendix  fand  sich  abgesehen  von  dem  Fall  mit  Oxyuren 
nur  in  1  Fall  in  Gestalt  zweier  Haare,  daneben  war  dünner  Kot  vor- 
handen. In  2  Fällen  wird  angegeben,  daß  kein  Inhalt  gefunden  sei. 
Strikturen  des  Processus  werden  angegeben  in  72  Fällen.  Loka- 
lisiert waren  dieselben  an  der  Basis  28mal,  an  der  Spitze  24 mal,  in 
der  Mitte  14  mal.  In  5  Fällen  ist  eine  Angabe  über  die  Lage  nicht 
enthalten.  In  1  Falle  bestanden  2  Strikturen  gleichzeitig,  von  denen 
eine  an  der  Basis  und  die  andere  an  der  Spitze  saß.  Über  die  Ätio- 
logie derselben  ist  nur  in  5  Fällen  angegeben,  daß  sie  von  Narben 
herrühren.   Bei  den  übrigen  muß  es  unentschieden  bleiben,  wie  viele 


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13]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.   469 

durch  narbige  Veränderungen  von  innen  heraus,  wie  viele  anderer- 
seits durch  adhäsive  Abschnürungen  und  Knickungen  von  außen  her 
ihren  Ursprung  genommen  haben. 

Eine  Obliteration  des  Lumens  war  vorhanden  in  50  Fällen 
=  14,4%  der  Fälle.  Entsprechend  der  Lage  der  Strikturen  saß  sie 
ebenfoUs  am  häufigsten  an  der  Basis  und  Spitze,  nämlich  in  21  bzw. 
15  Fallen.  In  der  Mitte  war  sie  am  seltensten,  nämlich  9 mal  lokali- 
siert. In  5  Fällen  war  das  Lumen  des  gesamten  Appendix  in  toto 
obliteriert.  Eine  besondere  Veranlassung  für  diese  ausgedehnte  Ob- 
literation des  Lumen  ist  aus  den  Krankengeschichten  nicht  zu  er- 
sehen. 

Die  Lage  des  Appendix  ist  angegeben  in  124  Fällen.  Richten  wir 
uns  nach  den  in  den  Krankengeschichten  gewählten  Bezeichnungen, 
so  lag  der  Appendix  nach  innen  oben  22  mal,  nach  innen  unten  29  mal, 
nach  innen  4mal,  nach  innen  hinten  3mal,  nach  hinten  13mal,  nach 
hinten  oben  31  mal,  nach  hinten  unten  44mal,  nach  hinten  außen  7mal, 
nach  vorne  oben  3mal,  nach  vorne  unten  8mal,  nach  unten  außen 
14mal,  nach  oben  außen  2mal,  nach  oben  6mal.  In  3  Fällen  war  der 
Processus  sehr  hoch  (oberhalb  der  Nabellinie)  gelegen.  Danach  ist 
ßr  unsere  Fälle  am  häufigsten  die  Lage  des  Processus  nach  hinten 
unten  (44),  nach  hinten  oben  (31),  dann  nach  innen  unten  (29),  und 
innen  oben  (22).  Die  übrigen  Richtungen  werden  nur  in  ganz  ge- 
ringer und  ziemlich  gleichbleibender  Zahl  (2—13)  vom  Processus  ein- 
genommen. 

Die  Haltung  des  Processus  wird  beeinflußt  durch  seine  Länge, 
deren  Angaben  in  unseren  Fällen  zwischen  2^/2—16  cm  schwanken, 
durch  die  Größe  des  Mesenteriolums  und  vornehmlich  durch  voraus- 
gegangene, ihn  fixierende  Verwachsungen,  als  Folge  früherer  Ent- 
zündungszustände.  Diese  begünstigen  naturgemäß  die  Entstehung  von 
Knickungen  und  Retentionen  und  letztere  führen  dann  im  Circulus 
vitiosus  wieder  zu  neuen  Entzündungsnachschüben.  Genauere  An- 
gaben über  die  Haltung  des  Appendix  sind  enthalten  in  74  Fällen. 
Darunter  lag  eine  Knickung  an  der  Spitze  in  16  Fällen,  in  der  Mitte 
in  12,  und  an  der  Basis  in  5  Fällen  vor.  In  16  weiteren  Fällen  ist 
die  genauere  Lage  der  Knickungsstelle  nicht  näher  angegeben.  In 
5  Fällen  war  der  Processus  zusammengeknäult  bzw.  aufgerollt,  in 
2  Fällen  schneckenförmig  gekrümmt.  In  6  Fällen  wies  der  Pro- 
cessus eine  S-formige  Krümmung  um  seine  Achse  auf,  in  7  weiteren 
Fällen  wird  er  als  spiralig  gewunden  bzw.  geschlängelt  bezeichnet.  In 
2  Fällen  war  er  an  der  Knickungsstelle  in  seiner  Kontinuität  nur  noch 
durch  eine  6  cm  lange  bindegewebige  Brücke  verbunden.  In  1  Falle 
wird  die  Haltung  als   „posthornförmig'   bezeichnet.     Eine   doppelte 


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470  Ad.  Ebner,  [14 

Knickung  lag  in  4  Fällen  vor,  derart  daß  der  Processus  in  seiner  Lage 
der  Form  eines  Dreiecks  entsprach.  In  sämtlichen  Fällen  war  der 
Processus  in  seiner  Lage  durch  mehr  weniger  zahlreiche  Adhäsionen 
fixiert  und  wies  mehrfach  deutliche  Retentionserscheinungen  auf. 

Größere  Exsudatreste  bzw.  kleine,  ältere  Abszeßhöhlen 
wurden  in  57  Fällen  gefunden  «  16,5%.  Die  Größe  der  Abszeßhöhlen 
schwankte  zwischen  Linsen-  bis  Pflaumengröße.  In  einem  Fall  war 
der  Processus  in  einen  faustgroßen  Tumor  von  Exsudatresten  einge- 
bettet. In  einem  anderen  Fall  fand  sich  eine  Tuberkulose  der  rechten 
Adnexe,  sowie  reichliche  Verwachsungen  der  verdickten  Tube  mit  dem 
Cöcum.  Die  Adnexe  wurde  ebenfalls  exstirpiert.  Der  Processus 
selbst  wies  nur  geringfügige  Verwachsungen  und  sonst  keine  makro- 
skopisch erkennbaren  Veränderungen  auf.  Nach  dem  Befunde  dfirfte 
es  sich  in  dem  Falle  wohl  primär  um  eine  rechtsseitige  Adnextuber- 
kulose  gehandelt  haben,  die*  erst  sekundär  zu  einer  Aifektion  des 
Processus  geführt  hat.  Die  Lage  der  Exsudatreste  befand  sich  im 
Becken  4mal,  am  Cöcum  13mal,  darunter  2mal  retrocöcal,  am  Ap- 
pendix selbst  24  mal,  darunter  eine  zweite  Abszeßhöhle  an  der  Wirbel- 
säule; zwischen  herangezogenen  verklebten  Dünndarmschlingen  2  mal, 
am  Mesenteriolum  4  mal,  in  dem  einen  Fall  mit  kleinen  Fettnekrosen 
verbunden.  Letztere  dürften  vielleicht  als  Folge  thrombotischer  Ge- 
fäßverschlüsse aufzufassen  sein.  In  19  Fällen  ist  über  Lokalisation 
der  vorhandenen  Exsudatreste  nichts  Näheres  angegeben.  Bezüglich 
der  Breslauer  Fälle,  bei  denen  die  bakteriologische  Untersuchung  der 
Eiterreste  regelmäßig  stattgefunden  hat,  bemerkt  Dr.  Capelle,  daß 
diese  Reste  keineswegs  immer  steril  gefunden  wurden.  So  konnten 
in  einem  Falle  Kolibazillen,  in  einem  anderen  Falle  sogar  Strepto- 
kokken gezüchtet  werden,  trotzdem  dieser  letzte  Fall  erst  nach  einem 
3  Monate  langen  anfallsfreien  Zeitraum  zur  Operation  kam.  Auf  die 
12  Fälle  der  Breslauer  Klinik  berechnet  würden  diese  2  Fälle  einem 
Prozentsatz  von  16,6%  entsprechen,  der  jedoch  bei  der  geringen 
Zahl  der  Fälle  einen  besonderen  Wert  wohl  kaum  beanspruchen 
dürfte. 

Der  Fall  124  allein  verdient  es  wegen  seines  eigenartigen  Befundes 
näher  angeführt  zu  werden.  Von  vornherein  lag  in  dem  Fall  zunächst 
der  Verdacht  auf  einen  Tumor  vor.  Der  Patient  klagte  nur  über 
Schmerzen  in  der  rechten  Leistenbeuge  beim  Gehen.  Palpatorisch 
konnte  man  einen  überhühnereigroßen,  steinharten,  beweglichen  Tumor 
über  dem  Lig.  Poupartii  in  den  Bauchdecken  konstatieren.  Die  Haut 
über  demselben  war  verschieblich.  Der  Muse,  rectus  drängte  bei 
Kontraktionen  den  Tumor  nach  außen.  Die  Operation  ergab  die  Mus- 
l(ulatur  über  dem  Tumor  sulzig  verändert.    Der  Darm  saß  zwischen 


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15]   Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.   471 

Fase,  transversa  und  Peritoneum,  war  der  ersteren  fest  adhSrent  und 
auch  vom  Peritoneum  nicht  abzulösen.  Er  entsprach  dem  von  oben 
in  den  Tumor  ziehenden  Appendix.  Die  Hauptmasse  des  Tumors 
bestand  aus  außerordentlich  derbem  Sehnengewebe,  an  welchem  ein 
Stfick  Darmwand  fest  angewachsen  war.  Die  Darmschleimhaut  ließ 
sich  in  einen  Kanal  verfolgen,  der  anscheinend  dem  Appendix  ent- 
sprach. In  der  Nähe  der  Spitze  bestand  im  Bindegewebe  ein  fistulöser 
Abszeß,  der  in  eine  walnußgroße  buchtige  Höhle  überging.  Der  Tumor 
wurde  zusammen  mit  dem  Appendix  entfernt.  Trotz  der  Tamponade 
trat  dann  später  noch  ein  Bauchdeckenabszeß  auf,  dem  völlige  Heilung 
nachfolgte.  Nach  diesem  Befunde  könnte  es  sich  hier  um  eine  pri- 
märe properitoneale  Hernie  des  Appendix  in  der  Bauchwand  geban- 
delt haben,  bei  der  es  erst  sekundär  zur  entzündlichen  Veränderung 
des  Appendix  und  seiner  Umgebung  gekommen  ist  Wenigsteps 
scheint  mir  diese  Annahme  wahrscheinlicher,  als  der  Vorgang  einer 
primären  Periappendizitis  mit  Verlötung  des  Processus  am  Peritoneum 
der  Bauchwand  und  allmählicher  Perforation  des  Peritoneum  parietale 
als  Folge  der  Abszedierung.  Wie  es  dann  nachträglich  zur  properi- 
tonealen  Verlagerung  des  entzündeten  und  mit  höchster  Wahrschein- 
lichkeit seiner  Umgebung  adhärenten  Appendix  gekommen  sein  könnte, 
ist  mir  nicht  recht  erfindlich. 

Der  Verlauf  der  Fälle  nach  der  Operation  war  in  266  Fällen 
»76,8%  ohne  jede  Störung  und  ohne  Fieber.  Eine  Dränage  der 
Wunde  war  in  23  Fällen  notwendig  und  zwar  in  15  Fällen  wegen 
zurückgebliebener  Abszesse  und  Exsudatreste,  in  3  Fällen  wegen  Ein- 
reiOens  des  brüchigen  Appendix  während  der  Auslösung  desselben 
aus  den  Verwachsungen. 

Die  Einnähung  der  Abszeß  wand  in  die  Bauchwunde  wurde 
bei  einem  intramural  am  Cöcum  gelegenen  Abszeß  gemacht. 

Die  Eröffnung  der  alten  Narbe  mit  Tamponade  wurde  nur  Imal 
am  12.  Tage  nach  der  Operation  zur  Ableitung  eines  retrocöcal  ge- 
legenen Abszesses  notwendig. 

Die  Sekundärnäht  mit  Anfrischung  der  Wundränder  konnte 
uach  5  Tagen  im  Fall  122,  in  dem  es  sich  um  eine  Narbenhernie  mit 
Appendix  im  Bruchsack  handelte,  gemacht  werden.  Der  Fall  heilte 
dann  per  primam. 

Störungen  an  der  Wunde  selbst  traten  ISmal  auf.  Es  fand  sich 
eine  Fadeneiterung  in  8  Fällen,  ein  Hämatom  der  Bauchdecken  in 
2  Fallen,  ein  Bauchdeckenabszeß  in  8  Fällen.  In  dem  einen  der  letzten 
beiden  Fälle  handelte  es  sich  um  einen  Exsudatrest  an  der  Basis  des 
Appendix,  in  dem  anderen  Fall  um  einen  Appendix,  der  mit  4  Steinen 
und  Eiter  gefüllt  war.    Außerdem  ist  1  Fall  hervorzuheben ,  bei  deng 


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472  Ad.  Ebner,  [16 

sich  post  op.  ein  tiefer  Abszeß  bildete,  der  spontan  in  die  Blase  durch- 
brach und  dann  zur  glatten  Heilung  kam. 

Störungen  seitens  der  Lungen  traten  in  16  Fällen  »  4,6% 
ein.  Es  fand  sich  eine  Lungenembolie  leichteren  Grades  3mal,  eine 
Pleuritis  exsudativa  dextra  2mal  (darunter  Imal  infolge  alter  Lungen- 
tuberkulose), leichte  Bronchitis  purulenta  4 mal,  eine  Pneumonie  der 
rechten  Seite  7 mal,  zum  Teil  sehr  leicht.  Wieweit  bei  den  Lungen- 
komplikationen die  Narkose,  die  fast  stets  mit  Äther  ausgeführt  wurde, 
beteiligt  sein  kann,  läßt  sich  aus  den  Krankenblättern  nicht  entschei- 
den. In  der  Regel  handelt  es  sich  dabei  um  eine  von  der  Bauchhohle 
aus  aufsteigende  Infektion  durch  die  Lymphgefäße  des  Zwerchfells  hin- 
durch, seltener  durch  kleine  Gefäßembolien,  als  deren  Voraussetzung 
eine  Infektion  der  Lymphgefäße  in  der  Umgebung  des  Processus  an- 
zunehmen ist  Wo  diese  jedoch  bei  dem  Fehlen  jeglicher  Exsudat- 
reste nicht  als  wahrscheinlich  anzunehmen  ist,  muß  man  wohl  an  eine 
Beteiligung  der  Narkose  dabei  durch  Infektion  der  Lungen  auf  dem 
Aspirationswege  denken. 

Eine  Thrombophlebitis  der  Vena  femoralis  fand  sich  insge- 
samt in  9  Fällen  =  2,6%.  Dieselbe  war  entsprechend  den  bisherigen 
Erfahrungen  in  der  Mehrzahl  der  Fälle,  nämlich  6mal  auf  der  linken 
Seite  gelegen.  Der  eine  Fall  hatte  bereits  vor  4  Jahren  gelegentlich 
eines  Anfalles  eine  Thrombose  der  Femoralis  rechts  durchgemacht. 
Der  Fall  ist  bereits  oben  bei  der  Besprechung  der  Anamnesen  naher 
erwähnt  worden.  Die  Behandlungsdauer  wurde  durch  diese  Kom- 
plikation nur  in  1  Falle  auf  83  Tage  verlängert,  die  übrigen  Falle 
gelangten  trotzdem  in  24 — 28  Tagen  zur  Heilung.  Hinsichtlich  der 
Ätiologie  bieten  sämtliche  Fälle  nichts  Besonderes  dar,  es  sei  denn 
der  Umstand,  daß  in  sämtlichen  Fällen  der  Schnitt  am  äußeren  Rek- 
tusrand  angelegt  ist  Dieses  ist  von  besonderem  Interesse  für  die 
Erklärung  der  Genese  gerade  der  linksseitig  gelegenen  Trombosen  der 
Vena  femoralis,  die  von  Witzel  angegeben  ist.  Danach  kann  es  bei 
gleichzeitiger  Ligatur  der  Art.  und  Vena  epigastrica  zu  einer  Gerinnung 
in  den  Wurzeln  der  Ven.  epigastrica  kommen,  deren  Fortsetzung  nach 
der  linken  Bauchseite  auf  dem  Wege  der  Ven.  epigastrica  sinistra 
zur  Thrombose  der  Ven.  femoralis  sinistra  fuhren  kann.  Es  liegt  auf 
der  Hand,  daß  der  Schnitt  am  äußeren  Rektusrand  leicht  zu  einem 
derartigen  Vorgang  die  Veranlassung  abgeben  kann,  insofern  bei  veit- 
greifenden Hautnähten  zufällig  einmal  die  Ven.  und  Art.  epigastrica 
gleichzeitig  mitgefaßt  und  ligiert  werden  kann.  Von  selteneren  Kom- 
plikationen sind  schließlich  noch  aus  der  Breslauer  Klinik  postopera- 
tive Stenosenerscheinungen  in  der  Cöcalgegend  zu  nennen,  die  2mal 
beobachtet  wurden  und  nach  3—4  Tagen  spontan  verschwanden.  Ferner 


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17]   Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.   473 

trat  2inal  ein  intermittierender  Ikterus  auf,  der  wohl  auf  katarrhali- 
sclier  Grundlage  zustande  gekommen  ist. 

Interessant  dürfte  zum  Schluß  noch  neben  einer  näheren  Erörterung 
der  tötlich  verlaufenen  Fälle  die  Fieberkurve  eines  Patienten  aus  der 
Breslauer  Klinik  sein,  der  im  Anfall  zur  Aufnahme  gelangte.  Er  hatte 
ein  periappendizitisches  Exsudat  mit  Fiebertemperatur  bis  39^  und 
einen  der  Temperatur  entsprechend  beschleunigten  Puls.  Plötzlich 
zeigte  Temperatur  und  Puls  bei  dem  Patienten  einen  steilen  Ab- 
fall, die  Temperatur  blieb  einige  Tage  unter  36"",  der  Puls  unter  35 
Schlägen  pro  Minute,  ohne  daß  Anzeichen  vorhanden  waren,  die  für 
eine  Perforation  eines  Abszesses  in  die  Blase  oder  Mastdarm  ge- 
sprochen hätten.  Der  Fall  ist  dann  komplikationslos  in  das  Sicher- 
heitsstadium gekommen. 

Gehen  wir  schließlich  noch  auf  die  beiden  tödlich  verlaufenen 
Falle  etwas  näher  ein,  so  handelte  es  sich  bei  dem  ersten  derselben 
ttts  der  Königsberger  Klinik  um  einen  22jährigen  Patienten,  der  bereits 
3  Anfalle  durchgemacht  hatte  und  10  Wochen  nach  dem  letzten  Anfall 
zur  Operation  gelangte.  Klinisch  wurde  bei  dem  Patienten  eine 
hfihnereigroße  Resistenz  in  der  Ileocöcalgegend  festgestellt.  Die  Ope- 
ration ergab  folgenden  Befund:  Das  Cöcum  war  in  reichlichen,  alten 
Verwachsungen  der  Bauchwand  adhärent,  bei  Lösung  derselben  wurde 
eine  eitrige  Lymphdrüse  eröffnet.  Der  Appendix  lag  nach  hinten  und 
lateral  vom  Cöcum,  seine  Spitze  war  in  eine  Granulationshöhle  der 
Wand  am  Cöcum  eingebettet.  Nach  Entfernung  des  Appendix  und 
Auskratzung  der  Höhle  wurde  die  Operation  durch  Tamponade  der 
Höhle  beendet.  Der  Patient  starb  an  einer  allgemeinen  Peritonitis, 
die  wohl  ihren  Ausgang  von  der  eröffneten  eitrigen  Lymphdrüse  ge- 
nommen haben  dürfte. 

Bei  dem  zweiten  Todesfall,  der  aus  der  Breslauer  Klinik  stammt, 
handelte  es  sich  um  einen  22jährigen  Arbeiter,  der  im  6wöchentlichen 
Intervall  nach  dem  ersten  schweren  Anfall  operiert  wurde.  In  ope- 
ratione,  die  durch  einen  zu  klein  angelegten  pararektalen  Schnitt  er- 
schwert wurde,  lagen  Dünndarmschlingen  mit  starken  Adhäsionen 
vor,  die  nach  unten  und  lateral  teilweise  an  das  Peritoneum  parietale 
heranzogen.  Die  Lösung  dieser  Adhäsionen  machte  große  Schwie- 
rigkeiten, ebenso  die  Entwicklung  des  Appendix,  der  10  cm  lang,  nach 
unten  lateral  umbog  und  mit  der  Spitze  fest  fixiert  war.  Bei  der 
Losung  der  Adhäsionen  wurde  eine  Dünndarmschlinge  angerissen, 
die  Läsion  ging  bis  auf  die  Mukosa  und  wurde  übernäht.  Der  Patient 
ging  2  Tage  nach  der  Operation  an  einer  Allgemeininfektion  des 
Peritoneums  zugrunde.  Epikritisch  wurde  angenommen,  daß  bei  der 
Lösung  der  Verwachsungen  höchstwahrscheinlich  eine  noch  infektiöse 

KUn.  Vortrage,  N.  F.  Nr.  494/05.    (Chirurgie  Nr.  145/46.)    Juli  1906.  35 


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474  Ad.  Ebner,  [18 

Eiterhöhle  eröffnet  sei,  und  daß  diese  die  tödliche  Peritonitis 
veranlaßt  habe.  Abgesehen  davon  stellte  die  Autopsie  noch  eine 
Unterlappenpneumonie  fest. 

Wenden  wir  uns  nun  den  Fällen  zu,  welche  im  Stadium  der  zir- 
kumskripten Periappendizitis  bzw.  der  abgekapselten  Ab- 
szeßbildung zur  Operation  gelangt  sind,  so  verteilen  sich  dieselben 
auf  eo  männliche  und  43  weibliche  Patienten  =  61,6%  :  38,4%,  gegen 
63,2%  :  36,4%  bei  den  chronischen  Fällen. 

Die  Fälle  verteilen  sich  auf  die  einzelnen  Altersdezennien  folgen- 
dermaßen: 1.— 10.  Jahre  11  Fälle,  11.— 20:  24,  21.— 30.:  29,  31. — 40.: 
22,  41.— 50.:  13,  51.-60.:  9,  61.-70.:  3  und  71.— 80.  Jahre  1  FalL 
Auch  hier  halten  sich  die  Zahlen  vom  2.-4.  Dezennium  ziemlich 
gleichmäßig,  um  dann  steil  wieder  abzufallen. 

Die  Zahl  der  vorausgegangenen  Anfälle  bewegt  sich  zwischen 
1—6  Anfällen  von  verschiedener,  meist  als  sehr  heftig  geschilderter 
Intensität  der  Erscheinungen  und  zwar  ist  vorausgegangen  nur  1  An- 
fall in  93  Fällen,  2  in  12,  3  in  4,  4  in  1,  5  in  1  und  6  Anfalle  in 
ebenfalls  1  Fall.  Es  fällt  ohne  weiteres  ins  Auge  die  weit  fiber- 
wiegende Zahl  von  93  Fällen,  bei  denen  1  Anfall  von  solcher  Schwere 
vorausgegangen  war,  daß  im  Gefolge  desselben  der  operative  Ein- 
griff in  Gestalt  einer  Spätoperation  notwendig  wurde.  Es  stimmt 
dieses  mit  der  mehrfach  beobachteten  Erfahrungstatsache  überein, 
daß  gerade  die  ersten  Appendizitisanfälle  vielfach  die  schwersten  zu 
sein  pflegen. 

Der  Processus  wurde  entfernt  nur  in  22  Fällen  »19,8%  und 
wurde  zurückgelassen  in  90  Fällen  =  80,2%,  entsprechend  dem  allge- 
mein üblichen  und  anerkannten  Grundsatz,  den  Processus  nur  dann 
zu  entfernen,  wenn  sich  dieses  ohne  längeres  Suchen  und  ohne  Lösung 
schützender  Adhäsionen  ermöglichen  läßt. 

Bezüglich  des  Zeitpunktes  der  Operation  empfiehlt  es  sich, 
hier  von  vornherein  einen  Unterschied  zu  machen  zwischen  den  Fällen, 
die  wir  nach  der  heutigen  Auffassung  als  Intermediäroperationen  be- 
zeichnen müssen,  und  den  Spätoperationen  im  eigendicben  Sinne.  Als 
Intermediäroperation  bezeichnet  man  bekanndich  die  Operation  in 
demjenigen  Stadium,  welches  nach  Richardson  für  die  Frühoperation 
zu  spät  und  für  die  Spätoperation  zu  früh  ist.  Dieses  „Zwischen- 
stadium"",  wie  wir  es  nennen  wollen,  liegt  also  zeidich  zwischen  der 
Früh-  und  Spätoperation  der  Periappendizitis. 

Anatomisch  läßt  sich  der  Begriff  des  Zwischenstadiums  genau  um- 
grenzen als  Zeitraum  vom  Beginn  der  Miterkrankung  des  Peritoneums 
bis  zum  Abschluß  des  Entzündungsvorganges  gegen  das  freie  Peri- 
toneum.   Zeidich  läßt  sich  naturgemäß  dieser  Zeitraum  nicht  so  gensu 


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19]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.    47$ 

umgrenzen,  da  namentlich  für  den  Endtermin  desselben  zu  viel  ver- 
schiedene und  wechselnde  Faktoren  in  Betracht  kommen,  wie  Virulenz 
der  Infektionserreger  bzw.  Intensität  des  Entzündungsvorganges,  Wider- 
standsfähigkeit des  Peritoneums,  Verhalten  des  Patienten  und  auch 
des  Arztes  in  diesem  Stadium  u.  a.  m.  Dementsprechend  wird  auch 
von  verschiedenen  Autoren  die  Länge  des  Zwischenstadiums  ver- 
schieden berechnet.  Der  Beginn  wird  allgemein  vom  3.  Tage  der 
Erkrankung  ab  gerechnet.  Der  Endtermin  schwankt  zwischen  dem 
6. — 10.  Tage  der  Erkrankung.  Sprengel  schlagt  auf  Grund  seiner  um- 
fassenden Erfahrungen  vor,  das  Zwischenstadium  nur  bis  zum  Beginn 
des  6.  Tages  zu  rechnen.  Andere  Autoren  rechnen  bei  ihren  Aufstel- 
lungen mit  dem  8. — 10.  Tage.  Dieser  Zeitraum  vom  6. — 10.  Tage  ist 
wohl  mit  Sicherheit  als  die  Grenze  des  Zwischenstadiums  gegen  das 
Spätstadium  zu  bezeichnen.  An  welchem  Tage  innerhalb  dieser  Zeit 
am  häufigsten  ein  vollständiger  Abschluß  des  peritonealen  Entzündungs- 
vorganges stattzufinden  pflegt,  läßt  sich  nach  den  bisherigen  Angaben 
noch  nicht  sicher  entscheiden.  Wir  werden  daher  am  besten  als 
Mittel  des  fraglichen  Zeitraumes,  den  8.  Tag  für  unsere  Betrachtungen 
als  Endtermin  des  Zwischenstadiums  zu  wählen  haben. 

Um  präzise  Resultate  zu  erhalten  verlangt  Sprengel,  daß  man 
nicht  die  Gesamtzahl  der  Fälle,  sondern  nur  die  gesonderten  Resultate 
derjenigen  Fälle  heranziehen  müsse,  welche  im  Zwischenstadium  bei 
freier  oder  umschriebener  (aber  noch  nicht  abgeschlossener)  Mitbe- 
teiligung des  Peritoneums  zur  Operation  gelangt  sind.  Sprengel  hat 
nach  diesem  Prinzip  102  vom  3. — 5.  Tag  operierte  Fälle  eingeteilt 
Darunter  befinden  sich  38  Fälle  mit  freier  Peritonitis  und  18  Todes- 
fallen und  64  Fälle  mit  umschriebener  Beteiligung  des  Peritoneums 
und  2  Todesfallen.  Er  hat  danach  im  Gegensatz  zu  anderen  Autoren 
die  äußerst  niedrige  Mortalitätsziifer  von  3  %  für  die  Zwischenopera- 
tion berechnen  können. 

Die  Gegner  dieser  Anschauung,  wie  Körte,  Kümmel,  Garr^, 
V.  Eiseisberg,  Sonnenburg  u.  a.  führen  gegen  dieselbe  efne  er- 
höhte Infektionsgefahr  des  Peritoneums  bei  operativem  Vorgehen  in 
diesem  Stadium  an  und  stützen  sich  dabei  auf  die  vqn  den  meisten 
beobachtete  erheblich  höhere  Mortalität  8—16%  nach  operativem  Ein- 
griff. Sie  schlagen  vielmehr  ein  individualisierendes  Vorgehen  von 
Fall  zu  Fall  vor,  indem  sie  sich  nur  auf  mehr  weniger  dringende 
Indikationen  bzw.  deutliche  Anzeichen  einer  akuten  Verschlimmerung 
hin  in  diesem  Stadium  zum  operativen  Eingriff  entschließen.  In  den 
übrigen  Fällen  halten  sie  es  für  zweckmäßiger  und  sicherer,  die  Pa- 
tienten erst  in  das  Spätstadium  überzuführen,  da  ihnen  dieses  für  den 
notwendigen  operativen  Eingriff  geeigneter  erscheint. 

35* 


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476  Ad.  Ebner,  [20 

Hierbei  ist  jedoch  der  Umstand  in  Betracht  zu  ziehen,  daß  unter 
dieser  Voraussetzung  nur  die  schweren,  auf  dringende  Indikationen 
hin  operierten  Fälle  für  die  Resultate  im  Zwischenstadium  in  Betracht 
kommen.  Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  danach  die  Resultate  schlechter 
sein  müssen,  als  bei  denjenigen  Autoren,  die  ohne  Auswahl  auch  mit 
Einschluß  der  leichteren  Fälle  im  Zwischenstadium  operieren.  Eine 
Beweiskraft  für  die  Entscheidung  der  prinzipiellen  Operation  im 
Zwischenstadium  kann  man  somit  diesen  Zusammenstellungen  kaum 
unterlegen.  Immerhin  wird  auch  hier  eine  Gegenüberstellung  der 
Zwischenoperationen  und  Spätoperationen  bzw.  der  Heilerfolge  eines 
allgemeinen  Interesses  nicht  entbehren. 

Von  den  gesamten  112  Fällen  unserer  Zusammenstellung  nach 
48  Stunden  sind  von  dem  3. — 8.  Tage  seit  Beginn  des  Anfalles  zur 
Operation  gelangt  24  Fälle.  Von  diesen  sind  2  Fälle  gestorben,  von 
denen  nach  der  Anamnese  der  eine  am  6.  Tage,  der  andere  am 
4.  Tage  operiert  wurde.  Im  ersten  Falle  wurde  wegen  einer  Ex- 
sudatansammlung im  Douglas  die  Inzision  und  Dränage  per  rectum 
gemacht.  Später  wurde  die  Spaltung  einer  Bauchdeckenphlegmone 
und  verschiedener  metastatischer  Abszesse  der  Haut  notwendig.  Im 
Eiter  fanden  sich  Staphylokokken  und  Stäbchen.  Der  Patient  ging 
an  multiplen  Abszessen  zugrunde.  Inwieweit  man  durch  ein  gleich- 
zeitiges Eingehen  von  oben  her  den  Prozeß  hätte  beeinflussen 
können,  ist  nachträglich  kaum  zu  entscheiden.  Der  zweite  tödlich 
verlaufene  Fall  zeigte  bei  der  Aufnahme  eine  deutliche  Facies  ab- 
dominalis, leicht  gespanntes  Abdomen,  sowie  eine  große  Resistenz 
in  der  rechten  Beckenseite.  Die  Temperatur  betrug  38"*,  der  Puls 
128  Schläge  in  der  Minute.  Die  Operation  ergab  vorliegende,  frisch 
verklebte  Netzpartien,  sowie  von  oben  herkommenden  stinkenden 
Eiter  an  der  Außenseite  des  Cöcums.  Der  Abszeßherd  wurde  nicht 
gefunden.  Der  Patient  starb  am  4.  Tage  an  fortschreitender  Peri- 
tonitis. Ein  Obduktionsbefund  ist  nicht  vorhanden.  Hiernach  würde 
auf  tmsere  24  Zwischenoperationen  eine  Mortalität  von  8,3%  ent- 
fallen. 

Ausgenommen  bzw.  nicht  berechnet  sind  hierbei  die  Fälle,  welche 
mit  einer  entzündlichen  Beteiligung  des  gesamten  Peritoneums  zur 
Operation  gelangten,  und  die  auch  nach  der  Auffassung  von  Sprengel 
für  die  Beurteilung  der  Zwischenoperation  fortfallen  müssen,  da  für 
diese  die  Prognose  nach  48  Stunden  heute  kaum  noch  als  zweifelhaft 
gelten  kann.  Dieselben  sind  später  unter  einer  besonderen  Kategorie 
zusammengefaßt.  Es  kommen  hier  auf  17  Fälle,  die  vom  3.-7.  Tag 
nach  der  Perforation  operiert  sind,  tatsächlich  auch  nur  2  Heilungs- 
fälle, was  einer  Mortalität  von  82,2%  entspricht. 


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21]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.    477 

Von  den  übrigen  89  Fällen  nach  48  Stunden  wurden  operiert  in 
der  2.  Woche  21  Fälle,  in  der  3,  Woche  24,  4.  Woche  13,  5.  Wochel2, 
6.  Woche  5,  8.  Woche  3,  9.  Woche  1,  10.  Woche  3,  11.  Woche  und 
spater  7  Fälle. 

Auf  dieselben  entfallen  im  ganzen  7  Todesfälle,  was  einer  Mortali- 
tät von  7,9%  entsprechen  wQrde.  Wir  finden  also  bei  dieser  kleinen 
Anzahl  von  Fällen  ein  Fallen  der  Mortalität  um  nur  0,4%  gegenüber 
den  operativen  Eingriffen  im  Zwischenstadium,  ein  Umstand,  der  zum 
mindesten  die  Entscheidung  der  Frage  nicht  gegen  die  Zwischen- 
operation beeinflussen  dürfte. 

Die  Behandlungsdauer  der  gesamten  113  Fälle  schwankt  zwi- 
schen 6 — 116  Tagen.  Dieselben  verteilen  sich  folgendermaßen:  Die 
Dauer  der  Behandlung  betrug  1—10  Tage  in  4  Fällen,  11—20  Tage 
in  13,  12—30  in  25,  31—40  in  26,  41—50  in  16,  51—60  in  9,  61—70 
in  8,  71—80  in  2,  81—90  in  3,  91—100  in  2,  101—110  in  2  und 
111—120  Tage  in  3  Fällen. 

Danach  liegt  für  die  Mehrzahl  der  Fälle  die  Behandlungsdauer 
zwischen  11—70  Tagen,  und  nur  bei  12  Fällen  erstreckt  sich  die  Be- 
handlung über  70  Tage  hinaus.  Bei  2  von  den  Fällen  mit  einer  Be- 
handlungsdauer unter  10  Tagen  handelte  es  sich  in  dem  einen  um 
eine  rektale  Punktion,  die  einige  Tropfen  Eiter  lieferte,  während  die 
nachfolgende  Inzision  ein  negatives  Resultat  ergab.  Nach  afebrilem  Ver- 
lauf trat  Heilung  ein.  Bei  den  anderen  Fällen  trat  innerhalb  der  ersten 
lOTage  der  Exitus  an  sekundärer,  difl\iser,fibrinös-eitriger  Peritonitis  ein. 

In  den  übrigen  Fällen  wurde  vielfach  erst  längere  Zeit  nach  der 
Aufnahme  operiert,  bis  ein  Abklingen  der  akuten  Erscheinungen  zu 
konstatieren  war.  Daraus  erklärt  sich  die  lange  Behandlungsdauer 
der  betrefiPenden  Fälle. 

Bezüglich  der  Ätiologie  sind  Angaben  nur  in  9  Fällen  vorhanden. 
In  2  Fällen  wird  ein  Diätfehler  bzw.  starkes  Trinken,  im  3.  und  4. 
Fall  schwere  körperliche  Arbeit  als  Ursache  des  Anfalls  beschuldigt. 
Im  5.  Fall  hatte  der  Patient  bei  einem  Fall  mit  dem  Revolver,  den  er  bei 
sich  trug,  einen  Stoß  gegen  den  Leib  erhalten.  10  Tage  später  stellten 
sich  die  ersten  Beschwerden  ein.  Im  6.  Falle  hatte  Patient  vor  4  Wochen 
eine  vereiterte  Verletzung  an  der  Sohle  des  rechten  Fußes  gehabt. 
Vor  3  Wochen,  also  8  Tage  später,  hatten  die  ersten  Symptome  der 
Erkrankung  eingesetzt.  Inwieweit  im  letzten  Fall  ein  tatsächlicher  Zu- 
sammenhang beider  Erkrankungen  besteht,  ist  mit  Sicherheit  nicht 
festzustellen.  Immerhin  scheint  hier  eine  solche  Annahme  nach  dem 
Prinzip  post  hoc  ergo  propter  hoc  nicht  unberechtigt.  Ferner  werden 
2 mal  Abführmittel  und  Imal  eine  vorausgegangene  doppelseitige  Par- 
otitis als  Ursache  bzw.  als  verschlimmerndes  Moment  erwähnt. 


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478  Ad.  Ebner,  [22 

Von  den  anamnestischen  Angaben  der  einzelnen  Falle  dürfte 
folgendes  von  Interesse  sein. 

Spontanperforationen  waren  dem  operativen  EingrifiP  voraus- 
gegangen insgesamt  in  8  Fällen.  Davon  waren  per  rectum  2  Per- 
forationen erfolgt:  im  Fall  6  vor  3  Jahren  und  im  Fall  73  8  Tage  vor 
der  Aufnahme  ohne  wesentliche  Besserung  der  Erscheinungen.  Per- 
forationen in  die  Blase  hatten  in  2  Fällen  stattgefunden.  Fall  6,  der 
vor  3  Jahren  eine  Rektumperforation  durchgemacht  hatte,  entleerte 
5  Tage  vor  der  Operation  plötzlich  reichliche  Eitermengen  mit  dem 
Urin.  Dieselbe  Erscheinung  zeigte  auch  Fall  44  am  2.  Tage  nach  der 
Aufnahme.  Im  letzteren  Fall  war  die  vordere  Vaginalwand  der  Pat. 
stark  geschwollen  und  empfindlich.  Im  zystoskopischen  Bilde  sah  man 
an  der  vorderen  Blasenwand  rechts  von  der  Mittellinie  ein  rundliches, 
pfennigstfickgroOes  Geschwfir  von  bläulich-roter  Farbe ,  anscheinend 
geschlossen.  Merkwürdigerweise  wird  gerade  in  diesem  Fall  in  der 
Anamnese  ausdrücklich  angegeben ,  daß  keine  Blasenbeschwerden 
vorher  bestanden. 

Schließlich  war  noch  eine  Perforation  in  die  Vagina  Imal  und  in 
die  Bauchwand  in  2  Fällen  vorausgegangen.  Im  Fall  20  hatte  eine 
solche  am  Nabel  vor  3  Tagen  stattgefunden,  nachdem  bereits  seit 
3  Monaten  iSchmerzen  um  den  Nabel  herum  bestanden  hatten.  Aus 
der  Perforationsstelle  in  der  Haut  entleerte  sich  ziemlich  reichlich  übel- 
riechender Eiter,  welcher  seine  Herkunft  leicht  erraten  ließ.  Die 
Operation  ergab  in  der  Abszeßhöhle  einen  freien  Kotstein.  2  vor- 
ausgegangene Perforationsstellen  in  der  Bauchwand,  deren  Zeitpunkt 
sich  anamnestisch  nicht  bestimmen  ließ,  wurden  in  Fall  56  durch 
Inzision  rechts  von  der  Linea  alba  freigelegt.  Dieselben  fährten  direkt 
in  eine  hühnereigroße  zwischen  den  Därmen  gelegene  Abszeßhöhle. 
Unter  fieberhaftem  Verlauf  wurde  dann  später  noch  eine  zweite  In- 
zision in  der  Mittellinie  notwendig,  worauf  die  weitere  Heilung  des 
Falles  ohne  Störung  verlief. 

Das  prozentuale  Verhältnis  der  vorausgegangenen  Perforationen 
auf  die  Gesamtzahl  der  113  Fälle  berechnet  sich  danach  auf  7,1%. 

Urinbeschwerden  bestanden  in  11  Fällen  »  9,7%.  Dieselben 
waren  in  4  Fällen  durch  einen  vorhandenen  Douglasabszeß  bedingt. 
Im  Fall  46  reichte  die  große  Abszeßhöhle  bis  zur  Symphyse.  Im 
Fall  48  lag  ein  Abszeß  vor  der  Blase  dicht  über  der  Symphyse.  Im 
Fall  54  reichte  die  sehr  große  Eiterhöhle  hinter  der  Blase  bis  zur 
linken  Inguinalgegend  hinüber  und  nach  unten  bis  an  das  Rektum 
heran.  Im  Fall  57  und  59  ist  nur  ^  von  einem  großen  Abszeß  der 
rechten  Beckenschaufel  die  Rede,  dessen  Grenzen  nicht  näher  ange- 
geben werden.    Im  Fall  66  war  auch  nach  der  ErÖfi^nung  der  Bauch- 


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23]    Ol>ci'  <len  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.   479 

höhle  ein  Infiltrat  überhaupt  nicht  zu  finden.  Der  Fall  gelangte  im 
Jahr  1897/98  zur  Operation.  Man  suchte  damals,  um  eine  weitere 
Infektionsmöglichkeit  des  Peritoneums  auszuschließen,  nicht  weiter 
nach  dem  Appendix,  und  es  trat  dann  nach  einem  Abfall  der  vorher 
fieberhaften  Temperatur  eine  glatte  Heilung  ein.  Ob  es  sich  in  diesem 
Fall  überhaupt  um  eine  Periappendizitis  gehandelt  hat,  dürfte  danach 
fiist  zweifelhaft  erscheinen,  wenigstens  bietet  der  angegebene  Opera- 
tionsbefund keine  sicheren  Anhaltspunkte  für  diese  Annahme  dar. 
In  sämtlichen  Fällen  erklären  sich  auch  hier  die  Beschwerden  durch 
ein  Übergreifen  des  Entzündungsprozesses  auf  die  Blase,  soweit  ein 
solcher  überhaupt  nachzuweisen  war. 

Schmerzen  in  der  rechten  Brustseite  mit  Atmungsstörung 
und  hohem  Fieber,  also  eine  rechtsseitige  pleuritische  Aifektion  war 
im  Fall  8  eingetreten,  nachdem  bereits  4  Wochen  vorher  in  der 
Rückengegend  und  im  Leibe  rechts  wechselnde  Schmerzen  bestanden 
hatten.  Die  Operation  ergab  in  dem  Fall  gleichzeitig  einen  sub- 
phrenischen  Abszeß  rechts,  von  dem  augenscheinlich  die  Lungen- 
aflPektion  ihren  Ausgang  genommen  hatte.  Der  Fall  entspricht  0,9% 
der  Gesamtzahl. 

Durchfälle  abwechselnd  mit  starker  Obstipation  waren  in  22 
Fallen  »  19,5%  vorausgegangen.  In  1  Falle  bestand  seit  Beginn  der 
Erkrankung  ein  Ausfluß  aus  der  Harnröhre,  über  dessen  mikrosko- 
pischen Charakter  nichts  Näheres  angegeben  ist.  Es  handelt  sich  in 
dem  Fall  um  einen  Douglasabszeß,  der  durch  eine  Mitbeteiligung  der 
Prostata  vielleicht  die  Veranlassung  dazu  gegeben  hat.  Urinbeschwer- 
den, die  an  eine  gleichzeitige  Gonorrhöe  denken  lassen  könnten,  be- 
standen in  dem  Falle  nicht. 

In  3  Fällen  soll  das  vorausgegangene  Erbrechen  schließlich  einen 
fäkulenten  Charakter  angenommen  haben,  wohl  als  Folge  einer 
Verlegung  des  Darmlumens  durch  den  Druck  der  Exsudatmenge. 

Unbeweglichkeit  bzw.  Flexionskontraktur  des  rechten  Beines 
bestand  in  7  Fällen.  Dieselben  werden  im  Zusammenhang  mit  den 
postoperativen  Komplikationen  näher  besprochen  werden. 

Wenden  wir  uns  nun  der  klinischen  und  anatomischen  Be- 
trachtung unserer  Fälle  zu,  so  empfiehlt  es  sich  wohl,  zunächst  die 
9  gestorbenen  Fälle  im  Zusammenhang  zu  besprechen. 

Von  diesen  können  wir  zunächst  Fall  9  ausscheiden,  der  an  einer 
akzidentellen  Todesursache  zugrunde  ging.  Es  handelte  sich  dabei 
um  eine  ziemlich  frische  Exsudatbildung  in  der  Höhe  der  rechten 
Spin.  ant.  sup.  mit  geringem  Fieber,  die  ungefähr  die  Größe  eines 
Eies  hatte.  Der  adhärente  entzündlich  veränderte  Appendix  war  in 
die  Eiterhöhie  eingebettet.  Der  Heilungsverlauf  war  völlig  reaktionslos. 


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480  Ad.  Ebner,  [24 

Der  betreifende  Patient  war  jedoch  in  seinem  Beruf  als  Reisender 
starker  Potator  gewesen  und  ging  infolgedessen  am  6.  Tage  post  op. 
an  einer  akuten  Herzschwäche  elend  zugrunde;  hinzufugen  möchte  ich, 
obwohl  die  Narkose  nicht  mit  reinem  Chloroform,  sondern  mit  Billroth- 
scher  Mischung  gemacht  worden  war  und  nicht  übermäßig  lang  ge- 
dauert hatte.  Der  Fall  kommt  somit  für  die  Mortalität  unserer 
Statistik  eigentlich  in  Fortfall  und  ist  eher  unter  die  Kategorie  der 
Spätchloroformtodesfälle  zu  rechnen. 

Gleichzeitig  ausscheiden  müßte  auch  der  Fall  84,  bei  dem  es 
fraglich  erscheint,  ob  eine  Periappendizitis  überhaupt  mit  im  Spiel 
gewesen  ist  Der  Fall  bot  klinisch  durchaus  das  Bild  einer  solchen 
Erkrankung  dar  mit  einem  gänseeigroßen  fluktuierenden  Exsudat  auf 
der  rechten  Beckenschaufel,  fieberhafter  Temperatur  und  einer  gleich- 
zeitigen Flexionskontraktur  des  rechten  Oberschenkels.  Das  Exsudat 
war  bis  unterhalb  des  Lig.  Poupartii  nachweisbar,  weshalb  hier  auch 
zunächst  die  Inzision  vorgenommen  wurde.  Dieselbe  entleerte  reich- 
lich dicken,  kotigen  Eiter  aus  einer  von  dicken  Schwarten  umgebenen 
Höhle  oberhalb  des  Lig.  Poupartii.  Von  dieser  aus  hatte  eine  Senkung 
längs  des  rechten  Schenkelkanals  stattgefunden,  so  daß  die  Schenkel- 
gefaße  freigelegt  waren.  Infolge  weiterer  Eitersenkung  längs  der 
Schenkelgefäße  wurde  dann  noch  eine  Inzision  am  Oberschenkel  not- 
wendig. Der  Fall  ging  am  10.  Tage  post.  op.  an  zunehmender  Herz- 
schwäche zugrunde.  Die  Sektion  ergab  ein  Karzinom  des  Cöcum. 
Da  auch  hierbei  der  Appendix  nicht  gefunden  wurde,  läßt  sich  weder 
für  noch  gegen  das  gleichzeitige  Vorhandensein  einer  Appendizitis 
eine  bestimmte  Entscheidung  treffen.  Als  primäre  Ursache  der  Krank- 
heitsvorgänge ist  hier  jedoch  in  jedem  Fall  wohl  das  bestehende 
Cöcumkarzinom  anzusehen,  das  ja  möglicherweise  sekundär  zu  einer 
Affektion  des  Appendix  geführt  haben  könnte. 

War  in  diesem  Falle  das  bestehende  Karzinom  übersehen  worden, 
so  ging  umgekehrt  der  Fall  49  an  den  Folgen  einer  irrtümlich  auf 
Karzinom  gestellten  Diagnose  zugrunde.  Die  klinische  Untersuchung 
ergab  in  der  Lumbaigegend  eine  bewegliche  Dämpfung  ohne  eine 
deutlich  fühlbare  Resistenz.  Per  rectum  fühlte  man  einen  das  ganze 
kleine  Becken  einnehmenden,  teigigen  Tumor,  der  nicht  sicher  ge- 
deutet werden  konnte.  Die  Laparotomie  in  der  Lin.  alba  entleerte 
freie,  blutigseröse  Flüssigkeit.  In  der  Ileocöcalgegend  fand  sich  ein 
von  fest  verklebten  Darmschlingen  umgebener  Tumor,  der  als  ein 
Karzinom  angesprochen  wurde.  Im  Mesenterium  mehrere  harte  Drüsen, 
die  scheinbar  diese  Diagnose  bestätigen  mußten.  Da  eine  Entero- 
anastomose  unmöglich  war,  wurde  ein  Anus  praeternaturalis  angelegt. 
10  Tage    später    trat    unter  fieberfreiem   Verlauf  der  Exitus   unter 


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25]   Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.   481 

Erscheinungen  von  Herzschwäche  ein.  Die  Sektion  ergab  einen  alten 
periappendizitischen  Abszeß  ohne  Perforation  des  Appendix  und 
eine  sekundäre,  diffuse  fibrinös-eitrige  Peritonitis,  die  ihren  Ausgang 
von  dem  alten  Abszeß  genommen  hatte.  Eine  richtige  Erkennung  des 
Operationsstatus  bzw.  eine  rechtzeitige  Entleerung  de^  Abszesses  hätte 
hier  wohl  den  bedauerlichen  Ausgang  verhindern  können. 

Von  den  übrigen  6  Todesfällen  bieten  4  das  typische  Bild  mul- 
tipler metastatischer  Abszesse  dar,  während  2  an  fortschreiten- 
der Peritonitis  zugrunde  gingen. 

Im  Fall  5  war  bei  dem  32jährigen  Pat.  zunächst  ein  Douglas- 
abszeß per  rectum  inzidiert  und  dräniert  worden.  10  Tage  später 
vurde  die  Spaltung  eines  Abszesses  per  abdomen  notwendig.  Im 
weiteren  Verlauf  wurde  noch  die  Spaltung  einer  Bauchdeckenphlegmone 
und  verschiedener  Hautabszesse  gemacht  Im  Eiter  wurden  Staphylo- 
kokken und  Stäbchen  nachgewiesen.  Der  Pat.  erlag  schließlich  nach 
30tägiger  mühe-  und  qualvoller  Behandlung  der  fortschreitenden  In- 
fektion.   Eine  Sektion  wurde  nicht  gestattet. 

Im  Fall  22  wurden  zunächst  per  abdomen  3  Abszesse  eröffnet. 
Der  Appendix  war  dicht  unter  der  Spitze  perforiert.  Er  wurde  am- 
putiert und  enthielt  in  seinem  Innern  einen  Kotstein.  Trotz  des  bis 
auf  geringe  Temperaturen  fieberfreien  Verlaufs  wurde  weiter  die  In- 
zision  eines  periumbilicalen,  dann  eines  retroperitonealen  und  schließ- 
lich noch  zweier  intraperitonealer  Abszesse  notwendig.  Der  Pat. 
starb  nach  116tägiger  Behandlung.  Die  Sektion  ergab  einen  weiteren 
Abszeß  links  oberhalb  des  Zwerchfells  und  multiple  Leberabszesse 
neben  difiiiser  Bronchitis. 

Im  Fall  41  wurde  durch  Schrägschnitt  eine  mit  gashaltigem,  stin- 
kendem Eiter  gefällte  Höhle  auf  der  rechten  Beckenschaufel  eröffnet. 
Der  Appendix  ragte  in  die  Höhle  hinein  und  wurde  amputiert.  Von 
der  ersten  erfolgte  die  Eröffnung  einer  zweiten  nach  links  hinüber- 
reichenden Höhle,  die  ca.  1  L.  gleichartigen  Eiters  enthielt.  Gegen- 
inzision,  Dränage  und  Tamponade.  Nach  3  Wochen  Verschlechterung 
und  Tod.  Die  Sektion  ergab  auch  hier  multiple,  eitrige  intraperitoneale 
Herde.  Daneben  eine  Thrombose  beider  Ven.  iliacae,  die  bis  in  die 
Unterschenkel  reichte. 

Die  letzten  3  Fälle  stammen  aus  der  Breslauer  Klinik.  Der  eine 
von  ihnen  war  am  13.  Tage  nach  Beginn  der  Erkrankung  der  Eröff- 
nung eines  großen  Douglasabszesses  per  rectum  unterzogen  worden. 
Der  Tod  erfolgte  4  Tage  nach  der  Operation  unter  den  klinischen 
Erscheinungen  der  Peritonitis.  Die  Autopsie  ergab  neben  einem 
großen  Abszeß,  der  die  ganze  rechte  Bauchhälfte  vom  Subphrenium 
bis  zur  Fossa  iliaca  ausfüllte  und  gegen  die  übrige  Bauchhöhle  durch 


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482  Ad.  Ebner,  [26 

Adhäsionen  geschlossen  war,  multiple  kleinere  Abszesse  zwischen  den 
verklebten  Dfinndarmschlingen.  Der  Appendix  war  mit  einer  Darm- 
schlinge  verklebt  und  zeigte  eine  erbsengroße  Perforation  in  der  Mitte« 

Die  2  anderen  Fälle  gingen  beide  an  fortschreitender  Peritonitis 
zugrunde.  Der  eine  war  am  4.  Tage  nach  Beginn  der  Erkrankung 
zur  AbszeOinzision  gelangt  und  ist  bei  den  Zwischenoperationen  näher 
beschrieben  worden.  Der  andere  Fall  war  5  Tage  nach  Beginn  der 
Erkrankung  mit  erhöhter  Temperatur  und  Puls,  sowie  einer  faust- 
großen Resistenz  in  der  rechten  Unterbauchgegend  zur  Aufnahme  ge- 
kommen. Unter  konservativer  Behandlung  trat  am  12.  und  13.  Tage 
eine  plötzliche  Exazerbation  der  Erscheinungen  mit  Schfittelfrost  und 
peritonitischen  Symptomen  ein,  denen  eine  vorübergehende  Besserung 
folgte.  Am  19.  Tage  war  eine  deutliche  Vergrößerung  des  Exsudates 
nachweisbar,  die  Inzision  rechts  ergab  einen  kleinen  von  reichlichen 
Adhäsionen  umgebenen  Abszeß  auf  der  rechten  Beckenschaufel,  sowie 
median  im  Becken  eine  Resistenz,  die  auf  Punktion  Eiter  entleerte, 
worauf  daselbst  inzidiert  und  eine  Abszeßhöhte  entleert  wurde.  Der 
Patient  starb  am  7.  Tage  nach  der  Operation  unter  dem  klinischen 
Bilde  der  fortschreitenden  Peritonitis.  Die  Autopsie  ergab  eine 
Pelveoperitonitis  purulenta  mit  allgemeiner  fibrinöser  Peritonitis. 
Außerdem  fanden  sich  Netzadhäsionen,  eine  partielle  Obliteration  des 
Appendix,  Hepatitis,  vereinzelte  Abszesse  in  den  beiderseitigen  unteren 
Lungenlappen  und  doppelseitige  Pneumonie.  Man  darf  den  üblen 
Ausgang  des  Falles  demnach  wohl  mit  Recht  auf  die  sekundäre 
Spontanperforation  eines  zunächst  abgekapselten  Abszesses  in  die 
freie  Bauchhöhle  zurückführen,  und  die  Annahme  ist  nicht  von  der 
Hand  zu  weisen,  daß  dieser  unglückliche  Zufall  bei  einer  weniger 
konservativen  Behandlung  sich  vielleicht  hätte  vermeiden  lassen. 
Der  Fall  spricht  somit  für  die  radikalere  Anschauung  bezüglich  eines 
operativen  Vorgehens  im  Zwischenstadium,  welche  dadurch  so  früh 
wie  möglich  die  eigentliche  Causa  nocens  zur  Ausschaltung  bringen 
und  den  Patienten  vor  derartigen  traurigen  Zufällen  bewahren  will. 

Für  die  Einteilung  der  gesamten  Fälle  nach  anatomischem 
Prinzip  werden  wir  am  besten  nach  dem  ältesten  Vorschlage  Bam- 
bergers unterscheiden  zwischen  den  intra-  und  extraperitoneal  ge- 
legenen Abszessen. 

Für  die  ersteren  scheint  mir  von  den  zahlreichen  Einteilungen,  die 
Sprengel  anführt,  diejenige  von  Rotter  und  von  Gerster  am 
besten  und  einfachsten  zu  sein.  Der  letzteren  gibt  auch  Sprengel 
den  Vorzug.  Rotter  unterscheidet:  1.  Douglasabszesse,  2.  Abszesse 
der  rechten  Beckenschaufel,  3.  Abszesse  der  Lumbaigegend,  4.  Ab- 
szesse der  linken  Beckenschaufel,  5.  subphrenische  Abszesse.    Etwas 


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27]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.    483 

anders  ist  die  Einteilung  von  Gerster,  der  im  übrigen  ebenfalls  5  Ab- 
teilangen  unterscheidet:  1.  den  ileoinguinaleff  Typus  als  den  häufigsten, 
2.  den  lumbalen  oder  posteroparietalen  Typus,  3.  den  anteroparietalen 
Typus,  4.  den  rektalen  oder  pelvlkalen  Typus  und  5.  den  mesocölia- 
calen  Typus.  Den  ileoinguinalen  Typus  könnte  man  a 'priori  wohl 
auf  beide  Seiten  gleichzeitig  beziehen.  Daß  Gerster  darunter  .den 
Abszeß  der  rechten  Beckenschaufel  verstanden  wissen  will,  ergibt 
sich  daraus,  daß  er  ihn  für  den  häufigsten  Typus  erklärt  im  Gegen- 
satz zu  dem  seltenen  Abszeß  der  linken  Beckenschaufel,  den  er  in 
seiner  Einteilung  gar  nicht  weiter  berücksichtigt  hat. 

Beiden  Einteilungen  gemeinsam  ist  L  der  Douglasabszeß  »  pelvi- 
kaier  Typus,  2.  der  Abszeß  der  rechten  Beckenschaufel  »  ileoinguinaler 
Typus,  3.  Abszeß  der  Lumbaigegend  ==  lumbaler  oder  posteroparietaler 
Typus.  R  Otter  hat  dazu  noch  4.  den  Abszeß  der  linken  Becken- 
schaufel und  5.  die  subphrenischen  Abszesse  angeführt.  Gerster 
nimmt  noch  hinzu  6.  den  anteroparietalen  Typus  und  7.  den  meso- 
cöliacalen  Typus.  In  den  letzten  beiden  Punkten  ergänzen  sich  beide 
Einteilungen  sehr  glücklich  und  wir  werden  daher  im  folgenden  ver- 
suchen, unsere  intraperitonealen  Abszesse  nach  den  obigen  7  Abtei- 
lungen zu  rubrizieren,  zu  denen  ich  noch  als  8.  Abteilung  die  mul- 
tiplen Abszesse  hinzufügen  möchte. 

Bei  der  Verteilung  der  Fälle  auf  die  einzelnen  Kategorien  ist  jedoch 
zu  bedenken,  daß  im  Laufe  der  Entwickelung  die  einzelnen  Abszeß- 
formen leicht  ineinander  übergehen  können,  wenn  auch  nach  Sprengel 
dieser  Vorgang  für  die  beiden  häufigsten  Formen,  den  ileoinguinalen 
und  lumbalen  Typus  nur  äußerst  selten  zutrefi^en  soll.  Ist  es  doch 
bei  sehr  großen  Abszessen  selbstverständlich,  daß  sie  sich  von  der 
rechten  Beckenschaufel  nach  irgendeiner  Richtung,  sei  es  unter  die 
Leber,  sei  es  bis  in  die  linke  Inguinalgegend  oder  nach  dem  Douglas 
zu,  ausbreiten  müssen.  Durch  spätere  Teilung  bzw.  Verkleinerung 
des  Abszesses  von  einer  Seite  her,  falls  eben  eine  Resorption  eintritt, 
kann  dann  wohl  der  eine  oder  andere  Typus  der  vorherrschende 
werden.  Solange  man  aber  Abszesse  in  derartiger  Größe  vor  sich 
hat,  wird  man  sie  immer  zu  den  Mischformen  zählen  müssen  und  im 
Zweifel  sein,  zu  welcher  der  obigen  Abteilungen  man  sie  zu  rechnen 
hat.  Ich  habe  mir  da  in  der  Weise  geholfen,  daß  ich  derartige  Ab- 
szesse ohne  weiteres  zu  dem  ileoinguinalen  Typus  rechnete,  da  sie 
nach  Lage  der  Dinge  von  hier  aus  entstanden  und  nur  durch  ihr 
Anwachsen  die  Grenzen  nach  der  einen  oder  anderen  Richtung  ver- 
legt hatten. 

Des  ferneren  habe  ich  bei  dem  Vorhandensein  mehrerer  größerer 
Abszesse  dieselben  auch  unter  den  einzelnen  Formen  angeführt,  so 


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484  Ad.  Ebner,  [28 

daß  die  betreffenden  Fälle  mehrfach  angeführt  sind.  Es  erschien  mir 
dieses  wichtig  für  die  Häufigkeit  der  einzelnen  Abszeßformen  und  es 
wären  sonst  einzelne  Kategorien  vollständig  unter  derjenigen  der  mul- 
tiplen Fälle  verloren  gegangen,  wie  wir  später  genauer  sehen  werden. 

Am  zahlreichsten  vertreten  finden  wir  naturgemäß  den  1.  ileo- 
inguinalen  Typus. 

Derselbe  ist  in  72  Fällen  «  63,8%  vorhanden.  In  4  Fällen  reichte 
der  große  Abszeß  bis  in  den  Douglas'  hinab.  Sämtliche  4  Fälle  bis 
auf  1  wurden  inguinal  eröffnet  und  bis  in  den  Douglas  dräniert  Nur 
2  von  ihnen  wurden  per  rectum  entleert,  worauf  glatte  Heilung  ein- 
trat. In  3  anderen  Fällen  reichte  der  Abszeß  bis  zum  Rippenbogen 
hinauf.  In  1  Fall  wurde  der  alte  Abszeß  als  Karzinom  angesprochen 
und  erst  durch  die  Sektion  die  Klärung  der  Sachlage  herbeigeführt. 
Die  übrigen  Fälle  bieten  keine  Besonderheit  dar  und  brauchen  nicht 
näher  besprochen  zu  werden. 

2.  Der  Abszeß  der  linken  Inguinalgegend  fand  sich  nur  in 
7  Fällen  »  6,2%  vor.  Im  Fall  17  bestand  neben  einem  gänseeigroßen 
Abszeß  der  rechten  Beckenschaufel  ein  zweiter  faustgroßer  Abszeß 
der  linken  Leistenbeuge^  mit  gashaltigem  stinkendem  Eiter  gefüllt 
Nach  einer  Inzision  beiderseits  glatter  Heilungsverlauf. 

Im  Fall  19  fand  sich  schon  bei  der  Untersuchung  nur  eine  Druck- 
empfindlichkeit und  Resistenz  über  dem  linken  Lig.  Poupartii,  die 
die  Inzision  und  Dränage  nur  der  linken  Inguinalgegend  notwendig 
machte.  Es  zeigte  sich  nun,  daß  die  große  dickwandige  Abszeßhöhle 
von  vorne  oben  links  sich  nach  hinten  rechts  und  in  den  Douglas 
hinein  erstreckte  und  mit  fäkulentem  Eiter  gefüllt  war.  Der  Appendix 
wurde  nicht  gefunden.   Nach  Ötägigem  Fieber  glatter  Heilungsverlauf. 

Im  Fall  22  handelte  es  sich  um  eine  walnußgroße  Abszeßhöhle 
links  seitlich  an  der  Bauchwand  neben  verschiedenen  anderen  Ab- 
szessen. Der  Fall  wird  bei  den  multiplen  Abszessen  näher  besprochen 
werden. 

Im  Fall  26  reichte  die  sehr  große  Abszeßhöhle  von  rechts  unten 
nach  oben  bis  zum  Rippenbogen  und  nach  links  bis  zum  linken  Lig. 
Poupartii  hinüber.  Der  Fall  ist  also  richtiger  zur  ersten  Kategorie 
zu  rechnen  und  ist  dort  auch  mitgezählt  worden. 

Im  Fall  54  ließ  sich  sowohl  rechts,  wie  links  eine  deutliche  Resi- 
stenz nachweisen.  Die  beiderseitige  Inzision  über  der  Leistengegend 
ergab  rechts  eine  mit  ca.  V2  ^  Ei^^i*  gefüllte  Höhle,  die  nach  links 
hinter  der  Blase  herum  bis  auf  die  linke  Seite  derselben  reichte.  Die 
zweite  Höhle  links  enthielt  ebenfalls  1  1  Eiter  und  erstreckte  sich 
nach  unten  bis  in  die  Gegend  des  Rektums  hin.  Eine  Verbindung 
zwischen  den  beiden  Höhlen  ließ  sich  nicht  nachweisen.    Doch  hat 


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29]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.    485 

wohl  die  linke  von  der  rechten  ihren  Ausgang  genommen  und  erst 
nachträglich  ist  es  durch  spätere  Verklebungen  zu  einer  Trennung 
der  beiden  Höhlen  gekommen. 

3.  Den  lumbalen  oder  posteroparietalen  Abszeß  finden  wir 
nur  in  10  von  unseren  Fällen  »  8,8%  vertreten. 

Bei  dem  1.  Fall  (3)  handelte  es  sich  um  eine  intraperitoneale, 
paranephritlsche  AbszeOhöhle  neben  einer  gleichzeitigen  extraperito- 
nealen Höhle.  Trotzdem  der  Fall  durch  Diabetes  kompliziert  war, 
trat  nach  Inzision  und  Gegeninzision  glatte  Heilung  ein. 

Im  2.  Fall  bestand  ein  sehr  hoch,  direkt  hinter  der  Leber  ge- 
legener Abszeß,  der  dem  ebenfalls  sehr  hoch  gelegenen  und  nach  oben 
umgeschlagenen  Appendix  entsprach.  Auch  hier  trat  trotz  gleichfalls 
vorhandenem  Diabetes  nach  breiter  Inzision  und  Dränage  glatte  Hei- 
lung ein. 

Im  3.  Fall  (15)  war  die  Höhle  von  einem  retrocöcal  gelegenen 
Appendix  ausgegangen  und  bot  sonst  nichts  Bemerkenswertes  dar. 

Der  4.  Fall  (31)  zeigte  bei  normaler  Temperatur  in  der  rechten 
Lendengegend  eine  handtellergroße  Geschwulst  ohne  entzündliche  Er- 
scheinungen, von  der  ein  Drittel  oberhalb  und  zwei  Drittel  unterhalb 
der  12.  Rippe  gelegen  waren.  Auf  Druck  ließ  sich  daselbst  ein  plät- 
scherndes Geräusch  hören.  Der  Inhalt  lag  dicht  unter  der  Haut  vor 
der  12.  Rippe.  Ober  der  ganzen  Resistenz  war  tympanitischer  Darm- 
schall vorhanden.  Nach  Anlegung  einer  20  cm  langen  Inzision  vom 
unteren  Rande  der  12.  Rippe  nach  abwärts  zeigten  sich  unter  der 
ödematösen  Muskulatur  und  Peritoneum  harte  Schwielen,  darunter 
schlaffe,  glasige  Granulationen  mit  einem  unter  der  12.  Rippe  ge- 
legenen, freien  Kotstein.  Von  hier  aus  fährte  ein  fingerlanger  Gang 
mit  gleichen  Granulationen  bis  hinter  das  Cöcum.  Später  erfolgte 
Abgang  von  Winden  und  einer  weißlichen  Flüssigkeit  aus  der  Drä- 
nagestelle und  es  blieb  eine  kleine  Kotfistel  zurück.  2  Monate  später 
erfolgte  dann  die  2.  Operation  mit  Naht  einer  Perforationsstelle  am 
Kolon  und  Tamponade.  Der  Appendix  wurde  auch  jetzt  nicht  ge- 
funden.   Glatte  Heilung  ohne  Fistelbildung. 

Der  5.  Fall  (36)  entsprach  einem  walnußgroßen  Abszeß  zwischen 
Cöcum  und  lateraler  Bauchwand  und  bietet  sonst  nichts  Besonderes. 

Im  6.  Fall  (67)  handelte  es  sich  um  eine  wurstförmige,  hinter  dem 
Cöcum  gelegene  Abszeßhöhle  mit  stinkendem  Eiter,  die  sich  bis  in 
die  Blasen-  und  linke  Beckengegend  hin  erstreckte.  Später  wurde 
dann  noch  die  Eröffnung  einer  zweiten  vor  dem  Rektum  gelegenen 
Höhle  von  der  alten  Wunde  aus  notwendig. 

Im  7.  Fall  enthielt  die  große  retrocöcale  Höhle  neben  stinkendem 
Eiter  eine  alte  Blutung  infolge  einer  vorausgegangenen  Gefäßarrosion. 


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486  Ad.  Ebner,  [30 

Nach  Inzision  auf  retroperitonealem  Wege  und  lumbaler  Gegen- 
inzision  trat  Heilung  mit  Zurückbleiben  einer  kleinen  Fistel  an  der 
Dränagestelle  ein.  Die  übrigen  3  Fälle  der  Breslauer  Klinik  liegen 
mir  in  einem  näheren  Bericht  nicht  vor. 

5.  Dem  anteroparietalen  Typus  dürften  5  Fälle  =4,4%  unserer 
Zusammenstellung  entsprechen,  in  denen  der  Abszeß  nach  vorn  oben 
hin  gelegen  war. 

Im  1.  Fall  (8)  handelte  es  sich  um  eine  große,  mit  grünem,  luft- 
haltigem und  stinkendem  Eiter  gefüllte  Höhle,  die  an  der  vorderen 
Bauchwand  unterhalb  des  Zwerchfells  gelegen  war«  Der  Fall  wurde 
in  seinem  Verlauf  durch  eine  Pleuritis  serosa  über  der  Leber  kom- 
pliziert, welche  wegen  Gefahr  der  Vereiterung  die  Resektion  der  7. 
bis  10.  Rippe  notwendig  machte.    Darauf  glatte  Heilung. 

Im  2.  Fall  (13)  bestand  eine  sehr  große  Höhle,  die  vom  Nabel 
nach  oben  bis  zum  Rippenbogen  und  nach  links  über  die  Lin.  alba 
hinausreichte.  Nach  Inzision  und  Drainage  derselben  wurde  später 
noch  die  sekundäre  Eröffnung  und  Drainage  eines  Senkungsabszesses 
vom  Douglas  aus  notwendig. 

Im  3.  Fall  (20)  lag  eine  teils  intra-,  teils  extraperitoneale  Abszefl- 
höhle  vor.  Die  Patientin  hatte  seit  3  Monaten  an  inneren  starken 
Schmerzen  um  den  Nabel  herum  gelitten.  Auf  Umschläge  war  vor 
3  Tagen  eine  spontane  Perforation  und  Entleerung  von  übelriechendem 
Eiter  am  Nabel  eingetreten,  so  daß  nur  noch  eine  Diszission  der 
Fistel  mit  Tamponade  nötig  war.  Danach  zeigte  sich  vom  Nabel  nacli 
links  gelegen  eine  größere  Höhle  in  der  Muskulatur  (Rektus),  während 
nach  rechts  ein  langer  kommunizierender  Gang  bis  in  die  Ileocöcal- 
gegend  führte,  in  welchem  ein  freier  Kotstein  lag.  Der  Abszeß  hatte 
sich  also  von  der  Ileocöcalgegend  nach  vorne  oben  bis  zur  Bauch- 
wand ausgebreitet,  hatte  allmählich  Peritoneum  und  Fase,  transversa 
perforiert  und  sich  nun  sekundär  in  der  Muskulatur  ausgebreitet, 
während  intraperitoneal  bereits  eine  Resorption  und  Schrumpfung  an 
der  Ausgangsstelle  des  Exsudats  erfolgte.  Der  Fall  bietet  darin  eine 
gute  Illustration  zu  den  hinsichtlich  der  Einteilung  der  Abszesse  ge- 
machten Ausführungen. 

Im  4.  Fall  bestand  neben  einer  intraperitonealen  Abszeßhöhle,  die 
sich  von  der  Ileocöcalgegend  bis  zum  Nabel  erstreckte  und  gegen  die 
Blase  hin  abgeschlossen  war,  eine  zweite  kleinere  Abszeßhöhle,  die 
vor  der  Blase  dicht  über  der  Symphyse,  also  vermutlich  extraperi- 
toneal gelegen  war.  Von  dieser  fährte  ein  breiter  Gang  nach  oben 
rechts  hin,  der  jedoch  eine  weitere  Kommunikation  nicht  erkennen 
ließ.  Es  mußte  also  auch  hier  erst  eine  Perforation  des  Peritoneums 
und  der  Fase,  transv.  stattgefunden  haben,  ehe  es  zu  der  Etablierung 


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31]   Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.   487 

des  antevesikal  gelegenen  Abszesses  kommen  konnte.  Der  S.  Fall 
wurde  ebenfalls  von  oben  eröffnet  und  bot  keine  Besonderheit  dar. 

Nächst  dem  ileoinguinalen  Abszeß  ist  am  häufigsten  der  5.  pelvi- 
kale  oderrektale  Abszeß  in  unserer  Zusammenstellung  mit  24  Fällen 
«23,9%  vertreten.  Von  diesen  verdienen  nur  wenige  Fälle  eine 
nähere  Erwähnung.  So  war  im  Fall  13  nach  Inzision  eines  antero- 
parietalen  Abszesses  eine  sekundäre  Eitersenkung  nach  dem  Douglas 
aufgetreten,  welche  die  Eröffnung  und  Dränage  per  rectum  notwendig 
machte. 

Umgekehrt  wurde  im  Fall  5  nach  Spaltung  und  Dränage  eines 
Douglasabszesses  per  rectum  die  weitere  Spaltung  eines  zweiten  Ab- 
szesses per  abdomen  notwendig.  Es  war  der  Fall,  in  dem  später  eine 
Bauchdeckenphlegmone  und  zahlreiche  metastatische  Abszesse  der 
Haut  hinzukamen,  an  denen  der  Patient  schließlich  zugrunde  ging. 

Eine  sehr  große  Höhle  wurde  im  Fall  29  per  rectum  eröffnet 
Man  entleerte  aus  derselben  nicht  weniger  als  2 1  Eiter.  Der  Heilungs- 
verlauf war  glatt. 

Im  Fall  40  wurde  die  im  kleinen  Becken  gelegene  Höhle  von  einer 
anderen  per  abdomen  inzidierten  Höhle  aus  eröffnet.  Es  wurde  von 
oben  her,  aber  auch  gleichzeitig  durch  das  Rektum  dräniert.  Unter 
febrilem  Verlauf  trat  Heilung  ein. 

Fall  42  enthielt  neben  dem  Douglasabszeß  weitere  multiple  Ab- 
szesse und  wird  unter  jener  Kategorie  näher  besprochen  werden. 

6.  Der  mesocöliacale  Abszeß  ist  nur  in  4  Fällen  ==  3,5%  der 
Gesamtßille  vertreten.  Alle  4  Fälle  gehören  zu  der  Kategorie  der 
multiplen  Abszesse.  Einen  Fall  von  reiner  mesocöliacaler  Abszeß- 
bildung allein  habe  ich  unter  unseren  113  Fällen  nicht  finden  können. 
Derartige  Fälle  müssen  naturgemäß  äußerst  selten  sein,  da  bei  der 
stetigen  Bewegung  der  Därme  das  Exsudat  immer  die  Tendenz  haben 
wird,  nach  dem  Punkte  der  Ruhe  auszuweichen.  Dieser  entspricht 
eben  der  vorderen  und  seitlichen  Bauchwand  und  dort  wird  es  natur- 
gemäß auch  am  ehesten  zu  Abkapselungen  und  Verklebungen  der 
Darme  kommen  können. 

7.  Der  subphrenische  Abszeß  ließ  sich  nur  in  2  Fällen  ==  1,8% 
konstatieren.  Im  Fall  8  trat  später  eine  Pleuritis  serosa  über  der 
Leber  ein.  Nach  Resektion  der  7.— 10.  Rippe  glatte  Heilung.  Im 
Fall  42  war  ein  subphrenischer  Abszeß  rechts  und  links  gleichzeitig 
mit  anderen  multiplen  Abszessen  vorhanden. 

Nächst  dem  ileoinguinalen  und  pelvikalen  Typus  sind  am  häufigsten 
8.  die  multiplen  Abszesse  mit  17  Fällen  =  15%  vertreten.  Diese 
haben  naturgemäß  auch  die  höchste  Mortalitätsziffer  von  allen  Kate- 
gorien,  indem   auf  sie  weit  über  die  Hälfte   sämtlicher  TodesPälle 


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488  Ad.  Ebner,  [32 

entfällt  Ich  habe  zu  dieser  Kategorie  alle  Fälle  mit  mehr  als  einer 
Abszeßhöhle  gerechnet,  da  man  sonst  nach  oben  hin  keine  präzise 
Grenze  für  diese  Fälle  ziehen  kann. 

Bei  den  meisten  Fällen  handelte  es  sich  um  eine  Kombination 
von  2  oder  3  der  bereits  oben  beschriebenen  Abszeßformen.  Die  ein- 
zelnen Abszesse  sind  dort  schon  näher  beschrieben  worden,  so  dafi 
wir  uns  hier  damit  begnügen  können,  nur  kurz  die  verschiedenen 
Kombinationen  anzuführen.  So  finden  wir  im  Fall  17  einen  rechts- 
und  einen  linksseitigen  Abszeß  der  Leistengegend,  im  Fall  18,  40  und 
56  einen  ileoinguinalen  Abszeß  mit  einem  pelvikalen  Abszeß  kom- 
biniert, während  im  Fall  77  zunächst  ein  pelvikaler  Abszeß  vorhanden 
war,  dem  später  ein  zweiter  Abszeß  in  der  linken  Leistenbeuge  nach- 
folgte. Ferner  ist  der  rektale  Typus  im  Fall  13  mit  dem  antero- 
parietalen  und  im  Fall  67  mit  dem  lumbalen  oder  posteroparietalen 
Typus  kombiniert.  Eine  Vereinigung  von  ileoinguinalem  mit  dem 
anteroparietalen  Typus  findet  sich  im  Fall  13  und  mit  dem  meso- 
cöliacalen  Typus  bzw.  weiteren  multiplen  Abszessen  im  Fall  63.  Eine 
Vereinigung  von  extraperitonealem  mit  einem  intraperitonealem  Ab- 
szeß bot  Fall  3  in  Gestalt  zweier  neben  der  rechten  Niere  gelegener 
Abszesse,  die  nicht  miteinander  in  Zusammenhang  standen.  Neben 
diesen  mehrfachen  größeren  Abszessen  finden  sich  multiple  Abszesse 
im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  nur  in  4  Fällen,  die  zahlreiche 
kleine  und  kleinste  verstreute  Abszesse  aufweisen.  Zu  diesen  ge- 
hören auch  die  3  Todesfälle  im  Fall  5,  22  und  41,  die  bereits  oben 
gelegentlich  der  Erörterung  der  gesamten  6  Todesfälle  so  eingehend 
besprochen  sind,  daß  hier  darauf  verwiesen  werden  kann. 

Eine  nähere  Erwähnung  verdient  jedoch  der  einzige  geheilte  Fall. 
Bei  demselben  (Fall  42)  wurde  zunächst  am  4.  Oktober  eine  große, 
bis  in  das  kleine  Beeiden  reichende  Höhle  rechts  per  abdomen  er- 
öffnet. Am  9.  Oktober  wurde  eine  lumbale  Gegenöffnung  angelegt. 
Am  17.  Oktober  erfolgte  die  transpleurale  Eröffnung  des  obener- 
wähnten subphrenischen  Abszesses  links.  Am  22.  Oktober  wurde  die 
Resektion  der  11.  Rippe  und  transpleurale  Eröffnung  des  zweiten  sub- 
phrenischen Abszesses  rechts  gemacht.  Am  7.  November  erfolgte 
schließlich  die  Inzision  eines  Abszesses  links  unter  dem  Nabel.  Der 
Patient  hatte  also  während  der  64tägigen,  mehr  weniger  fieberhaften 
Behandlungsdauer  6  größere  operative  Eingriffe  durchmachen  müssen. 
Wenn  er  schließlich  als  geheilt  entlassen  werden  konnte,  so  hat  wohl 
das  jugendliche  Alter  des  Patienten  von  10  Jahren  ein  gutes  Teil  zu 
dem  glücklichen  Ausgang  beigetragen. 

Wenden  wir  uns  nun  den  extraperitonealen  Abszessen  zu,  so 
teilen  wir  dieselben  am  besten  in  retro-  und  präperitoneal  gelegene 


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33]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.   489 

Abszesse  ein  und  fügen  den  ersteren  noch  als  besondere  Unterabteilung 
die  retrofoszialen  Abszesse  hinzu« 

Ffir  die  retroperitoneale  Lokalisation  können  wir  im  ganzen  11 
Falle  =>  9,7%  anführen.  Im  Fall  3  handelte  es  sich  um  den  oben  er- 
wähnten paranephritlschen  Abszeß  mit  gleichzeitigem  Diabetes.  Im 
Fall  22  bestanden  gleichzeitig  zahlreiche  andere  Abszesse.  Im  Fall  43 
fand  sich  eine  faustgroße  retroperitoneale  Höhle  auf  der  rechten 
Beckenschaufel,  die  ohne  Eröffnung  des  Peritoneums  auf  retroperi- 
toqealem  Wege  entleert  werden  konnte. 

Im  Fall  47  erstreckte  sich  der  Eiter  bis  unter  das  Lig.  Poupartii 
hinunter,  was  allein  schon  als  pathognostisches  Merkmal  für  die  retro- 
peritoneale Lokalisation  des  Abszesses  anzusehen  ist,  da  sich  intra- 
peritoneale Abszesse  stets  oberhalb  des  Poupartschen  Bandes  nach 
außen  hin  bemerkbar  zu  machen  pflegen.  Auch  hier  wurde  die  Ent- 
leerung auf  retroperitonealem  Wege  vorgenommen. 

Im  Fall  48  handelte  es  sich  um  eine  große  Höhle  zwischen  Peri- 
toneum und  Beckenschaufel.  In  der  Tiefe  war  der  Muse,  psoas  frei- 
gelegt. Die  Höhle  stieg  seitlich  an  der  Wirbelsäule  nach  oben  empor 
und  senkte  sich  nach  unten  in  das  Becken  hinein  bis  zur  Vagina. 
Femer  bestand  eine  Eitersenkung  längs  der  Gefäße  nach  dem  Ober- 
schenkel zu.  Hiernach  ist  nicht  mit  Sicherheit  zu  entscheiden,  ob 
etwa  ein  retrofaszialer  Abszeß  vorgelegen  haben  könnte.  Nach  der 
Art  des  Befundes  will  mir  das  letztere  wahrscheinlicher  vorkommen, 
wenngleich  in  dem  Krankenblatt  nur  von  einem  retroperitonealen 
Abszeß  die  Rede  ist.  Nach  retroperitonealer  Inzision  fieberhafter 
Verlauf  und  glatte  Heilung. 

Im  Fall  68  reichte  die  große  retroperitoneale  Abszeßhöhle  von  der 
Darmbeinschaufel  bis  zur  rechten  Niere  an  der  Wirbelsäule  aufwärts. 
Nach  Inzision  trat  unter  fieberfreiem  Verlauf  glatte  Heilung  ein. 

Als  retrofaszialen  Abszeß  dürfen  wir  mit  Sicherheit  den  Fall  30 
ansprechen,  bei  dem  es  sich  um  eine  reichliche  Eiterentleerung  direkt 
aus  dem  Muse,  ileopsoas  handelte  neben  einem  großen  intraperi- 
tonealen Abszeß,  der  von  vorne  her  eröffnet  wurde.  Der  ringförmig 
gekrfimmte  Appendix  war  retrocöcal  gelegen  und  konnte  entfernt 
werden.    Glatter  Heilungsverlauf  ohne  Fistelbildung. 

Als  präperitoneale  Abszesse  werden  in  den  Journalen  die 
Falle  51  und  52  =  1,8%  bezeichnet.  Danach  bestanden  in  beiden  Fällen 
rechts  über  der  Leistenbeuge  vor  dem  Peritoneum  gelegene  Höhlen, 
deren  eine  in  Faustgröße  mit  fäkulentem,  gashaltigem  Eiter  geffillt 
war,  während  die  andere  in  Hühnereigröße  geruchlosen  Eiter  ent- 
hielt Ob  diese  Höhlen  von  einem  intra-  oder  retroperitonealen 
Abszeß  ihren  Ausgang  genommen  haben,  ist  aus  den  Journalen  nicht 

Klln.  Vortrige,  N.  F.  Nr.  494/95.    (Chirurgie  Nr.  145/4a)    Juli  1906.  36 


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490  Ad.  Ebner,  [34 

ZU  ersehen.  Im  zweiten  Fall  scheint  mir  die  gleichzeitig  vorhandene 
Flexionsstellung  des  rechten  Beines  für  die  letztere  Annahme  zu 
sprechen« 

Als  dritten  Fall  könnte  man  noch  hinzurechnen  den  Fall  56,  bei 
dem  es  von  einer  hühnereigroßen  intraperitonealen  Höhle  aus  in- 
folge zweier  Perforationen  des  Peritoneum  parietale  und  der  Fase* 
transvers.  zu  einer  großen  Eiterhöhle  innerhalb  der  Bauchwand  ge- 
kommen war. 

Von  Erscheinungen  am  Processus  vermiformis  im  besonderen  wird 
vornehmlich  die  Häufigkeit  von  Perforationen  und  das  Vorhandensein 
von  Kotsteinen  von  Interesse  sein. 

Diejenigen  Fälle ,  in  denen  eine  Perforation  des  Appendix  aus- 
drücklich angegeben  ist,  sind  in  verhältnismäßig  geringer  Anzahl  ver- 
treten. Das  erklärt  sich  ohne  weiteres  aus  der  Tatsache,  daß  nur  in 
23  Fällen  :=  20,3%  der  Appendix  aufgefunden  bzw.  entfernt  werden 
konnte.  Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  hat  auch  das  prozentuale 
Zahlenverhältnis  der  Perforationen  keinen  Wert,  da  in  der  über- 
wiegenden Mehrzahl  der  übrigen  Fälle  mit  größter  Wahrscheinlichkeit 
eine  vorausgegangene  Perforation  anzunehmen  ist.  Mit  Sicherheit 
kann  sie  jedoch  nur  da  angenommen  werden,  wo  das  Vorhandensein 
eines  freien  Kotsteins  in  der  Abszeßhöhle  dafür  spricht. 

Unter  den  23  Fällen  von  Amputation  des  Processus  ist  in  17  aus- 
drücklich eine  Perforation  desselben  angeführt.  Und  zwar  lag  dieselbe 
in  der  Mitte  des  Processus  4mal,  an  der  Spitze  7mal  und  an  der  Basis 
in  2  Fällen.  In  einem  Fall  bestanden  außer  an  der  Spitze  noch  zwei 
Perforationen  an  der  Basis  und  in  einem  anderen  Fall  eine  solche  in 
der  Wand  des  Cöcum.  Ferner  fanden  sich  gleichzeitig  bei  einem 
Fall  zwei  Perforationen  am  Dünndarm  und  eine  am  Cöcum,  der 
Processus  war  nekrotisch  zerfallen,  so  daß  man  dieselben  wohl  als 
Reperforationen  mit  Recht  auffassen  darf.  Ebenso  fanden  sich  in 
einem  anderen  Fall  zwei  alte  Perforationen  am  Cöcum,  für  die  wohl 
die  gleiche  Ätiologie  zutreffen  dürfte. 

Das  Vorhandensein  eines  Kotsteins  wird  ausdrücklich  erwähnt  nur 
in  14  Fällen.  Auch  hier  geht  man  nicht  fehl  in  der  Annahme,  daß 
bei  der  namentlich  in  früheren  Jahren  geübten  einfachen  Inzision  der 
Abszeßhöhle  ohne  genauere  Revision  derselben  bisweilen  ein  in  Ad* 
häsionen  eingebetteter  Kotstein  zugleich  mit  dem  Processus  der  Wahr- 
nehmung entgangen  sein  kann,  ein  Vorgang,  der  ja  auch  heute  schließ- 
lich nicht  immer  mit  absoluter  Sicherheit  auszuschließen  ist.  Ob 
ausnahmsweise  in  anderen  Fällen  eine  Verflüssigung  des  Kotsteins  in 
dem  Exsudat  stattgefunden  haben  kann,  ist  eine  Frage,  über  welche 
die  Akten  noch  nicht  geschlossen  sind. 


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35]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.    491 

In  jedem  Fall  erscheint  die  Annahme  berechtigt,  daß  die  tatsäch- 
liche Zahl  der  vorhandenen  Kotsteine  etwas  höher  zu  veranschlagen 
ist,  als  die  in  den  Journalen  angegebene. 

In  den  angegebenen  14  Fällen  lag  lOmal  der  Kotstein  außerhalb 
des  Processus  in  der  freien  Abszeßhöhle ,  darunter  einmal  In  der 
Wand  des  Cöcum.  In  1  Fall  fanden  sich  zwei  freie  Kotsteine  gleich- 
zeitig vor.  Nur  in  2  Fällen  lag  der  Stein  innerhalb  des  Processus. 
In  2  anderen  Fällen  ist  eine  genauere  Lokalisation  des  Steines  nicht 
näher  angegeben.  In  6  von  den  Fällen  wurde  der  Processus  nicht 
gefunden,  bei  den  anderen  wird  ausdrüclüich  eine  Perforation  des 
Processus  in  den  Journalen  vermerkt.  Die  6  Fälle  sind  trotzdem 
mit  Sicherheit  als  Perforationsfälle  aufzufassen,  so  daß  dadurch  die 
Zahl  der  sicheren  Perforationen  auf  23  Fälle  steigt,  eine  Zahl,  welche 
immer  noch  als  zu  gering  erscheinen  muß  für  die  Gesamtzahl  von 
113  Fällen. 

Auf  die  sonstigen  pathologisch-anatomischen  Veränderungen  am 
Appendix  näher  einzugehen  verlohnt  sich  einerseits  nicht  im  Hinblick 
auf  die  geringe  Anzahl  von  23  Fällen,  in  denen  er  überhaupt  gefunden 
ist  Andererseits  sind  auch  in  diesen  Fällen  nur  ganz  vereinzelt 
nähere  Angaben  darüber  in  den  Journalen  vorhanden,  was  sich  viel- 
leicht daraus  erklären  dürfte,  daß  auch  hier  meist  das  Bild  durch 
stark  fortgeschrittene  Nekrosen  und  Zerfallserscheinungen  am  Appen- 
dix bereits  ein  stark  verwischtes  war. 

Die  Therapie  bestand  in  sämtlichen  Fällen  in  Inzision  und  Drä- 
nage mit  Jodoform-  bzw.  Isoformgaze,  die  in  der  Regel  durch  Ein- 
legen eines  dicken,  durchlöcherten  Gummi-  oder  Glasdräns  unter- 
stützt wurde.  In  einzelnen  Fällen  wurde  eine  Gegeninzision  in  der 
Lumbaigegend  oder  im  Rektum  notwendig,  durch  welche  dann  eben- 
falls dräniert  wurde.  Die  reinen  Douglasabszesse  wurden  sämdich 
mit  Inzision  und  Dränage  vom  Rektum  aus  behandelt,  nachdem  die 
digitale  Sphinkterdehnung  vorausgegangen  war.  Die  Inzision  per  ab- 
domen  wurde  stets  in  ausgiebiger  Länge  gemacht,  so  daß  sie  einerseits 
einen  guten  Oberblick  über  die  Wundhöhle  und  das  Operationsfeld 
und  andererseits  eine  ausgiebige  Entleerung  der  Höhle  durch  Tupfer 
und  Spülungen  ermöglichte.  Stets  wurde  nach  Möglichkeit  die  Er- 
öffnung des  freien  Peritoneums  zu  vermeiden  gesucht.  Wo  dieses 
nicht  möglich  war,  erfolgte  der  Schutz  der  freien  Bauchhöhle  sofort 
mit  provisorisch  eingelegten  Kompressen  von  steriler  Gaze,  die  ihren 
Zweck  vollständig  erfüllten.  Am  Schluß  wurden  die  Inzisionen  in  der 
Regel  von  den  Wundwinkeln  her  bis  auf  die  für  die  Dränage  not- 
wendige Öffnung  verkleinert.  In  fast  sämdichen  Fällen  trat  in  mehr 
weniger   kurzer  Zeit  nach   dem   operativen  Eingriff  die  völlige  Ent- 

36* 


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492  Ad.  Ebner,  [36 

fieberung  ein  und  hielt  bis  zur  Heilung  per  granulat.  an.  Eine  Aus- 
nahme davon  bildeten  die  Fälle,  welche  durch  das  Auftreten  weiterej- 
Abszesse  oder  sonstiger  Komplikationen  von  dem  gewöhnlichen  Krank- 
heitsverlauf abwichen.  Hervorheben  möchte  ich  noch,  daß  im  Fall  43 
nach  9  Tagen  die  Sekundärnaht  gemacht  wurde,  und  die  glatte  Hei- 
lung derselben  p.  p.  eintrat.  Nur  bei  4  Radikaloperationen  der  Bres- 
lauer Klinik  wurde  primär  geschlossen  und  zwar  2mal  mit  und  Zmü 
ohne  Tampon. 

Von  Komplikationen  der  Erkrankung  finden  wir  Diabetes 
in  2  Fällen  erwähnt.  Im  Fall  3  lag  neben  der  intraperitonealen 
eine  extraperitoneale  paranephritische  Abszeßhöhle  vor.  Im  Fall  9 
handelte  es  sich  um  einen  unter  der  Leber  gelegenen  Abszeß.  In 
beiden  Fällen  läßt  die  Lage  der  Abszesse  an  die  Möglichkeit  eines 
ätiologischen  Zusammenhanges  der  Erkrankung  mit  dem  Diabetes 
denken,  so  daß  dann  der  letztere  als  sekundär  aufeufassen  wäre.  Be- 
wiesen wäre  derselbe  nur  mit  dem  Aufhören  des  Diabetes  nach  Hei- 
lung der  Periappendizitis.  Leider  ist  eine  Angabe  darüber  in  beiden 
Krankengeschichten  nicht  zu  finden.  In  beiden  Fällen  wurde  jeden- 
falls der  Heilungsvorgang  durch  den  Diabetes  nicht  beeinfiußt,  was 
eher  für  als  gegen  die  Annahme  eines  derartigen  Zusammenhanges 
sprechen  dürfte. 

Erysipel  trat  bei  einem  präperitonealen  Abszeß  von  der  vorderen 
Inzisionswunde  aus  auf.  Der  Fall  verlief  mit  entsprechenden  Tem- 
peratursteigerungen^  kam  aber  auch  zur  Heilung.  Wie  zu  erwarten  war, 
wurden  in  dem  Abszeßeiter  mikroskopisch  Streptokokken  nachgewiesen. 

Seröse  Pleuritis  rechts  trat  nach  Spaltung  eines  subphrenischen 
rechtsseitigen  Abszesses  auf  und  machte  die  Resektion  der  7.  bis 
10.  Rippe  notwendig.  Die  Infektion  hat  hier  wohl  in  einer  direkten 
Durchwanderung  der  Erreger  durch  das  Zwerchfell  auf  dem  Lymph- 
wege bestanden.  Eine  embolische  Verschleppung  auf  dem  Blutwege 
dürfte  für  den  Fall  kaum  zutrefi^end  sein.  Ein  direkter  Durchbruch 
durch  das  Zwerchfell  war  abgesehen  von  der  späteren  Operation 
schon  durch  den  serösen  Charakter  des  Exsudates  mit  Sicherheit 
auszuschließen.  Auch  hier  trat  später  glatte  Heilung  ein.  Ferner 
fand  ich  in  je  einem  Fall  eine  trockene  und  eine  exsudative  PleuritiSy 
die  beide  spontan  zurückgingen. 

Ein  Abszeß  links  oberhalb  des  Zwerchfells  wurde  bei  der 
Sektion  des  Falles  22  gefunden,  nachdem  vorher  bereits  5mal  Abszesse, 
darunter  ein  periumbilikaler,  ein  retroperitonealer  und  die  übrigen 
intraperitoneal  gelegen,  inzidiert  waren.  Auch  hier  ist  nach  deno 
Sektionsbefund  der  obige  Infektionsmodus  als  der  wahrscheinlichste 
anzunehmen. 


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37]   Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.    493 

Eine  Flexionskontraktur  des  Oberschenkels,  die  in  der 
Hauptsache  auf  eine  Psoitis  zurückzuführen  sein  dürfte,  fand  sich  in 
5  Fällen. 

Dieselbe  war  im  Fall  52  mit  einem  präperitonealen  Abszeß  rechts 
verbunden.  Das  Vorhandensein  der  Flexionskontraktur  scheint  mir 
für  die  Annahme  zu  sprechen,  daß  aus  einem  ursprünglich  retroperi- 
tonealen  Abszeß  durch  Senkung  bis  zur  Leistengegend  und  aufetei- 
gende  Infektion  der  Lymphgefäße  oder  Venen  die  präperitoneale  Ab- 
szedierung erst  sekundär  entstanden  sein  könnte.  Zuin  mindesten 
dürfte  der  präperitoneale  Abszeß  allein  kaum  für  die  Ätiologie  der 
Flexionskontraktur  in  Betracht  zu  ziehen  sein. 

Eine  Flexion  des  rechten  Beins  bestand  ferner  im  Fall  22  seit 
14  Tagen  vor  der  Aufnahme.  Es  handelte  sich  um  eine  sehr  große 
teils  retrocöcal,  teils  ileoinguinal  gelegene  Abszeßhöhle,  in  welcher 
der  Appendix  nicltf  gefunden  wurde. 

Ebenso  bestand  im  Fall  23  bereits  seit  4  Wochen  vor  der  Auf- 
nahme eine  Unbeweglichkeit  des  rechten  Hüftgelenks,  die  ihre  Er- 
klärung durch  eine  faustgroße  retroperitoneale  Abszeßhöhle  mit  einer 
Senkung  längs  der  Oberschenkelgefäße  fand.  Ganz  ähnliche  Verhält- 
nisse bot  der  Fall  58.  Auch  hier  bestand  die  Flexionskontraktur  als 
Folge  eines  auf  dem  Muse,  psoas  gelegenen  Abszesses,  der  sich  an 
den  Geßßen  entlang  nach  dem  Oberschenkel  zu  gesenkt  hatte.  Auch 
hier  war  der  Abszeß  mit  Sicherheit  als  retroperitoneal  anzusprechen. 
Als  dritter  Parallelfall  dazu  dient  Fall  84,  in  dem  bereits  seit  10  Wochen 
angeblich  eine  Lähmung  des  rechten  Beins  bestanden  hatte,  so  daß  der 
Oberschenkel  in  Beugestellung  gehalten  wurde.  Auch  hier  bietet  die 
Senkung  der  großen  Abszeßhöhle  bis  unter  das  Leistenband  die 
sichere  Gewähr,  daß  man  es  mit  einem  retroperitonealen  Abszeß  zu 
tun  hatte.  Es  war  derjenige  Fall,  bei  dem  10  Tage  post  op.  die 
Sektion  die  Diagnose  eines  Cöcumkarzinoms  ergab,  ohne  daß  der 
Processus  selbst  gefunden  wurde. 

Eine  Flexion  beider  Beine  bestand  im  Fall  61  neben  einer  sehr 
großen  intraperitonealen  Abszeßhöhle,  die  bis  zur  Blase  und  von 
rechts  nach  links  über  die  Mittellinie  hinüber  reichte.  Der  Processus 
wurde  nicht  gefunden  und  erst  später  nach  dem  12.  Anfall  im  Sicher- 
heitsstadium entfernt. 

In  sämtlichen  6  Fällen  finden  wir  also  3,  bei  denen  wir  es  un- 
zweifelhaft mit  einem  retroperitonealen  Abszeß  zu  tun  haben,  und 
einen,  bei  dem  es  wahrscheinlich  aber  nicht  bewiesen  ist.  In  den 
beiden  übrigen  Fällen  wird  der  Abszeß  als  ein  sehr  großer  intraperi- 
toneal gelegener  angegeben.  Das  Auftreten  der  Flexionskontraktur 
ist  bei    retroperitonealen,    und   ganz    besonders    bei    retrofaszialen 


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404  Ad.  Ebner,  [38 

Abszessen  ein  so  häufiges,  daß  man  sie  heute  mit  Recht  als  ein  patho- 
gnostisches  Merl^mal  für  dieselben  bezeichnet  Aber  auch  bei  intra- 
peritonealen EntzQndungsprozessen  kann  es  leicht  zu  einer  solchen 
iLommen,  selbst  wenn  diese  zunächst  nur  in  einer  rein  entzGndlichen 
Affektion  des  retrocöcalen  Peritoneum  parietale  ohne  Abszedierung 
bestehen. 

So  hat  Sprengel  einen  solchen  Fall  beobachtet,  in  dem  objektiv 
bei  der  wegen  Verdachts  auf  Appendizitis  vorgenommenen  Operation 
weiter  nichts  nachweisbar  war,  als  eine  vermehrte  Peritonealfiüssig- 
keit  und  nur  wenig  entzündlich  veränderte  rechtsseitige  Adnexe.  Er 
fährt  in  seinem  Fall  die  Erscheinung  auf  eine  entzündliche  Reizung 
des  peritonealen  Überzuges  des  Muse,  ileopsoas  zurück,  die  eine 
Schmerzhaftigkeit  bei  jeder  Dehnung  des  Muskels  zur  Folge  haben 
muß.  Um  diese  zu  vermeiden,  wird  dann  das  Bein  von  den  Patienten 
in  willkürlich  flektierter  Stellung  gehalten.  Auch  b^i  anderen  Autoren 
findet  man  häufig  Fälle,  bei  denen  auf  eine  ausgesprochene  Schmerz- 
haftigkeit bei  Bewegungen  und  namentlich  bei  Streckung  des  rechten 
Beins  im  Hüftgelenk  hingewiesen  wird.  Man  hat  darin  wohl  mit 
Recht  ein  Frühsymptom  einer  entzündlichen  Reizung  des  retrocöcalen 
Peritoneum  parietale  zu  erblicken,  welche  in  der  Regel  ihren  Ausgang 
von  einer  Periappendizitis,  bei  weiblichen  Patienten  seltener  auch 
von  einer  rechtsseitigen  Adnexitis  genommen  haben  wird. 

Bei  vorgeschrittener  intraperitonealer  Abszeßbildung  können  dann 
weiter  myogene  oder  auch  neurogene  Ursachen  für  die  Flexions- 
kontraktur  in  Frage  kommen,  indem  es  zu  einer  infektiösen  bzw. 
toxischen  Myositis  des  Muse,  ileopsoas  oder  einer  Neuritis  des  mit 
dem  Muskel  hinter  der  Faszie  verlaufenden  Nerv,  cruralis  kommen 
kann.  Ebenso  ist  die  Möglichkeit  einer  rein  mechanischen  Druck- 
wirkung der  sich  ausdehnenden  Abszeßwandung  auf  den  Nerv,  cru- 
ralis nicht  von  der  Hand  zu  weisen,  deren  Folgen  sich  ebenfalls  in 
Schmerzhaftigkeit  bei  Bewegungen  und  dadurch  bedingter  willkürlicher 
Ruhestellung  des  rechten  Beins  in  flektierter  Haltung  äußern  werden. 
Letztere  Erklärung  scheint  mir  auch  für  unsere  beiden  Fälle  mit  intra- 
peritonealer Abszeßbildung  zutreffend  zu  sein.  Wenigstens  spricht 
einerseits  die  Größe  der  Abszesse  für  die  Möglichkeit  einer  Druck- 
wirkung auf  den  Nerv,  cruralis,  während  andrerseits  für  entzündliche 
Veränderungen  am  Muse,  ileopsoas  durch  die  Operation  ein  Nach- 
weis nicht  zu  erbringen  war.  Alles  in  allem  dürfte  die  Schmerz- 
haftigkeit bei  Bewegungen  und  spätere  Kontrakturstellung  des  rechten 
Beins  als  Frühsymptom  beginnender  Periappendizitis  ein  Merkmal 
sein,  dessen  Bedeutung  der  Beachtung  nicht  dringend  genug  empfohlen 
werden  kann. 


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39]    Ü^CT  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.    405 

Eine  Thrombose  der  linken  Femoralvene  fand  sich  im  ganzen 
imsly  darunter  Imal  nach  der  Operation  einer  großen  intraperitonealen 
Abszeßhöhie  rechts,  die  mit  braungelbem,  stinkendem  Eiter  angefüllt 
war.  Ober  die  Möglichkeit  einer  vorausgegangenen  Unterbindung  der 
Art.  und  Vena  epigastrica  ist  aus  dem  Journal  nichts  zu  ersehen. 
Der  fieberfreie  Verlauf  scheint  mir  dafür  zu  sprechen,  daß  die  Throm* 
böse  auf  den  Zusammenhang  mit  einer  solchen  zurückzuführen  ist, 
auf  den  ja  oben  bereits  hingewiesen  ist.  Anderenfalls  müßte  man  auf 
die  altere  Anschauung  zurückgreifen,  welche  die  Ursache  der  links- 
seitigen Thrombose  in  einer  Erschwerung  des  Abflusses  aus  der  linken 
Vena  femoralis  in  die  rechts  gelegenen  Vena  cava  erblickt,  indem  der 
Einmündungswinkel  der  linken  Femoralvene  erheblich  stumpfer  zu  der 
Vena  cava  verläuft,  als  derjenige  der  rechten  Femoralvene. 

Thrombose  der  rechten  Femoralvene  fand  ich  nur  in  1  Falle. 

Eine  Thrombose  beider  Ven.  iliac,  die  bis  in  die  Unterschenkel 
hinabreichte,  ergab  die  Sektion  des  Falles  41.  Schon  8  Tage  nach 
der  Einlieferung  trat  in  dem  Fall  eine  klinisch  nachweisbare  Throm- 
bose beider  Unterschenkel  unter  hohem  Fieber  ein.  Die  Operation 
ergab  zwei  große  intraperitoneale  Eiterhöhlen,  deren  rechts  gelegene 
200  ccm  Eiter  enthielt,  während  die  größere  links  gelegene  mit 
ca.  1  1  Eiweiß  gefüllt  war.  In  diesem  Fall  ist  die  rein  infektiöse 
Natur  der  ausgedehnten  Thrombophlebitis  durch  das  ganze  Krank- 
heitsbild und  den  hohen  Temperaturanstieg  bei  ihrem  Beginn  ein- 
wandsfrei  bewiesen. 

Peritonitische  Erscheinungen  post  op.  traten  nur  in  einem 
Fall  auf,  gingen  aber  spontan  zurück.  Als  ihre  Veranlassung  nahm 
man  eine  intraabdominale  rezidivierende  Abszeßbildung  auf,  die  sich 
spontan  zurückbildete. 

Eine  Fistelbildung  bei  der  Entlassung  der  Patienten  bestand 
in  6  Fällen =5,3%  der  Gesamtfälle.  Im  ersten  Fall  fand  sich  an  der 
Basis  des  Processus  eine  Perforation  neben  einer  Obliteration  im 
mitderen  Drittel  desselben.  Nach  Amputation  des  Processus  war  mit 
Jodoformgaze  dräniert  worden. 

Im  2.  Fall  bestand  eine  Perforation  in  der  Mitte  des  Processus 
neben  einem  bohnengroßen  Kotstein,  der  die  Basis  des  Processus 
abschloß.  Auch  hier  wurde  der  Processus  amputiert  und  mit  Jodo- 
formgaze dräniert.  Der  Fall  verlief  subfebril.  In  beiden  Fällen  werden 
die  Fisteln  als  Kotfisteln  bezeichnet. 

Mit  „eiternder  Fistel"  entlassen  wurde  der  Patient  im  Fall  36.  Es 
handelte  sich  um  einen  walnußgroßen  zwischen  Cöcum  und  lateraler 
Bauchwand  gelegenen  Abszeß  mit  stinkendem  Eiter  gefüllt.  Der  Pro- 
cessus  wurde    nicht   gefunden.     Auch   hier   dürfte   aller  Wahr- 


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496  Ad.  Ebner,  [40 

scheinlichkeit  nach  eine  Perforation  des  Processus  vorausgegangen 
sein. 

Mit  ^lileiner  Fistel''  entlassen  wurde  Fall  30,  bei  dem  ein  retro- 
faszialer  und  ein  intraperitonealer  Abszeß  durch  lateralen  Rektus- 
schnitt  entleert  war.  Der  Processus  wurde  gefunden  und  amputiert. 
Es  ist  der  einzige  Fall  mit  Fistelbildung ,  bei  dem  ausdrücklich  an- 
geführt wird,  daß  am  Processus  keine  Perforation  vorhanden  war. 
Trotzdem  bestand  bei  fast  afebrilem  Verlauf  eine  Eiterung  fort,  die 
schließlich  eine  Fistel  bestehen  bleiben  ließ. 

Im  Fall  74  blieben  bei  der  Entlassung  zwei  Fisteln  gleichzeitig  be- 
stehen. Der  Processus  wurde  in  dem  ileoiaguinalen  Abszeß  nicht 
gefunden.    Ob  eine  Perforation  stattgefunden  hatte,  ist  ungewiß. 

Ebensowenig  ließ  sich  dieses  im  Fall  83  feststellen,  da  auch  hier 
nach  Entleerung  des  ileoinguinalen  Abszesses  der  Processus  nicht 
gefunden  wurde.  Über  das  spätere  Schicksal  der  Fisteln  findet  sich 
nur  im  Fall  33  die  Angabe,  daß  nach  einem  Monat  eine  Spontan- 
heilung eingetreten  ist. 

In  3  von  den  6  Fällen  mit  Fistelbildung  hat  also  eine  Amputation 
des  Appendix  stattgefunden,  während  derselbe  in  den  anderen  3  Fällen 
zurückgelassen  werden  mußte.  In  3  Fällen  hat  vorher  mit  Sicherheit 
eine  Perforation  stattgefunden,  in  2  Fällen  ist  sie  als  wahrscheinlich 
anzunehmen  und  in  1  Fall  ist  dieselbe  mit  Sicherheit  auszuschließen. 

Ob  in  den  obigen  Fällen  das  Lösen  der  Jodoformgazedränage  an 
der  Stelle  der  Darmnaht  zu  einem  Aufgehen  derselben  und  Unter- 
haltung der  Fistelbildung  geführt  haben  kann,  läßt  sich  nachträglich 
nicht  entscheiden.  Immerhin  ist  vielleicht  für  einzelne  Fälle  diese 
Möglichkeit  nicht  von  der  Hand  zu  weisen. 

Eine  Periappendicitis  diffusa  ist  in  27  Fällen  zur  Operation 
gelangt.  Wir  haben  den  Eingriff  aus  den  oben  angeführten  Gründen 
als  Notoperation  bezeichnet.  Auf  diese  Notoperation  entfallen  im 
ganzen  10  Fälle  mit  tödlichem  Ausgang  :=  70,4%  Mortalität. 

Auf  die  beiden  Geschlechter  sind  die  Fälle  ziemlich  gleichmäßig 
verteilt,  indem  16  Männer  und  11  Frauen  davon  betroffen  sind. 

Bezüglich  des  Alters  verteilen  sich  die  einzelnen  Fälle  folgender- 
maßen: Von  1—10  Jahren  4  Fälle,  von  11—20  7,  von  21—30  4,  von 
31 — 40  6,  von  51—60  3  und  von  61—70  Jahren  ebenfalls  3  Fälle. 

Was  die  Anzahl  der  vorausgegangenen  Anfälle  anbelangt,  so  finden 
wir  in  20  Fällen  =  74,1%  nur  1  Anfall,  in  6  Fällen  =  22,2%  2  vor- 
ausgegangene Anfalle  und  in  1  Fall  =  3,7%  3  vorausgegangene  An- 
fälle angegeben.  Es  entspricht  dieses  der  schon  bei  den  Spätopera- 
tionen hervorgehobenen  und  bestätigten  Erfahrungstatsache  von  dem 
vielfach  besonders  schweren  Verlauf  gerade  der  ersten  Appendizitis- 


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41]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.   497 

anfiUe,  so  daß  man  diesen  gegenüber  bezüglich  der  Prognose  ganz 
besonders  miOtrauiscIi  sein  muß. 

Der  Zeitpunkt  der  Operation  ist  in  diesen  Fällen  berechnet  von 
dem  Zeitpunkt  der  Perforation  bzw.  des  Beginns  der  Allgemein- 
Peritonitis  ab,  soweit  derselbe  aus  den  in  der  Anamnese  angegebenen 
alarmierenden  Symptomen  zu  ersehen  war.  In  der  Regel  ließ  sich 
dadurch  der  Zeitpunkt  mit  ziemlicher  Sicherheit  festlegen. 

Nach  diesem  Gesichtspunkt  sind  innerhalb  der  ersten  48  Stunden 
nach  der  Perforation  zur  Operation  gelangt  7  Fälle.  Sämtliche  Fälle, 
außer  1,  sind  zur  Heilung  gelangt.  Von  den  übrigen  20  Fällen  sind 
am  3.  Tage  8  Fälle,  am  4.  Tage  3,  am  5.  Tage  4,  am  6.  Tage  1  und 
noch  später  4  Fälle  operiert  worden.  Die  beiden  einzigen  geheilten 
Fälle  davon  sind  am  3.  und  5.  Tage  zur  Operation  gelangt. 

Während  wir  hier  also  in  den  ersten  48  Stunden  das  relativ 
günstige  Ergebnis  von  14,3%  Todesfällen  haben,  steigt  die  Mortalitäts- 
ziffer nach  48  Stunden  steil  auf  00%  an. 

Der  Processus  konnte  gefunden  und  entfernt  werden  in  20  Fällen 
*=74,1%,  er  wurde  nicht  gefunden  und  mußte  zurückgelassen  werden 
in  6  Fällen  »  22,2%,  in  1  Fall  ist  es  nach  dem  Journal  unentschieden. 
Die  letzteren  Fälle  sind  sämtlich  Todesi311e,  womit  natürlich  nicht 
gesagt  sein  soll,  daß  dieses  der  alleinige  Grund  für  den  tödlichen 
Ausgang  war.  Ein  Grund  mehr  dazu  wird  das  Zurückbleiben  eines 
in  Zerfall  begrifFenen  Processus  jedenfalls  sein. 

Bei  den  anamnestischen  Angaben  ist  von  besonderem  Inter- 
esse die  Häufigkeit  bzw.  Konstanz  der  für  die  Perforation  als  patho- 
gnostisch  zu  bezeichnenden  Symptome.  Von  diesen  kann  wohl  oft  das 
eine  oder  andere  fehlen,  immerhin  wird  das  gleichzeitige  Vorhanden- 
sein der  übrigen  alarmierenden  Symptome  die  eingetretene  Ver- 
schlimmerung des  Krankheitsbildes  nur  selten  verkennen  lassen. 

Der  mehr  weniger  heftige  und  plötzlich  einsetzende  Charakter  des 
Schmerzanfalls  wird  fast  in  sämtlichen  Fällen  hervorgehoben.  In  der 
Regel  war  derselbe  mit  Übelkeit  verbunden  und  machte  sich  auch 
den  Patienten  selbst  durch  seine  schnell  zunehmende  Intensität  gegen 
den  vorhergehenden  Krankheitszustand  deutlich  bemerkbar.  Meistens 
ist  der  Schmerz  als  sehr  heftiger  Leibschmerz  angegeben,  seltener 
wird  derselbe  in  der  Ueocöcalgegend  lokalisiert. 

Das  Erbrechen  setzte  fast  immer  gleichzeitig  mit  dem  Schmerz- 
anfall ein  und  ist  in  sämtlichen  Fällen  vorhanden  gewesen  außer  im 
Fall  9.  In  diesem  Fall  ist  es  trotz  einer  bereits  4  Tage  lang  be- 
stehenden Verhaltung  von  Stuhl  und  Winden  nicht  zum  Erbrechen 
gekommen.  Über  den  Charakter  des  Erbrochenen  ist  im  Fall  1  an- 
gegeben,  daß   derselbe  gallig  war.    Im  Fall  7  war  das  Erbrochene 


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408  Ad.  Ebner,  [42 

kothaltig,  es  bestand  seit  2  Tagen  Verhaltung  von  Stuhl  und  Winden. 
Sonst  sind  nähere  Angaben  darüber  nicht  vorhanden. 

Verhaltung  von  Stuhl  und  Winden  bestand  in  15  Fällen  und  zwar 
im  Durchschnitt  seit  2—3  Tagen,  nur  im  Fall  13  allein  wird  der  Zeit- 
raum mit  7  Tagen  angegeben.  Trotzdem  war  das  Erbrochene  nicht 
kothaltig,  jedoch  bestand  gleichzeitig  ein  starker  Meteorismus,  sowie 
ein  Ödem  beider  Oberschenkel.  In  den  übrigen  Fällen  bestand  hart- 
näckige Obstipation,  außer  Fall  15,  der  allein  mit  Durchfallen  und 
Erbrechen  einsetzte,  und  Fall  5,  bei  dem  5  Tage  vorher  2  Tage  lang 
Durchfälle  bestanden  hatten,  und  dann  erst  die  übliche  Obstipation 

I  einsetzte. 

\  Urinbeschwerden  sind  nur  in  2  Fällen  angegeben.    Im  1.  Fall  hatten 

sie  1  Tag  vor  der  Perforation,  im  anderen  Fall  bereits  14  Tage  vorher 
eingesetzt. 

Die  Temperatur  war  in  22  Fällen  mehr  oder  weniger  fieberhaft, 
jedoch  wird  nur  in  1  Fall  ausdrücklich  ein  Schüttelfrost  angeführt. 

Eine  vorausgegangene  Verabfolgung  von  Abführmitteln  ist  nur  in 
4  Fällen  erwähnt,  von  denen  3  zum  Exitus  kamen.  Es  ist  aber  ohne 
weiteres   anzunehmen,   daß  Abführmittel   in   einer  weitaus  höheren 

i  Mehrzahl  von  Fällen  vorher  genommen  sind,  da  ja  das  Publikum  und 

leider  auch  noch  ein  Teil  der  Ärzte  bei  einem  Anfall  von  Leibschmerz, 

I  und  sei  er  auch  als  Blinddarmanfall  angesprochen,  den  Patienten  mit 

Abführmitteln  zu  mißhandeln  pflegt.  Daß  ein  derartiges  Verhalten 
in  allen  schweren  Fällen,  die  ja  klinisch  zunächst  gar  nicht  fest- 
zustellen sind,  die  Perforation  beschleunigen  und  die  Prognose  der 
nachfolgenden  Peritonitis  durch  die  künstlich  angeregte  Darmperi- 
staltik ganz  erheblich  verschlechtern  muß,  liegt  auf  der  Hand.    Ob 

I  solche  Fälle  dann   durch  diejenigen  aufgewogen  werden,  bei  denen 

I  der  Anfall  durch  Abführmittel,   insbesondere  das  beliebte  OL  riclni, 

I  kupiert  worden  ist,  erscheint  doch  recht  fraglich.    Zum  mindesten 

müßte  einmal  bewiesen  werden,  daß  die  letzteren  Fälle  ohne  Abführ- 

I  mittel  per  os,  allein  durch  Einlaufe  und  entsprechende  Regelung  der 

Diät,  nicht  auch  zur  Heilung  gekommen  wären,  und  zum  anderen 
müßte  man  in  der  Lage  sein,  vor  einer  Ordination  von  Abführmitteln 

I  untrügliche  klinische  Kennzeichen  für  die  Schwere  oder  Geringfugig- 

I  keit  der  am  Processus  tatsächlich  vorhandenen  pathologischen  Ver- 

änderungen anführen  zu  können.  Solange  das  nicht  der  Fall  ist, 
wird  jeder  Arzt,  der  nach  Ordination  von  Purgantien  gelegentlich 
eine  sehr  virulente  und  foudroyante  Peritonitis  auftreten  sieht,  sich 
der  schweren  Verantwortung  nicht  entziehen  können,  durch  seine 
Medikation  ein  gut  Teil  zu  dem  bedauerlichen  Ausgang  des  Falles 
beigetragen  zu  haben. 


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43]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.   400 

Aus  dem  klinischen  Äufnahmebefund  möchte  ich  nur  kurz  hervor- 
heben, daß  eine  verstärkte  bis  brettharte  Spannung  der  Bauchdecken 
i^  15  Fällen  angeführt  ist.  Daneben  bestand  gleichzeitig  im  Fall  3 
ein  stark  eingezogenes,  kahnförmiges  Abdomen,  aus  dem  Magen  wurde 
mit  dem  Schlauch  fäkulenter  Mageninhalt  entleert,  trotzdem  ist  ana- 
mnestisch das  vorher  Erbrochene  nicht  als  fäkulent  angegeben. 

Meteorismus  bestand  in  mehr  oder  weniger  ausgeprägtem  Grade 
in  20  Fällen.  Ein  Ödem  an  der  Haut  des  Abdomens  rechts  seitlich 
fand  sich  im  Fall  6,  Ödem  an  beiden  Fußgelenken  bestand  im  Fall  13. 
Eine  Flexionsstellung  beider  Beine  fand  sich  allein  im  Fall  7.  Be- 
zuglich der  Ätiologie  derselben  verweise  ich  auf  das  oben  Gesagte. 
Vorwiegend  kostaler  Atemtypus  wird  hervorgehoben  in  4  Fällen  allein, 
vermutlich  dürfte  derselbe  sich  jedoch  auch  in  einem  Teil  der  anderen 
Fälle  gefunden  haben,  da  er  ja  bei  allen  stärkeren  Affektionen  des 
ganzen  Peritoneums  nur  selten  zu  fehlen  pflegt.  Bezüglich  des  Urins 
wird  im  Fall  10  angegeben,  daß  derselbe  Albumen  und  Indikan  ent- 
hielt, im  Blute  wurden  bei  dem  Fall  56000  Leukozyten  gezählt.  Eben- 
falls Indikan  im  Urin  wurde  auch  im  Fall  13  gefunden. 

Wenden  wir  uns  nun  dem  pathologisch -anatomischen  Befund 
unserer  Fälle  zu,  so  empfiehlt  es  sich  wohl  zunächst,  die  innerhalb 
der  ersten  48  Stunden  operierten  und  geheilten  Fälle  gesondert  zu 
besprechen. 

Im  1.  Fall  zeigte  sich  der  Processus  sehr  verdickt,  aufgebläht,  mit 
einer  kleinen  Perforation  an  der  Basis.  In  der  Umgebung  dünn- 
flüssiges, leicht  getrübtes  Exsudat,  ebenso  eine  reichliche  Ansammlung 
desselben  im  Douglas.  Das  Netz  zeigte  in  der  Umgebung  des  Appen- 
dix reichliche  Adhäsionen  mit  dicken,  fibrinösen  Beschlägen,  eben- 
solche fanden  sich  am  Cöcum. 

Im  2.  Fall  war  der  Processus  in  der  Richtung  nach  hinten  oben 
geknickt  und  in  der  Psoasgegend  fixiert.  In  der  Mitte  war  er  voll- 
ständig durchgebrochen.  Im  freien  Peritoneum  reichlich  seröses,  eitrig 
getrübtes  Exsudat,  ebenso  im  Douglas.  Das  Cöcum  war  infiltriert, 
mit  leicht  rauher  Serosa. 

Im  3.  Fall  war  der  Processus  ebenfalls  nach  oben  umgeknickt,  sehr 
hoch  gelegen  und  in  frische  und  ältere  Verwachsungen  eingebettet. 
1  cm  unterhalb  der  Spitze  eine  große  Perforation,  daneben  zwei  kleine 
Kotsteine  gelegen.  Unter  der  Leber,  sowie  nach  dem  Becken  zu  eine 
kleine  Ansammlung  eines  serös-eitrig  getrübten  Exsudats,  das  sich 
in  geringerer  Menge  auch  zwischen  den  freien  Darmschlingen  vor- 
findet. 

Im  4.  Fall  freies  trüb-gelbliches  Exsudat  im  Peritonealraum.  Serosa 
der  Därme  in  der  rechten  Beckengegend  injiziert,  daselbst  reichlich 


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500  Ad.  Ebner,  [44 

Verwachsungen  mit  dicken  grau-gelblichen  Belägen.  Processus  in 
frische  VerUebungen  eingebettet,  bleistiFtdick,  in  der  Mitte  eine  kleine 
Perforation. 

Im  5.  Fall  war  der  Processus  nach  unten  vollständig  abgeknickt, 
in  Verwachsungen  eingebettet  und  zeigte  in  der  Mitte  eine  kleine 
Perforation.  Der  Inhalt  des  Processus  bestand  aus  Eiter.  In  der 
Umgebung  des  Processus  fand  sich  wenig  dünnflüssiger  Eiter  zwischen 
den  vereinzelt  verklebten  Darmschlingen,  der  mit  der  offenen  Perito- 
nealhöhle in  breiter  Verbindung  stand. 

Im  6.  Fall  fand  sich  ein  trübseröses  Exsudat  in  der  linken  freien 
Bauchhöhle.  In  der  Ileocöcalgegend  war  das  parietale  Peritoneum 
mit  Darmschlingen  verklebt,  nach  deren  Lösung  sich  aus  dem  freien 
Peritoneum  serös-eitrige  Flüssigkeit  entleerte,  nach  unten  zu  ein  grün- 
lich verfärbtes  Gewebe  mit  100  ccm  stinkenden  Eiters.  In  diesem  Ab- 
szeß lag  der  perforierte  gangränöse  Appendix  mit  einem  Kotstein. 
Aus  dem  kleinen  Becken  entleerte  sich  ebenfalls  stinkender  Eiter. 
Dieser  Fall  kam  als  der  einzige  von  sämtlichen  relativen  Frühopera- 
tionen zum  Exitus  an  fortschreitender  Peritonitis,  die  auch  durch  den 
Sektionsbefund  bestätigt  wurde. 

Im  7.  Fall  endlich  fand  sich  ebenfalls  ein  trübes  Exsudat  in  der 
freien  Bauchhöhle,  sowie  mehrere  Abszesse  zwischen  leicht  verklebten 
Darmschlingen.  Der  Appendix  war  ohne  frische  Erscheinungen  ad- 
härent  und  lag  in  einer  anscheinend  alten  AbszeOhöhle  zwischen 
Cöcum  und  Dünndarmschlingen.  Der  Fall  entsprach  einer  Spontan- 
perforation eines  alten  latenten  perityphlitischen  Abszesses.         • 

Allen  Fällen  gemeinsam  ist  also  außer  im  7.  Fall  eine  Perforation 
des  Processus,  ferner  ein  seröses,  mehr  oder  weniger  in  Übergang 
zur  Eiterung  begriffenes  Exsudat  der  freien  Peritonealhöhle,  oder  mit 
dieser  in  breiter  Verbindung  stehend,  und  schließlich  die  übliche 
Injektion  und  Trübung  der  Darmserosa,  stellenweise  mit  fibrinösen 
Beschlägen.  In  sämtlichen  Fällen  wurde  der  Processus  entfernt  und 
die  Bauchhöhle  unter  Verkleinerung  der  Inzisionswunde  mit  Jodoform- 
gaze  dräniert.  Alle  Patienten  gelangten  in  einem  Zeitraum  von  17  bis 
26  Tagen  zur  Heilung  ohne  Fistel,  mit  Ausnahme  des  Falles  2,  bei 
dem  nach  20  Tagen  noch  die  Inzision  eines  Douglasabszesses  per 
rectum  notwendig  wurde.  Kotsteine  wurden  allein  im  Fall  3  und  6 
gefunden.  In  ersterem  Fall  wurde  wegen  seines  reaktionslosen  Ver- 
laufes 4  Tage  post  op.  die  Sekundärnaht  gemacht,  die  dann  p.  p.  zur 
Heilung  gelangte. 

Besprechen  wir  in  gleicher  Weise  nach  dem  Zeitpunkt  der  Ope- 
ration geordnet  die  weiteren  20  Fälle,  so  finden  wir  bei  den  8  am 
3.  Tage  zur  Operation  gelangten  Fällen  folgenden  Status : 


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45]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.   501 

1.  Fall  6.  Freies  jauchig-eitriges  Exsudat  mit  abgegrenzten  Eiter- 
herden im  Peritoneum  und  reichlichen  Verklebungen.  Processus  nicht 
gefunden.  Die  Sektion  am  3.  Tage  post  op.  ergab  eine  Perforation 
an  der  Spitze  des  Processus,  daneben  einen  erbsengroßen  Kotstein 
in  einem  abgekapselten  Abszeß. 

2.  Fall  12.  Im  freien  Peritoneum  seröses,  gallig  gefärbtes  Exsudat. 
Im  kleinen  Becken  gränlich-gelber,  mißfarben-jauchiger  Eiter.  Sämt- 
liche Därme  gebläht  und  intensiv  gerötet.  Processus  nach  dem  kleinen 
Becken  zu  abgeknickt,  an  der  Basis  eine  bohnengroße  und  an  der 
Spitze  zwei  erbsengroße  Perforationen. 

3.  Fall  14.  Freies  fäkulent- trübes  Exsudat  im  Abdomen,  diffuse 
fibrinöse  Darmverklebungen.  Im  kleinen  Becken  stinkender  Eiter. 
Processus  in  Verwachsungen  eingebettet,  fingerlang,  mit  der  Tube 
verklebt,  entzfindlich  verdickt.  Breite  Perforation  in  der  Mitte',  ein 
bohnengroßer  Kotstein  im  Processus.  Ein  zweiter  Stein  frei  im 
Becken  liegend.  Einige  Dünndarmschlingen  schwarzbraun,  gangränös. 
Der  Processus  wurde  amputiert.  Bereits  einige  Stunden  post  op.  trat 
der  Exitus  ein. 

4.  Fall  15.  Eitrig-dünnes  Sekret  in  reicher  Menge  im  Peritoneum, 
Fibrinauflagerungen  am  Cöcum  und  Dünndarm.  Kein  Abschluß  gegen 
die  freie  Bauchhöhle.  Im  Becken  eine  große,  jauchig-stinkende  Eiter- 
ansammlung.   Prozessus  nicht  gefunden.    Nach  3  Tagen  Exitus. 

5.  Fall  17.  Trübes  Exsudat  im  freien  Abdomen,  Darmserosa  mit 
Belägeii,  in  deren  Wand  der  Processus  mit  einer  Dünndarmschlinge 
verwachsen  ist,  die  um  120  "^  gedreht  ist.    Processus  amputiert,  Exitus. 

6.  Freies  seröses  Exsudat,  leichte  Injektion  der  freien  Dünndarm- 
schlingen und  des  Cöcum.  Appendix  ohne  Perforation  ins  kleine, 
Becken  geschlagen,  mit  leicht  injizierter  Wand.  Bei  der  Lösung  reißt 
die  Spitze  ab,  worauf  sich  serös-eitrige  Flüssigkeit  aus  seinem  Lumen 
entleert.  Nach  24  Stunden  Exitus.  In  dem  makroskopisch  klaren 
Exsudat  Bacterium  coli:  Exitus  durch  Endotoxinwirkung. 

7.  In  der  freien  Bauchhöhle  fökulente  Exsudatmassen,  Appendix 
nicht  gefunden.  Exitus  2  Stunden  post  op.  Die  Sektion  ergab  eine 
Kotsteinperforation  des  gangränösen  Appendix  mit  mangelhafter  Ad- 
häsionsbildung, davon  ausgehend  diffuse,  fäkulente  Peritonitis. 

8.  Fäkulent-eitrige  Peritonitis  der  rechten  Bauchseite,  ausgehend 
von  dem  tief  im  Becken  perforierten  Appendix,  serös-eitrige  Perito- 
nitis im  übrigen  Abdomen.  Es  ist  dies  einer  der  beiden  noch  nach 
48  Stunden  geheilten  Fälle,  der  Patient  konnte  nach  5  Wochen  ent- 
lassen werden. 

Auch  hier  finden  wir  in  sämtlichen  Fällen,  außer  im  Fall  6,  ein 
trübes  Exsudat  im  freien  Peritoneum,  jedoch  bereits  mit  mehr  eitrig- 


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502  Ad.  Ebner,  [46 

jauchigem  Charakter,  sowie  größere  Ansammlungen  von  fakulentem 
Eiter  im  Douglas.  Die  Darmschlingen  zeigen  in  ausgedehnterem 
Maße  starke,  fibrinöse  Beschläge  und  mehr  oder  weniger  ausgedehnte 
Verwachsungen,  so  daß  es  bereits  zur  Abkapselung  von  kleineren 
und  größeren  Höhlen  gekommen  ist,  die  aber  in  allen  Fällen  mit  der 
freien  Bauchhöhle  kommunizieren.  In  1  Fall  (14)  waren  bereits 
gangränöse  Veränderungen  einiger  Darmschlingen  vorhanden,  die 
vielleicht  auf  Ernährungsstörungen  durch  eitrige  Gefaßverschlüsse 
zurückzuführen  sind.  Wir  sehen  hier  deutlich  die  Kennzeichen  der 
weiter  fortgeschrittenen  Peritonitis. 

Der  Processus  wurde  in  3  Fällen  nicht  bei  der  Operation  ge- 
funden infolge  bereits  vorhandener  Verklebungen,  die  man  wegen 
der  Infektionsgefahr  nicht  lösen  wollte.  In  2  Fällen  davon  ergab  die 
nachträgliche  Sektion  eine  Perforation  an  der  Spitze  und  daneben 
einen  freien  Kotstein. 

In  den  5  anderen  Fällen  wurde  der  Processus  gefunden  und  ent- 
fernt. In  3  Fällen  davon  war  eine  Perforation  an  dem  Appendix  vor- 
handen, neben  der  sich  in  1  Fall  2  Kotsteine  fanden,  von  denen  einer 
innerhalb,  der  andere  außerhalb  des  Processus  gelegen  war. 

Am  4.  Tage  wurden  3  Fälle  operiert. 

1.  Fall  11.  Fäkulenter  Eiter  im  freien  Peritoneum,  Appendix  in 
der  rechten  Fossa  iliaca  fixiert,  zeigt  eine  bohnengroße,  gangränöse 
Stelle  mit  Perforation,  im  Douglas  reichlich  Eiter.  Stellenweise  eitrige 
Membranen  auf  der  injizierten  Darmserosa.  Die  Sektion  ergab  neben 
freiem  Eiter  zahlreiche,  kleine  Abszesse  und  vergrößerte  Mesenterial- 
drüsen. 

2.  Fall  0.  Stark  geblähte  und  injizierte  Dünndarmschlingen  mit 
freiem  getrübtem  Exsudat.  Ein  Appendix  epiploic.  der  Flexura  sigmoid. 
zieht  nach  hinten  oben  und  ist  an  der  Radix  mesenter.  fixiert.  Eben- 
dahin zieht  der  in  Verwachsungen  eingehüllte  Appendix.  An  seiner 
Basis  in  den  Adhäsionen  ein  kleiner  Eiterherd.  Dicht  unterhalb  der 
Klappe  eine  Schnürfurche.  Die  Sektion  ergab  neben  alten  peritoni- 
tischen Verwachsungen  und  einem  vernarbten  Geschwür  der  Pylorus- 
klappe  ein  hämorrhagisches  Infiltrat  der  Dünndarmwand  und  allgemeine 
Peritonitis. 

Der  letzte  Fall  bietet  kein  klares  Bild  infolge  der  früheren,  wohl 
auf  der  Basis  der  PylorusafPektion  entstandenen  Peritonitis.  Diese 
hat  dann  wohl  durch  Strangulationen  und  Knickungen  zu  einer  weiteren 
Aifektion  des  Appendix  geführt,  von  dem  die  zweite  tödliche  Peritonitis 
ihren  Ausgang  genommen  hat.  Für  die  letztere  Annahme  scheint  mir 
wenigstens  der  an  der  Basis  des  Processus  gelegene  kleine  Eiterherd 
zu  sprechen. 


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47]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.   503 

3.  Freies  trabseröses  Exsudat  mit  difiPus  injizierten  Dfinndarm- 
schiingen.  Stärkere  grünlich -gallertige  Exsudatmassen  fuhren  von 
links  durch  das  Becken  nach  rechts  in  die  Ileococalgegend.  Appendix 
retrocöcal,  im  Bogen  nach  medial  ziehend,  perforiert,  in  einem  Ab- 
szeß gelegen.  Die  Dünndarmschlingen  zum  Teil  stark  gebläht,  zum 
Teil  kollabiert«  Zwischen  beiden  Abschnitten  zieht  ein  l^/s  cm  breiter 
Netzstrang  hinweg,  der  nach  rechts  unten  fixiert  ist 

Exitus  15  Tage  post  op.  Autopsie  verweigert.  Der  Fall  weist 
mit  dem  vorhergehenden  insofern  eine  gewisse  Ähnlichkeit  auf,  als 
er  eine  Kombination  von  Perforationsperitonitis  mit  Strangileus  dar- 
stellt und  der  Netzstrang  wohl  als  Residuum  einer  vorausgegangenen 
Periappendizitis  aufzufassen  ist. 

In  allen  3  Fällen  also  ebenfalls  freies  eitriges  Exsudat,  nur  im  1. 
und  3.  Fall  eine  Perforation,  dagegen  im  2.  und  3.  Fall  die  Residuen 
einer  früheren  Peritonitis  als  Ursache  der  letzten  Erkrankung. 

Am  5.  Tage  nach  der  Perforation  gelangten  nur  4  Fälle  zur  Ope- 
ration. 

1.  Fall  5.  Dünner  fakulenter  Eiter  im  freien  Peritoneum,  fibrinös- 
eitrige  Beläge  der  Darmschlingen  mit  reichlichen  Verklebungen.  Pro- 
cessus mit  der  hinteren  Wand  des  Cöcum  verwachsen,  an  der  Spitze 
eine  linsengroOe  Perforation.  Im  Douglas  eine  Menge  eitrig-fäkulenten 
Exsudats.    Vor  dem  zentralen  Ende  im  Processus  ein  Kotstein. 

2.  Fall  16.  Im  Abdomen  ein  freies,  trübes  Exsudat,  rechtsseitlich 
eine  große  in  Abkapselung  begriffene  Eiterhöhle,  Därme  mit  dünnen 
Belägen,  Processus  gangränös  und  perforiert. 

3.  Freies  eitriges  Exsudat  mit  Belägen  und  Verklebungen  der 
Dannschlingen.  Processus  an  der  Spitze  kolbig  aufgetrieben,  per- 
foriert und  gangränös. 

4.  Serös-eitriges  Exsudat  im  freien  Peritoneum,  Appendix  nicht 
gefunden.    Exitus  nach  24  Stunden.    Sektion  verweigert. 

In  allen  4  Fällen  bestand  also  ebenfalls  freies  eitriges  Exsudat  neben 
einer  Perforation  des  Processus  in  3  Fällen,  einmal  mit  einem  Kot- 
stein im  Inneren  des  Processus.  Nur  der  2.  Fall  kam  zur  Heilung^ 
nachdem  noch  eine  zweite  Laparotomie  oberhalb  des  Nabels  vor- 
genommen war  zur  Lösung  einer  Darmschlinge,  welche  durch  perito- 
oitische  Verwachsungen  Ileus  verursachte. 

Reichlich  dünnflüssiger  Eiter  mit  Fibrinflocken  vermischt  fand  sich 
auch  bei  dem  am  6.  Tage  operierten  Fall  7.  Der  Processus  wurde 
nicht  gefunden.  Die  Sektion  ergab  diffuse  Verklebungen  der  Darm- 
schlingen, eine  schmierige,  gelb-grünliche  Verfärbung  des  Peritoneums, 
reichliche,  muhiple  Abszesse  mit  eitrig-kotigem  Inhalt.  Processus  am 
Cöcum   gelegen,   fast  völlig   zerstört.    Zahlreiche  Perforationen   am 


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504  Ad.  Ebner,  [48 

Dünndarm,  Cöcum  und  Kolon,  die  wohl  als  RackperForationen  auf- 
zufassen sind.  Das  in  diesem  Fall  vorausgegangene  Koterbrechen  ist 
nach  dem  obigen  Befunde  erklärlich. 

Besonderes  Interesse  bietet  der  am  7.  Tage  zur  Operation  gelangte 
Fall  aus  der  Breslauer  Klinik,  insofern  man  zunächst  einen  voll- 
kommenen, akuten  Obturationsileus  mit  Sitz  der  Obturation  am  Dfino- 
darm  angenommen  hatte,  ohne  Peritonitis.  Die  Operation  ergab  nur 
wenig  trübes  freies  Exsudat  im  Peritoneum  mit  blaurot  geblähten 
Darmschlingen.  In  der  Ileocöcalgegend  eitrig  belegte  Darmpartien  in 
Form  eines  Darmwandbruches,  Dünndarmschlingen  im  kleinen  Becken 
kollabiert.  Spontane  Eröffnung  eines  rechtsseitigen  stinkenden  Douglas- 
abszesses, in  welchem  der  an  seiner  Spitze  gangränöse  und  einen 
Kotstein  aufweisende  Appendix  fixiert  war  am  Mesenterium  einer 
Dünndarmschlinge.  Es  handelte  sich  demnach  um  einen  Fall  von 
Kombination  eines  rein  mechanischen  Ileus  mit  Appendizitis,  bei 
welchem  der  DarmverschluO  eventuell  in  der  Weise  zustande  ge- 
kommen war,  daß  durch  den  an  seiner  Spitze  fixierten  Appendix  eine 
Dünndarmschlinge  abgeschnürt  sein  konnte.  Wahrscheinlich  hatte 
früher  einmal  bereits  eine  Appendizitis  bestanden  (Kotstein),  die  durch 
die  Einklemmung  der  Dünndarmschlinge  zu  neuem  Aufflammen  ge- 
bracht wurde.    Der  Fall  starb  wenige  Stunden  nach  der  Operation. 

Die  restierenden  3  Fälle  sind  erst  am  0.,  14.  und  35.  Tage  zur 
Operation  gelangt  und  nehmen  daher  eine  besondere  Stellung  gegen 
die  obigen  bis  zum  6.  Tage  operierten  Fälle  ein.  Sie  bieten  nicht 
eigentlich  das  Bild  der  akuten  allgemeinen  Peritonitis  dar,  sondern 
mehr  das  Bild  einer  Peritonitis  fibrinopurulenta  progrediens  nach 
Mikulicz,  zum  Teil  übergehend  in  das  Bild  der  akuten,  allgemeinen 
Peritonitis. 

So  ergab  im  Fall  13  die  Operation  am  0.  Tage  an  der  Spitze  des 
Processus  eine  Perforation,  sowie  einen  bis  in  den  Dquglas  reichenden 
Abszeß,  der  mit  einem  großen  Abszeß  der  linken  Lumbaigegend  kom- 
munizierte. Der  Processus  war  nach  unten  umgeschlagen.  Erst  die 
nachfolgende  Sektion  des  kurz  nach  der  Operation  verstorbenen 
Patienten  ergab  neben  der  zirkumskripten  die  gleichzeitig  bestehende 
allgemeine  Peritonitis. 

Ein  ähnliches  Bild  ergab  auch  die  Operation  am  14.  Tage  im 
Fall  10.  Es  bestand  eine  große,  von  trocknen,  roten,  fibrinös  belegten 
und  verklebten  Darmschlingen  gebildete  Höhle  mit  dickem,  fakulentem 
Eiter.  Ein  Gang  führte  von  hier  aus  nach  hinten  oben  in  die  Lenden- 
gegend, ein  anderer  nach  vorne  und  unten  zwischen  Nabel  und  Sym- 
physe. Daselbst  zwei  Gegeninzisionen  angelegt.  Sonst  überall  Ver- 
klebungen der  Därme,  die  auch  ein  Auffinden  des  Processus  unmög- 


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49]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.   505 

lieh  machten.  Die  Sektion  nach  24  Stunden  ergab  eine  Periappendicitis 
perforativa,  Pelveoperitonitis  chron.,  Peritonitis  diffusa  acuta  punilenta 
und  Salpingitis  sinistra. 

Eine  chronische,  eitrige  Peritonitis  mit  abgeschlossenen  intraperi- 
tonealen multiplen  Abszessen  ergab  schließlich  die  Operation  am 
35.  Tage  nach  Beginn  der  Beschwerden  im  Fall  8.  Die  Spitze  des 
Appendix  war  in  die  Bauchhöhle  und  nach  Verwachsung  mit  dem 
Cöcum  in  das  letztere  perforiert«  Ferner  bestand  eine  RückperForation 
in  Kolon  und  Magen.  Der  Fall  wurde  noch  dadurch  kompliziert,  daß 
ein  operativer  Pneumothorax  links  mit  Atelektase  der  linken  Lunge 
eine  Resektion  der  linken  IL  Rippe  notwendig  machte. 

Sämtliche  drei  letzten  Fälle  könnten  somit  nach  einem  Teil  des 
Befundes  ebensogut  unter  den  zirkumskripten  Periappendiziten  ange- 
führt werden,  wenn  eben  nicht  die  gleichzeitig  vorhandene  allgemeine 
Peritonitis  ihnen  diesen  gegenüber  eine  besondere  Stellung  zuweisen 
würde.  In  allen  drei  Fällen  lag  ebenfalls  eine  Perforation  des  Appen- 
dix vor. 

Der  eigentliche  Zeitpunkt  der  Perforation  läßt  sich  hier  natur- 
gemäß bei  der  langen  Dauer  der  Erkrankung  aus  den  Journalen  nicht 
mit  Sicherheit  ersehen,  so  daß  der  angegebene  Zeitraum  sich  mehr 
auf  den  Beginn  der  Beschwerden  als  auf  den  Zeitpunkt  der  Per- 
foration beziehen  dürfte.  Im  übrigen  stimmen  aber  die  anatomisch- 
pathologischen Veränderungen  der  einzelnen  Fälle  mit  dem  angegebe- 
nen Zeitraum  auch  bezüglich  der  Möglichkeit  einer  so  lange  bestehen- 
den Perforation  so  ziemlich  überein. 

Kurz  zusammengefaßt  finden  wir  also  in  21  Fällen  eine  Perforation 
ausdrücklich  angegeben,  dagegen  wurde  ein  Kotstein  nur  in  7  Fällen 
gefunden.  Im  freien  Peritoneum  finden  wir  bis  zum  3.  Tage  in  allen 
Fällen  ein  mehr  seröses,  leicht  getrübtes  Exsudat,  das  vom  3.  bis 
6.  Tage  eine  deutlich  eitrig -jauchige  Beschaffenheit  annimmt  und  zu 
Ansammlungen  im  Douglas  Neigung  hat.  Gleichzeitig  eine  fort- 
schreitende Verklebung  der  Darmschlingen  auf  der  Grundlage  einer 
fibrinösen  Ausscheidung  des  Exsudates.  Vom  0.  Tage  ab  entweder 
das  Bild  einer  langsam  fortschreitenden  fibrinösen  Peritonitis  oder 
einer  zirkumskripten  Periappendizitis  mit  sekundärer  Perforation  in 
die  freie  Bauchhöhle  und  nachfolgender  akuter  Allgemeinperitonitis. 

Die  Therapie  bestand  bei  sämtlichen  Fällen  in  breiter  Eröfi^nung 
der  Peritonealhöhle  durch  Medianschnitt,  Schrägschnitt  oder  Schnitt 
am  lateralen  Rektusrande,  zu  dem  nach  Bedarf  eine  Gegeninzision  in 
der  Lumbaigegend  oder  auch  im  Douglas  hinzugefügt  wurde.  Die 
Dränage  erfolgte  stets  in  ausgiebiger  Weise  mit  Jodoform-  bzw.  Iso- 
formgaze   und   bisweilen   gleichzeitig  mit   einem   dicken,   bis  in  den 

KUn.  VortrSge,  N.  F.  Nr.  494/95.    (Chirurgie  Nr.  145/46.)   Juli  1908.  37 


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506  Ad.  Ebner,  [50 

Douglas  eingelegten  Glasdrän.  In  Fällen  mit  dickem  eitrigem  Ex- 
sudat wurde  eine  ausgiebige  Spülung  der  Abdominalhöhle  mit  physio- 
logischer Kochsalzlösung  vorgenommen.  Stark  kollabierte  Patienten 
mit  darniederliegender  Darmtätigkeit  erhielten  zur  Anregung  derselben 
reichlich  Kochsalzeinläufe  per  rectum.  Die  Narkose  wurde  durchweg 
mit  Äther  gemacht  und  nur  auf  eine  besondere  Indikation  seitens  der 
Lungen  wurde  ausnahmsweise  einmal  Billrothsche  Lösung  verwandt. 

Kommen  wir  zu  den  absoluten  Frühoperationen,  d.  h.  den- 
jenigen Fällen,  die  bereits  48  Stunden  nach  Beginn  der  Erkrankung 
überhaupt  ohne  Rücksicht  auf  das  Fehlen  schwerer  Symptome  zur 
Operation  gelangt  sind,  so  ist  deren  Zahl  verhältnismäßig  gering,  da 
einerseits  erst  im  Jahre  1903/04  mit  der  Frühoperation  begonnen 
wurde,  und  andererseits  die  Zahl  der  Fälle,  welche  so  früh  bereits 
in  die  Hand  des  Chirurgen  gelangt,  an  sich  schon  eine  sehr  be- 
schränkte ist.  Diese  letzte  Tatsache  wird  sich  vermutlich  ändern, 
sobald  auch  die  ausschlaggebenden  Kreise  der  praktischen  Ärzte  mehr 
und  mehr  von  dem  Nutzen  der  Frühoperation  durchdrungen  sind, 
wie  es  z.  B.  von  Sprengel  aus  der  Umgebung  von  Braunschweig 
und  von  Riedel  aus  der  von  Jena  heute  schon  hervorgehoben  wird« 

Wir  haben  es  daher  im  Laufe  der  Jahre  1903—1907  nur  mit  27 
Fällen  von  absoluter  Frühoperation  zu  tun,  die  sämtliche  glatt  zur 
Heilung  gelangt  sind. 

Es  handelte  sich  dabei  um  16  =  59,2  %  männliche  und  1 1  :=  40,8% 
weibliche  Patienten  im  Alter  bis  zu  40  Jahren.  Davon  entfallen  auf 
das  erste  Dezennium  1  Fall,  auf  das  zweite  Dezennium  8  Fälle,  auf 
das  dritte  U  und  auf  das  vierte  7  Fälle. 

In  18  Fällen  davon  wird  der  Anfall  als  der  erste  angegeben,  in 
6  Fällen  war  bereits  ein  anderer  Anfall  vorausgegangen  und  nur  in 
2  Fällen  handelte  es  sich  um  den  dritten,  sowie  in  einem  Falle  um 
den  vierten  Anfall. 

In  sämtlichen  Fällen  wurde  der  Processus  leicht  gefunden  und 
entfernt. 

Die  Behandlungsdauer  lag  zwischen  12—20  Tagen  in  7  Fällen, 
zwischen  21—30  Tagen  in  2,  und  zwischen  31 — 42  Tagen  ebenfalls 
in  2  Fällen. 

Ein  operativer  EingrifiP  war  vorausgegangen  allein  im  Fall  11,  der 
vor  2  Monaten  bei  dem  ersten  Anfall  eine  Inzision  und  Dränage  des 
Douglas  durchgemacht  hatte.  Seitdem  hatte  der  betr.  Patient  häufig 
an  Blasenbeschwerden  gelitten,  wohl  als  Folge  der  entzündlichen 
Adhäsionen  vom  ersten  Anfall  her. 

Von  sonstigen  Angaben  aus  der  Anamnese  sei  hier  einiges  hervor- 
gehoben, was  allgemeineres  Interesse  bietet. 


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51]    Ober  den  heutigen  Sund  der  Erkennung  U.Behandlung  der  Appendizitis.    507 

Die  Temperatur  wird  als  fieberliaft  vor  und  bei  der  Aufnalime 
angegeben  in  20  Fällen.  In  3  Fällen  wird  ein  Schüttelfrost  angeführt. 
In  4  Fällen  bestand  kein  Fieber  und  in  3  anderen  Fällen  ist  weder 
in  der  Anamnese,  noch  im  Status  eine  Angabe  über  die  Temperatur 
vorhanden. 

Erbrechen  ging  voraus  in  verschiedener  Intensität  und  Häufigkeit 
in  16  Fällen,  während  in  den  anderen  11  Fällen  nur  von  Übelkeit 
väbrend  des  Anfalles  berichtet  wird. 

Die  Schmerzen  begannen  mehr  weniger  heftig  in  der  Magengegend 
oder  im  ganzen  Leibe  und  lokalisierten  sich  dann  schnell  in  der  Ueo- 
cocalgegend.  Vereinzelt  werden  sie  gleich  bei  Beginn  in  der  Gegend 
des  Appendix  empfunden. 

Im  Fall  5  hatte  Patient  noch  an  dem  Tage  nach  Beginn  des  An- 
falls eine  längere  Wagenfahrt  unternommen,  worauf  denn  auch  prompt 
eine  schnelle  Verschlechterung  seines  Zustandes  eintrat.  Im  Fall  8 
hatte  Patient  nach  Beginn  des  Anfalls  noch  die  Schule  besucht,  worauf 
am  nächsten  Tage  eine  rapide  Verschlimmerung  der  Schmerzen  und 
häufiges  Erbrechen  bei  jeder  Nahrungsaufnahme  auf  die  Schwere  des 
Leidens  hinwies. 

Bei  der  Aufnahme  bestand  deutlicher  Meteorismus  und  Span- 
nung der  Bauchdecken  in  20  Fällen,  in  einem  Fall  wird  die  letztere 
als  bretthart  bezeichnet,  Blasenkrampf  war  nur  einmal  vorhanden. 
Die  Druckempfindlichkeit  wird  als  allgemein  angegeben  in 
2  Fällen,  in  24  Fällen  war  dieselbe  besonders  in  der  Ileocöcalgegend 
lokalisiert,  in  einem  Fall  war  eine  stärkere  Druckempfindlichkeit  über- 
haupt nicht  vorhanden. 

Eine  deutliche  Resistenz  in  der  Ileocöcalgegend  ließ  sich  in 
14  Fällen  nachweisen,  dieselbe  schwankte  zwischen  Hühnerei-  bis 
MannsfaustgröOe,  und  nur  in  einem  Fall  wird  dieselbe  als  bleistift- 
dicker Strang  angegeben.  In  2  Fällen  ließ  sich  die  Resistenz  gleich- 
zeitig vom  Rektum  aus  nachweisen.  In  2  anderen  Fällen  fehlte  jede 
klinisch  nachweisbare  Resistenz. 

Indikan  wurde  im  Urin  nur  im  Fall  10  gefunden.  In  einem  Fall 
(6)  war  gleichzeitig  eine  urethrale  Gonorrhöe  vorhanden. 

Bei  der  Durchsicht  der  anatomisch -pathologischen  Operations- 
befunde dieser  Kategorie  werden  wir  öfters  finden,  daß  die  patho- 
logischen Veränderungen  weit  mehr  fortgeschritten  sind,  als  man  nach 
der  kurzen  Zeit  seit  dem  angeblichen  Beginn  des  Anfalls  erwarten 
sollte.  Die  Veränderungen  entsprechen  mit  anderen  Worten  einem 
spateren  Stadium  der  Erkrankung,  als  dem,  welches  wir  nach  den 
subjektiven  Angaben  des  Patienten  vor  uns  haben.  Dieses  erklärt 
sich  ohne  weiteres  aus  der  schon  oben  hervorgehobenen  Erfahrungs- 

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508  Ad.  Ebner,  [52 

tatsache,  daß  eben  die  klinischen  Erscheinungen  bisweilen  in  grellem 
Gegensatz  zu  den  pathologischen  Veränderungen  stehen  können. 

Die  subjektiven  Beschwerden  können  an  sich  schon  gering  sein, 
und  werden  außerdem  noch  je  nach  Sensibilität  des  Patienten  ver- 
schieden stark  empFunden  werden.  Sie  können  daher  namentlich  bei 
Beginn  der  Erkrankung  der  Beobachtung  völlig  entgehen  und  gelangen 
dem  Patienten  erst  bei  stärkerem  Auftreten  zur  Wahrnehmung,  der 
von  diesem  Augenblick  naturgemäß  den  Beginn  der  Erkrankung 
rechnen  wird. 

Andererseits  kann  auch  eine  virulentere  Infektion  innerhalb  kür- 
zerer Zeit  zu  schweren  anatomischen  Veränderungen  führen,  als  dieses 
bei  einer  weniger  virulenten  Infektion  der  Fall  sein  wird. 

Kurz  zusammengefaßt  stellen  sich  nun  die  Operationsbefunde  nach 
den  Krankengeschichten  folgendermaßen  dar: 

1.  Processus  in  alte  und  frische  Verwachsungen  eingebettet,  ver- 
dickt. Er  ist  nach  außen  und  unten  umgeschlagen,  die  Wand  ist  stark 
infiltriert  und  brüchig.  Im^Douglas  trübseröses  Exsudat.  Die  Schleim- 
haut des  Processus  zeigt  grauweißliche,  diphtherische  Beläge. 

2.  Retention  an  der  Spitze  des  Processus,  keine  Verwachsungen, 
dagegen  Hämorrhagien  der  Schleimhaut.  Der  Processus  ist  sehr 
lang,  nach  hinten  und  oben  umgeschlagen  mit  starker  Schwellung  der 
Wand.  An  der  Basis  eine  Striktur  infolge  einer  alten  Narbe.  Die 
Peritonealhöhle  ist  frei  von  Exsudat. 

3.  In  der  rechten  Darmbeingrube  wenig  seröses  Exsudat,  das  in 
Reinkultur  Streptokokken  enthält.  In  einem  zusammengeballten  Netz- 
klumpen der  10  cm  lange,  dicke  und  hochrote  Processus.  Peritoneum 
parietale  der  hinteren  Beckenwand  stark  injiziert,  Mesenteriolum 
ödematös  verdickt. 

4.  Processus  frei  nach  dem  kleinen  Becken  ziehend,  verdickt,  ge- 
rötet und  geschwollen.  Nahe  der  Spitze  eine  fünfpfennigstuckgroße, 
gangränöse  Stelle.  Eiteransammlung  im  kleinen  Becken.  Ein  zweiter 
Abszeß  unterhalb  des  Nabels  nach  links  zur  Mittellinie  ziehend.  Ver- 
klebung der  Därme  am  Peritoneum  parietale. 

5.  Ziemlich  reichliches,  leicht  getrübtes  Exsudat  im  freien  Ab- 
domen, besonders  im  kleinen  Becken  angesammelt.  Der  entzündlich 
veränderte  Processus  wird  von  dem  zu  einem  Klumpen  verbackenen 
Netz  in  der  rechten  Beckenschaufel  umschlossen.  Darin  ein  Abszeß 
mit  braunem,  stinkendem  Eiter.  Am  Processus  eine  markstück- 
große Gangränstelle,  dahinter  ein  Kotstein  in  KirschkerngroOe. 

6.  Processus  stark  gerötet  an  der  Spitze  im  kleinen  Becken  fixiert. 
Die  Serosa  ist  mit  kleinen  Knötchen  besetzt,  Mesenteriolum  derb 
ödematös  geschwollen,  mit  einem  großen  Fibrinfetzen.    Im  kleinen 


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53]    Ober  den  beutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.   SQQ 

Becken  eine  geringe  Menge  nicht  eitrigen  Exsudates.    Im  Lumen  des 
Processus  Eiter  und  Stuhl. 

7.  Processus  nach  oben  geschlagen,  in  Netz  eingebettet.  An  der 
Basis  eine  erbsengroße  Perforation,  die  ganze  Basis  brüchig  mit 
beginnender  Gangrän.  Processus  stark  aufgetrieben,  in  der  Wand 
kleine  Eiterherde.  Blutig-schleimiger  Inhalt,  ausgedehnte  Nekrosen. 
Geringes,  seröses,  freies  Exsudat.  Neben  dem  Processus  in  dem  um- 
gebenden Netzklumpen  ca.  ein  Teelöffel  voll  Eiter.  Obliteration  des 
Lumens. 

8.  Peritoneum  ödematös,  verbackene  Darmschlingen,  ein  Netz- 
klumpen bedeckt  das  kleine  Becken,  unter  demselben  reichlich  ßku- 
lenter  Eiter.  Processus  in  der  AbszeOhöhle  gelegen,  ringförmig  ge- 
krümmt, an  der  Spitze  eine  linsengroOe  Gangränstelle,  dahinter  ein 
reiskorngroßer  Kotstein. 

9.  Spitze  des  geschwollenen  Appendix  nach  oben  geschlagen,  gegen 
die  Leber  zu  verwachsen.  Basis  des  Appendix  bis  auf  Pflaumen- 
große  aufgetrieben,  Wandung  stark  injiziert.  Kein  Exsudat,  keine 
Fibrinbeschläge,  Cöcalwand  sehr  brüchig,  so  daß  die  Nähte  durch- 
schneiden. Das  Mesenteriolum  wird  auf  den  Stumpf  genäht.  Nahe 
der  Spitze  eine  Striktur.  Schleimhaut  an  der  dilatierten  Stelle  gangränös. 

10.  Im  freien  Peritoneum  reichlich  getrübtes,  nicht  ßikulentes  Ex- 
sudat, das  sich  besonders  reichlich  im  kleinen  Becken  vorfindet  und 
dort  einen  deutlich  fäkulenten  Geruch  annimmt.  Processus  in  der 
Nahe  des  Nabels  zwischen  Netz  und  Dfinndarmschlingen  frisch  ad- 
harent.  Bei  der  Auslösung  Entleerung  von  fäkulentem  Eiter  aus 
einem  um  den  Appendix  gelegenen  Abszeß.   Kolonwand  ist  infiltriert 

11.  Tiefere  Muskelschichten,  Faszie  und  Peritoneum  infiltriert, 
ödematös.  Netz  zu  einem.  Klumpen  verbacken,  vielfach  mit  Abszessen 
durchsetzt.  Resektion  des  Netzlappens.  Zwischen  Cöcum  und  Netz- 
lappen eine  Abszeßhöhle,  die  durch  das  Netz  in  die  Bauchhöhle 
durchgebrochen  ist.  In  der  Bauchhöhle  und  im  Douglas  freier  Eiter. 
Dannserosa  spiegelnd.  Processus  6  cm  lang,  an  der  Basis  stenosiert, 
daliinter  ein  Empyem  mit  15(!)  flachen,  linsengroßen  Kotsteinen«  Die 
Wandung  des  Processus  ist  trotzdem  nirgends  perforiert,  nicht  einmal 
an  einer  Stelle  ulzeriert. 

12.  Wenig  freies  seröses  Exsudat,  vorliegend  injiziertes  Netz,  dar- 
unter injiziertes  Cöcum.  Appendix  nach  hinten  unten  gelegen,  in 
Adhäsionen  eingebettet,  mit  geschrumpftem  Mesenteriolum. 

13.  Vorliegend  infiltriertes  Netz,  nach  rechts  unten  fixiert.  Appen- 
dix abgeknickt  nach  hinten  oben,  stark  verändert  durch  alte  und 
frische  Entzündung,  basaler  Teil  verdickt.  Unter  dem  infiltrierten 
Netz  dünnflüssiger  Eiter. 


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510  Ad.  Ebner,  [54 

14.  Vorliegend  Adhäsionen.  Appendix  nach  oben  außen  prall  eri* 
giert,  injiziert,  13  cm  lang,  mit  beginnender  Perforation  in  der  Mittei 

15.  Cöcum  vorliegend,  Appendix  frei,  6  cm  lang,  ins  kleine  Becken 
geschlagen,  im  ersten  Stadium  der  Entzündung.  An  einer  Stelle  ein 
gräuliches  Infiltrat  der  Wandung  des  Appendix,  im  basalen  Abschnitt 
ein  Kotstein. 

16.  Vorliegend  Netz  und  Dünndarm,  im  Becken  serofibrinöses, 
nicht  stinkendes  Exsudat.  Appendix  leicht  verklebt,  nach  unten  ge- 
schlagen, purpurrot,  kleinfingerdick,  mit  weißen  Fibrinfetzen.  Keine 
Perforation.  Inhalt  des  Appendix  eitriger  Kot.  Mesenteriolum  in- 
filtriert. 

17.  Cöcum  vorliegend,  nicht  injiziert.  Processus  retrocöcal,  der 
Hinterwand  des  Cöcum  breit  aufliegend  und  hier  fest  verwachsen, 
stark  geschwollen  und  gerötet.  Im  Lumen  ein  langer,  festsitzender 
roter  Thrombus,  zu  einer  Stelle  zwischen  mittlerem  und  unterem 
Drittel  führend,  wo  die  Wand  gangränös  und  minimal  perforiert  ist 
Im  Becken  serofibrinöses,  nicht  stinkendes  Exsudat. 

18.  Leicht  Exsudat  im  Becken.  Appendix  in  alten,  festen  Ad- 
häsionen, in  der  Tiefe  fixiert,  auf  dem  Cöcum  festgewachsen,  10  cm 
lang,  enorm  gebläht,  injiziert,  mit  stinkendem  Eiter  und  Konkrementen 
als  Inhalt,  eines  davon  Dekubitalgangrän  verursachend,  die  dicht  vor 
der  Perforation  steht. 

10.  Vorliegend  Netz.  Dem  Cöcum  anliegend  injizierte  Dünndarm- 
schlingen. Appendix  zwischen  Cöcum  und  Dünndarm  nach  unten 
über  die  Iliacalgefaße  ins  kleine  Becken  ziehend,  in  Adhäsionen  ein- 
gebettet, mit  eitrig  infiltrierter  Wand.  Bei  Lösung  der  Adhäsionen 
serös-eitriges  Exsudat  zwischen  Dünndarmschlingen  abgekapselt.  Im 
freien  Peritoneum  wenig  seröse  Flüssigkeit. 

20.  Appendix  geschwollen,  6  cm  lang,  leicht  gewunden,  nicht  ge- 
knickt, Mesenteriolum  infiltriert.  Appendixserosa  injiziert,  mit  leichten 
fibrinösen  Auflagerungen.  Netzverklebungen  an  der  Vorderseite  des 
Appendix,  sein  distales  Ende  frei  in  der  Bauchhöhle. 

21.  Cöcum  vorliegend,  mobil,  injiziert.  Leichte  Adhäsionen  zwi- 
schen Netz,  Ileum  und  hinterem  parietalem  Peritoneum.  Bei  ihrer 
Lösung  einige  Tropfen  stinkenden  Eiters.  Daneben  Appendix  retro- 
cöcal, hochgradig  infiltriert,  in  breiten  Adhäsionen  mit  Perforation. 

22.  Keine  Verwachsungen,  Appendix  lang,  frei,  nicht  injiziert,  an 
der  Spitze  derb.    Freies  Peritoneum  ohne  Befund. 

23.  Eigroßes  in  verdicktes  Netz  eingebettetes  Exsudat  dicht  neben 
dem  Lig.  Poupartii.  Appendix  im  Exsudat,  mit  drohender  Perforation 
in  der  Mitte.  Zwei  Kotsteine.  In  den  Adhäsionen  zwei  Teelöffel 
serös-eitriger  Flüssigkeit. 


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55]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  U.Behandlung  der  Appendizitis.    511 

24.  Appendix  7  cm  lang,  nach  auOen  oben  hinten  am  Cöcum  liegend, 
verdickt,  prall  injiziert,  in  fibrinöses  Exsudat  eingebettet,  an  der  Spitze 
Perforation«    Im  freien  Peritoneum  wenig  seröse  Flüssigkeit. 

25.  Appendix  nach  oben  geschlagen,  außen  am  Cöcum,  fettes 
Mesenterium,  fibrinös-eitriger  Belag,  wenig  Serum  im  Peritoneum. 
Processus  hochrot,  geschwollen,  ohne  Inhalt  mit  nekrotischer  Schleim- 
haut   Mesenteriolum  brüchig. 

26.  Appendix  durch  alte  Adhäsionen  retrocöcal  fixiert.  Wand 
schwarz  infolge  beginnender  Gangrän,  Peritoneum  frei  von  Eiter, 
starker  Gestank  nach  Bacter.  coli. 

27.  Sofort  nach  Eröffnen  des  Peritoneums  quillt  stinkender,  grün- 
licher Eiter  heraus,  ca.  2 — 4  Teelöfi^el  voll.  Vorliegend  stark  ge- 
blähtes Cöcum,  injiziert  im  unteren  Teil.  Appendix  nach  hinten  oben 
geschlagen,  fest  adhärent,  stark  gerötet.  Auf  der  Grenze  zwischen 
mittlerem  und  unterem  Drittel  eine  große  Perforation,  aus  der  ein 
kleiner  Kotstein  herauskommt.  Der  Perforation  entspricht  ein  tiefes 
Ulkus.    In  der  Cöcalgegend  stinkender  Eiter. 

Nach  obigen  Befunden  finden  wir  weder  ein  seröses  Exsudat, 
noch  eine  Eiterung  nur  in  5  Fällen.  In  diesen  Fällen  waren  die 
Veränderungen  vorwiegend  auf  den  Processus  beschränkt.  Im  Fall  2 
bestand  nur  eine  Retention  an  der  Spitze  mit  zahlreichen  Hämor- 
rhagien  der  Schleimhaut  und  starker  Schwellung  der  Wand.  Trotz- 
dem hatte  der  Fall  mit  Schüttelfrost  eingesetzt  und  war  bis  zur 
Operation  mit  geringem  Fieber  verlaufen.  Der  Fall  dürfte  dem  ent- 
sprechen, was  Riedel  unter  einer  Appendicitis  granulär,  haemor- 
rhagica  verstanden  wissen  will. 

Im  Fall  9  waren  die  Veränderungen  am  Processus  erheblich  weiter 
vorgeschritten.  Es  bestand  eine  frische  Verwachsung  und  eine  Striktur 
an  der  Spitze,  sowie  eine  Retention  und  Gangrän  der  Wand  an  der 
Basis.  Bemerkenswert  ist,  daO,  wie  im  Journal  ausdrücklich  hervor- 
gehoben wird,  trotz  dieser  vorgeschrittenen  Veränderungen  kein  Ex- 
sudat und  keine  fibrinösen  Beläge  der  Serosa  in  der  Umgebung  be- 
standen. Ob  der  erste  Grad  des  Exsudats  in  Gestalt  einer  ödema- 
tösen  Schwellung  der  Darmserosa  vorhanden  war,  wie  sie  namentlich 
von  Sprengel  hervorgehoben  wird,  ist  aus  dem  Journal  nicht  zu 
ersehen.  Die  Ursache  für  die  fehlenden  Veränderungen  in  der  Um- 
gebung könnte  man  hier  vielleicht  in  der  Annahme  erblicken,  daO 
durch  eine  Thrombose  bzw.  Verlegung  der  Lymphgefäße  am  Pro- 
cessus eine  weitere  Verbreitung  der  in  ihm  enthaltenen  Toxine  ver- 
hindert wurde.  Derartige  Fälle  pflegen  dann  im  Fall  einer  Perforation 
dii  übelste  Prognose  abzugeben,  da  dem  Peritoneum  nicht  durch  das 
warnende  Vorauseilen  der  Toxine  eine  Gelegenheit  gegeben  ist  zur 


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512  Ad.  Ebner,  [56 

Vorbereitung  von  Schutzmaßregeln  gegen  die  plötzliche  Invasion  der 
Infektionserreger. 

Einen  fast  normalen  Befund  bietet  allein  Fall  22  dar,  bei  welchem 
es  sich  um  einen  langen,  freien,  nicht  injizierten  Appendix  handelte, 
der  sich  nur  durch  eine  gewisse  Derbheit  an  der  Spitze  auszeichnete. 
Das  Peritoneum  war  ohne  Befund. 

Erheblich  fortgeschrittene  Veränderungen  am  Appendix,  wie  im 
Fall  0,  fanden  sich  auch  im  Fall  20  und  26.  Im  ersteren  Fall  war 
der  Appendix  geschwollen,  seine  Serosa  injiziert,  mit  leichten  fibri- 
nösen Auflagerungen,  sowie  Netzverklebungen  an  seiner  Vorderseite. 
Das  Mesenteriolum  war  ebenfalls  infiltriert.  Peritoneum  sonst  ohne 
Befund.  Im  letzteren  Falle  handelte  es  sich  um  einen  durch  alte  Ad- 
häsionen retrocöcal  fixierten  Appendix,  dessen  Wand  infolge  beginnen- 
der Gangrän  bereits  eine  schwärzliche  Verfärbung  zeigte.  Das  Peri- 
toneum war  frei,  zeigte  aber  einen  auffallenden  Geruch  nach  Bacter.  coli. 

Sämtliche  5  Fälle  repräsentieren  bei  dem  Mangel  eines  patho- 
logischen Peritonealbefundes  gewissermaßen  das  frühzeitigste  Stadium 
der  gesamten  27  Frähfälle.  Sie  zeigen  aber  auch  andererseits  deut- 
lich, in  wie  weiten  Grenzen  die  Veränderungen  am  Appendix  trotz 
fehlender  Peritonealreaktion  sich  bewegen  können. 

Ihnen  am  nächsten  stehen  die  Fälle,  bei  denen  wir  ein  leicht  ge- 
trübtes, seröses  Exsudat  im  freien  Bauchraum  finden,  ohne  eine  bereits 
abgekapselte  AbszeObildung.    Dazu  gehören  im  ganzen  10  Fälle. 

Im  Fall  1  bestand  ein  trübseröses,  nicht  abgekapseltes  Exsudat  im 
Douglas.  Der  Processus  war  in  reichlich  alte  und  frische  Verwach- 
sungen eingebettet,  seine  Wand  stark  infiltriert  und  brüchig.  Das 
eben  entstandene  Exsudat  hatte  sich  naturgemäß  zunächst  im  Douglas 
angesammelt. 

Fall  3  ergab  wenig  seröses  Exsudat  auf  der  rechten  Darmbein- 
schaufel, ebenfalls  mit  reichlich  schützenden  Verwachsungen  um  den 
entzündlich  veränderten  Processus.  Trotzdem  das  Exsudat  Strepto- 
kokken enthielt,  heilte  der  Fall  nach  primärer  Naht  der  Bauchdecken 
völlig  reaktionslos.  Es  bestand  nur  2  Tage  nach  der  Operation 
eine  geringe  Steigerung  der  Temperatur. 

Ein  geringes,  freies  seröses  Exsudat  im  Douglas  bestand  schließ- 
lich im  Fall  6.  Daneben  fand  sich  ein  leichtes  Empyem  des  Pro- 
cessus und  wenig  frische  Verwachsungen.    Sanat.  p.  p. 

Im  Fall  12  war  neben  dem  geringen  Exsudat  ein  nur  wenig  ver- 
änderter, in  Verwachsungen  eingebetteter  Appendix  mit  geschrumpftem 
Mesenteriolum  vorhanden.  Ebenso  im  Fall  16  leichte  Verklebuogen 
an  dem  geschwollenen  und  geröteten,  mit  Fibrinfetzen  bedeckten 
Appendix.    Das  serofibrinöse  Exsudat  lag  im  Becken. 


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57]    Über  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  U.Behandlung  der  Appendizitis.   513 

Auch  im  Fall  17  und  18  war  das  leicht  getrübte  Exsudat  im  Becken 
angesammelt.  Im  ersteren  Fall  zeigte  der  stark  geschwollene  und 
gerötete  Appendix,  welcher  mit  der  hinteren  Wand  des  Cöcum  breit 
verwachsen  war,  in  seinem  Lumen  einen  festsitzenden,  roten  Throm- 
bus, der  auf  eine  gangränöse  und  perforierte  Stelle  der  Wand  zwischen 
mitderem  und  unterem  Drittel  hinführte.  Im  letzteren  Fall  war  der 
Appendix  gleichfalls  auf  dem  Cöcum  adhärent,  enorm  gebläht  infolge 
Retention  seines  Inhalts,  der  aus  stinkendem  Eiter  und  Konkrementen 
bestand.  Das  eine  derselben  hatte  eine  Dekubitalgangrän  verursacht, 
die  dicht  vor  der  Perforation  stand. 

Im  Fall  10  zeigte  der  in  Adhäsionen  gelegene  Appendix  eine  eitrig 
infiltrierte  Wand  und  es  fand  sich  neben  dem  freien  auch  abgekap- 
seltes Exsudat  zwischen  verklebten  Dünndarmschlingen  vor. 

Eine  beginnende  Perforation  zeigte  an  seiner  Spitze  auch  im  Fall  24 
der  stark  verdickte  und  prall  injizierte  Appendix,  während  es  sich  im 
Fall  25  um  einen  hochroten,  geschwollenen  Processus  handelte,  dessen 
Schleimhaut  bereits  nekrotisch  war. 

Das  Charakteristikum  dieser  Gruppe  bilden  also  neben  dem  leicht 
getrübten,  serofibrinösen  Exsudat,  das  sich  mit  Vorliebe  im  kleinen 
Becken  anzusammeln  pflegt,  entsprechend  dem  fibrinösen  Charakter 
dieses  Exsudates  beginnende  Verklebungen  und  Verwachsungen  in  der 
Umgebung  des  Entzündungsherdes,  aus  denen  bereits  deutlich  das 
Bestreben  des  Körpers  hervortritt,  den  Entzündungsherd  von  dem 
übrigen  Peritoneum  auszuschalten. 

Daneben  sind  die  pathologischen  Veränderungen  am  Appendix 
durchweg  erheblich  vorgeschrittener  als  bei  der  ersten  Gruppe,  in 
Gestalt  von  häufiger  Retention  des  Inhaltes,  Neigung  zu  Ulzeration 
und  Nekrose  der  Schleimhaut  als  Vorbereitung  für  die  drohende  bzw. 
oaclifolgende  Perforation  seiner  Wandung. 

Die  dritte  Stufe  nach  dem  pathologischen  Befund  würden  die  Fälle 
einnehmen,  bei  denen  es  neben  einem  freien  Exsudat  bereits  zu  einer 
umschriebenen  Abszeßbildung  gekommen  ist,  bzw.  bei  denen  es  um- 
gekehrt nach  älteren  Entzündungsvorgängen  durch  eine  neue  Infektion 
von  hier  aus  zu  einem  neuen  freien  Exsudat  gekommen  ist.  Welche 
von  den  beiden  Möglichkeiten  vorliegt,  läßt  sich  aus  den  pathologi- 
schen Befunden  nicht  immer  mit  Sicherheit  entscheiden. 

Ein  typisches  Beispiel  für  den  letzteren  Vorgang  bietet  der  Fall  11. 
Bei  diesem  war  der  primäre  Abszeß  zwischen  Cöcum  und  einem 
Netzlappen  gelegen.  Durch  eine  Perforation  in  die  freie  Bauchhöhle 
war  es  zu  einem  sekundären,  freien,  eitrigen  Exsudat  gekommen. 
Im  Netzlappen  selbst  bestanden  multiple  Abszesse.  Der  Processus 
ragte  in  den  Abszeß  hinein  und  zeigte  an  der  Basis  eine  Stenose, 


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514  Ad.  Ebner,  [58 

hinter  der  ein  Empyem   mit  15  flachen,  linsengroOen  Steinen  ge- 
legen war. 

Zu  dem  ersteren  Vorgang  dürften  die  Fälle  5, 7  und  10  zu  zahlen  sein. 

Im  Fall  5  bestand  neben  einem  um  den  Processus  vom  Netz  ab- 
gekapselten,  fakulenten  Abszeß  ein  freies,  trübes  Exsudat  der  Bauch- 
höhle mit  einer  Ansammlung  desselben  im  Douglas.  Am  Processus 
selbst  fand  sich  eine  markstückgroße  Gangrän  mit  einem  Kotsteia 
dahinter. 

Im  Fall  7  bestand  ein  geringes,  seröses,  freies  Exsudat  neben  einem 
kleinen  Abszeß  am  Processus,  sowie  mehrere  ganz  kleine  Abszesse 
in  der  Wand  des  Processus  selbst.  Ferner  befand  sich  an  der  Basis 
des  Appendix  eine  Perforation  und  umschriebene  Gangrän  der  Wand. 

Ebenso  bestand  auch  im  Fall  10  ein  Abszeß  mit  frischen  Ver- 
wachsungen um  den  Processus  herum,  sowie  ein  reichlich  serös-trübes, 
freies  Exsudat  mit  einer  größeren  Ansammlung  im  kleinen  Becken. 
Nur  die  letztere  hatte  einen  fakulenten  Geruch. 

Am  weitesten  von  allen  ist  der  Fall  4  vorgeschritten,  der  ein  freies 
Exsudat  überhaupt  nicht  mehr  zeigte,  sondern  nur  zwei  abgekapselte 
Abszesse  aufwies,  von  denen  der  eine  im  Douglas,  der  andere  unter- 
halb des  Nabels  gelegen  war.  Der  entzündlich  veränderte  Appendix 
zog  nach  dem  ersten  Abszeß  hin.  Es  bestanden  ferner  reichliche 
Verwachsungen  der  Därme  untereinander  und  mit  dem  Peritoneum 
parietale  um  die  Abszeßhöhle  herum. 

Fall  13  zeigte  unter  dem  infiltrierten  Netz  dünnflüssigen  Eiter, 
während  der  nach  hinten  oben  abgeknickte  Appendix  durch  alte  und 
frische  Entzündungsvorgänge  stark  verändert  war  und  eine  Verdickung 
am  basalen  Teil  aufwies. 

Fall  21  ergab  wenig  stinkenden  Eiter  bei  Lösung  der  Adhäsionen 
zwischen  Netz,  Ileum  und  hinterem  parietalem  Peritoneum.  Der  hoch- 
gradig infiltrierte  Processus  lag  retrocöcal  in  Adhäsionen  fixiert  und 
wies  eine  Perforation  auf. 

Ein  eigroßes  in  verdicktes  Netz  eingeschlossenes  Exsudat  fand  sich 
im  Fall  23.  Der  Appendix  lag  in  dem  Exsudat,  enthielt  zwei  Kotsteine 
nebst  einer  drohenden  Perforationsstelle  in  seiner  Mitte.  Außerdem 
fanden  sich  zwischen  den  Adhäsionen  noch  zwei  Teelöfi^el  einer  serös- 
eitrigen Flüssigkeit. 

Fall  17  endlich  zeigte  in  der  Cöcalgegend  stinkenden  Eiter,  während 
der  stark  gerötete,  nach  hinten  oben  adhärente  Appendix  zwischen 
mittlerem  und  unterem  Drittel  eine  große  Perforation  aufwies,  aus 
welcher  ein  kleiner  Kotstein  im  Begrifl^  war  herauszutreten. 

Schließlich  möchte  ich  noch  Fall  14  und  15  besonders  anfuhren, 
da  bei  ihnen  mir  eine  Angabe  über  das  Verhalten  des  Peritoneums 


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59]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.    515 

nicht  vorliegt^  so  daß  es  zweifelhaft  erscheint,  in  welche  unserer  drei 
Gruppen  von  absoluten  Frfihoperationen  man  sie  einreihen  kann.  Im 
Fall  14  werden  Adhäsionen  angegeben,  während  der  nach  oben  auOen 
prall  erigierte  und  injizierte  Appendix  in  der  Mitte  eine  beginnende 
Perforation  aufwies.  Fall  15  zeigte  den  ins  kleine  Becken  geschlagenen 
Appendix  im  ersten  Stadium  der  Entzündung.  Im  basalen  Abschnitt 
desselben  lag  ein  Kotstein,  an  einer  Stelle  der  Wand  war  ein  gräulich 
verfarbtes  Infiltrat  vorhanden. 

So  bieten  diese  wenigen  17  Fälle,  die  nach  den  subjektiven  An- 
gaben der  Fat.  bereits  in  einem  so  kurzen  Zeitraum  nach  Beginn  des 
Anfalls  zur  Operation  gelangt  sind,  objektiv  bereits  ein  so  mannig- 
faltiges Bild  der  pathologischen  Entwicklungsvorgänge  dar,  daO  man 
muhelos  die  verschiedenen  Stadien  der  Entwicklung  daraus  kon- 
struieren kann.  Sie  bilden  die  beste  Illustration  für  die  weiten 
Grenzen,  in  denen  sich  die  Differenz  zwischen  subjektivem  Krank- 
heitsgefühl und  objektivem  Krankheitsbefund  bei  der  Appendizitis 
bereits  im  frühesten  Stadium  bewegen  kann,  und  eine  genauere  Durch- 
sicht der  vorstehenden  Operationsprotokolle  dürfte  manchem  Gegner 
der  Frühoperation  doch  zu  denken  geben. 

Man  ersieht  daraus,  wie  häufig  man  bei  der  Frühoperation  der 
Tatsache  gegenüberstehen  kann,  daO  man  dem  objektiven  Befunde 
nach  keine  Frühoperation,  sondern  eine  Zwischenoperation  zu  machen 
gezwungen  ist.  DaO  trotzdem  unsere  sämtlichen  Fälle  glatt  zur 
Heilung  gelangt  sind,  dürfte  zum  mindesten  nicht  gegen  den  Nutzen 
weder  einer  Frühoperation,  noch  einer  Zwischenoperation  sprechen. 

Man  kann  sich  eben  nicht  präzise  auf  eine  Operation  der  Appen- 
dizitis nach  einem  zeitlich  allein  umgrenzten  Stadium  festlegen  und 
so  wird  auch  mancher  Gegner  der  Zwischenoperation  dazu  kommen, 
gewissermaßen  unabsichtlich  eine  Anzahl  von  Zwischenoperationen 
(nach  dem  operativen  Befund)  zu  machen,  nach  deren  Verlauf  sich 
dann  die  Anschauungen  der  betrefi^enden  Operateure  auf  Grund  ihrer 
eignen,  wenn  auch  unfreiwilligen  Erfahrungen  zugunsten  oder  Ungunsten 
der  Zwischenoperation  modifizieren  dürften. 

Die  Erfahrungen  der  radikaleren  Operateure,  namentlich  die  von 
Rehn  und  Sprengel,  haben  zur  Genüge  bewiesen,  daß  bei  exaktem 
Abtamponieren  der  übrigen  Bauchhöhle  ein  Fortschreiten  der  In- 
fektion auf  das  freie  Peritoneum  auch  bei  Lösung  frischer,  ent- 
zündlicher Adhäsionen  nicht  so  sehr  zu  fürchten  ist,  als  man  es 
bis  dahin  allgemein  getan  hatte.  Geht  doch  Rehn  auf  Grund  seiner 
guten  Erfolge  so  weit,  daß  er  prinzipiell  abgekapselte  Abszesse  unter 
Tamponade  des  Peri^neums  durch  die  freie  Bauchhöhle  hindurch 
eröffnet. 


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516  Ad.  Ebner,  [60 

Auf  Grund  dieser  ein  wandsfreien  Erfolge  eines  radikalen  Vor- 
gehens darf  man  wohl  annehmen,  daß  der  Vorteil  einer  möglichst 
frühzeitigen  Entfernung  der  Infektionsquelle  aus  dem  Korper  angesichts 
der  verminderten  Furcht  vor  der  operativen  Infektionsmöglichkeit  des 
freien  Peritoneums  auch  die  z.  Z.  noch  ziemlich  allgemein  verbreitete 
Abneigung  gegen  die  Zwischenoperation  voraussichtlich  mehr  und  mehr 
zum  Schwinden  bringen  wird. 

Die  Therapie  bestand  neben  der  Amputation  des  Appendix,  die 
in  allen  Fällen  gemacht  wurde,  in  primärer  Naht  der  Bauchdecken  in 
20  Fällen.  Alle  20  waren  völlig  fieberfrei,  bis  auf  Fall  3,  der  Strepto- 
kokken im  Exsudat  hatte  und  2  Tage  lang  mit  Fieber  post  op.  verlief. 
Teilweise  Naht  der  Bauchdecken  und  Dränage  der  Peritonealhöhle 
mit  Jodoformgaze  und  Gummi-  oder  Glasdrän  wurde  in  5  Fällen 
gemacht.  Alle  5  heilten  ebenfalls  völlig  fieberfrei  p.  p.  bis  auf  die 
DränageöflPnung.  Breite  Tamponade  ohne  Naht  wurde  nur  im  Fall  4 
und  5  gemacht  In  beiden  Fällen  war  der  Verlauf  zuerst  fieberhaft« 
Im  ersten  Fall  kam  es  noch  zu  einer  Retention,  und  im  zweiten  Fall 
wurde  0  Tage  nach  der  Operation  die  Inzision  eines  metastatischen 
Parotisabszesses  links  notwendig.  Beide  Fälle  heilten  dann  glatt  per 
granulationem,  jedoch  muOte  der  letztere  Fall  mit  einer  Bauchfistel 
entlassen  werden.  Bei  den  übrigen  Fällen  ist  von  persistierenden 
Fistelbildungen  nichts  erwähnt.  Von  postoperativen  Komplikationen 
seitens  der  Breslauer  Fälle  (12 — 27)  sei  noch  besonders  hervorgehoben, 
daß  in  4  Fällen  ein  kleiner  Bauchwandabszeß  eintrat,  der  die  Heilung 
nicht  wesentlich  verzögerte.  Ferner  kam  in  je  einem  Fall  dazu  eine 
leichte  Bronchopneumonie,  eine  trockne  rechtsseitige  Pleuritis,  eine 
Thrombose  der  Vena  poplitea  dextra.  In  einem  anderen  Fall,  bei 
dem  ein  perforierter  Appendix  mit  stinkendem  Abszeß  gefunden  und 
die  Bauchhöhle  trotzdem  ohne  Dränage  geschlossen  worden  war, 
mußte  nach  21  Tagen  ein  Douglasabszeß  inzidiert  werden,  der  sich 
vermutlich  durch  entsprechende  Dränage  bei  der  ersten  Operation 
hätte  vermeiden  lassen  und  daher  nicht  der  Frfihoperation  als  solcher 
zur  Last  gelegt  werden  kann.  Zum  Schluß  mag  noch  einmal  darauf 
hingewiesen  werden,  daß  das  günstige  Heilungsresultat  dieser  Fälle 
sich  nicht  wesentlich  verschlechtert,  selbst  wenn  wir  die  Fälle  hinzu- 
nehmen, bei  denen  man  in  48  Stunden  nach  Beginn  der  Beschwerden 
bereits  vor  einer  Perforationsperitonitis  stand,  in  denen  also  die 
Frühoperation  mit  der  Notoperation  identisch  wurde.  Wir  erhalten 
denn  eine  Mortalitätszifl^er  von  2,9%, 


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61]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  U.Behandlung  der  Appendizitis.   517 

Nicht  operierte  Fälle. 

Ganz  kurz  können  wir  uns  schließlich  bei  der  letzten  Gruppe  von 
37  nicht  zur  Operation  gelangten  Fällen  fassen,  die  ja  naturgemäß  vom 
pathologisch-anatomischen,  wie  vom  chirurgischen  Standpunkt  aus 
kein  besonderes  Interesse  beanspruchen  können. 

Der  Vollständigkeit  halber  möchte  ich  nur  hervorheben,  daß  es 
sich  bez.  des  Geschlechts  um  18  männliche  und  19  weibliche 
Patienten  handelte.  Dieselben  verteilen  sich  auf  die  einzelnen  Alters- 
dezennien folgendermaßen:  Von  10—20  Jahren  16  Fälle,  von  21 — 30: 
12,  von  31—40:  4,  von  41—50:  1,  von  51—60:  1  und  von  61—70  Jahren 
ebenfalls  1  Fall. 

Bei  27  Patienten  handelte  es  sich  um  1,  bei  5  Pat.  um  2,  bei  4  Pat. 
um  3,  und  bei  1  Patienten  um  4  vorausgegangene  Anfälle. 

Von  äußeren  Traumen  wird  ätiologisch  nur  einmal  »schweres  Heben"* 
und  einmal  eine  »Quetschung  mit  einem  50  Pfund-Gewicht^  in  der  Ileo- 
cöcalgegend  angeführt.  Im  Fall  2  ging  eine  lakunäre  Tonsillitis  voraus, 
die  man  wohl  mit  Recht  in  einen  ursächlichen  Zusammenhang  mit  der 
exsudativen  Appendixerkrankung  bringen  kann.  Der  betr.  Patient  sollte 
spater  zur  Operation  wiederkehren,  hat  sich  aber  nicht  eingefunden. 

Einen  fieberfreien  Verlauf  zeigten  im  ganzen  nur  10  Fälle.  Ein 
mehr  weniger  großes  Exsudat  bzw.  Infiltrat  war  nachweisbar  in  15  Fällen, 
darunter  5  mal  in  der  Ileocöcalgegend  und  Imal  im  Douglas  lokali- 
siert Schmerzhaftigkeit  in  der  Ileocöcalgegend  wurde  12  mal  nach- 
gewiesen. In  5  Fällen  war  kein  Exsudat  nachweisbar.  7  Patienten 
verweigerten  die  Operation  und  wurden  entlassen,  1  konnte  wegen 
gleichzeitiger  Furunkulose  nicht  operiert  werden  und  ist  später  nicht 
mehr  wiedergekommen,  ebenso  wurde  1  wegen  fiorider  Lues  nicht 
operiert. 

Eine  ganz  besondere  Stellung  unter  den  fieberfreien  Fällen  nimmt 
der  Fall  23  ein,  insofern  es  sich  bei  diesem  um  eine  „Periappen- 
dicitis  sine  appendice""  handelte.  Bei  dem  Pat.  war  nämlich  vor 
1  Jahr  nach  zwei  typischen  Anfällen  durch  Geheimrat  Garr^  der 
Appendix  entfernt  worden.  7  Tage  vor  der  Aufnahme  hatten  sich 
nun  bei  dem  Pat.  ganz  spontan  allmählich  zunehmende  Schmerzen 
in  der  Ileocöcalgegend  eingestellt,  die  den  gleichen  Charakter  hatten, 
wie  die  früheren  Schmerzanfälle,  jedoch  ohne  Fieber  und  ohne  Er- 
brechen. Von  dem  behandelnden  Arzt  war  bei  Beginn  der  Erkrankung 
ein  kindskopfgroßer  Tumor  der  Ileocöcalgegend  konstatiert  worden,  der 
sich  bis  zur  Aufnahme  in  die  Klinik  um  die  Hälfte  verkleinert  hatte. 

Sämtliche  Fälle  konnten  als  beschwerdefrei  und  relativ  geheilt 
entlassen  werden. 


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518  Ad.  Ebner,  [Q2 

17  Fälle  wurden  mit  Fieber  eingeliefert.  Dieselben  konnten  eben- 
falls nach  allmählichem  Abfall  des  Fiebers  in  verschieden  langer  Zeit 
als  fieberfrei  und  relativ  geheilt  entlassen  werden  außer  Fall  2,  der 
auf  seinen  ausdrücklichen  Wunsch  bereits  nach  4  Tagen  mit  fieber- 
hafter Temperatur  entlassen  werden  mußte,  und  Fall  25 ,  der  nach 
42tägiger  Behandlungsdauer  schließlich  ad  exitum  kam.  Der  betr. 
Fat.  hatte  vor  18  Tagen  eine  Quetschung  mit  einem  50  Pfund-Gewicht 
in  der  Ileocöcalgegend  erlitten.  Seit  6  Tagen  war  plötzlich  heftiger  Leib- 
schmerz mit  Fieber  aufgetreten,  seit  2  Tagen  bestand  Stuhlverhaltung, 
seit  1  Tag  häufiges  Erbrechen.  Der  Fat.  wurde  mit  einer  Tem- 
peratur von  40,1^  und  einem  kleinen,  unregelmäßigen  Puls  von  120 
Schlägen  in  der  Minute  eingeliefert.  Rechts  seitlich  ließ  sich  eine 
Dämpfung  bis  zum  Rippenbogen  hinauf  nachweisen,  eine  Resistenz 
war  nicht  mit  Sicherheit  zu  ffihlen,  jedoch  bestand  starke  Druck- 
schmerzhaftigkeit  Der  Patient  verweigerte  einen  operativen  Eingriff 
und  die  Sektion  nach  42  Tagen  ergab  schließlich  eine  Periappendizitis 
mit  Perforation,  eitrige  Peritonitis  diflPusa,  zahlreiche  Räckperfora- 
tionen  in  Dünndarm  und  Cocum.  Ferner  bestand  eine  Pneumonie 
beider  Unterlappen  mit  frischen  pleuritischen  Adhäsionen  und  ein 
Tonsillarabszeß  rechts. 

Die  Therapie  bestand  in  allen  Fällen  in  möglichst  reizloser, 
flüssiger  Diät,  Prießnitz  oder  Eisblase  auf  den  Leib,  ferner  hohen 
Einlaufen,  um  die  Darmtätigkeit  anzuregen.  Opium  wurde  stets  fort- 
gelassen, um  eine  unnötige  Trübung  des  Krankheitsbildes  dadurch  zu 
vermeiden.  Bei  sehr  großen  Beschwerden  wurde  statt  dessen  Mor- 
phium in  kleinen  Dosen  verordnet. 

Eine  Spontanperforation  in  den  Darm  trat  im  Falle  8  und  9  auf. 
In  beiden  Fällen  erfolgte  darauf  ein  Rückgang  sämtlicher  Erschei- 
nungen unter  weiterem  afebrilen  Verlauf.  Eine  Spontanperforation 
vor  1  Monat  hatte  im  Fall  20  stattgefunden.  Trotzdem  bildete 
sich  rechts  seitlich  wieder  ein  fieberhaftes  Exsudat.  Nachdem  sich 
dasselbe  unter  klinischer  Behandlung  verkleinert  hatte  und  Patient 
entfiebert  war^  wurde  Patient  ohne  Beschwerden  entlassen. 

Pleuritis  fand  sich  außer  in  dem  oben  erwähnten  verstorbenen 
Fall  25  auch  im  Fall  9  auf  der  rechten  Seite  bei  einem  gleichzeitigen 
Exsudat  rechts  im  Abdomen.  Nach  einem  Monat  erst  trat  Temperatur- 
abfall und  Rückgang  der  Erscheinungen  ein. 

Den  Ausdruck  relative  Heilung  habe  ich  für  die  nicht  operierten 
Fälle  absichtlich  gebraucht  aus  der  Erwägung  heraus,  daß  man  bei 
diesen  Fällen  nie  wissen  kann,  ob  und  wieviel  Anfalle  später  noch 
eingetreten  sind,  nachdem  die  betreifenden  Patienten  angeblich  als 
geheilt  entlassen  sind.    Als  absolut  ist  eine  Heilung  der  Appendizitis 


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03]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  U.Behandlung  der  Appendizitis.   519 

eben  erst  dann  zu  bezeichnen ,  wenn  eine  weitere  rezidivierende  Er- 
krankung des  Appendix  mit  Sicherheit  ausgeschlossen  werden  kann. 
Es  ergibt  sich  von  selbst,  daß  dieses  nur  möglich  ist  nach  der  Ent- 
fernung des  Appendix  auf  operativem  Wege. 

Werfen  wir  zum  Schluß  einen  kurzen  Rückblick  auf  das  Gesamt- 
resultat unserer  550  Appendizitisfälle,  so  finden  wir  zunächst  bezQg- 
lich  des  Geschlechts  das  Gesamtverhältnis  der  männlichen  und  weib- 
lichen Patienten  durchaus  entsprechend  den  Ergebnissen  anderer 
Autoren,  wie  folgende  kleine  Tabelle  zeigt: 

männlich  weiblich 

Garrfe 62   %  38   % 

Dannehl  (Berlin,  Chirurg.  Klinik)      72    ,  27    „ 

Ho  ff  mann  (Heidelberg) 72,4»  27,6». 

Sprengel 64    „  36    , 

Hermes  (Sonnenburg) 60    „  40    „ 

Es  ergibt  sich  auch  hier  wieder  die  vorwiegende  Beteiligung  des 
mannlichen  Geschlechts  an  der  Erkrankung,  auf  deren  Gründe  wir 
bereits  oben  näher  hingewiesen  haben. 

Auf  die  einzelnen  Altersdezennien  verteilen  sich  die  Kategorien 
unserer  Einteilung  folgendermaßen: 

Sicherheitsop.  Spätop.  Notop.  Frühop.  Nicht  op.  Summa 

1-10  Jahre      16  11  4  1  —  32 

11-20       ,98  24  7  8  16  153 

21-30       ,         124  30  4  11  12  181 

31-40       „68  22  6  7  4  107 

41—50       «27  13  —  —  3  43 

51-60       «10  9  3  _  1  23 

61-70       «3  3  3  _  1  10 

71-80       «           — 1  —  — — 1__ 

Summa:    346  113  27  27  37  550 

Es  ergibt  sich  hieraus  entsprechend  den  einzelnen  Kategorien  auch 
für  die  Gesamtsumme  der  Fälle  die  höchste  Frequenz  in  das  zweite 
und  dritte  Altersdezennium  fallend,  während  in  den  weiteren  Dezen- 
nien ein  schneller  und  ziemlich  gleichmäßiger  Abfall  der  Frequenz- 
ziffer erfolgt.  Es  entspricht  dieser  Zeitraum  eben  demjenigen  Alter, 
in  welchem  die  Patienten  am  häufigsten  körperlichen  Anstrengungen 
und  Traumen  ausgesetzt  sind,  in  welchem  sie  auch  hinsichtlich  der 
Begehung  von  Diätfehlern,  wie  kaltes  Trinken,  Essen  von  unreifem 
Obst,  vernachlässigte  Regelung  des  Stuhles  und  Nichtbeachtung  etwaiger 
Darmkatarrhe  am  unvorsichtigsten  sind.    Es  liegt  auf  der  Hand,  daß 


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in  ge 

93  66  38  26  14  4  4  1 

3     1 

346 

.  93 

12     4     2     1     1 

113 

.  20 

6     1 

27 

.    18 

6    2     1 

27 

.  27 

6    3     1 

37 

520  Ad.  Ebner,  [64 

die  Folgen  eines  derartigen  Verhalteos  sich  vornehmlich  am  Processus 
als  dem  prädisponierten  Locus  minoris  resistentiae  des  Digestioos- 
traktus  äuOern  werden. 

Eine  kurze  vergleichende  Übersicht  über  die  Zahl  der  voraus- 
gegangenen Anfälle  bei  den  einzelnen  Kategorien  dürfte  folgende  kleine 
Tabelle  gewähren: 

Zahl  der  AnFälle  bei  den  1      2    3    4    5    6   7  8  9  10  11  17  Summa 

1.  Sicherheitsoperationen  06 

2.  Spätoperationen 

3.  Notoperationen. 

4.  Frühoperationen 

5.  Nichtoperierten 

Summa:  254  123  76  42  27  15  4  4  1         3     1      550 

Man  ersieht  hieraus ,  daß  die  Zahl  der  vorausgegangenen  Anfalle 
weitaus  am  höchsten  ist  bei  den  Sicherheitsoperationen,  um  bei  den 
Spätoperationen  schon  erheblich  abzunehmen  und  noch  steiler  bei 
den  Not-  und  Frfihoperationen  abzufallen.  Absolut  beurteilt  sind  da- 
nach nahezu  die  Hälfte  sämtlicher  Fälle,  nämlich  254,  bereits  nach, 
bzw.  bei  dem  ersten  Anfall  zur  Operation  gelangt,  eine  wenig  g^ 
ringere  Anzahl,  nämlich  190  Fälle,  sind  nach  dem  zweiten  und  dritten 
Anfall  operiert  worden.  Mehr  als  drei  Anfälle  sind  also  nur  in  97 
Fällen  vorausgegangen,  was  für  die  Gesamtzahl  einem  Prozentsatz  von 
nur  17,6%  entsprechen  würde.  Es  ist  also  die  weitaus  überwiegende 
Mehrzahl,  nämlich  82,4%  unserer  Fälle  relativ  früh  zur  Operation 
gelangt. 

Die  Entfernung  des  Appendix  konnte  in  sämtlichen  Fällen,  also 
100%  der  Fälle,  vorgenommen  werden  bei  den  Sicherheits-  und  Friili- 
operationen.  Am  seltensten  konnte  er  gefunden  und  entfernt  werden 
bei  den  Spätoperationen,  nämlich  in  22  Fällen  =  19,8%.  Die  B^rfin- 
dung  dafür  bieten  einmal  die  bei  diesen  Fällen  mehr  weniger  weit 
vorgeschrittenen  pathologischen  Veränderungen,  bei  denen  der  Pro- 
cessus bereits  größtenteils  nekrotisch  zerfallen  sein  kann.  Anderer- 
seits kann  der  noch  vorhandene  Appendix  vollständig  eingebettet  und 
umhüllt  sein  von  den  schützenden  Verwachsungen,  welche  die  Wan- 
dung der  AbszeOhöhle  bilden,  so  daß  eine  Auffindung  desselben  ohne 
eine  Kontinuitätstrennung  der  schützenden  Wand  und  die  Gefahr  einer 
Allgemeininfektion  des  Peritoneums  nicht  möglich  ist.  Daß  der  Pro- 
cessus wesentlich  häufiger,  nämlich  in  74,1%  der  Fälle,  bei  der  Not- 
operation gefunden  und  entfernt  werden  konnte,  ergibt  sich  von  selbst 
aus  der  Erwägung,  daß  diese  ja  in  einem  erheblich  früheren  Stadium 


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65]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.   521 

vorgenommen  wird,  in  dem  weder  die  Veränderungen  am  Processus, 
noch  die  Verwachsungen  in  der  Umgebung  so  weit  vorgeschritten 
sind,  daß  sie  die  Auffindung  und  Entfernung  des  Processus  erschweren 
konnten. 

Über  die  Häufigkeit  vorausgegangener  Symptome  und  Kompli- 
kationen für  die  einzelnen  Kategorien  der  gesamten  550  Fälle,  habe 
ich  folgende  Tabelle  zusammengestellt: 

Chron.  Fälle      Spätfälle         Notfälle       Fruhfälle    Nicht  op. 

1.  Blasen- 
beschwerden .    .    17(4,9o/o)     11  (9,70/0)     2  (7,4%)    1  (3,7%)       - 

2.  Durchfalle  .    ,    .  20(5,8  J    22(19,4  „)    3(11,1  „)    5(18,5«)      — 

3.  Blut-   oder  Kot- 
brechen   ....     2(0,6  „ )      3  (2,7  „ )         —  —  — 

4.  Schmerz  im 

rechten  Bein  .    .  2(0,6 , )  7  (6,2  „ )  —  —  — 

5.  Pleuritis  ....  3(0,9  „)  1  (0,9„)  —  —  — 

6.  Venenthrombose  4(1,2  „ )  —  —  —  — 

7.  Frühere 

Inzlsionen    .    ,    .   17(4,9  „)      5(4,4»)         —  1  (3,7„)       — 

8.  Spontanperfor.  in 

andere  Organe  .     2(0,6  „ )      7  (6,2  „ )         —  —        2(5,4%) 

Danach  sind  auf  die  Gesamtzahl  der  550  Fälle  berechnet  frühere 
Inzisionen  vorausgegangen  in  4,2%,  Spontanperforationen  in  Blase 
oder  Darm  gingen  voraus  in  2,0%.  Ferner  wurden  Blasenbeschwerden 
angegeben  in  5,6%,  Durchfalle  in  8,5%,  pathologisches  Erbrechen  in 
0,9%,  Schmerzen  im  rechten  Bein  in  1,6%,  Pleuritis  in  0,4%  und 
eine  vorausgegangene  Venenthrombose  in  0,4%. 

Eine  vergleichsweise  Betrachtung  der  Operationsbefunde  am  Pro- 
cessus ergibt  folgende  Tabelle,  die  sich  jedoch  nur  auf  die  374  Ro- 
stocker und  Königsberger  Fälle  bezieht,  da  mir  die  anderen  Zusammen- 
stellungen der  Breslauer  Fälle  nicht  vorliegen: 

Chron.  FäUe  SpätflUe  Notfälle  Frühfälle  Sttmma 

Strikturen     ,    .  57(24,5%)  —  —  3(27,3%)  60(17,2%) 

Obliteration.   .  41(17,6,)  —  —  1  (9,1  „)  42(12,0,) 

Retention.  .  .  60(25,8, )  —  —  7(63,6,)  67(19,2,) 
Perforation  am 

Processus     .  33(14,2,)  17(19,5%)  16(84,2%)         —  66(19,0,) 
Perforation  am 

Darm     .   .   .     3(1,3,)  2(2,3,)  —               —  5(1,4,) 
Kotsteine  und 

Fremdkörper  30(12,8,)  13(14,9,)  4(22,2,)  3(27,3,)  47(13,9,) 

Klin.  Vorträge,  N.  F.  Nr.  494/95.    (Chirurgie  Nr.  145/46.)    Juli  1906.  38 


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522  Ad.  Ebner,  [ÖO 

Auf  die  Gesamtzahl  der  340  operierten  Fälle  verteilt,  finden  wir 
danach  am  häufigsten  eine  Retention  des  Inhalts  im  Processus  ver- 
treten mit  19,2%,  ihr  fast  gleichkommend  ist  die  Zahl  der  ausdruck- 
lich angegebenen  Perforationen  am  Processus  mit  10,0%.  Strikturen 
werden  in  17,2%  angegeben  und  eine  Obliteration  des  Lumens  wird 
in  12,0%  dei;  Fälle  angeführt.  Relativ  selten,  nämlich  nur  in  13,5% 
wurden  Kotsteine  konstatiert.  Am  seltensten  fand  sich  eine  Perforation 
am  Darm  in  1,4%,  ebenso  konnte  nur  in  einem  Fall  »  0,3%  ein  Fremd- 
körper im  Processus  gefunden  werden.  Interessant  ist  ferner  an  der 
obigen  Tabelle  das  Ansteigen  der  Frequenzzifier  bei  den  Perforationen 
von  14,2%  bei  den  chronischen  Fällen,  auf  19,5%  bei  den  Spätfällen 
und  schließlich  auf  den  sehr  hohen  Prozentsatz  von  84,2%  bei  den 
Notfällen.  Dieses  erklärt  sich  daraus,  daß  bei  den  Sicherheitsope- 
rationen ein  großer  Teil  der  früheren  Perforationen  teils  durch  gute 
Vernarbung,  teils  durch  überdeckende  Adhäsionen  der  Beobachtung 
entgeht,  gleichwie  auch  bei  den  Spätoperationen  in  den  zahlreichen 
Fällen,  in  denen  der  Processus  nicht  zu  finden  ist,  über  das  Vor- 
handensein der  höchstwahrscheinlich  vorausgegangenen  Perforation 
eine  Entscheidung  vielfach  nicht  zu  fallen  ist.  Es  dürften  demnach 
für  die  zweite  Kategorie  noch  zahlreichere  Fälle  der  Beobachtung  ent- 
gehen als  in  der  ersten  Kategorie.  Dagegen  bildet  für  die  Notoperation 
als  solche  die  Perforation  die  wesentlichste  Indikation  zum  operativen 
Vorgehen,  sobald  sie  sich  durch  die  ersten  Reizerscheinungen  des 
Peritoneums  manifestiert,  und  wird  daher  in  diesen  Fällen  selten  oder 
nie  der  Beobachtung  entgehen.  Im  übrigen  ergibt  sich  schon  aus  der 
Schwere  der  Fälle,  daß  für  die  letztere  Kategorie  die  Häufigkeit  der 
Perforationen  eine  ganz  besonders  hohe  sein  muß,  entsprechend 
unserem  Ergebnis  von  84,2%. 

Eine  ähnliche  Steigerung  der  FrequenzziflPer  tri£Pt  auch  für  das 
Vorhandensein  von  Kotsteinen  bei  den  einzelnen  Kategorien  zu. 
Jedoch  bewegt  sich  dieselbe  in  wesentlich  gleichmäßigerer  Linie  auf- 
wärts, als  bei  den  Perforationen,  indem  sie  von  12,4%  bei  den  chro- 
nischen Fällen  auf  14,0%  bei  den  Spätfällen  ansteigt,  um  sich  bei 
den  Notfallen  auf  22,2%  und  bei  den  Frührällen  schließlich  auf  27,3% 
zu  erheben. 

Hier  entspricht  jedoch  das  Ansteigen  der  FrequenzziflPer  nicht  wie 
bei  den  Perforationen  der  Schwere  der  Fälle,  indem  hier  die  Zahl 
bei  den  Frühoperationen  am  größten  ist,  während  sie  dort  dafür  am 
niedrigsten  bzw.^0  ist. 

Wir  können  hier  vielmehr  konstatieren,  daß  sich  das  .Ansteigen 
der  FrequenzziflPer  genau  umgekehrt  proportional  verhält  zu  der  Länge 
des  Zeitraums^   der  seit  Beginn   der  Erkrankung  bis  zur  Vornahme 


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67]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.   523 

des  operativen  Eingriffs  verflossen  ist.  Da  nun  nach  der  Wahrscliein- 
lichkeitsrechnung  für  alle  4  Kategorien  der  Prozentsatz  des  Vorhanden- 
seins von  Kotsteinen  ein  ziemlich  gleichmäßiger  sein  dürfte,  so  scheint 
mir  die  obige  Beobachtung  sich  aus  der  Annahme  zu  erklären ,  daß, 
je  später  der  Zeitpunkt  der  Operation,  die  Steine  um  so  eher  der 
Beobachtung  entgehen  können,  oder  daß  in  der  Zwischenzeit  viel- 
leicht eine  Zersetzung  und  Verflüssigung  der  Kotsteine  durch  irgend- 
welche Fermente  der  meist  zahlreich  vorhandenen  Leukozyten  statt- 
gefunden haben  könnte.  Für  wahrscheinlicher  und  häufiger  möchte 
ich  den  letzteren  Vorgang  halten,  denn  namentlich  für  die  chronischen 
Falle  ist  ein  so  häufiges  Übersehen  von  Steinen  doch  wohl  auszu- 
schließen, daß  gegenüber  den  Frühfällen  eine  Difi^erenz  von  14,9% 
zustande  käme.  In  jedem  Fall  scheint  mir  dieses  gleichmäßige  An- 
steigen der  Frequenzzifi^er  von  Kotsteinen  umgekehrt  zur  Entfernung 
der  Operation  vom  Beginn  der  Erkrankung  das  Walten  eines  reinen 
Zufalles  auszuschließen. 

Die  gleichzeitige  Perforation  am  Darm,  die  an  sich  ja  selten  zu 
beobachten  ist,  weist  bei  den  Spätfällen  eine  Steigerung  auf  2,3% 
gegenüber  1,3%  bei  den  chronischen  Fällen  auf,  ist  also  bei  den 
ersteren  fast  doppelt  so  häufig  vertreten. 

Ober  die  Lokalisation  der  Afiektionen  am  Processus  gibt  folgende 
Tabelle  Aufschluß,  für  die  jedoch  in  der  Hauptsache  nur  die  chro- 
nischen Fälle  in  Betracht  kommen,  da  bei  den  anderen  Kategorien 
nur  vereinzelt  nähere  Angaben  darüber  vorhanden  sind. 


Chron.  Fälle  . 
SpatßUe.  .  . 
Chron.  Fälle  . 
Chron.  Fälle  . 
Chron.  Fälle  . 


Spitze 
11(33,30/0) 

7(36,8«) 
24(42,1,  ) 

5(17,2.) 
11(26,8,) 


Mitte 
4(12,1<%; 
4(22,2  , 
17(19,8,) 
1  (3,4,) 
8(19,5,) 


) 


Basis 

8(24,2%)  Perforation. 

4(22,2,) 

11(19,3,)  Striktur. 
—  Kotstein. 

19(46,3,)  Obliteration. 


Summa:  58(16,6%)      34  (9,7%)      42(12,0%) 

Eine  Obliteration  des  Appendixlumens  in  toto  fand  sich  in  3  Fällen 
»0,9%  der  operierten  Fälle  insgesamt 

Man  ersieht  aus  dieser  kurzen  Übersicht,  daß  für  die  Perforationen, 
Strikturen  und  Kotsteine  vornehmlich  die  Spitze  des  Processus  in 
Betracht  kommt,  während  nur  die  Obliteration  sich  häufiger  an  der 
Basis  mit  46,3%  gegen  26,8%  an  der  Spitze  findet.  Dementsprechend 
ist  auch  die  Gesamtzahl  der  Afibktionen  an  der  Spitze  am  höchsten 
mit  16,6%  nach  einer  Berechnung  auf  sämtliche  349  operierten  Königs- 
berger und  Rostocker  Fälle  vertreten.    Nach  dieser  zeigt  die  Basis 

38» 


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524  Ad.  Ebner,  [68 

des  Processus  den  höchsten  Prozentsatz  mit  12%,  und  an  letzter  Stelle 
kommt  die  Mitte  des  Processus  mit  0)7%  der  Gesamtfalle. 

Wenden  wir  uns  zum  Schluß  der  Häufigkeit  und  Art  der 
postoperativen  Komplikationen  des  Krankheitsverlaufes  bei 
den  einzelnen  Gruppen  zu,  so  finden  wir  deren  bei  den  Rostocker 
und  Königsberger  Fällen  im  ganzen  31  an  der  Zahl,  die  einem  Prozent«- 
satz  von  8,3%  der  gesamten  374  Fälle  entsprechen.  Von  diesen  ent- 
fillt  nach  Gruppen  berechnet  der  weitaus  höchste  Prozentsatz  von 
15%  auf  die  Spätfalle,  wie  es  ja  bei  dem  langsamen  Verlauf  dieser 
Fälle  nicht  anders  zu  erwarten  ist.  Ihnen  folgen  die  Notfälle  mit  10,6% 
und  die  nicht  operierten  Fälle  mit  8%.  Erheblich  seltener  finden  sich 
naturgemäß  die  Komplikationen  bei  den  chronischen  Fällen  mit  6% 
und  am  seltensten  bei  den  Frühfällen,  die  in  ihrem  Verlauf  sämtlich 
von  Komplikationen  frei  geblieben  sind. 

Auf  die  Zahl  der  Komplikationen  allein  berechnet,  finden  wir  am 
häufigsten  die  Lungenafi^ektionen  mit  45,1%  sämtlicher  Komplikationen 
vertreten.  Von  diesen  ist  wiederum  am  zahlreichsten  die  Pleuritis 
exsudativa  dextra  mit  10,6%,  danach  die  Bronchitis  purulenta  und 
Pneumonia  dextra  mit  je  9,6%  und  am  seltensten  die  Lungenembolie, 
die  mit  6,5  %  in  den  Journalen  verzeichnet  ist. 

Den  Lungenafi^ektionen  am  nächsten  steht  die  Flexionskontraktur 
des  rechten  Oberschenkels  mit  22,6%,  die  an  Häufigkeit  fast  erreiclit 
wird  von  der  Thrombose  der  linken  Vena  femoralis  mit  19,6%. 
Schließlich  folgt  noch  Diabetes  in  0,6%  und  Erysipel  in  3,2%  samt- 
licher Komplikationen  des  Krankheitsverlaufes. 

Betrachten  wir  nun  die  einzelnen  Gruppen  auf  die  Art  ihrer  Kom- 
plikationen näher,  so  finden  wir  zunächst  bei  den  chronischen 
Fällen  am  zahlreichsten  die  Lungenaffektionen  mit  3,0%  vertreten, 
die  sich  aus  Bronchitis  purulenta  und  rechtsseitiger  Pneumonie  mit 
je  1,3%,  Pleuritis  exsud.  dext.  mit  je  0,8%  und  Lungenembolie  mit 
0,4%  zusammensetzen.  Erheblich  geringer  ist  das  Verhältnis  der 
Thrombose  der  linken  Vena  femoralis  mit  1,7%  zu  konstatieren.  Ein 
akzidenteller  Diabetes  ist  in  0,4%  der  Fälle  verzeichnet. 

Dagegen  ist  bei  den  Spät  fällen  weitaus  am  häufigsten  die  Flexions- 
kontraktur des  rechten  Oberschenkels  mit  6,9%  der  Fälle  vertreten. 
Von  Lungenafi^ektionen  findet  sich  allein  die  Pleuritis  exsud«  dext. 
und  zwar  in  gleicher  Häufigkeit,  wie  die  Thrombose  der  linken  Ven. 
femoral,  und  Diabetes  in  je  2,2%  der  Fälle  angegeben.  Schließlich 
ist  in  einem  Fall  =  1,1%  der  Spätfälle  ein  Hauterysipel  verzeichnet 

Bei  den  Notfällen  ist  nur  die  Lungenembolie  und  Flexionskon- 
traktur des  rechten  Oberschenkels  in  je  einem  Falle  =:  5,3%  angeführt, 
während  andere  Komplikationen  fehlen,  und  bei  den  nicht  operierten 


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69]    Ober  den  heutigen  Stand  der  Erkennung  u.  Behandlung  der  Appendizitis.    525 

Fällen  ist  schließlich  als  einzige  Komplikation  die  Pleuritis  exsud. 
dext.  in  8%  der  Fälle  zu  konstatieren.  Den  letzteren  beiden  Resultaten 
dürfte  jedoch  bei  der  geringen  Anzahl  von  Notfällen  und  nicht  ope- 
rierten Fällen  eine  größere  Bedeutung  nicht  beizumessen  sein,  da  bei 
so  kleinen  Zahlen  leicht  ein  Zufallsergebnis  in  Frage  kommen  kann. 
Werfen  wir  nun  zum  Schluß  noch  einen  kurzen  Rückblick  auf  die 
Mortalität  unserer  gesamten  550  Fälle  nach  Gruppen  geordnet,  so 
finden  wir  eine  ansteigende  Linie  derselben  in  folgender  Reihenfolge: 
Frfihoperation  0%,  Sicherheitsoperation  0,58%,  nicht  operierte  Fälle 
2,7%,  Spätoperation  7,9%,  Notoperation  70,4%.    Stellen  wir  diesen 
gegenüber  das  Verhalten  der  Komplikationen  bei  den  einzelnen 
Gruppen  nach  gleicher  Reihenfolge  geordnet,  so  finden  wir:  Früh- 
operation 0%,   Sicherheitsoperation  6%,   nicht  operierte   Fälle  8%, 
Spatoperation  15%,  Notoperation  10,6%.    Es  ergibt  sich  daraus,  daß 
die  Zahl  der  Komplikationen  sich  in  einer  der  Mortalität  genau  ent- 
sprechenden, ansteigenden  Linie  bewegt  mit  einziger  Ausnahme  der 
Notoperationen,  bei  denen  die  Mortalität  steil  auf  70,4%  in  die  Höhe 
schnellt,  während  die  Zahl  der  Komplikationen  auf  10,6%  von  15% 
bei  den  Spätfällen  herabsinkt.    Diese  Differenz  erklärt  sich  jedoch 
zwanglos  aus  der  Annahme,  daß  es  bei  der  überaus  hohen  und  meist 
sehr  frühzeitigen  Mortalität  dieser  Fälle  an  Zeit  zu  der  Entstehung 
der  bei  langsamerem  Krankheitsverlauf  üblichen  Komplikationen  an 
anderen  Organen  mangelt.   Also  nicht  nur  hinsichtlich  der  Mortalität, 
sondern   auch  hinsichtlich    der  Möglichkeit   hinzutretender  Kompli- 
kationen hat  die  Sicherheitsoperation  und  ganz  besonders  die  abso- 
lute Frühoperation  einen  weiten  Vorsprung  vof  dem  operativen  Ein- 
grÜT  in  allen  anderen  Stadien  der  Appendizitis  voraus. 


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496. 

(Gynäkologie  Nr.  181.) 

Oberblick  über  die  Entwicklung  der  modernen 
gynäkologischen  Operationstechnik. 

Vortragy  gehalten  auf  der  Versammlung  der  American  gynecological  Society 
in  Philadelphia  (27.  V.  1908). 

Von 

Prof.  Dr.  A.  Martin, 

Berlin. 


Die  Ehre  vor  dieser  Versammlung  zu  sprechen  weiO  ich  genügend 
zu  schätzen,  da  ich  seit  dem  Jahre  1888  den  innigen  Wunsch  empfinde, 
für  die  Ernennung  als  Ehrenmitglied  dieser  Versammlung  meinen  Dank 
persönlich  abzustatten.  Seit  nahezu  40  Jahren  fühle  ich  mich  mit  den 
amerikanischen  Fachgenossen  nahe  verbunden:  damals  hatte  ich  das 
Gluck,  einige  ihrer  glänzendsten  Vertreter,  Marion  Sims,  Emmet 
und  Gaillard  Thomas  persönlich  kennen  zu  lernen.  Seit  jener  Zeit 
haben  sich  die  Beziehungen  auf  eine  groOe  Zahl  der  hervorragendsten 
Sohne  dieses  großen  Landes  weitergesponnen.  21  Jahre  sind  verflossen, 
seitdem  ich  auf  dem  Meeting  in  Washington  vielen  von  Ihnen  begegnen 
durfte.  Die  ehrenvolle  Einladung  zu  unserem  heutigen  Meeting  läOt 
den  seit  jenen  unvergeßlichen  Tagen  in  mir  lebendigen  Wunsch,  Sie 
wiederzusehen,  in  schönster  Weise  in  Erfüllung  gehen. 

Als  ich  in  diesem  Zusammenhang  die  Entwicklung  der  Gynäko- 
logie in  den  letzten  fünf  Dezennien  überblickte,  reizte  es  mich  be- 
sonders zu  verfolgen,  welche  Wege  unser  Tun  und  Handeln  in  diesem 
Zeitraum  durchlaufen  hat. 

Damals  beschränkte  sich  unsere  Therapie  auf  medikamentöse  und 
orthopädische  Applikationen  auf  Vulva  und  Scheide.  Zaghaft  drang 
man  in  die  Uterushöhle  vor.  Eben  hatte  man  in  der  Diszision  des 
engen  Muttermundes  nach  dem  Vorgehen  von  Sir  James  Simpson 
und  E.  Martin  einen  wesentlichen  Fortschritt  erkannt,  ebenso  in  der 

Klin.  Vortrige,  N.  F.  496.    (Gynlkologle  Nr.  181.)    Juli  190B.  28 


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370  A.  Martin,  [2 

Verwendung  des  Chassaignacschen  Ecraseur  und  der  elektro- 
kaustischen  Schlinge  —  während  man  anfing,  die  noch  sehr  zweifelnd 
erkennbaren  abdominalen  Neubildungen  etwas  zuversichtlicher  durch 
die  Laparatomie  anzugreifen,  besonders  nachdem  Ätlee,  Peaslee, 
Spencer  Wells,  Baker  Brown,  Köberl6  und  Keith  mehr  als 
vereinzelte  Erfolge  erzielt  hatten.  Marion  Sims  war  es  vorbehalten, 
ebenso  wie  Gustav  Simon  und  Hegar  der  vaginalen  Methode 
durch  die  ausgiebigere  Freilegung  des  Scheidengewölbes  zur  Plastik 
am  Collum  und  in  der  Scheide  weitere  Bahnen  zu  eröffnen.  Emmets 
Trachelorrhaphie  und  die  erfolgreicheren  Fisteloperationen  von  Simon 
und  Bozeman  erschienen  als  Triumphe  dieses  Entwicklungsstadium. 
Auch  die  intrauterine  Therapie  wurde  durch  die  breite  Dilatation  der 
Cervix  (PreDschwamm  und  Laminaria,  Ellingersches  Dilatatorium) 
und  die  Eröffnung  des  Kavum  in  dieser  Zeit  erfolgreich  weiter  aus- 
gebildet. Es  wurde  damit  der  nachhaltigeren  Einwirkung  auf  dessen 
Mukosa  frei  Bahn  geschaffen  für  Curette  und  medikamentöse  Appli- 
kationen. 

Der  nächste  Schritt  vorwärts  geschah  in  der  abdominalen  Chirur- 
gie: Nicht  nur,  daß  wir  lernten  —  mit  Köberl6  und  Keith,  P6an  und 
Karl  Schröder  an  der  Spitze  —  neben  den  Ovarial-  auch  die  Utenis- 
geschwQlste  anzugreifen:  wir  wagten  uns  auch  an  die  entzündlicliea 
Geschwulstmassen  heran.  Lawson  Tait,  Hegar  und  auch  ich  durften 
damals  die  Möglichkeit  derartiger  abdominaler  Operationen  mit  nicht 
unbefriedigenden  Erfolgen  belegen.  Sehr  bald  ergab  sich,  dafi  manche 
dieser  Geschwulstmassen  der  ektopischen  Eieinbettung  ihre  Entstehung 
verdankten:  wie  wurden  wir  von  der  Häufigkeit  dieser  verhängnis- 
vollen Komplikation  überrascht! 

Inzwischen  hatte  W.  A.  Freund  den  Weg  gefunden,  durch  eine 
Kombination  abdominaler  und  vaginaler  Operation  das  verhängnis- 
vollste Übel,  den  Uteruskrebs,  auszurotten.  Zwar  entsprachen  zu- 
nächst die  Erfolge  nicht  den  anfänglichen  Erwartungen.  Freunds 
Operation  wies  aber  Emil  RieQ  den  Weg,  der  seit  einem  Jahrzehnt 
in  der  Ausbreitung  auf  das  pelvine  Bindegewebe  und  die  retro- 
peritonealen  Drüsen  allgemein  als  die  typische  Karzinomoperation 
angesehen  wird. 

Freunds  Vorgehen  gab  den  Anstoß,  den  karzinomatösen  Uterus 
auf  vaginalem  Wege  auszurotten.  Czerny,  Billroth,  Schröder  folgten 
dieser  Anregung.  Damit  wurde  ein  gewaltiger  Schritt  vorwärts  getan. 
Wir  lernten  in  der  vaginalen  Uterusexstirpation  ein  Mittel  kennen, 
um  auch  bei  nicht  malignen  Erkrankungen  mit  dem  Uterus  seine  er- 
krankten Adnexorgane  vaginal  nicht  nur  zu  exstirpieren,  nein,  sie  auch 
gegebenenfalls  zu  erhalten,  nachdem  wir  ihre  kranken  Teile  entfernt 


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3]    Oberblick  fiber  die  Entwicklung  der  modernen  gynSk.  Operationstecbnik.    371 

und  ihre  unwegsam  gewordenen  Abschnitte  wieder  wegsam  gemacht 
hatten. 

Eine  weitere  Etappe  bilden  die  Versuche,  die  bis  dahin  ortho- 
pädisch behandelten  Uterusdeviationen  operativ  zu  heilen.  Die  Ideen 
Singers  und  Olshausens  haben  ein  weites  Feld  operativer  Tätig- 
keit eröffnet*  Erst  durch  die  Erfahrungen  mit  der  Ventrifixur  wurde 
die  Alexander-Adamsche  Operation  weiter  verbreitet,  um  ihrer- 
seits jene  wesentlich  in  den  Hintergrund  zu  schieben. 

Den  Siegeslauf  der  Laparatomie  zu  unterbrechen  war  Dührßen 
undMackenrodt  vorbehalten,  als  sie  zu  Anfang  der  letzten  Dekade  des 
verflossenen  Jahrhunderts  einen  sicheren  vaginalen  Weg  in  den  Innen- 
raum des  kleinen  Beckens  und  zu  allen  Beckenorganen  zeigten.  Fast 
schien  es,  daß  die  Abdominaloperation  nur  den  großen  Geschwülsten 
in  der  Bauchhöhle  vorbehalten  werden  sollte!  Nach  kurzen  Jahren 
setzte  die  Reaktion  ein,  vornehmlich  auf  dem  Gebiete  der  ektopischen 
Schwangerschaft,  dann  auf  dem  der  entzündlichen  Adnexerkrankungen, 
trotzdem  wir  durch  die  raumgebenden  vulvo  -  vaginalen  Inzisionen 
DfihrOens  und  besonders  die  von  Schuchardt  angegebene  seitlich 
schräge,  eine  bessere  Narbenbildung  sichernde,  lernten  den  Zugang 
zum  Scheidengewölbe  und  den  darüber  liegenden  Gebilden  sehr  aus- 
giebig fireizuiegen.  Unverkennbar  ist  der  Enthusiasmus  für  die  vagi- 
nalen Operationen  im  Laufe  des  jetzigen  Jahrhunderts  abgeflaut,  so 
daß  heute  selbst  so  überzeugte  Vorkämpfer  wie  Mackenrodt  davon 
abrücken  und  sich  des  abdominalen  Verfahrens  in  überwiegender 
Häufigkeit  bedienen. 

Die  operative  Technik  hat  in  dieser  Beziehung  eine  eigenartige 
Wellenbewegung  durchlaufen.  Nach  einer  kurzen  Periode  überwie- 
gender Bevorzugung  vaginaler  Operationen  entwickelte  sich  die  Lapa- 
ratomie zur  Vorherrschaft,  bis  die  vaginale  Technik  weiter  ausgebildet 
wurde.  Dann  aber  gewinnt  nach  kurzen  Jahren  die  Laparatomie  wieder 
einen  Vorsprung,  der  anscheinend  in  sieghaftem  Vordringen  den  vaginalen 
Operationen  einen  sehr  bescheidenen  Platz  übrigzulassen  sich  anschickt. 

Wir  fragen  angesicht  dieses  Werdeganges,  wie  ist  es  überhaupt  ge- 
kommen, daß  die  gynäkologischen  Operationen  sich  in  dieser  weitgehen- 
den Weise  entwickeln  konnten?  Der  Weg  wurde  vorbereitet  durch  die 
wachsende  Einsicht  in  die  pathologische  Anatomie.  Sie  gab  die  Unter- 
lage für  die  Diagnose,  um  deren  Ausbildung  B.  S.  Schultze,  der  Nestor 
der  deutschen  Gynäkologen,  sich  hochverdient  gemacht  hat.  Nicht  erst 
wenn  der  Tumor  die  Bauchdecken  wölbt  oder  das  kleine  Becken  von 
den  erkrankten  Organen  völlig  verlegt  wird,  lernten  wir  die  Prozesse 
differenzieren.  Nach  Karl  Ruges  Rat  entnehmen  wir  Teile  der  Uterus- 
scUeimhaut  und  bauen  auf  deren  mikroskopischen  Bildern  weitere 

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372  A.  Martin,  [4 

Schlüsse  auf.  Heute  kommen  uns  die  biologisch-chemischen  Methoden 
zunutze,  um  durch  das  Kultur-  und  Impfverfahren,  weiter  durch  die 
Untersuchungen  des  Blutes,  der  Se-  und  Exkrete  die  Sachlage  weit- 
gehend klarzustellen  —  das  wollen  wir  dankbar  anerkennen,  wenn 
wir  uns  auch  nicht  darüber  täuschen,  daß  nur  zu  oft  noch  viel  mehr 
Licht  erwünscht  ist.  Gerade  auf  diesem  Felde  liegt  noch  viel  Arbeit 
vor  uns.  So  z.  B.  gilt  es  noch  den  Zusammenhang  zwischen  Gen  i tal- 
leiden und  Appendix  und  gewissen  drüsigen  Organen,  die  von  Hegar 
und  Freund  gegebene  Anregung  über  die  Bedeutung  des  InfantUismus 
für  die  gesamte  Pathologie  zu  erforschen  und  zutreffend  zu  bewerten. 

Wir  müssen  rückhaltlos  bekennen,  unsere  operative  Tätigkeit  wäre 
einer  solchen  Ausdehnung  nicht  fähig  gewesen,  wenn  wir  nicht  auf 
opferreichem  Wege  durch  die  Antisepsis  zur  Asepsis  durchgedrungen 
wären.  Sie  alle  haben  diesen  Entwicklungsgang  selbst  durchlebt;  wir 
vereinigen  uns  in  der  Huldigung  für  Holmes  und  Semmelweiß, 
Pasteur,  Koch  und  Lister,  um  nur  diese  Namen  zu  nennen.  Die 
Saat  ihrer  Arbeit  ist  in  aller  Welt  aufgegangen  und  verbreitet  ihren 
Segen  auf  allen  Gebieten  der  Medizin;  nicht  zuletzt  aber  sind  wir 
Gynäkologen  es,  die  in  heißem  Bemühen  mitgearbeitet  haben.  In  der 
unermüdlichen  Ausgestaltung  unserer  operativen  Technik  beginnen 
wir  die  reiche  Ernte  vor  uns  zu  sehen.  Seit  einem  Lustrum  liegt 
hinreichendes,  modern  bearbeitetes  Material  vor  uns,  um  nicht  nur 
die  primären  Erfolge  unserer  Operationen  an  großen  Zahlen  zu  prüfen 
—  wir  sind  in  das  Stadium  der  Kontrolle  der  Dauerresultate  ein- 
getreten. Wir  dürfen  uns  nicht  verhehlen,  daß  uns  diese  Prüfung 
manche  Enttäuschung  eingetragen  hat:  sie  hat  uns  Lücken  und  Fehl- 
schlüsy  gezeigt,  die  uns  zur  Selbstkritik  und  zu  erneuter  Arbeit  anregen. 

Betrachten  wir  nun  unter  dem  Eindruck  der  so  verschärften  Kritik 
den  heutigen  Stand  unserer  operativen  Technik,  so  beansprucht  die 
Laparatomie  den  Vorzug  unbeschränkter  Klarstellung  der  pathologi- 
schen Verhältnisse  in  der  ganzen  Bauchhöhle  vor  der  vaginalen  Ope- 
ration. Das  ist  sicher  weitgehend  zuzugeben,  wenn  auch  die  letztere 
in  ihrer  heutigen  Ausbildung  durch  die  breite  Eröffnung  des  Becken- 
bodens für  den  Raum  unterhalb  des  Beckeneingangs  —  soweit  es  hier 
lokalisierten  Prozessen  gilt  —  an  Klarheit  nichts  zu  wünschen  übrigläßt. 

Noch  vor  einem  Lustrum  mußte  ein  sehr  schwerwiegender  Einwand 
gegen  die  Abdominaloperation  in  der  statistisch  unbestreitbar  höheren 
Lebensgefahr  und  in  den  oft  ihr  anhaftenden  Komplikationen  erblickt 
werden. 

Es  ist  ohne  weiteres  zuzugeben,  daß  in  ersterer  Beziehung  wesent- 
liche Fortschritte  gemacht  worden  sind.  Unsere  Aseptik  hat  gegen  früher 
wesentlich  durchgreifender  den  Feind,  die  septische  Infektion,  bekämpfen 


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5]    Oberblick  über  die  Entwicklung  der  modernen  gynäk.  Operationstechnik.     373 

gelehrt  Er  verfolgte  um  so  mehr  die  Laparatomie,  weil  sie  das  Peri- 
tooeum  den  pathogenen  Keimen  in  größerer  Ausdehnung  Freilegt.  Es 
wird  allgemein  nach  möglichster  Abkürzung  der  Operation  getrachtet. 
Die  Schädlichkeiten  der  Narkose  werden  verringert;  die  Inhalations- 
narkose  wird  abgekürzt,  durch  die  Lumbalanästhesie  ersetzt.  Die  Für- 
sorge für  die  Steigerung  der  Widerstandskraft  der  Kranken  hat  durch- 
greifende und  evidente  Erfolge  gezeitigt.  Gleichzeitig  damit  ist  die 
Sicherheit  der  Bauchschnittvernarbung  gewachsen.  Die  Schnittführung 
nach  Pfannenstiel  verleiht  der  Narbe  unbestreitbar  eine  nachhaltigere 
Widerstandskraft  gegen  die  herniöse  Dehnung. 

Das  erkennen  wir  rückhaltlos  an.  Die  Erfahrung  lehrt  uns  aber, 
daß  diese  Narben  vor  einer  solchen  Dehnung  nicht  mit  voller  Sicher- 
heit geschützt  sind.  Selbst  bei  völlig  aseptischem  primärem  Heilungs- 
verlaufwerden die  physiologischen  Umbildungsvorgänge  des  weiblichen 
Körpers  (Schwangerschaft,  Klimakterium)  verhängnisvoll,  noch  mehr, 
wenn  etwa  ungeeignete  Dehnungsansprüche  und  erneute  pathologische 
Veränderungen  hinzukommen.  Erfolgt  aber  die  Heilung  aus  irgend- 
einem Zufall  oder  einer  nicht  erkennbaren  Lücke  der  Asepsis  nicht  per 
primam,  dann  wächst  die  Gefahr  der  Narbendehnung  in  erschrecken- 
der Weise.  Sicher  erreichen  die  Meister  im  Fach  lange  Reihen  un- 
gestörter Heilung,  aber  auch  sie  sind  nicht  dagegen  gesichert,  daß  aus 
der  Geschwulst,  welcher  die  Operation  gilt,  eine  Verunreinigung  der 
Bauchwunde  eintritt.  Die  Gefahr  wächst,  wo  es  sich  um  die  Operation 
von  Entzfindungsprodukten  handelt,  sie  begleitet  alle  diejenigen  Fälle, 
in  welchen  eine  Dränage  des  Operationsfeldes  geboten  erscheint. 

Noch  bedenklicher  sind  die  Spätfolgen,  welche  wir  auch  nach 
idealer  primärer  Heilung,  nach  einem  ungestörten  Operationsverlauf, 
in  erschreckender  Häufigkeit  aber  nach  der  Lösung  von  Verwachsungen 
eintreten  sehen:  die  Verwachsungen  der  Intestina  und  des  Omen- 
tum mit  der  Bauchwunde  untereinander  und  mit  dem  Stumpf 
der  entfernten  Geschwülste.  Die  langjährige  Kontrolle  unserer 
Operierenden  lehrt  uns  die  Bedeutung  dieser  Komplikationen  mehr  und 
mehr  würdigen.  Keine  Modifikation  unserer  Methoden  schließt  sie  mit 
Sicherheit  aus;  nicht  die  ängstliche  Vermeidung  einer  Insultierung 
des  Peritoneum  während  der  Operation,  nicht  die  sogenannte  Peri- 
tonealisierung der  entstandenen  Defekte,  nicht  die  Versuche  durch 
ölige  Substanzen  oder  physiologische  Kochsalzlösungen  die  Berührung 
der  betreffenden  Organe  zu  beeinflussen,  nicht  die  frühzeitige  An- 
regung des  Motus  peristalticus  —  geben  sichere  Gewähr  gegen  diese 
Komplikationen.  Sie  bleiben  der  Laparatomie  anhaften,  jedenfalls  in 
einem  verhängnisvoll  größeren  Maßstab  als  den  vaginalen  Opera- 
tionen.   Gewiß  sind  die  Beckenorgane  auch  nach  diesen  gegen  Ver- 


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374  A.  Martin,  [6 

wachsungen  nicht  gesichert;  solche  Verwachsungen  treten  aber,  jeden- 
falls soweit  meine  recht  ausgiebigen  Erfahrungen  zeigen,  wesentlich 
seltener  hervor. 

Die  Narbenbildung  im  Becken  erfolgt  —  ich  möchte  sagen  mit 
konstanter  Regelmäßigkeit,  deren  sehr  seltene  Ausnahmen  eben  die 
Regel  bestätigen  —  frei  von  Narbengeschwüren.  Selbst  da,  wo  es 
notwendig,  das  Wundgebiet  zu  dränieren,  wo  infektiöses  Material  der 
Tiefe  entnommen  wurde,  sind  Unregelmäßigkeiten  der  Narbe  sehr 
seltene  Spätkomplikationen.  Auch  bei  vaginalen  Operationen  werden 
sicherlich  gelegendich  pathogene  Keime  über  das  Operationsgebiet 
verschmiert;  in  der  Regel  kommt  es  sehr  schnell  zu  einer  Abkapse- 
lung nach  oben,  Wundsekrete  werden  durch  die  Scheide  entleert  oder 
jedenfalls  von  da  aus  leicht  erreicht 

Sicher  bedarf  es  für  die  vaginalen  Operationen  einer  bestimmten 
Schulung,  ich  möchte  sagen:  einer  minutiöseren  Operationsarbeit. 
Nicht  immer  will  es  leicht  gelingen,  das  Scheidengewölbe  freizulegen, 
in  das  Peritoneum  vorzudringen,  die  hier  liegenden  Organe  dem  Auge 
zugängig  zu  machen:  die  eben  erwähnten  Vorteile  lohnen  reichlich 
die  aufgewandte  Mühe.  Mehr  noch,  als  nach  einer  aseptisch  und  un- 
blutig verlaufenden  Laparatomie,  gleichen  vaginal  operierte  gesunden 
Wöchnerinnen,  welche  nach  Abschluß  der  Geburt  nach  kurzer  Rast 
ihres  Lebens  wieder  froh  werden. 

Daß  die  modernen  Narkosenverfahren  einen  Unterschied  zwischen 
beiden  Methoden  nicht  bedingen,  sei  hier  nur  ebenso  erwähnt,  wie 
daß  für  die  Rekonvaleszenz  nach  keiner  dieser  Operationen  heute 
noch  eine  lange  Dauer  der  Rückenlage  verlangt  wird.  Je  früher  sich 
die  Kranke  nach  eigenem  Behagen  bewegt,  dann  das  Bett  verläßt,  um 
so  sicherer  bleiben  ihr.  die  Gefahren  der  nachteiligen  Rückwirkungen 
einer  strengen  Rückenlage  auf  Herz  und  Darm  erspart. 

Daß  die  vaginalen  Methoden  nur  für  ein  beschränktes  Gebiet  in 
Frage  kommen  können,  ist  von  vornherein  anzuerkennen,  aber  es  ist 
nicht  statthaft  zu  sagen,  z.  B.  daß  Tumoren  des  Uterus  und  der  Ovarien 
nur  so  lange  vaginal  angegriffen  werden  dürfen,  als  sie  noch  im  Becken 
liegen:  eine  solche  Beschränkung  kenne  ich  nicht!  Die  Grenze  liegt 
nicht  darin,  daß  etwa  die  Tumoren  nur  mit  einem  sehr  beschränkten 
Segment  in  das  Becken  hineinragen,  sie  liegt  in  der  freien  Verschieb- 
lichkeit. Auch  kleine  Geschwulstmassen,  welche  verwachsen  sind, 
soll  man  nicht  vaginal  angreifen;  andererseits  können  aber  auch  um- 
fangreichere vaginal  operiert  werden,  wenn  sie  zerkleinerungsfahig 
sind  —  solange  ihre  Oberfläche  nicht  durch  peritonitische  Ver- 
wachsungen mit  der  Nachbarschaft  schwer  kontrollierbar  geworden 
ist.     Gewiß  können   wir   nach   der  Methode  von   D.  v.  Ott  solche 


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7]    Überblick  über  die  Entwicklung  der  modernen  gynSk.  Operationstecbnik.    375 

Verwachsungen  in  manchem  Falle  auch  dem  Auge  zugängig  machen 
und  unter  der  Kontrolle  der  Beleuchtung  sicher  trennen  —  als  Regel 
betrachte  ich  solche  Verwachsungen  als  Kontraindikationen.  Ge* 
legendich  entgehen  uns  auch  recht  feste  Verwachsungen  noch  vor  der 
Operation.  Sehr  oft  weist  die  Anamnese  auf  eine  vorausgegangene 
Peritonitis  hin.  ^ir  lernen  auch  in  dieser  Beziehung  mit  reifender 
Erfahrung!  Aber  wenn  wir  schließlich  unerwartet  auf  solche  Ver- 
wachsungen stoßen y  was  hindert  uns,  die  vaginale  Operation  abzu- 
brechen und  abdominal  zu  Ende  zu  führen?  Nur  ganz  vereinzelt  bin 
ich  hierzu  gezwungen  gewesen ,  die  Kranken  haben  keinen  Nachteil 
davon  gehabt. 

Da  wir  in  wachsender  Häufigkeit  Frühstadien  der  Neubildungen 
zur  Beobachtung  bekommen,  diejenigen  aber  der  Ovarien  dann  fiber- 
wiegend häufig  noch  leicht  beweglich  sind,  bevorzuge  ich  für  diese 
den  vaginalen  Weg. 

Eine  ideelle  Konkurrenz  zwischen  beiden  Methoden  kommt  außer 
für  die  Neubildungen  des  Uterus  für  die  plastischen  Operationen  im 
Becken  in  Frage.  Nur  zu  oft  handelt  es  sich  dabei  um  gleichzeitige 
Erkrankung  des  Uterus  selbst  und  der  Adnexe.  Diese  Aufgabe  hat  an 
Bedeutung  außerordentlich  gewonnen,  seitdem  uns  neben  den  Lage- 
anomalien die  entzündlichen  Adnexerkrankungen  und  ganz  besonders 
die  ektopische  Eiinsertion  —  fast  möchte  ich  sagen  täglich  —  Indika- 
tionen für  operative  Eingriffe  geben! 

Die  Frage  der  Uterus-Deviationen  hat  durch  die  guten  Erfolge  der 
Alexander-Adamsschen  Operationen  für  die  vaginalen  Methoden 
in  den  Augen  vieler  an  Bedeutung  verloren  und  doch  sehen  wir  dar- 
nach recht  häufig  Mißerfolge,  besonders  aber  in  erschreckender  Weise 
Narbendehnungen  und  herniöse  Ausstülpungen.  Die  Tatsache,  daß 
bis  tieute  noch  immer  neue  Operationsmethoden  zu  ihrem  Ersatz  er- 
funden werden,  spricht  eine  beredte  Sprache!  Mag  man  die  Vagini- 
fixur,  die  Festlegung  des  Uterus  an  die  Scheide,  verlassen,  so  ver- 
dient jedenfalls  die  Kürzung  und  Fixierung  der  Ligamenta  rotunda 
von  der  Scheide  aus  volle  Beachtung.  Ich  habe  die  Vaginifixur  un- 
mittelbar nachdem  Mackenrodt  und  Dührßen  uns  den  Weg  durch 
das  vordere  Scheidengewölbe  gezeigt,  ganz  besonders  deswegen  in 
setir  großer  Ausdehnung  geübt,  weil  sie  uns  gestattet,  die  so  außer- 
ordentlich häufigen  perimetritischen  Pseudomembranen  zu  lösen.  Nur 
in  den  Fällen  ganz  allgemeiner  Verwachsung  durch  feste  knorpelig 
harte  Schwielen  stoßen  wir  dabei  auf  ernste  Schwierigkeiten.  Diese 
Fälle  wird  man  kaum  vaginal  angreifen.  Viel  bedeutungsvoller  aber  ist 
es,  daß  nur  zu  oft  schwer  tastbare  zarte  Bänder  und  Zügel  den  Ute- 
rus mit  seiner  Nachbarschaft  verbinden;  dabei  ist  ihm  eine  gewisse 


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376  A.  Martin,  [8 

Beweglichkeit  geblieben.  Diese  Membranen  sind  sehr  häufig  die  Ur- 
sache der  Mißerfolge  der  Alexander-Ada  ms  sehen  Operation.  Das 
Verfahren  von  Goldspohn  soll  diesem  Übel  begegnen;  es  erfreut 
sich  in  Deutschland  nur  eines  beschränkten  Kreises  von  Freunden. 
Goldspohn  selbst  übt  es  nur  noch  sehr  selten,  besonders  mitRfick- 
sicht  auf  die  in  Amerika  so  oft  betonte  Notwendigkeit,  bei  allen  ent- 
zündlichen  Genitalleiden  die  Appendix  zu  kontrollieren. 

Der  Einwand,  daß  die  Vaginifixur  der  Entwicklung  des  schwangeren 
Uteruskörpers  hinderlich  sei  —  ist  hinfallig  solange  nicht  das  Korpus, 
sondern  die  Gegend  des  unteren  Uterinsegmentes  festgelegt  wird.  Dann 
entfaltet  sich,  wie  hinreichend  ausgedehnte  Erfahrungen  beweisen,  das 
Korpus  ungestört  als  Fruchthalter.  Unteres  Uterinsegment  und  Cervix 
dehnen  sich  während  eines  geduldig  abgewarteten  Geburtsverlaufes. 

Die  von  Freund,  Wertheim,  Schauta,  Pfannenstiel  u.a.  aus- 
gehenden Vorschläge,  durch  die  Einlagerung  des  umgestülpten  Uterus 
dem  Vorfall  der  gesamten  Genitalien  zu  begegnen,  insbesondere  aber 
ihn  zur  Stütze  der  verlagerten  Blase  zu  machen,  geben  eine  weitere, 
sehr  bedeutungsvolle  Indikation  für  vaginale  Operationen. 

Die  Therapie  der  entzündlichen  Adnexerkrankungen  ist  in 
den  letzten  Jahren  in  ein  neues  Stadium  gerückt,  seitdem  wir  ihre 
Ätiologie  besser  erkannt  haben.  Viel  häufiger,  als  wir  es  früher  an- 
nehmen wollten,  klingen  die  gonorrhoischen  Infektionen  in  Tube  und 
Peritoneum  nach  einem  akuten,  oft  sehr  bedrohlichem  Stadium  ab. 
Unter  geeigneter  Pflege  tritt  Heilung,  ja  bis  zur  vollen  Funktions- 
iahigkeit  ein!  Auch  bei  den  septischen  Erkrankungen  und  den  tuber- 
kulösen hat  eine  etwas  ruhigere  Auffassung  Platz  gegriffen:  nur  eine 
Minorität  dieser  Fälle  bietet  eine  Indicatio  vitalis.  Außerordentlich 
häufig  finden  wir  lange  Zeit  nach  dem  klinisch  unverkennbaren  ersten 
Erkrankungsstadium  diese  Prozesse  abgeheilt,  sei  es,  daß  uns  eine 
andere  Erkrankung  zur  operativen  Freilegung  zwingt  oder  daß  Rezi- 
dive den  Heilungsablauf  stören.  Dann  treffen  wir  den  Eiter  einge- 
trocknet, steril  —  dann  finden  wir  dicke  Schwarten  und  Schwielen, 
die  auf  eine  jahrelange  Dauer  der  Erkrankung  hinweisen.  In  der 
Zwischenzeit  haben  sich  die  Trägerinnen  subjektiv  eines  vortreff- 
lichen Befindens  erfreut!  Neben  solchen  Fällen  sehen  wir  andere, 
die  vor  interkurrenten  Störungen  im  Laufe  einer  langsamen  Genesung 
bewahrt,  schließlich  ohne  Operation  zu  einer  vollständigen  Aus- 
heilung kommen.  Das  mahnt  uns  doch  sehr  ernstlich  zu  erwägen, 
ob  es  richtig  ist,  da  wo  eine  ernste  Lebensgefahr  nicht  vorliegt,  gleich 
diese  Organe  zu  entfernen,  zumal  es  sich  sehr  häufig  um  jugendliche 
Personen  handelt,  bei  Gonorrhöe,  Tuberkulose,  Wochenbetts-  oder 
Operationsinfektionen. 


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9]    Oberblick  über  die  Entwicklung  der  modernen  gynflk.  Operationstechnik.    377. 

Ob  es  vorzuziehen  ist,  in  frischem  Stadium,  „ä  chaud*'  abdominal 
oder  vaginal  zu  operieren,  wird  viel  behauptet  und  bestritten.  Ich 
habe  es  in  den  letzten  Jahren  vorgezogen,  frisch  entzündliche  Fälle 
vaginal  zu  operieren.  Purulente  Saktosalpingen,  ausgedehnte  peri- 
und  parametritische  Abszesse  inzidiere  ich  durch  das  Scheidengewölbe. 
Unter  Dränage  genesen  diese  Kranken  nicht  nur  bis  zur  völligen 
Euphorie  und  normalem  Lokalbefund;  ich  habe  mehrfach  darnach 
Schwangerschaft  und  normales  Wochenbett  beobachtet.  Aber  die 
große  Mehrzahl  dieser  Fälle  sehen  wir  im  nicht  frisch  entzündlichen 
Zwischenstadium.  Wir  entschließen  uns  erst  dann  zur  Operation,  wenn 
die  Allgemeinbehandlung  und  die  eine  Resorption  befördernde  Lokal- 
tiierapie  erfolglos  geblieben  sind.  Dann  kann  man  wenig  umfang- 
reiche Geschwülste  dieser  Art  auch  aus  den  alten  Verwachsungen 
sehr  gut  vaginal  operieren.  Umfangreichere  Massen  mit  unklaren 
Verwachsungen  werden  besser  abdominal  angegriffen. 

Schwangere  Tuben  geben  in  ihrem  Entwicklungsgang  sehr  ver- 
schiedene Indikationen.  Daß  vorgeschrittenere  Fälle,  welche  über  et- 
wa den  dritten  Monat  hinausgekommen  sind,  zur  Domäne  der  abdo- 
minalen Operationen  gehören,  liegt  auf  der  Hand.  Vorher  aber  sind 
ungestörte  ektopische  Schwangerschaften  mit  großer  Sicherheit  vagi- 
nal zu  operieren.  Streitig  ist  die  Wahl,  wenn  der  Fruchtkapselaus- 
bruch erfolgt.  Auch  hier  ist  zu  unterscheiden,  ob  es  zu  einem  Tuben- 
hämatoffl  gekommen  ist  oder  zu  einer  Hämatokele;  erstere  habe  ich 
mit  voller  Sicherheit  auch  bei  mehr  als  Faustgröße  vaginal  operiert, 
ebenso  auch  letztere,  wenn  sie  abgekapselt  erschien.  Die  Blutstillung 
ist  vaginal  mit  voller  Sicherheit  durchzuführen,  Koagula  und  Eisack 
zu  entfernen.  Ich  lasse  gern,  wenn  es  angängig  ist,  die  entbundene 
Tube  zurück,  getreu  dem  Grundsatz,  nur  das  zu  entfernen,  was  für 
den  Erfolg  der  Operation  nötig  ist.  Aber  ich  konzediere  rückhalt- 
los, daß  wir.  bei  mangelnder  Übung,  mangelnder  Assistenz  im  Hause 
der  Patienten,  auf  dem  Lande  und  unter  sonst  ungünstigen  Verhält- 
nissen rascher  und  sicherer  durch  die  Laparatomie  dazu  kommen,  die 
blutende  Tube  zu  versorgen,  und  das  ist  unsere  erste  Aufgabe  in  den 
Fällen  drohenden  Verblutungstodes.  Eventuelle  Komplikationen  der 
Bauchnarbe  müssen  die  vom  Verblutungstod  Geretteten  mit  in  den 
Kauf  nehmen. 

Erst  in  der  letzten  Zeit  eröffnet  Seh  au  ta  dem  vaginalen  Verfahren 
wieder  eine  weite  Perspektive,  indem  er  durch  eine  sehr  weitgehende 
vaginale  Operation  das  CoUumkarzinom  angreift.  Er  berichtet  über 
glänzende  primäre  und  Dauererfolge  an  einem  großen  Material.  Die 
Exstirpation  des  parametranen  Bindegewebes  gelingt  dabei  sicher,  wie 
ich  mich  durch  mehrfache  Operationen  an  der  Leiche  überzeugt  habe. 


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378    A.  Martin,  Überblick  über  die  Entwickl.  der  mod.  gynSiK.  Operationstechnik.   [iQ 

Schauta  verzichtet  auf  die  Exstirpation  der  retroperitonealen  Drüsen! 
Gewiß  entfernt  er  sich  damit  von  den  heutigen  Anschauungen  der 
Chirurgen,  aber  wir  dürfen  nicht  verkennen,  daß  unsere  bisherigen 
Durchforschungen  solcher  exstirpierten  Drüsen  sehr  ernste  Bedenken 
anregen.  Hier  stellt  sich  uns  ein  Problem,  das  unser  aller  Mitarbeit 
herausfordert! 

Ich  bekenne  mich,  wie  diese  Skizze  zeigt,  als  warmen  Fürsprecher 
der  vaginalen  Operation,  soweit  durch  diese  mit  Aussicht  auf  sicheren 
Erfolg  dem  Übel  beizukommen  ist.  Auch  für  mich  ist  die  Laparatomie 
die  technisch  leichtere,  sie  ist  mir  aber  ultima  ratio.  Nur  zu  oft  drängen 
wenig  ausgedehnte,  dabei  aber  recht  beschwerliche,  Leben  und  Lebens- 
genuß behindernde  Krankheitsprozesse  zur  Operation.  Wir  müssen  dann 
überlegen,  ob  wir  nicht  durch  eine  für  uns  vielleicht  schwierigere,  dafür 
aber  doch  sicheren  Erfolg  versprechende  Methode  zum  Ziele  kommen. 
Ich  halte  die  Vermeidung  einer  Bauchschnittnarbe  immerhin,  selbst 
wenn  mit  der  abdominalen  Operation  eine  größere  Operationsgefahr 
nicht  verbunden  ist,  für  sehr  wesentlich  im  Interesse  unserer  Kranken. 
Bemühen  wir  uns  frühzeitig  die  Entwicklung  der  Krankheitsprozesse 
zu  erkennen,  lernen  wir  in  sorgsamer  klinischer  Beobachtung  den 
Werdegang  derselben  beurteilen,  greifen  wir  rechtzeitig  ein,  wo  ein 
Eingreifen  nicht  zu  umgehen  ist,  dann  stehen  wir  oft  vor  der  Mög- 
lichkeit, insbesondere  Neubildungen  und  entzündliche  Prozesse  zu 
operieren,  welche  einer  vaginalen  Operation  noch  zugängig  sind« 

Ich  verschließe  mich  nicht  dem  Einwand,  daß  da,  wo  eine  Kon- 
trolle des  Wurmfortsatzes  geboten  erscheint,  die  Eröffnung  der  Bauch- 
decken sicherer  zum  Ziele  fuhrt.  Aus  eigener  Anschauung  habe  ich 
den  Eindruck  gewonnen,  daß  aus  Furcht  vor  der  Möglichkeit  einer 
späteren  Appendizitis  dieses  Gebilde  zweifellos  oft  ohne  zwingende 
Berechtigung  exzidiert  wird.  Ebenso  werden  die  Bauchdecken  nur 
zu  häufig  ohne  dringende  Indikation  gespalten,  wo  ein  einfacher  vagi- 
naler Eingriff  vollständig  zur  Abhilfe  vorhandener  Erkrankungsprozesse 
ausreichen  würde. 

Die  vaginalen  Operationen  erfordern  eine  exaktere  Diagnose,  eine 
minutiösere  Technik.  Innerhalb  ihrer  gegebenen  Grenzen  führen  sie 
sicher  zum  Ziele  und  bewahren  in  größerer  Ausdehnung  vor  ver- 
hängnisvollen Spätwirkungen  als  die  abdominalen. 

Mögen  diese  Ausführungen  zu  erneuter  Verwendung  dieser  Metho- 
den anregen! 


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497/98. 

(Gynäkologie  Nr.  182/83.) 

Die  Erfolge  und  Dauererfolge  der  Hebosteotomie 
an  der  Kieler  Universitätsfrauenklinik. 

Von 

Privatdozent  Dr.  O.  Hoehne^ 

Oberarzt  der  Universitätsfrauenklinik  in  Kiel. 
Mit  sechs  Tabellen. 


Über  die  operative  Erweiterung  des  engen  Beckens  sind  aus  der 
Kieler  Universitätsfrauenklinik  bisher  zwei  Publikationen  hervorge- 
gangen: H.  Hohlweg,  4  Fälle  von  Pubiotomie,  Z.  F.  Gyn.  1905,  S.  1281 
und  die  unter  meiner  Anleitung  gefertigte  Inaugural-Dissertation:  C. 
Salomon,  Ein  Beitrag  zur  Statistik  der  Pubiotomie  (5  Fälle),  Kiel  1907. 
Auf  diese  Arbeiten  zurückgreifend,  und  ferner  fuOend  auf  den  seit 
dieser  Zeit  ausgeführten  Schambeinschnitten  möchte  ich  das  hervor- 
heben, was  wir  aus  den  zwar  nicht  sehr  zahlreichen,  aber  gut  aus- 
gewählten und  sorgfältig  weiter  beobachteten  Fällen  gelernt  haben. 

Im  ganzen  wurde  bisher  das  Os  pubis  20m al  durchsägt,  und  zwar 
wurde  nur  im  1.  Falle  die  offene  Durchschneidung  des  Knochens 
nach  Gigli  vorgenommen,  die  nächsten  12  Fälle  nach  der  Döder- 
leinschen  subkutanen  Schnittmethode  mit  dem  Döderleinschen 
Instrumentarium  behandelt  und  die  letzten  7  Fälle  nach  der  von 
Kroemer^)  angegebenen  subpubischen  Schnittmethode  mit  der 
Bummschen  Nadel  operiert.  Das  Herumleiten  der  Nadel  geschah 
bei  den  nach  Dödertein  operierten  Fällen  von  der  oberen  Inzisions- 
wunde  aus,  meist  nur  unter  indirekter  Kontrolle  des  in  die  Scheide 
gelegten  Zeigefingers,  während  bei  dem  Kroem ersehen  Verfahren 
der  in  die  untere  Wunde  eingeführte  Zeigefinger  zum  unmittelbaren 
Schutze  der  Harnblase  gegenüber  der  von  unten  nach  oben  dringenden 

1)  P.  Kroemer,  Ober  Versuche,  den  primären  Verlauf  und  die  Dauerresultate 
der  Hebosteotomie  zu  bessern.  Hegars  Beiträge  zur  Geb.  u.  Gyn.  1907,  Bd.  12, 
H.  2,  S.  261  ff. 

Kl  in.  Vorträge,  N.  F.  Nr.487/9&    (Gynäkologie  Nr.  182/83.)    August  1908.  29 


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380  O.  Hoehne,  [2 

Bu  mm  sehen   Nadel   und  der  umgekehrt  wandernden   Säge   an   der 
hinteren  Fläche  des  Os  pubis  lag. 

Ich  lasse  nun  zunächst  die  20  Fälle  in  einer  tabellarischen  Ober- 
sicht folgen  (siehe  diese);  soweit  sie  schon  publiziert  sind,  nur  unter 
Hervorhebung  der  wichtigsten  Punkte,  im  übrigen  mit  genaueren  An- 
gaben,  um  dann  an  der  Hand  der  Erfolge  und  Dauererfolge  für  Kind  und 
Mutter  die  Indikationsstellung  und  Technik  der  Operation  zu  beleuchten 
und  den  Wert  festzustellen,  den  diese  Operation  hinter  und  gegenüber 
den  bisher  gültigen  und  geübten  Verfahren  für  uns  gewonnen  hat. 

Wenn  man  sich  ein  Urteil  darüber  verschaffen  will,  welchen  Ge- 
winn die  Hebosteotomie  gebracht  hat,  so  muß  man  in  Erwägung 
ziehen,  daß  sie  im  wesentlichen  eine  Operation  im  Interesse  des 
Kindes  ist  bei  einem  Mißverhältnis  zwischen  dem  Beckenkanal  und 
dem  Kopf  eines  vollwertigen  lebenden  Kindes,  sei  es,  daß  das  Miß- 
verhältnis hervorgerufen  ist  durch  größere  Differenzen  in  den  Maßen 
von  knöchernem  Geburtsweg  und  Geburtsobjekt,  sei  es  bei  geringeren 
Maßunterschieden  durch  mangelnde  Konfigurationsmöglichkeit  des 
Schädels,  durch  Versagen  der  konfigurierenden  Kräfte,  durch  ungün- 
stige Einstellung  des  Kopfes,  oder  aber  durch  Summation  von  meh- 
reren dieser  Faktoren.  Führen  wir  die  Operation  aus,  so  müssen 
wir  sicher  sein,  oder  mindestens  genügend  begründete  Aussicht  haben, 
daß  das  Kind,  um  dessentwillen  wir  das  Mißverhältnis  zwischen  Kopf 
und  Becken  auf  dem  Wege  des  beckenerweiternden  Schnittes  besei- 
tigen, auch  wirklich  lebend  geboren  wird,  und  nicht  nur  lebend,  son- 
dern auch  weiter  existenzfähig  zur  Welt  kommt.  Stirbt  das  Kind 
trotz  der  Beckendurchsägung  intra  partum  oder  an  einer  auf  die  Ent- 
bindung, zurückzuführenden  Schädigung  ab,  so  war  unsere  Indikations- 
stellung oder  aber  unser  geburtshilfliches  Verhalten  nach  Vollendung 
der  vorbereitenden  Operation  fehlerhaft,  da  wir  ohne  Berücksichtigung 
des  Kindes  ein  schonenderes  Verfahren  einschlagen  konnten. 

Wenn  wir  unser  Material  daraufhin  prüfen,  so  finden  wir,  daß 
tatsächlich  alle  20  Kinder  lebend  entwickelt  worden  sind  =  0%  Mor- 
talität. 1  Kind  starb  aber  am  2.  Wochenbettstage  an  einem  diffusen 
intrakraniellen  Bluterguß  (Fall  6).  Der  Kopf  wurde  nach  Durch- 
sägung des  Schambeins  ohne  Schwierigkeit  und  ohne  nennenswerten 
Kräfteaufwand  mittels  Forceps  in  und  durch  das  Becken  hindurch  ge- 
zogen. Vor  der  Hebosteotomie  waren  außerhalb  der  Klinik  energische 
Zangentraktionen  seitens  des  behandelnden  Arztes  ohne  Erfolg  ge- 
blieben. Danach  ist  es  wohl  mehr  als  wahrscheinlich,  daß  der  resul- 
tatlose Forceps  die  subdurale  Blutung  und  somit  den  Tod  des  Kindes 
verschuldet  hat.  —  Weist  schon  dieser  Fall  auf  die  verderbliche,  das 
kindliche  Leben  vernichtende  Wirkung  des  hohen  Forceps  bei  engem 


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3]        Die  Erfolge  und  Dauererfolge  der  Het^osteotomie  an  der  Kieler  usw.      38t 

Becken  hin,  so  werden  wir  in  dieser  Auffassung  noch  bestärkt,  wenn 
wir  die  andern  Fälle  berücksichtigen,  bei  denen  der  Beckenerweiterung 
ein  Zangenversuch  vorausging.  Trotz  schonender  Traktion  mit  dem 
Forceps,  trotzdem  beim  Mißlingen  sofort  von  weiteren  Extraktions- 
flianövern  Abstand  genommen  wurde,  und  der  Kopf  nach  Durchsägung 
des  Beckens  dem  Zangenzug  leicht  folgte,  kam  das  bis  zum  Operations- 
beginn ganz  lebensfrische  Kind  in  Fall  1  asphyktisch  zur  Welt  und 
wurde  erst  nach  20  Minuten  zum  Schreien  gebracht.  —  In  Fall  12 
bewirkten  kräftige,  nicht  zum  Ziele  führende  Traktionen  mit  der 
Simpson  sehen  Achsenzugzange  eine  lange  und  ziemlich  tiefe  Druck- 
spar auf  der  linken  Wange  des  Kindes.  Nach  der  Durchtrennung 
des  Os  pubis  gelang  die  Beckenpassage  des  kindlichen  Kopfes  ohne 
jeden  Widerstand.  —  In  Fall  16  endlich  verursachte  der  dem  Scham- 
beinschnitr  vorausgegangene  allerdings  recht  energische  Zangenversuch 
eine  ungewöhnlich  starke  Impression  am  linken  Stirnbein  und  eine 
nicht  unbeträchtliche  Weichteilverletzung  am  rechten  Auge.  Man  muß 
sich  darüber  wundern,  daß  das  Kind  überhaupt  diese  Verletzung 
fiberstanden  hat. 

Aus  diesen  Erfahrungen  geht  zur  Evidenz  hervor,  wie  unrichtig  es 
istj  der  vorbereitenden  Knochenoperation  einen  Entbindungsversuch 
in  Gestair  der  hohen  Zange  vorauszuschicken.  Wir  schädigen  dadurch 
das  Kind  in  ganz  unnötiger  Weise,  stellen  den,  eine  exakte  Indikations- 
stellung vorausgesetzt,  annähernd  sicheren  Erfolg  für  das  kindliche 
I^ben  in  Frage  und  machen  den  Nutzen  der  Operation  illusorisch. 
Ich  gehe  noch  weiter  und  möchte  behaupten,  daß  die  beckenerweiternde 
Operation  in  einem  Fall,  bei  dem  das  Kind  schon  mittels  hoher  Zange 
unter  Anwendung  großer  Körperkraft  bearbeitet  worden  ist,  und 
bei  dem  man  die  Überzeugung  gewinnt,  daß  das  Kind  schon  schwer 
gelitten  hat,  nicht  mehr  berechtigt  ist,  weil  wir  die  notwendige  Ga- 
rantie für  ein  lebensfrisches  Kind  trotz  vorhandener  regelmäßiger 
Herztätigkeit  nicht  mehr  bieten  können.  Im  Anschluß  an  so  rigorose 
und  in  ihrer  Wirkung  resultatlose  Entbindungsmanöver  sollte  nur  noch 
die  Perforation  die  gegebene  Operation  sein.  Früher,  als  wir  die 
Hebosteotomie  nicht  hatten,  bzw.  als  sie  noch  nicht  genügend  fundiert 
war,  konnte  man  gegen  eine  Operation  auf  Biegen  und  Brechen  nichts 
einwenden.  Wenn  das  Kind  der  Einwirkung  der  elementaren  Gewalt 
des  hohen  Forceps  standhielt,  so  war  das  eben  der  Gewinn  eines 
Lebens.  Jetzt  darf  man  die  hohe  Zange  bei  engem  Becken  nur  als 
Versuch  für  die  Fälle  zugestehen,  denen  die  Hebosteotomie  versagt 
bleiben  muß.  —  Unter  hoher  Zange  verstehe  ich  die  Anwendung  des 
Forceps  in  jenen  Fällen,  bei  denen  der  Kopf  zwar  fest  auf  den  Becken- 
eingang aufgepreßt   ist   und   mit   einem  mehr  oder  weniger  großen 

29» 


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382  O.  Hoehnc,  [4 

Segment  ins  Becken  hineinragt,  aber  weder  mit  seinem  größten  Um- 
fang den  Beckeneingang  passiert  hat,  noch  mit  seiner  größten  Zirkum- 
ferenz  im  Beckeneingang  steht. 

Im  übrigen  finden  wir  nur  noch  eine  Kopfverletzung  verzeichnet, 
eine  tiefe  löffeiförmige  Impression  des  hinteren  Scheitelbeins  (Fall  10). 
In  diesem  Fall,  der  ursprünglich  für  den  Kaiserschnitt  aus  relativer 
Indikation  bestimmt  war  (rachitisch  plattes  Becken  mit  Conj.  vera 
von  6,2  cm)  konnte  an  der  Indikationsstellung,  wie  wir  später  noch 
sehen  werden,  nicht  festgehalten  werden«  Das  Kind  wäre  sicher  ver- 
loren gewesen  und  der  Perforation  verfallen,  wenn  man  nicht  noch 
einen  Rettungsversuch  mit  der  Hebosteotomie  gemacht  hätte.  Der 
Versuch  gelang,  weil  das  Kind  die  mittlere  Größe  wenig  überstieg, 
die  Schädelknochen  weich  und  elastisch  waren.  Nur  als  Ausnahme 
von  der  Regel  gehört  dieser  Fall  in  den  Rahmen  der  Hebosteotomie 
hinein.  Er  zeigt  nur  zu  deutlich,  daß  der  Schambeinschnitt  auch 
seine  Grenzen  hat  als  Operation  mit  wirklichem  Nutzeffekt.  Sehr 
große  Mißverhältnisse  lassen  sich  auch  durch  die  operative  Spaltung 
des  Beckenringes  nicht  beseitigen. 

Dem  Todesfall  an  intrakranieller  Blutung  reiht  sich  noch  ein  wei- 
terer (Fall  13)  an.  Dieses  Kind  wurde  durch  Wendung  und  Extrak- 
tion leicht  asphyktisch  entwickelt,  durch  bloße  Hautreize  scboell 
wiederbelebt.  Am  7.  Wochenbettstage  starb  es  plötzlich,  nachdem  es 
noch  1  Stunde  vorher  reichlich  Brust  genommen  hatte.  Deutliche 
Zeichen  einer  Erkrankung,  speziell  Fieber  und  Unruhe,  waren  nicht 
hervorgetreten.  Die  Sektion  ergab  lediglich  kleine  pneumonische  In- 
filtrate der  linken  Lunge' (Aspirationspneumonie). 

Demnach  sind  alle  Kinder  =100%  lebend  geboren  worden, 
aber  nur  18  gesund  aus  der  Klinik  entlassen  =»00%.  Von  diesen 
18  entlassenen  Kindern  starben  2,  offenbar  infolge  mangelnder  Pflege, 
nach  4  Wochen  resp.  3  Monaten  (Fall  4  u.  5). 

Hätte  man  in  den  20  Fällen  die  beckenerweiternde  Operation  nicht 
vorgenommen,  so  wären  die  Kinder  16 mal  sicher  nicht  lebend  zur 
Welt  gekommen,  4 mal  mit  größter  Wahrscheinlichkeit  verloren  ge- 
wesen. Es  ist  demnach  auf  der  Seite  des  Gewinnes  ein 
großer  Erfolg  zu  buchen.  Die  Operation  hat  das  voll  gehalten, 
was  wir  von  ihr  erwarteten.  Sie  hat  die  Mortalität  der  Kinder  auf 
ein  Minimum  beschränkt. 

Von  der  im  Interesse  des  Kindes  unternommenen  Operation  mufi 
man  nicht  allein  einen  Erfolg  für  das  Kind  verlangen,  sondern  auch 
gleichzeitig  eine  Gefahrlosigkeit  des  operativen  Eingriffes  für 
die  Mutter.  Es  darf  auf  keinen  Fall  die  kindliche  Mortalität  auf 
Kosten  der  Mortalität  und  Morbidität  der  Mutter  herabgesetzt  werden. 


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5l         Die  Erfolge  und  Dauererfolge  der  Hebosteotomie  an  der  Kieler  usw.      3g3 

Von  den  20  Müttern  ist  1  gestorben  »5%  Mortalität. i)  Dieser 
Fall  ist  schon  ausfülirlicli  durch  Hohlweg  publiziert  und  in  der 
Dresdener  Kongrefitabelle  von  Döderlein  (Verh.  d.  D.  Gesch.. f.  Gyn4 
Xlly  S.  138,  Nr.  50)  registriert  worden.  Ich  wiederhole,  daß  diese  Frau 
am  4.  Wochenbettstage  einer  eiterigen  (Staphylokokken)  Peritonitis 
erlegen  ist,  und  daß  die  unmittelbar  post  partum  placentae  geschehepe 
AbImpfung  von  der  fötalen  Fläche  der  Nachgeburt  Staphylokokken 
neben  Bacterium  coli  ergeben  hat,  während  die  Knochenwunde  bei 
der  Autopsie  keine  Spur  von  Reizung,  geschweige  denn  Eiterung  auf- 
wies. Mit  Recht  ist  wohl  anzunehmen,  daß  diese  Frau  auch  ohne 
Hebosteotomie  an  der  bereits  bestehenden  Infektion  (vielfache  Unter- 
suchungen durch  Hebamme  und  Arzt  außerhalb  der  Klinik,  über 
3  Tage  hin  sich  erstreckende  Geburt  bei  vorzeitigem  Fruchtwasser- 
abfluß) zugrunde  gegangen  wäre.  Somit  würde  dieser  Fall  die 
Hebosteotomie  sicherlich  nicht  direkt  belasten  und  diskre- 
ditieren. Aber  man  könnte  einwenden,  eine  Perforation  des  zwar 
lebenden,  aber  nicht  mehr  ganz  intakten  Kindes  (Infektion  des  viele 
Stunden  offenen  Eisackes)  hätte  die  völlige  Erweiterung  der  unnach- 
giebigen Cervix  (Bossischer  Dilatator)  unnötig  gemacht,  man  hätte 
langsamer  und  schonender  operieren  können;  vielleicht  wäre  dann 
auch  die  manuelle  Plazentarlösung  erspart  geblieben.  Da  man  einem 
solchen  Einwand  nicht  jede  Berechtigung  absprechen  kann,  darf  man 
diesen  Todesfall  nicht  ohne  weiteres  aus  der  Mortalitätsquote  der 
Hebosteotomie  streichen. 

Von  den  der  Mutter  intra  operationem  drohenden  Gefahren  steht 
in  erster  Linie  die  Blutung.  Sie  war  in  unsern  20  Fällen  meist 
gering  oder  nur  mäßig  stark,  7  mal  ziemlich  stark,  anscheinend  immer 
rein  venös  und  durch  bloße  Kompression  ohne  Schwierigkeit  zu  be- 
herrschen. Am  stärksten  machte  sie  sich  in  Fall  5  geltend,  wo  im 
ganzen  Genitalgebiet  ausgesprochene  Varicenbildung  vorhanden  war. 
Offenbar  reichten  die  Varices,  obwohl  die  weniger  beteiligte  Seite  zur 
Operation  gewählt  war,  in  das  Sägeschnittgebiet  nicht  nur  vor,  son- 
dern auch  hinter  dem  Os  pubis  hinein.  Bei  sehr  intensiver  und  aus- 
gedehnter EntWickelung  ektatischer  Venen  ist  jedenfalls  große  Vorsicht 
geboten.  In  unserem  Fall  entstand  im  Labium  majus  der  Operations- 
seite ein  überhühnereigroßes  Hämatom,  das  sich  allmählich  zurück- 
bildete und  nach  5  Wochen  auf  Haselnußgröße  verkleinert  war.  Auch 
zwei  weitere  Blutergüsse,  ein  hühnereigroßes  Hämatom  im  Labium 
majus  sin.  (Fall  1 1)  und  ein  kleineres  prävesicales  Hämatom  (Fall  2) 

1)  Korrekturbemerkung:  Inzwischen  sind  3  weitere  Hebosteotomien  mit  glück- 
lichem Ausgang  für  Mutter  und  Kind  ausgeführt  worden,  so  daß  nunmehr  bei 
23  Fällen  die  mütterliche  MortalitfltB=4^^  beträgt. 


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384  O.  Hoehne,  [0 

vereiterten  nicht,  sondern  wurden  langsam  resorbiert,  innerhalb 
von  8  bzw.  6  Wochen.  Schwerste  Blutungen  aus  dem  Sägebezirk 
oder  unangenehme  Folgen  von  Blutergüssen  im  Bereich  des 
Knochenschnittes  resp.  dessen  Umgebung  haben  wir  demnach  nicht 
erlebt. 

Als  außerordentlich  schwerwiegende  Komplikation  der  Hebosteo- 
tomie  muß  Ferner  die  Verletzung  der  Harnblase  angesehen  wer- 
den. An  unserem  Material  ist  keine  Läsion  der  Harnblase  kon- 
statiert worden.  Falls  eine  solche  passiert  wäre,  hätten  wir  sie  wohl 
mit  Sicherheit  finden  müssen,  da  wir  jedesmal  am  Schlüsse  der  Ope- 
ration eine  Kontrolle  der  Harnblase  durch  Auffüllen  und  sorgfaltiges 
Forschen  nach  etwaiger  Blutbeimengung  vorgenommen  haben.  Die 
Vermeidung  einer  Harnblasenläsion  in  unsern  20  Fällen  führen  wir 
darauf  zurück,  daß  bei  dem  rein  subkutanen  Operieren  nur  ein 
stumpfes  Führungsinstrument,  die  stumpfe  Nadel  von  Döderlein^ 
unter  Kontrolle  von  der  Vagina  aus  angewandt  wurde,  während  den 
Schutz  der  Harnblase  gegenüber  der  scharfen  Bu  mm  sehen  Nadel 
immer  der  vom  Kroem ersehen  subpubischen  Weichteilschnitt  aus 
hinter  das  Os  pubis  gelegte  Zeigefinger  übernahm.  Bei  einer  großen 
Serie  von  Operationen,  wo  man  mit  dem  Zufall  nicht  mehr  zu  rech- 
nen braucht,  wird  die  Blasenverletzung,  die  in  ihren  gefährlichen 
Konsequenzen  recht  deutlich  durch  die  Hammerschlagsche^)  Er- 
fahrung gekennzeichnet  ist,  nur  dann  umgangen  werden  können,  wenn 
man  prinzipiell  Sägeführer  und  Säge  nur  unter  direkter  Fingerdeckung 
um  das  Os  pubis  herumleitet.  Würde  sich  herausstellen,  was  bisher 
meines  Wissens  nicht  beobachtet  ist,  daß  noch  nach  Placierung  der 
Säge  beim  ersten  Sägezug,  also  vor  dem  Verschwinden  der  Säge  im 
Knochen,  die  hinten  anliegenden  Gewebe  (Harnblase,  Durchtritts- 
schlauch mit  fötalem  Kopf)  angesägt  werden  können,  so  müßte  auch 
noch  dieser  Akt  unter  geeigneter  Deckung  vor  sich  gehen.  —  Aber 
nicht  nur  eine  unmittelbare  Läsion  wird  durch  solch  Vorgehen  ver- 
mieden, sondern  auch  die  nachträgliche  Zerreißung  der  Harn- 
blase beim  Klaffen  der  Knochenwunde.  Der  von  unten  hinter 
das  Os  pubis  dringende  Zeigefinger  hat  eben  nicht  nur  den  Zweck 
des  direkten  Schutzes  der  umgebenden  Weichteile,  sondern  «verfolgt 
vor  allem  auch  die  Tendenz,  die  Harnblase  und  ihren  Befestigungs- 
apparat am  Os  pubis  in  ausreichendem  Maße  abzulösen.  Zweifellos 
schützt  keine  Technik  der  Hebosteotomie  vor  der  schweren  Kompli- 
kation der  Blasenläsion  auch  nur  mit  annähernder  Sicherheit,  wenn 


1)  S.  Hammerschlag,  Warnung  vor  poliklinischer  Ausfuhrung  der  Hebosteo- 
tomie.   Zentralbl.  f.  Gyn.  1907,  S.  1001—1003. 


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7]  Die  Erfolge  und  Dauererfolge  der  Hebosteotomie  an  der  Kieler  usw.     385 

nicht  diese  Ablösung  von  dem  Os  pubis  vor  der  Knochendurchsägung 
gescliieht,  und  die  Harnblase  so  lange  zurückgehalten  wird,  als  in 
ihrer  unmittelbarsten  Nähe  Sägeführer  oder  Säge  arbeiten.  Denen, 
die  da  einwenden,  die  Blutung  sei  bei  der  Ablösung  der  Harnblase 
wesentlich  stärker,  entgegne  ich,  daß  wir  bezüglich  der  Blutstillung 
nie  Schwierigkeiten  gehabt  haben.  Falls  man  nach  Kroemer  den 
Klitorisschenkel  vom  absteigenden  Schambeinast  ablöst  und  sich  dann 
hart  an  die  Hinterfläche  des  Os  pubis  hält,  wird  wohl  kaum  die 
Blutung  einen  exzessiven  Grad  erreichen.  Man  vermeidet  damit  die 
direkte  Verletzung  des  Corpus  cavernosum  clitoridis,  nennenswerter 
arterieller  Gefäße,  des  Plexus  pudendalis  und  des  Plexus  vesicalis. 

Außer  der  Blutung  und  der  Harnblasenläsion  sind  die  für  den 
Schambeinschnitt  ihrer  Lokalisation  und  Form  nach  typischen 
Scheidenverletzungen  zu  fürchten,  weil  damit  gerade  das  eintritt, 
was  man  verhüten  wollte:  die  Kommunikation  der  Knochenwunde  mit 
dem  Geburtskanal.  Einer  von  der  Vagina  ausgehenden  Infektion  der 
Wunde  mit  ihren  komplizierten  Verhältnissen  ist  damit  Tür  und  Tor 
geöffnet 

Solche  kommunizierende  Scheidenrisse  haben  wir  nicht 
weniger  als  7  erlebt.  In  allen  diesen  Fällen  wurde  nach  Döder- 
lein,  resp.  in  Fall  1  nach  Gigli  hebosteotomiert  und  6mal  wegen 
fötaler,  mütterlicher  oder  gemischter  Indikation  sofort  im  Anschluß  an 
die  Hebosteotomie,  1  mal  nach  33stündigem  vergeblichen  Warten 
auf  eine  Spontangeburt  mit  Zange  entbunden.  Von  den  12  nach 
Döderlein  operierten  Fällen  wies  die  Hälfte  die  kommunizierende 
Scheidenverletzung  auf.  In  welchen  Fällen  kam  sie  zustande?  Es 
handelte  sich  4mal  um  Erstgebärende,  3mal  um  Zweitgebärende. 
Zu  diesen  Erstgebärenden  zählen  2  alte  I  p.  mit  allgemein  gleich- 
mäßig verengtem  Becken  und  engen  unnachgiebigen  Weichteilen 
(Fall  4:  38j.  Ip.  u.  Fall  12:  31  j.  Ip.),  1  28j.  Rachitika  mit  plattem 
Becken  und  schlecht  dehnbaren  Geburtswegen  (Fall  6)  und  1  21  j. 
Parturiens  mit  allgemein  verengt  rachitisch-plattem  Becken,  bei  der 
das  Journal  betont,  daß  eine  genauere  digitale  Beckenuntersuchung 
wegen  der  Enge  der  Weichteile  nur  sehr  schwer  gelang  (Fall  11).  — 
Von  den  3  Zweitgebärenden  hatten  2  ein  allgemein  gleichmäßig  ver- 
engtes Becken  (Fall  1  u.  Fall  7),  die  3.  ein  rachitisch  plattes,  dabei 
leicht  allgemein  verengtes  Becken  (Fall  9).  Bei  Fall  1  klaffte  die  nach 
Gigli  offen  angelegte  Knochenwunde  um  7  cm,  bei  Fall  7  ist  ein 
enger  und  hoher  Schambogen  besonders  hervorgehoben,  und  bei  Fall  9 
waren  die  Hypoplasie  der  Genitalien  und  die  Narben  von  der  1.  Ent- 
bindung (Dammriß  2.^  und  tiefe  Scheidendamminzision)  Momente, 
welche  die  Erweiterung  der  Scheide  erschwerten. 


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386  O.  Hoehne,  [& 

Die  nach  Döderlein  hebosceotomierteo  6  Frauen  ohne  komaiu* 
nizierende  Scheidenverletzung  waren  1  Ip.,  2  II p«,  1  mp.  und 
2  IV p.  Nach  der  Beckenform  verteilt  findet  sich  darunter  kein 
allgemein  gleichmäßig  verengtes  Becken  (im  Gegensatz  dazu 
4  allgemein  gleichmäßig  verengte  Becken  mit  kommunizie- 
render Scheidenverletzung),  2  allgemein  verengte  rachitisch 
platte  und  4  rachitisch  platte  Becken.  In  keinem  dieser  Fälle  war 
der  Schambogen  verengt,  5  mal  weit  oder  sogar  sehr  weit.  Die  Weich- 
teile waren  wohlentwickelt  und  für  die  Geburt  gut  vorbereitet; 
speziell  ist  bei  der  einzigen  von  5  in  Betracht  kommenden  Erst- 
gebärenden, die  keinen  kommunizierenden  Scheidenriß  erlitten  hat, 
nachdrücklich  darauf  hingewiesen,  daß  Damm  und  Scheide  gut  auf- 
gelockert und  dehnbar  gewesen  seien  (Fall  3).  Als  entbindende  Ope- 
ration, die  auch  in  diesen  6  Fällen  unmittelbar  an  die  Knochendurch- 
sägung  angeschlossen  wurde,  diente  2  mal  die  Zange  und  4  mal  die 
innere  Wendung  und  Extraktion. 

Vergleichen  wir  die  beiden  gegenübergestellten  Gruppen  von  Ope- 
rationsfällen miteinander,  so  können  wir  leicht  ersehen,  daß  nicht 
allein  das  der  Hebosteotomie  auf  dem  Fuße  folgende  Entbindungs- 
verfahren, speziell  die  Zange,  an  dem  Zustandekommen  der  komnau' 
nizierenden  Scheidenverletzung  die  Schuld  trägt,  sondern  noch  andere 
Faktoren  für  die  Entstehung  der  unangenehmen  Komplikation  heran- 
zuziehen sind,  nämlich  die  Form  des  Beckenausgangs  und  die 
Beschaffenheit  derWeichteile.  Ungünstig  liegen  in  dieser  Richtung 
die  Fälle  von  allgemein  gleichmäßig  verengtem  und  allgemein  verengtem 
platten  Becken,  weil  mit  der  Allgemeinreduktion  der  Beckenlichtung 
ganz  gewöhnlich  eine  mangelhafte  Entwickelung  der  weichen  Geburts- 
wege, speziell  eine  abnorme  Enge  der  Scheide  und  eine  Hypoplasie 
der  äußeren  Genitalien  einhergeht.  Noch  schwieriger  können  die  Ver- 
hältnisse werden,  wenn  dazu  auch  noch  der  Elastizitätsverlust  der 
Gewebe  einer  alten  Erstgebärenden  oder  eine  Narbenrigidität  im  Ge- 
biete der  Vagina  und  des  Vestibulums  komplizierend  hinzutritt.  — 
Nach  unseren  Erfahrungen  läßt  sich  das  Bersten  der  Scheidenwand 
entsprechend  der  Knochenwunde  bei  engem  Beckenausgang  und  un- 
günstiger Beschaffenheit  der  Weichteile,  sei  es  Hypoplasie  oder  Rigidität, 
mit  der  bisher  besprochenen  Operationstechnik  (Gigli  und  Döderlein) 
nicht  verhüten;  ob  durch  Abwarten  der  Spontangeburt,  ist  möglich, 
aber  keineswegs  sicher.  Jedenfalls  darf  man  auf  die  Spontangeburt 
schon  deshalb  nicht  bauen,  weil  man  jeden  Augenblick  gezwungen 
werden  kann,  auf  fötale  oder  mütterliche  Indikation  hin  doch  die  Geburt 
operativ  zu  beenden. 

Wenn  ich  unsere  Fälle  daraufhin  kritisch  betrachte,  so  finde  ich 


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9]         Die  Erfolge  und  Dauererfolge  der  Hebosteotomie  an  der  Kieler  usw.     387 

kaum  einen  heraus,  bei  dem  man  noch  hätte  warten  können,  und  in 
dem  einzigen  Fall,  wo  es  geschah  (Fall  11),  warteten  wir  33  Stunden 
vergeblich  auf  die  Spontangeburt,  um  dann  doch  nach  der  fSr  die 
Kreißende  und  für  die  Umgebung  qualvollen  Wartezeit  mit  2^nge  ent- 
binden zu  mfissen.  Und  die  kommunizierende  ScheidenzerreiQung, 
deren  Verhütung  wir  doch  mit  unserm  Warten  im  Auge  hatten,  wurde 
nicht  vermieden. 

So  rationell  und  selbstverständlich  auch  das  Abwarten  der  Spontan- 
geburt zunächst  erscheint,  viel  Nutzen  darf  man  sich  davon  nicht  ver- 
sprechen, weil  es  gerade  in  den  Fallen,  wo  wir  es  am  nötigsten  brauchen, 
im  Stich  läOt  Bei  dem  hypoplastischen  Genitalapparat  fehlt  es  eben 
tn  den  eine  Spontangeburt  garantierenden  Austreibungskräften.  Naturlich 
will  ich  nicht  bestreiten,  daß  man  in  dem  einen  oder  andern  Fall  mit 
der  Spontangeburt  Erfolg  haben  kann,  vielleicht  auch  einmal  in  solchem 
Falle,  wo  voraussichtlich  bei  sofortiger  operativer,  vor  allem  Zangen- 
entbindung eine  schwerere  Weichteilverletzung  entstanden  wäre.  Im 
Hinblick  aber  auf  die  so  oft  erforderliche  schleunige  Entbindung  haben 
wir  alle  Veranlassung,  uns  umzusehen,  ob  wir  nicht  imstande  sind, 
unsere  Hebosteotomietechnik  dem  oiFenbar  häufigen  Bedürfnis  der 
sofortigen  Geburtsbeendigung  anzupassen  und  so  zu  verändern,  daß 
die  kommunizierenden  Scheidenrisse  sich  entweder  ganz  verhüten 
lassen  oder  wenigstens  zu  den  Seltenheiten  gehören. 

In  der  Tat  meine  ich,  daß  die  Kroemersche  Schnittffihrung,  die 
sich  auf  die  Art  und  Form  der  bei  Zangenoperation  nach  Hebosteotomie 
▼on  selbst  zustande  gekommenen  Risse  gründet,  den  natürlichen  Ver- 
hältnissen also  Rechnung  trägt,  in  hervorragender  Weise  den  bisher 
unvermeidlich  scheinenden  Weichteiltraumen  vorzubeugen  vermag.  Seit 
dem  1.  12.  07  haben  wir  7  Hebosteotomien  mit  nachfolgender  künst- 
licher Entbindung  (3  verschiedene  Operateure)  nach  dieser  Methode 
ohne  Rißkomplikation  ausgeführt.  Von  diesen  Fällen  sondere  ich  2 
aus  (Fall  17  u.  18),  weil  hier  wegen  des  weiten  Schambogens  und  der 
günstigen  Weichteilverhältnisse  (Vp.  u.  IVp.)  auch  bei  Anwendung 
des  Döderleinschen  Verfahrens  die  Rißkomplikation  nicht  zu  fürchten 
gewesen  wäre.  In  Fall  15  (allgemein  verengtes  rachitisch  plattes 
Becken  mit  gut  mittelweitem  Schambogen  einer  24j.  I  p.)  gelang  es 
trotz  sehr  enger  Scheide  mit  Zuhilfenahme  einer  anderseitigen  Scheiden- 
damminzision  ein  mittelgroßes  Kind  durch  innere  Wendung  und  Extrak- 
doa  ohne  Rißverletzung  zu  entwickeln.  —  In  Fall  14  u.  19,  34 j.  II  p. 
und  34j.  IV  p.,  wurde  die  Rißverletzung  vermieden  bei  allgemein  ver- 
engtem rachitisch  platten  Becken  mit  hohem,  engen  Schambogen:  innere 
Wendung  und  Extraktion  eines  über  mittelgroßen  bzw.  kleinen  Kindes. 
—  In  Fall  20  wurde  bei  allgemein  gleichmäßig  verengtem  Becken  mit 

Klia.  Vortrige,  N.  F.  Nr.  497/98.    (Gynikologle  Nr.  192/S3.)    August  1908.  30 


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388  O.  Hoehne,  [10 

engem  und  hohem  Schambogen  ein  4400  g  schweres  Kind,  das  in 
2.  unvollkommener  SteißfuOlage  sich  eingestellt  hatte,  durch  Extraktion 
entwickelt.  —  In  Fall  16  endlich  glückte  die  Zangenextraktion  eines 
4330  g  schweren  Kindes  bei  einer  27j.  IIp.  mit  allgemein  gleichmäßig 
verengtem  Becken  ohne  Schädigung  der  so  gefährdeten  Scheidenpartie. 
—  Diese  letzten  beiden  Beobachtungen  fallen  um  so  mehr  ins  Gewicht, 
als  wir  bei  allen  andern  allgemein  gleichmäßig  verengten  Becken 
(4mal:  2  Ip.  u.  2  IIp.)  die  typische  RiOverletzung  mit  der  Döderlein- 
«chen  Methode  nicht  hatteii  umgehen  können.  —  Die  von  Kroemer*) 
geratene  gleichseitige  Scheidendamminzision  haben  wir  bisher  nicht 
in  Anwendung  gezogen.  Bei  abnormer  Enge  der  Scheide  ist  die  von 
Pfannenstiel  (Monatsschr.  f.  Geb.  u.  Gyn.  1906,  Bd.  24,  S.415)  als 
prophylaktischerEntspannungsschnittempfohleneSpaltung  des  Scheiden- 
rohres auf  der  der  Hebosteotomie  entgegengesetzten  Seite  mit  gutem 
Erfolge  angewandt  worden. 

Welchen  Einfluß  hatte  denn  nun  die  mit  der  Knochenwunde  kom- 
munizierende Scheiden  Verletzung  auf  den  Verl  auf  des  Wochen- 
bettes?   Von  den  7  Wochenbetten  verliefen  2  fieberlos  (nie- 
mals Temperatur  in  axilla  über  38,0°),  bei  absolut  glatter  Wundheilung 
(Fall  1  u.  9).    Beide  Male  wurde  der  kommunizierende  Riß  möglichst 
exakt  vernäht,  das  Vaginalrohr  also  wieder  in  sich  geschlossen.  Während 
in  Fall  1  die  nach  Gigli  angelegte  Hebosteotomiewunde  ausgiebig  nach 
oben  und  unten  mit  Jodoformgazestreifen  dräniert  und  nur  die  Haut- 
wunde mit  einigen  Catgutnähten  zusammengezogen  wurde,  erfolgte  in 
Fall  9  auch  eine  Naht  der  beiden  Inzisionswunden  oberhalb  und  unter- 
halb des  durchsägten  Schambeins.  —  In  Fall  4  blieb  das  große 
Wundgebiet,  trotzdem  die  Frau  am  4.  Wochenbettstage  einer 
Staphylokokkenperitonitis  erlag,  infolge  unmittelbarer  sorg- 
fältiger Vernähung   des   kommunizierenden    Scheidenrisses 
laut  Sektionsbefund  frei  von  Infektion.  —  Im  Fall  12  heilte  die 
dicht  vernähte  Scheidenrißwunde  primär,  ebenso  die  durch  Naht  ge- 
schlossene obere  Inzisionswunde;  an  der  mit  2  langen  Jodoform- 
gazestreifen  dränierten    unteren  Inzisionswunde   aber  stellte 
sich  bei  zweimaliger  Temperaturerhöhung  auf  38,2°  in  axilla  eine  mäßig 
starke  eiterige  Sekretion  ein.  —  In  Fall  11  wurden  die  beiden 
Inzisionswunden  sofort  nach  Durchsägung  des  Knochens  vernäht  und 
ebenso  der  kommunizierende  Scheidenriß,  der  nach  langem  vergeblichen 
Warten   auf  Spontangeburt  bei  der  dann  unvermeidlich  gewordenen 
Zangenextraktion  entstanden  war.    Unter  leichtem  Temperaturanstieg 
entwickelte  sich  hier  ganz  allmählich  eine  Thrombose  der  linken  Vena 


1)  P.  Kroemer,  1.  c,  S.  262,  Fig.  1. 


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]]]       Die  Erfolge  und  Dauererfolge  der  Hebosteotomie  an  der  Kieler  usw.     389 

femoralis  ohne  stärkere  Schwellung  des  linken  Beines.  —  In  Fall  6 
störte  ein  schmerzhaftes  Ödem  des  Operationsgebietes  und  eine  eiterige 
Bronchitis  mit  pneumonischem  Infiltrat  im  rechten  Unterlappen  das 
Wochenbett.  Die  Erscheinungen  wurden  von  einem  leichten,  bis 
38,3''  in  axilla  ansteigenden  Fieber  begleitet,  das  gut  14  Tage  hindurch 
währte.  Aus  der  schon  längere  Zeit  völlig  geheilten  Rißwunde  stieß 
sich  2V2  Monate  post  hebosteotomiam  ein  dünner  3  cm  langer  und 
^4  cm  breiter  Knochensequester  ab.  Es  liegt  nahe,  anzunehmen,  daß 
eine  Infektion  des  ausgedehnten  Wundbezirkes  auf  embolischem  Wege 
zu  dem  entzündlichen  Lungenprozeß,  an  Ort  und  Stelle  zu  der  anfangs 
unbemerkt  gebliebenen  Knochennekrose  führte.  —  Fall  7  schließlich 
zeigte  die  bedrohlichsten  Folgeerscheinungen,  eine  schwere  Thrombo- 
phlebitis im  Bereich  der  Knochen  wunde  und  eine  von  hier  ausgehende 
Septikopyämie  mit  2  Schüttelfrösten  am  15.  und  17.  Wochenbettstage. 
—  Sicher  ist  es  nicht  zufällig,  daß  gerade  diese  beiden  letzten  Fälle 
durch  einen  fieberhaften,  und  der  letzte  Fall  sogar  ernsten  Verlauf  des 
Wochenbettes  kompliziert  waren.  Die  Ursache  dafür  ist  in  dem  ünterr 
lassen  der  sofortigen  Naht  des.  kommunizierenden  Scheidenrisses  zu 
suchen.  Die  Jodoformgazedränage  nach  der  Scheide  wirkte 
nicht  infektionshemmend,  sondern  infektionsfördernd.  Hat 
man  die  Entstehung  einer  kommunizierenden  Scheidenverletzung  nicht 
verhüten  können,  so  bietet  der  allseitige  vollkommene  Nahtabschluß 
des  Operationsgebietes,  vor  allem  aber  nach  der  Vagina  zu,  noch  die 
beste  Gewähr  für  ein  normales  Wochenbett  mit  ungestörter  Wund- 
heilung. Sollte  es  trotzdem  zu  einer  Infektion  der  Wunde  kommen, 
so  ist  jederzeit  die  Möglichkeit  gegeben,  dem  entzündlichen  Sekret 
durch  einfaches  Öifnen  der  unteren  Inzisionswunde  genügenden  Abfluß 
2u  verschafi^en  und  durch  Einlegen  eines  Dränrohres  eine  Verhaltung 
des  Sekretes  zu  verhindern. 

In  den  13  Fällen,  wo  gröbere  Weich teilverletzungen  vermieden 
wurden,  bzw.  Risse  überhaupt  nicht  eintraten,  war  das  Wochenbett 
7inal  fieberlos  (Achselhöhlentemperatur  nicht  über  38,0'').  In  Fall  15 
war  38,2''  am  10.  Tage  p.  op.  auf  Koprostase,  38,5°  am  23.  Tage  p.  op. 
auf  eine  Angina  zu  beziehen;  im  übrigen  verlief  die  Rekonvaleszenz 
ungestört.  —  2mal  (Fall  3  u.  14)  fand  das  39°  etwas  überschreitende 
Fieber  innerhalb  der  ersten  10  bzw.  8  Tage  seine  Erklärung  in  einer 
ausgedehnten  eiterigen  Bronchitis,  bei  glatter  Wundheilung  und  nor- 
maler Genitalrückbildung.  —  Imal  (Fall  5)  verursachte  ein  vorüber- 
gehendes schmerzhaftes  Ödem  der  Operations-  und  angrenzenden 
Inguinalgegend  bei  hühnereigroßem  Hämatom  im  Labium  majus  leichte 
Temperaturerhöhung  (am  2.  und  3.  Wochenbettstage  38,4°  in  axilla, 
sonst  normale  Temperatur).  —  In  Fall  16  entwickelte  sich  bei  nur  an- 


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agO  O.  Hoehne,  [12 

ISoglich  starkem  Ödem  des  linken  Labium  majus  unter  iächtigem  Anstieg 
der  Körperwärme,  bis  zur  Höchsttemperatur  von  38,4  "^  in  der  Achsel* 
höhle,  und  lange  anhaltender  ausgesprochener  Pulsbeschleunigung  ein 
embolischer  Prozeß  der  rechten  Lunge.  Der  Sageschnitt  war  in  diesem 
Fall  versehentlich  durch  das  weit  medtalwarts  reichende  For.  obturatorium 
bindurchgeführt  worden.  —  Bei  dem  ISL  Falle,  der  bereits  fiebernd  in 
die  Klinik  eintrat,  vermochte  die  Naht  der  Inzisionswunden,  obwohl 
sie  sofort  nach  Durchsägung  des  Knochens  noch  vor  der  an  die 
Hebosteotomie  anschließenden  kunstlichen  Entbindung  mit  vaginalem 
Kaiserschnitt  angelegt  wurde,  eine  Infektion  der  Knochen  wunde  und 
ihrer  Umgebung  nicht  zu  verhüten.  Es  folgte  ein  schwerer  pyamischer 
Zustand,  der  nach  vier  auf  den  3.-5.  Wochenbettstag  sich  verteilenden 
Schüttelfrösten  in  ein  leicht  fieberhaftes  Stadium  fiberging  und  all- 
mählich in  Heilung  auslief.  Aus  dem  durch  den  unteren  Inzisions* 
schnitt  dränierten  Infektionsherd  entleerte  sich  reichlich  Eiter  und 
nekrotische  Gewebsfetzen  (Streptokokken,  ebenso  im  Sekret  des  Genital* 
traktus). 

Die  absolute  Morbiditätsziffer  des  Wochenbettes  bei  unsem 
Hebosteotomien  mit  kommunizierenden  Scheiden  rissen  beträgt 
demnach  (5  von  7  Fällen)  71,4%,  die  auf  Erkrankung  des  Heb- 
osteotomie-Wundbezirkes  reduzierte  57,1%.    Bei  unsem  Heb- 
osteotomien ohne  kommunizierendeScheidenverletzungen  da- 
gegen beläuft  sich  die  absolute  Wochenbettsmorbidltät  auf  46,1% 
(6 von  13Fällen),  die  auf Erkrankungdes Knochenwundbereiches 
reduzierte  auf  23%.    Fassen  wir  alle  Wochenbettserkrankungen 
der  20  Hebosteotomien  zusammen,  so  erhalten  wir  eine  Gesamt- 
morbidität  von  55%.    Es  handelte  sich: 
Imal  um  Koprostase,  später  in  demselben  Falle  Angina, 
2mal  um  ausgedehnte  eiterige  Bronchitis, 
1  mal  um  eiterige  Peritonitis  (vor  Einlieferung  in  die  Klinik  infiziert), 

ohne  Infektion  der  Hebosteotomiewunde, 
7  mal  um  leichtere  oder  schwerere  Erkrankungen  der  Hebosteotomie- 
wunde und  deren  Folgen: 
Imal  leichte  Eiterung  aus  der  dränierten  unteren  Inzisionswunde, 
Imal  stärkeres  Ödem   im  Wundbereich  bei  Hämatom  des  Labium 
majus, 

1  mal  Scbenkelvenenthrombose  auf  der  Operationsseite, 

2  mal  Thrombophlebitis  mit  Lungenembolie, 
2 mal  WundeiteruQg  mit  Pyämie. 

Vorläufig  ist  die  Wochenbettsmorbidltät  nach  Hebosteotomie 
eine   recht  hohe.    Es  wird   aber  gelingen,  sie  künftig  wesendicfa 


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13]       Die  Erfolge  und  Dauererfolge  der  Hebosteotomie  an  der  Kieler  usw.     3g| 

gfiiistiger  zu  gestalten.  Wie  unsere  ErFahrungen  lehren  (Fall  4  u.  19), 
miissen  wir  nur  alle  sicher  infektiösen  Fälle  und  solche,  die 
lußerhalb  der  Klinik  bei  langer  Geburtsdauer,  womöglich  vorzeitigem 
Blasensprung,  vielfach  von  Arzt  und  Hebamme  untersucht  worden  sind 
uad  uns  auf  Infektion  sehr  verdächtig  erscheinen,  von  der  Ope- 
ration ausschließen,  weil  hier  die  Hebosteotomie  für  die  schon 
sehr  gefährdete  Mutter  eine  schwere  Komplikation  darstellt,  während 
die  für  die  Mutter  schonende  Perforation  des  ohnehin  womöglich  schon 
iflfizierteo  Kindes  die  besten  Chancen  für  die  Erhaltung  des  mütter- 
lichen Lebens  bietet  (cf.  den  Standpunkt  Döderleins  Verh.  d.  D.  G. 
f.  Gyn.  ig07,  12,  S*  170  tf.  und  v.  Franqu^s  ebendaselbst  S.  231). 
Wir  müssen  ferner  die  Indikation  nicht  allein  nach  der  Form  des  ver- 
engten Beckeneingangs,  sondern  unter  Berücksichtigung  aller 
Beckenverhältnisse,  speziell  des  Beckenausgangs  und -unter 
besonderer  Würdigung  der  weichen  Geburtswege  stellen  und 
mit  einer  gut  ausgebildeten  Technik  die  Gefahren  der  Hebosteotomie 
(Blutung,  Hämatombildung,  Harnblasenverletzung,  kommunizierende 
Scheidenrisse  und  deren  Folgen)  sorgsam  umgehen  lernen.  Alsdann 
wird  unter  beträchtlicher  Herabsetzung  der  MorbiditätsziflPer  auch  die 
Wochenbettsdauer  wesentlich  verkürzt  werden.  Bei  glattem  Verlauf 
der  Operation  und  reaktionsloser  Wundheilung  braucht  der  Klinik- 
aufenthalt nicht  länger  zu  währen,  als  nach  einer  unkomplizierten 
s|)ontanen  Entbindung.  In  Fall  17  und  18  standen  die  Operierten  am 
8.  Tage,  in  Fall  20  am  0.  Tage  auf  und  wurden  am  14.  bzw.  12.  und 
15.  Tage  nach  Hause  entlassen. 

Da  1  Hebosteotomierte  gestorben  ist,  und  sich  1  (Fall  19)  noch  in 
der  Klinik  befindet,  sind  im  ganzen  18  Frauen  zur  Entlassung  ge- 
kommen. Sie  waren  sämtlich  beschwerdelos,  ihr  Gang  un- 
gestört und  schmerzfrei.  —  Eine  dauernde  Schädigung  der  Artt. 
sacroiliacae  infolge  der  Kontinuitätstrennung  des  Beckenringes  ist  bis 
jetzt  niemals  eingetreten.  Wohl  klagte  eine  Frau  (Fall  14:  allgemein 
verengtes  rachitisch  plattes  Becken  mit  Conj.  vera  8,1  cm)  bei  den 
ersten  Gehversuchen  über  leichtes  Schmerzgefühl  in  der  Kreuzdarm- 
beinfuge auf  der  nicht  operierten  Seite.  Dieser  Schmerz  war  aber 
binnen  wenigen  Tagen  völlig  geschwunden.  Auch  die  noch  in  der 
Klinik  befindliche  Frau  (Fall  19:  allgemein  verengtes  rachitisch  plattes 
Trichterbecken,  auffallend  schlecht  aufschließbar)  klagte  während  der 
ersten  Wochen  p.  op.  über  heftige  Schmerzen  im  Kreuz,  vor  allem  in 
der  Gegend  der  rechten  Art.  sacroiliaca.  Die  Schmerzen  sind  jetzt  nach 
ca.  6  Wochen  nur  noch  angedeutet,  die  Kreuzdarmbeinfuge  auf  Druck 
nicht  empfindlich.  Die  Frau  ist  außer  Bett  und  lernt  allmählich  immer 
besser  gehen,  so  daß  voraussichtlich  auch  in  diesem  Fall  ein  gutes 


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392  O.  Hoehne,  [14 

definitives  Gelivermögen  erzielt  wird.  —  Die  Sägestelle  markierte 
sich  bei  der  Aufnahme  des  Entlassungsbefündes  entweder  als  eine 
Delle  oder  als  ein  schmaler,  bis  höchstens  Va  ^m  breiter  Knochenspalt 
Kallus  wurde  lOmal  ganz  vermißt,  8mal  in  geringer  Menge  und  nur 
1  mal  als  dickerer  Wulst  (Fall  1)  gefunden.  Die  Knochenenden  waren 
meist  nur  leicht,  manchmal  gar  nicht  und  4mal  deutlicher  gegeneinander 
verschieblich.  Eine  Schmerzhaftigkeit  im  Operationsgebiet  bestand 
niemals.  Die  Weichteilwunden,  auch  die  Rißwunden  in  der  Vagina, 
waren  dicht  geschlossen  und  unempfindlich.  Von  den  3  intra  opera- 
tionem  entstandenen  Hämatomen  waren  nur  noch  Spuren  vorhanden. 
Bezüglich  der  vorderen  Scheidenwand  war  ein  Unterschied  gegen- 
über den  Situsverhältnissen  vor  der  Operation  nicht  zu  konstatieren; 
nur  Imal  zeigte  sich  eine  Zystozele  mäßigen  Grades,  die  vor  der 
Operation  nicht  bemerkt  worden  war  (Fall  11). 

Betreffs  des  Dauererfolges  ziehe  ich  nur  die  Hebosteotomierten 
heran,  bei  denen  die  Operation  mindestens  Vs  Jahr  zurückliegt.  Das 
sind  12  Fälle,  über  deren  Zustand  und  Ergehen  ich  entweder  schrift- 
lichen bzw.  mündlichen  Bericht  erhalten  habe  (4  Fälle),  oder  die  ich 
selbst  habe  nachuntersuchen  können  (8  Fälle).  Alle  Frauen  gaben 
an,  voll  arbeitsfähig  und  in  ihrem  Gehvermögen  nicht  ge- 
schädigt zu  sein.  In  Fall  2  hatte  einige  Wochen  hindurch  leichtere 
Ermüdbarkeit  des  der  Operationsseite  entsprechenden  Beines  ohne 
nachweisbare  Atrophie  oder  Degeneration  der  Muskulatur  bestanden. 
In  den  8  nachuntersuchten  Fällen  (V2  Jahr  bis  274  Jahr  p.  op.)  wurde 
an  der  Sägestelle  kein  oder  kein  nennenswerter  Kallus,  2mal  eine 
schmale,  wenig  vorspringende  Knochenleiste  gefühlt.  Ein  wirklicher 
Knochenspalt  existierte  in  keinem  Falle  mehr;  die  nur  in  1  Fall  (Fall  11: 
7  Mon.  p.  hebost.)  noch  etwas  gegeneinander  beweglichen  Knochen- 
enden hatten  sich  lückenlos  zusammengefügt.  Von  einer  Bruch- 
pforte oder  Vorwölbung  eines  Baucheingeweides  im  Operations- 
gebiet war  bisher  bei  genauester  Untersuchung  in  keinem  Falle  etwas 
zu  entdecken.  Die  Zystozele  in  Fall  11  hatte  sich  nicht  vergrößert 
und  machte  keine  Beschwerden.  —  Eine  weitere  Geburt  haben  wir 
bei  den  Hebosteotomierten  bis  jetzt  nicht  zu  beobachten  Gelegenheit 
gehabt.  1  Operierte  (Fall  3)  ist  zur  Zeit  Gravida  mens.  Vin.  Von 
einem  reellen  Maßzuwachs  der  Conj.  vera  infolge  der  Knochendurch- 
sägung  haben  wir  uns  in  diesem  Falle  ebensowenig  wie  bei  den  andern 
nachuntersuchten  Frauen  überzeugen  können.  Für  die  bevorstehende 
Geburt  haben  wir  die  Wiederholung  der  Hebosteotomie  geplant. 

Entsprechend  den  guten  primären  Erfolgen  für  Kind  und  Mutter 
und  entsprechend  den  bisher  günstigen  Dauerresultaten  ist  die  Zahl 
der  Hebosteotomien  an  unserer  Klinik  von  Jahr  zu  Jahr  gewachsen; 


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15]       Die  Erfolge  und  Dauererfolge  der  Hebosteotomie  an  der  Kieler  usw.     393 

es  sind  allmählich  immer  mehr  Fälle  von  engem  Becken  der  Heb- 
osteotomie zugefallen,  wie  sich  leicht  aus  der  folgenden  Obersicht  er- 
kennen läOf: 

1003:  1  Fall, 

1905:  3  Fälle, 

1906:  5  Fälle, 

1907:  7  Fälle, 

1908:  4  Fälle  im  ersten  Vierteljahr. 

Wie  stellen  wir  nun  an  unserer  Klinik  die  Indikation  für 
die  Hebosteotomie,  und  wie  grenzen  wir  sie  jetzt  ab  gegen- 
über den  konkurrierenden  Operationen:  hohe  Zange,  Per- 
foration des  lebenden  Kindes,  prophylaktische  Wendung, 
kunstliche  Frühgeburt  und  Kaiserschnitt  aus  relativer  In- 
dikationPi) 

Die  Gefahren  der  hohen  Zange  bei  engem  Becken,  speziell  für 
das  Kind,  habe  ich  schon  bei  der  Besprechung  unserer  Hebosteotomie- 
Kinder  erläutert,  ihre  Unrichtigkeit  als  Voroperation  vor  der  Heb- 
osteotomie betont,  und  sie  nur  für  die  Geburtsfälle  reserviert,  bei 
denen  die  beckenerweiternde  Operation  nicht  vorgenommen  werden 
soll,  weil  die  dazu  notwendigen  Vorbedingungen  fehlen:  erfahrener, 
urteilsfähiger,  technisch  bewanderter  Geburtshelfer,  geschulte  Assistenz, 
geeignete  Räumlichkeit.  Hier  darf  die  hohe  Zange  bei  eingetretener 
Konfiguration  und  günstiger  Einstellung  des  Kopfes  nur  als  Rettungs- 
versuch für  das  Kind  betrachtet  werden,  bei  dessen  Mißlingen  trotz 
energischer,  aber  nicht  roher  Handhabung  des  Instrumentes  die  Per- 
foration des  lebendes  Kindes  die  alleinige  logische  Konsequenz  ist. 
-~  Muß  man  die  hohe  Zange  außerhalb  der  Klinik  als  notwendiges 
Obel  anerkennen,  so  sollte  sie  in  der  Klinik  aus  der  Reihe  der  geburts- 
hilflichen Operationen  bei  engem  Becken  ganz  gestrichen  werden.  Um 
Mißverständnisse  zu  vermeiden,  hebe  ich  noch  einmal  hervor,  daß  in 
die  Rubrik  hohe  Zange  nicht  solche  Fälle  eingereiht  sind,  bei  denen 
der  Kopf  bereits  mit  seiner  größten  Zirkumferenz  im  Beckeneingang 
steht  oder  schon  den  Beckeneingang  passiert  hat.  —  Anders  steht  es 
mit  der  Perforation  des  lebenden  Kindes.  Das  Gebiet  dieser 
Operation  ist  ja  außerordentlich  eingeschränkt  worden,  gerade  weil 


1)  J.  Pfannenstiel,  Die  Indikationsstellung  zur  Behandlung  der  Geburt  bei 
Beckenenge.  D.  Med.  Wochenschr.  1906,  S.  1654—1656;  J.  Pfannenstiel,  Dis- 
kussionsbemerkung zu  dem  Vortrag  Rübl,  Zur  Technik  der  Pubiotomie  in  der 
Mittelrhein.  Ges.  f.  Geb.  u.  Gyn.  Monatsscbr.  f.  Geb.  u.  Gyn.  1906,  Bd.  24,  S.  415; 
J.  Pfannetastiel,  Diskussion  über  beckenerweitemde  Operationen.  Verhandlungen 
d.  D.  Ges.  f.  Gyn.  1907,  XII,  S.  351—356. 


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304  O.  Hoehne,  [la 

wir  im  Besitze  der  Hebosteotomie  den  hohen  Forceps  wenigstens 
iLliniscb  beseitigen  konnten.    Außerhalb  der  KlinilL  bleibt  die  Perfo- 
ration des  lebenden  Kindes  nach  erfolglosem  hohen  Forceps  die  vor* 
geschriebene  Operation.    Aber  auch  in  der  Klinik  wird  ein  gewisser 
Prozentsatz  lebender  Kinder  der  Perforation  anheimfallen,  nämlich  die 
Kinder,  die  schon  vor  der  Einlieferung  der  Kreißenden  in  die  Klinik 
mit  hoher  Zange  vergeblich  bearbeitet  worden  sind  und  nach 
unserer  Überzeugung  schwer  gelitten  haben,  und  die  Kinder 
schwer  infizierter  oder  auf  schwere  Infektion  höchst  ver- 
dächtiger Gebärender.    Bei  diesen  dürfen  wir  zwecks  Entbindung 
keine  komplizierten  Wundgebiete  schaffen,  weil   wir  sie  gegen  In- 
fektion  nicht  zu   schützen   vermögen.     Ohne  die  Garantie  für   die 
Geburt  eines  intakten  Kindes  leisten  zu  können,  würden   wir  mit 
der  Anlegung  von  Wunden  die  schon  bedrohte  Mutter  noch   mehr 
gefährden,  während  wir  ihr  durch  die  viel  weniger  eingreifende  und 
schonendere  Perforation  des  zwar  lebenden,  aber  bereits  mehr  oder 
weniger  geschädigten  Kindes  weit  bessere  Chancen  bieten.    Freilich 
ist  es  nicht  inlmer  leicht,  darüber  ins  klare   zu   kommen,  ob  eine 
fiebernde  Kranke   als  infiziert  anzusehen   ist  oder  nicht.     Sind  wir 
darüber  im  Zweifel,  so  entscheidet  das  Interesse  der  Mutter.  —  Was 
die  prophylaktische  Wendung  betrifi^,  so  gibt  sie  nur  dann  gute 
Resultate,  wenn  es  sich  nicht  um  eine  Enge  des  ganzen  Geburts- 
kanales,  sondern  nur  um  einen  engen  Beckeneingang  handelt,  also  um 
das  platte  Becken  mit  weitem  Schambogen,  und  um  weite  deh- 
nungsfähige Weichteile.    Hat  sich  bei  einem  platten  Becken  mit 
mäßig  verkürzter  Conj.  vera,  etwa  bis  8  cm  herunter,  der  Kopf  un- 
günstig eingestellt,  in  Hinterscheitelbeineinstellung,  Stirnlage  oder  Ge^ 
Sichtslage,  oder  bleibt  die  Konfiguration  des  Kopfes  bei  der  Vorder- 
scheitelbeineinstellung ungenügend,  so  ist  die  prophylaktische  Wendung 
indiziert,  vorausgesetzt  natürlich,  daß  die  Grö(}e  und  Härte  des  Kopfes 
den  Erfolg  nicht  illusorisch  erscheinen  lassen,  und  die  Wendung  über- 
haupt noch  ausgeführt  werden  darf.    Allgemein  gleichmäßig  verengte 
und  allgemein  verengte  platte  Becken,  sowie  auch  platte  Becken  mit 
engen  oder  rigiden  Weichteilen  eignen  sich  nicht  für  die  prophylak- 
tische Wendung,  weil  die  schnell  zu  überwindenden  Widerstände  viel 
zu  groß  sind  (Pfannenstiel).   Erscheint  der  Kopf  bei  plattem  Becken 
und  mäßiger  Verkürzung  der  Vera  auffallend  groß  und  hart,  ist  die 
Zeit  für  die  Wendung  womöglich  verpaßt,  oder  ist  die  Conj.  vera 
stärker  verkürzt,  etwa  von  7,5  cm  abwärts,  so  kommt  nur  die  Heb- 
osteotomie in  Frage.    Als  untere  Grenze  für  die  Hebosteotomie  bei 
plattem  Becken  lassen  wir  7  cm  oder  wenig  darunter  gelten.    Ist  der 
Kopf  nur  mittelgroß  und  konfigurabel,  der  Beckenausgang  sehr  ge- 


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17]      Die  Erfolge  und  Dauererfolge  der  Hebosteotomie  an  der  Kieler  usw.     395 

rimnig,  so  kann  man  auch  noch  ausnahmsweise  weiter  mit  der  Vera- 
grofie  heruntergehen:  Fall  3  Conj.  vera  von  6,6  cm  und  Fall  10  Conj. 
Vera  von  6^  cm.  Mit  solcher  Verkürzung  des  geraden  Durchmessers 
im  Beckeneingang  sind  wir  bereits  in  das  Gebiet  des  Kaiserschnittes 
ms  relativer  Indikation  eingetreten.  Diese  Operation  war  auch  für 
deo  Fall  10  in  Aussicht  genommen.^  Die  besonderen  Umstände  (ein- 
gehende Narkosenuntersuchung  seitens  mehrerer  Untersucher  am  Tage 
vor  der  Geburt  und  unerwarteter  Blasensprung  mit  Nabelschnurvorfall 
bis  vor  die  Vulva,  bevor  die  Kreißende  auf  das  Geburtsbett  gelagert 
Verden  konnte)  zwangen  aber,  auf  die  geplante  Operation  zu  ver- 
zichten. Die  schnell  ausgeführte  Hebosteotomie  und  anschließende 
Wendung  und  Extraktion  unter  Zuhilfenahme  der  Walcherschen 
Hingelage  ergab  ein  ausgetragenes  lebendes  Kind,  allerdings  mit 
einer  nicht  unerheblichen  Impression  des  hinteren  Scheitelbeins.  In 
diesem  Fall  ist  die  Walchersche  Hängelage  mit  Vorteil  für  das  Kind 
und  ohne  Schädigung  der  hinteren  Beckengelenke  ausgenutzt  worden. 
Gegpn  ihre  Anwendung  bei  der  subkutanen  Hebosteotomie  ist  nichts 
einzuwenden  (Werth),  falls  es  sich  nicht  um  ein  schlecht  aufschließ- 
bares Becken  mit  geringer  Exkursionsbreite  der  Artt.  sacro-iliacae 
hindelt 

Ffir  die  allgemein  gleichmäßig  verengten  und  allgemein  verengten 
platten  Becken  mit  engem  Schambogen  liegt  die  Indikation  zur  Heb- 
osteotomie bei  wesentlich  größeren  Maßen^  etwa  bei  einer  Conj.  vera 
von  S—ljS  cniy  und  reicht  bei  ungünstiger  Relation  zum  Kopf  sogar 
noch  höher  bis  zu  9  cm  Vera  und  mehr.  Diese  Fälle  sind  deshalb 
$0  ungünstig,  weil  mit  der  allgemeinen  Beckenverengerung  ganz  ge- 
wöhnlich eine  Hypoplasie  und  mangelhafte  Dehnbarkeit  der  weichen 
Geburtswege  vergesellschaftet  ist  (Pfannenstiel).  Außerdem  pflegt 
die  Wehentätigkeit  eine  mangelhafte  zu  sein,  und  die  Artt  sacroiliacae 
sind  zuweilen  so  wenig  beweglich,  daß  die  Spaltung  des  Beckenringes 
nar  zu  einem  geringen  Klaffen  der  Knochen  wunde  und  somit  nur  zu 
einem  minimalen  Raumgewinn  führt*  Bei  diesen  Beckenformen  mit 
der  Hebosteotomie  7^5  cm  Vera  nach  unten  zu  überschreiten  ist  sehr 
riskant,  weil  dann  die  Kreuzdarmbeinfugen  zu  leicht  geschädigt  und 
die  Weichteile  schwersten  Verletzungen  ausgesetzt  werden.  Hier  be- 
ginnt bei  den  allgemein  verengten  Becken  der  Kaiserschnitt  aus  rela- 
tiver Indikation  in  sein  Recht  zu  treten.  —  Welch  schöne  Erfolge  mit 
der  Hebosteotomie  auch  bei  \ien  allgemein  verengten  Becken  erzielt 
Verden  können,  wenn  man  sie  nur  richtig  wertet,  ersieht  man  aus 
Fall  14  u.  15.     In  Fall  14  (II  p.  mit  allgemein  verengtem  rachitisch 


1)  R.  Werth,  Verhandl.  d.  D.  Ges.  f.  Gyn.  1907,  XII,  S.  343  u.  344. 

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396  O.  Hoehne,  [18 

platten  Becken:  Conj.  vera  8,1  cm)  fiel  bei  3markstuckgro0em  Os  ext 
die  kräftig  pulsierende  Nabelschnur  vor.  Nach  Hebosteotomie  und 
Eröffnung  des  äußeren  Muttermundes  mittels  drei  Inzisionen  wurde 
ein  gut  mittelgroßes  lebendes  Kind  durch  Wendung  und  Extraktion 
gewonnen.  —  In  Fall  15  (Ip.  mit  allgemein  verengtem  rachitisch  platten 
Becken:  Conj.  vera  8,1  cm)  machten  sich  Kompressionserscheinungen 
der  vorliegenden  Nabelschnur  bemerkbar  bei  unerweitertem  Os  ext. 
Nach  Aufheben  aller  Hindernisse  (Hebosteotomie,  vaginaler  Kaiser- 
schnitt, tiefe  Scheidendamminzision)  lieferte  die  Wendung  und  Ex- 
traktion ein  lebendes  mittelgroßes  Kind. 

Wie  sollen  wir  uns  aber  verhalten,  wenn  wir  in  der  Schwanger- 
schaft ein  enges  Becken  zu  beurteilen  haben,  wie  stellen  wir  uns 
zu  der  prophylaktischen  Operation  intra  graviditatem,  zu  der 
künstlichen  Frühgeburt?  Wir  haben  bei  dem  verarbeiteten  Ma- 
terial 6 mal  Gelegenheit  gehabt,  5—6—8  Wochen  ante  terminum  über 
die  künstliche  Frühgeburt  zu  entscheiden.  Wir  haben  sie  in  diesen 
Fällen  abgelehnt;  und  zwar  in  Fall  7  (II  p.  mit  allgemein  gleichmäßig 
verengtem  Becken:  Conj.  vera  8,4  cm;  relativ  kleiner  Kopf),  weil  wir 
noch  auf  eine  Spontangeburt  bei  ausgetragenem  Kinde  hofften,  anderer- 
seits bei  eintretenden  Schwierigkeiten  die  Hebosteotomie  in  Reserve 
hatten.  —  In  Fall  14  (II p.  mit  allgemein  verengtem  rachitisch  platten 
Becken:  Conj.  vera  8,1  cm,  querer  Durchmesser  des  Beckeneingangs 
11,4  cm;  enger  Schambogen)  erschien  uns  der  Erfolg  für  das  Kind 
bei  frühzeitiger  Entbindung  zu  unsicher.  —  In  Fall  2  (Up.  mit  all- 
gemein verengtem  rachitisch  platten  Becken:  Conj.  vera  6,9;  weiter 
Beckenausgang),  in  Fall  5  (IV  p.  mit  allgemein  verengtem  rhachitisch 
platten  Becken:  Conj.  vera  7,0  cm;  nicht  verengter  Schambogen),  in 
Fall  11  (Ip.  mit  allgemein  verengtem  rachitisch  platten  Becken: 
Conj.  veca  6,85  cm;  mittelweiter  Schambogen)  und  in  Fall  13  (IV p. 
mit  rachitisch  plattem  Becken:  Conj.  vera  7,2  cm;  sehr  weiter  Scham- 
bogen) kam  die  künstliche  Frühgeburt  wegen  der  zu  starken  Ver- 
kürzung der  Conj.  vera  nicht  in  Frage.  Wenn  aber  auch  die  Ein- 
leitung der  künstlichen  Frühgeburt  durch  die  Hebosteotomie  eine 
wesentliche  Einbuße  erfahren  hat,  so  wird  sie  doch  immer  ihre  Gel- 
tung behalten.  Als  Maße  kommen  für  sie  in  Betracht:  bei  allgemein 
verengten  Becken  Verae  von  etwa  8—8,5  cm,  bei  platten  Becken  Verae 
von  etwa  8— 7,5  cm.*"-*)  Falls  die  künstliche  Frühgeburt  bei  den  an- 
gegebenen Maßen  nicht  früher  als  in  cfer  36.  Woche  eingeleitet  wird, 


1)  R.  Werth,  Diskussion   über  beckenerweiternde   Operationen.    Verb.   d.  D. 
Ges.  f.  Gyn.  1907,  XII,  S.  345  u.  346. 

2)  J.  Pfannenstiel,  ebd.  S.  352—356. 


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19]       Die  Erfolge  und  Dauererfolge  der  Hebosteotomie  an  der  Kieler  usw.      39*^ 

SO  ist  die  Chance  des  frühgeborenen  Kindes  sehr  gut  und  die  Pro- 
gnose auch  nach  der  Entlassung  aus  der  Klinik  günstig,  falls  es  sich 
um  Mütter  handelt^  die  mit  der  Pflege  des  Kindes  vertraut  sind  und 
sich  dieselbe  angelegen  sein  lassen. 

Die  genannten  Zahlen  können  natürlich  nur  einen  Anhalts- 
punkt für  unser  Handeln  beim  engen  Becken  geben.  Jeder 
Fall  will  nach  genauester  Feststellung  der  Becken-  und  Weichteilver- 
hältnisse, nach  Prüfung  des  Geburtsobjektes  und  seiner  Relation  zu 
den  Geburtswegen  und  nach  Berücksichtigung  des  Allgemeinzustandes 
der  Mutter  und  der  lebenswichtigen  Organe  für  sich  beurteilt  werden. 
Wir  müssen  streng  individualisieren  und  nicht  nur  bezüglich 
der  Indikationsstellungy  sondern  auch  bezüglich  der  Technik 
der  Operation,  wenn  wir  uns  für  die  Hebosteotomie  entscheiden. 
Handelt  es  sich  um  platte  Becken  oder  um  allgemein  verengte  platte 
Becken  mit  weitem  Beckenausgang,  um  eine  gute  Entwickelung,  Ela- 
stizität und  Sukkulenz  der  weichen  Geburt^wege,  so  brauchen  wir  die 
Entstehung  einer  schwereren  Rißverletzung  nicht  zu  fürchten,  wenn 
wir  uns  einigermaßen  an  die  festgesetzten  Maße  halten.  Ob  wir  dann 
nach  Doderlein  oder  Kroemer  operieren,  ist  in  solchem  Falle 
gleichgültig.  Ist  aber  ein  enger  Beckenausgang  vorhanden  (allgemein 
gleichmäßig  verengtes  oder  allgemein  verengtes  plattes  Becken  mit 
hohem  und  engem  Schambogen)  und  entsprechend  hypoplastische, 
enge  und  wenig  dehnbare  Weichteile,  dann  heißt  es  entspannen,  wo 
man  nur  kann.  Unter  solchen  Umständen  muß  man  die  Scheiden- 
wand an  der  so  sehr  gefährdeten  Sägestelle  mobilisieren,  also  die 
Kroemersche  Schnittführung  wählen,  ev.  einen  entspannenden 
Scheidendammschnitt  hinzufügen.  Es  macht  durchaus  den  Eindruck, 
als  ob  wir  dadurch  schwereren  Rißverletzungen  (Scheide  und  Harnblase) 
aus  dem  Wege  gehen  können,  zumal  wenn  wir  gleichzeitig  den  Rat 
Pfannenstiels^)  berücksichtigen,  beim  Herumhebeln  des  Kopfes  um 
die  Symphyse  nicht  die  Sägestelle  als  Hypomochlion  zu  benutzen, 
sondern  den  Kopf  mehr  nach  hinten  und  unter  Belastung  der  nicht 
operierten  Seite  herauszuleiten.  Haben  wir  uns  in  einem  Falle  mit 
gunstigen  Beckenausgangs-  und  Weichteilverhältnissen,  bei  dem  wir 
also  die  Entstehung  eines  kommunizierenden  Scheidenrisses  nicht  zu 
gewärtigen  haben,  für  die  Hebosteotomie  entschieden,  obwohl  ein 
saprämischer  Zustand  besteht  oder  mit  der  entfernten  Möglichkeit 
einer  Infektion  zu  rechnen  ist,  so  empfiehlt  sich  dagegen  sicherlich 
mehr  das  Döderleinsche  Verfahren  gegenüber  dem  Kroemerschen, 
weil  bei  der  Döderleinschen  Methode  die  untere  dem  Genitalkanal 


1)  J.  Pfannenstiel,  Monatsschr.  f.  Geb.  u.  Gyn.  1906,  Bd.  24,  S.  415. 


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308  O.  Hoehne.  [20 

näherliegende  WundöflTnung  die  bei  weitem  kleinere  ist,  und  das 
Knochenwundgebiet  deshalb  vor  einer  ev.  drohenden  Infektioa 
seitens  der  Geburtswege  leichter  bewahrt  bleiben  kann.  —  Alle  et- 
waigen komplizierenden  Rißverletzungen,  sei  es  der  Scheide,  sei  es 
der  Harnblase,  müssen  soFort  durch  Naht  exakt  geschlossen  werden. 
Auch  ohne  daß  sich  eine  Verletzung  der  Harnblase  ereignet  hat,  wird 
zweckmäßig  in  den  ersten  Tagen  ein  Dauerkatheter  eingelegt,  weil 
man  auf  diese  Weise  imstande  ist,  bei  der  Harnentleerung  den  Urin 
von  dem  Wundgebiet  fernzuhalten  und  häufigere  intensivere  Bewegungen 
des  durchsägten  Beckens  fürs  erste  zu  verhüten.  —  Einen  Becken- 
gurt haben  wir  nur  in  den  ersten  10  Fällen  angewandt,  dann  aber 
fortgelassen,  weil  sich  eine  derartige  Fixierung  des  Beckenringes  als 
unnötig  erwiesen  hat.  —  Die  unter  exakter  Vereinigung  der  Ränder 
vernähten  Inzisionswunden  bleiben  am  besten  ohne  Deckverband  und 
nur  unter  dem  Schutze  eines  desinfizierenden  und  austrocknenden 
Streupulvers  (Dermatol).  Unter  einem  Heftpflasterverband  kommt  gar 
zu  leicht  eine  sekundäre  Infektion  der  Wunde  zustande. 


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^ 

\ 


Geburtsverli 


Opcn^ 


das  Klod: 

Dauer-Resultat 


21.  Y.  07,  über  4J.  aU: 
Gesundes,   kräftiges 
Sind.  Rechts  vor  dem 
Tub.  par.  kleine  nar- 
bige Stelle  ohne  Haare. 


SOstttndiger 

ext.  ganz  eA-  Nach 
rk  gebeugte  :AvoU  ar- 
n  Beckeneinffai  t  «W«- 

Symphysegeni  sgefühl. 

«.    T.  «6,8%  P  18. 

le  Herztöne  da 

fiig.  Trotz  kr&f 

l«keit  kein    G< 

.ritt.        Verget 

Ige. 

I 

i 


ca.  lOstttndiger  . 

hentttigkeit  Os  >•'  ^^^  yvn.  06,  gut  V«  J.  aU 
Fruchtwasseijcrer  Er- 1  glnd    prAohtig    ge- 


Bereits 
publiziert 


reflossen.     Kopl  ^  »«*"«" 

ir  dem  Beckeneii  Degene- 

:it8 abgewichen;  er  Beln- 

Ungestlirte    hI»*  gam 

Kindes.    T.  ae^Wb««»- 


diehen,  gesund. 


Gravid. 


llstttndiger  krft 
Utifckeitbeierwc  Igemein- 
tswegen  Zopf  it  terleibs- 
Igung  extramedi  Bhindert. 
dem  Beckeneingi 
t  der  Symphyse 
r  verlaufend;  1 
■:  1  8tunde3frtonti»en^  *" 
el  kindliche  Hei  »ervorra- 
emd  regelm&ßig  i  rapf^i^SJ 
entlich  an  Preque  «*»«  ^®" 
*tzt.  T.  87,6'  m'e'*®'*^^^ 
ila.  't»*®'  ^*" 

et  post. 
ienpartie 
i  und  gut 
Inguinal- 


Aen  ersten  10  Mona- 
I  kräftig,  dann  „eng- 
the  Krankheit*',  hat 
t  im  8.  Lebensjahre 
fen  gelernt. 


itiger    Fruchtwas^  •gji^ 

Jh  mehr  als  öOstüi  Staphy-^^^hen  alt,  Todesur- 

*ft  sehr  wechselnde«  riechen-        ,  nicht  bekannt. 

«keit    0$   ext.    5%  ^  »«^4 

.3f  bewegUch  auf  d  k«  e**'l 

«ingang;  1.  SteUuf  "<**^  "' 
^Dfgeschwulst.     Abi  ^^  ^ 
hliehem  Mekonium  f^cizur 
«imäßige  Herztätig 
.des.      Keine   Tend 
)hung.  Puls  etwas  n 

.  Kreißende  fühlt  i 
d  und  erschöpft,     i 


Hohhoeg  Z.  f. 
Gyn.  1905, 
Kr.  42,  S.1281. 

Döderleins  Kon- 
greßtabellen 
V.  d.  D.  Ges. 
f.    Gyn.   XII, 
8.  lie,  Nr.l7. 


Hohhoeg  1.  c. 

Döderleins  Kon- 
greßtabellen 1. 
c.  8.  180.  Nr. 
67. 


Hohhoeg  1.  c. 

Döderleins  Kon- 
greßtabelle 1. 
c.  8.  180,  Nr. 
68. 


Tab.  I. 


lodlkationsstellang : 


Hohlweg  1.  c. 

Döderleins  Kon- 
greßtabelle 
1.    c.    8.    188, 
Nr.  50. 


Starkes  Mißverhältnis 
zwischen    Kopf    und 
Beckeneingang. 


Wegen  der  starken  Ver- 
kürzung der  C.  Vera 
6  W.  ahte  terminum 
auf  die  Einleitung  der 
künstlichen  Frflhge- 
burt  verzichtet  und 
Hebosteotomie  bei 
rechtzeitiger  Geburt 
beschlossen. 


Fötale  Indikation  zur 
Geburtsbeendignng. 
Starkes  Mißverhältnis 
zwischen  dem  ungün- 
stig eingestellten  Kopf 
und  Beckeneingang. 
Leichter  Temperatur- 
anstieg intra  partum. 


Fötale  und  mütterliche 
Indikation  zurGeburts- 
beendigung.  Wegen 
des  dringenden  Ver- 
langens der  „alten 
Erstgebärenden"  nach 
einem  lebenden  Kinde 
im  Int-eresse  des  Kin- 
des Hebosteotomie 
nach  pilatation  mit 
Bossi. 


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Tab.  IL 


Resultat  fUr  das  Kind: 
Prlmires  Daner-Reaaltat 


I  anasetngener  Kna- 
'  schreit  bald  p.  pari, 
i/s  cm,  8680  g. 
Jim.  bipar.  9,6,  Diam. 
Vto-occip.  11,6, 
i.  mento-occip. 
Kopfumfang 
!csm.  Bei  der  Ent- 
l^suiig  Kind  gesund 
H  gut  gediehen. 


iirj 
'  ausgetragener  Kn., 

^^Jht     asphyktlsch, 

^.^ell    wiederbelebt: 

gl  icm,  8210  g.   Diam. 

^  ^ar.  9,1,  Diam.  fron- 

pecip.   11,1,   Diam. 

'^nto-occlp.    18,6. 

^jj^umfang     86  cm. 

^Ig^ochen     sehr     fest. 


t  8  Monate  alt,  Todesur- 
sache nicht  bekannt. 


irei 


y  Ende  des  2.  Wochenbettstages  an  düfuser 
duraler  Blutung.  Sektümibefund:  Ausgedehnte 
ktung  der  HimoberflAche  und  der  SchAdel- 
ils.  Frisches  Gerinnsel  und  flttssiges  Blut;  im 
m  selbst  keine  Blutung. 


^{gj  ausgetrag.  Knabe. 
j.|.  Jchte  Asphyxie, 
jQ^elle  Wiederbeleb.: 
^Qgjom  8830  g.  Diam. 
^rj^Mt.  9,7,  Diam.  fron- 
j^gpccip.  11,7,  Diam. 
iljo^ito-occip.  18,2. 
^f^fumfang  86,7  cm. 

üfochen  alt  gesund 

jlassen. 


11 


y.  07,  llMonaUaU: 
Kind  gesund,  gut  ent- 
wickelt. 

11.08,  «l>0ri Vi  J.  oft: 
Gewicht  annähernd 
26  Pf.    Kind  gesund, 
lauft  gut. 


Bereits 
publiziert 


C.  StOomon  Diss. 
inaug.  Kiel 
1907. 


C.  Salomon  1.  c. 


C.  Solmnon  1.  c. 


Indikationsstellung : 


6  Wochen  ante  terminum 
auf  die  Einleitung  der 
künstlichen  Frühge- 
burt verzichtet  wegen 
der  durch  direkte  Mes- 
sung gefundenen  star- 
ken Verkürsung  der 
C.  Vera,  und  Hebosteo- 
tomle  bei  ausgetrage- 
nem Kinde  beschlos- 
sen. 


FOtAle  Indikation  zur  Ge- 
burtsbeendigung. Im 
Interesse  des  in  un- 
koiTigierbarer  Hinter- 
scheitelbeineinstellung 
eingestellten  Kindes 
Hebosteotomie  nach 
vergeblichem  Zangen- 
versuch seitens  des 
behandelnden    Arztes. 


6  Wochen  ante  terminum 
auf  die  Einleitung  der 
künstlichen  Frühge- 
burt   verzichtet,   weil 
eine  Spontangeburt 
bei    ausgetragenem 
Kinde     für     mOglich 
gehalten    wird.      Bei 
eventuellem     MiBver- 
hAltnis  Hebosteotomie 
in  SrwSgung  gezogen. 


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I 


t 

I 


i 


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Goa|le 


4 

Tab.  III. 

Resultat  für  das  Kind: 

Bereits 

1 

Indikatlonsstf  llung : 

Prim&res                         Dsner-Resnltat 

publiziert 

^d  auBgetragenee  Mftd- 

29.y.07,  »/«J.aftiKlnd 

C.  SalomoH  1.  c. 

Kopf  gut  eingC8tellt,dann 

» 

phen,  schreit  sofort 

gesund,  tehr  iftU  nU- 

fötale  Indikation  zur 

1 

^aüt:   55  cm,   4490  g. 

VfiekiU»  wiegt  18  Pf. 

Beendigung    der    Ge- 

H>iam.bipar.9,6,Diam. 

• 

burt.      Da  das  Kind 

[jitemp.     8,7,     Diam. 

recht  groß,  die  Mutter 

1 

'tronto-occip.    12,2, 

dringend  ein  lebendes 

1 

biam.   mento-occip. 

Kind   wünscht,    nicht 

^t  3, 0.         Kopf  umfeng 

allein  innere  Wendung 

^6  cm.  Nach  4  Wochen 

und  Extraktion,  son- 

dern vorher  Hebosteo- 

Yohlbefinden,    trinkt 

tomie. 

JTUt. 

1 

i 

p!nd  schwächlich,  aiuge- 

29.Vn.07,  rMoiMrt«aft: 

C.  Salomon  1.  c. 

MütterUche  Indikation 

^tragenes    M&dchen; 

Qut   mUwidteU,    wiegt 

zur     Geburtsbeendi- 

^%icht asphyktiBch, 

ca.  14  Pf.,  sieht  mun- 

gung.   Wendung  kam 

^Wlireit  aber  erst  nach 

ter  aus. 

*  80  Min.  (Morphium-  n. 

Kontraktionsringes 

1  Narkosewirkung). 

nicht  mehr  in  Frage, 

^^0  cm,  2816  g.    Diam. 

daher  Zange  nach  Heb- 

''bipar.  8,5,  Diam.  fron- 

oeteotomie. 

l^o-occip.   11,1,   Diam. 

%iento-occip.   18  V«. 

/lEopfumfang  82V«  cm. 

%opf  gut  konfigurabel 

<^d  atark  konfiguriert.. 

N^ach  4  W.  entlassen, 

mdßia  entwiekeU,  elen- 

des Aussehen.    Trinkt 

gut. 

^!nd  auageteagenes  M&d- 

6.1.08,  r^/tMonaUaU: 

Ä  Wert^  Verh. 

Am  Tage  vor  dem  Part. 

^en.  Leichte  Aiphyzie, 

gut  mOwiektä  und  ganx 

d.    D.    G.    f. 

ausgiebige    Narkosen- 

•VüineUe   Wiederbeleb. 

gesund.     Die  Impres- 

Gyn.       XII, 

untersuchung    seitens 

<\}roße.  1  cm  tiefe  löf- 

sion  am  Kopfe  soll  sieh 

8.  848. 

mehrerer  Untersucher. 

Mtelförmige   Impression 

ganx  abgeflacht  haben. 

Überraschender  Nabel- 

^es rechten  (hinteren) 

schnurvorfall  bis  vor 

'Scheitelbeines.   52  cm, 

die  Vulva  wAhrend  der 

%280g.   Diam.  bipar.: 

Lagerung  auf  das  Kreifi- 

8,2   Tiefe  der  Impr., 

bett.  Deshalb  Verzicht 

8,7  ^Band   der   Impr. 

auf    die    ursprünglich 

I 

piam.   fronto-oocip. 

geplante  Sectio  caesa- 

11,2.     Kopfumfang 

rea  aus  relativer  Indi- 

;^8VsCm.  Sch&delkno- 

chen  weich,  elastisch. 

such  des  Kindes  durch 

1  Nach  4  W.  entlassen. 

Hebosteotomie. 

Bion  flacher. 

Ind  ausgetragenes  M&d- 

8.  I.  08»  7  MonaU  aU: 

Wegen  der  starken  Ver- 

, chen,  kommt  apnoisch 

gut  gediehen,   gesund. 

kürzung  der  C.   Vera 

i^zur  Welt,  schreit  bald 

Die   Druckmarke   am 

die    Einleitung    der 

llJauf  Hantreize.    Stark 

Kopfe  nicht  mehr  zu 

künstlichen      Frühge- 

^konfigurierter     Kopf, 

sehen. 

burt  abgelehnt  und  die 

g^das    abgeflachte   hin- 
P'tere   Scheitelbein   mit 

Hebosteotomie  in  Aus- 

sicht genommen. 

;  markstückgroßer 

Druckmarke  vom  Pro- 

montorium.     52   cm. 

3050  g.    Diam.  bipar. 

8,8;  entsprechend  der 

Druckmarke  8,8,  Diam. 

fronto-ocdp.    11,7. 

Kopfumtang     84  cm. 

r 

Nach  fast  8  Wochen 

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;  pvt  entwiekeU  und  ge- 

1 

pund  entlassen.             > 

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■fc 


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t=^ 


0  Resolttt  für  das  Kind: 

Primlres  Dtner-Resulttt 


Bereite 
publiziert 


Tab.  IV. 


Indlkatlonsstellttng : 


[Il^d  mit  gutem  Herz- 

(fchlag  geboren,  atmet 
linbald  und  schreit  nach 
^0  Min.  kr&ftig.  Kopf 
uifttark  nach  dem  Hin- 
teitertiaupt  auBgeiogen. 
ckiric/«  Zttng«ndruek9pur 

n  ttul  der  linlcen  Wange, 
io^  Auagetragenes  H&d- 

Wthen:  48  cm;  8450  g. 
ll^igpiam.blpar.  9,5,  Diam. 
|(sa(ronto-occip.  12,1, 
;  »u^iam.  mento-occip. 
^  kei8,6.  Kopf  umfang 
^ei^^/t  cm.  Nach  an- 
)  B  ^Ahemd  4  Wochen  ^e- 

p^ffd  und  gut  «niwiekeU 

,z|ntlas8en. 

'     4 

ti 

an 

c^d  ausgetrag.  Knabe. 
eliCichte  Asphyxie, 
cUchneUe  Wiederbeleb. 
]i44  cm,  8880  g.  Diam. 
s;|ipar.  9,0,  Diam.  fron- 
x1|D-oceip.  12,5,  Diam. 
tiento-occip.  12,8. 
topfnmfkng  85  Vi  cm. 
rird  am  7.  Woehen- 
tttttage  Iran  nach  der 
tahningsaufnahme 
H  im  Bett  gefunden, 
"orher  keine  Unruhe, 
ein  Fieber.  SßHtant- 
ff  und'.  Kleine  pneu- 
monische Infiltrate 
i^ipiraüim^pneumo- 
ie).  Kein  Hinweis  auf 
lues:  Leber,  Lunge  u. 
tabelschnur  frei  von 
^iroch&ten. 


11.  I.  08,  ca.  S  MonaU 
aU:  Wohi^enäkrt  und 
munter.  Oewichtl2Vt 
Pf. 


Mfltterliche  Indikation 
rar  Oeburtsbeendl- 
gung.  Nach  vergebli- 
chem hohen  Forceps 
Versuch,  der  6  J.  in 
steriler  Ehe  lebenden 
»alten  Erstgeb&ren- 
den«  durch  Hebosteo- 
tomie  noch  ein  leben- 
des Kind  zu  verschaf- 
fen. 


Bereits  8  Wochen  ante 
termlnum  Hebosteo- 
tomiebesohloasen.  Ein- 
leitung der  künstlichen 
Frühgeburt  abgelehnt 
mit  Bttcksicht  auf  die 
starke  Verkflnung  der 
G.  ven  und  auf  den 
dringenden  Wunsch 
der  Gravida»  ein  Kind 
mit  möglichst  grofien 
Lebenschancen  m  be- 
kommen. 


ausgetragenes  Mid- 
!^en,  nicht  asphyk- 
I,  schreit  bald  krif- 
51  cm,  8470  g. 
iam.  bipar.9,8»  Diam. 
temp.  8,8,  Diam. 
i  onto-occip.  11,5, 
mento-occip. 
!,4.  Kopf  umfinge: 
oOer  80  cm,  kleiner 
cm.  Sehr  harte 
opfknochen.  Nach 
Wochen  gemnd  und 
i  etUwiekeU  (4480  g) 
tlassen. 


Gut  0  Wochen  ante  ter- 
mlnum Heboeteotoinie 
beschlossen.  Einlei- 
tung der  künstlichen 
Frühgeburt  abgelehnt 
wegen  der  erheblichen 
Verminderung  d.  Bek- 
kenmaße'in  gerader  u. 
querer  Richtung,  so 
dafi  trots  noch  relati- 
ver Kleinheit  des  Und- 
Hehen  Kopfes  der  Er- 
folg für  das  Kind  bei 
frühieltlger  Entbin- 
dung SU  unsicher  ist. 
Zu  der  mütterlichen 
Indikation  kam  noch 
eine  fötale  durch  den 
Nabelschnurvorf^,  der 
SU  einer  früheren  Aus- 


führung der  Operation  ^jOOQIC 
und     SU     künstlicher  O 


Erweiterung    des    Os 
ext.     rtffnMÄf»»«»»''«»«»- 


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\         leb 


ResuLraE  Vnr  das  Klnd: 


-  1/^ 

■ri 


ch*?D.  grazil,  leicht« 
Asphyxie;  krft/tJgM 
ächrd^n  nach  ca.  10 
mn.  &0  cm.  ISöO  g. 
I>fjim^bipar.8,&r  I^Ibai. 
biteinr.  7.^  Dlam^ 
fronto-occip*  11,5, 

Diam.       mentü-occlp. 
ja»  4.  KopfamfaDg 

34,9  em-  Fraktur  des 
Haken  OberBchenkel« 
im  oberen  Drittül  In- 
folge Abgleltcna  des 
Fing«'?*  beim  Hflrpb- 
liehen  der  linkfsn  Hüft- 
t> euj^e .  X ach  f a Jit  6  W ► 
gfMtttd  lind  in  {fnUm 
ErnähruHfftzuttttndt 
entlassspR.  überwheQ- 
kelfraktiu  ohne  we- 
sentUt^he  VerküriiiDiE 
imd  ohnn  DJalokatlon 
aeheilt  (E5ntgctio* 
gmnmK 

^^^^Ind  sehr  groß  nnd  kiftf- 
tig,  Enabe.  RegeltnIQi- 
ger  HerzHChlog,  hold 
laut«*  Sehrelen.  63cnj, 
4330  g;  Diam.  bipar. 
»,5,  Dlam.bitemp-  ö.O, 
Blaro.  tronto-occip. 
12, 2.  PlüiKi.  mento- 
occlp.  14,1.  Eopfum- 
ninge:  klelnef  38  cm» 
^oJJef  saVs  cm.  Sehr 
sttuFk  aiiflgecDgener 
Kopf,  tiefe  löffeifdr- 
«iiflc  Imprettisn  de* 
Unken  ätlrnbctna.  ^aa- 
fffftMtum  am  r^fcAfiffi 
Jr#{r0.  tiefe  tfOiUtwunde 
am  latcTdlen  Lidwln- 
kel  und  an  der  Kon- 
Jtinktiya  des  unt^rpn 
Lides.      Kaeh  norma- 


Kot 
if 

{  de 
ei 


Bereits 
pubHzicrt 


WcilUe  mait  In  dteum 
yallfl  noch  ein  teben* 
des  Kind  erzielen,  wo 
doch  schon  Komprei^ 
sionwni^hefnungea  dedf 
Nabelschnur  leiten«  d* 
Kopfes  vorhanden  wa* 
ren,  so  konnte  dies  nur 
geschehen  durch  Wen- 
dung und  Extraktion, 
nachdem  alle  Hll^ver- 
h*Jtnls«j  *wi&t^hen  Go- 
biirtiiobjekt  nnd  t3e> 
burtfiweg^'n  beseitigt 
waren  (UeboAteotomle, 
Hysterotomta  ant.  et 
pont.,  Scheidendamm- 
fnsiielon),  EepoAltJon 
der  >'ahei«chiiur  und 
Abwarten  der  Spon- 
tangeburt in  Kupflaifti  veraprach  bei  den  Kompresaionacrschei- 
nungen  der  ^'abelschnur  keinen  Erfolg.  Die  Wendnng  niK-h 
altefnjger  Hysterotomie  wu-  ansalchtslofi,  da  es  sich  am  ein  all- 
ffeman  rwrinfflfit  plattes  Beeltn  handelte.  So  tdit^  nur  di$  Korn* 
binaiifm  von  Hilf*ititctcmie  mü  rvigiRo/fm  Kai9fr*thtiÜt  Dbng. 

Infolge  der  Gr60e  des 
£ind(ä  (sehr  Broe«r  n. 
kräftiger  XMa)  Mlü- 
verbftitaia  iwlschon 
Kopf  und  dem  nnr 
mtOlg  Yereitgten  X^ek- 
keut  so  daB  troi£  ener- 
(jiM^hec  Wehen  kein 
Gcburtsfortechrltt. 
Uiir  die  HebOÄteoto- 
mie  konnte  dM  Mifl- 
verhiltnis  beselttgKn. 


Tab.  V. 


IndikaiJons^ieUung: 


'11 


lern  WochenbettÄVcrlauJ  gt^und  eittlaa^n.  Wiegt 
[  fl  Wochen  alt  4«Sö  g,  ScbftdeUmpre»«ion  &tJi< 
,  gegUcheu.  Znngenlialon  mit  kaum  «Ichtbarei 
I    ^'wbe  geheilt. 

■r    i 

,   ,j^plnd    Bchr    groü^cr    und 

kräftiger  Knabe,  Kopl 
fest,  wenig  konfigura- 
beL  OaJiE  leicbte 
Asphyxie.  ImÜcI  reget- 
müOige  Atmung.  Säcoii 
3970  g.  Diam.  hlpar, 
e.ö,  Diam.  bitemp.  8,9, 
Diam.  fionto-occip. 
llj,  Diam.  roento- 
oceip.  13.&.  Kopf  um- 
finge:' kleine  34  cm. 
großer  37  cm.  S&ch 
14  Tagen  fff*und  ent- 
Uüeen.  Normale»  Wo- 
chenbett. Entla^ungs^ 
gewicht  tSSOg. 


nui4 
1 

I      i 

im 

,   ^ 


Innere  Wendung  vor 
Ausfahrung  der  Heb- 
Osteotomie  erwogen, 
aber  wegen  an  großer 
Gefahrdüng  der  Mut- 
ter {Kopf  »batjlnt  fest 
auf  dem  Deekefiein- 
gang^  heirinnende  €er- 
Tlxdehnung)  unterlas- 
sen. Da  dos  Kind  sehr 
groD,  der  Kopf  fest, 
vor  Anl cgu ng  der  Zange 
Spaltung  des  Beckens. 


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I 

jXh 
ini. 

JP. 
Ire: 
iBer 
J  9^ 


Icfafix 
hyxf< 
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m,  » 
*•  8, 
P-7,1 

itCH)0 

m. 
nn.  8, 

Q»lt:i 


Kl 


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>.18 
>!(UD 

'lg« 

D. 


Tab.  VI. 


Resttlut  f&r  das  Kind: 
PrimSres  Dauer-Resultat 


lusgetragenes,  mit- 
rofies  M&dchen. 
f  mittelgrofi,  mft- 
lart.  Keine  Asphy- 
bald  kräftiges 
'cien.  50  cm, 
)  g.  Diam.  bipar. 
Diam.  bitemp.  8,6, 
m.  fronto-occip. 
,  Biam.  mento- 
p.  12,4.  Kopfam- 
;e:  kleiner  3S,6  cm, 
ler  86  cm.  12  Tage 
fftsiind  enUassen. 
angsgewicht  8660g 


anseheinend  ans- 
agen, aber  klein, 
leben.  Keine 
hyxie,  bald  regei- 
lige Atmnng  und 
tiges  Schreien, 
m,  2200*  g.  Diam. 
kT.  8,7,  Diam.  bi- 
p.  7,6»  Biam.  fron- 
ecip.  10,8,  Diam. 
ito-ooeip.  11,6, 
m.  Bttboocipito- 
(m.  8,6.  Kopfnm- 
(e:  kleiner  30  cm, 
Ber  82,6  cm.  6  Wo- 
EL  alt:  gnt  gediehen, 
nd.  Gewicht  2820  g. 


sehr  groBer,  kr&f- 
a  Knabe.  Keine 
»hyide.  66  cm, 
0  g.    Diam.  bipar. 

Diam.  bitemp.  9,0, 
m.  fronto-occip. 
Diam.  mento- 
Ip.  18,0,  Diam.  snb- 
[p.-bregm.  9,6. 
pfumf&nge:  kleiner 
cm,  großer  37  cm. 
Tage  alt  gesund  ent- 
len.       Abgangsge- 


Bereits 
publiziert 


Indikatlonssteilttog : 


Mit  KOcksicht  auf  die  bei 
der  1.  Gebart  notwen- 
dig gewordene  Perfo- 
ration und  auf  die  bei 
der  Untersuchung  nicht 
unbetrftchtlich  erschei- 
nende GröBe  des  Kin- 
des, speziell  des  Kopfes 
wird  der  inneren  Wen- 
dung die  Hebosteo- 
tomie  vorausgeschickt. 


Trots  Metareuryse  inner- 
halb von  6  Stunden 
kein  Geburtsfortschritt. 
Da  bei  der  narbigen 
BeschAffenhelt  der 
ganzen  Cervlx  und  bei 
der  schwachen  Wehen- 
Utigkeit  eine  baldige 
Geburtsbeendigung 
ausgeschlossen  ist,  das 
bestehende  Fieber  und 
die  Wasserleere  des 
Uterus  zum  Eingreifen 
dr&ngen,  wird  die  Kom- 
bination von  Heb- 
Osteotomie  u.  Hyste- 
rotomie beschlossen. 
Wegen  des  guten  All- 
gemeinbefindens der 
Kreißenden  wurde  das 
Fieber  nicht  fOr  ein 
infektiöses  gehalten. 
Die  tehUchU  Auf- 
tehlüfibarkeU  det  Bek- 
kens  und  die  ungewÖkH' 
Uehe  Rigidität  der 
Certix  weisen  darauf 
hin,  daß  für  dieten 
FaU  küf^Hg  nur  die 
Sectio  eaeearea  aue 
relativer  Indikation  in 
Frage  kommt. 


Geburtsstillstand  infolge 
des  MiBverhUtnisses 
zwischen  dem  mäfiig 
allgemein  gleichm&Big 
verengten  Becken  und 
dem  sehr  groBen  Kinde. 


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499. 

(Gynäkologie  Nr.  184.) 

Ober  Sterilität.^) 


Von 


Privatdozent  Dr.  August  Mayer^ 

Oberarzt  der  UniversitSts-Frattenklinik  Tübingen. 


Unter  dem  hier  abzuliandelnden  Thema  verstehe  ich  die  Unfähig- 
keit des  geschlechtsreifen  Weibes  zur  Fortpflanzung  trotz  eines  in 
normaler  Weise  stattfindenden  geschlechtlichen  Umganges. 

Bei  der  großen  Wichtigkeit  der  Sterilität  im  Haushalte  der  Familie, 
des  Staates  und  der  Nationen  ist  es  nicht  zu  verwundern,  daß  schon 
die  ältesten  Völker  ihr  Augenmerk  auf  die  Tauglichkeit  zur  Fort- 
pflanzung richteten. 

In  ihren  Sitten  und  Gebräuchen  finden  wir  eine  ganze  Reihe  Ein- 
richtungen, die  offenbar  diesem  Zwecke  dienten  oder  doch  mindestens 
ihn  nebenbei  verfolgten. 

So  zerstören  nach  Ploß  die  chinesischen  Kinderwärterinnen  den 
neugeborenen  Mädchen  den  Hymen  durch  Einfuhren  des  Fingers  in 
die  Scheide.  Die  Exzision  der  Klitoris  in  Abessinien  soll  darin  ihren 
Grund  haben,  daß  die  abessinische  Klitoris  wegen  ihrer  Größe  den 
späteren  Zeugungsakt  hindern  oder  erschweren  könnte.  In  dieser 
Weise  beschnittene  Weiber  hält  man  in  der  Tat  in  Ecuador  zur 
Kohabitation  und  Fortpflanzung  für  fähiger  und  geschickter. 

Die  Sitte,  junge  heranwachsende  Mädchen  für  einige  Zeit  aus  dem 
Dorfe  zu  entfernen  und  sie  über  ihre  kommende  Bestimmung  zu 
unterrichten,  der  Brauch,  die  eingetretene  erste  Menstruation  als 
Zeichen  der  erlangten  Fortpflanzungsfähigkeit  festlich  zu  begehen,  die 
dabei  vorgenommenen  Manipulationen,  wie  Kneten  der  Brüste,  Ein- 
schieben von  Gegenständen  in  die  Vagina  lassen  ihren  Zweck  ohne 
weiteres  erkennen. 


1)  Nach  einer  am  12.  Februar  1908  gehaltenen  Probevorlesung. 

KUn.  Vortr&ge.  N.  F.  Nr.  489.    (Gynäkologie  Nr.  184.)    Sept.  190&  31 


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400  A.  Mayer,  [2 

Nach  indischem  Brauche  ist  es  für  einen  Vater  eine  Schande, 
eine  mannbare  Tochter  noch  ledig  zu  Hause  zu  haben.  Und  bei 
anderen  Völkerschaften  mußte  Ehelosigkeit  begründet  werden,  Ledig- 
sein galt  als  Vergehen  oder  Schande,  während  Heirat  und  Zeugung 
prämiiert  wurden. 

Im  Alten  Testamente  sah  man  die  Fruchtbarkeit  als  eine  besondere 
Gnade  des  Himmels  an.  Die  Verpflichtung  der  alten  Juden,  die 
kinderlose  Witwe  des  Bruders  zu  heiraten,  diente  doch  nur  der  Fort- 
pflanzung. 

Bei  den  Griechen  und  Römern  brachte  die  Niederkunft  einer  Frau 
nicht  nur  persönliche  und  geseUschafttidie,  sondern  auch  rechtliche 
Vorteile. 

Im  altdeutschen  Rechte  war  Unfruchtbarkeit  ohne  weiteres  ein  Grund 
zur  Ehescheidung  und  tu  Japtn  kann  man  heute  noch  zu  einer  sterilen 
Gattin  eine  zweite  hinzunehmen. 

Es  ist  sonach  nicht  zu  verwundern,  daß  schon  die  alten  Ärzte,  wie 
Hippokrates,  Plinius  u.  a.  sich  mit  der  Sterilität  beschäftigt  haben. 

Aus  dem  Mittelalter  sei  nur  an  die  Ansicht  von  Soranus  aus  seiner 
Abhandlung  über  die  Zeichen  der  mutmaßlichen  Fruchtbarkeit  er- 
innert: Da  die  große  Mehrzahl  der  Ehen  nicht  um  der  Wollust  willen, 
sondern  der  Erzielung  von  Nachkommenschaft  wegen  geschlossen  wird» 
so  ist  es  ganz  sonderbar,  daß  man  dabei  mehr  auf  ahnenreiche  Ab- 
stammung und  Vermögen  Gewicht  legt,  statt  zu  berücksichtigen,  ob 
die  Frau  zur  Konzeption  fähig  und  zum  Gebären  gut  gebaut  ist. 

Neben  diesen  altruistischen  Interessen  spielt  die  Sterilität  auch 
für  das  Einzelwesen  nicht  selten  eine  bedeutende  Rolle.  Wenn  wir 
für  unsere  heutige  Zeit  der  Ansicht  des  unverbesserlichen  Weiber- 
feindes Schopenhauer,  wonach  jedes  Weib,  das  kinderlos  stirbt,  den 
einzigen  Zweck,  zu  dem  es  taugt,  verfehlt  hat,  auch  nicht  generell  zu- 
stimmen können,  so  drückt  sich  doch  in  dem  von  Ellen  Key  gefor- 
derten »Rechte  auf  die  Mutterschaft""  ein  starker  Trieb  aus,  den  zu 
befriedigen  das  Weib  ein  Bedürfnis  und  Recht  habe.  Ihre  Worte 
»Liebe  will  Zukunft,  nicht  Augenblicke"^  verraten  die  Sehnsucht  nach 
dem  Kinde,  den  Mutterschaftstrieb. 

In  seinem  bekannten  Buche  »Also  sprach  Zarathustra^  sagt  Nietzsche: 
»Alles  im  Weib  ist  ein  Rätsel  und  alles  im  Weib  hat  seine  Lösung: 
Sie  heißt  Schwangerschaft.  Der  Mann  ist  für  das  Weib  ein  Mittel, 
der  Zweck  ist  immer  das  Kind.* 

Gewiß  betrachten  nicht  wenige  Frauen  der  Gegenwart  nicht  das 
Kind  als  unmittelbaren  Zweck  der  Liebe,  aber  das  Weib,  das  die 
Mutterschaft  überhaupt  nicht  und  nie  wünscht,  ist  doch  wohl  eine 
Ausnahme. 


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3]  Ober  SterilftSt.  401 

Zar  Utttsirati^n  dafür,  wie  hoch  eiazetne  bervorrageode  Geister  dk 
Mtitterscbaft  einscbätrteii,  genüge  der  kiir2e  Hinweis  darauf,  daß  Napo- 
leon L  die  Frau  fiir  die  beste  biett,  die  am  meisten  Kinder  geboren 
hat.  Und  Zobi  bezeichnet  In  seinem  Romane  ^Ptcondit^*^  als  modernes 
S^önheltsideal  ein  Weib  mH  einem  Kinde  an  der  Brust  und  einem 
sn  den  Knien.    (Kiscb.) 

Ebe  wir  selbst  die  Frage  beantworten,  ob  von  unserem  heutigen 
irrrticben  Standpunkt  aus  die  Zeugung  um  jeden  Preis  so  hoch  zu 
bewerten  sei,  wollen  wir  erst  die  Ursachen  der  Sterilitit  untersucben. 
1»  der  Formulierung  des  Themas  liegt  es  begrfindet,  daß  die  Tom 
•Manne  ansehenden  Veranlassungen  der  SterilitSt  unerdnert  bleiben. 
Da  aber  erfahrungsgemäß  in  ca.  Vs  ^^^^^  sterilen  Ehen  die  Schuld 
allein  an  dem  Manne  liegt,  so  sei  eigens  hervorgelioben,  daß  in  praxi 
keine  gegen  Sterilitit  gerichtete  Therapie  efi^eleitet  werden  soll,  ehe 
die  Potentia  coCundi  und  generandl  des  Mannes  erwiesen  ist  Erstere 
muB  anamnesiisch  feststehen  und  bezuglich  der  letzteren  legen  wir 
bekannrtioh  ein  sehr  groBes  Gewicht  auf  die  normale  Beweglichkeit 
der  Samenfaden  unter  dem  Mikroskope.  Die  Verläßlichkeit  dieses 
Krlterimns  hat  Torkel  in  den  letzten  Tagen  angezweifelt.  Er  weist 
auf  die  Versuche  von  Pick  hin,  wonach  die  Spermafozoen  des  Frosches, 
die  durch  Frierenlassen  unbeweglicb  waren,  nach  dem  AufTrieren  wieder 
beweglich  werden  können,  ohne  indes  befruchtungsfahig  zu  sein. 

Noch  schwerer  ist  die  Beurteilung  6tr  Sterilititsursachen  beim 
W^e:  Das  Ei  ist  uns  fiberhaupt  nicht  zugingUch.  Die  Betastung 
der  Generafionsorgane  ist  sehr  schwer  und  bei  der  Bewertung  unserer 
Befunde  fahren  sub|ektfve  Momente  leicht  zu  einer  Oberwertung:  so 
spielt  z.  B.  in  Marienbad  die  Fettleibigkeit  eine  große  Rotte  als  Sterilltits- 
Ursache,  in  Franzensbad  die  Gonorrhöe  und  bei  einem  renommierten 
Operateur  das  Myom,  weil  sich  hier  jeweils  Kranke  bestimmter  Kate- 
gcirien  ansammeln.  Unter  den  pirfnischen  Jfidinnen  fand  Fraenkel  die 
Gonorrhöe  weit  seltener  als  SterilitStsursache  denn  sonst,  weil  sie  bei 
der  frfihen  Heirat  der  jungen  Leute  üt>erhaupt  seltener  sei. 

Sodann  ist  die  Fertilität  der  Frau  an  gewisse  änfiere  Momente  ge- 
knüpft, die  zwar  zum  großen  Teil  selbstverständlich  sind,  die  aber 
dennoch  berficksichtigt  werden  mflssen,  um  nicht  fälschlich  von  Steri- 
lität zu  sprechen:  Die  Dauer  der  Geschlechtsreife  wihrt  in  unserer 
Zone  ca.  vom  16 — 50  Jahre.  Die  Unfruchtbarkeit  |enseits  dieser  Grenzen 
bedarf  als  physiologische  Erscheinung  keiner  weiteren  Erörterung. 
Bei  anderen  Völkerschaften  ist  es  wieder  anders.  MQtter  im  Alter 
von  10  Jahren  sott  es  z.  B.  bei  den  Buschmännern  geben.  Das  frühe 
Erlöschen  der  KonzeptionsRhigkeit  bei  den  Orientalen  Ist  bekannt. 
Frifchtbarkeit  im  höheren  Alter  findet  sich  am  ehesten  Im  nördlichen 

31^ 


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402  A.  Mayer,  [4 

Europa:  Irland,  England,  Dänemark,  Schweden.  Doch  sind  Konzep- 
tionen jenseits  des  50.  Jahres  im  ganzen  nicht  gar  so  selten.  Ich 
kenne  selbst  einen  Fall  von  Niederkunft  im  58.  Jahre,  28  Jahre  nach 
der  letzten  Geburt  und  10  Jahre  nach  Eintritt  des  Klimax. 

Während  wir  gewöhnt  sind,  Fruchtbarkeit  nur  zu  finden  in  den 
zeitlichen  Grenzen  der  Menstruation,  weicht  dieser  Fall  hiervon  er- 
heblich ab.  Er  bestätigt  die  Ausnahme  und  illustriert  die  Tatsache, 
daß  Menstruation  und  Ovulation  nicht  immer  nebeneinander  hergehen 
müssen.  Anhaltende  Amenorrhoe  V'erbürgt  ja  noch  nicht  absolute 
Sterilität.  Wir  kennen  Beobachtungen  von  mehrfachen  Niederkiinfien, 
ohne  daO  die  betreffenden  Mütter  einmal  in  ihrem  Leben  menstruiert 
hätten. 

Auch  innerhalb  der  Grenzen  des  geschlechtsreifen  Alters  dürfen 
wir  noch  nicht  von  Sterilität  reden,  wenn  nicht  gleich  der  ersten 
Kohabitation  die  Konzeption  folgt,  wie  es  beim  Tiere  die  Regel  ist 
Das  ist  wichtig  für  die  Definition  der  sterilen  Ehe.  Nur  in  etwa  15% 
aller  Fälle  erfolgt  die  erste.  Geburt  10  Monate  nach  der  Heirat,  in 
6%  läßt  sie  3  und  mehr  Jahre  auf  sich  warten.  Nach  5  Jahren  aber 
konzipieren  nur  noch  V40  aller  Frauen.  Daraus  ergibt  sich,  wie  falsch 
es  ist,  nach  einjähriger  Ehe  von  Sterilität  zu  reden.  Mit  einiger  Wahr- 
scheinlichkeit können  wir  das  erst  nach  3  oder  besser  noch  nach 
5  Jahren  tun. 

Zur  Erklärung  der  zeitlichen  Differenz  im  Eintritt  der  ersten  Kon- 
zeption nach  der  Heirat  hat  man  auf  verschiedene  Momente  hinge- 
wiesen. Ich  will  nur  einiges  erwähnen:  Statistische  Erhebungen  über 
die  Geburtenzahl  haben  ergeben,  daß  einzelne  Monate  ganz  besonders 
fruchtbar  waren.  Man  hat  danach  ein  allgemeines  zeitliches  Konzep- 
tionsoptimum im  Frühling  annehmen  wollen  und  glaubte,  daß  zwar 
einesteils  die  in  diese  Zeit  fallenden  Feste  und  Vereinsversammlungen 
die  Vereinigung  der  Geschlechter  begünstigen,  andererseits  aber  doch 
auch  mit  der  Wiederkehr  des  Frühlings,  der  Besserung  der  Erwerbs- 
und Nahrungsverhältnisse  eine  Hebung  der  Lebens-  und  Reproduk- 
tionskraft verknüpft  sei.  Ein  für  die  einzelne  Frau  verschiedenes  zeit- 
liches Konzeptionsoptimum  hatCohnstein  konstruieren  wollen,  da  ihm 
aufgefallen  war,  daß  Mütter  von  mehreren  Kindern  immer  um  dieselbe 
Jahreszeit  niederkamen. 

Sodann  hat  man  dem  Alter,  in  dem  die  Ehe  eingegangen  wird, 
einen  Einfluß  zugeschrieben.  Von  den  jugendlichen  Frauen,  die  zwischen 
15  und  10  Jahren  heiraten,  gebären  nur  etwa  20%  innerhalb  der  ersten 
10  Monate  nach  der  Ehe,  während  diese  Zahl  z.  B.  bei  denen,  die 
mit  33  heiraten,  sich  verdoppelt.    (Kisch.) 

Dazu  kommt  noch,  daß  zuweilen  mangelhafte  Übung  im  sexuellen 


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5]  Ober  Sterilität.  403 

Verkehr  unfreiwillig,  oder  die  soziale  -  Stellung  und  die  von  ihr 
abhängenden  wirtschaftlichen  Verhältnisse  den  Zeitpunkt  der  ersten 
Geburt  freiwillig  hinausschieben« 

Diese  allgemeinen  Gesichtspunkte  dürfen  nicht  unerörtert  bleiben, 
wenn  es  sich  darum  handelt,  den  Ursachen  der  Sterilität  im  Einzel- 
falle nachzuspüren.  Das  Hauptgewicht  ist  aber  doch  auf  die  somatische 
Untersuchung  des  speziellen  Individuums  zu  legen« 

Wenn  wir  bedenken,  daß  zur  Reproduktion  des  Einzelwesens  in 
der  Hauptsache  drei  Bedingungen  seitens  des  Weibes  erforderlich  sind: 

1.  die  Bildung  und  der  Austritt  eines  Eies  aus  dem  Follikel, 

2.  die  Wegsamkeit  der  von  Sperma  und  Ei  zu  durchwandernden 
Bahnen, 

3.  die  Möglichkeit  der  Beherbergung  und  Bebrütung  des  befruch- 
teten Eies, 

so  zerfallen  die  Sterilitätsursachen  in  natürlicher  Weise  in  drei  große 
Gruppen: 

L  Anomalien  der  Keimbildung^ 

IL  Anomalien  9    die    zur    Kontalctbehindernng    zwischen 
Sperma  und  Ovulum  führen, 

III.  Anomalien  der  Nidation  und  BebrUtung, 

Sind  die  die  Sterilität  verursachenden  Momente  angeboren,  dann 
reden  wir  von  angeborener,  sind  sie  erworben,  von  erworbener 
Sterilität. 

Primäre  Sterilität  liegt  vor,  wenn  nach  5 jähriger  Ehe  überhaupt 
keine  Konzeption  erfolgt;  sekundäre  Sterilität  haben  wir,  wenn  min- 
destens 5  Jahre  lang  nach  einer  Konzeption,  mag  sie  mit  Abort  oder 
rechtzeitiger  Niederkunft  enden,  eine  erneute  Befruchtung  nicht  mehr 
erfolgt. 

Als  absolute  Sterilität  bezeichnen  wir  den  Zustand,  bei  dem  ein 
Konzeptionshindernis  vorliegt,  das  auf  keine  Weise  zu  beseitigen  ist, 
z.  B«  Defekt  des  Uterus.  Relativ  steril  nennen  wir  dagegen  z.  B«  einen 
potenten  Mann,  der  mit  einem  bestimmten,  zeugungsfähigen  Weibe 
einen  befruchtenden  Beischlaf  nicht  auszuüben  vermag. 

Ich  habe  diese  einzelnen  Termini  angeführt,  weil  sie  in  der  Lite* 
ratur  sehr  durcheinander  geschmissen  werden  und  dadurch  viel  Ver- 
wirrung angerichtet  wird. 

Betrachten  wir  nun 

die  Anomalien  der  Keimbildung! 
Sie  lassen  sich  wieder  in  drei  Gruppen  zerlegen: 

a)  In  einer  ersten  Gruppe  finden  wir  pathologisch-anatomische  Ver- 
änderungen lokaler  Natur  (am  Ovarium); 


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4MM  A.  AAsyer,  [« 

b)  in  ejaer  zweites  Gruppe  handelt  es  sich  um  pailKilof  isoh-tiM- 
tomisohe  Verüiiderungea  allgemeiiier  Natur  <aiii  äbf ifea  Körper); 

c)  in  einer  dritten  Gruppe  haben  wir  keia  anatomiscbea  Subatrat. 
lOm  lJn4er  dea  die  KeiraMMang  beeiiitraclitjgendeii  tokalea  Aibk- 

tioiiea  verdienen  zunächsi 

die  EntwickluagaanomaUen  des  Ovariuaia 
Erwähnung. 

Bei  gäozlichem  Fehlen  der  Ovarien  ist  dieSierilitat  ohne  weüeres 
selbstverständlich. 

Es  genügt  aber  auch  sehon  der  Defekt  oder  die  mangelhafte 
Entwicklung  der  funktionierenden  Substanz,  des  Follikelapparates. 
Sei  es  nun,  daß  überhaupt  keine  Eier  gebildet  werden,  oder  dafi  diese» 
nur  mangelhaft  gereift,  im  Follikel  abortiv  zugrunde  gehen  oder  wenig- 
stens nicht  befruchtungsfähig  sind.  Eine  etwa  eintretende  Menstruation 
beweist  nichts.  Wir  sehen  sie  ja  auch  bei  vielen  heranreifenden 
Mädchen  der  Zeugungsfaliigkelt  lange  vorausgehen. 

Die  Diagnose  dieser  Zustände  ist  nicht  leicht  und  trotzdem  sehr 
verantwortungsvoll. 

Auf  den  Defekt  oder  die  rudimentäre  Ausbildung  der  Ovarien 
deuten  zuweilen  schon  die  mangelliaft  entwickelten  sekundären  Ge- 
schlechtscharaktere hin.  Zeichen  von  Hypoplasie  und  Infantiüsmus 
am  übrigen  Genitale  oder  am  KSrper  sind  weitvoüe  faidizieii.  Wegen 
ihrer  häufigen  Vergeseltechaftung  mit  diesen  Prozessen  kommt  einer 
etwa  bestehenden  Tuberkulose  oder  Chlorose  große  Bedeutung  zu« 

Handelt  es  slcH  um  einen  Defekt,  dann  fehlt  heim  Tastbefand  das 
Ovarium.  Aber  ntir  der  geübte  Untersucher,  der  sich  zutrauen  darf, 
keinen  Schlupfwinkel  übersehen  zu  haben,  Hi  berechtigt,  mit  einiger 
Wahrscheinliehkeit  Defeki  der  KeimdrGse  anranehmen,  wenn  er  sie 
nicht  gefühlt  hat. 

Das  mangdhaft  ausgebildete  Orarium  fShh  sich  bei  Fehlen  des 
Pollikdapparates  klein  und  an  seiner  Oberfläche  glatt  an.  In  einem 
ib«ormen  Hochatand  haben  wir  «delleicht  noch  eine  RemmiSEenz  in- 
itentiler  Vtrhütnisse. 

Selbstverständlich  Ist  nur  die  Beteiligung  beider  Ovarien  von  Be- 
deutung, ich  betone  das,  weil  nach  einer  alten  Theorie  des  Parme- 
nides  tind  Anaxagoras  die  Knaben  aus  dem  einen  nnd  die  Mädchen 
aus  dem  anderen  Eierstock  stammen  sollen« 

Nächst  den  Entwicklungsanomalien  kommt  den 

Tumoren 
(angeborenen  und  enrorbenen)  eine  Bedeutung  zu. 

Ovariaitumerem 
verdrängen  entweder  das  lunkoionierende  Gewebe  geoe  oder  die  letzten 


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7]  «  Ober  Sterilität  4O5. 

FolHkel  erttegen  dem  Drucke  der  gegen  sie  vordriogefideii  GeschvuteL 
Indes  besonders  bei  gutartigen  Tumoren  genügen  noeh  die  minimtlsien 
Ovariaireste  zum  ZustandeluiauDen  einer  Konzeption,  wie  das  Zu- 
sammentreifen  von  Kolossaltvisioren  und  Gravidität  beweist. 

Am  radikalsten  räumen  die  doppelseitigen  malignen  Gesehwfilste 
lalc  der  funktionierenden  Substanz  auf.  Dazu  vermindern  sie  durch 
schwere  konsdtutionelie  Sehidigungen  die  Reproduktionskrafit  in  sich 
erheblich,  so  daß  Sterilität  elntt-eteif  kann,  oinchon  anatomisch  noch 
Follikelgewebe  nachzuweisen  ist 

Atich  den 

Uterustumoren 
aittfl  man  einen  Einfluß  auf  die  Keimbereitung  zuerkennen«  Die  bei 
Uiemsmyom  häuig  zu  beobaehtende  kleinzystische  Degeneration  der 
Ovarien  stellt  eine  schwere  Schädigung  des  FoUikdapparafes  dar  tisd 
die  von  Bulius  besdiriebene  Angiodystrophia  ovarfl  bedeutet  auch 
aach  Pfaanenstiel  eine  so  eingreifende  Emihrungssiörnng  des  Eier* 
Stockes,  daß  seine  normale  Funktion  aufhört.  Indes  darf  ich  die  An* 
sicht  Hofmeiers  nicht  unerwähnt  lassen,  wonach  bei  Myom  die  Eier- 
stocktiStiglEBit  and  dnoüit  auch  die  Konzeptionsmöglichkeit  länger  als 
sonst  waehgehalten  wird.  Die  Häufigkeit  der  Sterilität  bei  Myom  ist 
seiner  Meinung  nach  nur  eine  sdieinbare.  Aber  er  blieb  mit  seiner 
Auflbssung  ziemlich  vereinzelt. 

Unter  den  die  Keimbildung  störenden  lokalen  AfFektioncn  wären 
eadlich  noch 

entzündliche  Prozesse 
zu  nennen,  die  sich  im  Innern  des  Eierstockes  oder  an  seiner  Ober^ 
fläche  abspielen. 

Parenchymatöse  Entzündungen  können  die  Eibildung  durch  Zer- 
siönmg  des  Follikdappnrstes  aufhetzen,  durch  Schädigung  desseliien 
die  Eireifung  erheblich  beeinträchtigen  oder  doch  durch  Erkrankung 
des  Eies  seihst  die  Befiruchfungsiahigkeit  herabsetzen^  z.  B.  durch  Ver- 
änderungen an  der  Eiperipherle,  die  den  Samenfiden  den  Eintritt 
^nmo^Bsb  madieo. 

Erkrankungen,  die  vom  Stroms  aus  auf  das  Parenchym  übergreifen, 
können  selbstverständlidi  dieselben  Folgen  4uben.  Gehen  sie  mit 
chronischer  Induration  und  Verdickung  einher,  wie  bei  Stauungspro- 
z^nen  z.  &  nach  achweren  unkompensiertea  Herzfehlem,  dann  kann 
der  Follikelapparat  dem  Drucke  des  wuchernden  Bindegewebes  ganz 
erliegen  oder  die  Follikel  werden  von  ihm  so  umlagert,  dnfi  sie  nicht 
mehr  nach  der  freien  Oberflache  hin  platzen  können» 

Diesen  letztea  Effdtt  haben  auch  alle  jene  entzfindlicheo  Erkran- 
kungen, die  mit  Adhäsions-  und  Schwartenbildung  an  der  Eier- 


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406  A.  Mayer,  ^  [8 

Stocksoberfläche  einhergehen,  auch  ohne  daß  sie  zu  krankhaften  Ver- 
änderungen Im  Ovarium  selbst  führen« 

Fär  alle  die  genannten  Erscheinungen  kommt  ätiologisch  die  ganze 
Summe  der  akuten  und  chronischen  Entzündungen  resp.  Eiterungen, 
die  sich  im  Eierstock  gelegentlich  als  Perioophoritis,  Oophoritis  oder 
Pyovarium  etablieren,  in  Betracht:  Puerperalfieber,  Strepto-  und  Sta- 
phylokokkeninfektion  bei  irgendwelchen  anderen  Gelegenheiten,  meta* 
statische  Eiterungen  nach  Sepsis,  Typhus  u.  dgl.,  Tuberkulose  und 
Gonorrhöe. 

Eine  der  wichtigsten  Rollen  spielt  in  praxi  gerade  die  Gonorrhöe, 
Freilich  weniger  durch  Zerstörung  des  Parenchyms,  als  vielmehr  durch 
Veränderungen  an  der  Oberfläche,  die  das  Platzen  des  Follikels  hindern. 
Des  anderen  durch  sie  bedingten  Momentes,  der  Verlegung  des  Tuben- 
lumens, habe  ich  im  nächsten  Abschnitt  zu  gedenken. 

Alle  diese  Prozesse  können  ausheilen.  Und  wenn  der  Follikel* 
apparat  nicht  gänzlich  zerstört  ist,  kann  auch  diese  Form  von  Sterilität 
heilbar  sein. 

Anhangsweise  sei  der  Traumen  gedacht,  die  direkt  oder  durch 
Blutung  das  Ovarium  zerstören,  ähnlich  wie  es  bei  der  von  PloO  be- 
richteten Sitte  oder  Unsitte,  junge  Mädchen  durch  Zusammendrucken 
der  Eierstöcke  steril  zu  machen,  geschieht 

Ib.  Ich  komme  nun  zu  den  Affektionen  allgemeiner  Natur 
am  übrigen  Körper^  welche  die  Keimbildung  hemmen  können. 

Sie  können  vorübergehende  oder  dauernde  Sterilität  verursachen. 
Ihr  Einfluß  ist  zuweilen  sekundär  an  den  Generationsorganen  (Atrophie, 
Klimacterium  praecox)  nachzuweisen,  in  anderen  Fällen  fehlt  jede  Spur 
hiervon.  Darum  ist  die  Art  ihrer  Bedeutung  auch  nicht  immer  Uar, 
aber  das  Faktum  derselben  steht  fest.  Gemeinsam  ist  ihnen  allen 
eine  Konsumption  der  Kraft  des  Organismus.  Diese  Rolle  spielen 
Im  Körperhaushalt: 

a)  jede  Sorte  lang  anhaltenden  Fiebers  (Typhus,  Puerperalfieber  usv«), 

ß)  schwere  Blutkrankheiten  (Anämie,  Leukämie  usw.), 

7)  Stoffwechsel-  und  Konstitutionsanomalien  (Diabetes,  Fettleibigkeit, 
Chlorose  usw.), 

6)  schwere    Nerven-    und    Geisteskrankheiten    (Basedow,    Psy- 
chosen usw.), 

e)  eine  Reihe  Gifte,  unter  denen  Alkohol  und  Morphium  eine  große 
Rolle  spielen, 

C)  chronische  Infektionen  (Lues  und  Tuberkulose  usw.). 

Ich  kann  sie  nicht  alle  einzeln  erörtern.  Nur  die  wichtigsten: 
Tuberkulose,  Chlorose,  Fettleibigkeit  und  Alkoholismus  seien 
herausgegrifi^en. 


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0]  Ober  Sterilität.  407 

Die  Bedeutung  der  Tuberkulose  liegt  jedenfalls  in  der  genannten 
schweren  konstitutionellen  Schädigung«  Die  Konsumption  der  Körper- 
kraft bedeutet  eine  Konsumption  der  Reproduktionskraft. 

Bezüglich  der  Chlorose  nahm  man  früher  an,  daß  es  durch  mangel- 
hafte Kongestion  zu  den  Genitalien  nicht  zur  Eireifung  und  zum 
Platzen  des  Follikels  komme.  Heute  halten  wir  die  Chlorose  für 
eine  Entwicklungskrankheit,  die  mit  der  konstitutionellen  Minder- 
wertigkeit den  Keim  zur  Sterilität  in  sich  trägt. 

Auf  die  Rolle  der  Fettleibigkeit  wirft  die  Beobachtung  am  Tier 
ein  bedeutungsvolles  Licht.  Die  Tierzüchter  wissen,  daß  Mästung  der 
Fertilität  schadet.  Die  gemästete  Truthenne  hört  auf  Eier  zu  legen. 
Am  Menschen  ist  aufgefallen,  daß  während  sonst  unter  ca.  10  Ehen 
1  sterile  sich  befindet,  dies  bei  Fettleibigen  schon  unter  4  der  Fall 
ist.  Das  ist  schon  Hippokrates  bekannt  gewesen,  der  die  geringe 
Fertilität  der  Szythinnen  auf  ihre  Adipositas  zurückführt.  Amenorrhoe 
oder  spärliche  Menstruation  bei  fetten  Frauen  deuten  oft  auf  eine 
mangelhafte  Funktion  der  Ovarien  hin.  Die  Wirksamkeit  zahlreicher 
gegen  Sterilität  empfohlener  Badekuren  hat  in  der  Beseitigung  der 
Fettleibigkeit  ihren  Grund. 

Worin  liegt  nun  der  Einfluß  derselben  begründet? 
Zunächst  ist  daran  zu  erinnern,  daß  es  sich  für  manche  Fälle  gar 
nicht  um  Anomalien  der  Keimbildung  handelt,  sondern  nur  um  mecha- 
nische Kohabitationsbehinderung,  die  dann  zu  dem  in  Rede  stehenden 
Kapitel  nicht  gehört. 

Für  die  Mehrzahl  der  Fälle  müssen  wir  indes  mit  P.  Müller  an- 
nehmen, daß  die  Ablagerung  von  Nährmaterial  in  Form  einer  Fett- 
anhäufung die  Bildungsvorgänge  im  Ovarium  hindert,  aber  ohne  eine 
Änderung  der  Eierstöcke  selbst  zu  verursachen,  so  daß  nach  Schwund 
des  Fettes  wieder  Ovulation  eintreten  kann. 

F.  Fraenkel  sucht  den  Grund  in  einer  ausbleibenden  Rückbildung 
des  Corpus  luteum.  Dadurch  sistiere  die  Ovulation  und  ihr  folge 
die  Fettleibigkeit.  Er  weist  auf  das  Tier  hin,  wo  mit  Persistenz  des 
Corpus  luteum  Ovulation  und  Brunst  aufhören.  Das  zeitliche  Verhältnis 
zwischen  Ausbleiben  der  Ovulation  und  Eintritt  der  Fettleibigkeit  ist 
also  umgedreht,  eine  Reihenfolge,  die  wir  auch  für  die  klimakterischen 
Veränderungen  als  möglich  zulassen  müssen.  Ohne  die  Frage  weiter 
zu  diskutieren,  kann  man  jedenfalls  das  sagen:  das  Ovarium  ist  ein 
feines  Reagens  auf  die  Vorgänge  im  Körperhaushalt.  Seine  Nicht- 
ftinktion  zeigt  an,  daß  im  Körper  ein  Übermaß  von  Ernährungsstoffen 
entweder  abnormer  Weise  wie  beim  Diabetes  oder  physiologischer 
^eise  wie  bei  der  Laktation  oder  durch  Ansatz  an  unrichtigen  Stellen 
und  in  unrichtiger  Form  (Adipositas)  verbraucht  wird. 

Klln.  Voptrige,  N.  F.  Nr.  499.    (Gynäkologie  Nr.  184.)    Sept  1906.  3^ 


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408  A.  Mmyer,  [10 

Ob  der  mangelhaften  sexuellen  Erregsamkeit  Fettleibiger  eine  Be- 
deutung zukommt,  wäre  erst  zu  entscheiden ,  wenn  es  sicher  fest- 
stünde, daß  Fettleibige,  wie  Schopenhauer  meint,  weniger  erregbar 
sind  und  daß  die  Voluptas  sexualis  auf  das  Zustandekommen  der 
Befruchtung  Einfluß  hat«    Ich  komme  auf  diese  Frage  noch  zurficL 

Auf  die  Möglichkeit,  daß  Alkohol  die  Fertilität  beeinträchtige,  ist 
man  namentlich  in  England  aufmerksam  geworden,  wo  bekanntlich 
konzentrierte  Alkohole  konsumiert  werden.  Indes  fand  eine  franzö- 
sische Arbeit  dies  nicht  bestätigt.  Erhebungen  über  402  Pariser 
Arbeiterfamilien  ergaben,  daß  81  Trinkerehen  unter  ihnen  sogar  frucht- 
barer waren,  als  die  anderen.  Wenn  indes  der  Alkoholismus  zu 
schweren  körperlichen  Schädigungen  geführt  hat,  dann  kann  er  nach 
ziemlich  allgemeiner  Ansicht  die  Konzeption  hindern  und  zwar  wahr- 
scheinlich durch  Beeinträchtigung  des  Keimes.  In  anderen  Fällen 
sollen  auch  chronische  Oophoritis  oder  die  beim  Alkoholismus  zu- 
weilen einsetzende  Fettleibigkeit  eine  Rolle  spielen. 

Ic.  Haben  wir  bisher  immer  noch  für  die  Erklärung  einer  Un- 
fruchtbarkeit einen  somatischen  Befund  verantwortlich  machen  können, 
so  fehlt  dieser  in  einer  dritten  Gruppe  von  Sterilität  ohne  soma- 
tischen Befund  gänzlich.  Es  bleibt  uns  dann  nur  übrig,  unsere  Un- 
kenntnis durch  Hypothesen  und  rein  empirisch  gewonnene  Tatsachen 
zu  bedecken. 

Zunächst  eine  Reihe  äußerer  Momente.  Solche  sind  z.  B.  der 
Einfluß  von  Klima  und  Jahreszeit.  Sie  sind  bekanntlich  für  die 
Fruchtbarkeit  des  Tieres  von  großer  Wichtigkeit.  Für  den  Menschen 
haben  sie  wenig  Bedeutung.  Wichtiger  ist  dagegen  der  plötzliche 
Wechsel  der  Lebensweise  und  des  Klimas:  so  sollen  die  Europäerinnen 
in  den  Tropen  ihre  Fertilität  verlieren,  wie  auch  gewisse  sonst  wild- 
lebende Tiere  in  der  Gefangenschaft  sich  nicht  mehr  fortpflanzen,  sei 
es  daß  sie  sich  überhaupt  nicht  mehr  begatten,  oder  die  Begattung 
fruchtlos  bleibt. 

Auf  die  Begünstigung  der  Fertilität  durch  Ernährungs-  und 
Temperaturverhältnisse  hat  schon  Darwin  hingewiesen.  Nur 
ein  Beispiel  I  Die  wilde  Ente  legt  im  Jahre  5—10  Eier,  während  ihre 
zahme  Schwester  es  auf  80—100  bringen  kann.  Im  warmen  Tauben- 
schlag finden  sich  zuweilen  schon  im  Januar  Eier,  während  dies  sonst 
erst  im  Frühling  der  Fall  ist. 

Zu  diesen  äußeren  Momenten  kommen  nun  noch  einige  in  den 
Einzelwesen  begründete  hinzu. 

Von  altersher  hat  man  die  Blutsverwandtschaft  als  Grund  der 
Sterilität  angesehen.    Darum  verbot  schon  Moses  die  Ehe  zwischen 


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11]  Ober  Sterilität.  400 

nahen  Blutsverwandten.  Unsere  Beobachtungen  am  Tiere  belehren 
uns  desgleichen. 

Das  Aussterben  vornehmer  Familien  hat  man  auf  die  Inzucht 
zuruckgefährt.  So  fand  z.  B.  Goehlert  in  einigen  europäischen  Herr- 
scherhäusern 32%  sterile  Ehen  gegen  sonst  ca.  JiO%.  Zur  Erklärung 
dieser  Erscheinung  hat  man  die  Vermutung  einer  verringerten  Ovu- 
lation ausgesprochen.  Diese  soll  in  nervösen  Einflüssen  infolge  der 
instinktiven  Abneigung  gegen  den  leiblichen  Vetter  ihren  Grund  haben. 

Damit  haben  wir  nun  die  Frage  nach  der  Bedeutung  der  Kon- 
stitution,  des  Temperamentes  und  der  Geschlechtslust  be- 
rührt Sie  ist  schwer  zu  beantworten.  Oft  genug  stehen  uns  nur  ganz 
individuelle  Anschauungen  zu  Gebote. 

Zunächst  der  erste  Punkt,  Konstitution  und  Temperament. 
Während  der  Koran  die  Frauen  mit  brauner  Haut  für  fruchtbarer 
hält  als  die  mit  heller,  liegt  doch  wohl  unter  der  Voraussetzung,  daß 
Liebe  am  besten  auf  dem  Boden  sexueller  Harmonie  gedeiht,  dem 
bekannten:  «ich  liebe  die  schlanken,  die  blonden,  die  Mädchen  mit 
bleichem  Gesicht'  eine  gegenteilige  Auffassung  über  die  sexuelle 
Brauchbarkeit  zugrunde.  In  dem  oben  erwähnten  Rat  des  Soranus, 
man  solle  bei  der  Wahl  einer  Frau  auf  ihre  vermutliche  Fruchtbarkeit 
Rücksicht  nehmen,  ist  die  Anerkennung  von  somatischen  Zeichen  der 
sexuellen  Leistungsfähigkeit  ausgedrückt:  Ein  lebhafter  brünetter  Mann 
und  eine  sanfte  Blondine  sollen  besonders  gut  zueinander  passen. 

Die  Bedeutung  der  Geschlechtslust,  des  Orgasmus,  für  die 
Ausstoßung  eines  Eierstockeies  wird  sehr  verschieden  beurteilt.  Sicher 
ist  jedenfalls  das:  zum  Zustandekommen  einer  Konzeption  ist  der 
Orgasmus  des  Weibes  nicht  unbedingt  nötig.  Die  Schwängerung  nach 
Notzucht,  oder,  wenn  man  diese  wegen  der  im  letzten  Augenblick  viel- 
leicht doch  noch  eingetretenen  sexuellen  Erregung  nicht  für  stich- 
haltig hält,  die  Konzeption  in  tiefer  Narkose  oder  anderen  bewußt- 
losen Zuständen  beweisen  dies. 

Dieser  Argumentation  steht  aber  eine  andere  nicht  schlecht  ge- 
stützte Ansicht  gegenüber.  Zur  Illustration  der  Bedeutung  einer  ge- 
schlechtlichen Erregung  für  den  Ablauf  physiologischer  Vorgänge 
überhaupt  wies  schon  Schopenhauer  darauf  hin,  daß  die  jungen 
Städterinnen  bei  der  Fülle  der  sexuellen  An-  und  Aufregungen  früher 
menstruieren,  als  ihre  Schwestern  auf  dem  Lande.  Ja  Kisch  erzählt 
von  einer  Dame,  die  nach  eigener  Aussage  willkürlich  konzipieren 
könne,  je  nachdem  sie  sich  zu  geschlechtlicher  Erregung  hinreißen 
lasse  oder  nicht  Und  bei  gewissen  Völkern  soll  sich  auf  das  ab- 
sichtliche passive  Verhalten  sub  coitu  ein  direktes  System  zur  Kon- 
zeptionshinderung aufgebaut  haben. 

32* 


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410  A.  Mayer,  [12 

Auch  bei  uns  kann  man,  wie  Kisch  hervorhebt,  zuweilen  die 
Beobachtung  machen,  daß  die  treulose  Ehefrau  von  ihrem  Ehemann 
trotz  Erfüllung  aller  sonstigen  Bedingungen  nicht  empfangt,  während 
sie  vom  Buhlen,  zu  dem  sie  die  Liebe  im  Herzen  trägt,  schwanger 
wird.  Sie  liefert  uns.  das  Beispiel  einer  auf  Dispareunie  begrGndeten 
relativen  Sterilität.  Ein  bekannter  historischer  Beleg  ist  Napoleon  L, 
der  aus  seiner  Ehe  mit  Josefine  keine  Kinder  hatte,  obschon  sie  schon 
Nachkommen  besaO,  während  er  mit  Marie  Luise  einen  Sohn  zeugte. 

Der  Wert,  den  van  Swieten  der  sexuellen  Erregung  für  das 
Zustandekommen  einer  Konzeption  beimaß,  ergibt  sich  deutlich  dar- 
aus, daß  er,  wegen  Sterilität  der  Kaiserin  Maria  Theresia  gefragt,  den 
Rat  gab:  mamillam  esse  titillandam. 

Indes  so  interessant  diese  ganze  Untersuchung  ist,  ich  kann  nicht 
weiter  auf  sie  eingehen.  Ihre  Bewertung  fällt  zusammen  mit  der 
Frage  des  weiblichen  Sexualempfindens  überhaupt.  Das  ist  das  Ge- 
heimnis des  Weibes.  Aber  wenn  wir  vom  Standpunkte  des  sittlich 
ernsten  Arztes  ein  wenig  hineinleuchten,  dann  können  wir  keine  un- 
berufenen Eindringlinge  sein.  Nur  einzelne  Proben  der  divergenten 
Anschauungen I  Nach  Hegar  empfindet  das  Weib  sexuell  weniger 
als  der  Mann.  Lombroso  meint,  daß  sich  das  Weib  sehr  gerne 
vom  Manne  umwerben  läßt,  aber  seinen  Wünschen  gibt  es  sich  nur 
wie  ein  Opfertier  hin.  Und  Adler  hat  sogar  ein  eigenes  Buch  ge- 
schrieben über  die  mangelhafte  Geschlechtsempfindung  des  Weibes. 

Nach  anderen  Anschauungen  ist  das  Weib  überhaupt  lauter  Ge- 
schlecht, eine  breite  Geschlechtsfläche  und  muß  es  sein,  weil  seine 
ganze  Karriere  von  der  Sexualität  abhängt.  Kisch  ist  der  Ansicht, 
daß  der  Sexualtrieb  des  Weibes  als  eine  machtvolle,  elementare  Ge-^ 
walt  die  Begattung  verlangt,  auch  wenn  Furcht  vor  Konzeption  be- 
steht oder  von  Konzeption  keine  Rede  mehr  sein  kann.  In  Irren- 
anstalten, wo  alle  anerzogenen  Hemmungen  wegfallen,  soll  sich  das 
deutlich  zeigen.  Einer  solchen  Auffassung  entstammen  wohl  auch  die 
Worte  Diderots:  »Das  einzige,  was  die  Frau  von  Grund  aus  gelernt 
hat,  ist:  das  Feigenblatt,  das  ihre  Stammutter  Eva  ihr  vererbte,  mit 
Anstand  zu  tragen.* 

Auch  die  Frauen  selbst  beurteilen  den  Sexualtrieb  ihrer  Stammes- 
schwestern verschieden.  Rosa  Mayreder  z.  B.  unterscheidet  ver- 
schiedene Typen. 

Sie  sehen,  meine  Herren,  wir  befinden  uns  auf  einem  sehr  un- 
sicheren Gebiete.  Ein  Untersucher  hat  diese  Unsicherheit  mit  den 
geistreichen  Worten  gekennzeichnet:  ,,Die  Frau  ist  ein  Komma,  der 
Mann  ein  Punkt.    Hier  weist  du  woran  du  bist,  dort  lies  weiter.'' 

Zum  Schlüsse  dieses  ganzen  Abschnittes  noch  der  kurze  Hinweis 


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13]  Ober  Sterilität  411 

darauf,  daß  die  KeimbÜdung  zuweilen  beeinträchtigt  wird  durcli  Homo- 
sexualität und  gesctilechtiictie  Oberanstrengung,  wie  die  Sterilität  von 
Prostituierten,  auch  beim  Fehlen  anderer  Sterilitätsursachen  zeigt. 

Endlich  nimmt  man,  so  paradox  es  auch  klingen  mag,  eine  gewisse 
erbliche  Disposition  an,  entweder  so,  daß  es  sich  um  eine  ererbte 
schwere  Entwicklungsfähigkeit  der  Eier  handelt,  oder  so,  daß  den 
Spermatozoen  der  Eintritt  in  das  Ei  erschwert  ist,  analog  den  Beob- 
achtungen von  Schenk,  der  an  verschiedenen  Tiereiern  sah,  daß  der 
Eintritt  der  Samenfäden  verschieden  schwer  ist. 

Die  in  früherer  Zeit  gemachte  Annahme,  daß  die  Frauen,  die  mit 
einem  männlichen  Zwilling  zur  Welt  kamen,  steril  seien  wegen  mangel- 
hafter Ausbildung  des  Genitalapparates,  besteht  jedenfalls  in  diesem 
Sinne  nicht  zu  Recht. 

Anomalien,  die  zu  einer  Kontaktbehinderung  zwisehen 
Sperma  und  Ovulum  fUhren. 

Sie  zerfallen  in  drei  Gruppen: 

a)  Momente,  welche  die  Deportation  des  Samens  im  Scheiden- 
gewölbe erschweren  oder  ausschließen, 

b)  Momente,  welche  die  Retention  des  an  normaler  Stelle  abge- 
setzten Samens  beeinträchtigen, 

c)  Momente,  welche  die  Wanderung  der  Spermatozoen  nach  oben 
unmöglich  machen« 

Zu  der  ersten  Gruppe  gehören  kurz  gesagt  alle  jene  Anomalien, 
die  rein  mechanisch  oder  auch  nur  reflektorisch  eine  Immissio 
penis  hindern. 

Die  mechanisch  wirksamen  sind  angeborene  Defekte  oder  rudi- 
mentäre Entwicklung  der  Scheide,  Verengerung  des  Introitus  durch 
Tumoren,  Entzündungen,  narbige  Schrumpfungen,  Totalprolapse  usw. 

Wenn  gelegentlich  auch  die  Ablagerung  von  Sperma  am  äußeren 
Genitale  für  eine  Konzeption  genügen  kann,  so  finden  die  Samenfäden 
von  hier  aus  doch  nur  ausnahmsweise  den  Weg  nach  oben,  so  daß 
die  Sterilität  bei  Erkrankungen  der  genannten  Art  gut  verständlich  ist. 

Totalprolaps  führt  indes  seltener  zu  Sterilität;  denn  es  wird  der 
Vorfall  bei  der  Kohabition  reponiert  oder,  wenn  dies  nicht  der  Fall 
ist,  so  kann  unter  Umständen  das  Sperma  direkt  in  die  Cervix  uteri 
ergossen  werden. 

Die  reflektorisch  ausgelösten  Hindernisse  der  Kopulation  werden 
durch  den  Vaginismus  dargestellt.  Wir  verstehen  darunter  eine 
hochgradige  Hyperästhesie  des  Introitus,  so  daß  das  Vordringen  des 
Penis  einesteils  wegen  heftiger  Schmerzen  nicht  mehr  zugelassen  wird, 
anderenteils  wegen  krampfartiger  Kontraktion  des  Constrictor  cunni 


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412  A.  Mmyer,  [I4 

nicht  möglich  ist  Ob  dieser  Erscheinung  eine  der  vielen  beschul- 
digten anatomischen  Veränderungen  oder  eine  rein  nervöse  Ursache 
(Abneigung  gegen  den  Mann)  zugrunde  liegt,  soll  hier  unerörtert  bleiben. 

Zum  Verständnis  der  aufgestellten  zweiten  Gruppe  (fehlende  oder 
mangelhafte  Retention  des  Samens  im  Scheidengewölbe)  weise  ich  zu- 
nächst darauf  hin,  daO  wir  unter  normalen  Verhältnissen  die  Bildung 
einer  kleinen  Samenlache  im  hinteren  Scheidengewölbe,  von  der  aus 
die  Aszension  der  Samenfäden  stattfindet,  annehmen.  Dieser  Mecha- 
nismus kann  gestört  sein  durch  alle  angeborenen  oder  erworbenen 
Affektionen,  bei  denen  das  Scheidengewölbe  fehlt  oder  räumlich  redu- 
ziert ist:  Hypoplasie,  Atrophie,  entzündliche  Veränderungen,  Lage- 
anomalien. 

Mit  dem  Scheidengewölbe  fehlt  auch  das  Receptaculum  seminis 
und  der  Same  fiieOt  aus  der  Vagina  ab,  besonders  wenn  der  Scheiden- 
schluOapparat  durch  Erschlaffung  und  Defekte  im  Beckenboden  und 
Dammrisse  Not  gelitten  hat,  da  nach  Kisch  gewöhnlich  eine  Kontrak- 
tion des  Constrictor  cunni  das  Sperma  eine  Zeitlang  unter  einer  ge- 
wissen Spannung  retiniert  hält.  Indes  darf  nicht  unerwähnt  bleiben, 
daß  nach  anderer  Ansicht  gerade  die  Aktion  des  Konstriktor  den 
Samenabfluß  befördert.  So  soll  es  Frauen  geben,  die  durch  willkür- 
liche Kontraktion  des  Beckenbodens  sich  des  Spermas  im  Strahl  er- 
ledigen, ehe  Konzeption  eintreten  kann. 

Ich  komme  nunmehr  zu  den  Ursachen,  welche  die  Wanderung 
der  Samenfäden  nach  oben  erschweren.  Sie  zerfallen  in  mecha- 
nische und  chemische. 

Unter  den  ersteren  finden  wir  zunächst  eine  Kategorie,  die  den 
Samenfäden  den  Zugang  zum  Wege,  der  in  sich  normal  sein  kaoo, 
erschwert.  Zum  Verständnis  wieder  ein  kurzer  Hinweis  auf  die  Phy- 
siologie! Im  Orgasmus  soll  der  Uterus  tiefer  treten,  sich  der  Glans 
penis  nähern  oder  es  soll  mindestens  der  in  der  Cervix  steckende 
Kristellersche  Schleimpfropf  in  die  Samenlache  eintauchen,  so  daß  an 
ihm  die  Spermatozoen  wie  an  einer  Leiter  emporsteigen.  Wenn  dem 
so  ist,  dann  fehlt  mit  dem  ausbleibenden  Orgasmus  auch  die  be- 
schriebene Leiter. 

Eine  ähnliche  Erschwerung  des  Zuganges  zum  Uterus  soll  in  der 
Retroflexio  liegen,  weil  die  Portio  in  den  Samensee  nicht  eintaucht 

In  einer  zweiten  Kategorie  handelt  es  sich  um  Verlegung  des 
Pfades,  auf  dem  die  Wanderung  nach  oben  stattfinden  soll.  Am 
Collum  uteri  sind  es  neben,  durch  Narbenschrumpfung  oder  Tumoren 
erworbenen  Stenosen  namentlich  angeborene  Verengerungen  oder 
Knickungen  durch  Lageanomalien,  auf  die  Sims  seinerzeit  ein  so  großes 
Gewicht  legte.  Wir  sind  heute  geneigt,  die  Hauptursache  der  Sterilität 


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15]  Ober  Sterilität  413 

nicht  in  diesen  meclianisclien  Momenten  zu  suchen,  sondern  in 
der,  der  abnormen  Enge  des  Cervicalkanais  oder  der  Lageanomalie 
zugrunde  liegenden  Hypoplasie  und  konstitutionellen  Minderwertigkeit. 
Bei  erworbenen  Retroflexionen  liegt  die  Schuld  oft  genug  in  den 
gleichzeitig  bestehenden  entzündlichen  Prozessen  des  Endo-  oder  Peri- 
metriums, welch  letztere  die  Lageanomalie  veranlaßt  haben  können. 
Im  Cavum  uteri  kommen  Verödung  der  Höhle  durch  Tumoren 
oder  medikamentöse  Einwirkungen  in  Betracht.  Bezüglich  des  letzten 
Punktes  sei  an  den  Vorschlag  von  Pincus  erinnert,  die  Vaporisation 
des  Cavum  uteri  zur  Erzeugung  von  Sterilität  auszuführen. 

Der  Tubenkanal  kann  eine  Beeinträchtigung  erfahren  durch  ange- 
borene Schlängelung,  durch  Knickung  infolge  abnormer  Verwachsungen 
und  Befestigungen  und  hauptsächlich  durch  entzündliche  Verödungen 
seines  Lumens  oder  Verklebungen  seines  Fimbrienendes,  wie  wir  sie 
bei  Tuberkulose,  septischen  Infektionen  und  Gonorrhöe  oft  finden. 
Die  Hauptrolle  fällt  in  praxi  der  Gonorrhöe  zu,  auf  deren  ernste  Be- 
deutung zuerst  Noeggerath  in  klassischer  Weise  hinwies.  Wenn  auch 
die  Angaben  Doctors,  daß  über  80%  aller  Männer,  und  die  Statistik  von 
Blaschko,  wonach  von  den  über  30  Jahre  alten  alle  zweimal  vor  der  Hei- 
rat gonorrhoisch  infiziert  waren,  die  Wirklichkeit  hinter  sich  läßt  (Erb), 
so  illustriert  sie  doch  die  erschreckende  Häufigkeit  der  Gonorrhoe 
und  ihre  wichtige  Rolle  in  der  Ätiologie  der  Sterilität  Sehr  viele 
Frauen  empfangen  zugleich  mit  dem  Sperma  die  Gonokokken  ihres 
Mannes  und  werden  steril  oder  die  im  ersten  Wochenbett  sich  aus- 
bildenden Pyosalpingen  führen  zur  Einkindsterililät. 

Anhangsweise  sei  hervorgehoben,  daß  man  für  die  Wanderung 
der  Spermatozoen  auch  darin  ein  Hindernis  erblickte,  daß  ein  reich- 
licher von  oben  kommender  Sekretstrom  sie  herausschwemme  oder 
die  Samenfäden  durch  ein  besonders  zähes  Sekret  sich  nicht  hindurch- 
winden können. 

Diesen  Sekretanomalien  kann  auch  noch  ein  chemischer  Einfluß 
auf  die  Beweglichkeit  der  Samenfäden  anhaften.  Es  ist  z.  B.  bekannt, 
daß  diese  am  besten  gedeihen  in  dem  alkalischen  Cervixsekret,  während 
sie  im  sauren  Sekret  absterben  (Katarrh).  Solchen  Änderungen  der 
Sekretreaktion  liegt  häufig  ein  bakterieller  Prozeß  zugrunde.  Die 
Bakterien  können  dabei  das  Endometrium  so  verändern,  daß  die 
Spermatozoen  untergehen  oder  vielleicht  scheiden  sie  den  Samen- 
ßden  gefahrliche  Toxine  aus.  Wir  wissen  das  noch  nicht. 
Anomalien  der  Nidation  und  Bebrütung  des  Eies. 
Haben  sich  Ovulum  und  Sperma  auch  getroffen,  so  brauchen  wir 
fKr  das  Zustandekommen  einer  normalen  Konzeption  noch  die  Nidation 
Wf  dem  Endometrium. 


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414  A.  Mayer,  [16 

Diese  kann  zunächst  schon  daran  scheitern,  daO  das  Tubenlumen 
verlegt  ist  und  das  befruchtete  Ei  auf  seiner  Wanderung  aufgehalten 
wird.  Ich  verweise  nur  auf  die  ganze  Ätiologie  der  Extrauterin- 
gravidität. 

Aber  auch  im  Cavum  uteri  glücklich  angekommen,  hindern 
lokale  und  allgemeine  Erkrankungen  die  Implantation. 

Unter  den  lokalen  Affektionen  nenne  ich  nur  die  angeborene 
Unfähigkeit  des  Uterus,  ein  Ei  zu  beherbergen,  wie  sie  so  oft  der 
Hypoplasie  eigen  ist,  ferner  gut-  und  bösartige  Tumoren,  die  bald 
das  Cavum  uteri  verlegen,  bald  die  Schleimhaut  gänzlich  zerstören, 
Lageanomalien,  sämtliche  entzündlichen,  Erkrankungen  des  Endo- 
metriums u.  a.  m.  Hinsichtlich  bakterieller  Endometritiden  sei  für  die 
Gonokokken  eigens  darauf  hingewiesen,  daß  nach  mancher  Ansicht  eine 
Eiimplantation  auf  einem  gonorrhoischen  Endometrium  denkbar  ist. 

In  anderen  Fällen  liegt  die  letzte  Ursache  in  schweren  konstitu- 
tionellen Schäden,  Stoff wechsel-Blutkrankheiten,  Herz-Nierenleiden, 
welche  die  Unfähigkeit  der  Eibebrütung  bedingen.  Solchen  Momenten 
kommt  zuweilen  eine  um  so  größere  Bedeutung  zu,  als  es  nach  Ansicht 
einzelner  Autoren  mit  Ausnahme  der  Atresie  für  den  Eintritt  der 
Spermatozoen  ins  Cavum  uteri  kein  absolutes  Hindernis  gibt. 

Sämtliche  bis  jetzt  besprochenen  Sterilitätsursachen  werden  wirk- 
sam ohne  unser  Zutun,  ja  oft  genug  gegen  unseren  direkten  Wunsch 
und  Willen.  Von  dieser  unfreiwilligen  Sterilität  unterscheidet 
sich  die  beabsichtigte,  freiwillige,  die  wir  kennen  als  fakultative 
Sterilität  und  operative  Sterllisierung. 

Unter  fakultativer  Sterilität  verstehen  wir  die  absichtliche  Hinde- 
rung der  Konzeption  durch  präventiven  geschlechtlichen  Verkehr.  Den 
bedeutenden  Einfluß  dieses  Faktors  illustriert  eine  Statistik  von  Korösi, 
die  sich  auf  die  Fruchtbarkeit  der  Frauen  zwischen  40  und  44  Jahren 
erstreckt.  Unter  den  Neuvermählten  betrug  sie  ca.  20%,  unter  den 
übrigen  nur  5%.  Da  es  sich  um  gleiches  Alter  handelt,  kann  die  Ver- 
minderung der  Fertilität  auf  ^4  nur  durch  das  Nichtwollen  der  langer 
Verheirateten  erklärt  werden. 

Die  Idee,  die  Fortpflanzung  zu  modifizieren,  ist  alt,  wie  die  Fest- 
legung eines  gesetzlichen  Alters  fär  die  Heirat,  die  Aus3etzung  von 
Kindern,  Kindesmord,  künstlicher  Abort  usw.  zeigen.  Zum  ersten 
Male  trat  gegen  Ende  des  18.  und  zu  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  der 
Engländer  Thomas  Robert  Malthus  öffentlich  für  sie  ein.  Er  empfahl 
Beschränkung  der  Fortpflanzung  durch  sexuelle  Abstinenz  und  spate 
Heirat,  weil  er  für  das  Ausreichen  der  Nahrung  fürchtete.  Seine  An- 
schauungen fanden  Beifall  zunächst  bei  dem  sog.  Malthusschen  Bund.  Die 
Malthussche  Liga  in  England  und  der  Sozialharmonische  Verein  in 


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17]  Ober  Sterilitit.    ^  415 

Deutschland   empfahlen  dann  zu   diesem  Zwecke  antikonzeptionelle 
Mittel. 

Aber  trotzdem  blieb  diese  ganze  Lehre  nicht  unangefochten«  Ich 
nenne  nur  Liebig  und  Bebel,  welche  die  Anschauung  von  der  Unzu- 
länglichkeit der  Nahrung  sehr  in  Frage  zogen.  «Die  Menschen  ver- 
mehren, nicht  sie  vermindern ,  das  ist  der  Rat,  der  im  Namen  der 
Kultur  an  die  Menschheit  geht',  ruft  ein  anderer  Gegner  des  Malthus- 
schen  Systems.  Roosevelt,  der  Präsident  der  Vereinigten  Staaten, 
sagt  mit  Bezug  auf  Konzeptionsverhinderung  ^):  Jene,  welche  sich  ihrer 
Verantwortlichkeit  durch  den  Hang  nach  Unabhängigkeit,  Bequemlich- 
keit und  Wohlleben  entziehen,  begehen  ein  Verbrechen  gegen  ihre 
Rasse  und  sollten  der  Gegenstand  der  Verachtung  und  des  Absehens 
für  ein  gesundes  Volk  sein. 

Doch  wollen  wir  die  gegenteilige  Anschauung  nicht  minder  gewich- 
tiger Persönlichkeiten  nicht  ungehört  lassen.  Hegar  empfiehlt  die 
Regulierung  der  Fortpflanzung,  um  die  Qualität  auf  Kosten  der  Quan- 
tität zu  verbessern.  Und  der  Hygieniker  Grub  er  hält  die  Massen- 
zeugung für  nutzlos,  weil  ihr  ein  Massensterben  entspricht  Ja  ein 
Autor  versteigt  sich  zu  der  Behauptung:  „Die  Zeit  wird  kommen,  wo 
jeder  Patriot  es  als  seine  Pflicht  ansehen  wird,  nicht  im  Krieg  mög- 
lichst viel  Feinde  zu  töten,  sondern  im  Frieden  möglichst  wenig 
Kinder  zu  zeugen."^ 

Noch  eine  Reihe  Momente  individueller  Natur,  die  sich  auf  Ge- 
sundheit der  Mütter  und  Kinder,  wirtschaftliche  Interessen  u.  a.  be- 
ziehen, sind  von  den  sog.  Neomalthusianisten  beigebracht  worden. 
Ich  kann  auf  sie  nicht  einzeln  eingehen.  Ihre  hohe  Bewertung  in 
Frankreich  kommt  zum  Ausdrucke  in  dem  bekannten:  »Ah  Tamour, 
l'amour  —  c'est  le  plaisir  d'un  jour  pour  le  regret  d'neuf  mois." 
Ihnen  wurden  ebensoviele  Bedenken  ethischer,  moralischer,  recht- 
licher Natur  entgegengehalten. 

Wir  sehen  Ansicht  gegen  Ansicht.  Jede  für  sich  gut  gestützt.  Wel- 
cher soll  der  Arzt  folgen,  wo  im  eigenen  Lager  Fehde  herrscht?  So 
stellt  Forel  die  Forderung,  man  solle  die  Zeugung  von  der  Befrie- 
digung des  Sexualtriebes  trennen  als  allgemeinberechtigt  auf,  während 
Saenger^)  sagt:  gut  geschultes  geburtshilfliches  Personal  wird  mehr 
zur  Gesundung  der  Frauenwelt  beitragen  als  die  Humanitätsbestre- 
bungen der  Neomalthusianer  .  .  .  Woferne  die  Frau  elend  ist  durch 
Schädigungen  im  Wochenbett,  so  gilt  es,  diese  zu  beseitigen.  Wofern 
sie  blaO  ist  infolge  Mangels  guter  Nahrung,  so  ist  es  Aufgabe  der 
Gesellschaft,  ihr  zu  helfen. 

1)  Zit.  nach  Kisch,  1.  c.  S.  420. 

2)  Zit.  nach  Kisch,  I.  c.  S:  425. 


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4t«  A.  Abiyer,  [18 

Wir  iuben  also  keine  Normen«  Im  eigenen  InBcra  mussea  wir 
die  Entscheidung  fär  unser  Handein  suchen.  »Wie  würde  ich  fir 
mich  ia  diesem  Falle  handeln?'',  das  ist  die  einzige  rerllfliiche  Ricbi- 
schaur. 

Daß  es  nicht  Sache  des  Arztes  sein  kann,  mit  einem  Rate  rein  die 
Bequemlichkeit  zn  unterstOtzen,  liegt  in  seinem  Berufe  begründet. 

Daß  er  aber  seinen  Rat  da  nicht  verweigert,  wo  die  Mutterschaft 
physische  Gefahren  bringt,  ist  eine  Pflicht,  die  ihm  eben  wieder 
sein  Beruf  auferlegt.  Wenn  es  einem  verkommenen  Verbrecher  von 
der  Straße  erlaubt  ist,  in  der  Notwehr  einen  hochverdienten  Mann  zo 
töten,  dann  muß  es  einer  Frau  erlaubt  sein,  durch  Verhinderung  der 
Schwangerschaft  ihr  Leben  zu  retten. 

Schwerer  ist  die  Frage  zu  beantworten,  ob  auch  soziale  Rfick- 
sichten  den  Arzt  bestimmen  sollen,  antikonzeptionelle  Mittel  anzu- 
raten« Kisch  lehnt  das  rundweg  ab.  Es  sei  Sache  der  Nationalöko- 
nomen, da  zu  helfen. 

Wenn  es  sich  nur  um  soziale  Momente  handelt,  dann  gehen 
sie  den  Arzt  als  solchen  nichts  an;  darin  muß  man  Kisch  beipflichten. 
Aber  wie  oft  sind  Armut,  schlechte  Ernährung,  mangelhafte  Gesund- 
heit, ausgehungerte,  elende,  widerstandslose  Kinder  zusammen  ver- 
gesellschaftet! Da  berOhren  sich  die  Indikationen  des  Arztes,  des 
Hygienikers,  des  Rassenhygienikers  und  des  Nationalökonomen  oft  so 
eng,  daß  man  sie  unmöglich  trennen  kann. 

Ich  kann  auf  die  uns  zu  Gebote  stehenden  Mittel  zur  Erreichung 
äer  fakultativen  Sterilität  leider  nicht  mehr  eingehen.  Sie  sind 
zum  Teil  in  den  oben  abgehandelten  Sterilitatsursachen  schon  ge- 
nannt und  zerfallen  in: 

A.  physiologische, 

B.  artifizieile. 

Unter  den  physiologischen  wäre  zu  nennen  die  gäozUche sexuelle 
Abstinenz,  wie  sie  Tolstoi  in  seiner  Kreutzersonate  predigt,  die  zeit* 
wellige  sexuelle  Abstinenz  nach  Capellmann  und  Gohnstein,  die  auf 
ein  zeitliches  Konzepiionsoptimum  Rücksicht  nimmt.  Dieses  besteht 
nach  Capelloiann  vor  und  nach  der  Menstruation  und  nachCokn- 
stein,  wie  erwfihnt,  zu  bestimmten,  ffir  jede  Frau  verschiedeaca 
Jahreszeiten,  die  sich  nach  dem  Mpoate  der  froheren  Geburten  be- 
rechnen Jiassen.  Allein  das  hat  sich  nicht  bestätigt  und  das  CapeU- 
mannsche  Verfahren  ist  zum  mindesten  unzuverlässig. 

Die  häufige  Amenorrhoe  und  seltene  Konzeption  während  der 
Laktation  ist  bekannt.  Man  empfahl  darum,  die  Männer  sollen  durch 
Saugen  an  der  Brust  die  Laktation  wachhalten  und  so  Sierilitäl  känsdicb 


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19]  Ober  Sterllkät.  417 

henromifeii«  ÄUeia  a^ch  dea  amesteii  Unierstichiuicco  von  Heil 
kommt  der  Laktation  nur  etwa  in  50%  Ameftorrhöe  ra  und  tatsächlich 
imten  vir  trotz  Laktttioo  crneiice  Koüztpüon  aichi  so  seiften. 

An  die  Bedeuciiiig  der  Nahrung  und  des  Ofigasmtis  des  Weibes 
habe  ioh  schofl  eriaaert. 

Die  artifiziellen  Mittel  xerfattea  in  ttecbaaisciie,  chemische 
oad  operatire. 

Die  ersten  fibergebe  idi  ganz. 

Die  chemischen  Mittel  bestehen  in  medikamentösen  SpHÜnngen* 
Sie  soUea  entweder  die  Spermatozoea  direkt  alMoten  oder  physikalisdi 
sie  eliminieren  durch  Wegschwemmen. 

An  operativer  SteriUaieruiic  haben  wir  schon  die  Zerquetschung 
der  Ovarien  kennen  gelemt.  Ob  seiner  ioUen  Ungeheuerlichkeit  er- 
wähae  ich  den  Vorsdilag  Weiaholds«  man  solle  dea  jungen  Mädchen 
die  Gealtalien  bis  zur  Heirat  durch  eine  metallische  Verslegelnng  ab- 
tdiliefiea.  Das  erianert  mü  die  bei  gewissen  Völkern  fibliche  Infiba- 
Itdtm  £«im  Schutze  der  Keuschheit 

Praktisch  diskumbel  sind  der  künstliche  Abort,  die  Castratio 
uterina  darch  Verschorfung  des  Endometriums  nach  Pinciis,  die 
K^astrattoti,  gdegeadich  die  Uterusexstirpatioa  unter  Bdassnng 
der  Ovarien*  Von  der  Castraiio  uterina  ist  nicht  viel  zu  isaltea;  sie 
ist  uaEaverlassig  nad  gefährlich.  Für  die  anderen  Methoden  l>edarf  es 
beaiaderer  Indikacionea,  die  sich  nach  dea  iSesonderhdien  des  Eineel- 
Ules  richten. 

Das  eigentliche  Verfahren  ist  die  Durchtrennung  der 
r«ben,  die  Tubensterilisatioo.  Schon  seit  längerer  Zeit  beiunnt^ 
hat  Kehrer  sie  besonders  empföhlen.  liire  ladikatioassteiluag 
stellt  die  größten  Anforderungen  an  das  ärzdiche  Verantwortlichkeits- 
bewußtsein. Man  darf  nicht  vergessen:  der  Eingriff  ist  doch  nicht 
ganz  ungefährlich;  die  Konzeptionsfähigkeit  ist  dauernd  zerstört,  die 
vorhandenen  Kinder  können  sterben  und  die  Reue  kommt  zu  spät 
Namhafte  Gynäkologen,  wie  Koßmann,  lehnen  sie  daher  ganz  ab. 
Kehrer  selbst  ließ  sie  nur  zu  nach  gründlicher  Belehrung  der  Ehe- 
gatten, nach  Beratung  mit  dem  Hausarzte,  nach  schriftlicher  Fesdegung 
der  Situation,  wenn  Schwangerschaft  oder  Geburt  der  Gesundheit  der 
Frau  Schaden  bringen. 

Es  gibt  auch  Operateure,  die  aus  rein  sozialen  Momenten  die 
Tubensterilisation  ausführen  und  die  Genesung  garantieren.  Jedoch 
die  Möglichkeit,  sich  auch  anders  zu  helfen,  die  eventuelle  Gefahr 
der  Operation,  um  deretwillen  sie  zum  Teil  nicht  gewünscht,  zum 
Teil  vom  Arzt  abgelehnt  wird,  machen  die  Tubensterilisation  aus 
Gründen  sozialer  Natur  zu  einer  seltenen  Operation.    Garantien  aber» 


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418  A.  Mayer.  [20 

Wie  die  genannten^  halte  ich  für  falsch  und  unerlaubt.  Man  kann  in 
der  Medizin  nichts  garantieren. 

Sie  sind  geeignet,  ein  leichtsinniges  Verlangen  nach  der  Operation 
wachzurufen  und  bringen  dann  den  Arzt  nur  in  Verlegenheit,  da  er 
ein  solch  unbegründetes,  leichtsinniges  Trachten  nach  künstlicher 
Sterilisierung  ablehnen  muO;  denn  selbstverständlich  muß  sich  das 
ärztliche  Gewissen  gegen  den  Mißbrauch  der  Tubensterilisiening 
kehren.  Dies  wird  freilich  nicht  allzuoft  der  Fall  sein,  da  einesteils 
der'^EntschluO,  sich  operieren  zu  lassen,  anderenteils  das  Bewußtsein 
der  dauernden  Unfruchtbarkeit  den  Wunsch  nach  der  Operation  nur 
selten  aufkommen  lassen. 

Aus  diesem  Grunde  wird  es  daher  kaum  dahin  kommen,  daß  der 
Staat  an  der  Tubensterilisation  Interesse  hat,  ähnlich  wie  an  der  absicht- 
lichen Verstümmelung  zum  Zwecke  der  Militärdienstuntauglichkeit 

M.  H.  Wir  haben  eine  Summe  Momente  kennen  gelernt,  die  Steri- 
lität verursachen,  die  gleichzeitig  zum  großen  Teil  eine  Konzeption 
für  Mutter,  Kind,  Familie  und  Staat  auch  gar  nicht  wünschenswert 
erscheinen  lassen.  Angesichts  ihrer  wird  oft  die  Sterilität  als  ein 
Glück  zu  betrachten  sein  und  sich  manchesmal  der  Wunsch  r^en, 
daß  die  Heirat  nicht  die  einzige  Karriere  des  Mädchens  wäre,  ohne 
die  sie  sonst  brotlos  ist.  Wir  haben  soeben  ein  Gebiet  verlassen,  das 
an  den  sitdichen  Ernst  des  Arztes  und  an  seine  Kunst,  zu  individuali- 
sieren die  größten  Anforderungen  stellt.  Feste  Normen  gibt  es  niciit 

Die  einzige  Richtschnur  für  sein  Handeln  trägt  der  Arzt  in 
seiner  eignen  Brust.  Und  da  zeigt  sich  dann  so  recht  das  Homersclie 
„{Y|Tpo;  Yotp  eivYjp  TcoXXtiv  äv  TaSto?  aX>v(i)v**  und  das  Billrothsche  Wort: 
i,nur  ein  guter  Mensch  kann  ein  guter  Arzt  sein"^. 


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Literatur. 

Adler,  Die  mangelhafte  Geschlechtsempfindung  des  Weibes. 
Bebe],  Die  Frau  und  der  Sozialismus. 

Beigel,  Pathologische  Anatomie  der  weiblichen  Unfruchtbarkeit.    II.  Aufl.    Braun- 
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Blaschko,   Die  Verbreitung  der  Geschlechtskrankheiten.    Mittl.  d.  Deutsch.  Ges. 

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Geschlechtskrankheiten  1907,  VI,  S.  5. 
Bloch,  Sexualleben  unserer  Zeit.    Berlin  1907. 
Capellmann,  Die  Pastoralmedizin. 
Chrobacky  Ober  künstliche  Sterilisierung.    Zentralbl.  f.  Gyn.   1905,  S.  642  dort 

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Cohn stein.  Ober  PrSdilektionszeiten  der  Schwangerschaft  und  Sterilität.     Arch. 

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Doctor,  Ist  die  Syphilis  eine  schwerere  Krankheit  als  der  Tripper?    ZentralbL  f. 

Gyn.  1905,  Nr.  48,  S.  1471. 
Erb,  Zur  Statistik  des  Trippers  beim  Manne  usw.    Münch.  med.  Wochenschr.  1906, 

Nr.  48,  S.  2329  u.  Mfinch.  med.  Wochenschr.  1907,  Nr.  31,  S.  1526. 
V.  Ehrenfels,  Sexualethik.    Wiesbaden  1907. 

Ferdy,  Hans,  Die  Mittel  zur  Verhütung  der  Konzeption.    Berlin  1892. 
Finger,  Pathologie  und  Therapie  der  Sterilität  beider  Geschlechter.    Leipzig  1896. 
Foerster,  F.  W.,  Sexualetbik  und  Sexualpädagogik.    Eine  Auseinandersetzung  mit 

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Frtenkel,  Ernst,  Klinische  Beiträge  zur  Pathologie  und  Therapie  der  weiblichen 

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Fraenkel,  L.,  Die  Funktion  des  Corpus  luteum.    Arch.  f.  Gyn.  1903,  Bd.  68. 
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Haeberlin,  Ober  Indikation  und  Technik  der  operativen  Sterilisierung  usw.  Mediz. 

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Key,  Ellen,  Ober  Liebe  und  Ehe.    Berlin  1904. 

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Noeggerath,  Die  latente  Gonorrhöe  usw.    Bonn  1872. 

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Proelß,  Sera,  Das  Eheproblem  und  die  neue  sexuelle  Ethik.    Berlin  1907. 

Rutgers,  Rassenverbesserung.  Mahkmtoiamus  und  Neumalthusianismus.  Ober- 
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Sarwey,  Ober  Indikation  und  Methode»  der  fakultativen  Steriliaierung  der  Frau. 
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Schenk,  Die  Pathokogie  und  Therapie  der  Unfruchtbarkeit  des  Weibes.  Berits 
.1903;  dort  weitere  Literatur. 

Senator  und  Kaminer,  Krankheiten  und  Ehe.    München  1904. 

Straßmano,  P.,  Ober  Sterilität.  Deuucbe  Kliaik  am  Eing^m«  des  20.  Jahrkundertl. 
Bd.  9. 

v.  Szoelloesy,  Mann  und  W«ib.    Wurzburg  1908^ 

Torkel,  SterilitSt  des  Weibes.  Monatsschr.  f.  Geb.  u.  Gyn.  1907^  S.  381;  dort 
weitere  Literatur. 

Weber,  Marianne,  Beruf  und  Ehe.    Berlin-Schöaeberg  I90& 


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500/01  • 

(Innere  Medizin  Nr.  147/48.) 

Ober  kardiopulmonale  Geräusche.') 

Von 

Prof»  Hermann  Müller^ 

Zurieb. 


Errando  discimus.  —  Die  eigenen  Fehler  und  die  Fehler  anderer 
sind  in  der  Kunst  der  Diagnostik  unsere  besten  Lehrmeister.  Es 
sind  jetzt  16  Jahre  her,  daß  ich  zum  erstenmal  so  recht  eindringlich 
auf  eine  Art  von  Herzgeräuschen  aufmerksam  wurde,  welche  schon 
unzählige  Male  Anlaß  zu  Fehldiagnosen  gegeben  hat  und  tagtäglich 
noch  gibt. 

Im  Mai  1890  kam  in  meine  Behandlung  der  14jährige  Jungling  Albert  B.,  Höscb- 
gasse  45  Zürich  V.  Sohn  eines  Ktifermeisters.  Der  Jüngling  hatte  in  der  Primarschule 
Masern  und  Scharlach  durchgemacht  und  war  in  den  letzten  Jahren  sehr  viel 
leidend;  er  var  streng  gewachsen,  hatte  hSuflg  Nasenbluten  und  wurde  von  ver- 
schiedenen Ärzten  behandelt.  Im  Winter  1889/90  hatte  er  sehr  viel  die  Schule 
▼ersftumty  wollte  nie  arbeiten.  —  Bei  meinem  ersten  Besuche  am  3.  V.  1890  war 
Pat  bettlägerig,  klagte  über  große  Müdigkeit,  über  häufiges  Herzklopfen  und  zeit- 
weise Atemnot.  Die  Untersuchung  ergab  normale  Gesichtsfarbe,  gute  Ernährung, 
keine  Anämie.  Die  Herzdämpfung  schien  etwas  vergrößert  zu  sein,  die 
Unke  Grenze  war  wenig  außerhalb  von  der  Mammillarlinie  und  die  rechte  ganz 
venig  außerhalb  vom  rechten  Sternalrand,  An  der  Herzspitze  hörte  ich  ein  lautes 
blasendes,  systolisches  Geräusch  und  der  2.  Ton  an  der  Hörstelle  der 
Pnlmonalls  war  sehr  deutlich  akzentuiert. 

Die  Unterstichung  der  übrigen  Organe  ergab  normalen  Befund.  Vom  3.  bis 
19.  Mai  besuchte  ich  den  Pat.  im  ganzen  7  mal,  untersuchte  jedesmal  das  Herz  und 
hörte  ein  allerdings  nicht  immer  gleichlautes  systolisches  Geräusch  an  der  Mitra- 
lis. Ich  erklärte  der  Mutter,  daß  ich  ein  Geräusch  am  Herzen  höre  und  annehmen 
müsse,  daß  eine  Herzklappe  nicht  vollkommen  schließe,  und  daß  der  leichte  Herz- 
fehler wahrscheinlich  auf  den  überstandenen  Scharlach  zurückzuführen  sei.  —  Die 


1)  Nach  einem  Vortrage,  gehalten  an  der  LXXI.  Versammlung  des  ärztlichen 
Zentralvereins  in  Ölten  27.  Okt.  1906  und  in  der  Gesellschaft  der  Ärzte  von  Zürich 
23.  Febr.  1907, 

Klln.  Vortrigc,  N.  F.  500/01.  (Innere  Medizin  Nr.  I47/4a)  Sept.  1908.  22 


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310  Hermann  Müller^  [2 

Mutter  kann  beute  noch  erzählen,  daß  sie  damals  selbst  das  Obr  auf  die  ent- 
blößte Brust  gelegt  und  ein  „rauscbendes'*  GerSusch  wahrgenommen  habe.  Am 
19.  V.  wurde  Pat.  von  mir  entlassen  und  ich  sah  ihn  seither  nie  wieder.  —  Ich 
hatte  gar  keinen  Grund  an  der  Richtigkeit  meiner  Diagnose,  „ leichte  Insuffi- 
zienz der  Mitralis'',  zu  zweifeln,  denn  ich  hatte  mehrere  Male  sehr  sorgfiltig 
untersucht  und  es  schien  alles  zu  stimmen.  Da  erfuhr  ich  einige  Wochen  später, 
daß  der  Jungling  von  seiner  Mutter  noch  zwei  andern  Ärzten  zugeführt  wurde  and 
daß  beide  keinen  Klappenfehler  konstatieren  konnten;  der  eine  derselben  hat  mir 
das  im  2.  Akte  einer  ärztlichen  Gesellschaft  mitgeteilt.  Pat.  ist  seit  einigen  Jahren 
in  Amerika  verheiratet  und  befindet  sich  vollkommen  wohl.  Vom  Vater  habe  ich 
noch  vor  kurzer  Zeit  vernommen,  daß  anno  1890  vor  mir  4  Ärzte  seinen  Sohn  be- 
handelt hatten  und  daß  zwei  derselben  —  sehr  bekannte  Zürcher  Ärzte  —  eben- 
falls einen  Herzfehler  konstatiert  und  eine  kurze  Lebensdauer  vor- 
ausgesagt hatten. 

Der  Fall  hat  mich  zum  genauem  Studium  des  unerklärlichen  Herz- 
geräusches ^  das  ich  so  sicher  hörte  und  nicht  als  ein  akzidentelles, 
anämisches  Blasen  taxieren  konnte^  und  das  zwei  andere  zuverlässige 
Beobachter  nach  mir  nicht  mehr  hörten,  angeregt.  In  den  folgenden 
Jahren  sind  mir  nun  eine  ganze  Anzahl  ähnlicher  Fälle  vorgekommen, 
wo  andere  Ärzte  die  gleiche  Fehldiagnose  machten,  die  mir  passiert 
war.  So  habe  ich  mehrere  junge  Männer  untersucht,  die  geängstigt 
zu  mir  kamen,  weil  sie  wegen  Herzfehler  militärfrei  wurden,  trotzdem 
sie  noch  nie  irgendwelche  Beschwerden  hatten.  Bei  der  Untersuchung, 
die  bei  der  militärischen  Ausmusterung  in  stehender  Position  yo^g^ 
nommen  worden  war,  sei  ein  lautes  Geräusch  am  Herzen  gehört 
worden.  Ein  anderes  Mal  stellte  sich  bei  mir  ein  Herr  zur  Unter- 
suchung ein,  der  wegen  Herzfehler  nicht  in  die  Lebensversicherung 
aufgenommen  wurde.  Und  einmal  konsultierte  mich  eine  Frau,  bei 
der  nach  vorhergehender  Untersuchung  durch  zwei  Ärzte  Herzfehler 
konstatiert  und  deshalb  der  künstliche  Abortus  eingeleitet  worden  war. 
Alle  hatten  keinen  Herzfehler. 

Ein  besonders  klassischer  Fall,  der  mir  unvergeßlich  bleiben  wird, 
war  im  Jahre  1807  lange  in  meiner  Beobachtung. 

Herr  Max  M.,  geb.  17.  VII.  1879  Zürich  V,  ist  der  einzige  Sohn  ans  neoropatfaisch 
starlL  belasteter  Familie.  Eine  Tante  väterlicherseits  ist  seit  vielen  Jahren  hoch- 
gradig hysterisch,  ich  hatte  sie  selbst  vor  Jahren  vorübergehend  an  nenröser 
Stenokardie  behandelt,  und  eine  andere  Tante,  in  deren  Familie  ich  seit  langer  Zeit 
Hausarzt  bin,  war  einmal  mit  angioneurotischem  ödem  des  Gesichtes  behaftet  Der 
Vater  hat  schon  öfter  schwere  Attacken  von  Gelenkneuralgien  durchgemacht  ood 
der  junge  Mann  selbst  litt  mehrere  Male  an  sehr  schmerzhaften  Gelenkaffektiooen, 
die  ich  unbedingt  ffir  neuralgisch  erklären  mußte.  — 

Am  20.  Mai  1896  wurde  ich  mittags  12  Uhr  zum  Pat.  gerufen  wegen  heftigsten 
Schmerzen  in  der  Umgebung  des  Nabels  —  da  alle  andern  Erscheinungen  fehlten, 
hielt  ich  den  Anfall  für  eine  Neuralgie.  —  Von  da  an  sah  ich  den  Pat.  nicht  mehr 
bis  am  8.  Jan.  1897.  8.  Jan.  vormittags  nach  einem  raschen  Gange  plötzlich 
heftige  Schmerzen   in   der   linken  Schulter,  Beengung   auf  der  Brost, 


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3]  Ober  kardiopulmonale  Geräusche.  311 

Jieftigstes  Herzklopfen.  II  Uhr  45  mein  erster  Besuch  —  kein  Fieber, 
auffallend  starker,  erschütternder  Herzstaß,  Puls  100,  kräftige,  reine  Herztöne. 
—  Abends  8  Uhr  2.  Besuch.  Den  ganzen  Tag  ül>er  var  das  Herzklopfen 
wiederholt  für  die  Umgebung  und  den  Fat  ä  distance  hörbar,  manchmal 
dabei  ein  „eigentümlich  knackendes  Geräusch**  —  „wie  wenn  der  Wind 
in  feuchte,  aufgehängte  Wäsche  bläst^;  daher  die  Meinung  des  Fat.  „daß  an  einer 
Herzklappe  etwas  sei**.  Abends  8  Uhr  höre  ich  in  der  Nähe  der  Herzspitze  etwas 
inner-  und  oberhalb  von  derselben  ein  systolisches,  anstreifendes,  lecken- 
des Geräusch  —  wie  bei  Ferikarditis  —  habe  ich  in  meiner  sorgfältig  geführten 
Krankengeschichte  notiert.  Zu  gleicher  Zeit  habe  ich  mehrere  Male  auf  einige 
Fuß  Entfernung  ein  knackendes  Geräusch  gehört ,  „wie  wenn  2  Fingernägel 
übereinander  geknipst  werden^.  Das  Geräusch  war  auch  hörbar  beim  An- 
halten des  Atems  und  änderte  sich  nicht  bei  Lagewechsel.  Ein  solches 
Geräusch  hatte  ich  bisher  noch  nie  gehört.  Auf  der  Lunge  war  bei  sorgfältigster 
Untersuchung  nichts  Abnormes  zu  finden. 

9.  I.  1897.  Heute  den  Tag  über  wiederholt  das  auf  Entfernung  hörbare  Ge- 
räusch yon  der  oben  beschriebenen  Qualität. 

14.  L  Noch  Klage  über  große  Müdigkeit,  Herzklopfen  bei  der  leichtesten  Er- 
regung. Das  anstreifende  systolische  Geräusch,  das  am  8.  abends  zu  hören 
var,  habe  ich  bei  den  täglichen  Untersuchungen  nie  wieder  wahrge- 
nommen. 

17.  L  Abends  zwischen  6  und  6V2  Uhr  wieder  plötzlicher  Schmerz  in  der 
linken  Schulter,Schm  erzen  beim  Atmen,  heftigstes  Herzklopfen  und  während 
des  Nachtessens  am  Tische  laut  hörbares,  knackendes  Geräusch. 

19.  L  Letzte  Nächte  gut  —  heute  Herzaktion  ruhig,  Subjektivbeflnden  gut, 
keine  Schmerzen,  kein  Herzklopfen. 

Im  Laufe  des  Februar  sah  ich  den  Fat.  nur  2  mal  in  meiner  Sprechstunde,  das 
letzte  Mal  am  17.  —  jedesmal  ganz  normaler  Herzbefund. 

Am  3.  März  kommt  Fat.  wieder  in  meine  Sprechstunde;  er  klagt  über  Herz- 
klopfen und  Schmerzen  in  der  Herzgegend,  die  sich  ab  und  zu  noch  einstellen. 
Bei  der  Untersuchung,  die  ich  diesmal  nur  in  stehender  Fosition  vornahm,  fand 
ich  normale  Herzdämpfung  und  vollkommen  reine  Töüe  und  erklärte  dem  Fat., 
was  ich  schon  so  oft  erklärt  hatte,  daß  ich  die  Krankheit  unbedingt  für 
eine  Neurose  halte.  — 

Am  6.  März  1897  ging  der  Vater  mit  seinem  Sohne  in  die  Sprechstunde  zu 
einem  andern  Arzte  A.;  derselbe  untersuchte,  hörte  am  Herzen  ein  Geräusch,  er- 
klärte die  Krankheit  für  eine  Herzbeutelentzündung  und  stellte  dem 
Vater  gegenüber  eine  ernste  Frognose.  Zur  Sicherstellung  seiner  von  der  meinigen 
so  stark  abweichenden  Diagnose  schickte  der  betreffende  Kollege  den  Fat.  direkt  zu 
einem  dritten  Arzte  (B),  derselbe  hörte  ebenfalls  ein  Herzgeräusch,  das 
von  einer  Herzbeutelentzündung  herrühre,  und  kritisierte  in  höchst  unkollegialer 
Art  meine  ungenügende  Untersuchung.  Die  beiden  Herren  Kollegen  haben 
den  Fat.  nur  im  Stehen  untersucht;  wer  aber  in  einem  schwieriger  deut* 
baren  Falle  bei  der  Herzuntersuchung  die  Vorsicht  unterläßt,  einen  Kranken  ab- 
wechselnd im  Stehen  und  Liegen  zu  untersuchen,  der  beweist,  daß  er  in  der  Herz- 
diagnostik nicht  sonderlich  bewandert  ist,  und  hat  kein  Recht,  die  nach  langer 
sorgfältiger  Beobachtung  eines  andern  gemachte  Diagnose  über  den  Haufen  zu 
werfen,  zumal  wenn  es  sich  um  eine  einzige,  erste  Untersuchung  handelt.  —  Am 
gleichen  Abend  (6.  III.  1897)  kam  der  Vater  in  größter  Aufregung  zu  mir  in  die  Foliklinik, 
da  sein  Sohn   nach   dem  Befunde  zweier  Ärzte   eine  Herzbeutelentzündung  habe; 

22* 


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312  Hermann  Muller,  [4 

er  brachte  mir  einen  Brief  des  einen  (A)  mit,  worin  mir  derselbe  schrieb :  „Herr  M. 
Vater  hat  mich  heute  morgen  wegen  seines  Sohnes  Max  iLonsultiert.  Der  Vater  sagte 
mir,  daß  Sie  die  Krankheit  für  eine  Herzneurose  erklärt  hStten.  Leider  kann  ich 
mich  dieser  Diagnose  nicht  anschließen,  ich  glaube  eher,  daß  es  sich  hier  um 
perikardistische  Geschichten  (ev.  Verwachsung  des  Perikards)  handelt  und  bin  der 
Meinung,  daß  beim  Pat.  Bettruhe  für  längere  Zeit  geboten  ist.  ...  Sie  verzeihen, 
daß  ich  Ihnen  bestimmte  therapeutische  Vorschläge  mache,  ich  fürchte  aber,  daß 
bei  ambulanter  Behandlung  des  Pat.  schlimmere  Dinge  sich  entwickeln  könnten.* 
-*  Ich  habe  dem  Vater  erklärt,  daß  ich  trotz  alledem  an  meiner  Diagnose  „Herz- 
neu  rose**  festhalte  und  habe  noch  am  gleichen  Abend  den  Pat.  besucht  und  wieder 
untersucht  —  im  Liegen  und  im  Stehen  —  und  habe  kein  Geräusch  mehr  ge- 
hört —  auch  nicht  beim  Vomüberbeugen  des  Rumpfes,  und  nicht  bei  starkem 
Aufdrücken  des  Stethoskopes. 

Auf  Wunsch  der  Eltern  habe  ich  den  jungen  Mann  von  da  an  wieder  täglich 
besucht,  bei  jedem  Besuche  sorgfältig  untersucht  und  ich  habe  nichts  gefunden, 
was  für  Perikarditis  verdächtig  gewesen  wäre. 

7.  III.  und  folgende  Tage  —  Herzaktion  ruhig,  Herzstoß  im  5.  I.  R.  in  der  Pa- 
rasternallinie,  kräftig,  eng  umgrenzt,  ideal  reine  Herztöne.    Puls  56—60. 

Am  12.  März  hat  auf  meinen  ausdrücklichen  Wunsch  ein  vierter  Arzt  (C),  ein 
ausgezeichneter  Kenner  der  physikalischen  Untersuchungsmethoden,  den  Pat  ganz 
objektiv,  ohne  von  dem  Vorhergegangenen  nur  eine  Silbe  gehört  zu  haben,  unter- 
sucht und  in  einem  ausführlichen  schriftlichen  Befunde  konstatiert,  „daß  das  Herz 
bei  Herrn  Max  M.  absolut  normal  sei**.  Diesen  Befund  und  meine  ausfuhrliche 
Krankengeschichte  habe  ich  dem  Kollegen  A  sofort  zur  Einsicht  zugeschickt  Da- 
rauf schrieb  er  mir  am  13.  III.  1897.  „Auch  nach  dem  Berichte  von  C  kann  ich 
unmöglich  den  Fall  als  Herzneurose  auffassen;  ich  halte  vielmehr  trotzdem  an 
einer  Affektion  des  Perikards  fest^  Natürlich  habe  ich  es  jetzt  aufgegeben,  noch 
weitere  Belehrungsversuche  zu  machen. 

Am  18.  in.  habe  ich  notiert:  Heute  ist  sehr  schön  die  pendelartige  Be« 
wegung  des  Herzens  nach  rechts  zu  beobachten —  auch  das  spricht  ganz 
gegen  Synechien  des  Herzbeutels.  —  Ich  habe  den  Pat  auch  röntgenisieren  lassen 
—  damals  noch  von  Prof,  Pernet  im  physikalischen  Institut  des  Polytechnikums  und 
habe  absolut  nichts  für  Perikarditis  Verdächtiges  gefunden. 

Am  18.  und  19.  III.  ließ  ich  den  Pat  einen  kurzen  Spaziergang  machen  —  am 
19.  III.  nach  dem  Spaziergange  10  Uhr  30  vormittags  wieder  stenokardischer 
Anfall  —  Müdigkeit  in  der  linken  Schulter,  Schmerzen  in  der  Herzgegend  und 
unter  dem  linken  Schulterblatte,  ausstrahlend  in  den  ganzen  linken  Arm,  lautes 
Stöhnen;  Angstgefühle,  dabei  sehr  starkes  Herzklopfen  und  auf  Entfernung  hör- 
bares, eigentümliches,  schwer  zu  beschreibendes,  mit  dem  Pulse 
zusammenfallendes  Geräusch.  Bei  meiner  Ankunft  12  Uhr  5  Anfall  vorbei 
-^  ruhige  Herzaktion,  reine  Töne. 

Am  10.  IV.  aus  der  Behandlung  entlassen. 

13.  V.  1897  rasch  vorübergehender  Anfall. ^vpn  Schmerzen  im  Abdomen. 

Ende  Dezember  1897  akqulrierte  Pat  in  einem  neuen  ateno  kardischen 
Anfall  ein  präcordiales  Emphysem  (von  Dr.  S.  meine  Diagnose  bestätigt)  und 
wurde  davon  vollständig  geheilt  (siehe  Dissertation  von  Hermann  Suter,  med. 
pract  von  Zürich). 

Mitte  Oktober  1898  waren  die  Eltern  mit  ihrem  Sohne  auf  der  Rückreise  von 
Berlin  bei  Erb  in  Heidelberg;  derselbe  diagnostizierte  „Herzneurose". 


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5]  Über  kardiopulmonale  Geräusche.  313 

Dezember  1808  —  noch  einmal  kurzdauernder  Schmerzanfall  auf  der  Brust 
Herztöne  kräftig,  rein.  Febr.  1900  —  heftige  Supraorbitalneuralgie.    (Influenza.) 

1901  nur  2 malige  Untersuchung,  normaler  Herzbefund. 

1.  VIII.  1902  kommt  von  Berlin  und  reist  mit  den  Eltern  nach  Tarasp. 

1.  Jan.  1903  heftige  Gesichtsneuralgie. 

20.  Jan.  Untersuchung  des  Herzens  —  normaler  Befund,  nur  Puls  sehr  labil, 
Pat  hat  schon  in  Berlin  Schwankungen  von  45  bis  130  selbst  konstatiert,  seht* 
starker  Abusus  tabacci  —  Zigaretten. 

23.  1.  den  ganzen  Tag  Schmerzen  in  .der  Herzgegend,  Puls  schwankt  zwischen 
40  und  70,  selten  ein  Schlag  aussetzend. 

25.  I.  1903  Befinden  ganz  gut,  Puls  beim  Liegen  40,  beim  Stehen  48. 

28.  I.  verreist  wieder  nach  Berlin. 

Im  Septemb.  1906  habe  ich  den  Pat.  das  letzte  Mal  gesehen  und  untersucht. 
Das  Herz  verhält  sich  ganz  ruhig  und  ist  ganz  normal.  Pat.  ist  zur  Zeit  als  Dr. 
jur.  in  Paris  tätig. 

Ich  habe  mich  etwas  lange  bei  dieser  interessanten  Krankengeschichte 
aufgehalten,  weil  ich  aus  meiner  langjährigen  Tätigkeit  keinen  Fall 
kenne,  der  so  drastisch  illustriert,  wie  vorsichtig  man  in  der  Beurtei- 
lung von  Herzgeräuschen  sein  muO.  Keiner  der  zahlreichen  seither 
von  mir  beobachteten  Fälle  zeigt  so  prägnant,  welche  große  praktische 
Bedeutung  die  Unterscheidung  der  sog.  akzidentellen  Geräusche  von 
den  organischen,  auf  anatomischer  Veränderung  des  Zirkulationsappa- 
rates beruhenden,  hat.  —  Jeder  hat  sein  Steckenpferd;  das  meinige 
ist  von  jeher  die  physikalische  Diagnostik  gewesen,  ein  Erbe  meines 
verehrten,  ersten  Chefs  Biermers,  des  bekannten  Meisters  physika- 
lischer Diagnostik.  Als  Assistent  von  Biermer  (1872 — 74)  und  nach- 
her als  Sekundärarzt  von  Huguenin  (1874—79)  habe  ich  während 
61/2  Jahren  viele  Kurse  über  physikalische  Untersuchungsmethoden 
erteilt  für  Anfänger  und  für  Vorgerücktere,  und  als  Direktor  der  Poli- 
klinik habe  ich  mich  von  jeher  mit  Vorliebe  mit  der  Pathologie  des 
Kreislaufs  beschäftigt;  seit  vielen  Jahren  halte  ich  auch  in  der  Poli- 
klinik Übungen  in  der  physikalischen  Diagnostik  und  so  bin  ich  all- 
mählich in  den  Ruf  gekommen,  Spezialist  für  Herzkrankheiten  zu  sein 
und  infolgedessen  sind  mir  schon  seit  Jahren  mehr  und  mehr  solche 
Fälle  zugekommen,  wo  scheinbar  unerklärliche  Herzgeräusche  gefunden 
werden  konnten  oder  gefunden  worden  waren.  Ich  habe  lange  nach 
einer  Erklärung  gesucht,  aber  keine  gefunden. 

Da  bin  ich  endlich  aufmerksam  geworden  auf  das  klassische  Werk 
des  berühmten  französischen  Klinikers  Potain.  Es  war  im  Spätherbst 
des  Jahres  1890,  als  ein  Volontärarzt  in  der  Poliklinik  ein  ISjähriges, 
noch  nicht  menstruiertes  Mädchen,  das  allerlei  zu  klagen  hatte,  Atem- 
not, Herzklopfen  usw.  untersuchte  und  an  der  Hörstelle  der  Pulmo- 
nalis  ein  systolisches  und  diastolisches  blasendes  Geräusch 
gehört  hatte,  das  in  ihm  den  Verdacht  auf  Insuffizienz  der  Pulmonal- 


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314  Hermann  Müller,  [6 

klappen  aufkommen  lieO.    Er  übergab  mir  die  Patientin  zu   näherer 
Untersuchung,  und  da  kam  ich  dazu,  einen  Herzklappenfehler,  speziell 
die  von  vornherein  so  ganz  unwahrscheinliche  Schlußunfahigkeit  der 
Pulmonalklappen  mit  Sicherheit  auszuschließen.    Bei   der   Fast   eine 
ganze  Stunde  dauernden  Untersuchung  fiel  mir  ein  ganz  ungewöhn- 
licher Wechsel  der  Geräusche  auf  —  ein  fortwährendes  Kommen  und 
Verschwinden  und  eine  merkwürdige,  zum  Teil  mit  der  Atmung  zu- 
sammenhängende Veränderung   der   Geräusche,   besonders   nachdem 
das  Mädchen  längere  Zeit  auf  dem  Untersuchungsbette  ausgeruht  hatte. 
Ich  hatte  den  jungen  Kollegen  auf  diesen  auffallenden  Wechsel  und 
auf  das  vollständige  Fehlen  von  den  Folgeerscheinungen  eines  Klappen- 
fehlers aufmerksam  gemacht  und  habe  dann  erfahren,  daß  die  bei  dem 
jungen  Mädchen  gehörten  Geräusche  offenbar  die  von  Potain  be- 
schriebenen kardiopulmonalen  [k.  p.]  Geräusche  sein  müssen,  welche 
nicht  im  Herzen,  sondern  in  der  Lunge  entstehen.    Von  dem  Inhalte 
des  Potain  sehen  Werkes  habe  ich  bis  zum  Winter  1902/03  allerdings 
nichts  anderes  gewußt,  als  daß  Potain   die  bisher  für  unerklärlich 
geltenden  Herzgeräusche  (und  überhaupt  alle  sog.  anorganischen  Ge- 
räusche) für  kardiopulmonale  erklärt.    Ich  habe  seit  dem  Jahre  1899 
emsige  Herzuntersuchungen  gemacht  und  habe  geglaubt,  manche  Ent- 
deckung als  der  erste  gemacht  zu  haben  und  fand  dann  bei  genauer 
Einsicht  in  das  Potain  sehe  Werk  die  meisten  meiner  Entdeckungen 
bereits  gemacht.    Die  leihweise  Überlassung  des  Werkes,  das  auf  der 
hiesigen  Bibliothek  nicht  zu  haben  war  und  im  Buchhandel  vergriffen 
ist,  verdanke   ich   dem  Kollegen  Minnich  von  Zürich.     Zu  Anfang 
des  Jahres  1903   habe   ich   alle  meine  bis  dahin  gesammelten  Fälle 
einem  Doktoranden,  Otto  Brunner  von  Laupersdorf,  zur  Bearbei- 
tung übergeben.    Seine  erste  und  Hauptaufgabe  war  die  Übersetzung 
von  Potain.    Im  Sommer  1903  ist  die  Doktordissertation  erschienen 
und  am  14.  klinischen  Ärztetag  in  Zürich  (14.  VII.  1903)  habe  ich  einen 
Vortrag  über  meine  damaligen  Erfahrungen  gehalten. 

Ich  hatte  an  jenem  Tage  gerade  die  günstige  Gelegenheit  1.  einen  Privat- 
patienten, einen  20jährigen  russischen  Studenten  vorzustellen,  der  im  vorher- 
gehenden Jahre  von  4  russischen  Militärärzten  untersucht  und  vegefl 
Klappenfehler  militärfrei  geworden  war  und  bei  dem  man  im  Stehen 
ein  lautes,  blasendes,  systolisches  Geräusch  an  der  Herzspitze  hören 
konnte,  das  unmittelbar  nach  dem  Abliegen  spurlos  verschwand  und 
2.  einen  poliklinischen  Patienten,  einen  20jährigen  Weber  vom  Lande,  der  an- 
geblich einen  Herzfehler  hatte  und  bei  dem  im  Liegen  ein  lautes,  systo- 
lisches Geräusch  an  der  Mitralis  zu  hören  war,  das  beim  Stehen  ganz  ver- 
schwand. (Jeder  der  Untersucher  konnte  sich  überzeugen  von  dem  ganz  prompten 
Erscheinen  und  Verschwinden  des  Geräusches  bei  Lagewechsel.) 

Das  Werk  Potains,  ein  Muster  aufmerksamer  Forschung,  ist  die 


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7]  Ober  kardiopulmonale  Geräusche.  315 

Frucht  einer  14jährigen  sorgfältigen  klinischen  Beobachtung,  die  er 
offenbar  gemeinsam  mit  seinem  Chef  de  clinique  H.  Vaquez  gemacht 
hat.  Bei  einer  Gesamtzahl  von  4300  Patienten  hat  Potain  380  Fälle 
mit  anorganischen  Geräuschen  beobachtet;  bei  44  Fällen  wurde  durch 
die  Sektion  festgestellt,  daß  keine  anatomische  Veränderung  der  Ent- 
stehung der  Geräusche  zugrunde  lag.  Bei  Männern  wurden  die  an- 
organischen Geräusche  in  6—9%,  bei  Frauen  in  11,55%  beobachtet. 
Potain  behandelt  in  eingehender  Weise  die  verschiedenen  Theorien, 
welche  bisher  (1894)  zur  Erklärung  der  anorganischen  Geräusche  auf- 
gestellt wurden,  er  widerlegt  dieselben  an  Hand  exakter  klinischer  und 
experimenteller  Untersuchungen  und  kommt  zu  dem  Resultate:  Die 
anorganischen  Geräusche  können  weder  durch  Hydrämie, 
Anämie,  noch  auch  durch  funktionelle  Insuffizienz,  nicht 
durch  nervöse  Störungen,  veränderten  Blutdruck  oder  durch 
veränderte  Strömungsgeschwindigkeit  entstehen,  sie  können 
nicht  im  Herzen  entstehen,  sie  müssen  außerhalb  des  Herzens 
ihren  Ursprung  nehmen,  und  da  sie  mit  den  perikarditischen 
(Potain)  und  pleuritischen  Geräuschen  nichts  gemeinsam 
haben,  müssen  sie  in  die  Lungen  verlegt  werden. 

Ich  muß  es  mir  leider  versagen,  auf  die  interessanten  Auseinander- 
setzungen und  die  nähere  Begründung  Potains  einzugehen,  und  ver- 
zichte auch  darauf,  alle  die  Theorien  zu  besprechen,  die  seit  dem 
Jahre  1894  von  deutschen  Autoren  über  die  sog.  funktionellen,  akzi- 
dentellen, anorganischen,  nervösen  Geräusche  aufgestellt  worden  sind. 
Die  meisten  derselben  sind  am  grünen  Tische  ersonnen  worden, 
manche  erscheinen  im  Dämmerlichte  von  sehr  schwachfüßigen  Not- 
hypothesen —  alle  hätten  das  Licht  der  Welt  gar  nicht  erblickt,  wenn 
die  Lehre  Potains  bekannt  gewesen  wäre.  Der  Deutung  besondere 
Schwierigkeiten  machten  von  jeher  die  anorganischen  Geräusche  an 
der  Hörstelle  der  Pulmonalis,  wo  nach  dem  übereinstimmenden  Urteil 
aller  Beobachter  ein  Lieblingssitz  der  akzidentellen  Geräusche  ist. 
Alle  Versuche,  die  Geräusche  an  der  Pulmonalis  [resp.  Hörstelle  der 
Pulmonalis]  zu  erklären,  sind  vollständig  gescheitert  und  nicht  mit 
Unrecht  hat  seinerzeit  v.  Ziemßen  die  Pulmonalgeräusche  als  ab- 
solut unerklärbar  bezeichnet. 

In  der  deutschen  medizinischen  Literatur  —  ich  glaube,  daß  mir 
keine  wichtigere  Arbeit  entgangen  ist  —  finden  wir  fast  nichts  über 
die  bedeutungsvolle  Arbeit  Potains,  nur  ganz  selten  und  beiläufig 
wird,  wenn  von  den  akzidentellen  Geräuschen  die  Rede  ist,  Potain 
zitiert,  so  finde  ich  z.  B.  im  neuesten  Lehrbuche  über  die  Krankheiten 
des  Herzens  und  der  Blutgefäße  von  Romberg  an  einer  Stelle  (S.  56), 
wo  von   den    Herzlungengeräuschen   die   Rede   ist,  die   beiläufige 


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316  Hermann  Müller»  [S 

Bemerkung:  »Potain  geht  aber  entschieden  zu  weit»  wenn  er  alle  akzi- 
dentellen Geräusche  als  Herzlungengeräusche  deutet."^  Dagegen  ist 
unsern  welschen  Kollegen  die  Potainsche  Lehre  sehr  wohlbekannt; 
ich  habe  noch  vor  kurzem  erfahren »  daO  die  Professoren  von 
Lausanne^  de  Cerenville  und  sein  Nachfolger  Bourget,  in  Vor* 
lesung  und  Klinik  auf  die  Souffles  cardiopulmonaires  ausführlich  zu 
sprechen  kamen. 

Am  Schlüsse  seiner  Arbeit  stellt  Potain  folgende  Thesen  auf: 

1.  Es  entstehen  in  der  Lunge  unter  dem  Einflüsse  der 
Herzbewegung  gewisse  lokalisierte  Atmungsgeräusche, welche 
den  Charakter  und  Rhythmus  von  Herzgeräuschen  annehmen. 

2.  Der  Mechanismus  dieser  Geräusche  konnte  in  exakter 
Weise  festgestellt  werden. 

3.  Diese  Geräusche  sind  richtige  blasende  Geräusche 
(souffles);  sie  haben  eine  groOe Ähnlichkeit  mit  den  Geräuschen 
bei  Klappenfehlern. 

4.  Dennoch  kann  man  sie  fast  immer  mit  Sicherheit  von 
denselben  unterscheiden  vermöge  ganz  bestimmter  Merk- 
male. 

5.  Diese  Merkmale  sind  zweierlei  Art;  die  einen  beziehen 
sich  auf  die  Eigenschaften  der  verschiedenen  Abarten  der 
Blasegeräusche,  die  andern  auf  das  gleichzeitige  Vorhan- 
densein oder  Fehlen  einer  organischen  Herzaffektion. 

6.  Von  allen  Eigenschaften,  welche  diese  Geräusche  haben, 
sind  die  wichtigsten  und  die  zur  Sicherung  der  Diagnose  am 
meisten  geeigneten  ihr  Sitz  und  ihr  Rhythmus.  Gestutzt 
darauf,  kann  man  die  kardiopulmonalen  Geräusche  mit  bei- 
nahe vollständiger  Sicherheit  erkennen. 

7.  Beinahe  sämtliche  der  bisher  sogenannten  anorgani- 
schen Geräusche  sind  Kardiopulmonalgeräusche. 

Nach  meiner  langjährigen  Erfahrung  schließe  ich  mich  in  den 
Hauptpunkten  der  Potainschen  Lehre  an,  besonders  aber  über  den 
Mechanismus  der  Entstehung  der  k.  p.  Geräusche  habe  ich, 
wie  wir  später  genauer  ausführen  werden,  eine  ganz  andere  Auf- 
fassung. 

Ich  habe  in  den  letzten  7  Jahren  in  meiner  Privatpraxis  184  Fälle 
beobachtet  (130  in  der  Sprechstunde  und  54  in  der  Hauspraxis),  bei 
welchen  k.  p.  Geräusche  gehört  werden  konnten.  Dazu  kommen  noch 
etwa  50  ausgewählte  Fälle  aus  der  Poliklinik.  Die  letztere  Zahl  ent- 
spricht natürlich  bei  weitem  nicht  der  wirklichen  Häufigkeit  des  Vor« 
kommens;  diese  ausgewählten  Fälle  sind  nur  solche,  wo  Herzfehler 


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Q]  Ober  kardiopulmonale  Geräusche.  317 

diagnostiziert  worden  waren  und  die  mir  von  den  Assistenzärzten  ent- 
weder zur  polilLÜnischen  Demonstration  oder  zur  genauen  Diagnose- 
stellung zugewiesen  wurden.  Unter  den  Fällen  meiner  Privatpraxis 
befinden  sich  nicht  weniger  als  31  (28  Schweizer,  2  Deutsche,  1  Russe), 
die  wegen  Herzfehler  militärfrei  geworden  sind.  Dazu  kommen  noch 
wenigstens  ein  halbes  Dutzend  poliklinischer  Patienten,  die  ebenfalls 
wegen  Herzfehler  militärfrei  wurden.i)  Bei  ca.  70  weiteren  Patienten 
meiner  Privatpraxis  wurde  von  andern  Ärzten  die  Diagnose  „Herz- 
fehler'^  gestellt.  —  Ich  habe  mehrere  Kandidaten  der  Medizin  oder 
junge  Ärzte  untersucht,  die  an  sich  selbst  einen  Herzfehler  diagnosti- 
ziert hatten,  und  mehrfach  habe  ich  Angehörige  von  Ärzten  —  meist 
junge  Leute  —  zur  Untersuchung  bekommen,  bei  denen  Herzfehler 
angenommen  worden  war.  Unter  den  obenerwähnten  70  Fällen  be- 
finden sich  vereinzelt  solche,  welche  nicht  in  eine  Lebensversicherungs- 
gesellschaft oder  nicht  in  eine  Krankenkasse  oder  nicht  in  den  Eisen- 
bahndienst aufgenommen  worden  waren,  oder  solche,  die  zu  irgend- 
einem andern  Zweck  ein  Gesundheitszeugnis  nötig  hatten,  wurden  mit 
der  Diagnose  «Herzfehler""  vom  untersuchenden  Arzte  überrascht. 
Einmal  hatte  ich  auch  für  die  kantonale  Frauenklinik  einen  Fall  zu 
begutachten,  der  wegen  Herzfehler  zur  Einleitung  des  Abortus  emp- 
fohlen worden  war.  Einmal  bekam  ich  auch  einen  Patienten  zu  unter- 
suchen, der  angeblich  in  Nauheim  glücklich  von  seinem  Herzfehler 
kuriert  wurde.  (Ich  will  hier  beifügen,  daO  nach  meiner  festen  Über- 
zeugung die  sog.  Heilungen  von  Klappenfehlern,  über  die  verschiedene 
ernste  Beobachter  berichten,  auf  falsche  Diagnosen  zurückzuführen 
sind.) 

Ich  bin  natürlich  weit  davon  entfernt,  genaue  zifi^ernmäOige  An- 
gaben über  die  prozentuarische  Häufigkeit  der  k.  p.  Geräusche  und 
über  die  Details  der  klinischen  Untersuchung  machen  zu  wollen,  wie  sie 
Potain  in  vieljähriger  Beobachtung  auf  einer  stationären  Klinik  (und 
in  großer  konsultativer  Praxis)  gesammelt  hat.  Dazu  eignet  sich  das 
hauptsächlich  ambulante  Material,  das  mir  zur  Verfügung  stand,  durch- 
aus nicht.  Mir  ist  es  heute  besonders  darum  zu  tun,  auf  die 
praktisch  hochwichtige  Bedeutung  der  k.  p.  Geräusche  auf- 
merksam zu  machen  und  die  Fehlerquellen  aufzudecken, 
welche  so  ungemein  häufig  zu  der  falschen  Diagnose  »Herz- 
fehler"" führen.  Die  zahlreichen  Fälle  von  anorganischen  Geräuschen 

1)  Im  Laufe  des  letzten  Jahres  (Okt.  1906— Okt.  1907)  habe  ich  8  weitere  Fälle 
(6  Schweizer  und  2  Deutsche)  untersucht,  welche  wegen  Herzfehler  militärfrei 
wurden  und  ein  vollständig  gesundes  Herz  hatten.  —  Ich  wage  es  nicht,  zu  be- 
urteilen, welche  Summe  von  Kraft  durch  die  Fehldiagnose  Herzfehler  der  Armee 
verloren  geht. 


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318  Hermann  Müller,  [10 

bei  Anämischen  und  Chlorotischen  lasse  ich  deshalb  fast  ganz  unberück- 
sichtigt —  sie  sind  auch  in  meiner  Statistik  gar  nicht  mit  aufgezahlt 
und  finden  nur  wegen  besonders  wichtiger  Erscheinungen  gelegent- 
liche Erwähnung.  Unter  meinen  Fällen  sind  solche,  wo  hervorragende 
Diagnostiker  die  Fehldiagnose  »Herzfehler^  gemacht  haben,  und  wenn 
mir  dieser  Irrtum  früher  selbst  öfter  als  seit  Jahren  passiert  ist,  be- 
fand ich  mich  in  guter  Gesellschaft.  Ich  bin  auch  überzeugt,  daß 
manch  einer,  wenn  er  diese  Zeilen  liest,  sich  an  solche  Fälle  erinnert, 
wo  kürzere  oder  längere  Zeit  vorher  er  selbst  oder  ein  anderer  Arzt 
einen  Herzfehler  gefunden  hat,  den  er  bei  späteren  Untersuchungen 
nicht  mehr  finden  konnte.  Die  individuelle  Reaktion  auf  solche  Er- 
fahrungen ist  eine  recht  verschiedene.  Der  eine  geht  gedankenlos  an 
ihnen  vorbei,  der  andere,  der  vielleicht  etwas  mehr  Temperament, 
dafür  aber  weniger  Sinn  für  Kollegialität  hat,  beschuldigt  den  Kollegen 
der  Unfähigkeit  und  sagt  etwa,  wie  es  mir  einmal  passiert  ist:  »Wenn 
er  ihr  Leiden  für  ein  nervöses  erklärt,  dann  hat  er  sie  nicht  recht 
untersucht."* 

Historisches  über  die  kardiopulmonalen  Geräusche.  Die 
Angabe,  daO  es  k.  p.  Geräusche  gäbe,  äußert  schon  Laennec,  und  es 
ist  recht  interessant,  wie  der  geniale  Entdecker  der  Auskultation,  der 
die  neue  Untersuchungmethode  schon  zu  einer  staunenswerten  Voll- 
kommenheit gebracht  hatte,  sich  ausdrückt:  ^^Es  gibt  zwei  Umstände, 
bei  welchen  ein  unerfahrener  Beobachter  an  das  Vorhandensein  eines 
blasenden  Geräusches  (bruit  de  soufile)  glauben  könnte,  ohne  daß  es 
wirklich  vorhanden  ist.  Bei  einigen  Individuen  überragen  die  Pleuren 
und  die  vorderen  Lungenränder  das  Herz  und  bedecken  es  beinahe. 
Wenn  man  ein  solches  Individuum  im  Augenblick  leicht  auf- 
geregter Herztätigkeit  untersucht,  so  verändert  die  Diastole 
des  Herzens,  indem  das  Herz  die  Lungenränder  kompri- 
miert und  so  die  Luft  daraus  auspreßt,  das  Atmungsgeräusch  in  der 
Art,  daß  es  mehr  oder  weniger  dem  eines  Blasebalges  (souiflet) 
oder  eines  weichen  Holzraspeis  (räpe  ä  bois  douce)  gleicht  Aber 
mit  etwas  Übung  kann  man  dieses  Geräusch  sehr  leicht  von  einem 
wirklichen  Herzgeräusche  unterscheiden;  es  ist  oberflächlicher 
und  man  hört  darunter  den  natürlichen  Herzton,  und  wenn 
der  Kranke  einige  Momente  den  Atem  anhält,  so  wird  es 
schwächer  oder  verschwindet  ganz.* 

Es  leuchtet  ein,  daß  Laennec  das  Vorkommen  eines  solchen  Ge- 
räusches als  selten  ansah.  Laennec  hat  auch  nie  daran  gedacht,  aus 
dem  Vorkommen  dieser  Geräusche  einen  Schluß  zu  ziehen  in  bezug 
auf  die  Entstehung  der  anorganischen  Geräusche;  denn  er  hielt  an 
seiner    falschen   Lehre   von    der  Entstehung    derselben    fest.     Nach 


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11]  über  kardiopulmonale  Geräusche.  319 

Laennec  haben  noch  viele  andere  Beobachter  ähnliche  Geräusche  be- 
schrieben. 

Wintrich  (1854)  berichtet  über  auskultatorische  Geräusche  in  den 
Lungen,  welche  ohne  Einfluß  der  In*  und  Exspiration  hervorgerufen 
werden,  und  sagt  (S.  171)  wörtlich  folgendes:  ,,In  der  Nähe  des  Herzens 
habe  ich  schon  ziemlich  oft  während  der  Kontraktion  desselben  ein 
sanftes,  schlürfendes  Atmungsgeräusch  gehört  wie  das  in- 
spiratorische. Es  ist  dies  auch  nichts  anderes  als  eine  Luft- 
inspiration, durch  die  systolische  Verkleinerung  des  Herzens 
bedingt.**  —  Danach  ist  also  Wintrich  der  erste,  welcher  diese 
Geräusche  auf  eine  Saugwirkung  des  Herzens  zurückführte. 

Im  Jahre  1865  hat  Bamberger,  welchem  zuerst  die  seltene  Ge- 
legenheit geboten  wurde,  die  Herztätigkeit  an  einem  30jährigen  Manne 
zu  studieren,  bei  welchem  eine  frische  Stichwunde  die  unmittelbare 
Palpation  der  Herzspitze  gestattete,  gemeinsam  mit  Kölliker  Experi- 
mente an  Kaninchen  angestellt,  um  die  Herzbewegung  zu  beobachten, 
und  bei  dieser  Gelegenheit  haben  die  beiden  ^  eine  die  beiden  Herz- 
momente begleitende  zuckende  Hin-  und  Herbewegung  des  vordem 
linken  Lungenrandes  beobachtet.  ^Die  Größe  dieser  Exkursion  (Bam- 
berger) mag  etwa  eine  Linie  (d.  h.  3  mm)  oder  etwas  darüber  be- 
tragen, sie  ist  aber  außerordentlich  frappant  und  in  die  Augen  fallend 
und  macht  etwa  den  Eindruck,  als  wäre  der  Lungenrand  an  das  Herz 
unverrückbar  befestigt  und  müßte  jeder  Bewegung  desselben  folgen. 
Ich  habe  öfter  unter  verschiedenen  Umständen  am  linken 
Lungenrande  in  der  Nähe  des  Herzens  ein  feines,  dem  pneu- 
monischen ganz  ähnliches  Knistern  gehört,  das  genau  mit  jeder 
Herzsystole  zusammenfiel.  Ich  zweifle  nun  nicht,  daß  diese  Erschei- 
nung durch  die  oben  beschriebene  systolische  Bewegung  des  Lungen- 
randes bedingt  wird,  sobald  sich  in  den  Lungenzellen  etwas  Flüssig- 
keit befindet/ 

In  einem  im  Jahre  1863  publizierten  Artikel  „Über  unerklärliche 
Herzgeräusche**    tut  Skoda  Erwähnung  eines  Geräusches,    welches 

1)  Unabhängig  von  Bamberger  und  Kölliker  hat  Dr.  Friedrich  Ernst 
von  Zijrich  die  gleiche  Beobachtung  gemacht.  Im  gleichen  Bande  des  Virchow* 
sehen  Archives  (9.  Bd.  1856  Nr.  10)  in  „Studien  über  die  Herztätigkeit  mit  beson- 
derer Berücksichtigung  der  an  Herrn  A.  Grouxs  Fissura  sterni  congenita  gemach- 
ten Beobachtungen"*  berichtet  Ernst  (S.  283.  284)  beiläufig:  „Es  läßt  sich  dieses 
Verhalten  der  Lungenränder  zu  den  Herzkontraktionen  sehr  anschaulich  am  Kanin- 
chen beobachten.  Wenn  man  in  der  Herzgegend  die  allgemeinen  Decken,  die  M. 
pectorales,  die  M.  intercostales  bis  auf  die  feine,  dünne  Pleura  sorgfältig  abpräpa- 
riert, ohne  ]edoch  die  Pleura  selbst  zu  verletzen,  so  sieht  man  die  das  Herz  teil- 
weise bedeckenden  Lungenränder  mit  jeder  Systole  sich  mehr  verschieben,  mit 
jeder  Diastole  etwas  zurücktreten.'' 


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320  Hermann  Müller,  [12 

dadurch  entsteht,  daO  die  systolische  Bewegung  des  Herzens  in  inten- 
siverem Grade  allenfalls  in  der  angrenzenden  Lunge  ein  gewisses 
Quantum  Luft  verdrängt  und  diese  Luft  beim  raschen  Ausweichen  ein 
Rauschen  erzeugt,  welches  natürlich  mit  der  Systole  des  Herzens  zu- 
sammenfällt Man  könnte  hierbei  noch  weiter  gehen  und  auch  die 
Entstehung  eines  diastolischen  Geräusches  für  möglich  erklären,  da- 
durch nämlich,  daß  die  Luft  während  der  Diastole  des  Herzens  mit 
einem  gröOern  Impetus  in  die  angrenzenden  Partien  der  Lungen  ein- 
strömt. 

Gerhardt  in  seinem  Lehrbuche  der  Perkussion  und  Auskultation 
(Jena  1866,  Tübingen  1884)  berichtet  über  eine  sehr  häufige  Erschei- 
nung bei  der  Auskultation,  die  am  besten  als  systolisches  Vesi- 
kuläratmen  bezeichnet  wird.  —  „Die  Lungenränder  folgen  der  Form- 
veränderung des  Herzens,  nehmen  bei  der  Systole  mehr  Luft  auf,  um 
den  Raum,  der  bei  der  Verkleinerung  des  Herzens  frei  wird,  auszu- 
füllen und  geben  so  an  den  Grenzen  des  Herzens  Veranlassung  zu 
einer  eigenen  Form  des  vesikulären  Atmens.  Selten  hört  man  wirklich 
während  jeder  Systole  ein  kurzes  Geräusch  von  der  BeschafFenheit 
des  vesikulären  Atmens,  häufig  während  der  Inspiration  eine  mit  jeder 
Systole  statthabende  Verstärkung  des  Inspirationsgeräusches.*^ 

Nach  Paul  Niemeyer  (1870)  findet  sich  das  Herz-Lungengeräusch 
(pulsatile  respiration,  Thorburn  —  pulsatile  pulmonic  crepitatioD, 
Richardson  —  systolisches  und  diastolisches  Lungengeräusch,  Fried- 
reich —  systolisches  Vesikuläratmen,  Gerhardt)  am  häufigsten  an 
der  linken  Seite  der  vordem  Brustwand,  es  entsteht  nur  während  der 
In-  und  Exspiration  und  verschwindet  bei  angehaltenem  Atem. 

In  den  neuen  Lehrbüchern  über  physikalische  Diagnostik  (Eich- 
horst, 4.  Auflage  1896,  und  Sahli,  4.  Auflage  1905)  ist  im  Kapitel 
über  die  Auskultation  der  Lungen  nur  beiläufig  als  ein  Geräusch,  das 
in  den  Lungen  entsteht,  das  systolische  Vesikuläratmen  erwähnt.  So 
sagt  Sahli  (S.  218):  „Das  systolische  Vesikuläratmen  kommt 
unter  noch  nicht  näher  bekannten  Bedingungen  hier  und  da  bei  Kranken 
wie  bei  ganz  Gesunden  vor  und  hat  keine  pathologische  Bedeutung. 
Man  hört  es  nur  in  der  Nähe  des  Herzens.  In  wenig  ausgesprochenen 
Fällen  äußert  es  sich  bloß  in  einer  systolischen  Verstärkung  des 
gewöhnlichen  Vesikuläratmens,  während  es  in  anderen  Fällen 
auch  bei  der  Sistierung  der  Atmung  hörbar  ist.  Seine  Ent- 
stehung ist  jedenfalls  abhängig  von  der  mit  der  systolischen  Volum- 
verkleinerung des  Herzens  (M  ei  okar  die)  verbundenen  negativen  Druck- 
schwankung im  Innern  des  Thorax.  Ich  glaube,  daß  einzelne 
vermeintliche  akzidentelle  Herzgeräusche  nichts  anderes  sind 
als  solches  systolisches  Vesikuläratmen.*" 


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13]  Ober  kardiopulmonale  Geräusche.  321 

Etwas  eingehender  hat  schon  im  Jahre  1899  O.  Rosenbach  (das 
Potain  sehe  Werk  war  auch  ihm  nicht  bekannt)  die  Herzlungengeräusche 
studiert.  Auch  er  akzeptiert  die  von  Wintrich  und  Bamberger 
zuerst  gegebene  Erklärung,  daO  diese  Geräusche  den  durch  die  Volums- 
schwankungen des  Herzens  bedingten  Luftströmungen  ihre  Entstehung 
verdanken. 

Daß  gelegentlich  kardiales  Rasseln  durch  direkte  mechanische  Erschütterung, 
hervorgebracht  durch  die  Herzbewegung,  erzeugt  werden  kann,  wenn  die  infiltrierte 
oder  mit  Kavernen  durchsetzte  Lunge  in  der  Nähe  des  Herzens  mit  der  Pleura 
verwachsen  ist,  wollen  wir  nicht  zu  erwähnen  vergessen.  Diese  Art  der  kardio- 
pneumatischen  Geräusche  ist  aber  leicht  zu  erkennen  und  hat  für  unsere  Betrach- 
tung keine  Bedeutung. 

Bevor  ich  nun  auf  den  Mechanismus  dieser  k.  p.  Geräusche  ein- 
gehe, wollen  wir  in  Kürze  die  Beweise  von  Potain,  daß  sie 
wirklich  im  Lungengewebe  entstehen,  anführen: 

1.  Die  Geräusche  haben  immer  ihr  Maximum  an  den  Rand- 
zonen der  Lunge  —  im  Bereich  der  kleinen  oder  absoluten 
Herzdämpfung  werden  sie  niemals  gehört.  Alle  Theorien, 
die  bisher  zu  ihrer  Erklärung  aufgestellt  wurden,  können  widerlegt 
werden. 

2.  Man  kann  aber  auch  direkt  durch  das  Experiment  beweisen, 
daß  die  anorganischen  Geräusche  ihren  Sitz  und  ihre  Ent- 
stehung in  den  Lungen  haben.  Man  hört  diese  Geräusche  nicht 
selten  bei  Hunden  und  bei  Pferden.  Bei  dem  4.  Teil  aller  Hunde 
in  der  Tierarzneischule  in  Paris  fanden  sich  diese  Geräusche  vor  und 
die  öfter  gemachte  nachherige  Sektion  ergab  vollkommen  normales 
Herz  und  normale  Klappen.  Potain  hörte  eines  Tages  bei  einem 
Pferde  oberhalb  des  Spitzenstoßes  ein  lautes  Geräusch,  das  er  nach 
seinem  Charakter  für  ein  kardiopulmonales  hielt.  Die  sofort  vor- 
genommene Sektion  ergab  vollständig  gesundes  Herz  und  normale 
Klappen,  An  der  Stelle  des  Geräusches  war  ein  zungenförmiger  Lappen 
von  Lungengewebe  zwischen  Herz  und  Thoraxwand  eingeschoben.  — 
Noch  überzeugender  war  folgender  Versuch:  Bei  einem  Hunde 
sollte  zu  anderm  Zwecke  ein  Experiment  vorgenommen  werden.  Bei 
der  Auskultation  des  Herzens  wurde  ein  ausgesprochenes,  anorgani- 
sches Geräusch  gehört.  Dr.  Franck,  ein  Freund  Potains,  führte 
nun  an  der  betreifenden  Stelle  der  Brustwand  einen  stumpfen  Haken 
in  die  Pleura  ein,  ohne  daß  Luft  in  die  Pleurahöhle  eindringen  konnte. 
Mit  Hilfe  dieses  Hakens  konnte  der  Lungenrand  an  der  Stelle,  wo 
das  Geräusch  zu  hören  war,  leicht  zurückgeschoben  werden  und  so- 
fort verschwand  das  Geräusch.  Ließ  man  dann  die  Lunge  wieder  ihren 
alten  Platz  einnehmen,  so  kam  wieder  das  ganz  gleiche  Geräusch  zum 


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322  Hermann  Müller,  [14 

Vorschein.  So  konnte  man  nach  Belieben  das  Geräusch  verschwinden 
und  zum  Vorschein  kommen  lassen. 

3.  Die  anorganischen  Geräusche  verwandeln  sich  oft  in 
ausgesprochene  Respirationsgeräusche  und  umgekehrt,  je 
nachdem  der  Einfluß  des  Herzens  oder  der  Atmung  vorherrscht  Ein 
Geräusch,  das  so  sehr  der  Exzitation  des  Herzens  und  den  Atem- 
bewegungen unterworfen  ist,  kann  nur  in  der  Lunge  entstehen  und 
nichts  anderes  sein  als  verändertes  Vesikuläratmen. 

Einen  neuen  höchst  wertvollen  Beweis,  daß  die  akziden- 
tellen Herzgeräusche  in  der  Tat  an  den  vorderen  Lungen- 
rändern^)  entstehen,  erblicke  ich  darin,  daß  sie  experimentell 
erzeugt  werden  können.  Kollege  Minnich  von  Zürich  (und  Weißen- 
burg) hat  mir  mitgeteilt,  daß  bei  Behandlung  der  Kaninchen  mit 
minimalen  Dosen  von  Adrenalin,  wobei,  wie  er  gefunden  hat,  neben 
der  außerordentlichen  Verstärkung  der  Herzaktion  eine  bedeutende 
Verlangsamung  des  Rhythmus  eintritt,  häufig  (durchaus  nicht  immer) 
sehr  starke  Herzgeräusche  zum  Vorschein  kommen.  Diese  Ge- 
räusche sind  am  stärksten  wahrnehmbar  auf  der  Höhe  der  Adrenalin- 
wirkung und  verschwinden  allmählich  mit  dem  Abklingen  derselben. 
Am  16.  November  1906  hat  mir  Kollege  Minnich  im  hiesigen  physio- 
logischen Institut  das  Experiment  (dabei  wird  die  Herzgegend  bis  auf 
die  Pleura  costalis  vollständig  freigelegt)  demonstriert  und  ich  habe 
mich  bei  einem  von  drei  Versuchen  unzweifelhaft  überzeugt,  daß 
beim  Sinken  der  Herzaktion  von  240  auf  140  Schläge  ein  sehr 
deutliches,  scharfes  systolisches  Geräusch  zum  Vorschein 
kam,  das  allmählich  wieder  ganz  verschwand. 

Mechanismus  der  kardiopulmonalen  Geräusche.  Da  die 
k.  p.  Geräusche  nach  Potain  nichts  anderes  sind  als  modifiziertes 
Vesikuläratmen,  so  müssen  sie  auch  auf  die  gleiche  Art  entstehen, 
und,  wie  Laennec  schon  gelehrt  hat,  entsteht  das  Zellenatmen  durch 
Reibung  der  in  die  feinen  Luftwege  und  Alveolen  einströmenden  Luft. 
Die  k.  p.  Geräusche  sind  in  der  großen  Mehrzahl  systolisch,  sie  ent- 
stehen durch  Aspiration  der  Luft.  „Wenn  das  Herz  bei  der  Systole 
sich  dreht  und  von  der  Thoraxinnenwand  zurücktritt,  so  entsteht  dort 
ein  luftleerer  Raum,  der  wie  eine  Saugpumpe  auf  das  umgebende 
Lungengewebe  einwirkt  und  auf  dasselbe  eine  Aspiration  ausübt.  Die 
Luft  stürzt  dann  mit  großer  Vehemenz  in  die  Alveolen  und  erzeugt 
dadurch  Geräusche,  die  durch  den  Rhythmus  des  Herzens  mehr  Herz- 
als  Atmungsgeräuschen  gleichen.  Die  auffallende  Erscheinung,  daß 
die  k.  p.  Geräusche  beinahe  ausnahmslos  durch  ihre  Beschaffenheit 


1)  Respektive  an  den  PerikardialblSttern. 


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15]  Ober  kardiopulmonale  Geräusche.  323 

und  ihr  Timbre  sich  von  dem  normalen  Atmungsgeräusch  tintersclieiden, 
sucht  Potain  in  folgender  Weise  zu  erklären: 

In  1  Minute  erfolgen  ungeßihr  16—18  Respirationen  und  im  gleichen  Zeit- 
räume ca.  76  Herzschläge.  Die  Inspiration  dauert  1,35  Sekunden,  die  Systole  nur 
0,26  Sekunden,  mit  andern  Worten:  die  Systole  ist  von  5 mal  kürzerer  Dauer  als 
die  Inspiration.  Bei  gewöhnlicher  Inspiration  beträgt  die  eingeatmete  Luft  etwa 
Va  Liter,  d.  h.  ungefähr  V?  der  gesamten  Lungenkapazität.  Aller  Wahrscheinlich- 
keit nach  ist  das  ganz  anders  bei  der  lokalisierten  Inspiration,  welche  durch  das 
Zurückweichen  des  Herzens  von  der  Brustwand  hervorgebracht  wird.  Durch  die 
diastolische  Erweiterung  können  gewisse  Partien  der  Lunge  derart  zwischen  Herz- 
und  Brustwand  komprimiert  werden,  daß  die  Luft  vollständig  ausgepreßt  wird; 
kommt  nun  die  systolische  Retraktion  des  Herzens,  so  stürzt  eine  7mal  größere 
Luftmenge  in  die  Alveolen  und  da  dieses  Einströmen  in  einer  5  mal  kürzeren  Zeit 
stattfindet,  so  ist  die  Schnelligkeit  der  Strömung  35 mal  größer  als  bei  einer  ge- 
wöhnlichen Inspiration.  Es  darf  uns  deshalb  nicht  wundernehmen,  daß  die  k.  p. 
Geräusche  eine  höhere  Tonart,  eine  stärkere  Intensität  haben  und  daß  sie  wesentlich 
rauber  erscheinen. 

Diese  Theorie,  so  bestechend  sie  auf  den  ersten  Blick  erscheint, 
ist  völlig  unhaltbar;  sie  leidet  bei  genauerer  Prüfung  an  dem 
Fehler,  daO  sie  sich  auf  Prämissen  aufbaut,  die  falsch  sind. 
Wenn  man  etwas  näher  darüber  nachdenkt,  so  muß  man  füglich  staunen, 
mit  welcher  Bereitwilligkeit  die  zuerst  von  Wintrich,  Bamberger 
und  Gerhardt  aufgestellte  Aspirationstheorie  des  sog.  systolischen 
Vesikuläratmens  von  allen  nachfolgenden  Autoren  und  auch  von  Potain 
und  Vaquez  angenommen  worden  ist.    Ganz   unhaltbar  und  mit 
den  Gesetzen  der  Physik  in  Widerspruch  stehend,  ist  besonders  auch 
die  von  Potain  behauptete  Annahme,  daO  in  den  Randzonen 
der  Lunge  während  der  Diastole  des  Herzens  die  Luft  voll- 
ständig ausgepreßt  werde  und  daO  sich  auf  diese  Weise  die  vom 
Vesikuläratmen  häufig  so  total  verschiedene  Qualität  der  k.  p.  Ge- 
räusche erklären  lasse.   Ich  selbst  wurde  zum  prüfenden  Nachdenken 
zunächst  dadurch  veranlaßt,  daß  ich  mehrere  Male  Geräusche  am 
Herzen  hörte,  welche  die  größte  Ähnlichkeit  mit  dem  zischen- 
den Geräusche   des   gesprungenen  Topfes  hatten,  so  daß  ich 
unwillkürlich  an  eine  ähnliche  Entstehung  erinnert  wurde.    Und  dann 
war  es  mir  besonders  unverständlich,  wie  durch  Aspiration  von 
Luft   durch   die   systolische  Verkleinerung   ein   Strömungs- 
geräusch  auch  während  der  Exspiration   in  einer  der  entwei- 
chenden Luft  entgegengesetzten  Richtung  zustande   kommen   könne. 
Ebenso  konnte  ich  die  gar  nicht  selten  vorkommenden  diastoli- 
schen funktionellen  Geräusche  nicht  durch  eine  Luftaspira- 
tion erklären.  —  Ich  änderte  deshalb  meine  frühere  Ansicht  und  kam 
auf  die  alte,  schon  von  Laennec   akzeptierte  Erklärung  zurück  und 
vertrat  im  Wintersemester  1903/04  bei  poliklinischen  Demonstrationen 


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324  Hermann  Müller,  [16 

die  Lehre:  „Wenn  das  Herz  während  der  Austreibungszeit  gegen  die 
Brustwand  geschlagen  wird,  so  wird  die  zwischen  Herz  und 
Brustwand  gelegene  Lungenpartie  gepreßt,  dabei  wird  Luft 
entleert  und  so  entsteht  das  kardiopulmonale  Geräusch.^ 
Dagegen  machte  mir  ein  Schüler,  der  in  Physik  besonders  gut  be- 
wandert war,  cand.  med.  Walter  HeO  (jetzt  Assistenzarzt  der  ophtbal- 
mologischen  Klinik)  Opposition  und  belehrte  mich  in  einem  längeren 
schriftlichen  Expose  so,  daß  ich  meine  Erklärung  wesentlich  modifi- 
zierte. Ich  entnehme  der  ausfuhrlichen  physikalischen  Auseinander- 
setzung nur  einige  Stellen: 

jyDie  Lungen  stellen  eine  Summe  kleiner  Blasen  vor,  die  durch  ein  System  von 
Röhren  unter  sich  verbunden  sind.  Die  Lungen  besitzen  einen  hohen  Grad  von 
Elastizität;  gegen  ihre  Begrenzungsflächen,  Herz  und  Brustwand,  sind  sie  leicht 
verschiebbar.*'  —  Es  folgt  eine  physikalische  Begründung,'  welche  lehrt,  daß  bei 
der  diastolischen  Vergrößerung  des  Herzens  die  Lungen  gleichmäßig  komprimiert 
und  in  toto  ausweichen  müssen,  „Es  ist  unmöglich,  daß  an  den  Rändern 
Luft  ausgepreßt  wird  und  daß  dabei  ein  Luftstrom  entsteht;  ebenso  verteilt 
sich  die  Luft  bei  der  systolischen  Aspiration  auf  das  ganze  Röhren- 
System  und  Alveolargebiet,  nicht  nur  auf  die  Randpartien  in  der  Nähe 
des  Herzens.  (Nur  bei  einer  Fixation  der  Lungen  an  der  Brustwand  wäre  die 
Entstehung  von  lokalisierten  Luftströmen  denkbar.)  Gegen  meine  Theorie  macht 
W.  Heß  folgendes  geltend: 

„Auch  in  diesem  Falle  wird  bei  freibeweglichen  Lungen  kein  Auspressen  der 
direkt  getroffenen  Lungenpartien  erfolgen,  sondern  der  gepreßte  LungenteiJ  wird 
in  toto  zurückweichen.** .... 

„Mit  den  Herzbewegungen  gehen  Verschiebungen  der  Lungenpartien  einher  — 
diese  können  die  Quelle  von  Geräuschen  bilden,  denn  wenn  2  Flächen  über- 
einanderstreichen,  muß  immer  ein  Geräusch  entstehen,  nur  ist  es 
unter  normalen  Verhältnissen  so  schwach,  daß  es  vom  menschlichen  Ohr  nicht 
wahrgenommen  wird.  Es  kann  aber  unter  leicht  denkbaren  Bedingungen  so  an- 
wachsen, daß  es  gehört  wird.  Ist  die  Länge  der  Lungenlamelle,  welche  keilförmig 
zwischen  Herz  und  Brustwand  eingeschoben  ist,  relativ  groß,  (was  besonders  oft 
an  der  Lingula  der  Fall  ist)  und  ist  die  Herzbewegung  genügend  energisch, 
so  streicht  die  Lunge  bei  der  Systole  rasch  an  Herz  und  Brustwand  vorbei,  an  die 
es  zudem  noch  angedrückt  wird  —  ein  stärkeres  Reibegeräusch  wird  die 
Folge  sein." 

Daß  ein  Teil  der  k.  p.  Geräusche  lediglich  als  Reibegeräuscbe 
aufzufassen  sind,  will  ich  nicht  bestreiten,  denn  die  Geräusche  ähneln 
recht  oft  leichten  pleuritischen  oder  perikarditischen  Reibegeräuschen. 
Ich  kann  mich  aber  des  Gedankens  nicht  erwehren,  daO  bei  der 
Entstehung  der  k.  p.  Geräusche  noch  eine  andere  Kompo« 
nente  —  Schwingungen  des  ein  System  von  elastischen  Blasen 
darstellenden  Lungengewebes,  verursacht  durch  die  Erschüt- 
terung des  anschlagenden  Herzens  —  eine  wichtige  Rolle  spielt.0 

1)  Ich  komme  immer  mehr  dazu,  die  Erschütterung  des  Lungengewebes,  welche 
demselben  bei  der  Quetschung  des  zwischen  Herz  und  Brustwand  eingeklemmten 


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17]  Ober  kardiopulmonale  GerSusche.  325 

Doch  ist  diese  spezielle  Frage  von  geringerer  Bedeutung,  viel  wich- 
tiger ist  der  Nachweis,  daß  die  Geräusche  zweifellos  nicht  durch 
Aspiration,  durch  Luftströmung  entstehen.^)  Ich  könnte  noch 
manche  Gründe  dafür  anführen;  aber  dazu  fehlt  mir  jetzt  die  Zeit.  — 
Nur  noch  eins!  Daß  bei  der  systolischen  Verkleinerung  des  Herzens 
Luft  aspiriert  wird,  kann  mit  Leichtigkeit  experimentell  nachgewiesen 
werden.  Die  Aspiration  findet  statt  durch  Mund  oder  Nase.  Die 
gewöhnliche  Atmungsgröße  beträgt  500  ccm.  Die  Menge  der  bei  der 
systolischen  Verkleinerung  des  Herzens  aspirierten  Luft  ist  jedenfalls 
ganz  bedeutend  kleiner  und  sicher  nicht  größer  als  die  Differenz  des 
während  der  Systole  aus-  und  einströmenden  Blutes,  und  da  sich 
dieses  Volumen  auf  die  ganze  Lunge  verteilen  muß,  so  kann  un- 
möglich ein  hörbares  Geräusch  durch  die  Luftströmung  ent- 
stehen. —  Die  Erfahrung  lehrt,  daß  selbst  bei  Atmungszügen,  wenn 
dieselben  oberflächlich  sind,  Geräusche  nicht  wahrgenommen  werden. 

An  dieser  Stelle  mußte  ich  in  Ölten  (27.  X.  1906)  meinen  Vortrag 
abbrechen,  weil  die  für  die  wissenschaftlichen  Verhandlungen  be- 
stimmte Zeit  abgelaufen  war.  —  Bevor  wir  nun  heute  (23.  Febr.  1907, 
Gesellschaft  der  Ärzte  von  Zürich)  dazu  fibergehen,  die  klinischen 
Eigenschaften  der  k.  p.  Geräusche,  durch  die  wir  dieselben  von  den 
organischen  Geräuschen  unterscheiden  können,  näher  zu  studieren, 
möchte  ich  Ihnen  doch  noch  über  einige  bemerkenswerte  Fälle,  welche 
ich  seither  beobachtet  habe,  referieren.  Es  sind  im  ganzen  27  Fälle, 
über  welche  ich  genaue  Aufzeichnungen  gemacht  habe  (5  davon  sind 
Frauen  mit  Morb.  Basedowii  —  bei  fast  allen  andern  ist  von  anderer 
Seite  Herzfehler  diagnostiziert  worden). 

i.  Fall.  Am  29.  X.  1906  —  2  Tage  nach  meinen^  in  Ölten  gefaialtenen  Vortrage 
—  kam  in  die  mediz.  Poliklinik  der  20 jährige  Schreiner  Emil  Sl.  und  verlangte  ein 
Zeugnis  für  das  Österreich.  Konsulat.    Pat.  war  vor  kurzem  wochenlang  im  Spital 

Lungenkeiles  während  der  Austreibungszeit  des  Herzens  erteilt  wird,  als  die 
Hauptquelle  der  k.  p.  Geräusche  anzusehen.  Wir  werden  später  noch  einmal  auf 
diesen  Punkt  zurückkommen. 

1)  Wir  wollen  das  Geräusch,  das  durch  die  Bewegung  des  Herzens  an  den 
Randzonen  der  Lungen  teils  durch  Reibung  teils  durch  Schwingungen  des  Lungen- 
gewebes erzeugt  wird,  der  Kürze  halber  als  »Gewebegeräusch**  bezeichnen.  Als  ein 
solches  Gewebegeräusch,  hervorgebracht  durch  die  Erschütterungen,  welche  den 
Lungen  durch  das  Einströmen  von  Luft  in  die  feinsten  Luftwege  erteilt  werden, 
ist  auch  das  inspiratorische  vesikuläre  Atmungsgeräusch  aufzufassen.  Die  alte 
Laenne Cache  Theorie  von  der  Entstehung  des  Vesikuläratmens  durch  Reibung  des 
inspiratorischen  Luftstromes  an  der  Wandung  der  feinen  Bronchen  und  Infundibula 
ist,  wie  schon  P.  Niemeyer,  Gerhardt  u.  a.  gelehrt  haben,  nicht  korrekt.  Auf 
gleiche  Weise  muß  auch  nach  unserer  Meinung  die  Entstehung  des  systol.  Knister- 
rasseins erklärt  werden  und  auch  in  vielen  Fällen  —  wenn  nicht  immer  —  das 
Geräusch  des  gesprungenen  Topfes. 

Klin.  Vortrige,  N.  F.  Nr.  500/01.    (Innere  Medizin  Nr.  147/48.)    Sept.  1908.  23 


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326  Hermann  Müller,  [18 

in  Graz,  er  bringt  von  dort  die  Diagnose  —  Herzfehler  und  Neurasthenie  —  mit 
Die  Herzuntersuchung  ergab:  hart  außerhalb  vom  Spitzenstoße,  der  an  normaler 
Stelle  liegt,  ein  lautes,  systolisches  Geräusch,  das  sehr  deutlich  mit 
einem  Tone  anfängt  (mesosysiolisches  Geräusch).  —  Alle  Schüler,  aufgefordert, 
genau  darauf  zu  achten,  was  in  der  Gegend  der  Herzspitze  zu  hören  sei,  vernehmen 
deutlich,  daß  das  systolische  Geräusch  dem  Tone  nachschleppt.  Das  Geräusch 
verschwindet  sofort  und  spurlos  beim  Aufrichten.  —  Herzdämpfung  nor- 
mal; keine  Anamnese  für  Klappenfehler. 

2.  Fall.  Frau  Marie  L.,  48 J.  Zürich.  I.  Diagnose:  progressive,  perniziöse 
Anämie. 

3.  XI.  1906.  Hämoglobin  18%.    Rote  Blutkörperchen  870000,  weiße  4300. 

5.  XI.  1006.  Gemeinsamer  Besuch  mit  2  Assistenten  und  1  Praktikantin  — 
tiefste  Anämie,  wachsbleiche  Farbe  mit  einem  Stich  ins  Gelbe;  bedeutende  Atem- 
not —  positiver  Jugularvenenpuls,  deutliches  systolisches  Schwirren 
zwischen  Herzspitze  und  Sternum,  Herzdämpfung  nach  rechts  und 
nach  links  verbreitert  —  lautes  systolisches  Geräusch  an  den  Hör- 
stellen der  Mitralis  undTrikuspidalis  —  das  Geräusch  beginn  t  ganz  deutlicfa 
ein  kurzes  Weilchen  vor  dem  systolischen  Tone  —  beim  Abheben  des  Obres 
vom  Stethoskope  ist  das  Geräusch  noch  auf  kurze  Entfernung  hörbar;  sehr  schwaches, 
systolisches,  mit  dem  Tone  beginnendes  Geräusch  an  .den  Hörstellen  der  Aorta  und 
Pulmonalis;  diese  Geräusche  verschwinden  ganz  bei  leichtem  Abheben  des  Obres. 
—  Status  pessimus  —  Dionin. 

7.  XL  1906.    Der  gleiche  Befund. 

10.  XI.  1906.  Befinden  entschieden  besser.  Atemnot  geringer.  Geräusche  an 
M.  und  Tr.  wie  früher;  an  P.  und  A.  fast  kein  Geräusch  mehr  hörbar. 

14.  XL  Fortschreitende  Besserung  —  Geräusche  nehmen  an  M.  und  Tr.  rasch 
ab.  —  Von  da  an  auffallende  Besserung,  die  Herzdämpfung  wurde  normal  und  die  Ge- 
räusche verschwanden  allmählich  ganz  bei  rascher  bedeutender  Abnahme  der  Anämie. 
Ich  zweifle  nicht  daran,  daß  es  sich  hier  um  zwei  Arten  von  Herzge- 
räuschen handelt —  die  Geräusche  an  der  Mitralis  und  Trikuspi- 
dalis  sind  eine  Folge  von  muskulärer  Insuffizienz,  verursacht  durch 
die  fettige  Degeneration  des  Herzmuskels  (positiver  Venenpuls,  fühlbares 
Schwirren,  allseitige  Vergrößerung  der  Herzdämpfung).  —  Heute  befindet  sich  Pat. 
ganz  gut.  (Pat.  ist  mittlerweile  an  einem  Rezidiv  der  perniziösen  Anämie  gestor- 
ben. Aug.  1907.) 

3.  Fall.  Herr  Max  U.,  geb.  l.VIIL  1887,  wird  mir  vom  Vater  mit  der  Diagnose 
„Mitralisinsuffizienz''  zugeschickt;  der  Klappenfehler  wurde  von  2  andern 
Ärzten  und  auch  bei  der  Rekrutierung  festgestellt.  „Dazu  kommt  noch'  — 
so  schreibt  der  Vater  —  „eine  exzessive  Nervosität  und  Hypochondrie. 
Erstere  hat  er  sich  bei  der  Vorbereitung  zur  Maturität,  letztere  durch  unbefug- 
tes Lesen  meiner  mediz.  Literatur  über  Herzkrankheiten  zugezogen." 

6.  XL  1906.  Höhe  186  cm  Brustumfang  99—103  cm.  Herzstoß  im  4.  J.  R.  dau- 
menbreit innerhalb  von  der  Mammillarlinie.  Herzdämpfung  absolut  normal;  tadel- 
los reine  Töne  —  im  Stehen  und  Liegen  untersucht. 

10.  XL  1906.  Befinden  entschieden  besser,  seit  Pat.  weiß,  daß  er  keinen  Herz- 
fehler hat,  Puls  60.  —  Heute  ist. Pat.  von  seinen  neurasthenischen  Herzbeschver-. 
den  vollständig  befreit;  meine  Untersuchung  und  Diagnose  hat  nach  Mitteilung  des 
Vaters  Wunder  gewirkt. 

4.  Fall.  10 jähriger  Knabe,  Sohn  einer  Lehferswitwe.    Vor  1  Monat  wurde  von 


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19]  Ober  kardiopulmonale  Geräusche.  327 

einem  hiesigen  Arzte  ein  »Herzfehler*'  konstatiert.  —  Bei  meiner  Untersuchung 
am  11.  und  21.  XII.  1906  normaler  Herzbefund,  keine  Geräusche. 

5.  Fall.  17)ähriger  Jüngling.  —  Angeblich  Herzfehler. 

15.  XI.  1906.  Starker  Herzchok,  sehr  schöne  pendelartige  Herzbewegung, 
alternierender  Herzstoß;  rauhes  systolisches  Geräusch  an  der  Hörstelle 
der  Pulmonalis,  verstärkter  2.  Pulmonalton.  —  Geräusch  verschwindet  ganz 
beim  Aufrichten.  —  Im  10.  Jahre  Scharlach. 

6.  Fall.  18jährige  Jungfrau.  —  Diagnose:  Mitralklappeninsufflzienz;  leichtes 
mesosystolisches  Geräusch  an  der  Mitralis,  wesentlich  lauteres  und 
rauhes  systol.  Geräusch  an  der  Hörstelle  der  Pulmonalis.  —  Eine  längere 
genaue  Untersuchung  ergibt  mit  Sicherheit,  daß  die  Geräusche  k.  p.  Ursprunges 
sind. 

7.  Fall.  Hermine  K.,  Ingenieursfrau,  wird  von  einem  Prof.  der  Gynäkologie 
einer  auswärtigen  Universität  an  Prof.  Wyder  in  Zürich  gewiesen  mit  der  Empfeh- 
lung, den  künstlichen  Abortus  einzuleiten  „wegen  Herzfehler  und  Ankylose  des 
linken  Kniegelenks*". 

Bei  der  1.  Entbindung  April  1904  Swöchentl.,  sehr  hohes  Fieber  mit  Po- 
lyarthritis zuletzt  im  linken  Knie,  Herzaffektion,  (Arthrit.  gon.).  —  Dez.  1905 
künstlicher  Abortus  „wegen  des  Herzens**.  Pat.  wird  am  18. 1.  1907  von  Prof.  W. 
zur  Herzuntersuchung  an  mich  gewiesen.  Ich  konstatierte  —  an  der  Herzspitze 
ein  systolisches  Geräusch,  das  nach  mehreren  Minuten  Ruhe  ver- 
schwand und  beim  Stehen  gar  nicht  zu  hören  war. 

8.  Fall.  Karl  K.,  Architekt,  geb.  13.  XI.  1880  wurde  seinerzeit  in  Meilen 
militärfrei  wegen  Herzfehler,  rekurrierte,  da  er  sich  absolut  gesund  fühlte 
und  gern  Militärdienst  tun  wollte,  wurde  aber  in  Zürich  bleibend  untauglich  erklärt 
wegen  Herzfehler  —  absolut  normaler  Herzbefund. 

9.  Fall.  QtLH.  1907.)  Anna  P.  geb.  18.  4.  1893  von  Dr.  N.  MitralisinsufBzienz 
diagnostiziert.  —  Früher  keine  Krankheiten,  1.  Menstruation  25.  XII.  1906  —  sehr 
deutlich  mit  T o n  beginnendes  systolisches  Geräusch  an  der  Herzspitze,  gleich- 
zeitig mit  dem  Ton  beginnendes  rauhes,  systolisches  Geräusch  an  der 
Hörstelle  der  P.  Das  Geräusch  an  der  Spitze  verschwindet  sofort 
beim  Aufrichten  und  das  Geräusch  an  der  Basis  ändert  Timbre  und 
Intensität.« 

10.  Fall.  Frau  Martine  Pf.,  30  J.  Zürich  III.  —  Morb.  Basedowii  6.  II.  1907. 
War  früher  immer  gesund,  Frühjahr  1906  Atemnot,  heftiges  Herzklopfen,  spontane 
Heilung.  Seit  Neujahr  1907  angeblich  fast  plötzlich  wieder  an  schweren  Basedow- 
erscheinungen erkrankt.  Basedow  auf  den  ersten  Blick  zu  diagnostizieren.  —  Herz 
normal  groß.  Puls  12(^—130.  —  Ungewöhnlich  lautes,  einem  leichten  Reibe- 
geräusch ähnliches  systolis  ches  Geräusch  entlang  dem  ganz  linken 
Lungenrande,  entlang  dem  rechten  Sternalrande  von  der  3.  bis  zur  6. 
Rippe  —  aber  auch  sehr  deutlich  im  Bereich  der  ganzen  absoluten 
Herzdämpfung  —  keine  Stelle  der  Herzoberfläche  ist  frei  von  dem  Geräusch. — 

17.  IV.  1907.  Das  gleiche  Geräusch  in  gleicher  Ausdehnung  habe  ich  nachher 
noch  mehrere  Male  gehört.  Das  Geräusch  fängt  in  der  Herzmitte  und  in  der  Ge- 
gend der  Herzspitze  deutlich  mit  einem  Tone  an.  —  27.  IX.  Pat  ist  seit  Anfang  Mai 
vollständig  geheilt,  mit  der  Besserung  stellte  sich  ein  „kolossaler  Appetit**  ein, 
heute  Ernährung  sehr  gut,  vollkommenes  Wohlbefinden.  —  Herzaktion  ruhig.  An 
der  Hörstelle  der  Pulmonalis  ist  beim  Liegen  und  beim  Stehen  noch  ein  lautes^ 
rauhes  systol.  Geräusch  hörbar  —  an  allen  übrigen  Stellen  reine  Herztöne. 

11.  FaU.  Frau  F.,  geb.  14.  X.  1869.  Zürich  IIL  —  Morb.  Basedowii  und  Ins 

23* 


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328  Hermann  Müller,  [20 

mit  Stenose  der  Mitralis.  —  Im  Alter  von  8  Jahren  Scharlach ,  Polyarthritis — 
3  Winter  im  Spital  Münsterlingen,  schon  damals  Herzfehler.  Verheiratet  seit  12 
Jahren,  7  Kinder.  —  Präsystolisches  Schwirren  üher  der  Herzspitze,  exqui- 
sites präsystol.  Geräusch  an  der  Mitralis  —  längs  dem  ganzen  rechten  Ster- 
nalrande  vom  2.  I.  R.  bis  zur  6.  Rippe  ein  systolisches  anstreifendes 
Geräusch. 

12.  Fall.  Karl  Bl.  3.  XII.  1896.  Chorea  —  wurde  von  mir  bei  Gelegenheit 
anderer  Demonstrationen  heute  vor  4  Wochen  der  Gesellschaft  der  Ärzte  von 
Zürich  vorgestellt  und  da  wurde  von  einem  zur  Untersuchung  aufgeforderten  Kolle- 
gen konstatiert,  daß  das  laute  systolische  Geräusch  an  der  Mitralis  sebr 
deutlich  dem  Tone  nachschleppte  (daß  das  Geräusch  mesosystollsch  war), 
an  der  Horstelle  der  P.  war  ebenfalls  ein  lautes,  rauhes  systolisches 
Geräusch  wahrnehmbar  —  die  Geräusche  nahmen  in  stehender  Position  ganz 
bedeutend  an  Intensität  ab. 

13.  Fall.  Rosa  E.  geb.  a  3.  1893  von  Albisrieden.  (15.  II.  1907.)  Früher  keine 
Krankheiten,  seit  4  Tagen  Erythema  nodos.  Die  Herzdämpfung  ist  scheinbir 
vergrößert  — rechte  Grenze  1  cm  außerhalb  vom  rechten  Stemalrand,  die  linke 
1  cm  nach  außen  von  der  Mammillarlinie  —  außerhalb  und  innerhalb  vom 
Spitzenstoße  ein  lautes  blasendes  Geräusch,  das  dem  Tone  nachschleppt, 
lautes,  rauhes  systol.  Geräusch  an  der  Hörstelle  der  P. 

14.  Fall.  Herr  Richard  H.,  Kaufmann  von  Bern,  geb.  20.  4.  1872,  Deutseber; 
anno  1892  tauglich  zu  allen  Waffengattungen  erklärt,  wurde  bei  der  Aushebung  an- 
geblich gar  nicht  untersucht,  weil  er  absolut  beschwerdefrei  war. 

Aug.  1892  in  Zürich  von  Dr.  B.  wegen  Lebensversicherung  untersucbt 
und  wegen  »Herzfehler**  nicht  aufgenommen. 

Am  9.  XL  1892.  Einrücken  in  Ludwigsburg  —  im  Anfang  des  Dienstes  mehrere 
Male  besonders  nach  Anstrengung  Atemnot  und  wurde  von  6  verschiedenen  Ärzten 
zu  verschiedenen  Tageszeiten  in  der  Revierkrankenstube —  immer  im  Stehen  — 
untersucht  —  immer  Diagnose  »Herzfehler*. 

Vom  17.  XII.  1892  bis  Weihnachten  im  Lazarett  in  Ludwigsburg  —  wegen  »Herz- 
fehler'' zum  Landsturm  2.  Aufgebotes  ohne  Waffen  versetzt.  Pat.  hat  nach  seiner 
eigenen  Aussage  die  Beschwerden  sehr  übertrieben,  weil  er  gern  militärfrei  werden 
wollte.  Nie  Scharlach,  nie  Gelenkrheumatismus,  überhaupt  nie  eine  emstlicbe 
Krankheit.  Arhythmie  wurde  schon  in  den  Knabenjahren  konstatiert. 
Pat.  erinnert  sich  sehr  genau,  daß  in  der  Schule  die  Kameraden  sich  gelegentlicb 
den  Puls  fühlten  und  daß  bei  ihm  leichte  Unregelmäßigkeit  zu  finden  war. 

4.  XII.  1906.  Seit  3  Monaten  hie  und  da  leichte  Atemnot,  hie  und  da  plötzlich 
ein  tiefer  Atemzug.  Pat  ist  der  festen  Oberzeugung,  daß  er  einen  Herz- 
fehler habe,  der  Gedanke  hat  ihn  seit  1892  nie  völlig  verlassen.  Höbe 
182  cm,  Körpergewicht  95  kg,  stramme  Haltung,  tadelloses  Aussehen;  beim  Liegen 
Puls  76,  beim  Stehen  80,  selten  1  Schlag  aussetzend.  Herzdämpfung  normal, 
Herztöne  tadellos  rein,  Blutdruck  120  mm  —  nach  der  tonometr.  Untersuchung 
Puls  beim  Liegen  und  beim  Stehen  ganz  regelmäßig.  Diagnose:  leichte  Herzneu- 
rose, Arhythmie,  sicher  kein  Klappenfehler.  Pat.  ist  höchst  freudig  fiberrascbt» 
daß  er  keinen  Klappenfehler  hat. 

Diese  kleine  Auswahl  von  Fällen,  welche  ich  Ihnen  soeben  zur 
Kenntnis  gebracht  habe,  hat  Ihnen  ohne  Zweifel  zur  Genüge  gezeigt, 
daO   die  Erkennung   der  anorganischen   bzw.  kardiopulmonalen  Ge- 


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21]  Ober  kardiopulmonale  GerSuscbe.  329 

rausche  von  der  allergrößten  praktischen  Bedeutung  ist;  die  Unter- 
scheidung derselben  von  den  Geräuschen,  welche  bei  organischen 
Herzaffektionen  vorkommen,  ist  eine  der  dankbarsten  Aufgaben  des 
Arztes.  Niemand  wird  in  Abrede  stellen,  daß  die  Diagnose  der  Herz- 
krankheiten heutzutage  wie  vor  Dezennien  fast  ausschließlich  auf  der 
physikalischen  Untersuchung  beruht;  ebensowenig  wird  man  be- 
zweifeln, daß  die  richtige  Diagnose  das  einzig  maßgebende  für  die 
Prognose  und  die  Behandlung  der  Herzkranken  ist.  Es  ist  das  un- 
bestrittene Verdienst  von  Potain,  daß  er  zuerst  in  klarer  und  scharfer 
Weise  auf  die  Merkmale  aufmerksam  gemacht  hat,  welche  uns  ermög- 
lichen, die  akzidentellen  Geräusche  von  den  organischen  zu  unter- 
scheiden. Diese  Merkmale,  mittelst  deren  wir  die  k.  p.  Geräusche 
erkennen  und  von  den  organischen  unterscheiden  können,  sind  Eigen- 
tümlichkeiten der  Klangfarbe  und  der  Tonhöhe,  des  Sitzes, 
des  Rhythmus  und  der  Veränderlichkeit. 

1.  Die  Klangfarbe,  der  Timbre  der  k.  p.  Geräusche  ist  außer- 
ordentlich verschieden.  Die  Geräusche  sind  weich,  leise,  hauchend, 
schlürfend,  aber  manchmal  sind  sie  auch  laut,  scharf  und  rauh;  sie  sind 
anstreifend,  kratzend,  schabend,  ähneln  den  perikarditischen  Geräuschen 
und  werden  auch  oft  mit  solchen  verwechselt;  ja  sie  werden  gelegent- 
lich auch  sehr  laut  und  können  ganz  selten  auch  auf  Distanz  gehört 
werden.  So  wurde  beispielsweise  von  Bari 6  ein  Geräusch  auf  mehrere 
Meter  Distanz  gehört,  ohne  daß  bei  der  Sektion  die  geringste  Spur 
von  Veränderung  an  den  Klappen  gefunden  werden  konnte,  und  ich 
selbst  habe  einmal  (bei  dem  eingangs  ausführlich  beschriebenen  2.  Falle) 
das  von  Wintrich  zuerst  beschriebene,  auf  Entfernung  hörbare  „systo- 
lische Knacken^^  wahrgenommen.  Ausnahmsweise  habe  ich  ein  zischen- 
des Geräusch  gehört  —  „wie  wenn  Dampf  aus  einer  engen  Röhre 
strömt^S  —  Verhältnismäßig  selten  bekam  ich  das  als  systolisches 
Knisterrasseln  von  Bamberger  zuerst  beschriebene  und  oft  von  ihm 
gehörte  Geräusch  zu  hören;  immer  habe  ich  das  dem  Knistern  ähn- 
liche Geräusch  nur  am  Lungenrande  gehört  und  zwar  nur  bei  der 
Systole  —  niemals  bei  der  Inspiration. 

In  einem  Falle  war  das  systolische  Knisterrasseln  besonders  deutlich 
hörbar,  aber  nur  genau  an  der  Hörstelle  der  Aorta;  das  Geräusch  ver- 
schwand sofort  beim  Aufrichten  des  Patienten;  es  ist  sicher  nicht  —  wie 
Bamberger  gemeint  hat  —  durch  Bewegung  von  Sekret  in  den  feinen 
Luftwegen  zu  erklären.  Nach  meiner  Erfahrung  nimmt  besonders  oft 
das  Geräusch  an  der  Hörstelle  der  Pulmonalis  einen  Charakter  an, 
der  an  Knistern  erinnert,  und  ich  möchte  vermuten,  daß  Potain  und 
Vaquez  die  schwer  genau  zu  bestimmende  Geräuschart  mit  der  von 
ihnen  öfter  beobachteten  Eigenschaft  „d'un  froissement"  bezeichnet  haben. 


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330  Hermann  Müller,  [22 

—  Nicht  so  selten  haben  die  Geräusche  auch  einen  musikalischen 
Charakter  —  sie  sind  giemend,  tönend,  singend  —  allerdings  niemals 
so  laut  wie  die  Stenosengeräusche  der  Aorta.  Diese  giemende,  tönende 
Eigenschaft  der  k.  p.  Geräusche  verdient  eine  besondere  Erwähnung, 
da  gerade  diese  musikalischen  Geräusche  vielfach  als  charakteristisch 
für  Klappenfehler,  Abreißung  von  Sehnenfäden  u.  dgl.  gelten.  —  Vor 
allem  hat  der  Timbre  in  einer  großen  Zahl  der  Fälle  einen  ganz  ober- 
flächlichen Charakter,  wie  schon  Laennec  ganz  richtig  bemerkt  hat. 
Diese  Eigenschaft  ist  oft  sehr  deutlich  ausgesprochen  und  hat  für  den- 
jenigen, der  große  Obung  und  Erfahrung  im  Auskultieren  hat,  etwas 
sehr  Charakteristisches.  Diese  Eigenschaft  ist  aber  weder  konstant 
genug,  noch  so  leicht  zu  bestimmen,  daß  man  ihr  einen  sehr  großen 
Wert  zugestehen  kann.  Einer  der  bezeichnendsten  Charaktere  ist  ein 
dem  Vesikuläratmen  identisches  Timbre. 

Die  Tonhöhe  der  k.  p.  Geräusche  ist  fast  nie  so  hoch  wie  die 
der  Geräusche  bei  Klappenfehlern. 

Die  beiden  Eigenschaften  der  Klangfarbe  und  der  Ton- 
höhe haben  nur  mäßigen  diagnostischen  Wert.  Ganz  an- 
ders ist  es  mit  dem  Sitz  und  dem  Rhythmus  der  Geräusche, 
welche  zu  den  sichersten  Kennzeichen  der  k.  p.  Geräusche 
gehören. 


Region  pi^a  o  ^^  ^"^^^^^^FfhairH^^"''^  pirlnhindibulairt 


J<^j3^^ius^pexienne 
Region  JfiphDtrftCTJia^^^jt^^^/^^S^g^Ss^^  Region 

.  ^  apexienne  propf  dirt 

Zones  err^gions  correspondanf  aux  foyera  des  Souffles  cardiaques 

Um  den  Sitz  der  Geräusche  genau  festzustellen,  hat  Potain  die 
Herzgegend  in  3  Zonen  eingeteilt: 

1.  Zone  Basilaire  —  Herzbasiszone, 

2.  Zone  Mesocardiaque  —  mittlere  Herzzone, 
2.  Zone  Apexienne  —  Zone  der  Herzspitze. 

Jede  von  diesen  drei  Zonen  hat  er  wieder  in  Unterabteilungen  ein- 
geteilt. 


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23]  Ober  kardiopulmonale.  Geräusche.  331 

Die  Herzbasiszone  wird  in  2  Unterabteilungen  eingeteilt:  in  eine 
reclitsgelegene  (r6gion  preaortique),  welche  dem  Ursprünge  der  Aorta 
entspricht,  und  in  eine  linksgelegene  (r6gion  preinfundibulaire),  welche 
über  dem  Conus  arteriosus  der  Pulmonalis  und  dem  Anfangsteile  der 
Puimonalarterie  liegt  An  beiden  Stellen  kann  man  k.  p.  Geräusche 
hören;  an  der  Hörstelle  der  Aorta  sind  sie  nach  Potain  und 
Vaquez  äußerst  selten,  an  der  Hörstelle  der  Pulmonalis  sehr 
häufig.  Nach  meiner  persönlichen  Erfahrung  sind  sie  an  der  Hör- 
stelle der  Aorta  doch  etwas  häufiger,  als  die  beiden  französischen 
Autoren  annehmen;  dagegen  stimmen  alle  Untersucher,  welche  über 
akzidentelle  Herzgeräusche  geschrieben  haben,  darin  überein,  daß 
diese  Art  von  Geräuschen  sehr  häufig  an  der  Hörstelle  der 
Pulmonalis  gefunden  wird. 

In  der  mittleren  Herzzone  hat  Potain  3  Regionen  unterschieden: 
die  Gegend  vor  dem  linken  Ventrikel  (region  preventriculaire  gauche), 
die  Sternalregion  (region  sternale)  und  die  Xiphoidesgegend  (region 
xiphoidienne).  In  der  ersten  Region  werden  sehr  häufig  k.  p. 
Geräusche  gehört,  während  sie  in  den  beiden  anderen  Regi- 
onen recht  selten  zu  hören  sind. 

Die  Zone  der  Herzspitze  teilt  Potain  in  4  Abteilungen  ein: 

1.  eine  r6gion  susapexienne  —  direkt  oberhalb  der  Herzspitze, 

2.  eine  region   apexienne  proprement  dite   —  eigentliche  Herz- 
spitzengegend, 

3.  eine  region  endapexienne  —  innerhalb  von  der  Herzspitze,  und 

4.  eine  region  parapexienne  —  außerhalb  von  der  Herzspitze. 

An  einer  von  diesen  4  Regionen  (Potain),  in  der  Gegend  der 
eigentlichen  Herzspitze,  bekommt  man  fast  nie  k.  p.  Geräusche 
zu  hören;  das  Geräusch  der  Mitralisinsuffizienz  hat  immer  genau  an 
dieser  Stelle  seine  maximale  Intensität.  Im  Gegensatz  dazu  sind 
die  Geräusche,  welche  ihr  Punctum  maximum  innerhalb  oder 
außerhalb  von  der  Herzspitze  haben,  immer  anorganisch.  Wenn 
das  Geräusch  seinen  Sitz  in  der  mittleren  Herzzone  über 
dem  linken  Ventrikel  oder  in  der  Spitzenzone  innerhalb  oder 
außerhalb  von  der  Herzspitze  hat  —  so  lautet  die  Lehre  von 
Potain  —  dann  ist  der  Sitz  des  Geräusches  allein  schon 
pathognomonisch.  An  diesen  Stellen  wird  nach  Potain  mehr  als  die 
Hälfte  aller  k.  p.  Geräusche  beobachtet.  Fast  jedes  Geräusch 
(Potain),  welches  seine  maximale  Intensität  an  der  Hörstelle  der 
Aorta  oder  direkt  an  der  Herzspitze  hat,  ist  organisch. 

Bei  meinen  eigenen  Untersuchungen,  welche  —  wie  ich  schon 
früher    mitgeteilt    habe    —    hauptsächlich    an    ambulanten    Kranken 


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332 


Hcrauma  Mfiller, 


[24 


macht  worden  sind,,  war  es  mir  nicht  möglich,  so  genau  auf  den  Sitz 
der  k.  p.  Geräusche  zu  achten,  wie  Potain  und  Vaquez  es  getan 
haben.  Bei  einer  größeren  Zahl  der  von  mir  beobachteten  Fälle  habe 
ich  die  Art  der  von  andern  Ärzten  wahrgenommenen  Herzgeräusche 
lediglich  daran  erkannt,  daO  ich  bei  meiner  Untersuchung  überhaupt 
kein  Geräusch  gehört  habe.  Insbesondere  habe  ich  der  genauen 
Lokalisation  der  Geräusche  in  der  Spitzenregion  weniger  Aufmerk- 
samkeit geschenkt  als  Potain.  Ich  verzichte  deshalb  ganz  darauf,  wie 
Potain  über  die  Häufigkeit  des  Vorkommens  der  k.  p.  Geräusche  an 
den  verschiedenen  Stellen  des  Herzens  zahlenmäßige  Angaben  zu 
machen  —  meine  eigenen  Erhebungen  sind,  trotzdem  auch  ich  tabel- 
larisch darüber  Protokoll  geführt  habe,  zu  lückenhaft.  Nur  das  möchte 
ich  mit  besonderem  Nachdrucke  erwähnen,  daO  nach  meiner  eigenen 
Erfahrung  die  Geräusche  am  allerhäufigsten   im  2.  l.  R.  links  vom 


Soufnes  prtsque  Ivujours  organiques. 
SouFHes  ie  plus  souven^  organiques. 
5ouPfle5  leplus  souvenr  anorganiques. 
öouPfles  ^ouJours  anorganiques. 


Sternum,  d.  h.  an  der  Hörstelle  der  Pulmonalis,  gehört  werden  und 
daß  demnächst  die  Herzspitzenregion  ein  Lieblingssitz  der  k.  p.  Ge- 
räusche ist.  —  Zudem  ist  die  Bestimmung  des  Sitzes  der  maximalen 
Intensität  der  Geräusche  nicht  immer  leicht,  denn  die  Geräusche  haben 
oft  mehrfache  maximale  Stellen;  besonders  oft  werden  sie  gleichzeitig 
an  der  Hörstelle  der  Pulmonalis  und  in  der  Herzspitzenregion  gehört, 
ohne  daß  von  einer  Fortleitung  von  der  einen  zur  anderen  Stelle  die 
Rede  sein  kann. 

Endlich  gibt  es  noch  eine  Gegend  —  Potain  — ,  wo  man 
niemals  anorganische  (k.  p.)  Geräusche  hört  und  wo  keine 
vorkommen  können;  in  der  mittleren  Herzregion,  da  wo  keine 


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25]  Ober  kardiopulmonale  Geräusche.  333 

Lunge  zwischen  Herz-  und  Brustwand  eingelagert  ist,  im 
Bereich  der  absoluten  oder  kleinen  HerzdämpFung.  Dieser 
Lehre,  welche  Potain  bekanntlich  als  den  ersten  Beweis  dafür  an- 
fuhrt, daß  die  k.  p.  Geräusche  tatsächlich  im  Lungengewebe  entstehen, 
mfissenwir  auf  das  nachdrücklichste  widersprechen.  Ich  habe 
—  wie  ich  glaube  —  den  sicheren  Beweis  erbracht,  daß  die 
Potainsche  (von  Wintrich  begründete)  Erklärung  von  der  Ent- 
stehung der  k.  p.  Geräusche  eine  physikalische  Unmöglichkeit 
ist;  daß  die  Geräusche  in  den  Randzonen  der  Lunge  unmöglich  durch 
Aspiration  von  Luft  entstehen  können,  daß  sie  vielmehr  teils  durch 
Reibung  der  Perikardialblätter  aneinander,  teils  durch  Quetschung 
bzw.  Schwingungen  des  Lungengewebes  in  den  Randzonen  der  Lungen 
erzeugt  werden.  Die  Perikardialblätter  liegen  fortwährend  mit  spiegel- 
glatten Flächen  dicht  aneinander;  während  der  Herzrevolution,  mit  der 
Form-  und  Lageveränderung,  welche  damit  verbunden  ist,  findet  eine 
Verschiebung  des  innem  Blattes  des  Herzbeutels  dem  äußern  gegen- 
über statt.  Dabei  muß  ein  Geräusch  entstehen,  das  aber  meist 
für  jedes  menschliche  Ohr  unhörbar  ist.  Wenn  ein  beson- 
derer Druck  stattfindet,  wenn,  die  Reibung  eine  besonders 
intensive  ist,  entsteht  ein  hörbares  Geräusch  —  und  zwar  nicht 
nur  an  den  Randzonen  der  Lunge,  da  wo  die  Lunge  zwischen  Herz 
und  Brustwand  eingekeilt  ist,  sondern  auch  —  allerdings  viel  seltener 
-^  im  Bereiche  der  absoluten  Herzdämpfung.  Sehr  selten  hört  man 
im  ganzen  Umfange  der  absoluten  Herzdämpfung  ein  anstreifendes, 
reibendes  Geräusch  (z.  B.  im  früher  zitierten  Fall  10). 

Dagegen  gar  nicht  so  selten,  wie  vielfach  angenommen  wird,  hört  man 
diese  Geräusche  an  einer  sehr  eng  umschriebenen  Stelle  links  unten  neben 
dem  Sternum  beim  Ansatz  der  5.  oder  6.  Rippe.  Die  Geräusche  an 
dieser  Stelle  sind  mir  schon  aus  der  Biermerschen  Klinik  bekannt 
(1870—1874).  Die  erste  eingehende  Schilderung  derselben  findet  sich 
in  der  klassischen  Arbeit  von  Johannes  Sei tz  —  Zur  Lehre  von  der 
Oberanstrengung  des  Herzens.  1874  — ,  der  die  Geräusche  schon 
ganz  richtig  durch  Anstreifen  des  Herzens  an  seine  Umgebung  erklärt 
hat.  Die  Klangfarbe  der  Geräusche,  an  dieser  Stelle  ist  leicht  schabend, 
leckend,  kratzend,  anstreifend;  sie  sind  meist  systolisch,  kurz  und  dem 
Tone  angehängt.  Mehrere  Male  habe  ich  aber  bisher  auch  ein  diasto- 
lisches, kurzes  Anstreifen  gehört. i)  Auch  Johannes  Seitz  hat  das 
diastolische  Anstreifen  schon  beschrieben.  Einmal  habe  ich  auch  an 
der  gleichen  Stelle   im   Bereiche  der  absoluten   Herzdämpfung  ein 


1)  Das  diastolische  kann  sogar  stärker  and  von  etwas  längerer  Dauer  als  das 
systolische  sein. 


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334  Hermann  Müller,  [26 

deutlich  tönendes,  giemendes,  systolisches  Geräusch  gehört  (jän- 
gere  Frau  mit  Thrombose  der  Pulmonalarterien,  1907),  ohne  daO 
nachher  bei  der  Sektion  etwas  am  Herzbeutel  oder  im  Innern  des 
Herzens  gefunden  werden  konnte.  —  Es  können  also  durch  ein- 
faches Gleiten  der  glatten  Perikardialblätter  übereinander 
tönende  Geräusche  erzeugt  werden!  —  Man  kann  den  Charakter 
dieses  akzidentellen  perikardialen  Geräusches  ganz  täuschend  repro- 
duzieren, wenn  man  die  linke  Hand  auf  das  eigene  linke  Ohr  auflegt 
und  mit  dem  Perkussionsfinger  der  rechten  Hand  auf  den  Rücken  der 
linken  Hand  eine  leicht  klopfende  und  gleichzeitig  kurze,  schleifende 
Bewegung  ausführt. 

Wer  immer  sich  die  Mühe  nimmt,  bei  der  Auskultation  des  Herzens 
besonders  bei  Herzschwäche  oder  bei  Herzdilationen  infolge  chronischer 
Muskelerkrankung  auch  die  eben  genannte  etwas  stiefmütterlich  be- 
handelte Stelle  noch  wenige  Augenblicke  zu  behorchen,  und  wer  es 
namentlich  nicht  versäumt,  diese  Stelle  auch  im  Stehen  zu  untersuchen, 
der  ist  überrascht,  wie  oft  dieses  kurze  leckende,  anstreifende,  leicht 
schabende  Geräusch  gehört  werden  kann.  Vielfach  hat  man  diese 
„akzidentellen  Reibegeräusche^^  oder  pseudoperikardialen  Geräusche 
auf  abnorme  Trockenheit  des  Herzbeutels  oder  auf  Sehnenflecke  zurück- 
geführt.^) Noch  häufiger  aber  wird  fälschlich  Herzbeutelentzündung 
diagnostiziert.  Leider  können  wir  auf  diese  praktisch  wichtigen  Dinge 
nicht  näher  eingehen,  weil  sie  uns  zu  weit  ab  von  unserm  Thema  führen 
würden.  —  Es  leuchtet  ein,  daß  wegen  der  gleichartigen  Ent- 
stehung der  sog.  kardiopulmonalen  oder  Herzlungengeräusche 
und  der  pseudoperikardialen  Geräusche  deshalb  die  Bezeich- 
nung kardiopulmonale  oder  Herzlungengeräusche  nicht  korrekt  ist;  es 
wäre  darum  —  wie  ich  glaube  —  besser,  diese  Bezeichnung 
ganz  fallen  zulassen,  und  einfach  entweder  von  akzidentellen 
oder  falschen  Herzgeräuschen  zu  reden  im  Gegensatz  zu  den 
wahren  Geräuschen,  welche  auf  einer  anatomischen  Veränderung  des 
Herzens  beruhen. 

3.  Die  Art  der  Verbreitung  der  Geräusche  ist  bei  den  orga- 
nischen und  akzidentellen  Schallerscheinungen  eine  recht  verschiedene. 
Die  Geräusche,  welche  bei  den  Ventilfehlern  entstehen,  verbreiten  sich 
im  allgemeinen  mehr  oder  weniger  vom  Entstehungsherde  und  zwar 
in  einer  Richtung,  welche  einem  jeden  Klappenfehler  eigen  ist.  Die 
organischen  Geräusche  pflanzen  sich  z.  B.  sehr  oft  gegen  die  Achsel- 
höhle oder  nach  der  Klavikula  fort;  sehr  oft  werden  sie  auch  am 


1)  Jürgensen   hat    das    falsche    perikarditische  Reiben    für  ein  Herzmuskel- 
geräusch erklärt  und  gar  nicht  so  selten  bei  vielen  Infektionskrankheiten  gehört. 


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27]  Ober  kardiopulmonale  Geräusche.  335 

Rücken,  besonders  links  von  der  Wirbelsäule  wahrgenommen  oder  sie 
pflanzen  sich  weiter  in  die  groOen  Gefäße  fort.  Die  k.  p.  Geräusche 
sind  öfter  ganz  zirkumskript,  werden  nur  an  einer  ganz  eng  um- 
grenzten Stelle,  welche  mit  dem  Trichter  des  Stethoskopes  bedeckt 
werden  kann,  gehört;  sie  pflanzen  sich  meist  sehr  wenig  oder 
gar  nicht  fort.  Niemals  —  das  muO  nochmals  mit  größter  Ent- 
schiedenheit hervorgehoben  werden  —  sind  die  valvulären  Geräusche  auf 
einen  so  engen  Raum  begrenzt.  Das  ist  für  den  erfahrenen  Beobachter 
von  allergrößtem  diagnostischen  Wert  —  ein  besonders  zuverlässiges 
physikalisches  Zeichen.  Hat  in  solchen  Fällen,  was  öfter  gerade  am  Ur- 
sprünge der  großen  Gefäße  zutrifft,  der  Klangcharakter  der  Geräusche 
Ähnlichkeit  mit  den  häufig  engumschriebenen  organischen  perikardi- 
tischen Geräuschen,  dann  wird  leicht  die  falsche  Diagnose  «Perikar- 
ditis^ gemacht.  Allerdings  können  sich  die  k.  p.  Geräusche  oft  an 
mehreren  Stellen,  ja  sogar  entlang  dem  ganzen  linken  oder  —  seltener 
—  dem  rechten  Lungenrande  entwickeln,  ohne  daß  es  sich  um  eine 
eigentliche  Propagation  handelt;  da  muß  man  dann  genau  auf  den 
Rhythmus  achten. 

4.  Von  viel  größerem  diagnostischen  Werte  als  die  Be- 
stimmung des  Sitzes  ist  für  den  praktischen  Arzt  die  genaue  Beob- 
achtung des  Rhythmus  der  Geräusche.  Unter  Rhythmus  der  Ge- 
räusche verstehen  wir  die  genauen  Beziehungen  derselben  zu  den 
Phasen  der  Herzbewegung  und  zu  den  normalen  Tönen. 

Die  k.  p.  (akzidentellen)  Geräusche  sind  meistens  systolisch. 
Sie  bieten  bei  scharfer  Beobachtung  einige  Eigentümlichkeiten,  die  zu 
erkennen  von  der  größten  Wichtigkeit  ist.  Zur  genaueren  Differen- 
zierung derselben  von  den  organischen  Geräuschen  unterscheidet 
Potain  holosystolische  (o^o^  »  ganz)  Geräusche,  d.  h.  solche,  welche 
die  ganze  Systole  ausfüllen,  und  merosystolische  {\Upo^  =  Teil)  Ge- 
räusche, d.  h.  solche,  welche  nur  einen  Teil  der  Systole  einnehmen. 
Unter  den  merosystolischen  Geräuschen  unterscheidet  Potain: 

a)  protosystolische  (-pcoToc  =>  der  erste),  die  ganz  im  Anfange 
der  Systole  entstehen  und  rasch  aufhören, 

b)  mesosystolische  (p.£ao;  ^  Mitte),  welche  in  der  Mitte  der 
Systole  beginnen  und  endigen,  bevor  man  den  zweiten  Ton 
hört,  und 

c)  telosystolische  (xilot;  »  Ende),  welche  nur  gegen  das  Ende  der 
Systole  gehört  werden. 

Bei  den  Klappenfehlern  sind  die  Geräusche  —  Potain  — 
immer  holosystolisch,  sie  füllen  die  ganze  Systole  aus.  Die  an- 
organischen Geräusche  sind  fast  immer  merosystolisch,  sie 
nehmen  nur  selten  die  ganze  Systole  ein.    Nach  Potain  ist  der 


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336  Hermann  Mfiller,  [28 

mesosystolische  Rhythmus  der  k.  p.  Geräusche  weitaus  der 
häufigste;  er  ist  nach  Potain  absolut  charakteristisch  ffirdie 
k,  p.  Geräusche.  — 

Damit  stimmt  meine  Erfahrung  im  großen  und  ganzen  liberein  und 
wenn  ich  nicht  so  ganz  feine  Unterschiede  im  Rhythmus  der  Ge- 
räusche wie  Potain  gemacht  habe  und  speziell  auf  die  Unterscheidung 
von  telosystolischen  Geräuschen,  welche  innerhalb  von  der  Herz- 
spitze noch  mehr  verspätet  als  an  den  andern  Stellen  der  Spitzen- 
region entstehen  sollen,  keinen  Wert  lege,  so  möchte  ich  doch  ein 
ganz  besonderes  Gewicht  darauf  legen,  daß  namentlich  dann,  wenn 
die  Geräusche  ihren  Sitz  über  dem  linken  Ventrikel  oder  in 
der  Gegend  der  Herzspitze  haben,  das  k.  p.  Geräusch  sehr 
deutlich  mit  einem  Tone  anfängt,  während  die  Geräusche 
an  der  Herzbasis,  also  hauptsächlich  an  der  Hörstelle  der 
Pulmonalis,  genau  mit  dem  systolischen  Tone  einsetzen, 
protosystolisch  sind.  —  Die  Schallerscheinungen,  „welche  sich  an  den 
ersten  Ton  anschließen^^,  „welche  dem  Tone  nachschleppen  oder  an- 
gehängt sind^^  —  wie  diese  akustische  Erscheinung  von  den  verschie- 
densten deutschen  Autoren  beschrieben  wird  —  das  perisystolische 
Geräusch  (Bamberger)  und  das  prädiastolische  Geräusch  (Sahli) 
sind  sicher  keine  Insuffizienzgeräusche.  Wir  wollen  die  von  Potain 
gewählte  Bezeichnung  „mesosystolisches  Geräusch^^  beibehalten. 
Wir  werden  später  noch  hören,  daß  das  Geräusch  fast  mathematisch 
genau  in  der  Mitte  des  systolischen  Tones  anfängt,  denselben  aller- 
dings aber  oft  überdauert.  So  ist  also  das  Verhalten  eines  Mitral- 
klappengeräusches  zum  ersten  Tone  von  größter  Bedeutung  für  die 
Diagnose^  und  wer  es  durch  Übung  erlernt  hat,  streng  auf  den  Rhythmus 
eines  systolischen  Geräusches  in  der  Herzspitzenregion  zu  achten,  der 
wird  leicht  diagnostische  Irrtümer  vermeiden. 

Recht  oft  ist  der  mesosystolische  Rhythmus  so  evident,  daß  auch 
der  weniger  Geübte,  wenn  er  einfach  aufgefordert  wird,  ganz  genau 
die  Aufmerksamkeit  auf  den  Rhythmus  zu  konzentrieren,  mit  Leichtig- 
keit' hört,  daß  das  Geräusch  erst  ein  kurzes  Weilchen  —  ich  will 
hier  schon  bemerken,  daß  diese  Zeit  selbstverständlich  der 
Verschlußzeit  entspricht  —  nach  dem  Beginn  des  ersten  Tones 
auftritt.  Je  größer  die  Übung  des  Untersuchers  ist,  desto  rascher 
erkennt  er  das  besonders  zuverlässige  Auskultationsphänomen.  Ist  die 
Entscheidung,  ob  ein  Ton  neben  dem  Geräusche  hörbar  ist  und  in 
welchem  Momente  der  Ton  genau  beginnt,  schwierig  zu  treffen,  so 
kann  man  sich  mit  Vorteil  des  bekannten  Kniffes  bedienen  und  das 
Ohr  ganz  wenig  vom  Stethoskope  abheben  —  der  Ton  tritt  dann  oft 
deutlicher  hervor  und  der  Rhythmus  wird  besser  erkannt. 


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29]  Ot>cf  kardiopulmonale  Geräusche.  337 

Die  von  Potain  aufgestellte  Regel,  daß  ein  mesosysto- 
lisches  Geräusch  sicher  ein  anorganisches  sei,  erfährt  nur 
eine  Ausnahme,  v.  Noorden  hat  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß 
bei  Stenose  der  Aorta  nicht  selten  das  systolische  Geräusch  mit  einem 
Tone  anfangt  Ich  selbst  habe  schon  seit  vielen  Jahren  in  den  Fällen 
von  Aortenstenose,  bei  denen  die  maximale  Intensität  des  Geräusches 
an  der  Herzspitze  war,  weshalb  anderwärts  Insuffizienz  der  Mitrallclappe 
diagnostiziert  wurde,  die  Diagnose  Stenose  der  Aorta  besonders  des- 
halb stellen  können,  weil  das  Geräusch  sehr  deutlich  —  sogar  be- 
sonders deutlich,  der  verlängerten  Verschlußzeit  entsprechend,  mit 
einem  Tone  angefangen  hat. 

Aber  auch  die  diastolischen  akzidentellen  Herzgeräusche  sind 
nicht  solche  Raritäten,  wie  von  vielen  Autoren  behauptet  wird.  Wohl 
der  erste,  der  das  Vorkommen  von  einem  diastolischen  akzidentellen 
Herzgeräusch  bei  einem  Falle  von  höchster  Oligämie  nach  kopiösen 
Darmblutungen  —  Sektion:  höchste  Anämie,  Verfettung  des  Herzens 
—  beschrieben  hat,  ist  Friedreich  (1862).  Nach  ihm  haben  King 
(1871)  und  Strümpell  (1876)  je  einen  Fall  von  tiefer  Anämie  be- 
schrieben, wo  ebenfalls  ein  diastolisches  Herzgeräusch  zu  hören  war. 
Ich  selbst  habe  im  Jahre  1877  in  meiner  Monographie  „Die  progres- 
sive, perniziöse  Anämie^^  (62  Fälle)  7  Fälle  publiziert,  bei  denen  in 
sehr  vorgerücktem  Stadium  der  Krankheit,  meist  bei  gleichzeitig  vor- 
handenem Venenpuls  und  nachweisbarer  Dilatation  der  Herzhöhlen 
(Herzverfettung)  ein  diastolisches  Geräusch  am  Herzen  zum  Vorschein 
kam.  Eichhorst  (1878)  hat  in  3  von  7  Fällen  bei  perniziöser  Anämie 
ebenfalls  ein  diastolisches  akzidentelles  Geräusch  beobachtet.  —  Potain 
hat  20mal  diastolische  Geräusche  gefunden  und  zwar  bei  den  ver- 
schiedensten Krankheiten  (mit  Ausschluß  der  perniziösen  Anämie,  die 
anscheinend  von  Potain  nie  beobachtet  wurde).  —  Unter  den  ca. 
260  Fällen,  welche  ich  dieser  Arbeit  zugrunde  gelegt  habe,  habe  ich 
8mal  diastolische  Geräusche  beobachtet  (also  im  ganzen  15  Fälle  mit 
diastolischem  Geräusche  —  nicht  mitgerechnet  die  Fälle  von  diasto- 
lischem akzidentellen  Reibegeräusch  links  unten  neben  dem  Ster- 
num)i). 

Ich  will  heute  nicht  näher  eingehen  auf  diese  Fälle,  nur  das  eine 
möchte  ich  feststellen,  daß  auch  die  diastolischen  akzidentellen 
Geräusche  unzweifelhaft  in  gleicher  Weise  entstehen  wie 


1)  Die  diastolischen  Geräusche  sind  ebenfalls  meist  dem  Tone  angehängt  (meso- 
diastolisch).  Ihr  Sitz  ist  entweder  die  Herzbasis ,  nach  Potain  hauptsächlich  an 
der  Hörstelle  der  Aorta  oder  an  der  Herzspitze,  nach  meiner  eigenen  Erfahrung 
daselbst  sogar  häufiger. 


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338  Hermann  Müller,  [30 

die  systolischen  —  durch  Reibung  der  Perikardialblatter 
aneinander  bzw.  durch  Quetschung  der  Randpartien  der 
Lungen.  Während  der  Diastole  gleitet  das  Herz  auf  dem 
gleichen  Wege,  den  es  während  der  Austreibungszeit  gemacht 
hat,  zurück  und  nimmt  genau  seine  ursprüngliche  Stelle 
wieder  ein.  Alle  andern  Erklärungsversuche,  wie  z.  B.,  daß  die 
diastolischen  Geräusche  fortgeleitete  Venengeräusche  seien  (Sahli, 
Krehl  u.  a.),  halten  vor  einer  strengen  Kritik  nicht  stand  und  sind 
an  Hand  der  einzelnen  Beobachtungen  mit  Leichtigkeit  zu  widerlegeD.^ 

5.  Die  k.  p.  Geräusche  sind  recht  häufig  durch  eine  außer- 
ordentliche Veränderlichkeit  ausgezeichnet;  sie  können  erscheinen, 
verschwinden,  Ort,  Rhythmus  und  Klangfarbe  können  von  einem  Tag 
auf  den  andern,  ja  von  einem  Augenblicke  zum  andern  wechseln.  So 
kommt  es  oft  vor,  daß  der  eine  Untersucher  ein  lautes  Herzgerausch 
wahrnimmt,  das  ein  zweiter  kurze  Zeit  nachher  nicht  mehr  hören 
kann.  Die  k.  p.  Geräusche  sind  auch  veränderlich  bezüglich  ihres 
Sitzes;  ein  Geräusch,  das  sich  zuerst  im  2.  L  R.  links  hörbar  macht, 
findet  sich  kurze  Zeit  später  an  der  Spitze  oder  umgekehrt.  Dieser 
auffallende  Wechsel  ist  z.  B.  bei  der  Chlorose  schon  lange  bekannt, 
aber  nur  vielfach  wieder  vergessen  worden. 

Der  Wechsel  der  k.  p.  Geräusche  findet  entweder  spontan 
statt  oder  infolge  von  veränderter  Herztätigkeit  oder  unter 
dem  Einflüsse  von  Änderung  der  Atmung  oder  bei  Wechsel 
der  Lage  des  Patienten. 

a)  Es  ist  schon  lange  bekannt,  daß  im  Beginne  der  Krankenunter- 
suchung die  Herzaktion  oft  aufgeregt  ist.  Schon  Celsus  hat  den  Rat 
erteilt,  den  Puls  nicht  am  Anfange  der  Untersuchung  zu  zählen,  da  er 
dann  leicht  frequenter  ist,  und  besonders  Bamberger  hat  nachdrack* 
lieh  darauf  aufmerksam  gemacht,  wie  wichtig  für  die  Vornahme  der 
Herzuntersuchung  körperliche  und  psychische  Ruhe  des  zu  Unter- 
suchenden sei,  da  sonst  selbst  der  Geübte  den  gröbsten  Täuschungen 
ausgesetzt  sei.  Gar  nicht  selten  hört  man,  wenn  die  Untersuchung 
des  Herzens  mit  der  Auskulation  angefangen  wird,  ein  lautes  systo- 
lisches Herzgeräusch,  das  nach  kürzerer  oder  längerer  Ruhe  auf  dem 
Untersuchungsbette  vollständig  verschwindet.  Wiederholt  habe  ich 
ein  Geräusch  nur  ganz  kurze  Zeit,  kaum  eine  Viertelsminute  lang, 
gehört.    Meine  Schüler  erinnere  ich  deshalb  öfter  an  die  Regel,  die 


1)  Wer  sich  für  dieses  spezielle  Kapitel  näher  interessiert,  findet  in  einer  kiirz- 
lieh  erschienenen  Zürcher  Dissertation  die  von  einem  meiner  Schüler  (Charles 
Favre,  Ober  diastolische,  akzidentelle  Herzgeräusche.  1907)  die  genaue  Schilderung 
der  Potain  sehen,  meiner  und  der  meisten  bisher  veröffentlichten  Fälle. 


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31]  Über  kardiopulmonale  Geräusche.  339 

Herzuntersuchung  nicht  mit  der  Auskultation,  sondern  mit  der  Inspek- 
tion und  Perkussion  zu  beginnen.  Da  man  gewöhnlich  eine  Hörstelle 
nur  wenige  Sekunden  behorcht,  macht  man  sehr  leicht  falsche  dia- 
gnostische Schlässe,  wenn  ein  Geräusch  am  Herzen  gehört  wird. 

Umgekehrt  hat  man  die  Behauptung  aufgestellt  —  und  in  der 
Sprechstunde  des  Arztes  wird  noch  sehr  häufig  auf  diese  Art  die 
Funktion  des  Herzens  geprüft—,  daO  manche  organischen  Herzgeräusche 
erst  durch  Herumlaufen  im  Zimmer,  durch  einige  Turnübungen  oder 
durch  öfteres  tiefes  Einatmen  u.  dgl.  hörbar  gemacht  werden  können. 
Das  ist  ein  großer  Irrtum!  Alle  Herzgeräusche,  die  in  der  Ruhe  ganz 
fehlen  und  erst  bei  Anregung  der  Herztätigkeit  zum  Vorschein  kommen, 
sind  sicher  akzidentelle.  Auch  die  leichten  perikardialen  Reibege- 
räusche, welche  erst  auf  diese  Weise  bemerklich  werden,  sind  keine 
echten  Reibegeräusche.  Ja  selbst  die  schwachen  Geräusche,  welche 
durch  Bewegung  eine  bedeutende  Verstärkung  erfahren,  sind  meist 
keine  organischen  Geräusche. 

b)  Laennec,  der  berühmte  Erfinder  der  Auskultation,  der  bekannt- 
lich auch  die  anorganischen  Geräusche  schon  genau  kannte,  hat  geglaubt, 
daß  ein  Herzgeräusch,  welches  seinen  Sitz  in  der  Lunge  hat,  ver- 
schwinden müsse,  wenn  die  Atmung  unterbrochen  wird.  Viele  Autoren 
sind  noch  heute  der  Meinung,  daß  man  so  am  leichtesten  und  ganz 
rasch  die  Herzlungengeräusche  erkennen  und  diagnostische  Irrtümer 
vermeiden  könne.  Das  ist  aber  noch  lange  nicht  immer .  der  Fall. 
Hier  und  da  verwandelt  sich  das  k.  p.  Geräusch  bei  forcierter  Ein- 
atmung in  ein  sakkadiertes  Geräusch.  —  Bei  tiefer  Einatmung  kann 
das  k.  p.  Geräusch  beträchtlich  an  Intensität  abnehmen  oder  selbst 
ganz  verschwinden  und  bei  der  Exspiration  wird  es  bedeutend  stärker. 
Auch  das  trifft  aber  lange  nicht  in  allen  Fällen  zu.  Hier  und  da 
kommt  es  sogar  nur  auf  der  Höhe  der  Inspiration  oder  nur  bei  der 
Exspiration  zustande.  Niemals  erfährt  ein  im  Innern  des  Her- 
zens entstehendes  Geräusch  eine  so  erhebliche  Änderung 
der  Stärke  während  der  Ein-  und  Ausatmung.  Die  Abschwä- 
chung  der  sicher  organischen  Geräusche,  welche  durch  die  Vorlage- 
rung der  Lunge  bedingt  wird,  ist  nach  meiner  Erfahrung  niemals 
beträchtlich. 

c)  Besonders  charakteristisch  und  absolut  beweisend  für 
die  Diagnose  ist  der  Wechsel  der  anorganischen  Geräusche 
bei  Änderung  der  Lage  des  Kranken.  Von  einigen  Autoren  wurde 
schon  früh  darauf  hingewiesen,  daß  die  anorganischen  Geräusche  bei 
Lagewechsel  einer  Veränderung  unterworfen  sind,  wie  sie  bei  den 
organischen  Geräuschen    nicht   in   gleichem  Maße  vorkommt.    Herz- 


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340  Hermann  Müller,  [32 

geräusche,  die  nur  im  Liegen  oder  nur  im  Sitzen  oder  Stehen  hörbar 
sind,  sind  niemals  Klappengeräusche.  Recht  häufig  ist  dieser  Wechsel 
ein  ganz  auffälliger;  ein  Geräusch,  das  im  Liegen  hörbar  ist,  kann 
spurlos  verschwinden  beim  Aufstehen  oder  umgekehrt.  Geräusche, 
die  nur  hier  und  da  einmal  in  der  rechten  oder  linken  Seitenlage 
gehört  werden,  sind  niemals  organische  Geräusche.  Auch  Geräusche, 
die  bei  Lagewechsel  beträchtlich  zu-  oder  abnehmen,  sind  sicher  k.  p. 
Geräusche.  Es  muO  deshalb  mit  gebührendem  Nachdrucke 
und  wiederholt  jedem,  der  eine  Herzuntersuchung  zumachen 
hat,  der  Rat  erteilt  werden,  die  Untersuchung  in  verschie- 
denen Positionen  —  im  Liegen  und  im  Stehen  —  vorzunehmen, 
wenn  ein  Geräusch  am  Herzen  gehört  wird,  und  es  ist  selbst- 
verständlich ganz  gleich,  ob  die  Untersuchung  zuerst  am  Stehenden 
oder  am  Liegenden  vorgenommen  wird.  Mir  macht  es  bestimmt  den 
Eindruck,  daß  besonders  häufig  im  Stehen  Herzgeräusche  gehört 
werden,  die  akzidenteller  Natur  sind.  Ich  selbst  untersuche  das  Herz 
fast  immer  zuerst  in  liegender  Position  des  Kranken  und  ich  halte  es 
geradezu  für  einen  Kunstfehler,  wenn  —  wie  das  so  sehr  häufig  ge- 
schieht —  die  Untersuchung  des  Herzens  nur  im  Stehen  vorgenommen 
wird.  —  Wenn  aber  ein  Geräusch  bei  Lagewechsel  sich  nicht  ändert, 
so  ist  es  nicht  notwendigerweise  ein  organisches  Geräusch;  denn 
viele  anorganischen  Geräusche  ändern  sich  kaum  bei  Lagewechsel.  — 
Die  organischen  Geräusche  sind  lange  nicht  in  dem  Maße  einer  Ver- 
änderung fähig;  sie  sind  im  allgemeinen  fix  und  verschwinden  kaum 
mehr.  Wenn  vielleicht  eine  Ausnahme  zu  machen  ist  für  die  Mitral- 
stenose und  die  Trikuspidalisinsuffizienz,  so  dürfte  die  Diagnose  meist 
keine  ernstlichen  Schwierigkeiten  bereiten,  denn  der  erste  dieser  Herz- 
fehler ist  durch  eine  Reihe  anderer  physikalischer  Erscheinungen 
(perkussorischer  und  auskultatorischer)  ausgezeichnet  und  der  zweite 
ist  am  positiven  Venenpuls  leicht  zu  erkennen. 

6.  Endlich  ist  für  die  Differentialdiagnose  der  Geräusche  noch  die 
Palpation  zu  verwerten.  Akzidentelle  Geräusche  werden  nie- 
mals durch  das  Gefühl  wahrgenommen.  Das  Schwirren,  welches 
manchmal  bei  tiefen  Anämien  (z.  B.  bei  der  perniziösen  Anämie)  nach- 
gewiesen werden  kann,  ist  der  fühlbare  Ausdruck  der  durch  die  Ver- 
fettung des  Herzmuskels  bedingten  muskulären  Insuffizienz. 

Die  Entstehung  des  Herzstoßes  und  der  Herztöne.  —  Zum 
Verständnis  der  physikalischen  Phänomene,  welche  wir  im  vorher- 
gehenden geschildert  haben,  sind  einige  Bemerkungen  und  physiolo- 
gische Kenntnisse  notwendig,  und  ich  muß  zunächst  meine  Ansicht 
über  die  Entstehung  des  Herzstoßes  und  über  die  Entstehung  der 
Herztöne,  die  von  den  gangbaren  Erklärungen  in  einigen  nicht  un- 


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33]  Ober  kardiopulmonale:  .Geräuscke.  341 

iii^esentlichen  Punkten  ab axicht,  feststellen.  Die  Literatur  über  ded 
HerzstoO  und  über  die  Entstehung  der  Herztöne  ist  eine  aufierordent-^ 
lieh  große  und  es  kann  heute  selbstverständlich  nicht  meine  Aufgabe 
sein,  auf  dieselbe  näher  einzugehen.  Ich  berücksichtige  jetzt  nur  die 
allerneuesten  Lehrbücher  bzw.  die  neuesten  Auflagen  derselben  (Sahli, 
Untersuchungsmethoden.  i005.  Romberg,  Herzkrankheiten.  1906. 
Hermann,  Physiologie.    1905.    Tigerstedt,  Physiologie.    1907). 

Bekanntlich  hat  Martius,  der  nach  der  Markiermethode  (Marey) 
die  Herztöne  nach  dem  Gehör  auf  der  HerzstoOkurve  mittels  eines 
elektrischen  Signals  verzeichnet  hat,  die  Lehre  aufgestellt,  daß  die 
ganze  Erscheinung  des  Herzstoßes  in  die  Verschlußzeit  fällt; 
d.  h«  in  die  Zeit,  in  welcher  noch  alle  Klappen  geschlossen  sind. 

In  seiner  Abhandlung  „Ober  den  Herzstoß  des  gesunden  und  kranken  Men-» 
sehen**  (1894)  sagt  Martius:  „Wir  können  den  Vorgang  des  Herzstoßes  ohne  wei- 
tere Hilfsmittel  durch  reine  Betrachtung  noch  weiter  analysieren.  Wenn  man  einen 
gut  ausgebildeten  Spitzenstoß  eines  jugendlichen  Individuums  aufmerksam  befühlt^ 
so  kann  man  meist  deutlich  3  Phasen  des  Vorgangs  unterscheiden:  I.  ein  Vorge- 
wölbtsein  der  Brustwand,  2.  ein  mehr  oder  weniger  brüskes  Zurücksinken  derselben,. 
3.  eine  Pause,  während  welcher  nichts  von  Bewegung  gefühlt  wird.** 

Dieser  Lehre  habe  ich  seinerzeit  in  einem  Vortrage  „Eine  neue  Theorie  des 
Herzstoßes  (1896)**  Opposition  gemacht  und  habe  gezeigt,  daß  wir  —  hie  und  da — 
am  Vorgange  der  Herzbewegung  deutlich  4  Phasen  unterscheiden  können:  1.  eine 
kleine  hügelige  Hervorwölbung,  2.  eine  wellenförmige,  pendelartige  Bewegung  nach 
rechts,  3.  2 — 3  cm  nach  innen  von  der  systolischen  Hervorwölbung  eine  zweite  etwas 
weniger  starke  und  weniger  umfangreiche  Hervorwölbung,  welche  nach  der  Aus- 
kultation ganz  deutlich  mit  dem  2.  Tone  zusammenfällt,  4.  eine  ächattenartige, 
rückläufige  blitzschnelle  Bewegung  von  der  Stelle  des  2.  Stoßes  zur  Stelle  des  1. 
(Das  —  wie  ich  glaube  —  von  mir  zuerst  beschriebene  Phänomen  des  doppelten 
Herzstoßes  habe  ich  als  Ictus  cordis  alternans  bezeichnet.)  Die  erste  Hervorwöl- 
bung führte  ich  —  wie  Martius  —  auf  die  Verschlußzeit  zurück. 

Ich  hatte  damals  —  wie  Martius,  R.  Geigel  und  zahlreiche 
andere  —  noch  nicht  genügend  bedacht,  daß  wir  mit  dem  einfachen 
Gehör  überhaupt  gar  nicht  imstande  sind,  den  Anfang  ein^s 
Herztones  zeidich  genau  zu  markieren.  —  Untersuchungen  von  Schmidt, 
Härthle,  Hilbert,  Hochhaus  u.  a.  haben  außerdem  gezeigt,  daß 
die  Periode  der  Vorwölbung  länger  dauert  als  die  Verschlußzeit,  und 
daß  der  Karotispuls  beginnt,  bevor  das  Ansteigen  des  Herzstoßes  den 
Gipfel  erreicht  hat.  Die  meisten  modernen  Kliniker  haben  deshalb 
die  Marti ussche  Lehre,  daß  der  Herzstoß  eine  Funktion  der  Ver- 
schlußzeit sei,  verlassen  und  geben  nur  zu,  daß  an  der  Bildung  des 
Herzstoßes  die  Formveränderung  des  Herzens  während  der 
Verschlußzeit,  die  plötzlich  eintretende  Härte  desselben  den  größten 
Anteil  haben.  Auch  das  möchte  ich  bezweifeln  und  bin  der  Meinung, 
daß  der  Herzstoß  hauptsächlich  in  den  Anfang  der  Austrei- 
bungszeit   fällt    und   wesentlich    abhängig    ist    von    der   Be- 

Klln.  Vorträge,  N.  F.  Nr.  500/01.    (Innere  Medizin  Nr.  147/4a)    Sept.  1908.  24 


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342  Hermann  Mfiller,  [34 

wegung  des  Herzens,  welche  dasselbe  durch  die  Gerade- 
streckung der  Aorta,  durch  Spreizung  des  Aortenbogens  beim 
Ausströmen  des  Blutes  erfährt.  Durch  eine  einfache  Fragestellung 
bin  ich  dazu  gekommen,  die  geläufige  Lehre  von  der  Entstehung  des 
HerzstoOes  in  diesem  Sinne  zu  korrigieren.  Ich  habe  mich  gefragt: 
Wie  groß  kann  die  Formveränderung  des  Herzens  sein,  die  während 
der  Verschlußzeit  entsteht,  während  welcher  die  Wandung  des  blut- 
gefüllten Herzens  sich  um  den  inkompressiblen  Inhalt  zusammenzieht  und 
den  Druck  so  steigert,  daß  die  Taschenklappen  erö£Pnet  werden?  Darauf 
mußte  ich  antworten:  Die  Formveränderung  des  Herzens  wäh- 
rend der  Verschlußzeit  kann  nur  eine  geringe  sein  undjeden- 
falls  nicht  so  groß,  daß  sie  den  sichtbaren  Herzstofl  erzeugen 
kann. 

Durch  weitere  Überlegung  bin  ich  dazu  gekommen,  zu  sagen: 

1.  Wenn  der  erste  Ton  an  der  Spitze  wirklich  ein  Klappen- 
ton ist  und  durch  Spannung  der  Vorhofsklappen  entsteht, 
dann  kann  er  nur  so  lange  dauern  wie  die  Verschlußzeit. 

2.  Der  1.  Ton  an  der  Herzbasis,  der  nach  der  bisher  all- 
gemein akzeptierten  Lehre  von  Bamberger  durch  plötzliche 
Spannung  der  Arterienwand  im  Wurzelgebiete  der  großen 
Gefäße  entsteht,  muß  etwas  später  eintreten  als  der  1.  Ton 
an  den  Atrioventrikularklappen. 

Ich  habe  daraufhin  gesucht  und  in  Pflügers  Archiv  für  Physiologie 
(1804)  eine  oft  zitierte,  aber  offenbar  wenig  beachtete  Arbeit  gefunden, 
welche  meine  aprioristischen  Schlußfolgerungen  glänzend 
bestätigt  hat. 

Einthoven  und  Geluk  haben  durch  einen  sehr  ingeniösen  Apparat  unter 
Anwendung  eines  äußerst  empfindlichen  Mikrophons  die  Herztöne  aufgenommen 
und  zwar  haben  sie  mittels  eines  Kapillarelektrometers  die  Stromschwankungen, 
welche  durch  die  Erregung  eines  stromdurchflossenen  Mikrophons  hervorgerufen 
werden,  photographisch  registriert  —  unter  gleichzeitiger  Anwendung  des  Kardio- 
graphen.  Ich  habe  mich  durch  Rücksprache  mit  Kollegen  Höber  vergewissert, 
daß  die  Versuchsanordnung  von  Einthoven  von  größter  Zuverlässigkeit  ist  Mit 
einer  bisher  unerreichten  Genauigkeit  bis  auf  einige  Zehntausend- 
stel einer  Sekunde  kann  der  Anfang  jedes  Tones  bestimmt  werden. 

„Die  Kurve  C  stellt  das  menschliche  Kardiogramm  dar,  S  ist  die  Zeitlinie, 
deren  jede  Abteilung  0,02  Sekunden  entspricht.  Die  breiten  Streifen  1  und  2  be- 
deuten den  1.  und  2.  Herzton.  Der  1.  Ton  tritt  eher  an  der  Herzspitze  als 
im  2.  Interkostal  räum  hervor;  bei  a  fängt  der  1.  Spitzenton  an,  bei  b  der 
1.  Aorta-  und  Pulmonalton.  (Weder  vom  1.  noch  vom  2.  kann  der  genaue  Zeit- 
punkt angegeben  werden,  worauf  sie  endigen;  dieser  Zeitpunkt  muß  irgendwo  in 
den  schraffierten  Stücken  cd  und  fg  gefunden  werden.)  An  der  Herzspitze  ist  der 
1.  Ton  schon  vorhanden  —  bei '  aai  —  vor  dem  Anfange  des  Kardiogrammes. 
Dieses  Ergebnis  könnte  auf  verschiedene  Weise  gedeutet  werden,  wir  gehen  jedoch 


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35] 


Ober  kardiopulmonale  Geräusche. 


343 


nicht  näher  darauf  ein,  weil  das  Zeitintervall  nur  klein  ist.  Eine  größere  Be» 
deutung  hat  die  Tatsache,  daß  im  2.  LR.  der  I.Ton  in  dem  Augenblick 
anfängt,  wo  ungefähr  die  Hälfte  des  anakroten  Teiles  des  Kardio- 
gramms vollendet  ist  (bbi). 

„NE^enn  wir  uns  die  Frage  stellen,  welchem  Umstände  es  zugeschrieben  werden 
muß,  daß  der  1.  Ton  als  Aorta«  oder  Pulmonalton  so  viel  später  als  der  1.  Spitzen- 
ton anfängt,  so  erblicken  wir  zwei  Möglichkeiten.  Entweder  man  hört  im  2.  Inter- 
kostalraume  als  1.  Ton  einen  andern  Schall  als  an  der  Herzspitze  —  und  zwar 
hervorgerufen  durch  die  plötzliche  Spannung  der  Arterienmembran 
—  oder  die  Semilunarklappen  verhindern  —  solange  sie  noch  geschlossen  sind  — 
die  Fortpflanzung  des  Tones  von  den  Ventrikeln  nach  den  Arterien.  In  beiden 
Fällen  wird  der  1.  Ton  im  2.  I.  R.  anfaj^gen  müssen  in  dem  Augenblicke,  wo  die 
Semilunarklappen  sich  öffnen,  und  dariaus  folgt,  daß  der  Anfang  dieses  Tones 
ein  ausgezeichnetes  Mittel  darstellt,  diesen  Zeitpunkt  zu  bestimmen 
(siehe  das  Kardiogramm  bi). 

Der  Anfang  des  2.  Tones  liegt  im  Kardiogramm  bei  Ci  und  gibt  hier  den  Zeit- 
punkt an,  wo  die  Semilunarklappen  geschlossen  werden.  Die  ganze  Herzsystole 
muß  also  in  2  Perioden  geteilt  werden,  die  1.  aibi  —  durchschnittlich 
0,061  Sekunden  andauernd  —  worin  der  Druck  in  den  Ventrikeln  sich  erhöht, 
aber  doch  noch  ungenügend  bleibt,  das  Blut  in  die  Arterien  zu  treiben  —  d  ie  2. 
biCi,  die  Austreibungsperiode  des  Blutes,  anfangend  mit  der  Öffnung, 
endigend  mit  der  Schließung  der  Semilunarklappen." 


[äl. 


I    I    I 


I    I    I    I 


I    I    I    I    I    I    1    I    I    I    I    I    I    I    I    I 


Die  genaue  Prüfung  des  Einthoven  sehen  Kardiogrammes  ergibt 
in  der  Tat: 

1.  Erst  am  äußersten  Ende  der  Systole  sinkt  das  Plateau  der  Kurve, 
das  sich  gegen  die  Abszisse  neigt,  kaum  merklich  unter  die  Stelle, 
welche  im  aufsteigenden  Schenkel  während  der  Verschlußzeit  erreicht 
worden  ist;  daraus  ergibt  sich,  daß  die  Ursache  des  normalen 
Herzstoßes  zur  Hauptsache  in  der  Bewegung  zu  suchen  ist, 
welche  das  Herz  beim  Auströmen  des  Blutes  erfährt. 

2.  Die  Äustreibungsperiode  dauert  fast  5mal  länger  als 
die  Verschlußzeit. 

3.  Der  systolische  Ton  an  der  Herzspitze,  der  auch  für  das 
Ohr  erkennbar  länger  ist  als  der  1.  Ton  an  den  großen  Gefäßen,  nimmt 
nicht  ganz  die  Hälfte  der  Systole  ein;  er  klingt  ganz  genau 

24* 


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344  Hermanii  Muller, .  [36 

SO  viel  länger  als  der  1.  Ton  an  der  Herzbasis,  als  die  Ver- 
schlußzeit dauert. 

4.  Der  1.  Ton   an   den   großen   Gefäßen   dauert   genau   so 
lange  wie  der  2.  Herzton. 

Die  Pause  zwischen  den  beiden  Herztönen  dauert  etwas  länger  als 
der  systolische  Ton.    Es  ist  deshalb  ganz  falsch,  wenn  in  einem  be- 
kannten Lehrbuche  der  Physiologie  die  Lehre  verbreitet  wird  —  „der 
1.  Herzton  hält  so  lange  an  wie  die  Sysiole  der  Kammern''*    Wäre 
dem  so,   so  würden   wir  ja   gar  keine  Pause  zwischen  den  beiden 
Tönen  hören,  die  beiden  Töne  müßten  in  einen  verschmelzen.    Aus 
dem  gleichen  Grunde  kann  aber  auch  der  L  Herzton  unmöglich  aus- 
schließlich ein  Muskelton  oder  ein  Spannungston  sein,  der  während 
der   ganzen   Systole   durch   Spannung   der   ganzen   Umwandung   des 
Ventrikels  erzeugt  wird.    Die  Frage,  ob  nicht  der  Herzmuskelton  als 
Komponente   des    1.  Herztones   anzunehmen    sei,    ist   seit   den   Ex- 
perimenten von  Ludwig  und  Dogiel  (1868),  welche  gezeigt  haben, 
daß  man   den  ersten  Ton  auch  am   herausgeschnittenen,  blutleeren 
Herzen  hört,  oft  und  viel  diskutiert  worden  und  der  Streit  ist  auch 
heute  noch  nicht  entschieden.  Ich  muß  es  mir  versagen,  hier  auf  die 
Streitfrage  näher  einzugehen.    Nur  das  muß  erwähnt  werden:    Blut- 
druckversuche am  schlagenden  Herzen  haben  gezeigt,  daß  die  Druck- 
zunahme, welche   ja   nur  von  der  Zuckung   abhängt,   bis   gegen  das 
Ende  der  Systole  anhält,  oft  kurz  vor  dem  2.  Tone  erst  ihren  Höhe- 
punkt erreicht.    Desgleichen  ergeben  die  Aktionsströme  des  mensch- 
lichen Herzens,  wie   noch  jüngst  von  Einthoven  durch  photogra- 
phische Registrierung  der  Ausschläge  seines  Saitengalvanometers  nach- 
gewiesen worden  ist,  daß  die  Kammersystole  einer  einfachen  Muskel- 
zuckung gleichzustellen  ist  und  nicht  als  eine  summierte  Zuckung  aufge- 
faßt werden  kann.  Zudem  sind  nach  meiner  Meinung  die  physikalischen 
Bedingungen   für   das  Zustandekommen   eines   Tones   am   herausge- 
schnittenen blutleeren  Herzen  ganz  andere  als  an  dem   blutgefüllten 
lebenden  Organe.     Ich  meinerseits  bezweifle  ganz  entschieden,  dai^ 
dem  Herzmuskelton  —  wenn   überhaupt   ein  solcher  entsteht  —  ein 
nennenswerter  Anteil  an  der  Bildung  des  1.  Herztones  zugeschrieben 
werden  kann.    Die  klinische  Erfahrung   spricht   gar  nicht  dafür  und 
es  ist  durchaus  nicht  nötig,  die  alte  bewährte  Lehre,  daß  die  Herztöne i) 
nur  durch  Spannung  von  elastischen  Membranen  entstehen,  zu  ver- 


1)  Daß  der  1.  Spitzenton  aus  2  Komponenten  besteht,  ist  übrigens  schon  lange 
nachgewiesen  worden.  Wintrich  hat  vermittelst  passender  Resonatoren  beide 
Töne  voneinander  unterscheiden  können:  den  helleren,  kürzeren  Klappentoo,  sovie 
das  „tiefere,  längere  Muskelgeräusch  ^. 


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37]  Ober  kardiopulmonale  Geräusche.  345 

lassen.  Wenn  während  der  Verschlußzeit  der  Ventrikel  plötzlich  die 
ganze  Umwandung  in  Spannung  versetzt  wird^  ist  es  begreiflich^  daß 
hiebei  die  zarten  elastischen  Vorhofklappen  weit  geeigneter  zur  Ton- 
bildung sind  als  die  dicke  Muskulatur  —  das  lehrt  schon  die  Ent- 
stehung des  2.  Tones,  der  nach  der  unbestrittenen  Annahme  aller  nur 
.durch  Spannung,  durch  den  plötzlichen  Schluß  der  Semilunarklappen 
hervorgebracht  wird.  In  gleicher  Weise  ist  auch  der  rasch  auf  die 
sehr  elastische  Äortenwandung  ausgeübte  Druck,  bedingt  durch  das 
nach  Öffnen  der  Semilunarklappen  hervorstärzende  Blut,  viel  eher  die 
Ursache  eines  Tones  als  der  bei  der  Herzkontraktion  langsamer  auf- 
tretende, auf  die  viel  weniger  elastische  Herzwandung  erfolgende 
Gegendruck  des  Blutes. 

Der  1.  Ton  über  den  Kammern  baut  sich  demnach  aus  2 
Bestandteilen  auf:  aus  einem  Tone,  der  durch  Anspannung 
der  Vorhofsklappen  (plus  Semilunarklappen),  und  aus  einem 
Tone,  der  durch  Schwingungen  der  elastischen  Membran  im 
Wurzelgebiete  der  großen  Gefäße  erzeugt  wird.  In  der  Poli- 
klinik pflege  ich  der  Kürze  halber  die  erste  etwas  kürzere  Kompo- 
nente des  1.  Herztones  als  „Verschlußton''  und  den  2.  etwas  längeren 
Teil  als  »Austreibungston^  zu  bezeichnen.  —  Der  Austreibungs-  oder 
Gefaßton  wird  natürlich,  da  die  Türe  zwischen  der. Kammer  und 
Aorta  ofi^en  ist,  noch  besser  nach  der  Herzspitze  fortgeleitet  als  der 
2.  Ton,  der  durch  Schluß  der  Semilunarklappen  entsteht  und  bei  ver- 
schlossener Türe  nach  der  Hörstelle  der  Mitralis  fortgeleitet  wird.  - 
Der  allgemeine  Brauch,  den  1.  Ton  an  der  Herzspitze  oder  rechts 
unten  am  Sternum  als  Mitral-  oder  Trikuspidalklappenton  zu  bezeich- 
nen, ist  deshalb  ganz  unberechtigt  und  es  wäre  viel  korrekter  und 
weniger  irreleitend,  vom  systolischen  Ton  der  linken  oder  der  rechten 
Kammer  zu  sprechen. 

Ich  rekapituliere: 

1.  Der  Herzstoß  entsteht  hauptsächlich  im  Anfange  der  Austreibungs- 
zeit bei  der  Bewegung  des  Herzens. 

2.  Es  entstehen  über  dem  Herzen  sechs  verschiedene  Töne: 

a)  Vier  systolische  —  je  einer  über  den  Ventrikeln  und  je  einer 
am  Ursprünge  der  großen  Gefäße.  Die  systolischen  Töne 
fangen  nicht  im  gleichen  Momente  an.  Der  systolische  Ton 
an  den  großen  Gefäßen  erklingt  etwas  später  als  der  systo- 
lische über  den  Kammern;  der  systolische  Ton  an  der  Spitze 
setzt  sich  aus  zwei  Teilen  zusammen  —  aus  dem  eigentlichen 
Klappentone  und  aus  dem  fortgeleiteten  Gefäßton. 

b)  Die  zwei  diastolischen  Töne  entstehen  über  den  Semilunar- 
klappen der  Aorta  und  Pulmonalis. 


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346  Hermann  Müller,  [38 

Auf  Grund  dieser  einfachen  und  klaren,  durch  physiologische 
Tatsachen  erhärteten  Lehre  von  der  Entstehung  des  Spitzenstoßes  und 
der  Herztöne,  welche  ich  schon  seit  mehreren  Jahren  meinen  Schülern 
vortrage,  und  welche  in  dieser  präzisen  Form  meines  Wissens  auf 
keiner  Klinik  gelehrt  wird,  können  wir  nun  die  physikalischen  Er- 
scheinungen, welche  wir  früher  geschildert  haben,  leicht  verstehen. 
Daß  die  akzidentellen  Geräusche  in  der  Spitzenregion  und  über  dem 
linken  Ventrikel  den  so  sehr  charakteristischen  mesosystolischen  Rhyth- 
mus haben,  das  macht  nun  dem  Verständnis  keine  Mühe  mehr.  — 
Nur  beiläufig  will  ich  noch  bemerken,  daO  auch  verschiedene  andere 
physikalische  Erscheinungen,  welche  sich  am  Krankenbette  zeigen  und 
deren  Erklärung  bisher  großen  Schwierigkeiten  begegnete  (gespaltener 
—  doppelter  1.  Herzton  —  manche  Fälle  von  Galopprhythmus  —  ver- 
stärkter, paukender  systolischer  Ton  bei  Mitralstenose  —  lauter  Herz- 
ton bei  hochgradiger  Herzschwäche  usw.),  viel  leichter  zu  erklären 
sind,  wenn  wir  uns  an  die  Tatsache  erinnern,  daß  der  L  Ton  an 
der  Hörstelle  der  Mitralis  (bzw.  Trikuspidalis)  aus  zwei  Tönen  — 
dem  Mitralklappen-  und  dem  Arterientone  —  besteht.  Doch  darauf 
können  wir  jetzt  nicht  eingehen. 

Ätiologie  und  Vorkommen.  Wenn  mir  —  wie  das  schon 
öfter  vorgekommen  ist  —  der  wohlbegründete  Einwand  gemacht  wird, 
warum  nicht  immer  und  bei  allen  Menschen  k.  p.  (akzidentelle)  Ge- 
räusche gehört  werden,  da  doch  die  Bedingungen  zur  Entstehung  der- 
selben scheinbar  immer  vorhanden  sind,  dann  muß  ich  immer  wieder 
daran  erinnern,  daß  nach  unsern  frühern  physikalischen  Erörterungen 
in  der  Tat  immer  ein  Geräusch  entstehen  muß,  wenn  bei  der  Herz- 
revolution eine  Verschiebung  des  Innern  Blattes  des  Herzbeutels  dem 
äußern  gegenüber  stattfindet  und  das  Herz  an  den  Randzonen  der 
Lunge  vorbeigleitet.  Das  Geräusch  ist  nur  unter  gewöhnlichen  Ver- 
hältnissen so  schwach,  daß  es  vom  menschlichen  Ohr  nicht  wahr- 
genommen werden  kann.  Wenn  der  Druck  der  übereinander 
gleitenden  Flächen  ein  größerer  wird  und  wenn  die  Ge- 
schwindigkeit der  Bewegung  steigt,  dann  kann  das  Geräusch 
so  anwachsen,  daß  es  gehört  wird.  — 

Die  Erfahrung  lehrt  nun,  daß  an  den  Stellen  und  bei  den  Indivi- 
duen, wo  eine  dünne  Schicht  von  Lungengewebe  zwischen  Herz  und 
Brustwand  sich  einschiebt,  die  Geräusche  leichter  entstehen  —  daher 
besonders  in  der  Gegend  der  Lingula  des  obern  Lappens  und  da, 
wo  der  Conus  arter.  der  Pulmonalis  der  Lunge  bzw.  der  Brustwand 
am  dichtesten  anliegt.  Die  Dicke  der  Lungenränder  und  ihr  Verlauf 
ist  großen  individuellen  Schwankungen  unterworfen;  so  kann  der  linke 
Lungenrand,  wie  genaue  anatomische  Untersuchungen  (Anatom.  Institut 


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30]  Ober  kardiopulmonale  Geräusche.  347 

Zürich)  ergeben  haben,  bis  an  den  rechten  Sternalrand  und  der  rechte 
Lungenrand  bis  nach  links  aber  das  Sternum  reichen.  Je  dünner  die 
überlagernde  Lungenschichte  ist,  desto  leichter  entsteht  ein  Geräusch. 
Wenn  die  Randpartien  der  Lunge  bei  einer  tiefen  Inspiration  sich 
stark  blähen,  so  kommt  nicht  so  leicht  ein  Geräusch  zustande  oder 
das  Geräusch  kommt  erst  bei  der  Exspiration  zum  Vorschein.  Jeden- 
falls ist  der  Verlauf  und  die  Dicke  der  Lungenränder  von  wesent- 
licher Bedeutung  für  den  Wechsel  der  Geräusche  bei  Lageverände* 
rung.  Mit  Zurückdrängung  der  Lungenränder,  stärkerem  Anliegen 
der  Herzens  an  die  Brustwand  muO  es  zusammenhängen,  daß  die 
akzidentellen  Geräusche  besonders  häufig  nur  in  stehender  Posi* 
tion  gehört  werden  —  dabei  wirkt  natürlich  wesentlich  verstärkend 
auf  die  Geräuscherzeugung  mit  die  bei  Nervösen  so  sehr  häufig  beob- 
achtete Labilität  des  Pulses. 

Der  Grad  der  Atmungstätigkeit  ist  ebenfalls  von  Bedeutung. 
Wenn  die  Herztätigkeit  sich  beschleunigt  und  der  Atmungsrhythmus 
gleichzeitig  ein  bedeutend  rascheres  Tempo  annimmt  —  wie  bei 
starken  körperlichen  Anstrengungen  —  dann  kommen  k.  p.  Geräusche 
selten  zustande.  Potain  und  Vaquez  haben  Untersuchungen  bei 
Turnern  angestellt  und  haben  bei  intensiver  körperlicher  Arbeit  keine 
Geräusche  beobachtet.  Ich  selbst  habe  schon  im  Jahre  1891  —  da- 
mals, um  die  Frage  der  akuten  Herzdilatation  zu  studieren  —  bei 
Turnern,  welche  sehr  anstrengende  Übungen  —  Schwingen  im  Knick- 
stütz,  ein-  und  zweihändiges  Heben  von  50  kg  schweren  Steinen  vom 
Boden  bis  zur  Hochhebhalte  —  bis  zur  Erschöpfung  ausführten,  wohl 
bedeutende  Steigerung  der  Puls-  und  Atemfrequenz,  aber  in  keinem 
einzigen  Falle  eine  Dilatation  des  Herzens  oder  ein  Herzgeräusch 
auftreten  sehen. 

Ganz  anders  verhält  es  sich,  wenn  die  Herzfrequenz  sich  er- 
höht und  der  Herzschlag  gleichzeitig  verstärkt  wird,  während 
der  Atmungsrhythmus  der  gleiche  bleibt  —  da  entstehen  k.  p.  Ge- 
räusche sehr  gern.  Beschleunigung  der  Herztätigkeit  mit  gleich- 
zeitiger Verstärkung  des  Herzschlages  beobachtet  man  in  unserm 
nervösen  Zeitalter  außerordentlich  häufig. 

Psychische  Erscheinungen,  leichte  körperliche  Bewegungen  und  die 
verschiedensten  andern  Momente  können  die  abnorm  kräftige  Herz- 
aktion auslösen.  Leichte  Gemütsbewegungen  sind  ohne  Zweifel  die 
Ursache,  daß  im  Sprechzimmer  des  Arztes,  bei  der  militärischen  Unter- 
suchung, bei  den  Untersuchungen  für  Lebensversicherungen^)  u.  dgl. 


1)  Die  amerikanischen   Ärzte   Collom   und   Prince  Morton   (zit  nach  Po- 
tain und  Vaquez)  haben  bei  Untersuchungen  für  Lebensversicherungen  der  erste 


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348  Hermann  Müller,  [40 

oft  k.  p.  Geräusche  gehört  werden.  Nicht  mit  Unrecht  hat  Vaquez 
die  Geräusche  deshalb  als  bruits  de  consultation  bezeichnet  —  Noch- 
mals und  mit  besonderem  Nachdrucke  muß  hervorgehoben  werden, 
daß  die  schon  nach  leichten  Turnübungen .  öfter  auftretenden  Herz- 
geräusche nur  auf  die  beschleunigte  und  verstärkte  Herztätigkeit  zurück- 
zuführen sind*  Oft  genug  habe  ich  beobachtet,  daß  bei  einfachem 
Wechsel  aus  der  liegenden  in  die  stehende  Position  plötzlich  die 
Pulsfrequenz  um  20^  40,  ja  sogar  60  Schläge  gestiegen  und  dabei  ein 
lautes  Herzgeräusch  zum  Vorschein  gekommen  ist^  das  bei  Eintritt 
psychischer  Ruhe  wieder  vollständig  verschwand.  Man  findet  diese 
abnorm  kräftige  Herzaktion  und  gleichzeitige  Beschleunigung  der  Herz- 
tätigkeit und  Herzgeräusche  vor  allem  bei  Morbus  Basedowii  (bei 
dem  die  Geräusche  fast  nie  fehlen),  bei  nervösen,  hysterischen  und 
neurasthenischen  Patienten,  bei  den  verschiedensten  Herz-  und  Gefafi- 
neurosen,  bei  Chorea,  in  der  ersten  Hälfte  der  Schwangerschaft.  Mao 
hat  bei  diesen  Affektionen  die  Geräusche  vielfach  als  „nervöse'  be- 
zeichnet und  einzelne  haben  auch  unglaubliche  Theorien  für  die  Ent- 
stehung vom  Zentralnervensystem  aus  ersonnen.  Man  findet  diese 
abnorme,  geräuscherzeugende  Erregbarkeit  des  Herzens  auch  recht  oft 
im  Alter  der  Pubertät,  ohne  daß  eine  besondere  Nervosität  nachzu- 
weisen ist  —  oft  genug  tritt  die  verstärkte  und  beschleunigte  Herz- 
aktion auch  ohne  jede  bekannte  Ursache  ein. 

Auch  bei  der  Chlorose  und  bei  vielen  Fällen  von  Anämie 
ist  offenbar  die  durch  ihren  Einfluß  auf  das  Zentralnervensystem  er- 
zeugte Exzitation  des  Herzens  die  Ursache  der  Herzgeräusche.  Soiig- 
fältige  Untersuchungen  von  Potain  und  Vaquez  haben  schon  er- 
geben, daß  das  Auftreten  der  sog.  „anämischen^^  Geräusche  gar  nicht 
abhängig  ist  von  dem  Grade  der  Chlorose  und  der  Verminderung  der 
roten  Blutkörperchen.  Zahlreiche  andere  Gründe  sprechen  auch  da- 
gegen, daß  die  Geräusche  bei  Chlorose  und  Anämie  auf  einer  funk- 
tionellen Klappeninsuffizienz  beruhen.  Doch  darauf  will  ich  jetzt 
nicht  näher  eingehen. 

In  gleichem  Sinne  wie  die  psychische  Emotion  wirkt  auch 
das  Fieber  herzerregend  —  alle  sog.  febrilen  Geräusche  sind  nichts 
anderes  als  akzidentelle  Herzgeräusche.  Man  hört  k.  p.  Geräusche  gar  nicht 
selten  am  Anfange  und  im  Verlaufe  von  fieberhaften  Krankheiten, 
besonders  wenn  nicht  gleichzeitig  die  Atmung  beschleunigt  ist,  wie 
z.  B.  bei  der  Pneumonie,  bei  der  man  die  Geräusche  selten  hört.  — 
Nach  Potain  und  Vaquez,  welche  die  Häufigkeit  der  k.  p.  Geräusche 


27  mal  unter  200  Fällen  (d.h.  in  Vt)  und  der  zweite  sogar  bei  35%  der  Untersuch- 
ten anorganische  Herzgeräusche  gehört. 


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41]  Ober  kardiopulmonale  Geräusche.  349 

bei  den  verschiedenen  Krankheiten  in  einer  Kurve  graphisch  dargestellt 
haben,  findet  man  die  Geräusche  —  außer  bei  M.  Basedowii  und 
Chlorose  —  am  häufigsten  bei  Masern,  Scharlach  und  beim  akuten 
Gelenkrheumatismus.    Damit  stimmt  auch  meine  Erfahrung  überein. 

Auch  die  Herzgröße  fibt  einen  Einfluß  auf  das  Zustande- 
kommen der  k.  p.  Geräusche.  Bei  normal  großem  Herzen  ent- 
stehen die  Geräusche  viel  häufiger  als  beim  vergrößerten  Organe. 
»,En  g^n^ral  les  petits  cceurs  soufi^lent  et  les  grands  coeurs  sont  silen- 
cieux^^  (Vaquez).  Daß  das  den  französischen  Autoren  Potain  und 
Vaquez  ofi^enbar  nicht  bekannte  pseudoperikardiale  Reiben  besonders 
gerne  bei  diktiertem  Herzen  entsteht,  ist  schon  erwähnt;  aber  auch 
die  eigentlichen  kardiopulmonalen  Geräusche  kann  man  nicht  so  selten, 
wie  die  beiden  französischen  Autoren  angeben,  selbst  bei  ganz  be- 
deutender Dilatation  des  linken  Ventrikels  in  der  Spitzenregion  3  bis 
6  cm  außerhalb  von  der  Mammillarlinie  zu  hören  bekommen.  Diese 
Geräusche  werden  ganz  allgemein  als  organische  aufgefaßt — bedingt  durch 
relative  Insuffizienz  der  Mitralklappen.  Darüber  später  noch  ein  Wort. 

Von  wesentlicher  Bedeutung  für  das  Zustandekommen  der 
k.  p.  Geräusche  ist  auch  der  Stand  des  Zwerchfells.  Bei  Hoch- 
schwangeren und  bei  vielen  andern  Menschen  mit  stärkerer  Auf- 
treibung des  Unterleibs  wird  das  Herz  viel  ausgedehnter  der  Brust- 
wand angelagert  und  an  das  äußere  Blatt  des  Herzbeutels  angedrückt; 
dadurch  wird  die  Geräuschbildung  begreiflicherweise  sehr  begünstigt. 
So  ist  auch  meines  Erachtens  das  Geräusch  zu  erklären,  welches  ge- 
legentlich willkürlich  durch  starkes  Pressen  bei  ganz  Gesunden  hervor- 
gerufen werden  kann  (Gerhardt).  Daß  im  Alter  von  10 — 14 — 16  Jahren 
die  Geräusche  so  häufig  gehört  werden,  ist  sicher  zum  Teil  auf  den 
in  diesem  Alter  beobachteten  höheren  Stand  des  Diaphragmas,  auf  die 
umfangreichere  Entblößung  und  das  stärkere  Anliegen  des  Herzens 
an  die  Brustwand  zurückzuführen.  Vermehrter  Druck  der  überein- 
andergleitenden  Flächen  und  die  größere  Wandständigkeit  des  Herzens  ist 
auch^  wie  bereits  hervorgehoben,  sicher  der  Hauptgrund,  daß  die 
Geräusche  viel  häufiger  in  stehender  als  in  liegender  Position  gehört 
werden.  Durch  stärkeres  Andrücken  der  Gleitflächen  werden  auch 
ohne  allen  Zweifel  die  Geräusche  erzeugt,  welche  man  durch  starkes 
Aufdrücken  des  Stethoskopes  zur  Wahrnehmung  bringen  kann. 

Das  Alter  spielt  bei  der  Entwicklung  der  k.  p.  Geräusche 
eine  große  Rolle.  Nach  Potain,  der  auf  seiner  Klinik  nur  Kranke, 
die  das  15.  Altersjahr  überschritten  hatten,  beobachtete,  kommen  die  k.  p. 
Geräusche  am  häufigsten  im  Alter  von  15 — 30  Jahren  vor.  Ich  kann 
dies  nach  meiner  Erfahrung  bestätigen  und  kann  ergänzend  hinzufügen, 
daß  die  Geräusche  auch  im  Kindesalter  recht  oft  zur  Beobachtung 

Kilo.  Vorträge,  N.  F.  Nr.500/01.    (Innere  Medizin  Nr.  147/48.)    Sept.  1906.  25 


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350  Hermann  Müller,  [42 

kommen.  In  der  medizinischen  Poliklinik »  wo  alljährlich  mehrere 
Tausend  Kinder  (bis  5000  auf  eine  Gesamtzahl  von  15000  Patienten) 
behandelt  werden,  habe  ich  in  den  letzten  8  Jahren,  in  welchen  ich 
mich  besonders  intensiv  mit  dem  Studium  der  Herzgeräusche  be- 
schäftigte, k.  p.  Geräusche  besonders  oft  bei  Kindern  vom  10.  bis 
14.  Altersjahre  beobachtet.  —  Hochsinger,  Soltmann  u.  a.  leugnen, 
daß  akzidentelle  Herzgeräusche  in  den  ersten  3  Lebensjahren  vor- 
kommen. Andere  Beobachter  (Rheiner,  1003,  Cornelia  de  Lange, 
1907,  usw.)  erheben  dagegen  Widerspruch;  ich  selbst  habe  schon  seit 
Jahren  ab  und  zu  einmal  im  frühesten  Kindesalter  Herzgeräusche 
beobachtet,  für  die  keine  plausible  Ursache  zu  finden  war,  und  aus- 
nahmsweise habe  ich  auch  durch  die  Sektion  das  Fehlen  einer  ana- 
tomischen Grundlage  für  die  Bildung  eines  Herzgeräusches  nach- 
weisen können. 

Vor  kurzem  hat  Lüthje  an  einem  großen  Beobachtungsmaterial 
nachgewiesen,  daO  im  Kindesalter  vom  6.— 16.  Altersjahre  akzidentelle 
Geräusche  an  der  Pulmonalis  sehr  häufig  gefunden  werden,  „daß  sie 
fast  als  Regel  gelten  können^^  Lüthje  hat  854  Schulkinder  unter- 
sucht und  fand  612mal  (71,6%)  ein  systolisches  Geräusch  (SOOmal  schon 
in  der  Ruhe,  d.  h.  gleich  nach  dem  Entkleiden,  103mal  erst  im  An- 
schluß an  einige  Turnübungen).  Lüthje  fand,  daß  die  Geräusche  im 
Exspirium  unverhältnismäßig  an  Stärke  zunehmen,  während  sie  im 
tiefsten  Inspirium  unverhältnismäßig  abnehmen  oder  ganz  verschwinden. 
Er  nimmt  an,  daß  die  akzidentellen  Geräusche  am  ungezwungensten 
ihre  Erklärung  als  „Pulmonalstenosen-Geräusche^^  finden  —  bedingt 
durch  die  Raumverhältnisse  an  der  Stelle,  wo  die  Pulmonalis  liegt, 
und  durch  den  Wechsel  dieser  Raumverhältnisse  im  In«-  und  Exspi- 
rium. Leider  muß  ich  es  mir  versagen,  hier  näher  auf  die  Arbeit 
von  Lüthje  einzugehen;  wer  dieselbe  aber  vorurteilslos  bis  in  ihre 
Einzelheiten  verfolgt  und  meine  Auseinandersetzungen  über  die  Ent- 
stehung der  k.  p.  (akzidentellen)  Geräusche  einer  nochmaligen  Prüfung 
unterzieht,  der  wird  zugeben  müssen,  daß  die  kardiopulmonale  Ent- 
stehungstheorie der  Geräusche  weit  einfacher  und  zutreffender  ist. 
Lüthjes  Erklärung  der  Geräusche  als  Pulmonalstenosen- 
geräusche  ist  eine  physikalische  Unmöglichkeit 

Physikalisch  undenkbar  ist  es  auch,  daß  die  akzid.  Geräusche  an  der  Höretelle 
der  Pulmonalis  in  der  Arterie  selbst  durch  die  vermehrte  Strömungsgeschwindig- 
keit entstehen.  Es  ist  nicht  einzusehen,  wie  durch  Erhöhung  der  Blutströmungs- 
geschwindigkeit  im  Sinne  der  Weberschen  Versuche  endokardiale  Geräusche  nur 
an  der  Pulmonalis  entstehen  sollen  und  nicht  auch  oder  sogar  eher  an  der  Aorta, 
wo  nach  der  fibereinstimmenden  Angabe  aller  Untersucher  akzid.  Geräusche  nur 
selten  gehört  werden.  Ganz  unmöglich  ist  es  auch,  die  akzid.  Geräusche  in  der 
Herzspitzenrögion,  wo  sie  bei  Erwachsenen  mindestens  so  häufig  wie  an  der  N9r- 


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43]  Ober  kardiopttlffloaal«  Geräusche.  351 

stelle  der  Pulmoiralis  ^funden  werden,  aus  der  vermehrten  Strdmungsgeschwin« 
4jgkeit  zu  erklären.  Zugunsten  der  kardiopulmonalen  Entstehung  bzw.  der  Reibungs- 
theorte  aller  akzid.  Geräusche  spricht  selbstverständlich  die  Möglichkeit,  die  Ge- 
räasche  an  allen  Hörstellen  einheitlich  zu  erklären.  In  der  Verstärkung  und 
Beschleunigung  des  Herzschlages,  in  der  psychischen  Erregung,  welche  auch  nach 
Lüthje  eine  besondere  Rolle  für  die  Entstehung  „des  Pulmonalstenosen-Geräusches** 
spielt,  haben  wir  —  wie  das  früher  ausführlich  auseinandergesetzt  worden  ist  — 
eine  vollständig  ausreichende  Erklärung  für  die  wesentliche  Verstärkung  der  ge- 
räuscherzeugenden Verschiebung  zwischen  Herz  und  Lungen  (bzw.  innerem  und 
äußerem  Blatte  des  Herzbeutels). 

Im  Frühjahr  und  Sommer  1007  habe  ich  die  von  Lüthje  gefundenen 
Untersuchungsergebnisse  einer  Prüfung  unterworfen  und  habe  zum 
Teil  unter  Mithilfe  von  langjährigen  Assistenzärzten,  die  im  Auskul- 
tieren sehr  bewandert  sind,  im  Verlaufe  von  wenigen  Monaten  300 
gesunde  Kinder  (250  im  Ambulatorium  der  medizinischen  Poliklinik 
und  50  in  der  Privatpraxis)  untersucht  und  habe  nur  85 mal,  d.  h. 
in  28%  aller  untersuchten  Fälle,  Herzgeräusche  gefunden.  —  Ich  habe 
in  die  kleine  Statistik  noch  80  Kinder  im  Alter  von  0—6  Jahren  aufge^ 
nommen  und  habe  gefunden: 
im  Alter  von  0 —  3  Jahren  bei    30  Kindern    Imal,  d.  h.  in  2,5  %i) 

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Herzgeräusche  —  in  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  nur  „an 
der  Hörstelle  der  Pulmonalis^S  Ich  habe  aber  auch  gar  nicht 
selten  ebenfalls  ein  Geräusch  in  der  Herzspitzenregion  gefunden,  und 
konnte,  wie  das  schon  früher  ausdrücklich  hervorgehoben  worden  ist, 
mit  Sicherheit  nachweisen,  daß  das  Geräusch  in  der  Gegend  der  Herz- 
spitze nicht  von  der  Pulmonalis  einfach  fortgeleitet  war.  Auffallend 
häufig  hat  das  Geräusch  in  der  Gegend  des  Conus  art.  der  Pulmo- 
nalis, was  ebenfalls  schon  früher  betont  worden  ist,  einen  wesentlich 
rauheren,  kratzenden  Charakter.  —  Ich  habe  also  sehr  viel  seltener 
als  Lüthje  (Lüthje  im  Alter  von  7— 16  Jahren  bei  71,6%  —  ich  nur 
bei  36%)  bei  gesunden  Kindern  Herzgeräusche  nachweisen  können. 
Diese  große  Differenz  in  den  Prozentzahlen  ist  unzweifelhaft  so  zu 
erklären,  daß  Lüthje  seine  Massenuntersuchungen  nur  an  den 
stehenden  Kindern  und  bei  größerer  psychischer  Erregung 
vorgenommen  hat,  während  alle  meine  Untersuchungen  bei  größerer 
körperlicher  und  psychischer  Beruhigung  —  in  Rückenlage  auf 
einem  Untersucfaungsbette  —  gemacht  worden  aind.^) 

1)  Cornelia  de  Lange  hat  bei   1800  Kindern  unter  4  Jahren  nar  29mal  (in 
1)<{%)  ak2id.  Herzgertusche  gefunden. 

2)  Lüthje   fand    bei   den   854  von  ihm   untersuchten  Kindern  70Smal  eine 

25* 


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352  Hermann  MfiUer,  [44 

Diagnose.  Fär  die  Praxis  ist  es  von  allergrößter  Bedeutung,  die 
akzidentellen  Herzgeräusche  von  den  sog.  organischen  unterscheiden 
zu  l^önnen.  Recht  oft  ist  die  DifTerentialdiagnose  zwischen  den  beiden 
Geräuscharten  nicht  nur  per  exclusionem  zu  machen;  denn  wer  durch 
stete  Übung  die  nötige  Geschicl^lichlLeit  sich  erworben  und  ein  in 
allen  akustischen  Einzelheiten  erfahrenes  Ohr  hat,  und  wer  es  erlernt 
hat,  seine  Aufmerksamkeit  scharf  auf  den  Sitz,  Rhythmus,  Schall- 
charakter und  die  Art  der  Ausbreitung  der  Geräusche  zu  richten,  und 
wer  es  nie  unterläßt,  das  Herz  in  verschiedener  Stellung  des  Patienten 
zu  behorchen,  dem  wird  es  recht  oft  möglich,  schon  bei  der  ersten 
sorgfältigen  Untersuchung  eine  bestimmte  Diagnose  zu  stellen. 

Langjährige  Erfahrung  hat  mich  gelehrt,  daß  hauptsächlich  drei 
organische  Herzaffektionen  öfter  fälschlich  diagnostiziert  werden,  wo 
es  sich  um  einfache  akzidentelle  Herzgeräusche  handelt  —  Endokarditis, 
Perikarditis  und  vor  allem  Schlußunfähigkeit  der  Mitralklappen.  Ober 
die  beiden  ersteren  will  ich  mich  kurz  fassen,  auf  die  so  auffallend 
häufig  irrtümlich  angenommene  Insuffizienz  der  Mitralis  muß  ich  not- 
wendig noch  etwas  näher  eingehen. 

Die  Diagnose  Endokarditis  wird  viel  zu  oft  gemacht  Es  kann 
nicht  genug  zur  Vorsicht  gemahnt  werden,  nicht  sofort  an  eine  Endo- 
karditis zu  denken,  wenn  bei  Scharlach,  akutem  Gelenkrheumatismus 
und  anderen  fieberhaften  Infektionskrankheiten  schon  in  den  ersten 
Tagen  der  Erkrankung  Geräusche  am  Herzen  (Hörstelle  der  Pulmo- 
nalis  oder  Spitzenregion)  auftreten.  Diese  Geräusche  können  sicher 
nicht'  durch  eine  Veränderung  der  Klappen  bedingt  sein  —  lehrt  ja 
doch  die  Erfahrung,  daß  geringfügige  und  sogar  tiefergreifende  Ver- 
änderungen an  den  Klappen  bei  der  benignen  Endokarditis  das  Spiel 


Akzentuation  des  2.  Pulmonaltons  (also  in  82%).  Ich  habe  die  Verstärkang  des 
2.  Tones  an  derJeHörstelle  der  Pulmonalis,  die  mir  schon  seit  vielen  Jthren 
(siehe  den  eingangs  erwähnten  1.  Fall  vom  Jahre  1800)  öfter  auffiel,  nur  in  20% 
der  Fälle  notiert.  Es  ist  einleuchtend ,  daß  bei  der  Diagnose  i^Verstärkung  des 
2.  Pulmonaltones**  dem  subjektiven  Ermessen  ein  großer  Spielraum  gelassen  ist, 
hat  ja  doch  bekanntlich  Vierordt  bei  genauen  Messungen  gefunden,  daß  am  ge- 
sunden Menschen  der  2.  Pulmonalton  etwas  lauter  klingt  als  der  2.  Aortenton. 
Jedenfalls  habe  ich  schon  seit  langer  Zeit  diesem  physikalischen  Zeichen  beson- 
ders im  jugendlichen  Alter  von  10 — 18  Jahren  kein  Gewicht  beigelegt  und  mit  der 
ausdrücklichen  Betonung,  daß  die  Verstärkung  des  2.  Tones  „an  der  Hörstelle  der 
Pulmonalis**  wahrgenommen  wird,  möchte  ich  andeuten,  daß  nach  meiner  Auf- 
fassung die  Verstärkung  des  2.  Tones  gar  nicht  notwendigerweise  von  der  Pulmo* 
nalis  stammt,  sondern  daß  vielmehr  die  Verstärkung  des  2.  Tones  an  der  genann- 
ten Hörstelle  einfach  durch  Summation  der  beiden  2.  Töne  (Aorta  und  Pulmonalis) 
entsteht.  Mit  dieser  Erklärung  ist  —  wie  mir  scheint  -—  »das  physikalische  Rätsel* 
am  einfachsten  zu  lösen. 


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45]  Über  kardiopulmonale  Geräusche.  353 

der  Klappen  nicht  hindern  und  daß  gewöhnlich  erst  nach  längerem 
Bestehen  der  Entzündung^  besonders  bei  dem  so  häufigen  Sitze  an 
den  Mitralsegeln,  die  Ktappenfunktion  gestört  wird.  —  Bekanntlich 
wird  auch  nicht  allzuselten  maligne  Endokarditis  diagnostiziert,  wo 
bei  der  nachfolgenden  Sektion  keine  anatomische  Veränderung  an  den 
Klappen  nachgewiesen  werden  kann. 

Das  gleiche  gilt  von  der  Perikarditis,  die  ebenfalls  viel  zu  häufig 
angenommen  wird.^)  Reibegeräusche,  die  an  ganz  umschriebenen 
Stellen,  besonders  oft  am  Ursprünge  der  Lungenarterie  wahrnehmbar 
sind,  die  verschwinden  oder  kommen,  wenn  der  Kranke  seine  Lage 
ändert,  Geräusche,  die  nur  in  aufrechtem  Stehen  oder  nur  in  der 
einen  oder  anderen  Seitenlage  gehört  werden,  Geräusche,  die  erst 
beim  Aufdrücken  des  Stethoskopes  zum  Vorschein  kommen,  sind  -  fast 
nie  Perikardialgeräusche. 

Ganz  auffallend  häufig  wird  die  Fehldiagnose  „M  i  t  r  a  1  i  n s  u  f  f  i z  i  e n z '^ 
gemacht.  Mehr  als  in  der  Hälfte  der  Fälle,  in  der  dieser  Klappen* 
fehler  diagnostiziert  worden  ist,  konnte  ich  in  den  letzten  8  Jahren 
mit  Bestimmtheit  nachweisen,  daß  die  Diagnose  falsch  war.  —  Es 
erscheint  mir  zweckmäßig,  an  dieser  Stelle  zunächst  einige  physiolo* 
gische  Bemerkungen  vorauszuschicken.  Die  Physiologie  lehrt  uns, 
daß  die  Entleerung  der  linken  Kammer  durch  eine  Verkleinerung  ihrer 
Höhle  im  queren  Durchmesser  erfolgt,  während  der  Längsdurchmesser 
unverändert  bleibt«  Die  rechte  Kammer  entleert  ihren  Inhalt  durch 
Verkürzung  ihrer  Länge  und  durch  Heranziehung  der  Außenwand  des 
rechten  Ventrikels  an  die  Kammerscheidewand.  Als  wesentlich  mit- 
wirkender Mechanismus  kommt  hinzu,  daß  der  Umfang  der  Herzbasis 
und  der  Atrioventrikularöfi^nungen  infolge  von  Kontraktion  des  von 
Krehl  u.  a.  nachgewiesenen,  das  Ostium  umgebenden  Muskelwulstes 
in  hohem  Maße  schmäler  wird.  Ein  Umschlagen  der  Klappen  in  den 
Vorhof  und  ein  Aufblähen  der  Segel  nach  dem  Vorhofe  hin  wird 
durch  die  Sehnenfäden  verhindert,  welche  sich  nicht  nur  an  den  freien 
Rändern,  sondern  auch  an  den  Seitenflächen  der  Klappensegel  an- 
setzen. Die  Vorhofsflächen  der  Klappensegel  werden  fast  in  ihrer 
ganzenAusdehnungdichtaneinandergepreßt,undso  kommt  ein  außer- 
ordentlich sicherer  Verschluß  derOstien  zustande,  besonders  des 
lioken.  Erinnern  wir  uns  ferner  an  die  wunderbare  Leistungsfähigkeit  des 
Herzens,  an  seine  Fähigkeit,  sich  sofort  an  die  größten  Anforderungen 

1)  So  handelt  es  sich  nach  meiner  Meinung  bei  der  Angabe  von  Buttersack 
(zitiert  nach  Eichborst  1904),  daß  13,3%  Schüler  und  9%  Rekruten  im  2.  linken 
Interkostalraume  „perikarditisches  Reibegeräusch^  dargeboten  hätten,  sicher  um 
eine  Verwechslung  mit  dem  an  dieser  Stelle  besonders  häufig  hörbaren  k.  p.  Ge- 
räusche. 


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354  Hermann  Mfiller,  [46 

anzupassen  —  ^^das  Herz  ist  der  vollendetste  Motor,  den  die  Welt 
kennt^S  ^^&  Krehl  so  treffend  —,  erinnern  wir  uns  daran,  daß  im 
Tierversuche  die  Füllungen  des  Herzens  um  das  6 fache  gesteigert 
werden  können,  ohne  daß  das  Herz  versagt,  dann  werden  wir  nicht 
glauben,  daß  geringfügige  Störungen  imstande  sein  können,  diese 
wunderbare  Anpassungsfähigkeit  zu  stören.  Niemals  ist  es  möglich, 
daß  beim  ganz  gesunden  Menschen  die  verstärkte  Herztätigkeit  den 
Schluß  der  Mitralis  verhindern  und  eine  vorübergehende  Insuffizienz 
herbeiführen  kann.  Es  ist  auch  ganz  undenkbar,  daß  die  leichte  Mehr- 
arbeit, welche  einige  Turnübungen  verursachen,  den  Schluß  der  Klappen 
durchbrechen  und  die  Klappen,  wenn  auch  nur  vorübergehend,  schluß- 
unfähig machen  können.  Wissen  wir  ja  doch,  daß  das  Herz  in  gleicher 
Weise  die  leichte  Arbeit  des  Kreislaufs  beim  ruhenden  Menschen 
besorgt  wie  bei  demjenigen,  der  die  schwerste  Arbeit  verrichtet. 

Wir  unterscheiden  3  Arten  von  Schlußunfähigkeit  der  Mitral- 
klappen —  die  relative,  die  muskuläre  und  die  endokarditische. 

Unter  relativer  Insuffizienz  versteht  man  die  Schlußunfähigkeit 
der  Klappen,  die  durch  Dilatation  des  Insertionsringes  der  Klappen 
ohne  irgendwelche  organische  Veränderung  zustande  kommt.  Das 
Ostium  wird  mechanisch  so  weit  gedehnt,  daß  die  normal  großen 
Klappen  nicht  mehr  zur  Deckung  genügen,  zum  Verschluß  nicht  mehr 
ausreichen.  Das  Vorkommen  solcher  Insuffizienzen  ist  schon  lange 
bekannt;  sie  sind  aber  verhältnismäßig  selten,  nur  an  der  Trikuspidalis 
(bei  Mitralklappenfehlern)  und  an  der  Aorta  bei  übermäßiger  Dehnung 
des  Bulbus  der  Aorta  (Aneurysma)  etwas  häufiger. 

Die  relative  Insuffizienz  der  Mitralis  ist  jedenfalls  äußerst 
selten;  ihr  Vorkommen  ist  schon  von  Friedreich  im  Gefolge  von 
Aorteninsuffizienz  beobachtet  und  durch  genaue  Messungen  fest- 
gestellt worden.  Vielfach  hat  man  auch  angenommen,  daß  die  systo- 
lischen Geräusche,  welche  bei  hochgradiger  Dilatation  des  linken 
Ventrikels,  z.  B.  bei  der  idiopathischen  Herzerweiterung,  in  der  Spitzen- 
region gehört  werden,  durch  Ausweitung  des  Mitralostiums  entstehen. 
Diese  Art  von  Geräuschen  ist  mir  schon  seit  meiner  Assistentenzeit 
bekannt.  Seitdem  ich  gelernt  habe,  die  akzidentellen  Geräusche  von 
den  echten  Insuffizienzgeräuschen  zu  unterscheiden,  weiß  ich,  daß 
selbst  bei  der  hochgradigsten  Dilatation  des  linken  Ventrikels  eine 
relative  Insuffizienz  fast  nie  entsteht.  Ein  einfacher  Lagewechsel,  eine 
geringe  Drehung  des  Rumpfes  nach  rechts  genügt  oft,  das  Geräusch 
sofort  zum  Verschwinden  zu  bringen,  und  neulich  habe  ich  beispiels- 
weise beobachtet,  daß  das  vermeintliche  Insuffizienzgeräusch  kurze 
Zeit  vor  dem  Tode  verschwand,  als  ein  linksseitiger  Hydrothorax  die 
Lunge  vom  stark  erweiterten  Herzen   abgedrängt  hatte.  —  Potain 


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47]  Ober  kardiopulmonale  Geräusche.  355 

wies  durch  experimentelle  Untersuchungen  am  herausgenommenen 
Herzen  nach,  daO  die  Trlkuspidalklappen  bei  einer  mäßigen  Ausdeh- 
nung des  rechten  Ventril^els  insuFfizlent  werden,  während  die  Mitral- 
klappen mit  merkwürdiger  Ausdauer  schließen,  wenn  der  Druck  im 
linken  Ventrikel  ganz  bedeutend  gesteigert  und  der  Ventrikel  ganz 
erheblich  dilatiert  wird. 

Von  der  relativen  Insuffizienz,  bei  der  das  pathologisch  erweiterte 
Ostium  wegen  seiner  Größe  nicht  mehr  von  den  Segeln  geschlossen 
werden  kann,  ist  als  eine  besondere  Art  der  Schlußunfähigkeit  des 
Mitralostiums  zu  trennen  die  „muskuläre^^  Wenn  wir  uns  noch- 
mals vergegenwärtigen,  daß  für  den  prompten  Verschluß  der  Mitral- 
klappe nicht  nur  eine  Verengerung  des  Insertionsringes  durch  die 
ringförmigen  Muskelzüge,  sondern  auch  eine  normale  Funktion  der 
Papillarmuskeln  erforderlich  ist,  so  erscheint  das  Vorkommen  einer 
solchen  Insuffizienz  als  sehr  verständlich.  Ungenügende,  mangelhafte 
Kontraktion  des  Herzmuskels  infolge  ungenügender  Speisung  mit  arte- 
riellem Blute  und  Erkrankungen  des  Herzmuskels  durch  akute  oder 
chronische  Myokarditis  werden  vielfach  als  Ursache  für  die  muskuläre 
Insuffizienz  betrachtet.  Besonders  in  Deutschland  und  England  wird 
noch  viel  von  „funktioneller^^  Insuffizienz  der  Mitralklappen  gesprochen; 
von  vielen  Autoren  werden  die  akzidentellen  Geräusche  bei  Chlorose 
und  Anämie  so  erklärt.  Demgegenüber  müssen  wir  nochmals  hervor- 
heben, daß  bei  den  Anämien  das  Vorkommen  der  Geräusche  gar  nicht 
abhängig  ist  von  dem  Grade  der  Anämie,  daß  es  ganz  leichte  Formen 
gibt  mit  sehr  starken  Geräuschen  und  sehr  schwere  Anämien,  wo  die 
Geräusche  bis  zum  letalen  Ausgange  vollständig  vermißt  werden 
(perniziöse  Anämie).  Unverständlich  ist  auch,  warum  diese  muskuläre 
Insuffizienz  so  selten,  an  der  Trikuspidalis  beobachtet  wird,  bei  der 
bekanntlich  Schlußunfähigkeit  ohne  Veränderung  an  den  Klappen  viel 
leichter  zustande  kommt.  Insuffizienz  dieser  Klappe  wird  nur  dann 
bei  tiefer  Anämie  beobachtet,  wenn  die  Herzmuskulatur  stark  fettig 
degeneriert  ist  In  solchem  Falle  kommt  es  auch  gewöhnlich  zu  einer 
muskulären  Insuffizienz  der  Mitralis  (siehe  z.  B.  Fall  2).  Nach  meinem 
Dafürhalten  kann  die  Bezeichnung  „anämischer  Klappenfehler^^  kor- 
rekterweise nur  für  die  Fälle  schwerer  Anämie,  welche  mit  Herzver- 
fettung vergesellschaftet  sind,  gebraucht  werden.  Eine  derartige  („rela- 
tive") muskuläre  Insuffizienz  bei  hochgradiger  Anämie  mit  Herzver- 
fettung ist  schon  von  Friedreich  (1861)  beschrieben  worden. 

Auch  bei  der  akuten  und  chronischen  Myokarditis  kommt  nach 
meinen  Erfahrungen  die  muskuläre  Insuffizienz  viel  seltener  vor,  als 
von  manchen  namhaften  Autoren  angenommen  wird.  Die  meisten  der 
bei   diesen  Herzmuskelerkrankungen  beobachteten  „Mitralgeräusche" 


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356  .  Hermann  Müller,  [48 

können  bei  genauer  Beachtung  der  von  mir  früher  ausführlich  ge- 
schilderten Merkmale  der  k.  p.  (akzidentellen)  Geräusche  als  wirkliche 
valvuläre  Geräusche  ausgeschaltet  werden.  Doch  ist  das  in  diesen 
Fällen  praktisch  von  geringer  Bedeutung. 

Sehr  viel  häufiger  als  die  relative  und  muskuläre  Insuffizienz  der 
Mitralklappe  ist  die  endokarditische;  sie  macht  selbstverständlich 
die  gleichen  auskultatorischen  Erscheinungen,  die  ich  hier  in  Kürze 
nochmals   wiederholen   will.     Die    Folgeerscheinungen,    welche    der 
Ventilfehler,  der  allgemein  als  der  häufigste  Klappenfehler  gilt,  Für 
das    Herz    und    den    Kreislauf   hat,    setze  ich    als    bekannt  voraus 
und  gehe  hier  nicht  näher  auf  dieselben  ein.  —  Das  Herzgeräusch 
bei  SchluDunfähigkeit  der  Mitralis  hat,   da   die  Verschlußzeit  fehlt, 
einen  sehr  bestimmten  Charakter;  das  Geräusch  fängt  ganz  genau  mit 
der  Systole  an  und  dauert,  da  die  Türe  nach  dem  Vorhofe  während 
der  ganzen  Systole  offen  bleibt,  solange  an  wie  die  Systole.     Das 
Geräusch  hat  seine  maximale  Intensität  genau  an  der  Herzspitze  und 
verbreitet  sich  von  da  nach  der  Achselhöhle,  ja  bis  zum  Rücken.    Das 
akzidentelle  Geräusch  an  der  Mitralis  bleibt  sehr  oft  ein  kurzes  Weilchen 
hinter  dem  Anfange  der  Systole  zurück,  es  ist  dem  Tone  angehängt, 
schleppt  ihm  nach  und  hat  seinen  Sitz  viel  mehr  auf  der  Seite  des 
Spitzenstoßes  und  verbreitet  sich  wenig  oder  gar  nicht  nach  der  Achsel- 
höhle.   Ein  Ton  kann  an  der  Mitralis,  wenn  die  Klappe  teilweise 
zerstört  ist  und  zum  Schlüsse  nicht  mehr  ausreicht,  nicht  entstehen, 
denn  Töne  können  an  den  Klappen,  wie  durch  Bayer  sichergestellc 
worden  ist,  nicht  mehr  entstehen,  sobald  sie  anatomisch  verändert 
sind.    Die  vielfach  behauptete  Annahme,  daO  der  Rest  der  schwin- 
genden Klappenmembran  doch  noch  imstande  sei,  einen  Ton  zu  pro- 
duzieren, ist  offenbar  nicht  richtig;  der  Ton,  dea  man  allerdings  sehr 
oft  bei  einer  unzweifelhaften  Insuffizienz  der  Mitralklappen  hört,  ist 
nach   meiner  Oberzeugung  nichts  anderes   als  der  in  den  Arterien 
(während  der  Austreibungszeit)  entstehende  GefaOton.    Wer  ein  ge- 
übtes   Ohr    und    ein    feines  Gefühl    für   Rhythmus   hat,    wird  bei 
scharfer  Aufmerksamkeit  erkennen,  daß  der  neben  dem  Geräusche 
hörbare  Ton  ein  kurzes  Weilchen  nach  dem  Anfange  des  Geräusches 
auftritt.   (Der  zweite  Ton,  der  bei  Aorteninsuffizienz  nicht  selten  neben 
dem  diastolischen  Geräusche  gehört  wird,  ist  nach  meiner  Meinung 
öfter  nichts  anderes  als  der  2.  Pulmonalton.) 

Eine  besondere  Besprechung  verlangen  noch  die  gar  nicht  seltenen 
Fälle,  wo  bei  vermeintlicher  Insuffizienz  der  Mitralklappe  nicht  our 
an  der  Herzspitze,  sondern  auch  in  der  Gegend  der  PulmonalUappen 
ein  Geräusch  zu  vernehmen  ist.  Oft  unterscheidet  sich  in  diesen 
Fällen  das  Schallphänomen  seinem  Klangcharakter  nach  ganz  wesent- 


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49]  Über  kardiopulmonale  Geräusche.  357 

lieh  von  demjenigen»  welches  an  der  Herzspitze  gehört  wird.  Diese 
auffallenda Erscheinung  ist  schon  lange  bekannt.  Jos.  Meyer,  Barn- 
berger,  Skoda,  Gerhardt  haben  das  Geräusch  fast  jeder  auf  eigene 
Weise  zu  erklären  gesucht,  auf  unregelmäßige  Schwingungen  der  dila- 
tierten  und  in  ihrem  Tonus  veränderten  Pulmonalarterie,  auf  begin- 
nende Sklerose  zurückgeführt.  Naunyn  hat  den  Versuch  gemacht, 
das  Geräusch,  das  nach  seiner  Angabe  am  lautesten  etwa  2  Zoll  vom 
linken  Sternalrande  (»einem  Orte,  der  nicht  unerheblich  differiert  von 
dem  Punkte,  wo  in  der  Regel  die  von  den  Pulmonalklappen  stammen- 
den Geräusche  gehört  werden"")  zu  vernehmen  ist,  so  zu  erklären, 
daO  in  solchem  Falle  das  erweiterte  linke  Herzohr  zwischen  Pulmo* 
nalis  und  Brustwand  sich  eindrängt  und  die  das  Geräusch  erzeugende 
Blutströmung  in  das  Herzohr  hineingeht.  Diese  Erklärung  ist  von 
vornherein  schon  deshalb  nicht  anzunehmen,  weil  —  wie  schon  er- 
wähnt —  das  Geräusch  an  der  Herzbasis  häufig  erheblich  lauter, 
rauher  und  kratzender  ist  als  das  an  der  Spitze,  weshalb  an  eine  ein- 
fache Fortpflanzung  gar  nicht  zu  denken  ist.  Auch  die  von  Cursch- 
mann  gegebene  Erklärung  für  das  stärkere  Auftreten  des  Geräusches 
an  der  Hörstelle  der  Pulmonalis  besonders  im  Beginne  des  Klappen- 
fehlers, wo  der  linke  noch  nicht  hypertroph ierte  Ventrikel  und  mit 
ihm  die  Herzspitze  durch  den  überfüllten  rechten  Ventrikel  von  der 
Brustwand  abgedrängt  werden,  kann  unmöglich  richtig  sein.  Ich  habe 
in  früheren  Jahren  in  jedem  Semester  wenigstens  einen  derartigen 
Fall,  wo  das  Herzgeräusch  besonders  laut  an  der  Hörstelle  der  Pul- 
monalis oder  sogar  nur  daselbst  zu  hören  war  —  es  sind  meist  jugend- 
liche Individuen  gewesen  —  mit  der  Diagnose  Mitralisinsuffizienz  in 
der  Poliklinik  vorgestellt.  Seitdem  ich  gelernt  habe,  die  kardiopul- 
monalen Geräusche  mit  Sicherheit  von  den  organischen  zu  differen- 
zieren, ist  mir  kein  derartiger  Fall  mehr  vorgekommen.  Schon  Potain 
hat  das  Naunynsche  Geräusch  mit  Sicherheit  als  ein  k.  p.  erklärt 
und  bestritt  des  bestimmtesten,  daß  es  sich  in  diesen  Fällen  um  einen 
Klappenfehler  handeln  könne.  Die  Annahme  von  Lüthje,  daß  das 
Geräusch  an  der  Hörstelle  der  Pulmonalis,  „das  gerade  bei  einer 
echten  Mitralisinsuffizienz  besonders  leicht  auftreten  wird"",  als  das 
Geräusch  einer  relativen  Pulmonalstenose  am  ungezwungensten  auf- 
zufassen sei,  haben  wir  als  physikalisch  unmöglich  schon  widerlegt. 
Unzweifelhaft  kann  bei  einer  sichern  Mitralinsuffizienz  gelegentlich 
auch  ein  akzidentelles  (k.  p.)  Geräusch  an  der  Hörstelle  der  Pulmonalis 
zum  Vorschein  kommen,  aber  meist  handelt  es  sich  —  nach  meiner  Er- 
fahrung —  in  solchem  Falle  gar  nicht  um  einen  Mitralklappen- 
fehler. 

Es  wären  noch  manche  Einzelheiten  und  verschiedene  andere  ge- 


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358  Hermann  Muller,  [50 

legentliche  Fehldiagnosen  (Stenosen  oder  Insuffizienzen  der  Semilunar- 
klappen  usw.)  zu  besprechen,  aber  ich  muß  nun  schlieDen» 

Wenn  es  mir  gelungen  ist,  das  bisher  so  wenig  beachtete,  hervor- 
ragende und  sehr  verdienstvolle  Werk  Potains  vor  der  Gefahr,  ver- 
gessen zu  werden,  zu  bewahren  und  wenn  es  mir  selbst  vergönnt  war, 
etwas  mehr  Licht  in  ein  noch  dunkles  Gebiet  der  Herzdiagnostik  zu 
bringen,  und  wenn  für  den  einen  oder  anderen  Kollegen  aus  meinen 
Ausführungen  ein  Nutzen  für  das  ärztliche  Erkennen  auf  einem  emi- 
nent wichtigen  praktischen  Gebiete  erwächst,  dann  ist  das  Ziel  dieses 
Vortrages  erreicht. 


Literatur. 

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Müller,  Hermann,  Über  kardiopulm.  Geräusche.  Vortrag  23.  IL  1907. 

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Ntunyn,  Dr.  B.,  Dozent  an  der  Berliner  Universität,  Berliner  klin.  Wochenschr. 
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systolische  Geräusch  bei  der  Mitralinsuffizienz  am  lautesten  in  der  Gegend 
der  Pulmonalklappe  zu  vernehmen  ist. 

Niemeyer,  Paul,  Handbuch  der  theoretischen  und  klinischen  Perkussion  und  Aus- 
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360  Hermann . Müller,    Ober  kardiopulmonale  Gerlusche.  [52 

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Münchner  med.  Wochenschr.  1897,  S.  1267. 
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Tigerstedt,  Roh.,  Prof.  in  Helsfngfors,  Lehrbuch  der  Physiologie  des  Menschen. 

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Wintrich,  W.  A.,  Prof.  in  Erlangen,  Handbuch  der  speziellen  Path.  u.  Ther.  (Vir- 

chow)  Bd.  5,  1.  Abt.  Krankheiten  der  Respirationsorgane. 


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502/03- 

Hämaturie. 

(Chirurgie  Nr.  147/48.) 

Von 

P-  J«  de  BruYne  Ploos  van  Amstel, 

Amsterdam. 


Meine  Praxis  ermöglichte  mir  die  Beobachtung  mehrerer  Patien- 
ten, bei  denen  Hämaturie^  die  hauptsächliche  Krankheitserschei- 
nung war. 

Ich  glaube  9  daß  das  Resultat  dieser  Beobachtungen  hinlänglich 
interessant  ist  um  dasselbe  den  geehrten  Lesern  zu  unterbreiten, 
schon  der  Haupterscheinung  „Hämaturie"'  wegen,  welche  hier  so  in 
den  Vordergrund  trat,  als  wäre  sie  hier  nicht  ein  Symptom,  sondern 
die  Krankheit  selber. 

Diese  speziellen  Fälle  sollen  mir  das  Material  liefern  zu  nach- 
stehender Besprechung,  in  welcher  ich  mich  bemühen  werde,  die 
.Hämaturie''  in  das  Licht  der  heutigen  Wissenschaft  zu  stellen. 

1.  Am  15.  Dezember  1897  wurde  ich  zu  der  Patientin  N.  d.  1.  R.  in  O.  gerufen. 
Das  Resultat  der  Untersuchung  war  folgendes: 

Anamnese.  Bis  Anfang  November  desselben  Jahres  war  die  24jihrige  Frau 
immer  gesund  gewesen,  dann  bemerkte  sie  plötzlich  ohne  jegliche  Vorzeichen,  daß 
sich  Blut  in  ihrem  Urin  absonderte. 

Anfänglich  hatte  sie  keine  Veranlassung,  diesem  Umstände  besonderes  Gewicht 
beizumessen,  weil  sie  der  Meinung  war,  daß  diese  blutige  Absonderung  durch  die 
Menstruation  verursacht  wurde. 

Als  jedoch  die  Hämaturie  fortdauerte,  wurde  ein  Arzt  konsultiert,  der  ihr  Bett- 
ruhe und  Milchdiät  verordnete. 

Als  nun  am  14.  November  sich  nicht  nur  die  Hämaturie  verschlimmerte,  sondern 
die  Patientin  auch  sehr  starke  Nierenschmerzen  bekam,  wurde  ein  zweiter  Arzt 
zu  Rate  gezogen,  der  sie  sofort  an  einen  Spezialisten  für  zystoskopische  Unter- 
suchungen verwies. 

Dieser  nun  konstatierte  folgendes:  Die  Blase  war  normal,  das  Blut  stammte 
aus  dem  linken  Ureter,  und  die  Patientin  empfand  auch  gerade  die  heftigsten 
Schmerzen  in  der  linken  Lendengegend» 

Kilo.  Vorträge,  N.  F.  Nr.  502/03.    (Chirurgie  Nr.  147/4a)    Sept.  1908.  39 


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528  ^'  J-  ^^  Brulne  Ploos  van  Amstel,  [2 

Die  Urinuntersttchttng  ergab  auch  jetzt  außer  erheblichen  Quantitäten  Blut 
nichts  Besonderes. 

Auch  die  palpatorische  Untersuchung  hatte  wenig  Resultat:  die  Niere  war  weder 
vergrößert,  noch  beweglich  oder  schmerzhaft  bei  Druck. 

Aus  dem  absolut  negativen  Resultat  der  Untersuchung  des  Urines  und  der 
Patientin  erfolgte  die  Wahrscheinlichkeitsdiagnose  auf  essentielle  Hämaturie. 

Zwar  wurde  dem  Gatten  mitgeteilt,  daß  Nierenstein  oder  gar  Nierentuberkolose 
in  diesem  Falle  keinesfalls  ausgeschlossen  seien,  wenn  auch  die  Untersuchung  in 
dieser  Hinsicht  nichts  ergeben  hatte. 

Solange  die  Blutung  als  solche  nicht  gefihrllch  wurde,  war  die  Therapie  wie 
vorher:  Ruhe  und  Milchdiät. 

Die  Hämaturie  blieb  jedoch  trotz  Ruhe  und  Diät  bestehen  und  auch  die  Kolik* 
schmerzen  wiederholten  sich,  aus  welchem  Grunde  die  Patientin  wiederum  einen 
anderen  Arzt  konsultierte. 

Auch  eine  wiederholte  zystoskopische  Untersuchung  ergab  beinahe  das  nSm- 
liche  Resultat  wie  die  vorige.  Nur  konnte  als  neues  Symptom  ein  Nierentumor 
konstatiert  werden.  Der  Patientin  wurde  der  Rat  erteilt,  sich  dieses  Geschwulstes 
wegen  in  einem  Krankenhause  einer  Operation  zu  unterziehen. 

Dieser  Vorschlag  scheiterte  jedoch  an  der  Furcht  der  Patientin  vor  einer 
Operation,  und  so  nahm  die  Behandlung  ihren  Fortgang:  Milchdiät,  Ruhe,  guter 
Rat  von  guten  Freunden  und  freundlichen  Nachbarn,  aber  . . .  ohne  ärztliche  Hilfe. 

Status  praesens  am  15.  Dezember,  als  ich  die  Patientin  zum  ersten  Male  sali: 

Patientin  sehr  anämisch,  Lungen,  Herz  und  Temperatur  normal.  Kein  Odem. 
Abdomen  etwas  schmerzend  in  der  linken  Nierengegend,  wo  gleichzeitig  ein  deut- 
licher Tumor  fühlbar  war. 

Ich  war  daher  zur  Annahme  geneigt,  daß  mein  Kollege  mit  seiner  jüngsten 
Diagnose  das  Richtige  getroffen  hatte,  als  mir  der  Umstand,  daß  wohl  kaum  anzu- 
nehmen sei,  daß  die  Anwesenheit  dieses  Nierentumors  bei  allen  ftiiberen  Unter- 
suchungen übersehen  worden  wäre,  zum  Nachdenken  zwang. 

Ein  derartiges  schnelles  Wachstum  wäre  selbst  von  einem  malignen  Tumor, 
beispielsweise  einem  Sarkom  nicht  zu  erwarten,  da  dann  ja  in  der  Zeit  von  einigen 
Wochen  dieser  große  Tumor  sich  müßte  entwickelt  haben. 

Dann  fiel  mir  ein,  daß  des  öfteren  schon  Koprostase  in  den  Cöcura  oder  Kolon 
für  Nierentumor  gehalten  worden  war,  und  überdies  entsann  ich  mich  des  weisen 
Ausspruches  von  Jenner:  „a  large  enema  will  solve  all  doubt  on  this  point*. 

Und  tatsächlich  war  nach  einem  Klysma  und  nach  Anwendung  von  Oleum 
ricini  der  Nierentumor  gänzlich  verschwunden. 

Die  Untersuchung  des  Urins  ergab  folgendes  Resultat:  Eiweiß  in  geringen 
Quantitäten,  hyaline,  wie  auch  granulierte  Zylinder,  und  rote  und  weiße  Blutkör« 
pereben.    Die  Reaktion  des  Urins  war  sauer.    Die  Anzahl  der  Zylinder  bedeutend. 

Bei  der  weiteren  Behandlung:  Ruhe,  Milchdiät  und  Laxantia  nahm  die  Anzahl 
aller  dieser  im  Urin  enthaltenen  Fremdkörper  ab« 

Etwa  Mitte  Januar  war  der  Urin  sogar  ganz  ohne  Blut  und  enthielt  nur  noch  geringe 
Quantitäten  Eiweiß  und  keine  Zylinder,  und  einige  Zeit  später  waren  auch  die  letzte 
Eiweißreste  verschwunden.  Hierdurch  war  ein  Beweis  geliefert  gegen  die  Be- 
hauptung Danforths^),  daß  die  Anwesenheit  granulierter  Zylinder  im  Urin  immer 
eine  ungünstige  Prognose  zur  Folge  haben  müsse. 


1)  Danforth,  The  prognostic  significance  of  Tube-casts.  Medical  News  1894. 


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3]  Hlmatttrie.  529 

2.  Ich  sah  Fräulein  d.  Hh.  zum  ersten  Mal  im  3.  Februar  1906. 
Anamnese.   Patientin  16  Jahre  alt,  war  stets  wenn  auch  schwach  so  4och  gesund 

gewesen.   Sie  hatte  seit  einiger  Zeit  Hämaturie,  jedoch  keine  Nierenschmerzen. 

Die  HSmaturie  trat  nicht  immer  gleich  stark  auf,  hin  und  wieder  war  der  Urin 
sogar  vollkommen  blutfrei. 

Status  praesens.  Patientin  ist  ein  zartes  anämisches  Mftdchen,  und  es  waren 
an  ihr  keine  anderen  Abweichungen  zu  konstatieren  als  Anämie  und  Schmerzen 
bei  Druck  an  der  linken  Niere. 

Die  Urinuntersuchung  hatte  ein  negatives  Resultat  bis  auf  die  roten  Blut- 
körperchen. 

Patientin  war  nicht  dazu  zu  bringen,  sich  einer  zystoskopischen  Untersuchung 
zu  unterziehen. 

Mit  absoluter  Gewißheit  ergab  sich  indessen  aus  dem  Charakter  der  Blutung^ 
daß  hier  nicht  von  einer  Blasenblutung  die  Rede  sein  konnte.  Denn  hier  enthielt 
nicht  die  letzte  Quantität  Urin  das  meiste  Blut,  welch  letzteres  ja  nach  Für- 
bringer^)  und  Guyon^)  das  Hauptsymptom  von  Blasenblutungen  ist,  und  auch 
fehlten  hier  jegliche  Blasenbeschwerden.  Auch  der  fernere  Verlauf  bewies,  daß  die 
Niere,  in  casu  die  rechte,  die  Ursache  der  Hämaturie  war.  Einmal  hatte  sie  im 
ferneren  Verlauf  Kolikschmerzen  in  der  rechten  Nierengegend. 

Während  der  Dauer  des  ferneren  Verlaufes  der  Krankheit,  welche  mit  ftuhe 
und  Diät  behandelt  wurde,  bemerkte  man  bei  wiederholter  Urinuntersuchung,  daß 
derselbe  nicht  immer  frei  von  Eiweiß  blieb. 

Dann  und  wann  enthielt  der .  Urin  einige  Tage  lang  Eiweiß.  In  dem  jeweiligen 
eiweißhaltigen  Urin  wurden  auch  Zylinder  gefunden;  diese  blieben  zwar  nicht 
gleichzeitig  mit  dem  Eiweiß  aus,  verschwanden  aber  doch  auch  bald  wieder«  Die 
Heftigkeit  der  Hämaturie  stand  in  keinerlei  Zusammenhange  mit  dem  Eiweiß-  bzw. 
Zylindergehalt  des  Urins. 

Nachdem  dieser  Zustand  im  ganzen  3  Monate  gedauert  hatte,  verschwanden 
für  immer  Hämaturie,  Eiweiß  und  Zylinder,  und  die  Patientin  war  wieder  voll-" 
kommen  gesund. 

3.  Herr  N.,  55  Jahr  alt,  kam  in  meine  Behandlung  am  25.  April  1906. 

.  Anamnese.  Patient  war  nie  krank  gewesen,  bis  er  vor  ungefähr  7  Wochen 
eine  blutige  Färbung  seines  Urins  konstatierte* 

Da  der  Patient  viel  auf  Reisen  sein  mußte,  konsultierte  er  vorderhand  keinen 
Arzt,  überdies  verschwand  die  Hämaturie  nach  2  Tagen. 

Nach  etwa  1  Woche  wiederholte  sich  das  Bluturinieren,  diesmal  schon  inten- 
siver, aber  auch  nur  während  der  Dauer  weniger  Tage. 

So  wiederholte  sich  nun  die  Hämaturie  während  einiger  Wochen  verschiedene 
Male,  trotzdem  wurde  keine  ärztliche  Hilfe  herbeigezogen  und  ließ  sich  Hqrr  N.* 
in  seiner  geschäftlichen  Tätigkeit  nicht  stören.  Dann  aber  kam  Nierenkolik  hinzu, 
die  Herrn  N.  veranlaßte,  sich  unter  Behandlung  eines  ,^ Arztes  zu  stellen. 

Status  praesens.  Patient  sah  sehr  müde  und  anämisch  aus.  Die  Untersuchung 
ergab  keine  Abweichungen  der  verschiedenen  Organe.  Die  Nieren  War^  beide' 
palptbel,  doch  nicht  merkbar  vergrößert  und  auch  nicht  schmeißend  bei  Druck. 

Der  Urin  enthielt  nur  rote  Blutkörperchen. 


1)  FQrbringer,  Die  Krankheiten  der  Harn-  und  Geschlechtsorgane. 

2)  Guyon,  Klinik  der  Krankheiten    der  Harnblase   und  Prostata.    Bearbeitet 
von  Mendelsohn, 

39* 


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530  '^•J'  ^®  Brui'ne  Ploos  van  Amstel,  [4. 

3  Tage  nach  der  ersten  Untersuchung  bekam  der  Patient  Fieber.  Die  Tem- 
peratur stieg  abends  bis  39,5,  und  blieb  die  folgenden  Tage  zwischen  38  und  39,7. 

Außerdem  enthielt  der  Urin  nun  große  Quantitäten  Zylinder  und  Eiweiß. 

Die  Menge  des  Urins  nahm  stark  ab,  und  an  den  Füßen  und  im  Gesicht  zeigteo 
sich  deutlich  wahrnehmbare,  wenn  auch  schwache  Ödeme. 

Dieser  Zustand  dauerte  verschiedene  Tage,  dann  verischlimmerte  sich  das  Be- 
finden; es  kamen  urämische  und  komatöse  Erscheinungen  hinzu,  und  am  12.  Mal 
erlag  der  Patient  seinem  Leiden. 

4.  Fräulein  d.  J.  sah  ich  zum  ersten  Male  im  November  1906. 

Anamnese.  Patientin  war  bis  vor  etwa  10  Jahren  stets  gesund  gewesen,  fühlte 
sich  kräftig,  war  unermüdlich.  So  blieb  es  bis  1896.  Dann  zeigte  sich  Blat  im 
Urin,  welches  anfänglich  für  eine  Folge  unregelmäßiger  Menstruation  gehalten 
wurde;  der  hinzugezogene  Arzt  jedoch  konstatierte  Hämaturie.  Während  der  Dauer 
zweier  Jahre  hielt  die  Hämaturie  in  abwechselnder  Stärke  an,  bis  im  Jahre  189& 
als  neues  Symptom  ein  frequentes  Urinlassen  hinzukam.  Außerdem  nahm  der 
Urin  eine  trübe  und  schmutzige  Farbe  an,  wo  er  bis  dahin  trotz  des  Blutgehaltes^ 
klar  gewesen.  In  dem  Satz  des  Urins  konnte  man  hin  und  wieder  blutige  Sub- 
stanzen konstatieren.    Die  früher  so  starke  Hämaturie  blieb  indessen  aus. 

Dagegen  wurden  die  Nierenschmerzen  viel  heftiger. 

Während  der  Hämaturie  klagte  sie  über  dumpfe  Schmerzen  in  der  rechten 
Nierengegend;  in  diesem  Stadium  waren  die  Schmerzen  kolikartig. 

Die  Urinuntersuchung,  welche  seit  den  ersten  Krankheitsymptomen  verscbie-^ 
dene  Male  vorgenommen  wurde,  sowohl  während  der  Zeit  der  Hämaturie  als  auch 
nachher  ergab  außer  dem  Finden  der  roten  Blutkörperchen,  während  der  Zeit  der 
Hämaturie,  nie  ein  positives  Resultat. 

Jetzt  aber  enthielt  der  Urin  Eiweiß,  Zylinder,  Epithelien  und  auch  Tuberkel* 
bazillen. 

Eine  zystoskopische  Untersuchung  ergab  eine  stark  blutige  R5te  der  Schleim- 
haut des  rechten  Ureterelnganges.  Dieselbe  Röte  wurde  auch,  zwar  im  geringereo 
Maße,  dafür  aber  fleckenähnlich  auf  der  Schleimhaut  des  Trigonums  konstatiert. 

Willy  Meyer  sagt  von  diesem  letzteren  Symptom:  „Es  sind  Fußspuren  im 
frischen  Schnee**,  worauf  er  folgen  läßt,  „und  man  erkennt  aus  ihnen  mit  wunder- 
voller Deutlichkeit  die  Fußstapfen  des  Feindes  in  einem  bis  dahin  noch  unbe- 
schrittenen  Feld.* 

Patientin  wurde  lokal  auf  Blasenleiden  behandelt,  doch  ohne  Erfolg.  Später 
habe  ich  sie  aus  den  Augen  verloren. 

Bei  allen  diesen  vorgenannten  Fällen  handelte  es  sich  um  Hätna- 
turie.  Eine  Hauptfrage  ist  nun:  stammte  das  Blut  aus  den  Niere]^ 
oder  aus  der  Blase? 

Zu  ihrer  Beantwortung  bedarf  es  beinahe  durchweg  einer  zystosko- 
pischen  Untersuchung,  wenn  auch  hin  und  wieder  die  Anamnese  aus- 
reichendes Material  für  die  Diagnose  liefert. 

Der  Beweis  dafür,  daß  der  Arzt  ohne  zystoskopische  Untersuchung 
leicht  auf  einen  Irrweg  geraten  kann,  liefert  uns  der  bekannte  Fall 
von  Passet,  der  eines  Tages  die  Entdeckung  machte,  daß  bei  einer 
Patientin,  die  er  auf  Blasenleiden  behandelte,  die  Ursache  der  Hä- 
maturie nicht  in  der  Blase,  sondern  in  den  Nieren  zu  suchen  sei. 


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6]  Hämaturie.  531 

Auch  das  Ausspülen  der  Blase  kommt  als  diagnostisches  Hilfs- 
mittel in  Betracht. 

Ist  für  den  Arzt  einmal  die  Tatsache  erwiesen,  daß  das  Blut  aus 
den  Nieren  stammt,  so  legt  sich  ihm  die  zweite  Hauptfrage  vor: 
welche  der  beiden  Nieren  ist  als  Ursache  des  Übels  zu 
denunzieren? 

Morris  z.B.  wäre  die  Beantwortung  dieser  Frage  zustatte  gekom- 
men, als  er  in  einem  Falle  von  Hämaturie  eine  Niere  entfernte, 
während  beide  die  Blutung  verursachten.  Bei  einer  zystoskopischen 
Untersuchung  ist  solch  ein  Fehlgriff  natürlich  ausgeschlossen.  Hat 
man  einmal  konstatiert,  daß  beide  Nieren,  bzw.  Ureter  Blut  absondern, 
dann  ist  es  zweckmäßig,  beide  Ausflüsse  für  sich  zu  untersuchen.  Zu 
diesem  Zwecke  nennen  Silbermann,  Weir,  Ebermann,  Hegar, 
Fenwick  u.  a.  verschiedene  Instrumente  und  Methoden. 

Simon  aber  war  der  erste,  der  uns  den  Weg  für  die  Katheteri- 
sierung  beider  Ureter  zeigte.  Nach  ihm  taten  sich  auf  diesem  Ge- 
biete noch  andere,  wie  Pawlik,  Howard,  Kelly,  Morris,  Thomp- 
son, Boisseau,  Caspar,  Albarran,  Berkeley,  Hill,  jedoch  vor 
allem  Nitze  hervor. 

Es  würde  zu  weit  führen,  hier  alle  die  verschiedenen  Instrumente 
zu  beschreiben. 

Trotzdem  war  man  stetig  auf  der  Suche  nach  anderen  Mitteln, 
hauptsächlich  um  eine  Scheidung  der  Blase  zu  ermöglichen.  Der 
erste,  der  dafür  ein  Instrument,  „den  Harnscheider"  erfand,  war  Neu- 
mann  aus  Guben,  nach  ihm:  Harris,  Dowes,  Nicolich,  Luys^), 
Cathelin^.  Erreicht  man  mit  keiner  dieser  Methoden  das  erwünschte 
Ziel,  so  bleibt  noch  das  von  Iversen  vorgeschlagene  Öffnen  der  Blase 
<Epizystomie)  mit  anschließender  Katheterisierung  der  Ureter. 

Czerny  und  Braun  empfehlen  eine  Nierenbeckenfistel,  damit 
nur  der  Urin  aus  der  anderen  Niere  in  die  Blase  gelangen  kann. 

Dieses  Verfahren  vermag,  besonders  nach  der  Vervollkommnung 
von  Pinner,  entschieden  Erfolge  aufzuweisen. 

Durch  eine  derartige  Scheidung  des  Urins  ist  unbedingt  die  Her- 
kunft des  Blutes  erwiesen,  d.  h.  welche  der  beiden  Nieren  erkrankt  ist. 

Natürlich  erkennt  man  auf  diese  Weise  auch  die  verhältnismäßig 
seltenen  Fälle,  bei  denen  nur  eine  Niere  vorhanden  ist. 

Weiß  man  einmal,  welche  Niere  erkrankt  ist,  so  ist  man  doch 
noch  nicht  berechtigt,  dieselbe  zu  exstirpieren. 

1)  Luys,  Die  Sonderung  des  Urins  der  beiden  Nieren.  Zentralbi.  für  die 
Krankheiten  der  Harn-  und  Sexualorgane  1002. 

2)  Cathelin,  Les  urines  des  deux  reins  receuillies  s6par6ment  avec  le  divi- 
seur  v6sical  gradu6.    Annales  des  Maladies  des  Organes  gönito-urinaires  1902. 


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532  ^'  J*  ^^  Brulne  Ploos  von  Amstel,  [§ 

Daza  bedarf  es  der  Überzeuguag,  daß  die  andere  Niere  nlebt  nur 
relativ  gesund,  sondern  auch  imstande  ist,  die  exstirpierte  zu  ersetzen. 

Dea  Forschungen  Prof.  van  't  Hoffs  verdanken  wir  eine  neue 
Wissenschaft,  die  »Kryoskopie ',  welche  uns  die  Diagnose  einer 
Niereninsuffizienz  ermöglicht. 

Wir  wollen  hier  nicht  näher  auf  die  Technik  und  Lehre  der 
Kryoskopie  eingehen. 

Um  letztere,  in  ihrer  heutigen  Vollkommenheit  haben  sich  Dreser, 
V.  Koranyi,  Lindemann,  v.  Illyes,  Kövesi,  Casper,  Senator, 
Moritz,  Kümmel  u.  a.  verdient  gemacht. 

Kümmel  sagt:  Um  die  Insuffizienz  der  Niere  zu  erweisen,  bedarf  es 

L  der  Bestimmung  des  Harnstoffes; 

2.  der  Bestimmung  des  Gefrierpunktes  des  Blutes  ,- 

3.  der  Bestimmung  des  Gefrierpunktes  des  Urins  ; 

4.  der  Gefrierpunktsbestimmung  des  jeder  einzelnen  Niere  durch 
den  Uretherenkatheterismus  entnommenen  Urins. 

Sein  Ergebnis  lautet : 

1.  Daß  eine  ungenügende  Ausscheidung  des  Harnstoffes,  ein  Her* 
untergehen  der  Tagesmenge  unter  die  Hälfte,  ca.  16g,  die. Annahme 
einer  Niereninsuffizienz  nahe  legt  und  die  eventuelle  operative  Ent- 
fernung einer  Niere  bedenklich  erscheinen  läßt. 

2.  Bei  normal  funktionierenden  Nieren  beträgt  die  Gefrierpunkts- 
emiedrigung  des  Blutes  0,56.  Eine  Niere  mit  normaler  Arbeitsleistung 
reicht  zur  Erhaltung  des  Gefrierpunktes  auf  0,56  aus.  Eine  Zunahme 
der  Gefrleipunktserniedrigung  auf  0,58—0,60  und  darüber  zeigt  an, 
daß  beide  Nieren  mangelhaft  funktionieren.  Von  einem  operatives 
Eingriff  ist  so  lange  Abstand  zu  nehmen,  bis  der  Gefrierpunkt  von 
annähernd  0,56  erreicht  ist.  Einseitige  Krankheit  bedingt  keine  Stö* 
rung  des  Gefrierpunktes  des  Blutes. 

3.  Die  Gefrierpunktserniedrigung  des  Urins  unter  0,9  legt  die  An- 
nähme  einer  Niereninsuffizienz  nahe. 

4.  Einen  weit  sichereren  Anhaltspunkt  über  die  Funktionsfahigkeit 
jeder  einzelnen  Niere  gibt  die  Untersuchung  des  jedem  Organ  ge- 
sondert durch  den  Ureterenkatheterismus  entnommenen  Urins  auf 
Harnstoffmenge  und  vor  allem  Gefrierpunktserniedrigung. 

In  zweifelhaften  Fällen  wird  man  durch  eine  solche  Untersuchung 
beinahe  immer  zu  einer  richtigen  Diagnose  gelangen« 

Außerdem  steht  uns  noch  ein  ungefährlicher  operativer  Eingriff 
explorativer  Lumbaischnitt,  zwecks  lokaler  Untersuchung  und  ev, 
Nierenspaltung  rur  Verfügung, 

h  Kümmel^  Die  Feststellung  der  Funktionsfähigkeit  der  Nierea  vor  operativeo 
Eingriffen.  Arcb.  f.  Uin.  Chir.  ioOO.    Über. moderne  Nierenchirurgie,  ibre  Dia^ose 


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7]  Hlmaturie.  533 

tmd  Resultate«  Berliner  klin.  ^ochenschr.  1906.  Die  Grenzen  erfolgreicher  Nieren- 
exstirpation  und  die  Diagnose  der  Nephritis  nach  kryoskopischen  Erfahrungen.  Arch. 
f.  klin.  Chir.  Bd.  67. 

2.  V.  Uly  es  und  Kdvesi,  Der  Verdunnungsversuch  im  Dienste  der  funktio- 
nellen Nierendiagnostik.    Berliner  klin.  ^ocbenschr.  1002. 

3.  Caspar  und  Richter,  Über  funktionelle  Nierendiagnostik.  Berliner  klin. 
Wochenschr.  1000. 

4.  Richter,  Neuere  Fortschritte  der  Nierendiagnostik  und  ihre  Bedeutung  für 
die  Therapie.    Die  deutsche  Klinik  ai^  Eingange  des  20.  Jahrhundert. 

5.  Casper  und  Richter,  \(^as  leistet  die  funktionelle  Nierendiagnostik? 
Mitteil,  aus  den  Grenzgebieten  usw.  Bd.  11. 

6.  Acbard  et  Castaigne,  L'examen  clinique  des  fonctions  renales. 

7.  Dreser,  Ober  Diurese  usw.    Arch.  f.  exper.  Path.  u.  Pharm.  1902. 

8.  Harris,  A  new  and  simple  method  of  obtaining  the  urine  separately  from 
the  two  kindneys  in  either  sex.    The  Journ.  of  the  Americ.  med.  Assoc.  1898. 

9.  Israel,  ^as  leistet  der  Ureterenkatheterismus  in  der  Nierenchirurgie? 
Berliner  klin.  Wochenschr.  1899. 

10.  Senator,  Weitere  Beiträge  zur  Lehre  vom  osmotischen  Druck  tierischer 
Flüssigkeiten.    Deutsch,  med.  Wochenschr.  1900. 

11.  V.  Koranyi,  Physiolog.  und  klin.  Untersuchungen  über  den  osmotischen 
Druck  tierischer  Flüssigkeiten.    Zeitschr.  f.  klin.  Medizin  1896—1897. 

Nierenblutung. 

Sobald  wir  nun  eine  einseitige  oder  doppelte  Nierenblutung  kon- 
statiert haben,  ist  unser  nächstes  Ziel,  die  Ursache  der  Nierenerkran- 
kung zu  erforschen. 

Unser  erster  Gedanke  ist  dann  die  Existenz  eines  Nierentraumas. 
Eine  solche  Nierenquetschung  ruft  beim  Patienten  fast  immer  einen 
mehr  oder  weniger  starken  Urindrang  hervor.  In  schlimmen  Fällen 
erfolgt  dann  sofort  die  Hämaturie,  d.  h.  die  Ausscheidung  klaren  Blutes; 
ist  die  Quetschung  weniger  heftig,  so  mengt  sich  das  Blut  in  der 
Blase  mit  dem  Urin  und  wird  dann  später  als  blutiger  Urin  ausge- 
schieden. Bei  geringer  Blutung  und  leerer  Blase  kommt  es  oft  vor, 
daß  das  Blut  in  der  Blase  gerinnt  und  ihre  Öffnung  durch  Koagula 
verschlossen  wird.  Hierdurch  wird  die  Zystoskopie  erheblich  er- 
schwert, oft  sogar  unmöglich,  aber  die  gleichmäßige  Verteilung  des 
Blutes  in  der  ausgeschiedenen  Flüssigkeit  berechtigt  uns  doch  zur  Dia- 
gnose, daß  hier  nichteine  Blasen-,  sondern  eine  Nierenblutung  vorliegt. 

Großen  Wert  für  die  Diagnose  hat  in  diesem  Falle  die  Anamnese, 
welche  uns  das  etwaige  Trauma  deutlich  erkennen  läßt. 

Menge!)  macht  uns  aber  noch  besonders  darauf  aufmerksam,  daß 
auch  eine  schwache  Blutung  die  Folge  eines  leichten  Traumas  sein 
kann,  und  daß  letzteres  leicht  übersehen  wird. 

1)  Menge,  Münch.  med.  Wochenschr.  1900. 

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334  P*  i'  de  BniTne  Ploos  van  Amstel,  [g 

Er  machte  die  Erfahrung,  daß  auch  die  vorherige  Palpation  eine 
leichte  Nierenblutung  zur  Folge  haben  kann. 

Er  untersuchte  in  21  Fällen  den  Urin  vor  und  nach  der  Palpation 
und  nur  in  6  der  21  Fälle  war  der  Urin  nach  der  Palpation  unver- 
ändert. In  15  Fällen  enthielt  er  Blut  und  Eiweiß  und  zwar  mehr 
Eiweiß  als  übereinstimmen  konnte  mit  der  anwesenden  Quantität  Blut. 

Oftmals  entsteht  infolge  des  Traumas  eine  Nephritis ,  eine  trau- 
matische Nephritis,  deren  Schwere  jedoch  nicht  immer  im  richtigen 
Verhältnis  zu  der  Beschaffenheit  des  Traumas  steht  (Edlefsen^). 

Die  Möglichkeit  ist  also  nicht  ausgeschlossen,  daß  das  Nieren- 
trauma übersehen  wird  und  unsere  Diagnose  der  Hämaturie  uns  also 
auf  falsche  Fährte  bringt.  Dieses  um  so  leichter,  da  häufig  erst  ge- 
raume Zeit  nach  dem  Entstehen  des  Trauma  die  Hämaturie  eintritt, 
während  die  Symptome  des  Trauma  dann  scheinbar  so  leichter  Art 
sind,  daß  der  Patient  ohne  Störung  seinen  täglichen  Geschäften  nachgeht. 

So  erzählt  Morris^)  uns  einen  Fall  von  einem  Jüngling,  welcher 
beim  Fußballspiel  einen  Tritt  in  die  Nierengegend  erhielt,  ruhig  den 
ganzen  Mittag  weiterspielte  und  erst  spät  am  Abend  nach  mehrmaligem 
Urinieren  die  Hämaturie  entdeckte. 

Auch  kann  es  vorkommen,  daß  eine  schon  bestehende  Hämaturie 
einem  erst  später  entstandenen  Trauma  zugeschrieben  wurde.  Daß 
passierte  in  1  Fall,  über  den  Newman  berichtet,  von  einem  Jungen 
von  15  Jahren,  „who  after  striking  his  side  had  persistent  hsematuria, 
which  on  inquity  was  found  to  have  occured  on  previous  occasions 
and  to  be  due  to  a  villous  growth  in  the  bladder*'« 

Deshalb  warnt  auch  Dr.  Tiffany  davor,  in  den  Fällen,  wo 
beide  anwesend  sind,  Hämaturie  und  Trauma  zu  kombinieren.  Er 
begründet  seine  Warnung  durch  reichliche  Erfahrungen  aus  eigener 
Praxis  in  puncto  Hämaturie  in  der  Gegend  zwischen  Washington  und 
den  Capes  of  Cheasepeake.  Die  Anamnese  ließ  in  den  häufigsten 
Fällen  auf  irgendein  früheres  Trauma  schließen ;  die  Blutuntersuchung 
ergab  als  Ursache  Malaria. 

Wenn  auch,  wie  wir  gesehen  haben,  das  Trauma  bei  Hämaturie 
eine  große  Rolle  spielen  kann,  so  kommt  es  doch  bei  der  Besprechung 
sämtlicher  Ursachen  der  Hämaturie  bei  weitem  nicht  in  Betracht. 
So  sah  z.  B.  Küster 3)  kaum  10  Fälle  von  Nierenquetschungen  bei 


1)  Edlefsen,   Nierenquetschung  oder   Nierenentzündung  usw.    Münch.  med 
Wochenschr.  1902. 

2)  Morris,  Surgical  diseases  of  the  kindncy  and  Ureter  1901. 

3)  Küster,  Zur  Entstehung  der  subliutanen  Nierenzerreißungen  und  der  Wan- 
derniere.   Deutsche  Ges.  f.  Chir.  1895. 


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9]  Hämaturie.  535 

50000  Kranken  in  der  Klinik  in  Basel;  Morris  in  dem  Middlessex 
Hospital  kaum  13  Fälle  bei  2610  Sektionen  und  Herzog  kaum  17 
in  den  Sektionsprotokollen  von  7805  Sektionen  in  dem  Müncbener 
pathologisch-anatomischen  Institut. 

Wenn  bei  einem  Trauma  die  Nierenblutung  Fortdauert,  dann  kann 
ihre  Ursache  nicht  länger  in  dem  Trauma  selber  sein,  wohl  aber 
^ine  Nierenveränderung,  welche  als  Folge  des  Traumas  entstanden  ist. 

Dieses  beweist  auch  der  Fall  von  Nimier.^  Der  17jährige  Pa- 
tient von  Nimier  hatte  sich  in  der  linken  Nierengegend  ein  heftiges 
Trauma  zugezogen.  8  Tage  nachher  entstand  die  Hämaturie,  die  nicht 
verschwand  und  auch  trotz  vorbeigehender  Besserung  andauerte.  Nach 
Exstirpation  der  Niere  wurde  der  Urin  normal  blutfrei.  Die  Unter- 
suchung der  Niere  ergab  außer  sklerotischen  Veränderungen  auch 
akute  Entzündungsherde. 

Ren  mobilis. 

Die  Hämaturie  ist  selten  eine  Begleiterscheinung  bei  Ren  mobilis. 

Morris^)  sagt  hierüber:  ^Hsematuria,  in  some  cases  to  a  rather 
degree,  has  been  met  with  in  association  with  movable  kidney.  I  have 
explored  the  movable  kidney  in  several  instances,  on  account  of  pain 
and  haematuria,  and  I  have  found  it  congested;  and  after  the  Operation 
the  Symptoms  have  entirely  ceased.* 

Derartige  Fälle  wurden  wahrgenommen  durch  Albarran,  Israel, 
Newman  und  Guyon. 

Bei  Guyon  war  es  eine  38jährige  Frau,  die  schon  seit  2  Jahren 
beinahe  ohne  Unterbrechung  Nierenblutungen  hatte.  Sie  unterzog  sich 
einer  Operation,  die  Niere  wurde  freigelegt  und  aufgeschnitten,  aber 
das  Resultat  der  Untersuchung  war  gering.  Nur  fand  man,  daß  der 
obere  Nierenpol  stark  fixiert  war,  der  wurde  nun  losgelöst  und  die 
Niere  reponiert  und  zwar  mit  dem  Erfolge,  daß  die  Hämaturie  aus- 
blieb. Ebenso  ging  es  Albarran:  auch  er  fand  nichts  an  der  Niere 
selbst,  aber  er  erlangte  Heilung  durch  Reposition  der  Niere. 

Newman  jedoch  fand  außer  Ren  mobilis  auch  Nephritis.  Welche 
der  beiden  war  nun  die  Ursache  der  Hämaturie? 

Sehr  richtig  sagt  darum  Morris:  ,When  hsematuria  occurs  with  a 
movable  kidney,  lumbar  exploration  ought  to  be  performed,  and 
nephrorraphy  practised,  after  füll  examination  of  the  kidney  and 
downwards  catheterisation  of  the  Ureter  have  shown  that  no  other 
tangible  cause  for  the  hsemorrhage  exists." 

1)  Nimier,  Sur  rhömaturie  renale.    Soc.  de  Chir.  1898. 

2)  Morris,  Surgical  diseases  of  the  kidney  and  Ureter.  1901. 


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536  P-  J-  de  BruTtte  Ploos  vin  Amstel,  [10 

Den  Beweis  für  die  Richtigkeit  dieser  Worte  liefert  uns  der  Fall 
von  Kingston  Fowler.*) 

Kingston  Fowler  behandelte  eine  Dame,  welche  wiederholt  Anfalle 
von  NierenJLolik  und  Hämaturie  hatte.  Die  Untersuchung  ergab  außer 
dem  Ren  mobilis  eine  besondere  tiefe  Lage  der  Niere.  Darauf  wurde 
zur  Operation  geschritten«  Dr.  Gould,  welcher  dieselbe  verrichtete, 
fand  wohl  einen  Ren  mobilis,  aber  derselbe  verkehrte  in  einer  i,ad- 
vanced  stage  of  cystic  degeneration'. 

Newman  teilte  in  derselben  Sitzung  der  Clinical  Society  zu  London 
noch  einige  Fälle  mit.  Bei  dem  ersten  Patienten  von  Newman^  zeigte 
sich:  »Movable  enlarged  kidney  with  hypersemia  from  torsion  of  renal 
vessels  and  ureter  caused  by  strain.  The  Symptoms  were  severe 
paroxysmal  pain,  haematuria,  gastric  disturbances,  &c.,  simulating  those 
of  renal  colic."    Dieser  Patient  fand  auf  operativem  Wege  Heilung. 

Auch  Cabot^)  erzählt  uns  von  einem  Fall  von  Hämaturie  bei  Ren 
mobilis. 

Bemerkenswert  war  bei  demselben  der  Umstand,  daß  die  außer- 
gewöhnlich heftige  Blutung  sofort  bei  der  Reponierung  der  Niere  nach- 
ließ, um  später  beim  Luxieren  wieder  mit  alter  Vehemenz  einzutreten. 

Anläßlich  der  Tatsache,  daß  Hämaturie  oftmals  geheilt  wird  durch 
Freilegen  der  Niere,  glaubt  Cabot,  daß  es  sich  in  jenen  Fällen  um 
eine  bewegliche  Niere  handelt.  Die  Inzision  soll  ein  Adhäsion  und 
dadurch  eine  Fixierung  der  Niere  verursachen. 

Die  Niere  des  vierzehnten  Patienten  von  Israel*)  war  auch  ab- 
normal beweglich  und  die  bei  diesem  Patienten  bestehende  Hämaturie 
wurde  auch  geheilt  durch  Freilegen  der  Niere. 

Israel  sagt  hierüber:  „Daß  die  abnorme  Mobilität  der  Niere  in  ur- 
sächlichem Zusammenhange  mit  der  Blutung  gestanden  habe,  ist  möglich, 
da  derartige  Vorkommnisse  bei  Wandernieren  schon  beobachtet  sind. 
Aber  der  Zusammenhang  ist  nicht  bewiesen,  da  (hier)  zwischen  dem 
Schmerzanfall  und  Eintritt  der  Blutung  4—5  Wochen  lagen  und  zur 
Zeit  der  Hämaturie  jede  Empfindlichkeit  fehlte.'' 


1)  Kingston  Fowler,  Clinical  Soc  of  London  11.  December  1896.  TlieBritisb 
Medical  Journ.  1896. 

2)  Newman,  Increased  vascular  tension  in  the  kidney  a  cause  of  renal  paifl, 
hsmaturia  and  albuminurla.    The  British  Med.  Journ.  1896. 

3)  Cabot,  Severe  hsematuria  from  movable  kidney.  Boston  Med.  and  Snrg. 
Journ.  1902. 

4)  Israel,  Über  den  Einfluß  der  Nierenspaltung  auf  akute  und  chroniscfae 
Krankheitsprozesse  des  Nierenparenchyms.  Mitt.  aus  den  Grenzgebieten  der  Me- 
dizin und  Chirurgie  1900. 


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II]  .  Hämatttrie.  537 

In  unsern  Fällen  beweist  die  Untersuchung  jedoch^  daß  es  sich 
nicht  um  Ren  mobilis  handelte. 

Schon  seit  geraumer  Zeit  war  es  bekannt^  daO  Nierenblutung  ein 
Symptom  der  Hämophilie  sein  kann,  aber  Senator^  war  eigent- 
lich der  erste,  welcher  den  Begriff  »Renale  Hämophilie''  erläuterte. 

Er  erörtert  folgenden  Fall:  Im  Februar  1890  wurde  er  von  einer 
19jährlgeny  an  langwieriger  Hämaturie  leidenden  Dame  konsultiert. 
Schon  im  Dezember  1887  war  die  Hämaturie  konstatiert  worden  im 
Anschluß  an  die  Menstruation.  Es  bestand  damals  keine  Anomalie 
der  Beckenorgane.  Im  September  1889  wiederholten  sich  die  Nieren- 
blutungen und  hatten  ununterbrochen  stark  fortgedauert,  bis  Senator 
zu  Rate  gezogen  wurde. 

Die  Untersuchung  der  kräftigen,  wenn  auch  anämischen  Patientin 
ei^ab  keine  Abweichungen  der  Lungen  und  der  Nieren.  Der  Urin 
enthielt  rote  und  weiße  Blutkörperchen.  Patientin  war  immer  fieber- 
frei gewesen.  Ihr  verhältnismäßig  günstiges  Befinden,  sowie  das 
Resultat  der  Urinuntersuchung  veranlaßte  Senator,  die  Anwesenheit 
der  gewöhnlichen  Ursachen  der  Nierenblutung,  wie  malignen  Tumor, 
Tuberkulose  und  Nierenstein  auszuschließen. 

Aber  auch  die  mehr  seltenen  Ursachen,  wie  Thrombose  der  Nieren- 
geßlße,  Aneurysma  der  Nierenarterien,  Varix  von  Nierenvenen,  para- 
sitäre oder  tropische  Chlorose  usw.  ließ  er  unberücksichtigt.  Seine 
Diagnose  lautete:  Hämophilie,  auf  familiärer^  hereditärer  Grundlage 
beruhende  Neigung  zu  Blutungen,  und  zwar  renale  Hämophilie. 

Die  Anamnese  bestätigte  seine  Diagnose  (d.  h.  seiner  Ansicht  nach). 
Die  Patientin  hatte  vier  Schwestern,  welche  gleichwie  der  Vater  an- 
dauernd von  Nasenbluten  geplagt  wurden.  Bei  letzterem  stellte  sich 
trotz  vollkommen  gesunder  Lunge  des  öfteren  Hämoptoe  ein.  Die 
Großmutter  väterlicherseits,  welche  im  58.  Lebensalter  starb,  hatte 
bis  zu  ihrem  57.  Jahr  heftige  Menstrualblutungen  gehabt.  Patientin 
selber  war  jedoch,  außer  obenerwähntem  Falle,  frei  von  Blutungen 
gewesen. 

Bei  der  zystoskopischen  Untersuchung  durch  Dr.  Nitze  wurde  kon- 
statiert, daß  es  sich  hier  um  Blutung  der  rechten  Niere  handelte.  Das 
Befinden  der  Patientin  wurde  zusehends  schlechter  und  so  wurde  die 
Niere  auf  operativem  Wege  entfernt. 

Die  exstirpierte  Niere  war,  wie  Senator  uns  mitteilt,  makroskopisch 
»ganz  normal,  was  Gestalt,  Größe  und  sonstiges  Aussehen  betraf*. 
Nicht  nur  der  Wundverlauf  war  günstig,  sondern  auch  die  Hämaturie 


A)  Senator;  Ober  renale  HSmophilie.    Berliner  klin.  Wochenscbr.  1801. 

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538  P«  J*  de  BruTne  Ploos  van  Amstel,  [i2 

schien  überwunden  zu  sein,  so  daß  Patientin' wieder  völlig  gesund 
wurde. 

An  einem  Stück  der  Niere  jedoch,  das  mikroskopisch  untersucht 
ward,  konstatierte  man  eine  ,,leichte  Verfettung  einzelner  Epithelien'. 
Der  andere  Teil  wurde  von  O.  Israel  untersucht,  und  dieser  be- 
hauptete, daß  mit  Sicherheit  festzustellen  sei,  daß  j^keine  irgendwie 
ausgedehnte  Nephritis  bestand.  Nur  vereinzelte,  sternförmige,  ziemlicli 
tief  eingezogene  Narben  zeigten  mikroskopisch  das  Bild  einer  be- 
grenzten interstitiellen  Nephritis'^. 

Klemperer  glaubt  nicht,  daß  dieser  Fall  ^.renale  Hämophilie''  in 
dem  Sinne  Senators  ist. 

Erstens  hatte  diese  Patientin  vorher  nie  Blutungen,  und  Grandidier 
trifft  doch  das  richtige  mit  seiner  Behauptung,  daß  meistens  bereits 
während  der  ersten  zwei  Lebensjahre  j^apparaissent  les  premiers 
symptömes  h6mophiliques;  aprös  22  ans  on  en  est  presque  toujours 
ä  l'abri«. 

Dieser  Auffassung  pflichtet  Senator  selber  bei  in  dem  Fall  von 
Schede,  wo  er  die  Altersgrenze  als  Argument  gegen  die  Annahme  der 
Hämophilie  als  Ursache. der  Hämaturie  anführt. 

Auch  die  Anamnese,  in  welcher  nur  die  Rede  ist  von  Nasen- 
blutungen  und  heftiger  Menstruation,  kann  nicht  als  kräftiges  Argument 
für  die  Diagnose  in  Betracht  kommen. 

Außerdem  verlief  die  Zystoskopie  ohne,  und  die  Operation  mit 
normaler  Blutung. 

Nun  sagt  Senator  zwar,  daß  die  Erfahrung  bestätigt  hat,  daß  gerade 
scharf  geschnittene  Wunden  bei  Hämophilen  nicht  so  gefährlich  sind 
und  nicht  so  stark  bluten,  aber  Grandidier  beschreibt  uns  doch,  wie 
in  40  Fällen  der  chirurgische  Eingriff  eine  sehr  starke  Blutung  nach 
sich  zog.  Heyf  eider  beobachtete  sogar  einst  eine  heftige  Blutung  nach 
der  Vakzination. 

Daß  auch  der  von  Senator  mitgeteilte  Fall,  wo  der  Vater  trotz  ge- 
sunder Lungen  Hämoptoe  hatte,  wenig  Wert  für  uns  hat,  ergibt  der 
Vortrag  von  Thorner  in  dem  Verein  für  innere  Medizin  in  Berlin. 

Thorner  behandelte  einen  ähnlichen  Fall  bei  einer  36jährigen  Dame; 
zuerst  glaubte  er  an  eine  hysterische  Blutung,  jedoch  der  fernere  Ver- 
lauf der  Krankheit  bewies,  daß  es  ein  Fall  von  Phthisis  pulmonum  war. 

Auch  bemerkt  Gottschalk,  daß  Senators  Patientin  zyklische  Albu- 
minurie hatte,  und  das  dürfte  uns  doch  wohl  veranlassen,  einer  anderen 
Ursache  als  der  Hämophilie  nachzuspüren. 

Klemperer  ist  der  Ansicht,  daß  Patientin  auch  auf  Neurasthenie 
hin  hätte  behandelt  werden  müssen. 

Senator  selbst  sagt  jedoch  hierüber:  ^»Zyklische  Albuminurie  ist 


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13]  Hämaturie.  539 

meist  ein  Zeichen  einer  selir  leichten  und  schleichend  verlaufenden 
Nephritis,« 

Auch  sagt  er,  daß  letztere  erst  seit  kurzer  Zeit  bestehen  kann,  da 
er  vor  der  Operation  keine  Spur  von  ihr  habe  entdecken  können: 
doch  das  ist  kein  Beweis. 

Debove^  sagte  bei  der  Besprechung  eines  Falles  von  Nephritis 
bei  Bleiintoxikation:  ^Uexamen  de  l'urine  ne  r^vgle  pas  le  moindre 
trace  d'albumine,  mais  vous  savez  que  pendant  une  p6riode  plus  ou 
moins  longue  de  leur  Evolution,  les  nephrites  peuvent  exister,  histo- 
logiquement  tout  au  moins,  sans  s'accompagner  d'albuminurie,' 

Der  Umstand,  daß  Senator  keine  Spuren  von  Eiweiß  entdeckte, 
kann  doch  kein  Beweis  dafür  sein,  daß  während  der  Untersuchung 
die  Nieren  gänzlich  normal  waren,  schließt  doch  nicht  die  Anwesen- 
heit von  Nephritis  aus.  Übrigens  ist  auch,  wie  wir  bereits  erörterten, 
im  Sektionsprotokoll  von  O.  Israel  schon  die  Rede  von  interstitieller 
Nephritis. 

Auch  Henoch^),  der  den  Namen  zyklische  Albuminurie  unrichtig 
findet,  sagt:  »Wenn  auch  einzelne  Fälle  völliger  Heilung  beobachtet 
worden  sind,  so  ist  doch  die  ganze  Sache  noch  dunkel  und  der  Ver- 
dacht einer  schleichenden  Nephritis  nie  ganz  abzuweisen.'^ 

Heubner^)  ist  ebenfalls  dieser  Meinung. 

Senator  meint  außerdem,  daß  zyklische  Albuminurie  nie  solche 
heftige  Blutungen  verursacht,  wie  gerade  in  diesem  Falle,  und  ist  der 
Meinung,  daß  die  Albuminurie  aus  der  nicht  exstirpierten  Niere  stammt, 
und  zwar  infolge  der  Exstirpation. 

Jedenfalls  können  wir  nicht  annehmen,  daß  Senators  Fall  ein  hin- 
reichender Beweis  ist,  um  nur  annähernd  das  Bestehen  der  renalen 
Hämophilie,  nach  seiner  Auffassung,  zu  bestätigen. 

Warum  sollte  auch  das  Wesen  der  betn  Hämophilie  verschieden- 
artig sein,  nur  weil  zufällig  das  erste  Symptom  nicht  eine  Nieren-, 
sondern  z.  B.  eine  Nasenblutung  war? 

Auch  Klemperer  findet  diesen  Fall  von  Senator  durchaus  nicht 
beweisend.  Er  spricht  von  ^»Hämaturie  der  Bluter"*,  nie  von  renaler 
Hämophilie.  Dies  ist  auch  in  der  Tat  die  richtigste  Auffassung,  doch 
dadurch  wird  auch  Senators  renale  Hämophilie  als  selbständiges  Krank- 
heitsbild  hinrällig. 

Georg  Elb^),  ein  Schüler  Klemperers,  hat  in  seiner  Dissertation 

1)  Debove,  Nephrite  latente  chez  un  saturnin.    La  Presse  m6dica1e  1901. 

2)  He  noch,  Vorlesungen  fiber  Kinderkrankheiten. 

3)  Heubner^  Pädiatrische  Arbeiten.    Festschrift.  Berlin  1890. 

4)  Georg  Elb,  Zur  Kenntnis  der  renalen  Hämophilie.  Inaugural-Dissertat. 
Berlin  1896. 


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540  P*  J'  de  Bruine  PI008  van  Amstel,  [14 

die  renale  Hämophilie  erörtert.  Er  bespricht  in  derselben  rwel  Pille 
aus  der  Klinik  von  v.  Leyden,  welche  außerdem  von  Klemperer  er- 
örtert werden.  In  beiden  Fällen  bestand  auch  nicht  der  mindeste 
Zweifel  darfiber^  daß  die  Patienten  an  Hämophilie  litten.  Neb€n 
anderen  Blutungen  wurde  bei  beiden  Patienten  auch  Nierenblutuog 
konstatiert. 

Im  völligen  Einklänge  mit  diesen  zwei  Fällen  sagt  Elb:  »Unter 
renalen  Hämophilie  sind  nur  die  Nierenblutungen  notorischer  Bluter 
zu  verstehen.* 

Ein  klassischer  Fall  von  „Hämophilie  der  Bluter'  ist  durch  Gros- 
glik^)  beschrieben.  Auch  dabei  kommt  Senators  Fall  zur  Sprache  und 
ist  Grosglik  ebenfalls  der  Ansicht,  daß  der  Name  „renale  Hämophilie 
hier  nicht  richtig  angewandt  ist'.  „Die  Hämophilie  ist  ja  eine  Allge- 
meinerkrankung; äußert  sie  sich  aber  ausschließlich  in  der  Gestalt 
renaler  Blutungen,  so  kann  man  eben  nur  von  einer  Nierenblutuog 
auf  hämophiler  Grundlage  reden.' 

Trotzdem  bleibt  für  ihn  das  große  Verdienst  Senators,  der 
darauf  hingewiesen  hat,  daß  bei  den  sog.  essentiellen  Nierenblutungeo 
auch  wohl  Fälle  vorkommen,  wo  die  Blutungen  auftreten  bei  PatienteOi 
welche  an  Hämophilie  leiden. 

Grandidier^)  hat  auch  einen  ähnlichen  Fall  beschrieben,  wobei  ein 
31  jähriger  Mann,  der  früher  schon  öfters  an  Nasen-  und  Zahnfleisch-' 
blutungen  litt,  Anfälle  von  Hämaturie  bekam. 

Das  Befremden,  daß  bei  einer  allgemeinen  Krankheit  wie  der  Hä- 
mophilie Exstirpation  der  Niere  nicht  nur  Heilung  der  Nierenblutung, 
sondern  auch  dauernde  Genesung  der  Hämophilie  verursacht,  beaüt«*. 
wortete  Senator  mit  der  Behauptung,  daß  hier  keine  allgemeine  Hämo- 
philie bestand.  Er  sagt,  daß  es  sich  in  diesem  Falle  nicht  um  sog. 
allgemeine  Hämophilie  gehandelt  hat,  sondern  daß  nur  in  der  Niere, 
und  zwar  nur  in  der  einen,  Veränderungen  vorgelegen  haben  mfissen, 
auf  Grund  einer  hämophilen  Familiendisposition.  Ferner  sagt  er  auch, 
daß  die  wirkliche  Hämophilie  durchaus  nicht  immer  eine  allgemeine  ist. 

Außer  den  vielen  Einsprüchen,  welche  schon  gegen  diesen  Fall 
von  Senator  zu  erheben  sind,  ist  wohl  das  größte  Bedenken  dagegen, 
daß  er  ihn  erklären  will  mit  Hilfe  einer  besonderen  Form  der  uns  in 
Wesen  und  Ursache  so  wenig  bekannten  Krankheit  Hämophilie. 


1)  Grosglik,  Über  Blutungen  aus  anatomisch  unverlnderten  Nieren.  Sammluoi 
klinischer  Vorträge  203,  Chirurgie  58. 

2)  Grandidier,  Die  Hämophilie  oder  die  Bluterkrankheit. 


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15]  Hlmaturie.  541 

Ein  sehr  interessanter  Fall  über  ^.renale  HSmophilie'  wurde  uns 
mitgeteilt  durch  Passet^). 

Die  Patientin  war  Mutter  von  vier  Kindern,  deren  ältestes  19  Jahre 
alt  war.  Die  Diagnose  lautete  auf  Blasenblutung.  Das  Ergebnis  der 
Anamnese  deutete  nicht  auf  Hämophilie  als  Urheber  der  Krankheit 
hin.  Die  zystoskopische  Untersuchung  wurde  unterlassen,  nicht  nur 
weil  die  Patientin  dieselbe  nicht  wünschte,  sondern  auch  weil  das 
Resultat  infolge  der  heftigen  Blutung  zweifelhaft  gewesen  wäre.  Bei 
der  mikroskopischen  Untersuchung  konnte  nur  die  Anwesenheit  von 
Blut  im  Urin  konstatiert  werden.  Die  Blase  wurde  ausgespült  mit 
einer  borsauren  Lösung  und  dann  wurde  eine  Injektion  vorgenommen 
mit  100  g  l%iger  Nitras-argenti-Lösung,  welch  letztere  man  eine 
Minute  auf  die  Blasenwand  einwirken  ließ.  Scheinbar  hatte  dieseBe- 
handlung  den  gewünschten  Erfolg;  jedenfalls  ließ  die  Blasenblutung 
nach.  Auch  jetzt  noch  verweigerte  die  Patientin  die  zystoskopische 
Untersuchung.  Nach  1^/2  Jahren  trat  die  Blutung  wieder  auf  mit  ganz 
gleichartigen  Symptomen.  Jetzt  aber  blieb  jede  Behandlung  resultat- 
los. Die  unter  Narkose  vorgenommene  Digitaluntersuchung  ergab  nichts 
Besonderes;  nur  wurde  ein  Stück  Blasenschleimhaut  gefunden  in  der 
Größe  eines  Zweimarkstückes  „von  grobkörniger  Beschaffenheit  und 
bedeckt  mit  kurzen  Trabekeln"".  Endlich,  nachdem  die  Blutung  sechs 
Wochen  angehalten  hatte,  gab  die  Patientin  ihre  Zustimmung  zur 
Sectio  alta,  und  nun  wurde  zum  allgemeinen  Erstaunen  die  Blase  voll- 
kommen normal  befunden,  während  die  Katheterisierung  der  Ureter 
ergab,  daß  die  Blutung  aus  der  rechten  Niere  herrührte.  Die  Nieren- 
operation,  welche  einige  Tage  später  vorgenommen  werden  sollte^ 
wurde  überflüssig,  weil  die  Blutung  aufhörte. 

Passet  erklärt  uns,  wie  er  zu  einer  falschen  Diagnose  gekommen 
ist.  Guyon^)  sagt:  »Eine  Vermehrung  des  Blutgehaltes  des  Harns  am 
Ende  des  Urinierens  beweist  stets  mit  Sicherheit,  daß  die  Blase  selbst 
die  Quelle  der  Blutung  ist.'' 

Auch  Fürbringer  sagt^):  „Blasenblutung  pflegt  besonders  blutreiche 
letzte  Harnportionen  zu  liefern.*' 

Hier  war  dieses  tatsächlich  der  Fall,  so  daß  Passet  annimmt,  daß 
das  Blut  sich  gewissermaßen  gleich  als  Sediment  im  Urin  absonderte, 
um  somit  in  der  Hauptsache  erst  mit  der  letzten  Menge  Urin  abzu- 


1)  Passet,  Ober  Hämaturie  und  renale  Hämophilie.  Zentralbl.  für  die  Krank- 
heiten der  Harn-  und  .Sexualorgane  1894. 

2>  Guyon,  Klinik  der  Krankheiten  der  Harnblase  und  Prostata.  Bearbeitet 
von  Mendelsohn. 

3)  Fürbringer,  Die  Krankheiten  der  Harn-  und  Geschlechtsorgane. 


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542  ^»  J*  de  Bruine  Ploos  van  Amstel,  [16 

fließen,  per  scheinbare  Erfolg  der  Nitras-argenti-Therapie  war  die 
Ursache 9  daß  Passet  auf  der  falschen  Fährte  blieb.  Erst  nach  der 
letzten  Operation  kam  Passet  zu  der  Diagnose  Hämophilie,  Er  sagt: 
Nierenblutungen  entstehen  gewöhnlich  infolge  Nierentumor,  Nieren- 
tuberkulose,  Nierenstein  oder  Nephritis  suppurativa.  Gegen  Nieren«* 
tumor  sprechen  hier  die  folgenden  Momente:  die  Abwesenheit  einer 
palpabelen  Geschwulst,  keine  Schmerzen  und  Kachexie  und  keine 
Veränderungen  des  Urins.  Tuberkulose  war  ausgeschlossen,  weil  in 
dem  Urin  keine  Tuberkelbazillen  gefunden  wurden,  und  wegen  der 
langen  Dauer  der  Blutung  und  des  Charakters  derselben,  welche  bei 
Tuberkulose  nicht  so  profus  zu  sein  pflegt.  Die  Argumente  gegen 
Nierentuberkulose  waren  nicht  sehr  stichhaltig,  denn  es  ist  eine  irrige 
Auffassung,  daß  die  Blutung  bei  Nierentuberkulose  weder  von  langer 
Dauer,  noch  j)rofus  sein  kann»  Nierenstein  kam  für  ihn  nicht  in 
Betracht,  da  die  Patientin  nie  Nierenstein  oder  Sand  ausgeschieden 
hatte,  und  wegen  der  Abwesenheit  von  Kolik  und  Fieber.  Auch  diese 
Beweisführung  ist  nicht  ganz  richtig,  denn  wir  wissen,  daß  Nieren- 
steine tatsächlich  Blutungen  verursachen  können  ohne  Fieber  und 
Kolik,  und  außerdem  erlaubt  das  Gestern  in  bezug  auf  das  Ausscheiden 
der  Nierensteine  keinerlei  Schlußfolgerung  auf  das  Heute.  Der  All- 
gemeinzustand, d.  h,  der  fieberfreie  Zustand,  der  Patientin  spricht  sehr 
gewichtig  gegen  Nephritis  suppurativa.  Demnach  blieb  Passet  nichts 
anderes  übrig  als  anzunehmen,  daß  Hämophilie  die  Ursache  des 
Leidens  war.  Zum  Durchführen  dieser  Diagnose  bei  der  Mutter  einer 
19jährigen  Tochter  (es  hatte  sich  früher  nie  Hämophilie  bei  ihr  ge- 
zeigt) bedurfte  Passet  eines  neuen  Begriffes:  der  relativen  Hämophilie. 
Unter  relativer  Hämophilie  versteht  Passet  einen  Zustand,  bei  welchem 
hämophile  Erscheinungen  an  dem  Individuum  oder  in  der  Familie 
bis  zum  Auftreten  der  Nierenblutung  vorher  nicht  beobachtet  wurden. 
Dieser  Begriff  kleidet  allerdings  den  Fall  in  das  Gewand  der  Hämo- 
philie, aber  der  Begriff  Hämophilie  wechselt  dadurch  seine  Bedeutung. 
Außerdem  vergaß  Passet  aber,  daß  nicht  nur  die  Nephritis  suppura- 
tiva, sondern  auch  andere  Arten  der  Nephritis  Ursache  der  Hämaturie 
sein  können,  und  somit  wird  sein  Motiv  (exclusionum)  für  die  Dia- 
gnose: renale  Hämophilie  hinfällig. 

Nierensteine. 

Nierenblutung  ist  eine  der  häufigsten  Erscheinungen  bei  Nieren- 
stein. Die  Diagnose  ist  aber  meistens  schwierig.  Zwei  Fälle  von 
Brook^)  zeigen  uns  die  Schwierigkeit  der  Diagnose;  dieselben  sind  von 

1)  Brook,    Two   cases    of   nephrolothotomy   illustrating   the   value  of  heary 


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17]  Hämaturie.  543 

großer  Wichtigkeit,  weil  Brook  uns  das  diagnostische  Mittel  nennt  zur 
Losung  dieser  Schwierigkeit.  Die  erste  Patientin  war  ein  18 jähriges 
Mädchen^  welches  dem  Swansea-Hospital  überwiesen  wurde,  weil  sie 
schon  seit  5  Jahren  klagte  über  Schmerzen:  ,,in  the  left  iliac  region^S 
Zuerst  kamen  die  Schmerzen  immer  gleichzeitig  mit  der  Menstruation, 
aber  während  der  letzten  3  Jahre  zu  allen  Zeiten.  Die  Unter- 
suchung ergab  Druckschmerzen  des  linken  Ovariums.  Der  Urin  zeigte 
keine  besonderen  Merkmale.  Bei  der  Operation  fand  man  eine  Ova- 
rialzyste,  welche  entfernt  wurde.  Nach  einer  Periode  von  2  Monaten 
traten  die  Schmerzen  wieder  auf. 

„The  abdominal  pain  was  now  more  general,  but  was  most  severe 
about  a  point  midway  between  the  umbilicus  and  the  anterior  supe- 
rior  spine.  It  extented  into  the  left  flank,  and  deep  pressure  over  the 
kidney  caused  pain,  but  the  seat  of  greatest  tenderness  corresponded 
to  that  of  the  greatest  pain.^^ 

Alle  klassischen  Symptome  von  Nierensteinen  fehlten  hier  und  doch 
diagnostizierte  McBurney  Nierenstein,  weil:  „Heavy  percussion 
below  the  tip  of  the  last  rib  caused  acute  stabbing  pain  in  the  loin." 

Der  zweite  Patient,  ein  22jähriger  Mann,  kam  in  das  Krankenhaus 
wegen  Appendizitis.  Auch  hier  zeigte  der  Urin  keine  besonderen 
Merkmale.  Die  Schmerzen  dauerten  schon  3  Jahre  hindurch,  hatten 
nie,  auch  nicht  im  Ruhestand,  nachgelassen,  verschlimmerten  sich  aber 
bei  jeder  Anstrengung.  The  pain,  which  was  situated  in  the  right 
iliac  region,  was  most  intense  midway  between  the  umbilicus  and  the 
anterior  superior  spine.  Die  Schmerzen  waren  also  genau  dieselben 
wie  in  dem  vorhergehenden  Falle,  nur  traten  sie  gerade  auf  der  ent- 
gegengesetzten Seite  auf.  Die  rechte  Niere  war  gar  nicht  oder  doch 
nur  sehr  wenig  schmerzhaft  bei  Druck,  but  heavy  percussion  imme- 
diately  over  the  kidney  caused  stabbing  pain  in  the  loin.  In  beiden 
Fällen  bestätigte  die  Operation  die  Richtigkeit  der  Diagnose.  Das 
Gewicht  der  entfernten  Steine  betrug  123  bzw.  80  g,  und  nach  der 
Operation  waren  beide  Patienten  endgültig  kuriert. 

Jacobson  erörtert  in  seinem  Werke  über  „Operative  Surgery" 
dieses  diagnostische  Hilfsmittel,  aber  Jordan  Lloyd  war  derjenige, 
welcher  es  in  das  Licht  der  allgemeinen  Aufmerksamkeit  lenkte. 

Bei  meinen  vier  Fällen  kam  es  nicht  in  Betracht,  aber  da,  wo  es 
sich  wohl  um  Nierenstein  handelte,  habe  ich  den  großen  diagnosti- 
schen Wert  kennen  gelernt,  und  so  wundert  es  mich,  daQ  nur  Brook 


percussion   in   tbe   loin   in   the  diagnosis  of  renal  calculus.    The  British  Medical 
Journal  1806. 

Klln.  Vorträge,  N.  F.  Nr.  50?/03.    (Chirurgie  Nr.  147/48.)    Sept.  1908.  40 


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544  P*  J*  <le  BruTne  Ploos  van  Amstel,  [18 

und  Schede^)  es  in  der  Literatur  berülirt  haben.  Hätte  Israel^  das 
Hilfsmittel  gekannt,  so  hätte  er  vielleicht  nicht  gesagt:  ,,Aber  die 
Sicherheit  der  Diagnose  fehlt  zunächst  noch  bei  dem  Nierenstein/ 
Allerdings  die  absolute  Gewißheit  bringt  nur  die  Palpation  des  Nieren- 
steins, und  dazu  ist  eigentlich  nur  Gelegenheit  vorhanden  bei  bloß- 
gelegter Niere.  Wenn  es  auch  feststeht,  daß  bei  einem  Patienten 
,früher^  Nierenstein  entfernt  wurde,  so  ist  das  noch  kein  Beweis  da- 
für, daß  die  Schmerzen  ,jetzt^  auch  auf  Nierenstein  zurückzuführen 
sind.  Wie  wenig  verläßlich  die  Kolik  ist  für  die  Diagnose,  ersehen 
wir  aus  einem  Fall,  den  uns  Israel  berichtet,  bei  welchem  unter  Voraus- 
setzung des  Vorhandenseins  von  Nierenstein  Inzision  der  Niere  statt- 
fand, aber  ohne  Resultat.  Später  ergab  sich,  daß  es  Lumbaineuralgie 
war,  verursacht  durch  den  Anfang  einer  Spondylitis  eines  Brustwirbels. 

Auch  die  Urinuntersuchung  kann  uns  im  Stiche  lassen,  ebenso  die 
Art  der  beobachteten  Hämaturie.  Zwar  behauptet  man,  daß  starke 
Blutungen  darauf  schließen  lassen,  daß  es  sich  nicht  um  Nierenstein, 
sondern  um  einen  Tumor  handelt,  aber  es  hat  auch  schon  Fälle  von 
Nierenstein  gegeben,  deren  Hauptsymptome  profuse  Blutungen  waren. 
Ebenso  kann  ich  der  Meinung  nicht  beipflichten,  daß  Ruhe  oder  Be- 
wegung des  Patienten  einen  direkten  Einfluß  auf  die  Stärke  der  Blu- 
tung hat.  Auch  das  Vorhandensein  etwaiger  Kristalle  im  Urin  oder 
das  Fehlen  derselben  ist  kein  Anhaltspunkt. 

Israel  will  deshalb  in  zweifelhaften  Fällen  die  Niere  bloßlegen  und 
hält  diese  Operation,  von  geübter  Hand  verrichtet,  für  durchaus  un- 
gefährlich. Ist  auch  dieses  noch  nicht  hinreichend,  so  empfiehlt  er 
die  Akupunktur.  Wenn  dieselbe  auch  nicht  zum  gewünschten  Ziele 
führt,  so  bleibt  noch  als  letztes  Mittel  die  Öffnung  des  Nierenbeckens 
oder  die  Nierenspaltung.  Die  Nierenspaltung  ist  vorzuziehen,  weil 
Nierenwunden  weniger  gefährlich  sind  und  schneller  heilen  als  Wunden 
des  Nierenbeckens. 

Nach  Entfernung  des  Steines  hat  man  die  Wahl,  entweder  die 
Heilung  der  Nieren  wunde  durch  Nähen  zu  beschleunigen,  oder  die- 
selbe ganz  der  Natur  zu  überlassen.  Die  erste  Art  hat  den  Nachteil, 
daß  die  dabei  abgesonderten  Blutkoagula  oft  unter  heftigen  Schmerzen 
durch  den  Ureter  ausgeschieden  werden  müssen.  Dafür  wird  aber  die 
Wunde  schneller  gestillt  und  bleibt  die  Wunde  urinfrei.  Tampooade 
empfiehlt  Tsrael  nicht.  Er  berichtet  sogar  einen  Fall  mit  tödlichefli 
Ausgang,  bei  welchem  ein  nicht  vorhandener  Nierenstein  durch  Nieren- 

1)  Schede,  Die  Steinkrankheit  der  Harnwege  und  die  Nierensteine.  Handbuch 
der  praktischen  Chirurgie  von  v.  Bergmann,  v.  Bruns  und  v.  Mikulicz.  1903. 

2)  J.  Israel,  Über  Operation  und  Diagnose  der  Nierensteine.  Berliner  klio. 
Wochenschr.  1891. 


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19]  Hämaturie.  545 

Spaltung  entfernt  werden  sollte*  Bei  der  Sektion,  welche  2  Stunden 
nach  Eintreten  des  Todes  vorgenommen  wurde,  »zeigte  sich  eine 
ideale  primäre  Verklebung  der  Nierenwunde^S  Der  Tod  war  einge- 
treten unter  Symptomen  von  Darmokklusion;  durch  den  doppelten 
Druck  der  Tamponade  und  des  Druckverbandes  war  der  Ileus  ent* 
standen,  welcher  dem  Patienten  verhängnisvoll  wurde. 

Jeder  weiO  zur  Genfige  aus  seiner  eigenen  Praxis,  daO  solche 
zweifelhafte  Fälle  oft  vorkommen.  IsraeP)  sagt  hierzu:  „Die  land- 
läufige Meinung,  daO  das  Steinleiden  auf  Grund  seiner  prägnanten 
Paroxysmen  am  leichtesten  unter  allen  Nierenkrankheiten  zu  erkennen 
sei,  entspringt  einer  ungenügenden  Erfahrung/^  Wenn  man  dem  Um- 
stände Rechnung  trägt,  daß  nur  in  sehr  wenig  Fällen  der  Stein  mittels 
Röntgenstrahlen  gefunden  werden  kann  oder  palpabel  ist,  „so  kann 
auch  die  beste  Diagnose  nur  auf  ein  hohes  Maß  von  Wahrscheinlich- 
keit Anspruch  machen^^  Er  begründet  diesen  Anspruch  mit  der  großen 
Zahl  der  Nierenoperationen,  verrichtet  von  gewiegten  Chirurgen,  bei 
welchen  anstatt  der  erwarteten  Nierensteine  andere  Krankheitsprozesse 
gefunden  wurden. 

Ebensowenig  wie  die  Hämaturie  ein  sicheres  Kennzeichen  für  die 
Diagnose  ist,  ebensowenig,  sagt  Israel,  bedingt  sie  oft  die  Operation, 
d.  h.  wenn  man  dabei  ausschließlich  urteilt  nach  der  Vehemenz  der 
Blutungen.  Die  Diagnose  auf  Nierenstein  wird  in  vielen  Fällen  noch 
dadurch  erschwert,  daß  der  Zweifel  bestehen  bleibt,  ob  es  sich  nicht 
vielleicht  um  Tuberkulose  oder  einen  Tumor  handelt.  Deshalb  sagt 
Israel:  Wenn  die  Diagnose  nicht  absolut  feststeht,  „dürfen  wir  uns 
nicht  bei  der  Vermutung  eines  Nierensteines  oder  gar  der  Verlegen- 
heitsdiagnose einer  essentiellen  Hämaturie  beruhigen,  sondern  müssen 
durch  eine  Explorativoperation  feststellen,  ob  ein  bösartiges  Leiden 
zugrunde  liegt,  von  dessen  frühzeitiger  Entdeckung  die  Zukunft  des 
Kranken  abhängt^^ 

Auch  ein  Fall  von  Pepper^)  zeigt  uns  die  große  Schwierigkeit  der 
Nierensteindiagnose.  Sein  Patient  hatte  Anfälle  von  heftiger  Stein- 
kolik, jedoch  ohne  Blutabsonderung.  Auch  Hämaturie  trat  zuweilen 
auf,  aber  schmerzfrei.  Pepper  sagt  hierzu:  „In  the  first  case  the 
abscence  of  hsematuria  is  remarkable  considering.  the  frequency  of 
the  attacks  of  pain  and  their  violently  paroxysmal  nature.  This  seems 
to  Show  US  that  the  pain  is  caused  more  by  distention  of  the  kidney 


1)  J.  Israel,  Operationen  bei  Nieren-  und  Uretersteinen.    Arcb.  f.  klin.  Chir. 
1000. 

2)  Pepper,   Two  cases  of  nephro-lithotomy.  Recovery.  Remarks.    Tbe  Lancet 


40* 

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546  P«  J«  de  BruTne  Ploos  van  Amstel,  [20 

owing  to  the  ureteral  office  being  temporarlly  blocked  by  the  calculus, 
than  to  the  movements  of  the  latter/^ 

Das  Gegenstück  hierzu  ist  ein  Fall  von  Schede.  Der  Patient  starb 
infolge  tödlicher  Nierenblutung,  und  diese  war  dadurch  verursacht,  daß 
ein  Stein  im  Nierenbecken  einen  Hauptast  der  Arteria  renalis  durch- 
bohrt hatte. 

Auch  Rovsing^)  empfiehlt  eine  Explorativoperation  für  alle  jene 
Fälle,  bei  denen  eine  exakte  Diagnose  nicht  zu  stellen  ist.  Er  be- 
kämpft entschieden  die  Behauptung  Klemperers,  daO  eine  Operation 
unterbleiben  muO,  wenn  z.  B.  die  Ursachen  einer  Hämaturie  unbekannt 
sind.  Klemperer  steht  auf  dem  Standpunkte  der  essentiellen  Hämat- 
urie, d.  h.  er  glaubt  an  Blutungen  gesunder  Nieren.  Rovsing  dagegen 
behauptet,  daO  bei  Hämaturie  ein  negatives  Resultat  der  Untersuchung 
durchaus  nicht  heiOen  soll:  Nierenstein,  Tumor  oder  Tuberkulose  sind 
ausgeschlossen.  Er  sagt:  „Da  solche  Fälle  (Blutungen  aus  gesunden 
Nieren)  so  selten  sind,  daO  sie  als  reine  Ausnahmen  bezeichnet  werden 
müssen,  und  da  ernste  Leiden  nicht  ausgeschlossen  werden  können, 
muO  stets  bei  einer  unilateralen  unerklärlichen  Hämaturie  ein  explo- 
rativer  Lumbaischnitt  gemacht  werden,  und  zwar  um  so  mehr,  als  ein 
solcher  erfahrungsgemäß  heilend  auf  die  Hämaturie  einwirkt.^' 

Zweifelt  man  daran,  daO  es  sich  um  Nierenstein  handelt,  so  kann 
man  auch  eine  Sondierung  der  Ureter  von  der  Blase  aus  vornehmen. 
Dieses  ist  nach  den  Verfahren  von  Kelly  und  Pawlik  bei  Frauen 
weder  schwierig,  noch  gefährlich.  Man  kann  sich  dabei  sogar  einer 
metallenen  Sonde  bedienen.  Bei  Männern  ist  letzteres  nicht  möglich; 
dazu  bedarf  es  einer  elastischen  Sonde,  aber  auch  damit  hat  Albarran 
günstige  Resultate  erzielt.  Diese  Art  der  Untersuchung  aber  ist  schwierig 
und  nicht  ohne  Gefahr,  weil  dabei  leicht  eine  Infektion  stattfinden  kann. 
Musser^):  „I  feel  with  Holländer,  we  can  in  a  large  number  of  cases 
make  a  diagnosis  without  the  aid  of  catheterisation  and  I  appreciate 
with  him  the  danger  of  infection  from  below— of  which  he  cites  cases/^ 

Auch  Morris^)  ist  der  Meinung,  daO  diese  Methode  selten  ange- 
wendet werden  wird.  Er  nennt  sie:  „difficult  of  application  in  tbe 
male,  not  altogether  free  from  danger  and  not  always  to  be  relied 
upon  as  a  result^^  Auch  die  Radiographie  wurde  in  der  letzten  Zeit 
ein  Hilfsmittel  für  die  Diagnostizierung  der  Nierensteine.  Ringelaus 
Hamburg  war  der  erste,  dem  es  gelang,  deutliche  Bilder  der  Nieren- 


1)  Rovsing,  Ober  unilaterale  Hämaturien  zweifelhaften  Ursprungs  und  ihre 
Heilung  durch  Nephrotomie.  Zentralbl.  für  die  Krankheiten  der  Harn-  und  Sexuil- 
organe  1898. 

2)  Müsse r,  Renal  calculus.  1898. 

3)  Morris,  Surgical  diseases  of  the  kidney  and  Ureter.  1901. 


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21]  Hämaturie«  547 

Steine  zu  erzielen*  Ihm  Folgten  Wagner  und  Leonard.  Morris  be- 
streitet die  Behauptung  des  letzteren,  man  müsse  unter  allen  Umständen 
mit  Hilfe  der  Radiographie  zu  der  richtigen  Diagnose  gelangen.  Morris 
sagt  von  den  Röntgenstrahlen:  „Hitherto  they  have  afforded  but  little 
reliable  help  in  this  direction.^^  Tüchtige  Forscher,  sagt  er,  haben 
Schatten  entdeckt  von  Steinen,  die  in  Wirklichkeit  nicht  existierten, 
und  umgekehrt. 

Auch  in  späteren  Schriften  bleibt  Leonard')  seiner  Oberzeugung 
treu.  Er  sagt:  „The  greatest  value  of  the  Röntgen  ray  in  physical 
diagnosis  is  not  in  penetrating  all  tissues  but  in  producing  differen- 
tiations  betw^een  tissues  that  will  lead  to  logical  conclusioqs  and  ab- 
solute diagnosis.  Thus  in  examining  for  calculi  we  do  not  want  rays 
that  will  penetrate  all  tissues;  we  want  a  differentiation  in  the  shadows 
that  will  demonstrate  beyond  a  doubt  that  all  calculi,  no  matter  what 
their  relative  density,  would  cast  shadows  if  present  in  the  field  exa- 
mined.  Such  definition  and  differentiation  make  the  negative  diagnosis 
absolute.  The  object,  therefore,  when  examining  for  renal  calculi  by 
this  method  oF  diagnosis,  is  to  obtain  negatives  in  which  the  shadows 
are  shown  of  tissues  less  opaque  than  the  least  opaque  calculus. 
Where  such  definition  is  obtained  it  is  certain  that  not  even  the  smallest 
calculus  can  escape  detection,  no  matter  what  its  composition  is." 

Nähere  Einzelheiten  zu  dieser  Untersuchung,  welche  hier  nicht 
näher  erörtert  werden  soll,  können  wir  u.  m.  finden  in  den  Fort- 
schritten auf  dem  Gebiete  der  Röntgenstrahlen,  Bd.  3,  1900,  von 
Albers-Schönberg,Levy-Dorn,  Wagner,  Lauenstein  und  Levy; 
im  Zentralblatt  für  Chirurgie  von  RingeP),  im  Lehrbuch  der  Röntgen- 
untersuchung von  Gocht,  in  den  Annales  des  Maladies  genito-urinaires, 
1902,  von  Verhoogen  (Le  diagnostic  des  calculs  du  rein  par  la  radio- 
graphie) usw. 

Leonard,  The  Roentgen  Ray  Diagnosis  of  Renal  Calculus.  Annais  of  Surgery 
1900. 

Nierentuberkulose. 

Bei  Nierentuberkulose  kommen  häufig  Blutungen  vor.  Beinahe 
immer  ist  das  erste  Symptom  Polyurie  ohne  Veränderung  des  Urins 
(Guyon).   Aber  an  Stelle  der  Polyurie  als  ersten  Symptoms  können 


1)  Leonard,  The   Röntgen  Method   in  the   diagnosis   of  renal  and    ureteral 
calculi.  Medical  News  1902. 

2)  Ringel,  Diagnose   der  Nephrolithiasis  durch  Röntgenbilder.    Zentralbl.  f. 
Chir.  1896. 


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548  P*  J-  de  Bntlne  Ploos  van  Amstel,  [22 

Blutungen  treten.  Schede^)  sagt  hierzu :  »»Wir  sahen  schon,  daß  Blutungen 
bei  der  Nierentuberkulose  zuweilen  sehr  früh  und  sehr  heftig  auftreten 
können.  Nicht  selten  sind  sie  das  allererste  Symptom  der  Krankheit 
und  nicht  selten  findet  man  die  Nierenerkrankung  dann  noch  aufier- 
ordentlich  gering." 

Diese  Blutungen  können  so  schlimm  sein,  daß  sie  bereits  im  aller- 
ersten Stadium  der  Krankheit  einen  chirurgischen  Eingriff  notwendig 
machen.  Albarran  nahm  zwei  Nierenoperationen  bei  Hämaturie  vor, 
nachdem  auf  zystoskopischem  Wege  konstatiert  worden  war»  welcher 
Niere  die  Blutungen  entstammten.  In  beiden  Fällen  war  die  Niere 
scheinbar  makroskopisch  normal»  und  sogar  nach  dem  Sektionsschoitt 
war  es  äußerst  schwierig,  die  vorhandenen  wenigen  Tuberkel  anzudeuten. 

Loumeau^)  berichtet  einen  Fall  eines  27jährigen  Mädchens»  welches 
an  hartnäckiger,  keiner  Behandlung  weichender  Hämaturie  litt  Die 
Blutungen  hielten  bereits  seit  8  Monaten  an.  Er  verrichtete  die  Ex- 
stirpation  und  fand  in  der  makroskopisch  normalen  Niere  nur  vier 
winzig  kleine  Tuberkel. 

Wir  ersehen  hieraus»  daß  die  Heftigkeit  der  Hämaturie  oft  in  keinem 
Verhältnisse  steht  zu  der  Ausdehnung  des  Tuberkuloseprozesses.  So 
können  auch  umgekehrt  in  den  Nieren  bedeutende  Läsionen  vor  sich 
gehen  ohne  Hämaturie.  Dieses  ist  übrigens  nicht  nur  der  Fall  bei 
der  Hämaturie»  sondern  auch  bei  vielen  anderen  Symptomen  der 
Nierentuberkulose.  Tilden  Brown^)  beschreibt  uns  einen  Fall,  bei 
welchem  nicht  ein  einziges  Symptom  auf  Nierentuberkulose  deutete, 
während  tatsächlich  beide  Nieren  erkrankt  waren.  Auch  Morris  spricht 
von  der  Möglichkeit,  daß  alle  Symptome:  „are  entirely  absent  or  but 
little  marked^^  Auch  erörtert  er  sehr  richtig  und  mit  Nachdruck: 
„the  difficulty  of  diagnosis^^  Gleicher  Ansicht  wie  Morris  ist  King- 
horn^). 

Weitere  Erörterungen  der  Hämaturie  finden  wir  noch  bei:  Fagge: 
„Heematuria  is  neither  constant  nor  profuse/^  Bouman  ^):  Charakteristi- 
schen Wert  haben  die  durch  Tuberkulose  erweckten  Blutungen  nicht*' 
Morris:  „The  heematuria  is  in  many  cases  intermittent  and  quiteinde- 
pendent  of  rest  or  exercise." 

1)  Schede,  Die  Tuberkulose  der  Niere.  Handbuch  der  praktischen  Cbirurgie 
V.  Bergmann,  v.  Bruns  und  v.  Mikulicz.  3.  Bd*  1903. 

2)  Loumeau,  Nephrektomie  wegen  primärer  Tuberkulose.  21.  Congr&s  de 
Chirurgie.  La  Presse  m^dicale.  Ref.  Zentralbl.  für  die  Krankheiten  der  Harn-  und 
Sexualorgane  1898. 

3)  Tilden  Brown,  Tuberculose  renale.  Annales  des  maladies  des  organes 
g6nito-urinaires  1898. 

4)  Kinghorn,  Renal  tuberculosls.    Montreal  Medical  Journal  1901. 

5)  N.  ^.  Bouman,  Haematuria  in  graviditate.  1901. 


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23]  Himaturie.  549 

Und  doch  sind  auch  diese  Merkmale  nicht  entscheidend  fär  die 
Diagnose,  weil  es  auch  bei  anderen  NierenafFektionen  vorkommen  kann, 
daß  Ruhe  oder  Bewegung  keinen  EinfiuO  ausüben  auf  den  Grad  der 
Hämaturie.  Schede  sagt  auch:  ,,Weder  Blutungen,  noch  Schmerzen, 
noch  Vergrößerungen  der  Niere  haben  etwas  absolut  Charakteristisches; 
und  selbst  der  röntgengraphische  Nachweis  von  Steinen  in  der  Niere 
schließt  nicht  aus,  daß  sich  zur  Tuberkulose  sekundär  Steinbildung 
gesellt  hat,  oder  umgekehrt.  Das  einzige,  dem  Schede  großen  Wert 
beimißt,  ist  die  lokale  Reaktion  auf  Tuberkulininjektionen,  weil  die- 
selbe beim  Fehlen  der  Tuberkulose  ausbleibt.  Schede  warnt  vor  Über- 
schätzung der  Schwierigkeit,  zu  einer  richtigen  Diagnose  zu  gelangen: 
„Fär  unser  therapeutisches  Handeln  ist  diese,  oft  nicht  mit  voller 
Sicherheit  zu  lösende  Schwierigkeit  der  Differentialdiagnose  glück- 
licherweise nicht  so  wichtig.  Wenn  wir  wissen,  daß  es  sich  um  Eiter- 
oder Steinniere,  um  Nierentuberkulose  oder  Neoplasma  handeln  kann, 
so  erwächst  uns  unter  allen  Umständen  die  Pflicht,  die  Niere  bloß- 
zulegen und  uns  eventuell  durch  den  Sektionschnitt  die  nötige  Sicher- 
heit zu  verschaffen." 

Wie  wir  weiter  oben  sahen,  ist  dieses  auch  die  Ansicht  Israels. 

Glaubt  man  die  Diagnose  „Nierentuberkulose"  stellen  zu  dürfen, 
so  versteht  es  sich  von  selber,  daß  man  wiederholt  den  Urin  auf 
Tuberkelbazillen  untersucht.  Häufig  aber  wird  man  diese  letzteren, 
sogar  bei  weit  fortgeschrittener  Nierentuberkulose,  nicht  vorfinden,  und 
außerdem  zeigt  van  Leyden^)  uns  die  gefährlichen  Irrtümer,  welche 
diese  Untersuchung  nach  sich  ziehen  kann.  Sehr  häufig  werden  nämlich 
die  Smegmabazillen,  welche  öfters  mit  dem  Urin  ausgeschieden  werden 
und  in  bezug  auf  Form  und  Farbenreaktion  den  Tuberkelbazillen  sehr 
ähnlich  sind,  für  Tuberkelbazillen  gehalten.  Der  Smegmabazillus  ist 
zwar  schlanker  und  kommt  nur  selten  gruppenweise  vor,  aber  diese 
Unterschiede  sind  meistens  nicht  ausreichend,  um  mit  Bestimmtheit 
den  Bazillus  zu  definieren.  In  solchen  Fällen  ergibt  natürlich  nur  die 
Tierinokulation  ein  entscheidendes  Resultat. 

Auch  Tuff ier*)  wurde  durch  starke  Hämaturie  bei  Nierentuberkulose 
veranlaßt,  Nephrotomie  und  Nephrektomie  zu  verrichten»  In  beiden 
Fällen  trat  Heilung  ein  nach  der  Operation,  aber  bei  der  Patientin, 
an  welcher  Nephrotomie  verrichtet  wurde,  zeigte  sich  nach  2  Jahren 
wieder  Blut  im  Urin. 


1)  van  Leyden,  Ober  die  Diagnose  der  Nierentuberkulose.  Berliner  klin. 
Wochenschr.  1896. 

2)  Tu  ff  i  er,  Die  Ergebnisse  von  153  Nierenoperationen.  Vortrag  gehalten  auf 
dem  12.  internationalen  Kongreß  zu  Moskau.  Zentralbl.  für  die  Krankheiten  der 
Harn-  und  Sexualorgane  1898. 


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550  P*  J-  de  Brulne  Ploos  van  Amstel,  [24 

PaulRosenstein  hält  in  den  Fällen,  bei  welchen  Zystoskopie  aus- 
geschlossen ist,  die  Palpation  der  Ureter  für  notwendig  Für  die  Be- 
stätigung der  Diagnose  ,,Nierentuberkulose^^  Bei  dem  Kongreß  der 
Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  (6.— 9.  April  1904)  äußerte  er 
die  Ansicht,  daß  der  Ureter  immer  vom  Anfang  der  Krankheit  an 
alteriert  ist.  Mit  Hilfe  der  Vaginal-  und  der  Rektalpalpation  kann 
man  also  konstatieren,  welche  der  beiden  Nieren  erkrankt  ist,  und 
braucht  also  nicht  die  Ureterkatheterisation  vorzunehmen,  welch  letztere 
übrigens  bei  tuberkulöser  Blase  erhebliche  Schwierigkeiten  mit  sich 
bringt. 

Hämaturie  und  Nierentumor. 

Nierenblutungen  treten  häufig  bei  Nierentumor  auf  und  sind  ge- 
wissermaßen deren  erstes  Symptom.  Chevalier^)  kam  zu  dem  Resultat, 
daß  dieses  bei  26,6%  aller  von  ihm  beobachteten  Fälle  zutraf. 

Der  Urin  ist  dann  rot  oder,  wenn  das  Blut  bereits  einige  Zeit  in 
der  Blase  gestanden  hat,  bräunlich  gefärbt.  Israel  nennt  weiße  oder 
hellgelbe  und  rötliche  wurmförmige  Koagula  charakteristische  Merk- 
male des  Nierentumors. 

Die  Hämaturie  kann  aber  auch  während  des  ganzen  Krankheits- 
prozesses ausbleiben.  Wagner 2)  berichtet  einen  Fall  von  Nieren- 
sarkom: „Hämaturie  fehlte  während  des  ganzen  Krankheitsverlaufes/^ 
In  diesem  Fall,  sagt  Wagner,  fehlten  alle  vier  Hauptsymptome  des 
Nierentumors  (wahrnehmbare  Geschwulst,  Schmerzen,  Hämaturie  und 
Kachexie)  bis  auf  die  Schmerzen.  Bei  Erwachsenen  bilden  die  Schmerzen 
sogar  in  28%  der  Fälle  das  Initialsymptom. 

Doch  kommt  es  vor,  daß  gewissermaßen  alle  Symptome  sich  gar 
nicht  oder  nur  sehr  schwach  zeigen.  Zuweilen  ergibt  die  Urinunter- 
suchung ein  positives  Resultat,  indem  man  Tumorzellen  findet,  aber 
auch  dieses  Symptom  kann  fehlen.  So  berichtete  Pinard  in  der 
Societ6  d'anatomie  et  de  Physiologie  in  Bordeaux  im  Jahre  1897  einen 
Fall  von  Carcinoma  renis.  Der  Tumor  hatte  die  Größe  eines  Kinder- 
kopfes, und  hatte  doch  nie  Urinbeschwerden  oder  Hämaturie  veranlaßt 

Gerade  so  fehlten  diese  Beschwerden  und  die  Hämaturie  in  einem 
gleichartigen  Fall,  den  Taboulay  berichtet  (Soci6t6  des  sciences  medi- 
cales,  Lyon  1898).  Auch  hier  konnte  der  Tumor  ausschließlich  durch 
Palpation  konstatiert  werden.  Gleichartiges  beschreibt  auchMaidlow'). 

1)  Chevalier,  De  Tintervention  chirurgicale  dans  les  tumeurs  malignes  du 
rein.    Th^se  Paris  1891. 

2)  Wagner,  Zur  Kasuistik  des  primären  Nierensarkoms.  Zentralbl.  für  die 
Krankheiten  der  Harn-  und  Sexualorgane  1894. 

3)  Maidlow,  A  case  of  exstirpation  of  the  kindney  for  sarcoma.  Tbe  Briüsb 
Medical  Journal  1898. 


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25]  Hämaturie.  551 

Denaclarai)  konstatiert,  daO  bei  68,88  von  hundert  Fällen  die 
Hämaturie  das  Initialsymptom  des  Nierentumors  ist. 

Aber  auch  wenn  dem  so  ist,  so  muO  man  doch  zugeben,  daO  die 
Hämaturie  bei  Nierentumor  keinen  charakteristischen  Wert  hat.  Zwar 
liefert  Guillet  uns  sieben  Merkmale  dieser  Hämaturie,  aber  bei  näherer 
Betrachtung  sehen  wir,  daß  sie  uns  für  die  Diagnose  wenig  nützlich 
sind.  Was  hilft  es  uns  z.  B.  zu  wissen,  daO  die  Hämaturie  bei  Nieren- 
tumor „meistens  profus^^  ist?  Dies  ist  um  so  mehr  bedauerlich,  da 
diese  Diagnose  so  besonders  schwierig  ist.  Bereits  Bright  bedeutete 
uns  dieses:  „I  have  known  the  enlarged  kidney  to  be  mistaken  for 
disease  of  the  spieen^  of  the  ovary,  of  the  uterus,  and  for  a  tumor 
developed  in  the  concave  part  of  the  lever;  nor  is  it  perhaps  possible, 
by  the  greatest  care  and  the  most  precise  knowledge,  althogether  to 
avoid  such  errors." 

Trotzdem  versteht  ein  gewiegter  Forscher,  wie  Israel  es  ist,  sogar, 
kleinere  Tumoren,  etwa  in  der  GröOe  eines  kleinen  Apfels  oder  einer 
Kirsche,  aufzufinden.  Er  nimmt  dann  die  Untersuchung  vor  in  der 
von  ihm  empfohlenen  „halben  Seitenlage^S  Auch  empfiehlt  er  uns, 
in  dem  Augenblicke  des  Überganges  des  Einatmens  zum  Ausatmen 
die  Spitzen  des  Zeige-  und  Mittelfingers  unter  den  Rippenbogen  ein- 
dringen zu  lassen,  während  gleichzeitig  die  andere  Hand  einen  Druck 
ausübt  auf  die  Nierengegend,  wodurch  die  infolge  der  Inspiration  ge- 
sunkene Niere  in  die  alte  Lage  zurückkommen  kann. 

Noble ^)  zeigt  uns  eine  neue  Untersuchungsmethode  der  angeblich 
kranken  Niere,  und  zwar  die  Probeinzision  in  der  Nierengegend. 
Nach  Spaltung  der  Fettkapsel  ist  es  nicht  schwierig,  die  Niere  von 
dem  umliegenden  Gewebe  loszulösen  und  dann  mit  zwei  Fingern 
jeden  Teil  der  Oberfläche  zu  befählen.  Er  empfiehlt  die  absolut  un- 
gefährliche Methode  hauptsächlich  für  eine  Untersuchung  auf  Nieren- 
steine hin.  A  priori  würde  sich  also  diese  Methode  auch  eignen  bei 
Nierentumor,  aber  auch  ich  bin  der  Meinung,  daß  ein  vollständiges 
Freilegen  der  Niere  gerade  so  ungefährlich  ist  und  außerdem  den  Vor- 
teil hat,  daO  der  eventuelle  Tumor  sofort  exstirpiert  werden  kann. 

Auch  WendeP)  befürwortet  das  Freilegen  der  Niere,  um  eine 
sichere  Diagnose  zu  ermöglichen.  Er  sagt,  daß  das  noch  nicht  sehr 
erfreuliche  Resultat  der  Operationen  des  Nierentumors  nicht  verursacht 


1)  Denaclara,  Des  hsematuries  dans   les   n6oplasmes  du   rein.    Th^se  Lyon 

loclcf* 

2)  Noble,  A  new  method  of  examing  the  kidney,  especially  for  stone.  Medicai 
News  1894. 

3)  Wendel,  Die  Entwicklung  der  Nierenchirurgie  in  den  letzten  Jahren.  The- 
rapeutische Monatsh.  1899. 


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552  P-  J-  de  Bniine  Ploos  Van  Amstel,  [26 

wird  durch  einen  Mangel  der  operativen  Technik,  sondern  dadurch, 
daß  die  Diagnose  meistens  zu  spät  gestellt  wird,  »Von  Frfihsym- 
ptomen  ist  der  Schmerz  und  die  Blutung  besonders  wichtig.  Beide 
sind  aber  inkonstant.  In  der  Tat  kann  einer  ausgedehnten  Anwendung 
probatorischer  Operationen  nicht  eindringlich  genug  das  Wort  geredet 
werden,  da  alle  anderen  Anhaltspunkte  die  Diagnose  oft  nicht  hin- 
reichend sichern  können." 

Es  würde  zu  weit  fähren,  an  dieser  Stelle  die  Differentialdiagnose 
näher  zu  erörtern;  es  seien  nur  einige  weitere  Krankheiten  in  der 
Nierengegend  hervorgehoben,  welche  leicht  eine  Verwechslung  ver- 
anlassen können. 

1.  Erweiterung  der  Lymphdrüsen. 

2.  Koprastase  im  Cöcum  oder  Kolon.  Jen n er  sagt  hierzu:  Again 
collections  of  stools  in  the  colon  may  be  mistaken  For  an  enlarged 
kidney. 

3.  Bösartige  Tumoren  des  Kolons. 

4.  Erweiterungen  der  Leber  und  der  Milz. 

5.  Ovarialtumoren. 

6.  Blinddarmentzündung. 

7.  Supperitoneales  Myom  im  graviden  Uterus. 

8.  Tumoren  des  Omentums,  des  Pankreas  und  des  Mesenteriums. 

Den  Weg  in  diesem  diagnostischen  Labyrinthe  zeigt  uns,  im  An- 
schluß an  die  Ausführungen  Israels  Clado^),  indem  er  uns  den  großen 
Nutzen  der  Palpation  vor  Augen  führt.  Ich  möchte  aber  nicht  ver- 
fehlen, die  Aufmerksamkeit  darauf  zu  lenken,  daß  sich  nach  einer 
gründlichen  Palpation  der  Niere  vielleicht  Eiweißspuren  im  Urin 
zeigen,  welche  aber  keinen  differential- diagnostischen  Wert  haben 
(Schreiber*). 

Tropische  Hämaturie. 

Zu  den  selteneren  Ursachen  der  Hämaturie  gehören  auch  ver- 
schiedene Parasiten  und  zwar:  Distomum  haematobium  Bilharz,  Fila- 
ria  sanguinis,  Strongylus  gigas  und  der  in  Japan  existierende  Nepbro- 
phages  sanguinarius.  Alle  diese  Parasiten  zeigen  sich  eigentlich  nur 
in  den  Tropen.   Morris  sagt  hierzu:  „In  the  colder  countries  neither 


1)  Clado,  Du  ballottement  r6nal,  valeur  diagnostique.  M6decine  contemporaine, 
Journal  de  l'hydroth^rapie  1888. 

2)  Schreiber,  Ober  renalpalpatorische  Albuminurie  und  ihre  Bedeutung  für 
die  Diagnose  von  Distopien,  sowie  von  Tumoren  im  Abdomen.  Zeitscbr.  f.  Uin. 
Medizin  Bd.  55. 


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27]  Hlmaturic.  553 

parasites  in  the  blood  or  urinary  organs  nor  any  lesion  of  the  kidney 
is  discoverable/^ 

Und  zeigt  sich  trotzdem  hin  und  wieder  ein  solcher  Fall  in  der 
gemäßigten  Zone,  so  wird  die  Anamnese  fast  immer  ergeben,  daß 
sich  der  Keim  der  Krankheit  bei  einem  Aufenthalte  in  den  Tropen 
gebildet  hat.  Derartiges  erfuhren:  Nitze^),  Gutch^),  Cobbold  und 
Simpson^). 

Der  Fall  von  Socoloff. 

Noch  seltener  und  merkwürdiger  wie  die  Parasitenhämaturie  ist  der 
Fall,  den  uns  der  russische  Gelehrte  Socoloff^)  berichtet,  und  wir 
können  denselben  gewissermaßen  als  ein  Unikum  in  der  Geschichte 
der  Hämaturie  hinstellen, 

Socoloffs  Patient  war  ein  Offizier,  welcher  im  Jahre  1865  in 
Sibirien  großer  Kälte  ausgesetzt  war.  Während  des  Winters  des  ge- 
nannten Jahres  klagte  er  über  fortwährende  Müdigkeit,  Schwindel  und 
permanentes  Frostgefühl,  besonders  in  den  Füßen.  Dazu  kam  Hämat- 
urie mit  leichten  Schmerzen  in  der  linken  Nierengegend.  Mit  der 
Hämaturie,  welche  nur  wenige  Stunden  anhielt,  verschwanden  auch 
die  übrigen  Symptome.  Der  gleiche  Komplex  von  Symptomen  wieder- 
holte sich  öfters,  und  zwar  immer  dann,  wenn  der  Patient  der  Kälte 
ausgesetzt  war.  Sein  Leiden  reagierte  gewissermaßen  unverzüglich 
auf  jedes  Fallen  und  Steigen  der  Temperatur.  Es  war  nicht  möglich, 
außer  dem  Temperaturwechsel  eine  Ursache  der  Krankheit  zu  ent- 
decken. Von  weiteren  Fällen  von  Nierenblutung  in  seiner  Familie 
war  dem  Patienten  nichts  bekannt,  und  zwischen  je  zweien  der  oben- 
genannten Anfälle  fühlte  er  sich  verhältnismäßig  wohl.  Um  den  Zu- 
sammenhang zwischen  Krankheit  und  Temperatur  zu  ergründen,  ver- 
ordnete Professor  Botkin  ihm  am  12.  März  einen  Spaziergang  bei 
einer  Temperatur  von  9^  Celsius. 

Tatsächlich  traten  die  erwähnten  Symptome  auf.  Die  Untersuchung 
der  ersten  Urinmenge  ergab  viel  Eiweiß  und  blutige  Färbung,  jedoch 
kein  Sediment.  Eine  Stunde  später  war  der  Urin  vollkommen  schwarz. 

l)Nitze,  Ober  einen  Fall  von  tropischer  Hämaturie.  Berliner  med.  Ges. 
28.  Januar  1801.    Berliner  klin.  ^ochenschr.  1891. 

2)  Gutch,  A  case  of  haematuria  due  to  Bilharzia.  The  British  Medical  Jour« 
nal  1900. 

3)  Simpson,  Remarks  on  a  case  of  hsematuria  from  the  presence  of  the 
Bilharzia  haematobia.    The  British  Medical  Journal  1872. 

4)  Socoloff,  Ober  einen  Fall  von  wiederkehrender  Nierenblutung  im  Zusam- 
menhang mit  jedesmaliger  Erkältung  der  Integumenta  communia.  Berliner  klin. 
Vochenschr.  1874. 


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554  P*  J«  de  BruTne  Ploos  van  Amstel,  [28 

Jetzt  zeigten  sich  bei  der  mikroskopischen  Untersuchung  Blutkörper- 
chen, ySie  waren  meistens  entstellt;  weiter  fanden  sich  auch  Faser- 
stoff und  Blutzylinder  und  gruppenweise  unveränderte  Nierenepithelien; 
irgendwelche  Kristalle  konnte  man  selbst  bei  der  genauesten  Unter- 
suchung nicht  entdecken.'' 

Ein  Spaziergang  am  26.  März  bei  einer  Temperatur  von  0  Grad 
hatte  genau  dieselben  Folgen,  nur  in  weniger  heftigem  MaOe. 

Zwischen  beiden  Anfällen  war  der  Urin  unverändert. 

Socoloff  erklärt  den  Fall  folgendermaßen:  Unter  dem  Einfluß  der 
Kälte  periodisch  auftretende  Blutung  der  linken  Niere.  Der  Gedanke 
an  Nierenblutung  als  Folge  einer  Entzündung  der  Nierensubstanz  selbst 
kann,  nach  Socoloff,  mit  einiger  Gewißheit  ausgeschlossen  werden, 
und  zwar  wegen  des  Umstandes,  daß  der  Urin  zwischen  den  einzelnen 
Anfällen  normal  war. 

Wenn  wir  nun  auch  zugeben  müssen,  daß  dieser  Fall  erheblich 
von  dem  üblichen  Krankheitsbild  der  nephritischen  Nierenblutungen 
abweicht,  so  dürfen  wir  doch  auch  nicht  vergessen,  daß  die  Abwesen- 
heit von  Eiweiß  und  Fprmelementen  durchaus  kein  Beweis  ist  gegen 
Entzündungsprozesse  der  Nieren. 

Außerdem  kommt  für  Socoloff  das  Moment  »Nierenstein"^  nicht 
in  Betracht.  Diese  Folgerung  ist  zum  mindesten  voreilig.  Er  sagt, 
daß  dazu  die  Schmerzen  zu  gering  waren,  und  außerdem  zeigte  der 
Urin  nicht  die  charakteristischen  Merkmale  des  Steines:  Kristalle, 
Sand  usw. 

Wenn  nun  aber  der  Stein  z.  B.  eingekapselt  wäre,  und  dadurch 
würden  die  Symptome  des  Vorhandenseins  fehlen,  so  hätte  er  doch 
eine  gewisse  Reizung  des  Gewebes  und  infolgedessen  Entzündung 
verursacht,  und  die  Spuren  dieser  Entzündung  hätte  man  doch  im 
Urin  wiederfinden  müssen.  Zwar  enthielt  das  Sediment  Schleim  und 
Eiterteile,  aber  deren  geringe  Menge  konnte  ebensogut  der  gleich- 
zeitig vorhandenen  chronischen  Urethritis  zugeschrieben  werden.  Eine 
vorherige  Ausspülung  der  Urethra  hätte  in  dieser  Hinsicht  Gewißheit 
geben  können. 

Socoloff  erklärt  seinen  Fall  folgendermaßen:  Er  setzt  einen  abge- 
schwächten Tonus  der  Gefäße  der  linken  Niere  voraus.  Diese  Vor- 
aussetzung gründet  er  auf  verschiedene  Symptome,  wie  z.  B.  Atrophie 
der  Muskeln  der  linken  Hand  und  des  linken  Fußes,  welche  auf  ein 
Gehirnleiden  syphilitischen  Ursprunges  hindeuten  würden.  Die  nie- 
drige Temperatur  nun  bewirkt  ein  Zurückströmen  des  Blutes  in  die 
inneren  Organe,  also  auch  in  die  linke  Niere,  woselbst  die  Gefäße 
stellenweise,  infolge  des  obenerwähnten  abgeschwächten  Tonus,  dem 
erhöhten  Blutandrange  nicht  widerstehen  können.    Er  versucht  dieser 


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29]  Hämaturie.  555 

Erklärung  weiteren  Halt  zu  geben  durch  Hinweis  auf  den  Umstand, 
daß  Professor  Tetschenoff  Hämaturie  konstatierte  nach  dem  Zer- 
schneiden der  Plexus  renalis. 

Auch  diese  Erklärung  ist  weither  geholt.  Übrigens  ist  der  ganze 
»Fall  Socoloff*  in  meinen  Augen  ein  vergebliches  Suchen  nachdem 
Zusammenhange  zwischen  Ursache  und  Wirkung,  und  er  wird  auch 
wohly  da  eine  Nephrektomie  oder  Sektion  nicht  stattgefunden  hat,  stets 
für  uns  ein  interessantes  klinisches  Rätsel  bleiben! 

Einen  annähernd  gleichartigen  Fall  beschreibt  HassaP). 

Der  Patient  von  Dr.  Hassal  hatte  ebenfalls  periodische  Hämaturie, 
war  ebenfalls  wohlauf  während  der  Zwischenperiode,  jedoch  der  Urin 
enthielt  unter  dem  Einfluß  der  Kälte  außer  Blut  auch  Nierenzylinder, 
und  die  Behandlung  weist  darauf  hin,  daß  Hassal  an  ein  nephriti- 
sches Leiden  glaubte. 

Auch  Pavy2)  beobachtete  vier  dergleichen  Fälle,  bei  welchen  der 
Urin  ebenfalls  außer  Blutteilen  auch  Nierenzylinder  und  bei  zweien 
derselben  auch  Oxalsäuren  Kalk  enthielt.  Es  wird  sich  also  auch  hier 
nicht  um  Blutungen  aus  normalen  Nieren  handeln.  Dasselbe  halte  ich 
von  dem  Falle  Socoloff,  und  glaube  deshalb  auch,  daß  Professor 
Botkin  mit  seiner  Hypothese:  „über  den  Zusammenhang  der  Nieren- 
blutung mit  dem  Leiden  des  zentralen  vasomotorischen  Apparates  der 
Nieren"  den  Nagel  nicht  weniger  als  auf  den  Kopf  trifft. 

Zu  den  seltenen  Ursachen  der  Hämaturie  gehört  zweifellos  die 
Urinretention.  Guyon^)  hat  es  versucht,  einen  derartigen  Fall  durch 
das  Tierexperiment  zu  erklären. 

Gleich  selten  ist  gewiß  die  Hämaturie  infolge  Arzneigenusses:  wie 
z.  B.  nach  Urotropine  (Forbes,  Milligan  und  Griffith*). 

Den  kuriosesten  Fall  von  Hämaturie,  dessen  Verlauf  an  das  Ko- 
mische grenzt,  berichtet  uns  Lepriore«^).  Bei  einer  20jährigen  Frau 
beobachtete  er  eine  Veränderung  in  der  Menstruation  und  zwar  wie 
Lepriore  behauptet  infolge  einer  „Excesse  in  Venere".  Die  Men- 
struation wiederholte  sich  alle  8  Tage,  dauerte  gleich  wie  die  hinzu- 
kommende Hämaturie   einige  Stunden   und   hinterließ   eine   Retentio 


1)  Hassal,  Intermitent  or  Winter-hsematuria.  1865. 

2)  Pavy,  On  paroxysmal  hsematuria.    Urine  from  a  case  of  paroxysmal  hsma- 
turia.    A  case  of  paroxysmal  hsmaturia. 

3)  Guyon,   De  rh^maturie  au  cours  de  la   r^tention  d'urine.    Bulletin  m6di- 
cal  1803. 

4)  Griff! th,    Hsematuria   following   the    administration    of   urotropine.     The 
British  Medical  Journal  1901. 

5)  Lepriore,  Un  caso  rarissimo  di  ematuria.  Gazz.  degli  osped.  e  deUe  clin. 
1902.    Zitiert  in  Monatsber.  f.  Urologie  1902. 


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556  P*  J*  ^^  Bruine  Ploos  van  Amstel,  [30 

urinae.  Lepriore  nahm  die  Katheterisierung  vor,  verschrieb  Ergotin, 
Tannin  und  Bettruhe  und  bekämpfte  so  mit  Erfolg  die  Hämaturie.  Es 
gelang  ihm  außerdem  die  Hämaturie  endgültig  zu  beseitigen,  aber 
nicht  etwa  auf  therapeutischem  Wege,  sondern  indem  er  dem  Ehe- 
paare den  Rat  erteilte,  den  Dreyer  nennt  ,,eine  Hygiene  des  Ehe- 
bettes*. Dreyer  bezweifelt,  auch  mit  Rücksicht  auf  die  ungenaue 
Untersuchung,  stark,  daO  die  Ursache  hier  tatsächlich  in  der  Excesse 
in  Venere  zu  suchen  sei. 

Auch  ich  glaube  nicht,  daß  Lepriore  das  Richtige  getroffen  hat, 
dafür  kommt  Hämaturie  in  unserer  Praxis  zu  vereinzelt  vor. 

Hämaturie  und  Schwangerschaft. 

Als  erster  behandelt  Guyon  1)  die  Nierenblutungen  im  Zusammen- 
hange mit  Schwangerschaft. 

Während  der  2.  und  3.  Schwangerschaft  beobachtete  er  bei  einem 
seiner  Patienten  Hämaturie,  welche  ungefähr  2  Wochen  dauerte  und 
sich  in  dunkelroter  Färbung  des  Urins  äußerte.  Nach  der  Entbindung 
zeigte  die  Hämaturie  sich  aufs  neue  und  hielt  nun  5  Monate  an.  Im 
Hospital  Necker  verordnete  Guyon  der  Wöchnerin,  das  Stillen  des 
Kindes  einzustellen,  und  innerhalb  2  Tagen  war  die  Hämaturie  ver- 
schwunden. Einige  Tage  später  nahm  Albarran,  weil  die  Patientin 
sich  über  Schmerzen  in  der  rechten  Nierengegend  beschwerte,  die 
Nephrotomie  vor.  Die  Operation  ergab  nicht  als  Resultat  den  Er- 
wartungen entsprechend  einen  Tumor,  sondern  eine  makroskopiscti 
normale  Ren  mobilis. 

In  einem  anderen  Fall,  welchen  Guyon  und  Champetier  de 
Ribes  beobachteten,  zeigte  die  Hämaturie  sich  während  der  4.  und 
5.  Gravidität,  und  war  das  Ergebnis  der  zystoskopischen  Untersuchung 
eine  renale  Hämaturie.  Nach  der  5.  Schwangerschaft  zeigte  sich  die 
Hämaturie  auch  unabhängig  von  der  Gravidität,  und  da  stellte  sich 
heraus,  daß  sie  verursacht  wurde  durch  Nierentuberkulose. 

Auiler  diesen  2  Fällen  liefert  Bouman^)  uns  noch  15.  Es  würde 
nicht  schwer  fallen,  diesen  17  Fällen  noch  verschiedene  hinzuzufügen, 
wie  z.  B.  diejenigen  von  Chiaventone^). 

Die  beiden  ersten  Fälle  stammen  aus  der  Klinik  von  Treub.  Die 


1)  Guyon,  Sur  les  h6maturies  r6nales  et  v6sicales.  Annales  des  maladiesdes 
organes  g6nito-urinaires  1897.  Annales  des  maladies  g6nito-urinaires  1899.  — Guyon 
et  Albarran,  H^maturies  de  la  grossesse.    La  Presse  m6dicale  1899. 

2)  N.  W.  Bouman,  Haematuria  in  gravidate.  1901. 

3)  Chiaventone,  De  rh6maturie  de  la  grossesse.  Annales  des  maladies  des 
organes  g^nito-urinaires  1901. 


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31]  Hämaturie.  557 

erste  Patientin  hatte  bereits  im  12jährigen  Alter  Hämaturie  nach  dem 
Einnehmen  von  Pulver  gegen  Enuresis  nocturna.  Während  der  1. 
Schw^angerschaft  schonte  sie  sich  zu  wenig  und  verhob  sich.  Am 
nächsten  Tage  stellte  die  Hämaturie  sich  ein,  dauerte  6  Tage  und 
wiederholte  sich  dann  während  dieser  1.  Schwangerschaft  nicht 
Während  der  2.  Schwangerschaft  stellte  die  Hämaturie  sich  wieder 
ein,  diesmal  nach  einer  heftigen  Gemütserregung,  Die  Untersuchung 
der  Blase  und  des  Urins  lieferte  keine  Anhaltspunkte.  Der  Zustand 
der  Patientin  machte  eine  Unterbrechung  der  Schwangerschaft  erfor- 
derlich und  man  führte  diese  Unterbrechung  durch  den  Eihautstich 
herbei.  Das  Fruchtwasser  sonderte  sich  ab,  der  Urin  klärte  sich  all- 
mählich und  war  4  Tage  später  frei  von  Blut.  Die  Entbindung  lieO 
nach  dem  Eihautstich  noch  18  Tage  auf  sich  warten  und  hatte  sodann 
einen  normale  Verlauf.  8  Monate  später  wurde  sie  abermals  wegen 
Hämaturie  in  der  Klinik  aufgenommen,  diesmal  ohne  Schwangerschaft. 
Die  Blase  war  ebenso  wie  das  1.  Mal  normal,  der  Urin  dagegen  ent- 
hielt rote  und  weiße  Blutteile  aber  keine  Zylinder. 

Nach  9tägiger  Ruhe  und  Milchdiät  verschwand  die  Hämaturie. 

In  der  Literatur  ist  mehrfach  die  Rede  davon,  daß  Hämaturie  eine 
künstliche  Unterbrechung  der  Schwangerschaft  veranlaßte.  Einen 
solchen  Fall  berichtet  uns  Jameson^):  „Her  ansemia  having  reached 
an  extreme  degree  I  decided  to  induce  labour."^  Dasselbe  geschah 
bei  der  2.  Schwangerschaft  und  in  beiden  Fällen  erreichte  die  Unter- 
brechung ihren  Zweck:  das  Verschwinden  der  Hämaturie.  Jameson 
sagt:  »I  am  inclined  to  regard  the  heematuria  as  due  to  congestion 
of  the  kidney,  from  pressure  in  the  renal  vein  by  the  enlarged  womb.** 
Diese  Hypothese  kann  nicht  richtig  sein,  denn  in  der  ganzen  Literatur 
steht  nicht  ein  einziges  Mal  geschrieben,  daß  Tumoren  des  Unterleibes 
Hämaturie  verursachen  können. 

Es  ist  unrichtig,  diesen  Fall  als  Haematuria  graviditate  zu  bezeich- 
nen, vielmehr  kommt  die  Hämaturie  hier  nur  als  Begleiterscheinung 
der  Schwangerschaft  in  Betracht.  Denn  sonst  müßte  man  einer  an- 
deren Ursache  nachspüren  für  die  Hämaturie  während  des  nicht- 
schwangeren Stadiums. 

Auch  in  dem  2.  Fall,  ebenfalls  aus  der  Treubschen  Klinik,  han- 
delt es  sich  wahrscheinlich  in  der  Hauptsache  um  eine  hämorrha- 
gische Nephritis.  Bei  der  Untersuchung  des  Urins  wurden  Nierenzylinder 
gefunden. 

Im  3.  Fall  aus  der  Veitschen  Klinik  konnte  neben  der  Schwanger- 


1)  Jameson,   Hematuria   as    a   cause  of  miscarriage.     The   British   Medical 
Journal  1900. 


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558  P-  J-  de  BruTne  Ploos  van  Amstcl,  [32 

Schaft  noch  die  Erweiterung  und  das  Schmerzgefühl  der  rechten  Niere 
in  Betracht  kommen.  Auch  hier  wurde  die  Schwangerschaft  unter- 
brochen und  verschwand  die  Hämaturie  nach  der  Entbindung.  Die 
Symptome  der  rechten  Niere  aber  dauerten  fort.  Aller  Wahrschein- 
lichkeit nach  bestand  hier  ein  Kausalzusammenhang  zwischen  der 
Hämaturie  und  der  schmerzhaft  vergrößerten  rechten  Niere,  und  nicht 
zwischen  der  Hämaturie  und  der  gleichzeitigen  Schwangerschaft. 

Auch  in  den  beiden  bereits  oben  erwähnten  Fällen  von  Guyon 
konstatierte  man  Abweichungen  der  Niere,  und  zwar  Ren  mobilis  bzw. 
Nierentuberkulose. 

In  einem  3.  Fall  von  Guyon  war  die  Hämaturie  schon  älteren 
Datums  und  hatte  sich  schon  beim  Beginn  der  Schwangerschaft  ge- 
zeigt. Albarran  nahm  die  zystoskopische  Untersuchung  vor  und 
konstatierte  eine  beiderseitige  Nierenblutung  bei  normaler  Blase.  Das 
Ausbleiben  der  Hämaturie  fiel  zusammen  mit  dem  Ende  der  Schwan- 
gerschaft. Es  ist  nicht  möglich  in  diesem  Falle  den  Beweis  zu  liefern, 
ob  die  Nieren  krank  oder  gesund  waren. 

Der  nächste  Fall  von  Guyon  ist  nicht  eine  Nieren-  sondern  eine 
Blasenblutung.  Auf  zystoskopischem  Wege  sah  er,  daO  das  Blut  der 
erweiterten  Venae  der  Gegend  des  Trigonums  entstammte. 

Der  Krankheitsverlauf,  den  Kehrer  >)  uns  berichtet,  ist  noch  weniger 
ein  Beweis.  Seine  Patientin  war  die  Tochter  eines  Hämophilisten 
und  war  früher  viel  von  Nasenbluten  geplagt  worden.  Die  Hämaturie 
blieb  nach  dem  3.  Monat  der  Schwangerschaft  aus,  und  dann  traten 
die  Nasenblutungen  wieder  in  den  Vordergrund.  Es  handelt  sich  also 
hier  einfach  um  eine  Hämophilika,  bei  welcher  Epistaxis  und  Häma- 
turie natürliche  Erscheinungen  waren. 

Dann  folgen  die  beiden  Fälle  von  Barton  Cooke  Hirst  und 
Byrd  Joung. 

In  beiden  Fällen  wird  uns  nichts  mitgeteilt,  was  als  Beweis  dienen 
könnte,  ob  wir  es  mit  gesunden  oder  kranken  Nieren  zu  tun  hatten. 

Daudois^)  berichtet  uns  folgendes:  Bei  einer  30jährigen  Frau 
wurde  Nephrotomie  verrichtet  wegen  Hämaturie  und  Seitenschmerzen. 
Bei  der  Operation  war  absolut  keine  Abweichung  zu  konstatieren. 
Später  wurde  die  Frau  schwanger  und  da  kalkulierte  man  folgender- 
maßen: Die  Konzeption  fand  statt  ausgerechnet  8  Tage  vor  dem  Ein- 
treten der  Hämaturie,  ergo,  war  der  Zusammenhang  zwischen  der 
Schwangerschaft  und  der  Hämaturie  bewiesen. 


1)  Kehr  er,  Arch.  f.  Gyn.  1870. 

2)  Daudois,  L'h6maturie  congestive  symptomatique  de  la  grossesse.  Annales 
de  la  Soci6t6  Beige  de  Chirurgie  1895. 


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33]  Hämaturie.  559 

Treubi)  berichtet  von  einer  starken  Hämaturie  bei  einer  Schwan- 
geren. Als  die  Hämaturie  trotz  der  Beendigung  der  Schwangerschaft 
fortdauerte  und  in  dem  Urin  Tuberkelbazillen  gefunden  wurden,  dachte 
er  an  Nierentuberkulose.  Dieses  bestimmte  ihn  zur  Nephropexie. 
Die  Operation  ergab  zwar  keine  Tuberkulose,  aber  doch  eine  Abwei- 
chung der  Niere.  Man  fand  eine  Erweiterung  des  Nierenbeckens  und 
einige  Zysten,  die  eine  trübe  Flüssigkeit  enthielten.  Auch  hier  fehlt 
wieder  der  Zusammenhang  zwischen  der  Schwangerschaft  und  der 
Hämaturie.' 

Der  Zusammenhang  fehlt  gleichfalls  in  dem  Fall,  den  Fridondani 
in  der  Gaz.  med.  de  Pavia  1892  beschrieben  hat.  Es  wurde  bei  der 
Patientin  wegen  besonders  heftiger  Blasenblutungen  der  Abortus  ein- 
geleitet. Fridondani  ist  der  Meinung,  daß  die  Hämaturie  durch 
Erweiterung  der  Blasenkapillaren  infolge  der  Schwangerschaft  ent- 
standen ist.  Wie  läßt  sich  damit  vereinbaren,  daß  Blasenblutungen 
eine  so  seltene  Erscheinung  bei  Schwangerschaft  sind? 

Dann  sind  die  Fälle  von  van  de  Wal,  Niemeyer^,  Stephan^) 
und  P.  Yff*).  Niemeyer  behandelte  seine  Patientin  noch  während 
5  Monate  nach  der  Schwangerschaft,  ohne  daß  die  Hämaturie  wieder 
auftrat.  Dieses  wäre  ja  ein  schwacher  Beweis  dafür,  daß  es  sich  hier 
um  Hämaturie  infolge  der  Schwangerschaft  handelte;  Niemeyer 
selber  jedoch  glaubte  an  Tuberkulose. 

Stephan  schreibt  in  seinem  Fall  die  Hämaturie  Blasenvaricen  zu. 

Yff  fand  keine  Zylinder  im  Urin,  wohl  aber  amorphe  Mengen 
Kalzium  und  Magnesiumphosphat.  Hier  kann  also  Nierenstein  die 
Ursache  gewesen  sein,  oder  der  Urin  selber,  wenn  derselbe  eine  starke 
Salzlösung  enthielt. 

Keiner  dieser  Fälle  kommt  also  in  Betracht  um  den  Beweis  zu 
liefern,  daß  es  möglich  ist,  einen  Zusammenhang  zu  konstatieren  zwi- 
schen Hämaturie  und  Schwangerschaft. 

Chiaventone  glaubt  für  die  Erklärung  der  Hämaturie  bei  Schwan- 
geren die  fötale  Intoxikationstheorie  für  Eklampsie  in  Anwendung 
bringen  zu  dürfen.^)  Die  Richtigkeit  hiervon  möchte  ich  bezweifeln, 
denn  Eklampsie  und  Hämaturie  treten  selten  gleichzeitig  auf.    Auch 


1)  Treub,  Aonales  de  la  Soci6t6  obst6tricale  de  France  1890. 

2)  Niemeyer,  Haematuria  graviditatis.  Med.  ^eekblad  v.  N.  en  Z.  Nederland 
1900—1901. 

3)  Stephan,    Haematuria    graviditatis.  Med.  Weekblad  v.  N.  e.  Z.  Nederland 
1900-1901. 

4)  Yff,  Ben  geval  van  haematuria  graviditatis.  Med.  Weekblad  etc.  1901—1902. 

5)  Molas,  Contribution  ä  Tötude  des  h6morrhagies   li^es  k  r6clampsie  puer- 
p6rale.    Thfese  de  Paris  1877. 

KHb.  Vorträge,  N.  F.  Nr.  502/03.    (Chirurgie  Nr.  147/48.)    Sept.  1908.  41 


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560  P-  J*  de  BruTne  Ploos  van  Amstel,  [34 

müßte  man  außerdem  die  üblichen  Abweichungen  der  eUamptischen 
Niere  sowohl  wie  die  übrigen  Symptome  der  Eklampsie  konstatieren 
können. 

Ist(  also  die  Erklärung  Chiaventones  nicht  ausreichend,  auf 
welchem  Wege  ist  dann  die  richtige  Erklärung  zu  finden? 

Wie  wir  gesehen  haben,  kann  Hämaturie  auf  vielerlei  Art  verur- 
sacht werden.  Die  Schwangerschaft  neutralisiert  keineswegs  eine 
dieser  Ursachen  und  deshalb  ist  es  durchaus  begreiflich,  daß  Häma- 
turie auch  bei  schwangeren  Frauen  eintreten  kann. 

So  betrachte  ich  denn  die  Hämaturie,  welche  sich  bei  Schwangeren 
zeigt,  nicht  als  eine  bestimmte  Art,  sondern  als  eine  zufällige  und  unab- 
hängige Begleiterscheinung  der  Schwangerschaft.  Der  Name  i^rhema- 
turie  de  la  grossesse"",  wie  Chiaventone  sie  nannte,  ist  also  nicht 
richtig. 

Richtig  dagegen  ist  die  erste  These  Boumans:  „Haematuria  in 
graviditate  ist  immer  die  Folge  primärer  Niereninsuffizienz.''  Even- 
tuelle Blasenblutungen  bleiben  hierbei  natürlich  außer  Betracht.  Die 
Ursache  der  Niereninsuffizienz  jedes  einzelnen  Falles  ist  hier  nicht  die 
Hauptsache.  Die  Hauptsache  ist,  daß  die  Hämaturie  bei  Schwangeren 
auf  verschiedene  Art  verursacht  werden  kann,  wie  Tuberkulose,  Nieren- 
stein, Tumor  usw.,  aber  die  Schwangerschaft  als  solche  nicht  genannt 
werden  darf.  Es  ist  nicht  ausgeschlossen,  daß  die  Schwangerschaft  eine 
bestehende  Hämaturie  ungünstig  beeinflußt,  weil  die  Schwangerschaft 
nach  der  fötalen  Intoxikationstheorie  der  Eklampsie  den  Nieren  Ober- 
haupt und  besonders  kranken  Nieren  nicht  zuträglich  ist.  Aber  auch 
dem  können  wir  keinen  Glauben  schenken.  Wäre  das  Vorstehende 
richtig,  dann  würde  Hämaturie  während  der  Schwangerschaft  weit 
häufiger  vorkommen.  In  der  ganzen  Literatur  sind  kaum  20  Fälle  zu 
finden,  inklusive  den  nicht  ganz  einwandfreien  d.  h.  bei  welchen  auch 
Nierentuberkulose  oder  Blasenblutungen  die  Ursache  sein  konnten. 

AlbuttO  spricht  seinen  sehr  berechtigten  Zweifel  darüber  aus, 
daß  Haematuria  in  graviditate  verursacht  werden  könne  durch  mecha- 
nische Ursachen  wie  z.  B.  starken  Druck  des  vergrößerten  Uterus.  Dann 
müßte  die  Hämaturie  viel  häufiger  auftreten,  auch  bei  anderen  Unter- 
leibstumoren. 

Kurzdauernde  Nierenblutung  durch  Oberanstrengung 
nennt  Klemperer*)  jene  Fälle,  deren  Ursache  er  körperlicher  Über- 
anstrengung meint  zuschreiben  zu  müssen. 

1)  Albutt,  Albuminuria  in  pregnancy.    The  Lancet  1897. 

2)  Klemperer,  Ober  Nierenblutungen  aus  gesunden  Nieren.  Deutsche  med. 
Wochenschr.  1897. 


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35]  Hämaturie.  561 

Er  erzählt,  wie  sich  Nierenblutungen  zeigten  bei  einem  45jährigen 
Offizier  nach  einem  Ritt  von  7  Stunden  und  bei  einem  26jährigen 
Manne  nach  einer  Radtour  Berlin— Brandenburg  und  zurück. 

Kl  em  per  er  sagt:  ,yDie  ^Nierenblutungen  durch  Überanstrengung^ 
sind  meines  Wissens  in  der  Literatur  noch  nicht  beschrieben/^  Dieser 
Umstand  wäre  sonderbar,  wenn  tatsächlich  Oberanstrengung  Hämaturie 
verursachen  könnte.  Aber  auch  nachdem  Klemperer  seine  ,,Nieren- 
blutungen  durch  Überanstrengung^^  der  allgemeinen  Aufmerksamkeit 
näher  gerückt  hatte,  wurden  sie  anderweitig  nicht  mehr  wahrgenommen 
oder  in  der  Literatur  erörtert.  Im  Jahre  1003,  also  ausgerechnet  sechs 
Jahre  nach  der  Mitteilung  Klemperers,  nennt  Schede^)  im  Zu- 
sammenhang mit  dieser  Art  der  Hämaturie  nur  die  Namen  Klem- 
perer, Leyden  und  Senator.  Schede  will  sie  einer  Blutüberfüllung 
zuschreiben,  welche,  wie  er  sagt,  gleichermaßen  durch  Kongestion  wie 
durch  Stauung  hervorgerufen  werden  kann. 

Die  Literatur  berichtet  uns  nichts  von  Nierenblutungen  bei  Soldaten 
oder  Sportfreunden,  welche  doch  gewiß  körperlichen  Überanstrengungen 
ausgesetzt  sind.  Es  werden  sich  aber  unter  ihnen  wenige,  um  nicht 
zu  sagen  keine,  befinden,  deren  Nieren  nicht  gesund  sind.  Daraus 
könnte  man  den  Schluß  ziehen,  daß  die  Hämaturie  bei  Überanstrengung 
nur  auftreten  kann  bei  nicht  völlig  gesunden  Nieren.  Sie  wäre  dann 
etwa  als  traumatische  Nierenblutung  zu  betrachten.  Das  Trauma  als 
solches  käme  also  bei  gesunden  Nieren  nicht  in  Betracht. 

Außerdem  kann  bei  Nierenstein-  und  dergleichen  Kranken  Nieren- 
blutung eintreten  nach  Überanstrengung,  ohne  jedoch  durch  letztere 
verursacht  zu  werden.  Sehr  richtig  betont  deshalb  Klemperer  die 
Wichtigkeit  der  Differentialdiagnose,  hauptsächlich  in  bezug  auf  Nieren- 
stein. Aber  auch  wenn  man  nach  möglichst  genauer  Untersuchung 
alle  anderen  Momente,  welche  als  Ursache  der  Hämaturie  in  Betracht 
kommen  können,  eliminiert  hat,  ist  es  fehlerhaft  der  Überanstrengung  die 
einzige  Ursache  zuzuschreiben.  Wir  wissen  viel  zu  genau,  daß,  ohne 
mikroskopische  Untersuchung  der  Niere,  Nierenstein  und  Nierentuber- 
kulose bei  Hämaturie  nie  mit  absoluter  Gewißheit  auszuschließen  sind. 

Betrachtet  man  also  die  Klem  per  ersehen  „Nierenblutungen  durch 
Überanstrengung^^  als  Symptom,  welches  auf  eine  kranke  Niere  schließen 
läßt,  so  weiß  man  von  vornherein,  daß  diese  Fälle  zu  den  seltenen  gehören. 
Wir  haben  schon  weiter  oben  gesagt,  daß  Leute,  welche  fortwährend 
körperlicher  Überanstrengung  ausgesetzt  sind,  beinahe  ohne  Ausnahme 
nicht  an  Nierenerkrankungen  leiden  werden,   aber  auf  der  anderen 


1)  Schede,  Verletzungen  und  Erkrankungen  der  Nieren  und  Harnleiter.  Hand- 
buch der  praktischen  Chirurgie  von  v.  Bergmann,  v.  Bruns  und  v.  Mikulicz  1903. 

41* 


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S62  P'  J-  de  BniTtte  Ptoos  van  Amstel,  [35 

Seite  werden  Leute,  deren  Nitren  nicht  gesund  sind,  sich  nicht  dem 
Sporte  oder  sonstiger  körperlicher  Oberanstrengung  widmen. 

Hämaturie  als  Begleiterscheinung  anderer  Krankheiten. 

An  erster  Stelle  muß  hier  die  Malaria  genannt  werden. 

In  der  Literatur  finden  wir  diesbezöglieh  nur  einige  vereinzelte 
Fälle.  Smith 0  und  Claverie^)  berichten  uns  5  resp.  1  Fall.  In 
dem  letzteren  Fall  war  die  Blutung  sehr  heftig.  Sparkmann^)  und 
Smith  sind  der  Meinung,  daß  Chinin  bei  Malariahamatitrie  kontra- 
indiziert ist. 

Weiter  kann  die  Hämaturie  auftreten  bei  Intoxikations-  und  Infek- 
tionskrankheiten, wie  z.  B.  bei  Febris  typhoidea.  Derartige  Fälle  be- 
richten uns  Guinon^),  Robin,  Greenhow,  Duckworth,  Lieber- 
meister, Griesinger,  Murchison,  Amat  u.  a.  Mir  selber  begeg- 
nete in  meiner  Praxis  ein  Fall  von  akuter  Miliartuberkulose^),  aber 
der  Fall  von  Askanazy  (Hämaturie  bei  Diabetes)  liefert  den  Beweis, 
daß  man  in  derartigen  Fällen  ohne  Sektion  nicht  ohne  weiteres  die 
Miliartuberkulose  oder  die  Diabetes  als  Ursache  der  Hämaturie  be- 
trachten darf.  In  dem  Askanazy  sehen  Fall  konstatierte  man  bei  der 
Sektion  nephritische  Läsion  der  Nieren. 

Hämaturie  bei  gesunden  Nieren. 

Bei  allen  diesen  Fällen  ist  es  das  Symptom  der  Nierenbluning, 
welches  am  meisten  in  den  Vordergrund  tritt.  Früher  würde  mao 
sich  di«  Frage  vorgelegt  haben:  Welche  Krankheit  ist  die  Ursache 
dieser  Nierenblutung?  jetzt  aber  heißt  es  in  erster  Linie:  Handelt  es 
sich  überhaupt  um  eine  kranke  Niere  oder  um  Blutungen  aus  gesunden 
Nieren?  Klemperer^)  hat  den  Versuch  gemacht,  in  einer  sehr  scbarf- 


1)  Smith,  Malarial  Hsmaturla.    New  York  Med.  Journal  1900. 

2)  Claverie,  Observation  de  fi^vre  intermittente  tierce  h^tnaturlque.  Revse 
<m6dica(e  de  l'Afriqoe  du  Nord  1901. 

3)  Sparkmann,  Hcmorrhagic  malarial  fever;  its  treatment.  The  Therapen- 
tic  Gazette  1901. 

4)  Guinon,  Fi^vre  typhoide  ä  forme  renale  h^maturique  survenant  dans  les 
cours  d'un  purpura  exanthömatique  r^cidivant.  Sociöt^  m^dicale  des  höpttaiix 
1898.    La  Presse  m^dical  1898. 

5)  de  BruTne  Ploos  van  Amstel,  Über  einen  Fall  von  akuter  Miliartabe^ 
kulose  mit  dem  ausgeprägten  Bilde  des  Abdominaltyphus.  Berliner  klin.  Wochenschr. 
1894. 

6)  Klemperer,  Ober  Nierenblutungen  bei  gesunden  Nieren.  Deutsche  med. 
Wochenschr.  1897. 


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37]  Hämaturie.  563 

sinnigen  Abhandlung  den  Beweis  zu  liefern,  ^^daß  ein  Organ,  welches 
blutet,  trotzdem  gesund  sein  kann^^  Sogar  unter  Berücksichtigung 
dieses  Ausspruches  wird  man  derMeinungProFessor  P eis  i)  beipflichten 
müssen,  daß  es  ratsam  ist,  den  sogenannten  Hämaturien  sine  materia 
ein  gewisses  Mißtraueq  entgegenzubringen.  Klemperer  nennt  iii 
erster  Linie  die  Menstruation,  welche  er,  ebenso  wie  vor  ihm  bereits 
Reckiinghausen,  das  physiologische  Beispiel  der  neuropathischen 
Nierenblutungen  nennt.  Dann  nennt  er  uns  Beispiele  hysterischer 
Blutungen,  beschrieben  von  Cohen,  Tittel,  Huß,  und  im  Anschluß 
daran  zwei  Fälle  aus  eigener  Erfahrung,  bei  welchen  es  sich  um 
Hämatemesis  resp.  Hämoptoe  hysterischer  Art  handelte,  weil  Magen 
und  Lunge  bei  der  Sektion  keinerlei  Abweichungen  aufwiesen.  Es 
steht  noch  nicht  fest,  welche  Erklärung  für  diese  neuropathischen 
Nierenblutungen  die  richtige  ist.  Brown-Sequard  und  Ebstein 
betrachten  sie  als  eine  Reizung  der  vasomotorischen  Nerven,  welche 
einen  derartig  erhöhten  Druck  auf  die  Blutgefäße  nach  sich  zieht,  daß 
diese  letzteren  nicht  mehr  genügenden  Widerstand  zu  leisten  vermögen. 
Vulpian  glaubt  an  eine  Lähmung  der  vasomotorischen  Zentra  mit  Ab- 
schwächung  des  Gefäßtonus  und  übermäßiger  Füllung  der  kleineren 
Blutgefäße. 

Der  Behauptung  Brown-Sequards  könnte  man  entgegnen,  daß 
in  der  ganzen  Literatur  nicht  ein  Fall  aufzuweisen  ist  von  neuropa- 
thischer  Apoplexie  ohne  Arteriosklerose. 

Dasselbe  gilt  auch  für  die  Behauptung  Vulpians;  weshalb  findet 
die  übermäßige,  bis  zum  Zerspringen  gesteigerte  Füllung  der  Blut- 
gefäße nicht  auch  im  Gehirn  statt?  Außerdem  müßte  man  die  Frage 
aufwerfen,  ob  ein  Organ,  welches  so  hyperämisch  ist,  daß  die  Blut- 
gefäße zerspringen,  als  gesund  betrachtet  werden  darf.  Was  diese 
Frage  speziell  mit  Rücksicht  auf  die  Nieren  anbetrifft,  zitiert  Klem- 
perer etwa  8  Fälle,  um  zu  beweisen,  daß  tatsächlich  Nierenblutungen 
aus  vollkommen  gesunden  Organen  beobachtet  worden  sind.  Den 
ersten  Fall  nennt  Sabatier^)  selber  „N6phralgie  h^maturique^^  In 
dem  Untersuchungsprotokoll  der  wegen  heftiger  Lendenschmerzen  und 
Hämaturie  exstirpierten  Niere  steht  geschrieben:  „On  constate  dans  ce 
rein  quelque  peu  d'inflammation  conjonctive  sans  aucune  tendence  k 
la  suppuration,  mais  d^terminant  plutöt  de  1^  sclerose.^^  Im  Anschluß 
an  das  Resultat  dieser  Untersuchung  sagt  Sabatier:  „Les  lesions,  oa 


1)  Pel,  Die  Nierenentzündung  (M.  Brightii)  vor  d^m  Forum   der  Chirurgen. 
Mitteilungen  aus  den  Grenzgebieten  der  Medizin  und  Cliirurgie  1901. 

2)  Sabn^ier,    N6yralgle    hömaturique.    N^phrectomie.    Gu^rison.      Revue  de 
Chirurgie  1889. 


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564  P*  J*  cle  BruTne  Plöos  van  Amstel,  [38 

le  voit,  sont  si  peu  affirm6es  que  nous  n'hesiterons  pas  ä  reconnaitre 
rint6grit6  de  Torgane  enlev6." 

Klemperer  teilt  ohne  weiteres  die  Meinung  Sabatiers  in  bezug 
auf  den  gesunden  Zustand  derNiere,  trotzdem  er  u.  m.  als  Resultat 
der  mikroskopischen  Untersuchung  nennt:  eine  bindegewebige  Ent- 
zündung, ohne  Tendenz  zur  Eiterung,  sondern  mehr  sklerosierender 
Natur. 

In  Wirklichkeit  kann  dieser  Fall  gelten  als  Beweis,  daß  Nephritis 
sich  äußern  kann  mit  Kolik  und  Blutung. 

Ebenfalls  beschreibt  Klemperer  den  ersten  Fall  von  Anderson  >). 
Dieser  Fall  betraf  ein  24 jähriges  Mädchen,  welches  seit  4  Jahren 
Anfälle  von  Lendenschmerzen  und  Hämaturie  hatte.  Anderson  ver- 
mutete die  Anwesenheit  von  Nierenstein,  welcher  aber  bei  der  Ope- 
ration nicht  gefunden  wurde.  Er  legte  die  Niere  frei.  Als  er  sie  aber 
bei  der  direkten  Inspektion  und  Betastung  völlig  normal  fand,  schloß 
er  die  Wunde,  ohne  die  Niere  herausgenommen  zu  haben.  Es  trat 
völlige  Heilung  ein. 

Anderson  selbst  sagt,  daß  die  Niere  „was  carefully  examined  by 
palpation  and  acupuncture,  but  without  the  discovery  of  any  abnor- 
mality". 

Es  ist  ohne  Zweifel  eine  gefährliche  Sache,  bloß  auf  die  mai^ro- 
skopische  Untersuchung  hin  die  Behauptung  aufzustellen,  daß  die 
Niere  vollkommen  gesund  ist.  Daß  Anderson  nicht  exstirpierte,  ist 
begreiflich;  nicht  begreiflich  ist  aber,  daß  Klemperer  diesen  Fall 
hinstellt  als  einen  Beweis  für  die  Möglichkeit  der  Blutungen  aus  ge- 
sunder Niere,  denn  es  ist  sehr  wohl  anzunehmen,  daß  evenmelle 
nephritische  Prozesse  vorhanden  waren  und  bei  der  Inspektion  nicht 
gefunden  wurden. 

Der  Fall  von  Schüller^)  bestätigt  übrigens  die  Richtigkeit  meiner 
Vermutung.  In  diesem  Falle  handelte  es  sich  um  eine  49jährige  Frau, 
welche  bereits  seit  10  Monaten  renale  Hämaturie  hatte,  und  zwar 
kamen  die  Blutungen,  wie  die  zystoskopische  Untersuchung  ergeben 
hatte,  aus  der  rechten  Niere.  Makroskopische  Untersuchung  sowie 
Spaltung  dieser  rechten  Niere  ergaben  keine  Abweichung.  Darauf 
wurde  die  Kapsel  abgezogen  und  die  Wunde  geschlossen.  Die  Blu- 
tung hielt  noch  etwa  14  Tage  an  und  blieb  dann  für  immer  fort.  Die 
mikroskopische  Untersuchung  eines  durch  eine  Probeexzision  entfernten 


1)  Anderson,  Two   cases  of  renal   exploration   for  suspected  calculus  with 
subsequent  nephrectomy  in  one.    The  Lancet  1889. 

2)  Seh  filier,  Beitrag  zur   Lehre  von  den  Blutungen  aus  anscheinend  aorer- 
Snderten  Nieren.    Wiener  klin.  Wochenschr.  1004. 


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39]  Hämaturie.  565 

Nierenteilchens  ergab,  daß  die  Niere  an  chronischer  Nephritis  er- 
krankt war. 

Ebenso  wie  der  Fall  Anderson,  ist  auch  der  schon  zitierte  Fall 
Passet^  kein  starker  Beweis  für  die  Klemperersche  Theorie. 

In  diesem  Falle  schloß  man  auf  gesunde  Nieren,  ohne  mikrosko- 
pische, ja  sogar  ohne  makroskopische  Untersuchung  derselben. 

Passet  nennt  diese  Blutung  renale  Hämophilie,  während  als  einzige 
Basis  für  diese  Diagnose  der  Habitus  haemophilicus  des  Patienten  in 
Frage  kommen  kann.  Klemperer,  welcher  diese  Diagnose  bestätigt, 
und  außerdem  betont,  daß  die  Blasenspülung  der  Blutung  ein  Ende 
gemacht  hat,  gerät  hierdurch  in  Widerspruch  mit  sich  selbst,  weil 
selbstverständlich  das  letztere  das  erstere  ausschließt.  Der  Umstand, 
daß  die  unnötige  Blasenoperation  ein  so  günstiges  Resultat,  das  Aus- 
bleiben der  Blutung,  aufzuweisen  vermochte,  darf  lediglich  ein  Zufall 
genannt  werden.  Dieser  Fall  darf  also  meiner  Ansicht  nach  keines- 
wegs in  Betracht  kommen  als  Beweis  für  die  Möglichkeit  der  Blutungen 
aus  normalen  Nieren.  Die  Diagnose  auf  renale  Hämophilie  bei  einer 
Frau  mittleren  Alters  kann  richtig  sein,  es  fehlt  aber  jeglicher 
Beweis  dieser  Diagnose. 

Passet  schweigt  über  die  Einzelheiten  der  Urinuntersuchung  und 
konstatiert  ausschließlich  die  Anwesenheit  des  Blutes.  Ist  damit  denn 
hierdurch  die  Möglichkeit  des  Vorhandenseins  weiterer  nephritischer 
Prozesse  ausgeschlossen?  Korteweg^)  sagt  hierzu:  Bei  vielen  Nieren- 
operationen hat  man  konstatieren  können,  daß  sogar  bei  einer  Nephritis 
in  weit  fortgeschrittenem  Stadium  der  Urin  eiweiß-  und  zylinderfrei 
sein  kann. 

Gleich  wenig  beweist  der  Fall  von  Broca.^)  Auch  er  diagnosti- 
ziert auf  renale  Hämophilie,  trotzdem  keine  Rede  war  von  hereditärer 
Belastung  und  die  Historia  morbi  uns  nichts  berichtet  von  hämo- 
philischen Blutungen  vor  dem  Erscheinen  der  Hämaturie.  Auch  eine 
kurz  vorher  stattgehabte  Entbindung  war  in  dieser  Beziehung  normal 
verlaufen.  Seine  Patientin  beklagte  sich  über  Hämaturie  und  heftige 
Schmerzen  in  der  rechten  Nierengegend.  Im  Urin  wurden  außer  Blut 
wohl  Epithelien  und  Zylinder,  aber  keine  Spur  von  Nierenstein  ge- 
funden. Als  Bettruhe  und  Milchdiät  erfolglos  blieben,  wurde  zur  Ope- 
ration geschritten.   Die  Diagnose  lautete  auf  Tuberkulose  oder  Tumor. 


1)  Passet,  Über  Hämaturie  und  renale  Hämophilie.   Zentralbl.  für  die  Krank- 
heiten der  Harn-  und  Sexualorgane  1894. 

2)  Korteweg,  Die   Indikationen  zur  Entspannungsinzision   bei   Nierenleiden. 
Mitteilungen  aus  den  Grenzgebieten  der  Med.  und  Chir,  1901. 

3)  Broca,  Hämophilie  renale   et  h^morrhagies  renales  sans  16sions  connues. 
Annales  des  maladies  des  organes  g^nito-urinaires  1894. 


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506  ^-  J*  <le  BruTne  Ploos  van  Amstel,  [40 

Die  freigelegte  Niere  zeigte  keine  Erweiterung  u;id  war  von  normaler 
Härte  und  Farbe,  während  auch  die  Untersuchung  des  NiercDbeckeos 
und  der  Ureter  kein  positives  Resultat  ergab.  Der  erste  Urin  nach 
der  Operation  war  noch  bluthaltig,  dann  aber  blieb  die  Hämaturie 
auS)  und  eine  Untersuchung,  welche  3  Jahre  später  stattfand,  ergab, 
daß  Patientin  vollkommen  geheilt  war.  In  diesem  Falle  Fehlt  jeglicher 
Beweis  sowohl  für  die  Diagnose  Hämophilie  renale,  als  auch  dafür, 
daß  die  blutende  Niere  vollkommen  gesund  war.  Nehmen  wir  an, 
daß  die  Blutungen  tatsächlich  durch  Hämophilie  verursacht  wurden, 
dann  bleibt  es  doch  unverständlich,  daß  diese  Operation,  welcher 
von  vornherein  jeder  praktische  Nutzen  bei  einer  Konstitutionskraok- 
heit  wie  Hämophilie  abgesprochen  werden  muß,  Heilung  bringen 
konnte,  auch  wena.man  an  eine  außerordentliche  Lokalisation  dieser 
Krankheit  glauben  wollte.  Und  ebenso,  wie  bei  den  Klempererschen 
Fällen,  möchten  wir  auch  hier  bezweifeln,  daß  die  Niere  gesund  war, 
da  dieses  nicht  auf  mikroskopischem  Wege  festgestellt  worden  ist 

Auch  Israel^)  ist  der  Meinung,  daß  das  Freilegen  der  Niere  keinen 
großen  Wert  hat  für  die  Diagnose. 

Israel  sagt  hierzu:  „daß  allein  eine  ausgiebige  Inzision  der  Niere 
selbst  Klarheit  verschaffen  könnte,  da  die  einfache  Freilegung  nicht 
mehr  lehren  würde,  als  die  Abtastung  des  ganzen  Organs  durch  die 
unverletzten  Bauchdecken".  Allerdings  war  in  seinem  Fall  die  Ab- 
tastung leicht  vorzunehmen.  Bei  der  52jährigen  Patientin  Israels 
stellte  sich  am  15.  Januar  1893  plötzlich  ohne  jegliche  Veranlassung 
eine  heftige  Hämaturie  ein,  welche  11  Tage  anhielt,  und  am  26.  des- 
selben Monats  wurde  wegen  Nierentumor  zur  Operation  geschritten. 

Da  die  zystoskopische  Untersuchung  ergab,  daß  das  Blut  aus-  der 
linken  Niere  kam,  wurde  dieselbe  freigelegt  und  darauf  gespalten.  Es 
erfolgte  eine  genaue  Untersuchung  der  gespaltenen  Niere,  „welche 
nicht  die  geringste  Abweichung  von  der  Norm,  weder  abnorme  Vasku- 
larisation, noch  Ekchymosen  des  Beckens  oder  des  Nierenparenchyms 
ergab.^^  Daraus  folgerte  Israel:  „daß  es  sich  um  eine  essentielle 
Nierenblutung  ohne  anatomisch  erkennbare  Grundlage  handeltet 
Grosglik^)  geht  bei  der  Besprechung  dieses  Falles  noch  weiter:  „Mit 
einem  Worte,  die  Niere  war  ganz  gesund."  Der  bereits  genannte  Fall 
von  Schüler  beweist,  daß  diese  Folgerung  nicht  berechtigt  ist.  Nach 
der  Operation  (die  Schnittwunde  wurde  vernäht  und  die  Niere  reponiert) 
blieb  die  Hämaturie  dauernd  aus.    Israel  kann  zwar  dieses  günstige 


1)  Israel,  Erfahrungen  über  Nierenchirurgie.   Arch.  f.  klio.  Chir.  180^  Bd. 47. 

2)  Grosglik,  Ober  Blutungen  aus  anatomisch  unveränderten  Niereiio    Samm- 
lung klin.  Vortr.  von  Volkmann  Nr.  203  (Chir.  Nr.  58). 


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41]  Himaturie.  567 

Resultat  nicht  erklären,  aber  betrachtet  es  doch  als  Indikation,  um  in 
dergleichen  Fällen  zur  Operation  zu  schreiten. 

Ferner  zitiert  Klemperer  noch  einige  Fälle  von  Legueu^).  Bei 
einem  26jährigen  Patienten  zeigte  sich  im  Jahre  1885  Hämaturie  mit 
heftigen  Schmerzen.  Die  Schmerzen  hielten  an,  trotzdem  der  Urin 
innerhalb  weniger  Stunden  blutfrei  war.  Im  nächsten  Jahre  wieder- 
holte sich  der  Anfall  und  dabei  blieb  es  nicht.  Im  ganzen  wurde 
noch  etwa  40 mal  Blut  im  Urin  konstatiert;  Nierenstein  wurde  jedoch 
im  Urin  nicht  gefunden.  Als  weitere  Symptome  sind  zu  nennen: 
häufiges  Erbrechen  und  Schmerzen  im  rechten  Beine.  Im  Jahre  1891 
wurde  endlich  zur  Operation  geschritten;  die  linke  Niere  wurde  frei- 
gelegt und,  da  man  keinerlei  Abweichung  fand,  wieder  reponiert.  Die 
Hämaturie  blieb  aus,  die  Schmerzen  ebenfalls,  aber  nur  bis  zu  dem 
Augenblicke,  da  der  Patient  erfuhr,  daß  außer  der  Nephrotomie  keine 
eigentliche  Operation  stattgefunden  hatte. 

Auch  hier  wurde  also  die  Niere  für  gesund  erklärt,  weil  makroskopisch 
keine  Abweichung  konstatiert  wurde.  Die  geringe  Zuverlässigkeit  der 
makroskopischen  Untersuchung  beweist  nicht  nur  der  Schüllersche 
Fall,  sondern  auch  der  Fall  von  Braatz^).  Braatz  verrichtete  den 
Sektionsschnitt  wegen  Nephralgie.  Die  anscheinend  normale  Niere 
wurde  natürlich  nicht  exstirpiert,  sondern  reponiert,  und  zwar  mit  dem 
Resultat,  daß  eine  3jährige  Heilung  eintrat.  Dann  zeigten  sich  die- 
selben Symptome  von  früher,  worauf  die  Exstirpierung  erfolgte.  Die 
mikroskopische  Untersuchung  ergab,  daß  die  exstirpierte  Niere  tuber- 
kulös war;  ein  jetzt  genesener  Herd  muß  also  die  Ursache  der  früheren 
Beschwerden  gewesen  sein. 

Auch  der  Fall  von  Schede^)  ist  für  uns  nicht  ein  beweisender  in 
dieser  Hinsicht. 

Klemperer,  der  uns  diesen  Fall  mitgeteilt  hat,  sagt,  daß  ein 
SOjähriger  Mann  seit  13  Monaten  an  Hämaturie  litt.  Die  Diagnose 
wurde  gestellt  auf  Nierenstein,  Tuberkulose  oder  Tumor,  weshalb  die 
Operation  beschlossen  wurde.  Nach  Eröffnung  der  Blase  und  Kathe- 
terisierung  der  Ureteren  ergab  sich,  daß  das  Blut  aus  der  rechten 
Niere  stammte.  Klemperer  sagt  dazu:  „Bei  der  Untersuchung  ergab 
sie  sich  als  vollkommen  gesund.^^  Schede  jedoch  teilt  uns  mit,  dal][ 
schon  während  der  Operation  sich  zeigte,  daß  die  Nierensubstanz  leicht 


1)  Legueu,  Des  növralgies  r6aales.  Annales  des  maladies  des  organes  g6nito- 
urinaires  1891. 

2)  Braatz,  Über  operative  Spaltung  der  Niere.    Deutsche  med.  Wochenschr. 
1900. 

3)  Schede,  Neue  Erfahrungen  über  Nierenexstirpation.    Jahrbuch  der  Ham- 
burger Staatskrankenanstalten  1889. 


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568  ^*  J'  de  BruTne  Ploos  van  Amstel,  [42 

zerreiOlich  war.  Auch  bemerkt  er  noch,  daß  bei  der  pathologisch- 
anatomischen Untersuchung  außer  Anämie  und  einigen  kleinen  Extra- 
vasaten nichts  Besonderes  gefunden  wurde. 

Nun  wissen  wir,  wie  wir  z.  B.  bei  Eichhorst^)  lesen,  daß  kleine 
Extravasaten,  ebenso  wie  das  leicht  Zerreißliche  der  Nierensubstanz 
ffir  die  Diagnose  großen  Wert  haben.  Eichhorst  sagt  in  Beziehung 
zur  Nephritis:  „Einen  außerordentlich  häufigen,  fast  regelmäßigen 
Befund  stellen  Hämorrhagien  dar,  die  sich  meist  an  das  Gebiet  der 
Nierenrinde  halten  und  den  Umfang  eines  Stecknadelknopfes  nur  aus- 
nahmsweise fiberschreiten.  In  bezug  auf  Konsistenz  der  entzfindeten 
Organe  ist  zu  bemerken,  daß  das  Nierenparenchym  ungewöhnlich 
morsch  und  brüchig  ist.^^ 

Schede  bemerkt  auch,  daß  die  Urinuntersuchung  kein  positives 
Resultat  gab,  nur  einmal  wurden  in  demselben  Nierenbecken-Epithel 
gefunden.  Wenn  man  keinen  besonderen  Wert  darauf  legt,  daß  diese 
Nierenbecken-Epithelien  gefunden  sind,  so  beweist  die  Abwesenheit 
von  Eiweiß  und  Formelementen  der  Niere  nichts  gegen  die  Diagnose 
Nephritis.  Wir  wissen  auch,  daß  Nierenzylinder  fehlen  können,  und 
zwar  entweder  ganz  fehlen  oder  nach  Sehrwald  wohl  anwesend,  aber 
durch  das  Pepsingehalt  des  sauren  Urins  aufgelöst.  Auch  Leichten- 
stern  und  Sörensen  haben  konstatiert,  daß  bei  Nephritis  normaler 
Urin  abgesondert  werden  kann.  Die  Ursache  davon  kann  sein  eine 
totale  Anurie  des  kranken  Nierengewebes,  wodurch  zeitweise  nur  von 
gesundem  Nierengewebe  Urin  abgesondert  wird.  Doch  ist  außerdem 
die  Abwesenheit  von  Eiweiß  nicht  Grund  genug,  die  Diagnose  Nephritis 
zu  verwerfen.  Dieulafoy  spricht  in  Rücksicht  auf  die  Albuminurie, 
wie  von  „un  Symptome  infiddle  et  inconstant^^  PeP)  gibt  uns  noch 
die  Möglichkeit,  daß  in  diesen  Fällen  wohl  Eiweiß  anwesend  sein 
kann,  doch  in  so  geringen  Quantitäten,  daß  wir  es  mit  unseren 
Reagentien  nicht  beweisen  können. 

Auch  Goodal  und  Bartels  beobachteten  Fälle  von  Nephritis, 
wobei  der  Urin  kein  Eiweiß  enthielt.  Henoch^)  sagt  in  dieser  Hin- 
sicht: „Aber  auch  hier  wie  überall  in  der  Medizin  gilt  der  Satz:  Keine 
Regel  ohne  Ausnahme.  Es  gibt  unzweifelhafte  Fälle,  in  welchen  trotz 
wiederholter  Untersuchung  des  Urins  (wenigstens  mit  den  in  der 
Praxis  gewöhnlich  benutzten  Methoden)  weder  Eiweiß,  noch  mikro- 
skopische Elemente  der  Nephritis  in  demselben  nachzuweisen  sind.^' 

Die  Behauptung  Klemperers,  daß  in  dem  Falle  von  Schede  die 


1)  Eichhorst,  Handb.  der  spez.  Path.  und  Ther. 

2)  Pel,  Die  akute  und  chronische  Nierenentzündung.  (Morbus  Brigthii.) 

3)  Henoch,  Vorlesungen  über  Kinderkrankheiten. 


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43]  Hämaturie.  569 

Niere  sich  als  vollkommen  gesund  ergab,  ist  unrichtig  und  übertrieben. 
Höchstens  konnte  man  konkludieren,  daß  die  Nieren  vermutlich  keine 
ernstlichen  Läsionen  zeigen  werden. 

Auch  zitiert  Klemperer  den  Fall  von  Durham^). 

Durham  operierte  eine  41jährige  Frau  wegen  Schmerzen  und 
Hämaturie,  die  er  einem  Nierenstein  zuschrieb.  Bei  der  Operation 
bestätigte  sich  diese  Diagnose  jedoch  nicht,  weshalb  die  Niere  nicht 
exstirpiert  wurde.  Da  jedoch  dieselben  Beschwerden  auch  nach  der 
Operation  Fortdauerten,  wurde  die  Niere  2  Jahre  später  exstirpiert. 
Die  Patientin  starb  bald  nach  der  Operation  und  die  exstirpierte  Niere 
zeigte  sich  als  normal. 

Grosglik  zitiert  diesen  Fall  auch  als  zweifellosen  Beitrag  zu  der 
uns  interessierenden  Frage. 

Mit  dieser  Behauptung  beweist  Grosglik  nur,  daß  er  einen  Fall 
zitiert,  ohne  ihn  gelesen  zu  haben.  Und  er  ist  nicht  der  einzige,  der 
so  zitiert.  Klemperer,  der  den  Fall  auch  bespricht,  sagt,  ihn  gelesen 
zu  haben  in  dem  British  Medical  Journal  von  1889,  während  derselbe 
beschrieben  wurde  in  dem  British  M.  J.  von  1872.  Klemperer  sagt 
auch:  ^Deswegen  wurde  nunmehr  die  Niere  ausgeschnitten;  ein  Stein 
wurde  nicht  gefunden,  die  Niere  erwies  sich  als  gesund.'^  Daß  die 
Niere  wirklich  gesund  sei,  ist  in  der  Beschreibung  dieses  Falles 
in  dem  British  M.  J.  nicht  zu  lesen. 

Lannois^)  nennt  diesen  Fall  auch  und  erzählt  uns  dazu,  daß  der- 
selbe eine  43jährige  Frau  betrifft,  die  schon  seit  2  Jahren  an  hef- 
tigen Schmerzen  in  der  linken  Nierengegend  litt.  „Croyant  ä  des 
calculs,  Durham  fait  une  n6phrolithotomie,  ne  trouve  pas  de  calculs 
et  en  reste  lä.  Cinq  mois  plus  tard,  les  douleurs  ayant  reparu,  ex- 
stirpation  du  rein,  qui  6tait  sain.*' 

In  Wirklichkeit  verrichtete  Durham  bei  dieser  Patientin  nie 
Nephrolithotomie,  sondern  er  legte  einfach  die  Niere  frei.  Ferner 
war  hier  nicht  ein  Zeitraum  von  5  Monaten,  sondern  von  2  Jahren 
zwischen  beiden  Operationen.  Zum  Schlüsse  ersehen  wir  aus  nichts 
die  Wahrheit  der  Worte  von  Lannois  betreffs  der  Niere:  „qui  6tait 
sain*. 

Auch  Brodeur^)  erzählt  uns,  daß  Durham  erst  eine  Nephrolitho- 
tomie verrichtete. 


1)  Durham,  Removal  of  the  kidney.    The  British  Medical  Journal  1872,  p.  534 
und  565. 

2)  Lannois,  De  Texstirpation  du  rein  ou  n^phrectomie.    Revue   de  Chirurgie 
1881. 

3)  Brodeur,  De  rintervention  chirurgicale  dans  les  affections  du  rein.  Th^se 
de  Paris  1886. 


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570  ^'  J-  <le  BruTne  Ploos  van  Amstel,  [44 

Durham  selbst  sagt  von  diesem  Falle  nur  Folgendes:  „On  Tues- 
day,  Mr.  Durham  removed  the  rlght  kidney  of  a  woman  at  Guy's 
Hospital.  The  patient  who  is  43  years  of  age,  is  the  same  in  whom 
Mr.  Durham  exposed  the  kidney,  whlch  was  removed  on  Tuesday, 
with  the  expectation  of  finding  a  calculus  in  or  about  its  pelvis.  No 
calculus  being  found  on  that  occasion,  and  the  kidney  appearing 
healthy,  the  wound  was  closed.  The  patient  recovered  from  the  effects 
of  the  Operation  well  and  the  wound  healed,  but  she  was  not  relieved 
from  the  severe  pain,  haematuria  and  other  Symptoms,  from  which  she 
had  suffered.  The  patient  early  on  Thursday  morning  was  apparently 
progressing  satisfactorily  in  every  way;  there  being  no  sign  of  any 
bad  Symptom;  the  temperature  was  normal;  the  pulse  beating  ninety 
per  minute,  and  although  weak,  not  more  so  than  frequently  had  been 
the  case  before  the  Operation;  and  the  patient  had  less  pain  than  she 
had  constantly  suffered  for  long  previously." 

Das  ist  alles. 

Dieser  Fall  ist,  n'en  d6plaise  Grosglik,  beweisend  für  nichts. 
Höchstens  sieht  man  wieder  einmal  daraus,  daß  das  Extirpieren  einer 
Niere  nicht  ungefährlich  ist,  jedoch  dafür  braucht  man  keinen  Beweis, 
das  ist  eine  alte  Geschichte. 

Was  die  Ursache  ist,  daß  dieser  anfanglich  so  gunstig  verlaufende 
Fall  letal  endet,  erzählt  Durham  uns  nicht.  Das  einzige,  was  wir  hier- 
über vernehmen,  ist,  das  wir  auf  S.  565  (British  Medical  Journal  1872) 
lesen:  „Mr.  Durham's  Operation  of  exstirpation  of  the  kidney  has  ended 
fatally.^^  Dennoch  macht  dieser  nichts  beweisende  Fall  die  Runde  in 
der  Literatur  und  wurde  dann  entweder  zitiert  nach  origineller  Mit- 
teilung!!! oder  nach  Legueus  Zitat  in  seinem  Artikel:  „Des  n^vral- 
gies  renales.    Annales  des  maladies  des  organes  g6nito-urinaires,  1891. 

Der  einzige,  der  Riesen  Fall  richtig  zitiert,  war  Sabatier.^) 

Er  aber  sagt  uns,  daß  bei  der  ersten  Operation  das  Freilegen  der 
Niere  ,1a  vue  et  la  palpation  permirent  d'en  reconnattre  rint6grit6". 

Nun  wissen  wir  aus  Erfahrung  und  aus  der  Literatur,  wie  wenig 
man  geben  kann  auf  den  makroskopisch  scheinbar  normalen  Aspekt 
einer  freigelegten  Niere. 

Grosglik  zitiert  auch  den  zweiten  Fall  von  Lauenstein^).  Dieser 
behandelte  einen  42jährigen  Seemann,  der  schon  seit  12  Jahren 
Schmerzen  in  der  rechten  Nierengegend  hatte.  Dazu  traten  im  Jahre 
1886  Beschwerden  über  Hämaturie  und  heftigen  Urindrang;  er  mußte 


1)  Sabatier,  Nephralgie   h6maturique.    N^phrectomie.  Gu6rison.    Revue-  te 
Chirurgie  1880. 

2)  Lauenstein,  Zur  Chirurgie  der  Nieren.    Deutsche  med.  Wocbeaschn  1887; 


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45]  Hämaturie.  57 1 

16  mal  in  24  Stunden  Urin  lassen.  In  dem  Urin  selbst  wurden  außer 
roten  auch  weiße  Blutkörperchen  gefunden. 

Da  die  Urinuntersuchung  jedoch  nicht  zu  einer  sicheren  Diagnose 
ffihrte,  so  wurde  die  Operation  beschlossen,  weil  Lauenstein  einen 
großen  Nierenstein  vermutete.  Im  August  1886  wurde  die  Operation 
verrichtet;  die  Niere  wurde  freigelegt,  aber  kein  Stein  gefunden.  Auch 
das  Nierenbecken  wurde  geöffnet,  aber  auch  ohne  Resultat.  Um  die 
Hilus  in  die  Wunde  zu  ziehen,  um  so  in  das  Nierenbecken  zu  ge- 
langen, zog  Lauenstein  drei  Fäden  durch  das  Nierengewebe.  Die 
hierbei  unwillkürlich  verrichtete  Akupunktur  ließ  auch  nicht  die  An- 
wesenheit eines  Steines  erkennen.  Da  man  ferner  auch  nichts  Abnor- 
males an  der  Niere  konstatieren  konnte,  wurde  die  Wunde  tamponiert, 
nach  Reposition  der  Niere.  Die  Wunde  heilte  gut,  und  das  weitere 
Resultat  war,  daß  der  Mann  vollkommen  gesund  wieder  zur  See  ging, 
und  3  Jahre  später  hatte  Grosglik  Gelegenheit  zu  konstatieren, 
daß  sein  Patient  noch  immer  total  genesen  war.  Grosglik  erzählt 
uns  diesen  Fall  unter  dem  Titel:  Ȇber  Blutungen  aus  anatomisch 
unveränderten  Nieren." 

Lauenstein  sagt  in  Beziehung  auf  das  geöffnete  Nierenbecken: 
»Aus  dem  eröffneten,  offenbar  erweiterten  Nierenbecken  floß  weder 
Blut,  noch  Eiter.^  Auch  wenn  man  sich  der  Ansicht  Lauensteins 
anpassen  will,  daß  eine  Niere  mit  erweitertem  Nierenbecken  trotzdem 
normal  ist,  so  fehlt  hier  doch  jede  pathologisch-anatomische  Unter- 
suchung und  steht  auch  die  Behauptung  einer  gesunden  Niere  ohne 
jeglichen  Beweisgrund. 

Morris  <)  operierte  einen  jungen  Mann  von  20  Jahren,  da  derselbe 
infolge  heftiger  Anfalle  von  Hämaturie,  welche  sich  schon  seit  10 
Monaten  wiederholten,  sehr  anämisch  geworden  war.  Da  der  Patient 
besonders  über  Schmerzen  in  der  rechten  Nierengegend  klagte,  wurde 
die  Operation  der  rechten  Niere  beschlossen.  Morris  sagt  hierüber: 
»The  right  kidney  was  cut  into  and  thoroughly  examined  with  nega- 
tive result;  nothing  was  found  to  explain  the  hsematuria,  and  no 
improvement  in  the  Symptoms  resulted.'  10  Tage  nach  der  Nephro- 
tomie verrichtete  er  die  Nephrektomie,  weil  die  Hämaturie  stets  fort- 
dauerte. Jedoch  hörte  dieselbe  auch  nach  der  Nephrektomie  nicht  auf 
und  starb  der  Patient  am  Tage  nach  der  Operation.  Morris  sagt 
über  die  exstirpierte  Niere:  ,,There  was  nothing  in  the  naked-eye 
appearances  of  the  kidney  removed,  or  of  the  left  kidney  or  of  the 
bladder,  or  any  part  of  the  urinary  System  to  explain  the  cause  of 
the  haemorrhage.    Neither  a  microscopic  nor  a  bacteriologial  exami- 


1)  Morris,  Surgical  diseases  of  the  kidney  and  Ureter.  1901. 


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572  ^'  J*  <le  Brulne  Ploos  van  Amstel,  [46 

nation  ot  the  kidneys  was,  I  regret  to  say,  made,  their  naked-eye 
appearances  being  so  normal  that  further  examination  was  unfortuna- 
tely  omitted."  Mit  den  Worten:  „I  regret  to  say"  beweist  Morris, 
daß  er  mit  uns  derselben  Meinung  ist,  daß  der  makroskopische,  den 
»naked-eye""  Aspekt  der  Niere,  selbst  in  scheinbar  sicheren  Fallen, 
doch  nicht  überzeugend  genug  ist,  um  ohne  mikroskopische  Unter- 
suchung zu  einer  unveränderten  Niere  zu  konkludieren. 

Lauenstein  ist  auch  sehr  schlecht  zu  sprechen  über  das  dia- 
gnostische Resultat  seiner  Operation. 

Er  konkludierte  nicht,  daß  die  Niere  mit  dem  erweiterten  Nieren- 
becken gesund  sei,  sondern  daß  das  Diagnostizieren  auf  dem  Gebiete 
der  Erkrankungen  der  Harnwege  mit  Schwierigkeiten  verknüpft  ist. 

Auch  glaubt  er  nicht,  daß  der  Erfolg  dem  Eingriffe  zu  verdanken 
sei,  denn  er  sagt,  daß  der  fernere  Verlauf  befriedigender  war,  wie  die 
gestellte  unrichtige  Diagnose,  und  daß  vollständige  Genesung  erfolgte, 
»trotz  des  Eingriffes*. 

Dieselbe  Frage  wegen  des  Resultates  ist  wohl  auch  zu  stellen  in 
dem  von  Mannino^  mitgeteilen  Fall  über  Hämaturie. 

Mannino  behandelte  einen  2jährigen  Knaben,  bei  welchem  An- 
fälle von  Hämaturie  bemerkt  wurden,  die  bis  zu  3  Tagen  dauerten. 
Angesichts  des  negativen  Resultates  der  Blasenuntersuchung,  mit  Ruck- 
sicht auf  die  Anwesenheit  von  Konkrementen,  und  weil  die  Eltern  des 
Kindes  an  Syphilis  litten,  nahm  man  an,  daß  man  es  hier  nicht  mit 
Nierenstein,  sondern  mit  hereditärer  Syphilis  zu  tun  habe.  Die  Dia- 
gnose wurde  dadurch  sicher,  weil  eine  Kur  von  62  Tagen,  während 
welcher  Zeit  das  Kind  mit  Quecksilber  und  Jodkali  behandelt  wurde, 
totale  Genesung  als  Resultat  hatte.  Nirgends  findet  man  in  der  Lite- 
ratur Hämaturie  als  Symptom  von  hereditärer  Lues  verzeichnet.  Da- 
zu kommt  noch,  daß  man  bei  einem  2jährigen  Kinde  nicht  so  einfach 
konstatieren  kann,  ob  vielleicht  nicht  doch  während  der  62  Tage  ein 
kleiner  Stein  abgesondert  wurde.  Wenn  dieses  wohl  der  Fall  war, 
dann  ist  das  gute  Resultat  der  antisyphilitischen  Behandlung  zu  be- 
greifen, auch  bei  einem  nicht  syphilitischen  Kinde.  Jede  Behandlung 
würde  dann  wohl  scheinbar  die  Ursache  der  Genesung  gewesen  sein. 
Ebenso  ist  es  mit  dem  Resultate  der  Behandlung  von  einem  Patient 
von  Pope.2) 

Dieser  Patient  litt  seit  2^/2  Jahren  an  Hämaturie,  „so  persistant, 
so  continuous  and  moreover  marked,  considering  the  constant  drain 


1)  Lorenzo  Mannino,  Hämaturieanfälle  infolge  von  hereditärer  Lues.   U 
Rlforma  medica.    Ref.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1887. 

2)  Pope,  A  case  of  persistant   hflematuria;  treatment;  eure.   The  Lancet  1889. 


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47]  Hämaturie.  573 

on  the  System,  by  such  slight  constitutional  disturbance,  that  it  may 
be  well  to  record  it,  with  the  treatment,  which  was  happy  succesful/* 
Jede  Behandlung  war  ohne  Erfolg  geblieben.  Der  Urin  enthielt 
eine  große  Quantität  roter  und  eine  geringere  weißer  Blutkörperchen. 
Das  spezifische  Gewicht  war  1024,  und  sagt  Pope:  „Supernatant 
layer  gave  a  faint  trace  oF  albumen.^^  Pope  meint,  daß  hier  kein 
Grund  war,  ein  akutes  oder  subakutes  Nierenleiden,  Entzündung, 
Steinleiden  usw.  zu  diagnostizieren.  Ebensowenig  konnte  man  an 
Parasiten  denken,  als:  „I  therefore  made  up  my  mind  that  the  haemat- 
uria  was  not  symptomatic,  so  to  speak,  but  in  itself  the  result  of 
some  functional  failure  of  the  kidney.^^ 

Hier  haben  wir  also  wieder  die  Diagnose  Hämaturie  aus  einem 
anatomisch  normalen  Organ,  ohne  daß  dasselbe  untersucht  worden 
ist  und  trotzdem  die  Anwesenheit  von  Eiweiß  in  dem  Urin  festge- 
stellt wurde. 

Die  Behandlung  blieb  ohne  Erfolg,  bis  eine  Dosis  Cascara  gegen 
die  Obstipation  angewendet  wurde.  Daraus  konkludierte  Pope  die 
Anwesenheit  von  „some  altered  condition  of  blood-pressure,  in  all 
probability  marked  increase  which  caused  the  red  blood  cells  to  be 
forced  through  the  minute  vessel  walls  into  the  secreting  tubes  thence 
to  be  excreted,  and  therefore  an  eifoft  was  made  to  diminish  this 
increasing  pressure".  Um  diesen  Zweck  zu  erreichen,  gab  er  Laxan- 
tia und  zwei  „vapour  baths"  in  jeder  Woche.  Die  spätere  Genesung 
schrieb  er  seiner  Behandlung  gegen  den  erhöhten  Blutdruck  zu. 

Daß  durch  Obstipation  der  Blutdruck  so  erhöht  werden  kann,  daß 
Nierenblutungen  von  solcher  Heftigkeit  verursacht  werden,  dürfte  wohl 
niemand  glauben.  In  Wirklichkeit  soll  Blutdruckerhöhung  in  dem 
Bauche,  durch  welche  Ursache  sie  entstanden  sei,  doch  wohl  nie  diese 
zur  Folge  haben. 

Klemperer  behauptet,  daß  in  allen  seinen  Fällen  von  Hämaturie 
und  Nierenkolikanfällen  durch  die  Operation  die  vollkommene  ana- 
tomische Intaktheit  der  blutenden  Nieren  sicher  festgestellt  wurde. 
Wir  sehen  aber,  daß  die  angenommene  Gesundheit  oder  anatomische 
Intaktheit  der  Nieren  in  all  diesen  Fällen  die  Probe  der  Kritik  nicht 
bestehen  kann,  und  verfällt  somit  auch  die  Erklärung,  die  er  uns  zu 
diesen  Blutungen  gibt.  Klemperer  glaubt,  daß  die  Blutungen  ent- 
standen sind  durch  Lähmung  der  vasomotorischen  Nerven.  Als  ein- 
zigen Beweis  für  diese  Behauptung  sagt  er,  daß  es  angioneurotische 
Ödemen  gibt,  also  gibt  es  auch  angioneurotische  Blutungen.  Außer- 
dem, meint  er,  kann  der  gute  Erfolg  von  so  verschiedenartigen  Ein- 
griffen, wie  Freilegung  der  Niere,  Akupunktur  und  Sektionschnitt, 
wohl  nicht  anders  erklärt  werden,  als  eine  Einwirkung  auf  das  Nerven- 


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574  ^'  J*  cle  Brttlne  P]oos  van  Amstel,  [43 

System.  Wir  werden  aber  sehen,  dafl  diese  Operationen  ihren  Erfolg 
verdanken  der  dadurch  verursachten  Verminderung  der  Spannung 
des  Nierengewebes. 

Daß  Klemperer  selbst  in  dieser  Hinsicht  seine  Ansicht  wohl 
etwas  verändert  hat,  bemerkt  man  daraus ,  daß  er  in  seinem  Lehr- 
buche sich  über  diesen  Gegenstand  nicht  so  positiv  ausspricht. 

Klemperer^)  sagt  darin  in  dem  Kapitel  „Die  Krankheiten  der 
Nieren'':  „Die  Bedeutung  der  renalen  Hämaturie  ist  in  den  meisten 
Fällen  eine  symptomatische.  Wohl  hält  er  in  einzelnen  Fällen  eiae 
angioneurotische  Hämaturie  für  möglich,  aber  wenn  man  gut  unter- 
sucht, dann  folgt  aus  dieser  Sachlage  jedenfalls,  daß  man  bei  länger 
dauernden  Hämaturien  immer  von  neuem  zu  untersuchen  hat,  ob 
nicht  irgendeine  somatische  Ursache  für  dieselben  zu  entdecken  ist; 
erst  bei  vollkommener  Ergebnislosigkeit  dieser  Bemühungen  darf  man 
sich  der  Diagnose  der  angioneurotischen  Blutung  zuwenden.'' 

Befolgt  man  diesen  Rat  von  Klemperer  genau,  so  wird  man 
finden,  daß  diese  Diagnose  nach  genauer  wiederholter  Untersuchung 
nicht  mehr  vorkommen  wird. 

Die  Diagnose  der  angioneurotischen  Blutung  ist  doch  auch  in  Wirk- 
lichkeit nicht  viel  mehr  als  eine  Umschreibung  der  früheren  essen- 
tiellen Blutung,  Nephralgie  h^maturique  oder  lokalen  Hämophilie.  Mit 
diesem  Namen  umschreibt  man  jedoch  weniger  das  Krankheitsbild, 
als  die  Unwissenheit  über  das  Essentielle  der  Krankheit. 

Je  mehr  man  in  der  Literatur  über  diese  Blutungen  nachliest,  desto 
mehr  Fälle  findet  man,  wobei  durch  die  mikroskopische  Untersuchung 
die  richtige  Diagnose  gestellt  wurde,  während  ohne  dieselbe  in  vielen 
dieser  Fälle  man  sie  wie  Klemperersche  angioneurotische  Nieren- 
blutung betrachten  würde.  So  beschreibt  Routier^)  einen  Krank- 
heitsfall von  einem  28jährigen,  immer  gesunden  Mann,  bei  dem  plötz- 
lich in  der  Nacht  Hämaturie  auftrat.  Nachdem  dieselbe  17  Tage  ge- 
dauert hatte,  trat  rechtsseitige  Nierenkolik  hinzu,  und  zeigte  die  zysto- 
skopische  Untersuchung,  daß  das  Blut  aus  der  rechten  Niere  stammte. 
Da  man  nun  die  Diagnose  auf  malignen  Tumor  stellte,  wurde  die  Nephrek- 
tomie bei  dem  inzwischen  sehr  anämisch  gewordenen  Patienten  verrichtet. 
Makroskopisch  zeigte  die  ausgeschnittene  Niere  keine  Abnormalität.  Bei 
der  mikroskopischen  Untersuchung  aber  war  die  Diagnose  mit  Ge- 
wißheit auf  beginnende  primäre  Nierentuberkulose  zu  stellen. 


1)  Klemperer,  Lehrbuch  der  inneren  Medizin.  1905. 

2)  Routier,  Tuberculose  renale.  Hämaturie.  N^phrectomie.  Gu6rison.  Annalcs 
des  maladies  des  organes  g^nito-urinaires  1805. 


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49]  Hämaturie.  575 

Trautenroth  1)  erzählt  auch  einen  ähnlichen  Fall,  wobei  die  Nieren- 
blutung jedoch  nicht  von  Kolik  begleitet  war.  Auch  hier  wurde  die 
Nephrektomie  beschlossen,  da  man  einen  malignen  Tumor  vermutete. 

In  der  makroskopisch  nicht  veränderten  Niere  fand  man  nur  ein 
Blutkoagulum  in  dem  Nierenbecken.  Bei  der  mikroskopischen  Unter- 
suchung zeigte  es  sich  aber,  daß  diese  Niere  diffus  tuberkulös  er- 
krankt war. 

Auch  Israel^)  teilt  uns  ähnliche  Fälle  mit.  Einer  seiner  Patienten, 
ein  58jähriger  Herr,  litt  seit  einiger  Zeit  an  Hämaturie,  zeitweise  ohne 
und  dann  wieder  mit  Kolikschmerzen.  Während  der  Zeit,  da  er  keine 
Hämaturie  hatte,  war  der  Urin  eiweißfrei.  Die  Urinuntersuchung 
ergab  weiter,  dal!  keine  Zylinder,  wohl  aber  Kristalle  von  Uraten  ge- 
funden wurden.  Die  Nieren  waren  nicht  schmerzhaft  beim  Druck. 
Bei  absoluter  Bettruhe  blieb  die  Hämaturie  während  6  Wochen 
fon,  kehrte  jedoch  unmittelbar  nach  körperlicher  Bewegung  zurück. 
Israel  legte  nun  die  Niere  frei  wegen  seiner  Diagnose  Nierenstein. 
An  der  Niere  war  auch  nach  dem  Sektionsschnitt  nichts  Abnormales 
zu  sehen,  nur  bemerkte  man  eine  geringe  Erweiterung  des  Nieren- 
beckens. Der  auch  an  Aortainsuffizienz  leidende  Patient  starb  35  Stunden 
nach  der  Operation,  und  nun  bemerkte  man  bei  der  durch  Professor 
Hansemann  verrichteten  mikroskopischen  Untersuchung,  daß  in  beiden 
Nieren  eine  diffuse  Nephritis  bestand.  Ohne  diese  mikroskopische 
Untersuchung  würde  auch  dieser  Fall  beschrieben  sein  als  essentielle 
Nierenblutung. 

Israel  gibt  uns  noch  eine  Serie  von  14  solcher  Fälle.  Für  uns 
sind  von  diesen  Fällen  von  besonderer  Wichtigkeit  die  Fälle  2  und  4, 
welche  er  nennt:  „Fälle  mit  mangelnder  mikroskopischer  Untersuchung, 
ohne  makroskopisch  nachweisbare  Veränderungen  im  Nierenparenchym, 
ohne  chemische  und  mikroskopische  Anomalien  des  Urins,  ohne  Lage- 
veränderungen der  Niere."  In  diesen  beiden  Fällen  war  nicht  von 
Hämaturie  die  Rede,  wohl  aber  hatten  die  beiden  Patienten  Nieren- 
koliken. Beim  Fall  2  war  keine  einzige  Nierenanomalie  zu  konsta- 
tieren, außer  einer  sehr  starken  Verwachsung  mit  der  Nierenkapsel. 
Auf  Grund  dieser  starken  perirenalen  Verwachsung  betrachtet  Israel 
diesen  Fall  als  ein  Nierenleiden,  welches  wahrscheinlich  seinen  Ur- 
sprung hatte  in  einer  vorangegangenen  Perityphilitis.    Er  betrachtet 


1)  Trauten roth,  Lebensgefährliche  Hämaturie  als  erstes  Zeichen  beginnen- 
der Nierentuberkulose.    Mitteilungen  aus  den  Grenzb.  d.  Med.  u.  Chir.  1895. 

2)  Israel,  Ober  den  Einfluß  der  Nierenspaltung  auf  akute  und  chronische 
Krankheitsprozesse  des  Nierenparenchyms.  Mitteilungen  aus  den  Grenzgebieten 
der  Med.  und  Chir.  1900. 

Klln.  Vorträge,  N.  F.  Nr.  502/03.  (Chirurgie  Nr.  147/48.)  September  1908.  42 

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576  P-  J-  ^^  BruTne  Ploos  van  Amstel,  [50 

Fall  4  als  eine  Lokalisation  in  der  Niere  von  einem  bestehenden 
rheumatischen  Leiden.  Hier  bestand  in  der  Tat  schon  seit  8  Jahren 
Gelenkrheumatismus^  und  traten  die  Nierenkoliken  sowohl  zu  gleicher 
Zeit  mit  den  Gelenkschmerzen  auf,  als  auch  einzeln.  Diese  rheuma- 
tische Form  des  Nierenleidens  erinnert  uns  sehr  an  die  durch  Mab- 
baux^)  beschriebene  „Hematurie  goutteuse^^  Doch  sind  Israel  und 
Mabbaux  sehr  verschiedener  Ansicht  in  ihren  Erklärungen  betreffs 
dieser  wahrgenommenen  Lokalisation  eines  rheumatischen  oder  arthri- 
tischen Prozesses.  Während  Israel  meint,  es  mit  einer  Lokalisation 
von  rheumatischen  Prozessen  in  der  Niere  zu  tun  zu  haben,  sagt 
Mabbaux,  daß  die  Hämaturie  nicht  verursacht  wird  von  einem  be- 
stehenden Nierenleiden,  sondern  zu  betrachten  ist  als  das  erste  und 
oft  einzige  Symptom  von  einem  arthritischen  Leiden.  Der  dadurch 
entstandene  größere  Gehalt  des  Blutes  an  Uraten  ist  dann  Ursache 
einer  Nierenkongestion,  und  diese  wieder  von  Nierenblutungen. 

Den  ersten  Fall  von  Israel  betrachtet  er  auch  als  eine  gichtische 
Affektion  der  linken  Niere.  Israel  jedoch  diagnostiziert  hier  einen 
chronischen  entzündlichen  Prozeß  der  Niere  mit  akuten  schmerz- 
erregenden Exazerbationen,  ohne  nachweisbare  Veränderungen  des  Urins. 

PeP)  will  diese  Diagnose  nicht  anerkennen,  ebensowenig  die  von 
Fall  1,  wie  von  Fall  4.  Er  ist  ungefähr  derselben  Meinung  wie  Mab- 
baux. Pel  ist  überzeugt,  daß  sehr  kristallreicher  Urin  auch  ohne 
Anwesenheit  von  Nierenstein  imstande  ist,  Koliken  mit  Ureterkrampf,  so- 
wie Blutungen  und  sonstige  Symptome  von  Nierenstein  zu  verursachen. 

Israel  betrachtet  seinen  vierten  Fall  wie  eine  kongestiv-entzund- 
liche  Lokalisation  der  rheumatischen  Erkrankung  in  der  Niere  mit 
intrakapsulärer  Spannungserhöhung.  Pel  ist  hiermit  nicht  einver- 
standen, sondern  betrachtet  diesen  Fall  wie  Lithiasis,  ohne  Anwesen- 
heit von  Nierenstein,  aber  mit  sehr  kristallreichem  Urin. 

Gegen  diese  Behauptung  von  Pel  ist  folgende  praktische  Erwägung 
zu  stellen.  Bei  allen  Patienten  mit  Nierenstein  ist  der  Urin  sehr 
kristallreich.  Somit  müßten  also  nach  Pel  dann  auch  ohne  daß  ein 
Stein  in  den  Ureter  gelangt,  nur  durch  den  Einfluß  des  kristallreicben, 
saturierten  Urins,  Blutungen  und  Kolikschmerzen  auftreten.  Doch  ist 
dieses  bis  jetzt  noch  nicht  mit  Sicherheit  zu  konstatieren  gewesen. 
Bei  Patienten,  bei  denen  wirklich  Nierensteine  anwesend  sind,  sielit 
man  nie  Blutungen  und  Kolikschmerzen  auftreten,  ohne  daß  ein 
Stein  den  Ureter  passiert.    Nun  ist  es  wohl  wahr,  daß  nicht  nacli 


1)  Mabbaux,  De  rbömaturie  goutteuse. 

2)  Pel,   Die   Nierenentzündung   (M.  Brightii)  vor   dem  Forum    der  Chirurgen. 
Mitteilungen  aus  den  Grenzgebieten  der  Med.  und  Cbir.  1901. 


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51]  Hämaturie.  577 

jedem  Anfall  von  Nierensteinkolik  ein  Stein  «bgesondert  wird; 
oft  sind  dazu  mehrere  Anfälle  notwendig.  Solange  sich  der  Stein 
dann  nicht  gezeigt  hat,  kann  man  die  konstatierten  Symptome 
dem  Einfluß  des  kristallreichen  Urins  zuschreiben,  anstatt  dem 
des  Steines.  Doch  welcher  Nutzen  resultiert  daraus  für  den  Pa- 
tient? Dasselbe  können  wir  jedoch  auch  fragen  in  den  Fällen,  wo 
man  nach  einer  genauen  Untersuchung,  auch  mit  den  besten  und 
neuesten  Hilfsmitteln  der  Wissenschaft,  Nierenstein  mit  Sicherheit 
auszuschließen  vermeinte.  Dann  ist  die  Diagnose  von  der  bestimmten 
Form  der  Lithiasis,  die  Pelsche  Lithiasis,  Grund  genug,  mit  ihm  zu 
sagen,  daß  hier  keine  Indikation  zur  Operation  besteht.  In  einzelnen 
Fällen  soll  dadurch  der  Patient  einer  hinterher  unnötigen  Operation 
entgehen,  doch  in  wievielen  Fällen  wird  wohl  die  nötige  Operation 
dadurch  versäumt  oder  zu  spät  verrichtet  werden?  Zunächst  müssen 
wir  auch  nicht  vergessen,  daß  die  Diagnose  der  Pe Ischen  Lithiasis 
auf  dasselbe  herauskommt,  wie  die  Diagnose  essentielle  Hämaturie, 
nämlich  einen  Namen  geben  einer  uns  dunklen  Krankheit. 

Auch  Morris  1)  bespricht  diese  Streitfrage,  wenn  er  abhandelt: 
Lithiasis  and  nephralgia  due  to  functional  derangement  of  the  urine. 
Er  sagt  darüber:  „There  is  a  great  resemblance  between  the  Symptoms 
of  renal  calculus  and  those  of  hyper-acid  urine.  There  is  no  more 
certain  cause  of  pain  in  the  loins,  of  frequent  micturition,  and  even 
of  a  slight  amount  of  pus  or  blood  in  the  urine,  than  very  acid  urine, 
and  urine  overcharged  with  uric  acid  or  calcium  Oxalate  crystals.*^ 
Demnach  sollen  also  keine  organischen  Nierenveränderungen  ent- 
stehen, aber  jedoch  würden  Fieber,  Hämaturie  und  Pus  in  dem  Urin, 
selbst  während  eines  Zeitraums  von  1 — 2  Jahren,  möglich  sein.  Hier- 
bei können  sich  auch  mehr  oder  weniger  heftige  Schmerzen  in  den 
Lenden  einstellen.  Israel  hat  diese  Behauptung  von  Pel  im  voraus 
beantwortet.  Israel  macht  uns  darauf  aufmerksam,  daß  in  den  Fällen 
von  Morris  die  Hämaturie  stets  wenig  heftig  war,  daß  dagegen  Ei- 
weiß im  Urin  ein  konstantes  Symptom  war,  und  daß  Morris  sagt, 
daß  niemals  „actual  or  permanent  degeneration  of  the  renal  tissues^^ 
zu  konstatieren  war,  während  in  seinen  mikroskopisch  untersuchten 
Fällen  wohl  Nephritis  gefunden  war.  Auch  ist  noch  ein  Argument 
gegen  die  Behauptung  von  Pel,  daß  die  Hämaturie  und  die  Schmerzen 
stets  einseitig  vorkommen,  was  unbegreiflich  ist,  wenn  der  Einfluß, 
welcher  davon  die  Ursache  ist,  der  kristallreiche  Urin  auf  beiden 
Nieren  stets  ähnlich  einwirkt. 


1)  Morris,  Surgical  diseases  of  the  kidney  and  urpter  including  injuries  mal« 
formations  and  misplacements.  1901. 

42» 


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578  ^'  h  de  Bruine  Ploos  van  Amstel,  [52 

Aber  man  kann  auch  sagen,  daß,  wenn  in  der  Tat  diese  Pelsche 
Litbiasis  Hämaturie  und  Nierenkoliken  verursachen  kann,  auch  das 
Vorkommen  von  essentieller  Hämaturie,  von  den  Klempererscheo 
Nierenblutungen  aus  gesunden  Nieren  eine  Tatsache  ist. 

Pel  selbst  macht  nicht  diese  natürliche  Folgerung  seiner  Theorie. 

Im  Gegenteil  mißtraut  Pel  dieser  Form  der  Hämaturie.  Mit  ihm 
sind  wohl  die  meisten  Mediziner  der  Ansicht,  daß,  falls  diese  Häma- 
turie wirklich  vorkommt,  sie  doch  äußerst  selten  ist. 

Das  Urteil  von  Dsirne^)  ist:  «Nach  genauem  Studium  der  Literatur 
bleiben  nur  wenige  Fälle  zurück,  die  diesen  Formen  entsprechen/ 
Auch  Albarran^)  ist  sehr  mißtrauisch  gegenüber  den  beschriebeneo 
Fällen  von  N6phralgies  h6maturiques,  und  von  Blutungen  aus  gesun- 
den Nieren.  Er  will  keinen  einzigen  Fall  anerkennen,  wobei  keine 
mikroskopische  Untersuchung  der  Niere  stattfand. 

Noch  eine  Einwendung  gegen  die  Pelsche  Theorie  ist,  daß  wenn 
wirklich  ein  erhöhter  Gehalt  des  Urins  an  Uraten  und  Oxalaten 
Ursache  wäre  von  Nierenblutungen  aus  gesunden  Nieren,  dann  würden 
diese  Blutungen,  besonders  da  ihnen  so  viel  Aufmerksamkeit  gewidmet 
wird,  viel  mehr  wahrgenommen  werden. 

Pel  macht,  hinsichtlich  der  Mitteilungen  von  Israel  die  Bemer- 
kung, daß  es  unbegreiflich  ist,  daß  diese  Nierenblutungen  mit  Erfolg 
bekämpft  sind  mit  so  verschiedenartigen  Eingriffen,  wie  das  Freilegen 
der  Niere,  der  Sektionsschnitt  usw.  Wir  haben  schon  gesehen,  dafi 
diese  Eingriffe  nicht  so  abweichend  sind  in  ihrem  Einfluß  auf  das 
Nierengewebe,  denn  durch  alle  diese  Operationen  wird  die  Spannung 
des  Nierengewebes  vermindert.  Aber  man  kann  auch  Pel  die  Frage 
stellen,  warum  diese  verschiedenen  Eingriffe  Erfolg  haben  können, 
wenn  man  die  Pelsche  Lithiasis  als  Ursache  der  Blutungen  betrachtet. 

Pel  wünscht,  daß  man  in  den  Fällen  von  Pelscher  Lithiasis  nicht 
zur  Operation  schreitet.  Wir  haben  gesehen,  daß  dadurch  vielleicht 
eine  notwendige  Operation  versäumt  wird,  aber  doch  kann  man  sich 
der  Ansicht  Pels  anschließen,  wenn  man  den  Rat  von  Morris  dabei 
befolgt. 

Morris 3)  sagt  hierüber:  «The  diagnosis  in  such  cases  will  be 
cleared  up  by  the  improvement  which  fpllows  upon  alkaline  treatment 
or  a  course  of  piperazine.    The  citrate  or  tartrate  of  potash  or  soda, 


1)  Dsirne,  Beitrag  zur  Frage  der  Nephrolithiasis,  der  Hydro-  und  Pyonephrose. 
Monatsberichte  für  Urologie  1902. 

2)  Albarran,  Diagnostic  des  h^maturies  renales.    Ann.  des   maladies  des  or- 
ganes  gönito-urinaires  189S, 

3)  Morris y  Surgical  diseases  of  the  kidney  and  Ureter. 


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53]  Himaturie.  579 

given  every  four  hours  during  che  day,  neutraüses  che  acidity  of  the 
urine  as  it  is  secreted,  and  thus  the  cause  of  the  Symptoms  disappears, 
and  with  it  the  Symptoms  themselves.'' 

In  den  Fällen  von  Pelscher  Lithiasis  kann  man  also»  wie  Pel  es 
will,  nicht  sofort  operieren,  aber  erst  einige  Tage  die  Behandlung 
von  Morris  probieren.  Hat  diese  in  kurzer  Zeit  keinen  Erfolg,  dann 
gehe  man  bald  zur  Operation  über. 

Dsirne  steht  nicht  allein  mit  seiner  Meinung  hinsichtlich  der 
Blutungen  aus  gesunden  Nieren.  So  sagt  z.B.  Suter^):  „Die  essen- 
tielle Hämaturie  hat  vor  wenigen  Jahren  als  ein  bestehendes,  wohl- 
abgegrenztes Krankheitsbild  noch  eine  bedeutende  Rolle  gespielt.  Heute 
sind  sichere,  nicht  nur  klinisch  sondern  auch  pathologisch-anatomisch 
konstatierte  Fälle  extrem  selten.''  Auch  Malherbe  und  Legueur^) 
sind  dieser  Meinung,  nur  glauben  sie,  daß  diese  Fälle  auch  nicht 
extrem  selten,  sondern  niemals  vorkommen.  Ihre  Konklusion  war: 
„II  n'y  a  pas  d'h^maturie  essentielle.  Toutes  les  hematuries  sont 
symptomatiques,  et  rel^vent  d'une  cause  g6n6rale  (toxique  ou  infecti- 
euse)  ou  d'une  aifection  locale."^ 

Suter  teilt  uns  einen  sehr  interessanten  Fall  mit,  wobei  klinisch 
nur  einseitige  renale  Hämaturie  konstatiert  wurde.  Bei  der  Operation 
schien  die  Niere  makroskopisch  normal  zu  sein.  Wäre  dieselbe  also 
nicht  exstirpiert,  sondern  reponiert,  dann  wäre  auch  dieser  Fall  dia- 
gnostiziert als  essentielle  Hämaturie,  oder  Nierenblutung  aus  gesunden 
Nieren.  Bei  der  Untersuchung  bemerkte  man  jedoch,  daO  das  Nieren- 
becken krank  war,  besonders  in  der  Umgebung  der  UreteröfFnung. 
Bei  der  mikroskopischen  Untersuchung  zeigte  es  sich,  daO  die  Dia- 
gnose Angiomen,  oder  angiomatöse  Entartung  der  Blasenschleimhaut 
war.  Wie  Suter  uns  mitteilt,  ist  in  der  Literatur  nur  sehr  wenig 
betreffs  dieser  Läsion  zu  finden.  Nur  Fenwick^)  beschreibt  zwei 
derartige  Fälle.  Der  erste  seiner  Patienten  litt  schon  seit  5  Jahren 
an  linksseitiger  intermittierender  Nierenblutung.  Bei  der  Operation 
fand  er  im  Nierenbecken,  daO  eine  der  Papillen  umgeben  war  von 
einem  Bündel  Gefäße.  Diese  Papille  wurde  exstirpiert,  mit  dem  Er- 
folg, daß  der  Patient  geheilt  war  von  seiner  Hämaturie.  Fenwick 
erzählt  von  der  Untersuchung  der  exstirpierten  Papille,  daß  hier  nicht, 
wie  er  gedacht  hatte,  ein  Papillom  anwesend  gewesen  sei,  »but  that 
the  vessels  of  the  mucous  membrane  clothing  the  papilla  were  mark- 

1)  Suter,  Ober  einseitige  renale  Hämaturie  bedingt  durch  Teleangiektasien  des 
Nierenbeckens.    Zentralbl.  für  die  Krankheiten  der  Harn-  und  Sexualorgane  1902. 

2)  Malherbe  et  Leg ueur,  II  n'y  a  pas  d'h6maturie  essentielle.  Quatrifeme 
Session  de  Tassociatlon  fran9aise  d'urologie.    Paris  1900. 

3)  Fenwick,  Renal  papillectomy.    British  Medical  Journal  1900. 


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580  P*  J*  de  Bruine  PIoos  van  Amstel,  [54 

edly  varicosed.  There  was  no  evidence  of  growth,  but  there  was  a 
congestion  of  the  vesseis  with  extravasation  of  blood  and  an  increase 
in  the  cellular  stroma.  This  might  be  an  early  stage  of  a  fibro- 
matous  condition,  such  as  is  not  uncommon  in  the  tips  of  the  pa- 
pillär« 

Bei  der  zweiten  30jährigen  Patientin,  welche  schon  seit  14  Tagen 
an  heftigen  Nierenblutungen  litt,  fand  Fenwick  in  dem  eröffneten 
Nierenbecken,  daß  die  Spitze  einer  Papille  rot  und  varicös  war. 
Auch  hier  wurde  diese  Papille  mit  gutem  Erfolg  für  den  Patient  ex- 
stirpiert.  Hierüber  sagt  er:  „The  vesseis  in  this  part  of  the  kidney 
are  distended  with  blood,  and  there  is  some  extravasation.'' 

Diese  Diagnose  ist  niemals  zu  stellen  ohne  Eröffnung  des  Nieren- 
beckens. Je  nach  der  Ausbreitung  des  Prozesses  kann  man  die  Niere 
exstirpieren,  oder  nach  Fenwick  nur  die  kranke  Papille  entfernen. 

Debersaques^)  teilt  uns  noch  einen  Fall  von  essentieller  Häma- 
turie mit.  Sein  Patient,  ein  38jähriger  Mann,  der  nie  zuvor  krank  war, 
hatte  schon  seit  20  Jahren  Schmerzen  in  der  linken  Nierengegend,  und 
seit  8  Jahren  auch  Anfälle  von  Hämaturie,  und  einmal  auch  eine 
Nierenkolik.  Wegen  der  großen  Abmagerung  des  Patienten  wurde 
Operation  beschlossen.  Die  Niere  wurde  freigelegt,  zeigte  sich 
aber  auch  beim  Sektionsschnitt,  und  bei  Akupunktur  vollkommen 
normal  und  wurde  deshalb  wieder  reponiert.  Nach  der  Operation 
blieben  die  Schmerzen  und  Blutungen  während  3  Monaten  fort  Daß 
dieser  Fall  ohne  mikroskopische  Untersuchung  des  Nierengewebes 
nicht  viel  Wert  für  uns  hat,  als  Beweis  für  das  Bestehen  der  essen- 
tiellen Nierenblutungen,  spricht  wohl  von  selbst. 

Ebensowenig  Wert  für  uns  hat  die  durch  Comby*)  gestellte  Dia- 
gnose in  einem,  von  ihm  beschriebenen  Fall  von  Hämaturie. 

Bei  einem  5jährigen  Mädchen  trat  Hämaturie  auf,  welche  nach 
3  Wochen  Bettruhe  und  Milchdiät  wieder  verschwand.  Da  bei  seiner 
Patientin  andere  Ursachen  fehlten,  und  dieselbe  behandelt  war  mit 
Karbolinjektionen  im  Ohr,  sollte  nun,  wie  Comby  dachte,  der  Karbol 
wohl  schuld  haben  an  der  Hämaturie.  Auch  Nitze  äußert  sich  als 
ein  großer  Gegner  des  Begriffes  essentieller  Hämaturie,  als  er  bei 
der  Diskussion  über  den  Vortrag  von  Klemperer  sagte:  „Es  ist  doch 
eine  sonderbare  Gesundheit  eines  Organs,  wenn  aus  demselben  eine 


1)  Debersaques,  Un  cas  d'h6maturie  renale  essentieUe.  Nephrotomie. 
Gu6rison.  Annales  de  la  Soci6t6  Beige  de  Chirurgie  1808. 

2)  Comby,  Dangers  du  ph6nol  chez  l'enfant;  h6maturie  proyoqu6e  ptr  des 
irrigations  ph^niquöes  de  roreille  cbez  une  fillette  od  cinq  ans.  Soci6t6  M^dicale 
des  Höpitaux  1808. 


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55]  Hämaturie.  581 

tödliche  oder  wenigstens  gefahrdrohende  zur  höchsten  Anämie  fähren- 
de Blutung  erfolgt/' 

Solch  ein  Fall  von  tödlicher  Hämaturie  ohne  bekannte  Ursache 
teilt  Spencer 0  uns  mit.  Das  Hauptsymptom  war:  increasing  hae- 
maturia,  wogegen  nichts,  auch  nicht  die  Infusion,  etwas  vermochte. 
Auch  die  Sektion  gab  keine  Erklärung  von  den  Ursachen  der  tödlichen 
Hämaturie. 

Auch  verurteilte  Nitze  den  Begriff  essentielle  Hämaturie,  als  er 
sagte:  „Zurzeit  ist  für  mich  kein  Unterschied  in  der  Symptomatologie 
eines  Tumors  und  Fälle  von  essentieller  Hämaturie.  Beide  bluten 
oft  kolossal,  bei  beiden  pflegen  die  Kranken  keinerlei  Beschwerden 
zu  haben;  kurz  die  Symptomatologie  ist  völlig  die  gleiche  und  wird 
ganz  durch  die  Blutung  beherrscht.' 

Auch  Nitze  muO  daher  bei  jeder  einigermaßen  langdauernden 
Hämaturie  mit  uns  der  Meinung  sein,  daß  Freilegen  der  Nieren  eine 
Notwendigkeit  ist.  Mit  großem  Mißtrauen  muß  sicher  auch  die  even- 
tuelle Diagnose  hysterische  Hämaturie  begrüßt  werden.  Solche  zwei- 
felhafte Fälle  sind  u.  a.  beschrieben  von  Guisy^). 

Harris»)  beschreibt  2  Fälle  von  Hämaturie,  wobei  man  keine 
Ursache  derselben  finden  konnte,  und  welche  man  deshalb  auch  wohl 
zur  hysterischen  Hämaturie  zählen  konnte.  Er  sammelte  noch  16  der- 
artige Fälle  aus  der  Literatur,  auch  um  zu  beweisen,  daß  in  solchen 
Fällen  die  Nephrotomie  stets  Erfolg  hat  und  daher  man  sich  niemals 
für  Nephrektomie  entscheiden  darf. 

Hämaturie  bei  Nephritis. 

Daß  der  Urin  bei  Nephritis  Blut  enthalten  kann,  war  schon  lange 
bekannt.  Wir  denken  hierbei  nicht  an  die  chronische  hämorrhagische 
Nephritis,  von  welcher  PeH)  sagt:  »Nebst  der  Anwesenheit  von  Ödemen 
und  von  mäßiger  Hypertrophia  cordis  bildet  hier  der  fast  fortwährend 
stark,  wohl  immer  schon  mit  unbewaffnetem  Auge  wahrnehmbar  hä- 
morrhagische Harn  das  klinische  Kriterium.*^ 

Bei  den  nephritischen  Zuständen,  welche  wir  im  Auge  haben, 
fehlen  Ödeme  und  Herzhypertrophie  beinahe  immer. 


1)  Spencer,  Fatal  hematuria  of  unknown  origin.  Clinical  Society  of  London. 
The  British  Medical  Journal  1904. 

2)  Guisy,  Trois  cas  d'h6maturie  hystörique.    Annales  des  maladles  des  orga- 
nes  g6nito-urinaires  1001. 

3)  Harris»   Renal   hsematuria  without    known    lesions.  Philadelphia  medical 
Journal  1898. 

4)  Pely  Die  akute  und  chronische  Nierenentzündung.    (Morbus  Brightii.) 


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582  ^*  J'  de  BruTne  Ploos  van  Amstel,  [56 

Wir  haben  es  dann  mit  dem  zu  tun,  was  Naunyn^)  nennt:  Massen- 
blutung aus  den  Nieren  bei  Nepliritis. 

Sobald  wir  in  der  Literatur  über  diesen  Gegenstand  nachschlagen, 
so  stoßen  wir  immer  wieder  auf  den  großen  Mann  der  Nierenchirur- 
gie J.  IsraeP). 

Letzterer  hat  der  Wissenschaft  nicht  allein  auf  dem  Gebiete  der 
Nierenchirurgie  enorme  Dienste  geleistet,  sondern  er  hat  uns  auch 
über  diesen  Gegenstand  Klarheit  gebracht. 

Israel  hat  dabei  auch  bewiesen,  daß  Nephritis  einseitig  vorkommt. 

Dennoch  war  er  in  dieser  Hinsicht  nicht  der  erste,  sondern  war 
uns  eine  Mitteilung  betreffs  der  unilateralen  Nephritis  mit  Hämaturie 
schon  im  Jahre  1897  durch  de  Keersmaeclier^)  gemacht. 

Die  Patientin  von  de  Keersmaecker,  eine  43jährige  Frau,  be- 
merkte im  Dezember  1894  zuerst  Blut  in  ihrem  Urin,  und  zwar  zu- 
nächst in  der  Form  von  langgestreckten  Fäden  geronnenen  Blutes. 
Danach  dauerte  die  Hämaturie  ohne  Unterbrechung  fort,  de  Keers- 
maecker diagnostizierte  erst  Zystitis,  kompliziert  mit  Hämaturie  ohne 
bekannte  Grundlage.  Die  zystoskopische  Untersuchung  der  Blase  er- 
gab jedoch,  daß  dieselbe  gesund  war.  Mit  einem  für  diesen  Fall  neu 
konstruierten  Ureterendoskop  konstatierte  er,  daß  der  Urin,  welcher 
von  der  linken  Niere  stammte,  Blut  enthielt,  während  der  aus  der 
rechten  Niere  frei  von  Blut  war. 

Die  Hämaturie  dauerte  ungefähr  3  Jahre,  und  dann  entschloß  de 
Keersmaecker  sich  zur  Nephrektomie.  Bei  der  mikroskopischen 
Untersuchung  der  exstirpierten  Niere  ergab  sich,  daß  diese  nephri- 
tisch erkrankt  war. 

Die  Blutung  war  in  diesem  Falle  eine  sehr  heftige.  Lecorche 
und  Talamon^)  glauben,  daß  Hämaturie  bei  Nephritis  nie  heftig  sein 
könne;  dieser  Fall  beweist,  daß  diese  Ansicht  fehlerhaft  ist. 

Bei  der  Diskussion  über  diesen  Fall,  sagte  de  Keersmaecker 
sehr  richtig,  daß  unrechterweise  unter  den  Ursachen  der  Haematuria 
renalis  die  Nephritis  nicht  genannt  wird.  Er  im  Gegenteil  glaubt, 
daß  sie  in  den  meisten  Fällen  die  Hauptursache  ist,  und  das  nun 
beobachtete  unilaterale  Auftreten  der  Nephritis  sollte  viele  Bedenken 
gegen  diese  Auffassung  eliminieren.  Depage  ist  nicht  von  derselben 


1)  Naunyn,  Hämaturie  aus  normalen  Nieren  und  bei  Nephritis.    Mitteiluogeo 
aus  den  Grenzgebieten  der  Med.  und  Chir.  1900. 

2)  Israel,  Über  den  Einfluß   der  Nierenspaltung  auf  akute   und  chronische 
Krankheitsprozesse  des  Nierenparenchyms.    Mitt.  usw.  1900. 

3)  de  Keersmaecker,  N6phrite   chronique  unilaterale  avec  h6maturie  con- 
tinue  pendant  deux  ans  et  demi.    Annales  de  la  Soci6t6  Beige  de  Chirurgie  1807. 

4)  Lecorche  etTalamon,  Traitd  de  l'albuminurie. 


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57]  Hämaturie.  583 

Ansiebt,  daß  die  Nephritis  unilateral  sein  wurde,  weil  der  eiweißfreie 
Urin  der  anderen  Niere  kein  entscheidender  Beweis  ist  für  das  In- 
taktsein der  anderen  Niere. 

Debaissieux,  Daudois,Lambotte  und  Gallet  brachen  in  dieser 
Diskussion  noch  eine  Lanze  für  die  essentielle  Hämaturie,  deren 
Dasein  durch  die  Mitteilungen  von  de  Keersmaecker  ernstlich  in 
Zweifel  gebracht  wurde* 

Debaissieux  beobachtete  einen  Fall  von  »hematurie  r6nale  essen- 
tielle'', wobei  er  die  Niere  vollkommen  normal  befand.  Nur  konsta- 
tierte er  zwei  kleine  Knoten  auf  der  Schleimhaut  des  Nierenbeckens. 
Man  ist  jedoch  nicht  berechtigt,  eine  solche  Niere  vollkommen  normal 
zu  nennen.  Sehr  wahrscheinlich  ist  es  wohl,  daß  diese  stecknadel- 
kopfgroßen Knoten  Tuberkel  waren.  Allein  auch  vor  de  Keers- 
maecker hat  CrookeO  derartige  Fälle  von  »Unilateral  interstitional 
Nephritis"  beschrieben. 

In  den  Fällen  von  Crooke  war  die  Ursache  Druck  auf  den  Ureter, 
und  mikroskopisch  fand  er  Läsionen  »being  histologically  analogous, 
if  not  identical,  with  the  changes  found  in  that  form  of  disease  known 
as  granulär  contracting  kidney"*.  In  dem  einen  Fall  war  es  eine  Zyste, 
die  bei  einem  16jährigen  Mädchen  Druck  verursachte,  in  dem  andern 
ein  Sarkom,  das  auf  den  linken  Ureter  Druck  ausübte.  In  beiden 
Fällen,  sagt  Crooke,  war  die  Niere  an  der  anderen  Seite  „natural*. 

In  der  Diskussion  über  diese  Mitteilungen  s^gte  Carter,  daß  er 
einen  ähnlichen  Fall  beobachtet  hatte.  In  diesem  Fall  war  es  ein 
Aneurysma,  das  auf  eine  Niere  Druck  ausübte.  Doran  teilte  dann  mit, 
daß  er  eine  Anzahl  solcher  Fälle  gesehen  habe. 

Wie  interessant  die  Mitteilung  von  Crooke  auch  ist,  und  wie  sehr 
sie  uns  sicher  eine  Stütze  sein  kann  für  die  Behauptung  von  Israel, 
daß  einseitige  Nephritis  vorkommt,  so  ist  doch  der  hier  beschriebene 
Zustand  so  ganz  anders,  als  der  von  den  Fällen  Israels,  um  die  bei- 
den auf  eine  Stufe  zu  stellen. 

Senator^)  protestiert  gegen  die  Behauptung  von  Israel,  daß  ein- 
seitige Nephritis  möglich  wäre.  Er  äußert  sich  darüber  so  positiv 
wie  möglich,  indem  er  sagt:  „Einen  einseitigen  Morbus  Brightii  gibt  es 
nicht,  es  müßte  denn  nur  eine  Niere  vorhanden  sein."^ 

Senator  ist  dabei  gegen  die  Annahme,  daß  Nephritis  die  Ursache 
von  Hämaturie  sein  soll,  in  Fällen,  wenn  nur  einzelne  kleine  Herde 


1)  Crooke,  Unilateral  interstitional  Nephritis.  Patbological  Society  of  London. 
The  Lancet  1880. 

2)  Senator,    Nierenkolik,    Nierenblutung    und    Nephritis.     Deutsche   med. 
Wochenschr.  1902. 


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584  ^«  J*  de  BruTne  Ploos  van  Amstel,  [53 

in  der  exstirpierten  Niere  gefunden  wurden.  Als  Beispiel  nennt  er 
seinen  durch  uns  zitierten  Fall  von  renaler  Hämophilie,  der  durch 
verschiedene  Schriftsteller  auf  Grund  der  milLrosliopischen  Unter- 
suchung von  Prof.  O.  Israel  als  ein  nephritischer  Prozeß  betrachtet 
wurde.  Als  Beweis  teilt  er  uns  in  einer  Anmerkung  mit,  daß  be- 
wußte Dame  seit  12  Jahren  total  gesund  und  frei  von  Hämaturie  ist. 
Diese  Gesundheit  spricht  jedoch  mehr  für  die  frühere  Anwesenheit 
eines  nephritischen  Prozesses,  als  für  die  einer  Allgemeinerkrankung, 
wie  die  Hämophilie. 

IsraeP)  sagt:  ,,Wenn  es  somit  feststeht ,  daß  Einseitigkeit  der 
Symptome  kein  Beweis  für  die  Beschränkung  der  Erkrankung  auf  eine 
Niere  ist,  so  darf  man  doch  bei  den  Fällen,  welche  nach  einseitiger 
Operation  vollständig  geheilt  sind,  annehmen,  daß  auch  der  Prozeß 
wirklich  nur  eine  Seite  betroffen  hat.* 

Diese  sehr  deutlichen  Worte  dulden  nicht  viel  Widerspruch,  wenig- 
stens, wenn  man  an  einer  Niere  das  Bestehen  eines  nephritischen 
Prozesses  konstatiert  hat.  Weniger  fest  steht  der  Fall  jedoch,  wenn 
man  die  Ansicht  Senators  teilt,  daß  die  Nephritis  nur  ein  Symptom 
ist  von  einer  Allgemeinerkrankung,  m.  a.  W.  mit  ihm  glaubt,  daß  die 
Nierenblutung  ein  Symptom  einer  Hämophilie  ist. 

Natürlich  beantwortete  Israel  die  obengenannten  durch  Senator 
geäußerten  Bemerkungen. 

Israel  gibt  allein  zu,  daß,  weil  Morbus  Brightii  nun  einmal  der 
historische  Name  für  doppelseitige  Nierenentzündung  ist,  ein  ein- 
seitiger Morbus  Brightii  auch  nicht  existieren  kann.  Doch  sehr  richtig 
bemerkt  er:  „Damit  soll  aber  nicht  präjudiziert  werden,  daß  nicht  die 
anatomischen  Veränderungen  einseitiger  Nierenaifektionen  identisch 
sein  können  mit  denen  der  doppelseitigen  Brightschen  Krankheit.'^ 

Zum  Beweis  von  dieser  Behauptung  zitiert  Israel  einzelne  Fälle 
aus  der  Literatur.  An  erster  Stelle  nennt  er  uns  einen  Fall  von 
Rayer^.  In  diesem  Falle  starb  ein  26jähriger  Mann,  nachdem  er 
3  Monate  an  Hämaturie  gelitten  hatte.  Bei  der  Sektion  fand  man 
eine  chronische  Nephritis  in  der  linken  Niere,  während  die  rechte 
Niere  sich  als  normal  erwies.  Da  hier  jedoch  die  mikroskopische 
Untersuchung  fehlt,  so  kann  man  diesen  Fall  nicht  als  Beweis  an- 
erkennen. 


1)  Israel,  Über  den  Einfluß  der  Nierenspaltung  auf  akute  und  chronische 
Krankheitsprozesse  des  Nierenparenchyms.  Mitteilungen  usw.  1900.  Nierenkolik, 
Nierenblutung  und  Nephritis.    Deutsche  med.  Wochenschr.  19Q2. 

2)  Ray  er,  Trait^  des  maladies  des  reins.    Paris  1S41. 


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59]  HSmaturie.  585 

Auch  nennt  Israel  noch  den  schon  zitierten  Fall  von  de  Keers- 
maecker;  dann  solche  von  Rovsing^),  Pousson^  und  Hofbauer'). 

In  diesen  vier  Fällen  hat  man  in  der  Tat  zu  tun  mit  einer  inter- 
stitiellen Nephritis  mit  ,,Massenblutung'S  wobei  nach  Nephrektomie 
der  kranken  Niere  der  Patient  sich  vollkommen  genesen  zeigte»  und 
der  Urin  kein  Eiweiß  oder  Zylinder  mehr  enthielt.  Doch  kann  man 
erwidern,  daß  die  Nephritis  verlaufen  kann,  ohne  daß  Eiweiß  oder 
Zylinder  in  dem  Urin  gefunden  werden,  die  Abwesenheit  derselben 
nicht  das  Recht  gibt,  zu  konkludieren,  daß  die  nicht  exstirpierte  Niere 
gesund  ist. 

Senator  sagt,  daß  bei  Nephritis  Eiweiß  und  Zylinder  nicht  an- 
wesend zu  sein  brauchen,  und  daß  diese  Tatsache  schon  von  Bright 
bekannt  war,  und  daß  sie  bestätigt  ist  von  Bartels  und  v.  Cassel. 

Vielleicht  kann  man  auch  den  Fall  von  Dorst^)  hier  nennen. 

Dorst  ist  mit  uns  der  gleichen  Ansicht,  daß  die  sog.  essentielle 
Hämaturie  nur  als  ein  Symptom  zu  betrachten  ist  und  zwar  als  ein 
Symptom  von  chronischer  Nephritis.  In  seinem  Fall  von  scheinbar 
essentieller  Hämaturie  zeigte  sich  bei  der  mikroskopischen  Unter- 
suchung des  entfernten  Nierengewebes,  daß  eine  Glomerulonephritis 
bestand.  Später  zeigte  sich,  daß  der  Urin  kein  Eiweiß  und  Zylinder 
mehr  enthielt,  so  daß  es  sehr  wahrscheinlich  ist,  daß  die  nephritische 
Niere  durch  den  Einfluß  des  Sektionsschnittes  genesen  sei,  und  daß 
die  andere  Niere  gesund  war  und  blieb.  Jedoch  haben  wir  auch  hier 
dieselbe  Bemerkung,  daß  die  Abwesenheit  von  Eiweiß  und  Zylinder 
nichts  beweist  betreffs  der  Gesundheit  der  Niere.  Dasselbe  gilt  auch 
für  den  von  Nicolich s)  beobachteten  Fall. 

In  diesem  Fall  wurde  die  Niere  exstirpiert  und  von  den  Histologen 
in  Wien  als  normal  erklärt;  erst  eine  spätere  Untersuchung  in  dem 
Hospital  Necker  von  Albarran  und  Motz  zeigte  das  Bestehen  einer 
Glomerulonephritis. 


1)  Rovsing,  Ober  unilaterale  Hämaturie  zweifelhaften  Ursprungs  und  ihre 
Heilung  durch  Nephrotomie.  Zentralbl.  für  die  Krankheiten  der  Harn-  und  Sexual- 
organe 1898. 

2)  Pousson^De  l'intervention  chirurgicale  dans les n6phrites m6dicales.  Annales 
des  maladies  des  organes  g^nito-urinaires  1902. 

3)  Hof  bau  er,  Ein  Fall  von  2  jähriger  unilateraler  Nierenblutung.  Mitt.  aus  den 
Grenzgebieten  der  Med.  und  Chir.  1900. 

4)  Dorst,  Een  geval  van  pseudo-essentieele  haematurie.  Ned.  Tijdschrift  voor 
Geneeskunde  1902. 

5)  Nicolich,  Sur  un  cas  de  n6phrite  h6morrhagique  unilaterale.  Comptes 
rendus  de  TAssociation  francaise  d'urologie  1901. 


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586  P-  J-  de  BruTne  Ploos  van  Amstel,  [60 

Auch  Edebohi^)  ist  der  Ansicht,  daO  eine  unilaterale  Nephritis 
möglich  ist.  Er  hat  18  Fälle  von  Nephritis  ausfuhrlich  beschrieben, 
und  nur  in  9  dieser  Fälle  waren  beide  Nieren  erkrankt.  In  4  Fällen 
war  nur  die  linke ,  in  4  anderen  Fällen  nur  die  rechte  Niere  er- 
krankt. 

Edebohl  war  nicht  erstaun t,  als  er  diese  unilaterale  Nephritis 
konstatierte.  Wohl  ist  man  daran  gewöhnt,  daß  Nephritis  fast  immer 
beiderseitig  vorkommt,  aber  das  wahrscheinlichste  ist  doch,  daß  im 
allerersten  Anfang  der  Krankheit  nur  eine  der  Nieren  angegriffen  ist. 
Die  gesunde  Niere,  oder  besser  das  gesunde  Nierengewebe  ver- 
richtet dann  auch  die  Arbeit  für  die  erkrankten  Teile.  Die  Krank- 
heitsursache wirkt  aber  auch  ein  auf  die  bisher  gesunde  Niere,  und 
in  den  meisten  Fällen  wird  auch  die  zweite  Niere  krank,  nur  etwas 
später  als  die  erst  erkrankte  Niere.  Wenn  man  nephritische  Nieren 
bei  der  Sektion  beobachtet,  dann  findet  man  immer  beide  Nieren  er- 
krankt, aber  man  muß  nicht  vergessen,  daß  man  Nephritis  im  Anfang 
der  Krankheit  niemals  zur  Sektion  bekommt;  bei  der  Sektion  sieht 
man  nur  weiter  fortgeschrittene  Fälle. 

Edebohl  meint,  daß  er  durch  seine  große  praktische  Erfahrung 
imstande  sei,  makroskopisch  konstatieren  zu  können,  ob  eine  Nephritis 
anwesend  ist  oder  nicht.  Wie  groß  nun  auch  seine  Erfahrung  sein 
mag,  so  wird  doch  mancher,  und  mit  Recht,  an  der  Richtigkeit  dieser 
allein  makroskopisch  gestellten  Diagnose  zweifeln.  Die  Schwierigkeit 
solch  einer  Diagnose  wird  illustriert  durch  den  zitierten  Fall  von 
Nicolich. 

In  der  Tat,  Männern,  wiePousson  und  Albarran,  ist  es  passiert, 
daß  eine  von  ihnen  bei  makroskopischer  Untersuchung  für  gesund 
gehaltene  Niere  bei  der  mikroskopischen  Untersuchung  sich  als  krank 
erwies. 

Edebohl,  obgleich  voll  Vertrauen  zu  seiner  Diagnose,  fuhh  sich 
doch  scheinbar  nicht  ganz  sicher,  wenigstens  sagt  er: 

»In  six  of  the  eight  cases  in  which  chronic  Bright's  disease  is 
recorded  as  unilateral,  the  healthy  condition  of  the  other  kidney  was 
verified  at  Operation,  when  both  kidneys  were  brought  out  of  the 
wound  for  careful  and  critical  examination.  It  cannot  be  denied  that, 
in  some  instances  at  least  microscopical  examination  of  a  kidney 
classed  as  healthy  might  have  revealed  evidences  of  incipient  changes 
of  an  inflammatory  character;  to  the  unaided  sight  however,  and  to 
the  touch,  the  organ  was  healthy."* 


1)  Edebohl,   The   eure  of   chronic   Brights    disease  by  Operation.    Medical 
Record  1001. 


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61]  Hämaturie.  587 

Später  gibt  Edebohli)  uns  noch  72  Historiae  morbi.  Im  ganzen 
konstatierte  er  in  11  Fällen  unilaterale  Nephritis.  Er  sagt:  »That  the 
diagnosis  of  chronic  nephritis  affecting  one  kidney  only  was  made  in 
each  case  upon  the  signs  and  cbaracteristics  presented  upon  inspec- 
tion  and  palpation  of  the  kidney  at  Operation;  that  it  is  not  without 
the  pale  of  possibility  that  one  or  other  kidney  normal  to  sight  and 
touch  might  on  microscopic  examination  have  presented  evidences  of 
slight  or  incipient  inflammation.' 

Die  Unterstützung,  die  Israel  also  von  Edebohl  erhält»  ist  allein 
von  moralischem  Werte,  und  als  solche  hat  sie,  in  bezug  auf  die  sehr 
großen  Erfahrungen  und  Verdienste  von  Edebohl,  für  uns  sehr  große 
Bedeutung,  ist  aber  nicht  imstande,  die  Gegner,  wie  Senator,  zu  ent- 
waffnen. 

IsraeP)  selbst  gibt  die  von  Edebohl  gemachten  Bedenken  zu,  in- 
dem er  sagt:  „Der  strikte  Beweis  der  Einseitigkeit  kann,  streng  ge- 
nommen, nur  durch  die  Sektion  geführt  werden/^ 

Mit  dieser  Erkenntnis  fällt  nicht  die  große  Wahrscheinlichkeit,  wohl 
aber  die  Sicherheit,  daß  die  so  talentvoll  gemachten  Konklusionen  von 
Israel  richtig  sind. 

Israel  behauptete:  „Es  gibt  einseitige  Nephritiden.^^  Zum  Glück 
jedoch  hat  er  lange  nach  der  Diskussion  mit  Senator  von  Stich^) 
den  Beweis  empfangen,  daß  seine  These  richtig  sei. 

Stich  hat  diesen  Beweis  geliefert  mit  der  Beschreibung  von  einem 
von  ihm  beobachteten  Fall  von  einseitiger  chronischer  diffuser  Nephritis 
mit  enormer  Hämaturie. 

Die  Patientin  von  Stich,  eine  30jährige  Frau,  erkrankte  im  März 
1901  mit  Symptomen  von  Hämaturie,  wozu  sich  2  Tage  später 
heftige  Schmerzen  in  der  rechten  Nierengegend  gesellten.  Zystosko- 
pische  Untersuchung  war  unmöglich,  da  nach  Ausspülungen  der  Blase 
mit  8  1  1  %iger  Borsäure  die  wegfließende  Flüssigkeit  stets  rot  gefärbt 
blieb.  Nach  einigen  Tagen  kam  allerdings  ein  Blutkoagulum  zum  Vor- 
schein, das  ein  getreuer  Abguß  des  Nierenbeckens  und  Ureters  war, 
so  dal!  die  Tatsache,  daß  man  mit  einer  Nierenblutung  zu  tun  hatte, 


1)  Edebohl,  The  histories  of  seventy-two  patients  operated  upon  by  the  autor 
for  chronic  Bright's  disease  up  to  the  end  of  the  year  1903.  The  surgical  treatment 
of  Bright's  disease  1904;  Questions  of  priority  in  the  surgical  treatment  of  chronic 
Bright's  disease.  Medical  Record  1902;  Renal  decapsulation  for  chronic  Bright's 
disease.    Medical  Record  1903. 

2)  Israel,  Nierenkolik,  Nierenblutung  und  Nephritis.  Deutsche  med.  Wochenschr. 
1902. 

3)  Stich,  Ober  Massenblutungen  aus  gesunden  und  kranken  Nieren.  Mitt.  aus 
den  Grenzgebieten  der  Med.  und  Chir.  1904. 


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588  P-  J-  (ie  Brulne  Ploos  van  Amstel,  *       [52 

allein  dadurch  schon  feststand.  Am  6.  April  starb  die  Patientin.  Bei 
der  Sektion  konstatierte  man  eine  doppelseitige  akute  Pyelonephritis. 
Die  rechte  Niere  dagegen  bot,  abgesehen  von  diesen  akuten  Verände- 
rungen^  das  ausgesprochene  Bild  einer  chronischen  parenchymatösen 
Nephritis. 

Natürlich  stehen  diese  Veränderungen  nicht  im  kausalen  Verband 
mit  den  Abszessen ,  die  in  beiden  Nieren  gefunden  wurden,  infolge 
des  akuten  Prozesses. 

Castaigne  und  Rathery  teilen  auch  einzelne  Fälle  von  einseitiger 
Nephritis  in  der  Semaine  Af6dicale  1902  mit,  doch  ihre  drei  Beob- 
achtungen betrafen  eiternde  Nephritis,  so  daß  sie  nicht  mit  dem  Fall 
von  Stich  zu  vergleichen  sind.  In  der  Tat  ist  der  Fall  von  Stich 
ein  Unikum,  jedoch  der  Name  Stich,  ein  bekannter  ernster  Unter- 
sucher, genügt,  um  ihn  als  Wahrheit  zu  betrachten.  Ich  habe  in  der 
Literatur  vergebens  nach  einem  zweiten  gleich  beweiskräftigen  Fall 
gesucht,  doch  dieser  eine  macht  die  Konklusion  von  Israel,  trotz  der 
Bekämpfung  von  Männern  wie  Senator,  glaubwürdig. 

Während  ihres  Lebens  war  bei  der  Patientin  von  Stich  die  chro- 
nische Nephritis  nicht  zu  diagnostizieren,  da  alle  typischen  Symptome 
davon  fehlten.  Daß  die  gefundenen  chronischen  Veränderungen  hier 
nicht  eine  Folge  waren  von  dem  Übergang  des  akuten  Prozesses  in 
einen  chronischen  Zustand^  ist  schon  daraus  deutlich,  daß  die  ganze 
Krankheit  der  Frau  nur  3  Wochen  gedauert  hatte. 

Alle  anderen  möglichen  Ursachen  für  die  Nierenblutung  und  Nieren- 
kolik waren  hier,  wie  Stich  mitteilt,  auszuschließen.  Vollkommen 
richtig  macht  Stich  daher  diese  Folgerung.  In  der  großen  Mehrzahl 
der  Fälle  soll  Morbus  Brightii  bilateral  sein,  aber  sicher  ist  es,  daß  es 
Fälle  gibt,  die,  klinisch  durch  Hämaturie  und  Koliken  ausgezeichnet, 
anatomisch  auf  der  kranken  Seite  das  Bild  einer  diffusen  chronischen, 
parenchymatösen  und  interstitiellen  Nephritis  darbieten,  während  die 
andere  Niere  normal  ist. 

Mit  dieser  Bestätigung  von  Stich  ist  also  die  geniale  Arbeit  von 
Israel  als  eine  neue  Tatsache  zu  betrachten;  wir  Mediziner  wissen 
nun  alle,  daß  es  unzweifelbar  einseitige  Nephritis  gibt. 

Wenn  wir  langdauernde  einseitige  Hämaturie  beobachteten,  so  wurde 
früher  nicht  an  Nephritis  gedacht,  sowohl  weil  Massenblutungen  nur 
äußerst  selten  dabei  vorkamen  und  auch  weil  die  Einseitigkeit  der 
Symptome  ein  wichtiges  Argument  gegen  diese  Diagnose  war.  Doch 
dank  Stich  und  vor  allem  dank  der  scharfen  Beobachtung  von  Israel 
wissen  wir  jetzt  besser.  Die  sechste  These  von  Israel  ist;  „Es  gibt 
Nephritiden  mit  anfallsweise  auftretenden  profusen  Blutungen.'  Senator 
sagt  betreffs  dieser  Mitteilung,  daß  sie  zwar  richtig,  aber  schon  lange 


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63]  HSmaturie.  589 

bekannt  war.  Richtig  sagt  Israel,  daß  einem  so  belesenen  Manne 
wie  Senator  wohl  alles  bekannt  sein  wird,  was  in  der  Literatur  zu 
finden  ist,  aber  daß  diese  These  gewiß  der  großen  Mehrzahl  der 
Mediziner  neu  sein  wird.  Israel  erinnert  uns  dabei  an  das  berühmte 
Lehrbuch  von  Rosenstein,  worin  man  findet:  „Fast  niemals  aber  ist 
in  den  chronischen  Formen  (der  diffusen  Nephritis)  so  viel  Blut  bei- 
gemengt, daß  der  Urin  tiefrot  wird,  meist  zeigt  er  auch  dann  nur 
Fleischwasserfarbe.*^ 

Auch  in  dem  Lehrbuche  von  Pel:  »Die  akute  und  chronische 
Nierenentzündung  (Morbus  Brightii)'  wird  das  intermittierende  Auftreten 
von  profusen  Nierenblutungen  nicht  erwähnt.  Pel  sagt  über  die 
chronisch  diffuse  Nephritis,  daß  die  hämorrhagische  Form  zu  erkennen 
ist  an  dem  fast  fortwährend  stark  hämorrhagischen  Harn. 

Obwohl  Senator  zugibt,  daß  bei  Nephritis  Blutungen  vorkommen 
können,  so  will  er  doch  nicht  die  Nephritis  als  Ursache  der  Hämaturie 
betrachten,  weil  diese  notfalls  auch  andere  Ursachen  haben  könnte. 

Als  Beweis  hierfür  bezieht  Senator  sich  auf  den  bekannten  Fall 
von  Braatz^.  Braatz  legte  eine  Niere  frei  wegen  Nephralgie,  ver- 
richtete auch  den  Sektionsschnitt  und  reponierte  dann  wieder  die  Niere, 
weil  es  sich  zeigte,  daß  diese  Niere  normal  war.  3  Jahre  später 
exstirpierte  er  diese  Niere,  da  die  erst  verschwundene  Nephralgie 
zurückgekehrt  war.  An  dieser  Niere  konnte  er  nun  einen  tuberkulösen 
Abszeß  konstatieren,  sowie  tuberkulöse  Eruptionen.  Außerdem  fand 
er  aber  auch  einen  alten,  schon  geheilten  tuberkulösen  Herd,  der  wahr- 
scheinlich die  Ursache  war  der  früheren  Nephralgie.  Nun  könnte  man 
Senators  Worte  zitieren:  „Dies  ist  gleichfalls  richtig,  aber  gleichfalls 
bekannt." 

Wir  wissen  doch  schon  lange,  daß  es  sehr  wohl  möglich  ist,  bei 
der  makroskopischen,  ja  selbst  bei  der  mikroskopischen  Untersuchung 
eines  Teiles  des  Nierengewebes,  daß  eine  Nephritis  nicht  bemerkt 
wird.  .  Senator  erkennt  den  kausalen  Verband  zwischen  Nephritis 
und  Hämaturie  und  doch  will  er  die  letztere  zuschreiben  einer  un- 
bekannten Ursache,  auch  in  Fällen,  wobei  eine  Nephritis  konstatiert 
ist.    Damit  kann  gewiß  niemand  einverstanden  sein. 

Durch  die  Untersuchungen  von  Israel  haben  die  Begriffe  essen- 
tielle und  angioneurotische  Hämaturie,  sowie  renale  Hämophilie  keinen 
praktischen,  sondern  nur  einen  historischen  Wert.  Sehr  richtig  doch 
sagt  Israel,  daß,  wenn  Senator  leugnet,  daß  die  negative  mikrosko- 
pische Untersuchung  eines  ausgeschnittenen   Stückes  Nierengewebes 


1)  Braatz,  Ober  operative  Spaltung  der  Niere.    Deutsche  med.  Wochenscbr. 
1900. 


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500  ^'  J'  <le  BruTne  Ploos  van  Amstel,  [64 

das  Recht  gibt,  zu  konkludieren,  daß  die  nephritischen  Veränderungen 
in  einem  anderen  Teil  der  Niere  anwesend  sind,  diesen  negativen 
Resultaten  der  Untersuchung  gewiß  nicht  das  Recht  gibt,  die  ganze 
Niere  für  normal  zu  erklären. 

Die  ferneren  Folgerungen  von  Israel  sind: 

Es  gibt  durch  Nephritis  erzeugte  Nierenkoliken,  welche  Nieren- 
steinkoliken gleichen. 

Es  gibt  doppelseitige  Nephritiden,  welche  nur  einseitige  Kolik  er- 
zeugen. Ein  solcher  Fall  ist  mitgeteilt  von  Martens^)  in  der  Freien 
Vereinigung  der  Chirurgen  Berlins. 

Es  gibt  schwere  Nephritiden  mit  eiweißfreiem  Urin  und  Abwesen- 
heit von  Zylindern. 

Trotz  großen  Reichtums  an  hyalinen,  gekörnten  und  epithelialen 
Zylindern  kann  der  Urin  eiweißfrei  sein. 

Nephritische  Blutungen  können  mit  oder  ohne  Koliken  eintreten 
oder  verlaufen.  Die  Blutung  ist  nicht  die  Ursache  der  Kolik.  Beide 
Erscheinungen  sind  Folgezustände  der  Nierenkongestion. 

Eine  große  Zahl  der  bisher  als  Nephralgie,  Nephralgie  h^maturique, 
angioneurotische  Nierenblutung  bezeichneten  Krankheitsbilder  sind  auf 
nephritische  Prozesse  zu  beziehen. 

Senator  ist  besonders  nicht  einig  mit  der  Behauptung,  daß  in 
diesen  Fällen  Nierenkongestion  Ursache  der  Nierenblutung  und  Kolik 
sei.  Erstens  macht  er  darauf  aufmerksam,  daß  klinisch  so  oft  Nieren- 
kongestion konstatiert  wurde,  z.  B.  bei  akuter  Nephritis,  Kompensations- 
störungen usw.,  ohne  daß  dabei  Nierenblutungen  und  Koliken  auftreten. 
Ferner  weist  er  uns  darauf,  daß  die  Historia  morbi  der  Fälle  von 
Israel  nicht  spricht  für  die  Anwesenheit  einer  Nierenkongestion,  da 
wir  in  den  meisten  Fällen  die  Niere  beschrieben  finden  als  »auffallend 
klein  und  weich"*,  oder  auch  »die  Niere  zeigt  keine  Abweichung  in 
bezug  auf  Größe  und  Konsistenz"*. 

Israel  beantwortet  diese  Anfechtung  seiner  Thesen  mit  der  Be- 
merkung, daß  seine  Fälle  nicht  die  einzigen  sind,  welche  seine  Behaup- 
tungen beweisen,  sondern  daß  die  schon  zitierten  Fälle  von  Pousson, 
Potherat,  Albarran,  de  Keersmaecker,  Harrison  und  Schede 
auch  dazu  dienen  können. 

Die  Hauptsache  ist  aber,  daß  Israel  niemals  behauptet  hat,  daD 
fortdauernde  Zustände  von  Spannungserhöhung  in  seinen  Fällen  an- 
wesend sein  müssen.    Er  sagt:  »Vielmehr  habe  ich,  was  ja  schon  in 


1)  Martens,  Ober  einen  Fall  von  chronischer  Nephritis  mit  häufiger  taftre- 
tender einseitiger  Nierenkolik  und  Nierenblutung.  Deutsche  med.  Wochenscbr. 
1902. 


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65]  Hämaturie.  501 

dem  Worte  »Kongestion^  iniplicite  liegt,  von  plötzlich  auftretenden 
und  verschwindenden  Fluxionen  mit  renaler  Spannungszunahme  ge- 
sprochen. Wenn  daher  der  Kongestionszustand  nicht  bei  der  Opera« 
tion  gefunden  wird,  so  darf  Senator  nicht  daraus  schließen,  daß  er 
nicht  bestanden  hat.  Daß  er  in  der  Tat  anwesend  ist  und  gefunden 
wird,  wenn  man  zur  richtigen  Zeit  operiert,  beweist  der  dritte  Fall 
von  Israel,  wobei  die  Niere  „auffallend  resistent  blau^^  war  und  alle 
Symptome  „intensiver  Spannunjg  und  Kongestion^^  zeigte. 

Senator  ist  auch  nicht  der  Ansicht  Israels,  daß  fast  alle  Fälle 
von  essentieller  Hämaturie  wirklich  die  Folge  von  nephritischen  Pro- 
zessen seien. 

Senator  sagt,  daß  man  seine  beiden  Fälle  und  den  Fall  von 
Sabatier  unrichtigerweise  für  Nephritis  angesehen  hat  Doch  Israel 
sagt  mit  Recht,  daß  diese  drei  Fälle  nicht  die  einzigen  seien,  worauf 
er  sich  berufen  kann,  sondern  daß  er  auch  noch  nennen  kann  die 
Fälle  von  Hofbauer%  Pousson^),  Poirier»),  Desmons^),  Peau«) 
und  Schede^. 

In  der  Klinik  von  Professor  Lichtheim  zu  Königsberg  sind  noch 
eine  Serie  von  11  Fällen  von  chronischer  Nephritis  beobachtet,  in  deren 
Verlauf  »Massenblutungen''  mit  und  ohne  Nierenschmerzen  vorge- 
kommen sind. 

Diese  Fälle  sind  beschrieben  von  Askanazy^). 

In  S  von  diesen  Fällen  ist  die  Diagnose  Nephritis  durch  die 
Autopsie  bestätigt.  In  den  anderen  8  Fällen  war  der  klinische  Ver- 
lauf und  die  Urinuntersuchung  derartig,  daß  an  der  Diagnose  nicht 
gezweifelt  werden  konnte. 

Der  interessanteste  Fall  von  Askanazy  ist  sicher  der  zehnte.  Bei 
einem  34jährigen  Manne,  der  an  einem  diabetischen  Koma  verschied, 
war  niemals  Eiweiß  in  dem  Urin  zu  konstatieren.  Bei  diesem  Diabetiker 
deutete  die  Untersuchung  des  Urins  in  keiner  Weise  darauf  hin,  daß 
eine  Nephritis  vorlag.    Während  des  Komas  trat  eine  starke  Hämat- 


1)  Hofbauer,  Ein  Fall  von  2jahriger  unilateraler  Nieren blutung.  Mitt.  aus  den 
Grenzgebieten  der  Med.  und  Chir.  1900. 

2)  Pousson,  De  Intervention  chirurgicale  dans  les  n^phrites  m^dicales.  An- 
nales des  maladies  des  organes  g6nito-urinaires  1902. 

3)  Poirier,  Bull,  de  la  Soc.  de  Chir.  10.  mai  1809. 

4)  Desmons^  Association  frangaise  de  Chirurgie.    Congrfes  1898. 

5)  Brodeur,  De  Tintervention  chirurgicale  dans  les  affections  du  rein. 

6)  Schede^  Neue  Erfahrungen  über  Nierenexstirpationen.    Jahrbuch  des  Ham- 
burger Stadtkrankenhauses  1889. 

7)  Askanazy,  Profuse  Hämaturien  und  kolikartige  Schmerzen  bei  Nephritis. 
Zeitschr.  f.  kliii.  Med.  1906,  Bd.  58. 

Klln.  Vortrige,  N.  F.  Nr.  502/03.    (Chirurgie  Nr.  l47/4a)    Sept.  1908.  43 


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502  P-  J-  ^^  Bruin«  Ploes  van  Amttely  [60 

urle  auf,  iib4  bei  d«-  Sektion  zeigte  sicli  eiae  parenchfiBatöse  N^hriiis» 
die  Uioiscli  völlig  sympttMiilos  verlMfen  war.  Ohne  Autopsie  wire 
dieser  Fall  vielleicht  zu  den  essentiellen  Hämaturien  gereclinet  wofdeo, 
oder  vielleicht  hatte  man  daraus  gefolgert,  daß  dergleichen  Massen* 
bltttiuigeo  auch  bei  Diabetes  vorkommen. 

In  einem  der  Fälle  von  Askanazy  wurde  als  Ursache  asgegebeo, 
daO  der  Patient  sich  auf  der  Eisbahn  erkältet  hätte.  Wie  wir  gesehen 
haben,  wurde  Erkältung  als  Ursache  der  Hämaturie  auch  genannt  Ton 
Lewitt,  Schede,  Stich,  Socoloff  u.  a. 

In  dem  elften  Fall  wurde  das  Aufheben  von  einem  schweren  Sack 
Kartoffeln  als  Ursache  genannt. 

In  einigen  Fällen  trat  die  Hämaturie  ohne,  in  anderen  wieder  mit 
heftigen  Nierenschmerzen  auf.  Manchmal  irradiiertea  die  Schmerzen 
in  den  Testikel  oder  in  den  Penis,  was  ja  auch  von  Israel  beob- 
achtet ist  und  von  ihm  beschrieben  ist  in  seiner  »Chirurgische  Klinik 
der  Nierenkrankheiten". 

Auch  Askanazy  gibt  zu,  daO  die  Hämaturie  bei  Nephritis  nickts 
Eigentümliches  hat,  so  daß  man  nicht  daraus  die  Diagnose  Nephritis 
stellen  kann.  Wohl  konkludiert  er  aus  der  Art  des  Auftretens,  daß 
wir  dabei  sicher  nicht  zu  tun  haben  mit  einer  akuten  Exazerbation 
von  einem  chronischen  Prozeß.  Fieber  und  Hydrops  sieht  man  doch 
nur  äußerst  selten  in  diesen  Fällen,  und  auch  ist  das  meist  einseitige 
Auftreten  der  Blutungen  nicht  in  Obereinstimmung  mit  dem  Gedanl^en 
an  eine  akute  Exazerbation  von  einer  doppelseitigen  chroniscbea 
Nephritis.  Doch  außerdem  fehlen  in  diesen  Fällen  die  schweren  All* 
gemeinerscheinungen  während  der  Attacken,  wie  sie  bei  akuten  Nepbri- 
tiden  kaum  je  vermißt  werden  dfirfen,  besonders  auch  4ie  Symptome 
urämischen  Charakters. 

Askanazy  ist  ein  Anhänger  von  Israel,  was  anbelangt  dessen 
Meinungen  fiber  die  Ursachen  der  Hämaturie  bei  Nephritis.  Er  sagt: 
„Wir  sind  mit  Israel  der  Ansicht,  daß  Hämaturien  und  kolikartige 
Schmerzen  bei  nephritischen  Prozessen  auf  dieselbe  Ursache  und  zwar 
auf  paroxysmale  Kongestionen  zurückzuführen  sind." 

Askanazy  hat  noch  eine  sehr  interessante  Beobachtung  gemacht, 
die  eine  sehr  kräftige  Stütze  ist  für  die  Kongestionstheorie  von  Israel 

Er  selbst  fand  in  den  zur  Sektion  gekommenen  Fällen  Kongestionen 
und  Ekchymosen  im  Nierenbecken,  wie  ja  auch  vielfach  von  Guyoo, 
Poirier,  Naunyn,  Pousson  u.  a.  gefunden  war.  Dadurch  kam  er 
auf  den  Gedanken,  in  den  Sektionsprotokollen  nachzuforschen,  ob 
diese  Veränderungen  auch  zu  konstatieren  waren  in  den  Fällen,  welclie 
ohne  Hämaturie,  ohne  Massenblutungen  verlaufen  waren.  Nun  zeigte 
es  sich  ihm,  daß  sich  Blutungen  auf  der  Nierenbeckenschleimhaut  bei 


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67]  Hämaturte.  503 

Nephritis  relativ  oft,  sicherlich  in  V4  aller  Fälle,  vorfinden«  Er  be- 
spricht danach,  daß  diese  Ekchymosen  nur  entstehen  können  durch 
venöse  Stasis,  Entzfindung  und  Kongestion,  und  kommt  dann  zu  dem 
Satz,  daß  die  Ekchymosen  bei  Nephritis  als  Residuen  voraufgegangener 
Kongestionen  aufzufassen  und  auch  die  Massenblutungen  bei  Nephri- 
tikern  auf  die  nämliche  Ursache  zurückzuführen  sind« 

Die  erste  Behauptung  Israels  ist  somit  eine  feststehende  Tatsache 
geworden  durch  die  Mitteilung  von  Stich,  und  die  anderen  genannten 
Thesen  hat  er  ruhmvoll  selbst  verteidigt  gegen  die  Anfälle  von  Se- 
nator und  anderen.  Auch  seine  neunte  Konklusion:  „Die  Inzision 
der  Niere  beeinflußt  in  vielen  Fällen  den  nephritischen  Prozeß  und 
seine  Symptome  günstig'',  ist  richtig.  Mit  der  Besprechung  dieser 
Konklusion  kommen  wir  vollauf  in  das  Gebiet  der  Nierenchirurgie. 
Der  große  Freund  der  chirurgischen  Eingriffe  bei  Morbus  Brightii  ist 
jedoch  nicht  so  sehr  Israel,  als  Edebohl.  Harrison^)  war  jedoch 
der  erste,  der  bei  Nephritis  operierte,  sei  es  auch,  ohne  es  zu  wollen. 
Er  suchte  nach  Eiter,  ohne  diesen  zu  finden,  und  sagt:  „This  was  not 
the  case,  I  closed  the  proceeding  with  the  feeling,  that  I  had  made 
an  error  in  diagnosis.""  Trotz  der  unrichtigen  Diagnose  heilte  der 
Patient  schnell  nach  der  Operation  von  seinen  früheren  Beschwerden, 
isbenso  wie  von  der  Operation  selbst.  Die  früheren  Beschwerden 
waren  Nierenschmerzen  und  Albuminurie.  Der  zweite  Patient  von 
Harrison  wurde  operiert  wegen  Nierenstein,  welche  Diagnose  gestellt 
wurde  wegen  Hämaturie,  Kolikschmerzen  und  Albuminurie.  Kein  Stein 
wurde  gefunden,  aber  doch  war  der  Patient  wieder  ganz  gesund  nach 
der  Operation.  Auch  der  dritte  Patient  von  Harrison  wurde  ope- 
riert wegen  Nierenstein,  „but  no  calculus  could  be  discovered^^  Jedoch 
genas  auch  dieser  Patient  vollkommen. 

Es  würde  hier  zuweit  führen,  das  Für  und  Wider  des  chirurgischen 
Eingriffes  bei  Nephritis  n^her  zu  besprechen.  Natürlich  haben  die 
Gegner  so  wie  Pel  nicht  zu  hohe  Erwartungen.  Pel  sagt  auch  noch, 
daß  die  Hämaturie  selbst  schon  eine  Verminderung  der  Nierenspannung 
verursacht,  doch  vergißt  er  dabei,  daß  die  Nierenblutung  nicht  gleich 
zu  stellen  ist  mit  einem  chirurgischen  Eingriff,  und  außerdem  schreitet 
man  oft  zur  Operation,  um  die  geföhrliche  Hämaturie  zu  bestreiten. 

Es  sei  genug,  aufler  Harrison  noch  einige  Namen  von  Männern 


1)  Harrison,  On  the  treatment  of  some  form?  of  albuminuria  bi  reni-punctura. 
Tbe  British  Medical  Journal  1896;  Renal  tension  and  its  treatment  by  surgical 
means.  The  British  Medical  Journal  1901;  A  contribution  to  the  study  of  some 
forma  of  albuminuria  associated  with  kidney-tension  and  their  treatment.  The 
Lancet  1896. 

43* 


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504  ^'  J-  de  Braxne  Ploos  van  Amstel,  [68 

zu  nennen,  die  sich  auf  diesem  Gebiete  verdienstlich  gemacht  haben 
ohne  zu  behaupten,  daß  nicht  vielleicht  noch  mehr  sind,  welche  nicht 
genannt  wurden.  So  nennen  wir:  IsraeP))  EdebohP),  Pousson'), 
Ferguson*),  Mongour^),  Scheben«),  Wolff^,  Cailld»),  Guite- 
ras»),  Stern^o),  Nouene"),  Henry«),  Kortewegi»),  WendeP*), 
Bakesi*),  Rovsing^»),  Herxheimer  und  Walker  HalP^  u.  a. 


1)  Israel,  Ober  den  Einfluß  der  Nierenspaltung  auf  akute  und  chronische 
Krankheitsprozesse  des  Nierenparenchyms.  Mitteilungen  aus  den  Grenzgebieten 
der  Med.  und  Chir.  1901. 

2)  Edebohl,  The  eure  of  chronic  Brights  disease  by  Operation.  Medical 
Record  1901;  Surgical  treatment  of  Brighfs  disease.  1904. 

3)  Po  US  so  n,  De  Tintervention  chirurgicale  dans  certatnes  vari^tds  de  näphrites 
m^dicales.  Association  frangaise  d'urologie  1899;  De  Tintervention  chirurgicale  dans 
les  n^phrites  inPectieuses  aigues  et  dans  les  n^phrites  chrontques.  Revue  de  Chi- 
rurgie 1901 ;  Contribution  ä  la  Physiologie  pathologique  de  Tincision  et  de  l'exstir- 
pation  du  rein.  Annales  des  maladies  des  organes  g6nito-urinaires  1901 ;  Discussion 
sur  la  n6phrotomie  dans  les  ndphrites  m^dicales.  Gazette  hebdomadaire  des 
Sciences  mddicales  de  Bordeaux  1902;  De  l'intervention  chirurgicale  dans  les 
n^phrites  m^dicales.    Annales  des  maladies  des  organes  g6nito-urinaires  1902. 

4)  Ferguson,  Surgical  treatment  of  nephritis  or  Brighfs  disease.  Medical 
Standard  1899. 

5)  Mongour,  De  la  n^phrotomie  dans  les  ndphrites  m^dicales  chroniques, 
Journal  de  M6decine  de  Bordeaux. 

6)  Scheben,  Beitrag  zur  Wirkungsweise  der  Edebohlschen  Operation.  Münch- 
ner med.  Wochenschr.  1906. 

7)  Wolff,  Ober  die  Erfolge  der  Nephrorrhaphie  auf  Grund  der  nach  dem  Ver- 
fahren von  Herrn  Professor  Rose  in  Bethanien  operierten  Fllle.  Deutsche 
Zeitschr.  f.  Chir.  1807. 

8)  Caill6,  Chronic  parenchymatosis  nephritis  in  a  child  treated  by  renal 
decapsulation.    Arch.  of  Pediatrics  1902. 

9)  Guit^ras,  The  surgical  treatment  of  Brighfs  disease.  New  York  medical 
Journal  1902. 

10)  Stern,    Beitrag  zur  Frage  der  chirurgischen  Behandlung  der  chronischen 
Nephritis.    75.  Versammlung  der  deutschen  Naturf.  und  Ärzte  1903,  CasseL 

11)  NouSne,  Traitement  chirurgicale  des  ndphrites.    Th&se  Paris  de  1903. 

12)  Henry,  Nephropexy  in    a   case   of  chronic  nephritis.   American  Journal  of 
the  med.  science  1903. 

13)  Korteweg,    Die  Indikationen  zur   Entspannungsinzision    bei    Nierenleiden. 
Mitt.  aus  den  Grenzgebieten  der  Med.  und  Chir.  1901. 

14)  Wendel,  Die  Entwicklung  der  Nierenchirurgie  In  den  letzten  Jahren.  Thera- 
peutische Monatsh.  1899. 

15)  Bakes,  Ein  neues  Verfahren  zur  operativen  Therapie  der  chronischen  Ne- 
phritis.   Zentralbl.  f.  Chir.  1904. 

16)  Rovsing,  Zur  Behandlung  der  chronischen  Morbus  Brightii  durch  Nephro- 
lysis  und  Nephrokapsektomie.    Zentralbl.  f.  Chir.  1904. 

17)  Herxheimer  und  Walker  Hall,  Über  die  Entkapselung  der  Niere.    Vir- 
chows  Arch.  1905. 


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69]  Hämaturie.  505 

Diagnose. 

Der  erste  Fall  ist  in  vieler  Hinsicht  interessant. 

Wir  sehen  hier  plötzlich  ohne  frühere  Symptome  Hämaturie  in 
sehr  heftiger  Weise  auftreten  und  jeder  Behandlung  trotzen.  Dazu 
kam  nur  heftige  Nierenkolik,  weiter  war  nichts  zu  finden.  Es  war 
also  ein  klassischer  Fall  von  essentieller  Hämaturie  oder  Klem  per  er  sehe 
Nierenblutungen  aus  gesunden  Nieren.  Dann  konstatierte  man  einen 
Nierentumor,  der  sich  erwies  als  eine  Anhäufung  von  Fäzes.  Wahr- 
scheinlich war  diese  Koprostase  entstanden  unter  dem  Einfluß  der 
Nierenkolik.  Jenner  doch  sagt:  ^Nephritic  colic  will  cause  loss  of 
power  in  the  colon,  and  so  induce  constipation,  thus  favouring  the 
idea  that  the  patient  has  intestinal  colic.'' 

Nun  jedoch  war  das  bisher  dunkle  Krankheitsbild  deutlich  geworden. 
Eiweiß  und  Zylinder  gaben  das  Recht,  die  Diagnose  auf  Nephritis  zu 
stellen.  Mit  diesem  Falle  ist  auch  die  Ansicht  von  Lecorche  und 
Talamon^)  widerlegt,  daß  Hämaturie  bei  Nephritis  nicht  heftig  sein 
könne. 

Soweit  ist  dieser  Fall  ein  Analogon  von  dem  von  Schüler^).  In 
diesem  Fall  bestand  bei  einer  40jährigen  Frau  seit  10  Monaten  Hämat- 
urie. Die  freigelegte  rechte  Niere,  woraus  die  Blutung  stammte,  war 
makroskopisch  und  auf  dem  Sektionsschnitt  vollkommen  normal,  aber 
die  mikroskopische  Untersuchung  von  einem  exstirpierten  kleinen  Stück 
Nierengewebes  bewies  die  Anwesenheit  einer  Nephritis. 

Überdies  aber  gab  die  Patientin  Zustimmung,  sich  die  Ureter  kathe- 
terisieren  zu  lassen,  und  nun  zeigte  sich,  daß  Eiweiß  und  Zylinder  nur 
aus  der  Niere,  woraus  auch  das  Blut  kam,  stammten. 

Hiermit  ist,  sei  es  auch  nicht  mit  absoluter  Sicherheit,  das  Be- 
stehen der  einseitigen  Nephritis  bewiesen.  An  der  absoluten  Gewiß- 
heit fehlt,  daß  wir  die  Einwendung  zugeben  müssen,  daß  die  Abwesen- 
heit von  Eiweiß  und  Zylinder  in  dem  Urin  der  anderen  Niere  nicht 
sicher  die  Gesundheit  derselben  beweist.  Die  Wahrscheinlichkeit  ist 
jedoch  groß,  daß  es  hier  der  Fall  ist. 

Auch  in  dem  zweiten  Fall  ist  unsere  Diagnose  Nephritis.  Das 
eigenartige  von  dem  Fall  war,  daß  hier  zyklische  Albuminurie  be- 
stand, was  in  Zusammenhang  mit  der  gleichzeitigen  Anwesenheit  von 
Zylindern  ein  Beweis  ist,  daß  zyklische  Albuminurie  und  Nephritis  zu- 
sammengehören, wie  Henoch,  Heubner  u.  a.  schon  behaupteten. 

Unglücklicherweise  wollte  der  Patient  sich  nicht  einer  zystoskopi- 


1)  Lecorch6  et  Talamon,  Trait6  de  ralbuminurie.  1888. 

2)  Schüler,    Beitrag    zur  Lehre  von  den  Blutungen  aus  anscheinend  unver- 
änderten Nieren.    Wiener  klin.  Wochenschr.  1904. 


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506  ^-  J*  ^^  Brulne  Ploos  yan  Amstel,  [70 

sehen  Untersuchung  unterwerfen,  wodurch  nicht  zu  konstatieren  war, 
ob  die  Hämaturie  ein-  oder  doppelseitig  war. 

Morris  passierte  es,  daß  er  die  Doppelseitigkeit  der  Hämaturie 
erst  nach  der  Exstirpation  der  einen  Niere  konstatierte,  wonach  die 
Blutung  fortdauerte  und  der  Patient  sukkumbierte. 

Der  dritte  Fall  endete  als  eine  gewöhnliche  hämorrhagische  Nephritis. 
Das  wichtige  von  diesem  Falle  war  aber  das  Debfitieren  unter  dem 
ausgeprägten  Bilde  einer  essentiellen  Hämaturie.  Wahrscheinlich  be- 
standen hier  im  Anfang  schon  geringe  nephritische  Veränderungen  io 
einer  Niere.  Später  änderte  sich  das  Bild.  Akute  Exazerbation  des 
Leidens  führte  zu  einer  doppelseitigen  hämorrhagischen  Nephritis. 

Auch  der  vierte  Fall  kennzeichnet  sich  durch  das  Debütieren  unter 
dem  Bilde  einer  essentiellen  Hämaturie.  Später,  viel  später  erst  be- 
merkte man  das  Bestehen  von  Tuberkulose  von  Blase  und  Niere.  Die 
Untersuchung  ergab,  daß  nur  eine  Niere  ert&rankt  war,  und  wegen  der 
Richtigkeit  der  Worte  Zucke rk and Is^:  „Noch  schwerer  aber  fallt  ins 
Gewicht,  daß  bei  langer  Dauer  des  Prozesses  die  andere  Niere  nie- 
mals intakt  bleibt^*,  wurde  das  Exstirpieren  der  kranken  Niere  naturlich 
in  Beratung  genommen,  aber  wegen  der  gleichzeitig  anwesenden  Blaseo- 
tüberkulose  nicht  verrichtet 

Auch  hier  werden  wahrscheinlich  in  der  ersten  Zeit  des  Leidens, 
als  Hämaturie  noch  das  einzige  Symptom  war,  wohl  schon  tuber- 
kulöse Veränderungen  in  der  Niere  bestanden  haben,  und  ist  dieser 
Fall  daher  ein  warnendes  Beispiel,  ja  stets  dem  Rat  Israels  zu  folgen 
und  bei  jeder  lange  dauernden  Hämaturie  ohne  bekannte  Ursache  die 
Niere  frei  zu  legen  zur  richtigen  Diagnostik. 

Doch  sind  auch  dann  Irrtümer  nicht  immer  zu  vermeiden,  wie  ein 
durch  Israel  selbst  mitgeteilter  Fall  beweist. 

IsraeP)  beschreibt  einen  Fall  von  Carcinoma  renis,  wobei  er  auch 
aufmerksam  macht  auf  die  Schwierigkeit  der  Diagnose  eines  Nieren- 
tumors wegen  der  Eigentümlichkeit  des  infiltrierten  Karzinoms,  keine 
Formveränderung,  keine  Vergrößerung  der  Niere  erkennen  zu  lassen. 
Die  linke  Niere  war  hier  angegriffen  von  Karzinom,  aber  aus  der 
rechten  Niere  stammte  eine  Hämaturie,  verursacht  durch  einen  da  an- 
wesenden Nierenstein.  Die  zystoskopische  Untersuchung  hätte  hier 
gewiß  nicht  die  karzinomatöse,  sondern  die  gesunde  Niere,  worin  d^ 
Nierenstein,  zur  Operation  angewiesen.  Wir  müssen  daher  nie  ver- 
gessen, falls  wir  eine  plausibele  Ursache  für  die  Hämaturie  gefunden 


1)  Zuckerkand!,    Ober   die  Behandlung   der    Nierentuberkulose.     Deutsche 
med.  Wochenschr.  1906. 

2)  Israel,  Erfahrungen  über  Nierenchirnrgie.    Arch.  f.  kthi.  Chir.  189(. 


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71]  Hämaturie.  507 

haben,  daran  zu  denken,  lob   nicht  viellelckt  ein   anderes  Nieren- 
leiden Veranlassung  derselben  war. 

Kfimmel^)  gab  auf  dem  Kongreß  der  Deutseben  Gesellschaft  für 
Chirurgie  im  Jahre  1004  den  Rat,  in  FaUen,  wo  Nieremuberkulose 
einseitig  isl,  die  kranke  Niere  zu  exstirpieren  trotz  der  gleicherzeit 
bestehenden  Blasentuberkulose*  Eine  einmal  vorhandene  Blasentuber- 
kulose  heilt  man  am  besten  durch  Entfernung  der  die  Infektion  ver- 
anlassenden. Niere.  Eine  Blasentuberkulose  sollte  man  niemals  ope- 
rieren, dagegen  die  die  Infektion  veranlassende  Niere  möglichst  früh 
entfernen. 

Konklusionen. 

1.  Es  gibt  keine  essentielle  Hämaturie. 

2.  Renale  Hämaturie  muß  stets  als  Symptom  einer  Nierenaffektion 
betrachtet  werden. 

3.  Von  den  hier  gemeinten  Nierenaffektionen  kommt  in  erster  Linie 
Nephritis  in  Betracht.    Die  Hämaturie  kann  dabei  sehr  profus  sein. 

4.  Einseitige  Nephritis  existiert  nicht  nur,  sondern  sie  ist  aller 
'VTahrscheinlichkeit  nach  im  Anfangsstadium  immer  einseitig. 

5.  Eine  Nephritis  kann  schon  längere  Zeit  bestehen,  ohne  daß  der 
Urin  Zylinder  oder  Eiweißspuren  aufweist. 

6.  Auch  bei  Nephritis  treten  Nierenkoliken  auf,  die  den  Nierenstein- 
koliken nicht  in  Heftigkeit  nachstehen. 

7.  In  jedem  einzelnen  Fall  von  langwieriger  Hämaturie  schreite 
man  nach  einer  in  jeder  Hinsicht  möglichst  sorgfältigen  Untersuchung 
zur  Freilegung  und  Spaltung  der  Niere  zur  Feststellung  der  Diagnose. 
Sehr  richtig  sagt  Grosglik:  „Die  chirurgische  Behandlung  aller  dunklen 
Nierenblutungen  schützt  uns  zweifellos  vor  unangenehmen  Enttäuschun- 
gen, welchen  wir  bei  exspektativem  Verfahren  ausgesetzt  sein  können.^ 

8.  Und  aus  noch  einem  weiteren  Grunde  schreite  man  zur  vor- 
erwähnten Operation,  und  zwar,  weil  die  Erfahrung  uns  gelehrt  hat, 
daß  sich  das  Bild  der  Nephritis  zufolge  der  Nierenspaltung  in  günstigem 
Sinne  ändert. 

0.  Exstirpation  der  Niere  soll  möglichst  umgangen  werden.  Richtig 
ist  das  Urteil  Nepveus^)  zu  dieser  Operation:  Cette  Operation 
^dphrectomie)  aurait  pu  8tre  6vit6e  dans  la  plupart  des  cas  oü  eile 
est  pratiqu6e.  Elle  aurait  pu  8tre  remplacee  par  des  op6rations  plus 
sures  et  tout  aussi  bonnes.  Jusqu'ici  cette  op6ration  nous  semble 
devoir  Stre  condamn6e  par  la  saine  critique  et  par  Tart. 

1)  Kümmely  Die  Frühoperation  der  Nierentuberkulose.  Verliandlungen  der 
deutschen  GeseUechaft  ffir  Chirurgie.    Kongreß  1904.    Zentralbl.  f.  Chir.  1904. 

2)  Nepveu,  De  l'exstirpation  du  rein.    Archives  gön^rales  de  M6decine  1875. 


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598  ^' J'  cle  BruTne  Ploos  van  Amstel,   HImaturie.  [72 

10.  Schreitet  man  trotzdem  zur  Exstirpation,  so  darf  diese  nur 
stattfinden  nach  vorheriger  kryoskopischer  Untersuchung. 

Ächard^)  empfiehlt  hierfür  folgende  Methode:  Eine  subkutane 
Injektion  mit  0,05  g  Methylenblau.  Bei  normal  funktionierenden  Nieren 
nimmt  die  Ausscheidung  bereits  nach  15—30  Minuten  ihren  Anfangs 
während  innerhalb  35—60  Stunden  alles  entfernt  ist.  Ist  dieses  jedoch 
erst  innerhalb  3—4  Tagen  der  Fall,  so  besteht  Niereninsuffizienz. 

11.  Trotzdem  verlasse  man  sich  nie  ausschließlich  auf  eine,  wenn 
auch  noch  so  vollständige  kryoskopiscite  Untersuchung.  Der  Stock- 
mannsche  Fall  doch  beweist  den  Stockmannschen  Ausspruch:  „Die 
Methode  stimmt  im  allgemeinen,  aber  nicht  im  besonderen.^^ 

Außerdem  nehme  man  die  kryoskopische  Untersuchung  erst  vor, 
nachdem  die  Diagnostizierung  nach  älteren  Untersuchungsmethoden 
stattgefunden  hat.  Wiener  sagt  sogar  in  The  New  York  Medical 
Journal  vom  0.  März  1901  (Blood  in  the  Urin  as  a  Symptom  and  the  Dia- 
gnosis  of  its  source),  daß  man  in  dem  Falle  die  Kryoskopie  nicht 
nötig  hat. 

Der  48jährige  Patient  von  Stockmann 2)  hatte  heftige  Schmerzen  in 
der  rechten  Lendengegend  und  der  Urin  enthielt  sowohl  Eiter  und 
Blut,  als  auch  Blasenepithelien.  Zystoskopie  war  in  diesem  Falle  un- 
möglich. Der  wachsenden  Beschwerden  wegen,  zu  denen  sich  auch 
heftiges  Erbrechen  gesellte,  beschloß  man  die  Exstirpation  der  rechten 
Niere,  da  die  Diagnose  rechtsseitigen  Nierenstein  oder  Tuberkulose 
ergeben  hatte.  Da  die  Gefrierpunktsbestimmung  des  Blutes  die  nor- 
male Ziffer  0556  ergab,  durfte  man  voraussetzen,  daß  die  andere  Niere 
richtig  funktionierte.  Die  Operation  fand  jedoch  nicht  statt,  da  der 
Patient  starb.  Die  Sektion  ergab  das  Fehlen  der  rechten  Niere,  wah- 
rend die  linke  Niere  sehr  erweitert  und  tuberkulös  war.  Die  an- 
wesende Niere  hatte  natürlich  bereits  seit  vielen  Jahren  die  fehlende 
ersetzt  und,  seit  der  tuberkulösen  Affektion,  hatten  die  gesunden  Ge- 
webeteile die  Arbeit  des  erkrankten  Gewebes  übernommen.  Somit 
war  der  Gleichgewichtszustand  trotz  des  tuberkulösen  Prozesses  nicht 
gestört.  Dieser  Fall  stimmt  also  vollständig  überein  mit  dem  Tier- 
experiment  von  Tuffier,  Wolff  und  Kümmel,  nämlich  daß  man 
allmählich  eine  Niere  ganz  und  von  der  anderen  einen  3/4  Teil  ent- 
fernen kann,  ohne  daß  dadurch  der  Tod  des  Tieres  eintritt  Eine 
normale  Gefrierpunktsziffer  des  Blutes  bedingt  also  nur  einen  Gleich- 
gewichtszustand, weiter  nichts. 

1)  Achard,  Die  Diagnose  der  funktionellen  Nierenstörungen.  Prager  med. 
Wochenscbr.  1901. 

2)  Stock  mann,  Ist  die  Gefrierpunktsbestimmung  des  Blutes  ein  ausschlage 
gebendes  Hilfsmittel  für  die  Nierenchirurgie?    Monatsber.  f.  Urologie  1002. 


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504/07. 

(Innere  Medizin  Nn  149/52.) 

Die  klinische  Diagnose  der  Pulmonal- 
arterienskleroset 

Von 

Privatdozent  Dr.  Adolf  Posselt^ 

Innsbruck. 


In  der  Pathologie  der  Pulmonalarterie  im  weiteren  Sinne  zieht 
der  Kliniker  in  den  Kreis  diagnostischer  Erwägung  bestimmte  ange*^ 
borene  Bildungsanomalien,  Klappenfehler,  Stenosen-  und  Aneurysma- 
bildung,  wobei  seit  je  die  außerordentlichen  Schwierigkeiten  der 
Diagnose  betont  werden,  daher  auch  die  so  häufigen  Fehldiagnosen 
leicht  erklärbar  sind. 

Die  Sklerose  der  Pulmonalarterie  betrachtete  man  als 
Domäne  des  pathologischen  Anatomen. 

Zur  Illustrierung  der  großen  Seltenheit  des  Befundes  findet  man 
immer  wieder  die  Häufigkeitsskalen  der  Arteriosklerose  in  den  ver- 
schiedenen Gefäßregionen  von  Lobstein,  Rokitansky,  Huchard 
zitiert. 

Die  Atherosklerose  der  Lungenschlagader  i)  kann  als  primäres 
Leiden  oder  als  sekundäre  Erscheinung  auftreten. 

Von  ersterem  figurieren  in  allen  Handbüchern,  Herzpathologien 
und  sonstigen  Berichten  stereotyp  nur  die  Beobachtungen  von  KI  ob, 
Romberg  und  Aust  (obwohl,  wie  hier  nur  nebenbei  bemerkt  sei, 
eine  nicht  zu  unterschätzende,  allerdings  schwer  zugängliche  Literatur 
hierfiber  besteht  und  bei  fast  sämtlichen,  auch   die  obigen  elnge- 


1)  Auf  spezielle  pathologisch-anatomische  und  histologische  Verhältnisse  bei 
der  Arteriosklerose  der  Pulmonalis  konnte  in  vorliegender  klinischer  Abhandlung 
nicht  eingegangen  werden. 

Klln.  Vorträge.  N.  F.  Nr. 504/07.    (Innere  Medizin  Nr.  149/52.)    Okt.  1908  26 


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362  Adolf  Posselt,  [2 

schlössen,  der  streng  primäre  Charakter  der  Kritik  kaum  standzu- 
halten vermag). 

Unter  den  Beobachtern  herrscht  bezuglich  der  sekundären  Pulmo- 
nalarteriensklerose  so  ziemliche  Obereinstimmung,  daß  man  bei  Lungen- 
und  Herzaffektionen  noch  relativ  am  häufigsten  solche  sklerotische 
Prozesse  bei  der  Mitralstenose  antrifft. 

Zumeist  werden  in  den  Krankengeschichten  ganz  allgemein  ge- 
haltene Angaben  über  nicht  charakteristische  Symptome,  die  sich 
direkt  oder  indirekt  auf  das  Herz  beziehen »  gemacht:  Druck  in  der 
Herzgegend,  Stechen  in  der  Tiefe,  Beklemmung,  Herzklopfen,  Schwer- 
atmigkeit    Von  objektiven  Befunden:  Herzhypertrophie. 

Die  bekannten  oft  zitierten  Fälle  primärer  Sklerose  von  Kleb, 
Romberg,  Aust  und  Laache  boten  das  Bild  eines  kongenitalen 
Vitiums,  wie  auch  zumeist  die  klinische  Diagnose  lautete. 

Bisher  wurde  überhaupt  kaum  noch  ein  Versuch  einer 
klinischen  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose  gemacht 

Ich  beschränke  mich  hier  darauf,  einige  Ansichten  und  Bemer- 
kungen verschiedener  Kliniker  und  Ärzte  wiederzugeben. 

Nach  Zehetmayer  (1845)  läßt  die  geringe  Zahl  der  bekannt  ge- 
wordenen Fälle  in  diagnostiacfaer  Beziehung  bis  jetzt  keine  gehaltvolle 
Ausbeute  sammeln» 

Der  Zustand  läßt  sich,  dem  Ausdruck  Bambergers  (1857)  zufolge, 
bis  jetzt  Weder  im  Leben  erkennen  noch  behandeln. 

Nach  De  Bumtn  (1858)  setzt  der  vorliegende  Prozeß  keine  spe- 
zifischen Erscheinungen. 

Klob.(1865)  vermutet  wohl,  daß  sein  Fall  möglicherweise  einige 
Anhaltspunkte  zu  einer  Diagnostik  derartiger  Erkrankungen  bieten 
könnte« 

Ganz  ablehnend  verhält  sich  Saun 6  (1877)|  wenn  er  schreibt: 
«Während  des  Lebens  gibt  es  kein  einziges  Symptom,  welches  deo 
Verdacht  auf  Bestehen  eines  Atheroms  der  Pulmonalarterie  recht- 
fertigen würde.'' 

Rombergs  (1891)  Ansicht  geh!  dahin,  daß  die  Pulmonalsklerose 
im  allgemeinen  klinisch  symptomlos  bleibe,  es  trete  kein  neuer  Zug 
zu  dem  ursprunglichen  Krankheitsbild  Sie  bilde  einen  mehr  zufalligeo 
Befund  bei  der  Autopsie.  Klinisches  Interesse  rufe  sie  erst  hervor, 
wenn  sie  —  ohne  das  ISestehen  eines  Klappenfehlers  oder-hocbgradiger 
Lungenveränderungen  —  zu  starker  Verengerung  der  Pulmonalaste 
geführt  habe. 

Da  Rombergs  und  Austs  (1802)  Fälle  unter  den  klinischen 
Symptonten  eines  angeborenen  Herzfehlers  verliefen,  dürfte  es  nach 
letzterem  schwer  fallen,  beide  Erkrankungen  klinisch  auseinander  zo 


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3]  Die  klinische  Diagno««  itfr  PiUfVonalarteriensklerose.  303 

halteo.  Eiae  Uiniüobe  SyiQptpnuifologte  dieser  Knuikfaett  ist  nach 
Reiche!  (1804)  seines  Wissens  noch  Diehc  gewicboet  Allerdings  ist 
Schrötters  (1901)  Meinung  nach  die  Möglichkeit,  die  Eitrankung 
auch  im  Leben  zu  erkennen,  bei  sorgfälliger  Untersuqhtuig  nicht  aus- 
geschlossen. 

Schwartz  (1007)  kommt  zu  dem  Schlüsse,  daß  Sklerose  derAr^- 
ria  pulmonalis  in  den  allermeisten  Fällen  symptomlos  verlaufe.  In 
wenigen  Fällen  sehr  hochgradiger  Sklerose  könne  klinisch  ein  be- 
sonderes Krankeitsbild  zustande  kommen,  ähnlich  dem  Morbus  coeru- 
leus,  stärkste  Cyanose,  Dyspnoe,  Husten. 

In  allerjüngster  Zeit  glaubt  Kitamura  (1908)  zu  dem  Ausspruch 
berechtigt  zu  sein,  »daß  die  Kliniker  so  gut  wie  gar  keine  Erfahrungen 
über  Sklerose  der  Pulmonalarterieo  gesammelt  haben^. 

Das  Resümee  aus  allem  ist  so  ziemlich  die  vdllige  Ableugnung 
der  Möglichkeit  einer  klinischen  Diagnose  der  Athefoscle- 
rosis  pulmonalis. 

Diesem  absoluten  Pessimismus  gegenüberzutreten  und  an  der  Hand 
von  Eigenbeobachtungen  zu  zeigen,  daß  das  Efkemien  des  Zustandes 
während  des  Lebens  unter  i>estinunten  Umstäiiden  zweifellos  gelingt, 
sei  Aufgabe  unserer  Darlegungen^). 

Mehr  als  IV2  Dezennien  verfolgte  ich  an  klinischen  und  ambu- 
lanten Kranken  das  abzuhandelnde  Thema. 

Um  die  ohnehin  komplizierten  und  oft  schwer  zu  deutenden  Ver- 
hältnisse nicht  noch  mehr  zu  komplizieren,  werden  hier,  wo  es  sich 
vor  allem  um  lüinische  Semiologie  handelt,  eine  Reihe  von  Prozessen 
ausgeschaltet: 

Kongenitale  Fehler  und  Mißbildungen,  Pulmonalstenosen  und  Aneu- 
rysmabildungen  am  Gefäße,  die  zu  derartigen  atherosklerotischea  Vor- 
gängen Veranlassung  bilden,  resp.  zum  Teil  mit  diesen  in  Korrelattoii 
oder  direkt  von  ihuM  abhangig  sein  können. 

Von  den  nachfolgenden  zehn  Eigenbeobachtungen  (zumeist  an 
der  Innsbrucker  medizin.  Klinik  gemacht)  betreffen  die  ersten  drei 
zufällige  Obduktionsbefunde,  die  anderen  sieben  sind  einer  klinischen 
Analyse  zugänglich. 

Unter  ihnen  bestand  zweimal  Aortensklerose  mit  Insuffizienz 
der  Semilunaren,  die  übrigen  fünf  Fälle  beziehen  sich  auf  Mitral- 
stenosen. 

Bei  denen  der  letzten  Kategorie  wurde  auf  Grund  der  früheren 


1)  In  einer  vorläufigen  Mitteilung  (Munchener  fned.  Wochenschr.  Aug.  1908 
Nr.  31)  legte  ich  die  Hauptpunkte  dar  .Meli  eiaein  am  28.  Jvai  1908  in  der  Inns- 
brucker wissenschaftlichen  ÄrztegesellschaPt  gehaltenen  Vortrag. 

26* 


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364  Adolf  Posselt,  [4 

Beobachtungen  und  Epikrise  zweimal  eine  Wahrscheinlichkeits-  und 
einmal  eine  sichere  klinische  Diagnose  auf  Atherosclerosis  pul« 
monalis  gestellt, 

-  .  Für  die  gutige  Überlassung  der  Sektionsprotokolle  bin  ich  Herrn 
Prof.  Pommer,  Vorstand  des  pathologisch-anatomischen  Institutes, 
zu  besonderem  Danke  verpflichtet. 


K^  Eigenbeobachtungen. 

Ö^    ft-"*^^  I.  Fritz  B.,  67 jähriger  verheirateter  Pensionist,  Eintritt  an  der  medizin. Klinik 

0    y^  am  5.  September  1902. 

Klinische  Diagnose:  Cirrhosis  hepatis,  Hydrops  ascites,  Venenektasien  im 
Ösophagus.  Peritonitis  chronica.  Myodegeneratio  cordis  incipiens.  Broncbo- 
pneumonia.    Alkoholismus  chronicus.    Arteriosklerose. 

Ausgesprochener  schwerer  Alkoholiker.  Zu  wiederholten  Malen  stärkere  Diar- 
rhöen. In  letzterer  Zeit  öfters  Erbrechen.  Seit  langen  Jahren  ist  Pat.  auffallend 
vergeßlich. 

Seit  mehreren  Wochen  Zunahme  des  Bauchumfanges,  Atemnot,  Urinverminde- 
rung.   Öfters  Schmerzen  in  der  Leber-  und  Milzgegend. 

Status:  Großer,  mäßig  kräftiger,  abgemagerter  Mann  mit  deutlich  schmutzig 
gelblichem  Kolorit  und  dem  sonstigen  Habitus  der  Cirrhotiker.  Zunge  trocken^ 
rissig,  gelb  belegt. 

Deutliche  ausgebreitete  bronchitische  Zeichen. 

Mäßiges  Lungenemphysem.  Herzspitzenstoß  nicht  fühlbar.  Töne  abgeschwächt, 
rein.  Puls  im  allgemeinen  ziemlich  kräftig.  Mäßige  Sklerose  der  Radialarterie. 
Übrige  Arterien  vielleicht  etwas  rigider. 

Ab^lomen  ausgedehnt  (02  cm),  namentlich  in  den  seitlichen  Partien;  freier 
Flüssigkeitserguß  deutlich  nachweisbar« 

Milzdämpfung  stark  verbreitert  (über  10  cm)  reicht  nach  vorne  fast  bis  zum 
Rippenbogenrand. 

Leberdämpfung  von  der  achten  Rippe  an  mit  tympanitischem  Beiklang.  Leber- 
oberfläche anscheinend  uneben,  Resistenz  der  Leber  vermehrt.  Im  24  stündigen  ver- 
minderten,  hochgestellten,  braunroten  Harn  kein  Eiweiß,  Spuren  von  Gallenfarbstoff. 

Therapie;  KalomeL    Entsprechende  Diät, 

14.  IX.  Erbrechen  von  dunkelbraunschwarzen  flüssigen  Massen  in  der  Menge 
von  1 100  ccm. 

26.  (Ausstrahlende?)  Schmerzen  im  1.  Arm. 

Abdomen  stark  aufgetrieben.    Singultus. 

Von  Mitte  Oktober  an  Zunahme  des  Aszites.  Ödem  am  rechten  Rippen* 
bogenrand* 

Im  Oktober  wiederholt  dumpfe  brennende  Schmerzen  hinter  dem  Brustbeine» 
vermehrte  Stauungssymptome.    Zyanotisches  Kolorit. 

Universelle  Stauungskatarrhe.    Schweratmigkeit. 

Unter  Benommenheit,  Herzschwäche  und  bronchopneumonischen  Symptomen 
Exitus  letalis  am  5.  November  1902. 

Sektion:  7.  November  1902  (Prot..Nr.  6227/278). 

Pathol.  anat.  Diagnose: 


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5]  Die  klinische  Diagnose  der  Puliiionalarteriensklerose.  305 

Cirrhosis  hepatis  im  Stadium  vorgeschrittener  Schrumpfung.  Dilatatio  cordis. 
Atrophie,  parenchymatöse  und  fettige  (?)  Degeneration  des  Myokards,  Hochgradige 
Sklerose  der  Brustaorta  und  z.T.  auch  der  Arteria  pulmonalis.  Mächtige, 
liochgradig  verkalkte,  sklerotische  Wucherungen  an  der  Mündung  der  linken  Arteria 
coronaria.  Weitgehende  Einengung  der  rechten  Koronararterienmündung  durch  myo- 
karditische  verkalkte  Bildungen.  Ausgeprägter  chronischer  Speiseröhren-Magen-» 
Darmkatarrh.  Ödem  und  hypostat.  Pneumonie  der  hinteren  Lungenbezirke. 

(Die  Klappen  des  Ost,  atr.-ventric.  .sin*  etwas  verdickt,  Sehnenfäden  kurz») 

II.  Johann  L.,  76  jähriger  verwitweter  Gärtner  von  Bozen  (wegen  Zystitis  an 
der  medizin.  Klinik  in  Behandlung),  kam  am  17.  November  1803  in  das  mediz. 
Ambulatorium  (Atnbul.  Prot-Nr.  1264)  mit  der  Klage  über  Kreuzschmerzen,  Schwäche 
in  den. Beinen  und  Schwindel,  ,  Die  klinische  Diagnose  lautete  auf;  Vertigo^  Ar- 
teriosclerosis,  Hypertrophia  cordis  praecipue  ventriculi  dextri.  Ana> 
mnestisch  wurde  eruiert,  daß  der  Mann  in  früheren  Jahren  Blattern  und  Malaria 
zu  überstehen  hatte.  Vor  3  Jahren  Harn-  und  ätuhlverhaltung  durch  ca.  3—4  Tage, 
mit  Schwächegefühl  in  den  Beinen.  Wegen  Klagen,  die  auf  ein  Rückenmärksleiden 
und  psychische  Störungen  hindeuteten,  wurde  Pat.  an  das  Ambulatorium  der  neuro- 
psjrchiatr.  Klinik  verwiesen. 

An  letzterer  Klinik  (Vorstand  Herr  Prof.  Anton)  erfolgte. am  selben.  Tage 
(17.  November  1893)  die  Aufnahme  (Prot.-Nr.  183)*  Im  folgenden  sei  nur  die  Ana- 
mnese und  die  auf  den  uns  hier  interessierenden  Befund  der  Thoraxorgane  bezüg- 
lichen Daten  gebracht.  Vor  5  Wochen  merkte  der.  Kranke,  daß  seine  Beine 
schwächer  wurden  und  daß  er  sich  nur  mit  Mühe  fortbewegen  konnte.  Zeitweise 
heftige  Schmerzen  im  Kreuze.  Wiederholt  Anfälle  von  Schwindel  und  Flimmern 
vor  den  Augen,  so  daß  sich  Pat.  an  der  Wand  halten  mußte,  um  nicht  umzufallen. 
Verschlechterung  des  Gesichtssinnes.  Er  müsse  auch  öfter  urinieren  als  sonst 
und  der  Harn  habe  einen  starken,  unangenehmen  Geruch. 

Es  wird  auch  eine  auffällige  Verschlechterung  des  Gedächtnisses  angegeben. 
Ohne  auf  die  näheren  Befunde  in  neurol.-psych.  Hinsicht  einzugehen,  genüge,  daß 
die  Diagnose  auf  Myelo-Meningitis  chronica  gestellt  wurde.  Es  findet  sich  die  An- 
gabe: Herzdämpfung  ziemlich  innerhalb  normaler  Grenzen.  Herztöne  im  allgemei- 
nen rein.  Es  finden  sich  weiter  keine  besonderen,  auf  den  Zustand  der  6rustorgane 
bezüglichen  Angaben.    Am  20.  Januar  1894  gebessert  entlassen. 

Am  29.  desselben  Monates  erfolgt  jedoch  gleich  wiederum  die  zweite  Aufhahme 
an  derselben  Klinik.  Durch  3  Tage  hatte  sich  Pat.  ganz  wohl  gefühlt,  am  4.  trat 
wieder  Zittern  an  den  Beinen  und  Schwäche  auf.  Das  Gehen  verschlechterte  sich, 
zugleich  ging  der  Urin  unwillkürlich  ab. 

Schmerzen  und  Stuhlbeschwerden  fehlten.  Während  des  Spitalaufenthaltes 
wechselten  heftige  Diarrhöen  mit  Verstopfung  ab«    Zustand  sehr  wechselnd. 

Am  5«  Mai  1894  Entlassung.  Neuerliche  (3.)  Spitalsaufnahme  am  10.  Juni  des- 
selben Jahres,  Aufenthalt  bis  17.  September. 

In  der  Krankengeschichte  finden  sich  keine  besonderen  Bemerkungen  bezüglich 
des  Verhaltens  von  Lunge  und  Herz.  Einige  Male  Schwindelanfälle.  Allmähliche 
Besserung  des  Gesamtbefundes  und  der  Rückenmarksleiden-Symptome. 

4.  Aufenthalt  vom  12.  Oktober  bis  11.  Dezember  1894.  Nach  dem  Austritt  so- 
fortige neuerliche  Verschlechterung  des  Zustandes,  so  daß  er  sich  am  12.  Oktober 
wiederum  aufnehmen  ließ.  Am  8.  November  bereitete  ihm  eine  jüngst  entstandene 
Hernie  Schmerzen*  Vom  11.— 18.  November  Auftreten  von  Husten,  der  wiederholt 
bei  Tag  und  Nacht  eintrat,  dann  nachließ. 


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306  Adolf  PosMlt^  [a 

Vom  dO.  Noveoftber  bis  &  Deseniber  Dfarrböen,  «n  3.  Dezenber  etwfts  bdhere 
Tempefitnr.    Harn  normal. 

Die  lettte  Aufnahme  erfolgte  am  14.  Jannar  1895.  Am  18.  ist  scblecbter  Schlaf 
and  etwas  »nregelffllftiger  Ptila  notiert. 

In  der  Nacbt  des  20.  stand  Pit.  auf  ond  war  tfntvbig,  laut,  und  mmorfe  herum, 
ist  nicht  gut  orientiert. 

Es  findet  sieb  folgender  Status  angegeben;  Mittelgroßes  Individutim  von  senilem 
Aussehen,  seMecbtem  Emlbningssustand.  Scbläfenarterien  geschliiigelty  nhlen 
sich  rigide  an*  Beide  Infk-aorbitaL  auf  Dmek  schmerziiaft«  Gerontonen  an  beiden 
Auges,  Cataracta  inci|>ieiis.  Linke  Pupille  etwas  weiter  als  rechte.  Hersttae 
klisgead.    Dentlicber  Tremor  der  HSnde. 

18.  I.  Pat.  schwach,  neigt  wieder  xn  Dfarrh9en.  Vinifend  der  Nacht  Verwirrt- 
heit   Transfer,  auf  die  psychlatr.  Abteilung. 

24.  I.  starke  Diarrhöen.    25.  I.  Pulsus  irregul. 

26.  I.  dreistilndiger  Schüttelfrost  (Temp.  39,7).  Puls  104. 

Ober  dem  1.  Unterlappeo  broncbiaL  Exspir.,  vereinzelte  Rasselgerluscbe.  18.  IL 
Zystitis. 

Im  weiteren  Verlauf  zunehmende  Verworrenheit. 

Hinsichtlich  des  Herz-  und  Lungenbefnndes  finden  sich  keine  niheren  Notlzeo. 

Am  9.  Vir.  1895  Exitus  letalis  IIV«  Uhr  nachts. 

Die  klinisch^  Dts'gnose  lautete: 

Arteriosklerose.  Myelitis  chronica  auf  arteriosklerot.  Basis.  De- 
menria senilis. 

Außerdem  laut  Protokoll  der  mediz.  Klinik  und  Ambulatorium:  Hypertropbta 
veittricul.  dextr.  cordis.    Bronchitis  chron.  Cystitls  chronica. 

Sektion  am  10.  Juli  1895.    Prot-Nr.  3761/144. 

Körper  mittelgroß,  krfiftig,  etwas  abgemagert. 

Beide  Lungen  frei,  Pleuren  zart.  Im  Herzbeutel  ca.  30  g  leicht  molkig  ge- 
trQbter,  gelbHcher  Flüssigkeit.  Kleine  Blutungen  an  den  Pleuren.  Epikard  fiettreicb, 
stark  venös  injiziert^  Ußt  die  Arterien  als  verdickte  geschlängelte  Streifen  durcb- 
schimmern. 

Lungen  Obi^rall  lufthatttg,  blutreich,  die  vorderen  Rinder  gedunsen. 

Herz  mittelgroß,  rechter  Ventrikel  verbreitert  uUd  schlaff. 

In  beiden  Höhlen  lockere  Bln^  und  Fibringerinnsel,  sowie  im  linken  Venuikel 
auch  flfissiges  Blut. 

Der  rechte  Ast  der  Pulmonalarterie  ist  bis  auf  einen  kleinen  oben  necb 
freien  Spalt  völlig  verlegt  durch  eine  an  der  nnferen  lateralen  und  auch  an  der 
medialen  Vand  innig  anhaftende  Tbrombusmasse,  deren  seitliohes  und  unterstes 
Gebiet  ins  Veiftgelblicbe  veritrbt  erscheint  «nd  sehr  schlottrig,  wie  ödematös  isi; 
deren  übriger  größerer  Teil  bis  auf  ein  2  cm  dicjMs  Wandgebfet  vMlif  unterge- 
gangen ist  in  einer  mit  brauner  Flüssigkeit  erfüllten  Erweicbongsböhle*  Auch  In 
antem  Teile  des  Thrombus  hochgradige,  nur  eine  dünne  Wandpartie  übriglassende 
zentrale  Erweichung^    Der  untere  Teil  ist  ebenfalls  wandstindig  fiiüerL 

Die  Aorta  ist  hochgradig  erweitert  und  arterlosklerotlsoh,  sie  mifit 
im  Umfang  oa.  12  cm. 

Der  bei  der  Durchscbneidung  der  Pulmonalis  zur  Durcbtrennvng  konunende 
Thrombus  seut  sich  bis  auf  eine  Strecke  von  3  cm  oberhalb  der  Klappen  ia  dsa 
Summ  der  Pulmonalis  fort  und  sitzt  da  aa  der  hintern  Wsnd,  dieselbe  aaf  eise 
Strecke  von  5  cm  des  im  ganzen  12—14  cm  weiten  Umfangss  eianehaend.   Der 


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7]  Die  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  397 

grötere  rechts-  und  nach  vorn  gewendste  Teil  des  Lumens  ist  oifen.  Vaad  der 
Pulmonalis  Ober  1  mm  diclc^  Intlma  gerunzelt. 

Im  Bereiche  der  FIxationsstelle  des  Thrombus  ein  bis  auf  3  cm 
dickes  knorpeliges,  hartes,  sklerotisches  Randgebiet  bemerkbar. 

Die  Zipfelklappen  an  den  Rändern  verdickt,  ebenso  die  Aortenklappen,  die 
letzteren  sehr  stark  ausgedehnt.  Die  Konorarostien  sehr  weit.  Linker  Ventrikel 
etwa  1 — IVscm  dick;  Herzmuskel  auffallend  dunkel,  gesittigt  braun-blaurot.  Tra- 
bekel im  linken  Herzen  ziemlich  mager.  Die  des  rechten  Herzens  massig,  dick. 
Konus  der  Pulmonalis  sehr  weit  und  7  mm  dick.  — 

In  den  peripheren  Teilen  des  Zirkulationsapparates  waren  keinerfei  thrombo- 
tische Verinderangen  auffindbar. 

Diagnose:  PrimSre  Thrombose  der  rechten  Arteria  pulmonalis  mit 
beinahe  völliger  Verlegung  des  Lumens.  Arteriosklerose  der  Pulmo- 
nalis.   Exzentrische  Hypertrophie  des  rechten  Herzens. 

Atrophie  des  Gehirns.  Chronische  Ösophagitis.  Hochgradige  Bronchitis  pu- 
rulenta.  Cystitis  chronica  mit  exsentr,  Hypertrophie  der  Blase,  reichlieher  Diver- 
tikel- und  Steinbildung. 

Das  Priparat  wird  im  Museum  des  patboL  anatem.  Institutes  unter  der  Sig- 
natur C  03  b  (neue  Signatur  C  136)  aufbewahrt.  (AnfaogateU  der  PulmoBalis  nait 
wandstindigem,  zentral  erweichten  Thrombus.  Stamm  der  rechten  Arteria  pulmonaUa 
mit  ftist  voUstiudig  obturierenden,  zentrel  erweichten,  gemischten  Thromben.) 

III.  Am  patholog.-anat.  Institut  (Vorstand  Herr  Prof.  Pommer)  kam  am  13.  Ja* 
»«ar  1906  nsehetehender  Fall  sur  Obduktton  (Prot-Nr.  7264/10).  Barbara  B^  00 jih- 
rige  Hausmagd  von  Innebruck. 

Arztl.  Diagnose:  Degeneratio  cordis. 

Fettreiche,  stark  Odematdse  Leiche.  Hirn  atrophisch,  GeflOe  an  der  HImbasis 
hochgradig  arteriosklerotisch.  Stauung.  Beiderseitiger  mäßiger  Hydrothorax.  Dber- 
all  Luft  in  den  Lungen. 

Herz  stark  fettbewachsen.  Residuen  von  Perikarditis.  Geringes  Hydro- 
perfkard. 

Venen  des  Ösophagus  sehr  weit.    Epithel  verdickt. 

Im  Kehlkopfeingang  Blutungen  und  Ödem.  In  den  Bronchien  stark  trübe 
Schleimflocken.    Lungen  stark  pigmentiert  und  atrophisch. 

Wand  des  linken  Ventrikels  beträchtlich  hypertrophisch  (2Vscm),  Ostlum  atrio- 
ventriculare  sinistrum  nur  für  einen  Finger  durchgängig.  Sehnen" 
fäden  stark  verkürzt  und  verdickt.  Bikuspidalis  verwachsen«  Wand 
des  rechten  Ventrikels  ebenfalls  hypertrophiert.  Muskel  fettdurchwacbscu,  Farbe 
des  Herzfleisches  fahlbraun*  dasselbe  brüchige 

Aorta  ungewöhnlich  weit,  Kiappeii  lert»  scblußfähig^  Intima  der  Arteria 
pulmonalis  arteriosklerotisch  verdickt,  ebenso  an  der  Aorta. 

Milz  etwas  vergrößert. 

PatboL  anatom.  Diagnose: 

Stenose  des  Ostium  atrioventriculare  sin.  infolge  abgeheilter  Endokar- 
ditis der  Bikuapidalis.  Ezzentrisehe  Hypertrophie,  beeonders  des  linken  Ventrikels. 
Tr&be  Sehwellung  des  Myokards  und  Fettdurchwachsung  desselben  im  rechten, 
ödem  dsT  Lunge.  Alrophie  des  Pareschyms.  Arteriosklerose  der  basilarea 
Hirnarterien,  Brustaorta  und  Arteria  pulmonalis,  Cbron.  Racben-Öso- 
phagtts-Magen-Darmkatarrh.    Allgemeine  Adipoeitas,    Potatrix. 


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368  Adolf  Posselt,  [8 

Von  den  Angehörigen  und  dem  behandelnden  Arzt  konnte  nur  so  viel  in  Er- 
fahrung gebracht  werden,  daß  die  Kranke  schon  seit  langem  herzleidend  war. 

Wegen  Zunahme  der  Beschwerden  (Atemnot,  Ödeme  usw.)  wurde  am  11.  Jan. 
H.  Dr.  P.  gerufen,  welcher  die  Kranke  in  fast  präagonalem  Zustand  mit  den  Er- 
scheinungen allerhöchstgradiger  Herzinsuffizienz  antraf. 

Während  des  Lebens  sollen  öfters  Anfälle  von  starker  Blauverfärbung  mit  Atem- 
beklemmungen  bestanden  haben. 

IV.  Zu  wiederholten  Malen  stand  vom  Jahre  1891—1806  die  1801  im  30.  Lebens- 
jahr stehende  Fabriksarbeitersfrau  Maria  F.,  geb.  zu  Matarello  in  Südtirol,  wohn- 
haft Innsbruck,  ambulatorisch  und  klinisch  an  der  mediz.  Klinik  in  Behandlung. 

1.  Aufnahme.  3.  XL  1801—16.  L  1802.  Diagnose:  Insufflc«  valv.  bicuspid.  In- 
sufflc.  cordis«    Es  wurden  verordnet:  Digitalis,  KaL  jod.,  KalomeL 

2.  Aufnahme.  1.  IIL  1891—24.  IIL  1892.  Diagnose:  Stenosis  et  insjufflcientia  valv. 
bicuspid.    Degeneratio  cordis. 

3.  Aufnahme.   3.  IX. — 1.  X.  1893.   Insufflc.  cordis.   Insufflc.  bicuspidal«  Cyanosis. 

4.  Aufnahme«  7.  L— 24.  IL  1895.  Vitium  cordis.  Insufflc.  et  Stenosis  val?uL 
mitralis.    Degeneratio  cordis.    Cyanosis.    Albuminuria  lev.  grad. 

5.  Aufhahme«  30.  XL  1895—10.  IL  1696.  Stenosis  et  insufflc.  valvul.  mitralis. 
Degeneratio  et  insufflcientla  cordis.  Cyanosis  permagna.  Polyarthritis,  rheumatica. 
Jnduratio  cyanotica  hepatis  et  renum.  (Infarct.  pulmon.?)  Pleuritis  obsoleta. 

6.  Aufnahme.  2.  VI.— 9.  VII.  1896.  Stenosis  et  insufflc.  valv.  mitral.  Degeneratio 
cordis.    Cyanosis  permagna.    Polyarthritis. 

7.  Aufnahme.  8.  XL— 4.  XII.  1896.  Stenosis  et  insulf.  valv.  mitralis.  Degeneratio 
et  insufflc.  cordis  hypertroph.  Cyanosis  permagna.  Induratio  cyanotica  bepatis 
et  renum.    Albuminuria.  (Herzfehlerlunge.)    Ad  flnem  Hydrops. 

Die  Kranke  wurde  in  ihrer  Jugend  wegen  DrQsenabszessen  am  Halse  operiea 
JAit  ca.  15  Jahren  überstand  sie  eine  sehr  schwere,  Qber  6  Monate  dauernde  Glieder- 
sucht, Gelenksrheumatismus,  welcher  in  Zwischenräumen  von  ungeftbr 
2  Jahren  noch  2  mal  wiederkehrte.  Während  der  nächsten  Zeit  hatte  sie  durch 
1  Vs  Jahre  in  der  Schweiz  an  Bauchschmerzen  zu  leiden,  worauf  sie  sich  völlig  e^ 
holte.    Im  Jahre  1883  heiratete  die  Pat. 

Nach  der  ersten  Entbindung,  Mai  1885,  bekam  sie  Herzklopfen  und  Mattigkeit^ 
litt  an  Schweratmigkeit  beim  Gehen,  besonders  beim  Stiegensteigen. 

Der  Urin  verminderte  sich  und  es  traten  kurze  Zeit  geringe  Anschwellungen 
der  Füße  und  des  Bauches  auf.  Es  erfolgten  noch  3  Geburten  (2mal  Forceps). 
Nach  jedesmaliger  Entbindung  hatte  sie  die  gleichen  Erscheinungen  und  es  ver- 
schlechterte sich  immer  der  Zustand.  Es  traten  auch  leichte  vorübergehende  Ödeme 
in  der  Knöchelgegend  auf. 

Während  ihrer  beiden  ersten  Spltalsaufhahmen  gingen  die  Beschwerden  aof 
entsprechende  Medikation  immer  sehr  rasch  zurück. 

3.  Aufnahme  3.  Sept.  1893!  Seit  ihrer  letzten  Entbindung,  am  16.  Aug.  1893  liegt 
die  Kranke  immer  zu  Bette  und  klagt  über  Herzklopfen,  Schweratmigkeit  and 
Schwäche.  (Nach  der  Entbindung  sei  auch  das  Handgelenk  etwas  angescbwoilen 
gewesen.)    Ihre  4  Kinder  sind  alle  In  sehr  frühem  Alter  gestorben. 

Status:  Pat.  ist  von  schwächlichem  Körperbau,  Muskulatur  schlaff,  Ernährungs- 
-zustand  schlecht.  Dieselbe  befindet  sich  stets  in  sitzender  Stellung  Im  Bette,  ringt 
nach  Atem;  ihr  Benehmen  ist  ängstlich«  Ihre  Stimme  schwach  und  tonlos. 

Die  allgemeine  Hautdecke  und  die  sichtbaren  Schleimhäute  blaß,  llvid;  geringes 
Ödem  an  den  Beinen  und  der  Abdominalhaut  angedeutet   Puls  klein,  arhytbmisch. 


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9]  Die  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  369 

Beschleunigte,  dyspnoische  Respiration«  Expektoration  gering«  Leicht  eitrig-schlei* 
miges  Sputum. 

Kopf  klein.  Gesichtsfarbe  livid  mit  einer  Spur  subikterischer  Verfärbung.  Hals 
mißig  lang,  an  der  linken  Seite  unter  dem  Unterkieferwinkel  2—3  unregelmäßige, 
etwas  vertiefte  alte  Narben  (von  Drusenabszessen  aus  der  Kinderzeit  herrührend). 

Thorax  ziemlich  breit,  fiac^.  Lungengrenzen  normal,  überall  voller  Lungen* 
schall  und  vesikuläres  Atmen,  reichlich  trockene  und  feuchte  Rasselgeräusche  über 
den  unteren  Lungenpartien. 

Das  Herz  zeigt  nach  oben  und  rechts  etwas  erweiterte  Grenzen.  Beginn  der 
absoluten  Dämpfung  im  3.  I.  R.  Nach  rechts  reicht  dieselbe  bis  zur  Sternalmitte. 
Spitzenstoß  ziemlich  schwach  unter  der  Mammilla  im  5.  L  R.  Epigastrische  Pulsa* 
tion.  Die  Auskultiuion  ergibt  ein  über  der  Herzspitze  am  deutlichsten  wahrzuneh- 
mendes, den  1.  Herztpn  begleitendes,  jedoch  nicht  ganz  verdeckendes,  pfauchendes 
Geräusch  von  wechselnder  Stärke.  Die  übrigen  Töne  rein.  Z  Pulmonalton 
akzentuiert.    Leichtes  diastolisches  Vibrieren  im  2.  1.  L  R.  <- 

Abdomen:  In  der  Höhe  des  Rippenbogens,  vom  10.  Brustwirbel  beiläufig  nach 
vorne  zu  bis  genau  zur  Medianlinie  eine  gürtelförmig  angeordnete  Reihe  von  flachen 
erbsen-  bis  bohnengroßen,  ziemlich  unregelmäßigen,  doch  rundlichen,  im  Zentrum 
heller,  am  Rande  dunkelbraun  pigmentierten  Narben,  an  welchen  früher  heftiges 
Jucken  auftrat.  Dieselben  sollen  aus  Blasen,  welche  2  Tage  vor  der  letzten  Ent- 
bindung auftraten,  entstanden  sein  (Herpes  zoster).  Bauchdecken  ziemlich  stark 
gespannt,  Bauch  aufgetrieben. 

Lebergrenzen  innerhalb  gewöhnlicher  Ausdehnung. 

Beine  ödematös.    Therapie:  Bettruhe,  Digitalis,. Milchdiät« 

Während  ihres  5.  Aufenthaltes  stellten  sich  wieder  Gelenkschwellungen  und 
die  Erscheinungen  eines  hämorrhagischen  Lungeninfarktes  ein.  Durch  einige  Tage 
auffallende  Dyspnoe  und  höchstgradige  Zyanose,  Verfallensein. 

Ebenso  war  während  des  6.  Spitalaufenthaltes  ein  neuerlicher  Anfall  von  Po- 
lyarthritis rheumatica  vorhanden.  (2.  Juni  1806.)  Vor  5  Tagen  habe  sie  sich  wie- 
derum erkältet.  In  der  Früh  konnte  sie  nicht  mehr  aufetehen.  Pat.  hatte  Schmerzen 
in  der  linken  Schulter,  in  beiden  Ellbogengelenken  und  beiden  Kniegelenken. 

Die  Gelenke  waren  gerötet  und  geschwollen.  Bei  der  Aufnahme  sind  auch 
Schmerzen  im  linken  Hüftgelenk  aufgetreten,  die  bis  zur  Wirbelsäule  ausstrahlen. 
Die  Kranke  klagt  über  Beklemmung,  Herzklopfen,  Husten,  Auswurf  und  Atemnot. 

Es  besteht  sehr  starke  Zyanose,  ausgesprochene  Dyspnoe,  jedoch  keine 
Ödeme.  Urin  leicht  vermindert,  sauer,  Chloride  vermindert,  Diazoreaktion  negativ, 
reichlich  Albumen.  Auf  Bettruhe,  Milchdiät,  Natr.  salicyl.,  Salol,  Bäder  ließen  die 
Schmerzen  bald  nach. 

In  der  Zusammenfassung  der  Befunde  während  ihrer  letzten  Spitals« 
aufeathalte  wurde  nachstehendes  notiert: 

Es  handelt  sich  um  eine  ziemlich  kleine,  abgemagerte,  enorm  zyanotis.che 
Frau.  Dieselbe  kam  immer  höchst  zyanotisch  und  mehr  weniger  dyspnoisch  zur 
klinischen  Aufnahme,  wobei  die  Blausucht  graduell  stets  stärker  war  wie 
die  Atemnot. 

Die  Stauung  in  den  Lungen  und  parenchymatösen  Organen,  die  kolossale  Zya- 
nose beherrschte  immer  das  ganze  Krankheitsbild  dieses  Vitium  cordis.  Ödeme, 
früher  nur  in  sehr  geringem  Grade  vorübergehend  vorhanden,  traten  vollkommen 
in  den  Hintergrund. 

Herzbefund.  Verbreiterung  der  Herzdämpfung  nach  rechts  bis  gegen  die  rechte 
Sternallinie,  im  2.  linken  I.  R.  knapp  am  Sternum  eine  ca.  1  Va  cm  betragende  Ver- 


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370  Adolf  Posselt,  [10 

kiirzung  des  Perkussionsschailes,  etwas  Druckempflndlicbkeit  daselbst,  speziell  bei 
vorgebeugtem  Oberkörper. 

SystoHscbee  und  mittinter  dieses  an  StSrke  and  Schirfe  fibertreffendes  diasto- 
Hscbes  Geräuscb  an  der  Herzspitze. 

Akzentuierang  des  2.  Pulmonaltones,  manchmal  nndentliefaes,  inkenstaotes, 
leicht  schwirrendes  Geräusch  fiber  der  Pulmonalis. 

Puls  klein,  weich,  öfters  sehr  unregelmißig.  Zaw«ilen  stirkere  Tachykardie 
und  hochgradige  Arhythmie.  Hie  und  da  anfallsweise  stechende  Sehmerzen  in  der 
Oberforustgegend  mit  Angst  verbunden. 

Im  Vergleich  zu  den  frQheren  Befunden  am  Herzen,  traten  nach  und  nach  die 
Symptome  der  Insuffizienz  der  Mitralklappe  gegenfiber  den^i  der  Stenose  immer 
mehr  zurück,  so  daß  schließlich  Ton  diesen  beiden  ZnatAndeo  am  Ostinn  atrio* 
ventric  sin.  weitaus  die  Stenosierung  das  Obergewieht  bekam. 

Auf  Gebrauch  von  Digitalis,  Spartein,  Strophantus  und  Milchdiät  besserte  sidi 
immer  ziemlich  rasch  der  Zustand.  Manchmal  wurden  Digitaliepriparale  scUecfat 
vertragen»  weshalb  zu  den  angeführten  andern  Mittehi  und  zu  Adonis  vcnuüia»  Diu- 
retln,  Koffein  gegriffen  wurde.  Während  die  Atemnot  verhiltttlsailßig  mach  lu 
beeinflussen  war,  ging  die  Zyanose  nicht  zurück. 

7.  und  letzter  Aufenthalt  vom  8.  November  bis  4.  Dezember  1896L  Fat  achlecbt 
genährt,  abgemagert.  Gesiebt  (besonders  Nase  und  Vangen^  dann  die  Endphalangea 
enorm  zyanotisch.  Dsbei  zeigt  die  Frau  außerdem  einen  Stich  ins  IkSensehe 
(subikterische  Verfärbung)  Dyspnoe.  Die  Kranke  sitzt  aufrecht  im  Bette»  kla0 
fiber  Herzklopfen,  Präkordialangst,  zusammenschnfirendes  Geffihi»  Schmerzen  in 
der  Herzgegend  und  Lnfümnger.  Auswttrf  bei  quälendem  Husten  unregelmäßig, 
manchmal  spärlich  und  mehr  zähe,  hie  und  da  etwas  reichlicher.  Herzgegend 
leicht  vorgewölbt  Herztätigkeit  ungemein  lebhaft,  aebr  arhythmisch,  freqnent 
Ober  der  ganzen  Herzgegend  ausgebreitetes  pulsstorisches  Wogen.  Von  Zeit  zs 
Zeit  sieht  man  systolische  Einzlehiingen  im  4.  nnd  5.  L  iL  zwischen  Stemtl- 
und  Psplilsrtinie.  Die  erregte,  weithin  sichtbare,  wogende  Herzaktion  steht  im  auf* 
ftiUenden  Gegensatz  zum  schwachen,  weichen,  leicht  komprimierbsren  Puls. 

Die  perknssorische  Untersucbung  des  Herzens  ist  etwas  erschwert,  jedoch  kans 
eine  wesentliche  Verbreiterung  der  Herzdämpfung  nach  rechts  bis  fiber  dea 
rechten  Stemalrsnd,  fast  bis  zur  rechten  Parastemallinie  konstatiert  werden. 

Im  2.  linken  Interkostalraum  an  der  oben  angegebenen  Stelle  findet  sich  eine 
kleine  Zone  gedämpften  Schslles.  Pulsatorische  Phänomene  dsselbst  nicht  nach- 
weisbar, vielleicht  etwas  Druckempflndlichkeit,  die  fibrigens  auch  welter  nsch  ab* 
wärts  zu  manchmal  auftritt 

An  der  Herzspitze  besteht  ein  weiches,  ziemlich  langgezogenes,  undentlichee 
systolisches,  hie  und  ds  präsystolisches  Geräusch  von  mehr  schsbendem  Charakter. 
Bei  gewissen  Stellungen  tritt  ein  viel  lauteres,  iedoch  kürzeres,  pftmchsndes,  diar 
stolisches  Geräusch  hervor,  dss  im  weiteren  Verlsuf  dss  Dominierende  wird  und 
sich  mitunter  am  deutlichsten  im  3.  linken  I.  R.  am  Stemalrand  findet 

Akzentuierung  des  2.  Pulmonaltones,  dabei  fiber  der  Pulmonalis  inkonstante^ 
nicht  recht  zu  lokalisierende,  und  nichts  Charakteristisches  darbietende  Gerimsehe 
verschiedenen,  einige  Male  schabenden  Charakters,  zeitweise  mit  Andeutung  von 
Spaltung.  Keine  Reibegeräusche.  An  der  Herzspitze  zumeist  diastolisches,  leicht 
rieselndes  Schwirren  palpabel. 

Bei  der  Betastung  der  Lebergegend  fühlt  man  eine  erhöhte  Resistenz,  aaf 
Druck  leichte  Empfindlichkeit 

Abdomen  mäßig  aufgetrieben.    Flfissigkeitserguß  erheblicheren  Grades  nicht 


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11]  Die  kliniscbe  Diagnose  der  Pulidonalarteriensklerose.  371 

vorflBdlicb.  Es  bestehen  keiserlei  Ödeme.  Die  auffallend  dünnen  Beine 
zeigen  trockene,  abschilfernde,  leicht  in  Falten  aufhebbare  Haut. 

Urin  vemlnderty  800  ccm,  mäAig  getrübt,  anturiert,  zeigt  mißtgen  Eiveißgehalt 
und  hyaline  Zylinder.  Die  mikroskopische  Untersuchung  des  Auswurfs  läßt  Eiter* 
kdrpercben  and  sehr  zahlreiche  typische  Herzfehlerzellen  erkennen. 

Die  Blutuntersuchnng  ergibt  Qber  6  Mill.  rote  Blutkörperchen  im  Kobikmill. 

Bei  einer  Visite  klagte  die  Prau  plötzlich  über  krampfhafte  in  die  Hefe  gehende 
Herzschmerzen,  zugleich  zeigte  sie  Schwelfiausbmch,  BlSsse  and  inßerst  ängstlichen 
Gesichtsausdruck.  Nach  einigen  Minuten  hörte  der  Anfall  aaf  und  es  trat  wieder 
das  gewöhnliche  Bild  starker  Blausucht  auf. 

Vibread  des  letzten  Spitalsaufentbaltes  besteht  aufflllige  Idioeynkmie  gegen 
DigitaHsprlparate,  weshalb  die  eben  erwähnten  Mittel  zar  Anwendang  gelangen. 
Es  maobt  sich  Immer  mehr  und  mehr  hochgradige  Heninsaffisiens  metMIch, 
welche  sich  ganz  besonders  in  der  Richtung  der  böcbstgradigen  Blausucht 
und  Atemnot  dokumentiert. 

Das  Hers  arbeitet  ungemein  angestrengt,  der  Puls  anssetcend,  s^r  anregel- 
miBig,  Im  höchsten  MaBe  weich  and  kompriraierbar. 

Gegen  die  Anfalle  ron  Asthma  cardiale  findet  wiederholt  Nttrof^yverin  mit 
gtttem  symptomatischem  Erfolg  Anwendung,  späterhin  gegen  die  Koflapsawsiinde 
Reizmittel. 

Anfangs  D^Beml>er  erst  machen  sich  leichte  Ödeme  in  der  Knöehelgegend  be- 
merkbar.   Hammenge  gering.    Eiweißgefaalt  zugenommen. 

1.  XIL  Arhythmie  und  Schwäche  des  Pulses  höchstgradlg. 

Unter  Zunahme  der  Dyspnoe  und  der  tiefschwarzblauen  Verfärbung  Eintritt 
von  Kollaps  und  Erstickungsanfällen.  Äther-  und  Kampferinjektionen.  Reizmittel. 
\7achsen  der  Ödeme,  Benommenheit,  exzessive  Herzschwäche.  Exitus  letalis  am 
4.  Dezember  1896  um  6V2  Uhr  abends. 

Die  klinische  Diagnose  lautete:  Stenosis  et  insufficientia  valvulae  mitralis  sub- 
sequ.  hypertrophia  ventrfc.  dext.  cordls.  Degeneratio  et  insufficientia  cordis  hyper- 
trophicae.  Cyanosis  permagna.  Induratio  .cyanotica  hepatls  et  renum.  Albuminuria 
(Nephrit,  chron.).    Hochgradige  Stauungs(Herzfehler)]unge.    Zum  Schluß  Ödeme. 

Es  wurde  der  Verdacht  auf  eine  Perikardialsynechie  ausgesprochen.  Hin- 
sichtlich der  Arteria  pulmonalis  mußte  die  Diagnose  in  suspenso  bleiben. 

Fär  eine  sneurysmatische  Erweiterung  wsren  zu  wenig  Symptome  da. 

Daß  aber  die  Pulmonalarterie  in  Mitleidenschaft  bei  diesem  eigenartigen  und 
schwere«  Herzfehler  gezogen  wurde,  wurde  bei  jedem  Aufenthalt  klarer;  nur  konnten 
die  diesbezüglichen  Symptome  nicht  recht  in  eine  bestimmte  Kategorie  eingereiht 
werden.  Nicht  undenlU)ar  war  eine  infolge  Verwachsung  mit  der  Umg/sbung  (vom 
Herzbeutel  aus)  aufgetretene  Verzerrung,  zumal  Spuren  obsoleter  Pleuritis  bestanden. 
Der  Gedanke  an  eventuelle  sklerotische  Prozesse  wurde  wegen  der  exzessiven 
Stsunag  in  der  Lange  und  der  riesigen  Zyanose  auch  rege  (eine  susgesprochene 
Arteriosklerose  an  den  peripheren  Arterien  fehlte).  Es  wurde  bei  dieser  Kran- 
ken während  der  letzteren  klinischen  Aufenthalte  bei  verschiedentlichen  Ge- 
legenbeilen  (Demonstrationen  in  Kursen  und  Vorlesungen)  wiederholt  die  Wahr- 
sebetolichkeitsdiagnose,  daß  bei  dem  bestellenden  Vitium  cordis,  speziell  der  immer 
stärker  hervortretenden  Mitralstenose,  eine  Sklerose  der  Pulmonalarterie  vor- 
liegen könne,  ausgesprochen  und  die  hierfür  maßgebenden  Zeichen  analysiert 

Sektion  5.  Dez.  1806.  Prot  Nr.  4154/285. 

Körper  klein,  schwächlich;   untere  Extremitäten  ödematös,  blaß.    Zyanose  des 


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372  Adolf  Posselt,  [12 

Gesichtes.    Totenstarre  an   den  unteren  ExtremitStea  erhalten«    Unterleib  as^e- 
trieben. 

Pacbymeningitls  interna  haemorrh.  Atrophia  cerebri,  chron.  ödem  der  Me- 
ningen. 

Im  Rachen  und  Luftwegen  mit  Blut  Termengter  Schleim.  Schleimhäute  blaß. 
Beide  Lungen  bis  auf  die  unteren  Partien  gleichmäßig  fixiert. 

Diese  von  dicken  Adhäsionsstringen,  zwischen  welchen  etwa  Vs  1  klarer,  seröser 
Flüssigkeit  angehäuft  ist^  an  das  Zwerchfell  angeheftet 

Perikard  in  ganzer  Ausdehnung  mit  dem  Herzen  verwachsen. 

Die  Lunge  ziemlich  voluminös,  dicht,  teils  mit  schaumarmer,  teils  mit  feia- 
schaumiger  Flüssigkeit  infiltriert,  auffallend  rot  gefärbt,  sehr  zäh,  jedoch  schlaff. 
Bei  Durchschneidung  der  rechten  Lunge  fiUlt  auf,  daß  ein  überdoppeltdaumen- 
breiter  Pulmonalast  zum  größten  Teil  durch  einen  haftenden  geschichteten  Throm- 
bus verstopft  ist  An  der  Verwachsungsmembran  des  Perikardiums  zerstreute 
Blutaustritte. 

Herz  sehr  groß,  stumpf,  die  Spitze  zum  größten  Teil  vom  rechten  Ventrikel 
gebildet,  der  Länge  nach  12  cm,  der  Bereite  nach  14  cm,  der  Dicke .  nach  über 
10  cm  messend,  nicht  kontrahiert  In  den  Herzhöhlen  viel  Fibrin  uQd  Blutgerin- 
nungen. Das  Ostium  atrioventriculare  sinistr»  nur  für  die  Spitze  eines  kleinen 
Fingers  durchgängig. 

.  Die  Bikuspidalklappe  sehr  verdicke  und  verkürzt  Der  Aortazipfel  überragt  von 
verkalkten,  rauhen  Erhebungen  in  der  Ausdehnung  einer  Bohne.  Der  Papillär- 
muskel  desselben  stark  ausgezerrt,  die  Sehnenfäden  kurz,  kaum  Vs  bis  1  cm  lang, 
säulenähnlich  verdickt  Der  linke  Vorhof  sehr  weit,  sein  Endokard  verdickt  Der 
linke  Ventrikel  ziemlich  weit,  seine  Wand  bis  IV2  cm  dick.  Im  hohen  Grade  er- 
weitert ist  der  rechte  Vorhof  und  Ventrikel. 

Die  Wand  des  Conus  pulmonalis  bis  Ober  1  cm  dick,  die  unteren  Teile  der 
Wand  des  rechten  Ventrikels  bis  IVs  cm  dick,  die  Trikuspidal-  und  Pulmonalklappen 
zart.  Die  Trabekel  und  Papillarmuskeln  fettig  gelb,  die  peripheren  Schichten  des 
Herzmuskels  dunkel  rotzyanotisch.  In  der  Aorta  und  deren  Zweigen  keine 
auffallend  sklerotischen  Veränderungen,  ebensowenig  in  den  Gebimtr- 
terien,  diese  blaß. 

Die  Arteria  pulmonalis  hat  im  Bereiche  der  Klappen  einen  Umfang  von 
7  cm,  die  Aorta  beiläufig  V2  cm  oberhalb  der  Klappen. 

Im  Gebiet  der  Teilung  der  rechten  Pulmonalis,  weit  hineinreichend  in 
die  ersten  Äste  derselben,  eine  hochgradige  Erweiterung,  so  daß  derUmfug 
der  Teilungsstelle  der  rechten  Pulmonalis  bis  über  9  cm  beträgt,  dabei  die  Wan- 
dung hier  und  in  den  weiteren  Ästen,  sowie  auch  in  der  beiläufig  6  cm  weiten 
linken  Pulmonalis  reichlich  gebuckelt  und  uneben,  mit  weißlieben 
Höckerchen  und  Strichelchen  bezeichnet  Die  rechtsseitige  und  vordere 
Wandpartie  der  rechten  Pulmonalarterle  mit  einem  über  3  cm  breiten  und  1  cm 
dicken  geschichteten  Thrombus  besetzt,  der  sich  in  den  angegebenen  Pulmonal- 
arterienast  der  rechten  Lunge  fast  obturierend  fortsetzt  Von  der  zentralwärts  ge- 
wendeten Spitze  dieses  Thrombus  erscheint,  zum  Teil  überdeckt,  ein  bis  auf  1  cm 
oberhalb  der  Pulmonalklappen  (Kommissur  zwischen  der  rechten  und  linken)  sich 
erstreckendes,  3  eckig  gestaltetes,  bis  3  cm  langes,  unter  dem  Thrombus  1  cm  breites 
Feld,  beiläufig  V2  cm  unter  der  übrigen  Intimafläche  der  Pulmonalis  gelegen. 

Dieses  vertiefte  Feld  ist  mit  einer  blassen,  glatten  Bekleidungsschicht  ausge- 
stattet, die  Ränder  desselben  sind  abgerundet,  wie  etwas  gewulstet  und  leicht  nacb 
außen  verzogen. 


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13]  Die  klinische  Diagnose  der  Pnlmonalarterienskierose.  373 

Eine  fthnliche  4  cm  lange,  überwiegend  gleiclnnäßig  l^s  cm  breite  Aasein-  \y^ 
anderweicbnng  der  innersten  Wandschichte  der  Pulmonalis  erstreckt  sich  von  dem 
Teilungsspom  des  Hauptstammes  der  Pulmonalis  in  das  Gebiet  der  erweiterten 
rechten  Pulmonalis  hinauf.  Auch  die  Ränder  dieser  Zusammenhangstrennung  sind 
abgerundet  und  etwas  nach  außen  gekrempelt.  Die  Basis  leicht  wellig,  faltig,  grau» 
rötlich,  durch  dieselbe  schimmern  die  dunklen  Substanzen  der  benachbarten 
Lungen«  und  Lymphdrüsengebilde  zum  Teil  durch.  Die  faltige  Flftche  dabei  nirgends 
rauh,  zerfasert,  sondern  ebenfalls  mit  einer  glatten  aber  durchscheinend  dünnen 
Schichte  überzogen.  Dieser  Auseinanderweichung  schließt  sich  ein  halb  bohnen« 
großer,  haftender,  welliger  Thrombus  an.  An  der  Basis  der  Auseinanderweichung 
selbst  nur  einige  Spuren  von  Blutgerinnung. 

Geringgradiger  Aszites;  hochgradiger  Stauungskatarrh  des  Magens  und  Darms ; 
zyanotische  Induration  der  Milz  (14 : 9  : 6)« 

Atrophische  Muskatnußleber.  Zyanose  der  durch  interstitielle  Nephritis  granu- 
lierten und  amyloid  entarteten  Niere. 

Pathologisch  anatomische  Diagnose: 

Exzentrische  Hypertrophie  des  Herzens,  besonders  des  rechten,  in- 
folge Stenose  des  Ostium  atrioventriculare  sinist,  Insuffizienz  der 
Bikuspidalis.  Adhäsive  Perikarditis.  Cbron.  interstitielle  Nephritis  mit 
Amyloid.    Beiderseitige  adhäsive  Pleuritis. 

Hochgradige  Sklerose  und  Erweiterung  der  Pulmonalacterien,  be- 
sonders der  rechten  und  unvollständig  abgeheilte  Ruptur  der  letzte- 
ren. Thrombose  derselben.  Rote  Induration  der  Lungen.  Zyanose  der  Leber 
Nieren,  Milz.    Allgemeiner  Hydrops. 

V.  Peter  M.,  34)ährig.,  led.  Bauemtaglöhner  von  Völs,  stand  wiederholt  ambula- 
torisch und  klinisch  an  der  mediz.  Klinik  des  Innsbrucker  allgem.  Krankenhauses 
in  Behandlung. 

16.  IX.  1890  Ambulat.    Diagnose:  Insufflc.  mitraL  Stenorkardie? 

Am  29.  Januar  1892  Prot.  Nr.  64/307  wurde  er  wegen  Husten,  Auswurf,  leichter 
Dyspnoe  aufgenommen. 

Diagnose:  Vitium  cordis.  Insulf.  et  Stenosis  valvuL  bicuspid.  Phthisis  pul- 
monum incip.?  Intumescentia  glanduL  lymphat.  colli.  Am  5.  Februar  wurde  er  in 
wesentlich  gebessertem  Zustande  entlassen. 

Später  stellte  er  sich  im  Ambulatorium  vor  und  zwar  im  Mal  und  mehrmals 
im  September  desselben  Jahres,  Als  Diagnose  ist  Stenosis  et  insuflficientia  valvulae 
mitralis  vermerkt. 

Am  17.  November  1892  kam  Pat.,  unter  Prot.  Nr.  482/2793  der  mediz.  Männer- 
klinik neuerdings  zur  Aufnahme  und  machte  folgende  Angaben: 

Der  Vater  starb  mit  78  Jahren,  die  Mutter  mit  77.    Krankheit  unbekannt 

Hereditäre  Verhältnisse  ohne  Belang. 

Patient  will  bis  ungefähr  -^  eine  genaue  Angabe  läßt  sich  nicht  erzielen  — 
zum  Jahre  1874  vollständig  gesund  gewesen  sein,  um  welche  Zeit  ihn  nach  einer 
Erkältung  ein  Gelenkrheumatismus  befallen  habe,  von  3 wöchentlicher  Dauer, 
mit  Beteiligung  fast  aller  Gelenke.  Nach  2  Jahren,  1876,  wiederholte  sich  die 
Polyarthritis  rheumatica,  7—8  \7ochen  dauernd.  Schon  nach  der  ersten  Attacke, 
ganz  besonders  aber  im  Anschluß  an  die  zweite,  bemerkte  er  das  Auftreten  von 
Herzklopfen  bei  stärkeren  Bewegungen  und  daß  er  damals  als  junger  Burche  seinen 
Altersgenossen  bei  weiteren  Ausflügen,  beim  Laufen  usw.  nicht  habe  nachkommen 
können.  Im  Jahre  1878  akquirierte  er  angeblich  einen  Typhus,  weswegen  er  in  fast 
2monat]icher  Spitalsbehandlung  verblieb. 


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374  ^M  Posselt,  [U 

Die  Naefaforechnng  im  AuAiahflisprotokoll  ergiib  jedoob,  dsA  der  damels  23jlhr. 
Kranke  im  Jahre  1878  vom  M«  Oktober  bis  30.  November  an  der  medix.  Klinik, 
Prot  Nr.  402/1682,  vegen  Endoksnlitis  (tmd  Perikarditis?)  In  Bebaodlimc  ssud 
wobei  sieb  der  Vermerk  findet,  daft  Pat.  mit  einer  hisuffieientia  ▼ahr.  bteuspidalit 
binausging. 

Nach  dieser  Zeit  haben  sich  inerst  schwach  auftretende,  dann  immer  mehr 
sich  steigernde  Atembeschwerden  bemerkbar  gemacht,  erst  spiter  mehr  oder  mhi- 
der  starkes  Anschwellen  der  Fflße  in  der  Kn6chelgegend,  manchmal  aueh  solches 
der  Waden.  Seit  anfongs  1802  steigerten  sich  die  Beschwerden  so,  daft  dor  Mano 
arbeitsunfihig  wurde.  Neben  Atemnot,  Herzklopfen  leidet  er  an  Husten  md 
Stechen  in  der  rechten  Seite,  auf  welcher  er  allein  nur  zu  liegen  imstande  ist,  und 
an  Schmerzen  in  der  Herzgegend. 

Status:  Pat.  mittelgroß,  mäßig  gut  genährt,  klagt  über  starke  Asemnoty  Herz- 
klopfen, Hasten  und  geschwollene  Füße. 

Gesicht  zyanotisch.  Hals  dick.  Rechts,  hinten  und  außerhalb  des  M.  stemo- 
cleido-mastoideus  eine  weiche,  pulsierende,  verdrangbare,  fast  hühnereigroße  Ad- 
schwellong.  In  der  linken  Supraklavlkalargnibe,  wie  auch  In  der  rechten,  einige 
vergrößerte  Lymphdrüsen  fühlbar. 

Thorax  gut  gewölbt.  Respiration  symmetrisch,  angestrengt,  beschleunigt.  Die 
Herzgegend  vorgewölbt. 

Die  PeilfiUslon  ergibt  in  der  rechten  Supraklavikulargnibe  und  den  gleichseitigen 
Interkostalräumen  bis  zur  6.  Rippe  relative  Dämpfung,  von  dort  nach  abwärts  ab- 
solute Dämpfung  bis  4  Querflnger  unter  den  Rippenbogen  in  der  Papillarlinie. 
Links  oben  voller  Lungenschall.  Die  absolute  Herzdämpfung  beginnt  im  4.  iater- 
kostalraum.  Die  Herzdämpfung  überschreitet  nach  links  die  linke  Papillarlinie  um 
IV2  Querflnger  und  reicht  nach  rechts  bis  zur  Medianlinie. 

Hinten  über  der  ganzen  rechten  Thoraxbälfte  relative  Dämpfung,  links  Tolkr 
Lungenschall.  An  der  Herzspitze  systolisches  Schwirren  fühlbar.  Spitzenstoß  im 
6.  LR.  paipabel. 

Auskultation:  Ober  der  rechten  Lunge  unbestimmtes  Atmen  und  beiderseits 
reichliche  feuchte  Rasselgeräusche.  An  der  Herzspitze,  aaraentlich  im  6.  L  R.  ein 
systolisches  und  diastolisches  Geräusch,  welch  ersteres  weit  nach  aufwärts  2a 
hörbar  ist    Im  Epigastrium  pulsatorische  Erschütterung  sichtbar. 

Abdomen  ausgedehnt  und  freie  Flüssigkeit  nachweisbar. 

Mtlzdäiapfung  vergrößert,  namentlich  im  Längsdurchmesser.  Die  unteren  Ex- 
tremitäten stark  ödematös  geschwollen.  Temp.  normal.  Puls  frequeot,  usgleicii- 
mäßig,  arhythmisch,  sehr  schwach.  Hammenge  vermindert,  spez.  Gew.  lO^a  Setkt. 
sauer,  Eiweiß  reichlich. 

19.  XL  1  pro  mille  Albumen.  Nach  Gebrauch  von  Digitalis,  Strophantus  und 
Koffein  nimmt  die  Diurese  zu,  vorübergehende  Besserung.  Am  27.  Nov.  Puls  kräf- 
tiger, gleichmäßiger,  normale  24stündige  Harnausscheidung. 

Am  5.  Dezember  stellen  sich  wieder  sehr  starke  Zyanose,  dann  Ödeme  oad 
Atembeschwerden  ein,  welche  nach  DIgttalisgebrauch  bald  zurückgeben. 

Am  20.  Dezember  waren  die  Ödeme  ganz  geschwunden,  die  Respiratieo  ver- 
hältnismäftig  leicht.  Der  Ernährungszustand  läßt  jedoch  viel  zu  wünschen  iibris. 
Von  2Mt  zu  Zeit  Anfälle  von  Zyanose  und  Oppression  aaf  der  Brust  mit 
Schmerzen  in  der  oberen  Herzgegend  in  die  Tiefe  zu. 

Die  klinische  Diagnose  lautete: 

Insuflicientia  et  Stenosis  vahrulae  mitralis.  Hypertropbia  fcntriculi  deztri  cor- 
dis.    Cyanosis.    Hydrops  universalis. 


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15]  I^ie  klinische  Diagnose  der  Pufanonalarteriensklerose.  375 

Pieofltis  dextra.  Albumiottria. 

Am  29.  Deaember  wird  der  Mann  gebeasert  entlaeseo. 

Nach  kurzem  Aufenthalt  in  seinem  Heimatsdorf  stellte  sich  Pat.  jedoch  bald 
wiederum  an  der  mediz.  Klinik  ein  und  fand  daselbst  am  11.  Januar  1803  abermals 
Aufnahme,  Prot.  Nr.  20/102  der  med.  Männerklinik.  Die  oben  angeführten  Be- 
schwerden hatten  unterdessen  wieder  ganz  besonders  zugenommen.  Pat  leidet 
unter  Beängstigung  und  Atemnot,  Hydropsien  haben  sich  abermals  eingestellt, 
die  Zyanose  erreicht  hohe  Grade.  Nachdem  Digitalis  4  Tage  ohne  besonderen 
Erfolg  verabreicht  wurde,  bekam  der  Kranke  Jodkali,  Strophantus  und  Kalomel, 
neben  Milchdiät.  Die  Diurese  erreicht  dann  fast  die  Norm.  Wiederholte  Schmerz- 
anfälle in  den  obersten  Herzabschnitten  mit  Angstgef&hl  und  Unruhe.  Variable 
rieselnd-schabende  Geräusche  über  der  Herzbasis  gegen  links  zu.  Schon  während 
seines  früheren  Aufenthaltes  war  im  Verlaufe  des  Dezembers  bei  der  Auskul- 
tation des  Herzens  zu  konstatieren,  daß  das  diastolische  Geräusch  immer  prä- 
gnanter wurde,  )a  zum  Schluß  prävalierte. 

Auch  jetzt  herrschte  bei  der  Auskultation  weitaus  das  diastolische  Geräusch, 
das  in  ziemlich  weitem  Umfang  an  der  Spitze  zu  hören  war,  Tor.  Zeitwelse  war 
dasselbe  an  der  Herzbasis  (2.  linker  Rippenknorpel)  am  lautesten  zu  hdren. 

Stattungsbronchitis.  Verkürzung  des  Schalles  im  2.  linken  I.  R.  von  der  Sternal- 
bis  etwas  außsrhalb  der  Paraslernallinie.  Ein  dumpfes,  undentliches,  systolisches 
schwirmndes  Geräusch  an  der  Basis  des  Herzens,  namentlich  gegen  den  2.  linken 
L  R.  zu,  rasch  wechselnd.  Der  Breitendurchmesser  der  HerzdämpAinc  hat  nach 
rschts  zu  beträchtlich  sugenoraraen. 

Am  15.  Januar  Auftreten  von  stechenden  Schmerzen  L.  h«  und  daselbst  Dämpfnng 
mit  unbestimmten  Atmen  und  feuchten  Rasselgeräuschen  links  unten.  HAmorrhagi- 
sches  Sputum. 

Rechts  hinten  unten  ebenfalls  Dämpfungszone  mit  abgeschwichten  Atmen, 
unbestimmten  Rasselgeräuschen. 

Unter  zunehmender  Dyspnoe,  hochgradiger  Zyansse  Exitus  letalis  am  23.  Januar 
1803  Vt2  Uhr  nachts. 

Die  klinische  Diagnose  lautete: 

Stenosis  et  insufficientia  valvulae  mitralis.  Hyportropfaia  et  dila- 
tatio  Passiva  ventriculi  dextri  cordis. 

Cyanosis.    Degener.  et  insuffic.  cordis. 

Hydrops  universalis.    Infarctus  haemorrhag.  pulmon. 

Pleuritis  obsol.  dextr.,  reo.  sin. 

Sektion  am  24.  Januar  1803.    Prot  Nr.3150/16  path.  anat  Diagnose: 

Endocarditis  ohron.  cum  stenosi  ostü  atrioventricuL  sin.  et  insuffic.  valvulae 
bicuspidaJis.  Hypertrophia  excentrica  cordis  dext.  eximia.  Dilatatio  atrii  sin.  eximia, 
vsntric.  sin.  lev.  gradus»  kifarct  suppurat.  Job»  Inf.  pula.  sin.  subsequ.  exsudato 
sero-flbrinoso  sin.  partim  occluso.  (Pneumothorax  partialis.) 

Thrombosis  arteriae  pulmonalis  dextrae  partim  obtur. 

Endarteriitis  arteriae  pulmonalis  eximia. 

Atelectasis  indurat.  partial.  pulmon.  dext  Induratio  fusca  pulmenum,  cyasotica 
renum,  hepatis,  lienis. 

Catarrb.  cyanot  intestini  praec.  grassi  et  veatrtc. 

Der  größte  Teil  des  linken  Oberlappeas  fest  angewachsen.  Die  rechte  Lunge 
im  ganzen  Umfang  ziemlich  fest  angeheftet 

Die  rechte  Lunge  bis  auf  wenige  teils  rundlich  fleckige,  teils  im  Bereich 
großer,  mit  weißen  Thrombusroassen  verstopfter  Arterien  des  Unterlappens  strahlig 


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376  Adolf  Posselt,  [16 

in  das  Lungengewebe  hineingreifender  Züge,  lufthaltig,  gedunsen,  mit  schaumiger 
Flüssigkeit  inflltrirt,  in  den  strahligen  Partien  im  Bereich  der  thrombosierten  Ar- 
terien teils  nur  atelektisch,  teils  fibrös  verdichtet,  derb. 

Die  thrombosierten  Arterienstftmme  des  Unterlappens,  sowie  mehrere  erbsen- 
bis  haselnußgroße,  briunlich  pigmentierte  schwielig  umgrenzte  Infarkte  In  ihrer 
Nachbarschaft  lassen  sich   durch  das  Gewebe  hindurch  als  Knoten  fühlen. 

Bronchien  erweitert.  Die  Lunge  im  allgemeinen  ziemlich  blutarm,  von  eigen* 
tümlich,  gelbrötlicher  Färbung.  Das  Gewebe  der  Lunge  durchwegs  substanzreicher. 
Ähnlich  verhält  sich  der  Oberlappen  der  rechten  Lunge  und  Teile  des  Mittel- 
lappens, welche  lufthaltig,  in  ihrem  Gewebe  verdichtet,  eigentümlich  gelbrötlich 
gefärbt,  hie  und  da  atelektisch  und  fibrös  verdichtet  sind. 

Das  Perikard  des  rechten  Ventrikels  an  der  Vorderfläche  sowie  des  rechten 
Vorhofes  mit  ausgebreiteten  zum  Teil  netzförmigen  Sehnenflecken  überdeckt.  Der 
Anfangsteil  der  Pulmonalis  mit  dem  Herzbeutel  durch  feste  bindege- 
gewebige  Membranen  verwachsen;  an  der  Hinterfläche  des  linken  Ventrikels 
teils  zottige  Bindegewebsmembranen,  teils  strahlige  Verdichtungen. 

Daß  Herz  sehr  groß,  besonders  breit,  es  mißt:  12  cm  in  der  Länge»  15  cm  in 
der  Breite  und  9-^10  cm  in  der  Dicke,  ist  in  beiden  Ventrikeln  kontrahiert. 

Das  linke  Herz  erscheint  als  kleiner  Anhang  des  mächtig  vergrößerten  recbteo 
Herzens,  Das  Fettgewebe  des  Perikardium  spärlich.  Die  Unke  Herzhöhle  mit 
locker  geronnenem  Blute  strotzend  erfüllt.  Das  Ostium  atrioventricul.  nur 
fürl  Finger  durchgängig.  In  den  rechten  Herzhöhlen  mäßige  Mengen  lockerer 
Blutgerinnsel  und  Fibrin.    Ostium  atrioventriculare  dext.  sehr  weit. 

Valv.  tricuspidalis  bis  auf  feine  warzige  Exkreszenzen  am  Rande  ohne  wesent- 
liche Veränderung.  Die  Valvula  bicuspidalis  hingegen  ist  in  allen  ihren  Teilen 
verdickt,  verkürzt,  der  Aortazipfel  von  knotigen  verkalkten  Einlagerungen  einge- 
nommen, die  zum  Teil  auf  der  Oberfläche  hervorragen;  besonders  im  linken  Teile 
feine  warzige  Exkreszenzen,  Die  Sehnenfäden  zum  Teil  miteinander  verwachsen^ 
zum  Teil  verdickt.  Die  Ansätze  der  Sehnenfäden  an  der  hinteren  Fläche  des 
Aortenzipfels  zu  einem  nur  durch  eine  kleine  Spalte  geteilten,  1  cm  breiten,  2—3  mm 
dicken  Seile  vereinigt.  Die  Papillarmuskeln  nicht  auffällig  verändert.  Konus  der 
Pulmonalis  mächtig  erweitert.  Die  \7and  bis  zu  1  cm  dick.  Die  Trabeltel 
bis  zu  fast  kleinfingerdicken  Strängen  vorspringend.  Die  Klappe  der  Art.  pulmo- 
nalis blaß,  zart. 

Aortaklappen  schließen  und  sind  bis  auf  geringe  Verdickung  und  Herabzerrung 
nicht  wesentlich  verändert.    Koronarostien  weit. 

Linker  Vorhof  sehr  weit,  das  Endokard  strahlig  weiß  verdichtet. 

Der  linke  Ventrikel  in  den  unteren  Teilen  kaum  1  cm  dick,  in  den  oberen 
IVscm,  während  die  \7and  des  rechten  Ventrikels  12  mm  dick  ist.  Herzmaslei 
braunrot. 

Die  oben  angegebenen  Thromben  in  den  Arterien  des  rechten  Unter 
lappens  lassen  sich  in  Form  randständiger,  fest  fixierter,  meist  ge- 
mischter, ziemlich  derber  Thromben  hinauf  verfolgen  bis  an  die 
Abgangsstelle  der  Äste  II.  Ordnung.  Diese  und  die  kleinen  Pulmontl- 
arterien  zeigen  strahlig-fleckige  Sklerosierungen  der  Intima  (Museam* 
Präparat,  alte  Signatur  C  93d,  neue  C  135  des  pathol.  anatom.  Museums). 

VL  Georg  L.,  29  J.,  led.  Schankbursche,  stand  vom  27.  März  bis  5.  Mai  1902 
an  der  medizin.  Klinik  wegen  eines  schweren  Herzfehlers  in  Behandlung.  Prot 
Nr.  273/1324  der  med.  Männerklinik. 


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17]  Die  klinische  Diagnose  der  Pulmonalartenensklerose.  377 

Die  Anamnese  ergab,  daß  der  Vater  des  Pat.  mit  56  Jahren  einem  Herzleiden 
eiiag,  Mutter  und  4  Geschwister  leben. 

Er  selbst  hat  vor  3  Jahren  Gelenkrheumatismus,  vor  2  Jahren  eine  Rezidive 
überstanden,  wobei  sich  Herzerscheinungen  meldeten. 

In  der  Folge  alle  Symptome  eines  sich  entwickelnden  Herzklappenfehlers. 

Der  Mann,  von  gutem  Ernährungszustand,  kräftig  gebaut,  zeigt  schon  in  ge- 
wöhnlicher Bettlage  beträchtliche  Dyspnoe  und  ganz  außerordentlich  starke 
Zyanose.    Leicht  subikterische  Verfärbung  der  Skleren. 

Enorme  Herzhypertrophie,  speziell  des  linken  Ventrikels.  Wogend  undulierende 
Herzaktion  in  verbreitertem  Umfang,  hebender  Spitzenstoß.  Schwirren  in  beträcht- 
licher Ausdehnung  an  der  Herzspitze.  Daselbst  lang  gezogenes  systolisches  Ge- 
räusch, das  gegen  den  Sternalrand  zu  rasch  abnimmt.  An  der  Basis  außerdem  ein 
kurzes,  scharfes,  diastolisches,  ziemlich  rauhes  Geräusch  über  der  Aorta,  das  sich 
auch  gegen  die  linke  Sternallinie  zu  fortpflanzt.  Pulsus  celer.  Arterienphänomene. 
Die  der  Palpation  zugänglichen  Arterien  vielleicht  eine  Spur  rigider,  namentlich  im 
Verhältnis  zum  jugendlichen  Alter. 

Die  klinische  Diagnose  lautete:  Insufflc.  semil.  aortae.  Hypertrophia  excent. 
ventric.  sin.  Insuff.  valv.  bicusp.  (relat.?).  Hypertrophia  ventr,  dext.  Insufflc. 
cordis.    Arteriosclerosis. 

Während  des  Spitalaufenthaltes  stellten  sich  wiederholt  Schmerzen  unter  dem 
Brustbein  einhergehend  mit  Angst-  und  Beklemmungsgefuhl  ein.  Der  Charakter 
derselben  war  zu  wenig  ausgesprochen,  so  daß  es  in  suspenso  bleiben  mußte,  ob 
es  sich  um  wirkliche  stenokardische  Anfälle  oder  um  Retrosternalschmerz  bei 
Arteriosklerose  der  Aorta  handelte.  Die  Zyanose  zeigte  periodische  Verschlimme- 
rungen. 

Manchmal  waren  die  Geräusche  an  der  Herzbasis  eigentümlich  schnurrend,  von 
förmlich  musikalischem  Charakter. 

Kardiaka.    Nach  Bedarf  Exzitantien. 

Im  weiteren  Verlauf  Zunahme  der  Oppression,  Dyspnoe  und  Zyanose  und  der 
Stauungserscheinungen.  Auftreten  von  Ödemen,  Stauungsbronchitis.  Infarzierung 
der  Lunge. 

Unter  den  Symptomen  höchstgradiger  Herzinsufflzienz  Exitus  letalis  am  5.  Mai. 

Sektion  am  6.  Mai  1902.  Prot.-Nr.  6066/108.  Herzbefund  (auszugsweise): 
Vernarbte  Endoarteriitis  der  Aorta  und  ihrer  Klappen  mit  Loslösung  des 
Insertionsgebietes  des  Taschenrandes  der  hinteren  Semilunarklappe  der  Aorta  und 
Umstülpung  des  dadurch  frei  gewordenen  mittleren  Teiles  der  hinteren  Klappe, 

Exzentr.  Hypertrophie,  besonders  des  1.  Ventrikels. 

Stauungsinduration  der  Lunge.    Infarkt  im  Mittellappen  der  r.  Lunge. 

Art.  coron.  sin.  sehr  eingeengt,  rechte  erweitert. 

Im  Wurzelgebiet  der  Pulroonalarterie  eine  die  Intima  in  ihrem 
ganzen  Umfang  betreffende,  sich  auf  IV2 — 2  cm  in  das  Gefäß  er- 
streckende Trübung  und  weißliche  endoarteriitische  Verdickung  der 
Intima. 

VIL  Anton  P.,  55  J.,  verh.  Schlosser  (Prot.  Nr.  282/1388),  am  2.  April  1902  an 
der  medizin.  Klinik  aufgenommen. 

Familienkrankheiten  kennt  der  Pat.  keine. 

Mit  19  Jahren  überstand  er  Variola. 

Seit  ungefähr  1  Jahr  verspürt  er  heftige  Schmerzen  in  der  linken  Seite, 

Klln.  Vortrige,  N.  F.  Nr.504/07.    (Innere  Medizin  Nr.  149/52.)    Okt.  1908.  27 


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378  Adolf  Posselt,  [18 

speziell  in  der  Herzgegend,  und  Atemnot  Herzklopfen  fehlt  Mitunter 
Hustenreiz.  Ödeme  besteben  seit  ungefähr  4  Wochen  an  beiden  Beinen.  Der 
Schlaf  ist  durch  asthmatische  Anfälle  gestört 

Status:  Sehr  großer,  kräftig  gebauter  Mann  von  entsprechendem  Ernährungs- 
zustand.   Allgemeiner  Hydrops.    Hochgradige  Ödeme  an  den  unteren  Extremitäten. 

Mäßige  Anasarka  der  Bauchdecken.  Gesicht  anämisch,  Lippen  und  Wangen 
zyanotisch,  Skleren  zeigen  leicht  gelblichen  Stich. 

Hals  kräftig,  Thorax  breit,  gut  gewölbt  Herzgegend  stark  vorgewölbt,  bei  etwas 
kräftigerer  Perkussion  schmerzhaft  Die  Herzdämpfung  reicht  nach  rechts  bis  zur 
ParaSternallinie,  nach  links  IV2  Querflnger  über  die  linke  Papillarlinie.  Arhythmie. 
Leise  Töne.  Über  dem  oberen  Teil  des  Sternum  und  dem  Manubrium  langes  dia- 
stolisches Geräusch.    Arterien  rigid.    Pulsus  celer.    Temp.  subnormal. 

Sensorium  nicht  ganz  fret 

Klinische  Diagnose:  Insufficientia  semtlunarum  aortae.  Arterio- 
sclerosis.  Hypertrophia  ventric.  sin.  cordis.  Dilatatio  cordis  passiva.  Degeneratio 
et  insufficientia  myocardii.  Volumen  pulmonum  auctum.  Bronchitis.  Cyanosis. 
Intumescentia  hepatis.  Induratio  cyanotica  hepatis  et  renum.  Stauungsalbuminurie. 
Hydrops  universalis.    Icterus. 

Therapie:  bigitalis,  Diuretin,  Kalomel,  Agurin,  Jodnatrium  (im  Verlaufe  des 
ganzen  Aufenthaltes)  abwechselnd  bei  entsprechender  Indikation  zur  Anwendung 
gelangt 

DruckgefQhl,  Beklemmung  in  der  Herzgegend,  GefQhl  von  Enge,  Stechen,  manch- 
mal Zusammenschnüren,  Brennen  in  der  Tiefe  am  Sternum  in  den  oberen  Ab- 
schnitten.   Keine  Anfälle  von  Herzbräune. 

Nach  und  nach  übertrifft  die  bläuliche  Verfärbung  das  anämische  Aussehen. 
Wiederholt  nach  Körperbewegungen  Attacken  von  Zyanose  mit  Angstgefühlen,  Be- 
klemmungen und  Herzschmerzen,  dabei  sehr  unregelmäßige  Herztätigkeit  Das 
diastolische  Geräusch  in  verbreitertem  Umfange  nach  links  im  2.  L  R.  bis  über 
die  ParaSternallinie  hörbar. 

20.  IV.  Ödeme  und  Zyanose  beträchtlich  zugenommen. 

Passive  Dilatation  des  Herzens,  1.  Ventrikel  reicht  bis  zur  vorderen  Axillar- 
linie. An  der  Herzspitze  sehr  dumpfe,  undeutliche,  verschwommene  Töne.  In  der 
Papillarlinie  ein  aus  der  Ferne  kommendes  diastolisches  Geräusch,  das  nach  auf- 
wärts zu  immer  deutlicher  wird.  Ober  dem  Sternum  ein  kurzes,  undeutliches, 
weiches,  systolisches  und  ein  sehr  ausgesprochenes,  langes,  scharfes,  diastolisches 
Geräusch.  Am  21.  wurde  wegen  den  enormen  Hydropsien  die  Kapillarpunkcion  an 
den  unteren  Extremitäten  vorgenommen,  durch  welche  am  21.  und  22.  über  10  1 
Flüssigkeit  entleert  wurden.  Dieselbe  zeigte  ein  spez.  Gew.  von  1007  und  war  nur 
mäßig  eiweißhaltig. 

Die  Besserung  war  nur  von  geringer  Dauer.  Rasche  Zunahme  der  Ödeme, 
Benommenheit    Hämorrhagien  am  Handrücken  und  am  linken  Unterschenkel. 

Anfangs  Mai  zeigten  sich  sehr  ausgebreitete  Hauthämorrhagien,  besonders  am 
Fuß-  und  Handrücken  und  an  den  Unterschenkeln.  Am  7.  beträchtliches  Infiln-at 
am  1.  Unterschenkel,  Abhebung  der  Epidermis.  Tags  darauf  Bildung  zweier  gans- 
eigroßer,  mit  blutigem  Inhalt  erfüllter  pemphigusartiger  Blasen  in  der  Gegend  des 
linken  Sprunggelenkes  und  des  Fußrückens. 

Ikterische  Verfärbung  ausgesprochen.  Unter  Zunahme  des  Ikterus,  der  Zyanose, 
des  Hydrops,  Somnolenz  und  Schwäche  Exitus  letalis  am  12.  Mai  1902. 

Sektion  am  4.  Mai  1902.    Prot-Nr.  6072/116. 

Diagnose:  Hochgradige  Aortensklerose  und  Dilatation  mit  sklero- 


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19]  l^ie  klinische  Diagnose  der  Pttlmonalarteriensklerose.  379 

tischer  Schrumpfung  der  Aortenklappen.  Insuffizienz  derselben.  Exzen- 
trische Hypertrophie  des  linken  und  des  rechten  Herzens  hohen  Grades  mit  braun- 
atrophischer  und  fbttiger  Degeneration. 

Allgemeine  Zyanose  mit  auffallenden  Hämorrhagien  der  allgem. 
Decke  besonders  und  pemphigusartiger  Blasenbildung. 

Kruppöse  Pneumonie  des  r.  Unter-  und  1.  Oberlappens,  hier  kombiniert  mit 
hämorrhagischer  Infarzierung.    Fettnekrose  des  Pankreas. 

Herz  michtig  vergrößert,  schlaff,  von  abgestumpfter  Form,  mißt  vom  Ursprung 
der  Pttlmonalis  bis  zur  Spitze  16,  im  Querdurchmesser  17  cm,  der  Dicke  nach  8 
bis  9  cm.  Gewicht  des  Organs  850  g.  —  Atrioventric.-Ostien  so  weit,  daß  sie  für 
4 — 5  Finger  durchgängig  sind.    Ihre  Klappen  groß,  zart,  ausgezerrt.  -~ 

Die  Innenfläche  der  bis  3  mm  dicken,  hochgradig  erweiterten  Aorta,  sowie  deren 
große  Äste  von  ausgebreiteten  netzförmigen  und  streifigen  Verdickungen  einge- 
nommen. An  zahlreichen  Stellen  Verkalkungsplatten  in  die  höckerig  unebene 
sklerotische  Intima  eingelagert. 

Die  Koronararterien  weit,  jedoch  nicht  artiosklerotisch  verändert. 

Klappen  der  Pulmonalis  zart,  schließen.    Konus  weit. 

In  den  größeren  Ästen  der  r.  Pulmonalis  nur  flussiges  und  locker  geronnenes 
Blut.  Keine  Thromben  bemerkbar.  Stammgebiet  der  Arteria  pulmonalis 
stark  fleckig  sklerosirt.  Beim  Aufschneiden  der  mittleren  Äste  finden 
sich  einzelne  Trübungen  und  leichte  sklerotische  Verdickungen. 

VIII.  Emilie  St.,  43).  led.  Bonne,  kam  am  13.  November  1903  an  der  medizin. 
Klinik  zur  Aufnahme  und  machte  folgende  Angaben: 

Der  Vater  starb  an  Darmtuberkulose,  die  Mutter  an  Gedärmverschlingung.  Pat. 
machte  mit  10 Jahren  Blattern,  mit  16  Jahren  linksseitige  Pneumonie  durch;  sie 
war  immer  sehr  schwächlich  und  zu  Lungenerkrankungen  disponiert. 

Seit  Jahren  leidet  die  Kranke  an  periodischen  Kopfschmerzen,  Erbrechen  und 
Herzpalpitationen,  Herzschmerzen  und  zeitweiligen  stärkerem  Angstgefühl.  Früher 
w^ill  sie  am  Urin  keine  besonderen  Abnormitäten  bemerkt  haben,  erst  seit  ihrem 
ca.  Otägigen  Aufenthalt  in  Innsbruck  lasse  derselbe  eine  beträchtliche  Trübung  und 
Verminderung  erkennen.  Gleichzeitig  haben  sich  Herzklopfen,  Kopfschmerzen  und 
Schwächegefühl  verschlimmert.  Seit  einigen  Tagen  Anschwellung  der  Beine  und 
etwas  schwererer  Atem. 

Aufnahme  am  13.  Nov.  1903. 

Pat.  groß,  kräftig,  gut  genährt.  Allgemeine  Hautdecke  anämisch.  Ödem  in  der 
Fußknöchelgegend. 

Livide  Gesichtsfarbe,  anfallsweise  stärkere  Zyanose.  Zeitweise  wieder  mehr 
anämisch. 

L.  h.  u.  verkürzter  Schall,  trockene  und  feuchte  Rasselgeräusche.  Herz  nach 
rechts  und  links  verbreitert,  Spitzenstoß  außerhalb  der  Mammillarlinie.  Herzaktion 
verbreitert,  stürmisch,  unregelmäßig.  Nur  mit  Mühe  hie  und  da  undeutliche  systoL? 
oder  diastolische  Geräusche  wahrzunehmen. 

Pulsationen  im  Epigastrium.  Puls  angedeutet  celer,  hochgradig  arhythmisch 
<ca.  130  i.  d.  M.).  Wiederholte  Tachykardieanfälle  bis  145.  Übelkeit.  Schwindel. 
Harn  sehr  stark  vermindert,  300  cm.  Albumen  472^00*  Spärliche  Formelemente 
<Zylinder),  Nierenepithelien  und  Eiterkörperchen.  Stuhl  unregelmäßig,  eher  ange- 
halten. 

Inf.  digital. 

14.  XI.  Puls  1661  nur  sehr  schwer  fühlbar.  Natr.  brom.  Digital.  Eisbeutel, 
leichter  Exophthalmus. 

27* 


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380  Adolf  Posselty  [20 

In  der  Folge  Zunahme  der  Kopfschmerzen,  schlechtes  Sehen,  Schwindel,  Tachy* 
kardieanfälle  höchsten  Grades.  Enorme  Arhythmie.  Heiserkeit.  Erbrechen.  Oppres- 
sion  in  der  Herzgegend  mit  anfallsweisen  dumpfen  Schmerzen  daselbst. 

22.  XI.  L.  h.  u.  gedämpfter  Schall,  verstärkter  Pektoralfremitus.  Blutiges  Spu- 
tum.  23.  Erbrechen,  starke  Ödeme  an  den  Beinen.  24.  Kältegefühl  in  den  Beinen. 
Die  linke  untere  Extremität  fühlt  sich  kühl  an.  Verschlechterung  des  Sehver- 
mögens. Benommenheit,  weiterhin  Bewußtlosigkeit.  Kalte  Schweiße,  höchstgradige 
Pulsschwäche.  Kampferinjektionen.  Hochgradige  Zyanose  des  Gesichts.  Auch  das 
r.  Bein  schwillt  an.  Zunehmender  Kollaps.  Am  25.  XI.  1  Uhr  nachts  Exitus  letalis 
unter  Erscheinungen  von  Lungenembolie  (?). 

Die  klinische  Diagnose  lautete:  Vitium  cordis.  Stenosis  (et  insuffic?) 
valv.  mitralis.  Myodegeneratio  et  insufficienta  cordis  hypertrophicae. 
Anaemia.  Cyanosis.  Nephritis  parenchym.  chron.  Uraemia.  Bronchopneumonia. 
Thrombos.  crur.  sin.    Infarct.  haemorrh.  pulm.  (?). 

Die  am  pathologisch-anatomischen  Institut  am  26.  November  1903  vorgenommene 
Sektion  (Prot.-Nr.  6543/274)  ergab  nachstehenden  Befund  (auszugsweise). 

Patholog.-anatomische  Diagnose: 

Stenose  des  Ostium  atrio-ventric.  sin.  und  Insuffizienz  der  Vtiv. 
bicuspidalis  infolge  chron.  Endokarditis  mit  exzentr.  hochgradiger  Hypertrophie 
des  r.  Herzens,  Dilatation  der  Arteria  pulmonalis  und  ihrer  Äste  und 
Arteriosklerose  derselben  bei  Synechien  beider  Lungen,  insbesondere  des 
Unterlappens  mit  Fixation  der  umgekrämpelten  Ränder  rechterseits  nach  vor  10  J. 
überstandener  Pleuropneumonie. 

Obturierende  Thrombose  der  Art.  pulmonalis  des  1.  Unter- 
lappens. Wandständiger  erweichter  Thrombus  der  rechten  Art 
pulm.  mit  ausgedehnten  hämorrhag.  Infarzierungen,  besonders  d.  r.  Unterlappens 
(ohne  Hämoptöe-Erscheinungen). 

Thrombose  des  I.  Herzohrs.  Embolie  der  Aorta  abdom.  an  der  Bifurkation  und 
der  Teilung  der  r.  Iliaca  comm.  mit  fortgesetzter  frischer  und  älterer  Thrombose 
in  der  1.  bzw.  r.  Iliaca  externa.  —  Arterioskler.  nephrit.  Narben  in  beiden  Nieren 
bei  hochgrad.  Arteriosklerose  der  Ursprungsstellen  der  Äste  der  Aorta  abdom.,  der 
Art.  renalis. 

Sekundäre  Tracheo-Bronchiektasien  in  beiden  Unterlappen.  Lungenränder  z.  T. 
angewachsen  an  das  mediast.  Pleurablatt.  Lungenränder  berühren  sich,  r.  3 1  klarer 
seröser  Flüssigkeit.    Links  2—3  1. 

Herz: 

Länge  des  Herzens  9,5  cm,  r.  Ventrikel  11  mm  dick. 

Dicke  des  L  Ventrikels  14  mm.    Breite  des  Herzens  10  cm. 

Umfang  der  Aorta  9,5 — 10  cm. 

Umfang  der  Arteria  pulmonalis  oberhalb  der  Klappen  8  cm. 

R.  Ventrikel  sehr  verdickt,  beide  Ventrikel  kontrahiert.  Ost.  atrioventric  sin. 
für  den  kleinen  Finger  durchgängig. 

Die  Ränder  der  Klappen  besetzt  mit  rauhen  verkalkten  Besätzen.  Die  Sehnen- 
ßden  auf  IV2  cm  Kürze  reduziert.  Hintere  Klappe  in  ganzer  Ausdehnung  verdickt. 
Stamm  der  Art.  pulmonalis  frei.  Der  Durchmesser  sehr  stark  bis  auf  9  cm  und 
darüber  erweitert. 

Die  Art.  pulm.  enthält  in  ihrem  Stamme  und  Teilungsstelle  nur  Leicbengerinnsel. 
Aus  dem  r.  ersten  Aste  und  aus  dem  großen  unteren  Aste  der  linken  Lunge  ragen 
thrombot.  Massen  vor,  welche  den  linken  unteren  Ast  total  obturieren  und  z.  T. 


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21]  Die  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  381 

ziemlich  innig  an  der  Arterienwand  angeheftet  sind.  Nehen  dem  Thrombus  der  r. 
Pulmonalis  bleibt  noch  ein  ziemlich  großer  Teil  des  Lumens  offen. 

Dieser  Thrombus  ist  ebenfalls  fixiert,  dabei  aber  bis  auf  eine  dünne  Rand* 
schichte  zu  einer  chokoladebraunen  dünnen  Flüssigkeit  erweicht.  In  der  Fortsetzung 
dieses  Thrombus  die  unteren  Äste  des  r.  Unterlappens  durch  Thrombusmassen  total 
obliteriert 

Thrombose  des  L  Unterlappens  nur  in  beschränkter  Ausdehnung.  In  beiden 
Ästen  der  Pulmonalarterie  außer  der  hochgradigen  Erweiterung  und  relativen  Dünn- 
heit der  \7inde  z.  T.  vorragende  linsengroße,  gelbe  Flecken  bemerkbar.  Solche 
Felder  auch  verfalgbar  in  die  Arterien  des  linken  Oberlappens,  wo  sie  frei  von 
Thromben  sind.  Die  oberen  nicht  thrombosierten  Äste  der  r.  Pulmonalarterie 
zeigen  sehr  auffillige  sklerotische  Flecken. 

Über  einen  weiteren  Fall  von  hochgradiger  Sklerose  der  Pulmonalarterie  bei 
Stenose  und  Insuffizienz  der  Valvula  bicuspidalis  (und  geringgradiger  Insuffizienz  der 
Aortenklappen),  ebenfalls  ein  noch  jugendliches  Individuum  betreifend,  kann  in 
Kürze  nachstehendes  berichtet  werden. 

IX.  Johann  P.,  22j.  lediger  Schneider  von  Telfs,  aufgenommen  an  der  medi- 
zinischen Klinik  am  17.  November  1902  (Prot.-Nr.  807/4871). 

Schon  im  Jahre  1897  suchte  er  ambulatorisch  Hilfe  wegen  seiner  Herzbeschwerden 
(18.  Mai  1897),  wobei  ihm  schon  damals  Spitalsaufnahme  empfohlen  wurde.  Er  ver- 
blieb bis  3.  Juli  1897  in  klinischer  Behandlung.  Diagnose:  Stenosis  et  insufflcientia 
valvulae  bicuspidalis.    Cyanosis  permagna. 

Auch  in  der  Folge  frequentierte  er  ab  und  zu  das  Ambulatorium,  wobei  sich 
stets  deutlich  die  Zeichen  des  genannten  Herzfehlers  mit  starker  Zyanose,  jedoch 
ohne  Dyspnoe  und  sonstigen  auffälligeren  Stauungssymptomen  ausgeprägt  fanden. 

Attfhahme  1902.    Anamnese: 

In  der  Kindheit  habe  Pat.  Preisen  gehabt.  Sonstige  Krankheiten  sollen  keine 
bestanden  haben.  Im  12.  Lebensjahr  stellte  sich  Herzklopfen  bei  rascheren  Be- 
wegungen, namentlich  beim  Laufen  ein,  zu  welchem  sich  in  späteren  Jahren  er- 
schwertes Atmen  hinzugesellte.  Schwerere  Arbeiten  brauchte  er  nicht  zu  verrichten. 
Anfangs  lernte  er  Buchdruckerei,  später  wurde  er  Schneider. 

Nach  der  Spitalsbehandlung  1897  (s.o.)  fühlte  er  sich  einige  Jahre  besser.  Seit 
1  Jahr  verschlechterte  sich  sein  Befinden.  Er  bekam  öfters  Schwindelanflllle,  es 
wurde  ihm  dann  schwarz  vor  den  Augen.  Diese  Anfälle  steigerten  sich  manchmal 
bis  zur  Bewußtlosigkeit.  Eine  Anschwellung  der  Füße  bildete  sich  auf  medikamen- 
töse Behandlung  wieder  zurück. 

Seit  Monatsfrist  verschlimmerte  sich  sein  Zustand  derart,  daß  er  wieder  Spitals- 
hilfe aufsuchte. 

Seine  Beschwerden  bestehen  in  Atemnot,  Schwäche,  heftigem  Herzklopfen, 
Ödemen  der  Beine.  Außerdem  klagt  er  über  ein  spannendes  Gefühl  im  Abdomen, 
Schmerzen  in  der  Herz-  und  Lebergegend,  Husten. 

Status:  Mittelgroßer,  kräftig  gebauter,  ziemlich  gut  genährter  Mann  mit  kräftig 
entwickelter  Muskulatur.  Zeitweise  Dyspnoe.  Sehr  starke  Zyanose  der  Wangen, 
Ohren,  Nase,  Lippen.  Diese  Teile,  ebenso  die  Finger,  Knie  und  Zehen  fühlen  sich 
kühl  an.    Thorax  ziemlich  breit,  mittellang,  mäßig  gewölbt. 

Perkussionsschall  h.  und  namentlich  rechterseits  etwas  verkürzt  Ober  diesen 
Partien  sehr  zahlreiches  feinblasiges  und  Knisterrasseln,  über  den  übrigen  Lungen- 
partien mittelblasige  unbestimmte  Rasselgeräusche. 


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382  Adolf  Posselt,  [22 

Mäßiger  Herzbuckel.  Spitzenstoß  im  5.  I.  R.  außerhalb  der  Papillarlinie. 
Kein  Schnurren  oder  Seh  wirren  bei  der  Palpation  wahrnehmbar.  Herzdimpho^ 
beginnt  am  unteren  Rand  der  3b  Rippe,  reicht  nach  rechts  etwas  über  den  rechten 
Sternalrand  hinaus,  nach  links  bis  zur  Mammillarlinie. 

Am  linken  Sternalrand  von  der  Ansatzstelle  des  2.  linken  Rippenknorpels  bis  in 
die  Herzdämpfung  übergehend  eine  ca.  1 — U/s  Querfinger  breite  DSmpfungszone  an- 
gedeutet. Auf  stärkere  tiefere  Perkussionsschläge  hier  eine  gewisse  Druckempfind- 
lichkeit,  die  anscheinend  bei  vorgebeugtem  Oberkörper  ausgesprochener  wird.  Ve^ 
breiterte  unregelmäßige  Herzaktion  sichtbar. 

Bei  der  Auskultation  kann  man  etwas  unten  und  außen  von  der  MammiUi 
ein  lautes  systolisches,  blasendes  Geräusch  konstatieren,  daneben  öfters  auch  eis 
präsystolisches,  selten  auch  deutlich  diastolisches  blasendes  Rauschen.  In  der 
Ruhe  die  Geräusche  nicht  besonders  stark;  bei  Bewegungen,  namentlich  bei  Rumpf- 
beugen tritt  das  diastolische  Geräusch  stärker  hervor  und  wird  dann  mehr  nach 
oben  gegen  den  linken  Sternalrand  zu  bis  zum  Ansatz  des  3.  linken  Rippenknorpels 
als  schärferes,  lauteres,  hauchend-schabendes  Geräusch  wahrgenommen. 

Während  der  Bettruhe  nur  geringe,  bei  selbst  mäßigen  Bewegungen  ausge- 
sprochene Arhythmie. 

Die  Zyanose  steigert  sich  beim  bloßen  Aufrichten  im  Bett  zu  beträchtlicher 
Intensität.  Mitunter  direkte  Anfälle  von  tief  schwarzblauer  Verfärbung,  ohne  gleich* 
zeitige  Steigerung  der  Atemnot. 

Puls  sehr  klein,  weich,  leicht  unterdrückbar,  arhythmisch.   Blutdruck  70  mm  Hg. 

Periphere  Arterien  kaum,  Arteria  radialis  vielleicht  eine  minimale  Spur  rigider. 

Die  Leberdämpfung  reicht  in  der  Mammillarlinie  gut  IV2  Querflnger  über  den 
Rippenbogen.  Die  Lebergegend  bei  der  Palpation  etwas  schmerzhaft.  Milzdämpfnog 
sowohl  im  Breiten-,  wie  im  Längsdurchmesser  bedeutend  vergrößert. 

Sputum  schaumig -schleimig.  In  demselben  hie  und  da  kleine  bräunliche 
Stellen  bemerkbar,  die  mikroskopisch  Herzfehlerzellen  aufweisen. 

24stündige  Harnmenge  verringert.  Harn  hochgestellt,  lei^t  getrübt,  braunrot 
enthält  Eiweiß  in  mäßiger  Menge. 

Die  tägliche  Harnausscheidung  ziemlich  variabel. 

Stuhlgang  etwas  unregelmäßig.    Temperatur  normal. 

Respiration  25^28.    Puls  80—00. 

Kardiaka.  Agurin.  Worauf  die  Harnmenge  vorübergehend  etwas  steigt,  am 
nach  einigen  Tagen  wieder  zu  sinken. 

Im  weiteren  Verlauf  rasche  Zunahme  der  Kompensationsstörungen.  Die  Herz- 
dämpfung überschreitet  fast  die  rechte  ParaSternallinie.  Passive  Dilatation  und 
Hydroperikard.  Deutlicher  Flüssigkeitserguß  im  Abdomen.  Die  Hydropsien  nehmen 
rasch  zu  trotz  aller  angewandten  Mittel  (Diuretin,  Kalomel  usw.). 

Die  Arhythmie  nimmt  zu.  Beim  Aufrichten  des  Oberkörpers  und  öflem  Vo^ 
wärtsbeugen  des  Rumpfes  erscheint  das  diastolische  Geräusch  von  größerer  Inten- 
sität am  linken  Sternalrand  mehr  gegen  die  Herzbasis  zu. 

Unter  Zunahme  aller  Stauungserscheinungen  erfolgt  am  27.  November  7  Uhr 
früh  der  letale  Ausgang. 

Als  klinische  Diagnose  wurde  vermerkt: 

Stenosis  et  insufficientia  valv.  mitralis  subsequ.  hypertrophia  cor- 
dis  praecip.  ventric.  dext.  Stauungsbronchitis.  Oedema  pulm.  chron.  Cyanosis. 
Stauungskatarrh  des  Magens.  Induratio  cyanot.  hepatis  et  renum.  Stauungsmitz- 
tumor.    Hydrops  universalis. 


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23]  Die  klinische  Diagnose  der  Palmonalarteriensklerose.  383 

Der  Umstand,  daß  der  Kranke  schon  in  sehr  weit  vorgeschrittenem  Zustand 
zur  klinischen  Aufnahme  kam  und  nicht  ganz  2  Wochen  bis  zum  letalen  Ende 
vergingen,  erschwerte  die  Analyse.  In  den  epikritischen  Notizen  finden  die  enorme 
Zyanose,  die  eigenartigen  Anfille  Würdigung. 

Nachdem  bereits  vor  5  Jahren  die  ausgesprochensten  Zeichen  der  Mitralstenose 
vorlagen  und  auch  bei  den  ambulatorischen  Vorstellungen  diese  auffallenden  Sym- 
ptomenkomplexe bestanden,  dachte  man  daran,  ob  nicht  hier  auch  ein  derartiger 
Prozeß  zugrunde  lag.  Die  kurze  Beobachtungszeit  und  der  desperate  Zustand,  in 
welchem  er  zur  Aufnahme  kam,  erlaubten  jedoch  keine  genauere  Präzisierung. 

Sektion  1.  Dezember  19Q2  (Prot.-Nr.  6240/290). 

Patholog.-anatomische  Diagnose: 

Hochgradige  exzentrische  Hypertrophie  des  r.  Herzens  bei  Stenose 
und  Insuffizienz  der  1.  Atrioventricular-Klappe. 

Geringradige  Insuffizienz  der  Aortenklappen  infolge  vernarbter  Endokarditis. 
Geringgradige  Endocarditis  verrucosa  der  Pulmonalklappen,  hoch- 
gradige Sklerose  der  Arteria  pulmonalis.  Hochgradige  Stauungsinduration 
der  Lunge,  der  Milz,  der  Leber  und  der  Niere. 

Stauungskatarrh  in  den  Bronchien  und  im  Digestionstraktus.  Ödem  und  Ana- 
sarka.  Hydroperikard  und  Hydrops  ascites.  Adhäsive  Pleuritis,  Perihepatitis 
und  Perisplenitis.  Adhäsive  Pachymeningitis  mit  mäßiger  Hyperostose  der  Tabula 
vitrea. 

Allgemeines  Ödem  und  hochgradige  Zyanose. 

Die  r.  Lunge  im  ganzen  Umfang,  die  linke  besonders  in  den  unteren  und  seit- 
lichen Teilen  angewachsen,  im  frei  gebliebenen  Teile  der  L  Thoraxhöhle  etwa  1  1 
klare  seröse  Flüssigkeit. 

Im  Herzbeutel  500  g  klare,  seröse  Flüssigkeit  von  rötlicher  Färbung. 

Herz  sehr  groß,  namentlich  stark  verbreitert.  Spitze  vom  r.  Ventrikel  gebildet. 
Herz  bei  15  cm  lang,  16  cm  breit,  im  r.  Ventrikel  ca.  12  cm  dick.  Gewicht  des 
Herzens  627  g.  Epikard  im  Bereiche  der  vorderen  Koronararterienäste  des  r.  Ven- 
trikels mit  Verdickungsstreifen  besetzt 

Solche  finden  sich  auch  an  der  Pulmonalis.  Umfang  der  Aorta  an  der  Basis 
in  der  Gegend  des  Ansatzes  der  Klappen  6,5  cm.  Umfang  der  Pulmonalis  an  der 
entsprechenden  Stelle  9,5  cm. 

Das  Herz  schlaflP,  in  seinen  Höhlen  strotzend  erfüllt  mit  fiüssigem  und  locker 
geronnenem  Blut  und  Fibringerinnseln. 

Das  Ostium  atrioventric.  sin.  kaum  für  die  Kuppe  des  Zeigefingers  durchgängig. 
Das  Ostium  atrioventr.  dextr.  bequem  für  4  Finger  durchgängig.  Die  beiden  Segel 
der  Bikuspidalis  miteinander  verwachsen  und  außerdem  die  Sehnenfäden  zumeist 
untergegangen  in  einem  dicken,  kurzen,  kaum  0,5cm  langen  Strange,  welcher  im  ver- 
dickten unteren  Gebiet  des  Klappensegels  inseriert.  Der  obere  Teil  des  im  ganzen 
3  cm  langen  Aortensegels  dünn,  durchscheinend,  wie  ausgezerrt.  Papillarmuskeln 
ziemlich  dick.  Dagegen  die  Wand  des  1.  Ventrikels  kaum  11—12  mm  dick.  Der 
ziemlich  stark  verdickte  linke  Vorhof  mit  weißem  Endokard  ausgestattet.  Die  Triku- 
spidalis  zart  und  nicht  besonders  verändert,  vorderer  Zipfel  etwas  stark  ausgezerrt, 
wie  vergrößert. 

Die  Wand  des  erweiterten  r.  Ventrikels  mißt  im  Konusteil  1  cm,  im  Spitzenteil 
bis  14  mm. 

Pulmonalarterie,  auch  im  Ursprungsgebiet  mit  sklerotischen 
Flecken  ausgezeichnet,  hat  einen  Umfang  von  9  cm.  Die  Aorta  hin- 
gegen auffallend  enge,  zeigt  nur  einen  Umfang  von  5,5«-6  cm. 


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384  Adolf  Posselt,  [24 

Klappen  der  Aorta,  zwischen  denen  eingegossene  Flüssigkeit  allmShIicb  ab- 
fließt, erweisen  sich  im  Durchmesser  und  Längsrichtung  verkürzt,  besonders  in 
ersterem.  In  ihren  Kommissuren  verwachsen,  bis  auf  die  ziemlich  weiten  Fundus- 
gebiete der  Taschenbuchten  höckerig  verdickt  und  eingekerbt.  Hier  und  da  kleine 
rötliche  Fleckungen  an  denselben  bemerkbar.  In  größererAusdehnungeine 
feine  Auflagerung  von  Hellergröße  geronnenen  Blutes  im  Be- 
reiche feinwarziger  Erhabenheiten  an  der  linksseitigen  Pulmonal- 
arterienklappe  bemerkbar.  Hochgradige  Sklerose  der  Intima  der 
Pulmonalarterie.  Herzohren  enthalten  Fibringerinnsel.  Die  Koronarostien  von 
gewöhnlichen  Dimensionen. 

Die  Aorta  in  ihrem  Bereiche  und  auch  im.Bogenteil  nur  mißig 
diffus  sklerosiert.  In  den  großen  Ästen  zerstreute  sklerotische  Flecken.  Der 
Umfang  der  Brustaorta  beträgt  4  cm. 

(Präparat  des  pathol.-anatomischen  Museums  Signatur  C  122.) 

X.  Vom  Jahre  1897—1004  stand  zu  wiederholten  Malen  in  ambulatorischer  und 
klinischer  Behandlung  der  medizinischen  Klinik  Marie  S.,  damals  (1897)  28jährige 
Malersfrau. 

Mehrere  Jahre  magenleidend.  Zugleich  mit  Magenschmerzen  habe  sich  Herz- 
klopfen eingestellt,  namentlich  bei  anstrengenden  Arbeiten.  Nach  und  nach  hätten 
sich  die  Herzbeschwerden  verschlimmert.  Mitunter  stechende  Schmerzen  in  der 
Herzgegend  mit  Oppressionsgefühl. 

Gelenkrheumatismus  hat  die  Kranke  nie  gehabt,  Lues  wird  negiert 

Die  wiederholten  eingehenden  Untersuchungen  ergaben  als  klinische  Diagnose: 
Insufflcientia  valvulae  mitralis  mit  mäßigen  Stenosenerscheinungen.  Hypertrophie 
des  rechten  Ventrikels.  Auffallende  Zyanose  bei  Fehlen  stärkerer  Stauungserscbei- 
nungen,  Ödemen  und  Dyspnoe. 

Ende  der  90er  Jahre  gelang  es  des  öfteren,  die  mäßigen  Kompensationsstörungen 
durch  Ruhe,  entsprechendes  Regimen  und  Medikation  wieder  zu  beheben. 

Bei  jedesmaliger  Neuaufnahme  traten  allmählich  die  Stenosensymptome  an  der 
Mitralklappe  in  den  Vordergrund,  so  daß  während  der  klinischen  Aufenthalte  und 
der  häufigen  ambulatorischen  Behandlung  seit  1901  weitaus  die  Stenose  im  klinischen 
Bilde  überwog. 

Während  eines  klinischen  Aufenthaltes  im  November  1901  trat  vorübergehend 
Ikterus  mit  Leberschwellung  auf.  Die  ersten  Zeichen  von  Ödemen  machten  sich 
erst  im  Januar  1902  bemerkbar,  gingen  jedoch  auf  Digitalis  rasch  zurück. 

Aus  dem  Status  im  November  1901  sei  nachstehendes  hervorgehoben:  Fat. 
sehr  klein,  von  schlechtem  Ernährungszustand,  enorme  Zyanose,  Wangen 
und  Lippen  tief  dunkelblau. 

Jetzt  auch  zeitweise  etwas  stärkere  Dyspnoe. 

Herzdämpfung  im  3.  I.  R.  bereits  absolut  bis  zum  oberen  Rand  der  6.  Rippe; 
nach  rechts  bis  zur  rechten  Parastemal-,  nach  links  überschreitet  sie  um  1  Quer- 
flnger  die  Papillarlinie. 

Eine  Spur  kürzeren  Schalles  in  Streifenform  am  linken  Stemalrand  von  der 
Ansatzstelle  des  2.  linken  Rippenknorpels  abwärts  von  ca.  1—1  Vi  Querfingerbrette. 

An  der  Herzspitze  systolisches  und  ausgesprochenes  diastolisches  Schwirren 
mit  der  aufgelegte^i  Hand  fühlbar.  Spitzenstoß  in  der  Breite  einer  Fingerkuppe 
knapp  außer  der  1.  Papillarlinie  im  5.  I.  R. 

An  der  Herzspitze  undeutlich  kurzes,  weiches,  systolisches  und  ausgesprochenes, 
schärferes,  langgezogenes,  mehr  schabendes  diastolisches  Geräusch  bis  außerhalb 
der  Papillarlinie  zu  verfolgen.    2.  Pulmonalton  etwas  akzentuiert. 


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25]  I>ie  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  385 

Epigastrische  Pulsation  angedeutet.  Herzperkussion  unten  nicht  schmerzhaft. 
Am  oberen  linken  Stemalrand  auf  Druck  kaum,  auf  rasche,  tiefe  Perkussionsschlige 
leicht  empfindlich. 

Periphere  Arterien  zeigen  keinerlei  Schlängelung  oder  Rigidität.  Puls  klein, 
weich,  leicht  zusammendriickbary  mäßig  arhythmisch. 

Die  Kranke  wurde  zu  wiederholten  Malen  in  der  Vorlesung,  den  klinischen 
Visiten  und  in  Kursen  vorgestellt,  wobei  speziell  das  allmähliche  Oberwiegen  der 
Stenose  über  die  Insuffizienz  der  Mitralklappe  und  das  Bestehen  auffälliger  Zyanose 
hervorgehoben  wurde.  Gerade  die  Differenz  zwischen  der  anfallsweise 
hochgradigen  Zyanose  und  der  verhältnismäßig  sehr  geringen  Dyspnoe, 
Fehlen  vonÖdemen  und  sonstigen  Stauungssymptomen  war  durch 
Jahre  hindurch  immer  wieder  zu  konstatieren. 

Zum  ersten  Male  gab  ich  im  November  1901  meiner  Vermutung,  daß  hier  bei 
der  Kranken  mit  hochgradiger  Bikuspidalstenose  und  Insuffizienz  und  konsekutiver 
Hypertrophie  des  rechten  Ventrikels  eine  Endartereriitis  und  Arteriosklerose 
der  Pulmonalis  bestehe,  Ausdruck. 

Im  weiteren  Verlaufe  der  eingehenden  klinischen  Beobachtungen  der  Kranken, 
die  in  der  Folge  noch  oft  klinische  und  ambulatorische  Hilfe  suchte,  wurde  diese 
Vermutung  durch  allmähliches  Deutlicherwerden  aller  Zeichen,  die  ich  für  diese 
klinische  Diagnose  verwerten  zu  können  glaubte,  immer  mehr  befestigt,  so  daß  ich 
diesen  Krankheitsfall  in  den  klinischen  Aufnahmsprotokollen  und  im  Ambulatorium 
stets  mit  folgender  Diagnose  führte:  Stenosis  et  insufficientia  valvulae 
mitralis,  subsequ.  hypertrophia  ventriculi  dextri  cordis. 

Cyano.sis  permagna.  Endarteriitis  et  arteriosclerosis  pulmonalis. 
Unter  welcher  Diagnose  die  Frau  wiederholt  demonstriert  wurde. 

Während  der  klinischen  Aufnahme  im  Sommer  1902  (14. — 19.  VII.)  machte  sich, 
neben  der  hochgradigen  Blausucht,  Dyspnoe  und  geringes  Ödem  an  den  Fuß- 
knöcheln bemerkbar. 

Dabei  war  der  Puls  verhältnismäßig  nicht  schwach,  jedoch  leicht  unregelmäßig. 
Die  Herzdämpfung  überschreitet  jetzt  nach  rechts  die  ParaSternallinie. 

Das  kurze,  dumpfe  systolische  Geräusch  an  der  Herzspitze  tritt  immer  mehr 
an  Stärke  zurück,  während  das  diastolische  Geräusch  mit  seiner  größten  Intensität 
mehr  gegen  den  linken  Stemalrand  zu  rückt  und  viel  lauter,  rauh,  schabend  wird. 

Ober  dem  Pulmonalostium  ein  leises,  leicht  rieselndes  Geräusch,  das  sich  an 
keine  bestimmte  Phase  hält.    Akzentuierung  des  2.  Pulmonaltones. 

Auf  Digitalis,  Brom,  Bettruhe,  Eisbeutel  usw.  gehen  in  Bälde  die  Ödeme  zurück, 
der  Atem  wird  freier,  der  Appetit  besser.  Die  Zyanose  zeigt  am  wenigsten  einen 
Nachlaß.  Bei  rascheren  Körperbewegungen  oder  psychischen  Momenten  Anfälle 
von  stärkerer  Blausucht  mit  Angstgefühl,  Beklemmungen  und  Schmerzen  in  der 
Oberherzgegend. 

Die  Kranke  verlangte  nach  jedesmaliger  Erleichterung  ihres  Zustandes  schon 
nach  kurzem  immer  wieder  ihren  Austritt. 

Beim  Verlassen  des  Spitals  am  19.  Juli  waren  die  Geräusche  viel  weniger 
intensiv,  zeitweilig  fast  verschwunden,  dafür  der  1.  Ton  an  der  Spitze  akzentuiert, 
und  der  2.  unreine  Ton  mit  leisem  diastolischen  Geräusch  verdoppelt. 

Bei  Körperbewegungen  tritt  auf  kurze  Zeit  das  diastolische  Geräusch  weiter 
nach  oben  zu  am  Stemalrand  (3.  I.  R.)  stärker  und  schärfer  hervor. 

Im  Verlaufe  der  Jahre  1902  und  1903  erfolgte  noch  mehrmals  ambulatorische 
und  klinische  Behandlung.  Das  Befinden  verschlechterte  sich  allmählich.  Dyspnoe 
und  Ödeme  nahmen  etwas  zu,  gingen  jedoch   nach  entsprechender  Behandlung 


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386  Adolf  Posselt,  [26 

wieder  zurück.    Einige  Male  überfielen  die  Kranke  AngstzustSnde  mit  Erblassen 
und  heftigen  Schmerzen  an  der  Herzbasis,  zugleich  kleiner,  unregelmäßiger  Puls. 

Die  ganz  besonders  hochgradige  Zyanose  steigerte  sich  periodisch,  wobei  unter 
Auftreten  stärkerer  Arhythmie  dumpfe  Schmerzen  in  der  Herzgegend  bestanden. 
Die  Kranke  klagt  dann  über  ein  zusammenschnürendes  Gefühl  und  in  die  Tiefe 
der  linken  Seite  ausstrahlende  Schmerzen,  die  in  der  oberen  Herzgegend  ihre 
höchste  Intensität  erreichen.  Gewöhnlich  stemmte  sie  sich  dann  mit  den  Ellbogen 
rückwärts  an  und  hielt  sich  vollkommen  ruhig,  wobei  sie  eine  Erleichterung  wah^ 
nahm.  Es  besteht  ausgesprochene  Hypertrophie  und  Dilatation  des  rechten  Ven- 
trikels (voussure). 

Von  den  in  ihrer  Intensität  wechselnden  Geräuschen  prävaliert  weitaus  das 
diastolische,  das  sich  ganz  besonders  schon  nach  geringfügigen  Körperbewegungen, 
namentlich  bei  raschem  Rumpfvorbeugen  am  linken  Stemalrand,  in  seiner  größten 
Stärke  entsprechend  dem  Ansatz  des  linken  3.  Rippenknorpels  und  noch  etwas  nach 
aufwärts  zu  als  rauhes,  schabend  kratzendes,  lautes,  meist  etwas  geteiltes  (wachtel- 
schlagartiges) Geräusch  kenntlich  macht. 

Ein  leiseres,  nicht  streng  an  die  Herzphasen  gebundenes,  auch  in  die  Systole 
fallendes,  schwirrend  rieselndes  Geräusch  pflanzt  sich  noch  etwas  weiter  nach  oben 
links  zu  fort. 

Der  Dämpfungsstreifen  (s.  o.)  etwas  ausgesprochener  und  breiter.  Bei  kurzem, 
starken  Perkussionsschlag  Empfindlichkeit  daselbst.    Leichte  Albuminurie. 

Im  Sommer  1902  besserte  sich  das  Allgemeinbefinden  und  die  subjektiven  Be- 
schwerden.   Der  Blutdruck  stieg  auf  120—130  (Tonometer  von  Gärtner). 

Im  Verlaufe  des  Jahres  1903  mehrmalige  ambulatorische  Vorstellung,  klinische 
Behandlung  zu  wiederholten  Malen. 

U.  A.  vom  16.— 29.  Juli  1903.  Die  Kranke  ist  wieder  sehr  stark  zyanotisch. 
Wiederholte  Schmerzattacken  vom  Brustbein  nach  links  gegen  Parasternal-  und 
Mammillarlinie  zu,  einhergehend  mit  Schwäche,  Obelkeiten  und  Blaßwerden,  bald 
darauf  wieder  ganz  auffällige  Zyanose. 

Arhythmie,  Dyspnoe  und  Stauungssymptome  stärker.  Jugularvenen  strotzend 
gefüllt.  Andeutung  von  Bulbuspuls,  hier  und  da  auch  Spur  von  venösem  Leber- 
puls. Symptome  vorübergehender  relativer  Trikuspidalinsuffizienz  (?)  angedeutet 
Blutdruck  vermindert. 

1904:  Aufnahme  Januar  und  Juli.  5.  L— 26.  L:  Auf  Digitalis  Ansteigen  der 
Diurese  (von  400  auf  1400  ccm),  um  bald  darauf  wieder  abzusinken.  Zunahme  der 
Ödeme  an  den  unteren  Extremitäten,  Bildung  von  Hydrops  ascites.  Myodegeneratio 
cordis  hypertrophicae.    Wiederholt  Koffein  und  Digitalis. 

Ebenso  während  der  2.  Aufnahme  vom  30.  VI.— 10.  VII.  1904. 

Am  5.  VIL  Dränage  (IV2  1). 

Exitus  am  10.  Juli  1904. 

Sektion  12.  Juli  1904  (Prot.  Nr.  6739/155):  Hochgradige  Stenose  und  In- 
suffizienz der  Valvula  mitralis  mit  bedeutender  Hypertrophie  und  Dilatation 
besonders  des  linken  Vorhofes  und  des  rechten  Herzens.    Hydroperikard. 

Lobulär  pneumon.  Herde  in  den  hinteren  Anteilen  des  linken  Obeiiappens, 
neben  Ödem  und  Induration  der  Lunge.  Hydrothorax.  Fettige  Degeneration  der 
Nieren,  neben  trüber  Schwellung  und  alten  nephrit.  Absumptionen.  In  der  linken 
Niere  an  der  Vorderfläche  ein  vernarbter  Infarkt. '  Starke  groblappige  Cirrhose  and 
Stauung  in  der  Leber.    Chron.  Gastroenteritis. 

Hydrops  ascites  5—6  1. 


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27]  Die  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  387 

Die  Valv.  mitralis  in  ihren  Zipfeln  stark  verdickt,  dieselben  miteinander  ver- 
wachsen, so  daß  sie  nur  noch  für  einen  Finger  passierbar;  die  Chordae  tendineae 
fehlen  fast  vollständig.  Der  linke  Ventrikel  klein»  zusammengezogen,  wie  atrophisch. 
Der  linke  Vorhof  dagegen  weit,  ausgedehnt,  besonders  auch  das  linke  Herzohr. 
Aorta  von  gewöhnlichem  Umfang.    Intima  glatt  und  eben. 

Pulmo  na  larterie  in  ihrem  Anfangsteil,  oberhalb  des  Klappenringes,  gleich- 
mäßig erweitert,  in  ihrer  Wand  beträchtlich  verdickt,  zeigt  eine  fast  allge- 
meine Verdickung,  Verhärtung  und  Verkalkung  der  Intima  bedeutenden 
Grades. 

Die  arteriosklerotischen  Ein-  und  Auflagerungen  und  Verkalkungen  reichen  bis 
in  die  Hauptäste  des  GeHßes. 


Im  folgenden  sei  eine  übersichtliche  Darstellung  der  Lite- 
ratur gebracht  und  zwar  nur  solcher  Beobachtungen,  bei  denen  auch 
klinische  Befunde  vorliegen  und  deshalb  in  den  Rahmen  dieser 
Abhandlung  passen. 

Kompliziertere  Bildungsanomalien,  gelegentliche  zufällige  Befunde 
oder  solche  von  rein  pathologisch-anatomischem  und  histologischem 
Interesse  konnten  hier  nicht  berücksichtigt  werden. 

Für  die  Einbeziehung  der  Literatur  bewogen  mich  folgende  Er- 
wägungen: Fürs  erste  existiert  eine  Darlegung  vom  klinischen  Stand- 
punkt aus  überhaupt  noch  nicht,  zweitens  fand  eine  Reihe  solcher 
Mitteilungen  bisher  keinerlei  Beachtung  und  Verwertung,  drittens  ist 
ein  Großteil  der  hier  einschlägigen  Literatur  sehr  schwer  zugänglich 
und  zerstreut.  Per  parenthesin  möchte  ich  bemerken,  daß  ich  fast 
sämtliche  der  folgenden  Arbeiten  im  Original  nachgesehen. 

Aus  der  ältesten  Literatur  existiert  ein  Beispiel  von  Blausucht 
infolge  von  Verknöcherung  der  Lungenarterienhaut  beiBlan- 
card,  den  auch  S6nac  anführt  (Trait^  de  la  structure  du  coeur,  de 
son  action  et  de  ses  maladies.   Paris.  2  t.  1749.  [1774  ed.  Portal.]). 

In  der  heute  noch  lesenswerten  Abhandlung  von  Kreysig  (Die 
Krankheiten  des  Herzens.  Berlin  1816.  Bd.  3,  S.  119)  findet  sich  nach- 
stehende Krankengeschichte: 

(21.  Fall.)  Ein  junger  Mensch,  22  Jalire  alt,  von  kleiner  und  magerer  Statur, 
in  seinem  18.  Jahre  noch  ganz  bartlos,  hatte  eine  blaurote  Gesichtsfarbe  und  stark 
aufgetriebene  Venen  der  Haut.  Jede  Bewegung,  vorzüglich  in  freier  Luft,  trieb  ihm 
das  Blut  nach  dem  Kopfe,  die  Backen  wurden  dann  blau,  und  bei  starker  Bewegung 
bluteten  Lippen  und  Mund. 

Das  Atmen  war  immer  beengt  und  durch  Husten  unterbrochen,  besonders  bei 
Körperbewegungen.  Herzklopfen  quälte  ihn  oft.  Seit  einiger  Zeit  litt  er  an  heftigen 
Rheumatismen. 

Ein  Quacksalber  behandelte  ihn  mit  schweißtreibenden  und  erhitzenden  Mitteln, 
worauf  Fieber,  große  Beklommenheit  des  Atems,  Heiserkeit  und  heftiges  Herzklopfen 
eintraten.  Die  Zufälle  verschlimmerten  sich  immer  mehr,  der  Kranke  verlor  das 
Bewußtsein  und  starb. 


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388  Adolf  Posselt,  [28 

Bei  der  Leichenöffnung  fand  man  die  Brust  an  der  linken  Seite  erhabener  und 
aufgetriebener.  Das  Herz  zeigte  eine  größere  Breite  als  gewöhnlich,  die  Spitze  war 
stumpfer,  sonst  erschien  es  wohlgebildet,  ohne  Veränderung  seiner  Substanz  und 
ohne  Klappenfehler. 

Die  Lungenpulsader  war  da,  wo  sie  sich  in  ihre  beiden  großen  Äste  teilt,  in 
ihrer  Textur  sehr  verändert.  Der  rechte  Ast  war  an  einer  Stelle  so  weich, 
daß  er  bei  der  Berührung  sogleich  zerriß.  Daneben  waren  seine  Häute 
verdickt  und  das  Lumen  sehr  verkleinert  Die  verdickte  Stelle  erschien 
äußerlich  brandig.  Mehrere  Zweige  waren  fast  ganz  verschlossen,  zum  Teil  foltig 
und  eingeschrumpft  und  konnten  kein  Blut  mehr  gefuhrt  haben.  Die  Venen  des 
Körpers  waren  sehr  erweitert.    (Leber  groß.) 

Nach  Kreysig  ist  diese  Verengung  und  Unwegsamkeit  der  Lungenarterie 
nicht  angeboren,  sondern  er  vermutet  deren  Entstehung  in  den  ersten  Kinderjahren. 
Durch  die  Behandlung  mit  reizenden  Mitteln  sei  der  Zustand  verschlimmert  und 
eine  schleichende  Entzündung  der  kranken  Teile  hervorgebracht  worden,  deren 
Folgen  der  Kranke  erlag. 

Ebenda  wird  (IL  T.  1.  Abschn.  S.  430)  eine  alte  Beobachtung  von 
Kinglake  (London  med.  Journ.  1789,  voL  X,  pars  IV.  p.  341  und 
Sammlung  f.  prakt.  Ärzte  13.  Bd.,  3.  St.,  S.  385)  zitiert. 

Bei  dieser  handelte  es  sich  um  ein  zartes  Frauenzimmer  von  23  Jahren,  bei 
welchem  auf  äußere  Veranlassung  Schmerzen  im  Herzen  entstanden,  schreckliches 
Klopfen  und  Gefühl  von  Erstickung  sich  beigesellten,  welche  Zufälle  mit  Ohn- 
mächten abwechselten. 

Bei  der  Sektion  fand  man  innerhalb  des  rechten  Herzohrs  und  der  rechten 
Kammer  einige  polypöse  Konkretionen  von  verschiedener  Größe  anhängen;  die 
größten  hatten  den  Umfang  einer  welschen  Nuß,  sie  nahmen  mehr  als  die  Hälfte 
von  den  Höhlen  des  rechten  Herzens  ein.  In  den  Häuten  des  Stammes  der 
Lungenschlagader,  einen  halben  Zoll  über  den  Klappen  derselben, 
entdeckte  man  eine  harte  steinigte  Substanz,  ungefähr  ein  halbes 
Quentchen  schwer,  welche  die  Höhle  der  Schlagader  sehr  verengerte. 
Lungen  ohne  Geschwüre.  Es  heißt  dann:  „Wer  sieht  nicht,  daß  die  Zufälle  dieser 
Kranken  Folge  der  Verengerung  der  Lungenarterie  waren,  wie  bei  der  Blausucht 
und  bei  Klappenfehlern.'* 

Gelegentlich  der  ausführlichen  und  für  seine  Zeit  geradezu  epoche- 
machenden Besprechungen  über  Angina  pectoris  kommt  Kreysig  (1.  c. 
II.  Th.,  1.  Abschn.,  S.  525)  bei  dem  Abschnitte,  der  über  Verwechslung 
der  Angina  pectoris  mit  Fehlern  der  Klappen  und  Verengerungen  der 
groOen  Arterienstämme  nahe  am  Herzen  handelt,  auf  einen  hier  ein- 
schlägigen Befund  von  S  toll  er  zu  sprechen. 

Stöller  (Hufelands  Journal  der  prakt.  Heilk.  17.  Bd.,  2.  Stück)  fuhrt  einen 
komplizierten  Krankheitsfall  als  Angina  pectoris  an.  AnfäUe  von  Angst  und 
Schmerzen  auf  der  Brust,  die  in  die  Arme  ausstrahlten  bei  einem  56jäbr.  Manne, 
der  wiederholt  Pneumonien  überstanden  hatte  und  bei  dem  ein  Lungengescbwür 
aufging. 

Diese  Zufälle  legten  sich  nach  Aderlässen.  Nach  13  Jahren  kehrten  sie  wieder, 
bis  er  einem  erlag  (Januar  1792).  Bei  der  Sektion  fand  sich  nach  StGllers  eignem 
Bericht:  die  Lungen  überall  adhärent.  »Das  Herz  von  ungewöhnlicher  Größe,  aber 
schlaff  und  blutleer,  sonderlich  in  der  linken  Höhle.   Die  halbmondförmigen  Klappen 


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29]  I^ie  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  389 

der  Lungenpulsader  im  Zustand  der  Verknöcherung,  die  großen  Geflße  an  ihren 
Anfilngen  steif  und  knorpelicht  und  voll  von  dickem  schwarzen  Blut.  Die  Kranz- 
arterien und  Venen  wurden  leider  nicht  besonders  untersucht." 

Huguiers  (Mem.  sur  le  diagnost.  Arch.  gen.  de  med.  Fevr.  1834) 
Beobachtung  betrifft 

eine  73jihrige  Frau.  Seit  5—6  Jahren  krank.  Brustbeschwerden  und  Bron- 
chitis. Herzklopfen.  Sehr  unregelmäßige  Herztätigkeit.  Schmerzen  in  der  Herz- 
gegend. Nekropsie:  an  der  Trikuspidalklappe  mehrere  kleine  verknöcherte  Flecken. 
Die  Mundung  und  eine  Klappe  der  Pulmonalarterie  zeigen  verknöcherte  Verwach- 
sung.   Die  3  Klappen  etwas  verdickt. 

Die  Arteria  pulmonalis  von  ihrem  Ursprung  bis  zur  Bifurkation,  die  Aorta  von 
der  Konkavität  des  Bogens  bis  zum  2.  Lendenwirbel  fast  vollständig  verknöchert. 

Die  nicht  verknöcherten  Partien  sind  verdickt  und  viel  leichter  brüchig.  Die 
ganzen  verknöcherten  Plaques  finden  sich  in  Intima  und  Media.  An  einigen  Stellen 
die  innere  Haut  destruiert^  an  anderen  ulzeriert  Manche  Ossificationen  sind  gra- 
nuliert, über  das  Innere  des  Gefäßes  vorspringend. 

Bei  Tiedemann  (Von  der  Verengung  und  Schließung  der  Puls- 
adern in  Krankheiten.  Heidelberg,  Leipzig  1843)  findet  sich  eine  Notiz 
über  einen  Fall  der  Literatur,  der  zweifellos  als  Thromboarteriitis 
pulmonalis  zu  gelten  hat  (S.  140)  (obwohl  derselbe  nicht  direkt  hier- 
her gehört  bietet  er  doch  einiges  Interesse). 

„Die  Lungenpulsader  kommt  ebenfalls  bisweilen  entzündet  vor  und  ihre  innere 
Haut  schwitzt  gerinnbare  Lymphe  aus,  wie  aus  folgender  Beobachtung  (L'£sp6rance 
1835, 5.  mart.  no.  25)  erhellt.  Eine  Wäscherin  wurde  nach  einer  heftigen  Verkältung 
von  Magenschmerz,  großer  Beklemmung  des  Atems  und  heftigem  Fieber  befallen. 
Plötzlich  wurde  ihr  Antlitz  aufgetrieben  und  blaurot.  Die  Augen  traten  vor  und 
die  Kranke  fiel  besinnungslos  nieder.  —  Bei  der  Sektion  fand  man  das  Herz  von 
großem  Umfang  und  mit  schwarzem  dickflüssigem  Blute  gefüllt.  Die  rechte  Kammer 
enthielt  ein  großes  schwärzliches  Blutkoagulum,  welches  ihren  Wandungen  fest  an- 
hing und  sich  in  die  Lungenpulsader  und  ihren  größeren  Verzweigungen  fortsetzte. 
Die  innere  Haut  dieser  Arterie  war  rauh,  flockig  und  zeigte  hier  und  da  kleine  weiß- 
liche Flecken,  an  denen  das  Blutgerinnsel  fest  ansaß.  An  mehreren  Stellen  konnte 
man  membranöse  Schichten  ablösen,  welche  Faserstoff  oder  plastischer  Lymphe 
glichen.    Die  innere  Haut  ließ  sich  leicht  stückweise  ablösen.^ 

Adlers  (NonnuUae  de  morbis  arteriae  pulmonalis.  Dissert.  Vratis- 
laviae  1855): 

40jähriger  Kranker  zeigte  Schmerzen  in  der  Brust,  Husten  und  Engatmigkeit. 
Hämoptoe.    Anämie.    Plötzlicher  Exitus. 

Dieser  Fall  von  Pulmonalsklerose  mit  Thrombose  ist  dadurch  ausgezeichnet, 
daß  keine  Klappenaffektionen  und  keine  Sklerose  der  übrigens  engeren  Aorta  vor- 
handen waren. 

Bei  Klinger  (Beobachtungen  über  die  Verstopfung  der  Lungen- 
arterie durch  Blutgerinnsel.  [Dieselben  wurden  während  der  früheren 
Assistentenzeit  des  Verf.  an  der  Würzburger  med.  Klinik  gesammelt.] 
Arch.  f.  physiol.  Heilkunde  1855,  XIV.  Jahrg.,  S.  362)  fand  ich  einen 
hierher  gehörigen  Kasus,  der  ebensowenig  wie  die  vorausgehenden 
Fälle  in  der  Literatur  berücksichtigt  wurde« 


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300  Adolf  Posselt,  [30 

Aus  der  Krankengeschichte  sei  nur  das  Relevante  gebracht  (S.  371). 

Fall  4.  Kunigunde  N.,  40  Jahre  alt.  21.  XL  1851  Aufnahme  im  Juliushospital. 
Diagnose:  Atheroma  arteriae  pulmonalisi). 

Pat.  ist  kräftig  gebaut,  will  von  Jugend  auf  brustleidend  gewesen  sein  und  oft 
an  Blutspeien,  Husten,  Dyspnoe  gelitten  haben.  Vor  7  Jahren  soll  dieses 
Übel  sich  so  gesteigert  haben,  daß  sie  über  1  Jahr  bettlägerig  war,  worauf  sie  sich 
einigermaßen  erholte.  Vor  3  Jahren  gesellte  sich  zu  ihren  asthmatischen  Zu- 
fällen Ödem  der  Füße,  seit  6  Wochen  war  ihr  Zustapd  sehr  quälend  und  die  by- 
dropischen  Erscheinungen  nahmen  mehr  überhand. 

Stat.  praes.:  Pat.  von  starkem  Körperbau  ist  etwas  abgemagert,  Hautfarbe 
livid,  Lippen  blaurot,  gedunsen,  ebenso  Wangen,  Petechien  auf  Brust, 
Bauch,  Extremitäten  und  Rücken:  Intumeszenz  der  Halsvenen,  leichte  Undulation 
derselben  ohne  Geräusch.  Hauttemperatur  kühl.  Puls  nicht  beschleunigt,  schwach, 
Orthopnoe,  pfeifende  Respiration,  40mal  in  der  Minute.  Mäßiger  Aszites  und 
Ödem  der  Füße.  Urin  sehr  spärlich,  enthält  keine  fremden  Bestandteile.  Scrobi- 
culum  cordis  gespannt,  hervorgetrieben,  schmerzhaft,  besonders  beim  Druck,  ebenso 
Schmerzen  im  rechten  Hypochondrium  (seit  6  Wochen). 

Herzchok  schwach,  an  gewohnlicher  Stelle  fühlbar.  Herzhypertrophie.  Herztöne 
normal,  schwach.  Zweiter  Pulmonalton  akzentuiert.  Verschiedene  Diuretika  und 
Drastika  ohne  Erfolg.  Digestion  gestört.  Beständiges  Würgen  und  Erbrechen. 
Letzteres  durch  Laudanum  gestillt. 

Anasarka  tritt  hinzu,  die  Schmerzen  im  rechten  Hypochondrium  nehmen  zu, 
das  Ödem  der  Füße  ist  enorm,  hiezu  kommt  Ödem  der  Genitalien.  Höchste  Dys- 
pnoe, besonders  paroxysmenweise,  Husten  gering.  Expektoration  fehlt.  Li  vor  des 
Gesichtes  ist  bedeutend,  die  Conjunctiva  bulbi  wird  ikterisch. 

26.  Dezember,  deplorabler  Zustand.  Pat.  ist  am  ganzen  Körper  geschwollen, 
Stickparoxysmen,  verbunden  mit  Würgen  und  Erbrechen.  Im  Urin  sind  Spuren  von 
Gallenfarbstoff  nachweisbar.    28.  Dezember  letaler  Ausgang. 

Sektion:  Allgemeiner  Hydrops. 

Perikardium  stark  ausgedehnt,  hat  die  Lungen  ganz  zurückgedrängt,  enthält  ca. 
18  Unzen  einer  hellen  ikterischen  Flüssigkeit,  mehrere  Sehnenflecke  nebst  fadeo- 
artigen  Adhäsionen  zwischen  den  beiden  Blättern,  Herz  sehr  ausgedehnt  und  groß, 
besonders  der  rechte  Ventrikel  stark  dilatiert  und  hypertrophisch,  im  rechten  Herz- 
ohr ein  großes,  altes  Gerinnsel,  die  Ventrikel  und  Vorhöfe  beiderseits  gefüllt  mit 
cruorreichen  Gerinnungen.  Klappen  normal.  Lungen  an  den  Spitzen  verwachsen, 
im  linken  Pleurasack  etwas  seröses  Exsudat,  im  rechten  ein  großes,  abgesacktes 
seröses  Exsudat  zwischen  Wirbelsäule,  Zwerchfell  und  Lunge,  die  in  ihrem  untereo 
Lappen  luftleer  komprimiert  ist;  die  übrigen  Partien  der  rechten  wie  linken  Lunge 
sind  lufthaltig,  etwas  hyperämisch  und  ödematös.  Bronchien  stark  gerötet,  besonders 
links,  wo  an  einzelnen  Stellen  die  Hyperämie  bis  zu  Extra vasation  in  der  Schleim- 
haut gediehen  ist. 

Die  Innenfläche  der  Arteria  pulmonalis,  besonders  in  den  Ver- 
zweigungen ersten  und  zweiten  Grades  sehr  dilatiert,  fettig  athero- 
matös  degeneriert  (die  Aorta  zeigt  auffallend  wenig  atheromatöse 
Stellen),  kleinere  Pulmonaläste  (von  der  Größe  eines  Gänsefeder- 
kieles)  sind  an  mehreren  Stellen  durch  Gerinnsel  verstopft 


1)  Ob  diese  Diagnose  „intra  vitam'  gestellt  wurde,  ist  nicht  ersichtlich.  Aach 
findet  sich  keinerlei  epikritische  Bemerkung  oder  Motivierung  für  sie. 


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31]  Die  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  391 

LancereauXy  Note  relative  a  quelques  faits  d'obstruction  des 
vaisseaux  veineux  et  de  Tartere  pulmonaire;  caract^res  non  douteux 
de  caillots  emboliques;  produits  organis6s  (n6o-membranes)  au  sein 
de  Tartöre  pulmonaire  et  des  veines,  Comptes  rendus  de  la  Soc.  de 
biologie  1861,  XIIL  ann.  t.  III,  p.  119 

berichtet  1.  (S.  124)  über  einen  70jährigen  Mann,  Schuster,  Alkoholiker  mit 
Dyspnoe,  gedunsenem  blaurotem  Gesicht.  Diagnose  einer  Dilatation  des  rechten 
Herzens,  Lungenödem.  Gestorben  19.  Mai  1861.  Bei  der  Nekropsie:  Herzvergröße- 
rung, Erweiterung  und  Verfettung  des  rechten  Ventrik.  Thrombot.  Verstopfung  der 
Teilung  des  rechten  Astes  der  Pulmonalis.    Befund  an  der  Art.  pulmon.: 

„Dilatation  \€ghre  de  l'art&re  pulmonaire  ä  la  surface  de  laquelle  apparaissent 
de  nombreuses  piaques  jaunätres  un  peu  dures  et  saillantes;  assez  fr6quentes  dans 
les  grandes  divisiöns,  ces  piaques  deviennent  beaucoup  plus  rares  dans  les  petites.* 
Hypertrophie  und  Dilatation  des  linken  Herzens.  Alteration  der  Koronararterien 
und  der  Arterien  der  unteren  Extremitäten. 

2.  57j8hrigen  Mann,  Juwelier,  mit  einem  Herzleiden,  speziell  Mitralstenose. 
Ödem  der  unteren  Extremitäten,  Rasseln  auf  der  Lunge.  Exzessive  Dyspnoe.  Ober- 
stand Rheumatismus  und  Pneumonie.    Gestorben  20.  Juni  1861. 

Autopsie:  Reehte  Lunge  angewachsen. 

Ausgedehnte  Thrombose  der  Pulmonalis. 

Befund  an  der  Lungenarterie:  „Cette  art^re  est  dilat^e,  sa  paroi  6paissie  offre 
ä  sa  surface  interne,  rougeätre,  inject6e  sur  quelques  points,  d'abondantes  piaques  > 

jaunätres  et  graisseuses.''  ^"'"^ 

Das  linke  Ostium  atrioventriculare  verengt  und  kaum  für  den  kleinen  Finger^^.Vv)  <r|^**^<..^ 
durchgängig,  das  korrespondierende   Herzohr   hypertrophiert.    In   der  Höhe   der     Cc-^-v^«'-^ 
Botallischen  Öffnung  trifft  man  eine  Membran  von  1—2  cm  Länge ,  am   Gewebe  *?  r=^  >  v^  w^  V 
adhärent,  aus  Bindegewebe  bestehend.  v^iw^Vy,.^. 

Verf.  glaubt,  daß  das  organisierte  Produkt  (Endarteriitis)  der  fibrinösen  Thromben- 
bildung vorausgegangen  ist,  daß  es  die  Ursache  und  nicht  die  Folge  war. 

Den  mikroskopischen  Befund  erbringt  er  in  einer  weiteren  Mitteilung  1.  c.  p.  162. 

Weitere  Berichte  gibt 

Martineau,  D6gen6rescence  ath6roinateuse  des  art^res  pulmo- 
naires  droite  et  gauche;  r6tr6cisseinent  et  insufiisance  de  Torifice 
mitral;  apoplexie  pulmonaire;  caillots  dans  les  dernidres  ramifications 
des  art^res  pulmonaires.  Comptes  rend.  de  la  Soc.  de  biologie  1861) 
Xin.  ann.)  p.  163. 

39jährige  Näherin.  Herzpalpitationen,  Oppression,  unregelmäßiger  Herzschlag. 
Insuffizienz  der  Mitralis,  Hämoptoe  (hämorrh.  Infarkte). 

Sektion:  Hypertrophie  der  rechten  Ventrikelwand.  Aortenklappen  normal. 
Einige  atheromatöse  Plaques  an  der  Intima  der  Aorta,  sonst  aber  an  keinem  andern 
Teil  des  arteriellen  Systems.  Stamm  und  beide  Äste  der  Arteria  pulmonalis  ohne 
pathol.  Veränderung. 

Atheromatöse,  fettige  Entartung  der  Zweige  der  Pulmonalarterie,  hochgradig  in 
den  kleinsten  Ästen,  besonders  der  zu  den  hämorrhagischen  Herden  fuhrenden,  in 
denselben  fibrinöse,  festhaftende,  das  ganze  Kaliber  verstopfende  Pfropfe. 

Für  das  Entstehen  dieser  macht  Verf.  die  fettige  und  atheromatöse  Entartung 
der  Pulmonalarterienäste  und  die  Herzaffektion  verantwortlich. 


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392  Adolf  Posselt,  [32 

Derselbe,  Caillots  dans  les  artöres  pulmonaires  droite  et  gauche; 
d6g6n6rescence  ath6romateuse  de  ces  art&res;  apoplexie  pulmonaire; 
retrecissement  et  insuffisance  de  l'orifice  auriculo-ventriculaire  gauche. 
Comptes  rendus  des  s6anc.  de  la  Soc.  de  biologie  Paris  1861,  XIII. 
Ann.,  p.  106  (Klinik  Tardieu). 

54jährige  Taglöhnerin.  Früher  rheumatische  Schmerzen.  Seit  2  Jahren  Herz- 
klopfen. 5  Tage  vor  Spitalseintritt  Ödem  der  Beine.  Asthmatische  Anfllle.  Status: 
Lungenemphysem  und  Bronchitis.  An  der  Herzspitze  systol.  Geriusch.  Puls  klein, 
weich,  sehr  frequent. 

Später  hämorrhagische  Sputa,  zunehmende  Dyspnoe,  Herzschwäche. 

Autopsie:  Die  Äste  der  Lungenarterie  sind  der  Sitz  einer  bemerkenswerten 
Veränderung,  die  sich  jedoch  in  beiden  nicht  in  gleicher  Stärke  zeigt. 

In  der  linken  Lunge,  wo  man  weniger  zahlreiche  und  weniger  Tolumindse  hä- 
morrhagische Herde  trifft  als  in  der  rechten,  sieht  man  in  dem  zum  Unterlappen 
ziehenden  Lungenarterienast  da  und  dort  an  der  Innenfläche  des  Gefäßes  gelbliche 
sehr  harte  atheromatöse  Stellen.  Beim  Aufechneiden  begegnet  man  denselben 
hauptsächlich  nur  in  solchen  Zweigen,  die  zu  den  hämorrhagischen  Stellen  fuhren. 
Zugleich  ist  in  einer  gewissen  Entfernung  das  Kaliber  der  Arteriolen  völlig  obli- 
teriert durch  einen  schwärzlichen  Pfropf,  der  an  der  Innenfläche  des  Gefäßes  fest- 
haftet.  Die  gleiche  Veränderung  trifft  man  in  den  andern  zu  den  genannten  Herden 
ziehenden  Arteriolen. 

In  der  rechten  Lunge  läßt  sich  die  gleiche  Läsion  der  Pulmonalarterie  kon- 
statieren.   Nur  ist  hier  der  Prozeß  in  noch  viel  höherem  Grade  vorhanden. 

Der  zum  Unterlappen  ziehende  Ast  ist  durch  einen  harten,  an  der  Peripherie 
gelblich  gefärbten  Pfropf  vollständig  verlegt.  Derselbe  ist  im  Zentrum  mehr 
schwärzlich  und  adhäriert  an  der  Innenfläche. 

Die  Thrombenbildung  setzt  isich  fort  in  die  Verzweigungen  der  Arterien,  vor- 
zuglich der  zu  den  hämorrhagischen  Infarzierungen  führenden. 

Die  atheromatöse  Veränderung  ist  viel  ausgeprägter  als  in  der  linken  Arterie 
Die  gelblichen  Plaques  sind  sehr  hart,  viel  ausgebreiteter  und  umgreifen  das  ganze 
Kaliber  der  Geßße.  Diese  Veränderung  trifft  man  jedoch  nicht  in  den  zu  gesunden 
Lungenpartien  führenden  Zweigen  des  Gefäßes. 

Das  Mitralostium  war  der  Sitz  sehr  schwerer  endokarditischer  Ver- 
änderungen.   Die  Aortenklappen  intakt.    An  der  Aorta  mäßige  Atheromatöse. 

Hinsichtlich  seiner  Beobachtung  gelangt  Martineau  zu  folgender  Annahme: 
Die  primäre  Ursache  der  Lungenhämorrhagien  wäre  in  der  Veränderung  der  Lungen- 
arterie gelegen,  hierzu  gesellte  sich  die  hochgradige  organische  Herzläsion,  durch 
Zusammenwirken  dieser  beiden  Ursachen  kam  es  im  Verlaufe  der  Blutstauung  in 
diesen  gewissen  Arterien  zur  Bildung  der  Thromben  in  den  Pulmonalarterien. 

J.  Klob  (Bericht  über  die  Ergebnisse  der  in  der  pathol.  anatom. 
Anstalt  des  k.  k.  Krankenhauses  Rudolph-Stiftung  vorgenommenen 
Obduktionen.  Bericht  der  k.  k.  Krankenanstalt  Rudolph-Stiftung  in 
Wien  vom  Jahre  1865.  Wien  1866)  liefert  die  Beschreibung  eines 
primären  Falles: 

S.  185.    Endarteriitis  pulmonalis  deformans. 

„Die  Endarteriitis  deformans  in  der  Pulmonalarterie  wird  besonders 


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33]  I>>e  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  393 

dann  das  Interesse  des  Anatomen  in  Anspruch  nehmen,  wenn  sie  die 
gleichartige  Erkrankung  in  der  Aorta  übertrifft,  oder  aber  gar  ohne 
diese  vorkommt,  wie  dieses  in  einem  Falle  beobachtet  wurde. 

Soweit  reicht  nun  vielleicht  das  Interesse  des  Anatomen  allein, 
wenn  nun  aber  infolge  dieser  Erkrankung  so  erhebliche  Verände- 
rungen in  der  Kapazität  der  Lungenarterienbahn  entstehen,  daß  all- 
gemeine Zirkulationsstörungen  bis  zum  allgemeinen  Hydrops  auftreten, 
dann  muß  auch  der  praktische  Arzt  Notiz  von  einem  Falle  nehmen, 
dessen  anatomische  Veränderungen  sich  nicht  nur  in  einen  rein 
logischen  Kausalnexus  bringen  lassen,  welcher  auch  einigen  Anhalts- 
punkt zu  einer  Diagnostik  derartiger  Erkrankungen  liefern  dürfte.*^ 

SOjähriger  Pfründner.  Allgem.  Hydrops  und  Zyanose.  Anämie  und  leichtes 
Ödem  der  Lungen,  exzentrische  Hypertrophie  des  rechten  Ventrikels  mit  starker 
Dilatation  des  rechten  Vorhofes.  Pulmonalarterie  im  Stamme  weit,  die  Innenfläche 
derselben  sehr  ungleichförmig,  stellenweise  wie  parallel  runzelig,  stellenweise  in 
Plaques  der  unregelmäßigsten  Form  und  Größe  prominierend. 

In  ihren  Verästlungen  in  der  Lunge  ebenfalls  Verdickung  der  Intima,  welche 
mitunter  so  bedeutend  ist,  daß  ein  querdurchschnittener  Ast  das  Lumen  stark  ex- 
zentrisch erkennen  läßt.  Etwa  von  den  Ästen  3.  Ordnung  an  läßt  sich  im  all- 
gemeinen behaupten,  daß  das  Lumen  der  Arterien  auffällig  enger  wurde,  so  daß 
dasselbe  am  Durchschnitte  von  Ästen  5.-6.  Ordnung  kaum  nadelstichgroß  erschien, 
wobei  das  starre  Gefäß  eine  Wanddicke  von  nahezu  1  mm  (also  2  mm  Durchm.) 
hatte,  so  daß  diese  Äste  als  feste  weißgelbe  Stränge  die  Lungensubstanz  durch- 
setzten. 

Es  wurde  also  durch  die  Endarteriitis  deformans  eine  Verengerung  der  Lungen- 
arterienbahn in  bedeutendem  Grade  hervorgerufen,  aus  welcher  sich  die  übrigen 
anatomischen  Veränderungen  leicht  erklären  lassen.  Die  Lunge  war  entsprechend 
blutarm,  doch  hatte  natürlicherweise  ihre  Ernährung  nicht  gelitten.  Die  Bronchial- 
blennorrhöe  ist  vielleicht  auch  daraus  zu  erklären,  daß  infolge  des  abnehmenden 
Blutdruckes  in  den  Kapillaren  zwischen  Lungenarterie  und  Venen  eine  Hyperämie 
des  nutritiven  Gefäßapparates  der  Lungen  zustande  kam. 

In  ähnlicher  Weise  wie  die  französischen  pflegen  die  englischen 
Autoren  bereits  im  umfangreichen  Titel  ihrer  Mitteilung  den  Befund 
niederzulegen. 

Conway  Evans,  Mode  of  causation  of  arterial  atheroma;  illu- 
strated  by  a  case  of  atheromatous  disease  of  the  pulmonary  artery,  in 
association  with  extreme  contraction  (congenital)  of  the  left  auriculo- 
ventricular  orifice  and  hypertrophy  of  the  right  ventricle.  Transact. 
of  the  pathol.  Soc.  1866,  vol.  XVII,  p.  90. 

Hjähriger  Knabe.  Hatte  vor  3  oder  4  Jahren  Husten  und  Beklemmung  auf 
der  Brust,  speziell  während  des  Winters.  Vor  Spitalsaufnahme  beginnende  Ödeme 
im  Gesicht  und  den  Füßen;  konnte  jedoch  noch  arbeiten.  Niemals  Polyarthritis 
oder  eine  andere  schwerere  Krankheit.  —  Gerötete  Wangen,  ängstlicher  Ausdruck» 
schnelle  Atmung,  Orthopnoe.  Sternum  ungewöhnlich  vorgewölbt,  respirat.  Thorax- 
verschiebbarkeit  vermindert.    Vesikul.  Atmen  mit  lauten  Rasselgeräuschen.     Deut- 

Klln.  Vortrage,  N.  F.  Nr.  £04/07.    (Innere  Medizin  Nr.  149/52.)    Okt.  1908.  28 


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394  Adolf  Posselt,  [34 

lieh  systolisches  Geräusch  an  der  Herzspitze.  Puls  80,  regelmäßig.  Ödeme  und 
Aszites.    Kein  Albumen. 

Diagnose:  MitralaffeXtion,  Bronchitis  und  Emphysem.  3  Wochen  nach  der 
Aufnahme  Tod.  Sektion:  Lungenkongestion  und  Emphysem,  besonders  des  rechten 
Randes.  Herzhypertrophie,  speziell  Dilatation  und  Hypertrophie  des  rechten  Ven- 
trikels, derselbe  verdickt.  Linker  Vorhof  und  Aurikel  erweitert.  Rechtes  Atrio- 
ventrikularostium  stark  erweitert. 

Pulmonalarterie  erweitert,  ihre  Auskleidung  bis  zur  Teilung  stark  verdickt, 
Wandung  dicker  als  die  der  Aorta.  Die  Innenfläche  besetzt  mit  zahlreichen  gelb- 
lichen Atheromplaques  sowohl  im  Stamm  als  in  den  Verteilungen.  Aorta  von 
gewöhnlicher  Dicke  der  Wand,  aber  verengert,  kein  Atherom  in  Aorta  oder  größeren 
Gefäßen.  Alle  drei  Aortenklappen  verkürzt  und  verdickt  (kongenital?).  Mitralostiom 
verengt  (trichterartig). 

Ein  kombiniertes  Vitium  betrifft  nachstehender  Kasus: 

Deroye  (Bullet,  de  la  Soc.  anatom.  1870,  p.  166.  Höpital  de  la 
Pitie,  serv.  de  M.  le  pro  f.  Lasfegue). 

44jährige  Näherin.    Eintr.  11.  Febr.  1870. 

Nie  rheumatische  Beschwerden.  Immer  gesund.  Seit  vorigem  Dezember  Beine 
etwas  angeschwollen  und  zwar  gegen  Abend  zumeist  in  der  Maleolargegend.  Seit 
2  Jahren  hustet  sie  öfter  und  bekommt  leicht  Schnupfen.  Der  Atem  war  kurz,  bei 
geringen  Anstrengungen  Herzklopfen.  Vor  4  Tagen  ohne  besonderen  Grund  Hä- 
moptoe, die  noch  andauert,  dabei  intensive  Dyspnoe  und  rasche  Zunahme  der  An- 
schwellungen. Status:  Lupus  im  Gesicht,  Respiration  erschwert.  Sehr  starke 
Anasarka. 

Verbreiterte  Herzpulsation.  Bei  der  Auskultation  zwei  Geräusche.  Das  eine, 
systolische,  sehr  deutlich  an  der  Herzspitze,  das  andre,  diastolische,  an  der  Basis, 
aber  weniger  ausgeprägt,  reichliches  Rasseln.  Jugularvenen  ausgedehnt,  jedoch 
kein  Venenpuls  bemerkbar.  Links  pleurit.  Reiben.  Reichliches  Rasseln  über  den 
Lungen.    L.  v.  o.  kavernöses  Rasseln.    Exitus  24. 

Sektion:  Rechte  Lunge  angewachsen.  Hepatisationen  und  Erweichungen.  Im 
rechten  Oberlappen  bronchiektat.  Kaverne.  Embolien,  Infarktbildungen,  pneumo- 
nische Infiltrationen.  Linke  Lunge  innig  mit  dem  Perikard  verwachsen.  Concretio 
pericardii.  Linker  Oberlappen  emphysematös.  In  den  hinteren  Partien  Embolie 
und  Blutungsherde. 

Herz  enorm,  Aorteninsuffizienz,  Stenose  und  Insuffizienz  des  Mitral- 
ostiums.  Die  Oberfläche  der  Aorta  zeigt  nirgends  im  Verlaufe  Atherom- 
b  11  düng,  bloß  zwei  Semilunarklappen  sind  verdickt  und  atheromatös. 

Die  Pulmonalarterie  dagegen  zeigt  an  ihrer  Innenfläche  gelbliche, 
nicht  ulzerierte  atheromatöse  Erhabenheiten.  Obwohl  die  Klappen  der 
Pulmonalarterie  weich  und  zart  sind,  trifft  man  am  freien  Rand  einer  derselben 
einen  kleinen,  harten,  hervorragenden  Tumor  von  Erbsengröße.  An  einer  andern 
Klappe  sind  kleine  gelbliche  Granulationen  von  gleicher  Natur  vorhanden.  Ver- 
größerte harte  Mußkatnußleber. 

Einen  Fast  analogen  Fall  weiß  Cadet  de  Gassicourt  (Bull,  de  U 
Soc.  anat.  1872,  p.  248.  Hopital  Saint- Antoine.  [VI.  Beob.  bei  Saune])^) 
zu  berichten. 


1)  Path.- anat.  Bericht:   Rosapelly,   Etat  scl6ro-ath6romateux   de  l'artdre  pol- 
monaire  droit;  aIt6rations  des  valvules  pulmonaires,  tricuspide;   caillot  autocbtooe 


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35]  Die  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  305 

37jihriger  Tischler  (April  1873)  gibt  an,  HSmoptöe  gehabt  zu  haben,  vor  einigen 
Monaten  rechtsseitige  Pleuritis.  Rechtss.  pleurit.  Erguß  zu  konstatieren;  über  der 
oberen  Hälfte  derselben  Seite  ergibt  die  Auskultation  Zeichen  einer  sehr  vorge* 
schrittenen  Phthise.    Starke  Dyspnoe,  bis  zur  Orthopnoe. 

Das  abgemagerte  Gesicht  zyanotisch.  Puls  klein,  unregelmäßig,  heftige  Herz- 
aktion, Halsvenen  turgescent.  Blasendes  Geräusch  an  der  Herzspitze.  Die  Gegen- 
wart der  Mitralläsion  zusammen  mit  der  LungenafPektion  erklärt  zur  Genüge  die 
Schwere  des  Allgemeinzustandes.    Exitus  4.  Mai. 

Sektion:  Bei  Eröffnung  des  Thorax  finden  sich  2  I  Flüssigkeit  in  der  rechten 
Pleurahöhle. 

Das  Herz  ist  voluminös,  links  eher  hypertrophisch,  rechts  dilatiert  Stenose 
und  Insuffizienz  des  Mitralostiums  und  der  Aorta.  Im  Bogen  der  Aorta 
einige  kleine  atheromatöse  Flecken.  Ebenso  wenige  erhabene  atheromatöse  Plaques 
in  dem  linken  Herzohr. 

Im  rechten  Herzen  trifft  man  keine  ähnlichen  Veränderungen,  als  am  Ursprung 
der  Lungenarterie,  wo  zahlreiche  atheromatöse  Plaques  vorhanden  sind. 
In  der  rechten  Lunge  Stauung,  im  Mittellappen  hämorrhagischer  Herd.  Der  rechte 
Lungenarterienast  erweitert,  verdickt,  die  innere  Oberfläche  uneben 
infolge  barter  atberomatös«r  Plaques  von  hornartigem  Aussehen. 

Thrombotischer  Pfropf  in  dem  Pulmonalarterienast  beider  hämorrhagischer 
Herde. 

Die  Intima  der  Pulmonalarterie  ist  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung 
verdickt,  sie  zeigt  eine  große  Menge  von  Plaques  und  Unebenheiten, 
deren  Struktur  analog  ist  denen,  welche  sich  in  der  Aorta  entwickeln. 

Sie  bestehen  aus  Lamellen  von  homogener  Substanz,  in  deren  Interstitien  sich 
zellige  Elemente  finden  mit  Fortsätzen.  In  der  unmittelbaren  Nachbarschaft  der 
Media  sind  diese  zelligen  Elemente  ersetzt  durch  vereinzelte  oder  gehäufte  fettige 
Granulationen  in  Form  länglicher  Haufen.  Andre  Plaques  sind  atheromatös  in 
ihrer  ganzen  Dichte.  Der  Thrombus  im  rechten  Zweige  der  Pulmonalarterie  hängt 
an  der  Wand  im  Bereiche  eines  Sklerosen  Plaque  und  zeigt  an  jener  Stelle  in 
einer  Ausdehnung  von  2—3  mm  den  Anfang  einer  Organisation.  Er  enthält  an 
dieser  Stelle  Elemente  von  bindegewebiger  Beschaffenheit  ähnlich  der  Intima, 

Yeos  (Disease  of  the  pulmonary  arter ies;  hypertrophy  of  the 
right  ventricle.  Dublin  Qu.  I.  M.  Sc.  1873,  LV.  May,  p.  480)  Bericht 
besagt  folgendes: 

Eine  Frau,  welche  bereits  schon  vor  längerer  Zeit  an  Rheumatismusanfällen 
mit  Endokarditis  litt,  zeigte  ausgesprochene  Erscheinungen  von  Mitralstenose.  Es 
bestanden  öfters  AnßUe  von  Dyspnoe,  Zyanose,  Husten,  Hämoptoe  und  Herz- 
klopfen. 

An  der  Spitze  des  Herzens  hört  man  ein  lautes  systolisches,  an  der  Basis  ein 
leises,  doppeltes  Geräusch. 

Zuletzt  Ödeme  und  Aszites. 

Obduktion:  Hypertrophie  des  rechten  Ventrikels;  der  rechte  war  in  seiner 
^and  dicker  als  der  linke,  die  Semilunarklappe  intakt,  die  Trikuspidalklappe  leicht 


dans  le  tronc  de  cette  art^re;  infarctus  pulmonaires.  Mort,  autopsie.    Bull,  de  la 
Soc.  anat.  Paris  1872,  XLVII,  2.  s.,  t.  XVII,  p.  248. 

28* 


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396  Adolf  Posselt,  [36 

verdickt.  Die  Mitralklappe  ist  verdickt,  verhärtet,  ihr  Orificium  faßt 
nur  die  Spitze  des  kleinen  Fingers.  Die  Aortenklappen  sind  ebenfalls  erkrankt, 
die  Aorta  ist  gesund,  der  linke  Ventrikel  etwas  hypertrophiert.  Lungen  empbyse« 
matös,  ihr  vorderer  Rand  infiltriert;  mehrere  hämorrhagische  Infarkte. 

Die  Pulmonalarterie  ist  von  den  Semilunarklappen  angefangen  bis  in  die 
feinsten  Verzweigungen  erkrankt.  Sie  ist  unregelmäßig  erweitert  und  hat  ihre 
Elastizität  verloren.  Ihre  Intima  ist  durchgehends  von  harten,  vorherrschend 
gelben  Flecken  besetzt,  von  denen  einige  an  ihrer  Oberfläche  rauh  sind 
und  das  gewöhnliche  Aussehen  atheromatöser  Ulzerationen  haben. 

Die  Erkrankung  scheint  ihren  stärksten  Grad  in  den  kleineren  Ästen  erreicht 
zu  haben,  einen  geringeren  jedoch  in  der  unmittelbaren  Nähe  des  Herzens.  Die 
zu  den  Lungeninfarkten  führenden  Gefäße  sind  durch  Fibrinpfrdpfe  obliteriert, 
welche  fest  an  der  Gefäßwand  haften. 

Wegen  des  klinischen  Symptoms  der  Hämoptoe  verdient  nach- 
folgende Notiz  mit  anschließender  Diskussion  Beachtung. 

Vignier,  Bulletins  de  la  Soci6te  anatomique,  Paris  1873,  p.  526,  berichtet  über 
den  Herzbefund  bei  einem  mit  sehr  starkem  Herzklopfen  und  mit  einem  alten  Herz- 
leiden behafteten,  plötzlich  verstorbenen  Kranken. 

Man  fand  bei  der  Autopsie  eine  hochgradige  Stenose  der  Mitralis,  atheromatöse 
Plaques  in  der  Pulmonararterie  und  infarktähnliche  Herde  in  der  Lunge.  In  der 
Nachbarschaft  dieser  Herde  waren  die  Arterien  erkrankt.  Lancereaux,  welcher 
die  Präparate  sah,  erklärt  diese  Erkrankung  als  Arteriitis.  Es  existieren  in  ähnlicher 
Weise  Infarkte  in  Nieren  und  Milz.  Demnach  der  große  und  kleine  Kreislauf  in 
gleicherweise  erkrankt  ist.  Vignier  vertritt  den  Standpunkt,  daß  das  rechte  Herz 
intakt  und  die  Lungenarterie  erkrankt,  während  das  schwer  erkrankte  linke  Herz 
das  Blut  in  eiqe  nahezu  gesunde  Aorta  befördert. 

Charcot  glaubt,  daß  hier  zwei  Störungen  zusammentreffen,  die  eine  in  den 
Lungenarterien,  die  andre  im  Parenchym  der  Lunge  selbst,  und  daß  es  unmöglich 
ist,  zu  sagen,  welche  von  diesen  beiden  vorausgegangen,  ob  die  Arteriitis  die  Ur- 
sache oder  die  Folge  der  (hämorrhagischen)  Infarktherde  war. 

Voisin,  Bulletins  de  la  Soc.  anatomique  1874,  p.  517.  (Höpital 
temporaire  de  la  rue  de  Sövres,  Serv.  de  M.  Damaschino.)  3,  Beob. 
bei  Saune. 

45jähriger  Kunsttischler,  eingetreten  2.  April  1874. 

Während  des  Krieges  1870  bekam  er  ein  Erkältungsfieber,  das  den  Winter  über 
dauerte  und  sich  in  den  folgenden  Jahren  während  der  kalten  Jahreszeit  wiederholte. 

1873  Hämoptoe,  angeblich  1  1  Blut  ausgehustet.  Seitdem  schwanden  die 
Kräfte  und  er  mußte  die  Arbeit  aufgeben.  Er  bekam  Atembeschwerden,  Herz- 
klopfen, Gesicht  wurde  zyanotisch.  Nachtschweiße.  5  Tage  vor  Spitalseiotritt 
Ödem  der  Beine,  bis  zu  den  Knien.  15.  April  auffällige  Zyanose,  Lippen  blau. 
Jugularvenen  ausgedehnt,  Venenpuls.  Herzstoß  nicht  fühlbar,  leichte  Voussure. 
Dämpfung  vergrößert,  im  Längsdurchmesser  12—13  cm  messend,  bis  zur  Mitte  des 
Stern  ums  reichend.  Verlängerte  Systole  an  der  Spitze.  Systol.  Geräusch  am  Angul. 
Ludovici,  am  Rand  des  Sternums  das  Geräusch  sehr  deutlich,  manchmal  verdoppelt 
An  der  Basis  der  2.  Ton  etwas  klingend.  Puls  klein,  unregelmäßig.  Arterien 
atheromatös. 

Ober  der  Lunge  Rasselgeräusche,  über  beiden  Spitzen  kavernöse.  Eitriger 
Auswurf.    Abends   etwas  Fieber.    20.  April:  Ödeme  stärker,  ebenso  die  Zyanose. 


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37]  I>ie  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  397 

SpSter  Aszites.    Rasseln  in  der  Lunge  sehr  reichlich.    Digitalis.    Schlechtes  All- 
gemeinbefinden.   25.  Exitus. 

Autopsie:  Das  Herz  beträchtlich  vergrößert.  Trikuspidalinsuffizienz,  jedoch 
keine  Störung  im  linken  Herzen.  Die  Aorta  zeigt  bloß  einige  atberomatöse 
Stellen.  Die  Lungenarterie  dagegen  weist  zahlreiche  atberomatöse 
Plaques  auf,  welche  man  bis  zu  den  kleinen  Endverzweigungen  ver- 
folgen kann.  In  der  rechten  Lungenspitze  weite  Kaverne  im  verdichteten  Gewebe. 
Im  übrigen  zerstreute  (Knötchen)  Granulationen.  In  der  linken  Spitze  Kaverne, 
2  Finger  breit,  das  Gewebe  weniger  verdichtet  als  rechts.  Alte  verkreidete  Tuberkel 
und  disseminierte  Knötchen. 

Saune,  De  Fathörome  de  l'artfere  pulmonaire.  Thfese  de  Paris 
1877,  no.  367.    Beobachtung  (Höpital  de  Pitie,  Prof.  Peter). 

38  jähriger  Diener,  Eintritt  26.  L  1877,  leidet  an  Herzklopfen  beim  Gehen, 
welches  jede  Arbeit  unmöglich  macht.  Beträchtliche  Dyspnoe  und  Ödem  der  Beine. 
Die  Herzpalpitationen  bestehen  schon  lange,  denselben  sind  Attacken  von  Gelenks- 
rheumatismus  vorausgegangen,  welchen  er  vor  12  Jahren  das  erste  Mal  hatte.  Seit 
der  Zeit  leidend.  Oppression,  schlechte  Verdauung.  Anämisch.  Sublkterische  Ver- 
färbung der  Skleren  und  der  Haut.  Wangen  leicht  zyanotisch.  Puls  klein,  unregelmäßig. 
An  der  Aorta  zweifaches  Geräusch  (Insuffic.  et  Stenosis),  das  systolische 
ist  viel  stärker.  Präsystolisches  lang  dauerndes,  rauhes  Geräusch  über  der  Mi- 
tralis. Später  Abdominalpunktion.  Im  weiteren  Verlauf  Zunahme  der  Ödeme  und 
der  Atemnot.    Urinverminderung.    Tod  20.  März. 

Sektion:  Linke  Lunge  Lungenödem,  besonders  an  den  hinteren  Partien.  Ver- 
dickung der  adhärenten  Pleura.  In  den  Bronchien  der  rechten  Lunge  schleimig- 
eitriger Inhalt. 

Das  Herz  ist  enorm  vergrößert.  Das  festangewachsene  Perikard  kann  nur  mit 
großer  Mühe  abgelöst  werden.  Diese  Adhärenzen  sind  in  der  ganzen  Ausdehnung 
des  Perikards  vorhanden.  Die  Aortenklappen  sind  schlußunfähig,  sehr  stark 
verdickt,  geschrumpft,  das  Oriflcium  ist  leicht  verengt.  Unter  den  Klappen  rechts 
von  der  Mitralis  ist  ein  indurierter  Plaque  auf  dem  Endokard.  Zwei  Sehnen,  aus- 
gehend von  der  oberen  Partie  des  Papillarmantels,  inserieren  sich  an  der  Ven- 
trikelwand. 

Die  Mitralis  ist  sehr  deformiert  und  das  verengte  Oriflcium  nimmt 
eben  nur  die  Spitze  eines  Zeigefingers  auf.  Die  rechte  vordere  Klappe  ist 
geschrumpft  und  zeigt  am  freien  Rande  eine  Dicke  von  V2  cm.  Die  Sehnen,  die 
sich  an  ihr  inserieren,  sind  verdickt  und  verkürzt.  Die  hintere  Klappe  ist  eingerollt 
and  gleichmäßig  verdickt.  Der  rechte  Ventrikel  stark  ausgedehnt,  leichte  fettige 
Entartung.  Die  Pulmonalarterie  zeigt  atberomatöse  Plaques  in  der  Höhe 
der  Klappen.  Atberomatöse  Plaques  finden  sich  in  ihrem  Verlauf  in 
der  Lunge,  sind  unregelmäßig,  durchscheinend,  ein  wenig  vorspringend 
und  sind  namentlich  deutlich  am  Sporn  der  Bifurkation.  Die  Aorta 
ist  nicht  sehr  atheromatös,  man  findet  nur  sehr  kleine  Plaques  in  der  Höhe 
des  Aortenbogens.  Hydrops  ascites.  Intumescentia  hepatis.  Milzschwellung, 
perisplenitische  Flecke. 

G.  Crooke,  Pulmonary  endarteritis.  Transact.  of  the  Pathol.  Soc. 
London  1888,  XXXIX,  p.  61. 

34jähriger  Mann.  Als  Kind  Scharlach.  Vor  5  Jahren  Gelenksrheumatismus. 
Keine  Syphilis.   Vor  19  Monaten  Atembeschwerden,  Schmerzen  in  der  linken  Brust- 


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398  Adolf  Posselt,  [3g 

Seite  und  am  Rücken.  Wfihrend  der  ersten  Hälfte  dieses  Zeitraumes  konnte  er 
noch  arbeiten,  allmähliche  Verschlechterung.  Bei  der  Aufnahme  Dyspnoe,  leichte 
Ödeme. 

Herzspitzenstoß  im  5.  I.  R.  3/^  Zoll  außerhalb  der  Papillarlinie.  Lautes  systo- 
lisches Geräusch  über  dem  Mitral-  und  Trikuspidalostium  bis  zur  Axillarlinie. 
Leises  über  der  Aorta,  doch  nicht  über  dem  Pulmonarostium,  2.  Pulmonalton  stariL 
akzentuiert    Basalbronchitis.    Unter  größter  Atemnot  Exitus. 

Obduktionsbefund:  Stenose  des  Mitralostiums  mit  ihren  gewöhnlichen 
Folgen  und  außerdem  ausgedehnte  Atherombildung  an  den  Zweigen  der  Pulmonal- 
arterie,  stellenweise  Thrombenbildung  und  Bindegewebswucherung  in  der  Umgebung 
der  Gefäße;  der  Stamm  der  Arterie,  sowie  der  Conus  arteriosus  dexter  dilatiert 
Die  Arterien  des  großen  Kreislaufes  erschienen  dickwandig,  aber  frei  von  Atherom. 

Die  ausführlich  gegebenen  Krankengeschichten  der  beiden  primären 
Fälle,  welche  Romberg  und  Aust  beobachteten,  rechtfertigen  eine 
eingehende  Darstellung  ihrer  Befunde. 

E.  Romberg  (Ober  Sklerose  der  Lungenarterie.  [Aus  der  mediz. 
Klinik  zu  Leipzig.]  Deutsch.  Arch.  f.  klim  Mediz.  1891,  Bd.  48,  S.  197). 

Der  hereditär  nicht  belastete,  24  jährige  Pat.,  Gärtner,  hatte  als  Kind  die  Ma- 
sern, vor  11,2  Jahren  Muskelrheumatismus,  der  ohne  Fieber  verlief  und  bald  heilte. 
Nie  Gelenksrheumatismus.  Keine  luetische  Infektion.  Hat  stets  mäßig  gelebt.  Sein 
jetziges  Leiden  begann  ganz  allmählich  vor  ca.  IV4  Jahren  mit  Kurzatmigkeit, 
Druck  in  der  Magengegend.  Die  Kurzatmigkeit  nahm  immer  mehr  zu.  Zeitweise 
stellten  sich  Kopfschmerzen,  öfters  Schwindelanfälle  ein.  Gleichzeitig  fiel  der  Um- 
gebung des  Pat.  auf,  daß  seine  früher  gesunde  Gesichtsfarbe  bläulich  wurde. 
Namentlich  nach  körperlicher  Anstrengung  will  Pat.  oft  „blitzblau"  aus- 
gesehen haben. 

Trotz  seiner  Kurzatmigkeit  konnte  Pat.  bis  vor  wenigen  Wochen  seine  aller- 
dings nicht  schwere  Arbeit  verrichten.  Über  Herzklopfen  oder  stärkere  Anschwel- 
lung der  Füße  hat  Pat.  nie  zu  klagen  gehabt. 

Status  (28.  Juli  1890):  Kräftig  gebauter,  leidlich  genährter  Mann.  Maßige 
Dyspnoe. 

Resp.  24.  Leichter  Ikterus.  Hochgradige  Zyanose  der  Haut  und  der 
sichtbaren  Schleimhäute.  An  den  Wangen  und  der  Streckseite  der  Vorder- 
arme und  Hände  Haut  dunkelblau.  Keine  Ödeme.  Herzgegend  im  ganzen  etwas 
vorgewölbt. 

Eine  zunächst  als  Spitzenstoß  imponierende  systolische  Erschütterung  findet  sieb 
im  4.  I.  I.  R.  7,5  cm  links  von  der  Mittellinie,  deutlich  sichtbar  und  sehr  resistent 
Fortpflanzung  in  die  Umgebung. 

Neben  dieser  eine  schwache  systol.  Erschütterung  im  5.  I.  R.  in  der  linken 
Mammillarlinie.  Keine  epigastrische  Pulsation.  Die  Perkussion  ergibt  eine  starke 
Verbreiterung  der  Herzdämpfung  nach  rechts  und  links.  Die  relative  Dämpfung 
findet  sich  im  5.  r.  I.  R.  7  cm  rechts  von  der  Mittellinie,  links  vom  Sternum  an 
der  oberen  3.  und  im  5.  1.  I.  R.  15  cm  links  von  der  Mittellinie.  Im  Gegensatz  zo 
der  relativen  ist  die  absolute  Herzdämpfung  nur  nach  links  hin  verbreitert.  Ihre 
Grenzen  sind  an  den  genannten  Stellen  der  linken  Sternalrand,  obere  4.,  linke 
Mammillarlinie. 

ri:.  Bei  der  Auskultation  hört  man  in  der  Gegend  der  starken  Palsation,  am  lau- 
testen an  der  Stelle  des  scheinbaren  Spitzenstoßes  ein  systolisches,  weiches,  den 


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39]  I^ie  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  399 

1.  Ton  verdeckendes  Geräusch  und  am  Ende  der  Systole  ein  kurzes,  sehr  scharfes 
Geräusch.  \7ährend  das  1.  nur  im  3.  und  4.  I.  R.  hörbar  ist,  wird  das  2.  nach  der 
Auskultationsstelle  der  Pulmonalis  hin  sehr  deutlich  fortgeleitet.  Man  hört  hier 
vor  ihm  den  1.  und  nach  ihm  den  akzentuierten  2.  Pulmonalton.  Über  der  Aorta 
sind  die  Töne  sehr  viel  leiser  als  über  der  Pulmonalis.  Venen  des  Halses  nicht 
erweitert  Puls  klein.  Arterie  wenig  gefüllt^  weich.  Mäßiges  Volum,  pulmon.  auct. 
Leber  vergrößert.  Harn  konzentriert,  eiweiß-  und  gallenfarbstoffhaltig.  Subnormale 
Temperatur  des  Kranken  höchst  auffallend. 

Vom  10.  Aug.  an  Zyanose  zunehmend,  Puls  schwächer.  Dann  starke  den 
Atem  versetzende  Schmerzen  in  der  linken  Seite  des  Thorax  unter  dem  Rippen- 
bogen. Respirationsfrequenz  stieg  auf  das  Doppelte.  Ängstlicher  Gesichtsausdruck. 

14.  August  Zunahme  der  Schwäche,  Puls  unfuhlbar.    Exitus  letalis. 

Annahme  eines  kongenitalen  Herzleidens. 

Die  Sektion  (Dr.  Lochte)  ergab  eine  außerordentlich  verbreitete  hochgra«» 
dige  Sklerose  der  Lungenarterie  mit  konsekutiver  Hypertrophie  der 
rechten  Herzhälfte.  Das  Herz  ist  fast  doppelt  so  groß  als  die  Faust  des 
Mannes«  Seine  der  Brustwand  zugekehrte  Fläche  ist  gänzlich  von  dem  stark  ver- 
größerten rechten  Ventrikel  gebildet.   Vom  linken  Ventrikel  ist  fast  nichts  sichtbar. 

Am  herausgenommenen  Herzen  erscheint  von  vorn  gesehen  der  linke  Ventrikel 
nur  als  ein  Anhängsel  des  rechten,  während  auf  der  Hinterfläche  beide  Ventrikel 
annähernd  gleiche  Dimensionen  zeigen.  Die  Vergrößerung  des  rechten  Herzens 
betrifft  also  hauptsächlich  den  Conus  arteriosus,  wie  auch  aus  den  Maßen  her- 
vorgeht : 

Größter  Umfang  des  ganzen  Herzens    30  cm 
„  „  n    linken  Ventrikels  U   „ 

„  „  „    rechten        „  19   „ 

Von  diesen  19  cm  kommen  auf  den  Conus  arteriosus  (von  der  Mitte  des  Sep- 
tums  bis  zur  rechten  Herzkante)  13cm,  auf  die  Hinterfläche  (in  gleicher  Weise 
gemessen)  nur  6  cm.  Fast  noch  verschiedener  als  die  Größe  der  Ventrikel  ist  die 
der  Herzohren.  Das  linke  ist  kaum  halb  so  groß  als  das  rechte.  Es  erscheint 
sogar  kleiner  als  normal.  Rechter  und  linker  Vorhof  verhalten  sich  entsprechend. 
Am  aufgeschnittenen  Herzen  fällt  der  enorme  Unterschied  zwischen  rechter  und 
linker  Herzhälfte  noch  mehr  in  die  Augen.  Die  Wand  des  rechten  Ventrikels  ist 
verdickt  (z.  B.  am  Ansatz  des  Herzohrs  auf  6  cm).  Die  Trabekeln  stark  hypertro- 
phisch. Das  Foramen  ovale  ist  am  vorderen  oberen  Rande  für  einen  Bleistift  von 
3  mib  Durchmesser  eben  durchgängig.  Die  Öffnung  wird  durch  einen  7  mm  langen 
Kanal  gebildet,  ist  also  von  links  her  durch  die  Valvula  foram.  oval,  reichlich 
gedeckt. 

Umfang  des  Ost.  tricuspid.  10  cm.    Klappen  zart. 

Der  rechte  Ventrikel  ist  besonders  im  Conus  arteriosus  stark  dilatiert.  Seine 
Wand  verdickt.  Auf  der  rechten  Kante  (2,5  cm  unterhalb  des  Sept.  atrio-ventr.) 
mißt  sie  20  mm,  von  denen  9  mm  auf  die  kompakte  Muskulatur,  11  mm  auf  die 
enorm  hypertrophischen  Trabekeln  kommen.  Im  Conus  arteriosus  ist  die  Wand 
ebensodick,  aber  es  entfallen  nur  5  mm  auf  die  kompakte  Muskulatur.  Das  Herz- 
fleisch ist  derb,  graurot. 

Mit  bloßem  Auge  ist  keine  Verfettung,  keine  Scbwielenbildung  nachweisbar. 
Nur  unmittelbar  unter  dem  Ansatz  der  Pulmonalklappen  zeigen  sich  unter  dem 
Endokard   zahlreiche   feinste    weiße  Linien   und  Punkte.     Mikroskopisch   sind  die 


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40Q  Adolf  Posselt,  [40 

Muskelfasern  völlig  intakt.  An  einzelnen  Stellen  wenig  ausgedehnte  Inflltrations- 
herde  und  kleine  bindegewebige  Schwielen.  Die  gut  schließenden  Pulmonalkltppeo 
sind  zart,  glatt.  Die  Lungenarterie  zeigt  unmittelbar  über  den  Klappen  keine  Be- 
sonderheiten. Ihr  Umfang  beträgt  hier  85  mm,  am  Klappenansatz  80  mm,  unmittel- 
bar darunter  00  mm.  Die  Venae  pulmonales  sind  an  ihrer  Einmfindung  in  den 
linken  Vorhof  eng,  für  einen  dünnen  Bleistift  eben  durchgSngig.  Der  linke  Vor- 
hof ist  eher  etwas  kleiner  als  normal.  Die  Dicke  seiner  Wand  beträgt  2—Z  mm, 
nur  die  Hälfte  von  der  des  rechten. 

Umfang  des  Ostiüm  mitrale  10  cm.  Die  Klappen  zart,  glatt,  ihre  Sehnenfäden 
nicht  verdickt.  Der  linke  Ventrikel  ist  ziemlich  eng  und  besitzt  nur  wenig  ausge- 
bildete Trabekel.  Das  keinen  Defekt  zeigende  Septum  ventric.  ist  von  rechts  ber 
etwas  in  den  Ventrikel  hinein  vorgewölbt.  Die  Wanddicke  beträgt  im  venösen  Teil 
12—15  mm,  im  arteriellen  10  mm.    Aortenklappen  zart,  glatt. 

Die  Aorta  ist  auffallend  eng.  Umfang  dicht  oberhalb  der  Klappen  00  mm, 
am  Ansatz  des  Ductus  Botalli  50  mm. 

Der  Ductus  Botalli  ist  in  seiner  ganzen  Länge  geschlossen.  Koronararterien 
und  Venen  bieten  nichts  Besonderes. 

Während  die  Aorta,  von  der  Enge  in  ihrem  ganzen  Verlauf  abgesehen,  und 
ihre  Hauptäste  sich  völlig  normal  verhalten,  zeigt  die  Lun  gen  arter  ie  bis  in 
ihre  feinsten  Verzweigungen  hochgradige  Veränderungen.  IhrLumen 
ist  bis  zur  2.  Teilungf  in  der  Lunge  selbst  ziemlich  gleichmäßig  er- 
weitert (Umfang  des  rechten  Astes  50  mm,  des  linken  40mm),  dann  in  den 
kleineren  Ästen  deutlich  verengert.  Die  Verengerung  wird  um  so  hoch- 
gradiger, je  kleiner  das  Kaliber  der  betreffenden  Zweige  wird.  Sie  scheint  sämt- 
liche Verzweigungen  gleichmäßig  zu  betreffen.  — 

Die  Intima  sämtlicher  Verästelungen  zeigt  mehr  oder  minder  ausgebildete 
sklerotische  Veränderungen.  Zahlreiche,  mäßig  in  das  Lumen  vorragende 
Erhabenheiten  von  verschiedenster  Gestalt  und  Größe  bedecken  die  Innenfliche, 
an  einzelnen  Stellen,  z.  B.  im  linken  Hauptast,  so  dicht,  daß  kaum  ein  Fleck  von 
der  Erkrankung  verschont  ist.  Die  Prominenzen  sind  durchscheinend,  gelb.  Ihre  Ober- 
fläche ist  glatt.  Ihre  Ränder  gehen  allmählich  in  die  normale  Umgebung  über.  Diese 
sklerotischen  Veränderungen  bedingen  an  den  größeren  Ästen  eine  nicht  unbedeu- 
tende Verdickung  der  Wand,  an  den  kleineren  außerdem  die  erwähnte  Verengerung. 

Außerdem  fand  sich  eine  lockere,  aber  totale  Verklebung  der  rechtsseitigen 
Pleurablätter  ohne  stärkere  Schwartenbildung;  Ödem  und  Hyperämie  der  wenig 
pigmentierten,  völlig  normalen  Lungen.  — 

C.  Aust,  Kasuistischer  Beitrag  zur  Sl^lerose  der  Lungenarterie. 
Aus  dem  Altonaer  Krankenhaus.  Münchener  med.  Wochenschn  1862, 
September,  S.  689. 

25 jähriger  Arbeiter,  hereditär  nicht  belastet,  hat  in  den  ersten  Lebensjahren 
lange  Zeit  an  englischer  Krankheit  und  später  vielfach  an  Lungen-  und  Magen- 
katarrh gelitten.  Rheumatismus  oder  sonstige  zu  Herzaffektionen  führende  Erkran- 
kungen will  Pat.  niemals  fiberstanden  haben,  luetische  Infektion  und  Potatorium 
stellt  er  entschieden  in  Abrede. 

Von  Profession  Bäcker,  gab  jedoch  diese  Beschäftigung  auf  und  war  vom  16. 
bis  19.  Lebensjahr  Glasbläser,  wobei  er  Einatmung  heißer  Luft  bei  anstren- 
gender Lungentätigkeit  ausgesetzt  war.  Später  suchte  er  sich  leichtere  Arbeit 
Seit  IV4  Jahren  schon  bei  geringer  körperlicher  Anstrengung  Atemnot,  zeitweise 
Präkordialangst.    Periodenweise  Durchfälle,  Leibschmerzen. 


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41  Di«  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  401 

Aufnahme  Aug.  1891.  Blasse  Gesichtsfarbe  mit  deutlicher  Zyanose. 
Ödeme  fehlen.  Atmung  etwas  beschleunigt.  Herzdämpfung  beginnt  im  2.  I.  R. 
reicht  nach  rechts  IV2  Finger  breit  über  den  r.  Sternalrand  hinaus  und  links  bis 
zur  linken  Mammillarlinie.  Der  1.  Ton  an  der  Spitze  unrein  und  geht  in  der  Rich- 
tung nach  dem  Proc.  xiphoid.  und  dem  mittl.  Sternum  allmählich  in  ein  kurzes  Ge- 
räusch über.  Der  2.  Ton  an  der  Spitze  leise,  nach  oben  zu  diastol.  Geräusch  im 
2.  linken  I.  R.  von  rauschendem  Charakter.  Im  2.  r.  I.  R.  Herztöne  leise  und  dumpf, 
kein  deutliches  Geräusch. 

Herzaktion  regelmäßig.  Puls  klein.  Digitalis.  Im  weiteren  Verlauf  stärkere 
Verbreitung  der  Herzdärapfung  nach  rechts.  Später  Zeichen  von  Infarkt.  Ende  Sept. 
geringe  Ödeme  an  den  unteren  Extremitäten.  Puls  unfuhlbar,  Dyspnoe  und  Zyanose 
mit  starken  Exazerbationen. 

Es  konnte  keine  sichere  klinische  Diagnose  gestellt  werden,  Insuff.  semilun. 
aortae  oder  Insuff.  semil.  pulmon.  waren  mit  einer  Reihe  von  Erscheinungen  nicht 
stimmend.  Die  ungewöhnliche  Dyspnoe  und  Zyanose  (trotz  Digitalis 
usw.)  legten  bei  dem  Mangel  an  aasgesprochenen  sonstigen  Stauungs- 
erscheinungen (insbesondere  an  Ödemen)  die  Wahrscheinlichkeit 
eines  bestehenden  kongenitalen  Herzfehlers  nahe. 

Sektionsbefund  (25.  IX.)  (auszugsweise):  Die  Querschnitte  der  Lungen- 
arterie auffallend  weit,  ihre  Wandungen  verdickt  und  starr.  Herz  enorm 
vergrößert.  Der  stark  dilatierte  rechte  Vorhof  ist  schwappend  gefüllt  mit  leicht 
geronnenem  Blut,  seine  Wand  stark  hypertroph iert  (größte  Wanddicke  0,6  cm). 

Der  rechte  Ventrikel  stark  dilatiert,  die  Wand  enorm  verdickt  (2  cm),  die  Pa- 
pillarmuskeln  vergrößert.    Endokard  zart.    Trikuspidalklappe  intakt. 

Die  Pulmonalarterie  ist  stark  erweitert,  der  innere  Umfang  am 
Klappenansatz  mißt  9,5  cm,  während  oberhalb  der  Klappen  eine  deutliche 
Tendenz  zu  aneurysmatis  eher  Erweiterung  besteht  (größter  Umfang 
10,2  cm). 

Die  Lungenvenen  sind  an  ihrer  Einmündungssteile  in  den  linken  Vorhof  für 
den  kleinen  Finger  kaum  durchgängig.  Die  ganze  linke  Herzhälfte  entspricht 
etwa  der  Größe  eines  Kinderherzens;  der  linke  Vorhof  kommt  in  seinem 
Rauminhalt  etwa  dem  rechten  Herzohr  gleich.  Muskulatur  schwach  entwickelt. 
Das  Endokard  zeigt  eine  grobe,  strahlige  Strichelung.  Die  Mitralklappe  zart, 
intakt.  Der  kleine  enge  linke  Ventrikel  wird  von  dem  rechten  halbmondförmig 
umlagert,  seine  Wand  ist  dünn  (1  cm);  die  Papillarmuskeln  wenig  entwickelt. 

Die  Aorta  ist  eng,   für  den  kleinen  Finger   kaum  durchgängig.    Innerer  Um- 
fang dicht  oberhalb  der  Semilunarklappen  6,6  cm,   im  Brustteil  4  cm,  im  Bauchteil  ^^ 
3,5  cm.    Klappen  zart,  vollkommen  intakt,  die  Intima  weist  einige  wenige  athero- (^,rv,|#)^^^r 
matöse  Einlagerungen  auf.    Ductus  Botalli  vollkommen  obliteriert,  Koronararterien     ^,  u,  v< 
ohne  Besonderheiten.                                                                                                        ^ 

Hochgradige  Veränderungen  zeigt  die  Arteria  pulmonalis  mit 
ihren  Asten.  Vom  Anfangsteile  bis  in  die  kleinsten  makroskopisch 
noch  erkennbaren  Verzweigungen  zeigt  die  Intima  der  im  ganzen  ver- 
dickten und  starren  Arterienwand  dichte,  teils  plattenartige  gelbe 
Prominenzen  mit  glatter  Oberfläche  und  verwaschenen  Rändern,  teils 
feine,  in  der  Längsachse  des  Gefäßes  verlaufende,  erhabene  Striche- 
lung. Während  die  großen  und  mittleren  Äste  eine  erhebliche  Erweiterung  auf- 
weisen, ist  das  Lumen  der  kleineren  und  kleinsten  Verzweigungen  deutlich  ver- 
engt. — 

Die  Ätiologie  dieses  Falles  ist  völlig  dunkel. 


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402  Adolf  Posselt,  [42 

Als  schädigende  Momente  werden  angesehen:  das  langdauernde  angestrengte 
Einatmen  heißer  Dämpfe  und  die  Obliteration  der  einen  Pleurahöhle. 

„Das  am  stärksten  hervortretende  Symptom  der  Erkrankung  bildete  die  allmäh- 
lich bis  zu  enormer  Hochgradigkeit  zunehmende  Zyanose  und  Dyspnoe  bei  völligem 
Mangel  von  Ödemen ,  ein  Verhalten ,  das  bei  dem  relativ  jugendlichen  Alter  des 
Pat.  zunächst  die  Annahme  eines  kongenitalen  Herzdefektes  mit  abnormer  Mischung 
von  venösen  mit  arteriellem  Blute  wohl  rechtfertigte.^ 

Folgende  Beobachtung  von  subakuter  und  subchronischer  Endar- 
teriitis  der  Pulmonalis  will  ich  hier  vorzüglich  aus  dem  Grund  ein- 
reihen, weil  der  Autor  auch  in  klinisch-diagnostischer  Hinsicht  ver- 
wertbare Momente  zu  erblicken  glaubt.  Infolge  der  kontinuierlichen 
Einschwemmung  kleiner  embolischer  Partikelchen  in  die  Lungenar- 
terienzweige  entstand  ein  subakutes,  der  Tuberkulose  ähnliches  klini- 
sches Bild.^ 

Reiche  (Arteriitis  pulmonalis.  Jahrbücher  der  Hamburger  Staats- 
krankenanstalten Jahrg.  1891/02,  Bd.  3.  Hamburg  und  Leipzig  1804, 
S.  287.) 

1.  17jährige  Blumenmacherin.  Keine  heredit.,  keine  luet.  Momente.  Beginn  des 
Leidens  mit  Herzklopfen,  Husten  und  Appetitlosigkeit.  Schmerzen  in  der  linken 
Brustseite,  in  letzter  Zeit  Kurzluftigkeit.  Keine  Gliederschmerzen.  Schmächtig 
gebaut,  sehr  abgemagert,  anämisch.  Starke  Verkrümmung  der  BrustwirbelsSuIe. 
Vortreibung  des  Sternums.  Pleurit.  Reiben  1.  h.  und  r.  M. 

Normale  Herzdämpfung.  Ober  ihr  Schwirren  fQhlbar.  An  allen  Ostien  ein 
diastolisches  Geräusch.    Frequente,  regelm.  Herztätigkeit. 

Während  der  Folge  irreguläre  Temperaturen,  vereinzelte  Fröste. 

Keine  Bazillen  im  Sputum.  Später  Ödeme  an  den  Unterschenkeln.  Tempera- 
turschwankungen,  Milzschwellung.  Große  Euphorie.  Gelegentlich  Brustschmerzen 
und  vermehrter  Husten.    Dämpfung  über  der  rechten  Spitze,  bronchial.  Exspiriam. 

Ödeme  zunehmend,  Spuren  von  Albumen.  Urin  vermindert,  große  Schwäche 
plötzlicher  Exitus.  (Krankheitsdauer  3  Wochen.)  Sektion:  Perikard  durch  Flüssig- 
keit ausgedehnt.  Herz  in  toto  vergrößert,  quergestellt.  Hypertrophie  des  rechten 
und  linken  Ventrikels. 

Auf  den  Pulmonalklappen  mehrere  weißliche ,  knötchenartige  kleine  Gebilde, 
nicht  über  Stecknadelkopfgröße.  Aorta  glatt,  unverändert.  Das  Anfangsstück  der 
Pulmonalis  zeigt  in  einer  Höhe  von  mehreren  Zentimetern  oberhalb  der  Semüu- 
narklappen  an  der  Seite,  an  der  es  der  Aorta  anliegt,  eine  fast  markstückgroße 
rundliche  Region  mit  papillösen  Exkreszenzen,  an  denen  Thromben  festhaften.  Eine 
größere  Zahl  bis  bohnengroße  Infarkte  speziell  in  den  Oberlappen  verschiedenen 
Alters  und  verschiedener  Größe.  Keine  Tuberkulose.  Mikroskop.  Untersuchung 
der  Effloreszenzen  in  der  Art.  pulmonalis  auf  Bazillen  nach  Weigert  negativ. 

2.  21  jähriger  Schneider.  Im  7.  Jahre  Diphtherie.  Nie  Polyarthritis,  Scharlacb 
oder  Lues.  Vor  IV2  Wochen  heftiges  profuses  Nasenbluten.  Mattigkeit*  Fieber- 
gefühl, Durchfall.  Durst.  Appetitmangel.  Dumpfer  Kopfschmerz.  Husten  und 
Brustbeschwerden  bestanden  nicht.  Blässe  der  Haut  und  Schleimhäute.  Später  leichte 
Schmerzen  in  der  rechten  Brustseite.  Herzdämpfung  normal.  Spitzenstoß  kaum 
fühlbar.  (5.  I.  R.)  —  Töne  an  der  Spitze  rein.  An  der  Herzbasis,  am  lautesten  über 
der  Art.  pulmonalis  ein  systolisches  Geräusch,  bei  der  Diastole  ein  kurzer,  reiner 
Ton.    Kein  Fr6missement.    Über  beiden  Jugularvenen  leichtes  Sausen.   Halsvenen 


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43]  Die  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  403 

nicht  geschwellt  Radialpuls  kräftig,  geringe  Dikrotie«  Ober  der  rechten  Spitze  und 
r.  h.  u.  verkürzter  Schall.  Im  Sputum  keine  Bazillen.  Temperaturanstieg.  Me- 
teorismus.   Roseola? 

Rechts  über  der  Klavikel  und  links  nach  außen  vom  Herzen  RasselgerSusche. 
Roseola  verschwunden.  Diarrhoen.  Gelegentlich  schmerzloses  Erbrechen.  Blässe, 
keine  Zyanose.  Weiterhin  beiderseits  unter  Klavikel  tympanit.  Beiklang.  In  den 
Spitzen  spärliches  Rasseln.  ^  Links  seitlich  umschriebenes  pleuritisches  Reiben. 
Herztöne  rein,  frequent.    2.  Pulmonalton  leicht  akzentuiert.  — 

Über  dem  oberen  Sternum  und  besonders  deutlich  nach  links  von  demselben 
hört  man  (seit  3  Tagen)  ein  lautes,  in  seiner  Lautheit  aber  variierendes  Geräusch 
(sausend,  an-  und  abschwellend),  das  nicht  absetzt,  aber  in  diesem  An-  und  Ab- 
schwellen den  Herzphasen  isochron,  also  systolisch  und  diastolisch  erscheint.  Es 
wird  nicht  zum  Rücken  fortgelpitet.  Kein  fühlbares  Fr6missement.  Jugularvenen 
kaum  sichtbar;  über  ihnen  ein  leises  Nonnengeräusch.  Keine  Zyanose,  Blässe.  Wenig 
schmerzloser  Husten.  Schüttelfrost.  Meteorismus.  —  Ober  dem  oberen  Sternum 
und  am  lautesten  über  dem  linken  2.  Rippenknorpel  ist  dauernd  jenes  weiche, 
mehr  oder  weniger  deutlich  an  die  beiden  Herzphasen  gebundene  Geräusch  hörbar. 
Milz  vergrößert.  Auswurf  weißschaumig,  zum  Teil  mit  blutigen  Streifen  unter- 
mischt. Atmung  weniger  frequent.  Sehr  geringe  Zyanose.  Unruhe,  Benommen- 
heit. Exitus.  (Krankheitsdauer  3  Wochen.)  Sektion:  Rechter  Ventrikel  mäßig 
dilatiert.  Endokard  intakt.  Klappen  zart.  Aorta  glatt.  In  der  Art.  pulmonalis  3 — 4  cm 
oberhalb  der  Semilunarklappeil  mit  breiter  Basis  aufsitzender  Thrombus.  Nach 
dessen  Fortnahme  liegt  in  der  Pulmonalarterienwand  eine  ungefähr  5 pfennigstück- 
große leicht  erhabene  Fläche  zutage  mit  unregelmäßigen,  welligen  Rändern.  Bron- 
chopneumonische  Herde.  Embolus.  Staphylococcus  pyog.  aureus. 

Wenn  auch  nachstehender  Kasus  wegen  der  ätiologischen  und  speziellen  patho- 
logischen Verhältnisse  etwas  abweicht,  verdient  er  doch  der  klinischen  Erschei- 
nungen halber  kurze  Erwähnung. 

Gotthardt  (Ein  Fall  von  Endarteriitis  verrucosa  der  Arteria  pulmonalis. 
Inaug.-Diss.  München  1896). 

18 jähriges  Mädchen,  seit  früher  Jugend  häufig  Herzklopfen,  seit  2  Jahren  kränk- 
lich.  Abgemagert,  zyanotische  Gesichtsfarbe. 

Verbreiterung  der  Herzdämpfung  nach  rechts  und  links.  Im  2.  und  3.  linken 
Interkostalraum  starke  sichtbare  Pulsation  und  Dämpfung.  Ober  den  Ostien  systo- 
lische und  diastolische  Geräusche.  Die  Diagnose  wurde  gestellt  auf:  Dilatatio 
cordis  dext.  et  sin.  Aneurysma  aortae;  Pericarditis  adhaesiva  (Cor  villosum). 
Phthisis  apicis  sinistri.  Später  Ödeme,  welche  wiederholt  auf  Digitalis  zurück- 
gingen. Exitus.  Sektion:  Hochgradige  Hypertrophie  und  Dilatation  des  Herzens, 
Endocarditis  verrucosa  der  Pulmonalklappen;  Endarteriitis  verrucosa  der  Arteria 
pulmonalis.  Pericarditis  flbrinosa.  (Primäre  Erkrankung:  Tuberkulose  der  linken 
Lunge,  Pericarditis.) 

Laache  (Om  Sklerose  af  arteria  pulmonalis  og  erhervet  „morbus 
caeruleus**.  Norsk  Magazin  for  Laegevidenskaben  1890,  no.  1)  ver- 
fügt über  zwei  Eigenbeobachtungen  der  seltenen  primären  Arterio- 
sklerosis  der  Pulmonalis. 

Beim  1.  Fall,  50jährige  Frau,  mit  den  klin.  Erscheinungen  einer  idiopath.  Herz- 
hypertrophie zeigte  die  Sektion  außer  dieser  erhebliche  Arteriosklerose  der  Aorta, 
ferner,  daß  die  Intima  der  Pulmonalis  bedeckt  war  mit  ^zerstreuten ,  weißlichen, 
bis  bohnengroßen,  etwas  erhabenen  Flecken  ohne  Verkalkung".  Während  die  Skle- 


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404  Adolf  Posselt,  [44 

rose  der  Pulmonalarterie  hier  eine  Nebenrolle  spielte,  hatte  sie  in  dem  2.  von 
Laacbe  beobachteten  Falle  eine  prädominierende  Stellung,  wobei  das  klinische 
Bild  des  Morbus  caeruleus  bestand. 

Ein  50jShrige,  etwas  neuropathisch  veranlagte  Frau  war  in  ihrem  36.  Lebens- 
jahre, etwa  1  Jahr  nach  einer  etwas  rätselhaften  Vergiftung  mit  Apfelkuchen  am 
ganzen  Körper  zyanotisch  geworden.  Häufig  sehr  starke  Beklemmungen.  Sie  litt 
dann  später  viel  an  Husten.  Sonstige  Stauungserscheinungen  fehlten.  (Hatte  auch  eine 
vorübergehende  Parese  des  rechten  Armes  und  Beines.)  Ödeme  erst  kurz  vor 
dem  Exitus,  dann  aber  rasch  zunehmend.  Im  Status  erwähnt:  außerordentlicb 
starke  Zyanose,  verbreiterte  Herzdämpfung,  besonders  nach  rechts,  Spitzenstoß 
an  normaler  Stelle,  2.  Pulmonalton  akzentuiert,  allgemeiner  Hydrops;  keine  Kolben- 
finger. —  Die  Autopsie  ergab:  erhebliche  Vergrößerung  des  rechten  Ventrikels 
und  Atriums,  weniger  des  linken,  geringes  Atherom  der  Aorta,  der  Stamm  der 
Pulmonalis  bis  zu  10cm  Umfang  erweitert,  auch  die  peripherischen 
Verzweigungen  dilatiert,  überall  zahlreiche  gelbe,  konfluierende,  prominente 
Plaques  ohne  Verkalkung.  In  der  rechten  Lunge  einige  Infarkte.  Muskatnußleber 
und  Nierenzyanose.  —  Die  Ursache  blieb  dunkel,  Alkoholismus  und  Syphilis 
auszuschließen. 

Für  unsere  klinischen  Besprechungen  gewinnt  nachstehende  Publi- 
kation, die  ebenfalls  den  deutschen  Autoren  vollkommen  unbekannt 
geblieben  ist,  eine  besondere  Bedeutung. 

J.  H.  Bryant,  Functional  pulmonary  incompetence,  and  dilatation 
and  atheroma  of  the  pulmonary  arteries,  as  complications  of  mitral 
Stenosis.  Guy 's  Hospital  reports  1901,  vol.  LV,  p.  83  berichtet  über 
funktionelle  Pulmonalinsufiizienz  und  Dilatation  und  Atherom  der 
Pulmonalarterien  als  Komplikation  von  gleichzeitiger  Mitralstenose  bei 
verschiedenen  gesammelten  Fällen  ärztlicher  Beobachtung. 

Es  werden  die  ausführlichen  Krankengeschichten  von  16  diesbe- 
züglichen Fällen  mitgeteilt,  von  denen  9  obduziert  und  bei  7  klinische 
Diagnosen  gemacht  wurden  (7  mal  war  Zyanose  notiert,  6  mal  Ödeme 
der  Füße). 

1.  36jahriges  Fräulein.    Mit  16  Jahren  Typhus,  mit  21  Jahren  Scharlach. 

Zyanose.  Mitralstenose.  Annahme  einer  Pulmonalarterien-Erweiterung. 

Keine  Ödeme.  Sektion:  Verzweigungen  der  Pulmonalarterie  atheromatös, spe- 
ziell in  der  rechten  Seite  und  rechten  Oberlappen.  Klappen  normal,  Nodulus  Arantii 
verdickt.  Freie  Ränder  herabgezogen.  Arteria  pulmonalis  erweitert  und  dicker  als 
normal,  fast  so  dick  wie  die  Aorta. 

2.  40jährige  Frau.  Mit  15  Jahren  rheumat.  Fieber.  Herzpalpitationen.  Spiter 
leichte  Ödeme. 

Anämische  Schmerzen.  Pulsat.  im  2.  I.  R.  links.  Epigastr.  Einziehung.  Ab- 
dominalpunktion. Sektion:  Pleuraladhäsionen.    Frische  Infarkte  in  den  Lungen. 

Pulmonalarterien  verdickt,  erweitert  und  atheromatös.  Thromben  in  denselben. 
Die  Pulmonalarterie  selbst  erweitert. 

3.  41jährige  Frau.  Schweratmigkeit  und  Ödeme.  Stets  schwere  Arbeit  Rheo- 
matismus. 

Diagnose:  Mitralstenose.    Trikuspidalinsuff.  und  -Stenose. 


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45]  I^ie  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  405 

Puls  irregulSr  und  beschleunigt.  Sehr  starke  Zyanosis.  Pulsation  der  Hals- 
venen. Mäßiges  Ödem  der  Beine.  Sektion:  Zyanose.  Rechte  Oberlappenpleura 
verdickt,  ebenso  links. 

Trikuspid.  leicht  verdickt.  Vegetationen  auf  der  Mitralklappe ,  sie  selbst  stark 
verdickt  und  verkalkt. 

Pulmonalarterie  verdickt  (fast  so  stark  wie  die  Aorta)  und  erweitert.  Beide 
Aste  stark  verdickt  und  atheromatös,  ebenso  die  kleineren. 

4.  32jShrige  Frau.  Anasarka  und  Dyspnoe.  Rheumatismus  in  der  Familie. 
Widerholt  Polyarthritis.    Zyanose.    Pulmonarthrombose. 

Sektion:  An  den  Pulmonarklappen  (11,4cm  Umfang)  zweifellose  Schlußun- 
fShigkeit.    In  der  Arterie  atheromatdse  Flecken. 

5.  aOjftbriger  Mann.  Vor  5  Jahren  Polyarthritis.  Spater  Pleuritis  sicca.  Mitral- 
und  Trikuspidalinsuff.    Kleine  Blutaustritte  in  der  Haut. 

*  Sektion:  Zahlreiche  Petechien  und  Ekchimosen.    Pleuraadhäsionen. 
Pulmonalverzweigungen  verdickt  und  atheromatös.    Erweiterung  des  Stammes. 
Mitralis  verdickt  und  verkalkt,  Stenose.    Aortenklappen  verdickt  und  adhärent, 
doch  scblußflhig.    Hämaturie. 

6.  22jähriger  Mann.  Herzpalpitationen  und  Schmerzen  in  der  Brust.  Vater 
und  Mutter  herzkrank.  Mit  8  Jahren  Scharlach.  Attacken  von  Herzzuständen  und 
Schwäche. 

Linke  Seite  der  Brust  in  der  Nähe  des  Sternums  vorgetrieben. 
Sektion:   Beträchtliche  Arteriosklerose  und  Verdickung  der  Pulmonalarterien. 
Arteria   pulmonalis   beträchtlich   erweitert.     Atherom  begann   von   der  ersten 
Teilung  an. 

7.  27jährige  Frau.  Wiederholte  akute  Rheumatismen.  Mitralstenose  und  Peri- 
karditis. Später  wiederholte  Polyarthritis.  Blässe  und  Zyanose.  Weicher  und 
schneller  Puls.  Weiterhin  trockene  Pleuritis.  Plötzlich  Dyspnoe,  Exitus.  Sektion: 
Leichtes  Ödem  der  Beine.  Alte  und  frische  Pleuritis.  Totale  Perikardsynechie. 
Verdickung  der  Trikuspidalis.  Erweiterung  der  Pulmonalarterie,  bedeutend  weiter 
als  die  Aorta.    Intima  verdickt,  die  größeren  Äste  atheromatös. 

8.  25  jährige  Frau.  Vor  6  Jahren  Rheumatismus.  Mitralstenose  und  Trikuspidal- 
insuff. Blaß  und  dyspnoisch.  Keine  Zyanose.  Ödem  der  Beine  und  vielfach  Blut- 
austritte.   Im  weiteren  Verlauf  zunehmende  Zyanose  und  Orthopnoe. 

Sektion:  Hochgradige  Zyanose.    Ödem  der  Beine.    Pleuraadhäsionen. 

Braune  Induration  und  Lungeninfarkt.  Perikard  verdickt.  Die  Säume  der 
Aortenklappe  verdickt  und  eingerollt.  Trikuspidalis  verdickt  und  insuflTiz.?  Pul- 
monalarterie weiter  als  Aorta,  bedeutend  dicker  und  zeigt  atheromatöse  Flecken. 

9.  Mann.  2 mal  rheumatisches  Fieber.  Ödeme.  Schwerer  Atem.  Blutiger 
Auswurf.  Pleuritis  sicca.  Dyspnoe.  Sektion:  Empyem  der  rechten  Pleura.  Perikard 
überall  verwachsen.    Am  rechten  VentrilLcl  verkalkte  Masse. 

Erweiterung  der  Pulmonalis  und  ihrer  Äste.  Intimaverdickungen.  Kein  Atherom. 
Zahlreiche  verkalkte  und  fibröse  Flecken  in  der  Aorta,  speziell  im  Beginn. 

BrOnings  Untersuchungen  über  das  Vorkommen  der  Angio- 
sklerose  im  Lungenkreislauf,  Zieglers  Beitn  z.  path.  Anat.  1001, 
Bd.  30,  S.  457,  betreffen  eingehende  pathologisch-anatomische  und 
histologische  Befunde  und  kommen  für  klinische  Zwecke  kaum  in 
Betracht. 

Nachdem  in  den  meisten  Publikationen  nachstehende  Arbeit  voll* 


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406  Adolf  Posselt,  [46 

Ständig  unberücksichtigt  blieb,  sei  sie  etwas  ausführlicher  gebracht, 
zumal  in  bezug  auf  unser  spezielles  Thema  die  klinischen  Befunde 
genauer  detailliert  erscheinen, 

Percy  Kidd,  Sequel  to  a  case  shown  at  the  society  in  1001  as 
congenital  morbus  cordis;  diifuse  endoarteriitis  of  the  pulmonary 
arterial  System.    Clin,  society  of  London  1904. 

21  jähriges  Mädchen,  litt  von  Kindheit  an  an  Herzkrämpfen  und  Dyspnoe.  Hatte 
weder  Muskel-  noch  Gelenksrheumatismus.  Pat.  war  leicht  zyanotisch,  die  End- 
phalangen der  Finger  zeigten  jedoch  keine  kolbige  Auftreibung. 

Herz  hypertrophisch,  namentlich  im  rechten  Anteil.  Ictus  cordis  im  5.  linken 
I.  R.  in  der  Mammillarlinie,  starke  Pulsation  im  3.-5.  I.  R.,  die  bis  zum  rechten 
Sternalrand  reichte.  Die  Herzdämpfung  begann  in  der  linken  ParaSternallinie  an 
der  3.  Rippe  und  reichte  etwas  außer  die  Mammillarlinie  nach  links  und  ettlas 
innerhalb  des  rechten  Sternalrandes  nach  rechts. 

Auskultatorisch  lauter,  kurzer,  knackender  Ton  über  der  ganzen  Herzgegend 
hörbar,  ähnlich  dem  ersten  Ton  bei  Mitralstenose.  Das  Maximum  Tand  sich  über 
dem  Pulmonalostium,  gelegentlich  konnte  man  hier  auch  ein  kurzes  diastolisches 
Geräusch  nach  dem  2.  Ton  hören;  der  1.  Ton  war  überall  rein,  weich,  von 
keinem  Geräusch  begleitet.  Lungen  und  die  übrigen  Organe  gesund.  Nach 
Anamnese,  Symptomen  und  Aussehen  der  Kranken  und  bei  der  Hypertrophie  des 
rechten  Herzens  schien  es  ganz  klar,  daß  es  sich  in  diesem  Falle  um  eine  an- 
geborene Herzerkrankung  handelte.  Als  solche  stellte  ihn  auch  Kidd  früher  in 
der  med.  Gesellschaft  vor.  Plötzlich  bekam  Pat.  Erbrechen,  starke  Dyspnoe,  Leber- 
schwellung, Ödeme  an  den  Knöcheln  und  andere  Stauungserscheinungen.  Exitus. 
Obduktionsbefund:  Das  ganze  Herz,  Ventrikel  und  Vorhof  beträchtlich  erweitert 
und  hypertrophiert,  namentlich  schien  der  Ventrikelanteil  des  Trikuspidalostiums 
dilatiert,  die  Pulmonalklappen  waren  an  ihren  Zipfeln  und  in  ihrem  Zentrum  mit 
kleinen  Flecken  besetzt,  welche  den  Eindruck  frischer  endokardialer  Wucherungen 
machten.  Sonst  waren  die  Klappen  sämtlich  gesund.  Weder  die  Aorten-  noch  die 
Pulmonalklappen  waren  schlußunfähig.  Nichts  fand  sich,  was  die  Hypertrophie 
und  Dilatation  des  rechten  Herzens  erklären  konnte.  Myokard  und  Kranzgefiße 
intakt.  Die  Aorta  zeigte  sehr  leichte  Arteriosklerose  oberhalb  der  Klappen.  Die 
Pulmonalarterie  war  deutlich  atheromatös  in  ihrem  Stamm  und  ihren 
großen  Verzweigungen,  selbst  die  kleinen  Arterienäste  in  den  Lungen  wiesen 
Arteriosklerose  höheren  Grades  auf.  Die  Gefäße,  welche  die  einzelnen  Lungen- 
läppchen versorgten,  waren  mit  zahlreichen  gelblichen  Flecken  besetzt,  die  Wan- 
dungen zeigten  breite  atheromatöse  Plaques.  Verkalkungen  waren  nicht  vorhanden. 
Mikroskopisch  fanden  sich  selbst  in  den  feinsten  Lungenarterien-Verästelungen  alle 
Zeichen  chronischer  Endarteriitis.  Die  Tunica  intima  war  verdickt,  die  Kapillaren 
in  den  Lungen  geschlängelt,  ihre  Wandungen  etwas  verdickt. 

Kidd  vermutet y  der  schon  aus  frühester  Jugend  her  datierenden 
Beschwerden  wegen,  daß  die  Arterienerkrankung  wahrscheinlich  schon 
aus  dem  intrauterinen  Leben  stamme. 

Torhorsts  (Die  histologischen  Veränderungen  bei  der  Sklerose  der  Pulmonal- 
arterie. Zieglers  Beitr.  z.  pathol.  Anat.  1904,  Bd.  36,  S.  210)  Mitteilungen  umfassen 
die  pathologisch-anatomischen,  speziell  histologischen  Veränderungen  in  einer 
Reihe  von  Pulmonalsklerosenfällen,  bei  denen  nur  in  aller  Kürze  klinische  Diagnosen 
ohne  nähere  Befunde  beigefügt  werden. 


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47]  I^ie  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  407 

Dasselbe  jSßt  sich  von  der  Arbeit  Ehlers  (Zur  Histologie  der  Arteriosklerose 
der  Pulmonalarterie.  Inaug-Diss.  Bonnjan.  1005  und  Virchows  Arch.  1905,  Bd.  178, 
S.  427)  sagen. 

Im  Comite  m6dical,  1900,  S.  2.  Februar,  berichteten  Boinet  und 
Poesy  (Ath6rome  de  Tartöre  pulmonaire.  Marseille  medical  1906^ 
43.  ann.,  no.  5,  p.  151)  über: 

eine  57  jährige  Kranke.  Mittlerer  Ernährungszustand.  Zyanose  des  Gesichtes, 
Lippen  violett.  Sehr  zahlreiche  Venenausdehnungen  an  den  Wangen  und  der  Nase. 
Beträchtliche  Dyspnoe.    Keine  infektiösen  oder   rheumatischen  Affektionen  vorher* 

Seit  8  Monaten  Ödeme  der  Beine.  Schweratmigkeit  mit  Exazerbationen.  Be- 
klemmungen, nervöse  Anfälle  mit  Schwäche,  Aufgeregtheit,  Krämpfen. 

Schwacher  Herzschlag.  Doppeltes  Geräusch  während  der  Systole  in  breiter 
Ausdehnung  bis  zur  Axillarlinie.    2.  Ton  an  Aorta  und  Pulmonalis  schwach. 

Kein  Venenpuls  an  der  lugularis.  Schwacher,  leicht  unterdruckbarer,  unregel- 
mäßiger Radialpuls.    Emphysem  speziell  der  Oberlappen. 

Bronchitis.    Im  Auswurf  blutige  Streifen.  , 

Sektionsbefund:  Im  linken  Oberlappen  in  den  größeren  Gefäßen  schwarz- 
braune Infarktpfröpfe,  ebenso  im  rechten.    Im  Unterlappen  Stauung. 

Herz  vergrößert,  linke  Aurikel  ausgedehnt. 

Mitralinsuffizienz.    Aortenatherom  mit  Erweiterung  des  Bogens. 

Trikuspidalinsuffizienz.  Atheromatöse  Plaques  von  5  mm  Länge,  bis  1  cm  Um- 
fang vom  Ursprung  der  Pulmonalarterie.    Klappen  der  Pulmonalis  normal. 

Rechtes  Herzohr  sehr  erweitert  und  hypertrophiert.  Die  Ränder  der  Trikus- 
pidalklappe  infiltriert  und  fibrös  verdichtet. 

Mönckeberg  (Über  die  genuine  Arteriosklerose  der  Lungenarterie. 
Deutsche  med,  Wochenschr.  1907,  1.  Aug.,  Nr.  31,  S.  1243)  verfügt 
über  2  Erkrankungsfälle  der  primären  Art. 

1.  Fall:  33jährige  unverheiratete  Dame,  die  schon  vor  der  klinischen  Aufnahme 
längere  Zeit  in  ärztlicher  Behandlung  stand. 

Erkrankte  Januar  1906,  nachdem  sie  vorher  immer  gesund  gewesen,  mit  Zeichet) 
von  Anämie  und  allgemeiner  Nervosität. 

Innere  Organe  ohne  abnormes  Verhalten.  Im  Februar  leichte  Verbreiterung 
der  Herzdämpfung  nach  rechts,  an  allen  4  Ostien  Geräusche,  am  lautesten  über 
der  Mitralis.    Puls  klein  und  stark  beschleunigt. 

Wegen  leichtem  Fieber  und  Albuminurie  wurde  damals  die  Diagnose  auf 
Endokarditis  gestellt.  Ende  März  Verschlimmerung.  Erbrechen  und  heftige 
Schweiße,  Urinverhaltung  und  Ödeme  traten  zeitweise  auf.  Die  Haut  bekam  eine 
bräunlich  livide  Färbung. 

Leichte  Protrusio  bulbi  und  Graefes  Symptom  in  geringem  Maße,  jedoch 
keine  Schilddrüsenschwellung.    Aufgeregtheit  und  schlechter  Schlaf. 

5.  April  klin.  Aufnahme.   Starke  Zyanose,  geringer  Exophthalmus.   Herz  be- 

3  4-12 
trächtlich  vergrößert:  -j^o    • 

An  der  Spitze  ein  systolisches  Geräusch  konstant,  ein  diastolisches  zeitweise. 
Tachykardie,  jedoch  regelmäßiger  Puls.    Tremor. 

Urin  vermindert,  Spuren  von  Eiweiß.  Blutdruck  125,  später  117.  Temp.  normal. 
Atmung  und  Puls  beschleunigt. 

Man  dachte  an  eine  Forme  fruste  des  Morbus  Basedow,  doch  wurde  auch 
eine  Myokarditis  in  Erwägung  gezogen.    Herzschwäche.    Exitus    22.  IV. 


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408  Adolf  Posselt,  [48 

Vom  Sektionsbefund  sei  nur  das  Wichtigste  gebracht.  Keine  Zeichen  fiir 
Morb.  Basedowii  und  Addisonii.  Herz  bedeutend  vergrößert  und  zwar  nur  im 
rechten  Ventrikel  und  Vorhof.  Ersterer  derb  und  starrwandig,  während  die  Wan. 
düng  des  linken  außerordentlich  schlaff  war.  Auffallende  Weite  des  Stammes  und 
der  beiden  HauptSste  der  Pulmonalarterie. 

Beträchtliche  Erweiterung  des  rechten  Ventrikels,  seine  Wand  bis  zu  8  mm 
verdickt.  Venöses  Ostium  erweitert,  Trikuspidalis  und  Pulmonalklappen  zart,  f^ei 
beweglich,  von  entsprechender  Größe. 

Der  Klappenapparat  des  engen  linken  Ventrikels  zeigte  nichts  Pathologisches, 
ebenso  Endo-  und  Myokard  ohne  Besonderheiten.  Während  die  normal  weite  Aorta 
eine  völlig  glatte  Innenfläche  darbot,  sah  man  an  der  Pulmonalarterie  und  ihren 
Hauptästen  einzelne  fleckige  und  streifige,  wenig  erhabene  gelblichweiße  Promi- 
nenzen auf  der  Innenfläche.  Lungen  lufthaltig.  Die  größeren  Zweige  der  Lungen- 
arterie auffallend  starr  und  dickwandig.  Starke  Stauung  an  den  Organen  des  großen 
Kreislaufes.  Bei  mikroskopischer  Untersuchung  zeigte  es  sich,  daß  die  skleroti- 
schen Prozesse  in  den  Lungengefäßen  eine  weit  größere  Ausdehnung  hatten.  Die 
Intimawucherung  war  an  den  kleineren  und  kleinsten  Ästen  relativ  noch  viel  hoch- 
gradiger. 

2.  Fall:  56 jähriger  Mann.  Klagen  über  Hinfälligkeit  und  Atemnot,  Klopfen 
und  Unruhe  des  Herzens.  Die  Untersuchung  ergab  eine  Mitralinsuffizienz  im  Stadium 
gestörter  Kompensation,  starke  Herzvergrößerung,  besonders  in  der  Breite,  systol. 
Geräusch  an  der  Spitze,  starke  Leberschwellung,  Ödeme  der  Beine.  Auf  Koffein 
und  Diuretin  Besserung  auf  4  Wochen.  Gegensatz  zwischen  guter  Herztätigkeit 
und  Puls  einer-  und  großer  Leber  und  Ödemen  andererseits.  Weiterhin  stärkere 
Ödeme  und  Atemnot.    Darreichung  von  Digitalis  versagte. 

Befund  an  der  Poliklinik:  Starke  Zyanose,  Ödeme  an  Rumpf,  Beinen  und  Händen. 

5:11.5 
Radialispuls  nicht  zu  fühlen.     Starker  Venenpuls.    Herz  vergrößert.  — r^— .     An 

der  Basis  ein  nicht  besonders  lauter  2.  Ton.  Leber  vergrößert,  derb.  Leberpuls 
(Aszites?).  Links  Hydrothorax.  Pat.  starb  bereits  am  selben  Morgen  nach  der 
Aufnahme  im  Bade.  Diagnose:  Insufficientia  cordis.  Insufficientia  valvulae 
mitralis. 

Aus  dem  Sektionsbefund:  Linke  Lunge  seitlich  oben  und  hinten  fiächenhaft, 
unten  nur  strangförmig  verwachsen.  Rechte  in  ganzer  Ausdehnung  teils  flächen- 
teils  strangförmig  verwachsen. 

Herz  im  ganzen  stark  vergrößert.  Rechter  Ventrikel  stark  erweitert.  Wand  ver- 
dickt, starr.  Endokard  zart.  Pulmonaltaschen  groß,  zart.  Ost.  ven.  dext.  für 
4  Finger  bequem  durchgängig.    Vorhof  mäßig  erweitert. 

Linker  Ventrikel  nicht  erweitert.  Wand  von  entsprechender  Dicke. 

Myokard  bräunlichrot,  schlaff,  Endokard  zart,  Ansatzrand  der  Aortentaschen 
und  am  vorderen  Mitralsegel  leicht  verdickt.  Mitralostium  für  2  Finger  bequem 
durchgängig.    Klappensegel  groß,  freibeweglich. 

Demnach  Hypertrophie  des  rechten  Herzens  ohne  organische  Klappenverän- 
derung.  —  Autochthoner  Thrombus  im  Pulmonalarterienstamm,  der  das  Lumen 
des  Stammes  und  rechten  Hauptastes  nicht  ganz  verlegte,  so  daß  eine  Passage 
freiblieb,  durch  die  ein  wahrscheinlich  aus  der  Vena  cava  inf.  stammender  Em- 
bolus in  die  zum  rechten  Ober-  und  Unterlappen  gehenden  Äste  hineinfahren 
konnte.  Der  Thrombus  war  infolge  ausgesprochener  Arteriosklerose  der  Pulmonalis 
entstanden,  wobei  das  Gefäß  weit  war,  mit  stark  verdickten  Wandungen.  Die  Er- 
krankung  erstreckt  sich   nach    der  mikroskop.  Untersuchung  nicht  so  weit  in  die 


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49]  I)ic  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  409 

kleineren  Genße  wie  beim  früheren  Fall,  dagegen  waren  die  größeren  stSrker  be- 
fallen. 

Einengungen  der  Gefäße  durch  Intimawucheningen,  dabei  vielfach  erweiterte 
kleinere  Äste  ohne  Intimawucherungen. 

Da  es  sich  auch  hier  um  ein  jugendliches  Individuum  handelt 
(wie  in  den  Fällen  Romberg  und  Aust),  möchte  der  Verf.  möglicher- 
weise eine  angeborene  Alteration  der  Lungengefaßwände  annehmen, 
die  zu  einer  vorzeitigen  Schwächung  mit  Schädigungen  der  Gefäß- 
wand und  reparatorischen  Wucherungen  der  Intima  geführt  haben. 

Beim  folgenden  Krankheitsfall  standen  die  Lungenblutungen  im 
Vordergrund  des  klinischen  Bildes. 

Seh  war  tz  (Über  einen  Fall  von  abundanter  Lungenblutung  bei 
Mitralstenose  und  hochgradiger  Sklerose  der  Arteria  pulmonalis. 
Münchner  med.  Wochenschr.  1907,  Nr.  13). 

30 jähriger  M.  Kein  Potus,  keine  Geschlechtskrankheiten.  Mit  24  Jahren  Auf- 
treten von  Herzklopfen  und  Engigkeit  bei  raschem  Gehen  und  Treppensteigen. 

Vor  3  Jahren  Bluthusten  und  wesentliche  Verschlimmerung  der  Engigkeit.  In 
der  Folge  mehrmals  Hämoptoe.  Dez.  1904  plötzlich  heftiger  Anfall  von  Atemnot 
mit  krampfartigen  Schmerzen  in  der  Brust,  1  Tag  lang  sehr  viel  Blut  ausgeworfen. 
Weiterhin  mehrmalige  solche  Anfälle. 

Vom  Status  sei  hervorgehoben:  Haut  sehr  anämisch.  Lippen  zyanotisch, 
Dyspnoe.  Herzverbreiterung  nach  rechts,  weniger  nach  links.  Spitzenstoß  6.  I.  R. 
1  Querf.  außerhalb  der  Mammillarlinie. 

Sehr  verstärkter  1.  Ton  an  der  Spitze  mit  typischem  präsystolischen  Geräusch 
und  verstärkter  2.  Ton.    Herzaktion  rhythmisch,  beschleunigt. 

Halsvenen  pulsieren  synchron  mit  dem  Spitzenstoß«  Fühlbare  Arterien  nicht 
sklerotisch.  Während  des  klinischen  Aufenthaltes  fast  täglich  Hämoptöeanfälle. 
(Hemiplegie.)   Exitus. 

KllnischeDiagnose:  Vitium  cordis  valvuläre  (Mitralstenose  und  -Insuffizienz 
Trikuspidalinsuffizienz),  Herzfehlerlunge,  multiple  Lungenembolien  und  -infarkte, 
pneumonische  Prozesse  im  rechten  Unterlappen.  Embolie  der  linken  Art.  fossae 
Sylvii. 

Anatomische  Diagnose:  Embolie  der  linken  Art.  fossae  Sylvii«  Mitralstenose, 
Trikuspidalstenose,  braune  Induration  der  Lunge.    Blutungen  in  die  Bronchien. 

Arteriosklerose  der  Arteria  pulmonalis.  Milz-  und  Niereninfarkte.  Blutungen 
in  die  Magenschleimhaut. 

In  einer  Arbelt  Rößles  (Ober  Hypertrophie  und  Organkorrelation. 
Münchner  med.  Wochenschr.  1908,  25.  Febr.,  Nr.  8,  S.  377)  fand  ich 
zwei  Fälle  anscheinend  primärer,  nur  mäßiger  Sklerose,  die  jedoch 
für  klinisch-diagnostische  Zwecke  nicht  in  Betracht  kommen. 

Kitamura  (Ober  die  Sklerose  der  Pulmonalarterie  bei  fortgesetz- 
tem übermäßigen  Biergenuß.  Ztschr.  f.  klin.  Med.  1008,  Bd.  65,  S.  14) 
beschuldigt  übermäßigen  Biergenuß  als  Ursache. 

Sein  FaU  betraf  einen  33jährigen  M.  Potator.  Fettsucht.  Zyanose.  Keine 
Ödeme. 

Die  Pulmonalarterien  sowohl   in   den  großen,  als  auch  in  den  kleinen  Ästen 

Klln.  Vortrige,  N.  F.  Nr.504/07.    (Innere  Medizin  Nr.  149/52.)    Okt.  19(».  29 


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410  Adolf  Posselt,  [50 

auffallend  weit  und  klaffend.  Die  Intima  zeigt  schon  in  den  großen  Ästen,  in 
zunehmendem  Maße  aber  nach  den  mittleren  und  kleineren  Ästen  hin,  zahlreiche 
gelbweiße,  z.  T.  konfluierende  beetartige  Erhebungen. 

Herz  stark  vergrößert.  Verdickung  der  Ventrikel  winde,  speziell  der  rechten. 
Klappen  und  Endokard  zart  und  intakt.  Muskel  nirgends  von  Fett  durchwachsen. 
Die  Intima  der  Aorta  zeigt  nur  spärliche  und  kleine  gelbweiße  Verdickungen. 

In  allerjüngster  Zeit  berührte  auf  dem  französischen  Internisten- 
kongreß als  Korreferent  Jaquet  (Les  formes  cliniques  de  Tarterio- 
sclerose.  X.  Congr.  fran?.  de  medec.  interne,  Genfeve.  3 — 5.  Sept.  1908. 
La  Sem.,  med.  1908,  no.  37,  p.  437)  das  Thema.  Nach  ihm  sind  die 
atheromatösen  Veränderungen  der  Pulmonalarterie  nicht  ausgesprochen 
selten,  sie  bieten  jedoch  nur  ausnahmsweise  ein  bestimmtes  klinisches 
Bild.  Manchmal  indessen  kann  die  Pulmonalarteriensklerose  schwere 
Störungen  hervorrufen,  welche  ungefähr  an  die  Symptome  der  Pul- 
monalstenose  erinnern. 

Bei  einer  Eigenbeobachtung  bestanden  die  Erscheinungen  in  starker  Dyspnoe, 
Zyanose  und  Erweiterung  des  rechten  Herzens,  einem  systolischem  Geriusch  an 
der  Basis  mit  Verdoppelung  des  2.  Tones.  (Außerdem  Leberschwellung  und  leichte 
Albuminurie.) 

Die  Autopsie  ergab  ein  Atherom  des  Stammes  und  der  großen  Äste  der  Pul- 
monalarterie, Dilatation  und  Hypertrophie  des  rechten  Ventrikels. 

Die  Arterien  des  großen  Kreislaufs  waren  mit  Ausnahme  der  Nierenarterie  ft'ei 
von  Sklerose. 


Die  Arteria  pulmonalis  ist  das  funktionelle  Gefäß  des  Re- 
spirationsorg anes;  als  korrespondierende  abführende  Gefäße 
dienen  die  Venae  pulmonales,  welche  arterielles  Blut  führen. 

Die  zwei  Arteriae  bronchiales  gelangen  aus  der  Aorta  zur  Lungenwurzel;  sie  sind 
die  Vasa  nutritia  für  Bronchien,  Pulmonalarterienwand  und  Lungenbindegewebe. 
Geringe  Anastomosen  bestehen  mit  der  Art.  pulmonalis. 

Die  zugehörigen  Venae  bronchiales  führen  das  Blut  nur  yon  den  größeren 
Bronchien  zurück  nach  dem  Hilus  und  münden  in  die  Azygos  oder  die  Anonyaia. 
Die  Venen  der  kleineren  Bronchien  gehen  dagegen  in  die  Venae  pulmonales  über, 
wodurch  eine  wichtige  Beziehung  zwischen  diesen  infolge  des  gemeinsamen  Ab- 
flusses besteht. 

Wird  der  Abfluß  des  Blutes  der  Venae  pulmonales  z.  B.  bei  Mitralstenose  e^ 
Schwert,  so  werden  auch  die  Bronchialvenen  mächtig  erweitert. 

Das  bis  zu  einem  gewissen  Grad  mögliche  vikariierende  Eintreten  der  Broncbial* 
arterien  bei  Lungenarterienverstopfung  oder  hochgradiger  Einengung  wird  schofl 
in  der  älteren  Literatur  gewürdigt  (hierüber  bringt  unter  anderen  Tiedemann 
eigene  und  fremde  Befunde),  eingehender  beschäftigte  sich  hiermit  Küttner, 
worüber  bei  Hart  (Ober  die  Embolie  der  Lungenarterie.  Deutsch.  Arch.  f.  Uio. 
Med.  1905,  Bd.  84,  S.  448)  Näheres  zu  lesen  ist. 

Bei  Atherosklerose  der  Lungenschlagader  sind  im  Verhalten  des 
ganzen  Systems  verschiedene  Möglichkeiten  vorhanden: 


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51]  Die  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  411 

Bei  geringeren  Graden  beschränkt  sich  die  Veränderung  auf  sklero- 
tische Fleckungen,  verteilt  auf  größere  oder  kleinere  Gefäßbezirke  ohne 
Beeinflussungen  des  Lumens. 

Daß  derartige  anatomische,  oft  fast  eher  histologische  Vorgänge 
nicht  ins  Bereich  klinisch-diagnostischer  Erwägungen  fallen,  ist  selbst- 
redend» 

Bei  höheren  Graden  stellt  sich  eine  wesentliche  Änderung  der 
Konsistenz  mehr  weniger  weiter  Gefäßwandungsbezirke  ein,  Elastizi- 
tätsverlust, nach  vorausgehender  Erschlaffung,  Starrheit,  verschieden- 
gradige  Verengung  der  kleineren  und  kleinsten  Gefaßverzweigungen, 
welche  einerseits  eine  gleichmäßige,  bis  mehr  oder  weniger  aneurys- 
matische  Erweiterung  des  Stammes  oder  von  Hauptästen,  andererseits 
eine  allgemeine  ziemlich  gleichmäßige  Verengerung  des  gesamten  Ge- 
fäßes vom  Ursprung  an  bedingen  kann. 

In  seltenen  Fällen  ist  eine  allgemeine  gleichmäßige  Erweiterung 
vom  Stamm  an  bis  in  die  feinsten  Verästelungen  möglich. 

Daß  die  obliterierende  Endarteriitis  der  feinen  und  allerfeinsten 
Lungenarterienäste  (z.  B.  in  den  Fällen  von  Aust,  Romberg,  Kidd, 
Mönckeberg,  Rößle)  in  bezug  auf  klinische  vorzüglich  „Lokal^ 
symptome^^  ein  differentes  Bild  zu  der  hochgradigen  Sklerose  des 
Stammes  der  Pulmonalis  zustande  bringt,  mag  hier  gleich  hervorgehoben 
sein.  Letztere  Endarteriitis  höchsten  Grades,  die  Arteriosklerose 
des  Wurzelgebietes,  der  großen  Äste  und  deren  Verzweigungen, 
ohne  besondere  Beeinflussung  des  Kalibers  mit  ausgesprochener 
ausgedehnter  Verhärtung  und  Verkalkung,  haben  wir  bei  unseren 
Besprechungen  über  die  klinische  Diagnose  dieser  Affektion  bei^ 
der  physikalischen  Untersuchung  in  allererster  Linie  im 
Auge. 

Thoma  sieht  die  Ursache  der  Arteriosklerose  in  einer  primären  Erkrankung  ^ 
der  Gefößwand  selbst  und   räumt  der  Veränderung  der  Vasa  vasorum  nur  eine  ^  ^jU#v><^^         l 
untergeordnete,  sekundäre  Stellung  ein.  ju  > "  i^  ^  *  '"^  ^ 

Während  Huchard  in  eben  dieser  Alteration  der  Vasa  vasorum  das  Primäre 
erblickt,  bedingt  durch  eine  erhöhte  Wandspannung  der  Arterie,  welche  ihrerseits 
wiederum  mit  einem  gesteigerten  Tonus  der  Gefäßmuskulatur,  mit  einem  GefäB- 
krampf  in  Zusammenhang  gebracht  wird. 

Ähnlichen  Annahmen  neigte  bereits  Köster  zu.  Zunächst  leiden  die  Vasa 
vasorum,  in  welchen  sich  ein  endarteriitischer  Prozeß  etabliert.  Hierdurch  wird 
das  an  ihrer  peripheren  Ausbreitung  liegende  Gewebe  der  Intima  schlechter  ernährt 
and  Vorbedingungen  für  regressive  Metamorphosen  geschaffen.  Nach  reaktiver 
Bindegewebshypertropbie  greift  der  Prozeß  auf  Media  und  Adventitia  über. 

Nach  Josu6  (Pathog6nie  de  l'arterioscl^rose.  Soc.  biol.  LXIII,  29.  Oct.  1907) 
ist  die  Arteriosklerose  das  Resultat  der  Verteidigungsmittel,  die  der  Organismus  auf- 
bietet, um  die  Funktionsfähigkeit  der  Arterien  zu  erhalten.  Hierbei  kommen  jedoch 
außer  den  produktiven  auch  degenerative  Veränderungen  zustande,  so  daß  man  die 
Arteriosklerose  als  eine  Verletzung  zwecks  Verteidigung  auffassen  kann. 

29* 


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\ 


412  Adolf  Posselt,  [52 

^ir  dürfen  nicht  vergessen,  daß  der  Vorgang  in  den  Geßßen  sich  nicht  an  ein 
allgemeingültiges  Schema  hält,  daß  es  auf  die  Raschheit  oder  Langsamkeit  der  Eot-r 
Wicklung,  den  Ort,  die  Ausdehnung,  den  Grad  ankommt,  daß  dabei  die  Beschaffen- 
heit des  Herzens  bzw.  das  Stadium  der  ursprünglichen  Herzaffektion,  Zustand  der 
Lunge,  die  Umgebung  beider  (Perikard  und  Pleura)  ankommt. 

Was  die  Zeitdauer  betrifft,  so  wäre  mit  Thoma  ganz  besonders  zu  bedenken, 
daß  eben  die  Wurzel  des  Obels  die  abnorme  Dehnbarkeit  in  den  Anfangsstadien 
ausmacht  und  erst  in  der  späteren  Entwickelung  durch  Verdickung  der  Intima  eine 
Korrektur  der  Schädigung,  dann  aber  durch  Schwund  der  Elastizität,  Verhärtungs- 
und Sklerosierungsprozesse,  Kalkablagerung  usw.  eine  völlige  Starrheit  eintritt. 

Was  nun  die  bei  Mitralstenose  obwaltenden  Verhältnisse  anlangt,  so  folgert 
Gerhardt  (Ober  die  Kompensation  von  Mitralfehler.  Arch.  f.  experim.  PatboU 
1901,  Bd.  25,  S.  186)  aus  seinen  Versuchen,  daß  verstärkte  Arbeit  des  rechten  Ven- 
trikels das  durch  eine  Mitralstenose  gesetzte  Hindernis  kompensieren  kann,  und 
deutet  sonach  die  bei  diesem  Fehler  regelmäßig  vorkommende  Hypertrophie  des 
rechten  Ventrikels  als  echte  Kompensationserscheinung.  Es  ist  jedoch  eine  ver- 
hältnismäßig starke  Steigerung  des  Pulmonalarteriendruckes^)  nötig,  damit  der 
Aortendruck  beeinflußt  wird.  Damit  werden  aber  an  die  Elastizität  der  Lungen- 
arterien und  -kapillaren  erhöhte  Ansprüche  gestellt.  Zur  Mitralstenosenkompen- 
sierung  müssen  sie  annähernd  doppelt  so  großem  Drucke  standhalten  wie  in 
der  Norm.  In  der  menschlichen  Pathologie  drückt  sich  dieses  in  der  starken  Hyper« 
trophie  des  rechten  Herzens  aus.  Infolge  der  dauernd  gesteigerten  Belastung  der 
Lungengefäße  müssen  diese  ähnliche  Veränderungen  erleiden,  wie  die  des  großen 
Kreislaufs  unter  ähnlichen  Bedingungen:  Wandverdickung  und  Einbuße  der  Elasti- 
zität, Letztere  bedeutet  aber  ihrerseits  wieder  eine  Erschwerung  der  Arbeit  des 
rechten  Herzens,  welche  stärkere  Hypertrophie  erfordert. 

Es  bildet  sich  sonach  ein  Circulus  vitiosus  aus,  der  die  Kreislaufsverhältnisse 
trotz  anfänglicher  Kompensation  des  Klappenfehlers  dauernd  verschlechtert.  -- 

Für  das  Verständnis  des  ganzen  Prozesses  und  einer  Reihe  klinischer  Sym- 
ptome ist  nicht  minder  wichtig  ein  zweiter  derartiger  Circulus  vitiosus,  der  sich  in 
den  Vasa  nutritia,  den  Bronchialarterien  abspielt.  An  verschiedenen  Stellen  wurde 
^  der  schlechten  Füllung  des  linken  Ventrikels  und  der  Umstände  gedacht,  die  eine 
Füllung  hier  ganz  besonders  erschweren,  infolgedessen  auch  die  Blutversorgung  io 
diesen  Gefäßen  leidet,  was  wiederum  eine  Steigerung  des  Prozesses  in  den  Lungen- 
arterienwandungen  zur  Folge  haben  muß.  In  diesen  Stadien  resultiert  daraus  und 
durch  den  mächtigen  Oberdruck  von  innen  eine  starke  Gefäßüberdehnung,  infolge 
deren  die  Vasa  vasorum  komprimiert  und  geschädigt  werden. 

Aus  allem,  aus  der  hier  niedergelegten  Literatur  und  unseren  Eigen- 
beobachtungen geht  hervor,  daß  unter  allen  Herzaifektionen  die  Mitral- 
stenose weitaus  die  Prädilektion  für  die  Entwickelung  des  Prozesses 
in  der  Lungenschlagader  abgibt. 

Ganz  und  gar  Ober  das  Ziel  schießt  Jedoch  Rattone  (Arch.  per  le 
scienze  med.  1885,  t.  IX,  no.  1),  wenn  er  behauptet,  daß  das  Atherom 
der  Pulmonalis  sich  konstant  bei  Stenosen  der  Mitralis  findet, 


1)  Das  Blutdruckverhältnis  in  der  Pulmonalarterie  zur  Aorta  geben  unter  anderen 
an:  Beutrer  und  Marey  mit  1 : 3,  Goltz  und  Gaule  mit  2:5. 


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53]  Die  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  413 

wenn  er  auch  die  Beschränkung  beifügt:  die  eine  bedeutendere  Hyper- 
trophie des  rechten  Ventrikels  zur  Folge  hatten. 

Beim  Studium  des  vorliegendes  Gegenstandes  wurde  ich  veranlaßt, 
ein  möglichst  großes  Material  von  Herzkranken  mit  Mitralstenose  in 
den  klinischen  und  Sektionsprotokollen,  in  sonstigen  Publikationen, 
Statistiken,  Krankenhausberichten,  kasuistischen  Mitteilungen,  Sammel- 
referaten u.  dgl.  auf  das  Vorkommen  dieses  Prozesses  in  den  Lungen- 
gefäßen durchzuprüfen,  wobei  ich  zu  dem  Resultat  gelangte,  daß 
wirklich  ausgesprochene  Fälle  von  Atherosclerosis  pulmonalis  ganz 
entschieden  trotzdem  auch  bei  diesem  Herzfehler  selten  sind.  Dies 
gilt  nicht  allein  für  die  an  und  für  sich  nicht  allzu  häufige  reine 
Mitralstenose,  sondern  auch  für  die  Kombination  dieser  mit  Insuffizienz 
und  Vorwiegen  ersterer.  Immerhin  ist  aber  das  von  uns  in  obigem 
erbrachte  Material  reichlich  genug,  um  auch  für  den  Praktiker  volle 
Beachtung  zu  verdienen. 

Es  sind  zum  Zustandekommen  solcher  Prozesse  unzweifel- 
haft noch  eine  Reihe  von  Paktoren  nötig,  die  sich  recht  kompli- 
ziert gestalten  können. 

Eine  gewisse  angeborene  Kleinheit  und  Schwäche  des  linken  Ven- 
trikels mit  geringerer  Widerstandsfähigkeit  der  Lungengefäße  (wofür 
das  so  häufig  konstatierte  jugendlichere  Alter  spricht).  Enge  der  Pül- 
monalvenen,  Hypoplasie  der  Aorta,  wiederholte  Einwirkungen  schwerer 
infektiöser  Prozesse  besonders  in  der  Jugend. 

Abgesehen  von  dem  Vorkommen  bei  Entwicklungsstörungen  des      \^y^ 
Herzens  wird  der  für  manche  Fälle  geltende  kongenitale  Charakter 
durch  Erscheinungen  gekennzeichnet,  die  alle  Zeichen  einer  kongenitalen 
Endokarditis  tragen. 

Um  den  Rahmen  der  vorliegenden  Mitteilung  nicht  zu  überschreiten, 
können  nur  einige  Momente  in  gedrängtester  Kürze  gestreift  werden. 

So  verdient  hervorgehoben  zu  werden,  daß  bei  beiden  jugendlichen       ^ 
Individuen  (24  und  25  Jahre)  von  Romberg  und  Aust  mit  anschei- 
nend primärer  Aneriosklerose  sehr  auffällige  Enge  der  Aorta  vor-  ^^ '  x      -^^ 
banden  war  (beidesmal  vollständige  rechtsseitige  Pleurasynechie).  *"    ^ 

Im  Falle  Rombergs  bestand  eine  für  die  Auffassung  des  Prozesses 
ungemein  wiebtige  Störung,  auf  die  merkwürdigerweise  weder  er  noch 
andere  Bearbeiter  des  Themas  Rücksicht  nahmen,  nämlich  „eine  ganz 
beträchtliche  Verengerung  der  Pulmonalvenen^S  Es  heißt:  „Die 
Venae  pulmonales  sind  in  ihrer  Einmündung  in  den  linken  Vorhof 
eng,  für  einen  dünnen  Bleistift  eben  durchgängig.^^  Daß  eine  derartige 
Verengung  nicht  gleichgültig  für  den  Blutkreislauf  in  der  Lunge  sein 
kann  und  daß  dadurch  eine  Ursache  für  wesentliche  Drucksteigerung 
in  der  Pulmonalarterie  gegeben  erscheint,  ist  ohne  weiteres  ersichtlich. 


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414  Adolf  Posselt,  [54 

Im  schlieOlichen  Endresultat  dürfte  sie  dem  durch  Mitralstenose 
ausgelösten  gleichkommen. 

Demnach  wird  auch  verständlich,  wenn  ich  an  anderer  Stelle  sagte, 
daß  die  ,,rein  primäre^^  Natur  einiger  dieser  Beobachtungen  sehr 
cum  grano  salis  aufzufassen  ist. 

Auch  in  unseren  beiden  Fällen  IX  und  X  von  Mitralstenose  mit 
hochgradiger  Atherosis  der  Pulmonalartie  zeigten  die  Pulmonalvenen 
auffallend  enge  Lumina,  was  um  so  mehr  Berücksichtigung  verdient} 
als  ja  bekanntlich  als  gewöhnliches  Verhalten  bei  der  Stenosierung 
des  linken  Atrioventrikulär- Ostiums  naturgemäß  eine  ganz  außer* 
ordentliche  Ausdehnung  des  linken  Vorhofes,  die  sich  auch  stets  auf 
die  Mündungen  der  Pulmonalvenen  erstreckt,  resultiert 

Die  Verengerung  der  Pulmonalvenen  (vielleicht  manchmal 
angeboren,  zum  Teil  jedenfalls  auch  auf  extrauterine  Prozesse  infek- 
tiöser Natur  bei  frühzeitiger  Polyarthritis,  Variola  usw.)  würde  auch 
die  direkte  unmittelbare  Beeinflussung  der  Zirkulationsverhältnisse  in 
der  Lungenschlagader  und  die  daraus  resultierenden  Folgezustände 
recht  plausibel  erscheinen  lassen  und  verdient  jedenfalls  in  Zukunft 
vollste  Beachtung. 

Die  Ätiologie  soll  wenigstens  in  dieser  Mitteilung  nur  vom  prak- 
tisch-klinischen Standpunkt  aus  berücksichtigt  werden.  Wir  begnügen 
uns  deshalb  mit  dem  bloßen  Hinweis,  daß  der  Pulmonalsklerose  eine 
separate  Stellung  gebührt,  relativ  unabhängig  von  dem  Prozeß  im 
sonstigen  arteriellen  System,  daher  nur  äußerst  selten  als  Teilerschei- 
nung allgemeiner  Arteriosklerose  auftritt;  sie  kann  auch  mitunter  bei 
gewissen  Bildungsanomalien  des  Herzens  und  der  großen  Gefäße  ge- 
funden werden. 

Nachdem  Mitralstenose^)  noch  relativ  am  häufigsten  diesen 
Prozeß  im  Gefolge  hat,  wird  es  uns  gar  nicht  wundernehmen,  daß 
wir  des  öfteren  in  der  Anamnese  Attacken  von  schwerer  Polyarthritis 
rheumatica  finden.  Mehrfach  läßt  sich  auch  die  Kombination  von 
Pneumonien,  Emphysem  und  Perikarditis  mit  solchen  konstatieren. 
Daß  letztere  für  die  Ausbildung  derartiger  Befunde  begünstigend  wirken 
können  infolge  Zirkulationsstörungen  und  mechanischer  Momente 
(Druck,  Kompression,  Verzerrung),  bedarf  wohl  keiner  weiteren  Aus- 
einandersetzung. 

In  akuter  Weise  kann  aber  auch  die  Intima  und  im  weiteren  Ver- 
lauf die  ganze  Wand  des  Gefäßes  direkt  durch  bakterielle  Wirkung 


1)  Auf  das  Auftreten  von  Pulmonalsklerose  bei  Mitralstenose  wiesen  zuerst  und 
vor  allem  Dittrich  (1S50),  Rlinger  (1855),  Heschl  (1855)  und  Bamberger 
(1857)  hin. 


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55]  '  I)ie  klinische  Diagnose  der  Palmonalarteriensklerose.  415 

oder  zum  mindesten  durch  die  Toxine  bei  Infektionen  ISdiert  werden, 
wodurch  als  Resultat  auch  ulzerierende  und  sklerotische  Veränderungen 
gesetzt  werden  können  (Diplokokkeninfektion,  Strepto-  und  Staphylo- 
kokken, gonorrhoische  Infektion). 

Ohne  auf  die  diesbezügliche  Literatur  einzugehen,  mögen  hier 
einige  Beispiele  mit  klinischen  Erscheinungen  Platz  finden,  ganz  be- 
sonders deshalb,  weil  in  den  Lehr-  und  Handbüchern  und  den  ein- 
schlägigen kasuistischen  Arbeiten  diesem  Moment  gar  keine  Rechnung 
getragen  wird.  Dieselben  dienen  demnach  auch  als  Paradigma  für 
akutes  Entstehen  solcher  Prozesse. 

Nyssens,  Un  cas  d'endart^rite  pulmonaire  v6g6tante  et  uicereuse.  Infection 
streptococcique.    La  Presse  M^dicale  Beige  12.  Mars  1893,  45.  ann.,  no.  11,  p.  81. 

Mädchen  von  22  Jahren.  Blässe,  Erbrechen.  Konstantes  Geräusch  an  der 
linken  Seite  des  Sternums.  Milztumor.  Später  etwas  Zyanose.  Weiterbin  Er- 
brechen, Fieber,  Schweratmigkeit. 

Sektion:  Herz  430  g  schwer. 

«Autour  des  art^res  aorte  et  pulmonaires  11  existe  de  Texsudat  avec  villositös 
8OUS  forme  de  plaques  d'epaissement,  et  surtout  sur  l'artöre  pulmonaire.  Les  val- 
▼ules  pulmon.  sont  transparents  et  souples  mais  ä  leur  Insertion  elles  pr^sentent 
des  points  d'induration  des  train6es  de  scl6rose. 

Falle ri,  Un  caso  di  endoarterite  deir  arteria  pulmonare.  Riforma  medica  1899, 
no.  254.    Ref.  Ztrlbl.  f.  inn.  Med.  1900,  Nr.  31,  S.  787. 

Eine  Pneumonie  des  linken  oberen  Lungenlappens,  die  zur  Induration  geführt, 
eine  frische  des  linken  unteren  Lappens,  doppelseitige  serös-flbrinöse  Pleuritis^ 
ulzerierende  polypöse  Endoarteriitis  der  Semilunarklappen  der  Pulmonalis,  ausge- 
breitete fibrinöse  Meningitis  war  der  Krankheitsbefund,  welchen  Palleri  be- 
schreibt. Es  gelang  ihm,  aus  allen  Krankheitsherden  Reinkulturen  von  Diplococcus 
Fränkel  zu  erzielen;  auch  gingen  alle  mit  diesen  Kulturen  geimpften  Kaninchen 
prompt  an  Septikämie  ein.  Als  Seltenheit  betont  Palleri,  daß  das  Herz  wie  alle 
übrigen  großen  Gefäße  sich  vollständig  gesund  erwies  und  nur  die  Lungenarterie 
an  dem  Krankheitsprozesse  Anteil  nahm. 

Miura  (Virchows  Arch.  Bd.  111»  und  Mitteilungen  der  mediz.  Fakultät  der 
Universität  Tokio  1890,  IV,  5)  beschreibt  bei  Kakkepatienten  Veränderungen  an  der 
Pulmonalarterie,  die  als  Vorstufen  von  Arteriosklerose  betrachtet  werden  können. 

Fürth  und  Weber,  Maligne  gonorrhöische  Endarteriitis  der  Arter.  pulmonalis. 
Edinburgh  Medic.  Journ.  1905,  voL  XVIII,  p.  33.  Ref.  Fortschr.  d.  Med.  1905, 
S.  891. 

27J.  M.,  seit  einigen  Monaten  Gonorrhöe,  unregelmäßiges  Fieber  mit  Frösten, 
leichte  Zunahme  der  Pulsfrequenz.  Geräusch  im  2.  linken  I.  R.  (Perikarditisver- 
dacht).  4  Monate  später  neben  einem  systolischen  ein  lang  gezogenes  diastolisches 
Geräusch  neben  deutlichem  2.  Pulmonalton.  Hypertrophie  des  r.  und  1.  Herzens. 
Albuminurie.    Tod  7  Monate  nach  der  Aufnahme  im  Spital. 

Sektion:  Herzklappen  normaL  In  derArt.  pulm.  2  cm  oberhalb  der  Pulmonal- 
klappe  eine  rauhe,  ca.  V  lange  und  3  mm  vorragende  warzige  Effloreszenz,  in 
welcher  zwar  Streptokokken,  aber  keine  typischen  Gonokokken  gefunden  wurden. 

Die  Erweiterung  der  Pulmonalis  bot  für  das  diastolische  Geräusch  keine  ge- 
nügende Erklärung,  jedenfalls  nicht  für  die  frühere  Zeit  des  Auftretens. 


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416  Adolf  Posselt^  [56 

Dem  chronischen  Alkoholismus  wird  von  französischen  Autoren 
eine  ätiologische  Bedeutung  bei  der  Pulmonalarterien-SUerose  zuge- 
schrieben. 

Nach  Lancereaux  (Caillots  d6velopp6s  dans  Tartfere  pulmonaire  a  la  suite 
d'exc&s  alcooliques.  Compt.  rend.  de  la  Soc.  de  biologie,  1861,  ann.  XIII.,  p.  162) 
existiert  eine  Form  der  chronischen  Arteriitis,  welche  von  den  Autoren  noch  nicht 
beschrieben  ist  und  sich  durch  Produktion  neuer  Membranen  an  der  Intima  charakte- 
risiert. Diese  Arteriitis  findet  sich  besonders  in  der  Pulmonalis.  Als  Ätiologisches 
Moment  glaubt  Lancereaux  Alkoholismus  beschuldigen  zu  können. 

Einem  anderen  französischen  Autor,  Huchard  (Causes  et  pathog^nie  de 
Tart^rioscl^rose,  1889,  und  Maladies  du  coeur  et  des  vaisseaux,  1882)  zufolge  virke 
der  Alkohol  in  erster  Linie  auf  die  Lebersubstanz  ein  und  rufe  weiterhin  haupt- 
sächlich arteriosklerotische  Veränderungen  in  den  Pulmonalarterien  hervor,  eine 
Anschauung,  die,  wie  Brüning  (Untersuchungen  über  das  Vorkommen  der  Angio- 
jsklerose  im  Lungenkreislauf.  Zieglers  Beitr.  z.  path.  Anat.  1901,  XXX,  S.  457)  mit 
Recht  bemerkt,  wohl  von  keinem  anderen  Forscher  geteilt  wird. 

Mehrfach  fand  ich  in  der  Literatur  einen  Hinweis  auf  Münzinger.  Aus  dessen 
Arbeit^(pas  Tübinger  Herz.  Deutsch.  Arch.  f.  klin.  Mediz.  1877,  Bd.  19.,  S.  449) 
ist  jedoch  keinerlei  Ausbeute  für  klinisch-diagnostische  Zwecke,  unseren  Prozeß 
anlangend,  erhältlich. 

S.  758:  „Mannigfaltig  gestaltet  sich  das  Krankheitsbild  (nämlich  das  vom  Verf. 
geschilderte,  infolge  Oberanstrengung  auftretende  Herzleiden  der  Tübinger  Wein- 
hauer), wenn  von  den  Lungen  aus  (dem  Emphysem,  der  atberomatösen  Entartung 
der  Pulmonakrterie),  dem  Gebiete  der  Arterien  des  großen  Kreislaufs  (Atherom), 
neue  Bedingungen  eingreifen,  welche  wohlgeeignet  sind,  ein  verworren  erschei- 
nendes und  schwer  zu  enträtselndes  Ganzes  zu  gestalten.** 

Ober  besondere  Arteriosklerose  der  Pulmonalis  weiß  dieser  Autor  jedoch  nicht 
zu  berichten.  In  einem  Fall,  55 j.  M.,  wird  allerdings  angegeben:  „Pulmonalis  mäßig 
erweitert,  schwach  atheromatös**;  ebendasselbe  wird  auch  von  der  Aorta  bemerkt 

In  einem  anderen,  50 j.  M.,  heißt  es  von  Pulmonalis  und  Aorta:  „Etwas  er- 
weitert, leicht  fettig  degeneriert.*' 

In  jüngster  Zeit  kommt  Kitamura  (Ober  die  Sklerose  der  Pul- 
monalarterie  bei  fortgesetztem  übermäijigen  BiergenuQ.  Ztsclir.  f.  klin. 
Mediz.  1008,  Bd.  65,  S.  14)  auf  das  Tliema  zu  sprechen,  indem  er 
reichliclien  BiergenuO  als  ursächliches  Moment  beschuldigt.  Es  stelle 
sich  bei  diesem  eine  echte  Plethora,  eine  absolute  Vermehrung  der 
Blutmenge  mit  konsekutiver  Herzhypertrophie  ein,  wobei  sich  die  Er- 
schwerung der  Zirkulation,  besonders  im  Lungenkreislauf,  geltend 
mache. 

In  unseren  Fällen  war  eine  derartige  Ätiologie  vollständig  zu  negieren. 
Nur  Fall  I  betraf  einen  ausgesprochenen  Potator  mit  Leberzirrhose 
und  Herzdegeneration,  bei  dem  der  Prozeß  in  der  Lungenschlagader 
als  zufälliger  Sektionsbefund  angetroffen  wurde. 

Was  speziell  den  übermäßigen  Biergenuß  anbelangt,  so  würde  hier 
das  kompetenteste  Urteil  in  dieser  Frage  wohl  außer  jedem  Zweifel 
dem  Münchener  pathologischen  Institut  zustehen. 


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57]  I^ic  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  417 

Auf  eine  diesbezügliche  Anfrage  hatte  Herr  Prof.  Dürck  von  dem 
genannten  Institut  die  Güte  mitzuteilen,  „daß  solche  Fälle  sicher  mit 
tibermäßigem  Biergenuß  nichts  zu  tun  hatten^S  Ein  Fall  der  letzteren 
Zeit  des  Institutes  betraf  ein  junges  Mädchen. 

Im  Gegensatz  zur  Aorta  spielt  bei  den  Schädigungen  dieses  Ge- 
fäßes Lues  ganz  sicherlich  nur  eine  sehr  untergeordnete  Rolle.  Näher 
hierauf  einzugehen,  wurde  uns  von  unserem  klinischen  Thema  zu  weit 
abseits  führen. 

In  letzter  Zeit  lenkte  wiederum  Wiesel  in  mehreren  Mitteilungen i) 
die  Aufmerksamkeit  auf  die  Erkrankungen  arterieller  Gefäße  im  Ver- 
laufe akuter  Infektionen. 

Für  die  Beurteilung  und  das  Verständnis  mancher  Vorkommnisse, 
die  im  folgenden  auseinandergesetzt  werden,  scheint  mir  von  Wichtig- 
keit, daß  auch  Schädigungen  der  Vasomotoren  durch  infektiöse  Pro- 
zesse behauptet  werden  (Romberg). 

Bei  Durchsicht  der  Literatur  in  bezug  auf  unser  Thema  muß  einem 
die  häufige  Erwähnung  durchgemachter  Infektionskrankheiten  auffallen, 
wobei  ich  gerade  mehrfach  Überstehen  verschiedenartiger  schwerer 
solcher  antraf. 

In  der  Anamnese  unserer  Kranken  figuriert,  abgesehen  von  zumeist 
sehr  schwerer  und  wiederholter  Polyarthritis  rheumatica,  die  zu 
Endokarditis  mit  konsekutivem  Vitium  cordis  führte,  Typhus,  Pneu- 
monie, Perikarditis,  bei  3  Fällen  in  jüngeren  Jahren  ^^Variola^^ 

Dieser  schweren  Infektionskrankheit  bin  ich  geneigt,  eine  entschiedene 
Bedeutung  in  der  Ätiologie  des  abzuhandelnden  Prozesses 
beizulegen. 

Verschiedenerseits  wurden  Befunde  von  Gefäßalterationen  nach  Blattern  erhoben. 

Tiedemann  (S.  172)  z.  B.  schreibt,  daß  Entzündung  der  inneren  Haut  der  Puls- 
adern oft  in  Begleitung  hitziger,  mit  Fieberbewegungen  verbundener  exanthema- 
tiscber  Krankheiten  eintrete,  namentlich  bei  Masern,  Scharlach  und  Pocken. 

Auch  in  sonstigen  älteren  deutschen  Hand-  und  Lehrbüchern  über  Herzkrank- 
heiten finden  sich  solche  Hinweise. 

Tanchon  (Edinburgh  Journal  of  medical  sciences  July  1816)  fand  bei  einer 
großen  Anzahl  von  an  Pocken  Verstorbenen  die  verschiedensten  Grade  von  Ent- 
zündungen der  inneren  Fläche  des  Herzens  und  der  großen  Gefäße.  Er  beschreibt 
hierbei  die  verschiedensten  Veränderungen  der  Gefäße,  wobei  es  wiederholt  zu 
beträchtlichen  Verdickungen  kam. 

In  dem  bekannten  Falle  Gilewskis   (Wien.  med.  Wochenschr.  1868,  Nr.  33) 


1)  Zeitschr.  f.  Heilk.  1905  und  1907.  Ober  Schädigungen  der  Gefäßwand  durch 
Infektionskrankheiten,  die  dann  zu  Sklerose  führen,  liegen  Untersuchungen  vor 
unter  andern  von  Simnitzi,  Seitz  und  Saltykow.  Thayer,  Beziehungen  zwi- 
schen akuten  Infektionen  und  Arteriosklerose.  Deutsche  mediz.  Wochenschr.  1904. 
L.  B.  S.  1515. 


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418  Adolf  Posselt,  [5g 

von  kombiniertem  Herzfehler  mit  Aneurysma  und  hochgradiger  Arteriosklerose  der 
Pulmonalis  überstand  der  Kranke  Blattern,  Typhus,  Wechselfieber,  Lungenentzündung, 
Gelenkrheumatismus. 

Nach  Thoma  leidet  die  Dehnbarkeit  und  Elastizität  der  Gefäße  bei  Diphtherie 
und  Variola. 

Speziell  diese  verursache,  wie  Huchard  glaubt,  unter  besonderen  Umständen 
eine  akute  Endarteriitis. 

Schrötter  läßt  allerdings  die  Frage  offen,  ob  dieses  auch  für  die  Arterio- 
sklerose gelte. 

Martin  (Revue  de  M6d.  1881,  t  I,  p.  369)  wies  bei  Infektionskrankheiten, 
namentlich  bei  Pocken,  herdweise  Veränderungen  an  den  Gefäßen,  Aorta  usw.  nach, 
welche  herdweise  Arteriosklerose  auf  eine  Arteriitis  der  Vasa  vasorum  zurück- 
geführt wird. 

Von  Immermann  (Variola.  Nothnagels  Spez.  Path.,  Bd.  IV,  2.  H.  1896)  wird 
unter  Komplikationen  und  Nachkrankheiten  nur  Perikarditis,  in  einzelnen  Fällen 
Endokarditis  ulcerosa  und  marantische  Thrombose  angeführt 

Von  einer  Reihe  von  Autoren  wurden  nach  akuten  Infektionen,  speziell  Typhus 
und  Variola,  akute  Arteriitis,  die  häufig  in  einen  chronischen  Zustand,  Arterio- 
sklerose, überging,  beobachtet  (Ducastel,  Brouardel,  Blachez,  Landouzy  und 
Siredey). 

Anhangsweise  möchte  ich  beifügen,  daß  in  einem  von  mir  beobachteten  Falle 
von  Pulmonalkonusstenose  mit  Septumdefekt  i),  bei  dem  schwere  endokarditische 
Prozesse  am  Konus  und  Klappenapparat,  endarteriitische  Fleckungen  an  der  Arterie 
selbst  bestanden,  in  früher  Jugend  Blattern  (mit  17  Jahren  Pneumonie)  durch- 
gemacht wurden. 


Die  Möglichkeit  des  klinisclien  Erkennens  des  Prozesses 
ist  von  Haus  aus  an  das  Vorhandensein  einiger  Bedingungen  geknäpft: 

1.  entsprechendes  Stadium  (je  hochgradiger  und  fortgeschrittener 
die  Erscheinungen  der  Kompensationsstörungen  und  Herzensinsuffizienz, 
desto  weniger  Aussicht  bietet  sich  für  sie). 

2.  genügende  Ausbildung  des  Prozesses  selbst,  der  Intensität  und 
Extensität  nach. 

3.  sehr  lange  Beobachtungsdauer. 

(Bei  unseren  letzten  zwei  Patienten  erstreckte  sie  sich  auf  5  und 
7  Jahre.) 

In  der  klinischen  Symptomatologie  ist  für  das  Auftreten  der 
allgemein  klinischen  Symptome  das  Befallensein  der  kleineren 
und  kleinsten  Gefäße  (Endarteriitis  obliterans),  für  die  Setzung  der 
lokalphysikalischen  Befunde  das  hochgradige  Befallenwerden  des 
Ursprungsgebietes,  Stammes  der  Arterie  und  der  großen 
Äste  maßgebend. 

Wir  wollen  von  der  Atherosclerosis  pulmonalis  bei  Mitral- 


1)  S.  Pommer,  Wiener  klin.  Wochenschr.  1904.     (s.  u.) 


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50]  Die  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  410 

Stenose  ohne  wesentliche  Alteration  der  Kaliberverhältnisse  des  Ge- 
fäßes ausgehen. 

Bei  der  physikalischen  Herzuntersuchung  wollen  wir  der- 
jenigen Erscheinungen  gedenken,  welchen  eine  direkte  oder  indirekte 
semiologische  und  diagnostische  Bedeutung  zukommt  oder  durch  das 
Zusammentreffen  gewisser  Umstände  eine  solche  erlangen. 

Bei  der  Inspektion  weisen  alle  Zeichen  (verbreiterte  undulierend- 
pulsierende  Herztätigkeit,  epigastrische  Pulsation,  Pulsationen  in  der 
Konusgegend)  auf  eine  mächtige  Hypertrophie  des  rechten  Ventri- 
kels hin. 

Sichtbare  Pulsationen  im  2.  linken  Interkostalraum  lassen  wohl  zu- 
meist eher  komplikative  Verhältnisse  vermuten:  Adhäsionen,  Retrak- 
tionen am  Perikard  oder  der  benachbarten  Pleura,  Erweiterungen  und 
Aneurysmabildungen  des  Gefäßes. 

Daß  die  Hergegend  im  allgemeinen  meist  recht  beträchtlich  hervor- 
gewölbt, demnach  die  Herzbuckel  (Voussure)bildung  eine  in  der  Regel 
ganz  besonders  auffallend  starke  ist,  darf  uns  unter  solchen  Umständen 
nicht  wundernehmen,  zumal  es  sich  ja  so  häufig  um  verhältnismäßig 
noch  recht  jugendliche  Personen  handelt. 

Das  mittelst  Palpation  bei  Mitralstenosefällen  wahrzunehmende 
diastolische  Schwirren  an  der  Herzspitze  rückt  manchmal  im  Verlaufe 
der  Beobachtung  sukzessive  mehr  nach  aufwärts  gegen  den  linken 
Sternalrand  zu  (vgl.  Auskultation). 

Wahrscheinlich  dürfte  das  einige  Male  mit  der  aufgelegten  Hand 
nachgewiesene  leichte  rieselnde  Schwirren  in  der  Pulmonalgegend  auf 
Bildung  von  endarteriitischen  Verdickungen  und  Rauhigkeiten  zurück- 
zuführen sein. 

Durch  die  Herzperkussion  läßt  sich  sowohl  bei  den  genuinen 
als  den  auf  Mitralstenose  beruhenden  Fällen  eine  ganz  besonders  auf- 
fällige Vergrößerung  des  rechten  Herzens  feststellen.  Dieser 
höchst  beträchtlichen  Verbreiterung  der  Herzdämpfung  nach  rechts, 
die  bereits  schon  nachweisbar  ist  zu  einer  Zeit,  wo  nach  allem  übrigen 
noch  kein  Grund  für  eine  derartige  das  Maß  des  Gewöhnlichen  weit 
überschreitende  Kompensation  vorzuliegen  scheint,  steht  die  Kleinheit 
des  linken  Ventrikels  gegenüber. 

In  gleicher  Weise,  wie  man  bekanntlich  einen  Dämpfungsstreifen 
am  obersten  rechten  Sternalrand  auf  die  arteriosklerotische  Aorta  be- 
zieht, möchte  ich  den  wiederholt  nachzuweisenden  und  im  Verlaufe 
langer  klinischer  Beobachtung  an  Extensität  der  Ausdehnung  und 
Intensität  der  Schallerscheinung  immer  deutlicher  werdenden  Dämp- 
fungsstreifen am  obersten  linken  Sternalrand  (und  angrenzenden 


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420  Adolf  Posselt,  [60 

2.  I.  R.)  auf  die  atherosklerotische  Pulmonalarterie  zurück- 
führen 1). 

Allerdings  ist  dieser  Rückschluß  erst  dann  erlaubt,  wenn  durch 
genaue  diiferential- diagnostische  Erwägungen  anderweitige  Prozesse 
in  diesem  Gebiete  ausgeschlossen  werden  können. 

Der  Empfindlichkeit  bei  tiefen  Perkussionsschlägen  und 
der  Haut  in  dieser  Region,  wie  sie  einige  Male  bestand,  muQ  gedacht 
werden. 

Unter  bestimmten  Verhältnissen  dürfte  auch  die  Untersuchung  in 
stark  vorneüber  gebeugter  Haltung  (Zunahme  der  Breite  des 
Dämpfungsstreifens  und  der  Intensität  desselben  in  diesem  Gebiet, 
stärkere  lokale  Druck-  und  Perkussionsempfindlichkeit)  brauchbare 
Aufschlüsse  geben. 

Dieser  Abschnitt  der  physikalischen  Herzuntersuchung  würde  des  inneren  Zu- 
sammenhanges entbehren,  bliebe  das  Verhältnis  der  beiden  Ventrikel  zueinander 
unbesprochen,  dem  eben  hier  auch  ein  gewisser  semiologischer  Wert  innewohnt. 
Das  Verhalten  des  linken  Ventrikels  bei  Mitralstenose  hängt  von  der  Blutmenge  ab, 
welche  er  noch  zu  bekommen  in  der  Lage  ist.  Bei  geringen  Graden  tritt  keine 
auffallende  Erscheinung  ein.  Stellt  sich  aber  ein  Mißverhältnis  zwischen  dem  durch 
die  Stenose  erzeugten  Hindernis  und  der  Kraft  des  rechten  Ventrikels  ein,  so 
leidet  die  Füllung,  die  Arbeit  sinkt  und  die  Muskulatur  atrophiert. 

Bei  der  Mitralstenose  wird  der  Druck  in  der  Pulmonalarterie,  wie  die  Tierver- 
suche Gerhardts  und  die  von  Moritz  am  Modell  dartun,  wesentlich  erhöht. 

In  der  Aorta  sinkt  der  Blutdruck,  es  macht  sich  eine  schlechte  Füllung  und 
geringe  Spannung  bemerkbar. 

Diese  Verhältnisse  machen  sich  in  noch  höherem  Grade  bei  der  gleichzeitigen 
Sklerose  der  Lungenarterie  geltend  und  kommen  physikalisch-diagnostisch  in  einem 
ganz  besonders  hohen  Grad  der  Vergrößerung  des  rechten  Ventrikels 
bei  Kleinheit  des  linken  zum  Ausdruck.  Die  bei  den  Obduktionen  erhobenen  Be- 
funde erhärten  dies:  der  hochgradig  vergrößerte  rechte  Ventrikel  verdrängt  den 
kleinen,  unansehnlichen,  geschrumpften  linken  nach  hinten  und  umgreift  ihn  förmlich. 
Der  sozusagen  rudimentäre  linke  Ventrikel  erscheint  fast  als  unbedeutender  Appendix. 

Bei  abweichendem  Verhalten  war  die  Ursache  unschwer  zu  erkennen:  gleich- 
zeitige stärkere  Aortenatheromatose,  Insuffizienz  der  Semilunaren,  beträchtliche 
Arteriosklerose  peripherer  Gebiete,  interstitielle  Nephritis,  schließlich  vorausge- 
gangene Insuffizienz  der  Mitralis. 

Eine  wertvolle  Bereicherung  der  Herzuntersuchung  auf  Verkalkungs- 
prozesse liefert  die  Röntgendurchleuchtung.  Man  kann  mittels 
dieses  Verfahrens  bei  Schonung  pathologischer  Präparate  verkalkte 
Stellen  im  Myo-  und  Perikard,  an  den  Klappen,  an  den  Koronar- 
arterien nachweisen.  In  dieser  Hinsicht  bietet  auch  der  Nachweis 
von  Atherosklerose  der  Pulmonalarterie,  deren  Sitz  und  Aus- 


1)  Eine  bandförmige  Dämpfung  links  neben  dem  Sternum  im  2.  I.  R.  wurde 
bereits  von  Hamernjk  und  Gerhardt  auf  eine  Erweiterung  der  Arteria  pulmo- 
nalis  bezogen. 


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61]  Die  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  421 

breitung  an  solchen  Präparaten  großen  Vorteil,  weil  dadurch  derartige 
für  Sammlungen  wertvolle  Objekte  vollständig  geschont  bleiben. 

Wesentlich  schwieriger  gestaltet  sich  naturgemäß,  der  Respirations- 
und Herzbewegungen  halber,  die  Untersuchung  am  Lebenden.  Die 
technische  Unvollkommenheit  der  damaligen  Apparate  gestattete  keine 
unzweifelhaften  Schlüsse  aus  den  Befunden  zu  ziehen. 

Daß  der  allerdings  etwas  undeutliche,  verwaschene  Schatten  im 
2.  linken  Interkostalraum  längs  der  Sternallinie  bei  der  Röntgenunter- 
suchung auf  die  arteriosklerotisch  veränderte  und  mäßig  erweiterte 
Pulmonalarterie  zu  beziehen  ist,  wird  um  so  wahrscheinlicher  und 
sicherer,  als  Weinberger^)  (Atlas  der  Radiographie  der  Brustorgane. 
Wien,  Emil  Engel)  durch  wiederholte,  an  Sektionen  bestätigte  rönt- 
genographische  Untersuchungen  feststellte,  daß  ein  so  gelagerter  Schatten 
durch  die  erweiterte  Pulmonalarterie  bedingt  ist,  worauf  auch  Hödl- 
moser  (Ztschr.  f,  klin.  Mediz.  1004,  Bd.  54,  S.  122)  hinweist. 

Die  Verhältnisse  des  Röntgenogrammes  bei  erweitertem  linken  Vor- 
hof und  erweiterter  Pulmonalis  berührten  anläßlich  der  Besprechung 
der  Rekurrenslähmung  bei  Mitralstenose  Schrötter,  Ztschr.  f.  klin. 
Med.,  Bd.  43,  Alexander,  Berl.  klin.  Woch.  1904,  S.  135,  und 
Frischauer,  Wiener  klin.  Wochenschr.  1905,  S.  1383. 

Nach  Bittorf  (Die  Bedeutung  des  linken  mittleren  Herzschatten- 
bogens.  Fortschr.  aus  d.  Geb.  d.  Röntgenstrahlen.  Bd.  9,  H.  1)  ist 
der  linke  mittlere  Herzschattenbogen  normalerweise  vorwiegend  von 
der  Arteria  pulmonalis  und  zum  geringen  Teil  vom  linken  Herzohr 
gebildet. 

Während  er  die  Sichtbarkeit  des  linken  Vorhofes  beim  Gesunden 
und  Kranken  bestreitet,  läßt  de  la  Camp  (Mediz.  Klinik  1905,  Nr.  53, 
S,  1381)  denselben  bei  sehr  starker  Vergrößerung,  z,  B.  Mitralstenose 
bei  dorsoventraler  Durchleuchtung,  am  Schattenrande  teilnehmen. 

Letztere  Konstatierung  ist  gerade  für  unsere  Besprechung  von  be- 
sonderer Wichtigkeit,  weil  sie  zur  Vorsicht  der  Deutung  der  auf  die 
Pulmonalis  bezüglichen  Befunde  bei  Mitralstenose  gemahnen  muß. 
«  Eine  übersichtliche  Darstellung  der  Verhältnisse  bringen  in  aller- 
jüngsterZeit  Brugsch  und  Schittenhelm  (Lehrbuch  klinischer  Unter- 
suchungsmethoden.   Urban  u.  Schwarzenberg  1908.    S.  236  und  255). 


1)  Weinberg  er,  Ober  die  durch  Erweiterung  der  Pulmonalarterie  im  Radio- 
gramme entstehende  Schattenform.  Ber.  des  Kongr.  f.  Radiologie  1902.  Derselbe, 
Wiener  klin.  Wochenschr.  1903,  Nr.  42:  „Im  Radiogramme,  entsprechend  dem  zweiten 
Interkostalraum,  eine  Verbreiterung  des  der  Pulmonalarterie  zukommenden 
Schattens.** 


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422  Adolf  Posselt,  [62 

Meines  Erachtens  ließen  sich  auch  für  manche  der  seltensten  Falle 
primärer  Pulmonalsklerose  (bei  denen  Verengung  der  Pulmonalvenen- 
mündungen  vorliegt)  bei  der  Röntgenuntersuchung  verwertbare  Anhalts- 
punkte und  zwar  in  folgender  Weise  finden:  bei  Mitralstenose  resultiert 
infolge  der  Dilatation  des  linken  Vorhofs  und  rechten  Kammer  eine  Art 
Medianstellung  des  Herzens,  die  sich  im  Röntgenbild  als  solche  aus- 
drückt (mitralkonfiguriertes  Herz  Holzknechts). 

Falls  die  Ursache  in  dem  Hindernis  gelegen  ist,  das  die  Einengung 
der  Pulmonalvenenmündungen  liefert,  wie  in  dem  ersten  Fall,  entfallt 
daher  die  Dilatation  des  linken  Vorhofes,  was  sich  im  Röntgenbild 
durch  eine  andere  Konfiguration  des  linken  oberen  Randes  aussprechen 
wird,  wie  bei  der  Mitralstenose  mit  ihrer  konsekutiven  mächtigen 
Vorhofserweiterung  und  dem  daraus  resultierenden  Durchleuchtungs- 
bild. 

Von  größtem  Interesse  und  differential-diagnostischem  Werte  für  die 
Erkennung  dieser  beiden  Zustände  wären  meines  Erachtens  Aufnahmen 
von  Elektrokardiogrammen  (Einthoven)  nach  Kraus  und  Nico- 
lai 0- 

Liegt  eine  Mitralstenose  zugrunde,  würde  sich  selbe  in  einer  mäch- 
tigen Entwicklung  der  Vorhofszacke  kund  tun,  der  andere  Fall  (Pul- 
monalvenenverengerung)  durch  ein  völliges  Ausbleiben  oder  nur  mini- 
malste Andeutung  einer  solchen  markiert  sein. 

Ebenso  dürfte  eine  Förderung  der  Frage  von  der  ösophagealen 
Kardiogramm-Methode 2)  zu  erwarten  sein. 

1)  Kraus  und  Nicolai  (Über  das  Elektrokardiogramm  unter  normalen  und 
pathologischen  Verhältnissen.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1907,  S.  765  und  811) 
bringen  die  Kurve  bei  Mitralstenose  mit  präsystolischem  Geräusch  und  Schnapp, 
(röntgenorthographisch  starke  Ausladung  des  mittleren  Bogens  des  linken  Her2- 
Schattenrandes). 

Am  Elektrokardiogramm  entspricht  der  zugehörigen  Hypertrophie  und  Erweite* 
rung  des  linken  Atriums  eine  Verlängerung,  Verstärkung  und  bzw.  eine  Trennung 
der  Vorhofsystole  in  2  (oder  selbst  mehr)  Zeiten.  Demgegenüber  ist  der  2.  Teil  des 
Kammerelektrogramms  auffallend  kümmerlich.  A.  Hoff  mann  (Ober  das  mensch- 
liche Elektrokardiogramm.  Rhein,  westpbäl.  Gesellsch.  f.  inn.  Med.  Düsseldorf,  Min 
1908)  hält  allerdings  eine  genaue  Deutung  wegen  der  noch  nicht  genügenden  Sicher- 
stellung der  Bedeutung  der  einzelnen  Teile  zurzeit  noch  nicht  für  möglich. 

2)  Vergl.  Minkowski,  Die  Registrierung  der  Herzbewegungen  am  linken  Vor- 
hofe.   Deutsche  mediz.  ^ochenschr.  1906,  Nr.  31,  S.  1246. 

Derselbe,  Zur  Deutung  der  Herzarhythmien  mittels  des  ösophagealen  Kar- 
diogramms.   Zeitschr.  f.  klin.  Mediz.  1907,  Bd.  62,  S.  371. 

Rautenberg,  Neue  Methode  der  Registrierung  der  Vorhofpulsationen  vom 
Ösophagus  aus.  Dem.  19.  Nov.  1906.  Vereinsbeil.  d.  Deutschen  med.  Wochenschr. 
1907,  Nr.  9,  S.  394.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1907,  Nr.  21.  Münchner  med. 
Wochenschr.  1907,  Nr.  50. 


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63  Die  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  423 

Alle  drei  Untersuchungsmethoden,  Elektrokardiogramm,  ösophageales 
Kardiogramm  und  Röntgenaufnahme,  erlangen  namentlich  dann  einen 
Wert,  wenn  sich  wegen  nicht  charakteristischen  oder  ganz  fehlenden 
auskultatorischen  Zeichen  (s.  d.)  einer  Diagnose  auf  physikalischer 
Basis  besondere  Schwierigkeiten  entgegenstellen. 

Die  stets  fortschreitende  Technik  der  Röntgendiagnostik  dürfte  wohl 
den  Nachweis  erheblicherer  sklerotischer  und  Verkalkungsprozesse  an 
der  Pulmonalis,  speziell  am  Stamm  des  Gefäßes,  auch  für  den  Fall 
ermöglichen,  daß  keine  gleichzeitige  Dilatation  besteht.  Das  theore- 
tische Postulat  hierfür  wäre  eine  ungewöhnliche  Verstärkung  der 
Intensität  des  oberen  Anteiles  des  linken  mittleren  Bogens 
im  allgemein  mitralkonflgurierten  Herzbild.  Letzteres  in  voller  Aus- 
bildung bei  Mitralstenose,  ohne  die  Zeichen  der  linken  Vorhofsdilata- 
tion bei  Pulmonalvenenverengung. 

Das  Röntgenogramm  ist  jedoch  hinsichtlich  eines  Schattens  an  der 
angegebenen  Stelle  durchaus  nicht  eindeutig. 

Es  können  sich  in  der  genannten  Gegend  Pleuraschwarten,  Perikard- 
verdickungen, chronische  Pneumonie,  Tumoren  usw.  entwickeln,  die 
ganz  ähnliche  Bilder  liefern. 

Es  gilt  eben  hier  das  bei  der  Perkussion  Gesagte. 

In  ganz  speziellen  Fällen  wirkt,  in  weiterer  Verfolgung  des  Themas 
der  pathologischen  Prozesse  in  der  Umgebung  des  Gefäßes,  der  gleich- 
zeitige Nachweis  bestimmter  solcher  für  die  klinische  Diagnose  unter- 
stfitzend. Vor  allem  gilt  dieses  für  die  in  diesem  Gebiete  lokalisierten 
Perikardsynechien  weiterer  Ausbreitung  und  Mächtigkeit. 

Die  anatomischen  Verhältnisse  lassen  es  erklärlich  scheinen,  daß  infolge  der 
leichteren  Möglichkeit  des  Obergreifens  von  der  Aorta  aus  die  Perikarditis  mit 
ihren  Folgezustanden:  Synechien  und  Obliterationen,  eher  bei  mit  Aortenaffektionen 
komplizierten  Fällen  statthatte. 

U.  a.  Deroye  (1870).  Aorteninsuffizienz,  Stenose  und  Insuffizienz  des  Mitral- 
ostiums.    Linke  Lunge  innig  mit  dem  Perikard  verwachsen.    Concretio  pericardii. 

Saun 6  (1877).  Insuffic.  et  Stenosis  aortae.  Mitralstenose.  Das  festangewach- 
sene Perikard  kann  von  dem  enorm  vergrößerten  Herzen  nur  mit  großer  Muhe  ab- 
gelöst werden.  Die  Adhärenzen  sind  in  der  ganzen  Ausdehnung  des  Perikards 
vorhanden.  —  Perikardobliterationen  ebenfalls  bei  Bryant. 


Derselbe,  Die  Registrierung  der  Vorhofpulsationen  von  der  Speiseröhre  aus. 
Deutsches  Arch.  f.  klin.  Med.  1907,  Bd.  91,  8. 251. 

Derselbe,  Zur  Physiologie  der  Herzbewegung.  Zeitschr.  f.  klin.  Med.  1908, 
Bd.  65. 

Janowski,  Berichte  der  Warsch.  med.  Gesellsch.  1907,  H.  4,  S.  442. 

Derselbe,  Über  die  Bedeutung  des  ösophagealen  Kardiogramms  für  die  ge- 
naue Diagnose  der  Stokes- Adam  sehen  Krankheit  usw.  Wiener  med.  Wochenschr. 
1908,  12.  Sept.,  S.  2017. 


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424  Adolf  Posselt,  [64 

Mehrmals  fand  sich  bei  den  Fällen  unserer  Eigenbeobachtungen  Perikarditis, 
zuweilen  schon  anamnestisch,  mehrmals  auch  klinisch  nachweisbar. 

Im  Falle  III  mit  Mitralstenose,  hochgradiger  Erweiterung  der  Aorta  bei  Arterie* 
Sklerose  der  Brustaorta  Residuen  von  Perikarditis, 

Es  braucht  sich  jedoch  durchaus  nicht  immer  bei  einem  bestehenden  Aorten- 
prozeß die  Perikarditis  zu  entwickeln. 

So  blieb  Fall  VII  mit  primärer  hochgradiger  Aortensklerose ,  Dilatation,  In- 
suffizienz der  Klappen  trotz  des  hohen  Grades  dieser  Prozesse  frei  von  Perikard- 
erscheinungen. 

Ungleich  wichtiger  für  die  Pathologie  und  Klinik  der  Athero- 
scierosis  pulmonalis  ist  der  Nachweis,  daß  die  Perikarditis  von 
dieser  GefäOaffektion  ihren  Ausgang  nehmen  oder  umgekehrt, 
wenn  nicht  alleinige,  so  doch  sicherlich  eine  Mitursache  für 
Pulmonalsklerose  abgeben  kann. 

Bei  Fall  IV  wurde  intra  vitam  der  Verdacht  auf  „Perikardialsynechie" 
ausgesprochen^).  Mitralstenose  und  Insuffizienz.  Es  bestanden  hier 
allerdings  keine  auffälligen  Veränderungen  an  der  Aorta,  wohl  aber 
ausgedehnte  beiderseitige  Lungenadhäsionen.  Perikard  in  ganzer  Aus- 
dehnung mit  dem  Herzen  verwachsen. 

Eine  überstandene  Endo-  und  fragliche  Perikarditis  fand  sich  im 
alten  Krankenprotokoll  aus  dem  Jahre  1878  bei  Fall  V.  vermerkt. 

Auch  bei  diesem  Kasus  mit  Mitralstenose  und  Insuffizienz  war 
ohne  auffällige  Aorten  Veränderung  der  Anfangsteil  der  Pulmonalis  mit 
dem  Herzbeutel  durch  feste  bindegewebige  Membranen  verwachsen, 
und  es  ist  hier  nach  allem  zweifellos,  daß  die  „Perikardsynechie"  im 
innigsten  Zusammenhang  mit  dem  sklerotischen  Prozeß  der  Pulmonalis 
stand,  der  überhaupt  die  Tendenz  zu  bindegewebigen  Sklerosierungen, 
Obergreifen  auf  die  Nachbarschaft  mit  Adhäsionen  und  strahligen  Ein- 
ziehungen zeigte. 

Die  Ergebnisse  der  Auskultation  weitaus  am  relevantesten  er- 
fordern wegen  Mannigfaltigkeit  der  Beziehungen  und  ihrer  allgemeinen 
und  prinzipiellen  Bedeutung  eine  eingehendere  Darstellung  und  Be- 
sprechung, 

Bei  oftmaliger  wiederholter  gFündlicher  Auskultation  an  verschie- 
denen Punkten  der  Herzbasis  und  deren  Nachbarschaft,    vermochte 


1)  Wegen  der  allseits  anerkannten  Schwierigkeit  der  klinischen  Diagnose  einer 
Perikardverwachsung,  die  auch  unser  Thema  tangiert,  sei  darauf  verwiesen, 
daß  diese  in  letzterer  Zeit  eine  wesentliche  Förderung  erhielt.  Ich  verweise  auf: 
Ortner,  Ober  Concretio  et  Accretio  cordis,  Mediastinitis  flbrosa  partialis  und  die 
Entstehung  echter  systolischer  Herzeinziehungen.  Medizin.  Klinik  1907,  Nr.  37, 
S.  1069;  Derselbe,  Zur  Genese  und  Bedeutung  echter  systolischer  Spitzenstoß- 
einziehungen  und  eines  abnormen  Hochstandes  des  Aortenbogens  in  der  Incisart 
sterni.  Deutsche  med.  \^ochenschr.  1906,  Nr.  15,  S.  630. 


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65]  I^ie  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  425 

man  nicht  selten  eigenartig  rieselnde  Geräusche,  die  sich  zumeist  an 
die  Systole  hielten,  am  linken  Sternalrand  in  der  Höhe  des  2.  Inter- 
kostalraums und  von  da  weiter  nach  links  hinüber  zu  hören. 

Am  Zustandekommen  dieser  an  der  Pulmonaliswurzel  und  deren 
näherer  Umgebung  zu  hörenden,  nach  Körperbewegung  manchmal 
deutlicher,  lauter  und  rauher  werdenden  Geräusche  därften  jedenfalls 
verschiedene  Momente  partizipieren:  die  Unebenheiten  durch  die 
Intimaverdickungen,  Rauhigkeiten  der  Kalkauflagerungen  dieser,  die 
Starrheit  und  Derbheit  des  Rohres,  Adhäsionen  mit  der  Umgebung, 
die  eine  gewisse  Zerrung  ausüben. 

Daß  auch  Wirbelbildung  im  Stamme  der  Lungenarterie  mitwirken 
könne,  wie  Romberg  für  seinen  Fall  vermutet,  ist  sehr  wahr- 
scheinlich. 

Die  ungewöhnlich  starke  Akzentuierung  des  2.  Pulmonaltones  er- 
klärt sich  ohne  weiteres  aus  der  hochgradigen  Hypertrophie  des  rechten 
Ventrikels  und  der  Drucksteigerung  im  Pulmonalkreislauf. 

Wenn  wir  mit  anderen  Autoren  annehmen  dürfen,  daß  am  2, 
„klingenden^^  Aortenton  bei  schwerer  Atherosklerosis  des  Gefäßes 
neben  dem  unter  höheren  Druck  erfolgenden  Klappenschluß  die  Reso- 
nanzverstärkung teilhat,  die  durch  die  Verdickung,  Starrheit  und  Ein- 
lagerung von  Kalkplatten  am  Gefäße  ausgelöst  wird,  so  dürfte  wohl 
auch  folgerichtig  eine  ähnliche  Annahme  für  die  Lungenschlagader 
zum  mindestens  in  der  Weise  gestattet  sein,  daß  der  Prozeß  modifi- 
zierend auf  akustische  Wahrnehmungen  in  dieser  Gegend  einzuwirken 
vermag. 

Der  Übersichtlichkeit  halber  und  zum  besseren  Verständnis  des 
Folgenden  soll  von  den  für  die  Klinik  in  erster  Linie  in  Betracht 
kommenden,  auf  Mitralfehler  beruhenden  Krankheitsfällen  ausge- 
gangen werden. 

Bekanntlich  wird  in  manchen  Fällen  von  Mitralinsuffizienz  das  systolische 
Geräusch  am  lautesten  im  2.  linken  Interkostalraum  gehört. 

Die  Fortpflanzung  der  Herzfehlergeräusche  in  der  Richtung  des  Blutstromes  ist 
ja  eine  recht  typische  Erscheinung. 

Naunyn  (Ober  den  Grund,  weshalb  hin  und  wieder  das  systolische  Geräusch 
bei  der  Mitralinsuffizienz  am  lautesten  in  der  Gegend  der  Pulmonalklappe  zu  ver- 
nehmen ist.  Berlin,  klin.  Wochenschr.  1868,  Nr.  17,  S.  189)  interpretiert  diese 
spezielle  Lokalisation  in  folgender  Weise: 

Der  Entstehungsort  ist  im  linken  Herzohr  zu  suchen,  welches  etwa  2  Zoll 
(5,4  cm)  nach  außen  vom  linken  Sternalrande  sich  um  die  Pulmonalarterie  herum- 
schlagend der  Brustwand  am  nächsten  kommt  Am  besten  wird  es  eben  mit  dem 
systolisch  rückläufigen  Blutstrom,  durch  den  es  entsteht,  in  dessen  Richtung  fort- 
geleitet, weshalb  es  hier  lauter  ist  als  an  der  Herzspitze.  Der  Grund,  warum  jedoch 
dieses  nicht  regelmäßig  zustande  kommt,  liegt,  wie  sich  Naunyn  durch  Messungen 

KUn.  Vorträge,  N.  F.  Nr.  504/07.    (Innere  Medizin  Nr.  149/52.)    Okt.  1908.  30 


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426  Adolf  Posselt,  [66 

überzeugen  konnte,  in  der  verschiedenen  Länge  des  Herzohres.  Kürzere  treten 
nicht  so  nahe  an  die  Brustwand. 

Von  Dichtigkeit  für  unsere  Darlegungen  ist  die  weitere  Angabe  dieses  For- 
schers, daß  bei  gleichzeitiger  Insuffizienz  und  Stenose,  wenn  das  ersterer  ent- 
sprechende Geräusch  auch  am  bezeichneten  Ort  am  lautesten,  das  diastolische  da- 
gegen, besser  präsystolische,  konstant  am  stärksten  in  der  Gegend  der  Herzspitze 
zu  hören  ist. 

Für  die  Lautheit  des  Geräusches  in  der  Pulmonalgegend  macht  Sahli  die  zu- 
meist sehr  beträchtliche  Erweiterung  des  linken  Vorhofes  an  und  für  sich  schon 
verantwortlich. 

Nach  Curschmann  (Ober  eine  eigentümliche  Lokalisation  des  systolischen 
Geräusches,  besonders  bei  frischen  Mitralklappenfehlern.  Arbeiten  aus  der  mediz. 
Klinik  Leipzig.  1803)  findet  sich  diese  Lokalisation  vorwiegend  bei  frisch  entstan- 
denen Klappenfehlern,  bei  älteren  rückt  es  wieder  an  die  Herzspitze,  wofür  er  fol- 
gende Erklärung  gibt:  Der  linke  Vorhof  und  mit  ihm  das  Herzohr  wird  oft  gleich 
anfangs  erweitert  und  rückt  damit  der  Brustwand  näher.  Durch  die  später  ein- 
setzende Vergrößerung  des  rechten  Herzens  wird  das  ganze  linke  Herz  wieder  von 
der  Brustwand  entfernt. 

Bekanntlich  ist  die  Prädilektionsstelle  für  akzidentelle,  anorganische,  anämische 
Geräusche  im  allgemeinen  die  Herzbasis,  und  wurden  eben  zur  Erklärung  dieser 
systolischen  Geräusche  eine  Menge  Ursachen  herangezogen. 

Quincke  (Berlin,  klin.  Dochenschr.  1870,  Nr.  21)  macht  für  akzidentelle  Ge- 
räusche in  der  Pulmonalarterie  außer  den  gewöhnlichen  noch  folgende  Ursachen 
verantwortlich : 

Einmal  ein  Mißverhältnis  in  der  Weite  zwischen  Lungenarterie  tind  ihrem  Conus 
arteriosus, 

und  zweitens  eine  Abplattung  der  Pulmonalarterie  durch  die  abnormerweise  ihr 
anliegende  Brustwand. 

Wenn  Geräusche  sehr  häufig  fehlen,  wo  doch  sonst  alle  Bedingungen  hterfir 
vorhanden  wären,  wie  bei  Mitralstenose,  so  führt  er  dieses  darauf  zurück,  daß  in 
solchen  Fällen  die  Abplattung  der  Art.  pulm.  nicht  bedeutend  genug  ist,  um  zu 
merklichen  Stromwirbeln  Veranlassung  zu  geben. 

Lüthje  (Zur  physikalischen  Diagnostik  am  Herzen,  speziell  über  systolische 
Geräusche  an  den  Valvulae  mitrales  und  pulmonales.  Ärztl.  Verein  z.  Frankfurt, 
17.  XIL  1906.  Münch.  med.  Wochenschr.  1907,  Nr.  10,  S.  495.  Mediz.  Klinik  1906, 
Nr.  16)  ist  geneigt,  systolische  Geräusche  bei  Kindern,  die  man  am  lautesten 
über  der  Pulmonalis  hört,  durch  eine  möglicherweise  aufgetretene  Lageveränderung 
zwischen  Sternum  und  Arteria  pulmonalis  zu  erklären  und  eine  richtige  Pulmonal- 
stenose  anzunehmen,  ebenso  macht  er  auf  solche  Pulmonalgeräusche  bei  Mitral- 
insuffizienz aufmerksam,  während  Albrecht  (Der  Herzmuskel,  seine  Bedeutung  f&r 
Physiologie,  Pathologie  und  Klinik.  Berlin  1903.  S.  525)  dagegen  derartige  Geräusche 
in  einen  Zusammenhang  mit  einer  Dilatation  am  Conus  pulmonalis  bringen  will. 

Welche  Erklärung  können  wir,  unter  der  Voraussetzung,  daß  keloe 
Bildungsanomalien  und  ähnliche  Störungen  vorliegen,  für  das  in  der 
Pulmonalgegend  im  Verlaufe  der  Beobachtung  immer  deut- 
licher werdende  diastolische  Geräusch  geben? 

Bei  der  ausgesprochenen  Schlußunfähigkeit  der  Semilunar- 
klappen  der  Aorta,  wie  sie  in  unserem  Falle  VII  (55j.  M.)  vorlag, 
muß  nach  allem  eine  abnorme  Querleitung  des  diastolischen 


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67]  Die  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  427 

Geräusches  nach  links  angenommen  werden,  wofür  wir  auch  noch 
andere  Eigenbeobachtungen  haben.  In  dieser  Deutung  bestärkt  mich 
eine  Beobachtung  an  der  Klinik  von  Insuffizienz  der  Semilunaren  der 
Aorta,  eine  junge  Frau  betreffend,  die  in  den  Jahren  1892—95  wieder- 
holt ambulatorisch  und  klinisch  behandelt  wurde. 

A.  E.y  im  Jahre  1894  25jährige  Friseursfrau. 

War  in  den  Kinderjahren  wiederholt  schwer  und  durch  lange  Zeit  krank.  Im 
12.  Lebensjahr  schwere  Halsentzündung.  Mit  18  Jahren  verheiratet,  in  rascher  Folge 
5  Geburten.  Schon  seit  der  ersten  gewisse  Herzbeschwerden,  Atemnot.  Grazile, 
anämische  Frau,  Wangen  und  Ohren  livid  zyanotisch  verfärbt  Herzbuckel,  stark 
wogende  Pulsation  in  der  Herzgegend,  Spitzenstoß  nach  aus-  und  abwärts  gedrängt, 
hebend.  Ungemein  starkes  diastolisches  Schwirren  im  2.  und  3.  linken  Interkostal- 
raum zu  palpieren  und  zwar  mehr  gegen  die  ParaSternallinie  zu. 

Herzdämpfung  nach  rechts  bis  zur  Median-,  nach  links  bis  2  Querflnger  außer- 
halb der  PapillaHinie  verbreitert,  im  Längsdurchmesser  verlängert.  Ober  der  Mitte 
des  Sternums  und  namentlich  gegen  die  linke  Seite  im  2.  und  3.  L  R.  entsprechend 
der  Parastemal-  bis  gegen  die  Papillarlinie  zu  ein  lautes,  schabendes,  lang  ge- 
zogenes diastolisches  Geräusch.  Alle  ausgesprochenen  Zeichen  der  Aorteninsuffl- 
zienz  vorhanden  (Pulsus  celer,  Kapillarpuls,  sichtbare  Pulsation  der  mittleren  und 
selbst  kleinen  Arterien,  Tönen  der  Gefäße,  Gefäßgeräusche  an  der  Cruralis  usw.). 
Keinerlei  Anhaltspunkte  für  ein  Aneurysma  der  Aorta  oder  Pulmonalis,  ebenso- 
wenig fQr  PuImonalinsufRzienz. 

Klinische  Diagnose:  Insufflcientia  semilunarum  aortae.  Insufficientia  mitralis 
relativa. 

Bezüglich  des  abnorm  nach  links  gelagerten  diastolischen  Geräusches  wurde 
die  Vermutung  ausgesprochen,  daß  es  sich  um  eine  abnorme  Querleitung  desselben 
vielleicht  infolge  Arteriosklerose  beider  Gefäße  der  Aorta  und  Pulmonalis  oder  Ver- 
zerrunig  durch  Pseudomembranen,  vielleicht  auch  beides,  handle. 

Bei  den  übrigen  Beobachtungen  ist  jedoch  mangels  aller  Symptome» 
die  gerade  diesem  Fehler  in  so  charakteristischer  Weise  eigen  sind, 
das  Bestehen  desselben  ausgeschlossen. 

Das  diastolische  Geräusch  könnte  seine  Entstehung  einer  wirk- 
lichen oder  einer  relativenlnsuffizienz  derPulmonal'arterien- 
Klappen  verdanken. 

Abgesehen  davon,  dal^  erstere  ganz  enorm  selten  ist»  spricht  wolil 
auch  gegen  diese  der  Umstand ,  daß  in  der  weitaus  überwiegenden 
Mehrzahl  der  Fälle  eine  sehr  ausgesprochene  Akzentuierung  des  2.  Pul- 
monaltones  bestand. 

Die  Möglichkeit,  daß  hierbei  stöts  zwei  Klappen  iloch  schließend  die 
Betonung,  die  dritte  geschrumpft  und  insuffizient  das  Geräusch  ver- 
ursachte, ist  wohl  ganz  in  das  Reich  der  Unwahrscheinlichkeit  zu 
verbannen. 

Für  die  relative  Pulmonalklappeninsuffizienz  bei  Mitralstenose  und 
Pulmonalarteriensklerose  trat  in  erster  Linie  Bryant  1904  (1.  c.)'  ein, 
dem  anscheinend  die  sehr  ausführliche  Arbeit  Pawii^skis  schon  aus 

30* 


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428  Adolf  Posselt,  [68 

dem  Jahre  1894  (allerdings  nur  Für  die  Mitralstenose  allein)  entgangen 
war. 

In  der  Literaturkasuistik  wurden,  um  nicht  bei  jedem  einzelnen  Falle 
das  gleiche  wiederholen  zu  müssen,  die  Auskultationsergebnisse  Bryants 
nicht  berücksichtigt.  Derselbe  gibt  in  jedem  seiner  Fälle  mehr  oder 
weniger  ausgesprochene,  kürzere  oder  längere  diastolische  Geräusche 
mehr  gegen  die  Basis,  gegen  die  Pulmonalis  zu,  an. 

Der  historischen  Treue  sind  wir  schuldig,  bevor  wir  Bryants 
Schlüsse  darlegen,  das  von  Pawii^ski  Vorgebrachte  in  allergedräng- 
tester  Kürze  zu  erwähnen. 

Pawiriski  (Ober  relative  InsuFfizienz  der  Lungenarterienklappen. 
Deutsch.  Arch.  F.  klin.  Mediz.  1894,  Bd.  52,  S.  519)  Führt  ein  diasto- 
lisches am  linken  Sternalrand  in  der  Höhe  des  3.,  zuweilen  4.  I.  R. 
(schwächer  in  der  ParaSternallinie  und  im  2.  I.  R.),  das  er  bei  kom- 
pensierten Mitralstenosen  mehrmals  hörte,  auF  eine  relative  Insuffizienz 
der  Pulmonalarterienklappen  zurück.  Er  hat  dasselbe  gewöhnlich  bei 
jungen,  gut  genährten  Individuen  weiblichen  Geschlechts  gehört,  das- 
selbe ist  jedoch  keineswegs  konstant. 

Trotz  dieser  relativen  InsuFfizienz  trete  keine  Zyanose  auF. 

Die  Gründe,  warum  er  das  Geräusch  auF  eine  relative  Pulmonal- 
insuFfizienz  und  nicht  u.  a.  als  Fortgeleitetes  Mitralgeräusch  ansieht, 
werden  von  ihm  eingehend  dargelegt. 

Wie  hier  gleich  vorausgeschickt  werden  soll,  erwähnt  Bryant  mit 
keinem  Worte  die  Möglichkeit  einer  klinischen  Diagnose  der  Pulmonal- 
arteriensklerose  und  zieht  auch  die  klinischen  BeFunde  der  von  ihm 
obduzierten  Fälle  diesbezüglich  in  gar  keine  weitere  Erörterung.  Ffir 
ihn  dreht  sich  die  ganze  Frage  um  den  Nachweis  der  relativen 
InsuFFizienz  der  Pulmonalarterienklappen.  In  nähere  Details 
einzugehen,  würde  uns  zu  weit  Führen,  es  mögen  hier  nur  die  Schluß- 
Folgerungen  Platz  finden. 

Als  Resultat  einer  starken  Mitralstenose  wächst  der  Blutdruck  beträchtlich  in 
den  Lungenarterien.  Infolge  dieses  gesteigerten  Blutdrucks  wieder  werden  die 
kleinsten  Äste  der  Pulmonalarterie  dilatiert,  hypertrophisch  und  atheromatös.  Ferner 
bewirkt  der  gesteigerte  Blutdruck  in  der  Pulmonalarterie  eine  Dilatation  der  Arterie 
selbst  und  auch  ihres  Ostiums. 

Infolge  der  Erweiterung  der  Lungenarterie  und  ihres  Ostiums  wiederum  findet 
ein  Rückströmen  von  Blut  in  den  rechten  Ventrikel  wegen  funktioneller  Insuffizienz 
der  Klappen  statt«  Das  hauptsächlichste  klinische  Symptom  dieser  funktionellen 
Pulmonalinsufflzienz  besteht  in  einem  leichten,  diastolischen  Geräusch  über  der 
linken  Seite  des  oberen  Brustabschnittes;  der  Punkt,  an  dem  dieses  Geräusch  am 
deutlichsten  und  am  häufigsten  hörbar  ist,  befindet  sich  im  3.  linken  Interkostal- 
raum in  der  Mitte  zwischen  dem  linken  Sternalrand  und  der  linken  Mammillarlinie. 

Obgleich  klinisch  diese  Pulmonalinsuffizienz  deutlich  wahrnehmbar  ist,  so  kann 
doch  bisweilen  die  ev.  Sektion  an  der  Leiche  weder  eine  Insuffizienz  der  Klappen, 


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69]  I^ie  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensltlerose.  429 

noch  eine  Dilatation  der  Pulmonalarterie  aufdecken.  Dieses  Fehlen  eines  tatsSch- 
lichen  Befundes  ist  aber  kein  Beweis  dafQr,  daß  nicht  bei  Lebzeiten  wirklich  eine 
Schlußunfihigkeit  der  Lungenarterie  bestanden  hat.  Die  Erklärung  dieses  letzten 
Vorganges  ist  folgende:  Die  ElastizitSt  der  Pulmonalarterie  ist  nicht  ständig  durch 
den  wechselnden  Blutdruck  in  der  Pulmonalis  beeinträchtigt  worden  und  sobald 
der  Blutdruck  sank,  hat  sich  das  Gefäß  wieder  auf  seine  normale  Größe  zusammen- 
gezogen. 

Zu  Bryants  Ansicht  ist  Folgendes  zu  bemerken: 

Wie  aus  seinen  Auskultationsschemata  ersichtlich,  waren  die  dia- 
stolischen Geräusche  zumeist  in  ziemlich  großem  UmFang  wahrnehm- 
bar und  reichte  das  Gebiet  häufig  in  der  linken  Sternallinie  weit  nach 
abwärts.  Nur  in  einigen  Fällen  beschränkte  sich  das  diastolische 
Geräusch  auF  eine  ganz  kleine  Zone  in  der  Pulmonalgegend. 

Die  Annahme  Bryants  einer  relativen  PulmonalklappeninsuFfizienz 
besteht  in  gleicher  Weise  wie  die  von  Pawinski  schon  Früher  ent- 
wickelte bei  einer  Reihe  von  Mitralstenosen  zu  Recht,  allerdings  wird 
hier  das  Gebiet  wirklicher  relativer  Insuffizienzen  immer  mehr  ein- 
zuengen sein,  wenigstens  nach  dem,  was  verschiedene  Kliniker  und 
Experimentalpathologen  über  selbe  denken. 

Mdgnus-Alsleben  (Versuche  über  relative KlappeninsuFfizienzen. 
Arch.  F.  exper.  Pathol.  u.  Pharmak.  1907,  Bd.  57,  S.  48)  gibt  zwar 
die  Möglichkeit  der  experimentellen  Erzeugung  relativer  Klappen- 
insuFfizienzen an  den  VorhöFen  zu,  doch  ist  eine  solche  nur  unter 
ganz  extremen  Bedingungen  zu  erzielen.  AuF  die  Kinik  übertragen, 
möchte  er  relative  InsuFfizienzen  Für  recht  selten  halten  und  zur  Er- 
klärung eines  so  häufigen  Vorkommens,  wie  die  akzidentellen  Geräusche 
darstellen,  nur  in  beschränktem  Maße  heranziehen. 

Wir  geben  auch  ohne  weiteres  zu,  daß  in  manchen  Fällen  von 
Pulmonalarteriensklerose  bei  Mitralstenose  das  diastolische  Geräusch 
über  der  Pulmonalis  möglicherweise  auF  eine  derartige  relative  Insuffi- 
zienz ihres  Klappenapparates  bezogen  werden  kann;  eine  Verallgemeine- 
rung jedoch  läßt  dieses  auskultatorische  Phänomen  nicht  zu.  Es  sind 
nämlich,  wie  ja  die  einFach  mechanischen  Verhältnisse  wohl  ohne 
weiteres  plausibel  machen,  alle  jene  Fälle  ausgeschlossen,  bei  denen 
gleich  vom  Klappenringe  an  eine  Verdickung,  Verdichtung  und  Starre 
des  Gefäßes  Platz  gegriffen.  Daß  unter  solchen  Umständen  auch  eine 
wesentliche  und  sogar  sehr  hochgradige  Steigerung  des  intravaskulären 
Pulmonaldruckes  eine  derartige  Ausdehnung,  die  zu  einer  relativen 
SchlußunFähigkeit  hätte  Führen  können,  ein  Ding  der  Unmöglichkeit 
ist,  braucht  wohl  keine  besondere  Begründung. 

Bei  Durchsicht  von  Bryants  gesammelten  Fällen  zeigt  es  sich 
denn  auch,  daß  selbe  Fast  durchweg  die  Lokalisation  an  den  großen 


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430  Adolf  Posselt,  [70 

und  kleinen  Verzweigungen  zeigten,  eine  hochgradige  Alteration  des 
Stammes  war  vielleicht  nur  eip  einziges  Mal  zu  supponieren. 

Wie  ich  gjleich  hier  unterstreichen  möchte,  erlangen  deanocii 
Bryants  Fälle  für  verschiedene  im  Folgenden  darzulegende  Momente 
große  Wichtigkeit  und  sind  ganz  besonders  die  auskultatorischen  Be- 
funde als  recht  gut  verwertbare  diagnostische  Mitbehelfe  für  unsere 
Aifektion  zu  betrachten,  obwohl  der  Autor  nach  dieser  Richtung  nichts 
verlauten  läßt. 

Die  bei  den  allermeisten  Fällen  der  Literatur,  auch  die  Bryants 
eingeschlossen,  und  bei  unseren  Eigenbeobachtungen  zu  konstatierende 
ausgesprochene,  oft  ganz  ungewöhnlich  starke  Akzentuierung  des  2.  Pul- 
monaltones  darf  hierbei  fuglich  doch  auch  in  allererster  Linie  auf 
semiotische  Verwertung,  speziell  gegen  obige  Verallgemeinerung  An- 
spruch erheben. 

Pawiiiskis  Eigenbeobachtungen  von  relativer  Pulmonalinsufßzienz 
bei  Mitralstenose  bilden  in  ihrem  Verhalten,  wie  aus  unseren  weiteren 
Auseinandersetzungen  hervorgeht,  eine  Bestätigung  für  unsere  aus- 
kultatorischen diagnostischen  Momente,  wenn  auch  nur  im  exklusiven 
Sinne.  Es  konnten  bei  denselben  keinerlei  weitere  von  uns  fest- 
gestellten Symptome  der  Sklerose  gefunden  werden,  im  Gegenteil 
zeichnete  sie  u.  a.  das  Fehlen  von  Zyanose  aus.  Auch  bei  den  Sektionen 
fand  sich  keine  Spur  von  Atherosclerosis  pulmonalis. 

Auf  ein  für  die  Diagnose  der  Insuffizienz  der  Pulmonalklappen  ver- 
wertbares Zeichen,  exspiratorische  Verstärkung  des  in  seinem  Beginne 
als  Schwirren  fühlbaren  diastolischen  Geräusches,  machten  Bernhard 
(Deutsch.  Arch.  f.  klin.  Med.  Bd.  18)  und  Gerhardt  (Verh.  des 
Kongr.  f.  inn.  Med.  1902,  XL)  aufmerksam. 

Auf  dieses  Gerfaardtsche  Symptom  wurde  von  Bryant,  wie  er 
selbst  angibt,  nicht  geprüft. 

In  unseren  Fällen  konnte  irgendeine  respiratorische  Beeinflussung 
des  Geräusches  mit  Sicherheit  nicht  nachgewiesen  werden. 

Die  bekanntlich  enorm  seltenen  „akzidentellen  diastolischen  Herz- 
geräuscbe**  wurden  von  Sahli  .hei  Chlorose  als  während  dieser  Phase  verstirkte 
Anteile  sehr  starken  Nonnensausens  konstatiert.  (Über  derartige  Geräusche  findet 
sich  auch  Genaueres  bei  Tripier  und  Devic  in  Bouchards  Pathol.  g6n6r.  tIV.) 

Krehl  (Pathol.  Physiol.  5.  Aufl.  1907.  S.  104)  stimmt  Sahli  bei,  daß  ein  Teil 
der  so  ungemein  seltenen  diastolischen  akzidentellen  Geräusche  fortgeleitete  Venen- 
geräusche sind.  „In  anderen  Fällen  ist  das  ausgeschlossen,  und  dann  ist  gegen- 
wärtig nicht  einmal  eine  Vermutung  über  den  Ursprung  mdglicli.^ 

Übrigens  findet  sich  in  den  verschiedensten  ausgezeichneten  Lehr-  und  Hand- 
büchern (u.a.  Gerhardt,  Eulenburg,  ^olle  und  Weintraud)  ^eine  Erwähnung 
dieser  und  der  nächstfolgenden  Verhältnisse. 

^ie  hier  gleich  vorweggenommen  werden  soll,  ist  das  hier  in  Rede 


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71]  Die  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  431 

Stehende  fortgeleitete  diastolische  Mitralsteno3engeräusch  jedoch  un- 
schwer von  derartigem  blasenden  Sausen  zu  unterscheiden,  ganz  be- 
sonders wegen  seines  Rhythmus  und  akustisch  ganz  anderen  Charakters, 
ebenso  dürfte  die  Differenzierung  der  übrigens  sehr  seltenen  kardio- 
pulmonären  Geräusche  mit  dem  eigenartigen  Knacken^)  keine  allzu 
großen  Schwierigkeiten  machen.  Im  übrigen  gibt  ja  im  ersten  Falle 
die  Anämie  und  Chlorose,  im  letzteren  Pulmonalaffektionen  (starke 
Adhäsionen,  Kavernen,  Schwielenbildungen  usw.)  den  richtigen  Finger- 
zeig. 

Verdoppelung  des  2.  Herztones  an  der  Basis  infolge  asynchronen 
Schlusses  der  Aorten-  und  Pulmonalklappen  ist  nicht  selten  bei  hoher 
Lungenarterienspannung  infolge  Mitralstenose  zu  hören  und  zeigt  das 
Punctum  maximum  zumeist  am  linken  Sternalrand  und  im  2.  Inter- 
kostalraum. 

Im  Mittelpunkt  der  Besprechung  über  die  auskultatorischen 
Zeichen  steht  die  Möglichkeit  der  abnormenLokalisation  oder 
der  Fortleitung  des  diastolischenGeräusches  von  der  zweifel- 
los bestehenden  Mitralstenose  aus  gegen  die  Basis,  speziell 
die  Pulmonalarterie  zu. 

Die  Kliniker  sind  wolil  darüber  einig,  daß  nur  in  den  allerseltensten  Fällen  eine 
Fortleitung  des  diastolischen  Geräusches  von  der  Mitralklappe  gegen  die  Basis  zu 
stattfindet.  Tripier  und  Devic  (S6miologie  du  coeur  et  des  vaisseaux.  Bouchard, 
Trait6  de  Pathol.  g6n6r.  t.  IV),  die  in  grundlichster  Weise  diese  Verhältnisse  er- 
örtern, konnten  niemals  eine  Fortpflanzung  des  Geräusches  bis  zur  Basis  fest- 
stellen. 

Von  Steell  (The  auscultatory  signs  of  mitral  Stenosis:  a  Statistical  enquiry. 
Med.  Chron.  1895,  Sept.)  rührt  eine  Obersiebt  tiber  die  physikalischen  Befunde  bei 
60  Eigenbeobachtungen  von  Mitralstenose  her. 

Von  den  diastolischen  Geräuschen  waren  30%  auf  die  Spitze  beschränkt,  36,7% 
waren  zugleich  an  der  Spitze  und  oberhalb  derselben  zu  hören  und  außerdem  waren 
bloß  in  13,3%  der  Fälle  ein  diastolisches  Geräusch  nur  oberhalb  der 
Spitze  zu  konstatieren.  »Die  Deutung  dieser  letzteren  war  nach  ihm 
überhaupt  sejir  unsicher,  wie  denn  die  Kenntnisse  über  die  diastolischen  Ge- 
räusche seiner  Meinung  nach  noch  mangelhaft  sind.'* 

Bei  V.  Jürgensen  (Erkrankungen  der  Kreislaufsorgane,  Herzklappenfehler. 
Nothnagels  Spez.  Path.  1903,  XV,  S.  81)  fand  ich  folgenden  Passus: 

„Bisweilen  hört  man  das  diastolische  Geräusch  (bei  Mitralstenose)  auch  in  dem 
2.  linken  Interkostalraum,  in  der  Gegend  der  Pulmonalarterie  oder  etwas  nach  außen 
davon,  sogar,  wenn  etwa  an  der  Herzspiue  noch  ein  systolisches  Geräusch  besaht, 
deutlicher  als  an  ihr.  Es  ist  solches  Verhalten  auffallend,  da  die  Richtung  des 
Blutstromes,  welcher  das  Geräusch  bewirkt,  vom  Vorhof  gegen  den  Ventrikel  ge- 
richtet ist  (Liebermeister).'' 


1)  Dieses  Geräusch  ist  ungemein  charakteristisch.  Ich  möchte  es  mit  dem 
Knacken  vergleichen,  das  manche  Leute  durch  rasches,  starkes  Abbiegen  ihrer  Finger- 
gelenke hervorbringen  können. 


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432  Adolf  Posselt,  [72 

Von  dem  Autor  werden  jedoch  keine  Erklärungsversuche  fQr  dieses  exzeptionelle 
Verhalten,  auch  keine  näheren  Umstände  angegeben,  unter  denen  es  sich  findet 

Sahli  (Lehrbuch.  5.  Aufl.  1908)  läßt  zwar  die  präsystolischen  Geräusche  bei 
Mitralstenose  an  der  Herzspitze  am  lautesten  sein  (wohl  auch  diastolische),  von 
den  rein  diastolischen  Mitralgeräuschen  dagegen  gibt  er  an  (S.  357),  daß  sie  häufig, 
trotz  der  nach  der  Herzspitze  gehenden  Richtung  des  Blutstromes  mehr  gegen  den 
Vorhof  zu  am  besten  gehört  werden,  wohl  deshalb,  weil  sie  im  Anfang  der  Diastole 
entstehen,  wo  der  linke  Vorhof  weit,  der  linke  Ventrikel  dagegen  noch  eng  ist 
Nach  Sahli  ist  es  möglich,  daß  man  mitunter  bei  ein  und  demselben  Falle  an  der 
Herzbasis  mehr  den  rein  diastolischen,  gegen  die  Herzspitze  dagegen  mehr  den 
präsystolischen  Anteil  hört 

Bei  einer  einfachen  unkomplizierten  Mitralstenose  wurde 
jedoch  eine  derartige  ganz  abnorme  Lokalisation  des  Geräusches  allen 
physikalischen  Gesetzen  zuwider  sein.  Abgesehen  von  sonstigen  un- 
günstigen Verhältnissen  muß  die  einfache  Erwägung,  daß  sich  hierbei 
das  Geräusch  ganz  entgegengesetzt  der  Blutstromrichtung  fortpflanzen 
müßte,  zur  Widerlegung  dieser  Annahme  genügen. 

Im  Gegenteil  wissen  wir  ja,  daß  man  gerade  beim  Aufsuchen  des 
diastolischen  (in  der  Regel  präsystolischen)  Geräusches  bei  der  Mitral- 
stenose infolge  der  durch  den  hypertrophischen,  sehr  stark  ver- 
größerten rechten  Ventrikel  nach  hinten  und  links  verdrängten  Lage 
des  linken,  zumeist  sehr  weit  nach  links  gehen  muß.  Dieses  Moment 
und  die  geringe  Fortpflanzung  des  Geräusches  nach  aufwärts  wird 
doch  in  allen  Lehr-  und  Handbüchern  als  Charakteristikum  für  das 
diastolische  Geräusch  der  Mitralstenose  angeführt. 

Um  zu  obigen  Notizen  von  Steell  und  Sahli  Stellung  zu  nehmen, 
wäre  es  ja  in  Übereinstimmung  mit  unseren  Behauptungen  vielleicht 
gar  nicht  ausgeschlossen,  daß  diese  seltenen  Fälle  gerade  solchen  mit 
Pulmonalsklerose  vergesellschafteten  entsprachen. 

Es  verlohnt  sich  wohl  nach  unseren  Darlegungen  der  Mühe,  diesen 
Verhältnissen  in  Zukunft  näher  nachzugehen. 

Jedenfalls  erachte  ich  es  als  erwähnenswert,  daß  eben  bei  mehreren 
unserer  Fälle  von  Mitralstenose  mit  Atherosklerose  der  Pulmonalis 
eigentümlicherweise  das  nach  allgemeinem  Urteil  so  ungemein  seltene 
rein  „diastolische''  Geräusch  bestand,  sogar  in  einem  solchen  Falle, 
wo  Insuffizienz  vorausging,  deren  Erscheinungen  aber  nach  und  nach 
durch  die  der  Stenose  so  verdrängt  wurden,  daß  schließlich  diese 
allein  zur  Geltung  kamen. 

Wenn  Sahli  die  Vermutung  ausspricht,  daß  den  verschiedenen 
Unterarten  der  diastolischen  Geräusche  (die  Kompliziertheit  der  Ein- 
teilungen seitens  verschiedener  Forscher  sei  nur  nebenbei  bemerkt) 
möglicherweise  verschiedene  Grade  der  Stenose  entsprechen,  so 
möchte  ich  dem  hinzufügen,  daß  unseres  Erachtens  als  ein  weiteres 


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73]  ^^^  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  433 

Moment  hierfQr  das  Verhalten  der  Pulmonalarterie  in  Betracht  zu 
ziehen  wäre. 

Nach  unserenBeobachtungen  scheint  ein  rein  diastolisches 
Geräusch  mit  auffällig  basaler  Lokalisation  bei  Mitralste- 
nose sehr  den  Verdacht  auf  gleichzeitige  Atherosclerosis 
pulmonalis  zu  rechtfertigen,  speziell  in  Verbindung  mit  unge- 
wöhnlich starker  Zyanose,  fOr  die  alle  sonstigen  Momente  zur  Er- 
klärung nicht  hinreichen. 

Der  Vollständigkeit  halber  sollen  auch  einige  recht  seltene  Vorkommnisse,  die 
jedoch  zu  unseren  Darlegungen  in  Beziehung  stehen,  Platz  finden: 

In  einer  Mitteilung  Duroziers  (Du  souffle  veineux  Simulant  Tinsuffisance 
aortique  —  Lithiase  biliaire  et  maladies  du  coeur.  L'union  m6d.  1885,  no.  126) 
fand  ich  das  Auftreten  eines  diastolischen  Geräusches  über  der  Basis  am  Sternum 
bei  einer  40jahrigen  Frau  mit  den  Erscheinungen  einer  Mitralstenose. 

Dieses  Geräusch  entwickelte  sich  erst  im  Verlaufe  des  Spitalsaufenthaltes.  Es 
bestand  Hypertrophie  und  Dilatation  des  rechten  Ventrikels,  Lebervenenpuls.  Bei 
der  Nekropsie  das  linke  venöse  Ostium  kanalförmig  verengt,  nur  für  1  Bleistift 
durchgängig.  Aortenostium  und  Klappen  intakt.  Durozier  vermutet  eine  all- 
gemeine Neigung  zu  Schrumpfungsprozessen  und  glaubt,  daß  das  diastolische  Ge- 
räusch über  dem  Sternum  in  der  Vena  cava  entstanden  sei. 

Ein  auskultatorischer  Befund  Voisins  (1874)  ist  von  Interesse.  Bei  dem 
45jährigen  Kranken  bestand  bei  auffallender  Zyanose  ein  systolisches  Geräusch  am 
Angulus  Ludovici,  am  Rand  des  Sternums  das  Geräusch  sehr  deutlich,  manchmal 
verdoppelt.  2.  Ton  an  der  Basis  klingend.  Bei  der  Obduktion  fand  sich  beträcht- 
liche Herzhypertrophie,  Trikuspidalinsufflzienz,  jedoch  keine  Störung  im  linken 
Ventrikel.  Ausgedehnte  Atheromatose  der  Pulmonalis  bis  in  die  kleinen 
Endverzweigungen  zu  verfolgen.  —  Wir  dürfen  der  Vermutung  Raum  geben, 
daß  hier  die  auskultatorischen  Verhältnisse  bei  Trikuspidalinsufflzienz  durch  die 
Pulmonalaifektion  in  ähnlicher  Weise  beeinflußt  wurden. 

Falls  sich  sohin  trotzdem  eine  abnorme  Fortleitung  eines  diasto- 
lischen Geräusches  bei  Mitralstenose  (bei  reinen  unkomplizierten 
Fällen  konnte  ich,  per  parenthesim  bemerkt,  keine  einzige  derartige 
Beobachtung  machen)  konstatieren  läßt,  so  müssen  folgerichtig  ganz 
eigenartige  exzeptionelle  Verhältnisse  vorliegen. 

Und  solche  sind  eben  in  der  arteriosklerotischen  Ver- 
dickung und  Verhärtung  der  Pulmonalis  gegeben. 

Durch  die  Verdichtung,  Verdickung  und  Starrheit  des  Pulmonal- 
arterienrohres  wird  ein  Widerlager  geschaflFen,  das  zur  Fortpflanzung 
und  Verstärkung  vibrierender  Herzgeräusche  sicherlich  eine  physika- 
lische Grundlage  abgeben  kann. 

Durch  die  schweren  arteriosklerotischen  Prozesse  an  diesem 
Gefäßrohr,  das  von  Haus  aus  doch  viel  dünner,  schlafi^er,  weicher 
gegenüber  der  Aorta  ist,  muß  die  Änderung  der  physikalischen  Be- 
schaffenheit um  so  schwerwiegender  sein.  Die  frühere  elastische, 
weiche,  nachgiebige  Suspension  hat  sich  sonach  wenigstens  teilweise 


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^34.  Adolf  Posselt,  [74 

in  eine  unnachgiebige,  derbe,  starre  Fixation  verwandelt,  zu  deren 
Verstärkung  noch  ev.  periarterielle  Verdickungen,  Verwachsungen, 
Membranbildungen  mit  sekundär  möglichen  Verzerrungen  beitragen 
können. 

Es  sei  hier  ein  Vergleich  gestattet,  dessen  Mängel  mir  wohlbe- 
wüßt  sind,  der  aber  trotzdem  die  Sache  vielleicht  etwas  verständlicher 
machen  wird*  Wenn  jemand  eine  dünne,  elastisch  federnde  Metall- 
oder Hartgummiplatte  an  einem  Ende  mit  der  Hand  frei  hält,  am 
anderen  durch  Anschlagen  zur  Schwingung  bringt,  so  wird  sich  ein 
dumpfes,  wenig  intenses,  schwirrendes  Geräusch  bemerkbar  machen. 

Bringt  man  jedoch  diese  elastische  Platte,  oder  besser  ein  solches 
Rohr  in  eine  starre  Zwinge,  so  wird  sich  das  nun  viel  lautere, 
schärfere  Geräusch  ganz  besonders  gegen  den  Fixationspunkt  hin 
fortpflanzen  und  das  horchende  Ohr  gerade  an  dieser  Stelle  den 
stärksten  Eindruck  bekommen,  namentlich  dann,  wenn  die  Fixations- 
stelle  zugleich,  wie  es  für  unser  Verhältnis  zutrifi^t,  einen  resonanz- 
verstärkenden Hohlraum  darstellt.  Vorstehendes  bezieht  sich  auf 
die  Schwingungen  der  Wand  selbst.  Hinsichtlich  der  Verhältnisse  der 
durchströmenden  Flüssigkeit  läßt  sich  nach  dem  Weberschen  Vor- 
gang für  unseren  speziellen  Fall  kaum  eine  richtige  Anordnung,  die 
diesem  ganz  entsprechen  würde,  trefi^en. 

Bei  hochgradiger  Mitralstenose  und  Atherosklerose  der  Pulmonai- 
arterie  findet  sich,  wie  die  Autopsien  beweisen,  geradezu  eine  Um- 
wälzung der  physikalischen  Verhältnisse  und  Relationen  der  einzelnen 
Herzabschnitte  und  der  großen  basalen  Gefäße. 

Der  rechte  Ventrikel  mächtig  erweitert  und  verdickt  (mechanische 
Korrelation)  prävaüert  über  den  unbedeutenden,  verkleinerten  und 
geschrumpften  linken  Ventrikel^),  so  daß  ersterer  in  Ausdehnung, 
Fassungsvermögen,  Wanddicke  diesen  um  mehrfaches  übertreflPen  kann. 
(Das  Verhalten  des  linken  Vorhofes  hängt  in  speziellen  Fällen,  z.  T. 
vom  Grade  der  Stenose  ab  [dabei  starke  Dilatation],  andrerseits  von 
der  Beschaifenheit  der  Lungenvenenmündungep  [bei  Stenose  dieser 
konsekutive  Verkleinerung  des  schlecht  gefüllten  Vorhofes]). 

In  ähnlicher  Weise  hat  sich  der  Zustand  zuungunsten  der  Aorta 
mit  zumeist  beträchtlicher  Ausdehnung  und  Wandverdickung  des 
Wurzelgebietes  der  Pulmonalarterie  verändert,  wobei  noch  die  Starre 
und  Rigidität  dieser  letzteren  hinzukommt. 

Die  mechanischen  Aufhänge-   und  Schwerpunktsverhältnisse  des 


1)  Das  linke  Jierz  wird  häufig,  ganz  besonders  auch  bei  den  primären  Athero- 
sklerosen wie  en  miniature,  den  Dimensionen  nach  einem  kindlichen  Herzen  gl^cb, 
angegeben. 


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75]  I^ie  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  435 

Organs  müssen  sonach  eine  ganz  wesentliche  Alteration  erlitten  haben* 
Dafi  diese  Verschiebung  der  Massen  auf  den  Schwerpunkt,  die  Torsion 
der  Gefäße  (Aorta  und  Pulmonalis  bilden  gewissermaßen  ein  Stück 
eines  nach  links  gewundenen  Spiralganges),  das  Drehungsmoment,  die 
Herzbewegungen  und  Kontraktionen  der  einzelnen  Abschnitte  einen 
Einfluß  ausüben  müssen,  bedarf  keiner  näheren  Begründung^  ebenso 
daß  hierdurch  mannigfache  Bedingungen  für  Modifikationen  der  Fort- 
leitung von  Herzgeräuschen  gegeben  erscheinen. 

Wenn  auch  nur  in  indirekter  Beziehung  stehend,  verdient  Hervor- 
gehoben zu  werden,  daß  in  der  von  Ortner  (Wiener  klin.  Wochen- 
schrift 1897,  Nr.  33,  S.  753)  inaugurierten  Literatur  über  Rekurrens- 
lähmung  bei  Mitralstenose  verschiedenerseits  eingehende  Erörterungen 
über  die  Größen  Verhältnisse,  Lage  und  Dislokationen  der  hier  in 
Betracht  kommenden  basalen  Abschnitte  gebrachit  werden. 

So  erwähnt  u.  a.  Kraus  das  auffällig  nach  vorn  und  oben  Ge- 
schobensein der  Pulmonalis,  ebenso  Frischauer,  wie  durch  den 
mächtig  erweiterten  linken  Vorhof  die  Pulmonalarterie  emporgehoben 
und  nach  vorn  geschoben  werden  könne. 

Daß  alle  die  geschilderten  Momente  und  die  förmliche  Umwälzung 
der  physikalischen  Verhältnisse  eine  Änderung  der  auskultatorischen 
Ergebnisse  und  eine  Fortpflanzung  des  diastolischen  (auch  präsysto- 
lischen) Mitralgeräusches  gegen  das  Pulmonaiostium  zu  bedingen 
können,  dürfte  wohl  nach  allem  recht  wahrscheinlich  geworden  sein. 

Eine  wesentliche  Stütze  erfährt  diese  unsere  Annahme  durch  das 
charakteristische  Verhalten  des  Geräusches,  das  abgesehen 
vom  rein  diastolischen,  auch  im  präsystolischen,  im  Rhythmus 
(wachtelschlagartig)  und  in  seinem  sonstigen  Verhalten  die 
mitrale  Provenienz  erkennen  läßt. 

Bei  der  Ortsveränderung  des  diastolischen  Geräusches  gegen  die 
Basis  und  zwar  dem  2. 1.  L  R.  zu  muß  dem  ganz  allmählichen  suk- 
zessiven Eintreten  und  dem  langsamen  Aufwärtsrücken  des 
Punctum  maximum  Rechnung  getragen  werden.  Hierin  möchte 
ich  einen  wichtigen  Fingerzeig  für  den  Zusammenhang  mit  den  auch 
nur  allmählich  sich  ausbildenden  pathologisch-anatomischen  Verände- 
rungen an  dem  Geßißrohr  erblicken,  die  schließlich  zu  immer  stärkerer 
Derbheit,  Starrheit,  Dicke  und  Unnachgiebigkeit  der  Pulmonalarterien- 
wandung  führen,  wodurch  eine  ganz  langsame,  allmähliche  Entwicklung 
dieser  Resonanzverstärkung  statthat. 

Plötzliche  oder  zum  mindesten  recht  rasche  Änderungen  der  Lautheit,  des 
Ortes,  selbst  Charakters  von  Herzgeräuschen  können  durch  Setzung  von  Herz- 
thromben entstehen,  mehr  subakut  oder  subchronisch  durch  Ausbildung  von  Herz- 
schwielen, in  beiden  Fällen  durch  Änderung  der  mechanischen  Zusammenziehungs- 


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436  Adolf  Posselt,  [76 

und  Ausdehnungsfähigkeit  der  Muskelfasern  ganzer  Abschnitte  des  Herzens,  durch 
Änderung  ihrer  Elastizität  und  Dichte,  ihrer  Eigenschwingungen  infolge  Bildung 
von,  wenn  es  zu  sagen  erlaubt  ist,  Knotenpunkten. 

Meines  Erachtens  durften  diese  Verhältnisse  auch  diagnostische  Würdigung 
beanspruchen,  ganz  besonders  hinsichtlich  vorliegenden  Vitiums,  da  bekanntlich  die 
Mitralstenose,  wie  auch  Minkowski  hervorhebt,  physikalisch-diagnostisch  von  der 
arteriosklerotischen  Myokarditis  oft  schwer  zu  unterscheiden  ist. 

Es  erlangt  sonach  auch  hier  die  zeitliche  Ausbildung  und  Raschheit  des 
Ablaufes  bestimmter  Zeichen  einen  gewissen  semiologischen  Wert. 

Nach  allem,  wie  ich  mir  die  Verhältnisse  zurecht  zu  legen  suchte, 
dürFte,  meiner  Ansicht  nach,  eine  Deutung  der  bekannten  und  oft 
zitierten  Fälle  Rombergs  und  Austs  von  anscheinend  primärer 
Sklerose  der  Lungenarterie,  deren  Erklärung  bisher  aussteht,  doch 
möglich  sein.  Merkwürdigerweise  wurde  auf  die  speziell  im  Falle 
Rombergs  ganz  auffällige  Enge  der  Lungenvenen  nicht  Bedacht  ge- 
nommen^). Der  diesbezügliche  Befund  lautet:  Die  Venae  pulmo- 
nales sind  an  ihrer  Einmündung  in  den  linken  Vorhof  eng, 
für  einen  dünnen  Bleistift  eben  durchgängig. 

Nachdem  von  der  Beschaffenheit  ihrer  Wandung  nichts  angegeben 
erscheint,  kann  allerdings  kein  Urteil  abgegeben  werden,  ob  nicht  in 
ihnen,  wie  ja  wiederholt  pathologisch-anatomisch  und  histologisch 
nachgewiesen  wurde,  ähnliche  Verdickungs-  und  Verhärtungsprozesse 
mit  Verkleinerung  des  Lumens  vorlagen,  wie  in  den  Arterien. 

Das  wahrscheinlichere  (wenn  auch  nicht  absolut  sichere)  ist  es 
jedoch,  daß  der  Zustand  auffallender  Enge  der  Pulmonalvenen  an- 
geboren war;  dafür  spricht  wohl  das  eklatante  Zurückgebliebeo- 
sein  des  ganzen  linken  Herzens.  Vom  linken  Ventrikel  ist  bei 
der  Eröffnung  sonst  nichts  sichtbar.  Ausschließlich  dem  rechten  Ven- 
trikel gehört  die  stark  abgerundete  Herzspitze  an.  Von  vorne  gesehen 
erscheint  der  linke  Ventrikel  nur  als  ein  Anhängsel  des  rechten, 
während  auf  der  Hinterfläche  beide  Ventrikel  annähernd  gleiche  Di- 
mensionen zeigen  (Herzmaße  [s.  o.]). 

Das  linke  Herzohr  ist  kaum  halb  so  groß  als  das  rechte,  es  er- 
scheint sogar  kleiner  als  normal.  Der  enorme  Unterschied  zwischen 
rechter  und  linker  Herzhälfte  fällt  am  aufgeschnittenen  Herzen  noch 
mehr  in  die  Augen.  Der  linke  Vorhof  ist  eher  etwas  kleiner 
als  normal.  Die  Dicke  seiner  Wand  beträgt  2—3  mm,  nur  die  Hälfte 
von  der  des  rechten.  Der  linke  Ventrikel  ist  ziemlich  eng  und  besitzt 
nur  wenig  ausgebildete  Trabekel.  Aortenklappen  zart,  Aorta  auf- 
fallend eng. 

Aus  der  ganzen  Beschreibung  können  wir  auf  Verhältnisse  zwischen 


1)  Rombergs  Annahme  nach  ein  sekundärer  Befund,  s.  S.  87. 


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77]  I^ie  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  437 

beiden  Herzhälften  mit  direkter  Umkehr  der  Norm  schließen,  ein 
Befund,  wie  er  z.  B..  höchstgradigen  Mitralstenosen  eigen  ist,  wobei 
außerdem  noch  infolge  der  Pulmonalvenenverengung  die  Restrinktion 
des  linken  Vorhofes  dazu  kommt. 

Der  Zustand  braucht  ja  nicht  in  dem  landläufigen  Sinne  angeboren 
zu  sein^),  wie  die  wirklichen  Herzklappenfehler  und  Entwicklungs- 
storungen;  es  kann  sich  wohl  z.  T.  auch  um  eine  lokalschlechtere  Ent- 
wicklung der  Lungenvenen  und  ein  Zurückbleiben  während  des  wei- 
teren Wachstums  gehandelt  haben,  eine  ähnliche  Hypoplasie,  wie  sie 
an  der  Aorta  (hier  vielleicht  mehr  sekundär)  bestand.  Der  schließliche 
Effekt  bei  einer  derartigen  wesendichen  Restrinktion  der  Lungenvenen 
ist  wohl  ganz  analog  dem  Bestehen  einer  Mitralstenose. 

Vor  IV2  Jahr  bestand  Muskelrheumatismus,  vor  IV4  Jabr  setzte  sein  jetziges 
Leiden  ein;  ersterem  dürfte  wobi  bierbei  nur  die  Rolle  eines  auslösenden  Momentes 
für  lange  schon  Vorbereitetes  zukommen. 

Infolge  der  auffälligen  Pulmonalvenenverengerung  Stauung  durch  das 
gesamte  Lungengefäßgebiet  auf  die  Pulmonalis  und  das  rechte  Herz, 
Drucksteigerung,  mit  abnormer  Inanspruchnahme  des  Gefäßes  und 
des  rechten  Ventrikels  (reaktive  Korrelation)  reaktive  Endarteriitis  und 
Sklerose. 

Die  Verengerung  der  Mehrzahl  der  kleineren  Pulmonalverzweigungen  scheint 
allerdings  nicht  recht  im  Einklang  zu  stehen.  Dieselbe  fand  jedoch  nach  Romberg 
nur  auf  Kosten  der  Wandverdickung  statt.  Bei  noch  bestehender  Elastizität  hätte 
hier  immer  noch  eine  vorherige  Ausdehnung  statthaben  können. 

Es  scheint  mir  hierbei  auch  eine  Art  Circulus  vitiosus  bestanden 
zu  haben.  Der  enorm  erweiterte  und  stark  hypertrophische  rechte 
Ventrikel  hat  jedenfalls  die  Tätigkeit  des  enorm  kleinen,  fast  ge- 
schrumpften linken  noch  mehr  behindert,  hierfür  spricht  ja  auch,  daß 
selbst  noch  im  Leichenbefund  das  Septum  ventriculorum  von  rechts 
her  in  den  Ventrikel  hinein  vorgewölbt  erscheint,  um  wie  viel  mehr 
muß  diese  Ausbauchung  tntra  vitam  zur  Geltung  gekommen  und  der 
Füllung  des  linken  Ventrikels  hinderlich  gewesen  sein.  Die  schlechte 
Ansaugung  des  Lungenvenenblutes  tat  ihr  übriges.  Wir  dürfen  des- 
halb unter  diesen  Verhältnissen  sozusagen  eine  Stenosierung  des 
ganzen  linken  Herzens  durch  den  mächtig  ausgedehnten  enorm  hyper- 
trophischen rechten  Ventrikel  annehmen,  wodurch  der  Kreis  ge- 
schlossen erscheint. 

Ganz  ähnliches  gilt  vom  Falle  Austs. 

Das  Herz  war  enorm  vergrößert.  Die  in  situ  sichtbare  Vorder- 
fläche desselben  ist  fast  ausschließlich  von  der  rechten  Ventrikelwand 

1)  Vgl.  übrigens  die  kongenitalen  Störungen  bei  fötaler  Endokarditis  (auch  im 
Hnken  Herzen),  welche  sozusagen  eine  exzessive  Steigerung  der  vorliegenden  Ver- 
hältnisse darstellen.    Vierordt  (I.  c.  S.  149  und  150). 


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438  Adolf  Posselt,  [78 

gebildet 9  während  von  der  linken  Ventrikelwand  nur  ein  schmalei^ 
Saum,  etwa  3—4  cm  oberhalb  der  Spitze  beginnend,  sichtbar  ist. 

Der  stark  dilatierte  rechte  Vorhof  ist  schwappend  gefüllt  mit  Blut,  seine  Wand 
stark  hypertrophiert.  Der  rechte  Ventrikel  ebenso,  die  Wand  enorm  verdickt  (2  cffl), 
die  Papillarmuskeln  bis  auf  das  Zwei-  bis  Dreifache  vergrößert.  Herzfleisch  derb, 
einzelne  Papillarmuskeln  mit  myokarditischen  Schwielen  durchsetzt.  Pulmonalarterie 
stark  erweitert,  innerer  Umfang  am  Klappenansatz  9,5  cm,  oberhalb  der  Klappen 
deutliche  Tendenz  zu  aneurysmat.  Erweiterung  (größter  Umfang  10,2). 

Die  Lungenvenen  sind  an  ihrer  Einmündungsstelle  in  den  linken 
Vorhof  für  den  kleinen  Finger  kaum  durchgängig. 

Die  ganze  linke  HerzhälFte  entspricht  etwa  der  Große 
eines  Kinderherzens;  der  linke  Vorhof  kommt  in  seinem 
Rauminhalt  etwa  dem  rechten  Herzohr  gleich.  Die  Muskulatur 
ist  schwach  entwickelt. 

Das  Endokard  zeigt  eine  grobe ^  strahlig  angeordnete  Stricheluog. 
Mitralklappe  zart,  intakt.  Der  kleine,  enge  linke  Ventrikel  wird 
von  dem  rechten  Ventrikel  halbmondförmig'  umlagert,  seine 
Wand  ist  dünn  (1  cm).  Papillarmuskeln  wenig  entwickelt.  Die  Aort^ 
ist  eng,  für  den  kleinen  Finger  kaum  durchgängig.  Innerer 
Umfang  dicht  oberhalb  der  Semilunarklappen  6,6,  im  Brustteil  4  cih, 
im  Bauchteil  3,5  cm.  Klappen  zart,  intakt,  die  Intima  weist  einige 
wenige  atheromatöse  Einlagerungen  auf. 

Halten  wir  diese  anatomischen  Befunde  im  Gedächtnis,  so  werden, 
wie  sich  aus  folgendem  ergibt,  für  unsere  obige  Annahme  die  hierbei 
erhobenen  eigenartigen  auskultatorischen  Erscheinungen  eine 
kräftige  Stütze  bilden. 

Bei  Rombergs  (Deutsch.  Arch.  f.  klin.  Med.  1891,  48.  Bd.,  S.  197)  Kranken 
(24)ährigen  Mann)  wurde  nachstehendes  konstatiert: 

Bei  der  Auskultation  hört  man  in  der  Gegend  der  starken  Pulsation  (4.  LR.), 
am  lautesten  an  der  Stelle  des  scheinbaren  Spitzenstoßes  ein  systolisches,  weiches, 
den  ersten  Ton  verdeckendes  Geräusch  und  am  Ende  der  Systole  ein  kurzes,  sbbt' 
scharfes  Geräusch«  Während  das  erste  nur  im  3.  und  4. 1.  R.  hörbar  ist^  wird  das 
2.  nach  der  Auskultationsstelle  der  Pulmonalis  hin  sehr  deutlich  fortgeleitet.  Man 
hört  hier  vor  ihm  den  1.  und  nach  ihm  den  akzentuierten  2.  Pulmonalton. 
Ober  der  Aorta  sind  die  Töne  sehr  viel  leiser  als  über  der  Pulmonalis. 

Austs  (München,  media?:  V^ochenschr.  1892,  27.  Sept.,  S.  689)  Notizen  besagen: 
25jähriger  Mann,  blaß  mit  deutlicher  Zyanose.  Der  1.  Ton  an  der  Spitze  ist  unrein 
und  geht  in  der  Richtung  nach  dem  Proc.  xiphoid.  und  dem  mittleren  Teil  des 
Sternums  allmählich  in  ein  deutliches  kurzes  Geräusch  über,  wird  nach  dem  oberen 
Teil  des  Sternums  wieder  schwächer  und  undeutlicher. 

Der  2.  Ton  an  der  Spitze  ist  leise  und  geht  unmittelbar  in  ein  die  ganze  Dia- 
stole ausfüllendes  leises  Geräusch  über,  welches  in  der  Richtung  nach  dem  oberen 
Teil  des  Sternums  deutlicher  wird  und  im  3.  linken  Interkostalraum  in  prägnantester 
Weise  einen  rauschenden  Charakter,  wie  bei  Insuffizienz  der  großen  Gefäße,  zeigt 
Im  2.  rechten  I.  R.  und  dem  angrenzenden  Sternalteile  sind  die  Herztöne  leise  and 
dumpf,  ein  deutliches  Geräusch  ist  daselbst  nicht  zu  konstatieren. 


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7d]'  I>>e  klinische  Diagnose  der  PulmonaUrteriensklerose.  439 

Ini  weiteren  Verlaufe  wechselt  der  Befund,  indem  das  systolische  GerSusch 
zeitweise  schwächer  wird,  selbst  gelegentlich  ganz  verschwindet,  das  diastolische 
dagegen  in  Charakter  und  Intensität  unverändert  bleibt. 

Weiteres  scheinen  für  unsere  Behauptungen  folgende  Befunde  zu  sprechen: 
Kidd  (Clin.  Soc.  of  London  1904).  21  jähriges  Mädchen.  Auskultatorisch  ein 
lauter,  kurzer,  knackender  Ton  über  der  ganzen  Herzgegend  hörbar,  ähnlich  dem 
1.  Ton  bei  Mitralstenose.  Das  Maximum  fand  sich  über  dem  Pulmonalostium,  ge- 
legentlich konnte  man  hier  auch  ein  kurzes  diastolisches  Geräusch  nach  dem  2.  Ton 
hören.    Der  erste  Ton  war  überall  rein,  weich,  von  keinem  Geräusch  begleitet. 

Romberg  und  Aust  möchten  das  systolische  Geräusch  an  der 
Pulmonalis  z.  T.  auf  eine  Wirbelbildung  im  Stamme  der  Lungen- 
arterien beziehen. 

,,Über  die  Entstehung  des  am  Ende  der  Systole  hörbaren,  scharfen 
Geräusches  kann  Romberg  sich  jedoch  kein  Urteil  bilden.'^  Ober- 
haupt bietet  nach  ihm  die  Pathologie  seines  Falles  manche  Schwierig- 
keiten, die  man  wohl  zu  deuten  versuchen,  aber  nicht  mit  Sicherheit 
erklären  kann. 

Aust  glaubt  die  etwas  ungewöhnliche  Lokalisation  des  zweifellos 
durch  relative  Insuffizienz  der  Arteria  pulmonalis  hervorgerufenen 
diastolischen  Geräusches  durch  die  Hypertrophie  des  rechten  Ven- 
trikels und  Vorhofes  und  die  dadurch  bedingte  Oberlagerung  und 
Verdrängung  der  linken  Herzhälfte  genügend  erklären  zu  können. 

Nach  obigen  ausfährlich  dargelegten  anatomisch -physikalischen 
Hefzverhältnissen  können  wir,  ohne  der  Sache  Zwang  anzutun,  eine 
formliche  Stenosierung  des  linken  Herzens  und  mithin  des  linken 
Atrioventrikularostiums  durch  Druck  von  außen  annehmen. 

Es  dürfte  nun  nicht  allzugewagt  sein,  anzunehmen,  daß  an  dem 
so  schwer  zu  deutenden  diastolischen  Geräusch  ein  von  dieser  sozu- 
sagen äußeren  Mitralstenose  fortgeleitetes  partizipierte,  wobei  außer- 
dem eine  eben  durch  dieselben  Umstände  resultierende  relative  Pul- 
monalinsuffizienz  im  Sinne  Bryants  mit  ihrem  Geräusch  Anteil 
haben  konnte. 

Wieviel  dann  auf  das  eine  oder  andere  im  einzelnen  Fall  zu  setzen 
ist,  entzieht  sich  intra  vitam  vorderhand  jeglicher  Beurteilung. 

Wir  wissen  aus  zahlreichen  Beispielen,  daß  einerseits  schwere 
angeborene  Herzfehler  ohne  jegliche  Geräusche  am  Herzen  verlaufen 
können,  andererseits,  daß  gerade  von  den  erworbenen  Vitiis  die  Mi- 
tralstenose^) dasselbe  Verhalten  zeigen  kann. 


1)  U.  a.  konnte  Hilton  Fagge  40  Fälle  mit  genauem  ObduktfonsbefUnd  sam- 
meln, bei  denen  keine  Spur  von  Geräuschen  zu  entdecken  war. 

Der  enormen  Seltenheit  und  des  klinisch-diagnostischen  Interesses  halber  soll 
auch  der  entgegengesetzten  Möglichkeit:  funktionelle  Mitralstenose,  Pseudomitral- 
Stenose  (wohl  noch  sehr  fraglichen  Charakters)  gedacht  werden. 


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440  Adolf  Posselt,  [SO 

In  der  Praxis  können  wir  daher  in  einem  konkreten  Falle  mit 
allen  sonstigen  bisher  entwickelten  klinischen  Zeichen  vor  die  Ent- 
scheidung gestellt  werden,  denselben  auch  ohne  Bestehen  auskulta- 
torischer Phänomene  einzureihen.  Daß  hier  die  Diagnose  auf  große 
Schwierigkeiten  stößt,  ist  Fraglos. 

Eine  äußerst  sorgfältige  Anamnese  (wie  das  Verhalten  bei  der 
Geburt  und  frühesten  Kindheit  war,  ob  gewisse  Infektionskrankheiten, 
speziell  Polyarthritis,  Variola,  Scharlach  bestanden),  die  eigenartigen 
Zyanosekrisen  und  typischen  AnISlle  (Hypercyanosis  intermittens  an- 
giosclerotica  dolorosa  [adyspnoica]  s*  u.)  können  im  jeweiligen  Falle 
einen  Fingerzeig  geben. 

Im  großen  und  ganzen  würde  Infantilismus  mit  trophischen  Stö- 
rungen und  Verminderung  des  Intellektes^),  ebenso  ausgesprochene 
Trommelschlegelfingerbildung  eher  für  ein  kongenitales  Vitium 
sprechen;  weiterhin  sind  Anfälle  von  Kopfschmerz,  Schwindel,  ganz 
besonders  aber  Ohnmachtsanwandlungen  und  vor  allem  konvulsivische 
und  epileptiforme  Zustände  diesem  in  erster  Linie  eigen. 

In  Zusammenfassung  der  auskultatorischen  Phänomene,  vor 
allem  bei  Beurteilung  des  interessanten  diastolischen  Geräusches 
in  der  Pulmonalostiumgegend,  gelangen  wir  zu  dem  Ergebnis,  daß 
ebensowenig  die  Verallgemeinerung  für  stetes  Vorhandensein  einer 
relativen  PulmonalklappeninsufAzienz,  wie  die,  daß  ihm  unter  allen 
Umständen  eine  Fortleitung  des  diastolischen  resp.  präsystolischen 
Mitralstenosengeräusches  zugrunde  liegt,  zutrifft.  Die  auf  anatomischea 
Veränderungen  aufgebaute  physikalische  Möglichkeit  ist  für  beides 
ausschlaggebend. 

Eine  relative  Semilunarenschlußunfahigkeit  wird  dann  zu  suppon* 
nieren  sein,  wenn  es  sich  um  eine  Atherosklerose  der  großen  Äste, 


Dmitrenko.Le  r6trecissement  mitral  relatif.   Rev.dein6d.  1907,  t. XXVII, p. 286. 

Periis,  Kasuist.  Beitrag  zur  Kenntnis  der  anorganischen  prSsystol.  GerSuscbe 
an  der  Herzspitze.    Inaug.-Dissert.    Berlin  1907. 

Ceconi  (Mitralspasmus,  Riforma  med.  1908,  no.  30)  gibt  die  Krankengeschichte 
und  den  Obduktbefund  eines  Falles,  in  dem  klinisch  die  Diagnose  Mitralstenose 
zweifellos  war. 

Bei  der  Autopsie  bloß  Hypertrophie  und  Dilatation  des  r.  Ventrikels  bei  nor- 
malem Verhalten  sämtlicher  Klappen,  weshalb  eine  funktionelle  Mitralstenose  oder 
Pseudomitralstenose  anzunehmen  sei,  über  deren  Ursachen  die  Ansichten  noch 
geteilt  sind. 

1)  Um  die  ÄhnUchkeit  beider  Zustande  noch  größer  zu  gestalten,  kommt  es 
nämlich  in  seltenen  Fällen  auch  bei  der  Mitralstenose,  wie  u.  A.  Brissaud, 
Me eklen,  Ferranini  erwähnen,  zu  einem  Zuruckbl^ben  der  körperlichen  und 
geistigen  Entwicklung.  Inwieweit  jedoch  hier  bis  zu  einem  gewissen  Grad  kon« 
genitale  Momente  mitwirken,  möge  dahingestellt  bleiben. 


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81]  Die  klinische  Diagnose  dertPulmonalarterienslclerose.  441 

Verzweigungen  usw.  handelt  mit  hauptsächlichem  Freibleiben  oder 
nur  sehr  geringer  Entwicklung  im  Stamm  und  vor  allem  bei  Nach- 
giebigkeit dieses  und  des  erweiterten  Wurzelgebietes  und  Klappen-« 
ringes. 

Andererseits  setzt  die  Fortleitung  des  Mitralgeräusches  zur  Basis 
ein  ganz  besonderes  Prävalieren  des  Prozesses  in  den  Stammbezirken 
voraus. 

Schließlich  ist  es  nach  der  Lage  der  Dinge  gar  nicht  ausgeschlossen, 
sondern  sogar  sehr  wahrscheinlich,  daß  gegebenen  Falls  beide  Momente 
konkommittieren,  wobei  es  nach  der  Natur  des  jeweiligen  Kasus  darauf 
ankommt/ welches  von  ihnen  vorherrscht. 

Bei  unseren  Darlegungen  setzten  wir  immer  ein  gewisses  Unbe- 
einflußtsein der  Kaliberverhältnisse  des  Gefäßes  voraus. 

Wir  dürfen  das  Kapitel  über  die  physikalische  Untersuchung  nicht 
schließen,  ohne  in  allergedrängtester  Kürze  zum  wehigsten  der  beiden 
Extreme:  hochgradigste  Verengerung  und  der  Aneurysmabildung  zu 
gedenken. 

Es  würde  auch  zu  weit  führen,  alle  hier  möglichen  Verhältnisse 
und  Kombinationen  zu  besprechen. 

Je  mehr  sich  die  Stenosierung  dem  PulnH)nalklappenringe  nähert, 
um  so  ähnlicher  werden  die  dadurch  gesetzten  Erscheinungen  denen 
der  Klappenstenose  sein. 

Je  entfernter  selbe  zur  Ausbildung  kooimt,  desto  mehr  treten  die 
Erscheinungen  in  ihr  Rechte  auf  welche  eine  Reihe  von  Autoren  (na- 
mentlich auch  bei  von  außen  gesetzten  Hindernissen)  hingewiesen 
haben: 

Litten,  Ober  Verengerungen  im  Stromgebiete  der  Lungenarterie, 
über  deren  Folgen  und  die  Möglichkeit,  dieselben  während  des  Lebens 
zu  diagnostizieren.    Berl.  klin.  Wochenschr.  18i32,  S.  425. 

Aufrecht,  Systolische  und  diastolische  Geräusche,  entstanden 
durch  Verengerung  des  Strombettes  des  linken  Pulmonalastes.  Arch. 
f.  klin.  Mediz.  1876,  Bd.  18. 

Mader,  Beiträge  zur  Auskultation  des  Herzens  und  der  großen 
Gefäße.    Wien,  mediz.  Wochenschr.  1903,  Nr.  1. 

Weinberger,  Über  periphere  Verengerung  der  Pulmonalarterien 
und  die  klinischen  Zeichen  derselben.  Wiener  klin.  Wochenschr.  1903 
Nn  42  und  Nachtrag  Nr.  44. 

Weiß,  Zur  Diagnose  der  langsamen  Verstopfung  der  Lungen- 
arterie.   Ztschr.  f.  klin.  Medizin  1907,  LXII,  S.  481. 

Klin.  Vortrage,  N.  F.  Nr.  501/07.    (Innere  Medizin  Nr.  149/52)    Okt.  1906.  31 

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442  Adolf  Posselt,  [82 

Das  andere  Extrem  stellt  die  Erweiterung  bis  zur  wirklichen 
Aneurysmabildung  dar,  wobei  bezüglich  der  klinischen  Diagnose 
letzterer  hingewiesen  sei  u.  a.  auf:  Skoda  (1864),  Gilewski  (Wiener 
mediz.  Wochenschr.  1868),  Buchwald  (Deutsche  mediz.  Wochenschr. 
1878),  Storch  (L-Diss.  Breslau  1899),  Lissauer  (Virchows  Arcli. 
1905,  CLXXX)  und  vor  allem  auf  Henschen  (Das  Aneurysma  arteriae 
pulmonalis.  Volkmanns  Sammlung  klin.  Vortr.  1906.  Inn.  Mediz. 
Nr.  126/127). 

Aufs  äußerste  kompliziert  können  die  Verhältnisse  durch  die  ver- 
schiedenartigsten Kombinationen  beider  werden. 

Bei  sehr  eingehender  und  durch  große  Zeiträume  hindurch  mög- 
licher Untersuchung  dürfte  sich  die  klinische  Diagnose  auch  hinsicht- 
lich der  Kaliberverhältnisse  weiter  ausbauen  lassen,  wenigstens  in 
bezug  auf  extremes  Verhalten  nach  beiden  Richtungen  hin,  in  ganz 
besonders  günstigen  Fällen  vielleicht  sogar  auf  verschiedene  Kombi- 
nationen solcher  Verhältnisse. 


Unter  den  klinischen  Erscheinungen  verdienen  Lungenblu- 
tungen, die  oft  abundant  sein  und  sich  über  geraume  Zeit  hinziehen 
können,  unser  vollstes  Augenmerk. 

Bekanntlich  spielt  die  «h^moptysie  cardiaque'  in  den  Mit- 
teilungen französischer  Autoren  in  der  Herzpathologie  eine  große 
Rolle. 

Als  Ursache  kommen  vor  allem  in  Betracht  Embolie  der  Arteria 
pulmonalis,  venöse  Stauung,  insbesondere  in  Verbindung  mit  Degene- 
ration der  Geßß wände,  wobei  der  erhöhte  Druck  zu  Dilatation,  ka- 
pillärer Aneurysmen-  und  Varizenbildung,  Dehiszenzen  der  alteriertea 
Gefäßschichten  und  zu  Berstungen  und  Blutungen  führt. 

Als  zugrunde  liegende  Herzaffektionen  dominieren  weitaus  Mitral- 
fehler und  hier  wiederum  am  häufigsten  Stenosen. 

Unter  72  Fällen  von  »hemoptysie  cardiaque"^  Dorgeins  (Th&se  de 
Bordeaux  1894/95)  wurde  27  mal  Mitralstenose,  16 mal  Mitralinsuffizienz, 
lOmal  Kombination  beider  gefunden.  Ausnahmsweise  erklärt  erPul- 
monalsklerose  als  Ursache  von  Hämoptoe  (Fälle  von  Lancereaux 
und  Cruveilhier). 

In  dieser  Fassung  ist  der  Satz  sicherlich  nicht  zutreffend.  Die 
Seltenheit  bei  der  Lungenarteriensklerose  ist  nur  so  aufzufassen,  dafi 
diese  gegenüber  den  übrigen  Störungen  in  der  Frequenz  in  den 
Hintergrund  tritt. 

An  und  für  sich  ist  aber  gerade  die  Pulmonalsklerose  durch  öftere 
Hämoptoe  ausgezeichnet. 


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83]  ^^^  klinische  Diagnose  der  Pulihonalarteriensklerose.  443 

Um  einige  Beobachtungen  aus  der  Literatur  herauszugreifen,  seien 
u.  a,  erwähnt  solche  von  Klinger  (1855),  Bristowe  (1860),  Marti- 
neau  (1861),  Deroye  (1870),  Rosapelly  (1872),  Saun6  (1872),  Yeo 
(1873),  Voisin  (1874),  Kirchner  (1883),  Rattone  (1885),  Wilbou-- 
schewitch  (1891),  Bryant  (1001),  McPhedran  u.  Mackenzie  (1903), 
Bosc  (1904),  Schwartz  (1907). 

Einige  Male  waren  mehr  oder  weniger  auch  launisch  ausgesprochene 
hämorrhagische  Infarzierungen  die  Ursache  (z.  B.  bei  Deroye,  Saune, 
Rosapelly).  —  Im  Falle  Schwartz^)  standen  die  Lungenblutungen 
weitaus  im  Vordergrunde  aller  klinischen  Erscheinungen.  Für  den 
Kliniker  gewinnen  das  höchste  Interesse  jene  Fälle,  bei  denen  ein 
primäres  Herzleiden  und  die  Zeichen  eines  Lungeninfarktes  nicht  nach- 
weisbar sind.  Daß  hier  die  Annahme  einer  Tuberkulose  der  Lunge 
mit  Hämoptoe  sehr  naheliegt,  ist  ohne  weiteres  begreiflich. 

s.  Bosc,  Endocardite  pulmonaire  aigue  avec  r6trec.  ayant  simul6  la 
tuberc.  pulm.    Bull.  Soc.  de  p6diat.    Paris  1904,  VI,  p.  299. 

Auch  im  Falle  Schwartz  wurde  der  Kranke  bei  der  Aufnahme  der 
Tuberkulosenstation  zugewiesen. 

Im  Gegensatz  zu  Schwartz,  der  in  der  Literatur  keine  einwandsfreien  Fllle 
von  Lungenblutung  infolge  Ruptur  der  Pulmonalis  finden  konnte  und  angibt,  daß 
unter  den  von  ihm  erwähnten  Umstlnden  von  abnormer  Zerreißlichkeit  der  Gefiß- 
wand  keine  Rede  sein  kann,  möchte  ich  auf  einige  Literaturangaben  hinweisen,  die 
diese  seltene  Möglichkeit  dartun  und  auch  Eigenbeobachtungen  hierfür  erbringen. 

FQr  eine  leichtere  Zerreißlichkeit  spricht  schon  die  Angabe  Tiedemanns,  daß 
man  an  mehreren  Stellen  membranöse  Schichten  ablösen  konnte,  wobei  sich  speziell 
leicht  die  innere  Haut  des  Gefäßes  stückweise  ablösen  ließ. 

Nach  Bamberger  (Lehrbuch.  1857)  hat  der  Prozeß  häufig  Gefäßrupturen  und 
infolgedessen  hämorrhagische  Infarkte  zur  Folge. 

Endarteriitis  und  Atherom  kann  Rattone  (I.e.)  zufolge  auch  primär  zu  Lungen- 
hämorrhagien  führen. 

Bei  V.  Jürgensen  (Herzklappenfehler.  Nothnagels  Spez.  Path.  1903,  XV, 
S.  83—86)  fand  ich  eine  Notiz,  die  die  abnorme  Lädierbarkeit  und  Zerreißlichkeit 
des  Gefäßes  unter  solchen  Umständen  bekundet. 

Beobachtung  II:  Hochgradige  Muskelschwäche  des  Herzens,  welche  die  An- 
wesenheit einer  Mitralinsuffizienz  und  der  Stenose  des  Ostium  venosum 
sinistrum  nicht  erkennen  ließ.    Geringe  Stenose  des  Ostium  venös,  dext. 

Hydrops  fehlt  trotz  schwerer  Erscheinungen  von  Herzschwäche  vollkommen. 

Tod  durch  Verschluß  der  linken  Carotis  cerebralis.  58j.  Frau.  3Vj  Jahre 
klinische  Beobachtung. 

Bei  der  Sektion  fand  sich  zudem  die  Pulmonalarterie  in  ihrer  Wand  verdickt, 
ebenso  ihre  Verzweigungen  in  der  Lunge,  deren  Intima  an  vielen  Stellen  verfettet, 
brüchig  erscheint  und  in  großen  Fetzen  leicht  abziehbar  ist. 

1)  Schwartz,  Über  einen  Fall  von  abundanter  Lungenblutung  bei  Mitralstenose 
und  hochgradiger  Sklerose  der  Arteria  pulmonalis.  Münchener  med.  Wochenschr. 
1907,  Nr.  13. 

31» 


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444  Adolf  Posselc,  [84 

Wenn  auch  hier  nicht  in  die  näheren  pathologisch-anatomisclien 
und  histologischen  Verhältnisse  eingegangen  werden  kann,  so  erlangt 
doch  der  Rupturbefund  an  der  Pulmonalarterie  in  unserem  Falle  IV 
wegen  der  ungewöhnlichen  Seltenheit  solchen  Vorkommnisses  erhöhtes 
Interesse.  Es  zeigte  sich  bei  dieser  45jährigen  Frau  bei  der  Nekropsie 
Stenose  und  Insuffizienz  der  Mitralis,  adhäsive  Perikarditis,  Pleuritis, 
hochgradige  Sklerose  und  Erweiterung  der  Pulmonalarterien,  besonders 
der  rechten,  und  eine  ganz  beträchtliche,  in  die  Breite  und 
Tiefe  weitreichende  Ruptur  dieser  letzteren  in  unvollstän- 
diger Abheilung. 

Unser  Fall  VIII  kann  als  Beispiel  dafür  dienen,  daß  es  trotz  aller- 
höchstgradiger  hämorrhagischer  Infarzierung  deriLunge  klinisch  durcti- 
aus  nicht  zu  Hämoptoe  zu  kommen  braucht. 

Andererseits  möchte  ich  auch  vom  klinisch-diagnostischen  Stand- 
punkt aus  hervorheben,  daß  des  öfteren  recht  langdauernde  Lungen- 
hämorrhagien  ohne  jeglichen  Infarktcharakter  (weder  in  den  klinischen 
Symptomen,  noch  im  objektiven  physikalischen  Befund)  in  Erscheinung 
traten,  welche  bis  zu  einem  gewissen  Grade  sogar  einen  bedingten 
diagnostischen  Wert  beanspruchen  können. 

Aus  meiner  Praxis  ist  mir  ein  Fall  erinnerlich,  der  eine  Frau  anfangs  der  40er 
Jahre  betraf,  welche  an  eigentQmlichem  periodischen  Bluthusten  litt  und  desbtlb 
bei  den  Angehörigen  auch  als  phthisisch  galt.  Vollkommen  negativer  physikalischer 
Befund,  trotz  sorgfältigster  Sputum  Untersuchungen  niemals  Bazillen.  Mäßige  Hyper- 
trophie des  rechten  Ventrikels,  leichte  Zyanose,  Atmen  vollkommen  frei.  Andeumng 
neurotischer  Symptome.  Von  ihr  und  den  Angehörigen  wird  die  bestimmteste  An* 
gäbe  gemacht,  daß  sich  die  Lungenblutungen  häufig  zur  Zeit  der  Periode  einstellen, 
diese  jedoch  dann  immer  ausbliebe. 

Tuberkulose  war  auszuschließen,  ebenso  Hämophilie.  loh  faßte  den  Fall  so 
auf,  daß  ich  eine  besonders  leichte  Vulnerabilität  der  Lungengefäße  annahm  (mög- 
licherweise durch  endarteriitisch-degenerative  Prozesse  bedingt)  und  ihn  nach  allem 
in  das  hypothetische  und  wohl  sehr  fragliche  Gebiet  der  vikariierenden  Menstrutl- 
blutungen  einreihte. 

Wenn  nach  obigem  in  außerordentlich  seltenen  Fällen  eine  abnorme 
Zerreißlichkeit  der  Gefaßwände  vorkommen  kann,  so  stellt  doch  dieser 
Modus  ein  verschwindend  kleines  Kontingent  der  Fälle  von  Lungen- 
blutungen. Die  Hauptursache  für  diese  liegt  in  den  Kapillaren  der 
Stauungslunge. 

Mit  einer  gewissen  Reserve  möchte  ich  nach  allem  das  Verhalten 
bezüglich  der  Lungenblutungen  derart  resümieren,  daß  bei  ausge- 
sprochener Mitralstenose  oder  Erkrankungsfallen,  die  teils  an  diese, 
teils  an  kongenitale  Vitia  cordis  erinnern,  länger  dauernde  und  öfters 
sich  wiederholende  Lungenblutungen  ohne  Infarktcharakter  den  Ver- 
dacht auf  Endarteriitis  (Sklerose)  der  Pulmonalis  erwecken  können. 


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85]  Die  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  445 

Wenn  auch  von  keiner  ausschlaggebenden  Bedeutung,  so  doch 
immerhin  bemerkenswert  und  differential-diagnostisch  nicht  ganz  wert- 
los erscheint  mir  der  Mangel  von  kolbigen  Auftreibungen  der 
Endphalangen^  Trommelscfal egelfingern i). 

Wie  Rfihle  (1877)  hervorhebt,  gehören  die  stärksten  Grade  der 
Trommelschlegelfinger  (kolbige  Auftreibung  der  dritten  Phalanx, 
Krümmung  des  Nagels)  besonders  jenen  angeborenen  Herzfehlern  an, 
welche  mit  erheblicher  Zyanose  verbunden  sind. 

Speziell  im  Hinblick  auf  letztere  Tatsache  erlangt  das  Fehlen  dieser 
Bildung  bei  der  Atherosclerosis  pulmonalis  trotz  höchstentwickelter 
Zyanose  eine  gewisse  differential-diagnostische  Dignität. 

Laache  (1890)  und  Kidd  (1004)  heben  bei  ihren  Beobachtungen 
ausdrücklich  den  Mangel  dieses  Symptomes  hervor. 

Es  wird  wohl  des  öfteren  der  au^älligen,  oft  tiefdunkelblauen  bis 
blauschwarzen  Verfärbung  der  Endphalangen,  auch  der  Fingernägel 
gedacht,  aber  ausdrückliche  Hervorhebung  obigen  klinischen  Befundes 
traf  ich  nicht  an.  Nachdem  die  Trommelschlegelfingerbildung  eine  so 
ungemein  auffällige  und  stets  gewürdigte  klinische  Erscheinung  dar- 
stellt, hätten  die  Beschreiber  sicherlich  ihrer  gedächt.  Auch  in  unseren 
Fällen  bestand  zwar  mehrfach  allerstärkste  dunkelblaue  Färbung  der 
Endphalangen,  speziell  der  Nägel,  zu  einer  kolbigen  Auftreibung  der- 
selben  kam  es  jedoch  nie.  ^ 

Allerdings  gibt  es  eine  nicht  unbedeutende  Literatur  über  Fehlen  von  Zyanose 
und  Trommelschlegelfinger  bei  angeborenen  Vitia  cordls,  selbst  bei  sehr  erheblichen 
Entwickiungsstörungen  (worüber  Vierordt,  Nothnagels  Spez.  Path.  eingehender 
berichtet).    Auch  wir  verfügen  über  eine  hier  einschlägige  Beobachtung: 

Bei  einem  25jlhrigen  Mi^nne  E.  G.  konnte  i^h  folgende  klinische  Diagnose 
stellen  (auszugsweise) :  Vitium  cordis  congenit.  Stenosis  ostii  pulmonalis. 
Hypertrophia  ventriculi  dextri.  Defectus  septi  ventriculorum.  Anae- 
mia,  Cyanosis.    In-sufficienta  cordis. 

Die  Obduktion  bestfltigt  die  klinische  Diagnose  2).  Der  auf  das  Herz  bezügliche 
Befund  lautete: 

Defekt  im  vorderen  (membranösen)  Septum  der  Herzventrikel  mit  teilweiser 
ringförmiger  Verengerung  des  Konus  der  Pulmonalis. 

Insuffizienz  der  Klappen  der  Pulmonalarterie  bei  ausgebreiteter  verruköser 
Endokarditis  dieser,  sowie  der  Aortenklappen  und  des  oberhalb  der  Verengerung 
sehr  erweiterten  Konus  der  Pulmonalis. 


1)  In  letzterer  Zeit  fand  das  Thema  eine  übersichtliche  Darstellung  von  E.  Eb- 
stein (Zur  klinischen  Geschichte  und  Bedeutung  der  Trommelschlegelflnger. 
Deutsches  Arcb.  f.  kiin.  Med.  1907,  Bd.  89,  S.  67),  in  welcher  er  schließlich  dem 
Ausspruch  NTests:  „Clubbing  is  one  of  those  phenomena  with  which  we  are  all 
so  familiär  that  we.appear  to  know  more  about  it  than  we  really  do*'  vollkommen 
beipflichtet. 

2)  8.  Pommer,  Bericht  über  2  FSlte  von  Pulmonalstenose.  Wiener  klin. 
Wochenschr.  1904,  Nr.  27,  S.  762. 


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446  Adolf  Pösselt,  [gft 

Offenes  Foramen  ovale.  Enge  der  Aorta  im  Isthmüs^ebiete,  exzentrische  Herz- 
bypiertrophie. 

Der  Fall  ist  dadurch  ausgezeichnet,  daß  er  zu  den  vorwiegend  mit  Anämie  ver- 
gesellschafteten gehört  (die  Zyanose  trat  lange  Zeit  in  den  Hindergrund),  und  daß 
keine  Spur  einer  Trommelscblegelfingerbildung  statthatte  (s.  Vierordt,  I.e.,  S.89). 

Unter  den  klinischen  Symptomen  der  Pulmonalarteriensklerose 
nimmt  die  zumeist  ganz  besonders  hochgradige  Zyanose  in  ihrem 
eigenartigen  Verhalten  als  Frfihsymptom  eine  dominierende  Stellung 
ein. 

Bis  zu  einem  gewissen  Grade  ist  wohl  ein  bläuliches  Kolorit  be- 
dingt durch  die  primären  Ursachen  oder  indirekte  Prozesse:  Mitral- 
fehler, vor  allem  Stenosen  (violettbläuliche  Facies  mitralls),  Perlkard- 
verwachsungen, Pleuraadhäsionen  u.  dgl. 

Die  Blausucht  findet  sich  aber  auch  in  hohem  Maße  entwickelt  bei 
der  reinen,  genuinen  Sklerose  des  Gefäßes. 

Als  diagnostisch  zu  verwertendes  Moment  kommt  ihr  jedoch  nicht 
so  sehr  die  zumeist  ganz  ungewöhnliche  Intensität  als  der  Umstand 
zu,  daß  sie  schon  zu  einer  Zeit,  wo  die  anderen  Erscheinungen  venig 
ausgebildet  sind,  im  Vordergrund  des  klinischen  Bildes  steht  und  mit 
dem  sonstigen  BeiPund  (am  Herzen,  Lunge,  Allgemeinsymptome)  und 
dem  verhältnismäßig  guten  Kompensationszustand  nicht  recht  in  Ein- 
klang zu  bringen  ist.  Es  drückt  sich  dies  in  der  oft  lange  Zeit  per- 
sistierenden, höchst  auffallenden  Differenz  aus  zwischen  der 
enormen  Biausucht  und  dem  Fehlen  von  anderweitigen  Stau- 
ungen, Ödemen,  Dyspnoe  oder  nur  sehr  schwachen  und  zeitlich 
späten  Ausbildung  letzterer. 

Es  verlohnt  sich,  diesen  Verhältnissen  etwas  ausführlicher  an  der 
Hand  der  Literatur  und  unserer  Eigenbeobachtungen  nachzugehen. 

Allgemein  gehaltene  Andeutungen  lassen  sich  schon  aus  zerstreuten 
Bemerkungen  der  älteren  Literatur  herauslesen. 

Kr ey sing  (Die  Krankheiten  des  Herzens.  Berlin  1816.  T.  II,  Abt.  2, 
S.  824)  schließt  bei  der  Unterscheidung  der  Blausucht  aus  angeborenen 
Fehlern  des  Herzens  von  der  aus  Fehlern  der  Lunge  herrührenden 
(im  Hinblick  auf  einen  Fall  von  Green,  Philosoph,  transact.,  no.  454, 
IV.,  welcher  in  der  Leiche  einer  SOjährigen  Frau  das  eirunde  Loch 
sehr  weit  offen  fand,  dabei  selbe  jedoch  im  Leben  nicht  blausfichtig 
gewesen),  „daß  zu  diesem  Bildungsfehler  noch  andere  Be- 
dingungen hinzukommen  müssen,  wenn  Blausucht  entstehen 
solle;  und  in  der  Tat  scheinen  diese  nach  den  vorhandenen  Fällen 
teils  in  einer  krankhaften  Veränderung  der  Lungenarterie, 
teils  in  anderen  organischen  Metamorphosen  des  Herzens  zu  be- 
stehen." 


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37]  I)ie  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  447 

Durch  ganz  bedeutende  zyanotische  Verfärbung  zeichneten  sich 
u.  a.  aus  die  Fälle  von  Broca,  Klinger  (1855),  de  Buman  (1858), 
Lancereaux  (1861),  Klob  (1865),  Tommasi  Crudeli  (1868),  Rosa- 
pelly  (1872),  Voisin  (1874),  Sainton  (1875),  Saune  (1877),  Bryant 
(1901),  RoliestOQ  (1002). 

In  den  krankengeschichtlichen  Notizen  bei  Kidd  (1604)  wird  aller- 
dings anfanglich  nur  eine  leichte  Zyanose  erwähnt;  daß  der  Fall  jedoch 
für  einen  angeborenen  Herzfehler  gehalten  wurde,  deutet  darauf  hin, 
daß  dieses  Symptom  im  weiteren  Verlaufe  doch  erheblicher  hervor- 
getreten sein  mußte. 

Hohe  Grade  erreichte  sie  bei  der  Kranken  Boinets  und  Poesys 
(1906).    Dasselbe  traf  für  beide  Fälle  Mönckebergs  (1907)  zu- 

Auch  der  fettsüchtige  Potator  Kitamuras  (1908)  zeigte  starke 
Zyanose,  wenigstens  dem  Sektionsbefunde  nach. 

Romberg  (Deutsch.  Arch.  f.  klin.  Mediz.  1891,  Bd.  48,  S.  197) 
führt  unter  den  klinischen  Eigentümlichkeiten  bei  den  Allgemein- 
erscheinungen das  völlige  Fehlen  von  Ödemen  bei  der  außer- 
ordentlich hochgradigen  Zyanose  als  besonders  merkwürdig  an. 

Diese  hochgradige  Zyanose  läßt  sich  nach  ihm  nicht  mit  Sicher- 
heit erklären» 

Nachdem  wir  bei  verschiedenen  Gelegenheiten  auf  seinen  Erklärungs- 
versuch zurückkommen  müssen,  möge  derselbe  im  folgenden  dargelegt 
werden: 

Die  Mehrzahl  der  feineren  Verzweigungen  der  Pulmonalis  war  verengt,  wie  die 
Verkleinerung  des  Lungenvenenkalibers  beweist 9.  Die  abnormen,  dadurch  gesetzten 
Widerstände  wurden  aber  dennoch  fast  vollständig  überwunden.  «Das  stärker 
arbeitende  und  kräftiger  sich  kontrahierende  Herz  treibt*'  —  um  mit  den  Worten 
Cohnheimszu  reden  —  „durch  die  verkleinerte  Blutbahn  ebensoviel  Blut  und 
überwindet  .  .  .  sich  entgegenstellende  Widerstände  so  vollständig,  daß  ...  die 
normale  Menge  Blut  in  der  Zeiteinheit  die  Lunge  passiert.**  Es  ist  klar,  daß  dann 
die  Stromgeschwindigkeit  sich  entsprechend  der  Verengerung  der  Lungengefäße 
steigern  wird.  Die  Zeit,  während  welcher  das  Blut  mit  den  Alveolarepithelien  in 
Berührung  ist,  wird  eine  gegen  die  Norm  verkürzte  sein.  Die  Oxydation  des  Hämo- 
globins, die  Abgabe  der  Kohlensäure  wird  eine  mangelhaftere  und  das  Blut  wird 
mehr  oder  minder  venös  in  die  Lungenvenen  gelangen.**  Für  diese  seine  Hypothese, 
daß  die  Strombeschleunigung  ausreicht,  um  die  ungenügende  Lüftung 
des  Blutes  zu  erklären,  führt  Romberg  auch  die  Ansicht  Bohrs  ins  Feld,  der 
zufolge  die  Lüftung  des  Blutes  nicht  ausschließlich  auf  der  Diffusion  der  Gase 
beruhe,  sondern  durch  „eine  Art  von  Sekretionsprozeß,  analog  den  Auscheidungs- 
prozessen  in  den  Drüsen**  vor  sich  gehe.  Indem  nun  Romberg  diese  Verhält- 
nisse, wie  sie  z.  B.  an  den  Speicheldrüsen  bestehen,  auf  die  Lunge  überträgt,  sagt 
er:  Nehmen  wir  die  normalen  Stromverhältnisse  als  die  besten  für  einen  hin- 
reichenden Gaswechsel  an,  so  folgt  daraus  für  unsern  Fall  eine  schwere  Schädigung 
desselben;  denn  das  sezernierende  Lungenparenchym  erhielt  zwar  annähernd  die 

1)  Vgl.  oben  S.  436. 


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448  Adolf  Possele,  [8g 

jaormale  M^nge  Blut,  aber  ea  war  in  jedem  Ausenblick^mit  einer  wesentlicb  kleineren 
Blutmenge  als  unter  normalen  Verbältnisaen  in  Berfibrung. 

Bei  diesem  Erkiflrungsversucb  für  die  hochgradige  Zyanose  glaubt  Romberg 
die  von  Cohnheim  angezogene  Verdickung  der  Kapillarwandungen  umgehen  zu 
können. 

Nach  Aust  (MQnchener  medizin.  NTochenschr.  1802,  S.  680)  ist  die  Ätiologie 
seines  Falles  von  primärer  Sklerose  der  Pulmonalis  in  völliges  Dunkel  gehüllt 
Als  schädigende  Momente  kämen  in  Betracht:  das  langandauemde  angestrengte 
Einatmen  heißer  Dämpfe  >)  und  die  Obliteration  der  einen  Pleurahöhle. 

„Das  am  stärksten  hervortretende  Symptom  der  Erkrankung  bildete 
die  allmählich  bis  zu  enormer  Hochgradigkeit  zunehmende  Zyanose 
und  Dyspnoe  bei  völligem  Mangel  von  Ödemen,  ein  Verhalten,  das  bei  dem 
relativ  jugendlichen  Alter  des  Patienten  ^^unächst  die  Annahme  eines  kongenitalen 
Herzdefektes  mit  abnormer  Mischung  von  venösem  mit  arteriellem  Blute  wohl 
rechtfertigte.*' 

Neusse r  (Über  Zyanose.  Wiener  klin.  Tochenschr.  1893,  Nr.  32,  S.  501^  be- 
richtet in  aller  Kürze  über  den  Prozeß  wie  folgt:  „Bei  Sklerose  der  Lungenarterie, 
auch  ohne  aneurysmatische  Erweiterung  derselben,  bestand  in  den  von  Kl  ob  and 
Ro mberg  veröifentiichten  Fällen  intra  vitam  hochgradige  Zyanose  mit  Hypertrophie 
des  rechten  Ventrikels,  systolischen  Geräuschen  an  der  Herzspitze,  akzentuiertem 
2.  Pulmonalton  und  kleinen,  weichen  Radialpulsen.  Das  Merkwürdige  dieser 
Pälle  liegt  in  der  außerordentlich  hochgradigen  Zyanose  bei  völligem 
Fehlen  von  ödem  bis  zum  Tode.* 

Laache  (Norsk.  Magaz.  f.  Laegevid.  1899,  Nr.  1)  betont  ausdrücklieb,  daß  die 
Kranke  ganz  das  Bild  des  Morbus  caeruleus  bot. 

Er  geht  die  in  der  Literatur  mitgeteilten  Fälle  von  Arteriosklerose  der  Pulmo- 
nalis durch  und  findet  bei  den  meisten  keine  auffallende  Zyanose  erwähnt.  Nur 
der  von  Rom  borg  gleiche  dem  mitgeteilten  klinisch  ganz  auffallend. 

Nach  Laache  fehlt  für  den  Grad  der  Zyanose  noch  eine  ausrei- 
chende Erklärung. 

Durch  Stauung  allein  ist  sie  nicht  bedingt,  zumal  ja  in  seinem  Falle  gar  keine 
Stenose,  sondern  nur  Erweiterung  vorlag.  Auch  er  weist  auf  die  Möglichkeit  hin, 
daß  die  Theorie  Bohrs  richtig  sei,  nach  der  die  Respiration  nicht  eine  Dilfusion, 
sondern  eine  Sekretion  darstelle,  so  daß  es  sich  in  diesen  Fällen  um  eine  Behinde- 
rung der  Ausscheidung  der  CO|  handle. 

Die  hochgradige  Zyanose  in  seinen  beiden  Fällen  ist  Mönckeberg  (Deutsche 
mediz.  Vochenschr.  1907,  Nr.  31,  S.  1243)  geneigt,  mit  Romberg  auf  die  mangel- 
hafte Sauerstoffaufnahme  des  Blutes  in  den  Lungen  infolge  der  erhöhten  Strom- 
geschwindigkeit zurückzuführen. 


1)  Bezüglich  des  obigen  schädlichen  Momentes  möchte  ich  daran  erinnern,  daß 
nach  Fran^ois-Franck  (Trav.  du  labor.  doMarey  IV.  188a  379)  beim  Einblasen 
stark  reizender  Gase  in  die  Lunge  eine  Blutdrucksenkung  resultiert  Dabei  ist  noch 
die  schädigende  Wirkung  hoher  Temperaturen  mit  zu  berücksichtigen.  Ungewöhn- 
lich starke  und  sehr  wechselnde  thermische  Einflüsse  beschuldigt  Öhler  (Deutsches 
Arch.  f.  klin.  Med.  1908,  Bd.  92)  als  ätiologisches  Moment  für  das  Entstehen  von 
Dyskinesia  intermittens  brachiorum  (s.  u.). 

2)  Vollkommen  gleichlautend  spricht  sich  Neusser  in  neuester  Zeit  aus  (Aus- 
gewählte Kapitel  der  klinischen  Symptomat.  und  Diagnostik.  3.  Heft.  Dyspnoe  und 
Zyanose.    Braumüller  1907.    S.  157). 


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89]  I)ie  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  440 

Schwartz  vergleicht  das  Krankheitsbild,  welches  bei  Pulmonalsklerose  su* 
Stande  kommen  kann,  mit  dem  Morbus  caeruleus. 

Wenn  auch  Kitamura  (1.  c.)  bei  seinem  Kranken,  einem  33 j.  Kellner,  der 
täglich  30  Glas  Bier  und  reichliche  Mengen  von  Wein  und  Schnaps  trank,  keine 
näheren  klinischen  Symptome  angab  (der  Mahn  wurde  mit  den  Zeichen  hochgradiger 
Herzschwiche  in  das  Krankenhaus  eingeliefert,  wo  er  kurz  darauf  starb),  so  ver- 
dienen doch  zwei  Sektionsbefunde  besonders  hervorgehoben  zu  werden,  da  sie 
einen  Rückschluß  auf  die  im  Leben  bestandenen  Verhlltnisse  gestatten:  die  starke 
Zyanose  des  Gesichtes  und  das  Fehlen  jeglicher  Ödeme. 

Falls  Bohrs  (Ober  die  Gasspannungen  im  lebenden  arteriellen 
Blute.  Zentralbl.  f.  Physiologie  1887,  1.  Okt.,  Nr.  14,  S.  293)  Ansichten, 
die  er  auch  wiederholt  in  späteren  Publikationen  erläuterte  und  auf 
die  sich  Romberg  und  Laache  berufen,  zu  Recht  bestehen,  würde 
dadurch  allerdings  eine  Reihe  von  hier  vorhandenen  Symptomen, 
namentlich  die  beträchtliche  Zyanose  bei  geringer .  Dyspnoe  befrie- 
digend erklärt  werden  können. 

Barcroft  (Zur  Lehre  vom  Blutgaswechsel  in  den  verschiedenen 
Organen.  Ergebnisse  der  Physiol.  1908,  VII,  S.  720)  wendet,  als  die 
ernsteste  Kritik  von  Bohrs  und  Henriques  Resultaten,  ein,  daß  sie 
den  Stoffwechsel  der  Lunge  selbst  ignorieren.  Die  Lunge  ist  nicht  ^y^ 
nur  eine  sekretorische  Drüse,  sondern  auch  eine  tätige  solche.  Die 
Energie,  dank  welcher  sie  den  Sauerstoff  von  einem  Ort  niedrigerer 
Spannung  zu  einem  Ort  mit  höherer  Spannung  befördert,  muß  auf 
Kosten  des  Gasstoffwechsels  des  Lungengewebes  geschehen. 

Als  ungünstiger  Faktor  bei  der  supponierten  Strombeschleunigung 
stellt  sich  die  Rauhigkeit  der  Gefäßintima  der  Pulmonalis  und  deren 
Elastizitätsverringerung  dar,  was  eine  um  so  mehr  erhöhte  Inanspruch- 
nahme des  rechten  Ventrikels  involviert. 

Als  weiterer  Umstand  wäre  in  Betracht  zu  ziehen,  daß  die  be- 
fallenen Individuen  recht  oft  in  jugendlichem  und  mittlerem  Alter  und 
beiläufig  zur  Hälfte  weiblichen  Geschlechtes  waren  ^). 

Dies  glaubte  ich  deswegen  hervorheben  zu  sollen,  weil  ja  bekanntlich 
der  Dicke  der  Haut  und  der  Blutschichte  ein  wesentlicher  Anteil 
an  der  bläulichen  Färbung  zugeschrieben  wird. 

Diese  Annahme  findet  sich  zuerst  in  ausführlicher  Welse  begründet 
von  Peacock,  Gases  of  malformation  of  the  heart.  London,  R.  Barrett, 
1864. 

Derselbe,  On  malformations  of  the  human  heart  etc.  Churchill, 
1858,  IL  Ed.  1866. 

In  diesen  Arbeiten  wird  das  Thema  in  extenso  besprochen.  Das 
Ergebnis  fand  auch  Aufnahme  bei  Füller  (Krankheiten  des  Herzens 

1)  Unseren  Untersuchungen  zufolge  gestaltete  sich  das  Verhiltnis 

M  :  W  =  27  :  25. 


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450  Adolf  Posselt,  [90 

und  der  groOen  GefaOe,  übersetzt  von  Schultzen.  Berlin  1864. 
XL  Kap.,  S.  185). 

Eingehende  Würdigung  erfuhr  der  Gegenstand  durch  Vierordt 
(Ober  Zyanose.  Verh.  des  Kongr.  f.  inn.  Mediz.  XVIII,  1900,  S.  307). 
Nach  ihm  wird  die  blaue  Farbe  der  Haut  u.  a.  bestimmt  durch  die 
Dicke  der  Blutschichte  und  der  überlagernden  Hautschichte,  welch 
beide  Faktoren  wieder  in  verschiedenem  Maße  zur  Gesamtwirkung 
beitragen  können. 

S.  auch  Vierordt,  Angeb.  Herzkrankh.,  S.  29. 

Wiederholt  findet  sich  in  der  Literatur  und  bei  unseren  Fällen 
Ausdehnung  der  kleinsten  Hautgefäßchen  und  Oberfällung  derselben 
verzeichnet. 

Wir  müssen  uns  hier  mit  dem  bloßen  Hinweis  auf  verschiedene 
andere  Momente,  die  einen  Einfluß  für  das  Auftreten  und  den  Grad 
der  Zyanose  erlangen  können,  begnügen: 

Vermehrung  der  roten  Blutkörperchen^)  in  der  Volumseinheit, 
stärkere  Konzentrierung  und  Eindickung  des  Blutes. 

Literatur  u.  a.  bei  Grawitz  (Klin.  Pathologie  des  Blutes,  S.  609). 

In  zwei  Fällen  unserer  Eigenbeobachtungen  von  zyanotischen  Mitral- 
stenotikern  mit  Pulmonalsklerose  bestanden  ebenfalls  derartige  Ver- 
hältnisse (s.  Krankengeschichten). 

Es  bestehen  zweifellos  vielerlei  Analogien  mit  der  Blausucht  bei 
angeborenen  Herzfehlern.    Vgl.  Neuss  er  (1.  c,  Kap.  Dyspnoe). 

Hub  er  (Charit6-Annalen  1905,  XXIX,  S.  18)  führt  die  Ursache  der  Blausucht 
bei  angeborenen  Herzfehlern  auf  eine  Reihe  von  Ursachen  zurück:  Vermtschnns 
des  arteriellen  und  venösen  Blutes  und  Vermehrung  des  Hftmoglobingehaltes  und 
der  roten  Blutkörperchen  bei  ungefähr  normalem,  absolutem  Sauerstoffgehalt  Dazu 
kommt  noch  die  Stauung  des  dickflüssigen  Blutes,  die  die  kleinen  Gefäße  erweitert 
und  so  die  dunkle  Farbe  mehr  hervortreten  läßt. 

Nach  Buhl  (Beitrag  zur  pathologischen  Anatomie  der  Herzkrankheiten.  Zeitschr. 
f.  Biologie  1880,  Bd.  XVI,  S.  215)  gebühre  bei  kongenitalen  Herzfehlern,  wenigstens 
für  das  Ostium  pulmonale  und  das  übrige  rechte  Herz,  der  mehr  oder  minder  spät 
auftretenden,  aber  immer  mehr  zunehmenden,  nicht  entzündlichen  Endarteriitis 
obliterans  oder  auch  frischen  endokarditischen  Prozesses  ein  wesentlicher  Anteil 
bei  der  Spätzyanose. 

Bei  den  Mitralfehlern,  daher  auch  bei  der  Stenose,  ist  die  Zyanose 
im  Grunde  genommen  eine  Respirationszyanose. 

Die  eigenartige,  periodische  Steigerung^  und  die  direkten  Anfalle 

1)  Vereinzelt  steht  die  Annahme  Kitamuras  da  (s.  o.).  Derselbe  plädiert  für 
eine  echte  Plethora,  eine  absolute  Vermehrung  der  Blutmenge,  bei  reichlichem 
Biergenuß  als  Ursache  für  die  Pulmonalsklerose  mit  Herzhypertrophie,  wobei  sich 
die  Erschwerung  der  Zirkulation  besonders  im  Lungenkreislauf  geltend  gemacht 
habe. 

2)  Natürlich   sind    hiebei   Schwächezustände'  des  rechten  Ventrikels  nicht  ge- 


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91]  Die  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  45  t 

machen  es  durch  die  Art  und  Weise  des  Eintretens  und  der  BegleiN 
erscheinungen  bei  vorliegender  AffekLtion  sehr  wahrscheinlich,  daß 
dabei  reflektorische  vasomotorische  Einflüsse  vorhanden  sein  müssen. 
Hierfür  sprechen  das  Bestehen  von  SchweiOausbrüchen,  Frösteln, 
Parästhesien,  lokale  Ausdehnung  feinster  Hautgefäßchen.  Zweimal 
kam  es  sogar  zur  Bildung  von  pemphigusartigen  Zuständen. 

Es  hat  förmlich  den  Anschein,  daß  diese  periodischen  Steigerungen 
der  Zyanbse  bis  zu  einem  gewissen  Grad  als  regulatorische  Hilfs- 
aktion zur  zweckmäßigen  Blutverteilung  zum  Teile  eine  kompensierende 
Bedeutung  für  die  Entlastung  des  Lungenkreislaufs  zuzuerkennen  sei  ^). 

Das  krisenhafte  Auftreten  auf  gewisse  äußere  Veranlassungen,  psy- 
chische Reize  hin  und  das  Gebundensein  an  die  Schmerzattacken  legt 
den  Gedanken  an  einen  reflektorischen  Charakter  sehr  nahe. 

Um  Wiederholungen  zu  vermeiden,  muß  darauf  verwiesen  werden, 
daß  manches  von  dem  bisherigen  Besprochenen  und  das  Nächstfolgende 
auch  für  die  Dyspragia  (s.  u.)  Geltung  hat. 

Wenn  auch  außerordentlich  spärlich,  liegen  doch  immerhin  Angaben 
vor,  welche  die  Möglichkeit  des  Auftretens  von  Zyanose  durch 
Vasomotoreneinfluß  unter  gewissen  Umständen  dartun. 

Tordöus  (De  la  cyanose.  Journ.  de  m6dec.  chir.  et  pharm.  Bruxeües  1889, 
LXXXVIII,  p.  38.  Derselbe,  Un  cas  de  cyanose  n6vropatbique.  Ibid.  1890,  XC, 
p.  545)  bringt  eine  Reihe  von  vorübergehenden,  neuropathischen  Zyanosefällen,  u.  a. 
bei  einem  7 monatlichen  Kind  wihrend  des  Zahnausbruches. 

Marseilte  gedenkt  einer  Beobachtung  Biards,  nach  der  eine  Frau  während 
menstrueller  Störungen  Zyanose  bekam. 

Bibliographie  bei  Gran  eher  (Cyanose.  Dict.  encycl.  des  scienc.  m6d.  1883. 
I.  S.    XXIV.    p.  501). 

Auch  an  das  Auftreten  lokaler  Zyanose  (u.  a.  Passow)  sei  erinnert. 

Rosenbach  (Ein  FaU  vop  halbseitiger,  im  Anschluß  an  starke  Körperbewegungen 
auftretender  Zyanose  des  Gesichts.  Ztrbl.  f.  Nervenheilk.  1886,  S.  231)  sah  bei 
einem  Qjihrigen  Knaben  nach  Körperbewegungen  die  ganze  rechte  Gesichtshllfte, 
inkl.  Ohren  exquisit  blau  gefärbt  erscheinen  (Temperaturerhöhung).  Die  linke  war 
auffallend  blaß  und  kühl,  bei  körperlicher  Ruhe  bekamen  beide  Hälften  wieder 


meint,  solche  wurden  sich  wohl  im  klinischen  Gehaben  kenntlich  machen.  Eben- 
sowenig bezieht  sich  das  obige  auf  enorme  Steigerungen  bis  zu  allerintensivsten 
Gradea  durch  dazutretende  Pulmonalthrombosen. 

1)  Das  Gebiet  der  Regulierungsvorgänge  durch  Vasomotorenwirkung  infolge 
von  Reflexvorgängen  ist  noch  dunkel.  Nach  Fran^ois-Franck  (Arch.  de  Physiol. 
1896,  p.  193)  können  außer  pressorischen  Reflexen  auf  den  großen  Kreislauf  auch 
solche  auf  den  kleinen  ausgelöst  werden.  Die  dadurch  bedingte  Abnahme  des 
Blutzuflusses  zum  linken  Herzen  soll  regulatorisch  den  gesteigerten  Blutdruck  im 
großen  Kreislauf  herabsetzen.  Nach  Krehl  ist  es  sehr  wohl  möglich,  daß  die 
außerordentliche  Ausbildung  der  Hautgefäße  am  Menschen  denselben  einen  ganz 
anderen  Einfluß  auf  den  allgemeinen  Blutdruck  zuwendet,  als  das  am  Tiere  der 
Fall  ist. 


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452  Adolf  Posselt,  [92 

gleiches  Aussehen.  Bei  fortgesetzter  Bewegung  ging  die  blaue  Färbung  In  eine 
blaurote  über  (die  Seite  wird  glühend  heiß  und  endlich  bricht  Schweiß  aus)^  Keine 
Sympathikus-  oder  Herzanomalien  nachweisbar.  Nach  Rosen b ach  ist  die  ver- 
änderte Blutzirkulation  das  Primäre,  die  Schweißsekretion  das  -Sekundäre.  Er 
vermutet  eher  das  Ausbleiben  des  Schweißes  auf  der  anderen  Seite  als  das  Patho- 
logische. Die  Ursache  erblickt  er  in  einer  lokalen  Relaxation  der  Gefäßwände  auf 
einer  individuellen  Disposition,  nicht  auf  Lähmung  oder  Reizung  von  Vasomotoren 
beruhend. 

Ein  allgemeingültiges  Verhalten  bezüglich  der  Dyspnoe  festzu* 
stellen  geht  nicht  an,  da  sich  je  dieselbe  nach  den  ursprünglichen 
Affektionen,  dem  jeweiligen  Zustand  des  Herzens»  den  m^lichen 
sonstigen  Komplikationen  richtet. 

Am  auffälligsten  war  der  wiederholt  erhobene  Befund  ganz  beträcht- 
licher Differenz  zwischen  den  geringen  Graden  derselben, 
auch  anderer  Stauungserscheinungen  und  der  ungemein  inten- 
siven Zyanose. 

Weiterhin,  daß  die  Schweratmigkeit  gar  nicht  selten  lange  Zeit 
fehlte,  sich  nur  bei  Körperanstrengungen  einstellte  und,  wie  aus  man- 
chen krankengeschichtlichen  Notizen  ersichtlich,  mitunter  Vorliebe  für 
krisenhaftes,  anfallsweises  Auftreten  zeigte» 

In  Übereinstimmung  mit  dem  gewöhnlichen  Befund  bei  den  ursprung- 
lichen Störungen  zeigte  sich  bei  unseren  Fällen  überhaupt  nur  eine 
leichte  Neigung  zu  Verlängerung  der  Inspiration  ^). 

Die  Paroxysmen,  wie  sie  während  der  Dyspragia  intermittens  pul- 
monalis  statthatten,  stellten  sozusagen  nur  eine  exzessive  Steigerung 
der  Inspirationsphasen,  die  enorm  vertieft  und  verlängert  wurden,  dar. 

An  dyspnoischen  Mitralstenotikern  zeigte  Kraus^  daß  sich  kein  vorwiegend  in- 
oder  exspiratorischer  Charakter  oder  Zeichen  erschwerten  EinstrOmens  der  Luft 
in  die  Lungen  bemerklich  machten.  Es  handelte  sich  nur  um  eine  einfache  Be- 
schleunigung und  Vertiefung  der  Respiration  (Hyperpnöe). 

'  Bei  kardialem  Asthma  macht  sich  eine  Neigung  zur  Verflachung  der  Kurven 
bemerkbar;  bei  dieser  verflachten  Atmung  ist  der  inspiratorische  Schenkel  durch 
seinen  Abfall^  den  geringen  Winkel,  den  er  mit  der  Abszisse  bildet,  und  seine 
geringe  Höhendimension  charakterisiert.  Die  Respirationspause  ist  kaum  angedeutet. 
Die  Frequenz  wechselt  sehr. 

Die  geschilderten  Anfälle  bei  Atherosclerosis  pulmonalis  unter- 
scheiden sich  demnach  ebenso  vom  gewöhnlichen  Asthma  cardiale  als 
dem  bei  Koronarsklerose  auftretenden  (s.  Hofbauer,  Semiologie  und 
Differentialdiagnostik  der  verschiedenen  Arten  von  Kurzatmigkeit  auf 
Grund  der  Atemkurve.    G.  Fischer,  Jena  1904). 

So  wie  bei  allen  übrigen  Erscheinungen  und  Symptomenkomplexes 


1)  Eine  solche  findet  sich  unter  den  Herzkrankheiten   spezieU  beim  Asthma 
cardiale,  der  Perikarditis  und  bestimmten  Klappenfehlern  unter  gewissen  Umsrindea. 


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93]  I^ie  klinische  Diagnose  der  Pnlmonalarteriensklerose.  453 

kommt  es  ganz  besonders  auch  bei  der  Form  der  Dyspnoe  darauf  an, 
wie  lange  und  oft  man  einen  derartigen  Kranken  beobachten 
konnte  und  vor  allem,  in  weichem  Stadium  man  ihn  kennen 
lernte.  In  den  Endstadien  verwischen  sich  die  markanten  Erschei- 
nungen und  es  steht  im  Mittelpunkt  aller  die  schwerste  Herzinsuffi- 
zienz mit  allen  ihren  Konsequenzen. 

An  dieser  Stelle  möchte  ich  auch  in  Kürze  darauf  hinweisen,  daß 
die  difFerenten  Ansichten  über  das  Verhältnis  des  Prozesses  zum 
Lungenemphysem ^)  sich  vielleicht  in  der  Weise  zurechtlegen  ließen, 
daß  es  zwar  als  unterstützendes  Moment  in  manchen  Fällen,  ähnlich 
wie  Pleura-  und  Perikardaffektionen  (vorzüglich  ausgedehnte  Adhä- 
sionen), wirken  kann,  daß  aber  allen  diesen  Alterationen  sicherlich  kein 
entscheidender  Einfluß  zusteht,  wenn  man  bedenkt,  wie  enorm  häufig 
Lungenemphysem  gerade  auch  mit  den  genannten  Störungen  vergesell- 
schaftet ist,  ohne  daß  man  auch  nur  leise  Ansätze  zu  solchen  Gefäß- 
veränderungen nachweisen  könnte. 

Früher  stellte  man  sich  die  Beeinträchtigung  der  Atmung  infolge 
Druckerhöhung  in  den  Lungengefäßen  so  vor,  daß  die  stark  gefüllten, 
unter  hohem  Druck  stehenden  Lungenkapillaren  sich  in  das  Lumen 
der  Alveolarräume  vorbuchten. 

Die  von  Basch  experimentell  konstatierte  »Lungenstarrheif" 
bei  Stromhindernissen  in  den  Lungengefäßen  stimmt  mit  manchen 
klinischen  und  pathologisch-anatomischen  Erfahrungen  nicht  überein. 

An  den  einfachen  Stauungslungen  des  Menschen  zeigt  sich  weder 
Schwellung  noch  Starrheit  3). 

In  jüngster  Zeit  hat  H.  E.  Hering  nachgewiesen,  daß  beim  ruhig 
liegenden,  spontan  atmenden  Tier  (Kaninchen)  nach  relativer  Insuffi- 
zienz des  linken  Herzens  (Kompression  des  freigelegten  Arcus  aortae 
ohne  Thoraxeröffnung)  erhebliche  Lungenhyperämie  ohne  ob- 
jektiv wahrnehmbare  Dyspnoe  vorhanden  sein  kann. 


1)  Saun6  macht  auf  das  häufige  Zusammentreffen  mit  Lungenemphysem  auf- 
merksam (7mal  unter  12  FSllen),  dem  Laache  beistimmen  möchte,  während  Rune- 
berg (II.  Nordischer  Kongreß  fiir  Innere  Medizin.  Christiania,  Aug.  1898)  im  Ge- 
genteil bemerkt,  daß  bei  Lungensklerose  und  Emphysem  trotz  des  hohen  Druckes 
Sklerose  der  Lungenarterien  selten  ist. 

2)  Gegen  die  Versuche  Baschs  und  seiner  SchQler  macht  Gerhardt  (Arch. 
f.  exp.  Path.  1001,  Bd.  25)  den  Einwand,  daß  sie  zumeist  mit  außerordentlich  großen 
Druckschwankungen  arbeiten,  wie  sie  in  der  menschlichen  Pathologie  kaum  vor- 
kommen. Daß  die  Blutstauung  zu  einer  Erweiterung  der  Alveolen  und  Vergrößerung 
des  Lungenluftraums  führe,  gibt  er  zu,  dieselbe  sei  jedoch  so  gering,  daß  sie  eine 
für  die  LungenlQftung  kaum  in  Betracht  kommende  Größe  darstelle.  Die  dadurch 
erzeugte  Starrheit  ist  dabei  zu  unbedeutend,  um  eine  merkliche  Erschwerung  des 
Luftzutrittes  zu  verursachen. 


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454  Adolf  Posselt,  [94 

Die  GefSßstauung  in  der  Lunge  scheint  mithin  auf  die  Atmung 
nicht  so  sehr  eine  unmittelbare  als  eine  mittelbare  Einwirkung  zu  haben. 
Infolge  der  schlechteren  Ernährung  der  spezifischen  Gewebselemente 
(an  der  Bronchialschleimhaut  und  den  Alveolareplthelien)  sinkt  die 
Widerstandsfähigkeit  gegenüber  mannigfachen  Reizen  und  Schädlich- 
keiten, speziell  gegen  Infektionserreger  (sekundäre  Bronchitis  usw.). 

Unter  Zugrundelegung  des  TIgerstedtschen  Schemas  ist  bei  der  natürlichen 
Atmung  bei  der  Inspiration  die  Ansaugung  des  Blutes  nach  dem  rechten  Herzeo 
zunehmend,  die  Diastole  erleichtert,  die  Weite  der  Lungengefäße  zunehmend,  die 
Strömung  des  Blutes  in  den  Lungengefäßen  erleichtert  (Blutzufuhr  nach  dem  linken 
Herzen,  erst  Abnahme,  dann  Zunahme).  Die  Gefäße  des  großen  Kreislaufs  wer- 
den weiter. 

Die  aktive  Inspirationsstellung  durch  Anstemmen  der  Arme  und  langsames 
tiefes  Einatmen,  wie  es  im  Anfalle  bestand,  hat  demnach  einen  kompensatorischen 
Charakter  gegen  den  supponierten  Spasmus  der  Lungengefäße  i).  Infolge  dieser 
Stellung  sollte  dem  entgegengewirkt  werden,  was  in  erster  Linie  dadurch  erzielt 
wird,  daß  sich  durch  die  Inspiration  die  Lungengefäße  erweitern  und  sich  stärker 
mit  Blut  füllen,  die  Strömungsgeschwindigkeit  in  ihnen  zunimmt. 

Der  Blutdruck  in  der  Arteria  pulmonalis  ist  abhängig  von  der  durch  die  rechte 
Herzkammer  ausgeworfenen  Blutmenge  und  von  dem  Widerstand  in  der  Ge< 
fäßbahn. 

Die  zur  Verfügung  stehende  Blutmenge  wird  bedingt  durch  die  aus  dem  Veoen- 
system  dem  Herzen  zuströmende,  die  ihrerseits  auf  den  Vorgängen  im  Aortensysteoi 
beruht,  zum  Teil  aber  auch  auf  den  bei  den  verschiedenen  Respirationsphasen  wech- 
selnden Zuflußmengen  zu  der  Brusthöhle. 

Wie  verhält  es  sich  nun  aber  mit  dem  Druck  in  der  Pulmonalarterfe  während 
der  Inspiration? 

In  der  Norm  findet  während  dieser  Phase  eine  Ansaugung  in  den  intratho- 
rakalen  Venen  statt. 

Man  würde  nun  erwarten,  daß  durch  die  vermehrte  Blutzufuhr  während  der 
Inspiration  der  Druck  in  der  Lungenarterie  steigen  müsse.  Tatsächlich  sinkt  aber 
unter  normalen  Verhältnissen,  wie  zuerst  Talma  am  Hunde,  Tigerstedt  am 
Kaninchen  nachwies,  der  Druck  während  dieser  Phase  im  rechten  Ventrikel,  um 
während  der  Exspiration  zu  steigen.  »Die  Erklärung  liegt  darin,  daß  der  erniedrigte 
intrathorakale  Druck  auch  auf  den  Inhalt  des  relativ  schwachwandigen  rechten 
Ventrikels  wirkt  und  so  ein  Herabgehen  des  in  ihm  herrschenden  Druckes  bewirkt 

Aber  auch  dieses  für  die  Norm  geltende  minimale  Sinken  des  Blutdruckes 
kommt  für  unsere  pathologischen  Befunde  nicht  in  Betracht.  Da  ja  doch  der 
rechte  Ventrikel  ungemein  hypertrophisch,  in  seiner  Wand  (ähnlich  dem  linken) 
mächtig  verdickt  ist,  wodurch  obiges  Moment  wegfällt. 

Es  kommt  demnach,  allem  obigen  zufolge,  die  Inspiration  dem  Lungenkreislauf 
zugute;  Rubow  (Untersuchungen  über  die  Atmung  bei  Herzkrankheiten.  Ein  Bei- 
trag zum  Studium  der  Pathologie  des  kleinen  Kreislaufes.  Deutsches  Arch.  f.  klin. 
Mediz.  1908,  Bd.  02,  S.  255)  drückt  ebenfalls  die  Vermutung  aus,  daß  eine  tiefe 
Respiration  mit  verlängertem  Inspirationstadium  die  für  die  Lungen- 
zirkulation günstigste  Respirationsart  sein  dürfte. 

1)  s.  Dyspragia  Intermittens  pulmonalis  (Angina  hypercyanotica). 


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95]  Die  klinische  Diagnose  der  Palmonalarterlensklerose.  455 

Wiederholt  wurde  festgestellt,  daß  bei  vielen  Leuten  wihrend  der  Inspiration 
eine  Beschleunigung  der  Pulsfrequenz  eintritt. 

Sicherlich  ist  die  Lungenblähung  und  das  Emphysem  in  manchen 
Fällen  eine  direkte  Folge  der  Pulmonalatherose^  wobei  ich  bei  längerer 
Beobachtungszeit  an  den  klinischen  Kranken  den  Eindruck  gewann, 
daß  nach  der  Art  und  Weise  des  Atmens,  dem  Aufstemmen,  die  sich 
ausbildende  Lungenblähung  als  .sekundärer  Zustand,  ja  mitunter  als 
eine  Art  Kompensationseinrichtung  gelten  kann. 

In  dieser  Hinsicht  hat  die  Theorie  Bohrs^),  dem  sich  Rubow 
(Ober  die  Atmung  bei  Herzkrankheiten.  Klinische  Untersuchungen 
aus  dem  Kgl.  Frederiks  Hospital,  Nordisk  Forlag,  Kopenhagen  1907) 
anschließt,  sehr  viel  Bestechendes,  nach  der  die  Dyspnoe  lediglich 
auf  der  Anstrengung  beruht,  die  Lungen  stark  ausgedehnt  zu  erhalten, 
wodurch  die  Lungenkapillaren  gestreckt  und  deshalb  leichter  passabel 
werden,  mithin  auch  durch  Verringerung  des  Widerstandes  im  Lun- 
genkreislauf die  Arbeit  für  das  Herz  erleichtert  werde. 

In  der  Tat  dürfte  dies  bei  kaum  einer  anderen  Störung  mehr  zu- 
treffen und  seine  Berechtigung  haben  wie  bei  der  Atherosclerosis 
pulmonalis,  wenigstens  unseren  Erfahrungen  zufolge. 

In  den  vorgeschritteneren  Stadien  muß  zur  Erzielung  dieser  kom- 
pensatorischen Blähung  um  so  größere  Anstrengung  und  Kraft  auf- 
gebracht werden,  als  doch  der  Wegfall  oder  zum  mindestens  der 
hochgradige  Verlust  der  Gefäßelastizität  und  die  eintretende  Starre 
der  kleineren  und  kleinsten  Gefäße  in  die  Wagschale  fällt. 

Es  ist  wohl  zweifellos,  daß  die  Affektion  jahrelang  latent  bleiben 
kann,  was  auch  schon  Saune  (1877)  hervorhebt.  Nach  ihm  läßt  die 
Wiederkehr  von  Dyspnöeanfällen,  welche  sich  namentlich  erst  in  einer 
vorgerückten  Periode  der  Krankheit  zeigen,  kein  besonderes  Zeichen 
bei  der  Auskultation  erkennen. 

Dies  erkläre  sich  aus  der  Möglichkeit  des  Einströmens  der  Luft 
und  daß  die  teilweise  Asphyxie  nur  dem  Mangel  an  Blut  zuzuschrei- 
ben ist. 

Romberg  (1.  c.  S.  206)  führt  die  Dyspnoe  auf  den  Sauerstoff- 
mangel des  Blutes  zurück.  »Dieselbe  war  im  Vergleich  zu  der 
enormen  Zyanose  recht  unbedeutend.^^) 

1)  Bohr  (Die  funktionellen  Änderungen  in  der  Mittellage  und  Vitalkapazität 
der  Lungen.  Ztschr.  f.  klin.  Med.  Jan.  1907,  Bd.  88)  betrachtet  das  akute  Lungen- 
emphysem nicht  als  eine  Schädigung  der  Lunge,  sondern  als  einen  kompensato- 
rischen, zweckmäßigen  Vorgang,  das  chronische  nicht  als  primären  Verlust  der 
Lungenelastizität,  sondern  als  zweckmäßige  Anpassung  an  die  Verödung  der 
Longenoberfläche. 

2)  Ihre  Geringfügigkeit   möchte   er  vielleicht  —  von    der   absoluten  Ruhe   des 


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456  Adolf  PoBselt,  [90 

Das  Ausbleiben  des  Dyspnoe  selbst  bei  gesteigerter  Muskelarbeit 
bei  hochgradiger  Zyanose,  wie  es  bei  »angeborenen  Herzfehlern'  (was 
hier  Für  die  prinzipielle  Frage  nicht  releviert)  möglich  ist,  sucht 
Neusse r  (Dyspnoe  und  Zyanose.  1907.  S.  89)  dadurch  zu  erklären, 
daß  für  die  SauerstofFversorgung  der  Gewebe,  bzw.  den  SauerstoiF- 
verbrauch  andere  regulatorische  Kräfte  aufkommen:  Änderung  der 
Strömungsgeschwindigkeit  des  Blutes  durch  kompensatorische  Herz- 
hypertrophie, Vermehrung  des  respirationsfahigen  Hämoglobins,  Poly- 
zythämie, vermehrte  Konzentration  des  Blutes  durch  Austritt  von 
Plasma.  Außerdem  dürfte  nach  ihm  aber  auch  durch  Angewöhnung 
das  Sauerstoifbedürfnis  des  Organismus  herabgesetzt  werden  und  das 
Atmungszentrum  seine  Erregbarkeit  gegen  die  erhöhte  VenositSt  des 
Blutes  einbüßen. 

Für  die  verhältnismäßige  Geringfügigkeit  der  Atembeschwerden 
spricht  wohl  auch  der  häufig  in  den  Krankengeschichten  der  Litera- 
tur und  unserer  Eigenbeobachtungen  wiederkehrende  Befund,  daß  die 
Kranken  noch  jahrelang  arbeitsfähig  waren,  allerdings  zumeist  nur 
für  leichtere  Verrichtungen;  außerdem  verdient  daran  erinnert  zu 
werden,  daß  bei  verschiedenen  Patienten,  z.  B.  zwei  unserer  Kasuistik, 
durch  die  längste  Zeit  periodische  Störungen  medikamentös  wieder 
leicht  zu  beheben  waren. 

Die  von  Neuss  er  herangezogenen  Momente  finden  nach  jeder 
Hinsicht  ihre  Bestätigung^  speziell  in  unserer  Kasuistik.  In  ganz  be- 
sonderem Maße  imponierte  ja  die  ungewöhnlich  starke  Hypertrophie 
des  rechten  Ventrikels  als  Ausdruck  der  Organkorrelation;  in  den 
darauf  untersuchten  Fällen  ergaben  sich  ziemlich  hohe  Hämoglobin- 
werte, einige  Male  war  eine  ausgesprochene  Polyzythämie  nach- 
weisbar. 

Als  wichtige  Erklärungsgründe  erscheinen  mir  die  langsame  An- 
wöhnung  an  das  verminderte  SauerstofFbedürfnis,  wofür  wir  ja  so 
zahlreiche  Analogien  besitzen,  ferner  die  Untererregbarkeit  des  At- 
mungszentrums. 

Sicherlich  darf  auch  nach  unseren  Erfahrungen  dem  langen 
Ausbleiben  stärkerer  sekundärer  Bronchitis  eine  nicht  zu  unter- 
schätzende Rolle  zugeschrieben  werden. 

Dieser  günstige  Faktor  muß  vor  allem  der  guten  Kompensation 
durch  die  mächtige  hypertrophische  rechte  Herzkammer  zugeschrieben 
werden.    Es  hat  aber  nebstbei  förmlich  den  Anschein,  als  wenn  unter 


Kranken  abgesehen  —  auf  die  außerordentlich  langsame  Zunahme  des  Saae^sto^^ 
mangels  bis  zu  dem  Grade,  in  welchem  er  den  Kranken  kennen  lernte,  zuriirt- 
führen. 


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97]  I^ic  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose:  457 

besonderen  Umständen  die  Pulmonalsklerose  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  als  kompensierende  Komponente  dyspnoischer  Störungen  hier- 
bei auftreten  könne. 

Alles  in  allen  genommen  scheinen  doch  die  Umstände,  welche  zu 
dieser  auffälligen  Differenz  zwischen  schwerer  Zyanose  und 
verhältnfsmäßig  geringen  Atemstörungen  führen,  einer  Er- 
klärung zugänglich  zu  sein. 


Diezugleich  mit  Steigerung  der  Zyanose  anfallsweise  auftretenden, 
mit  Unruhe,  Angst  und  Beklemmung  einhergehenden  Herz-Lungen- 
schmerzen  (von  der  Herzbasis  in  die  Tiefe  der  Lunge  strahlend) 
erinnern  uns  in  ihrem  ganzen  Charakter  und  der  Art  und  Weise  des 
Auftretens  unwillkürlich  an  mehrere  andere  fast  analoge,  ebenfalls  auf 
arteriosklerotischer  Basis  beruhenden  Krankheitserscheinungen  und 
fordern  zu  einem  Vergleich  auf  mit  dem  sog.  »intermittierenden 
Hinken"*,  der  Claudication  intermittente  Charcots,  der  Dys- 
basia  angiosclerotica  Erbs  bei  Arteriosklerose  der  Extremitäten- 
arterien ^),  oder  der  mit  Anfällen  von  Schmerzen  in  der  Nabelgegend, 
starkem  Spannungsgefühl,  Meteorismus  und  Obstipation  einhergehen- 
den »Dyspragia  intermittens  angiosclerotica  intestinalis'' 
Ortners 2)  bei  Intestinalarteriensklerose,  welche  beide  Symptomen- 
komplexe wiederum  in  Analogie  mit  der  Angina  pectoris  gebracht 
werden. 

Nach  allem,  was  ich  sah,  dürften  sich  diese  krisenartigen  Zu- 
stände bei  Arteriosclerosis  pulmonalis  ebenfalls  in  das  Ge- 
biet dieser  intermittierenden  Dyspragien  einreihen  lassen, 
wobei  man  sich  stets  vor  Augen  halten  muß,  daß  die  Analyse  und 
Deutung  der  hier  auftretenden  Erscheinungen  wegen  der  noch  viel- 
fach ungeklärten  und  strittigen  physiologischen  und  pathologischen 
Vorgänge  ungleich  schwieriger  als  in  allen  übrigen  Regionen  sich 
gestaltet. 


1)  Auch  für  die  oberen  Extremitäten  wurde  ein  ähnlicher  Symptomenkomplex 
festgestellt.  Steuder,  Ein  Fall  von  Dyskinesia  intermittens  angiosclerotica  brachii. 
St.  Petersburger  med.  Wochenschr.  1907,  Nr.  4.  Oehler,  Ober  einen  bemerkens- 
werten Fall  von  Dyskinesia  intermittens  brachiorum.  Deutsches  Arch.  f.  klin.  Med. 
1908,  Bd.  92,  S.  154. 

2)  Ortner,  Zur  Klinik  der  Angiosklerose  der  Darmarterien  (Dyspragia  inter- 
mittens angiosclerotica  intestinalis)  nebst  einem  Beitrage  zur  Klinik  des  intermit- 
tierenden Hinkens  und  des  Stokes-Adamschen  Symptomenkomplexes.  Volk- 
manns Samml.  klin.  Vortr.  (Inn.  Med.)  1903,  Nr.  102. 

Klla.  Vorträge,  N.  F.  Nr.  504/07.    (Innere  Medizin  Nr.  149/52.)    Okt.  1908.  32 


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458  Adolf  Posselt,  [98 

Vielleicht  ließen  sich  diese  fast  krisenartigen  Anfälle  bezeichnen 
als  „Dyspragia  intermittens  angiosclerotica  pulmonalis"^. 

Eben  bei  Vergleich  der  hier  möglichen  klinischen  Symptomenkom- 
plexe: Angina  pectoris,  Asthma  cardiale  und  den  Huchardschen 
Aortenbeschwerden  wurde  ich  veranlaßt,  diesen  krisenhaften  Zufallen 
eine  gesonderte  Stellung  anzuweisen  und  ihre  Deutung  zu  versuchen. 

In  unseren  Fällen  war  auch  klinisch  zwischen  den  Zuständen  von 
(Herz-Lungengefäß-)Schmerz  und  Herz  angst  zu  unterscheiden. 
Wie  sich  letztere  ganz  besonders  bei  Aortenwurzelsklerose  und  den 
nächsten  Gefäßgebieten  finden  kann,  so  auch  hier  bei  der  Athero- 
sclerosis  pulmonalis,  wobei  auch  d^  gewissermaßen  der  krampfhafte 
Schmerz  auf  die  allernächsten  Gebiete  übergreifen  kann. 

Ein  Irradiieren  des  Schmerzes,  wie  bei  der  Stenokardie,  war  ent- 
schieden weniger  ausgeprägt,  wenigstens  nicht  in  so  weite  Gebiete. 

An  einem  sehr  reichen  klinischen  Beobachtungsmateriale  hatte  ich 
Gelegenheit  Stenokardieanfälle  aller  möglichen  Stadien,  Grade  und 
Abstufungen  genau  zu  verfolgen,  ebenso  Asthma  cardiale-Anfälle. 

Diese  beiden  Erscheinungskomplexe  sind  so  oft  und  eingehend 
besprochen  worden,  daß  hier  kein  Wort  zu  verlieren  ist. 

Mehrfach  werden  bei  Aortensklerosen  schmerzhafte  Sensationen, 
ein  gewisses  Unbehagen  am  oberen  Sternum,  ein  Druck  längs  des 
Sternums,  ein  Brennen  daselbst  angegeben,  die  Huchard  einer  Aor- 
titis zuschreiben  möchte  0* 

Die  in  Rede  stehenden  Attacken  zeigen  entschieden  ein  von  den 
genannten  Zuständen  dilFerentes  Verhalten  und  dokumentieren  sich 
in  anfallsweise  auftretendem,  mit  nervösen  Störungen,  Angst,  Unruhe, 
Schwäche,  Oppression  einhergehenden  Druck-  und  Schmerzgefühl  in 
der  Herzwurzelgegend  am  Manubrium  sterni,  vorzüglich  gegen  den 
linken  2.  und  3.  Interkostalraum  zu  (ein  stärkeres  seitliches  Ausstrahlen 
fehlt,  die  Schmerzen  werden  immer  in  die  Oberbrustgegend  und  in 
die  Tiefe  der  Lunge  zu  lokalisiert),  verbunden  mit  hochgradiger  Zya- 
nose, zu  der  das  verhältnismäßig  frei  Atmen  (fehlende  oder  nur  ganz 
unbedeutende  Dyspnoe)  in  auffälligem  Kontrast  steht.  Das  der  Steno- 
kardie eigene  Vernichtungsgefühl  fehlte. 


1)  Schon  Thoma  hat  auf  Schmerzen  bei  Arteriosklerose  aufmerksam  gemacht 
Stengel  (Nervous  manifestations  of  arteriosclerosis.  Amer.  journ.  of  the  med. 
scienc.  1906.  Febr.)  bringt  die  Arteriosklerose  mit  verschiedenen  peripheren,  ner- 
vösen Symptomen  in  Zusammenhang;  so  fuhrt  er  ebenfalls  plötzlich  auftretende 
Schmerzen  in  der  Brust  fast  ähnlich  wie  bei  Stenokardie,  zumeist  aber  mehr  diffus 
auf  Atheromatose  der  Aorta  thoracica  zurück. 


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99]  Die  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  459 

Diese  kardiopulmonäre  Angina  tritt  erst  bei  vollentwickelter  Krank* 
beit,  auf  dem  Höhepunkt  und  späterhin  in  Erscheinung,  was  auah  mit 
den  anatomischen  Veränderungen  in  Einklang  zu  bringen  wäre.  Die 
GefäOintima  wird  als  empfindungslos  angegeben,  es  ist  deshalb  auch 
naheliegend,  daß  diese  Beschwerden,  Schmerzen  und  sonstigen  Sym- 
ptome erst  den  späteren  Stadien  eigen  sind,  wenn  bereits  vorgeschrit- 
tenere und  in  die  Tiefe  greifende  Veränderungen  vorliegen* 

Die  Hauptregion  des  lokalen  spontanen  Schmerzes  war  das  Gebiet 
im  linken  Abschnitt  des  Manubrium  sterni  und  in  der  2.  und  3. 
Rippenknorpelgegend.  Mehrfach  bestand  auch  hier  besonders  bei 
tiefer  Perkussion  in  vorgebeugter  Haltung  Empfindlichkeit  bis  Druck- 
schmerz. Sehr  variabel  in  seiner  Stärke  und  Ausdehnung  war  der 
reflektierte  Schmerz  bei  Kneifen  der  Haut,  Nadelstichen  u.  dgl.,  mit- 
unter zeigte  er  eine  etwas  weitere  Area,  eine  stärkere  Ausbreitung 
wurde  jedoch  auch  hier  vermißt. 

Ich  möchte  hier  mit  Krehl  (1.  c.  p.  111)  zu  bedenken  geben,  ob 
es  sich  überhaupt  bei  Herzangst  und  Herzschmerzen  im  allgemeinen 
nicht  vielleicht  um  ganz  besondere  Störungen  handelt,  die  im  Zentral- 
nervensystem entstehen  und  vom  Herzen  ausgelöst  werden.  Dies 
würde  sogar  den  Vorstellungen  der  ältesten  Beobachter  am  meisten 
entsprechen. 

Diese  (sitveniaverbo)Lungenarterien-Schmerzanfälle  könnten 
.entweder  auf  Spasmen  der  kleinsten  Lungengefäße  oder  (wodurch  die 
Analogie  mit  der  Angina  pectoris  noch  mehr  gesteigert  würde)  auf 
solche  der  Vasa  vasorum,  in  diesem  Falle  der  Bronchialarterien  zu- 
rückzuführen sein,  wobei  die  Möglichkeit  besteht,  einerseits,  daß  die 
Schmerzen  durch  den  Krampf  in  diesen  selbst  entstehen  oder  daß 
dieselben  infolge  akuter  Ischämie  der  Pulmonarwandungen  ein- 
treten. 

Wir  müssen  Romberg  (Über  Arteriosklerose.  21.  Kongr.  f.  inn.Med. 
1904)  ganz  beipflichten,  wenn  er  auf  die  Paradoxheit  hinweist,  daß 
die  sklerotischen  Arterien,  welche  den  gewöhnlichen  Reizen  nicht 
mehr  in  normaler  Weise  zu  entsprechen  vermögen,  auf  krankhafte 
nervöse  Einflüsse  hin  mit  krampfartiger  Verengerung  oder  lähmungs- 
artiger  Erweiterung  reagieren. 

Die  sklerotische  Gefäßveränderung  allein  ist  nicht  imstande,  eine 
befriedigende  Erklärung  für  die  Zustände  der  Angina  pectoris,  inter- 
mittierenden Hinkens  usw.  zu  geben.  Als  funktionelles  Moment  wird 
die  Abhängigkeit  von  vasomotorischen  Nerveneinflüssen  angenommen 
(Erb,  Kaufmann  und  Pauli,  Goldflam,  Ortner,  Breuer). 

Nach  Muskelanstrengungen  und  ähnlichem  wird  die  Gefäßwand 
stärker  gespannt,  die  Gefäßnerven  reagieren  mit  einem  reflektorischen 

32» 


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460  Adolf  Posselt,  [100 

OefäOkrampf  1),  wodurch  ischämische  Muskel-  und  außerdem  Gefäß- 
sohmerzen entstehen,  auf  welche  besonders  Weber  und  Nothnagel 
das  Hauptgewicht  legen. 

Unter  allen  Gefäßregionen,  in  denen  sich  auf  sklerotischer  Basis 
beruhende  Dyspragien  ausbilden  können,  gestalten  sich  die  Verhält- 
nisse bei  der  Lungenschlagader,  dem  venöses  Blut  führenden  funktio- 
nellen Gefäß,  das  in  seinen  Wandungen  selbstverständlich  durch 
arterielles  Blut  der  Vasa  vasorum  ernährt  wird,  am  eigenartigsten. 
Gerade  letzteres  Moment  läßt  die  Vermutung  aufkommen,  daß  viel- 
leicht unter  gewissen  Umständen  Alterationen  im  Chemismus  eine 
Rolle  bei  dem  in  Rede  stehenden  Prozeß  wenigstens  indirekt  spielen 
können. 

Die  ältesten  Fälle  der  hier  einschlägigen  Kasuistik  sind  einer  kli- 
nische Analyse  kaum  zugänglich,  gleichwohl  finden  sich  hier  immer 
wieder  Schmerzen  in  der  Herzgegend^  die  verschieden  geschildert 
werden,  angegeben. 

Im  Falle  Stöller  glichen  selbe  vollständig  der  Angina  pectoris; 
nachdem  jedoch  kein  Befund  bezüglich  der  Koronargefäße  mitgeteilt 
wird,  ist  keine  Entscheidung  zu  treffen^). 

Huguiers  Kranke,  bei  der  sich  eine  vollkommene  Verknöcherung 
der  Pulmonalis  fand,  hatte  an  heftigen  Schmerzen  in  der  Herzgegend 
zu  leiden« 

Nach  der  Beschreibung  muß  Adlers  Fall  als  primärer  gelten»  Die 
Schmerzen  in  der  Brust  wurden  durch  die  finale  Thrombose  gesteigert. 

Martineaus  Kranke,  bei  der  nur  Oppression  angegeben  erscheint, 
zeigte  Stamm  und  beide  Äste  des  Gefäßes  frei,  nur  in  den  feinsten 
Ästen  Veränderungen.  Oppression  auf  der  Brust,  lange  vor  Ödemen 
hatte  der  kranke  Knabe  von  Conway  Evans. 

Heftige  Schmerzanfälle  in  der  Brust  bestanden  bei  den  Kranken 
Crookes  (Mitralstenose,  Aorta  frei  von  jeglichem  Atherom). 

Rombergs  Kranker  hatte  bei  Beginn  der  Erscheinungen  an  Druck 
in  der  Magengegend,  gegen  Ende  der  Krankheit  an  starken,  den  Atem 
versetzenden  Schmerzen  in  der  linken  Seite  des  Thorax,  unter  dem 
Rippenbogen,  zu  leiden,  für  die  kein  anatomisches  Substrat  gegeben 
erschien.  Ein  objektiver  Grund  für  dieselben  war  nicht  nachweisbar. 


1)  Oppenheim  (Intermittierendes  Hinken  und  neuropathischeDiatbese.  Deutsche 
Zeitschr.  f.  Nervenheilk.  Bd.  17)  ist  der  Hauptvertreter  der  Annahme  einer  auf 
nervöser  Grundlage  entstehenden  spastischen  Kontraktion  in  den  Arterien. 

2)  Bei  Durchsicht  der  krankengeschichtlichen  Aufzeichnungen  S töllers  hatte 
ich  entschieden  den  Eindruck,  daß  es  sich  um  Stenokardieanffllle  handelte.  (Ty- 
pische in  die  Arme  ausstrahlende  Schmerzen  vom  Sternum  ausgehend,  dabei  Blässe, 
Vernichtungsgefühl  usw.) 


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101]  Die  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  46I 

Die  Respirationsfrequenz  stieg  auf  das  Doppelte.  Der  Gesichtsaus- 
drucl^  wurde  ängstlicli. 

Ausdrückliclie  Anfälle  von  Präkordialangst  notiert  Aust  bei  seinem 
Kranken.  »Dyspnoe  und  Zyanose  mit  starken  Exazerbationen^  ist  ein 
weiterer  Befund. 

Laaches  allerdings  neuropathische  Frau  klagte  häufig  über  sehr 
starke  Beklemmungen. 

Das  21jährige  kranke  Mädchen  Kidds  litt  von  Kindheit  an  an 
»Herzkrämpfen*. 

Bei  Boinet  und  Poesy  findet  sich  angegeben:  Schweratmigkeit  mit 
Exazerbationen,  Beklemmungen,  nervöse  Anfälle  mit  Schwäche,  Auf* 
geregtheit  und  Krämpfen. 

Bevor  im  Falle  Schwartz  die  Lungenblutungen  auftraten,  stellten 
sich  plötzlich  heftige  Anfalle  von  Atemnot  mit  krampfartigen  Schmerzen 
in  der  Brust  ein. 

Weit  entfernt  behaupten  zu  wollen,  daß  sich  diese  Zustände  mit 
der  von  uns  aufgestellten  Dyspragia  intermittens  pulmonalis  decken, 
begnügen*  wir  >  uns  auf  das  paroxysmusartige  dieser  Beschwerden, 
speziell  von  Schmerzen  und  Oppression  in  der  Herzgegend  in  diesen 
krankengeschichtlichen  Notizen  hinzuweisen. 

Wir  konnten  uns  wiederholt  überzeugen,  daß  die  von  uns  oben 
geschilderten  Schmerzanfälle  vorzüglich  durch  körperliche  An- 
strengungen und  psychische  Affekte  provoziert  wurden.  Als  erstere 
muß  man  natürlich  hier  schon  geringfügige  Hantierungen,  rasche  Be- 
wegungen, Drehen,  Bücken  u.  dgl.  bezeichnen. 

Übrigens  sei  auch  an  dieser  Stelle  erinnert,  daß  gar  nicht  wenige 
Kranke  trotz  ihrer  Beschwerden  oft  noch  jahrelang  wenigstens  leich- 
terer Arbeit  nachgehen  konnten. 

Für  die  Beurteilung  dieser  Schmerzzustände  releviert  in  erster 
Linie  der  Umstand,  daß  wir  in  der  allerüberwiegendsten  Mehr* 
zahl  Mitralstenotiker  vor  uns  haben.  Nun  ist  es  eine  lange  be- 
kannte Tatsache,  daß  weitaus  am  häufigsten  Aortenfehlerkranke  (wegen 
Übergreifen  der  AfFektion  auf  die  Koronarien  und  die  Aorta  selbst) 
tatsächlich  an  Schmerzen  leiden,  während  Patienten  mit  Mitralfehlern 
von  solchen  vielmehr  verschont  bleiben. 

Nothnagel  (Schmerzhafte  Empfindungen  bei  Herzerkrankungen. 
Zeitschr,  f.  klin.  Med.  1891 ,  Bd.  19,  S.  209)  notierte  unter  483  Herz- 
Klappenfehlern  bei  22  Fällen  von  Mitralstenose  nur  in  18%  Herz- 
schmerzen, bei  82%  fehlten  selbe. 

Die  Tatsache,  daß  gerade  bei  Aortaklappenfehlern  die  schmerzhaften  Sensa- 
tionen so  sehr  viel  häufiger  sind  als  bei  andren  Klappenfehlern  drängt  zur  An- 
aahme, daß  veniger  der  Herzmuskel  als  vielmehr  das  Gefäß  hiebei  beteiligt  ist. 


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462  Adolf  Posselt»  [102 

Weitere  Mitteilungen  brachte  derselbe  Autor  über  GeAfischnierz  (Wiener  Uin. 
Wocbenschr.  1893,  Nr.  46  und  47).  In  der  Diskussion  (S.  854)  weist  Schrötter 
darauf  hin,  daß  nicht  allein  Angiospasmus  mit  Schmerz  vergesellschaftet  sei,  bei  der 
angioparalytischen  Form  der  Migräne  fände  sich  kein  geringerer  Schmerz.  Die  Ge- 
fäßschmerzen fanden  wiederholt  ihre  Interpretatoren  z.  B.  Laache  (Zur  Lehre  too 
den  Schmerzen,  sog.  vaskulären  Ursprunges),  Ortner  (1.  c.)  u.  a. 

Hare  (The  diagnosis  and  relief  of  cardial  paio.  Philadelphia 
polyclin.  1898^  no.  50)  gibt  eine  ausführliche  Darstellung  der  Schmerzen 
bei  Herzleiden. 

Nach  ihm  ist  ebenfalls  der  Schmerz  nur  äußerst  selten  bei 
Mitralstenose,  wobei  er  hervorhebt,  daß  diese  Störung  überhaupt 
nur  selten  und  nur  schwer  von  anderen  vielleicht  gleichzeitigen  Affek- 
tionen zu  scheiden  ist  und  weil  der  Schmerz  sich  meist  entwickelt  im 
vorgerückten  Stadium ,  wenn  die  Herzaktion  unregelmäßig  wird  und 
sich  verschiedene  andere  Erscheinungen  bemerkbar  machen.  Er  ver- 
mutet, daß  diese  mitunter  bei  Stenose  der  Mitralis  auftreten- 
den, der  Stenokardie  ähnlichen  Schmerzen  von  einer  be- 
sonders starken  Dilatation  des  Vorhofes  herrühren. 

Wenn  nun  einerseits  bei  Aortenfehlern  mit  Sklerose  und  Äthero- 
matose  des  Gefäßes  so  ungemein  häufig,  bei  Mitralstenose  so  selten 
Schmerzen,  speziell  Paroxysmen  auftreten,  so  müssen  wir  unwillkür- 
lich nach  dem  Grund  forschen ,  der  für  das  «Auftreten  bei  letzteren 
verantwortlich  zu  machen  ist  Derselbe  ist  meiner  Oberzeugung  nach 
in  erster  Linie  in  der  Atherosclerosis  pulmonalis  gelegen,  wofür 
ich  folgende  Momente  ins  Treffen  führe: 

1.  die  Analogie  mit  den  Aortenverhältnissen. 

2.  Falls  Hare  mit  der  Dilatation  des  Vorhofes  recht  hätte,  müßten 
ja  alle  halbwegs  stärkeren  Stenosefälle  Schmerzen  zeigen,  die  bei  den 
stärksten  Vorhofsdilatationen  am  heftigsten  auftreten  würden. 

Das  ist  aber,  wie  ich  mich  in  einer  größeren  Reihe  von  Eigenfällen, 
denen  der  Literatur,  speziell  auch  den  mit  Rekurrenslähmung  verge- 
sellschafteten, überzeugen  konnte,  durchaus  nicht  der  Fall. 

3.  Liegt  in  den  Angaben  Hares  über  Auftreten  erst  in  den  vor- 
gerückteren Stadien,  dem  stenokardieähnlichen  Charakter  und  wegen 
der  Beschuldigung  des  Vorhofes  jedenfalls  auch  von  ihm  konstatierten 
basalen  Lokalisation  eine  Bestätigung  unserer  Ansicht. 

4.  Wäre  ein  sehr  wichtiger  Beweis  das  Vorkommen  derartiger 
basaler  Schmerzen  mit  ihrem  charakteristischen  Gepräge  in  Fällen, 
die,  wie  wir  oben  dargelegt,  ihre  Entstehung  Pulmonalvenenverengun- 
gen  verdanken,  bei  denen  naturgemäß  die  Vorhofsausdehnung  vermißt 
wird. 

5.  Dürfte,  was  sehr  in  die  Wagschale  fällt,  der  obige  Prozentsatz 


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103]  I)Ie  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  463 

schmerzhafter  Mitralstenosen  mit  den  mit  Atherosklerose  der  Lungen- 
gefäße behafteten  im  großen  und  ganzen  übereinstimmen. 

In  Zukunft  müßte  demnach  ganz  besonders  dem  Zusammen- 
treffen von  Schmerzen,  obigen  auskultatorischen  Erschei- 
nungen und  der  Blausucht  Rechnung  getragen  werden. 

In  Zusammenfassung  des  Symptomenkomplexes  der  Dyspragia 
intermittens  angiosclerotica  pulmonalis  (oder  vom  rein  symp- 
tomatologischen  Standpunkt,  der  Hypercyanosis  intermittens 
angiosclerotica  pulmonalis  dolorosa  adyspnoica)  können  wir 
kurz  rekapitulierend  sagen:    . 

Es  handelt  sich  um  ein  ^urch  verschiedene  Momente  (rasche 
Körperbewegungen,  psychische  Emotionen,  Dyspesie  mit  Obstipation 
und  Meteorismus  und  ähnliches)  ausgelöstes  oder  begünstigtes  krisen- 
haftes Auftreten  von  Schmerzen  in  der  Gegend  der  Herzbasis  (gegen 
die  Tiefe  der  Lunge  zu  ausstrahlend),  mit  Aufregung,  Unruhe,  be- 
klemmendem Angstgefühl  einhergehend,  mit  denen  fast  stets  eine  be- 
trächliche  Steigerung  der  Zyanose  vergesellschaftet  Ist,  ohne  daß  es 
zu  besonderer  Atemnot  zu  kommen  braucht,  wobei  im  Gegenteil  zur 
intensiven  Blausucht  längere  Zeit  die  relativ  leichte  Atmung  auffällig 
kontrastiert. 

Die  Mannigfaltigkeit  der  für  die  ätiologischen  Verhältnisse  zu  be- 
schuldigenden Ursachen  und  die  sonstige  Variabilität  der  klinischen 
Erscheinungen,  beides  Folgen  der  so  zahlreich  möglichen  Kombina- 
tionen sonstiger  Störungen,  erschweren  naturgemäß  eine  allgemein- 
gültige zutreffende  Erklärung. 

Wenn  ich  dennoch  eine  solche  wage,  so  geschieht  es  mit  dem 
Bewußtsein,  in  dieser  durch  den  Zusammenfluß  so  verschiedenartiger 
Möglichkeiten  schwierigen  Materie,  die  von  Haus  aus  leider  noch 
allzuviel  des  Ungeklärten  enthält,  Theorien  aufzustellen,  die  durch 
weitere  klinische  Beobachtungen  und  Experimente  gestützt  werden 
müssen. 

In  diesen  vorzüglich  für'  den  Praktiker  und  die  klinische  Beobachtung  be- 
stimmten Umrissen  des  abzuhandelnden  Gegenstandes  muß  ich  mich  darauf  be- 
schränken, hinzuweisen,  daß  die  Forscher,  so  sehr  ihre  Ansichten  in  vielen  Punkten 
divergieren,  in  der  außerordentlichen  Schwierigkeit  gerade  dieser  Experimente  über- 
einstimmen. 

Und  eben  bei  diesen  sind,  wie  aus  unseren  klinischen  Besprechungen  unzwei- 
deutig zu  folgern,  eine  große  Reihe  einfacher  und  weiterhin  immer  komplizierterer 
experimenteller  Prüfungen  notwendig,  weil  eben  hier  allzuviel  zusammentrifft: 
Funktion  zweier  Organe,  deren  Wechselbeziehungen,  Ernährung,  Nerven beeinflussung 
und  Störungen  mannigfaltigster  Art. 

Die  Möglichl^eit  gleichzeitigen  Bestehens  verschiedener  Prozesse 
und  die  Mannigfaltlgl^eit  solcher  Kombinationen  verwischt  den  Typus 
der  einzelnen  Symptome  und  erschwert  deren  Analyse. 


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464  Adolf  Posselt,  [IO4 

So  bestanden  bei  Fall  I,  67 jähriger  Mann,  Alkoholist  mit  Leber* 
Zirrhose,  Arteriosklerose  und  Myodegeneratio  cordis  nach  seinen  und 
seiner  Angehörigen  Aussagen  angeblich  niemals  typische  Stenokardie- 
anfalle;  allerdings  war  es  schwer,  von  dem  Kranken  etwas  heraus* 
zubringen. 

Während  des  Spitalaufenthaltes  werden  ein  einziges  Mal  »rheu- 
matische"*  Schmerzen  im  linken  Arm  angegeben. 

Es  bestanden  drückende  Schmerzen  am  Brustbein,  Oppressions- 
gefühl.  Die  klinischen  Symptome  waren  derart,  daß  eine  rechte  Ein- 
reihung unmöglich  war;  bei  der  Nekropsie:  Hochgradige  Sklerose  der 
Brustaorta  und  Pulmonalis,  ganz  besonders  starke  Verkalkungen  der 
Koronarien  und  Einengungen  ihrer  Mündungen,  Myodegeneratio 
cordis. 

An  der  Mitralklappe  Verdickungen,  außerdem  Verkürzung  der 
Sehnenfäden. 

Vom  klinischen  Standpunkte  aus  müssen  wir  ein  ungewöhnlich 
langes  Latentbleiben  nach  beiden  Richtungen  hin  annehmen  mit  spätem 
Eintreten  wenig  ausgesprochener  Symptome  von  Angina  pectoris  und 
nicht  charakteristischer  für  die  PulmonalarterienalFektion. 

Die  zweifellos  bestehende,  auf  alkoholischer  Basis  beruhende  psy- 
chische Minderwertigkeit  erschwerte,  wie  erwähnt,  die  Analyse  der 
Befunde  und  die  nähere  Detaillierung  der  Verhältnisse. 

Im  Falle  IV,  39jährige  Frau,  mit  eigentlich  Sjähriger  Beobachtungs- 
zeit, hatte  die  Frau  immer  wieder  schwere  Anfälle  von  Polyarthritis. 

Es  bestanden  starke  Zyanose  mit  Dyspnoe,  schwere  Stauungs- 
katarrhe. Bei  Zusammenhalt  aller  Befunde  konnte  der  Verdacht  auf 
vorliegende  Komplikation  ausgesprochen  werden. 

Der  34  jährige  Mann  (Fall  V),  (mit  wiederholtem  Gelenksrheumatis- 
mus, Endo-  und  Perikarditis,  Typhus)  zeigte  bei  seiner  Mitralstenose 
eine  Reihe  obiger  charakteristischer  Momente.  Wegen  der  für  diese 
AlFektion  wenigstens  kurzen  Beobachtungszeit  wurde  eine  Diagnose 
quoad  Pulmonalarterie  in  suspenso  gelassen;  ebenso  bei  dem  nächsten 
Pat.,  29jährigen  Mann  (Fall  VI),  mit  Polyarthritis,  in  dessen  Familie 
Herzleiden  zu  Hause  waren. 

Es  bestand  Aortensklerose  und  Insuffizienz  der  Semilunaren  mit 
enorm  starker,  im  Herzbefund  selbst  nicht  motivierter  Zyanose,  Hy- 
pertrophie des  rechten  Ventrikels  und  Fortpflanzung  des  diastolischen 
Geräusches  nach  links.  Ganz  das  gleiche  gilt  vom  nächsten,  mit  ihm 
völlig  kongruenten  Fall  VII,  bei  welchem  nur  eine  einmonatliche 
Beobachtungszeit  bis  zum  letalen  Ausgang  zu  verzeichnen  war. 

Durch  das  gleichzeitige  Bestehen  einer  Reihe  der  verschiedensten 
Komplikationen  bei  Fall  VIII,  eine  43  jährige  Frau  betreifend  (Anamnese: 


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105]  Die  klinische  Diagnose  der  Pultnonalarterlensklerose.  405 

Blattern,  Pneumonie)  und  zwar  Mitralstenose,  Myodegeneratio  cordis, 
Anämie,  Zyanose,  Nephritis,  Urämie,  Bronchopneumonie  (Synechien 
beider  Lungen)  wurde  der  Typus  vollkommen  verwischt,  abgesehen 
von  dem  weit  vorgeschrittenen  Zustand  und  dem  nur  12tägigen  Spital- 
aufenthalt. 

Im  IX.  Falle  konnte  ich  auf  Grund  der  früheren  Erfahrungen  und 
der  schon  früher  wiederholten  Untersuchungen  und  langen  Beobach- 
tungsmöglichkeit mit  höchster  Wahrscheinlichkeit,  bei  Fall  X  mit 
Sicherheit  die  Diagnose  auf  Atherosclerosis  pulmonalis  bei  Mitral- 
stenose stellen. 

Bei  der  Kleinheit,  schlechten  Füllung  des  linken  Ventrikels  und 
der  für  die  Behinderung  der  Blutströmung  in  diesem  maßgebenden 
Verhältnisse  ist  es  begreiflich,  daß  wir  bei  manchen  Beobachtungen 
die  Kombination  von  „Anämie  mit  Zyanose''  antreffen.  Auf  Anfalle 
von  Schwäche  des  linken  Ventrikels  sind  dann  die  hierbei  notierten 
Zufälle  von  Kopfschmerzen,  Schwindel,  Schwarzsehen,  Übelkeiten  u.  dgl. 
zurückzuführen  (u.  a.  Fall  VIII  und  X). 

Bei  Berücksichtigung  aller  Möglichkeiten  wird  es  uns  nicht  wunder- 
nehmen, daß  öfters  schon  frühe  schwere  Zeichen  von  Herzschwäche, 
Stauungszuständen,  Stauungskatarrhen  usw.  auftreten  können. 

Gerade  wie  Angina  pectoris  mit  Dyskinesia  intermittens  vergesell- 
schaftet sein  kann,  wie  u.a.  aus  der  Mitteilung  Cursch  mann  s  (Ober 
vasomotorische  Krampfzustände  bei  echter  Angina  pectoris.  Deutsche 
mediz.  Wochenschr.  1908,  Nr.  38)  hervorgeht,  so  liegt  die  Kombination 
von  Stenokardie  mit  Dyspragia  intermittens  pulmonalis  nahe,  im 
weiteren  die  mit  wirklichem  Asthma  cardiale. 

Bei  der  Angina  pectoris  überwiegen,  wie  bekannt,,  die  Männer 
(nach  Gauthier  z.  B.  78,8%),  als  Mittelzahlen  finden  sich  durch- 
schnittlich 80%  angegeben.  Bei  der  Atherosclerosis  pulmonalis 
partizipieren  beide  Geschlechter  fast  in  gleicher  Zahl  (M  :  W 
=  27 :  25). 

Gewissermaßen  prämonitorische  Zeichen  gehen  jedoch  schon 
geraume  Zeit  voraus.  So  zeigten  z.  B.  zwei  von  unseren  Kranken 
durch  viele  Monate  hindurch  rasch  eintretende  Steigerung  der  Zyanose 
mit  allgemeinem  Unbehagen,  Frösteln  und  kaltem  Schweiß. 

Vielleicht  ließen  sich  diese  initialen  Zyanosekrisen  mit  der  primären 
Sklerose  der  Vasa  vasorum  in  Zusammenhang  bringen  und  zwar  da- 
durch ausgelösten  Zirkulationsstörungen. 

In  Zukunft  müßte  der  zeitlichen  Entwicklung  und  Ausbildung  der 
klinischen  Erscheinungen  noch  näher  Rechnung  getragen  werden. 

Zu  wiederholten  Malen  war  der  Einfluß  psychischer  Affekte  und. 


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466  Adolf  Posselt»  [100 

äußerer  Reize  für  das  Auslösen  oder  Stärkerwerden  auch  solcher  Zu- 
stände unverkennbar. 

Es  darf  uns  daher  nicht  wundernehmen,  daß  mitunter  eine  Arhyth- 
mie des  Pulses  während  derselben  eine  Zunahme  erfuhr. 

Durch  längere  Zeit  stellten  sich  die  vollentwickelten  Anßlle,  in 
Analogie  mit  der  Angina  pectoris,  erst  bei  rascheren  Bewegungen, 
Bücken,  Umdrehen,  raschem  Gehen,  Aufheben  von  schweren  Gegen- 
ständen, Einwirkung  von  Kältereizen  (z.  B.  beim  Verlassen  des  warmen 
Zimmers  im  Winter)  ein. 

Späterhin  überfielen  sie  die  Kranken  beim  bloßen  Aufrichten  im 
Bette,  sogar  bei  ruhiger  Lage^),  und  es  mischten  sich  immer  mehr 
schwere  dyspnoische  Zustände,  manchmal  direktes  Asthma  cardlale  bei. 

Je  geringfügiger  die  auslösende  Ursache,  desto  ungünstiger  gestaltet 
sich  im  allgemeinen  die  Prognose. 

Die  klinischen  Erscheinungen,  die  hierbei  beobachtet  werden  können,  stehen 
im  Einklang  mit  dem  von  Heidenhain  hervorgehobenen  Verhalten  der  Blutver- 
teilung  auf  sensible  Reize;  es  erweitem  sich  nach  ihm  in  der  Regel  die  Hautgefiße 
auf  reflektorische  Reizung,  wfihrend  sich  die  inneren  Gefäße  verengem,  wodurch 
ein  gewisser  Antagonismus  zwischen  oberflächlichen  und  tieferen  Gefäßen  statthat 
Im  allgemeinen  scheinen  bei  drucksteigernden  Reflexen  die  Genße  der  inneren 
Organe  meist  verengt  zu  werden,  während  zu  gleicher  Zeit  die  der  Haut  und  Ske* 
lettmuskeln  mehr  oder  weniger  erweitert  werden.  Bei  dracksenkenden  Reflexen 
ist  das  Umgekehrte  der  Fall.  Der  Antagonismus  zwischen  Haut  und  inneren  Or- 
ganen ist  jedoch  kein  absoluter. 

Das  bei  der  Zyanose  Erwähnte  findet  seine  natürliche  Ergänzung  in  den  Be- 
funden, die  den  innigen  Zusammenhang  vasomotorischer  Reizerscheioungen  in  den 
kleinen  Hautgefäßen  bei  ähnlichen  Symptomenkomplexen  im  Anfalle  dartun: 

Hagelstam,  Ober  intermitt.  Hinken  als  Symptom  von  Arteriosklerose.  Deutsche 
Ztschr.  f.  Nervenheilk.  1901,  XX,  S.  65.  Higier,  ibid.  1901,  Bd.  19. 

Brissaud,  Claudication  intermittente  douloureuse.   Rev«  neuroK  1899,  no.  13^ 

Goldflam,  Neurol.  Zentralbl.  1901,  S.  197. 

Die  weite  Entfernung  stünde  mit  der  physiologischen  Erfahrung  in  keinem 
Widerspruch.  Es  können  Körperteile,  welche  vom  Verbreitungsgebiet  der  zurzeit 
gereizten  zentripetalen  Nerven  weit  entfernt  liegen,  bei  sensibler  Reizung  eine 
refiektorische  Verengerung  oder  Erweiterung  ihrer  Gefliße  zeigen. 

U.  a.  erwähnen  Dastre  und  Mo  rat  (Rech.  exp.  sur  le  syst,  vaso-mot.)  als 
Folge  einer  Ischiadikusreizung  Gefäßerweiterung  in  den  Teilen  des  Kopfes,  welche 
vom  Halssympathikus  gefäßerweiternde  Nerven  erhalten. 

Für  die  in  Rede  stehenden  Verhältnisse  ist  es  nun  von  ganz  besonderem  In- 
teresse, daß  die  gleichen  Forscher  eben  diese  Nerven  auch  durch  Reizung  des 
N.  laryngeus  superior  und  des  Lungenvagus  in  Tätigkeit  versetzen  konnten. 

Auf  dieses  Verhalten  beziehen  sie  dann  auch  die  Gesichtsrote, 
welche  Lungenkrankheiten  zu  begleiten  pflegt^). 


1)  Jedem  Praktiker  gilt  mit  Recht  das  Eintreten  von  Stenokardieanfällen  schon 
bei  vollkommener  Ruhe,  namentlich  nachts,  als  böses  Omen. 

2)  Ich  erinnere   hiebei  (abgesehen   von  der  hektischen  Röte  der  Lunge^tuhe^ 


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107]  I>>e  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  467 

Beim  bekannten  Zusammenhang  zwischen  Nase  und  Lungenaffektionen  (Asthma 
bronchiale)  ist  es  bemerkenswert,  daß  Franck  (Arch.  de  physiol.  1889,  p.  550)  bei 
Reizung  der  Schleimhaut  eine  Gefißerwelterung  im  ganzen  Kopf  bemerkte,  die  auf 
der  entsprechenden  Seite  am  stärksten  war. 

Die  Steigerung  der  Zyanose  während  der  Anfälle  möchte  ich  als 
Reflex  infolge  der  Schmerzanfälle  ansehen.  Nachdem  von  Haus  aus 
schon  Zyanose  und  Neigung  zu  Erweiterung  der  HautgefäOe  besteht, 
ist  es  erklärlich,  daß  ein  Reiz  viel  leichter  in  schon  präformierten 
Bahnen  und  ausgefahrenen  Geleisen  sich  bewegt. 

Im  Gegensatz  zu  diesem,  wenn  es  zu  sagen  erlaubt  ist,  Dolor  caeru- 
leus,  ist  der  Angina  pectoris,  bei  der  an  und  für  sich  infolge  der  Aorten- 
störung Anämie  vorherrscht,  ein  Dolor  pallidus  eigen.  Im  ersteren 
Falle  scheint  demnach  eher  Hautvasomotorenlähmung  (Relaxation  der 
Gefäße),  im  zweiten  Falle  eher  Spasmus  zu  bestehen*).  Auch  andere 
Momente  scheinen  für  einen  gewissen  Antagonismus  der  Verhältnisse 
bei  Affektionen  dieser  beiden  Gefäße  zu  sprechen  (s.  u.). 

Die  mechanischen  Verhfiltnisse  des  Lungenkreislaufes  ermöglichen  in  der  Norm 
ein  Durchströmen  mit  der  geringsten  Verschwendung  von  Kraft. 

Wie  verhält  sich  der  Widerstand  in  den  peripheren  Gefäßgebieten  der  Pulmo- 
nalis  zum  Blutdruck  in  derselben. 

Daß  ersterer  im  allgemeinen  ein  nur  sehr  geringer  ist  und  daß  nur  sehr  be- 
trächtliche Veränderungen  der  Gefäßweite  einen  merklichen  Einfluß  auszuüben 
vermögen,  wird  auf  Grund  der  Lichtheimschen  Versuche  angenommen,  der  am 
kuraresierten  Hunde  ^U  <ies  gesamten  Pulmonalgefäßgebietes  ausschalten  konnte, 
ohne  daß  dadurch  der  Druck  im  großen  Kreislauf  im  mindesten  herabgesetzt 
wurde«). 

Tigers tedt  führt  die  stärkere  Durchströmung  des  restlichen  Gefäßgebietes 
auf  Grund  von  Injektionsversuchen  darauf  zurück,  daß  schon  unter  normalen 
Verhältnissen  die  Blutverteilung  in  den  Lungenabschnitten  eine  außerordentlich 
verschiedene  ist.  Daß  der  Widerstand  in  den  Lungengefäßen  ein  sehr  geringer  ist, 
ergibt  sich  auch  aus  der  ungemein  großen  Strömungsgeschwindigkeit  im  Pulmonal- 
gebiet  (Stewart,  Tigerstedt,  2—4  Sekunden). 


kulose)  an  das  alte  Peter- Franksche  Symptom  der  gleichseitigen  Gesichtsrötung 
bei  Pneumonie. 

1)  S.  Nothnagels  Angina  pectoris  vasomotoria.    D.  Arch.  f.  klin.  Mediz.  IIL 

2)  Landgraf  (Klinisches  und  Experimentelles  zur  Lehre  von  der  Embolie  der 
Lungenarterie.  Zeitschr.  f.  klin.  Med.  Bd.  20)  erhielt  vollkommen  entgegengesetzte 
Resultate.  Er  unterband  am  spontan  atmenden  Kaninchen  ohne  Eröffnung  der 
Pleurahöhlen  die  linken  Arteria  pulmonalis.  Die  sehr  schwierige  Operation  gelang 
nur  in  4  Fällen,  wobei  jedoch  auf  die  Kompression  der  linken  Lungenarterie  prompt 
ein  Sinken  des  Aortendruckes  folgte.  Dabei  füllte  sich  der  Stamm  der  Lungen- 
arterie, dann  sah  man  die  rechte  Kammer  sich  erweitern  und  zugleich  das  linke 
Herzohr  blasser  werden«  (Aortenkurve  sank  auf  die  Hälfte  und  stieg  mit  dem  Auf- 
hören der  Kompression  wieder  an.)  Landgraf  meint,  daß  die  Lichtheimschen 
Ergebnisse  nur  für  kuraresierte  und  künstlich  respirierte  Tiere  Geltung  hätten.  Bei 
einer  Wiederholung  dieser  Versuche  durch  Tigerstedt  konnten  die  Angaben 
Landgrafs  nicht  bestätigt  werden. 


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468  Adolf  Posselt,  [108 

Tigerstedt  (Ober  den  Kreislauf  nach  Bindung  der  Unken  Lungenarterie. 
Skand.  Arch.  f.  PbysioL  1907,  XIX,  4  und  5,  p.  231)  stellte  an  kuraresierten  Kanin- 
chen fest,  daß  durch  temporäre  Abklemmung  der  linken  Lungenarterie  die  Sekundeo- 
volumina  der  linken  Herzkammer  zwar  abnehmen,  daß  die  Abnahme  aber  im  großen 
und  ganzen  als  sehr  geringfügig  zu  erachten  ist.  Es  genügt  demnach,  nach  Aus- 
schaltung der  einen  Lunge  der  noch  übriggebliebene  Teil  des  kleinen  Kreislaufs, 
um  das  linke  Herz  mit  etwa  derselben  Blutmenge  wie  vorher  zu  speisen.  Auch 
der  Blutdruck  im  großen  Kreislauf  erfährt  hierbei  nur  unwesentliche  Änderungen. 

Der  Lichtheim  sehe  Versuch  ist  nur  so  zu  erklären,  daß  hiebei  der  rechte 
Ventrikel  sein  Blut  durch  den  offenen  Teil  der  Geßßbahn  mit  noch  erhöhter  Ge- 
schwindigkeit treibt. 

In  den  normalen  Partien  der  Lunge  werden  die  Gefäße  erweitert,  bald  jedoch 
vermag  ihre  Dilatation  allein  das  Hindernis  nicht  mehr  auszugleichen  und  nun 
steigt  auch  der  Druck  in  der  Pulmonalarterie  stärker  an. 

Bei  diesem  dem  Körperkreislauf  entgegengesetzten  Verhalten  hängt  es  ganz 
von  der  Stärke  und  Ausbreitung  des  Hindernisses  ab,  wie  weit  es  durch  Gefai^- 
dllatatlon,  wie  weit  es  durch  verstärkte  Herzaktion  ausgeglichen  wird,  was  in  jedem 
Fall  das  Verhalten  des  Ventrikels  beeinflußt,  dessen  Arbeit  sich  vergrößert  und 
bei  längerem  Bestehen  Hypertrophie  seiner  Wandung  herbeiführt. 

Die  mechanischen  Verhältnisse  beider  großen  Gefaßs.tämme  an 
der  Herzwurzel  verdienen  ebenfalls  eine  Berücksichtigung. 

Bei  Sklerosierung  und  Erweiterung  der  Aorta  vermag  die  ohnehin 
weiche,  nachgiebige  Pulmonalis  leicht  auszuweichen;  anders  umge- 
kehrt — ,  etabliert  sich  ein  derartiger  Prozeß  mit  Erweiterung  an  der 
Pulmonalis 9  so  setzt  die  starre,  stark  gespannte  Aorta  einen  Wider- 
stand entgegen.  Eine  Prädilektionsstelle  der  Pulmonalsklerose  ist  quo 
nach  Reiche  anscheinend  die  Stelle,  die  der  Aorta  ascendens  unver- 
schieblich anliegt  Nun  verlaufen  im  Bindegewebe  zwischen  den  bei- 
den Gefäßen  Herznervengeflechte  (Nervus  depressor). 

Eine  Ausdehnung  der  Pulmonalis,  zumal  wenn  sie  mit  Verhärtung 
der  Wand  und  gewissen  periarteriitischen  Vorgängen  vergesellschaftet 
ist,  kann  nun  zu  einem  Druck,  Verzerrung  u.  dgl.  der  Nerven  und 
konsekutiven  Reiz-  oder  Lähmungserscheinungen  führen. 

Nach  Köster,  Tschermak,  Hirsch  und  Stadler  ist  der  Nervus 
depressor  nicht  ein  Reflexnerv  des  Herzens,  sondern  der  Aorta.  Diese 
hat  in  ihrem  Anfangsteil  die  Bedeutung  eines.  »Windkessels''  (das  systo- 
lisch ausgeworfene  Blut  aufzuspeichern  und  zu  verteilen).  Als  wesent- 
lichste Funktion  des  Depressors  scheint,  da  er  durch  Steigerung  des 
Füllungsdruckes  im  Aortenbogen  erregt  wird,  die  Verhütung  der  Ober- 
dehnung dieses  Windkessels  zu  bestehen.  Eine  Beeinflussung  dieser 
Funktion  infolge  derartiger  geschilderter  pathologischer  Pulmonal- 
arterienprozesse  scheint  demnach  der  Örtlichkeit  nach  nicht  ausge- 
schlossen zu  sein  und  es  dürften  möglicherweise  auch  Anomalien  der 
Blutverteilung  im  großen  Kreislauf  z.  T.  hierauf  beruhen» 


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109]  1^1^  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarteriensklerose.  469 

Wenn  auch  an  anderer  Stelle  noch  eingehender  über  das  Tierexperiment 
zu  berichten  sein  wird,  so  mögen  doch  hier  schon  einige  Tatsachen  gestreift 
werden,  die  bei  tierexperimentellen  Untersuchungen  gefunden,  uns  zur  Erklärung 
oder  zum  näheren  Verständnis  mancher  hier  niedergelegten  klinischen  Befunde 
dienen  können. 

Der  Einfluß  gewisser  infektiöser  Schädlichkeiten  für  das  Entstehen  der  Arterio- 
sklerose wurde  auch  experimentell  geprüft. 

Von  Klotz  (Experimental  production  of  arteriosclerosls.  Brit.  med.  journ. 
1906,  II.)  wurden  nach  mehrfachen  intravenösen  Injektionen  von  Typhus-  und 
Streptokokkenkulturen  Veränderungen  in  der  Aorta  und  Arteria  pulmonalis  gefunden. 
Die  Intima  wies  Verdickungen  auf,  die  durch  Bindegewebsproliferation  nach  vor- 
heriger Verfettung  des  subendothelialen  Gewebes  zustande  gekommen  waren;  die 
Elastica  interna  war  in  mehrere  Lamellen  gespalten  und  die  Wucherung  von  Binde- 
gewebe erstreckte  sich  bis  in  die  innersten  Schichten  der  Media;  Verkalkungen, 
Ausbuchtungen  waren  nie  vorhanden. 

Die  Seltenheit  des  Prozesses  in  der  Lungenarterie  lassen  im  ganzen  wohl  auch 
die  Tierexperimente  erkennen,  wobei  hier  natürlich  in  nähere  pathologisch- 
anatomische und  histologische  Details  und  Streitfragen  nicht  eingegangen  werden 
kann. 

'Grober  (Massenverhältnisse  des  Herzens  bei  künstlicher  Arterienstarre.  Ver- 
handl.  des  XXIV.  Kongr.  f.  inn.  Med.  1907,  S.  449)  konstatierte  bei  Adrenalininjek- 
tionen, daß  die  Nekrosen  am  stärksten  an  der  Aortenwand  oberhalb  des  Zwerch- 
fells, nur  selten  an  der  Bauchaorta  vorhanden  waren,  nie  dagegen  in  den  Splancbni- 
kus-,  den  Extremitäten-  und  den  Lungenarterien. 

Ober  die  positiven  Befunde  sind  die  Akten  noch  nicht  geschlossen. 
Cox  (Experim.  Beitr.  zur  patholog.  Anatomie  der  Lungenentzündung.  Zieglers 
Beitr.  V.  1889)  erhielt  bei  Tieren,  die  durch  Injektion  von  Krotonöl  in  die  Bronchien 
pneumonisch  gemacht  waren,  eine  Entzündung  der  Adventitia,  Media  und  selbst 
4er  Intima  der  Lungenarterien,  die  nach  wenigen  Tagen  zu  einem  sehr  beträcht- 
h'chen  Dickenzuwachs  der  Intima  führte. 

Schon  Friedländer  (Experim.  Untersuchungen  über  chron.  Pneumonie  usw. 
Virchows  Arch.  1878,  Bd.  68)  erzielte  dieses  bei  Durchschneidung  der  Nervi 
recurrentes. 

Dagegen  macht  Jores  (Wesen  und  Entwicklung  der  Arteriosklerose.  Wiesbaden, 
Bergmann,  1903)  geltend,  daß  die  Pulmonalisintima  des  Kaninchen  schon  ohne  Er- 
krankung oft  eine  sehr  erhebliche  Dicke  annehmen  könne. 

D'Amato  (Weitere  Untersuchungen  über  die  von  den  Nebennierenextrakten 
bewirkten  Veränderungen  der  Blutgefäße  und  anderer  Organe.  Berl.  klin.  Wochen- 
schrift 1906)  sah  bei  seinen  Versuchen  einmal  ein  kleines  Aneurysma  in  den 
Lungenarterien  (zuweilen  degenerative,  Veränderungen  in  der  Media  und  Adventitia 
der  Hohlvenen). 

Braun  (Ober  Adrenalinarteriosklerose.  Sitzungsber.  der  Kais.  Akad.  d.Wissensch. 
Wien.  Math.-naturw.  Klasse,  1907,  Bd.  III,  116)  machte  sehr  schwache  aber  häufige 
Adrenalininjektionen.  Die  stärkste  Intimaverdickung  wird  dabei  an  einer  Lungen- 
arterie beschrieben. 

Nach  Heubner  (Experim.  Arteriosklerose.  Ergebn.  der  inneren  Medizin  1908,1, 
S.  280)  scheint  die  von  Friedländer  deutlich  beschriebene  Umwandlung  eines 
anfangs  auftretenden  Granulatjonsgewebes  in  derbes  Bindegewebe  innerhalb  der 
Intima  deutlich  darzutun,  daß  er  einen  reaktiven  Prozeß  als  Folge  des  künstlich 
gesetzten  Entzündungsreizes  vor  sich  gehabt  hat. 


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470  Adolf  Posselt,  [1  {q 

Wegen  des  Jores sehen  Befundes  (s.  o.)  von  Verdickungen  auch  normaler  Pul- 
monalarterienintima  bei  Kaninchen  möchte  Heubner  dem  Braun  sehen  Ergebnis 
<s.  o.)  nur  sehr  beschränkte  Bedeutung  zuerkennen. 

Eine  umfassende  Darstellung  der  Frage  nach  den  Vasomotoren 
der  Arteria  pulmonalis  ist  wohl  hier  nicht  gut  möglich. 

Cohnheim  und  Lichtheim  nehmen  an,  daß  die  Arterien  im 
Lungenkreislauf  keinen  durch  Vasomotoren  unterhaltenen  Tonus  be- 
sitzen. 

Der  Einfluß  der  Gefäßnerven  ist  nach  Knoll  für  den  kleinen 
Kreislauf  allerdings  viel  geringer  als  im  großen. 

Es  bedarf  im  ersteren  ganz  beträchtlich  stärkerer  Einwirkungen, 
um  einen  Effekt  hervorzurufen. 

Durch  Reizung  des  Sympathikus  erfolgt  ein  Steigen  des  Druckes 
in  der  Pulmonalis  und  ein  Sinken  desselben  in  der  Aorta. 

Auf  Grund  experimenteller  Studien  gelangt  Frangois-Franck 
(Recherches  sur  Taction  du  systöme  nerveux  sur  la  circulation  pul- 
monaire  ä  l'etat  normal  et  pathologique.  Bull,  de  l'acad.  de  m6d.  1896, 
no.  6)  zu  dem  Resultat,  daß  in  der  Tat  den  Lungenarterien  die  Fähig- 
keit zukommt,  sich  auf  verschiedene  sensible  Reize  energisch  zu  kon- 
trahieren. 

Eine  reflektorische  Einwirkung  auf  die  Vasomotoren  der  Lungen- 
gefäße wird  bei  der  sog.  Potain  sehen  Krankheit  0  supponiert. 

Bei  schmerzhaften  Magen-  und  Leberaffektionen  kann  eine  wesent- 
liche Vergrößerung  des  rechten  Herzens  nachgewiesen  werden,  ein- 
hergehend mit  den  Symptomen  von  Blutstauung  in  demselben.  Letztere 
werden  auf  einen  Krampf  der  Pulmonalarterie  bezogen,  der  von  den 
Magen-  und  Lebernerven  reflektorisch  ausgelöst  wird. 

Pagano  (Arch.  ital.  di  Biol.  1900,  vol.  XXXIII)  konnte  von  der  Pulmonilis 
aus  keinerlei  Reflex  auf  die  Schlagfrequenz  des  Herzens  auslösen. 

Broie  und  Rüssel  (Journ.  of  Pbysiol.  1900,  XXVI,  98)  erhielten  nach  Reizung 
der  pulmonalen  Vagusäste  eine  Blutdrucksenkung  (vielleicht  infolge  Verengerong 
der  Lungengefäße  nach  Ansicht  von  Fran^ois-Franck). 

Die  ganz  verschiedenen  Wirkungen  einer  Reihe  von  Giften  auf 
die  Gefäße  des  großen  und  kleinen  Kreislaufs  (vergl.  Tigerstedt, 
Der  kleine  Kreislauf.  Ergebn.  der  Physiol.  1903,  II)  dokumentieren 
die  Eigenartigkeit  der  Lungengefäße  im  Verhältnis  zu  denen  des  großen 
Kreislaufs,  sowie  deren  Selbständigkeit  und  Unabhängigkeit 

Velich  (Ober  die  Einwirkung  des  Nebennierenextraktes  auf  den 
Blutkreislauf.  Wien,  mediz.  Wochenschr.  1898,  S.  1257)  kam  zu  dem 
Versuchsergebnis,   daß  Nebennierenextrakt  in  größeren  Dosen  nicht 

1)  Potain,  Rapports  de  la  dilatation  cardiaque  avec  les  afFections  du  fote. 
Journ.  de  m6d.  et  de  cbir.  1898,  April  4. 


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111]  Die  klinische  Diagnose  der  Pulmonalarterienskierose.  471 

allein  den  Druck  Im  großen  Kreislauf,  sondern  auch  den  in  der 
Arteria  pulmonalis  steigert,.  In  kleinerer  Menge  bewirkte  er  keine 
Drucksteigerung  im  kleinen  Kreislauf,  obgleich  der  Aortendruck  zu 
gleicher  Zeit  von  80  auf  260  mm  Hg  anstieg. 

Nolf  (Action  des  injections  intraveineuses  de  propepton  sur  la 
pression  dans  Tart^re  et  la  veine  pulmonaires.  M6m.  cour.  et  autres 
M6m.  publ.  par  l'Acad.  des  Scienc.  de  Belgique  1903,  63,  p.  1)  gibt 
an,  daß  bei  Injektion  von  Grüblers  oder  Wittes  Pepton  neben  der 
längstbekannten  Druckabnahme  im  großen  Kreislauf  eine  in  der  Regel 
bedeutende  und  dauernde  Drucksteigerung  in  der  Lungenarterie,  sowie 
ein  entsprechender  Druckabfall  im  linken  Vorhof  eintritt.  Die  nähere 
Analyse  der  Erscheinungen  ergab,  daß  hierbei  die  Lungenvasomotoren 
tätig  waren;  es  liegt  hier  eine  deutliche  Gefäßkontraktion  in  den 
Lungen  vor. 

Die  Traube-Heringschen  Wellen  der  Blutdruckkurve  sollen  der 
Ausdruck  der  direkten  Beeinflussung  des  vasomotorischen  Zentrums 
durch  das  Atemzentrum  sein,  und  nach  Hering  durch  eine  rhyth- 
mische Irradiation  der  Erregungen  des  Atemzentrums  auf  das  vaso- 
motorische Zentrum  entstehen. 

Auch  die  Pulmonalarterie  läßt  diese  Wellen  erkennen,  allerdings  mit 
geringerer  absoluter  Amplitude. 

Nach  Durchschneidung  des  Annulus  Vieussenii  beiderseits  (von 
welchem  nach  Frangois  Franck  die  sympathischen  Vasomotoren  der 
Lunge  ausgehen)  verschwinden  die  Wellen  in  der  Arteria  pulmonalis. 

F.  B.  Hof  mann  (Allgemeine  Physiologie  des  Herzens.  Nagels 
Handb.  der  Physiol.  Bd.  I.  1005)  legt  in  ausführlicher  Weise  mit  Be- 
rücksichtigung der  gesamten  Literatur  die  Experimente  dar,  die  den 
Beweis  für  die  Existenz  von  Gefaßnerven  für  die  Lunge  zu  erbringen 
imstande  seien  (S.  298),  wobei  er  zu  dem  Schlüsse  gelangt,  daß  alles 
zusammengenommen  heute  die  Existenz  von  Vasomotoren  für  die 
Lungengefäße  ziemlich  wahrscheinlich  ist,  wobei  jedoch  über  deren 
nur  geringe  Wirkung  alle  Autoren  übereinstimmen. 

Strubell  (Ober  vasomorische  Einflüsse  im  kleinen  Kreislaufe.  Ver- 
handl.  des  XX.  Kongr.  f.  inn.  Mediz.  1902,  S.  404,  und  Ober  die  Vaso- 
motoren der  Lungengefäße.  Arch.  f.  Physiol.,  Jahrg.  1906,  Supplem.-Bd. 
S.  328)  tritt  auf  Grund  seiner  Experimente  bei  Verwendung  kombinierter 
Messung  des  Arteriendruckes  und  linken  Vorhofsdruckes  für  die  Exi- 
stenz von  Vasomotoren  in  den  Lungengefäßen  (Pneumovasomotoren) 
ein  und  vermutet,  daß  die  Bronchokonstriktion  (Lungenblähung)  und 
die  Vasokonstriktion  (Lungenvolumen-Verkleinerung  und  Sinken  des 
Vorhofsdruckes)  nacheinander  auftreten. 


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472  Adolf  Posselt,  [112 

Anhangsweise  sei  hinzugefügt,  daß  Krogh  (Verhandl.  der  biolog. 
Gesellsch.  in  Kopenhagen,  28.  Febr.  1907)  den  Nachweis  eines  vaso- 
motorischen Systems  in  der  Lunge  der  Schildkröten  erbrachte. 

Vielerlei  Fragen  sind  uns  jedoch  bezüglich  der  Lungenvasomotoren 
noch  dunkel:  ob  sie  einen  Tonus  besitzen,  unter  welchen  Bedingungen 
eine  normale  Erregung  stattfindet,  wie  die  Regulierung  der  Blutzufuhr, 
zu  der  sie  zweifellos  in  Beziehung  stehen,  erfolgt. 

In  neuester  Zeit  stellte  sich  bei  der  experimentellen  Erforschung 
ein  gewisser  Antagonismus  oder  zum  mindesten  ein  diffe- 
rentes  Verhalten  zwischen  Pulmonalarterie  und  Koronar- 
arterien heraus  (vgl.  oben). 

Langendorff  (Über  die  Innervation  der  Koronargefäße.  Ztrlbl.  f. 
Physiol.  1907,  Bd.  21,  S.  551)  kam  zu  dem  unerwarteten  Resultate, 
dal}  Suprarenin  und  Adrenalin  erschlaffend  auf  die  Muskulatur  dieser 
Gefäße  wirken,  während  dieselben  Stoffe  die  Muskulatur  der  Lungen- 
arterie zur  Kontraktion  veranlassen.  Damit  steht  im  Einklang,  daß 
Sympathikusreizung  beim  isolierten  Herzen  eine  Erweiterung  der 
Koronargefäße  bedingt. 

Dieses  Verhalten  fordert  zu  weiteren  Untersuchungen  auf,  da  hieraus 
mancherlei  Einblicke  in  Verhältnisse,  die  auch  die  Klinik  lebhaft  inter- 
essieren, zu  erhoffen  sind. 


Die  präzise  Fragestellung,  die  unserer  Mitteilung  zugrunde  liegt, 
lautete: 

Unter  welchen  Umständen  ist  eine  klinische  Diagnose  der 
Pulmonalarteriensklerose  möglich? 

Auf  Grund  eines  bei  der  relativ  großen  Seltenheit  des  Befundes 
reichlich  zu  nennenden  Beobachtungsmateriales  kam  Ich  zu  folgenden 
Schlußsätzen: 

Eine  klinische  Diagnose  der  Atherosclerosis  pulmonalis  ist  (falls 
die  Kranken  in  einem  entsprechenden  Stadium  und  durch  sehr  lange 
Zeit  beobachtet  werden  können): 

A.  unter  Voraussetzung  einer  primären  Mitralstenose  möglich 
und  bei  Anwesenheit  nachstehender  Symptome  und  Erschein 
nungskomplexe  mit  allergrößter  Wahrscheinlichkeit  zu  stellen: 
L  bei  physikalischer  Untersuchung: 

1.  Dämpfungszone  am  oberen  linken  Sternalrand  und  den 
benachbarten  Gebieten  mit  Druck-  und  Perkussionsemp- 
findlichkeit (besonders  in  bestimmter  Lage). 


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113]      '  Die  kliirisobe' Diagnose  der  Pülmonalarteriendklerose.  473 

2.  auch  für  diese  Aifektion  ungewöhnlich  starke  Verbreite- 
rung der  Herzdämpfung  nach  rechts. 

3.  Verhalten  der  oberen  Anteile  des  mittleren  Bogens  bei 
Röntgendurchleuchtung. 

4«  allmähliches  Aufwärtswandern  des  diastolischen  Schwirrens 
und  des  diastolischen  (präsystolischen)  Geräusches  gegen 
das  Pulmonalostium  zu. 
IL  klinischen  Symptomen  : 

1.  auffallende  Zyanose  als  Frühsymptom  und  lange  Zeit  hin- 
durch bestehende  ausgesprochene  Differenz  zwischen  die- 
ser und  der  fehlenden  oder  geringen  Dyspnoe,  sonstigen 
Stauungserscheinungen,  Ödemen. 

2.  Auftreten  der  Anfälle  der  Dyspragia  intermittens  angio- 
sclerotica  pulmonalis  (Angina  hypercyanotica). 

3.  trotz  hochgradiger  Zyanose  Fehlen  der  Trommelschlegel- 
fingerbildung. 

4.  Wiederholte  abundante  Lungenblutungen  ohne  ausgespro- 
chenen Infarktcharakter. 

B.  Unter  genauer  Berücksichtigung  vorliegender  Momente  ist  auch 
das  klinische  Erkennen  der  so  überaus  seltenen  pri- 
mären Pulmonalsklerose  in  das  Bereich  der  Möglich- 
keit gerückt. 

Wir  werden  bei  Vorhandensein  obiger  Erscheinungen  und  Fehlen 
der  Zeichen  eines  wirklichen  Vitium  cordis  (Mitralstenose)  an  einen 
derartigen  atherosklerotischen  Prozeß  der  Lungenschlagader  denken, 
ganz  besonders  wenn  es  sich  um  eigenartige  zweifelhafte  Herzaffek- 
tionen handelt^  die  einem  angeborenen  Vitium  cordis  ähnlich  erscheinen. 

Hierbei  verdienen  namentlich  basale  diastolische  Geräusche  am 
Pulmonalostium  ohne  Zeichen  von  Insuffizienz  der  Klappen,  auffällige 
Hypertrophie  der  rechten  Herzkammer,  das  Prävalieren  der  Zyanose 
fiber  sonstige  Stauungserscheinungen  (Dyspnoe,  Ödeme),  Attacken  von 
basalen  Schmerzen  mit  dem  Charakter  der  Dyspragia  intermittens  pul- 
monalis, Fehlen  von  Trommelschlegelfingerbildung  besondere  Berück- 
sichtigung. 

Einen  weiteren  Hinweis  bildet  das  verhältnismäßig  noch  jugendliche 
Alter  und  vorausgegangene  schwere  Infektionskrankheiten  (Polyarthritis, 
Perikardaffektionen,  »Variola"). 

Es  soll  hier  nochmals  daran  erinnert  sein,  daß  Mitralstenosen  und 
gewisse  angeborene  Herzfehler,  die  einen  ganz  ähnlichen  klinischen 
Befund  bieten,  beide  mitunter  sehr  hohen  Grades,  infolge  Fehlens 
auskultatorischer  Erscheinungen  einer  sicheren  Diagnose  ganz  unge- 
w'öhnliche  Schwierigkeiten  bereiten  können.    Die  dargelegten  Momente 

Klln.  Vortrige,  N.  F.  Nr.  504/07.  (Innere  Medizin  Nr.  149/52.)  Okt.  1006.  33 


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474      Adolf  PoMeh^  Die  UtniMdie  DitigoDee  dM  PalnmiiltrtiriiBflBklerose.    [414 

durften  auch  einenMitbebelf  bieten  auf  DiffbreotiäldUgoose  und  Em- 
ziiferung  derartiger  räCseUiafter  Henikriinkbeitefl. 

C  FnUs  die  PulmonalsUerose  bei  der  viel  seltener  mit  ihr  kom- 
binierten Sklerose  und  InsufficientU  semtlunar.ttmaortae  auf- 
tritt, geben  einige  klinische  Eigeoheiteii  ebenfalls  einen  Fingerzeig  zur 
diagnostischen  Verwertung. 

Solche  sind  statt  der  zu  erwartenden  blassen  Facies*  aortica  aus- 
gesprochene Zyanose,  die  ebenso  wie  eine  bestehende  Hypertrophie 
des  rechten  Herzens  durch  andere  Ursachen  nicht  erklärt  werden  kann, 
namentlich  wenn  die  Zyanose  aqfallsweisen  Charakter  zeigt.  Ferner 
eine  abnorme  Querleitung  des  diastolischen  Gerfiusches  nach  links. 

Eine  Analyse  der  Dyspragia  pulmonalia  gestaltet  sich  wegen  der 
Möglichkeit  gleidizeitiger  Stenokardie  schwieriger. 

Allgemein  und  schematisch  für  den  gesamten  Prozeß  ausgedrückt, 
liegen  den  subjektiven  und  allgemein  klinischen  Symptomen  mehr  die 
Aifektion  der  kleinen  Gefäße  (Endarteriitis  obliterans)  zugrunde, 
während  für  das  Zustandekommen  der  obiektiven  Befunde,  speziell 
der  physikalischen  Untersuchung,  das  Befallensein  des  Stammes  mehr 
releviert. 

Vorstehende  Notizen  bezwecken  vor  allem  die  Aufmerksamkeit  der 
Kliniker  auf  die  bisher  nur  als  zufälliger  Sektionsbefund  rangierende 
Atherosclerosis  pulmonalis  hinzulenken  und  sie  zu  weiteren  Be- 
obachtungen und  Untersuchungen  Ober  die  von  uns  behauptete  Mög- 
lichkeit der  klinischen  Diagnose  des  Leidens  zu  veranlassen. 


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(Gynäkologie  Nr.  185.) 

Die  wechselseitigen  Bezietiungen  der  innersekre- 
torisctien  Organe,  insbesondere  zum  Ovarium. 

Zugleich  ein  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Menstruation. 

Von 

Dr.  Otfried  O.  Fenner, 

Wien. 


In  den  letzten  Jahren  ist  so  viel  Material  in  bezug  auf  die  innere 
Sekretion  verschiedener  Organe  aufgestapelt  worden,  wobei  wieder- 
holt auch  auf  das  Ovarium  Rücksicht  genommen  wurde,  daß  es  sich 
der  Mühe  lohnt,  alle  diesbezüglich  bekannten  Tatsachen  von  einem 
einheitlichen  Gesichtspunkte  aus  zusammenzufassen,  um  so  mehr,  als 
sich  aus  dieser  Betrachtung  einige  neue  Anschauungen  zu  ergeben 
scheinen.    Dies  soll  im  folgenden  versucht  werden« 

I.  Theorie  der  Menstruation. 

Meine  diesbezüglichen  Studien  haben  mich  vor  allem  zu  der  Er- 
kenntnis geführt,  daß  man  mit  keiner  der  bisher  bekannten  Theorien 
der  Menstruation  sein  Auskommen  findet.  Wollen  wir  aber  das  Ver- 
hältnis der  anderen  sekretorischen  Organe  zum  Ovarium  verstehen, 
so  müssen  wir  vor  allem  über  die  Funktion  der  Genitaldrüsen  Klar- 
heit gewinnen. 

Nachdem  eine  Reihe  von  Theorien  verlassen  wurde,  kam  man  auf 
Grund  der  Born-Fränkelschen  Theorie  zu  der  Anschauung,  daß  ein 
durch  die  periodische  Funktion  des  Ovariums  in  ihm  produzierter, 
an  die  Blutbahn  abgegebener  Stoff  es  ist,  der  •  den  Anstoß  zu  den 
menstruellen  und  Schwangerschaftsveränderungen  gibt.  Man  ist  sich 
nicht  ganz  klar  darüber,  ob  es  das  Corpus  luteum  oder  die  inter- 

Klln.  Vorträge,  N.  F.  Nr.  506.    (Gynikologle  Nr.  185.)   Sept.  1908.  32 


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422  Otfried  O.  Fellncr,  [2 

stitiellen  Zellen  sind,  welche  hier  in  Betracht  kommen.  Die  Funktion 
des  Ovariums  soll  eine  Kongestion  der  Sexualorgane  und  ferner  eine 
Toxämie,  aber  auch  zugleich  eine  Entgiftung  des  Organismus  hervor- 
rufen. Diese  beiden  einander  widersprechenden  Funktionen  will  man 
sich  oder  vielmehr  könnte  man  sich  nur  so  erklären,  daß  das  Ova- 
rium  giftige  Stoffe  an  den  Organismus  abgibt,  während  die  Entgif- 
tung dadurch  stattfindet,  daß  diese  Stoffe  durch  die  Menstruation  aus- 
geschieden werden.  Nach  dieser  Anschauung  wäre  also  das  Ovariam 
den  den  Organismus  vergiftenden  innersekretorischen  Organen  zuzu- 
zählen. Ich  werde  später  zeigen,  daß  alle  den  Organismus  vergiften- 
den Substanzen  Blutdrucksteigerung  hervorrufen.  Wir  wissen  aber,  daß 
das  Eierstockssekret  Blutdrucksenkung  bewirkt.  Schon  dieser  Umstand 
spricht  einigermaßen  gegen  die  herrschende  Anschauung.  Der  beste 
Prüfstein  für  die  Funktion  eines  innersekretorischen  Organes  sind 
jene  Erscheinungen,  welche  nach  der  Exstirpation  des  Organes  auftreten. 
Nach  der  ausführlichsten  diesbezüglichen  Arbeit  von  Mandl  undBür- 
ger^  erlischt  mit  dem  Erlöschen  der  Funktion  des  Ovariums  die  Menstru- 
ation und  die  Menstruationswelle.  Schon  hier  stoßen  wir  auf  einen 
Widerspruch  in  der  Literatur.  Ohishausen  hat  nach  Kastration 
wegen  Myom  noch  3 mal  typische  Menstruation  auftreten  gesehen. 
Neuerer  Zeit  hat  Gellhorn^)  einen  Fall  veröffentlicht,  wo  nach  Exstir- 
pation der  Ovarien  noch  immer  Menstruation  auftrat,  bis  man  einen 
Peritonealstrang  durchtrennte.  In  beiden  Fällen  könnte  man  eventuell 
an  das  Zurückbleiben  von  Ovarialresten  oder  eines  überzähligen  Eier- 
stocks denken,  van  de  Velde  hat  durch  Darreichung  von  Ovarial- 
tabletten  auch  im  Klimakterium  Menstruation  erzeugen  können,  sofern 
man  unter  Menstruation  Blutung  versteht.  Das  gleiche  ist  Gellhorn 
gelungen.  Man  könnte  derlei  Erfahrungen  ohne  Zweifel  auf  die  un- 
bedingte Abhängigkeit  der  Menstruation  von  Ovarialsubstanzen  be- 
ziehen. Und  doch  stimmt  dies  nicht  ganz.  F.  Deales^)  zeigte  ebenso 
wie  Ficarelli  und  Holterbach,  daß  man  Brunsterscheinungen  beim 
Tiere,  die  man  sicherlich  biologisch,  insbesondere  bei  Hunden,  an 
denen  ersterer  experimentierte,  der  Menstruation  gleichstellen  kann, 
durch  Yohimbin  zu  erzielen  vermag.  Daraus  müssen  wir  folgern, 
daß  die  Menstruation  (Blutung)  ein  dem  Uterus  eigentümlicher  Vor- 
gang ist,  der  durch  jede  Substanz,  welche  ebenso  wie  das  Ovarium  zu 
Blutüberfüllung  im  Uterus  führt,  hervorgerufen  werden  kann.    Viel- 


1)  Die  biologische  Bedeutung  der  Eierstöcke  nach  Entfernung  der  Gebirmutter. 
Deuticke  1904. 

2)  Menstruation  ohne  Ovarien.    Zentralbl.  f.  Gyn.  1907^  Bd.  40. 

3)  Berliner  klin.  Wochenscbr.  1907,  Bd.  42. 


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3]       Die  wechselseitigen  Beziehungen  der  innersekretorischen  Organe  usw.    423 

leicht  gehört  auch  hierher  die  ursprünglich  Pflfiger-StraOmannsche 
Anschauung,  daß  Druclierhöhung  im  Ovarium  Hyperamie  der  Uterus- 
schleimhaut erzeugt.  Umgekehrt  könnte  man  eine  Erscheinung,  welche 
bisher  eine  Erklärung  nicht  gefunden  hat,  nämlich  das  Ausbleiben  der 
Menstruation  i.  e.  Blutung  bei  Fisteln  auf  das  Fehlen  eines  druck- 
erhöhenden Momentes,  nämlich  das  Fehlen  der  Blasenfüllung  zurück- 
führen. 

Ich   habe  im  vorhergehenden  nur  auf  das  äußere  Moment  der 
Menstruation,  nämlich  die  Blutung,  Rücksicht  genommen,  und  schon 
hier  zeigte  es  sich,  daß  eine  unbedingte  Abhängigkeit  der  Blutung 
vom  Ovarium  nicht  besteht    Noch  mehr  zeigt  sich  dies  bei  Betrach- 
tung der  Sekretionserscheinungen.  Ich  will  hier  gar  nicht  darauf  ein- 
gehen, daß  bei  der  Annahme,  die  Tätigkeit  des  Ovariums  erzeuge 
die  Vergiftung  und  löse  bei  maximaler  Tätigkeit  oder  Anhäufung  der 
Stoffe  die  Entgiftung  aus,   der  Zustand  des   Ovariums  zur  Zeit  der 
Menstruation  stets  derselbe  sein  müsse,  und  doch  sind  bis  jetzt  sekre- 
torische Veränderungen  in  den  interstitiellen  Zellen,  eine  allmähliche 
periodische  Zunahme  und  Abnahme  des  Sekrets  nicht  nachgewiesen. 
Auf  noch  größere  Unregelmäßigkeiten  stoßen  wir  bei  der  Annahme, 
daß  die  Menstruation  mit  der  FoUikelreifung  in  ursächlichem  Zusam- 
menhang  steht.    Ich   verweise   hier  auf  die  Arbeit  von  Ancel  und 
Villemin^)  und  von  Leopold  und  A.  Ravano^).    Ja,  es  gibt  Ver- 
suche,  die  zeigen,  daß  die  Menstruation  auch  von  anderen  Drüsen 
abhängig   ist,   so   von  der  Schilddrüse.     Französischen  Autoren,  so 
Faveau  de  Courmelles,  und  später  M.  Fränkel  ist  es  gelungen, 
durch  Bestrahlen  der  Schilddrüse  die  Menstruation  i.  e.  die  äußeren 
Zeichen  derselben,  die  Blutung,  ganz  zu  sistieren  oder  zu  schwächen. 
Wenn  wir  vollends  zu  den  Ausfallserscheinungen  übergehen,  so 
läßt  sich  meiner  Ansicht  nach  die  Theorie,  daß  der  Uterus  gleichsam 
nur  der  Ausführungsgang  des  Eierstockes  ist,  nicht  recht  festhalten. 
Es  fst  wohl  richtig,  daß  man  sich  die  Erscheinungen  des  Klimak- 
teriums durch   den  Ausfall  der  Eierstockstätigkeit  ohne  weiteres  er- 
klären kann,  ebenso  wie  die  strumipriven  Symptome  durch  den  Aus- 
fäll der  Schilddrüsentätigkeit.  Aber  schon  hier  ist  es  sehr  auffallend, 
daß  der  Ausfall  der  Eierstockstätigkeit  ähnliche  Symptome  macht,  wie 
nach  der  bisherigen  Theorie  in  der  prämenstruellen  Zeit  und  in  den 
ersten  Tagen  der  Menstruation,  die  maximale  Tätigkeit  des  Ovariums 
beziehungsweise  die  Anhäufung  der  Sekretionsprodukte  des  Ovariums. 
Wird  der  Uterus  entfernt,  und  werden   die  Ovarien  belassen,  so  er- 


1)  Soci6t6  de  Biologie.  Juillet  1907. 

2)  Arch.  f.  Gyn.  Bd.  83,  H.  3. 

32* 


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424  -Otfned  O.  FeUner«  [4 

Hecht  zwftf  zttaäebat  die  Memtl^iiaiioii  als  sidnharer  Auadeuck  d^ 
Oyarialtätlgkeit,  die  Welle  aber  bleibt  erbalten.:  Ich  frage  nun,  wie 
in  diesen  Fällen  eigentlich  Emgifftnig  zustande  kommt.    Es  ist  ja 
richtig t  daß  nicht  allzuseiten  die  Schilddrüse  bypertrophiert.    Man 
kannte  also  annehmen»  daß  hier  die  Entgiftung  durch  die  Schilddrüse 
stattfindet.    Dies  alles  setzt  aber  voraus,  daß  tatsächlich  das  Ovarium 
eine  blutdrucksteigernde  Drüse  ist,  was  sicherlich  nicht  zutriifr.  Nun 
treten  in  einer  Reihe  von  Fällen  Molimina  menstnialia  auf.  Darunter 
versteht  man    nervöse   Erscheinungen»  die  mit  Blutdrucksteigerung 
einhergeben»  und  gerade  zu  der  Zeit»  welche  jener  entspricht»  in  der  die 
Menstruation  eintreten  sollte»  sich  äußern.   Daß  die  Erscheinungen  mit 
dem  Hochstande  des  Blutdruckes  zusammenfallen»  davon  konnte  ich 
mich  wiederholt  überzeugen.  Ich  verfüge  überdies  über  zwei  Blutdruck- 
kurven von  Frauen»  denen  der  Uterus  entfernt  wurde.    Die  Kurve 
zeigt»  ähnlich  wie  die  von  Mandl  und  Bürger  veröffentlichte»  eine 
der  normalen  Menstruationswelle  ganz  analoge  Gestalt  mit  Molimioa 
menstrualia  auf  dem  Höhepunkt  des  Blutdruckes.    Diese  Erscheinung 
mußte  also  nach  der  herrschenden  Anschauung  auf  das  Ovarium  be- 
zogen werden )   indem   die  Anhäufung   der  sekretorischen  Produkte 
schließlich  zu  den  Beschwerden  führt»  während  die  Entgiftung  durch 
irgendein    uns    derzeit   noch    unbekanntes    Organ»    vielleicht    durch 
die  Schilddrüse  erfolgt.    Merkwürdigerweise  finden   sich  hier  auch 
regelrechte  Ausfallserscheinungen»  nach  Mandl  und  Bürger  in  47%» 
während  Molimina  menstrualia   nur  in  26%  vorhanden  sind.    Diese 
also  ziemlich  häufigen  Erscheinungen  sind  bei  Aufrechterhaltung  der 
derzeit  herrschenden  Theorie  schwer  zu  erklären.    Sie  treten  zu  der 
Zeit  auf»   wo  die  Welle  gerade  nicht  sehr  hoch  ist»  oder  ein  plötz- 
liches Ansteigen  und  ein  ebenso  plötzlicher  Abfall  nachweisbar  ist 
Man  nimmt  in  diesen  Fällen  zu  der  wahrscheinlich  richtigen  Anseht 
Zuflucht»  daß  hier  die  Ovarien  nicht  funktionieren.    So  richtig  aucli 
die  Tatsache  an   sich  sein  mag,  in  das  Schema  paßt  sie  logischer- 
weise nicht  hinein.    Wenn  die  Steigerung  der  Sekretion  der  Ovarien» 
beziehungsweise  die  Anhäufung  der  Stoffe  zu  den  Molimina  menstru- 
alia führt»  kann  doch  unmöglich  der  Wegfall  eben  dieser  Stoffe  die 
gleichen  Erscheinungen  hervorrufen.    Denn  zwischen  Molimina  men- 
strualia und  Ausfallerscheinungen  besteht  nur  der  Unterschied»  daß 
erstere  in  und  zu  bestimmten  Zeiten  wiederkehren»  letztere  aber  häu- 
figer und  in  unregelmäßigen  Intervallen. 

Vollends  unverständlich  bleiben  aber  bei  dieser  Theorie  die  Tah 
Sachen»  die  sich  aus  der  Mitentfernung  der  Ovarien  ergeben.  Bei 
Mitentfernung  der  Ovarien  treten  in  73%  Symptome  auf.  Man  sollte 
annehmen»  daß  wenn  das  Organ»  welches  tatsächlich  bei  stärkster 


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5]       Die  wechselseitigen  Beziehungen  der  innersekretorischen  Organe  usw.    425 

S^kretioA  die  Symptome  erzeugt,  entfertit  wird,  keine  Symptome  m^hr 
auftreten)  welche  wir  sonst  auf  die  Sekretion  dieses  Organs  bezielien^ 
Es  sollten  also  logischerweise  bei  Entfernung  des  Uterus  samt  Adnexen 
im  Oegenteil  keine  Ausfallserscheinungen  auftreten.  Belassen  wir  eines 
oder  beide  Ovarien,  so  finden  sich  in  67%  Symptome.  Ich  möchte 
nun  meinen,  dafi  der  Unterschied  so  gering  ist,  daß  man  eigentlich 
den  Ovarien  fast  keinen  Einfluß  auf  die  Ausfallssymptome  zuschreiben 
sollte.  Aber  vielleicht  ist  die  Heftigkeit  der  Symptome  eine  geringere. 
Heftige  Symptome  bei  Belassen  der  Ovarien  in  15%,  bei  Wegnahme 
der  Ovarien  in  19%.  Bei  Belassen  des  vergiftenden  Oi^ans  also  auch 
höher  als  bei  Wegnahme  desselben.  Und  tatsachlich  haben  wir  ja 
alle  die  auf  größere  oder  geringere  Erfahrungen  gestützte  Ansicht,  daß 
die  Ovarien  die  Ausfallserscheinungen  mi4dern.  Die  Tatsachen  stehen 
kl  strengstem  Widerspruch  zu  der  Theorie  der  vergiftenden  Wirkung 
des  Ovariums.  Wir  fühlen  uns  unbedingt  zu  der  Ansicht  gedrängt, 
daß  das  Ovarium  ein  entgiftendes  Organ  ist.  Dann  ist  auch 
der  Ausdruck  Ausfallserscheinungen  gerechtfertigt.  Es  ergebe  also 
diese  Anschauung  die  Theorie,  daß  im  Körper  Stoffwechselvorgänge 
sich  abspielen,  die  zu  einer  allmählichen  zunehmenden  Intoxikation 
mit  begleitender  Blutdrucksteigerung  fähren,  die  schließlich  die  Sekre-^ 
tion  des  Ovariums  auslösen;  diese  Sekrete  wirkeü  nun  auf  den  Uterus 
ein,  der  durch  äußere  Sekretion  uiid  Blutung  die  giftigen  Stoffe  aus- 
scheidet; vielleicht  werden  durch  das  Ovarialsekret  dirett  die  giftigen 
Staffwechselprodukte  entgiftet.    Blutdrucksenkung  ist  die  Folge* 

Prüfen  wir  diese  Theorie  an  einigen  Tatsachen.  Totalexstirpatlon 
des  inneren  Genitales  muß  zu  Ausfallserscheinungen  führen,  da  die 
Entgiftung  durch  das  Ovarium  fehlt.  Größtenteils  treten  aber  andere 
Organe  ein,  so  anerkanntermaßen  die  Schilddrüse,  deren  Tätigkeit  die 
Entgiftung  besorgt.  Werden  beide  Ovarien  belassen  oder  auch  nur 
eines,  so  treten  die  Ausfallserscheinungen  etwas  sehener  auf;  das 
Ovarium  sezerniert  ja  und  kann  die  Stoffwechselprodtikte  entgiften,  es 
fehtt  die  Sekretion  des  Uterus  und  die  Blutung,  daher  kommt  es  doch 
und  zwar  nicht  so  selten  zu  Symptomen.  Die  Welle  bleibt  eriialten, 
Molimina  treten  auf,  denn  die  Entgiftung  erfolgt  periodisch.  In  diese 
Theorie  passen  auch  sehr  gut  die  Beobachtungen  Gellhorns  ttnd 
van  de  Veldes,  dffß  Ovarialtabletten  die  Menstruationsbhituiig  aus- 
lösen können. 

Aber  auch  diese  Theorie  kann  nicht  voll  befriedigen.  Es  ist  s^u* 
nächst  auffallend,  daß  der  Körper  beim  geschlechtsreifen  Weibe  zur 
Entgiftung  noch  des  Ovariums  bedarf,  während  vorher  und  nachher 
die  anderen  entgiftenden  Drüsen  ausreichend  Man  könnte  dies  auf 
ein  Plus  an  toxischen  Stoffen  beziehen.    TatsäcbHch  ^ricfht  fa  vieles 


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426  Otfried  O.  Fellner,  [6 

dafür.  Niemals  erreicht  im  normalen  Zustand  der  Blutdruck  die  Höbe 
wie  zur  prämenstruellen  Zeit.  Hierzu  kommen  die  prämenstruellen 
Vergiftungserscheinungen.  Es  liegt  nun  nahe,  in  der  eireifenden  Tätig- 
keit dieses  Plus  zu  suchen,  derart,  daß  durch  das  Heranreifen  der 
Eier  toxische  Produkte  gebildet  wurden.  Dagegen  spricht  so  manches, 
vor  allem  die  zeitliche  Unabhängigkeit  der  Eireifung  von  der  Periode. 
Ferner  beginnt  nicht  selten  die  Eireifung  vor  der  Menstruation  und 
überdauert  dieselbe.  Wir  sehen  bei  Haustieren  oft  die  Brunst  ein- 
treten ohne  Reifung  von  Eiern.  Nach  Hensen  fallen  bei  Kaninchen 
brünstige  Erregung  und  Eiablösung  nicht  immer  zusammen.  Bei  den 
Fledermäusen  ^)  sind  Brunst  und  Ovulation  durch  Monate  voneinander 
getrennt,  v.  Winckel^  erwähnt  eine  Frau  mit  17  Schwangerschaften, 
die  gerade  zu  der  Zeit,  wo  sie  nicht  menstruierte,  schwanger  wurde. 
Sprungreife  Follikel  beobachtete  man  im  Klimakterium,  Schwanger- 
schaft vor  Eintritt  der  Menstruation  sowohl  in  der  Pubertät,  wie  auch 
in  der  Laktationsperiode.  Dann  ist  es  kaum  glaublich,  daß  die  FoUikel- 
flüssigkeit  —  und  nur  um  diese  kann  es  sich  handeln  —  giftig  sei, 
da  doch  das  Ei  in  ihr  aufwächst. 

Ich  meine,  daß  dieses  Plus  an  Toxinen  vom  Uterus  geliefert 
werden  könqte.  Der  Uterus  würde  sonach  zu  den  inner- 
sekretorischen Organen  vergiftender,  blutdrucksteigernder 
Natur  zu  rechnen  sein.  Wir  werden  sehen,  daß  sich  mancherlei  Er- 
scheinungen dadurch  zwanglos  erklären  lassen,  daß  sich  dann  das 
Sekretionspaar  Uterus-Ovarium  mit  Leichtigkeit  in  die  Serien  der 
anderen  innersekretorischen  Organe  einfügen  läßt,  .daß  wir  so  zu 
einer  allen  Erscheinungen  gewachsenen  Menstruationstheorie  kommen, 
und  daß  schließlich  einige  Tatsachen  für  die  innersekretorische  Funk- 
tion des  Uterus  zu  sprechen  scheinen. 

Nicht  ganz  uninteressant  ist  diesbezüglich  die  Tabelle  II  von  Mandl 
und  Bürger:  Supravaginale  Amputation,  Totalexstirpation  des  Uterus 
per  laparotomiam  mit  Belassung  eines  oder  beider  Ovarien.  Die 
Fälle  von  supravaginaler  Amputation  geben  in  57%,  die  von  Total- 
exstirpation in  42%  Ausfallserscheinungen;  dies  ist  um  so  auffallender, 
als  sich  bei  der  Nachuntersuchung  die  Ovarien  bei  supravaginaler 
Amputation  stets  in  gutem  Zustande  befanden,  während  sie  bei  Total- 
exstirpation des  Uterus  4  mal  nicht  palpabel  waren,  Imal  sich  eine  in 
ihrer  Größe  nicht  genau  bestimmbare  Resistenz  vorfand.  Dies  spricht 
wohl  sehr  dafür,  daß  das  schlechtere  Resultat  auf  den  Uterusrest  zu- 


1)  R.  Mull  er,  Sexualbiologie.  Berlin^  L.  Marcus,  1907. 

2)  Handbuch  d.  Geburtsb.  I. 


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7]       Die  wechselseitigen  Beziehungen  der  innersekretorischen  Organe  usw.    427 

rückzuführen  ist.  Dieser  Befund  ist  auch  deshalb  von  grolier  Be- 
deutung, da  nachMandl  und  Bürger  ein  Abhängigkeitsverhältnis  der 
Ovarien  vom  Uterus  nicht  bestehen  soll,  wir  also  nicht  annehmen 
dürften,  daß  der  Unterschied  in  dem  Zustande  der  Ovarien  gelegen 
ist.  Dem  ist  aber  nicht  so;  wir  werden  später  sehen,  daß  die  Sekre- 
tion des  Ovariums  doch  vom  Uterus  bis  zu  einem  gewissen  Grade  ab- 
hängig sein  dürfte,  und  ich  sehe  gerade  die  obigen  Nachuntersuchungen 
als  einen  Beweis  dafür  an,  daß  eine  solche  Abhängigkeit  besteht. 
Wäre  ferner  das  Ovarium  das  vergiftende  Organ,  so  wäre  wohl  die 
größere  Zahl  der  Ausfallserscheinungen  bei  erhaltenem  Ovarium  ver- 
ständlich; da  es  aber  ein  entgiftendes  Organ  ist,  so  müssen  wir  die 
größere  Zahl  der  Ausfallserscheinungen  auf  den  Uterusrest 
beziehen. 

Auf  den  ersten  Blick  spricht  nur  eine  Tatsache  gegen  die  hier  ver- 
tretene Ansicht,  nämlich  die  Tatsache,  daß  Totalexstirpation  des  inneren 
Genitale  in  V4  ^^^  P^lle  mit  Ausfallserscheinungen  einhergeht;  da  der 
Uterus  als  vergiftendes  Sekretionsorgan  wegfallt,  so  sollten  auch  Aus^ 
fallserscheinungen  fehlen.  Diese  Überlegung  ist  nicht  richtig;  denn 
ich  setzte  oben  auseinander,  daß  das  Ovarium  nicht  allein  entgiftend 
auf  das  eventuelle  Uterussekret  wirke,  sondern  auch  auf  andere  Stoff- 
wechselprodukte, daß  das  Uterussekret  nur  ein  Plus  darstelle.  Der 
Wegfall  der  Ovarien  schlägt  aber  gewaltig  Bresche  in  die  Reihe  der 
entgiftenden  Organe,  die  nun  plötzlich  die  Aufgabe  des  Ovarium  über^ 
nehmen  müssen,  das  bis  dato  die  übrigen  erfolgreich  unterstützt,  viel- 
leicht sogar  vertreten  hat.  Können  die  anderen  durch  Hypersekretion 
den  Ausfall  decken,  beispielsweise  die  Thyreoidea,  die  sehr  häufig 
vergrößert  befunden  wird,  dann  fehlen  Ausfallserscheinungen  gewöhn- 
lich. In  einer  großen  Zahl  von  Fällen  sind  diese  aber  in  mäßiger 
Weise,  nur  in  19%  in  heftiger  Weise  vorhanden.  Es  ist  nämlich  noch 
weiter  zu  berücksichtigen,  daß  die  Hypertrophie  der  Thyreoidea,  wie 
wir  später  sehen  werden,  auch  nicht  ohne  Konsequenzen  bleibt,  daß 
wieder  antagonistische  Organe  die  verstärkte  Tätigkeit  der  Schild- 
drüse zum  Teil  wettmachen.  Ist  einmal  in  das  Konzert  der 
sekretorischen  Organe  ein  Mißton  gekommen,  dann  gelingt 
es  kaum  mehr,  volle  Harmonie  zu  erzielen. 

Im  Widerspruch  mit  diesen  Ausführungen  stehen  die  drei  Beob- 
achtungen Abels  1),  wo  bei  Erhaltensein  von  Korpusschleimhautteilen 
die  Menstruation  fortdauerte  und  Ausfallserscheinungen  fehlten.  Die 
Zahl  der  Fälle  gegenüber  denen  aus  der  Klinik  Schauta  und  anderen 


1)  Dauerfolge  der  Zweifeischen  Myomektomie.    Arcb.  f.  Gyn.  Bd.  57. 


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428  Otfried  O.  Fellner,  [g 

ähnlichen  spater  zitierten,  welche  die  gegenteilige  Erfahrung  ergeben, 
ist  so  gering,  daß  man  hier  nur  von  einer  Zußiligkeit  sprechen  iLann. 
Deutlicher  ergibt  sich  die  Richtigkeit  der  Theorie  aus  folgenden 
weiteren  Erfahrungen.  Es  muß  hier  zunächst  auf  das  Verhalten  der 
Ovarien  nach  Exstirpation  des  Uterus  näher  eingegangen  werden. 
Durch  die  Untersuchungen  von  Mandl  und  Bürger,  BurckhardO» 
Henckel  (Zeitschr.  f.  Geb.,  Bd.  58,  H.  3)  u.  a.  wurde  der  Anschein 
erweckt,  als  ob  die  Ovarien  vollkommen  intakt  blieben.  Keitler 
fand,  daß  etwa  12—13  Monate  nach  vollzogener  Uterusexstirpation 
reifende  und  sprungreife  größere  und  kleinere  Follikel,  Corpora  lutea 
und  PrimärfoUikel  vorhanden  waren.  Anders  sahen  die  Befunde  nach 
3  Jahren  aus.  Mandl  und  Bürger  fanden  Degenerationserscheinungen 
am  Ei  und  auffallend  viele  zystisch  veränderte  Follikel.  Es  war  eine 
gewisse  Hemmung  in  der  Eireifung  vorhanden.  Ähnliche  Befände 
zeigten  4  Fälle  Holzbachs  (Arch.  f.  Gynäkol.  80,  2).  Es  war  eine 
„hinreichende  Menge  funktionstüchtigen  Ovarialgewebes^^  vorhanden. 
Dennoch  hatten  alle  4  Frauen  Beschwerden.  Trotz  dieser  Befunde 
sind  alle  Autoren  der  Ansicht,  daß  diese  Ovarien  punkto  Sekretion 
normal  sind.  Nimmt  man  an,  daß  die  Sekretion  des  Ovariums  von 
den  Luteinzellen  abhängig  ist,  daß  diese  sich  aber  nur  nach  dem 
Sprunge  eines  reifen  Follikels  bilden,  so  muß  man  insbesondere  in 
Rücksicht  auf  die  Befunde  von  Mandl  und  Bürger  sagen,  daß  hier 
sehr  wenig  Material  für  die  Bildung  der  Luteinzellen  vorhanden  war. 
Wenn  fast  alle  größeren  Follikel  zystisch  entarten,  wobei  die  Eier  zu- 
grunde gehen,  dann  muß  es  logischerweise  höchst  gelten  zur  FoUikel- 
reife,  zum  FoUikelsprunge  und  zur  Bildung  von  Luteinzellen  komn^en« 
Fünr  Anhänger  der  Luteinzellen-Sekretionstheorie  müßten 
6.olche  Ovarien  wohl  als  funktionsuntüchtig  gelten.  Es  käme 
da  nur  ein  Befund  in  Betracht,  der  freilich  von  den  Autoren  nicht 
erwähnt  und  wohl  auch  nicht  gemacht  wurde.  Ich  muß  hier  auf  meine 
demnächst  erscheinende  Arbeit  über  die  Tätigkeit  des  Ovariums  in  der 
Schwangerschaft^)  hinweisen.  Ich  fand  nämlich,  konform  mit  anderen 
Autoren,  daß  in  der  Schwangerschaft  die  größeren  Follikel  fast  regel- 
mäßig zystiscb  degenerieren,  daß  sich  aber  gleichzeitig  die  Theca  in- 
terna in  Luteinzellen,  FoUikelluteinzellen  will  ich  sie  nennen,  verwandelt 
(Wallart,  Seitz  usw.).  Diese  FoUikelluteinzellen  haben  nun  meiner 
Ansicht  nach  sekretorische  Funktionen.  Wäre  die  Bildung  solcher 
F(^likelluteinzellen  an  den  zurückgelassenen  Ovarien  beobachtet  worden, 
so   könnte   man   immerhin   von   einer  relativen   Funktionstüchtigkett 

1)  Ober  Ausfallserscheinungen  nach  abdomineller  Myotomie  mit  ZurücUassung 
der  Ovarien.    Berliner  Gynäkologenkongr. 

2)  Arch.  f.  Gynfik. 


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0]       Die  wechselseitigen  Beziehaogen  der  innersekretorischen  Organe  usw.   429 

sprechen«  Dieser  Befund  scheint  aber  nicht  vorzuliegen ,  denii  er 
wurde  nicht  erhoben. 

Ich  verfuge  über  kein  derartiges  Präparat,  von  Menschen  stammend. 
Aber  ich  röntgenisierte  einmal  den  trächtigen  Uterus  eines  Kaninchens 
unter  möglichster  Abdeckung  der  Ovarien,  es  kam  zum  Abortus,  zur 
Atrophie  des  Uterus,  und  nach  einigen  Monaten  nahm  ich  die  Ovarien 
heraus.  Sie  zeigten  ein  ähnliches  Bild,  wie  dasjenige,  welches  Neu^ 
mann  und  ich  bei  Bestrahlung  der  Ovarien  trächtiger  Kaninchen  er- 
hoben haben ^):  zystische  Degeneration  der  größeren  Follikel;  einzelne 
Follikel  zeigten  aber  einen  Follikelluteinzellenbesatz.  Dieser  Befund 
läßt  sich  leider  nicht  verwerten,  weil  er  erstens  und  vor  allem  noch 
vereinzelt  ist,  weil  einige  Trächtigkeiten  vorausgegangen  sind,  und 
weil  bei  dem  großen  Reichtum  der  Kaninchenovarien  an  Follikel- 
luteinzellen  nicht  zu  entscheiden  ist,  ob  die  Zellen  wirklich  erst  auf 
Grundlage^  der  Degeneration  der  Follikel  entstanden  sind. 

Bei  dem  derzeitigen  Stand  scheint  es  also  festzustehen,  daß  von 
einer  normalen  Sekretion  der  zurückgelassenen  Ovarien  auf 
Grundlage  der  Luteinzellensekretion  nicht  die  Rede  sein 
kann. 

Steht  aber  die  innersekretorische  Funktion  mit  den  interstitiellen 
Zellen  in  Zusammenhang,  so  wären  die  bisher  erhobenen  Befunde  in 
keiner  Hinsicht  beweisend;  denn  auf  diese  wurde  keine  Rücksicht  ge- 
nommen. In  dem  oben  erwähnten  Kaninchenovarium  ließen  sich  viel- 
leicht Merkmale  einer  Degeneration  auffinden.  Die  Zellen  waren 
kleiner,  das  Protoplasma  vakuolisiert,  die  Kerne  hin  und  wieder  kario- 
lytisch  verändert,  Befunde  ganz  ähnlich  denen,  wie  wir  sie  an  den 
röntgenisierten  Ovarien  erheben  konnten.  Sieht  man  von  den  Zysten 
ab,  so  war  das  Ovarium  entschieden  kleiner  als  de  norma.  Aber 
ich  will  aus  diesem  vereinzelten  Befund  keine  Schlüsse  ziehen.  Nur 
das  eine  will  ich  nochmals  hervorheben,  daß  die  bisher  erhobenen 
Befunde  keinen  Schluß  zulassen  Ober  die  Funktionstfichtigkeit  der 
interstitiellen  Zellen,  daß  also  alle  Autoren  nicht  berechtigt  waren, 
aus  den  von  ihnen  erhobenen  Befunden  auf  eine  normale 
Sekretion  der  zurückgelassenen  Ovarien  zu  schließen,  daß 
vielmehr  einige  von  ihnen  erhobenen  Befunde  und  die  mei- 
i^igen  das  Gegenteil  wahrscheinlicher  machen. 

Auffallend  ist  es  nun  andererseits,  daß  sich  vielfach  bei 
Nachuntersuchungen,  wie  in  den  oben  zitierten  Fällen  aus  der 
Klinik  Schauta,  das  Ovarium  verkleinert  erwies  oder  überhaupt  nicht 


1)  Der  Einfluß   der  Röntgenstrahlen   auf  die  Eierstöclse  trächtiger  Kaninchen 
und  auf  die  Trächtigkeit.    Zeitschr.  f.  Heilkunde  Bd.  28,  H.  3. 

Klin.  Vorträge,  N.  F.  Nr.  508.    (Gynäkologie  Nr.  185.)    Sept.  1908.  33 


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430  Otfried  O.  Fellner,  [10 

aufgefunden  werden  konnte.  Dies  ist  um  so  auffallender,  als,  da  die 
zystische  Degeneration  anfangs,  oft  auch  später  überall  angetroffen 
wurde,  eigentliqh  das  Ovarium  vergrößert  sein  sollte.  Man  muß  also 
trotz  der  freilich  pathologischen  FoUikelreife  mit  einem  Zugrundegeben 
der  Eierstöcke  rechnen,  wenigstens  in  vielen  Fällen.  Dieses  Zugrunde- 
gehen, das  sich  ja  auch  innersekretorisch  durch  die  Ausfallserschei- 
nungen dokumentiert,  wird  nun  von  vielen  Autoren  mit  der  Gefäß- 
versorgung in  Zusammenhang  gebracht.  Mir  scheint  es  nicht  recht 
plausibel,  daß  nach  Wegnahme  des  Uterus  das  Ovarium  so  schlecht 
versorgt  werden  sollte,  daß  es  zugrunde  geben  müsse.  Es  spricht 
wohl  alles  dafür,  daß  sich  hier  in  diesem  gefäßreichen  Bezirk,  ebenso 
wie  anderwärts,  Kollateralbahnen  entwickeln,  worauf  schon  Henckel 
hinweist.  Und  dann  ist  noch  ein  zweites  Moment  zu  berücksichtigen, 
auf  das  auch  Henckel  aufmerksam  macht,  daß  nämlich  degenerative  Ver- 
änderungen (am  eireifenden  Parenchym)  frühestens  ein  Jahr  nach 
Entfernung  des  Uterus  festzustellen  sind.  Es  besteht  also  keine  Ab- 
hängigkeit von  der  Gefäßversorgung.  Ich  meine,  daß  sich  diese  Be- 
funde vielleicht  durch  eine  Abhängigkeit  der  innersekretorischen 
Funktion  des  Ovariums  von  der  hypothetischen  des  Uterus 
erklären  ließen. 

Diese  Abhängigkeit  zeigt  sich  noch  anderwärts.  Bei  Myomen 
kommen  stark  vergrößerte  Ovarien  vor,  und  der  histologische  Befund 
spricht  wohl  für  eine  Steigerung  der  Sekretion  dieser  Ovarien.  Ich 
fand  in  diesen  Myomovarien  neben  stark  vergrößerten  Blutgefäßen, 
stark  vermehrtem  Bindegewebe  eine  große  Zahl  von  Follikeln  in  Zysten 
umgewandelt.  Ober  den  Epithelbesatz  einzelner  dieser  Zysten  läßt 
sich  streiten,  die  Begrenzung  vieler  wird  aber  von  vielen  Lagen  proto- 
plasmareicher Zellen  gebildet,  deren  Abstammung  aus  Körnerzellen 
der  Theka  unzweifelhaft  ist,  wie  auch  die  völlige  Analogie  mit  den 
FoUikelluteinzellen  im  Ovarium  Schwangerer.  Manche  Autoren  suchen 
nun  den  Grund  für  diese  Steigerung  in  einer  gesteigerten  Toxinbildung 
im  Myom;  es  ist  fraglich,  ob  dieses  wirklich  zu  einem  vermehrten  Stoff- 
wechsel Anlaß  gibt,  es  liegt  meiner  Ansicht  nach  vielleicht  näher,  die 
Ursache  in  einer  gesteigerten  Sekretion  der  Uterusschleimhaut  zu 
suchen.  Daß  bei  Myomen  die  Uterusinnenfläche  an  und  für  sich  ver- 
größert ist,  brauche  ich  kaum  zu  erwähnen,  außerdem  ist  sehr  häufig 
die  Schleimhaut  mächtiger,  und  der  relative  Drüsenreichtum  größer, 
auch  ist  der  Intervall  zwischen  den  Blutungen  häufig  ein  kürzerer, 
also  ein  rascheres  und  stärkeres  Ansteigen  der  Toxizität.  Demgegen- 
über hypertrophiert  meiner  Vermutung  nach  das  Ovarium,  seine 
stärkere  Funktion  ist  an  der  starken,  langandauernden  Blutung  zu  er- 
kennen.   Daß  die  Ursache  nicht  im  Myom,  sondern  in  der  Schleim- 


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11]     Die  wechselseitigen  Beziehungen  der  innersekretorischen  Organe  usw.    43 1 

haut  gelegen  i»ty  dafür  spricht  der  zeitweilige  Erfolg  der  Auskratzung; 
dieselbe  kann  unmöglich  auf  die  Stoffwechselvorgänge  im  Myom  einen 
Einfluß  ausüben  t  sondern  auf  die  Schleimhaut  selbst ,  indem  diese 
längere  Zeit  braucht,  um  dieselbe  Mächtigkeit  wie  früher  zu  erlangen. 
Einen  weiteren  Beweis  für  die  Abhängigkeit  des  Ovariums  vom  Uterus 
sehe  ich  in  der  Verkleinerung  der  Myomovarien  nach  Enukleation  der 
Myome. 

Man  könnte  zwar  gerade  diese  Erfahrungstatsache  zugunsteü  der 
Ansicht  Henckels  verwerten,  daß  die  Steigerung  der  Funktion  des 
Qvariums  direkt  auf  die  Myome  bzw.  ihre  Kapsel  zu  beziehen  ist. 
Aber  mit  Rücksicht  auf  die  oben  angeführte  Beobachtung  hinsichtlich 
der  Auskratzung  ist  wohl  nur  die  Erklärung  zulässig,  daß  die  Aus- 
schälung auf  die  Uterusschleimhaut  einwirkt,   wofQr  wir  ja  Beweise 
genug  haben,  und  daß  die  Rückbildung  der  Schleimhaut  die  Rück- 
bildung der  Ovarien  zur  Folge  hat.   He n ekel  führt  als  weitere  Stütze 
seiner  Ansicht  an,  daß  Ausfallserscheinungen  nadi  Exstirpation  myo- 
matöser  Uteri  sehr  häufig  sind,  daß  er  aber  nach  Bxstirpation  von  karzi- 
nomatösen  Uteri   diese  sehr  selten  beobachtet  hat.    Demgegenüber 
ist  es  aber  auffallend,  daß  wir  nach  Exstirpation  von  Uteri  aus  an- 
deren Gründen,  beispielsweise  bei  Prolaps,  Adnextumoren,  doppel- 
seitigen Ovarialzysten  Ausfallserscheinungen  sehr  häufig  sehen.    Es 
läßt  sich  daher,  glaube  ich,  aus  diesen  Beobachtungen  nur  das  eine 
schließen,  daß  der  Uterus  irgendeinen  Einfluß  auf  die  Ausfallserschei- 
nungen hat.    Des  weiteren  meint  He n ekel,  daß  in  den  Fällen  von 
Erhaltung  der  Menstruation  durch  Konservierung  eines  Uterusrestes 
bei  gleichzeitig  bestehenden  Ausfallserscheinungen   der  vorhandene 
Uterusrest  groß  genug  war  zur  Erzeugung  der  Antikörper,  um  der  bis 
dahin   gesteigerten   Ovarialfunktion   entgegenzuwirken.     Gerade  hier 
zeigt  .sich    die   Unzulänglichkeit  der  Henckelschen  Erkläi;uQg,    da 
damit  die  Lehre  von  der  antitoxischen  Funktion  der  Ovarien,  die 
durch  zahllose  Versuche  und  therapeutische  Anwendung  desOvarial- 
extraktes  sichergestellt  zu  sein  scheint,  bankrott  erklärt  wird.   Meiner 
Ansicht  nach  liegt  die  Erklärung  viel  näher,  daß  das  Fehlen  der  Aus- 
fallserscheinungen, in  einem  Teil  der  Fälle  darauf  zurückzuführen  ist, 
daß  das  Stückchen  Uterusrest  genügte^  um  die  Ovarialfunktion  zu  er- 
halten, daß  aber  in  den  Fällen,  wo  Ausfallserscheinungen  auftraten, 
die  Ovarialfunktion  nur  soweit  erhalten  blieb,  daß  es  zwar  zur  Blu- 
tung,  aber  nicht   zur  genügenden  Entgiftung  des  Organismus  kam. 
Dies  stünde  in  Analogie  mit  den  Ausfallserscheinungen,  die  wir  auch 
meist   gelegentlich    der  Menstruation   beobachteten   und   auf  Hypo- 
funktion   des  Ovariums  zurückführen.    Daß  meine  Erklärung  wahr- 
scheinlicher  zu    sein    dünkt,    wird    auch    durch    die    Beobachtung 

33* 


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432  Otfried  O.  Fellner,  [12 

Heiickels  bestätigt,  daß  nämlich  nach  Enukleation  von  Myomen  Aus- 
fallserscheinungen nicht  vorkommen.  Wenn  tatsächlich  das  Muskel- 
gewebe  um  die  Myome  antitoxisch  wirkt,  müßte  der  Wegfall  dieses 
Gewebes  —  nach  Henckel  wird  das  Myom  mitsamt  der  Kapsel  ent- 
fernt —  insbesondere  bei  der  gesteigerten  Ovarialtätigkeit  zu  Ausfalls- 
erscheinungen führen.  Henckel  stellt  in  einer  weiteren  Arbeit  die 
interstitiellen  Myome  in  Gegensatz  zu  den  subserösen  und  submukösen 
und  meint  von  letzteren,  daß  hier  die  Menstruation  zur  regelmäßigen 
Zeit  erlischt  und  daß  ferner  hier  keine  spezifischen  Veränderungen 
an  den  Ovarien  vorkommen.  Dem  kann  ich  nicht  zustimmen.  Unter 
den  6  von  mir  untersuchten  Myomovarien  fand  sich  1  bd  rein 
submukOsem  Myom.  Es  zeigte  ganz  dieselben  Veränderungen  wie  die 
anderen,  ganz  abgesehen  davon,  daß  im  allgemeinen  doch  die  An- 
sicht vorherrscht,  daß  bei  submukösem  Myom  die  Menstruation  nicht 
zur  gesetzmäßigen  Zeit  erlischt.  Ich  ging  auf  diesen  Gedankengang 
Henckels  genau  ein,  da  er  doch  mit  ziemlicher  Deutlichkeit  darauf 
hinweist,  daß  dem  Uterus  eine  innere  Sekretion  zukommen  dürfte. 

Außerdem  möchte  ich  noch  kurz  erwähnen,  daß  sich  diese  Ab- 
hängiglceit  des  Ovariums  vom  Uterus  auch  noch  sehr  deutlich  in  der 
Schwangerschaft  dokumentiert,  worauf  ich  in  einer  anderen  Arbeit 
zurückkommen  werde;  nur  so  viel  sei  hervorgehoben^  daß  ich  dort  den 
Nachweis  dafür  zu  bringen  versuche,  daß  sich  das  Ovarium  in  der 
Schwangerschaft  in  dem  Zustande  erhöhter  sekretorischer  Tätigkeit 
befinde. 

Läßt  sich  nun  die  hypothetische  sekretorische  Funktion  des  Uterus 
auch  histologisch  nachweisen?  In  der  prächtigen  Arbeit  von  Hitsch- 
mann und  Adler^)  ist  von  einer  sekretorischen  Tätigkeit  derUterus- 
drfisen  im  prämenstruellen  Stadium  die  Rede.  Dies  ist  aber  eine 
Sekretion  nach  außen,  die  ihren  Höhepunkt  kurz  vor  der  Blutung 
erreicht.  An  ein  einfaches  Durchwandern  des  Sekretes  durch  das 
Epithel  ist  wohl  nicht  zu  denken.  Die  Granulierung  und  Vakuolisie- 
rung  des  Protoplasmas,  die  ich  auch  an  analogen  eigenen  Präparaten 
nachweisen  konnte,  läßt  sich  nur  so  deuten,  daß  gewisse  Stoffe  dem 
Blute  entnommen  werden  und  vermittels  der  Granula  die  Permeabi- 
lität erlangen.  Können  wir  nun  annehmen,  daß  es  sich  hier  einfach 
um  Ausscheidung  blutdrucksteigernder,  toxischer  Substanzen  handelt, 
die  irgendwo  im  Körper  gebildet  werden?  Also  um  eine  einfache 
Filtration?  Ich  glaube,  daß  damit  die  Tatsachen  nicht  übereinstimmen. 
Aus  den  Beschreibungen  sowohl  als  auch  aus  eigenen  Befunden  geht 
hervor,  daß  bereits   in   der  prämenstruellen   Zeit  die  sekretorische 

1)  Monataschr.  f.  Geburtshilfe,  Januar  1908. 

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13]    Die  wechselseitigen  Beziehungen  der  innersekretorischen  Organe  usw.    433 

Tätigkeit  eine  ganz  bedeutende  ist,  und  gerade  zu  dieser  Zeit  steigt 
der  Blutdruck  noch  immer  bedeutend  an,  gerade  zu  dieser  Zeit  zeigen 
sich  Intoxikationserscheinungen.  Es  wäre  nun  denkbar  ^  und  viel-' 
leicht  sprechen  die  Vakuolen  an  der  Basis  der  Zellen  dafür  — ,  daß 
durch  die  Tätigkeit  dieser  Zellen,  ähnlich  anderen  sekretorischen,  dem 
Blute  Stoffe  entnommen  werden,  die  schließlich  zur  Ausscheidung 
kommen,  wobei  die  Schlacken  dieses  Stoifwecbselyorganges  das  ge- 
suchte Toxin  darstellen.  Der  Höhepunkt  der  äußeren  Sekretion  wäh- 
rend der  Menstruation  stellt  nach  der  Beschreibung  der  Autoren 
geradezu  ein  Zugrundegehen  dieser  Zellen  dar.  Und  so  wäre  es 
leicht  erklärlich,  warum  in  der  prämenstruellen  Zeit,  wo  die  sekre- 
torische Tätigkeit  der  Drüsen  einsetzt,  ein  Ansteigen  der  Toxizität 
statthat,  und  mit  dem  Höhepunkt  der  Sekretion,  in  dem  nicht  allein 
relativ  viel  ausgeschieden  wird,  sondern  die  die  Toxizität  bedingenden 
Zellen  zugrunde  gehen,  die  Toxizität  abnimmt,  ganz  abgesehen  von  der 
antagonistischen  Wirkung  des  Ovarialsekretes.  Noch  ein  weiterer 
Befund  an  der  Uterusschleimhaut  fällt  auf,  und  das  ist  die  starke 
Granulierung  der  Bindegewebszwischenzellen.  Ich  will  hier  nur  auf 
die  Versuche  Schückings  hinweisen,  der  aus  dem  Fruchthalter  ein 
Metrotoxin  darstellte,  das  nicht  allein  giftig  wirkte,  sondern  auch 
Blutungen  erzeugte.  Sieht  man  in  der  Deciduazelle  den  Ausdruck  für 
die  Hypertrophie  der  Bindegewebszelle  infolge  gesteigerter  Sekretion, 
wie  in  der  FolHkelluteinzelle  die  Steigerung  der  Sekretion  der  Theka- 
zelle,  so  könnte  man  vielleicht  auch  an  eine  sekretorische  Funktion 
der  Bindegewebszwischenzellen  denken,  die  in  der  Gravidität  zu  Deci- 
duazellen  hypertrophiert  sind.  Man  würde  dann  begreiflich  finden, 
warum  gerade  zur  Zeit  der  Menstruation  sich  Deciduazellen  finden 
und  warum  gerade  die  Dysmenorrhöe  mit  einer  gesteigerten  Decidua- 
bildung  einhergeht.  Man  könnte  die  nervösen  Erscheinungen  der  Dysme- 
norrhöe als  Folge  der  starken  Intoxikation  infolge  der  gesteigerten 
Sekretion  durch  Hypertrophie  der  Bindegewebszellen  bis  zur  Decidua- 
zelle ansehen.  Ein  sicherer  Schluß  aus  der  Histologie  der  Uterus- 
schleimhaut auf  das  Bestehen  der  inneren  Sekretion  des  Uterus  läßt 
sich  freilich  derzeit  nicht  ziehen. 

Ein  Bestätigung  dieser  Ansicht  von  der  Sekretion  des  Uterus  und 
weiterhin  von  der  Abhängigkeit  der  Ovarialsekretion  und  Ovarialerhal- 
tung  von  der  uterinen  Sekretion  wäre  gegeben,  wenn  wir  ähnliche  Befunde 
beim  Manne  erheben  könnten.  Tatsächlich  liegen  solche  Versuchs- 
ergebnisse vor.  Sarralach  und  Pares^)  haben  Hunden  die  Prostata 
entfernt.  Hierauf  fehlten  alle  Sekretionserscheinungen  an  den  übrigen 

1)  Zur  Physiologie  der  Prostata  und  des  Hodens.  Soci6t6  de  biol.  de  Paris 
28.  XII.  1907. 


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434  Otfried  O.  Fellner,  [14 

Geschlechtsorganen  und  es  trat  Atrophie  des  Hodens  auf.  Verffitterte 
man  Glyzerinextrakte  der  Prostata,  so  kam  es  nicht  zur  Atrophie  des 
Hodens,  und  auch  die  Ejakulation  war  möglich.  Spermatozoen  zeigten 
sich  Im  Sperma.  Es  wäre  also  dann  die  Prostata  innersekretorisch 
dem  Uterus,  die  Hoden  dem  Ovarium  gleichzustellen. 

Aus  allen  diesen  Erfahrungen  ergibt  sich  die  Vermutung,  daß  der 
Uterus  intern  sezerniert,  daß  dieses  Sekret  einen  Teil  jener 
Toxine  bilde,  welche  das  Ansteigen  der  Welle  bewirten, 
daß  das  Ovarium  entgiftet,  und  daß  zwischen  beiden  Sekre- 
tionen und  Organen  ein  Abhängigkeitsverhältnis  besteht. 
Dies  stimmt  recht  gut  mit  den  Erfahrungen  Grammatikatis ^),  daß 
die  Molimina  menstrualia  nach  Zurücklassen  der  Ovarien  mit  viel 
schwereren  Erscheinungen  einhergehen,  daß  hier  die  Störungen  viel 
schwerer  sind  als  nach  Kastration.  Ähnlich  lauten  auch  die  Äuße- 
rungen von  Fehling^)  und  Alterthum«).  Aus  einer  Arbeit  von 
Buschbeck ^)  geht  hervor,  daß  bei  Zurücklassen  der  Ovarien  in  der 
ersten  Zeit  zwar  Beschwerden  vorhanden  waren,  daß  sie  später  aber 
aufhörten.  Wenn  bei  Zurücklassen  der  Ovarien  Störungen  vorhanden 
sind,  so  kann  man  dies  nur  so  erklären,  daß  diese  Ovarien,  obwohl 
sie  vielleicht  äußerlich  und  auch  mikroskopisch  nichts  Abnormes, 
insbesondere  hinsichtlich  der  Eireifung  (obwohl  auch  hier  gegen- 
teilig zu  deutende  Befunde  vorliegen)  boten,  doch  sekretorisch  in- 
sufflzient  waren,  wie  ich  vermute  deshalb,  weil  die  antagonistische 
Sekretion  des  Uterus  fehlte.  Allmählich  treten  andere  Organe  für 
das  Ovarium  ein,  und  so  wird  das  Gleichgewicht  wieder  hergestellt. 
Auf  einige  hier  nicht  zitierte  Arbeiten  will  ich  nicht  eingehen;  sie 
stützen  sich  entweder  auf  anatomische  Befunde,  wobei  das  Erhalten- 
sein der  Ovulation  als  beweisend  für  das  Erhaltensein  der  Sekretion 
aufgefaßt  wird,  eine  Annahme,  der  man  sicherlich  nicht  zustimmen 
kann,  zum  Teil  stützen  sie  sich  auf  eine  so  kleine  Zahl  von  Fällen, 
daß  sie  dem  Vergleich  mit  dem  großen  und  sorgfaltig  beobachteten 
Material  aus  der  Klinik  Schauta  nicht  standhalten.  Und  deshalb 
nahm  ich  im  vorhergehenden  insbesondere  auf  dieses  Rücksicht. 

Ein  Punkt  wird  zwar  vielfach  hervorgehoben,  aber  nicht  besonders 
berücksichtigt,  und  kommt  in  den  Statistiken  nicht  zum  Ausdrucke: 
Es  ist  das  Alter  der  Pat.  Es  wurde  vielfach  beobachtet,  daß  bei 
älteren  Pat.  die  Kastration  zumeist  ohne  Beschwerden  verläuft.    Von 


1)  Zcntralbl.  f.  Gyn.  1889,  VII. 

2)  Beitr.  zur  Geburtsh.  Bd.  1. 

3)  Beitr.  zur  Geburtsb.  Bd.  2  und  I.  D.  Freiburg  1895. 

4)  Arch.  f.  Gyn.  Bd.  56. 


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15]       Die  wechselseitigen  Beziehungen  der  innersekretorischen  Organe  usw.    435 

diesem  Gesichtspunkte  aus  sollten  ältere  Frauen  aus  den  Vergleichs- 
Statistiken  ganz  ausgeschieden  werden,  was  nirgends  geschieht.  Obiges 
Faktum  ist  natürlich  leicht  zu  erklären;  die  interne  Sekretion  bei  die- 
sen alternden  Organen  durfte  eine  allmählich  abnehmende  sein,  und 
andere  Organe  springen,  soweit  dies  notwendig  ist,  für  sie  ein.  Wird 
hier  kastriert,  so  werden  minderwertige,  mehr  oder  minder  bereits 
nebensächliche  Organe  entfernt,  die  Ausfallserscheinungen  fehlen  oder 
sind  sehr  gering. 

Von  neueren  Arbeiten  sei  zunächst  die  von  Burckhard^)  erwähnt. 
Zurücklassung  der  Ovarien  macht  das  Auftreten  der  Molimina  häufig 
(22  %),  ändert  nichts  an  der  Häufigkeit  der  Ausfallserscheinungen.  Für 
uns  ist  besonders  bemerkenswert,  daß  die  supravaginale  Amputation 
ungünstigere  Resultate  in  bezug  auf  die  Ausfallserscheinungen  gibt 
als  die  Totalexstirpation,  also  völlige  Obereinstimmung  mit  den  Schlüs- 
sen, die  ich  oben  aus  Tabelle  II  der  Arbeit  von  Mandl  und  Bürger 
gezogen  habe. 

Aus  der  Arbeit  Werths^)  sei  folgendes  hervorgehoben.  Bei  Mit- 
nahme der  Ovarien  in  84%  Ausfallserscheinungen.  Bei  supravaginaler 
Amputation  mit  Belassung  der  Ovarien  in  ca.  65  %  Ausfallserscheinun- 
gen. Die  nach  3  Jahren  untersuchten  Fälle  ergaben  aber  in  85%  Ausfalls- 
erscheinungen. Die  geringe  Verminderung  der  Zahl  der  Ausfallserschei- 
nungen kurz  nach  der  Operation  läßt  sich  leicht  dahin  erklären,  daß 
entsprechend  der  relativ  geringeren  Sekretion  aus  dem  Uterusstumpf 
die  Ovarialsekretion  sich  zunächst  mitunter  als  suffizient  erwies;  später 
reichte  entweder  die  Sekretion  des  Uterus  nicht  mehr  aus,  um  die 
der  Ovarien  zu  erhalten,  oder  die  Sekretion  des  Uterusstumpfes  si- 
stierte,  wodurch  es  auch  zum  Funktionsstillstand  des  Ovarium  kam, 
und  so  traten  Ausfallserscheinungen  auf  und  zwar  in  gleicher  Häufig- 
keit wie  bei  Mitnahme  der  Ovarien.  Daß  in  6  Fällen  Menstruationsblu- 
tungen bei  gleichzeitigen  Ausfallserscheinungen  bestanden,  spricht 
wohl  zugunsten  der  hier  vertretenen  Theorie,  daß  die  Sekretion  der 
Ovarien  abhängig  ist  von  der  Sekretion  des  Uterus.  Da  letztere  hier 
nur  eine  geringe  ist,  kann  nach  der  hier  vertretenen  Theorie  erstere 
auch  nur  gering  sein,  und  es  fehlt  daher  oft  eine  ausreichende  Ent- 
giftung. Die  übrigen  hier  nicht  erwähnten  Arbeiten  (s.  diesbezüglich 
das  Buch  von  Mandl  und  Bürger)  geben  zu  ähnlichen  Schlüssen 
Anlaß  wie  die  zitierten. 

Was  die  Zeit  des  Eintrittes  der  Ausfallserscheinungen  anlangt^ 
so    ist    es    klar,   daß    bei   Mitentfernung    der  Ovarien,    dem  plötz- 


1)  Zeitschr.  f.  Geburtsh.  Bd.  43. 

2)  Klin.  Jahrb.  1902,  Jena. 


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436  Oftried  O.  Fellner,  [16 

liehen  Wegfall  eines  entgiftenden  Organes,  die  Ausfallserscheinungen 
zumeist  sofort  einsetzen  (48%),  während  bei  Belassung  erst  die  all« 
mählich  einsetzende  sekretorische  Insuffizienz  der  Ovarien  die  Erschei- 
nungen entstehen  läßt  (30%  gleich  nach  der  Operation). 

Nur  nebenbei  sei  erwähnt,  daß  die  viel  zitierte  Statistik  eine  Abhängig- 
keit der  Atrophie  des  äußeren  Genitals  von  der  Sekretion  kaum  er- 
kennen läßt.  Wenn  die  Atrophie  bei  Belassung  der  Ovarien  in  25%, 
sonst  in  36%  auftritt,  so  liegt  es  wohl  näher  an  mangelhafte  Ernährung 
infolge  der  schlechten  Gefäßversorgung  zu  denken.  Die  Atrophie 
müßte  sonst  doch  häufiger  sein. 

Einzelne  Details  in  der  Menstruationstheorie  blieben  noch  zu  er- 
läutern. Wodurch  wird  die  Blutung  hervorgerufen,  durch  das  hypo- 
thetische Uterus-  oder  Ovarialsekret?  Ich  meine  durch  letzteres, 
welches  Störungen  im  Uteruskreislauf  zu  erzeugen  imstande  ist  Ich 
verweise  diesbezfiglich  auf  die  Beobachtungen  Gellhorns,  der  durch 
Ovarialtabletten  Blutungen  hervorrief,  ebenso  auf  die  Erfahrungen 
van  de  Veldes.  Daß  es  sich  hier  nur  um  Blutüberfällung  handelt, 
zeigt  die  Mitteilung  Temesvarys^  die  sich  auf  viele  Erfahrungen 
anderer  Autoren  stützt,  daß  man  nämlich  durch  Senfkataplasmen  auf 
die  Brust  die  Menstruation  (sc.  Blutung)  hervorrufen  könne.  Ich 
verweise  auf  die  schon  erwähnten  Versuche  vonFicarelli  und  Hol- 
terbach  und  jene  von  Deal  es.  Hervorrufung  der  Brunst  durch  Yo- 
himbin betreffend.  Von  Interesse  ist  auch  der  Fall  von  Blondel 
und  SendraP).  Nach  Verlust  der  Menses  kam  es  zu  einem  Glau- 
kom, das  auch  die  Iridektomie  nicht  beseitigen  konnte.  Durch  Ova- 
rienkapseln,  Apiol,  Aloe  und  Eisentartarat  gelang  es  die  Menses  her- 
vorzurufen und  das  Glaukom  zu  heilen.  Hierher  gehören  auch  wohl 
die  Erfolge  der  Organotherapie  bei  Chlorose. 

Auch  die  langdauernden  Blutungen  bei  Myom  lassen  sich  auf 
die  verstärkte  Sekretion  der  Myomovarien  zurückführen.  Es 
könnte  zwar  auch  die  vermehrte  Sekretion  der  hyperplastischen  Uterus- 
schleimhaut die  starken  Blutungen  verursachen;  aber  Rön^enbe- 
strahlungen  der  Ovarien  bei  Myom  mit  ihrer  guten,  sofortigen  Wir- 
kung auf  die  Blutungen  (Faveau  de  Courmelles,  M.  Fränkel  usw.) 
sprechen  wohl  entschieden  für  die  Anschauung,  daß  es  das  Ovarial- 
sekret ist,  das  die  Blutungen  erzeugt.  Es  sind  überhaupt  die  Resultate 
der  Röntgenbestrahlungen,  die  mit  aller  Deutlichkeit  darauf  hinweisen, 
daß  das  Ovarialsekret  die  Blutungen  hervorruft.  Man  könnte  zwar 
bei  obigen  Versuchen  an  Myomovarien  meinen,  daß  die  Verringerung 
der  Sekretion  der  Ovarien  auf  die  Uterusschleimhaut  einwirke,  und 

1)  Journ.  of  obstetr.  1903. 

2)  La  Gyn6c.  F6vr.  1904. 


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17]    Die  wechselseitigen  Beziehungen  der  innersekretorischen  Organe  usw.     437 

daß  so  erst  die  Blutungen  beeinflußt  werden.  Aber  solche  Rückbil- 
dungen der  Uterusschleimhaut  —  und  nur  darum  könnte  es  sich 
handeln  —  auf  Grund  des  verringerten  trophischen  Einflusses  der 
Ovarien  brauchen  erfahrungsgemäß  erst  längere  Zeit^  die  Schwächung 
der  Blutung  tritt  aber  sofort  ein.  Und  so  möchte  ich  wohl  annehmen, 
daß  die  Blutung  durch  das  Ovarialsekret  hervorgerufen  wird. 

Nur  die  obenerwähnten  Versuche  von  Schficking  scheinen  da- 
gegen zu  sprechen;  denn  das  Metrotoxin  erzeugt  auch  Blutungen. 
Vielleicht  erfolgt  die  Blutung  auf  dem  Umwege  über  die  Ovarien, 
indem  durch  das  Metrotoxin  das  Ovarium  zur  Sekretion  angeregt  wird, 
und  so  die  Blutung  einsetzt;  ebenso  wie  ich  mir  vorstelle,  daß  durch 
die  starke  Vergiftung  des  Organismus  von  selten  des  hypothetischen 
Uterussekretes  die  Sekretion  des  Ovariums  maximal  gesteigert  wird 
und  die  Blutung  erzeugt. 

Nicht  zu  entscheiden  ist  derzeit  die  Frage  ^  ob  die  interstitiellen 
Zellen  des  Ovariums  oder  die  Luteinzellen  die  Träger  der  Sekretion 
sind.  Es  scheint  doch  ein  kleiner  Unterschied  zwischen  diesen  Zellen 
zu  bestehen.  Denn  Lampe rt^)  beobachtete  eine  hohe  Giftigkeit 
des  Extraktes  der  gelben  Körper,  eine  Giftigkeit,  welche  die  Eier- 
stöcke ohne  gelben  Körper  nicht  besitzen.  Für  die  Abhängigkeit 
der  Menstruation  von  den  Luteinzellen  sprechen  neuerdings  die 
Untersuchungen  von  P.  Ancel  und  F.  Vi  11  em in 2).  Sie  fanden 
eben  gesprungene  Follikel  nur  bei  Frauen,  welche  14  Tage  vor- 
her die  Regel  hatten,  wo  also  die  nächste  Periode  in  12  Tagen 
hätte  stattfinden  sollen.  Der  gelbe  Körper  bilde  sich  zur  Zeit  der 
Periode  aus  und  degeneriere  unmittelbar  nachher.  Zu  ähnlichen  Re- 
sultaten führen  die  beiden  Autoren  auch  Versuche  mit  Ektopie  des 
Ovariums  3),  Versuche,  die  freilich  nicht  ganz  einwandsfrei  sind,  eben- 
sowenig wie  die  Deutung.  Die  Bemerkung,  daß  die  Zellen  der  Glande 
interstitielle  keine  Veränderung  zeigten,  ist  wohl  absolut  nicht  verwert- 
bar. Zu  anderen  Schlüssen  kommen  Leopold  und  Ravano^).  Es 
kann  (freilich  größtenteils  auf  Grund  makroskopischer  Beobachtungen) 
Ovulation  ohne  Menstruation  vorkommen  und  Menstruation  ohne  Ovu- 
lation. Die  letztere  fand  in  mehr  als  einem  Drittel  der  Fälle  nicht 
gleichzeitig  mit  der  Menstruation  statt.  Immerhin  ergibt  sich  meines 
Erachtens  doch  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  eine  gewisse  Abhängigkeit  der 
Menstruation  von  der  Ovulation,  andererseits  neige  ich  zu  der  Ansicht, 
daß  die  interstitiellen  Zellen   gleichfalls  innersekretorische 

1)  Comptes  rendus  de  la  Soc.  de  biol.  Janv.  1907. 

2)  Soc.  de  biol.  Paris  Juillet  1907. 

3)  Soc.  de  biol.  Paris  AoQt  1907. 

4)  Soc.  de  biol.  Paris  Juillet  1907. 


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438  Otfried  O.  Fellner,  [lg 

Kraft  besitzen^  vielleicht  in  gleichem  Sinne,  aber  in  relativ  ver- 
mindertem Maße  wie  die  Luteinzellen.  Ich  verweise  diesbezüg- 
lich und  hinsichtlich  der  sonstigen  Literatur  auf  meine  anderen 
einschlägigen  Arbeiten^).  Auch  die  Untersuchungen  von  Regaudund 
Dubreuil  (Soc.  de  biol.  de  Paris  F6vr.  1008)  können  mich  nicht 
vom  Gegenteil  überzeugen.  Insbesondere  auf  Grundlage  des  makro- 
skopischen Aussehens  und  des  Gewichtes  der  Ovarien  kommen  die 
beiden  Autoren  zu  dem  Schlüsse »  daß  zwischen  der  Glande  inter- 
stitielle und  der  Brunst  ein  Zusammenhang  nicht  bestehe.  Es  handelt 
sich  hier  jedenfalls  um  Sekretionserscheinüngen,  und  dies^  lassen  sich 
wohl  zur  Zeit  der  Brunst  und  kurz  nachher  nicht  mehr  nachweisen. 
Ich  würde  daher  der  Ansicht  zuneigen,  daß  die  Entgiftung  des 
Organismus  durch  die  innere  Sekretion  der  interstitiellen 
Zellen  und  der  Luteinzellen  erfolgt.  Die  Tätigkeit  der  inter- 
stitiellen Zellen  dürfte  eine  geringe  sein  und  während  der  ganzen 
Dauer  des  Intervalls  bestehen,  da  diese  Zellen  zur  Zeit  der  Menstrua- 
tion nicht  wesentlich  anders  aussehen  als  sonst.  Vielleicht  erfahrt 
diese  Sekretion  zur  Zeit  der  Menstruation  eine  Steigerung,  doch  fehlt 
hiefür  noch  jeder  histologische  Beweis;  nur  der  Umstand,  daß  es  eine 
Menstruation  ohne  Eireifung  gibt  (Leopold  und  Ravano,  Hensen, 
Müller  u.  a.)  spricht  für  diese  Annahme.  Außerhalb  der  Menstru- 
ation ist  natürlich  diese  sekretorische  Tätigkeit  der  interstitiellen  Zellen 
sehr  gering,  sie  vermag  der  vermuteten  Tätigkeit  des  Uterus  nicht 
kräftig  entgegenzuarbeiten.  Unabhängig  von  diesen  Vorgängen  reifen 
Eier.  Hat  ein  Follikel  eine  entsprechende  Größe  erreicht,  so  springt 
er,  die  Granulosazellen,  welche  das  Ei  bisher  ernährt  haben,  gehen 
zugrunde,  und  der  starke  Blutzufluß  zum  Follikel,  der  bisher  von  den 
Granulosazellen  absorbiert  wurde,  führt  zur  Hypertrophie  der  Theka- 
zetlen;  die  Luteinzellen  sezernieren  und  vermehren  sich,  sobald  die 
maximale  Toxizität  des  Blutes  ihre  Sekretion  anregt,  also  zur  prä- 
menstruellen Zeit,  kurz  nachher  degenerieren  sie.  Diese  Theorie  ist 
also  nicht  an  eine  bestimmte  Zeit  des  FoUikelsprunges  gebunden  und 
trägt  der  Erfahrung  Rechnung,  daß  der  Follikelsprung  zumeist  vor 


1)  O.  O.  Fellner,  Neuere  Ergebnisse  aus  den  Forschungen  über  das  Corpus 
luteum.  Med.  Klinik  1906,42.  —  O.  O.  Fellner  und  F.  Neumann,  Ober 
Röntgenbestrahlung  der  Ovarien  in  der  Schwangerschaft.  Zentralbl.  f.  G3rn.  1906»  22. 
Der  Einfluß  der  Röntgenstrahlen  auf  die  Eierstöcke  trächtiger  Kaninchen  und  auf 
die  Trichtigkeit.  Z'eitschr.  f.  Heilkunde  Bd.  28,  H.  7.  —  Über  den  Einfluß  des  Cbo- 
lins  und  der  Röntgenstrahlen  auf  den  Ablauf  der  Gravidität.  Muncheaer  med. 
Wochenschr.  1907,  23.  Ferner  meine  demnächst  erscheinenden  Arbeiten:  ^^Ober 
die  Tätigkeit  des  Ovariums  in  der  Schwangerschaft^  .  und  „Zur  Histologie  des 
Ovariums  in  der  Schwangerschaft". 


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19]      Die  wechselseitigen  Beziehungen  der  innerseketrorischen  Organe  usw.    439 

der  Periode  erfolgt.  Auch  dieser  Umstand  ist  nunmehr  leicht  zu  er- 
klären,  da  die  zunehmende  Sekretion  der  interstitiellen  Zellen  zu  einer 
zunehmenden  Blutfülle  der  Ovarien  und  somit  zu  einer  allmählich 
sich  steigernden  besseren  Ernährung  des  Eies  führt. 

Sollte  sich  die  Annahme  einer  Uterussekretion  weiterhin  bestätigen, 
so  ergibt  sich  folgende  Theorie  der  Menstruation,  die  freilich  noch  einiger 
starker  Stützen  bedarf:  Durch  die  innersekretorische  Tätigkeit 
des  Uterus  kommt  es  zu  einer  allmählich  sich  steigernden 
Vergiftung  des  Organismus,  welche  wahrscheinlich  die  Se- 
kretion der  interstitiellen  Ovarialzellen  steigert,  welche 
Steigerung  wieder  zu  einer  stärkeren  Blutfülle  in  den  Ge- 
nitalgefäßen und  somit  zur  Reifung  der  Follikel  führt,  und 
ihr  Maximum  vor  der  Periode  erreicht,  demnach  die  Berstung  des 
Follikels  gewöhnlich  vorher  eintreten  läßt.  Durch  den  Wegfall 
des  Eies  werden  die  Thekazellen  besser  ernährt  und  entwickeln  sich 
zu  Luteinzellen.  Die  maximale  Vergiftung  des  Organismus 
löst  eine  starke  Sekretion,  vielleicht  der  interstitiellen  Zellen,  sicher 
aber  der  Lutefnzellen  aus.  Diese  Sekretion  wieder  entgiftet 
nicht  allein  den  Organismus  durch  ihre  antagonistische  Wirkung, 
sondern  führt  auch  zu  Blutungen  aus  dem  Genitale,  wodurch  ein 
weiterer  Faktor  der  Entgiftung  gebildet  wird.  Schließlich  löst  sie 
auch  die  äußere  Sekretion  der  inzwischen  herangewachsenen  Drüsen 
aus.  Was  hier  ausgeschieden  wird,  ist  fraglich.  Mag  sein  da&uterine 
Sekret,  ein  weiterer  Faktor  der  Entgiftung,  mag  sein  das  ovarielle 
Sekret;  vielleicht  auch  beide.  Daß  ovarielles  Sekret  auch  mit  se- 
zerniert  wird,  dafür  spricht  der  Umstand,  daß  wie  BelH)  nachge- 
wiesen hat,  durch  den  Uterus  Kalk  ausgeschieden  wird,  und  anderer- 
seits die  Tätigkeit  des  Ovariums  mit  Kalkausscheldung  einhergeht. 

Dies  ist  die  Theorie,  die  sich  auf  Grund  eigener  Untersuchungen 
und  der  bisherigen  Forschungsergebnisse  ergibt.  Manches  bedarf 
natürlich  noch  sehr  der  Bestätigung,  andererseits  kann  jede  neue  Tat- 
sache die  Theorie  ganz  oder  zum  Teil  umstürzen,  aber  soweit  die 
heutigen  Kenntnisse  reichen,  scheint  sie  meiner  Ansicht  nach  alles 
zu  erklären. 

II.  Die  innersekretorischen  Organe  und  das  Ovarium. 

Um  das  Verhältnis  der  innersekretorischen  Organe  zum  Ovarium 
verstehen  zu  können,  muß  man  sich  vorerst  über  das  Verhältnis  der 
einzelnen  Organe    zueinander  im   allgemeinen   klar  sein.     Bei   der 


1)  Brit.  med.  Jöurn.  1907,  2716. 


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440  Otfried  O.  Felloer,  [20 

genauen  Durchsicht  der  Literatur  drängen  sich  folgende  Leitsätze  auf, 
deren  Richtigkeit  durch  die  Literaturangaben  bewiesen  werden  soll. 

Wir  haben  im  wesentlichen  3  Paare  von  sekretorischen  Drüsen  zu 
unterscheiden:  Ovarien  und  Uterus,  Schilddrüse  und  Nebenniere  (es 
dürften  da  antagonistisch  noch  andere  Drüsen  in  Betracht  kommen, 
doch  erwähne  ich  der  Einfachheit  halber  nur  die  bedeutendste)  und 
die  Hypophysis.  Letztere  sezerniert  sowohl  blutdrucksteigernde  als 
auch  blutdrucksenkende  Substanzen,  doch  überwiegt  zumeist  die  erstere, 
wie  in  allen  anderen  Paaren.  Die  Tätigkeit  dieser  Drüsen  ist  wohl 
so  aufzufassen:  Im  Organismus  gehen  eine  Reihe  von  Stoffwechsel- 
vorgän^fen  vor  sich,  unter  denen  giftige,  blutdrucksteigernde  das 
Übergewicht  haben.  Um  hier  regulierend  einzuwirken,  sind  bei  den 
höheren  Tieren  und  beim  Menschen  innersekretorische  Organe  ein- 
geschaltet, die  diese  Stoffe  unschädlich  machen,  was  insbesondere 
hinsichtlich  der  Psyche  und  der  Intelligenz  von  Wichtigkeit  ist,  die 
aber  gleichzeitig  den  Blutdruck  herabsetzen.  Da  dies  aber  natürlich 
das  Leben  gefährden  würde,  sind  noch  blutdrucksteigernde  Organe 
vorhanden.  Schaltet  man  ein  blutdrucksteigerndes  Organ  aus,  so 
müßten  natürlich  die  anderen  hypertrophieren.  Hier  fehlen  größten- 
teils entsprechende  Versuche,  und  hinsichtlich  des  inneren  Genitales 
muß  man  auf  die  hier  herrschenden  speziellen  Verhältnisse  Rücksicht 
nehmen,  da  Exstirpation  der  Ovarien  zur  Atrophie  des  Uterus  führt, 
und  wahrscheinlich  umgekehrt  Exstirpation  des  Uterus  mit  der  Zeit 
häufig  die  sekretorische  Insuffizienz  oder  allgemeine  Atrophie  der 
Ovarien  zur  Folge  hat,  wie  ich  oben  ausgeführt  habe» 

Steigerung  der  Tätigkeit  eines  blutdrucksteigernden  Organes  hat 
verstärkte  Tätigkeit  nicht  allein  des  zugehörigen  antagonistischen 
Organes,  sondern  aller  anderen  zur  Folge  z.  B.  Myom— Myomovarium 
(Metrorrhagien)  —  Struma — ^Myomherz,  unter  der  Voraussetzung,  daß 
obige  Hypothese  betreffs  der  Uterussekretion  richtig  ist.  Steigerung 
der  Tätigkeit  eines  entgiftenden  Organes  kann  Steigerung  aller  blut- 
drucksteigernden und  konsekutiv  auch  aller  entgiftenden  Drüsen  zur 
Folge  haben:  Basedow  —  verstärkte  Menstruation*  Doch  ist  hier 
zu  bedenken,  daß  die  Steigerung  der  sekretorischen  Tätigkeit  der 
Schilddrüse  die  Entgiftung  des  Organismus  konstant  in  so  starkem 
Maße  besorgt,  daß  die  Tätigkeit  des  Ovariums  kaum  angeregt  wird, 
und  es  daher  zum  Ausbleiben  der  Menstruation  und  schließlich 
zur  Atrophie  des  Genitales  kommen  kann.  (S.  weiter  unten.)  Und  so 
sehen  wir  Basedow  bald  mit  verstärkter  Blutung,  bald  mit  Atrophie 
der  Genitalien  einhergehen.  Wegfall  oder  Verminderung  der  Tätigkeit 
eines  entgiftenden  Organes  führt  zur  kompensatorischen  Hypertrophie 
der  anderen   entgiftenden  Drüsen  —  Kastration   (Klimax)  —  Struma. 


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21]     Die  wechselseitigen  Beziehungen  der  innersekretorischen  Organe  usw.    441 

Fällt  die  Tätigkeit  eines  entgiftenden  Organes  zur  Zeit  fort,  in  der  die 
Sekretion  der  Genitalien  noch  keine  Rolle  spielt,  so  können  diese 
nicht  hypertrophieren.  Die  gleichzeitige  Hypertrophie  der  anderen 
entgiftenden  Organe  und  die  konsekutive  Verminderung  der  Sekretion 
der  antagonistischen  Druse  macht  wahrscheinlich  die  Sekretion  der 
Genitaldrüse,  welche  später  einsetzen  sollte,  fiberflüssig.  Es  kommt 
zur  Atrophie  des  Genitales. 

Vergleicht  man  die  physiologischen  Wirkungen  des  Uterus-  und 
Ovarialsekretes,  so  stößt  man  auf  große  Schwierigkeiten,  da  die  ver* 
schiedenen  Literaturangaben  insbesondere  hinsichtlich  der  Ovarien 
zumeist  diametral  entgegengesetzt  sind«  Es  ist  dies  auch  nach  dem 
obenerwähnten  leicht  verständlich.  Bei  der  Unkenntnis  einer  inner- 
sekretorischen Tätigkeit  des  Uterus  wurde  manches  auf  die  Ovarien  be« 
zogen,  was  vielleicht  auf  den  Ausfall  beider  Organe  oder  nur  des  Uterus 
zu  beziehe^  ist.  Ich  will  mich  im  folgenden  bemühen,  mich  auf  die 
Angaben  zu  stützen,  die  verwertbar  sind,  das  sind  die  Erscheinungen 
oach  Einverleibung  von  Ovarialsubstanz,  oder  unmittelbar  nach  der 
Kastration.  Zwischen  Tyreoidea  und  Ovarien  herrscht  eine 
gewisse  Übereinstimmung  der  Funktionen.  Thyreoidea  steigert 
den  Sauerstoffverbrauch,  jedoch  bei  weitem  weniger  als  Ovarialextrakt 
(Perrin  und  Blum^).  Thyreoidea  verringert  den  Fettgehalt  des  Or* 
ganismus,  Kastration  und  Klimakterium  gehen  mit  starker  Fettbildung 
einher.  Thyroidea  setzt  den  Blutdruck  herab  2)  und  ebenso  das 
Ovarium.  Schilddrüse  begünstigst  das  Haarwachstum,  ebenso  di^ 
Hoden.  Thyreoidea  erzeugt  Drucksteigerung  der  Diurese^),  Senator^ 
Parkon  und  Papinian  sahen  Vermehrung  der  Ausscheidung  der  Urate 
nach  Darreichung  von  Eierstockspräparaten,  Verminderung  nach  Ent«- 
fernung  der  Eierstöcke,  das  gleiche  beobachtete  Jeandelize  nach 
Thyreoidektomie.  Thyreoidea  vermindert  die  Zurückhaltung  das  Kal- 
ziums (Moraczewski,  Parkon  und  Papinian),  ebenso  das  Ovarium» 
Erweiterung  der  Gefäße  durch  Schilddrüse  und  Eierstock  (Hall ion^). 
Was  die  Ausscheidung  der  Phosphate  anlangt,  so  wird  diese  durch 
Darreichung  von  Ovarin  vermehrt  (Caratullo  und  Tarulli,  Go- 
mez),  durch  die  Kastration  vermindert,  ebenso  ist  sie  bei  Myxödem 
vermindert,  nur  Jeandelize  fand  eine  Vermehrung  der  Phosphate 
nach  Thyreoidektomie.     Worauf  dieser  Widerspruch  beruht,  ist  mir 


1)  Rev.  m^d.  de  Test  Janv.  1906. 

2)  Oliver  und  Schata,  Haskoock,  Gley,  Langlois. 

3)  Lobenstine,  Bull,  of  the  lying   in  hosp.  of  the  City  of  New  York.  Dec. 
1905. 

4)  Soc.  de  biol.  de  Paris  Juillet  1907. 


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442  btfried  O.  Fellner,  [22 

nicht  klar.  Was  den  Einfluß  auf  das  Knochensy^stem  betriffit,  so  sehe 
ich  auch  hier  völlige  Obereinstimmung:  ich  komme  darauf  spater 
zurück. 

V.  Eiseisberg  fand,  daß  junge  Tiere  nach  Schilddrfisenexstirpa- 
tion  atrophische  .Genitalorgane  bekamen.  Hofmeister  beobachtete 
nach  Entfernung  der  Schilddrüse  Frühreife  der  Follikel.  Lanz  be- 
richtet)  daß  Böcklein  wie  Zicklein  in  der  ersten  Jugend  tyreoidekto- 
miert  die  Fortpflanzungsfahigkeit  absolut  einbüßen;  im  fortpflanzungs- 
fähigen Alter  thyreoidektomierte  Tiere  können  die  Fortpflanzungs- 
fähigkeit völlig  verlieren.  Hierher  gehören  auch  die  Versuche  von 
Bleib  treu,  der  nach  Bestrahlung  der  Schilddrüse  Rückgang  der 
Trächtigkeit  beobachtete,  ebenso  wie  Neu  mann  und  ich  nach  Be- 
strahlung der  Ovarien  % 

Ob  die  frühzeitige  FoUikelreifung  als  Versuch  einer  kompensatori- 
schen Hypertrophie,  der  alsbald  aufgegeben  wurde,  anzusehen  ist,  will 
ich  dahingestellt  sein  lassen,  sicherlich  geht  aus  allen  anderen  Ver- 
suchen hervor,  daß  Verlust  der  Schilddrüsenfunktion  in  früher 
Jugend  mit  Atrophie  der  Ovarien  einhergeht,  entsprechend  der 
obigen  Deutung.  Hinsichtlich  der  Einbuße  der  Fortpflanzungsfahig- 
keit bei  älteren  Tieren  und  hinsichtlich  des  Rückgangs  der  Trächtig- 
keit sei  auf  eine  andere  Arbeit  (Tätigkeit  der  Ovarien  in  der  Schwanger- 
schaft) verwiesen. 

Daß  umgekehrt  Kastration  Hypersekretion  der  Schilddrüse  zur 
Folge  hat,  ist  bereits  erwähnt.  So  beobachteten  Parkon  und  Gold- 
stein >)  eine  21jährige  Frau,  die  6  Monate  nach  der  Kastration  eine 
Vergrößerung  der  Schilddrüse  auf  das  Dreifache  aufwieß.  Perrin  und 
Bläu^)  berichten  über  einen  Fall  von  Morbus  Basedowii,der  nachKastra- 
tion aufgetreten  war,  und  durch  Darreichung  von  Ovarienextrakt 
zurückging.  Texion e^)  fand,  daß  Exstirpation  der  Eierstöcke  bei 
Hunderi  zur  vermehrten  Tätigkeit  der  Thyreoidea,  schließlich  aber  zur 
Atrophie  führt.  Von  großem  Interesse  ist  ein  Fall  von  Grimsdale. 
Es  trat  erhebliche  Besserung  des  bestehenden  Morbus  Basedowii  nach 


^  1)  O.  O.  Fellner  und  F.  Neumann,  Der  Einfluß  der  Röntgenstrahlen  auf  die 
Eierstöcke  trächtiger  Kaninchen  und  auf  die  Trichtigkeit  Zeitschr.  f.  Heilkunde 
Bd.  28,  H.  7;  Dieselben,  Ober  den  Einfluß  des  Cholins  und  der  Röntgenstrahlen 
auf  den  Ablauf  der  Gravidität.  Münchner  med.  Wochenschr.  1007,  10;  Ober 
Röntgenbestrahlung  der,  Ovarien  in  der^  Schwangerschaft.  Zentralbl.  f.  Gjm. 
1906,  22. 

2)  Spitalul  1907,  22. 

3)  Revue  m6d.  de  Test  Janv.  1906. 

4)  North  of  Engl,  obstetr.  Soc.  May  1904. 


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23]     Die  wechselseitigen  Beziehungen  der  innersekretorischen  Organe  usw.    443 

doppelseitiger  Salpingo-^Oophorektomle  auf^  die  wegen  schwerer  Dysme- 
norrhöe ausgeffihrt  wurde.  Die  Struma  blieb.  AusFaliserscheinungen 
stellten  sich  nicht  ein.  Wir  haben  also  ursprünglich  eine  Störung 
des  sekretorischen  Gleichgewichtes  gehabt,  nämlich  eine  übermäßige 
Funktion  der  entgiftenden  Organe,  insbesondere  der  Schilddrüse,  aber 
auch  des  Ovariums  (Dysmenorrhöe!);  der  Wegfall  eines  Organes  führte 
zur  besseren  Bilanzierung,  also  zur  erheblichen  Besserung  der  Sym- 
ptome; die  Struma  blieb,  denn  da$  Ovarium  wurde  durch  die  Sphild- 
drüse  ersetzt,  so  gut,  daß  Ausfallserscheinungen  fehlten.  Cessa^) 
beobachtete  gleichfalls  Hypertrophie  der  Schilddrüse  nach  Abtragung 
der  Testikel  wie  der  Ovarien,  ebenso  Mathieu  das  Auftreten  von 
Basedow  nach  Kastration. 

Ober  die  Steigerung  der  ovariellen  Sekretion  (Osteomalazie)  wird 
in  einer  anderen  Arbeit  gesprochen  werden.  Doch  sei  hier  auf  das 
Anschwellen  der  Schilddrüse  während  der  Menstruation  hingewiesen, 
wobei  es  bis  zum  Ausbruch  von  Basedowsymptomen  kommen  kann, 
wie  dies  Hermann  Cohn  in  seiner  Dissertation  beschreibt. 

Bei  Hyposekretion  des  Ovariums  müssen  entsprechend  den  obigen 
Auseinandersetzungen  Störungen  ähnlich  den  Basedowsymptomen  auf- 
treten, da  die  Schilddrüse  zum  Teil  die  Aufgabe  des  Ovariums  über- 
nimmt. Tatsächlich  berichtet  Da  Ich  6  2)  über  solche  Krankheitsfalle, 
die  mit  vasomotorischen  Störungen  und  solchen  nervöser  und  dys- 
peptischer  Natur  einhergingen.  Die  Behandlung  mit  Ovarialt^bletten 
gab  gute  Resultate. 

Auch  die  Chlorose  wird  als  eine  Hyposekretion  des  Ovariums 
aufgefaßt  (Prenant,  Charrin,  Spillmann  und  Etienne  und  De- 
mange^).  Ferner  sei  auf  die  Untersuchung  von  Lacl&re  und  Le- 
vat,  die  eine  Erhöhung  der  Toxizität  des  Blutserums  Chlorotischer 
fanden^  hingewiesen.  Von  besonderem  Interesse  sind  die  Versuche 
von  R.  Breuer  und  von  Seiler^).  Bei  Kastration  nimmt  die  Anzahl 
der  roten  Blutkörperchen  und  die  Menge  des  Hämoglobins  ab.  Wird 
hernach  der  Uterus  entfernt,  so  steigt  die  Zahl  der  Blutkörperchen 
und  die  Menge  des  Hämoglobins  wieder.  Dieses  Ergebnis  stimmt 
recht  gut  mit  dem  oben  vermuteten  Antagonismus  zwischen  Ovarien 
und  Uterus.  Dementsprechend  hatte  die  oyarielle  Therapie  ziemlich 
günstige  Erfolge  (Muret,  Spillmann  und  Etienne,  Jacobs,  Jayle). 
Es   muß   ferner  bei   Chlorose  Hypertrophie  der  Schilddrüse   nicht 


1)  Soc.  m6d.  de  Boul.  Mars  1904. 

2)  Gazette  des  höp.  Juillet  1908.] 

3)  Th^se  de  Nancy  1898. 

4)  Gesellsch.  der  Ärzte,  Wien.  Juli  1903. 


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444  Otfried  O.  Fellner,  [24 

selten  sein  (Hayem,  Perrin  und  Blum^).  Auch  die  bei  Chlorose 
auftretende  Neuritis  optica  kann  nach  Berger  und  Loewy^)  auf  die 
Hypersekretion  der  Schilddrüse  zurückgeführt  werden,  da  Coppez 
(Soc.  Beige  d'ophthalmologie  1903)  als  Folge  von  starker  medikamen- 
töser Darreichung  von  Extrakt  der  Thyreoidea  das  Auftreten  von  Neu- 
ritis optica  beobachtete. 

Hierher  gehören  auch  die  Fälle  von  Basedowscher  Krankheit,  die 
während  des  Klimakteriums  entstanden  sind,  so  3  Fälle  von  Parisot 
(Bull.  m6d.  Janv.  1906). 

Wenn  auch  manche  Autoren  die  Basedowsche  Krankheit  mit  einer 
Degeneration  der  Schilddrüse  in  Zusammenhang  bringen  wollen,  so 
fehlen  doch  hierfür  strikte  Beweise,  und  wir  wollen  in  folgendem 
daran  festhalten,  daß  diese  Krankheit  mit  einer  Steigerung  der  Sekre- 
tion der  Schilddrüse  einhergeht.  Über  das  Inkonstante  des  Befundes 
an  den  Genitalien  und  die  Erklärung  hierfür  habe  ich  mich  schon 
oben  geäußert  Kleinwächter ')  hat  Atrophie  der  Genitalien  mit 
Ausnahme  des  Uterus  beobachtet;  gerade  dieses  Erhaltenbleiben  des 
Uterus  stimmt  recht  gut  mit  obiger  Theorie.  Sänger  konnte  zwar 
einen  derartigen  Zusammenhang  nicht  finden.^)  Daß  tatsächlich  häufig 
weder  eine  Atrophie  des  Uterus,  noch  zum  mindesten  eine  solche  des 
eireifenden  Parenchyms  auftritt,  beweisen  die  Fälle  von  Schwanger- 
schaft bei  Morbus  Basedowii  trotz  Ausbleibens  der  Regel,  wie  ich^) 
einen  solchen  publiziert  habe.  Unter  72  Kranken  Kochers  hatten 
nur  3  Patientinnen  normale  und  starke  Regeln.  Von  8  Fällen  Wil- 
sons (Lancet  Nov.  1906)  war  bei  dreien  die  Blutung  eine  schwache 
oder  fehlte  ganz,  während  2  sehr  starke  Blutungen  hatten.  In  einem 
dieser  Fälle  ging  eine  Atrophie  des  äußeren  und  inneren  Genitales 
mit  dem  Ausbleiben  der  Menstruation  und  dem  Auftreten  der  Base- 
dowsymptome einher. 

Gerade  solche  Fälle  lassen  die  Vermutung  aufkommen,  daß  mit- 
unter vielleicht  das  Ausbleiben  der  Sekretion  des  Ovariums  das  Pri- 
märe und  die  Basedowsymptome  das  Sekundäre  sind.  Denn  tatsäch- 
lich kommen  ja  in  anderen  Fällen  stärkere  Blutungen  vor  (Branwell, 
Simpson).  Langdauernde  Blutungen  (Gillebert  d'Hercourt,  Finck, 
Cheadle,   Haby,  Kelly,  Tillaux,  Collin,   Sansom,  Sallier),  ja 


1)  Rev.  m6d.  de  Test  Janv.  1906. 

2)  Über   Augenerkrankungen    sexuellen    Ursprungs    bei    Frauen.     Wiesbaden, 
Bergmann,  1906. 

3)  Zeitschr.  f.  Geb.  1889,  16. 

4)  Geb.  Gesellsch.  Leipzig,  Mai  1889. 

5)  O.  O.  Fellner,  Die  Beziehungen  innerer  Krankheiten  zu  Schwangerschaft 
usw.  Wien,  Deuticke,  1903. 


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2S]     Die  wechselseitigen  Beziehungen  der  innersekretorischen  Organe  usw.    445 

selbst  Dysmenorrhöe  sind,  beispielsweise  von  Wilson  publiziert.  Im 
fibrigen  möchte  ich  nochmals  auf  das  oben  Gesagte  hinweisen,  daß 
Basedow  höchstwahrscheinlich  deshalb  zum  Ausbleiben  der  Men- 
snmation  fährt,  weil  die  Hypersekretion  der  Schilddrüse  eine  kon- 
tinuierliche,"  so  starke  Entgiftung  des  Organismus  herbeiführt,  daß  es 
nicht  zur  Auslösung  einer  genügenden  Sekretion  des  Ovariums  kommt 
(normaler  Uterus).  Daß  diese  Inaktivttät  schließlich  zur  Atrophie  führt, 
ist  selbstverständlich. 

Der  Wegfall  der  Tätigkeit  der  Schilddrüse  —  Myxödem  —  zu 
einer  Zeit,  wo  die  Genitalien  noch  keine  Rolle  spielen,  führt,  wie 
bereits  oben  erwähnt  und  erklärt,  zu  Aplasie  der  Keimdrüsen. 

Was  die  Dercumsche  Krankheit  betrifft,  welche  von  Sicard  und 
Russyi)  nach  Ovariotomie  beobachtet  wurde,  so  können  die  Erschein 
nungen  wohl  auf  den  Ausfall  der  Eierstöcke  bezogen  werden.  Loe- 
ning^)  denkt  an  Schilddrüsenveränderungen.  Bei  der  Seltenheit  dieser 
Erkrankung  könnte  man  sich  das  Entstehen  derselben  so  erklären,  daß 
in  diesen  Fällen  die  Schilddrüse  von  vornherein  nicht  imstande  war, 
die  sonst  zumeist  auftretende  Hypersekretion  nach  Exstirpation  der 
Ovarien  zu  leisten  und  daher  atrophierte. 

Es  wäre  schließlich  auch  noch  auf  die  Erfolge  der  Opotherapie  >) 
hinzuweisen.  Es  ist  hier  darauf  Rücksicht  zu  nehmen,  daß  es  fast 
gleichgültig  zu  sein  scheint,  von  welchem  entgiftenden  Organ  man 
bei  Steigerung  einer  blutdrucksteigernden  Sekretion  oder  bei  Ausfall 
bzw.  Verminderung  einer  entgiftenden  Sekretion  das  Präparat  benützt. 
Darauf  wurde  zu  wenig  Rücksicht  genommen,  und  es  wurden  oft  aus 
den  Erfolgen  der  Opotherapie  direkte  Schlüsse  auf  die  Erkrankung 
jenes  Organs  gezogen,  von  dessen  Darreichung  man  Erfolge  sah;  und 
dies  wird  man  sicherlich  bei  Berücksichtigung  der  hier  vertretenen 
Theorien  für  nicht  zutreffend  finden.  Wenn  Amenorrhoe  bei  fetten 
Personen  durch  Schilddrüse  günstig  beeinflußt  wird  (Philipps^),  so 
muß  diese  Amenorrhoe  nicht  in  der  Schilddrüse  ihre  Ursache  haben, 
sondern  es  wird  gleichzeitig  eine  Steigerung  der  Schilddrüsenfunktion 
und  somit  entsprechend  den  obigen  Theorien  eine  Steigerung  der 
Sekretion  aller  entgiftenden  Drüsen  herbeigeführt.  Wenn  Blutungen 
bei  Darreichung  von  Schilddrüse  mitunter  geringer  werden,  sobald  es 
sich  um  Myome  handelt,  so  müssen  wir  berücksichtigen,  daß  durch 


1)  Soc.  ni6d.  des  Höpitaux  de  Paris    Oct  1903. 

2)  Kongreß  f.  innere  Med.    München,  April  1906. 

3)  Siehe  auch  O.  O.  Fellner,  Die  Opotherapie  in  der  GynftlLologie.    Therap. 
Rundschau  1907,  29. 

4)  Lancet  Mai  1901. 


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446  Otfried  O.  Fellner,  [26 

die  reichliche  Zufuhr  entgiftenden  Sekretes  die  durch  die  ft'eülch 
hypothetische  Hypersekretion  der  myomatösen  Uterusschleimhaut  her- 
beigeführte Intoxikation  nicht  jene  Höhe  wie  sonst  erreicht,  und  in- 
folgedessen auch  die  Blutung  eine  geringere  ist.  Auch  Perlsee^) 
hatte  mit  Schilddrüse  bei  abnormer  menstrueller  Blutung  guten  Erfolg. 

Aus  dieser  Zusammenstellung  ergibt  sich  eine  völlige  Analogie 
der  Funktionen  des  Ovariums  und  der  Schilddrüse.  Von  einem 
Antagonismus,  wie  ihn  manche  Autoren  annehmen,  kann  wohl  keine 
Rede  sein. 

Bezüglich  der  Hypophysis  habe  ich  bereits  oben  erwähnt,  daß  ich 
mit  Vincent^)  annehme,  daß  sie  zwei  verschiedene  Stoffe  sezemiert, 
einen  in  Alkohol  und  Äther  unlöslichen  blutdrucksteigernden  und  einen 
löslichen  blutdrucksenkenden;  für  gewöhnlich  überwiegt  ersterer.  Wir 
haben  es  also  mit  der  Vereinigung  eines  entgiftenden  Organes  und 
seines  Antagonisten  zu  tun.  Dementsprechend  hat  nach  Mislawski 
Reizung  der  Seehügel  eine  starke  Blutdrucksteigerung,  Pulsverlang- 
samung,  Stillstand  der  Herztätigkeit  und  Veränderung  der  Atmung  zur 
Folge.  Dieser  Anschauung  braucht  es  nicht  unbedingt  zu  wider- 
sprechen, wenn  durch  Darreichung  von  Hypophysenextrakt  die  Phos- 
phorausscheidung und  ebenso  die  Stickstoffausscheidung  vermehrt  wird, 
freilich  beide  nur  in  unbedeutendem  Maße;  denn  es  ist  zu  bedenken, 
daß  hier  zwei  Antagonisten  verabreicht  worden. 

Nach  Rogowitsch^)  tritt  die  Hypophysis  vikariierend  für  die  ent- 
fernte Schilddrüse  ein.  Dies  schließt  man  aus  der  Vergrößerung  der- 
selben. Es  kann  sich  dabei  selbstverständlich  nur  um  jene  Teile  der 
Schilddrüse  handeln,  die  entgiftender  Natur  sind.  Zerstörung  der 
Hypophysis  hat  nach  Vassale  und  Sacchi  dieselben  Erscheinungen 
wie  die  Entfernung  der  Schilddrüse  zur  Folge;  auch  hier  müssen  wir 
auf  den  Wegfall  des  entgiftenden  Teiles  des  Organes  Rücksicht  nehmen. 
Andererseits  hat,  wieFichera  angibt,  Entfernung  der  Keimdrüse  Ver- 
größerung der  Hypophysis  zur  Folge,  ganz  entsprechend  den  obigen 
Leitsätzen.  Tand  1er  und  Groß  bestätigen  diese  Angabe.  Es  ist 
interessant,  daß,  wie  die  beiden  Autoren  angeben,  diese  Vergrößerung 
in  einem  Falle  keine  akromegalischen  Symptome  zur  Folge  hatte, 
wohl  der  beste  Beweis  dafür,  daß  es  sich  um  eine  vikariierende  Ver- 
größerung handelt. 

Akromegalie  nennt  man  eine  Erkrankung,  die  mit  einer  Ver- 
größerung der  Hypophysis  einhergeht,  und  welche  heute  zumeist  auf 


1)  Prager  med.  Wochenschr.  1906,  Bd.  24. 

2)  Journ.  of  exper.  Med.  1898. 

3)  Zieglers  Beitrage  1889. 


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27]     I^ie  wechselseitigen  Beziehungen  der  innersekretorischen  Organe  usw.    447 

dne  Oberfunktion  der  Hypophysis  zurückgeffihrt  wird.  Hierfür  spreclien 
auch  jene  Fälle^  wo  nach  Entfernung  des  Tumors  die  Erscheinungen 
der  Akromegalie  schwanden  (Hochenegg).  Es  fragt  sich  nun^  ob  die 
AkromegaÜe  mit  einer  Überfunktion  des  entgiftenden  oder  des  blut- 
drucksteigernden  Teiles  des  Gehirnanhangs  zusammenhängt.  Man 
sah  gute  Erfolge  mit  Schilddrüsenbehandlung  (Fröhlich,  v.  Frankl- 
Hoch  wart)'.  Dies  würde  dafür  sprechen,  daß  in  diesen  Fällen  die 
blutdrucksteigernde  Komponente  vermehrt  ist.  Doch  ist,  wie  Bar- 
tels^) erwähnt,  zu  bedenken,  daß  die  Besserung  gerade  in  solchen 
Fällen  (Berger,  Bartels)  dann  eintritt,  wenn  das  Präparat  nicht 
mehr  verabreicht  wird.  Da  das  nicht  in  allen  Fällen  vorkommt,  so 
könnte  man  sich  die  Besserung  so  erklären,  daß  durch  die  Dar- 
reichung des  Schilddrüsenextraktes  die  antagonistische  Komponente, 
also  die  blutdrucksteigernden  Drüsen  zur  Tätigkeit  allmählich  angeregt 
werden,  und  daß  die  überdauernde  Überfunktion  dieser  Drüsen  die 
Besserung  herbeiführt;  es  wäre  dann  die  Akromegalie  die  Folge- 
erscheinung einer  Vergrößerung  der  Hypophysis,  die  vor  allem  auf 
einer  vermehrten  Funktion  der  blutdrucksenkenden  Komponenten  be- 
ruht Schwer  zu  erklären  ist  dann,  wieso  die  Darreichung  von  Hypo- 
physensubstanz zu  einer  Besserung  der  Symptome  führt  (Axenfeld, 
Elschnig,  Fleischl,  Uthof).  Man  müßte  sich  dann  vorstellen,  daß 
in  diesem  Tumor  das  ganze  blutdrucksteigernde  Gewebe  zugrunde 
gegangen  ist,  und  daß  die  Zuführung  der  entgiftenden  Substanz  durch- 
Hypophysenextrakt  zur  Herbeiführung  einer  Entgiftung  genügt,  was 
nicht  sehr  plausibel  erscheint,  wie  denn  überhaupt  die  Erklärung  der 
therapeutischen  Erfolge  auf  Grund  der  vorerwähnten  Annahmen  der 
Schwierigkeiten  genug  bietet. 

Geht  man  aber,  was  logischer  zu  sein  scheint,  von  der  letzteren 
Erfahrung  aus,  so  ist  anzunehmen,  daß  bei  der  Vergrößerung  der 
akromegalischen  Hypophysis  das  blutdrucksteigernde  Gewebe  zugrunde 
gegangen  ist,  und  daher  die  Zuführung  von  Hypophysenextrakt  von 
Nutzen  ist.  Die  Besserung  nach  Aufhören  der  Behandlung  mit  Schild- 
drüsenextrakt ist  dann  viel  leichter  in  logischer  Weise  zu  erklären* 
Während  der  Darreichung  von  Schilddrüsenextrakt  werden  die  der 
Schilddrüse  direkt  antagonistischen  Drüsen  zur  vermehrten  Tätigkeit 
angeregt  und  hypertrophieren.  Der  augenblickliche  Effekt  auf  die  Akro- 
megalie wird  daher,  da  sich  das  künstlich  zugeführte  Sekret  mit  der 
durch  die  Darreichung  erzeugten  Hypersekretion  der  Antagonisten  so 
ziemlich  das  Gleichgewicht  hält,  ein  sehr  geringer  sein.  Setzen  wir 
die  Schilddrüsenmedikation  aus,  dann  dauert  die  Sekretion  der  hyper- 

1)  Naturwissenschaftlicher  Verein  Straßburg^  Nov.  1907. 

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448  Otfried  O.  Pellner,  [28 

trophierten  antagonistischen  Drüsen  noch  eine  Zeltlang  an,  ohne  dafi 
entgiftende  Substanz  zugeführt  wird,  und  der  Überfunktion  des  blut- 
drucksenkenden Sekretes  der  akromegalischen  Hypophysis  wird  da- 
durch entgegengearbeitet.  Dieser  Anschauung  entsprechend,  die  ich 
nach  dem  heutigen  Stande  der  Erfahrungen  akzeptieren  möchte,  ohne 
mich  aber,  da  mir  eigene  Untersuchungen  diesbezüglich  nicht  zu 
Gebote  stehen,  dafür  einzusetzen,  würde  die  akromegalische  tiypophysis 
einer  Drüse  entsprechen,  welche  vorwiegend  entgiftendes  Sekret 
produziert;  sie  wäre  also,  was  ihren  EinfluQ  auf  die  anderen  Drusen 
betrifft,  der  Schilddrüse  und  dem  Ovarium  gleichzustellen. 

Wir  finden  dementsprechend  bei  der  Akromegalie  die  Schilddrüse 
sehr  häufig  vergrößert,  und  wie  Pineles  (Volkmanns  Sammlung  kUo. 
Vorträge  242)  beobachtet  hat,  finden  sich  unter  den  konstanten  Er- 
scheinungen der  Akromegalie  eine  Anzahl  Störungen,  die  sich  beim 
Morbus  Basedowii  wiederfinden.  Mendel  beschreibt  einen  Fall  von 
Hypophysentumor,  Struma,  Persistenz  der  Thymus,  Mastitis  und 
zystischen  Tumor  der  Ovarien,  A.  FränkeP)  einen  Fall  von  Hypo* 
physentumor,  Struma,  knotiger  Verdickung  im  Pankreas  und  Ovarial- 
zyste.  Ebenso  findet  sich  nach  Claude')  bei  Morbus  Basedowii  Akro- 
megalie. Dies  stimmt  mit  den  obigen  Leitsätzen,  daQ  Hyperftinktion 
einer  entgiftenden  Drüse  die  der  andern  zur  Folge  hat.  Ebenso  hat 
auch  Überfunktion  der  Schilddrüse  das  gleiche  an  der  Hypophysis  zur 
Folge.  Ja,  es  gibt  Autoren,  wie  Petrin')  und  Mendel^),  welche  in 
Fällen  von  Akromegalie  ohne  Veränderung  der  Hypophysis  annehmen, 
daß  hier  die  Schilddrüse  dieselbe  Rolle  spielt,  wie  die  Hypophysis. 
Die  Möglichkeit  wohl  zugegeben,  ist  zu  berücksichtigen,  daß  wir  auch 
mikroskopisch  kaum  in  der  Lage  sind,  zu  entscheiden,  ob  die  Hypo- 
physis normal  sezerniert  hat.  Diese  gleichzeitige  Veränderung  an  der 
Schilddrüse  und  Hypophysis  erklärt  auch  den  Befund  Holmgrens^), 
daß  Patienten  im  Pubertätsalter  mit  Morbus  Basedowii  eine  aboorm 
große  Körperlänge  erreichen.  Ferner  kommt,  wie  ich  hier  vorweg- 
nehmen will,  in  der  Gravidität,  die  —  darüber  soll  in  einer  anderen 
Arbeit  ausführlich  die  Rede  sein  —  mit  vermehrter  Tätigkeit  des 
Ovariums  einhergeht,  nicht  selten  eine  Hypertrophie  der  Hypophysis 
vor.  Ich  verweise  diesbezüglich  auf  die  von  Halban  und  erst  vor 
kurzem  von  Tandler  und  Groß  erwähnten  akromegalischen  Symptome 
in  der  Schwangerschaft. 

1)  Soc.  de  biol.  1905,  t.  50. 

2)  Virchows  Arch.  1907. 

B>  Verein  für  Innere  Med.  1.  April*  1901. 

4)  Berliner  klin.  Wochenschr.  1900. 

5)  Hygiea  Bd.  18. 


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29]     Die  wechselseitigen  Beziebmigeii  der  innersekretorischen  Organe  usw.    449 

Es  wftre  ferner  noch*  auf  Zeichen  der  Atrophie  «n  den  Genindien 
bei  Akromegiüle  hinzuweisen«    Verschiedentlich  wird  angegeben,  d«fi 
Akromegalie  mit  Aufhören  der  Menstruation  einhergefat  (siehe  oben). 
Man  darf  dies  nicht  ohne  weiteres  als  eine  Atrophie  des  Genitales 
auffassen,  denn  es  wird  bei  der  Amenorrhoe  der  Akromegaliscfaen  der 
Uterus  meist  normal  angetroffen.   Ich  möchte  daher  diese  Amenorrhoe 
ibnlich  wie  die  Basedowamenorrhöe  auffassen.   Durch  die  Steigerung 
der  entgiftenden  TätiglLcit  der  Hypophysis  (vermehrt  durch  die  gleich- 
zeitige HyperselLretion  der  Tyreoidea)  wird  eine  solche  Entgiftung  des 
Organismus  herbeigeführt,  daß  es  nicht  zur  Auslösung  einer  genügenden 
Ovarialsekretion,  einer  Menstruation  kommt  (normaler  Uterus !).  Schließ- 
lich kann  auch  hier  die  Untätigkeit  zur  Atrophie  führen.    Schmidt- 
Rimpler^)  hat  den  ersten  anatomisch  festgestellten  Fall  von  Hirntumor 
beobachtet,  der  unter  Erscheinungen  der  Amenorrhoe  und  Sehnerven- 
atrophie einherging.    Hier  handelte  es  sich  aber  um  einen  Uterus 
infantilis.    In  anderen  Fällen,  so  in  denen  von  Axenfeld^),  Yama- 
gucki»),  BayerthaH),  Abelsdorf*),  L.  Müller«),  Karafiath^),  ist 
zu   mindest   das    gleichzeitige   Auftreten    der  Amenorrhoe    mit   der 
Erkrankung  des  Hirnanhangs   wahrscheinlich.     Patellani®)   hat  200 
solcher  Fälle  zusammengestellt.    Hierzu  stehen  natürlich  die  Befunde 
von  Tandler  und  Groß  nicht  im  Widerspruch.   Diese  fanden  patho- 
logische Veränderungen  des  Epithels  der  Samenkanälchen  und  der 
Zwischenzellen,  sowie  totale  Rückbildung  der  Primordialfollikel.    Die 
beiden  Autoren  neigen  mehr  zu  der  Ansicht,  daß  die  primäre  Ver- 
änderung in  der  Keimdrüse  sitzt,  weil  in  sehr  vielen  Fällen  die  ge- 
störte Funktion  der  Keimdrüse  die  erste  Manifestation  der  Akromegalie 
ist.    Man  muß  hier,  glaube  ich,  sehr  vorsichtig  sein.    Die  Störung 
der  Menstruation  ist  ein  augenfälliges  Symptom;  ich  wüßte  aber  nicht, 
welches  Symptom  der  Akromegalie  in  der  ersten  2^it  so  augenfällig 
wäre.    Nur  Röntgenuntersuchungen  gleich  bei  Ausbleiben  der  ersten 
Regel  könnten  hier  vielleicht  eine  Entscheidung  bringen.    Gegen  die 
von  Tandler  und  Groß  favorisierte  Annahme  würde  außer  der  nor- 
malen BeschafPenheit  des  Uterus  die  Beobachtung  sprechen,  daß  Akro- 

1)  Die  Erkrankungen  des  Auges  im  Zusammenhange  mit  anderen  Erkrankungen. 
Wien,  Holder,  1896. 

2)  Vereinig.  Sudwestdeutscher  Irrenärzte  1902. 

3)  Klln.  Monatsbl.  f.  Augenheilk.  XLI. 

4)  S6m.  M6d.  1905,  t.  47. 

5)  Arch.  f.  Augenheilk.  XXI. 

6)  S6m.  M6d.  1905,  t.  47. 

7)  Ibid. 

8)  Gyn.  Ges.  Mailand,  Sept.  1906. 


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450  Otfried  O.  Fellner,  [30 

megalie  nicht  selten  von  einer  Schwangerschaft  her  datiert  wird,  was 
auch  Tandler  und  Groß  erwähnen.   Denn  die  Schwangerschaft  geht, 
wie  ich  an  anderer  Stelle  zu  erweisen  suche,  mit  einer  vermehrten 
Tätigkeit  des  Ovariums  einher.   Es  wfirde  daher  die  Akromegalie  von 
einem  Zeitpunkte  ihren  Anfang  nehmen,  wo  die  Tätigkeit  des  Ovariums 
verstärkt  ist.    Bei  solchen  Angaben  muß  man  aber,  wie  ich  schon  in 
früheren  Arbeiten  erwiesen  habe,  sehr  vorsichtig  sein.    Vor  allem 
pflegen  Frauen  ihre  ganze  Zeitrechnung  auf  Schwangerschaften  einzu- 
richten: Das  war  damals,  als  ich  zum  drittenmal  schwanger  war. 
Dann  aber  ist  zu  bedenken,  daß  nicht  allein  Krankheitserscheinungen 
in  der  Schwangerschaft  aggravieren,  sondern  auch  unter  anderen  in 
der  Schwangerschaft  regelmäßig  auftretenden  Störungen  solche  sind, 
die  zu  dem  Bilde  der  Akromegalie  gehören.    Was  die  Fettleibigkeit 
bei  Hypophysenerkrankung  betrifi^t,  aufweiche  A.  Fröhlich  aufmerksam 
gemacht  hat,  so  muß  man  hier  wohl  zwischen  der  Akromegalie  und 
der  Unterentwicklung  der  Hypophysis  unterscheiden.    Der  Fall  von 
traumatischer  Verletzung  der  Hypophysis  (Madelung)  gehört  in  die 
letztere  Gruppe.   Bei  Hypofunktion  oder  Wegfall  der  gesamten  Hypo- 
physissekretion  haben  wir  denselben  Zustand  vor  uns  wie  nach  Total- 
exstirpation  des  Genitales.    Wegfall  einer  entgiftenden  Drfise  fährt 
zur  Fettentwicklung,  ebenso  wie  dies  bei  Myxödem  der  Fall  ist.   Fett- 
entwicklung bei  Akromegalie  aber,  wo  es  zu  einer  Hypofunktion  des 
Ovariums  oder  gar  schließlich  zur  Atrophie  des  Genitales  gekommen 
ist,  muß  notwendigerweise  auf  das  Ovarium  zurückgeführt  werden. 
Es  läßt  sich  also  auch  aus  diesem  Verhalten  kein  Schluß  auf  das 
Primäre  der  Hypofunktion  des  Genitale  ziehen.    Am  meisten  wider- 
spricht aber  dieser  Ansicht  das  gleichzeitige  Vorkommen  der  Akro- 
megalie und  der  Schwangerschaft.    War  jene  vor  dieser  vorhanden, 
dann  ist  sicher  die  Atrophie  des  Genitales  nicht  das  Primäre.    Ent- 
stand die  Akromegalie  aber  in  der  Schwangerschaft,  dann  kann  sie 
erst  recht  nicht  mit  einer  Unterfunktion  des  Ovariums  in  Zusammen- 
hang gebracht  werden.    Ich  neige  also  mehr  zu  der  Ansicht,  daß  die 
Veränderung  der  Hypophyse  das  Primäre  ist. 

Streng  hiervon  zu  trennen  ist  der  Riesenwuchs  bei  Infantilismus 
und  bei  frühzeitig  Kastrierten.  Tand  1er  und  Groß  legen  bei  dem 
Knochenwachstum  das  Schwergewicht  auf  die  Schilddrüse.  Tatsächlich 
spielen  frühzeitige  extra-  und  intrauterine  Erkrankungen  der  Schild- 
drüse beim  Zustandekommen  des  Infantilismus  eine  große  Rolle.  Da- 
gegen wird  von  Sanctis  und  anderen  Autoren  angeführt,  daß  es  schwere 
und  leichte  Infantilismusformen  gibt,  bei  denen  die  Schilddrüse  wohl- 
erhalten ist.  Es  muß  auch  auf  die  anderen  Drüsen  hinsichdich  des 
Knochenwachstums  Rücksicht  genommen  werden,  vor  allem  auf  die 


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31]     Die  wechselseitigen  Beziehungen  der  innersekretorischen  Organe  usw.    451 

Thymus.  Basch  hat  gezeigt,  daß  Tiere  nach  Exstirpation  der  Thymus- 
drfise  einen  viel  grazileren  Knochenbau  aufwiesen ^  und  daß  nach 
Knochenbrüchen  die  Kallusbildung  eine  sehr  geringe  war.  Ich  zitiere 
ferner  Tandler  und  Groß:  Es  ist  eine  längst  bekannte  Tatsache,  daß 
die  Thymus  des  Menschen  durchschnittlich  nach  dem  2.  Lebensjahre 
im  Wachsen  stehen  bleibt ,  während  ihre  Involution  knapp  vor  dem 
Beginn  der  Pubertät  anfangt.  Es  ist  mehr  als  wahrscheinlich,  daß 
die  Reifung  der  Geschlechtsdruse  die  Involution  der  Thymus  hervor- 
ruft. Bei  kastrierten  Rindern  bleibt  die  Thymus  länger  bestehen  als 
bei  nichtkastrierten  (Calzolari,  Henderson,  Goddal).  Wir  selbst 
konnten  feststellen,  daß  bei  früh  kastrierten  Tieren  die  Thymus  per- 
sistiert. Aber  auch  Einwirkung  der  Thymus  auf  die  Keimdrüse  wurde 
schon  beschrieben.  Noel  Paton  hat  mitgeteilt,  daß  bei  Meerschwein- 
chen nach  Entfernung  der  Thymus  angeblich  eine  Gewichtszunahme 
der  Testikel  zu  konstatieren  sei.  Dies  spricht  meiner  Ansicht  nach 
wohl  mit  Deutlichkeit  dafür,  daß  die  Thymus  in  die  gleiche  Ordnung 
wie  Schilddrüse  und  Ovarium  zu  stellen  ist,  daß  die  Aufgabe  der 
Thymus,  freilich  in  verstärktem  Maße,  später  vom  Ovarium  über- 
nommen wird.  Es  darf  daher  nicht  .wundernehmen,  daß  bei  Infanti- 
lismus, sowie  bei  frühzeitig  Kastrierten  die  Thymus  persistiert. 

Pierre  Marie,  Lannois  u.  a.  haben  nachgewiesen,  daß  die  Hyper- 
trophie der  Hypophysis  während  des  Wachstums  Riesenwuchs,  nach- 
her Akromegalie  hervorrufe.  Tandler  und  Groß  legen  großes  Ge- 
wicht auf  die  Schilddrüse.  Ich  meine,  daß  hier  alle  innersekretorischen 
Organe  in  ihrer  gegenseitigen  Wechselwirkung  von  Belang  sind. 

Es  läßt  sich  hier  eine  Skala  aufstellen:  je  geringer  die  Kraft  der 
entgiftenden  Organe,  desto  geringer  das  Wachstum;  hierbei  ist  natürlich 
auf  die  möglicherweise  bestehende  antagonistische  Wirkung  des  Uterus 
Rücksicht  zu  nehmen.  Hinsichtlich  der  Akromegalie  ist  auch  beispiels- 
weise Indem  ans  i)  der  Ansicht,  daß  nicht  die  Hypophysis  allein  die 
Ursache  ist,  sondern  auch  Störungen  des  Thyreoidalsystems  und  der 
Genitaldrüsen.  Beim  chondrodystrophischen  Zwerg  haben  wir  vielleicht 
eine  normale  Hyphophysis,  eine  in  ihrer  Sekretion  schwache  Schild- 
drüse, normales  Ovarium,  normales  Genitale.  Der  kretinistische 
Zwerg  hat  eine  Vergrößerung  der  Hypophysis,  eine  mangelhaft  funk- 
tionierende Schilddrüse,  Hypoplasie  des  Genitales.  Beim  normalen 
Menschen  kommt  die  normale  Schilddrüsensekretion,  das  normale 
Genitale  hinzu  und  fällt  die  Vermehrung  der  Hypophyslssekretion 
fort.    Die  Osteomalazie  zähle  ich  auch  zu  den  Erkrankungen,  wo  ein 


1)  Nederl.  Tijdschr.  v.  Geneesk.  2.  III.  1908. 


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452  Otfriod  O,  Fellnar^    ,  [32 

Koocbenwachstuoi  ^fattfindei«!)  Hier  haben  wir  verstärkte  Tätigkeit 
der  Hypophyse,  der  Schilddrüse,  des  Ovariums  und  des  Uterus.  Bei 
Akromeg^lie  verstärkte  Tätigkeit  der  Hypof^ysis,  Schilddrüse,  FehleiKle 
des  Ovariums  und  wahrscheinlich  fast  normale  des  Uterus«  Stärkstes 
Längenwachstum  beim  Kastrierten:  verstärkte  Tätigkeit  der  Hypophyse, 
der  Schilddrüse,  normale  der  Thymus,  fehlende  des  Ovarium  uad 
Uterus.  Freilich  ist  hier  zu  bemerken,  .da&  die  Angaben^  nicht  ein- 
deutig sind.  So  hat  Cesca  (Soc.  med,  Chirurg,  de  Boulogne,  Mars 
1004)  nach  Abtragung  des  Testikels  wie  des  Ovariums  Hypertrophie  der 
Schilddrüse  und  der  Nebenniere  beobachtet,  während  Parathyreoidea, 
Hypophysis  und  Thymus  keine  Veränderungen  zeigten. 

Was  das  Verstreichen  der  Epiphysenfugen  betrifft,  so  scheint  dies 
als  Reifeerscheinung  an  das  Obergehen  der  Sekretion  von  der  Thymus 
auf  das  Genitale  gebunden  zu  sein.  Mit  der  Pubertät  verschwinden 
die  Epiphysenfugen.  Bei  frühzeitig  Kastrierten  bleiben  diese  bestehen 
und  ebenso  beim  kretinistischen  Zwerg,  der  ein  hypoplastisches  Geni- 
tale und  häufig  Persistenz  der  Thymus  aufweist;  während  beim  chondro- 
dystrophischen Zwerg  die  Epiphysenfugen  frühzeitig  verstreichen,  jeden- 
falls infolge  frühzeitiger  Sekretion  des  Genitales.  Vielleicht  spielt 
beim  Verstreichen  der  Fugen  die  beginnende  Sekretion  des  Uterus 
eine  Rolle. 

Es  wäre  schließlich  noch  daraufhinzuweisen,  daß  manche  Autoren, 
so  Berger  undLoewy^),  die  Amenorrhoe  nicht  mit  der  Hypophysis 
in  Zusammenhang  bringen,  sondern  mit  dem  Hydrocephalus  internus. 
Sie  berufen  sich  hierbei  auf  2  Fälle  von  Herbst')  mit  Stauungspapille, 
Amenorrhoe  und  Hydrozephalus.  In  einem  derselben  schwand  die 
Stauungspapille  nach  der  Lumbalpunktion;  gleichzeitig  trat  eine  Besse- 
rung der  Sehschärfe  und  das  Wiedererscheinen  der  Menstruation  auf. 
Mit  Rücksicht  aber  auf  die  obigen  Tierversuche  und  Krankengeschichten 
liegt  es  wohl  näher  anzunehmen,  daß  der  Hydrozephalus  Stauung 
oder  Kompression  in  der  Hypophysis  und  so  ähnliche  Veränderung 
in  der  Sekretion  derselben  zur  Folge  hatte  wie  Hirntumoren  und  solche 
der  Hypophysis  selbst. 

Ebenso  wie  Unterfunktion  der  Ovarien  zur  Hyperfunktion  der  an- 
deren entgiftenden  Organe  führt,  so  ist  dies  auch  bei  Myxödem  der 


1)  Siehe  O.  O.  Fell n  er,  Die  Beziehungen  innerer  Krankheiten  zur  Schwanger- 
schaft usw.  Wien,  Deuticke,  1903  und  die  demnächst  erscheinende  Arbeit:  Ober  die 
Tätigkeit  des  Ovariums  in  der  Schwangerschaft. 

2)  1.  c. 

3)  Wiener  klin.  Wochenschr.  1902. 


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33]     Die  wechselseitigen  Beziehungen  der  innersekretorischen  Organe  usw.     453 

Fall,  und  finden  wir  auch  hier  Akromegalie  (Pineles^))  Huisman^), 
Greeve^). 

Die  Thymus  steht  in  vollkommener  Analogie  zur  Schilddruse  und 
zum  Ovarium.  Auszüge  der  Thymus  wirken  nach  Svehla^)  puls- 
beschleunigend und  blutdruckerniedrigend.  Die  Thymus  verringert 
auch  die  Zurückhaltung  des  Kalziums.  Über  ihre  Wechselbeziehung 
zum  Ovarium  wurde  bereits  oben  das  Wichtigste  angeführt.  Nach  all 
dem  bisher  Angeführten  kann  es  nicht  wundernehmen,  daß  wir  bei 
Basedow  nicht  gar  so  selten  Persistenz  und  Hypertrophie  der  Thymus- 
drüse finden.  Gierke^)  konnte  42  solcher  Fälle  aus  der  Literatur 
zusammenstellen.  Auch  bei  Akromegalie  müßte  man  a  priori  an- 
nehmen, daß  sich  öfters  Thymuspersistenz  findet.  Ich  verweise  auf 
die  früher  erwähnten  Fälle  von  Mendel  und  A.  Fränkel.  Nagel 
gibt  an,  daß  die  Autoren  bald  den  Schwund,  bald  die  Persistenz  der 
Thymus  angeben. 

Abtragung  des  Testikels  wie  des  Ovariums  hat  nach  Cecca  nebst 
Hypertrophie  der  Schilddrüse  auch  eine  solche  der  Nebennieren 
zur  Folge.  Ebenso  fand  Marchand  bei  einem  Falle  von  Hermaphro- 
ditismus femininus  Atrophie  der  Ovarien  und  Hypertrophie  der  Neben- 
nieren. Theodossiew«)  beobachtete  bei  Tieren  10  Monate  nach  der 
Kastration  vor  allem  Hyperplasie  der  Rindenzellen.  Es  sei  ferner  auf 
die  Hypersekretion  der  Nebennieren  in  der  Schwangerschaft  hinge- 
wiesen. Auf  den  Antagonismus  zwischen  Tyreoidea  und  Nebennieren 
haben  Loeper  und  Courzow  aufmerksam  gemacht. 

Auch  das  Pankreas  gehört  in  die  Reihe  der  entgiftenden  Drüsen. 
Bei  Akromegalie  findet  sich  vielleicht  Hypertrophie  des  Pankreas 
(Mendel,  A.  Fränkel).  Andererseits  führt  Exstirpation  des  Pankreas 
zu  Hyperaktivität  der  Schilddrüse  (Lorand^.  Innig,  wenn  auch  zu 
wenig  beachtet,  sind  die  Beziehungen  des  Diabetes  zum  Genitale.  Die 
Periode  wird  immer  schwächer,  bis  sie  schließlich  ganz  erlischt. 
Gleichzeitig  setzt  eine  allmählich  zunehmende  Atrophie  des  Uterus 
und  eine  solche,  sekundäre,  der  Ovarien  (Hofmeier)  ein.  Eine  Er- 
klärung für  diese  Tatsache  wage  ich  nicht  auszusprechen,  da  sie  der- 
zeit zuviel  der  Theorien  und  Hypothesen  enthalten  würde.    Das  gleiche 


1)  Volkmanns  Samml.  klin.  Vortr.  242. 

2)  Therapie  der  Gegenwart  1903,  Bd,  44. 

3)  New  York.  med.  Journ.  vol.  82. 

4)  Arch.  f.  exper.  Pathologie  1900,  Bd.  43. 

5)  Münchner  med.  Wochenschr.  1907,  Bd.  16. 

6)  Russki  Wratsch  Febr.  1906. 

7)  Pres.  m6d.  1904,  27. 

Kilo.  Vorträge,  N.F   Nr.  508.    (Gynäkologie  Nr.  185.)    Sept.  1908,  34 


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454  Otfried  O.  Fellner,  Die  wechselseitigen  Bezieh,  d.  innersek.  Organe  usw.  [34 

gilt  für  die  Tatsache,  daO  Diabetes  häufiger  bei  Männern  vorkommt. 
Bouchardet^)  berechnet  172  Männer  auf  53  Frauen. 

Von  obigen  Regeln  einigermaßen  abweichend  sind  die  Angaben 
einzelner  Autoren  wie  Kleinwächter^)  und  Jahreiß^),  welche  auch 
stärkere  Blutungen  bei  Diabetes  beschreiben.  Es  handelt  sich  hier 
aber  meist  um  Myome,  wie  überhaupt  bei  Myomen  Diabetes  nicht 
selten  ist  (Naunyn^)  8  Fälle  unter  400  diabetischen  Individuen, 
Boas 5)  12  unter  366).  Mit  aller  Reserve  möchte  ich  die  Vermu- 
tung aussprechen,  daß  hier  eine  starke  Sekretion  des  Uterus  be- 
steht, die  vielleicht  hinsichtlich  der  Glykosurie  der  Nebennierensekre- 
tion gleichzustellen  ist.  A.  Glies  gibt  an,  daß  Glykosurie  nach  Ent- 
fernung des  Myoms  prompt  schwindet. 

Schwieriger  zu  erklären  sind  die  Fälle  von  Imlach«),  Beyea'), 
Giles^),  Gottschalk^)  und  der  meine^).  Es  handelte  sich  um 
Schwinden  der  Zuckerausscheidung  nach  Entfernen  der  Adnexe  oder 
des  Uterus.  Hier  kämen  zwei  Momente  in  Betracht,  eventuell  der 
Wegfall  einer  blutdrucksteigernden  Drüse,  andererseits  der  Umstand, 
daß  vielleicht  durch  den  Wegfall  der  Eierstöcke  die  anderen  ent- 
giftenden Drüsen,  darunter  auch  das  Pankreas,  hypertrophieren  dürften. 

Ganz  im  Widerspruch  mit  den  sonstigen  Erfahrungen  steht  ein 
anderer  von  mir  publizierter  Fall,  wo  einige  Zeit  nach  Exstirpation 
eines  Myoms  Diabetes  auftrat. 

Wenn  ich  das  wichtigste  Ergebnis  dieser  Studie  kurz  zusammen- 
fasse, so  haben  wir  in  einem  Teil  der  Hypophysis,  in  der  Schild- 
drüse, dem  Pankreas,  der  Thymus  und  der  Ovarien  blutdrucksenkende 
Drüsen  vor  uns,  die  sich  gegenseitig  vertreten  können,  und  welchen 
ein  Teil  der  Hypophysis,  die  Nebenniere  und  vielleicht  der  Uterus 
als  blutdrucksteigernde  Drüsen  antagonistisch  gegenüberstehen. 

1)  De  la  glycosurie  ou  diabMe  sucr6.  Paris  1875. 

2)  Zeitschr.  f.  Gyn.  1900,  Bd.  43. 

3)  Zentralbl.  f.  Gyn.  1901,  Bd.  2. 

4)  Der  Diabetes  mellitus.  Nothnagels  Handb.  1878. 

5)  Hufeland-Gesellsch.  20.  Nov.  1902. 

6)  Brit.  med.  Journ.  July  1885. 

7)  Amer.  Journ.  of  obstetr.  1900. 

8)  Brit.  med.  Journ.  1900. 

9)  O.  O. Fellne  r,  Über  den  Diabetes  in  der  Chirurgie.  Wiener  klin.  Wochenschr. 
1903,  Bd.  34. 


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509. 

(Innere  Medizin  Nr.  153.) 

Die  Seekrankheit  und  ihre  Verhütung. 


Von 


J.  A.  van  Trotsenburg^ 

Offleier  van  gezondheid  1«  kl.  (Konigl.  NiederL  Marine). 


/ 


Obgleich  die  Frage  der  Seel^rankheit  schon  oft  das  Interesse  der 
Forscher  erregt  hat,  und  die  Literatur  über  diesen  Gegenstand  gerade- 
zu unQbersehbar  geworden  ist,  hat  man  doch  nur  sehr  geringe  Fort- 
schritte gemacht  in  der  Bekämpfung  dieser  höchst  unangenehmen 
Krankheit.  Auf  zweierlei  Weise  hat  man  sie  zu  verhüten  versucht, 
nämlich  : 

1.  durch  Mittel,  die  die  unerwünschten  Schiffsbewegungen  möglichst 
zu  vermindern  suchen. 

Diese  Mittel  beruhen  größtenteils  auf  dem  Prinzip,  das  zuerst 
von  Bessemer  beschrieben  ist  in  seinem:  „Projet  de  Salon 
suspendu  contre  le  mal  de  mer"^. 

Sie  haben  nur  wenig  Anwendung  gefunden  und  sind  in  dieser 
Hinsicht  von  späteren  Bestrebungen  nicht  übertroffen,  die  in 
anderer  Weise  automatisch  die  Schiffsbewegungen  zu  vermindern 
suchten  (Schwerdt,  Rosenbach  u.  a.). 

Diese  Mittel  beeinflussen  am  wenigsten  die  Bewegungen  des 
Schiffes  in  senkrechter  Richtung,  die  gerade  von  Seekranken 
am  meisten  gefürchtet  werden.  Sie  haben  große  technische 
Schwierigkeiten  und  niemals  den  gewünschten  Zweck  ganz  er- 
reicht; sie  werden  deshalb  hier  außer  Betracht  bleiben. 

2.  durch  Mittet,  die  die  Empfänglichkeit  des  Individuums  für  die 
Schiffsbewegungen  zu  vermindern  suchen. 

Je  nach  den  verschiedenen  Vorstellungen,  die  sich  die  Schrift- 
steller  über   Seekrankheit   hinsichtlich    der   Genese    dieses   Leidens 

Kilo.  Vortrage,  N.  F.  Nr.  509.    (Innere  Medizin  Nr.  153.)    Nov.  1908.  34 


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476  J-  A*  ▼AB  Trotsenburgy  [2 

gebildet  haben,  sind  auch  die  von  ihnen  empfohlenen  Maßnahmen  zur 
Verhütung  oder  Bekämpfung  verschieden.  Ehe  wir  die  verschiedenen 
Theorien  der  Seekrankheit  besprechen,  werden  wir  uns  zuvor  die 
Symptome  der  Krankheit  kurz  ins  Gedächtnis  zurückrufen: 

In  der  übergroßen  Mehrzahl  der  Fälle  ist  die  Seekrankheit  eine 
akute,  selten  länger  als  eine  Woche  dauernde  Erkrankung.  Sie  fangt 
mit  einer  leichten  Unlust  an,  al$  V^^äufer  einer  tief  elenden  psychi- 
schen Depression,  und  ist  begfeitet  von  objektiven  Symptomen  wie: 
Anämie,  Gähnen,  Speichelfluß,  J4ahrung^verwdgerung  und  Erbrechen^ 
Respirations-  und  Zirkulationsveränderungen,  Störungen  der  Digestion 
(gewöhiilich  OI}stipatlon),J(leinef  ^chwacbejf  Puls^  imd  beiJjingerer 
Dauer:'  Abmagerung.  Auch  Verminderung  'der  HarnäDsonderung  bei 
Erhöhung  der  Konzentration  schejnt  ziemlich  konstant  zu  sein.  Rey- 
nolds i)  berichtet,  daß  er  wiederholt  Zucker  im  Urin  der  Seekranken 
gefunden  hatte.  Auch  scheint  die  Seekrankheit  s^hr  oft  auf  die  Men- 
struation und  Schwangerschaft  störend  einzuwirken. 

Schwerdt^)  fand  während  einer  Seereise  bei  sich  selbst  intra- 
abdominale Druckschwankungen,  die  abhängig  von  den  Schiffsbewe- 
gungen waren.  Er  meint,  daß  dadurch  Zirkulationsstörungen  entstehen 
mußten,  die  man  willkürlich  Vermindern  könne  durch  tiefes  Einatmen 
beim  Heruntergehen  des  Schiffskörpers  und  Ausatmen  beim  Herauf- 
gehen desselben.  Dadurch  würde  der  „Insplrations-Klappen- 
schluß'  (d.  h.  der  Klappenschluß  der  Oberschenkelvenen  bei  der 
intraabdominalen  Druckerhöhung  während  der  Inspiration)  zusammen- 
fallen mit  dem  „Senkungs-Klappenschluß'  <d.  h.  dem  Klappen- 
schluß durch  Rückstoß  des  Blutes  am  Ende  der  niedergehenden  Be- 
wegung des  Schiffes).  Ebenso  werden  dann  »Exspirations-''  mit 
„Hebungs-Klappenöffnung'  zusammenfaUen.  Auf  analoge  Weise 
bewirkt  man  instinktiv  ein  Zusammenfallen  von  ,,Arbeits-Klappen- 
schluß'  mit  Jnspirations-Klappenschluß^  dadurch,  daß  man 
jede  schwere  Arbeit  mit  einer  tiefen  Inspiration  anfängt.  Schwerdts 
Darlegung  gibt  eine  theoretische  Erklärung  zu  der  schon  langst  be- 
kannten empirisch  gefundenen  Bedeutung  der  Atmungsregulierung  nach 
den  Bewegungen  des  Schiffes.  — 

Wenn  eine  heruntergehende  Bewegung  schnell  und  kräftig  auftritt^ 
erweckt  sie  bei  den  meisten  Menschen  reflektorisch  eine  krampfhafte 
Inspiration,  die  oft  von  einer  Kontraktion  der  Bauchmuskeln  begleitet 


1)  T.  T.  Reynolds,  On   the   nature  and  treatment  of  sea-sickness.    L4incet 
1884. 

2)  Dr.  C.  Schwerdt,  Beiträge  zur  Ursache  und  Vorschläge  zur  Verhütung  der 
Seekrankheit.  Jena  1902. 


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3]  Die  Seekrankheit  und  ihre  Verhütung.  477 

ist.  Durch  die  Unregelmäßigkeit  und  Kompliziertheit  der  SchifFsbe- 
wegungen  wird  aber  die  praktische  Anwendung  dieser  Atmungsregu- 
lierung gewöhnlich  sehr  schwer,  wo  nicht  unmöglich. 

Die  subjektiven  Erscheinungen  der  Seekrankheit  sind  sehr  ernst. 
Zu  welch  einem  bedauernswürdigen  psychischen  Elend  sie  führen, 
wurde  von  Riese *)  treffend  und  schön  wie  folgt  beschrieben: 

«Die  Vorstellungen  sind  außerordentlich  matt  und  die  Phantasie 
erschrecklich  träge.  Bleierne  Trägheit  lähmt  auch  die  Glieder;  eine 
bodenlose  Interesselosigkeit  hat  sich  unserer  bemächtigt,  eine  grenzen- 
lose Blasiertheit,  In  welcher  nichts,  was  uns  interessierte,  irgend- 
welchen Reiz  auf  uns  auszuüben  vermag.  Die  ganze  Welt  erscheint 
grau  in  grau  gemalt;  es  ist  eine  vollkommene  Paralyse  der  Lebens- 
lust. Dies  ist  das  Stadium,  wo  der  Mensch  am  liebsten  allein  ist,  wo 
er  jeder  Konversation  ausweicht,  und  schon  in  seinem  konventionellen 
Standpunkt  zu  wanken  beginnt.  Mühsam  sucht  er  noch  den  Gesetzen 
der  Höflichkeit  zu  folgen  und  Teilnahme  an  .der  menschlichen  Gesell- 
schaft zu  erheucheln,  oder  über  einen  Scherz  zu  lächeln,  aber  sein 
Gesicht,  dessen  Blässe  mittlerweile  mit  dem  seiner  Gedanken  zu  wett- 
eifern beginnt  (denn  es  reiht  sich  jetzt  eine  zweite  Symptomenreihe 
an  die  psychischen),  hat  einen  eigentümlich  starren  Ausdruck  erlangt, 
und  sein  Lächeln  straft  ihn  Lügen;  es  ist  ein  Risor  sardonicus,  eine 
wahre  Karikatur  auf  die  Lustigkeit.  Es  liegt  in  diesem  Zustand,  In 
diesem  vergeblichen  Ankämpfen,  welches  der  beginnenden  Seekrank- 
heit charakteristisch  ist,  gerade  die  eigentümliche  Komik,  welche  dieselbe 
zum  Schaden  ihrer  Opfer  nicht  verleugnen  kann  und  die  besonders 
an  dem  Starken  und  Selbstbewußten  hervortritt.  Gerade  an  ihm  hat 
der  allmähliche  Übergang  von  stolzester  renommistischer  Sicherheit 
durch  stillen  Zweifel  an  den  eigenen  Kräften  zur  demütigsten  Ergebung 
etwas  ungemein  Komisches  für  den,  welcher  nicht  im  Banne  der  Krank- 
heit steht.  Man  sieht,  wie  immer  mehr  und  mehr  der  Versuch,  das 
Gefühl  der  persönlichen  Würde  auch  in  der  äußeren  Haltung  auszur 
prägen,  aufgegeben  wird,  und  wie  die  stolzeste  Gestalt  zu  einem  kläg- 
lichen Bilde  des  Jammers  zusammensinkt.  Das  Gesicht  bekommt  durch 
jenes  ,Erstarren  des  MuskelspielsS  wie  es  Stein bach  bezeichnet,  etwas 
Fremdartiges,  was  man  schwer  beschreiben  kann,  etwas  Wachsfiguren- 
artiges; es  ist,  als  wäre  jeder  geistige  Zug  aus  dem  Gesichte  gewichen 
und  nur  gewissermaßen  die  Maske  desselben  geblieben.  Gut  bekannte 
Gesichter  kommen  uns  in  diesem  Zustande  fremd  vor,  am  fremd- 
artigsten dasjenige,  welches  uns  der  Spiegel  zeigt.' 

Wer  niemals  seekrank  war,  und  auch  nie  Gelegenheit  hatte,  an 


1)  E.  Riese,  Die  Seekrankheit.  Dissert.  Berlin  1888.  8.  15. 

34« 


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478  J-  A.  vÄn  Trotsenbiirs,  [4 

ernsten  Formen  der  Seekrankheit  leidende  Personen  zu  beobtcliten) 
wird  sich  kaum  eine  richtige  Vorstellung  dieses  Zustandes  der  hochsteo 
Verzweiflung  bilden  können.    Des  Dichters  Wort: 
„Only  those  who  brave  its  dangers 
Comprehend  its  mysteries^^ 
gilt  wohl  zu  allererst  dem  wunderlichen  Stadium,  in  dem  man  g^ea 
,,dangers^^  wie  gegen  ,,mysteries^^  völlig  gleichgültig  Ist.  — 

Riese  vergleicht  den  psychischen  Zustand  von  schwer  Seekranken 
mit  den  schwersten  Depressionszuständen  der  Melancholie;  Fonssa- 
grives^)  beschreibt  diese  völlige  Apathie  wie  folgt: 

„Chez  beaucoup  de  personnes  11  y  a  un  tel  brisement  des  forees, 
qu'elles  gisent  sur  le  pont  camme  des  masses  inertes  sans  s'inqui6ter 
du  lieu  oü  elles  sont,  souillant  leur  v£tements  de  leurs  dvacuatlons  et 
la  vie  c6r6brale  est  tellement  domin^e  par  cet  6tat  d'angoisse,  que  les 
deux  sentiments  les  plus  puissants  et  les  plus  vivaces  chez  la  femme, 
celui  de  la  pudeur  et  celui  de  la  maternit6,  sont  quelque  fois,  comme 
on  l'a  fait  remarquer,  momentan6ment  meconnus.^^ 

Auch  hat  die  Seekrankheit  viel  Ähnlichkeit  mit  akuter  Nikotinver- 
giftungy  wie  mancher  aus  Erfahrung  wissen  wird. 

Mit  der  obigen  Beschreibung  der  objektiven  und  psychischen  Er- 
scheinungen ist  das  Krankheitsbild  noch  nicht  erschöpft.  Dazu  gebort 
noch:  Schwindel,  Übelkeit,  oft  auch  Hyperästhesie  für  üble  Gerfiche, 
bisweilen  auch  für  Geräusche,  und  als  weniger  konstante  Symptome 
Kopfschmerz,  Angst  und  Beklommenheitsgefühl. 

Als  Komplikationen  werden  von  den  meisten  Forschem  genannt: 

1.  Frühgeburt  und  Abortus.  Wegen  des  geburtsbeschleunigenden 
Einflusses  werden  von  verschiedenen  befugten  Autoren  (u.  a.  Fonssa- 
grives,  Foucauet)  Seefahrten  den  Schwangeren  abgeraten. 

2.  der  Ausbruch  von  Psychosen.  Die  Seekrankheit  wird  in  diesen 
Fällen  gewöhnlich  als  Gelegenheitsursache  betrachtet.  Dieselbe  Rolle 
spielt  sie  in  einigen  anderen  krankhaften  Zuständen,  wie  z.  B.  bei  der 
Inkarzeration  von  Hernien,  oder  beim  Durchbruch  eines  Magen- 
geschwürs. 

Ein  Symptom,  der  Schwindel,  verdient  vor  allem  besondere  Auf- 
merksamkeit. Denn  so  oft  wir  Schwindel  schnell  und  einigermaßen 
heftig  auftreten  sehen,  wird  er  von  anderen  Erscheinungen  begleitet, 
die  mit  zu  dem  Bilde  der  Seekrankheit  gehören. 

Unser  Gleichgewichtsgefühl  resultiert  aus  zahlreichen  Empfindungen, 
die  auf  mehreren  verschiedenen  Wegen  (Gesichtssinn,  Labyrinth,  Tast- 
sinn, Muskel-  und  Gelenksinn)  die  Zentralorgane  erreichen,  und  auf 


1)  Fonssagrives,  Trait6  d'hygi^ne  navale.  Paris  1877. 


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5]  Die  Seel;rtDtfaeil  «idd  iihre^y^rhütung.  470 

Stelluiigsätaderüngeö  dnsers  Kärpera  im  Rauin^:  mit  bestimmten^  .«ms| 
aus  der  £rfaforang  bekannten: :Äniderttngenr(CQagiecep.^. Unter  der  rich^ 
tigen>  ZusafaoäienwJricung.  zahlreicher  sensibler  undsensocischer  Emp^ 
findkingen  kann  man  sich  eine  gute  Orientierüilg  «ttgefähr  so  »entstanden 
denken y  wie  durch  Zusammenwirkung  von  mehrerea  JnstruAienten 
Inrnionisch»  Musik  hervargebracht  werden  kann.  Die  Orientierung 
einerseits,  wie  dib  Harmonie:  andererseits  braudben.  mtht  daroh:  Aus-^ 
fiiU  eines  Teiles  des  Ganien  verloren  zu  gehen;  Jedoch  ist  dies  der 
Filii  duf'ch  unharmonisches  Mitarbeiiet  eines  der  Konstituenten.  ,,Wenn 
wif^V 'sagt  Hitzig^),  ^,die  mannigfoltigen Erscheinungen  von  Schwindel 
voa<  einem  Ihnen  gemeinscbaftlichen  .Gesichtspunkte  ajus  ins  'Auge 
fassbn,  so  ergibt  sich^  daß  sie  sowohl  durch  Aifekcionen  der  peri** 
pheren  Endapparate^  wie  der  zuleitenden  Bahnen,  wie  auch  endlich 
des  Zentralorgans,  ini  dem  sidi>  alle  diese  Bahnen  vereinigen,  hervor« 
gebracht^  andererseits  aber  auch  durch  die  Einwirkung  jener  ver* 
schiedenen  exzito-motorischen  Apparate  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
attsgeglidven  werden  k&nnen.  Der  Vestibularapparat,  der  Sehapparat 
und  der  kinästhetische  Apparat  spielen  hierbei  die  gleiche  Rolle.  So 
verschieden  did  Folgen  der  Eirigrlffie  in^eis^Ampullarsystemj  der.Total- 
exstirpatioo  des  Kleinhirns,  die  Libmttng  eines  Augenmuskels,  ein 
Kleinhirntumbr,  oder  die  graue  Degeneration  der  Hinterstränge  auch 
erscheinen  mögen,  so  sind  sie  ebensowohl  wie  ihre  Ausgleichung  auf 
dasselbe  Prinzip  zurückzuführen/^ 

Bei  einer  ersten  Seefahrt  werden  in  allen  oben  genannten  Bahnen 
desorientierende  Reize  den  Zentralorganen  zugeführt.  Kein  einziger 
Punkt  des  ganzen  Gesichtsfeldes  bleibt  unbeweglich,  alles  wirbelt  in 
unregelmäßigster  Weise  durcheinander,  was  anfanglich  den  Eindruck 
eines  ganz  ungewöhnlichen  Wirrwarrs  macht;  Inzwischen  stören  zahl- 
reiche ungewöhnliche  Reize,  vom  Vestibülarapparat  ausgehend,  die 
normale  Punktion  des  Kleinbims.  Der  kinästhetische  Apparat  bereitet 
uns  gleichfalls  die  größten  Überraschungen.  Die  sonst  so  konstante 
Druckempfindung  gegen  die  Fußsohlen  ändert  sich  jetzt  fortwährend. 
Beim  Gehen  hat  man  kaum  seine  Muskelinnervatlon  für  eine  be** 
stehende  Neigung  richtig  dosiert,  so  geht  es  uns  dabei  wie  jemandem, 
der  das  Pappmodell  eines  schweren  Gewichtes  hebt.  Ehe  man  sich 
von  einem  Fehlgriff  Rechenschaft  geben  kann,  ist  man  schon  wieder 
das  Opfer  eines  folgenden  geworden.  Diese  Reize  bewirken  durch 
ihren  fortwährenden  Wechsel  eine  vollständige  Desorientierung,  welche 
zu  einer  an  Ratlosigkeit  grenzenden  Verwirrung  fuhren  kann.    Bei 


1)  Hitzig,  Der  Schwindel  (Vertigo).    Spez.  Path.  und  Ther.  von  H.  Nothnagel 
Bd.  12,  T.  2.  .;     >  . 


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480  J*  A.  van  Trotsenburg,  [q 

großer  Anstrengung  gelingt  es  anfänglich  noch  das  Gleichgewichts- 
gefühl zu  behalten,  dadurch  nämlich^  daß  man  soviel  wie  möglich  die 
ungewöhnlichen  Reize  zu  entwirren  versucht.  Diese  Wahrnehmung 
wurde  schon  1874  von  Th.  Abrahamsz^  gemacht,  die  er  ungefähr 
^ie  folgt  beschreibt: 

„Nicht  durch  Zerstreuung  im  Gespräch  oder  Spiel  während  der 
ersten  Anwandlung  gelingt  es  dem  Erbrechen  zuvorzukommen,  sondern 
dadurch,  daß  man  genau  acht  gibt,  und  die  Schiffsbewegungen  studiert 
in  allen  ihren  verschiedenen  Phasen  und  Abweichungen.  Nur  auf 
diese  Weise  gelang  es  uns,  das  Erbrechen  zu  verhüten,  indem  wir 
jedoch  auch  jetzt  noch,  nach  langer  Erfahrung,  ein  Gefühl  von  Unbe- 
behagen  empfinden,  wenn  wir  uns  bei  mehr  oder  weniger  stürmischem 
Wetter  mit  Sachen  beschäftigen,  die  uns  verhindern,  die  Bewegungen 
zu  observieren.  Jede  Ableitung  rächt  sich;  sobald  man  sozusagen  nicht 
mehr  weiß,  wo  das  Schiff  in  seiner  Bewegung  im  Räume  geblieben 
ist,  fühlt  man  sich  schwindlig/^ 

Auch  Riese  machte  an  sich  selbst  eine  übereinstimmende  Beob- 
achtung und  sagt: 

„Bis  zum  Abend  des  ersten  Tages  kämpfte  ich  erfolgreich  gegen 
die  feindliche  Macht,  dann  erfolgte  die  Übergabe;  doch  ich  habe  das 
deutliche  Bewußtsein,  daß  ich  dieselbe  durch  ein  willkürliches  Wider- 
streben ziemlich  lange  hinausschob.  Ich  habe  das  Gefühl,  daß  mir 
dies  dadurch  gelang,  daß  ich  mir  der  Schwankungen  des  Schiffes  und 
des  eigenen  Körpers  so  weit  als  möglich  bewußt  blieb. 

Ich  suchte  mich  also  in  den  verschiedenen,  stets  wechselnden 
Lagen  im  Raum  zu  orientieren  und  mir  meiner  augenblicklichen 
Stellung  zu  demselben  in  jedem  Moment  möglichst  klar  zu  bleiben. 
Ich  kann  versichern,  daß  ich  darin  ganz  wesentlich  unterstützt  wurde 
durch  ein  beständiges  Festhalten  des  Horizontes  mit  den  Augen. 

Solange  mir  dies  gelang,  wurde  ich  nicht  seekrank;  erst  als  es  mir 
bei  den  immer  komplizierteren  Bewegungen  des  Schiffes  nicht  mehr 
möglich  war,  mir  innerlich  über  meine  Schwankungen  klar  zu  bleiben 
und  sie  gleichsam  gegen  den  stabilen  Raum  zu  normieren,  erfaßte 
mich  ein  eigentümliches  Schwindelgefühl:  es  war  nicht  mehr,  als  ob 
ich  im  feststehenden  Räume  schwankte,  sondern  der  Raum  schien  mit 
einem  Male  um  mich  sich  schwankend  zu  bewegen,  er  schien  seinen 
festen  Bestand  verloren  zu  haben,  und  jede  Möglichkeit,  die  Bewe- 
gungen des  eigenen  Körpers  zu  kontrollieren,  hörte  mit  einem  Mjle  auf/ 

Und  weiter  auf  S.  70  seiner  Arbeit  über:  ^Die  Seekrankheit': 
„Dieser  Moment  des  Insuffizientwerdens  des  Orientierungssinnes  ist 


1)  Nederlandsch  Tijdschrift  voor  Geneeskunde  1874^  lO.Jaarg.  II,  p.  237. 


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7]  Die  Seekrankheit  und  ihre  Verhütung.  481 

dadurch  charakterisiert,  daß  der  Beobachter  das  Gefühl  hat,  als 
drehten  sich  die  Gegenstände  um  ihn,  und,  auch  wenn  er  die  Augen 
schließt,  als  drehe  sich  der  Raum  um  ihn.  Äußerlich  ist  dieser 
Moment  des  einsetzenden  Schwindels  charakterisiert  durch  ein  Starr- 
werden des  Blicks,  hervorgerufen  (wie  Purkyne  nachgewiesen  hat) 
durch  eine  plötzliche  Fixation  des  Augapfels,  der  bis  dahin  (d.  h. 
solange  eine  Orientierung  im  Räume  möglich  war)  ruckweise  den 
Achsendrehungen  des  Körpers  gefolgt  ist.'  — 

Beim  Entstehen  des  Desorientationsgefühles  tritt  auch  das  dringende 
Bedürfnis  auf,  sich  hinzulegen.  Die  Stabilität  ist  im  Liegen  gesicherter 
und  die  desorientierenden  Reize  sind  geringer  an  Zahl  und  Stärke. 
Ziemlich  schnell  kann  sich  dann  das  Wohlbefinden  ansehnlich  bessern, 
und  besonders  ist  dies  bei  denjenigen  der  Fall,  denen  ein  erfrischen- 
der Schlaf  zu  Hilfe  kommt,  das  ausgestandene  Elend  zu  vergessen  und 
das  gestörte  Nervengleichgewicht  zur  Ruhe  zu  bringen. 

Anfänglich  wird  aber  noch  jeder  Versuch,  sich  aufzurichten,  das 
Gefühl  hervorbringen,  daß  die  Gewöhnung  an  die  Schiffsbewegungen 
nicht  so  schnell  eintritt,  als  man  sich  beim  Liegen  dachte.  Denn  bei^ 
einem  Wetter,  das  eine  mäßige  Bewegung  des  Schiffes  unterhält,  ge- 
wöhnen sich  die  meisten  Seekranken  nur  sehr  allmählich,  im  Laufe 
einiger  Tage,  ans  Meer. 

Die  Prognose  der  Seekrankheit  ist  günstig.  Sterbefälle  als  Folge 
der  Seekrankheit  allein  sind  niemals  mit  Sicherheit  wahrgenommen; 
zurückbleibende  Störungen  ebensowenig.  Wo  in  der  Literatur  einige 
Male  der  Tod  eines  Patienten  ausschließlich  der  Seekrankheit  zuge- 
schrieben wurde,  lassen  sich  doch  gegen  die  Diagnose  ernste  Be- 
denken erheben.  Guepratte,  der  in  den  »Bulletins  de  l'acadämie 
de  m6dicine  IX'  den  Zusammenhang  zwischen  Seekrankheit  und  zwei 
von  ihm  angeführten  Sterbefällen  an  Enzephalitis  und  Gastroenteritis  be- 
streitet, behauptet:  »On  a  vu  survenir  chez  quelques  personnes  des 
h6mat6m^ses  dont  la  terminaison  a  6t6  funeste'^,  ohne  aber  einen  be- 
stimmten Fall  zu  beschreiben.  H.  Otto  Schnitze  beschrieb:  „Two 
cases  of  fatal  hemorrhage  from  laceration  of  the  mucosa  of  the  Oeso- 
phagus by  vomiting''  (Proceedings  of  the  New- York  pathological  So- 
ciety, Nov.  1906,  n.  s.  vol.  6,  no.  6). 

Bei  beiden  Patienten  war  der  Blutung  langwährendes  Erbrechen 
vorangegangen,  bei  einem  der  beiden  infolge  von  Seekrankheit.  Bei 
der  Obduktion  wurden  in  beiden  Fällen  zwei  longitudinale  Risse  in 
der  Schleimhaut  des  Ösophagus  gefunden,  obwohl  die  Schleimhaut 
bei  mikroskopischer  Untersuchung  nichts  Abnormes  darbot.  Auch 
wenn   man  gegen  diesen  sonderbaren  Fall  keine  Bedenken  erheben 


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482  1  Jw  A.  rill  :TiromehlJarg^  p 

will,  v^itd  mm^  mit  ROckskfht  duf  -  die  4fig^heu0ne>  Zobl  iderdOpfer,  dto 
die  Seekrankhek  -  seh  Huiklepten  von '  Jabnea  ^erfordert^  die  gilfisilge 
Prognose  nichtsdestoweniger  aufrecht'erbalieiiiniäs^eiu  bNfib  in  betbeff 
der  Dauer  i&t  die  Prognose  «icht  tiinner  gänst)^*^  ZwarTerscliwiadeA 
die  Erseheinungeii  der  Krankheit  inuner  ^ehrsohaeU  bd  Beöndf^ng^ 
der  Ursache  (bei  Beendigtiag  oder  Unterbnechuiig(d6i^Seereise)ytabef 
bei  weiten  Refsen  findet  ihan  nioht  selten;  dstfl' einige  Leute  sich  sehr 
langsam  und  schwer  ans  Meer  gew^nen.;  Es  tuk  wenig  £ur  ^Srche^^ 
ob  man'  die  Seekrankheit  iii  solchen  Pälkn  als  cht'oftische'  bfezete&hen 
wilt  oder  nicht.  <RIese  hat  ]gegen  diese'  Benenntin^^Bedesikeiiv'  wvü 
die  Krankheit  verschwindet^  sobald  ihre  Ut^äche  ^ndet)'^  Aber  hifl'^ 
sichtlich  der  Erscheinungen,  die  viel  weniger  heftig  siM  "tu^te  ifn:An^ 
fang  der  Seekrankheit,  ist  die  Uniersdieidttng  in  akute  ttnd  4;hF0flls6kpe 
m:>rmen  ganz  berechtigt.  FQr  Berufeiseeleute  Ist»  eine  -  scdche  Ober* 
empfindlichkeit  eine  sfehlinniie  Eigens^chaFr,  xtie  jede  neiib  Seefahrt -au 
einer  neuen  Qualerei  miacht;  /Denn  :  ein«  solcher  chronisQher  See- 
kranker ist  auf  dem  Meere  fest  immer  verstimmt^  •  er  leidet  an^Dt* 
gestidnssförungen,  Obstit^ktion,  hiat  wenig  oder  gar  keinen  Appeütunct 
fahit  je  nach  der  Wittei'ung  mehr  oder  weniger  Neigiing^  zum  Br- 
brechen ;  er  ist  an&mi^h  und  leider  oft  an-  Kopfechmerz.  Jedoch  kaott 
er  meist  im  Gegensatze  zu  dem  akut  Seekranken  >  seine  Arbeit  ver* 
richten  und  nimmt  auch,  obschon  mit  Unlust,  Teil  an  der  Unter- 
haltung. Dali  sogar  eine  solche  OberempfindHchkisit  die  Möglichkeit 
nicht  ausschließt,  eine  ruhmreiche  Latrfbahn  als  Sdenlann  zu  maches» 
bewiesen  Nelson  lind  Tegetthoff,  die  beide  zu  dieser  Rubrik  der 
Überempfindlichen,  die  von  St^inb^ach^)  aufe—SX  der  M^ischheH 
geschätzt  wird,  gehörten. 

Havelberg^  sucht  die  Ürsfache  der  ÜbefempÜndlichkelt  in  eioef 
Magenneurose.  Da  aber  äie  mir  bekannten^  fibörMipfindlichen  See^ 
leute  im  Hafen  und  auf  dem  Lande  eine  mdellose  Magenfunktlön 
hatten,  kann  mich  diese  Erklärung  für  die  mir  bekannten  Fälle  nicht 
befriedigen.  Mir  sind  ein  Dutzend  solcher  flberempflndlicheA  mioo- 
liehen  Personen  bekannt,  aä  denen  mir  auffiel,  dafl  keinbr  von  ihaeo 
raucfhte  bzw.  priemte.  Die  Hälfte  davon  waren  Berul^seetetiie,  bei 
denen  übrigens  das  Verschmähen  des  Genußmittels  Tabak  selten;  isf» 
Mehrere  Autoren  berichten  von  Überempftndlichkeit  bei  hysterischen 
Personen;  bei  den  mir  bekannten  zwölfen  ^konnte  aber  auch  von 
hysterischer  Anlage  nicht  die  Rede  sein. 


1)  Stein bach,  Zur  Pathologie  der  Seekrankheit.  Wiener  Med.  Presse  1878. 

2)  Havel  berg,  Hyperaziditätüiid  Seekrankheit.  Festschrift  f.  Salko^ski,  Berifti.' 
ä.  ISi.' 


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9].  Die  Seekrankheit  und  ihre  Verhütung.  483 

Bei  den  Überempfindlichen  fangt  auf  der  ersten  Reise  die  See- 
krankheit unter  den  heftigsten  Erscheinungen  an, 

Fournier  beschrieb:  »Un  cas  grave  de  mal  de  mer**  in  den 
»Archives  de  m6d.  navale  1874".  Er  fand  die  Symptome  so  gefahr- 
drohend, daß  er  es  für  nötig  hielt,  das  von  Forget  genannte  „rem^de 
specifique  et  unique  du  mal  de  mer'  anzuwenden,  d.  h.  den  Patienten 
ans  Land  zu  setzen. 

Ich  hatte  selbst  Gelegenheit,  einen  Patienten  zu  untersuchen,  der 
3  Wochen  lang  seekrank  gewesen  war,  bevor  er  in  meine  Behand- 
lung kam.  Es  war  ein  junger  Matrose,  der  eine  Seefahrt  von  Holland 
nach  Westindien  gemacht  hatte.  Dieser  18jährige  Seemann  hatte 
während  der  Überfahrt  sehr  wenig  Nahrung  zu  sich  genommen  und 
sich  sehr  oft  erbrochen.  Er  wurde  wie  ein  Schwerkranker  von  zwei 
Gehilfen  ins  Schiffsläzarett  getragen,  und  war  duselig,  schläfrig, 
apathisch,  sehr  anämisch  und  abgemagert,  und  konnte  vor  Schwäche 
nicht  stehen.  Die  Körpertemperatur  schwankte  den  ersten  Tag  zwischen 
38,2  und  38,7^  Celsius  und  blieb  während  der  folgenden  Tage  noch 
etwas  erhöht.  Die  Zunge  war  fleckig  belegt,  fullginös,  und  der  Patient 
zeigte  noch  deutlich  Speichelfluß.  Der  Puls  war  kaum  fühlbar  und 
sehr  Frequent,  aber  regelmäßig.  Das  Herz  war  etwas  dilatiert  und  an 
der  Herzspitze  hörte  man  ein  systolisches  Geräusch.  Die  Muskeln 
waren  äußerst  schlaff,  die  Reflexe  stark  erhöht.  Die  Haut  zeigte 
starke  Dermographie.  Der  Harn  enthielt  keinen  Zucker,  aber  eine 
Spur  von  Eiweiß.  Jedoch  hatte  der  Mann  auch  früher  an  Albuminurie 
gelitten,  und  es  blieb  auch  nach  seiner  Wiederherstellung  ein  wenig 
Albumen  in  seinem  Harn. 

Auf  vor  Anker  liegendem  Schiffe,  bei  Bettruhe  und  kräftiger  Nah- 
rung besserte  sich  der  Zustand  des  Patienten  schnell.  Während  der 
ersten  Tage  schlief  er  fast  fortwährend  zwischen  seinen  Mahlzeiten, 
Am  12.  Tage  nach  seiner  Ankunft  in  Westindien  fühlte  sich  der  Pa- 
tient wiederhergestellt,  obgleich  er  noch  ein  wenig  unsicher  auf  den 
Füßen  stand  und  es  ihm  schwindlig  wan  Er  wog  damals  101  Pfund, 
und  hatte  schon  sichtlich  an  Gewicht  zugenommen.  Zwei  Monate 
später  wog  er  115  Pfund.  Bei  nur  wenig  bewegtem  Schiffe  wurde 
dieser  Matrose  später  immer  wieder  seekrank.  Er  fühlte  sich  dann 
unbehaglich,  hatte  Kopfschmerz,  und  mußte  sich  oft  erbrechen.  Aber 
doch  hatte  er  sich  so  weit  ans  Meer  gewöhnt,  daß  er  fast  augenblick- 
lich nach  dem  Erbrechen  wieder  essen  konnte,  sich  nicht  mehr  zu 
stützen  brauchte,  um  sein  Gleichgewicht  zu  behalten,  auch  hatte  er 
das  unangenehme  Gefühl,  als  ob  sich  ihm  alles  vor  den  Augen  drehte, 
verloren.    Nur  bei  stürmischem  Wetter  konnte  er  sich  oft  nicht  be- 

Klln.  Vorträge,  N.  F    Nr.  509.    (Innere  Medizin  Nr.  153.)    Nov.  1908.  35 


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484 


J.  A.  van  Trotsenburg, 


[10 


herrschen.  Er  wurde  dann  irgendwo  liegend  im  Schiffe  gefunden  und 
war  so  apathisch,  daß  er  auf  Fragen  kaum  antwortete. . 

Unempfindlichkeit  für  Seekrankheit  ist  bei  Erwachsenen  gewiß  viel 
seltener  wie  Überempfindlichkeit.  Ob  unter  normalen  Umständen 
bei  einer  ersten  Seefahrt  auf  kleinem,  beweglichem  Schiffe  und  bei 
stürmischem  Wetter  völlige  Unempfindlichkeit  überhaupt  vorkommt, 
ist  sehr  zweifelhaft,  ausgenommen  bei  Säuglingen  und  sehr  kleinen 
Kindern.  Denn  dem  Säuglingsalter  scheint,  wie  fast  alle  Forscher 
einstimmig  zugeben,  Unempfindlichkeit  für  Seekrankheit  eigen. 

Riese,  der  besonders  auf  diesen  Punkt  geachtet  zu  haben  angibt, 
hat  niemals  einen  seekranken  Säugling  gesehen,  dagegen  oft  ,die 
schwer  seekranke  Mutter  in  absoluter  Passivität  und  Hilflosigkeit, 
und  daneben  in  eigentümlichem  Gegensatz  zu  ihr  das  Kind,  welches 
in  naiver  Rücksichtslosigkeit  und  völliger  Frische  unbekümmert  an 
der  Mutter  herumspielt''. 

W.  Hesse ^)  bestimmte  auf  einer  Seefahrt  die  Veränderung  des 
Körpergewichtes  von  44  Passagieren,  unter  denen  2  Säuglinge  und 
1  2jähriges  Mädchen  waren.  Er  teilte  die  Seekranken  nach  der  Hef- 
tigkeit der  Krankheit  in  drei  Gruppen  ein  und  kam  zu  folgendem 
Resultat,  welches  die  Gewichtsverluste  während  einer  Woche  bei 
leicht  stürmischem  Wetter  angibt: 

Jede  Personverlicrt 

durcbschnitdicb 

0,75  Pfd. 

1,5      . 

4,8      , 


Nicht  seekrank 
Seekrank  1.  Grad 
2.      . 


Zahl 

12 
10 
18 


verlieren 

wiegen  zusammen 

zusammen 

1440,5  Pfd. 

9     Pfd. 

1328,5    „ 

15       . 

2486,5    „ 

86,25  , 

552       „ 

51        « 

•     «         3.      „  4  552       „  51        .  12,75    „ 

Nur  5  Personen  zeigten  Gewichtszunahme,  am  meisten  (3  Pfund) 
einer  der  beiden  Säuglinge«  Der  andere  Säugling  nahm  1  Pfund  ab. 
Das  2  jährige  Mädchen  war  leicht  seekrank  und  verlor  3  Pfund. 
Hesse  bemerkt,  wie  gewöhnlich  die  Seekrankheit  der  Mutter  auch 
dem  Säugling  schadet,  erstens  weil  die  Milchsekretion  meist  zu  wSs* 
sehen  übrigläßt,  und  zweitens,  weil  seekranke  Mütter  oft  ihre  Kinder 
schrecklich  vernachlässigen. 


Die  Therapie  der  Seekrankheit  ist  ebenso  reich  an  Mitteln  wie 
arm  an  Erfolg.  Selbst  wer  sonst  auf  Arzneien  schwört,  pflegt  gegen 
Seekrankheit  kein  Mittel  zu  brauchen,  weil  fast  jeder  Laie  davon  über- 
zeugt ist,  daß  dagegen  doch  nichts  zu  tun  sei,  so  daß  die  Mittel  sogar 


1)  Dr.  V7.  Hesse,    Ein   Beitrag  zur  Seekrankheit.    Arch.  d.  Heilkunde  1S74, 
25.  Febr.,  XV,  S.  134. 


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11]  Die  Seekrankheit  und  Ihre  Verhütung.  485 

ihren  suggestiven  Wert  verlieren.  Doch  kann  Ratschlägen,  wie  den 
folgenden,  ein  gewisser  Wert  nicht  abgesprochen  werden.  Man  soll 
wenigstens  eine  Stunde  vor  Anfang  der  Seefahrt  eine  kräftige  Mahl-^ 
zeit  zu  sich  nehmen;  beim  Auftreten  vom  Schwindel  sich  hinlegen, 
für  kräftige  Ventilation  Sorge  tragen,  außerdem  noch  versuchen,  ob 
eine  Leibbinde  einige  Erleichterung  gewährt,  wie  einige  Autoren  be- 
haupten an  sich  selbst  empfunden  zu  haben.  Einige  Seekranke  fühlen 
einen  günstigen  Einfluß  von  permanenter  Bauchlage.  Wenn  das  Schiff 
vornehmlich  stampft,  kann  man  demjenigen,  welcher  noch  für  solche 
Ratschläge  empfänglich  ist,  anraten,  die  Respiration  nach  den  Schiffs- 
bewegungen zu  regulieren,  in  der  Weise,  wie  es  schon  im  Anfang 
dieses  Aufsatzes  beschrieben  Wurde.  Möglicherweise  hat  auch  Kopf- 
stauung nach  der  Bier  sehen  Methode,  wie  es  Simon^)  empfiehlt, 
einigen  Einfluß  durch  Milderung  der  von  Hirnanämie  abhängigen 
Erscheinungen. 

Es  würde  zu  weit  führen,  hier  alle  Theorien  der  Seekrankheit  aus- 
führlich kritisch  zu  besprechen.  Kürze  halber  wird  dieser  ausge- 
breitete Gegenstand  hier  einigermaßen  schematisch  behandelt.  Bei 
der  Beurteilung  dieser  Theorien  muß  man  nicht  nur  die  Erscheinungen 
der  Seekrankheit  in  Betracht  ziehen,  sondern  auch  die  Unterschiede 
in  der  Empfindlichkeit  und  die  der  Gewöhnung  berücksichtigen.  In 
dieser  Hinsicht  sind  folgende,  von  den  meisten  Forschern  überein- 
stimmend konstatierte  Tatsachen  von  Interesse: 

K  Die  Erscheinungen  sind  um  so  schllmmef,  je  größer,  unregel- 
mäßiger und  zusammengeset2iter  die  Schiffsbewegungen  sind.  Die 
Bewegung  um  des  Schiffes  Querachse  (Stampfen)  mit  ihren  großen 
Aussc^hlägen  hat  viel  mdhr  Bedeutung  als  die  um  des  Schiffes  Längs- 
achse (Rollen). 

2.  Liegende  Stellung  mildert  die  Erscheinungen. 

3.  Säuglinge  und  sehr  kleine  Kinder  sind  unempfindlich.  Frauen 
sind  im  allgemeinen  empfindlicher  als  Männer. 

4.  Bei  weitem  die  Mehrzahl  der  Menschen  gewöhnt  sich  im  Laufe 
einiger  Tage  an  die  Schiffsbewegungdn.  Diese  Immunität  ist  aber 
sehr  relativ.  Sie  kann  auf  die  Dauer  beim  Aufenthalt  auf  dem  Lande 
wieder  ganz  verloren  gehen  und  gilt  nicht  für  viel  kleinere  Schiffe 
oder  für  Weit  stürmischeres  Wetter. 

5.  Einige  Leute  sind  überempfindlich.  Die  akute  Seekrankheit 
nimmt  bei  ihnen  eine  mehr  chronische  Form  an,  und  jede  Seefahrt 
stört  aufs  neue  das  Wohlbefinden. 

1)  J.  Simon j  Biersche  Kopfstauung  als  Mittel  gegen  Seeicrankheit.  Therapie 
der  Gegenwart  Jan.  1907. 

35* 


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48Q  •  J«  A-  V*"  Trptsenburg,  [12 

Und  weiterhin  dürfen  die  Theorien  der  Seekrankheit  nicht  in 
Widerspruch  kommen  mit  zahlreichen  angestellten  Beobachtungen  über 
das  physiologische  und  pathologische  Gleichgewicht. 

Unter  den  zahlreichen  aufgestellten  Theorien  der  Seekrankheit  gibt 
es  viele,  die  so  oberflächlich  und  ungenügend  die  Erscheinungen  er- 
klären, daß  jede  Kritik  überflüssig  erscheint.  Zu  dieser  Rubrik  können 
diejenigen  Theorien  gerechnet  werden,  die  alle  Erscheinungen  der 
Furcht  vor  der  Seereise  zuschreiben,  wie  guch  diejenigen,  die  in  der 
Seekrankheit  einzig  und  ausschließlich  nur  einen  optischen  Schwinde) 
sehen  wollen*  Auch  die  Theorie,  welche  die  Seekrankheit  als  eine 
Intoxikation  betrachten  will,  infolge  Einatmung  von  zerstäubtem  See- 
wasser, gehört  hierher,  wie  auch  endlich  die  Theorie,  die  die  Er- 
scheinungen der  Seekrankheit  aus  Irritationen  der  Valleixschen  Druck- 
punkte ableiten  will. 

Cornelius^),  der  Autor  der  letztgenannten,  noch  ziemlich  modernen 
Theorie,  nieint  durch  Massage  der  Druckpunkte  oder  durch  sog.  Fest- 
legen derselben  mittels  Pelotten  die  Erscheinungen  der  Seekrankheit 
bedeutend  mildern  zu  können,  wenn  nur,  fügt  er  vorsichtshalber  hinzu, 
das  Wetter  nicht  zu  stürmisch  ist.  —  Nachdem  er  an  sich  selbst 
Untersuchungen  angestellt  hatte,  konkludierte  er,  daß  durch  Druck- 
punktbehandlung in  „kürzester  Zeit  eine  sonst  nicht  zu  erwartende 
Gewöhnung  an  die  Schifi^sbewegungen^  eintrat. 

Die  übrigen  Theorien  kann  man  übersichtlich  in  drei  Gruppen 
teilen,  zwischen  denen  aber  viele  Übergänge  und  Kombinationen  be- 
stehen. —  Die  erste  Gruppe,  die  der  mechanischen  Theorien,  meint, 
daß  die  Schiifsbewegungen  durch  Erschütterungen  und  Schwankungen 
in  den  Geweben  einiger  oder  aller  Organe  mechanische  Änderungen 
hervorbringen. 

Die  zweite  Gruppe,  die  man  Refiextheprien  nennen  kann,  sieht  in 
den  Schifl^sbewegungen  Reize,  die  von  den  sensiblen  Nerven  und 
Sinnesorganen  aufgefangen,  auf  reflektorischem  Wege  die  Erscheinungen 
der  Seekrankheit  erwecken. 

Die  dritte  Gruppe,  die  der  psychischen  Theorien,  sucht  die  Ur- 
sache der  Krankheit  in  einer  bewußten  Gleichgewichtsstörung,  in 
einem  Gefühl  von  Desorientierung  im  Räume.  Zu  den  bekanntesten 
mechanischen  Theorien  gehören  die  von  Fonssagrives,  der  in  einer 
zentrifugalen  Bewegung  der  Zerebrospinalflüssigkeit  die  Ursache  der 
Seekrankheit  suchte,  ferner  die  von  Larrey,  der  Seekrankheit  als 
eine  Art  leichter  Hirnerschütterung  betrachtet,  ein  96branlement  des 


1)  Cornelius,  Berliner  klin.  Wocbenscbr.  1903,  S.  673  und  Jahresbericht  Ober 
die  Fortschr.  der  Neurol.  und  Psychiatrie  1903,  S.  414. 


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13]  Die  SeelLrankheit  und  Ihre  VBrhütttng.  487 

molecules  du  cerveau',  towie  die  von  KSraüdren;  der  die  Reibungen 
und  Erschütterungen  der  Unterleibsorgane  als  Urheber  der  Seekrankheit 
ansah.  Wollaston,  der  meinte,  ein  einfaches  physikalisches  Experi- 
ment auf  eine  komplizierte  biologische  Frage  anwenden  zu  können, 
glaubte,  das  Blut  werde  bei  niedergehender  Bewegung  des  SchifFes 
(wie  das  Quecksilber  in  feinem  Barometer,  tias  schnell  sinkt)  leicht 
dem  Gehirn  zufließen,  indem  der  Rückfluß  zu  gleicher  Zeit  erschwert 
sei  und  infolgedessen  entstünden  Hirnkongestionen.  Obgleich  Wol- 
lastons  Theorie  einige  Anhanger  zählte,  fand  sie  mehr  Gegner,  die 
in  Hirnanämie  die  Ursache  der  Seekrankheit  gefunden  zu  haben 
meinten.  Auch  fehlte  es  nicht  an  solchen,  die  den  Mittelweg  ein- 
schlugen, d.  h.,  die  die  Erscheinungen  der  Seekrankheit  einer  be- 
ständigen Abwechslung  von  Anämie  und  Hyperämie  des  Gehirns  zu- 
schrieben. Diese  Theorien  der  Zirkulationsstörungen  sind  nicht  alle 
zu  den  mechanischen  Theorien  zu  rechnen,  denn  viele  dachten  sich 
die  Zirkulationsänderungen  auf  reflektorischem  Wege  entstanden.  Die 
von  Schwerdt  gegebene  Vorstellung  der  Zirkulationsstörungen,  welche 
mit  Wollastons  Theorie  einige  Übereinstimmung  hat,  ist  doch  viel 
plausibler  als  jene,  erstens,  weil  sie  den  Ktappenapparat  mit  in  Be- 
tracht zieht  und  zweitens,  weil  sie  sich  auf  Teile  des  Zirkulations- 
systems bezieht,  in  denen  nur  sehr  geringe  Spannungen  und  kleine 
Stromgeschwindigkeiten  herrschen.  Außerdem  aber  sucht  Schwerdt 
in  jenen  Zirkulationsstörungen  nicht  die  einzige  Ursache  der  See- 
krankheit; er  untersuchte  sich  selbst  und  war  nicht  seekrank.  Pflanz^) 
fand  manometrisch  Blutdruckschwankungen,  die  abhängig  von  den 
SchiiTsbewegungen  waren.  Sie  waren  aber  nicht  größer  als  diejenigen, 
welche  die  täglichen  Bewegungen  des  Menschen  begleiten,  und  wurden 
deswegen  von  ihm  nur  als  Symptom,  nicht  als  Ursache  der  Seekrank- 
heit betrachtet. 

Alle  mechanischen  Theorien  haben  den  großen  Nachteil,  daß  sie 
zwei  wichtige  Tatsachen  (nämlich  die  Immunität  der  kleinen  Kinder 
und  die  Gewöhnung  an  die  Bewegungen  des  Schiffes)  nicht  befriedi- 
gend erklären  können.  Fonssagrives  nannte  selbst  die  Gewöhnung: 
»pierre  d'achoppement  de  toutes  les  theories  mecaniques  du  mal  de 
mer*  und  verwarf  aus  diesem  Grunde  später  wieder  seine  eigene 
Theorie. 

Riese  weist  weiter  darauf  hin,  daß  so  heftige  mechanische  Er- 
schütterungen, wie  diese  Theorien  voraussetzen,  uns  auf  dem  Meere 
nicht  treffen.    Ganz  richtig  bemerkt  er:    „Man  lege  den  Kopf  an  die 


1)  O.  Pflanz,    Zur   Ätiologie   der  Seekrankheit.     Wiener    klin.   Wochenschr. 
1903,  S.  896. 


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488  ,      J.  A.  ytn  Trotecpburfo  [14 

Wand  ^ioes  scbutternden  Wagens  oder  selbst  an  die  6neiterwao4 
des  verhältnismäßig  leise  dahingleitenden  Eisenbahpwageos,  und  mao 
wird  ziemlich  3tarke  Erschütterungen  empfinden,  wenigstens,  mit 
denen  verglichen^  die  man  etwa  verspürt,  wenn  man  den  Kopf  an 
den  Mast,  an  die  Reiling  oder  sonst  einen  festen  Bestandteil  des 
Schiffes  lehnt.  Meist  wird  man  hier  überhaupt  keine  Erschütterung 
wahrnehmen.f^ 

Seeschiffe  haben  gefwöl^nlich  eine;  so  enorme  Inertie,  daß  die 
Schiffsbewegungen  sehr  allipählich  ineinander  übergehen,  ausgenommen 
sehr  kleine  Fahrzeuge,  die  oft  heftig  erschüttern  und  stoßen  können. 

Folgende  Bemerkung  Rieses: 

^Das  Bier  bleibt  auch  bei  starken  (Schiffs-]Schwarnkungen  ganz 
ruhig  im  Glase  und  fließt  nur. aus,  wenn  etwa  das  Glas  zu  stark  ge- 
neigt wird;  auch  spritzt  es  weder  hin^s,  noch  wird  es  hinausge-^ 
schleudert,  es.  folgt  eben  einfach  der  Schwerkraft"",  ist  im  allgemeinen 
richtig,  doch  wo  es  sich  um  sehr  kleine  Schiffe  oder  sehr  stürmisches 
Wetter  handelt,  kann  ihre  Zulässigk^it  nur  eiqe  bedingt^  sein. 

Au$  seinen  Wahrnehmungen  schließt  Riese,  daß  >,die  mecha- 
nischen Einwirkungen  auf  Schiffen  weit  geringer  sind»  a:ls  mancher- 
lei mechanische  Einwirkungen,,  welche  der  menschliche  Körper  bei 
den  verschiedensten  Gelegenheiten  im  gewöhnlichen  Leben  un- 
beschadet erträgt.  Daß  ein  Reiter  ein  gefülltes  Glas  nicht  wohl 
würde  transportieren  können,  liegt*  auf  der  Hand,  auch  in  einem 
gewöhnlichen  Wagen  würde  der  Inhalt  wahrscheinlich  durch  mecha- 
nische Kräfte  verschüttet  werden,  doch  ich  glaube,  selbst  beim 
gewöhnlichen  Gange  sind  die  Erschütterungen,  denen  der  Körper 
ausgesetzt  ist,  größere^  als  sie  ihm  von  dem  Schiffe  mitgeteilt 
werden." 

Ungeachtet  dieser  zahlreichen  und  begründeten  Einwände  gegen 
jede  mechanische  Theorie  der  Seekrankheit,  und  obgleich  völlig  damit 
bekannt,  hat  vor  kurzem  Rosenbach i)  aufs  neue  versucht,  das  Krank- 
heitsbild mechanisch  zu  erklären.  Nach  ausführlichen  Betrachtungen, 
in  denen  eine  sachliche  Widerlegung  der  oben  genannten  Bedenken 
meines  Erachtens  nicht  zu  finden  ist,  kommt  Rosenbach  zu  dem 
Resultate  (S.  161,  Seekr.  als  Typus  der  Kinetosen): 

„daß  für  die  Entstehung  des  Symptomenkomplexes  der  Seekrank- 
heit (und  aller  Kinetosen).  vor  allem  intra-  und  interenergetische 
(intermolekulare)  Störungen  verantwortlich  zu  machen  sind»  Sie  treten 
ein,   wenn  besonders  starke  und  ungewohnte  Impulse,   in  specie  die 


1)  Prof.  Dr.   O.   Rosenbach,    Die    Seekrankheit    als   Typus   der   Kinetosen. 
Wien  1896  und  „Die  Seekrankheit*"  in  Nothnagels  Path.  und  Ther.  Bd.  12»  T.  2. 


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15]  Die  Seekrankheit  und  ihre  Verhütung.  489 . 

Schiffsbewegung,  das  durch  eine  besondere  Form  der  Oberflächen- 
spannung bewirkte  künsdiche  (innere)  Gleichgewicht  des  gesamten 
Organismus  oder  seiner  einzelnen  Teile  (funktionellen  Einheiten)  so 
wesendich  in  Frage  stellen^  daß  die  vorhandenea  reaktiven  Kräfte 
(die  latente  Reserveenergie)  nicht  imstande  sind,  die  normalen  Be- 
ziehungen der  Teile  wiederherzustellen.  Wir  nehmen  also  an,  daß 
überall  da,  wo  äußere  oder  Innere  Impulse  zu  einer  starken,  Inter- 
und  intramolekularen  Erschütterung  (Veränderung  des  dynamischen 
Gleichgewichtes)  der  kleinen  und  größeren  Komplexe  führen,  die 
Störung  zuerst  in  einer  Anomalie  der  außerwesentlichen  (intra-  und 
interorganischen)  Arbeit,  d.  h.  in  einer  Veränderung  der  sämtlichen 
wahrnehmbaren  (tonischen  und  sthenischen)  Funktionen  der  betreffen- 
den Organe  respektive  des  ganzen  Organismus,  zum  Ausdrucke 
kommen  wird.'' 

9 Wir  sind  somit  geneigt,  die  abnorme  Sekretion  des  Magens,  die 
abnormen  peristaltischen  Bewegungen,  das  Erbrechen  usw.,  auf  eine 
bestimmte  mechanische  Beeinflussung  des  Organgewebes  selbst  (eine 
Betriebsstörung)  zurückzuführen,  und  glauben,  daß  Leber,  Darm,  Ge- 
hirn, Nervenplexus  in  derselben  Weise  direkt  mechanisch  in  Mit- 
leidenschaft gezogen  werden,  ohne  daß  dabei  ein  Nerveneinfluß  primär 
im  Spiele  ist,  obwohl  wir  die  gleichzeitige  (koordinierte)  Alteration 
der  Psyche  und  des  Nervengewebes,  das  ja,  wie  jedes  andere  Gewebe 
ebenfalls  mechanisch  irritiert  werden  kann,  durchaus  nicht  in  Abrede 
stellen.  Es  kann  natürlich  in  einem  Falle  das  Gehirn  allein,  es  können 
in  einem  anderen  auch  die  Abdominalorgane  für  sich  affiziert  sein; 
doch  sind  wohl  die  Störungen  in  letzteren,  sowie  kombinierte  Affek- 
tionen, die  stärkeren  und  häufigeren.^ 

Außer  dieser  mechanisch  verursachten  Form  der  Seekrankheit  er- 
kennt Rosenbach  auch  das  Bestehen  einer  psychischen  Form  an, 
denn  auf  Seite  163  liest  man  weiter: 

„Neben  der  Form  der  Seekrankheit,  die  auf  durchaus  realer  Basis, 
also  bei  direkter  Beeinflussung  der  sichtbaren  Gehirnmasse  durch 
grobe  Schwingungen  zustande  kommt  (somatische  Form),  müssen  wir 
die  auf  rein  psychischer  Basis  (oder  höchstens  durch  geringe  optische 
Sinnesreize)  entstandene  besonders  berücksichtigen,  da  hier  die  Ent- 
stehung, der  Störungen  auch  ohne  Zuhilfenahme  eines  Gleichgewichts- 
zentrums allein  aus  der  Erregung  von  Unlustgefühlen  (Vorstellungen) 
erklärt  werden  kann,  was  namendich  dadurch  bewiesen  wird,  daß  die 
Krankheit  auch  bei  vollkommen  ruhiger  See  auftritt,  und  daß  durch- 
aus ähnliche  Erscheinungen  auch  auf  dem  Festlande  bei  gewissen 
psychischen  Erregungen  beobachtet  werden.^ 


a 


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400  J.  A.  van  Trotsenburg,  [16 

Rosenbach  geht  in  seinen  energetischen  Betrachtungen  so  weit, 
daß  er  die  durch  die  Seekrankheit  verursachten  Störungen  in  einem 
Organismus  einfach  analog  achtet  mit  einer  Trennung  der  Kontinuität 
oder  einer  Veränderung  des  Aggregatzustandes  bei  nicht  organisierten 
Massen: 

9  Wir  bezeichnen  den  Effekt  dieser  Verschiebungen  bei  organisierten 
Komplexen  als  eine  Veränderung  des  Tonus  und  der  Funktion,  bei 
nicht  organisierten  Massen  als  Veränderung  des  Aggregatzustandes.* 
(S.  4,  Seekrankheit  als  Typus  der  Kinetosen.) 

Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  sich  diese  Theorie  schwer  vereinigen 
läßt  mit  der  Immunität  der  Säuglinge,  was  Rosenbach  auch  selbst 
eingesehen  hat,  und  schon  daraus  hervorgeht,  daß  er  die  Säuglings- 
immunität in  ihrer  Allgemeinheit  leugnet.  Soweit  er  aber  doch  die 
geringe  Empfindlichkeit  der  kleinen  Kinder  zugeben  muß,  erklärt  er 
sie  wie  folgt;  (S,  200) 

»Je  kunstvoller  also  die  Oberflächenspannung  eines  Körpers  an 
sich  ist,  desto  größer  ist  die  Arbeit  für  die  richtige  Spannung  der 
kleinen,  die  Komplexe  der  Organe  zusammensetzenden  Teile  unter 
der  Wucht  eines  mächtigen,  ungewohnten  Impulses,  und  darum  werden 
die  Störungen  bei  den  überaus  wirkungsvollen  Schwankungen  des 
Schiffes  für  die  meisten  Erwachsenen  so  beträchtlich.  Die  Bedeutung 
von  Stößen,  wie  sie  die  Schiffsbewegung  darstellt,  ist  dagegen  für 
Körper  ohne  besondere  Komplikation  der  Oberflächenspannung  und 
des  räumlichen  Gleichgewichtes  außerordentlich  gering,  und  so  emp- 
findet der  Säugling  die  Einwirkungen  relativ  am  geringsten,  da  sein 
Organismus  eben  noch  nicht  die  Einrichtungen  des  vollkommenen 
Präzisionsapparates  für  das  Gleichgewicht  aller  Teile  hat,  wie  der 
Organismus  des  Erwachsenen.  Um  ein  Beispiel  zu  brauchen,  so  sind 
die  kunstvollen  Spannungen  der  Gewölbe  der  Paläste  beim  Erdbeben 
mehr  gefährdet  als  die  in  einfachem  Gleichgewichte,  konstruierten 
Hütten  aus  Holzfachwerk.'' 

Auf  Seite  17  derselben  Arbeit  gibt  Rosenbach  noch  zahlreiche 
andere  Argumente  für  die  kindliche  Immunität,  die  aber  an  Gehalt 
die  obigen  nicht  viel  übertreffen. 

Rosenbachs  philosophisch-energetische  Betrachtungen  machen  oft 
den  Eindruck,  auf  weit  weniger  festem  Boden  zu  stehen,  als  ein 
Schiff  im  Sturm  bietet.  Wie  er  in  der  Tatsache  der  Gewöhnung  an 
den  Einfluß  des  stürmischen  Meeres  eine  der  wichtigsten  Stützen  für 
seine  Theorie  zu  sehen  vermag  (S.  185,  Seekr.  als  Typus  d.  Kinet.), 
ist  mir  aus  seiner  Darlegung  nicht  klar  geworden. 

Wie  ich  schon  oben  bemerkte,  bilden  die  Theorien  der  Zirkulations- 
störungen einen  Übergang   von   den   mechanischen   zu   den  Reflex- 


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17]  Die  Seekrankibeit  und  ihf&  Verhütung.  491 

iheorien.  Denn  viele,  die  die  Erschelnuageo  der  Seekrankheit  ableiten 
wollen  aus  einer  Hyperämie  oder  Anämie  des  Gehirns,  denken  sich 
diese  Zirkulationsstörungen  auf  mechanische  Weise  entstanden,  wieder 
andere  kümmern  sich  nicht  um  die  Frage,  wie  die  Anaemia  cerebrl  zu- 
stande kommt,  sondern  konstatieren  nur  eine  Übereinstimmung  zwischen 
akuter  Hirnanämie  und  Seekrankheit. 

Hagen-Torn^)  endlich  (und  mit  ihm  viele  andere)  sieht  in  der 
Seekrankheit:  ,,eine  Reflexerscheinung,  bedingt  durch  die  Unmöglich- 
keit der  Anpassung  an  die  stets  sich  verändernden  Beziehungen  des 
Körpers  zur  Umgebung.  Das  Ende  defr  Reflexschleife  ist  die  Kon- 
traktion der  GehirngefaOe,  wie  Prof.  Binz  es  annimmt''. 

Binz^)  betrachtet  Anaemia  cerebri  als  nächstliegende  Ursache  der 
Seekrankheit  und  beruft  sich  auf  Krämer^),  der  bei  44  Seekranken 
anämische  Fundus  oculi  fand.  —  Reynolds^)  meint,  die  Erscheinungen 
der  Seekrankheit  wären  bedingt  durch  Druckschwankungen  in  den 
Ampullen  derCanales  semicirculares,  während Butler-Savory<^)  genau 
den  ganzen  Reflexbogen  beschreibt,  ausgehend  von  »the  two  terminal 
branches  of  the  auditory  nerve  to  the  Cochlea  and  semlcircular  canals. 
The  Upper  division  of  the  auditory  nerve  is  connected  at  the  base  of 
the  internal  auditory  meatus  with  the  geniculate  ganglion  of  the  facial 
nerve  and  this  latter  in  its  turn  gives  off  fibres  which  pass  to  the 
trunk  of  the  pneumogastric  by  means  of  its  auricular  brauch;  there 
is  thus  a  complete  chain  of  nerve  fibres  starting  from  the  terminal 
branches  of  the  auditory  and  finishing  with  the  terminal  branches  of 
the  pneumogastric,  distributed  over  both  surfaces  of  the  stomach.  The 
Stimulation  of  the  auditory  nerve  would  be  caused  by  the  movement 
of  the  endolymph,  set  up  by  the  motion  of  the  ship.  From  there  the 
Stimulation  would  pass  through  the  various  secretory  and  vase-dilator 
fibres  of  the  fascial  to  the  submaxillary  and  sublingual  glands  &c.« 

Diejenigen  Theorien,  die  die  Seekrankheit  als  verursacht  ansehen 
durch  ungewöhnliche  Reize  des  Labyrinths,  stützen  sich  auf  die  Über- 
einstimmungen zwischen  den  Erscheinungen  der  Seekrankheit  und 
denjenigen,  welche  durch  känstliche  Reize,  Beschädigung  oder  Exstir- 

1)  O.  Hagen -Tom,  Über  die  Seekrankheit.  Zentralbl.  f.  Inn.  Med.  1903, 
S.  607. 

2)  Karl  Binz,  Über  die  Seekrankheit.  Zentralbl.  f.  Inn.  Med.  1903,  Nr. 9  und 
1904,  Nr.  11. 

3)  L.  Kramer,  Über  die  Seekrankheit.  Prager  Med.  Wochenschr.  1892,  Nr.  40 
und  41. 

4)  Reynolds,  On  the  Nature  and  treatment  of  sea-sickness.  Lancet  1884, 
p.  1161. 

5)  Butler  Savory,  British  Med.  Journal  1901,  I,  p.  767. 


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402  J»  A.  rtn  Trot^eaburg,  [18 

pation  der  Cinales  semicirculares  auftreten.  Sie  können  ohne  Zweifel 
am  Krankheitsbilde  viel  erklären,  aber  viernachlässigen  mit  Unrecht 
diejenigen  Reize,  welche  auf  optischen  und  kinästhetischen  Bahnen 
zur  Entstehung  von  Desorientierung  beitragen  und  die,  wenn  sie  aUein 
auftreten,  ebenfalls  einen  der  Seekrankheit  ähnlichen  Symptomen- 
komplex erwecken.  So  versuchte  u.  a.  Abrahamsz  das  Bild  der  See- 
krankheit ganz  von  letztgenannten  Ursachen  (ungewöhnliche  Gesichts- 
und Gefühlsempfindungen)  abzuleiten.  Seine  Vorstellung  und  die 
oben  beschriebene  ergänzen  sich  gegenseitig  und  zeigen  dann  große 
Obereinstimmung  mit  den  von  Riese  gegebenen  Darlegungen  über 
die  Entstehung  der  Seekrankheit.  Nur  wird  seine  Neigung  zur  Loka- 
lisierung eines  statischen  Zentrums  und  eines  pathologisch-anatomischen 
Ortes  der  Seekrankheit  heute  weniger  Anhänger  finden  als  damals,  als 
er  seine  Inauguraldissertation  schrieb  und  man  mit  Lokalisieren  größeren 
Erfolg  hatte  als  jetzt. 

Anhänger  von  rein  psychischen  Theorien  werden  heute  wahrschein- 
lich sehr  selten  sein,  obgleich  eine  rein  psychische  Form  der  Seekrank- 
heit ebensowenig  verneint  werden  kann  wie  Schwindel  auf  ausschließlich 
psychischer  Grundlage.  Schwindel  beim  Hinabseben  von  hohen  Ge- 
bäuden^ oder  bei  einseitiger  Augenmuskellähmung,  oder  bei  einer  wohl- 
bekannten Kirmesbelustigung,  welche  den  fast  in  Ruhe  bleibenden  Be- 
suchern die  Illusion  gibt,  360 Grad  rundzuschaukeln  (sog.  Hexenschaukel), 
sind  dafür  einige  aus  vielen  Beispielen.  Daß  hysterische  Personen 
auf  nahezu  und  sogar  auch  auf  ganz  unbewegtem  Schiffe  Seekrank- 
heitserscheinungen zeigen  können,  wird  niemand  wundern,  der  mit 
Hysterie  ein  wenig  bekannt  ist.  Aber  auch  bei  Gesunden  spielen 
wahrscheinlich  psychische  Einflüsse  eine  große  Rolle.  Dafür  sprechen 
verschiedene  Umstände,  wie  z.  B.  die  schon  zitierte  Wahrnehmung 
einiger  Schriftsteller,  daß  man  willkürlich  das  Ausbrechen  der  See- 
krankheitserscheinungen einige  Zeit  unterdrücken  kann,  oder  man 
wenigstens  den  Eindruck  hat,  es  zu  können.  Dafür  spricht  ferner  der 
so  oft  konstatierte  Einfluß  psychischer  Infektion,  die  besonders  bei 
Seekrankheit  von  großer  Bedeutung  ist  und  vielen  aus  Erfahrung  be- 
kannt sein  wird.  Weiter  ist  die  Tatsache  bekannt,  daß  seekranke 
Neulinge  unter  den  Matrosen  unter  der  suggestiven  Behandlung  ihrer 
älteren  Kameraden  sich  schnell  zu  gewöhnen  pflegen.  Dery^)  meint, 
das  bei  alten  Seeleuten  für  solche  Fälle  bekannte  Rezept,  die  Dar- 
reichung von  Seewasser  in-  und  auswendig,  im  Notfalle  aufgezwungen, 
solle  sich  gut  bewähren.  —  Solange  die  Homöopathie  dafür  keine 
bessere  Erklärung  an  die  Hand  gibt,  wird  man  in  dieser  Therapie 


1)  D6ry,  Die  Seekrankheit.  Allgem.  milit.-ärztl.  Zeitung  1871. 


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19]  Die  SeeKrAoUieitinidilir«' Verhütung.  403 

schwerlich  etwas  anderes  nt^iS^uggestive  Wirkung  vermuten  köotien. 
r—  Und  endlich  das  so  hSuüge  Bestreben;  Empfindlichkeit  für  See- 
krankheit zu  verneinen^  und  in  Seekrankheit  nur  eine  Schwäche  oder 
Mangel  an  Willenskraft  zu  sehen.  y,Man  erhäit^S  sagt  Rosenbach^ 
)iVon  Kriegern  und  Seekranken  nur  selten  wahrheitsgetreue  Auf- 
sohlässe^S  und  Neuhaus  meint:  »»Wollte  man  den  äblichen  Prahlereien 
Glauben  schenken»  so  wurden  mindiestens  00%  nie  seekrankes  indem 
Riese  hierzu  bemerkt:  „Es  ist  ein  jedem  SchifFsarzt  bekannter  Um* 
stt^nd«  daß  Passagiere»  besonders  Herren»  die  an  nicht  zu  schwerer 
Seekrankheit  leiden»  dies  nie  gern  wahrhaben  mögen»  sondern  ihre 
Indisposition  lieber  auf  alle  möglichen  anderen  Dinge»  Diatfehler  usw.» 
zu  schieben  pjlegen/' 

Objge  Übersicht  der  Seekrankheitstheorien  kann  in  keiner  Hinsicht 
auf  Vollständigkeit  Anspruch  machen^  es  ist  nicht  viel  mehr  als  eine 
Blumenlese  aus  der  so  umfangreichen  Literatur.  Man  kann  kaum  einen 
Jahrgang,  von  irgendeiner  medizinischen  Zeitschrift  zur  Hand  nehmen» 
ohne  darin  auf  neue  Theorien  der  Seekrankheit  zu  stoßen.  Es  ist 
kaum  möglich»  die  ganze  Literatur  zu  übersehen»  und  ich  habe  nur 
naeh  der  Aufspürung  und  Erwähnung  der  wichtigsten  Grundlagen  der 
zahlreichen  Theorien  getrachtet. 

Wenn  wir  nun  die  Seekrankheit  betrachten  als  eine  bewußte  Des- 
orientation  im  Räume,  kombiniert  mit  einer  Reihe  reflektorischer 
Störungen,  eins  wie  da$  andere  hervorgebracht  von  ungewöhnlichen 
optischen»  kinästhetischen  und  Labyrinthreizen»  dann  werden  die 
Seite  485  genannten  Eigentümlichkeiten  der  Krankheit  befriedigend  er- 
klärt werden  können.  Die  sub  1  und  2  genannten  Kriterien  brauchen 
keinen  weiteren  Kommentar.  Daß  Säuglinge»  die  noch  jeder  Orientie- 
rung im  Räume  entbehren»  immun  sind  für  Desorientierung»  kann 
unsere  Betrachtung  nur  stützen»  daß  sie  aber  auch  unempfindlich  sind 
für  die  Labyrinthreize,  die  sie  auf  beweglichem  Schiffe  treffen,  könnte 
nicht  a  priori  erwartet  werden.  Es  ist  mir  nicht  gelungen»  in  der 
Literatur  Wahrnehmungen  beschrieben  zu  finden»  die  auf  Unempfind- 
lichkeit  der  Säuglinge  für  Achsendrehung,  galvanische  oder  thermische 
Labyrinthreize  hinweisen.  Der  hiesige  Herr  Professor  Schutter»  mit 
dem  ich  hierüber  Rate  pflog,  war  auf  meine  Bitte  bereit»  diese  Frage 
mit  mir  zu  untersuchen;  wir  fanden,  daß  6  Kinder  unter  1  Jahre  alt 
keinen  kalorischen  Nystagmus  zeigten.  Untersucht  wurde  mit  Wasser 
von  25''  Celsius,  wobei  normale  ältere  Kinder  eine  kräftige  und 
minutenlang  nach  dem  Experimente  nachbleibende  Reaktion  zeigten. 
Ein  in  der  Entwickelung  zurückgebliebenes  2jähriges  Kind»  das  wegen 
kongenitaler  Hüfteluxation    nicht  gehen  noch  stehen  konnte,  zeigte 


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494  J.  A.  van  Trotsenburg,  [2 

auch  keinen  kalorischen  Nystagmus,  während  ein  normales  lV2iibriges 
Kindchen  eine  Spur  von  Reaktion  zeigte.  Aus  diesen  Untersuchungen 
wird  es  wahrscheinlich,  daß  der  Vestibularapparat  In  der  Zelt  funk- 
tionsfähig wird,  wo  die  Kinder  das  Gehen  erlernen. 

Die  Für  Seekrankheit  größere  Empfindlichkeit  der  Frauen  ist  in 
Übereinstimmung  mit  ihrer  allgemeinen  höheren  Irritabilität,  und 
demzufolge  sind  auch  nervöse  und  hysterische  Naturen  besonders 
empfindlich. 

Die  Tatsache  der  Gewöhnung,  und  die  Frage,  wie  diese  zustande 
kommt^  verdient  besondere  Aufmerksamkeit,  insofern  die  Frage  für 
die  Prophylaxe  der  Seekrankheit  große  Bedeutung  hat. 

Vergleicht  man  den  erfahrenen  Seemann  mit  dem  Neuling  auf  dem 
beweglichen  Boden,  dann  fallen  uns  bedeutende  Unterschiede  auf.  Der 
Neuling  bewegt  sich  sowohl  objektiv  wie  subjektiv  in  sehr  unsicherem 
Gleichgewichte.  Er  muß  sich  fortwährend  stützen;  und  will  er  sich 
von  einem  Ort  zum  anderen  bewegen,  so  tut  er  es  am  liebsten  in  dem 
Augenblicke,  wo  das  Verdeck  durch  die  Horizontalfläche  geht.  Zur 
Fortsetzung  seines  beabsichtigten  Rückganges  wartet  er  wiederum 
eine  gleiche  Gelegenheit  ab.  Wenn  er  eine  Schiffsbewegung  mit 
einer  zweckmäßigen  Körperbewegung  zu  beantworten  versucht,  tut  er 
dies  nur  selten  in  der  richtigen  Weise  und  erinnert  dabei  an  den 
Schlittschuhläufer  oder  Radfahrer,  der  sich  zum  erstenmal  an  das  Studium 
dieses  Sports  wagt.  Der  erfahrene  Seemann  hingegen  ist  vollkommen 
gut  equilibriert.  Beim  Stehen,  Gehen,  Sitzen:  fortwährend  kompen- 
siert er  automatisch  die  Schiffsbewegungen  derart,  daß  sein  Oberkörper 
immer  ungefähr  die  vertikale  Lage  behält.  Der  erfahrene  Aufwärter 
z.  B.  trägt  ohne  Mühe  ein  Brett  mit  gefällten  Gläsern  zu  den  Passa- 
gieren als  etwas  Selbstverständliches,  ohne  eine  Miene  zu  verziehen. 
Auf  Photographien,  welche  am  Bord  fahrender  Schiffe  aufgenommen 
sind,  kann  man  sich  leicht  von  diesem  Equilibrieren  der  Seeleute 
überzeugen.  Viele,  wenn  nicht  die  meisten,  tun  es  ganz  unbewußt, 
oder  denken  nur  daran,  wenn  die  Schiffsbewegungen  sehr  groß  werden. 
Wo  dieses  Equilibrieren  zeitweise  unterlassen  wird,  z.  B.  wenn  man 
sich  in  irgendeine  Arbeit  zu  sehr  vertieft,  tritt  bisweilen  überraschend 
wieder  ein  Gefühl  von  Unbehagen  auf,  welches  dadurch  zu  bekämpfen 
ist,  daß  man  seine  Arbeit  auf  einige  Zeit  unterbricht.  So  sah  ich 
einmal  einen  erfahrenen,  und  sonst  für  Seekrankheit  nicht  be- 
sonders empiiinglichen  Heizer  auf  nur  mäßig  bewegtem  Schiffe  un- 
wohl werden  beim  Bemalen  eines  Brettes,  das  zu  einer  festlichen 
Gelegenheit  dienen  sollte  und  von  diesem  Heizer  (der,  wie  ich 
glaube,  früher  Anstreicher  gewesen  war)  bei  fahrendem  Schiffe  be- 
arbeitet wurde.     Beim   Schreiben   und  Lesen   während  stürmischen 


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21)  Die  Seekrankheit  und  ihre  Verhütung.  495 

Wetters  bemerkte  ich  oft  auch  an  mir  selbst^  daß  dann  und  wann  Unter"» 
brechung  dieser  Arbeit  nötig  war,  um  mein  Wohlbefinden  zu  behalten« 
Wie  aus  einer  schon  früher  zitierten  Bemerkung  von  Abrahamsz 
hervorgeht,  machte  dieser  Forscher  auch  dieselbe  Erfahrung.  Das 
fortwährende  Equilibrieren  verursacht  nach  einer  Seefahrt  auf  kleinem, 
beweglichem  Schiffe  bei  ungünstigem  Wetter  beim  Anslandtreten  ein 
Gefühl  in  den  Füßen,  welches  an  dasjenige  erinnert,  das  man  bei 
den  ersten  Schritten  nach  ein^r  Schlittschuhfahrt  hat. 

Das  Equilibrieren.  ist  ein  wichtiges  Wehrmittel  gegen  die  Schiffs- 
bewegungen, die  dadurch  als  Labyrinthreize  sehr  geschwächt  werden. 
Leider  aber  kann  man  die  Bewegungen  in  senkrechter  Richtung  nicht 
kompensieren,  und  wahrscheinlich  steht  deswegen  das  „Stampfen^  in 
weit  schlechterem  Rufe  als  das  „Rollen"*  des  Schiffes.  Die  Frage 
taucht  jetzt  auf,  ob  das  schon  beschriebene  chronische  Fortbestehen 
der  Seekrankheits- Erscheinungen  bei  Oberempfindlichen  dem  mangel- 
haften Erlernen  des  zweckmäßigen  automatischen  Kompensieren  der 
Schiffsbewegungen  zugeschrieben  werden  kann.  Zur  Beantwortung 
dieser  Frage  wurde  von  mir  untersucht,  ob  Oberempfindlichkeit  für 
Seekrankheit  zusammengeht  mit  Störungen  der  Empfindlichkeit  für 
Neigungsänderungen.  Mit  Hilfe  eines  improvisierten  Goniometers, 
das  mit  einer  Winde  geräuschlos  bewegt  werden  konnte,  wurden  bei 
ungefähr  100  Schiffspersonen  nacheinander  folgende  Größen  bestimmt: 

1.  die  Schwelle  (Schw). 

2.  die  kleinste  Neigungsänderung,  die  nötig  war,  um  aufs  neu« 
eine  Empfindung  zu  geben  (dR). 

.  3.  die  MinJmum-Neigungsänderung,  nötig,  um  eine  Empfindung  zu 
geben,  ausgehend  von  einer  Neigung  von  W  (dR*"). 

4.  derselbe  Wert  bei  einem  Neigungswinkel  von  aO""  (dR^o). 

Immer  wurden  die  Personen  ohne  Schuhe,  mit  herabhängenden 
Armen,  geschlossenen  Augen  und  bei  gleichem  Stande  der  Füße  unter- 
sucht. Die  Werte  für:  Schw,  dR,  dR*®  und  dR^®  wurden  gemessen  in 
zwei  verschiedenen  Stellungen,  die  die  Stampf-  und  Rollbewegung  eines 
Schiffes  nachahmten.  Da  aber  die  für  seitliche  Neigungsänderungen 
gefundenen  Werte  nicht  nennenswert  verschieden  waren  von  denen, 
die  bei  Neigungen  nach  hinten  und  vorn  gefunden  wurden,  nehmen 
wir  jedesmal  aus  beiden  den  mitderen  Wert.  Eine  gleiche  Geschwin- 
digkeit von  Neigungsänderung  bei  jeder  Untersuchung  wurde  möglichst 
dadurch  verbürgt,  daß  immer  derselbe  Seesoldat  die  Winde  drehte. 
Die  Forderung,  daß  die  Bewegungen  übereinstimmend  sind,  und  daß 
man  sie  für  genaues  Ablesen  jedesmal  muß  hemmen  können,  ohne 
daß  dabei  fühlbare  Stöße  entstehen,  bestimmt  die  größte  Geschwindig- 
keit, die  man  brauchen  kann.    Diese  Geschwindigkeit  wird  ungefähr 


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496  J-  A.  van  Trotsenbupg,  {22 

äbereinstimmen  mit  derjenigen,  die  ein  cQchtiges  SeeschlflP  bei  miSig 
bewegter  See  zeigt. 

Jeder  gefundene  Wert  wurde  einige  Male  kontrolliert,  und  aus 
mehreren  Wahrnelimungen  jedesmal  ein  Mittelwert  berechnet.  Oft 
geschah  es,  daO  die  erste  Neigung  erst  bei  6,  8  oder  mehr  Graden 
perzipiert  wurde,  obgleich  doch  niemals  die  Schwelle  so  hoch  war. 
Ließ  man  doch  die  Neigung  wieder  abnehmen,  dann  wurde  schon 
„Nieder*  gerufen,  ehe  wieder  der  Horizontalstand  erreicht  war,  und 
ein  zweites  Mal  wurde  schon  bei  viel  weniger  als  6  Graden  das  ,Auf* 
gehört.  Ausgenommen  die  ersten  unrichtigem  Wahrnehmungen,  stimmten 
die  gefundenen  Werte  bei  Wiederholung  der  Untersuchungen  gut 
überein. 

Aus  100  Wahrnehmungen  wurden  folgende  Mittelwerte  berechnet: 

Schw:  dR  dRw  dR» 

1,96°  1,45°  1,29°  1,23° 


1,53°  1,64° 

Für  dR*'^  und  dR^»  wurden  zwei  Werte  gefunden,  da  sich  zeigte, 
daß  gewöhnlich  die  Empfindlichkeit  für  Netgungszunahme  bedeutend 
größer  war  als  fOr  Abnahme.  Die  oberhalb  des  Striches  stehenden 
Ziffern  haben  immer  Beziehung  auf  Zunahme,  die  unterhalb  desselben 
stehenden  auf  Abnahme  der  Neigung.  Die  untersuchte  SchifPsmann- 
schaft  bestand  aus  Personal  der  niederländischen  Marine  und  war 
zusammengesetzt  aus  Leuten  von  verschiedene^  Alter  und  in  Ober- 
einstimmung damit  von  verschiedener  Befahrenheit.  Da  die  alteren 
dieser  Seeleute  oft  auffallend  höhe  Ziffern  zeigten,  so  lag  es  auf  der 
Hand,  die  Untersuchten  in  zwei  Altersklassen  einzuteilen,  wobei  fol- 
gende Mittelwerte  gefunden  wurden: 


Tftbell 

e  I. 

Geboren  vor  1880 

Geboren  nach  1880 

Mittelwerte  aus  37  Fallen 

Mittelwerte  aus  63  Fallen 

Schw: 

2,20'* 

1,82° 

dR 

1,60* 

•    1,36° 

dR" 

1,35* 

f,26° 

1,57" 

1,52° 

dRio 

1,27° 

1,21° 

1,72° 

'  1,59° 

Die  älteren,  mehr  befahrenen  Seeleute  (d.  h«  seetitehtige,  mit 
Schiffsarbeiten  vertraute  Leute,  die  schon  ozeanische  Reisen  gemacht 
haben;  der  Gegensatz  dazu    sind.  Halbbefahrene   und  Unbefahrene) 


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23]  I^ie  Seekrankheil  und  ibre  Verhütung.  4ff1 

zeigten  also  Immer  höhere  ZiflPern  als  die  jOngeren.  Ähnliche  Unter- 
schiede in  Empfindlichkeit  wurden  auch  gefunden,  wenn  man  das  Jahr 
1885  nimmt  als  Grenze  zur  Verteilung  in  zwei  Altersgruppen: 

Tabelle  IL 

Geboren  vor  1885  Geboren  nach  1885 

Mittelwerte  aus  60  Fällen  Mittelwerte  aus  40  Fflllen 

Schw:  2,12^  1,73^ 

dR  1,54^  1,32^ 


dRio 
dR2o 


1,24° 
1,41° 
1,17° 
1,49° 


In  Westindien,  wo  ich  diese  Untersuchungen  anstellte,  hatte  ich 
keine  Gelegenheit,  ganz  Unbefahrene  (Leute,  die  noch  nie  auf  dem 
Meerewaren),  zu  untersuchen,  was  nötig  gewesen  wäre,  um  ausfindig 
zu  machen,  ob  im  allgemeinen  das  Alter  Einfiuß  auf  die  Empfindlich- 
keit für  Neigungsänderungen  ausübe,  oder  ob  die  geringere  Empfind- 
lichkeit der  älteren  Seeleute  einer  gewissen  Abstumpfung  als  Folge 
des  langen  Aufenthaltes  auf  dem  Meere  zugeschrieben  werden  müsse. 

Hier  in  Groningen  hatte  ich  Gelegenheit,  Unbefahrene  zu  unter- 
suchen. Ich  hätte  nun  ein  Goniometer  nach  v.  Stein  zu  meiner 
Verfügung  und  die  mit  diesem  Apparate  gefundenen  Werte  können 
nicht  ohne  weiteres  mit  denen  verglichen  werden,  die  mit  Hilfe 
meines  primitiven  Goniometers  gefunden  wurden.  Aber  auf  Unter- 
schieden der  Empfindlichkeit,  abhängig^  von  Alter  und  Geschlecht, 
konnte  mit  dem  genauem  Apparate  um  so  besser  untersucht  werden. 
Aus  100  Wahrnehmungen  bei  Personen  in  demAlter  von  15—50  Jahren 
wurden  folgende  Mittelwerte  berechnet: 


Tabelle 

III. 

Geboren  vor  1885 

Geboren  nacb  1885 

50  FSIle 

50  Falle 

Schw: 

0,9425° 

0,94° 

dR 

0,869° 

0,836° 

dR" 

0,763° 
0,988° 

0,729° 
1,063° 

dRw 

0,663° 

0,674° 

0,983° 

0,997° 

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408 


J.  A.  van  Trotsenburg, 


[24 


Wie  aus  obiger  Tabelle  hervorgeht ,  wurden  bedeutende  Unter- 
schiede» die  abhängig  vom  Alter  waren,  nicht  gefunden.  Offenbar 
sind  die  Ziffern  von  Tab»  III  bedeutend  niedriger  als  die  der  beideo 
ersten  Tabellen.  Dieses  wird  wohl  teils  den  Unterschieden  der  bei 
beiden  Untersuchungsreihen  benutzten  Apparate  zugeschrieben  werden 
müssen y  teils  aber  auch  der  Unbefahrenheit  der  zuletzt  untersuchten 
Personen.  Die  auf  mich  selbst  sich  beziehenden  Werte,  die  ich  mit 
Hilfe  des  Goniometers  nach  v.  Stein  fand,  waren  etwas  größer  als 
die  Hälfte  der  früher  mit  dem  einfachen  Apparate  gefundenen  Werte. 
Aber  damals  diente  ich  auf  einem  fahrenden  Schiffe,  während  ich 
mich  jetzt  seit  mehr  als  einem  Jahre  auf  dem  Lande  aufhalte. 

Bei  Vergleichung  beider  Geschlechter  wurden  folgende  Werte  ge- 
funden : 

Tabelle  IV. 


Schw: 
dR 

dRio 
dR2o 


Männer 
50  Fälle 

0,985** 

0,92° 

0,78° 

1,034° 

0,644° 

0,952° 


Weiber 
50  Fälle 

0,844° 

0,79° 

0,729° 

1,008° 

0,654° 

0,963° 


Möglicherweise  sind  also  die  Weiber  etwas  empfindlicher  für 
Neigungsänderungen  als  die  Männer,  aber  die  Unterschiede  sind  sehr 
klein  und  verschwinden  ganz  bei  Zunahme  der  Neigung. 

Vergleichen  wir  jetzt  von  6  für  Seekrankheit  fiberempfindlichen 
Seeleuten  die  ffir  sie  gefundenen  Werte  mit  denjenigen,  die  auf  Grund 
ihrer  Befahrenheit  zu  erwarten  waren,  dann  finden  wir: 


Schw. 


Tabelle  V. 

dR 


dR«> 


dR« 


Nr.  1  geb.  1866 


2 

n     1870 

3 

n     1882 

4 

n     1882 

5 

n     1887 

6 

»     1888 

Erwart. 

Wahrn. 

Erwart. 

Wahrn. 

Erwart. 

Wahrn. 

Erwart. 

2^ 

1,75 

1,60 

1,75 

1,35 
1,57 

1,5 
1,5 
1,25 

1,27 
1,72 

id. 

2- 

id. 

1,5 

id. 
1,26 

1,5 
1,25 

id. 
1,21 

1,82 

1,25 

1,36 

«,- 

1,52 

i;» 

1,59 

id. 

1- 

id. 

1- 

d. 

0,75 
1 

id. 

1,73 

1- 

1,32 

»- 

1,24 
1,41 

1,— 

1,25 

1,17 
1,49 

id. 

2,5 

id. 

1,75 

id. 

1,5 
1,5      1 

id. 

Wabm. 

1^ 
1,5 
>.- 
1,75 

1^ 

1.5 
1.5 

1- 


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2S)  Die  SeekYiififthftit  und  mre  Verhütung.  40g 

-^  Dafl:^^  iit):  kt^semeintn;  die  fOr  Seekrankheit ^'Üb€if!ell1piindtfdlen^^tö^ 
Neigungsänderungen  nicht  weniger  empfindlich  sind  als  andere,  8<]in*> 
dern  eher  empfindlicher,  gebt  hieraus. hef vor.  Die  Unterschiede  sind 
aber  gering  und  außerdem  schwankend.,  Nummer  6  bezpg  sich  auf 
den 'Matrosen,  dessen  Krinkengeschighte  obeü  beschriebe^  wurde,  und 
der  von  allen  am  meisten  überempfindlich  für  Seekrankheit  war  und 
döph  Rir  t^eiguhgsänderungen  Ünterernpfindjlchieit  zeigte,  '^ür  die 
Diagnose  der  Üherempfiiidlichkeit  für  Seekrankheit  sind  diese  Unter- 
suchungen off^enfear  unzu^-eichend.  Es  muß  fetzt*  noch  auf  eine  Be- 
sonderheit der  Ziffern  hingewiesen  werden,  d'e  in  der  Tabelle  mit 
einem ^  angedeutet,  ist.  Obwohl  gleich  große  Zahlen  für  Zu-  und 
Abnahnie  der  r^eigung  auch  bei  Nlchtüberempfindlichen  für  Seekrankheit 
picht  selten  waren,  so'wurd^  ein  solches  umgekehrtes  Verhältnis,  das 
aul  größere  Empfindlichkeit  für  Abnahme  alis  fiir  ^Zunähme  der 
Keigurig  hinweist,  nur  bei  diesen  beiden  für  Seekrankheit  Ober- 
em{>findlichen  gefunden..  Ob  es  vön^edeutüng  ist,  wage  ich  nicht 
zu  entschefden,  jedenfalls  aber  wäre  es  ciine  Anregung,  zu  untersuchen, 
oib  vietleiqht  auf  einem  Fahrstuiile  ein  ärmlicher  inyefgerTypus' deut- 
licher zum  Vorschein'  koqfimeh  wurde!  Leider  hattfe  icife  dazu  keine 
Gelegerihdt. 

Aus  obigem  können'  wir  schließen,  daß  Überempfindtichkeit  JFÜr 
Seekrankheit  nicht  mjangelhafter  Empfindlichkeit  für  Neigungsaiide- 
run^en  und  infolgedessen  unvollständiges  autömaÜ^ches  Equitibrieren 
zugeschrieben  werden  kann.  Dagegen  spricht  außerdem  die  Tat- 
sache, daß  chronische  Seekranke  oft  zwar  das  Rollen^  aber  nicht 
dds  Stampfen  des  Schifies  vertragen.  Es  ist  deswegen  wahrschein- 
licher, daß  Überempfindlichkeit  für  Seekrankheit  auf  einer  Refiex- 
liyperasthesie  beruht.  Die  bewußte  Desorientierung,  die  immeb  die 
akute  Seekrankheit  begleitet,  fehlt  der  chronischen,  die  möglicherweise 
ganz  aus  reflektorischen  Störungen  gebildet  wird;  Die  Idiosynkrasie 
für  l'abak,  die  die  meisten  Überempfindlichen  für  Seekrankheit  zeigen, 
weist  auch  (mit  Rücksicht  auf  die  große  Ähnlichkeit  von  akuter  Nikotin- 
vergiftung und  Seekrankheit)  in  jene  Richtung.  Auch  mäßige  und 
sogar  starke  Rauchejr  pflegen  bei  stürmischem  Wetter  oft  den  Gebrauch 
dieses  Genußmittels  zu  mäßijgeh  oder  zeitweise  ganz  6fnzustellen,  weil 
wahrscheinlich  Nikotin  die  Reizbarkeit  derjenigen  Teile  des  Nerveö- 
systems  erJiÖht,  die  auch  von  den  Schifi^sbewegungen  irritiert  werden. 
Aus  später  von  mir  eingezogenen  Erkundigungen  hat  sich  noch  wieder- 
holt ergeben,  daß  Überempfi'ndlictikeit  für  Seekrankheit  und  für  Nikotin 
oft  zu^njinneogehen.  Die  Antithese  hierzu  trifi^t  aber  nicht  zu«  Nicht- 
raucher sind  keineswegs  immer  besonders  empfinttticb,  weder  für 
Nikotin,    hoch    für    Seekrankheit.     Starke  Raucher   scheinen    aber 


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500  J-  A.  van  Trotsenburg,  [26 

selten  oder  niemals  zu  den  für  Seekrankheit  Oberempfindlichen  zu 
gehören. 

Prophylaxis. 

Obgleich  die  Natur  uns  den  Weg  selbst  gezeigt  hat,  auf  welchem 
man  die  Verhütung  der  Seekrankheit  erhoffen  kann,  so  hat  man  in 
dieser  Richtung  doch  nur  selten  ernstliche  Versuche  angestellt  und 
niemals  mit  einiger  Beharrlichkeit  durchgeführt.  —  Die  Versuche, 
sich  gegen  Seekrankheit  mittels  nachgeahmter  Schiffsbewegungen  zu 
immunisieren,  datieren  schon  aus  dem  18.  Jahrhundert,  als  Erasmus 
Darwin  verordnete,  durch  Schwingungen  in  einer  Schaukel  einige 
Wochen  vor  Beginn  einer  Seefahrt  sich  an  ungewöhnliche  Bewegungen 
zu  gewöhnen,  v.  Rochlitz^)  erfand  einen  Apparat,  um  die  Schiffs- 
bewegungen nachzuahmen,  den  er  ^.Philatlanticum"^  nannte  und  der  auf 
der  Wiener  Weltausstellung  ausgestellt  war.  Rosenbach >)  beschreibt 
einen  Apparat,  „Krinoline^^  genannt,  welcher  Glockenform  hat.  „Die 
mit  äußeren  Sitzen  versehene,  in  der  gebräuchlichen  Weise  aufge- 
hängte Glocke  (Krinoline)  wird  vermittelst  eines  im  Innern  befindlichen 
Seiles  abwechselnd  um  ihre  Längsachse  gedreht  und  periodisch  nach 
abwärts  gezogen,  so  daß  etwa  eine  schraubenförmige  Schaukelbewegung 
mit  recht  beträchtlicher  Höhe  der  Windungen  resultiert." 

Die  Bewegungen,  die  von  diesen  Apparaten  ausgehen,  haben  große 
Ähnlichkeit  mit  denjenigen  des  heutigen  Karussells.  Obgleich  mit  Hilfe 
dieser  Apparate  Erfolg  bis  jetzt  noch  nicht  erreicht  wurde^  erwartete 
auch  Rosenbach  von  ähnlichen  Versuchen  gute  Erfolge  und  sieht  in 
künstlicher  Gewöhnung  nichts  „schlechtweg  Unerreichbares",  aber: 
„Diese  Apparate  geben,  vielleicht  mit  Ausnahme  des  vorher  geschil- 
derten glockenförmigen,  zwar  die  Form,  aber  durchaus  nicht  die  ge- 
nauen Verhältnisse  der  Schwankungen  eines  größeren  Schiffes  wieder; 
denn  die  Schwingungen  und  ihre  Wucht  sind  zu  klein." 

In  der  Tat  wird  man  von  den  Übungsapparaten  einen  genügend 
großen  Ausschlag  der  Schwingungen  fordern  müssen.  Von  der  Wucht 
aber  und  deren  Bedeutung  für  die  Frage  der  Seekrankheit  scheint 
Rosenbach  sonderbare  Vorstellungen  gehegt  zu  haben.  Denn  Seite 
108  lesen  wir:  „Das  Gefühl  des  Fallens  beim  Herabgleiten  des  Schiffes 
oder,  richtiger,  das  Bewußtsein  der  Innervationsimpulse,  die  wir  geben 
müßten,  um  den  Fall  aufzuhalten,  und  die  reaktive  Arbeit  der  unter 
diesen  Umständen  ohne  Ichbewußtsein  (reflektorisch)  ihren  Zusammen- 
hang erhaltenden  Massenteile  (Organe)  wird  jedenfalls  viel  beträcht- 

1)  K.  V.  Rochlitz,  Die  Seekrankheit  und  das  Mittel  sie  zu  verhüten,  das  Phil- 
atlanticum.  Pest  1873. 

2)  O.  Rosenbach,  Die  Seekrankheit  als  Typus  d.  Kinetosen.  S.  19. 


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27]  I^ie  Seekrankheit  und  ihre  Verhütung.  501 

lieber  sein,  als  die  Empfindungen  und  Bewegungsimpulse,  die  unter 
gewöhnlichen  Verhältnissen  bei  einem  kaum  10  Fuß  tiefen  Falle  aus- 
gelöst werden,  da  eben  die  besondere  Wucht  der  fallenden  Masse  des 
Schiffes y  die  wir  nolens  volens  mit  unseren  Reaktionsbestrebungen 
kompensieren  müssen,  [eine  schwere  Arbeit!]  besonders  in  Betracht 
kommt"  „Mit  andern  Worten:  Die  Wucht  des  mit  dem  Schiffe 
fallenden  Organismus  entspricht  nicht  der  Körpermasse  (und  der 
Höhe   des   Falles),  sondern   der  Körpermasse   plus   der  Masse   des 

Schiffes,  so  daß  in  der  bekannten  Formel  — ^~^  f^r  M  die  Masse  des 

Schiffes  plus  der  des  Körpers  zu  setzen  ist."" 

Und  etwas  weiter:  „Der  Effekt  des  Impulses,  den  wir  als  Wucht 
der  Bewegung  bezeichnen,  und  von  dem  die  Anforderungen  an 
die  Kompensationsfähigkeit  des  Organismus  abhängen^),  muß 
beim  Aufsteigen  wesentlich  kleiner  sein  als  beim  Absteigen'  usw. 

Und  endlich  Seite  199: 

»Die  verschiedene  Wucht  der  beiden  Bewegungsformen,  der  kine- 
tische Effekt  resp.  die  Größe  der  abnormen  Wirkung  des 
Stoßes  auf  den  Körper^)  würde  sich  also  etwa  durch  die  Formel 

(^^^^^   (beim    Fallen)    und   Q^IZ^  (beim  Steigen)    ausdrücken 

lassen'  usw. 

Aus  obigem  geht  genügend  hervor,  welche  Bedeutung  Rosen- 
bach der  kinetischen  Energie  des  Schiffes  für  das  Entstehen  der  See- 
krankheit beimißt.  In  Obereinstimmung  damit  glaubt  er  auch  mit  Unrecht, 
daß  man  auf  kleinen  Schiffen  weniger  der  Gefahr  ausgesetzt  ist,  see- 
krank zu  werden,  als  auf  großen  Schiffen,  und  daß  ,ydas  Fahren  im 
Kahne  nur  selten  die  Erscheinungen  der  Seekrankheit  hervorruft'.  — 
Die  Behauptung  Abrahamsz',  „daß  derjenige,  der  vom  Verdecke  einer 
großen  Fregatte  lachend  Stürme  hat  angesehen,  oft  ein  ganz  anderes  Ge- 
sicht macht  bei  einer  Kahnfahrt  auf  einer  Reede  bei  stürmischem  Wetter', 
wird  bei  erfahrenen  Seeleuten  ohne  Zweifel  mehr  Glauben  finden.  Von 
einem  im  Dienste  zur  See  grau  gewordenen  Kauffahrteikapitän  erfuhr  ich 
einmal,  daß  er,^  als  er  in  einer  Ferienzeit  eine  kleine  Vergnügungsreise 
mit  einem  Fischer  mitmachte,  auf  dem  kleinen  Fischerbote  so  seekrank 
wurde,  daß  der  Schiffer  die  Vermutung  aussprach:  sein  Gast  sei  wahr- 
scheinlich noch  nie  auf  dem  Meere  gewesen.  Auch  meine  eigene  Er- 
fahrung ist  ganz  in  Widerspruch  mit  der  Meinung  Rosenbachs. 
Meine  Laufbahn  zur  See  fing  ich  auf  einem  kleinen  Schiffe  an,  einem 


1)  Von  mir  gesperrt. 

2)  Von  mir  gesperrt. 


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120'Tonden  girofien  Soboner^  ^Während  der  (ersten!  und:  auciv  sofort 
etwas  siüf  misscheil  Tage  war  ich«  ordentliicb  jseekrbnk,  und  »udispaier 
föhlte  ich'  mich:  auf  diesem  Söhiflfeheft  hei  stfirmstoheinvWetter.oft  unrr 
beha^ich«  Bei  Wechsel .  def^Mannsehafti  wurdien.  in.d^  Reg^^die 
neu  angekommenen  Matrosen  äuF  diesem  Schiffe  seekrank^  ^aek  dann> 
wenn  es  schon  mehr  oder: weniger  erMirene  -Seeleute  waren. 

Auf  großen  Schiffen  bin  ich  später  niemals  seekrank  gewesen^  ob* 
gleich,  ich  oft  stürmis^es  Wetter  hatte.  .  Während  einer  Kahnfahrt 
von  einigen  Sti^indep  Dauer;  längs  der  Küste  yop  Curagao,  bei  schö- 
nem Wetter  und  nur  mäßig  bewegtem  Meere,  sah  ich  einmal  von  etwa 
einem  Dutzend  erfahrener  Seeleute  3  seekrank  werden.  Diese,  für 
Seekrankheit  nicht  Überempfindlichem,,  würden  bei  gleichem  Wetter 
auf  einem  großen  Schifife  nicht  die  gering^e  Spur  von  Seekrankheit 
gefühlt  habenw  Eine  Wahrnehmung  RosenbachS)  daß  bei  Passage 
auf  Kähnen  durch  starke  Brandung  gewöhnlich  nieiiiand  von  4er  See- 
krankheit ergriffen  wurde,  muß  wahrscheinlich. der  zu  geringen  Dauer 
jener  Kahnfahjrten  rugesohriebert  werden.      ,         .         ■ 

Aber  in  einiger  Hinsieht  haben  doch  kleine  Sdiiffe  YorzSge  vor 
großen.  Die  Scbiffsbewegungen  sindu  auf  kleinen  Fahrzeugen  bess^ 
zu  übersehen^  sie  sind  außerdem  einfacher  und  die  Orientierung  ist 
deshalb  leichter.  Aber  ein  kleines  Schiffchen  wird  jedesmal  von  nur 
einer  Welle  bewegt,  und  infolge  der  großen  Leichtigkeit  leistet  es 
weniger  Widerstand  gegen  den  Wechsel  der  Bewegungen,  sq  daß  die 
verschiedenen  Phasen  schnell  und  oft  stoßweise  ineinander  übergehen. 
Infolge  der  geringen  Länge  ist  beim  Stampfen  der  Hebelarm  kurz, 
und  ungeachtet  sehr  großer  Winkelausschläge  bleiben  die  Bewegungen 
in  vertikaler  Richtung  relativ  klein.  Da  aber  kleine  Schiffe  von  j^er 
Welle  im  Ganzen  gehoben  werden,  wird  ihnen  dabei  jedesmal  eine 
Bewegung  in  vertikale  Richtung  mitgeteilt  ungeßhr  so  groß  wie  der 
Höheunterschied  Zwischen  Welleagipfel  und  Wellental.  Große  Schiffe 
hingegen  werden  von  mehreren  Wellen  gleichzeitig  bew^t.  Ihr 
enormes  Trägheitsvermögen  leistet  jeder  Bewegungsänderung  großen 
Widerstand,  und  madtt  dadurch  die  Bewegungen  sehr  langsam  und 
allmählich  ineinander  fibergehend.  Die  resultierende  Bewegung  ist 
immer  eine  Funktion  zahlreicher  Faktoren,  die  teils  abhängig 
sind  von  äußeren  Umständen  <die  verschiedenen  WeHenschlagslangen 
der  Meere;  die  Kursrlehtung  des  Schiffes  im  Verband  mit  der  Wellen« 
und  Windrichtung;  und  die  zeitliche  Beschaffenheit  vom  Winde  un4 
Meer),  teils  aber  von  Eigenschaften  des  Schiffes  selbst,  nameotlidi 
von  Form,  Größe,  Masse  und  Geschwindigkeit  des  Fahrzeuges.  Jedes 
Schiff  hat  deswegen  einen  ihm  eigenen  Bewegungsmodus,  der  auf 
kleinen  Schiffen   im   allgemeinen   schnell  ist  mit  großen  Winkelaus- 


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20]  Die  Seekranklielt  und  ihre  Verhfitang.  503 

schtägen;  auf  großen  SohifFen  träge  und  mit  kleineren  Winkelaus^ 
schlagen.  Die  Reize,  die  uns  auf  kleinen  Schiffbn  treffen,  sind  also  im 
Vergfleich  mit  denen  auf  großen  Schiffen  zahlreicher,  der  Obergang 
ist  schneller,  aber  die  Orientierung  ist  leichter  und  die  Bewegungen 
in  senkrechter  Richtung  sind  möglicherweise  etwas  kleiner.  Theore* 
tisch  kann  man  daraus  nicht  schließen  was  besser  ertragen  wird,  die 
Bewegungen  der  kleinen,  oder  die  der  großen  SchiflPe,  aber  die  Er- 
fahrung spricht  zugunsten  der  letztgenannten.  Dieses  hat  für  die  Pro- 
phylaxe große  Bedeutung.  Rosenbach  fordert  von  seinem  Stand- 
punkte zur  künstlichen  Gewöhnung  an  die  Schiffsbewegungen  Obungs- 
apparate  von  so  enormen  Massen,  daß  sie  in  dieser  Hinsicht  mit 
großen  Seeschiffen  zu  vergleichen  sind.  Von  unserm  Standpunkte 
aus  ist  jene  Forderung  ganz  unnötig,  um  so  mehr  weil  man  sich  auf 
kleinen  Schiffen  mehr  oder  weniger  überimmunisieren  kann  für  die 
Bewegungen  der  größeren,  während  das  Umgekehrte  nicht  möglich 
ist.  Nötig  für  eine  Obungsschule  wäre  unseres  Erachtens  ein  Zimmer- 
chen von  einigen  Meter  im  Quadrat,  worin  man  durch  Aufhängen 
von  Gardinen,  Pendeltischen,  Hängelampen  usw.  Sorge  trägt  für 
die  nötigen  optischen  Reize.  Das  Zimmerchen  muß  bewegbar  sein 
um  zwei  senkrecht  aufeinander  stehende  Achsen,  die  im  Gleichge- 
wichtsstande beide  in  der  Horizontalfläche  liegen  müssen.  Es  muß 
sowohl  um  jede  Achse  besonders  als  um  beide  gleichzeitig  bewegbar 
sein.  Um  eine  der  beiden  Achsen  soll  die  Bewegung  einen  Hebelarm 
haben  von  wenigstens  12  m  Länge,  damit  die  Ausschläge  genügend 
groß  werden. 

Technisch  wird  man  dies  dadurch  erreichen  können,  daß  man  eine 
Bahn  bildet  bestehend  aus  einem  Teil  eines  Kreisbogen,  von  12,  oder 
wo  nötig,  mehr  Meter  langem  Radius,  und  längs  demselben  die  im- 
provisierte Schiffskajüte  bewegen  läßt.  Man  wird  aber  auch  denselben 
Effekt  erreichen  können  mit  Hilfe  eines  Apparates,  der  außer  Bewe- 
gungen in  senkrechter  Richtung,  wie  ein  Fahrstuhl,  gleichzeitig  Dreh- 
bewegungen zuläßt,  um  zwei,  im  Gleichgewichtsstande  beide  in  der 
Horizontalfläche  gelegene,  Achsen.  Möglichst  muß  man  die  Bewegun- 
gen in  Obereinstimmung  zu  bringen  suchen  mit  den  Schiffsbewegungen. 
Der  erfahrene  Seemann  fühlt  an  einer  Schiffsbewegung  wie  ungefähr 
die  folgende  ausfallen  wird,  auch  dann,  wenn  er  sich  im  Unterschiffe 
befindet.  Wahrscheinlich  wird  dies  darauf  beruhen,  daß  nach  einem 
Ausschlag  in  irgendeiner  Richtung  der  aus  der  Vertikale  bewegte 
Schwerpunkt  des  Schiffes  dahin  zurückneigt.  Infolgedessen  bestehen 
die  Schiffsbewegungen  aus  einem  Gemisch  vieler  interferierenden 
Pendelbewegungen,  die  jede  absonderlich  den  Pendelbewegungstypus 
(Geschwindigkeit  umgekehrt  proportional  dem  Sinus  des  Ausschlags- 


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504  J-  A.  van  Trotsenburg,   Die  Seekrankheit  und  ihre  Verhütung.  [30 

Winkels)  deutlich  zeigen  würden,  aber  auch  in  ihrer  Zusammenwirkung 
dessen  Charakter  immer  mehr  oder  weniger  beibehalten. 

Schreitet  man  in  systematischer  Weise  von  einfachen  zu  mehr  zu- 
sammengesetzten Bewegungen,  so  wird  man  das  zweckmäßige  Equili- 
brieren  wahrscheinlich  sehr  schnell  lernen  können,  und  es  wird  leicht 
sein  dies,  wenn  nötig,  mit  Hilfe  irgendeines  Indikators  zu  kon- 
trollieren. Und  die  Gewöhnung,  die  in  ungünstigem  seekrankem 
Zustand  in  wenigen  Tagen  aufzutreten  pflegt,  wird  unter  günstigen 
Umständen  wahrscheinlich  in  bedeutend  kürzerer  Zeit  erworben  wer- 
den können.  Obgleich  keinesweges  blind  für  die  technischen  Schwie- 
rigkeiten die  zmt  Errichtung  einer  zweckmäßigen  Obungsschule  über- 
wunden werden  müssen,  halte  ich  andererseits  einen  übertriebenen 
Optimismus  nicht  für  erforderlich  um  ein  solches  Unternehmen  als 
ausführbar  und  aussichtsvoll  zu  erachten.  Obgleich  die  Seekrankheit 
praktisch  nicht  grolle  Bedeutung  hat,  wegen  der,  mit  wenigen  Aus- 
nahmen, so  schnell  eintretenden  Gewöhnung  und  der  geringen  Ge- 
fahren, so  wäre  es  doch  für  diejenigen,  die  sich  auf  den  schon  seit 
längerer  Zeit  geplanten  und  wahrscheinlich  in  absehbarer  Zeit  zu- 
stande kommenden  Seesanatorien  einer  Kur  unterziehen  wollen,  von 
nicht  geringem  Vorteil,  wenn  sie  sich  vorher  gegen  die  Folgen  der 
unangenehmen  Schiifsbewegungen  immunisiert  hätten. 

Groningen,  Juni  1008. 


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510^ 

(Gynäkologie  Nr.  186.) 

Beitrag  zum  Kampf  gegen  das  Puerperalfieber. 


Von 


Dr.  Emil  Ekstein, 

Teplitz  (Bdhmeo). 


Die  dritten  fünf  Jahre  geburtshilflicher  Praxis^). 

Die  in  rastlosem  Eifer  vor-  und  aufwärts  strebende  Wissenschaft 
rüttelt  an  allem  Alten,  an  durch  Dezennien,  ja  oft  jahrhundertelang  be- 
stehenden Institutionen.  Nichts  bleibt  vor  diesem  Ansturm  des  wissen- 
schaftlichen Fortschrittes  unberührt.  Rücksichtslos  wird  alles  ins 
Wanken  gebracht,  was  nicht  mehr  auf  zeitgemäßen  Fundamenten 
steht,  was  althergebrachte  Gewohnheit  ohne  logische  Berechtigung 
fortbestehen  ließ. 

Diese  reorganisatorische  Strömung  macht  sich  auf  allen  Gebieten 
geltend. 

Auch  auf  dem  Gebiete  der  altehrwürdigen  Geburtshilfe,  die  in 
festgefügten  Bahnen  durch  Jahrzehnte  gelehrt  und  geübt  wurde, 
macht  sich  diese  Strömung  geltend.  Die  Geburtshilfe  als  Wissen- 
schaft xcrr  e^oxrjv  und  die  Sozialhygiene  der  Geburtshilfe  werden  in 
neue  Bahnen  gelenkt,  die  vom  streng  wissenschaftlichen  Standpunkte 
bislang  zwar  noch  keine  vollkommen  einwandfreie  Ebnung  erfahren 
konnten,  denn  dazu  ist  eben  noch  die  Zeit  zu  kurz. 

Erfreuliches  und  Unerfreuliches  wurde  bei  diesen  reorganisatori- 
schen Bestrebungen  gezeitigt  und  es  werden  noch  Jahre  vergehen, 
ehe  ein  solcher  Ruhepunkt  gefunden  werden  wird,  wie  er  eben  durch 
Jahrzehnte  einem  Dolcefarniente  gleich  geherrscht  hat. 

1)  „Die  ersten  und  zweiten  fünf  Jahre  geb.  Praxis- **  Verlag  von  Carl  Marhold, 
Halle   1901  u.  1904. 

KU  n.  Vorträge,  N.  F.  Nr.  510.    (Gynäkologie  Nr.  186.)    Dez.  1908.  35 


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456  Hmil  Ekstein,  [2 

In  je  ruhigere  Bahnen  die  Schwesterwissenschaft  der  Geburtshilfe, 
die  Gynäkologie  gelangt,  mit  um  so  größerer  Unruhe  wird  an 
der  modernen  Ausgestaltung  unserer  gesamten  Geburtshilfe  gearbeitet 
und  ffirwahr,  es  gibt  da  noch  viel  und  vieles  zu  tun,  um  dem  moder- 
nen fortschrittlichen  Geist  unserer  Zeit  gerecht  zu  werden. 

Der  geburtshilfliche  Praktiker,  ob  Spezialist  oder  praktischer  Arzt, 
der  bislang  mit  einer  gewissen  Gemütsruhe  seiner  Tätigkeit  zu  ob- 
liegen gewohnt  war,  hat  bei  dieser  Reorganisation  der  Geburtshilfe 
allerdings  keinen  leichten  Stand  mehr,  wenn  er  den  festen  Grund  unter 
sich  immer  mehr  ins  Schwanken  geraten  sieht.  Das  Gefühl  der  Sicher- 
heit, das  ihn  in  seiner  Tätigkeit  bislang  begleitete,  muß  ihn  verlassen, 
wenn  er  diesen  neuen  Werdegang  in  der  Geburtshilfe  nur  so  leichthin 
verfolgt,  denn  in  erschöpfender  Weise  dies  zu  tun,  ist  auch  beim 
besten  Willen  infolge  des  Übermaßes  der  einschlägigen  Literatur  nicht 
möglich. 

Wenn  auch  das  Gros  der  fundamentalen  Lehren  unserer  Geburts- 
hilfe bislang  nicht  ins  Wanken  geriet,  so  sind  es  doch  die  Indika- 
tionen für  das  geburtshilfliche  Eingreifen  und  das  ganze  operative  Vor- 
gehen, last  not  least  das  ganze  Verhalten  in  bezug  auf  Anti-  und  Asepsis, 
die  heute  mehr  denn  je  in  Diskussion  stehen.  Eine  chirurgische  Ära 
scheint  bereits  Basis  in  der  Geburtshilfe  fassen  zu  sollen  und  mit 
Messer,  Säge,  Dilatatorien  u.  a.  m.  werden  der  Frucht  alle  Hindernisse 
von  Seite  der  mütterlichen  Geburtswege  prompt  aus  dem  Wege  ge- 
räumt. Der  lange  nicht  verstreichen  wollende  Zervikalkanal  wird  mit 
Fingern  und  Instrumenten  gedehnt,  Mißverhältnisse  des  Beckens  zum 
kindlichen  Schädel  oder  umgekehrt  werden  mittels  Symphysen-  oder 
Schambeindurchtrennung  behoben,  extraperitoneal  wird  die  Frucht 
durch  das  untere  Uterinsegment  durch  Cöliotomie  oder  Kolpotomie 
zutage  befördert  u.  a.  m.  Es  macht  den  Eindruck,  wie  ich  an  anderer 
Stelle  schon  hervorhob,  als  ob  man  den  goldenen  Geduldsfaden  des 
Geburtshelfers  ganz  wesentlich  verkürzen,  die  ganze  Geburt  mit  der 
Raschlebigkeit  unserer  ganzen  Zeit  konform  zu  rascherem  Ende  als 
bisher  führen  wollte.  — 

Dazu  kommt  noch  die  moderne  Auffassung  der  Entstehung  der  In- 
fektion in  bezug  auf  das  Puerperalfieber  und  der  dementsprechend  um- 
gestaltete Vorgang  bei  der  Händedesinfektion,  der  geradezu  Bruch  mit 
allem  Althergebrachten  bedeutet.  Wasser-  und  Seifenwaschung  werden 
als  überflüssig  für  eine  Händedesinfektion,  unser  bislang  souve- 
ränes Desinfektionsmittel  Sublimat  nach  genannten  Waschungen  als 
wirkungslos  bezeichnet,  u.  a.  m.  Und  gerade  diese  letztere  Umwälzung 
trifft  den  geburtshilflichen  Praktiker  ganz  besonders  hart  und  bringt 
ihn  geradezu  mit  seinem  Gewissen  in  Konflikt.  Wo  die  Grenze  zwischen 


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3]  Beitrag  zum  Kampf  gegen  das  Puerperalfieber.  457 

Recht  und  Unrecht  suchen,  wo  dieselbe  finden,  wenn  noch  dazu  die 
Unbilden  der  Praxis  mit  Macht  hereinstürzen?. 

Das  Schicksal  ist  ein  teurer  Lehrmeister  für  jeden  Menschen. 
Für  den  ärztlichen  Praktiker,  hier  den  geburtshilflichen  Praktiker,  der 
längere  Zeit  bereits  in  Praxis  steht,  ist  die  Erfahrung  zwar  auch  ein 
teurer  Lehrmeister,  aber  trotz  alledem  ein  nicht  immer  ganz  zuver- 
lässiger. 

Im  allgemeinen  ist  ja  jedes  Schematisieren  vom  wissenschaftlichen 
Standpunkte  aus  zu  verdammen,  speziell  in  der  Geburtshilfe,  sowie 
überhaupt  in  der  Medizin  ist  dasselbe  ganz  undenkbar.  Post  hoc, 
ergo  propter  hoc  besteht  hier  keineswegs  zu  Recht,  und  wenn  es  in 
noch  so  vielen  Fällen  den  Anschein  hat,  als  ob  dem  doch  so  wäre, 
darf  post  hoc,  ergo  propter  hoc  doch  nicht  zum  Dogma  werden. 

Wenn  ich  in  einer  Reihe  von  Publikationen  immer  mit  behauptet 
habe,  daO  die  Geburtshilfe  der  Kliniken  lehrt,  wie  dieselbe  sein  soll, 
und  die  geburtshilfliche  Praxis  lehrt,  wie  dieselbe  ist,  so  muß  im 
Lichte  der  neueren  Forschung  diese  dogmaartige  Anschauung  zum 
Falle  kommen,  denn  die  geburtshilfliche  Poliklinik  hat  einen  ganz  ge- 
waltigen Beweis  für  die  Hinfälligkeit  dieser  Behauptung  erbracht. 

Hier  bin  ich  auf  dem  Punkte  angelangt,  wo  über  die  angestrebten 
Wandlungen,  die  die  Sozialhygiene  der  Geburtshilfe  erfahren  muß, 
gesprochen  werden  soll.  Bevor  ich  mich  darüber  verbreite,  möchte 
ich  einer  Arbeit  Otto  v.  Herffs  »Im  Kampfe  gegen  das  Kindbett- 
fleber'',  ein  Mahnwort  an  Ärzte  %  eingehend  gedenken  und  dieselbe  in 
kurzen  Zügen  darlegen,  was  in  erster  Linie  im  Interesse  des  ärztlichen 
Praktikers,  dem  mit  Spezialliteratur  sich  zu  befassen  keine  Zeit  übrig- 
bleibt, geschieht. 

Otto  V.  Herffs  Arbeit  bedeutet  meiner  an  anderer^)  Stelle  auf- 
gestellten Meinung  nach  den  Beginn  der  Tätigkeit  der  Klinik  auf  dem 
Gebiete  der  Sozialhygiene  der  Hausgeburten  und  es  wäre  in  erstem 
und  einzigem  Interesse  der  endlichen  Bekämpfung  des  Puerperalfiebers 
in  der  geburtshilflichen  Praxis  wünschenswert,  wenn  alle  geburts- 
hilflichen Kliniker  und  Lehrer  auf  der  Bahn,  die  Otto  v.  Her  ff  be- 
treten, demselben  folgen  würden.  Dann  würden  auch  alle  Praktiker 
mit  ganzer  Kraft  mit  in  die  Schranken  treten  zum  Kampf  gegen  das 
Puerperalfieber,  die  Vorschläge  einzelner  würden  rascher  und  fester 
Wurzel  fassen  und  nicht  wie  bisher  einfach  literarischen  Wert  besitzen. 
Pasteur,  Koch,  Lister  haben  durch  ihre  Arbeiten  die  Bekämp- 
fung des  Kindbettfiebers  in  Bahnen  gelenkt,  auf  denen  geburtshilfliche 


1)  Sammlung  klinischer  Vorträge  Nr.  487.    Ambrosius  Barths  Leipzig. 

2)  „Kllnsiche  und  Hausgeburten^  GynSk.  Rundschau  1008. 

35* 


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458  Hmil  Eksteiii,  [4 

Kliniken  und  Anstalten  zu  einem  vollständigen  Siege  über  das  Kind- 
bettfieber gelangt  sind,  wo  die  Zahl  der  Kindbettfieberfälle  in  der  ge- 
burtshilflichen Praxis  auf  etwa  ein  Drittel  (?)  der  früheren  vermindert 
wurde.  Weiter  ist  man  aber  in  der  geburtshilflichen  Praxis  nicht  ge- 
kommen, es  ist  ein  Stillstand  eingetreten  und  Opfer  über  Opfer  fallen 
dieser  Krankheit  alljährlich  anheim,  eine  beschämende  Tatsache  für 
die  Ärztewelt.  Der  Schlendrian  bei  den  VorbeugungsmaOregeln  und 
die  stoische  Untätigkeit  der  Beteiligten  trugen  die  Schuld  an  diesen 
Mißständen.  In  den  Händen  des  Arztes  liegt  die  Zukunft  der  Vor- 
beugung des  Kindbettfiebers  und  es  muß  mit  der  Anschauung  ge- 
brochen werden,  daß  es  für  antiquiert  gilt,  sich  mit  dieser  für  Staat 
und  Familie  gleich  wichtigen  Frage  zu  beschäftigen.  Die  Anschauung 
über  die  Entstehung  des  Kindbettfiebers  durch  ex^  und  enanthrope 
Keime  ist  vollkommen  gefestigt,  die  Selbstinfektion  eine  nicht  zu  leug- 
nende Tatsache.  Gegen  beide  Infektionswege  muß  gekämpft  werden, 
gegen  die  exanthropen  Keime  durch  das  Streben  nach  Keimfreiheit 
aller  mit  der  Gebärenden  in  Berührung  kommenden  Gegenstände. 
So  leicht  dies  für  die  durch  Hitze  sterilisierbaren  Gegenstände  ist, 
so  schwer  ist  dies  für  die  Haut  und  Hände  zu  erreichen. 

Alle  Methoden,  die  die  Haut  aufweichen,  arbeiten  einer  Keimfrei- 
heit entgegen,  darunter  auch  die  Seifenwasser- Waschung. 

Die  Keimauswanderung  wird  eingeschränkt  und  selbst  völlig  ge- 
hemmt, je  trockener  die  Haut  ist,  je  mehr  sie  einschrumpft. 

Alle  Methoden,  die  dieser  Forderung  nicht  gerecht  werden,  müssen 
ungünstige  Ergebnisse  zeitigen,  in  erster  Linie  Wasser  und  Seife,  wie 
alle  Maßnahmen,  die  mit  einer  Wasserwaschung  schließen,  denn  sie 
arbeiten  der  Keimabsperrung  entgegen. 

Die  Alkoholwaschung  vereinigt  die  Prinzipien  der  mechanischen 
und  chemischen  Reinigung  in  sich. 

Heißwasser  und  Seife  allein  gibt  schlechte  Ergebnisse,  nur  die 
mechanische  Wegscheuerung  mittels  Sand,  Marmorstaub,  Kieselgur  mit 
nachträglichem  festen  Abreiben  mittels  eines  rauhen  trockenen  Hand- 
tuches vermindert  die  Zahl  der  Keime,  durch  das  trockene  Abreiben 
werden  die  losgelösten  Spaltpilze  gründlich  entfernt.  Heißwasser  und 
Seife  plus  Desinfiziens  im  Wasser  ist  nicht  besser  als  eine  Heißwasser- 
reinigung mit  Sand,  Saposilikseife  plus  Abreiben  mit  einem  rauhen 
Tuch. 

Diese  Methode  muß  als  unzuverlässig  fallen  gelassen  werden,  das 
mechanische  Prinzip  des  Wegscheuerns  der  Oberflächenkeime,  ver- 
bunden mit  der  Einsperrung  der  Tiefenkeime  wird  in  Zukunft  die 
Technik  der  Hautreinigung  beherrschen. 

Wenn  durch  die  bisherigen  Arten  der  Desinfektion,  Heißwasser- 


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5]  Beitrag  zum  Kampf  gegen  das  Puerperalfieber.  459 

Seifenwaschung  plus  Desinfiziens  nicht  mehr  Infektionsfälle  zustande 
kamen,  so  liegt  dies  daran,  daß  glücklicherweise  die  gewöhnlichen 
Hautkeime  der  Tageshand  eine  geringe  Virulenz  besitzen  und  nur 
selten  schaden. 

Die  Hand  eines  Arztes,  der  sich  nicht  streng  von  Infektionsstoffen 
fernhält,  ist  unleugbar  gefährlicher  als  eine  noch  so  schmutzige  Tages- 
band einer  entarteten  Hebamme.  An  ersterer  Hand  werden  öfters 
gefährliche  Keime  haften,  an  letzterer  brauchen  sie  nicht  vorhanden 
zu  sein. 

Die  großen  Opfer,  die  das  Kindbettfieber  alljährlich  fordert,  müssen 
das  ärztliche  Gewissen  schärfen,  sie  müssen  dazu  führen,  die  Methoden 
der  Heißwasser-Seifen-Reinigung  plus  Desinfiziens,  gelöst  in  Wasser, 
vollständig  zu  verwerfen.  Asepsis,  gewährleistet  durch  mechanische 
Maßnahmen,  ist  das  Ziel,  das  erstrebt  werden  muß.  Das  mechanische 
Prinzip  der  Entfernung  der  Oberflächenkeime  neben  einer  Einsperrung 
der  Tiefenkeime  durch  Einschrumpfung  und  Entwässerung  der  Haut 
kann  nur  der  Heißwasser-Seifenwaschung  im  Sinne  Ahlfelds  folgen, 
noch  besser  ist  es,  diese  vollständig  fallen  zu  lassen,  weil  sie  dem 
Prinzlpe  der  Eintrocknung  der  Haut  entgegenarbeitet. 

Die  Desinfektionsmethode  wird  denkbar  einfach  und  abgekürzt,  sie 
wird  zu  einer  Schnelldesinfektion  ohne  irgend  an  Zweckmäßigkeit  ein- 
zubüßen. Ohne  Alkohol  keine  irgendwie  genügende  Keimarmut  oder 
Keimfreiheit.  Die  Alkoholwaschung  muß  daher  bei  jeder  Desinfektion 
an  den  Schluß  gesetzt  werden.  Nach  Reinigung  der  Nägel  wird  die 
Tageshand  (nach  Schumburg)  unter  Verzicht  auf  Wasser  und  Seife 
mittels  Watte,  Gaze  oder  Flanell  -r-  keine  Handbürsten!  —  mit  einer 
Lösung  von  zwei  Teilen  Alkohol  und  einem  Teil  Äther  bei  einem 
Zusatz  von  V2proz.  Salpetersäure  durch  4 — 5  Minuten  abgerieben. 
Diese  Art  der  Desinfektion  besitzt  auffallend  auch  eine  Dauerwir- 
kung, was  bei  länger  währender  Operation  in  Betracht  kommt,  v.  Her  ff 
benützt  statt  des  Ätherzusatzes  Azeton  mit  bestem  Erfolg. 

Die  Erkenntnis  früherer  Jahre,  daß  eine  Keimfreiheit  der  Hand 
durch  die  damals  üblichen  Desinfektionsmethoden  in  einer  praktisch 
zu  verwertenden  Zeit  nicht  zu  erzielen  ist,  führte  zur  Entdeckung  und 
Einführung  der  Gummihandschuhe,  sowie  der  Handschuhe  in  den 
verschiedensten  Kombinationen  von  Gummi  und  Trikot,  welche  eben 
durch  verschiedene  Methoden  keimfrei  zu  machen  waren.  So  wurden 
Handschuhe  als  bestes  Prophylaktikum  gegen  Kindbettfieber  betrachtet, 
selbstredend  insolange  dieselben  undurchlässig  resp.  undurchlöchert 
blieben« 

Mit  behandschuhten  Händen  zu  untersuchen  und  zu  operieren  war 
und  ist  nicht  jedermanns  Sache;  dies  der  eine  Nachteil,  die  leichte 


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460  Emil  Ekstein,  [^ 

Zerreißlichkeit  der  Handschuhe  der  zweite  dauernde  Nachteil,  die 
eben  dem  Gebrauch  der  Handschuhe  anhaften.  Letzteren  Nachteiles 
wegen  blieb  auch  beim  Handschuhgebrauch  die  strengste  Desinfektion 
der  Hände  Conditio  sine  qua  non. 

Nachdem  die  Ergebnisse  der  Kliniken  durch  den  Gebrauch  der 
Handschuhe  gebessert  worden  und  die  Älkoholmethode  inzwischen  zu 
Ansehen  gelangte ,  so  bedeutet  der  Gebrauch  der  Handschuhe  eben 
nur  einen  Schutz  der  eigenen  Hand  gegen  Beschmutzung  mit  infek- 
tiösem Material  und  Schutz  gegen  eigene  Erkrankung  (Syphilis)  und 
bietet  die  Möglichkeit  der  eigenen  Tätigkeit,  wenn  die  Haut  der  eigenen 
Hände  eben  nicht  ganz  frei  von  Verletzungen,  Rillen  und  Schrunden 
ist,  wo  sich  eben  nicht  selten  angriifsfähige  Formen  von  Spaltpilzen 
mit  Vorliebe  aufzuhalten  pflegen. 

Der  wahre  Wert  der  Handschuhe  liegt  demnach  in  der  sogenannten 
Noninfektion.  Diese  beabsichtigte  Keimabsperrung  der  Hände  durch 
Handschuhe  wird  aber  auch  durch  Einreiben  der  Haut  mit  Öl,  Fett, 
Vaselin,  Jodipin,  Jodbenzinlösung,  Jodazeton,  Gaudanin  oder  Chiro- 
soter  bewirkt,  so  daß  die  Handschuhe  in  der  Tat  entbehrlich  scheinen» 

Die  Scham  der  Frau  keimfrei  zu  machen  ist  schwer  angänglich 
wegen  der  Zartheit  der  Haut.  Die  bisherige  grändliche  Desinfektion 
mit  Sublimat  illusorisch.  Alkohol-Azeton-Reinigung,  die  nur  in  Nar- 
kose durchzuführen  ist,  gibt  in  bezug  auf  Keimverarmung  gute  Resul- 
tate, selbstredend  nach  erfolgtem  Rasieren  der  Scham. 

Die  Forderung,  die  Scheide  von  Eigenkeimen  zu  befreien,  läßt  sieb 
schwer  erzielen,  hingegen  läßt  sich  eine  Abschwemmung  der  lose 
sitzenden  Spaltpilze  eher  erreichen. 

ScheidenspOlungen  sind  von  Vorteil,  die  Berechtigung,  ja  der 
Nutzen  vorbeugender  Scheiden-  und  Gebärmutterspülungen  scheinen 
durch  klinische  Erfahrung  in  jeder  Beziehung  sichergestellt  zu  sein. 

Die  Schwere  des  Geburtstraumas  spielt  eine  wesentliche  Rolle 
in  der  Entstehung  des  Kindbettfiebers.  Durch  das  Geburtstrauma 
können  ex-  und  enanthrope  Keime  der  Wöchnerin  gefahrlich  werden. 
Je  geringer  das  Geburtstrauma,  desto  ungünstiger  die  Bedingung  ffir 
die  Infektion.  Je  ausgedehnter  ein  Operationstrauma  ist,  je  näher 
dieses  an  der  Plazentarinsertionsstelle  liegt,  desto  größer  die  Gefiihr 
für  die  Wöchnerin.  Der  ungünstige  Einfluß  des  Traumas  läßt  sieb 
nur  durch  tadellose  Asepsis  und  Antisepsis  paralysieren. 

Übersehen  und  Geringschätzen  des  Traumas  ist  neben  ungenügender 
Desinfektion  eine  der  Hauptursachen,  daß  das  Kindbettfieber  nicht 
abnehmen  will. 

Also  keine  Eingrifi^e,  keine  Operation  ohne  strengste  Anzeigen, 
d.  h.  also  nur  bei  eintretender  Gefahr  für  Mutter  und  Kind,  kein  fiber- 


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7]  Beitrag  zum  Kampf  gegen  das  Puerperalfieber.  4SI 

flüssiges  Hinelamischen  des  Arztes,  mehr  Konservatismus  in  der  Ge- 
burtshilfe! Abwartende  Geburtsleitun^,  gestützt  auf  vorbeugende  Ein- 
griffe, Geduld  und  weitgehendstes  Vertrauen  in  die  Naturkräfte  ist 
in  ihren  Endresultaten  nicht  nur  völlig  gleich,  sondern  muß  auf  die 
Dauer  besser  sein  als  die  abwartende  Geburtsleistung,  gestützt  auf 
Kaiserschnitt  und  Beckenspaltung. 

Abgesehen  von  der  Einführung  einer  zuverlässigen  Desinfektion 
und  der  Verminderung  des  Geburtstraumas  muß  die  Nachgeburts- 
periode sorgfältiger  geleitet,  die  Ausstoßung  der  Nachgeburt  geduldig 
den  Naturkräften  überlassen  werden,  denn  dadurch  nur  wird  die  manu- 
elle Plazentarlösung  um  so  weniger  oft  vorgenommen  zu  werden  brau- 
chen. Bei  Wehenschwäche  der  Gebärenden  soll  nur  dann  operiert 
werden,  wenn  Gefahren  für  Mutter  und  Kind  vorhanden  sind.  Durch 
Darreichung  von  Sekale  muß  dann  für  eine  rasche  Kontraktion  des 
Uterus  zwecks  Vermeidung  von  Nachblutung  gesorgt  werden. 

Verhaltene  Plazentarteile  sind  unter  allen  Umständen  zu  entfernen, 
Eihautreste,  ja  selbst  den  retinierten  ganzen  Eihautsack  zu  entfernen 
ist  unnötig  und  gefährlich. 

Im  Wochenbett  ist  durch  Ergotin  und  heiße  Scheidenspülungen  für 
eine  rasche  Rückbildung  des  Uterus  Sorge  zu  tragen. 

Während  des  Wochenbettes  ist,  wenn  irgend  möglich,  keinerlei 
operativer  Eingriff,  insbesondere  kein  Eingriff  innerhalb  der  Gebär- 
mutter vorzunehmen. 

Der  Kampf  gegen  eine  mißverstandene  chirurgische  Ära  der  Ge- 
burtshilfe muß  aufgenommen  werden,  denn  die  Vieltuerei  mancher 
Ärzte  stellt  nur  allzuhäufig  die  Hauptursache  des  Stillstandes,  ja  der 
Zunahme  des  Kindbettfiebers  dar. 

Die  Regierung  möge  aber  auch  ihrerseits  sich  ihrer  Pflichten  auf 
diesem  Gebiete  erinnern  und  mit  ihren  Machtmitteln  die  Ausmerzung 
bedenklicher  Auswüchse  auf  dem  Gebiete  der  Vorbeugung  des  Kind- 
bettfiebers', insbesondere  bei  den  Desinfektionsvorschriften  für  Heb- 
ammen erleichtern. 

Dieser  kurze  Bericht  der  geradezu  fundamentalen  Leitsätze  aus  der 
Arbeit  v.  Herffs  wird  so  manchem  Geburtshelfer  zu  denken  geben 
und  ich  gestehe,  daß  ich  bei  Veröffentlichung  meiner  » zweiten 
fünf  Jahre  geburtshilflicher  Praxis''  schon  eine  gewisse  Vorahnung 
hatte,  daß  große  Dinge  in  unserer  Geburtshilfe  sich  vorbereiten. 

Meine  Ahnungen  sind,  wie  die  Arbeit  v.  Herffs  zur  Genüge  doku- 
mentiert, vollkommen  berechtigt  gewesen. 

Daß  wir  Ärzte  mit  unserer  Anti-  resp*  Asepsis,  wie  sie  bisher 
üblich  war,  durch  die  Erfolge  der  neueren  Forschung,  trotz  der  oft 
langjährigen  Erfahrungen  in  gutem  Sinne,  brechen  Werden  müssen. 


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462  Emil  Ekstein,  [8 

dafür  ist  die  Autorität  v.  Herffs  entscheidend  und  nach  unseren  Er- 
fahrungen in  der  geburtshilflichen  Praxis  auf  dem  flachen  Lande,  unter 
den  denkbar  schlechtesten  sozialen  Verhältnissen  unserer  Gebärenden, 
ist  es  nach  den  Ausführungen  v.  Herffs  gewiß  der  Noninfektion  der 
Beteiligten  zuzuschreiben,  daß  die  Erfolge  noch  so  sind,  wie  sie  eben 
sind,  und  nicht  direkt  unserer  Anti-  resp.  Asepsis,  in  deren  Betätigung 
sich  unwillkürlich  so  manche  Lücke  einstellen  mußte,  wodurch  dieselbe 
eben  nicht  mehr  einwandfrei  wurde.  Der  Vergleich  der  geburtshilf- 
lichen Poliklinik  mit  der  geburtshilflichen  Praxis  xar  l^o/^v  und  die 
in  derselben  für  die  neue  Desinfektionsmethode  in  Anspruch  genom- 
menen guten  Resultate,  dürfte  jedoch  nicht  so  ganz  richtig  sein,  wie 
V.  Herff  dies  gemeiniglich  anzunehmen  beliebt. 

Städte,  die  heute  Universitätspolikliniken  besitzen,  weisen  in  bezug 
auf  die  Armengeburtshilfe  denn  doch  weit  salubrere  soziale  Verhält- 
nisse auf,  als  dies  in  unseren  Arbeiterwohnungen  auf  dem  flachen 
Lande  der  Fall  ist.  Der  Faustschlag,  den  jede  hygienische,  ja  oft 
geradezu  nur  menschliche  Anforderung  an  eine  Wohnung,  geschweige 
denn  Einrichtung  hier  erhält,  ist  vielmals  zu  wuchtig,  als  daß  man 
da  auch  nur  im  geringsten  daran  denken  könnte,  mit  Anti-  oder  Asepsis 
einen  Erfolg  erreicht  zu  haben.  Der  Erfolg  ist  da  und  ganze  Reihen 
von  Erfolgen,  die  man  in  den  Jahren  unter  solchen  ganz  tristen  Ver- 
hältnissen erzielt,  bestärken  in  der  Ansicht,  daß  es  eben  die  Non- 
infektion ist,  die  hier  den  guten  Erfolg  zeitigt.  Ich  führe  diese  Tat- 
sache hier  nur  wiederum  an,  um  der  Behauptung  v.  Herffs  in  bezug 
auf  Noninfektion  vom  Standpunkte  des  in  schwierigsten  Verhältnissen 
oft  arbeitenden  Praktikers  die  ihr  gebührende  Würdigung  zu  verleihen. 
Damit  möchte  ich  aber  auch  das  herbe  Urteil  v.  Herffs  fiber  die 
Ärzte  in  bezug  auf  Mangelhaftigkeit  im  Vorgehen  in  der  geburtshilf- 
lichen Praxis  im  allgemeinen  in  gewisser  Beziehung  etwas  abschwächen. 

Wie  allgemein  bekannt  werden  ca.  90—92%  aller  Geburten  durch 
Hebammen  geleitet  und  besorgt,  ohne  daß  überhaupt  ein  Arzt  zuge- 
zogen wird,  und  selbst  zugegeben,  daß  dieses  Prozentverhältnis  noch 
zu  hoch  gegriffen  ist,  so  muß  mir  jeder  geburtshilfliche  Praktiker  zu- 
gestehen, daß  gerade  in  der  Wochenstube  die  Intelligenz  des  Arztes 
am  wenigsten  zur  Wirkung  gelangen  kann.  Wie  schon  De  Lee  ganz 
richtig  bemerkt,  steht  man  in  Laienkreisen  auf  dem  Standpunkt,  daß 
die  Niederkunft  als  ein  natürlicher  Vorgang  keiner  speziellen  Für-  und 
Vorsorge  bedarf  und  nur  sehr  spärlich  hat  sich  bislang  dank  der 
minderwertigen  und  unwürdigen  Propaganda  des  Gros  unserer  unin- 
telligenten Hebammen  das  Gegenteil  dieser  Anschauung  noch  bei  weitem 
nicht  den  Eingang  verschafft,  wie  dies  v.  Herff  verlangt  und  wie  er 
es  eben  von  uns  Ärzten  verlangt.    Ich  stimme  v.  Herff  vollkommeo 


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gl  Beitrag  zum  Kampf  gegen  das  Puerperalfieber.  463 

bei,  wena  er  die  Teilnahmslosigkeit  der  Ärzte  gegenüber  einer  Sanie- 
rung unserer  ganzen  Geburts-  und  Wochenbettshygiene  entsprechend 
ins  Treffen  führt,  aber  von  einer  Schuld  der  Ärzte  an  dem  Nichtauf* 
hören  des  Kindbettfiebers  kann  füglich  nicht  in  dem  Maße  gesprochen 
werden,  wie  dies  v.  Her  ff  tut.  Die  Erfahrung  lehrt,  daO  bei  der  in 
erster  Linie  herrschenden  Unintelligenz  des  Gros  der  Hebammen  und 
bei  der  im  Laienpublikum  noch  so  weit  verbreiteten  Indolenz  ein 
geradezu  nimmerermüdender  Enthusiasmus  dazu  gehört,  immer  wieder 
für  Reformen  sich  fruchtlos  einzusetzen,  wobei  noch  dazu  die  Staats- 
behörden diesen  Bestrebungen  gegenüber  sich  konsequent  passiv  ver- 
halten. Nur  die  harte  Notwendigkeit,  seinem  Gewissen  zu  folgen, 
läßt  gegenüber  der  bekannten  Morbidität  und  Mortalität  die  Feder 
nicht  zur  Ruhe  kommen.  Der  geburtshilfliche  Praktiker,  der  aber 
noch  allgemeine  Praxis  zu  treiben  gezwungen  ist,  kann,  weder  der 
Not  gehorchend,  noch  dem  eigenen  Triebe,  unmöglich  reformierend 
wirken,  denn  dazu  hat  er  weder  Zeit  noch  Gelegenheit,  seine  volle 
Kraft  dafür  einzusetzen.  Der  Spezialist,  der  ja  heute  in  ganz  wesent- 
licher Stärke  vertreten  ist,  kann  und  muß  sich  mit  all  diesen  Fragen 
befassen  und  nur  die  Fruchtlosigkeit  dieser  Bemühungen  in  bezug 
auf  praktische  Erfolge  hat  die  Reihe  der  vorkämpfenden  Spezialisten 
bislang  nicht  allzugroß  werden  lassen.  Dazu  kommt  noch,  daß  es 
bis  vor  nicht  zu  langer  Zeit  an  einer  Organisation  zur  Bekämpfung 
des  Kindbettfiebers  gefehlt  hat,  die  in  der  Vereinigung  zur  Förderung 
deutschen  Hebammenwesens  eben  erst  ihren  Anfang  genommen  zu 
haben  scheint. 

Der  Vorwurf  v.  Herffs  muß  in  dieser  Beziehung  die  Ärzte  hart 
treffen  und  dürfte  in  Rücksicht  auf  die  unumgängliche  Mitarbeiter- 
schaft der  Ärzte  gewiß  eine  Milderung  erfahren  müssen,  was  schon 
in  Anbetracht  der  geschilderten  Sachlage  nur  gerecht  erscheint. 

Soll  im  Kampfe  gegen  das  Kindbettfieber  die  Vorbeugung  desselben 
in  Zukunft  in  den  Händen  der  Ärzte  liegen,  worin  als  Grundprinzip 
das  Femhalten  der  Gefahren  der  Fremdkeime  und  Eigenkeime  gelegen 
ist,  dann  könnte  dies,  wie  die  Dinge  heute  liegen,  nur  in  der  Weise 
erreicht  werden,  wenn  die  Forderung,  »die  Geburt  gehört  dem  Arzte*, 
realisiert  werden  könnte.  Insolange  aber  als  geburtshilfliches  Heil- 
personal Hebammen  fungieren,  deren  Ausbildung  Unintelligenz  nicht 
ausschließt,  insolange  wird  auch  jede  Tätigkeit  des  Arztes  in  genannter 
Weise  von  vornherein  als  fruchtlos  bezeichnet  werden  müssen. 

Anders  wird  es  und  muß  es  sich  selbstredend  gestalten  in  bezug 
auf  das  Fernhalten  der  Eigenkeime  was  die  eigene  Person  des  Arztes 
anbelangt.  Wenn  die  Ärzte  im  allgemeinen  in  der  Aufnahme  neuer 
Methoden  etwas  skeptisch  geworden  sind,  so  liegt  dies  zumeist  in  der 

Kilo.  Vortrige,  N.  F.  Nr.  510.    (Gynäkologie  Nr.  186.)    Dez.  1908.  36 


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464  Emil  Ekstein,  [[0 

vorschnellen  Enunziation  derselben  durch  ihre  Erfinder,  sei  es  die 
Klinik  oder  der  Arzt  selbst.  Die  Erfahrung  lehrt  uns  diesbezfiglich 
zur  Genüge,  daß  dieser  Skeptizismus  in  der  Tat  seine  Berechtigung 
besitzt  Die  neuen  Lehren,  wie  sie  v.  Her  ff  in  einer  ganz  apodik- 
tischen Weise  enunziert,  deren  schlagende  Erfolge  die  Klinik  aufzu- 
weisen hat,  verdienen  in  allererster  Linie  die  höchste  Anerkennung 
des  Praktikers,  wird  doch  damit  klinisch  und  bakteriologisch  erprobt 
eine  Methode  der  Händedesinfektion  empfohlen,  die  in  einer  prak- 
tisch zu  verwertenden  Zeit  eine  Keimfreiheit  oder  hochgradige  Keim- 
verarmung mit  Sicherheit  zu  erreichen  ermöglicht,  ja  geradezu  ga- 
rantiert. 

Hatte  der  Praktiker  bislang  keine  Veranlassung,  in  die  ihm  an  der 
Klinik  gelehrten  Methode  der  Händedesinfektion,  Heißwasser-Seifen- 
waschung plus  Desinfektionslösung,  gewisse  Zweifel  bezüglich  ihrer 
Wirksamkeit  zu  setzen  und  wurde  ihm  diese  ganze  Prozedur  zur  starren 
Methode,  so  kann  und  darf  derselbe  nach  den  v.  Her  ff  gemachten 
Darlegungen  keinen  Augenblick  mehr  schwanken,  sich  dieser  neuen 
Richtung  zu  verschließen. 

Von  dem  Gedanken  einer  Abkürzung  der  Heißwasser -Alkohol- 
Sublimatdesinfektion  ausgehend  habe  ich  selbst  den  Versuch  gemacht, 
in  meiner  Praxis  in  dem  bekannten  Kölner  Wasser  Sublimat,  Salizyl- 
und  Borsäure  wirksam  zur  Lösung  zu  bringen  und  nach  erfolgter  Heiß- 
wasser-Seifenwaschung Hände  und  Arme  damit  abzureiben  i).  Zer- 
setzungsvorgänge, die  sich  bei  längerem  Stehen  dieser  Lösung  ein- 
stellten, machten  einen  weiteren  Gebrauch  aber  unmöglich  und  es 
erscheint  nicht  ausgeschlossen,  daß  bei  längerem  und  intensivem  Ge- 
brauch Intoxikationserscheinungen  auftreten  würden.  Jedenfalls  aber 
hatte  ich  bei  diesem  Desinfektionsversuche  die  Keimabsperrung  be- 
zweckt, der  Wegscheuerung  der  Keime  aber  nicht  Rechnung  getragen. 
Und  gerade  die  Wegscheuerung  der  Keime  erscheint  mir  das  Haupt- 
moment; dieselbe  ist  aber  bei  der  in  der  Praxis  üblichen  Heißwasser- 
Seifenwaschung  in  einem  gewöhnlichen  Waschbecken  von  vornherein 
ausgeschlossen.  Durch  die  Art  der  Waschung  in  den  gebräuchlichen 
Waschbecken  mit  oder  ohne  Bürste  werden  doch  die  Hände  immer 
wieder  mit  den  Keimen  in  Kontakt  gebracht,  geradezu  imprägniert 
Anders  verhält  es  sich  mit  dieser  Waschung  beispielsweise  bei 
Laparatomien.  Hier  werden  die  Hände  und  Arme  mit  Schmierseife 
und  Marmorsand  vorerst  durch  einige  Minuten  gründlich  abgerieben, 
massiert  Hernach  werden  Hände  und  Arme  in  strömendem  Wasser 
von  diesem  Seifen-Marmorsandgemisch  befreit,  in  Sublimat  und  her- 


1)  Zentralbl.  f.  Gyn.  1907. 


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1 1]  Beitrag  zum  Kampf  gegen  das  Puerperalfieber.  465 

nach  erst  in  Alkohol  abgerieben.  So  habe  ich  die  Desinfektion  bis 
jetzt  geübt  und  in  der  letzten  Serie  von  80  Laparatomien  keine  Infek- 
tion, keinen  Todesfall  erlebt.  Trotz  alledem  werde  ich  nach  Abscheuern 
der  Haut  der  Hände  und  Arme  die  Wasserabspälung  ausschalten,  des- 
gleichen die  Sublimatdesinfektion  und  mich  nur  des  Alkohols  bedienen. 
Jedenfalls  wird  aber  auch  in  der  geburtshilflichen  Praxis  die  HeiO- 
wasser-Seifenwaschung  im  stehenden  Wasser  von  nun  an  fallen,  und 
die  von  v.  Her  ff  angegebene  Methode  benfitzt  werden.  Wie  ich 
später  darlegen  werde,  habe  ich  in  allen  meinen  in  den  dritten 
5  Jahren  von  mir  durchgeführten  Fällen  von  Abortus  und  Geburten 
keinen  einzigen  Fall  von  Infektion  zu  verzeichnen.  Dazu  muO  ich 
aber  bemerken,  daO  ich  auf  das  strengste  den  Standpunkt  der  Auto- 
Noninfektion  stets  zu  wahren  suche.  Ich  beschränke  mich  in  meiner 
Praxis  striktest  auf  mein  Gebiet,  Geburtshilfe  und  Gynäkologie,  und 
komme  dabei  nur  höchst  selten  in  die  Lage,  eitrige  oder  infektiöse 
Erkrankungen  zu  behandeln,  die  dann  aber  nur  gynäkologischer  Art 
sind.  Peinlichste  Körperpflege  und  ständige  peinliche  Reinhaltung 
der  Hände  sind  selbstverständlich.  Unter  diesen  Umständen  habe  ich 
immer  das  sichere  Gefühl,  auch  ohne  jedwede  vorherige  Desinfektion 
geburtshilflich  gynäkologisch  tätig  sein  zu  können.  Empfiehlt  Foges 
in  seiner  bekannten  Arbeit  den  Septikus,  so  möchte  ich  dem  entgegen 
den  Aseptikus  empfehlen.  Der  praktische  Arzt,  der  allgemeine  Praxis 
treibt,  kann  bei  seinem  Dienste  im  allgemeinen  und  speziell  als  Kassen- 
arzt in  erster  Linie,  wo  er  oft  40 — 50  Kranken  zu  ordinieren  und  oft 
die  gleiche  Zahl  Visiten  bei  den  verschiedensten  Kranken  zu  machen 
hat,  den  Standpunkt  der  Noninfektion  kaum  wahren,  also  nicht  aseptisch 
bleiben:  das  ist  gewiß  ein  Ding  der  Unmöglichkeit.  Aseptisch  kann  der 
Spezialist,  speziell  der  Gynäkologe  und  Geburtshelfer  am  ehesten  noch 
sein,  weniger  schon  der  vielbeschäftigte  Chirurge. 

Ist  es  auch  durch  Tatsachen  erwiesen,  daß  ohne  diese  Schaffung 
von  Septikus  und  Aseptikus  die  praktische  Medizin  ganz  gute  Resul- 
tate erzielte,  so  handelt  es  sich  doch  stets  um  die  Prophylaxe,  die 
bekanntermaßen  die  beste  Medizin  ist  Oberblicke  ich  die  letzten 
30  Jahre,  so  kenne  ich  vereinzelte  Fälle,  wo  Wöchnerinnen  an  Schar- 
lach beispielsweise  zugrunde  gegangen  sind,  wo  der  behandelnde  Arzt 
eben  Scharlachfälle  in  Behandlung  hatte,  desgleichen  sah  ich  eine  Lapa- 
ratomierte  an  fudroyanter  Sepsis  zugrunde  gehen,  wo  ein  Assistent  bei 
der  Operation  an  einer  akuten  Koryza  litt,  u.  a.  m. 

Wenn  ich  heute  so  vielmals  auf  ärztlichen  Tafeln  lese:  Frauen- 
und  Kinderarzt,  so  schwebt  mir  stets  der  obenzitierte  Fall  vor  Augen. 
Ich  halte  diese  Praxis  einfach  für  unvereinbar  und  befinde  mich  mit 
meiner  Ansicht  wohl    in   bester  Gesellschaft.     Die  geburtshilfliche 

36* 


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466  Emil  Ekstein,  [12 

Praxis  jerfordert  ganz  apodiktisch  den  Status  auto-noninFectionis  von 
Seite  des  Arztes  und  es  l^ann  wohl  niemand  sich  der  Ansicht  mehr 
verschließen,  daß  —  cessante  causa  cessat  effectus  —  damit  die  funda- 
mentalste Vorbeugung  gegen  das  Kindbettfieber  erreicht  wird. 

Hätte  diese  Erkenntnis  vor  60  Jahren  zu  Beginn  der  Ära  Semmel- 
weis bereits  Platz  gegriffen,  so  wäre  dem  furchtbaren  »Möttersterben* 
auch  ohne  Chlorkalkwaschung  der  Hände  wirksam  Einhalt  geboten 
worden. 

Wie  peinlich  wird  heute  der  Leser  des  Lehrbuches  von  Scan- 
zoni  aus  dem  Jahre  1855  berührt,  wenn  er  die  Ansichten  dieses  so 
an  Erfahrung  reichen  Geburtshelfers  über  das  Kindbettfieber  liest, 
wenn  er  über  geburtshilfliche  Operationen  unterrichtet  wird,  und  mit 
keinem  Ton  dabei  einer  Reinigung  der  Hände  gedacht  wird ;  wie  selt- 
sam berührt  es  den  Leser,  wenn  er  das  Lehrbuch  des  großen  Schroe- 
der  vom  Jahre  1886  durchblättert  und  diesem  wichtigsten  Faktor  in 
der  Verhütung  der  Infektion  noch  nicht  die  ihm  zukommende  Wür- 
digung erfahren  sieht. 

Es  muß  als  einen  der  größten  Triumphe  unserer  Wissenschaft  be- 
zeichnet werden,  in  einer  so  verhältnismäßig  kurzen  Spanne  Zeit  nicht 
allein  zu  einer  richtigen  Erkenntnis  der  Entstehung  des  Kindbettf  ebers 
gelangt  zu  sein,  sondern  auch,  wie  dies  unsere  Kliniken  dokumentieren, 
diese  wirksamen  Vorbeugungsmaßregeln  geschaffen  zu  haben. 

Gegenüber  dieser  Tatsache  muß  es  in  der  Tat  beschämend  för 
uns  Ärzte  wirken,  in  der  geburtshilflichen  Praxis  ein  Fortbestehen 
des  Kindbettfiebers  konstatiert  zu  sehen.  Das  bedeutet  einen  herben 
Wermutstropfen  in  dem  Freudenbecher  unseres  wissensc^fdicbea 
Könnens. 

Es  kann  kein  Zweifel  bestehen,  daß  nach  wie  vor  der  praktische 
Arzt  Geburtshilfe  treiben  muß  und  daß  nach  wie  vor  unter  solckea 
Umständen  der  Status  auto-noninfectionis  von  demselben  niemals  mit 
Sicherheit  erreicht  werden  wird. 

Zur  teilweisen  Milderung  dieses  Mißverhältnisses  wird  es  sidi  da- 
her empfehlen,  daß  gerade  der  praktische  Arzt,  der  in  seiner  ausge- 
dehnten mannigfachen  Berufstätigkeit  niemals  sicher  ist,  plötzlich  zv 
einer  Entbindung  gerufen  zu  werden,  dem  Gebrauche  der  Gummi- 
handschuhe  wenigstens  in  vermehrter  Welse  Rechnung  trägt,  um  sldi, 
resp.  seine  Hände  und  Arme  in  erster  Linie  vor  Besehmuming  mit 
infektiösem  Material  zu  schützen,  und  der  Alkoholbewegung  bei  der 
Händedesinfektion  den  größtmöglichsten  Vorschub   leistet 

Galt  es  bislang  als  feststehende  Norm,  die  Gebärende  und  Wöch- 
nerin als  ein  „noli  me  tangere''  zu  betrachten,  so  geriet  audi  die  Basle 
dieser  Norm  teilweise  ins  Schwanken. 


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13]  Beitrag  zum  Kampf  gegen  das  Puerperalfieber.  407 

Die  emineaten  Erfolge  der  Chirurgie  auf  Basis  der  Anti-  und 
Asepsis  begaBnen  bei  den  gleiclien  Erfolgen  in  der  Gynäkologie  auch 
für  die  Geburtshilfe  Schule  zu  machen  und  binnen  kurzem  etablierte 
sich  eine  chirurgische  Ära  vorerst  in  der  klinischen  Geburtshilfe, 
derea  Lorbeeren  aber  auch  die  geburtshilfliche  Praxis  nicht  schlafen 
zu  lassen  scheinen. 

Die  Kluft  zwischen  den  Verhaltnissen  der  Klinik  und  denen  der 
Praxis  ist  aber  in  jeder  Beziehung  eine  derartig  große,  daß  an  eine 
Überbrückung  nur  sehr  schwer  zu  denken  ist  und  allfällige  Versuche 
zu  großen  Enttäuschungen  geführt  haben. 

Der  Ruf  nach  Konservatismus  in  der  Geburtshilfe  dürfte  daher 
seiae  vollständige  Berechtigung  besitzen,  um  noch  rechtzeitig  Mißge- 
schicke hintanzuhalten,  wie  sie  in  der  Gynäkologie  durch  die  einstige 
Rabies  operandi  heraufbeschworen  wurden.  Sicher  ist  es,  daß  der 
moderne  Geburtshelfer  chirurgische  Schulung  genossen  haben  muß, 
um  auch  lege  artis  in  der  konservativen  Geburtshilfe  auf  der  Höhe 
der  Leistungsfähigkeit  zu  stehen. 

Darüber  detailliert  zu  sprechen,  erachte  ich  für  überflüssig.  Auf 
das  nachdrücklichste  muß  aber  vor  dem  voreiligen,  ungeduldigen  Ver- 
schieben unserer  gesunden  geburtshilflichen  Indikationen  gewarnt  wer- 
den, die  sich  auf  eine  Abkürzung  der  ersten  Geburtsperiode  beziehen, 
wofür  die  Gründe  ja  hinlänglich  allgemein  bekannt  sind. 

Was  die  Indikationen  der  zweiten  Geburtsperiode,  der  Expulsions- 
periode  anbelangt,  so  stehen  dieselben  auf  solch  wissenschaftlich 
einwandfreier  Basis,  daß  daran  in  keiner  Weise  gerüttelt  zu  werden 
braucht. 

»Du  sollst  dein  Kind  in  Schmerzen  gebären'',  ist  ja  für  die  Ge* 
bärenden  und  deren  Umgebung  ein  harter  Schicksalsspruch  und  für- 
wahr, die  Eroifnungsperlode  bewahrheitet  denselben  mehr  denn  eigent* 
lieh  nötig. 

Es  entspringt  deshalb  einem  natfirlichea  Bedürfnis  einer  jeden 
Gebärenden  und  dem  Wunsch  deren  Umgebung,  diese  schmerzens- 
reiche Zeit,  wenn  schon  nicht  in  der  Eröifnungsperiode,  so  doch 
woügstens  in  der  Expulsionsperiode  abzukürzen. 

Gehört  es  zu  den  segensreichsten  Erfolgen  unserer  Wissenschaft, 
Schmerzen  zu  bannen,  so  gehört  es  zu  den  schönsten  Erfolgen  unserer 
Geburtshilfe,  den  Arzt  in  die  Lage  zu  versetzen,  die  Schmerzens- 
perlode  der  Geburt  ebenfalls  abkürzen  zu  können  und  zwar  ist  es  die 
Expulsionsperiode. 

Voraussetzung  strengster  Natur  bleibt  es  natürlich  immer,  daß  alle 
Indikationen  erfüllt  sind,  dies  tun  zu  können,  und  alle  Möglichkeiten 
vorhanden  sind,  dies  ohne  Schädigung  der  Gebärenden  zu  leisten. 


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468  Emü  Ekstein,  [14 

Man  vergegenwärtige  sich  die  Expulsionsperiode  einer  Primipara, 
wie  nach  Blasensprung,  Verstrichensein  des  Muttermundes  und  bei 
fixiertem  Kopf  des  Kindes  die  Wehentätigkeit  und  die  Anstrengung 
des  Mitpressens  während  derselben  den  ganzen  Organismus  der  Ge- 
barenden in  gewaltige  Aufregung  und  Aufruhr  versetzt  Und  da 
sollte  es  als  ärztliche  Polypragmasie  gedeutet  werden»  bei  Vorhanden- 
sein aller  geforderten  Vorbedingungen  durch  eine  vorsichtige  Forzeps- 
applikation  diesen  Qualen  ein  Ende  zu  bereiten?  Eine  solche  Poly- 
pragmasie muO  als  Akt  der  Menschlichkeit  bezeichnet  werden,  der 
unter  wissenschaftlich  erprobten  SchutzmaOregeln  ausgeführt  sogar  als 
segensreich  bezeichnet  werden  kann  und  diese  Abkürzung  unter  ge- 
nannten Bedingungen  als  geradezu  indiziert  bezeichnet  werden.  Hier 
unter  allen  Umständen  auch  bei  nicht  vorhandener  Gefahr  für  Mutter 
und  Kind  den  Naturkräften  zu  vertrauen,  wäre  meines  Erachtens  ein 
falsch  bewerteter  Konservativismus. 

Anders  verhält  es  sich  selbstredend  bei  der  Behandlung  der  Nach- 
geburtsperiode, wo  es  für  eine  voreilige  und  unzeitige  Nachgeburts- 
lösung ohne  irgendwelche  dringende  Indikation  keine  Entschuldigung 
gibt. 

Daß  die  chirurgische  Betätigung  in  der  Geburtshilfe,  wie  sie  an  so 
vielen  Kliniken  geübt  wird,  für  die  Praxis  nicht  vorbildlich  sein  kann 
und  darf,  bedarf  trotz  der  wenigen  gegenteiligen  Behauptungen  gewiß 
keiner  näheren  Erörterung. 

Zur  Entfernung  der  Eigenkeime  der  Scheide  werden  neuerdings 
bei  Geburten  Scheidenspülungen  mit  verschiedenen  Desinfektions- 
lösungen empfohlen,  desgleichen  zur  besseren  Involution  des  Uterus 
im  Wochenbette. 

Ich  selbst  habe  die  Ära  der  indikationslosen  Scheiden-  und  Uterus- 
spülungen mitgemacht  und  ebenfalls  die  Ära,  wo  mit  der  Scheiden- 
spülung bei  Geburten  und  im  Wochenbett  gründlich  gebrochen  wurde. 
Präventive  Scheidenspülungen  bei  infektiösen  Prozessen  der  Scheide 
hauptsächlich  bei  Gonorrhöe  der  Schwangeren  und  Gebärenden,  Utenis- 
spülungen  aus  demselben  Grunde  bei  Wöchnerinnen  blieben  ja  stets 
im  Gebrauch.  Heute  wird  der  Scheidenspülung  als  Vorbeugungsmittel 
gegen  das  Kindbettfieber  wieder  das  Wort  gesprochen  analog  der 
Entfernung  der  Blutkoagula  aus  der  Scheide  post  partum  im  Sinne 
Zweifels. 

So  einwandfrei  die  diesbezüglichen  Erfolge  der  Klinik  anzuerken- 
nen sind,  so  zweifelhaft  muß  dies  Verfahren  in  der  geburtshilflichen 
Praxis  erscheinen,  nachdem  doch  daselbst  in  einer  großen  Zahl  der 
Fälle  gerade  durch  die  Scheidenspülung  Fremdkeime  in  die  Scheide 
eingebracht  werden   können,   was  insbesonders  für  die  Praxis  der 


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15]  Beitrag  zum  Kampf  gegen  das  Puerperalfieber.  469 

Hebammen  gilt,  wo  ein  Mutterrohr  und  ein  Irrigator  für  die  Besor- 
gung der  Gebärenden  und  Wöchnerinnen  verwendet  wird.  Auch  ist 
die  Herstellung  der  Desinfel:tionslösung  nicht  in  allen  Häusern  ein- 
wandfrei zu  erzielen,  so  daß  vom  Standpunl:te  der  breiten  geburts- 
hilflichen Praxis  dieses  Verfahren  hier  wohl  nicht  für  eine  Verallge- 
meinerung zu  empfehlen  sein  dürfte.  Ob  durch  diese  einfachen 
Scheidenspülungen  in  der  Tat  alle  Eigenkeime  aus  der  faltenreichen 
Scheide  entfernt  werden  l:önnen,  dafür  ist  der  Beweis  wohl  noch  nicht 
erbracht  und  scheint  auch  nicht  so  einfach  zu  erbringen  zu  sein. 
Eigenl:eime  werden  vor  gynäkologischen  Operationen  durch  Ausreiben 
der  Vagina  wohl  leichter  entfernt  werden  können,  nachdem  es  durch 
das  Vorziehen  des  Uterus  mittels  Kugelzange  möglich  ist,  die  Scheide 
zu  entfalten  und  alle  Falten  zum  Verschwinden  zu  bringen,  kurz  die 
Scheide  unter  Kontrolle  der  Augen  gründlich  klar  zu  machen.  All 
dies  ist  bei  Schwangeren  und  Gebärenden  sowie  Wöchnerinnen  nur  aus 
ganz  zwingenden  Gründen  möglich. 

Eine  große  Beobachtungsreihe  in  der  Praxis,  die  aber  in  einschlä- 
giger Weise  kontrolliert  wird,  ist  nicht  so  leicht  zu  erbringen,  weshalb 
nach  den  alten  Erfahrungen  die  obligatorische  präventive  Scheiden- 
spülung der  allgemeinen  Praxis  für  absehbare  Zeit  vorenthalten  bleiben 
dürfte. 

Seit  Beginn  meiner  geburtshilflichen  Praxis  stehe  ich  auf  dem 
Standpunkte  der  obligatorischen  Verabreichung  von  Sekalepräparaten 
post  abortum  et  partum,  aber  stets  erst  nach  vollständiger  Entleerung 
des  Uterus.  Ober  die  Zweckmäßigkeit  dieser  Medikation  zu  sprechen, 
bedarf  es  keiner  Worte,  dieselbe  liegt  vollständig  klar  zutage.  Leider 
vermißt  man  in  der  geburtshilflichen  Praxis  noch  sehr  häufig  diese 
die  Uterusinvolution  so  sehr  begünstigende  Therapie,  die  gleichzeitig 
eine  prominente  Vorbeugung  gegen  Infektion  bildet.  In  dieser  Beziehung 
wäre  eine  Verallgemeinerung  der  Anwendung  der  Sekalepräparate 
von  Seite  der  Geburtshilfe  treibenden  Ärzte  und  Hebammen  sehr 
geboten,  selbstredend  in  streng  individualisierender  Weise;  in  erster 
Reihe  nach  geburtshilflichen  Eingriffen,  aber  auch  nach  spontanen 
Geburten,  wenn  die  Nachwehen  eben  in  nicht  genügender  Stärke  vor- 
Jianden  sind. 

Nach  der  Darlegung  gewisser  von  v.  Her  ff  vom  Standpunkte  des 
Praktikers  eingehend  besprochener  Verhältnisse  der  geburtshilflichen 
Praxis  im  allgemeinen  müßte  es  mir  in  der  Folge  obliegen,  die  Mängel 
unserer  Sozialhygiene  der  Hausgeburten,  die  eine  Minderwertigkeit 
der  Vorbeugung  des  Kindbettfiebers  involvieren,  aufzuzählen,  Mängel, 
für  deren  schädigendes  Fortbestehen  dem  Arzt  absolut  keine  Schuld 
trifi^t,  die  er  beim   besten  Willen  eben  nicht  zu  beseitigen  vermag. 


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470  l^il  Ekstein,  [\% 

wobei  seine  Hilf-  und  Machtlosigkeit  gegenüber  der  großen  Indolenz 
des  Laienpublikums  und  dem  passiven  Verhalten  der  Staatsbehörden 
vollständig  Entschuldigung  finden  muß.  Ich  kann  es  mir  hier  füglich 
versagen,  über  all  diese  großen  Unterlassungssünden,  die  konstant  be^ 
gangen  werden,  zu  sprechen,  habe  ich  dies  nur  allzuoft  beinahe 
durch  6  Jahre,  und  leider  stets  ohne  entsprechenden  Erfolg  in  einer 
großen  Reihe  von  Monographien  getan«  Ich  hege  zuversichtliche 
Hoffnung,  daß  die  gesamte  geburtshilfliche  Neuorganisation,  wie  sie 
eben  heute  immer  noch  ihrer  Lösung  harrt,  auf  rein  akademischen 
Boden  gestellt,  durch  unsere  Kliniker  und  Lehrer  der  Geburtshilfe 
in  gemeinsamer  Arbeit  und  Einverständnis  mit  den  geburtshilflichen 
Praktikern  und  —  den  Staatsbehörden  endlich  doch  einmal  diejenige 
Würdigung  finden  wird,  um  ohne  Rücksicht  auf  materielle  Kosten  in 
einwandfreier    moderner     Weise    zur    Durchführung    zu    gelangen. 

Speziell  in  Österreich  wurde  im  Jubiläumsjahre  Kaiser  Franz 
Josef  I.  von  Sr.  Majestät  selbst  die  Parole  für  Jubiläumsstiftungea 
»fürs  Kind^  ausgegeben.  Millionen  werden  gesammelt  und  wahrschein- 
lich thesauriert  werden. 

So  edel,  so  ideal  und  so  praktisch  notwendig  diese  ganze  Bewe- 
gung in  der  Tat  ist,  so  hat  man  direkt  das  Elend  des  Kindes  im  Auge 
gehabt,  hat  dabei  aber  ganz  der  Mutter  vergessen,  deren  Elend  mit 
dem  des  Kindes  leider  nur  zu  oft  unzertrennlich  verquickt  ist.  Nicht 
altein  »fürs  Kind"",  nein,  für  »Mutter  und  Kind""  ist  zu  sorgen  und  in 
erster  Reihe  zu  verhüten,  daß  dem  Sterben  der  Mütter  in  der  höchsten 
Betätigung  ihrer  weiblichen  Pflicht  Einhalt  geboten  wird,  worunter  in 
erster  Reibe  die  Vorbeugung  gegen  das  Kindbettfleber  zu  verstehen  ist 

Die  tägliche  Erfahrung  lehrt,  daß  eine  Entbindung  in  einer  wohl- 
geleiteten Anstalt  unter  allen  Umständen  in  bezug  auf  Infektion  sicherer 
absolviert  wird  als  im  Hause.  Die  tägliche  Erfahrung  lehrt,  daß  unsere 
Bezirkskrankenhäuser  nicht  nur  an  einem  chronischen  Platzmangel 
leiden,  sondern  nicht  einmal  freiwillig,  sondern  nur  der  höchsten  Noc 
gehorchend,  eine  Gebärende  aufnehmen,  geschweige  denn  eine  arme 
Schwangere,  die  ihrer  schwersten  Stunde  erst  entgegensieht.  In  echt 
bureaukratischerÄngstlichkeitwirddieAusgestaltungderBezirkskranken- 
häuser,  dem  Durchschnitt  der  Aufnahmen  von  beispielsweise  5  Jahren 
entsprechend,  hintangehalten,  es  wird  einfach  gespart  und  gespart,  um  ja 
nur  in  bezug  auf  Ausgaben  dem  Bezirke  keine  größere  Lasten  aufzubür- 
den. Diesen  einem  Zeitalter  der  Hygiene  und  Humanität  absolut  nicht 
entsprechenden  Zuständen  wäre  durch  diese  angesammelten  Fonds 
»fürs  Kind"  ein  Ende  zu  bereiten  und  durch  Errichtung  von  Gebär- 
abteilungen an  jedem  Bezirksspital  für  Mutter  und  Kind  in  menschen- 
würdiger Weise  zu  sorgen.    Dazu  kommt  noch,  daß  zur  Abhilfe  und 


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n]  Beitrag  zum  Kampf  gegen  das  Puerperalfieber.  471 

endgültigen  Beseitigung  dieses  chronischen  Platzmangels  mit  all  den 
traurigen  Konsequenzen  jede  Stadt  von  mindestens  10000  Einwohnern 
zu  verhalten  wäre»  ein  Krankenbaus  für  seine  Bewohner  zu  schaffen, 
damit  das  Bezirkskrankenhaus  eben  für  die  kleineren  Orte  des  Bezirkes 
reserviert  bliebe.    Dies  nur  nebenbei. 

In  der  Vorbeugung  des  Kindbettßebers  werden  wir  wohl  nicht  eher 
erfolgreich  vorwärts  schreiten,  insolange  nicht  durch  Gründung  eines 
selbständigen  Sanitätsressorts  im  Ministerium  mit  gleichzeitiger  Errich- 
tung von  „sozialen  Gesundheitsämtern''  die  gesundheitliche  Volks- 
wohlfahrt der  großen  Erfolge  unserer  medizinischen  Wissenschaft  voll 
und  ganz  teilhaftig  gemacht  werden  wird.  Einer  zu  errichtenden  Lehr- 
kanzel für  Sozialhygiene  muß  es  vorbehalten  bleiben,  ein  wirksames, 
initiatives  Bindeglied  zwischen  Sanitätsministerium  und  Gesundheits- 
ämtern zu  bilden.  Mehr  als  durch  Kriegsschiffe,  Luftballons  und 
Kanonen  würde  so  das  Volkswohl  bewahrt  werden.  Dann  und  nur 
dann  wird  das  von  Semmelweis  so  sehnlich  erwartete  Zeitalter 
hereinbrechen,  in  welchem  inn-  und  außerhalb  der  Gebärhäuser  der 
ganzen  Welt  nur  Fälle  von  Selbstinfektion  vorkommen. 

Zur  Besprechung  der  in  den  dritten  5  Jahren  von  mir  behandelten 
geburtshilflichen  Fällen  übergehend,  stehen  mir  335  Fälle  zur  Ver- 
fügung.   (Siehe  nächste  Seite.) 

Ad  L  Die  verhältnismäßig  geringe  Zahl  von  spontanen  Geburten, 
die  hier  verzeichnet  sind,  dokumentiert  zur  Genüge,  wie  ungern  der 
Arzt  heute  noch  in  der  Wochenstube  gesehen  wird  und  wie  zäh  und 
fest  die  Frauenwelt  an  der  Hebamme  festhält. 

Dagegen  wäre  von  vornherein  nichts  einzuwenden,  wenn  die  Minder- 
wertigkeit des  Gros  unserer  Hebammen  nicht  mit  in  Frage  käme  und 
gerade  in  Rücksicht  auf  das  starre  Festhalten  der  Frauen  ist  die  bis- 
herige Minderwertigkeit  der  Hebammen,  das  Fehlen  der  nötigen  In- 
telligenz in  diesem  Stande  nicht  genug  zu  tadeln.  Schuld  an  dieser 
Unterlassung  einer  höheren  Bewertung  des  Hebammenstandes  und 
der  konsequenten  exakten  Ausbildung  trägt  der  Staat  und  in  erster 
Reihe  ist  der  Staat  für  die  JFolgen  verantwortlich.  Es  kann  gar  kein 
Zweifel  bestehen,  daß  es  dem  Arzte  ganz  unmöglich  ist,  eine  Geburt 
von  Anbeginn  bis  Ende  zu  leiten,  denn  dazu  fehlt  ihm  unbedingt  die 
Zeit.  Hier  liegt  die  Indikation  für  den  Hebammenstand,  für  einen 
Hebammenstand  aber,  der  vermöge  seiner  Intelligenz  und  guten  Aus- 
bildung den  Anforderungen  einer  lege  artis  Geburtsleitung  gewach- 
sen ist. 

Ad  IL  Die  verhältnismäßig  große  Zahl  von  Abortusfällen  ist  ein 
Zeichen  unserer  Zeit.  Über  die  Ätiologie  der  einzelnen  Fälle  zu 
sprechen  ist  unmöglich,  der  Praktiker  gewöhnt  es  sich  ab,  bei  diesen 


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472  Emü  Ekstein»  [18 

Tabellarische  Übersicht. 

Zahl  der  glatter  TodesfiUe  Todesfllle 

Fälle  Verlauf  der  Mütter  der  Kinder 

I.  Spontane  Entbindung.      13  13             —  1  (Lues) 

IL  Abortus 156  156              —  — 

III.  Abortus  artefic.  Nr.  VII      14  14             —  10 

IV.  Forceps 53  53              —  3 

V.  Perforation    ....        3  3             —  — 

VI.  Wendung 12  12  —  10 

VII.  Bigemini 6  6  —  — 

VIII.  Retentio  placentae  p. 

part 12  12  —  — 

IX.  Naht    von    spontanen 

Dammrissen  ...  5  5  —  — 

X.  Atonia  uteri ....  2  2  —  — 

XI.  Eklampsie     ....  2  2  —  1 

XII.  Placenta  praevia    .    .  4  4  —  4 

XIII.  Gravidit.  extrauterina  14  13  1  — 

XIV.  Processus  puerperalis  12  12  —  — 

XV.  Retroversio-flexio 

uteri  gravidi  ...      24  23  1  — 

XVI.  Sectio  caesarea ...        1  —  1  .1 
XVII.  Apoplexia    in    gravi- 

ditate 1  1  —  — 

XVIII.  Discisio  septi  vaginae 

p.  part.  spontan.    .  1_ 1  —  — 

335  332  3  30 

Fällen  strenge  nachzuforschen;  wohin  dies  fähren  würde,  ist  nur  zu 
bekannt  Was  die  eigentliche  Therapie  bei  Abortus  anbelangt,  stehe 
ich  nach  wie  vor  auf  dem  Standpunkte,  daß  das  aktive  Verfahren, 
wie  ich  dies  in  meinen  Publikationen  <)  detailliert  dargestellt  habe, 
das  rationellste  Verfahren  bildet,  die  Restitutio  ad  integrum  in  kür- 
zester Zeit  herbeizuführen  und  dabei  den  Vorzug  der  Schmerzlosig« 
keit  besitzt.  In  bezug  auf  die  Möglichkeit  der  Infektion  ist  es  bei  der 
Anschauung,  die  wir  über  unsere  Händedesinfektion  besitzen,  jeden- 
falls schwerer  möglich  mittels  Instrumenten  zu  infizieren  als  mittels 
Finger.  Was  die  Uterusperforation  anbelangt,  so  ist  dieselbe,  wie  ich 
dies  in  einer  meiner  letzten  Arbeiten >)  geschildert  habe,  auszuschließen, 
wenn  eben  stets  lege  artis  vorgegangen  wird. 

Unter  den  156  Fällen  sind  Fälle  von  Abortus  putridus  schwerster 
Natur  zu  verzeichnen,  die  mit  bestem  Erfolge  auch  zweizeitig  behan- 
delt wurden,  wenn  eben  die  Zervix  nicht  fingerdurchgängig  war. 

Erwähnung  möge  ein  Fall  von  Monstrosität  des  Uterus  und  der 

1)  Therapie  bei  Abortus.    Stuttgart,  Enke,  1901.  2)  Gyn.  Rundschau  19Q& 


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19]  Beitrag  zum  Kampf  g^S^n  ^^^  Puerperalfieber.  473 

Scheide  finden.  Bei  einer  28jährigen  Erstgebarenden  traten  im 
IL  Monate  der  Gravidität  Blutungen  ein.  Bei  der  Untersuchung  fand 
sich  ein  Uterus  bicornis  duplex  cum  vagina  septa,  wovon  der  links- 
gelegene Uterus  gravid  war.  Der  Befund  glich  vollkommen  dem  von 
Nagel  in  Veits  Handbuch  beschriebenen»  in  der  Gebäranstalt  der 
Charit6  beobachteten  Falle.  Erwähnt  möge  noch  werden,  daß  ich  die 
Mehrzahl  der  behandelten  Fälle  von  Abortus  am  3.  und  5.  Tage  be- 
suchte und  am  8. — 10.  Tage  zur  Nachuntersuchung  in  meiner  Ordi- 
nation wieder  sah.  Bei  einer  gewissen  Zahl  von  Fällen  wurde  so 
wegen  konstatierter  Retroversio  oder  Retrofiexio  uteri  die  Einlegung 
eines  Fritsch-Hodge-Pessares  nötig ,  das  nach  V4 — V2  Jahre  bei  zwei- 
monatlichem Wechseln  wieder  entfernt  werden  konnte.  Gerade  der 
nach  Abortus  verhältnismäßig  oft  eintretenden  Uterusverlagerungen 
wegen  halte  ich  eine  kräftige  Uterusmassage  nebst  reichlichen  Gaben 
von  Sekalepräparaten  nach  Entleerung  des  Uterus,  ferner  die  Nach- 
untersuchung in  der  Rekonvaleszenz  für  dringend  indiziert.  Tägliche 
Scheidenspälungen  mit  einer  Kai.  jodat.- Jodtinkturlösung  bis  zum 
Wiedereintritt  der  Menstruation  beeinflussen  die  Involution  des  Uterus 
nach  Abortus  auf  das  beste. 

Ad  III.  Getreu  dem  an  der  Schule  gelehrten  Konservativismus  in 
der  Geburtshilfe  habe  ich  Gelegenheit  genommen,  14mal  die  künst- 
liche Frühgeburt  bei  12  Frauen  einzuleiten.  Bei  6  Frauen  wurde 
wegen  hochgradiger  Beckenenge,  allgemein  verengtem  Becken,  rachi- 
tischem und  kyphoskoliotischem  Becken  die  Frühgeburt  im  VIII.  Monat 
eingeleitet.  All  diese  Frauen  hatten  schwere  Wendungen  mit  totem 
Kinde  und  Perforation  bereits  überstanden.  Bei  1  Frau,  die  bereits 
2mal  Perforation  durchgemacht  hatte,  wurde  innerhalb  3  Jahre  die 
Frühgeburt  im  VIII.  Monate  2  mal  eingeleitet.  In  1  Falle  wurde  nach 
sicherem  Nachweise  des  Abgestorbenseins  der  Frucht  im  VII.  Monate 
ebenfalls  die  Frühgeburt  eingeleitet.  In  allen  Fällen  habe  ich  die 
Frühgeburt  mittels  Einführung  der  Knappschen  Bougie  eingeleitet, 
wobei  die  spontane  Entbindung  in  24 — 36  Stunden  erfolgte.  Leider 
blieben  die  Kinder  nicht  am  Leben. 

Den  Abort  im  I. — IV.  Monat  wurde  eingeleitet  in  einem  Falle 
von  unstillbarem  Erbrechen,  wo  jede  Therapie  erfolglos  blieb,  weiters 
bei  einer  Zwergin,  deren  Becken  selbst  für  die  Geburt  eines  Sieben- 
monatkindes zu  klein  war,  bei  einer  an  Osteomalakie  leidenden  Frau, 
bei  einer  an  Morbus  Brighti  Leidenden  und  bei  einer  Frau,  die 
wegen  Graviditas  extrauterina  von  mir  einige  Jahre  vorher  operiert 
worden  war. 

Den  Abort  im  L— IV.  Monate  leitete  ich  ausschließlich  durch 
die  intrauterine  Tamponade  ein.   24  Stunden  nach  dieser  Tamponade 


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474  Emil  Ekstein,  [20 

wurde  die  instrumenteile  Ausräumung  des  Uterus  vorgenommen.  Sämt- 
liche Fälle  hatten  einen  glatten  Verlauf. 

Ad  IV.  In  51  Fällen  wurde  der  Forceps  bei  Schädellagen,  in 
2  Fällen  bei  Steißlagen  angelegt. 

Meinen  Standpunkt  in  bezug  auf  die  Indikationen  der  Zange  habe 
ich  bereits  klargelegt;  der  günstige  Verlauf  aller  meiner  Fälle  recht- 
fertigt denselben  zur  Genüge. 

Es  ist  dabei  aber  auch  eine  ganz  große  Zahl  von  Fällen  zu  ver- 
zeichnen, wo  der  Forceps  bei  hochstehendem  fixiertem  Kopf  mit  oder 
ohne  vollständige  Entfaltung  des  unteren  Uterinsegmentes  zur  Anwen- 
dung kam.  Im  letzteren  Falle  habe  ich  es  in  2  Fällen  erlebt,  daß 
das  untere  Uterinsegment  während  3 — 4tägigen  Kreißens  nicht  zur 
Entfaltung  kam,  sondern  als  gerade  ßngerdurchgängiger  Zapfen 
erhalten  blieb.  Durch  zwei  nach  rechts  und  links  hinten  unten  ge- 
richtete Inzisionen  wurde  dasselbe  gespalten  und  dann  die  Extraktion 
mittels  Forceps  vorgenommen.  Nach  Ablauf  der  III.  Geburtsperiode 
wurden  die  Inzisionen  mittels  Knopfnähten  wieder  vereint;  die  Ope- 
ration wurde  in  Narkose  vorgenommen,  während  bei  den  anderen 
Entbindungen  mittels  Forceps  die  Narkose  nicht  in  Anwendung  kam. 
wie  ich  dies  bereits  in  meiner  diesbezüglichen  Arbeit  i)  geschildert  habe« 

2 mal  wurde  der  Forceps  zwecks  Vornahme  des  Accouchement 
forc6  zur  Anwendung  gebracht,  in  beiden  Fällen  wegen  hochgradiger 
Eklampsie  bei  Erstgebärenden,  wobei  der  Muttermund  nicht  voll- 
ständig verstrichen  war.  Im  einen  Falle  war  das  Kind  lebend  ge- 
boren, im  anderen  Falle  tot,  nachdem  die  Entwicklung  langsam  vor- 
genommen werden  mußte,  um  eben  keine  schweren  Verletzungen  der 
Mutter  hervorzurufen.  Beide  Mütter  machten  eine  glatte  Rekonvale- 
szenz durch. 

In  2  Fällen  wurde  die  Kopfzange  bei  Steißlage  zur  Anwendung 
gebracht  und  zwar  mit  dem  gleichguten  Erfolge  für  Mutter  und  KincL 

Von  Kindern  habe  ich  3  Todesfälle  bei  Forzeps  zu  verzeichnen, 
einen  bei  Eklampsie,  die  beiden  anderen  bei  bestehendem  großen 
Mißverhältnis  zwischen  Becken  und  Schädel. 

Ad  V.  Die  3  Perforationen  wurden  mittels  Auvardschen  In- 
strumentes ausgeführt. 

Der  erste  Fall  betrifft  eine  34jährige  Ilpara.  Die  ersten  beiden 
Entbindungen  erfolgten  mittels  Forceps;  im  Jahre  1809  führte  ich  die 
Ventrofixatio  uteri  bei  Retroversio-flexio  uteri  fixata  aus.  4  Jahre 
später  wurde  Pat.  wieder  gravid.  Durch  das  Mißverhältnis  zwischen 
kindlichem   Kopf  und  mütterlichem   Becken  blieb   der  Kopf  durch 


1)  Prager  med.  Wochenschr.  16.  Jahrg. 


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21]  Beitrag  zum  Kampf  gegen  das  Puerperalfieber.  475 

3  Tage  beweglich  über  dem  Beckeneingang.  Am  3.  Tage  erst  wurde 
ich  zur  Entbindung  zugezogen;  da  war  der  Kopf  bei  verstrichenem 
Muttermund  im  Beckeneingang  fixiert.  Ein  Zangenversuch  mißlang, 
wobei  es  unter  größter  Kraftanstrengung  nicht  möglich  war,  den  Kopf 
ins  Becken  zu  ziehen;  hierauf  führte  ich  die  Perforation  aus.  Das 
Kind  war  in  der  Tat  abnorm  stark.  Die  Ventrifixur  des  Uterus  be- 
einflußte in  keiner  Weise  den  Geburtsverlauf,  sondern  lediglich  das 
erwähnte  Mißverhältnis.  Glatter  Verlauf  mit  Erhaltenbleiben  der 
Normallage  des  Uterus. 

Der  2.  Fall  betrifi^t  eine  24jährige  Frau,  die  1  mal  bereits  im  II.  Monate 
abortiert  hatte.  Ich  wurde  zur  Gebärenden  gerufen,  als  die  Geburt 
bereits  4  Tage  im  Gange  war.  Ich  konnte  eine  floride  Osteomalakie 
mit  typischer  Veränderung  des  Beckens  konstatieren.  Bei  der  überaus 
starken  Entwicklung  des  Kindes  und  der  langen  Geburtsdauer  kam 
nur  die  Perforation  in  Frage.  Dieselbe  wurde  in  Narkose  ausgeführt. 
Trotz  der  Narkose  war  es  bei  vollständig  verstrichenem  Muttermund 
nicht  möglich,  den  perforierten  Kindesschädel  durch  das  Becken  hin- 
durch zu  bekommen.  Nachdem  konstatiert  wurde,  daß  das  Mißver- 
hältnis zwischen  Kindesschädel  und  Becken  dieses  Hindernis  bildete, 
wurde  das  Auvardsche  Instrument  abgenommen  und  die  Wendung 
des  perforierten  Kindes  in  der  vorsichtigsten  Weise  vorgenommen. 
Dieselbe  gelang  und  machte  die  Entwicklung  des  nachfolgenden  Kindes- 
schädels trotzdem  noch  große  Schwierigkeit. 

Ein  Dammriß  2.  Grades  konnte  dabei  nicht  verhindert  werden. 
Trotz  dieses  großen  Eingrifffes  verlief  das  Wochenbett  fieberfrei. 

Die  puerperale  Osteomalakie  heilte  nach  2  Jahren  durch  Phosphor- 
behandlung insoweit  aus,  daß  bei  weiter  bestehender  Deformität  des 
Rumpfes  und  Beckens  die  großen  Knochenschmerzen  im  Bereiche 
der  Arme  und  Beine  zum  Schwinden  gebracht  wurden.  Das  Kind 
wog  etwas  über  5  kg. 

Im  3.  Falle  handelte  es  sich  um  eine  luetische  26jährige  Ilpara 
mit  plattem  rachitischem  Becken.  Die  Geburt  war  bereits  4  Tage 
im  Gange  als  ich  zugezogen  wurde.  Muttermund  bequem  für  4  Finger 
durchgängig,  Schädel  des  Kindes  im  Beckeneingang,  nicht  fixiert. 
Die  Perforation  in  Narkose  wurde  leicht  ausgeführt,  ein  linksseitiger 
Riß  der  Zervix,  der  bei  der  Extraktion  zustande  kam,  wurde  mittels 

4  Knopfnähten  geschlossen.    Fieberloser  Verlauf. 

In  bezug  auf  die  Zuverlässigkeit  des  Au vard sehen  Instrumentes, 
das  ich  seit  dessen  Bekanntwerden  benütze,  kann  ich  nur  berichten, 
daß  dasselbe  seinen  Zweck  stets  vollkommen  erfüllte,  wenn  auch  die 
Applikation  manchmal  und  insbesonders  dann,  wenn  der  Muttermund 
nicht  vollkommen  verstrichen  ist,  die  allergrößte  Vorsicht  erfordert. 


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476  Emil  Ekstein,  [22 

Ad  VI.  Was  die  Ausführung  der  Wendung  anbelangt,  so  muß  ich,  wie 
in  meinen  beiden  vorhergegangenen  Berichten^nur  immer  wieder  darfiber 
klagen,  daß  die  Berufung  des  Arztes  mehr  minder  spät  erfolgte,  wo- 
durch die  hohe  Mortalität  der  Kinder  ihre  Begründung  finden  mag. 

In  5  Fällen  wurde  aus  Querlage  mit  oder  ohne  Nabelschnurvorfall 
gewendet  und  dabei  1  Kind  lebend  zur  Welt  gebracht. 

In  2  Fällen  wurde  bei  hohem  Querstand,  in  1  Falle  bei  Gesichts- 
lage gewendet  und  ebenfalls  nur  1  Kind  lebend  zur  Welt  gebracht 

In  3  Fällen  wurde  die  Wendung  bei  Querlage  mit  Armvorfall  aus- 
geführt, wobei  alle  3  Kinder  tot  zur  Welt  gebracht  wurden. 

Sämtliche  Fälle  hatten  ein  fieberfreies  Wochenbett  durchgemacht. 

Ad  VII.    Zwillingsgeburten  gestalteten  sich  folgendermaßen: 

1.  28jährige  Illpara.  Spontane  Emtbindung,  Knabe,  Mädchen. 
2  medial  adhärente  Plazenten. 

2.  25jährige  Ipara.  Hydramnios,  Blasensprengung.  I.Knabe  For- 
ceps, 2.  Knabe  spontan.    1  Plazenta. 

3.  34jährige  IVpara.  Doppelte  Fußlage,  Nabelschnurvorfall,  Ex- 
traktion, totes  Mädchen,  Wendung  nach  Blasensprengung,  Extraktion, 
lebender  Knabe.    2  getrennte  Plazenten. 

4.  32jährige  Ipara.  Protrahierter  Geburtsverlauf,  Forceps,  le- 
bender Knabe,  Fußlage,  Extraktion,  lebender  Knabe.    1  Plazenta. 

5.  25jährige  Ipara.  Kam  V2  Jahr  vor  der  Schwangerschaft  wegen 
Retroversio  uteri  mobilis  in  Behandlung.  Fritsch-Hodge-Pessar  Nr.  IV. 
6  Monate  trägt  die  Frau  das  Pessar;  als  sie  wieder  zum  Wechsel  des 
Ringes  kommt,  ist  sie  einen  Monat  schwanger.  Im  3.  Schwanger- 
schaftsmonate wird  das  Pessar  entfernt.  Am  normalen  Ende  der 
Schwangerschaft  spontane  Geburt  von  2  Mädchen.     1  Plazenta. 

6.  32jährige  Ilpara.  1.  Schwangerschaft  Abortus  m.  IL  Im  7.  Monat 
der  bestehenden  Schwangerschaft  plötzlicher  Wasserabfluß,  ohne  jedr 
wede  Wehentätigkeit.  Am  2.  Tage  Forceps,  lebendes  Mädchen,  Wen- 
dung, lebendes  Mädchen.     1  Plazenta. 

Sämtliche  Fälle  hatten  glatten  Wochenbettsverlauf. 

Ad  VIII— XII.  ist  nichts  Wesentliches  zu  bemerken. 

Ad  XIII.  Von  15  bei  14  Frauen  beobachteten  Extrauteringravidi- 
täten habe  ich  in  0  Fällen  durch  Laparatomie  die  schwangere  Tube 
entfernt.  Darunter  ist  eine  Frau  innerhalb  2  Jahre  2mal  lapara- 
tomiert  worden,  das  erste  Mal  wegen  linksseitiger,  das  zweite  Mal  wegen 
rechtsseitiger  Tubargravidität.  In  4  Fällen  führte  die  expektative  Be- 
handlung bei  eingetretener  Hämatozelenbildung  zur  Spontanausheilung. 
Ein  Fall  Graviditas  tubaria  m.  III.  starb  während  der  Vorbereitung  zur 
Operation.  An  anderer  Stelle  wird  eingehend  über  diese  Fälle  ge- 
sprochen werden. 


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23]  Beitrag  zum  Kampf  gegen  das  Puerperalfieber.  477 

Ad  XIV.  Die  puerperalen  Infektionen,  die  nach  spontanen  Geburten 
und  Abortus  zur  Beobachtung  kamen,  kamen  mit  Ausnahme  eines  Falles 
unter  Leitung  von  Hebammen  zustande. 

In  3  Fällen  wurde  Puerperalfieber  als  AUgemeininfektion  ohne 
Nachweis  lokaler  Erscheinungen  beobachtet,  in  2  Fällen  Phlegmasia 
alba  dolens  mit  parametranen  Exsudaten,  in  1  Falle  Thrombose  der 
rechten  Vena  femoralis  mit  rechtsseitigem  parametranen  Exsudat  und 
in  5  Fällen  mehr  minder  ausgebreitete  Pelveoperitonitis. 

Die  letzteren  Fälle  hatten  einen  sehr  langsamen  Verlauf  in  bezug 
auf  Resorption  der  Exsudate.  Im  akuten  Stadium  wurde  bei  allen 
Fällen  Unguentum  Cred6  in  ausgiebiger  Weise  zur  Anwendung  ge- 
bracht und  hat  es  den  Anschein,  daß  diese  Therapie,  vorschriftsmäßig 
ausgeführt,  auf  die  Herabsetzung  der  Temperaturen  einen  günstigen 
Einfluß  auszuüben  vermag.  Die  Temperaturen  fielen  nach  der  Ein- 
reibung konstant,  was  um  so  auffälliger  war,  als  Antipyretika  nicht 
verabreicht  wurden. 

Teplitzer  Badekuren  hatten  eine  vorzügliche  Wirkung  auf  die  Re- 
sorption der  Exsudate  und  erlebte  ich,  daß  eine  Frau,  die  nach  Zwil- 
lingen an  einem  bis  zur  Nabelhöhe  reichenden  linksseitigen  Becken- 
exsudat 2  Jahre  nach  dieser  Erkrankung  wieder  konzipierte,  gebar 
und  ein  fieberfreies  Wochenbett  durchmachte.  Teplitzer  Thermal-  und 
Thermal -Moorbäder  halte  ich  für  ganz  vorzügliche  Unterstützungs- 
mittel zwecks  Resorption  von  Beckenexsudaten. 

Sämtliche  11  Frauen  kamen  zwar  mit  dem  Leben  davon,  allein 
einige  von  ihnen  stehen  heute  noch  in  Behandlung. 

Das  Puerperalfieber,  jenes  traurige  Kapitel  in  der  geburtshilflichen 
Praxis,  richtet  derartige  Verheerungen  im  weiblichen  Organismus  an 
und  führt  zu  solch  schweren  Schädigungen  desselben,  daß  es  nichts 
weniger  als  dringend  erscheint,  dieses  Kapitel  zur  öfi^entlichen  Dis- 
kussion zu  stellen,  wie  dies  1909  durch  die  Deutsche  Gynäkologische 
Gesellschaft  in  Straßburg  geschehen  wird.  Es  wird  sich  sehr  emp- 
fehlen, daß  die  geburtshilflichen  Praktiker  sich  rege  an  dieser  Dis- 
kussion beteiligen,  um  den  Klinikern  Material  und  Vorschläge  für  eine 
endliche  Bekämpfung  desselben  auch  in  der  geburtshilflichen  Praxis 
zu  liefern. 

Ad  XV.  Eine  verhältnismäßig  große  Zahl  von  Rückwärtslagerung 
des  schwangeren  Uterus  gibt  Beweis  dafür,  wie  häufig  dieselbe  vor- 
kommt, insbesonders  bei  Arbeiterinnen.  Zum  weitaus  größten  Teile 
bildet  diese  Lageveränderung  neben  großen  Allgemeinbeschwerden 
die  Ursache  zum  Abortus. 

Ich  kann  in  bezug  darauf  auf  die  Arbeit  R.  Chrobaks^)  verweisen. 

1)  Volkmannsche  Sammlung  377,  1904. 

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478  Eniil  Ekstein,  Beitrag  zum  Kampf  gegen  das  Puerperalfieber.  [24 

Bei  einer  kleinen  Zahl  der  Fälle  gelang  es  durch  Pessartherapie 
den  Abortus  zu  vermeiden.  Bestand  Blutung  und  währten  die  Be- 
schwerden schon  längere  Zeit,  so  war  auch  durch  diese  Behandlung 
der  Abortus  nicht  mehr  aufzuhalten.  In  einem  Falle  war  die  Retro- 
flexio  uteri  gravidi  2mal  bereits  die  Ursache  des  Abortus;  es  wurde 
nach  erfolgtem  Abortus  von  dem  betreffenden  Arzte  eben  nicht  nach- 
untersucht. In  einem  Falle  bei  Retroflexio  uteri  gravidi  m.  IV.  incar- 
cerati,  bei  einer  hochfiebernden,  ganz  heruntergekommenen  Frau  mit 
den  hochgradigsten  Inkarzerationsbeschwerden  wurden  durch  Wochen 
von  verschiedenster  Seite  die  verschiedensten  Medikationen  ohne  rich- 
tige Diagnosenstellung  erfolglos  angewandt.  Es  konnte  kein  Zweifel 
bestehen,  daß  auch  intrauterin  planlos  eingegriffen  worden  war,  denn 
die  Frau  war  eben  bereits  septisch  und  starb  bei  der  Aufnahme  ins 
Hospital.  Es  handelte  sich  um  eine  purulente  Peritonitis,  ausgegangen 
von  dem  septischen  Uterusinhalt. 

In  3  Fällen  nur  kam  es  durch  die  Pessartherapie  zum  Fortbestehen 
der  Schwangerschaft  bis  zum  normalen  Ende;  es  waren  dies  Fälle, 
wo  nach  Eintritt  der  Schwangerschaft  plötzlich  heftige  Kreuzschmerzen 
mit  Blasenbeschwerden  eingetreten  waren,  ohne  daß  eine  Blutung  auf 
eine  Unterbrechung  der  Schwängerschaft  hatte  schließen  lassen.  Jedes- 
mal war  das  Heben  einer  schweren  Last  die  Ursache  der  Lageverän- 
derung des  Uterus. 

In  4  anderen  Fällen  wurde  in  typischer  Weise  die  Ausräumung 
des  Uterus  vorgenommen  und  gleichzeitig  nach  Reposition  des  Uterus 
ein  Pessar  eingeführt.  Reichliche  Ergotingaben  nebst  Jodjodkali- 
spülungen führten  eine  kräftige  Involution  des  normal  gelagerten  Uterus 
herbei. 

Ad  XVI.  Dieser  Fall,  in  dem  es  sich  um  eine  Spontanruptur  des 
Uterus  am  normalen  Schwangerschaftsende  nach  vorheriger  Sectio 
caesarea  mit  Fritschschem  Fundalschnitt  handelt,  ist  ausführlich  im 
Zentralblatt  für  Gynäkologie  1904  beschrieben  worden. 

Ad  XVI  und  XVIII  ist  nichts  Bemerkenswertes  zu  berichten. 

Am  Ende  meines  Berichtes  angelangt,  kann  ich  nach  drei  Quin- 
quennien  praktisch  geburtshilflicher  Tätigkeit  nur  wärmstens  empfehlen, 
den  Konservativismus  im  Sinne  von  v.  Herff  in  der  geburtshilflichen 
Praxis  strengstens  zu  wahren  und  zu  pflegen.  Dabei  ist  es  natürlich 
unerläßlich,  den  Status  auto-noninfectionis  strenge  im  Auge  zu  be- 
halten und  unaufhörlich  auf  dem  Gebiete  der  Sozialhygiene  das  Un- 
mögliche zu  verlangen  um  das  Mögliche  zu  erreichen. 


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