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Full text of "Schlaf und Traum: Eine physiologisch-psychologische Untersuchung"

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Schlaf und Traum. 



Eine physiologisch-psychologische Untersuchung 



Paul Radestock. 




Leipzig. 

Druck und Yerlag von Breitkopf and Hftrtel. 

1879. 



/.'. 



AUe Rechte vorbehalten. 



Herrn 



Professor Dr. W.Wundt 



widmet diese Schrift 



im Gefühle wahrer inniger Hochachtung 



der Terfasser, 



^ 

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3 



Vorwort. 



Seit Jahrtausenden hat die Ifenschen die Frage besehäftigt, 
wie es zu erklären sei, dass alles was da lebt periodisch in 
Schlaf versinkt, wo des Sterblichen Denkweise so gänzlich 
von der im Wachen verschieden ist , dass der Weise sich wie 
ein Narr geberdet und der Narr sich höchst weise dünkt. 
Aber mehr denn je hat in unserem Jahrhundert diese Frage 
sich in den Vordergrund und unter die Probleme gedrängt, 
welche des Forschers Auge besonders auf sich lenken. 

Auf die verschiedenartigste Weise hat man dies Räthsel zu 
lösen versucht. In mystischer Begeisterung für das Schlafleben 
der Natur hat man es flir den Idealzustand und Urgrund alles 
Seins und den Traum ftlr den Ausfluss göttlicher Ki^fte erklärt, 
die entweder dem Menschen von Natur inne wohnen und nur pe- 
riodisch sich äussern, oder während des Schlafes ihm erst mit- 
getheilt werden. UnbewüssteTäuschung und bewusster Schwindel 
beherrschte die allgemeine Ansicht. Auf der anderen Seite hat 
die nttchteme Forschung unbeirrt von phantastischen Schwär- 
mereien die physiologischen Ursachen des Schlafes und 
Traumes zu entdecken versucht und mannigfache Theorien 
aufgestellt ;die Psychologie suchte mit Hülfe der Erfahrung 
den Grundgesetzen des Denkens auf die Spur zu kommen 
und nachzuweisen, welche von ihnen im Traume nicht mehr 
herrschen; die physiologische Psychologie endlich 
wagt es , die Beziehungen zwischen körperlichen und geistigen 
Vorgängen und Vei^nderungen näher zu erforschen , dann das 
Gemeinsame sowie das Verschiedene im wachen Denken, Traum 
und Wahnsinn darzulegen. 

In Deutschland, Frankreich und England hat man 
die Traumfrage einer näheren Erörterung unterzogen , auch in 
Bussland hat sie in jüngster Zeit die Auänerksamkeit der 



— VIII 

Gelehrten erregt. Die darüber handelnden nüchternen Mono- 
graphien aber sind meist — vorzüglich bei nns — geringeren 
Umfangs und enthalten immer nur einzelne physiologische oder 
psychologische Seiten des Traumlebens, nie aber beides zu- 
gleich und in umfassender Weise , während begeistemngsvoUe 
Symbolisirungsversuche massige Werke flillen. In Lehrbüchern 
der Psychologie vollends wird dieses Thema nur gestreift: hier 
und da findet man eine interessante Beobachtung, ein glänzendes 
Aperfu , selten aber eine ausführliche Darstellung aller wesent- 
lichen Eigenihümlichkeiten der nächtlichen Narrheit. 

Nachdem ich in einer psychologischen Gesellschaft einen 
kurzen, auf die Lehrbücher der Psychologie sich stützenden 
Vortrag über diesen Gegenstand gehalten hatte , wurde ich da- 
durch zu der Lectttre der ihn behandelnden Specialschriften 
Sehemer'%, VolielfB, Strümpeir» u. s.w. angeregt. Ich fasste 
den Entschluss , das Zerstreute zu sammeln , zu sichten , meine 
eigenen Beobachtungen, Bemerkungen und Ansichten hinzu- 
zufügen und eine, wenn auch nicht vollständige, alle Einzel- 
heiten umfassende, so doch das Wesentlichste enthaltende 
Schilderung des Traumes und seines Einflusses auf das wache 
Denken in m()glichst gedrängter Kürze zu geben. Die psycho- 
logiBche Seite lag meinem Bildungsgange am nächsten und zog 
mich deshalb mehr an, doch glaubte ich auch die physiologische 
nicht unberücksichtigt lassen zu dürfen. 

Als ich Ostern vorigen Jahres mit der Ausarbeitung ziemlich 
fertig war, kam mir das neu erschienene Werk Dr. H. Spütä'B : 
»Die Schlaf- und Traumzustände der menschlichen 
Seele mit besonderer Berücksichtigung ihres Verhältnisses zu 
den psychischen Alienationen« , Tübingen 1878 — in die Hände. 
Spitta verfolgt hierin den Zweck, welchen ich bei dieser Arbeit 
unter anderen ebenfalls mit im Auge hatte; er beabsichtigt 
nämlich , wie er in der Vorrede sagt, nach dem Verfahren A. Le^ 
moine'B »den durch so viele und feine Gradationen bedingten, 
eontinuirlichen Zusammenhang des Seelenlebens im Schlafe 
und Traume mit den Zuständen des Wachens einerseits sowie 
mit den psychischen Alienationen andrerseits hervorzuheben 
lind , soweit möglich , im Einzelnen aufzuzeigen , den Schlaf- 
und Traumzuständen den ihnen in der Psychologie gebührenden 
Platz na'ch allen Seiten hin intact zu erhalten«. 



IX 

Dieses Werk ist entsehiedeii bedeulmder als die Symbolik 
sinmgSTersüdie Sciemer^n und Volkelf n und inhaltereieher als 
die ttbrigen kleinen Monographien, lässt aber doeh Manehes 
yermissen. Vor allem fehlt darin eine ausreiehende ErOrtemng 
der physiologischen Erseheinnngen bei den Verftadeningen im 
geistigen Gebiete ; femer berttek»chtigt der Verfasser in keiner 
Weise die grosse Bedeutung des Traumes in der Yölkerpsycho* 
logie und bebandelt die ihm rerwandten Zustände der Sinnes^ 
tftuschungen und des Wahnsinns — trotz des Hinweises auf 
»besondere Berücksichtigung a im Titel des Buches — sowie 
manches Andere zu spärlich und immer nur von der psycho* 
logischen Seite. Auch nimmt er als Anhänger Herbarft^ einen 
anderen Standpunkt ein als ich ihn rertreten möchte. In meiner 
physiologisch-psychologischen Untersuchung wollte 
ich gerade die durchgängige Beziehung zwischen körperlichen 
und seelischen Veränderungen darlegen und die Bedeutung ron 
Traumvorstellungen im geistigen Leben des Einzelnen, der 
Völker und der gesammten Menschheit nachweisen; deshalb 
liess ich nun , nachdem ich ron anderen Arbeiten in Anspruch 
genommen, diese eine Zeit lang liegen gelassen, den von Spitta 
nicht oder zu spärlich behandelten Partien besondere Berück- 
sichtigung zu Theil werden. 

Ich fühle mich gedrungen hier meinen herzlichsten Dank 
auszusprechen dem Herrn Hofrath Prof. Dr. M, Heinze, durch 
dessen wohlwollenden Bath ich bedeutende Anregung und För- 
derung in meinen Studien Überhaupt wie bei vorliegender Arbeit 
im besonderen erhielt. 

. Die ethnographischen Details im ersten Gapitel habe ich meist 
aus den völkerpsychologischen Werken Tylor'» und Baatiari^ 
entnommen und sie durch Stellen der classischen Literatur , die 
ich mit Hülfe eigener philologischer Studien sammelte , ergänzt. 
Es mag sein, dass ich für Manchen dabei etwas zu weitschweifig 
werde, doch glaubte ich durch eine Menge von Beweisen die Sätze 
stützen zu müssen , deren Haltbarkeit bei der ersten Kundgebung 
in einer wissenschaftlichen Gesellschaft von Einigen bedeutend 
angezweifelt wurde. Die bei den Darlegungen in den folgenden 
Abschnitten entwickelte Psychologie lehnt sich im wesentlichen 
an die von Herrn Professor Dr. Wundt in seinen Vorlesungen 
vorgetragene und in seinen Werken niedergelegte. 



Bei der Erörterung der Ursachen des Schlafes habe ich 
mich auf die entfernteren beschränkt ; die verschiedenen Hypo- 
thesen über die näheren habe ich im Anhänge dargestellt, 
ohne ein entscheidendes Urtheil über sie fielen zn wollen. 
Wenn somit dem Bache der eigentliche AbscUnss fehlt, indem 
die erwartete Antwort anf eine der gestellten Fragen nicht 
bestimmt gegeben wird , so hoffe ich doch , dass man es nicht 
für werthlose Mühe halten wird , die bis jetzt über diesen 
Gegenstand gemachten physiologischen und psychologischen 
Forschungen zusammenzustellen, zu ergänzen^ Gonsequenzen 
daraus zu ziehen, und das obige Thema mit einer Methode zu 
behandeln, welche man in den bis jetzt darüber erschienenen 
Specialsehriften noch nicht eingeschlagen hat , und die doch 
von Albert Lange in seiner berühmten »Geschichte des Materia- 
lismus« (2. Aufl. Bd. n. Iserlohn 1875. p. 394) und anderen 
hervorragenden Forschem als »einzig Erfolg versprechend« be- 
zeichnet wird. » Diese Methode « , welche Lange die » somatische « 
nennen möchte, »fordert, dass man bei der psychologischen 
Untersuchung sich so weit als irgend möglich an die körper- 
lichen Vorgänge hält, welche mit den psychischen Erscheinungen 
unauflöslich und gesetzlich verknüpft; sind. Man ist aber, indem 
man sie anwendet, keineswegs genöthigt, die körperlichen Vor- 
gänge als den letzten Grund des Psychischen , oder gar als das 
eigentlich allein Vorhandene zu betrachten , wie dies der Ma- 
terialismus thut. Ebenso wenig darf man sich freilich durch 
die wenigen Gebiete, welche der somatischen Methode bisher 
unzugänglich sind, verleiten lassen, hier ein psychisches Ge- 
schehen ohne physiologische Grundlage anzunehmen.« 

Leipzig, im März 1879. 

■ 

Paul Radestock. 



Inhalt. 



^*P* ^' Seit« 

Die Wichtigkeit des Schlafes und die Bedentang des Traumes und 
der ihm verwandten Zustände in individueller und Völker- 
Psychologie, J90wie in der politischen Geschichte 1 

Cap. n. 

Der Traum bei Dichtem und Philosophen 37 

Cap. nL 

Die normale und anormale Beproduction der Vorstellungen. ... 48 

Cap. IV. 

Die Ursachen und charakteristischen Eigenthümlichkeiten des 

Schlafes 70 

Cap. V. 

Die Elemente des Traumes 109 

Cap. VI. 
Der Unterschied des Traumes vom wachen Denken 145 

Cap. vn. 

Ungewöhnliche Träume 170 

Cap. VnL 

Die Verschiedenheit der Träume 196 

Cap. IX. 

Vergleichung des Traumes mit dem Wahnsinn 217 

Cap. TL 

Die träumerischen Zustände des Wachens 229 

Anhang. 
Die neueren Theorien über die näheren Ursachen des Schlafes. . 240 

Anmerkungen 249 



Capitel L 

Die Wichtigkeit des Schlafes ; die Bedeutung des Traumes und 
der ihm verwandten Zustände in individueller und Völker- 
Psychologie sowie in der politischen Geschichte. 

Verschiedenartig ist das Interesse, welches die Worte 
Schlaf und Traum erregen; mannigfachen Gründen kann es 
sein Entstehen verdanken, einen höheren oder niederen Grad 
kann es besitzen, aber ganz geschwunden Ist es noch nie, für 
alle Zeiten und jeden Menschen hat es bestanden und wird es 
bestehen. So lange der menschliche Geist sich zu Erklärungs- 
versuchen der Vorgänge in seinem Körper und in der ihn um- 
gebenden Natur herausgefordert fühlte, hat sich ihm auch die 
Frage aufgedrängt nach der Ursache des Schlafes, des Sorgen- 
brechers, der periodisch wiederkehrend und ein reichlich Theil 
des irdischen Lebens ausfüllend ^ die Thätigkeiten des Orga- 
nismus vermindert, die Erschlaffung der Glieder wie »die Knoten 
der strengen Gedanken« löst und die Menschen mit neuer Kraft 
und neuer Lust zu ihrem Tagewerke erfüllt. Der Traum, 
dieser die Seelenthätigkeit im Schlafe bekundende »gefällige 
Wahnsinn«, steht gleichsam in der Mitte zwischen den norma- 
len und anormalen Geisteszuständen; da er bei allen Indivi- 
duen wiederkehrt, ist er normal zu nennen, und doch weicht 
seine Denkweise beträchtlich von der des Wachens ab und 
nähert sich der des Wahnsinns in einem solchen Masse , dass 
oft nur die Dauer und einige andere unbedeutendere Momente 
es sind, welche sie von einander unterscheiden. Nun darf 
zwar für den Forscher Nichts werth- oder interesselos sein, 
doch ziehen die Zustände seine Aufrnerksamkeit am meisten 
auf sich, welche ihm Gelegenheit bieten, die Regel neben der 

Bftd •stock, Schlaf U.Traum. 1 



Ausnahme bestätigt zu finden und Normales und Anormales in 
ihrem Gegensatze neben einander zu schauen. Alles wird uns 
klarer und deutlicher, wenn wir den Gegensatz dazu erkennen ; 
die Gesetze des wachen Denkens prägen sich daher besser ein, 
wenn man den Traum betrachtet, wo mit ihnen zugleich ihre 
Abweichungen herrschen. Als niedrigste Stufe des anormalen 
Denkens lässt derselbe den Weg erkennen , wie sich Vernunft 
allmählich in Unvernunft verkehrt, er lehrt die Erscheinungen 
des Wahnsinns ihrer Entstehung und ihrem Wesen nach ge- 
nauer erkennen und beurtheilen und bildet in manchen Fallen 
den Ausgangspunkt desselben. Keil sagte: »Wir würden dem 
Bewusstsein und dem Wahnsinn bald auf die Spur kommen, 
wenn wir erst wttssten, was Schlaf, was Wachen sei«. — Der 
Traum ist gleich wichtig für den Psychiatre, der sich mit der 
Untersuchung und Heilung geistiger Krankheiten beschäftigt, als 
für den die Gesetze des normalen psychischen Lebens erfor- 
schenden Psychologen. 

Schlaf und Traum ziehen nicht nur des Forschers Aufmerk- 
samkeit auf sich, — für jeden Menschen, in welchem Lebens- 
alter er stehen, welchem Stande er angehören und welchen 
Beruf er sich erwählt haben mag, bilden sie zwei von den 
Worten und Vorstellungen, welche auf uns einen niächtigen 
Einfluss ausüben, indem sie in der Seele angenehme Erinne- 
rungen und daran sich knüpfende freudige Hoffnungen sehn- 
suchtsvoller Erwartung wachrufen. Nach anhaltender physi- 
scher oder geistiger Anstrengung sehnt sich auch der ener- 
gischste Mann, mag er für die practischen Interessen des Lebens 
oder für die Wissenschaft thätig gewesen sein^ nach Ruhe, 
nach dem »alibezwingendem Schlafe, dessen Herannahen von 
einem so süssen Wohlgefilhl begleitet ist. Ein eigenes, ange- 
nehmes Gefühl eines sanften Druckes lagert sich entweder um 
di« Schläfen zwischen Augen und Ohr und hüllt, sich ausbrei- 
tend, diese Sinne wie in einen Nebel, oder steigt von der Stirn 
beginnend zum Scheitel auf, vei4)unden mit einem ähnlichen 
Gefühl an allen Gelenken des Körpers und dem Halse. Diese 
Wohlgefühle sind es, welche, wie Jean Paul sagt uns das 
Einschlafen mehr gemessen lassen als den Schlaf selbst und 
verursachen, dass wir uns alle mit einer Art von Wollust dem- 
selben hingeben. Wie man am Morgen fast um einen Zoll länger 



geworden ist, da die Zwischenwirbelknorpel, vom Tragen der 
Last des oberen Körpers entbunden , sich wieder frei ausge- 
gedehnt und das ihrer ursprünglichen Gestaltung entsprechende 
Verhältniss angenommen haben, — so ist auch die Kraft ge- 
wachsen. »Die Morgenstunde hat Gold im Munde«, denn mit 
neuer Kraft und Lust ausgertlstet, vermag man in derselben 
Zeit doppelt so viel zu vollbringen als am Abend, wo die phy- 
sischen und psychischen Kräfte erschöpft sind. Man memorirt 
besser und weiss das am Abend Gelernte genauer; während 
man vor dem Schlafe über die zu ergreifenden Massregeln un- 
sicher war, steht nach demselben ein bestimmter Entschluss 
vor der Seele. Die einfache natürliche Ansicht der Dinge wird 
hier weniger durch Klügelei gestört, daher das bekannte Sprich- 
wort bei einem zu fassenden Entschlüsse, man müsse es erst 
»beschlafen«. Der Schlaf erweist sich bei Fiebern, Entzündun- 
gen, Krämpfen und den meisten krankhaften Aufregungen über- 
haupt wohlthätig; die meisten Krisen erfolgen während dessel- 
ben oder durch ihn. Zu wenig Schlaf verursacht Mattigkeit, 
Abmagerung, frühzeitiges Altern, Trübsinn und Verminderung 
der Intensität aller seelischen Functionen; gänzlicher Mangel be- 
wirkt fieberhafte Zustände, Delirien und endlich den Tod. Aber 
auch hier herrscht die goldene Regel »Halte Mass in allen Din- 
gen ((XTjS^v aYttv)«: Schlaffheit, Aufgedunsenheit, Schwere des 
Kopfes sowie Verdrossenheit, Trägheit, Stumpfsinn und «ndlich 
Fühllosigkeit sind Folgen des zu langen Schlafes, der bei man- 
chen Krankheiten geradezu gefährlich ist. 

Das Interesse für den Traum erregt schon das Wunderbare 
seiner Erscheinung und seine Eigenthümlichkeiten gegenüber 
dem wachen Denken. Was hier alltäglich, erscheint dort als 
fremdartig, und was hier als sonderbar und absurd gilt; wird 
dort für selbstverständlich und natürlich gehalten. Die leisen 
Anregungen des Gemüths erneuem sich im Traum, um sich mit 
allerlei Wunderlichkeiten zu verflechten, die innigst gehegten 
Wünsche erscheinen realisiit nnd die Wirklichkeit selbst wird 
verändert, ja oft vollständig verwischt. Für die sensiblen Na- 
turen des schönen Geschlechts, die, nicht an streng logisches 
Denken gewöhnt, sich gern der Phantasie hingeben, wo sie sich 
ihre Ideale verwirklicht vorstellen , ist er ein Gegenstand leb- 
haftester Sehnsucht. Aber auch der abstract denkende Mathema- 



— 4 — 

tiker, der speculative Philosoph, der nüchterne Naturforscher 
und der practische Staatsmann verföllt seinen Faseleien; allen 
löst der neckische Geselle den Knoten der strengen Gedanken 
und macht sie bald zu unerfahmen Kindern, bald zu geistigen 
Halbgöttern, die, mit tiefer Weisheit erfüllt, das Rathen und 
Meinen der Andern in des Irrthums Finsterniss belächeln, dann 
aber beim Erwachen, zu gewöhnlichen Erdensöhnen degradirt, 
diese tiefe Weisheit als grosse Unsinnigkeit erkennen. Oft ist 
dies nicht unerspriesslich : manchen Grübler mag Schlaf und 
Traum, dieser gefällige Wahnsinn, der Gefahr, in seinem Ge- 
dankenkreise sich verirrend, den Ausgang zu verlieren und so 
in wirklichen Wahnsinn zu verfallen, entrissen haben. Er 
lenkt den Gedankenlauf nach einer anderen Richtung hin und 
bringt die psychischen Thätigkeiten wieder ins Gleichgewicht, 
ebenso wie nach geistiger Ermüdung der Spaziergang am meisten 
Erholung verschafft, wo man keine einzelne Vorstellung fiiLirt, 
sondern die Gedanken bald dahin, bald dorthin schweifen lässt. 
Nicht nur im abstracten Denken, sondern auch bei starken Ge- 
müthsbewegungen wirkt der Traum heilsam. Kein Befehl, kein 
Machtspruch des Willens kann diese aus der Seele verbannen 
oder ganz vernichten, nur das vermag es, was ihnen den un- 
bestimmten Charakter entzieht, um sie dem leiblichen und gei- 
stigen Auge klar vorzuhalten. Cicero rühmte mit pathetischen 
Worten, die Stoiker und nach ihnen der grosse Spinoza be- 
wiesen durch ihre grossartige, erhabene Weise, die Bürden des 
Lebens zu ertragen, — dass neben einem thatkräftigen Leben 
das philosophische Reflectiren über die Leiden und Freuden 
des Menschen dieselben mildert, veredelt und ihn weder vom 
Unglück daniedergeschmettert, noch von der Freude übermässig 
erhoben, sondern in gleichmässiger Stimmung doch von beiden 
ergriffen werden lässt. Die psychologische Thatsache, dass 
durch die Vorführung der Affecte in scenischer Darstellung vor 
das Auge und Ohr die gleichen in der eigenen Brust der Zu- 
schauer und Zuhörer schlummernden dem Inneren entzogen, 
befriedigt und zeitweilig gestillt werden, indem sie gleichsam 
im Drama sich selbst darleben, — wollte Aristoteles ausspre- 
chen^ da er (Poet. c. 6) den Zweck der Tragoedie als eine 
»Befreiung von den Affectena bezeichnete^). Es findet eine in- 
nere Entladung der Affecte statt, und so können diese nicht durch 



— 5 — 

längeres AndauerQ die anderen Seelenthätigkeiten behindern. 
Auf ähnliche Weise wirkt der Traum wohithätig: der Zorn, 
mit dem man sich Abends niederlegte, tobt sich im Traum aus 
oder die Gedanken lenken sich von dem Gegenstande desselben 
ab, und so ist er am Morgen meist geschwunden ; das Unglück, 
welches uns am Tage vorher fast ganz zu vernichten drohte, 
hat nur vermocht, das Gefühl einer stillen Wehmuth in uns 
zurückzulassen. Darauf beruht besonders die schmerzenheilende 
Wirkung der Zeit. Die Liebe zieht einen grossen Theil ihrer 
Nahrung aus dem Traum, sie verflicht sich mit allen Gedanken 
und Ideen so innig, dass es dem Wachenden schwer wird, ihre 
feinen und doch starken Wurzeln zu zerstören. »Die Liebe ist 
ein Feuer, das ein Blick entfacht, das Träume nähren und 
Gedanken schüren«, sagt Halm treffend (Der Sohn der Wild- 
niss). Dabei veredelt sie sich, — aus einem rasch verlodem- 
den Strohfeuer wird sie zu einer milden, innig erwärmenden, 
langsam wachsenden und dauernden Gluth. 

Der Traum erscheint in jedem Lebensalter. Das Kind setzt 
die Spiele des Tages auf lachenden Fluren fort, der Jüngling 
und die Jungfrau sehen hier ihre Ideale realisirt, der Mann ent- 
schlägt sich der Sorgen des Daseins und der Greis versetzt sich 
einerseits in die wonnevoiie Jugend zurück, andrerseits blickt 
er oft in einem dem Traum ähnlichen visionären Zustande vor 
dem Tode in die Zukunft, sieht das Schicksal seiner Angehöri- 
gen voraus und geniesst selbst schon die Freuden des Para- 
dieses 2). Dieses allgemeine Vorkommen des Traumes bei jedem 
Individuum und während des ganzen Lebens lässt schon ver- 
muthen, dass die Vorstellungen desselben nicht ohne Wirkun- 
gen im psychischen Leben des Einzelnen und der Gesammtheit 
bleiben. Eine Vorstellung, die einmal im Blickfeld oder Blick- 
punkt des Bewusstseins war, übt, wenn scheinbar auch noch 
so unbedeutend und noch so schnell aus dem Blickfeld ver- 
schwindend, eine Wirkung auf den Complex der übrigen im 
Bewusstsein vorhandenen psychischen Gebilde aus, die in deren 
stetem Wechsel beharrt; nur der Grad derselben ist verschie- 
den. Wenn wir Vieles nicht zu erklären vermögen, so ist ein 
Hauptgrund der Umstand, dass wir Manches für bedeutungslos 
halten. Jedes Geschehende lässt eine Kette von Ursachen hin- 
ter sich und hat eine solche von Wirkungen vor sich, — so ist 



es im physischen; so im psychischen Gebiet. Es ist ein be- 
kannter, viel gebrauchter Satz: »Kleines die Wiege des Grossen«; 
die einzelnen kleinen Ursachen haben jedoch die grossen Wir* 
kungen für sich allein nicht, sondern eine Menge solcher, die 
uns noch unbekannt, zu der einen bekannten hinzukommen, um 
vereinigt Grosses hervorzubringen. Unter derart vereinigt wir- 
kenden Massen von Ursachen in unserer Seele entstammt man- 
ches Element den Träumen. Die Launen und Stimmungen des 
Tages, als deren Grund man gewöhnlich nur die dunklen Ge- 
meingefühle ansiebt; werden zugleich durch vorhergegangene 
Träume veranlasst, wo die während des Wachens dunklen und 
deshalb weniger wirksamen Gemeingefühle über die Schwelle 
des Bewusstseins traten und dadurch die Wirkung ausübten, 
die noch am Tage als solche gespürt wird; während die Ur- 
sachen uns unbekannt bleiben. Von den sogenannten Idiosyn- 
krasien — der Sympathie und Antipathie — hat man schon 
gefunden , dass sie zuweilen auf unwillkürlichen Associationen 
beruhen; die Vorstellungen, welche sich dabei associiren, sind 
nicht selten aus dem Traum entnommen. Wenigstens habe ich 
bemerkt, dass solche Associationen mit vergangenen Traumvor- 
stellungen häufiger vorkommen, als man zugestehen möchte. 
Es ist mir beim Spaziergang im freien Laufe der Gedanken und 
auch sonst vielfach eingefallen, dies oder jenes schon einmal 
gesehen, gehört, gedacht zu haben, ohne dass ich mich erinnern 
konnte, wann, wo und bei welcher Gelegenheit. Als ich nun 
während der Beschäftigung mit vorliegender Arbeit ein möglichst 
genaues Traumverzeichniss führte, sah ich bei derartigen Vor- 
kommnissen in diesem nach und fand wirklich meine Ver- 
muthung meist bestätigt, dass ich nämlich Aehnliches früher 
geträumt hatte. 

Bedeutend mag der Einfluss der Traumvorstellungen nament- 
lich bei denen sein, welche während des Wachens dieselbe 
Thätigkeit der Seele als sich^im Traum äussert; die Phantasie, 
hauptsächlich üben, — also bei Dichtem und Künstlern. Goethe 
berichtet von sich selbst aus der Zeit der Abfassung seines 
»Prometheus«: »Was ich wachend am Tage gewahr wurde, bil- 
dete sich sogar öfters Nachts in regelmässige Träume, und wie 
ich die Augen aufthat, erschien mir entweder ein wunderliches 
neues Ganze, oder der Theil eines schon Vorhandenen.« In 



Bezug auf die Tonklliisüer hat der Einlluss seinen Ausdruck 
gefunden in der Sage von der Entstehung der »Teufelssonate« 
Tartini^s. Man erzählt nämlich, als dieser berühmte Künstler 
sich einst am Abend vergebens mit der Setzung eines Ton- 
stücks abgemüht habe, sei. der Teufel ihm im Traum erschienen 
und habe ihm etwas vorgespielt mit der Frage, ob er auch so 
spielen konnte. Erwacht habe Tartini sofort dieses ihm vor- 
gespielte Stück, das er vollständig in der Erinnerung behalten, 
aufgesetzt, und so sei die Sonate ihm im Schlafe bescheert 
worden. Von Raphctel sagt man, dass er über hundert einzelne 
Schönheiten zu einem Gemälde combinirt habe, — Aehnliches 
wird auch von anderen Künstlern erzählt. In Bezug hierauf 
möchte ich Jean Paul gern beistimmen, welcher meint, dass 
dieses »Zusammenstücken« unmöglich habe geschehen können, 
ohne dass Raphael ein Urbild dieser Schönheit selbst im Geiste 
vorher gehabt habe, welches er nun aus der Erinnerung durch 
Combination zu realisiren strebte', und dass er dieses Urbild 
jedenfalls im Traume geschaut habe. Manches Traumerzeugniss 
ist in unsere Literatur übergegangen, wie mancher Gedanke 
nur ein Wiedererscheinen des im Traume gebildeten ist. 

Nicht nur die in der Literatur zu Tage tretenden Traum- 
vorstellungen hervorragender Geister, sondern auch die jedes 
anderen Menschen haben bei der geistigen Entwickelung der 
Völker und der ganzen Menschheit einen von den Factoren aij- 
gegeben, welche man in der Gesammtheit — soweit sie uns 
bekannt sind — in Werken der Völkerpsychologie nachzuweisen 
sucht, Besonders fällt uns hier in die Augen ihr Einfluss bei 
der Bildung^ Entwickelung und Verbreitung reli-^ 
giöser Vorstellungen und Begriffe. Wenn manche 
ihnen unerklärliche Gedanken und Glaubenssätze für Offenbarun- 
gen Gottes halten, so ist dem Forscher eine Richtschnur ge- 
geben in dem Ausspruch, welchen Plato in seinem Dialog 
»Cratylus« den Sokrates thun lässt ^) : dass es zwar sehr bequem 
sei, bei schwer erklärbaren Dingen einen Gott einzuführen, der 
das Räthsel löse, bei wissenschaftlichem Streben aber diese be- 
queme Art ganz ausgeschlossen werden müsse. Allerdings darf 
sich Niemand anmassen , Alles erklären zu wollen , es giebt 
Fragen, die wir vielleicht nie lösen werden, und der mensch- 
lichen Erkenntnis« sind Grenzen gezogen , — allein man darf 



— 8 ~ 

diese Grenzen nicht aus eigener Bequemlichkeit innerhalb des 
Erklärbaren hineinversetzen und bei schwer Verständlichem so- 
fort ein Wunder statuiren. Bei der Frage nach dem Ursprung 
des Glaubens an ein Fortleben nach dem Tode liegt es daher 
dem Forscher fem, die Antwort sich dadurch leicht zu machen, 
dass er etwa die Unsterblichkeit der Seele für Gottes Offenba- 
rung und Verheissung erklärt, er sucht vielmehr die psycho- 
logischen Bedingungen und Gesetze aufzufinden, nach welchen 
die menschliche Seele sich selbst diesen Glauben erschuf. Vielen 
mag es paradox erscheinen, wenn ich mit Tylor behaupte, dass 
Traumvorstellungen bei der Bildung des Unsterblichkeits- 
glaubens einen Hauptfactor abgaben, und doch geht dies aus 
den zahlreichen uns vorliegenden ethnographischen Details so- 
wie aus vielen Stellen der Literatur des Alterthums unzweifel- 
haft hervor^). Ist es ja auch gar nicht so fem liegend, dass 
der Mensch durch Träume zu der Annahme einer Fortdauer der 
persönlichen Existenz nach dem Tode gedrängt wurde! War 
Jemandes Verwandter, Freund oder Feind gestorben und die 
Seele beschäftigte sich noch lebhaft mit dem Gedanken an ihn 
und der Erinnerung an die aussergewöhnliche, in die Monotonie 
des Lebens gewaltsam eingreifende und deshalb das Interesse 
auch des sonst Unbetheiligten in Anspruch nehmende Bestattung 
desselben, — so war es natürlich, dass sie den Todten im 
Traum lebhaft und leibhaft vor sich sah. — Die Neger in Süd- 
Guinea deuten alle ihre- Träume als Besuche der Geister ihrer 
abgeschiedenen Freunde. Eine alte Indianerin in British-Golum- 
bia liess den Medicinmann holen, um die Todten zu vertreiben, 
die jede Nacht zu ihr kamen. — Für den Naturmenschen ist 
das, was dem cultivirten oft schwer genug fällt, die Unter- 
scheidung zwischen subjectiver Vorstellung und objectiver Wirk- 
lichkeit, meist ein unlösbares Problem, da er^ den Eindrücken 
seiner Sinne hingegeben, alles für wahr hält, was ihm diese 
vorspiegeln und es ihm fast nie beikommt, einen Zweifel daran 
zu hegen. Für ihn hat die Gestalt des Verstorbenen, der ihm 
im Traum oder in den diesen verwandten visionären Zuständen 
erscheint, ebenso objective Realität als er selbst. Wenn nicht 
Alle solche Erscheinungen hatten^ so glaubte man, wenn sie 
von Anderen erzählt vvurden, diesen gerade wegen der Unge- 
wöhnlichkeit, und man bildete sich am Ende eiU; sie selbst 



— 9 — 

gehabt zu haben; Beispiele von EinbildungeD, welche auf solche 
Weise entstanden, lassen sich in grosser Menge bei allen Völ- 
kern nachweisen. Andrerseits rief auch das Erzählen der 
Träume und das öftere Sprechen von denselben ähnliche Er- 
scheinungen bei Mehreren hervor und die Realität derselben 
wurde dadurch ausser Zweifel gestellt. 

Da die Gestalten bei wachen gesunden Sinnen verschwan- 
den und den Eindrücken des Tages gegenüber schattenhaft er- 
schienen, — schon die Erinnerungsbilder des Wachens^ welche 
treuer sind als die des Traumes, haben etwas Luftiges und Ge- 
hauchtes^) — so musste man ihnen eine von den wirklichen 
irdischen Wesen verschiedene Qualität beilegen. 

Die Seelen der Todten hatten nicht die dichte, robuste 
Natur des Körpers, aber der der Abstraction noch nicht fähige 
Geist konnte sich auch keine andere Vorstellung als die eines 
Körpers bilden^ man bezeichnete sie daher als feiner und äthe- 
rischer als den irdischen Leib. 

Nach dem Volksglauben aller Zeiten und alier Orten haben 
die Seelen dieselbe Körperlichkeit wie wir, nur feiner, nebel- 
hafter und verschwommener. — Die grönländischen Geisterseher 
schildern die Seele, wie sie ihnen in Visionen erscheint, als 
bleich und weich; man fühlt Nichts, wenn man sie ergreifen 
will, da sie kein Fleisch und Bein hat. Die Gariben dachten 
sich die Seele nicht so immateriell, dass sie unsichtbar wäre, 
aber doch subtil und dünn wie einen geläuterten Körper. Die 
Tonganesen stellten sie sich als den feineren oder mehr luft- 
förmigen Theil des Leibes vor, der denselben plötzlich im 
Moment des Todes verlässt, etwa vergleichbar dem Duft einer 
Blume gegenüber dem festeren vegetativen Gewebe. Nach der 
Vorstellung der etwas höher stehenden Siamesen bestehen die 
Seelen aus einer feinen Materie, die sich dem Auge und dem 
Gefühl entzieht, oder sie sind an einen sich schnell bewegen- 
den luftförmigen Körper gebunden. In freundlicher Gesinnung 
fegte der Gongoneger ein ganzes Jahr nach einem Todesfalle 
das Haus nicht, damit der Staub der zarten Substanz des Geistes 
nicht schade ; die Tonquinesen vermieden die Reinigung des 
Hauses während des Festes, wo die Seelen der Verstorbenen 
zur Neujahrsvisite in ihre alten Wohnungen zurückkehrten ^) 
Wie Wutthe sagt, haben die Geisler der Todten für den euro- 



— 10 — 

päischea Bauer eine nebelhafte und verschwommene Körperlich- 
keit, denn sie haben so gut Leiber wie wir, nur von anderer 
Art; sie essen und trinken, kennen verwundet, ja selbst ge- 
tddtet werden. Unter den Kirchenvätern bezeichnet Irenaeus 
die Seelen als unkörperlich im Vergleich mit sterblichen Leibern 
und Tertullian erzählt eine Vision einer montanistischen Prophe- 
tin, in welcher dieselbe die Seele unkörperlich, dünn und leuch- 
tend, von luftiger Farbe und menschlicher Gestalt gesehen hatte. 
Ein englisches Gedicht des vierzehnten Jahrhunderts — «der 
Biss des Gewissens« (The Ayenbite of Inwyt) — weist darauf 
hin, dass die Seele wegen der Feinheit ihrer Substanz im 
Fegefeuer besonders zu leiden habe: 

»Die Seele ist zarter und weicher 

Als der Körper, der Fleisch und Bein hat; 

So muss die Seele, da sie von so zarter Art ist, 

Nothwendig ihre Strafe härter empfinden 

Als irgend ein Körper, der je am Leben war« 7). 

Der Spiritualist Swedenborg sagte, dass des Menschen Geist 
nach dem Tode in vollkommen menschlicher Gestalt fortlebe. 
Bei den ältesten griechischen Philosophen ist die Seele Luft oder 
Feuer oder Aether, immer aber bleibt sie ein Stoff, mag man 
denselben auch noch so sehr zu verflüchtigen suchen und ihn 
dadurch zu vergeistigen meinen. Unter den späteren hatte 
Epicur die Meinung, dass »die, welche die Seele für unkörper- 
lich erklären, albern reden, denn sie könnte Nichts thun oder 
leiden, wenn sie so beschaffen wäre«^). 

Bei Homer erscheint dem Achilles im Schlafe die Seele des 
Patroclos, ihm ganz gleich an Gestalt, Stimme und Kleidung, 
doch als er seine Hände verlangend nach dem Freunde aus- 
streckt, entflieht die Erscheinung »wie ein Dunst« ^). 

Als Odysseus die Unterwelt besucht, kommt ihm an der 
mit Blut gefilllten Grube die Seele seiner Mutter Antideia ent- 
gegen, »einem Schatten oder auch einem Traumbild ähnlicha, 
und belehrt ihn, dass die Seele des Todten in der Gestalt des 
früheren Körpers, aber ohne Knochen und Fleisch, welche das 
Feuer verzehrt, »wie ein Traumbild« in den Hades hinab- 
steigt. Dem Aeneas, der bei der Zerstörung Trojas die ver- 
irrte Greusa sucht und in furchtbarer Aufregung lange Zeit um- 
hereilt, erscheint der Schatten der Gemahlin; als er aber 



— 11 — 

nach ihm fasst, entweicht er gleich den leichten Winden und 
»dem geflügelten Traumbild«^^). — An anderen Stellen wer- 
den die Traumbilder Schatten genannt (Aen. IV. 571). Die 
Erscheinungen des Träumenden haben etwas Schattenhaftes ge- 
genüber den sinnlichen Wahrnehmungen im Wachen, und so 
wird »Schatten« ein Ausdruck für die Seele, welche losgetrennt 
vom irdischen Leibe im Schlafe umherwandelt um Anderen 
Visiten zu machen, und nach dem Tode ihren Wohnsits in den 
Hades aufschlägt. — Der Tasmanier gebraucht sein Wort Schat- 
ten zugleich für den Geist. Die Algonkin-Indianer nennen die 
Seele eines Menschen otahtschuk, »seinen Schatten«; in der 
Quiche-Sprache dient natub für »Schatten, Seele«; das arawa- 
kische ueja bedeutet »Schatten, Seele, Bild«; die Abiponer hat- 
ten nur ein Wort loäkal für »Schatten, Seele, Echo, Bild«. Die 
Sulus gebrauchen nicht nur das Wort tunzi für »Schatten, Geist, 
Gespenst«, sondern sie nehmen auch an, dass beim Tode der 
Schatten auf irgend eine Weise aus der Leiche herausfährt, um 
ein Ahnengeist zu werden. Die Basutos nennen den nach dem 
Tode übrig bleibenden Geist den seriti oder »Schatten«; in AU- 
Calabar findet sich dieselbe Identificirung des Geistes mit dem uk- 
pon oder »Schatten«, dessen Verlust für den Menschen sehr ge- 
fährlich ist^^). — Der Naturmensch identificirt beide Begriffe, 
der civilisirtere vergleicht nur, etwa ähnlich wie es bei krank- 
haften Störungen vorkommt, dass z. B. der Hypochonder seine 
krankhaften Gefühle und Empfindungen mit Thieren, welche in 
seinem Körper wohnen und ihn belästigen, nur vergleicht, der 
Wahnsinnige aber, bei welchem die geistige Störung weiter 
fortgeschritten, die beiden Vorstellungen gleichsetzt und fest 
an die Wirklichkeit dieser Thiere in und an seinem Körper 
glaubt. 

Die Seelen der Abgeschiedenen haben alle Eigenschaften 
der Traumerscheinungen; sie besitzen Stimmen und sprechen, 
da man sich im Traum mit ihnen unterhält, sie weinen und 
klagen, sind bekleidet und in voller Rüstung wie in diesem 
Leben. Aber diese Eigenschaften sind ihrer ätherischen, schat- 
tenhaften Natur angepasst. Die Stimme ist ein »dumpfes Mur- 
meln«, das Geräusch bei ihrer Bewegung gleicht nicht dem bei 
der Bewegung eines Menschen, sondern eines Vogels. Bei 
Homer enteilt die Seele »schwirrend, zwitschernd« in den 



— 12 — 

Hades ^^j. Die Abiponer in Südamerika halten die des Nachts 
mit traurigem Gezische umherflatternden Enten für die Seelen 
der Todten; einer derselben hörte einst einen verstorbenen 
Spanier auf seinem Grabe jede Nacht mit kläglichem Geschrei 
umherreiten. In dem Geschrei der Vögel in der Höhle von 
Guacharo hören die Indianer von Gumana die Seelen der Ver- 
storbenen. Die Algonkin-Indianer Nordamerika^s konnten die 
Schattenseelen der Verstorbenen wie Heimchen zirpen hören. 
Auf Neuseeland äussern sich die Geister der Todten, wenn sie 
sich mit den Lebenden unterhalten, in pfeifenden Tönen ; und 
diese Aeusserungen durch ein quiekendes Geräusch werden 
auch anderswo in Polynesien erwähnt. Die Familiargeister der 
Wahrsager bei den Süius sind Manen von Vorfahren, welche 
in einem dumpfen, pfeifenden Tone, der nicht ganz Pfeifen 
ist, reden, woher sie ihren Namen Mmilozi« oder »Pfeifer« 
haben i^) . 

Die im Traum erscheinenden Verstorbenen sind bald von 
derselben Gestalt wie im Leben (II. XXIII, 66 etc.), bald grös- 
ser [Virg,^ Aen. II, 773, Ovidj Fast. II, 503). Sogar die Ver- 
wundungen und Verstümmelungen des irdischen Körpers zeigt 
die Seele. Die Indianer Brasiliens glauben, dass die Todten in 
der anderen Welt verwundet oder in Stücke gehackt ankom- 
men, überhaupt so, wie sie diese Welt verliessen. Der Austra- 
lier schneidet, wenn er seinen Feind erschlagen hat, dem 
Leichnam den rechten Daumen ab, damit der Geist, obgleich 
er ihm immer feindlich gesinnt bleiben wird , nicht mehr den 
Schattenspeer werfen kann. Der Neger fürchtet ein langes 
Krankenlager vor dem Tode, das ihn schwach und mager in 
die andere Welt schickt. Die Sklaven eines westindischen 
Pflanzers suchten, wie Waüz in seiner »Anthropologie der Na- 
turvölker« (Bd. II, S. 494) erzählt, durch Selbstmord Befreiung 
aus ihrem Elende; der Weisse schreckte sie dadurch ab, dass 
er den Leichen Kopf und Hände abschnitt und nach ihrem 
Glauben somit ihre Seelen nach dem Tode verstümmelte. Die 
Chinesen haben aus demselben Grunde eine besondere Angst 
vor der Enthauptungsstrafe; ein Verbrecher in Amoy bat, da- 
mit seiner Seele kein Glied fehle, selbst um den grausamen 
Kreuzestod. Die Seele des Patroclos erscheint dem Achilles in 
derselben Gestalt, die er im Leben hatte. So lässt auch Shake- 



— 13 — . 

speare den Geisl von Hamlets Vater von Kopf bis zu Foss be- 
waffnet erscheinen: 

»Genau so war die Rüstung, die er trug, 
Als er sich mit dem stolzen Norweg mass«. 

Da man den Todten an einer anderen Stelle begrub, als er 
dem Lebenden. erscheint, so muss er nach dem Glauben des 
Naturmenschen offenbar wandern, wenn er seinen Verwandten 
und Freunden einen Besuch abstattet, um sie zu trösten und 
ihnen einen Rath zu geben — oder seinen Feinden, um sie zu 
schelten und zu strafen. 

Nicht nur von Todten träumt der Mensch, sondern auch 
von Lebenden. Er sieht Freunde und Feinde, die eine mehr 
oder minder grosse Entfernung von ihm trennt, im Traum leib- 
haftig vor sich und kann dies doppelt erklären: entweder er 
betrachtet es als Besuch der Person, von welcher er träumt^ 
oder er nimmt an^ seine eigene Seele habe während des Schlafes 
einen Ausflug gemacht. Die Qualität dieser Seele, des einen 
Theils seiner Persönlichkeit, welche Erholungs- und Entdeckungs- 
reisen machte, während nach der Versicherung Anderer der Leib 
ruhig da lag, bestimmt er nach Analogie des Schattens eines 
Abgeschiedenen, welcher ihm im Traum oder in Visionen er- 
schien. Manche Grönländer werden, wie Cranz bemerkt, durch 
ihre lebhaften Träume zu dem Glauben veranlasst, dass die 
Seele Nachts den Leib verlasse, um auf die Jagd, den Tanz und 
zum Besuch zu fahren. Bei den Indianern Nordamerikas hören 
wir, dass die Seele der Träumenden den Leib verlässt und nach 
Dingen umherwandelt, die ihr anziehend erscheinen. Diese 
Dinge muss man sich im wachen Zustande zu verschaffen suchen, 
damit' die Seele nicht unruhig werde und den Leib ganz ver- 
lasse. Die Neuseeländer meinten, die träumende Seele entferne 
sich aus dem Leibe und kehre wieder zurück, nachdem sie ins 
Todtenreich gewandert ist, um sich dort mit ihren Freunden zu 
unterhalten. Die Tagalen auf Luzon erklären, man dürfe einen 
Schlafenden nicht wecken, weil seine Seele abwesend sei. Nach 
der Ansicht der Karenen bestehen die Träume in dem, was der 
»lä« auf seinen Reisen währ^id des Schlafes sieht und 'erfährt. 
Der Fidschi-Insulaner glaubt, dass der Geist eines Lebenden den 
Leib verlassen kann, um andere Leute im Schlafe zu stören. 



— 14 — 

Der Sulu wird zuweilen von dem Schalten eines Ahnen, dem 
Itongo, besucht und vor einer Gefahr gewarnt, oder der Itongo 
nimmt ihn im Traum mit sich, um sein entferntes Volk zu be- 
suchen. In Manilla sah ein Indianer beim Erwachen nur die 
eine Hälfte seines Gefährten neben sich liegen, da die andere 
— vom Nabel aufwärts — als Tigbalang fortgeflogen war, und 
als er die zurückgebliebene mit Asche bedeckte, richtete der 
wiederkehrende Theil Drohungen an ihn, da er selbst die Asche 
nicht entfernen konnte , um sich wieder mit dem anderen zu 
vereinigen. Die Seele des Hermotimos von Glazomenae soll von 
Zeit zu Zeit ausgegangen sein, ferne Gegenden zu besuchen; 
als man einst den Körper auf dem Scheiterhaufen verbrannte, 
fand die arme Seele bei ihrer Rückkunft keine Wohnung mehr. 
Nach einer von Grimm angeführten deutschen Sage ging aus 
dem Munde des schlafenden Königs Gunthram dessen Seele in 
Gestalt eines Schlängeleins hervor, überschritt den Bach auf dem 
von dem Diener über denselben gelegten Schwerte, lief in einen 
Berg und kehrte bald auf demselben Wege in den Körper des 
Schlafenden zurück, während dieser träumte, dass er über eine 
eiserne Brücke in einen mit Gold gefüllten Berg gehe. Schind- 
ler erwähnt ein Volksmährchen , wonach die Seele in Gestalt 
einer rothen Maus aus dem Munde einer Magd herauslieft^). 

Aus den Erscheinungen der Seelen Abgeschiedener ergab 
sich die Vorstellung, dass dieselben noch auf der Erde ihr 
Wesen treiben und ihre Haupttummelplätze die Begräbnissstellen 
des Leibes und die Aufenthaltsorte während des fleischlichen 
Lebens bilden. In Nordamerika glaubten die Tschikasawen, 
dass die Geister der Todten in ihrer leiblichen Gestalt sich mit 
grossem Wohlbehagen unter den Lebenden bewegten ; die Aleu- 
ten-Insulaner stellten sich vor, dass die Seelen der Verstorbenen 
ungesehen unter ihren Verwandten umherwandelten und sie auf 
ihren Reisen zu Wasser und zu Lande begleiteten. Die Afri- 
kaner meinen^ die Seelen der Todten wohnen mitten unter ihnen 
und speisen bei ihren Mahlzeiten mit ; die Chinesen bezeigen 
den Geistern ihrer Verwandten, die in der Halle der Vorfahren 
anwesend sind, ihre Ehrfurcht. Glaubt ja doch auch die Menge 
der Spiritisten Amerikas und Europas in einer Atmosphäre zu 
leben, die von Geisterschatten durchschwärmt wird! 

Aber das Zusammensein mit den Todten ist nicht gut und 



— 15 — 

der Lebende fühlt sich nicht immer wohl im Umgang mit Geistern, 
deshalb erfand man manche Kunstgriffe, um sich ihrer Gesell- 
schaft zu entledigen. In Alt-Calabar war es Sitte, dass der 
Sohn das Haus des Vaters verfallen Hess, nach zwei Jahren 
aber konnte er es wieder aufbauen, da man glaubte, dass der 
Geist dann schon fortgezogen sei. Die Hottentotten verliessen 
das Haus eines Todten und vermieden es, dasselbe zu betreten, 
da der Geist darin wohne. Die Jacuten Hessen die Httite in 
Trümmer fallen^ wo Jemand den Geist aufgegeben hatte, da sie 
dieselbe von Dämonen bewohnt hielten; von den Karenen er- 
zählt man, dass sie ihre Dörfer zerstörten^ um die Nachbarschaft 
der Seelen Verstorbener loszuwerden. Die Grönländer schaffen 
den Todten durchs Fenster^ nicht durch die Thür hinaus, wäh- 
rend ein altes Weib einen Feuerbrand hinterher schwingt und 
ausruft: »pickleruck pock«^ d. h. »hier ist nichts mehr zu haben«; 
die Hottentotten entfernen den Todten aus der Hütte durch eine 
Oeffnung, die sie brechen, um ihn zu verhindern, den Rückweg 
zu finden ; die Siamesen brechen in derselben Absicht eine Oeff- 
nung in die Wand des Hauses, um den Sarg hindurchzuschaf-r 
fen, den sie dann in rasender Eile dreimal rund um das Haus 
tragen; die sibirischen Tschuwaschen schleuderten dem Leich«- 
nam einen glühend rothen Stein nach, um ihm die Rückkehr 
abzuschneiden. Die Ureinwohner von Queensland peitschten in 
einem jährlich wiederkehrenden Scheinkampfe die Luft, um die 
Seelen zu verscheuchen, welche der Tod seit vergangenem Jahre 
in Freiheit gesetzt hatte. . Wenn die nordamerikanischen Indianer 
einen Feind zu Tode gemartert hatten, liefen sie schreiend und 
mit Stöcken schlagend umher, um den Geist wegzuscheuchen ; 
sie stellten Net^e um ihre Hütten herum auf, um die abgeschie- 
denen Seelen der Nachbarn zu fangen und fern zu halten; in 
der Meinung, dass die Seele eines Sterbenden durch das Dach 
des Wigwams fortziehe, schlugen sie gewöhnlich mit Stöcken an 
die Wände desselben, um sie fortzutreiben; es geht sogar der 
Wittwe^ welche von der Bestattung ihres Gatten zurückkehrt; 
Jemand nadi und fährt ihr mit einer Hand voU Zweigen wie 
mit einer FUegenklappe um den Kopf, um den Geist ihres Gatten 
von ihr zu treiben, damit sie wieder Freiheit hat zu heirathen. 
— Brandenburgische Bauern giessen hinter dem Sarge vor der 
Thür einen Eimer Wasser aus, um den Geist am Umgeben zu 



— 16 — 

verhindern; pommersche Leidtragende lassen, wenn sie vom 
Kirchhof zurückkehren, Hirsenstroh hinter sich zurttck, damit 
die wandernde Seele darauf ruhen und nicht bis nach Hause 
zurückkehren möge^^). In der alten und mittelalterlichen Welt 
riefen die Menschen neben solchen Mitteln häufig noch die un- 
natürliche Hülfe an, indem sie den Priester baten, eindringende 
Geister zu beruhigen oder zu verbannen. 

Diese das eigentliche Leben des Sterblichen bewirkende 
Seele, welche über Raum und Zeit erhaben^ nach dem Tode 
ewig dauert, und während des Lebens frei in den entlegensten 
Gegenden wandeln und das Entfernteste zu schauen im Stande 
ist, gilt als der vorzüglichere Theil der menschlichen Persön- 
lichkeit gegenüber dem Körper, der als Gefängniss sie hindert, 
ihre Freiheit in vollem Maasse zu gebrauchen, so dass sie wäh- 
rend des irdischen Daseins nur im Schlafe und in Krankheit 
von den Banden des Leibes befreit, ihr eigentliches Wesen 
zeigen und sich höherer Erkenntniss erfreuen kann. Das war 
die Ansicht, die Plato aussprach^®) und der viele nachher hul- 
digten. 

Auf der andern Seite jedoch kann dem Menschen dieses 
unstete Wandern als mühselig und mit weniger Glückseligkeit 
verbunden erscheinen. Die Grönländer bedauerten die armen 
Seelen, die im Winter oder im Sturm über das schreckliche 
Gebirge mussteU; von wo die Todten nach der andern Welt 
hinabsteigen; denn da kann auch eine Seele zu Schaden kom- 
men und jenen zweiten Tod sterben, bei dem gar nichts übrig 
bleibt^ und das wird für das Schmerzlichste von allem gehal- 
ten. Es bildete sich überall die Ansicht aus, dass die Todten 
einen festen Wohnsitz hätten und nur durch besondere um- 
stände zu einem stetigen, ruhelosen ümherwandeln oder zu 
einzelnen Besuchen bei den Lebenden veranlasst würden. Den 
Grund zu ersterem kann besonders der Mangel der Bestattung 
des Leichnams und der schlechte Charakter während des irdi- 
schen Lebens bilden. Zu allen Zeiten hat das Gefühl geherrscht, 
dass unbestattete Seelen, namentlich solche ^ die eines gewalt- 
samen oder vorzeitigen Todes gestorben sind, schädliche oder 
böse Wesen seien ; sie sind gegen ihren Willen aus dem Körper 
vertrieben worden und haben Zorn und Bachsucht in ihre 
neue Existenz mit hinüber genommen. Bei einigen australischen 



— 17 — 

Stitomen sind die bösen Geister, welche in menscblicber Ge- 
stalt, aber mit langem Schwanz und langen aufrechten Ohren 
den Lebenden nur Böses zufügen, meist Seelen von verstor* 
benen Eingebornen, deren Leichen unbeerdigt liegen gelassen 
sind oder deren Ted von dem nächst verpflicbMen Blutsver- 
wandten nicht gerächt worden ist. In Neu-Seeland fand man 
auch den Glauben, dass die Geiste von Unbeerdigten oder in 
der Schlacht Getödteten und Verzehrten umherwandem mUss- 
ten; solche bösartige Seelen an den heiligen Begräbnissott zu 
bannen war eine Aufgabe, die der Priester mit seinen Zauber- 
mitteln vollbringen musste. Die grösste Sorge der Irokesen 
in Nordamerika ist, die Leichen der im Kampfe Gefallenen zu 
bestatten. Unter den brasilianischen Stämmen soll der Glaube 
herrsehen, dass die Schiften der Todlen ruhelos umherwan- 
dem bis sie begraben sind. In den turanischen Gebieten 
Ostasiens schweben die Geister der Todten, welche keine Buhe- 
stätte gefunden hab^i, über dem Boden hin. In Südasien sagen 
die £arenen, dass die Geister, die auf der Erde wandeln, nicht 
diejenigen sind , die nach dem Lande der Todten gehen, . son- 
dern die Seelen von Kindern, Bösewichten und von solchen, 
die eines gewaltsamen Todes starben, oder die durch irgend 
einen Zufall nicht begraben oder verbrannt wurden. Die 
Siamesen fürditen als übelwollende Geister die Seelen der- 
jenigen, die eines unnatürlichen Todes gestorben oder nicht 
in der vorgeschriebenen Weise bestattet worden sind, und die 
Sühnung begehrend unsichtbar ihre Verwandten heimsuchen 
und erschrecken. Den festesten Halt hatten solche Vorstellun- 
gen im classischen Alterthum, wo es die heiligste Pflicht war^ 
an einem Todten die Beerdigungsceremonien zu erfüllen, damit 
der Schatten nicht wehklagend vor den Thoren des Hades um- 
her flattern oder unter der elenden Menge am Ufer des Ache- 
ron verweilen müsse. Ueberall aber machen nach dem Volks- 
glauben die umherwandemden Geister um Mittemacht den Be- 
gräbnissplatz zu einem Orte, wo den lebenden Menschen Furcht 
und Grauen befällt. 

Unter den vielfachen verschiedenen Ansichten über einen 
beständigen Wohnsitz der Seelen Verstorbener ist auf den 
niedrigsten Stufen der Cultur am meisten die v<Nrherrschend^ 
welche ihn in eine entfemte Gegend der Erde verlegt. Auf 

Badestock, Schlaf n. Traum. 2 



— 18 — 

höheren Stufen schwindet sie allmählich; die fortschreitende 
Renntniss in der Geographie verdrängt die Geister aus den 
irdischen Gebieten und lässt ihnen -nur noch oberhalb und 
unterhalb der Erde Platz. Länger erhält sich die ihr in Bezug 
auf weite Verbreitung unter den wilden Stämmen zunächst fol- 
gende Vorstellung von einem unterirdischen Hades , der von den 
Geistern der Todten bewohnt wird. Weniger allgemein ist 
unter den Naturvölkern der Glaube, der über die Erde hinaus- 
geht und die Seelen auf Sonne und Mond oder in ein festes 
Himmelsgewölbe versetzt. 

Wenn das Land der Seelen auf die Oberfläche der Erde 
verlegt wird, so erwählt man dazu abgeschlossene Thäler, weit 
entfernte Ebenen oder Inseln. — In den Rocky Mountains 
wohnt Wacondah, der Herr des Lebens, und dorthin klimmen 
die Seelen der Todten auf mühseligen Pfaden empor zu den 
herrlichen Jagdgebieten, ungesehen von lebenden Wesen. Als 
einst bei den nordamerikanischen Indianern ein Algonkinjäger 
seinen Leib eine Zeit lang verliess und das Land der Seelen 
im sonnigen Süden besuchte, sah er schöne Bäume und Pflan- 
zen vor sich, durch die er hindurchging; dann erreichte er 
mit seinem Canoe die schöne und glückselige Insel, wo keine 
Kälte, kein Krieg, kein Blutvergiessen herrscht. In den Ber- 
gen Mexikos verborgen lag das glückliche Gartenland Tlalokan, 
der Wohnsitz der Todten, wo alle Früchte in Fülle vorhanden 
waren. Dem Columbus beschrieben die Bewohner von Haiti 
ihr Coaibai, das Paradies der Todten in den reizenden west- 
lichen Thälern ihrer Insel, wo die Seelen, bei Tage zwischen 
den Felsen verborgen, des Nachts herabkamen, um sich von 
der köstlichen Frucht des Mamay-Baumes zu nähren. Nach 
dem Glauben der Chilenen geht die Seele westwärts über das 
Meer nach Gulcheman, dem Wohnplatze der Todten jenseits 
der Berge. — Die tonganische Legende erzählt, dass vor lan- 
ger Zeit ein Boot auf der Rückkehr von Fidschi durch die 
Gewalt des Sturmes nach Bolotu, der Insel der Götter und 
Seelen, getrieben wurde, welche in dem Meere nordwestlich 
von Tonga liegt. Auf dem Gunung Danka, einem Berge in 
West-Java, befindet sich ein solches irdisches Paradies. — Im 
classischen Alterthum herrschte der Glaube an ein Paradies 
auf den Inseln der Seligen im fernen westlichen Ocean. 



— 19 — 

Hesiod erzählt in seinen »Werken und Tagen« von den Halb- 
göttern des vierten Zeitalters. Als dies Heroengeschlecht dem 
Tod anbeim6el, gewährte ihnen Zeus an dem Ende der Erde 
Leben und Heimat, getrennt von dpn Menschen und fem von 
den Unsterblichen. Dort herrscht Kronos über sie, und sie 
wohnen sorglos auf den Inseln der Glücklichen, am Strande 
des tief aufrauschenden Meeres — selige Helden, für welche 
das Getreidefeld, dreimal blühend im Jahre, honigsüsse Frucht 
trägt ^^) . Diese Inseln, welche als Wohnort der seligen Geister 
der Todten bezeichnet werden, identificirte man später mit 
den etysisehen Gefilden. — Noch bis in's Mittelalter lässt sich 
ein Ueberrest dieses Glaubens verfolgen. Es finden sich Le- 
genden vom irdischen Paradiese, das man als den feuerum- 
gürteten Wohnsitz der Heiligen, die noch nicht zur höchsten 
Seligkeit erhoben sind, in den äussersten Osten von Asien 
verlegte , wo Erde und Himmel zusammenstossen. Columbus 
segelte nach Westen, um »den neuen Himmel und die neue 
Erde a zu suchen , er fand sie auch , aber anders als er ge- 
dacht hatte. 

Der Traum war bei der Auffindung dieses Wohn- 
sitzes der Seelen und ihrer Lebensweise nicht minder 
thätig als bei der Bestimmung ihrer Qualität. Das Pa- 
radies ist ein Traumland mit seinen schattenhaften Gemälden 
ohne Realität, für welche die materielle Wirklichkeit die Vorbil- 
der abgab. Die mehr nüchternen Vorstellungen und Gefühle des 
Wachens sind idealisirt; alle Genüsse und alier Comfort sind im 
Paradies in grösster Fülle und die nach den Anschauungen der 
einzelnen Völker verschiedenen Wünsche erscheinen hier sämmt- 
lich realisirt. Neben der Erinnerung an den Hingeschiedenen 
steigen andere Vorstellungen in der Seele des Träumenden 
auf; Empfindungen der verschiedenen Sinne verbinden sieh 
mit Erinnerungsbildern früherer Wahrnehmungen, und es zei- 
gen sich neben der Gestalt des verstorbenen Freundes oder 
Feindes Landschaftsbilder der verschiedensten Art, die ihre 
einzelnen Elemente aus der Erfahrung entnehmen, in ihrer 
Vereinigung aber vielleicht noch nicht geschaut wurden. Nach 
der Ansicht der Naturvölker nun stattet die Seele des Schla- 
fenden der des verstorbenen Freundes oder Verwandten einen 
Besuch ab, bewundert die Pracht und Herrlichkeit seines 

2* 



- 20 — 

Wohnortes, vorplaudert enige Zeit, isat, trinkt und lebt kerr^ 
lioh und in Freuden, bis sie dem Paradies entrttekt und beim 
Erwachen wieder in diese nttebteme Welt versetzt wird. Der 
Indianer besucht seine heijliehen Jagdgebiete: 

»Wo mit Vögeln alle Strfiuche, 

Wo der Wald mit Wild, 
Wo mit Flachen alle Teiche 

Lustig sind gefüllt«, — 

der Tonganese s^e schattige Insel Bolotu, der Grieche betritt 
den Hades unif scdiaut die elysisd^n Gefilde ^ der Christ er- 
Uickt die Höhen des Huaimels und die Tiefen der H^le/ Unter 
den nordamerikanisch^oi Indianern, besonders den Algonkin- 
Stdnunen, sind Erzählungen nidit selten von Mensehen, welehe 
im Traume in das Land der Todten reisten und dann zurück* 
kehrten, um ihren KOrper wieder zu beleben und zu erztthlen, 
was sie gesehen hätten. Der Mohawk-Indianer beschrieb das 
schitoe Land des Paradieses, wie er es im Traum gesehen; 
der Schatten des Odjibwäer verfolgt einen weiten und betre* 
tenen Pfad, der nach Westen führt, er überschreitet ein tiefes 
und reissendes Wasser und wenn er in ein Land gelangt, voll 
Jagd und was der Indianer sonst noch begehrt, so findet er 
dort auch seine Verwandten in ihrem weiten Wohnsitze. Die 
Grönländer haben die Hoffnung, dass ihre Seelen ^n Leben 
besser als auf Erden und ohne Ende führen werden. In dem 
Lande der Seligen herrscht beständiger Sommer, ewig heiterer 
Sonnenschein und keine Nacht, gutes Wasser und Ueberfluss 
an Vögeln und Fischen, Fischottern und Rennthieren, die man 
ohne Schwierigkeit fangen kann oder in einem grossen Kessel 
kochend findet. Die Yuracar^s in Bolivia gehen alle ohne Aus* 
nähme zu einem zukünftigen Leben ein, wo es Jagd im Ueber» 
fluss giebt. Brasilische Waldstämme finden einen herrlichen 
Wald voll Galabassenbäume und Wild, wo die Seelen der Todten 
in Seligkeit bei einander leben. Bei einem Stamme in Süd-» 
westafrika leben die Seelen in Kalunga weiter, in der Welt, 
wo es Tag ist wenn hier uns Nacht umfängt, mit einer Fülle 
von Speise und Trank, Frauen zur Bedienung und Jagd und 
Tanz zum Zeitvertreibe. — Der Skandinavier wird in Wal- 
halla mit den andern Kriegern an jedem Morgen zum Kampf 
ausziehen auf die Ebene Odins ; dann werden Sieger und Be* 



— 21 ~ 

siefste nach dem Kanpfe von dem ewigen Eber essen und Meth 
und Bier mit den Äsen trinken. — Nack dem Glauiien des 
Moslem rahen die Seligen im Paradiese auf Lagern von Gold 
und Eddstein, bedient von ewig jungen Madchen, mit Krügen 
voll Getränk, dess^i Geist niemals des Trinkers Kopf be« 
«ehwert; sie leben unter dem domenlosen Lotusbäumen und 
Bananen, die bis zur Erde mit Frttchten behangen sind, von 
ihren Lieblingflfrttditen sich nährend und vom Fleisch der 
seltensten V(^ei; bei ihnen sind die Huris mit schonen 
schwarzen Augen wie Perlen ^^). 

Solehe freudige Hofihiungen in Bezug auf das Leben nach 
dem Tode sind jedoch nidit allgemein; es giebt auch dttstere 
Yorstellungen von der Portdauer der Seele. Besonders erscheint 
der Aufenthalt der Abgesdiiedenen , wenn er unter die Erde 
verlegt wird, als freudenlos und unangenehm. Nach der Be- 
schreibung der Huronen ist die andere Welt dieser irdischen 
ganz Sbnlich, aber die Seelen stöhnen und jammern Tag und 
Nacht. — Die Gegend von Mictlan, das unterirdische Land des 
Hades, wohin die grosse Menge des mexikanischen Volkes, hoch 
und niedrig, von ihr^n Todeslager hinabzusteigen gedachte, 
war ein Ort, auf den man mit Resignation, aber nicht mit 
Freudigkeit hinblickte. Unter den Basulos ist die vorherrschende 
Ansicht die, dass die Todten in schweigsamer Ruhe umher- 
wandeln und weder Freude noch Schmerz empfinden. Eine 
sittliche Vergütung giebt es nidit. — Ku-to-men, die andere, 
aber nicht <tie bessere Welt der Dahomeer in Afrika, ist der 
nicht gerade paradiesische Wohnsitz der Schatten. Die Nach- 
barn der Dahomeer, die Jorubas, sagen einfach: )>Ein Winkel 
In dieser Welt ist besser als ein Winkel in der Welt der 
Geister«. — Das unlerirdisehe Tuonela, der Wohnsitz der Ver- 
storbenai bei den Finnen, war wie diese Oberwelt; dort 
schien die Sonne, war Land und Wasser, Wrid und Feld, 
Aecker und Wiesen, dort gab es Bären und Wolfe, Schlangen 
und Hechte; aber alles war von übler und böser Art, die 
WiMer dichter und mit reissenden Thieren erftlUt, das Wasser 
sehwar«, die Kornfelder trugen Saat von Schlangenzähnen; 
dort herrschte der harte und mitleidslose Tuoni, sein grimmiges 
Weib U!Bd sein Sohn mit den eisenspitzigen krummen Fingern, 
welche über die Todten wachen, dass sie nicht entfliehen. — 



— 22 — 

Ebenso unerbiulieh und finster herrscht nach der Ansicht 
der Griechen der »festverschllessende« (iroXapTi]c) Hades in der 
Unterwelt, dar »furchtbar dumpfigen, vor welcher sidi auch die 
Götter scheuen«. (//. XX. 65). Der Wohnsitz der Abgeschie* 
denen ist ein finsterer Raum im Innern der Erde, der im 
äussersten Westen jenseits des Okeanos, wohin die Strahlen 
der Sonne nicht mehr dringen, einen Eingang und Yorhof 
hat. Er wird von gewaltigen Strömen umflossen und vor dem 
Thore hält Kerberos, der vielköpfige, schreckliche Hund die 
Wacht, welcher die Kommenden ruhig eingehen aber Niemand 
zurück lässt. — Die Scheinbilder der Todten aber, die kraft- 
losen , unstäten Gestalten (ajieviQva xapTjva) , tragen zwar die 
Züge ihres Lebens und die Wunde ihres Todes, allein sie 
haben kein Fleisch und Bein, sie schweben, schaaren sich zu- 
sammen, wispern und führen ein Schattenleben. Wie der 
rohe Afrikaner der Jetztzeit, so verschmäht auch der hoch ge- 
feierte Held der Griechen, der schnellfüssige Achilles, ein 
solches armseliges, schattenhaftes Leben. Das Dasein im Lichte 
ist ihm das allein wünschenswerthe und die Freude wohnt 
ihm nur diesseit des Grabes: nicht für alle Schätze der Welt 
möchte er sein Leben dahingehen, und als gemeiner Lohn- 
arbeiter einem geringen Manne auf Erden zu dienen dünkt 
ihm besser als im Hades über alle Todten zu herrschen ^^). — 

Nicht minder düster ist die Vorstellung der Römer vom 
Orcus, dem finsteren. Böse und Gute aufnehmenden Todten- 
reich, in dessen Vorhofe alle am Leben der. Menschen nagen- 
den Uebel wohnen. [Virgilj Aen. VL 268 fl". etc.). — In 
Scheol, dem Wohnsitze der Todten bei den alten Juden, leben die 
Seelen in Ruhe , aber nicht in allzu erfreulicher. Der Prediger 
Salomo sagt: «die Lebendigen wissen, dass sie sterben wer- 
den, die Todten aber wissen nichts ; sie verdienen auch nichts 
mehr, denn ihr Gedächtniss ist vergessen ; dass man sie nicht 
mehr liebet noch hasset, noch neidet; und haben kein Theil 
mehr auf der Welt in Allem, das unter der Sonne geschiehet. 
So gehe hin und iss dein Brod mit Freuden , trink deinen 
Wein mit gutem Muth, denn dein Werk gefällt Gott. Lass 
deine Kleider immer weiss sein und lass deinem Haupte Salbe 
nicht mangeln. Brauche des Lebens mit deinem Weibe, das 
du lieb hast, so lange du das eitle Leben hast, das dir Gott 



— 23 — 

unter der Soone gegeben bat, so lange dein eitles Leben 
währet; denn das ist dein Theil im Leben und in deiner 
Arbeit, die du ttkust unter der Sonne. Alles, was dir vor- 
handen kommt zu thun, das thue frisch; denn in Scheol, da 
du hinfährst, ist weder Werk, Kunst, Vernunft noch Weisheit«. 
(IX. 5 ff.). 

Tylor memt zwar^ dass diese düsteren Vorstellungen »sich 
weniger durch Traumhaftigkeit als durch Gespenstigkeit aus- 
zeichnen«, allein es lässt sich wohl Manches auf Rechnung des 
Traumes schreiben , der ja bekanntlich auch Unheimliches uns 
vorführen kann. Die Völker, welche nicht aus melancholischer 
Anlage oder durch andere Motive bewogen werden , das 
irdische Leben gering zu schätzen und es als blosse Vorbe- 
reitung auf ein besseres Jenseits zu betrachten, geniessen hei- 
ter die Freuden dieser Welt und denken nicht gera über die- 
selbe hinaus. Der Abgeschiedene ist für sie derjenige, welcher 
die Genüsse des irdischen Daseins entbehren muss, und darob 
beklagen sie ihn. Diese dunkle Vorstellung von einer freude- 
losen Fortdauer illustrirt der Traum und führt den Verstorbe- 
nen in düsterer Umgebung vor. Es findet ein fehlerhafter 
Kreislauf statt: Der Naturmensch sieht, was er glaubt, und 
glaubt, weil er es sieht. 

Das Leben der Seele ist in ihren einzelnen Zügen dem 
irdischen Dasein nachgebildet und entweder zu höherem Glänze 
erhoben oder zu tieferem Elend erniedrigt. Von einer Beloh- 
nung der moralisch Guten und einer Bestrafung der Bösen, 
einem Unterschied zwischen dem Lande der Seligen und einem 
v<Ni diesem getrennten Orte der Verdammten im Jenseits kennt 
die unterste Gulturstufe im Allgemeinen Nichts ^<)). Eine mo- 
ralische Vergeltungstheorie findet sich erst bei civilisirteren 
Völkern und ist wohl zum Theil von diesen auf ihre Nachbarn 
übergegangen. Rangunterschiede erkennen zwar auch die 
Wilden im Lande der Todten an, aber es ist dies meist keine 
Vergeltung und Ausgleichimg , sondern vielmehr eine Fort- 
setzung des .irdischen Lebens. Herren und Sclaven auf Erden 
haben auch nach dem Tode ihre verschiedenen Stellungen noch 
inne , und eine irdische Kaste wird zu einer exclusiven Stellung 
erhoben. — »Das Luftparadies Raiatea, mit seinen duftenden, ewig 
blühenden Blumen, seinen vielen Jünglingen und Mädchen, die 



— 24 — 

in Vollkommenheit strahlen, mit seinen glänzenden Festen und 
Lustbarkeiten, war nnr fttr die bevorzugten Klassen der Areois 
und der Häuptlinge bestimmt, welche den Priestern ihre 
schweren Abgaben bezahlen konnten, aber kaum ftlr das ge- 
meine Volk. Diese Idee erreichte ihren ffi^hepunkt auf den 
Tonga-Inseln, wo die Seelen der Vornehmen wieder ihren 
irdischen Rang in dem Inselparadiese Bolotu eimm^men, wah- 
rend die plebejischen Seelen, wenn sie überhaupt' existirten, 
mit dem plebejischen Leibe, den sie bewohnten, zu Grunde 
gingen. In Peru, sehemt es, kehrten die Inkas nach ihren 
Wohnsitzen in der Sonne zurück, und die glückiidie, ruhige 
Oberwelt des Himmels war nur für die höheren Klassen da; 
während ein Aufenthaltsort in der dunklen Unterwelt Gupay 
oder eine Wanderung in Thierkörper vielleicht für das ge* 
meine Volk bestimmt war; denn feste Kastenunterschiede 
scheinen, gerade wie in dieser Welt, auch auf das Leben des 
Peruaners in jener Welt mehr Einfluss gehabt zu haben als 
die sittliche Aufführung des Einzelnen«. — )»Die Guten sind 
gute Krieger und gute Jäger« sagte ein Pavmee-Häuptling ; 
Muth und Schlauheit, ja zuweilen kannibalische Grausamkeit 
erscheinen dem Wilden practisch nützlich und gelten ihm des- 
halb für Tugenden; was hier Ruhm und Glück verleiht, ge- 
währt es auch im Jenseits. — In das glückliche Land Tom- 
garsuks, des grossen Geistes, kamen, wie Cranz berichtet, 
nur solche Grönländer , die zur Arbeit getaugt , grosse Thaten 
gethan und Walfische und Seehunde gefangen hatten. Char- 
levoix erzählt von den mehr südlichen Indianern, dass sie An« 
Spruch haben, nach dem Tode auf den Prairien ewigen Früh- 
lings jagen zu können, wenn sie hier gute Jäger und Krieger 
gewesen sind. »Wo Lescarbot von dem Glauben der virgini- 
schen Indianer spricht, dass die Guten zur Ruhe, die Bösen 
aber zur Qual gehen werden, bemerkt er zugleich, dass ihre 
Feinde die Bösen, sie selbst aber die Guten sind, so dass sie 
nach ihrer Meinung Aussicht haben, nach dem Tode sehr ge- 
mächlich zu leben, besonders wenn sie ihr Land, gut verthei- 
digt und ihre Feinde erschlagen haben«. So sagt auch Jean 
de Lery von den rohen Tupinambas in Brasilien, dass sie 
glauben, die Seelen derer," welche tugendhaft gelebt, das heisst, 
welche sich ordentlich gerächt und viele Feinde verzehrt 



— 25 — 

haben , würden hintep die grossen Berge gehen und in schönen 
Oftrten mit den Seelen ihrer Väter tanzen, aber die Seelen der 
Weichlinge und Unwürdigoi, die nicht darnadi strebten ihr 
Land zu schtttzen, wttrden in die ewige Pein kommen. Nach 
dem Glauben der Gariben gehen die Tapferen ihres Volkes 
nach dem Tode auf die glücklichen Insein, wo alle guten 
Fruchte wild wachsen, um dort ihre Zeit mit Tanzen und 
Festmahlen zu verbringen und ihre Feinde, die Arawaken, zu 
Sklaven zu haben; die Feiglinge aber sollten dort den Ara- 
waken dienen und in einem wüsten unfruohtbaren Lande 
jenseits der Berge wohnen ^^j. — Dem Feigling, dem Geizhals 
des eigenen Volkes ist der Indianer eben so wenig günstig 
gesinnt als dem Feinde aus dem Nadibarstamme. Der Hass 
und die Verachtung des Gemütiis lassen des Feindes Seele in 
nicht gerade angendimer Situation und Umgebung im Traume 
erseheinen, das Gefühl des Wachens, dass es dem HaiSsens- 
werthen auch in jener Welt schimpflich ergehen müsse, erhalt 
hier seine nähere Illustration, und die »Schattenseiten« der 
Lebensweise und des Wohnsitzes der verstorbenen Schlechten 
treten in ihren Einzelheiten vor das Auge. 

Wie beim Mensehen beobachtet man an den Thieren die 
Erscheinung von Schlaf und Wachen, Leben und Tod; in 
Träumen ersdieinen auch von ihnen Phantome, und so fehlt 
denn den niederen Cultur-Glassen die Empfindung eines ab* 
so] Uten psychischen Unterschiedes von Mensch und Thier. Die 
Wilden reden 'm allem Ernst mit lebendigen oder todten Thie- 
ren wie sie mit lebenden oder todten Menschen sprechen 
würden; sie bringen ihnen Huldigungen dar und bitten sie 
um Verzeihung, wenn sie die schmerzliche Pflicht erfüllen 
sie zu jagen und zu todten. Der Naturmensch plaudert mit 
einem Pferde als ob es Vernunft hätte; nach seiner Ansicht 
hat jedes Thier seinen Geist und dieser sein zukünftiges Le- 
ben. — Sogar den Pflanzen wird — bei den Gesellschaftsin- 
sulanem, den Dajaks auf Bomeo, den Earenen — eine Art 
von Seele zugeschrieben; aus den buddhistischen Schriften 
erhellt, dass in der ersten Zeit dieser Religion es ein Gegen- 
stand vieler Streitigkeiten war, ob die Bäume Seelen hätten 
und ob man ihnen demnach gesetzlich Unrecht thun könnte. 
Gegenstände , die wir leblos nennen : Pflanzen und Bäume, 



— 26 — 

Flüsse, Steine und Waffen werden — besonders bei den 
Algonkinstammen Nordamerikas, den Insulanern der Fidschi- 
Gruppe und den Karenen in Birma — als beseelt gedacht; 
haben sie ja doch nicht minder ein Phantom als der lebendige, 
denkende Mensch! — Wie viele Völker bei Leiehenfeierlich- 
keiten Opfer von Menschen und Thieren darbringen, um ihre 
Seelen zum Dienste der Seele des Verstorbenen zu entsenden, 
so opfern Stämme, die eine Gegenstandsseele annehmen, Ge- 
genstände, um über deren Seele verfügen zu können. Es 
giebt allerdings Völker, die von einer solchen Theorie Nichts 
wissen und dennoch mit dem Todten Opfergaben in das Grab 
legen; hier sind unzweifelhaft andere Motive, wie Abscheu 
vor Allem, was mit dem Tode zusammenhängt, Symbolik u.s.w. 
wirksam gewesen, — allein sehr viele Stämme haben die Vor- 
stellung von Gegenstandsseelen, wenn auch nicht in so aus- 
gesprt)chener Form wie die drei genannten. — Es herrscht 
die Ansicht vor, dem Verstorbenen eine Wohlthat zu erweisen, 
sei es aus Liebe, oder aus Furcht ihm zu missfallen und ihn 
auf seiner langen Reise keinen Mangel leiden zu lassen. — 
Die Neuseeländer, die Kariben, Eskimos und Patagonier, die 
Guinea-Neger, Buräten, Tonkinesen, die alten Scythen [Herod. 
IV., 71), Stämme der semitischen und arischen Race opferten 
auf dem Grabe eines Häuptlings und Helden Sclaven, welche 
ihm im zukünftigen Leben dienen sollten, und begruben zu 
demselben Zwecke mit ihm Hunde, Pferde oder Kameele, 
Waffen und Schmucksachen. Der nordamerikanische Indianer 
begräbt mit der Leiche des Kriegers »alles was ihn freuen 
mag <( : 

»Legt ihm unters Haupt die Beile, 

Die er tapfer schwang, 
Auch des Bären fette Keule, 

Denn der Weg ist lang; 

Auch das Messer, scharf geschliffen, 

Das vom Feindeskopf 
Rasch mit drei geschickten Griffen 

Schälte Haut und Schopf. 

Farben auch, den Leib zu malen, 

Steckt ihm in die Hand, 
Dass er röthlich mOge strahlen 

In der Seelen Land«. 



— 27 — 

In ähnlicher Weise wird eine Frau mit ihrem Ruder, ihrem 
Kessel und dem Tragriemen jfUr die immerdauemde Last ihres 
schwer beladenen Lebens bestattet. 

Viele solcher Opfernden meinen : wenn die Gegenstände auch 
im Grabe vermodern oder vom Scheiterhaufen verzehrt wer- 
den, so gelangen sie doch auf irgend eine Weise in den Be- 
sitz der körperlichen Seelen, denn nicht die materiellen Dinge 
selbst, sondern ihm entsprechende Schattengestalten werden 
von ihm gebraucht; ähnlich wie nach Anticleas Schilderung 
bei Homer auch des Menschen Körper vom Feuer verzehrt 
wird, die Seele aber ohne Fleisch und ßein »wie ein Traum- 
bild« in den Hades hinabsteigt [Odyss. XI, S19 ff.). — Manche 
Negerstämme senden dem verstorbenen Häuptling von Zeit zu 
Zeit neue Bedienung durch Opfer von Sclaven nach ; allgemei- 
ner aber ist der Gebrauch die Seelen mit Speisen und Geträn- 
ken zu versorgen.« Unter den turanischen Racen Ostasiens 
legen die Tschuwaschen Speise und Tischtücher auf das Grab, 
indem sie sprechen : »Stehe auf in der Nacht, iss dich satt und 
wische dir mit den Tüchern den Mundl«, während die Tsche- 
remisdien einfach sagen : »das ist für dich, da hast du Speise 
und Trank.« Diese Sitte ist über ganz Südasien verbreitet. 
Die Chinesen versorgen den eingesargten Verwandten Jahre 
lang mit Speise als ob er noch am Leben wäre. Der Hindu 
bietet wie \or Alters dem Todten Leichenkuchen dar, stellt 
irdene Gefässe mit Wasser zum Baden' für ihn vor die Thür 
und Milch zum Trinken. Der alte Aegypter setzte Vorräthe 
von Kuchen und gerupfte Enten auf Rohrgestellen in das Grab. 
Bei den meisten Völkern werden besondere Todtenfeste ge- 
feiert, deren Zeit nach den verschiedenen Gegenden verschie- 
den ist, jedoch mit dem Herbst und dem Ablauf des Jahres, 
welcher gewöhnlich in die Mitte des Winters oder den Anfang 
des Frühlings verlegt wird, in Verbindung gebracht zu werden 
scheint. 

Für die Vorstellung , dass der Geist thatsächlich die mate- 
rielle Nahrung verzehre, finden sich einige Beispiele, vorherr- 
schend schont aber die weniger materielle Ansicht zu sein, 
dass die Seelen den Duft oder den Geschmack der Speisen, 
ihre Essenz oder ihren Geist geniessen. Auch den höchsten 
Geistern , den Göttern , ist ja der Duft der Speisen angenehm 



— 28 — 

vnd man bringt ihnen Opfer in Form von daffipfemdem Bauche 
(Vargl. Homer IL I. 347 etc.). 

Tylor sagt: »Es scheint als ob die VorsteUung von eitter 
mensehUchen Seele , einmal von dem Menschen ergriffen, als 
Typus oder Vorbikl gedient hat, nach welchem er nicht nur 
seine Ideen von anderen Seelen niedrigeren Grades, sondern 
auch von geistigen Wesen im Allgemeinen gestaltet hat; von 
dem winzigsten Elfen, der sich im hohen Grase Uunmelt, bis 
hinauf zum grossen Geiste, dem himmlischen Sdiöpfer und 
Lenker der Welt« (II. S. 140). — Die ähnliche Natur der See^ 
ien und der anderen Geister zeigt sich schon in den neusee«^ 
ländischen und westindischen Vorsteliungen von dem »atua« 
und dem »cemi«, W>sen, die eine besondere Erklärung ver- 
langen, um zu entscheiden, ob es menschlidie Seelen, Dämo^ 
nen oder Gottheiten einer anderen Klasse sind; und so auf^ 
wärts bis zur Angabe des Philo JudaeuSy dass Seelen, Dämmae 
und Engel sich zwar im Namen unterscheiden, in Wirklichkeit 
aber ein und dasselbe sind. Es findet sieh eine vi^lstandige 
Uebergangsreihe von Vorstellungen. Oft fürchten wilde Stämme 
die Seelen der Todten als böswillige Dämonen und sdiädliohe 
Geister, allgemein aber ist die Manenverehrung , welche die 
gesellschaftlichen Beziehungen der Welt der Lebeaden auch 
nach dem Tode annimmt. Die todten Vorfahren, jetzt in Gott* 
heiten übergegangen, beschützen noch ihre Familien; der 
todte Häuptling wacht über seinen Stamm und bewahrt seinen 
Einfluss. Romulus wurde in der Erinnerung an seine aben- 
teuerliche Kindheit nach dem Tode zu einer rümisehen Gott- 
heit, die der Gesundheit und Sicherheit kleiner Kinder günstig 
war; die vorchristlichen Schutzgötter und christliehen Heiligen 
empfangen von den Menschen Verehrui^ und greifen in ihre 
Angelegenheiten ein. — Wie von Seelen, so glaubt man auch 
von anderen Geistern, dass sie entweder frei in der Welt 
umherschweifend existiren und handeln können, oder auf län- 
gere oder kürzere Zeit in einem materiellen Leibe veriLörpert 
werden. Die Seele des Menschen bewohnt seinen Leib, denkt, 
spricht und handelt durch ihn, der Einfluss eines zweiten 
seelenähnliehen Wesens oder eines fremden Geistes kimn ab- 
norme Zustände des Körpers und der Seele verursai^^i; der 
Besessene schreibt einem persönlichen Geiste die Ursache seiner 



— 29 — 

LeideD zu^). Aber auch in uns ganz leblos ersoheinendeB 
Dingen : im Sldd^en, KlIMaen und Steinen kann der Geist seinem 
Wehmitz aufsdilagen, sie zu Petisch^Obfeoten machen imd von 
ihnen «as Witten. Durdi ein geringes Absehnitzen, Ritzen 
oder mü Farben Bestreiehen wird dann ein roher Block oder 
ÜMein in ein Götzenbild verwandelt; was zuerst als Symbol 
einer göttlidien Persönlichkeit erseheint, wird als Wohnsitz 
des Symbolisirten betraditet und mit ihm selbst id^ntificirt. 
Wie das Kind sdn Spielzeug als lebend betraohtet und behnn«* 
delt, so hält audi der Naturmensdi das Unorganische für b^ 
seelt, die ganze Natur ftUr belebt, Ton geistigen Wesen bevttik 
kert und b^errscht. D»er menschliche Leib lebt nnd handelt 
kraft der ihm innewohnenden Seele ; nicht anders werden die 
Vorgänge in der äusseren Welt durch Geister ins Werk f^ 
setzt. Freundlichen oder feindlichen Geistern sc^eibt ^ alles 
Gute und Böse in seinem eigenen Leben und alle auffälligen 
Vorgänge in der Natur zu; in vertraulichem Verkehr stdit er 
mit den einflussreichen Seelen seiner verstorbenen Vorfahren, 
mit Geistern von Strom und Wald, von Ebene und Gebirge; 
die gewaltige leuchtende und erwärmende Sonne, die unge» 
heure See, welche ihre stolzen Wogen gegen den Strand 
sdilägt, erscheint ihm belebt, und die grossen persOnUchoii 
Gottheiten des Himmels und der Erde beschützen nach seinesi 
Glauben alle Dinge die sie hervorbrachten. Einzelne persön- 
liche Naturgeister beherrschen und leiten einzelne Vorgänge 
in der Natur, bis bei weiterem Fortschreiten der Civilisation 
ein kräftigeres Streben der Abstraction sich zeigt, der Wir- 
kungskreis mancher Götter sich immer mehr ausdehnt und 
endlidi die ganze Thätigkeit des Universums als von dem 
Willen eines einzigen allmächtigen Gottes , auf welchen man 
die Eigenschaften der menschlidien Seele überträgt, abhängig 
vorgestellt wird**). 

Alles was der. Traum den Menschen lehrt, bestätigen 
die ihm verwandten visionären Zustande. Den Anblick 
und Verkehr mit Geistern, welche gewöhnliche Menschen nur im 
Traume haben, verschaffen sich Visionäre von Fach durch kttnst^ 
liebe Mittel. Die Schamanen der Naturvölker rufen durch Fasten, 
Rausch, Musik und Tanz, Monotonie des Gesanges, fixirte Me* 



— 30 — 

ditation sowie manche Narcotica jene Extase hervor, in v/eU 
eher ihnen die Geister erseheinen und die Gottheilen durch 
ihren Mund den Menschen ihre Orakel verkünden, bis der Zu- 
stand ein habitueller und der Priester, wie die Sulus sagen, 
ein »Traumhaus« wird. — Auf den westindischen Inseln 
schnupften die Priester das »Gohoba«-Pulver; die Omaguas am 
Amazonenstrom ziehen durch einen gabelförmigen Röhren- 
knochen das Curupa-Pulver in die Nase und verursachen da- 
durch eine Vergiftung von vierundzwanzigstündiger Dauer, 
wahrend welcher sie ausserordentlichen Visionen unterworfen 
sind. Die californischen Indianer gaben ihren Kindern nar- 
kotische Getränke, um durch die darauf folgenden Visionen 
Nachricht über ihre Feinde zu bekommen; ähnlich verfuhren 
die Mundrucus in Brasilien mit ihren Sehern, \^lchen dann 
im Traume die Theilnehmer eines Mordes erschienen. Die In- 
dianer von Darien wussten durch Gaben des Samens von 
Datura sanguinea bei Kindern ein prophetisches Delirium her- 
vorzurufen, worin dieselben verborgene Schätze angaben. In 
Peru versetzten sich die Priester durch ein Getränk, welches 
»Tonka« genannt wurde, in einen extatischen Zustand, wenn 
sie mit den Fetischen redeten. Zu ähnlichen Zwecken wurde 
der Tabak in Nord- und Südamerika benutzt, indem man den 
Rauch verschluckte. 

Die arischen Völker vergötterten einen giftigen Trank, 
das Original des göttlichen Soma der Hindus, des Haoma der 
Parsis. Plinius erwähnt Abkochungen von Thalassaegle, wel- 
che Delirien und Visionen hervorrufen; dieselben Wirkungen 
wissen die Orientalen unserer Zeit durch Opium und Haschisch 
hervorzid)ringen. Wenn sich der Priester oder Zauberer in 
Guayana zu seinem Amte vorbereitete, fastete er streng unter 
fortwährenden Geisselungen, dann tanzte er bis er besinnungs- 
los zu Boden fiel, und wurde durch einen Trank von Tabaks- 
aufguss wieder zum Leben zurückgerufen. Diese Behandlung 
dauerte fort, bis er endlich in einen habituellen, visionären 
Zustand gerieth, welcher ihn zu seinem Amte qualificirte. — 
Die Pythia in Delphi musste sich einige Tage bevor sie den 
Dreifuss bestieg, durch Fasten vorbereiten und die aus der 
Kluft aufsteigenden Dünste versetzten die so Vorbereitete in 
einen visionären Zustand ; in Folge dessen stiess sie »von Gott 



- 3t - 

begeistert« einzelne unzusammenbängende Worte aus, welche 
die schlauen Priester nach ihrer Weise als »Heraussagera, »Her- 
ausdeuter« (irpof^tai) deuteten und zu geordneten Sprüchen 
fügten 24). 

In solchen visionären Zuständen wird der Mensch von 
Geistern besucht und von ihnen begeistert, oder die Seele des 
Sehers verlässt selbst ihren Körper, um auf Besuch und Kund- 
schaft auszugehen. Der eingebome Doctor in Australien erhält 
seine Einweihung, indem er in einer zwei bis drei Tage 
dauernden Verzückung die Welt der Geister besucht; bei den 
Khonds erweist der Priester sich als zu seinem Beruf befähigt, 
indem er einen bis vierzehn Tage in einem schläfrigen, träu- 
menden Zustande bleibt, welcher durch den Aufenthalt seiner 
Seele bei den GOttern veranlasst ist ; die Seele des grönländi- 
schen Angekoks verlässt seinen Leib um seinen Familiar- 
dämon zu holen; der turanische Schamane liegt in Lethargie, 
während seine Seele sich entfernt um aus dem Lande der 
Geister verborgene Weisheit zu holen. Die finnischen Zauberer 
verstehen sich in eine Art von Betäubung oder Enthusiasmus 
zu versetzen, aus welchem Zustande sie selbst nicht durch 
Application des Feuers zu erwecken sind, während ihre Seele 
umherschweift und verborgene Dinge aufspürt, die sie bei der 
Rückkehr enthüllt. Im alten Scandinavien liess der Häuptling 
Ingimund drei Finnen drei Nächte lang in einer Hütte ein- 
sperren, damit sie Island besuchen und ihm Nachricht bringen 
sollten von der Lage des Landes wo er im Begriff war sich 
anzusiedeln ; ihre Leiber wurden starr, sie schickten ihre See- 
len auf Kundschaft aus und als sie nach drei Tagen erwachten, 
gaben sie eine Beschreibung von Yatnsdael. Die Seele des 
Hermotimos von Clazomenae ging von Zeit zu Zeit aus, um 
ferne Gegenden zu besuchen; als man einst seihen Leib auf 
dem Scheiterhaufen verbrannte , fand die arme Seele bei ihrer 
Rückkehr keine Wohnung mehr vor. So lernt der Visionär 
die Qualität der Geister kennen, welche nur er, aber nicht 
die ihn umgebenden gewöhnlichen Menschen zu sehen ver- 
mögen, — die grönländischen Seher schildern die Seele genau 
so, wie sie ihnen in Visionen erscheint^ — er hört ihre 
Stimme, sieht ihre Bekleidung oder Bewaffnung, erblickt mit 



— 32 — 

Staunen die Herrlichkeit äre» Wokaortes, des Paradiese», und 
erfährt ihre Lebensweise**). 

Noch mehr als bei der Bildung waren die Visionm and 
die Besessenheit bei der Befestigung und Verbreitung reU^ 
giOser Vorstellungen thatig. Die begeisterten Seher und Seherin- 
nen, welche sdiauten w;as den Augen anderer Leute vertiorgen 
blieb, und durch deren Mund die Gottheit ihren WiUen zu 
erkennen gab, mnssten gewöhnlichen Menschen als bevorzugt 
erscheinen, ein grosses Ansehen gewinnen und da<kireh xxob^ 
dingten Glauben finden ; um so mehr, als ihre Aussagen meist 
mit dem fibereinstimmten und nur klarer und ausftthrlidier 
darlegten, was Vi^ im Traum dusdLel und ahnungsweise er^ 
kannten. Die Seher waren wie bei den Natervölkem in der 
dassischen Weh hochgeehrt; dem Teiresias wird noch in der 
Unterwelt Bewusstsein und Verstand zugeschrieben, während 
die anderen »wandelnde Schatten« sind (Odyss. X. 4-^8). Die 
Sprüche der Pythia, so zweideutig sie audi sein mochten, 
hatten den mächtigsten Einfluss auf die Handlungsweise des 
hellenischen Volkes und waren wie die andern Orakel — zu 
Dodona, zu Abai in Hiods, zu Aidepsos in Euboea, am Berge 
Ptoon, zu Hypsiai in Boeotien, zu Arges u. s. w. — ein Haupt- 
mittel, den Glauben der Menge an die olympischen G(Hter zu 
befestigen. In der christlichen Kirche haben die Visionen der 
Apostel und die durdb sie wie durch Christus selbst ausge- 
fttfarten Heilungen von Besessenheit Tausende zu Anhängern 
des neuen Glaubens gemacht. 

Sprenger, der besonders auf die Widitigkeit visionärer 
Zustände in der Entwickelung der Religionen aufmerksam 
macht , weist nach , dass einerseits die ältere Religion der 
Araber in den Sehern oder Visionären von Fadi eiae Stütae 
besass, andererseits auch das Prophetentfaum Mtihwnined^s nichts 
Anderes war^ als die kluge Berechnung eines genievoU^m 
Visionärs, der die allen Orientalen in Folge besonderer Nerven*- 
Constitution und äusserer Umstände, in ganz besonders hoheoi 
Grade aber ihm selbst durch physisdie und psydiisohe Anlage 
anhaftende Neigung zu Visionen und zum Glauben an dieselbe 
benutzte, um seinen Ideen Durdigang zu verschaffen und 
seinen Landsleuten eine neue Religion zu geben, — dabei aber 
doch nur, wie jedes wirkliche Genie, aussprach und in be- 



— 83 — 

» 

Stimmten Gedanken Gestalt gab, was das Volk dunkel empfand. 
Er sagt, dass Muhammed (nach ihm war sein wirklicher Name 
Mohammad} an einer Krankheit gelitten, die häufiger bei Frauen 
als bei Männern, dodi auch bei diesen vorkomme und von 
SchöfUein »hysteria muscularis« genannt werde. Sie charaete- 
risire sidi nämlioh durch abwechselnde Expansion und Con- 
traction der Muskeln u. s. w. , und verstecke sich, wie jede 
Ersdieinungsform der Hysterie, vorzüglich hinter andere Krank«- 
faeiten, welche sonst in dem betreffenden Orte heimisch seien ; 
sie habe daher bei Muhammed die Gestalt des Fiebers ange- 
nommen, da in Arabien und den angrenzenden Gegenden be- 
sonders das Wechselfieber zu Hause sei. Alle Symptome dieser 
Krankheit: eine unersättliche Wollust in späteren Lebens- 
jahren, Neigung zum Betrug ohne böse Absidit Jemandem 
dadurch zu schaden, zu Hallucinationen u. s. w., — hätten 
sid) bei ihm gezeigt, sowie es auch erwiesen sei, dass er zahl- 
reiche schwächere und stärkere epileptisdie Anfiille gehabt 
habe; seiner religiösen Stimmung entsprechende lebhafte Ti^ume 
hätten den ersten Anlass zu dem Prophetenthum gegeben, 
Hallucinationen endlich ihn in seiner Absicht bestärkt und den 
Plan zur Ausführung gebracht ^^]. 

In der christlichen Welt waren bekanntlieh das ganze 
Mittelalter hindurch Visionen, Geisterersdieinungen aller Art, 
Austreibungen von Dämonen und sonstige wunderbare Heilun- 
gen an der Tagesordnung. Die Reformation und die fort- 
schreitende Wissenschaft der Medicin zog ihnen allmählich 
Schranken, — typisch ist der Uebergang in der Irrenanstalt 
Gheel in Belgien, wohin man frtther Mondsüchtige in grosser 
Zahl brachte, um die Dämonen in der Kirche der St. Dym- 
pfaana feierlich austreiben zu lassen, während jetzt der Arzt 
an Stelle des Exorcisten dort sein Amt verrichtet, — und man 
wüsste oft die Geister durch Arzneimittel und ärztliche Be- 
handlung ä la Nicolai sehr gut zu bannen. In mmicben Gegen- 
den aber sdiwanden sie nicht so schnell: man bildete eine 
vollständige »Kunst der Entzückungen« aus und wendete, wena 
der Priester Macht sich zu vermindern drohte, dieses abge^ 
nutzte Mittel der Erscheinung von Geistern und Jungfrauea 
ifismer wieder an, um die verirrten Lämrolein zur Heerd« 

Badeitoekf BohlAf n. Tiaum. 3 



— 34 — 

« 

zurttcks&uftthren , damit sie ^ mit der Zeit zu ireuea Schafen 
würden. 

Der Cultus des modernen Schamanenthums, des Spiri* 
tualismus, wurde im vorigen Jahrhundert wieder erweckt 
und befordert durch den Visionär Swedenborg^ welcher in 
seinen mittleren Jahren als nüchterner Denker keine Neigung 
zu dieser Art von Studien zeigte, bis in höherem Alter ekstatt* 
sehe Zustände und Visionen sieh bei ihm bemerkbar machten, 
vielleicht mit durch die Nachwirkung einer heftigen Gemüths- 
erschütterung in Folge einer getäuschten Jugendliebe hervor- 
gerufen. Seine Prophezeiungen beschäftigten die hervorragend- 
esten Köpfe jener Zeit, wie Herder, Wieland y Klopstock und£^an^; 
er hat in Bezug auf die Entwicklung gewisser philosophisch- 
religiöser Ansichten, welche in niederer Cultur blühen, in 
höherer allmählich schwinden, einen ausserordentlichen Ein- 
^uss geübt, und jetzt zählen die Spiritisten in Amerika und 
England nach Zehntausenden. Wie er meint, lebt die Seele 
' des Menschen nach dem Tode in vollständig menschlicher Form 
fort und kann schon im irdischen Leben Wanderungen unter- 
nehmen, während , der Körper in Ruhe bleibt. Swedenborg 
selbst passirte es mehrere Male, und er unterhielt sich dann 
nach seiner eigenen Aussage mit verstorbenen Verwandten und 
Freunden, Königen, Fürsten und Gelehrten. Er behauptet 
fest, es seien keine Fictionen, sondern er habe alles wahrhaf- 
tig gesehen und gehört und zwar nicht in einem schlafenden 
Zustande des Geistes, sondern im völligen Wachen. Seine 
Anhänger haben den unerschütterlichen Glauben, dass die 
Welt von mächtigen, denkenden, körperlosen geistigen Wesen 
wimmele, welche auf die Gedanken der Lebenden und die 
Materie direct einzuwirken im Stande seien; durch Klopfen 
4ind Schreiben machen sich die Geister dem Menschen bemerk- 
bar, geben ihm Rathschläge, lassen ihn einen Blick in die 
Zukunft thun, theilen ihm die Fähigkeit mit in der Luft zu 
schweben und lösen unter Umständen seine Fesseln. Wenn 
ein Indianer, wie Tylor (I. S. 455) bemerkt, einer Geister- 
sitzung in London beiwohnte, so würde er das Klopfen, die 
Geräusche, Stimmen und die anderen physischen Leistungen 
körperlicher Geister für etwas Gewöhnliches und Selbstverständ* 
liches halten^ und fremd würde ihm nur sein die Einführung 



— 35 — 

der Budistabir- und Schreibkttnste , welche einer anderen 
CiYilisationsstufe angehören als auf der er selbst steht. 

Der Einfluss visionärer Zustände in der politischen Ge- 
schichte tritt klar hervor, wenn man einen Blick wirft auf die 
Umw älsungen, welche die Weissagungen und JOrakel von jeher 
in der Geschichte der Völker hervorgebracht haben. Apollo 
hatte durch seine Orakelsprüchc den grössten Einfluss auf die 
^öffentlichen Angelegenheiten der Griechen, auf ihre Verfassung, 
die Wanderung der Stämme und die Gründung von Colonien ; 
er ist Städtegründer und Coloniesender (apjf^JY^?» xzlavr^q,). 
Aber die Aussprüche der Pythia, .welche die vielfach fremdem 
Willen gehorchenden Priester nach ihrer Weise auslegten, zer- 
störten auch grosse Städte und gewaltige Reiche. Schon Homer 
redet davon, dass zu der Zeit, als Agamemnon das Orakel 
Apollos befragte, das gewaltige Leid über die Trojaner und 
Danaer sich »heranwälztea. Sogar Barbarenvölker ehrten das 
Delphische Orakel , besonders die lydischen Könige. Freilich 
musste es Krösus mit Verlust seiner Herrschaft bezahlen, als 
«r den nach Sendung reicher Weihgeschenke erhaltenen Spruch, 
er würde, wenn er gegen Cyrus ziehe, ein grosses Reich zer- 
stören, zu seinem Vortheil auslegte 2'). — Wie die Assassinen 
für die paradiesischen Wonnen, von denen sie in der Haschisch- 
Berauschung einen Vorgeschmack bekommen, jede schreckliche 
That vollbrachten, so hat der mehr verbreitete Fanatismus der 
für ihren Glauben kämpfenden Anhänger des Visionärs Muham- 
med gewaltige Reiche zerstört. — Als später die Helden Jungfrau 
Joanne d^Arc die französischen Heere von Sieg zu Sieg führte, 
die englischen aber vernichtete und den König, wie sie es 
versprochen, in Rheims zur Krönung einziehen Hess, war es 
die Macht der Visionen und der darin sich kundgebenden gött- 
lichen Sendung eines siebzehnjährigen Mädchens über die Ge- 
müther Aller, welche dem Heere Begeisterung gab und dadurch 
diese Wunderthaten ermöglichte 2») . 

Was Visionen zum Ausdruck bringen, beroiten Träume vor; 
^ denn allen solchen krankhaften Zuständen gehen äusserst lebhafte 
Träume voran. Muhammed hatte sehr lebhafte Träume, fragte 
seine Schüler oft nach den ihrigen und ermunterte sie, alles 
2u notiren was ihnen darauf begegnet sei; auf diese Weise 
gewann er Routine in der Traumdeutung, welche sein Ansehen 

3* 



— 36 — 

bei dem Volke noch mehr erhöhte ^^) . Seine Nachfolger legten 
ebenfalls auf Träume einen grossen Werth, und es ist ja be- 
kannt, dass die Traumliteratur der Araber, wie überhaupt der 
Orientalen ungeheuer mannigfaltig . ist. 

Zorocbster soll, als er den Zend-Avesta schrieb, von Träu- 
men inspirirt gewesen sein. Bei den Griechen hatte man 
ebenso wie bei den Orientalen Traumausleger von Fach (dvst^ 
posioAot, oveipocmotroi^ ovsipojAavrei^) 3®) . Diese Auslegungen 
wurden zwar nur von Einzelnen benutzt, doch haben auch 
Träume das Geschick ganzer Staaten und Völker entschieden, 
indem sie das schwankende Gemüth mancher Feldherm festen 
Muth fassen Hessen und sie zu einer bestimmten Handlungs- 
weise drängten. Der Römer Publius Decius. Hess sich muthig 
in ein Treffen ein und versicherte, als er gewarnt wurde, es 
sei ihm im Traume offenbart worden dass er siegen werde. 
Augustus hielt, wie Sueton berichtet, viel auf eigene und 
fremde Träume; vor der Schlacht bei Philippi war er krank 
und hatte deshalb beschlossen nicht aus seinem Zelte zu gehen, 
allein da seinem Arzte geträumt, hatte er werde siegen, be* 
gähn er das Treffen ^^], ähnlich wie bei Homer der Herrscher 
Agamemnon auf den Rath eines Traumes das Heer gegen die 
Trojaner vorrücken lässt. — Ganze Volksstämme sind durch 
Träume zu Wanderungen veranlasst worden und einzelne 
Menschen wurden durch sie zu Trägern grosser Pläne und Ideen. 
Jetzt gründet man die Schlachten freiHch auf »Pläne« und nichl 
auf Träume, man gestattet diesen keinen Einfluss "mehr auf die 
Politik; höchstens sieht des Morgens hie und da eine Schöne 
in ein Traumbüchlein, lässt durch die darin enthaltene Deutung 
ihres Traumes die Politik und Diplomatie ihren Anbetern gegen- 
über bestimmen und versendet nach der von ihm bestimmten 
Richtung hin die Geschosse ihrer Liebesblicke. 



Capitel n. 

Der träum bei Dichtern and Philosophen. 

in der Literatur aller Zeiten und jeder Art finden wir 
den Traum behandelt, besonders aber in derjenigen, welche 
derselben Seelenthätigkeit als der Traum selbst, der Phantasie, 
entsprang. Die Poesie — die epische, lyrische und dramatische, 
— hat ihn sowie den Schlaf einerseits besungen '>) , andrer- 
:seits ihn im neckischen Spiele der Vorstellungen und der Bil- 
dung von Gedanken nachzuahmen versucht, sei es dass sie 
die Helden wirklich träumen lässt oder ihr waches Denken in 
«in träumerisches verwandelt. Der Traum wurde dem Dichter 
«in gutes Mittel, um neben den Interessen, die des Menschen 
Oeist am Tage erfüllen und sein Denken leiten, die dunklen, 
im Wachen unter die Oberfläche versunkenen Gedanken und 
Regungen des Gemttths, die Quellen und Motive, aus denen 
die Gedanken und Handlungen hervorgehen, ferner die sub- 
jectiven Folgen der Handlungen, welche sich als Vorwürfe des 
Gewissens kund thun, — kurz das, was wir das wahre innere 
Wesen des Menschen zu nennen pflegen, zu enthüllen. Da- 
durch erhält der Leser beziehentlich Zuschauer und Zuhörer 
ein vollständiges Bild von den Characteren, und zweitens er- 
scheint die Schilderung, wenn sonst mit psychologischer Fein- 
heit durchgeführt, vollständig wahr und lässt die Saiten unsres 
eignen Innern Um so lebhafter mitschwingen, weil vdr selbst 
wissen, dass im Uraumoft wirklich diese sonst tief unter der 
Schwelle des Bewusstseins liegenden Vorstellungen und Re- 
^ngen emportauchen. Eine fernere Wiehtigkeit besitzt der 
Traum für den Dichter insolern, als vennittelst der in dem- 
selben ausgesprochenen Gedanken und ihrer Verwirkliehung 
durch die That ein Fortschritt der Handlung berbeigefilhrt oder 



— 38 — 

der Helden Vergangenheit geschildert wird, ohne dass eine 
langweilige Erzählung die Schönheit und Technik des Ganzen 
gefährdet. So lässt Homer die Helden zu den folgenden Hand- 
lungen durch den von Zeus selbst entsandten Traum und 
durch den Besuch der Seelen Abgeschiedener, oder einer die 
Gestalt eines Menschen annehmenden Gottheit angefeuert wer- 
den ^8). Auch Vergil bedient sich dieses Mittels (Aen. IV. 
554 ff. etc.). 

Im deutschen Volksepos, dem Nibelungenlied, ahnen Kriem- 
hild und Ute das zukünftige Schicksal ihrer Lieben voraus*, in- 
dem sie symbolische ; darauf hindeutende Traumbilder haben. 
Erstere träumt (4.av.) dass ein von ihr aufgezogener Falke 
von Aaren zerrissen werde, in der Nacht vor dem Aufbruche 
zur Jagd, Wo Siegfried ermordet wird (46. av.), sieht sie den- 
selben von zwei wilden Schweinen verfolgt, dann zwei Berge 
auf ihn fallen und ihn zermalmen. Ihre Mutter träumt vor 
dem Auszuge der Burgunden nach dem Lande der Hunnen 
(25 av.], dass alle Vögel im Lande todt seien. Allein der prak- 
tische, thatkräftige Hagen entgegnet, obgleich er das Unglück 
sicher voraussieht, während es die Frauen nur ahnen, durch 
den Spott GernoVs gereizt und deshalb erst recht zur Reise 
drängend : »Swer geioubet treumen der enwei:^ der rehten 
maere niht ze sagene.« — In den Dichtungen des grossen 
Seelenkttndigers Shakespeare spricht der Traum die verborgen^ 
sten Regungen des Inneren aus und peinigt den ruchlosen 
Richard HL vor der Schlacht durch furchtbare Schreckenssce- 
nen. Die dämonische Lady Macbeth findet keine Ruhe im 
Schlaf; ihr Gemahl sieht selbst am Tage mitten in der Gesell- 
schaft seiner Umgebung in Sinnestäuschungen seine Schandthat 
vor sich, er flucht der Kunst des Arztes, weil sie nicht ihn 
von den Qualen der Erinnerung befreien und die »Furchen 
des Gehirnes glätten« kann 34). — Der Spanier Calderm de la 
Barca schrieb ein Schauspiel: »Das Lebenein Traum«^^), und 
»Der Traum ein Leben« ist der Titel eines dramatischen Mär- 
chens von Griüparzer ^) ; bekannter noch als beide ist SAoie- 
speare's »Sömmemachtstraum«. In Novelle und Roman findet 
man den Traum ebenfalls oft aufgenommen 3^) . 

Wenn aber der Dichter, besonders der Lyriker, sich den 
holden Träumereien selbst hingiebt, ja hingeben muss, und 



— 39 — 

manche Genies ihre Werke in einer Art von bewusstlosem Zu- 
Stande, der dem Traum sehr ähnlich war, sollen hervorgebracht 
haben — wie es schon Sokrates bei den Dichtern seiner Zeit 
fand^^) — so ist dies anders bei dem Philosophen. Ueber den 
Traum reilectirend sucht er sein Wesen zu erforsdien, die 
physischen und psychischen Gesetze aufzufinden, welche ihn 
bedingen, die Ursachen, aus welchen seine einzelnen Elemente 
hervorgehen, aufzuweisen und die Aehnlichkeit mit dem wachen 
und normalen Denken einerseits, den verwandten Erscheinung 
gen der Sinnestäuschungen und des Wahnsinns andrerseits, 
sowie den Unterschied von denselben darzulegen. Damit ver- 
schwindet denn der Nimbus des holden Gesellen, sein luftiges, 
lockeres Leben wird entdeckt, seine Taschenspielerkunst, mit 
welcher er uns zu dupiren sucht wie sein melancholischer 
Bruder, der Somnambulismus^ durch sein Hinttberschielen zum 
Wahnsinn erklärt, seine Renommisterei und Uebertreibung er- 
kannt ^ sein Prophetenthum begrenzt und der unbedingte 
Glaube an dasselbe wankend gemacht. Freilich war dies 
nicht zu allen Zeiten bei allen Philosophen der Fall; bei 
vielen genoss er zu alter und neuer Zeit das Ansehen, welches 
ihm der Volksglaube beimass. Sokrates und sein Schüler 
Xenophon hielten die Träume noch für Wirkungen der Götter, 
wie sie bei Homer erscheinen 3»). Pyihctgoras schrieb den 
Träumen einen höheren Ursprung zu. P/oto lehrte, dass die 
Seele im Traum, wenn der Mensch sich einer guten Lebens-^ 
weise befleissige , ihre göttliche Natur zeige und ' höherer 
Kenntnisse theilhaftig werdet). Vielleicht hat die Traum- 
deutekunst der Aegypter und die Magie der Orientalen, welche 
diese Männer auf ihren umfassenden Reisen kennen lernten, 
zur Bildung jener Meinung nicht unerheblich beigetragen. 
Ihre Schüler folgten der Meinung der Meister. Aristoteles war 
der erste ^ welcher den Traum zum Gegenstande wirklicher 
philosophischer Forschung machte; in seiner Schrift »Ueber 
die Träume und die Wahrsagung im Schlaf« (Tispl ivoicv(<ov 
xal tffi xatf uTtvov fiavtix^g)**) thut er manche Aussprüche, welche 
jetzt noch die fortgeschrittene Naturwissenschaft und Psycho- 
logie nur bestätigen können. So sagt er (S. 4^2 ff.j» ^^^^ ^^ 
unwahr sei, wenn man behaupte, die Sinne seien im Schlaf 
für alle äussere Eindrücke unempfänglich , die letzteren riefen 



— 40 — 

vielmehr zuweiiea Traum vorsieUungen hervor (S. H9) ^ — 
schon Demokrä eri&lärte die Traumbilder durch Vorttberschweben 
der in Folge der Ausströmung von Atomen aus den Körpern 
erzeugten Bilder (eiScoXa) , worin ihm Epicur im Wesentlichen 
folgte. Femer weist er den Einfluss der Nachbilder und Er- 
innerungsbilder des Gesichtssinns nach (S. 4 46 ff., 422 ff.), 
deutet auf die *— heute sogenannte — ungewöhnliche Asso- 
ciation und passive Apperception im Traum und in den Delirien 
hin (S. 446) und meint, dass der Traum nicht immer prophe- 
tisch sein müsse, es auch in vielen Fällen nicht sei, sowie, 
dass seine Haupteigenthttmlichkeit in der Uebertreibung be- 
stehe (S. 424 ff.). Der Stoiker Chrysippus aber nahm an, 
dass die Träume von den Göttern gesandt würden. Cicero 
lässt im ersten Budlie seiner Schrift »Ueber die Weissagung« 
(de divinatione) durch Quintus alle Beweise der Stoiker für die 
Wahrheit und Göttlichkeit der verschiedenen Arten der Wahr- 
sagerkunst aufstellen; — im zweiten führt er, mit Cameades 
an Weissagungen nicht glaubend, dessen Einwürfe und seine 
eigenen dagegen ins Feld, um sie zu entkräften. Dabei macht 
er die triftige Bemerkung, es sei in Betreff der Weissagungen 
der Visionäre doch wunderbar, .dass die Kranken, welche ihre 
gesunden menschlichen Sinne eingebüsst, dafür göttliche be- 
kommen hätten und sehen könnten, was gesunde und ver- 
nünftige Leute wahrzunehmen nicht im Stande seien ^^). Die 
Ansicht der Kirchenväter ist ein Gemisch von aristotelisch-, 
philosophischen und religiösen Elementen. Augustin erörtert 
verschiedene Träume seiner Zeitgenossen, in welchen ihnen 
Verstorbene oder Lebende erschienen ; in einem spielt er selbst 
eine Rolle. Als nämlich einmal einer seiner Schüler, der 
Rhetor Eulogius aus Garthago, nicht einschlafen konnte, weil 
er an eine schwierige Stelle in Cicero' s Rhetorik dachte, er- 
schien Augustin im Traum und erklärte sie ihm. Allein 
Augustin meint, es sei jedenfalls nur sein Bild gewesen, denn 
er selbst war weit entfernt jenseits des Heeres und hatte 
überhaupt Nichts davon gewusst, noch sich darum geküm* 
mert*^). — Der berühmte Arzt des Mittelalters, Paracelsus 
(4493 — 4544), hatte die mystische Ansicht , dass der siderische 
Theil der Seele über den elementaren oder irdischen im Schlafe 
die Obmacht gewinne und sich zu den Gestirnen aufschwinge. 



— 41 — 

— Nicht bedeutend weicht von dieser die Ansicht vieler 
Schellingianer in neuerer Zeit ab, bei welchen sieh ein 
YoUsUlndiger Traumcultus ausbildete. G, H. wm Sdiubert 
(4780 — 4860) nennt den Traum den Grund des Schlafes und 
Wachens selbst, — den absoluten Ausdruck des Verhältnisses 
von Geist und Körper , den dem Menschen eingebomen Ur- 
grund ^4). Troxler (1780 — 4866) sagt: das Wachen ist ein 
Traum der Seele, der Schlaf ein Traum des Leibes. Krause 
bezeichnet den Traum als das reinste und feinste Selbstleben 
des Geistes ausser den geschichtlichen Beziehungen mit dem 
menschlichen Leibe, indem der Geist den Leib an den Leib 
selbst zum Schlaf hingiebt. Anders ist die treffliche Schilde- 
rung des Schlafes und Traumes bei dem die Naturphilosophie 
Schelling^s mit besonnerer Empirie in Verbindung setzenden 
Burdach, — freilich kann ich seiner Meinung, dass die Seele 
im Schlaf und Traum in ihr embryonales und foetales Leben 
zurückkehre 7 aus später zu erörternden Gründen nicht bei- 
stimmen — ; ausgezeichnet ist auch die Purkinje' s^^). Eine 
interessante Darstellung mancher Seiten des Traumlebens bietet 
auch das auf beider letztere sowie auf die Forschungen des 
französischen Gelehrten Ma/ury^^) in diesem Gebiete sich 
stützende kleine Buch des Herbartianers L, v. Strümpell ^'^. 
Hegel n^mt den Traum ein Schwanken des Geistes zwischen 
seinem Naturgeiste und seiner vernünftigen Wirklichkeit^^). 
Der sich an Schelling und Hegel anschliessende J. H. Fichte 
spricht in seiner »AnUiropologie« die Ansicht aus, dass im 
Schlafe eine )> ideale Entleibung« der Seele stattfinde; durch 
den Körper hindurch würde gesehen und gewirkt, »gerade 
ebenso, wie die magnetischen und elektrischen Kräfte die da- 
zwischen liegenden indifferenten Körper durchdringen, als 
wenn sie nicht vorhanden wärena. — Eine ähnliehe Begeiste- 
rung wie die Schellingianer für. den Traum und seine Sym- 
bolik zeigen in neuester Zeit Schemer ^^) , der in seine Fuss- 
stapfen tretende Verfechter der Symbolik auch ia der Aesthe- 
tik, J. Volkelt^)^ und, wenn auch in beschränkterem Massstabe, 
der Arzt Pfe^, 

Schon von Alters her herrscht der Streit zwischen ratio- 
naler und empiris^cher Psychologie. Während Viele das 



— 42 — 

reine Denken für den einzigen Weg hielten, auf -dem sich Auf- 
schittsse über die Probleme des Seelenlebens erlangen Hessen^ 
erklärten Manche die Seelenlehre für eine Wissenschaft der 
Erfahrung, ja geradezu für eine^ Naturwissenschaft. Seitdem 
Kant die Philosophie überhaupt aus ihren kühnen Speculationen 
zurückführte und sie der Erfahrung zuwandte, hat man der 
Psychologie als Erfahrungswissenschaft ein innigere» 
Interesse gewidmet und sie mit der Methode der Naturfor- 
schung behandelt. »Wie der Naturforscher immer ausgeht von 
der Beobachtung der Erscheinungen, die ihm unmittelbar die 
Natur bietet , so muss auch der Psychologe stets mit den That* 
Sachen des Bewusstseins den Anfang machen. Aber erst in^- 
dem er durch das Experiment verändernd eingreift in den Ver* 
lauf der psychischen Erscheinungen und den verwickelten 
Zusammenhang derselben in seine einfacheren Bestandtheile 
auflöst, gewinnt er einen Einblick in jenen Mechanismus, der 
im unbewussteh Hintergrund der Seele die Anregungen ver- 
arbeitet, die aus den äusseren Eindrücken stammen. Es ist 
der nämliche Weg, den überall der Naturforscher wählt. In- 
dem der Naturforscher von den verwickelten Erscheinungen, 
die ihm unmittelbar in der äusseren Beobachtung gegeben sind, 
mit Hülfe des Experimentes zurückgeht auf die einfachen Ge- 
setze, die jene Erscheinungen beherrschen, thut er auch nichts 
Anderes, als dass er gleichsam den unbewussten Hintergrund 
des Geschehens dem Auge enthüllt« ^^) . Ein weiteres Hülfs- 
mittel neben dem Experimente bildet die Messung, sie findet 
)>die Konstanten der Natur, jene festen Zahlen, die alles Ge- 
schehen beherrschen«; letztere geben erst eine Einsicht in die 
Gesetze des Geschehens. Der Physiker misst die bewegenden 
Kräfte an den Bewegungen, aus der Beobachtung dieser macht 
er Rückschlüsse auf die an sich selbst niemals sinnlich wahr- 
nehmbaren Gesetze, nach welchen die Kräfte wirken. So misst 
man auch die psychischen Functionen an den Wirkungen, die 
sie hervorbringen oder von denen sie hervorgebracht werden. 
Manche experimentelle und messende Untersuchungen im 
Gebiete des Seelenlebens haben schon alte Naturforscher vor- 
genommen, aber meist ohne ihre psychologische Bedeutung 
zu kennen. Erst aus der Physiologie der neueren Zeit zweigte 
sich die experimentelle Erforschung des Seelenlebens als be- 



- 43 — 

sonderes Untersuchungsgebiet ab. Nachdem der Physiolog 
Ernst Heinrich Weber, gestützt auf ältere mathematische Unter- 
suchungen das wichtige psycho-physische Gesetz , welches das 
Verhaltniss der Empfindung zu dem sie veranlassenden Reis 
angiebt, für einzelne Sinnesgebiete, besonders fttr das des Tast- 
sinnes aufgefunden, thaten Renz und Wolff, welche unter 
VieroriWs Leitung gemeinschaftliche Versuche anstellten, die 
Geltung desselben fttr den Gehörssinn dar. Den Nachweis 
aber, dass dieses Gesetz für alle Sinnesgebiete gültig ist, hat 
erst, von Volkmann unterstützt, Theodor Fechher geliefert ^2). 
oihm verdankt die Psychologie«, sagt Wundt^ i>die erste umfas- 
sende Untersuchung der Sinnesempfindungen vom physikalischen 
Standpunkte, durch die zu einer exacten Theorie der Em- 
pfindungen der Grund gelegt wurde«. — Auch haben die treff- 
lichen physiologischen Untersuchungen von Heln^oltz über den 
Gesichts- und Gehörssinn eine grosse psychologische Bedeutung. 
Von Wichtigkeit für die Psychologie ist ferner die in neuester 
Zeit fortgeschrittene mikroskopische Erforschung der Sinnesor- 
gane. Durch anatomische und physiologische Hilfsmittel hat 
man wichtige Aufschlüsse über die Structur und Leistung der 
Gentralorgane des Nervensystems erlangt. Wir wissen jetzt, 
dass die Anregung des Nervenprocesses durch den äusseren 
Reiz keine directe Uebertragung lebendiger Bewegungskraft, 
sondern eine Auslösung gebundener Spannkraft ist, — da die 
Reizung auf ihrem Wege in der Nervenleitung sich nicht ab- 
schwächt sondern anschwillt, — und dass die letzte Quelle fttr 
die Erzeugung der Kräfte, welche der Nerv in sieh entwickelt, 
die Stoffe sind, die aus dem Blut in die Substanz des Nerven 
übergehn. Die chemische Spannkraft dieser Stoffe wird zur 
lebendigen Kraft jener Nervenbewegungen, die durch den 
äusseren Reiz ausgelöst werden und die ihrerseits die Em- 
pfindung auslösen ^3). Es ist festgestellt, dass die Arbeit des 
Nerven eines äusserst regen Stoffwechsels zu ihrem Unterhalte 
bedarf. Die Menge der Stoffe, welche verbraucht und aus dem 
Organismus ausgeschieden werden, nimmt in Folge der Ner- 
venthätigkeit bedeutend zu, und in entsprechendem Masse 
wächst die Menge der Stoffe, die zum Wiederersatz erfordert 
werden. Aus der Energie des Stoffwechsels der Organismen 



— 44 — 

vermdgen tvir auf die Energie der Nervenprocesse zurückzu- 
schliessen. 

Wenn auf diese Weise die Psychol<^ie in den Naturwis- 
senschaften eine bedeutende Stütze gewann, so ist damit nicht 
gesagt, dass wir mit Hülfe der letzteren geistige Processe ab- 
zuleiten und zu erklären vermöchten. Dies thut der Materia- 
Hsmus: er fasst das Denken nur als eine Eigenschaft des 
äusseren materiellen Daseins, eine Function des Gehirns auf. 
Die Beobachtung zu Grunde legend, dass psychische Kräfte 
immer an ein materielles Substrat gebunden sind, dass sie 
eine bestimmte Beschaffenheit und Zusammensetzung desselben 
erfordern und schwinden, wenn die Zusammensetzung bedeu- 
tend gestört oder ganz aufgehoben wird, — leitet er das Be- 
wusstsein aus physikalischen und chemischen Processen inner- 
halb der Nerven ab. So erklärt Karl Vogt den Gedanken für 
eine Secretion des Gehirns : wie die Nieren den Urin , die 
Leber die Galle, so erzeugt das Gehirn den Gedanken. Es ist 
jedoch genügend einleuchtend, dass ein greif- sieht- und wäg- 
barer Stoff, wie die Secretion letzterer Organe, mit einem Ge- 
danken nicht im entferntesten zu vergleichen ist. Man kann 
sich vorstellen, dass, wenn wir ein ungemein scharfes, die 
jetzigen Instrumente noch weit übertreffendes Mikroskop be- 
sässen, die Bewegungen der Molecüle und allerkleinsten Theile 
der Nerven und des Gehirns (wenn man die Atome nicht als 
unausgedehnte Kraftcentren fasst) beobachtet werden könnten, 
welche bei den eine Empfindung begleitenden materiellen Vor- 
gängen stattfinden, aber niemals würden wir mit den leiblichen 
Augen den daraus resultirenden Gedanken erblicken ; die Vor- 
stellung ist nie mit den Sinnen direct wahrzunehmen *4) . 
Den groben Fehler K. Vogfs erkennt denn auch der Materialist 
X. Büchner und liefert in seinem in der Jetztzeit viel gelesenen 
Werke »Kraft und Stoff« eine andere Erklärung. Er sieht den 
Gedanken für eine Kraftwirkung der Maschine des menschlichen 
Organismus an und vergleicht ihn mit dem von der Dampf- 
maschine erzeugten Effect. »Die Dampfmaschine hat in einem 
gewissen Sinne Leben und übt als BesuUante einer eigen- 
thttmlichen Gombination mit Kräften begabter Stoffe eine Ge- 
sammtwirkung aus, welche wir zu unseren Zwecken benutzen 
oder verwenden, ohne jedoch diese Wirkung an sich sehen, 



— 45 — 

riechen, greifen zu k(^nnen In ähnlicher Weise nun 

wie die Dampfmaschine Bewegung hervorbringt, erzeugt die 
verwickelte organische Complication kraftbegabter Stoffe im 
Thierleibe eine Gesammtsumme gewisser Effecte, welche, zu 
einer Einheit verbunden, von uns Geist, Seele, Gedanke ge- 
nannt wird. Diese Kräftesumme ist nichts Materielles, kann 
nicht durch die Sinne unmittelbar wahrgenommen werden, 
ebensowenig wie jede andere einfache Kraft, Magnetismus, 
Electricität u. s. w., sondern nur aus ihren Wirkungen er- 
schlossen werden«. — Allein bei der Maschine findet eine 
Transformirung von Kräften der materiellen Natur statt : Wärme, 
d. h. die Bewegung der kleinsten Theile, wandelt sich in Be- 
wegung grosser Massen um und leistet Aii>eit. Bei der Ent- 
stehung des Gedankens aber kann von keiner Transformation 
materieller Kräfte die Rede sein; es mttsste denn eine Kraft 
im Reiche der äusseren materiellen Natur verschwinden, um 
im Reiche des Psychischen als Wirkung wieder aufzutauchen. 
Dies widerspricht jedoch dem Gesetz der Erhaltung der Kraft, 
welches als Ergebniss der Naturwissenschaft nur die materielle 
Nalur als solche betrifft und besagt, dass innerhalb derselben die 
Summe ifller Spann- und lebendigen Kräfte stets constant bleibt. 
Die Seele, der Geist steht nur insofern unter diesem Gesetz, als 
sein materielles Substrat, ein Theil der äusseren Natur, ihm 
unterworfen ist. »Der Wille, der Gedanke, der ganze Geist sei 
so frei er will; aber er wird seine Freiheit nicht wider, 
sondern nur auf Grund der allgemeinen Gesetze der lebendigen 
Kraft aussen) könnem sagt Fechner^^). 

Wenn Viele mit grosser Emphase von der Freiheit des 
Geistes über die Materie, der Seele ttber den sie umhüllenden 
Körper reden, so ist ihnen die Thatsache entgegen zu halten, 
dass psychische Erscheinungen nur da auftreten, wo sich ent- 
sprechende materielle Vorgänge zeigen. Schon im Thierreich 
hält im Grossen und Ganzen der Grad der geistigen Ausbil- 
dung mit der Vollkommenheit der physischen Organisation 
gleichen Schritt. Bei dem Menschen, der nicht ausserhalb dieser 
Entwickelungsreihe steht, ist die höhere Ausbildung des Or- 
ganismus, besonders des Gehirns und Nervensystems, fttr das 
geistige Loben von grosser Bedeutung. Ein grösseres, in sei-^ 
nen Windungen u. s. w. reicher entwickeltes Gehirn bildet 



— 46 — 

die Basis für ein höher entwickeltes Denken. Bei Zerstörung 
einzelner seiner Partien gehen die psychischen Thätigkeiten nicht 
mehr so lebhaft vor sich <^^) . Die. Seele hat diese oder jene 
Empfindung, wenn die Nerven trefiPende Schall- oder Licht- .. ^ 
wellen und sonstige äussere oder innere materielle Einflüsse 
in denselben Processe hervorrufen, welche sich bis zum Gehirn - 
fortpflanzen. Die Gefühle sind dann am intensivsten, wenn 
bedeutende Vorgänge und Veränderungen im Körper stattf- 
änden. 

Das Seelische ist nichts Selbständiges neben oder i n dem 
Leibe, sondern es ist mit einem körperlichen Substrate ver- 
bunden. Geist und Materie, Seele und Leib, sie sind 
zwei verschiedene Erscheinungs- oder Betrach- 
tungsweisen eines und desselben Seienden, je 
nachdem dies durch die äussere oder innere Erfah- 
rung erfasst wird. Mit den Sinnen nimmt man als Körper 
wahr, was dem Bewusstsein als Seele sich kund giebt ; körper- 
liches Substrat und Geist erscheinen aus verschiedenen Stand- 
punkten als verschieden, während sie ihrem Wesen nach eins 
sind. Da Leib und Seele in ihren Verrichtungen einander pa- 
rallel gehen und der Veränderung im Einen eine Veränderung 
im Anderen correspondirt, vergleicht Leibnitz das Verhältniss 
zwischen beiden mit dem zweier Uhren: es kann Jemand die 
Zeiger beider Uhren so schieben, dass sie immer harmonisch 
gehen, das ist die occasionalistische Ansicht, nach welcher Gott 
zu den körperlichen Veränderungen die geistigen und umgekehrt 
in beständiger Harmonie erzeugt; sie können auch von vom 
herein so eingerichtet sein, dass sie, ohne der fortwährenden 
Nachhülfe zu bedürfen, von selbst immer genau mit einander 
gehen, das ist die Ansicht von der vorausbestimmten Har- 
monie derselben. Leibnitz hat nun dabei, wie Pechner bemerkt, 
eine Ansicht, und zwar die einfachste, vergessen. »Sie können 
auch harmonisch mit einander gehen, ja gar niemals aus ein- 
ander gehen, weil sie gar nicht zwei verschiedene Uhren sind. 
Damit ist das gemeinsame Bret, die stete Nachhülfe, die Künst- 
iiohkeit der ersten Einrichtung erspart. Was dem äusserlich 
stehenden Beobachter als die organische Uhr mit einem Trieb- 
werke und Gange organischer Bäder und Hebel oder als ihr 
wichtigster und wesentlichster Theil erscheint, erscheint ihr 



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— 47 — 

selbst innerlich ganz anders als ihr eigener Geist^ 






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LECTURE I 

IMAGERY AND SENSATIONALISM 




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— 46 — 






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— 47 — 

selbst innerlich ganz anders als ihr eigener Geist mit dem 
<jange von Empfindungen, Trieben und Gedanken« ^^j. 

Wenn man somit den Gedanken nicht als eine Eigen- 
schaft der Materie betrachten darf und es der Naturwissen- 
schaft nicht gelingt aus körperlichen Vorgängen geistige 
Verrichtungen abzuleiten, so sind die Forschungen und Ent- 
deckungen der letzteren doch nicht ohne Bedeutung für die 
Psychologie. Durch Erforschung der materiellen Ursachen und 
Wirkungen fällt ein nicht zu unterschätzendes Licht auf den 
Mechanismus von Ursachen und Wirkungen der ihnen parallel 
gehenden psychischen Erscheinungen, und durch Erforschung 
•des Psychischen erhält manches im Reiche des Physischen eine 
bessere Beleuchtung. Aeussere und innere Erfahrung sollen, 
"wie sie bei jedem Menschen sich vereinigt finden, auch in der 
Wissenschaft mit einander gehen, um sich gegenseitig zu unter- 
stützen. — Wir werden deshalb bei den folgenden Erörter- 
ungen die physischen Vorgänge neben den psychischen nicht 
tinberttcksichtigt lassen. 



Capitel m. 

Die normale und anormale Beproduction der Vorstellungen. 

h ttr unser psychisches Leben ist Nichts von grösserer Bedeu- 
tung als die Beproduction, die Fähigkeit, vergangene Eindrücke^ 
welche wir vor längerer oder kürzerer Zeit hatten, wieder in 
das Bewusstsein zurückzurufen. So intensiv auch eine gegen- 
wärtige Empfindung sein mag, wenn sie den Blickpunkt des 
Bewusstseins einnimmt und eine mehr oder minder grosse 
Herrschaft auf das ganze Blickfeld ausübt, so nachhaltig und 
unvergänglich uns eine Gemüthsstimmung , ein Affect oder 
eine Leidenschaft erscheint in dem Augenblicke, wo sie den 
Grundton aller percipirten und appercipirten Vorstellungen 
bildet und ihnen eine charakteristische Färbung giebt^ sodass 
wir Alles nur wie durch die von ihr gefärbten Brillengläser 
bald in rosigem Lichte, bald blutig roth, bald schwarz oder 
auch grau und nebelhaft erblicken, — so behalten sie diese 
Intensität doch nur kurze Zeit. Die lebhafteste Freude, der 
quälendste Schmerz verringert sich mit der Zeit ; die stärksten 
Vorstellungen treten vor neuen Eindrücken zurück und sinken 
unter die Schwelle des Bewusstseins in die Tiefe der Alles 
begrabenden Lethe. Der Inhalt des Bewusstseins ist in stetem 
Wechsel; die Vorstellungen, welche heute das Blickfeld des- 
selben erfüllten, erfüllen es zum Theil schon morgen nicht 
mehr; im Verlauf einiger Zeit hat es sich ganz verändert, 
einen neuen Typus erhalten, und wir sehen aus ihm heraus^ 
indem wir die neu hinzukommenden Vorstellungen zu den 
schon im Bewusstsein vorhandenen in Beziehung setzen, die 
Sachen mit ganz anderen Augen an als früher. 

Wie die Gedanken veränderlich sind, so auch die Gefühle» 
Hass , Liebe , Furcht , Schrecken , Hoffnung , alle Affecte und 



— 49 — 

Leidenschaften, welche des Menschen Gemttth zu erregen im 
Stande sind, schwächen sich oder verschwinden mit der Zeit. 
Was der Mensch geliebt hat, kann er hassen, ja verachten, 
wenn sich ihm das wahre Wesen des früher vergMterten 
-Wesens unverhttUt zeigt und die Binde von den Augen ge- 
rissen wird; was man früher gleichgültig betrachtete lernt 
man achten und lieben, was man. einst zu thun sich gescheut 
wa^t man, und worüber man hatte rasend werden können, 
darüber lacht man später vielleicht. Wie der Körper in 
stetigem Stoffwechsel sich verändert, so wandelt sich auch die 
Seele. Die Jugend hat andere Gedanken und Gefühle als das 
Alter und die Ideale sind wandelbar. Die Nacht der Ver- 
gessenheit umfängt die früheren Leiden und Freuden und der 
Vergangenheit Glück und Unglück; zwischen das Erdenld)en 
und das Elysium versetzten die Griechen den Fiuss Lethe, 
aus weldiem jeder Hingeschiedene trank und dadurch von 
irdischen Erinnerungen befreit wurde. 

Zwar ist dieser stete Wechsel und dieses Vergessen der 
Sorgen und Leiden, zu welchem der Schlaf und Traum nicht 
unwesentlich beiträgt, für den Menschen von enormem Weithe ; 
wir würden aus einem Gedankenkreise, in welchen wir uns 
einmal eingelebt, nicht losmachen können, die stagnirenden 
Vorstellungen würden zu fixen Ideen und also die Welt zu 
einem einzigen Tollhaus — wofür es freilich Manche auch jetzt 
schon halten — werden, wenn es nicht oder auch nur in bedeu- 
tend geringerem Grade stattfände. Allein es würden auf der 
anderen Seite die Vorzüge, die das höher entwickelte Geistes«» 
leben aufweist, wegfallen, der grössten Güter würde die 
Menschheit verlustig gehen, wenn dieser »ewige Fluss« aliein 
herrschte und es kein Mittel gäbe, seine Madit zu bannen und 
in denselben Fluss noch einmal hinabzusteigen. Dies Mittel 
aber ist uns glücklicherweise verliehen in der Reproduction. 
Mag eine Vorstellung auch tief unter der Schwelle des Be- 
wusstseins liegen, so erhält sie doch zuweilen durch einen in 
der Gegenwart stattfindenden Eindruck eine »Hülfe« ^ welche 
sie wieder über die Schwelle hebt. Dadurch gelingt es uns^ 
Vergangenheit und Gegenwart mit einander zu verknüpfen 
oder zu vergleichen^ perennirende Vorstellungsgruppen zu 
bilden, welche einen wesentlichen Factor bei der Bildung 

Bad «stock, Schlaf u. Trann. 4 



— 50 ~ 

unseres Selbstbewussteeins ausmaehen und, indem wir diese 
Gruppen zerlegen und nach neuen Gesichtspunkt»! sie wieder 
vertiinden und ordnen, relativ neue psyehisohe Gebilde zu 
gewinnen. So wird erst duretl die Reproduction eine- Wissen- 
schaft, wie ein Denken ttbeiiiaupt möglich; weil sie ims ver« 
liehen , könnMt uns feste Maximen und Grundsätze das ganze 
Lebeti oder wenigstens einen grossen Theil desselben hindurch 
leiten und unser Handeln bestimmen, durch i^ wird ein mo- 
ralisches Leben begründet. Die mit ihrer Vermittlung gebil- 
deten Vorstellungsgruppen , sowie die einzelnen reproducirten 
Vorstellungen zerlegt der Philosoph in ihre einzelnen Elemente, 
sucht Anknüpfungspunkte zu denselben an den Elementen an- 
dere, verbindet sie nach festen logischen Nonnen und gewinnt 
dadurch seine Hypothesen, sowie seine fester begründeten 
Theorien oder Systeme; der Poet führt diese Verbindung nach 
freieren Regeln aus und gewinnt dadurch seine Phantasie- 
gestalten, wie überhaupt jeder Ktlnstler. So baut der Mensch 
seine Zukunftspläne und Ideale auf, besonders in der Ji^end, 
so vermag er das Unglück , die Leiden und Sorgen zu eintra- 
gen im Hegen von Hoflnungen, so bereitet er seinen Fall 
schon im Giück vor durch Streben nach Verwirklichung phan- 
tastisch gebildeter Wünsche. 

Die Fertigkeit in dem Finden neuer Anknüpfungspunkte 
und der Bildung neuer Combinationen kennzeichnet das Genie, 
wie andererseits paractoxe Gedankenverbindungen es sind, die 
zum Wahnsinn führen, — denn schmal, obwohl tief gähnend 
4st die Kluft, welche beide Gebiete trennt ^^), und oft nur 
durch die Gunst der äusseren Umstände, die dem Einen ge- 
stattet, seine Ideen zu äussern und gleichsam das im Innern 
sich entwickelnde Gedränge zu mildem, während dies Man- 
diem nicht gewährt ist, wird es verhindert, dass dies innere 
Drängen und Wogen, durch den Widerstand von aussen her 
noch verstärkt, das Genie diese Kluft überschreiten lä^st und es 
geistiger Finstemiss entgegenführt. 

Die Reproduction nun ist zweierlei Art: entweder sie giebt 
die frühere Empfindung in etwas verminderter Stärke wieder, 
dann erscheint sie in der Form der Erinnerung, welche 
man wohl zuweilen xat ^oyr^^ Reproduction nennt, oder sie 
hri>t die Eindrücke früherer Zeit in der Stärke in das Bewusst- 



— 51 — 

sem, welche sonst nur nmniUelbare, gegenwärtige Wahmehm* 
aiigeD zo haben pflegen, dann wird sie zur Sinnestäuschung 
(HaihEieination oder Illusion). 

Die Brinnerung erhält uns ^n Inhah der frttheren Em- 
pfindung, ohne ihn in seioe einseinen Elemente zu zerlegen 
oder zu verändern, wenigs^ns im allgemeinen und wesent- 
lichen. Im Grunde nämlich hah«i wir keine Vorstellung zum 
zweiten Mate ganz so im Bewusstsein als das erste Mal, weil 
weder in Folge veränderter Gemeingeftthle der sie begleitende 
Gefühlston noch die Vorstellung selbst dieselbe ist, da sie durch 
andere Einwirkungen, besonders durch unmittelbare Sinnes- 
empfindungen, modificirt wird, — und der Uebergang vom 
Gedächtniss zur Einbildungskraft liegt im Wesen der ersteren 
selbst begrtlndet. Ferner tritt bei der normalen Erinnerung 
das psychologische Moment vor dem physiologischen ftir uns 
bedeutend hervor, da wir die dabei stattfindenden materiellen 
Vorgänge noch nicht genau kennen. Zwar ist es wahrschetn- 
lieh, dass bei derselben ausser im Gehirn auch in den betref* 
fenden Sinfiesnerven ähnlkhe Vorgänge, nur in geringerer In*- 
tensität als bei unmittelbarer Empfindung stattfinden , ^^) und 
diese einerseits nach Intensität verschieden sind, je nachdem 
der Verlauf der Gedanken schneller geht, wo sie vielleicht am 
wenigsten ausgebreitet und auf ein Minimum reducirt sind, 
oder langsamer, wo sie dann stärtcer auftreten, — ^) andrer-* 
seits nicht dieselben sind bei Leuten von starker Einbildungs- 
kraft, wie bei Göthe, Joh, Müller u. s. w., wo sie wohl vom 
Centrum aus bis an die Peripherie der Nerven sich erstrecken 
und den Uebergang zur Sinnestäuschung bilden, als bei denen, 
welchen diese Gabe weniger eigen ist; allein da letzteres bis 
jetzt noch nicht sichergestellt ist, Andere vielmehr meinen, 
dass sich die physiologische Reizung nicht über das Gentrum 
ausbreite, so k^nen wir hi^ nicht festen Fiisses das physio^ 
logische Gebiet betreten und wenden uns deshalb zur Betrach- 
tung des psychischen Mechanismus. 

Hier sind also die die Reproduction veranlassenden Reize 
psychische, welche meist von der Aufnahme gegenwärtiger 
Eindrücke ausgehend vermittelst der Gesetze der Association 
die vergangenen wieder hervorrufen. Diese Gesetze sind fol- 
gende: 4) das der Aehnlichkeit^ 9) des Contrastes, 

4« 



— 52 — 

3) der räumlichen und zeitlichen Coexistenz, 4) der 
Succession, — wozu auch noch das des Mittels und 
Zweckes und das der Ursache und Wirkung kommen; 
doch können diese letzteren unter das der Suceession und zum 
Theil unter das der Aehnlichkeit subsumirt werden. <^^) 

Es hebt also eine gegenwärtige Vorstellung eine andere^ 
frühere wieder über die Schwelle des Bewusstseins, deren In- 
halt dem ihrigen ähnlich oder von ihm verschieden ist, deren 
Object in Baum und Zeit in irgend einer Beziehung zu dem 
ihrigen steht , oder die mit ihr zugleich, auch vorher resp» 
nachher percipirt wurde. Die Vorstellung eines Zweckes ruft 
die Vorstellung des dazu zu gebrauchenden Mittels wach wie 
die des Mittels die des damit zu erreichenden Zweckes; die 
Perception einer Wirkung reproducirt die Vorstellung der Ur* 
Sache und umgekehrt. So erinnert uns eine Person, die einem 
Freunde oder Bekannten von uns ähnlich sieht, an diesen selbst. 
Das Glück ii^end eines Menschen ruft in uns die Vorstellung 
von dem Elend anderer hervor und unwillkürlich denkt man, 
wie ganz anders es ist bei denen ; umgekehrt erinnert uns die 
elende Hütte an den Palast, unser eignes sowie fremdes Un- 
glück an das frühere Glück. — Herodot erzählt, dass Xerxes^ 
da er von einem Hügel am Hellespont seine ungeheure Armee 
und seine Flotte übersah, vor sich die See mit seinen Schiffen 
bedeckt und seine Heere über die Küsten und die Gefilde von 
Abydos verbreitet, sich glücklich pries, darauf aber bei dem 
Gedanken weinte, dass diese unermessliche Menge innerhalb 
hundert Jahren vernichtet sein würde ^^j. 

Gleichartigkeit und Verschiedenheit spielen eine grosse 
Bolle im psychischen Leben. Die genaue Kenntniss oder Defini- 
tion eines Dinges besteht in dem Wissen oder Aussagen dessen, 
was es mit anderen Dingen Gemeinsames oder von ihnen Vei^ 
schiedenes hat. Indem man unter mehreren einzelnen Wesen 
oder Dingen das Gleichartige und Aehnliche zusammenfasst, 
bildet man die Allgemein-Vorstellungen und Begriffe. Man ge- 
langt so zu Abstractionen und zu Vergleichungen, die inductiven 
Schlüsse und bildlichen Ausdrücke verdanken ihre Entstehung 
der Association nach Gleichartigkeit. So nennen wir einen ver^ 
schmitzten Menschen einen Fuchs, einen einfältigen aber Esel ; 
ein unschuldiges Kind wird uns in Folge der Aehnlichkeit zum 



— 53 — 

Lämmchen, die reizende Dame zum Engel. Klar nennt Leihnüz 
die Vorstellungen, die wir von anderen, deutlich diejenigen, 
deren Theile wir unterscheiden. Alles erkennen wir richtiger 
wenn wir den Gegensatz dazu haben und die Empfindungen 
der Sinne werden, wie man besonders beim Gesichtssinn be- 
fiierken kann, durch Contraste lebhafter. 

Wenn wir femer einen Thurm oder ein Haus sehen oder 
uns daran erinnern, kommt uns auch die Vorstellimg der um- 
'Stehenden Häuser oder des sich davor erstreckenden freien 
Platzes nebst der darauf befindlichen Gegenstände zum Be- 
wusstsein ; dasselbe geschieht, wenn wir einen Vogel von einem 
Gebäude auCQiegen sehen. Der Anblick eines Platzes, auf dem 
«in Glück uns begegnete oder ein Unfall uns zustiess, erweckt 
alle ehemaligen Gedanken und alten Gefühle. Derjenige, wel- 
cher irgendwie angeregt wird, sich geschichtlicher Daten zu 
•erinnern, ruft dabei die Vorstellungen der zugleich mit den 
fraglichen Ereignissen eingetretenen, ihnen vorhergegangenen 
oder nachfolgenden Begebenheiten wach. Auf der Verbindung 
nach Succession beruhen die geschichtlichen Kenntnisse, und 
auf ihr sowie der damit verbundenen Muskelbewegung alle 
Fertigkeiten, die der Mensch sich allmählich aneignen kann. 
Bekannt ist ihre WiriLung bei dem rein mechanischen Auswen- 
diglernen. Der Schüler kann zuweilen Alles der Beihe nach 
richtig hersagen, während er Nichts weiss oder sich erst län- 
ger besinnen muss, wenn man die Beihenfolge zerstört und 
Einzelnes fragt. 

Eine Axt lässt uns an alles das denken, was damit aus- 
geführt werden kann und an die Personen, die es ausführen, 
i»owie anderseits irgend ein zusammengesetzter Gegenstand an 
das, woraus, womit und auf welche Weise er gefertigt ist. 
Der Anblick einer Wunde führt uns tu der Erinnerung dessen, 
der sie schlug und womit. 

Selbst wenn die Beziehung zwischen Ursadie und Wirk- 
ung eine nur eingebildete ist, wirkt das Associationsgesetz. 
Das Geheul eines Hundes, das Geschrei eines Käuzchens, die 
Erscheinung eines Kometen hat nichts mit einem bevorstehen- 
den Unglück bezw. mit Krieg und Pestilenz zu thun, aber dem 
Abergläubischen rufen sie diese Vorstellungen ebenso hervor, 
Als wenn sie in Wirkiidbkeit die Ursachen wären. Der ge- 



~ 54 — 

sellsehaftliche Takt beruht auf einer durch die Fertigkeit un<» 
bewusst Tor sich gehenden Association, indem man vermeideti 
das SU sagen und zu thun, von dem man weiss, dass es An- 
deren naeb den bekannten GesetEai unliebsame Vorstellungen 
wachruft. 

Besonders kommen die Gesetze der Association da zur 
Anwendung, wo wir allen aetiven Eingreifens uns enthalten 
und nicht willkttrlich mit der Aufinerksamkeit eine Vorsteilung 
erfassen, sie gesondert in den Blickpunkt des Bewusstseins 
heben und sie dort Ittngere Zeit zu erhalten suchen, sondern 
die Vorstellungen, so zu sagen, kommen und gehen lassen^ 
wie es ihnen gefttUt. Dies ist aber, wie wir später sehen 
werden, besonders im Traum und in dem ihnen verwandten^ 
als Trüumerei berttdlitigten, zuweilen während des Wachens 
vorkommenden Zustande der Fall. Die grOssten Virtuosen der 
Association aber erzeugt das höhere Stadium des Wahnsinns^ 
wo die Vorstellungen einfach nach ihren Gesetzen an einander 
gereiht werden, ohne dass sie einen logischen Zusammenhang 
nachweisen und zu einem vernünftigen Satze, geschweige 
denn zu einem Urtheile verbunden werden. Es zeigt die» 
also, dass die Reproduction und Association, obgleidi sie die 
vnchtigsten Momente in den psychischen Functionen bilden^ 
wenn sie allein stehen und nicht von einem den Vorstelluag^ 
verlauf regelnden vernünftigen Willen und einer aetiven Ap- 
perceptionsgabe begleitet sind, eine bi^here Geistesthätigkeit 
ebenso gut hemmen als fördern können. 

Die VorstellungeiB folgen nicht nur auf* und naeheinimder, 
sondern sie erscheinen auch gleichzeitig und gehen Verbin- 
dungen ein, bei welchen zuweilen die Interessen beider ge* 
wahrt bleiben und jede ihre Würde behäU, ebenso wie es bei 
gegenwärtigen gleichzeitigen Eindrucken der Fall ist; leUteres 
ist die Gomplication von Sinnesempfindangen, ersteres die 
Agglutination von Verstellungen. Ans dieser Verbindung 
geht eine neue Vorstellung hervor, welche beide oder mehrere 
andere ab untereinander ungestörte Elemente in sich fasst. 
Das Bild der Axt, welche das des^ Holzes und des Zimmer» 
manns hervorgerufen hat, verbindet sich mit diesen und es 
entsteht die zusammengesetzte Vorstellung des von einer Pei^ 
fion mit einer Axt ausgeübten Ges^äfts des Holzhauens. Da 



— 55 — 

die ]^twi€k#luBg der Sptacfae den psyehischen Vorgang re- 
flecdrt, so haben wir ein Bild davon in den sogenannten ag» 
gltttinireodeii Sprachen, worunter die ohinesiscbe und viele 
andere gehilüren. liier werden die Silben , welche eiiiz^ne 
Gegenstände oder Handlungen bezeiobnen, einfach neben 
einander gesetzt und bilden ein zusammeogesetgles Wort. 
Wir sind jedoch gewohnt, sokhe Sprachen als medrig ateheode 
zu beveichnen, und daraus geht schon hervor, dass die Ag* 
gkitinatJM>n nicht imaier Anwendung findet, .am «wenigsten da, 
wo das Denken schon verdichtet ist. Vielfach nämlich behal* 
len die zusamosbentreffiHiden Vorstellungen nicht ihren eige*- 
neu Werth, sie gehen innige Verbindungen ein, wo die See- 
len bßider gleichsam in einander schmelzen; die eine geht in 
der atoderen auf. Bei dieser Verschmelzung der Vor* 
Stellungen ^eben beide, wie es bei jeder innigen Verbindung 
der Fall sein soll, die sich widarspreehenden Eigensclu^teo 
auf und suchen sich mdir zu assimiiir^i und an einander zu 
schliessen. So entsteht eine neue Vorstellung, wel(^ auch 
die vorhergehenden als Elemente in sich faast^ aber die Selbst- 
ständigkeit derselben ,beflchrlä[ikt b«t* Auch dies reflectirt sich 
in der Sprache bei der Zusammensetzung der Wörter, wo die 
Endungen <)er dnzelnen Bestandtheile verschliffen sind um 
eine innigere Verbindung möglich zu madien. Endlich giebt 
es Fälle, wo es nicht zu einer solchen friedlichen Vereinigung 
kommt. Man soU nicht glauben, dass im Gebiete des Geistes 
ewige Harmonie uad ewiger Friede herrsehe, auch hier findet 
man, <lass der Mächtige den Kleinen und Schwachen verdrängt 
oder verschlingt und oft in recht undankbarer Weise. Denn 
die reproducirte Vorstellung, welche durch die vieUeictit oft 
wiederholte Erhebung in das Bewusstsein dort ein Anrecht auf 
einen bleibenden Sitz bei ihrer bedeutenderen physiologischen 
Disposition gewonnen zu haben glaubt, verdrängt die andere^ 
welche ihre fleppoduction veranlasste, sucht sie sich dienstbar 
4UQKi sich ähnli^ zu machen oder beseitigt sie einfach, wenn 
sie izu spiräde thut und sich nicht dienatbw* madien lassen 
will. . Solche Fälle von Assimilation werden wir bei der 
Illusioii jsmi beim Traume zu belstfaehten hab^. Es ist also 
hinzuflusetien; das» solche Fälle der vollständigen Verdi^ngung 
oder Beseitigung meist anormale sind. Die AgglujUnation und 



— 56 — 

Verschmeliung, bei weicher die aclive Apperception tii^tig ist^ 
kommen dagegen fast ausschliesslich im normalen Denken vor. 
Bestimmte in obigen Beispielen der Inhalt der EindrUd^e 
die Reproduetion, so thut dies in anderen Fällen der Ge- 
fühls ton. Eine Freude, ein Schmerz oder überhaupt eine 
stärkere ^mttthsstimmung zieht leise die durch unsichtbare 
aber feste Fäden mit ihr verbundenen ähnlichen Stimmungen 
empor <^). Das Gesetz des Gontrastes kann jedoch auch bei 
Freude den früheren Schmerz und umgekehrt wachrufen. Die 
reproducirte Vorstellung und Stimmung kehrt dann freilich 
nicht in der ganzen Stärke wieder, sondern sie haucht die ge- 
genwärtige Stimmung nur leicht an, wie man z. B. von einem 
elegischen Anhauch der Hoffnung spricht. — Lucrez berichtet 
von den »süssen Klagen« der ältesten Poesie <^). Die Liebe hat 
nicht nur Leid nach sich, wie es in einer der Endstrojrfien des 
Niebelungenliedes heisst (mit leide was verendet des küneges 
h6chgeztt, als ie diu liebe leide an dem ende gern gtt], sondern 
auch unmittelbar neben und in sich, sie ist »freudvoll und 
leidvoll«, »ein Langen und Bangen in schwebender Pein«; 
»himmelhoch jauchiend, zum Tode betrübt«, und doch »glück- 
lich allein ist die Seele die liebt«. Liebe und Hass wohnen 
eng bei einander, man empfindet eine gewisse Lust bei der 
Erinnerung vergangener Schmerzen und die Hoflnung ist, wie 
Spinoza richtig bemerkt, nicht ohne Furcht. Das Gruseln ist 
für das Kind angenehm und unangmiehm zugleich. Aehnlich 
ist das Gefühl, wenn man am warmen Ofen sitzt oder im Bett 
liegt, während der Sturm und Regen unablässig gegen die 
Fenster schlägt. — Andromache lächelt mit thränenden Augen 
(II. VI. V. 405 u. V. 471), Hamlet empfindet, als er Gewiss- 
heit von der Blutschuld seines Oheims erhalten, einen Anflug von 
Lust und entwickelt einen gewissen Humor. — Das bekannte : 
»Des Lebens ungemischte Freude ward keinem Irdischen zu 
Theil« findet auch in diesem Sinne seine Anwendung. Jedes 
Gefühl wird durch sein Gegengefühl in seiner eigentlichen 
Stärke groben und das Gemischtsein desselben macht gerade 
seinen höchsten Genuss für die Seele des Menschen aus, weil 
sie gleichem von zwei Seiten erfasst und ganz erfüllt wird ^) 
Wie der bei dieser Reproduetion stattfindende physiologische 
Process schwach ist, so ist auch die reproducirte Vorstellung 



— 57 — 

oder Siinunung eine verfaällntMOiässig schwache. Während die 
«nmiflelbare Empfindung sogleich mit einer gewissen Stärke 
anftritt, gewinnt sie diese erst allmählich und behält sie nur 
kurse Zeit. Intensivere Eindrücke werden überhaupt weniger 
reproducirt als massige. Des grössten Schmerzes können wir 
uns nie ganz erinnern, er ruft nur eine massige Wehmuth 
hervor. Der Umstand, dass die Freude gewlAnlich mehr Mass 
hält, ist die Ursache der leicht zu constatirenden Thatsacfae, 
dass sie häufiger reiMToducirt wird. 

Die fortwährende Anwendung dieser Gesetze der Associa- 
tion, verbunden mit der Perception und Apperception, ^^) so- 
wie der Verbindung gegenwärtiger Eindrucke macht das Wesen 
der psychisdien Mechanik aus; nicht vereinzelt, sondern fort- 
während ohne Rast und Ruh ist schnell hinter einander das 
eine Mal dies, das andere Mal jenes thätig, und ihre Thätigkeit 
bildet das Wesen der denkenden Seele, ^^) denn es ist 

»Mit der GedankeDfabrik 
Wie mit einem Webermeisterstück, 
Wo ein Tritt tausend Fäden regt, 
Die SchiffleiD herüber, hinüberschiessen, 
Die Fäden ungesehen fliesseo, 
Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt«. 

Die dabei im centralen Nervensystem stattfindende physio- 
logische Reizung dehnt sieh zuweilen auch vom sensorischen 
auf das motorische Gebiet aus. Es ist ja bekannt, dass Vor- 
st^lungen der Freude und des Ghlekes ein unwillkttrliches 
Lächeln, also eine durch Reizung der Muskeln hervorgerufene 
Bewegung begleitet und dass ebenso unangenehme die Mienen 
zu strengen und grimmigen werden lassen. Erst der Wille 
vermag durch Rücksichten der Höflichkeit und des Anstandes, 
auch wohl der bewAlerischen Verstellung bewogen, diese 
Wirkung zu besdhränken und sie dem Auge weniger sichtbar 
%u machen. Als anorm»! kann man es freilich schon bezeichnen, 
wenn 4iese Reizung auf dem motorischen (iebiet sich weiter 
aufilweitet und die motorischen Apparate des Sprachorgans 
u. s. w. ergreift, so dass die Vorstellungen sofort, sei es in 
dunklem, unverständlichem Murmeln oder in artieulirten ver- 
ständKohen Lauten geäussert und von den ihnen entsprechenden 
Gest^d begleitet werden. 



— 58 — 

Wird iHe Eekung aoeh alärkjQr, so dafis der Umensi^ied 
zwisdieo der repreducirt^ und der gegenwttrUgen Varslelhiog 
g&nzlich yersehwindet und die erstere der lelzAeren an Inieati- 
sitat voUsitfiuJlig gleich ersoheim^ so entsteht die Sumeslfiiieoku&g. 
(HaHucination und Ilhision). 

Der Uebei^aag ist oft ein ganz geringer. So lange der 
Blutandrang nach den Selmerren bloss die Vorstellung des Eetfa, 
die Affeclion des Hömerv^ die eines unbesiimmten Summens 
zur Folge hat, sind die subjectiven Efsa^fiftdungen rein gefaxt , 
sobald aber das Eine als Blutatropfen, das Andere als Glocken- 
geiäute vorgestellt 'wird, ist die Täuschung fertig. Besonder» 
sind die Phantasiebilder hei L^atan von starker Einbildui^sr 
kraft EuleUit nicht mehr von der WtrUiohkeit zu unterscheiden» 
Brierre de Boismmt ertäblt die Gesdiichte eines Malers, der sich 
der Bilder einmal gesehener Personen so genau erinnerte, dass 
er nach dem Erinnerungsbild Pm^trSM« ku malett vermodite, 
bald war das Phantasiebild jedoch der Wirklichkeit gleich ge- 
worden, und er verfiel in Wahnsinn. — Obgleich bei der Er- 
klärung dieser Erscheinungen die physiologische Seite vorwalten 
muss, da die gesteigerte Beizbarkeit des Gehirns nicht allein 
die conditio sine qua non ist, sondern auch so stark vorwaltet, 
dass sie allein die Ursache der Sinnestäuschung zu sein scheint, 
so ist doch das psychologische Moment nicht ausser Aeht z« 
lassen. Auch hier hebt eine Vorstellung naeh den Gesetzen der 
Association eine frohere tiber die SciiweUe des Bewusstseins, 
und da diese reproduci^le eine gesteigerte Disposition vorfindet, 
gewinnt sie die Intensität einw unmittelbaren Wahrnehmung.^ 
D^ pliysioiogiscdie Haiuptfaotor bei der Bildung der Hallueinatioii 
und Illusion ist also die gesteigerte Beisbarkeit des oentralen 
Nervensystems. 

Die Hallucinationen sind vedrschiedener Art; in manchen 
Fällen bleibt die gesteigerte Reizbarkeit auf das Oentruin aelfast 
beschränkt, in anderen dehnt sie sich naeh der Peripherie hin 
aus und Uldet so den Uebergang zur Illusion. JMe Beii^arkeit 
des Gehiiti» kann durch mannigfai^ Ursachen hervarg-erttfen 
sein, die haiiptsäehliebsten sind die durch Einwirkung von 
toxischen Siibe4aneen, wie Opium, Hasdiiseh, Aleohol, Balla* 
donna, Datum Stramonium etc. oder auf andere Weise be^ttagte 
Blutfttlle, Entzündung der Hirnhäute und Hirnrinde, andrer-* 



~ 59 — 

isetts die durch ungiesittgemie oder gttisikh mHügelnde Nabrunf 
yermkißsie Blut leere. 

Abkoehungen des Stechapfels (Datur. Stram.) schemeo 
eine bedeutende Bolle gespielt zu haben bei den ZaubertrUnkea 
früherer Zeit; man erzählt von Frauen, die nach dem Genuas 
gewisser Getränke in einen Zustand von HalbseUaf mit wilden, 
bufaferiadben Teufelsvirnonen verfielen und diese nach Ablauf 
der Vergiftung fQr die durchlebte Wirklichkeit hielten. BoeHiove 
erzählt aus neuerer Zeit einen Fall , wo ein erwachsenes Mäd* 
€ben im Getrttnk das Pulver von Steehapfelsomen bekam. In 
der darauf entstehenden Betäubung gab sie körperliche Aeusser- 
ungen eines wUsten, sinnlidien Traumes. — Die Vorstellungen 
nach dem Genuss d«r Belladonna sind d^ien im Säuferde«* 
11 rlum ähnlich; kleine, lebhafte, unangenehme Thiere verfolgen 
den Deliranten und lassm ihn nie zur Ruhe kommen. — Bei 
Haschisch-^EssMoi bemerkte man: Steigerung aller Sinnes*- 
energien, angenehmes Farbensehen, Verschwinden des Bodens 
untw den Füssen, Gefühl des Fliegens durch weite Himmels* 
räume; eine sehr heitere Gemttihsstimmung offenbarte sich, 
und oft erscholl heftiges Lachen ohne Grund. Der Reisende 
Marco Mo^ welcher um das Jahr 1275 den Orient durch* 
forschte, berichtet, dass in Persien auf dar Burg Alamut Hassan 
Ben Aleadin, der Alte vom Berge genannt, hauste; derselbe 
wttsste eine Schaar Jünglinge dadurch für seine Zwecke zu 
begeistern, dass er ihnen einen aus Haschisch bereiteten Trank 
reichen und im Betäubungssehlafo sie in ein LustacUoss brinfen 
iiess, wo sie zu raffinirtem Sinnesgenuss erwachten und im Para* 
dies zu sein glaubten. Später wurden sie unter Hascfaiseh^Be* 
täubung wieder in ihre früheren VerfaXlUiisse zurückversetzt 
und durch Versprechen neuer paradiesischer Wonnen zu Thaten 
jeglicher Art angefeuert. Diese Hasdnschin's (assaasini} waren 
hdehat gefürehtet. — Eine richtig bemessene Quantität Opium 
oder Morphium ruft einen Halbachlaf hervor, den oft die 
lieblichsAen Bilder und fimpfindungm begleiften^). Durch Ge* 
nucs vmi Santoain kann man starke Geruchs- und Ge^ 
schmaekshallueinationen hervorrufon^^^). In neuerer Zeit ist 
der Aether stark in Gebraudi gdLeminen. Ferner ha& man 
neeh die Nareottca: Be^tel (Gfaarica Belle) und €oca (^y*- 
throxylum peravianum) ; Sibirien hat narkotische Pilze, Poly- 



— 60 — 

nesien Ava^ Neugranada und der Himalaya die pomme 
^pineuse, Florida die Apalachine emetica, Nordamerika 
und Nordeuropa Gagel und Leduni.^<^) Alle Naroolica^ im 
U^ennass genossen, haben physische und psychische Degene- 
ration zur Folge. 

Fasten erregt, besonders wenn es mit einsamer Beschau- 
lichkeit in Wald oder Wttste und Einöde verbunden ist. eksta- 
tische Zustände. Bei den Indianern Nordamerikas mttssen die 
Knaben und jungen Madchen mehrere Tage streng fasten, und 
während dieser Zeit wird auf ihre Träume geachtet. Beim Ein- 
tritt der MannbariLeit zieht sich der junge Indianer an einen 
einsamen Ort zurttck um zu fasten , nachzudenken und zu 
beten; hier empfangt er visionäre Eindrücke, die ihm seinen 
Charakter für das Leben aufprägen. Er wartet auf die Er- 
scheinung eines Thieres oder Gegenstandes, der hinfort sein 
Fetisch oder Schutzgenius wird. Wenn im späteren Leben ein 
Indianer etwas bedarf fastet er, bis er einen Traum hat, in 
welchem der Schutzgeist es ihm gewährt. Die nach ihrem 
Tode als Catherine Wabose bekannt gewordene odschibwäische 
Pro]^tin fastete zur Zeit des Eintritts der Pubertät in einem 
abgeschlossnen Räume, bis sie zum Himmel emporstieg und 
beim Eintreten den Geist, den glänzenden Mauen Himmel er- 
blickte. Die Zauberer der Abiponen, welche nach dem Glauben 
der Eingebomen Krankheit und Tod anhexen, alles Uebel zu- 
fügen oder heilen, entfernte und zukünftige Dinge voraussehen 
kännen, eriangen ihre Würde durch Enthaltung von Nahrung. 
Auf Hayti übte man ebenfalls das Fasten um von den Geistern 
zukünftige Dinge zu erfahren. Der Malaye, welcher sich un- 
verwundbar machen will , zieht sich mit kärglicher Nahrung 
in die Einsamkeit des Dschungels zurttck, und wenn er am 
dritten Tage von einem schikien Geiste träumt, der herabsteigt 
irod mit ihm spricht, so ist der Zauber vollbracht. Der Zu- 
sammenhang zwischen Fasten und Geisterverkehr ist bei den 
Sulus so vollkommen anerkannt, dass es fast spriohwörtKch 
bei ihnen geworden ist : »der fortwährend gefüllte Magen kann 
keine geheimen Dinge sehen.« Zu einem wohlgenährten Pro^ 
pheten haben sie kein besonderes Vertrauen. Der hinduische 
Jogi ruft sich durch Fasten einen Zustand hervor, in welchem 
er die Götter anschaut. Die Pythia in Delphi fastete vor ihrer 



— 61 — 

Inspiration, und Galen beiperkt, dass körperiiehe Nahrung die 
Träume deutlicher madie. 7^) Brot und Fleisch würde dem As* 
keten des Mittelalters manchen Besuch der Engel geraubt haben. 
Wie Sprenger sagt, führen die Moslemen ein viel freieres und 
interessanteres Leben als unsere Ml^nche; sie haben nicht {das 
Cölibat, und die Wallfahrten lu Fuss nach Mekka sind ihnen 
von grossem Nutzen in Bezug auf die Gesundheit. 

Oertliche Krankheiten des betreffenden Sinnesorgans, dann 
krankhafte Zustände des Organismus überhaupt, acute wie 
chronische, könneb zur Quelle von Sinnesdelirien werden; 
jede Erschöpfung in Folge geistiger oder körperli<^er lieber- 
anstrengung verbunden mit psychischer Concentration auf ein- 
zelne Vorstellungskreise befördert sie (Luther auf der Wart- 
burg). Manche Gase, wie Stickstoffoxydul und Salpetergas, 
Rüucherungen , wie sie bei manchen magischen Taschenspie- 
lerkünsten angewendet werden ^^j, rufen die seltsamsten Tau- 
schungen hervor. Eckartshausen hatte von einem orientalischen 
Juden ein Räucherwerk erhalten, welches bewiriLte dass ge- 
rade das Individuum, was man sehen wollte, im Rauche sich 
darstellte und zwar ganz deutlich, wie E, und sein Freund 
mit ihm sahen ^^). Uebrigens sind die Sinnestäuschungen^ 
wie alle stärkeren Farmen des Wahnsinnes auch erblich ^^j. 

In allen diesen Fällen scheinen sich Zersetzungsproducte 
der Gewebe in der Hirnrinde anzusammeln und die Reizbar- 
keit desselben zu erhöhen bezw. Reizung selbst hervorzubrin- 
gen 7^} • Obgleich die Form der Hallucination, ob sie als Ge- 
sichts- oder Gehörstäuschung u. s. w. erscheint, zweifellos von 
dem Ort der centralen Reizung abhängt, so ist doch eine Lo- 
calisirung der Reizbarkeit als Disposition für die Miantasmen 
der einzelnen Sinne bis jetzt noch nicht gelungen. Schroeder 
van der Kolk versuchte es und betrachtete, indem er die Per- 
ception für Anhäufung von Zellen in der Nähe der Sinnesnei^ 
venwurzeln hielt, die Apperception aber durch die Zellen der 
Hirnrinde vor sich gehen Hess, die Reizung der letzteren als 
gewöhnliches Phaütasiebild, die der Perceptionszellen einzelner 
Nerven als Hallucinationen der betreffenden Sinne. Doch Wimdt 
hält es für wahrscheinlicher dass alle Phantasmen in der Gross- 
hirnrinde ihren Ursprung haben. 

Am meisten sind den Hallucinationen ausgesetzt die söge*» 



— 62 — 

nanaten höbern Sinne, Gesicht und Gehör, weniger der Tast* 
«inn und am wenigsten Gerueh und Gesdimaek. Die Hailuci- 
naiionen des Gesichtssinns l)eaeichnet man mit dem Namen 
Visionen; sie wmlen oft hervoi^erufen dnrch länger^ Aut- 
enthalt im Finsteren, wie die des G^örs durch lan^e Einzel* 
haft; in beiden FäUen findet das Sinaes^Hrgan keine Anregung 
und es sammelt sich eine Mmige von Spannkraft an, welche 
scheinbar ohne physiologische Anregung zur lebendigen wird^®). 
Ebenso wie zu wenig kann zu viel Uebung der Sinfiesorgane 
Hallucinationen hervorrufen, wie ja bekanntlich Maler am mei- 
aien zu Visionen, Musiker zu Gehörsphantasmen diqponirt sind. 
Henle und H. Mey$r beobadrietmi, dass ihnen mikroskopische 
Objecte, die sie während des Tages untersucht hatten, mit 
voller Lebendigkeit im dunkeln Gesichtsfelde auftauchten ^^j . 
Einen eigenthttmtichen Fall th^lt Lazarus mit?^). »Auf 
der Terrasse von Rtgi-Kaltbad«, so erzählt er^ »war ich an einem 
sonnenhellen Nachmittag mit dem Versuch. beschäftigt, in der 
gegenttberliegenden mächtigen Gebirgswand, welche von den 
Gletsdiern TiUes, Uri-RothslodL u. s. w. gekrtfnt wird, den 
sogenannten »Waldbruder«, einen frei aus der Wand aufragen- 
den Felsen mit unbewaffneten Augen zu entdecken. Abwech- 
selnd durch das Fernrohr, das ihn deutlich erkennen lässt. 
und mit blossen Augen sehend, wollte es mir gleichwohl nicht 
gelingen, Ihn ohne Glas aufzufinden. Ich mochte meine Augen 
6— iO Minuten mit solcher straffen Spannung auf das Gebirge, 
dessen Färbung in den verschiedenen Theiien je nach Höhe 
und Vertiefung zwischen Violett, Braun und Schwarzgrau 
schwankte, vergeblich ermüdet haben, al« ich abliess und mich 
von der Stelle bewegte. In demselben Moment sah ich — ich 
kann mich nk^t erinnern, ob bei offenen oder geschlossenen 
Augen — einen meiner entfernten Freunde als Leiche vor mir. 
.... In dem vorliegenden Fall nun legte ich mir sofort die 
Frage vor, wie kommst du auf diesen deinen entfernten Freund? 
es mochten wenige Secunden vergangen sein, als ich bereits 
den durch das Suchen des Waldbruders abgerissenen Faden 
des Vorstetlungshmfes wieder erhascht hatte und mit der grOss- 
ten Leichtigkeit das Anleihen dieses Freundes an den Gedan- 
kenlauf als einfache Nothwendigkeit erkannte. Hatte ich die 
Erinnerung an den Freund natürlich erklärt, so traf nun der 



— 63 — 

Umstand, d«» ich ihn als Leiche gesehen, nicht bios ab eine 
Frage, sondern geradezu als ein ProUem anl In diesem Mo- 
ment scMoss ieh — ob nach aligeneiner Gew<Anheit beim 
dachenden Naohdenken, ob in Felge der vorangegangenen 
Ermüdung der Augen, das weiss ich nicht — ieh schloas die 
Augen, und jetzt sah ieh das ganse Gesichtsfeld' in beträcht- 
licher Ausdehnung ven derselben leichenhaften Färbung — 
grttngelbee Grau — erfüllt. Sofori hielt ich dies fttr den Er- 
Jdärung8gn»d der Ahnungsvoratelhmg und versuchte mir an- 
dere Perooneo aas der Erinnerung Yoi*zustelien, und in der 
Tbat auch diese — erschienen mir als Leiohen ; stehend, sitcend, 
■wie ich wollte^ hatten sie ganz die Leiehenfari»e. — Nicht 
^lle, Personen, die ich versuehend sehen wollte, erschienen mir 
als Bilder. Bei geöffneten Auge» sah ieh die Bilder gar nicht, 
oder versehwind^id unbestimmt in der Farbe. Als ich dann noch 
zu der Frage kam, wie sieh die Bilder der Personen zu dem 
umgebenden ebenfalls gefärbten Gesichtsfeld verhielten, vvo> 
durch die CFmrisse gebildet werden, ob (Besicht und bekleideter 
Körper verschieden wären — ? da war es schon zu spät, oder 
der Einfluse. der suchenden Befiexion war zu mächtig, alles 
verblasste . schnell und das subjeeti've Phänomen , da(s doch 

einige Minuten gedauert haben mag, war vorüber Von 

dw vorangegangenen starken Erregung des Opticus und der 
damit -verbundenen Bttekwirkung auf das Centralorgan mag es 
abgehangen haben, dass Überhaupt erinnerte Vorstellungen wie 
wirklidie Bilder in ihren Umrissen vergegenwärtigt wurden, 
so dass die centrale Erregung gleichsam bis an die Peripherie 
heranreichte , und die hier Y(H*handene Gemplementärfarbe er- 
füllte jene Umrisse mit ihrer speoifischen Bedeutung, indem 
sie nunmehr vem Cemtralorgan wiederum erfasst, als Leichen- 
faii>e apperoipirt wurde«. Lazarus bemerkt noch (S. 120), 
seine Augen seien gesund und weittragend, bei anhaltendem 
Regenwetter empfinde er jedoch leicht eine grossere Beizbar- 
keit und fast einen Druck in den Augen. Erinnerungsbilder 
:sehe e^ fasi immer nach seinem Belieben und besonders in 
(durch gute Gesellsdiaft und bei einer Flasche Wein) erregten 
Zuständen mit einer an sinnliehe Wahrnehmung grenzenden 
Deutlidikeit und Lebendigkeit. 

Die bis jetzt berichtete Art der Hallucinationen zeigt sich 



— 64 — 

vorzugsweise dann, wenn die betreffenden Sinnesorgane von 
der äusseren Einwirkung fem gehalten werden ; es giebt aber 
auch Falle — an welche das letste Beispiel streift — wo Hai- 
lucinationen selbst dann auftreten, wo die Verbindung mit der 
Aussenwelt nicht gestört ist. Es geschieht dies, wenn die 
centrale Heizharkeit den oben erwähnten höheren Grad erreicht 
und sich nach der Peripherie hin ausbreitet, wo Visionen am 
hellen Tage bei geöffneten Augen und GehörshallueinationeB 
mitten im Lärm und Geräusch der Umgebung entstehen. — 
Nicolai sah das ganze Zimmer voll Geister, bis bei Ermässigung 
des Heizzustandes der Hirnrinde die Erscheinungen allmählich 
verblassten und aufhörten. Geisteskranke sehen grosse Licht- 
und Feuennassen, welche Ersdieinung nach der Gedanken* 
richtung eines jeden verschieden ausgelegt wird : einige glauben 
sich im Himmel und sehen die Herrlidikeit Gottes, andere 
wähnen sich von den Flammen der Hölle umgeben. 

Dabei ereignet es sich oft, dass die äusseren wirklichen 
Eindrücke sich den durch sie reproducirten Vorstellungen 
assimiliren, mit ihnen sich vereinigen und ein neues gemisch- 
tes Phantasma erzeugen. Wird in diesem Gebild der von aussen 
gekommene Eindruck vom subjectiven reproducirten Elemente 
beherrscht und seinem Inhalte nach bestimmt, so nennt man 
dasselbe eine Illusion, und wir finden somit, dass wie zwi- 
schen Erinnerung und Phantasie, so zwischen Hallucination und 
Illusion keine ganz feste Grenze existiri, sondern beide Er^ 
Scheinungsarten sich berühren und in einander übergehen. 
Viele Täuschungen, bei ^welchen kein äusserer Grund vorzu- 
liegen scheint, lassen sich bei genauer Beobachtung auf solche 
zurückführen und sind als Illusionen zu betrachten. Bei Wan- 
derungen in der Wüste wird der Geist durch die elastische 
Luft ungemein angeregt; da die Umgebung aber zu monoton 
ist um neue Bilder zu schaffen, werden vergangene Eindrücke 
lebhaft reproducirt und es entstehen so die Gehörstäuschungen 
(H4tif) und Visionen (Bagl). Der Reisende hört Stimmen und 
sieht Bilder; letztere haben in den nebelhaften Dünsten und 
in der Brechung des Lichtes ihren Grund. 

Doch sind nicht alle Illusionen so schlimmer Natur, dass^ 
wir in ihnen einen so hohen Grad gesteigerter Reizbarkeit 
vor uns hätten; dies sind nur die sogenannten phantasti- 



— 65 — 

sehen Illusionen. Neben ihnen findet man aber, und zwar 
weit häufiger, die physiologischen, welche auch bei nor- 
maler Disposition des Nervensystems vorkommen. Solcherlei 
Art sind die Fülle, wo der Gorrectör den Fehler übersieht, 
weil er seine unvollständige Gesichtsempfindung durch die re- 
producirte Vorstellung des richtigen Wortes ergänzt, oder wo 
aus denselben Gründen der Zuschauer im Theater die rohen 
Umrisse einer Landschaft der Decoration für naturgetreu hält. 
Bei träumerischem Anblicken der Wolken sieht man oft allerlei 
Gestalten darin. Joh. Müller erzählt, dass er sich in seiner Kind- 
heit lange damit beschäftigt habe, in der theilweise geschwärz- 
ten und gesprungenen Kalkbekleidung eines dem Fenster seiner 
Wohnung gegenüberliegenden Hauses die Umrisse der verschie- 
densten Gesichte zu sehen, welche Andere natürlich nicht da- 
rin erkennen wollten. Die phantastischen Naturgestalten schil- 
dert Goethe in der Blocksbergscene : 

Seh' die Böutne hinter Bäumen, 
Wie sie schnell vorüberrücken, 
Und die Klippen, die sich bücken, 
Und die langen Felsennasen, 
Wie sie schnarchen, wie sie blasen ! 

Ein interessantes Beispiel von normaler Illusion erzählt Sputa 
(S. Mb) : ))Ich wohnte mehrere Jahre lang in Berlin dicht an 
der dortigen Parochialkirche und hörte alltäglich das Glocken- 
spiel vom Thurme derselben, welches im Wechsel der Monate 
immer einen bestimmten Choral stündlich abspielte. Als ich 
mich nun, lange nachdem ich Berlin verlassen hatte, bei 
meinen Eltern am Stamberger See befand und eines Tages 
an seinem Ufer einsam entlang spazierte, hörte ich plötzlich 
das Glockenspiel ganz deutlich, wie es in gewohnter Weise 
den Choral : » Wer nur den lieben Gott lässt walten « abspielte 
und zwar mit allen den üblichen Vor- und Nachklängen. Als 
ich nun durch sofortige Ueberlegung dieses Bild hatte schwin- 
den machen, hörte ich in Wirklichkeit nichts Anderes, als das 
ferne Läuten einer Kirchglocke, welches über den See hin^*- 
zitterte«. 

Besonders zeigen sich Illusionen da, wo die Eindrücke 
unbestimmt sind, weil dann die reproducirten Vorstellungen 
leicht die Macht erringen. In der Dämmerung und der Nacht 

Radentock, Schlaf u. Tratin. 5 



— 66 — 

wird dem Gespenstergläubigen ein Stein oder ein Baumstumpf 
zur Spukgestalt; und im Rauschen der Blätter hört er unheim- 
liche Stimmen. Bei normaler Disposition ist das spannende 
Gefühl der Erwartung den Sinnestäuschungen günstig : die 
Eindrücke werden anticipirt und es ergötzt sich ein sehnen- 
des Herz »mit süssen Bildern wesenlos zu spielen«^?). Jeder 
Affecl, der die Reproduction verstärkt, so dass sie sich leb- 
haft vordrängt, ist von Wirkung, denn vorzugsweise Furcht- 
:same sehen Gespenster. Ebenso ist der Einfluss geläufiger 
Associationen nicht zu verkennen; die Gespenstergläubigen 
zeichnen mit Vorliebe einen kürzlich Verstorbener^ in die 
Schattenbilder der Nacht. Lazarus erzählt ®<^) nach Dr. Moore: 
»Die ganze Bemannung eines Schiffes war erschreckt durch 
das Gespenst des Kochs, welcher einige Tage zuvor gestorben 
war. Er wurde von Allen deutlich gesehen, wie er auf dem 
Wasser mit dem eigenthümlichen Hinken ging, durch welches 
er gekennzeichnet war, da eins seiner Beine kürzer gewesen 
als das andere. Der Koch, so völlig erkannt, erwies sich 
dann doch als ein Stück von einem alten Wrack c^ 

Jede wissenschaftliche Hypothese beruht eigentlich auf 
Illusion, insofern auch hier das Objective, Gegebene durch 
das Subjective beherrscht, seinem Inhalte nach bestimmt und 
ausgedeutet wird, ohne dass oft ein äusserer Anhalt dazu vor- 
handen ist. Bekanntlich trägt man viel in die Ansichten früherer 
Philosophen hinein, und Hegel wusste in seinen Illusionen sogar 
einen streng logischen Zusammenhang zwischen den einzelnen 
Systemen zu finden. Viele schwärmen für das idyllische Leben 
der Naturmenschen, ohne zu beachten', dass sie ihre eigenen 
Gedanken und Gefühle, welche sie der Cultur verdanken, in 
jene Zustände übertragen und dort Genüsse vermuthen, von 
denen nur der Cultivirte eine Ahnung hat. Ja, die gesammte 
sinnliche Welt-Auffassung des gewöhnlichen Menschen ist eine 
grosse fortgesetzte Illusion : Farben und Töne , die doch erst 
in uns sich bilden,' legen wir den äussern Dingen bei, die der 
Physiker nur ansehen kann als ein Aggregat bewegter oder 
ruhiger Elemente um uns, weder hell noch finster, wieder laut 
noch still. Wir tragen Vieles in unsere Umgebung hinein, 
was wir von ihr zu empfangen wähnen. 

Krankhaft wird die Illusion, wenn die Reizbarkeit so steigt. 



— 67 — 

das» die Sinnesempfindungen in hohem Grade verstärkt aad 
phantastisch verändert werden . Der zuGehörstäuschungen 
Disponirte hält dann das Pochen an der Thür für Donner, das 
Sausen des Windes für himmlische Musik; ein Geräusch auf 
der Treppe wird den Gerichtsdienem zugeschrieben, welche 
ihn verhaften wollen, im Gespräche Anderer glaubt er auf ihn 
gerichtete Schimpfworte zu hören. Weibliche Kranke beklagen 
sich bitter über lose Reden und Unanständigkeiten, die sie 
hören mttssten. Die Gehöpsphantasmen sind nicht ganz so häufig 
wie die des Gesichts und weisen meist auf eine schwere, we- 
niger heilbare Gehimaffection hin; besonders will man sie in 
Verbindung mit Unterleibs^ und Genitalien-Krankheiten beob- 
achtet haben — ^^]. Der mit Illusionen des Gesichtssinns 
Behaftete erschliesst eine tödtliche Feindschaft der ihm Begeg- 
nenden aus ihren Blicken und hält Bäume oder Felsen für ihn 
bedrohende gigantische Gestalten. Ein Herr, der. von hypo- 
chondrischer Melancholie befallen war, schlug beständig mit 
seinem Stocke auf die Möbel seines Zimmers, um so mehr, 
je schneller er ging; er hielt den Schatten, welchen er warf, 
für Ratten. — Beim Geruchssinn sind Hallucinationen und 
Illusionen selten, doch kommen letztere noch mehr vor als 
erstere; sie verursachen den Wahn, in einer vergifteten At- 
mosphäre zu leben und von Leichen umgeben zu sein. Beim 
Geschmackssinn, wo sie ebenfalls seltener auftreten, sind 
beide nicht mehr zu unterscheiden; die Delirien gehen hier 
meist nach der unangenehmen Seite hin und man findet nur 
sehr wenig Fälle von angenehmen Geschmacksempfindungen 
und vermeintlichen Genüssen von Delicatessen. — Häufig da- 
gegen sind die Illusionen der Hautempfindungen und des 
G e m e i n g e f ü hl s. Anfangs werden die schmerzhaften Empfin- 
dungen von den Kranken mit analogen Vorgängen nur auf 
phantastische Weise verglichen. Die Hypochondristen sagen, 
es sei ihnen, als ob Schlangen an der Haut liefen, Frösche 
im Unterleibe sich befänden, als ob in der Brusthöhle ein 
Vogel pfiflFe oder ein junger Hund im Kopfe Wasser schlürfe. 
Die anfangliche Vergleichung wird aber bei starkem und an- 
haltendem Fortbestehen jener Empfindungen unter dem Einfluss 
äusserer günstiger Umstände und innerlich zunehmender Ver- 
stimmung bald zum ausgebildeten Wahn. Bei einzelnen Schmer- 

5» 



— es- 
sen in der Haut glaubt der Kranke gestochen oder geprügelt 
1EU werden: bei abnormen Ab<k>minalsensationen entwickelt 
sich die Idee, dass der Teufel sich im Cnterleibe beende oder 
das jüngste Gericht dort vor skih gehe. £in Kranker in 
Winnenthal schrie monatelang : »H^' auf und lass mich gehen I« 
Er glaubte bald von einem Wesen, das ihm im Bauch sitze^ 
gequält, bald von imaginären Ochsen mit den Hörnern gestos- 
sen zu werden. 

Die verschiedensten Formen des Besessenseins entstehen 
auf diese Weise. Dem Einen hal sich der Bauch in eine Me* 
nagerie lebender Thiere, dem Andern in eine Gaserne oder 
gar in ein Schlachtfeld verwandelt. Bald kriechen Schlangen, 
Eidechsen und Insecten, bald hüpfen Frösche und Heuschrecken 
darin umher, oder es tummeln sich dort sieben Reiter. Das 
eine Mal spielen darin die Geschichten des neuen Testaments, 
die Kreuzigung Christi, das Martyrium der Apostel und Heiligen, 
das andre Mal wird ein ganzes Regiment Soldaten einquartiert. 
Bei Diesem wird ein päpstliches Goncil in bester Form abge- 
haftten, bei Jenem rast eine Gehörte Teufel im Leibe um ihn 
zu zerreissen und zu zerieischen. — Auf Abnormitäten der 
Hautempfindung , Hyperästhesie und Anästhesie, die vorzugs- 
weise bei der Melancly>lie vorkommen, beruhen die Ideen, dass 
der Leib aus Glas oder aus einem anderen Stoffe bestehe. — 
Sexuelle Illusionen erregen bei männlichen Kranken den 
Wahn, von anderen zu Ausschweifungen auftrieben zu werden, 
bei weiblichen den der Schwangerschaft, geschlechtlichen Ver- 
einigung mit einem imaginären Geliebten oder auch gar mit 
-dem Teufel u. s. w. 

Jean Paul meint zwar, dass Täuschungen verschiedener 
Sinne selten zugleich vorkämen ^^j, doch sind die Schriften, 
die über den Irrsinn handeln, reich an Beispielen, wo Hallu- 
cinMionen und Illusionen mehrerer, ja aller Sinne zugleich 
vorkamen. Die eine Täuschung ruft die andre hervor, und 
Manchem scheinen die Frösche im Magen noch zu quaken. Ein 
Mann kehrte Abends bei Mondschein von einer Fussreise, auf 
der er sich ziemlich ermüdet hatte, zurück. Auf einmal war es 
ihm, als ob er ein grosses drachenartiges Thier sich in einem mit 
Wasser gefüllten Graben der Ghaussee wälzen sehe. Er gerieth 
in die heftigste Angst und fühlte sich sogleich von dem Thier 



— 69 — 

an der rechten Schulter sehr schmerzhaft gepackt; doch 
konnte er — wie er meinte — sich durch Laufen retten. Er 
verfiel unmittelbar darauf in eine Krankheit, die sich bald als 
ein die ganze rechte Brusthälfte füllendes, rechtsseitiges 
Pleuraexsudat herausstellte , an dem er nach mehreren 
Monaten starb ^^) . 

Alle bisher berührten Arten der Reproduction, die normalen 
und anormalen, bei weitem am meisten aber die letzteren ^ 
kommen zur Geltung im Traum, welcher die im Schlafe 
fortdauernde Seelenthätigkeit bildet**). 



Capitel IV. 

Die Ursachen und Eigenthümlichkeiten des Schlafes. 

Unter den Ursachen, welche den Schlaf bedingen, sind 
nähere und entferntere zu unterscheiden. Von den entfern- 
teren ist vor allen zu nennen die Periodicität. welche wir 
nicht nur im Schlaf und Wachen sowie in zahlreichen organi- 
schen Functionen des Individuums, dem Herzschlag, der Ath- 
mung, dem Gang der Körperwärme, den Absonderungsverhäit- 
nissen der Secretionsstoffe, sondern auch in der Natur überall 
verbreitet finden. 

Es giebt gleichsam eine Fluth und Ebbe der Gedanken^ 
bald drängen sie sich in Fülle und grosser Lebhaftigkeit auf^ 
bald zeigen sie sich nur vereinzelt und bewegen sich träge; 
wenn die Selbstthäthigkeit in freiem Schaffen ermüdet, tritt 
eine Sehnsucht nach neuem Empfangen ein , Aufnahme und 
Productivität müssen so mit einander wechseln. — Wie die 
Gemüthserregungen selbst nach dem Gesetze des Contrastes 
wechseln und auf Freude oft Schwermuth und Thränen, auf 
ungebunden und fröhlich durchschwärmte Stunden ein Gefühl 
der Leere folgt, so wird auch das Verhältniss jedes Einzelnen zu 
denselben, der Stärkegrad der Gefühlsdisposition, periodisch ein 
andefer. Erzwungene Versuche mancher Poesie, uns durch 
beständige Versenkung in die Mystik und Romantik der Natur- 
erscheinungen zu unterhalten, versetzen uns in Missstimmung 
und Unbehagen, denn unser Herz begehrt nicht immer Symbole 
und Gleichnisse, sondern oft das volle warme Leben, und es 
dürstet förmlich nach Wirklichkeit. Man kann an sich selbst 
beobachten, dass man bald mehr zum Gefühlsieben, bald zum 
theoretischen Denken hinneigt. »Jeder Tag bildet eigentlich 
für einen Jeden ein solches Räthsel, indem bald die psychischen 



— 71 — 

Thätigkeiten raischer, kräftiger, richtiger vor sich gehen, bald 
schlaffer erscheinen und mehr zurückgedrängt und ihre Kraft 
durch den störenden Einfluss durchgehender Vorstellungep ge* 
hemmt wird, in manchen Fällen ein sinnlicher . Reiz obsiegt, 
der in andern tnit Leichtigkeit überwunden wird, und das zu 
begreifen und in Formeln zu bringen scheint unmöglich« ^^) . 
Die geschlechtlichen Verhältnisse zeigen eine gewisse Perio- 
dicität , ebenso die Krankheiten , physische wie psychische» 
Forster bemerkte alle 27 oder 28 Tage eine Irritabilitätsperiode, 
schwächere alle H Tage. »Alle Menschen werden nach Mass* 
gäbe der Empfindlichkeit ihres Nervensystems in dieser Zeit 
afficirt, die nervös Leidenden, besonders Wahnsinnige und 
unter diesen namentlich melancholische am meisten« ^^j * All*- 
zuweit ging freilich auch hierin die mystische Naturphilosophie 
der Schellingianer , welche die Periodicität im organischen und 
unorganischen Reiche überhaupt in ausgedehntestem .Masse 
nachzuweisen suchten ^^j . 

In Folge dieser Periodicität wird der Müssiggänger, welcher 
den Tag ohne Anstrengung verbracht hat, ebenso schläfrig als 
der energische Mann, welcher seine Kräfte übte. Auch ist die 
Gewohnheit nicht ohne Einfluss; man wird zur gewohnten 
Zeit schläfrig, und wenn diese vorüber ist, nicht selten wieder 
munter. Ferner bewirken mehrere physiologische Bedingungen 
den Schlaf, wie die Entfernung der Sinnesreize^^), 
welche in relativ höchstem Grade die Stille und das Dunkel 
der Nacht begleiten; können sie nicht vermieden werden, so 
kann trotzdem Schlaf eintreten, wenn das Interesse für die- 
selben abgestumpft ist. So schlafen Müller trotz des Ge* 
räusches der Mühle , und der plötzliche Mangel dieses gewohnten 
Eindrucks führt oft sogar das Erwachen herbei; Landleute, 
welche das erste Mal in eine grosse Stadt kommen, können 
des Nachts nicht schlafen und am Tage auf der Strasse nicht nach* 
denken, weil ihre Aufmerksamkeit von den äusseren Eindrücken 
zu sehr in Anspruch genommen wird. Bei längerem Aufent* 
halte verlieren diese Eindrücke das Interesse und sie meditiren 
oder schlafen so ungestört als die in der Stadt Geborenen. 
Gleichmässige, nicht zu starke Eindrücke, welche das Interesse 
nicht besonders erregen, wie das Säuseln des .Waldes, Rau- 
schen des Windes, Baches und Wasserfalles, monotone Musik, 



— 72 — 

der Pendelschlag der Uhr, langweilige Reden oder die Lectttre 
eines uninteressanten Buches — schläfern ein, indem sie die 
Selbstthätigkeit nicht herausfordern und uns »einluUena. — 
Boerhave Hess, um einem Kranken Schlaf zu verschaffen, Was- 
ser an einen Ort stellen, welches tropfenweise in eine kupferne 
Pfanne fiel»»). 

Schmerzhafte Affection der Hautempfindungen und des 
Gemeingefühls hindert den Schlaf, während die möglichste 
Befreiung desselben von Eindrücken durch Entledigung von 
Kleidungsstücken u. s. w. ihn herbeiruft; ja eine gleichförmige 
sanfte Reizung durch Schaukeln, Wiegen oder sanftes Reiben 
befördert ebenfalls den Schlaf. — Wo das Nervensystem sich 
an solche kleine Reize gewöhnt, schläfern sie nicht nur ein, 
sondern ihr Aufhören führt sogar das Erwachen herbei. Der 
Müller erwacht beim Stillstehen der Mühle, das Kind^ wenn 
die Amme aufhört zu singen, der Schläfer in der Kirche, wenn 
die Predigt aufhört, der an das Nachtlicht Gewöhnte, wenn 
dasselbe erlischt. 

Neben dieser Interesselosigkeit bildet das bedeutendste 
psychologische Moment die Befriedigung der Selbstthä- 
tigkeit. Mehr als die Anregung durch fremde Gedanken- 
reihen beim Anhören eines Vortrags verscheucht eigne lebhafte 
Beschäftigung und eignes scharfes Nachdenken den Schlaf. 
»Wo die Seele noch nach einem Ziele strebt, mit einem Ob- 
jecto beschäftigt ist, Vorstellungen zu lebhaft verfolgt, sei es 
in Meditation oder Gemttthsbewegung, da tritt kein Schlaf ein«, 
sagt Burdack^)j »dieser erfolgt erst, wenn sie durch rüstiges 
Wirken und durch Erreichung eines nächsten Zieles gesättigt 
ist und vor der Hand ihre Rechnung geschlossen hat. Mag 
sich aus dem Geleisteten oder Erlebten noch so Grosses für die 
Zukunft ergeben und majg die Folge noch so sehr Geist und 
Gemüth in Anspruch nehmen; wenn nur der Gegenwart Ge- 
nüge geschehen ist, kann sich der Schlaf einstellen : so schliefen 
Alexander, Sextus Pompejus, Napoleon und andere Feldherrn 
die Nacht vor einer entscheidenden Schlacht, Gato und andre 
vor dem freiwilligen Tode eben so ruhig und fest, wie im All- 
tagsleben. Wenn die Freude aufgehört hat ^u brausen und 
man das Object derselben nach allen Richtungen verfolgt hat, 
so y^rfällt man im Gefühle der Sättigung in sanften Schlaf. 



'tiwkAy 



— 73 — 

So erschöpft steh aach die Traurigkeit, indem die HoShungs^ 
losigkeit Ergebung und Beruhigung herbeiführt ot. Cleghom 
theilt die Beobachtung eines Gefangenwärters mit, nach welcher 
Verbrecher die erste Nacht, nachdem ihnen ihr Urtheii ver- 
kündet, zu durchwachen pflegen, die letzte Nacht vor ihrer 
Hinrichtung aber ruhig schlafen. — Auch spielt die Individua- 
lität eine bedeutende Rolle. Wo das geistige Leben träge ist, 
keine rüstigen Bestrebungen unternimmt, und der Tiefe er* 
mangelt, wo sich also leicht Befriedigung findet, kann zu jeder 
Stunde Schlaf eintreten, wenn kein Zwang zur Arbeit vorhan- 
den ist; ja der Gedankenlose schläft, auch unter den bedro- 
hendsten Umständen ein, sobald nur seine körperlichen Be- 
dürfnisse befriedigt sind, wie das Thier bald nach der Sättigung 
einschläft. In der Manie giebt es keine Befriedigung und es 
sctiläft der Kranke hier auch nach langen erschöpfenden An- 
strengungen nicht ein. 

Eine starke Blutentleerung bewirkt ebenso Schlaf wie eine 
%\i starke Anhäufung desselben im Gehim und seiner Umgebung 
(Blutüberfülhing mit Stockung ist oft die Ursache von Apo- 
plexie und Goma). — Schlaf und Betäubung entstehen femer, 
wenn das (iehim zusammengedrückt wird durch ergossenes 
Blut oder Eiter, durch Hirnschwämme, Schädelknochen u. s. w. 
Dasselbe bewirkt der einfache mechanische Druck auf Stellen 
des Hirns, welche durch den Trepan oder eine Verletzung ent- 
blösst sind. Hnüer ^^) brachte auf diese Weise Hunde bis zum 
Schnarchen, Fodi^6 sah ebenfalls durch allmählichen und gleich- 
massigen, auf den mittleren Theii des Gehirns ausgeübten Druck 
bei Thieren Betäubung entstehen «2) . 

Die Stellung oder Lage des Körpers ist in Bezug auf 
den Schlaf nicht ohne Einfluss. Abgesehen davon, dass die 
ausgestreckte mehr oder weniger horizontale Lage des Körpers 
schon durch Veränderung der Blutcirculation einschläfernd wirkt 
und man dabei auch eine parallel gehende Veränderung der 
psychischen Functionen beobachtet, die sich im Hingeben an 
regellos spielende Miantasien kund giebt — begünstigen be- 
sonders alle die Stellungen und Lagen den Schlaf, welche dem 
Körper die meisten Unterstützungspunkte liefern und deshalb 
welliger Anstrengung sie inne zu halten erfordern , dabei aber 
zugleich wenig Druckempfindungen erregen. Wenn die Er- 



( 
\ 



— 74 — 

müdung gross ist, stellt sich jedoch der Schlaf auch in jeder 
Stellung ein. Die Vögel sowie viele vierfttssige Thiere schlafen 
im Stehen. 

Bekannt Ist, dass Simulation den »Sorgenlosem nicht selten 
herbeiruft und man ihn gleichsam hintergehen kann. Doch 
darf in allen Füllen keine Ueherspannung der Kräfte, physisch 
oder psychisch, vorangegangen sein : allzu scharfes Nachdenken 
und Grübeln vorher lässt seine Wirkung noch lange sptlren, 
und dass allzu grosse körperliche Ermüdung, wo die Glieder 
zittern, den Schlaf nicht herbeiruft, sondern verscheucht, ist 
durch Erfahrung genugsam constatirt. 

Direct schlaferzeugend wirken die Narcotica, alle Aether- 
arten und ätherischen Oele, manche gas- und dunstförmige 
Stoffe und endlich auch Blumengerttche. Da oft erzählt wird, 
dass verschiedene Lagen des Körpers gegen den magnetischen 
Meridian auf den Schlaf einwirken, machte Purkinje im Jahre 
48S0 hierauf bezügliche Versuche, ohne ein Resultat zu erhal- 
ten, doch hält er die Sache nicht für undenkbar ^^). Derselbe 
macht (S. 4S6) die Bemerkung^ dass ein Messer, eine Scheere 
oder ein Finger vor die Stirn oder die Nasenwurzel gehalten, 
ein angenehmes Gefühl verursacht, welches zum Schlummer 
einladet. Schlaf bewirkt femer ein länger dauernder Sinnes* 
eindruck, welcher die Nerven ermüdet z. B. die längere Fixi- 
rung eines Gegenstandes mit den Augen '^^]. 

Aristoteles nennt als Einschläferungsmittel Mohn, Alraun, 
Wein und Lolch, welche Schwere im Kopfe verursachten •*) . 
In jüngster Zeit glaubte vorzüglich W. Preyer dadurch, dass 
er Milchsäure oder milchsaures Natron in den Magen 
oder unter die Haut einführte, Schlaf hervorzubringen, »voraus- 
gesetzt, dass starke Sinnesreize fern gehalten werden«. Zu- 
nächst machte er Versuche an Thieren, dann auch an Menschen 
und zunächst an sich selbst. »Ich habe unzweifelhaft«, sagt er, 
»nach Einführung von milchsaurem Natron nicht nur ein starkes 
Ermüdungsgefühl , zumal Unlust zu arbeiten , zu gehen , zu 
denken, sondern auch eine beinahe unüberwindliche Schlaflust 
herbeigeführt. Ja, regelmässig nach reichlichem Genüsse ge* 
ronnener Milch tritt bei mir Schläfrigkeit ein«®<^). Doch fand 
Loihar Meyer das milchsaure Natron subcutan gänzlich und sto- 
machal mit Ausnahme von zwei Fällen so gut wie wirkungslos, 



— 75 — 

wohl aber machte es Verdauungsfitörungen. Audi Erler und 
Fischer konnten eine schlafmachende Wirkung des milchsauren 
Natrons und der Milchsäure nicht constatiren ; letzterer wandte 
die Säure in Klystieren an, in welcher Form sie von Mendel 
empfohlen worden war^^). — Femer berichtet Freyer, -er sei 
in Schlaf verfallen, wenn er seinen Arm 4000 Secunden lang 
wagerecht ausgestreckt habe, so dass die Schmerzen kaum 
noch zu ertragen gewesen wären ; bei solcher Muskelermüdung 
sei es aber nothwendig alle stärkeren Reize und geistige An- 
strengung zu vermeiden, wenn man Schlaf herbeiführen wolle. 
jS. 30}. 

Manche Reize wirken oft nur relativ, indem sie in 
massiger Intensität den Schlaf befördern , in gesteigerter 
aber ihn verhindern, wie Wärme und Kälte, oder auch umge- 
kehrt, wie geistige Getränke. Letztere machen bei massigem 
Genüsse munter und fröhlidh, beleben die Phantasie, setzen 
überhaupt eine höhere Spannung und verscheuchen den Schlaf; 
werden sie weiter genossen, so stören sie das Selbstbewusstsein 
wie die Selbstbestimmung und schläfern ein. Freilich ist auch 
hier die Individualität von Einfluss, denn während das psy- 
chische Leben des Einen durch ein Glas Wein gesteigert wird, 
macht letzteres den Andern träge und schläfrig. Sogar Opium und 
Tabak wirken bald belebend, erhalten wach und steigern die 
Phantasie, bald folgt ihnen der Schlaf nach, je nachdem die 
Quantität ihrer Anwendung und die Stimmung der Lebendig- 
keit des Organismus, auf den sie einwirken, eine verschiedene 
ist. Bei Bilsenkraut, Belladonna und fast allen anderen Narco- 
ticis findet Aehnliches statt ^®). 

Unter die Hinderungsmittel des Schlafes gehören 
neben der erwähnten körperlichen und geistigen Ueberan- 
strengung überhaupt alle hastigen Aufregungen, dann Fieber, 
Entzündungen, Wallungen und Krämpfe. Bekannt ist ebenso 
wie die Wirkung des Thees und Kaffees als Getränk oder die 
nach Purkif^ — bei welchem ein Loth hinreichend war, um 
ihn eine ganze Nacht schlaflos zu machen (S. 42S), — noch 
stärkere gebrannter Kaffeebohnen — das unbesonnen von man- 
chen literarischen Nachtarbeitem angewendete Mittel, sich durch 
kalte Fussbäder wach zu erbalten. Bei den meisten Kranke 



— 76 — 

heften, welche den Schlaf verscheuchten, ist sein Wiederer- 
scheinen ein gutes Zeichen, oft die Krisis selbst. 

Was die näheren Ursachen des Schlafes betrifft, so gilt, 
trotzdem dass die Physiologie seitdem bedeutende Fortischritte 
gemacht hat, noch immer das Wort Jean PanVs^^^ dass der 
Traum leiditer zu erklären ist als der Schlaf. Zwar hat man 
in der letzten Zeit auch in dieses dunkle Gebiet Klarheit zu 
bringen versucht und manche Theorien aufgestellt, doch ist 
noch keine zur unbestrittenen atieinigen Geltung gekommen ^<^). 
Wir wollen diese verschiedenen Ansichten hier nicht weiter 
critisiren, noch etwa eine neue daneben stellen, da wir nicht den 
Schlaf selbst physiologisch zu erklären beabsichtigen, sondern nur 
im Allgemeinen die Veränderungen nachzuweisen versuchen, 
welche die physiologische Grundlage oder, wie Manche sagen, Ur- 
sache zu den im Schlafe gleichfalls veränderten psychischen Thä- 
tigkeiten abgeben. Hier folgen wir der Annahme Wwndts^^^), 
Kohlschüttet'^s^^^) und anderer hervorragender Forscher, nach 
welcher Veränderung der Blutcireulation im Schlafe die Dis- 
position zu den Phantasmen des Traumes, welche der zu Hai- 
lucinationen ähnlich, ja fast gleich ist, abgiebt. Sehr wahr- 
scheinlich wird diese Theorie gemacht durch einige der zahl- 
reichen Eigenthümlichkeiten der organischen Functionen; welche 
sich während des Schlafes zeigen. 

Vor Allem ist hier zu nennen die sehr bedeutsame Ver- 
änderung der Athmung. Dieselbe ist im Schlafe seltener 
als im Wachen; nach Martin athmen wir im Schlafe nur 15 
Mal in der Minute, während dies im Wachen 20 Mal ge- 
schieht ^^'^) . Die Erstickungszufälle bei der Brust Wassersucht 
nehmen nach Testa während der Nacht zu , indess bei einigen 
Krankheiten der Lungen wegen der geringen Ausdehnung der- 
selben die Zufälle abnehmen i<^) . Dabei zeigen die Athemzttge 
auch noch andere Eigentbttmtidikeiten. Sie werden tiefer und 
regelmässiger als im Wachen, die Exspiration, etwas kürzer 
als die Inspiration, folgt derselben unmittelbar, dann eine Pause, 
Biemlioh eben so lang als Inspiration nnd Exspiration zusam- 
mengenommen, die im Wachen sich nicht findet ^<^). Zugleich 
nimmt ihr Procenigehalt an Kohlensäure a6 ; es wird im Schlafe 
bedeutend weniger Kohlensäure abgegeben, während mehr 
Sauerstoff aufgenommen wird. Vbn der Gesammtmenge der in 



— 77 ^ 

24 Stunden ausgeathmeten Kohlensäure — das Maximum der^ 
selben befindet sich nach Pi*out um Mittag 10 — 2 Uhr — kom- 
men mek Peitenlu^er und Voü 587o auf die \% Tages-, 42% 
auf die M Nachtstunden, während vom Sauerstoff 33% auf 
den Tag, 67% auf die Nacht fallen. Es müssen sich also 
nothwendfgerweise Kohlensäure und andre Oxydationsprodukte 
im Organismus anhäufen, welche auf die automatischen Centren 
des Herzschlags und der Gefässverengerung im verlängerten 
Mark und von da aus weiter wirken ; dadurch wird der Blut- 
lau f, welcher durch die mehr horizcmtale Lage im Schlafe schon 
im allgemeinen Veränderungen erfahren hat^^), besonders in 
der Schädelhöhle gehemmt, und wohl ist die Folge davon eine 
erhöhte Reizbarkeit und Erregung des Gehirns^ vorzüglich der 
sensorischen Tbeile desselben, welche aber auch auf die moto- 
rischen überg^en kann. Dies ist die physiologische Disposition 
zu den Phantasmen des Traumes; denn dass veränderte Blut- 
circulation solche Phantasmen hervorrufen kann, lehrt die be- 
kannte Erscheinung, dass Strangulirte Gesichts- und Gehörs- 
hallucinati|Onen haben^ und dass solche sensorische Reizung auf 
motorische Gebiete übergehen kann, dafür dient die Thatsacbe 
als Zeugniss, dass Leute, deren Schlagadern unterbunden sind, 
leicht in Krämpfe verfallen. 

Dass im Schlaf die Blutcirculation Veränderungen erfährt, 
zeigt femer die Pulsfrequenz, welche ebenfalls im Schlaf 
verringert ist. Nach Testa erfolgen um Y5 weniger Schläge 
als im Wachen^ nach Hamberger sinkt die Frequenz bei einem 
achtjährigen Knaben von 100 Schlägen auf 89, bei einem elf- 
jährigen von 90 auf 80, bei einem vierzehnjährigen von 82 auf 
72; nach Martin bei einem Manne von 70 auf 60. Nach Knox 
ist ihr Minimum um Mitternacht, um 3 Uhr Morgens nimmt 
sie wieder zu. Auch wird, wie Bovble und Brandts bemerken ^ 
der Puls gegen Morgen wieder voller und stärker ^^^j. 

Die mit der Pulsfrequenz in ihren Tagesschwankungen zjen>- 
lich gleichen Schritt haltende Wärmeerzeugung und Eigen- 
wärme des Organismus ist des Nachts vermindert, was schon 
Hippocrates bemerkt haben solP^^j. Ihr Tagesmittel beträgt 
37,80-^37,930 C. und sie zeigt Schwankungen von 1— 1^5<> C. 
Ihr Mai^imum währt von 4 — 9 Uhr des Nachmittags, sie sinkt 
darauf bis um Mittemacht, wo sie von ca. i Uhr 30 Min. bis 



— 78 — 

Morgens am geringsten ist und von da- an wieder steigt iw>). 
Nach Burdach ist die Temperatur des Nachts um mehr als 
einen halben Grad R^aumur niedriger als am Tage (S. 517 f.). 
Ueberhaupt ist das Vermögen, die eigene Temperatur zu be- 
haupten, verringert, wieshalb man der Erkältung und dem 
Rheumatismus mehr ausgesetzt ist und das Bedürfniss einer 
wärmeren Bedeckung fühlt. »Aeussere Wärme erhitzt auch 
mehr und verursacht Röthe und Aufgetriebenheit des Gesichts, 
Schwere des Kopfes und Trägheit«. 

Die Beobachtungen Martin'' s '*^) zeigen , dass ebenso die 
Turgescenz des Nachts ab- und gegen Morgen wieder zu- 
nimmt. Den Umfang der Brust nämlich fand man nach zwei- 
stündigem Schlafe um 2/35» nach vierstündigem Y35, nach sechs- 
stündigem aber nur Y35 verringert. Die Hand war nach 
zweistündigem Schlafe um 2/36? °^<5h vierstündigem ^36, nach 
sechsstündigem wieder nur y^^ kleiner. Bauch und Fuss end- 
lich zeigten nach vierstündigem Schlaf einen Unterschied von 
Y32 und Y34, nach sechsstündigem war derselbe wieder ver- 
schwunden. Burdach setzt hinzu (S. 518): »Dass die Turges- 
cenz gegen Abend stärker ist als gegen Morgen, ergiebt sich 
schon aus dem scheinbaren Engerwerden der Kleidungsstücke«. 
— Bei Trepanirten bemerkte man im Schlafe ein Einsinken des 
Gehirns. 

»Die Secretionen folgen im Ganzen dem Typus des 
Blutlebens; sie sind während der Nacht sparsamer und neh- 
men gegen Morgen zu«. Die Ausdünstung ist während der 
Nacht am schwächsten und erreicht ihr Minimum um Mitter- 
nacht. Demselben Gesetze scheint die Hamabsonderung zu 
folgen, welche nach Weigelin am geringsten früh von 2 — ^4 Uhr, 
am stärksten aber von 2 — 4 Uhr nachmittags ist*^^). — Die 
Verdauung ist während der Nacht langsamer. Am Morgen 
treten die zu anderen Tageszeiten bewirkten Störungen : bittrer 
Geschmack, üebelkeit, Erbrechen, Sodbrennen, Magenkrampf, 
Kolik, stärker hervor. 

Endlich ist der Stoffwechsel überhaupt träger, und 
wenn man deshalb oft von der Polarität des Schlafes und Wa- 
chens redet und dieses als das Vorherrschen des animalen, 
jenen als das des vegetativen und pflanzlichen Lebens be- 
"zeidinet, so schiiesse ich mich hierin der Ansicht Burdachs 



— 79 — 

an, welcher sagt, dass das vegetative Leben allerdings inso* 
fern vorherrschend ist, als es durch das animale weniger be- 
stimmt wird und seine verschiedenen Richtungen untereinander 
im Gleichgewicht stehen, dass es aber dabei überhaupt 
matter und die Consumtion und Zersetzung gerin* 
ger ist. 

Ein analoges Verhältniss findet sich bei der Transformirung 
der Kräfte. Zwar ist nach obiger Angabe die Wärmeerzeu- 
gung im Schlafe verringert, da keine Nahrung aufgenommen 
wird und die chemische Zersetzung vermindert ist, doch bleibt 
immer noch ein Ueberschuss derselben, da in ungleich höherem 
Grade die Ausgabe verringert ist. Die Wärmeausgabe besteht 

4) in Wasserverdunstung durch Haut und Lungen, 2) Er- 
wärmung der Athmungsluft, 3) Erwärmung der festen und 
flüssigen Excrete, 4j Erwärmung der aufgenommenen Nahrung, 

5) Ausstrahlung von der Haut aus, 6) in mechanischer Arbeit. 
Der Wärmeverlust durch die Hautausdünstung ist bei weitem 
der grösste, da der durch Muskelarbeit entstehende durch er- 
höhte Athmung mehr als comp^nsirt wird. Den Verbrauch 
durch Erwärmung der Nahrung und Athmungsluft und durch 
Lungenverdunstung schätzt man auf 22 V2 Vo ^^^ erzeugten 
Wärme, es bleiben also dem ruhenden Körper 77V2V0 zur 
Verdunstung durch die Haut**^). Im Schlaf ist die Transspi- 
ration der Haut verringert ^^^j , sie kann also nicht den ge- 
wöhnlichen hohen Procentsatz an Wärme verbrauchen. Wenn 
femer, wie UeiäenhcUn beobachtete, bei Reizung der Empfin- 
dungsnerven sich eine Temperaturabnahme zeigt, so wird bei 
geringerer Erregung derselben im Schlaf auch hier Wärme ge- 
spart. Endlich wird bei der vermehrten Aufnahme von Sauer- 
stoff eine Menge Brennmaterial angehäuft. Diese Wärme resp. 
Kraft sammelt sich also im Organismus, besonders aber im 
<}ehirn und dem gesammten Nervensystem, dem 'grossen Re- 
«ervoir der Kräfte*"), in Form von Spannkraft an und bleibt 
latent oder potentiell, bis sie am Morgen — zuerst in einzel- 
nen Theilen des sensorischen, ja auch motorischen Gebietes 
«ich auslösend die physiologische Grundlage zu den Traum- 
handiungen bildet, andrerseits die Intensität der organischen 
Functionen steigert und endlich durch summirte Wirkung der 
äusseren und inneren Reize beim Erwachen im Gesammtgebiete 



— Sü- 
des animalen und vegetativen Lebens in lebendige Kraft ttbei*- 
geführt wird. 

Der Herabsetzung der organischen Functionen geht 
parallel die Verminderung der psychischen Thätigkeit. 
Die Hegelianer sowie die AnlUinger SchelUng^s reden von 
einer »Polarität« zwischen Schlaf und Wachen ^^^). Auch 
Fechner und sein Anhanger Kohlschütter nehmen diesen ge- 
raden Gegensatz an und isetzen den Punkt des Einschlafens 
als Nullpunkt des Bewusstseins , welches letztere im Schlaf 
einen negativen Werth erreiche. Dagegen hat schon Horwicsi 
die treffende Bemerkung gemacht, dass, wenn diese Annahme 
richtig sei, der Traum, welcher die negative Grösse des Be* 
wusstseins ausdrücken soll, desto intensiver sein mUßste, je 
tiefer der Schlaf wäre, was doch nicht der Fall ist^^^}. 

Man scheint hier, wie so oft, zwischen Bewusstsein 
und Selbstbewusstsein, der Subject und Object unter- 
sdieidenden und einander gegenüber stellenden Thätigkeit der 
Seele, keine feste Grenze zu ziehen und beide mit einander 
zu verwechsein. Das Selbstbewusstsein ist im Schlafe aufge- 
hoben, denn der Mensch orientirt sich nicht mehr in der 
Aussenwelt indem er sein »Ich« den anderen Wesen und 
Dingen gegenüberstellt, das Bewus$tsein aber, das Yorstellun- 
genhaben überhaupt ^ ^^) , die psychische Beaction auf die 
correspondirenden physischen Vorgänge, ist im Schlafe, wie 
der Traum zeigt, noch vorhanden, und zwar auch wesentlich 
in. derselben oder nicht allzusehr vom Wachen verschiedenen 
Art, wenn es auch viele Eigenthümlichkeiten zeigt. Von einem 
)> negativen Bewusstsein« zu reden, erscheint mir deshalb nicht 
am Platze. 

Der HerbarVs Standpunkt vertretende Spitta , welcher 
ebenfalls vor Verwechselung des Bewusstseins und Selbstbe- 
wusstseins warnt, scheint mir diese Klippe selbst nicht ganz 
zu vermeiden. Er sagt [S. 62) : »Das Vorstellen nun als 
solches kann, da es Thätigkeit der Seele ist. durch welche sie 
sich in ihrem Bestände erhält, so lange die Seele lebt, auch 
nicht aufhören, es dauert vielmehr ununterbrochen fort, allein 
es ist gar nicht nothwendig, dass wir in jedem Augenblick 
Kenntniss haben von diesem Process, dass das Re- 
sultat desselben uns zum Bewusstsein kommt. In 



— 81 — 

diesem Falle ist das Vorstellen allerdings vorhanden, allein es 
entbehrt seiner WiAung, seines Effects — anstatt die Vor- 
stellung zu erzeugen, sie uns zur Kenntniss zu bringen, ist es 
gebunden, verwandelt es sieh in blosses Streben vorzustellen, 
d. h. die Vorstellung wirklieh zur Kenntniss zu bringen. 
Diese Vorstellungen nun, die das Vorstellen zwar zur Kennt- 
niss zu bringen strebt, aber nicht wirklich bringt, nennen 
wir unbewusste Vorstellungen«. Anders äussert sich Wundt 
in Betreff der unbewussten Vorstellungen: »Es ist uns aber 
das Bewusstsein nur aus unsern Vorstellungen bekannt, eben- 
so wie wir unsere Vorstellungen nur aus dem Bewusstsein 
kennen. Eine unbewusste Vorstellung ist daher, 
ebenso wie ein nicht vorstellendes Bewusstsein, 
ein Begriff, dem eigentlich sein Inhalt verloren 
ging. Eine Vorstellung, die nicht vorgestellt wird, ist eben 
keine Vorstellung«. Er fasst sie als Disposition, als »eine 
zurückbleibende functionelle Anlage zur Wiedererneuerung der 
einmal vorhanden gewesenen Vorstellung a**®). Es wäre also 
demnach eine unbewusste Vorstellung, die, wie man sie ge- 
wöhnlich fasst, noch einen Bestandtheil der wirklichen Seelen- 
thätigkeit ausmacht und auf das bewusste Leben bedeutend 
einwirkt, eigentlich nicht eine nicht im Bewusstsein vorhan- 
dene, unbewusste, sondern nur weniger bewusste i*^). 

Diesem Gegensatze des Schlafes und Wachens und den be- 
sonderen Eigenthümliehkeiten des Traumes, seiner Zusammen- 
hangslosigkeit^ mit dem wachen Leben , seiner Fälschung und 
Veränderung alles dessen, was er aus dem letzteren hertiber- 
nimmt, und überhaupt dem bedeutend verschiedenen Charakter 
beider, zu dessen Erklärung »weder die einfache Herabdrück- 
ung des bewussten Seelenlebens unter die Hauptschwelle, noch 
die Abziehung von den Einflüssen der Aussen weit«, genüge, 
weil sonst die Stille der Nacht und der Schluss der Augen 
denselben Erfolg äussern müsste , — entnimmt Fechner den 
Grund seiner Vermuthung, »dass auch der Schauplatz der 
Träume ein anderer, als der des wachen Vorstellungslebens « 
sei und die Seele im Schlaf »umsiedele«, um ein anderes Or- 
gan zu ihrer Aeusserung zu suchen als im Wachen *20). — 
Aehnlieh lautete eine alte, viel verbreitete Ansicht, dass die 
Seele im Schlaf im Gangliensystem ihren Sitz habe, woraus 

B adestock, Schlaf n. Traum. () 



— 82 — 

Qian dann das Vorwiegen der Empfindungen des eigenen Or- 
ganismus im Traum ableiten wollte. . Pechner geht allerdings 
nicht so weit, seine Yermuthung in Betreff der Umsiedelung 
der Seele zu einer categorischen Bestimmung ihres neuen 
Wohnortes werden zu lassen, allein auch die blosse Yermuthung 
ist wohl nicht recht haltbar, denn die Stille der Nacht und 
das Schliessen der Augen hat in der That einen ahn liehen 
Erfolg; dass er nicht ganz derselbe ist, liegt an den übrigen 
physiologischen Eigenthümlichkeiten des Schlafes, welche den 
Traum vom wachen Yorsteliungsleben selbst entfernen. Bekannt 
ist, dass man besser seinen Phantasien nachhängen kann, wenn 
man die Augen schliesst und sich auch von den übrigen aus-* 
seren Eindrücken möglichst fem hält, während die scharfe Me- 
ditation mehr den Tag und das Licht liebt. Schon da^ wo die 
äusseren Eindrücke, die sonst die Sinne afficiren, die Reaction 
der Seele herausfordern und ihre Thätigkeit auf bestimmte 
Punkte fixiren, unbestimmt und weniger wirksam sind, wie 
in der Morgen- und Abenddämmerung, sind wir mehr »träu- 
merisch«. Die Phantasie beherrscht uns, wir rufen weniger 
willkürlich Vorstellungen in das Bewusstsein, sondern die Vor- 
stellungen kommen, verbinden sich und verschwinden rein 
nach den Gesetzen der Association, ebenso wie im Traum. Erst 
eine energische Willensäusserung und die Fixirung der psy- 
chischen Thätigkeit auf einen bestimmten Punkt lässt diesen 
natürlichen Hang verschwinden. — Bei Kurzsichtigen, die eine 
Brille zu tragen gewohnt sind, hat das plötzliche Abnehmen 
derselben eine ähnliche; wenn auch geringere Wirkung, weil 
dann ebenso die Eindrücke .des Gesichts von aussen her nebel- 
haft und unbestimmt werden. — Noch mehr bemerkbar ist 
der Einfluss der physiologischen Bedingungen, welche sich aus 
der Veränderung der Organempfindungen, besonders aber der 
Blutcirculation in einer mehr oder weniger horizontalen Lage 
ergeben. Eine zusammengepresste Körperstellung dämpft den 
Muth; der Zorn vermehrt sich bei heftigen Körperbewegungen 
und wird durch Ruhe beschwichtigt, — weshalb Kant räth. 
Jemandem , der erzürnt zu uns eintrete , vor allen Dingen 
einen Stuhl anzubieten, um seinen Zorn zu vermindern; Lotze 
sagt, dass wir bequem und nachlässig gelagert schwer an- 
dächtig und aufmerksam sein können ^21). Beim voUstän- 



~ 83 — 

digen Liegen wird die Spontaneität der Seele noch mehr 
beeinträchtigt. Moreau » bemerkt , dass horizontale Lage das 
Halluciniren begünstigt, Pinel beobachtete bei einer melan- 
cholischen Frau das Aufhören von Gehörshalluclnationen bei 
Annahme einer sitzenden Stellung. — Wenn ich mich auf das 
Sopha legC; ist das Gefühl herrschend ; nur mit grösster Mühe 
kann ich logisch denken, die active Apperception verw,andelt 
sich in die passive und die Vorstellungen huschen schnell 
vorüber. Dasselbe geschieht, sobald ich früh nach dem Er- 
wachen im Bett noch liegen bleibe, auch wenn die Augen 
offen sind. Wenn Fechner sagt, dass er früh im Bett zum ab- 
stracten Denken am meisten aufgelegt sei (S. 472), so mag 
dies Gewohnheit sein, welche bekanntlich Vieles verändern 
kann. Manche Denker haben die besten Gedanken im 
Sitzen, andere im Gehen, die einen arbeiten lieber und 
besser bei Tage, andere ziehen die Nacht vor. Andrerseits ist 
allerdings die Combination der Vorstellungen zu neuen Ideen 
bei dem durch die Spontaneität nicht gehinderten raschen 
Laufe der Gedanken begünstigt, die bei solcher Gelegenheit ge- 
bildeten Ideen bedürfen jedoch stets der nachfolgenden Prüfung 
des logischen Verstandes und erweisen sich zuweilen zwar für 
Poesie aber nicht für strenge Philosophie brauchbar. Schliesst 
man im Liegen auch die Augen, so wird es noch schwerer 
die Macht über die Vorstellungen zu behalten, öffnet man sie 
jedoch wieder und erhebt sich, so kann man sich diese Macht 
schnell wieder erringen. Dass die Seele nun in diesem Augen- 
blick wieder umgesiedelt sei und ihren früheren Wohnsitz ein- 
genommen habe, ist doch wohl nicht anzunehmen. Die Mittel- 
zustände zwischen Schlaf und Wachen bilden eine Instanz 
gegen Fechner's Annahme. Auch lassen sich die Eigenthümlich- 
keiten des Traumes ohne eine Umsiedelung der Seele erklären. 
W^enn Fechner femer auf den Satz Burdach^s (S. 474), 
dass sich im Traum nie das Leben des Tages mit seinen An- 
strengungen und Genüssen, Freuden und Schmerzen wiederhole, 
vielmehr der Traum darauf ausgehe, uns davon zu befreien, 
— und die Aussprüche Anderer gestützt, behauptet, dass im 
Traum Alles verfälscht sei, so ist dies nicht richtig. Dichtung 
und Wahrheit ist auf eine seltsame Art im Traume gemischt; 
so absurd es ist. Alles für Wahrheit zu halten und aus dem 

6* 



— 84 — 

Traume das innere Wesen des Menschen erschliessen zu wollen, 
so unrichtig ist es auch, ihn einen vollständigen Lttgner zu 
nennen. Er offenbart uns nur oft, was wir uns im Wachen 
selbst nicht gestehen wollen und deshalb schelten wir ihn einen 
vollständigen Lügner und Betrüger. — Dass wir uns heftiger 
Schmerzen weniger erinnern als der Freude und also auch 
seltener davon träumen, findet seine Erklärung zum Theii in 
Gründen, die schon oben angeführt sind; die Lügen und Fäl- 
schungen des Traumes finden überhaupt zumeist ihre Erklärung 
in der Eigenthümlichkeit der physiologischen Vorgänge. 

Ebenso wenig kann von einem vollständige^ Gegensatze 
zwischen Schlaf und Wachen die Rede sein. Wie die physischen 
so sind auch die meisten psychischen Thätigkeiten nicht aufgeho- 
ben, sondern nur herabgesetzt und zum Theil modificirt. Objec- 
tive und subjective Eindrücke werden im Traum percipirt, manch- 
mal auch mit einander verbunden, frühere Vorstellungen in 
besonders ausgedehntem Masse reproducirt, welche dann eben- 
falls die mannigfachsten Verbindungen eingehen; es kommen 
Urtheile und Schlüsse vor, Pläne werden gemacht, Gefühle, 
Affecte, Begehrungen zeigen sich. Aber alles dieses ist, 
wenn auch die Affecte des Traumes oft sehr lebhaft zu 
sein scheinen, matter und schwächer als im Wachen. 

Bei der Ermüdung des Nervensystems ist die Perceptions- 
fähigkeit für äussere Eindrücke verringert und die Reizschwelle 
liegt höher als im Wachen; das Maximum liegt an und für 
sich tiefer und die Empfindungen werden ausserdem noch 
durch die dem Traume eigenthümliche Uebertreibung einem 
Maximum näher gebracht. Demnach ist der Umfang der Vor- 
stellungskreise in den Sphären der Sinne sehr beschränkt, 
wie überhaupt die Enge des Bewusstseins , die schon im 
Wachen nur wenigen Vorstellungen zugleich Raum gestattet, 
noch mehr Beschränkungen erleidet und bedeutend verengert 
wird. — Wenn Scherner finden will, dass die Bilder der pla- 
stischen Phantasie des Traumes »wie genial hingehaucht« er- 
scheinen, so muss er dennoch die »enge Begrenzung des 
Traumsphäros « anerkennen *22j , — Die bekannte Thatsacho, 
dass die Empfänglichkeit für innere, dem Organismus ent- 
stammende, subjective Reize im Schlafe grösser erscheint als 
im Wachen, hat man theiis aus der erwähnten Hypothese zu 



— 85 — 

erklären versucht, dass die Seele im Gangiiensystem ihren Sitz 
halbe y iheito durch die Tendenz der Seele, im Schlaf ihren 
eigenen', sie umhüllenden K(irper zu betrachten. /. H. Pickte 
nmnt den Traum eine »symbolische Abspiegelung innerer Zu- 
stände«. Wenn Schemer meint, dass die »unmittelbare Ein- 
sohttuung des Traumes« besser das Innere des Leibes erkenne 
als die »Neugier des Anatomen« (S. 96, 97 u; 163), so machte 
es ihm dodi schwierig werden, Anatomen ohne anatomische 
Institute und Präparirsäle nur mit Hülfe des Traumes auszu- 
bilden; der Mensch erkennt nichts, weil er es getrflumt, son* 
dem er tr&umt es, weil er e& im Wachen schon gesehen, em- 
pfunden und mehr oder weniger erkannt hat. Volkelt folgt 
freilieh auch hier der Ansicht seines Meisters i^^} . Viel natür- 
licher und wahrheitsgemässer ist wohl die zugleich näher lie- 
gende Erklärung, dass bei der Stille der Nacht, wo die äusseren 
Eindrucke weniger die Seele beschäftigen^ die von diesen während 
des Tages niedergehaltenen und gleidisam überstrahlten, durch 
das Gangliensystem vermittelten — und die anderen mannigfachen 
subjectiven Reize des gesammten Organismus, welche wir un- 
ter dem Namen »Gemeingeftthl« zusammen zu fassen pflegen, 
jetzt vom Drucke befreit, sich vorzugsweise geltend machen. 
An und für sich ist auch das Gangliensystem weniger thätig, 
das Vorwiegen der durch dasselbe vermittelten Empfindungen 
ist nicht ein absolutes, sondern nur relatives, theils in Folge 
der bei geringerer Laistung während des Wachens weniger 
bemerkbaren Ermüdung, theils wegen des Mangels der seine 
Thfttigkeit beeinträchtigoiden äusseren Eindrücke. 

Der Wechsel der VorsteUungen, welcher als leicht be- 
schwingte Phantasie des Traumes, als der »versteckte Poet« ^^) 
so oft gerühmt wird, erscheint rapider. Hildebrand führt die 
Träume mehrerer Personen an, wo dieselben viele Jahre in 
eisigen Minuten dureblebten^^), JeoM Paul hebt hervor, dass 
eine verträumte Nacht mehr als einen erzählenden Tag erfor- 
dere ^'<^) . Es ist dies insofern richtig, als das Denken überhaupt 
die HeaUtät in Zeit und Raum überflttgelt. Eine Gedanken- 
reihe des Wachens kann ebenfalls nkbt so schnell mitgetheilt 
werden, als man sie zu denken vermag, da die complicirte 
Maschinerie der Bewegung»^, in diesem Falle der Sprachorgane 
in Folge physiologischer Bedingungen langsamer arbeitet als 



— So- 
das blosse Denken. Andrerseits kann auch im Wachen bei 
ungehemmtem Vorstellungsverlauf eine ganze Lebensgeschichte 
vor dem inneren Auge in wenigen Augenblicken vorübergehen, 
weil dann immer hur Haupt- und Centralvorstellungen, 
nicht aber überhaupt alle, die der Betreffende je- 
mals gehabt hat, reproducirt werden. Die Biographien 
der berühmtesten, geistvollsten und thatkräftigsten Männer 
füllen immer nur einzelne Bände, zu deren Lesen man kein 
Lebensalter braucht. — Diese Hauptvorstellungen, welche das 
Anfangs- oder Endglied einer ganzen Reihe oder das Centrum 
einer grossen Gruppe bilden, werden als Vertreterinnen der- 
selben genommen. Noch mehr als im Wachen ist dies im 
Traum der Fall in Folge des häufigen Ueberspringens von einer 
Reihe zur anderen. Träumt man z. B. von einer Reise, so 
stellt man sich leicht das Ziel derselben vor; diese Vorstellung 
drängt sich nun mit ihren Associationen an die Stelle der er- 
sten und die einzelnen der Reise verschwinden. Auf diese 
Weise kann man im Traum in einigen Momenten eine Welt- 
reise machen und sich dabei noch in den Hauptstädten ver- 
schiedener Länder aufhalten und umsehen. Andrerseits mögen 
die Träume, in welchen äussere Eindrücke einen so rapiden 
Vorstellungsverlauf ausgelöst haben sollen, sich zuweilen schon 
vorher entwickelt haben und durch dieselben nur weiter ge- 
führt worden sein. — Garnier berichtet i*^) , dass Napoleon, 
der bekanntlich bei der Explosion der Höllenmaschine in sei- 
nem Wagen schlief, den fast unmessbar kurzen Zeitraum zwi- 
schen der Perception des Knalles und dem Erwachen mit dem 
Traume des Ueberganges über den Tagliamento und der Ka- 
nonade der Österreicher ausfüllte und mit dem Ausrufe auf- 
sprang: wir sind unterminirt. — Mauchart erzählt von sich 
selbst: »Ich war etwas krank und lag in meiner Kammer, 
indess meine Mutter an meinem Kopfkissen sass. Ich träume 
von der Schreckenszeit, wohne blutigen Mordscenen bei, er- 
scheine vor dem Revolutionstribuna], sehe Robespierre, Marat, 
Fouquier-Tinviile, sämmtliche Personen, die sich in dieser 
Gräuelzeit den schlimmsten Namen gemacht; discutire mit ihnen^ 
werde endlich nach einer Menge von Ereignissen, deren ich 
mich nicht mehr recht erinnere, und womit ich die Geduld 
der Leser nicht ermüden will, zum Tode verurtheilt, auf dem 



— 87 — 

Karrea unter einem ungeheuren Yolkszuiauf auf den Revolu- 
iionsplatz geführt, steige auf das Schaffet, werde vom Scharf- 
richter auf das Bret gebunden, er lässt es umsdilagen (11 la 
fait basculer), das Fallbeil fällt und ich fühle meinen Kopf 
sich vom Rumpfe trennen. Hiermit erwache ich in der leb- 
haftesten Angst und finde, dass mir die losgegangene Bettstange 
^uf die Nackenwirbel nach Art eines Fallbeils gefallen ist. 
Und zwar hatte dies, wie mir meine Mutter versicherte, in 
•demselben Augenblicke, wo ich erwachte, stattgehabt«. — Auch 
bei den die Aetherbetäubung begleitenden Traumerscheinungen 
kommt Aehnliches vor. Hammepschmidt, der sehr viele Beobach- 
tungen an sich und Anderen anstellte, sagt : »Höchst interes- 
sant ist es jedenfalls auch, dass die während der Narkose 
verlebte Zeit einen ungeheuer langen Zeitraum auszufüllen 
scheint, während sie doph nur Y2 ^^^ ^ ^^^' '^^ Wirklichkeit 
währta. £benso berichtet Bergsoe: »Uns schien es jedesmal, 
dass die Zeit von 8 bis 10 Min., die die ganze Aetherinhalation 
•währte, eine viel längere Dauer gehabt haben müsse, als es 
wirklich der Fall war«. — Eine Dame, welche in's Wasser 
gefallen und dem Ertrinken nahe war, durchlebte nach ihrer 
eigenen Mittheilung in der Zeit von zwei Minuten, welche ver- 
strich von dem Momente an, wo alle körperlichen Bewegungen 
aufhörten, bis zu dem, wo sie aus dem Wasser gezogen wurde, 
ihre ganze Vergangenheit noch einmal, und die unbedeutendsten 
Details breiteten sich vor ihrer Phantasie aus^^s). 

Die Lebhaftigkeit der einzelnen Vorstellungen ist durch 
die oben erwähnte verstärkte Reizbarkeit des Gehirns, welche 
der Traum mit den Sinnestäuschungen gemein hat, bedingt 
und nie als erhöhte Geistesthätigkeit überhaupt zu fassen, 
andrerseits ist sie nur momentan und blitzhaft ; sie hat keinen 
Einfluss auf erhöhte Reproductionsfähigkeit , die Vorstellungen 
gehen vielmehr, wie die Sinnesdelirien, meistentheils für das 
Gedächtniss verloren. — Die Bewegung, das Muskelieben ist, 
wenn auch nicht ganz aufgehoben, so doch verringert. Rechnet 
man hierzu die Absurditäten, welche im Traum vorkommen, 
sowie den Mangel derjenigen Kräfte des wachen Lebens, weiche 
man als die Hauptvorzüge der menschlichen Seele zu bezeichnen 
i;«wohnt ist^ des den Vorstellungslauf nach gewissen Gesichts- 
punkten logisch ordnenden vernünftigen Willens und des Selbst- 



— 88 — 

bewusstseins, so wird man zugestehen, dass bei nttchl^ner 
Betrachtung man doch recht wenig von dem idealen, göttlichen 
Zustande bemerkt, für weichen Viele in ältester, neuer und 
neuerer Zeit den Traum hielten und halten. 



Die vegetativen FunctiMien des Organismus, die Pulsfre- 
quenz, Wäimeprzeugung , die Secretioneü u. s. w. haben un* 
gefähr um Mittemacht ihr Minimum. Aus den zahlreichen, 
mit der grasten Sorgfalt und Vorsicht ausgeführten Experi- 
menten C, KohlschiUter's ergab sich, dass der Schlaf ungefähr 
1 Stunde nach dem Einschlafen, also gewöhnlich unge&hr um 
Mitternacht, seine grösste Tiefe erreiche ^^9) . — Die psychischen 
Thätigkeiten des Schläfers sind in dieser Zeit minimal und 
scheinen ganz zu ruhen ; kein lebhafter Traum erregt ihn, die 
Beizempfänglichkeit für äussere Eindrücke ist am geringsten, 
die Affecte und Begehrungen ruhen, der Verstand und die Ur- 
theilskraft schweigen. V^ie Scherner glaubt^ bereiten sich »die 
unmittelbar geistigen Erfühlungen der körperlichen Innen- 
zustände vor, welche sich vorbildende, im ersten Entstehen 
begriffene, daher dem Wachen unwahrnehmbare WiderlichkeiteUi 
Krankheiten, Todesauflösungen des Lebens enthalten« (S. 54). — 

Die aufgestellte Parallelität wird Vielen eine illusorische 
zu sein scheinen, da ja die grössten Dichter und speculativen 
Denker oft während der Nacht ihre Werke schaffen und der 
Mann von Welt um Mittemacht ebenso lebhafte Conversation 
machen kann als am Nachmittag; allein man bedenke, dass 
Gewohnheit vieles verändern, ja in sein Gegentheil verkehren, 
also in jeder Beziehung die Nacht ;um Tag machen kann, — 
wie ja bekanntlich das Leben in London ein Beispiel davon 
liefert, — und dass dadurch die Regel für das normale, na- 
türliche Leben unangetastet bleibt. Wo keine Gewohnheit 
iierrscht, wird man um Mittemacht ganz deutlich eine Abspan- 
nung aller psychischen Kräfte fühlen, und wenn ein energischer 
Wille dieselbe für den Augenblick überwindet, macht sie sich 
in der nachfolgenden Erschlaffung desto mehr fühlbar. 

Die vegetativen Functionen fangen sämmtlich des Morgens 
an sich zu steigern. Eine Menge von Spannkraft scheint sich im 
l^ervensystem angesanunelt zu haben ; da ihre Tendenz in leben-^ 
dige überzugehen , mächtiger hervortritt, wird sie hier und da 



— 89 — 

schon ausgelöst in den physiologischen Processen , welche den 
lebhaften Morgentraum begleiten. — Der Schlaf ist leiser i^o), 
die Reizempfänglichkeit fQr äussere und innere Eindrücke wird 
immer grösser, dadurch der Traum reichhaltiger und lebhafter. 
Wenn lebhafte Bewegungen dem Schlafe vorhergingen, so 
glaubt man jetzt dieselben fortzusetzen. Die schwachen Reize 
innerhalb des Organismus selbst werden jetzt vorzugsweise 
percipirt bei einer Intensität, wo sie dem wachen Bewusst* 
sein nicht bemerkbar sind; es ist deshalb sehr leicht möglich, 
dass eine angehende Krankheit vorherempfunden, der Traum 
also prophetisch wird. Da nämlich die Eindrücke zwar perci* 
pirt werden, aber nur schwach sind und vom Bewusstsein 
gleichsam nicht nach ihrem vollen Werthe angenommen werden, 
so erhalten dadurch die mit ihnen verbundenen Associationen 
Gelegenheit,' sich breit zu machen, und durch das Spiel der- 
selben kann leicht ein Vorbild der Zukunft zu Stande kommen ; 
es möchte also der alte Satz : Post mediam noctem cum somnia 
Vera, nicht ganz zu verwerfen sein. Frühere Vorstellungen 
werden jetzt reproducirt, zuerst Haupt- und Centralvorstel- 
lungen, dann auch schwächere. -=- Der Traum gewinnt dadurch 
an Inhalt, die Combinationen der einzelnen Elemente werden 
zahlreicher, neue Bilder und Gedanken entstehen und mit 
ihnen die Affecte: Freude, Traurigkeit, Angst, Furcht. Bei 
immer steigender Reizempfänglichkeit drängen sich die äusseren 
Reize dem Ohr, dann auch dem Auge immer stärker auf, sie 
werden immer zahlreicher percipirt und durchkreuisen dadurch 
mehr das Spiel der Association^i, indem sie selbst ihren Asso- 
ciationen keine unbeschränkte Macht mehr gestatten und ihr 
eigenes Recht geltend zu machen suchen. Waren sie früher 
isolirt, so verbinden sie sich jetzt mehr, sowohl unter einan- 
der als auch mit den Empfindungen anderer Sinne, den Druck* 
und Temperaturempfindungen der Haut, dem GemeingefUhle 
u. s. w. um die Association kräftiger zu verdrängen. In die^ 
sesn toUen Treiben greift wohl zuweilen die höhere Geistesthä- 
tigkeit ein um Frieden zu stiften und die Phantasie mit ihrem 
loUen, neckischen Spiel in die Sdiranken zurückzuweisen. Ver^ 
stand und Urtheilskraft erwacht und erklärt alles VoAergefaende 
für teeiren Schaum. Meist ist dies jedoch nicht der Fall, 
sondern die äusseren Eindrücke und ihre Verbindungen er* 



— 90 — 

reichen selbst die Obmaeht; durch Summaiion der inneren 
und äusseren Reize oder durch einen äussern Reiz allein, 
welcher in Form einer mächtigen Schall- oder Lichtwelle das 
Gehirn des Schläfers trifft, wird das Erwachen hert>eigeführt. — 
Zugleich wirkt neben den äusseren Reizen eine gewisse innere 
Tendenz mit ; das leise Seufzen des Kindes weckt die besorgte 
Mutter, der sorglosen Wärterin erregt es nur einen Traum. 
Gewohnte Geräusche stören den Schlaf nicht , ihr Aufhören 
führt vielmehr oft das Erwachen herbei: der Müller erwacht, 
wenn das Klappern der Mühle sich nicht hören iässt, wer bei 
Nachtlicht zu schlafen gewohnt ist, wird durch Erlösdien des^ 
selben geweckt. Ungewohnte Geräusche dagegen verscheuchen 
ihn; wenn der Schlafende das gewohnte Wagengerassel nicht 
vernimmt, erweckt ihn das Rascheln einer Maus. — Brandis 
erzählt 1^^), dass er einen in allen Bädern Deutschlands be- 
kannten bejahrten Hazardspieler gekannt habe, welcher, wenn 
er nicht spielte, beständig schlief. Die interessantesten Ge- 
spräche und Nachrichten hätten ihn nicht munter zu erhalten 
vermocht, während ihn der leiseste Vorschlag zum Spiel voll- 
kommen weckte. Auch hat man Geizige aus dem tiefsten 
Schlafe geweckt, indem man ihnen ein Geldstück in die Hand 
drückte, weil durch diese Eindrücke dem Schläfer die meisten 
und lebhaftesten Associationen hervorgerufen werden, welche 
Träume und unter Umständen das Erwachen veranlassen. 
Man wacht nicht nur zur bestimmten Zeit auf, wenn man sich 
gewöhnt hat zu dieser Zeit aufzustehen, sondern auch, wenn 
man es sich am Abend vorher fest vorgenommen hat; eine 
gewisse Spannung der Aufmerksamkeit verlässt dann den 
Schlafenden nicht, und hat man etwas Wichtiges vor, was die 
Seele lebhaft beschäftigt, so erwacht man durch die Spannung 
gewöhnlich früher als nöthig. 

Wird man aus tiefem Schlafe geweckt, so ist man gewöhn- 
lich )> schlaftrunken« und missmuthig, ja man kann fast aus 
dem Grade des Missmuthes auf die Tiefe des Schlafes zurück- 
schliessen. Die Aussenwelt wirkt erst allmählich voll ein, 
nachdem der Traum gewichen; anfangs erscheint Alles noch 
dunkel und verworren, dann deutlicher, aber nicht nach seiner 
wirklichen Bedeutung; man erinnert sich nicht sogleich des 
Vergangenen und kann das, was gesprochen wird, noch nicht 



— 91 — 

recht fassen; die Muskeln werden erst rüstig nach einigem 
Strecken und Dehnen, die Augen lebendiger, nachdem man 
sie mit der Streckseite der Finger sanft gerieben hat. Das 
Auge liebt noch die Dämmerung, ^das Ohr das leise Geräusch 
und wird durch lautes Reden unangenehm berührt; erst all- 
mählich erwacht die Tendenz zu klaren Sinneswahmehmungen. — 
»Wenn man«, sagt Burdach (S. 487), »beim Anhören eines Ge- 
sprächs oder einer Rede oder Vorlesung eingeschlummert ist 
und man wird geweckt, so weiss man die letzten Worte, 
welche vor dem Aufwachen gesprochen worden waren, z. B. 
den letzten Satz, wenn er kurz war, aber ohne Zusammenhang 
mit dem Frühern; nun lässt es sich nicht annehmen, dass die 
Eindrücke einer ganzen Folgenreihe von Tönen im Gehörorgane 
deutlich genug fortdauern sollten, um nachher noch in ihrer 
Verbindung aufgefasst werden zu können, vielmehr muss die 
Rede wirklich, aber ohne Zusammenhang und Bedeutung, ge- 
hört und darum alsbald wieder vergessen worden sein. Noch 
allgemeiner ist es, dass man weiss, wodurch man geweckt 
worden ist, ungeachtet das Weckende nach dem Erwachen 
nicht mehr percipirt werden kann«. 

Auf psychischem Gebiete ist am Morgen die Receptivität 
vorherrschend. Die Eindrücke werden aufgenommen und com- 
binirt, die Phantasie ist immer noch herrschend, obgleich sie 
von der Logik bei weitem mehr als im Traume gezügelt wird. 
Der Morgen ist der Bildung neuer Gedanken-Combinationen 
und Ideen günstig. Das Gefühlsleben waltet oft vor, der Geist 
»webt in sicha und fühlt weniger den Drang nach aussen hin 
zu wirken ; man ist am Morgen weniger gesellig und giebt sich 
Heber den Eindrücken und seinen eigenen Gedanken hin. 
Die spontane psychische Thätigkeit tritt erst allmählich hervor 
— am stärksten ist sie in den Nachmittagsstunden, — dem 
Steigen der Sonne am Horizonte vergleichbar. 

Die meisten vegetativen Functionen des organischen Lebens 
sind kurz nach Mittag am intensivsten ; wie die Wärme in der 
äusseren Natur, so ist auch die Eigenwärme des Organismus 
auf ihrem Gipfelpunkte angelangt. — > Die psychischen Thätig- 
keiten zeigen ihre grösste Regsamkeit, besonders die höheren : 
die Urtheilskraft , Abstraction und Speculation erlangen ihre 
volle Macht. Der Nachmittag ist am meisten zur Prüfung des* 



_ 92 ~ 

sen geeignet, was die Goisbinationsgabe am Morgen Neues 
geschaffen. Der Sinn für Geselligkeit regt sich, Witz und 
Scharfsinn würzt die Unterhaltung. Es ist die Zeit des Limi- 
tes, wo das logische Denken im Allgemeinen die Phantasie 
beherrscht. 

Gegen Abend werden im Organismus die meisten vegetatiren 
Thätigkeiten wieder schwächer , dagegen )» tritt die zweite Fluth 
des Blutes eino, meint Burdach, damit erringt die Phantasie und 
das Gefühl im Seelenleben die Herrschaft. Die logische ThStigkeit 
wird zurückgedrängt, man fühlt Neigung zu freiem, fessellosem 
Ergehen im Gedankenlauf. Dadurch verlieren die Gedanken 
aber das Bestimmte und werden mehr nebelhaft; ähnlich wie 
die Conturen der Aussendinge in der Dämmerung ver- 
schwinden und die von ihnen ausgehenden Eindrücke unbe- 
stimmt und nebelhaft sind. Die Stimmung wird poetischer, 
»es ist die Zeit der Dichter -Wonne«, wie Uhland sagt; 
der Affect wird lebhafter und die Begehrung leidenschaft- 
licher, die Sehnsucht erwacht, Heimweh und alle elegi- 
schen und wehmttthigen Gefühle tauchen auf^^^). Die Liehe 
steigert sich, bei manchen Naturen erhält sie einen sinnlichen 
Charakter und die Zeugungslust regt sich ebenso wie am 
Morgen, wo sie durch die Anhäufung von Kraft hervorgerufen 
wird; bei Anderen geht sie in religiöse Stimmung über ^'3) 
und erleichtert den Glauben an Geistererscheinungen m der 
Stille der Nadit. Hypochondrische und Melancholische endlich 
versinken in tiefe Trauer. — Später wird auch diese unge- 
bundne psychische Thätigkeit schwächer, der Schlaf naht heran. 
Es entsteht eine Neigung zur Ruhe der Sinne und Be- 
wegungsorgane, starke Sinnesreize wirken unangenehm und 
Anstrengung der Muskeln wird lästig; man gähnt, streckt die 
Glieder und findet sich behaglich an einem dunklen, stillen, 
mässigwarmen Orte und in bequemer Lage, wo der Körper 
möglichst viel Unterstützungspunkte findet und starke Druck- 
empfindungen vermieden werden. Die ^Mmtaneität der Seele 
lässt nach, der Gedankenlauf schweift von der beabsichtigten 
Bahn ab, es strtaien fortwährend fremde Bilder zu, wie es 
auch im Wadien geschieht, we wir dieselben jedoch sofort zu- 
Hlekzudrängen vermög^i; die Aufmerksamkeit erschlafiK und 
wird unvermögend eine Reihe von Vorstellungen zu verknüpfen, 



— 93 — 

fest zu halten und weiter au verfolgen. Das GedSlchlniss zieht 
sich zurück und die Vorstellungen tauchen nur noch isolirt auf. 
Man liest Worte ohne den Sinn zu fassen, das Auge empfängt 
die Einwirkungen des Lichts, aber die Empfindungen werden 
bald unbestimmt und das Fehlende von der Phantasie ergänzt, 
später werden diese äusseren Einwirkungen immer weniger 
zu Anschauungen und Vorstellungen verarbeitet, ins Gedächt- 
niss gefasst oder mit anderen Vorstellungen associirt. Es treten 
Gesichtstäuschungen ein, man starrt vor sich hin, dann ver- 
liert das Auge seinen Glanz und seine Spannung und richtet 
sich nach oben und innen **^), endlich fällt das obere Augenlid 
herab und damit hört die Wirkung massiger äusserer Reize 
auf. Der Gehörssinn, welcher länger wach bleibt, wie er fiilh 
auch am ehesten erwacht, vermittelt keine richtige Empfindung 
mehr : man versteht falsch und antwortet verkehrt ; wenn man 
aufgehört hat zu sehen, hört man Alles nur noch wie aus im- 
mer zunehmender Ferne. Auch hier treten Täuschungen ein, da 
die Unterscheidung zwischen subjectiven und objectiven Empfin- 
dungen aufhört. Geruch und Geschmack functioniren nicht mehr, 
das Gefühl des Hungers und Durstes verliert sich. Die Glieder 
erschlaffen, man lässt fallen, was man hält und die Arme sinken 
selbst herab; sitzt man, so lassen die Nackenmuskeln nach, 
der Kopf sinkt, bis das Kinn auf der Brust ruht, worauf auch 
der Rumpf gebogen wird, ebenso sinkt der Unterkiefer herab. 
Die Druckempfindungen verschwinden, besonders wenn man 
liegt, der Körper scheint zu schweben: der Mensch schläft. 

Nach dem Aufhören der Perception äusserer Eindrücke 
machen sich die subjectiven Empfindungen bemerklich, vor- 
züglich die des Auges. Die bekannten, von Joh, Müller, Gruit" 
huisen und Purkinje ^^^) ausführlich beschriebenen und erör- 
terten Schlummerbilder zeigen sich. Anfangs werden sie noch 
nicht für wirklich gehalten oder die Täuschungen treten nur 
isolirt auf, aber die Bilder wechseln beständig ohne unser Zu- 
thun; später wird ihnen sämmtlich eine objective Realität zu*- 
gesprochen, und diese durchgehend falsche Objectivität scheint 
ein Zeichen des wirklich eingetretenen Schlafes zu sein ; der 
Uebei^ang, das eigentliche Einschlafen, ist ein unmerklicher 
und veAältnissmässig rascher. Nachdem nämlich eine Anzahl 
von Vorstellungen an uns vorbei gerollt ist, ohne dass wir 



-. 94 — 

unserer schöpferischen Thätigkeit uns dabei bewusst werden, 
muss bald die Täuschung entstehen, als ob wir Alles wirklieh 
erlebten und die Vorstellungen, welche doch erst von uns er- 
schaffen sind, Realität besässen. Diese Schlummerbilder sind 
unbestimmte Lichteindrücke auf der Netzhaut, welche die ge- 
schäftige Phantasie in bestimmte Gestalten verwandelt. Ein- 
zelne Lichtflecke und Nebel ziehen vor den Augen vorbei, 
weisse und farbige Erscheinungen zeigen sich und nehmen 
bestimmte Gestalt an. Joh, Müller erzählt (S. 20 ff.): »Es ist 
selten, dass ich nicht vor dem Einschlafen bei geschlossenen 
Augen in der Dunkelheit des Sehfeldes mannigfache leuch- 
tende Bilder sehe. Von früher Jugend auf erinnere ich mich 
dieser Erscheinungen, ich wusste sie immer wohl von den 
eigentlichen Traumbildern zu unterscheiden, denn ich konnte 
oft lange Zeit noch vor dem Einschlafen über sie reflectiren. . . 
Wenn nun im Anfange immer noch das dunkle Sehfeld an ein- 
zelnen Lichtflecken, Nebeln, wandelnden und wechselnden 
Farben reich ist, so erscheinen statt dieser bald begrenzte 
Bilder von mannigfachen Gegenständen, anfangs in einem mat- 
ten Schimmer^ bald deutlicher. Dass sie wirklich leuchtend 
und manchmal auch farbig sind, daran ist kein Zweifel. Sie 
bewegen sich^ verwandeln sich, entstehen manchmal ganz zu 
den Seiten des Sehfeldes mit einer Lebendigkeit und Deutlich- 
keit des Bildes, wie wir sonst nie so deutlich etwas zur Seite 
des Sehfeldes sehen. Mit der leisesten Bewegung der Augen 
sind sie gewöhnlich verschwunden, auch die Reflexion ver- 
scheucht sie auf der Stelle. Es sind selten bekannte Gestalten, 
gewöhnlich sonderbare Figuren, Menschen, Thiere , die ich nie 
gesehen, erleuchtete Räume, in denen ich noch nicht gewesen. 
Es ist nicht der geringste Zusammenhang dieser Erscheinungen 
mit dem, was ich am Tage erlebt, zu erkennen. Ich verfolge 
diese Erscheinungen oft halbe Stunden lang, bis sie endlich in 
die Traumbilder des Schlafes übergehen«. Dabei findet keine 
active Apperception der Bilder statt, denn die Spontaneität der 
Seele ist geschwunden : »ich sehe nicht, was ich sehen möchte, 
ich kann mir nur gefallen lassen, was ich ohne alle Anstreng- 
ung leuchtend sehen muss« (S. S3) . . . . »Am leichtesten 
treten diese Phänomene ein, wenn ich ganz wohl bin, wenn 
keine besondere Erregung in irgend einem Theil des Organis- 



— 95 — 

mus geistig oder physisch obwaltet und besonders^ wenn ich 
gefastet habe. Durch Fasten kann ich diese Phäno- 
mene zu einer wunderbaren Lebendigkeit bringen. 
Nie habe ich sie bemerkt, wenn ich Wein vorher getrunken 
hatte« (S. 24) . Man sieht also auch hier die Ansicht bestätigt, 
dass Fasten Sinnestäuschungen ungemein befordert und dass 
Mönche; Einsiedler und Pfaffen der Enthaltsamkeit von Nahrung 
ebenso wie der von geschlechtlichen Genüssen manche Erschei- 
nung Christi, der Jungfrau Maria und der Heiligen ver- 
dankten. 

Auch zeigen sich bei Leuten von starker Einbildungskraft 
am Tage solche Erscheinungen. »Ich brauche mich oft nur 
hinzusetzen, die Augen zu schliessen, von Allem zu abstrahiren, 
so erscheinen unwillkürlich diese seit früher Jugend mir freund- 
lich gewohnten Bilder. — Ist nur der Ort recht dunkel, bin 
ich nur geistig ganz ruhig, ohne leidenschaftliche Stimmung, 
hab' ich nur eben nicht gegessen oder geistiges Getränk ge- 
nommen, so darf ich, wenn gleich an Schlaf gar nicht zu 
denken ist, der Erscheinung gewiss sein« (S. 21 ff]. Die 
immense Einbildungskraft Goethes vermochte die Phantasie- 
bilder, welche von den Phantasmen, den Sinnestäuschungen, 
zu unterscheiden sind, in solcher Lebendigkeit hervorzurufen, 
dass sie diesen gleich kamen. »Ich hatte die Gabe«, sagt er, 
»wenn ich die Augen schloss und mit niedergesenktem Haupte 
mir in der Mitte des Sehorgans eine Blume dachte, so ver- 
harrte sie nicht einen Augenblick in ihrer ersten Gestalt, son- 
dern sie legte sich auseinander und aus ihrem Innern entfal- 
teten sich wieder neue Blumen aus farbigen, wohl auch grünen 
Blättern; es waren keine natürlichen Blumen, sondern phan- 
tastische, jedoch regelmässig wie die Rosetten der Bildhauer. 
Es war unmöglich, die hervorquellende Schöpfung zu fixiren, 
hingegen dauerte sie so lange, als mir beliebte, ermattete 
nicht und verstärkte sich nicht. Dasselbe könnt' ich hervor- 
bringen, wenn ich mir den Zierrath einer buntgemalten Scheibe 
dachte, welcher denn ebenfalls aus der Mitte gegen' die Peri- 
pherie sich immerfort veränderte, völlig wie die in unsem 
Tagen erst erfundenen Kaleidoskope« ^^^). 

Wie leicht übrigens Phantasiebilder von solcher Lebendig- 
keit in wirkliche Phantasmen übergehen, zeigt Goethe' s be- 



— 96 — 

kannte Vision auf der Rttckreise von Sesenheim, wo er sich 
selbst im hechtgrauen Rock begegnete. Brierre de BoismwU ^^^) 
erzählt ferner die Gesdiichte eines Maiers, der sich der Bilder 
einmal gesehener Personen so deutlich erinnerte, dass er nach 
dem Erinnerungsbild Porträts zu malen vermochte. Bald war 
er nicht mehr im Stande, das Phantasiebiid von der Wirklich- 
keit zu unterscheiden und verfiel in Wahnsinn. 

Die vorgeführte Gabe Goethes scheint das Motiv abgegeben 
zu haben zu der Schilderung der Schlummerbilder Ottiliens 
nach der Entfernung Eduards in den Wahlverwandtschaften ^^^) . 
»Wenn sie sich Abends zur Ruhe gelegt und im süssen Gefühl 
noch zwischen Schlaf und Wachen schwebte, schien es ihr, 
als wenn sie in einen ganz hellen, doch mild erleuchteten 
Raum hineinblickte. In diesem sah sie Eduarden ganz deut-* 
lieh, und zwar nicht gekleidet, wie sie ihn sonst gesehen, 
sondern im kriegerischen Anzug, jedesmal in einer andern 
Stellung, die aber vollkommen natürlich war und nichts Phan- 
tastisches an sich hatte, stehend, gehend, liegend, reitend. Die 
Gestalt, bis aufs kleinste ausgemalt, bewegte sich willig vor 
ihr, ohne dass sie das Mindeste dazu that, ohne dass sie wollte 
oder die Einbildungskraft anstrengte. Manchmal sah sie ihn auch 
umgeben, besonders von etwas Beweglichem, das dunkler war 
als der helle Grund ; aber sie unterschied kaum Schattenbilder, 
die ihr zuweilen als Menschen, als Pferde, als Bäume und Ge- 
birge vorkommen konnten. Gewöhnlich schlief sie über der 
Erscheinung ein«. — Fechner behauptet, keine Hallucinationen 
vor dem Schlafe zu haben, Jean Paul dagegen meint, dass 
man gewöhnlich durch dieses » Bilderkabinet « in das »Wachs- 
figurenkabinet « des Traumes eintrete; zugleich thut er die 
für seine Zeit charakteristische Aeusserung, dass man nichts 
als einen sächsischen Postwagen und dazu gehörigen Weg 
brauche, um hinter den fruchtlos, schlaflos zufallenden Augen 
»Schaubilder« zu haben i^^). — J, Müller sagt: »Wer am Tage 
nicht zu diesen Erscheinungen disponirt ist, wird wenigstens 
vor dem Einschlafen darauf aufmerksam sein können, wenn 
er es nicht .schon gewesen. Wem sie vor dem Einschlafen 
nicht erscheinen, dem ist dasselbe Phänomen doch im Traume 
gewiss. ... In der That sind unsere Traumbilder, die uns ja 
gewöhnlich auch im hellen Sehraum erscheinen, nichts änderst 



— 97 — 

als die Fortsetzung dieser Erscheinungen vor dem Einschlafen« 
(S. 24) . Seltner als die subjectiven Erregungen des Auges sind 
beim Einschlafen die des Ohres^ doch klingen zuweilen gehörte 
Melodien und Rhythmen nach, oder es werden einzelne Töne 
und Worte, meist zusammenhangslos vernommen; mit dem 
Uebergang %um Schlaf werden dieselben undeutlicher, als 
kämen sie aus weiter Feme. 

In den ersten Träumen nach dem Einschlafen wirken noch 
die psychischen Thätigkeiten des Wachens fort. Die Bilder 
und Vorstellungen fügen sich theilweise noch unter die aus 
dem wachen Denken herüberreichenden Normen, und es ent- 
stehen die »Reflexträume«, wie sie Schemer nennt ; Verstandes- 
operationen findet man im Traum nur kurz nach dem Ein- 
schlafen und kurz vor dem Erwachen , wo sie wieder empor- 
taucben. Die Stimmungen, Gefühle und Affecte hallen nach 
und klingen aus. Oft träumt man kurz nach dem Einschlafen, 
man falle von einem hohen Thurm oder Felsen , oder sei 
wenigstens in Gefahr zu fallen. Erschreckt fährt man zusam- 
men und erwacht. Der Grund davon ist folgender : durch die 
Lage während des Schlafs sind hauptsächlich die Beugemus- 
keln angestrengt und die Streckmuskeln in Ruhe, die in letz- 
teren sich ansammelnde Kraft äussert plötzlich ihre Wirkung 
und löst sich aus; der betreffende Strecker überwindet den 
Beuger, um sich gleichsam selbst sein Recht zu versdiaffen. 
Andere erklären es aus dem plötzlichen »Einschiessen« des 
Gefühls des Aufliegens und des dadurch bedingten Druckes, 
weiches im Schlafe aufgehoben war^*®). Wunderbar schnell 
associirt die dunkle Empfindung des Unbehagens die der Ge- 
fahr und des Falles. 

Der Schlaf, welcher vor Mittemacht am meisten stärken 
und erquicken soll, vertieft sich schnell und erreicht bereits 
eine Stunde nach dem Einschlafen sein Maximum. Die psy- 
chischen Thätigkeiten werden immer schwächer, die logischen 
Normen schwinden, die Gedanken treten isolirt auf, ohne in 
ein Satzgefüge geordnet zu werden; es entstehen die »Schab- 
lonen-Träume«, wie sie Scherner nennt. Wie Irrlichter huschen- 
die Vorstellungen flüchtig vorüber, zuweilen sucht eine stär- 
kere, »markirte« noch sich zu erhalten und Macht ?u gewinnen, 
aber sie wird schnell verdrängt von den folgenden. Alles 

B % d e s 1 ck , Schlaf n. Traum. 7 



— 98 — 

wird blasser, farbloser und gefttblsärmer. Aeussere Reize und 
innere Gemeingefühle werden unwirksamer , die Affecte ruhen 
und es geht immer mehr der geistigen Nacht entgegen , die 
zugleich mit der Maximaltiefe des Schlafes, also gewöhnlich 
ungefähr um Mittemacht eintritt. 

Man sieht, dass ebenso wie die einzelnen elementaren und 
complicirten psychischen Thätigkeiten den physischen Processen 
parallel gehen, das Seelenleben des Menschen überhaupt zu 
den Vorgängen in dem leiblichen Organismus ein gewisses 
Analogen zeigt. Zu der Zeit, wo die Functionen des letzteren 
sehr herabgesetzt sind, werden auch die psychischen Thätig- 
keiten des Menschen minimal; wenn die organischen Thätig- 
keiten ihre grösste Intensität besitzen^ zeigt zugleich die Seele 
ihre grösste Regsaqikeit. Der menschliche Leib, aus organi- 
schen Stoffen, welche nur eine Modification der unorganischen 
bilden, zusammengesetzt, steht unter den Gesetzen, welche die 
Zusammensetzung und Trennung der Stofftheile regeln, und 
seine vegetativen Functionen zeigen dieselbe Regelmässigkeit 
wie die des Thieres, denn der Mensch ist als Körper ein Theil 
der äusseren, sichtbaren Natur. Ebenso stehen die Thätig- 
keiten seiner Seele unter festen Gesetzen, die mit denen, 
welche die materielle Natur beherrschen, in Parallele gestellt 
'werden können ^*^). 

Andrerseits hat der Mensch in jedem Tage ein Miniatur- 
bild seines Gesammt-Lebens vor Augen. Wie man sich nach 
dem Erwachen wie neugeboren vorkommt, so walten am Morgen 
die Geisteskräfte, welche man als vorzüglich der Jugend eigen- 
thümliche bezeichnet, die Phantasie und das Gefühl^ vor; erst 
das Mannesalter, der Mittag und Nachmittag des Lebens, bringt 
die geistige Schaffungskraft auf ihren Gipfelpunkt, und wie 
der Abend in Bezug auf des Menschen Denken und Fühlen 
eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Morgen zeigt, so auch das 
Greisenalter mit der Jugend. Dass der Schlaf dem Tode ähnlich 
und sein Bruder sei, ist fast in jedes Munde. Schon ein 
griechischer Gnomendichter nennt den Schlaf eine »Todes- 
vorübung «1*2). In der That zeigt das Sterben eine frap- 
pante Aehnlichkeit mit dem Einschlafen. Beiden geht ein 
Gefühl der Ermüdung voraus, hier wie dort schwinden die 
Sinne allmählich: bei dem Sterbenden umnebelt sich der Ge- 



— 99 — 

Sichtssinn; die Hautempfindung geht, meist zuerst an den un- 
teren Extremitäten, verloren, zuletzt wird der Gehörssinn schwä- 
cher und schwächer; sogar die subjectiven Sinnesempfindungen 
und Hallucinationen des Auges und Ohrs sind gemeinsam. — Man 
könnte nun die Vergleichung weiterführen und sagen , der dem 
Erwachen vorangehende Traum sei dem Lehen des Kindes im 
Mutterleihe ähnlich, wodurch die Ansicht Burdach^s dass die 
Seele im Schlaf und Traum in ihr Foetal-Leben zurücksinke, 
gerechtfertigt erscheint. Allein es ist zu bedenken, dass man 
beide Zustände wohl vergleichen, nie aber gleichsetzen kann, 
wie es Burdach thut, wenn er sagt, dass die Seele im Schlaf »in 
die Nacht des Fruchtlebens« hinabsteige (S. 511). Man kann 
den Schlaf als dem Tode ähnlich bezeichnen, absurd aber 
wäre es, beide gleichzusetzen, da im Schlafe die Seele noch 
functionirt und die Beziehungen zur materiellen Welt be^ 
hält, welche sie nach dem Tode, auch wenn man eine person- 
liche Unsterblichkeit annimmt, nothwendig verliert. Femer ist 
der Inhalt der Seele im Traum verschieden von dem der 
Seele eines Foetus. Zwar macht unzweifelhaft das Kind schon 
im Mutterleibe Erfahrungen im Gebiete des Tast- und Ge- 
schmackssinns , sowie des Gemeingefühls ^*3)^ allein es stehen 
ihm bei weitem nicht die Menge von Vorstellungen zu Gebote, 
die der träumende Erwachsene zur Verfügung hat und als 
Material zu seinen Traumbildern verwendet oder verwenden 
kann. Auch ist die Form nur scheinbar ähnlich: wir denken 
uns das geistige Leben des Foetus als ein undeutliches, schatten- 
haftes; weil uns nun der Traum nach dem Erwachen eben 
so vorkommt, und wir alles im wachen Leben, was den Cha- 
rakter des Undeutlichen, Verworrenen trägt, träumerisch nennen, 
so übertragen wir diesen Begriff auch auf das Leben des 
Kindes im Mutterleibe, mag dieses dem Traum sonst auch noch 
so unähnlich sein. Passender in Bezug auf die Form ist 
der Vergleich SiebecKs ***) , welcher meint , dass das Be- 
wusstsein des heranwachsenden Kindes dem Bewusstsein des 
Träumenden am nächsten stehe, weil bei beiden die logischen 
Normen und festen Maximen fehlen, welche dem Denken, 
Fühlen und Wollen eine bestimmte und bleibende Richtung 
geben. — Burdach würde also mit manchen Schwierigkeiten 
zu kämpfen haben , wenn er mit dem erwähnten Ausspruche 

7* 



— 100 — 

andeuten wollte, dass er dem Foetus psychische Functionen zu- 
spreche und diese denen des Schlafenden gleichsetze. Seine 
Meinung ist jedoch wohl die, welche schon Giordano Bruno und 
in neuerer Zeit alle Schellingianer hegten, dass zwischen Geist 
und Materie ein Mittelglied liege; welches in niederen Wesen 
als treibende gestaltende Lebenskraft, in den höher entwickel- 
ten zugleich als Phantasie zu Tage trete. Im Schlaf sinkt 
der Geist auf diese Mittelstufe herab und »die Phantasie, 
gleich der bildenden Kraft, welche imEmbryo ge- 
staltend sich geäussert hatte, schafft die^^Traum- 
gestalten«. 1^^) Diese Ansicht, welche die Phantasie fttr eine 
die ganze Welt durchdringende treibende Elementar-Kraft hält, 
wird durch die Thatsache widerlegt, dass die Phantasie k^ine ein- 
fache, sondern eine complicirte, aus Reproduction und As|ociation 
zusammengesetzte Kraft der Seele ist. Ferner hat diJr neuere 
Naturwissenschaft dargethan, dass die organische Lebenskraft, 
mit welcher man früher so viel operirte und Manches zu erkläi*en 
versuchte^ gar nicht etwa als ein fremdes, ihm ungleichartiges 
und der Seele verwandtes Princip zu dem Stoffe hinzukomme, 
sondern in ihm selbst enthalten sei. Sie hat mit dem Begriff 
der Seele, d. h. der Summe aller psychischen Thätigkeiten, 
des Denkens, Ftthlens und Wollens, gar nichts zu thun. 
(Vergl. hierzu Loize's Artikel »Lebenskraft« in Wagner's Hand- 
wörterbuch der Physiologie und die Vorrede zu Du Bois-Rey- 
mond^s Untersuchungen ttber thierische Electricität) . 

Oft schon ist die Frage aufgeworfen worden , ob es einen 
traumlosen Schlaf, wie ihn die gewöhnliche Meinung annimmt 
und ihn für erquickender als den traumreichen hält, geben 
könnte, und es ist viel dafür und dagegen geschrieben oder 
gestritten worden. — Herodot berichtet, dass ein am Atlas 
wohnendes Volk nie träume (L. IV. c. 484) und dass man dort 
auch nichts esse, was ein Leben gehabt habe, welches nach 
der Meinung der Alten die Ursache des Nichtträumens war. 
Denn auch Pythagoras gab die Vorschrift, dass man sich durch 
den Genuss gewisser Speisen zu Träumen vorbereiten und an- 
derer sich enthalten solle, um gute Träume zu haben; man 
glaubte deshalb, dass das Verbot, Bohnen zu essen, in Bezug 
darauf stehe ^^^). Es braucht wohl kaum erwähnt zu werden, 
dass Herodots Bericht eine von den Fabeln ist, welche in Be- 



— 101 — 

treff der fernsten Gegenden AMeas und des Nordens damals 
im Umlauf waren. Plutarch giebt als Beispiele von Personen, 
welche nie träumten, Cleon und Thrasymedes an; Suetan berich- 
tet dasselbe von Nero. Locke führt eine Person von seiner Be- 
kanntschaft an, die vor ihrem sechsundzwanzigsten Jahre nie 
träumte. In dieser Zeit bekam sie ein heftiges Fieber und 
träumte damals zum ersten Male. Becdtie sagt, er kenne einen 
Herrn, welcher nie träume, es sei denn dass seine Gesundheit 
in Unordnung gerathen sei ^^7). Lessing behauptete von sich 
selbst was man zuweilen auch von Friedrich dem Grossen be- 
richtet, dass er nicht geträumt habe. Allerdings mögen die 
Morgenträume durch zeitiges Erwecken bei diesen energischen 
Männern bedeutend beschränkt worden sein, wenn man sie 
aber gänzlich davon frei sprechen will, so liegt entweder psy- 
chische Selbsttäuschung oder gewissermassen die Absicht vor, 
scharfe, abstracto und energische Denker von den Phantaste- 
reien und Faseleien dispensirt sein zu lassen. Was das letztere 
betrifift, so müssten grosse Mathematiker wie Newton, Euler, 
Gauss, speculative Philosophen, wie Spinoza und Kant auch 
nicht geträumt haben ; meines Wissens aber berichtet Niemand 
von einer solchen Thatsache, Und diese geistigen Helden werden 
ebenso geträumt haben, wie andre Menschen, soll doch der 
Kantianer Reinhold seine Deduction der Categorien im Traume 
gefunden haben. Es ist fast überflttssig noch auf die Ver- 
gesslichkeit der Träume, welche besonders bei denen, die sich 
nach dem Erwachen mit der ganzen Kraft der Seele dem wachen 
Interesse hingeben wie alle grossen Denker, durch die Zu- 
sammenhangslosigkeit mit diesem begünstigt wird, — hinzu- 
deuten, wie es besonnene Forscher mit Recht gethan haben, 
um solche Angaben von absoluter Traumlosigkeit von der Hand 
zu weisen und zu entkräften i*®) . 

Schwieriger ist die Beantwortung der Frage, ob es wäh- 
rend des Schlafes überhaupt einen Zeitpunkt gebe, etwa um 
Mitternacht, wo man nicht träume und alle psychischen Thä- 
tigkeiten vollständig ruhten, ähnlich wie in tiefen Ohnmächten, 
wo eine solche Ruhe einzutreten scheint. — Sokrates vergleicht 
bei Plato^^^) den Tod mit dem Schlaf, in welchem man kein 
Traumbild sehe; auch iimtotete« nimmt einen traumlosen Schlaf 
an, namentlich nach der Mahlzeit und in jugendlichem Alter, 



— 102 — 

ja er giebt zu, dass man Leute fände, welche in ihrem Leben 
keinen Traum hatten, obwohl dies selten sei ; bei Anderen käme 
der Traum mit zunehmendem Alter ^^^j . Für Descartes war eine 
nicht denkende Seele ein absurdum, und er sagte: wie das 
Licht immer leuchtet, die Wärme immer wärmt, so denkt der 
Geist immer. Leibnüz bestreitet die Annahme Lock^s^ dass die 
Seele nicht immer denke, und behauptet, dass auch im tief- 
sten Schlaf sich noch psychische Functionen vorfinden **i) . Eben- 
so sagt Kant: »Ein fester Schlaf ist eine Reihe sich einander 
verdrängender Vorstellungen, welches so geschwind geschieht, 
dass man beim Erwachen keinen Eindruck davon hat. Wir 
sagen jedoch fälschlieh, wenn wir uns dieser vorübergehenden 
Eindrücke im Schlafe nicht erinnern können, wir haben nicht 
geträumt« ^^^) . Herbart und Lotze halten an der Continuität der 
psychischen Thätigkeiten fest, welche sich ihnen aus dem Be- 
griff der Seele ergiebt. Volkmann sagt : »Das Bewusstsein der 
klaren, bestimmten Vorstellungsmassen des wachen Lebens ist 
dem einer dunklen, völlig unbestimmten, interesselosen Modi- 
fication der Gemeinempfindung gewichen: Das Licht des Be- 
wusstseins hat sich auf so viele Atome zersplittert, dass es in 
jedem einzelnen zur verschwindenden Grösse wird ^^^) . W* Mar- 
gen dagegen betont die Concentration auf einen einzigen Punkt : 
»Die Seele zieht sich, so zu sagen, zusammen, kriecht ein auf 
eine einzige Vorstellung, ein einziges Gefühl, einen einzigen 
Bewegungsdrang und wird sich dessen nicht mehr bewusst, 
weil, wie wir wissen, zum Bewusstsein eine Mannigfaltigkeit 
der einzelnen Zustände gehört« i^^). Büchner betrachtet den 
Schlaf als Vernichtung der Seele **5) , während andere Materia- 
listen an der Fortdauer des Bewusstseins im Schlafe keinen 
Anstoss finden. — Der Engländer if. G. Lewes folgt der An- 
sicht, dass unsre geistigen Thätigkeiten nie eine Unterbrechung 
erleiden können *^«) . 

Der Hegelianer Erdmann meint, der Schlaf sei traumlos, 
wenn er beim Aufwachen uns nur eine Minute gedauert zu 
haben scheine, da wir eine verflossene Zeit mit den Vorstel- 
lungen messen, welche wir in ihr gehabt haben ; das sei aber 
sehr selten der Fall**'). Dagegen, ist zu bemerken, dass aller- 
dings der buntere Morgentraum wegen der Fülle seiner Bilder 
ebenso wie der Opiumrausch länger erscheint als er selbst ist 



— 103 — 

und als der gleichförmigere, dem Morgen entfernter liegende 
Naehttraum, wo wegen der verminderten Reizempfönglichkeit 
die inneren Associationen weniger durch äussere Eindrücke 
unterbrochen werden — dass dies aber kein Beweis für den 
Mangel psychischer Thätigkeiten überhaupt ist. Spitta sagt: 
»Man hat Fälle beobachtet, in denen der Kranke nach zwei- 
tägiger Bewu8stlosigkeit erwachend, etwa eine Stunde lang ge- 
schlafen zu haben wähnte« (S. 159). Da nun das Zeitbewusst- 
sein die Wahrnehmung resp. Beproduction der Succession der 
Vorstellungen ist, welche wir haben oder hatten, Spitta aber 
eine »Erstarrung« der Vorstellungen im Tiefschlaf und in den 
soporösen Zuständen annimmt, so beantwortet er die schwie- 
rige Frage warum wir hier dennoch ein Zeitbewusstsein ha- 
ben, damit^ dass wir es höchst wahrscheinlich mit Reproduc- 
tionsvorstellungen zu thun haben, welche durch irgend einen 
im Moment des Erwachens wahrgenommenen Umstand hervor- 
gerufen wurden und »den Zeitintervall, wenn auch nicht zu- 
treffend, bestimmten«. 

Die Erinnerung verkürzt die Zeit um so mehr, 
je weniger Eindrücke und Vorstellungen wir in 
derselben hatten, während sie die verlängert, in 
welcher sie ausserordentlich zahlreich waren. Des- 
halb erscheint uns ein bunter Morgentraum lang, weil er durch 
die wieder erhöhte Perceptionsfähigkeit zahlreichere Vorstellun- 
gen und mannigfaltigere Bilder liefei*te als der sogenannte 
traumlose Schlaf, — wobei auch noch der Umstand in Betradit 
kommt, dass wir in der Erinnerung die Lücken des ersteren 
ausfüllen und mehr Vorstellungen, als er sonst schon enthielt, 
einschieben. Während wir es dort nach dem Erwachen kaum 
begreiflich finden, dass wir in so kurzer Zeit so viel geträumt 
haben, ist hier bei der Einförmigkeit des Nachttraums die ver- 
flossene Zeit in der Erinnerung auf ein Minimum herabgesun- 
ken, ohne doch ganz geschwunden zu sein. 

Der Schellingianer C, G. Carus erörtert die Frage nicht 
weiter, sondern hält die meisten Fälle von Traumlosigkeit für 
scheinbare in Folge der leichten Vergesslichkeit der Träume ^^^) . 
— Burdach giebt die Möglichkeit eines traumlosen Schlafes zu, 
obgleich die Sache ungewiss und der Mangel an Erinnerung 
noch kein Beweis sei, dass man nicht geträumt habe (S. 488 f.j. 



1 



— 104 — 

Auf letzteren Satz stützen sich überhaupt viele Andere ^^^) . — 
Fechner behauptet mijt Bestimmtheit, dass die psychischen 
Thätigkeiten nicht aufhören könnten ; wenn wir erst nach dem 
Schlafe hörten und fühlten, so könnten wir überhaupt nicht 
geweckt werden i*®) . Aehnlich äussert sich auch Pfaff (S. 35) : 
»Der wirklich trauinleere Schlaf würde nicht mehr ein nor- 
maler Schlaf, sondern vielmehr ein soporöser Zustand, eine 
Ohnmacht seina. Allein solche Einwürfe, wo durch die 
Traumlosigkeit die Existenz der Seele von vorn herein als be- 
droht erklärt wird, sind doch nicht recht stichhaltig. Zuerst 
soll man in der Psychologie nicht bestimmte Behauptungen 
vor aller Erfahrung aufstellen und beweisen wollen, dass 
etwas nicht sein könnte, ohne dass man nachgewiesen hat, 
dass es in zahlreichen Fällen wirklich nicht ist -^ w;idrigen- 
falls etwas Aehnlicbes herauskommen möchte, wie die wunder- 
bare Stern -Affaire HegeVs (indem derselbe a priori beweisen 
wollte, es könnte an der Stelle keine Weltkörper geben, wo 
die Astronomen wirklich solche fanden), — sondern lediglich 
zunächst von. der Erfahrung ausgehend auf dieser Sätze und 
Gesetze aufbauen. Sodann könnte man ja sagen, dass die 
psychische Kraft latent werde und dieser Zustand zu denken 
sei wie der jeder Vorstellung, welche aus dem Bewusstsein 
geschwunden ist,.als Disposition aber fortbesteht und wie- 
der zur bewussten werden kann. Wie man in der Natur- 
wissenschaft von latenter Wärme und latenter oder potentieller 
Kraft redet, so wäre eine solche latente oder potentielle See- 
lenkraft keine Absurdität. Sehr Vieles scheint vielmehr dar- 
' auf hinzudeuten, dass ein solcher Zustand im tiefsten Schlafe 
wirklich stattfinde. Allein es giebt doch auch manche Instanzen 
dagegen. Im tiefsten Schlaf verändern wir die Lage, bedecken 
die entblössten Stellen und führen überhaupt allerlei Beweg- 
ungen aus; nun sind dies zwar in vielen Fällen Reflexe, 
welche an und für sich keine Vorstellungen voraussetzen, 
allein durch die bei der Bewegung stattfindende Muskelarbeit 
werden doch jedenfalls Empfindungen ausgelöst, andererseits 
können auch viele im Tiefschlaf stattfindende Bewegungen 
nicht als blosse Reflexe erklärt werden. Complicirte Beweg- 
ungen und Handlungen der Nachtwandler, welche eine ge- 
wisse geistige Thätigkeit voraussetzen, kommen am meisten im 



— 105 — 

tiefen »erinnerungslosen« Schlafe vor*®^). — Wenn man auf- 
wacht, sei es zu einer bestimmten Stunde, sobald man es sich 
Abends vorher fest vorgenommen, oder zu jeder beliebigen 
Zeit bei dem Aufhören früherer Sinnesreize, — wenn das 
Schreien, ja sogar das leiseste Seufzen des Kindes die Mutter 
erweckt, welche bei jedem anderen Geräusch ruhig schläft, — 
und wenn endlich ein jeder Grossstädter sich durch das Wa- 
gengerassel auf den Strassen nicht stören lässt, während das 
leise Rascheln einer Maus oft das Erwachen herbeiführt, — so 
spricht dies Alles für das stete Vorhandensein einer gewissen 
geistigen Spannung, welche den äusseren Reizen gleichsam 
entgegenkommt und auf sie reagirt, ja gewissermassen zwischen 
verschiedenen unterscheidet. 

Sputa glaubt, durch das Erwachen der Mutter beim leise- 
sten Seufzen des Kindes werde »mit grosser Evidenz« con- 
statirt, dass das Gemüth, welches ein hauptsächlicher Feind 
des Schlafes sei, während desselben nicht zur Ruhe komme, 
sondern wache. »Die Hoffnung vor der Geburt, — die bange 
Freude der jungen künftigen Mutter, — die unwillkürliche 
Angst vor den Schmerzen der Entbindung, — das Leiden 
während der Entbindung selbst, die Lust und Wonne nach 
glücklichem Ueberstehen derselben, — das Bewusstwerden des 
ersten wirklichen Muttergefühls, der erste Anblick des eigenen 
Kindes, — die zärtlich ängstliche Pflege desselben, — die 
Hoffnungen, die auf die Zukunft des Kindes gesetzt werden, 
alle die Luftschlösser jubelnder Mutterwonne, alle die heissen 
Wünsche und Gebete, alle Pläne — Alles das, und wie weit 
könnte man das noch ausführen! — bildet eine fortlaufende, 
ununterbrochene Reihe von Spannungen, Affecten und Auf- 
regungen, die in den mannigfaltigsten Wechselungen und 
S^^hattirungen vom »himmelhoch jauchzen« bis »zum Tode be- 
trübt« das ganze Gemüth mächtig bewegen, es bis in seine 
innersten Tiefen erschüttern und aufwühlen, und einen so 
hohen Grad der Irritation desselben herbeiführen, es so sehr 
über die naturgemässe Basis heben, dass es gar nicht mehr 
ordentlich zur Ruhe, d. i. zur verminderten Thätigkeit, kom- 
men kann, und in Folge dessen bei der allergeringsten Ge- 
legenheit, sobald dieselbe mit ihm in innigem Gontact steht, 
reagirt« (S. 88). — Ferner, wenn man aus dem tiefsten 



— 106 — 

Schlafe geweckt wird, kommt es einem stets vor, als wenn man 
aus einer ganz anderen Welt wieder in diese nllchteme versetzt 
würde; man fühlt also, dass die Seele mit anderen Vorstel- 
lungen beschäftigt war als den der Aussenwelt unmittelbar 
entnommenen und ihr entsprechenden. Sie waren zu schwach 
um wieder in die Erinnerung gerufen werden zu können, 
doch bilden sie einen gewissen Hintergrund zu den jetzigen 
Vorstellungen. Am Morgen kann pian sich natürlich nie mehr 
der Träume des Tiefschlafs erinnern, da Träume überhaupt 
schlecht erinnerlich sind; und wenn sie wirklich im Gedächt- 
niss behalten werden, so sind dies immer nur die dem Mor- 
gen zunächst liegenden, die anderen umfasst undurchdring- 
liche Finstemiss, welche um so dichter wird, je grösser die 
Entfernung vom Erwachen ist. Unmittelbar erweckt dagegen 
erkennen wir, dass etwas dem geistigen Auge vorschwebte, 
nur was es war, können wir uns nicht erinnern^ ungefähr 
wie wir uns schwacher Eindrücke auch im Wachen nur mit 
Mühe oder gar nicht erinnern können. 

Hagen sagt; man könne kaum leugnen, dass das Blut und 
der Stoffwechsel eine stetige Reizung zur Auslösung von Em- 
pfindungen ausübe 1^62), — Sputa hat nicht Unrecht, wenn er 
sagt, es sei unzulässig, a priori als ^Gesetz es aufzustellen, 
dass es keinen traumlosen Schlaf geben könne , allein es ist 
gegen einen anderen Ausspruch von ihm doch einiges einzu- 
wenden. Er sagt nämlich (S. 406) : »Man versteht überall 
unter Traum diejenige Verknüpfung von Vorstellungsreihen 
oder Gebilden, die wir nach dem Erwachen mehr oder min- 
der deutlich in der Erinnerung vorfinden , die uns die Er- 
innerung als während des Schlafs gleichsam realisirt, geschehen, 
vorführt; das und Nichts mehr, bedeutet es, wenn man sagt: 
»ich habe diesen oder jenen Traum gehabt, mir hat dies und 
jenes geträumt a u. s. w. im Gegensatz von dem, »mir hat 
diese Nacht Nichts geträumt«. Diese Erinnerung des in der 
Seele Vorgegangenen, mag sie auch noch so gering und ver- 
worren sein , gehört ganz wesentlich zum Traum , denn wenn 
wir weder erinnern, was wir geträumt haben, noch auch 
irgend eine Ahnung davon haben, dass uns überhaupt etwas 
geträumt hat, so sehe ich gar nicht ein, wie wir dazu kom- 
men sollten, zu behaupten, wir hätten geträumt. Wenn wir 



— 1 07 — 

dies dennoch thun , so behaupten wir etwas , was über alle 
unsere Erfahrung hinausgeht, wir thun einfach einen Macht- 
Spruch, der nichts mehr für sich hat, als dass wir ihn eben 
thun«. 

Zuerst ist , • wie schon erwähnt , auch bei dem , welcher 
nicht geträumt zu haben glaubt, indem er sich nicht erinnert, 
was, doch ein dunkles Gefühl vorhanden, dass er wie aus 
einer anderen Welt komme. Er kann nicht sofort unmittel- 
bar an den Gedanken, den er am Abend zuletzt gehabt, an- 
knüpfen, sondern es liegt etwas geistig Erlebtes zwischen ihm 
und der Jetztzeit. Viele sagen, sie hätten nicht geträumt, 
dann aber werden durch eine zufällig eintretende Sinnes^ 
empfindung oder Vorstellung die vorangegangenen wieder über 
die Schwelle des Bewusstseins gehoben und sie bemerken, 
dass der Schlaf doch nicht völlig traumlos war. Und dann 
ist es eben ein Unterschied, was man unter Traum versteht. 
Wie in der äusseren Natur unter den lebenden Wesen über- 
haupt verschiedene Gradationen der psychischen Thätigkeiten 
sich finden und das Empfinden und Fühlen des Thieres etwas 
Anderes ist als das vernünftige Denken des Menschen , so ist 
in dem letzteren , dem Mikrokosmus selbst, eine solche Stufen- 
folge. Die Seele äussert sich bedeutend weniger energisch im 
Tiefschlaf als im vollen Wachen , wo man von einer Sponta- 
neität derselben im besonderen spricht, ohne jedoch nur po- 
tentiell vorhanden zu sein. Will man nun nicht diese 
tiefste Stufe, sondern nur das Traum nennen, was wir »nach 
dem Erwachen mehr oder minder deutlich in der Erinnerung 
vorfinden«, so ist der Tiefschlaf allerdings traumlos, aber er 
ist trotzdem nicht der psychischen Functionen baar. Wenn 
nach einer anhaltenden psychischen Anstrengung Erschöpfung 
folgt, so ist die Spontaneität der Seele auch gewichen, und 
sie ist gleichsam zurückgesunken in ein »dumpfes Weben in 
sich«; man hat später oft keine Erinnerung an das, was man 
in diesen Zuständen gedacht hat, aber bestimmt weiss man, 
dass etwas vor der Seele geschwebt. Wie im Schlaf, der 
uns traumlos dünkt, war es dunkel und verworren ; trotz aller 
Bemühung gelingt es uns nichts es ins Gedächtniss zurück- 
zurufen, und doch ist es vor der Seele vorübergezogen, also 
vorgestellt worden. Deshalb kann ich Sputa — dessen Er- 



— 108 — 

Ortening übrigens geistvoll ist — nicht beistimmen, wenn er 
die psychische Thfttigkeit als gebunden, virtualiter vor- 
handen im Tiefschlaf annimmt. — Ueberhaupt scheint er 
diese »virtualiter vorhandene Anlage« (S. 408) nicht recht be- 
stimmt gefasst zu haben, denn an einer anderen Stelle (8.429) 
sagt er: »Im tiefen Schlafe endlich werden die Vorstellungen 
so undeutlich und verworren, dass sie unerkennbar sind; d. h. 
sich nicht mit hinreichender Intensität ins Bewusstsein heben 
können, allein vorhanden sind sie als Thätigkeiten(!) 
der Seele, als Selbsterhaltungen, als das Wesen derselben«. 

Wir werden' somit ^nnehmen, dass ebenso wie die 
organischen, vegetativen Functionen herabgesetzt 
sind, auch die psychische Thätigkeit, die andre 
Seite des Menschen, im Tiefschlaf minimal ge- 
worden ist, ohne deshalb ganz aufgehört zu ha- 
ben i«»). 



Capitel V. 
Die Elemente des Traumes. 

Den iDhalt der Träume bestimmt erstens die durch An- 
lage und die Summe alier vorangegangenen Eindrücke bedingte 
Individualität überhaupt, dann zum Theil die specielle Ge- 
dankenrichtung und Gefühlsdisposition vor dem Einschlafen 
und endlich die Art und der Ort gegenwärtiger Reize, welche 
den Traum entweder auslösen, oder in ihn eingreifen, ihn 
weiter und auf andere Bahnen leiten. Alles, was man ge- 
dacht, gewollt, gefühlt, überhaupt »erlebt« hat, die Probleme^ 
welche den Geist herausgefordert, die Stimmungen, Affecte 
und Leidenschaften, welche das Gemüth beherrscht haben, 
können im Traum wiederum emportauchen. Femer machen 
sich oft die Thätigkeiten der Seele geltend, bei welchen sie 
vom Schlafe überrascht wurde; halbfertige Gedankenarbeiten 
und Willenspläne vollenden sich im Traume auf eine sonder- 
bar phantastische Art, Gemüthsstimmungen und nur halb über- 
wundene Erschütterungen klingen aus. — Die Eindrücke, welche 
auf den Schläfer unmittelbar einwirken und Träume hervor- 
bringen , sind verschiedener Art. Zuerst gehören hierher die 
äusseren der fünf Sinne , welche besonders im Morgentraum 
sich geltend machen und, obgleich nicht immer wirksam, doch 
nicht als Ausnahme zu betrachten sind, wie Schopenhauer sie 
ansieht^®*). Die zweite Glasse bilden die subjectiven Erregun- 
gen der Sinne, sowie die dem eignen Organismus entstam- 
menden Huskelempfindungen und die mannigfachen Reize und 
Empfindungen, welche wir unter dem Namen »Gemeingefühla 
zusammenzufassen pflegen. 

Von den fünf Sinnen ist der des Gesichts der Aussen- 
welt im Schlafe verschlossen und nur durch stärkere Einflüsse,. 



— 110 — 

die in dem Dunkel der Nacht selten vorkommen, affieirbar. 
Am meisten sind noch die Strahlen des Vollmondes, wenn sie 
auf den Schläfer fallen, im Stande, diesem Traumvorstellungen 
hervorzurufen. So erzählt Ärat/SÄ^**), dass er sich einst in 
seinem 27. Lebensjahr in einer verliebten Attitüde überrascht 
habe, die Arme nach dem am gegenüberliegenden Fenster er- 
scheinenden Bilde der fernen Geliebten ausgestreckt; beim 
Vollwachen bemerkte er, dass der Vollmond diese liebliche 
Gestalt war. Im folgenden Jahr, wo er den Wohnort gewech- 
selt hatte und sein Gesundheitsgefühl etwas getrübt war, 
machte er wiederum eine interessante Beobachtung. »Ein 
leichtsinniger Schreiber«, so erzählt er, »hatte sich im Früh- 
jahr 18SÖ in dem Oberamtsgerichtsgebäude zu M. erschossen. 
Die Furchtsamkeit, welche einen Bewohner dieses Gebäudes 
bestimmte, einige Zeit auswärts zu schlafen, wurde der Gegen- 
stand des Witzes in heiterer Abendgesellschaft. Verf. war im 
jugendlichen Uebbrmuth so weit gegangen, dass er sich anbot, 
in der Bettstelle des Entleibten eine Nacht zuzubringen. Da 
jedoch niemand darauf bestand, verfügte er sich zu gewohnter 
Zeit, kaum etwas aufgeregter als sonst, nach Hause. Er 
mochte einige Stunden geschlafen haben, da erschien ihm der 
Selbstmörder, in ein weisses Leintuch gehüllt, hohen Wuchses 
und wankenden Schrittes vom Fenster her langsam dem Nacht- 
lager zuschreitend. Also doch der Schreiber! war der erste 
Gedanke des Halbwachen; der zweite war: es ist ein Spuk, 
dem ein Ende gemacht werden muss. Ein entschlossenes Um- 
wenden im Bette hatte auch diese Wirkung und der Spuk war 
im Momente enträthselt. Vor dem hohen Fenster des mittel- 
alterlichen Gebäudes stand der Vollmond in strahlender Glorie. 
Der stark yibrirende Licbtreflex der Fensterscheiben hatte der 
erleuchteten Fläche den Schein der Bewegung gegeben, wozu 
sodann die Gestaltungskraft des Traumes die menschlichen Um- 
risse, das Leichentuch und die durch die Abendunterhaltung 
disponibel gewordene Persönlichkeit fügte«. — Grösser als bei 
uns, wo solche Fälle im Ganzen selten vorkommen, mag der 
Einfluss des Mondes in südlichen und östlichen Gegenden, 
wie in Griechenland, am persischen Meerbusen u. s. w. sein, 
wo Diana alias Luna die Pfeile ihrer Strahlen mit solcher 
Schärfe versendet, dass Leute, welche im Freien schlafen und 



— 111 — 

auf deren Gesicht das volle Licht fällt, von Gesichtsrose, ja 
von vortlbergehendem Wahnsinn befallen werden i*«). — Der 
Feuerschein der durch das Licht in Brand gerathenen Gardine 
verursachte einem Schlafenden das Traumbild einer grossen 
Feuersbrunst; erschrocken erwachte er, sah jetzt die Gefahr, 
in welcher er wirklich schwebte, und traf die geeigneten Vor- 
kehrungen. Krauss sagt (S. 639), dass er hauptsächlich dann 
von Feuersbrunst geträumt habe, wenn er, des Genusses 
geistiger Getränke ungewohnt, solche vorher zu sich genommen. 
£s möchten also manche von den Träumen , welche , wie Scku- 
bert und Andere hervorhoben, auf äusserst wunderbare Weise 
Feuersbrünste schon lange vorher und in weiter Feme ver- 
kündigten, auf sehr rationelle Weise sich erklären lassen. — 
Scherner träumte , als einst früh zwischen 5 und 6 Uhr die 
Sonnenstrahlen auf den Schläfer fielen, von einem feurigen 
Drachen, welcher auf ihn zusprang.. Plötzlich sah er den 
Drachen weichen ; erwacht bemerkte er, dass die Sonne augen- 
blicklich durch Wolken verdeckt war. Die auf den Schläfer 
fallenden Mond- und Sonnenstrahlen mögen besonders ein gutes 
Theil Material zu der Bildung der religiösen, engelgleichen, 
mit himmlischer Glorie umgebenen Lichtgestalten abgeben. — 
Ein Nachtlicht wird, da es eine gleichmässige Wirkung wäh- 
rend des ganzen Schlafes hat, weniger im Stande sein, Traum- 
vorstellungen zu erwecken, wie dies ein plötzlich einfallender, 
nicht allzu greller Strahl thut; es hat aber jedenfalls Einfluss 
auf die Helligkeit des Traumraumes überhaupt. — Starke Blitze 
bei Herannahung eines Gewitters pflegen das Erwachen herbei- 
zuführen. 

Die Eindrücke des Gehörssinns haben nicht immer, wie 
Lazarus^^'^ meint, das Erwachen zur Folge, sondern werden 
bei gewisser Intensität, vorzüglich am Morgen zu Traumvor- 
stellungen. Worte, RedeU; die verschiedensten Töne und Ge- 
räusche von aussen : das Summen der Insecten , die Stimmen 
der Vögel , der Glockenschlag u. s* w. rufen Associationen 
wach und bringen dadurch Bilder hervor, welche nach der 
Individualität, Beschäftigung und dem Beruf eines Jeden be- 
stimmte Gestalt annehmen. Der in der Nähe eines rauschen- 
den Stromes oder Wasserfalles Schlafende gjaubt Kanonen- 
donner zu hören. Ist man beim Anhören einer Rede einge- 



— 112 — 

schlummert, so rufen die Worte des Redners entsprechende 
Traume wach ; durch einzelne einwirkende TOne wird oft dem 
Schlafenden der Genuss eines Concertes verschafft, das in den 
meisten Fällen höchst harmonisch und anmuthig erscheint. Ein 
zur Erde fallendes Buch oder eine zugeschlagene Thür führt 
zur Vorstellung eines abgefeuerten Schusses, der sich dann 
die aller Einzelheiten eines Duells oder einer Schlachtenscene 
anreihen. Das Schnarchen des in demselben Zimmer Schlafen- 
den wird wie das eigene zuweilen als das Tosen der Brandung 
oder eines Bergstroms vernommen. Das Plätschern des Regens 
wird, besonders wenn eine Reise beabsichtigt ist und die Auf- 
merksamkeit schon am Tage auf das Wetter gerichtet war, 
zur Ueberschwemmung , der massige Wind, welcher um die 
Hausecke streicht, zum Sturm und Orkan. Die Glocken töne 
beim Schlagen der Uhren oder Frtth-Läuten haben die ver- 
schiedensten Wirkungen. Dem oder der Liebenden rufen sie 
das Bild der Trauung, der Hochzeit und aller dazu gehörigen 
Scenen wach; der besorgte philisterhafte Hausvater vernimmt 
Sturmgeläute, woran sich die Vorstellungen von Feuersbrunsten 
und Revolutionen mit allen ihren Einzelheiten anreihen; der 
Melancholische hört die Todtenglocke und sieht, wie man einen 
Dahingeschiedenen zu Grabe trägt. Das Pochen an der Thür, 
in anderen Fällen sogar das Ticken der Uhr führt zu Hammer- 
oder Axtschlägen mit den dazu gehörigen Bildern der Schmiede, 
der arbeitenden Holzhauer im Walde oder der Zimmerieute. 
Der krähende Hahn giebt das Motiv zu den mannigfachsten 
Vorstellungen. Die Stimme des Nachtwächters — im Wachen 
schon für Viele ein Gegenstand des Schreckens — kann dem 
Träumenden ganz fürchterliche Scenen verursachen; zuweilen 
verwandelt sich aber auch das Singen derselben in ein mehr 
oder minder liebliches Concert. Schemer wurde einst durch 
das Blasen des Postillons zu dem Traume veranlasst, dass er 
auf einem Spaziergange in Breslau fernen Ghoralgesang aus 
der Elisabethkirche vernähme. Solche Träume religiösen In- 
halts, wo zuweilen selbst die Stimme Jehovahs vernommen 
wird, ruft oft bei Gewittern der mit nicht allzu grellen Blitzen 
verbundene Donner hervor, da der tiefrollende Ton des Donnera 
an und für sich eine ernste Stimmung veranlasst. — Maury 
war in seiner Kindheit in Folge starker Hitze eingeschlafea 



— 113 — 

und träumte, dasjs ouib seinen Kopf auf einen Ambos lege und 
mit wiederholten Schlägen darauf hämmere. Er hörte im Traum 
sehr deutlich die schweren Hammerschläge, anstatt dass aber 
der Kopf dadurch in Stücke ging, zerschmolz er zu Wasser. 
Beim Erwachen fand sich Maury in Schweiss gebadet und 
hörte zugleich in einem benachbarten Hofe, wo ein Hufschmied 
wohnte, den Schall von wirklichen Hammerschlägen. 

Auf diese Thatsache gestützt, . dass von aussen kommende 
Gehörseindrücke zu Traumvorstellungen verarbeitet werden, 
haben schon Viele Versuche angestellt, durch leises Hineinrufen 
von Namen und einzelnen Worten in das Ohr eines Schlafen- 
den demselben willkürlich Träume hervorzurufen. Schemer 
erwähnt einen Bericht des Dr, Abercombie^ nach welchem einem 
englischen Officier von der Expedition nach Ludwigsburg im 
Jahre 4758 dessen Kameraden zur grossen Belustigung Aller jeg- 
liche Art von Träumen willkürlich hervorbringen konnten. Wenn 
ein bekannter Freund ihm einzelne auf ein Duell bezügliche 
Worte ins Ohr flüsterte, glaubte er alle Einzelheiten desselben 
zu durchleben; zuletzt drückte man ihm dann eine Pistole in 
die Hand, er feuerte ab und erwachte. Ein andres Mal spie- 
gelte man ihm vor, er sei über Bord gefallen und forderte ihn 
auf, sich durch Schwimmen zu retten, worauf er dann alle 
Bewegungen des Schwimmens machte i®^). Nudow bemerkt, 
dass man einen, der mit offenem Munde schlafe^ dazu veran- 
lasse, Schwimmbewegungen zu machen, wenn man ihm mit 
einem Schwamm Wasser in den Mund tröpfele. — Wir werden 
nicht mit Scherner grosses Gewicht darauf legen, dass ein 
Freund es war, welcher dem Officier willkürlich Träume ver- 
ursachen konnte, und nicht annehmen, dass diese durch den 
Gemüthsconnex und den »Willensstrahk des Wachenden, wel- 
cher auch Träume in die Ferne bewirke, hervorgerufen wurden. 
Die Empfindung des geflüsterten Wortes hebt die Association 
empor, ebenso wie ein im Wachen von uns ausgesprochenes 
Wort in dem Anderen eine Beihe von Vorstellungen erregt, 
deren Verlauf durch die weitere Unterhaltung geregelt und 
nach gewissen Punkten hingelenkt wird. Eines Morgens flüsterte 
ich einem meiner Freunde, als derselbe noch schlief, den Na- 
men einer uns beiden bekannten Person ins Ohr, worauf er 
zwar von der Person, welche ich im Sinne hatte, nicht selbst, 

Bad e stock, Schlaf n. Traum. g 



— 114 — 

aber von einer anderen, die denselben Namen fahrte, träumte. 
Derselbe Freund rief einem Bekannten zu einer Zeit, wo sie 
sieli beide auf das Schachspiel capricirt hatten, leise : Schach ! 
Gardez la reine 1 in^s Ohr, worauf der Schlttfer Bewegungen mit 
der Hand machte, als ob er die entsprechenden Ztige thun 
wollte. Schemer führt noch ein spasshaftes Beispiel an (S. 369). 
Ein verschmähter Liel^ber, der jedoch die Gunst der Mutter 
besass^ erhielt von dieser die Erlaubniss, seiner Angebeteten im 
Schlafe seinen Namen ins Ohr flüstern zu dürfen, was ihm ein 
kluger Freund gerathen hatte. Bald zeigte sich eine merkwür* 
dige Umstimmung bei dem Mädchen: sie wurde ihm gewogen 
und gab ihm endlich die Hand. Um ihre plötzliche Sinnes- 
änderung befragt, gab sie zur Antwort, sie habe ihren Mann 
in lebhaften , oft wiederholten Träumen lieb gewonnen. — 
Wenn ausführbar, wäre dieses Mittel in solcherlei critischen 
Fällen nicht übel und vielleicht mehr zu empfehlen als alle 
Fenster-Paraden , Liebesblicke und Liebesseufzer ! Scherner 
scheint übrigens den Fall ganz ernst zu betrachten und er- 
klärt ihn durch den »electrischen Sebnsuchtsstrahl« , welcher 
auf die Geliebte überginge. Es ist freilich Sdbade, dass solche 
electrische Kräfte nicht immer grosse Wirkung haben und zu- 
weilen keinen Gegenstrom induciren ; — vielleicht sind sie je- 
doch nicht stark genug, wenn die Wirkung ausbleibt! Die 
Thatsache aber ist durch zahlreiche Erfahrungen constatirt, dass 
man einer Person, von weicher man öfters träumt, ganz be- 
sonders gewogen wird. Es ist dies das allgemeine psycholo- 
gische Gesetz von der Wirkung oft wiederkehrender Vorstel- 
lungen, welche bekanntlich dem Menschen «etwas in den Kopf 
setzena können. Wie nämlich jeder Gegenstand, der den Geist 
längere Zeit in Anspruch nimmt, für diesen eine hohe Bedeu- 
tung gewinnt, so wird eine Person, an die wir öfter zu denken 
genöthigt werden, uns immer mehr werth, wenn kein beson- 
derer Grund vorliegt, sie etwa gering zu sdiätzen. Wie bei 
denen, welche ihre Geheimnisse sich gegenseitig vertrauen, 
innige Freundschaft bezw. Liebe, oft unbewusst, sich allmählich 
entwickelt, und eine solche Beichte neben ihrer Süssigkeit auch 
etwas Gefährliches für beide Theile hat, so ist es auf der an- 
deren Seite eine falsche Methode, wenn der Eifersüchtige seine 
Geliebte mit Zweifeln quält, ob sie ihm treu und ein andrer 



— 115 — 

nicht vielleicht gltlekticher als er sei, denn dadurch wird sie 
genIHhigt oA an diesen Nebenbuhler zu denken, gegen den sie 
fr^lher vollständig gleichgültig war, und es entwickelt sich das 
Gegeiitbeil von dem, was der Liebende bezweckte. Bekannt 
ist ferner, dass ein scharfes Verbot erst recht zur üeberlretung 
desselben anreizt. 

Obi^e Experimente sind nur, wenn mit grosser Vorsicht 
unternommen, von Erfolg gekrönt, denn erstens gelingen sie aus 
früher erörterten Gründen überhaupt nicht während des Tief- 
schlafs, sondern nur im Morgenschlaf, dem Reiche der Träume ; 
dann aber ist der Morgenschlaf sehr leise, und die Annäherung 
an das Ohr des Schläfers kann schon durch den warmen Hauch, 
die Veränderung der Lichtwirkung u. s. w. denselben er- 
wecken. Deshalb muss, um letzteres zu verhüten, das Hinein- 
rufen fast zu einem Hineinhauchen abgeschwächt Werden; 
allein dasselbe darf auch nicht zu schwach sein, weil dann der 
Reiz nicht perceptionsfähig ist. Die Thatsache, dass der Schwel- 
lenwerth des Reizes im Schlaf höher gelegen ist als im Wachen, 
wird allerdings durch die andere gewissermassen compensirt, 
dass der Träumende nicht wie der Wachende mit der Auf- 
merksamkeit einzelne Vorstellungen ausschliesslich verfolgt und 
die anderen weniger beachtet, auch nicht so viele Eindrücke 
wie am Tage sich ihm aufdrängen und seine geistige Thätigkeit 
zersplittern, — allein das Maximum liegt ohnehin viel tiefer 
als im Wachen und die dem Traume charakteristische Eigen- 
tbümlichkeit der Uebertreibunst bei eesteieerter Reizbarkeit des 

O ^^ Kj 

Gehirns bringt die Vorstellungen noch ausserdem diesem Maxi- 
mum nahe. Im Allgemeinen ergiebt sich Folgendes : ist ein Reiz 
sehr schwach , so wird er vom Träumer nicht wahrgenommen, 
erreicht er aber eine gewisse Intensität, so wird er von dem- 
selben zu Traumvorstellungen verwendet, was bei Steigerung 
der Intensität noch eine Zeit lang geschehen kann, indem die 
daraus entstehenden Traumbilder lebhafter und unheimlicher 
für den Schläfer werden, — bis endlich, wenn der Reiz eine 
gewisse Maximalgrenze der Intensität überschreitet, derselbe 
das Erwachen herbeiführt. So wohnte ich einst im Traume 
einem Concert bei; die Vorstellungen wurden lebhafter, die 
Musik wurde lauter und verlor den früheren Schmelz sanfter 
Harmonien, ich erwachte plötzlich und hörte nun die Reveille 

8* 



— 116 — 

vor dem Fenster blasen. Auch bei einem Gewitter ist sehr 
leicht Aehnliches zu beobachten, wo der fem grollende Donner 
in die Traumvorstellungen verwebt wird, sobald er aber beim 
Herannahen des Gewitters stärker wird, oft durch Mitwirkung 
des starken Lichtreizes eines Blitzes das Erwachen herbei- 
führt. 

Die Geruchs- und Geschmacksempfindungen spielen 
-seltener eine Rolle im Traum, da die betreffenden Nerven we- 
niger im Schlafe erregt werden, doch kommen auch hier manche 
Beispiele vor. Durch im Schlafzimmer stehende Blumen oder 
andere riechl)are Substanzen können Vorstellungen von Ge- 
wächshäusern, Parfttmerieläden oder nach Pomade und Odeurs 
duftender Elegants, — durch einen brenzlichen Geruch solche 
von Feuersbrünsten, durch Arzneistoffe die von Krankensälen 
u. s. w. hervorgerufen werden, ebenso wie die sich umsetzende 
Vundflüssigkeit und die im Munde zurückgebliebenen Speise- 
, reste die Geschmacksnerven zu erregen und dadurch entspre- 

chende Vorstellungen zu veranlassen vermögen. Letztere sind 
vielleicht bei Gourmands besonders häufig. In Betreff der Ge- 
ruchsempfindungen im Traume habe ich die Eigenthümlichkeit 
beobachtet, dass ihre Qualität verschwindet und in die der 
Gesichtsempfindung übergeht; hei den Bildern der Landschaf- 
ten, Gewächshäuser und Parfüroerieläden rieche ich die Blumen 
oder aromatischen Substanzen nicht, sondern sehe sie. Eine 
ähnliche Bemerkung VoUcmann's fand ich später bei Fechner ^^^) : 
»Geruchsträume kann ich mich nicht erinnern, gehabt zu haben, 
Geschmacksträume habe ich bestimmt nie. Ich esse im Traum 
gar nicht selten, aber stets ohne Geschmacksempfindung«. 
Sputa machte dieselbe Beobachtung (S. 494). Diese beiden 
Sinne pflegen wir überhaupt als niedere weniger zu üben 
als den höheren des Gesichts und Gehörs. »Während wir 
gewiss«, sagt Sputa (S. 4B9j, »alle bestrebt sind, unser Auge 
möglichst frei auszubilden, es künstlerisch zu ergötzen, es 
pflegen durch die schönsten Kunstwerke der Plastik und Ma- 
lerei, während wir unser Gehör hüten, es durch die erhaben- 
sten Schöpfungen der Musik zu cultiviren bemüht sind, ja es 
geradezu als eine Forderung an den gebildeten Mensdben stellen, 
dass er wenigstens einiges Verständniss in diesen Künsten 
l besitze, sich ein Urtheil bilde, pflegen wir auf der anderen 



— 117 — 

Seite den Geruchs^ und Geschmackssinn äusserst stiefmütter- 
lich zu behandeln. Einen Mann, der Wohlgerüche besonders 
liebt, oder gar in den verschiedenen Parfüms bewandert ist, 
schelten wir im Allgemeinen wohl als unmännlich, zahlen ihn 
nicht recht für voll. Nicht viel besser geht's dem Gourmdnd 
von Profession, — er gilt für eine selbstsüchtige, prosaische, 
sinnliche Natur«. Kant sagt: »Welcher Organsinn ist der un- 
dankbarste und scheint auch der entbehrlichste zu sein? Der 
des Geruchs. Es belohnt nicht, ihn zu cultiviren, oder wohl 
gar zu verfeinem, um zu geniessen; denn es giebt mehr Ge^ 
genstände des Ekels (vornehmlich in volksreichem Oertem), 
als der Annehmlichkeit, die er verschaffen kann, und der Ge- 
nuss durch diesen Sinn kann immer auch nur flüchtig und 
vorübergehend sein, wenn er vergnügen sollt *70) , — Auch man- 
gelt ihnen eine specifiscbe Erinnemng. Man erinnert sich, wie 
eine Rose sieht, aber nicht wie sie riecht; ebenso, dass 
eine Speise angenehm oder unangenehm schmeckt aber man 
empfindet nicht genau nach, wie sie schmeckt. Aus diesem 
Mangel in der Reproduction erklärt sich das geringere Vor- 
kommen und die Eigenthümlichkeit der betreffenden Vorstel- 
lungen im Traum. Wie man geäussert hat, dass Hunde, 
wenn sie eine Psychologie schrieben, jedenfalls den Geruchs- 
sinn als den wichtigsten bezeichnen würden, so kann man 
auch sagen, dass sie, sowie alle Thiere, deren Gemchs- oder 
Geschmackssinn stark entwickelt ist, von diesen jedenfalls be- 
deutend mehr Material zu ihren Träumen beziehen als der 
Mensch. 

Sehr viel Elemente zu den Traum-Illusionen liefern die 
Druck-, Temperatur- und übrigen Empfindungen 
der Haut. Die Bettdecke wird wie das Kopfkissen eben 
so oft zur geliebten Person erhoben und umarmt, als sie bei 
Schwimmübungen und ähnlichen Bewegungen den elastischen 
Untergrund abgiebt. Sie kann aber auch ziemlich unangenehme 
Situationen hervorrufen: ein junger Mann, dem sie an einem 
Zipfel in den Mund gedrungen war und ihn am Athmen hin- 
derte, träumte, er stehe vor einem Ofen, aus dessen geöffneter 
Thür ihm Asche und Rauch entgegen geweht wurde und ihm 
den Mund erfüllte. Ein unschuldiger Strohhalm oder eine 
Falte im Betttuch kann durch den auf eine Hautstelle auiS^e- 



— US — 

übten Druck die Vorstellung von MordiBstnimeiilen und den 
duzu gehörigen R&uberabenteuern wachrufen. So trttumte Je- 
mand, dass er unter Banditen gefallen sei und diese ihm einen 
grüssUehen Tod dadurch bereiten wollten, dass sie ihn pfähl- 
ten, d. h. auf einen Pfahl stellten, dessen Spitae ihm durch 
den Fuss drang. Durch die Todesangst erwacht bemerkte er, 
dass sich ein Strohhalm zwischen seiner grossen Zehe und der 
ihr benachbarten eingezwängt hatte und etwas drückte. Eine 
schlechte Lage lUsst uns von Ungeheuern und Gefahren der 
mannigfachsten und seltsamsten Art bedri&ngan. Man hat eine 
gefährliche und mühselige Arbeit oder einen Ringkampf zu 
bestehen, man besteigt einen hohen, steilen Berg oder man 
kann, während man von Räubern auf das Hartnäckigste ver- 
folgt wird, nicht von der Stelle kommen und sdiwebt in Ge- 
fahr ermordet zu werden. Parasiten bereiten dem Träumen- 
den ganz merkwürdige Scenen. — Der Temperaturwechsel in 
Folge reichlicher oder mangelhafter Bedeckung des Körpers 
und seiner einzelnen Theile veranlasst die verschiedenartigsten 
Vorstellungen. Eine herabgefallene Bettdecke wird zuweilen 
die Ursache der grossen Verlegenheit, in welehe man versetzt 
wird, wenn man träumt, in mangelhafter Toilette auf der 
Strasse oder in Gesellschaft zu erscheinen. Ein massiger Luft- 
zug wird zum gewaltigen Orkan, der den Vielgereisten alle 
Schrecken eines Seesturms erleben lässt. Ein seiner schützen- 
dep Decke beraubter Fuss wird Veranlassung zum Spazier- 
gange auf einem Sdineefelde oder kaltem Estrich mit blossen 
Füssen, oder zum Durchwaten eines Baches; die entblüsste 
Brust versetzt uns {in einen Strom, in weichem wir sehwim- 
mep. Jemandem» der die heisse Wärmflasche mit den Füssen 
berührte, träumte, dass er den Aetna bestieg und auf heisser 
Lava ging; ein Anderer glaubte mit der Gigarre Löcher in 
seine Kleider gebrannt zu haben, so dass das Feuer bis auf 
die Haut drang, — erwacht bemerkte er, dass dem Ofen eine 
ungewöhnliche Wärme entströmte. 

Schon mehr subjectiver Natur sind die Empfindungen und 
Vorstellungen, welche sich aus dem Druck einaehiier Körper- 
theile auf einander ergeben. Der beim längeren Uebereinander^ 
liegen der Beine und Füsse entstehende Schmerz der Knöchel 
und anderer gepreaster Theile wird zum Hundebiss oder An- 



-^ 119 — 

setzen von Schr&pCkö|xfeD ; die auf der Brust liegende kalte 
Hand zum hassliehen kalten Thier. Bei dem veräBderten Drack 
der Gelenke wird maa von Krebsen geängstigt, welche mit 
ihren Scheeren die betreffenden Glieder umfassen : so trflumte 
ieh vor Kurzem, dass ich mich in einer Menagerie umsah und 
plötzlich von einem hasslichen, einer Meerkatze ahnliehen Thiere 
em]>findiich in den Finger gebissen wurde. Die Hauteinpfin- 
düng des Kitzels auf der Oberlippe lasst zuweilen einen ge- 
waltigen Schnurii)art herauswachsen, ein anderes Mal wird 
man mit Scheeren oder Zangen gezwickt; bei einer unange- 
nehmen Empfindung am Fusse glaubt man. in Glas oder Scher^ 
ben zu treten. »Wenn diie Hand durch Druck auf die Nerven 
in lähmungsartigen Zustand gerathen ist, so erscheint sie im 
Traum als ein fremder Kdrper, der uns unangenehm berührt, 
oder es wird eine Person geträumt, die uns Gewalt anthun 
will. Ist gar die ganze Seite lahmungsartig afficirt, so glau- 
ben wir einen Fremden neben uns liegend, den wir vergebens 
aus der unmittelbaren Nähe zu entfernen bemüht sind«, sagt 
Purkiiye. Man sieht, wie nahe der Traum mit jenen krank- 
haften Zustanden der Besessenheit und des Dämonenwahns 
verwandt ist. — Unterdrückungen der Hauttranspiration, leichte 
catarrhalische und rheumatische Affiectionen verursachen un- 
ruhigen Schlaf und lebhafte Trüume. Geschwüre und Wun- 
den m(^en, wenn vorhanden, — erstere schon vor d«n Aus- 
bruch auch manchen Reiz ausüben und die Traume beein«- 
flussen. Friedreieh erzählt: »Ich erinnere mich, dass icb ab 
Gandidat der Medicin bei einem Kranken die Nachtwache 
hatte, der an einem grossen Abscesse am Schenkel litt und 
sich denselben aus Furcht vor dem Messer nicht öffnen lassen 
wollte; plötzlich erwachte er unter Weinen und Schreien und 
erzählte mir, es habe ihm geträumt, wie man ihm mit Gewalt 
in seinen Abscess geschnitten habe; als ich ihn untersuchte, 
war derselbe geborsten« ^^^) . 

Auch bei Femhaltung aller äusseren Einwirkungen sind 
die Sinne nicht vollständig von Erregung frei. Beim Auge, 
auf dessen Netzhaut der intramoleculare Druck, beim Ohre und 
der Haut, wo die unvermeidlichen Geräusche des eigenen 
Körpers, die Wärmeausstrahlung u. s. w. als Reize wirken, 
finden fortwährend subjective Erregungen statt ^"^^j. Man hat 



— 120 ~ 

Licht- und Farbenersdiemuiigeii und empfindet im Ohr ein 
leises Klingen, welches den aus der Ferne kommenden objec- 
tiven Eindrücken gleicht und von ihnen, besonders beim Ein- 
schlafen, nicht mehr zu unterscheiden ist. 

Die subjectiven Erregungen des Auges führen zu 
den Vorstellungen bunter Vögel, Schmetterlinge, oder Blumen 
und andrer farbiger sowie leuchtender Gegenstände. Diese 
erscheinen dann in der Mehrzahl, indem die einzelnen Licht- 
punkte objectivirt werden. Eine Menge von Obst liegt vor 
uns, schillerndes Geflügel zeigt sich, wir erblicken hellblitzen- 
des Silber und Gold oder glänzende Perlen, oder die deutsche 
Hausfrau sieht schönes weisses Linnen vor sich ausgebreitet, 
wenngleich die Zahl derer, welche, wie Jean Faul meint, der 
Teufel durch das Geschenk eines Korbes sauberer Wäsche zu, 
einem Gontract zu veranlassen vermag^ auch in Deutschland 
immer kleiner wird. Der Religiöse sieht Engel und wohl Gott 
selbst in seiner Majestät und Glorie, «in Anderer glänzende 
Meteore, vulkanische Eruptionen, Feuersbrünste, Feuerwerke, 
illuminirte Städte, Säle voll Pracht und Herrlichkeit, herrliche 
Landschaften und Alpenglühen : Alle bewundem die Grossartig- 
keit der Erscheinungen, die sie im Wachen noch nie gesehen. 
Die Wichtigkeit dieser Reize in Bezug auf den Traum hat be- 
sonders Joh. Müller betont. »Die Traumbilder«, sagt er, »sind 
nichts anderes, als die leuchtenden Phantasmen, welche vor 
dem Einschlafen bei geschlossenen Augen in der Sehsinnsub- 
stanz erscheinen«. . . . »Wenn alle äussere SoUicitatton zur 
Lichterscheinung durch das Elementarische aufgehört, wirken 
nun auch die inneren organischen Reize um so mächtiger sym- 
pathische Erregungen. Jede Störung des Blutumlaufs *er- 
scheint in dieser ruhenden aber durch ihre Ruhe höchst reiz- 
baren Sehsinnsubstanz als Lichterscheinung. Die Strahlen, die 
wallenden Nebel, die Lichtflecke, die Feuerkugeln, diese sich 
metamorphosirenden Farbenfelder, wovon unser dunkles Seh- 
feld bei geschlossenen Augen nie ganz frei ist, sind nichts 
anders als die Reflexe von Zuständen anderer Organe auf ein 
Organ^ das in jedem Zustand sich entweder licht, dunkel oder 
farbig empfindet. — Diese beweglichen Meteore des dunkeln 
Sehfeldes sind alle plötzlich verschwunden, wenn wir die Augen 
öffnen, weil die äusseren Reize viel mächtiger sind. Aber in 



— 121 — 

dem lange geschlossenen ausruhenden Auge, das durch Nichts 
mehr als das Innere erregt wird, steigern sich diese inneren 
Meteore oft zu einer wunderbaren Lebhaftigkeit. Die Phan- 
tasie, sich selbst überlassen, knüpft diese wallenden, ihre 6e* 
stalt wechselnden Erscheinungen im dunkeln Sehfelde an das, 
was sie durch äussere Nöthigung schon einmal hat einbilden 
mtissem i^^) . Affectionen der Unterleibsorgane , welche durch 
das Gangliensystem dem Gehirn und Auge übermittelt werden, 
verursachen bei hysterischen und hypochondrischen Personen 
Erscheinungen von Nebel, Spinngewebe, Gitterwerk und man- 
nigfacher anderer Bilder. »Drückt das mit Blut überfüllte 
Adergeflecht der Netz baut diese für jeden Reiz empfindliche 
Membran, so erscheinen die afficirten Stellen als Adergeflecht 
leuchtend«. 

Schon oft hat man darauf aufmerksam gemacht, dass 
Träume mit vielen Lichterscheinungen selten bei ganz Gesunden 
vorkommen und ein Anzeichen irgend einer Stdhing im Orga- 
nismus seien. Der ungewohnte Genuss geistiger Getränke kann 
des Schläfers Auge vielfach erregen; entweder er sieht in die 
helle Flamme einer Feuersbrunst oder es erscheinen ihm an- 
dere, seinem sonstigen Vorstellungskreise entsprechende leuch- 
tende Bilder. Ein Freund erzählte mir, dass er einst, als 
er noch das Gymnasium besuchte, eine Prämie bekommen und 
darauf, wie es der Brauch ist, sich mit seinen Kameraden an 
einem Fässchen Bier erfreut habe. Als er nach Hause ging, 
disputirte er noch eifrigst mit einem anderen Schüler des 
Gymnasiums über die Wahrtieit und Glaubhaftigkeit einer 
Offenbarung Gottes. Im Traum ging er darauf mit diesem 
Kameraden spazieren und sah um den am Himmel stehenden 
Mond in leuchtender Schrift die Worte geschrieben: ita est 
voluntas mea. Diese Worte drückten deutlich das Nachwirken 
der Vorstellungen vor dem Einschlafen aus ; sie gaben den In- 
halt zu der aus centraler Reizung entsprungmien leuchtenden 
Erscheinung ab. 

Diese Erregungen des Auges dauern oft ebenso wie sie 
dem eigentlichen Traum beim Einschlafen voriiergehen, nadi 
dem Erwachen als Nachbilder des Traumes noch fort, bis sie 
durch die stärkeren äusseren Eindrücke versdieucht werden. 
Spinoza spricht in einem Briefe an Feter BcUling davon, dass er 



— 122 — 

•ines Morgens das fiild eines Menschen, von welchem er ge^ 
irflumt, noch deutlich gesehen habe; dasselbe versdiwand, 
wenn er mit den Augen etwas Bestimmtes fixlrte, kehrte aber 
wieder, wenn er den Blick herumsehweifen Hess, bis es ^ad- 
lieh allmählich verschwand ^^^j. Jean Paul behauptet ebenfalls, 
zuweilen nach dem Erwachen noch »Wahnmensehen« neben 
sich gesriien zu haben ^^^j. Nach Joh, Müller behalten sie zwar 
ihre bestandige Oertlichkeit in dem Sehfelde, bededien aber 
mit der Bewegung der Augen andre Theile der äusseren sicht- 
baren Welt (S. 36). Derselbe theilt eine Beobaehtung Gruit" 
huisen^s, welche sogar eine ermüdende Wirkung der Traum- 
Empfindung ergab, mit: »Mir träumte, ich zeige einer Dame 
die schön violettblaue Farbe des Flussspathes auf gllihendeii 
Kohlen. Dies Experiment gelang im Traum scheinbar so gut, 
dass mir davon die Augen wie im Sonnenlichte geblendet 
wurden. Darüber erweckte ich mich, und ich hatte im Auge 
einen gelben Fleck. Dieser Fleck wurde endlieh violettschwarz, 
dann öfinete ich die Augen, da ward er gegen das Fenster 
gehalten, dunkler als die anderen Stellen des Auges und be- 
wegte sich genau wie andere Täuschungen im Wachen mit den 
Augen llber die Gegenstände hina^?^). Burda(A heiichiet, dass 
Jemand, der die Musterung einer Bibliothek von der linken 
zur rechten im Traume abgehalten hatte, die BUder der Bttcher 
einige Secunden lang von der rechten zur linken am Auge 
vorübergingen. 

Beim Gehörssinn findet das umgekehrte Yerhältniss als 
beim Gesichtssinn statt. Während bei letzterem die subjectiven 
Erregungen vor den objectiven vorwalten, treten bei dem er- 
steren die subjectiven bedeutend vor den von aussen kommen- 
den zurück. Doch ruft das Ohrensausen auch zuweilen Vor- 
stellungen hervor; das heftige Klopfen der Arterien wird als 
tobendes Geräusch vernommen und das Summen im Ohr bldbl 
wie die Gesiehtsempfindung noch nach dem Erwachen fühlbar. 

Die Empfindungen der einzelnen Sinne oombtniren sich 
und bilden die ungeheur mannigfaltigen Traumscenen. Zu- 
weilen aber vereinigen sie sich zu einer einzigen : wenn z. B. 
eine unangenehme Hautempfindung zu der subjectiven d'^s Ge- 
sichts hinzutritt, bestimmt diese erste den Gefdlilston der Vor- 
stellung und der Träumende glaubt, eine Baupe oder ein an^ 



— 123 — 

<tore8 hlissUebes Thier krieche an ihm herum. IHe Inner-i- 
vationsempfindungen bei ausgefilhrter oder auefa blos 
intendirler Bewegung fehlen ^ obgleich sie weniger als im 
Wachen vorkommen, durchaus nicht ganz. BekanntHdi ver^ 
geht keine Nacht wo wir nicht Bewegungen ausführten, reflee^ 
torische sowohl als beabsichtigte ; die Zahl der nur intendirten 
aber, besonders der zum Sprechen, ist noch viel bedeutender. 
Die Beflexe, welche keine Vorstellung voraussetzen, ver» 
Ursachen solche durch die veränderten Zustände des Muskels 
bei seiner Erregung. Im Wachen werden die ausgeführten 
Bewegungen mit dem beabsichtigten Erfolge verglichen, die 
Aufmerksamkeit also darauf gelenkt, die Vorstellungen selbst 
dadurch gehoben und die sich an dieselbe knüpfenden Asso- 
ciationen verdrängt; im Schlaf geschieht dies alles nicht, der 
Lauf der associirten Vorstellungen bleibt also ungehemmt. 

Leute, denen ein Sinnesgebiet für äussere Eindrücke ver- 
schlossen ist, entbehren keineswegs gänzlich der Empfindungen 
und Vorstellungen dieses Sinnes. Bei vollständig Erblindeten 
oder Taubgewordnen erhält sich viele J^re lang die Licht- 
und Klangempfindung in der Form von Träumen, Hallucina- 
tionen und Erinnerungsbildern. Der Professor Baczko in Königs»- 
berg, welcher im 23. Lebensjahre erblindete, wollte freilich 
seine Traumbilder aus dem Umstände ableiten , dass er sich 
früher viel mit Malen, Modelliren und anderen Kunstarbeiten 
beschäftigt habe. Dagegen zeigen viele andere Fälle, dass auch 
ohne solche Uebung Erregungen vorkommen. Baczko bemerkt, 
dass der blinde Flötenspieler Dulon , welcher in den ersten 
Tagen seines Lebens erblindete, also beinahe einem Blindge- 
bornen gleich zu achten war, ihm erzählt habe, dass er zu- 
weilen in seinen Träumen grässliche verzerrte Gestalten, allein 
immer nur dieselben sähe. Biester sagt: »In Merkendorf bei 
Anspach lebte noch vor wenig Jahren eine alte stockblinde 
Hebamme, die mir klagte, dass nichts sie mehr quäle, als öftere 
Erscheinungen nicht von Geistern , sondern von Thieren und 
Menschen, die sie leibhaftig mit grellen Farben vor sich sähe, 
als ob sie nicht blind- wäre« ^''^). Nach Esquirol sprach ein 
Geschäftsmann, welcher nach einem sehr thätigen Leben im 
44. Jahre vom schwarzen Staar befallen und bald darauf Mania* 
cus wurde, mit Personen, die er zu sehen glaubte. Aueh sah 



— 124 - 

«r sonderbare Dinge, worüber er zuweilen das lebhaftesle 
Entztteken verrieth. Aehnlich waren die Erscheinungen einer 
tobsttehtigen, 38 Jahr alten Jüdin. Bei einigen Blinden fand 
man diese Erinnerungsbilder vom Wetter abhängig; bei hei- 
terer Luft hatten sie angenehme Erscheinungen, bei trübem 
Wetter sahen sie verworrene Gestalten. C G, Carus^ Bemerk- 
ung, dass der , welcher als Kind das Gesicht verloren , alle 
Gesichts-Vorstellungen so vollständig vergesse, dass er sich 
derselben auch nicht mehr im Traume erinnere, ein Erwach- 
sener aber die Vorstellungen nie vergesse, wenn sie auch mit 
den Jahren erblassten und seltener auftauchten^ 7^), — wird 
durch obige Erzählung Baczko's von Dulon und manche andere 
Beobachtungen nicht bestätigt \^^) . Aehnlich wie Carus äussert 
sich Burdach und setzt hinzu, dass ein Verwundeter, der an 
Krücken gehen musste, eine Zeit lang mit gesundem Gange, 
dann nur mit Krücken sich träumte, und eine Frau, welche 
den Knochenfrass am Arme hatte, nie im Traume mit diesem 
Arme etwas verrichtete (S. 5Q5). — Die berühmte, unglück- 
liche Laura Bridgmann, die blind und taubstumm zugleich ist, 
soll während ihrer Träume wie beim Nachdenken im wachen 
Zustande ihre Finger bewegen i®^). 

Die rhythmischen Bewegungen der Lunge bei der Respi- 
ration werden im Traum zu Flugbewegungen, nicht nur des 
eigenen, sondern auch anderer Körper, oder zum Niederschw^e- 
ben eines Engels. Erdmann erblickt darin ein Zeichen von 
Gesundheit, wenn solche Bilder vorkommen. — Das durch die 
Kaumuskeln hervorgebrachte Aufeinanderschlagen der Zähne 
gestaltet sich zu einem Ungeheuer mit geöffnetem Rachen und 
schrecklichem Gebiss, oder es äussert sich in milderer Weise 
als Ausfallen der Zähne. Scherner geht in der Symbolik auch 
hier so weit, dass er beide Reihen Zähne in zwei Reihen blond- 
lockiger Knaben, welche in Kampflust auf einander losgehen, 
wiederfindet (S. i67j. Volkelt erblickt in gemeisselten Steinen 
das Hauptsymbol für die Zähne, welche bei Erweichung des 
Zahnfleisches als mit Koth bedeckt erscheinen (S. 53) ; ein 
andres Mal entspricht der kreisförmigen Reihe der Zähne ein 
Kreis blondhaariger Mädchen mit zarter Leibesfarbe. Es klingt 
^ies ähnlich, wie wenn Scherner an einer anderen Stelle in 
glatten Semmeln den nackten Leib symbolisirt sein lässt. 



— 125 — . 

Was -wir Gemeingeftthl zu nennen pflegen, ist der 
Gesammteindruck der mehr oder minder harmonischen Zusam- 
mensiimmung der Functionen aller einzelnen Theile des Orga- 
nismus. Je nachdem nun dasselbe gehoben oder deprimirt 
ist, äussert es auch seine Wirkung auf die Traumvorstellun- 
gen: das gehobene macht sieh in angenehmen, das deprimirte 
in unangenehmen Trttumen geltend, gleich wie wir im Wachen 
bei guter Stimmung alles in rosigem Lichte erblicken, während 
die ttble alles unangenehm erscheinen lässt. Der Hypochonder 
kann sich auf bdse Traume gefasst machen, der in der Fülle der 
Kraft stehende, heitere Jüngling hat Chancen zu angenehmen 
Träumen voll Lust, Freude und Liebe. — Eine Eigenthttmlichkeit 
des Traumes besteht darin, dass sich dieses Gemeingeftthl in 
seine einzelnen Bestandtheile auflöst und die gehobenen oder ge- 
störten Functionen der Theile des Organismus sich einzeln ob- 
jectiviren, oft in einem Grade der Störung, welcher sich dem 
wachen Bewusstsein noch gar nicht bemerklich macht. So ist 
der Traum von Zahnoperationen oft Vorläufer von Zahnschmerzen 
des folgenden Tages oder der anderen Nacht. In der ersten 
Nacht war der Schmerz nicht so intensiv, um den Schlaf zu 
sistiren, machte sich aber bemerklich genug, um ein entspre- 
chendes Traumbild hervorzurufen. 

Die Athembeklemmung und das Herzklopfen, 
manchmal durch eine schiefe Lage oder das Legen der Hände un- 
ter den Kopf und der dadurch erschwerten Girculation des Blutes 
hervorgerufen, lässt die Schläfer eine grosse Angst ausstehen, 
welche sie sich durch verschiedene Ursachen bedingt vorstellen. 
Eine junge Dame ist mit ihrer Toilette noch nicht fertig wenn 
der Ball schon beginnt; der Hausfrau sind vor einem Diner 
alle Speisen verbrannt, oder sie hat die Schlüssel zu den 
Schränken verloren und findet sie trotz aller Bemühung nicht 
wieder; der Geistliche soll auf die Kanzel steigen und ist zur 
Predigt noch nicht präparlrt; der Gandidal soll sein Examen 
ablegen und kann sich absolut auf Nichts besinnen. Die Bil- 
der werden zuweilen drohender. Der Knabe sieht sich von 
Hunden, der Jüngling und Mann von Räubern oder einer Meng& 
Feinde verfolgt, die Jungfrau wird von einem Trunkenen be- 
lästigt, der sich in den Kopf gesetzt hat, sie zu küssen, die 
Frau erblickt wohl gar ihr Kind in den schäumenden Fluthen 



— 126 — 

eines Stromes oder in sonstiger Gefahr, ein schweres Gewitter 
naht mit allen seinen Schredcen und Alles ist düster und 
angsterregend. 

Steigert sich die Athembeklemmung zur Athemnoth, 
welche im Wachen als besdiwerliches Athemholen empfunden 
wird, so entsteht das vielgefUrchtete sogenannte Alpdrücken 
(lat. : incubus, succubus; grieoh. : irptÄkrri^: frane* : cauchemar; 
engl.: nightmare; niedersachs. : Maar; oberd.: Schrüterlein, 
Schretzel , Trud) . Früher waren in soldien Träumen die 
Dämonen dominirend : Alpmönnchen, schwarze und weisse 
Gnomen und Bergkobolde nahten sich und warfen sich dem 
Schläfer auf die Brust, wie die meisten wilden Stämme in 
neuerer Zeit noch glauben. Der Dämon Koin trachtet darnach, 
den Australier zu erwürgen, der böse Na hockt auf dem Ma- 
gen des Karenen ; der nordamerikanische Indianer, vom Schmause 
gesftttigt, wird von nächtlichen Geistern besucht, die Cariben 
fühlen den Schmerz, den ihnen die Schläge des Dämons Ma-* 
boya im Traume verursachen, am Morgen noch, — die Indianer 
Südamerikas suchen sich vor dem Besuche dieser bösen Geister 
durch Feuerbrände zu schützen. Auch bei den Bauern mancher 
Districte Europas sliid die Elfen und Alpe noch nicht verges- 
sen. Bei den Antillen-Insulanern sind es die Geister der Todten, 
welche verschwinden, wenn man sie fest angreift. Die Neu- 
seeländer und die Bewohner der Samoa-Inseln erkennen in 
ihnen schädliche Gottheiten, — die gelegentlich übernatürliche 
Geburten veranlassen können, — in Lappland herrscht eine 
ähnliche Meinung ^^^). Augusiin selbst meint, die Besuche der 
incubi seien durch eine solche Menge von Beispielen bezeugt, 
dass man sie nicht leugnen könne. Die Chronisten Gregor Vim 
TourSy Frodoard, Matthew von Westminster theilen solche wun- 
derbare Geschichten mit. Raoul G/ater berichtet: »Ich sah ein- 
mal Nachts gegen Morgen vor mir am Fusse meines Bettes ein 
scheussliches kleines Ungeheuer von kaum menschlicher Gestalt 
erscheinen. Es schien mir von mittlerer Grösse zu sein, einen 
dünnen Hals, mageren Wuchs, sehr schwarze Augen und eine 
enge faltige Stirn zu haben. Die Nase war breit, der Mund 
gross, die Lippen wulstige das Kinn kurz und spitzig; ein 
Bocksbart, gerade spitze Ohren, schmutzige trockene Haare, 
Hundszähne, spitziger Hinterkopf, vorspringende Brust, Buckel, 



— 127 — 

welke Lenden, schmutzige Kleidung vervollsUindiglen dieses 
Bild. Es fasste den Rand meines Bettes, schftttelte ihn mit 
furchtbarer Crewalt, und sprach: Du warst nicht mehr lange 
hier bleiben. Alsbald erwache ich voWet Schrecken .... 
springe aus meinem Bette^ eile zum Kloster und werfe mich 
vor dem Altar nieder, wo ich lange Zeit erstarrt von Furcht 
liegaa bleibe«. Er sah den Teufel noch zwei andere 
Male. Guibert de Noigent erzählt: »In einer Nacht wurde 
«eh durch Beklemmvingen erweckt; ich glaube, es war gerade 
Winter. Ich lag in meinem Bette und fühlte mich sicher beim 
Scheine einer hellbrennenden Lampe. Plötzlich schien mir das 
tiefe Schweigen um mich durch eine Menge von eben kom-» 
m^ader Stimmen unterbrochen zu werden. Im selben Augen- 
blicke wurde mein Kopf gleichsam in einen Traumzustand ein* 
gewiegt, ich verlor den Gebrauch meiner Sinne und glaubte 
einen gewissen Verstorbenen erscheinen zu sehen, von welchem 
Jemand mit lauter Stimme verktlndete, er sei im Bade umge- 
bracht. Durch diese Erscheinung erschreckt stürzte ich von 
meinem Platze mit lautem Geschrei fort, die Lampe verlöschte, 
und mitten in der furchtbaren Finstemiss erblickte ich den 
Dämon in seiner eigenen Gestalt neben dem Todten stehen« ^^^) . 
Papst Innocenz VIIL erliess im Jahre i484 eine Bulle, welche 
die incubi als eine Anklage enthielt gegen »viele Leute beiderlei 
Geschlechts, die ihres Seelenheils vergessend vom katholischen 
Glauben abgefallen sind«. 

Bei uns tragen die Träume jetzt mehr einen zoologischen 
Charakter. Der Tiger, Bär, Stier, schwarze Zottenhund ^ die 
Boa Gonstrictor spielen eine Bolle. Doch auch Anderes, über-^ 
haupt alles, was den Begriff grosser Gefahr in sich schliesst, 
kann den Inhalt zu solchen Traum Vorstellungen abgeben. Dem 
Einen rollt ein Bad über d«n Leib, den Anderen trifft ein 
herabrollender Fels, ein umstürzendes Gebäude. Alles Schreck- 
liche in Geschichte und Bomanenwelt, die Qualen der Inqui- 
sition, das Stöhnen des von Schlangen umstrickten Laoeoon 
und Dant&'s ergreifende Schreckens-Schilderungen übertrifft die 
Pein und Angst des Alpdrückens. Oft stossen die Schlafenden 
einen unartioulirten, halb durch Furcht erstickten Schrei aus, 
sinken erschöpft auf das Lager, um bald bei Wiederkehr der 
Besinnung sich am Gefühl der Errettung aus einer Lebensgefahr 



— 128 — 

zu erfreuen. Meist sind die Trttume nach der Individualität 
verschieden, es giebt jedoch auch genereile Typen, wie als 
historischer der incubus der Hexen, als geographisdier der 
Yampyrismus bekannt ist. 

Sahmon Maimon träumte einst, als er lange Zeit sich mit 
der Kabbala beschäftigt hatte, dass die dämonische Lilith (ver- 
fahrende weibliche Gottheit der Kabbala) sich auf ihn stflrze, 
während er zu anderer Zeit nach Beschäftigung mit erhabenen 
Ideen die holdselige Umarmung der frommen Göttin Schechina 
genoss. Bei Damen, besonders nervösen, ist es nicht selten, 
dass sich ihnen im Schlaf ein unheimlicher Geist, der meist 
gespensterhaft und undeutlich bleibt, zuweilen aber auch die 
Gestalt bekannter Personen annimmt, nähert und auf ihre Brust 
stttrtzt. — Einige merkwürdige Beispiele erzählt Krauss. Ein 
ganzes Bataillon französischer Soldaten, welches in einer alten 
Abtei bei Tropea in Galabrien einquartirt war, wurde um die 
Mittemachtsstunde vom Alp befallen, erhob sich wie ein Mann 
vom Lager und rannte von panischem Schreck gejagt, kopfüber 
hinaus ins Freie. Auf die Frage, was sie denn so entsetzt 
habe, antworteten alle wie aus einem Munde, der Teufel sei 
in Gestalt eines grossen, schwarzen, zottigen Hundes durch 
eine Thür hereingekommen, sei ihnen mit Blitzesschnelle auf 
die Brust zugefahren und wieder durch eine dem Eingang ent- 
gegengesetzte Thür verschwunden. Dieselbe Scene wiederholte 
sich in der folgenden Nacht, ungeachtet sich die Officiere nach 
allen Seiten vertheilt hatten um gegen den Teufel Wache zu 
stehen, und nun wäre keine Macht der Erde mehr im Stande 
gewesen, die Soldaten in ihr Nachtquartier zurückzubringen. — 
Diese sonderbare Erscheinung erklärt sich sehr einfach. Die 
Soldaten hatten an einem heissen Junitage einen forcirten 
Marsch von 40 Miglien gemacht, waren dann in die Abtei, die 
eigentlich nicht so viel Leute fassen konnte, eingepfercht wor- 
den, hatten sich dort auf ein wenig Stroh gebettet und, weil 
es an Decken fehlte, sich nicht entkleidet. Die Erschöpfung, 
das schlechte Lager und die beengenden Kleidungsstücke be- 
wirkten zusammen die physiologische Erregung, welche bald 
eine nahe liegende reproducirte Vorstellung zu ihrem Inhalte 
nahm. Die Ortsbewohner hatten nämlich den Soldaten ge- 
sagt, in der Abtei würden sie Wunder erfahren^ indem der 



— 129 — 

Teufel dort in Gestalt eines schwarzen zottigen Hundes sein 
Wesen treibe ^^) . Krauss rechnet als ferneren Grund noch ein 
eigeiithümliches Miasma dazu, welches sich besonders in leer- 
stehenden grossen Gebäuden entwickele, und führt als Bestäti- 
gung eine eigene Beobachtung an. Als angehender Praktiker 
bezog er ein seit längerer Zeit leer stehendes, übrigens nach 
drei Seiten freies und auch sonst gut gebautes Haus niedrer 
Bauart, ohne beim Einzug geahnt zu haben, dass dasselbe 
der Tummelplatz Kemer-Eschenmayerschen Spukgesindels sein 
sollte. In der ersten Nacht erweckte ihn um die Mittemachts- 
stunde eine in ein dunkles Tuch gehüllte Gestalt, welche sich 
von dem gegenüberliegenden Fenster her dem Fussende seiner 
Bettstelle genähert hatte und sich nun gegen ihn herunter 
neigte, bis sie die Bettdecke berührte, dann aber rasch wieder 
verschwand. In der folgenden Nacht erwachte er wieder um 
dieselbe Zeit mit der unheimlichen Vorstellung der Spuk- 
gestalt; sie erschien auch, näherte sich der Bettdecke, ver- 
schwand aber plötzlich , ohne dieselbe zu berühren. In der 
dritten Nacht erwachte er nochmals mit der beängstigenden 
Ahnung des Gespenstes, ohne es jedoch zu sehen. Von da an 
wurde er nicht wieder gestört. Krauss hatte sich, wie er selbst 
meint, jetzt an die Spukatmosphäre »acclimatisirt«. Erst ein 
halbes Jahr später kam ihm zu Ohren, dass das Haus wegen 
solcher Erscheinungen berüchtigt sei. — Auf solche Miasmen 
deuten nach seiner Meinung auch die Alpmännchen hin, welche 
nach Ennemoser sogar die Thiere in panisdien Schreck ver- 
setzen ^^^j und die dem Hirten bald als ein altes Männchen 
mit zerrissenen Kleidern, bald als zottiger Hund erschienen. 

Da das Alpdrücken gewöhnlich kurz nach Mittemacht ein- 
tritt, glaubte Prout es aus dem Einfluss des Blutes, welches nach 
seinen Beobachtungen um Mittemacht das Maximum der Kohlen- 
sättigung zeigte, erklären zu können. Das dickflüssige , venöse 
Blut circulirt, sagte er, langsamer und wirkt vielleicht auch 
auf das Gentralorgan. So gelangte man zu dem Satze, dass 
die Geisterstunde ihren Keimpunkt in der überschüssigen Kohle 
des mitternächtlichen Blutes habe. Andre meinen, dass auch die 
geschlechtlichen Perioden nicht ohn.e Einfluss seien , da das 
Alpdrücken bei vollblütigen Personen oft scheinbar ohne Ver- 
anlassung vorkomme. Bei Manchen ist es eine Folge von Diät- 
Badestock, Schlaf n. Traum. 9 



— 130 — 

fehlern oder von Gemttthsbewegungen ; gmsiigen Krankheiten 
geht es zuweilen voraus und bei organischen Herzkrankheiten, 
asthmatischen Affectionen, höheren Graden der Hypochondrie 
und Hysterie leigt es sich in Wiederholungen. Macnish sagt: 
»Ich hatte Anfalle von diesem Leiden, wenn ich im Armstuhie 
sass oder mit dem Kopfe mich auf den Tisch legte. Und in 
der That sind dies die Körperlagen, welche den Alp am wahr- 
scheinlichsten veranlassen können, da die Lungen dann mehr, 
als in jeder anderen zusammengedrückt werden. Ich habe 
.aber auch den Alp sehr deutlidi gefühlt, wenn ich auf der 
Seite lag und weiss viele Fälle ahnlicher Art auch bei 
Andern« i®*) . 

/. Börner machte Versuche, indem er fest schlafenden, 
gesunden Menschen die Bettdecke derartig über das Gesicht 
schob, dass der Mund ganz und die Nasenlöcher theilweise 
bedeckt wurden. Der Schlafende athmete darauf in langge- 
dehnten Zügen, sein Gesicht röthete sich, seine Athemmuskeln 
geriethen in angestrengteste Thätigkeit, die Halsvenen schwollen 
an und bei jedem Athemzug wurde ein ächzender Ton aus- 
gestossen. Bald erfolgte unter sichtlicher Anstrengung ein Um- 
drehen des ganzen Körpers und Abwerfen der Decke vom Ge- 
sicht, wodurch der Schlaf wieder normal wurde. Nach dem 
Erwachen erzählte die Person , bei welcher man den Versuch 
angestellt, sie habe geträumt, der Alp in Gestalt eines häss- 
lichen Unholdes — ein etwas rauhes Tuch gab die Vorstellung 
von einem rauhen, zottigen Thiere, die die Respirationsmün- 
dung bedeckende Hand das Bild eines feindlichen mensch- 
lichen Wesens, — läge ihr auf der Brust ^^^). Binz bemerkt, 
dass bei Schnupfen nach einer etwas schweren Abendmahlzeit 
die katarrhalische Absonderung und Schwellung der Nasen- 
schleimhaut eintritt, wenn der Mund wie gewöhnlieh ge- 
schlossen ist. Dadurch wird der Luft immer mehr die Pas- 
sage verlegt, es häuft sich Kohlensäure an und verursacht 
Angstträume, bis endlich im Verlaufe derselben der Mund ge- 
öffnet wird, der Sauerstoff einströmt und die Himgespinnste 
zerstört. Neben der Atbembeklemmung wird auch eine zu 
reichliche Abendmahlzeit Ursache der Alpträume, besonders 
das kindliche Alter ist denselben ausgesetzt. ))In frühem Zei- 
ten gab man ihm Amulete und Heiligenbilder in's Bett, um es 



— 131 — 

vor dem Nahen der Hexen und Kobolde zu bewahren; heute 
reicht eine zweckmässige Regelung der Abenddiät weiter als 
<las kirchlici^e Rüstzeug« ^^^j . 

Ein leichter Kopfschmerz, sei es ein durch angestrengte 
fgeistige Arbeit, durch Gemttthshewegungen und andere Ur- 
sachen bedingter innerer oder durch Druck von aussen her- 
vorgerufener, führt im Traum die missUchsten Bilder vor. Ein 
leiser Anflug von Schwindel iässt uns schnelle Reisen machen, 
wobei sich oft die Wagen im Kreise drehen. Ich träumte ein- 
mal, dass ich aus einem Bahnwagen herausspringe als der 
Zug schon vollständig im Gange war; ich kam glücklich und 
unversehrt zur Erde, fühlte mich aber mit einer gewissen 
JUacht nach der Seite der fahrenden Wagen hingedrängt. Als 
-endlich der Zug und mit ihm die grosse Gefahr vorüber war, 
fühlte ich immer noch einen gewissen Wirbel und das Drängen 
nach einer Seite; ich erwachte und empfand einen massigen 
Kopfschmerz, den eine schlechte Lage verursacht hatte. Bei 
«inem massigen Rückenschmerz träumte Jemand, dass er ein 
Paquet geschickt bekäme; als er es geöffnet, waren Kröten 
darin, welche sich unter das Betttuch verkrochen. Ein ge- 
ringer Intercostalschmerz wird zum Dolchstich oder Biss eines 
wüthenden Hundes. Ernährungsprocessstörungen üben eben- 
falls einen grossen Einfluss aus, daher die schon im Alterthum 
■sehr bekannte Erscheinung, dass vieles Essen vor Schlafen- 
gehen schlechte Träume verursacht. Doch werden wir nicht 
mit Schei^ner annehmen, dass der Traum dabei das ganze Ein- 
^eweidesystem unter der Form von breiten , zuweilen sehr 
schmutzigen Stadt-, dann engeren Dorfstrassen symbolisire. 
In diesen letzteren Fällen, wo die Reize des Organismus und 
die daraus sich ergebenden Gemeingefühle schwach sind, be- 
■stimmt oft nicht der Inhalt der Vorstellungen^ sondern ihr Ge- 
lühlston die Association. Es entstehen Bilder, deren Inhalt 
dem Gefühlston der eigentlichen Eindrücke entspricht. Zu- 
weilen tritt statt der Association nach Gleichartigkeit die des 
Gontrastes hervor. Der Träumende sucht seinen Hutiger und 
Durst dadurch zu verscheuchen , dass er Anderen beim Essen 
und Trinken zusieht ^ und die lucallische Ausstattung dieser 
Mahlzeiten erregt seinen Appetit nur immer noch mehr; in 
anderen Fällen dagegen versetzt der Durst den Schläfer in 

9* 



— 132 — 

eine von Sonnenbrand durchglühte Wttste. Eine leichte Uebel- 
keit erregt die Vorstellung eines drohenden Ungeheuers mit 
gähnendem Rachen und bereitet dem Schläfer Gefahren aller 
Art. Die Ursache der Träume, in welchen das Wasser eine 
grosse Rolle spielt, bildet in den meisten Fällen der Urindrang 
des Schläfers ^^^) ; tritt dazu noch die subjective Erregung des 
Gesichtssinns, so schwimmen in den Flüssen und Seen in allen 
Farben schillernde Fische herum. Ich meine hiermit nicht, 
wie Schemer und Volkelt, dass die Phantasie unmittelbar den 
Reiz erschaue, umbilde und unter dem Bilde des Wassers oder, 
wie Scherner sagt, die Harnblase unter dem eines Koffers, 
Fasses, Tabaks- oder Strickbeutels, ja einer Droschke, welche 
im ersten Stock eines Hauses hält, weil diese Höhe der des 
Organs am »Leibgebäude« entspreche, — darstelle; wir haben 
eine dunkle Empfindung des Druckes der Harnblase und ihres 
Inhaltes, da diese jedoch zu schwach ist um selbst voltständig 
ins Bewusstsein zu treten, vielmehr den Charakter eines vagen 
Gefühls trägt, so wird durch sie nur die Reproduction der 
schon oft im Bewusstsein gewesenen, starken Vorstellung des 
Wassers, welche dann wieder andere Associationen nach sich 
zieht, veranlasst. Zuweilen bleibt die unmittelbare Empfin- 
dung in bedeutend minderer Stärke, also in relativer Selbst^ 
ständigkeit neben der Reproduction stehen und bildet mit 
ihr zusammen ein Bild; in den meisten Fällen aber ver- 
schwindet sie völlig vor der Macht der älteren und stärkeren. 
Der gerade nicht vorzügliche Witz VoUcelfs, dass eine solche 
Erklärungsweise gegen alle Analogie des Wachens Verstösse^ 
da es dort doch nicht Regel sei, dass Jemandem, der einen 
wohlschmeckenden Käse verzehre, sich die ihm ganz gleich- 
gültige Vorstellung Butter in so üppiger Weise aufdränge, dass 
er darüber sofort den Käse vergessen mtbsse, — widerlegt un- 
sere Ansicht keineswegs. Wenn Volkelt sich einmal genau im 
Wachen beobachtete^ würde er finden, dass, wenn man sich 
gehen, d. h. die Aufmerksamkeit zurücktreten und die Asso- 
ciationen herrschen lässt, man nicht nur von Käse auf Butter, 
sondern noch auf ganz andere, höchst entfernt liegende Dinge 
gerathen kann. In jedem Moment während des Wachens drän- 
gen sich die Associationen auf, nur der energische Wille und 
die auf gewisse Vorstellungen gerichtete Aufmerksamkeit fixirt 



— 133 — 

diese allein und lässt die anderen zurücktreten. Sobald diese 
active Aufmerksamkeit nachlässt, wie im Traum und in den 
träumerischen Zuständen des Wachens, treten die Associationen 
hervor und ein tolles Spiel der Gedanken beginnt. Wenn 
man etwa^ als dem gewöhnlichen Yorstellungskreise höchst 
fem liegend bezeichnen will, sagt man: dies wäre mir nicht 
im Traume eingefallen. Man erkennt oder ftthlt also allent- 
halben, dass der Traum in dem Laufe der Gedanken und 
deren Verbindungen vom Wachen abweicht und Sonderbares 
erzeugen kann. 

Wie es zuweilen zu geschehen pflegt, dass bei Affectionen 
irgend eines Körpertheils der benachbarte mit erregt wird oder 
als erregt erscheint ^^'), so theilt sich die Erregung obiger Or- 
gane den in der Nähe localisirten des Geschlechts mit. Auf 
diese Weise, oder auch durch unmittelbare Erregung, beson- 
ders in den bekannten Perioden, entstehen die je nach der 
Stärke des Reizes, der Individualität und speciellen Stim- 
mung des Einzelnen mehr oder minder sittlichen erotischen 
Träume 19»). 

Die zweite Hauptcategorie der Elemente des Traumes bil- 
den diejenigen Reproductionen, welche entweder durch 
Association mit den äusseren Eindrücken und den Erregungen 
des Organismus verknüpft sind, oder selbstständig aufsteigen 
und dann ihre physiologische Disposition in den durch Verän- 
derungen der Blutcirculation veranlassten automatischen Erre- 
gungen sensorischer Theile des centralen Nervensystems haben. 
Hier kann sich die psychische Individualität eines Jeden zur 
vollen Geltung bringen und die grdsste Verschiedenheit der 
Träume verursachen, denn die Anlagen und geistigen Erwerb- 
ungen des Menschen sind sehr verschieden. Schleiermacher sagt : 
»Wenn wir zwei Individuen in einem und demselben Moment 
denselben Einflüssen aussetzen, so wird das Resultat in beiden 
verschieden sein, und der Grund der Verschiedenheit wird 
nicht etwa bloss darin liegen, dass dem einen schon anderes 
von aussen eingebildet ist als dem andern, sondern dass ein 
jeder schon seine eigenthümliche Art hat, das ihn von aussen 
Gegebene in seine Lebenseinheit aufzunehmen und zu verar- 
beiten, und dass diese Lebenseinheit selbst eine andere ista^^^]. 
Noch mehr als im Wachen zeigen sich die Eigenthümlichkeiten 



— 134 — 

der Individualitäten im Traume. Im Wachen, so lautet bereit» 
ein Ausspruch des alten Herdclit, haben alle eine gemeinschaft— 
lidie Welt, im Schlafe und Traume hat ein jeder seine eigene. 
Alles, was der Mensch durch seine Sinne aufgenommen, was- 
die Seele durch Verbindung und Trennung der Vorstellungen- 
an Gedanken gewonnen, kann im Traum auftauchen. Be- 
sonders aber machen sich die Vorstellungen geltend, weiche- 
weit verzweigte Associationen und einen starken Gefühlston, 
oder wie Strümpell es nennt, »psychischen Werth« besitzen, und 
die gleichsam als Monarchen den sich um sie in grosser Menge- 
gruppirenden geringeren Vorstellungen gegenüber zu betrachten 
sind. Als Xerxes vor seinem Zuge gegen Griechenland von> 
diesem seinem Entschlüsse durch guten Rath abgelenkt, durcb 
Träume aber immer wieder dazu angefeuert wurde, sagte schon 
der alte rationelle Traumdeuter der Perser, Artabanos, treffend 
zu ihm, dass die Traumbilder meist das enthielten, was der 
Mensch schon im Wachen denke ^^^j, 

Ereignisse, welche einen Wendepunkt in unserem eignen^ 
Leben oder in dem uns nahe stehender Personen herbeigeführt 
haben, erfüllen die Träume sehr oft mit freundlichen oder 
schreckhaften Bildern. Welche Fülle der lieblichsten Scenen' 
bietet der Traum dem Liebenden I Alle seligen Stunden der 
Vergangenheit geniesst er noch einmal, ja schöner und herr- 
licher noch erscheint ihm Alles. In einem bekannten Volks- 
und Liebesliede heisst es: 

Bin ich gleich weit von dir 
Bin ich doch im Traum bei dir 
Und red' mit dir; 
Wenn ich erwachen thu' 
Bin ich aliein. 

Es besteht eine Wechselwirkung: die Liebe ruft Traum- 
scenen hervor und diese wirken wieder auf die Liebe zurück, 
bestärken und vertiefen sie. Hier, wo kein örtlicher Reiz die 
Bilder bestimmt, ist bei reinen Naturen Alles moralisdh und 
zart gehalten und das Herz »jauchzt himmelan«, bis der Mensch 
endlich am Morgen aus diesem Paradies vertrieben wird und 
bemerkt, dass Alles nur »Traum und Schaum« war. 

Wie die Träume der Jugend zuweilen das ganze Leben 
hindurch nachklingen, so wird andrerseits gerade diese Zeit^ 



— 135 — 

welche uns die meisten neuen und deshalb starken Eindrücke 
geliefert , im Traum sehr oft in den schönsten Bildern vorge- 
fahrt. Aber auch unangenehme Vorstellungen machen sich 
geltend. Das Unbehagen hat Fritz Reuter, der, wie er selbst 
erzählt, als Knabe »nie ein sehr eifriger Besucher der Schule« 
war, bis in den Schlaf seiner späten Jahre verfolgt: in bdsen 
Träumen »hatte er sich entweder nicht präparirt, oder irgend 
einer seiner vielen Lehrer hielt ihm ein schrecklich roth per- 
lustrirtes Exercitium unter die Nase, das er ihm dann schliess- 
lich um die Ohren schlug«. — Wichtiges und Unwichtiges, 
was wir längst vergessen glaubten, taucht wieder auf. In der 
frühesten Kindheit erlernter Sprüche und Verse erinnern wir 
uns wieder, wir erblidLen mit der grössten Deutlichkeit eine 
Person vor uns, die wir seit vielen Jahren nicht wieder ge- 
sehen. So hatte nach dem Bericht A. Maury^s der Freund 
desselben in seiner Kindheit die Umgegend von Montbrison be- 
sucht, wo er erzogen war. Fünfundzwanzig Jahre nachher 
machte er eine Reise in das Forez, um den Schauplatz seiner 
Jugendspiele und die alten Freunde seines Vaters wieder zu 
sehen, mit denen er seitdem nicht wieder zusammengekommen 
war. Die Nacht vor seiner Abreise nun findet er sich im 
Traum an das Ziel seiner Reise versetzt, an einem Ort bei 
Montbrison, den er vorher nicht gesehen hat. Er trifft daselbst 
einen Herrn an, dessen Züge ihm unbekannt sind und der ihm 
sagt, dass er H. T,, ein Freund seines Vaters sei, welchen er 
allerdings in der Kindheit gesehen hatte, ohne sich jedoch auf 
mehr als den Namen desselben besinnen zu können. Als er 
wirklich nach Montbrison kam, war sein Erstaunen gross, in- 
dem er dieselbe Localität und denselben Hn. T. dort wieder- 
erkannte^ die er im Traume gesehen hatte. Die Züge des 
letzteren waren nur etwas gealtert^*^)* — Eine ähnlidie 
Wirkung hat, wie Maury dazusetzt, die Blindheit. Ein Ga- 
pitän, der in Folge seiner in Afrika erhaltenen Wunden das 
Gesicht verloren hatte, erzählte demselben, dass ihm seit die- 
sem Unglück die gänzlich erloschene Erinnerung gewisser Loca- 
litäten mit äusserster Deutlichkeit zurückgekehrt wäre. Die 
anormale Erinnerung einer Dame bei der Gefahr des Ertrin- 
kens ist schon besprochen worden. Häufig sind solche Er- 
scheinungen bei manchen Krankheiten, besonders dem Fieber. 



— 136 — 

Ein oft erwähnter Fall ist die Geschiehte eines Rostocker Bauers, 
der im Fieberdeliiium die vor 60 Jahren zufällig vernom- 
menen griechischen Anfangsworte des Johannesevangeliums 
plötzlich recitirte. Noch sonderbarer ist die von Beneke mit- 
getheilte Geschichte einer Bauersfrau, welche im Fieberpa- 
roxismus syrische, chaldäische und hebräische Worte aussprach, 
die sie als kleines Mädchen in der Wohnung eines gelehrten 
Predigers zufällig vernommen hatte. — »Ein Mädchen«, erzählt 
Macnish^^^), »wurde von einem gefährlichen Fieber befallen und 
in dem Paroxismus des Deliriums, das sich dabei einstellte, 
horte man sie in einer Sprache reden, die einige Zeit lang 
kein Mensch verstand. Endlich ermittelte man, das es Walisch 
sei ; eine Sprache, von der sie, ehe sie krank wurde gar nichts 
wusste, und von der sie auch nach der Genesung keine Silbe 
reden konnte« Einige Zeit lang war die Sache gar nicht zu 
erklären, bis man endlich weiter forschte und ermittelte, dass 
sie in Wales geboren und in der Sprache dieses Landes als 
Kind erzogen worden sei, ob sie schon solche nachher ganz 
vergessen hatte«. Nach C. G. Carus kam es einem englischen 
Opiumesser vor dem Eintritt der vollen narkotischen Wirkung 
des betäubenden Mittels vor, als ob alles, was ihm je in das 
Bewusstsein gekommen, mit einem Male wie eine sonnenbe- 
schienene Gegend vor ihm ausgebreitet sei. Bekannt ist, dass 
nicht nur bei Sterbenden, sondern im hohen Alter überhaupt 
ELindheitserinnerungen besonders lebhaft hervortreten. Wasi- i 

ansky bemerkte dies recht deutlich an Kant^^^)* Mehrere Bei- 
spiele solcher anormaler Erinnenwgen vor dem Tode und in 
somnambulen Zuständen sammelten Pctssavant und Schubert ^^^j . 
In allen diesen Fällen geht der physiologischen Veränderung im 
Gehirn eine Veränderung der gewöhnlichen psychischen Thätig- 
keiten parallel. Doch mag wohl die Erinnerung sich nie über das 
dritte oder zweite Lebensjahr hinaus erstrecken, da erst hier 
die Continuität des Bewusstseins beginnt, indem das Kind ver- 
gangene Eindrücke mit den gegenwärtigen dauernd verknüpft. 
Im Traum verflieht sich nun das Alte, Vergangene mit 
dem Neuen, und es entstehen so Bilder der seltsamsten Art. 
Eine unglückliche Jugendliebe, die ja unter Umständen eine 
psychische Disposition zum Wahnsinn werden kann, mag sich 
in den Träumen sehr lange und äusserst lebhaft geltend machen, 



— 137 — 

und hier wird vielleicht der Spruch des Terenz^ dass die Liebe 
steigt, je mehr die Hoffnung sinkt, am meisten bewahrheitet. 
Der Mensch pflegt das räumlich und zeitlich Entfernte zu 
idealisiren, und der Gedanke webt um die gemeine Wirklich- 
keit den goldnen Duft der Morgenröthe. Die Menschheit hat 
ihr Paradies voll naiver Unschuld in grauer Vergangenheit und 
das evnge, selige, mit aller Freude und Wonne erfüllte Leben 
in der Zukunft. Die Völker preisen ihr vergangenes goldenes 
Zeitalter oder sehnen sich nach den Ländern mit dem »ewig 
heitern Himmela; es zieht sie hin nach dem Lande, »wo die 
Gitronen blühen«. So hat auch jeder einzelne Mensch seine 
wonnevolle Jugend und seine »schöne« Heimath. Wenn er 
über erstere hinaus ist, versetzt er sich gern in sie zurück 
und wünscht wieder jung zu sein ; wenn er die Heimath ver- 
lassen, fühlt er eine tiefe Sehnsucht nach ihr und der ab- 
wesende Freund erscheint ihm unentbehrlich. Im Traum er- 
scheinen ihm die Lieben, die dort vielleicht seiner gedenken, 
und es steigen empor die Bilder der Fluren, auf welchen er 
sich als Knabe getummelt, der Lieblingsplätze, wo er so gern 
geweilt, — oder die Abschiedsscene malt sich in allen ihren 
Details aus. Der Knabe und Jüngling dagegen, der von der 
grossen Welt nur das kleine Stück seiner Heimath kennt, 
sehnt sich hinaus in die Feme, in das Wogen und Treiben 
fremder Völker; das Ungesehene zeigt sich ihm im Traum in 
den schillerndsten Farben, alle seine Bestrebungen und Ideale 
sind deshalb auf die Zukunft gerichtet. So ist der Mensch: 
nie lässt er sich am Gegebenen vollständig genügen, entweder 
er beklagt, dass die wonnige Vergangenheit geschwunden, oder 
er wartet mit Sehnsucht auf die Freuden der Zukunft; er 
sehnt sich nach der Erfüllung seines Wunsches als einem letz- 
ten, höchsten Ziel, und hat er dieses erreicht, so sieht er 
es mit anderen Augen an, es erscheint ihm minder begehr- 
ungswürdig, denn seine Begeisterung dafür ist geschwunden, 
rastlos strebt er weiter, bildet sich neue Ideale, neue Wünsche 1 
Gerade das, was Schwierigkeiten bietet, reizt ihn am meisten. 
Was man den Deutschen zuweilen zum Vorwurf gemacht hat, 
dass sie nicht energisch in der Gegenwart zu leben wüssten, 
sondern durch unpraktisches Streben nach Idealen verleitet, 
ebenso wie sie das, was »nicht weit her« ist, gering achten. 



— 138 — 

stets ihre HoflFnungen auf die zeitliche Ferne setzen, — möchte 
ich für eine Eigenthttmlichkeit ^der Menschenseele überhaupt 
halten, die zwar mehr oder minder durch die gewaltsamen 
Forderungen der Gegenwart unterdrückt, nie aber ganz ver- 
nichtet wird; denn wo sie am Tage keinen Raum findet, er- 
füllt sie die Träume und spiegelt dem Schläfer die Verwirk- 
lichung seiner Ideale vor. Die Hoffnung ist eine Spannung in 
die Zukunft, von der man sich vorwärts und hinaufziehen lässt 
»wie durch einen spirituellen Flaschenzug«, sagt Scherner ^^''). 
Alles was die Seele nicht ganz bestimmt zu gewissen Vor- 
stellungen zwingt, sondern den Associationen Raum zur Ent- 
wickelung lässt^ sei es nach rückwärts in die Vergangenheit 
oder nach vorwärts in die Zukunft oder in die räumliche 
Ferne, hat für den Menschen einen grossen Reiz. Gerade in 
dem Ausklingen der Associationen und des mit ihnen verbun- 
denen Gefühlstones, also der Stimmungen, beruht der Zauber, 
welchen die Einsamkeit auf Viele übt, beruht auch die Süssig- 
keit des Traumes und aller träumerischen Zustände des see- 
lischen Sichgehenlassens und der Schwärmerei. Im Traum 
giebt man sich den Vorstellungen und Bildern der Gegenwart 
hin, ohne einzelne zu fixiren, spannende Erwartung liegt meist 
fem und wir fühlen nie Langeweile. 

Die meisten Wünsche stellt uns der Traum verwirklicht 
dar ^^^) . Manches Talent und Genie, dem die Ungunst äusserer 
Verhältnisse die Ausbildung seiner Anlagen versagte, wird nach 
den Mühen des Tages im Schlafe von Träumen beglückt sein, 
die ihm gestatten, seines eigentlichen Wesens wieder froh zu 
werden. Wie vermeinter Besitz, imaginäre Erfüllung von 
Wünschen, deren Verweigerung oder Vernichtung einen psy- 
chischen Grund zum Wahnsinn abgaben, den Inhalt des Deli- 
riums bilden und nach VermOgensverlusten der Kranke sich 
für ausserordentlich reich hält, während das betrogene Mädchen 
sich zärtlich geliebt sieht, — so lässt auch der Traum den 
Mann von den Sorgen des Daseins befreit, das Glück, welches 
er am Tage schmerzlich entbehren muss, geniessen und den 
Armen in Schätzen wühlen. Der unglücklich Liebende hält 
die Braut in seinen Armen und empfängt als zärtlichen Tribut 
die Küsse, nach denen er sich am Tage vergeblich sehnt. Ich 
las irgendwo von einem Manne — es war wohl ein Haus- 



— 139 — 

knecht, — • der seine Absicht, zum Militär zu kommen, nicht 
erreichte, und bei welchem sich diese Vorstellung nun stets 
in den Träumen hervordrängte : während er am Tage Stiefel 
putzte, kommandirte er des Nachts als Major seine Unter- 
gebenen. 

In letzteren Fällen wurden nicht die Vorstellungen repro- 
ducirt, welche schon am Tage vorherrschten, sondern solche, 
die unter die Schwelle des Bewusstseins gesunken und von 
den Tagesinteressen Niedergehalten wurden. Diese dunklen 
Vorstellungen, auf welche vorztlglich aufmerksam gemacht zu 
haben ein grosses Verdienst Leibnitz^s bildet, hat der Mensch 
in ausserordentlicher Menge. Wenn man sich diese alle auf 
einmal in's Bewusstsein rufen konnte), so ^ürde man , wie 
Kant bemerkt, sich für eine Art Gottheit halten und über sei- 
nen eigenen Geist erstaunen. Dies ist aber nicht möglich, da 
die Enge des Bewusstseins immer nur einer kleinen Anzahl 
Raum gestattet. Man sieht also, wie unendlich mannigfaltig 
sich der Traum gestalten kann, da aus der ungeheuren Anzahl 
derselben abwechselnd einige aufsteigen und das Bewusstsein 
des Schläfers erfüllen. In Bezug auf dieses Emportauchen dunk- 
ler Vorstellungen im Traum gebraucht Aristoteles den sonder- 
baren Vergleich, dass die Erscheinungen aufstiegen, wie wie- 
derbelebte Frösche wenn es aufthaue ^*^) ; passender möchte 
man es wohl vergleichen mit dem Sichtbarwerden der Sterne 
am Abend nach dem Verschwinden der Sonne. Die Sterne 
leuchten auch am Tage, ihr Licht wird aber durch das viel 
bedeutendere der Sonne überstrahlt und dem Auge nicht sicht- 
bar; ist dieses grosse jedoch verschwunden, so tauchen die zahl- 
losen kleinen empor ebenso wie die dunklen oder »kleinen« 
Vorstellungen beim Verschwinden der stärkeren Interessen des 
Tages. Darauf beruht die leicht zu beobachtende Thatsache, 
dass nach heftigen Gemüthsbewegungen, traurigen erschüttern- 
den Ereignissen des Tages ganz andere heitere Vorstellungen 
im Traume hervortreten und den Schläfer alles Leid und Un- 
glück vergessen lassen. Die Liebe, die der Wachende sich 
selbst nicht eingestehen wollte und gewaltsam niederdrückte, 
erfüllt des Schläfers Herz ganz^^), und am Tage nachhallend 
weiss sie seinen Willen allmählich zu besiegen ; die im Keime 
begriffene, welche noch unbewusst in der Brust schlummert, 



— 140 — 

offenbart sieh im Traum , wie über Nacht sich aus der Knospe 

eine herrliche Blume entfaltet. Da der individuelle Taet in 

der Wirkung dieser dunklen Vorstellungen besteht, so treten 

diese letzteren, wenn sie einmal am Tage nicht recht wirksam 

gewesen, d. h. wenn eine Tactlosigkeit begangen worden ist, 

im Traume hervor und es quält den Schläfer die Erinnerung. 

Volkelt sagt, dass ihm im Traume oft ein Freund erschienen 

sei, mit welchem er unrechter Weise den Briefwechsel längere 

Zeit unterbrochen hatte. Andererseits können sie durch früheres 

Hervortreten zur Warnung oder Aufmunterung sich gestalten. 

Darum stellt Socrates die Wirkung seines Dämonions, welches 

nichts Anderes als der individuelle Tact war, mit den Befehlen 

zusammen, weiche dem Menschen von Gott im Traume zugin* 

gen. Aehnliches geschieht beim Gewissen, denn : 

»Verbrechen wecken unnatürHche Gewissensangst und die 
belad'ne Seele beichtet dem tauben Kissen ihre Schuld«. 

(Shakesp. Macbeth^ A. V). 

Daher erscheinen die Eumeniden oder Erinnyen der Griechen, 
»die Schlagenjungfrau'n mit dem bluthroth glühenden Blick«, 
welche als Rachegöttinnen jeder Unthat das personificirte Gewis- 
sen bilden, besonders dem Schlafenden, oder überhaupt in der 
Nacht: den unglücklichen Orestes quälten sie zuerst »Nachtstr, 
als er »der Mutter Aschenkrug bewachte« 201) . Der Verbrecher 
durchlebt im Traum seine That mit allen ihren Nebenumstän- 
den, den ihr vorangegangenen Seelenkampf und ihre Folgen; 
die Geister der Ermordeten steigen auf und fluchen ihm wie 
dem teuflischen Richard im Lager von Bosworth. Als finstere, 
drohende Gestalten nahen sich die Gedanken, welche er im 
Wachen gewaltsam niederhielt, bis endlich auch hier ihm die 
Herrschaft verloren geht und dieselben in Hallucinationen, 
welche bekanntlich bei Verbrechern nicht selten sind, mit 
grosser Lebhaftigkeit emportauchen. Beide Stufen hat uns 
Shakespeare in seiner nachtwandelnden Lady Maxbeth und 
ihrem hallucinirenden Gatten meisterhaft geschildert. 

Besonders machen sich die Vorstellungen geltend, welche 
als Gontraste die Gedanken und Stimmungen des Wachens 
überhaupt, besonders aber der letzten Tage unbewusst be- 
gleiteten. Wer am Tage eine betrübende Nachricht erhielt, 
schwelgt zuweilen im Traum im höchsten Entzücken, und dem 



— 141 — 

Kinde des Gittcks fliessen des Nachts wohl Kummerthrftnen. 
Dies scheinen schon wilde Stämme zu beobachten, welche — z. B. 
die Sulus — die Meinung hegen, dass die Träume in ihr Gegen- 
iheil ausschlagen. Auf einem solchen Princip, sowie auf dem 
der Symbolik beruhen die Traumbücher der Inder, Perser, 
Araber und die meisten auf diese sich stützenden, im Mittel- 
alter, — besonders am Ende desselben — herausgegebenen 
Oneirocritica^^^). Und so findet denn in den Ausläufern 
derselben, den »Traumbüchlein«, welche die Aufklärung der 
Zeit noch nicht vollständig hat verdrängen können, noch jetzt 
manche Schöne, dass ihr eine erträumte Hochzeit Tod, Reich» 
thum Armuth und umgekehrt bedeute. 

Nach dem Vorhergehenden wird es uns nicht schwer sein 
den Fall zu erklären, welchen mir eine Dame mittheilte und 
der nicht selten vorkommen mag. Sie habe, erzählte sie, die 
Nachricht von der Reconvalescenz ihrer Mutter nach einer 
leichten Unpässlichkeit erhalten und darauf geträumt, dass die- 
selbe sehr krank, fast dem Tode nahe sei. Dies bestätigte 
sich später auch anscheinend wunderbarer Weise, da die Kran- 
heit sich mit stärkerer Macht wieder einstellte. War bei der 
Dame die Vorstellung von der Reconvalescenz der Mutter 
dominirend, so ist der Traum aus der Erscheinung des Gon- 
trastes zu erklären, herrschte dagegen die der früheren Un- 
pässlichkeit und die damit verbundene Besorgniss vor, so war 
es die einfache Uebertreibung, welche das Bild hervorrief. 

Dies Beispiel führt uns zugleich zu den zahlreichen Er- 
scheinungen, wo nicht eine schon längst in der Seele vorhan* 
dene sondern erst in der letzten Zeit appercipirte Vorstellung 
im Traum hervortritt. Ein unerwartetes Ereigniss der letzten 
Tage in unserem eigenen Leben und derer, die uns durch 
Verwandtschaft, Freundschaft oder sonst wie nahe stehen, 
welches einen tieferen Eindruck auf uns machte, stellt sich 
der Seele im Traum in derselben oder in phantastisch ver- 
änderter Gestalt dar, oder wird Ursache, dass die damit durch 
Association verknüpften Vorstellungen hervortreten. Die Nach- 
richt vom Tode eines Angehörigen trifft ein, ergreift und be- 
schäftigt die Seele, und der Verstorbene selbst erscheint im 
Traum wieder. Vermisst ja doch der Mensch das Liebste am 
meisten dann, wenn es ihm durch Entfernung oder Tod ent- 



— 142 — 

rttdU ist; Hess es ihn früher gleichgültig, so denkt er jetzt 
fortwährend daran, und unablässig steht vor seiner Seele das 
Eiid des für immer Verlorenen! — Jedoch auch weniger er- 
greifende, zuweilen freudige Nachrichten : das Eintreffen irgend 
eines Geschenkes, ein Brief von lieber Hand, interessante 
Einzelheiten aus der vorhergegangenen Conversation oder Lee- 
türe, alles was am Tage vorher mit den Sinnen wahrgenom- 
men worden, der Gedanke beim Einschlafen selbst — kann 
im Traume hervortreten und zuweilen aueh^ wie schon er- 
wähnt, (fen Inhalt der durch andere Reize veranlassten Bilder 
und Scenen abgeben. Hat man am Tage einem Examen bei- 
gewohnt und fühlt man des Nachts eine leichte Beengung, 
so versetzt der Traum den Schläfer auf die Schulbank und 
lässt ihn alle Angst eines nicht präparirten Schülers ausstehen. 
Die detaillirte Schilderung irgend eines Mordes, welche wir in 
der Zeitung gelesen, setzt uns der Verfolgung der Häscher aus, 
die in uns den Thäter vermuthen. Wer über die Unsterb- 
lichkeit der Seele vor Schlafengehen disputirt, kann hoffen. 
Beweise für seine Ansicht im Traume zu finden. Zurüstungen 
zu einer Festlichkeit am Tage versetzen den Schläfer schon 
mitten in den Genuss und die Freuden derselben; ein Brief 
von lieber Hand wird Veranlassung zu einem ersehnten per- 
sönlichen Zusammentreffen, welches dem Träumenden das 
schönste, seligste Glück verschafft, bis er am Morgen ent- 
täuscht wird und bemerkt ^ dass es eben nur »une mauvaise 
plaisanterie« war ; die angenehme Unterhaltung mit einer Dame 
am Tage lässt den Schläfer eine vollständige Liebeserklärung 
machen, die an den sie begleitenden Annehmlichkeiten^ Küssen 
und Kosen, Nichts zu wünschen übrig lässt. 

Maury sah unter den Schlummerbildern die Züge einer 
Person, die ihn zwei Tage vorher besucht hatte und deren 
originelle und etwas lächerliche Gestalt ihm aufgefallen war;' 
dann aber auch seine eigene Figur, nachdem er am Abend 
längere Zeit sich in dem Spiegel betrachtet hatte ; um zu. 
sehen, ob er nicht einige sichtbare Zeichen des Augenübels, 
an welchem er litt, entdecken könnte. Eines Abends hörte 
er sich in einem Mittelzustande zwischen Schlaf und Wachen 
ganz deutlich selbst sprechen, als wenn er in einem Saale 
eine Rede hielte. Namentlich fielen ihm gewisse Worte und 



— 143 — 

Phrasen in^s Ohr; plötzlich trat man mit Licht in das Zimmer 
und er erwachte. Jetzt erinnerte er sich, dass die Phrasen, 
die er von sich selbst geh<)rt zu haben glaubte, die Ausgänge 
von Phrasen eines Aufsatzes (composition) waren, den er vor 
kurzem mehrmals seinen Freunden vorgelesen ^^-^j . — Wandt 
hatte einst in der Zeitung gelesen, dass in einer Stadt die 
Cholera ausgebrochen sei; dann mit einem Bekannten über 
eine Dame gei'edet, wobei ihm derselbe einige Thatsachen er- 
zählte, aus denen der eigennützige Sinn derselben hervorging, 
und endlich begegnete ihm am Tage der Leichenzug eines be- 
kannten Mannes. Nachts darauf träumte er, dass sich ein 
Leichenzug vor dem Hause aufstellte, an welchem er Theil 
nehmen sollte, es war das Begräbniss eines vor längerer Zeit 
verstorbenen Freundes. Die Frau des Verstorbenen, die er- 
wähnte Dame, forderte ihn und einen anderen Bekannten auf, 
sich an der gegenüberliegenden Seite der Strasse aufzustellen, 
um an dem Zuge Theil zu nehmen. Als sie fortgegangen, be- 
merkte der Bekannte : »Das sagt sie uns, weil dort drüben die 
Cholera herrscht; deshalb möchte sie diese Seite der Strasse 
für sich behalten!« 204) ic^ selbst hörte eines Tages in der 
Unterhaltung von Jemand äussern, dass ein uns bekannter 
junger Getreidehändler ein sehr gutes Geschäft mache und 
selbst bei dem Beinigen des Getreides oft gegenwärtig sei. 
im Traume sah ich ihn dann vor einer Maschine stehen, welche 
die Form einer grossen Hechel hatte, und einzelne Getreide- 
körner mit den Fingern herausklauben. Ich hörte von einem 
Künstler, dass derselbe seine Brust in enormem Grade auf- 
blähen könnte und sah dies Kunststück im Traunie ausgeführt ; 
von einem sehr jugendlichen Studenten vernahm ich, dass er 
promoviren wollte, in der folgenden Nacht begegnete er mir 
und ich gratulirte ihm, da er das Examen gut bestanden. 
Dann ritt ich im Traum, nachdem ich mich am Abend in einer 
Gesellschaft von Beitpferden unterhalten, ein Pferd zu Tode, 
ohne der Reitkunst sonst mächtig zu sein. Ein andres Mal 
äusserte ich kurz vor Schlafengehen zu einem Freunde, dass 
ich mich früher viel mit dem Studium der Geschichte be- 
schäftigt habe: im Traume sah ich mich auf eine Bank des 
Gymnasiums zurückversetzt, wo ich einen Vortrag über das 
Leben Leibnitz's, dessen Philosophie ich am Tage zuvor stu- 



— 144 — 

dirt hatte, hielt. Ein mir bekannter Schnllehrer erzählte, dass 
er bei dem Vorstände des Dorfes, wo er seine erste Stelle an- 
treten sollte, seine Aufwartung gemacht und die Nacht darauf 
geträumt habe, er sei mit der Tochter des Schulzen verlobt. 
Ja höchst Unwichtiges, beiläufig Wahrgenommenes, auf wel- 
ches man am Tage nicht geachtet, macht sich breit. Ich habe 
oft beobachtet, dass Gedanken, welche auf dem Spaziergange 
aufgetaucht, sofort aber wieder verschwunden waren, im Traum 
sich nochmals zeigten und zu ganzen Scenen ausbreiteten. 
Leise oder stärker angeregte Stimmungen erscheinen in voller 
Macht : so träume ich besonders lebhaft nach dem Besuche des 
Theaters. 

Die in Folge centraler Reizung emportauchenden Repro- 
ductionen werden nun sowohl durch neue automatische Er- 
regungen als auch durch äussere und innere Eindrücke viel- 
fach unterbrochen und durchkreuzt; dadurch wechselt die 
Scene fortwährend, besonders in den Morgenträumen, und es 
entsteht die bunte Mannigfaltigkeit, die dem Traume das cha- 
rakteristische Gepräge gegenüber dem wachen Denken mit 
verleiht. 



Capitel VI. 

Der unterschied des Traumes vom wachen Denken. 

im Talmitd lautet ein Spruch, dass kein Traum oirne 
Narriiett sei und Cicero redet davon, dass es nichts Verkehr- 
tes, Barockes und aller Regel Spottendes gäbe, was der Traum 
nicht aufnehme ^^*) . In der That scheint es unmöglidi, in die* 
sem tollen Treiben feste Gesetze zu erkennen; d^ strengen 
Polizei des vernünftigen, den wachen Vorstellungslauf leiten* 
den Willens und der Aufmerksamkeit sidi entziehend, wirbelt 
der Traum im tollen Spiel Alles kaleidoskopartig durch ein* 
ander. Was in der Wirklichkeit zusanunengehürt , wird zer* 
rissen, und zusammenschmilzt, was getrennt ist und sich 
gegenseitig ausschliesst. Man kann hier den Vergleich an- 
wenden, den Goethe an einer Stelle ^^j von dem wirren Durchs 
einander eines verzweifelnden Gemüthes braucht : es ist »wie 
wenn von ungefähr unter der Zurüstung ein Feuerwerk in 
Brand geräth und die künstlich gebohrten und gefüllten Hül* 
sen, die, nach einem gewissen Plane geordnet und abgebrannt, 
prächtig abwechselnde Feuerbilder in die Luft zeichnen sollten, 
BunmeW unordentlich und gefährlich durch einander zischen 
und sausen«. Scherner , der die »zarten, weichplastischen« 
Schöpfungen der Nacht den »batzigen Zusätzen« und der 
»stümperhaften Arbeit des Wachens« gegenüber und die der 
ersteren Kunst »in ihrer Art« höher stellt, muss an anderen 
Stellen. auch zugestehen, dass diese Art eben zuweilen eine 
närrische ist. Denn wenn er Erdbeeren an Bosenspalieren 
indet^ einen Erhängten sieht, der den Strick um die Taille 
geschlungen bat, wenn Sperlinge von einem Weizenfelde aus 
zu ihm sprechen, Musiker mit ihren Instrumenten tanzen, oder 
eine Frau ihren Säugling statt in Linnen in weisses Papier 

B ade stock, Schlaf n. Traum. 10 



— 146 — 

wickelt 2®^, — 80 zeigt sich darin eine dehr barocke Verbindung 
zwischen verschiedenen Vorstellungskreisen; einige von ihm 
mitgetheilte Anfänge von sogenannten loSchablonentraumena 
kurz nach dem Einschlafen : »Unter den grOssten Modificationen 
einer schlauen Westentasche verbirgt er« ... . oder : »Ja, ja, 
man bricht Sperlingsprobleme« — würde Niemand im Wachen 
für herrliche Geistesproducte ansehen. Erinnerungen aus langer 
Vergangenheit und Vorstellungen der Gegenwart oder einzelne 
Glieder weit von einander liegender Vorstellungskreise ver- 
binden sich zu einem einzigen Bilde, oder es entwickelt sich 
aus einer Reproduction und einem unmittelbaren äusseren oder 
inneren Eindruck eine höchst sonderbare neue Scene, worin 
oft die schroffsten Gegensätze friedlich neben einander bestehen. 
Heermann erzählt, dass er einst mit Eolikschmerzen einge- 
schlafen sei und darauf geträumt habe, der Unterleib sei ihm 
geöffnet und es werde an ihm der nervus sympathicus prä- 
parirt. — Nachdem Schemer einst mit einem Pastor einem 
Weingelage beigewohnt hatte, sah er sich im Traum in der 
Kirche und hörte den Gantor singen, erblickte aber dabei 
hi^er dem Chor ein geräumiges Vereinszimmer, wo gegessen 
und getrunken wurde. Ein andres Mal traf er einen gelähm- 
ten Gelehrten mit bunter Offioiersuniform auf einem Balle an; 
während man im Saale tanzte, zog iemst und feierlich ein 
Leichenzug vorüber. — Volkelt stellte sich einen schwarzpolir- 
ten Violin-Kasten als Sarg vor und warf statt der Erdschollen 
Zuckerstücke darauf. — Ich selbst träumte einst, ich wolle 
die Vorlesung eines Professors besuchen und mir im Hörsaal 
einen Platz sichern ; statt jedoch wie gewöhnlich die Karte da- 
bei zu benutzen, schrieb ich meinen Namen auf einen Hand- 
schuh, der noch dazu nicht einerlei Farbe hatte, sondern ge- 
streift war, ähnlich wie ich vorher ein Damenkleid im Theater 
gesehen hatte. Ein andermal sah ich Husaren auf einem Dach- 
boden herumreiten. 

Es giebt nichts Festes und Beharrliches ; schnell wechseln 
die Vorstellungen und die Bilder sind in stetiger Metamorphose 
begriffen. Scherner wurde auf eine Wildente aufmeri^sam ge- 
macht; als er hinsah, war es ein Paradiesvogel, näher herzu- 
tretend erblickte er einen prächtig schillernden Pfau, der sich 
plötzlich in einen riesigen Storch verwandelte. Ein Bogen 



— 147 — 

Tresorscheine wurde zum weissen Halstuch, dann zum Damen« 
mantel. Gruithuisen träumte auf einem Pferde zu reiten, 
welches sich in einen Bock umwandelte; letzterer wurde ein 
Kalb, das Kalb eine Katze, die Katze ein schönes Mädchen und 
dieses eine alte Frau; der Baum, auf welchen die Katze klet- 
terte, wandelte sich in eine Kirche, letztere in einen Garten; 
das Orgelspiel in der Kirche endlich wurde zum Spielen der 
Katze auf der Maultrommel und dieses zum Gesang des Mäd- 
chens. Besonders zeichnen sich die Schlummerbilder durch 
solchen fortwährenden Wandel aus. Wenn man im Traum 
Gedrucktes oder Geschriebenes sieht und etwas genau fixirt, 
80 verändert sich in jedem Augenblick die Stellung der Buch- 
staben, Silben und Satztheile. Schemer erschien das Wort 
^Philosophie« in einer Form, welche in Bezug auf Zusammen- 
setzung sehr viel Aehnlichkeit mit » Popocatepetl < hatte. Der 
abstract denkende Mathematiker und der speculative Philosoph 
hat hier ebenso wenig Macht über seine Vorstellungen wie 
das Kind, welches noch nichts von Problemen und logischen 
Denkgesetzen weiss. ^ — Es erscheint mir als ein unnützes Be- 
mühen, wenn manche Forscher in diesem Labyrinth sich durch 
eine oft recht detaillirte Eintheilung und Classification 
der Träume zurecht finden wollen ^^^j. Die Betrachtung der 
Elemente des Traumes und der Associationsgesetze der Vor- 
stellungen giebt einen solchen leitenden Faden am besten. 
Noch weniger fruchtbringend ist nach meiner Meinung der 
Versuch Einiger, das Vorkommen aller einzelnen Formen und 
Mittel der Poesie und Rhetorik, wie dei^ Personification, 
der Hyperbel, Antithese, Ironfb* aller Arten von Metaphern, 
der Allegorie u. s. w., im Traum nachzuweisen. 

Die Haupteigenthümlichkeit der einzelnen VorsteJIungen 
bildet ihre Lebhaftigkeit und Uebertreibung, welche 
ihren physiologischen Grund in der durch Veränderung der 
Blutcircul^tion veranlassten gesteigerten Reizbarkeit des centra- 
len Nervensystems hat. Das sanfte Bauschen des Windes in 
den Blättern der Bäume wird zum Brausen des Orcans, das 
Fallen eines Buches zum Schuss ; Maury vernahm die in seiner 
Nähe versuchsweise vorgenommene Reibung einer Zange mit 
einem Stahl als Sturmgeläut ; ein leichter Schmerz irgend einer 
Art zeigt sich in einem hohen Grade gesteigert und das Un- 

10» 



— 148 — 

gehetwrikbe hemehi vor. Die BUder treten eotwedw sofbri 
in ttbertriebener Form auf oder werden allmählich gesteigert, 
besonders bei der FMtdauer eines leisMi Schmenes nnd einer 
nnbehaglichen. Empfindung, wie bei der Athembeklenimung* 
Die Gestalten blähen sich zuweilen auf wie Faust's Pudel, sie 
zeigen keine Proportion ihrer einzelnen Theile; alles, was dem 
wachen Denken unverhältnissmässig, widerstreitend und un- 
vereinbar erscheint, bringt der Traum iii Verbindung. Daher 
erscheinen uns die Gegenstände weniger durch ihre Umrisse 
und das Yerfaältniss ihrer einzelnen Theile anmuthig als durch 
die Farben. Diese haben oft einen ausserordentlich sanften Ton 
und die Zusammenstellung derselben erscheint uns prachtvoller 
als wir sie je im Wachen gesehen oder zu sehen gehofft ha* 
ben. Träume von wundersdiönen Gemälden, paradierischen 
Gärten und ganzen Gegenden sind nichts Seltenes. Ebenso 
ist die im Traum gehörte Musik zumeist ausserordentlich 
schmelzend und wir ergötzen uns an den reizendsten Melo- 
dien. »Der Traum schafft; sowie im Grässlichen, so im Schönen, 
weit über die Erfahrung, ja über die Zusammensetzungen der* 
selben hinaus und gebiert uns Himmel, Erde und Hölle zugleich« 
sagt Jean Baut treffend ^^) . — Nicht nur der Intensität, sondern audi 
der Ausdehnung und Breite nach wachsen oft die Vorstellungen 
in's Maasslose ; wie in Stimmungsträumen ein dauerndes GefQhl 
nicht müde wird stetig wechselnde Bilder hervorzubringen, die 
ihrem Inhalte nach sämmtlich ihren Ursprung nicht verleugnen, 
so pflegt audi eine momentan aufsteigende Freude oder ein 
kurzwährendes Missbdiagen die Vorstellungen und Erschein- 
ungen zu multipliciren. Freut sich Jemand über ein gefun- 
denes Goldstück, so liegen sie bald wie gesät um ihn herum ; 
das Ei^tzücken über eine schöne Blume zaubert ganze Garben 
und prachtvolle, mit solchen und noch schöneren angefüllte 
Gärten hervor; bewundert man einige schöne Vögel, so er- 
blickt man sofort ganze Schaaren und d^i Himmel davon ver^ 
dunkelt; eine Dame sieht ganze Haufen von Sclmiuckgegen- 
ständen und ganze Berge von Stoff zu ihrer Lieblingsrobe. 
Wenn uns ein Ungeheuer bedroht, so sehen wir uns bald, 
wohin wir uns auch wenden mögen, von Gefahren umringt, 
und ein Bandit lockt die ganze Bande herbei. 

Der schnelle Wechsel der Vorstellungen begünstigt das 



— 149 — 

Gefühlsleben, ohne es jedoch zu einer sentimentalen Ver- 
tiefung kommen zu lassen. Im Traum sind wir alle Sangjui- 
niker; gleichm^slg erregbar für alle Eindrücke, die sich uns 
darbieten, leben wir im Augenblicke, fixiren höchst selten 
eine einzelne Erscheinung, um sie selbstständig weiter zu ver- 
folgen, sondern nehmen Alles hin, wie es eben kommt. Wie 
das Kind schwelgt man im höchsten Glücke und kann im Augen- 
blick darauf bei dem Wechsel der Eindrücke bis zu Thränen 
gerührt werden ^^^). Jetzt spielt man den zärtlichsten Lieb- 
haber, der sich in alle Wonnen des Gefühlslebens versenkt, 
bald steigt eine andere Vorstellung auf und man fühlt die 
Süssigkeit des Gedankenaustausches über ernste wissenschaft- 
liche Gegenstände; man tanzt in einem Ballsaal, wo Alles nur 
Freude und Heiterkeit zeigt, und sieht im nächsten Moment 
einen feierlichen Leichenzug vorübergehen , der eine ernste 
Stimmung veranlasst. Auch hier herrscht die Uebertreibung. 
Lust und Freude erscheinen intensiver und »erlebte Gräuel sind 
schwächer als das Graun der Einbildung«. Trotzdem sind die 
Gefühle und Affecte für den Organismus weniger gefährlich. 
Während im Wachen der Schreck bekanntlich Vielen den Tod 
bringt und bei Leibnitz's Nichte die Freude über die Auffindung 
der 6000 Ducaten unter dem Bett des Philosophen tödtlich wirkte, 
ist noch Niemand vor Freude oder Schreck im Traum gestorben. 
— Die höheren ästhetischen, sittlichen, religiösen Gefühle, Begei- 
sterung für Freiheit und Vaterland bilden sich, wie Hochachtung 
und Ehrerbietung, im Traume selbst nicht, da die dabei mitwir- 
kenden höheren Geistesthätigkeiten zurückgetreten sind, sondern 
sie sind, wenn sie vorkommen, der Nachhall der Tagestiromungen. 
Das Gemüth ist überhaupt sehr oft die Basis der Träume. 
Heimaths- und Liebessehnen taucht im Traume auf und der Re- 
ligiöse verkehrt mit den Engeln, sieht Gott in seiner Glorie 
und redet mit ihm; aber auch Zorn, Unwille und Verdriess- 
lichkeit, sei es über eine erlittene Zurücksetzung, Ehrenkränk- 
ung oder über Ghicanen und Intriguen feindlicher Neider macht 
sich geltend. Während im Wachen das Gefühl durch die Re- 
flexion wie das erste Menschenpaar bald seine Naivetät ver- 
liert, sich gewissermassen schämt und verbirgt, herrscht es 
hier unbeschränkt, bleibt in dem Wechsel der verschiedenen 
Bilder bestehen und bestimmt den Inhalt derselben. Andrer- 



— 150 — 

seits bäBgt der eine Vorstellung begleitende GefOhlston von 
der Beziehung derselben zu der Summe bereits erworbener 
Vorstellungen ab; im Traume mangelt den einzelnen Repro* 
ductionen dieser geistige Hintergrund und damit das Mass an 
den sonstigen herrschenden Interessen ^^i). Femer sind die 
Kdrperempfindungen , die das Gefühl mit beeinflussen, andere 
geworden und damit das Gefühl uns entfremdet. Wie der 
Jüngling und der Mann die Glüekseligkeit des Kindes für nich- 
tig findet, weil seine Vorstellungen zahlreicher und klarer, 
seine K(k*perempfindungen andere geworden sind und das Ge- 
fühlsleben früherer Jahre ihm entfremdet ist, so kann sich ein 
Genesener nicht in die Träume der Krankheit zurückversetzen, 
während ein erneuter Krankheitsanfall dieselben wiederkehren 
lässt. Daher sind die Gefühle und Affecte, welche aus der 
Combination von Reproductionen unter einander und dieser mit 
den aus unmittelbaren Körperempfindungen hervorgegangenen 
Vorstellungen im Traume entstehen, denen des Wachens gegen- 
über fremdartig und verzerrt 212) . Es ist eine bekannte Er- 
scheinung; dass Scenen, welche uns im Wachen auf das tiefste 
berühren würden, uns im Traume gleichgültig lassen ; etwas 
Unbedeutendes aber uns mehr als billig aufregt; die Gefühle 
des Traumes erscheinen dem prüfenden Verstände des Wachen- 
den meist absurd und närrisch. Der aus dem Wechsel der 
Vorstellungen hervorgegangene Aflect wiriit stärkend und be- 
schleunigend auf denselben zurück und kann wohl das Er- 
wachen herbeiführen. Der Gefühlston der unmittelbaren Em- 
pfindungen des Gesichts- und Gehörssinns ist schon besprochen. 
Bei normalem Gemeingefühl sind die angenehmen, bei krank- 
haftem die unangenehmen Bilder vorwiegend ; doch verursacht 
oft eine Störung im Organismus glänzende, prachtvolle Er- 
scheinungen, die besonders durch ihre Lichtfülle sich auszeich- 
nen. Die den Tod verkündenden Gestalten erscheinen weiss, 
und die hellen glänzenden Lichtgestalten der Somnambulen 
sowie ihre Besuche in paradiesischen, mit prachtvollen Blu- 
men erfüllten Gegenden, ja fernen von Engeln bewohnten 
Weltkörpern haben eine gewisse Berühmtheit erlangt, beson- 
ders die der unter dem Namen »Seherin von Prevost« sehr 
bekannt gewordenen Friederike Hauffe 2i3) . Mehr als der Inhalt 
wirkt der Gefühlston der Vorstellungen im Traum auf die des 



— 151 — 

WacheiKS ein und die Stimmungen hallen lange nach. Es fin- 
det ein fortwährender Kreislauf statt: die Gefühle des Tages 
rufen Träume hervor und diese verstärken und vertiefen die 
Gefühle. 

üeber die Träume haben wir keine Macht. 
Eben so wenig als wir uns durch blossen Vorsatz bestimmte 
veranlassen können, vermögen wir, so lange wir nicht im Be- 
sitz der Weltformel sind, über den Inhalt derselben vorher 
etwas auszusagen. Es wäre dies ähnlich wie wenn wir sagen 
wollten: morgen um die und die Stunde wird mir dies ein- 
fallen und jener Gedanke sich in meiner Seele bilden. Zwar 
sind wir bekanntlich nicht unfähig, unsere Erinnerung zu einer 
bestimmten Zeit nach einem bestimmten Punkte hin zu lenken, 
aber wir bedürfen dazu ausser mannigfachen Mitteln der Auf- 
merksamkeit, des Vermögens, eine bestimmte Vorstellung aus 
der grossen Masse der in unserer Seele vorhandenen zu fixiren 
und festzuhalten. Den Vorstellungsverlauf können wir nie 
willkürlich sistiren, wohl aber seine Richtung bestimmen und, 
indem wir einzelne Vorstellungen länger im Auge behalten, 
sie zur Klarheit erheben und die übrigen zurückdrängen, ihn 
verlangsamen. Diese active Apperception aber ist im Traum 
entschwunden; der Lauf der Vorstellungen lässt sich nicht 
lenken wie im Wachen, sondern er folgt seinem eigenen 
Willen, nämlich dem Gesetze der Beziehung der Vorstellungen 
untereinander. Allerdings kann zuweilen einerseits da, wo 
gewisse Vorstellungsmassen immer wiederzukehren pflegen, 
z. B. bei Liebenden oder Religiösen, mit einiger Wahrschein- 
lichkeit auf den Inhalt der Träume geschlossen werden, 
andrerseits der Nachhall des wachen logischen Denkens den 
ersten Traum nach dem Einschlafen bestimmen, so dass aus 
den vorhandenen Prämissen der Schluss gezogen und dieser 
als wunderbares Ergebniss des Traumes bei Vielen ein Docu- 
ment für die höhere Entwickelung der Geisteskräfte abgiebt, 
— allein wie diese Wahrscheinlichkeitsrechnung höchst trüge- 
risch ist, da ganz andere Dinge, ja die Gegensätze im Traum 
emportauchen können, so geht auch die energische Spontaneität 
der Seele in den meisten Fällen schon im ersten Schlafe ver- 
loren. Bereits bei der Schläfrigkeit bemerkt man ein allmäh- 
liches Erlahmen der Selbstthätigkeit ; die Schlummerbilder 



— 152 — 

haben sich ilurer Herrschaft einzogen , und wenn sie luweilen 
sich noch aufrafft^ so sind dies immer nur Lichtblitze vor und 
in der völligen Finstemias. Im Traum werden die Vorstellung 
gen percipirt wie im Wachen, wenn die Aufmerksamkeit sie 
nicht erfasst; ihre Lebhaftigkeit erhalten sie nicht durch die 
Activität der Seele, sondern durch die ihnen parallel gehenden 
physiologischen Reiz-Zustände des Gehirns. Sie verweilen nicht so 
lange als es dem Schläfer beliebt , sondern so lange es die ihnen 
innewohnenden Gesetze der. Beziehung und die Dauer der ma- 
teriellen Bedingungen es erlauben. Schnell wie sie gekommen 
huschen sie vorüber und kehren sich nicht daran ^ ob der 
träumende Liebhaber seine Geliebte gern noch länger gespro* 
chen oder gektisst, der Zornige seinen Gegner zermalmt, der 
Künstler ein herrliches Gemälde wie der Religiöse Gott , die 
Engel und das Paradies noch länger angeschaut haben möchte* 
Der Sprachgebrauch: »mir hat geträumt« deutet diese Passivi- 
tät sehr gut an. Aehniiehes können wir beobachten bei dem 
raschen Gedankengang im Rausch und der Ideenflucht der 
Irrsinnigen^ wo überall physiologische Veränderungen zu Grunde 
liegen. — Doch zieht sich eine in den meisten Fällen minimale, 
in besonderen Verhältnissen aber gesteigerte Spannung durch 
den ganzen Schlaf hindurch, welche den äusseren Reizen ent- 
gegenkommt, sie steigert und dadurch das Erwachen herbei- 
führt. Die Mutter erwacht bei dem leisesten Wimmern oder 
Seufzen des Kindes, während alle anderen Eindrücke sie ruhig 
schlafen lassen. Eines interessanten, von Brandts erzählten 
Beispieles, welches eine solche innere Tendenz zeigt, wurde 
schon oben Erwähnung gethan. Hat man sich am Abend vor- 
her vorgenommen, ^u einer bestimmten Stunde aufzustehen, 
so erwacht man gewöhnlich zu früh; erst bei Gewöhnung er- 
langt man die Fähigkeit, zur bestin^mten Stunde aufzustehen, 
indem das Schlagen der Uhr oder ein sonstiges Geräusch^ 
welches sonst nur einen Traum hervorgerufen haben würde, 
den Schlaf verscheucht. Alle Personen, die Kohlschütter seinen 
Experimenten unterwarf, äusserten, dass sie eine gewisse 
Spannung während der ganzen Nacht nicht hätten los werden 
können. Diese Spannung hat jedoch auf die Träume .selbst 
keinen Einfluss und hebt die Regellosigkeit nicht auf, nur die 
Eindrücke bringt sie einem Maximum näher. 



— 153 — 

Der rapide VorsteHungsverlauf ist der BiMniig neuer Com- 
binationen günstig; man. macht oft im Traum, der überhaupt 
wie viele Reizungszustände des Nervensystems das Rhythmische 
und Metrische liebt, Gedichte, oder man kommt auf eine neue 
philosophische Idee. Wer Neigung und Talent zur Musik hat, 
componirt ein neues Stück, und der Maler findet einen neu^i 
Gegenstand zu einem herrlichen Gemälde. Allein alle diese 
neuen Producte sind höchst zweifelhafter Natm*. Wie der Irr* 
sinnige das perpetuum mobile oder eine Idee, welche die 
ganze Erdoberfläche ändern muss, gefunden eu haben glaubt, 
nach der Genesung aber nicht begreifen kann, dass er solchen 
Unsinn nicht sofort durchschaute, so erweist sich das herrliche 
Traumgedieht, nach dem Erwachen als höchst trivial. Die 
philosophische Idee, deren Tragweite wir nicht hoch genug 
anschlagen konnten, ist der vollendetste Unsinn, das geistreiche 
uad glänzende Aper9u platt, ja widersinnig, der köstliche Witz 
höchst abgeschmackt und fade^^^j. Wir sprechen geläufig in 
fremden Sprachen, von denen wir vorher nur sehr unvoUkom* 
mene oder gar keine Kenntniss besassen ; am Morgen stellt sich 
dann auch, wenn wir einige Phrasen davon noch im Gedächte 
niss haben, heraus, dass kein Wort davon richtig ist. Wenn 
Scherner sagt, dass uns »die Weichheit, der Wohlklang, d^ 
unmittelbare Fluss und das unwillkürlidie Auseinanderhervor« 
schwellen der Reime« überrasche, nachdem wir uns am Tage 
vergebens damit abgemüht (S. 283) , so gilt dies allerdings 
für den Traum; andrer Ansicht aber würde man vielleicht 
sein, wenn man ein solches Gedicht in demselben Wortlaute, 
als man es in der Nacht gedichtet, am Morgen aufzeichnete. 
Ebenso würde uns vielleicht die im Traum gehörte Musik oder 
die durchwandelten Auen minder schön und himmlisch erschei- 
nen, wenn wir dieselben völlig treu uns in das Gedächtniss 
rufen könnten. Dies ist aber meist nicht der Fall, sondern 
wir berichtigen diese Vorstellungen aus der .wachen Erfahrung 
und glauben nun, es sei auch im Traum so gewesen. Deshalb 
behält der Traum immer für den Künstler seine Wichtigkeit; 
wenn er ihm die Ideale auch nicht unmittelbar und vollständig 
liefert, so regt er doch durch seine GombinaHonen die Schöpfer- 
kraft des Wachenden an, sie zu bilden und zu verwirklidien. 

Es charakterisirt also den Traum eine bedeutende 



— 154 — 

Schwache des Unheils und des Schlusses. Zur Be- 
urtbeilung und zum Schliessen gehören aus der Wirkung einer 
Summe bereits erworbener Vorstellungen hervorgegangene 
Gesichtspunkte, zu welchen das Gegebene in Beziehung ge- 
setzt wird. Da aber die vorhandenen Yorstellungscomplexe 
im tieferen Schlafe fast gar nicht und gegen Morgen nur 
in einzelnen Theilen auftauchen, so wird auch das Urtheil 
einseitig und schief. Man legt Gegenständen einen Werth bei^ 
der eigentlich ganz anderen zuzusprechen wäre, hält Triviali- 
täten für Sublimitäten und bringt heterogene Dinge, deren 
Vorstellungen kurz nach einander auftauchen, zu einander in 
innere Beziehung. Mit Todten verkehrt man^ als ob sidi dies 
von selbst verstände, wie mit Lebenden; Beattie ging sogar 
einmal mit Hannibal ttber die Alpen ^^^j. Ein Andrer wohnte 
einem Leichenbegängniss auf dem Dachboden bei; ich selbst 
.sah Husaren auf dem Dachboden exerciren. Zuweilen wird 
bei der Bildung von Schlüssen die logische Form erhalten, die 
Prämissen aber sind falsch und in denselben Subject und 
Prädicat gar nicht zusammengehörig, sondern aus ganz hetero- 
genen Vorstellungskreisen entnommen. So bauen auch Irr- 
sinnige oft auf ihren falschen Grundsätzen Urtheiie und Schlüsse 
auf, die nach formaler Logik ganz richtig sind; da aber ihre 
Basis, die fixen Ideen, nichtig sind, ist das ganze Gebäude 
unhaltbar. Ist es auch Unsinn, so hat er doch Methode! Die 
Geistesproducte des Traumes bedürfen deshalb ebenso wie die des 
Rausches eine Berichtigung in der darauf folgenden Zeit. Was 
die letzteren betrifft, so wussten dies die alten Deutschen sehr 
wohl, die »an beiden Ufern des Rheinsa sitzend, nach Tdcitus^ Be- 
richt beim Gelage beriethen und neue Pläne machten^ mit der de- 
finitiven Entscheidung aber bis an den anderen Tag warteten^^^). 
Da die Selbstthätigkeit der Seele im Schlaf zurückgetreten 
ist und meistens nur passive Apperception stattfindet, so sind 
hauptsächlich Association und Assimilation bei der 
Verbindung der Vorstellungen thätig. Was ersiere betrifft, 
so kommt hier besonders das Gesetz der Gleichartigkeit 
zur Geltung, während die des räumlichen oder zeitlichen Zu- 
sammenseins und der Aufeinanderfolge, welche man auch als 
associative Gewöhnung überhaupt bezeichnet, — ersteres, wie 
y. Stuart JUül richtig bemerkt ^i^), bei Künstlern, letzteres mehr 



— 155 — 

bei Gelehrten — im Wachen vorwalten. Begriffe^ Abstractionen, 
Inductionen und alle höheren Geistesproducte j welche auf der 
Association nach Gleichartigkeit beruhen, können sich jedodi 
nicht entwickeln, weil die active AufmeiiLsamkeit dabei thätig 
sein muss, welche hier mangelt. Die Ursache ruft uns sofort 
die Wirkung, das Mittel den Zweck in das Bewusstsein. Die 
Vorstellung von Bauholz, das Bild einer sdiönen im Walde 
stehenden Tanne oder einer Holzaxt lässt uns den daraus oder 
damit gefertigten Dachstuhl erblicken, welche die Zimmerleute 
eben aufsetzen; gleich darauf tritt der Hausherr selbst auf 
und verwickelt uns in ein langes Gesprach, in weldiem wir 
alle Details seiner eigenen Erlebnisse und die Geheimnisse 
seiner Familie erfahren. Wenn auch nur ein ganz geringes 
Moment der Aehnlichkeit vorhanden ist, treten die Vorstellungen 
zu einander in Beziehung; während das wache Denken bei 
der Verbindung vorzugsweise die wesentlichen Merkmale be- 
rücksichtigt , fasst der Traum ganz unwesentliche und dabei 
von Vorstellungen aus ganz verschiednen Kreisen zusammen, 
seine Gedanken erbalten dadurch oft denselben barocken Cha- 
rakter wie die des Irrsinns. In absonderlichen Verbindungen 
besteht freilich auch das Wesen der Thätigkeit des Genies; 
während aber bei diesem, was frtther unwesentlich erschien, 
sich später als wesentlich herausstellt, bleiben die Elemente 
der Combinationen im Traum und Irrsinn für den vernünf- 
tigen Denker unwesentlich. Andrerseits zeigt sich das phan- 
tastische Schweifen der Gedanken im Wachen sowohl auf 
Spaziergängen als bei der Hingabe an Schwärmereien der 
mannigfachsten Art dem Traume sehr nahe verwandt. — Eine 
besondere Glasse von Associationen, welche im Traume oft 
vorkommen, ist noch zu erwähnen, nämlich die nach Wor- 
ten. Maury träumte einmal, dass er eine pdlerinage (Pilg- 
rimsfahrt) nach Jerusalem oder Mecca machte, fand sich 
dann nach vielen Abenteuern, deren er sich später nicht mehr 
erinnerte, beim Chemiker Pelletier; dieser gab ihm nach einem 
Gespräch eine pelle (Schaufel) von Zink, die sein grosses 
Schlachtschwert in einem darauf folgenden Traum bildete. 
Ein Bekannter erzählte ihm, dass er sich einst im Traum im 
jardin des plantes befand und dort den Reisenden Chardin 
traf, welcher ihm zu seinem grossen Erstaunen den Roman 



— 156 — 

von Jules Janin »L'&ne mort et Ja femme gmlkytin^e« gab. 
Maury selbst ging einst auf einrnr Strasse und las anf den 
Meilensteinen die in Kilometern ausgedrdekten Entfernungen , 
fand sich dann plötzlich auf einem der grossen Wagen, deren 
sich die Gewtb*zkrämer bedienen, und ein Mann häufte auf die 
eine Wagsdiale derselben Kilo-Gewidite, um Maury zu 
wägen; dann sagte ihm der Gewttrzhändler: »Sie sind nicht 
in Paris, sondern auf der Inse} Gilolo«. Es folgten darauf 
mehrere Bilder, in welchen er die Blume Lobelia, femer den 
General Lopez, dessen beklagenswerthes Ende auf Guba er 
kurz vorher gelesen hatte, sah; endlich erwachte er, indem 
er eine Partie Lotto spielte ^^®). — Nach der Leetüre der Co- 
moedien des Ar i Stephane s bäumte ich einst von diesen, 
um aber bald auf Mephistopheles überzuspringen. 

Die Assimilation übt ihre Macht besonders bei der 
Verbindung gegenwärtiger innerer und äusserer schwacher 
Eindrücke mit den durch sie hervorgerufenen Beproductionen. 
Wir haben im vorigen Capitel viele Beispiele der Erscheinung 
kennen gelernt, wo eine Erinnerung die unmittelbare Empfin* 
düng verdrängt oder sieh dieselbe ganz unterthan madit: die 
Vorstellung der bedrohenden Räuber^ des Ungeheuers und der 
Gefahr überhaupt tritt vor der der Athembeklemmung , die 
des Wassers vor der Empfindung des auf die Harnblase von 
dem Inhalt ausgeübten Druckes u. s. w. in den Vordergrund. 

Die eine gewisse Activität der Seele voraussetzende Ag- 
glutination und Verschmelzung kommt seltener vor. 
Zuweilen erblickt man eine Gegend, welche aus zwei bekann- 
ten zusammengesetzt ist, und man pflegt dann am Morgen zu 
sagen : mir war als ob ich an jenem Orte mich befinde , allein 
es sdiien mir auch wieder ein anderer zu sein. 

Die Summe aller seiner psychischen Thätigkeiten, der Ge- 
danken, Gefühle und Willensbestrebungen pflegt der Mensch 
unter der Einheit seiner eigenen Person, seiner Seele, seines 
Ichs zusammenzufassen ; in den Wechsel äusserer und innerer 
Wahrnehmungen lässt ihn das zusammenfassende, einheitliche 
Selbstbewusstsein sich selbst als Besitzer aller einzelnen 
fühlen. Bei der Constituirung desselben sind hauptsächlich 
zwei Faotoren thätig: erstens die von uns gebildeten dauern- 
den Vorstellungsreihen und Gruppen, welche sich ergeben 



— 157 ~ 

aos den im eigwen Körper wurzelnden Bewegungsempfia- 
düngen und Gemeingefttblen und den bei d^ Wiederholung 
äusserer Eindrücke enisiandenen störkeren Erinnerungsbildern 
sowie deren Associationen , — dann die bereits besprodiene 
Aufmerksamkeit oder active Apperception. Wie nun die letz- 
tere im Traiun in die passive übergeht, so ist auch die Zu«- 
sammenfassung ganzer Yorsteilungs^ruppen unter wiem ein- 
heitlichen Gesichtspunkt durdb die chaotische Wahrnehmung 
und Erinnerung nur einzelner Elemente ders^en und deren 
fortwährende Durchkreuzung gestört. In Folge dessen fühlt 
sich der Mensdi nur in höchst besdiränkter Waise noch als 
»loh«, als einheitlidier Besitzer aller seiner Vorstellungen; er 
ist sich nicht mehr bewusst, dass alle Wahrnehmungen und 
Vorstellungen die seinigen sind , sondern er setzt zuweilen 
einen Theil derselben aus sich heraus, legt ihn' einrafi Anderen 
bei und leidet so durch Spaltung seines Ichs eine zweite 
Person, deren Inhalt seiner eigenen Persönlichkeit entsprungen, 
die Fleisich von seinem Fleisch, Bein von seinem Bein ist. 
Sehr häufig vernimmt der Schläfer von einer anderen Person, 
sei es in Form von religiöser Offenbarung und Verkündigung, 
oder in Conversation und im Examen, seine eigenen Gedanken, 
und die Geheimnisse des Tages lässt der Traum durch Andere 
er- und verrathen. Man versetzt sich auf die Schulbank zu- 
rück und bemerkt mit Angst und Schrecken, dass beim Exa- 
miniren der Nachbar immer mehr weiss und alle Fragen mit 
Leichtigkeit beantwortet, mit denen man sich selbst vorher 
vergebens abgemüht. So erzählt van Goens , dass er als elf- 
jähriger Schüler der lateinischen Schule zu Utredit geträumt 
habe, der Lehrer frage ihn nach einer lateinischen PIu*ase; 
er war der erste in der Reihe und fühlte bedeutende Angst 
ha*unterzukommen, da er die Antwort nicht fand ; sein Nach- 
bar zeigte Ungeduld gefragt zu werden und dies steigerte 
seine Angst bis zur Wuth, doch wurde die Frage vom Nachbar 
beantwortet» Johmon träumte, dass er sich mit Jemandem 
streite und der Gegner stets mehr Witz zeige als er selbst; 
Lichtwberg vergats beim Erzählen einer Geschichte den Haupt- 
umstand und wurde erst durch einen Andern daran erinnert. 
Kanzri- und KMhederredner verlieren oft den Faden der Rede, 
welche dann von einem Anderen zu Ende geführt wird. Noch 



— 158 — 

nach 26 Jahren war es van Goens unbegreiflich, wie sich die 
Seele einen Mensehen fingire, der das beantworte, was sie 
seihst wisse, sich aber einbilde, es nidit zu wissen. Schemer 
glaubt die Sdiwierigkeit einfach durch die Annahme zu tosen, 
dass hier ein Streit stattfinde zwischen der Miantasie und dem 
Verstände, welchem das Problem entsprang; dass dieser letz- 
tere bei der Herrschaft der Phantasie im Traum den Kttrzeren 
ziehe und in Folge dessen sein Repräsentant dumm, der der 
Phantasie klttger erscheine (S. 293). Ich mfkshte es jedoch 
nicht für ein^n Streit der Seelenkrafte, sondern fttr einen 
Wettkampf einzelner Vorstellungsgruppen halten. Wie wir im 
Wachen eine gewisse Spannung und Unruhe empfinden, wenn 
wir uns trotz aller Anstrengung auf etwas nicht besinnen 
können, so gerathen wir im Traum in Unruhe und Affect, wenn 
bei theilweisem Wiederauftauchen der Aufmerksamkeit und des 
damit verbundenen Innervationsgefühls einer ins Bewusstsein 
tretenden fixirten Vorstellung sich Schwierigkeiten entgegen- 
setzen. Tritt dieselbe endlich in das Bewusstsein, so weicht 
der Affect, und andrerseits -erscheint sie selbst fremd und dem 
eigenen Ich entzogen. Maury berichtet, dass er einst mit 
einem Anderen über die Unsterblichkeit der Seele im Traum 
disputirte, wobei jeder entgegengesetzte GrQnde geltend machte. 
Demselben passirte es zuweilen , dass ihm die zweite Person 
etwas mittheilte, was er im Wachen selbst nicht zu wissen 
schien. Eines Tags kam ihm das Wort »Hussidan« in Ge- 
danken, von welchem er wohl wusste, dass es der Name einer 
Stadt in Frankreich war, ohne dass er sich erinnern konnte, 
wo die Stadt lag. Einige Tage darauf sah er im Traum eine 
Person, die ihm sagte, dass sie von Mussidan komme. Er fragte 
sie, wo diese Stadt läge; sie antwortete, es sei der Cantonsort 
des Departement der Dordogne. Der Traum war Maury beim 
Erwachen noch vollkommen gegenwärtig, doch wusste er 
durchaus nicht, ob die Person im Traume das Richtige gesägt 
oder nicht, schwebte vielmehr in dieser Hinsicht noch in der- 
selben Ungewissheit als frtther. Als er aber ein geographisches 
Wörterbuch nachschlug, fand sich zu seinem Erstaunen die 
Bestätigung der Aussage. Zu einer anderen Zeit, als er die 
englische Sprache studirte und sich gerade mit den Zeitwörtern 
beschäftigte, träumte er, däss er englisch zu Jemand sagen 



— 159 — 

wollte, er habe ihm Tags zuvor einen Besuch abgestattet, und 
dies so ausdrückte: »I called for you yesterday«, worauf ihm 
dieser entgegnete: »Sie drücken sich unrichtig aus, es muss 
heissen: I called on you yesterday«. Der Traum war Maury 
ebenfalls noch vollkommen in der Erinnerung ; er griff sogleich 
nach einer englischen Grammatik, die auf einem Tische neben 
seinem Bette lag, und fand, dass die Person ganz Recht hatte ^^^j. 
In allen diesen Fällen steigt eine Vorstellung, die während 
des Tages unbewusst in der Seele schlummerte, über die 
Schwelle des Bewusstseins. Besonders deutlich zeigt sich dies 
in Offenbarungs- und todes verkündenden Träumen. In diesen 
hat die zweite Person gewöhnlich den Charakter des Religiös- 
Eriiabenen und spricht in Ehrfurcht erweckendem Tone; der 
Schläfer selbst lauseht in Ehrerbietung und Staunen und ant- 
wortet bescheiden. Augustin erzählt in einem seiner Briefe 2^), 
dass ein berühmter Arzt seiner Zeit, Gennadius, in der Jugend 
bei allem christlichen Sinn Zweifel über die Unsterblichkeit 
der Seele gehegt habe. Im Traume erschien ihm nun ein 
Jüngling, der, hellglänzend und mit ehrfurchteinflössendem An- 
sehen, ihm zu folgen befahl. Sie kamen in eine Stadt und 
hörten dort Töne eines äusserst lieblichen Gesanges. Auf Be- 
fragen sagte der Jüngling, es seien Lobgesänge der Seligen 
und Heiligen im Himmel. In einer anderen Nacht erschien 
dieselbe Gestalt wieder und fragte Gennadius, ob er sie kenne ; 
dieser bejahte und erzählte zur Bestätigung seinen vorigen 
Traum. In Krankheiten, zuweilen auch bei blosser Alters- 
schwäche kommt die Störung im Organismus und die sich vor- 
bereitende Auflösung des Lebens im Traume zum Bewusstsein 
und der Schläfer hört durch eine fingirte Person seinen Tod, 
oft bis auf Tag und Stunde genau, voraussagen: so soll Chri- 
stian III., König von Dänemark, seinen Tod acht Tage zuvor 
durch einen weissgekleideten Mann im Traume erfahren haben. 
Bei der Spaltung der Persönlichkeit wird der Zusammenhang 
der zweiten Person mit dem Träumenden am meisten klar in 
den Fällen, wo man sich selbst als Subject und Object fühlt. 
So sagte eines Tages ein Bekannter voll Verwunderung zu mir, 
man träume doch manchmal »närrisches Zeug«; vergangene 
Nacht habe er sich selbst im Sarg liegen sehen und sich als 
todt beklagt. Ein Analogen im Wachen bildet dazu das zweite 



— 160 — 

Gesicht (second sight), wie es besonders in Schottland vor* 
kommt und wie es aus der oft angeführten Hallucination G^thes^ 
der auf der Rückreise von Sesenheim sich selbst im hechtgrauen 
Rock begegnete, bekannt ist. 

Neben der Zusammenfassung ist eine Hauptthätigkeit 
des Bewusstseins die Trennung. Der Mensch trennt die 
Vorstellungen von einander und unterscheidet in der Gesamn^t- 
beit seiner psychischen Thätigkeiten die dauernden Yorstel- 
lungsgruppen von den einzelnen wechselnden Eindrücken; so 
erhält das Ich die Macht, ordnet mit Hülfe der Aufmerksam- 
keit die einzelnen Vorstellungen nach gewissen Gesichtspunkten 
in bestimmte Kreise ein und hält sie von den ihnen der Art 
nach verschiedenen fem. Ebenso erkennt er den Unterschied 
zwischen den schwachem Erinnerungsbildern und den stärkeren 
gegenwärtigen Empfindungen einerseits^ sowie bei diesen letz- 
teren zwischen denen des eigenen Organismus und den von 
aussen kommenden andrerseits. Dadurch lernt er seinen Kör- 
per den ihn afficirenden Aussendingen und sein Ich als die 
Summe der KOrperempfindungen und der psychischen Thätig- 
keiten überiiaupt anderen Wesen, denen er eine von seinen 
Empfindungen und Vorstellungen unabhängige Wirklichkeit 
nach Art der eigen^i zugesteht, gegenüberzustellen. Wenu 
wir auch nicht in jedem Falle klar erkennen, was nur unsere 
subjective Vorstellung ist und was dem äusseren Objecte selbst 
an sich zukommt, so weiss doch Jeder im wachen, gesunden 
Zustande, dass eine blosse Erinnerung etwas Anderes ist als 
das wirkliche Anschauen und Hören in der Gegenwart, und 
in den meisten Fällen vermögen wir die Producte der Einbil- 
dungskraft von der Wirklichkeit zu trennen. Anders ist es im 
Traum und im Wahnsinn , wo die Steigerung der centralen 
Reizbarkeit den Producten der Phantasie eine Lebhaftigkeit 
verleiht, wie sie sonst nur unmittelbare Eindrücke besitzen, 
und wo die Selbstthätigkeit der Seele zurücktritt. Hier halten 
wir alles für wahr, was die Einbildungskraft uns vors^negelt; 
Vergangenes glauben wir nicht in der Erinnerung, sondern 
in Wirklichkeit noch einmal zu durchleben, die Hoffnungen 
und Wünsche erscheinen nicht nur ideale in Gedanken, son- 
dern auch in der Wirklidikeit erfüllt. Wir meinen in Wahrheit 
himmlische Musik zu hören und uns in paradiesischen Gegen- 



— lei- 
den zu befinden ; der Hauber würde uns nicht so viel Angst 
einjagen, wenn wir ihn nicht für wirklich hielten^ und der 
Liebende geniesst nur dadurch das höchste Glück, dass er kein 
Phantom, sondern die Geliebte in Fleisch und Blut in den Ar- 
men zu halten glaubt. Die Vorstellungen, deren Intensität bei 
der engen Begrenzung des Bewusstseins im Traum noch mehr 
gesteigert erscheint, werden nach aussen versetzt, und in die- 
sem täuschenden »Wacfasfigurenkabinet« glaubt der Schläfer un- 
ter lebenden Wesen und wirklichen Dingen zu verkehren; er 
lässt sich täuschen wie durch die Mährchen die Jugend, wo 
die Seele sich gern mit dem beschäftigt, was Reiz gewährt, 
ohne dass es wahr ist. Wenn wir uns im Wachen dem freien 
Spiele der Associationen überlassen, so sind wir auch, nach- 
dem eine Anzahl von Vorstellungen an uns vorbeigerollt, ohne 
dass die Aufmerksamkeit sie fixirte, geneigt, sie für wirklich 
zu hallen ; dies letztere geschieht jedoch nur in den seltensten 
Fällen, da die Erinnerungen nicht ganz die Stärke unmittel- 
barer Eindrücke besitzen und wir die Fähigkeit haben, uns 
sofort an der Aussenwelt zu orientiren. Im Traum dagegen 
wirken immer nur einzelne Eindrücke von aussen mit, denn 
erscheinen sie in höherem Grade combinirt, so führen sie das 
Erwachen herbei; sie haben keine grössere Intensität als die 
Erinnerungen und sind nicht im Stande, die Aufmerksamkeit 
des Schläfers und sein Selbstbewusstsein zur Reaction aufzu- 
fordern. Dieser ignorirt die wirkliche Aussenwelt, in welcher 
er sich nicht zu orientiren vermag, und constauirt sich eine 
neue aus seinen eigenen Vorstellungen : im Wachen haben wir 
alle eine gemeinsame Welt, im Schlaf hat jeder seine eigene, 
lautete ein Ausspruch Heracltfs, und Fichte hatte die Ansicht, 
dass die Traumgebilde vom individuellen Subject, die Vorstel- 
lungsgebilde der wirklichen Welt aber von der Gattungs- oder 
Menschheits-Person, dem absoluten Ich producirt würden. Der 
Träumende führt selbst ein Drama auf, in welchem er Spieler 
und Zuschauer zugleich ist. Erst am Morgen kurz vor dem 
Erwachen, wenn mehrere Eindrücke der Aussenwelt combinirt 
empfunden, die Situationen affectvoller werden und die höheren 
Geistesthätigkeiten wieder auftauchen, weiss man sich zuweilen 
aus aller Noth und Bedrängniss dadurch zu retten, dass man 
Alles für einen Traum und Humbug erklärt ^^). 

Rade stock, Schlaf n. Traum. \l 



— 162 — 

Der Begriff der Gausalität wird im Traum nicht veroidi- 
tet, sondern nur falsch angewendet , obgleich der Schläfer 
nicht »bewusst und abstract«, wie Volkelt sagt, sondern wie 
ein Kind; das von der Wichtigkeit des Causalitätsbegriffes noch 
Nichts gehört, mit ihm operirt. Wie in den einzelnen Scenen 
die Wirkung aus der Ursache in Gemässheit der Associations- 
gesetze hervorgeht, so nimmt der Träumende nicht minder als 
der Wachende an, dass seinen Empfindungen und Vorstellungen 
etwas ausserhalb entsprechen müsse; da ihm jedoch die Un- 
terscheidung zwischen objectiven Eindrücken und subjectiven 
Empfindungen fehlt, so legt er beiden Realität zu Grunde und 
erschafft sich aus wenigen unmittelbaren Empfindungen und 
vielen Erinnerungsbildern eine neue Welt; er projecirt seine 
Subjectivität hinein und schaut sie dann als etwas Selbständig 
ges an. Ja wir fühlen oft den starren Eigensinn derselben 
und erfahren, dass unsere Traumumgebung unserer Willkür 
nicht gehorcht. Der Naturmensch hat noch nach dem Erwachen 
die Ansicht, Alles wirklich erlebt zu haben, der cultivirte da- 
gegen pflegt beim Erzählen der Träume zu sagen: »Mir schien 
es, als ob es so wäre« 222J , 

Der Schläfer versetzt die Gegenstände in Raum und Zeit, 
und die Seele fühlt in dieser Hinsicht ihre Schranken nicht 
weniger als im Wachen. Es braucht nach dem Vorhergehen- 
den wohl kaum näher ausgeführt zu werden, dass, wenn wir 
von dem entferntesten Gegenden und Ländern träumen, un- 
sere Seele ni^t etwa wirklich sich dort befindet ^23) ^ wie 
Manche annehmen, ebensowenig wie sie in die graue Ver- 
gangenheit zurück oder voraus eilt, um zu schauen, was ihr 
im Wichen versagt war. Die Scenen spielen an den ver- 
schiedensten Orten und wechseln mit rapider Schnelligkeit 
ihren Schauplatz, aber stets ist der Raum, den man überblickt, 
eng, die Umgrenzung dunkel und die Unterscheidung der ein- 
zelnen Distancen schwach. Das Bewusstsein der Zeit ist bei 
der zerstückten Erinnerung in hohem Grade verändert und 
umfasst trotz der grossen Mannigfaltigkeit immer nur einige 
Momente zugleich. Wir unterscheiden nach der rein succes- 
siven Association der Vorstellungen, ohne reflectirend zu ver- 
gleichen, zwischen früher und später, zwischen Vergangenheit, 
Gegenwart und Zukunft, vermögen uns aber nicht die Ereig- 



— 163 — 

nisse ihrer ganzen Länge und I>auer naeh vorzustellen; hei 
einer Reise tauchen die Vorstellungen der einzelnen Anleite- 
punkte und der inzwischen verOassenen Zeit nur der Reihe 
nach auf. Das Gleichzeitige und Gleichräumliche kommt uns 
auch nur rein associativ durch das Gesetz der Coexistenz zum 
Bewusstsein. 

Nachdem wir somit den Zustand der einzelnen Greistes- 
kräfte im Schlaf betrachtet hal>en, können wir übergehen zu 
der Erörterung, ob dem Menschen seine Traumgedanken zuzu- 
rechnen sind, oder nicht. »Quel n^a pas 6t6 le sort des ali^n^s ! 
On les a battua, emprisonn^s, enchain^s, brül6s, on les a con- 
sult^s comme des oracles, honoris comme des dieux« (»Was 
haben die Geisteskranken nicht für Schicksale gehabt I Man 
hat sie gegeisselt, eingekerkert, gefesselt, verbrannt; man hat 
sie um Rath gefragt wie Orakel, geehrt wie Götter«) — ruft 
Leuret aus, und das Gleiche könnte man von denen sagen, die 
bedeutungsvolle Träume hatten. Ein römischer Kaiser Hess 
einen seiner Unterthanen, der geträumt hatte, dass er dem 
Kaiser den Kopf abschlüge, hinrichten, indem er sagte, dass, 
wer so etwas träume, auch derartige Gedanken im Wachen 
haben müsse. Ohne auf ähnliehe düstere Anschauungen man- 
cher Sittenlehrer alter und neuerer Zeit 22*) ^ nach welchen man 
am Ende jeden einzelnen Menschen dafür verantwortlich ma- 
chen müsse, dass in ihm eine gewisse Anlage zum Verbrecher 
liegt, welche die Erziehung und das eigene sittliche Bewusst- 
sein niederhielt, — führe ich aus der eigentlichen Traumlite- 
ratur die etwas mildere Ansicht HildebrancPjs an, welcher dem 
Menschen für jede im Traum begangene Sünde ein Minimum 
von Schuld zusprechen will, da sich keine Traumthat denken 
lasse, »deren erstes Motiv nicht irgendwie als Wunsch, Gelüst, 
Regung vorher durch die Seele des Wachenden gezogen 
wärea,225). Er folgt der Meinung PkUo's, dass ein Vollkom- 
mener nie etwas Unreines träumen würde. Je reiner das Le- 
ben, desto reiner sei der Traum, je unreiner jenes, desto un- 
reiner dieser. VolkeU macht gegen die Bemerkung Schopen-- 
hauer^Sj dass Jeder im Traum seinem Charakter gemäss handle 
und rede, den richtigen Einwurf, dass, wenn dies richtig 
wäre, Jedermann sich für ein höchst schamloses, unsittliches 
und verrücktes Individuum erklären müsse (S. 22), und schon 

11* 



— 164 — 

Kant sagt, dass im Schlafe Dinge vorkommen, die von unsere 
sonstigen Denkart himmelweit verschieden sind^^^^). Es ist su 
berücksichtigen, dass die Associationen im Traume ablaufen 
und die Vorstellungen sich verbinden, ohne dass Reflexion und 
Verstand, ästhetischer Geschmack und sittliches Urtheil etwas da- 
bei vermögen; das Urtheil ist höchst schwach und es herrscht 
ethische Gleichgültigkeit vor. Andrerseits ist es auch nicht voll- 
ständig richtig, wenn Kant meint, der Traum sei wohl^dazu da, 
um uns die verborgnen Anlagen zu entdecken und zu offenba- 
ren, nicht was wir sind, sondern was wir hätten werden kön- 
nen, wenn wir eine andere Erziehung gehabt hätten ^27]. Dies 

ist zwar sehr oft in Folge des Emporsteigens dunkler Vorstel- 
lungen der Fall, gilt aber nicht für jeden Traum. Man beachtet 
dabei nicht die zahlreichen Erscheinungen, wo eine reproducirte 
Vorstellung mit einer gegenwärtigen , oder Reproductionen ganz 
verschiedaier Vorstellungskreise unter einander sidi zu einem 
Ganzen verbinden und dadurch oft Dinge, die man von dem 
schlechtesten Menschen las oder h^te, auf das eigene Ich bezo- 
gen werden. Wenn Jean Paul meint, dass Vorstellungen von Hö- 
rensagen, welche man nicht selbst erlebt, im Traume nicht auf- 
tauchen *^^^) , so ist dies ein Irrthum. Man hat äusserst zahlreiche 
Beispiele, dass nach der Leetüre oder Unterhaltung von einem 
begangenen Mord oder einer anderen Schandthat irgend ein Ge- 
fühl des Unbehagens den Schläfer nöthigt, sich dasselbe durch 
die Erinnerung des Mordes zu erklären ; er wird wegen des Ver- 
brechens von Häschern verfolgt, und wenn er zuweilen sich 
auch für unschuldig hält, fühlt er in manchen anderen Fällen 
doch die Last der Uebelthat und fürchtet sich ungeheuer vor 
der Strafe. Ein des Mordes, Diebstahls oder irgend eines Ver- 
brechens unschuldig Angeklagter kann in Folge der vorherge- 
gangenen Verhöre einen äusserst lebhaften Traum haben, in 
welchem er sich als Thäter fühlt und alle Einzelheiten der 
That durchmacht, ja sie im Affect laut erzählt, ohne dass dies 
ein stricter Beweis für seine Schuld wäre. 

Schon die bei stärkerer örtlicher Beizung entstandenen 
erotischen Träume lassen oft die Anwendung eines scharfen 
sittlichen Maassstabes unzulässig erscheinen. Man ist im Schlaf 
weder vollständig ein Cato, noch ein Plato. — Mit Recht macht 
Sputa darauf aufmerksam , dass Manche durch die Befriedigung 



— 165 — 

der Begierde» den Reiz ausidsen, während das bd stttlichen 
Naturen nicht der Fall ist^^^). Der unreine Gedanke, durdi 
dunkle Organempfindungen, besonders in der Pubertätsperiode 
aber aueh später sehr oft, hervorgerufen, sueht fortwährend 
sieh geltend zu machen, wird aber immer wieder niederge* 
drückt so lange das Selbstbewusstsein thätig ist, schwindet 
dieses ; so taucht er mit verstärkter Macht auf und das Unbe- 
stimmte wird phantastisch in den kühnsten Bildern ausge- 
deutet. Ein im Wachen ganz sittlicher Mensch kann von Din- 
gen träumen, über die er sich später selbst entsetzt; die 
sporadische Erinnerung vermag nidii die Menge von Vorstel- 
lungen geordnet in das Bewusstsein zu rufen, die ein Urtheil 
ermöglichen, der rapide Verlauf beschränkt die Dauer ihres 
Verharrens auf demselben Klarheitsgrade noch, und die Ge- 
danken und Handlungen entziehen sich dem Forum eines stren- 
gen Richters. Wie dem Irrsinnigen, der unter dem Zwange 
eines kranken Bildungsprocesses des Körpers und der Seele 
steht, oder dem an Fieberparoxismus Leidenden seine Gedanken 
nicht zurechenbar sind, so ist auch der Schläfer nicht für seine 
sonderbaren Träume verantwortlieh zu machen. Wir können 
nicht mit Pfaff sagen : »Erzähle mir eine Zeitlang deine Träume 
und ich will dir sagen, wie es um dein Inneres stehto, denn 

»Wir sind nicht wir, 

Wenn die Natur, im Druck, die Seele zwiBgt 

Zu leiden mit dem Körper «230). 

Bei manchen Verbrechern haben lebhafte Träume den ersten 
Gedanken an die Unthat angeregt ^ und am Tage verhinderten 
körperliehe und geistige Störungen das sittliche. Urtheil, den- 
selben niederzudrückend^^). Auch kann es geschehen, dass 
ein im Traum gefasster Vorsatz eine Leibesbewegung veran- 
lagst, die ihrerseits Veränderungen in der Aussenwelt bewirkt, 
welche von dem Traumvorsatze völlig abweichen; eine Mutter 
hat z. B. den Traum, ihr Haus brenne, sie wirft ihr Kind, 
um es zu retten, zum hohen Fenster hinaus, wodurch es in 
Wiritlichkeit zerschmettert wird und stirbt; oder es träumt 
Jemand, sein Schlafkamerad wolle ihn ermorden und miss- 
handelt ihn in Folge dessen aus Nöthwehr. Hoffbauer erzählt 
einen Fall, wo in Schlesien ein Mann^ welcher in einem Wagen- 
schuppen schlief, um Mitternacht aufwachte und eine Gestalt 



— 166 — 

auf sich zu kommen sah. Als dieselbe auf seinen Zuruf nicht 
antwortete, ergriff er sofort eine Aict und schlug die Gestalt 
in der Schlaftrunkenheit nieder. Durch das Stöhnen erweckt 
und zur Besinnung gebracht erkannte er, dass er seine Frau, 
welche in demselben Schuppen schlief, erschlagen hatte. Ein 
anderer Fall dieser Art, wo ein französischer Edelmann seinen 
Bruder, den er mit der Pistole in der Hand bewachte, durch 
ein Traumbild erschreckt, erscboss, erregte im vorigen Jahr- 
hundert allgemeines Aufsehen. 

Der Zurechenbarkeit näher stehen jene Fälle, wo ein im 
normalen Zustande ^efasster Vorsatz während des anormalen 
ausgeführt wird. Gundisalve, ein spanischer Schulmeister, 
pflegte des Nachts im Schlafe die Kinder zu lehren, sie zu 
schelten und zu singen, als ob er Schule hielte. Ein Kloster- 
bruder, welcher mit ihm in einer Kammer schlief, drohte, ihn 
mit der Ruthe zu peitschen, wenn er des Nachts nicht ruhig 
wäre. Da stand der Schulmeister in einer Nacht auf und stiess 
eine grosse Scheere einige Mal in das Kissen seines Gefährten, 
der ihn glücklicherweise, noch wachend, hatte kommen sehen 
und sich rettete. Von einem anderen Nachtwandler wird er^ 
zählt, dass er mit dem Degen an der Seite über die Seine 
schwamm und denjenigen ums Leben brachte, den zu morden 
er sich wachend vorgenommen hatte. Ein Seiler in Halle er- 
mordete während des Schlafwandels seine Geliebte, mit welcher 
er sich wenige Tage zuvor entzweit hatte. Hennings^-^^) er- 
zählt einige Beispiele, wo Leute sieh für Nachtwandler aus- 
gaben, theils um Mitleid zu erregen, theils um sich ein Ansehen 
und den Schein der Heiligkeit zu geben — so predigte ein 
Jesuit jede Nacht mit grosser Gelehrsamkeit im Schlafe, — 
theils endlich, um der Liebe Opfer zu bringen. »Auch fehlt es 
nicht«, sagt er^ »an Beispielen solcher Personen, welche, um 
den Zweck ihrer Neigung zu erreichen , die Larve der Nacht- 
wandler angenommen haben. Dahin gehört jener Bauer, der 
zu Aussig in Böhmen oft des Nachts aus Aem Bette stieg, die 
Treppen auf- und abging und dabei die Magd im Hause fleis- 
sig besuchte, so dass nach neun Monaten ein lebendiger Er- 
folg dieser Besuche zum Vorschein kam«. 

Ein Schutzmittel gegen den zu grossen Einfluss der ba- 
rocken, ja gefährlichen Gedanken des Traumes auf das wache 



— 167 — 

geistige Leben besitzen wir in der leichten YergessHch- 
keit derselben. Schon als Gymnasial-Primaner fand ich es 
bei der Lectttre der Ilias nicht recht mit der Erfahrung Über- 
einstimmend , wenn Homer schildert, wie Agamemnon und 
Achilles sich aller Einzelheiten der in der Nacht gehabten 
Träume am Morgen erinnern und die darin erhaltenen Winke 
und Befehle .richtig ausführen. An einige Träume erinnert 
man sich, an andere nur verworren, an dritte gar nicht, be- 
sonders wenn man darüber wieder einschläft ; haben sie meh- 
rere Scenen gebildet, so verwischt sich meist in» der Erinnerung 
die Reihenfolge derselben. Zuweilen sagt uns nur ein sanftes 
Nachklingen, dass wir geträumt haben, ohne dass wir uns be- 
sinnen können, was; man spricht häufig im Schlaf, weiss 
aber am Morgen nichts mehr davon und wundert sich, wenn 
Andere es wollen gehört haben. Burdach ^ der von seinem 
zehnten bis gegen das dreissigste Lebensjahr von Zeit zu Zeit 
Anfalle von Schlafwandel bei sonst vollkommener Gesundheit 
hatte, sagt von sich selbst : » Ich habe während dieses Zustan- 
des Handlungen vorgenommen, die ich blos deshalb als die 
meinigen anerkennen musste, weil sie von niemand Anderm 
konnten vollzogen sein; so war es mir eines Tages unbegreif- 
lich, als ich beim Erwachen bemerkte, dass ich kein Hemd 
anhatte , und so blieb es trotz der grössten Anstrengung mich 
zu besinnen, bis das Hemd in einem andern Zimmer zusammen- 
gerollt unter einem Schranke versteckt gefunden wurde. Ein- 
mal wurde ich im Schlafwandel durch die Frage geweckt, 
was ich suche? Mein erster Gedanke war, ich dürfe es nicht 
verrathen ; in demselben Augenblick aber fragte ich mich 
selbst, was ich denn gewollt und nun zu verschweigen habe, 
und strengte mich an die Erinnerung zu finden, aber vergeb- 
lich«. Am meisten haften im Gedächtniss die dem Morgen zu- 
nächst liegenden, die entfernteren bedeckt mehr oder minder 
dichte Finsterniss; auch bleiben diejenigen länger haften, 
deren Vorstellungen in Folge der sich aus den Situationen ent- 
wickelnden Affecte eine grosse Lebhaftigkeit und Gefühlswärme 
besassen. Ja, gerade das Barocke und Bizarre ist es oft, was 
ihre Wirkung beharrlicher macht: alles Ungewöhnliche, un- 
geheuerlich« erregt am meisten unser Interesse, und das 
Sonderbare, Fremdartige merken wir eher als das, was uns 



— 168 — 

gleichgiltig lässt. Deshalb behalten wir meist gerade die 
Träume^ welche ihrem Inhalte und ihrer Form nach am wei- 
testen vom wachen Denken und der wirklichen Welt abweichen. 
Schon der Säugling träumt, aber erst um das siebente Jahr 
fängt, wie Burdach bemerkt, das Rind an, seine Träume zu 
erzählen, während sie früher spurlos (oder besser erinnerungs- 
los] vorübergingen; auch sind dieselben in solchem Alter 
äusserst lebhaft und man hat Beispiele, wo Träume der Kind- 
heit während des ganzen Lebens nachhallten. — Die Gründe 
für die schnelle upd leichte Yergesslichkeit sind theils physio- 
logischer, theils psychologischer Natur. Da die Traumvorstel- 
lungen veränderten organischen Bedingungen ihre Entstehung 
und ihren speciellen Charakter verdanken, so können sie 
eigentlich auch nicht mehr bestehen , wenn diese nicht mehr 
vorhanden sind oder wenigstens, wie Siebeck meint (S. 42), 
nur so lange, als der Reizzustatid des Gehirns in das Wachen 
noch hineinreicht. Kehrt dieselbe physiologische Disposition 
wieder, so erscheinen auch die Vorstellungen aufs Neue; 
häufig erinnert man sich an Träume, die man am Tage ver- 
gessen hatte, in der folgenden Nacht wieder, wie das von 
Augustin berichtete, oben angeführte Beispiel des Jünglings 
Gennadius zeigt. Bekanntlich setzen Somnambulen die unter- 
brochenen Reisen in fernen Welten bei erneuten Anfällen fort, 
erinnern sich alles Vorhergegangenen und ihre Berichte setzen 
oft in demselben Zeitmomente ein, wo die früheren Erschein- 
ungen aufhörten. Aehnliche Beobachtungen hat man ati Nacht- 
wandlern gemacht, die während des Tages absolut nichts mehr 
von ihren seltsamen Wanderungen wussten. So erfuhr ein 
Freund Burdach' s eines Morgens, dass seine Gattin in der letz- 
ten Nacht auf dem Kirchdache gesehen worden sei ; als er sie 
im Mittagsschlafe leise, den Mund gegen ihre Herzgrube ge- 
richtet, nach ihrer Wanderung fragte, stattete sie einen voll- 
ständigen Bericht ab und erwähnte unter Anderem, dass. sie 
an einem Nagel auf dem Kirchdache sich den Ballen des linken 
Fusses verwundet habe; nach dem Erwachen bejahte sie mit 
Befremdung die Frage, ob sie an der bezeichneten Stelle 
Schmerz empfinde, und konnte sich, als sie die Wunde fand, 
nicht erklären, wie sie entstanden sei. 

Deshalb lassen die Vorstellungen, trotzdem sie sämmtllch 



— 169 — 

sehr lebhaft zu sein scheinen, keine Wirkung zurück, die zu 
dieser Intensität im Verhältniss stände; dieselbe ist nur mo- 
mentan wie ihr Auftauehen selbst. Da sie zumeist aus den 
sonst unter der Schwelle des Bewusstseins liegenden hervor- 
gegangen, ist es nicht zu verwundern, wenn sie von den 
stärkeren des Wachens wieder unter diese Schwelle hefabge- 
drttckt werden. Träumen wir aber mehrere Male dasselbe, 
so gewinnen sie durch Wiederholung eine stärkere Kraft, er- 
regen das Interesse und haften im Gedächtniss. 

Ferner lässt das Ungewöhnliche und Sonderbare ihrer Ver- 
bindungen sie schnell vergessen ; sie treten selten ganz einzeln 
auf, meist in bizarrer Zusammensetzung, die dem wachen 
Denken zu fem liegt, als dass hier ein Eindruck die Repro- 
duction einer ganzen Reihe von Traumvorstellungen veran- 
lasste. Was hier verbunden, ist dort getrennt und was uns 
hier heterogen und einander schlechthin ungleich erscheint, 
wird dort verknüpft. Es ist nicht richtig, was Schleiermacher 
sagt: »Das ist gewiss ein sehr seltener Fall, dass man sich 
später erst eines Traumes erinnern sollte, dessen man sich 
nichts gleich beim Erwachen erinnert hätte« 233j^ denn zuweilen 
erfahren wir im Laufe des Tages etwas Aehnliches in gleicher 
oder ähnlicher Beziehung, dann vermögen wir uns auch einzelner 
Traumscenen zu erinnern, ohne sie jedoch gewöhnlich lange zu 
behalten. Dazu kommt bei den Meisten eine specielle Interesse- 
losigkeit für die Paradoxien des Traumes. Der energische, 
den Tagesinteressen sich widmende Praktiker bekümmert sich 
nicht um solche Faseleien ; sie gehen verloren ebenso wie die 
Geschichte, die man uns aufdrängte und die ohne Zusammen- 
hang oder uninteressant war. Vermehrt man das Interesse, 
so steigert sich auch die Erinnerungsfähigkeit; es ist bekannt, 
dass man Kinder, so zu sagen, an das Träumen gewöhnt, 
wenn man ihnen erlaubt, ihre Träume zu erzählen, und führt 
man bei methodischer Erforschung dieser Geheimnisse ein Ver- 
zeichniss, so sind die Träume meist am Morgen noch im Ge- 
dächtniss und zur Notiz geeignet. 



— 160 — 

Gesicht (second sight), wie es besosders in Schottland vor- 
kommt und wie es aus der oft angeführten Hallucination G^theSj 
der auf der Rückreise von Ses^i^heim sich selbst im hechtgrauen 
Rock begegnete, bekannt ist. 

Neben der Zusammenfassung ist eine Hauptthätigkeit 
des Rewusstseins die Trennung. Der Mensch trennt die 
Vorstellungen von einander und unterscheidet in der Gesamn^t** 
heit seiner psydiischen Thätigkeiten die dauernden Yorstel- 
lungsgruppen von den einzelnen wechselnden Eindrücken; so 
erhält das Ich die Macht, ordnet mit Hülfe der Aufmerksam- 
keit die einzeln^i Vorstellungen nach gewissen Gesichtspunkten 
in bestimmte Kreise ein und hält sie von den ihnen der Art 
nach verschiedenen fem. Ebenso erkennt er den Unterschied 
zwischen den schwachem Erinnerungsbildern und den stäriceren 
gegenwärtigen Empfindungen einerseits^ sowie bei diesen letz* 
teren zwischen denen des eigenen Organismus und den von 
aussen kommenden andrers^ts. Dadurch lernt er seinen Kör- 
per den ihn afficirenden Aussendingen und sein Ich als die 
Summe der KOrperempfindungen und der psychischen Thätig* 
keiten überhaupt anderen Wesen, denen er eine von seinen 
Empfindungen und Vorstellungen unabhängige Wirklichkeit 
nach Art der eigenen zugesteht, gegenüberzustellen. Wenn 
wir audi nicht in jedem Falle klar erkennen, was nur unsere 
subjective Vorstellung ist und was dem äusseren Objecto selbst 
an sich zuk<»nmt, so weiss doch Jeder im wachen, gesunden 
Zustande, dass eine blosse Erinnerung etwas Anderes ist als 
das wirkliche Anschauen und Hören in der Gegenw^art, und 
in den meisten. Fällen vermögen wir die Producte der Einbil- 
dungskraft von der WiiUichkeit zu trennen. Anders ist es im 
Traum und im Wahnsinn , wo die Steigerung der centralen 
Reizbarkeit den Producten der Phantasie eine Lebhaftigkeit 
verleiht, wie sie sonst nur unmittelbare Eindrücke besitzen, 
und wo die Selbstthätigkeit der Seele zurücktritt« Hier halten 
wir alles für wahr, was die Einbildungskraft uns vorspiegelt; 
Vergangenes glauben wir nicht in der Erinnerang, sondern 
in Wii^lichkeit noch einmal zu durchleben, die Hoffnungen 
und Wünsche erscheinen nicht nur ideal^ in Gedanken, son^ 
dem auch in der Wirklichkeit erfüllt. Wir meinen in Wahrheit 
himmlische Musik zu hören und uns in paradiesischen Gegen-* 



— 161 — 

den zu befinden ; der Räuber würde uns nicht so viel Angst 
einjagen, wenn wir ihn nicht für wirklich hielten^ und der 
Liebende geniesst nur dadurch das höchste Glück, dass er kein 
Phantom, sondern die Geliebte in Fleisch und Blut in den Ar- 
men zu halten glaubt. Die Vorstellungen, deren Intensität bei 
der engen Begrenzung des Bewusstseins im Traum noch mehr 
gesteigert erscheint, werden nach aussen versetzt, und in die- 
sem täuschenden »Wachsfigurenkabinet« glaubt der Schläfer un- 
ter lebenden Wesen und wirklichen Dingen zu verkehren; er 
lässt sich täuschen wie durch die Mährchen die Jugend, wo 
die Seele sich gern mit dem beschäftigt, was Reiz gewährt, 
ohne dass es wahr ist. Wenn wir uns im Wachen dem freien 
Spiele der Associationen überlassen, so sind wir auch, nach- 
dem eine Anzahl von Vorstellungen an uns vorbeigerollt, ohne 
dass die Aufmerksamkeit sie fixirte, geneigt, sie für wirklich 
zu halten ; dies letztere geschieht jedoch nur in den seltensten 
Fällen, da die Erinnerungen nicht ganz die Stärke unmittel- 
barer Eindrücke besitzen und wir die Fähigkeit haben, uns 
sofort an der Aussenwelt zu orientiren. Im Traum dagegen 
wirken immer nur einzelne Eindrücke von aussen mit, denn 
erscheinen sie in höherem Grade combinirt, so führen sie das 
Erwachen herbei; sie haben keine grössere Intensität als die 
Erinnerungen und sind nicht im Stande, die Aufmerksamkeit 
des Schläfers und sein Selbstbewusstsein zur Reaction aufzu- 
fordern. Dieser ignorirt die wirkliche Aussenwelt, in welcher 
er sich nicht zu orientiren vermag, und constauirt sich eine 
neue aus seinen eigenen Vorstellungen : im Wachen haben wir 
alle eine gemeinsame Welt, im Schlaf hat jeder seine eigene, 
lautete ein Ausspruch HeracliVs^ und Fichte hatte die Ansicht, 
dass die Traumgebilde vom individuellen Subject, die Vorstel- 
lungsgebilde der wirklichen Welt aber von der Gattungs- oder 
Menschheits-Person, dem absoluten Ich producirt würden. Der 
Träumende führt selbst ein Drama auf, in welchem er Spieler 
und Zuschauer zugleich ist. Erst am Morgen kurz vor dem 
Erwachen, wenn mehrere Eindrücke der Aussenwelt combinirt 
empfunden, die Situationen aflfectvoller werden und die höheren 
Geistesthätigkeiten wieder auftauchen, weiss man sich zuweilen 
aus aller Noth und Bedrängniss dadurch zu retten, dass man 
Alles für einen Traum und ttümbug erklärt ^^). 

Badestock, Schlaf u. Tranm. H 



— 160 — 

Gesicht (second sight), wie es besonders in Schottland vor* 
kommt und wie es aus der oft angeführten Hallucination Gaethes^ 
der^ auf der Rückreise von Sesenheim sich selbst im hechtgrauen 
Rock begegnete, bekannt ist. 

Neben der Zusammenfassung ist eine Hauptthätigkeit 
des Rewusstseins die Trennung. Der Mensch trennt die 
Vorstellungen von einander und unterscheidet in der Gesanin^i- 
heit seiner psychischen Thätigk^ten die dauernden Vorstel- 
lungsgruppen von den einzelnen wechselnden Eindrücken; so 
erhalt das Ich die Macht, ordnet mit Hülfe der Aufmerksam- 
keit die einzelnen Vorstellungen nach gewissen Gesichtspunkten 
in bestimmte Kreise ein und hält sie von den ihnen der Art 
nach verschiedenen fem. Ebenso erkennt er den Unterschied 
zwischen den schwachem Erinnerungsbildern und den stärkeren 
gegenwärtigen Empfindungen einerseits^ sowie bei diesen letz* 
teren zwischen denen des eigenen Organismus und den von 
aussen kommenden andrerseits. Dadurch lernt er seinen Kör- 
per den ihn afficirenden Aussendingen und sein Ich als die 
Summe der Körperempfindungen und der psychischen Thätig* 
keiten überhaupt anderen Wesen, denen er eine von seinen 
Empfindungen und Vorstellungen unabhängige Wirklichkeit 
nach Art der eigenen zugesteht, gegenüberzustellen. Wenn 
wir auch nicht in jedem Falle klar erkennen, was nur unsere 
subjective Vorstellung ist und was dem äusseren Objecte selbst 
an sich zukommt, so weiss doch Jeder im wachen, gesunden 
Zustande, dass eine blosse Erinnerung etwas Anderes ist als 
das wirkliche Anschauen und Hören in der Gegenwart, und 
in den meisten Fällen vermögen wir die Produete der Einbil- 
dungskraft von der Wirklichkeit zu trennen. Anders ist es im 
Traum und im Wahnsinn , wo die Steigerung . der centralen 
Reizbarkeit den Producten der Phantasie eine Lebhaftigkeit 
verleiht, wie sie sonst nur unmittelbare Eindrücke besitzen, 
und wo die Selbstthätigkeit der Seele zurücktritt. Hier halten 
wir alles für wahr, was die Einbildungskraft uns vorspiegelt; 
Vergangenes glauben wir nicht in der Erinnerung, sondern 
in Wirklichkeit noch einmal zu durchleben, die HofEhungen 
und Wünsche erscheinen nicht nur ideal^ in Gedanken, son* 
dem auch in der Wirklichkeit erfüllt. Wir meinen in Wahrheit 
himmlische Musik zu hören und uns in paradiesischen Gegen- 



— 161 — 

den zu befinden ; der Räuber würde uns nicht so viel Angst 
einjagen, wenn wir ihn nicht für wirklich hielten^ und der 
Liebende geniesst nur dadurch das höchste Glück, dass er kein 
Phantom, sondern die Geliebte in Fleisch und Blut in den Ar- 
men zu halten glaubt. Die Vorstellungen, deren Intensität bei 
der engen Begrenzung des Bewusstseins im Traum noch mehr 
gesteigert erscheint, werden nach aussen versetzt, und in die- 
sem täuschenden »Wachsfigurenkabinet« glaubt der Schläfer un- 
ter lebenden Wesen und wirklichen Dingen zu verkehren; er 
lässt sich täuschen wie durch die Mährchen die Jugend, wo 
die Seele sich gern mit dem beschäftigt, was Reiz gewährt, 
ohne dass es wahr ist. Wenn wir uns im Wachen dem freien 
Spiele der Associationen tiberlassen, so sind wir auch, nach- 
dem eine Anzahl von Vorstellungen an uns vorbeigerollt, ohne 
dass die Aufmerksamkeit sie fixirte, geneigt, sie für wirklich 
zu hallen ; dies letztere geschieht jedoch nur in den seltensten 
Fällen, da die Erinnerungen nicht ganz die Stärke unmittel- 
barer Eindrücke besitzen und wir die Fähigkeit haben, uns 
sofort an der Aussenwelt zu orientiren. . Im Traum dagegen 
wirken immer nur einzelne Eindrücke von aussen mit, denn 
erscheinen sie in höherem Grade combinirt, so führen sie das 
Erwachen herbei; sie haben keine grössere Intensität als die 
Erinnerungen und sind nicht im Stande, die Aufmerksamkeit 
des Schläfers und sein Selbstbewusstsein zur Reaction aufzu- 
fordern. Dieser ignorirt die wirkliche Aussenwelt, in welcher 
er sich nicht zu orientiren vermag, und constiuirt sich eine 
neue aus seinen eigenen Vorstellungen : im Wachen haben wir 
alle eine gemeinsame Welt, im Schlaf hat jeder seine eigene, 
lautete ein Ausspruch HeraclifSj und Fichte hatte die Ansicht, 
dass die Traumgebilde vom individuellen Subject, die Vorstel- 
lungsgebilde der wirklichen Welt aber von der Gattungs- oder 
Menschheits-Person, dem absoluten Ich producirt würden. Der 
Träumende führt selbst ein Drama auf, in welchem er Spieler 
und Zuschauer zugleich ist. Erst am Morgen kurz vor dem 
Erwachen, wenn mehrere Eindrücke der Aussenwelt combinirt 
empfunden, die Situationen aflfectvoller werden und die höheren 
Geistesthätigkeiten wieder auftauchen, weiss man sich zuweilen 
aus aller Noth und Bedrängniss dadurch zu retten, dass man 
Alles für einen Traum und ttümbug erklärt ^^). 

Badestock, Schlaf u. Traum. \\ 



1 



— 174 — 

ein junger Mensch gab seinem Schiafkameraden im Traum 
eine mSlchtige Ohrfeige und wurde durch dessen laut und un- 
willig geäusserte Verwunderung über diese seltsame^ Lieb- 
kosung erweckt. 

Das eigentliche Nachtwandeln stellt sich wie das 
Traumreden besonders bei Jünglingen, seltener bei Mädchen, 
in der Zeit der Mannbarkeits-Entwickelung ein. Femer macht 
ein überreizter Zustand der Intelligenz und des Gemüthes zum 
Schlafwandel geneigt; jüngere Leute, welche viel über Büchern 
brüten, ältere, die nur dem Denken leben, dann junge sowohl 
wie alte bei sporadischer zu starker Anstrengung des Geistes, 
bei gewaltigen Gemüthserschütterungen oder krankhafter Affec- 
tion des Gehirns überhaupt, erheben sich von ihrem Lager, 
unternehmen mehr oder minder weitläufige und gefährliche 
Wanderungen und vollziehen complicirte Handlungen. Die Dis- 
position, welche viele Müsse und sitzende Lebensart oder eine 
übernatürlich erhöhte Einbildungskraft vorbereiten, wird durch 
einzelne heftig wirkende Leidenschaften oder angestrengtes 
Nachdenken, andrerseits durch Uebermass in Essen und Trinken, 
zuweilen auch durch meteorologische Einflüsse begünstigt und 
zum Ausdruck gebracht; die Wirkung der auf den Schläfer 
fallenden ' Strahlen des Mondliehts soll nicht unbedeutend sein. 
Das männliche Geschlecht ist dieser Abnormität mehr unter- 
worfen als das weibliche, bei welchem die Formen der Gata- 
lepsie und des animalen Magnetismus sich vorwiegend finden. 
Aristoteles redet davon, dass Manche im Schlafe Geschäfte wie 
im Wachen verrichten 23») , und Diogenes Laertius führt einen 
Sclaven des Pericies und den Stoiker Theon als Beispiele an 2*o) . 
Im vorigen Jahrhundert hat man diesen wie allen ausserordent- 
lichen Erscheinungen im Gebiete des Seelenlebens besonders 
Aufmei^samkeit gewidmet und viele Beispiele aufgezeichnet; 
dabei ist jedoch Manches übertrieben und Unwahrscheinliches 
für wahr genommen worden, weil es eben ungewöhnlich und 
seltsam war. Ein um Mittemacht im Hause umherwandelnder 
schlafender Mensch, der von einer geheimnissvoll dämonischen 
Kraft getrieben erscheint, kann leicht die Beschauer und Er- 
zähler zu Uebertreibungen veranlassen. 

Die Handlungen der Nachtwandler sind zuweilen zwecklos. 
Knaben stehen vom Bett auf, laufen im Zimmer umher, wobei 



— 175 — 

sie manchmal vernehmbar vor sich hin murmeln, und legen 
sich wieder nieder. Jeseph Frank erzählt von einem sechs- 
zehnjährigen Jüngling; der über den ptötzlichen Tod seines 
Vaters in Trübsinn verfiel, folgenden Traum: zwei furchtbare 
Männer erschienen mit dem Befehl, ihnen zu folgen und droh- 
ten, wenn nicht, so würden sie ihn in der nächsten Nacht 
mit Gewalt fortschleppen. Zwei Tage darauf erschienen sie 
wieder mit dem bleichen Schatten seines Vaters, welcher ihnen 
befahl, ihn auch wider Willen fortzuschleppen. Er wurde 
nun durch unermessliche und sehr schöne Landschaften ge- 
tragen, hörte Saiten- und Flötenspiel, sah tanzende Chöre von 
Jünglingen und nahm an auserlesenen Mahlzeiten Theil. Plötz- 
lich verschwand der Schatten des Vaters^ beide Männer hoben 
ihn hoch in die Luft und warfen ihn dann in ein Fass« Am 
nächsten Morgen fanden ihn die Milchmädchen wirklich in 
einem leeren Fasse, in welches er selbst hineingestiegen, mit 
wenig Stroh bedeckt^ von der Winterkälte erstarrt und beinahe 
leblos. Der Medicinalrath Ebers in Breslau berichtet von sei- 
nem elfjährigen Stiefsohn , einem munteren , aufgeweckten 
Knaben, dass derselbe im Schlaf laut gesprochen habe, zur 
Zeit des Vollmondes aufgestanden und zwecklos umhergegangen 
sei; er fasste automatisch diesen oder jenen Gegenstand an, 
wich vor absichtlich hingestellten Hindernissen ruhig aus, öffnete 
das Fenster und schaute hinaus, zeigte sich unempfindlich 
gegen vorgehaltenes Licht bei halbgeschlossenen Augen und 
gegen Anrufe, kehrte dann freiwillig in das Bett zurück und 
hatte später keine Erinnerung an den Traumwandel. Einst 
nahm er aus dem Repositorium den Rousseau heraus, setzte 
sich hin und that, als lese er, doch sah er beim Blättern eben- 
so automatisch aus als bei jedem andern Thun. Als Ebers 
einmal, nachdem er ihn eine halbe Stunde lang hatte wandeln 
lassen, mit der Reitpeitsche ihn kräftig auf das Gesäss hieb, 
lief er schreiend in sein Bett. IVacbdem ihm noch ein wurm- 
treibendes Mittel gegeben worden , verschwand der Nacht- 
wandel ^^i). 

Meist hat die Handlung im Ganzen den Anschein der 
Zweckmässigkeit, allein es werden falsche Mittel oder richtige 
Mittel falsch angewendet. Ein junger Mensch träumte, er 
müsse ausreiten und benutzte das Fensterbret als Pferd, einem 



— 176 — 

Anderen diente die Dachrinne, ekiem Dritten eine Bank oder 
der Ofen zu demselben Zweck. Jemand glaubte mit Einem 
in Streit zu sein, stand «luf, nahm den Degen und hieb mit 
demselben in der Luft herum sowie gegen Tische und Bänke. 
Hof steter erzählt, er habe selbst als zwölfjähriger Knabe bei 
einem bevorstehenden Gastmahl aufwarten sollen und sei des- 
halb täglich von seinen Eltern angespornt worden. Des Abends 
vor dem Gastmahle dachte er Über sein morgendes Geschäft 
nach und ging, nachdem er einen Becher Wein getrunken, 
zu Bett. Im Schlafe erhob er sich, ging nach dem Speise- 
schrank und trug Servietten, Löffel und Messer in sein Bett, 
bis er durch Geräusch und den Ruf seines Vaters erwachte. 
Ein anderer Nachtwandler stieg an einem Strick nackt zum 
Dach, nahm dort ein Vogelnest aus und packte die Jungen in 
das Hemd. In allen diesen Fällen zeigt sich die Schwäche des 
Urtheils im Traum und die illusorische Natur seiner Vorstel- 
lungen. Das Fenster wird ftlr die Thür, das Fensterbret ftlr 
ein Pferd und Tische und Bänke für Gegner gehalten. 

Zuweilen aber erscheinen die Handlungen im Ganzen wie 
im Einzelnen vollständig zweckmässig, besonders wenn sie 
Fortsetzungen von Tagesgeschäften bilden. Ein Hausknecht 
steht auf und putzt die Stiefel. Der Haushofmeister eines 
Grafen verrichtete im Traum alle Geschäfte, als ob Gäste zu 
erwarten seien, öffnete alle Schränke und räumte selbst 
Hindemisse hinweg; jedoch trank er Wasser statt Wein, ja 
er verzehrte Hundebrei statt Kohl mit dem grössten Appetit 2*2). 
Ein Dienstmädchen soll im Schlaf Brot mit aller Sorgsamkeit 
gebacken haben. Früher war die Geschichte des Nachtwand- 
lers Negretti, der die complicirtesten Handlungen ausführte, 
in Vieler Munde. Der Schüler arbeitet wohl an seinem ange- 
fangenen Aufsatz weiter. Jessen berichtet von seinem Jugend- 
freunde, einem jungen Juristen, dass derselbe einst vor Müdig- 
keit über seiner Arbeit einschlief und sie am Morgen vollendet 
fand ^3). Schindler sagt, dass ein Regierungssecretär Hoppe 
eine Examenarbeil im Schlafe vollendete und so gut, dass er 
sie unverändert abgab (?). Pfaff hielt sich nach vollendeten 
Universitätsstudien eine Zeit lang im elterlichen Hause auf und 
beschäftigte sich von früh bis spät mit einer wissenschaftlichen 
Arbeit. Einst schlief er mit dem Gedanken über eine schwie- 



— 177 — 

rige Stelle ein, ohne damit sum Entschluss gekommen zu sein. 
Plötzlich durch ein Gefühl von Frost erwacht fand er sich auf 
dem Stuhle vor seinem Schreibtisch, auf welchem das Manuscript 
lag, in dem Bibliotheksztmmer seines Vaters. £s war finster,, 
und er hatte leise mehrere Zimmer durchwandert; in einem 
derselben schliefen sogar seine Eltern, welche bei seiner Rückkehr 
erwachten. Ebers berichtet, dass man sich in dem Institute^ 
wo er seine früheste Jugend zubrachte, erzählte, ein Genosse 
habe schlafwandelnd eine schwere Prüfungsarbeit vollendet. 

Früher war die Ansicht fast allgemein, dass im Schlaf- 
wandel Probleme gelöst werden könnten, die dem Wachenden 
unüberwindbare Schwierigkeiten entgegensetzten. Cardan be- 
hauptele, eines seiner Werke im Traume ausgearbeitet zu haben. 
Condillac fand oft des Morgens seine Arbeit vollendet und selbst 
Burdach sagt : »Beispiele von Menschen, die während des Nacht- 
wandels besser auf musikalischen Instrumenten spielten, ge- 
läufiger in fremden Sprachen sich ausdrückten, leichter und 
besser dichteten als im Wachen, sind häufig. Mein Jugend- 
freund, Gustav Hansel, der sich wenig oder gar nicht im Dich- 
ten versucht hatte, fand in der Zeit, als ihn der Gedanke an 
die Befreiung Deutschlands von der französischen Herrschaft 
lebhaft beschäftigte, eines Morgens auf seinem Arbeitstische 
eine von ihm verfasste Ode an Napoleon^ welche Schwung der 
Gedanken und Feuer des Ausdrucks mit Richtigkeit des Vers- 
baues vereinte, unH alles Bemühen, sich seines Dichtens zu 
erinnern, war vergeblicha (S. 507). M. Perty erzählt unter 
vielen anderen sonderbaren Geschichten 244) von einem Studen- 
ten in Amsterdam, der drei Abende erfolglos an der Entdeckung 
eines Fehlers in einer schweren Rechnung gearbeitet hatte und 
am Morgen des vierten Tages die Lösung fertig und zwar nach 
einer neuen besseren Methode, die selbst seinem Professoi* un- 
bekannt war, in seiner eigenen Handschrift vorfand. Schopen- 
hauer hat ebenfalls die Ansicht, dass der Mensch im Schlaf 
zu ausserordentlichen Leistungen des Geistes und Körpers be- 
fähigt sei 245). 

Weniger mystisch und begeistert lautet ein Bericht aus; 
der Bonner medicinischen Klinik von Albers ^^). Ein Student 
der Mathematik, dessen Vorfahren das Nachtwandeln auf ihn 
und ^wei Brüder vererbt hatten, wurde sechs bis sieben Nächte 

Bftdestocic, Schlaf u. Tr&nm. 1 2 



— 178 — 

■ 

von mehreren Personen zugleich beobachtet. Obgleich die da- 
maligen Leiter der Klinik für mystische Auffassung nicht ganz 
unempfänglich waren, bemerkte man doch keine höheren Ver- 
standeskräfte an ihm. Tabakspfeife, Schreibzeug und ein Buch 
wurden gleich automatisch von ihm behandelt. Eine Pfeife, 
die er genommen, konnte er sich nicht selbst anzünden; als 
man ihm dabei geholfen, ging sie wieder aus, da er nicht zog. 
Er setzte sich an einen Tisch, nahm einen Bogen und schrieb 
einige Buchstaben gut darauf; er griff zu einem Buche, blät- 
terte um, ungefähr in der Zeit, wo man eine Seite kann ge- 
lesen haben, hörte aber nicht auf, als man das Licht auslöschte. 
Dann ging er zu einem der Anwesenden, fasste ihn unter 
den Arm und nöthigte ihn, auf- und abzugehen. In einer an- 
deren Nacht ging er an den mit zwei Lichtem besetzten Tisch, 
nahm ein Buch und blätterte darin, als ob er läse; das Auge 
wurde aber nicht bewegt, sondern blieb halb offen und starr, 
auch hielt er das Buch in derselben Richtung als man die 
Lichter entfernte. Alheims fuhr mit dem Finger in das Auge 
des Kranken, welches sich erst schloss, als er die Hornhaut 
berührte. Nachdem der Student das Buch hingelegt, griff er 
zu Mappe und Hut, schloss die Thür auf und wollte offenbar 
ins Colleg gehen. Als er die Hausthür verschlossen fand, kehrte 
er wieder zurück, legte Mappe und Hut hin und ging wieder 
auf und ab. Jede Berührung machte ihn schaudern, der Puls 
war häufig und klein. Beim Namen gerufen wachte er nicht 
auf, wie man es sonst von Nachtwandlern sagt, auch nicht, 
als es direct in das Ohr geschah. Als er gerüttelt wurde, 
erwachte er; die Augen schlössen sich, er fiel nach rückwärts 
und rausste gehallen werden. Er wusste nicht, wo er war, 
hatte keine Erinnerung an das Geschehene und wunderte sich, 
ausser Bett und in Gesellschaft der ihn beobachtenden Perso- 
nen zu sein. — In derselben Klinik befand sich ein nacht- 
wandelndes Mädchen von 12t Jahren, bei welchem sich diese 
Abnormität bald verlor, als durch die Aerzte Verdauung und 
Blutbildung wieder in Ordnung gebracht waren. Binz theilt 
aus eigener Beobachtung folgenden Fall mit (S. 51 ff,) : »K., ein 
stets gesunder Mann aus gesunder Familie, in der Regel mit 
vorzüglichem Schlaf begabt, litt während seiner Jünglings- und 
frühern Mannesjahre daran. In jener Zeit bewohnte ich jähre- 



■ — 179 — 

lang das nämliche Haus mit ihm, später war ich sein Arzt. 
K. war von lebhaftem Temperament. Seine gewöhnlichen 
Träume äusserten sich in Sprechen unzusammenhängender 
Worte und Aufsitzen- im Bett. Dabei blieb es aber meistens. 
Eines Nachts, er mochte damals 17 Jahre zählen, stand er auf, 
machte Licht, kleidete sich an, raffte die ünterrichtsbücher 
des Gymnasiums, das er und ich besuchten, zusammen und 
stieg die Treppe hinab bis in den Hausflur. Hier vor einer 
grossen Uhr mit kräftigem Schlagwerk angekommen, blieb er 
stehen und leuchtete wie regelmässig im Winter des Morgens 
frtlh nach dem Zifferblatt. Der Zufall wollte, dass die Uhr in 
diesem Augenblick 42t schlug. Bei den letzten Schlägen war er 
so wach geworden, dass er das Unsinnige seiner Lage erkannte, 
und erschreckt über sich und die Geisterstunde eilte er zu 
mir, weckte mich und erzählte mir den Vorfall. So stand er, 
die Bücher unter dem linken Arm, die Studierlampe in der 
Hand; vor mir. Ich beruhigte ihn und er ging ruhig wieder 
zu Bett. Ob die Bücher die für den folgenden Tag richtigen 
waren, wurde nicht untersucht. K. hatte geträumt, es sei 
Morgens gegen 7 Uhr, und er müsse zur Schule gehen. Auto- 
matisch that er, was er fast täglich seit Sexta zu thun hatte, 
und erst die vollen Töne der Uhr weckten ihn auf. Drasti- 
scher und mehr an die Kletterberichte des Nachtwandeins er- 
innernd war folgender Vorfall, der sich ereignete, als K. 32 
Jahre alt und verheirathet war. 

K. wird des Nachts gegen 2 Uhr wach, weil ihm die Kniee 
schmerzten. Das Zimmer war vom Mond genügend beleuchtet, 
um seine absonderliche Lage ihn erkennen zu lassen. Er kniete 
nämlich im Hemd auf dem 6 Fuss hohen Porzellanofen des 
Schlafzimmers und hielt sich mit beiden Händen krampfhaft 
an dessen Seitenrändern, die profilartig vorsprangen, fest. Durch 
Zuioif weckte er seine Frau, diese hielt den vor dem Ofen 
stehenden Stuhl und auf seine Lehne tretend stieg K. herab. 
K. war als guter Turner denselben Weg hinaufgestiegen. Den 
weissen Ofen hatte er offenbar für ein Object seines Traumes 
gehalten, von dem übrigens keine Erinnerung übrig blieb, und 
erst der Schmerz der nackten Kniee rief die festschlafenden 
Gehirnzellen zum Wachsein. 

In seiner Jugend hatte K. einmal einen Arzt (Homöopathen) 

12* 



— 180 — 

gegen seine Traumsucht consuliirt und von ihm Streukügelchen 
erhalten, deren Erfolg Null war. Durch die Ofenexpedition trat 
die Noth wendigkeit, etwas zu thun, zwingend hervor. Eine 
genaue Anamnese führte mich auf zwei Ursachen der. lebhaften 
Träume hin. K. sprach, rief und bewegte sich im Traum, wenn er 
am späten Abend mit Anstrengung sich geistiger Arbeit hingege- 
ben hatte oder wenn er schwere Speisen genossen. Am Abend 
vor jener Nacht war beides geschehen, das letztere bei dem 
stets gesegneten Appetit des K. in kräftiger Weise. Anord- 
nung und genaue Befolgung einer demgemäss eingerichteten 
Geistes- und Körperdiät machte allem Nachtwandeln und auf- 
geregten Träumen von da an ein Ende«. 

Zu starke Arbeit des Gehirns und des Darmkanals wirkten 
also nach der nämlichen Richtung reizend. Dem häufigen leb- 
haften Reden im Schlaf lag niemals ein nur halbwegs ver- 
nünftiger Sinn zu Grunde. Von den Angehörigen K.'s wurde 
öfters vergebens gesucht, einen solchen zu entdecken oder durch 
Fragestellung einzuleiten, aber nichts als zusammenhangloses 
Zeug kam zu Tage. Binz macht noch mit Recht darauf auf- 
merksam, was sich nicht alles hätte daraus machen lassen, 
wenn eine erzählend aufgeregte Phantasie nachgeholfen hätte. 
»Aus dem Zusammenlegen der Schulbücher wäre leicht die 
Schaffung eines lateinischen Aufsatzes geworden, und aus der 
Ofenaffaire ein unerhörtes Klettern auf die First des Hauses«. 

In manchen Fällen hatte der Nachtwandel ein schlimmes 
Ende. Der fränkische Ritter Gültlingen verfiel im Jahre 4600 
nach einer erlittenen Kopfwunde von jedem Uebermass im 
Wein in Nachtwandel ; er stand auf und schlug so lange um 
sich, bis er durch Aufreden erweckt und seiner Sinne wieder 
mächtig wurde. Bei einer Gelegenheit, als er mit seinem 
Freunde Conrad von Degenfeld, der unglücklicherweise auch 
ein Nachtwandler war, und mit anderen Rittern tüchtig gezecht 
hatte, wurde er berauscht. Sich seiner üblen Gewohnheit be- 
wusst, hatte er verlangt, in einer Kammer allein zu schlafen 
und ausserdem sein Seitengewehr in einer anderen Stube liegen 
gelassen, jedoch vergessen, die Kammer hinter sich zu ver- 
schliessen. Degenfeld's Knecht führte nun seinen Herrn in 
dieselbe Kammer, der sich, um seinen Freund Gültlingen nicht 
aufzuwecken, zu den Füssen des Bettes legte. In einem An- 



— 181 — 

falle des Nachtwandeins stand Degenfeld auf, hüllte sich in 
das Betttuch und ging in der Kammer auf und ab, Gültlingen 
erwachte darüber und rief seinen Freund an; da er keine 
Antwort erhielt, so glaubte er, es sei ein Gespenst, fand seines 
Freundes Degen und stiess ihn damit nieder. Herzog Friedrich 
von Würtemberg sprach das Urtheil selbst, und Gültlingen 
wurde am nttdisten Tage schon enthauptet 2^^) . — Hennings be- 
richtet, dass im vorigen Jahrhundert ein Professor in Leipzig 
dadurch ums Leben kam, dass er im Zustand des Nacht- 
wandelns aus dem hoch gelegenen Fenster stürzte. — Das 
Wiener Fremdenblatt brachte im August 4877 die Nachricht, 
dass ein gesunder Mann, welcher träumte, er werde von einem 
Strolche überfallen, aus dem Bette gesprangen sei, das Fenster 
geöffnet und sich in den Hofraum gestürzt habe, wobei er 
einem Knochenbruch erlitt. Der Referent erinnerte dabei da- 
ran, dass einige Jahre vorher ebendaselbst ein »Justizwach- 
manm jah aus dem Schlaf aufsprang, das geladene Gewehr 
von der Wand herunterriss , auf seinen Gorporal anlegte und 
diesem die Kugel in's Herz sohoss^^^). 

In den meisten Fällen aber sollen die schwierigsten Hand- 
lungen und die gefährlichsten Wanderungen über steile Dächer, 
schmale Dachrinnen und Stege dem Nachtwandler geglückt 
sein. Ennemoser berichtet von einem Bauer, der in einem 
solchen Zustande einen starisLcn Baum an einem sehr gefähr- 
lichen Felsabhange fällte, wo er sich am Tage nicht bingetraute. 
Diese von Vielen als höchst wunderbar gepriesene Sicherheit 
erklärt sich aus der illusorischen Natur des Traumes 2^^). 
Wüsste der Nachtwandler, dass er auf einem Haus- oder 
Kirchendach, auf einem Felsen in schwindelnder Höhe sich be- 
finde, so würde ihn ebenso Furcht vor dem Herabstürtzen und 
Schwindel als den Wachenden befallen; dies geschieht aber 
nicht, da er sich einbildet auf dem Erdboden selbst zu sein. 
Sicher würde er die Dachrinne nicht betreten, wenn er sie 
wirklich erkennte und sie nicht für einen passabeln Weg hielt. 
Ferner ist bekannt, dass wir im Wachen auf sehr schmalen und 
steilen Pfaden ohne Gefahr gehen können, wenn wir schwindel- 
frei sind und uns keine Furcht anwandelt ^ welche sonst den 
Körper aus dem Gleichgewicht bringt. So lange die Illusion 
währt, ist fUr den Nachtwandler die Gefahr nicht vorhanden, 



— 182 — 

wird diese Einbildung aber durch Anrufen gestört, so veriiert 
er entweder, wie oben erwähnter Student durch den plötzlichen 
heftigen Eindruck erschreckt, unmittelbar das Gleichgewicht, 
oder es kommt ihm seine wirkliche Lage in das Bewusstsein 
und damit die Furcht und der Schwindel ; er stürzt und wird 
oft zerschmettert 2^®) . 

Wie im Nachtwandel soll auch in den Träumen, wo der 
Schläfer ruhig auf seinem Lager bleibt, eine YerstäriLung der 
geistigen Kräfte vorkommen und theoretische nicht minder als 
praktische Probleme, über welchen sich der Wachende ver- 
gebens abmühte, gelöst worden sein ^^) . Ich meine hier nicht 
die schon berührten zahlreichen Erscheinungen, wo sich ein 
scheinbar hoher Gedanke im Wachen als vollendeter Unsinn 
herausstellt, da, wie Volkelt sagt (S. 446), »die abstracten Ge- 
dänkengefüge in den Hexenkessel der Traumphantasie gerathen 
eine verrückte blödsinnige Verkörperung finden« müssen (I), 
sondern ich spreche von den Fällen, wo der Geist etwas Neues 
zu Tage förderte, was seine Wichtigkeit auch im Wachen be- 
hielt. So kam der Kantianer Reinhold im Traum auf seine 
Deduction der Categorien, so soll Sardini die Flageolettöne ge- 
funden haben; Krüger sagt, dass ihm Träume zur Auflösung 
mathematischer Aufgaben behilflich waren und Maignant fand 
gleichfalls im Traum mathematische Lehrsätze oder auch Be- 
weise dazu, erwachte freudig und schrieb sie auf. Der Arzt 
Ruhmbaum in Breslau, welcher einst einen sehr gefährlich 
Kranken in Behandlung hatte, war in Gedanken über diesen 
Fall eingeschlafen, im Traum sah er ein medicinisches Buch 
aufgeschlagen und darin die Art und Weise der Behandlung 
sowie die Arzneimittel genau angegeben ; als er erwachte, notirte 
er Alles, verfuhr so, und es glückte ihm vollständig. Burdach 
sagt in Betreff solcher Träume: »Bei Anwandlungen von Er- 
schöpfung, welche als Vorläufer eines Nervenfiebers sich arteten, 
schwebten mir im Schlafe wissenschaftliche Aufgaben vor, die 
ich nicht zu lösen vermochte, und die mich so lange peinigten, 
bis ich erwachte; und bei neuem Einschlafen begann dieselbe 
Qual. Im gesunden Zustande hatte ich oft im Traume wissen- 
schaftliche Einfälle, die mir so wichtig vorkamen, dass ich da- 
rüber erwachte; da ich sie mir dann als an mir angestellte 
Erfahrungen mit dem Datum aufzeichnete, so finde ich, dass 



— 183 — 

^ie meist nur in die Sommermonate fielen. Oft bezogen sie 
sich auf Gegenstände, mit welchen ich mich zu derselben Zeit 
beschäftigte, waren jedoch in ihrem Inhalte mir ganz fremd : so 
träumte ich während meiner Arbeit über das Gehirn am 6. Julius 
4845, die Umbeugung des Rückenmarks zum Uebergange ins Ge- 
hirn bezeichne den Gegensatz beider durch das Durchschneiden 
ihrer Axen und durch das Zusammentreffen ihrer Strömungen in 
einem Winkel, der beim Menschen mehr als bei Thieren einem 
rechten sich nähere und die eigentliche Bedeutung der aufrechten 
Stellung enthalte; am 47. Mai 4848 träumte ich von einem plexus 
cephalicus des fünften Hirnneryen, der dem plexus brachialis und 
cruralis entspreche; am 44. October desselben Jahres träumte 
mir, die Gestalt des fomix werde durch die des Stabkranzes 
bestimmt, der vorn weiter nach hinten trete, hinten mehr 
divergire. Bisweilen aber betrafen diese Einfälle auch Gegen- 
stände, über die ich zu derselben Zeit gar nidiit nachgedacht 
hatte, und waren dann meist noch kühner; so z. B. im Jahre 
4844, wo die gewöhnliche Ansicht des Kreislaufes bei mir fest- 
stand , auch keine entgegengesetzte Vorstellung eines Andern 
auf mich eingewirkt hatte, und ich mich überhaupt mit andern 
Gegenständen beschäftigte, träumte ich, das Blut fliesse durch 
eigne Macht und setze das Herz erst in Bewegung, so dass, 
wenn man letzteres als den Grund des Kreislaufs betrachte, 
dies eben so sei, als wolle man die Strömung des Bachs von 
der Mühle ableiten, \^elche er treibt. Von solchen halbwahren 
Einfällen, die mir im Traume so grosses Vergnügen gewährten, 
führe ich nur noch einen an, welcher den Keim von Ansichten 
in sich trug, die sich späterhin in mir entwickelten: am 47. 
Junius 4822 dachte ich im Mittagsschlafe, der Schlaf sowie die 
Verlängerung der Muskeln sei ein in sich Gehen, welches in 
Aufhebung des Gegensatzes bestehe; im Gefühle der vollen 
Klarheit , welche mir dieser Gedanke über einen grossen Kreis 
der Lebenserscheinungen zu verbreiten schien, erwachte ich, 
aber sogleich zog sich Alles wieder in die Dämmerung zurück, 
da mir diese Ansicht zu fremd war« (S. 495 f.). 

Man sieht leicht ein, dass in solchen Fällen die Leistung 
der Verstandeskräfte nicht auf Rechnung des Traumes selbst 
kommt, scmdem dass sie den Nachhall des wachen Lebens 
bildet und nur die Wichtigkeit des die Erschlaffung lösenden 



— 184 — 

Schlafes fÜF das Leben des Menschen darthut. Die Elemente 
zn den neuen Gedanken lagen bereit, aber die erschöpfte Seele 
vermochte nicht, sie im Wachen zusammenzusetzen, sobald nun 
im Schlaf die Ermüdung gewichen, traten diese Gedanken 
wieder mit neuer Macht hervor; die Reproductionen werden 
weniger als am Tage durch unmittelbare Sinneseindrttcke be- 
einflusst, sie bleiben mehr isolirt und können die in ihnen lie- 
genden Gedankenkeime ihrer ganzen Weite und Breite nach 
zur Entwicklung bringen ; auch werden sie nicht vom Selbstbe- 
wusstsein zu einer bestimmten Verbindung gezwungen, sondern 
nach ihren Wahlverwandtschaften ziehen sie sich gegenseitig 
an und liefern so zuweilen ein reineres Grystallisationsproduct. 
Diese Elemente schlummern oft dem Menschen unbewusst in 
seiner Seele, der Traum hebt sie über die Schwelle des Be- 
wusstseins und bringt die entfernter liegenden zur Verknüpfung. 
Erwacht staunt dann Mancher das neue Erzeugniss als Aeusser- 
ung seiner eigenen erhöhten Geisteskraft an, oder er glaubt 
wie Paulus in Betreff seiner Sinnesänderung, es sei durch 
Einwirkung göttlicher Mächte hervorgebracht. Ein anderes 
Mal liegen die Prämissen vollständig bereit und es bedarf nur 
des Schlusssatzes, den der Schläfer zieht. Auf diese Weise 
entstehen unter Millionen unbrauchbarer Gedanken auch einige 
brauchbare. Der Nutzen des Traumes ist weniger positiv als 
negativ ; er schafft nicht viel Neues, ist aber der Grund, dass am 
Morgen sich Neues entwickelt. Was der Schlaf vorzugsweise für 
des Menschen physische, das ist er für dessen psychische Natur, 
die durch verminderte Thätigkeit neue Kraft sammelnde Erholung. 
Andrerseits zeigen sich kurz vor dem Erwachen die hö- 
heren Geistesthätigkeiten wieder. Grössere Vorstellungsmassen 
steigen auf, das zusammenhängende Gedächtniss und das Ur- 
theil gewinnt dadurch wieder Macht. Man bemerkt was un- 
statthaft ist, was man aus mancherlei Rücksichten zu verbergen 
hat, und sucht Schlauheit zu entwickeln; oder man findet, dass 
das, was man geträumt, absurd war. Burdcuch sagt: »Die 
Urtheilskraft bleibt lange Zeit indifferente Zuschauerin des 
Traumes, lässt sich Vieles von der Phantasie gefallen und legt 
sich erst dann darein, wenn diese es zu toll treibt: ich sah 
in einem an Traum grenzenden Schlummerbiide ruhig zu, als 
Häuser hin- und hersch webten, sich dann in Gassen reihten, 



— 185 — 

wie bei einer Polonaise, als sie aber endlich sich bückend zum 
Thore hinaustanzten, war ich wach; ich war im Traume in 
einem Reitergefechte , wo mit grosser Wuth gefochten wurde, 
als aber mit dem Glockenschlage piölztich der Kampf aufhörte 
und Alles sich kaltblütig und gelassen zum Frühstücke nieder- 
setzte, erwachte ich« (S. 505). Man rettet sich aus aller Be- 
drängniss oder führt bei einem freudigen Ereigniss die Ent- 
täuschung selbst herbei, indem man sich zuraunt, es sei ja 
Alles nur ein Traum. Wenn man sich mit Erforschung^der Ge- 
heimnisse des Schlafes und Traumes beschäftigt und sich vorge- 
nomm^i hat, die Träume zu merken, passirt es nicht gar sel- 
ten, dass ein Halbwachen den Traum unterbricht und man sieh 
irentj eine interessante Beobachtung gemacht zu haben ^ die 
man sorgfältig notiren will ; manchmal freilich findet man sich 
am Morgen getäuscht und erkennt das Triviale des Gedankens. 
Vor nicht langer Zeit hatte ich eines Tages rechte Arbeitslust, 
wurde jedoch durch Besuch verhindert, sie zu benutzen. In 
der folgenden Nacht träumte mir, ich begegne einigen Bekann- 
ten auf der Promenade, von denen mich der eine fragte : »Wie 
würden Sie lateinisch ausdrücken : er kann nicht mehr mit 
den Beinen strampeln«, was nach meiner Meinung so viel heis- 
sen sollte als: er kann Nichts mehr ausrichten oder zu Wege 
bringen; ich antwortete : )>Nihildum efficere potest«, veränderte 
dies jedoch sofort in: »nihil jam efficere potest«. Gleich darauf 
erwachte ich und wunderte mich, wie ich zu einer so selt- 
samen Uebung in lateinischer Phraseologie gekommen. 

Unter den Träumen mit scheinbar erhöhter Geisteskraft 
bilden eine besonders hervorzuhebende Classe die viel genann- 
ten prophetischen, welche Schemer den »Gipfel des Traum- 
lebens« nennt ***). 

Bei Homer sind die Träume von Zeus gesandt. (II. I. 63. 
Freilich scheut sich Zeus auch nicht einen »täuschenden« Traum 
zu senden; vergl. II. II. 7). Während Heraclit lehrte, dass 
im Schlafe die Gemein^haft mit dem Himmelsäther beschränkt 
sei und der Mensch des Nachts sich seibist ein trübes Licht 
im Traum anzünde, nahmen die Pythagoreer eine prophetische 
Kraft der Träume an, ehensorSokrates^^) und XenopÄon^w). Plato 
glaubte, dass die Seele dann, wenn der Mensch einen guten 
Lebenswandel führe, des Nachts im Traum mehr erkennen 



— 186 — 

könne als im Wachen ^^^) . Die Stoiker erkannten in dem Traum 
Eingebungen höherer Mächte 2^): Ckrysippus lehrte, dass eine 
die Zeichen der Dinge erklärende Kraft von den Göttern den 
Menschen verliehen worden sei; PosidanmSj welcher dem Pa- 
maetiiis gegenüber sich wieder dem Dogmati^nus zuwendete, 
sprach von einem dreifachen Einflüsse der Götter ^7) . MtUarch 
sagt, es sei nicht wunderbarer, dass die mantisehe Kraft der 
Seele zukünftige Dinge voraus-, als dass die mnemonische 
vergangene nachempfinde. HippocrcUes liess wenigstens einen 
Theil der Träume von den Göttern herrühren, auch Gctlen^ 
welcher sonst über die pathologischen Träume manche treffende 
Bemerkung machte^ gestand manchen prophetische Kraft zu. 
Herophüos unterschied die gottgesandteu Träume von den ge- 
wöhnlichen. Artemidorus schrieb wie Chrysippm ein Werk, 
in welchem er seine Forschungen über diesen Gegenstand 
niederlegte. Panyasis von Halikarndssos und ÄnUphon von A^en 
gaben Anweisungen in Betreff der Deutung und Auslegung der 
Träume ^*^) . — Paracelsus, der bertihmte Arzt des Mittelalters, 
sprach von einem siderischen Theile der Menschenseele, wel- 
cher sich während des Schlafs zu den Gestirnen aufschwinge, 
um Neues und Höheres zu erfahren. Agrippa von N^tesheim 
glaubte durch den blossen Willen Jemandem Träume hervon*ufen 
zu können, selbst wenn er den Aufenthaltsort und 
die Entfernung desselben nicht genau kenne. In 
neuerer Zeit begeisterten sich die Schellingianer, wie Sdwbert^ 
Ennemoser und Andere für die prophetische Kraft der Träume. 
Das moderne Zeitalter hat keine Seher mehr wie das Alter- 
thum, aber das Geschlecht der Sibyllen ist nicht ausgestori>en ; 
es findet seine Vertretung in den Kartenschlägerinnen und den 
der Traumdeutung kundigen Frauen. Mademoiselle Lenormand 
wusste Vielen in Frankreich ihr Schicksal zu deuten und sich 
ein bedeutendes Vermögen zu erschwindeln. Besonders scheint 
jedoch in unserem Volke von Alters her das schöne Geschlecht 
das Privilegium zu haben, in die Zukunft zu schauen, denn 
Tacitus berichtet bereits von den alten Germanen, dass sie die 
Ahnungsgabe der Frauen hochachteten 2^^) . In den Bltttfaejahren 
fühlt das Mädchen oft gewisse Kassandra-Stimmungen und eine 
Neigung zu Allem, was ausserordentlich und seltsam ist. Dispo- 
sitionen zu Sinnestäuschungen werden dadurch begünstigt und 



— 1S7 — 

Ahnungsträume siml äusserst willkommen; es liegt ein ge^ 
wisses Behagen darin, sich die Zukunft vorzustellen oder gar 
sagen zu können: mein Traum ist eingetroffen. Bin grosses 
Contingent liefern ferner die Träione schwangerer Frauen in 
Bezug auf ihr Kind^^^j. In späterem Alter ahnt das Mütter- 
chen, die keine grossen Hoffnungen mehr für dieses Leben 
hegt, weniger in Betreff ihrer eigenen Person als derer, die 
ihr nahestehen; auch übernimmt sie wohl die Mühe, jungen 
Damen zur richtigen Deutung ihrer Träume zu verhelfen und 
sagt das Glück eines liebenden Pärchens voraus. 

Am Schluss einer Tragoedie des Sopkacles rufen die Greise 
des Chors aus: 

»Wohl Vieles vermag anschauend der Mensch 
Zu erspähn \, doch eh' er geschaut , kennt auch 
Kein Seher die Loose der Zukunft «26i), 

Zwar kann ein Mensch, dessen Combinationsgabe grösser als 
die der anderen ist, im Wachen wohl richtige Schlüsse auf die 
Zukuuft ziehen und Manches sehen, was dem minder Klugen 
verborgen ist, doch auf die Weissagungsgabe des Traumes soll 
kein Verständiger sich verlassen : »Träume betrügen viele Leute 
und fehlt denen, die darauf bauena, sagt der weise Sirach 
(c. 34. V. 7.) . Man pflegt hundert oder tausend nicht eingetroffene 
Träume über eiaem eingetroffenen zu vergessen, und wenn in der 
Literatur, besonders in den vielbändigen sogenannten »Magazinena 
des vorigen und des Anfanges des jetzigen Jahrhunderts, sowie 
von Schubertj Schemer , Perty und anderen eine grosse Menge 
Beispiele von eingetroffenen Ahnungs-Träumen angeführt wird, so 
könnte man fragen wie der Mann in Griechenland im Tempel vor 
dem Yerzeichniss der durch göttliche Hülfe geretteten Schifibrü- 
chigen: wo sind denn die verzeichnet, denen das Glück nicht 
wohlwollte und deren Ahnungen nicht eintrafen ? Lazarus sagt, 
dass er viele Jahre lang jede im Wachen oder Traume mit be- 
sonderer Stärke und Bestimmtheit auftretende Vorstellungs^ 
gruppe, die sich ihm mit der Lebhaftigkeit aufdrängte, welche 
uns als [Ahnung der Verwirklichung des Vorstellungsinhaltes 
so oft berichtet wird, notirt habe, ohne je eine derselben er- 
füllt zu sehen 2<}2). Beim Eintreten eines unerwarteten Ereig- 
nisses hört man vielfach ausrufen : das hätte ich nicht gedacht^ 
das hätte ich mir nicht träumen «lassen , — und kann daraus 



— 188 — 

abnehmen, dass der Geist sehr oft nicht zu den Objeeten »hin- 
schwingt« und das ahnt, was ihm zu wissen ntttzlich wäret 

Ueberdies ist es oft mit den eingetroffenen Träumen eine 
missliche Sache ; das berüchtigte T)post hoc ergo propter hoc«, 
das in der Wissenschaft schon so viel Unheil gestiftet und dem 
Aberglauben einen bedeutenden Vorschub geleistet hat, lässt 
den Menschen zwischen seinen Träumen und den Ereignissen 
eine Beziehung von Ursache und Wirkung erkennen, die in 
W^ahrheit gar nicht vorhanden ist. Es geschieht weder etwas, 
weil man es geträumt hat, noch träumt man es, weil es ge- 
schehen soll, sondern die Gedanken des Menschen und die 
Realität entwickeln sich nach ihren eigenen Gesetzen. Freilich 
ist bei dem, der tiefer in die Natur der Dinge eingedrungen 
ist und einen grossen Theil ihrer Gesetze erkannt hat, das 
Denken mehr »adäquat« als bei dem Thörichten und Unerfah- 
renen, die Gedanken und ihre Verbindungen spiegein besser 
die reale Entwickelung der Natur, — bei der ungeheuren Menge 
der Verbindungen aber kann zuweilen bei Klugen wie bei Thö- 
ridbten es einmal vorkommen , dass auch das phantastische Den- 
ken mit der Wirklichkeit tlbereinstimmt^^'^j . Es ist dies so recht 
das, was man »Zufalk nennen kann ; es ist nicht etwa ursachlos, 
denn Alles in der Welt ist durch die Causalität bestimmt, 
wohl aber ohne den tieferen Hintergrund und den engeren 
Zusammenhang, den eine phantastische Mystik dahinter sucht. 
Noch wichtiger ist der Umstand, dass Jeder, ohne Absicht zu 
betrügen, unwillkürlich aus dem wachen Leben die Träume 
umdeutet und bestimmt : man hat oft nur Aehnliches geträumt 
und hält es für dasselbe; man bildet sich ein, mancherlei ge- 
träumt zu haben , was der Traum in Wirklichkeit nicht ent- 
hielt. Die Lücken zwischen den einzelnen zusammenhangs- 
losen Vorstellungen werden in der Erinnerung ausgefüllt, das 
Fehlende ergänzt und die Verbindung hergestellt. Wenn eine 
Feuersbrunst ausbricht, wollen Viele sie schon mit allen ihren 
Einzelumständen im Traum vorhergesehen haben, ohne dass 
sie früher etwas davon äusserten. Wenn Damen beim Ein- 
ziehen in ihr Haus, bei freudigen oder traurigen Ereignissen 
jeglicher Art Alles so zu sehen glauben als sie es geträumt, 
so ist es meist eine Selbsttäuschung. Trotzdem hat Pfaff nicht 
ganz Unrecht; wenn er sagt; alle Skeptiker könnten mit ihren 



— 189 — 

»psychologischen SpitzfindigkeUen« die divinatorischen Träume 
nicht wegleugnen, nur muss man ihre Anzahl besdiränken 
und nicht glauben, die Divinationsgabe sei von Haus aus dem 
Menschen eigen und eine in ihm wohnende erhöhte, göttliche 
Kraft, welche im Traum besonders hervortrete, sondern die 
wenigen Fälle auf natürliche Weise aus den Gesetzen des 
Denkens ableiten. Eine solche Erklärung wird aber vielfach 
dadurch erschwert oder' ganz verhindert, dass der Erzähler 
nicht sagt, welche Gedanken und Gefühle er vorher im Wachen 
gehabt hat; wir können nicht wissen, was vorher durch die 
Seele eines Anderen gezogen ist und deshalb auch seine Träume 
nicht immer auf ihre Ursachen zurückführen. Wenn man be- 
rücksichtigt, dass im Traum keine höheren Mächte wirksam 
sind und dass im Schlaf keine erhöhte Geistesthätigkeit statuirt 
werden kann, so kann man mit Cicero sagen, auf Träume sei 
gar nichts zu geben ^^^), trotzdem finden sich Fälle, — freilich 
sind sie nicht zu häufig — wo Träume prophetisch sein können. 
Zuerst sind hier zu nennen die pathologischen. Eine 
Störung im Organismus, welche der Wachende noch gar nicht 
spürt, oder durch die Interessen des Tages in Anspruch ge-;' 
nommen sie nur dunkel fühlt, indem es ihm »anders zu Muthe« 
ist, bringt sich der Schläfer, wenn die Geschäfte und Inter- 
essen des wachen Lebens ruhen, zum vollen Bewusstsein ; die 
Uebertreibung anticipirt die erst später eintretende Verschlim- 
merung und der Träumende macht eine schwere Krankheit 
durch, oder er sieht darauf hindeutende Bilder. Wiederholen 
sich gewisse Anfälle von Krankheiten, so können auch die 
vorausgehenden Träume stereotyp werden, besonders wenn 
man an diesen Träumen Interesse nimmt, sie in der Erinner- 
ung behält, viel an sie denkt oder von ihnen spricht. Mauchurt 
erzählt von einem Geistlichen, welchem Menschengewimmel im 
Traum Fieberanfalle , C. G. .Carus von Jemandem , dem wilde 
Katzen Brustkrämpfe prognosticirten ; Hennings kannte eine 
Dame, der die Erscheinung ihres Arztes im Traum eine Krank- 
heit ankündigte ^^^j . Auch bestimmte Launen und Stimmungen 
des Tages rufen oft gleiche Vorstellungen wach; , andrerseits 
zeigen sich nach Genuss der Belladonna , des Daturin u. s. w. 
stereotype Hallucinationen , und die in Säuferwahnsinn Ver- 



— 190 — 

falienen glauben alle von Ratten, Schlangen und Mäusen be- 
drSingt zu werden. 

Seelenkrankheiten deuten die Stadien ihres Entwickelungs- 
und Heiiun^sprocesses häufig durch charakteristische Träume 
an; andere Leidende erfahren zuweilen ihren Tod, ja den Tag 
und die Stunde desselben. P/a/f berichtet (S. 87), dass seine 
Schwester einst bei ihm zum Besuch war um ihn wegen eines 
Leidens um Rath zu fragen ; er trieb mit seiner Tochter Abends 
astronomische Studien, und da seine Schwester ein re^es In- 
teresse für Wissenschaft besass, betheiligte sie sich an den- 
selben. Eines Morgens erzählte sie beim Frühstück, dass sie 
die ganze Nacht die Studien weiter getrieben, aber auch er- 
fahren habe , dass sie zuerst in die Geheimnisse der Sternen- 
welt eingeweiht werden würde. Meist gehen solche Todes- 
ahnungen aus dem rein associativen Weiterverfolgen der durch 
die Schmerz- Empfindungen sich ergebenden Gedankenreihen 
hervor, zuweilen haben sie einen noch näher liegenden Grund : 
die Kranken sprechen oft am Tage zu anderen Personen vom 
Tode, sie haben schärfere Sinne als die Gesunden und hören, 
wenn sie die Augen geschlossen haben und scheinbar schlafen. 
Alles in ihrer Umgebung ^^) ; in solchen Augenblicken aber 
pflegen die Angehörigen ihre Meinungen über den Zustand des 
Kranken auszutauschen und die Hofliiungslosigkeit zu betrauern, 
wahrend sie dem Wachenden den Glauben einzuflössen suchen, 
er werde wieder genesen ; auch wird der Arzt noch unter der 
Thür befrafi;t und der Patient hört, was man ihm zu verber- 
gen sucht. Manche setzen sieh in den Kopf, dass sie an dem 
Tage sterben werden , an welchem Eltern oder Kinder vor 
ihnen hinschieden , die Angst verschlimmert — besondei*s bei 
zarter Constitution — das Uebel und führt den Tod herbei, 
üebrigens lehrt die Erfahrung, dass durchaus nicht alle der- 
artige Ahnungen eintreffen, sondern die Todescandidaten oft 
wieder genesen und sich noch lange ihres Daseins freuen. In 
anderen Fällen steht der Traum, der eine solche Ahnung zu 
enthalten scheint, mit den wirklichen Ereignissen in gar kei- 
ner Beziehung. Wenn Dr. Bürstenbinder vor seiner letzten 
Alpenreise träumte, er läge todtenstarr in einer Gletscherspalte 
und später wirklich beim Uebergang über den Gurgler Ferner 
in den Abgrund stürzte, da er das Seil der Führer ver- 



— 191 — 

schmähte ^^7), — so wird Niemand behaupten können, dass der 
durch eine herabgefallene Bettdecke und den Gedanken an die 
bevorstehende Reise hervorgerufene Traum mit dem wirklich 
eingetretenen unglttcklichen Ereigniss im inneren Zusammen- 
hang stand. Wenn man eine längere Reise zur See, ja nur 
eine einfache Wasserpartie beabsichtigt , kann . sehr leicht im 
Traum das Schiff scheitern und das Boot umschlagen. 

Der Mensch erlangt im Traum noch mehr Aufschlüsse aber 
die Zukunft als im Betreff seines leiblichen Befindens. Er er- 
fährt, ob die Wünsche seines Herzens befriedigt und die Ideale 
seines Geistes verwirklicht werden oder nicht, ob er Glück in 
der Lotterie, im Spiel, in der Liebe oder im Leben überhaupt 
habe, ob die Geliebte ihm treu bleibt, wohl auch ob er nach 
dem Tode der ewigen Seligkeit theilhaftig wird; Alles liegt 
offen und klar vor ihm. Zuweilen träumt man was man wünscht 
und hält dann natürlich den Traum für eine wahrhafte Prophe- 
zeiung, die wohl eintrefien kann^ wenn die Erfüllung des 
Wunsches nicht unmöglich ist; oder es tauchen die Contrast- 
vorstellungen auf und führen dem Schläfer die später wirklieh 
nachfolgende Täuschung vor Augen. Der Mensch sieht Ge- 
fahren, die ihm drohen, das Unglück, das ihn niederschmettern 
soll ; bei einer bevorstehenden Reise lässt ihn der Nachhall der 
Besorgniss, die er am Tage hegte, sich bestohlen, beraubt, ja 
in Todesgefahr erblicken, «der er vergisst des Tages Schmerz 
und schwelgt in dem Glück, welches er später wirklich ge- 
niesst. 

Dass Träume zuweilen eintreffen, ist nicht wunderbar, denn 
es muss, wie schon Cicero richtig bemerkt, der, welcher so 
viele Nächte so Vieles träumt, ebenso einmal einen richtigen 
Gedanken finden, wie der passionirte Würfelspieler unter der 
grossen Menge unglücklicher Würfe auch einmal einen glück- 
liehen thut^^). Die Ahnungen sind nicht deshalb selten, weil, 
wie Schemel* meint (S. 353), »die bevorstehenden schweren 
und überhaupt für Glück oder Unglück entscheidenden Ge- 
schicke, wodurch das Traumgemüt h zur Wahrnehmung erregt 
wird, nur selten sind«, sondern weil die Anzahl der möglichen 
Gedankenverbindungen im Traum ungeheuer gross, die der 
günstigen aber sehr klein ist. 

Diese Einsieht in die Zukunft kann zur Aufmunterung ^^^) 



— 192 — 

und Warnung sich gestalten. Joseph erhält im Traum die 
Weisung, mit dem Ghristuskind nach Aegypten zu fliehen und 
wird später auf dieselbe Weise aufgefordert, in seine Heimaih 
zurückzukehren (Matth. 2, 43 u. 49). Die Gemahlin des Pilatus 
hatte vor der Yerurtheilung Jesu einen schweren Traum und 
forderte, ihren Gemahl auf: habe Du nichts zu schaffen mit 
diesem Gerechten! ;Maith. 27, 49). Ferner ist bekannt der 
warnende Traum der Gattin Gäsar's. — Jemand träumte, dass die 
Zimmerdecke herabfiele und ihn zermalme ; er stand auf, ging 
in ein anderes Zimmer und rettete sich so, da die Decke später 
wirklich einstürzte. Die dunkle Wahrnehmung der Gefahr^ 
welcher er am Tage keine Aufmerksamkeit schenkte, hatte den 
Traum erregt. £n)smus Francisci erfuhr in einem Traume, dass^ 
er in Gefahr sei, erschossen zu werden und entging derselben 
am darauf folgenden Tage nur wie durch ein Wunder. Einer 
vornehmen russischen Dame träumte ernst, drei ihrer Leibeigenen 
seien . eben zum Fenster hereingestiegen und wollten sie er- 
morden; sie erwachte, auf ihr Geschrei eilte die Dienerschaft^ 
welche in der Nähe schlief, herbei, und man fand bei sorg- 
fältiger Durchsuchung wirklich drei Bauern mit Mordgewehren 
in einer Laube des Gartens versteckt, da sie durch das Gesdirei 
der Dame vertrieben worden waren ^ als sie das Fenster ge- 
öffnet hatten. Das Wunderbare dieser Geschichte verschwindet, 
wenn man die näheren Umstände genauer betrachtet: die Dame- 
war wegen ihrer Grausamkeit gefürchtet und hatte schon oft 
Drohungen hören müssen — ihre Besorgniss äusserte sich da- 
rin, dass die Diener in der Nähe schlafen musöten, — dann 
war die Nacht schwül und disponirte zu ängstlichen Träumen 
und endlich befand sich das Fenster, durch welches die Mör- 
der einsteigen wollten, dem Bett der Herrin gegenüber. Die 
Warnung durch einen Traum ist das Hauptmoment in den ge- 
nannten Dramen CcUderon's und Griüparzer^s^'^^]. In moralischer 
Hinsicht behandelten sie auch Jean Paul in seiner bekannten 
»Neujahrsnacht eines Unglücklichen« und NicoL Lenau in sei- 
nem Gedicht »Warnung im Traum«. 

Nicht nur das eigene Schicksal, sondern auch das von 
Personen, welche uns durch Freundschaft, Verwandtschaft oder 
sonst wie nahe stehen, wird uns verkündet, und diese Eigen- 
thümlichkeit theilt der Traum ebenso wie die Erinnerung aus. 



— 193 -- 

langer Vergangenheit mit der Todesstunde. Aristoteles bemerkt, 
dass man am meisten die Zukunft der Freunde ahne, weil 
man am meisten an sie denke 2^^). Ebenso oft wie die Ver- 
ktlndigungen des eigenen Todes sind die Ahnungen vom Hin- 
scheiden der Freunde und von Ungltlcksfällen , welche den 
entfernten Geliebten oder Gatten treffen. Wenn ein Mädchen 
ihren Bräutigam in den Krieg ziehen sieht, träumt sie wohl, 
dass er schon gefallen sei, was später eintreffen kann. — Sehr 
oft findet man einen von den Stoikern besonders hervorgeho- 
benen Traum citirt. Zwei Freunde reisten zusammen nach 
Megara, der eine blieb bei einem Bekannten, der andere über- 
nadhtete in einem Wirthshause. Der erstere träumte, sein Freund 
rufe ihn um Hülfe; da der Wirth ihn tödten wolle ; als ör er- 
schre<^t aufgewacht, dann aber wieder eingeschlafen war, er- 
schien der Freund zum zweiten Male und bat, seinen Tod zu 
rächen, denn er sei vom Wirth getödtet und auf einem Wagen 
unter Dünger geworfen worden, worauf man ihn in der Frühe 
aus der Stadt zu schaffen beabsichtige. Der Mann begab sich 
in Folge dieses Traumes am Morgen an das Stadtthor, fand alle 
Einzelheiten bestätigt und zog den Mörder zur Rechenschaft ^^^j. 
— Wie Mancher die Mittel gegen die eigene Krankheit und 
Ruhmbaum die Behandlungsweise seines Patienten , so soll 
Alexander der Grosse einst im Traum die Wurzel entdeckt 
haben, welche seinem verwundeten, neben ihm schlafenden 
Freund. Ptolemaeus die Gesundheit wiedergab. 

Ein Brief, eine aus zweiter oder dritter Hand empfangene 
Nachricht oder irgend ein Gedanke überhaupt rufen die Er- 
innerungen an die schwache Constitution des Freundes oder 
an die Gefahren, in welchen er sich befindet, wach; es beginnt 
damit die Gedankenreihe, welche in der Ahnung des Todes 
ihren Gipfelpunkt findet. Man braucht seine Zuflucht nicht 
mit Scherner zu einem Liebes- oder WiHensstrahle zu nehmen,, 
um eine solche Ahnung in die Ausdehnung des Raumes zu er- 
klären ^7^). Ist die Entfernung nicht allzu gross, so können 
zuweilen dieselben meteorologisehen und anderen Einflüsse^ 
welche dem Einen einen ängstlichen Traum hervorrufen, dem 
Anderen bei seiner Krankheit den Tod bringen. 

In anderen Fällen haben solche Ursachen- die gleichen 
Wirkungen: zwei oder mehrere haben dann ganz denselben 

BadeBtock, Schlaf n. TratuD. 1 3 



— 194 — 

Traum. Ein drastisches Beispiel, wo ein ganzes Regiinent Soldaten 
im Schlaf dieselben Schreckbilder sah, ist schon beim Alpdrücken 
berührt worden. Nudaw berichtet (S. 4S9j, dass ein berühmter 
Danziger Naturforsdier in einem Gasthofe dbselbst wobfite, 
welcher sehr mit Leuten angefüllt war. In einer Naoht kam 
es ihm vor^ als ob ein Wagen die Strasse heraufführe und vor 
dem Hause halte; er bemerkte genau, dass der Hausknecht 
kam, die Thorflügel aufsehlug und dass der Wagen zum Hofe 
hineinfuhr; er sah Leute aussteigen, ins Haus und auf ihr Zim- 
mer gehen. Am folgenden Morgen erkundigte er sich beU^^g 
bei dem Kellner, wer die neu angekommenen Fremden seien; 
derselbe wunderte sich sehr, da alle Gäste ihn geragt hatten 
und doch niemand angekommen war. Ein Sturmwind hatte bei 
Allen die gleiche Vorstellung hervorgerufen. — Dass Mann und 
FraU; Gesdiwister, Freunde, deren Gedankenkreise nahe ver- 
wandt sind, ähnliche, ja gleiche Träume haben , komme ver- 
hältnissmässig nicht selten vor und ist nicht wunderbar, da 
die Anschauungsweise derer, die durch Vererbung Gleiches 
überkommen haben, viel mit einander verkehren oder gleiche 
Erziehung genossen, bei demselben gegebenen Objeete dieselbe 
oder wenigstens ähnlich wiird^^^). Spitta erzählt, dass vor 
einer Reihe von Jahren in Berlin ein Handlungscommis, Sohn 
wohlhabender Eitern, nach einer nur eintägigen Kranklieit starb 
und nach Ablauf eines Jahres in derselben Nacht sowohl dem 
Vater wie der Mutter im Traum erschien, um ihnen zu melden, 
dass er scheintodt begraben sei , und ihnen die Weisung zu er- 
theilen, sie sollten sein Grab Offnen und für sein Seelenheil 
beten. Die Erinnerung an den heissgeliebten Sohn beschaff- 
tigte beide fortwährend, und da das Ereigniss so pldtzlieh er- 
folgte, war ihnen vielleicht der Gedanke ausgestiegen, dass es 
gar nicht möglich sein könne ; der Traum griff diesen Gedanken 
auf und führte ihn nach seiner Weise aus. Auch mag die 
vollständige Uebereinstimmung der Träume beider Gatten erst 
durch die Erzählung des einen erfolgt sein, iiMlem dann der 
andere die Vorstellung des ersten in seine eigene Erinnerung 
übertrug und die Lücken des Traumes damit ausfüllte. — 
Ein Freund von mir sah einst eine ihm wohlbekannte Dame 
in glänzender Brautkleidung in einem prachtvollen Garten her- 
umwandeln und seine einige Meilen entfernte Schwester hatte, 



— 195 — 

wie er später erfuhr, in jener Nacht einen sehr ähnlichen Traum 
mit hellen Licht- und Farbenerscheinungen. Vorher hatte mein 
Freund und ich beim gegenseitige!! Gedanken- und Gesinnungs- 
austausch gefunden, dass wir in dieser Zeit beide vorzugsweise 
nach dem Gefühlsleben hinneigten; bei ersterem war dies auf 
die geschilderte Weise in die Erscheinung getreten, und warum 
sollte nicht in der Seele einer jungen Dame die gleiche Stim- 
mung ein ähnliches Bild, dos nur in seinem Object und viel- 
leicht in einigen kleinen Einzelheiten verschieden ist, her- 
vorrufen ? 

Die harmonischen Träume Liebender haben einen gewissen 
Ruf; dieselbe Atmosphäre, welche den einen Gegenstand ver- 
liebt macht, erweckt in dein aüdören das gleiche Gefülil, sagt 
Ostander, — und es iöt nicht wunderbar, dass bei beiden die 
gleichen HiSiuptvorstellungen der geliebten Person und die sich 
daran knüpfenden Associationen emportauchen. Wenn es einen 
psychischen Rapport, einen »Gemüthsconnex« gäbe , welcher. 
Wie Scherner meint, durch einen »electrischen Sehnsuchtsstrahl« 
»wei Herzen unmittelbar in Verbindung treten lasse, so wäre 
es doch seitsam, dass diese Leitung so oft unterbrochen wird 
und der Liebes- oder Willensstrahl nicht immer sein Ziel er- 
reicht. Bekanntlich denken wir nicht immer zu derselben Zeit, 
y^b ein Freund oder Vei*Wandter sich unsrer erinnert, an ihn, 
Sondern an ganz andere Dinge; auch würde es absurd sein, 
wenn man zwischen allen Soldaten eines Regiments oder allen 
Gästen eines Gasthoüs solchen »Gemüthsconnex« statuiren wollte. 
Die Poesie kahn von der Liebe als dem heiligen »Götter- 
strahl, dei^ in die Seele schlägt und trifft und zündet«, reden, 
die Erfahrung aber lehrt, dass Manche mit allen ihren Liebes- 
und Willensstrahlen das geliebte Herz nicht zu rühren vermögen ! 



13* 



Capitel vnL 

Die Yerschiedenheit der Tr&nme. 

Viele Factoren sind es, welche die individuellen Charaktere 
bilden und in den einzelnen die zeitweilig verschiedenen Denk- 
weisen und Gemttthsstimmungen erzeugen. Der Mensch wird als 
Theil der gesammten Natur mannigfach beeinflusst : er ist ab- 
hängig von kosmisch-tellurischen Einwirkungen, durch den Zu- 
sammenhang mit der Gattung haften ihm die vererbten Eigen- 
thümlichkeiten der Race an, er wird bestimmt durch Geschlecht, 
Alter und Leibesconstitution. 

Die tellurisch -kosmischen Einflüsse sind schwer nachzu- 
weisen und von den übrigen zu sondern ; meist indirect, wer- 
den sie durch das Wetter und die sonstigen meteorologischen 
Erscheinungen vermittelt. Die wissenschaftlichen Forschungen 
der letzten Jahrhunderte haben die Astrologie verdrängt; wir 
leben nicht mehr in den Zeiten , wo der Mensch sein Schicksal 
aus der Stellung der Gestirne ableitete 275) und in den Planeten 
»die sieben Herrscher des Geschicks« erblickte. Jupiter herrscht 
nicht mehr, Venus spendet nicht mehr ihre Gunst, der »tückische 
Mars« stiftet keinen Schaden , und in diesem Sinne können wir 
mit Wallenstein sagen: 

»Saturnus' Reich ist aus, der die geheime 
Geburt der Dinge in dem Erdenschoos 
Und in den Tiefen des Gemüths beherrscht, 
und über allem, was das Licht scheut, waltet«. 

(Schiller, Wallensteins Tod..A. I, Sc. 4). 

Trotzdem ist nicht zu verkennen, dass der Wechsel der Jah- 
reszeiten bei verschiedener Stellung der Erde zur Sonne , wenn 
bei den Menschen auch minder als im Thierreiche wirksam, 



— 197 — 

unsere Gernttthsstimmungen beeinflusst. Lotze, welcher der 
Meinung, dass der Mensch mit der Erde wie das Kind mit der 
Mutter, wie der Parasit mit dem Organismus, auf dem er lebt, 
durch eine tiefere Beziehung zusammenhinge, sowie anderen 
mystischen Ansichten ttber die gewaltigen Einwirkungen des Kli- 
mas auf die Bewohner entgegentritt, sagt : »Es mag.undwird 
dabei bleiben, dass unser Gemeingeftthi von dem 
Wetter, unsere Stimmung von Licht und Luft, die 
Färbung unserer Beflexion von Jahreszeiten und 
Klima beherrscht wird. Aber einestheils ist es Aber- 
glaube, den Einfluss dieser schwer zu berechnenden Bedingun- 
gen mit Uebertreibung hervorzuheben , während in den mensch- 
lichen Leidenschaften und Verhältnissen deutliche und dringende 
Bestimmungsgrttnde unsers wechselnden Verhaltens viel offen- 
barer vorliegen; andemtheils ist, was auf diese Weise den 
Einwirkungen der Natur unterliegt, eben nur das Reich unserer 
Stimmungen, jener formlosen Zustände unsers Innern, die. 
Wohl einen anderswoher entstandenen Entwickelungsdrang 
hemmen oder fordern mögen, aber nie fQr sich dem mensch- 
lichen Fortschritt eine bestimmte Richtung vorgezeichnet 
hätten a 276). 

Die grössere Erregbarkeit der Nerven bei den Kaltblütern 
im Frühling und Herbst ist experimentirenden Physiologen 
wohlbekannt 2^') ; bei den Warmblütern zeigt sich im Frühling 
nicht minder eine erhöhte Sensibilität. Die Gemüthsstimmun- 
gen des Menschen werdeii lebhafter; Freude, Hoffnung und 
Liebe zeigen sich in ihrer vollen Stärke; Die ätherischen Tage, 
welche Vereinigung und Zeugung der Pflanzen und der niede- 
ren Thiere veranlassen , erwecken auch die Liebe in der ver- 
nünftigen Seele ; dasselbe Naphtha der balsamischen Früblings- 
luft hat auf Alle die gleiche Wiii^ung und überall hört man 
Liebeslieder erschallen. Der Herbst disponirt mehr zu elegischen 
und wehmüthigen Stimmungen. 

Da man fand, dass die Aufnahme von Kranken in die 
Irrenhäuser im Winter am seltensten und im Sommer am 
häufigsten sei, so sagte man früher: es nimmt die Häufigkeit 
' des Irrenzuwachses mit der periodischen Zu- oder Abnahme 
der Wärme nach den Jahreszeiten zu oder ab. Geisteskrank- 
heiten verschlimmem sich in den kalten Jahreszeiten am selten- 



— i98 — 

sten, in der warmen ajp bäufigs^ten und befolgen mit der 
Häufigkeit der Selbstmorde das gleiche jahreszeiüidie Srsobei«^ 
nungsgesetz ^'^) . Griesmger weist jedoch dar«af hin, dass diese 
statistischen Notizen von der häufigeren Aji&ahine keHien Be- 
weis Ittr die h^uSger^e Entstellung liefern; .die F^lle st^m oft 
schon veraltet und das unbequemere Reihen gebe vielleioht die 
Ursache zur g^lngeren Aufnahme im Winter ab^^). Die $tar- 
tistiker sprechen sogar voja ^em Einflüsse der Jahreßzeiteii 
auf die einzelnen Formen des Irrseins. . Esqu^rol behauptet 
und Jacabi beweist an 484 Fällen, da^s in Wintermooaten der 
Aufbruch der Tobsucht am seltensten sei uDid dass der £om- 
me^, oder noch n^ehr der Frühling eine Mehrzaiil von Er- 
kraxikungen in dieser Form darbietet. 

Die Verschiedenheit der Gemüthsstimmi^ngen im We(disel 
der Ja^eszeiten wird sich unzweifelhaft auch im Traum jgeltend 
machen, im Alterthum war die Ansicht verbreitet, dass der 
Frühling mehr zu. ruhigen, der Herbst zu stürmischen Träumen 
disponire [Tertullicm). Die Orientalen hielten die Träume im 
Frühling für zuverlässiger als im Herbst und Winter und be* 
merkten, dass sie am meisten lebhaft seien zur Zeit der Frucht* 
reife, am wenigsten dann, wenn die Blätter fallen 2$<>). Doch 
ermangeln erfahrungsijQässi^ auch die des Frühlings nicht der 
LebhaJ^igkeit ; ?;ur Zeit wo der Flieder blUht und die Nachti- 
gall singt , ' herrscht eine grosse Neigung zur träumerische^ 
Phantasie. Wobl kann die Jahreszeit zu der Färbung der 
Träume beitragen, und dieselben mögen im Frühlii]^ mn meisten 
die Liobje zum Tl^ema haben, bei Manchen vielleicht auch einen 
vorzugsweise simalichen Charakter tragen. 

Der Ejipflusß des Mpndes auf das physische und psychische 
Leben der Menscihen ist vop je her übertrieben worden. Baco 
soll während einer Mondl$nstemiss in Ohnmacht gefallen sein. 
Gßlen suchte die Perioden hitziger Krankheiten mit ^em Um* 
laufe des Mondes zu vergleichen, Petrus von Abano soll zuerst 
auf den Eiufluss des periodjischen Umlaufes des Trabanten bei 
psychischei;i Krankheiten geachtet haben. DiMfch Newton' $ 
Attractionssyste^i entstanden viele dahin bezüglicl^e Schwä|:me- 
reien in Frankreich und Deutschland. Friedreich stellt in seiner 
»allgemeinen Pathologie und Therapie« zur Erklärung, der mo- 
natlichen Periodicität bei physiologischen und psychologischen 



— 199 — 

ErBchemungen die Hypothese auf, dass Erde und Mond früiier 
einen Weltkörper gebildet hatten und jetzt noch theilweise 
unter denselben Gesetzen ständen. Jacobi zieht den erhebliehen 
Einfluss des Mondes in Zweifel, obgleieh er in einigen Fällen 
vorhanden sei, Guislain aber nimmt ihn vollständig an. ))Wäh- 
rend der Syzygien sollte nach Diemerbroek die Pest über- 
hand nehmen, nach Balfour das Fieber häufiger ausbrechen, 
nach GiUespie ein^ Verschlimmerung der Geschwüre eintreten, 
nach Darwin Epilepsie und Wahnsinn häufiger vorkommen, 
nach Buek die Steii>lichkeat zundimen; während der Qüa*- 
draturen hingegen soll nach Jakson der Ausbruch von Fie- 
bern aller Art häufiger werden und nach Darwin der Blut^ 
lauf an Stärke verlieren. Im Neumonde soU die Menstruation 
bei Jxmgfrauen häufiger sein, nach andern Angaben die Wasser«^ 
sucht zunehmen, nach Ramazzini das Petechialfieber gefähr* 
lieher werden und nach Bi^k die Sterblichkeit ihr Maximum 
erreichen; im Vollmonde sollen mehr ältere Frauen menstruiren, 
nach Wepfer und TvUp Anfälle von Apoplexie, Hemikranie, 
Epilepsie und Manie häufiger vorkommen, nach Tulp die Kopf- 
verletzungen gefährlicher werden und nach Buek die Todes- 
fälle am seltensten sein. Kr^e, Scropheln, Balggesdiwülste, 
Geschwüre, .Wurmzufälle und Wassersucht sollen mit dem 
Monde zu- und abnehmen. Im zun^menden Monde soll nach 
Reil der Schlaf der Kinder unruhiger werden ; im abnehmen- 
den Monde sollen Wtbrmer und Hai*nsteine leichter abgehen, 
nach Benot Asthma und Katarrh sich verschlimmern , und nach 
Bttek mehr Geburtsfäile vorkommend ^^i) . Koster glaubte aus 
zahlreichen Beobachtungen das Gesetz zu finden, dass am Tage 
des Perigaeum (Erdnähe) und Apogaeum (Erdfeme) oder in 
der Nähe sich leidit der Anfang oder das Ende eines Tobsucht^ 
anfailes ausbilde ^^^). — Nachdem jedoch Esquirol die Unruhe, 
welche man bei mehreren Kranken zur Zeit des Vollmondes 
bemerkte, durch herabgelassene Gardinen beseitigte, hat man 
die Einwirkung des Mondes mehr in dessen Licht gesucht. 
Schon der Gesunde fühlt im Wachen bei Mondsdiein eine 
Neigung zu elegischen, sehnsüchtigen Stimmungen, welche den 
geläufigen Gegenstand einer emj^ndsamen Poesie bilden; und 
so werden wie bei Irrsinnigen und jeder krankhaften* Störung 
der Sensibilität ebenso bei dem gesunden Schläfer die Licht- 



— 200 — 

strahlen des Mondes und die in Folge von vorüberhuschenden 
Wolkenschatten wechselnde Beleuchtung nicht nur unmittel- 
bar gewisse Vorstellungen wachrufen, sondern auch auf die 
bestimmte Färbung und die Gemttthsbewegungen der Träume 
einwirken *^^). 

Dass die Witterung fttr unser psychisches Leben eine 
grosse Bedeutung hat, ist bekannt. »Coeli tristitiam discutit 
sol et humani animi nubila sol discutit« sagt Plinius treffend. 
Bei üblem, nebelhaftem und düsterem Wetter sind die Ge- 
danken schleichend, die Gefühle abgestumpfter und matter als 
bei heiterem; der blaue Himmel bringt Frohsinn, Heiterkeit 
und Hoffnung ; das Abendroth lässt uns Alles in rosigem Lichte 
erscheinen*, während das Grau der Natur auch in unserem 
Herzen die lachenden Farben verwischt und das Unbestimmte 
und Düstere zur Herrschaft bringt. — Nicht unwesentlich ist 
der Druck der Luft. Der Cretinismus steigt nicht über 3000 
Fuss Höhe ; die Seherin von Prevorst fühlte ihren magnetischen 
Zustand auf Bergeshdhen gesteigert, und Hallucinationen bei 
Ersteigung hoher Berge sind nicht selten ^^^j. Ein englischer 
Sehatzkammerlord wollte sogar von einem Zusammenhang zwi- 
schen der Aufnahme einer Staatsanleihe und dem Barometer- 
stände wissen I — und Goethe klagte in einem Briefe an Herder^ 
dass ihn der tiefe Stand des Quecksilbers ertödte. — Aus dem 
anhaltend höheren Trockenheitsgrade der Luft erklärte Dresor 
die bekannte instinctive und tieferer Erregung meist baare 
Hastigkeit der Nordamerikaner. Der Einfluss des Windstriches er- 
zeugt die reizbare Stimmung, in welche der Sirocco versetzt und 
die in Italien sprüch wörtlich ist. Die Unruhe und üble Laune 
in Folge gewisser Windrichtungen ist im Jura, sowie die Ver- 
stimmung durch die trokenen Nordostwinde in Nordamerika 
bekannt. Die Inder schreiben alle nervösen Krankheiten dem 
Winde zu und benennen sie , nach der Verschiedenheit der- 
selben ^^^j. Die Spannungsgrade der atmosphärischen Elektri- 
cität äussern auf die Thiere eine grosse Einwirkung: Blutegel 
steigen bei herannahendem Gewitter an die Oberfläche des 
Wassers, Hummer schnellen ihre Scheeren von sich u. s. w. 
Auch der Mensch entzieht sich derselben nicht, nur ist der 
Eine mehr für dieselbe empfänglich; der Andere weniger. 
Schiller fühlte sich während des Gewitters poetisch gestimmt, 



— 201 — 

Tycho de Brahe i^ries den ennunternden Einfluss von Gewittern 
nuf sein geschwächtes Nervensystem. Osiander hebt hervor, 
dass die Lufteleotricität bei Gewittern oft eine aussergewöhn- 
liehe Steigerung der Geistesthätigkeiten zur Folge habe, in an- 
deren Fallen sie suspendire ; Frauen hätten . vor Orkanen und 
anderen Katastrophen ängstlidie Vorgefühle und Träume ge- 
habt, und es erkläre sich daraus manche Ahnung in Betreff 
des Todes von Freunden und Verwandten, indem dieselbe At- 
mosphäre in dem Einen die Ahnung erzeuge und dem Anderen 
den Tod bringe ^w). 

Die Beschaffenheit der Luft bildet ein bedeutendes Moment 
der Einwirkung des Klimas auf die psychischen Thätigkeiten 
des Menschen. Schon im Alterthum war dies bekannt. Cicero 
sagt, dass die Bewohner von Ländern, wo die Luft rein und 
klar sei, mehr Intelligenz besässen als die, über welchen ein 
grauer, düsterer Himmel sich wölbe ^^'^) . Die Griechen vor ihm 
vergassen nicht, dies zum Preise ihrer Nation gegenüber den 
nordischen Barbarenvölkern hervorzuheben ^^^) . Doch möchten 
wir lieber von den Gemüthsbewegungen sagen, was jene von 
der Intelligenz behaupten. Die ersteren nehmen in warmen 
Gegenden mit dem immer blauen Himmel zu ; die Affecte und 
Leidenschaften sind dort rascher, intensiver, aber weniger 
dauernd. Wenn der Deutsche sich durch Treue in der Liebe 
auszeichnet, so thut es ihm der Spanier und Italiener an Feuer 
zuvor, bei jenem ersten ist sie ein mildwärmendes Feuer, bei 
beiden letzteren eine verzehrende Gluth. Der Nordländer hasst 
oder verachtet seinen Feind, der ihm Böses zugefügt, der Be- 
wohner des Südens aber nimmt blutige Rache. Der Neger 
endlich zeigt eine warhaft wollüstige Grausamkeit. — So mögen 
denn auch dem Aequator näher wohnende Völker viel lebhafter 
träumen als wir, und die farbenreiche Umgebung mag viel präch- 
tigere Bilder dem Schläfer vorzaubern als die Einfachheit und Ein- 
tönigkeit des Nordens. Der sinnlidxe Orientale weiss das Paradies 
ganz anders zu schildern, als. es der nordamerikanische Indianer 
oder der Eskimo sich vorstellt , oder wie es der Peseheräh sich 
vorstellen würde, wenn er überhaupt etwas von Religion ii^üsste. 
Da andrerseits das heisse Klima jede geistige Anstrengung er- 
schwert^ don Gedankenlauf verlangsamt und die Willenskraft 
herabdrückt, so befinden sich die Bewohner warmer und heisser 



— 202 — 

Gegenden schon wtthrend des Tages in einem traumSdiniidien 
Zustande, den sie oft durch kttnfüidie Mittel ihm noch näher 
zu bringen wissen. Schweigend sitit der Opium geniessende 
Orientale da mit offenen, bald sehnsüchtig sdima^tenden, 
bald wollüstig sinnlichen, bald starr vor sich hin stierenden 
Augen, nur zuweilen, wenn er das Opium mit Kif oder Ha- 
schisch vertauscht, wird er gesprächiger und giebt die kühnsten 
Phantasiebilder zum besten. Das jdoloe far niente« der Italiener 
ist fast zur stehenden Bezeidinung eines träumerischen Sicbge- 
henlassens geworden. 

So weit die Schädelcapacitat eines Polynesiers von der eines 
geistig entwickelten Europäers, und das Gehirn sowie die Bil- 
dung seiner Windungen bei einem Australier von dem des 
Gauss verschieden ist, so viel Unterschied zeigen auch die gei- 
stigen Fähigkeiten und Thätigkeiten der Menschen-Racen. 
Es möchte einem Neger schwer gelingen, ein philosophisches 
oder mathematisches Problem zu lösen — ein hervorragender 
Kopf, wie Tou3saint liouverture, ist eine äusserst seltene Aus- 
nahme, — und ein Papua kann sich nicht die Wichtigkeit der 
Gesetze von der Erhaltung der Kraft ^m vollen Bewusstsein 
bringen. So ist auch der Inhalt der Träume nicht derselbe. 
Kein Polynesier glaubt im S^lafe, dass er die Deducticm der 
Gategorien oder auch wohl einen Raum mit vier Dimensionen 
gefunden habe, oder dass an ihm der nervus sympathl^is prä- 
parirt würde. Ebenso bringt innerhalb derselben Race der 
Fortschritt der Givilisation Verschiedenheiten hervor. Die Stei- 
gerung der Industrie, der Künste und Wiss^äsdiaften setzt eine 
allgemeine Steigerung der seelischen Thätigkeiten voraus; die 
immer weitere Entfernung von einfachen Sitten, die Verbrei- 
tung der feineren geistigen und leiblichen Genüsse bringt 
früher unbekannte Neigungen und Leidenschaften mit sich. So 
sind denn auch die Wünsche und Träume der heutigen deut- 
schen und romanischen Völker andere geworden als die der 
alten Indogermanen, und wenn die Traumvorstellungen sEoch 
auf die Bildung von Religionsbegriffen einwirkten wie früiier; 
würden wir dieselben vielleicht in ganz anderer Gestaltung 
erblicken. 

In Bezug auf die Vererbung ist constatirt, dass sieh nor<«- 
male wie abnorme physische und psychische Dispositionen von den 



— 203 — 

Eltern auf die Kinder fortpflanzen, ja es tauchen — als Atavi^nuB 
— Eigenschaften^ welche bei den Kindern weniger hervortreten^ 
wieder bei den Enkeln auf; Seiten verwandte zeigen eine geistige 
und leibliche Aehnlichkeit, die auf die gemeinsamen Voreltern 
zurückzuführen ist, ja sogar ein erster Gatte soll auf die Kinder 
zweiter Ehe einen Einfluss ausüben. Die Sicherheit, mit weh* 
eher Fischer und Schopenhauer ^^^) den Willen vom Vater und 
den Intellect von der Mutter ableiten , beruht , wie Volkmcmn 
meint, nidu auf ganz fester Basis. Die Gemüthsart der Mutier 
scheint sich nach ihm auf die Kinder zu übertragen ; die Toch- 
ter und der Sohn füblt \md träumt also wohl der Mutter nicht 
ganz unähnlich« 

lieber die Differenz der Geschlechtscharaktere ist 
scjl^on viel geschrieben worden. Man sucht sie gern durch ein* 
zelne Schlagworte auszudrücken; Burdach stellt sie einander 
gegenüber als'hxdividualität und Universalität, ülrici und Andere 
als Activität und Passivität , Beneke als Kräftigkeit und Reizem- 
pfänglichkeit, Hartmann als hewusste und unbewusste Thätigkeit. 
Die Hegel'sche Schule bezeichnet den Mann als Negation, das 
Weib als Position ^^) und setzt damit in Parallele Wachen und 
Schlaf, da letzterer die in sich selige und mit sich einige 
weibliche Seite des Menschen sei. Die besten Schilderungen 
geben W, v. Humboldt und Lotae ^^^) . — Letzterer ftihrt aus, dass 
in den Verhältnissen des Knochengerüstes und der Muskulatur 
eine geringere Grösse d/er Arbeitskraft des weibliehen Körpers 
begrüükdet. und dieser zur Ueberwältigung grösserer Wider*- 
stände, zu sdmellem Laufen oder sicherem Gange unter be* 
deiitepdßr Last weniger geschickt ist. Dadurch wird das 
Gen^eingefübl verändert, in wieidiem das Innewerden der 
ElasUcität, SteHiing und Bewegung einen bedeutenden Bestand-* 
t^eil bilden. Der männliche Körper bildet eine Ovale mit 
grösstem Durcbmeisser in den Sehultem, der weibliche dieselbe 
Ovalö mit grösster Breite in den Hüften. Der Mann fühlt sich 
d^rch das Uebergewickt des oberen Theils zur Bewegung ge-r 
drängt, während das Weib mit der Empfindung grösseren Ge- 
bjimdenseiiis seinen Wirkungskreis in der Nähe findet, xddiese 
gßringere Grösse der Kraft wird durch ein höheres Mass der 
AnbeqaejQAungsfähigkeit an die verschiedensten Umstände aus* 
geglichen«. Glück und Unglück weiss das Weib besser zu erf 



— 204 — 

tragen und sich in neue Lebensumstände leichter zu schicken. 
Gewöhnung haftet mehr und die Unterhaltung wird um der 
Unterhaltung willen gesucht. Die Intellectuellen Fähigkeiten 
unterscheiden sich nur durch die £igenthümlichkeit der Ge- 
fühlsinteressen ; der Wille des Mannes ist mehr auf Allgemeines, 
der des Weibes auf Ganzes gerichtet. Männliche Art ist es, 
zu zergliedern, weibliche dagegen, die Analyse zu hassen und 
das fertige Ganze zu bewundern; der Gedanke des Mannes 
sucht nach den Grttnden und Ursachen, der des Weibes nach 
dem dadurch entstandenen Wirklichen, Fertigen. Der Mahn 
strebt nach Achtung unter der grossen Allgemeinheit und tritt 
gern in Gemeinschaft mit Gleichgesinnten, das Weib wünscht 
nicht als Beispiel neben anderen zu gelten , sondern will als ein 
geschlossenes Ganzes wegen seiner unvergleichlichen Eigenthüm- 
lichkeit geliebt sein. Die Verabredungen der Männer sind kurz 
und diese verlassen sich auf das Wort, die Frauen wollen die 
Verpflichtungen durch tausend kleine Hülfsmittel verstärkt wis- 
sen; erstere schätzen zeitliche Pünktlichkeit, letztere legen mehr 
Werth auf harmonische Anordnung im Raum. Während der 
Mann aus Principien Dinge unternimmt, deren Ende er nicht 
abzusehen vermag, will das Weib das Fertige der Handlung 
mit ihrem Erfolg sich anschaulich vorstellen. In Anschaffung 
zeigen die Frauen oft Verschwendung, betrachten dagegen das 
eimal erworbene Eigenthum als ein zusammengehöriges Ganzes, 
das nicht zerplittert werden darf. Für sie ist Wahrheit das, 
was zu dem Uebrigen in widerspruchslosem und harmonischem 
Verhältniss steht, ohne dass es zugleich real und reell zu sein 
braucht ; sie sind zum Schein geneigt. Sie lieben die Anschau- 
lichkeit, versetzen sich gleichsam in die Dinge hinein und grübeln 
nicht, warum dies Alles so wäre und wie es sein könnte ; sie be- 
sitzen mehr Takt als Bewusstsein dessen, was sie thun oder thun 
müssen, und Reflexion liegt ihnen mehr oder weniger fem. 

Man sieht also, dass das W^eib mehr vom Gefühlston der 
Eindrücke beherrscht wird, als es den Inhalt derselben berück- 
sichtigt; vom Angenehmen wird* es mehr angezogen als vom 
Wahren. Auch die Association nach dem Gefühlston ist bei 
der Frau mehr zu finden als beim Manne, welcher nach dem 
Inhalt associirt; ihre Gedankencombinationen erscheinen ihm 
deshalb oft wunderbar und prophetisch. Eine augenblickliehe 



— 205 — 

Stimmung beherrscht sie , und sie empfindet zuweilen Wohl- 
gefallen oder Missfallen, ohne die Gründe angeben zu können. Der 
Mann will seinen Werth nach dem Inhalte seiner Leistungen ge- 
schätzt und seine Achtung danach bemessen wissen, die Frau da* 
gegen will geliebt sein, wie sie ebenfalls ihren Riditersprueh 
durch die Liebe fäll(. Das Herz ist bei ihr mächtiger als der Kopf 
und das Gefühl überwindet den Verstand. Die gemischten Gefühle 
kommen häufig vor ; sie verbindet sanguinische Lebhaftigkeit mit 
sentimentaler Warmherzigkeit, und die Liebe, dieser Herd von 
Gefühlen, wie sie Nahlowsky^^^) nennt, bildet das Gebiet, wo 
sie am meisten zu Hause ist. In der Association nach dem In- 
halt der Vorstellungen wird bei ihr die Succession von der Coexi- 
stenz bei weitem überwogen. Sie liebt harmonische Ordnung im 
Raum, stellt sich Alles gern anschaulich und als Ganzes vor und 
hat mehr Interesse für das Concreto al9 für das Abstracto. Mit 
Huschke's Entdeckung der stärkeren Entwickelung dos Stimhirns 
und des kleinen Gehirns beim Manne und des Scheitelhims beim 
Weibe ^^^) könnte man vielleicht die Erfahrung zusammenhalten, 
dass bei ersterem der Wille, bei letzterem das sensorielle Leben 
vorwiegt 294) . 

Diese Verschiedenheit der Geschlechtscbaraktere wird sich 
denn auch im Traum geltend machen, in welchen die Frauen 
sich besonders gern versetzen 2^6] . Die Liebe in ihren zahl- 
reichen Modificationen und Stärkegraden sowie die übrigen Ge- 
fühle bilden das Grundthema , und Ahnungen sind nicht selten» 
Die Reizung bleibt mehr auf das sensorische Gebiet beschränkt ; 
das Schlafreden kommt seltener vor als bei Männern, noch 
weniger findet sich der Nachtwandel, dagegen zeigt sich häufig 
eine bedeutende Steigerung der Sensibilität. Der Mann denkt 
mehr an Stand und Beruf, er beschäftigt sich mehr mit theo- 
retischen und praktischen Aufgaben, mit Familien-, Staats- und 
Nationalangelegenheiten; die Frau widmet sich der Pflege der 
Kinder und der Besorgung häuslicher Arbeiten. Doch gleicht 
sich dieser Unterschied in der Ehe durch das Einleben in die 
Sphäre des Anderen mehr und mehr aus. 

Die individuellen Dispositionen zu bestimmten Gemüthg- 
bewegungen bilden die Temperamente. »Was die Erreg- 
barkeit in Bezug auf die sinnliche Empfindung , das ist das 
Temperament in Bezug auf Trieb und Afiect. Wie wir eine 



— 206 — 

dauernde Erregbarkeit und daneben fortwährende Schwank- 
ungen derselben unterscheiden können, so zeigt sich auch das 
Tefioperameiit t^beil» als ein dauerndes theils in der Form 
wechselnder Temperamentsan Wandlungen, die von äussern und 
innem Ursaöhen abhängen konnena^^^j. — Lotse sagt: »Die 
Menge der Vorstellungen, die in glei<^r Zeit durch das Be- 
wusstsein ziehen, die Schnelligkeit ihres Wechsels, die Leb- 
haftigkeit, mit welcher die Gedanken nach einer Richtung vor-^ 
züglich, oder nach vielen gleichmässig sich ausbreiten und 
durch WiederankHngen früherer Eindrücke sich eine reichere 
oder ärmere harmonische Begleitung erwecken; die Treue, 
mit welcher ältere Wahrnehmungen unverändert festgehalten 
werden, oder die Geschwindigkeit, mit welcher sie zu unbe- 
stimmteren Gesammtzuständen verschmelzen ; die Beständigkeit, 
mit der eine mit Antheil gefasste Idee sich in diesen mannig- 
fachen Veränderungen erhält, oder die Leichtigkeit, mit welcher 
Theilnahme und Aufmerksamkeit von ihrem ursprünglichen 
Gegenstande auf die Menge sich zudrängender Nebenvorstel- 
lungen abgelenkt werden ; die Grösse des Gefühles, welche die 
Eindrücke überhaupt erregen, und die Nachhaltigkeit, mit welcher 
dies Gefühl haftet, oder die Flüchtigkeit, mit der es verschwindet; 
die Verdichtung der Strebungen um wenige Punkte, um welche 
sie sich andauernd bemühen,, oder die Geneigtheit, von einer 
Aufgabe zur andern überzuspringen; die verschiedene Grösse 
des Dranges, in Bewegungen, Geberden und Worten den innern 
Zuständen einen Ausdruck zu geben : Das alles sind Erschein^ 
ungen,. die in dieses Gebiet der Temperamente fallen. Sie 
gleichen ganz den formellen Unterschieden in den Bewegungen 
eines Stromes, der von mancherlei hineingeworfenen Wider- 
ständen je nach der ursprünglichen Leicht- oder Schwe^flüssig- 
keit des fliessenden Stoffes, nach der Neigung seines Falles 
und nach der Gestalt seines Bettes bald zu tiefen und schweren, 
bald zu oberflächlichen rasch wechselnd^i sich vielförMig kreu*' 
zenden Wellen bewegt wird« 2»'), 

Die Unterscheidung' in sanguinisches , melancbolisches, 
cholerisches und phlegmatisches Temperament rührt von der 
medicinischen Theorie Galen' s her ^^); die Vorstellungen, woraus 
die Namen geflossen , sind längst veraltet , die Namen selbst 
aber beibehalten worden. Zu starken Affecten neigt der Gho- 



— 207 — 

leriker und Melancholiker, zu sobWadien der Sangliiniker und 
Phlegmatiker ; zu raschem Wechsel der Sanguiniker und Chole- 
riker, zu langs^uoem der Melancholiker imd Phlegmatiker 2^^). 
Der Sanguiniker nimmt voruFtheilslos die Eindrücke auf, 
an jede geringe, wenig auffallende Wahrnehmung knttpft sich 
ein leicht erregtes Geftthl ; dasselbe wechselt jedodhi rasch mit 
seinem Anlasse und es findet ein schneller Uebergang von 
einer Gemüthslage zur anderen statt. Dies führt oft zur Un- 
stetigkeit eines Handelns, das sein Urtheil nieht aus einem 
grösseren Gomplex von Vorstellungen, seine Materie nicht aus 
zusammenfassender Ueberlegufig und dem Ganzen einer stehend 
gewordenen Gesinnung, sondern voreilig aus dem Einzelnen 
augenblicklicher Anlässe entnimmt. Das sehneile sanguinische 
Temperament ermangelt der Stih'ke, welche das melancho- 
lische oder , wie Lots^ es genannt wissen will^ das sentimen- 
tale besitzt. Dieses ist wtthliger in Bezug auf die Eindrücke; 
Vieles erscheint dem Melancholiker gleichgültig und fade, was den 
Sanguiniker momentan bezaubert. Der Gefühlswerth erregt sein 
Interesse, er ist geneigt, Stimmungen nachzuhängen, sie auf- 
zusuchen und HOL grösserer Ausdehnung zu erzeugen als die 
Veranlassung es rechtfertigt; dadurch kann das Bewusstsein 
der Pflichten in seiner Entwickelung und Befestigung gehemmt 
werden. Er liebt träumende Wiederholung alles Bbythmischen 
und aller ästhetischen Eindrücke überhaupt; zu eigentlicher 
Arbeit wenig geneigt, entwirft er Ideale eines besseren Zu- 
standes der Wirklichkeit, hat aber keine Theilnehme für die 
einzelnen verständigen Mittel, die dazu führen könnten; er 
wird einerseits oft ungerecht und bitter gegen Andere, welche 
seine Ansichten nicht theilen, andrerseits unpraktisch und un- 
fähig, etwas wahrhaft Grosses au leisten und zur Lösung eines 
Problems beizutragen. Geeigneter dazu ist der Choleriker. 
Derselbe ist unempfänglich für zufällige Reize, die ausserhalb 
des gewohnten Weges seiner Gedankenbewegung liegMi; neue 
Eindrücke reproduciren nur die nächsten mit ihnen im Sinne 
dieser Bew^ung zusammengehörigen Erinnerungen, und alle 
in die herrschende Richtung, der Gemüthströmung nicht ein- 
gehende Wahrnehmungen rufen nur geringe Gefühle wach.- 
Bestimmtheit der Ziele charakterisirt das Temperament ^ das 
vorzugsweise praktisch, vor der Anwendung gleichgültiger und 



— 208 — 

mühsamer Mittel, wel6he zur Erreichung des Zweckes noth- 
wendig sind, nicht zurückschreckt. Es kann aber auch in das 
Extrem überschlagend zur wachsenden Beschränkung des 
geistigen Lebens und zunl eigensinnigen Beharren auf einer be- 
stimmten Form der Mittel werden, aus welchem die »unwandel- 
bare Consequenz« und die »bewusste DickkOpfigkeit« heraus- 
wächst. Das phlegmatische Temperament verfällt nieht in 
diesen Fehler ^<*^). Es lässt sich weder durch die wechselnden 
Eindrücke von Gefühl zu Gefühl treiben, noch bevorzugt es 
eine einseitige Form und Richtung menschlicher Bestrebungen 
vor allen übrigen. Die »Schwerflüssigkeit« des inneren Lebens 
wird von einzelnen Eindrücken kaum merklich bewegt, sammelt 
sie entweder langsam bis zum Hervorbrechen einer kraftvollen 
Leistung oder zeigt, wo ihr keine Gelegenheit zum Handeln 
gegeben wird, wenigstens keine innere Unruhe, die eine solche 
Gelegenheit aufzusuchen geböte. Zu wahrhaft grossen Leistungen 
ist es .jedoch weniger befähigt ^<>^), denn diese verlangen eine 
gewisse Beschränkung und die Lenkung aller geistigen Kräfte 
nach einer Richtung hin, und die meisten Genies sind einseitig. 
Die Temperamente haben der Reihe nach ihre Modezeit 
gehabt und ihre Lobredner gefunden. »Seltsamerweise fällt 
diese Reihe so ziemlich mit der Aufeinanderfolge der Tempera- 
mente im Leben des Einzelnen zusammen: vor zwei Genera- 
tionen hatte das sanguinische, vor einer das melaneholische 
seine Culminationszeit, gegenwärtig scheint phlegmatische Blasirt- 
heit sich einer Beliebtheit zu erfreuen« ^<^2) . Jedes hat seine 
Licht- und Schattenseiten 3^^) , das schnelle bedarf der Stärke, 
das schwache der Langsamkeit. Das starke giebt sich mit 
Vorliebe den Unluststimmungen hin, das schwache zeigt eine 
glücklichere Begabung für die Genüsse des Lebens. »Da jedes 
Temperament seine Vorzüge und Nachtheile hat, so best^t für 
den Menschen die wahre Kunst des Lebens darin, seine Affecte 
und Triebe so zu beherrschen, dass er nicht ein Temperament 
besitze, sondern alle in sich vereinige. Sanguiniker soll er sein 
bei den kleinen Leiden \xßd Freuden des täglichen Lebens, 
Melancholiker in den ernsteren Stunden bedeutender Lebens- 
ereignisse, Choleriker gegenüber den Eindrücken, die sein 
tieferes Interesse fesseln, Phlegmatiker in der Ausführung ge- 
fasster Entschlüsse« ^<^*) . 



. — 209 — 

Wichtig sind die Temp^amenle für die Aetiotogie der 
SinnesUiusobungea. Das Phlegma dispenirt sehr wenig daztt; 
HaHucinationen findet man fast gar nicht uflKt von Illnsiotten 
nur solche, welche siäi auf GeistesschwSlche und Unaufmerk- 
sandelt zurd^ftthren lassen. Anders verhfth es sich mit dem 
Sanguiniker; derselbe hat hfinft^r Sioneslttttschungen, weldie 
meist einen fröhlichen Inhalt haben. Sanguinische Verrückte 
sind eitel, glauben sieh gern in PalUsten und atif dmn Thron, 
sehen allenthalben ihre Diener und hdren oft weibliche Stimmen« 
Der Choleriker sieht ttberall Feinde , Diebe , MemchelroOrder, 
Rfiubep; er erblickt fortwUhren^l feindlidie Machinationen, durch 
welche seine Bestrebungen gestört werden sollen, hört Slimmen, 
welche ihn verspotten und reizen oder ihm gewaltthlitige 
Handlungen anbefehlen, er balgt sich zuweiien sogar mit seilten 
vem>efOtlichen Feinden hemm und wird jämmeriidi geprttgeH 
hn Allgemeinen hat er mehr Gehörs* als GesiohtstäuschuBgen. 
Umgekehrt gestaltet sich das Yerhjlltniss beim Melancholicus'.^^), 
bei welchem die letiteren vorwiegen. Er steht Grftber und 
Leichname, schwante Menschen und Teufel und hört furchtbare 
Töne. Die r^igiöaen VisionS^re sind zum grössten Theile Melan- 
choliker 306) . 

Natürlich haben aach die Träume von Leuten verschiedenen 
Temperaments verschiedene Färbung. Nicht als ob dieses sich 
selbst in den Traum übertrage und man Ewisehen eni&m chole- 
rischen, melancholischen, sanguiaisifheB und' phlegmatischen 
Träumer zu unterscheiden habe; im Traum sind wir alle, 
was die Giemttthsbewegungeii betri^, mehr oder minder San^ 
guiniker, — der Inhalt aber wird durch dasselbe bestimmt. 
Was in Folge des Temperaments mit seinen Associationen 
unter einer bestimmtui Färbung oft in der Seele erscheint 
und dadurch <iort gewissermassen einen bleibenden Sitz ge- 
wonnen bat, oder auch — besonders beim Extrem des Tem- 
peraments — während des Wachens vom energischen Willen 
zurückgedrängt wird, taucht im Traum wieder auf, und 
hier ist keiner für die Yorsteilungen und Affecte, zu welchen 
das Temperament den Grund bildet, -*— mit Ausnahme d^ 
Fälle, wo der Vorsatz sich schon Im Wachen gebildet hatte -*• 
verantwortlich, weil der Wille gesehwunden. Schon die Araber 
kannten diesen Einfluss und schlössen sogar — freilich etwas 

Bad es tock. Schlaf Q. Traum. 14 



— 210 — 

gewagt — aus dem Traum auf ein bestimmtes Temperament: 
sie glaubten zu bemerken, dass Choleriker vorzugsweise 
von heilem Feuer und Licbterscheinungen , Melancholiker 
von Schrecken der Finstemiss, Schlangen, Scorpionen und 
Giften, Phlegmatiker von Flüssen, Seen, Schnee und Eis, 
Sanguiniker von Gärten, Wiesen^ lachenden Fluren träum* 
ten 3<^7) . Diese Ansicht enthält einiges Richtige, mit der Modi- 
fication <lerselben wollen wir uns nicht aufhalten, sie liegt in 
der Schilderung der Yersdiiedenheit von Sinnestäuschungen, 
welche zugleich fttr die Träume gilt; nur ist darauf hinzu- 
weisen, dass man das Extrem nicht mit dem Typus ver- 
wechseln darf und namentlich die krankhafte finstere Melancholie 
zu unterscheiden hat von dem eigentlichen Temperament, 
bei welchem das Geftlhl und die Gemttthsbewegungen eine be- 
deutende Intensität haben und nach der ernsten Seite hin neigen. 

Die Unterscheidung der vier Temperamente giebt nicht 
etwa ein Schema ab, in welches sich die grosse Zahl der In- 
dividuen einzwängen lasse ^^^) . Eigentliche' Temperamentsmen- 
schen sind selten, und man findet in jedem Einzelnen immer 
nur ein mehr oder minder annäherndes Bild des allgemeinen 
Typus ^®^). Am besten prägen sich die Typen in den wech- 
selnden »Temperamentsanwandlungen« während der einzelnen 
Lebensalter aus. Sanguinisch ist das Kind: leichte Empfäng- 
lichkeit fttr alle Eindrücke und schneller Wechsel in den Vor- 
stellungen sind wichtig für die Ansammlung der mannigfaltigen 
Kenntnisse; die Stimmungen sind nicht dauernd, und schnell 
wird die Unlust vergessen. Dem Erwachen der physischen 
Zeugungskraft geht das der psychischen in Bildung von Idealen 
parallel: das überschwellende Kraftgefühi des Jünglings ruft 
den Ehrgeiz hervor, vom Thatendrange beseelt entwirft er 
seine idealen Pläne und hält Nichts für unmöglich. Die 
natürliche Färbung seines Gemüthslebens bildet das melancho- 
lische oder sentimentale Temperament. Mit Festigkeit des Cha- 
rakters hat sich der Mann für bestimmte Zwecke entschieden, 
nicht für die Zukunft oder Vergangenheit schwärmend lebt er 
energisch in der Gegenwart; stark aber schnell wechselnd sind 
seine Afiecte : er ist Choleriker. Das Phlegma endlich bildet 
den Grundzug des höheren Alters. 

Im frühesten Kindesaiter, wo der Vorrath sinnlicher und 



— 211 — 

geistiger Erfahrungen noch gering ist, walten die Körperge- 
fühle im Traum vor; da vorzugsweise hier viele Krankheits* 
formen voiiLommen, wie Zahnen, Krämpfe, Unterleibsbeschwer- 
den u. s. w., so mdgen die Träume auch vielfach unangepehmer 
Natur sein. Später werden die Spiele auf lachenden Fluren 
fortgesetzt; zuweilen bereiten Schulscenen Yelrlegenheiten, meist 
aber sind die Träume heiterer Natur und voll von Pracht und 
Herrlichkeit. Das Schlafreden kommt sehr oft im Knabenalter 
vor. Die Zeit der Geschlechtsentwickelung ist äusserst reidi 
an Träumen; Liebe, Eifersucht^ beleidigter Stolz, iEhr- und 
Ruhmbegierde, erhöhtes Macht^eftlhl, Sieg oder Untergang in 
Gefahren bilden den Inhalt derselben^ Was der Jüngling im 
Wachen für die Zukunft schwärmt und sich ersehnt, davon 
bringt ihm der neckende Traum die Erfüllung; es entwickeln 
sich sehr lebhafte, das Gemüth erregende Scenen, und Nacht- 
wandel kommt am meisten vor. Die Jungfrau wird während 
ihrer Entwickelung leicht zur religiösen Schwärmerin und ist 
dabei doch etwas sinnlich; sie fühlt eine quälende S^nsucht 
nach himmlischen Dingen-, flicht aber in ihren Vorstellungen 
vom Ueberirdischen überall Gesch]eohtsbeziehungen ein; sie 
liebt Leiden, Kummer und Sehmerzen und träumt nicht ungern 
von Unglück. Im mittleren Alter haben bei der grösseren Gleich- 
förmigkeit des äusseren Lebens auch die Träume einen mehr 
Constanten Charakter. Der Mann sieht sich am Ziel und ver- 
gisst im Glücke des Traumes die Sorgen der Wirklichkeit ; zu- 
weilen aber veriassen «ie ihn nicht, und er bemerkt, wie 
unzählige Feinde ihm furchtbare, endlose Intriguen spinnen 
um ihn zu verderben. Bei dem Greise werden die Gemüths- 
bewegungen schwächer und Nichts erregt ihn mehr übennäs- 
sig; Erinnerungen aus früherer Zeit, besonders der Jugend, 
steigen im Traume auf und wirken wie erfrischende Lüfte. 

Die besondere Leibesconstitution ist — in Folge der 
eigenthümlichen Gemeingefühle — nicht ohne Einfluss auf das 
psycfaisdie Leben. »Das Bewusstseina, sagt Honvicz^^^), »ist 
eine Gesammtftmction des ganzen Körpers bzw. des denselben 
repräsentirenden Nervensystems. Jede Hautprevinz, jedes Glied, 
jedes Oi^an, jedes Gewebe, > auch das Blut in seiner mehr oder 
minder normalen Zusammensetzung und Beschaffenheit leistet mit- 
telbar oder unmittelbar seinen Beitrag zum allgemeinen Bewusst- 

14* 



— 212 — 

sein«. Eine enge Bnist mag ein ganz anderes GemeingefOU und 
dadurch eiae andere Färim^ des allgemeinen Bewnsstseins be* 
dingen, als eine gewMble. Kräftig gd)aute, blutreiche Personell 
hdt^n ein kraftigeres, bewussleres Selbstgefühl, gegen welches 
die empimdliche und argwohnische Reiiberkeit kleiner Menschen 
oft auffiaiiend eonbrastirt. Dem Bmbonpeint pfleigl das dunkle 
Gefühl einer Art von Freudigkeit des Besitzes zu folgen. 
»Schmale Statur mit langem Halse disponirt zu Ruhe und Be- 
dächtigkeit, gedrängter Kitaperbau mit kurzem Halse za Heftig«- 
keit und Leidenschaftlichkeit (Napoleons Kurzhalsigkeit scheint 
durch die bekannte abnorm geringe Pulsfrequenz paralysirt 
worden za sein). . . . Von bes<mderem Einfluss &ai den psy- 
chis<^en Habitus ist die Beschaffenheit, Menge und Bewegung 
des Blutes . . . Die neuere Psychiatrie hat auf den lahmenden 
Einfluss, den das U^>erwiegen von; Kohlenstoff im Blute auf 
die E^twickelung des psychisdien Leb^is ausübt, und im 
Gregensatze hierzu auf den Zusammenhang hingewiesen, der 
zwischen vortretendem Phosphorgehalte Und Tobsucht besteht 
(die schnelle geistige Reife rhachitiskranker Kinder, der Brand* 
stiftungstrieb bei gestörter £volutien u. s. w.)«r>ii). Manche 
Krankheiten haben ihren bestimnvten psychisdieo Reflex: ver-* 
mehrte Galladabsonderung disponirt zu excitirenden , Bleich- 
sucht uod Engbrüstigkeit zu deprimirenden Affecten ; Schwind- 
süchtige entfalten zuweilen, wie man z. B. an Spinoza sehen 
kann, ein besonders kksres Denken. Bei Brustkrankheiiten is>t 
der Mens^ heiter, bei Bauehkrankheiten finster ^i^). Udb«r- 
haupt ändern zahlreiebe Krairiüieiten Tempermneivt und Q^im*- 
mung gewaltsam ab, und das Gemeingeftlhl eriiält versohfede- 
nes €oiorit, ja nachdem dieses oder jenes Organ oder System 
des Körpers in rascherer Ausbildung oder in Rttckgaiig seiner 
Thätigkeit begriffen, durch unzählige wiederholte, rm Eineel^ 
neu unfoeobachtbare Erregungen^sich in jenem Gefühl« teehr 
oder minder bemerkbar macht. 

Nicht wenig werden die Träume dadurch beeiaflusst. 
Hypochondrische und Hysl^isohe haben äusserst sdlireekhafte 
Bilder. Bergmmm machte öfter die Beobachtung, dass an rep- 
steckton Lung^iübeln Leidende Nachtwandler wairen, und Krunke 
dieser Art sind mit fialluetnationen und Aipdrüdcen viel ge- 
plagt. Die Störungen des BluUaufs bei Herz- wnd Gefüsser- 



— 213 — 

krankimgen haben oft psychiseke Krankheiten zur Folge ^^^j, 
und da Gesichts- und Gefa(>rstäuschungen hier besonders httufig 
sein aoUen^^^), so mögen auch die Träume vorsugsweiae von 
seltsamen Farbenerscheinungen und Tönen erffiilt sein. 

Dass die Lebens- und Nahrungsweise für das psychi- 
sche Leben von Bedeutung sei, erkannte man schon im Alter- 
thum. Wie die B.rahmanen den Genuas der Bananen hoch an- 
sehlugen, so hatten bekanntlich die Pythagoreer ihre Spei- 
sevorsehriften '^^^) . Bei den Hebräern und platonisirenden 
Diätetikarn des Mittelalters erfreute sich der Honig des Rufes 
einer firkenntniss und Gedächtniss ferdemden' Speise; im vori- 
gen Jahrhundert genoss die Milch ein gleiches Ansehen und 
Tissel versuchte psychische Wunderkuren durch Milchgenuss. 
Dasa der Jod-Mangel in Wasser und Erde mit d^m Vorkom- 
men des Gretinismus in Beiiehung stehe, hat Chatin wahr- 
scheinlich gemacht. »Die Verbreitung dw Gewürze hat ihre 
cuiturhistorisdie Bedeutung. Sie schlug, gleich jener der Ge- 
realien den Weg ein, den die Sonne nimmt: von Osten nach We- 
sten, die Kartoffeln und der Tabak gingen den entgegengesetzten 
W^eg, jene bedrohen in Verbindung mit dem Braimtweine ernst- 
lich ganse Völkerschaften, aus dem wac^isenden Verbrauche 
dieses leitete Guislain die Zunahme gewisser Formen von See- 
lenkrattkheiten aba^i«). Nahhwsky bemerkt, dass Gourmands 
und Schlemmer kein tieferes Geffihl haben. 

»Der Genuss stark alkoholhaltiger Getränke kurz vor dem 
Schlafengehen bringt andere Träume hervor als der Genuss von 
Thee, Wein, Bier, oder Kaffeeft '^^) . Die Träume der Berauschten 
entaiehen sid;^ der Erinnerung, der Schnapstrinker soU dem 
Inhalte nach, die niedrig&tra haben, auch bei starken Biertrin- 
kern sind sie meist sinnlicher Natur; die Trunksucht kündigt 
aich durch wüste Träume an. Pfaff meint fenier, dass einige 
Speisen, wie grünes Gemüse, Kohl, Kohlrabi, Bohnen, dann 
Knoblauch, Zwiebeln, Rettig und Käse vor Schlafengehen genossen 
hässiiche Träuine hervorbringen. Die Abends genossenen Speisen 
haben nicht etwa einen directen psychischen Reflex, sondern 
wirken dureh ihr Verhältniss zur Verdauung; jeder, der kurz 
vor Sehlafengehen irgend etwas in grösserer Menge geniesst, 
muss' sich auf schlechte Träume gefasst machen, um so mehr, 
je s^werer verdaulich die Speisen sind'*^). 



— 214 — 

Erziehung und Bildung kennen mannigfach auf das 
psychische Leben überhaupt, also auch auf die Träume ein- 
wirken. Zuerst kann durch VerzÄrteiung oder Abhärtung die 
Körperconstitution und das Gemeingefühl verändert werden^ 
und dann ist die auf ihr basirende geistige Fähigkeit und Thd- 
tigkeit unmittelbar von grosser Bedeutung für den Inhalt der 
Träume. Anders als flache Gemüther fühlen, denken und 
träumen die Menschen von tiefem Gemüth. »Bei ihnen rüttelt, 
wie NMowsky^^^) sagt, »jedes einzelne Ereigniss am Stamme 
ihres Gesammterlebnisses ; Lust und Leid, hier viel intensiver, 
klingen auch länger nach, indem jedes wichtigere Yorkommniss 
in seine Beziehungen zu anderweitig Erlebtem gebracht, und 
selbst auf Ideen und Lebenszwecke zurUckbezogen wird. Wäh- 
rend das oberflächliche Gemüth nur in den Tag hineinlebt, 
vergleicht das tiefe : Sonst und Jetzt und ergeht sich vorahnend 
selbst in der Zukunft. Das letztere wird darum zwar von je- 
dem Leid schwerer betroffen; es ist dafür aber auch einer 
Seligkeit fähig, von der das flache Gemüth keine Ahnung hat«. 
— Wenn es die Domenkrone des Genies ist, alles Leid schwerer 
und schmerzlicher zu fühlen als andere Menschen und das- 
selbC; wie Pia^o sagt 820)^ in Folge einer »nicht unedlen Natur- 
anlage« das Vergnügen derselben für ein »Blendwerk« hält, so 
kennt es auch eine höhere Lust, die ein gewöhnlicher Mensch 
nicht begreifen kann und sie deshalb für eingebildet und 
Ueberspanntheit hält. 

Leute aus den niedersten Classen sehen im Traum Teufel 
und Geister, Spitzbuben und Raufbolde, die sie prügeln wol- 
len, oder hören obscoene Stimmen. Gebildete glauben, dass feine 
Intriguen ~ gegen sie gesponnen werden oder dass die Polizei 
sie verfolgt. Die Salondame sieht sich in einem glänzenden 
Cirkel mit grosser Angst im tiefsten Neglig^, und mitten unter 
lärmender Freude und tumultvollen Tänzen um sie herum treibt 
sie vergebens centnerschwere Angst sich zu versted^en oder 
zu entfliehen, sie steht eingewurzelt den Blicken Aller ausge- 
setzt. In gleichen Verhältnissen findet sich vielleicht die Bauer- 
frau — in ihrer Dorfkirche. Der Entwickelungsgrad der Phan- 
tasie, weiche ihr Material aus der Dicht- oder Tonkunst, der 
Wissenschaft und dem practischen Leben entnimmt, ist auf die 
Träume von bedeutendem Einfluss. Die Dame der Grossstadt, 



— 215 — 

die viel Romane gelesen, vielleicht gar ähnliche selbst erlebt, 
kann sich die Liebesscenen ganz anders ausmalen als die naive 
Schöne auf dem Lande ?^i). Allerdings haben, wie Lotze sagt'^), 
alle dahingegangenen Geschlechter geliebt und gehasst, gehofft 
und verzweifelt, gearbeitet und gespielt^ und die nach uns 
kommenden werden uns darin gleichen ; dieselben Leidenschaf- 
ten, die uns bewegen, dieselben intriguirenden Berechnungen 
des Ehrgeizes und der Habsucht, dieselben versteckten Beweg- 
gründe oder dieselbe offenherzige Hingebung der Liebe, die 
wir in uns tadeln oder preisen, das alles hat von früh ah das 
menschliche Geschlecht erregt; — es ist jedoch die Art und 
Weise dieser Leidenschaften zu, berücksichtigen, man muss. nä- 
her hinschauen, wie gehasst oder geliebt wurde und wird. 
Von der Liebe einer Germanin entwirft Tacitus eine andere 
Schilderung, als sie ein indiscreter Schriftsteller von den Aben- 
teuern einer Hofdame unter der Regierung Ludwigs XIY . und XY. 
wahrheitsgetreu geben könnte. 

Die Leidenschaften, welche den Wachenden beherrschen 3^3}^ 
sowie der Stand und Beruf, welchem er angehört, bestimmen 
den Inhalt der Träume. Der Ehrgeizige sieht entweder lauter 
devote Personen um sich oder hört Spottreden, die ihn in seiner 
eingebildeten Würde kränken; der Furchtsame erblickt überall 
Verfolgungen, der Wollüstige malt sich Liebesscenen aus, und 
der Geizige träumt viel von Dieben. Der Officier glaubt, seine 
Compagnie vor sich zu haben, der Schneider sein Tuch, der 
Tischler seine Hobelbank. Der Soldat liegt auf dem Schlacht- 
felde verwundet und der feindliche Säbel blitzt über ihm, der 
Bürger sieht in sein Haus ein Trupp Feinde eindringen; der 
Gelehrte sucht mit grosser Angst ein Buch, der Bauer seinen 
Karst. — Ausserordentliche Ereignisse im Familien- und Völ- 
kerleben bilden oft den Inhalt der Träume, der sich bei den 
Einzelnen verschieden gestaltet. Krieg, Revolution, Verhand- 
lungen des Reichstags und Parlaments rufen den Soldaten 
andere Träume hervor als den Kaufleuten, Bürgern und 
Bauern. 

Endlich i$t die Beschaffenheit des Schlafzimmers von Ein- 
fluss. Bei schlechter Luft in demselben werden alle Angst- 
träume begünstigt; und wenn man bei Irrsinnigen die Erfah- 
rung machte, dass die Farbe ihrer Umgebung auf sie ausser- 



— 216 — 

ordentlich einwirkte ^^^j , so wird auch die Farbe der vom Biond 
oder von der Sonne be&trahlten Tapeten und der Bettvorhänge 
nicht nur in den Delirien der Fieberkranken, so&dem auch in 
den Träumen nicht ohne Wirkung sein. Im Zimmer stehende 
Slumen, eine tickende Uhr oder — wenn das Zimmer einer 
Fabrik oder Werkstatte eines Schmiedes, Tischlers u. s. w. 
naheliegt — Hammerschlage und andere Gerttusche lösen ver- 
schiedene Traumvorstellungen aus. Nicht unwichtig ist end- 
lich die Temperatur, die Bedeckung, die Unterlage und be- 
sonders die Lage des Körpers. 



Capitel 

Vergleichung des Traumes mit dem Wahnsinn, 

Die Aehnlichkeit des Traumes mit dem Wahnsinn hat man 
sehen längst bemerkt. Kant sagt an einer Stelle: »der Ver- 
rUekle ist ein Träumer im Wachena; ähnlich äussert sieh 
Xrcmss: »der Wahnsinn ist ein Traum innerhalb des Sinnen- 
wachseins« ^^) ; Schopenhauer nennt den Traum einen kurzen 
Wahnsinn und den Wahnsinn einen langen Traum ^®} . Hagen 
bemerkt : »Der Traum ist den psychischen Krankheiten analog«, 
und an einer anderen Stelle: »Das Delirium künnen wir daher 
bezeichnen als Traum-Leben, welches nicht durch Schlaf, son- 
dern durch Krankheiten herbeigeführt ista^^^). Purkinje er- 
kennt auch keinen qualitativen, sondern nur einen quan- 
titativen Unterschied zwischen Traum und Wahnsinn an 
(S. 449). KMschütter meint, wir seien berechtigt, die Hallu- 
cinatioiien den Träum^a vollständig zu parallelisiren 3^^) ; ähn- 
lich lautet die Ansicht vm Bina : »So lässt sich auch zwischen 
Traum und HaKlucination eine scharfe Trennung nicht durch- 
fuhren; beide gehen in einander Uber. Gemeinsam bleibt 
beiden die eine Hauptsache, dass die logische Verkntlpfung der 
im Gehirn entworfenen Yorsteilungem und die freibewusste 
Thätigkeit des Willens gelähmt oder ganz aufgehoben sind; 
nur ist, was wir im gewöhnlichen Leben Traum nennen, quan- 
titativ die unterste Stufe der fiallueination und sie der höchst- 
entwickelte Traum« (S. 23). Wundt endlich sagt: »In der 
That können wir im Traum fast alle Erscheinungen, die uns 
in den Irrenhäusern begegnen, selber durchleben« ^2^). 

SpiUa fuhrt folgende Vergleichungsmomente an: i) Auf- 
hebung bezw. Retardation des Selbstbewuss^seins , in Folge 
dessen Unkenntniss tiber den Zustand als solchen, also Un- 



— 218 — 

möglichkeit des Erstaunens, Mangel des moralischen Bewasst- 
seins; 2) modificirte Perception der Sinnesorgane und zwar 
im Traume verminderte, im Wahnsinn im Allgemeinen sehr 
gesteigerte; 3) Verbindung der Vorstellungen unter einander 
lediglich nach den Gesetzen der Association und Reprdduction^ 
also automatische Reihenbildung, daher Unproportionalität der 
Verhältnisse zwischen den Vorstellungen (Uebertreibungen, 
Phantasmen), und aus Alle dem resultirend 4) Veränderung, 
bezw. Umkehrung der Persönlichkeit und zuweilen der Eigen- 
thttmlichkeiten des Charakters (S. 150). 

Wir wollen bei der Betrachtung der Aehnlichkeiten zu- 
nächst die physiologischen von den psychologischen 
scheiden. Im Wahnsinn zeigt sich eine gesteigerte Reizbarkeit 
und automatische Reizungen einzelner sensorischer und moto- 
rischer Gebiete des Gehirns, die ebenso wie im Traum in 
Veränderung der Blutcirculation ihren Grund haben. Veränderun- 
gen des Pulsschlags scheinen alle Formen der geistigen Störung 
zu begleiten und verrathen dieselben oft als frtlheste Symp- 
tome. Gehimerkrankungen treten häufig als Folgen von Herz- 
und Gefässerkrankungen auf^<>), oder es gehen die Störungen 
des Blutkreislaufs von den Gefässen der Hirnhaut oder des 
Gehirns selbst aus. »So liegt denn die Annahme nahe, dass 
alle Arten automatischer Reizung der Gentraltheile , mögen 
dieselben physiologische sein oder als pathologische Störungen 
auftreten, im wesentlichen auf übereinstimmende Ursachen zu- 
rückzuführen sind, nämlich auf Zersetzungsproducte der Ge- 
webe, die entweder schon normaler Weise, wie bei gewissen 
besonders reizbaren Gentraltheilen, den automatischen Gentren 
des Verl. Marks, oder erst wenn sie in Folge von Störungen 
des Blutaustausches in ungewöhnlicher Menge sich anhäufen, 
die Reizung hervorbringen« ^^^j. 

Je nachdem die Veränderungen im Gehirn mehr oder min- 
der ausgebreitet sind, zeigen sich die Reizungserscheinungen 
in grösserem oder geringerem Grade. Bei Erkrankungen sehr 
kleiner Partien der Hirnrinde übernehmen andere stellvertre- 
tend ihre Functionen und die Störungen versehwinden allmäh- 
lich. Anders ist es, wenn die Veränderungen sich ausbreiten; 
hier sind die Reizungsei*scheinungen in hohem Grade denen 
im Schlaf ähnlich, nur sind sie intensiver. Sie gehören ebenso 



— 219 — 

t 

wie diese dem sensorischen und motorischen Gebiete an: die 
sensorische Erregung äussert sich als sehr lebhafte Hallucina- 
tion und Illusion, die motorische verursacht Zwangshandlungen. 
Dieselben Ursachen , welche zuerst erregend auf das centrale 
Nervensystem wirken , vernichten allmählich die Functions- 
fähigkeit desselben und es tritt Lähmung ein. 

Die einzelnen in Folge der centralen Reizbarkeit äusserst 
lebhaften Vorstellungen verbinden sich wie im Traum nach 
den Gesetzen der Association, oder wie Wundt sich ausdrückt : 
es vermengen sich die aus automatischer Reizung hervorge- 
gangenen Empfindungen und Rewegungstriebe mit der in der 
ursprünglichen und erworbenen Organisation des Gehirns be- 
gründeten Disposition zu einem zusammenhängenden, mit den 
Resten früherer Empfindungen verwebten Yorstellungsverlauf. 
— Der Traum wie das Irrsein erhält seine wesentliche Färbung 
und seinen bestimmten Grundton von der herrschenden Stim- 
mung, welche entweder aus den psychischen Erlebnissen des 
gesunden und wachen Lebens herübergenommen oder durch 
Aenderung der organischen Zustände erst während des Schlafs 
oder der Krankheit gegeben wird; besonders sind alle krank- 
haften Eindrücke von den Verdauungs- überhaupt den Unter- 
leibsorganen sehr bestimmend. 

Die Elemente der Wahnideen sind theils äussere objective, - 
theils subjective, dem eigenen Organismus entstammende Ein- 
drücke, theils Reproductionen aus früherer Zeit. Im Gebiete 
des Gesichts- und Gehtfrssinns und des Gemeingefühls findet 
man die meisten Hallucinationen und Illusionen; die wenig- 
sten Elemente liefern wie beim Traum der Geruchs- und Ge- 
schmackssinn. Dem Fieberkranken steigen in den Delirien 
wie dem Träumenden Erinnerungen aus langer Vergangenheit 
auf; was der Wachende und Gesunde vergessen zu haben 
schien, dessen erinnert sich der Schlafende und Kranke. Auch 
in dem höheren Stadium des Wahnsinns wird das näher Lie- 
gende immer augenblicklich wieder vergessen, während nicht 
selten frühere, an Ereignisse längst vergangener Lebensperioden 
geknüpfte Vorstellungen leicht reproducirt werden '^^). Dem 
von körperlichen und geistigen Leiden Gequälten gewährt der 
Traum, was die Wirklichkeit versagte: Wohlsein und Glück; 
so heben sich auch bei dem Geisteskranken die lichten Bilder 



— 220 — 

voü Glttck , Grösse , Ertiabenheil und Reiohthum. Der ver- 
meintUcfae Besitz von Gttiem und die imaginUre Erfttlluag von 
Wünschen, deren Verweigerung oder Vernichtung eben einen 
psychischen Grund des Irreseins abgäbe»; ntacfaen häufig den 
Hauptinhalt des Deliriums aus. Die Frau, die ein theures 
Kind verloren, detirirt in Mutterfreuden, wer Vermögensver- 
iuste erlitten, hält «ch fttr ausserordentlich reich, das betrogene 
Madchen sieht sich sartiich geliebt. Im Allgemeinen ist das 
Gedächtniss nicht umfassend '^^j ; die bedeutende Enge des 
Bewusstseins geslsattet nur wenigen Vorstellungen zugleich 
Raum. Barocke Gedankenverbindungen und die 
Schwäche des Urtheils sind es, welche den Traum und 
den WahuMun hauptsächlich charakterisiren. Da nur wenige 
Vorstellungen im Bewusstsein gegenwIMig sind, fehlt der 
richtige Massstab CUr die neu hinzutretenden; sie werden in 
ein falsches Verhältniss zu den übrigen gebracht und so ent- 
wickelt sich eine Unpreportienalität in allen Bildern, weiche 
dem Träumenden und GmsteskraAken vorschweben, lieber- 
treibungen und Rodomeataded werden zur Regel, das Aben- 
teuerlichste und Mzarrste wird &r möglich, ja selbstverständ- 
lich gehalten, der platteste Unsinn wird zur unzweifelhaften 
Wahrheit, da die Vorstellungen, welche ihn l>erichtigen konn- 
ten, ni<^t ins Bewusstsein treten. Maoehe Geisteskranke sind 
von grossem Entzücken erfüllt über die Entdeckungen, die sie 
gemacht haben, was sie aber davon äuasom und demonstrfren, 
ist der vollendetste Unsinn. Der sonst den Verlauf der Vor* 
Stellungen beherrschende verailnftige Wille, wel<$her Ordnung 
in das Chaos bringen konnte, ist geschwunden ; doch kommen 
im Traum wie im Irrsinn Uobtblitze der höheren psychischen 
Thätigkeiten vor. Ein Freund Jfotiry'«, der früher an einer 
Geisteskrankheit gelitten hatte, aber vollkommen geheilt war, 
erzählte ihm, er habe in seinem Wahnsinn geglaubt, zur Fa- 
milie der Bourbons zu gehören und titel und Orden ver- 
schwenderisch ausztttheilen ; von Zeit zu Zeit ehar habe er 
doch die uabeslimmte Vorstellung gehabt, es sei nur Täusdiung 
und alles wäre eine PhantasmagDrie, die er jedoch nicht habe 
verbannen können ^^) . Der Irre zieht oft formal-logisch riditige 
Felgeningen aus falschen Prämissen ; dasselbe fanden wir beim 
Träum^Mlen. Dem rapiden Vorstellungslauf bei letzte- 



— 221 - 

rem entspricht die ideenflueht des ersteren. Bei beiden 
fehlt jedes Zeitmass: wie wir im Traum Jahre in einer 
Yiettelsinnde durchleben, so seheinen Ereignisse, welche nach 
ihrem wirUiehen G^sehehen Monate erfordern wttrden , dem 
Krankmi in kürzester Frist vorgegangen zu sdin. 

Gemeinsam ist Imier die Spaltung der Persönlich-^ 
kalt. Eine Wahnsinnige , welcher religiöse Ueberspannung 
und Processe den Kopf verrtt«ki hatten, war unaufhörlich in 
einem Streit mit einem Richter begriffen, dem sie den Verlust 
ihres Prooesses Schuld gab; sie hatte sogar merkwürdiger 
Weise, um ihm antworten zu können, den (jode und das Pro^ 
cesBverlahren studirt, ;, — aber der Richter war, wie sie sagte, 
stiirker als sie und brachte Argumente und juristisdie Aus- 
drücke vor, die sie weder zu widerlegen noch sdbst zu ver- 
stehen vermochte 33^). Unterhaltungen und Disputationen mit 
eingebildeten Personen, Ofienbarungen von Christus und den 
Engeln, YerlodLungen und Verfolgungen des Teufels finden sich 
häufig in den Wahnideen. In Folge anormaler Gemeingefühle 
hält der Besessene seinen Leib oder einzelne Gliedmassen für den 
Wohnsitz des Teufels und der Dämonen, eb^sso wie der Träu- 
mende zuweilen glaubt, eine fremde, ihm unangendmie Person 
in seiner Nähe zu haben, deren fiinfluss er sich trotz alfcfr 
Mühe nicht entstehen kann, oder Ungeheuer auf sich zu stür* 
zen sieht. Dem Traumredner werden zuweilen die Worte wie 
von einer Stimme dictirt; so giebt es aueh fremde Anreden 
und Interpellationen, weldie von einzelnen Irren als »geist* 
weise«, als »Seelenspradiea bezeichnet werden (psychische fial- 
hieinatixmen Baillarger^s) ; [es sind ionlese innere Stimmen, 
blosse sehr lebhafte VorsteUnngen, von denen es all« möglichen 
Uebergänge bis zu dem lautesten Lärmen der Stimmen giebt s^^). 

Den stere<)typen pathologischen Träumen ent^ 
sprechen die constanten Wahnideen bei denselben Krank*- 
heiten, z. R. beim Säuferdelirium die von Ratten und Mäusen 
und allerlei kleinen unangenehmen Tfaieren. Nach einzelnen 
bestinunten psychischen Ursachen zeigen sidi ebenfalls, wenn 
nicht constante, so doch oft sich findende Charaktere des Irre- 
seins. Der Wahnsinn charakterisirt sich beim w«iblidien Ge- 
schlecht nach ungltteklidier Liebe — welche oft im Traum eine 
so wichtige Rolle spielt — gewöhnlich dunh eine tiefe, zu^ 



- 222 — 

weilen in Stupor Übergebende melancbolische Depression, durch 
Neigung zum Selbstmord, hysterische Gomplicationen, grosse 
körperliche Entkrttftung^ häufigen Ausgang in Tuberculose. 
Dai^ Irresein aus Schrecken zeigt am gewöhnlichsten den Cha- 
rakter der Melancholie mit Stupor, mit oder ohne darauf fol- 
gende Tobsucht. In d^r an Träumen so reichen Sdiwanger- 
Schaft kommen oft leichtere psychische Störungen vor. 

Der Traum und der Wahnsinn verschaffen in Folge der 
gesteigerten Reizbarkeit des centralen Nervensystems allen 
Vorstellungen die Stärke unmittelbarer Eindrücke; alle Gedan- 
ken werden dadurch objectivirt und erhalten den Charakter sinn- 
licher Wahrheit. Bei den meisten Genesenen ist die Erinnerung 
an die früheren Wahnideen gesdiwunden, bei manchen ist sie 
verworren und bruchstückweise. »Bald gleicht die Genesung 
dem einfachen Erwachen: während das Individuum sich stau- 
nend zu recht zu finden sucht, versinken die der Krankheit 
angehörigen Vorstellungsmassen in kurzer Zeit und das alte 
Ich tritt unversehrt und unbeeinträchtigt wieder an ihre Stelle. 
Andere Male lösen sich die schon geknüpften Verbindungen 
schwerer, und indem das alte Ich nur langsam erstarkt, besteht 
die Genesung noch einmal aus einem peinlichen Kampfe, in 
welchem der Erwachte jetzt oft des Zuspruchs, der Belehrung, 
der Leitung durch fremden Willen zur eigenen Kräftigung be-^ 
darf. Es ist nicht selten, dass dann dodi nicht jeder Faden 
des Wahngespinnstes sich heraus ziehen lässt, und auch der 
Genesene behält mitunter für lange Zeit oder für immer als kleine 
Ueberreste gewisse Tics und Bizarrerien, gewisse Verschroben- 
heiten und Verstimmungen an sich, ja er erleidet zuweilen 
von hier aus eine durchgreifende Aenderung seines Caraktersa^^^). 
Wie die Traumbilder zuweilen den Schlaf selbst oder in ihren 
Wirkungen überdauern, so haben in manchen Fällen auch die 
Delirien beim Wahnsinn ihr Nachspiel. Viele Genesene 
sagen, dass ihnen die ganze Zeit ihrer Krankheit 
jetzt wie ein Traum, bald wie ein glücklicher, 
viel häufiger aber wie ein schwerer und düsterer 
vorkomme; einzelnen hat auch während des Irr- 
seins ihr früheres gesundes Leben nur den Ein- 
druck vergangener Träume gemacht. 

Die Aehnlichkeit tritt besonders in dem Gedankenspiel 



— 223 — 

der Träume hervor, welche das Einschlafen begleiten. Die in 
unendlichen Abstufungen in einander übergehenden Mitteizu- 
stände zwischen Schlaf und Wachen begünstigen auisserordent- 
lich das Auftreten von Illusionen und Phantasmen, welche sich 
durch ein zügelloses Treiben der Phantasie und Verwirrung der 
Intelligenz auszeichnen. Im Zustande der Schläfrigkeit, der 
ihnen vorausgeht, zeigt sich das Individuum schwerföllig, torpid 
und schweigsam; die Sinne werden stun)|>f, die Gesichtsein- 
drücke verschwimmen, die Töne scheinen aus grösserer Ent- 
fernung zu kommen, das Bewusstsein umhebelt sich, die Ant- 
worten kommen verspätet; man vergisst sich halb und spricht 
wohl auch Verkehrtes, — ganz so, wie man es beim Beginn 
des Irrsinns beobachtet, dass die sensitive und motorische 
Reaction gegen die Aussenwelt ermattet und dann Phantasmen 
und verwirrt durch einander gehende Vorstellungen auftauchen. 
Zu der allmählichen Beschwichtigung des Vorstellens und 
Strebens, wie es im Tiefschlaf stattfindet, lässt es die dauernde 
und schmerzliche Gemüthsbewegung des Irrsinnigen nicht 
kommen, und man beobachtet auch in diesen Anfangsperioden 
der Krankheit trotz der äusserlichen schläfrigen Ermattung sehr 
gewöhnlich Sdilaflosigkeit. »Ein besonders wichtiges und häu- 
figes solches Mittelglied für die psychische Erkrankung ist«, 
wie Griesinger sagt (S. 472), »die anhaltende Schlaflosigkeit, 
welehe die depressiven Affecte so oft mit sich bringen, welche 
das Gehirn überreizt und die Ernährung herabsetzt. Sie bietet 
daher auch in vorbereitenden Stadien des Irreseins oft einen so 
wirksamen Angriffspunkt der Therapie«. Wenn nun aber Spitta 
diese anhaltende Schlaflosigkeit* als einen sicheren Beweis an- 
sieht, wie wenig statthaft es sei , Traum und Irrsinn ohne 
weiteres mit einander zu »identificiren«, da der Traum »nur 
im Schlafe möglich ist, nicht ohne die Voraussetzung des 
Schlafes kann angenommen werden a (S. 454 f.), — so ist da- 
gegen zu bemerken : erstens , dass Niemand beide Zustände 
vollständig »identificiren«, sondern dass man nur ihre 
Aehnlichkeit nachweisen und sie als verschiedene Gra- 
dationen betraditen wird, — und dann, dass das Erwähnte 
die Aehnlichkeit nicht in Zweifel stellt. Im Schlaf wird der 
Reixungszustand durch die Lage, Veränderung der Respiration 
u. s. w. periodisch und normal hervorgerufen, beim Wahnsinn 



— 224 — 

ist er die Folge von anormalen Vorg&ngen und Erkrankungen ; 
seine entfernteren Ursachen sind also nicht dieselben, er selbst 
aber zeigt keinen qualitativen, sondern nur einen quantitativen 
Unterschied. 

Der TiefsohUI gewährt bei der verringerten organischen 
und minimalen psychischen Function ein Ausruhen, das äusser9t 
wohlthätig wirkt; da dieser in Beginn des Irreseins fehlt, so 
wird der Reixungszustand bedeutender und die Wahnideen 
zeigen dann in ihrer Lebhaftigkeit einen Untersdiied von den 
Traumvorstellungen. Bei der Entwickelung des Wahnsinns 
fehlt die Periode, welche dem normalen Iforgentravm veran* 
geht, ohne dass er selbst von diesem qualitiAiv versdiieden 
würde; die quantitative Verschiedenheit aber wird dadurch 
mit bedingt. 

Die Muskelthätigkeit, deren Mangel man gewöhnlich 
als charakteristischen Unterschied aulfasst, ruht nicht in jedem 
Traum^ wie das Schlafreden und Nachtwandeln zeigt. 

Besondere Aehnlichkeit mit dMn Irrsinn zeigen <Ke mag- 
netischen Schlafzustände. »Das ausserordentliche Wohl- 
gefühl in ihren höheren Graden, jene unbeschreiblichen Empfin- 
dungen , die nicht mehr von dieser Welt zu sein scheinen, 
finden sich wieder in der grossen Leichtigkeit und Behaglifh* 
keit maneher maniacalischer Zustände und in dem seligen Ver^ 
sunkensein mancher Irren in Wohlgefüble, die sie nicht metxr 
zu besehreiben vermögen und für die sie gleichfalls das Büd 
einer Vereinigung mit dem Göttlichen wählen. Jene neue 
Wortspraehe, die sich einzelne Somnambule als eine vermeinW 
liehe Sprache des Geisierreiclus bilden, jene Neigung, sich »it 
der Gonstruction des Weitalls und überhaupt mit den letaten 
Prc^lemen des menschlichen Denkens mystisdi zu bescböftig^i, 
bis auf das aflectirte Hochdeutsehreden bei Ung^ildeten 
hinaus, — all dieses findet sidü bei manchen Verrückten in 
denselben Gombinationen wieder und die viel grössere 
Freiheit der Bßwegungsorgane in den letzteren Zu- 
ständen dürfte in der That für einzelne Fälle den Hauptunter* 
schied abgeben« ^^]. Die magnetische Exaltation- seheint sich 
wie die wachende maniacalische nicht selten aus verenge^ 
gangenen Schmerzzuständen zu entwickeln und dann eine anta- 
gonistische Ueberhebung, theils über das körperliche und 



— 225 — 

geislige Leiden im Wachen, theils über dunkle Traumzustände 
mit Visionen, welche in der ersten Periode des magnetischen 
Zustandes erscheinen, zu bilden. Auch den Somnambulen wird 
ihre dürftige Weisheit meistens durch Yermittelung von Gesichts- 
und GehGrshällucinationen mitgetheilt. 

Bei schon vorbereiteter Krankheit s<$hrieb der erste Aus- 
bruch sich öfters von einem sehr affectvollen. Traume her und 
die vorherrschende Wahnidee stand mit den Vorstellungen des 
Traumes in Verbindung*^®). Gregory macht darauf aufmerk- 
sam , dass die Wahnbilder des Irrsinns nach der Genesung in 
Träumen wieder auftauchen. Allison hebt die Erscheinung 
nächtlicherGeisteskrankheit (noctumal insanity) hervor, 
wo die Individuen bei Tage anscheinend vollkommen gesund 
sind, während bei Nacht regelmässig Hallucinationen, Tobsucht- 
anfalle u. s. w. auftreten **<^) . Auch Guislain berichtet einen 
Fall, wo ein intermittirendes Irresein (r^ve d^lirant) an die 
Stelle des normalen Schlafes trat; und dabei einen zwischen 
wahrem Traum und Nachtwandeln stehenden Charakter zeigte ^^i). 

Man hat darauf aufmerksam gemacht , dass trotz aller 
Aehnlichkeit ein grosser Unterschied zwischen den Traumzu- 
ständen und den Geisteskrankheiten stattfände, da jene nur 
im Schlaf, diese aber während des Wachens auftreten, wo die 
Verbindung mit der Aussenwelt ni<?ht gestört ist^^^j. Etwas 
anders äussert sich Griesinger: )>Wenn nun auch nicht alle 
irren Zustände den Charakter des Traumartigen in gleichem 
Masse an sich haben, wenn solcher entschieden am meisten 
einzelnen primären Zuständen, besonders der Melancholie mit 
Stupor, wo in der That der Verkehr mit der wirkliehen Welt 
in hohem Grade beschränkt ist und die meisten Eindrücke 
phantastisch transformirt werden, auch einzelnen maniaca- 
lischen Zuständen zukommt, wenn dagegen andere, namentlich 
mehr secundäre Formen , wie die partielle Verrücktheit , alle 
Zeichen eines vollen Wachens, eines äusserlich besonnenen 
Verkehrs mit der Welt darbieten, so könnte immer noch ge- 
fragt werden, ob solches Wachen, in dem zuweilen der Kranke 
von seinem ganzen früheren Leben sich losgesagt oder dasselbe 
ganz vergessen hat, indem er äusserlich in der Scheinwelt 
seiner Hallucinationen, innerlich in ein Traumnetz von Wahn- 
vorstellungen eingesponnen lebt, — ob solches Wachen in der 

£ ade stock, Schlaf Q. Tranni. 15 



— 226 — 

Thal Dicht mehr Aehniichkeit mit manchen, das Tageslebeii 
unvollständig deckenden magnetischen Zuständen habe, als mk 
dem Wachen, das wir aus unserer Erfahrung als das gesunde 
kennen« (S. 143). Ferner findet SpiUa einen Hau{rtuiKterschied 
darin, dass im Traum verminderte, im Wahnsinn ge- 
steigerte Perception der Sinnesorgane sich zeige. Er sagt: 
»Die psychischen Krankheiten überhaupt als potenzirte Schlaf- 
bezw. Traumzustände anzusehen, würde offenbar zu weit ge- 
gangen sein, da ihnen auch in den Fällen, in denen das Selbst- 
bewusstsein gänzlich aufgehd)en ist, doch einige Momente 
fehlen , die den Schlaf noch besonders als solchen charak- 
terimren. Hierher gehört hauptsächlich der Unterschied beider 
Zustände in Betreff der Stärke der Sinnesperceptionen , die, 
wie wir sahen, während des Schlafes nur in einem sehr ge- 
hemmten und geringeren Grade möglich sind, was man bei den 
meisten psychischen Anomalien im Allgemeinen nicht wahr- 
nimmt, im Gegentheil, oft sind in diesen Zuständen die Sinne 
ungemein geschärft und für den leisesten Eindruck empfänglich« 
(S. 448; vergl. auch S. 450). — Es ist richtig, wenn er 
die Besdiränkungen »oft« und »im Allgemeinen« dazusetzt, 
denn es finden sich bei Geisteskranken sensitive und motorische 
Zustände, welche in Verbindung mit der zugleich vorhandenen 
Umdämmerung des Bewusstseins lebhaft an das Verhalten des 
beginnenden Schlafes erinnern. Melancholische klagen zuweilen 
über Anästhesie. »Ich sehe, ich höre, ich fühle«, sagen solche 
Kranke, »aber die Gegenstände gelangen nicht bis zu mir, ich 
kann die Empfindungen nicht aufnehmen ; es ist mir, als wäre 
eine Wand zwischen mir und der Aussenwelt«. Man findet 
bei ihnen eine Verminderung der peripherischißn Hautsen- 
sibilität, so dass ihnen die Gegenstände undeutlicher erscheinen. 
In ekstatischen Zuständen macht sich zuweilen eine Verminde- 
rung des Willenseinflusses auf die Muskeln, Schwerbeweglich- 
keit des ganzen Körpers mit Einschluss der Sprachoi^ane, bis 
zur bildsäulenartigen, cataleptischen Erstarrung bemerklich ^^'^) . 
Wo andrerseits eine erhöhte Empfindlichkeit sich zeigt, be- 
ruht dies wohl weniger auf gesteigerter Thätigkeit des peri- 
pherischen als des centralen Nervensystems. Da der Reiz- 
zustand des Gehirns — der sich freilich alimählich von da 
aus auch nach der Peripherie hin ausbreiten kann — ein ge- 



— 227 — 

s^eigerter iatr, erscbeinen di« Empfiadafi^n bedeutend ver* 
stallt. DuBselbe ist in geringerem Grade auch Im Traum der 
Fall ; Anas ist ttber^ieb^n : ein Ueines Gerfiuach wird als 
KanaonendonDer und Sluvmgelttitt wahrgenommen, trotzdem 
das^ pevipheriariie Nervensystem schwach functionirt und die 
ftei2«cbw0lle- höher liegt. 

Oer Traum, der meist von den Reproditctionen der 
^ng9tan und ^teren Yergangenhett lebt, liefert durch seine 
mannig^altigcoDt Combinätionen wechselndere Bflder^^^) , während 
der Inre tamisk in festere Vorstellungskreise gebannt bleibt. 
Bestimmte kfoen , die durch einen Zufall entstanden , repro- 
duciren sieb iaamier wieder und gewinnen allmdhlich die Macht 
llber alle anderem Vorstellungen sowie tiber das Handeln. Die 
centrale Bieixbarkeit verleiht allen Yoratellungen eine ungewöhn- 
liche' Stärke und bringt sie dfter zur Reproduotion ; da das 
Bewusstsein nuff eipe begrenzte Zahl von Yorslellungen zu 
faussen vermag, so ziehen sich ^ie leicht verfügbaren auf einen 
immer enger weirdenden &reis zusammen. Sie fixiren sich und 
lassen kelno' «yadereii meiir i^ben sich aufkommen. Wenn nadi 
lä«geref Zeit der eentrale Reianistand aufhört, ist durch die 
Verödung der centrale« Sinnesflächen das Bewusstsein über- 
haupt emger geworden, und es haben in ihm nur noch jene 
fixen Ideen Plata. 

In Betreff der Spaltung der Persönlichkeit bemerkt 
Sputa : »Das EigMithttmlieiie der drei Zustände liegt also darin, 
dass bei voller geistiger Gvesondheit die Selbstdiremtion des 
Ich jiar eine ideelle, hypothetische ist, in der Hypoehon- 
drie und Melancholie sich zu objectiviren strebt, in der voll- 
endeten Verrücktheit sich objectivirt hat. . . . Das wesent- 
liche Moment, durch welches sich der Traum von den psy- 
chisehep Alienationen unterscheidet, und weiches immer muss 
festgehalten werd^i, liegt in der durchgängigen Einheit des 
GemeingefilUs, der Gemeinempfindung, welche durch die hypo- 
thetische Diremtion des Ich nicht aufgehoben wird, selbst dann 
nicht, wenn wie beim Traume, diese Diremtion durch Vor- 
phantasirung den Schein realer Wirklichkeit annimmt, und 
damit die Bewusstseinsgrenze zwischen Ideellem und Realem 
verschiebt, — wir sind stets im Stande, aus der'Theilung in 
die Einheit zurückzukehren und die Trugvorstellungen später 

15* 



— 228 — 

als solche zu erkennen und zu berichtigen. Diese Einheit 
des GemeingeftthU fehlt beim Wahnsinn gänz- 
lich a^^). An einer anderen Stelle sagt er jedoch: »Es kommt 
sogar vor, dass bei organischen Functtonshemmungen , beson- 
ders, wenn sie andauernd sind, sich die Gemeinempfindung 
(Gemeingefühl) des Traumlebens von der des normalen wachen 
Lebens ablöst, sich völlig gegen dieselbe kehrt, so dass ihre 
Reproductionen nur sehr wenig, vielleicht gar nicht in die 
Geschichte des wirklichen täglichen Lebens eingreifen und 
aus ihm die Objecto der Traumvorstellungen entnehmen. In 
diesen Fällen ist das charakteristische Moment, welches Traum- 
leben und waches Leben mit einander gemeinsam haben, und 
welches andrerseits das Traumleben von den psychischen Alie- 
nationen als solchen trennt, die Einheit des Gemein- 
geftthls, aufgehoben, indem die jenen organisdien Stör- 
ungen entsprechenden Vorstellungen und Gefühle sich mit 
einander verbindend, den ganzen bereits vorhandenen Bewusst- 
seinsinbalt bis auf die Schwelle niederdrücken und nun ihrer- 
seits neue Reihen bildend, den disparaten Traum erzeugen. 
Derartige Träume können einem denkenden Arzte unter Um- 
ständen die Diagnose einer verborgenen Krankheit wohl er^ 
leichtem, — treten dieselben häufig ein, so ist wegen 
der stetig wachsenden Theilung und Spaltung des 
Gemeingeftthis für die psychische Gesundheit zu 
fürchten« (S. 484 f.). Er erkennt also an, dass manche 
Träume, »die nicht selten mit einer gewissen Periodidtät sich 
einstellen«, einen gewissen Uebergang zum Wahnsinn bilden 
können. 

Somit finden wir nicht nur ausserordentlich zahlreiche 
Aehnlichkeiten, sondern auch Uebergänge dieser beiden Zu- 
stande in einander, und es ergiebt sich, dass der Wajmsinn, 
eine anormale, krankhafte Erscheinung, als eine Steigerung des 
periodisch wiederkehrenden normalen Traumzustandes zu be- 
trachten ist. 



Capitel X. 

Die träumerischen Zustände des Wachens. 

Iräumerisch pflegt man die Zustände des Wachens zu 
nennen , in welchen sich der Wille weniger energisch im 
Denken und Handeln des Individuums wirksam zeigt, wie es 
eben im Schlaf der Fall ist. 

Der empfindsame Schwärmer, weicher durch die Ein- 
drücke nicht zur kräftigen Reaction veranlasst wird, sondern 
sich nur receptiv verhält und vorzugsweise am Gefühlswerth 
Interesse nimmt, — der Idealist^ der sich mit. seinen Gedan- 
ken lieber beschäftigt als mit den Dingen der äusseren, prak* 
tischen W^elt und mehr in Vergangenheit und Zukunft als in 
der Gegenwart zu leben scheint, der Wünsche hegt und Ziele 
zu erreichen sucht, welche Anderen unerreichbar dünken — 
wird nicht minder für einen »Träumer« gehalten als der wenig 
befähigte Kopf, dem Nichts Interesse abgewinnen und den 
Nichts zu begeistern vermag, weil er nie die Wichtigkeit eines 
Gegenstandes zu ermessen weiss, um danach sein Handeln 
einzurichten. Zuweilen sammelt sich bei Träumern ersterer 
Art die Kraft, und es drängt sich plötzlich eine Schöpfung, 
eine That hervor, die Niemand erwartet hat und welche Alles 
in Erstaunen setzt. Viele Männer , deren Namen später mit 
hoher Verehrung genannt wurden, — besonders in der Kunst 
•— galten in der Jugend für untaugliche Schwärmer und Träu- 
mer, da sie durch ihre individuelle Anlage zum inneren Ge- 
danken- und Geistesleben und zwar nach einer bestimmten 
Richtung hingetrieben wurden 8**) , — weshalb sie nur für das 
Interesse zeigten, was in diese Richtung einschlug, während 
sie für Anderes, dessen Gebiet ihnen ferner lag, sich mehr 
oder minder unempfänglich zeigten. Andere^ die durch Miss- 



t 



— 230 — 

griff der Erziehung oder durch die Ungunst äusserer Verhält- 
nisse mit Gewalt in solche Gebiete, die ihnen fremd waren, 
gedrängt und dadurch verhindert wurden, ihre Anlagen aus- 
zubilden, verliess dieser träumerische Zustand nicht während 
des ganzen Lebens, und der bedauemswerthe Zwiespalt ihrer 
Anlage und Neigung mit den praktischen Bedürfnissen und 
Pflichten verzehrte ihr bestes Markl 

Der träumerische Geisteszustand wird bedingt theils durch 
körperliche Constitution, die entweder angeboren mehr oder 
minder während des ganzen Lebens, oder nur in einzelnen 
Perioden der Entwickelung sich zeigt, theils durch momentane 
psychische und physische Ursachen, theils endlich durch künst- 
liche MUtel, durdi welche man sich Phantasien dtdr versohie- 
deniäten Art hervorzaubert« 

Das Weib ist, wie wir schon ausgeführt haben, der eigent- 
liche Typus der Sensibilität im Gegensatz zum Manne, der den 
Willen repräsentirt. Es bewegt sich am meisten innerhalb 
des Gefühlslebens, Träume und Ahnungen haben ftlr dasselbe 
ein grosses Interesse und sein ganzes Denken im Wachen ist 
so zu sagen mehr oder minder Träumerei. Sinnend sittt die 
junge Dame an ihrem Stickrahmen; die Gedanken eilen ohne 
grosse Klarheit schnell Yorüber, es bilden sieh seltsame Ver- 
bindungen, und die Phantasie malt die Bilder^ deren Gegen- 
stsmd die mannigfachen Wünsche tmd Ideale sind, auf das 
herrlichste auA. Sinnend blickt femer die Mutter auf das 
spielende oder ruhig schlafende Kind und smcbt sich vorzu- 
stellen, was die Zukunft in ihrem dunklen Schoosse für das- 
selbe birgt, dd sie Glück oder Umt^iück, Leid oder Freude ihm 
bringen wird^ 

Auch unter den Vertretern des mä&nli(^n Geschlechts 
findet man soldae sensible Naturen. Das melancholische oder 
Sieütimentale Temperament dLsponirt zu Phantaslereifm, es be- 
günstigt das oft unnütze Grübeln und die Unthtttigkeit im 
praktisoben Leben. 

Mangel des energischen Willens diarakterisirt femer das 
Leben des sanguinischen Kindes; schnell versdbwiniten die 
Vorstellungen und Gefühle wie sie gekommen, und Olttok ist 
die vorherrschende Stimmung ganz wie im Traum. Als be- 
sonders iräumerisch ist aber die Zeit der eintretenden 6e- 



— 231 — 

sefalechtsreife bekannt ^^j. Hier fehlt nicht nur die kräftige 
AeusseruDg des eben sich entwickelnden Willens, sondern es 
tritt auch noch das andere Moment hinzu, die mehr oder we- 
niger verminderte Pereeptionsfähigkeit äusserer Eindrtteke. 
In sidi versunken vernimmt oft die erblühende Jungfrau wie 
der Jlingling die Fragen nicht richtig, weidie an sie gerichtet 
werden, vorübergehend sind ihre Stimmungen, unbestimmt 
und nebelhaft gestaltet sich ihr I>enken. Phantastische Idediität, 
das Streben nach einem dunklen Etwas in grauer unbestimm- 
ter Feme und überhaupt das Unbestimmte, Masslose, der 
schnelle Wechsel einander verdrängender Gedanken und Ge- 
fühle ist diesem Lebensalter eigen ; sonderbare Launen, die eben 
so schnell vergehen als sie gekommen, beherrschen den Men- 
schen. Es diarakterisirt sich diese Zeit durch das sich Vor- 
bereitende, gleichsam noch nicht Fertige, sondern Werdende 
und daher Unbestimmte im physischen wie im psychischen 
Gebiete. Der Jüngling fabricirt seine Liebesgedichte ä la Lenau 
oder ä la Heine ; die Jungfrau ist bei aller, oft in das Mystisch- 
Religiöse spielenden Schwärmerei sinnlich, ja zuweilen leicht 
zu verführen, und ihre Phantasie zaubert ihr oft minder heilige 
Bilder vor. — Später tritt ein ähnlicher träumerischer Zustand, 
— besonders wenn das Gefühlsleben mehr ausgebildet und das 
klare theoretische Denken weniger entwickelt ist, — bei Er- 
regung des Gemüths ein. Die Liebe, welche zur Zeit der 
Pubertät erwacht, aber dieselbe überdauert, ist »gedankenvoll«, 
ohne dass die Gedanken besonders inhaltvoll und klar 
sind; Wenige begeistert sie zu grossen Thaten, die Mehrzahl 
versetzt sie in eiu dumpfes Brüten und in mystische Phantaste- 
reien ^®) . 

Hierher gehört auch das religiöse Versenktsein , die Ent- 
zückung oder die Ekstase, von welcher Paulus bekanntlich sagt, 
er wisse nicht, ob er dabei in oder ausser dem Leibe gewesen. 
AugusUn erzählt von einem Mönche, der in der Entzückung 
wie ein Todter war, und den man stechen, schneiden und 
brennen konnte, ohne dass er es fühlte. Das Mittelalter hat 
viele solcher Beispiele aufzuweisen. 

Von Coleridge und Mozart wird gesagt, dass sie ihre 
vollendetsten Werke in einer Art von bewusstleeekn Zustande 
schufen ^^^),^ und Sokrates fand Aehnliches bei den Dichtem 



_ 232 — 

seiner Zeit. Ueberail, wo die Phantasie mehr ais das streng 
logische Denken entwickelt ist, zeigt die Seelenthätigkeit mehr 
oder minder den Charakter der Träumerei. Aber auch Newton 
befand sich stundenlang in einer derartigen Vertieftheit des 
Geistes, dass er fttr alle äusseren Eindrücke abgestorben zu 
sein schien ; nach seiner eigenen Aussage wartete er in diesem 
Zustande förmlich ab, bis ihm die Gedanken ganz von selbst 
kamen, und er verdankte diesem Brüten seine grossartigen 
Entdeckungen. Wo das Selbstbewusstsein momentan zurück- 
getreten^ ja fast gänzlich geschwunden, ist oft die Keimstätte 
der tiefsten Gedanken, da der Vorstellungslauf dann weniger 
unterbrochen und die Gedanken sich gewissermassen nach ihren 
Wahlverwandtschaften combiniren können. Freilich bedürfen 
dann ,die meisten Producte einer nachfolgenden logischen 
Prüfung. 

Anderer Art als die psychische Goncentration , welche 
weniger den Mangel des Willens als die verminderte Perception 
äusserer Eindrücke mit dem Traum gemein hat, ist die nach 
langer geistiger Arbeit eintretende Ermüdung, die durch hasti- 
ges Spiel der Gedanken , welche der Aufmerksamkeit nicht mehr 
Stand halten wollen, ihre Aehnlichkeit mit dem Traume be- 
kundet. Auf Spaziergängen erhebt sich ein neckisches Spiel 
der Vorstellungen; hastig und unbestimmt eilen sie vorüber, 
die Phantasie verbindet sie zu seltsamen Gestaltungen, aber 
die Bilder verschwinden rasch wieder und sind in stetem 
Wechsel. Der Frühling und Herbst begünstigt das Gefühlsleben ; 
die Dämmerung lässt durch die Unbestimmtheit der Eindrücke 
der Phantasie Raum, das unvollkommen Aufgenommene nach 
ihrer Weise zu ergänzen, während die scharfe Meditation den 
Tag und das Licht liebt: es ist die Zeit phantastischer Träu- 
merei. Wie am Abend ein Vorspiel, so hat der Traum oft 
am Morgen ein Nachspiel. Sputa erzählt (S. 22), dass einer 
seiner Universitätsfreunde fast jeden Morgen nach dem Auf- 
stehen in einen Zustand der Träumerei verfiel , welcher einer 
leichten Betäubung nicht unähnlich war; er sass auf seinem 
Bette^ stierte vor sich hin und sah kaum, was um ihn vorging. 
Diese Verfassung pflegte gewöhnlich so lange anzuhalten, bis 
er sich das Gesicht gewaschen hatte, dann erst kam er wieder 
ganz zu sich und war oft trotz der grössten Mühe nicht im 



— 233 — 

Stande, den Inhalt seiner Träumerei sich in das Gedächtniss 
zurückzurufen. Manchmal gelang es ihm und dann konnte 
man den Reichthum poetischer Bilder und Gleichnisse be- 
wundern, welche ihm, einem sonst nüchternen und trockenen 
Menschen, während seines Träumens gekommen waren.— Schlaf-* 
trunkenheit zeigt sich besonders dann, wenn man zu frühzeitig 
geweckt worden ist. 

Je nach der Stellung und Lage des Körpers ist auch das 
Denken verschieden ; stehend oder sitzend denkt man anders 
als liegend, wo die Veränderung der Gemeingefühle und Blut* 
circulation eine Modifieation der Denkweise bedingt; auf dem 
Sopha liegend kann man bei wachen Sinnen träumen. Abdo- 
minalaffectionen verursachen düstere Grübeleien : der Hypo- 
chonder lässt seiner träumerischen Phantasie die Zügel schiessen 
und malt sich Alles in den schwärzesten Farben aus **<>). 

Ein heiteres, angenehmes Gedankenspiel kann sich Jeder 
künstlich durch Mu^ik verschaffen. Es ist wunderbar, was 
die Welt der Töne für eine Macht auf den Menschen ausübt; 
sie löst »den Knoten der strengen Gedanken« und zieht die 
Vorstellungen und Stimmungen mit sich fort. Wir fühlen die 
Freude und den Schmerz , den sie auszusprechen scheinen, und 
sind fast taub und blind für das, was um uns herum vorgeht. 
Die tiefen Klänge der Orgel, bei welchen der Grundton nur 
mit den nächst höheren Obertönen verbunden ist, stimmen uns 
ernst, die hohen der Violine und anderer Instrumente heiter ^^<), 
das Schmettern der Trompete erregt ^en Muth. Die elegischen 
Klänge der Harfe, das Seufzen des Windes bei der Aeolsharfe 
rufen bei nervösen Personen einen sehr hohen Grad von 
Träumerei, »einen wahren psychisch-physischen Taumel, eine 
ekstatische Sdiwärmerei« wie Sputa sagt, hervor. Alle Stim- 
mungen und Gefühle des Menschen vermag aber die Geige 
auszudrücken; sie lässt uns Freude und Trauer kurz hinter 
einander und als gemischtes Gefühl zugleich empfinden, und 
der Künstler lenkt mit ihren Tönen die Gedanken seiner Zu- 
hörer, wie er es wünscht. Der Glockenklang, der doch immer 
der gleiche ist^ ruft je nach den verschiedenen Umständen 
verschiedene Erinnerungen und deren Associationen wach, und 
es scheint uns, wie Schitier es in seinem herrlichen Gedicht 
so trefflidi darstellt, der Ton selbst ein anderer zu sein. 



— 234 — 

»Schwer und bang« erscheint er beim BegraAmiss eines Dahin* 
geschiedenen, indem die Gedanken an den Tod und die damit 
zusammenhiSingenden Associationen und Stimmungen empor* 
tauchen ; ):)heulend« sdballt die Glocke beim Aufruhr, sie »wim* 
mert« bei Feuersgefahr. Sogar auf den der Religion mehr 
entfremdeten und versweifelnden Mensehen ttbt der zur Kirche 
rufende Glockenklang und der Orgelton einen mächtigen Zauber 
aus ^2). Freilich iet die Wirkung nicht überall die gleiche; 
sie ist schwächer bei abstract denkenden Verstandesmenschen 
als bei sogenannten GemQthsmensohen , deren Gefühlsleben 
ausserordentlich entwickelt ist, allein Niemand kann sich ihr 
ganz entziehen. — Dabei kann man bediaditen, dass diie 
Reizung von dem sensiblen auf das motorische Gebiet ttber« 
geht. Bei jungen Leuten, die sehr gern tanzen, zucken un* 
willkürlich die Füsse beim Rhythmus der Tanzmusik; weil 
die Verbindung der Muskelbewegung mit der Geh^sempfindung 
sehr oft vollzogen wurde , ist sie hier fest constant , analog 
jeder Fertigkeit, geworden. 

Da die Musik eine so grosse Wirkung auf den gesunden 
Menschen ausübt, hat man sie von den frühesten Zeiten an als 
therapeutisches Mittel bei der Melancholie gepriesen. Doch aus- 
gezeichnete Beobachter , wie Eiquirol und Ferrus, haben <tie5 
Mittel nicht immer gelobt. Die durch sie erregten Gefühle sind 
zu flüchtig um auf die Dauer krankhaften Stimmtmgen ^sitgegen 
zu treten, und sie hat nur dann eine die soimtigen Zerstreu* 
ungsmittel übertreffende Wirkung, wenn sie von dem Kranken 
selbst mit Neigung ausgeübt wird^^). Guislain sah, da» 
Melancholische durch die Töne eines Piano, einer Vic^ne oder 
eines anderen Instruments sogar ängstlich wurden. »Wenn die 
Phänomene einer wirklichen Besserung sich Bahn zu brechen 
anfangen, wenn der Schlaf wieder stäiiLt, wenn geringere 
Traurigkeit, mehr Raschheit in den Antwoiten, mehr Spenta- 
neität im Handeln, mdir Geneigtheit zum Aufstehen, zu Bie- 
wegungen vorhanden ist, so kann man den Eänfluss der Musik 
versuchen«. Gemeinsame Gesangttbungen waren von £rfolg^^). 

Einer besonderen Art von Träumerei sei hier nodb Er- 
wähnung gethan, welche B. Auerbach zuweilen in seinen Er«- 
Zählungen aufftlhrt, nämlich der durch das Rollen und Schütteln 
der Eisenbahnwagen und der dadurch veranlassten Kürper-- 



— 235 — 

empfindungen beim Reisenden hervorgerufenen. Man sucht 
unwillkürlich in dem Rollen der Räder einen gewissen Takt, 
und die Phantasie, die an den Zweeken der Reise einen äus- 
serst geeigneten Anknüpfungspunkt findet, ergeht sich in den 
kühnsten Sprüngen. 

Ein femenres Mittel, das Denken künstlieh ku träumerischem 
werden zu lassen, ist der Tabak. Kant sagt. »Der Tabaks* 
rauch ißt ein Reiz, der eine unbedeutende Empfindung erregt, 
die weder angenehm noch unangen^m ist und oft wiederholt 
werden kann, wo das Gemüth durch diese geringe Empfindung 
immer in Bewegung gesetzt wird. Aber auch der Raut^ ist 
eine Hauptsache dabei; im Finstem glaubt man immer, die 
Pfeife sei ausgegangen, denn die mancherlei Figuren 
des Rauchs malen der Phantasie so etwas Tor, und 
die kleine Bewegung unterhält den Lauf des Gemüths, immer 
seinen Gedanken nachzugehen«^^^}. Die Indianer Amerikas ver- 
wenden den Tabak um visionäre Zustände zu erzeugen; un- 
massige Gebrauch desselben kann Wahnsinn herbeiführen ^^^) . 
Dieselben Wirkungen wie die des Tabaksrauchs haben andere 
Räucherungen verschiedener Art. Die Folgen des Genusses 
von Opium, Haschisch und anderer Narcotica sind 
schön besprochen worden 3*>^. 

Bekannt sind die Folgen des Genusses geistiger Ge- 
tränke. In ^r Weinseligkeit scheinen die Vorstellungen 
vorüberzufliegen, und dass die Trunkenheit ein kurzer Wahn-^ 
sinn sei, war schon ein Sprichwort des Alterthums. 

Sogar viele einaelne Eigenthümlichkelten und Formen der 
Träume finden wir im Wachen, wenn auch modificiit, wieder. 
Vielfach wird unser Bemühen, unsere Aufmerksamkeit aof einen 
Punkt zu concentrireU; durch Vorstellungen heterogener Kreise 
gestört, welche sich* fortwährend aufdrängen und in uns die 
Neigung zu sogenannten Ideensj>rüngen , yt^ sie der Traum 
zeigt, hervorrufen. Das Selbstbewusstsein versckeudbt sie 
wieder, je mehr aber dieses schwindet, desto grösser wird 
ihre Macht. Wenn man etwas bereut, sich selbst darüber 
Vorwürfe macht, sei es laut oder im Stillen, theilt sich das 
Ich in zwei Hälften, die eine warnt und straft, die andere 
wird gewarnt und gestraft und bleibt passiv. Es giebt Leute, 
die ganz gesund sind und doch in sokhen Zuständen vor sich 



— 236 — 

hin reden, überhaupt sich ganz so geberden, als ob derjenige, 
welcher den thtfrichten Streich begangen und auf den sie 
schelten, ein ganz Anderer sei, oder als ob sie andererseits 
vor einem sie ausscheltenden Richter ständen, um sich zu 
yertheidigen und zu rechtfertigen. Nicht selten findet man 
bekannlich solche, die ihre eigenen schlechten Gedanken bei 
ganz gesunden Sinnen der fremden Einwirkung des Teufels 
zuschreiben ; sie ringen mit diesem bösen Princip , als ob es 
ein personliches, sie bedrängendes Wesen sei. Die eine Gruppe 
von Vorstellungsmassen, welche die eine Hälfte des Ichs bildet, 
kann die andere unterdrücken und sich die Herrschaft aneignen ; 
es findet ein wirklicher Kampf zwischen diesen beiden Theilen 
der Persönlichkeit statt. Der Hypochonder beschäftigt sich zu 
viel mit sich selbst und hält gern Monologe; oft aber verliert 
er bald die Herrschaft über die Vorstellungen, welche er aus 
der Menge der anderen heraus und ihnen gegenüberstellte, 
sie gewinnen durch ihre öftere Wiederkehr eine grosse Stärke 
und objectiviren sich; was früher eine krankhafte Empfindung 
war, wird jetzt zur insultirenden und molestirenden fremden 
Person oder zum bedrängenden Ungeheuer. 

Der Jüngling und die Jungfrau versetzen sich wohl schon 
in die Zeit, wo ihre Wünsche erfüllt und ihre Ideale realisirt 
sein werden, und es ist ihnen als ob sie der Gegenwart ent- 
rückt wären. Wenn im Trauiü, wo Alles sinnliche Lebendig- 
keit und Wahrheit gewinnt, der Unterschied zwischen der 
Gegenwart und Zukunft, zwischen Wirklichkeit und Vorstellung 
noch mehr verschwindet, so kann auch im Wachen ein ähn- 
licher Zustand herbeigeführt werden. Die fortwährend wieder- ' 
kehrende Vorstellung der Grösse , der Erhabenheit und des 
Reichthums kann allmählich zum Grössenwahn führen. Anteci- 
pationen späterer Ereignisse kommen besonders bei Frauen 
nicht nur in Träumen sondern auch im Wachen — namentlich 
in erregten Zuständen — in Form von Ahnungen sehr häufig 
vor 3^s) . 

Nach vorhergegangener psychischer Concentration löst der 
Schlaf »den Knoten der strengen Gedanken«; die vorher oft in 
falsche Bahnen geleiteten Gedankenreihen combiniren sich 
unabhängig vom Selbstbewusstsein, und es entsteht zuweilen 
ein neues richtiges Gedankenproduct und der Schlusssatz wird 



— 237 — 

richtig aus den vorhandenen Prämissen gezogen. Ebenso kann 
man am Tage manchmal mit einem Problem nicht zu Ende 
kommen, man bricht ab, erholt sich und plötzlich steht vor 
der Seele das fertige Resultat, welches man früher nicht zu 
finden vermochte. Mann kann sich auf etwas durchaus nicht 
besinnen und wenn man die Aufmerksamkeit wegwendet, steigt 
es von selbst in der Erinnerung auf. 

Wie in einigen Fällen an Stelle des normalen Schlafes ein 
intermittirendes Irresein tritt, so unterbricht auch zuweilen ein 
plötzlich eintretender wacher Traumzustand das gewöhnliche 
Tageswachen, welches nach des ersteren Aufhören wieder an 
derselben Stelle aufgenommen wird. Eine Dame war solchen 
Paroxismen unterworfen : plötzlich in der Mitte der Unter- 
haltung brach sie ab und fing an, von etwas ganz Anderem 
zu sprechen; nach einiger Zeit nahm sie die Unterhaltung an 
der Phrase, ja an dem Worte, wo sie stehen geblieben, wieder 
auf und wusste nicht das Geringste von dem Zwischenfalle ^^^) . 
Vollständig pathologische Zustände bezeichnen endlich die »Ideen- 
sprünge« des Fieberdeliriums und des Wahnsinns. 



Drei Sätze sind es hauptsächlich, die wir als Resultat 
unserer Untersuchung hinstellen können. Die psychischen 
und physischen Vorgänge gehen einander parallel. 
Bei einer Erschütterung des Gemüths und der geistigen Kräfte 
erscheint eine Störung im Organismus, besonders im Gehirn, 
und eine Erkrankung des Organismus hat eine Veränderung 
der psychischen Functionen zur Begleiterin. Der Verminderung 
der organischen Functionen im Schlafe geht die Herabsetzung 
der psychischen Thätigkeiten parallel, und im Wahnsinn be- 
gleitet die Erkrankung des Geistes die des Gehirns und um- 
gekehrt. Aber die Verbindung ist k^ine causale. Keines 
der beiden Reiche des Lebens geht oder wirkt unmittelbar 
hinüber in das andere oder ist ein Product desselben. Aus 
Nervenprocessen wird weder Gedanke noch Empfindung und 
GefQhl erklärt und ebensowenig erzeugt; sie sind von 
Nervenbewegungen begleitet, entstehen aber nicht aus ihnen, 
sie sind nicht Functionen des Gehirns oder Folgen der 
körperlichen Thätigkeiten,* sondern Begleiter derselben. 

Ferner zeigen die normalen und anormalen 



— 238 — 

geistigen Thätigkeiten in den verschiedenen Er- 
Sjcheinungen und Verhältnissen keine qualitativ 
ven, sondern nur quantitative Unterschiede. Wie 
in der Natur zwisehen der niedrigsten uns v^abfnehmbaren 
Form der psychischen Functionen anderer Wesen und denen 
des Menschen eine unzählige Menge von Mittelstufen sich fin* 
det (natura non facit saltus!), so aeigt auch die Seele des 
Menschen in den verschiedenen Verhältnissen sich einer unge- 
heueren Gradation fähig. Durch viele 'einzelne, aber 
zusammenhängende und untrennbare Abstufun* 
gen geht das wache Selbstbewu&stsein in das Be- 
wusstsein des Schlafes und Traumes aber, und 
zv^iscbson Gesundheit und Krankheit der Seele 
findet man keineswegs eine feste Grenze, sondern 
es giebt ein grosses Mittelgebiet von Störungen; 
Niemand vermag genau zu sagen, wo die Vernunft 
sich zur Unvernunft verkehrte. Treffend bemerkt 
Idekr^^^) : » . . . . das Tageslicht der Vernunft geht durch 
unzählige Dämmerungsstufen in die Nacht der Bewusstlosigkeit 
ttber. Wer in jenem Zwielicht des Bewusstseins plötzlich 
willkürlich eine Grenze ziehen wollte, an welcher die Ver- 
nunft aufhöre, würde es ebenso machen wie Jene, welche, 
aufgefordert einen Weizenhaufen zu deftniren,. zuletzt gestehen 
mussten, dass ein Weizenkom schon einen Haufen bilde«. 
In den heterogensten Zuständen kann man, wie Herbart sagt^^^), 
dieselbe Seele und dieselben Gesetze des Vorstellens wieder- 
erkennen. Die Grundformen zeigen sich rr- wenn auch zu- 
weilen modificirt — überall; nur in Bezug auf die höheren 
Thätigkeiten des Seibstbewusstseins , des. vernünftigen Willens 
und der Urtheilskraft finden sehr bemerkenswerthe Unterschiede 
statt. In äusserst feinen, unmerklichen Gradationen schwinden 
dieselben ganz oder theilweise beim Uebergang des Wachens 
in den Schlaf und der geistigen Gesundheit in Krankheit; sie 
tauchen wieder auf beim Erwachen und bei der Genesung. 
Nicht unpassend gebraucht Sputa das Bild des Regenbogens, 
dessen äusserste Farben weit von einander abstehen und ver- 
schieden sind, während doch die einzelnen einen solchen un- 
merklichen Uebergang in einander zeigen, dass man sie nicht 
sicher begrenzen kann^^^j. 



— 239 — 

Endlich greifen einestheils die verschiedeneu 
Zustände in einander über: man findet sogenanntes 
theilweises Wachen im Schlaf, Träumerei Jm Wachen, Licht- 
blicke der höheren Geistesthätigkeit im Wahnsinn und inter- 
mittirendes Irresein im gesunden Zustande, — andererseits 
üben die Vorstellungen des einen, soweit es die 
physiologischen Bedingungen zulassen, in dem 
darauf folgenden ihren Einfluss aus, und >3S fin- 
det eine gegenseitige Wechselwirkung statt. Die 
geistigen Erwerbungen während des Tages und der Gesund- 
heit bleiben meist im Traum und bei Erkrankungen : die dort 
gebildeAea Yorstellungen werden hier reproduoirt und bilden 
die Traumgedanken und Wahnideen. Ber von der geistigen 
Krankheit Genesene behält noch manche S(»iderbai4:eiten, und 
der Traum wirkt fort in den Stimmungen und Gedanken des 
Tages. Weil der Mensch im Wachen mit der Erinnerang an 
einen Dahingesdiiedenen sich lebhaft beschäftigt, träumt er 
von diesem, und seine Erscheinung hilft ihm den Glauben an 
eine persttnliche Fortdauer nach dem Tode bilden, die in eben 
dem Grade der irdischen Existenz gleicht, als die Traumge- 
bilde den Erseheinungen des wachen Lebens. Weil in man- 
chen Krankheitsfermen der Mensch sich von einem Ungeheuer 
besessen oder selbst in ein Thier verwandelt wähnt, glauben 
viele Naturmenschen im gesunden Zustande, dass manche Leute 
sich in ein Thier verwandeln können, um den anderen Scha- 
den zu stiften. 

Dass neben dem Körper es ein geistiges Princip gäbe, wel- 
ches in ersterem wohnend das Wesen des Menschen ausmache, 
erkannte oder fühlte man unmittelbar im Wachen, dass aber 
dieses Princip selbstständig und vom Körper abtrennbar zu 
denken sei, so dass es bei schlafendem Leibe wachen oder 
sogar herumwandem könne, um Besuche abzustatten, — zur 
Bildung dieser und vieler anderer Vorstellungen hat unzweifel- 
haft der Traum hauptsächlich beigetragen. 



^ Anhang. 

Die neueren Theorien über die näheren Ursachen des Schlafes. 

y> Aristoteles ^^^) und Galm widersprechen einander und 
letzterer erklärt schliesslich unumwunden, er wisse nicht zu 
sagen, wodurch der Schlaf verursacht werde. Spatere, weniger 
ehrlich und weniger vorsichtig, stellten bis in die neueste Zeit 
die abenteuerlichsten Hypothesen auf. Bald soll das Einschlafen 
auf einer Austrocknung, bald wieder auf einer Ansammlung 
von Feuchtigkeit, ja sogar auf einer Veränderung der Milz^ auf 
einer Zunahme, dann wieder Abnahme der Blutmenge im Ge- 
hirn, auf einer Compression des Gehirns, einem Collaps seiner 
Ventrikel beruhen. Einige setzen eine Anhäufung von Kohlen* 
säure voraus, andere eine Erschöpfung der Nerven. Johannes 
Argenterius, der 1540 ein wortreiches Buch über Schlafen und 
Wachen schrieb, hält die Abnahme der »eingeborenen Wärme« 

für die Ursache des natürlichen Schlummers Ihren 

Gipfelpunkt erreichte übrigens die physiologische Phantasie im 
Jahre 1818, als ein junger Arzt allen Ernstes die Ansicht zu 
begründen versuchte, dass das Einschlafen durch eine Explosion 
verursacht werde, indem die )>positive und negative Electricität 
des Gehirns« sich abgleichen sollen« *^®4). Marshall Hall, Haller 
und Andere meinten, das Gehirn sei während des Schlafes 
hyperämisch, die überfüllten Venen bedingten eine Compression 
desselben; Andere, wie Blumenbach, hatten die Ansicht, die 
Blutmenge des Gehirns nehme im Schlafe ab, und Durham 
(1860) behauptet, im Schlafe finde Contraction der Arterien 
statt und die Verminderung der Blutmenge sei die Ursache des 
Schlafes. Er sah bei trepanirten Thieren, denen Glasplättchen 
in die Schädelknochen eingekittet wurden, die Gehimoberfläche 
blass werden , nachdem sie vorher roth gewesen. Dagegen 



— 241 — 

bemerkt Preyer (S. 11) : » . . . soviel ich finde, beziehen sich 
alle diese Fälle nur auf künstlich durch Betäubung, z. B. 
mittelst Chloroform, oder pathologisch herbeigeftthrte schlaf- 
ähnliche Zustände. Durham bec^achiete chloroformirte ThierOi 
. . . Diejenigen Forscher, welche Trepanirte ohne solche Ein- 
griffe und Anomalien untersuchten , sahen durchaus keine regelt- 
massige ' Erweiterung oder Verengerung der Blutge&sse des 
Hirns und der Hirnhäute, sondern nur die schon von RecUdo 
Colombo im 16. Jahrhundert entdeckten respiratorischen Hebun- 
gen und Senkungen des Gehirns und den Puls«. 

Preyer selbst stellt eine neue Theorie auf. Seine 
Grundvoraussetzung ist, dass jeder geistige Process mit einem 
lebhaften Sauerstoff-Verbrauch seitens des Substrats im Gehirn 
verbunden sei. »Keine Willensäusserung , keine Empfindung 
oder gar Wahrnehmung auf irgend welchem Sinnesgebiet , keine 
Leidenschaft, sei sie erst im Entstehen, gleichsam als glimmen- 
der Funke, sei sie zur Flamme schon angefacht, kurz keine 
einzige Manifestation der Gehimthätigkeit kann zu Stande 
kommen, ohne dass der Sauerstoff, den das Blut in das Ge* 
hirn bringt, von den Ganglienzellen verzehrt wird. Fehlt es 
der Ganglienzelle an Blutsauerstoff, dann erlöschen die Be- 
wusstseinsthätigkeiten , die Aufmerkiäamkeit wird lahm , dann 
steht das Wollen und Denken still, wie im Schlafe. Finden 
jene psychischen Processe statt, dann fehlt es der Ganglienzelle 
an Sauerstoff nicht« (S. 7; vergl. auch S. 10). Es gebe, der 
Leber ausgenommen, im ganzen Organismus kein Gewebe, 
welches den rothen Blutkörperchen so schnell wie das Hirn- 
gewebe den Sauerstoff entziehe. Das Gehirn stelle seine Ar- 
beit zum Theil ein, wenn die beiden Carotiden unterbunden 
oder comprimirt vsürden ; auch tritt, vsie er sagt, nach grossem 
Blutverlust leicht Schlafsucht ein. Dass dabei der Mangel an 
Sauerstoff die Abnahme der Hirnthätigkeit bedinge, g^he aus 
Experimenten hervor, bei denen ohne Unterbindung der Ge- 
isse und ohne Aderlässe ähnliche Erscheinungen einträten, 
wenn nur die Aufnahme des atmosphärischen Sauerstoffs er-r 
Schwert und sistirt werde. Hier erfolge Schlaf und es zeige 
sich, wenn Sauerstoff wieder zugeführt würde , ein allmähli- 
ches Erwachen. Da nun, fährt er fort; schlechterdings nicht 
angenommen werden kann, dass das zuströmende arterielle 

B ade stock. Schlaf n. Traum. JQ 



— 242 — 

Blut im Schlafe weniger Sauerstoff enthalte^ so entsteht die 
Frage, ob die vom Blute dem Gehirn zugeftthrte Sauerstoff- 
menge im Schlafe anders verwendet wird als im Wachen und 
wie, — oder ob im Schlafe weniger Sauerstoff in das Gehirn 
gelangt, weil weniger Blut in dasselbe strömt. In Bezug auf 
letztere Ansicht stimmt er Lenhossek bei, welcher den Schlaf 
weder auf einer Steigerung noch auf einer Verminderung de^ 
Blutzuflusses zum Gehirn beruhen lässt, obgleich durch künst- 
lich herbeigeführte Hyperämie und Anämie bewusstlose Zu- 
stände verursacht werden könnten. »Dann aber«, sagt er, 
»bleibt nach dem Vorigen nichts anderes übrig, als dass er 
eine andere Verwendung findet im Schlaf, als. beim Wachsein, 
und es fragt sich welche? Ich antworte, dass während 
des Wachseins von der Muskelfaser und der Gang- 
lienzelle gewisse Stoffe erzeugt werden, welche 
im Buhezustande nicht oder nur in minimaler 
Menge vorhanden sind, aber je grösser die An- 
strengung und je intensiver die Sinnesthätigeit 
waren, um so schneller entstehen, um so mehr 
sich anhäufen müssen; dass diese Producte der 
Muskel- und Gehirnthätigkeit, die Ermüdungs- 
stoffe, leicht oxydabel sind, und wenn Beize feh- 
len, den Sauerstoff an sich reissen, und sich 
selbst damit oxydiren. Dieses, behaupte ich, ge- 
schieht im Schlaf. Ist die Oxydation und damit Besei- 
tigung der Ermüdungsstoffe weit fortgeschritten, so genügen 
schon schwache Beize, den Blutsauerstoff der Ganglienzelle 
wieder zuzuwenden : man erwacht. Häufen jene Stoffe wäh- 
rend des Wachseins sich wieder an , so nimmt die Erregbar- 
keit ab, die Bewusstseinsschwelie steigt, es tritt Ermüdung 
und Schlaf ein , wenn nicht starke Beize den Sauerstoff ver- 
hindern die Ermüdungsstoffe zu oxydiren, indem sie ihn selbst 
benöthigen. Denn im wachen Zustande ist es eben dieser 
Sauerstoff, welcher für die Inganghaltung der willkürlichen 
Muskelaction , wie der psychischen Vorgänge verbraucht wird. 
Das ist die Grundlinie der neuen Theorie. Es ist also zunächst 
darzuthun, dass wirklich solche Körper wie die Ermüdungs- 
stoffe sich bilden und anhäufen, dann dass sie einschläfernd 



— 243 — 

wirken. Ersteres ist bereits seit Jahren bewiesen. Letzteres 
habe ich selbst experimentell festgestellt«^*). 

Unter diese Ermüdungsstoffe rechnet er besonders Milch- 
säure. Er führte dieselbe oder milchsaures Natron in den 
Magen oder unter die Haut vieler Thiere ein und bemerkte, 
dass; wenn starke Reize fern gehalten wurden, 
Schlaf eintrat; dasselbe Resultat erhielt -er, wenn nicht Milch- 
Säure selbst eingeführt, sondern nur die Bedingungen für ihre 
reichliche Bildung gegeben wurden, wie nach ausgiebiger Ein- 
führ von Kohlehydraten. Dann stellte er auch Versuche an 
Menschen und zunächst an sich selbst an. Er empfand nach 
Einführung von milchsaurem Natron ein starkes Ermüdungs- 
' gefühl, ja schon nach reichliehem Genuss von geronnener Milch 
trat bei ihm Schl^frigkeit ein. 

Allein er bemerkt auch; »das Fernhalten der Reize 
ist von fundamental er Wichtigkeit für das Gel in gen 
dieser Experimente. Auch muss man dieselben über 
grosse Zeiträume ausdehnen, da manche Thiere, wenn 
sie nicht beschäftigt sind, von selbst einzuschla- 
fen pflegen« (S. 23); ferner gesteht er selbst ein, dass der 
Erfolg weder bei Thieren noch bei Menschen constant sei. 
Bei einigen blieb jede hypnotische Wirkung aus und die Ver- 
suchsindividuen verhielten sich nur ruhig. So fand auch 
L. Meyer das milchsaure Natron subcutan gänzlich und Stoma- 
chal mit Ausnahme von zwei Fällen so gut wie wirkungslos ^«ß) . 
Auch Erler und Fischer ^^') konnten eine schlafmachende Wirkung 
des milchsauren Natrons und der Milchsäure nicht constatiren; 
letzterer wandte^ die Säure in Klystieren an, in welcher Form 
sie von Mendel empfohlen worden war. 

Eine andere Theorie als Preyer stellte E. Pflüger 
auf 368J. Nach seiner Theorie des Lebens werden die Leistungen 
der Organe durch die Dissociation der lebendigen Materie be- 
dingt, die im wesentlichen eine Modification von Eiweiss ist ^®ö) . 
Indem sich Kohlensäure fortwährend intramolecular durch Dis- 
sociation bildet , welche Umlagerung der Atome erzeugt , so 
wandelt sich die hierbei verbrauchte chemische potentielle 
Energie zunächst in Wärme des neugebildeten Kohlensäure- 
Molecüles um^^^), und die Atome des letzteren werden im 
Momente der Bildung desselben in die heftigsten Oscillationen 

16* 



— 244 — 

verseUt, wie es bei einer Explosion geschieht. Dieae während 
des Lebens fortwährend ablaufenden Explosionen erzeugen 
durch die Fortpflanzung der St5sse auf alle Theile der Mole— 
cttle starke Vibrationen aller Atome. Am stärksten sind sie 
während des Wachens. Versuche an Tfaieren, bei welchen 
Entziehung des Sauerstoffs Schlaf und Scheintod herbeiführte^ 
ergaben, dass eine bestimmte Summe intramolecularen Sauer* 
Stoffs die Fundamentalbedingung für den wachen Zustand ab- 
giebt. Sie ermöglicht einen bestimmten Werth der Zahl der 
Explosionen , welche in der Zeiteinheit bei gegebener Tempe- 
ratur ausgelöst werden können. 

Nun bildet nach Pflüger das ganze Nervensystem mit Ein- 
schluss der Muskeln und wahrscheinlich aller Secretionsdrttsen 
eine continuirlich zusammenhängende Masse, das animale 
Zellennetz. Diese festweichen Massen stellt er sich jedoch 
nicht wie ein wässriges Lösungsgemenge in Hüllen vor, son- 
dern als organisirte d.h. mit einer Structur behaftete Materie. 
Er denkt sit^fa die lebendigen Molecüle durch chemische Kräfte 
kettenartig an einander geknüpft, so dass sie Fasern bilden, 
die einzeln verlaufen oder mit anderen anastombsiren. In den 
Interstitien dieses Fasernnetzes üimmt er wirkliche Lösungen 
an von Salzen, Zersetzungsproducten, ja unter Umständen so- 
gar von Nahrungseiweiss , das also noch nicht organisirt ist 
u. s. w. Einen optischen Ausdruck hat dieses Moleculametz 
in der fibrillären Structur der Ganglienzelle, des Axencylinders, 
der Muskelfaser, der Drüsenzelle gefunden; doch sind diese 
sichtbaren Fibrillmi wohl nur Fascikel nodi kleinerer Fäserchen. 
Da nun diese elementaren Fibrillen wie eine Perlschnur aus 
aneinander geknüpften Molecülen zusammengesetzt sind, deren 
Atome in fortwährenden Oscilialionen sich befinden, so muss 
jede Veränderung der Schwingung eines Atoms eine Verände- 
rung der Schwingungen der benachbarten Atome und so fort 
zur Folge haben. Femer weisen alle bekannten Thatsachen 
darauf hin, dass in der grauen Substanz des Gehirns höchst 
labile Zustände vorhanden sind, welche eine sehr starke Dis- 
sociation zur Folge haben, die wahrscheinlich die in jedem 
anderen Organe des Körpers stattfindenden übertrifft. Kein 
Organ ist so abhängig von der Zufuhr des Sauerstoffs, wie 
das des Gehirns, und seine graue Substanz zersetzt sich sogar 



— 245 — 

bei einer wenig über 0° betragenden Temperatur unter Säure- 
bildung. Wenn nun in der grauen Substanz des Gebims die 
mächtigsten Vibrationen während des wachen Zustandes wesent- 
lich in Folge der Kohlensäurebildung statt finden^ so werden 
die Erschütterungen nach allen oder vielen Bichtungen des 
Körpers wellenartig übertragen. 

Jede Erschütterung der bereits in Dissociation begriffenen 
Molecüle des Körpers verstärkt aber die Dissociation, also den 
Kraftverbrauch. Der wache Zustand bedingt an sich eine 
Verstärkung der Consumtion der chemischen potentiellen Ener- 
gie in allen Theilen des Nervensystems und in seinen Annexen. 
Der Verbrauch an chemischer Spannkraft ist nun während des 
wachen Zustandes so gross, dass die während derselben Zeit 
mögliche Aufsaugung von Sauerstoff durch die lebendigen 
Gehirnmolecüle nicht gleichen Schritt hält; so dass die graue 
Substanz durch das Wachsein mehr verliert als gewinnt. Die 
Kohlensäurebildung nimmt demnach stetig ab und die Explo- 
sionen werden weniger zahlreich. 

Zwar wird, wie bei aller Ermüdung, während des Wach- 
seins durchaus nicht die ganze Kraft des Gehirns verbraucht, 
wohl aber so viel, dass, wenn alle äusseren Erregungen, die 
auf das Gehirn wirken , abgehalten werden , die gesunkene 
Kohlensäurebildung allein nicht ausreicht, um die nothwendige 
Grösse. der lebendigen Kräfte zu liefern, welche zur Erhaltung 
des wachen Zustandes erfordert wird ^^^j . Auch können, wenn 
der grosse Herd mächtiger Explosionen zur relativen Ruhe 
gelangt, stärkere Erschütterungen nicht mehr secundär nach 
allen Theilen des animalen Systems sich fortpflanzen. Der 
Arbeitsverbrauch nimmt in allen Organen ab, die unter der 
Herrschaft des Nervensystems stehen. Dies spricht »sich in der 
Trägheit des Schlaftrunkenen aus: die Augenlider und der 
Kopf sinken herab, die Muskeln des Rumpfes versagen ihren 
Dienst, ^as Rückenmark kommt zur Ruhe, ja sogar das ver- 
längerte Mark arbeitet schwächer ^^^j. Die Ersparniss an 
Arbeits verbrauch ermöglicht nun die Erholung in 
allen diesen Organen. Während des Schlafes er- 
setzen die lebendigen Molecüle zugleich ihren Ver- 
lust an verbrennbarer Mater ie, an Kohlenstoff und 
Wasserstoff. 



— 246 — 

Diejenigen Vibrationen der Himmaterie, durch welche 
das Bewusstsein bedingt ist, besitzen eine grosse Trägheit, so- 
dass sie wie eine einmal angestossene Saite lange Dachtönen; 
dafür spricht die starke Beeinträchtigung der Fähigkeit zum 
Einschlafen nach starker geistiger Arbeit. Es würde sich daraus 
ergeben, dass bei Ermüdung des Gehirns, wo die Kohlensäure- 
bildung sehr herabgesetzt ist, doch noch gewaltige Schwing- 
ungen von früheren Explosionen erzeugt, vorhanden sind. Ist 
die Bewegung allmählich kleiner geworden, so genügt sie nicht 
mehr zur Yermittelung starker Dissociation , und es häuft sich 
immer mehr ausgeruhte und restituirte Substanz an. 

Sobald aber die Himmolecüle während des Schlafes mehr 
und mehr mit intramolecularem Sauerstoff gesättigt werden, muss 
die Kohlensäurebildung zunehmen. Es wird wieder ein Stadium 
erreicht, wo die Oscillationen der Atome in de^ MolecUlen 
wachsen können, ohne dass die Grösse ihrer lebendigen Kraft 
ausreicht, diejenige Stärke der Dissociation zu bedingen , wie 
sie der wache Zustand erfordert, und ohne dass also der Ver- 
brauch grösser als die Einnahme an Kraft wird. So muss die 
Intensität der lebendigen Kraft der intramolecularen Schwingung 
durch wachsende Kohlensäurebildung wieder zunehmen, bis 
entweder durch Summation der Wirkung aus inneren Gründen 
oder durch einen äusseren starken Anstoss, z. B. einen lauten 
Schall, eine mächtige Welle , die durch das Gehirn läuft , so- 
fort eine grosse Summe von Dissociationen , also reichliche 
Kohlensäurebildung auslöst, die nun die weitere Auslösung 
zahlreicher Dissociationen fort und fort zur Folge hat. 

Der schlaftrunkene Zustand nach dem Erwachen scheint 
darauf hinzudeuten, dass erst nach einer Summation der äus- 
seren und inneren Reize diejenige Grösse der lebendigen Kraft 
der intramolecularen Schwingung erzielt wird, wie sie der • 
ganz wache Zustand nothwendig voraussetzt. Auch ist wegen 
der Abnahme der Gesammtwärme die Cohäsion der wirksamen 
Himmolecüle gesteigert, so dass Impulse wirkungslos werden, 
welche sonst eine deutliche Wirkung haben. »Wachen oder 
Schlaf hängt also primär für einen gegebenen Zeitpunkt nicht 
von der Grösse der in dem Gehirn enthaltenen potentiellen 
Energie, sondern von d^r Grösse der lebendigen Kräfte 
der intramolecularen Bewegung ab« (S. 474). 



— 247 — 

Die Theorie giebt, wie Pflüger bemerkt; auch eine einfache 
Erklärung des Winter- und Sommerschlafes der Thiere. Der 
Winterschlaf tritt bei einer gewissen Anzahl von kalt- und 
warmblütigen Thieren in Folge der längeren Einwirkung der 
Kälte ein, wenn die Temperatur des Gehirns unter einen ge- 
wissen Werth sinkt. Demnach verkleinert sich die intramole- 
culare Vibration 3' 3), folglich auch die Intensität der Dissocia- 
tion und der Kohlensäurebildung. Je tiefer die Temperatur 
heräbgeht, um so stiller wird es im Gehirn und secundär in allen 
Organen, deren Dissociation durch die Kälte auch primär verändert 
erscheint. Jeder Winterschläfer verfällt zu jeder Jahreszeit durch 
Kälte in Schlaf und wird durch künstliche Erhöhung der Tempe- 
ratur erweckt ; je tiefer die Temperatur des Gehirns ist, desto 
schwieriger ist er zu erwecken, da die Disgregation erzeugende 
Wirkung derWärme vermindert ist, also die Cohäsion der Mole- 
cüle zugenommen hat. — Eine heftige, Schmerzen erzeugende 
Nervenreizung kann Erwachen zur Folge haben. Eiiie grosse 
Quantität dem Gehirn zugeführter lebendiger Kraft löst in ihm 
secundär lebendige Kräfte und also Kohlensäurebildung aus, weil 
die Reizung die intramoleculare Wärme des Gehirnes steigert. 
Dieser Zustand dauert aber nur kurze Zeit, denn wenn die 
so angeregten Schwingungen an die lungebende kalte Materie 
fortwährend zu viel lebendige Kraft verlieren, nehmen sie ab, 
und das Thier versinkt, wenn ihm keine Wärme künstlich zu- 
geführt wird, aufs Neue in Winterschlaf. Die erweckend 
wirkende Temperatur liegt unter 0°G., es ist di^ tödtlichcj 
welche hier zur Erhaltung der Existenz weckt, sofortige Wärme- 
bildung im Körper in Folge des wachen Zustandes erregt und 
es dem Thiere ermöglicht, sich tiefer einzugraben und zu 
sichern. Die tödtliche Kälte erweckt das Thier, weil und in- 
sofern sie grimmigen Schmerz erzeugt. Ganz unabhängig von 
jeder Hypothese ist hier die Thatsache gegeben, dass Kälte, 
d. h. verringerte lebendige Kraft in der peripherischen 
Faser Schmerz, d. h. vermehrte lebendige Kraft in der 
Ganglienzelle des centralen Nervensystems hervorruft. 

Auch der Sommerschlaf der Amphibien in heissen Klima- 
ten erklärt sich, wie Pflüger fortfährt, leicht mit dieser Theorie. 
Die Hirnmaterie dieser Thiere — wohl ausschliesslich Amphi- 
bien — mit trägem Stoffwechsel ist für einen raschen Umsatz 



— 24S — 

und flohnelle £meueruDg nicht eingerichtet, d. h. nicht fähig, 
in der Weise mit einer hohen Summe von Spannkraft (intra- 
moleoularem SauerstofiQ geladen zu werden ; ivie die der 
Warmblüter. Sobald also die hohe Temperatur des Sommers 
das Gehirn jener Amphibien erhitzt, findet eine Consumtion 
der spärlichen Spannkraft in kurzer Zeit statt, d. h. der Ver- 
brauch übertrifft den Ersatz an Kraft. Es muss demnach 
Schlaf eintreten, der in der That so lange andauert, bis die 
ktlhlere Jahreszeit wiederkehrt. »Man sieht also, da ss es 
sehr verschiedene Zustände der Hirnmaterie sind, 
welche zum Schlafe führen, die aber alle das ge- 
meinsam haben, dass die intramoleculare Wärme, 
also die Dissociation herabgesetzt ist«. 

Dass die den psychischen Functionen des Wachens zunächst 
parallel gehenden physiologischen Vorgänge im Schlafe herab- 
gesetzt sind, darüber ist man einig. Nur über das nähere 
Wie ist man noch verschiedener Ansicht. Doch wird die Zeit 
wohl nicht allzufem sein, wo in der rüstig fortschreitenden 
Wissenschaft der Physiologie eine Theorie sich als die einzig 
richtige erweist und von Allen als solche anerkannt wird. 



Anmerkungen. 



1) Zur verschiedenen Deutung der »*dfftapatc täv ra^jidlTtov« vergl. 
Veberweg f Geschichte der Philosophie, 5. Aufl. Bd. I, p. 214 flf., Anm. : 
»An die Stelle der (von Plato beabsichtigten) dauernden Befreiung vom 
Affect durch Ertödtung desselben setzt Aristoteles die zeitweilige Befreiung 
von demselben durch die (künstlerische) Anregung und den Ablauf selbst. 
Bei dem Hören der Musik, dem Anschauen der Darstellung einer Tragödie 
etc. werden zunächst eben diejenigen Affecte durch den Ablauf selbst 
wieder gestillt und gleichsam aus uns heraus geschafft (xa^aCpsrai), welche 
das Kunstwerk in uns erregt hat, aber dieselbe xd^apot; betrifft mittelbar 
auch alle gleichartigen, unter denselben Begriff fallenden Affecte, die 
(potentiell) in uns liegen; diese werden von dem durch das Kunstwerk 
erregten Gefühl gleichsam bewältigt und mit diesem zugleich werden dann 
auch sie aufgehoben oder ausgestilgt, nämlich zeitweilig, bis allmählich sich 
neues Bedürfniss ansammelt, das aufs neue Anregung und Ablauf verlangt«. 
— Die Richtigkeit dieser Deutung statt des früheren : » Reinigung der Affecte« 
suchte besonders /. Bennys nachzuweisen (Rh. Mus. N. F., XIV, p. 867 — 
377 u. XV, p. 606 f.), doch ist das icddvjfia wohl nicht, wie er will, als 
Gefühlsdisposition, sondern als einzelne Erregtheit des Gefühls zu 
fassen. 

2) Viele Thiere deuten durch Bewegungen u. s. w. im Schlafe an, 
dass sie ebenfalls träumen. Der Hund knurrt, bellt und geberdet sich als 
ob er ein Wild verfolge oder das Haus vor Eindringlingen bewache (vgl. 
Lucret, f de rer. nat. IV, v. 988 ff.). Die meisten Bewegungen können zwar 
als Reflexe erklärt werden, welche keine Empfindungen und Vorstellungen 
voraussetzen, manche aber nicht. Femer werden bei ersteren durch die 
dabei stattfindende Muskelarbeit jedenfalls nachträglich Empfindungen aus- 
gelöst. Es ist anzunehmen, dass jedes Geschöpf, bei welchem sich psychi- 
sche Functionen höheren und mittleren Grades zeigen , auch träumt. — 
lieber das Seelenleben der Thiere überhaupt vergl. Wundty Vorlesungen 
über die Menschen- und Thierseele, Bd. I, p. 443 — 460. ScheitUn, Versuch 
einer vollständigen Thierseelenkunde. Stuttgart u. Tübingen 4 840. 2 Bde. 

3) p. 4 25. Vergl. auch Menon, p. 86 etc. — Spinoxa scheut sich nicht, 
den Willen Gottes als ein »ignorantiae asytum« für Viele zu bezeichnen 
(Eth. P. 1. Ap.) — Kant sagt an einer Stelle seiner »Prolegomena zu jeder 
künftigen Metaphysik« (herg. von Kirchmann , p. 90) : »Endlich müssen wir 
nach einer richtigen Maxime der Naturphilosophie uns aller Erklärung der 
Natureinrichtung, die aus dem Willen eines höchsten Wesens gezogen 



— 250 — 

worden, enthalten, weil dieses nicht mehr Naturphilosophie ist, sondern 
ein Gestttndniss, dass es damit bei uns zu Ende gehe«. 

4) Man wird vielleicht — ich hatte dies zu bemerken schon einmal 
Gelegenheit, als ich mich mit diesem Gedanken beschäftigte und ihn vor 
Mehreren aussprach, — über eine solche Erkl&rungsweise den Kopf schüt- 
teln und um sie ganz zu vernichten , schnell bei der Hand sein mit der 
viel gebrauchten Wendung, dass der Unsterblichkeitsglaube aus einem 
»unerklärlichen Triebe« hervorgegangen, welcher der Seele des Menschen 
von Natur innewohne und unvertilgbar sei. Allein auf solche Einwürfe 
entgegne ich: erstens und hauptsächlich masse ich mir nicht an. Alles 
mit dem Traum erklären zu können, ich nenne ihn nur einen Haupt- 
fac tor neben anderen bei der Bildung des Unsterblichkeitsglauhens, denn 
ich bin mir wohl bewusst, dass das, was den Geist längere Zeit vorzüg- 
lich in Anspruch nimmt, für diesen eine Bedeutung gewinnt, welche es 
in den Augen Anderer nicht hat, nicht haben kann; ferner hatte der Trieb, 
wenn auch vorhanden, keine bestimmte Gestaltung, seinen Inhalt ent- 
nahm eir eben den Traumvorstellungen; endlich würde man, wenn man 
diesen »unerklärlichen Trieb« doch einmal zu erklären suchte, finden, 
wie er an und für sich sowie in seiner Entwicklung dem Trauni viel 
verdanke. 

5) Vergl. Th, Fechner , Elemente der Psycho - Physik. Leipzig 1860. 
Bd. II, p. 470. 

6) S. Edw, B. TyloTy Die Anfänge der Cultur, übersetzt von W. Spengel 
u. Fr, Poske. Leipzig 4 878. Bd. I, p. 448 f. 

7) »The soul is more tendre and nesche 
Than the bodi that hath bones and fleysohe; 
Thanne the soul that is so tendere of kinde , 
Mote nedis hure penaunce hardere y-finde, 
Than eni bodi that evere on live was«. 

Vergl. TyloTy a. a. 0. I, p. 449. 

8) Dfogen. Laert. X. 67—68. — Als Anaxagoras ^\e ein »Nüchterner 
unter Trunkenen« erschien und den vouc als das die Welt ordnende und 
leitende Princip in die Philosophie einführte, konnte er sich auch noch 
nicht ganz über die materielle Ansicht erheben und nannte den Geist 

» XercTÖxaTÖv xe itdfvrmv yjwjfjtdlTwv xa\ xa&apc&tarov. « 

9) II. XXIIL v. 99 flf. : 

»&C dtpa (paivf|oac «bp^Saxo ji?^^ «pCXigoiv, 

viyexo TcTpiYuTa.« 

Vergl. Odyss. VI, 20, wo Athene der Nausikaa im Traume erscheint: 
»•^ §'dvep.ou obc itvot-^ iir^ooöto ö^fxvw xo6pt);«. (IV, K 02 schlüpft das von 
Athene der Penelope gesendete Traumbild am Thürriegel vorbei). 

Piato^ Phaed. p. 70.: »rd hi itcpl t^c 4'^X*')« iroXX-^jv diti<JT{av Tzapiysi toU 
dv^p(67Toi<, [üi] iTreiSolv dTcoXXaYijj toö a(6(^T0< o65aftoii Itt :fl, dXX' ixeiv^ TJ 
tjjAlp^ öiatpfteipTjTat ts xal d7roXX6ijTai, ijj oiv 6 Ävftpcoiro« dTCo^dviQ * e6^6« dttoX- 
XaTOfJL^T] ToQ a(6(AaToc xal lxßa(vouoa djonep icveöfAa ^ xa^tvöc SiaoxeSa- 



-- 251 — 

ö^etoa oX^rfoii SiawTopL^VT] xai o6Biv £Tt o65afjiou ig.« Vergl p. 77 D. : »«iaj»« U 
fjLoi Soxft« .... SeSi^vai tö twm :talS<ov, [a*^ äc dXTjÄ&c 6 Ävefio; aurriv 1%- 
ßatvouoav ix toO c<6jAaToc Sia<|/\)aq[ xdl dtaoxeSav^oatv, aXXwc le %aX Stav lu^lQ 
Ti; ^x'^| iv V7]vefJL(qt dXX' iv fASY^Xq) Tivi Ttve6fJLaTi dito^Tjoxwv.a 

10) Odyss. XI. 207 flf. : 

»Tpl; jjiev IcpcopfJLTfj^v, iXdetv x^ {xe ^Uftöc civc^Yet, 
Tplc 5e fjLOi iv. X^^P*"''» ^*'f etxeXo'^ Tj xai övetptp 
iTCTax'* IfjLol S' d(x<^c 65ü YeN^cxexo xt)p6di fAaXXov«. 
V. 217 IT.: »oISti ce Uepcecpovcia, Aiöc ^y^*")?' «i^^ay^^si, 
dXX' aÖTT] MxT) laxl ßpoxwv, 6xe x^v xe Ädvraaiv 
o6 Y^P ^"^^ oapxa« xe xai doxea Ivec fy^oucw, 
dXXa xÄ jx^v xe itupö; xpaxepov [lisoi aldopi^voio 
BafxMÄ, ^Tcei xe Tcpföxa Xitciq Xe6x ioxia ftofi.6c' 
4'^X'^ S', -^jux' Cvetpo«, ditoitxafjL^VT] ireTOXTjxai«. 
Vergl. Pfafo Phaed. p. 80 C. (Der Leib verwest, die Seele aber geht in den 
Hades). — Vergil, Aen. II. 793 f. : 

»Ter frustra comprensa manus effugit imago 
Par levibus ventis volucrique simillima somno«. 
(v. 77iff. : »Quaerenti et tectis urbis sine fine furenti 

Infelix simulacrum atque ipsius umbra Creusae 
Visa mihi ante oculos et nota major imago«.) 
Plato, Phaed. p. 84 C. »8 ^ xai l^^uca -^ xoia6x7] «J'^x-rj gapüvexai xe xai 
IXxexai TidXis el; xöv 6paxö'rf xörov, cpöß«) xoti deiSou; xe xarAiSou, ÄOTcep X^Y^xai, 
Ttepl xot (xv/jfjLaxot xe xai xou« xdcpouc xuXwSoufjL^VT], irept dt hi\ xai d)<p^ axxa ^J^u- 
XÄv oxioeiS*?) 9avxölcp.axa, ota itapi^ovxai al xotaüxai ^^x^^ etSwXa, 
ai fj.-?) xa&apmc dTtoXuöeToai dXXd xoü 6paxoü (xex^xoooai, Siö xai 6pö)vxat«. 

11) Tt//ör, a. a. 0. I. p. 42'». — Die Frage nach der Ursache des Todes 
und seines Unterschiedes vom Leben hat die andere weit verbreitete Auf- 
fassung der Seele als »Athem, Hauch« veranlasst. Das Hebräische hat 
nephesch, »Athem«, welches Wort in die Bedeutung »Leben, Seele, Geist, 
Thier« übergeht; mach und neschamah erfahren denselben Uebergang von 
» Athem « zu » Geist». Diesen entspricht das arabische nefs und ruh. Ebenso 
ist die Geschichte des sanskritischen ätman und präna, des griechischen 
psyche und pneuma (Bei Homer bezeichnet «j^uyf) noch bei weitem vor- 
wiegend die nach dem Tode im Hades sich aufhaltende Seele, — die 
Seele im Leben heisst bei ihm ^ufAÖ;, «ppdve; u. s. w. — erst später ge- 
braucht man dieses Wort fast ausschliesslich für Seele überhaupt, auch 
während des Lebens) , des lateinischen aniinus, anima, Spiritus. (Der Römer 
beugte sich über den Todten , um seinen letzten Athemzug einzusaugen. 
Auch bei den Seminolen in Florida wurde, wenn eine Frau bei der Ent- 
bindung starb, das Kind über ihr Gesicht gehalten, um den scheidenden 
Geist aufzunehmen und so für sein künftiges Leben Kraft und Wissen zu 
erlangen.) — Im sla vischen »duch« hat sich »aus der Bedeutung »Athem« 
die von Seele und Geist entwickelt; die Dialecte der Zigeuner haben (das 
Wort duk in der Bedeutung »Athem, Geist, Gespenst.« — Die Westau- 
stralier gebrauchen ein Wort waug für »Athem, Geist, Seele; in der 






— 252 — 

Nete!a-Sprache in Californien bedeutet piuts »Leben, Atbem, Seele«; die 
Malayen sagen, die Seele des Sterbenden geht durch seine Nasenlöcher 
von dannen, und auf Java gebrauchen sie dasselbe Wort fiawa für n Athem, 
Leben und Seele«. 

Bei manchen Völkern findet man sogar beide Ableitungs- 
weisen — die aus dem Traum und die aus der Frage nach 
dem Unterschied zwis-chen Leben und Tod — selbständig 
neben einander vor. Manche Grönländer schrieben dem Menschen 
zwei Seelen zu, nämlich seinen Schatten und seiaen Athem. In Nord- 
ameri)ca ist die Dualität der Seele besonders im algonkinischen Glauben 
ausgeprägt: eine Seele geht aus und sieht Träume, während die andere 
zurückbleibt; beim Tode bleibt eine beim Körper und für diese stellen 
die Ueberlebenden Gaben an Nahrungsmitteln aus, während die andere 
ins Land der Todten zieht. Die Fidschi-Insulaner unterscheiden zwischen 
dem »dunklen Geiste« eines Manschen oder seinem »Schatten«, der zum 
Hades hinabsteigt, und seinem »lichten Geiste« oder dem Spiegelbilde, 
welches in der Nähe seines Sterbeplatzes bleibt. Die Malagasy sagen, das 
saioa oder Gemüth vergehe im Tode, das aina oder Leben werde blosse 
Luft, aber das matoatoa oder der Geist umschwärme das Grab. Die Da- 
kotas sagen sogar, der Mensch habe vier Seelen, von denen eine in der 
Leiche bleibe, eine im Dorf verweile, eine in die Luft gehe und eine ins 
Land der Geister ; die Khonds haben ebenfalls eine vierfache Eintheilung. 
Die alten Aegypter machten in dem Todtenrituale einen Unterschied zwi- 
schen ba, akh, ka und khaba {Birch übersetzt: »Seele, Gemüth, Existenz« 
und »Schatten«). 

12) Ovid, fast. V, 467 f.: 

»Umbra cruenta Remi visa est assistere lecto 
Atque haec exiguo murmure verba loqui«. 
Homer, II. XXIII, 100: 

Vergl. Odyss. XXIV, 6 flf. : 

6p{jia^ot> ix r^ptj;, dsd t dXXif)XTQOtv Ix^vcaf 
Ä»; al Texpi^üiat Äfx' TJ'iaav.« 

13) Vergl. Bastian, der Mensch in der Geschichte. Bd. 11, p. 34 9. 
Tylor, a. a. 0. I, p. 446. — Da die Aeusserungen der Seele oder des 

Gespenstes auch durch die Stimme eines Mediums zu Stande kommen 
sollen, so kann man diese Berichte mit dem Flüster- oder Murmelzauber, 
dem »susurrus neoromanticus « in Verbindung bringen. (Vergl. Jesaias 
XXIX, 4 : » Alsdann sollst du erniedrigt werden und aus der Erde reden 
und aus dem Staube mit deiner Rede murmeln, dass deine Stimme sei 
wie eines Zauberers aus der Erde und deine Rede aus dem Staube 
wispele».) 

14) 2V*or, a. a. 0. I. p. 434 flf. — Bastian, der Mensch in der 



_ 253 — 

Geschichte. Bd. II, p. 348 ff. YergL auch dessen » Psyehologi»«, p. 16 — 20. — 
Waitz, Anthropologie der Naturvölker, Bd. III, p. 195. — Cranz, Grön- 
land, p. 257. etc. — Nach der Yedanta-Lehre trennt sich die Seele im 
tiefen Schlafe vom Körper und kehrt zum höchsten Gott oder zur allge- 
meinen Weltseele aus dem Herzen , wo die Seele ihren Sitz in der Höhle 
des Brahma hat, durch die »sushumna« genannte Arterie zurück und ver- 
weilt dort während des tiefen Schlafes. 

15) Vergl. Bastian, Oestliches Asien, Bd. I, p. 4 45. Bd. III, p. 258. 
Der Mensch in der Geschichte. Bd. II, p. 322 f., 329, 363. — Psychologie 
p. 111, 193. — WaitZf Anthropologie der Naturvölker* Bd. III, p. 199. Cranz, 
Grönland p. 300. — Wuttke, Volksaberglaube p. 213 — 217 etc. 

16) Vergl. Phaed. p. 65 ff., 82 C, (der Körper ein elp^fx^c der Seele) ^ 
91 E. Phaedr. 250 C. Rep. X, 611 C. Tim. 81 E, 86 B — 87 B. — Auch 
das Christenthum betrachtete das »Fleisch« als das niedere, ja als da» 
böse Princip. — Anders freilich äussert sich Homer in den Anfangsversen 
der Ilias: 

»iroXXdc h^ Icp^Cftouc 4'^x^^ ''Ai^t irpotatJAev 

oimvoTsl TE TIÄOIV.« 

Für die Existenz der Person ist dem griechischen Dichter der Körper die 
Hauptsache, wie dies namentlich in den Siegesliedern Hndar's hervortritt. 
Der kräftige, schön gebaute Körper der Helden erregt bei aller Hochach- 
tung geistiger Eigenschaften seine Aufmerksamkeit und sein Interesse mehr 
als die schattenhafte Seele, die er nicht in der Anschauung vorfindet und 
von welcher er sich keine klare Vorstellung bilden kann. Der Mensch 
klammert sich an das irdische Leben; auch nach dem Tode will er noch 
auf Erden wenigstens ideell , in der Erinnerung der Menschen fortleben, 
er will beweint, begraben sein und im Gedächtniss bleiben. (Vergl. 
Odyss. XI, 71 ff.) 

17) Hesiod, ip^a xai '^fi.ipai, 65: 

Ze6; KpwlSt)« Ätttivaooe irar^p i? iteipaxa f^i^C 
TY)Xou die' di^avciTcDV xoToiv Kpovo? dptßaaiXeOei * 
%a\ Tol (Ji^ vatewötv dxtfiia ^ujxöv l^^ovtec 
iv ptaxdipcov vif)aot9t Trap 'Qxeavöv ßa^öivY^v 
^vßiei 4^pi»ec, ToTatv it,eKvrfiia xdpirov 
TpU ^eoc ^dlXXovta tp^pci Cc(SQ>poc difpoupa«. 

Vergl. zu dem Ganzen Tylor, a. a. 0, II, p. 60 ff. Bastian, Oestliches Asien. 
Bd. I, p. 83 etc. 

18) Vergl, BasUan, Psychologie, p. 224. — Cranz, Grönland, p. 258. — 
Edda »Gylfaginning«. — Koran c. V, VI. 

19) Vergl. 11. IX, 401 ff. : 

»OO ^ap ifjLol ^u^'^c dvTd^iov o6^* oaa cpasiv 
IXtov ixT^o^at, euvai<&fji6V0N TiToXUdpov. 



— 254 — 

zh icplv iiz dp-ZiNtjc» «plv ^X^ctv ufac 'A/aiÄv, 

«Dotßoü 'An^XXovoc, IIiiÄot fvt TrexpiQioaTg. 

XY]i9Tot fjL^ fdp te ß^e« «al t^ta pifjXa» 

xTT]TolS^ TpiuoS^C Te xal tniiiDV fyN%ä xipYjva* 

div(p6c Se 4^ux^- ^^^"''^ iX^iv o(ke XeioT'/| 
^ oW ^XeT1^j, IttcI dtp xrv dlpLeitf'CTai Spxoc 6§6vtq>v«. 

Odyss. XI, -^88 ff. 

» My) hrf\ p..oi dtdi'^aTÖv f £ tcapa6Ba, ^aiSip.' 'O^uoae j * 
ßouXolfAt]v .X* iirdpoupo^ doiv OT^teulfxev dfXXq> 
dvSpl Tzaf dxXifjptp, (p p.i?j ßtoTO« ttoXuc ettj, 
t) ira^tv vexjgaoi xaracp^tfi.&'^oiaiv dvdaaeiv«. 

20) /. G. Müller, Amerikanische Urreligionen. p. 87, 224 etc. — Mei- 
nerSf Geschichte cler Religion. Bd. II, p. 768. — Wuttke, Geschichte des 
Heidenthums. Bd. I, p. i15. — Vergl. auch Tylor, — dem ich hier heson-s 
ders folge — a, a. 0. .II, p. 83 — 4 03. 

^) CranZy Grönland, p. a69. — Charlevoix, Nouvelle France, Bd. I, 
p. 77. — Lescarbot, Hist. de ia Nouvelle France. Paris 4619, p. 679. — 
Lery, Hist. d'un voy. en Br6sil. p. 234. — Coreal, Voy. aux Indes Oc. 
Bd. I, p. 224'. — Rochefort, lies Antilles, p. 430. — Vergl. Tylor, II, p. 86. 
— Eine eigentliche Yergeltungstheörie findet sich erst da , wo klare. Be- 
griffe von wirklicher Moral sich zeigen, die eine Errungenschaft der Civi- 
lisation bilden. Bei Homer befinden «ich Böse und Gute ohne Unterschied 
im Hades. Die Vorstellung von dem Gericht des Minos, Aeacos und Rha- 
damanthys (Odyss. XI, 567; vergl. auch Plato, Gorg. p. 524. A. Phaedon 
p. 1 13 f. etc. — Vergil, Aen. VI. 431. etc.) ist nachhomerisch. Die Stelle in der 
Odyssee über die Strafen des- Tityos, Tantaius und $isyphos (Odyss. XI, 
576, 582, 593) ist ebenfalls eine Interpolation späterer Zeit; auch sind 
diese Strafen nicht die Folgen eines in der Unterwelt über sie gehaltenen 
Gerichts, sondern es sind gewisserniassen Nachwirkungen einer schon in 
der Oberwelt über sie verhängten Verdammung. Später führte man als 
Repräsentanten gestrafter Sünder noch hinzu den Ixion, die Danaiden, den 
Salmoneus, Peirithoos, Phlegyas u. A. Nachdem nun eine Scheidung der 
Todten nach Lohn und Strafe angenommen war, bestimmte man auch in 
der Unterwelt die Orte für beide Classen und verlegte in dieselbe den 
Tartarus als Ort der quälenden Strafe (PlatOf rep. X. p. jß16A. Vergil, 
Aen. VI, 543 ff.) und das Elyslon als den Ort der Glückseligkeit (Vergil, 
Aen. VI, 637 ff.) ; von deuen, welche ein mittleres Leben zwischen Gutem 
und Bösem geführt hatten, glaubte man, dass sie auf der Asphodeloswiese 
als körperliche Schatten umherirrten. — Bei den Juden finden wir die 
Lehre von der künftigen Vergeltung nach der babylonischen Gefangenschaft 
nicht mehr in unbestimmten Ausdrücken sondern als fest ausgesprochene 
Ueberzeugung , wie sie einige Zeit darauf von dem Christenthum sanctio- 
nirt wurde. 

22) Wenn, wie Tylor sagt, (II, 123 f.), die geheimnissvolle Gewalt 
ihn zu Boden wirft, ihn zwingt, sich in Convulsionen zu krümmen und 



— 255 — 

ZU winden, oder mit Riesenkraft und thierischer Wildheit sich auf die 
JDmstehenden zu stürzen, mit verzerrtem Gesicht, wahsiniiigen Geberden 
und einer ungewöhnlichen, nicht menschlich erscheinenden Stimme wilde 
unzusammenhängende Worte der Verzückung auszustossen oder mit einer 
Begabung und Beredsamkeit, die seine Fähigkeiten im gewöhnlichen Zu- 
stande weit übersteigt, zu befehlen, zu rath^n, zu prophezeien, — so 
scheint der Mensch sich selbst und seiner Umgebung das Werkzeug eines 
Geistes, der ihn ergriffen hat oder in ihn eingefahren ist, geworden zu 
sein., Das Heilmittel gegen die Krankheit besteht in der Befreiung von 
den Geistern: der Exorcist spricht zu ihm, schmeichelt oder droht ihm, 
bringt Geschenke dar, lockt ilin aus dem Körper des Patienten hervor, 
oder treibt ihn aus und veranlasst ihn, seinen Wohnsitz in einem ändert 
zu nehmen. Der Geist ist entweder die Seele ein^s Menschen oder ein 
Dämon, sein Einfluss äussert sich sowohl in der Behaftung mit Krankheiten, 
als durch Inspiration von Orakeln. Im australisch-tasmanischen Gebiet, 
bei den Mintiras, einer niederen Race der malayischen Halbinsel, bei den 
Dajacs auf Borneo und fast überall in Polynesien wird jede Krankheit 
den Einwirkungen von Geistern zugeschrieben, die man sich entweder 
geneigt machen oder durch gewaltsame Mittel von sich abhalten muss. 
Bei den niederen Racen Americas, den Dacötas^ den Einwohnern der west- 
indischen Inseln, den Patagoniern herrspht ein ähnlicher Glaube. In Africa 
meinen die Basutos und Sulus, die Krankheiten seien durch die Geister 
der Todten veranlasst; letztere werden von den Sehern erkannt oder von 
dem Patienten selbst, der in seinen Träumen den Geist des Verstorbenen 
zu sich kommen sieht, um ihn zu peinigen. Congostämme halten eben- 
falls die Seelen der Todten, die in die Stellung von mächtigen Geistern 
übergegangen sind , für die Ursache von Krankheit und Tod unter den 
Menschen. Die Barolongs bringen Geisteskranken, als unter dem directen 
Einflüsse einer Gottheit stehend, eine Art von Verehrung dar; in Ostafrica 
gilt für Tollheit und Verstandesschwäche die einfache typische Erklärung 
»er hat Teufel«. (Mit diesem Ausdruck suchten sich auch diö Juden un- 
gewöhnliche Erscheinungen zu erklären; vergK Matth. XI, 4 8. Luc. VII, 33, 
Joh. X, 20 etc.). — Die Krankheitsbesessenheit geht bei hysterischen und 
epileptischen Affectionen in Orakelbesessenheit über. Der tasmanische Zau- 
berer schreibt die Unfälle einer krampfartigen Contraction der Muskeln dem 
Teufel zu. Im karenischen District der Pwos versetzt der »Wi« oder Pro- 
phet sich künstlich in einen Zustand, in welchem er die Seelen der Ver- 
storbenen sehen, ihre entfernte Heimat besuchen, sie in ihren Leib zurück- 
rufen und somit Todle auferwecken kann ; diese Wis sind nervös leicht 
erregbare Menschen, die sich zu Medien besonders eignen und beim 
Orakelgeben wirklich in Convulsidnen verfallen. (Vergl. Bastian^ Oestliches 
Asien. Bd. II, p. 414.). Die Ausprüche des Wahrsagers werden für Ein- 
gebungen der Geister von Vorfahren gehalten. Bei der Schilderung, welche 
ein solcher von seinem Zustande gab , erkennen wir alle Symptome der 
Hysterie: er fühlte ein schweres Gewicht in seinem Körper bis hinauf in 
die Schultern dringen, hatte lebhafte Träume und im Wachen Visionen 
von Gegenständen, welche bei seiner Annäherung verschwanden, Lieder 



— 256 — 

kamen ihm in den Sinn, ohne dass er sie geiernt hatte, niui es ^^ar ihm 
als ofo er i» der Luft fliege. Der Mann stammle, wie Calknvmy sagt, »aua 
einer sehr »ensitivea Familie, die viele Doctoren hervorbringt. « Die Patago- 
nier erwählen Leute, welche von Fallsucht oder Veitstani ergriffen sind , zu 
Magiern , da sie die Geister selbst dazu zu bestimmen sehet oen ; unter 
sibirischen Stämmen wählen die Schamanen Kinder, die ConvnlsioDeB 
unterworfen sind, als besonders zu ihrem Stande befähigt aus. Bei man- 
chen Stämmen arbeiten sich die Zauberer in den Zustand hinein, in wel- 
chem sie die Inspirationen erlangen. — Die Ausdrücke »dämonisch« und 
»exorcistisch« sind der classischen Welt entnommen, hei Hatner werden 
die kranken , von Schmerzen gequälten Männer durch Dämonen heioEige- 
sucht. (Odyss. V, 896: »OTu^cpö« hi oi ixpa< ^alfiov«. — vergl X, 44). 
Pythagaras hielt die luflbeherrschenden Geister für die Ursache der Krank- 
heiten von Menschen und Thieren, Epilepsie (£ii(Xt)<|^) war, wie der Name 
besagt, das » Ergriffensein « des Kranken von einem übermenschlichen 
Einflüsse. Wenn Herodoty III, S8 berichtet, Cambyses sei mit einer Krank- 
heit behaftet gewesen, »welche manche die Heilige nennen«, so meint er 
jedenfatls damit die Epilepsie (Vergl. Ebers , Eine ägyptische Ktfnigstochi^ 
II, p. 268). Wahnsinnig sein hetsst einen bösen Geist haben und die 
Römer nannten solche Kranke »larvati«, »larvarum pleni« — »mit Geistern 
erfüllt«. Juden und Christen hielten Raserei, Epilepsie, Stummfaeit und 
Orakelkundgebungen für Einwirkung von Geistern (Vergl. Ifatth. IX, 81. 

XII, 2«, XVII, 4 5. Marc. I, 28. IX, 17. Luc. IV, 83, 89. VIII, 27. IX, 89, 

XIII, ii. Apostelgescb. XVI, 46 u. s. w.) Viele Kirchenväter geben Be- 
schreibungen von Dämonen , die in den Leib von Menschen fahren , ihre 
Gesundheit physisch und psychisch zerrütten, sie zwingen sich zu wälzen, 
zu wüthen und zu schäumen, bis sie durch Beschwörung oder dem Pa- 
tienten beigebrachten Schläge veranlasst werden, deren Körper zu ver- 
lassen. Unter den unzähligen Exorcisationen im Mittelalter ist besonders 
bekannt die Beschwörung des Dämons, von welchem Carl VI von Frank- 
reich gequält wurde. — Vergl. BasUan, der Mensch in der Oeschichte. 
Bd. II, p. K57 ff. und dessen Aufsatz über Besessenheit in seinen Beiträgen 
zur vergleichenden Psychologie. Berlin 4 86^. Bd. I, p. 4 45—264. 

23) Lucrez sagt (de rer. nat. V. v. 4 468 ff.): 

»Quippe etenim jam tum divom mortalia secia 

Egregias animo facies vigilante videbant, 

Et magis in somnis, mirando corporis auctu- 

Heis igitur sensum tribuebant, propterea quod 

Membra movere videbantur vocesque superbas 

Mittere pro facie praeclara et viribus amplis 

Aeternamque dabant vitam, quia semper eorum 

Suppeditabatur facies et forma manebat, 

Et tarnen omnino, quod tantis viribus auetos 

Non temere ulia vi convinci posse putabant; 

Fortunisque ideo longo praestare putabant 

Quod mortis timor haud quemquam vexnret eorum, 



— 257 — 

Et simul in somnis quia muita et mira videbant 
Efficere et nuilum capere ipsos inde iaborem«. 

— »BirkeDfit der in Meditationen über sich selbst versunkene Träumer, dass 
nicht sein freier Wille das Denken beherrscht, so kann er leicht versucht 
sein, wenn ihm die psychologischen Kenntnisse abgehen, das Es (Tad), 
das in ihm denkt, aus sich hinaus zu versetzen, und aus Empfindungen 
hat sich die ganze Götterweit projicirt«. (£(u<iai», Der Mensch in der Ge- 
schichte. Bd. II, p. 553). 

24) Die Pythia und die Priesterinnen zu Dodona werden von Plato 
als »(Aaveiaai« bezeichnet, ebenso die Sibyllen; den Gegensatz zu dem 
ekstatischen Zustand bildet das » aoocppoveiv « (Phaedrus p. 244). Auch bringt 
er (xdvTi; mit fj.a(vofj.ai zusammen. 

25) In der Mythen •> und Sagenbildung haben Vorstellungen 
ähnlicher krankhafter Zustände eine grosse Rolle gespielt, besonders in 
der Sage vom Währwolf. Der Glaube, dass ein Mensch sich in ein Tbier 
verwandeln könne, um als solches sich an seinen Feinden zu rächen, ist 
allverbreitet; während- man in den Gegenden, wo es Wölfe gab oder 
noch giebt, diese zur Verwandlung benutzte, muss in Indien die Gestalt 
des Tigers, in Afrika die des Leoparden, der Hyäne und des Löwen der- 
artige Dienste leisten. Unter den Völkern Indiens reden die Stämme der 
Garrow Hills und die Hos von Singbhum von der Verwandlung mancher 
Menschen in einen Tiger ; ebenso behaupten die Khonds von Orissa, dass 
einige von ihnen die Kunst »mleepa« besitzen und mit Hülfe eines Gottes 
»mleepa« Tiger werden. Die Jakunen der malayischen Halbinsel sagen, 
dass ein Mensch sich in einen Tiger verwandeln könne; die Verwand- 
lung geschehe kurz vor dem Sprunge, und man will dies sogar beobachtet 
haben. Nach Dobrizhoffer drohen die Zauberer der Abiponer in Südame- 
rika denen, von welchen sie sich beleidigt glauben oder welche sie für 
Feinde halten, sich in einen Tiger zu verwandeln und sie zu zerreissen. 
In Afrika wird in der Kanuri-Sprache von Bornu vom subst. »bultu« 
(Hyäne) »bultungin« (»ich verwandle mich in eine Hyäne«) grammatisch 
abgeleitet und die Eingebornen behaupten, es gäbe eine Stadt, Namens 
Kabutiloa, wo Jedermann diese Eigenschaft besitze. Aus dem Aschango- 
land berichtet Du Chaillu ein Beispiel, wo ein Leopard zwei Männer 
tödtete, dieser aber k^in eigentlicher Leopard, sondern ein verwandelter 
Mensch war; nach längerem Forschen fand man Akondongo's Neffen Ako- 
scho als den Thäter, welcher es auch gestand; obgleich ihn der Oheim 
sehr liebte, musste er ihn doch preisgeben, und so wurde er in Gegen- 
wart des Volkes langsam verbrannt. In Europa finden wir unter den 
classischen Berichten die Geschichte des Petronius Arbiter (satir. 62) von 
der Verwandlung eines »versipellis« (Wendehaut) . - Es kommt oft der Ge- 
danke vor, dass ein Wolf verwundet wird und der, welcher seine Gestalt 
trug, nachher eine ähnliche Wunde zeigt. Zu Augustinus Zeit verkün- 
deten die Magier den Leuten, dass sie dieselben mit Hülfe gewisser 
Kräuter in Wölfe verwandeln könnten, und der Gebrauch von Selben zu 
solchem Zweck wird noch in verhältnissmässig neuer Zeit erwähnt. Hero- 

Radestock, Schlaf u. Traum. ^7 



— 258 — 

doC«-Sage von den Neuri (IV, 405), welche in Jedem Jahre einige Tage 
zu Wölfen werden, findet ihr Analogen auf slavischem Boden, indem liv- 
Ulndische Zauberer sich jtttirlich einmal in einem Flusse badeo und da- 
durch für zwölf Tage Wölfe werden. Viele Slaven halten überhaupt alle 
die Wölfe, welche in scharfen Wintern Menschen anzugreifen wagen, 
selbst für Menschen , die in Wolfsgestalt verhext sind. Den slaTischen 
Ausdruck ßpuxöXaxoc (bulgarisch vrkolak) haben die modernen Griechen 
statt des classischen Xuxdv^poiicoc aufgenommen ; er bezeichnet einen Men- 
schen, welcher in einen cataleptischen Zustand verftillt, wtthrend seine 
Seele in einen Wolf ftihrt und auf Blutgenuss ausgeht. In Deutschland 
ist besonders im Norden die Sage vom Wolfsgürtel noch erhalten, und 
im December darf man den Wolf nicht bei Namen nennen, sonst wird 
man vom Währwolf zerrissen. Die altscandinavischen Sagas haben ihre 
»WHbrwotfkrieger« und »Gestalten Wechsler« (hamrammr). Die D^ien er- 
kennen noch heut zu Tage in einem Menschen einen Wtthrwolf, bei wel- 
chem die Augenbrauen zusammenstossen. Das Wort werewolf (verevulf 
in Cnut's Gesetz) in England ist noch eine alte Erinnerung an diesen 
Glauben , der jetzt verdrängt ist , weil es eben dort keine Wölfe mehr 
giebt. Die französische Sprache hat ebenfalls ein Wort für Wfthrwolf, 
welches in älterer Form »gerulphus«, »garoul« und jetzt pleoaastisch 
»loup-garou« lautet. Das Parlament der Franche-Comt^ erliess im Jahre 
1 578 ein Gesetz, nach welchem die Währwölfe vertrieben werden sollten, 
4 5&8 gab der Währwolf von Angers einen Beweis davon, dass seine Hände 
und Füsse sich in Wolfsklauen verwandelten, 4 608 endlich erklärte der 
Richter im Process des Jean Grenier, dass Lycanthropie eine verrückte 
Täuschung, kein Verbrechen sei; aber noch 4658 gab eine satirische 
Schilderung eines Schwarzkünstlers einen vollständigen Bericht über Währ- 
wölfe. Selbst in unseren Tagen ist dieser Glaube bei den französischen 
Bauern noch nicht erloschen; noch in den sechziger Jahren war es dem 
Engländer Bqring - Crouid unmöglich, in Frankreich nach Dunkelwerden 
einen Führer über einen einsamen Platz zu bekommen, welchen ein loup- 
garou unsicher machte ; er wurde dadurch veranlasst, sein »Book of Were- 
wolves« zu schreiben. 

Durch alle einzelnen Localsagen zieht sich eine gemeinsame Grund* 
idee hindurch, ein Beweis, dass sie bei den örtlich so sehr getrennten 
Völkern denselben psychologischen Gesetzen ihren Ursprung verdanken. 
Dass in krankhaften Zuständen der Mensch sich in ein Thier verwandelt 
glaubt, kommt nicht selten vor. Nach SpieJmann geht nämlich aus einer 
gänzlichen Umwandlung des Fühlens bei Melancholikern diejenige Form 
der Melancholie hervor, die mit der Wahnvorstellung einer verwandelten ' 
Persönlichkeit verbunden ist, wie der Verwandlung in einen Wolf (Lycan^ 
tiiropie), einen Hund (Kynanthropie), einen Bären, e4ne Leiche, in Holz, 
Butter, Spreu u. s. w. ; allgemein bezeichnet man diese Krankheit mit dem 
Namen »Insania metamorphosis«, wohin die »insania zoanthropica« als be- 
sondere Art gehört. — Vergl. Tylor, a. a. 0. I. p. 305 — 809. Bastian, 
Der Mensch in der Geschichte. Bd. II. p. 3Sl — 34. 



— 259 — 

26) A, Sprenger, Das Leben uad die Lehre des Mohamoiad. Berlin 
4864. Bd. II, p. 907-^S«S. 

27) Bomer, Odyss. VIII, 79 ff. : 

Tpo>a( Tc xal Aovaolot, At^c fUfdiXoi» ^d ßo»Xdk«. 
Herodoi, 1. 4», 44, 49, S6, 46—54. ~ Bei den Hellenen stand es in 
Blüthe bis ungefitbr zum peloponnesischen Kriege, der Zeit der berein- 
brechenden Aufklärung; hohe Autorität hatte es bei dem dorischen 
Stamme, zumeist in Sparta. Dureh politische Paitetnahme und Bestech* 
liehkeit erregte es Misstrauen gegen sich and kam so in Verfall; Cicero 
sagt im Sinn griechischer Philosophen und der Römer seiner Zeit: cur 
isto modo jam oracula Delphis non eduntur, non modo nostra aetate, 
sed iam diu, ut nihil possit esse contemtius? (de div. II, 57). 'Zur Zeit 
Eaärimlt hob sich das Orakel wieder etwas, aber die Dinge, über welche 
man es befragte, waren jetzt meist kleinliche Privatangelegenheiten. Von 
den Kirchenvätern bekämpft, von den Kaisem geplündert, ward es end- 
lich von Theod09iui gänzlich geschlossen. 

28) Die unglückliche Johanna war im Jahre 4 442 zu Dom Remi ge- 
boren, also zur Zeit ihres Auftretens 17, zur Zeit ihres Todes 49 Jahre 
alt. In den »Notices et extraits de manuscripts de la Bibl. du Roi« 4790. 4. 
— den Verdammungsprocess mit historischen Erläuterungen des del Aberdy 
enthaltend, heisst es nach den Zeugenverhören: »Elle n'etoit pas sujett6e 
suivant toutes apparences ä Tinfirmit^ sexuelle«. Das bei dem Fehlen der 
Menstruation zurückbleibende, vielleicht auch periodisch aufwallende Blut 
brachte bei Ihr die krankhafte Affection hervor, welche in geringerem 
Grade in diesem Lebensalter häufig vorkommt und worin Kranke einer- 
seits eine Sehnsucht nach Weissagungen und Ausserordentlichem über- 
haupt haben, andrerseits diese Weissagung selbst oft ausüben und in 
visionäre Zustände gerathen. — Vergl. Fr, B. Oeiander , Entwickelungs- 
krankheiten in den Blüthenjahren des weiblichen Geschlechts. Göttingen 
4847. Bd. I, p. 88 f. Fr, W. Hagen, Sinnestäuschungen. Leipzig 4887. 
p. 4 65 f. Busch , das Geschlechtsleben des Weibes u. s. w. — BasUan 
dagegen hält sie noch für gesund: »Bei dem religiösen Horizonte, in dem 
Johanna d'Arc lebte, erklären sich ihre Visionen ungehindert aus einem 
durch die politische Bedrängniss angeregten Irritationszustand des Nerven- 
systems, wie er als solchernoch innerhalb des Gebiets voller 
Gesundheit bestehen kann. Hätte sie in ihrem Dorfe fortgelebt, 
beständigen Schmähungen und Misshandlungen seitens ihrer Umgebung 
ausgesetzt, so würde bald dieser, durch die beständige Unruhe des, als 
im Widerspruch mit der Aussenwelt stehend , zweifelnden Bewusstseins in 
Reizung gehaltene Irritationszustand in eine das gesammte Wohlbefinden 
des Organismus in Mitleidenschaft ziehende Wahnsinnskrankheit überge- 
gangen sein. Dieses war um so mehr zu fürchten, da ihre rein subjectiven 
Vorstellungen ihre Naturheilung, die bei Unmöglichkeit eigener Umände- 

47* 



— 260 — 

rung nur darin liegt, den Ideenkreis der Zeitgenossen nach sich umzu- 
ändern, nie hatten finden können. Dass sie trotzdem von dem Wahnsinn 
verschont blieb, lag in den aussergewöhnlichen Verhältnissen, die sie als 
Begeisterte an die Spitze der Heere stellten. So eiiiielt ihre eigenthümliehe 
Weltanschauung, die das Publicum nicht zu sich heraufziehen konnte, 
ihre nothwendige Compensation (um nicht durch beständiges Anstossen 
in Fieberactionen getrieben zu werden) dadurch, dass die Zeitgenossen, 
anstatt sie als krankhaft auszustossen, zu ihr als einer Gottheit aufschauten, 
und ihr so erlaubten, ihre Ideenkreise alle in ihnen liegende Entwick- 
lungskeime voll und ungehindert -hervortreiben zu lassen, während das 
daraus entstehende Idealgebilde trotz setner Excentricität in der Gesellschaft 
eben deshalb bewahrt werden konnte, weil man es von vornherein auf 
einen exceptionellen Standpunkt gestellt hatte. Mit dieser vollen und un- 
gehinderten Ausbildung ihrer Anschauungen war nun auch dem Uebergang 
zum Wahnsinn bei ihr vorgebeugt, denn sie vermochte sich so zu der 
von dem Organismus angestrebten Harmonie in klarstem Selbstbewusstsein 
zu entfalten, und blieb, obwohl der Welt ein angestauntes Wunder, eben 
deshalb sich selbst immer das im normalen Gesundheitsgefiihl fortlebende 
Individuum.« (Der Mensch in der Geschichte. Bd. II. p. 537). 

29) Vergl. E. R. Pfaff, Das Traumleben und seine Deutung nach den 
Principien der Araber, Perser, Griechen, Inder und Aegypter. Leipzig 
4868. p. 4 00. — In Bezug auf das Yoraufgehen sonderbarer Träume bei 
Visionen vergl. die lebhaften Träume der Jungfrau von Orleans in Schiüer^s 
Drama (I, 4 0). 

30) Ein Nachkomme des Aristides lebte von Traumdeuterei (Plut. 
Arist. 27). — In den Tempeln des Sehers Amphiaraos zu Oropos, dessen 
Sohns Amphilochus und des Mopsos in Cilicien, des von letzterem in der 
Weissagung besiegten Kalchas, des Sehers im trojanischen Kriege, und 
des Podaletrios am Vorgebirge Garganus in Apulien, des Asclepios zu 
Epidauros — legte man sich, um göttliche Offenbarungen, namentlich zur 
Heilung von Kranken zu erhalten, auf dem Felle des Opferthieres zum 
Schlafen nieder. Die Kranken -— meist solche, welche die Aerzte schon 
aufgegeben hatten — wurden, wie Plinius berichtet, durch Räucherungen 
und Getränke zu den Träumen vorbereitet, in welchen ihnen der Gott 
das Heilmittel angab. Vergl. Preller, Römische Mythologie. 2. Aufl. Berlin 
4865. p. 609 etc. 

31) Vergl. NudoWj Versuch einer Theorie des Schlafes. Königsberg 
4794. p. 489. 

32) Vergl. besonders Götlie , Egmont. A. V, Shakespeare , Macbeth 
A. II. Sc. 5. 

33) II. II. V. 7 ff. Zeus ruft hier, um sein der Thetis gegebenes Ver- 
sprechen zu erfüllen , und die Griechen in Noth zu bringen , damit sie 
gezwungen den zürnenden Achill versöhnen und zu ihrer Hülfe herbei- 
rufen sollen, den 5v£ipoc, entsendet ihn zu Agamemnon und lässt diesem 
die täuschende Hoffnung eines Sieges vorspiegeln, wodurch die ^o^Aii im 
zweiten Buche, die Einleitung des Kampfes im dritten und der eigentliche ' 



— 261 — 

Beginn desselben im vierten Buche eingeleitet wird; v. 22 ff. vollzieht der 
([veipoc den Befehl. — II. XXIII, v. 64 ff. erscheint die Seele des Patroklos 
dem schlafenden Achilles , nm ihn zur Bestattung des Leichnams aufzu- 
fordern , welche auch nach grossartiger Vorbereitung in's Werk gesetzt 
und in demselben Buche beschrieben wird. — Odyss. VI., v. 43 ff. : Athene 
fordert in Gestalt der Tochter des Dymas die Nausikaa auf, sich zum 
Meeresstrande zu begeben um ihre Gewänder zu waschen. Dort findet sie 
den Odysseus , welchen sie mit Kleidern versieht, mit Speise und Trank 
erquickt und zu ihrer Mutter sendet, wo er sich die Aufnahme bei den 
Phäaken erfleht. — Odyss. XV., v. 9 ff. erscheint Athene dem in Sparta 
weilenden Telemack während des Schlafes, erinnert ihn an die Rückkehr 
und warnt ihn vor den Nachstellungen der Freier. 

Gewissermasen eine Theorie der Träume findet sich Odyss. XIX. 
V. 562 ff.: 

»^oial Y^p Te TTüXai dfAeNTjNÖJV elaiv övelpov 
al jxev Y*P xepdeaoi Texe-j^axai, al ^ iXi^aszi' 
Twv ot [iis % IXOrodi hiä icptcroü iXicpavTo;, 
ot ^' dXe^aipovTai, Itte* dxpaavxa cpIpovTe^ * 
ot hk 5tdt SeaTd>v xepdioov IXdnvt ^6paCe, 
oTj)* iTUfxa xpalvouai ßpoTwv 6x6 x^v Tt; ISTjTat«. 
Der Annahme, dass diese Theorie aus einem Wortspiele zwischen xipac 
(Hom) und xpalvos (vollenden) einerseits, sowie IXecpac und ^Xe<patpo(jiat 
andererseits abgeleitet sei , gab schon Eusthatius den Vorzug und sie ist 
bis heutigen Tags die herrschende geblieben, obgleich noch andere Er- 
klärungen auftauchten. 

Nachbildungen dieser Mythe finden sich Horat, Od. III, 27, 44 : »imago 
Vana quae porta fugiens ebuma Somnium ducit?« 
Vergil. Aen. II. 893 ff. : 

»Sunt geminae Somni portae, quarum altera fertur 
Cornea, qua veris facilis datur exitus umbris; 
Altera candenti perfecta nitens elephanto, 
Sed falsa ad caelum mittunt insomnia Manes«. 
Vergl. PUUo, Charmides p. 4 73. 

Ein Traum gott, der später vorkommt, (Paus.U, 4 0. 2) kennt Homer 
auch H. II, 6 nicht. (Die Erklärung dieser Stelle giebt Ludan, lup. trag. 40: 
Zeu; — ifynzaxq. töv A^ap'^H-vova, ^^eip6v xtva ^euhi] iici7c£|i.4^ac dis woXXol 
T&N 'AxaiSi^ dnoddvoie^.) — Die Wohnung der Träume ist auf dem Wege 
nach dem Hades jenseits des Okeanos im Reiche der Nacht (Od. XXIV. 44 ff. : 
»icdp 6' Xaas 'Qxeavou xe ^odc %al AsuxdSa ic^7]v, 
ifih Tcap' 'HsXCoto nt^Xoc «al ^(aov dvelpinv 
^jioav. « — VergU Aen. VI. 282 ff. : 
»In medio ramos annosaque brachia pandit 
Ulmus opaca, ingens, quam sedem Somnia vulgo 
Vana teuere ferunt, foliisque sub omnibus haerent«. 
Vergl. auch Ovtd, metam. XI. 592 ff.), wenn sie sich als göttliche 
Wesen auch im Olymp aufhalten können. Bei Besiod heissen sie Kinder 
der Nacht (theog. 24 4) und wohnen mit ihr im unterirdischen Dunkel 



— 262 — 

(theog. 748), bei Euripfaes Söhne der Erde, schwarzgefittgette Grenien 
(Hec. S4); (Md nennt sie Kinder des Schlafgottes und führt aus der oa^ 
endlichen Zahl derselben die drei hanptsttchlichsten an -. Iforpheas, Ikelos 
(oder Phobetor) und Phantasos (met. XI, MS ff.). Nach Verffil ist die Woh-^ 
nung des Schlafes Im Tartarus (Aen. VI, 890). 

34) Von Dichterstellen will ich hier nur noch anführen: Sophokles, 
Electra, v. 408 ff., v. 62 ff. — Euripides, Orest. v. 606 ff. Hec, v. 70 ff., 
587 f. — Plautus, Mil. glor. 11, 4. Curcul. 11, 2, 40 ff. Rud. III, '4, 6 ff. 
Merc. II, 4, 5. Die späteren römischen Lustspieldichter gaben die allego- 
rischen Träume auf. — Ovid, met. VII, 634 ff. VIII, 824. etc. — Goethe, 
Egmont. Goetz v. Berlich. A. I. — Schiller, die Jungfrau von Orleans. I, 
2. I, 40. Die Piccolomini 1, 8. Wallensteins Tod II, 3. V, 4. Die Braut 
von Messina (Isabella und ihr Gemahl]. — Gutzkow, Uriel Acosta, IV, 3. 
V, 2. — P. Heyse, Hans Lange IV, 4. 

35) Der Inhalt ist folgender: Basilius , ein König von Polen, durch 
einen Traum in der Zeit, wo die Königin guter Hoffnung war, erschreckt, 
lässt den von ihr geborenen Sobn Siegismund in einen finstern Thurm 
sperren und streng bewachen; als dieser zum Jüngling herangewachsen, 
lässt er ihn plötzlich während des Schlafes in den Palast bringen und mit 
aller Pracht umgeben. (Aehnlich wie der Lord den betrunkenen Kessel- 
flicker in der Einleitung zu Shakespeare' s »der Widerspenstigen Zähmung«). 
Da Siegismund sich jedoch sehr unbändig und grausam zeigt, wird er im 
Schlafe wieder in seinen Thurm zurückgebracht und ihm beim Erwachen 
gesagt, die Pracht und Herrlichkeit sei nur ein Traumbild gewesen. Bald 
aber machen ihn die Polen , welche ihn zum Herrscher begehren , frei ; 
der besiegte Vater kniet vor dem Sohne, allein dieser, durch den vermeint- 
lichen Traum gewarnt, hebt ihn auf und zeigt sich mild und weise. 

36) Inhalt : Ein Jüngling Rustan will, ungeachtet ihm im Hause seines 
Oheims die Liebe von dessen Tochter winkt, von einem Sclaven aufge- 
muntert, in die weite Welt ziehen um grosse Thaten zu vollbringen, wird 
aber durch einen Traum gewarnt und bleibt. — Die Warnung durch 
den Traum ist also das Hauptmoment in beiden Stüeken. 

87) Vergl. Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre. II, C. 42. VII, C. 4. 
VIII, C. 9. — W. Hauff, Lichtenstein p. 40, 4 08, 437, 362, 882 ff. — 
G, Freytag, das Nest der Zaunkönige, p. 72, 79, 420. Die Brüder vom 
deutschen Hause, p. 892. Marcus König, p. 209. — F. Dahn, Ein Kaispf 
um Rom 2; Aufl. I, p. 444 f. 820 f. H, p. 48, 489, 207. III, 467 ff. IV. 4 7 f. 
— G. Ebers, Eine ägypUsohe Königstochter. 4. Aufl. I, p. 402, 4 42. II, 
33, 459, 484. HI, 34 ff., 80 f., 422, 202 (nach JSforodo^ HI, 30), 226. üarda 
2. Aufl. I. p. 4 60, 255. — B. Auerbach, Dorfgeschichten. Bd. I, p. 37, 90. 
Diethelm von Buchenberg p. 288. Edelweiss p. 348. Bärfüssele p. 38. 
Zur guten Stunde. Bd. I, p. 46, 48. IV^ p. 54. Neue Dorfgeschichten II, 
p. 34. Waldfried. II, p. 462. Landhans am Rhein. I, p. 494. II, p. 94, 
486, 4 8«. — Turgenjew, drei Begegnungen p. «55-*-88 u. s. w. — In 
Jean PauVs » Museum «t findet sich eine mehr philosophische Abhandlung: 
»Blicke in die Traumwelt«. 



— '263 — 

39) PUüo, apol. p. 22; v«rgi. auch Ueaon, p. 99. Jod p. 584 etc. — 
Andrarseits neniil Kant d«n Traum eine »unwillkürliche Dichtkunst« (A&-> 
thropologi«) herg. von Chr, Starke, Leipe. 4834. p. 4&3). Die verschiedenen 
Formen der geistigen Thötigkeiten ^ — die traumhaften Zustände und die 
Dichtung — haben nicht nur, wie unten zu besprechen sein wird, ähn- 
liche Gesetze in der grossen Freiheit der Gedankencombinationen, sondern 
sie zeigen auch dieselbe Wirkung. Alles erscheint dem Dichter wie dem 
Träumenden belebt: der Bach hüpft wie ein Kind am Abhänge dahin 
und plätschert unter Blumen spielend einher, zum Flusse erwachsen 
^wird er kraftvoller und trägt schwere Lasten. In rasendem Toben 
schwillt das Wasser hoch auf und überfluthet das Land, den Badenden 
packt es an mit Frost und Krämpfen , mit unerbittlicher Umschlingung 
hält es sein ertrinkendes Opfer fest. Das aus der Form strömende Erz 
befreit sich selbst und die Elemente hassen das Gebild von Menschen- 
hand. Tückisch entrollt der gewälzte Stein; 

» . . . . wenn die Kugel los ist aus dem Lauf, 
Ist sie kein todtes Werkzeug mehr, sie lebt, 
Ein Geist fährt in sie, die Erinnyen 
Ergreifen sie, des Frevels Rächerinnen, 
Und führen tückisch sie den ärgsten Weg«. 
{SchiUer, Wallensteins Tod. III.). Man redet in der Metapher von einem 
Menschen, der von Liebe und innigen Wünschen »beseelt« ist oder 
»begeistert« für Vaterland und Freiheit zu reden und zu kämpfen. 

39) PlatOf Apol. p. 33. Kriton p. 44. Phaedon. p. 60 E.] Xenophovij 
Anab. III, 4, 12. IV, 3, 8. VI, 4, 22. Kyrop. VIII, 7, 21. " 

40) Rep. IX. p. 572. Phileb. p. 20 B. etc. — Das Organ der weissa- 
genden Träume ist die Leber; auf ihrer glatten Oberfläche lässt die Ver- 
nunft wie in einem Spiegel schreckhafte oder heitere Bilder erscheinen, 
vermindert ihre natürliche Süssigkeit und Farbe duf-ch Einführung von 
Galle oder stellt sie wieder her und schreckt oder beruhigt dadurch den 
Theil der Seele, der hier seinen Ort hat. (Tim. p. 74). 

41) Neben anderen kleinen Aufsätzen mit aufgenommen In die Aus- 
gabe seines grösseren Werkes »De anima« (iiepl 4'^X'^^) ^^° Immanuel 
Bekker, Berlin «829. p. 4 44 — 424. 

42) L. II, c. 54 . §440: »Quid vero habet auctoritatis furor iste, quem di- 
vinum vocatis, ut, quae sapiens non videat, ea videat insanus et is, qui hu- 
manes sensus amiserit, divinos assecutus sit?« — Aeholieh sagt Aristoteles: 
»TÖxe f Ap ^eov elvai t6v n£(AiiovTa, itpöc ttq ^X^ diXo^^i, xal tb jii?) toTc ßeXxl- 
9tou %al 9povifAi»TeiTotc dXkä tou tox^uai n^ixireiv dfToicov«. (a. a. 0. p. 420). 
— Wie den Weissagungen in Visionen und Träumen gegenüber, so verhält 
sich Cicero auch skeptisch in Bezug auf die Kunst der haruspices und 
die bei den Römern mehr als bei den Griechen ausgebildete künstliche 
Divination überh»iipt; ja an einer anderen Steile (a. a. 0. deor. I, c. 26« 
§ 74 ; vergl. de divin. IL c. 42 f.) bemerkt er geradezu, es erscheine ihm 
wunderbar, dass der haruspex nicht lachen müsse, wenn er einen Colie- 
gen bei der Ausübung seiner Amtsgeschäfte erblicke. Eine ähnliche An- 



1 



264* — 



Sicht, welche durch die Lehren de» PoiiaafiiM, der in dieser Beziehung 
von der Meinung der übrigen Stoilcer abwich, und anderer Philosophen 
hervorgerufen war, — hatten die meisten gebildeten Römer jener Zeit. 

43) De cura pro mortuis X — ^XII, epist. CLVIII. ^ Auch giebt er die 
landlttufigen Begriffe von den Besuchen der Incubi an, die, wie er sagt, 
durch Zeugnisse von solcher Zahl und solchem Gewicht bestätigt werden, 
dass es für unverschämt gelten möchte, dieselben zu leugnen; dennoch 
hütet er sich zu einem positiven Glauben an solche Geister sich zu be- 
Icennen. (De clv. Dei XV, 48). 

44) 6r. H. V. Schubert, die Symbolik des Traumes. Bamberg 4814, in 
4. Aufl. nach dem Tode \les Verfassers herg. von Fr. H, Ranke, Leipzig 
4862. — Vergl. auch dessen »Geschichte der Seele«. Tübingen 4830. 
4. AuH. 4847. 

45) Burdack, Die Physiologie als Erfahrungswissenschaft. Bd. III. — 
Purkinje, »Wachen, Schlaf, Traum und verwandte Zustände « in Wagner' s 
Handwörterbuch der Physiologie. Bd. III. Abth. 2. p. 443 — 480. 

46) A. Maury, Le sommeil et les rdves. Trois. ödit. Paris 4 865. Vergl. 
auch desselben Verfassers: De certains faits observ^s dans les röves et 
dans r^tat intermödiaire entre la veille et le sommeil. Paris 4857. (April- 
Heft der Annales m^ico-psychologiques du Systeme nerveux) . Von anderen 
französischen Autoren sind noch zu nennen : A, Lemoine, Du sommeil au 
point de vue physiologique et psychologique. Paris 4855. ^ Maine de 
Biran, Nouvelles considörations sur le sommeil, les songes et le somnam- 
bulisme. Jouffroy, M^langes philosophiques. Du sommeil. — Macario, 
Du sommeil, des r^ves et du somnambulisme dans T^tat de sant6 et de 
maladie. Paris 4857. — Doch waren mir leider diese Werke ebenso wie 
die denselben Gegenstand behandelnden zahlreichen englischen Schriften 
nicht zugänglich. 

47) I. V. Strümpell, Ueber die Natur und Entstehung der Träume. 
Leipzig 4874. 426 Seiten. Später erschien: Hildebrand, der Traum und 
seine Verwendung für das Leben. Leipzig 4 875. Doch hat dies kleine Buch 
(60 Seiten) keine gute Disposition; die darin aufgestellten Gegensätze, 
welche sich im Traum finden sollen, sind nur willkürlich angenommen; 
auch kann ich. Hildebrand nicht beistimmen , wenn er den Menschen für 
seine Träume in Betreff ihrer Moralität verantwortlich machen will. Der 
Vortrag Siebecl^s über den Traum hingegen, welcher abgedruckt ist in 
der von H, Virchow und Fr. v, HoUzendorf herausgegebenen Sammlung 
gemeinverständlicher Vorträge (Ser. XII. H. 279. Berlin 4 877), enthält 
eine gedrängte (40 Seiten), interessante und dabei populär gehaltene Dar- 
stellung der meisten wesentlichen Eigen thümlichkeiten des Traumes. 
Ferner behandelten diesen Gegenstand in neuester Zeit noch C. Bin% in 
einer kleinen (56 Seiten), mehr die physiologische Seite berücksichtigen- 
den Schrift: »Ueber den Traum«. Bonn 4 878. — NiciAaus Grot, Snowidie- 
ttia, kak predmet naucznaho analiza (Die Träume, ein Gegenstai^jl wissen- 
schaftlicher Analyse). Kiew 4878. Diese kleine Schrift enthält nichts 
Neues. Grots Eintheilung der Träume wird später angeführt werden. — 



— 265 — 

Das'Werk H. SpUta*s: »Die Schlaf- und Traumzustände der mensdüichen 
Seele« ist im Vorwort schon besprochen worden. 

48) Encyclopaedie der philosophischen Wissenschaften. Heidelberg 
484 7. p. 246. — Die Ansichten seiner Schüler s. in Anmerk. 84. 

49) Das Leben des Traumes. Berlin 4864. 874 Seiten. Dieses Buch 
enthält eine Fülle von Material, welches aus einem jahrelangen fleissigen 
Sammeln und Beobachten hervorgegangen, und manche treffliche Apergus ; 
allein die Begeisterung für den Traum ist, wie schon die ersten Sätze im 
Anfange (»Ich will über die Seele forschen und Entdeckungen machen, 
so viel ich kann, und ich wag'sl Denn mich reizt ihre schöne Gestalt 
und noch mehr, was dahinter verborgen liegt ; und mich reizt überhaupt 
was verborgen ist, und ich habe eine unaussprechliche Sehnsucht danach«) 
bekunden, zu gross. Der Gegenstand, welcher Schemer's Geist so lange 
Zeit hauptsächlich in Anspruch genommen, hat zu grosse Bedeutung für 
ihn erlangt, welche er für den unbefangenen Leser nicht hat. So ergeht 
sich denn der Verfasser in poetischen Schilderungen der unübertreillichen, 
symbolischen Malereien der im Traume erhabenen und weit die des Tages 
hinter sich lassenden Phantasie. Den ganzen ersten Theil (p. 4 —'434) 
füllt diese Schilderung aus, und es finden sich hier wenig Thatsachen, 
welche nicht im zweiten Theile wiederholt wären. Die Symbolik — von 
der einzelne Proben zu geben ich später Gelegenheit haben werde — hat 
Scherner bis auf die kleinsten Punkte, wo sie oft an Lächerlichkeit grenzt, 
durchzuführen versucht. Der Abschnitt über Abnungs- und Willkür- 
träume ruft »unwillkürlich« die Erinnerung an das Wort Faust's wach : 

»D'rum hab ich mich der Magie ergeben. 
Ob mir durch Geistes Kraft und Mund 
Nicht manch' Gefaeimniss würde kund«. 

50) Die Traum -Phantasie. Stuttg. 4 875. Dies Werk enthält trotz 
seiner 208 Seiten nicht viel Neues; es lehnt sich vollständig an Schemer's 
Lob der symbolischen Phatasie an, und die allzugrosse Begeisterung, 
welche Volkelt an Schemer tadelt (p. 482), erfüllt ihn zum Theil selbst. 
Auch ist die Eintheilung, in Betreff deren er ebenfalls an Schemer's Werk 
Ausstellungen zu machen hat, im wesentlichen diesem entnommen. 

51) W. Wundty Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele. 
Leipzig 4863, Vorrede; vergl. p. 20: »....Erfahrung und denkende 
Betrachtung machen jede Wissenschaft. Die Erfahrung ist das Frühere, 
sie liefert die Bausteine, das Denken ist nur der Mörtel, der die Bausteine 
zusammenkittet. Aber das Gebäude hat den Kitt und die Steine nöthig«. 

62) Weher y Art. »Tastsinn« in Wagner's Handwörterbuch der Physio- 
logie. Bd. in. Abth. 2. -^ Fechi^ery Elemente der Psycho-Physik. 2 Bde. 
Leipzig 4860. — Ren% und WeHf, Archiv für physiologische Heilkunde. 
4866. — Nach dem psycho-physischen Gesetze entsprechen gleidien re- 
lativen Reiz zuwüchsen gleiche Bmpfindungszuwüchse; mit der In- 
tensitttt der Reize wächst und nimmt ab die Intensität der Empfindungen. 
Die Zunahme des Reizes, wel<^e eine Zunahme der Empfindung bewirkt, 



— 266 — 

Steht xar gaBzen Reliilirke in einem ceMtaniMi VerbtfltDisB ; jeder Lfchfr- 
reiz mus9 um Vioo > jeder Mnskelreii um Vit > jeder Sohell , Druck und 
Teroperatorreiz endlich um Vs seiner Stärke wachsen, um einen Empfin- 
dungszuwachs zu bewirken. Mathematisch aasgedrückt lautet das Gesetz : 
die Empfindungen wachsen wie die Logarithmen , wenn die Reize wie die 
Zahlen zunehmen oder: die Empfindung wttchst wie der Loga- 
rithmus des Reizes. Die Methoden bei der Auffindung desselben 
waren folgende: 

4} Die Methode der eben merklichen Unterschiede. Sie 
ist die von Weber aliein angewandte und bei der Druckempfindung ver- 
hältnissmässtg am leichtesten auszuführen. Man legt auf die Hautstelle, 
welche untersucht werden soll, kleine Gewichte, am besten aus Kork 
oder Hollundermark, und probirt die Grösse des Gewichtes aus, die ge- 
rade erforderlich ist, um eine eben merkliche Empfindung zu Stande zu 
bringen. Aehnlich verföhrt man bei den anderen Sinnen. 

2) Die Methode der richtigen und falschen Fälle. Sie 
geht aus der vorigen hervor, wenn man den Reizunterschied so klein 
nimmt, dass der Unterschied der Empfindung nicht mehr deutlich ist. 
Dann ist eine Täuschung möglich, indem man bald den schwächeren Reiz 
für den stärkeren, bald umgekehrt den stärkeren für den schwächeren 
nimmt. Man bestimmt nun die Grösse des Reizunterschiedes, die unter 
verschiedenen Umständen, also z. B. bei allmählichem Wachsen der Reiz- 
stärke erfordert wird, um dasselbe Verhältniss richtiger und falscher 
Fälle oder richtiger Fälle zur Totalzahl der Fälle zu erzeugen. Die Grösse 
der Empfindlichkeit wird der Grösse jenes Reizunterschiedes umgekehrt 
proportional gesetzt. Die Fälle , wo das Urtheil zweifelhaft bleibt, werden 
halb den richtigen, halb den falschen Fällen zugezählt. 

3) Die Methode der mittleren Fehler. Mit der vorigen von 
Fechner ausgebildet beruht sie darauf, dass man durch Schätzung einen 
Reiz so lange abstuft, bis er eine Empfindung bewirkt, die nach dem 
Urtheil einer anderen Empfindung, welche ein Reiz von gegebener Stärke 
veranlasst, gleich ist. Man begebt dabei im Allgemeinen einen gewissen 
Fehler, der gefunden wird, wenn man den durch Schätzung herausge- 
griffenen Reiz mit dem gegebenen Reize vergleicht. Aus einer grossen 
Zahl der Versuche bestimmt man nun den mittleren Fehler; die Empfind- 
lichkeit für Reizunterschiede ist dann der Grösse des mittferen Fehlers 
umgekehrt proportional. 

Dass das innere Gefühl des Glückes (moralisches Glück) dem Loga- 
rithmus der äusseren Güter (physisches Glück) proportional ist — ein 
Mensch, der 4^00 Tfaaler besitzt und dazu 400 htnzugewinnt, hat dasselbe 
Glücksgefühl als einer, der 400 Thaler besitzt und 40 dazu gewinnt, — 
bemerkte zuerst Daniel BemoulU in seinen »Specimen theoriae novae de 
mensura sortis«, dann Laplace in seiner »Thtorie analytique des proba- 
bilitöSff p. 487, 482; von letzterem rühren die Bezeichnungen physisches 
und moralisches Glück (fortnne pbysique et morale) her. I^oisson erwähnt 
die daraus sich ergebenden Folgerungen in seinen »Recherohes eur la 



— 267 — 

probabiHM«. JBtitor stellte um ein Jabr später, als B^moulU seinen S«ts 
aussprach, die Function für die Abhängigkeit der Empfindnag der.Tooin- 
tervaile von dem Verfaältnisse der Schwingungscahlen in seineidB »Tent»» 
men novae theoriae« (mus. 471», p. 78) auf. Spttter gelangte Hwitari un- 
abhängig von E^Uer zu derselben Auffassung ; Drebisch begrttndete dieselbe 
in allgemeiner Weise und knüpfte -weitere Entwiokelungen dairan. ' Die 
Verknüpfung der Sterngrössen mit den photometrischen Jntensitäten der 
Sterne durch eine Function fanden unabhängig von einander SMnheil 
(1887) und PogMon (4856). 

53) »Spiel und Verbrauch der lebendigen Kraft Im Gehirne zu psy* 
chophysischen und in anderen Theflen zu nicht psychophysischen Thätig- 
keiten bestehen im' gewöhnlichen Gange des Lebens thatsächlich zugleich 
und mit einander. Wir können denken und dabei noch Anderes mit un- 
seren körperlichen Organen treiben, und thun es in der Regel. Jetzt aber 
soll die Kraft des Denkens gesteigert werden. Sofort sehen wir, wie es, 
statt lebendige Kraft aus eigener Quelle zur Verstärkung der psycho- 
physischen Thäiigkeit, die es zu seiner eigenen Verstärkung braucht, 
schaffen zu können, solche anderen körperlichen Thätigkeiten raubt, und 
ohnedem sich nicht verstärken kann. Noch eben war Jemand in einer 
starken körperlichen Arbeit begriffen , da kommt ihm ein Gedanke , der 
ihn mehr als gewöhnlich beschäftigt, sofort sinken die Arme und bleiben 
hängen, so lange der Gedanke und mithin die psychophysische Thätigkeit 
desselben innerlich stark arbeitet, um ihre äussere Arbeit von Neuem zu 
beginnen, wenn diese innere nachlässt. Wo war die lebendige Kraft der 
Armbewegungen auf einmal hin? Sie diente, die Bewegungen im Kopfe 
anzufachen. 

So wie ein intensiver Gedanke nothwendig jede äussere Körperleistung 
unterbricht, unterbricht umgekehrt ein Sprung jeden Gedankengang. Die 
lebendige Kraft, welche der Sprung (1er Beine braucht, entgeht dem Gange 
der psychophysischen Bewegungen, die das Denken braucht; und der 
Geist hat weder die Macht, trotz des Verlustes den Gang wie früher fort- 
zusetzen, noch den Verlust aus eigener Machtvollkommenheit zu er- 
setzen. 

Wir können die lebendige Kraft, die für die Willkür disponibel ist, 
zwar theilen, aber sie bat zu jeder Zeit ihr Maximum, und das kann für 
eine Art der Beschäftigung nur stattfinden nach Massgabe, als die puderen 
ruhen. Ganz ebenso, wie wir, um möglichste Kraft in einem Arme zu 
verwenden, den anderen ruhen lassen müssen, müssen wir alle Theile 
des Körpers ruhen lassen, um möglichste Kraft im Kopfe zu verwenden, 
und umgekehrt die Thätigkeit im Kopfe möglichst rulien lassen, um 
möglichst kraftvolle Bewegungen mit den Gliedmassen auszuführen. Und 
so sehen wir den tief Nachdenkenden so still wie möglich sitzen, und 
Jemand, der läuft, Lasten hebt, nie zugleich in tiefen Gedanken. Es 
widerspricht sich, geht nicht 

Dasselbe Verhältniss als zwischen den psycbophysisehen und nicht 
psychophysischen Thätigkeiten findet auch zwischen den einzelnen Ge- 



— 268 — 

bieten der psyohophysischen ThAtigkeiteB statt. lo eine nassere Aosdiauaog 
ganz versunken sein und sngleioli tief nachdenken, geht nicht. Zugleich 
aufmerksam sehen und hören, geht nicht. Um schttrfer auf etwas ani 
reflectiren, müssen wir von Anderem mehr abstrahiren: und wie sich 
die Aufinerksamkeit theüt, schwächt sie sich für das Einzelne 

Die lebendige Kraft, die zum Holzhacken verwandt wird, und die 
lebendige Kraf^ die zum Denken , das ist zu den unterliegenden psycho- 
physischen Processen verwandt wird , sind nach Vorigem quantitativ nicht 
nur vergleichbar, sondern selbst in einander umsetzbar, und hiemit beide 
Leistungen selbst nach körperlicher Seite durch einen gemeinsamen Mass- 
stab messbar. So gut ein gewisses Quantum lebendiger Kraft dazu ge- 
hört, ein Scheit Holz zu spalten, eine gegebene Last bis zu gegebener 
Höhe zu heben, so gut ein gewisses Quantum, einen Gedanken mit ge- 
gebener Intensität zu denken : und jene Kraft kann sich in diese wandeln. 
Diess ist keine Verunehrung des Denkens; seine Würde hängt an der 
Weise, der Richtung, den Zielen seines Ganges, nicht an dem Masse oder 
der ünmessbarkeit der körperlichen Bewegung, die es zu seinem Gange 
braucht; wie die Entdeckungsreise des Columbus dadurch nicht an Werth 
und Bedeutung verliert, dass die lebendige Kraft des Schiffes, das ihn 
trug, so gut messbar war, als die 'eines zufällig geworfenen Steines oder 
des Windes, und selbst die eine in die andere umsetzbar. Das Körper- 
liche empfängt überhaupt Werth oderUnwerth von dem Geistigen, was damit 
in Beziehung steht, und kann eben deshalb solchen dem Geistigen weder 
geben noch nehmen. Gewiss ist, dass ein stiller Gefühls- und Gedanken- 
gang grossen Werth haben, und sich doch an so schwache Bewegungen 
knüpfen kann, dass eine ganz werthlose oder gar keine erhebliche äussere 
körperliche Leistung .damit zu vollziehen wäre, wenn sie in solche um- 
gesetzt werden sollte; aber eben so gewiss bleibt, <}a.ss, wenn das Ge- 
fühls- und Gedankenleben zu grösserer Intensität gedeihen soll, die 
unterliegenden körperlichen Bewegungen lebendiger von Statten gehen 
müssen. 

Dabei ist der Abhängigkeitsbezug, in welchem die Intensität der gei- 
stigen Thätigkeit von der Grösse der ihr unterliegenden körperlichen steht, 
nicht minder in umgekehrter Richtung geltend zu machen. So wenig ein 
Gedanke mit einer gegebenen Intensität gedacht werden kann, ohne dass 
eine gegebene lebendige Kraft der unterliegenden Bewegung entwickelt 
wird, so wenig kann sich solche entwickeln, ohne dass der Gedanke mit 
dieser Intensität gedacht wird. Nicht, dass zu jeder lebendigen Kraft 
gegebener Grösse auch ein Gedanke von gegebener Intensität gehörte, 
wohl aber zur lebendigen Kraft eines derartigen körperlichen Ganges, der 
einen Gedankengang zu tragen vermag« [Fechner, Elemente der Psycho- 
Physik. Bd. I, p. 37 ff., 48 f.). 

Dchr Zufluss der ernährenden Stoffe aus dem Blut kann ab- und zu- 
nehmen, aber niemals über eine gewisse Grenze gehen, welche durch die 
Beschaffenheit des Nerven und die Art seiner Restitution durch die Er- 
nährung nothwendig gegeben ist. Es giebt für den Nerven ein Maximum 
chemischer Spannkraft, das zur Umwandlung in lebendige Kräfte verfüg- 



— 269 — 

bai* ist, und der Bewegungsvorgang im Nerven, welchen der Reiz auslöst^ 
hat deshalb eine Maximalgrenze, die er nie übertrifft. (Vergl. Wuadt, 
Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele. Bd. I — Physlolog. 
Psychol. p. 283). 

54) Treffend sagt Wundt: »Der Gedanke entzieht sich unserer sinn- 
lichen Wahrnehmung: wir können das Wort hören, das ihn ausspricht^ 
wir können den Menschen sehen , der ihn gebildet hat , wir können das 
Gehirn zergliedern, das iho gedacht hat, aber das Wort, der Mensch, das 
Gehirn sind nicht der Gedanke. Auch das Blut, das sich im Gehirn 
bewegt, die chemische Wandlung der Stoffe, die in ihm vor sich geht, 
die Wärme, die Electricittit , die dort frei werden, — Alles das ist kein 
Gedanke«. — »Indem aber der Naturforscher dergestalt Denken und Hirn- 
verrichtung mit einander identiticirte , fehlte er offenbar selbst gegen die 
erste Regel naturwissenschaftlicher Logik, welche aussagt, dass nur ein 
Zusammenhang von Erscheinungen, der als nothwendig nachgewiesen 
werden kann , auch als ursächlich betrachtet werden darf. Ein ursäch- 
licher Zusammenhang zwischen Hirn Verrichtung und Gedankenthätigkeit 
ist noch nicht int Entferntesten dargethan«. Er weist mit Recht darauf 
hin, dass der moderne Materialismus auch nicht einen nennenswerthen 
Beitrag positiver Untersuchungsergebnisse geliefert, sondern sich damit 
begnügt hat, über den Zusammenhang der physischen Vorgänge mit den 
psychischen Verrichtungen unbegründete Ansichten aufzustellen. (A. a. 0. 
I, p. 4 6 flf.). — Zu obiger Frage vergl. auch Du Bois-Reymond, Die 
Grenzen der Naturerkenntniss , ein Vortrag. A. Lange, Geschichte des 
Materialismus, t. Aufl. Iserlohn 1878 — 75. 2 Bde. Huschke, Schädel, Hirn 
und Seele. Jena 4854; letzterer bezeichnet es geradezu als Wahnsinn, 
geistige Functionen aus körperlichen Vorgängen direct abzuleiten. Tyn- 
dall, Revue des cours scientifiques, 4868—69. FtcÄ, Lehrbuch der Ana- 
tomie und Physiologie der Sinnesorgane. Lahr 4 864. (Er meint, die 
äussere Vibration der inneren Empfindung gleichzusetzen , heisse : den 
Schmerz eines Beinbruches aus dem Anblicke aneinanderstossender Wag- 
gons deduciren) u. v. A. — Die von C. Vogt in seinem Werke »Köhler- 
glaube und Wissenschaft« ausgesprochene Ansicht, dass die Seele eine 
Secretion des Gehirns sei, findet sich übrigens schon bei Cabanis, Rapport 
du physique et du moral de Thomme, Paris 4 844, p. 4 38. (Das Gehirn 

J)ringt hervor »la s6cr6tion de la pens^e«; der Herausgeber, L. Peisse, 
bemerkt dazu: »Cette phrase est rest^e c^l^bre«). 

55) Manche scheinen das Problem von den Beziehungen des Körper- 
lichen und Geistigen gerade vermittelst des Satzes von der Erhaltung der 
Kraft lösen zu wollen. »Man nimmt allgemein an, dass dieses Gesetz de» 
Gleichgewichtes (der Erhaltung der Kraft) alle Lebenserscheinungen und 
besonders die Muskelzusammenziehung und die Nerventhätigkeit be» 
herrscht. Lftsst sie sich nun aber auch auf geistige Erscheinungen an- 
wenden? Sollte hier ein möglicher Uebergang von Nervenzustttnden zu 
solchen des Bewusstseins gegeben sein? Gehören auch die geistigen Krttfte 
in die Reihe der anderen Kräfte, und sind, wie diese, umsotzbar? Einige 



— 270 — 

der Zoitgenossen behaupten das. Bain i. B. hat Fälle gesammelt und mit- 
geiheilt, aus denen er herleitet: 4) Das Gleichgewicht und die Ftthigkeit 
von Nerven und geistigen Krilflen, sich in einander umzuwandeln ; 3} das 
Gleichgewicht oder die Umwandlung der geistigen Kräfte untereinander. 
So würde es seiner Ansicht nach möglich werden, einer- 
seits einen gegebenen Nervenzustand in einen entsprechen- 
den geistigen, andererseits die drei Hauptformen des geistigen Lebens, 
Fühlen, Wollen und Denken einein die andere übergehenzu lassen, 
und ein Gleichgewicht zwischen ihnen herzustellen, dergestalt, dass ein 
Bewusstseinszustand die Umwandlung und den Verbrauch einer gewissen 
Menge von Nervenkraft bedingte, und dass ein Zuwachs an Empfindung 
nur durch eine Verminderung des Denkens und WoUens möglich wäre, 
während die Gesammtkraft des lebenden Wesens bei allen diesen Wand- 
lungen dieselbe bliebe. — Die glänzende Auseinandersetzung, die sich in 
den »First principles« von Herbert Spencer (§74) findet, führt jeden Vor- 
gang ohne Ausnahme auf das Gesetz der Krafterhaltung oder des Gleich- 
gewichtes der Kräfte zurück. »Jede Vorstellung, jedes Gefühl«, sagt der 
Verfasser, »erweist sich nur als Ergebniss einer physischen Kraft, welche 
zu ihrer Erzeugung verbraucht wird, das ist das Prinzip , welches in der 
Kürze ein Gemeinsatz der Wissenschaft werden wird« {Ribot, die Erblich- 
keit, deutsch V. Dr. Otto Motzen, Leipz. 4 876, p. 278 f.). 

Dagegen lautet ein bekannter Satz Du Bois-Reymond's : »Die mecha- 
nische Ursache geht in der mechanischen Wirkung auf«! 

56) Bei weniger verbreiteten Entartungen und Erkrankungen einzelner 
Theile übernehmen andere Partien stellvertretend deren Functionen und 
man bemerkt keine eigentliche psychische Veränderung und Störung. 
Halter (Elem. phys. IV. p. 338), Amemann (Vers, über das Gehirn und 
Rückenmark), Longet (Anat. et physiol. du syst. nerv. I, p. 669 f.) und 
Andere sammelten Fälle, wo sogar bei weiterer Verbreitung sich keine 
geistigen Störungen zeigten. Diemerbroek erzählt von einem Mädchen, 
welchem die ganze rechte Himhälfte durch den Fall eines schweren Stei- 
nes zerstört wurde und bei welchem noch 36 Stunden lang das psychische 
und das sensorielle Leben sich ungestört zeigte. Einen ähnlichen Fall 
erzählt Roloff von einem Weibe , bei welchem man bei der Section be- 
deutende Zerstörungen ^der linken Himhälfte fand , während die rechte 
Hemisphäre ganz normal war; bei diesem Individuum waren die psychi- 
schen Functionen nicht im Mindesten getrübt. Bei einer alten Frau, 
welche an Lungenentzündung starb, fand man die linke Gehirnhälfte voll- 
kommen gesund, die rechte aber fast in allen ihren einzelnen Tfaetlen 
atrophisch, und dieses Weib halte nie an der geringsten psychischen Stö«- 
rung gelitten. Longet berichtet von einem 39jährigen Manne, dessea 
geistige Kräfte keine merklichen Abweichungen darboten, ungeachtet die 
ganze rechte Hemisphäre des grossen Gehirns fehlte. Neumawn führt einen 
Fall an, in weichem eine Kugel eine ganze Hemisphäre zerstört hatte, 
ifhne die Besinnung zu rauben. Äbercrombie berichtet von einer Frau, 
bei welcher die Hälfte des Gehirns in eine krankhafte Masse aufgelöst 



— 271 — 

war, und die dennoch, einer Unvollkommenlieit des Sehens abgerechnet, 
alle ihre geistigen Vermiigen bis zum letzten Angenblicke behielt, so dass 
sie noch einige Stunden vor dem Tode einer fröhlichen Gesellschaft in 
einem befreundeten Hause beiwohnte. Ein Mann, dessen (yHoUoran 
erwtthnt, erlitt eine solche Verletzung am Kopfe, dass ein grosser Theil 
der Hirnschale auf der rechten Seite weggenommen werden musste; da 
eine starke Eiterung eingetreten war, so wurde bei jedem Verbände durch 
die Oeifnung eine Menge Eiter mit grossen Quantitäten des Gehirns selbst 
entfernt. So gesdiah es 47 Tage hindurch, und fast die Hälfte des Ge* 
bims wurde, mit Materie vermischt, auf diese Weise ausgeworfen ; dessen* 
ungeachtet behielt der Kranke alle seine Geisteskräfte bis zu dem Augen- 
blicke seiner Auflösung, sowie auch während dieses ganzen Krankheits- 
zttstandes seine Gemüthsstimmung ununterbrochen ruhig war. — Sömme- 
ring (Hirn und Nerven, p. 400) sagt, es sei fast kein Theil der Gehirn- 
masse, den man nicht zuweilen ohne Spur eines Nachtheiles für Leben 
und Verstand verhärtet, verwundet, vereitert oder gestört gefunden hätte. 
Ebenso bemerkt Burdach, die Erfahrung habe gelehrt, dass es keinen Theil 
im Gehirn gäbe, dessen Abnormität nicht zuweilen eine Störung der 
Seelenthätigkeit zur Folge gehabt hätte, aber ebenso auch keine, bei des* 
sen Abnormität die Seelenthätigkeit nicht ungestört geblieben wäre. — 
Doch ermüden in solchen Fällen von scheinbarer Ungestörtheit der psy- 
chischen Functionen die Individuen schneller. Ferrus berichtet von einem 
Generale, der durch eine Verwundung einen grossen Theil des linken 
Scheitelbeines verloren hatte , was eine beträchtliche Atrophie der linken 
Himhemisphäre nach sich zog, die sich äusserlich durch eine enorme 
Depression des Schädels kund gab. Dieser General zeigte noch dieselbe 
Lebhaftigkeit des Geistes, dasselbe richtige Urtheil als früher, konnte 
sich aber geisMgen Beschäftigungen nicht mehr hingeben, ohne sich bald 
ermüdet zu fühlen. Langet sagt bei Mittheilung dieser Erfahrung, er habe 
einen alten Soldaten gekannt, der sich ganz in demselben Falle befilnde. 
Feehner bemerkt: »Es verhält sich mit beiden Himhemisphären factisch 
ebenso wie mit zwei Pferden, die vor einen und denselben Wagen ge- 
spannt sind. Man kann das eine Pferd ausspannen und der Wagen geht 
noch in demselben Sinne wie früher fort, nicht minder das andere, und 
hiernach könnte man meinen , sie seien beide gleich überflüssig für den 
Gang des Wagens ; der Wagen würde auch noch gehen, wenn man beide 
ausspannt. Aber dann steht er still ; ut>d auch während beide am Wagen 
sind, sind sie nicht blos da, sich für etwaigen WegfalL des andern zu 
vertreten, sondern auch sich in dem Zuge zu unterstützen; denn spannt 
man das eine aus, so geht der Wagen träger, oder wenn etwa noch 
gleich schnell wegen stärkeren Antriebes des einen Pferdes, doch mit 
minderer Dauer« (a. a. 0. II, p. 5S4; vergl. p. 896). 

57) A. a. 0. I, p. 5; vergl. Ii; p. S88. — Wundt sagt: »Dies ist das 
wichtige Endergebniss dieser Untersuchungsreihen , durch das mit einem 
Mal der Gegensatz zwischen den physischen Vorgängen in den Sinnes- 
organen und Nerven und dem psychischen Acte der Empfindung aufge- 



— 272 — 

hoben wird: beide Acte sind mit einander identisch, es kommt 
nur auf den Ausgangspunkt, den wir nehmen, an, ob die Dinge in der 
einen oder in der andern Form uns erscheinen. Damit ist der Dualismus 
des materiellen und psychischen Geschehens bei der Empfindung im 
Princip aufgehoben. Die Empfindung nur auf eine der beiden Formen 
zurückführen wollen ist gleich einseitig und gleich falsch. Die Empfin- 
dung ist die Identitttt beider Formen, sie ist ein ihrem Gehalt nach ein- 
heitlicher Vorgang, der nur äusserlich, in Rücksicht auf die Methoden 
der Untersuchung in zwei Formen auseinanderfällt. Die Methoden der 
Untersuchung beruhen auf den Formen unserer Erkenntniss: die physi- 
kalische Untersuchung beginnt mit der sinnlichen Seite der Erscheinungen, 
die psychologische fängt mit der logischen Zergliederung ihres Zusammen- 
hangs an. Beide Untersuchungsweisen sind so grundverschieden, dsiss 
wir niemals weiter gelangen können, als, wie es hier geschehen ist, die 
Identität des Objectes der Untersuchung zu beweisen. Sobald wir die 
Uotersuchung selber aufnehmen, müssen wir uns der einen oder der an- 
dern Methode vertrauen, und da giebt es bestimmte Fälle, wo die erste, 
bestimmte Fälle, wo die zweite die zulässige ist; zuweilen können wir 
auch mit Hülfte dieser bis zu einem gewissen Punkt kommen, der uns 
auf jene hinweist und uns zu ihr nöthigt, wenn wir nicht mitten im Wege 
stehen bleiben sollen. Aber die Methode ist nicht die Sache. Trotz aller 
Divergenz der Methoden sind wir zu dem entscheidenden Beweis gelangt, 
dass die Sache die nämliche ist. . . Der Satz, in welchem die Analyse 
des Empfindungsprocesses sich abschliesst, ist dieser, dass mechani- 
sche und logische Nothwendigkeit nicht dem Wesen, son- 
dern nur der Betrachtungsweise nach verschieden sind. 
Was uns die psychologische Zergliederung als eine Conti- 
nuität von Schlüssen hinstellt, das ergiebt sich der physi- 
kalischen Zergliederung als eine Continuität von Kraft- 
wirkungen. . . . Mechanismus und Logik sind identisch. 
Beide sind nur Formen für einen in seinem Wesen gleich- 
artigen. Inhalt. Wenn auch unsere Beweisführung sich zunächst nur 
auf die Empfindungen bezieht, so ist doch jetzt schon einleuchtend, dass 
sie wahrscheinlich keineswegs auf das Empfindungsgebiet sich beschränken 
wird, dass dem Princip der Identität des mechanischen und logischen 
Geschehens wahrscheinlich eine weit allgemeinere Gültigkeit zukommt«. 

»Somit sind Denken und Erfahrung nachgewiesen als an sich iden- 
tische Processe, die nur in der Art, wie wir sie auffossen, aus einander 
fallen. In dieser Auffassung unterscheiden Denken und Erfahrung sich 
dadurch, dass das Denken die Erscheinungen und Veränderungen des 
inneren Lebens, die Erfahrung die Erscheinungen und Veränderungen der 
objectiven Natur enthält. Sind also Denken und Erfahrung einerlei in 
ihrem Wesen, so heisst dies: die physischen Erscheinungen, die 
wir allgemein als räumliche anschauen, und die psychischen 
Erscheinungen, die wir stets als logische auffassen, sind mit 
einander identisch. Und so kommen wir denn wieder auf jene Iden- 
tität des Psychischen und Physischen, die schon in den früheren Unter- 



— 27a — 

snelHUigea sich immer ais der Schinsspunkt unterer Betrachlongen ergab. 
Wir haben sie Merst nachgewiesen im Gebiet der Empfindang, wo es 
sich zeigte, dass der physische Vorgang im Nerven und das psyehisofae 
Fhftnomen der Bmpfindang einerlei sind ; wir worden dann darauf gefittrt 
im Gebiet dw Wahrnehmung, wo steh ergab, dass die gesetimässtge 
Regeinng der Reflexe, die zur Wahrnehmung führt, ebensowohl als ein 
mechanischer wie als ein logischer Vorgang betrachtet werden konnte. 
Jetzt kommen wir zum dritten Mai zu dem nttmlichen Ergebniss in etsem 
Gebiet, wo es sich bereits um die seibstHndige Unterscheidung des Den- 
kens und der Erfahrung handelt, — eine Unterscheidung, die bereits der 
Vorstellung und dem Bewusstsein anhMmftillt. Bis zu dieser ansgebildc* 
ten Stufe psychischer Thtttigk«t sind wir verm(^nd jene innere Einerlei-^ 
heit des Denkens und Seins, der logischen und mechanischen Nothwen- 
digkeit, zu verfolgen und zu beweisen«. 

»Dagegen lässt sich nicht leugnen, dass es üietaphysische Grundsätze 
giebt, die wissenschaftlich, d. h. aus dem Wissen, aus der Erfahrung ge- 
schöpft sind. Ein solcher Grundsatz ist nach unserer Darlegung das 
Princip der Einerleiheit des physischen und psychischen Geschehens. Für 
jenes gelten die Gesetze der Mechanik, für dieses die Gesetze 
der Logik, und es lässt sich der Beweis führen, dass beider- 
lei Gesetze an sich identisch sind, dass die innere Erfah- 
rung als logische Nothwendigkeit auffasst was die äussere 
als mechanische Nothwendigkeit ansieht«. (Vorlesungen über die 
Menschen- und Thierseele. Bd. I, p. 199 f., 288. II, 437. — Vergl. zu 
dem Ganzen auch Anmerk. Hl). 

58) Auch »das Divintren ist nur der Form nach verschieden von dem 
Empfinden des Zeitgeistes, eine krankhafte Steigerung und Caricatur des 
Genies«. Der Geist bewegt sieh wie der Blitz von Anziehungspunkt zu 
Anziehungspunkt, die leisesten Andeutungen und unzureichendsten Prä- 
missen genügen demselben, ixm zu einem Schlüsse zu gelangen. {Sprenger 
a. a. 0. !I, p. S88). — Fast jeder geniale Erfinder, von Columbus an 
bie auf Stephenson, muss eine Zeit durchmachen, in der ihn die »soliden 
Leute« für einen Projectmacher halten. {Röscher) — »Ein jeder na<A Prin- 
cipien denkende Mensch denkt gleich dem Irren durch zubillige Associa* 
tionen, die ein einseitiges Missverhältniss in sein Geistesleben werfen, 
aber so lange sie in vermittelbarem Einklang mit dem normalen Horizont 
bleiben, die höchste Blttthe desselben r^Mrttsentiren mögen, vielleicht aber 
auch nur eine trügerische Giftpflanze, und deshalb müssen alle Principien 
der psychologischen Analyse unterworfen werden. Sind sie zu bekämpfen, 
so ist Nichts damit gethan, sie zu negiren. Der Irre, dem man seine fixe 
Idee bestreitet, wird sich um so fester darin verrennen. Man muss Mif 
den elementarsten Gedankenkern in der ganzen Vorstellungsreihe zurück* 
gehen, die krankhafte Richtung in ihrer frühesten Quelle, in dem ersten 
Momente abnormer Ablenkung aufspüren und sie dort wieder in das rich- 
tige Gleis setzen, um damit auch alle Consequenzen in einem solchen 
Folgen zu seben. Der Unterschied zwischen einem wirklich Geisteskranken 

Bacl«itock, Scklafn. Traun. 18 



— 274 — 

und dem Genie besteht nur darin, dass »ich bei dem Ersteren jener An- 
satzpunkt abnormer Störung mit pathologischen Zuständen iLörperUcher 
Krankheiten assocürt hat und so (wenn überhaupt) nur durch Untstim- 
nrang des ganzen Organismus zu heilen ist, während sich bei dem Andern 
die Associationen in abstracten Gebilden bewegen und so auch durch die 
Argumente der Sprache allein wieder aufgelöst oder verändert werden 
können. . . . Salomon de Gaus» der Erfinder der Dampfmaschine, starb 
im Bicötre 4644; aber obwohl seine Schriften von gesundem Verstände 
zeugen, mag er nichts destoweniger geisteskrank gewesen sein, als man 
ihn einsperrte. Die Begeisterung, mit der seine grosse Erfin- 
düng ihn ergriff, die innerliehe Ueberzeugung ihrer Wichtigkeit und 
unendliche Tragweite übten einen solch prädominirenden Einiluss auf 
seinen ganzen Ideenkreis aus, dass sie sich fest und unauflöslich mit be- 
stimmten Ansätzen des körperlichen Allgemeingefühls associirten und in- 
dem sie durch den steten Widerspruch und den Spott seiner 
Zeitgenossen in einem beständigen Zustand der Irritation 
erhalten wurde, zerrüttend auf das allgemeine Wohlbefinden des 
Körpers zurückwirken und seine ganze Weltanschauung nach einem spe- 
cifisch krankhaften Typus umgestalten musste. Hätte er sich durch völlige 
Kenntniss der psychologischen penkgesetze zu einer harmonischen Ruhe 
objectiver Selbstbetrachtung erheben können , so würde er nur um so 
fester an der Grösse und Wahrheit seiner neuen Idee festgehalten, aber 
auch zugleich verstanden haben, weshalb sie seiner Zeit unbegreiflich 
sei, indem er die durch sein specielles Studium auf seine Weltanschauung 
ausgeübten Modificationen entsprechend berücksichtigt haben würde. . . . 
Galilei war gleichfalls weiser, als seine Zeit, hatte die heftigsten Verfol- 
gungen seiner Superiorität wegen zu erdulden; aber da er aus dem reli- 
giösen Charakter dieser Verfolgungen leicht ihr Warum erklären konnte, 
blieb er trotz des Zwiespalts mit seiner Umgebung in dem normalen Ho- 
rizont derselben verharren. . . . Jeder kann die Erfahrung an sich selbst 
machen, wie vielfach lange mit gleichgültigem Indifferentismus betrachtete 
Gedanken, wenn sie in einer angeregten Discussion zufällig für die Stütze 
der Vertheidigung angewendet wurden, plötzlich eine weiter greifende 
Bedeutung annehmen , und sollten sie sich mit einem schon krankhaft 
verstimmten Temperament associiren , so können sie leicht als die erste 
Ursache durch abnorme Operationen weiter verbreiteten Wahnsinns un- 
erschütterlich einwurzeln. . . . Bei jeder aus dem normalen Horizont seiner 
Gegenwart heraustretenden Denkoperation wird der Forscher leicht an die 
Schwelle des Wahnsinns geführt, da ihm bei den ausserhalb gebildeten 
Vorstellungen die prüfende Controle steter Vergleichuog fehlt, um keiner 
derselben einen überwiegenden Werth im Abschätzen der eine Gedanken- 
reihe zusammensetzenden Glieder beizulegen«. (Bo^d'an, Der Mensch in 
der Geschichte. Bd. II, p. 538, 535, 536). 

59) Vergl. Horwicz, Psychologische Analysen auf physiologischer 
Grundlage. B. II. H. I. p. 472. 

60) Vergl. Lazarus, Zur Lehre von den Sinnestäuschungen. Zeitschr. 



— 275 — 

f. Völkerpsych. u. Sprachw., berausg. von LaMarus und SteinthaL Bd. V, 
p. 1S9. — Daraus Hesse es sich vielleicht auch ableiten, dass Leute, die 
weniger abstract zu denken fähig oder gewöhnt sind und alles sieh in die 
Anschauung umsetien nrtissen, auch weniger schnell denken, — wie es 
ja bei allen sogenannten Naturmenschen der Fall zu. sein pflegt — anbr 
Sinnestttuschungen , in welchen sich die Reizung bis zur Peripherie aus* 
dehnt , haben , als cultfvirte , schnell und abstract denkende Individuen , 
sobald letztere nicht krank sind. Es würde zugleich ein Beleg mehr für 
unsere obige Ansicht sein, dass Sinnestäuschungen etc. in früheren Zeiten 
eine grössere Rolle gespielt haben als jetzt in unseren cuUivirten Zustän- 
den, wo das schnelle und abstracto Denken mehr an der Tagesordnung 
ist, und viele Gedanken und Ideen daraus hervorgegangen sind, von wel- 
chen wir es nicht vermuthen. 

61) Ebenso lässt sich das Gesetz des Verhältnisses des Ganzen und 
seiner Theile zu einander, welches Manche anführen, (vergl. «Spt^toa. a. 0. 
p. 130) unter die genannten unterordnen. Indem man von einem Ganzen 
einen Theil sich vorstellt, werden durch Associationen der Coexistenz und 
Succession die Vorstellungen der anderen Theile wachgerufen, so ergänzt 
sich eine menschliche Hand oder ein Arm zum ganzen Körper u. s. w. 
Wo überhaupt mehrere Gesetze, wie das der Aehnlicbkeit und der Suc- 
cession, zusammenwirken, ist das Gedächtniss treuer und der Ablauf 
rascher; einen logisch zusammenhängenden Satz können wir leichter re- 
produciren als willkürlich zusammengefügte sinnlose Worte. — Con- 
t raste treten hauptsächlich da auf, wo die Spannung der Aufmerksamkeit 
für einzelne Vorstellungen oder für eine bestimmte Form und Richtung 
der Vorstellungen nachlässt um einem entgegengesetzten Spannungszu- 
stande Platz zu machen. Wie beim Individuum, zeigt sich dies auch in 
der gesammten Menschheit bei der Entwicklung. des Staates und der Cultur; 
dadurch wurde Hegel zu der Annahme geführt, dass die Welt durch 
Gegensätze fortschreite. Wenn eine Idee auf dem Gipfelpunkte steht und 
unbedingt herrscht, entwickelt sich allmählich die ihr entgegengesetzte, 
wird stärker und tritt mit grosser Macht hervor, wenn die erste sich 
erschöpft und ausgelebt hat. — Die Bedeutung der Associationen zeigt 
sich besonders in der Sprachgeschichte. Als die Australier zum ersten 
Male ein europäisches Buch sahen, fiel es ihnen auf, dass es wie eine 
Muschelschale auf- und zuginge, und demgemäss fingen sie an, Bücher 
»Muscheln« (müyüm) zu nennen. Die Betrachtung der Dampfmaschine 
gab im Englischen zu einer ganzen Gruppe von Uebergängen der Wort- 
bedeutungen Veranlassung; die Dampfröhren heissen pipes oder tubes 
d. h. Pfeifen oder Trompeten; die Ventile nennt man valves, Fallthüren, 
die Lichtstrahlen beams oder rays, Stangen oder Stäbe; piston und cy> 
linder bedeuten ursprünglich Mörserkeule und Walze. Das lateinische 
juncus »ein Rohr« wird gemein lateinisch juncata »in einem Rohrkorbe 
angefertigter Käse«, italienisch giuncata, »Sahnenkäse in einem Binsenkorb«, 
französisch joncade und englisch junket, beides Zubereitungen der Sahne, und 
endlich junketting parties »Schmausereien«, wo solche Leckereien gegessen 

18* 



— 27« — 

werden u. 9. w. Dm deatsohe Kummer (kmnber) bedeutete nrspräaelich 
alles was hindert, de» Weg versperrt, »8oimlt«, »SteinhaAifen« (franz. : 
d^combres), »Damm«; iweitens von RechlSTerbiltnissen »Beschlagnahme« 
oder »Arrest«, und wurde endlich in das etMsohe €M>iet fibertragen als 
»Betrübttisa«, welche die Folge der oraleren fUr den M enschen beKoicfanet. 
Beispiele solcher Art von üebertragungen finden sieh in allen Sprachen 
in grosster Fttlle. 

62) L. "VII. c. 45 f. 'Q; hi &pa izdsra jtev tov 'EXX'/jaTrovTOv bnh täv 

dv^pdbnoQV, l^&auTa S£p&QC ^eourov ^fiaxdlptoe, (actoI ^i touto l^dfxpuae. Ma- 
%^s hi (Atv' ^Aprdlßavoc 6 irctTpoic, Sc t6 npörzos ■fv<6{iT]'v dlTce^iSaTO IXeu^^poc 
o6 oufißouXetjaiv S^pE^ orpaTcueal^at lirl t^v 'EXXdlSa, outoc «uvi^jp cppao^eU 
Bip^ea Saxp6oavTa etpero xö^^e * ^Q ßaoiXeO , tbc 7coXX6v (iXXy)X{UN xe^eaptopiva 
^p-j^dioac vuv Te xal 6X1^9 irpÖTcpov* {i.axap(aac ^olp ocodutön 5axp66tc. "^0^^ 
eine* ^Eo^X^ y^P H^ XoYtael[(iievov xaToixTetpai, d»c ßp^X^^ ^^^ ^ ^^^ dt^t^pdb- 
irivo« ß(oc, el TOüTcDV y« i6vrc9V tooo6tojv ou^eU ^C ixatoariv Ito; irepi^axai.« 

63) Ein sehr anxiehendes Beispiel davon findet sich bei B. Auerbach, 
Barfüssele p. 4 76 f. Vergi. auch: »Zur guten Stunde«. Bd. I, p. 31 f. (»GeJ- 
lert's letzte Weihnaehten «) und p. 97. (»Die Stiefiputter«) . 

64) De rer. nat. L. V, v. 4388. — Plato spricht ebenfalls von den 
Stimmungen, welche Schmerz und Freude zugleich in sich enthalten. 
(Phlleb. p. 86—50). 

65) Freilich ist es eigentlich kein Nebeneinander, sondern eine zeit- 
liche Folge, da der Eintritt des zweiten Gefühls aber höchst schnell ist, 
erscheinen beide Gefühle gleichzeitig, (conf. Nahlowsky, Gefühlsleben, 
p. 58). — Bibot sagt sogar: »Es giebt im Bewusstsein nur scheinbar 
gleichzeitige Zustände. Wenn uns manche Bewusstseinszustände gleich- 
zeitig erscheinen {Hamilton behauptet, dass wir sieben Vorstellungen auf 
einmal haben könnten) , so rührt dies einfach daher, dass ihre Folge zu 
rasch ist, als dass wir ihre Unterbrechungen wahrnehmen könnten. « (Die 
Erblichkeit. Deutsch v. Dr. Otto Motzen. Leipzig 1876. p. 263. Yergl. 
auch Siebeck, Das Wesen der ästhetischen Anschauung. Berlin 1878. p. SO). 

66) Ich folge hier der Terminologie von Wandt, welcher unter Per- 
ception den Eintritt einer Vorstellung in das'Bewusstsain überhaupt, unter 
Apperoeption die Erfassung derselben durch die Aofinerksamkeit versteht 
(vergl. Physiol. Psychologie p. 718). LeiimUMf der den Begriff der Apper- 
oeption in die Philosophie einführte , versteht darunter den Eintritt der 
Perception in das SelbsAbewusstaeia (Op. phü. ed» Erämann p. 745). 
Nach Berbart besteht in der VerschmehEong einer Vorstellungsmasee mit 
einer anderen oder in der Aneignung der einen Masse durch die andern 
das Wesen der Apperception. (Vergl. auch Siebeck, a. a. 0. p. 31). Doch 
ist dabei die spontane Thätigkeit nicht genug berücksichtigt. 

67) Ich meine damit nicht, dass man mit ihrer Hülfe alle psychischen 
Processe, z. B. das logische Denken su erklären vermöge, sondern daau 
gehört die spontane Thätigkeit der Seele, -^ welche Ich unter der aetiven 



— 277 — 

Apperception begreife und als einea Hauptfector der psychisehen Üeehanik 
angeführt habe. Jedoch bilden sie insolem 4b» Wesen 4er Seele, als sie 
in dem psychischen Leben der niederen und niedrigsten Form — soweit 
diese unserer Beobachtuag zugänglich ist — bis huiaiif zu den höchsten' 
sich vorfinden. In letzteren erleichlem sie die höheren Thätigkeiten, und 
wo die Spontaneität der Seele mehr und mehr schwindet und die Seele 
gleichsam in eine niedere Form sinkt, tä>en sie gerade ihre Herrschaft. — 
/. Stuart Mill setzt die Gesetze der Association in Bezug auf ihre Wichtig- 
keit für die Psychologie dem der Gravitation für die Astronomie an die 
Seite, (conf. Ribotf La Psychologie anglaise contemporaine. Deux. 6d. Paris 
1875. p. 426 u. p. 424). Die Entwicklung der Lehre von den Ideenassocia- 
tionen von Plato bis auf Hume und Gerard stellt dar Hissmannt Geschichte 
der Lehre von der Association der Ideen (abgedr. in der » Geschichte des 
menschlichen Verstandes« von Fr, Flögel, Breslau 4 774S). Hume, der ge- 
wöhnlich als eigentlicher Begründer der Lehre in dem Zustande, wie sie 
jetzt besteht, angesehen wird, gibt drei Gesetze an : 4) Aehnliehkeit, 2) Ver- 
bindung in Zeit und Raum, 3) Ursache und Wirkung. Weiter fortgesetzt 
wurden seine psychologischen Untersuchungen besonders von Thom. Broum, 
James Mill, /. Stttart Mill, AI, Bain (the senses and the intellect. London 
4 855) und H. Spencer (Principles of psychology. 4865). 

68) Vergl. Binz, lieber den Traum. Bonn 4878. p. 43—22. Hagen 
a. a. O. p. 4 55 ff. 

69) W. Preyer, Die fünf Sinne des Menschen. Leipzig 4870. p. 66. 

70) M. Perty , Die mystischen Erscheinungen in der menschlichen 
Natur, 2. Aufl. Leipz. u. Heidelb. 4872. B. I, p. 90. — Atudeie narkotische 
Mittel der Naturvölker sind schon im ersten Gapitel erwälmt worden. 

71) Vei^l. Tylor, a. a. O. H, p. 442 ff. — Sprenger, H, p. 266. 

72) Vergl. die Zauberei und Geständnisse des Sicilianers in Schillers 
Geisterseher und das »böse Räucherwerk« in den Ceremonieh des sici- 
lianischen Priesters bei Benvenuto Cellini, (Lebensbeschreib. von Goethe, 
B. H. C. 4). 

73) Perty, a. a. 0. I, p. 92. 

74) VergL BiM, Die Erblichkeit. Deutsch von Dr. 0. Hotnen, Leipzig 
4876. p. U5 f. 

760 W, Wundt, Physiol. Psychologie p. 4 94 u. «47. 

76) Physiologische Anregungen, welche die psychischen begleiten 
und die Reizbarkeit zur Reizung werden lassen, sind wohl immer vor- 
handen, nur dass sie schwach und deshalb oft nicht bemerkbar sind. 
Ein lebhafter Pulsschlag kann wohl lebhafte Detonationen im Ohr u. s. w. 
hervorrufen. 

77) H. Meyer, Untersuchungmi über die Physiologie der Nervenfinser. 
Tübingen 484^3. p. 56 f. 

7IB) Zeitschr. f. Völkerpsych. u. Bprachw. Bd. V, p. 4 48 ff. 



— 278 — 

Wi Vergl. das Gedicht »Die ErwaiiOBg« von SckUUr 

»H<»r' ich das Pförtchen nicht gehen? 
Hat nicht der Riegel geklirrt? 

Nein, es war des Windes Wehen, 

Der durch diese Pappeln schwirrt. 

Stille! Was schlüpft durch die Hecken 
Raschelnd mit eilendem Lauf? 

Nein, es scheuchte nur der Schrecken 

Aus dem Busch den Vogel auf. 

Rief es von ferne nicht leise, 
Flüsternden Stimmen gleich? 

Nein, der Schwan ist's, der die Kreise 

Ziehet durch den Silberteich. 

Hör* ich nicht Tritte erschallen? 
Rauscht's nicht den Laubgang daher? 

Nein, die Fracht ist dort gefallen, 

Von der eignen Fülle schwer. 

Seh' ich nichts Weisses dort schimmern? 
Glttnzt's nicht wie seidenes Gewand? 

Nein, es ist der Sliule Flimmern 

An der dunkeln Taxuswand«. 

80) A. a. 0. p. 4i6 f. 

81) Griesinger, Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten. 
3. Aufl. Stuttg. 4861. p. i06. 

82) Museum p. 3t9. Die meisten Gespenstererscheinungen sind ohne 
Stimme und die Gespensterkl&nge ohne Gestalt. Nur Swedenborg sah und 
hörte zugleich seine »Empfindbilder« etc. 

83) Gfiesinger, p. 106. 

84) In der HegeVschen Schule ist der Traum ein Naturact der Seele, 
eine Reaction des Geistes gegen die Natur innerhalb derselben, eine un- 
mittelbare Synthese von Schlaf und Wachen, in welcher der Geist, weil 
schlafend, ohne wirkliche Sufojectivitttt dennoch eine scheinbare Objectivitftt 
vor sich hat (vergl. Erdmann, Grundriss der Psychologie. 4. Aufl. Leipzig 
1862. § S9, p. 19 f. — Rosenkranz j Psychologie, p. 417 f.). — Die An- 
sichten der Schellingianer sind schon erwähnt worden. Eine ähn- 
liche äusserst dunkle Mystik finden wir auch bei Lebenheim, (Versuch 
einer Physiologie des Schlafes. Leipzig 1828. B. II, p. 188): »Wenn nun 
auch die Richtung des Schlafes, als Leiden, den ganzen Menschen, mithin 
auch seinen unsterblichen Geist erfasst; so geschieht dieses für den Geist 
nur insofern , als er für sein irdisches Dasein mit der Leiblichkeit eins 
geworden ist, deren Sünde ihn dem Gesetze unterwirft (!). Wie 
sich dieses aber an dem Stoffe vollstreckt, und die Leiblichkeit in Nacht 
versinkt: da wird die höhere Natur des Geistes wieder ihrer Ursprung- 



— 279 — 

liehen Freiheit theiHiaftig, und in der Busse des Leidens, worin der Ge- 
rechtigkeit Genüge geschieht und der Leib dahingegeben 
ist zur Sühne {!), ersteht, ein Vorbild künftigen Erstehens, 
die erlöste Person, indem das All sein Leib ist. Dieses in- 
nere Erwachen zum Allleben ist das Träumen, und jeder, der 
uns mit Aufmerksamkeit gefolgt ist, wird mit uns darin übereinstimmen, 
dass aller Schlaf ein magnetischer ist, worin das All das Individuum ver- 
setzt«. 

Schopenhauer nennt den Traum eine Reaction des Gehirns gegen die 
Einwirkungen des sympathischen Nerven (Parerg. I, p. 249); Pfaff: ein 
Wachen der Seele bei schlafendem Körper (a. a. 0. p. 3). — Kohlschütter 
bemerkt: »Nun sind wir berechtigt, auch die Träume als Erscheinungen 
einer stellenweis und partiell inmitten der allgemeinen Yerlangsamung 
der Hirncirculation auftretenden, mehr der wachen ähnlichen Modification 
derselben anzusehen«. (Zeitschr. f. rationale Med. IIL R. B. 34. p. 46). 
Bins i der in Ansammlung von Ermüdungsstoffen die Ursache des Schla- 
fes erblickt, sagt : »Immer geringer werden die in dem Gehirneiweiss auf- 
gehäuften Ermüdungsstoffe, immer mehr von ihnen wird weiter zerlegt 
oder von dem rastlos treibenden Blutstrom fortgespült. Da und dort 
leuchten schon einzelne Zellenhaufen wach geworden hervor, während 
rings umher noch alles in Erstarrung ruht. Es tritt nun die isolirte Ar- 
beit der Einzelgruppen vor unser umnebeltes Bewusstsein, und zu ihr 
fehlt die Controle anderer, der Association vorstehender Gehirntheile. 
Darum fügen die geschaffenen Bilder, welche nicht den materiellen Ein- 
drücken naheliegender Vergangenheit entsprechen, sich wild und regellos 
an einander. Immer grösser wird die Zahl der freiwerdenden Gehirn- 
zellen, immer geringer die Unvernunft des Träumens« etc. (a, a. 0. p. 48). 
A. Maury sagt: »Le rdye tient ä ce que certaines parties de Tencöphale 
et des appareils sensoriaux restent 6veill^s par suite d'une surexcitation 
qui s'oppose ä Tengourdissement complet«. (Le sommeil et les rdves, 
Paris 1861. p. 424. Vergl. Bin% p. 9). 

Herbart bezeichnet den Traum als »ein allmähliches partielles und 
zugleich sehr anomalisches Wachen« (Psychol. II. § 160. p. 420). Spitta 
fasst, indem er den Tiefschlaf davon ausschliesst, den Begriff des Traumes 
etwas enger als wir und sagt : »Der Traum besieht in der unwillkürlichen, 
ins Bewusstsein tretenden, nach aussen gerichteten Projection einer Reihe 
von Vorstellungsgebilden der Seele während des Schlafs, wodurch dieselben 
den Schein objeotiver Realität für den Schlafenden erhalten (a. a. 0. p. 111). 
— Vergl. hierzu aueh L. Macnish, Der Schlaf in allen seinen Gestalten. 
Aus d. Engl. Leipzig 1885. p. 1 u. p. 81. Greiner, Der Traum und das 
fieberhafte Irresein. Altenb. u. Leipz. 4817. p. 118 etc. 

85) Schleiermacher f Psychologie, herg. von George, Sämmtl. Werke. 
Abth. III. B. VI. p. 892. 

86) Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie B. XVI. p. 417. 

87) VergL Burdaeh, a. a. 0. III, p. 460 ff. und 315 ff. »Der ein- 
fachen Periodicität unsers Planeten entspricht der Wechsel von Schlaf 



— 2S0 — 

und Wachen; der doppeUen PeriodiciU&t des WasMr- und Luftmeeres 
enUprickt ein tweimaliger WecAisel im Blutsystem« (p. 545) etc. 

fß) Em^l brachte bei Fröschen in gewöhnlicher nnd hängender Stel- 
lung dnrch sorgfältige FemhaHnng von Eindrücken Schlaf henrvor and 
-sucht zu zeigen , dass auch bei Vögeln Fernhattung von Eindrücken , be- 
sonders voD Licht und Schall, Schlaf hervorbringe. (»Üeber die Abhängig- 
keit des wachen Oetiimzustandes von äusseren Erregungen«. Arefa. f. d. 
ges. Physiol. B. XIV. p. 4 58 — %\^). Ä, Strümpell berichtet von einem 
Kranken, welcher im Jahre 4876 in die medicinisf^e Klinik von Leipzig 
aufgenommen wurde. Demselben mangelten alle Sinnes- und Muskel- 
empfindungen und nur durch das rechte Auge und das linke Ohr stand 
er noch mit der Aussenwelt in Verbindung. Schloss man ihm diese Sinne 
auch ab, so schlief der Kranke binnen Kurzem ein; man erweckte ihn 
durch Rufe in's linke Ohr oder durch einen auf das rechte Aoge wirken- 
den Lichtstrahl, während alles Schüttein u. s. w. vergeblich war. (Arcli. 
f. d. ges. Physiol. B. XV, p. $78 f.). 

89) Macnishj Der Schlaf in allen seinen Gestalten. Aus d. Engl. 
Leipz. f835. p. 44. 

90) A. a. 0. III. p. 484. Spitta sagt: »Der Schlaf findet im Gemüt h 
seinen stärksten, einflussreichsten Gegner, es genügt ein geringer Grad der 
Irritation desselben, um ihn zu verscheuchen. Wir können in Gedanken 
grosse Pläne verarbeiten, mit der Lösung wichtiger Probleme beschäftigt 
sein, — Alles dies wird uns, sobald das Gemüth davon unberührt bleibt, 
nicht hindern, zur gewohnten Zeit die Ruhe des Schlafs zu suchen und 
zu finden« (p. 68; vergl. p. 46: »Was die psychischen E in schlaf e- 
rungsmittel anbetrifft, so concentriren sich dieselben hauptsächlich 
auf die Entfernung aller das Gemüth in irgend welcher Weise 
aufregenden Eindrücke«). 

91) Element, physiol. IV. 804. 

92) Vergl. Fechner, Elemente der Psychophysik. B. 11, p. 449. 

93) Wagner^s Handwörterb. d. Physiol. B. III. Abth. II. p. 423. —- 
Bnnemoser schrieb der Einstellung des Krankenlagers in den Meridian eine 
therapeutische Wirkung zu (vergl. /. Michelet, Anthropologie und Psycho- 
logie. Berlin 4840. p. 488). — Jetzt sind solche Ansichten einer mysti- 
schen Naturphilosophie veraltet. 

94) Braid brachte durch anhaftendes Fixiren der Augen Schlaf her- 
vor; später wurden die Verm^e von JMmarquay und Giraud'Te^l(m in 
Frankreich aufgenommen. — *Es giebt bekanntlich eine bei kürzeren Ope- 
rationen in letzter Zeit vielfach angewandte Anästhesirungsmethode. Die- 
selbe besteht darin, dass der Patient einen Gegenstand, den man ihm auf 
ca. 4 5 Ctm. Entfernung vorhält, scharf fixiren muss, wobei er gleichzeitig 
rasch und tief respirirt. Nach etwa zwei Minuten schwindet das Bewusst- 
sein und der Kranke schläft«. {Fr. Siemens, »Zur Ldbre vom e]^leptischen 
Schlaf und vom Schlaf überhaupt«. Arch. f. Psychiatrie und Nerven- 
krankheiten Bd. IX, H. 4. p. 79). 



— 281 — 

9^ De soniB. o. 8. (a. a. O. p. 408) : »hih ftäXiota 'yCvövrat ihei>«t dir6 
Tfjc Tpotpf^' i^p^ov Y^p fPoXO Tiite ^pöv «Lftl To 9fiifMiTfi>(sc ^tt^petoi«. iot^- 
fjievov (A^ oSn Pap6v6t Kai Itoict ^uor^ctv * ^kov ^ ^^4^^ xdxco xal dvTiOTp^i|;av 
<iic(6o^ TÖ ^pp.övy TÖTE fiveToi 6 5iwoc xol t6 Ch^O"^ xadeu^t. ot^futov ^i tou- 
Twv %aX tA &irv(0Ttxel[. Tzdisxa y^P xapTjßapfcav Tiotei , xa\ tä Troxd xal, xa ßpoi- 
xd, fj.'/jxwv, {lav^paYÖpac, olvo;, alpat. xal xaTa9ep(SfL6vot xat vDOTdCo*^* 
TSC TOüTO 5o«oüat Tzdoyrgvif xal diöüvaToööw atpetv t^v xe^aXi^v xal tä ßX^^apa. 
xai jifixd Td aixa p^Xtsra toioütoc 6 öirvoc ' ttoXXi^ y^^P "h ^^^ '^®*'^ otttojv d^a- 
du{i(a9tc. Iti 6' ^x x^TTCDv dvicuN • 6 (liv Y^^P *<57ro; aovTTjxTtxÖN, tö 5s 06^- 
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TOiÜTO TCOtOUOlV«. 

96) lieber die Ursache des Schlafes. Stuttg. 1877. p. S8. — Vergl. 
auch Mendel, die Mtlcfasttirre als Schiafinittel (Deutsch, medtcin. Wochen- 
schrift vom 29. Apr. 4876. p. 493). Letzterer kommt zu dem Resultat, 
dass Natriumlactat sich bei Agrypnien, wie sie im Verlauf von allgemein 
schwachenden Krankheitszuständen / häufig auch in der Reconvalescenz 
von schweren Erkrankungen auftreten, dann zur Beruhigung von Geistes- 
kranken in besonders fingst) ich erregten Formen und zur Beseitigung ge- 
wisser psychischer Krankheiten empfehle. — N, JerusalinMky, Ueber die 
hypnotische Wirkung der Milchsäure und des milchsauren Natrons (Peters- 
burg, medic. Wochenschr. No. 44. 4876). — C, Laufenauer, Die Milch- 
säure als Schlafmittel (Pesther medic. Chirurg. Presse v. 39. Juli 4876. 
p. 526—530). 

97) Loth, Meyer j Zur schlafmachenden Wirkung des Nfttrum lacticum 
(Arch. f. pathol. Anatomie. 66. p. 420 — 4 25). — Erler, Zur schlafmachen- 
den Wirkung des Natrum lacticum (Med. Centralblatt 4876. p. 658 — 660f. 
Fr, Fischer, Zur Frage der hypnotischen Wirkung der Milchsäure (Zeit- 
schrift f. Psychmtrie. B. 83. p. 720—727). 

98) Vergl. Burdach. HI. p. 484. 

99) Museum p. 334. 

100) Vergl. d. Aiihaag. 

101) Physich Psychologie, p. 489. 

102) Zeitechr. f. rationale Medicin. R. III. B. 34. p. 48 ff. 

103) Nach Wundt ist die Zahl der Athmung bei Erwachsenen 4 6 — 24, 
ulso Im ' Durchschnitt 29 in der Minute; in Extremen schwankt sie nach 
Hutchinson zwischen 9 und 40, und bei Neugebomen zwischen 28 und 70. 
Qi*^telet fand für die verschiedenen Lebensalter folgende Zahlen: 



Maxiui. 


Minim. 


Mittel 


Maxim. 


Minim. 


Mittel 


Neugeb. 70 


23 


44 


20—25 J. 24 


44 


48,7 


5 Jahre 82 


— 


26 


25—80 J. 24 


45 


46 


45— 20J. 24 


46 


20 


30—50 J. 23 


44 


48,4 



Vergl. Wwtdty Piiysielogie des Menschen, t. Aufl. Erlangen 4878. p. 83^. 
•^ 0, Funke, Physiologie. 4. Aufl. Leipzig 4863. I. p. 484. 



— 282 — 

104) A. J, Testa, Bemerkungen über die periodischen Verinderungen 
im gesunden und krankhaften Zustande des menschlichen Körpers. Aus 
d. Lat. Leipsig 4790. p. 814. — Vergl. Burdadb lU. p. 5il. 

105) KohUckiUtery Zeitschr. f. ration. Med. R. III. B. 47. p. 947. 

106) Die Lage ist im Schlaf nicht ohne Einfluss auf die Respiration; 
nach Smith ist das inspirirte Luftquantum im Liegen ■■ 1 , in aufrechter 
Stellung aber » 4,88. {Wundt, Physiol. d. Menschen p. 879). — Nach- 
dem in neuerer Zeit Mosso bereits Beobachtungen über die Volumsver- 
anderung des Armes während des Schlafes machte , stellte Dr. v. Bosch 
ausführliche Untersuchungen an. (Die volumetrische Bestimmung des Blut- 
drucks am Menschen. Wien 4878). Er fand ein deutliches Absinken des 
Volumens, welches bei dem ersten Versuchsindividuum , einem 4 5jttbrigeD 
Knaben, während des Einschlafens, bei dem zweiten, einem eojtfhrigeD 
Manne, mit dem Beginne des Schlafes eintrat. Das Absinken dauerte in 
allen Fällen nicht länger als eine Minute, dann traten, wie Bofcft durch 
Versuche an 80 Individuen ~~ welche sich in horizontaler, ruhiger, zwang- 
loser Lage von einer Decke geschützt, also unter gleichmässiger Tempe- 
ratur im Bette befanden — erfuhr, wieder die durch frühere Beobachtun- 
gen sclion bekannten Schwankungen während der Körperruhe ein. Die 
durch diese Schwankungen gezeichneten Curven stellen langgestreckte, 
ungleichmässige Wellen dar, in welchen sich ein rhythmisches An- und 
Abschwellen des Armes, also eine Veränderung des Blutlaufs ausspricht. 

107) BiMTdach p. 516 f. Der Einfluss der Lage macht sich hier nicht 
minder wie bei der Respiration geltend. Knox giebt an , dass die Fre- 
quenz beim Uebergang aus der liegenden in die aufrechte Stellung des 
Morgens um 20, des Mittags um 43 und des Abends um 8 Schläge in der 
Minute beschleunigt wurde (ibid. p. 581). 

108) Vergl. BranäiSf Pathologie oder Lehre von den Affecten des 
lebendigen Organismus. 2. Aufl. Kopenh. 484 5. p. 549. 

109) Wundt, Physiologie, p. 454. — Daivy, Gierse und Halknann fan- 
den das Minimum um Mittemacht, Felix von Bärensprung (Untersuchun- 
gen über die Temperaturverhältnisse des Foetus und des erwachsenen 
Menschen im gesunden und kranken Zustande. Arch. f. Anat. Physiol. etc. 
von /. Müller. Jahrg. 4854. p. 4 86—475) um 4 Uhr Nachts; am Morgen 
schnell steigend erreicht sie nach AngMbe des Letzteren das Maximum um 
4 4 Uhr. Nachdem sie etwas gesunken, steigt sie wieder und hat um 
6 — 7 Uhr ein zweites Maximum, worauf sie wiederum sinkt. Bärensprung 
bemerkte, dass die Temperatur des Nachts sank, au.ch wean 
man nicht schlief und dass sogar die Aufnahme der Nahrungsmittel 
keine Aepderung hervorrief. Er hält die Undulationen also für typische, 
welche durch veränderte Lebensweise nur modificirt, aber nicht auf- 
gehoben werden könnten (p. 464). — 

Bud. Lichtenfels und Bud. Fröhlich (Beobachtungen über die Gesetze 
des Ganges der Pulsfrequenz und Körperwärme in den normalen Zustän- 
den , sowie unter dem Einflüsse bestimmter Ursachen. Denkschr. d. k. 
Akad. d. Wissensch. z. Wien. Mathemat-naturwissensch. Classe. B. lii. 



— 283 — 

Abth. 2. 485t) fanden den Stand des Pulses vor der Nahmngsaufnabme 
und 5 — 6 Stunden nach derselben gleich. Sie nehmen an, dass der Zu- 
sammenhang zwischen Puls und Körperwärme kein unmittelbarer, son- 
dern durch gleiche Ursachen bedingt sei. Das Maximum für die Körper- 
wärme fiel 4 — 2 Stunden später als das Maximum der Pulsfrequenz, ebenso 
trat das Sinken später ein (p. 427). 

110) Abhandl. d. k. Schwed. Acad. d. Wissensch. A. d. Schwed. 
von Kästner, Bd. 80. p. 498 und Bd. 84. p. 75 ff. 

111) Burdach III. p. 549. — Wundt, Physiologie, p. 448. — Purkinje 
a. a. 0. p. 429: »Die Speichelsecretion ist schon wegen der eintretenden 
Rahe der Kau- und Sprechorgane und wegen Mangel an Reizen, aber auch, 
und hauptsächlich, wegen geringerem Erregungszustande der Drüsen, ver- 
ringert. Auffallend ist die Verringerung der Thränensecretion, die schon 
während der Schläfrigkeit die Augen trocken macht und mit zum Bedürf- 
niss ihrer Schliessung beiträgt. Diese Trockenheit wird sehr lästig, wenn 
wir gegen den Schlaf ankämpfen müssen, wo dann eine Anfeuchtung der 
Augen oder der Gebrauch eines Thränen erregenden Reizmittels, z. B. 
Schnupftabak, nicht wenig hilft. Auch die Secretion der Nasenschleim- 
haut und der Schleimdrüsen am Gaumen und Schlünde, und so im ganzen 
tractus intestinalis, ist im Schlafe vermindert«. 

112) HelmhoUz fand für die einzelnen Factoren im Verbrauch der 
Wärme folgende Zahlen: Strahlung und Verdunstung durch die Haut 
77,50/q; Erwärmung der Ingesta 2,60/q; Erwärmung der Athmungsluft 
5,2%; Lungenverdunstung 4 4,70/q. (Vergl. Wundt, Physiologie p. 462). 

113) C. Reil (lieber die Ausdünstung und die Wärmeentwickelung 
zur Tages- und Nachtzeit. Arch. f. d. Physiol. v. Meckel. Bd. VII. 
p. 859—895) fand, dass die Ausdünstung im Darchschnitt in jeder Nacht- 
stunde 4 Unze, in jeder Tagesstunde dagegen 4 Unze 7 Drachmen betrage. 
Nach Lining (ibid. p. 876) ist das Verhältniss der Ausdünstung in der 
Nacht zu der am Tage im März wie 4:4,44. April 4:4,27. Mai 4:4,54. 
Juni 4:4,63. Juli 4:2,45. August 4 : 2,4 4. September 4 : 2,04. October 
4 : 4,05. November 4 : 4,07. December 4 : 4,47. Januar 4 : 4,37. Februar 
4 : 4,38. Das jährliche Verhältniss war also 4 : 4,54. — J. Keül erhielt bei 
seinen Beobachtungen ähnliche Resultate (ib. p. 862). Das jährliche Ver- 
hältniss war 42,468:48,804, also 4:4,54. — Martin (Abhandl. d. k. Schwed. 
Acad. d. Wissensch., herg. v. Kästner, Bd. 40. p. 4 97) fand folgende Mittel- 
zahlen der Ausdünstung: 



In einer 


Nachtstunde 


In einer. Tagesstunde 


Januar 


41/8 Unze 


2 


Unzen 


Februar 


43/8 « 


2V4 


j> 


März 


41/4 » 


2 


» 


April 


4 V2 » 


«Vs 


i> 


Mai 


2 » 


2V8 


» 


Juni 


21/4 » 


2 


a 


Juli 


2V8 >> 


2% 


» 



284 



In einer Naohtstuiide 


in 


einer Ta^esetonde 


Auguai i*/g ÜBie 




iVe Dosen 


September 4^/4 » 




1 » 


October 4V2 » 




iV» • 


November 4 Vs » 




47/^ - 


December 4 1/4 » 




s » 


VicL Weyrich sagt: »Wir tinden, 


das» die 


Perspiration hier 



oder 6 Uhr Morgens) den niedrigsten Stand unter denjenigen einaimmt, 
welche überhaupt im Laufe der Tagescurve vorkommen. — Derselbe be- 
tragt ungefähr 90— 250/q unter dem Mittel werthe , weicher im vorliegen- 
den Falle 3,54 Mm. Hg. Spannung beträgt. — Zur Nacht, beim Schlafen- 
gehen, war der Stand der Perspiration (nach 4 2 Uhr Mitternacht) um 
Weniges über dem Mittel. Man kann also die Herabsetzung, 
welche die Function während einer sechsstündigen Nacht- 
ruhe erleidet p.p., auf ein Viertel der ganzen Leistung ver- 
anschlagen«. (Die unmerkliche Wasserverdunstung der menschlichen 
Haut. Leipzig 4862. p. 224. — VergL auch p. 485 f., 488 f., 248 f. etc.). 

114) Es enthält eine grosee Menge hoch zusammengesetzter Stoffe, 
die eine gewaltige Menge von Spannkräften repräsentiren (Lecithin s 
C44HgoNP09ss Distearylglycerinpfaosphorsäure -i- Trimethyloxäthylammonium- 
hydroxyd (Neurin) , Cerebrin ■■ C87H33NO3, Cholesterin = C^H^aO 
u. s. w.); gleichsam wie bei einer Lawine führt ein kleiner Aastoss die 
Auslösung dieses grossen Vorrathes potentieller in actuelle Energie hert)ei. 

115) Hegelf Encyclopaedie der philosophischen Wissenschaften. Hei- 
delberg 4847. p. 243 ff. — Erdmann, Psychologische Briefe. 4. Aufl. Leipzig 
4^^8. p. 448 f. Vgl. auch: Onindriss d. Psychologie. 4. Aufl. ^Leipzig 
4862. p. 49. -^ C.G.CartfSf Psyche, zur Entwicklangsgeschichte der Seele. 
%. Aufl. Pforcheim 48e«. p. 2f« etc. 

116) Psychologische Analysen auf physiologischer Grundlage. Halle 
4872. L p. 248. 

117) Vergl. Wundt, Physiol. Psychol. p. 707. — L. A, Koch, Vom 
Bewusstsefn in Zuständen sogenannter Bewusstlosigkeit. Stuttg. 4877. p. 43. 

118) Physiol. Psychol. p. 790; vergl. p. 742: »So lange eine früher 
gehabte Vorstellung nicht reproducirt wird, also unbewusst bleibt, ist 
sie als eine Disposition vorhanden, welche auf einer physiologischen 
Disposition in den Central theilen beruht, früher stattgehabte Erregungs- 
vorgänge bei gegebenen Anlässen zu erneuern. Den zur Reproduction 
bereit liegenden unbewussten Vorstellungen ein wirkliches inneres Dasein, 
abgesehen von jener physiologischen Disposition, zuzuschreiben, ist durch 
nichts gefordert und hat bei der enormen Zahl von Vorstellungen, die 
man in einer Seele und in einem Centralorgan neben einander annehmen 
müsste, nicht die geringste Wahrscheinlichkeit«. 

119) Aehnlich äussert sich Ribot, der freilich auch das Selbstbe- 
wusstsein als höchste Form mit unter den Begriff des Bewusstseins sub- 
sumirt: »Das Bewusstsein wächst und nimmt ab, aber seine fortgesetzte 
Abnahme erreicht niemals Null; denn was wir das Unbewusste 



— 285 — 

nennen, ist n«r ein Minimnm von Bewusstsein«. (Die Erblich* 
keit. Deuteck v« Dr. O* Motzen Leipzig 4876. p. 955). 

»Einer der ersten, die ein unbewaseles Bewusstsein gelehrt heben» 
ist wohl Themas vo» Aquin, Später sprach LeilmU% von »pereepttones sine 
apperceplione seu conscientia » ; Jipercep'tiones insenstbiles«, und Kant 
folgte seinem Vorgänge. In neuester Zeit aber findet die Lehre von un-» 
bewussten psyehi sehen Phänomenen zahlreiche Vertreter, und zwar in Man* 
nem, die sonst nicht gerade verwandten Ricbtnngen ang^ören. So sagt der 
ältere Mttty es gebe Empfindungen, deren wir uns aus gewohnter Unachtsam-» 
keit nicht bewusst werden. EamiUon lehrt, dass die Kette unserer Ideen oft 
nur durch unbewusste Mittelglieder verbunden sei. Ebenso glaubt Ltwex, 
dass viele psychische Acte ohne Bewusstsein stattfinden. MauMey ma^^ht 
die, wie er glaubt, sicher erwiesene Thatsache unbewusster Seelenthätig- 
keit KU einem der Hauptgründe für seine psychologische Methode. Herbart 
lehrt Vorstellungen, deren man sich nicht bewusst sei, und Beneke glaubt, 
nur diejenigen , welche ein höheres Mass von Intensität besitzen , seien 
von Bewusstsein begleitet. Auch Feckner sagt, die Psychologie könne von 
unbewussten Empfindungen und Vorstellungen nicht Umgang nehmen» 
Wundiy (in seinen Vorlesungen tiber die Menschen- und Thie^eele; in 
Betreff seiner physiol. Psychologie vergl. oben), HeÜfifkcUZf Zöllner u. A. 
behaupten, dass es unbewusste Schlüsse gebe. Vlrid sucht durch gehäufte 
Argumente darzuthun , dass sowohl Empfindungen als auch andere psy- 
chische Acte, wie LVebe und Sehnsucht, oft* unbewusst geübt würden. 
Und «7. Harimanm haX eine ganze »Philosophie des Unbewussten« ausge- 
arbeitet«. [Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte. Leipzig 
4874. Bd. I, p. 4 84). •*-» »Für die Ableitung der unbewussten Vorstellungen 
aus bewussten sprechen sich insbesondre CL Peramtt und Stahl aue, von 
denen jener das Aufhören des Bewusetseins aus einer Art von AbslwmpAittg 
durch Angewöhnung, dieser aus einer Ueberdeckung der ex. ratione — 
Seelentfaätigkeit durch die ex ratiocinatione erklärte. Für Cudioarth war 
die Apriorität des Unbewussten eiti nethwendiges Correlat für des Ange* 
borensein der Ideen, während Malebranche die «raprüngliclie Bewusst 
losigkeit so vieler Vorstellungen aus der Unmöglichkeit ibver gleicl»eiltgen 
Apperception deducirte. . .*. Für die Kan tische Schule enthielt der 
Begriff der unbewussten Vorst^lung einen inneren Widerspruch, weil »die- 
Vorstellung , die nichts und ' die nicht vorstellt , keine Vorstellung se«i 
kann«, wobei sie sich ireiiich wieder für den Oedanke» »unbewusster* 
Veränderungen im Gemüthe freien Raum erhielt. KanU selb^ giebt die 
Möglichkeit eines mittelbaren Bewusstseins von Vorstellungen, die de^ 
unmittelbaren Bewusstseins verlustig geworden, zu, seine »dunklen Vor^ 
Stollungen« aber sind so ziemlich Leibnitzen's schwache Vorstellungen. . . . 
Der neuere Spirttualisoliis fand an der Wiederaufnahme der unbewussten 
Vorstellungen ein besonderes Interesse, weil sie ihm jene Form darbot, 
in der sich die organisch-vitalen Functionen der Seele vollziehen. In diesem 
Sinne bezeichnete C. 6« Carus die Ableitung des bewussten Seelenlebens^ 
aus dem unbewussten als einen der Fundamentalsätze der neueren Psy^ 
chologie Auch in der englischen Psychologie der Gegenwart bildet 



— 286 — 

die Frage nach der ZuläMigkett unbewusster Vorstellungen den Gegenstand 
einer lebhaft geführten Controverse. Wftbrend nämlich W. Hmnütan für 
dieselbe das oft seltsame Vertreten latenter Vorstellangen unter abnormen 
Einflüssen und die Zusammensetzung bewusster Gesammtvorstellungen 
aus unbewussten Elementen geltend machte, opponirte ihm Namens der 
»Associationspsychologie« insbesondere 51. Btillf der hierbei unwiDkürlich 
auf Lockes c^en citirte, von der Schottischen Schule oft wiederholte For- 
mel zurückkam (eine Empfindung oder Idee haben, heisst : deren Bewusst- 
sein haben) und unbewusste Vorstellungen nur im Sinne unbewusster 
Modificationen des Nerven gelten iiess. Marell knüpfte wieder an BamilUm 
an und modificirte die Hypothese der unbewussten Vorstellungen, nament- 
lich mit Rücksicht auf den Instinct, in einer Weise, die ihn in die un- 
mittelbare Nähe der oben erwähnten spiritualistischen Theorien der neueren 
deutschen Psychologie brachte. An Morell schloss sich im Wesentlichen 
Murphy an, indem auch er das Gebiet der unbewussten Vorstellungen 
hauptsächlich auf das der organischen Vorgänge beschränkte, während 
Lewes das Unbewusstbleiben mancher Empfindungen lediglich aus deren 
Schwäche und deren Unvermögen, Associationen anzuregen, erklärte. 
Fassen wir der Uebersicht wegen die verschiedenen Ansichten über das 
Wesen der unbewussten Vorstellungen zusammen, so ergeben sich dem- 
nach folgende vier Hauptgruppen : unbedingte Verwerfung der unbewussten 
Vorstellung (Aetn^id) , Anerkennung unbewusster Vorstellungen neben 
bewussten {J, H. Fichte), Ableitung der bewussten Vorstellungen aus un- 
bewussten [Benekejy der unbewussten aus bewussten {Herbart) •, {Volk- 
mann ,' Lehrbuch der Psychologie. 2. Aufl. Cöthen 4875. Bd. I, p. 4 74, 
475, 476}. — In neuerer Zeit hat man die Entstehung der Sinneswahr- 
nehmungen auf unbewusste Schlussprocesse zurückgeführt, und Wundt 
suchte in seinen Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele diese 
Betrachtungsweise auf das ganze Gebiet der inneren Beobachtung auszu- 
dehnen. Dagegen wollten Stumpf j Brentano u. A. die unbewussten Vor- 
stellungen aus der Psychologie beseitigen. Brentano stützt sich dabei auf 
Lotze, A, Bain, H. Spencer und /. St, Mill, welche, wie er sagt, eine un- 
bewusste Vorstellung ebenfalls nicht anerkennen. Man habe nachzuweisen 
versucht, dass gewisse in der Erfahrung gegebene Tbatsachen die An- 
nahme eines unbewussten psychischen Phänomens als ihre Ursache ver- 
langen, jedoch seien die Leistungen des Genies, welche Maudsley anführe 
(Physiol. und Pathol. der Seele, deutsch von Böhm. p. 47f., 82 flf. ; vergl. 
auch E. V. Hartmann, Phil. d. Unbewussten. 7. Aufl. I. p. 238, J. C. Fifcher, 
Das Bewusstsein. Leipzig. 4 874. G. 6), nicht genugsam gesicherte Tbat- 
sachen, da geniale Denker höchst selten sich zeigten; wo man bei Hart- 
mann die Gesetze für die unbewussten psychischen Phänomene erwarten 
sollte, seien diese nicht zu finden. Hamilton's Annahme unbewusster Vor- 
stellungen als Mittelglieder in der Erinnerung bei der Erneuerung eines 
früheren Gedankenzuges, welche oft im Bewusstsein ganz übersprungen 
würden (vergl. auch Ew. Hering, Das Gedächtiiiss als eine allgemeine 
Function der organisirten Materie. Vortr. geh. in d. K. Acad. d. Wissen- 
schaften am 80. Mai 4 870. 2. Aufl. Wien 4876. p. 4 0)^ sei nicht als ein- 



— 287 — 

zig mögliche Erklttningsweise erwiesen. Weon Maudsley auf die Träume 
hinweise, ia weichen Vorstellungen emportauchen, die uns unbekannt er- 
scheinen, Ulrici anführe, dass wir oft in der Zerstreuung Jemanden an- 
hören ohne zu wissen was er sagt, bei späterer Sammlung aber uns 
seiner Worte erinnern, so sei alles dies bewusst gewesen, meint Brentano^ 
nur hätte sich bei dem zweiten Auftreten eine gewisse Association und 
andere Seelenthätigkeiten, wie Affecte, angeknüpft, welche früher mangelten. 
»Auch von Gefühlen der Zuneigung und Liebe sagt man wohl manchmal, 
dass man, nachdem man sie langß schon gehegt, sich ihrer plötzlich be- 
wusst werde. Die Wahrheit ist, dass man sich jedes einzelnen Actes be- 
wusst war, als man ihn übte, dass man aber nicht in einer Weise darüber 
reflectirte, welche die Gleichartigkeit der Seelenerscbeinung mit denjeni- 
gen, welche man gemeinsam mit diesem Namen zu bezeichnen pflegt, 
erkennen liess« (a. a. 0. p. 150). HelmhoHx berichtet ferner, dass er nicht 
selten an den sogenannten Nachbildern Einzelheiten bemerkte, die er 
beim Sehen des Gegenstandes nicht wahrgenommen habe (Physiol. Optik 
p. 337), Brentano begegnete dasselbe; aber einestheils kann nach seiner 
Meinung das Phänomen früher bewusst gewesen und wieder vergessen 
worden sein, anderntheils ist nicht die frühere Empfindung, sondern der 
Fortbest<nnd des früheren physischen Reizes Ursache des Nachbildes ; wenn 
dieser früher wegen psychischer Hindernisse nicht zur Empfindung führte, 
so kann er es jetzt thun, u. s. w. — Brentano kommt zu dem Resultat : 
es giebt keine unbewusste Vorstellung (p. 180). 

Hiergegen bemerkt A. Lange, dass man bei solchen Erörterungen sich 
nicht auf Lotze stützen dürfe, denn dieser nehme ausdrücklich an, dass 
die Vorstellungen mit Hirnfunctionen verbunden seien, welche sich, ohne 
selbst Bewusstsein zu erregen, an unserem Gedankenlauf betheiligten (Med. 
Psych. § 409 f.), und Brentano irre, wenn er glaube, mit bewusst gewe- 
senen aber wieder vergessenen Vorstellungen auszukommen; Lange will 
die Annahme einer unbewussten Production beim Genie aufrecht erhalten 
wissen (Geschichte des Materialismus. 2. Aufl. II. Iserlohn 4875. p. 44-7; 
vergl. p. 401). 

1^) Th. Fechner, Elemente der Psycho-Physik II, p. 528. 

121) Mikrokosm. 2. Aufl. Leipzig 4869. Bd. II, p. 879; vergl. auch 
Medicinische Psycho!. Leipzig 4852. p. 548. 

122) Das Leben des Traumes. Berlin 1864. p. 38 u. 4 02. — p. 98. 

123) A. a. 0, p. 4 04 etc. 

124) Schubert, Symbolik des Traumes. 4. Aufl. Leipzig 4862. p. 6, 
40, 49, 78—95. 

125) A. a. 0. p. 24 u. 25. 

126) Museum p. 858. 

127) Traitö des facultas de l'äme. Deux. 6d. Paris 4865. I, p. 476. 

128) Vergl. Fechner's Centralblatt für Anthropologie und Naturwissen- 
schaften. 4853, p. 774 f. — p. 43 ff. Solche Fälle von ungewöhnlicher 



— 288 — 

EriniMrung Migen sieh besonders in Z«st«nden grosser Erregung. — la 
Bezug auf die unbedeatendsten DeMs mag irmlioh eine psychische Seihet- 
tttuschung vorliegen, wie sie oft vofkomsDt. Man glavbt, alle Einzelheiten 
gelrttnmt zu haben, während man die Lücken, die der Traum -wirklick 
darbot, in der spSteren Erinnerang anwillkürlich ausfüllt. 

189) E, KoMichütter, Messungen der Festigkeit des Schlafes. Zeitschr. 
f. ration. Medic. herg. von Henle und Ffeufer. 8. Reihe. B. 47. p. 909 — 
253. Von dem gegen Fe ebner geäusserten Gedanken, dass sich die 
Tiefe des Schlafs wohl durch verschiedene Intensität von Schalleindrücken 
me!!sen lasse, ausgehend, machte er an Leipziger Studirenden hierauf be- 
zügliche Experimente. Er wandte dazu an den von Fechner coostruirten 
Schallpendel, einen Pendelhammer, den man aus verschiedenen, an einem 
Gradbogen abzulesenden Elevationen kann herabfallen lassen, und der den 
Schall durch sein Anschlagen gegen eine dicke Schieferplatte erregt; der- 
selbe wurde auf einen Tisch neben den Schlafenden gestellt und das Licht 
so gerichtet, dass seine Strahlen gehindert waren, direct auf den Schläfer 
zu fallen, wodurch der Schlafraum während der ganzen Dauer des Schlafes 
gleichmässig erhellt und die absolute Festigkeit desselben zwar etwas 
herabgesetzt, der Gang der Vertiefung resp. Verflachung aber nicht alte- 
rirt wurde, wie es bei einem plötzlich eintretenden Lichtstrahl geschehen 
wäre. Ebenso konnten auch die Schallwellen mit den von den Zimmer- 
wänden zurückgeworfenen nicht interferiren, bevor sie das Ohr des Schla- 
fenden getroffen.' Den letzteren behielt man nun genau im Auge und 
Hess alle halbe Stunden Schläge von versdiiedener Intensität auf ihn 
wirken. Als Criterium des wirklichen Erwachtseins hatte man vorher 
ausgemacht, dass der Betreffende ein bestimmtes Wort aussprechen sollte ; 
zugleich gebrauchte Kohlschütter die Vorsicht, erst « Schläge von glei- 
cher Intensität wirken zu lassen, ehe er zu der höheren fortschritt, da- 
mit, wenn der Schläfer den ersten vernommen, aber nicht im Stande 
wäre, darauf zu reagiren, wie es uns bei den meisten Eindrücken im 
Schlafe geschieht, er durch die folgenden Schläge der gleichen Intensität 
dazu vermocht würde. Die zahlreichen, streng discutirten und notirten 
Beobachtungen ergaben im wesentlichen übereinstimmende. ReaaUale. 

130) Kohlschütter fand als Resultat seiner Beobachtungen, dßm »der 
Schlaf anfangs rasch, dann langsamer sich vertieft, innerhalb der ersten 
Stunde nach dem Einschlafen seine Maximaltiefe erreicht, von da an an- 
fangs rasch, dann langsamer und langsamer sich verflacht und mehrere 
Stunden vor dem Erwachen merklich unverändert eine sehr geringe Festig- 
keit behält«, — Bei leichter Alkoholintoxication zeigte sich derselbe Gang 
der Vertiefung und Verflachung, aber eine beträchtliche Herabsetzung der 
absoluten Tiefe und der Dauer des Schlafes (p. 244). 

131) Pathologie oder Lehre von den Affecten des lebendigen Oi^^nis- 
mus. S. Aufl. Kopenh. 4845. p. 567. 

132) Vergl. Faust' s Monolog nach seinem Spaziergange mit Wagner: 

»Verlassen häb' ich Feld und Auen, 
Die eine tiefe Nacht bedeckt. 



— 269 — 

Mit ahnungsvollem, heirgem Grauen 
In uns die beasre Seele weckt. 
Entschlafen sind nun wilde Triebe 
Mit jedem ungestümen Thun; 
Es reget sich die Menschenliebe, 
Die Liebe Gottes regt sich nun« etc. 

133) Ein merkwürdiges Beispiel solcher religiösen schwärmerischen 
Liebe, die sich selbst über ihren wahren Ursprung, die Sinnlichkeit, 
täuschte, theilt Moreau de Tours in seiner Psychologie morbide V, p. 969 — 
277 mit. Vergl. Ribot, Die Erblichkeit. Deutsch v. Dr. 0. Hotxen, Leipz. 
4 876. p. 988 ff. — Die junge Person berichtete von sich selbst: »Als ich 
mich niederlegte, dehnte ein solches Aufschwellen alle meine Organe aus, 
dass ich dadurch ganz betäubt und schwach wurde. Ich küsste ganz 
leise , wie ein geschlagenes Hündchen , die Hand meines Meisters , und 
dann sah ich, wie meine Gewohnheit in jeder gefährlichen Lage ist, die- 
sen theuren Meister mit einem glühenden Blick voll Liebe und Vertrauen 
an . . . Bei meinem Morgengebete pflegte ich die Betrachtungen des hei- 
ligen FranQOis de Sales über das »Lied der Lieder« zu überdenken. In 
einer Nacht also fühlte ich mich bei vollem Wachen schwebend in hoch* 
sten Wonnen und erwartete mit einer Art von Schrecken, was der Herr 
zu mir sagen würde. Nun sah ich ihn leibhaftig und geradeso, wie er 
in dem »Liede der Lieder« dargestellt ist . . . er legte sich neben mich, 
legte seine Füsse auf meine Füsse, kreuzte seine Hände mit meinen Hän- 
den, erweiterte seine stechende Krone und wand sie um unserer Beider 
Häupter; dann aber, während er mich lebendig die Schmerzen seiner 
Dornen und seiner Nägeknale mitfühlen liess, drückte er seine Lippen 
auf die meinigen, gab mir den göttlichsten Kuss eines göttlichen Gatten 
und blies meinem Munde einen so entzückenden Hauch ein, dass dieser, 
mein ganzes Wesen mit erfrischender Kraft durchströmend, es durch ein 
unvergleichliches Wonneleben entzückend, ihm Alles ohne Rückhalt zu 
eigen gewann«. Bei den ersten Worten denkt man unwillkürlich an 
Plato'f Schilderung der Geschlechtsliebe: »6 hk d^vzsk'^z, 6 xdiv xöxe tcoXu- 

To« l&iav, Tip&TOv {i^v Icppt^e xa( ti T(uv xiSxe &nf)Xdev aÖTÖv (»{idtwv, €iTa 
TipooopQQV d)c deöv sIßExat, xai el (i.9j ^^uIt] xi^v x^c o^öSpa {iav(ac (ö^av, 
^ot alv <»c dfo^fiaxt %a\ decp xoTc irai&ixoic i5(Svxa hk a6x6v oiov i% 
TTJc cpp^xT)^ ficxaßoXV) xe xal i&ptbc xai depfi.<SxT]C. iif)dT]c Xa{Jißdi- 
vet«. (Phaedr. p. 251). — »Wo ist der Menschenkenner und Bräutigam«, 
sagt BogunUl Goltz an einer Stelle (Zur Characteristik und Naturgesch. der 
Frauen, p. 279), »der aus einem Paar blitzender, junger Mädchenaugen, 
oder aus solchen, die im Dufte einer augenblicklichen Herzensrührung 
schwimmen, den sinnlichen Untergrund und das ordinäre Princip heraus- 
findet, welches in einem Augenblick ganz wohl ein poetisches und seeli- 
sches sein kann«. — Eine von allen sinnlichen Grundlagen getrennte, rein 
geistige Liebe möchte schwerlich aufzufinden sein. Sie ist zwar von der 
Begierde des Thieres weit verschieden, da sie mehr psychische Elemente 

Badestock, Schlaf n. Traum. 19 



— 290 — 

— das Gefühl des Schönen , der Zuneigung , des Mitgefühls , der Bewun- 
derung, der Lust am Hingeben, der Eigenliebe, der Freude am Besitze 
und der Freiheit — enthlüt, entbehrt aber trotzdem nicht ganz die körper- 
liche Grundlage. 

134) W, Sander macht in einem Aufsätze »lieber die Beziehungen 
der Augen zum wachenden und schlafenden Zustande des Gehirns and 
über ihre Veränderungen bei Krankheiten « (Archiv f. Psychiatrie u. Ner- 
venkrankheiten , redig. von C.Weilphal. Bd. IX, H. 1, p. 4 29 — U6) darauf 
aufmerksam, dass dies nur vom Einschlafen, nicht vom Schlafe selbst 
gilt, wie man früher fast allgemein annahm. — Besonders hervorstechend 
Ist die Enge der Pupillen wahrend des Schlafes. »Die Pupillen erschei- 
nen bei ruhigem und tiefem Schlafe kaum stecknadelkopfgross und noch 
kleiner. Natürlich variirt die Grösse der Pupillen in engen Grenzen je 
nach der Tiefe des Schlafes. 

Jeder Reiz, welcher den Schlafenden trifft, führt, namentlich ein sen- 
sibler oder acustischer, wenn er sich innerhalb gewisser, nach der Indi- 
vidualität und der Schlaftiefe verschiedener, Grenzen hält und den Schlaf 
nur verflacht, aber nicht vollständig unterbricht, zu einer entsprechenden 
Erweiterung der Pupille, die ziemlich schnell vor sich geht, aber nur 
langsam wieder zurückgeht, wenn der Schlaf wieder tiefer wird. Eine 
solche vorübergehende Erweiterung kann schon durch das Aufheben des 
Lides bewirkt werden, so dass man die Pupille nicht gleich von der ge- 
wöhnlichen Enge findet, sondern eine Zelt lang warten muss, bis dieselbe 
sich einstellt. Wirkt ein stärkerer Reiz ein, z. B. durch lautes Anrufen, 
so dass der Schläfer erwacht, dann erweitert sich die Pupille in ganz 
bedeutender Weise, so dass nur ein schmaler Saum der Iris übrig bleibt ; 
nur langsam verengt sie sich wieder und zwar jetzt nach dem Erwachen 
bis zu der der Beleuchtung entsprechenden Grösse; Es ist dies ein ganz 
überraschender Anblick, wenn man bei heller Beleuchtung, welche man 
auf den Schlafenden fallen lässt, die Pupillen sich so stark erweitern 
sieht. Wenn man sich bei einzelnen Personen mit den Bewegungen ver- 
traut gemacht hat, welche sie machen, wenn man sie im Schlafe mehr 
oder weniger stört, ohne sie ganz zu erwecken, so kann man sich leicht 
überzeugen, wie genau die Erweiterung der Pupille dem Grade des Er- 
wachens folgt, wenn man sich so ausdrücken darf, und ebenso lässt sich 
leicht beobachten , dass die Pupille ihre maximale Weite so lange beibe- 
halt; bis der Erwachte seine Gedanken wieder gesammelt hat und voll- 
ständig zu sich gekommen ist«. 

» Oeffnet man das Auge, nachdem der Schlaf schon etwas länger an- 
gedauert hat, so bemerkt man, dass die Cornea den spiegelnden Glanz, 
der ihr während des Wachens eigen, verloren hat. Ursache davon ist, 
dass sie mit einer zähen, schleimigen Flüssigkeit bedeckt ist, welche sich 
in geringerer Menge auch auf der Sklera findet. In einzelnen Fällen ist 
damit eine stärkere AnfüUung und dadurch scheinbare Vermehrung der 
venösen Gefässe der Bindehaut verbunden. Diese Injeclion der Conjunc- 
tiva bulbi im Schlaf erwähnt auch /. B, hanglet (nach einem Referat im 



— 291 — 

Archiv, g^n^r. 4872. Nov. p. 640) und schliesst daraus, wenn auch mit 
Unrecht, auf einen congestiven Zustand des Gehirns während des Schlafes. 
Was jene Schleimschicht anlangt, so kann man wohl an eine blosse me- 
chanische Eindickung der an der vorderen Fläche des Auges abgeson- 
derten Flüssigkeiten, wie man dies in andern Fällen thut, um so weniger 
denken , als ja bei den geschlossenen Lidern eine Verdunstung des Was- 
sers nicht so leicht wie bei geöffneten stattfinden kann. Vielmehr ist es 
mir wahrscheinlich (und es wird dies später noch mehr einleuchten), 
dass es sich in der That um eine veränderte Secretion handelt, welche 
den schlafenden Zustand des Gehirns begleitet. Es bieten sich in dieser 
Beziehung zwei Möglichkeiten: die hierbei in Betracht kommenden Drü- 
sen, nämlich die beiden Thränendrüsen und die im Fornix der Bindehaut 
enthaltenen zahlreichen kleinen Drüsen , deren physiologische Thätigkeit 
durchaus noch nicht genau bekannt ist, können ja nach der vom Gehirn 
ausgebenden Innervation abwechselnd und ein verschiedenes Secrei ab- 
sondern, oder sie secerniren gemeinschaftlich, können aber entsprechend 
ihr Secret ändern, gerade so, wie dies bekanntlich bei den Speichel- 
drüsen je nach der Innervation bekannt ist. Gerade diese Analogie wird 
uns der letzteren Annahme geneigter machen, wenn auch eine mass- 
gebende Entscheidung nur durch das Experiment möglich sein dürfte. 
Wie aber auch die Erklärung ausfallen möge, die Thatsache, dass über- 
haupt während des Schlafes an der Vorderfläche des Bulbus eine anders 
beschaffene Flüssigkeit sich befindet, als im Wachen, wird einer aufmerk- 
samen Beobachtung nicht entgehen. Diese schleimige Schicht auf der 
Cornea trägt wesentlich, wenn auch nicht allein, dazu bei, dass wir das 
Auge beim Schlafenden und unter ähnlichen Verhältnissen als «erloschen«, 
d. h. des Glanzes ermangelnd bezeichnen. So haben wir also als Unter- 
schiede in der Erscheinung des schlafenden Auges gegenüber dem wachen- 
den, die Enge der Pupille und die veränderte Beschaffenheit der be- 
deckenden Flüssigkeit; es lässt sich ohne Weiteres hinzufügen, dass das 
obere Augenlid, was wir allerdings nur beim Einschlafen sehen, sich 
senkt, die Lidspalte kleiner wird und sich ganz schliesst, dass der Bul- 
bus zurücksinkt und auch wohl in seiner Spannung nachzulassen scheint«. 
(p. 4 83 f., 4 36 f.). — Eine Abhandlung: »Ueber das Verhalten der Pu- 
pillen während des Schlafes nebst Bemerkungen zur Innervation der Iris« 
veröffentlichten auch Hählmann und Witkowsky im Archiv für Anatomie 
und Physiologie (1878, p. 409). 

135) Joh. Müller^ Phantastische Gesichtserscheinungen. Coblenz 4 826. 
— Gruithuisent Anthropologie. München 4 84 u. Beiträge zur Physiognosie 
urjd Heautognosie. 4 84 2. — Purkinje ^ Beiträge zur Kenntniss des subjec- 
tiven Sehens, dann: Beobachtungen und Versuche zur Physiologie der 
Sinne. 2 Bde. Berlin 4823—26. 

136) Zur Naturwissenschaft im Allgemeinen, bei der Besprechung 
von Purkif^e's Schrift: Ueber das Sehen in subjectiver Hinsicht. Ausg. 
d. Werke v. Prochaska. B. VI, p. 664. 

137) Des hallucinations. Ste 6d, p. 26. 

19» 



-- 202 — 

188) Ausg. d. Werke v. Frocktuka. III, p. 476. 

199) Peckneff Elemente der Psycho^Physik. II, p. 476. — Jean Paul, 
Müseam p. M5. 

140) PurJNfv'e a. a. 0. p. i%0 und 444. 

141) Ich verwahre mich hier gegen den etwaigen Vorwurf, dass ich 
veraltete Ansichten mystischer Naturphilosophie wieder aufwärme. Die 
besonnensten Empiriker der Jetztzeit weisen auf die Parallelität der phy- 
sischen und psychischen Processe hin und viele scheinen zu der 
spinozistischen Auffassung hinzuneigen, dass die Gesetze, unter 
welchen die materielle Natur und das Denken steht, im Grunde die- 
selben sind. 

So reden die neueren englischen Psychologen nicht nur von einer 
chemischen d.h. eiperimentellen Methode der Wissenschaft, sondern 
auch von einer Chemie des Geistes bei der Gedankenverbindung. — 
/. Stuart MiU, System der dednctiven und inductiven Logik. Deutsch v. 
Schiel, 2. Aufl. B. II, p. 464 etc. •— Ribotf La psychologie anglatse con- 
temporaine. p. 4S6. -^ Die Erblichkeit. Deutsch v. Dr. Otto Botxen, 
Leipzig 4876. p. 262: ». . . . Die Gesetze des Seelenlebens ent- 
sprechen bald denjenigen der Mechanik, bald denen der 
Chemie, ja es ist wahrscheinlich dass die weitaus grössere Zahl den- 
jenigen der Chemie gleichen«, p. 347: »Am Ende ist zwischen beiden 
Gegensätzen, dem einen, nach welchem Denken die wesentliche und die 
Natar eine abgeleitete Causaliiät ist, und dem anderen , der in der Natur 
die wesentliche und im Denken eine abgeleitete Causalität sieht, doch 
eine Versöhnung möglich, wenn man die Identität des Mechanis- 
mus und der Logik, der Vernunft in der Natur und der Ver- 
nunft im Denken annehmen will«. Vergl. p. 284 : ». . . . Das Leib- 
liche ist das Seelische von »Aussen angesehen und das Seelische ist das 
Leibliche von Innen angesehen. Der Untersobied zwischen Seele und Leib 
ist subjectiv und nicht objectiv, er erstreckt sich nicht auf beider Wesen, 
sondern auf die verschiedene Art, wie sie unserer Kenntniss zugänglich 
werden. Die Ahysik ist dahin gekommen, den Unterschied von Wärme, 
Licht und Ton nur darin zu erkennen, dass sie von verschiedenen Sinnen 
empfunden werden, sodass also der Unterschied in uns selbst begründet 
liegt. Die Seelenkunde muss zu der Erkenntniss gelangen, dass leiblich 
und geistig nur darum uns unähnlich erscheinen, weil das eine durch 
die äusseren Sinne .unter der Bedingung von Raum und Zeit, das andere 
durch den inneren Sinn unter der Bedingung der Zeit wahrgenommen 
wird, dergestalt, dass der Unterschied nur in uns liegt. Auf diese Weise 
würde das Absolute in seiner bedingungslosen Gestalt durchaus ausser- 
halb des Bereiches unserer Grenzen bleiben , und die bedingten Erschei- 
nungen, durch welche es sich unserer Erfahrung enthüllt, stünden nur 
durch eine Täuschung unseres Vorstellens in einem scheinbaren Gegen- 
satze zu einander«. Vergl. hierzu auch Fechner ^ Elemente der Psycho- 
Physik. Bd. I, p. 2 f. — Wundt, Vorlesungen über Menschen- und Thier- 
seele. Bd. I, p. 499, Bd. 11, p. 487. — Als ich mich mit der Physiologie 



— 293 — 

des Schlafes beschäftigte , und die experimentell festgestellten Thatsachen 
über den Gang der Vertiefung und VerflaGhung des Schlafes mit denen 
bezüglich der Veränderung organischer Functionen zusammenstellte, als 
ich ferner erkannte, dass jede Erkrankung des Gehirns, insofern nicht 
eine andere Partie für die erkrankte stellvertretend functionire, eine gei- 
stige Störung und umgekehrt begleite — trat mir der durchgängige Paral- 
lelismus recht l^lar vor Augen, und immer mehr befestigte sich bei mir 
die noch auf viele andere Thatsachen gestützte Ansicht, dass Seele und 
Leib nur zwei verschiedene Erscheinungs- oder Betrachtungsweisen einer 
und derselben Substanz seien. 

142) »irpo|xeXlTt)ai«« auch »tä (Aixpd toü ^aveKrou fi.üot/)pta«. — Bei 
Homer ist der Schlaf ein Bruder des Todes. 11. XIV. v. 284 : 

»IvVöiwip ^(jt,ßXY]TO xaaiYv/|T(|) ^avcCroto«. 
XVI. v. 674 f . : »n^f&Tce ti [aiv itopkitotoiv äiM. xpaiicvotsi ^ipsa^ot 

5irv<t> %a\ ^vdhnp f^e^pidiootM c 

Od. XIII. v. 79 f. : 

»xQLt T(p v/j^upioc Sttjoc diel ffkufdpüi^vi fsiTcrev, 
v/)YpeTOC, 'SiSioTos, öavc£tqi ä'fjwcoL ioixi&ft. 

Nach Hesiod sind das Brüderpaar Schlaf und Tod Kinder der Nacht 
und wohnen mit ihr im unterirdischen Dunkel. Theog. v. 748. — Vergll. 
Aen. IV. v. 244: 

»Dat somnos adimitque et lumina morte resignat«. 

Plato apol. p. 40. — Cicero de senect. 80. — Napoleon soll einst von Cor- 
visart verlangt haben, dass er ihm den Unterschied zwischen Schlaf und 
Tod angäbe und dann die Frage selbst beantwortet haben indem er sagte, 
der Schlaf sei die Aufhebung derjenigen Kräfte, welche von unserem 
Willen abhängig sind, der Tod dagegen aller Kräfte, auch derjenigen, 
welche nicht von unserem Willen abhängig sind. Vergl. Jan, der Schlaf. 
Würzburg 4836. p. 34). — Anders äussert sich Fr, Fischer: »Der Schlaf 
ist der Moment des vollsten körperlichen Lebens und somit der 
gerade Gegensatz des Todes, nicht aber, nach dem trivialen, abge- 
griffenen Bilde, sein Bruder«, (lieber den Schlaf. Einlad. z. Promotionsf. 
d. Paedag. zu Basel. 4839). 

143) Vergl. Ad. Kussmaul, Untersuchungen über das Seelenleben des 
neugebornen Menschen. Leipzig und Heidelb. 48&9. 

144) Sammlung gemeinverständl. Vorträge, herg. von A. Virchow und 
Fr. V. Holtzendorff, H. 879, p. 40. 

145) A. a. 0. p. 544. In neuester Zeit hat besonders Frohschammer 
die Phantasie als Grundprincip des ganzen Weltprocesses zu erklären ver- 
sucht. Aehnlich ist das aus den des bewusst wirkenden Absoluten HegeVs 
sich entgegensetzenden Schwierigkeiten erwachsene » Unbewusste« E, v, 
Hartmann's, Vergl. zu dieser Frage: Jürgen Bona Meyer, das Wesen der 
Einbildungskraft. Zeitschr. f. Völkerpsychol. u. Sprachw. B. X, H. 4, 
p. 86 ff. — Schemet^ u. Volkelt (a. a. O. p. 85^-96) äussern deshalb die 



— 294 -^ 

Ansicht, dass die herrliclie, plastische PhaDtasie im Tramn die körper* 
liehen Vorgänge unmittelbar er- und umscbaae. 

146) Cicero. De divin. 11. c. 58 : »Faba quidem Pythagorei^utique ab— 
stinuere: quasi vero eo cibo mens, non venter infletur«. — conf. De 
natur. deor. II. c. 16. 

147) BeatUe, Moralische und kritische Abhandlungen. Aus d. Engl. 
Göttingen 47^9. B. 4, p. 407 f. — p. 425: »Wird überhaupt Jemand mit 
bösen Trttumen heimgesucht, so mag er es, däuchtet mir, immer für ein 
Zeichen halten, dass' etwas in seinem Körperbau verrttckt sei und daher 
Massigkeit üben, fasten oder Körperbewegungen vornehmen, um die dro- 
hende Gefahr abzulenken«. — Dieselbe Ansicht findet sich bei Muratori, 
Die Einbildungskraft des Menschen, herg. von RichertZf Leipz. 4785. p. 274. 

148) Brandis , Pathologie oder Lehre von den Affecten des mensch- 
lichen 'Organismus. 2. Aufl. Kopenh. 4815. p. 560. vergl. Burdach a. a. O. 
p. 488. — u4. Kraust, Zeitschr. f. Psychiatrie B. XV, p. 627. etc. 

149) Apol. p. 40. D. »Kai cf^e ii.rfisit.ia ato^T^cjic lortv, dXX olov 5nvoc, 
iTttihih TIC xa&e6$(uv |&v)(* ^vap [».rfik^ 6p$, ^aufidioiov x£p5oc fiv tXri b ^eCvocxoc «. 

150) A. a. 0. p. 4 47 u. 4 49. Die Erfahrung lehrt das Gegentheil, dass 
nämlich jugendliche Personen am meisten träumen, (vergl. Brandis a. a.D. 
p. 560). 

151) Leibnitii open omnia, ed. Erdmann. Berlin 4840. p. 497: »D'ail- 
leurs on ne dort jamais si profondement , qu'on n'ait quelque sentiment 
foible et confus, et on ne seroit jamais ^veill6 par le plus grand bruit 
du monde, si on n'avoit quelque perception de son commencement, qui 
est petitos. . Vergl. Monadol. §28. p. 707. — p. 487: »Je tiens que l'Ame 
et m^me le corps n'est jamais sans action et que TAme n'est jamais sans 
quelque perception. Mdme en dormant on a quelque sentiment confus et 
sombre du lieu oü Ton est et d'autres choses«. — Die Seele sinkt hier 
wie im Zustande der Ohnmacht nur auf den Standpunkt der niederen 
Monade herab (Monadol. § 20. p. 706: »Dans cet 6tat T^me ne diiföre 
point sensiblement d'une simple monade«.) welche nur eine Menge ver- 
worrener Vorstellungen besitzt, die sich gegenseitig niederhalten und un- 
terdrücken. (Nouv. ess. L. II, p. 224: »II reste quelque chose de toutes 
nos pens^es passöes et aucune n'en sauroit jamais 6tre effac^ entiörement. 
Or quand nous dormons sans songe et quand nous sommes dtourdis par 
quelque coup, chute, Symptome ou autre accident, il se forme en nous 
une infinite de«petits sentimens confus etc. — Monad. § 24. p. 706. »La 
substance ne sauroit aussi subsister sans quelque affection , qui n'est au- 
tre chose que sa perception : mais quand il y a une grande multftude de 
petites perceptions, oü il n'y a rien de distingu^, on est ^tourdi«). 

152) Anthropol. Herg. v. F. CA. Slarke. Leipz. 4884. p. 464. Vergl. 
p. 4 65 u. 473. 

, 158) Lehrbuch der Psychologie. 2 Aufl. Cöthen 4875. B. I, p. 890. 



— 2«5 — 

154) »Psycltologie nnd Psyehiatrie« in H. Wagner's Handwörterb. der 
Physiologie. B. II, (p. 692 — 827) p. 790. — Nach ihm kommt nur der 
"Wechsel der Empfindungen zum Bewusstsein, wfthrend diese selbst, 
wenn sie gleichförmig andauern, nicht bewusst werden, (p. 700 f.). 

155) »Kraft und Stoff«. 42. Aufl. Leipzig 4872. p. 224 ff. 

156) Hihoty La psychol. angl. contemp. p. 898. 

157) Psychologische Briefe. 4. Aufl. Leipzig 1868. p. 148. 

- 158) Psyche, Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. 2. Aufl. Pforz- 
heim 4860. p. 234. 

159) BrandiSy a. a. 0. p. 560. — Pfaff, a. a. 0. p. 42 etc. 

160) Elemente der Psycho-Physik. II, p. 444. 

161) Purkinje, a. a. 0. p. 445. — Burdach, p. 489. — Spitta, p. 266. 

162) A. a. 0. p. 704. 

163) Vergl. A. Hortvicz, Psychologische Analysen auf physiologischer 
Grundlage. Bdi II, H. 4. Halle 4 875. p. 4 20: »Es ist immer ein und der- 
selbe Akt von der rohesten, dunkelsten Regung des Empfindens, das nur 
in reflectorischem Muskelzucken oder in der Drüsensecretion oder in der 
Resorption oder Absorption von Säften u. s. w. zum Ausdrucke kommt, 
bis hinauf zum kühnsten Gedanken des Forschers . . . Wo Leben ist, 
da ist auch Bewusst sein«. Vergl. auch p. 4.64 f. 

164) Versuch über Geistersehen und was damit zusammenhängt. 
Parerg. u. Paralipom. Bd. I. Leipzig 4877 (p. 244 — 828) p. 247. 

■ 165) Allgemeine Zeitschrift f. Psychiatrie. Bd. 4 5, p. 642 f. 

166) RosSy Reise auf den griechischen Inseln des aegeischen Meeres. 
I, p. 4 85. — Schon Galen bemerkt, dass Leute, welche im hellen Mond- 
schein schlafen, später eine Schwere im Kopfe spüren und Macrobius er- 
zählt, dass deshalb die römischen Wärterinnen den Kindern die Köpfe 
bedeckten, wenn sie im Mondschein gingen. (Vergl. Nttdow, a. a. 0. 
p. 244). 

167) Zeitschr. f. Völkerpsych. Bd. V, p. 484. 

168) Dasselbe Beispiel findet man angeführt bei Beattiey Moralische 
und kritische Abhandlungen. Aus d. Engl. Göttingen 4 789. Bd. I, p. 422. 

169) A. a. 0. II, p. 479. 

170) Anthropol 8. Aufl. Königsberg 4 820. § 20, p. 54. 

171) Allgem; Diagnostik der psych. Krankheiten. 2. Aufl., p. 837. 

172) Vergl. Wundt, Physiol. Psychol. p. 288. — Pflüger, Die teleolo- 
gische Mechanik der lebendigen Natur. Bonn 4877. p. 58 u. 60. 

173) Joh. Miüler, Phantastische Gesichtserscheinungen. Coblenz 4826. 
p. 49 (conf. p. 24). — p. 48. 

174) Opera posthuma, epist. 80: »Quum quodani mane, lucescente 
jam coelo , ex somnio gravissimo evigilarem , imagines , quae mihi in 



\ 



— 2«« — 

somnio occurreffiPt, tarn, vlvüe ob oculos versabantor , wß si res ^ssenl 
verae, et praesertim cv^uusdam- nigri et scabiosi Brasiliaai^ quem nuncpxaxD 
antea videram. Haec imago partem maximam disparebat , qnando oeal«>s 
in librum Tel aliud quid defigebam; quum primum vero oculos a tali 
objecto rursus avertebam, sine attentione in aliquid oculos djBÜgendor, 
mihi eadem ejusdem Aethiopis imago eadem vividitate et per vices appa- 
rebat, donec paulatim circa caput dispareret«. 

175) A. a. 0. p. »92. 

176) GruUhuism, Beiträge zur Physiognosie ui»l Heautognosi^, p. 256. 
— Ausser diesem hat noch manche Beispiele zusammengestellt fl. Meyer, 
Physiologie der Nervenfaser, p. 809 (conf, Fechner, a. a. 0. II, p. 525) und 
Strümpell, a. a. 0. p. 425, Anmerk. 7. 

177) Berliner Monatsschrift. October 1800. p. 253. 

178) A. a. 0. p. 227. 

179) Wundt, Physiol. Psychol. p. 852 Anmerk.: »Ich habe über 
diese Frage mit einem intelligenten , wissenschaftlich gebildeten Manne 
correspondirt, der, in seinem achten Lebensjahre total erblindet, jetzt 
etwa zwischen dreissig und vierzig steht. Derselbe versichert mich, ^ass 
seine Traum- und Erinnerungsbilder die volle Lebhaftigkeit ihrer Farben 
bewahrt haben«. Vergl. p. 647. — Beattie, Moralische und kritische Ab- 
handlungen. Aus d. Engl. Bd. I, p. 187: »Ich kenne Jemanden sehr genau, 
der in einem fünfmonatlichen Alter sein Gesicht durch die Pocken und 
mit ihm alle seine Ideen eines sichtbmn Dinges verlor (Dr. Biacklock 
in Edinbur^), der aber doch ein guter Dichter, ein tiefer PMlosoph und 
Gottesgelehrter, kurz an Herz und Kopf gleich schätzbar ist. Er träunit 
so häufig als andere Leute«. 

180) Ribot, Die Erblichkeit, p. 291. — Ueber die geistige Entwicke- 
lung solcher Unglücklichen überhaupt vergl. Burdach , Blicke in's Leben. 
Leipzig 1842. Bd. II. 

181) Vergl. Tylor, Die Anfänge der Gultur. Hebers, von Spengel und 
Poske, Leipz. 1873. II, p. 190 fif. 

182) Vergl. Rihot, Die Erblichkeit, p. 354. 

188) »In der aufgeregten Zeit von 1849 war in den Casemea zu Ra- 
statt das »Schräteli« sehr häufig« (Perty, Die mystischen Erscheinungen in 
der menschlichen Natur. 2. Aufl. Leipz. u. Heidelb. 1872. B I, p. 139). 

184) Vergl. auch Tylor, a. a. 0. II, p. 197. 

185) Der Schlaf in allein seinen Gestalten. Aus d. Engl. Leipz. 1835. 
p. 102. 

186) /. Bömer, Das Alpdrücken^ seine Begründung und Verhütung. 
Würzburg 1855. — »Meistens glaubt man die Rückenlage inne zu halten, 
während in Wahrheit die Bauchlage bei dem Anfalle die häufigere ist« 
(p. 8, 9, 27). Bei allmählicher Entwickelung der Athemnoth betritt der 
Alp langsam das Zimmer und nähert sich dem Schläfer, während er ihm 
bei plötzlich eintretender bedeutender Dyspnoe im Nu auf der Brust sitzt. 



— 297 — 

« 

Besonders kommt die Elrsefaernang im tiefen Schlafe vor. Bisweilen ist 
mit dem GeeCühle der Angst das der Wollust gepaart, namentlich bei den 
Weibern , welche oft gl|iuben , der Alp habe an ihnen den coitus geübt 
(Hexenprocesse). Mftnner haben durch den auf die Genitalien ausgeübten 
DmdL analoge Sensationen und meistens Samenergüsse. — Von Schriften 
früherer Zeit sind noch zu nennen : /. WtUler, Abhandlung über das Alp* 
drücken, den gestörten Schlaf, erschreckende Trüume und nttchtliche Er- 
scheinungen. Aus d. Engl, von E. Wolf. Krankf. 4820. — M. Strahlj Der 
Alp, sein Wesen und seine Heilung. Berlin 4888. — Macniskf Der Schlaf 
in allen seinen Gestalten. Aus d. Engl. Leipz. 4885, p. 97 — 444. 

187) A. a. Q., p. 27 f. 

188) Bei Kindern kommt es nicht selten vor, dass die gefüllte Harn- 
blase oder der volle Darm den Traum der Befriedigung des Bedürfnisses 
hervorruft und dieser wiederum die Ursache der wirklichen Entleerung 
bildet. 

189) Besonders zeigt sich dies in krankhaften Zuständen: »Schmerzt 
uns nur der Finger, haben auch die übrigen gesunden Glieder etwas von 
Webgefühl «r. {Shakesp. Othello A. III. Sc. 4). Bekannt ist diese Erscheinung 
beim Zahnweh. — Andrerseits werden die »Mitbewegungen« oft angeführt. 

190) Hier bewahrheitet sich das alte Wort, dass die Guten sich nur 
im Traume erlauben, was die Schlechten im Wachen thun. Es ist, als 
ob sich die Natur entschädigen wollte, indem sie dem Geiste die üppigen 
Bilder vorzaubert, welche das sittliche Bewusstsein und die strenge Ar- 
beit des Wachens verbannte; »in müss'ger Weile schafft der böse Geist«. 
Wenn auch die Verse des Sophokles: 

»IIoXXol Y^p "^^ t^V ÖNe(pa«tv ßporojv 
fj.T)Tpl SuNeuvcKO^i^oav. *AXXÄ Tat»(^' Step 
irap' o65iv döTi, JiqlaTa t6v ßCov ^ipet«. 

(Oedip. rex. v. 984 ff. conf. Plato republ. IX, p.* 57i : »MirjTpl zt fÄp im- 
)^€iperv [iXp^o^ai, (bc oTeTat, o6SeN ÖTCve?, d(XX(p Te 6T(pot>v dv^pcGirtov xal 
^eöbv %a\ lh]p((DV, pLiatcpoveTv tc 6tiouv , ßp(&p.aT6; xe dizlyto^ai oOSev^c«) 
ein Maximum bezeichnen, das selten erreicht wird und immerhin einen 
Charakter in ein schiefes Licht bringen würde, so weiss doch Jedermann, 
dass bei der Ausmalung von solchen Scenen meist die Sittlichkeit kein 
Wort mitzusprechen hat. Plato sagt zwar, dass nur bei sinnlichen Na- 
turen die wildesten Begierden hier ungezügelt walten, aber auch die alten 
Kirchenväter klagen wiederholt über die Unheiligkeit ihrer Träume. — 
Bei schwächeren Reizen herrscht jedoch zuweilen ein gewisses Zartgefühl. 
Nur Nacken, Hctls oder Fuss der Erscheinungen zeigen sich eotblösst; 
die Verhüllung der übrigen Theile lässt der Association Raum und wird 
durch diese leise Andeutung um so reizender. Bei stärkeren Erregungen 
kommt es selten zum vollständigen Abschluss der geschlechtlichen Sce- 
nen, indem der materielle Akt dem Denken, welches bei der Ausmalung 
des Abenteuers sich länger aufhält, gleichsam voraneüt; oder es stellen 
sich, wie Du Frei in seinem Oneirocritieon meint, im letzten Augen- 
blick noch unvermuthete Hindemisse entgegen. »Dum penem introduci- 



— 298 — 

mu8 dilatatione vaginae frictio prokibetor«. — Sehemer findat auch hier 
iD einem aufrecht stehenden Manne, einem Kirohthurm mit abgestnoipfler 
Spitze^ einem Baumstamm , in der Deichsel eines. Wagens, einem Tubus, 
einer gefundenen Kli^rinette oder Tabaicspfeife , oder endlieh in spitzen 
Waffen das mttnaliche, in einem langen, schmalen und schlüpfrigen Foss- 
pfade das weibliche Geschlechtsorgan symbolisirt. Sogar die Schrittebge 
und das Schamhaar zieht er, — letzteres als Gebüsch, Geäst oder Pelz- 
werk — mit in die Symbolik. — Bei Affectionen des Uterus kann eine 
Frau, die schon geboren hat, im Traum alle einzelnen Momente der Ge- 
burt wieder durchleben. 

191) Psychologie, herg. v. Georg«, Sttmmtl. Werke Abth. III, B. Yl, 
p. 393. 

192) LucreUus, de rer. nat. lY, v. 959 ff. : 

»Et quo quisque fere studio devinctns adhaeret, ' 
aut quibus in rebus multum suinus ante morati 
atque in ea ratione fuit contenta magis mens, 
in somnis eadem plerumque videmur obire; 
causidici causas agere et componere leges, 
induperatores pugnare ac proelia obire, 
nautae contractum cum ventis degere bellum, 
nos agere hoc autem et naturam quaerere rerum 
semper et inventam patriis exponere cbartis«. 

Vergl. auch v. 1004 ff. Derselbe spricht auch von den Träumen der 
Thiere (v. 988 ff.) : 

»Yenantumque canes in moUi saepe quiete 
jactant crura tarnen subito vocesque repente 
mittunt et crebro redducunt naribus auras, 
ut vestigia si teneant inventa ferarum, 
expergefactique secuntur ioania saepe 
cervorum simulacra, fugae quasi dedita cernant, 
donec discussis redeant erroribus ad se. 
At consueta domi catulorum blanda pr(^ago 
discutere et corpus de terra corripere instant 
proinde quasi ignotas facies atque ora tuantur«. 

Herodot VII. c. 46: vicenXavTJo^ai auTat (jidXtOTa I(6&a9i al ü^vt^ tiüv <&veipdE- 
Toiv, Td TIC of)(jiif>T}c <ppovT(Cei«. conf. Cicero, De divin. II. c. 67: »maximeque 
reliquiae earum rerum moventur in animis et agitantur, de quibus vigi- 
lantes aut cogitavimus aut egimus«. 

193) Vergl. Fechner, Centralblatt 1853, p. 772. A, SMknpeü, a. a. 0., 
p. 41. 

194) A. a. 0., p. 60. 

195) Die Gedächtnisslosigkeit des höheren Alters für das Letzterlebte 
bei oft aufgefrischter Erinnerung an die Jugendzeit erwähnt schon PkUo, 
Tim. 26. B. und Aristoteles, Probl. XXX, 5. — Von Eeinsius erzählt man, 
dass er in seinen letzten Jahren, von seiner ganzen philologischen Gelehr- 



— 299 — 

samkeit bloss das in früher Jugend memorirto vierte Buch der Aenetde 
behalten. (Vergl. Volkmann, a. a. 0. I, p. 460.) 

196) Passavant, Untersuchungen über den Leben smagnetismus, p. 99 ff» 

— Schubert, Geschichte der Seele II, p. 43 ff. — Vergl. auch FeckneTy 
Zend-Avesta, III, p. 27 ff. — Bekannt sind die Weissagungen vor 
dem Tode. (Vergl. Hom, II. XVI, v. 850 ff. XXII, 358 etc.) Von der 
grössten Wichtigkeit für das mehr oder minder lange Haften von »Vor- 
stellungsresiduen « ist die physiologische Beschaffenheit des Gehirns. Bei 
zunehmendem Alter nimmt das Gedächtniss ab; neue Eindrücke werden 
rasch vergessen, Erinnerungen aus der Zeit, welche der Gedächtnissab- 
nahme vorausgingen, bleiben länger haften, bis auch sie verschwinden. 
Die Untersuchung weist nun nach, dass das Gehirn des alternden Men* 
sehen härter wird , ein grösseres specifisches Gewicht hat , auf ein klei- 
neres Volum zusammenschrumpft und dass die grösser werdenden Ge- 
hirnhöblen sich mit Wasser füllen; die materielle Veränderung hält glei- 
chen Schritt mit der geistigen Rückbildung, welche in absteigender Ord- 
nung dieselbe Stufenfolge von Zuständen zurücklegt, als sie der Mensch 
bei seiner Entwicklung in aufsteigender Linie durchläuft. Bei schnei! 
eintretenden materiellen Veränderungen des Gehirns mit gleichzeitig er- 
folgender geistiger Störung schrumpft der Wortvorrath der Kranken oft 
auf eine äusserst kleine Anzahl zusammen, und sie bezeichnen zuweilen 
die verschiedensten Dinge mit demselben Namen. Wenn die materielle 
Störung im Gehirn sich ausgeglichen hat, werden (|ie Vorstellungen wieder 
frei (vergl. Wundt, Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele I, 
p. 382 f.). Den Umstand, dass Wahnsinn oft kurz vor dem Tode aufhört, 
sucht Fechner daraus zu erklären, dass der Tod die kranken Theiie des 
Gehirns, welche durch ihren Zusammenhang mit gesunden eine Störung 
des geistigen Lebens bewirken, vor den gesunden zerstört; ähnlich wie 
nach dem Ausspannen eines lahmen Pferdes, welches das andere im 
Gange mit störte, der Wagen wohl schwächer aber ungestört geht. (Ele- 
mente der Psycho-Physik. II, p. 535). 

197) A. a. 0. p. 335. »AU^s setzt sein Vergnügen in die entfernteste 
Zukunft; wir haben für die ganze Thätigkeit unserer Seele keine andern 
Triebfedern als die, welche Hoffnung hervorbringt. Alles Gegenwärtige 
interessirt nur, weil es mit dem Keime vom Künftigen geschwängert ist. 
Daher ist es kein Wunder, dass wir allen Thorheiten nachhängen, die nur 
eine Aussicht in unsem künftigen Zustand versprechen. Je mehr uns in 
Ansehung der Zukunft unbekannt ist, desto mehr fallen wir mit Begierde 
auf den geringsten Schein von zukünftigen Dingen und überlassen uns 
jeder Thorheit, um nur mit einiger Scheinbarkeit Aussichten in die Zu- 
kunft zu gewinnen«. [Kant, Anthropol. Herg.y, Starke Leipz. 1831. p. 188 f.). 

— Schiller sagt: »Die Hoffnung führt ihn ins Leben ein, 

Sie umflattert den fröhlichen Knaben, 
Den Jüngling locket ihr Zauberschein, 
Sie wird mit dem Greis nicht begraben; 
Denn beschliesst er im Grabe den müden Lauf, 
Noch am Grabe pflanzt er die Hoffnung «uf «. 



— 300 — 

198) Ein Sprach Cato'f lautet«: 

Somnia ne eures, nam mens humana quid optet 
Cum vigilat sperans per somnum cernit id ipsum. 

Aehnlich sagte Claudian: 

Omnia quae sensu volvuntur voia diurno 
Haec tibi per somnum reddit amica quies. 

Vergl. GrillpQrxer, Der Traum ein Leben. A. IV: 

»Doch vergiss es nicht: die Trttume 
Sie erschaffen nicht die Wünsche 
Die vorhandenen wecicen sie; 
Und, was jetzt verscheucht der Morgen, 
Lag als Keim in dir verborgen«. 

199) A. a. 0. p. 4<8. 

200) Vorzüglich mag dies bei jungen Mädchen der Fall sein, welche 
sich über ihre Gefühle selbst noch nicht klar geworden sind, oder auch 
nicht selten, sei es aus Verstellung und der Scheu »vor andern Leuten«, 
sei ,es aus andren Gründen ihre aufkeimenile Neigung zu verbergen suchen 
und so unbewusst oder bewusst während des Tages Komödie spielen. 
Mit Hülfe dieser Maske wissen sie Manchen zu täuschen, zu »siegen« oder 
bei Misslingen sich noch auf »glänzende« Art aus der Affaire zu ziehen 
bezw. zu rächen. Im Traum freilich fällt diese Maske; das sehnende Herz 
ergötzt sich »mit süssen Bildern wesenlos zu spielen«, und entschädigt 
sich für das, was es sich in der Wirklichkeit versagt. Bahnsen sagt: 
»Selbst die natürliche Anmuth wird verleugnet, und auf Kosten ihrer 
eigenen »Liebenswürdigkeit«, zu welcher sie doch sonst so eifrig Ver- 
trauen zu erwecken suchen, werden Mädchen und Frauen schnippisch, 
blos um nicht den Glauben entstehen zu lassen, dass sie liebten — es 
ist nur der umgedrehte Stiel: Verbergen wahren Gefühls — sei es auch 
nur das der Gleichgültigkeit — so gut wie erheuchelte Freundlichkeit. . . . 
Wie der Igel seine Stacheln, so streckt das Mädchen die schnippischen 
Dornen am weitesten aus, wenn es Gefahr ahnt — nämlich für sein Füh- 
len, •— im eigenen Herzen die Keime einer »Neigung« treiben merkt. . . 
Wohl mag der Mann von seltenstem Schicksal zu sagen haben, dem eine 
wunderbare Fügung, wie sie unter Millionen von Fällen nicht einmal 
wiederkehrt, zwischen den Klippen jener Charybdis unweiblicher Offen- 
heit und dieser Scylla verfänglichsten Selbstbetrugs mitten hindurch führte 
in einen Hafen der Gegenliebe, welchen das sicherste Bollwerk vor jedem 
Andrang möglichen Zweifels schützt«. (Beiträge zur Chat^terologie. Leipz. 
i867. B. n, p. 315 ff.). Auch der bekannte Knigge behandelt in einem 
besonderen Abschnitt die Verstellung der Frauen und warnt vor ihr ; ebenso 
Bogumil GoUz, — Doch ist über sie nicht ganz ein verdammendes Urtbeil 
zu fällen. Es ist die natürliche Schutzwehr des »schwachen Geschlechts«, 
und das Weib, welches ihre Liebe oder Bewunderung zu stark äussert 
und Schmeicheleien sagt, wird bald lästig. 



— 301 — 

201) Euripides, Or. v. 40i ff. : 

Men. : ^p£o) hk X6aa7)c Tc6xe ; xU -^ji^pa tot 9]^ ; 

Or. : Iv TQ TciXaivav [atjtIp' i^t^Y^ouv Tdicpcp. 

Men.: TcdTspa xaT' otxoüc i?j iTpoaeSp66ajv ::up^; 

Or. : vuxTÖc ^^jkdiatns 69zim^ dvalpeoiv. 

202) Nach dem Oneirocriticon des Astrampsychos bedeutet 1) nach 
dem Princip der Symbolik: Felsen — gute Hoffnung, Netze — Unan- 
nehmlichkeiten , klare Quelle — Seelenfriede, zertretene Schlange — un- 
schädlicher Feind, Schlage — drohende Gefahr, sich waschen — Befreiung 
von Sorgen; 2] nach dem Princip des Contrastes: Gold — getäuschte 
Hoffnung, Küsse — Erregung feindlicher Bestrebungen, lachen — Unan- 
nehmlichkeiten, sterben — Befreiung von Sorgen, weinen — grosse Freude, 
Wein trinken — bevorstehender harter Kampf. — Aehnlich sind die Deu- 
tungen des Nicephorus (Oneir, Lutetiae \ 608) : Zähne verlieren ^ Verlust 
eines werthvoilen Gegenstandes, sich in der Tiefe befinden — moralischer 
Verfall, Perlen — Thränen (was sich bekanntlich bis auf den heutigen 
Tag erhalten hat}, lachen — Traurigkeit, Reichthum — Armuth, sterben 
•— Befreiung von Sorgen, u. s. w. Alle diese Deutungen findet man au(^ 
in der bedeutenden Traumliteratur der Araber (vergl. Pfaff a. a. 0. 
p. 432 ff.) welche zusammengestellt ist in der »Geschichte der arabischen 
Literatur« des Barons Hammer- Pur gstdU. B. II, p. 499 ff. — Das Prin- 
cip der Symbolik findet man auch in den Traumauslegungen Josephs 
(vergl. 4. Mos. c. 40 f.). Ueberhaupt war die Traumdeutekunst im Orient 
nicht ganz ohne psychologische Methode, wie man anzunehmen geneigt 
wäre. Der Traumdeuter, dessen Stellung eine sehr angesehene war, 
musste ein hochbegabter, gelehrter und tugendhafter Mann sein; 
Belesenheit in den heiligen Büchern, ein feines wohlwollendes Benehmen, 
Takt, Urtheilskraft, insbesondere aber Kenntniss des 
menschlichen Herzens und der Physiognomik waren die Haupt- 
erfordernisse. Von dem, welcher seine Träume gedeutet haben wollte, — 
den Träumen der Poeten wurde kein Glaube beigemessen, da man an- 
nahm , dass die Dichter ihre poetischen Phantasien oft für Traum-Einge- 
bungen und divinatorische Inspiration hielten — verlangte man vor allem 
die grösste Wahrheitsliebe und Genauigkeit, was freilich in Betreff des 
Traumes schwierig zu erfüllen ist. Dann fragte man ihn nach Alter, 
Herkunft, Religion, Rang und weltlicher Stellung, Beschäftigung 
und Eigenheiten, ferner, ob er vor dem Traum zu Abend ge- 
speist oder gefastet habe, mit welchen Gedanken er zu Bett 
g-egangen, wo und in welcher Lage er den Traum gehabt 
und auf welch^i Gegenstand sein Blick beim Erwachen zuerst gefallen 
sei. Diese psychologische Methode wurde aber durch das vielfache Cere- 
moniell verwirrt. Es gab Glücks- und Unglückstage , gute und schlimme 
Jahreszeiten, die verschiedenen Stände und Religionsbekenntnisse beding- 
ten verschiedene Deutung, und es musste Rücksicht darauf genommen 
werden, ob der Traum zur Tages- oder Nachtzeit stattgefunden habe. 
Sogar die Zeit der Erfüllung bestimmte man ungeföhr. Ein Tagestraum 



1 



— 302 — 

konnte schon innerhalb, weniger Tage, ein nichtlicher spttter, nach 6 Mo- 
naten, ja erst nach 20 — 40 Jahren in Erfüllung gehen. — Im Alterttnain und 
besonders im Mittelalter schrieb man den Steinen eine magische Kraft 
3u: der Krystall vertreibt dem Schlafenden die bdsen Trttome, der Ooyx 
bringt ihm Schreckensgestalten im Traume hervor. 

203) Fechn&r's Gentraiblatt 1858. p. 775. 

« 

804) Physiol. Psychol. p. 660. Anmerk. Eine interessante Zergliede- 
•rang eines verwickelten Traumes und die Zurückftthrung desselben auf 
seine einielnen Elemente liefert schon Murettorit Ueber die Einbildungs- 
kraft des Menschen, deutsch v. Richerx, Leipzig 4785. T, p. &93 — 299. 

205) De divin. II, c. 74 : »Nihil tarn praepostere, tarn incondite, tarn 
monstniose cogitari potest, quod non possimus somniare«. 

806) Wilhelm Meisters Lehrjahre. B. II, C. 4 . 

207) A. a. 0. p. U8— 260 flf. 

808) Krauss theilt sie ein in angenehme und una*ngenehme. 
Die erste Klasse enthielt 44 (4) Lichtbilder, Lichtmeer, 2) WoUgerüche und 
Blumengärten, 3) sieghafter Ringkampf, 4) Schnelllauf u. s. w.), — die zweite 
^7 Unterabtheilungen (4) Kampfund Streit mit Niederlage, 2) Flucht mit zu- 
nehmender Bewegungsunfiihigkeit u. s. w.). Noch detallirter ist die von 
•einem anderen Gesichtspunkt ausgehende Classification Schemer'Sf welcher 
im wesentlichen Volkelt folgt. -^ Andere unterscheiden somnia vaga 
(wüste, chaotische) und fixa (geordnete), von letzteren finden wir bei 
ffaff 4 Unterabtheilungen angeführt (4) somnia contemplativa oder histo- 
rica, »Beschauungsträume«, in welchen der TiHumende Zuschauer bleibt, 
2) hilaria oder jucunda, wo der Trfiumende selbst eine Hauptrolle spielt, 
4) terrifica, 4) prophetica). Die Eintheilung der alten Oneirokritiker, 
wie die des ArtenUdoros in. allegorische und speculative wol- 
len wir hier nicht weiter ausführen. Purki/nje führt 3 Arten von Trftumen 
•an (p. 450): 4) »Die sinnlichen Anschauungen des Traumes tauchen auf 
und vergehen in ihrem Verlaufe häufig ohne alle wechselseitige Be- 
ziehung in der mannigfaltigsteh Nacheinanderfolge« , 2) »ein andermal 
verlaufen sie nach Beziehunge-n der Aehnlichkeit und des Ge- 
gensatzes, ohne irgend einen Innern Verstand und zweck- 
mässige Beziehlichkeit zu zeigen«; 3) die vollendetsten Träume 
-sind solche, in denen das Gesetz der Causalität herrschend 
ist, die einen pragmatischen Zusammenhang zeigen«. Diese 
Eintheilung ist die am meisten ansprechende, da sie auch bei Berück- 
sichtigung der Zeitfolge sich bestätigt: die erste Glasse bilden die Schlum- 
merbilder, die zweite zumeist die dem Einschlafen folgenden und dem 
Morgen entfernter, die dritte die ihm zunächst liegenden Träume. Doch 
kommen in jeder dieser Periode oft alle drei Arten abwechselnd vor und 
gehen in einander über. — SpiUa's Unterscheidung in 4) Nervenreiz 
und 2) rein psychische Associationsträume (p. 477) entspricht der 
von uns bei der Besprechung der Elemente des Traumes, aufgestellten Ein- 



— 303 — 

ttieUuDg. — Nicol Grot führt 8 Hauptcategorien an. 4) Empfindlich- 
keitsträume (durch äussere und innere Eindrüpke hervorgerufen), 
i) Reproductionsträume, welche er wieder in objective oder intel- 
lectoelle und subjective oder Affect-Trttume eintheilt, und 8) Phantasie- 
Träume, welche entweder mit dem Charakter einer mechanischen oder 
logischen Verbindung hervortreten. (Snowidienia, kak predmet naucznaho 
analiza. Kiew. 4878. p. 49). 

209) Die Uebertreibung im Traume hebt schon Aristoteles* hervor : 
»xal fap at fAixpol (Ae^d^Xat ^oxouaiv elvai .... olovrat y^p xepauvoOo^at xal 
ßpovrao^t (xtxpwv ■Jj/oiv iv toi« Aal •^v^oiut^m)», %d\ [a^itoc xal ^Xuxioiv ^u- 
(i.ä>v dliroXa6€iv dlxopiatou f^Xi'^ii.atoi xara^^^ovcoc, xal ßa^CC^iv hiä. nupö; xal 
^epfxalveadat o^ö^pa {jLtxpok ^epfAaolac i7ep( Tiva piipT) YtlT'oP'^vt^c* iize^tipoiU- 
voic 8e TauTa ^avepd toörov ^^ovra x^ xpöitov«. (A. a. 0. c. i, p. 4 21). 

'210) Plato meint, dass im Schlafe und im Wahnsinn Jemand glauben 
könne, Freude oder Schmerz zu fühlen, während es doch nicht wahr sei 
(Phileb. p. 36 E.) ; allein dem ist nicht so. Das Gefühl ist etwas Subjec- 
tives ; der Träumende freut sich wirklich, wenn auch der Wachende, den 
die betreffenden Gegenstände gleichgültig lassen, über eine solche Freude 
den Kopf schüttelt, sie für »närrischa, unmotivirt und daher eingebil- 
det hält. 

211) »Die Wabrnehmungsbilder von Dingen, Personen, Localitäten, 
Begebenheiten und Handlungen des wachen Lebens werden einzeln sehr 
zahlreich reproducirt, aber keines derselben bringt seinen psychischen 
Werth mit«, sagt Strümpell (a. a. 0. p. 27). 

212) »Bei körperUchen Störungen trennt sich oft die Gemeinempfin- 
dung des Traumlebens von der des wachen Lebens gänzlich ab, und die 
Erinnerungen des einen greifen fast gar nicht in die Geschichte des an- 
deren zurück« (vergl. Volkmann, a. a. Q. l, p. 34 4). Interessante Beobach- 
tungen dieser Art finden sich bei Schubert, (Symbol d. Traumes, p. 454), 
r. A, Carus, (Psychologie, Leipzig 4808. .II. p. 204) Nasse (Zeilschr. 4 822. 
H. 4. p. 233), und Jessen (Physiologie des Denkens. Hann. 4872. p. 66 ff.). 

213) Vtele solcher Beispiele findet man in : Kieser's »Archiv des ani- 
malen Magnetismus« (vergl. Schemer, p. 296 ff.). — Just, Kernet' s »Blätter 
aus Prevorst« 4 834^38 (40 Hefte), sowie in dessen »Archiv für Beobach- 
tungen aus dem Gebiete der Geisterkunde« Stuttg. 4840 — 46; im neuen 
»Archiv für tellurischen Magnetismus«, herg. von Eschenmayer, Kieser, 
Nasse und später von Nees von Esenbeck. Leipzig 4847 — 24 (4 2 Bde.) — 
in Wolfarts »Aselepieion« , Berlin 48i.4 — 24 , den »Annales du mangn^tisme 
antmals herg. von den Mitgliedern der Soci^tä du magnötisme animal. 
Paris 4 84 7 — 49 (8 Bde.) und endlich in den Psychischen Studien, herg.- 
von Aksdkow, . — Ferner handelten über den Somnambulismus : Passavant, 
Untersuchungen über den Lebensmagnetismus. — Schubert, Geschichte der 
Seele. B. IL Stieglitz, üeber den thierischen Magnetismus. Hannover 4844. 
— Nees v<m Esenbeck, Entwickelungsgescbichte des magnetischen Schlafes 
und Traumes. Bonn 4820. — Kieser, System des Tellurismus oder thieri- 



— 304 — 

«eben Magnetismut. S. Aufl. Le^xig 4 SM. i Bde. — Bnnemos^r, Der 
Magnetismus im Verhältnifls zor Natur and Religfon. S. Aufl. Stuttgart 1653. 
— C. G, CoruSf Ueber Lebensmagneliamus. Lelpiig 4857. — Jf. Pert/ff, 
Die mystischen Erscheinungen in der menschlichen Natur. S. Aufl. Leip- 
zig und Heidelberg 457i; — dann in mannigfachen Schriften auch Khige, 
WienkoU, M, Wimer, Siglen, Qifnoiti, Einen andelwn Standpunkt ver- 
tritt Fischer, Der Somnambulismus. Basel 45S9, Z Bde. 

214) Schon Lwretius sagt : 

»Cetera sie studia atque artes plerumque Tidentur 
in somnis adimos hominum frustrata teuere«. 

(De rer. nat. lY. y. 968 squ). 

215) Moralische und kritische Abhandlungen. I. p. 484. 

216) Tacitus, German. c. 22 : »Sed et de reconciliandis invicem ini- 
micis et jungendis »fflnitatibus et adsciscendis principibus, de pace denique 
ac hello plerumque in conviviis Consultant, tamquam nullo magis tem- 
pore aut ad simplices cogitationes pateat animus aut ad magnas incales- 
cat. — Postera die retractatur, et salva utriusque temporis ratio est: de- 
liberant, dum fingere nesciunt, constituunt, dum errare 
non possunt«. Aehnliches berichtet Herodot I. 433 von den Persem: 

TÖ h* otv AS-Q o^t ßouXeuofA^voiot, to5to tiq 6aT€pai'(2 vi^^oiMi Tqpott^et 6 
OT^fap^oc, ^ ToD olv d^ttc ßouXeOovTaif xal ^v |jkiv A5iq xaX v^^ooot, Tpivmi 
a6Ttt), ^v hk (a9| äh-^ , fAerutat , rot (^ Sv v^^ovxcc icpoßouXt^tfaiNTat , fi^duoK^- 
(Aevot dntStaiftvd&oxouoiv«. 

217) System der deductiven und inductiven Logik, übers, v. SchieL 
2. Aufl. Leipzig 4868. B. IL p. 465 ff. •— Vergl. Ribot, La psychol. angl. 
cont. p. 4 27. 

218) Vergl. rechnet's Centralblatt. 4 853. p. 770 L 

219) Vergl. Fechner's Centralblatt. 4 853. p. 774 f. 

220) Epist. 4 59. Edit. Antwerp. I, p. 428. VergJ. Schemer, p. 290 f. 

221) Ein hier studirender Pole, den ich in einem wissenschaftlichen 
Verein kennen lernte , erzahlte mir , er sei früher Nachtwandler gewesen 
und jetzt steige ihm zuweilen im Traum selbst das Bewusstsein auf, es 
sei Alles nicht wahr, aber trotzdem wichen die lalsofaen Traumbilder 
nicht. — Schnell wie ein Blitz kommt und vergeht die höhere Geistes- 
thätigkeit, bis ihr das Erwachen vollständig zur Herrschaft verhilft. . 

222) So ist bei den Römern »videri« der stehende Ausdruck fUr die 
Momente des Getrttumten, der bei der Angabe jedes Einzelumstandes 
wiederholt zu werden pflegt, vergl. Pktmius (ed. Brix) , mil. glor. II. 4. 
V. soff., curcul. III, 2. 49 ff., rud. III*, 4. 6 ff., mercat. II, 4. 5 ff. — Cicero, 
de divinat. I. c. 28 ff. etc. — Der Grieche gebraucht ebenso »)oMtv«; 
vergl. PUUo, Griten p. 44 B. etc. Im Mittelhochdeutschen ist »dünken« 
der gewöhnliche Ausdruck (vergl. Herieloidefs Traum im Parcival: »si 
dühte«). ^ 



— 305 — 

223) Wenn man sich im Gedanken lebhaft mit einer Person beschäf- 
tigt und davon nicht loskommen kann, so ist es allerdings» als ob die 
Seele ganz zu dieser gewandert sei. — Uebrigens kann, wie man treffend 
bemerkt hat, nach obiger Theorie ein berühmter Mann in Europa, wenn 
er sich in gewissen Augenblicken melancholisch gestimmt fühlt, sich mit 
dem Gedanken trOsten, dass seine Seele einigen armen Indianern in 
Amerika oder Eingeborenen Australiens hilft. 

224) So spricht z. B. Heinroth davon, dass alle Unfreiheit des Willens 
als Sünde zu betrachten sei und kommt zu dem wunderbaren Satze: 
»Die Unschuld wird nicht wahnsinnig«, (System der psychisch-gerichtlichen 
Medicin. Leipz. 4829. p. 426. Yergl. auch dessen Lehrbuch der Störun- 
gen des Seelenlebens. Leipz. 4848. Bd. II, p. 4 45). Wenn also eine solche 
unglückliche Anlage sich von den Eltern auf die Kinder fortpflanzt, so 
rftcht nach dieser Ansicht Gott die Sünde der Vttter bis in's dritte und 
vierte Glied und Adams Sündenfall liess die Irrenhftuser bevölkern! 

225) A. a. 0. p. 52. — Eine ähnliche Ansicht Ittsst Shakespeare den 
Othello äussern. A. ill. Sc. 4 : 

Jago: »Nun dies war nur Traum. 
Othello: Doch er bewies vorhergegangene That«. 

226) Anthrop. p. 474. — »Man begeht die entsetzlichsten Verbrechen 
ganz ruhig, ohne jedes Zittern, ohne jede Reflection, ohne jede Spur von 
Reu und Scham ; manche Trftume bieten eine wahrhaft ausgewählte Reihe 
von Nichtswürdigkeiten dar, die ekelhaftesten, grobsinnlichsten Ausge- 
burten der erhitzten Phantasie drängen sich auf. .... So ist z. B. Ver- 
leumdung, Diebstahl, Mord, sinnliche Ausschweifungen und dergl. mehr 
im Traum gar nichts Seltenes, ja oft zeigt uns der Traum eine solche 
RafGnirtheit in der Zusammensetzung einer verbrecherischen Handlung, 
dass man es kaum sollte für möglich halten«. (Spitta, a. a. 0. p. 438 
und p. 444). 

227) Ibid. — Vergl. auch Erdmann , Psychologische Briefe. 4. Aufl. 

p. 424. 

228) A. a. 0. p. 375. 

229) A. a. 0. p. 4 44. — Oft ist das sinnliche Gefühl, welches den 
Ausgangspunkt der Liebe bildet, durch zahlreiche Bewusstseinszustände 
verdeckt, die stärker als es selbst sind ; darum ist es jedoch nicht weniger 
mit allen den leiblichen Aufregungen, die ihm eigen sind, vorhanden. »Ein 
junger Mann, frühzeitig ernsten Beschäftigungen ergeben, bis in sein sechs- 
undzwanzigstes Jahr trotz mancher sich darbietenden Gelegenheit ohne 
alle Erfahrung und ohne jeden Trieb zu jenen Lüsten, denen Andere mit 
thörichter Hitze nachjagen, wird plötzlich ohne alle erkennbare Ursache 
von einer Art Liebeswahnsinn erfasst. Er ergiebt sich einer wahrhaft 
götzendienerischen Verehrung aller Frauen, aber, wie er zu versichern 
nicht ermangelt, im besten Sinne, in allen Ehren, ohne jeden Hang zu 
den sinnlichen Genüssen , die ihr Besitz gewährt. Diese Gefühle hüllt er 
mehrere Monate hindurch vor der Welt in ein undurchdringliches Ge- 

Badestock, Schlaf u. Traum. 20 



— 36« — 

heinmiss. deine Erziehung, seine Stellung in der Welt legen ihm diese 
Pflicht auf. Alrt>ald aber erheben sich in ihnä lüsterne Vorstellungen, vor 
denen er innerlich errdihet, und gegen welche er aus allen Krttften an- 
kttmpft. Nach und nach nehmen sie aber derart Besitz* von ihm, daes 
seine Vernunft nicht lange solchem Ansturm widerstehen kann. Diesen 
geisllgen Zerrüttungen gesellen sich alsbald Anzeichen von Gehirnerwei- 
chung bei, und ein gewaltsamer Ausbruch von Wahnsinn führt endlich 
zum Tode«. [Moreau de Tours, Psycbol. morbj V, p. 259 £f. VergL Hibot, 
Die Erblichkeit. Deutsch, v. Dr. Rotzen, Leipz. 4 876. p. 287). — Eine 
ideal gehaltene, ungestandene Liebe kann ebenso, wie eine unglückliche 
zum Wahnsinn führen , und beide haben auf das psychische Leben des 
Menschen überhaupt einen Ungeheuern Einfluss. 

290) Shakespeare, König Lear. A. U. Sc. 4. 

2S1)' Ein solches Beispiel ersüfalt Macnish, Der Schlaf in allen seinen 
Gestalten. Aus d. Engl. Leipz. 4885. pi 94 f. 

2M) Von den Träumen und Nachtwandlern. Weimar 4784. p. 376 fif. 
— Hoffbauer, Die Psychologie in ihren Hauptanwendungen auf die-Rechte- 
pflege. Halle- 4808. p. SOO ff. — Vergl. Maonish, a. a. 0. p. 55. 

233) Psychologie, herg. v. George, p. 852. 

234) Efmemoser drückt dies nach seiner Weise so aus: »Der innere 
Traumgenius wird zuweilen so lebendig , dass er einen ganz poetischao 
Aufschwung nimmt, und sogar die Organe des Willens, die Muskelglteder 
aufweckte«. (Ges<^idite der Magie. Leipzig 4844. p. 456). 

235) Anders sagt der Arzt auf Dunsinan: »Ich kann mich nicht 
in diese Krankheit finden«; er erkennt nur an, es sei 

»Eine grosse Störung 
In der Natur, zu gleicher Zeit die Wohithat 
Des Schlafs geniessen und Geschäfte 
Des Wachens thun«! 

[Shakesp, Macbeth. A. V). 

236) De divin II. c. 59. »Quod si ita natura paratum esset, ut ea 
dormientes agerent, quae somniarent, alligandi omnes essent, qui cubitum 
irent : maiores enim, quam Ulli insani, ^efficerent motus somniantes«. 

237) Macnishy a. a. 0. p. 12ß. 

238) A. a. 0. p. 564 f. — Macnish meint, dass man auf solche Weise 
dem Schlafenden die verborgensten Geheimnisse seines Herzens entlocken 
könne. So habe ein Mann die Untreue seines Weibes entdeckt; im Schlafe 
entflohen ihr einige Worte und er Inrachte es heraus, dass. sie für den 
folgenden Tag eine Zusammenkunft mit dem Geliebten verabredet hatte. 
S^on schildert eine solche Scene in seiner Parasina : 

»Und Hugo ging ins einsame Bett, 

Gelüstend nach fremdem Weib, 
Das schlief bereits gar lieblich und nett 

Und koste des Gatten Leib. 



— 307 — 

Ein Traum erhitzte ihr klopfendes- Herz« 

Die Wange voll Feuer ihr brennt, 
Sifi rief nach dem Lieben mit Sehnsucht und Schmerz, 

Den sie am Tage nicht kennt. 
Sie umarmt, den Geipahl so lebhaft und warm, 

Denn, sie glaubt: es lag ihr der Buhle im Arm«. 

(Macnish, a. a. 0. p. f34). — Auf ähnliche Art will bekanntlich in 
Shakespeare^s Othelle Jago die Liebe Cassios zur Desdemona entdeckt 
haben. 

239) »riepl Sttnioü xat i-^p'ri-^6poe(»^«, c. 2. »xwouNTat Ö' fvtoi xa^eu- 

240), Oepl ßicuv etc. IL § 82. »Olcov U b Tidopeuc 6 Sxooixö; xoi(i,(6- 

241) Cosptfr*« Wochenschrift f. d. gesammte Heilkunde. 4838, p. 787 
u. 75dv — YergL Binz, a. a. 0., p. 40. 

242) NudöWf Versuch einer Theorie des S&hlafs. Königsberg 4794, 
p. 467. 

24ä) Veosuch, einer wissenschaftlichen Begründung der Psychologie.. 
Berlin 4855, p. 589. 

244) Pßffy a» a. 0.,^ p. 39. — Perty, Die mystischen Erscheinungen 
in der menschlichen Natur. 2. Aufl. Leipzig u. Heidelberg 4872. Bd. I, 
p. 444—^452. — Der jetzige Spiritualismus und verwandte Erfahrungen. 
Ein Supplement. 4.877, p. 4 4 2. — Vergl. Binz, a. a. Q., p. 46. 

245) Parerg. u. Phralip. Leipz. 4877. I, pv 280. Auch sein Anhänger 
/. J^a^n«^ sagt : »So ist'es' vielleicht? a^ch eme doppelte Strahlenbrechung, 
welche im Traum die Zukunft deutlicher erkennen lässt als im Wachen. 
Aber man braucht d^ faiidike Seilie des Traumlebens noch gar nicht 
hereinzuziehen , um die Erfahrung zuzugestehen , dass uns im' Traum oft 
ein wunderbarer Aulschluss gegeben wird über den Charakter eines uns 
persönlich Bekannten. Nachdem sich die abstract combinirende Yer- 
muthung lange vergebens bemüht hat, Einsicht am gewinnen in die Mo- 
tive, von denen andere sich leiten lassen, kann u«s in einem Traum 
plötzlich »ein Licht darüber aufgehen« — vermöge jener Zauber- 
kraft, nach welcher gewisse Arten von Träumen in der 
Weise des Genies »den Dingen auf den Grund sehen«, hin- 
ter dem Accidentellen das Essentielle schauen« (Beiträge zur 
Charakterologie. Leipz. 4867. B. II, p. 426). 

246) Beobachtungen auf dem Gebiete der Pathologie. III. Bonn 4 840, 
p. 59—84. Vergl. Binz, a. a. 0., p. 50 f. 

247) Moser, Paftriotisches Archiv f." Deutschland. B. 9, p. 287. Fried- 
reich, Gerichtliche Psychologie p. 842. — Vergl. Hagen, Die Sinnestäu- 
schungen, p. 825 f. 

20* 



— 308 — 

248) Vergl. Bit^g, a. a. 0., p. 54. 

249) W, E. Butch sagt: »Der Kranke nimmt mit dem Gesichte so— 
wohl wie mit jedem andern Sinne wahr, oder hat wenigstens in einzelnen 
Fallen das Verm<)gen hierzu, aber nur diejenigen Wahrnehmungen haben 
einen Einfluss auf seinen Geist , und zwar einen ihm unbewussten , wei- 
cher mit seinen Vorstellungen im Traum in irgend einer Beziehung 
steht. Auf gleiche Weise verhttlt sich das Gehör . . . Bemerkenswertb 
sind femer die Anomalien des Geschmackssinnes bei den Nachtwand- 
lern. Ein Kranker verzehrte ohne unterschied jede Nahrung, welche 
man ihm darreichte, und trank Wasser, obgleich er Wein verlangt hatte, 
ohne sich zu beklagen«. (Das Geschlechtsleben des Weibes in physiolo- 
gischer, pathologischer und therapeutischer Hinsicht. B. II. Leipz. 4840, 
p. 559). 

250) Ausser in den schon angeführten Werken findet man den Nacht- 
wandel behandelt von Knoll, Abhandluagen vom Nachtwandeln. Quedlin- 
burg 4758. — Dr. Pigatti, Sonderbare Geschichte des Job. Baptista Ne- 
gretti, eines Nachtwanderers. — Macnish, a. a. 0., p. 415 ff. — und in 
äusserst zahlreichen Dissertationen des 47. und 48. Jahrhunderts. (Vergl. 
Jan, Der Schlaf, Würzburg 4 886, p. 444 f.) — Sehr viele Beispiele und 
manche interessante Bemerkung findet man ferner bei Hennings, Von den 
Träumern und Nachtwandlern. Weimar 4784, p. 369 — 576; Mur<Uori, Die 
Einbildungskraft des Menschen, d. v. Richerz, Leipzig 4785, p. 304 — 374. 

251) » Sind gleich die allermeisten Träume des natürlichen Schlafes 
blosse Spiele der Innern Sinnesenergie: so sind sie es doch nicht alle, 
und vielleicht giebt es keinen Menschen, der nicht zuweilen etwas Be- 
deutungsvolles träumt, was ihn zunächst selbst angeht, wenn er über- 
haupt aufgelegt und im Stande wäre, dasselbe zu beachten. Wenn das 
Blut und die Seele des Schlafenden mit keinen störenden fremdartigen 
Dingen beladen wäre ; wenn man die äussern Einflüsse, die das Träumen 
bedingen , kennte ; wenn die Erinnerung der Traumgesichte stark genug - 
bliebe , und wenn man die Sprache des Traums jedesmal verstünde : so 
würde man an dem Traum oft einen belehrenden Genius haben. Träume 
mit wechselnden Gestalten und gaukelndem zusammenhangslosem Ge- 
wirre sind meist von körperlichen Unordnungen und Säftebewegungen 
veranlasst, und wohl immer ohne Bedeutung. Eine höhere Classe bilden 
die Allegorien, einfache, leicht deutbare Bilder mit einem mehr feststehen- 
den Charakter. Oft werden damit ferne und künftige Ereignisse ange- 
deutet, Gegenden und Schicksale werden im voraus erblickt, die man 
später in der Erfahrung wirklich kennen lernt. Eine ' noch höhere Art 
sind die divinatorischen Träume, die wie das magnetische Hellsehen über 
Zeit und Raum entlegene Geheimnisse erblicken, welche meist den Träu- 
menden nicht selbst angehen, und hier sind es dann ganz vorzüglich die 
Symbole, welche ferne Begebenheiten und oft höhere An- 
gelegenheiten des Geistes betreffen und wohl oft von höhe- 
ren Einflüssen bedingt sein mögen«. (?) (Ennemoser, Geschichte 
der Magie, p. 4 88). 



— 309 — 

2b2) A. a. 0. , p. 8S3. »Grossmftchtig wie die Natur des Geistes, 
«strecken sie ihre Fühler weit in das All hinaus, und es entspricht die 
Strahlweite ihrer Empfindkraft der in , der Geistessubstanz zusammengehal- 
tenen Dichtheit, enormen Feinheit und Schwingungsmächtigkeit der psy- 
chischen Seinskraft«. Von dem Princip ausgehend, dass es viel Dinge 
zwischen Himmel und Erde gebe, von welchen sich die Schulweisheit 
nüchterner Philosophie nichts »trttumen« lasse, ist er ein unbedingter An- 
hänger des Glaubens an die durch psychischen Rapport oder »Gemüths- 
connex« vermittelte Ahnung in die Raum- und Zeitfeme, und sagt, dass 
»das Femwirken und Weitausstrahlen des Geistes normal-natürliche Eigen- 
schaft seiner Lebensenergie« sei (p. 327), wie ja das Ehr^ und Ruhmge- 
fühl, die Ideale des Jünglings und die Liebe des Mannes zum Weibe ein 
solches Streben des menschlichen Geistes in die Universalität zeige. Das 
Ahnen bestehe in dem freien »Hinschwingen« des Geistes nach dem Ob- 
jecte u. s. w. — Die gleiche Ansicht hat Ennemoser (Yerq}. Geschichte 
der Magie p. 433, 487 etc.). 

253) PlatOy apol. p. 33 C: »dfjiol hk touto, d»c ^7*6 cpTjixt, icpoardTOTtTat 
bizh ToO Oeo'j icpdtrcstv xal ix (j,avTe((nv xal ii ivuiCN((DV xal iravxl tpÖTitp, (pnep 
tU TcoTe %a\ d[XX7) deCa (Jioipa d>t%p6»n(^ xal örtoüv irpoodra^e TCpe^Treiv«. 

254) Anab. HI, 4, 4J. IV, 3, 8. VI, 4, 22. Kyrop. VIII, 7, 24. 

255) Repub. IX, p. 572. 

256) Cicero, de divin. L. I, II. c. 63 etc. 

257) Cicero, de div. I. c. 80. § 64: »Sed tribus modis censet deorum 
appulsu homines somniare, uno quod praevideat animus ipse per sese, 
quippe qui deorum cognatione teneatur, altero, quod plenus aar sit im- 
mortalium animomm, in quibus tamquam Insignitae notae veritatis appa- 
reant, tertio, quod ipsi dii cum dormientibus coiloquantur«. 

258) Eine Zusammenstellung der Meinungen über die Träume im 
Alterthum lieferten: Cicero, de divin. und de nat. deor. — I. Schulze, 
Dissertatio de somnis. Halae 4758. — /. Ennemoser, Geschichte der Magie. 
Leipzig 4 844. p. 224 ff. B. Büchsenschtitz, Traum und Traumdeutung im 
Alterthum. Berlin 4868. — Bei den Alten gab es Traum- und Todten- 
orakel (vexuop^vrela, vexpofiiavTsra , ^\jyip'ito[t.Tzita) , die besonders von dem 
Aberglauben des gemeinen Lebens gesucht wurden. Berühmt waren die 
Heiligthümer des Sehers Amphiaraos zuOropos, des Amphilochos und Mopsos 
in Kilikien, des Kalchas, und Padaleirios am Vorgebirge Garganus in Apu- 
lien, des Asklepios zu Epidauros, wo man sich, um göttliche Offenbarun- 
gen namentlich zur Heilung von Kranken zu erhalten, auf dem Felle des 
Opferthieres zum Schlafe niederlegte. Die ct^oXa der Todten stiegen dann 
aus der Erde hervor und erschienen im Traume, oder die Gottheit Hess 
ihre Stimme vernehmen. Ein solches Traumorakel (iY%o(fj.T)aic, incubatio) 
schildert uns Vergil Aen. VII, 86 ff. 

259) Germ. c. 8: »Inesse quin etiam sanctum aliquid et providum 
putant, nee aut consilia earum asperaantur aut response neglegunt. Vi- 



— 31« — 

dimus sub divo Vespasiano Veledam diu apud pleroaque numiais loco ha- 
bitam ; sed et olim Albninam et comphiris alias venerati sunt, noo »adm- 
latione neqne tamquam facerent deas«. 

260) Zahlreiche Beispiele aus dem Alterthum findet man bei Cicero, 
de divin. I. c. 20 ff. 

Ml) Ajax (ed. Dindwrf) v. 4418 ff.: 

»^ itoXXat ppoToic ioTtv l&ouoiv 

T«v fAfXX/öviov 5 Tt npd^st«. 
Vergl. Traoh. v. 4470: 

Die Braut von Messina. Isabella: 

»Die Kunst der Scfher ist ein eitles Nichts, 
Betrüger sind sie oder sind betrogen. 
Nichts Wahres lässt sich von der Zukunft wissen, 
Du schöpfest drunten an der Hölle Flüssen, 
Du schöpfest droben an dem Quell des Lichts. 



Vermauert ist dem Sterblichen die Zukunft, 

Und kein Gebet durchbohrt den ehrnen Himmel. 

Ob rechts die Vögel fliegen oder links, 

Die Sterne so sich oder anders fügen, 

Nicht Sinn ist in dem Buche der Natur, 

Die Traumkunst träumt, und alle Zeichen trügen«. 

262) Zeitschr. f. Völkerpsych. B. V, p. 4 4 8. 

26B) Plato Ittss't in seinem Dialog »Menon« den Sokrtden sagen., dass 
der am besten zu lügen verstände, welcher das Richtige kenne, weil der 
Nichtwissende aus Zufall wohl einmal das Richtige treffen, der Wissende 
aber dasselbe zu nennen vermeiden könne. 

264) De divin. II, c. 74 : »Si igitur neque deus est effector somnio- 
rum neque naturae societas ulla cum somniis neque observatione inveniri 
potuit scientia, eflectum est, ut nihil prorsus somniis tribuendum sit«. — 
Vergl. Siraeh, c. 34. v. 4 ff . : »Unweise Leute betrügen sich selbst mit 
thörichten Hoffnungen und Narren verlassen sich auf Träume. Wer auf 
Träume hält, der greift nach dem Schatten und will den Wind haschen. 
Träume sind nichts anders, denn Bilder ohne Wesen«. Vergl. Hioh c. 20, 8. 
iVedig. Salom, 5, 6. — Harn, Od. XIX, v. 560 f.*: 

flpfyr: oici xi itdlvra TeXeleroi dlN&ptj&Tcototv«. 

Nibel, av. 25: »Swer geloubet treumen .... der enwei; derrehten maere 

niht ze sagene«. 

Shakesp, Romeo und Julie. A. I. Sc. 5. Mercut. : » Ich rede 

Von Träumen, Kindern eines müss'gen Hirns. 
Von niohts als eitler Phantasie erzeugt, 



— 311 — 

fiie aus so dünnem Stoff als Luft besteht 
ÜQd.flüch.t'ger .wechselt als der Wind«. 
Vergl. auch das Sprichwort : »Trfiume sind Schäume«. 

265) Im Alterthum waren diese bei bestimmten Krankheitsformen 
Constanten Träume schon bekannt. Aristoteles erwShnt dieselben (de div. 
in som. a. a. 0. p. 424 : dfp* oöv iarX tän ivuitvtwv tä [ih o^ria, ta hi ot)- 
[isXoL, olov Töv irepl t6 oßfAa oufJißaivövTooN ; Xir^^Qi ^oüv %a\ xftv iaTpAv ol 
/aplevTs; I5tt 5tT ütpöSpa irpond^eiv toTc l-vuitvloic * diXo^ov 8' oStoic öiroXapetv 
%a\ ToTc fjL-^j Te^vfxaic f*^, oxoTrouvpiivotc 5^ ti xai cptXooo^otioiv.) und Galen 
specificiert dieselben 'in einer Weise (si incendium quis per somnum vide- 
at, eum quidem flava infestari bile signüicatur^ si vero fumum aut call- 
ginem aut profundas tenebras, atra bile gravatur, si imbres somniat, in 
eo frigidam humiditatem abundare indicatur) , welche bis in das spätere 
Mittelalter feststand. — Eine Sammlung pathologischer Träume findet man 
bei Alberti, 'De vaticiniis aegrotorum. Ital. 4724. (vergl. Volkmann, a. a" 0. 
I, p. 445). 

266) Vergl. Sophokles, Philoct. v. 847 f. : 

öirvoc Äüitvoc Xeuooctv«. ' 

267) Vergl. Hildebrand, a. a. 0. p. 82. 

268) A. a. 0. II, c. 59: »Quis est enim, qui totum diem jaculans 
non aliquando coUineet? Totas noctes dormimus neque uUa fere est, qua 
non somniemus et miramur, aliquando id, quod somniarimus, evadere? 
Quid est tam incertum quam talorum jactus? tarnen nemo est quin saepe 
jactans Venerium jaciat aliquando, nonnumquam etiam iterum ac tertium ; 
num igitur, ut inepti, Veneris id fieri impulsu malumus quam casu dicere?«. 
Vergl. auch c. 74 : (cum) .... »casus autem innumerabilibus paene se- 
culis in Omnibus plura mirabilia quam in somniorum visis effecerit«. etc. 
— Manche treffende Bemerkung über Ahnungsträume findet man auch bei 
Muratoriy die Einbildungskraft. I, p. 24 4 — 374. 

269) Vergl. Plato, apol p. 33. C, Phaedon. p. 60 £. —- Xenophon, 
Anab. IV, 3, 8. III, 4,44. Auf letzteren beruft sich Itician, der selbst 
durch einen Traum bestimmt wurde, seine Berufsthätigkeit zu verlassen 
und sich der Wissenschaft zuzuwenden. — Goethe erzählt, daas er für 
seinen Grossvater besondere Hochachtung empfunden habe, da man der 
Ueberzeugung war, dass er die Gabe der Weissagung besitze, besonders 
in Dingen, die ihn selbst und sein Schicksal betrafen. Durch 
bedeutende Träume sei er nämlich von dem, was sich ereignen sollte, un- 
terrichtet forden. »So versicherte er z. B. seiner Gattin, zur Zeit, als 
er noch unter die jungem Rathsherrn gehörte, , dass er bei der nächsten 
Vacanz auf der Schöffenbank zu der erledigten Stelle gelangen würde. 
Und als wirklich bald darauf einer der Schöffen vom Schlag gerührt Starb, 
verordnete er am Tage der Wahl und Kugeiung, dass zu Hause im Stillen 
alles zum Empfang der Gäste und Gratulanten solle eingerichtet werden, - 
und die entscheidende goldene Kugel ward wirklich für ihn gezogen. Den 



— 312 — 

einfachen Traum, der ihn hiervon belehrt, vertraute er seiner Gattin fol- 
gendermassen : Er habe sich in voller gewöhnlicher Rathsversammlung ge- 
sehen, v/o alles nach hergebrachter Weise vorgegangen. Auf einmal habe 
sich der nun verstorbene SchOff von seinem Sitze erhoben, sei herabge- 
stiegen und habe ihm auf eine verbindliche Weise das Compliment ge- 
macht: er mOge den verlassenen Platx einnehmen, und sei hierauf zur 
Thüre hinausgegangen. Etwas Aehnliches begegnete, als der Schultheiss 
mit Tod abging. Man zaudert in solchem Falle nicht lange mit Besetzung 
dieser Stelle, weil man immer zu fürchten bat, der Kaiser werde sein 
altes Recht, einen Schultheissen zu bestellen, irgend einmal wieder her- 
vorrufen. Diesmal ward um Mitternacht eine ausserordentliche Sitzung 
auf den andern Morgen durch den Gericbtsboten angesagt. Weil diesem 
nun das Licht in der Laterne erlöschen wollte, so erbat er sich ein Stümpf- 
chen, um seinen Weg weiter fortsetzen zu können. »Gebt ihm ein gan- 
zes«! sagte der Grossvater zu den Frauen; »er hat ja doch die Mühe um 
meinetwillen«. Dieser Aeusserung entsprach auch der Erfolg: er wurde 
wirklich Schultheiss; wobei der Umstand noch besonders merkwürdig 
war, dass, obgleich sein Repräsentant bei der Kugelung an der dritten 
und letzten Stelle zu ziehen hatte, die zwei silbernen Kugeln zuerst her- 
auskamen, und also die goldene für ihn auf dem Grunde des Beutels lie- 
gen blieb. Völlig prosaisch, einfach und ohne Spur von Phantastischem 
oder Wundersamen waren auch die übrigen der uns bekannt gewordenen 
Träume. Ferner erinnere ich mich, dass ich als Knabe unter seinen 
Büchern und Schreibkalendern gestört und darin unter andern auf Gärt- 
nerei bezüglichen Anmerkungen aufgezeichnet gefunden: Heute Napht kam 
N. N. zu mir und sagte .... Name und Offenbarung waren in Chiffern 

geschrieben. Oder es stand auf gleiche Weise : Heute Nacht sah ich 

Das Uebrige war wieder in Chiffern, bis auf die Yerbindungs- und andere 
Worte, aus denen sich nichts abnehmen Hess«. (»Aus meinem Leben«. 
B. I. Werke herg. von Prochaska, Bd. lY, p. 4 6). An einer andern Stelle 
führt er jedoch auch einen Fall an, wo ein ganz ohne Reflexion und un- 
bedacht, ja unschicklich von ihm selbst ausgesprochenes Wort sich zufäl- 
ligerweise zur Prophezeihung gestaltete, (ibid. p. 44 f.). 

270) Yergl. Anmerk. 35 u. 36. 

271) A. a. 0. c. 2, p. 428. 

272) Cicero, de div. L c. 27. 

273) Scherner glaubt, wie Agrippa von Nettesheim, dass man durch 
blossen Yorsatz des Willens einem Anderen in grosser Entfernung be- 
stimmte Träume verursachen könne, indem dann ein geistiger »Strahl«, 
dessen Schnelligkeit die des materiellen Lichtes bei weitem übertreffe, zu 
der Seele des Schläfers dringe und sie errege; durch viele Beispiele sucht 
er diese Ansicht zu bestätigen. Sogar Yerstorbene seien im Stande, einen 
solchen Strahl zu den Lebenden auszusenden, wozu er als Beleg den er- 
wähnten Traum des Mannes zu Megara sowie einige ähnliche aus seinem 
eigenen Bekannten-Kreise anführt, (p. 367—874). 



— 313 — 

274) Moretm de Tours will in Bic^tre zwei junge Leute beobachtet 
haben, welche dieselben krankhaften Neigungen, dieselben herrschenden 
WahnideeBi dieselben Gehürshallucinationen hatten. Er berichtet: »Eine 
äusserst merkwürdige Thatsache, die sehr häufig durch die Wärter und 
uns selbst beobachtet wurde, ist folgende; von Zeit zu Zeit vollzog sich 
in unregelmttsslgen Zwischenräumen von zwei, drei oder mehreren Mona- 
ten ohne ersichtliche Ursache und gleichsam von freien Stücken durch 
den Verlauf der Krankheit veranlasst ein sehr deutlicher Wechsel in dem 
Verhalten beider Brüder.« Beide rafften sich nämlich zur selben Zeit und 
oft am selben Tage aus dem Zustande gänzlicher Verdumpfung und Er- 
schlaffung, in den sie gewöhnlich versunken waren, auf und baten den 
Arzt inständig, ihnen die Freiheit zu geben. Ich habe diesen sonderbaren 
Vorgang selbst dann sich wiederholen sehen, als sie von einander um 
mehrere Kilometer Entfernung getrennt waren«. (Psychol. 
morbide, p. 472. Einen gleichartigen Fall findet man bei TrousseaUy Gü- 
nique mädicale I, 258; vergl. At6o<, Die Erblichkeit, p. 292). 

275) Edmund sagt in Shakespeare' s König Lear (A. I. Sc. 2) : «Das ist 
die ausbündige Narrheit dieser Welt, dass wenn wir an Glück krank sind 
— oft durch die Uebersöttigung unsres Wesens, — wir die Schuld unsrer 
Unfälle auf Sonne, Mond und Sterne schieben, als wenn wir Schurken 
wären durch Nothwendigkeit, Narren durch himmlische Einwirkung, 
Schelme, Diebe und Verräther durch die Uebermacht der Sphären, Trun- 
kenbolde, Lügner und Ehebrecher durch erzwungene Abhängigkeit von 
planetarischem Einfluss und alles worin wir schlecht sind, durch gött- 
lichen Anstoss. Eine herrliche Ausflucht für den Liederlichen, seine hitzige 
Natur den Sternen zur Last zu legen!« 

276) Mikrokosm. 2. Aufl. Bd. II, p. 362 f. Er meint, die Seele sei 
nicht ein blosser Spiegel der Natur, sondern trage in sich selbst die Ge- 
setze ihrer Entwicklung, die von aussen nur angeregt werden könnten. 
Er giebt jedoch zu, dass der Wechsel der Jahreszeiten durch das Schwan- 
ken des Lebensgefühls beim Hinsterben und Wiederaufleben mit den sich 
daran knüpfenden Erinnerungen und Hoffnungen eine grosse Bedeutung 
für unser Gemüthsleben haben (p. 35|). 

277) Vergl. Ludwig, Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Leipzig 
4858, p. 426. — Der Nervenprocess bei Menschen geht in der Kälte lang- 
samer, bei höherer Temperatur schneller von statten als bei mittlerer. 
[Wundtf Physiol. Psychol. p. 254: »Erscheinungen, welche denjenigen glei- 
chen, durch welche sich der herabgesetzte Kräftezustand verrätb, lassen 
sich durch die Einwirkung der Kälte hervorbringen, wogegen der Ein* 
fluss einer höheren Temperatur umgekehrt in Symptomen sich äussert, 
die dem Zustand hoher Leistungsfähigkeit ähnlich sind«). 

278) Ziliner y Ueber psychische Jahreszeitconstitutionen. Zeitschr. f. 
Psychiatrie. 4859. B. 46. (p. 36*— 47) p. 45 f. — Reil schrieb in seinen 
Rhapsodien ebenfalls den Jahreszeiten und der Atmosphäre einen Einfluss 
auf die Paroxismen des periodischen Irreseins zu und behauptete, die Tag- 



— 314 — 

und Nachtgleiefaen im PrttUiiig und Heii^st Mien «iim<»B. — Adeiif/^Wiigner 
sagt in seiner. statisUsch-nnthropQloglftcfaen Untenuchmig'übcr »dia Gesata- 
mftSBigkeitin den soheiniMrwiUkttrllclMn menacbliohen H»ii^iuigeB« (p.SSf): 
» Die Daten aus ganz EurofM stimmen so genau ilberein, 'dass man bereite 
von einem Gesetz der Vertbeilung dar Selbsimorde über die JahfeszeiteB 
sprechen kann. Entscheidend sind die Uebergaa^S'Zeiten mit 
starkem Temperaturwechsel: der üebergang vcmi der Klüle gur 
Wfirme, vom Winter zum Sommer wirkt steigernd, deijeni^^e von der 
Wurme zur Kttlte, vom Sommer zum Winter herabdrückend auf die Selbst- 
mordfrequenz ein. Das Maximum fällt in den Juni, das Miaimum in den 
December, die drei Monate Mai bis Juli bilden, ohne grosse Verscbieden- 
heiten innerhalb derselben , das Maximal-, die drei Monate Noveraber bis 
Januar in gleicher Weise das Minimalquartal. Weder der absolute Hitze- 
noch der absolute Kältegrad ist massgebend für die Zu- und Abnahme 
der Selbstmorde. Die innere Ursache dieses Gesetzes der Vertbeilung der 
Selbstmorde über die Jahreszeiten ist als solche noch unbekanot. Dass 
Gehirnaffectionen mitzuspielen scheinen, ergiebt sich aus verschiedenen 
Analogieen, namentlich auch daraus, dass diejenigen Fälle, in weichen 
physische Leiden, und mehr noch Geisteskrankheiten das muthmassliche 
Motiv des Selbstmords sind, von den Jahreszeiten noch stärker, wie die 
anderen Fälle beherrscht zu werden scheinen, in welchen der Selbstmord 
eine eigentlich willkürliche Handlung ist«. (Yergl. auch p. ItS — 35, 273). 

279) Pathologie und Therapie psychischer Krankheiten. 2. Aufl. Stuttg. 
1864. p. 454. 

280) Pfaff, a. a. 0. p. 408. 

281) Burdach, a. a. 0. III, p. 590. 

282) »Untersuchungen über den Einfluss des Mondes auf das periodi- 
sche Irrsein«. Zeitschr. f. Psychiatrie. B. 46. p. 445 — 42 und p. 698 — 74 2. 

283) Nach dem. deutschen Volksglauben sind die Träume in der ersten 
Nacht nach dem Vollmonde die bedeutungsreichsten (Wuttke), 

284) Vergl. Fechnet's Centralblatt 4858. p. 784. 

285) Bastian, Beiträge zur vergleichenden Psychologie, p. 4 58. 

286) A. a. 0. p. 4 03 f. und 433 ff. — In Betreff des Erdbebens sagt 
Cuvier: »Une augmentation de T^lectricit^ s'y manifeste aussi presque 
toujours, et ils sont g^n^ralement annonc^s par le mugissement des bestiauX/ 
par l'inqui^tude des animaux domestiques, et dans les hommes par cette 
Sorte de malaise, qui en Europe pr^cMe les orages dans les personnes 
nerveuses« (Progr^s des sciences. I, p. 265). 

287) De natur. deor. II. c. 46. 

288) PUao, Tim. p. 24 C. Arist, Polit. VII. 7. — jüeberiden Ein- 
fluss des Klimas auf die Denkweise der Menschen vergl. besonders Buddc, 
Geschichte der Civüisation in England. Deutsch von Arnold Rüge, S. Aufig- 
Leipzig und Heidelberg 4864. Bd. 1, Abth. 4, p. 65^-428. Die Gros»- 



— 815 — 

artigkeit der Natur und ihrer Erschfrinangen 'in den aussereuropälfichen 
Ländern, ^welche eine Cultur besessen, in Indien, Peru u. s. w., «entwidcelt 
die Phantasie des Menschen mehr als den Verstand und raubt ihm dais 
ijrefühl seiner eigenen Würde und £raft ; dies zeigt sich in der Religion, 
der Literatur und despotischen Staatsform dieser Völker. Das gemässigte 
i^lima Europas dagegen Ifisst Verstand und Phantasie gteicdmiässig sich 
entwickeln und macht dadurch eine wirkliche Wissenschaft möglich a. s.w. 

289) Die Welt als Wille und Vorstellung , herg. von /. Frauenstädt, 
2. Aufl. LeipBig'1877, B.li,p. 592: »Schwieriger aber ist das Problem, ob sich 
hierbei sondern lasse, was dem Vater und was der Muttor angehört, wei- 
ches also das geistige Erbtheil sei, das wir von jedem der Eltern übei^ 
kommen. Beleuchten wir nun dieses Problem mit unserer Granderkennt- 
niss, dass der Wille das Wesen an sich, der Kern, das Radicale im 
Menschen, der In teile et hingegen das Sekundere, das Adventitium, das 
Accidenz jener Substanz sei; so werden wir, vor Befragung der Erfah- 
rung, es w^enigstens als wahrscheinlich annehmen, dass, bei der Zeugung, 
der Vater, als sexus potior und aeugeodes Prinzip, die Basis, das Radi- 
cale des neuen Lebens, also den Willen verleihe, die Mutter aber, als 
sexus sequior und bloss empfangendes Princip, das Sekundäre, den In- 
tellect; dass also der Mensch sein Moralisches, seinen Charakter, seine 
Neigungen, sein Herz, vom Vater erbe, hingegen den Grad, die Beschaffen- 
heit und Richtung seiner Intelligenz von der Mutter. Diese Annahme nun 
findet wirklich ihre Bestätigung in der Erfahrung .... Die eigene Er*- 
fahrung hat den Vorzug völliger Gewissheit und grösster Specialität, wo- 
durch der Nachtheil, der ihr daraus erwächst, dass ihre Sphäre beschränkt 
und ihre Beispiele nicht allbekannt sind, überwogen wird. An sie zu- 
nächst weise ich daher einen Jeden. Zuvörderst betrachte er sich selbst, 
^gestehe sich seine Neigungen und Leidenschaften, seine Charakterfehler 
und Schwäclien, seine Laster, so^ie auch seine Vorzüge und Tugenden, 
wenn er deren hat, ein: dann aber denke er zurück. an seinen Vater, und 
es wird nicht fehlen, dass er jene sämmtiichen Charakterzüge auch an 
ihm gewahr werde. Hingegen wird er die Mutter oft 'von einem ganz 
verschiedenen Charakter finden, und eine moralische Uebereinatimmung 
mit dieser wird höchst selten, nämlich nur durch den besonderen Zufall der 
Gleichheit des Charakters beider Eltern, statt finden«. — Burdach (a. a. 
0. B. I. § 800) nimmt an, dieselbe psychische Eigenschaft könne bald vom 
Vater, bald von der Mutter vererbt wetden, doch setzt er hinzu: »Im 
Ganzen genommen, hat das Männliche mehr EinÜuss auf Bestimmung des 
irritabeln Lebens, das Weibliehe hingegen mehr auf die Sensibilität«. ^ 
Allgemeiner äussert sich :Ribot: »Der Vater kann das Gehirn, die Mutter 
den Magen, das eine das Herz, das andere die Leber, das eine den Darm- 
canal, das andere die Bauchspeicheldrüse, das eine die Nieren, das andere 
die Harnblase auf dasselbe Kind vereri:>en. Solche Thatsachen sind durch 
anatomische Untersuchungen bei Mensch und Thier verbürgt. Sie get>en 
die organische Grundlage für die manchmal so sonderbare Verschlingung 
der Instincte, der Empfänglichkeiten für Krankheit und Leidenschaften bei- 



— 316 — 

der Eltern im Kinde. Zuweilen giebt der eine der Eltern das ganze Leib- 
liche, der andere das ganze Geistige her Um uns kurz über die 

directe Vererbung zu fassen, können wir sagen: Das Kind erbt von l>ei- 
den Eltern ; keines Mon diesen übt auf den Sprtfssling eine ausschliessliche 
Einwirkung ; aber eines von ihnen doch immer eine überwiegende. Die- 
ses Uebergewicht kommt entweder in demselben oder im 

entgegengesetzten Geschlechte zur Geltung Wenn man 

den Vater in seiner Tochter, und. endlich in seinem Grosssohne -wieder 
erscheinen sieht, die Mutter aber in ihrem Sohne und endlich in ihrer 
Grosstocbter, so wird man sich ieicht überzeugen, dass jedes Geschlecht 
mit der Zeit immer wieder sein Recht in Anspruch nimmt, falls -dies nicht 
gleich anfangs geschehen ist«. (Die Erblichkeit. Deutsch, von Dr. OUo 
Hotzm. Leipzig 4876, p. 4 77, p. 488 und p. 203). — Die Einflüsse der 
Vererbung auf sich selbst schildert Goethe in folgenden Versen: 

»Vom Vater hab' ich die Natur, 
Des Lebens ernstes Führen; 

Vom Mütterchen die Frohnatur 
Und Lust zu fabuliren. 

Urahnherr war der Schönsten hold. 
Das spukt so hin und wieder; 

Urahnfrau liebte Schmuck und Gold, 
Das zuckt wohl durch die Glieder. 

Sind nun die Elemente nicht 
Aus dem Complex zu trennen, 

Was ist denn an dem ganzen W^icht 
Original zu nennen?«. 
Wundt sagt: »Die Vererbung betrifft hauptsächlich das Gefühlsle- 
ben, die unbewusste Unterlage unseres psychischen Daseins, Abände- 
rungen kommen dagegen mehr innerhalb der bewussten Intelligenz zum 
Vorschein. Die intellectuellen Anlagen können innerhalb der nämlichen 
Familie weit auseinandergehen, weit seltener entwickeln sich erfahrungs- 
gemfiss erhebliche Verschiedenheiten dßr Gemüthsanlage. Diese That- 
sache scheint mir wohl erklärlich zu sein. Das Erkennen beruht weit 
mehr auf freier, selbständiger Geistesarbeit als das Fühlen. Dieses besitzt 
eine gewisse unabhängige Ursprünglichkeit. Da aber die bewusste Er- 
kenntniss aus dem Gefühl entspringt und selbst wieder auf das Gefühl 
zurückwirkt, so ist freilich auch hier keine feste Grenze zu ziehen, na- 
mentlich gehen die bedeutenderen Abstufungen des Erkennens und Fühlens 

stets parallel Was wir allein annehmen können und müssen in 

geistiger wie in körperlicher Beziehung, ist die Vererbung der Anlagen. 
Dass die Vererbung der körperlichen Eigen thümlichkeiten nur eine Ver- 
erbung der Anlage zu einer bestimmten Körperbildung ist, zeigt die un- 
mittelbare Beobachtung. Von allen den Eigenthümlichkeiten der körper- 
lichen Bildung lässt der erste Keim noch keine Spur erkennen: sie sind 
sämmtlich erst Producte selbständiger Entwickelung, sie können also auch 
im Keime nur potentiell, d. h. als Anlagen enthalten sein«. (Vorlesungen 
über die Menschen- und Thierseele. IL, p. 364}. — Ewald Hering fasst 



— 317 — 

die Vererbung — bei Thieren den Instinct, bei Menschen die Anlage — 
als Gedächtniss der organisirten Materie, (üeber das Gedftchtniss 
als eine allgemeine Function der organisirten Materie. Yortr. geh. in der 
k. Acad. d. Wiss. in Wien am 80. Mai 4870). »Wenn dem Mutterorganismuft 
durch lange Gewöhnung oder tausendfache Vebung Etwas so zur andern 
Natur geworden ist, das« auch die in ihm ruhende Keimzelle davon in 
einer, wenn auch noch so abgeschwächten Weise durchdrungen wird, und 
letztere beginnt ein neues Dasein, dehnt sich aus und erweitert sich zu 
einem neuen Wesen, dessen einzelne Theile doch immer nur sie selbst 
sind und Fleisch von ihrem Fleische, und sie reproducirt dann das, was 
sie schon einmal als Theil eines grossen Ganzen mit erlebte: so ist das 
zwar eben so wunderbar, als wenn dem Greis plötzlich die Erinnerung 
an die früheste Kindheit überkommt, aber es ist nicht wunderbarer als 
dieses. ... So steht schliesslich jedes organische Wesen der Gegenwart 
vor uns als ein Pröduct des unbewussten Gedächtnisses der organisirten 
Materie, welche immer wachsend und immer sich theilend, immer neuen 
Stofif assimilirend und anderen der organischen Welt zurückgebend ^ immer 
Neues in ihr Gedftchtniss aufnehmend, um es wieder und wieder zu re- 
produciren, reicher und immer reicher sich gestaltete, je länger sie lebte. 
Die ganze individuelle Entwicklungsgeschichte eines höher organisirten 
Thieres bildet aus diesem Gesichtspunkte eine fortlaufende Kette von Er- 
innerungen an die Entwicklungsgeschichte jener grossen Wesenreihe, deren 
Endglied dieses Thier bildet. . . . Gleichwohl müssen wir selbstverständ- 
lich, wie dem übrigen Körper, so auch dem Gehirne des neugeborenen 
Menschen ein weitgehendes Erinnerungs- oder Reproductionsvermögen des- 
sen zuschreiben, was schon tausendfach an seinen Ahnen zur Entwick- 
lung kam, und vermöge dessen er die zum Leben nöthigen Fertigkeiten, 
soweit sie ihm nicht schon vollständig angeboren sind, jetzt ungleich ra- 
scher und leichter erlernt, als sonst möglich wäre. Nur erscheint das, 
was wir beim Thiere Instinct nennen, hier in freierer Form als Anlage. 
Freilich die Begriffe sind ihm nicht angeboren, aber dass sie aus dem com* 
plicirten Gemisch der Empfindungen so leicht und sicher herauskrystalli- 
siren, das verdankt das Kind nicht seiner Arbeit, sondern der vieltausend- 
jährigen Arbeit der Gehimsubstanz zahlloser Vorfahren«, (pp. 46, 48, 20). 

290) Erdmann, I^hychologische Briefe. 4. Aufl. Leipzig 4868, p. 408 
u. 4 4 7. — Grundriss der Psychologie. 4. Aufl. Leipzig 4862. § 26, p. 47 f. 

291) Humboldt, »Ueber den Geschlechtsuntersohied und dessen Ein- 
fluss auf die organische Natur« in ScMUer's Hören Bd. L H. 2, p. 99 — 482; 
»lieber die männliche und weibliche Form«. Bd. I. H. 3, p. 80 — 4 08, 
Bd. IL H. 4, p. 44—40. »Ueberall, wo der männliche und weibliche 
Charakter sichtbar ist, wird man in ihm diese Seiten gewahr: in dem 
ersteren ein Streben, mit trennender Heftigkeit erzeugend, in dem letz- 
teren ein Bemühen, durch Verbindung erhaltend zu sein. Alle Eigen- 
schaften, in welche gekleidet beide Geschlechter durch die Natur, aber 
vorzüglich im Menschen erscheinen, bringen denselben verschiedenen Ein- 
druck hervor. Die reizende Anmuth und liebliche Fülle der Weiblichkeit 



— 318 — 

bewegt die Sinne; die nicht sowohl aDschanliehe, aU bUdlicbe Vorstel- 
lusgsart und der sinnliche Zusammenhang aller Begriffe ^eben der Phan- 
tasie eilt reiches und lebendiges Bild, und die Biftheil des Charakters, 
der jedem Eindruck offen, jeden mit entsprechender Innigkeit erwiedert, 
rührt die Empfindung. So wirkt alles Weibliche vonügüoh auf di^emgea 
Krttfite, welche den ganzen Menschen in seiner ursprünglichen EinÜachheü 
leiten. Was dem Mann und seinem Geschleckte angehört» läest dagegen 
diese minder befriedigt, beschäftigt aber mehr das Vermögen der Begriffe. 
Die Gestalt hat mehr Bestimmtheit, als anmuJkhige Schönheit ; die Begriffe 
sind deutli<^ittr und sorgflLltiger geschieden, stehen aber auch in weniger 
leichter Verbindung; der Charakter ist stark und hat faste Riehtangen, 
erscheint aber nicht selten auch einseitig und hart. Alles Mttnnliche, kann 
man daher sagen , ist mehr aufklärend , alle» Weibliche naehr rührend. 
Das eine gewährt mehr Licht, das andere mehr Wärme« (I, 2, p. 194 f.; 
vergl. p. 420, 484). »Bin Herz, daa sich, von mannigfaltigen EmpfindiiD' 
gen bewegt and von einer edeln Strebsamkeit beseelt, reich in sich selbst 
ftUiU, aber den kühnen MnÜi vermiset, sich eine eigene Richtung zu ge- 
ben, wird von unruhiger Sehnsucht gefoltert. Sich selbst umrerstfindiich 
und arm im Schosse des üeberflusses, wünscht es ein Wesen zu finden, 
das die verschlungenen Knoten seiner Gefühle freundlich löse. Je tiefer 
die Quelle dieser verworrenen Stimmung verborgen liegt, desto schwerer 
begegnet es der Gewährung seines Wunsches, aber desto inniger schiiesst 
es sich an die gefundene Erscheinung an. Je länger es an ihr. verweilt, 
desto mehr Berührungspunkte entdeckt es«, (p. 449). — Latze y Mikrokosm. 
3. Aufl. p.aso^aga; Medicln. PaychoL p. 5&6— 564L --.Auch hei J.Bahnm 
(Beiträge zur Charakterologie* Leipzig 48ft7. B. H, p. i97 ff.) findet mao 
eine interessante Darstellung. — Sam, Smiles sagt: »Die Frau erzieht 
menschlicher als alle andern Lehrer. Der Mann ist das Gehirn, die 
Frau ist das Herz der Menschheit, er ist. das Urtheil, sie ist da» 
Gefühl derselben, er ist deren Kraft, sie ist deren Anmuth, Zierde und 
Trost. Selbsrt bei den klügsten Flauen scheint der Verstand hauptsächlich 
aus dem Gefühlsleben zu entspringen. Leitet der Mann die Vernunft, so 
pflegt die Frau die Gefühle, welche den Charakter hauptsächlich bestim- 
men. Während er das Gedächtniss erfiillt, nimmt sie das Herz in Besita* 
Sie macht uns lieben, wo er uns bloss glauben macht und durch sie vor- 
nehmlich werden wir befähigt, zur Tugend zu gelangen« (Der Charakter, 
deutsch von J^. StegeTy 2. Aufl. Leipzig 4874. p. 64). — Lindemann er- 
hebt sich zu der merkwürdigen Aeusserung : der Mann ist das ufeurig^^ 
das Weib das »wässerige Princip« (!) (Anthropologie, Zürich 4 844. p. 426). 

292) Das Gefühlsleben. Leipzig 4862, p. 224. 

293) Vergl. »Schädel, Hirn und Seele«. Jena 4854, p. 49, 69, 70, 
480, besond. 454, 482. 

294) Wie oben erwähnt worden, liegt das Centrum der aetiven Auf- 
merksamkeit und willkürlichen Bewegung in den vordei>dn, das für die 
sensorischen Leitungsbehnen aber in den hinteren Theilen der Grosshim- 
rinde. Vergl. Wundt, Physiol. Psychologie, p. 464 ff. u. p. 880. 



I 



— 319 — 

295) Eine Dame theilte mir mit, dass sie weniger lebhaft trttume, 
wenn sie viel spaBieren* gegangen, als wenn sie lange Zeit zu Hause zu- 
gebracht und ihren Gedanken aachgehnigen habe. — Ueberhaupt sind 
Leute , die viel denken und wenig Körperbewegung haben , die grössten 
Trttumer. 

IMe Sinnestäuschungen der Frauen . fallen mehr ab bei Männern in 
die Geschlechtssphttre , bei abnormer Richtung des Geschlechtalebens be- 
ziehen sie sich meist auf religiöse Gegenstände und Erscheinungen. Vergl. 
Hag^n, Sinnestäuschungen i p« 4dg f. u. Grtesinger, a. a. 0,, p. i08. — 
Die maanigfachen organischen Einwirkungen und die bekannten gemisch- 
ten Gemüthsbewegungen bei Schwangeren und Wöchnerinnen verleihen 
den Träumep ein eigenthümliches Colorit und Prophc»tie findet sich hier 
besonders oft 

296) Wundi, Physich Psychol. p. 816. — George sagt: »Je grösser 
die Wachsamkeit ist für die Eindrücke, die uns treffen, desto lebhafter 
muss auch die Freude oder der Schmerz sein, die sich daran knüpfen, 
je geschärfter die Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand ist, desto stärker 
wird auch die Hoffnung oder die Furcht sein, mit weicher wir ihn be- 
tiaiehten. Ebenso verhält es sich, wenn wir die Beziehungen umkehren; 
die Lebhaftigkeit der Freude wie des Schmerzes erhält uns wach und 
verscheucht den Schlaf auch von dem ermüdeten Körper, Hoffnung und 
Furcht steigern die Aufmerksamkeit auf alle Veränderungen, welche in 
unserer Umgebung eintreten. Je deutlicher und bestimmter ferner die 
Auffassung ist, desto kräftiger wird der Reiz oder der Abscheu, je tiefer 
die Empfindung, desto dauernder die Befriedigung oder der Ekel. Diese 



innige Wechselbeziehung zwischen Wahrnehmung und Affect giebt das 
Temperament, welches seinem innersten Wesen nach daher nichts anderes 
ist als die Bestimmtheit der Seele, vermöge welcher' sie in 
dem durch diö Wahrnehmungen vermittelten Verkehr mit 
der Aussenwelt zu gewissen Affecten der Lust oder Unlust 
gestimmt wird, uijd vermöge welcher andererseits ihre Ge- 
neigtheit zu gewissen Affecten die Art und Weise der Wahr- 
nehmung selbst bedingt«. (Psychologie. Berlin 4854, p. 125. — 
Auch im Einzelnen findet man' in diesem Buche in Bezug auf die Tem- 
peramente manche sehr treffende Bemerkung.) 

297) Mikrokosm. 2. Aufl. Bd. 11, p. 366 f. ; vergl. Medicin. Psychol. 
p. 560—567. 

29^ Man glaubte , dass bei dem ersten das Blut, bei dem zweiten 
und dritten die schwarze oder gelbe Galle, bei dem letzten der Schleim 
vorherrsche. — üeber die verschiedenen Meinungen in Betreff der phy- 
siologischen Grundlage der Temperamente vergl. Harless, Art. »Tempe- 
rament« in Wagner's HWB. d. Phys. Bd. III, Abth. 1. 

290) Wundt untersebeidet deshalb starke und schwache, schnelle und 
langsame Temperamente und stellt die Tafel auf: 



— 320 — 

t 

Starke Schwache 
Schnelle Cholerisch Sanguinisch 
Langsame Melancholisch Phlegmatisch» 

(a. a. 0., p. 847). 

300) Kant sagt vom Phlegmatiker: »Sein glückliche^ Temperament 
vertritt bei ihm die Stelle der Weisheit und man nennt ihn selbst im ge- 
meinen Leben oft den Philosophen. Durch dieses ist er Anderen über- 
legen, ohne ihre Eitelkeit zu krttnken. Man nennt ihn aucli oft durch- 
trieben; denn alle aaf ihn losgeschnellte BalHsten und Gatapulten prallen 
von ihm als einem Wollsack ab. Er ist ein vertriiglicher Ehemann, und 
weiss sich die Herrschaft über Frau und Verwandte zu verscbaflen, in- 
dessen dass er scheint allen zu Willen zu sein, weil er durch seinen un- 
biegsamen aber überlegenen Willen den ihrigen zu dem seinen umzu- 
stimmen versteht: wie Körper, welche mit kleiner Masse und grosser 
Geschwindigkeit den Stoss ausüben, durchbohren, mit weniger Geschwin- 
digkeit aber und grösserer Masse das ihnen entgegenstehende Hindemiss 
mit sich fortführen, ohne es zu zertrümmern«. (Anthropol. 8. Aufl. Kö- 
nigsberg 1820, p. 262). 

301) Schopenhauer sagt geradezu: »Ein phlegmatisches Genie ist un- 
möglich « (Die Welt als Wille und Vorstellung , herg. von Frauensiaedt. 
2. Aufl. Leipz. 1877. Bd. II, p. 450). 

302) Volkmann, a. a. 0. I, p. 212. 

303) Jul, Bahnsen erörtert einmal in Anknüpfung an den Ausspruch 
eines Franzosen: »Die Tugend ist Temperamentssache« — die »Tempera- 
mentstugenden « (Mosaiken und Silhouetten. Leipz. 1877, p. 94 — 4 00} und 
weist darauf hin, dass das Temperament ausschliesslich eine Form der 
Handlungsweise ausdrückt und mit dem Inhalt zunächst gar nichts zu 
thun hat. »Wie einer überhaupt ein Kunstwerk auf sicli wirken lässt, 
bestimmt sich nach seiner ästhetischen Begabung — aber ob er die em- 
pfangenen Eindrücke mit der üeberschwänglichkeit eines Enthusiasten 
nach aussen setzt oder still innerlich in sich verarbeitet, darin giebt er 
sein Temperament kund. Heftiges Auffahren, hitziges Drein- 
fahren sind Fehler, die das Temperament begeht — aber 
was zum einen oder andern veranlasst, ist Kennzeichen 
des ethischen Charaktergehalts« (p. 96). — Wer seine Ungezogen- 
heiten oder gar Rohfaeiten damit rechtfertigen will , dass sie » in seinem 
Temperamente liegen«, thäte besser, mit Hülfe eines energischen Willens 
diese enormen Fehler seiner Temperamentsäusserungen zu verbessern ; er 
ist nicht für das Temperament selbst, wohl aber für die fehlerhaften 
Aeusserungen desselben verantwortlich. — Vergl. hierzu auch George, 
Psychologie. Berlin 1854, p. 133 f. und Lotze, Medic. Psych., p. 560. 

304) Wundt, a. a. 0., p. 818. 

305) Das Wort »Melancholie« kann ein Temperament, dann eine trübe 
Gemüthsstimmung und endlich eine bestimmte Form von Seelenkrankheit, 
welche die ersten beiden zur Disposition hat und aus ihnen hervorgebt, 



— 321 — 

bezeichnen. Das eigentliche Temperament wird hfinfig mit seinem krank- 
haften Extrem verwechselt, und es ist deshalb gerechtfertigt, wenn Lo%%e * 
den Namen »sentimentales Temperament« vorschlägt. — Bahn$m nennt 
es das »anämatische«. 

306) Vergl. Hagen, Sinnestäuschungen, p. 489 ff. — Griesinger da- 
gegen meint, dass die vier Categorien niemals »zu empirischem Nachweis« 
gekommen und dass ihnen in Bezug auf die Disposition zum Irrsinn kein 
Wertb beizumessen sei (a. a. 0. p. 465). 

307) Pfaff, a. a. O. p. 407 /. 

308) /. Bahnsen glaubt es dadurch fertig zu bringen , dass er bei 
jedem der vier Temperamente starke und schwache Spontaneität, 
rasche und langsame Receptivität, tiefe und flache Impressiona- 
bi lität (Grad des »Einwühlens« jedes Eindrucks in die Individualität), 
nachhaltige und flüchtige Reagibilität unterscheidet und dadurch 
sechszehn verschiedene Temperamentsformen erhält, in welche er alle 
Individualitäten von der »grossartigen Heldennatur« bis zu dem »ewigen 
Krakeeler«, dem »erbärmlichen Wichi voll verhaltenen Ingrimms« unter- 
bringt (Beiträge zur Charakterologie. Leipz. 48$7. I, p. 14 fi*). •- Im 
Einzelnen findet man bei ihm manche treffende Bemerkung. Der »mobile« 
Sanguiniker veranschaulicht ihm das Sprichwort: »Am rollenden Stein 
wächst kein Moos«; der unermüdliche Choleriker handelt nach dem 
Wahlspruch: »Rast' ich, so rost' ich«. Den Anämatiker freilich schildert 
er als ungemüthlichen Gesellen, als »Kleinigkeitskrämer«, der von Nichts 
stark und kräftig afficirt, dafür aber von wahren Lappalien zu nachhalti- 
ger Reaction angeregt werde, der von allem »viel Wesens« mache und 
»in den kleinen Vorkommnissen des Alltags von entsetzlicher Umständlich- 
keit« sei. — Indem er von vorn herein die »Posodynik« (Tr6oo;-656v7j) 
als Lehre von dem Grade der Capacität für Schmerz und Lust nach dem 
Gegensatz der D y s c o 1 i e (^uaxoXla) und E u c o 1 i e (e6xoXia) aus der Lehre 
von den Temperamenten ausscheidet, will er auch den Namen des me- 
lancholischen Tempera meats , »der die entstandene Confusion verschuldet 
hat« verbannt wissen und setzt an Stelle des Melancholikers den »§6oxoXoc«. 
— Er vergleicht die verschiedenen Temperamente in Bezug auf ihre Fähig- 
keit, »die ursprüngliche Gestalt und Dimension nach starkem Anprall in 
mehr oder minder fester Selbstbehauptung wiederzugewinnen« und sagt: 
»Der Anämatiker ist einer Hohlkugel von dünner Guttapercha , der San- 
guiniker einem massiven Gummiball, der Choleriker einer elfenbeinernen 
Billardkugel, der Phlegmatiker einer eisernen Kegelkugel ähnlich« (p. 89). 

309) Vischer sagt: »Der Melancholiker Hamlet zürnt cholerisch auf 
sein Phlegma und bricht in sanguinische Freude übör die gelungene Finte 
gegen den König aus« (Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. li, 
§ asi, p. 494). JBeneke nimmt den Mund etwas voll, indem er bemerkt, 
der Mensch könne zwanzig bis dreissig und mehr Temperamente zugleich 
haben. 

310) Psychologische Analysen auf physiologrscher Grundlage. Bd. II, 
H. I, p. 462. 

Radestock, Schlaf n. Traum. 21 



— 322 - 

311) FdOmiafii», a. a. 0. I, p. 494. 

312) Vergl. Hagen, Sinnestlfiiischungen. p. 464. 

313) Vergl. Griesinger, a. a. 0., p. 499 f. 

314) Hagen, a. a. 0., p. 470 ff. 

315) Cicero, de divin. II. c. 68; de nat. deor. II. c. 4 6. 

316) Volkmann, a. a. 0. I, p. 497. 

317) Pfafff a. a. 0., p. 6S. 

318) Von der englischen Schriftstellerin RadcUffe sagte man sogar, 
sie habe, um ihren Schlaf mit Schreckbildem mancher Romane zu er- 
füllen , am Abend die unverdaulichsten Speisen genossen (vergl. Macnish, 
Der Schlaf in allen seinen Gestalten. Aus d. Engl. p. 39). 

319) Das Gefühlsleben, p. 80. 

320) Phileb. p. 44. C. — Diese Geringachtung der Freuden der ge- 
w(ihnlichen Menschen fand man in dem sonst heiteren Griechenvolk be- 
sonders bei den Philosophen, wie bei HerakHt, Anaxagoras, — dessen 
ernstes , würdevolles Wesen nicht wenig beigetragen haben mag , seinem 
Freunde, dem grossen Perikles, die erhabene Ruhe zu verschaffen, — bei 
den Stoikern und — schon im Extrem — den Cynikern. Bei den 
Dichtern war sie seltener; besonders wird Sophokles als »e5xoXoc« ge- 
schildert gegenüber dem »^6oxoXoc« Euripides, der den von den Philo- 
sophen, namentlich von Anaxagoras empfangenen Einfluss nicht nur in 
seinen Tragödien, sondern auch in seinem eigenen Charakter kund gab. 
— Die Melancholie des Dichters Tasso hat uns Cro^he gut vor Augen ge- 
führt. Letzterer sagt von sich selbst: 

»Meine Dichtergluth war sehr gering, 
So lang ich dem Guten entgegenging; 
Dagegen brannte sie lichterloh, 
Wenn ich vor drohendem €ebel floh. — 
Zart Gedicht, wie Regenbogen, 
Wird nur auf dunkeln Grund gezogen : 
Darum behagt dem Dichtergenie 
Das Element der Melancholie«. 

Aristoteles lehrte, dass die Hitze des Blutes bei geistig bedeutenden Men- 
schen grösser sei als bei anderen und jene zur Melancholie geneigt mache 
(probl. SO. 4. Vergl. Cicero, Tuscul. I. c. 83 »Aristoteles quidem ait 
omnes ingeniöses melancholicos esse«). 

321) Eine interessante Schilderung der Naivetät findet man bei Bahn- 
sen (Beiträge zur Charakterologie. Leipzig 4867. Bd. II, p. 818 ff.) — Bo- 
gunUl GoUz sagt: es sterben an gebrochenem Herzen tnehr auf dem Melk- 
schemel als auf dem Salondivan. — Andrerseits fand Marc d'Espine, dass 
die Geschlechtsentwickelung in grossen Stttdten schneller vor sich gehe 
und die Menstruation sich früher einstelle als auf dem Lande. H, Busch 
bemerkt hierzu: »Der Unterschied der Pubertätsentwickelung bei den 
Stadt- und Landbewohnern wird wohl hauptsächlich durch psychische 



— 323 — 

s 

Einwirkung hervorgebracht, indem die frühe Reife des Geistes durch Er- 
ziehung auch den Körper zu einem schnelleren Wachsthum anregt, der 
zu sehr gesteigert die Ursache mannigfacher Krankheiten abgiebt. Als 
einen anderen theilweise schon hierin mit begriffenen Grund kann man 
das frühere Erwachen des Geschlechtstriebes in grossen Städten ansehen, 
indem durch eine mehr sitzende Lebensart, durch reizende Nahrungs- 
mittel, durch Anregung der Phantasie, durch böse Sitten und durch die 
erhöhte Reizbarkeit im Allgemeinen die Geschlechtsorgane früh entwickelt 
werden« (Das Geschlechtsleben des Weibes in physiologischer, patholo- 
gischer und therapeutischer Hinsicht. Leipz. i8S9. Bd. I, p. 118). 

322) A. a. 0. II, p. 345. Vergl. auch Humboldt, Kosmos. II, p. 19. 

323) In Betreff des Einflusses der Stimmungen und Leidenschaften 
auf das Denken des Menschen sagt Bahnsen : » Heute bei dieser Stimmung 
verknüpfen sich mit einer »gegebenen« Anschauung in mir ganz andere 
»Ideen«, als wie gestern bei einer andern; — dem Dyscolos sind andere 
Analogien zur Hand als wie dem Eucolos; dem in Liebe Schmachtenden 
thun sich andere Bildersäle in seiner Brust auf als wie dem Hasserfüllten; 
— der Sanguiniker lässt auf der Bühne seiner Erinnerung die Reigen in 
anderm Tempo tanzen als wie der Phlegmatiker ; das Naturell des Lüstlings 
leibt seinen Puppen ein anderes Costüm als wie das des im Erkennen sein 
Genüge suchenden Denkers den seinigen; — unter dem Leichentuch des 
Grams bewegt sich ein ander Völkchen als wie vor dem Thyrsusstab der 
Freude; — durch die Nacht der Sorge huschen andere Gespenster als 
wie an dem bebenden Auge der Angst vorüber« (a. a. 0. II, p. 164). 

324) Roth und Gelb regtauf, Blau stimmt herab, Grün hält auch 
nach seinem Gefühlston die Mitte zwischen Gelb und Blau und bewirkt 
eine ruhig heitere Stimmung, das zu Gelb complementäre Violett hat 
schon etwas von der aufregenden Stimmung des Roth an sich. — Goethe 
bezeichnet die Farbentöne von Roth bis Grün als die Plus-Seite, die 
von Grün bis Violett als die Minus- Seite. — Die Maler nennen Gelb 
die warme, Blau die kalte Farbe. 

325) Zeitschr. f. Psychiatrie. B. XVI, p. 270. 

326) Parerg. u. Paral. I, p. 246. 

327) Die Sinnestäuschungen, p. 292. — »Psychologie und Psychiatrie« 
in Wagner's Handwörterb. der Physiol. B. H, p. 812. 

328) Zeitschr. f. ration. Medic. R. HI. B. 34, p. 46. 

329) Phys. Psych, p. 662. — Besonders behandelten dieses Thema 
Mawry, Annal. m6d.-psych. 1853. V, p. 404, Moreau, ibid. 1855, p. 11 ff. 
u. 361 , M. Cruislain, Abhandlung über die Phrenopathien oder neues System 
der Seelenstörungen, übers, v. Wunderlich, Stuttg. 1838. 

330) Griesinger, a. a. 0. p. 200 f. 

331) Wundt, a. a. 0. p. 191. 

332) Vergl. Crriesinger, a. a 0. p. 31 und '347. — Aehnliches beob- 
achtet man im höheren Alter; 

21* 



9 



— 324 — 

933) Schopenkau9r erkennt in dem unvollkommenen Gedächtoiss dias 
Wesen des Wahnsinns; denn »die eigentliehe Gesundheit des Geistes. l>e- 
steht in der vollkommenen Rtickerinoerung«, obgleich freilich das .G&- 
dächtniss auch hier nicht Alles, sondern nur das Bedeutendste beinralif't 
(Die Welt als Wille und Vorstellung, herg. von Frtme^taedt, 2. Aufl. 
Leipzig 4877. Bd. II, p. 466). 

334) Fechner*s Centralblatt für Naturwissenschaften und Anthropolo- 
gie. 1853. p. 770. 
r 

335) Fechner, a. a. 0. p. 774. 

336) Vergl. Griesinger, a. a. 0. p. 402. 

337) Griesinger, p. 4 43 f. 

338) Griesinger, a. a. 0. p. 442. — »Im Somnambulismus wie in 
Geisteskrankheit ist etwas aus dem intellectuellen Menseben herausgenom- 
men; der Regulator der psychischen Handlungen fehlt, der reflectirende 
Spiegel ist gleichsam mit einem Schleier verhüllt«. (/. Guislain, Klinische 
Vorträge über Geisteskrankheiten. Deutsch herg. von H, Laehr, Berlin 
4854. p. 32). 

339) Krauss, a. a. 0. p. 649. — Hagen y Sinnestäuschungen, p. 284. 
— Griesinger, a. a. 0. p. 4 42. 

340) Allgem. Zeitsehr. f. Psychiatrie. B. XXVI, p. 648. 

341) Abhandlungen über die Phrenopathien oder neues System der 
Seelenstörungen, Aus d. Franz. v. Wunderlich, Stuttg. 4838. p. 80. 

342) Vergl. Guislain, Klin. Vorträge, p. 32. SpiUa, a. a. 0. p. 454. 

343) Vergl. Griesinger, pp. 88 f., 406, 409, 284, 254. 

344) Es kommen jedoch auch bekanntlich, — und zwar nicht selten, 
Träume vor, in welchen sich gewisse Haupt- und Centralvorstellungen 
stetig wiederholen. . 

345) p. 232 u. 233. — Es giebt Fälle, wo Kranke ihr eigenes Ich 
aus der Vergangenheit objectiviren und von sich selbst in der dritten 
Person reden, indem die Continuität des Bewusstseins verloren geht. 
•Vergl. hierzu Griesinger, Krankengesch. No. XLVI, p. 344. f. (»Die Per- 
son von mir hat ihren Namen verloren, sie hat ihn hergegeben, als sie 
in das Hospital eintrat« u. s. w.) auch M, Leidesdorf, Lehrbuch der psy- 
chischen Krankheiten. Erlangen 4865. p. 4 47. 

346) Schon Plato sagt vom besseren, begeisterten und nach dejn 
Göttlichen strebenden Menschen: ». . . I^totifievoc Ber&v dv^tnitCvoiv oitou- 
&ao(jLaT(uv xal 7rp6(; T(p 0s(({> iftYvöfievoc voudeTeixat (liv hnh Td)v iroXXov (bc 
itapaxivÄv, dv^ooaidCwv Be X^XiQde to6c itoXXo6;«. (Phaedrus p. 249 D.j. 

I 

347) »Während der Jahre, wo der Blutzufiuss hauptsächlich nach dem 
im Congestionszustand befindlichen Gesciilechtssystem statt findet, ver- 
knüpft das Kind alle seine Ideen mit den Empfindungen dieses, wodurch 



— 325 — 

seine Gedanken und Anschauangen jene schwärmerischen Dinten auldäm- 
mernder Phantasien erhalten, wie sie so überschwanglich in den lyrischen 
Ergüssen der Dichterjüngiinge ausströmen. . . . Wird die naturgemttsse 
Entwiclklung des Geschlechtssystems gehemmt oder auf felsohe Wege ge- 
leitet,, so sind auch die späteren Jahre noch von den Schwörmereien des 
Weltschmerzes durchzogen, gleichsam einer versetzten Liebe, die, da sie 
aus künstlich incon^uenten Elementen zusammengesetzt ist, sich umsonst 
nach einer Befriedigung sehnt, welche, um vollkommen zu sein, eine 
ebenso künstlich incongruente Zusammensetzung besitzen müsste. Gefahr* 
lieber wuchern beim weiblichen Geschlechte, wo der Apparat unmittelbar 
mit dem Gesamuitorganismus zusammenhängt, jene constitutionellen Stö- 
rungen des Nervensystems hervor, die dann häufig mit dem ganzen Leben 
fortwachsen«. [Bastian, der Mensch in der Geschichte. Bd. I, p. 452, 453). 

348) Auch bei der rein physischen Erregung des Geschlechtstriebes 
tritt die Sensibilität hervor und der Wille mehr oder minder zurück. 
»Die schwächere psychische Energie des Weibes unterliegt der heftigeren 
Einwirkung des Geschlechtstriebes und sein Wille wird aufgehoben. So 
sehr auch das moralische Gefühl und die Vorstellung der Folgen das 
Mädchen von dem Nachgeben gegen den Geschlechtstrieb abhalten müssen, 
so unterliegt es doch demselben, und es kann seine Tugend nur dadurch 
schützen, dass es sich vor Angriffen bewahrt. Es unterliegt dann 
oft in dem Bewusstsein seiner Schwäche, und zeigt sich mehr passiv, in- 
dem der ganze Organismus durch jenen inneren Kampf gleichsam gelähmt 
wird«. ( W, H, Busch, Das Geschlechtsleben des Weibes in physiologischer, 
pathologischer und therapeutischer Hinsicht. Leipzig 4839. B. I, p. 4 95). — 
Agathen hebt bei Plato hervor, dass Jeder, dem Eros nahe, zum Dichter 
werde, »blieb zuvor er auch den Musen fremd«, (symp. p. 496 E.: »7ra<; 
Youv TTOitjT^c "^ifseraiy xav afjiouoo«; tJ t6 Tiplv, oi5 av "Epox; 54'iQTai«). 

349) S. Bastian, Beiträge zur vergleichenden Psychologie, p. 477. Der 
Mensch in der Geschichte. Bd. II, p. 584.; über Mozart vergl. auch 
E. V, Hartmann, Die Philosophie des Unbewussten. 7. Aufl. I, p. SS8, 
und über die unbewusste Thätigkeit des Genies überhaupt C.Fischer, Das 
Bewusstsein. Leipzig 4874. Gap. VI., A. Lange, Geschichte des Materialis- 
mus 2. Aufl. Bd. II, p. 447. — Goethe sagt von sich selbst: »Die Aus- 
übung dieser Dichtergabe konnte zwar durch Veranlassung erregt und be- 
stimmt werden, aber am freudigsten und reichlichsten trat sie unwill- 
kürlich, ja wider Willen hervor. \ Auch beim nächtlichen Erwachen trat 
derselbe Fall ein, und ich hatte oft Lust, wie einer meiner Vorgänger, 
mir ein ledernes Wamms machen zu lassen und mich zu gewöhnen, im 
Finstern durchs Gefühl das, was unvermuthet hervorbrach, zu fixiren. 
Ich war so gewohnt, mir ein Liedchen vorzusagen, ohne es wieder zu- 
sammenfinden zu können, dass ich einigemal an den Pult rannte und mir 
nicht die Zeit nahm, einen quer liegenden Bogen zurecht zu rücken^ sondern 
das Gedicht von Anfang bis zu Ende, ohne mich von der Stelle zu rühren, 
in der Diagonale herunterschrieb. In eben diesem Sinne griff ich weit 
lieber zu dem Bleistift, welcher williger die Züge hergab : denn es war 



— 326 — 

mir einigemal begegnet, dass das Schnarren und Spritzen der Feder 
mich aus meinem nachtwandlerischen Dichten aufweckte, mich zer- 
streute und ein kleines Product in der Geburt erstickte». (Aus meinem 
Leben. IV. B. 4( 



350) In ihren höheren Graden stellt die Hypochondrie die mildeste 
und massigste Form des Irreseins dar. 

351) Auch wird durch das Verhältniss der zeitlichen Dauer der Klänge 
ihre Wirkung gehoben. Der langsame Wechsel der tiefen Töne giebt den 
ernsten und schwermüthigen , der schnelle der hohen den freudigen und 
gehobenen Stimmungen Ausdruck; ferner werden langsame Tonschwing- 
ungen in Folge der physiologischen Bedingungen im Ohr nicht so rasch 
gedämpft als schnelle und lassen deshalb eine längere Nachdauer der Er- 
regung zurück, welche den schnellen Wechsel der Empfindungen erschwert 
(Vergl. HehnkoltZy Lehre von den Tonempfindungen. 3. Aufl. p. 238). In 
Bezug auf ihre Wirkung hat man die hohen Töne mit den hellen Farben , 
die tiefen Töne mit den dunklen Farben in Parallele gestellt [NaMowsky, 
Das Gefühlsleben, p. 4 44). 

352) Meisterhaft schildert dies bekanntlich Goethe in der Scene, wo 
der verzweifelnde Faust durch den das Osterfest verkündenden Glockenklang 
und Chorgesang verhindert wird, das mit Gift gefüllte Glas, welches er 
bereits an die Lippen gesetzt, zu leeren. 

»Welch tiefes Summen, welch ein heller Ton 
Zieht mit Gewalt das Glas von meinem Munde? 



Was sucht ihr, mächtig und gelind 

Ihr Himmelstöne, mich am Staube? 

Rlingt dort umher, wo weiche Menschen sind! 

Die Botschaft hör^ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube; 

Und doch, an diesen Klang von Jugend auf gewöhnt 

Ruft er auch jetzt zurück mich in das Leben. 

Sonst stürzte sich der Himmelsliebe Kuss 

Auf mich herab in ernster Sabbathstille; 

Da klang so ahnungsvoll des Glockentones Fülle, 

Und ein Gebet war brünstiger Genuss; 

Ein unbegreiflich holdes Sehnen 

Trieb mich, durch Wald und Wiesen hinzugebn. 

Und unter tausend heissen Thränen 

Fühlt' ich mir eine Welt entstehn. 

Dies Lied verkündete der Jugend muntre Spiele, 

Der Frühlingsfeier freies Glück; 

Erinnrung hält mich nun mit kindlichem Gefühle 

Vom letzten, ernsten Schritt zurück. 

0, tönet fort, ihr süssen Himmelslieder! 

Die Thräne quillt, die Erde hat mich wieder!« 



— 327 — 

— Und wie ergreift der Orgelton und Chorgesang des Traueramtes das 
unglückliche Gretchen im Gefühle der Schuld: 

»Mir ist, als ob die Orgel mir 
Den Athem versetzte , 
Gesang mein Herz 
Im Tiefsten löstet« 

— »Die Macht des Gesanges« schildert uns Schiller: 



»Verbündet mit den farchtbam Wesen, 

Die still de» Lebens Faden drehn, 

Wer kann des Sängers Zauber lösen, 

Wer seinen Tönen widerstehn? 

Wie mit dem Stab des Götterboten 

Beherrscht er das bewegte Herz; 

Er taucht es in das Reich der Todtcn, 

Er hebt es staunend himmelwörts 

Und wiegt es zwischen Ernst und Spiele 

Auf schwanker Leiter der Gefühle. 

So rafft von jeder eiteln Bürde, 
Wenn des Gesanges Ruf erschallt, 
Der Mensch sich auf zur Geisterwürde 
Und tritt in heilige Gewalt; 
Den hohen Göttern ist er eigen, 
Ihm darf nichts Irdisches sich nahn, 
Und jede andVe Macht muss schweigen, 
Und kein Verhängniss föllt ihn an; 
Es schwinden jedes Kummers Falten, 
So lang des Liedes Zauber walten. 

Und wie nach hoffnungslosem Sehnen, 
Nach langer Trennung bitterm Schmerz, 
Ein Kind mit beissen Reuethränen 
Sich stürzt an seiner Mutter Herz: 
So führt zu seiner Jugend Hütten, 
Zu seiner Unschuld reinem Glück, 
Vom fernen Ausland fremder Sitten 
Den' Flüchtling der Gesang zurück. 
In der Natur getreuen Armen 
Von kalten Regeln zu erwarmen«. — 



»Wie legen sich die Nachtigallenlieder 

So trostvoll doch an's Menschenherz! 

Als wenn sie mit der Sehnsucht Klängen 

Vom Himmel zu uns nieder drängen, 

Zu ziehn die Seele himmelwärts, 

So süss-gewaltig ist ihr Tön«. 

{Fr, Reuter), 



— 328 — 

363) Vergl. Griesmgery a. a. O. p, 599. 

354) Klin. Vorträge, p. 410 f. 

355) Anthropologie, herg. von Starke, Leipz. 1834. p. 113. 

356) »Ich füge noch hinzu, dass das übertriebene Tabakrauchen zu 
Geisteskrankheiten in Form der allgemeinen Paralyse disponirt. Ich habe 
verschiedene Personen behandelt, bei denen man keine andere Ursache 
entdecken konnte, als den täglichen Verbrauch von 10 bis 15 der stärk- 
sten Cigarren« (Guislain, a. a. 0. p. 259). 

357) Siehe Cap. III. 

358) Ueberhaupt kann sogar — eine Antecipation niederen Grades 
— bei Allen die auf einen äusseren Sinneseiodruck gespannte Aufmerk- 
samkeit denselben eher appercipiren als er wirklich stattfindet ; beim Ader- 
lass hat man zuweilen das Blut hervordringen sehen, ehe der Schnepper 
einschlug etc. (Vergl. Wundt, Physiol. Psychol. p. 753. Fechner, Ele- 
mente der Psycho-Physik. II, p. 433 f. etc.). 

359) GriesingeTf a. a. 0. p. 112. — Einige Beispiele von krankhaften 
Träumereien im Wachen führt auch an Mrtism, Darwin, Zoonomie oder 
Gesetze des organischen Lebens. Aus d. Engl, von /. D. Brandis. Hanno- 
ver 1795. Bd. I, p. 418, ff. 

360) Lehrbuch der gerichltUchen Psychologie. Berlin 1857, p. 48. 

361) Psychologie. Bd. II. § 163, p. 431. 

362) A. a. 0. p. 289. — Vergl. Ovid, metam. VI, v. 63—67: 
»Qualis ab imbre solet percussis solibus arcus 

Inficere ingenti longum curvamine caelum: 

In quo diversi niteant cum mille colores, 

Transitus ipse tamen spectantia lumina fallit: 

Usque adeo quod tangit idem est, — tamen ultima distant«. 

363) Die Ansicht des Aristoteles über die Ursache des Schlafes s. De 
somn. c. 3. Schluss (a. a. 0. p. 111): »tC fxev o3v tö alxiov tou xadeuBetv, 
elpTjTat, Sti if) &7i6 toO ocofjiaTtiiiSou«; tou divacpepofji^vou bnb tou ou(i.^utou dep> 
fjLou dvTiTreploTaoic d%p6m^ inl t6 icpöTOv alafrif]T/)ptov xal tI Iotiv 6 Sirvo*;, 
8ti tou iTp(6Tou alodTr]T7)p(oü xaToXiritj/K; 7rpö<; t6 fx9j S6vao&at IvepYeiv dj 
d'idfXTii f*.ev fis6^'^oi (o6 y^P ^'^S^/STai Vp"^ e^'^ott l*-"^ cufjißaivövTaiv t&v 
ditepYaCofJiivwv a^TÖ), Ivexa 51 owTTjptac* 0(6Cei y°^P "h ^'^aTiaucic«. 

364) Preyer, Ueber die Ursache des Schlafes. Ein Vortrag. Stuttgart 
1877. p. 6. — Dieser junge Arzt war Johann Hehl aus Nürnberg, welcher 
in seiner Inauguralabhandlung De somno (Erlangen 1818) schrieb: At si 
duae electricitates nimis accumulantur , explosio fit, quam aequilibrium 
sequitur, et in homine somnus. — Eine Uebersicht der in den früheren 
Jahrhunderten erschienenen über den Schlaf handelnden Schriften giebt 
G. V, Jan, Der Schlaf. Würzb. 1836. p. 129 ff. Vergl. auch p. 33 ff., wo 
die vielen Ansichten über die Ursache des Schlafes zusammengestellt sind. 
Hippokrates und Galenus : Zurücktreten der Wärme und des Blutes nach 
den inneren Körpertheilen. — Alkmaeon : partielles Zurücktreten des Blu- 
tes in die grösseren Gefässstämme. — Asklepiades und Caelius Aurelianus: 



— 329 — 

Verdickung der Lebensgeister. — PUfUus : Zurückgehen der Seele in sich. 
— Boerhave und Stttart: Mangel der Lebensgeister. — Descartes: Zusam- 
menfallen der Geisterröhren. — Godart und Girac : Erschlaffung der Birn- 
fasem. — CüUen: collapsus des Nerv^nsaftes und Zusammenfallen des 
Gehirns. — Hartley: Sinken der Gehirnkammern. — Hatter[: durch An- 
häufung des Blutes in den Himgeftoen bewirkter Druck des Hirn- 
marks — u. s. w. 

365). A.a. 0. p. 42 f. Yergl. auch p. 49. — BerxeHus entdeckte 4907 
im todten Muskel die Fleischmilchstture und fand 4844 im Fleische ge- 
hetzter Thiere mehr, im Muskel gelähmter Extremitäten weniger als 
in denen gesunder Thiere. — LielHg fand mehr Kreatin bei lebhaften, 
wilden Thieren als bei ruhenden, zahmen. HeUnholtz ermittelte im Jahre 
4845, dass der tetanisirte Muskel mehr in Weingeist lösliche Stoffe und 
weniger im Wasser lösliche enthält als der ruhende. Johannes Ranke be- 
wies, dass der Muskel während seiner Thätigkeit die Producte seines 
Stoffwechsels, namentlich Milchsäure und Kreatin in sich aufhäufe. Dann 
hat Claude Bemard schon im Jahre 4858 hervorgehoben, was Xtidt^^ und 
Sczelkow bestätigten, dass der arbeitende Muskel an das ihn durchströ- 
mende Blut mehr Kohlensäure abgiebt und ihm mehr Sauerstoff entzieht 
als der ruhende. »Also ist ein Zweifel darüber unzulässig, dass im 
wachen thätigen Zustande in den bluthaltigen Muskeln lebhaftere chemi- 
sche Zersetzungsprocesse stattfinden, als in der Ruhe; somit wird in der 
grössten Ruhe, d. h. während des Schlafes, eine Beseitigung solcher Sub- 
stanzen, wie sie während der Thätigkeit erzeugt werden, durch Oxydation 
wohl stattfinden können. Dieselben werden jedenfalls, wenn sie vor Ein- 
tritt der Ruhe angehäuft waren, in derselben abnehmen müssen. Nicht 
ganz so sicher, aber im höchsten Grade wahrscheinlich ist es, dass 
für die nervösen Centralorgane dasselbe gilt, und vielleicht auch für die 
peripheren Nerven« (p. 4 4) etc. 

366) Lothar Meyer, Zur schlafmachenden Wirkung des Natrum lac- 
ticum. Archiv f. pathol. Anat. 66. p. 4 80 — 425. 

367) Erler j Zur schlafmachenden Wirkung des Natrum lacticum. 
Medicin. Centralblatt 4876, p. 658 — 660. — Fr, Fischer, Zur Frage der 
hypnotischen Wirkung der Milchsäure. Zeitschr. f. Psychiatrie. B. XXXIII, 
p. 720—727. 

368) Archiv f. d. gesammte Physiologie des Menschen und der Thiere, 
herg. von Pflüger. Bd. X. Bonn 4876, p. 468 — 478. 

369) Vergl. seinen Aufsatz: Ueber die physiologische Verbrennung 
in den lebendigen Organismen, ibid. p. 264 — 867. — Er zeigte durch 
Versuche, dass die Erregbarkeit ihren nächsten Grund im intramolecu- 
laren Sauerstoffe hat und dass sie erlischt, wenn derselbe zur Bildung 
von Kohlensäure verbraucht ist (p. S4 2 ff.). Er kommt zu dem Resultat: 
»Der Lebensprocess ist die intramoleculare Wärme höchst 
zersetzbarer und durch Dissociation — wesentlich unter 
Bildung von Kohlensäure, Wasser und amidartigen Körpern 
— sich zersetzender, in Zellsubstanz gebildeter Eiweiss- 



— 330 — 

molectile, Wielche sich fot^miHrread regeneriren und ancb 
durch Palynt^xisi-Fuilg wac-haeii« (p. Ml^. 

870) Ziir tirklttmng ftige idi noch Folgendes hinzu : Die organischen 
Stoffe sind sämmtlich lose Verbindungen , welche durdt den thierischen 
Organismus in festere tibergeführt werden; 4) reprttsentir^n sie also eine 
grosse Summe von Spannkräften, S) gehen ihre Elemente leicht Yer^ 
bindungen , besonders mit Sauerstoff ein , mit anderen Worten : sie sind 
leiofat verbreMibw. NamentUoh enthalten die organischen Stofll^ Koh- 
lenstoff; sobald sich dieser mit Sauerstoff verbindet , entsteht 4) Koh* 
lensllare, S) Wurme, indem Spannkraft in lebendige Kraft überg^it. 

971) Daraus ist es erklttrlich, dass Thiere uYid Menschen (vergl. be- 
sonders das von Strikmpett mitgetheUte Beispiel, Arch. f. d. ges. PhysioL 
Bd. XIY) in Schlaf verfallen , wenn äussere Reize f^m gehalten werden. 

37^ Eine ähnliche Schilderung vom Einschlafen giebt Huschke: »In 
sllsser Gedankenverwirrung weicht unser Geist zuerst zurück aus den 
Hemisphären in die Kette der grossen Hirnganglieo. Auch sie aber wer- 
den gelähmt, Streifenhügel, Sehhügel und Vierhügel vermögen weder den 
Blick mehr zu beleben, noch die Glieder zu stützen, das Augenlid sinkt, 
verlassen von dem gelähmten Augenmuskelnerv, herab, das Gleichgewicht 
verliert sich. Nur die ewig wache Quelle unseres Lebens, das verlän- 
gerte Mark, bleibt unversehrt von diesem Rückgange. Gleich dem Herzen 
das primum movens und ultimo moriens erhält es noch das Spiel der vi- 
talen Rumpfmuskeln und die vitalen Processe selbst. €eber diese Grenze 
hinaus, und es erfolgt Ohnmacht und Tod« (Schädel, Hirn und Seele des 
Menschen und der Thiere. Jena 4854. p. 464). 

373) Verg}. auch H* Clausiuf, Abbandlungen iiber die mechanische 
Wärmetheoirie. Bi^aunschweig 4867. Bd. IJ, p. 23.5. 



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