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3-
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07/
Schlaf und Traum.
Eine physiologisch-psychologische Untersuchung
Paul Radestock.
Leipzig.
Druck und Yerlag von Breitkopf and Hftrtel.
1879.
/.'.
AUe Rechte vorbehalten.
Herrn
Professor Dr. W.Wundt
widmet diese Schrift
im Gefühle wahrer inniger Hochachtung
der Terfasser,
^
<t^
3
Vorwort.
Seit Jahrtausenden hat die Ifenschen die Frage besehäftigt,
wie es zu erklären sei, dass alles was da lebt periodisch in
Schlaf versinkt, wo des Sterblichen Denkweise so gänzlich
von der im Wachen verschieden ist , dass der Weise sich wie
ein Narr geberdet und der Narr sich höchst weise dünkt.
Aber mehr denn je hat in unserem Jahrhundert diese Frage
sich in den Vordergrund und unter die Probleme gedrängt,
welche des Forschers Auge besonders auf sich lenken.
Auf die verschiedenartigste Weise hat man dies Räthsel zu
lösen versucht. In mystischer Begeisterung für das Schlafleben
der Natur hat man es flir den Idealzustand und Urgrund alles
Seins und den Traum ftlr den Ausfluss göttlicher Ki^fte erklärt,
die entweder dem Menschen von Natur inne wohnen und nur pe-
riodisch sich äussern, oder während des Schlafes ihm erst mit-
getheilt werden. UnbewüssteTäuschung und bewusster Schwindel
beherrschte die allgemeine Ansicht. Auf der anderen Seite hat
die nttchteme Forschung unbeirrt von phantastischen Schwär-
mereien die physiologischen Ursachen des Schlafes und
Traumes zu entdecken versucht und mannigfache Theorien
aufgestellt ;die Psychologie suchte mit Hülfe der Erfahrung
den Grundgesetzen des Denkens auf die Spur zu kommen
und nachzuweisen, welche von ihnen im Traume nicht mehr
herrschen; die physiologische Psychologie endlich
wagt es , die Beziehungen zwischen körperlichen und geistigen
Vorgängen und Vei^nderungen näher zu erforschen , dann das
Gemeinsame sowie das Verschiedene im wachen Denken, Traum
und Wahnsinn darzulegen.
In Deutschland, Frankreich und England hat man
die Traumfrage einer näheren Erörterung unterzogen , auch in
Bussland hat sie in jüngster Zeit die Auänerksamkeit der
— VIII
Gelehrten erregt. Die darüber handelnden nüchternen Mono-
graphien aber sind meist — vorzüglich bei nns — geringeren
Umfangs und enthalten immer nur einzelne physiologische oder
psychologische Seiten des Traumlebens, nie aber beides zu-
gleich und in umfassender Weise , während begeistemngsvoUe
Symbolisirungsversuche massige Werke flillen. In Lehrbüchern
der Psychologie vollends wird dieses Thema nur gestreift: hier
und da findet man eine interessante Beobachtung, ein glänzendes
Aperfu , selten aber eine ausführliche Darstellung aller wesent-
lichen Eigenihümlichkeiten der nächtlichen Narrheit.
Nachdem ich in einer psychologischen Gesellschaft einen
kurzen, auf die Lehrbücher der Psychologie sich stützenden
Vortrag über diesen Gegenstand gehalten hatte , wurde ich da-
durch zu der Lectttre der ihn behandelnden Specialschriften
Sehemer'%, VolielfB, Strümpeir» u. s.w. angeregt. Ich fasste
den Entschluss , das Zerstreute zu sammeln , zu sichten , meine
eigenen Beobachtungen, Bemerkungen und Ansichten hinzu-
zufügen und eine, wenn auch nicht vollständige, alle Einzel-
heiten umfassende, so doch das Wesentlichste enthaltende
Schilderung des Traumes und seines Einflusses auf das wache
Denken in m()glichst gedrängter Kürze zu geben. Die psycho-
logiBche Seite lag meinem Bildungsgange am nächsten und zog
mich deshalb mehr an, doch glaubte ich auch die physiologische
nicht unberücksichtigt lassen zu dürfen.
Als ich Ostern vorigen Jahres mit der Ausarbeitung ziemlich
fertig war, kam mir das neu erschienene Werk Dr. H. Spütä'B :
»Die Schlaf- und Traumzustände der menschlichen
Seele mit besonderer Berücksichtigung ihres Verhältnisses zu
den psychischen Alienationen« , Tübingen 1878 — in die Hände.
Spitta verfolgt hierin den Zweck, welchen ich bei dieser Arbeit
unter anderen ebenfalls mit im Auge hatte; er beabsichtigt
nämlich , wie er in der Vorrede sagt, nach dem Verfahren A. Le^
moine'B »den durch so viele und feine Gradationen bedingten,
eontinuirlichen Zusammenhang des Seelenlebens im Schlafe
und Traume mit den Zuständen des Wachens einerseits sowie
mit den psychischen Alienationen andrerseits hervorzuheben
lind , soweit möglich , im Einzelnen aufzuzeigen , den Schlaf-
und Traumzuständen den ihnen in der Psychologie gebührenden
Platz na'ch allen Seiten hin intact zu erhalten«.
IX
Dieses Werk ist entsehiedeii bedeulmder als die Symbolik
sinmgSTersüdie Sciemer^n und Volkelf n und inhaltereieher als
die ttbrigen kleinen Monographien, lässt aber doeh Manehes
yermissen. Vor allem fehlt darin eine ausreiehende ErOrtemng
der physiologischen Erseheinnngen bei den Verftadeningen im
geistigen Gebiete ; femer berttek»chtigt der Verfasser in keiner
Weise die grosse Bedeutung des Traumes in der Yölkerpsycho*
logie und bebandelt die ihm rerwandten Zustände der Sinnes^
tftuschungen und des Wahnsinns — trotz des Hinweises auf
»besondere Berücksichtigung a im Titel des Buches — sowie
manches Andere zu spärlich und immer nur von der psycho*
logischen Seite. Auch nimmt er als Anhänger Herbarft^ einen
anderen Standpunkt ein als ich ihn rertreten möchte. In meiner
physiologisch-psychologischen Untersuchung wollte
ich gerade die durchgängige Beziehung zwischen körperlichen
und seelischen Veränderungen darlegen und die Bedeutung ron
Traumvorstellungen im geistigen Leben des Einzelnen, der
Völker und der gesammten Menschheit nachweisen; deshalb
liess ich nun , nachdem ich ron anderen Arbeiten in Anspruch
genommen, diese eine Zeit lang liegen gelassen, den von Spitta
nicht oder zu spärlich behandelten Partien besondere Berück-
sichtigung zu Theil werden.
Ich fühle mich gedrungen hier meinen herzlichsten Dank
auszusprechen dem Herrn Hofrath Prof. Dr. M, Heinze, durch
dessen wohlwollenden Bath ich bedeutende Anregung und För-
derung in meinen Studien Überhaupt wie bei vorliegender Arbeit
im besonderen erhielt.
. Die ethnographischen Details im ersten Gapitel habe ich meist
aus den völkerpsychologischen Werken Tylor'» und Baatiari^
entnommen und sie durch Stellen der classischen Literatur , die
ich mit Hülfe eigener philologischer Studien sammelte , ergänzt.
Es mag sein, dass ich für Manchen dabei etwas zu weitschweifig
werde, doch glaubte ich durch eine Menge von Beweisen die Sätze
stützen zu müssen , deren Haltbarkeit bei der ersten Kundgebung
in einer wissenschaftlichen Gesellschaft von Einigen bedeutend
angezweifelt wurde. Die bei den Darlegungen in den folgenden
Abschnitten entwickelte Psychologie lehnt sich im wesentlichen
an die von Herrn Professor Dr. Wundt in seinen Vorlesungen
vorgetragene und in seinen Werken niedergelegte.
Bei der Erörterung der Ursachen des Schlafes habe ich
mich auf die entfernteren beschränkt ; die verschiedenen Hypo-
thesen über die näheren habe ich im Anhänge dargestellt,
ohne ein entscheidendes Urtheil über sie fielen zn wollen.
Wenn somit dem Bache der eigentliche AbscUnss fehlt, indem
die erwartete Antwort anf eine der gestellten Fragen nicht
bestimmt gegeben wird , so hoffe ich doch , dass man es nicht
für werthlose Mühe halten wird , die bis jetzt über diesen
Gegenstand gemachten physiologischen und psychologischen
Forschungen zusammenzustellen, zu ergänzen^ Gonsequenzen
daraus zu ziehen, und das obige Thema mit einer Methode zu
behandeln, welche man in den bis jetzt darüber erschienenen
Specialsehriften noch nicht eingeschlagen hat , und die doch
von Albert Lange in seiner berühmten »Geschichte des Materia-
lismus« (2. Aufl. Bd. n. Iserlohn 1875. p. 394) und anderen
hervorragenden Forschem als »einzig Erfolg versprechend« be-
zeichnet wird. » Diese Methode « , welche Lange die » somatische «
nennen möchte, »fordert, dass man bei der psychologischen
Untersuchung sich so weit als irgend möglich an die körper-
lichen Vorgänge hält, welche mit den psychischen Erscheinungen
unauflöslich und gesetzlich verknüpft; sind. Man ist aber, indem
man sie anwendet, keineswegs genöthigt, die körperlichen Vor-
gänge als den letzten Grund des Psychischen , oder gar als das
eigentlich allein Vorhandene zu betrachten , wie dies der Ma-
terialismus thut. Ebenso wenig darf man sich freilich durch
die wenigen Gebiete, welche der somatischen Methode bisher
unzugänglich sind, verleiten lassen, hier ein psychisches Ge-
schehen ohne physiologische Grundlage anzunehmen.«
Leipzig, im März 1879.
■
Paul Radestock.
Inhalt.
^*P* ^' Seit«
Die Wichtigkeit des Schlafes und die Bedentang des Traumes und
der ihm verwandten Zustände in individueller und Völker-
Psychologie, J90wie in der politischen Geschichte 1
Cap. n.
Der Traum bei Dichtem und Philosophen 37
Cap. nL
Die normale und anormale Beproduction der Vorstellungen. ... 48
Cap. IV.
Die Ursachen und charakteristischen Eigenthümlichkeiten des
Schlafes 70
Cap. V.
Die Elemente des Traumes 109
Cap. VI.
Der Unterschied des Traumes vom wachen Denken 145
Cap. vn.
Ungewöhnliche Träume 170
Cap. VnL
Die Verschiedenheit der Träume 196
Cap. IX.
Vergleichung des Traumes mit dem Wahnsinn 217
Cap. TL
Die träumerischen Zustände des Wachens 229
Anhang.
Die neueren Theorien über die näheren Ursachen des Schlafes. . 240
Anmerkungen 249
Capitel L
Die Wichtigkeit des Schlafes ; die Bedeutung des Traumes und
der ihm verwandten Zustände in individueller und Völker-
Psychologie sowie in der politischen Geschichte.
Verschiedenartig ist das Interesse, welches die Worte
Schlaf und Traum erregen; mannigfachen Gründen kann es
sein Entstehen verdanken, einen höheren oder niederen Grad
kann es besitzen, aber ganz geschwunden Ist es noch nie, für
alle Zeiten und jeden Menschen hat es bestanden und wird es
bestehen. So lange der menschliche Geist sich zu Erklärungs-
versuchen der Vorgänge in seinem Körper und in der ihn um-
gebenden Natur herausgefordert fühlte, hat sich ihm auch die
Frage aufgedrängt nach der Ursache des Schlafes, des Sorgen-
brechers, der periodisch wiederkehrend und ein reichlich Theil
des irdischen Lebens ausfüllend ^ die Thätigkeiten des Orga-
nismus vermindert, die Erschlaffung der Glieder wie »die Knoten
der strengen Gedanken« löst und die Menschen mit neuer Kraft
und neuer Lust zu ihrem Tagewerke erfüllt. Der Traum,
dieser die Seelenthätigkeit im Schlafe bekundende »gefällige
Wahnsinn«, steht gleichsam in der Mitte zwischen den norma-
len und anormalen Geisteszuständen; da er bei allen Indivi-
duen wiederkehrt, ist er normal zu nennen, und doch weicht
seine Denkweise beträchtlich von der des Wachens ab und
nähert sich der des Wahnsinns in einem solchen Masse , dass
oft nur die Dauer und einige andere unbedeutendere Momente
es sind, welche sie von einander unterscheiden. Nun darf
zwar für den Forscher Nichts werth- oder interesselos sein,
doch ziehen die Zustände seine Aufrnerksamkeit am meisten
auf sich, welche ihm Gelegenheit bieten, die Regel neben der
Bftd •stock, Schlaf U.Traum. 1
Ausnahme bestätigt zu finden und Normales und Anormales in
ihrem Gegensatze neben einander zu schauen. Alles wird uns
klarer und deutlicher, wenn wir den Gegensatz dazu erkennen ;
die Gesetze des wachen Denkens prägen sich daher besser ein,
wenn man den Traum betrachtet, wo mit ihnen zugleich ihre
Abweichungen herrschen. Als niedrigste Stufe des anormalen
Denkens lässt derselbe den Weg erkennen , wie sich Vernunft
allmählich in Unvernunft verkehrt, er lehrt die Erscheinungen
des Wahnsinns ihrer Entstehung und ihrem Wesen nach ge-
nauer erkennen und beurtheilen und bildet in manchen Fallen
den Ausgangspunkt desselben. Keil sagte: »Wir würden dem
Bewusstsein und dem Wahnsinn bald auf die Spur kommen,
wenn wir erst wttssten, was Schlaf, was Wachen sei«. — Der
Traum ist gleich wichtig für den Psychiatre, der sich mit der
Untersuchung und Heilung geistiger Krankheiten beschäftigt, als
für den die Gesetze des normalen psychischen Lebens erfor-
schenden Psychologen.
Schlaf und Traum ziehen nicht nur des Forschers Aufmerk-
samkeit auf sich, — für jeden Menschen, in welchem Lebens-
alter er stehen, welchem Stande er angehören und welchen
Beruf er sich erwählt haben mag, bilden sie zwei von den
Worten und Vorstellungen, welche auf uns einen niächtigen
Einfluss ausüben, indem sie in der Seele angenehme Erinne-
rungen und daran sich knüpfende freudige Hoffnungen sehn-
suchtsvoller Erwartung wachrufen. Nach anhaltender physi-
scher oder geistiger Anstrengung sehnt sich auch der ener-
gischste Mann, mag er für die practischen Interessen des Lebens
oder für die Wissenschaft thätig gewesen sein^ nach Ruhe,
nach dem »alibezwingendem Schlafe, dessen Herannahen von
einem so süssen Wohlgefilhl begleitet ist. Ein eigenes, ange-
nehmes Gefühl eines sanften Druckes lagert sich entweder um
di« Schläfen zwischen Augen und Ohr und hüllt, sich ausbrei-
tend, diese Sinne wie in einen Nebel, oder steigt von der Stirn
beginnend zum Scheitel auf, vei4)unden mit einem ähnlichen
Gefühl an allen Gelenken des Körpers und dem Halse. Diese
Wohlgefühle sind es, welche, wie Jean Paul sagt uns das
Einschlafen mehr gemessen lassen als den Schlaf selbst und
verursachen, dass wir uns alle mit einer Art von Wollust dem-
selben hingeben. Wie man am Morgen fast um einen Zoll länger
geworden ist, da die Zwischenwirbelknorpel, vom Tragen der
Last des oberen Körpers entbunden , sich wieder frei ausge-
gedehnt und das ihrer ursprünglichen Gestaltung entsprechende
Verhältniss angenommen haben, — so ist auch die Kraft ge-
wachsen. »Die Morgenstunde hat Gold im Munde«, denn mit
neuer Kraft und Lust ausgertlstet, vermag man in derselben
Zeit doppelt so viel zu vollbringen als am Abend, wo die phy-
sischen und psychischen Kräfte erschöpft sind. Man memorirt
besser und weiss das am Abend Gelernte genauer; während
man vor dem Schlafe über die zu ergreifenden Massregeln un-
sicher war, steht nach demselben ein bestimmter Entschluss
vor der Seele. Die einfache natürliche Ansicht der Dinge wird
hier weniger durch Klügelei gestört, daher das bekannte Sprich-
wort bei einem zu fassenden Entschlüsse, man müsse es erst
»beschlafen«. Der Schlaf erweist sich bei Fiebern, Entzündun-
gen, Krämpfen und den meisten krankhaften Aufregungen über-
haupt wohlthätig; die meisten Krisen erfolgen während dessel-
ben oder durch ihn. Zu wenig Schlaf verursacht Mattigkeit,
Abmagerung, frühzeitiges Altern, Trübsinn und Verminderung
der Intensität aller seelischen Functionen; gänzlicher Mangel be-
wirkt fieberhafte Zustände, Delirien und endlich den Tod. Aber
auch hier herrscht die goldene Regel »Halte Mass in allen Din-
gen ((XTjS^v aYttv)«: Schlaffheit, Aufgedunsenheit, Schwere des
Kopfes sowie Verdrossenheit, Trägheit, Stumpfsinn und «ndlich
Fühllosigkeit sind Folgen des zu langen Schlafes, der bei man-
chen Krankheiten geradezu gefährlich ist.
Das Interesse für den Traum erregt schon das Wunderbare
seiner Erscheinung und seine Eigenthümlichkeiten gegenüber
dem wachen Denken. Was hier alltäglich, erscheint dort als
fremdartig, und was hier als sonderbar und absurd gilt; wird
dort für selbstverständlich und natürlich gehalten. Die leisen
Anregungen des Gemüths erneuem sich im Traum, um sich mit
allerlei Wunderlichkeiten zu verflechten, die innigst gehegten
Wünsche erscheinen realisiit nnd die Wirklichkeit selbst wird
verändert, ja oft vollständig verwischt. Für die sensiblen Na-
turen des schönen Geschlechts, die, nicht an streng logisches
Denken gewöhnt, sich gern der Phantasie hingeben, wo sie sich
ihre Ideale verwirklicht vorstellen , ist er ein Gegenstand leb-
haftester Sehnsucht. Aber auch der abstract denkende Mathema-
— 4 —
tiker, der speculative Philosoph, der nüchterne Naturforscher
und der practische Staatsmann verföllt seinen Faseleien; allen
löst der neckische Geselle den Knoten der strengen Gedanken
und macht sie bald zu unerfahmen Kindern, bald zu geistigen
Halbgöttern, die, mit tiefer Weisheit erfüllt, das Rathen und
Meinen der Andern in des Irrthums Finsterniss belächeln, dann
aber beim Erwachen, zu gewöhnlichen Erdensöhnen degradirt,
diese tiefe Weisheit als grosse Unsinnigkeit erkennen. Oft ist
dies nicht unerspriesslich : manchen Grübler mag Schlaf und
Traum, dieser gefällige Wahnsinn, der Gefahr, in seinem Ge-
dankenkreise sich verirrend, den Ausgang zu verlieren und so
in wirklichen Wahnsinn zu verfallen, entrissen haben. Er
lenkt den Gedankenlauf nach einer anderen Richtung hin und
bringt die psychischen Thätigkeiten wieder ins Gleichgewicht,
ebenso wie nach geistiger Ermüdung der Spaziergang am meisten
Erholung verschafft, wo man keine einzelne Vorstellung fiiLirt,
sondern die Gedanken bald dahin, bald dorthin schweifen lässt.
Nicht nur im abstracten Denken, sondern auch bei starken Ge-
müthsbewegungen wirkt der Traum heilsam. Kein Befehl, kein
Machtspruch des Willens kann diese aus der Seele verbannen
oder ganz vernichten, nur das vermag es, was ihnen den un-
bestimmten Charakter entzieht, um sie dem leiblichen und gei-
stigen Auge klar vorzuhalten. Cicero rühmte mit pathetischen
Worten, die Stoiker und nach ihnen der grosse Spinoza be-
wiesen durch ihre grossartige, erhabene Weise, die Bürden des
Lebens zu ertragen, — dass neben einem thatkräftigen Leben
das philosophische Reflectiren über die Leiden und Freuden
des Menschen dieselben mildert, veredelt und ihn weder vom
Unglück daniedergeschmettert, noch von der Freude übermässig
erhoben, sondern in gleichmässiger Stimmung doch von beiden
ergriffen werden lässt. Die psychologische Thatsache, dass
durch die Vorführung der Affecte in scenischer Darstellung vor
das Auge und Ohr die gleichen in der eigenen Brust der Zu-
schauer und Zuhörer schlummernden dem Inneren entzogen,
befriedigt und zeitweilig gestillt werden, indem sie gleichsam
im Drama sich selbst darleben, — wollte Aristoteles ausspre-
chen^ da er (Poet. c. 6) den Zweck der Tragoedie als eine
»Befreiung von den Affectena bezeichnete^). Es findet eine in-
nere Entladung der Affecte statt, und so können diese nicht durch
— 5 —
längeres AndauerQ die anderen Seelenthätigkeiten behindern.
Auf ähnliche Weise wirkt der Traum wohithätig: der Zorn,
mit dem man sich Abends niederlegte, tobt sich im Traum aus
oder die Gedanken lenken sich von dem Gegenstande desselben
ab, und so ist er am Morgen meist geschwunden ; das Unglück,
welches uns am Tage vorher fast ganz zu vernichten drohte,
hat nur vermocht, das Gefühl einer stillen Wehmuth in uns
zurückzulassen. Darauf beruht besonders die schmerzenheilende
Wirkung der Zeit. Die Liebe zieht einen grossen Theil ihrer
Nahrung aus dem Traum, sie verflicht sich mit allen Gedanken
und Ideen so innig, dass es dem Wachenden schwer wird, ihre
feinen und doch starken Wurzeln zu zerstören. »Die Liebe ist
ein Feuer, das ein Blick entfacht, das Träume nähren und
Gedanken schüren«, sagt Halm treffend (Der Sohn der Wild-
niss). Dabei veredelt sie sich, — aus einem rasch verlodem-
den Strohfeuer wird sie zu einer milden, innig erwärmenden,
langsam wachsenden und dauernden Gluth.
Der Traum erscheint in jedem Lebensalter. Das Kind setzt
die Spiele des Tages auf lachenden Fluren fort, der Jüngling
und die Jungfrau sehen hier ihre Ideale realisirt, der Mann ent-
schlägt sich der Sorgen des Daseins und der Greis versetzt sich
einerseits in die wonnevoiie Jugend zurück, andrerseits blickt
er oft in einem dem Traum ähnlichen visionären Zustande vor
dem Tode in die Zukunft, sieht das Schicksal seiner Angehöri-
gen voraus und geniesst selbst schon die Freuden des Para-
dieses 2). Dieses allgemeine Vorkommen des Traumes bei jedem
Individuum und während des ganzen Lebens lässt schon ver-
muthen, dass die Vorstellungen desselben nicht ohne Wirkun-
gen im psychischen Leben des Einzelnen und der Gesammtheit
bleiben. Eine Vorstellung, die einmal im Blickfeld oder Blick-
punkt des Bewusstseins war, übt, wenn scheinbar auch noch
so unbedeutend und noch so schnell aus dem Blickfeld ver-
schwindend, eine Wirkung auf den Complex der übrigen im
Bewusstsein vorhandenen psychischen Gebilde aus, die in deren
stetem Wechsel beharrt; nur der Grad derselben ist verschie-
den. Wenn wir Vieles nicht zu erklären vermögen, so ist ein
Hauptgrund der Umstand, dass wir Manches für bedeutungslos
halten. Jedes Geschehende lässt eine Kette von Ursachen hin-
ter sich und hat eine solche von Wirkungen vor sich, — so ist
es im physischen; so im psychischen Gebiet. Es ist ein be-
kannter, viel gebrauchter Satz: »Kleines die Wiege des Grossen«;
die einzelnen kleinen Ursachen haben jedoch die grossen Wir*
kungen für sich allein nicht, sondern eine Menge solcher, die
uns noch unbekannt, zu der einen bekannten hinzukommen, um
vereinigt Grosses hervorzubringen. Unter derart vereinigt wir-
kenden Massen von Ursachen in unserer Seele entstammt man-
ches Element den Träumen. Die Launen und Stimmungen des
Tages, als deren Grund man gewöhnlich nur die dunklen Ge-
meingefühle ansiebt; werden zugleich durch vorhergegangene
Träume veranlasst, wo die während des Wachens dunklen und
deshalb weniger wirksamen Gemeingefühle über die Schwelle
des Bewusstseins traten und dadurch die Wirkung ausübten,
die noch am Tage als solche gespürt wird; während die Ur-
sachen uns unbekannt bleiben. Von den sogenannten Idiosyn-
krasien — der Sympathie und Antipathie — hat man schon
gefunden , dass sie zuweilen auf unwillkürlichen Associationen
beruhen; die Vorstellungen, welche sich dabei associiren, sind
nicht selten aus dem Traum entnommen. Wenigstens habe ich
bemerkt, dass solche Associationen mit vergangenen Traumvor-
stellungen häufiger vorkommen, als man zugestehen möchte.
Es ist mir beim Spaziergang im freien Laufe der Gedanken und
auch sonst vielfach eingefallen, dies oder jenes schon einmal
gesehen, gehört, gedacht zu haben, ohne dass ich mich erinnern
konnte, wann, wo und bei welcher Gelegenheit. Als ich nun
während der Beschäftigung mit vorliegender Arbeit ein möglichst
genaues Traumverzeichniss führte, sah ich bei derartigen Vor-
kommnissen in diesem nach und fand wirklich meine Ver-
muthung meist bestätigt, dass ich nämlich Aehnliches früher
geträumt hatte.
Bedeutend mag der Einfluss der Traumvorstellungen nament-
lich bei denen sein, welche während des Wachens dieselbe
Thätigkeit der Seele als sich^im Traum äussert; die Phantasie,
hauptsächlich üben, — also bei Dichtem und Künstlern. Goethe
berichtet von sich selbst aus der Zeit der Abfassung seines
»Prometheus«: »Was ich wachend am Tage gewahr wurde, bil-
dete sich sogar öfters Nachts in regelmässige Träume, und wie
ich die Augen aufthat, erschien mir entweder ein wunderliches
neues Ganze, oder der Theil eines schon Vorhandenen.« In
Bezug auf die Tonklliisüer hat der Einlluss seinen Ausdruck
gefunden in der Sage von der Entstehung der »Teufelssonate«
Tartini^s. Man erzählt nämlich, als dieser berühmte Künstler
sich einst am Abend vergebens mit der Setzung eines Ton-
stücks abgemüht habe, sei. der Teufel ihm im Traum erschienen
und habe ihm etwas vorgespielt mit der Frage, ob er auch so
spielen konnte. Erwacht habe Tartini sofort dieses ihm vor-
gespielte Stück, das er vollständig in der Erinnerung behalten,
aufgesetzt, und so sei die Sonate ihm im Schlafe bescheert
worden. Von Raphctel sagt man, dass er über hundert einzelne
Schönheiten zu einem Gemälde combinirt habe, — Aehnliches
wird auch von anderen Künstlern erzählt. In Bezug hierauf
möchte ich Jean Paul gern beistimmen, welcher meint, dass
dieses »Zusammenstücken« unmöglich habe geschehen können,
ohne dass Raphael ein Urbild dieser Schönheit selbst im Geiste
vorher gehabt habe, welches er nun aus der Erinnerung durch
Combination zu realisiren strebte', und dass er dieses Urbild
jedenfalls im Traume geschaut habe. Manches Traumerzeugniss
ist in unsere Literatur übergegangen, wie mancher Gedanke
nur ein Wiedererscheinen des im Traume gebildeten ist.
Nicht nur die in der Literatur zu Tage tretenden Traum-
vorstellungen hervorragender Geister, sondern auch die jedes
anderen Menschen haben bei der geistigen Entwickelung der
Völker und der ganzen Menschheit einen von den Factoren aij-
gegeben, welche man in der Gesammtheit — soweit sie uns
bekannt sind — in Werken der Völkerpsychologie nachzuweisen
sucht, Besonders fällt uns hier in die Augen ihr Einfluss bei
der Bildung^ Entwickelung und Verbreitung reli-^
giöser Vorstellungen und Begriffe. Wenn manche
ihnen unerklärliche Gedanken und Glaubenssätze für Offenbarun-
gen Gottes halten, so ist dem Forscher eine Richtschnur ge-
geben in dem Ausspruch, welchen Plato in seinem Dialog
»Cratylus« den Sokrates thun lässt ^) : dass es zwar sehr bequem
sei, bei schwer erklärbaren Dingen einen Gott einzuführen, der
das Räthsel löse, bei wissenschaftlichem Streben aber diese be-
queme Art ganz ausgeschlossen werden müsse. Allerdings darf
sich Niemand anmassen , Alles erklären zu wollen , es giebt
Fragen, die wir vielleicht nie lösen werden, und der mensch-
lichen Erkenntnis« sind Grenzen gezogen , — allein man darf
— 8 ~
diese Grenzen nicht aus eigener Bequemlichkeit innerhalb des
Erklärbaren hineinversetzen und bei schwer Verständlichem so-
fort ein Wunder statuiren. Bei der Frage nach dem Ursprung
des Glaubens an ein Fortleben nach dem Tode liegt es daher
dem Forscher fem, die Antwort sich dadurch leicht zu machen,
dass er etwa die Unsterblichkeit der Seele für Gottes Offenba-
rung und Verheissung erklärt, er sucht vielmehr die psycho-
logischen Bedingungen und Gesetze aufzufinden, nach welchen
die menschliche Seele sich selbst diesen Glauben erschuf. Vielen
mag es paradox erscheinen, wenn ich mit Tylor behaupte, dass
Traumvorstellungen bei der Bildung des Unsterblichkeits-
glaubens einen Hauptfactor abgaben, und doch geht dies aus
den zahlreichen uns vorliegenden ethnographischen Details so-
wie aus vielen Stellen der Literatur des Alterthums unzweifel-
haft hervor^). Ist es ja auch gar nicht so fem liegend, dass
der Mensch durch Träume zu der Annahme einer Fortdauer der
persönlichen Existenz nach dem Tode gedrängt wurde! War
Jemandes Verwandter, Freund oder Feind gestorben und die
Seele beschäftigte sich noch lebhaft mit dem Gedanken an ihn
und der Erinnerung an die aussergewöhnliche, in die Monotonie
des Lebens gewaltsam eingreifende und deshalb das Interesse
auch des sonst Unbetheiligten in Anspruch nehmende Bestattung
desselben, — so war es natürlich, dass sie den Todten im
Traum lebhaft und leibhaft vor sich sah. — Die Neger in Süd-
Guinea deuten alle ihre- Träume als Besuche der Geister ihrer
abgeschiedenen Freunde. Eine alte Indianerin in British-Golum-
bia liess den Medicinmann holen, um die Todten zu vertreiben,
die jede Nacht zu ihr kamen. — Für den Naturmenschen ist
das, was dem cultivirten oft schwer genug fällt, die Unter-
scheidung zwischen subjectiver Vorstellung und objectiver Wirk-
lichkeit, meist ein unlösbares Problem, da er^ den Eindrücken
seiner Sinne hingegeben, alles für wahr hält, was ihm diese
vorspiegeln und es ihm fast nie beikommt, einen Zweifel daran
zu hegen. Für ihn hat die Gestalt des Verstorbenen, der ihm
im Traum oder in den diesen verwandten visionären Zuständen
erscheint, ebenso objective Realität als er selbst. Wenn nicht
Alle solche Erscheinungen hatten^ so glaubte man, wenn sie
von Anderen erzählt vvurden, diesen gerade wegen der Unge-
wöhnlichkeit, und man bildete sich am Ende eiU; sie selbst
— 9 —
gehabt zu haben; Beispiele von EinbildungeD, welche auf solche
Weise entstanden, lassen sich in grosser Menge bei allen Völ-
kern nachweisen. Andrerseits rief auch das Erzählen der
Träume und das öftere Sprechen von denselben ähnliche Er-
scheinungen bei Mehreren hervor und die Realität derselben
wurde dadurch ausser Zweifel gestellt.
Da die Gestalten bei wachen gesunden Sinnen verschwan-
den und den Eindrücken des Tages gegenüber schattenhaft er-
schienen, — schon die Erinnerungsbilder des Wachens^ welche
treuer sind als die des Traumes, haben etwas Luftiges und Ge-
hauchtes^) — so musste man ihnen eine von den wirklichen
irdischen Wesen verschiedene Qualität beilegen.
Die Seelen der Todten hatten nicht die dichte, robuste
Natur des Körpers, aber der der Abstraction noch nicht fähige
Geist konnte sich auch keine andere Vorstellung als die eines
Körpers bilden^ man bezeichnete sie daher als feiner und äthe-
rischer als den irdischen Leib.
Nach dem Volksglauben aller Zeiten und alier Orten haben
die Seelen dieselbe Körperlichkeit wie wir, nur feiner, nebel-
hafter und verschwommener. — Die grönländischen Geisterseher
schildern die Seele, wie sie ihnen in Visionen erscheint, als
bleich und weich; man fühlt Nichts, wenn man sie ergreifen
will, da sie kein Fleisch und Bein hat. Die Gariben dachten
sich die Seele nicht so immateriell, dass sie unsichtbar wäre,
aber doch subtil und dünn wie einen geläuterten Körper. Die
Tonganesen stellten sie sich als den feineren oder mehr luft-
förmigen Theil des Leibes vor, der denselben plötzlich im
Moment des Todes verlässt, etwa vergleichbar dem Duft einer
Blume gegenüber dem festeren vegetativen Gewebe. Nach der
Vorstellung der etwas höher stehenden Siamesen bestehen die
Seelen aus einer feinen Materie, die sich dem Auge und dem
Gefühl entzieht, oder sie sind an einen sich schnell bewegen-
den luftförmigen Körper gebunden. In freundlicher Gesinnung
fegte der Gongoneger ein ganzes Jahr nach einem Todesfalle
das Haus nicht, damit der Staub der zarten Substanz des Geistes
nicht schade ; die Tonquinesen vermieden die Reinigung des
Hauses während des Festes, wo die Seelen der Verstorbenen
zur Neujahrsvisite in ihre alten Wohnungen zurückkehrten ^)
Wie Wutthe sagt, haben die Geisler der Todten für den euro-
— 10 —
päischea Bauer eine nebelhafte und verschwommene Körperlich-
keit, denn sie haben so gut Leiber wie wir, nur von anderer
Art; sie essen und trinken, kennen verwundet, ja selbst ge-
tddtet werden. Unter den Kirchenvätern bezeichnet Irenaeus
die Seelen als unkörperlich im Vergleich mit sterblichen Leibern
und Tertullian erzählt eine Vision einer montanistischen Prophe-
tin, in welcher dieselbe die Seele unkörperlich, dünn und leuch-
tend, von luftiger Farbe und menschlicher Gestalt gesehen hatte.
Ein englisches Gedicht des vierzehnten Jahrhunderts — «der
Biss des Gewissens« (The Ayenbite of Inwyt) — weist darauf
hin, dass die Seele wegen der Feinheit ihrer Substanz im
Fegefeuer besonders zu leiden habe:
»Die Seele ist zarter und weicher
Als der Körper, der Fleisch und Bein hat;
So muss die Seele, da sie von so zarter Art ist,
Nothwendig ihre Strafe härter empfinden
Als irgend ein Körper, der je am Leben war« 7).
Der Spiritualist Swedenborg sagte, dass des Menschen Geist
nach dem Tode in vollkommen menschlicher Gestalt fortlebe.
Bei den ältesten griechischen Philosophen ist die Seele Luft oder
Feuer oder Aether, immer aber bleibt sie ein Stoff, mag man
denselben auch noch so sehr zu verflüchtigen suchen und ihn
dadurch zu vergeistigen meinen. Unter den späteren hatte
Epicur die Meinung, dass »die, welche die Seele für unkörper-
lich erklären, albern reden, denn sie könnte Nichts thun oder
leiden, wenn sie so beschaffen wäre«^).
Bei Homer erscheint dem Achilles im Schlafe die Seele des
Patroclos, ihm ganz gleich an Gestalt, Stimme und Kleidung,
doch als er seine Hände verlangend nach dem Freunde aus-
streckt, entflieht die Erscheinung »wie ein Dunst« ^).
Als Odysseus die Unterwelt besucht, kommt ihm an der
mit Blut gefilllten Grube die Seele seiner Mutter Antideia ent-
gegen, »einem Schatten oder auch einem Traumbild ähnlicha,
und belehrt ihn, dass die Seele des Todten in der Gestalt des
früheren Körpers, aber ohne Knochen und Fleisch, welche das
Feuer verzehrt, »wie ein Traumbild« in den Hades hinab-
steigt. Dem Aeneas, der bei der Zerstörung Trojas die ver-
irrte Greusa sucht und in furchtbarer Aufregung lange Zeit um-
hereilt, erscheint der Schatten der Gemahlin; als er aber
— 11 —
nach ihm fasst, entweicht er gleich den leichten Winden und
»dem geflügelten Traumbild«^^). — An anderen Stellen wer-
den die Traumbilder Schatten genannt (Aen. IV. 571). Die
Erscheinungen des Träumenden haben etwas Schattenhaftes ge-
genüber den sinnlichen Wahrnehmungen im Wachen, und so
wird »Schatten« ein Ausdruck für die Seele, welche losgetrennt
vom irdischen Leibe im Schlafe umherwandelt um Anderen
Visiten zu machen, und nach dem Tode ihren Wohnsits in den
Hades aufschlägt. — Der Tasmanier gebraucht sein Wort Schat-
ten zugleich für den Geist. Die Algonkin-Indianer nennen die
Seele eines Menschen otahtschuk, »seinen Schatten«; in der
Quiche-Sprache dient natub für »Schatten, Seele«; das arawa-
kische ueja bedeutet »Schatten, Seele, Bild«; die Abiponer hat-
ten nur ein Wort loäkal für »Schatten, Seele, Echo, Bild«. Die
Sulus gebrauchen nicht nur das Wort tunzi für »Schatten, Geist,
Gespenst«, sondern sie nehmen auch an, dass beim Tode der
Schatten auf irgend eine Weise aus der Leiche herausfährt, um
ein Ahnengeist zu werden. Die Basutos nennen den nach dem
Tode übrig bleibenden Geist den seriti oder »Schatten«; in AU-
Calabar findet sich dieselbe Identificirung des Geistes mit dem uk-
pon oder »Schatten«, dessen Verlust für den Menschen sehr ge-
fährlich ist^^). — Der Naturmensch identificirt beide Begriffe,
der civilisirtere vergleicht nur, etwa ähnlich wie es bei krank-
haften Störungen vorkommt, dass z. B. der Hypochonder seine
krankhaften Gefühle und Empfindungen mit Thieren, welche in
seinem Körper wohnen und ihn belästigen, nur vergleicht, der
Wahnsinnige aber, bei welchem die geistige Störung weiter
fortgeschritten, die beiden Vorstellungen gleichsetzt und fest
an die Wirklichkeit dieser Thiere in und an seinem Körper
glaubt.
Die Seelen der Abgeschiedenen haben alle Eigenschaften
der Traumerscheinungen; sie besitzen Stimmen und sprechen,
da man sich im Traum mit ihnen unterhält, sie weinen und
klagen, sind bekleidet und in voller Rüstung wie in diesem
Leben. Aber diese Eigenschaften sind ihrer ätherischen, schat-
tenhaften Natur angepasst. Die Stimme ist ein »dumpfes Mur-
meln«, das Geräusch bei ihrer Bewegung gleicht nicht dem bei
der Bewegung eines Menschen, sondern eines Vogels. Bei
Homer enteilt die Seele »schwirrend, zwitschernd« in den
— 12 —
Hades ^^j. Die Abiponer in Südamerika halten die des Nachts
mit traurigem Gezische umherflatternden Enten für die Seelen
der Todten; einer derselben hörte einst einen verstorbenen
Spanier auf seinem Grabe jede Nacht mit kläglichem Geschrei
umherreiten. In dem Geschrei der Vögel in der Höhle von
Guacharo hören die Indianer von Gumana die Seelen der Ver-
storbenen. Die Algonkin-Indianer Nordamerika^s konnten die
Schattenseelen der Verstorbenen wie Heimchen zirpen hören.
Auf Neuseeland äussern sich die Geister der Todten, wenn sie
sich mit den Lebenden unterhalten, in pfeifenden Tönen ; und
diese Aeusserungen durch ein quiekendes Geräusch werden
auch anderswo in Polynesien erwähnt. Die Familiargeister der
Wahrsager bei den Süius sind Manen von Vorfahren, welche
in einem dumpfen, pfeifenden Tone, der nicht ganz Pfeifen
ist, reden, woher sie ihren Namen Mmilozi« oder »Pfeifer«
haben i^) .
Die im Traum erscheinenden Verstorbenen sind bald von
derselben Gestalt wie im Leben (II. XXIII, 66 etc.), bald grös-
ser [Virg,^ Aen. II, 773, Ovidj Fast. II, 503). Sogar die Ver-
wundungen und Verstümmelungen des irdischen Körpers zeigt
die Seele. Die Indianer Brasiliens glauben, dass die Todten in
der anderen Welt verwundet oder in Stücke gehackt ankom-
men, überhaupt so, wie sie diese Welt verliessen. Der Austra-
lier schneidet, wenn er seinen Feind erschlagen hat, dem
Leichnam den rechten Daumen ab, damit der Geist, obgleich
er ihm immer feindlich gesinnt bleiben wird , nicht mehr den
Schattenspeer werfen kann. Der Neger fürchtet ein langes
Krankenlager vor dem Tode, das ihn schwach und mager in
die andere Welt schickt. Die Sklaven eines westindischen
Pflanzers suchten, wie Waüz in seiner »Anthropologie der Na-
turvölker« (Bd. II, S. 494) erzählt, durch Selbstmord Befreiung
aus ihrem Elende; der Weisse schreckte sie dadurch ab, dass
er den Leichen Kopf und Hände abschnitt und nach ihrem
Glauben somit ihre Seelen nach dem Tode verstümmelte. Die
Chinesen haben aus demselben Grunde eine besondere Angst
vor der Enthauptungsstrafe; ein Verbrecher in Amoy bat, da-
mit seiner Seele kein Glied fehle, selbst um den grausamen
Kreuzestod. Die Seele des Patroclos erscheint dem Achilles in
derselben Gestalt, die er im Leben hatte. So lässt auch Shake-
— 13 — .
speare den Geisl von Hamlets Vater von Kopf bis zu Foss be-
waffnet erscheinen:
»Genau so war die Rüstung, die er trug,
Als er sich mit dem stolzen Norweg mass«.
Da man den Todten an einer anderen Stelle begrub, als er
dem Lebenden. erscheint, so muss er nach dem Glauben des
Naturmenschen offenbar wandern, wenn er seinen Verwandten
und Freunden einen Besuch abstattet, um sie zu trösten und
ihnen einen Rath zu geben — oder seinen Feinden, um sie zu
schelten und zu strafen.
Nicht nur von Todten träumt der Mensch, sondern auch
von Lebenden. Er sieht Freunde und Feinde, die eine mehr
oder minder grosse Entfernung von ihm trennt, im Traum leib-
haftig vor sich und kann dies doppelt erklären: entweder er
betrachtet es als Besuch der Person, von welcher er träumt^
oder er nimmt an^ seine eigene Seele habe während des Schlafes
einen Ausflug gemacht. Die Qualität dieser Seele, des einen
Theils seiner Persönlichkeit, welche Erholungs- und Entdeckungs-
reisen machte, während nach der Versicherung Anderer der Leib
ruhig da lag, bestimmt er nach Analogie des Schattens eines
Abgeschiedenen, welcher ihm im Traum oder in Visionen er-
schien. Manche Grönländer werden, wie Cranz bemerkt, durch
ihre lebhaften Träume zu dem Glauben veranlasst, dass die
Seele Nachts den Leib verlasse, um auf die Jagd, den Tanz und
zum Besuch zu fahren. Bei den Indianern Nordamerikas hören
wir, dass die Seele der Träumenden den Leib verlässt und nach
Dingen umherwandelt, die ihr anziehend erscheinen. Diese
Dinge muss man sich im wachen Zustande zu verschaffen suchen,
damit' die Seele nicht unruhig werde und den Leib ganz ver-
lasse. Die Neuseeländer meinten, die träumende Seele entferne
sich aus dem Leibe und kehre wieder zurück, nachdem sie ins
Todtenreich gewandert ist, um sich dort mit ihren Freunden zu
unterhalten. Die Tagalen auf Luzon erklären, man dürfe einen
Schlafenden nicht wecken, weil seine Seele abwesend sei. Nach
der Ansicht der Karenen bestehen die Träume in dem, was der
»lä« auf seinen Reisen währ^id des Schlafes sieht und 'erfährt.
Der Fidschi-Insulaner glaubt, dass der Geist eines Lebenden den
Leib verlassen kann, um andere Leute im Schlafe zu stören.
— 14 —
Der Sulu wird zuweilen von dem Schalten eines Ahnen, dem
Itongo, besucht und vor einer Gefahr gewarnt, oder der Itongo
nimmt ihn im Traum mit sich, um sein entferntes Volk zu be-
suchen. In Manilla sah ein Indianer beim Erwachen nur die
eine Hälfte seines Gefährten neben sich liegen, da die andere
— vom Nabel aufwärts — als Tigbalang fortgeflogen war, und
als er die zurückgebliebene mit Asche bedeckte, richtete der
wiederkehrende Theil Drohungen an ihn, da er selbst die Asche
nicht entfernen konnte , um sich wieder mit dem anderen zu
vereinigen. Die Seele des Hermotimos von Glazomenae soll von
Zeit zu Zeit ausgegangen sein, ferne Gegenden zu besuchen;
als man einst den Körper auf dem Scheiterhaufen verbrannte,
fand die arme Seele bei ihrer Rückkunft keine Wohnung mehr.
Nach einer von Grimm angeführten deutschen Sage ging aus
dem Munde des schlafenden Königs Gunthram dessen Seele in
Gestalt eines Schlängeleins hervor, überschritt den Bach auf dem
von dem Diener über denselben gelegten Schwerte, lief in einen
Berg und kehrte bald auf demselben Wege in den Körper des
Schlafenden zurück, während dieser träumte, dass er über eine
eiserne Brücke in einen mit Gold gefüllten Berg gehe. Schind-
ler erwähnt ein Volksmährchen , wonach die Seele in Gestalt
einer rothen Maus aus dem Munde einer Magd herauslieft^).
Aus den Erscheinungen der Seelen Abgeschiedener ergab
sich die Vorstellung, dass dieselben noch auf der Erde ihr
Wesen treiben und ihre Haupttummelplätze die Begräbnissstellen
des Leibes und die Aufenthaltsorte während des fleischlichen
Lebens bilden. In Nordamerika glaubten die Tschikasawen,
dass die Geister der Todten in ihrer leiblichen Gestalt sich mit
grossem Wohlbehagen unter den Lebenden bewegten ; die Aleu-
ten-Insulaner stellten sich vor, dass die Seelen der Verstorbenen
ungesehen unter ihren Verwandten umherwandelten und sie auf
ihren Reisen zu Wasser und zu Lande begleiteten. Die Afri-
kaner meinen^ die Seelen der Todten wohnen mitten unter ihnen
und speisen bei ihren Mahlzeiten mit ; die Chinesen bezeigen
den Geistern ihrer Verwandten, die in der Halle der Vorfahren
anwesend sind, ihre Ehrfurcht. Glaubt ja doch auch die Menge
der Spiritisten Amerikas und Europas in einer Atmosphäre zu
leben, die von Geisterschatten durchschwärmt wird!
Aber das Zusammensein mit den Todten ist nicht gut und
— 15 —
der Lebende fühlt sich nicht immer wohl im Umgang mit Geistern,
deshalb erfand man manche Kunstgriffe, um sich ihrer Gesell-
schaft zu entledigen. In Alt-Calabar war es Sitte, dass der
Sohn das Haus des Vaters verfallen Hess, nach zwei Jahren
aber konnte er es wieder aufbauen, da man glaubte, dass der
Geist dann schon fortgezogen sei. Die Hottentotten verliessen
das Haus eines Todten und vermieden es, dasselbe zu betreten,
da der Geist darin wohne. Die Jacuten Hessen die Httite in
Trümmer fallen^ wo Jemand den Geist aufgegeben hatte, da sie
dieselbe von Dämonen bewohnt hielten; von den Karenen er-
zählt man, dass sie ihre Dörfer zerstörten^ um die Nachbarschaft
der Seelen Verstorbener loszuwerden. Die Grönländer schaffen
den Todten durchs Fenster^ nicht durch die Thür hinaus, wäh-
rend ein altes Weib einen Feuerbrand hinterher schwingt und
ausruft: »pickleruck pock«^ d. h. »hier ist nichts mehr zu haben«;
die Hottentotten entfernen den Todten aus der Hütte durch eine
Oeffnung, die sie brechen, um ihn zu verhindern, den Rückweg
zu finden ; die Siamesen brechen in derselben Absicht eine Oeff-
nung in die Wand des Hauses, um den Sarg hindurchzuschaf-r
fen, den sie dann in rasender Eile dreimal rund um das Haus
tragen; die sibirischen Tschuwaschen schleuderten dem Leich«-
nam einen glühend rothen Stein nach, um ihm die Rückkehr
abzuschneiden. Die Ureinwohner von Queensland peitschten in
einem jährlich wiederkehrenden Scheinkampfe die Luft, um die
Seelen zu verscheuchen, welche der Tod seit vergangenem Jahre
in Freiheit gesetzt hatte. . Wenn die nordamerikanischen Indianer
einen Feind zu Tode gemartert hatten, liefen sie schreiend und
mit Stöcken schlagend umher, um den Geist wegzuscheuchen ;
sie stellten Net^e um ihre Hütten herum auf, um die abgeschie-
denen Seelen der Nachbarn zu fangen und fern zu halten; in
der Meinung, dass die Seele eines Sterbenden durch das Dach
des Wigwams fortziehe, schlugen sie gewöhnlich mit Stöcken an
die Wände desselben, um sie fortzutreiben; es geht sogar der
Wittwe^ welche von der Bestattung ihres Gatten zurückkehrt;
Jemand nadi und fährt ihr mit einer Hand voU Zweigen wie
mit einer FUegenklappe um den Kopf, um den Geist ihres Gatten
von ihr zu treiben, damit sie wieder Freiheit hat zu heirathen.
— Brandenburgische Bauern giessen hinter dem Sarge vor der
Thür einen Eimer Wasser aus, um den Geist am Umgeben zu
— 16 —
verhindern; pommersche Leidtragende lassen, wenn sie vom
Kirchhof zurückkehren, Hirsenstroh hinter sich zurttck, damit
die wandernde Seele darauf ruhen und nicht bis nach Hause
zurückkehren möge^^). In der alten und mittelalterlichen Welt
riefen die Menschen neben solchen Mitteln häufig noch die un-
natürliche Hülfe an, indem sie den Priester baten, eindringende
Geister zu beruhigen oder zu verbannen.
Diese das eigentliche Leben des Sterblichen bewirkende
Seele, welche über Raum und Zeit erhaben^ nach dem Tode
ewig dauert, und während des Lebens frei in den entlegensten
Gegenden wandeln und das Entfernteste zu schauen im Stande
ist, gilt als der vorzüglichere Theil der menschlichen Persön-
lichkeit gegenüber dem Körper, der als Gefängniss sie hindert,
ihre Freiheit in vollem Maasse zu gebrauchen, so dass sie wäh-
rend des irdischen Daseins nur im Schlafe und in Krankheit
von den Banden des Leibes befreit, ihr eigentliches Wesen
zeigen und sich höherer Erkenntniss erfreuen kann. Das war
die Ansicht, die Plato aussprach^®) und der viele nachher hul-
digten.
Auf der andern Seite jedoch kann dem Menschen dieses
unstete Wandern als mühselig und mit weniger Glückseligkeit
verbunden erscheinen. Die Grönländer bedauerten die armen
Seelen, die im Winter oder im Sturm über das schreckliche
Gebirge mussteU; von wo die Todten nach der andern Welt
hinabsteigen; denn da kann auch eine Seele zu Schaden kom-
men und jenen zweiten Tod sterben, bei dem gar nichts übrig
bleibt^ und das wird für das Schmerzlichste von allem gehal-
ten. Es bildete sich überall die Ansicht aus, dass die Todten
einen festen Wohnsitz hätten und nur durch besondere um-
stände zu einem stetigen, ruhelosen ümherwandeln oder zu
einzelnen Besuchen bei den Lebenden veranlasst würden. Den
Grund zu ersterem kann besonders der Mangel der Bestattung
des Leichnams und der schlechte Charakter während des irdi-
schen Lebens bilden. Zu allen Zeiten hat das Gefühl geherrscht,
dass unbestattete Seelen, namentlich solche ^ die eines gewalt-
samen oder vorzeitigen Todes gestorben sind, schädliche oder
böse Wesen seien ; sie sind gegen ihren Willen aus dem Körper
vertrieben worden und haben Zorn und Bachsucht in ihre
neue Existenz mit hinüber genommen. Bei einigen australischen
— 17 —
Stitomen sind die bösen Geister, welche in menscblicber Ge-
stalt, aber mit langem Schwanz und langen aufrechten Ohren
den Lebenden nur Böses zufügen, meist Seelen von verstor*
benen Eingebornen, deren Leichen unbeerdigt liegen gelassen
sind oder deren Ted von dem nächst verpflicbMen Blutsver-
wandten nicht gerächt worden ist. In Neu-Seeland fand man
auch den Glauben, dass die Geiste von Unbeerdigten oder in
der Schlacht Getödteten und Verzehrten umherwandem mUss-
ten; solche bösartige Seelen an den heiligen Begräbnissott zu
bannen war eine Aufgabe, die der Priester mit seinen Zauber-
mitteln vollbringen musste. Die grösste Sorge der Irokesen
in Nordamerika ist, die Leichen der im Kampfe Gefallenen zu
bestatten. Unter den brasilianischen Stämmen soll der Glaube
herrsehen, dass die Schiften der Todlen ruhelos umherwan-
dem bis sie begraben sind. In den turanischen Gebieten
Ostasiens schweben die Geister der Todten, welche keine Buhe-
stätte gefunden hab^i, über dem Boden hin. In Südasien sagen
die £arenen, dass die Geister, die auf der Erde wandeln, nicht
diejenigen sind , die nach dem Lande der Todten gehen, . son-
dern die Seelen von Kindern, Bösewichten und von solchen,
die eines gewaltsamen Todes starben, oder die durch irgend
einen Zufall nicht begraben oder verbrannt wurden. Die
Siamesen fürditen als übelwollende Geister die Seelen der-
jenigen, die eines unnatürlichen Todes gestorben oder nicht
in der vorgeschriebenen Weise bestattet worden sind, und die
Sühnung begehrend unsichtbar ihre Verwandten heimsuchen
und erschrecken. Den festesten Halt hatten solche Vorstellun-
gen im classischen Alterthum, wo es die heiligste Pflicht war^
an einem Todten die Beerdigungsceremonien zu erfüllen, damit
der Schatten nicht wehklagend vor den Thoren des Hades um-
her flattern oder unter der elenden Menge am Ufer des Ache-
ron verweilen müsse. Ueberall aber machen nach dem Volks-
glauben die umherwandemden Geister um Mittemacht den Be-
gräbnissplatz zu einem Orte, wo den lebenden Menschen Furcht
und Grauen befällt.
Unter den vielfachen verschiedenen Ansichten über einen
beständigen Wohnsitz der Seelen Verstorbener ist auf den
niedrigsten Stufen der Cultur am meisten die v<Nrherrschend^
welche ihn in eine entfemte Gegend der Erde verlegt. Auf
Badestock, Schlaf n. Traum. 2
— 18 —
höheren Stufen schwindet sie allmählich; die fortschreitende
Renntniss in der Geographie verdrängt die Geister aus den
irdischen Gebieten und lässt ihnen -nur noch oberhalb und
unterhalb der Erde Platz. Länger erhält sich die ihr in Bezug
auf weite Verbreitung unter den wilden Stämmen zunächst fol-
gende Vorstellung von einem unterirdischen Hades , der von den
Geistern der Todten bewohnt wird. Weniger allgemein ist
unter den Naturvölkern der Glaube, der über die Erde hinaus-
geht und die Seelen auf Sonne und Mond oder in ein festes
Himmelsgewölbe versetzt.
Wenn das Land der Seelen auf die Oberfläche der Erde
verlegt wird, so erwählt man dazu abgeschlossene Thäler, weit
entfernte Ebenen oder Inseln. — In den Rocky Mountains
wohnt Wacondah, der Herr des Lebens, und dorthin klimmen
die Seelen der Todten auf mühseligen Pfaden empor zu den
herrlichen Jagdgebieten, ungesehen von lebenden Wesen. Als
einst bei den nordamerikanischen Indianern ein Algonkinjäger
seinen Leib eine Zeit lang verliess und das Land der Seelen
im sonnigen Süden besuchte, sah er schöne Bäume und Pflan-
zen vor sich, durch die er hindurchging; dann erreichte er
mit seinem Canoe die schöne und glückselige Insel, wo keine
Kälte, kein Krieg, kein Blutvergiessen herrscht. In den Ber-
gen Mexikos verborgen lag das glückliche Gartenland Tlalokan,
der Wohnsitz der Todten, wo alle Früchte in Fülle vorhanden
waren. Dem Columbus beschrieben die Bewohner von Haiti
ihr Coaibai, das Paradies der Todten in den reizenden west-
lichen Thälern ihrer Insel, wo die Seelen, bei Tage zwischen
den Felsen verborgen, des Nachts herabkamen, um sich von
der köstlichen Frucht des Mamay-Baumes zu nähren. Nach
dem Glauben der Chilenen geht die Seele westwärts über das
Meer nach Gulcheman, dem Wohnplatze der Todten jenseits
der Berge. — Die tonganische Legende erzählt, dass vor lan-
ger Zeit ein Boot auf der Rückkehr von Fidschi durch die
Gewalt des Sturmes nach Bolotu, der Insel der Götter und
Seelen, getrieben wurde, welche in dem Meere nordwestlich
von Tonga liegt. Auf dem Gunung Danka, einem Berge in
West-Java, befindet sich ein solches irdisches Paradies. — Im
classischen Alterthum herrschte der Glaube an ein Paradies
auf den Inseln der Seligen im fernen westlichen Ocean.
— 19 —
Hesiod erzählt in seinen »Werken und Tagen« von den Halb-
göttern des vierten Zeitalters. Als dies Heroengeschlecht dem
Tod anbeim6el, gewährte ihnen Zeus an dem Ende der Erde
Leben und Heimat, getrennt von dpn Menschen und fem von
den Unsterblichen. Dort herrscht Kronos über sie, und sie
wohnen sorglos auf den Inseln der Glücklichen, am Strande
des tief aufrauschenden Meeres — selige Helden, für welche
das Getreidefeld, dreimal blühend im Jahre, honigsüsse Frucht
trägt ^^) . Diese Inseln, welche als Wohnort der seligen Geister
der Todten bezeichnet werden, identificirte man später mit
den etysisehen Gefilden. — Noch bis in's Mittelalter lässt sich
ein Ueberrest dieses Glaubens verfolgen. Es finden sich Le-
genden vom irdischen Paradiese, das man als den feuerum-
gürteten Wohnsitz der Heiligen, die noch nicht zur höchsten
Seligkeit erhoben sind, in den äussersten Osten von Asien
verlegte , wo Erde und Himmel zusammenstossen. Columbus
segelte nach Westen, um »den neuen Himmel und die neue
Erde a zu suchen , er fand sie auch , aber anders als er ge-
dacht hatte.
Der Traum war bei der Auffindung dieses Wohn-
sitzes der Seelen und ihrer Lebensweise nicht minder
thätig als bei der Bestimmung ihrer Qualität. Das Pa-
radies ist ein Traumland mit seinen schattenhaften Gemälden
ohne Realität, für welche die materielle Wirklichkeit die Vorbil-
der abgab. Die mehr nüchternen Vorstellungen und Gefühle des
Wachens sind idealisirt; alle Genüsse und alier Comfort sind im
Paradies in grösster Fülle und die nach den Anschauungen der
einzelnen Völker verschiedenen Wünsche erscheinen hier sämmt-
lich realisirt. Neben der Erinnerung an den Hingeschiedenen
steigen andere Vorstellungen in der Seele des Träumenden
auf; Empfindungen der verschiedenen Sinne verbinden sieh
mit Erinnerungsbildern früherer Wahrnehmungen, und es zei-
gen sich neben der Gestalt des verstorbenen Freundes oder
Feindes Landschaftsbilder der verschiedensten Art, die ihre
einzelnen Elemente aus der Erfahrung entnehmen, in ihrer
Vereinigung aber vielleicht noch nicht geschaut wurden. Nach
der Ansicht der Naturvölker nun stattet die Seele des Schla-
fenden der des verstorbenen Freundes oder Verwandten einen
Besuch ab, bewundert die Pracht und Herrlichkeit seines
2*
- 20 —
Wohnortes, vorplaudert enige Zeit, isat, trinkt und lebt kerr^
lioh und in Freuden, bis sie dem Paradies entrttekt und beim
Erwachen wieder in diese nttebteme Welt versetzt wird. Der
Indianer besucht seine heijliehen Jagdgebiete:
»Wo mit Vögeln alle Strfiuche,
Wo der Wald mit Wild,
Wo mit Flachen alle Teiche
Lustig sind gefüllt«, —
der Tonganese s^e schattige Insel Bolotu, der Grieche betritt
den Hades unif scdiaut die elysisd^n Gefilde ^ der Christ er-
Uickt die Höhen des Huaimels und die Tiefen der H^le/ Unter
den nordamerikanisch^oi Indianern, besonders den Algonkin-
Stdnunen, sind Erzählungen nidit selten von Mensehen, welehe
im Traume in das Land der Todten reisten und dann zurück*
kehrten, um ihren KOrper wieder zu beleben und zu erztthlen,
was sie gesehen hätten. Der Mohawk-Indianer beschrieb das
schitoe Land des Paradieses, wie er es im Traum gesehen;
der Schatten des Odjibwäer verfolgt einen weiten und betre*
tenen Pfad, der nach Westen führt, er überschreitet ein tiefes
und reissendes Wasser und wenn er in ein Land gelangt, voll
Jagd und was der Indianer sonst noch begehrt, so findet er
dort auch seine Verwandten in ihrem weiten Wohnsitze. Die
Grönländer haben die Hoffnung, dass ihre Seelen ^n Leben
besser als auf Erden und ohne Ende führen werden. In dem
Lande der Seligen herrscht beständiger Sommer, ewig heiterer
Sonnenschein und keine Nacht, gutes Wasser und Ueberfluss
an Vögeln und Fischen, Fischottern und Rennthieren, die man
ohne Schwierigkeit fangen kann oder in einem grossen Kessel
kochend findet. Die Yuracar^s in Bolivia gehen alle ohne Aus*
nähme zu einem zukünftigen Leben ein, wo es Jagd im Ueber»
fluss giebt. Brasilische Waldstämme finden einen herrlichen
Wald voll Galabassenbäume und Wild, wo die Seelen der Todten
in Seligkeit bei einander leben. Bei einem Stamme in Süd-»
westafrika leben die Seelen in Kalunga weiter, in der Welt,
wo es Tag ist wenn hier uns Nacht umfängt, mit einer Fülle
von Speise und Trank, Frauen zur Bedienung und Jagd und
Tanz zum Zeitvertreibe. — Der Skandinavier wird in Wal-
halla mit den andern Kriegern an jedem Morgen zum Kampf
ausziehen auf die Ebene Odins ; dann werden Sieger und Be*
— 21 ~
siefste nach dem Kanpfe von dem ewigen Eber essen und Meth
und Bier mit den Äsen trinken. — Nack dem Glauiien des
Moslem rahen die Seligen im Paradiese auf Lagern von Gold
und Eddstein, bedient von ewig jungen Madchen, mit Krügen
voll Getränk, dess^i Geist niemals des Trinkers Kopf be«
«ehwert; sie leben unter dem domenlosen Lotusbäumen und
Bananen, die bis zur Erde mit Frttchten behangen sind, von
ihren Lieblingflfrttditen sich nährend und vom Fleisch der
seltensten V(^ei; bei ihnen sind die Huris mit schonen
schwarzen Augen wie Perlen ^^).
Solehe freudige Hofihiungen in Bezug auf das Leben nach
dem Tode sind jedoch nidit allgemein; es giebt auch dttstere
Yorstellungen von der Portdauer der Seele. Besonders erscheint
der Aufenthalt der Abgesdiiedenen , wenn er unter die Erde
verlegt wird, als freudenlos und unangenehm. Nach der Be-
schreibung der Huronen ist die andere Welt dieser irdischen
ganz Sbnlich, aber die Seelen stöhnen und jammern Tag und
Nacht. — Die Gegend von Mictlan, das unterirdische Land des
Hades, wohin die grosse Menge des mexikanischen Volkes, hoch
und niedrig, von ihr^n Todeslager hinabzusteigen gedachte,
war ein Ort, auf den man mit Resignation, aber nicht mit
Freudigkeit hinblickte. Unter den Basulos ist die vorherrschende
Ansicht die, dass die Todten in schweigsamer Ruhe umher-
wandeln und weder Freude noch Schmerz empfinden. Eine
sittliche Vergütung giebt es nidit. — Ku-to-men, die andere,
aber nicht <tie bessere Welt der Dahomeer in Afrika, ist der
nicht gerade paradiesische Wohnsitz der Schatten. Die Nach-
barn der Dahomeer, die Jorubas, sagen einfach: )>Ein Winkel
In dieser Welt ist besser als ein Winkel in der Welt der
Geister«. — Das unlerirdisehe Tuonela, der Wohnsitz der Ver-
storbenai bei den Finnen, war wie diese Oberwelt; dort
schien die Sonne, war Land und Wasser, Wrid und Feld,
Aecker und Wiesen, dort gab es Bären und Wolfe, Schlangen
und Hechte; aber alles war von übler und böser Art, die
WiMer dichter und mit reissenden Thieren erftlUt, das Wasser
sehwar«, die Kornfelder trugen Saat von Schlangenzähnen;
dort herrschte der harte und mitleidslose Tuoni, sein grimmiges
Weib U!Bd sein Sohn mit den eisenspitzigen krummen Fingern,
welche über die Todten wachen, dass sie nicht entfliehen. —
— 22 —
Ebenso unerbiulieh und finster herrscht nach der Ansicht
der Griechen der »festverschllessende« (iroXapTi]c) Hades in der
Unterwelt, dar »furchtbar dumpfigen, vor welcher sidi auch die
Götter scheuen«. (//. XX. 65). Der Wohnsitz der Abgeschie*
denen ist ein finsterer Raum im Innern der Erde, der im
äussersten Westen jenseits des Okeanos, wohin die Strahlen
der Sonne nicht mehr dringen, einen Eingang und Yorhof
hat. Er wird von gewaltigen Strömen umflossen und vor dem
Thore hält Kerberos, der vielköpfige, schreckliche Hund die
Wacht, welcher die Kommenden ruhig eingehen aber Niemand
zurück lässt. — Die Scheinbilder der Todten aber, die kraft-
losen , unstäten Gestalten (ajieviQva xapTjva) , tragen zwar die
Züge ihres Lebens und die Wunde ihres Todes, allein sie
haben kein Fleisch und Bein, sie schweben, schaaren sich zu-
sammen, wispern und führen ein Schattenleben. Wie der
rohe Afrikaner der Jetztzeit, so verschmäht auch der hoch ge-
feierte Held der Griechen, der schnellfüssige Achilles, ein
solches armseliges, schattenhaftes Leben. Das Dasein im Lichte
ist ihm das allein wünschenswerthe und die Freude wohnt
ihm nur diesseit des Grabes: nicht für alle Schätze der Welt
möchte er sein Leben dahingehen, und als gemeiner Lohn-
arbeiter einem geringen Manne auf Erden zu dienen dünkt
ihm besser als im Hades über alle Todten zu herrschen ^^). —
Nicht minder düster ist die Vorstellung der Römer vom
Orcus, dem finsteren. Böse und Gute aufnehmenden Todten-
reich, in dessen Vorhofe alle am Leben der. Menschen nagen-
den Uebel wohnen. [Virgilj Aen. VL 268 fl". etc.). — In
Scheol, dem Wohnsitze der Todten bei den alten Juden, leben die
Seelen in Ruhe , aber nicht in allzu erfreulicher. Der Prediger
Salomo sagt: «die Lebendigen wissen, dass sie sterben wer-
den, die Todten aber wissen nichts ; sie verdienen auch nichts
mehr, denn ihr Gedächtniss ist vergessen ; dass man sie nicht
mehr liebet noch hasset, noch neidet; und haben kein Theil
mehr auf der Welt in Allem, das unter der Sonne geschiehet.
So gehe hin und iss dein Brod mit Freuden , trink deinen
Wein mit gutem Muth, denn dein Werk gefällt Gott. Lass
deine Kleider immer weiss sein und lass deinem Haupte Salbe
nicht mangeln. Brauche des Lebens mit deinem Weibe, das
du lieb hast, so lange du das eitle Leben hast, das dir Gott
— 23 —
unter der Soone gegeben bat, so lange dein eitles Leben
währet; denn das ist dein Theil im Leben und in deiner
Arbeit, die du ttkust unter der Sonne. Alles, was dir vor-
handen kommt zu thun, das thue frisch; denn in Scheol, da
du hinfährst, ist weder Werk, Kunst, Vernunft noch Weisheit«.
(IX. 5 ff.).
Tylor memt zwar^ dass diese düsteren Vorstellungen »sich
weniger durch Traumhaftigkeit als durch Gespenstigkeit aus-
zeichnen«, allein es lässt sich wohl Manches auf Rechnung des
Traumes schreiben , der ja bekanntlich auch Unheimliches uns
vorführen kann. Die Völker, welche nicht aus melancholischer
Anlage oder durch andere Motive bewogen werden , das
irdische Leben gering zu schätzen und es als blosse Vorbe-
reitung auf ein besseres Jenseits zu betrachten, geniessen hei-
ter die Freuden dieser Welt und denken nicht gera über die-
selbe hinaus. Der Abgeschiedene ist für sie derjenige, welcher
die Genüsse des irdischen Daseins entbehren muss, und darob
beklagen sie ihn. Diese dunkle Vorstellung von einer freude-
losen Fortdauer illustrirt der Traum und führt den Verstorbe-
nen in düsterer Umgebung vor. Es findet ein fehlerhafter
Kreislauf statt: Der Naturmensch sieht, was er glaubt, und
glaubt, weil er es sieht.
Das Leben der Seele ist in ihren einzelnen Zügen dem
irdischen Dasein nachgebildet und entweder zu höherem Glänze
erhoben oder zu tieferem Elend erniedrigt. Von einer Beloh-
nung der moralisch Guten und einer Bestrafung der Bösen,
einem Unterschied zwischen dem Lande der Seligen und einem
v<Ni diesem getrennten Orte der Verdammten im Jenseits kennt
die unterste Gulturstufe im Allgemeinen Nichts ^<)). Eine mo-
ralische Vergeltungstheorie findet sich erst bei civilisirteren
Völkern und ist wohl zum Theil von diesen auf ihre Nachbarn
übergegangen. Rangunterschiede erkennen zwar auch die
Wilden im Lande der Todten an, aber es ist dies meist keine
Vergeltung und Ausgleichimg , sondern vielmehr eine Fort-
setzung des .irdischen Lebens. Herren und Sclaven auf Erden
haben auch nach dem Tode ihre verschiedenen Stellungen noch
inne , und eine irdische Kaste wird zu einer exclusiven Stellung
erhoben. — »Das Luftparadies Raiatea, mit seinen duftenden, ewig
blühenden Blumen, seinen vielen Jünglingen und Mädchen, die
— 24 —
in Vollkommenheit strahlen, mit seinen glänzenden Festen und
Lustbarkeiten, war nnr fttr die bevorzugten Klassen der Areois
und der Häuptlinge bestimmt, welche den Priestern ihre
schweren Abgaben bezahlen konnten, aber kaum ftlr das ge-
meine Volk. Diese Idee erreichte ihren ffi^hepunkt auf den
Tonga-Inseln, wo die Seelen der Vornehmen wieder ihren
irdischen Rang in dem Inselparadiese Bolotu eimm^men, wah-
rend die plebejischen Seelen, wenn sie überhaupt' existirten,
mit dem plebejischen Leibe, den sie bewohnten, zu Grunde
gingen. In Peru, sehemt es, kehrten die Inkas nach ihren
Wohnsitzen in der Sonne zurück, und die glückiidie, ruhige
Oberwelt des Himmels war nur für die höheren Klassen da;
während ein Aufenthaltsort in der dunklen Unterwelt Gupay
oder eine Wanderung in Thierkörper vielleicht für das ge*
meine Volk bestimmt war; denn feste Kastenunterschiede
scheinen, gerade wie in dieser Welt, auch auf das Leben des
Peruaners in jener Welt mehr Einfluss gehabt zu haben als
die sittliche Aufführung des Einzelnen«. — )»Die Guten sind
gute Krieger und gute Jäger« sagte ein Pavmee-Häuptling ;
Muth und Schlauheit, ja zuweilen kannibalische Grausamkeit
erscheinen dem Wilden practisch nützlich und gelten ihm des-
halb für Tugenden; was hier Ruhm und Glück verleiht, ge-
währt es auch im Jenseits. — In das glückliche Land Tom-
garsuks, des grossen Geistes, kamen, wie Cranz berichtet,
nur solche Grönländer , die zur Arbeit getaugt , grosse Thaten
gethan und Walfische und Seehunde gefangen hatten. Char-
levoix erzählt von den mehr südlichen Indianern, dass sie An«
Spruch haben, nach dem Tode auf den Prairien ewigen Früh-
lings jagen zu können, wenn sie hier gute Jäger und Krieger
gewesen sind. »Wo Lescarbot von dem Glauben der virgini-
schen Indianer spricht, dass die Guten zur Ruhe, die Bösen
aber zur Qual gehen werden, bemerkt er zugleich, dass ihre
Feinde die Bösen, sie selbst aber die Guten sind, so dass sie
nach ihrer Meinung Aussicht haben, nach dem Tode sehr ge-
mächlich zu leben, besonders wenn sie ihr Land, gut verthei-
digt und ihre Feinde erschlagen haben«. So sagt auch Jean
de Lery von den rohen Tupinambas in Brasilien, dass sie
glauben, die Seelen derer," welche tugendhaft gelebt, das heisst,
welche sich ordentlich gerächt und viele Feinde verzehrt
— 25 —
haben , würden hintep die grossen Berge gehen und in schönen
Oftrten mit den Seelen ihrer Väter tanzen, aber die Seelen der
Weichlinge und Unwürdigoi, die nicht darnadi strebten ihr
Land zu schtttzen, wttrden in die ewige Pein kommen. Nach
dem Glauben der Gariben gehen die Tapferen ihres Volkes
nach dem Tode auf die glücklichen Insein, wo alle guten
Fruchte wild wachsen, um dort ihre Zeit mit Tanzen und
Festmahlen zu verbringen und ihre Feinde, die Arawaken, zu
Sklaven zu haben; die Feiglinge aber sollten dort den Ara-
waken dienen und in einem wüsten unfruohtbaren Lande
jenseits der Berge wohnen ^^j. — Dem Feigling, dem Geizhals
des eigenen Volkes ist der Indianer eben so wenig günstig
gesinnt als dem Feinde aus dem Nadibarstamme. Der Hass
und die Verachtung des Gemütiis lassen des Feindes Seele in
nicht gerade angendimer Situation und Umgebung im Traume
erseheinen, das Gefühl des Wachens, dass es dem HaiSsens-
werthen auch in jener Welt schimpflich ergehen müsse, erhalt
hier seine nähere Illustration, und die »Schattenseiten« der
Lebensweise und des Wohnsitzes der verstorbenen Schlechten
treten in ihren Einzelheiten vor das Auge.
Wie beim Mensehen beobachtet man an den Thieren die
Erscheinung von Schlaf und Wachen, Leben und Tod; in
Träumen ersdieinen auch von ihnen Phantome, und so fehlt
denn den niederen Cultur-Glassen die Empfindung eines ab*
so] Uten psychischen Unterschiedes von Mensch und Thier. Die
Wilden reden 'm allem Ernst mit lebendigen oder todten Thie-
ren wie sie mit lebenden oder todten Menschen sprechen
würden; sie bringen ihnen Huldigungen dar und bitten sie
um Verzeihung, wenn sie die schmerzliche Pflicht erfüllen
sie zu jagen und zu todten. Der Naturmensch plaudert mit
einem Pferde als ob es Vernunft hätte; nach seiner Ansicht
hat jedes Thier seinen Geist und dieser sein zukünftiges Le-
ben. — Sogar den Pflanzen wird — bei den Gesellschaftsin-
sulanem, den Dajaks auf Bomeo, den Earenen — eine Art
von Seele zugeschrieben; aus den buddhistischen Schriften
erhellt, dass in der ersten Zeit dieser Religion es ein Gegen-
stand vieler Streitigkeiten war, ob die Bäume Seelen hätten
und ob man ihnen demnach gesetzlich Unrecht thun könnte.
Gegenstände , die wir leblos nennen : Pflanzen und Bäume,
— 26 —
Flüsse, Steine und Waffen werden — besonders bei den
Algonkinstammen Nordamerikas, den Insulanern der Fidschi-
Gruppe und den Karenen in Birma — als beseelt gedacht;
haben sie ja doch nicht minder ein Phantom als der lebendige,
denkende Mensch! — Wie viele Völker bei Leiehenfeierlich-
keiten Opfer von Menschen und Thieren darbringen, um ihre
Seelen zum Dienste der Seele des Verstorbenen zu entsenden,
so opfern Stämme, die eine Gegenstandsseele annehmen, Ge-
genstände, um über deren Seele verfügen zu können. Es
giebt allerdings Völker, die von einer solchen Theorie Nichts
wissen und dennoch mit dem Todten Opfergaben in das Grab
legen; hier sind unzweifelhaft andere Motive, wie Abscheu
vor Allem, was mit dem Tode zusammenhängt, Symbolik u.s.w.
wirksam gewesen, — allein sehr viele Stämme haben die Vor-
stellung von Gegenstandsseelen, wenn auch nicht in so aus-
gesprt)chener Form wie die drei genannten. — Es herrscht
die Ansicht vor, dem Verstorbenen eine Wohlthat zu erweisen,
sei es aus Liebe, oder aus Furcht ihm zu missfallen und ihn
auf seiner langen Reise keinen Mangel leiden zu lassen. —
Die Neuseeländer, die Kariben, Eskimos und Patagonier, die
Guinea-Neger, Buräten, Tonkinesen, die alten Scythen [Herod.
IV., 71), Stämme der semitischen und arischen Race opferten
auf dem Grabe eines Häuptlings und Helden Sclaven, welche
ihm im zukünftigen Leben dienen sollten, und begruben zu
demselben Zwecke mit ihm Hunde, Pferde oder Kameele,
Waffen und Schmucksachen. Der nordamerikanische Indianer
begräbt mit der Leiche des Kriegers »alles was ihn freuen
mag <( :
»Legt ihm unters Haupt die Beile,
Die er tapfer schwang,
Auch des Bären fette Keule,
Denn der Weg ist lang;
Auch das Messer, scharf geschliffen,
Das vom Feindeskopf
Rasch mit drei geschickten Griffen
Schälte Haut und Schopf.
Farben auch, den Leib zu malen,
Steckt ihm in die Hand,
Dass er röthlich mOge strahlen
In der Seelen Land«.
— 27 —
In ähnlicher Weise wird eine Frau mit ihrem Ruder, ihrem
Kessel und dem Tragriemen jfUr die immerdauemde Last ihres
schwer beladenen Lebens bestattet.
Viele solcher Opfernden meinen : wenn die Gegenstände auch
im Grabe vermodern oder vom Scheiterhaufen verzehrt wer-
den, so gelangen sie doch auf irgend eine Weise in den Be-
sitz der körperlichen Seelen, denn nicht die materiellen Dinge
selbst, sondern ihm entsprechende Schattengestalten werden
von ihm gebraucht; ähnlich wie nach Anticleas Schilderung
bei Homer auch des Menschen Körper vom Feuer verzehrt
wird, die Seele aber ohne Fleisch und ßein »wie ein Traum-
bild« in den Hades hinabsteigt [Odyss. XI, S19 ff.). — Manche
Negerstämme senden dem verstorbenen Häuptling von Zeit zu
Zeit neue Bedienung durch Opfer von Sclaven nach ; allgemei-
ner aber ist der Gebrauch die Seelen mit Speisen und Geträn-
ken zu versorgen.« Unter den turanischen Racen Ostasiens
legen die Tschuwaschen Speise und Tischtücher auf das Grab,
indem sie sprechen : »Stehe auf in der Nacht, iss dich satt und
wische dir mit den Tüchern den Mundl«, während die Tsche-
remisdien einfach sagen : »das ist für dich, da hast du Speise
und Trank.« Diese Sitte ist über ganz Südasien verbreitet.
Die Chinesen versorgen den eingesargten Verwandten Jahre
lang mit Speise als ob er noch am Leben wäre. Der Hindu
bietet wie \or Alters dem Todten Leichenkuchen dar, stellt
irdene Gefässe mit Wasser zum Baden' für ihn vor die Thür
und Milch zum Trinken. Der alte Aegypter setzte Vorräthe
von Kuchen und gerupfte Enten auf Rohrgestellen in das Grab.
Bei den meisten Völkern werden besondere Todtenfeste ge-
feiert, deren Zeit nach den verschiedenen Gegenden verschie-
den ist, jedoch mit dem Herbst und dem Ablauf des Jahres,
welcher gewöhnlich in die Mitte des Winters oder den Anfang
des Frühlings verlegt wird, in Verbindung gebracht zu werden
scheint.
Für die Vorstellung , dass der Geist thatsächlich die mate-
rielle Nahrung verzehre, finden sich einige Beispiele, vorherr-
schend schont aber die weniger materielle Ansicht zu sein,
dass die Seelen den Duft oder den Geschmack der Speisen,
ihre Essenz oder ihren Geist geniessen. Auch den höchsten
Geistern , den Göttern , ist ja der Duft der Speisen angenehm
— 28 —
vnd man bringt ihnen Opfer in Form von daffipfemdem Bauche
(Vargl. Homer IL I. 347 etc.).
Tylor sagt: »Es scheint als ob die VorsteUung von eitter
mensehUchen Seele , einmal von dem Menschen ergriffen, als
Typus oder Vorbikl gedient hat, nach welchem er nicht nur
seine Ideen von anderen Seelen niedrigeren Grades, sondern
auch von geistigen Wesen im Allgemeinen gestaltet hat; von
dem winzigsten Elfen, der sich im hohen Grase Uunmelt, bis
hinauf zum grossen Geiste, dem himmlischen Sdiöpfer und
Lenker der Welt« (II. S. 140). — Die ähnliche Natur der See^
ien und der anderen Geister zeigt sich schon in den neusee«^
ländischen und westindischen Vorsteliungen von dem »atua«
und dem »cemi«, W>sen, die eine besondere Erklärung ver-
langen, um zu entscheiden, ob es menschlidie Seelen, Dämo^
nen oder Gottheiten einer anderen Klasse sind; und so auf^
wärts bis zur Angabe des Philo JudaeuSy dass Seelen, Dämmae
und Engel sich zwar im Namen unterscheiden, in Wirklichkeit
aber ein und dasselbe sind. Es findet sieh eine vi^lstandige
Uebergangsreihe von Vorstellungen. Oft fürchten wilde Stämme
die Seelen der Todten als böswillige Dämonen und sdiädliohe
Geister, allgemein aber ist die Manenverehrung , welche die
gesellschaftlichen Beziehungen der Welt der Lebeaden auch
nach dem Tode annimmt. Die todten Vorfahren, jetzt in Gott*
heiten übergegangen, beschützen noch ihre Familien; der
todte Häuptling wacht über seinen Stamm und bewahrt seinen
Einfluss. Romulus wurde in der Erinnerung an seine aben-
teuerliche Kindheit nach dem Tode zu einer rümisehen Gott-
heit, die der Gesundheit und Sicherheit kleiner Kinder günstig
war; die vorchristlichen Schutzgötter und christliehen Heiligen
empfangen von den Menschen Verehrui^ und greifen in ihre
Angelegenheiten ein. — Wie von Seelen, so glaubt man auch
von anderen Geistern, dass sie entweder frei in der Welt
umherschweifend existiren und handeln können, oder auf län-
gere oder kürzere Zeit in einem materiellen Leibe veriLörpert
werden. Die Seele des Menschen bewohnt seinen Leib, denkt,
spricht und handelt durch ihn, der Einfluss eines zweiten
seelenähnliehen Wesens oder eines fremden Geistes kimn ab-
norme Zustände des Körpers und der Seele verursai^^i; der
Besessene schreibt einem persönlichen Geiste die Ursache seiner
— 29 —
LeideD zu^). Aber auch in uns ganz leblos ersoheinendeB
Dingen : im Sldd^en, KlIMaen und Steinen kann der Geist seinem
Wehmitz aufsdilagen, sie zu Petisch^Obfeoten machen imd von
ihnen «as Witten. Durdi ein geringes Absehnitzen, Ritzen
oder mü Farben Bestreiehen wird dann ein roher Block oder
ÜMein in ein Götzenbild verwandelt; was zuerst als Symbol
einer göttlidien Persönlichkeit erseheint, wird als Wohnsitz
des Symbolisirten betraditet und mit ihm selbst id^ntificirt.
Wie das Kind sdn Spielzeug als lebend betraohtet und behnn«*
delt, so hält audi der Naturmensdi das Unorganische für b^
seelt, die ganze Natur ftUr belebt, Ton geistigen Wesen bevttik
kert und b^errscht. D»er menschliche Leib lebt nnd handelt
kraft der ihm innewohnenden Seele ; nicht anders werden die
Vorgänge in der äusseren Welt durch Geister ins Werk f^
setzt. Freundlichen oder feindlichen Geistern sc^eibt ^ alles
Gute und Böse in seinem eigenen Leben und alle auffälligen
Vorgänge in der Natur zu; in vertraulichem Verkehr stdit er
mit den einflussreichen Seelen seiner verstorbenen Vorfahren,
mit Geistern von Strom und Wald, von Ebene und Gebirge;
die gewaltige leuchtende und erwärmende Sonne, die unge»
heure See, welche ihre stolzen Wogen gegen den Strand
sdilägt, erscheint ihm belebt, und die grossen persOnUchoii
Gottheiten des Himmels und der Erde beschützen nach seinesi
Glauben alle Dinge die sie hervorbrachten. Einzelne persön-
liche Naturgeister beherrschen und leiten einzelne Vorgänge
in der Natur, bis bei weiterem Fortschreiten der Civilisation
ein kräftigeres Streben der Abstraction sich zeigt, der Wir-
kungskreis mancher Götter sich immer mehr ausdehnt und
endlidi die ganze Thätigkeit des Universums als von dem
Willen eines einzigen allmächtigen Gottes , auf welchen man
die Eigenschaften der menschlidien Seele überträgt, abhängig
vorgestellt wird**).
Alles was der. Traum den Menschen lehrt, bestätigen
die ihm verwandten visionären Zustande. Den Anblick
und Verkehr mit Geistern, welche gewöhnliche Menschen nur im
Traume haben, verschaffen sich Visionäre von Fach durch kttnst^
liebe Mittel. Die Schamanen der Naturvölker rufen durch Fasten,
Rausch, Musik und Tanz, Monotonie des Gesanges, fixirte Me*
— 30 —
ditation sowie manche Narcotica jene Extase hervor, in v/eU
eher ihnen die Geister erseheinen und die Gottheilen durch
ihren Mund den Menschen ihre Orakel verkünden, bis der Zu-
stand ein habitueller und der Priester, wie die Sulus sagen,
ein »Traumhaus« wird. — Auf den westindischen Inseln
schnupften die Priester das »Gohoba«-Pulver; die Omaguas am
Amazonenstrom ziehen durch einen gabelförmigen Röhren-
knochen das Curupa-Pulver in die Nase und verursachen da-
durch eine Vergiftung von vierundzwanzigstündiger Dauer,
wahrend welcher sie ausserordentlichen Visionen unterworfen
sind. Die californischen Indianer gaben ihren Kindern nar-
kotische Getränke, um durch die darauf folgenden Visionen
Nachricht über ihre Feinde zu bekommen; ähnlich verfuhren
die Mundrucus in Brasilien mit ihren Sehern, \^lchen dann
im Traume die Theilnehmer eines Mordes erschienen. Die In-
dianer von Darien wussten durch Gaben des Samens von
Datura sanguinea bei Kindern ein prophetisches Delirium her-
vorzurufen, worin dieselben verborgene Schätze angaben. In
Peru versetzten sich die Priester durch ein Getränk, welches
»Tonka« genannt wurde, in einen extatischen Zustand, wenn
sie mit den Fetischen redeten. Zu ähnlichen Zwecken wurde
der Tabak in Nord- und Südamerika benutzt, indem man den
Rauch verschluckte.
Die arischen Völker vergötterten einen giftigen Trank,
das Original des göttlichen Soma der Hindus, des Haoma der
Parsis. Plinius erwähnt Abkochungen von Thalassaegle, wel-
che Delirien und Visionen hervorrufen; dieselben Wirkungen
wissen die Orientalen unserer Zeit durch Opium und Haschisch
hervorzid)ringen. Wenn sich der Priester oder Zauberer in
Guayana zu seinem Amte vorbereitete, fastete er streng unter
fortwährenden Geisselungen, dann tanzte er bis er besinnungs-
los zu Boden fiel, und wurde durch einen Trank von Tabaks-
aufguss wieder zum Leben zurückgerufen. Diese Behandlung
dauerte fort, bis er endlich in einen habituellen, visionären
Zustand gerieth, welcher ihn zu seinem Amte qualificirte. —
Die Pythia in Delphi musste sich einige Tage bevor sie den
Dreifuss bestieg, durch Fasten vorbereiten und die aus der
Kluft aufsteigenden Dünste versetzten die so Vorbereitete in
einen visionären Zustand ; in Folge dessen stiess sie »von Gott
- 3t -
begeistert« einzelne unzusammenbängende Worte aus, welche
die schlauen Priester nach ihrer Weise als »Heraussagera, »Her-
ausdeuter« (irpof^tai) deuteten und zu geordneten Sprüchen
fügten 24).
In solchen visionären Zuständen wird der Mensch von
Geistern besucht und von ihnen begeistert, oder die Seele des
Sehers verlässt selbst ihren Körper, um auf Besuch und Kund-
schaft auszugehen. Der eingebome Doctor in Australien erhält
seine Einweihung, indem er in einer zwei bis drei Tage
dauernden Verzückung die Welt der Geister besucht; bei den
Khonds erweist der Priester sich als zu seinem Beruf befähigt,
indem er einen bis vierzehn Tage in einem schläfrigen, träu-
menden Zustande bleibt, welcher durch den Aufenthalt seiner
Seele bei den GOttern veranlasst ist ; die Seele des grönländi-
schen Angekoks verlässt seinen Leib um seinen Familiar-
dämon zu holen; der turanische Schamane liegt in Lethargie,
während seine Seele sich entfernt um aus dem Lande der
Geister verborgene Weisheit zu holen. Die finnischen Zauberer
verstehen sich in eine Art von Betäubung oder Enthusiasmus
zu versetzen, aus welchem Zustande sie selbst nicht durch
Application des Feuers zu erwecken sind, während ihre Seele
umherschweift und verborgene Dinge aufspürt, die sie bei der
Rückkehr enthüllt. Im alten Scandinavien liess der Häuptling
Ingimund drei Finnen drei Nächte lang in einer Hütte ein-
sperren, damit sie Island besuchen und ihm Nachricht bringen
sollten von der Lage des Landes wo er im Begriff war sich
anzusiedeln ; ihre Leiber wurden starr, sie schickten ihre See-
len auf Kundschaft aus und als sie nach drei Tagen erwachten,
gaben sie eine Beschreibung von Yatnsdael. Die Seele des
Hermotimos von Clazomenae ging von Zeit zu Zeit aus, um
ferne Gegenden zu besuchen; als man einst seihen Leib auf
dem Scheiterhaufen verbrannte , fand die arme Seele bei ihrer
Rückkehr keine Wohnung mehr vor. So lernt der Visionär
die Qualität der Geister kennen, welche nur er, aber nicht
die ihn umgebenden gewöhnlichen Menschen zu sehen ver-
mögen, — die grönländischen Seher schildern die Seele genau
so, wie sie ihnen in Visionen erscheint^ — er hört ihre
Stimme, sieht ihre Bekleidung oder Bewaffnung, erblickt mit
— 32 —
Staunen die Herrlichkeit äre» Wokaortes, des Paradiese», und
erfährt ihre Lebensweise**).
Noch mehr als bei der Bildung waren die Visionm and
die Besessenheit bei der Befestigung und Verbreitung reU^
giOser Vorstellungen thatig. Die begeisterten Seher und Seherin-
nen, welche sdiauten w;as den Augen anderer Leute vertiorgen
blieb, und durch deren Mund die Gottheit ihren WiUen zu
erkennen gab, mnssten gewöhnlichen Menschen als bevorzugt
erscheinen, ein grosses Ansehen gewinnen und da<kireh xxob^
dingten Glauben finden ; um so mehr, als ihre Aussagen meist
mit dem fibereinstimmten und nur klarer und ausftthrlidier
darlegten, was Vi^ im Traum dusdLel und ahnungsweise er^
kannten. Die Seher waren wie bei den Natervölkem in der
dassischen Weh hochgeehrt; dem Teiresias wird noch in der
Unterwelt Bewusstsein und Verstand zugeschrieben, während
die anderen »wandelnde Schatten« sind (Odyss. X. 4-^8). Die
Sprüche der Pythia, so zweideutig sie audi sein mochten,
hatten den mächtigsten Einfluss auf die Handlungsweise des
hellenischen Volkes und waren wie die andern Orakel — zu
Dodona, zu Abai in Hiods, zu Aidepsos in Euboea, am Berge
Ptoon, zu Hypsiai in Boeotien, zu Arges u. s. w. — ein Haupt-
mittel, den Glauben der Menge an die olympischen G(Hter zu
befestigen. In der christlichen Kirche haben die Visionen der
Apostel und die durdb sie wie durch Christus selbst ausge-
fttfarten Heilungen von Besessenheit Tausende zu Anhängern
des neuen Glaubens gemacht.
Sprenger, der besonders auf die Widitigkeit visionärer
Zustände in der Entwickelung der Religionen aufmerksam
macht , weist nach , dass einerseits die ältere Religion der
Araber in den Sehern oder Visionären von Fadi eiae Stütae
besass, andererseits auch das Prophetentfaum Mtihwnined^s nichts
Anderes war^ als die kluge Berechnung eines genievoU^m
Visionärs, der die allen Orientalen in Folge besonderer Nerven*-
Constitution und äusserer Umstände, in ganz besonders hoheoi
Grade aber ihm selbst durch physisdie und psydiisohe Anlage
anhaftende Neigung zu Visionen und zum Glauben an dieselbe
benutzte, um seinen Ideen Durdigang zu verschaffen und
seinen Landsleuten eine neue Religion zu geben, — dabei aber
doch nur, wie jedes wirkliche Genie, aussprach und in be-
— 83 —
»
Stimmten Gedanken Gestalt gab, was das Volk dunkel empfand.
Er sagt, dass Muhammed (nach ihm war sein wirklicher Name
Mohammad} an einer Krankheit gelitten, die häufiger bei Frauen
als bei Männern, dodi auch bei diesen vorkomme und von
SchöfUein »hysteria muscularis« genannt werde. Sie charaete-
risire sidi nämlioh durch abwechselnde Expansion und Con-
traction der Muskeln u. s. w. , und verstecke sich, wie jede
Ersdieinungsform der Hysterie, vorzüglich hinter andere Krank«-
faeiten, welche sonst in dem betreffenden Orte heimisch seien ;
sie habe daher bei Muhammed die Gestalt des Fiebers ange-
nommen, da in Arabien und den angrenzenden Gegenden be-
sonders das Wechselfieber zu Hause sei. Alle Symptome dieser
Krankheit: eine unersättliche Wollust in späteren Lebens-
jahren, Neigung zum Betrug ohne böse Absidit Jemandem
dadurch zu schaden, zu Hallucinationen u. s. w., — hätten
sid) bei ihm gezeigt, sowie es auch erwiesen sei, dass er zahl-
reiche schwächere und stärkere epileptisdie Anfiille gehabt
habe; seiner religiösen Stimmung entsprechende lebhafte Ti^ume
hätten den ersten Anlass zu dem Prophetenthum gegeben,
Hallucinationen endlich ihn in seiner Absicht bestärkt und den
Plan zur Ausführung gebracht ^^].
In der christlichen Welt waren bekanntlieh das ganze
Mittelalter hindurch Visionen, Geisterersdieinungen aller Art,
Austreibungen von Dämonen und sonstige wunderbare Heilun-
gen an der Tagesordnung. Die Reformation und die fort-
schreitende Wissenschaft der Medicin zog ihnen allmählich
Schranken, — typisch ist der Uebergang in der Irrenanstalt
Gheel in Belgien, wohin man frtther Mondsüchtige in grosser
Zahl brachte, um die Dämonen in der Kirche der St. Dym-
pfaana feierlich austreiben zu lassen, während jetzt der Arzt
an Stelle des Exorcisten dort sein Amt verrichtet, — und man
wüsste oft die Geister durch Arzneimittel und ärztliche Be-
handlung ä la Nicolai sehr gut zu bannen. In mmicben Gegen-
den aber sdiwanden sie nicht so schnell: man bildete eine
vollständige »Kunst der Entzückungen« aus und wendete, wena
der Priester Macht sich zu vermindern drohte, dieses abge^
nutzte Mittel der Erscheinung von Geistern und Jungfrauea
ifismer wieder an, um die verirrten Lämrolein zur Heerd«
Badeitoekf BohlAf n. Tiaum. 3
— 34 —
«
zurttcks&uftthren , damit sie ^ mit der Zeit zu ireuea Schafen
würden.
Der Cultus des modernen Schamanenthums, des Spiri*
tualismus, wurde im vorigen Jahrhundert wieder erweckt
und befordert durch den Visionär Swedenborg^ welcher in
seinen mittleren Jahren als nüchterner Denker keine Neigung
zu dieser Art von Studien zeigte, bis in höherem Alter ekstatt*
sehe Zustände und Visionen sieh bei ihm bemerkbar machten,
vielleicht mit durch die Nachwirkung einer heftigen Gemüths-
erschütterung in Folge einer getäuschten Jugendliebe hervor-
gerufen. Seine Prophezeiungen beschäftigten die hervorragend-
esten Köpfe jener Zeit, wie Herder, Wieland y Klopstock und£^an^;
er hat in Bezug auf die Entwicklung gewisser philosophisch-
religiöser Ansichten, welche in niederer Cultur blühen, in
höherer allmählich schwinden, einen ausserordentlichen Ein-
^uss geübt, und jetzt zählen die Spiritisten in Amerika und
England nach Zehntausenden. Wie er meint, lebt die Seele
' des Menschen nach dem Tode in vollständig menschlicher Form
fort und kann schon im irdischen Leben Wanderungen unter-
nehmen, während , der Körper in Ruhe bleibt. Swedenborg
selbst passirte es mehrere Male, und er unterhielt sich dann
nach seiner eigenen Aussage mit verstorbenen Verwandten und
Freunden, Königen, Fürsten und Gelehrten. Er behauptet
fest, es seien keine Fictionen, sondern er habe alles wahrhaf-
tig gesehen und gehört und zwar nicht in einem schlafenden
Zustande des Geistes, sondern im völligen Wachen. Seine
Anhänger haben den unerschütterlichen Glauben, dass die
Welt von mächtigen, denkenden, körperlosen geistigen Wesen
wimmele, welche auf die Gedanken der Lebenden und die
Materie direct einzuwirken im Stande seien; durch Klopfen
4ind Schreiben machen sich die Geister dem Menschen bemerk-
bar, geben ihm Rathschläge, lassen ihn einen Blick in die
Zukunft thun, theilen ihm die Fähigkeit mit in der Luft zu
schweben und lösen unter Umständen seine Fesseln. Wenn
ein Indianer, wie Tylor (I. S. 455) bemerkt, einer Geister-
sitzung in London beiwohnte, so würde er das Klopfen, die
Geräusche, Stimmen und die anderen physischen Leistungen
körperlicher Geister für etwas Gewöhnliches und Selbstverständ*
liches halten^ und fremd würde ihm nur sein die Einführung
— 35 —
der Budistabir- und Schreibkttnste , welche einer anderen
CiYilisationsstufe angehören als auf der er selbst steht.
Der Einfluss visionärer Zustände in der politischen Ge-
schichte tritt klar hervor, wenn man einen Blick wirft auf die
Umw älsungen, welche die Weissagungen und JOrakel von jeher
in der Geschichte der Völker hervorgebracht haben. Apollo
hatte durch seine Orakelsprüchc den grössten Einfluss auf die
^öffentlichen Angelegenheiten der Griechen, auf ihre Verfassung,
die Wanderung der Stämme und die Gründung von Colonien ;
er ist Städtegründer und Coloniesender (apjf^JY^?» xzlavr^q,).
Aber die Aussprüche der Pythia, .welche die vielfach fremdem
Willen gehorchenden Priester nach ihrer Weise auslegten, zer-
störten auch grosse Städte und gewaltige Reiche. Schon Homer
redet davon, dass zu der Zeit, als Agamemnon das Orakel
Apollos befragte, das gewaltige Leid über die Trojaner und
Danaer sich »heranwälztea. Sogar Barbarenvölker ehrten das
Delphische Orakel , besonders die lydischen Könige. Freilich
musste es Krösus mit Verlust seiner Herrschaft bezahlen, als
«r den nach Sendung reicher Weihgeschenke erhaltenen Spruch,
er würde, wenn er gegen Cyrus ziehe, ein grosses Reich zer-
stören, zu seinem Vortheil auslegte 2'). — Wie die Assassinen
für die paradiesischen Wonnen, von denen sie in der Haschisch-
Berauschung einen Vorgeschmack bekommen, jede schreckliche
That vollbrachten, so hat der mehr verbreitete Fanatismus der
für ihren Glauben kämpfenden Anhänger des Visionärs Muham-
med gewaltige Reiche zerstört. — Als später die Helden Jungfrau
Joanne d^Arc die französischen Heere von Sieg zu Sieg führte,
die englischen aber vernichtete und den König, wie sie es
versprochen, in Rheims zur Krönung einziehen Hess, war es
die Macht der Visionen und der darin sich kundgebenden gött-
lichen Sendung eines siebzehnjährigen Mädchens über die Ge-
müther Aller, welche dem Heere Begeisterung gab und dadurch
diese Wunderthaten ermöglichte 2») .
Was Visionen zum Ausdruck bringen, beroiten Träume vor;
^ denn allen solchen krankhaften Zuständen gehen äusserst lebhafte
Träume voran. Muhammed hatte sehr lebhafte Träume, fragte
seine Schüler oft nach den ihrigen und ermunterte sie, alles
2u notiren was ihnen darauf begegnet sei; auf diese Weise
gewann er Routine in der Traumdeutung, welche sein Ansehen
3*
— 36 —
bei dem Volke noch mehr erhöhte ^^) . Seine Nachfolger legten
ebenfalls auf Träume einen grossen Werth, und es ist ja be-
kannt, dass die Traumliteratur der Araber, wie überhaupt der
Orientalen ungeheuer mannigfaltig . ist.
Zorocbster soll, als er den Zend-Avesta schrieb, von Träu-
men inspirirt gewesen sein. Bei den Griechen hatte man
ebenso wie bei den Orientalen Traumausleger von Fach (dvst^
posioAot, oveipocmotroi^ ovsipojAavrei^) 3®) . Diese Auslegungen
wurden zwar nur von Einzelnen benutzt, doch haben auch
Träume das Geschick ganzer Staaten und Völker entschieden,
indem sie das schwankende Gemüth mancher Feldherm festen
Muth fassen Hessen und sie zu einer bestimmten Handlungs-
weise drängten. Der Römer Publius Decius. Hess sich muthig
in ein Treffen ein und versicherte, als er gewarnt wurde, es
sei ihm im Traume offenbart worden dass er siegen werde.
Augustus hielt, wie Sueton berichtet, viel auf eigene und
fremde Träume; vor der Schlacht bei Philippi war er krank
und hatte deshalb beschlossen nicht aus seinem Zelte zu gehen,
allein da seinem Arzte geträumt, hatte er werde siegen, be*
gähn er das Treffen ^^], ähnlich wie bei Homer der Herrscher
Agamemnon auf den Rath eines Traumes das Heer gegen die
Trojaner vorrücken lässt. — Ganze Volksstämme sind durch
Träume zu Wanderungen veranlasst worden und einzelne
Menschen wurden durch sie zu Trägern grosser Pläne und Ideen.
Jetzt gründet man die Schlachten freiHch auf »Pläne« und nichl
auf Träume, man gestattet diesen keinen Einfluss "mehr auf die
Politik; höchstens sieht des Morgens hie und da eine Schöne
in ein Traumbüchlein, lässt durch die darin enthaltene Deutung
ihres Traumes die Politik und Diplomatie ihren Anbetern gegen-
über bestimmen und versendet nach der von ihm bestimmten
Richtung hin die Geschosse ihrer Liebesblicke.
Capitel n.
Der träum bei Dichtern and Philosophen.
in der Literatur aller Zeiten und jeder Art finden wir
den Traum behandelt, besonders aber in derjenigen, welche
derselben Seelenthätigkeit als der Traum selbst, der Phantasie,
entsprang. Die Poesie — die epische, lyrische und dramatische,
— hat ihn sowie den Schlaf einerseits besungen '>) , andrer-
:seits ihn im neckischen Spiele der Vorstellungen und der Bil-
dung von Gedanken nachzuahmen versucht, sei es dass sie
die Helden wirklich träumen lässt oder ihr waches Denken in
«in träumerisches verwandelt. Der Traum wurde dem Dichter
«in gutes Mittel, um neben den Interessen, die des Menschen
Oeist am Tage erfüllen und sein Denken leiten, die dunklen,
im Wachen unter die Oberfläche versunkenen Gedanken und
Regungen des Gemttths, die Quellen und Motive, aus denen
die Gedanken und Handlungen hervorgehen, ferner die sub-
jectiven Folgen der Handlungen, welche sich als Vorwürfe des
Gewissens kund thun, — kurz das, was wir das wahre innere
Wesen des Menschen zu nennen pflegen, zu enthüllen. Da-
durch erhält der Leser beziehentlich Zuschauer und Zuhörer
ein vollständiges Bild von den Characteren, und zweitens er-
scheint die Schilderung, wenn sonst mit psychologischer Fein-
heit durchgeführt, vollständig wahr und lässt die Saiten unsres
eignen Innern Um so lebhafter mitschwingen, weil vdr selbst
wissen, dass im Uraumoft wirklich diese sonst tief unter der
Schwelle des Bewusstseins liegenden Vorstellungen und Re-
^ngen emportauchen. Eine fernere Wiehtigkeit besitzt der
Traum für den Dichter insolern, als vennittelst der in dem-
selben ausgesprochenen Gedanken und ihrer Verwirkliehung
durch die That ein Fortschritt der Handlung berbeigefilhrt oder
— 38 —
der Helden Vergangenheit geschildert wird, ohne dass eine
langweilige Erzählung die Schönheit und Technik des Ganzen
gefährdet. So lässt Homer die Helden zu den folgenden Hand-
lungen durch den von Zeus selbst entsandten Traum und
durch den Besuch der Seelen Abgeschiedener, oder einer die
Gestalt eines Menschen annehmenden Gottheit angefeuert wer-
den ^8). Auch Vergil bedient sich dieses Mittels (Aen. IV.
554 ff. etc.).
Im deutschen Volksepos, dem Nibelungenlied, ahnen Kriem-
hild und Ute das zukünftige Schicksal ihrer Lieben voraus*, in-
dem sie symbolische ; darauf hindeutende Traumbilder haben.
Erstere träumt (4.av.) dass ein von ihr aufgezogener Falke
von Aaren zerrissen werde, in der Nacht vor dem Aufbruche
zur Jagd, Wo Siegfried ermordet wird (46. av.), sieht sie den-
selben von zwei wilden Schweinen verfolgt, dann zwei Berge
auf ihn fallen und ihn zermalmen. Ihre Mutter träumt vor
dem Auszuge der Burgunden nach dem Lande der Hunnen
(25 av.], dass alle Vögel im Lande todt seien. Allein der prak-
tische, thatkräftige Hagen entgegnet, obgleich er das Unglück
sicher voraussieht, während es die Frauen nur ahnen, durch
den Spott GernoVs gereizt und deshalb erst recht zur Reise
drängend : »Swer geioubet treumen der enwei:^ der rehten
maere niht ze sagene.« — In den Dichtungen des grossen
Seelenkttndigers Shakespeare spricht der Traum die verborgen^
sten Regungen des Inneren aus und peinigt den ruchlosen
Richard HL vor der Schlacht durch furchtbare Schreckenssce-
nen. Die dämonische Lady Macbeth findet keine Ruhe im
Schlaf; ihr Gemahl sieht selbst am Tage mitten in der Gesell-
schaft seiner Umgebung in Sinnestäuschungen seine Schandthat
vor sich, er flucht der Kunst des Arztes, weil sie nicht ihn
von den Qualen der Erinnerung befreien und die »Furchen
des Gehirnes glätten« kann 34). — Der Spanier Calderm de la
Barca schrieb ein Schauspiel: »Das Lebenein Traum«^^), und
»Der Traum ein Leben« ist der Titel eines dramatischen Mär-
chens von Griüparzer ^) ; bekannter noch als beide ist SAoie-
speare's »Sömmemachtstraum«. In Novelle und Roman findet
man den Traum ebenfalls oft aufgenommen 3^) .
Wenn aber der Dichter, besonders der Lyriker, sich den
holden Träumereien selbst hingiebt, ja hingeben muss, und
— 39 —
manche Genies ihre Werke in einer Art von bewusstlosem Zu-
Stande, der dem Traum sehr ähnlich war, sollen hervorgebracht
haben — wie es schon Sokrates bei den Dichtern seiner Zeit
fand^^) — so ist dies anders bei dem Philosophen. Ueber den
Traum reilectirend sucht er sein Wesen zu erforsdien, die
physischen und psychischen Gesetze aufzufinden, welche ihn
bedingen, die Ursachen, aus welchen seine einzelnen Elemente
hervorgehen, aufzuweisen und die Aehnlichkeit mit dem wachen
und normalen Denken einerseits, den verwandten Erscheinung
gen der Sinnestäuschungen und des Wahnsinns andrerseits,
sowie den Unterschied von denselben darzulegen. Damit ver-
schwindet denn der Nimbus des holden Gesellen, sein luftiges,
lockeres Leben wird entdeckt, seine Taschenspielerkunst, mit
welcher er uns zu dupiren sucht wie sein melancholischer
Bruder, der Somnambulismus^ durch sein Hinttberschielen zum
Wahnsinn erklärt, seine Renommisterei und Uebertreibung er-
kannt ^ sein Prophetenthum begrenzt und der unbedingte
Glaube an dasselbe wankend gemacht. Freilich war dies
nicht zu allen Zeiten bei allen Philosophen der Fall; bei
vielen genoss er zu alter und neuer Zeit das Ansehen, welches
ihm der Volksglaube beimass. Sokrates und sein Schüler
Xenophon hielten die Träume noch für Wirkungen der Götter,
wie sie bei Homer erscheinen 3»). Pyihctgoras schrieb den
Träumen einen höheren Ursprung zu. P/oto lehrte, dass die
Seele im Traum, wenn der Mensch sich einer guten Lebens-^
weise befleissige , ihre göttliche Natur zeige und ' höherer
Kenntnisse theilhaftig werdet). Vielleicht hat die Traum-
deutekunst der Aegypter und die Magie der Orientalen, welche
diese Männer auf ihren umfassenden Reisen kennen lernten,
zur Bildung jener Meinung nicht unerheblich beigetragen.
Ihre Schüler folgten der Meinung der Meister. Aristoteles war
der erste ^ welcher den Traum zum Gegenstande wirklicher
philosophischer Forschung machte; in seiner Schrift »Ueber
die Träume und die Wahrsagung im Schlaf« (Tispl ivoicv(<ov
xal tffi xatf uTtvov fiavtix^g)**) thut er manche Aussprüche, welche
jetzt noch die fortgeschrittene Naturwissenschaft und Psycho-
logie nur bestätigen können. So sagt er (S. 4^2 ff.j» ^^^^ ^^
unwahr sei, wenn man behaupte, die Sinne seien im Schlaf
für alle äussere Eindrücke unempfänglich , die letzteren riefen
— 40 —
vielmehr zuweiiea Traum vorsieUungen hervor (S. H9) ^ —
schon Demokrä eri&lärte die Traumbilder durch Vorttberschweben
der in Folge der Ausströmung von Atomen aus den Körpern
erzeugten Bilder (eiScoXa) , worin ihm Epicur im Wesentlichen
folgte. Femer weist er den Einfluss der Nachbilder und Er-
innerungsbilder des Gesichtssinns nach (S. 4 46 ff., 422 ff.),
deutet auf die *— heute sogenannte — ungewöhnliche Asso-
ciation und passive Apperception im Traum und in den Delirien
hin (S. 446) und meint, dass der Traum nicht immer prophe-
tisch sein müsse, es auch in vielen Fällen nicht sei, sowie,
dass seine Haupteigenthttmlichkeit in der Uebertreibung be-
stehe (S. 424 ff.). Der Stoiker Chrysippus aber nahm an,
dass die Träume von den Göttern gesandt würden. Cicero
lässt im ersten Budlie seiner Schrift »Ueber die Weissagung«
(de divinatione) durch Quintus alle Beweise der Stoiker für die
Wahrheit und Göttlichkeit der verschiedenen Arten der Wahr-
sagerkunst aufstellen; — im zweiten führt er, mit Cameades
an Weissagungen nicht glaubend, dessen Einwürfe und seine
eigenen dagegen ins Feld, um sie zu entkräften. Dabei macht
er die triftige Bemerkung, es sei in Betreff der Weissagungen
der Visionäre doch wunderbar, .dass die Kranken, welche ihre
gesunden menschlichen Sinne eingebüsst, dafür göttliche be-
kommen hätten und sehen könnten, was gesunde und ver-
nünftige Leute wahrzunehmen nicht im Stande seien ^^). Die
Ansicht der Kirchenväter ist ein Gemisch von aristotelisch-,
philosophischen und religiösen Elementen. Augustin erörtert
verschiedene Träume seiner Zeitgenossen, in welchen ihnen
Verstorbene oder Lebende erschienen ; in einem spielt er selbst
eine Rolle. Als nämlich einmal einer seiner Schüler, der
Rhetor Eulogius aus Garthago, nicht einschlafen konnte, weil
er an eine schwierige Stelle in Cicero' s Rhetorik dachte, er-
schien Augustin im Traum und erklärte sie ihm. Allein
Augustin meint, es sei jedenfalls nur sein Bild gewesen, denn
er selbst war weit entfernt jenseits des Heeres und hatte
überhaupt Nichts davon gewusst, noch sich darum geküm*
mert*^). — Der berühmte Arzt des Mittelalters, Paracelsus
(4493 — 4544), hatte die mystische Ansicht , dass der siderische
Theil der Seele über den elementaren oder irdischen im Schlafe
die Obmacht gewinne und sich zu den Gestirnen aufschwinge.
— 41 —
— Nicht bedeutend weicht von dieser die Ansicht vieler
Schellingianer in neuerer Zeit ab, bei welchen sieh ein
YoUsUlndiger Traumcultus ausbildete. G, H. wm Sdiubert
(4780 — 4860) nennt den Traum den Grund des Schlafes und
Wachens selbst, — den absoluten Ausdruck des Verhältnisses
von Geist und Körper , den dem Menschen eingebomen Ur-
grund ^4). Troxler (1780 — 4866) sagt: das Wachen ist ein
Traum der Seele, der Schlaf ein Traum des Leibes. Krause
bezeichnet den Traum als das reinste und feinste Selbstleben
des Geistes ausser den geschichtlichen Beziehungen mit dem
menschlichen Leibe, indem der Geist den Leib an den Leib
selbst zum Schlaf hingiebt. Anders ist die treffliche Schilde-
rung des Schlafes und Traumes bei dem die Naturphilosophie
Schelling^s mit besonnerer Empirie in Verbindung setzenden
Burdach, — freilich kann ich seiner Meinung, dass die Seele
im Schlaf und Traum in ihr embryonales und foetales Leben
zurückkehre 7 aus später zu erörternden Gründen nicht bei-
stimmen — ; ausgezeichnet ist auch die Purkinje' s^^). Eine
interessante Darstellung mancher Seiten des Traumlebens bietet
auch das auf beider letztere sowie auf die Forschungen des
französischen Gelehrten Ma/ury^^) in diesem Gebiete sich
stützende kleine Buch des Herbartianers L, v. Strümpell ^'^.
Hegel n^mt den Traum ein Schwanken des Geistes zwischen
seinem Naturgeiste und seiner vernünftigen Wirklichkeit^^).
Der sich an Schelling und Hegel anschliessende J. H. Fichte
spricht in seiner »AnUiropologie« die Ansicht aus, dass im
Schlafe eine )> ideale Entleibung« der Seele stattfinde; durch
den Körper hindurch würde gesehen und gewirkt, »gerade
ebenso, wie die magnetischen und elektrischen Kräfte die da-
zwischen liegenden indifferenten Körper durchdringen, als
wenn sie nicht vorhanden wärena. — Eine ähnliehe Begeiste-
rung wie die Schellingianer für. den Traum und seine Sym-
bolik zeigen in neuester Zeit Schemer ^^) , der in seine Fuss-
stapfen tretende Verfechter der Symbolik auch ia der Aesthe-
tik, J. Volkelt^)^ und, wenn auch in beschränkterem Massstabe,
der Arzt Pfe^,
Schon von Alters her herrscht der Streit zwischen ratio-
naler und empiris^cher Psychologie. Während Viele das
— 42 —
reine Denken für den einzigen Weg hielten, auf -dem sich Auf-
schittsse über die Probleme des Seelenlebens erlangen Hessen^
erklärten Manche die Seelenlehre für eine Wissenschaft der
Erfahrung, ja geradezu für eine^ Naturwissenschaft. Seitdem
Kant die Philosophie überhaupt aus ihren kühnen Speculationen
zurückführte und sie der Erfahrung zuwandte, hat man der
Psychologie als Erfahrungswissenschaft ein innigere»
Interesse gewidmet und sie mit der Methode der Naturfor-
schung behandelt. »Wie der Naturforscher immer ausgeht von
der Beobachtung der Erscheinungen, die ihm unmittelbar die
Natur bietet , so muss auch der Psychologe stets mit den That*
Sachen des Bewusstseins den Anfang machen. Aber erst in^-
dem er durch das Experiment verändernd eingreift in den Ver*
lauf der psychischen Erscheinungen und den verwickelten
Zusammenhang derselben in seine einfacheren Bestandtheile
auflöst, gewinnt er einen Einblick in jenen Mechanismus, der
im unbewussteh Hintergrund der Seele die Anregungen ver-
arbeitet, die aus den äusseren Eindrücken stammen. Es ist
der nämliche Weg, den überall der Naturforscher wählt. In-
dem der Naturforscher von den verwickelten Erscheinungen,
die ihm unmittelbar in der äusseren Beobachtung gegeben sind,
mit Hülfe des Experimentes zurückgeht auf die einfachen Ge-
setze, die jene Erscheinungen beherrschen, thut er auch nichts
Anderes, als dass er gleichsam den unbewussten Hintergrund
des Geschehens dem Auge enthüllt« ^^) . Ein weiteres Hülfs-
mittel neben dem Experimente bildet die Messung, sie findet
)>die Konstanten der Natur, jene festen Zahlen, die alles Ge-
schehen beherrschen«; letztere geben erst eine Einsicht in die
Gesetze des Geschehens. Der Physiker misst die bewegenden
Kräfte an den Bewegungen, aus der Beobachtung dieser macht
er Rückschlüsse auf die an sich selbst niemals sinnlich wahr-
nehmbaren Gesetze, nach welchen die Kräfte wirken. So misst
man auch die psychischen Functionen an den Wirkungen, die
sie hervorbringen oder von denen sie hervorgebracht werden.
Manche experimentelle und messende Untersuchungen im
Gebiete des Seelenlebens haben schon alte Naturforscher vor-
genommen, aber meist ohne ihre psychologische Bedeutung
zu kennen. Erst aus der Physiologie der neueren Zeit zweigte
sich die experimentelle Erforschung des Seelenlebens als be-
- 43 —
sonderes Untersuchungsgebiet ab. Nachdem der Physiolog
Ernst Heinrich Weber, gestützt auf ältere mathematische Unter-
suchungen das wichtige psycho-physische Gesetz , welches das
Verhaltniss der Empfindung zu dem sie veranlassenden Reis
angiebt, für einzelne Sinnesgebiete, besonders fttr das des Tast-
sinnes aufgefunden, thaten Renz und Wolff, welche unter
VieroriWs Leitung gemeinschaftliche Versuche anstellten, die
Geltung desselben fttr den Gehörssinn dar. Den Nachweis
aber, dass dieses Gesetz für alle Sinnesgebiete gültig ist, hat
erst, von Volkmann unterstützt, Theodor Fechher geliefert ^2).
oihm verdankt die Psychologie«, sagt Wundt^ i>die erste umfas-
sende Untersuchung der Sinnesempfindungen vom physikalischen
Standpunkte, durch die zu einer exacten Theorie der Em-
pfindungen der Grund gelegt wurde«. — Auch haben die treff-
lichen physiologischen Untersuchungen von Heln^oltz über den
Gesichts- und Gehörssinn eine grosse psychologische Bedeutung.
Von Wichtigkeit für die Psychologie ist ferner die in neuester
Zeit fortgeschrittene mikroskopische Erforschung der Sinnesor-
gane. Durch anatomische und physiologische Hilfsmittel hat
man wichtige Aufschlüsse über die Structur und Leistung der
Gentralorgane des Nervensystems erlangt. Wir wissen jetzt,
dass die Anregung des Nervenprocesses durch den äusseren
Reiz keine directe Uebertragung lebendiger Bewegungskraft,
sondern eine Auslösung gebundener Spannkraft ist, — da die
Reizung auf ihrem Wege in der Nervenleitung sich nicht ab-
schwächt sondern anschwillt, — und dass die letzte Quelle fttr
die Erzeugung der Kräfte, welche der Nerv in sieh entwickelt,
die Stoffe sind, die aus dem Blut in die Substanz des Nerven
übergehn. Die chemische Spannkraft dieser Stoffe wird zur
lebendigen Kraft jener Nervenbewegungen, die durch den
äusseren Reiz ausgelöst werden und die ihrerseits die Em-
pfindung auslösen ^3). Es ist festgestellt, dass die Arbeit des
Nerven eines äusserst regen Stoffwechsels zu ihrem Unterhalte
bedarf. Die Menge der Stoffe, welche verbraucht und aus dem
Organismus ausgeschieden werden, nimmt in Folge der Ner-
venthätigkeit bedeutend zu, und in entsprechendem Masse
wächst die Menge der Stoffe, die zum Wiederersatz erfordert
werden. Aus der Energie des Stoffwechsels der Organismen
— 44 —
vermdgen tvir auf die Energie der Nervenprocesse zurückzu-
schliessen.
Wenn auf diese Weise die Psychol<^ie in den Naturwis-
senschaften eine bedeutende Stütze gewann, so ist damit nicht
gesagt, dass wir mit Hülfe der letzteren geistige Processe ab-
zuleiten und zu erklären vermöchten. Dies thut der Materia-
Hsmus: er fasst das Denken nur als eine Eigenschaft des
äusseren materiellen Daseins, eine Function des Gehirns auf.
Die Beobachtung zu Grunde legend, dass psychische Kräfte
immer an ein materielles Substrat gebunden sind, dass sie
eine bestimmte Beschaffenheit und Zusammensetzung desselben
erfordern und schwinden, wenn die Zusammensetzung bedeu-
tend gestört oder ganz aufgehoben wird, — leitet er das Be-
wusstsein aus physikalischen und chemischen Processen inner-
halb der Nerven ab. So erklärt Karl Vogt den Gedanken für
eine Secretion des Gehirns : wie die Nieren den Urin , die
Leber die Galle, so erzeugt das Gehirn den Gedanken. Es ist
jedoch genügend einleuchtend, dass ein greif- sieht- und wäg-
barer Stoff, wie die Secretion letzterer Organe, mit einem Ge-
danken nicht im entferntesten zu vergleichen ist. Man kann
sich vorstellen, dass, wenn wir ein ungemein scharfes, die
jetzigen Instrumente noch weit übertreffendes Mikroskop be-
sässen, die Bewegungen der Molecüle und allerkleinsten Theile
der Nerven und des Gehirns (wenn man die Atome nicht als
unausgedehnte Kraftcentren fasst) beobachtet werden könnten,
welche bei den eine Empfindung begleitenden materiellen Vor-
gängen stattfinden, aber niemals würden wir mit den leiblichen
Augen den daraus resultirenden Gedanken erblicken ; die Vor-
stellung ist nie mit den Sinnen direct wahrzunehmen *4) .
Den groben Fehler K. Vogfs erkennt denn auch der Materialist
X. Büchner und liefert in seinem in der Jetztzeit viel gelesenen
Werke »Kraft und Stoff« eine andere Erklärung. Er sieht den
Gedanken für eine Kraftwirkung der Maschine des menschlichen
Organismus an und vergleicht ihn mit dem von der Dampf-
maschine erzeugten Effect. »Die Dampfmaschine hat in einem
gewissen Sinne Leben und übt als BesuUante einer eigen-
thttmlichen Gombination mit Kräften begabter Stoffe eine Ge-
sammtwirkung aus, welche wir zu unseren Zwecken benutzen
oder verwenden, ohne jedoch diese Wirkung an sich sehen,
— 45 —
riechen, greifen zu k(^nnen In ähnlicher Weise nun
wie die Dampfmaschine Bewegung hervorbringt, erzeugt die
verwickelte organische Complication kraftbegabter Stoffe im
Thierleibe eine Gesammtsumme gewisser Effecte, welche, zu
einer Einheit verbunden, von uns Geist, Seele, Gedanke ge-
nannt wird. Diese Kräftesumme ist nichts Materielles, kann
nicht durch die Sinne unmittelbar wahrgenommen werden,
ebensowenig wie jede andere einfache Kraft, Magnetismus,
Electricität u. s. w., sondern nur aus ihren Wirkungen er-
schlossen werden«. — Allein bei der Maschine findet eine
Transformirung von Kräften der materiellen Natur statt : Wärme,
d. h. die Bewegung der kleinsten Theile, wandelt sich in Be-
wegung grosser Massen um und leistet Aii>eit. Bei der Ent-
stehung des Gedankens aber kann von keiner Transformation
materieller Kräfte die Rede sein; es mttsste denn eine Kraft
im Reiche der äusseren materiellen Natur verschwinden, um
im Reiche des Psychischen als Wirkung wieder aufzutauchen.
Dies widerspricht jedoch dem Gesetz der Erhaltung der Kraft,
welches als Ergebniss der Naturwissenschaft nur die materielle
Nalur als solche betrifft und besagt, dass innerhalb derselben die
Summe ifller Spann- und lebendigen Kräfte stets constant bleibt.
Die Seele, der Geist steht nur insofern unter diesem Gesetz, als
sein materielles Substrat, ein Theil der äusseren Natur, ihm
unterworfen ist. »Der Wille, der Gedanke, der ganze Geist sei
so frei er will; aber er wird seine Freiheit nicht wider,
sondern nur auf Grund der allgemeinen Gesetze der lebendigen
Kraft aussen) könnem sagt Fechner^^).
Wenn Viele mit grosser Emphase von der Freiheit des
Geistes über die Materie, der Seele ttber den sie umhüllenden
Körper reden, so ist ihnen die Thatsache entgegen zu halten,
dass psychische Erscheinungen nur da auftreten, wo sich ent-
sprechende materielle Vorgänge zeigen. Schon im Thierreich
hält im Grossen und Ganzen der Grad der geistigen Ausbil-
dung mit der Vollkommenheit der physischen Organisation
gleichen Schritt. Bei dem Menschen, der nicht ausserhalb dieser
Entwickelungsreihe steht, ist die höhere Ausbildung des Or-
ganismus, besonders des Gehirns und Nervensystems, fttr das
geistige Loben von grosser Bedeutung. Ein grösseres, in sei-^
nen Windungen u. s. w. reicher entwickeltes Gehirn bildet
— 46 —
die Basis für ein höher entwickeltes Denken. Bei Zerstörung
einzelner seiner Partien gehen die psychischen Thätigkeiten nicht
mehr so lebhaft vor sich <^^) . Die. Seele hat diese oder jene
Empfindung, wenn die Nerven trefiPende Schall- oder Licht- .. ^
wellen und sonstige äussere oder innere materielle Einflüsse
in denselben Processe hervorrufen, welche sich bis zum Gehirn -
fortpflanzen. Die Gefühle sind dann am intensivsten, wenn
bedeutende Vorgänge und Veränderungen im Körper stattf-
änden.
Das Seelische ist nichts Selbständiges neben oder i n dem
Leibe, sondern es ist mit einem körperlichen Substrate ver-
bunden. Geist und Materie, Seele und Leib, sie sind
zwei verschiedene Erscheinungs- oder Betrach-
tungsweisen eines und desselben Seienden, je
nachdem dies durch die äussere oder innere Erfah-
rung erfasst wird. Mit den Sinnen nimmt man als Körper
wahr, was dem Bewusstsein als Seele sich kund giebt ; körper-
liches Substrat und Geist erscheinen aus verschiedenen Stand-
punkten als verschieden, während sie ihrem Wesen nach eins
sind. Da Leib und Seele in ihren Verrichtungen einander pa-
rallel gehen und der Veränderung im Einen eine Veränderung
im Anderen correspondirt, vergleicht Leibnitz das Verhältniss
zwischen beiden mit dem zweier Uhren: es kann Jemand die
Zeiger beider Uhren so schieben, dass sie immer harmonisch
gehen, das ist die occasionalistische Ansicht, nach welcher Gott
zu den körperlichen Veränderungen die geistigen und umgekehrt
in beständiger Harmonie erzeugt; sie können auch von vom
herein so eingerichtet sein, dass sie, ohne der fortwährenden
Nachhülfe zu bedürfen, von selbst immer genau mit einander
gehen, das ist die Ansicht von der vorausbestimmten Har-
monie derselben. Leibnitz hat nun dabei, wie Pechner bemerkt,
eine Ansicht, und zwar die einfachste, vergessen. »Sie können
auch harmonisch mit einander gehen, ja gar niemals aus ein-
ander gehen, weil sie gar nicht zwei verschiedene Uhren sind.
Damit ist das gemeinsame Bret, die stete Nachhülfe, die Künst-
iiohkeit der ersten Einrichtung erspart. Was dem äusserlich
stehenden Beobachter als die organische Uhr mit einem Trieb-
werke und Gange organischer Bäder und Hebel oder als ihr
wichtigster und wesentlichster Theil erscheint, erscheint ihr
s
— 47 —
selbst innerlich ganz anders als ihr eigener Geist^
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LECTURE I
IMAGERY AND SENSATIONALISM
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erStörung
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— 47 —
selbst innerlich ganz anders als ihr eigener Geist mit dem
<jange von Empfindungen, Trieben und Gedanken« ^^j.
Wenn man somit den Gedanken nicht als eine Eigen-
schaft der Materie betrachten darf und es der Naturwissen-
schaft nicht gelingt aus körperlichen Vorgängen geistige
Verrichtungen abzuleiten, so sind die Forschungen und Ent-
deckungen der letzteren doch nicht ohne Bedeutung für die
Psychologie. Durch Erforschung der materiellen Ursachen und
Wirkungen fällt ein nicht zu unterschätzendes Licht auf den
Mechanismus von Ursachen und Wirkungen der ihnen parallel
gehenden psychischen Erscheinungen, und durch Erforschung
•des Psychischen erhält manches im Reiche des Physischen eine
bessere Beleuchtung. Aeussere und innere Erfahrung sollen,
"wie sie bei jedem Menschen sich vereinigt finden, auch in der
Wissenschaft mit einander gehen, um sich gegenseitig zu unter-
stützen. — Wir werden deshalb bei den folgenden Erörter-
ungen die physischen Vorgänge neben den psychischen nicht
tinberttcksichtigt lassen.
Capitel m.
Die normale und anormale Beproduction der Vorstellungen.
h ttr unser psychisches Leben ist Nichts von grösserer Bedeu-
tung als die Beproduction, die Fähigkeit, vergangene Eindrücke^
welche wir vor längerer oder kürzerer Zeit hatten, wieder in
das Bewusstsein zurückzurufen. So intensiv auch eine gegen-
wärtige Empfindung sein mag, wenn sie den Blickpunkt des
Bewusstseins einnimmt und eine mehr oder minder grosse
Herrschaft auf das ganze Blickfeld ausübt, so nachhaltig und
unvergänglich uns eine Gemüthsstimmung , ein Affect oder
eine Leidenschaft erscheint in dem Augenblicke, wo sie den
Grundton aller percipirten und appercipirten Vorstellungen
bildet und ihnen eine charakteristische Färbung giebt^ sodass
wir Alles nur wie durch die von ihr gefärbten Brillengläser
bald in rosigem Lichte, bald blutig roth, bald schwarz oder
auch grau und nebelhaft erblicken, — so behalten sie diese
Intensität doch nur kurze Zeit. Die lebhafteste Freude, der
quälendste Schmerz verringert sich mit der Zeit ; die stärksten
Vorstellungen treten vor neuen Eindrücken zurück und sinken
unter die Schwelle des Bewusstseins in die Tiefe der Alles
begrabenden Lethe. Der Inhalt des Bewusstseins ist in stetem
Wechsel; die Vorstellungen, welche heute das Blickfeld des-
selben erfüllten, erfüllen es zum Theil schon morgen nicht
mehr; im Verlauf einiger Zeit hat es sich ganz verändert,
einen neuen Typus erhalten, und wir sehen aus ihm heraus^
indem wir die neu hinzukommenden Vorstellungen zu den
schon im Bewusstsein vorhandenen in Beziehung setzen, die
Sachen mit ganz anderen Augen an als früher.
Wie die Gedanken veränderlich sind, so auch die Gefühle»
Hass , Liebe , Furcht , Schrecken , Hoffnung , alle Affecte und
— 49 —
Leidenschaften, welche des Menschen Gemttth zu erregen im
Stande sind, schwächen sich oder verschwinden mit der Zeit.
Was der Mensch geliebt hat, kann er hassen, ja verachten,
wenn sich ihm das wahre Wesen des früher vergMterten
-Wesens unverhttUt zeigt und die Binde von den Augen ge-
rissen wird; was man früher gleichgültig betrachtete lernt
man achten und lieben, was man. einst zu thun sich gescheut
wa^t man, und worüber man hatte rasend werden können,
darüber lacht man später vielleicht. Wie der Körper in
stetigem Stoffwechsel sich verändert, so wandelt sich auch die
Seele. Die Jugend hat andere Gedanken und Gefühle als das
Alter und die Ideale sind wandelbar. Die Nacht der Ver-
gessenheit umfängt die früheren Leiden und Freuden und der
Vergangenheit Glück und Unglück; zwischen das Erdenld)en
und das Elysium versetzten die Griechen den Fiuss Lethe,
aus weldiem jeder Hingeschiedene trank und dadurch von
irdischen Erinnerungen befreit wurde.
Zwar ist dieser stete Wechsel und dieses Vergessen der
Sorgen und Leiden, zu welchem der Schlaf und Traum nicht
unwesentlich beiträgt, für den Menschen von enormem Weithe ;
wir würden aus einem Gedankenkreise, in welchen wir uns
einmal eingelebt, nicht losmachen können, die stagnirenden
Vorstellungen würden zu fixen Ideen und also die Welt zu
einem einzigen Tollhaus — wofür es freilich Manche auch jetzt
schon halten — werden, wenn es nicht oder auch nur in bedeu-
tend geringerem Grade stattfände. Allein es würden auf der
anderen Seite die Vorzüge, die das höher entwickelte Geistes«»
leben aufweist, wegfallen, der grössten Güter würde die
Menschheit verlustig gehen, wenn dieser »ewige Fluss« aliein
herrschte und es kein Mittel gäbe, seine Madit zu bannen und
in denselben Fluss noch einmal hinabzusteigen. Dies Mittel
aber ist uns glücklicherweise verliehen in der Reproduction.
Mag eine Vorstellung auch tief unter der Schwelle des Be-
wusstseins liegen, so erhält sie doch zuweilen durch einen in
der Gegenwart stattfindenden Eindruck eine »Hülfe« ^ welche
sie wieder über die Schwelle hebt. Dadurch gelingt es uns^
Vergangenheit und Gegenwart mit einander zu verknüpfen
oder zu vergleichen^ perennirende Vorstellungsgruppen zu
bilden, welche einen wesentlichen Factor bei der Bildung
Bad «stock, Schlaf u. Trann. 4
— 50 ~
unseres Selbstbewussteeins ausmaehen und, indem wir diese
Gruppen zerlegen und nach neuen Gesichtspunkt»! sie wieder
vertiinden und ordnen, relativ neue psyehisohe Gebilde zu
gewinnen. So wird erst duretl die Reproduction eine- Wissen-
schaft, wie ein Denken ttbeiiiaupt möglich; weil sie ims ver«
liehen , könnMt uns feste Maximen und Grundsätze das ganze
Lebeti oder wenigstens einen grossen Theil desselben hindurch
leiten und unser Handeln bestimmen, durch i^ wird ein mo-
ralisches Leben begründet. Die mit ihrer Vermittlung gebil-
deten Vorstellungsgruppen , sowie die einzelnen reproducirten
Vorstellungen zerlegt der Philosoph in ihre einzelnen Elemente,
sucht Anknüpfungspunkte zu denselben an den Elementen an-
dere, verbindet sie nach festen logischen Nonnen und gewinnt
dadurch seine Hypothesen, sowie seine fester begründeten
Theorien oder Systeme; der Poet führt diese Verbindung nach
freieren Regeln aus und gewinnt dadurch seine Phantasie-
gestalten, wie überhaupt jeder Ktlnstler. So baut der Mensch
seine Zukunftspläne und Ideale auf, besonders in der Ji^end,
so vermag er das Unglück , die Leiden und Sorgen zu eintra-
gen im Hegen von Hoflnungen, so bereitet er seinen Fall
schon im Giück vor durch Streben nach Verwirklichung phan-
tastisch gebildeter Wünsche.
Die Fertigkeit in dem Finden neuer Anknüpfungspunkte
und der Bildung neuer Combinationen kennzeichnet das Genie,
wie andererseits paractoxe Gedankenverbindungen es sind, die
zum Wahnsinn führen, — denn schmal, obwohl tief gähnend
4st die Kluft, welche beide Gebiete trennt ^^), und oft nur
durch die Gunst der äusseren Umstände, die dem Einen ge-
stattet, seine Ideen zu äussern und gleichsam das im Innern
sich entwickelnde Gedränge zu mildem, während dies Man-
diem nicht gewährt ist, wird es verhindert, dass dies innere
Drängen und Wogen, durch den Widerstand von aussen her
noch verstärkt, das Genie diese Kluft überschreiten lä^st und es
geistiger Finstemiss entgegenführt.
Die Reproduction nun ist zweierlei Art: entweder sie giebt
die frühere Empfindung in etwas verminderter Stärke wieder,
dann erscheint sie in der Form der Erinnerung, welche
man wohl zuweilen xat ^oyr^^ Reproduction nennt, oder sie
hri>t die Eindrücke früherer Zeit in der Stärke in das Bewusst-
— 51 —
sem, welche sonst nur nmniUelbare, gegenwärtige Wahmehm*
aiigeD zo haben pflegen, dann wird sie zur Sinnestäuschung
(HaihEieination oder Illusion).
Die Brinnerung erhält uns ^n Inhah der frttheren Em-
pfindung, ohne ihn in seioe einseinen Elemente zu zerlegen
oder zu verändern, wenigs^ns im allgemeinen und wesent-
lichen. Im Grunde nämlich hah«i wir keine Vorstellung zum
zweiten Mate ganz so im Bewusstsein als das erste Mal, weil
weder in Folge veränderter Gemeingeftthle der sie begleitende
Gefühlston noch die Vorstellung selbst dieselbe ist, da sie durch
andere Einwirkungen, besonders durch unmittelbare Sinnes-
empfindungen, modificirt wird, — und der Uebergang vom
Gedächtniss zur Einbildungskraft liegt im Wesen der ersteren
selbst begrtlndet. Ferner tritt bei der normalen Erinnerung
das psychologische Moment vor dem physiologischen ftir uns
bedeutend hervor, da wir die dabei stattfindenden materiellen
Vorgänge noch nicht genau kennen. Zwar ist es wahrschetn-
lieh, dass bei derselben ausser im Gehirn auch in den betref*
fenden Sinfiesnerven ähnlkhe Vorgänge, nur in geringerer In*-
tensität als bei unmittelbarer Empfindung stattfinden , ^^) und
diese einerseits nach Intensität verschieden sind, je nachdem
der Verlauf der Gedanken schneller geht, wo sie vielleicht am
wenigsten ausgebreitet und auf ein Minimum reducirt sind,
oder langsamer, wo sie dann stärtcer auftreten, — ^) andrer-*
seits nicht dieselben sind bei Leuten von starker Einbildungs-
kraft, wie bei Göthe, Joh, Müller u. s. w., wo sie wohl vom
Centrum aus bis an die Peripherie der Nerven sich erstrecken
und den Uebergang zur Sinnestäuschung bilden, als bei denen,
welchen diese Gabe weniger eigen ist; allein da letzteres bis
jetzt noch nicht sichergestellt ist, Andere vielmehr meinen,
dass sich die physiologische Reizung nicht über das Gentrum
ausbreite, so k^nen wir hi^ nicht festen Fiisses das physio^
logische Gebiet betreten und wenden uns deshalb zur Betrach-
tung des psychischen Mechanismus.
Hier sind also die die Reproduction veranlassenden Reize
psychische, welche meist von der Aufnahme gegenwärtiger
Eindrücke ausgehend vermittelst der Gesetze der Association
die vergangenen wieder hervorrufen. Diese Gesetze sind fol-
gende: 4) das der Aehnlichkeit^ 9) des Contrastes,
4«
— 52 —
3) der räumlichen und zeitlichen Coexistenz, 4) der
Succession, — wozu auch noch das des Mittels und
Zweckes und das der Ursache und Wirkung kommen;
doch können diese letzteren unter das der Suceession und zum
Theil unter das der Aehnlichkeit subsumirt werden. <^^)
Es hebt also eine gegenwärtige Vorstellung eine andere^
frühere wieder über die Schwelle des Bewusstseins, deren In-
halt dem ihrigen ähnlich oder von ihm verschieden ist, deren
Object in Baum und Zeit in irgend einer Beziehung zu dem
ihrigen steht , oder die mit ihr zugleich, auch vorher resp»
nachher percipirt wurde. Die Vorstellung eines Zweckes ruft
die Vorstellung des dazu zu gebrauchenden Mittels wach wie
die des Mittels die des damit zu erreichenden Zweckes; die
Perception einer Wirkung reproducirt die Vorstellung der Ur*
Sache und umgekehrt. So erinnert uns eine Person, die einem
Freunde oder Bekannten von uns ähnlich sieht, an diesen selbst.
Das Glück ii^end eines Menschen ruft in uns die Vorstellung
von dem Elend anderer hervor und unwillkürlich denkt man,
wie ganz anders es ist bei denen ; umgekehrt erinnert uns die
elende Hütte an den Palast, unser eignes sowie fremdes Un-
glück an das frühere Glück. — Herodot erzählt, dass Xerxes^
da er von einem Hügel am Hellespont seine ungeheure Armee
und seine Flotte übersah, vor sich die See mit seinen Schiffen
bedeckt und seine Heere über die Küsten und die Gefilde von
Abydos verbreitet, sich glücklich pries, darauf aber bei dem
Gedanken weinte, dass diese unermessliche Menge innerhalb
hundert Jahren vernichtet sein würde ^^j.
Gleichartigkeit und Verschiedenheit spielen eine grosse
Bolle im psychischen Leben. Die genaue Kenntniss oder Defini-
tion eines Dinges besteht in dem Wissen oder Aussagen dessen,
was es mit anderen Dingen Gemeinsames oder von ihnen Vei^
schiedenes hat. Indem man unter mehreren einzelnen Wesen
oder Dingen das Gleichartige und Aehnliche zusammenfasst,
bildet man die Allgemein-Vorstellungen und Begriffe. Man ge-
langt so zu Abstractionen und zu Vergleichungen, die inductiven
Schlüsse und bildlichen Ausdrücke verdanken ihre Entstehung
der Association nach Gleichartigkeit. So nennen wir einen ver^
schmitzten Menschen einen Fuchs, einen einfältigen aber Esel ;
ein unschuldiges Kind wird uns in Folge der Aehnlichkeit zum
— 53 —
Lämmchen, die reizende Dame zum Engel. Klar nennt Leihnüz
die Vorstellungen, die wir von anderen, deutlich diejenigen,
deren Theile wir unterscheiden. Alles erkennen wir richtiger
wenn wir den Gegensatz dazu haben und die Empfindungen
der Sinne werden, wie man besonders beim Gesichtssinn be-
fiierken kann, durch Contraste lebhafter.
Wenn wir femer einen Thurm oder ein Haus sehen oder
uns daran erinnern, kommt uns auch die Vorstellimg der um-
'Stehenden Häuser oder des sich davor erstreckenden freien
Platzes nebst der darauf befindlichen Gegenstände zum Be-
wusstsein ; dasselbe geschieht, wenn wir einen Vogel von einem
Gebäude auCQiegen sehen. Der Anblick eines Platzes, auf dem
«in Glück uns begegnete oder ein Unfall uns zustiess, erweckt
alle ehemaligen Gedanken und alten Gefühle. Derjenige, wel-
cher irgendwie angeregt wird, sich geschichtlicher Daten zu
•erinnern, ruft dabei die Vorstellungen der zugleich mit den
fraglichen Ereignissen eingetretenen, ihnen vorhergegangenen
oder nachfolgenden Begebenheiten wach. Auf der Verbindung
nach Succession beruhen die geschichtlichen Kenntnisse, und
auf ihr sowie der damit verbundenen Muskelbewegung alle
Fertigkeiten, die der Mensch sich allmählich aneignen kann.
Bekannt ist ihre WiriLung bei dem rein mechanischen Auswen-
diglernen. Der Schüler kann zuweilen Alles der Beihe nach
richtig hersagen, während er Nichts weiss oder sich erst län-
ger besinnen muss, wenn man die Beihenfolge zerstört und
Einzelnes fragt.
Eine Axt lässt uns an alles das denken, was damit aus-
geführt werden kann und an die Personen, die es ausführen,
i»owie anderseits irgend ein zusammengesetzter Gegenstand an
das, woraus, womit und auf welche Weise er gefertigt ist.
Der Anblick einer Wunde führt uns tu der Erinnerung dessen,
der sie schlug und womit.
Selbst wenn die Beziehung zwischen Ursadie und Wirk-
ung eine nur eingebildete ist, wirkt das Associationsgesetz.
Das Geheul eines Hundes, das Geschrei eines Käuzchens, die
Erscheinung eines Kometen hat nichts mit einem bevorstehen-
den Unglück bezw. mit Krieg und Pestilenz zu thun, aber dem
Abergläubischen rufen sie diese Vorstellungen ebenso hervor,
Als wenn sie in Wirkiidbkeit die Ursachen wären. Der ge-
~ 54 —
sellsehaftliche Takt beruht auf einer durch die Fertigkeit un<»
bewusst Tor sich gehenden Association, indem man vermeideti
das SU sagen und zu thun, von dem man weiss, dass es An-
deren naeb den bekannten GesetEai unliebsame Vorstellungen
wachruft.
Besonders kommen die Gesetze der Association da zur
Anwendung, wo wir allen aetiven Eingreifens uns enthalten
und nicht willkttrlich mit der Aufinerksamkeit eine Vorsteilung
erfassen, sie gesondert in den Blickpunkt des Bewusstseins
heben und sie dort Ittngere Zeit zu erhalten suchen, sondern
die Vorstellungen, so zu sagen, kommen und gehen lassen^
wie es ihnen gefttUt. Dies ist aber, wie wir später sehen
werden, besonders im Traum und in dem ihnen verwandten^
als Trüumerei berttdlitigten, zuweilen während des Wachens
vorkommenden Zustande der Fall. Die grOssten Virtuosen der
Association aber erzeugt das höhere Stadium des Wahnsinns^
wo die Vorstellungen einfach nach ihren Gesetzen an einander
gereiht werden, ohne dass sie einen logischen Zusammenhang
nachweisen und zu einem vernünftigen Satze, geschweige
denn zu einem Urtheile verbunden werden. Es zeigt die»
also, dass die Reproduction und Association, obgleidi sie die
vnchtigsten Momente in den psychischen Functionen bilden^
wenn sie allein stehen und nicht von einem den Vorstelluag^
verlauf regelnden vernünftigen Willen und einer aetiven Ap-
perceptionsgabe begleitet sind, eine bi^here Geistesthätigkeit
ebenso gut hemmen als fördern können.
Die VorstellungeiB folgen nicht nur auf* und naeheinimder,
sondern sie erscheinen auch gleichzeitig und gehen Verbin-
dungen ein, bei welchen zuweilen die Interessen beider ge*
wahrt bleiben und jede ihre Würde behäU, ebenso wie es bei
gegenwärtigen gleichzeitigen Eindrucken der Fall ist; leUteres
ist die Gomplication von Sinnesempfindangen, ersteres die
Agglutination von Verstellungen. Ans dieser Verbindung
geht eine neue Vorstellung hervor, welche beide oder mehrere
andere ab untereinander ungestörte Elemente in sich fasst.
Das Bild der Axt, welche das des^ Holzes und des Zimmer»
manns hervorgerufen hat, verbindet sich mit diesen und es
entsteht die zusammengesetzte Vorstellung des von einer Pei^
fion mit einer Axt ausgeübten Ges^äfts des Holzhauens. Da
— 55 —
die ]^twi€k#luBg der Sptacfae den psyehischen Vorgang re-
flecdrt, so haben wir ein Bild davon in den sogenannten ag»
gltttinireodeii Sprachen, worunter die ohinesiscbe und viele
andere gehilüren. liier werden die Silben , welche eiiiz^ne
Gegenstände oder Handlungen bezeiobnen, einfach neben
einander gesetzt und bilden ein zusammeogesetgles Wort.
Wir sind jedoch gewohnt, sokhe Sprachen als medrig ateheode
zu beveichnen, und daraus geht schon hervor, dass die Ag*
gkitinatJM>n nicht imaier Anwendung findet, .am «wenigsten da,
wo das Denken schon verdichtet ist. Vielfach nämlich behal*
len die zusamosbentreffiHiden Vorstellungen nicht ihren eige*-
neu Werth, sie gehen innige Verbindungen ein, wo die See-
len bßider gleichsam in einander schmelzen; die eine geht in
der atoderen auf. Bei dieser Verschmelzung der Vor*
Stellungen ^eben beide, wie es bei jeder innigen Verbindung
der Fall sein soll, die sich widarspreehenden Eigensclu^teo
auf und suchen sich mdir zu assimiiir^i und an einander zu
schliessen. So entsteht eine neue Vorstellung, wel(^ auch
die vorhergehenden als Elemente in sich faast^ aber die Selbst-
ständigkeit derselben ,beflchrlä[ikt b«t* Auch dies reflectirt sich
in der Sprache bei der Zusammensetzung der Wörter, wo die
Endungen <)er dnzelnen Bestandtheile verschliffen sind um
eine innigere Verbindung möglich zu madien. Endlich giebt
es Fälle, wo es nicht zu einer solchen friedlichen Vereinigung
kommt. Man soU nicht glauben, dass im Gebiete des Geistes
ewige Harmonie uad ewiger Friede herrsehe, auch hier findet
man, <lass der Mächtige den Kleinen und Schwachen verdrängt
oder verschlingt und oft in recht undankbarer Weise. Denn
die reproducirte Vorstellung, welche durch die vieUeictit oft
wiederholte Erhebung in das Bewusstsein dort ein Anrecht auf
einen bleibenden Sitz bei ihrer bedeutenderen physiologischen
Disposition gewonnen zu haben glaubt, verdrängt die andere^
welche ihre fleppoduction veranlasste, sucht sie sich dienstbar
4UQKi sich ähnli^ zu machen oder beseitigt sie einfach, wenn
sie izu spiräde thut und sich nicht dienatbw* madien lassen
will. . Solche Fälle von Assimilation werden wir bei der
Illusioii jsmi beim Traume zu belstfaehten hab^. Es ist also
hinzuflusetien; das» solche Fälle der vollständigen Verdi^ngung
oder Beseitigung meist anormale sind. Die AgglujUnation und
— 56 —
Verschmeliung, bei weicher die aclive Apperception tii^tig ist^
kommen dagegen fast ausschliesslich im normalen Denken vor.
Bestimmte in obigen Beispielen der Inhalt der EindrUd^e
die Reproduetion, so thut dies in anderen Fällen der Ge-
fühls ton. Eine Freude, ein Schmerz oder überhaupt eine
stärkere ^mttthsstimmung zieht leise die durch unsichtbare
aber feste Fäden mit ihr verbundenen ähnlichen Stimmungen
empor <^). Das Gesetz des Gontrastes kann jedoch auch bei
Freude den früheren Schmerz und umgekehrt wachrufen. Die
reproducirte Vorstellung und Stimmung kehrt dann freilich
nicht in der ganzen Stärke wieder, sondern sie haucht die ge-
genwärtige Stimmung nur leicht an, wie man z. B. von einem
elegischen Anhauch der Hoffnung spricht. — Lucrez berichtet
von den »süssen Klagen« der ältesten Poesie <^). Die Liebe hat
nicht nur Leid nach sich, wie es in einer der Endstrojrfien des
Niebelungenliedes heisst (mit leide was verendet des küneges
h6chgeztt, als ie diu liebe leide an dem ende gern gtt], sondern
auch unmittelbar neben und in sich, sie ist »freudvoll und
leidvoll«, »ein Langen und Bangen in schwebender Pein«;
»himmelhoch jauchiend, zum Tode betrübt«, und doch »glück-
lich allein ist die Seele die liebt«. Liebe und Hass wohnen
eng bei einander, man empfindet eine gewisse Lust bei der
Erinnerung vergangener Schmerzen und die Hoflnung ist, wie
Spinoza richtig bemerkt, nicht ohne Furcht. Das Gruseln ist
für das Kind angenehm und unangmiehm zugleich. Aehnlich
ist das Gefühl, wenn man am warmen Ofen sitzt oder im Bett
liegt, während der Sturm und Regen unablässig gegen die
Fenster schlägt. — Andromache lächelt mit thränenden Augen
(II. VI. V. 405 u. V. 471), Hamlet empfindet, als er Gewiss-
heit von der Blutschuld seines Oheims erhalten, einen Anflug von
Lust und entwickelt einen gewissen Humor. — Das bekannte :
»Des Lebens ungemischte Freude ward keinem Irdischen zu
Theil« findet auch in diesem Sinne seine Anwendung. Jedes
Gefühl wird durch sein Gegengefühl in seiner eigentlichen
Stärke groben und das Gemischtsein desselben macht gerade
seinen höchsten Genuss für die Seele des Menschen aus, weil
sie gleichem von zwei Seiten erfasst und ganz erfüllt wird ^)
Wie der bei dieser Reproduetion stattfindende physiologische
Process schwach ist, so ist auch die reproducirte Vorstellung
— 57 —
oder Siinunung eine verfaällntMOiässig schwache. Während die
«nmiflelbare Empfindung sogleich mit einer gewissen Stärke
anftritt, gewinnt sie diese erst allmählich und behält sie nur
kurse Zeit. Intensivere Eindrücke werden überhaupt weniger
reproducirt als massige. Des grössten Schmerzes können wir
uns nie ganz erinnern, er ruft nur eine massige Wehmuth
hervor. Der Umstand, dass die Freude gewlAnlich mehr Mass
hält, ist die Ursache der leicht zu constatirenden Thatsacfae,
dass sie häufiger reiMToducirt wird.
Die fortwährende Anwendung dieser Gesetze der Associa-
tion, verbunden mit der Perception und Apperception, ^^) so-
wie der Verbindung gegenwärtiger Eindrucke macht das Wesen
der psychisdien Mechanik aus; nicht vereinzelt, sondern fort-
während ohne Rast und Ruh ist schnell hinter einander das
eine Mal dies, das andere Mal jenes thätig, und ihre Thätigkeit
bildet das Wesen der denkenden Seele, ^^) denn es ist
»Mit der GedankeDfabrik
Wie mit einem Webermeisterstück,
Wo ein Tritt tausend Fäden regt,
Die SchiffleiD herüber, hinüberschiessen,
Die Fäden ungesehen fliesseo,
Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt«.
Die dabei im centralen Nervensystem stattfindende physio-
logische Reizung dehnt sieh zuweilen auch vom sensorischen
auf das motorische Gebiet aus. Es ist ja bekannt, dass Vor-
st^lungen der Freude und des Ghlekes ein unwillkttrliches
Lächeln, also eine durch Reizung der Muskeln hervorgerufene
Bewegung begleitet und dass ebenso unangenehme die Mienen
zu strengen und grimmigen werden lassen. Erst der Wille
vermag durch Rücksichten der Höflichkeit und des Anstandes,
auch wohl der bewAlerischen Verstellung bewogen, diese
Wirkung zu besdhränken und sie dem Auge weniger sichtbar
%u machen. Als anorm»! kann man es freilich schon bezeichnen,
wenn 4iese Reizung auf dem motorischen (iebiet sich weiter
aufilweitet und die motorischen Apparate des Sprachorgans
u. s. w. ergreift, so dass die Vorstellungen sofort, sei es in
dunklem, unverständlichem Murmeln oder in artieulirten ver-
ständKohen Lauten geäussert und von den ihnen entsprechenden
Gest^d begleitet werden.
— 58 —
Wird iHe Eekung aoeh alärkjQr, so dafis der Umensi^ied
zwisdieo der repreducirt^ und der gegenwttrUgen Varslelhiog
g&nzlich yersehwindet und die erstere der lelzAeren an Inieati-
sitat voUsitfiuJlig gleich ersoheim^ so entsteht die Sumeslfiiieoku&g.
(HaHucination und Ilhision).
Der Uebei^aag ist oft ein ganz geringer. So lange der
Blutandrang nach den Selmerren bloss die Vorstellung des Eetfa,
die Affeclion des Hömerv^ die eines unbesiimmten Summens
zur Folge hat, sind die subjectiven Efsa^fiftdungen rein gefaxt ,
sobald aber das Eine als Blutatropfen, das Andere als Glocken-
geiäute vorgestellt 'wird, ist die Täuschung fertig. Besonder»
sind die Phantasiebilder hei L^atan von starker Einbildui^sr
kraft EuleUit nicht mehr von der WtrUiohkeit zu unterscheiden»
Brierre de Boismmt ertäblt die Gesdiichte eines Malers, der sich
der Bilder einmal gesehener Personen so genau erinnerte, dass
er nach dem Erinnerungsbild Pm^trSM« ku malett vermodite,
bald war das Phantasiebild jedoch der Wirklichkeit gleich ge-
worden, und er verfiel in Wahnsinn. — Obgleich bei der Er-
klärung dieser Erscheinungen die physiologische Seite vorwalten
muss, da die gesteigerte Beizbarkeit des Gehirns nicht allein
die conditio sine qua non ist, sondern auch so stark vorwaltet,
dass sie allein die Ursache der Sinnestäuschung zu sein scheint,
so ist doch das psychologische Moment nicht ausser Aeht z«
lassen. Auch hier hebt eine Vorstellung naeh den Gesetzen der
Association eine frohere tiber die SciiweUe des Bewusstseins,
und da diese reproduci^le eine gesteigerte Disposition vorfindet,
gewinnt sie die Intensität einw unmittelbaren Wahrnehmung.^
D^ pliysioiogiscdie Haiuptfaotor bei der Bildung der Hallueinatioii
und Illusion ist also die gesteigerte Beisbarkeit des oentralen
Nervensystems.
Die Hallucinationen sind vedrschiedener Art; in manchen
Fällen bleibt die gesteigerte Reizbarkeit auf das Oentruin aelfast
beschränkt, in anderen dehnt sie sich naeh der Peripherie hin
aus und Uldet so den Uebergang zur Illusion. JMe Beii^arkeit
des Gehiiti» kann durch mannigfai^ Ursachen hervarg-erttfen
sein, die haiiptsäehliebsten sind die durch Einwirkung von
toxischen Siibe4aneen, wie Opium, Hasdiiseh, Aleohol, Balla*
donna, Datum Stramonium etc. oder auf andere Weise be^ttagte
Blutfttlle, Entzündung der Hirnhäute und Hirnrinde, andrer-*
~ 59 —
isetts die durch ungiesittgemie oder gttisikh mHügelnde Nabrunf
yermkißsie Blut leere.
Abkoehungen des Stechapfels (Datur. Stram.) schemeo
eine bedeutende Bolle gespielt zu haben bei den ZaubertrUnkea
früherer Zeit; man erzählt von Frauen, die nach dem Genuas
gewisser Getränke in einen Zustand von HalbseUaf mit wilden,
bufaferiadben Teufelsvirnonen verfielen und diese nach Ablauf
der Vergiftung fQr die durchlebte Wirklichkeit hielten. BoeHiove
erzählt aus neuerer Zeit einen Fall , wo ein erwachsenes Mäd*
€ben im Getrttnk das Pulver von Steehapfelsomen bekam. In
der darauf entstehenden Betäubung gab sie körperliche Aeusser-
ungen eines wUsten, sinnlidien Traumes. — Die Vorstellungen
nach dem Genuss d«r Belladonna sind d^ien im Säuferde«*
11 rlum ähnlich; kleine, lebhafte, unangenehme Thiere verfolgen
den Deliranten und lassm ihn nie zur Ruhe kommen. — Bei
Haschisch-^EssMoi bemerkte man: Steigerung aller Sinnes*-
energien, angenehmes Farbensehen, Verschwinden des Bodens
untw den Füssen, Gefühl des Fliegens durch weite Himmels*
räume; eine sehr heitere Gemttihsstimmung offenbarte sich,
und oft erscholl heftiges Lachen ohne Grund. Der Reisende
Marco Mo^ welcher um das Jahr 1275 den Orient durch*
forschte, berichtet, dass in Persien auf dar Burg Alamut Hassan
Ben Aleadin, der Alte vom Berge genannt, hauste; derselbe
wttsste eine Schaar Jünglinge dadurch für seine Zwecke zu
begeistern, dass er ihnen einen aus Haschisch bereiteten Trank
reichen und im Betäubungssehlafo sie in ein LustacUoss brinfen
iiess, wo sie zu raffinirtem Sinnesgenuss erwachten und im Para*
dies zu sein glaubten. Später wurden sie unter Hascfaiseh^Be*
täubung wieder in ihre früheren VerfaXlUiisse zurückversetzt
und durch Versprechen neuer paradiesischer Wonnen zu Thaten
jeglicher Art angefeuert. Diese Hasdnschin's (assaasini} waren
hdehat gefürehtet. — Eine richtig bemessene Quantität Opium
oder Morphium ruft einen Halbachlaf hervor, den oft die
lieblichsAen Bilder und fimpfindungm begleiften^). Durch Ge*
nucs vmi Santoain kann man starke Geruchs- und Ge^
schmaekshallueinationen hervorrufon^^^). In neuerer Zeit ist
der Aether stark in Gebraudi gdLeminen. Ferner ha& man
neeh die Nareottca: Be^tel (Gfaarica Belle) und €oca (^y*-
throxylum peravianum) ; Sibirien hat narkotische Pilze, Poly-
— 60 —
nesien Ava^ Neugranada und der Himalaya die pomme
^pineuse, Florida die Apalachine emetica, Nordamerika
und Nordeuropa Gagel und Leduni.^<^) Alle Naroolica^ im
U^ennass genossen, haben physische und psychische Degene-
ration zur Folge.
Fasten erregt, besonders wenn es mit einsamer Beschau-
lichkeit in Wald oder Wttste und Einöde verbunden ist. eksta-
tische Zustände. Bei den Indianern Nordamerikas mttssen die
Knaben und jungen Madchen mehrere Tage streng fasten, und
während dieser Zeit wird auf ihre Träume geachtet. Beim Ein-
tritt der MannbariLeit zieht sich der junge Indianer an einen
einsamen Ort zurttck um zu fasten , nachzudenken und zu
beten; hier empfangt er visionäre Eindrücke, die ihm seinen
Charakter für das Leben aufprägen. Er wartet auf die Er-
scheinung eines Thieres oder Gegenstandes, der hinfort sein
Fetisch oder Schutzgenius wird. Wenn im späteren Leben ein
Indianer etwas bedarf fastet er, bis er einen Traum hat, in
welchem der Schutzgeist es ihm gewährt. Die nach ihrem
Tode als Catherine Wabose bekannt gewordene odschibwäische
Pro]^tin fastete zur Zeit des Eintritts der Pubertät in einem
abgeschlossnen Räume, bis sie zum Himmel emporstieg und
beim Eintreten den Geist, den glänzenden Mauen Himmel er-
blickte. Die Zauberer der Abiponen, welche nach dem Glauben
der Eingebomen Krankheit und Tod anhexen, alles Uebel zu-
fügen oder heilen, entfernte und zukünftige Dinge voraussehen
kännen, eriangen ihre Würde durch Enthaltung von Nahrung.
Auf Hayti übte man ebenfalls das Fasten um von den Geistern
zukünftige Dinge zu erfahren. Der Malaye, welcher sich un-
verwundbar machen will , zieht sich mit kärglicher Nahrung
in die Einsamkeit des Dschungels zurttck, und wenn er am
dritten Tage von einem schikien Geiste träumt, der herabsteigt
irod mit ihm spricht, so ist der Zauber vollbracht. Der Zu-
sammenhang zwischen Fasten und Geisterverkehr ist bei den
Sulus so vollkommen anerkannt, dass es fast spriohwörtKch
bei ihnen geworden ist : »der fortwährend gefüllte Magen kann
keine geheimen Dinge sehen.« Zu einem wohlgenährten Pro^
pheten haben sie kein besonderes Vertrauen. Der hinduische
Jogi ruft sich durch Fasten einen Zustand hervor, in welchem
er die Götter anschaut. Die Pythia in Delphi fastete vor ihrer
— 61 —
Inspiration, und Galen beiperkt, dass körperiiehe Nahrung die
Träume deutlicher madie. 7^) Brot und Fleisch würde dem As*
keten des Mittelalters manchen Besuch der Engel geraubt haben.
Wie Sprenger sagt, führen die Moslemen ein viel freieres und
interessanteres Leben als unsere Ml^nche; sie haben nicht {das
Cölibat, und die Wallfahrten lu Fuss nach Mekka sind ihnen
von grossem Nutzen in Bezug auf die Gesundheit.
Oertliche Krankheiten des betreffenden Sinnesorgans, dann
krankhafte Zustände des Organismus überhaupt, acute wie
chronische, könneb zur Quelle von Sinnesdelirien werden;
jede Erschöpfung in Folge geistiger oder körperli<^er lieber-
anstrengung verbunden mit psychischer Concentration auf ein-
zelne Vorstellungskreise befördert sie (Luther auf der Wart-
burg). Manche Gase, wie Stickstoffoxydul und Salpetergas,
Rüucherungen , wie sie bei manchen magischen Taschenspie-
lerkünsten angewendet werden ^^j, rufen die seltsamsten Tau-
schungen hervor. Eckartshausen hatte von einem orientalischen
Juden ein Räucherwerk erhalten, welches bewiriLte dass ge-
rade das Individuum, was man sehen wollte, im Rauche sich
darstellte und zwar ganz deutlich, wie E, und sein Freund
mit ihm sahen ^^). Uebrigens sind die Sinnestäuschungen^
wie alle stärkeren Farmen des Wahnsinnes auch erblich ^^j.
In allen diesen Fällen scheinen sich Zersetzungsproducte
der Gewebe in der Hirnrinde anzusammeln und die Reizbar-
keit desselben zu erhöhen bezw. Reizung selbst hervorzubrin-
gen 7^} • Obgleich die Form der Hallucination, ob sie als Ge-
sichts- oder Gehörstäuschung u. s. w. erscheint, zweifellos von
dem Ort der centralen Reizung abhängt, so ist doch eine Lo-
calisirung der Reizbarkeit als Disposition für die Miantasmen
der einzelnen Sinne bis jetzt noch nicht gelungen. Schroeder
van der Kolk versuchte es und betrachtete, indem er die Per-
ception für Anhäufung von Zellen in der Nähe der Sinnesnei^
venwurzeln hielt, die Apperception aber durch die Zellen der
Hirnrinde vor sich gehen Hess, die Reizung der letzteren als
gewöhnliches Phaütasiebild, die der Perceptionszellen einzelner
Nerven als Hallucinationen der betreffenden Sinne. Doch Wimdt
hält es für wahrscheinlicher dass alle Phantasmen in der Gross-
hirnrinde ihren Ursprung haben.
Am meisten sind den Hallucinationen ausgesetzt die söge*»
— 62 —
nanaten höbern Sinne, Gesicht und Gehör, weniger der Tast*
«inn und am wenigsten Gerueh und Gesdimaek. Die Hailuci-
naiionen des Gesichtssinns l)eaeichnet man mit dem Namen
Visionen; sie wmlen oft hervoi^erufen dnrch länger^ Aut-
enthalt im Finsteren, wie die des G^örs durch lan^e Einzel*
haft; in beiden FäUen findet das Sinaes^Hrgan keine Anregung
und es sammelt sich eine Mmige von Spannkraft an, welche
scheinbar ohne physiologische Anregung zur lebendigen wird^®).
Ebenso wie zu wenig kann zu viel Uebung der Sinfiesorgane
Hallucinationen hervorrufen, wie ja bekanntlich Maler am mei-
aien zu Visionen, Musiker zu Gehörsphantasmen diqponirt sind.
Henle und H. Mey$r beobadrietmi, dass ihnen mikroskopische
Objecte, die sie während des Tages untersucht hatten, mit
voller Lebendigkeit im dunkeln Gesichtsfelde auftauchten ^^j .
Einen eigenthttmtichen Fall th^lt Lazarus mit?^). »Auf
der Terrasse von Rtgi-Kaltbad«, so erzählt er^ »war ich an einem
sonnenhellen Nachmittag mit dem Versuch. beschäftigt, in der
gegenttberliegenden mächtigen Gebirgswand, welche von den
Gletsdiern TiUes, Uri-RothslodL u. s. w. gekrtfnt wird, den
sogenannten »Waldbruder«, einen frei aus der Wand aufragen-
den Felsen mit unbewaffneten Augen zu entdecken. Abwech-
selnd durch das Fernrohr, das ihn deutlich erkennen lässt.
und mit blossen Augen sehend, wollte es mir gleichwohl nicht
gelingen, Ihn ohne Glas aufzufinden. Ich mochte meine Augen
6— iO Minuten mit solcher straffen Spannung auf das Gebirge,
dessen Färbung in den verschiedenen Theiien je nach Höhe
und Vertiefung zwischen Violett, Braun und Schwarzgrau
schwankte, vergeblich ermüdet haben, al« ich abliess und mich
von der Stelle bewegte. In demselben Moment sah ich — ich
kann mich nk^t erinnern, ob bei offenen oder geschlossenen
Augen — einen meiner entfernten Freunde als Leiche vor mir.
.... In dem vorliegenden Fall nun legte ich mir sofort die
Frage vor, wie kommst du auf diesen deinen entfernten Freund?
es mochten wenige Secunden vergangen sein, als ich bereits
den durch das Suchen des Waldbruders abgerissenen Faden
des Vorstetlungshmfes wieder erhascht hatte und mit der grOss-
ten Leichtigkeit das Anleihen dieses Freundes an den Gedan-
kenlauf als einfache Nothwendigkeit erkannte. Hatte ich die
Erinnerung an den Freund natürlich erklärt, so traf nun der
— 63 —
Umstand, d«» ich ihn als Leiche gesehen, nicht bios ab eine
Frage, sondern geradezu als ein ProUem anl In diesem Mo-
ment scMoss ieh — ob nach aligeneiner Gew<Anheit beim
dachenden Naohdenken, ob in Felge der vorangegangenen
Ermüdung der Augen, das weiss ich nicht — ieh schloas die
Augen, und jetzt sah ieh das ganse Gesichtsfeld' in beträcht-
licher Ausdehnung ven derselben leichenhaften Färbung —
grttngelbee Grau — erfüllt. Sofori hielt ich dies fttr den Er-
Jdärung8gn»d der Ahnungsvoratelhmg und versuchte mir an-
dere Perooneo aas der Erinnerung Yoi*zustelien, und in der
Tbat auch diese — erschienen mir als Leiohen ; stehend, sitcend,
■wie ich wollte^ hatten sie ganz die Leiehenfari»e. — Nicht
^lle, Personen, die ich versuehend sehen wollte, erschienen mir
als Bilder. Bei geöffneten Auge» sah ieh die Bilder gar nicht,
oder versehwind^id unbestimmt in der Farbe. Als ich dann noch
zu der Frage kam, wie sieh die Bilder der Personen zu dem
umgebenden ebenfalls gefärbten Gesichtsfeld verhielten, vvo>
durch die CFmrisse gebildet werden, ob (Besicht und bekleideter
Körper verschieden wären — ? da war es schon zu spät, oder
der Einfluse. der suchenden Befiexion war zu mächtig, alles
verblasste . schnell und das subjeeti've Phänomen , da(s doch
einige Minuten gedauert haben mag, war vorüber Von
dw vorangegangenen starken Erregung des Opticus und der
damit -verbundenen Bttekwirkung auf das Centralorgan mag es
abgehangen haben, dass Überhaupt erinnerte Vorstellungen wie
wirklidie Bilder in ihren Umrissen vergegenwärtigt wurden,
so dass die centrale Erregung gleichsam bis an die Peripherie
heranreichte , und die hier Y(H*handene Gemplementärfarbe er-
füllte jene Umrisse mit ihrer speoifischen Bedeutung, indem
sie nunmehr vem Cemtralorgan wiederum erfasst, als Leichen-
faii>e apperoipirt wurde«. Lazarus bemerkt noch (S. 120),
seine Augen seien gesund und weittragend, bei anhaltendem
Regenwetter empfinde er jedoch leicht eine grossere Beizbar-
keit und fast einen Druck in den Augen. Erinnerungsbilder
:sehe e^ fasi immer nach seinem Belieben und besonders in
(durch gute Gesellsdiaft und bei einer Flasche Wein) erregten
Zuständen mit einer an sinnliehe Wahrnehmung grenzenden
Deutlidikeit und Lebendigkeit.
Die bis jetzt berichtete Art der Hallucinationen zeigt sich
— 64 —
vorzugsweise dann, wenn die betreffenden Sinnesorgane von
der äusseren Einwirkung fem gehalten werden ; es giebt aber
auch Falle — an welche das letste Beispiel streift — wo Hai-
lucinationen selbst dann auftreten, wo die Verbindung mit der
Aussenwelt nicht gestört ist. Es geschieht dies, wenn die
centrale Heizharkeit den oben erwähnten höheren Grad erreicht
und sich nach der Peripherie hin ausbreitet, wo Visionen am
hellen Tage bei geöffneten Augen und GehörshallueinationeB
mitten im Lärm und Geräusch der Umgebung entstehen. —
Nicolai sah das ganze Zimmer voll Geister, bis bei Ermässigung
des Heizzustandes der Hirnrinde die Erscheinungen allmählich
verblassten und aufhörten. Geisteskranke sehen grosse Licht-
und Feuennassen, welche Ersdieinung nach der Gedanken*
richtung eines jeden verschieden ausgelegt wird : einige glauben
sich im Himmel und sehen die Herrlidikeit Gottes, andere
wähnen sich von den Flammen der Hölle umgeben.
Dabei ereignet es sich oft, dass die äusseren wirklichen
Eindrücke sich den durch sie reproducirten Vorstellungen
assimiliren, mit ihnen sich vereinigen und ein neues gemisch-
tes Phantasma erzeugen. Wird in diesem Gebild der von aussen
gekommene Eindruck vom subjectiven reproducirten Elemente
beherrscht und seinem Inhalte nach bestimmt, so nennt man
dasselbe eine Illusion, und wir finden somit, dass wie zwi-
schen Erinnerung und Phantasie, so zwischen Hallucination und
Illusion keine ganz feste Grenze existiri, sondern beide Er^
Scheinungsarten sich berühren und in einander übergehen.
Viele Täuschungen, bei ^welchen kein äusserer Grund vorzu-
liegen scheint, lassen sich bei genauer Beobachtung auf solche
zurückführen und sind als Illusionen zu betrachten. Bei Wan-
derungen in der Wüste wird der Geist durch die elastische
Luft ungemein angeregt; da die Umgebung aber zu monoton
ist um neue Bilder zu schaffen, werden vergangene Eindrücke
lebhaft reproducirt und es entstehen so die Gehörstäuschungen
(H4tif) und Visionen (Bagl). Der Reisende hört Stimmen und
sieht Bilder; letztere haben in den nebelhaften Dünsten und
in der Brechung des Lichtes ihren Grund.
Doch sind nicht alle Illusionen so schlimmer Natur, dass^
wir in ihnen einen so hohen Grad gesteigerter Reizbarkeit
vor uns hätten; dies sind nur die sogenannten phantasti-
— 65 —
sehen Illusionen. Neben ihnen findet man aber, und zwar
weit häufiger, die physiologischen, welche auch bei nor-
maler Disposition des Nervensystems vorkommen. Solcherlei
Art sind die Fülle, wo der Gorrectör den Fehler übersieht,
weil er seine unvollständige Gesichtsempfindung durch die re-
producirte Vorstellung des richtigen Wortes ergänzt, oder wo
aus denselben Gründen der Zuschauer im Theater die rohen
Umrisse einer Landschaft der Decoration für naturgetreu hält.
Bei träumerischem Anblicken der Wolken sieht man oft allerlei
Gestalten darin. Joh. Müller erzählt, dass er sich in seiner Kind-
heit lange damit beschäftigt habe, in der theilweise geschwärz-
ten und gesprungenen Kalkbekleidung eines dem Fenster seiner
Wohnung gegenüberliegenden Hauses die Umrisse der verschie-
densten Gesichte zu sehen, welche Andere natürlich nicht da-
rin erkennen wollten. Die phantastischen Naturgestalten schil-
dert Goethe in der Blocksbergscene :
Seh' die Böutne hinter Bäumen,
Wie sie schnell vorüberrücken,
Und die Klippen, die sich bücken,
Und die langen Felsennasen,
Wie sie schnarchen, wie sie blasen !
Ein interessantes Beispiel von normaler Illusion erzählt Sputa
(S. Mb) : ))Ich wohnte mehrere Jahre lang in Berlin dicht an
der dortigen Parochialkirche und hörte alltäglich das Glocken-
spiel vom Thurme derselben, welches im Wechsel der Monate
immer einen bestimmten Choral stündlich abspielte. Als ich
mich nun, lange nachdem ich Berlin verlassen hatte, bei
meinen Eltern am Stamberger See befand und eines Tages
an seinem Ufer einsam entlang spazierte, hörte ich plötzlich
das Glockenspiel ganz deutlich, wie es in gewohnter Weise
den Choral : » Wer nur den lieben Gott lässt walten « abspielte
und zwar mit allen den üblichen Vor- und Nachklängen. Als
ich nun durch sofortige Ueberlegung dieses Bild hatte schwin-
den machen, hörte ich in Wirklichkeit nichts Anderes, als das
ferne Läuten einer Kirchglocke, welches über den See hin^*-
zitterte«.
Besonders zeigen sich Illusionen da, wo die Eindrücke
unbestimmt sind, weil dann die reproducirten Vorstellungen
leicht die Macht erringen. In der Dämmerung und der Nacht
Radentock, Schlaf u. Tratin. 5
— 66 —
wird dem Gespenstergläubigen ein Stein oder ein Baumstumpf
zur Spukgestalt; und im Rauschen der Blätter hört er unheim-
liche Stimmen. Bei normaler Disposition ist das spannende
Gefühl der Erwartung den Sinnestäuschungen günstig : die
Eindrücke werden anticipirt und es ergötzt sich ein sehnen-
des Herz »mit süssen Bildern wesenlos zu spielen«^?). Jeder
Affecl, der die Reproduction verstärkt, so dass sie sich leb-
haft vordrängt, ist von Wirkung, denn vorzugsweise Furcht-
:same sehen Gespenster. Ebenso ist der Einfluss geläufiger
Associationen nicht zu verkennen; die Gespenstergläubigen
zeichnen mit Vorliebe einen kürzlich Verstorbener^ in die
Schattenbilder der Nacht. Lazarus erzählt ®<^) nach Dr. Moore:
»Die ganze Bemannung eines Schiffes war erschreckt durch
das Gespenst des Kochs, welcher einige Tage zuvor gestorben
war. Er wurde von Allen deutlich gesehen, wie er auf dem
Wasser mit dem eigenthümlichen Hinken ging, durch welches
er gekennzeichnet war, da eins seiner Beine kürzer gewesen
als das andere. Der Koch, so völlig erkannt, erwies sich
dann doch als ein Stück von einem alten Wrack c^
Jede wissenschaftliche Hypothese beruht eigentlich auf
Illusion, insofern auch hier das Objective, Gegebene durch
das Subjective beherrscht, seinem Inhalte nach bestimmt und
ausgedeutet wird, ohne dass oft ein äusserer Anhalt dazu vor-
handen ist. Bekanntlich trägt man viel in die Ansichten früherer
Philosophen hinein, und Hegel wusste in seinen Illusionen sogar
einen streng logischen Zusammenhang zwischen den einzelnen
Systemen zu finden. Viele schwärmen für das idyllische Leben
der Naturmenschen, ohne zu beachten', dass sie ihre eigenen
Gedanken und Gefühle, welche sie der Cultur verdanken, in
jene Zustände übertragen und dort Genüsse vermuthen, von
denen nur der Cultivirte eine Ahnung hat. Ja, die gesammte
sinnliche Welt-Auffassung des gewöhnlichen Menschen ist eine
grosse fortgesetzte Illusion : Farben und Töne , die doch erst
in uns sich bilden,' legen wir den äussern Dingen bei, die der
Physiker nur ansehen kann als ein Aggregat bewegter oder
ruhiger Elemente um uns, weder hell noch finster, wieder laut
noch still. Wir tragen Vieles in unsere Umgebung hinein,
was wir von ihr zu empfangen wähnen.
Krankhaft wird die Illusion, wenn die Reizbarkeit so steigt.
— 67 —
das» die Sinnesempfindungen in hohem Grade verstärkt aad
phantastisch verändert werden . Der zuGehörstäuschungen
Disponirte hält dann das Pochen an der Thür für Donner, das
Sausen des Windes für himmlische Musik; ein Geräusch auf
der Treppe wird den Gerichtsdienem zugeschrieben, welche
ihn verhaften wollen, im Gespräche Anderer glaubt er auf ihn
gerichtete Schimpfworte zu hören. Weibliche Kranke beklagen
sich bitter über lose Reden und Unanständigkeiten, die sie
hören mttssten. Die Gehöpsphantasmen sind nicht ganz so häufig
wie die des Gesichts und weisen meist auf eine schwere, we-
niger heilbare Gehimaffection hin; besonders will man sie in
Verbindung mit Unterleibs^ und Genitalien-Krankheiten beob-
achtet haben — ^^]. Der mit Illusionen des Gesichtssinns
Behaftete erschliesst eine tödtliche Feindschaft der ihm Begeg-
nenden aus ihren Blicken und hält Bäume oder Felsen für ihn
bedrohende gigantische Gestalten. Ein Herr, der. von hypo-
chondrischer Melancholie befallen war, schlug beständig mit
seinem Stocke auf die Möbel seines Zimmers, um so mehr,
je schneller er ging; er hielt den Schatten, welchen er warf,
für Ratten. — Beim Geruchssinn sind Hallucinationen und
Illusionen selten, doch kommen letztere noch mehr vor als
erstere; sie verursachen den Wahn, in einer vergifteten At-
mosphäre zu leben und von Leichen umgeben zu sein. Beim
Geschmackssinn, wo sie ebenfalls seltener auftreten, sind
beide nicht mehr zu unterscheiden; die Delirien gehen hier
meist nach der unangenehmen Seite hin und man findet nur
sehr wenig Fälle von angenehmen Geschmacksempfindungen
und vermeintlichen Genüssen von Delicatessen. — Häufig da-
gegen sind die Illusionen der Hautempfindungen und des
G e m e i n g e f ü hl s. Anfangs werden die schmerzhaften Empfin-
dungen von den Kranken mit analogen Vorgängen nur auf
phantastische Weise verglichen. Die Hypochondristen sagen,
es sei ihnen, als ob Schlangen an der Haut liefen, Frösche
im Unterleibe sich befänden, als ob in der Brusthöhle ein
Vogel pfiflFe oder ein junger Hund im Kopfe Wasser schlürfe.
Die anfangliche Vergleichung wird aber bei starkem und an-
haltendem Fortbestehen jener Empfindungen unter dem Einfluss
äusserer günstiger Umstände und innerlich zunehmender Ver-
stimmung bald zum ausgebildeten Wahn. Bei einzelnen Schmer-
5»
— es-
sen in der Haut glaubt der Kranke gestochen oder geprügelt
1EU werden: bei abnormen Ab<k>minalsensationen entwickelt
sich die Idee, dass der Teufel sich im Cnterleibe beende oder
das jüngste Gericht dort vor skih gehe. £in Kranker in
Winnenthal schrie monatelang : »H^' auf und lass mich gehen I«
Er glaubte bald von einem Wesen, das ihm im Bauch sitze^
gequält, bald von imaginären Ochsen mit den Hörnern gestos-
sen zu werden.
Die verschiedensten Formen des Besessenseins entstehen
auf diese Weise. Dem Einen hal sich der Bauch in eine Me*
nagerie lebender Thiere, dem Andern in eine Gaserne oder
gar in ein Schlachtfeld verwandelt. Bald kriechen Schlangen,
Eidechsen und Insecten, bald hüpfen Frösche und Heuschrecken
darin umher, oder es tummeln sich dort sieben Reiter. Das
eine Mal spielen darin die Geschichten des neuen Testaments,
die Kreuzigung Christi, das Martyrium der Apostel und Heiligen,
das andre Mal wird ein ganzes Regiment Soldaten einquartiert.
Bei Diesem wird ein päpstliches Goncil in bester Form abge-
haftten, bei Jenem rast eine Gehörte Teufel im Leibe um ihn
zu zerreissen und zu zerieischen. — Auf Abnormitäten der
Hautempfindung , Hyperästhesie und Anästhesie, die vorzugs-
weise bei der Melancly>lie vorkommen, beruhen die Ideen, dass
der Leib aus Glas oder aus einem anderen Stoffe bestehe. —
Sexuelle Illusionen erregen bei männlichen Kranken den
Wahn, von anderen zu Ausschweifungen auftrieben zu werden,
bei weiblichen den der Schwangerschaft, geschlechtlichen Ver-
einigung mit einem imaginären Geliebten oder auch gar mit
-dem Teufel u. s. w.
Jean Paul meint zwar, dass Täuschungen verschiedener
Sinne selten zugleich vorkämen ^^j, doch sind die Schriften,
die über den Irrsinn handeln, reich an Beispielen, wo Hallu-
cinMionen und Illusionen mehrerer, ja aller Sinne zugleich
vorkamen. Die eine Täuschung ruft die andre hervor, und
Manchem scheinen die Frösche im Magen noch zu quaken. Ein
Mann kehrte Abends bei Mondschein von einer Fussreise, auf
der er sich ziemlich ermüdet hatte, zurück. Auf einmal war es
ihm, als ob er ein grosses drachenartiges Thier sich in einem mit
Wasser gefüllten Graben der Ghaussee wälzen sehe. Er gerieth
in die heftigste Angst und fühlte sich sogleich von dem Thier
— 69 —
an der rechten Schulter sehr schmerzhaft gepackt; doch
konnte er — wie er meinte — sich durch Laufen retten. Er
verfiel unmittelbar darauf in eine Krankheit, die sich bald als
ein die ganze rechte Brusthälfte füllendes, rechtsseitiges
Pleuraexsudat herausstellte , an dem er nach mehreren
Monaten starb ^^) .
Alle bisher berührten Arten der Reproduction, die normalen
und anormalen, bei weitem am meisten aber die letzteren ^
kommen zur Geltung im Traum, welcher die im Schlafe
fortdauernde Seelenthätigkeit bildet**).
Capitel IV.
Die Ursachen und Eigenthümlichkeiten des Schlafes.
Unter den Ursachen, welche den Schlaf bedingen, sind
nähere und entferntere zu unterscheiden. Von den entfern-
teren ist vor allen zu nennen die Periodicität. welche wir
nicht nur im Schlaf und Wachen sowie in zahlreichen organi-
schen Functionen des Individuums, dem Herzschlag, der Ath-
mung, dem Gang der Körperwärme, den Absonderungsverhäit-
nissen der Secretionsstoffe, sondern auch in der Natur überall
verbreitet finden.
Es giebt gleichsam eine Fluth und Ebbe der Gedanken^
bald drängen sie sich in Fülle und grosser Lebhaftigkeit auf^
bald zeigen sie sich nur vereinzelt und bewegen sich träge;
wenn die Selbstthäthigkeit in freiem Schaffen ermüdet, tritt
eine Sehnsucht nach neuem Empfangen ein , Aufnahme und
Productivität müssen so mit einander wechseln. — Wie die
Gemüthserregungen selbst nach dem Gesetze des Contrastes
wechseln und auf Freude oft Schwermuth und Thränen, auf
ungebunden und fröhlich durchschwärmte Stunden ein Gefühl
der Leere folgt, so wird auch das Verhältniss jedes Einzelnen zu
denselben, der Stärkegrad der Gefühlsdisposition, periodisch ein
andefer. Erzwungene Versuche mancher Poesie, uns durch
beständige Versenkung in die Mystik und Romantik der Natur-
erscheinungen zu unterhalten, versetzen uns in Missstimmung
und Unbehagen, denn unser Herz begehrt nicht immer Symbole
und Gleichnisse, sondern oft das volle warme Leben, und es
dürstet förmlich nach Wirklichkeit. Man kann an sich selbst
beobachten, dass man bald mehr zum Gefühlsieben, bald zum
theoretischen Denken hinneigt. »Jeder Tag bildet eigentlich
für einen Jeden ein solches Räthsel, indem bald die psychischen
— 71 —
Thätigkeiten raischer, kräftiger, richtiger vor sich gehen, bald
schlaffer erscheinen und mehr zurückgedrängt und ihre Kraft
durch den störenden Einfluss durchgehender Vorstellungep ge*
hemmt wird, in manchen Fällen ein sinnlicher . Reiz obsiegt,
der in andern tnit Leichtigkeit überwunden wird, und das zu
begreifen und in Formeln zu bringen scheint unmöglich« ^^) .
Die geschlechtlichen Verhältnisse zeigen eine gewisse Perio-
dicität , ebenso die Krankheiten , physische wie psychische»
Forster bemerkte alle 27 oder 28 Tage eine Irritabilitätsperiode,
schwächere alle H Tage. »Alle Menschen werden nach Mass*
gäbe der Empfindlichkeit ihres Nervensystems in dieser Zeit
afficirt, die nervös Leidenden, besonders Wahnsinnige und
unter diesen namentlich melancholische am meisten« ^^j * All*-
zuweit ging freilich auch hierin die mystische Naturphilosophie
der Schellingianer , welche die Periodicität im organischen und
unorganischen Reiche überhaupt in ausgedehntestem .Masse
nachzuweisen suchten ^^j .
In Folge dieser Periodicität wird der Müssiggänger, welcher
den Tag ohne Anstrengung verbracht hat, ebenso schläfrig als
der energische Mann, welcher seine Kräfte übte. Auch ist die
Gewohnheit nicht ohne Einfluss; man wird zur gewohnten
Zeit schläfrig, und wenn diese vorüber ist, nicht selten wieder
munter. Ferner bewirken mehrere physiologische Bedingungen
den Schlaf, wie die Entfernung der Sinnesreize^^),
welche in relativ höchstem Grade die Stille und das Dunkel
der Nacht begleiten; können sie nicht vermieden werden, so
kann trotzdem Schlaf eintreten, wenn das Interesse für die-
selben abgestumpft ist. So schlafen Müller trotz des Ge*
räusches der Mühle , und der plötzliche Mangel dieses gewohnten
Eindrucks führt oft sogar das Erwachen herbei; Landleute,
welche das erste Mal in eine grosse Stadt kommen, können
des Nachts nicht schlafen und am Tage auf der Strasse nicht nach*
denken, weil ihre Aufmerksamkeit von den äusseren Eindrücken
zu sehr in Anspruch genommen wird. Bei längerem Aufent*
halte verlieren diese Eindrücke das Interesse und sie meditiren
oder schlafen so ungestört als die in der Stadt Geborenen.
Gleichmässige, nicht zu starke Eindrücke, welche das Interesse
nicht besonders erregen, wie das Säuseln des .Waldes, Rau-
schen des Windes, Baches und Wasserfalles, monotone Musik,
— 72 —
der Pendelschlag der Uhr, langweilige Reden oder die Lectttre
eines uninteressanten Buches — schläfern ein, indem sie die
Selbstthätigkeit nicht herausfordern und uns »einluUena. —
Boerhave Hess, um einem Kranken Schlaf zu verschaffen, Was-
ser an einen Ort stellen, welches tropfenweise in eine kupferne
Pfanne fiel»»).
Schmerzhafte Affection der Hautempfindungen und des
Gemeingefühls hindert den Schlaf, während die möglichste
Befreiung desselben von Eindrücken durch Entledigung von
Kleidungsstücken u. s. w. ihn herbeiruft; ja eine gleichförmige
sanfte Reizung durch Schaukeln, Wiegen oder sanftes Reiben
befördert ebenfalls den Schlaf. — Wo das Nervensystem sich
an solche kleine Reize gewöhnt, schläfern sie nicht nur ein,
sondern ihr Aufhören führt sogar das Erwachen herbei. Der
Müller erwacht beim Stillstehen der Mühle, das Kind^ wenn
die Amme aufhört zu singen, der Schläfer in der Kirche, wenn
die Predigt aufhört, der an das Nachtlicht Gewöhnte, wenn
dasselbe erlischt.
Neben dieser Interesselosigkeit bildet das bedeutendste
psychologische Moment die Befriedigung der Selbstthä-
tigkeit. Mehr als die Anregung durch fremde Gedanken-
reihen beim Anhören eines Vortrags verscheucht eigne lebhafte
Beschäftigung und eignes scharfes Nachdenken den Schlaf.
»Wo die Seele noch nach einem Ziele strebt, mit einem Ob-
jecto beschäftigt ist, Vorstellungen zu lebhaft verfolgt, sei es
in Meditation oder Gemttthsbewegung, da tritt kein Schlaf ein«,
sagt Burdack^)j »dieser erfolgt erst, wenn sie durch rüstiges
Wirken und durch Erreichung eines nächsten Zieles gesättigt
ist und vor der Hand ihre Rechnung geschlossen hat. Mag
sich aus dem Geleisteten oder Erlebten noch so Grosses für die
Zukunft ergeben und majg die Folge noch so sehr Geist und
Gemüth in Anspruch nehmen; wenn nur der Gegenwart Ge-
nüge geschehen ist, kann sich der Schlaf einstellen : so schliefen
Alexander, Sextus Pompejus, Napoleon und andere Feldherrn
die Nacht vor einer entscheidenden Schlacht, Gato und andre
vor dem freiwilligen Tode eben so ruhig und fest, wie im All-
tagsleben. Wenn die Freude aufgehört hat ^u brausen und
man das Object derselben nach allen Richtungen verfolgt hat,
so y^rfällt man im Gefühle der Sättigung in sanften Schlaf.
'tiwkAy
— 73 —
So erschöpft steh aach die Traurigkeit, indem die HoShungs^
losigkeit Ergebung und Beruhigung herbeiführt ot. Cleghom
theilt die Beobachtung eines Gefangenwärters mit, nach welcher
Verbrecher die erste Nacht, nachdem ihnen ihr Urtheii ver-
kündet, zu durchwachen pflegen, die letzte Nacht vor ihrer
Hinrichtung aber ruhig schlafen. — Auch spielt die Individua-
lität eine bedeutende Rolle. Wo das geistige Leben träge ist,
keine rüstigen Bestrebungen unternimmt, und der Tiefe er*
mangelt, wo sich also leicht Befriedigung findet, kann zu jeder
Stunde Schlaf eintreten, wenn kein Zwang zur Arbeit vorhan-
den ist; ja der Gedankenlose schläft, auch unter den bedro-
hendsten Umständen ein, sobald nur seine körperlichen Be-
dürfnisse befriedigt sind, wie das Thier bald nach der Sättigung
einschläft. In der Manie giebt es keine Befriedigung und es
sctiläft der Kranke hier auch nach langen erschöpfenden An-
strengungen nicht ein.
Eine starke Blutentleerung bewirkt ebenso Schlaf wie eine
%\i starke Anhäufung desselben im Gehim und seiner Umgebung
(Blutüberfülhing mit Stockung ist oft die Ursache von Apo-
plexie und Goma). — Schlaf und Betäubung entstehen femer,
wenn das (iehim zusammengedrückt wird durch ergossenes
Blut oder Eiter, durch Hirnschwämme, Schädelknochen u. s. w.
Dasselbe bewirkt der einfache mechanische Druck auf Stellen
des Hirns, welche durch den Trepan oder eine Verletzung ent-
blösst sind. Hnüer ^^) brachte auf diese Weise Hunde bis zum
Schnarchen, Fodi^6 sah ebenfalls durch allmählichen und gleich-
massigen, auf den mittleren Theii des Gehirns ausgeübten Druck
bei Thieren Betäubung entstehen «2) .
Die Stellung oder Lage des Körpers ist in Bezug auf
den Schlaf nicht ohne Einfluss. Abgesehen davon, dass die
ausgestreckte mehr oder weniger horizontale Lage des Körpers
schon durch Veränderung der Blutcirculation einschläfernd wirkt
und man dabei auch eine parallel gehende Veränderung der
psychischen Functionen beobachtet, die sich im Hingeben an
regellos spielende Miantasien kund giebt — begünstigen be-
sonders alle die Stellungen und Lagen den Schlaf, welche dem
Körper die meisten Unterstützungspunkte liefern und deshalb
welliger Anstrengung sie inne zu halten erfordern , dabei aber
zugleich wenig Druckempfindungen erregen. Wenn die Er-
(
\
— 74 —
müdung gross ist, stellt sich jedoch der Schlaf auch in jeder
Stellung ein. Die Vögel sowie viele vierfttssige Thiere schlafen
im Stehen.
Bekannt Ist, dass Simulation den »Sorgenlosem nicht selten
herbeiruft und man ihn gleichsam hintergehen kann. Doch
darf in allen Füllen keine Ueherspannung der Kräfte, physisch
oder psychisch, vorangegangen sein : allzu scharfes Nachdenken
und Grübeln vorher lässt seine Wirkung noch lange sptlren,
und dass allzu grosse körperliche Ermüdung, wo die Glieder
zittern, den Schlaf nicht herbeiruft, sondern verscheucht, ist
durch Erfahrung genugsam constatirt.
Direct schlaferzeugend wirken die Narcotica, alle Aether-
arten und ätherischen Oele, manche gas- und dunstförmige
Stoffe und endlich auch Blumengerttche. Da oft erzählt wird,
dass verschiedene Lagen des Körpers gegen den magnetischen
Meridian auf den Schlaf einwirken, machte Purkinje im Jahre
48S0 hierauf bezügliche Versuche, ohne ein Resultat zu erhal-
ten, doch hält er die Sache nicht für undenkbar ^^). Derselbe
macht (S. 4S6) die Bemerkung^ dass ein Messer, eine Scheere
oder ein Finger vor die Stirn oder die Nasenwurzel gehalten,
ein angenehmes Gefühl verursacht, welches zum Schlummer
einladet. Schlaf bewirkt femer ein länger dauernder Sinnes*
eindruck, welcher die Nerven ermüdet z. B. die längere Fixi-
rung eines Gegenstandes mit den Augen '^^].
Aristoteles nennt als Einschläferungsmittel Mohn, Alraun,
Wein und Lolch, welche Schwere im Kopfe verursachten •*) .
In jüngster Zeit glaubte vorzüglich W. Preyer dadurch, dass
er Milchsäure oder milchsaures Natron in den Magen
oder unter die Haut einführte, Schlaf hervorzubringen, »voraus-
gesetzt, dass starke Sinnesreize fern gehalten werden«. Zu-
nächst machte er Versuche an Thieren, dann auch an Menschen
und zunächst an sich selbst. »Ich habe unzweifelhaft«, sagt er,
»nach Einführung von milchsaurem Natron nicht nur ein starkes
Ermüdungsgefühl , zumal Unlust zu arbeiten , zu gehen , zu
denken, sondern auch eine beinahe unüberwindliche Schlaflust
herbeigeführt. Ja, regelmässig nach reichlichem Genüsse ge*
ronnener Milch tritt bei mir Schläfrigkeit ein«®<^). Doch fand
Loihar Meyer das milchsaure Natron subcutan gänzlich und sto-
machal mit Ausnahme von zwei Fällen so gut wie wirkungslos,
— 75 —
wohl aber machte es Verdauungsfitörungen. Audi Erler und
Fischer konnten eine schlafmachende Wirkung des milchsauren
Natrons und der Milchsäure nicht constatiren ; letzterer wandte
die Säure in Klystieren an, in welcher Form sie von Mendel
empfohlen worden war^^). — Femer berichtet Freyer, -er sei
in Schlaf verfallen, wenn er seinen Arm 4000 Secunden lang
wagerecht ausgestreckt habe, so dass die Schmerzen kaum
noch zu ertragen gewesen wären ; bei solcher Muskelermüdung
sei es aber nothwendig alle stärkeren Reize und geistige An-
strengung zu vermeiden, wenn man Schlaf herbeiführen wolle.
jS. 30}.
Manche Reize wirken oft nur relativ, indem sie in
massiger Intensität den Schlaf befördern , in gesteigerter
aber ihn verhindern, wie Wärme und Kälte, oder auch umge-
kehrt, wie geistige Getränke. Letztere machen bei massigem
Genüsse munter und fröhlidh, beleben die Phantasie, setzen
überhaupt eine höhere Spannung und verscheuchen den Schlaf;
werden sie weiter genossen, so stören sie das Selbstbewusstsein
wie die Selbstbestimmung und schläfern ein. Freilich ist auch
hier die Individualität von Einfluss, denn während das psy-
chische Leben des Einen durch ein Glas Wein gesteigert wird,
macht letzteres den Andern träge und schläfrig. Sogar Opium und
Tabak wirken bald belebend, erhalten wach und steigern die
Phantasie, bald folgt ihnen der Schlaf nach, je nachdem die
Quantität ihrer Anwendung und die Stimmung der Lebendig-
keit des Organismus, auf den sie einwirken, eine verschiedene
ist. Bei Bilsenkraut, Belladonna und fast allen anderen Narco-
ticis findet Aehnliches statt ^®).
Unter die Hinderungsmittel des Schlafes gehören
neben der erwähnten körperlichen und geistigen Ueberan-
strengung überhaupt alle hastigen Aufregungen, dann Fieber,
Entzündungen, Wallungen und Krämpfe. Bekannt ist ebenso
wie die Wirkung des Thees und Kaffees als Getränk oder die
nach Purkif^ — bei welchem ein Loth hinreichend war, um
ihn eine ganze Nacht schlaflos zu machen (S. 42S), — noch
stärkere gebrannter Kaffeebohnen — das unbesonnen von man-
chen literarischen Nachtarbeitem angewendete Mittel, sich durch
kalte Fussbäder wach zu erbalten. Bei den meisten Kranke
— 76 —
heften, welche den Schlaf verscheuchten, ist sein Wiederer-
scheinen ein gutes Zeichen, oft die Krisis selbst.
Was die näheren Ursachen des Schlafes betrifft, so gilt,
trotzdem dass die Physiologie seitdem bedeutende Fortischritte
gemacht hat, noch immer das Wort Jean PanVs^^^ dass der
Traum leiditer zu erklären ist als der Schlaf. Zwar hat man
in der letzten Zeit auch in dieses dunkle Gebiet Klarheit zu
bringen versucht und manche Theorien aufgestellt, doch ist
noch keine zur unbestrittenen atieinigen Geltung gekommen ^<^).
Wir wollen diese verschiedenen Ansichten hier nicht weiter
critisiren, noch etwa eine neue daneben stellen, da wir nicht den
Schlaf selbst physiologisch zu erklären beabsichtigen, sondern nur
im Allgemeinen die Veränderungen nachzuweisen versuchen,
welche die physiologische Grundlage oder, wie Manche sagen, Ur-
sache zu den im Schlafe gleichfalls veränderten psychischen Thä-
tigkeiten abgeben. Hier folgen wir der Annahme Wwndts^^^),
Kohlschüttet'^s^^^) und anderer hervorragender Forscher, nach
welcher Veränderung der Blutcireulation im Schlafe die Dis-
position zu den Phantasmen des Traumes, welche der zu Hai-
lucinationen ähnlich, ja fast gleich ist, abgiebt. Sehr wahr-
scheinlich wird diese Theorie gemacht durch einige der zahl-
reichen Eigenthümlichkeiten der organischen Functionen; welche
sich während des Schlafes zeigen.
Vor Allem ist hier zu nennen die sehr bedeutsame Ver-
änderung der Athmung. Dieselbe ist im Schlafe seltener
als im Wachen; nach Martin athmen wir im Schlafe nur 15
Mal in der Minute, während dies im Wachen 20 Mal ge-
schieht ^^'^) . Die Erstickungszufälle bei der Brust Wassersucht
nehmen nach Testa während der Nacht zu , indess bei einigen
Krankheiten der Lungen wegen der geringen Ausdehnung der-
selben die Zufälle abnehmen i<^) . Dabei zeigen die Athemzttge
auch noch andere Eigentbttmtidikeiten. Sie werden tiefer und
regelmässiger als im Wachen, die Exspiration, etwas kürzer
als die Inspiration, folgt derselben unmittelbar, dann eine Pause,
Biemlioh eben so lang als Inspiration nnd Exspiration zusam-
mengenommen, die im Wachen sich nicht findet ^<^). Zugleich
nimmt ihr Procenigehalt an Kohlensäure a6 ; es wird im Schlafe
bedeutend weniger Kohlensäure abgegeben, während mehr
Sauerstoff aufgenommen wird. Vbn der Gesammtmenge der in
— 77 ^
24 Stunden ausgeathmeten Kohlensäure — das Maximum der^
selben befindet sich nach Pi*out um Mittag 10 — 2 Uhr — kom-
men mek Peitenlu^er und Voü 587o auf die \% Tages-, 42%
auf die M Nachtstunden, während vom Sauerstoff 33% auf
den Tag, 67% auf die Nacht fallen. Es müssen sich also
nothwendfgerweise Kohlensäure und andre Oxydationsprodukte
im Organismus anhäufen, welche auf die automatischen Centren
des Herzschlags und der Gefässverengerung im verlängerten
Mark und von da aus weiter wirken ; dadurch wird der Blut-
lau f, welcher durch die mehr horizcmtale Lage im Schlafe schon
im allgemeinen Veränderungen erfahren hat^^), besonders in
der Schädelhöhle gehemmt, und wohl ist die Folge davon eine
erhöhte Reizbarkeit und Erregung des Gehirns^ vorzüglich der
sensorischen Tbeile desselben, welche aber auch auf die moto-
rischen überg^en kann. Dies ist die physiologische Disposition
zu den Phantasmen des Traumes; denn dass veränderte Blut-
circulation solche Phantasmen hervorrufen kann, lehrt die be-
kannte Erscheinung, dass Strangulirte Gesichts- und Gehörs-
hallucinati|Onen haben^ und dass solche sensorische Reizung auf
motorische Gebiete übergehen kann, dafür dient die Thatsacbe
als Zeugniss, dass Leute, deren Schlagadern unterbunden sind,
leicht in Krämpfe verfallen.
Dass im Schlaf die Blutcirculation Veränderungen erfährt,
zeigt femer die Pulsfrequenz, welche ebenfalls im Schlaf
verringert ist. Nach Testa erfolgen um Y5 weniger Schläge
als im Wachen^ nach Hamberger sinkt die Frequenz bei einem
achtjährigen Knaben von 100 Schlägen auf 89, bei einem elf-
jährigen von 90 auf 80, bei einem vierzehnjährigen von 82 auf
72; nach Martin bei einem Manne von 70 auf 60. Nach Knox
ist ihr Minimum um Mitternacht, um 3 Uhr Morgens nimmt
sie wieder zu. Auch wird, wie Bovble und Brandts bemerken ^
der Puls gegen Morgen wieder voller und stärker ^^^j.
Die mit der Pulsfrequenz in ihren Tagesschwankungen zjen>-
lich gleichen Schritt haltende Wärmeerzeugung und Eigen-
wärme des Organismus ist des Nachts vermindert, was schon
Hippocrates bemerkt haben solP^^j. Ihr Tagesmittel beträgt
37,80-^37,930 C. und sie zeigt Schwankungen von 1— 1^5<> C.
Ihr Mai^imum währt von 4 — 9 Uhr des Nachmittags, sie sinkt
darauf bis um Mittemacht, wo sie von ca. i Uhr 30 Min. bis
— 78 —
Morgens am geringsten ist und von da- an wieder steigt iw>).
Nach Burdach ist die Temperatur des Nachts um mehr als
einen halben Grad R^aumur niedriger als am Tage (S. 517 f.).
Ueberhaupt ist das Vermögen, die eigene Temperatur zu be-
haupten, verringert, wieshalb man der Erkältung und dem
Rheumatismus mehr ausgesetzt ist und das Bedürfniss einer
wärmeren Bedeckung fühlt. »Aeussere Wärme erhitzt auch
mehr und verursacht Röthe und Aufgetriebenheit des Gesichts,
Schwere des Kopfes und Trägheit«.
Die Beobachtungen Martin'' s '*^) zeigen , dass ebenso die
Turgescenz des Nachts ab- und gegen Morgen wieder zu-
nimmt. Den Umfang der Brust nämlich fand man nach zwei-
stündigem Schlafe um 2/35» nach vierstündigem Y35, nach sechs-
stündigem aber nur Y35 verringert. Die Hand war nach
zweistündigem Schlafe um 2/36? °^<5h vierstündigem ^36, nach
sechsstündigem wieder nur y^^ kleiner. Bauch und Fuss end-
lich zeigten nach vierstündigem Schlaf einen Unterschied von
Y32 und Y34, nach sechsstündigem war derselbe wieder ver-
schwunden. Burdach setzt hinzu (S. 518): »Dass die Turges-
cenz gegen Abend stärker ist als gegen Morgen, ergiebt sich
schon aus dem scheinbaren Engerwerden der Kleidungsstücke«.
— Bei Trepanirten bemerkte man im Schlafe ein Einsinken des
Gehirns.
»Die Secretionen folgen im Ganzen dem Typus des
Blutlebens; sie sind während der Nacht sparsamer und neh-
men gegen Morgen zu«. Die Ausdünstung ist während der
Nacht am schwächsten und erreicht ihr Minimum um Mitter-
nacht. Demselben Gesetze scheint die Hamabsonderung zu
folgen, welche nach Weigelin am geringsten früh von 2 — ^4 Uhr,
am stärksten aber von 2 — 4 Uhr nachmittags ist*^^). — Die
Verdauung ist während der Nacht langsamer. Am Morgen
treten die zu anderen Tageszeiten bewirkten Störungen : bittrer
Geschmack, üebelkeit, Erbrechen, Sodbrennen, Magenkrampf,
Kolik, stärker hervor.
Endlich ist der Stoffwechsel überhaupt träger, und
wenn man deshalb oft von der Polarität des Schlafes und Wa-
chens redet und dieses als das Vorherrschen des animalen,
jenen als das des vegetativen und pflanzlichen Lebens be-
"zeidinet, so schiiesse ich mich hierin der Ansicht Burdachs
— 79 —
an, welcher sagt, dass das vegetative Leben allerdings inso*
fern vorherrschend ist, als es durch das animale weniger be-
stimmt wird und seine verschiedenen Richtungen untereinander
im Gleichgewicht stehen, dass es aber dabei überhaupt
matter und die Consumtion und Zersetzung gerin*
ger ist.
Ein analoges Verhältniss findet sich bei der Transformirung
der Kräfte. Zwar ist nach obiger Angabe die Wärmeerzeu-
gung im Schlafe verringert, da keine Nahrung aufgenommen
wird und die chemische Zersetzung vermindert ist, doch bleibt
immer noch ein Ueberschuss derselben, da in ungleich höherem
Grade die Ausgabe verringert ist. Die Wärmeausgabe besteht
4) in Wasserverdunstung durch Haut und Lungen, 2) Er-
wärmung der Athmungsluft, 3) Erwärmung der festen und
flüssigen Excrete, 4j Erwärmung der aufgenommenen Nahrung,
5) Ausstrahlung von der Haut aus, 6) in mechanischer Arbeit.
Der Wärmeverlust durch die Hautausdünstung ist bei weitem
der grösste, da der durch Muskelarbeit entstehende durch er-
höhte Athmung mehr als comp^nsirt wird. Den Verbrauch
durch Erwärmung der Nahrung und Athmungsluft und durch
Lungenverdunstung schätzt man auf 22 V2 Vo ^^^ erzeugten
Wärme, es bleiben also dem ruhenden Körper 77V2V0 zur
Verdunstung durch die Haut**^). Im Schlaf ist die Transspi-
ration der Haut verringert ^^^j , sie kann also nicht den ge-
wöhnlichen hohen Procentsatz an Wärme verbrauchen. Wenn
femer, wie UeiäenhcUn beobachtete, bei Reizung der Empfin-
dungsnerven sich eine Temperaturabnahme zeigt, so wird bei
geringerer Erregung derselben im Schlaf auch hier Wärme ge-
spart. Endlich wird bei der vermehrten Aufnahme von Sauer-
stoff eine Menge Brennmaterial angehäuft. Diese Wärme resp.
Kraft sammelt sich also im Organismus, besonders aber im
<}ehirn und dem gesammten Nervensystem, dem 'grossen Re-
«ervoir der Kräfte*"), in Form von Spannkraft an und bleibt
latent oder potentiell, bis sie am Morgen — zuerst in einzel-
nen Theilen des sensorischen, ja auch motorischen Gebietes
«ich auslösend die physiologische Grundlage zu den Traum-
handiungen bildet, andrerseits die Intensität der organischen
Functionen steigert und endlich durch summirte Wirkung der
äusseren und inneren Reize beim Erwachen im Gesammtgebiete
— Sü-
des animalen und vegetativen Lebens in lebendige Kraft ttbei*-
geführt wird.
Der Herabsetzung der organischen Functionen geht
parallel die Verminderung der psychischen Thätigkeit.
Die Hegelianer sowie die AnlUinger SchelUng^s reden von
einer »Polarität« zwischen Schlaf und Wachen ^^^). Auch
Fechner und sein Anhanger Kohlschütter nehmen diesen ge-
raden Gegensatz an und isetzen den Punkt des Einschlafens
als Nullpunkt des Bewusstseins , welches letztere im Schlaf
einen negativen Werth erreiche. Dagegen hat schon Horwicsi
die treffende Bemerkung gemacht, dass, wenn diese Annahme
richtig sei, der Traum, welcher die negative Grösse des Be*
wusstseins ausdrücken soll, desto intensiver sein mUßste, je
tiefer der Schlaf wäre, was doch nicht der Fall ist^^^}.
Man scheint hier, wie so oft, zwischen Bewusstsein
und Selbstbewusstsein, der Subject und Object unter-
sdieidenden und einander gegenüber stellenden Thätigkeit der
Seele, keine feste Grenze zu ziehen und beide mit einander
zu verwechsein. Das Selbstbewusstsein ist im Schlafe aufge-
hoben, denn der Mensch orientirt sich nicht mehr in der
Aussenwelt indem er sein »Ich« den anderen Wesen und
Dingen gegenüberstellt, das Bewus$tsein aber, das Yorstellun-
genhaben überhaupt ^ ^^) , die psychische Beaction auf die
correspondirenden physischen Vorgänge, ist im Schlafe, wie
der Traum zeigt, noch vorhanden, und zwar auch wesentlich
in. derselben oder nicht allzusehr vom Wachen verschiedenen
Art, wenn es auch viele Eigenthümlichkeiten zeigt. Von einem
)> negativen Bewusstsein« zu reden, erscheint mir deshalb nicht
am Platze.
Der HerbarVs Standpunkt vertretende Spitta , welcher
ebenfalls vor Verwechselung des Bewusstseins und Selbstbe-
wusstseins warnt, scheint mir diese Klippe selbst nicht ganz
zu vermeiden. Er sagt [S. 62) : »Das Vorstellen nun als
solches kann, da es Thätigkeit der Seele ist. durch welche sie
sich in ihrem Bestände erhält, so lange die Seele lebt, auch
nicht aufhören, es dauert vielmehr ununterbrochen fort, allein
es ist gar nicht nothwendig, dass wir in jedem Augenblick
Kenntniss haben von diesem Process, dass das Re-
sultat desselben uns zum Bewusstsein kommt. In
— 81 —
diesem Falle ist das Vorstellen allerdings vorhanden, allein es
entbehrt seiner WiAung, seines Effects — anstatt die Vor-
stellung zu erzeugen, sie uns zur Kenntniss zu bringen, ist es
gebunden, verwandelt es sieh in blosses Streben vorzustellen,
d. h. die Vorstellung wirklieh zur Kenntniss zu bringen.
Diese Vorstellungen nun, die das Vorstellen zwar zur Kennt-
niss zu bringen strebt, aber nicht wirklich bringt, nennen
wir unbewusste Vorstellungen«. Anders äussert sich Wundt
in Betreff der unbewussten Vorstellungen: »Es ist uns aber
das Bewusstsein nur aus unsern Vorstellungen bekannt, eben-
so wie wir unsere Vorstellungen nur aus dem Bewusstsein
kennen. Eine unbewusste Vorstellung ist daher,
ebenso wie ein nicht vorstellendes Bewusstsein,
ein Begriff, dem eigentlich sein Inhalt verloren
ging. Eine Vorstellung, die nicht vorgestellt wird, ist eben
keine Vorstellung«. Er fasst sie als Disposition, als »eine
zurückbleibende functionelle Anlage zur Wiedererneuerung der
einmal vorhanden gewesenen Vorstellung a**®). Es wäre also
demnach eine unbewusste Vorstellung, die, wie man sie ge-
wöhnlich fasst, noch einen Bestandtheil der wirklichen Seelen-
thätigkeit ausmacht und auf das bewusste Leben bedeutend
einwirkt, eigentlich nicht eine nicht im Bewusstsein vorhan-
dene, unbewusste, sondern nur weniger bewusste i*^).
Diesem Gegensatze des Schlafes und Wachens und den be-
sonderen Eigenthümliehkeiten des Traumes, seiner Zusammen-
hangslosigkeit^ mit dem wachen Leben , seiner Fälschung und
Veränderung alles dessen, was er aus dem letzteren hertiber-
nimmt, und überhaupt dem bedeutend verschiedenen Charakter
beider, zu dessen Erklärung »weder die einfache Herabdrück-
ung des bewussten Seelenlebens unter die Hauptschwelle, noch
die Abziehung von den Einflüssen der Aussen weit«, genüge,
weil sonst die Stille der Nacht und der Schluss der Augen
denselben Erfolg äussern müsste , — entnimmt Fechner den
Grund seiner Vermuthung, »dass auch der Schauplatz der
Träume ein anderer, als der des wachen Vorstellungslebens «
sei und die Seele im Schlaf »umsiedele«, um ein anderes Or-
gan zu ihrer Aeusserung zu suchen als im Wachen *20). —
Aehnlieh lautete eine alte, viel verbreitete Ansicht, dass die
Seele im Schlaf im Gangliensystem ihren Sitz habe, woraus
B adestock, Schlaf n. Traum. ()
— 82 —
Qian dann das Vorwiegen der Empfindungen des eigenen Or-
ganismus im Traum ableiten wollte. . Pechner geht allerdings
nicht so weit, seine Yermuthung in Betreff der Umsiedelung
der Seele zu einer categorischen Bestimmung ihres neuen
Wohnortes werden zu lassen, allein auch die blosse Yermuthung
ist wohl nicht recht haltbar, denn die Stille der Nacht und
das Schliessen der Augen hat in der That einen ahn liehen
Erfolg; dass er nicht ganz derselbe ist, liegt an den übrigen
physiologischen Eigenthümlichkeiten des Schlafes, welche den
Traum vom wachen Yorsteliungsleben selbst entfernen. Bekannt
ist, dass man besser seinen Phantasien nachhängen kann, wenn
man die Augen schliesst und sich auch von den übrigen aus-*
seren Eindrücken möglichst fem hält, während die scharfe Me-
ditation mehr den Tag und das Licht liebt. Schon da^ wo die
äusseren Eindrücke, die sonst die Sinne afficiren, die Reaction
der Seele herausfordern und ihre Thätigkeit auf bestimmte
Punkte fixiren, unbestimmt und weniger wirksam sind, wie
in der Morgen- und Abenddämmerung, sind wir mehr »träu-
merisch«. Die Phantasie beherrscht uns, wir rufen weniger
willkürlich Vorstellungen in das Bewusstsein, sondern die Vor-
stellungen kommen, verbinden sich und verschwinden rein
nach den Gesetzen der Association, ebenso wie im Traum. Erst
eine energische Willensäusserung und die Fixirung der psy-
chischen Thätigkeit auf einen bestimmten Punkt lässt diesen
natürlichen Hang verschwinden. — Bei Kurzsichtigen, die eine
Brille zu tragen gewohnt sind, hat das plötzliche Abnehmen
derselben eine ähnliche; wenn auch geringere Wirkung, weil
dann ebenso die Eindrücke .des Gesichts von aussen her nebel-
haft und unbestimmt werden. — Noch mehr bemerkbar ist
der Einfluss der physiologischen Bedingungen, welche sich aus
der Veränderung der Organempfindungen, besonders aber der
Blutcirculation in einer mehr oder weniger horizontalen Lage
ergeben. Eine zusammengepresste Körperstellung dämpft den
Muth; der Zorn vermehrt sich bei heftigen Körperbewegungen
und wird durch Ruhe beschwichtigt, — weshalb Kant räth.
Jemandem , der erzürnt zu uns eintrete , vor allen Dingen
einen Stuhl anzubieten, um seinen Zorn zu vermindern; Lotze
sagt, dass wir bequem und nachlässig gelagert schwer an-
dächtig und aufmerksam sein können ^21). Beim voUstän-
~ 83 —
digen Liegen wird die Spontaneität der Seele noch mehr
beeinträchtigt. Moreau » bemerkt , dass horizontale Lage das
Halluciniren begünstigt, Pinel beobachtete bei einer melan-
cholischen Frau das Aufhören von Gehörshalluclnationen bei
Annahme einer sitzenden Stellung. — Wenn ich mich auf das
Sopha legC; ist das Gefühl herrschend ; nur mit grösster Mühe
kann ich logisch denken, die active Apperception verw,andelt
sich in die passive und die Vorstellungen huschen schnell
vorüber. Dasselbe geschieht, sobald ich früh nach dem Er-
wachen im Bett noch liegen bleibe, auch wenn die Augen
offen sind. Wenn Fechner sagt, dass er früh im Bett zum ab-
stracten Denken am meisten aufgelegt sei (S. 472), so mag
dies Gewohnheit sein, welche bekanntlich Vieles verändern
kann. Manche Denker haben die besten Gedanken im
Sitzen, andere im Gehen, die einen arbeiten lieber und
besser bei Tage, andere ziehen die Nacht vor. Andrerseits ist
allerdings die Combination der Vorstellungen zu neuen Ideen
bei dem durch die Spontaneität nicht gehinderten raschen
Laufe der Gedanken begünstigt, die bei solcher Gelegenheit ge-
bildeten Ideen bedürfen jedoch stets der nachfolgenden Prüfung
des logischen Verstandes und erweisen sich zuweilen zwar für
Poesie aber nicht für strenge Philosophie brauchbar. Schliesst
man im Liegen auch die Augen, so wird es noch schwerer
die Macht über die Vorstellungen zu behalten, öffnet man sie
jedoch wieder und erhebt sich, so kann man sich diese Macht
schnell wieder erringen. Dass die Seele nun in diesem Augen-
blick wieder umgesiedelt sei und ihren früheren Wohnsitz ein-
genommen habe, ist doch wohl nicht anzunehmen. Die Mittel-
zustände zwischen Schlaf und Wachen bilden eine Instanz
gegen Fechner's Annahme. Auch lassen sich die Eigenthümlich-
keiten des Traumes ohne eine Umsiedelung der Seele erklären.
W^enn Fechner femer auf den Satz Burdach^s (S. 474),
dass sich im Traum nie das Leben des Tages mit seinen An-
strengungen und Genüssen, Freuden und Schmerzen wiederhole,
vielmehr der Traum darauf ausgehe, uns davon zu befreien,
— und die Aussprüche Anderer gestützt, behauptet, dass im
Traum Alles verfälscht sei, so ist dies nicht richtig. Dichtung
und Wahrheit ist auf eine seltsame Art im Traume gemischt;
so absurd es ist. Alles für Wahrheit zu halten und aus dem
6*
— 84 —
Traume das innere Wesen des Menschen erschliessen zu wollen,
so unrichtig ist es auch, ihn einen vollständigen Lttgner zu
nennen. Er offenbart uns nur oft, was wir uns im Wachen
selbst nicht gestehen wollen und deshalb schelten wir ihn einen
vollständigen Lügner und Betrüger. — Dass wir uns heftiger
Schmerzen weniger erinnern als der Freude und also auch
seltener davon träumen, findet seine Erklärung zum Theii in
Gründen, die schon oben angeführt sind; die Lügen und Fäl-
schungen des Traumes finden überhaupt zumeist ihre Erklärung
in der Eigenthümlichkeit der physiologischen Vorgänge.
Ebenso wenig kann von einem vollständige^ Gegensatze
zwischen Schlaf und Wachen die Rede sein. Wie die physischen
so sind auch die meisten psychischen Thätigkeiten nicht aufgeho-
ben, sondern nur herabgesetzt und zum Theil modificirt. Objec-
tive und subjective Eindrücke werden im Traum percipirt, manch-
mal auch mit einander verbunden, frühere Vorstellungen in
besonders ausgedehntem Masse reproducirt, welche dann eben-
falls die mannigfachsten Verbindungen eingehen; es kommen
Urtheile und Schlüsse vor, Pläne werden gemacht, Gefühle,
Affecte, Begehrungen zeigen sich. Aber alles dieses ist,
wenn auch die Affecte des Traumes oft sehr lebhaft zu
sein scheinen, matter und schwächer als im Wachen.
Bei der Ermüdung des Nervensystems ist die Perceptions-
fähigkeit für äussere Eindrücke verringert und die Reizschwelle
liegt höher als im Wachen; das Maximum liegt an und für
sich tiefer und die Empfindungen werden ausserdem noch
durch die dem Traume eigenthümliche Uebertreibung einem
Maximum näher gebracht. Demnach ist der Umfang der Vor-
stellungskreise in den Sphären der Sinne sehr beschränkt,
wie überhaupt die Enge des Bewusstseins , die schon im
Wachen nur wenigen Vorstellungen zugleich Raum gestattet,
noch mehr Beschränkungen erleidet und bedeutend verengert
wird. — Wenn Scherner finden will, dass die Bilder der pla-
stischen Phantasie des Traumes »wie genial hingehaucht« er-
scheinen, so muss er dennoch die »enge Begrenzung des
Traumsphäros « anerkennen *22j , — Die bekannte Thatsacho,
dass die Empfänglichkeit für innere, dem Organismus ent-
stammende, subjective Reize im Schlafe grösser erscheint als
im Wachen, hat man theiis aus der erwähnten Hypothese zu
— 85 —
erklären versucht, dass die Seele im Gangiiensystem ihren Sitz
halbe y iheito durch die Tendenz der Seele, im Schlaf ihren
eigenen', sie umhüllenden K(irper zu betrachten. /. H. Pickte
nmnt den Traum eine »symbolische Abspiegelung innerer Zu-
stände«. Wenn Schemer meint, dass die »unmittelbare Ein-
sohttuung des Traumes« besser das Innere des Leibes erkenne
als die »Neugier des Anatomen« (S. 96, 97 u; 163), so machte
es ihm dodi schwierig werden, Anatomen ohne anatomische
Institute und Präparirsäle nur mit Hülfe des Traumes auszu-
bilden; der Mensch erkennt nichts, weil er es getrflumt, son*
dem er tr&umt es, weil er e& im Wachen schon gesehen, em-
pfunden und mehr oder weniger erkannt hat. Volkelt folgt
freilieh auch hier der Ansicht seines Meisters i^^} . Viel natür-
licher und wahrheitsgemässer ist wohl die zugleich näher lie-
gende Erklärung, dass bei der Stille der Nacht, wo die äusseren
Eindrucke weniger die Seele beschäftigen^ die von diesen während
des Tages niedergehaltenen und gleidisam überstrahlten, durch
das Gangliensystem vermittelten — und die anderen mannigfachen
subjectiven Reize des gesammten Organismus, welche wir un-
ter dem Namen »Gemeingeftthl« zusammen zu fassen pflegen,
jetzt vom Drucke befreit, sich vorzugsweise geltend machen.
An und für sich ist auch das Gangliensystem weniger thätig,
das Vorwiegen der durch dasselbe vermittelten Empfindungen
ist nicht ein absolutes, sondern nur relatives, theils in Folge
der bei geringerer Laistung während des Wachens weniger
bemerkbaren Ermüdung, theils wegen des Mangels der seine
Thfttigkeit beeinträchtigoiden äusseren Eindrücke.
Der Wechsel der VorsteUungen, welcher als leicht be-
schwingte Phantasie des Traumes, als der »versteckte Poet« ^^)
so oft gerühmt wird, erscheint rapider. Hildebrand führt die
Träume mehrerer Personen an, wo dieselben viele Jahre in
eisigen Minuten dureblebten^^), JeoM Paul hebt hervor, dass
eine verträumte Nacht mehr als einen erzählenden Tag erfor-
dere ^'<^) . Es ist dies insofern richtig, als das Denken überhaupt
die HeaUtät in Zeit und Raum überflttgelt. Eine Gedanken-
reihe des Wachens kann ebenfalls nkbt so schnell mitgetheilt
werden, als man sie zu denken vermag, da die complicirte
Maschinerie der Bewegung»^, in diesem Falle der Sprachorgane
in Folge physiologischer Bedingungen langsamer arbeitet als
— So-
das blosse Denken. Andrerseits kann auch im Wachen bei
ungehemmtem Vorstellungsverlauf eine ganze Lebensgeschichte
vor dem inneren Auge in wenigen Augenblicken vorübergehen,
weil dann immer hur Haupt- und Centralvorstellungen,
nicht aber überhaupt alle, die der Betreffende je-
mals gehabt hat, reproducirt werden. Die Biographien
der berühmtesten, geistvollsten und thatkräftigsten Männer
füllen immer nur einzelne Bände, zu deren Lesen man kein
Lebensalter braucht. — Diese Hauptvorstellungen, welche das
Anfangs- oder Endglied einer ganzen Reihe oder das Centrum
einer grossen Gruppe bilden, werden als Vertreterinnen der-
selben genommen. Noch mehr als im Wachen ist dies im
Traum der Fall in Folge des häufigen Ueberspringens von einer
Reihe zur anderen. Träumt man z. B. von einer Reise, so
stellt man sich leicht das Ziel derselben vor; diese Vorstellung
drängt sich nun mit ihren Associationen an die Stelle der er-
sten und die einzelnen der Reise verschwinden. Auf diese
Weise kann man im Traum in einigen Momenten eine Welt-
reise machen und sich dabei noch in den Hauptstädten ver-
schiedener Länder aufhalten und umsehen. Andrerseits mögen
die Träume, in welchen äussere Eindrücke einen so rapiden
Vorstellungsverlauf ausgelöst haben sollen, sich zuweilen schon
vorher entwickelt haben und durch dieselben nur weiter ge-
führt worden sein. — Garnier berichtet i*^) , dass Napoleon,
der bekanntlich bei der Explosion der Höllenmaschine in sei-
nem Wagen schlief, den fast unmessbar kurzen Zeitraum zwi-
schen der Perception des Knalles und dem Erwachen mit dem
Traume des Ueberganges über den Tagliamento und der Ka-
nonade der Österreicher ausfüllte und mit dem Ausrufe auf-
sprang: wir sind unterminirt. — Mauchart erzählt von sich
selbst: »Ich war etwas krank und lag in meiner Kammer,
indess meine Mutter an meinem Kopfkissen sass. Ich träume
von der Schreckenszeit, wohne blutigen Mordscenen bei, er-
scheine vor dem Revolutionstribuna], sehe Robespierre, Marat,
Fouquier-Tinviile, sämmtliche Personen, die sich in dieser
Gräuelzeit den schlimmsten Namen gemacht; discutire mit ihnen^
werde endlich nach einer Menge von Ereignissen, deren ich
mich nicht mehr recht erinnere, und womit ich die Geduld
der Leser nicht ermüden will, zum Tode verurtheilt, auf dem
— 87 —
Karrea unter einem ungeheuren Yolkszuiauf auf den Revolu-
iionsplatz geführt, steige auf das Schaffet, werde vom Scharf-
richter auf das Bret gebunden, er lässt es umsdilagen (11 la
fait basculer), das Fallbeil fällt und ich fühle meinen Kopf
sich vom Rumpfe trennen. Hiermit erwache ich in der leb-
haftesten Angst und finde, dass mir die losgegangene Bettstange
^uf die Nackenwirbel nach Art eines Fallbeils gefallen ist.
Und zwar hatte dies, wie mir meine Mutter versicherte, in
•demselben Augenblicke, wo ich erwachte, stattgehabt«. — Auch
bei den die Aetherbetäubung begleitenden Traumerscheinungen
kommt Aehnliches vor. Hammepschmidt, der sehr viele Beobach-
tungen an sich und Anderen anstellte, sagt : »Höchst interes-
sant ist es jedenfalls auch, dass die während der Narkose
verlebte Zeit einen ungeheuer langen Zeitraum auszufüllen
scheint, während sie doph nur Y2 ^^^ ^ ^^^' '^^ Wirklichkeit
währta. £benso berichtet Bergsoe: »Uns schien es jedesmal,
dass die Zeit von 8 bis 10 Min., die die ganze Aetherinhalation
•währte, eine viel längere Dauer gehabt haben müsse, als es
wirklich der Fall war«. — Eine Dame, welche in's Wasser
gefallen und dem Ertrinken nahe war, durchlebte nach ihrer
eigenen Mittheilung in der Zeit von zwei Minuten, welche ver-
strich von dem Momente an, wo alle körperlichen Bewegungen
aufhörten, bis zu dem, wo sie aus dem Wasser gezogen wurde,
ihre ganze Vergangenheit noch einmal, und die unbedeutendsten
Details breiteten sich vor ihrer Phantasie aus^^s).
Die Lebhaftigkeit der einzelnen Vorstellungen ist durch
die oben erwähnte verstärkte Reizbarkeit des Gehirns, welche
der Traum mit den Sinnestäuschungen gemein hat, bedingt
und nie als erhöhte Geistesthätigkeit überhaupt zu fassen,
andrerseits ist sie nur momentan und blitzhaft ; sie hat keinen
Einfluss auf erhöhte Reproductionsfähigkeit , die Vorstellungen
gehen vielmehr, wie die Sinnesdelirien, meistentheils für das
Gedächtniss verloren. — Die Bewegung, das Muskelieben ist,
wenn auch nicht ganz aufgehoben, so doch verringert. Rechnet
man hierzu die Absurditäten, welche im Traum vorkommen,
sowie den Mangel derjenigen Kräfte des wachen Lebens, weiche
man als die Hauptvorzüge der menschlichen Seele zu bezeichnen
i;«wohnt ist^ des den Vorstellungslauf nach gewissen Gesichts-
punkten logisch ordnenden vernünftigen Willens und des Selbst-
— 88 —
bewusstseins, so wird man zugestehen, dass bei nttchl^ner
Betrachtung man doch recht wenig von dem idealen, göttlichen
Zustande bemerkt, für weichen Viele in ältester, neuer und
neuerer Zeit den Traum hielten und halten.
Die vegetativen FunctiMien des Organismus, die Pulsfre-
quenz, Wäimeprzeugung , die Secretioneü u. s. w. haben un*
gefähr um Mittemacht ihr Minimum. Aus den zahlreichen,
mit der grasten Sorgfalt und Vorsicht ausgeführten Experi-
menten C, KohlschiUter's ergab sich, dass der Schlaf ungefähr
1 Stunde nach dem Einschlafen, also gewöhnlich unge&hr um
Mitternacht, seine grösste Tiefe erreiche ^^9) . — Die psychischen
Thätigkeiten des Schläfers sind in dieser Zeit minimal und
scheinen ganz zu ruhen ; kein lebhafter Traum erregt ihn, die
Beizempfänglichkeit für äussere Eindrücke ist am geringsten,
die Affecte und Begehrungen ruhen, der Verstand und die Ur-
theilskraft schweigen. V^ie Scherner glaubt^ bereiten sich »die
unmittelbar geistigen Erfühlungen der körperlichen Innen-
zustände vor, welche sich vorbildende, im ersten Entstehen
begriffene, daher dem Wachen unwahrnehmbare WiderlichkeiteUi
Krankheiten, Todesauflösungen des Lebens enthalten« (S. 54). —
Die aufgestellte Parallelität wird Vielen eine illusorische
zu sein scheinen, da ja die grössten Dichter und speculativen
Denker oft während der Nacht ihre Werke schaffen und der
Mann von Welt um Mittemacht ebenso lebhafte Conversation
machen kann als am Nachmittag; allein man bedenke, dass
Gewohnheit vieles verändern, ja in sein Gegentheil verkehren,
also in jeder Beziehung die Nacht ;um Tag machen kann, —
wie ja bekanntlich das Leben in London ein Beispiel davon
liefert, — und dass dadurch die Regel für das normale, na-
türliche Leben unangetastet bleibt. Wo keine Gewohnheit
iierrscht, wird man um Mittemacht ganz deutlich eine Abspan-
nung aller psychischen Kräfte fühlen, und wenn ein energischer
Wille dieselbe für den Augenblick überwindet, macht sie sich
in der nachfolgenden Erschlaffung desto mehr fühlbar.
Die vegetativen Functionen fangen sämmtlich des Morgens
an sich zu steigern. Eine Menge von Spannkraft scheint sich im
l^ervensystem angesanunelt zu haben ; da ihre Tendenz in leben-^
dige überzugehen , mächtiger hervortritt, wird sie hier und da
— 89 —
schon ausgelöst in den physiologischen Processen , welche den
lebhaften Morgentraum begleiten. — Der Schlaf ist leiser i^o),
die Reizempfänglichkeit fQr äussere und innere Eindrücke wird
immer grösser, dadurch der Traum reichhaltiger und lebhafter.
Wenn lebhafte Bewegungen dem Schlafe vorhergingen, so
glaubt man jetzt dieselben fortzusetzen. Die schwachen Reize
innerhalb des Organismus selbst werden jetzt vorzugsweise
percipirt bei einer Intensität, wo sie dem wachen Bewusst*
sein nicht bemerkbar sind; es ist deshalb sehr leicht möglich,
dass eine angehende Krankheit vorherempfunden, der Traum
also prophetisch wird. Da nämlich die Eindrücke zwar perci*
pirt werden, aber nur schwach sind und vom Bewusstsein
gleichsam nicht nach ihrem vollen Werthe angenommen werden,
so erhalten dadurch die mit ihnen verbundenen Associationen
Gelegenheit,' sich breit zu machen, und durch das Spiel der-
selben kann leicht ein Vorbild der Zukunft zu Stande kommen ;
es möchte also der alte Satz : Post mediam noctem cum somnia
Vera, nicht ganz zu verwerfen sein. Frühere Vorstellungen
werden jetzt reproducirt, zuerst Haupt- und Centralvorstel-
lungen, dann auch schwächere. -=- Der Traum gewinnt dadurch
an Inhalt, die Combinationen der einzelnen Elemente werden
zahlreicher, neue Bilder und Gedanken entstehen und mit
ihnen die Affecte: Freude, Traurigkeit, Angst, Furcht. Bei
immer steigender Reizempfänglichkeit drängen sich die äusseren
Reize dem Ohr, dann auch dem Auge immer stärker auf, sie
werden immer zahlreicher percipirt und durchkreuisen dadurch
mehr das Spiel der Association^i, indem sie selbst ihren Asso-
ciationen keine unbeschränkte Macht mehr gestatten und ihr
eigenes Recht geltend zu machen suchen. Waren sie früher
isolirt, so verbinden sie sich jetzt mehr, sowohl unter einan-
der als auch mit den Empfindungen anderer Sinne, den Druck*
und Temperaturempfindungen der Haut, dem GemeingefUhle
u. s. w. um die Association kräftiger zu verdrängen. In die^
sesn toUen Treiben greift wohl zuweilen die höhere Geistesthä-
tigkeit ein um Frieden zu stiften und die Phantasie mit ihrem
loUen, neckischen Spiel in die Sdiranken zurückzuweisen. Ver^
stand und Urtheilskraft erwacht und erklärt alles VoAergefaende
für teeiren Schaum. Meist ist dies jedoch nicht der Fall,
sondern die äusseren Eindrücke und ihre Verbindungen er*
— 90 —
reichen selbst die Obmaeht; durch Summaiion der inneren
und äusseren Reize oder durch einen äussern Reiz allein,
welcher in Form einer mächtigen Schall- oder Lichtwelle das
Gehirn des Schläfers trifft, wird das Erwachen hert>eigeführt. —
Zugleich wirkt neben den äusseren Reizen eine gewisse innere
Tendenz mit ; das leise Seufzen des Kindes weckt die besorgte
Mutter, der sorglosen Wärterin erregt es nur einen Traum.
Gewohnte Geräusche stören den Schlaf nicht , ihr Aufhören
führt vielmehr oft das Erwachen herbei: der Müller erwacht,
wenn das Klappern der Mühle sich nicht hören iässt, wer bei
Nachtlicht zu schlafen gewohnt ist, wird durch Erlösdien des^
selben geweckt. Ungewohnte Geräusche dagegen verscheuchen
ihn; wenn der Schlafende das gewohnte Wagengerassel nicht
vernimmt, erweckt ihn das Rascheln einer Maus. — Brandis
erzählt 1^^), dass er einen in allen Bädern Deutschlands be-
kannten bejahrten Hazardspieler gekannt habe, welcher, wenn
er nicht spielte, beständig schlief. Die interessantesten Ge-
spräche und Nachrichten hätten ihn nicht munter zu erhalten
vermocht, während ihn der leiseste Vorschlag zum Spiel voll-
kommen weckte. Auch hat man Geizige aus dem tiefsten
Schlafe geweckt, indem man ihnen ein Geldstück in die Hand
drückte, weil durch diese Eindrücke dem Schläfer die meisten
und lebhaftesten Associationen hervorgerufen werden, welche
Träume und unter Umständen das Erwachen veranlassen.
Man wacht nicht nur zur bestimmten Zeit auf, wenn man sich
gewöhnt hat zu dieser Zeit aufzustehen, sondern auch, wenn
man es sich am Abend vorher fest vorgenommen hat; eine
gewisse Spannung der Aufmerksamkeit verlässt dann den
Schlafenden nicht, und hat man etwas Wichtiges vor, was die
Seele lebhaft beschäftigt, so erwacht man durch die Spannung
gewöhnlich früher als nöthig.
Wird man aus tiefem Schlafe geweckt, so ist man gewöhn-
lich )> schlaftrunken« und missmuthig, ja man kann fast aus
dem Grade des Missmuthes auf die Tiefe des Schlafes zurück-
schliessen. Die Aussenwelt wirkt erst allmählich voll ein,
nachdem der Traum gewichen; anfangs erscheint Alles noch
dunkel und verworren, dann deutlicher, aber nicht nach seiner
wirklichen Bedeutung; man erinnert sich nicht sogleich des
Vergangenen und kann das, was gesprochen wird, noch nicht
— 91 —
recht fassen; die Muskeln werden erst rüstig nach einigem
Strecken und Dehnen, die Augen lebendiger, nachdem man
sie mit der Streckseite der Finger sanft gerieben hat. Das
Auge liebt noch die Dämmerung, ^das Ohr das leise Geräusch
und wird durch lautes Reden unangenehm berührt; erst all-
mählich erwacht die Tendenz zu klaren Sinneswahmehmungen. —
»Wenn man«, sagt Burdach (S. 487), »beim Anhören eines Ge-
sprächs oder einer Rede oder Vorlesung eingeschlummert ist
und man wird geweckt, so weiss man die letzten Worte,
welche vor dem Aufwachen gesprochen worden waren, z. B.
den letzten Satz, wenn er kurz war, aber ohne Zusammenhang
mit dem Frühern; nun lässt es sich nicht annehmen, dass die
Eindrücke einer ganzen Folgenreihe von Tönen im Gehörorgane
deutlich genug fortdauern sollten, um nachher noch in ihrer
Verbindung aufgefasst werden zu können, vielmehr muss die
Rede wirklich, aber ohne Zusammenhang und Bedeutung, ge-
hört und darum alsbald wieder vergessen worden sein. Noch
allgemeiner ist es, dass man weiss, wodurch man geweckt
worden ist, ungeachtet das Weckende nach dem Erwachen
nicht mehr percipirt werden kann«.
Auf psychischem Gebiete ist am Morgen die Receptivität
vorherrschend. Die Eindrücke werden aufgenommen und com-
binirt, die Phantasie ist immer noch herrschend, obgleich sie
von der Logik bei weitem mehr als im Traume gezügelt wird.
Der Morgen ist der Bildung neuer Gedanken-Combinationen
und Ideen günstig. Das Gefühlsleben waltet oft vor, der Geist
»webt in sicha und fühlt weniger den Drang nach aussen hin
zu wirken ; man ist am Morgen weniger gesellig und giebt sich
Heber den Eindrücken und seinen eigenen Gedanken hin.
Die spontane psychische Thätigkeit tritt erst allmählich hervor
— am stärksten ist sie in den Nachmittagsstunden, — dem
Steigen der Sonne am Horizonte vergleichbar.
Die meisten vegetativen Functionen des organischen Lebens
sind kurz nach Mittag am intensivsten ; wie die Wärme in der
äusseren Natur, so ist auch die Eigenwärme des Organismus
auf ihrem Gipfelpunkte angelangt. — > Die psychischen Thätig-
keiten zeigen ihre grösste Regsamkeit, besonders die höheren :
die Urtheilskraft , Abstraction und Speculation erlangen ihre
volle Macht. Der Nachmittag ist am meisten zur Prüfung des*
_ 92 ~
sen geeignet, was die Goisbinationsgabe am Morgen Neues
geschaffen. Der Sinn für Geselligkeit regt sich, Witz und
Scharfsinn würzt die Unterhaltung. Es ist die Zeit des Limi-
tes, wo das logische Denken im Allgemeinen die Phantasie
beherrscht.
Gegen Abend werden im Organismus die meisten vegetatiren
Thätigkeiten wieder schwächer , dagegen )» tritt die zweite Fluth
des Blutes eino, meint Burdach, damit erringt die Phantasie und
das Gefühl im Seelenleben die Herrschaft. Die logische ThStigkeit
wird zurückgedrängt, man fühlt Neigung zu freiem, fessellosem
Ergehen im Gedankenlauf. Dadurch verlieren die Gedanken
aber das Bestimmte und werden mehr nebelhaft; ähnlich wie
die Conturen der Aussendinge in der Dämmerung ver-
schwinden und die von ihnen ausgehenden Eindrücke unbe-
stimmt und nebelhaft sind. Die Stimmung wird poetischer,
»es ist die Zeit der Dichter -Wonne«, wie Uhland sagt;
der Affect wird lebhafter und die Begehrung leidenschaft-
licher, die Sehnsucht erwacht, Heimweh und alle elegi-
schen und wehmttthigen Gefühle tauchen auf^^^). Die Liehe
steigert sich, bei manchen Naturen erhält sie einen sinnlichen
Charakter und die Zeugungslust regt sich ebenso wie am
Morgen, wo sie durch die Anhäufung von Kraft hervorgerufen
wird; bei Anderen geht sie in religiöse Stimmung über ^'3)
und erleichtert den Glauben an Geistererscheinungen m der
Stille der Nadit. Hypochondrische und Melancholische endlich
versinken in tiefe Trauer. — Später wird auch diese unge-
bundne psychische Thätigkeit schwächer, der Schlaf naht heran.
Es entsteht eine Neigung zur Ruhe der Sinne und Be-
wegungsorgane, starke Sinnesreize wirken unangenehm und
Anstrengung der Muskeln wird lästig; man gähnt, streckt die
Glieder und findet sich behaglich an einem dunklen, stillen,
mässigwarmen Orte und in bequemer Lage, wo der Körper
möglichst viel Unterstützungspunkte findet und starke Druck-
empfindungen vermieden werden. Die ^Mmtaneität der Seele
lässt nach, der Gedankenlauf schweift von der beabsichtigten
Bahn ab, es strtaien fortwährend fremde Bilder zu, wie es
auch im Wadien geschieht, we wir dieselben jedoch sofort zu-
Hlekzudrängen vermög^i; die Aufmerksamkeit erschlafiK und
wird unvermögend eine Reihe von Vorstellungen zu verknüpfen,
— 93 —
fest zu halten und weiter au verfolgen. Das GedSlchlniss zieht
sich zurück und die Vorstellungen tauchen nur noch isolirt auf.
Man liest Worte ohne den Sinn zu fassen, das Auge empfängt
die Einwirkungen des Lichts, aber die Empfindungen werden
bald unbestimmt und das Fehlende von der Phantasie ergänzt,
später werden diese äusseren Einwirkungen immer weniger
zu Anschauungen und Vorstellungen verarbeitet, ins Gedächt-
niss gefasst oder mit anderen Vorstellungen associirt. Es treten
Gesichtstäuschungen ein, man starrt vor sich hin, dann ver-
liert das Auge seinen Glanz und seine Spannung und richtet
sich nach oben und innen **^), endlich fällt das obere Augenlid
herab und damit hört die Wirkung massiger äusserer Reize
auf. Der Gehörssinn, welcher länger wach bleibt, wie er fiilh
auch am ehesten erwacht, vermittelt keine richtige Empfindung
mehr : man versteht falsch und antwortet verkehrt ; wenn man
aufgehört hat zu sehen, hört man Alles nur noch wie aus im-
mer zunehmender Ferne. Auch hier treten Täuschungen ein, da
die Unterscheidung zwischen subjectiven und objectiven Empfin-
dungen aufhört. Geruch und Geschmack functioniren nicht mehr,
das Gefühl des Hungers und Durstes verliert sich. Die Glieder
erschlaffen, man lässt fallen, was man hält und die Arme sinken
selbst herab; sitzt man, so lassen die Nackenmuskeln nach,
der Kopf sinkt, bis das Kinn auf der Brust ruht, worauf auch
der Rumpf gebogen wird, ebenso sinkt der Unterkiefer herab.
Die Druckempfindungen verschwinden, besonders wenn man
liegt, der Körper scheint zu schweben: der Mensch schläft.
Nach dem Aufhören der Perception äusserer Eindrücke
machen sich die subjectiven Empfindungen bemerklich, vor-
züglich die des Auges. Die bekannten, von Joh, Müller, Gruit"
huisen und Purkinje ^^^) ausführlich beschriebenen und erör-
terten Schlummerbilder zeigen sich. Anfangs werden sie noch
nicht für wirklich gehalten oder die Täuschungen treten nur
isolirt auf, aber die Bilder wechseln beständig ohne unser Zu-
thun; später wird ihnen sämmtlich eine objective Realität zu*-
gesprochen, und diese durchgehend falsche Objectivität scheint
ein Zeichen des wirklich eingetretenen Schlafes zu sein ; der
Uebei^ang, das eigentliche Einschlafen, ist ein unmerklicher
und veAältnissmässig rascher. Nachdem nämlich eine Anzahl
von Vorstellungen an uns vorbei gerollt ist, ohne dass wir
-. 94 —
unserer schöpferischen Thätigkeit uns dabei bewusst werden,
muss bald die Täuschung entstehen, als ob wir Alles wirklieh
erlebten und die Vorstellungen, welche doch erst von uns er-
schaffen sind, Realität besässen. Diese Schlummerbilder sind
unbestimmte Lichteindrücke auf der Netzhaut, welche die ge-
schäftige Phantasie in bestimmte Gestalten verwandelt. Ein-
zelne Lichtflecke und Nebel ziehen vor den Augen vorbei,
weisse und farbige Erscheinungen zeigen sich und nehmen
bestimmte Gestalt an. Joh, Müller erzählt (S. 20 ff.): »Es ist
selten, dass ich nicht vor dem Einschlafen bei geschlossenen
Augen in der Dunkelheit des Sehfeldes mannigfache leuch-
tende Bilder sehe. Von früher Jugend auf erinnere ich mich
dieser Erscheinungen, ich wusste sie immer wohl von den
eigentlichen Traumbildern zu unterscheiden, denn ich konnte
oft lange Zeit noch vor dem Einschlafen über sie reflectiren. . .
Wenn nun im Anfange immer noch das dunkle Sehfeld an ein-
zelnen Lichtflecken, Nebeln, wandelnden und wechselnden
Farben reich ist, so erscheinen statt dieser bald begrenzte
Bilder von mannigfachen Gegenständen, anfangs in einem mat-
ten Schimmer^ bald deutlicher. Dass sie wirklich leuchtend
und manchmal auch farbig sind, daran ist kein Zweifel. Sie
bewegen sich^ verwandeln sich, entstehen manchmal ganz zu
den Seiten des Sehfeldes mit einer Lebendigkeit und Deutlich-
keit des Bildes, wie wir sonst nie so deutlich etwas zur Seite
des Sehfeldes sehen. Mit der leisesten Bewegung der Augen
sind sie gewöhnlich verschwunden, auch die Reflexion ver-
scheucht sie auf der Stelle. Es sind selten bekannte Gestalten,
gewöhnlich sonderbare Figuren, Menschen, Thiere , die ich nie
gesehen, erleuchtete Räume, in denen ich noch nicht gewesen.
Es ist nicht der geringste Zusammenhang dieser Erscheinungen
mit dem, was ich am Tage erlebt, zu erkennen. Ich verfolge
diese Erscheinungen oft halbe Stunden lang, bis sie endlich in
die Traumbilder des Schlafes übergehen«. Dabei findet keine
active Apperception der Bilder statt, denn die Spontaneität der
Seele ist geschwunden : »ich sehe nicht, was ich sehen möchte,
ich kann mir nur gefallen lassen, was ich ohne alle Anstreng-
ung leuchtend sehen muss« (S. S3) . . . . »Am leichtesten
treten diese Phänomene ein, wenn ich ganz wohl bin, wenn
keine besondere Erregung in irgend einem Theil des Organis-
— 95 —
mus geistig oder physisch obwaltet und besonders^ wenn ich
gefastet habe. Durch Fasten kann ich diese Phäno-
mene zu einer wunderbaren Lebendigkeit bringen.
Nie habe ich sie bemerkt, wenn ich Wein vorher getrunken
hatte« (S. 24) . Man sieht also auch hier die Ansicht bestätigt,
dass Fasten Sinnestäuschungen ungemein befordert und dass
Mönche; Einsiedler und Pfaffen der Enthaltsamkeit von Nahrung
ebenso wie der von geschlechtlichen Genüssen manche Erschei-
nung Christi, der Jungfrau Maria und der Heiligen ver-
dankten.
Auch zeigen sich bei Leuten von starker Einbildungskraft
am Tage solche Erscheinungen. »Ich brauche mich oft nur
hinzusetzen, die Augen zu schliessen, von Allem zu abstrahiren,
so erscheinen unwillkürlich diese seit früher Jugend mir freund-
lich gewohnten Bilder. — Ist nur der Ort recht dunkel, bin
ich nur geistig ganz ruhig, ohne leidenschaftliche Stimmung,
hab' ich nur eben nicht gegessen oder geistiges Getränk ge-
nommen, so darf ich, wenn gleich an Schlaf gar nicht zu
denken ist, der Erscheinung gewiss sein« (S. 21 ff]. Die
immense Einbildungskraft Goethes vermochte die Phantasie-
bilder, welche von den Phantasmen, den Sinnestäuschungen,
zu unterscheiden sind, in solcher Lebendigkeit hervorzurufen,
dass sie diesen gleich kamen. »Ich hatte die Gabe«, sagt er,
»wenn ich die Augen schloss und mit niedergesenktem Haupte
mir in der Mitte des Sehorgans eine Blume dachte, so ver-
harrte sie nicht einen Augenblick in ihrer ersten Gestalt, son-
dern sie legte sich auseinander und aus ihrem Innern entfal-
teten sich wieder neue Blumen aus farbigen, wohl auch grünen
Blättern; es waren keine natürlichen Blumen, sondern phan-
tastische, jedoch regelmässig wie die Rosetten der Bildhauer.
Es war unmöglich, die hervorquellende Schöpfung zu fixiren,
hingegen dauerte sie so lange, als mir beliebte, ermattete
nicht und verstärkte sich nicht. Dasselbe könnt' ich hervor-
bringen, wenn ich mir den Zierrath einer buntgemalten Scheibe
dachte, welcher denn ebenfalls aus der Mitte gegen' die Peri-
pherie sich immerfort veränderte, völlig wie die in unsem
Tagen erst erfundenen Kaleidoskope« ^^^).
Wie leicht übrigens Phantasiebilder von solcher Lebendig-
keit in wirkliche Phantasmen übergehen, zeigt Goethe' s be-
— 96 —
kannte Vision auf der Rttckreise von Sesenheim, wo er sich
selbst im hechtgrauen Rock begegnete. Brierre de BoismwU ^^^)
erzählt ferner die Gesdiichte eines Maiers, der sich der Bilder
einmal gesehener Personen so deutlich erinnerte, dass er nach
dem Erinnerungsbild Porträts zu malen vermochte. Bald war
er nicht mehr im Stande, das Phantasiebiid von der Wirklich-
keit zu unterscheiden und verfiel in Wahnsinn.
Die vorgeführte Gabe Goethes scheint das Motiv abgegeben
zu haben zu der Schilderung der Schlummerbilder Ottiliens
nach der Entfernung Eduards in den Wahlverwandtschaften ^^^) .
»Wenn sie sich Abends zur Ruhe gelegt und im süssen Gefühl
noch zwischen Schlaf und Wachen schwebte, schien es ihr,
als wenn sie in einen ganz hellen, doch mild erleuchteten
Raum hineinblickte. In diesem sah sie Eduarden ganz deut-*
lieh, und zwar nicht gekleidet, wie sie ihn sonst gesehen,
sondern im kriegerischen Anzug, jedesmal in einer andern
Stellung, die aber vollkommen natürlich war und nichts Phan-
tastisches an sich hatte, stehend, gehend, liegend, reitend. Die
Gestalt, bis aufs kleinste ausgemalt, bewegte sich willig vor
ihr, ohne dass sie das Mindeste dazu that, ohne dass sie wollte
oder die Einbildungskraft anstrengte. Manchmal sah sie ihn auch
umgeben, besonders von etwas Beweglichem, das dunkler war
als der helle Grund ; aber sie unterschied kaum Schattenbilder,
die ihr zuweilen als Menschen, als Pferde, als Bäume und Ge-
birge vorkommen konnten. Gewöhnlich schlief sie über der
Erscheinung ein«. — Fechner behauptet, keine Hallucinationen
vor dem Schlafe zu haben, Jean Paul dagegen meint, dass
man gewöhnlich durch dieses » Bilderkabinet « in das »Wachs-
figurenkabinet « des Traumes eintrete; zugleich thut er die
für seine Zeit charakteristische Aeusserung, dass man nichts
als einen sächsischen Postwagen und dazu gehörigen Weg
brauche, um hinter den fruchtlos, schlaflos zufallenden Augen
»Schaubilder« zu haben i^^). — J, Müller sagt: »Wer am Tage
nicht zu diesen Erscheinungen disponirt ist, wird wenigstens
vor dem Einschlafen darauf aufmerksam sein können, wenn
er es nicht .schon gewesen. Wem sie vor dem Einschlafen
nicht erscheinen, dem ist dasselbe Phänomen doch im Traume
gewiss. ... In der That sind unsere Traumbilder, die uns ja
gewöhnlich auch im hellen Sehraum erscheinen, nichts änderst
— 97 —
als die Fortsetzung dieser Erscheinungen vor dem Einschlafen«
(S. 24) . Seltner als die subjectiven Erregungen des Auges sind
beim Einschlafen die des Ohres^ doch klingen zuweilen gehörte
Melodien und Rhythmen nach, oder es werden einzelne Töne
und Worte, meist zusammenhangslos vernommen; mit dem
Uebergang %um Schlaf werden dieselben undeutlicher, als
kämen sie aus weiter Feme.
In den ersten Träumen nach dem Einschlafen wirken noch
die psychischen Thätigkeiten des Wachens fort. Die Bilder
und Vorstellungen fügen sich theilweise noch unter die aus
dem wachen Denken herüberreichenden Normen, und es ent-
stehen die »Reflexträume«, wie sie Schemer nennt ; Verstandes-
operationen findet man im Traum nur kurz nach dem Ein-
schlafen und kurz vor dem Erwachen , wo sie wieder empor-
taucben. Die Stimmungen, Gefühle und Affecte hallen nach
und klingen aus. Oft träumt man kurz nach dem Einschlafen,
man falle von einem hohen Thurm oder Felsen , oder sei
wenigstens in Gefahr zu fallen. Erschreckt fährt man zusam-
men und erwacht. Der Grund davon ist folgender : durch die
Lage während des Schlafs sind hauptsächlich die Beugemus-
keln angestrengt und die Streckmuskeln in Ruhe, die in letz-
teren sich ansammelnde Kraft äussert plötzlich ihre Wirkung
und löst sich aus; der betreffende Strecker überwindet den
Beuger, um sich gleichsam selbst sein Recht zu versdiaffen.
Andere erklären es aus dem plötzlichen »Einschiessen« des
Gefühls des Aufliegens und des dadurch bedingten Druckes,
weiches im Schlafe aufgehoben war^*®). Wunderbar schnell
associirt die dunkle Empfindung des Unbehagens die der Ge-
fahr und des Falles.
Der Schlaf, welcher vor Mittemacht am meisten stärken
und erquicken soll, vertieft sich schnell und erreicht bereits
eine Stunde nach dem Einschlafen sein Maximum. Die psy-
chischen Thätigkeiten werden immer schwächer, die logischen
Normen schwinden, die Gedanken treten isolirt auf, ohne in
ein Satzgefüge geordnet zu werden; es entstehen die »Schab-
lonen-Träume«, wie sie Scherner nennt. Wie Irrlichter huschen-
die Vorstellungen flüchtig vorüber, zuweilen sucht eine stär-
kere, »markirte« noch sich zu erhalten und Macht ?u gewinnen,
aber sie wird schnell verdrängt von den folgenden. Alles
B % d e s 1 ck , Schlaf n. Traum. 7
— 98 —
wird blasser, farbloser und gefttblsärmer. Aeussere Reize und
innere Gemeingefühle werden unwirksamer , die Affecte ruhen
und es geht immer mehr der geistigen Nacht entgegen , die
zugleich mit der Maximaltiefe des Schlafes, also gewöhnlich
ungefähr um Mittemacht eintritt.
Man sieht, dass ebenso wie die einzelnen elementaren und
complicirten psychischen Thätigkeiten den physischen Processen
parallel gehen, das Seelenleben des Menschen überhaupt zu
den Vorgängen in dem leiblichen Organismus ein gewisses
Analogen zeigt. Zu der Zeit, wo die Functionen des letzteren
sehr herabgesetzt sind, werden auch die psychischen Thätig-
keiten des Menschen minimal; wenn die organischen Thätig-
keiten ihre grösste Intensität besitzen^ zeigt zugleich die Seele
ihre grösste Regsaqikeit. Der menschliche Leib, aus organi-
schen Stoffen, welche nur eine Modification der unorganischen
bilden, zusammengesetzt, steht unter den Gesetzen, welche die
Zusammensetzung und Trennung der Stofftheile regeln, und
seine vegetativen Functionen zeigen dieselbe Regelmässigkeit
wie die des Thieres, denn der Mensch ist als Körper ein Theil
der äusseren, sichtbaren Natur. Ebenso stehen die Thätig-
keiten seiner Seele unter festen Gesetzen, die mit denen,
welche die materielle Natur beherrschen, in Parallele gestellt
'werden können ^*^).
Andrerseits hat der Mensch in jedem Tage ein Miniatur-
bild seines Gesammt-Lebens vor Augen. Wie man sich nach
dem Erwachen wie neugeboren vorkommt, so walten am Morgen
die Geisteskräfte, welche man als vorzüglich der Jugend eigen-
thümliche bezeichnet, die Phantasie und das Gefühl^ vor; erst
das Mannesalter, der Mittag und Nachmittag des Lebens, bringt
die geistige Schaffungskraft auf ihren Gipfelpunkt, und wie
der Abend in Bezug auf des Menschen Denken und Fühlen
eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Morgen zeigt, so auch das
Greisenalter mit der Jugend. Dass der Schlaf dem Tode ähnlich
und sein Bruder sei, ist fast in jedes Munde. Schon ein
griechischer Gnomendichter nennt den Schlaf eine »Todes-
vorübung «1*2). In der That zeigt das Sterben eine frap-
pante Aehnlichkeit mit dem Einschlafen. Beiden geht ein
Gefühl der Ermüdung voraus, hier wie dort schwinden die
Sinne allmählich: bei dem Sterbenden umnebelt sich der Ge-
— 99 —
Sichtssinn; die Hautempfindung geht, meist zuerst an den un-
teren Extremitäten, verloren, zuletzt wird der Gehörssinn schwä-
cher und schwächer; sogar die subjectiven Sinnesempfindungen
und Hallucinationen des Auges und Ohrs sind gemeinsam. — Man
könnte nun die Vergleichung weiterführen und sagen , der dem
Erwachen vorangehende Traum sei dem Lehen des Kindes im
Mutterleihe ähnlich, wodurch die Ansicht Burdach^s dass die
Seele im Schlaf und Traum in ihr Foetal-Leben zurücksinke,
gerechtfertigt erscheint. Allein es ist zu bedenken, dass man
beide Zustände wohl vergleichen, nie aber gleichsetzen kann,
wie es Burdach thut, wenn er sagt, dass die Seele im Schlaf »in
die Nacht des Fruchtlebens« hinabsteige (S. 511). Man kann
den Schlaf als dem Tode ähnlich bezeichnen, absurd aber
wäre es, beide gleichzusetzen, da im Schlafe die Seele noch
functionirt und die Beziehungen zur materiellen Welt be^
hält, welche sie nach dem Tode, auch wenn man eine person-
liche Unsterblichkeit annimmt, nothwendig verliert. Femer ist
der Inhalt der Seele im Traum verschieden von dem der
Seele eines Foetus. Zwar macht unzweifelhaft das Kind schon
im Mutterleibe Erfahrungen im Gebiete des Tast- und Ge-
schmackssinns , sowie des Gemeingefühls ^*3)^ allein es stehen
ihm bei weitem nicht die Menge von Vorstellungen zu Gebote,
die der träumende Erwachsene zur Verfügung hat und als
Material zu seinen Traumbildern verwendet oder verwenden
kann. Auch ist die Form nur scheinbar ähnlich: wir denken
uns das geistige Leben des Foetus als ein undeutliches, schatten-
haftes; weil uns nun der Traum nach dem Erwachen eben
so vorkommt, und wir alles im wachen Leben, was den Cha-
rakter des Undeutlichen, Verworrenen trägt, träumerisch nennen,
so übertragen wir diesen Begriff auch auf das Leben des
Kindes im Mutterleibe, mag dieses dem Traum sonst auch noch
so unähnlich sein. Passender in Bezug auf die Form ist
der Vergleich SiebecKs ***) , welcher meint , dass das Be-
wusstsein des heranwachsenden Kindes dem Bewusstsein des
Träumenden am nächsten stehe, weil bei beiden die logischen
Normen und festen Maximen fehlen, welche dem Denken,
Fühlen und Wollen eine bestimmte und bleibende Richtung
geben. — Burdach würde also mit manchen Schwierigkeiten
zu kämpfen haben , wenn er mit dem erwähnten Ausspruche
7*
— 100 —
andeuten wollte, dass er dem Foetus psychische Functionen zu-
spreche und diese denen des Schlafenden gleichsetze. Seine
Meinung ist jedoch wohl die, welche schon Giordano Bruno und
in neuerer Zeit alle Schellingianer hegten, dass zwischen Geist
und Materie ein Mittelglied liege; welches in niederen Wesen
als treibende gestaltende Lebenskraft, in den höher entwickel-
ten zugleich als Phantasie zu Tage trete. Im Schlaf sinkt
der Geist auf diese Mittelstufe herab und »die Phantasie,
gleich der bildenden Kraft, welche imEmbryo ge-
staltend sich geäussert hatte, schafft die^^Traum-
gestalten«. 1^^) Diese Ansicht, welche die Phantasie fttr eine
die ganze Welt durchdringende treibende Elementar-Kraft hält,
wird durch die Thatsache widerlegt, dass die Phantasie k^ine ein-
fache, sondern eine complicirte, aus Reproduction und As|ociation
zusammengesetzte Kraft der Seele ist. Ferner hat diJr neuere
Naturwissenschaft dargethan, dass die organische Lebenskraft,
mit welcher man früher so viel operirte und Manches zu erkläi*en
versuchte^ gar nicht etwa als ein fremdes, ihm ungleichartiges
und der Seele verwandtes Princip zu dem Stoffe hinzukomme,
sondern in ihm selbst enthalten sei. Sie hat mit dem Begriff
der Seele, d. h. der Summe aller psychischen Thätigkeiten,
des Denkens, Ftthlens und Wollens, gar nichts zu thun.
(Vergl. hierzu Loize's Artikel »Lebenskraft« in Wagner's Hand-
wörterbuch der Physiologie und die Vorrede zu Du Bois-Rey-
mond^s Untersuchungen ttber thierische Electricität) .
Oft schon ist die Frage aufgeworfen worden , ob es einen
traumlosen Schlaf, wie ihn die gewöhnliche Meinung annimmt
und ihn für erquickender als den traumreichen hält, geben
könnte, und es ist viel dafür und dagegen geschrieben oder
gestritten worden. — Herodot berichtet, dass ein am Atlas
wohnendes Volk nie träume (L. IV. c. 484) und dass man dort
auch nichts esse, was ein Leben gehabt habe, welches nach
der Meinung der Alten die Ursache des Nichtträumens war.
Denn auch Pythagoras gab die Vorschrift, dass man sich durch
den Genuss gewisser Speisen zu Träumen vorbereiten und an-
derer sich enthalten solle, um gute Träume zu haben; man
glaubte deshalb, dass das Verbot, Bohnen zu essen, in Bezug
darauf stehe ^^^). Es braucht wohl kaum erwähnt zu werden,
dass Herodots Bericht eine von den Fabeln ist, welche in Be-
— 101 —
treff der fernsten Gegenden AMeas und des Nordens damals
im Umlauf waren. Plutarch giebt als Beispiele von Personen,
welche nie träumten, Cleon und Thrasymedes an; Suetan berich-
tet dasselbe von Nero. Locke führt eine Person von seiner Be-
kanntschaft an, die vor ihrem sechsundzwanzigsten Jahre nie
träumte. In dieser Zeit bekam sie ein heftiges Fieber und
träumte damals zum ersten Male. Becdtie sagt, er kenne einen
Herrn, welcher nie träume, es sei denn dass seine Gesundheit
in Unordnung gerathen sei ^^7). Lessing behauptete von sich
selbst was man zuweilen auch von Friedrich dem Grossen be-
richtet, dass er nicht geträumt habe. Allerdings mögen die
Morgenträume durch zeitiges Erwecken bei diesen energischen
Männern bedeutend beschränkt worden sein, wenn man sie
aber gänzlich davon frei sprechen will, so liegt entweder psy-
chische Selbsttäuschung oder gewissermassen die Absicht vor,
scharfe, abstracto und energische Denker von den Phantaste-
reien und Faseleien dispensirt sein zu lassen. Was das letztere
betrifift, so müssten grosse Mathematiker wie Newton, Euler,
Gauss, speculative Philosophen, wie Spinoza und Kant auch
nicht geträumt haben ; meines Wissens aber berichtet Niemand
von einer solchen Thatsache, Und diese geistigen Helden werden
ebenso geträumt haben, wie andre Menschen, soll doch der
Kantianer Reinhold seine Deduction der Categorien im Traume
gefunden haben. Es ist fast überflttssig noch auf die Ver-
gesslichkeit der Träume, welche besonders bei denen, die sich
nach dem Erwachen mit der ganzen Kraft der Seele dem wachen
Interesse hingeben wie alle grossen Denker, durch die Zu-
sammenhangslosigkeit mit diesem begünstigt wird, — hinzu-
deuten, wie es besonnene Forscher mit Recht gethan haben,
um solche Angaben von absoluter Traumlosigkeit von der Hand
zu weisen und zu entkräften i*®) .
Schwieriger ist die Beantwortung der Frage, ob es wäh-
rend des Schlafes überhaupt einen Zeitpunkt gebe, etwa um
Mitternacht, wo man nicht träume und alle psychischen Thä-
tigkeiten vollständig ruhten, ähnlich wie in tiefen Ohnmächten,
wo eine solche Ruhe einzutreten scheint. — Sokrates vergleicht
bei Plato^^^) den Tod mit dem Schlaf, in welchem man kein
Traumbild sehe; auch iimtotete« nimmt einen traumlosen Schlaf
an, namentlich nach der Mahlzeit und in jugendlichem Alter,
— 102 —
ja er giebt zu, dass man Leute fände, welche in ihrem Leben
keinen Traum hatten, obwohl dies selten sei ; bei Anderen käme
der Traum mit zunehmendem Alter ^^^j . Für Descartes war eine
nicht denkende Seele ein absurdum, und er sagte: wie das
Licht immer leuchtet, die Wärme immer wärmt, so denkt der
Geist immer. Leibnüz bestreitet die Annahme Lock^s^ dass die
Seele nicht immer denke, und behauptet, dass auch im tief-
sten Schlaf sich noch psychische Functionen vorfinden **i) . Eben-
so sagt Kant: »Ein fester Schlaf ist eine Reihe sich einander
verdrängender Vorstellungen, welches so geschwind geschieht,
dass man beim Erwachen keinen Eindruck davon hat. Wir
sagen jedoch fälschlieh, wenn wir uns dieser vorübergehenden
Eindrücke im Schlafe nicht erinnern können, wir haben nicht
geträumt« ^^^) . Herbart und Lotze halten an der Continuität der
psychischen Thätigkeiten fest, welche sich ihnen aus dem Be-
griff der Seele ergiebt. Volkmann sagt : »Das Bewusstsein der
klaren, bestimmten Vorstellungsmassen des wachen Lebens ist
dem einer dunklen, völlig unbestimmten, interesselosen Modi-
fication der Gemeinempfindung gewichen: Das Licht des Be-
wusstseins hat sich auf so viele Atome zersplittert, dass es in
jedem einzelnen zur verschwindenden Grösse wird ^^^) . W* Mar-
gen dagegen betont die Concentration auf einen einzigen Punkt :
»Die Seele zieht sich, so zu sagen, zusammen, kriecht ein auf
eine einzige Vorstellung, ein einziges Gefühl, einen einzigen
Bewegungsdrang und wird sich dessen nicht mehr bewusst,
weil, wie wir wissen, zum Bewusstsein eine Mannigfaltigkeit
der einzelnen Zustände gehört« i^^). Büchner betrachtet den
Schlaf als Vernichtung der Seele **5) , während andere Materia-
listen an der Fortdauer des Bewusstseins im Schlafe keinen
Anstoss finden. — Der Engländer if. G. Lewes folgt der An-
sicht, dass unsre geistigen Thätigkeiten nie eine Unterbrechung
erleiden können *^«) .
Der Hegelianer Erdmann meint, der Schlaf sei traumlos,
wenn er beim Aufwachen uns nur eine Minute gedauert zu
haben scheine, da wir eine verflossene Zeit mit den Vorstel-
lungen messen, welche wir in ihr gehabt haben ; das sei aber
sehr selten der Fall**'). Dagegen, ist zu bemerken, dass aller-
dings der buntere Morgentraum wegen der Fülle seiner Bilder
ebenso wie der Opiumrausch länger erscheint als er selbst ist
— 103 —
und als der gleichförmigere, dem Morgen entfernter liegende
Naehttraum, wo wegen der verminderten Reizempfönglichkeit
die inneren Associationen weniger durch äussere Eindrücke
unterbrochen werden — dass dies aber kein Beweis für den
Mangel psychischer Thätigkeiten überhaupt ist. Spitta sagt:
»Man hat Fälle beobachtet, in denen der Kranke nach zwei-
tägiger Bewu8stlosigkeit erwachend, etwa eine Stunde lang ge-
schlafen zu haben wähnte« (S. 159). Da nun das Zeitbewusst-
sein die Wahrnehmung resp. Beproduction der Succession der
Vorstellungen ist, welche wir haben oder hatten, Spitta aber
eine »Erstarrung« der Vorstellungen im Tiefschlaf und in den
soporösen Zuständen annimmt, so beantwortet er die schwie-
rige Frage warum wir hier dennoch ein Zeitbewusstsein ha-
ben, damit^ dass wir es höchst wahrscheinlich mit Reproduc-
tionsvorstellungen zu thun haben, welche durch irgend einen
im Moment des Erwachens wahrgenommenen Umstand hervor-
gerufen wurden und »den Zeitintervall, wenn auch nicht zu-
treffend, bestimmten«.
Die Erinnerung verkürzt die Zeit um so mehr,
je weniger Eindrücke und Vorstellungen wir in
derselben hatten, während sie die verlängert, in
welcher sie ausserordentlich zahlreich waren. Des-
halb erscheint uns ein bunter Morgentraum lang, weil er durch
die wieder erhöhte Perceptionsfähigkeit zahlreichere Vorstellun-
gen und mannigfaltigere Bilder liefei*te als der sogenannte
traumlose Schlaf, — wobei auch noch der Umstand in Betradit
kommt, dass wir in der Erinnerung die Lücken des ersteren
ausfüllen und mehr Vorstellungen, als er sonst schon enthielt,
einschieben. Während wir es dort nach dem Erwachen kaum
begreiflich finden, dass wir in so kurzer Zeit so viel geträumt
haben, ist hier bei der Einförmigkeit des Nachttraums die ver-
flossene Zeit in der Erinnerung auf ein Minimum herabgesun-
ken, ohne doch ganz geschwunden zu sein.
Der Schellingianer C, G. Carus erörtert die Frage nicht
weiter, sondern hält die meisten Fälle von Traumlosigkeit für
scheinbare in Folge der leichten Vergesslichkeit der Träume ^^^) .
— Burdach giebt die Möglichkeit eines traumlosen Schlafes zu,
obgleich die Sache ungewiss und der Mangel an Erinnerung
noch kein Beweis sei, dass man nicht geträumt habe (S. 488 f.j.
1
— 104 —
Auf letzteren Satz stützen sich überhaupt viele Andere ^^^) . —
Fechner behauptet mijt Bestimmtheit, dass die psychischen
Thätigkeiten nicht aufhören könnten ; wenn wir erst nach dem
Schlafe hörten und fühlten, so könnten wir überhaupt nicht
geweckt werden i*®) . Aehnlich äussert sich auch Pfaff (S. 35) :
»Der wirklich trauinleere Schlaf würde nicht mehr ein nor-
maler Schlaf, sondern vielmehr ein soporöser Zustand, eine
Ohnmacht seina. Allein solche Einwürfe, wo durch die
Traumlosigkeit die Existenz der Seele von vorn herein als be-
droht erklärt wird, sind doch nicht recht stichhaltig. Zuerst
soll man in der Psychologie nicht bestimmte Behauptungen
vor aller Erfahrung aufstellen und beweisen wollen, dass
etwas nicht sein könnte, ohne dass man nachgewiesen hat,
dass es in zahlreichen Fällen wirklich nicht ist -^ w;idrigen-
falls etwas Aehnlicbes herauskommen möchte, wie die wunder-
bare Stern -Affaire HegeVs (indem derselbe a priori beweisen
wollte, es könnte an der Stelle keine Weltkörper geben, wo
die Astronomen wirklich solche fanden), — sondern lediglich
zunächst von. der Erfahrung ausgehend auf dieser Sätze und
Gesetze aufbauen. Sodann könnte man ja sagen, dass die
psychische Kraft latent werde und dieser Zustand zu denken
sei wie der jeder Vorstellung, welche aus dem Bewusstsein
geschwunden ist,.als Disposition aber fortbesteht und wie-
der zur bewussten werden kann. Wie man in der Natur-
wissenschaft von latenter Wärme und latenter oder potentieller
Kraft redet, so wäre eine solche latente oder potentielle See-
lenkraft keine Absurdität. Sehr Vieles scheint vielmehr dar-
' auf hinzudeuten, dass ein solcher Zustand im tiefsten Schlafe
wirklich stattfinde. Allein es giebt doch auch manche Instanzen
dagegen. Im tiefsten Schlaf verändern wir die Lage, bedecken
die entblössten Stellen und führen überhaupt allerlei Beweg-
ungen aus; nun sind dies zwar in vielen Fällen Reflexe,
welche an und für sich keine Vorstellungen voraussetzen,
allein durch die bei der Bewegung stattfindende Muskelarbeit
werden doch jedenfalls Empfindungen ausgelöst, andererseits
können auch viele im Tiefschlaf stattfindende Bewegungen
nicht als blosse Reflexe erklärt werden. Complicirte Beweg-
ungen und Handlungen der Nachtwandler, welche eine ge-
wisse geistige Thätigkeit voraussetzen, kommen am meisten im
— 105 —
tiefen »erinnerungslosen« Schlafe vor*®^). — Wenn man auf-
wacht, sei es zu einer bestimmten Stunde, sobald man es sich
Abends vorher fest vorgenommen, oder zu jeder beliebigen
Zeit bei dem Aufhören früherer Sinnesreize, — wenn das
Schreien, ja sogar das leiseste Seufzen des Kindes die Mutter
erweckt, welche bei jedem anderen Geräusch ruhig schläft, —
und wenn endlich ein jeder Grossstädter sich durch das Wa-
gengerassel auf den Strassen nicht stören lässt, während das
leise Rascheln einer Maus oft das Erwachen herbeiführt, — so
spricht dies Alles für das stete Vorhandensein einer gewissen
geistigen Spannung, welche den äusseren Reizen gleichsam
entgegenkommt und auf sie reagirt, ja gewissermassen zwischen
verschiedenen unterscheidet.
Sputa glaubt, durch das Erwachen der Mutter beim leise-
sten Seufzen des Kindes werde »mit grosser Evidenz« con-
statirt, dass das Gemüth, welches ein hauptsächlicher Feind
des Schlafes sei, während desselben nicht zur Ruhe komme,
sondern wache. »Die Hoffnung vor der Geburt, — die bange
Freude der jungen künftigen Mutter, — die unwillkürliche
Angst vor den Schmerzen der Entbindung, — das Leiden
während der Entbindung selbst, die Lust und Wonne nach
glücklichem Ueberstehen derselben, — das Bewusstwerden des
ersten wirklichen Muttergefühls, der erste Anblick des eigenen
Kindes, — die zärtlich ängstliche Pflege desselben, — die
Hoffnungen, die auf die Zukunft des Kindes gesetzt werden,
alle die Luftschlösser jubelnder Mutterwonne, alle die heissen
Wünsche und Gebete, alle Pläne — Alles das, und wie weit
könnte man das noch ausführen! — bildet eine fortlaufende,
ununterbrochene Reihe von Spannungen, Affecten und Auf-
regungen, die in den mannigfaltigsten Wechselungen und
S^^hattirungen vom »himmelhoch jauchzen« bis »zum Tode be-
trübt« das ganze Gemüth mächtig bewegen, es bis in seine
innersten Tiefen erschüttern und aufwühlen, und einen so
hohen Grad der Irritation desselben herbeiführen, es so sehr
über die naturgemässe Basis heben, dass es gar nicht mehr
ordentlich zur Ruhe, d. i. zur verminderten Thätigkeit, kom-
men kann, und in Folge dessen bei der allergeringsten Ge-
legenheit, sobald dieselbe mit ihm in innigem Gontact steht,
reagirt« (S. 88). — Ferner, wenn man aus dem tiefsten
— 106 —
Schlafe geweckt wird, kommt es einem stets vor, als wenn man
aus einer ganz anderen Welt wieder in diese nllchteme versetzt
würde; man fühlt also, dass die Seele mit anderen Vorstel-
lungen beschäftigt war als den der Aussenwelt unmittelbar
entnommenen und ihr entsprechenden. Sie waren zu schwach
um wieder in die Erinnerung gerufen werden zu können,
doch bilden sie einen gewissen Hintergrund zu den jetzigen
Vorstellungen. Am Morgen kann pian sich natürlich nie mehr
der Träume des Tiefschlafs erinnern, da Träume überhaupt
schlecht erinnerlich sind; und wenn sie wirklich im Gedächt-
niss behalten werden, so sind dies immer nur die dem Mor-
gen zunächst liegenden, die anderen umfasst undurchdring-
liche Finstemiss, welche um so dichter wird, je grösser die
Entfernung vom Erwachen ist. Unmittelbar erweckt dagegen
erkennen wir, dass etwas dem geistigen Auge vorschwebte,
nur was es war, können wir uns nicht erinnern^ ungefähr
wie wir uns schwacher Eindrücke auch im Wachen nur mit
Mühe oder gar nicht erinnern können.
Hagen sagt; man könne kaum leugnen, dass das Blut und
der Stoffwechsel eine stetige Reizung zur Auslösung von Em-
pfindungen ausübe 1^62), — Sputa hat nicht Unrecht, wenn er
sagt, es sei unzulässig, a priori als ^Gesetz es aufzustellen,
dass es keinen traumlosen Schlaf geben könne , allein es ist
gegen einen anderen Ausspruch von ihm doch einiges einzu-
wenden. Er sagt nämlich (S. 406) : »Man versteht überall
unter Traum diejenige Verknüpfung von Vorstellungsreihen
oder Gebilden, die wir nach dem Erwachen mehr oder min-
der deutlich in der Erinnerung vorfinden , die uns die Er-
innerung als während des Schlafs gleichsam realisirt, geschehen,
vorführt; das und Nichts mehr, bedeutet es, wenn man sagt:
»ich habe diesen oder jenen Traum gehabt, mir hat dies und
jenes geträumt a u. s. w. im Gegensatz von dem, »mir hat
diese Nacht Nichts geträumt«. Diese Erinnerung des in der
Seele Vorgegangenen, mag sie auch noch so gering und ver-
worren sein , gehört ganz wesentlich zum Traum , denn wenn
wir weder erinnern, was wir geträumt haben, noch auch
irgend eine Ahnung davon haben, dass uns überhaupt etwas
geträumt hat, so sehe ich gar nicht ein, wie wir dazu kom-
men sollten, zu behaupten, wir hätten geträumt. Wenn wir
— 1 07 —
dies dennoch thun , so behaupten wir etwas , was über alle
unsere Erfahrung hinausgeht, wir thun einfach einen Macht-
Spruch, der nichts mehr für sich hat, als dass wir ihn eben
thun«.
Zuerst ist , • wie schon erwähnt , auch bei dem , welcher
nicht geträumt zu haben glaubt, indem er sich nicht erinnert,
was, doch ein dunkles Gefühl vorhanden, dass er wie aus
einer anderen Welt komme. Er kann nicht sofort unmittel-
bar an den Gedanken, den er am Abend zuletzt gehabt, an-
knüpfen, sondern es liegt etwas geistig Erlebtes zwischen ihm
und der Jetztzeit. Viele sagen, sie hätten nicht geträumt,
dann aber werden durch eine zufällig eintretende Sinnes^
empfindung oder Vorstellung die vorangegangenen wieder über
die Schwelle des Bewusstseins gehoben und sie bemerken,
dass der Schlaf doch nicht völlig traumlos war. Und dann
ist es eben ein Unterschied, was man unter Traum versteht.
Wie in der äusseren Natur unter den lebenden Wesen über-
haupt verschiedene Gradationen der psychischen Thätigkeiten
sich finden und das Empfinden und Fühlen des Thieres etwas
Anderes ist als das vernünftige Denken des Menschen , so ist
in dem letzteren , dem Mikrokosmus selbst, eine solche Stufen-
folge. Die Seele äussert sich bedeutend weniger energisch im
Tiefschlaf als im vollen Wachen , wo man von einer Sponta-
neität derselben im besonderen spricht, ohne jedoch nur po-
tentiell vorhanden zu sein. Will man nun nicht diese
tiefste Stufe, sondern nur das Traum nennen, was wir »nach
dem Erwachen mehr oder minder deutlich in der Erinnerung
vorfinden«, so ist der Tiefschlaf allerdings traumlos, aber er
ist trotzdem nicht der psychischen Functionen baar. Wenn
nach einer anhaltenden psychischen Anstrengung Erschöpfung
folgt, so ist die Spontaneität der Seele auch gewichen, und
sie ist gleichsam zurückgesunken in ein »dumpfes Weben in
sich«; man hat später oft keine Erinnerung an das, was man
in diesen Zuständen gedacht hat, aber bestimmt weiss man,
dass etwas vor der Seele geschwebt. Wie im Schlaf, der
uns traumlos dünkt, war es dunkel und verworren ; trotz aller
Bemühung gelingt es uns nichts es ins Gedächtniss zurück-
zurufen, und doch ist es vor der Seele vorübergezogen, also
vorgestellt worden. Deshalb kann ich Sputa — dessen Er-
— 108 —
Ortening übrigens geistvoll ist — nicht beistimmen, wenn er
die psychische Thfttigkeit als gebunden, virtualiter vor-
handen im Tiefschlaf annimmt. — Ueberhaupt scheint er
diese »virtualiter vorhandene Anlage« (S. 408) nicht recht be-
stimmt gefasst zu haben, denn an einer anderen Stelle (8.429)
sagt er: »Im tiefen Schlafe endlich werden die Vorstellungen
so undeutlich und verworren, dass sie unerkennbar sind; d. h.
sich nicht mit hinreichender Intensität ins Bewusstsein heben
können, allein vorhanden sind sie als Thätigkeiten(!)
der Seele, als Selbsterhaltungen, als das Wesen derselben«.
Wir werden' somit ^nnehmen, dass ebenso wie die
organischen, vegetativen Functionen herabgesetzt
sind, auch die psychische Thätigkeit, die andre
Seite des Menschen, im Tiefschlaf minimal ge-
worden ist, ohne deshalb ganz aufgehört zu ha-
ben i«»).
Capitel V.
Die Elemente des Traumes.
Den iDhalt der Träume bestimmt erstens die durch An-
lage und die Summe alier vorangegangenen Eindrücke bedingte
Individualität überhaupt, dann zum Theil die specielle Ge-
dankenrichtung und Gefühlsdisposition vor dem Einschlafen
und endlich die Art und der Ort gegenwärtiger Reize, welche
den Traum entweder auslösen, oder in ihn eingreifen, ihn
weiter und auf andere Bahnen leiten. Alles, was man ge-
dacht, gewollt, gefühlt, überhaupt »erlebt« hat, die Probleme^
welche den Geist herausgefordert, die Stimmungen, Affecte
und Leidenschaften, welche das Gemüth beherrscht haben,
können im Traum wiederum emportauchen. Femer machen
sich oft die Thätigkeiten der Seele geltend, bei welchen sie
vom Schlafe überrascht wurde; halbfertige Gedankenarbeiten
und Willenspläne vollenden sich im Traume auf eine sonder-
bar phantastische Art, Gemüthsstimmungen und nur halb über-
wundene Erschütterungen klingen aus. — Die Eindrücke, welche
auf den Schläfer unmittelbar einwirken und Träume hervor-
bringen , sind verschiedener Art. Zuerst gehören hierher die
äusseren der fünf Sinne , welche besonders im Morgentraum
sich geltend machen und, obgleich nicht immer wirksam, doch
nicht als Ausnahme zu betrachten sind, wie Schopenhauer sie
ansieht^®*). Die zweite Glasse bilden die subjectiven Erregun-
gen der Sinne, sowie die dem eignen Organismus entstam-
menden Huskelempfindungen und die mannigfachen Reize und
Empfindungen, welche wir unter dem Namen »Gemeingefühla
zusammenzufassen pflegen.
Von den fünf Sinnen ist der des Gesichts der Aussen-
welt im Schlafe verschlossen und nur durch stärkere Einflüsse,.
— 110 —
die in dem Dunkel der Nacht selten vorkommen, affieirbar.
Am meisten sind noch die Strahlen des Vollmondes, wenn sie
auf den Schläfer fallen, im Stande, diesem Traumvorstellungen
hervorzurufen. So erzählt Ärat/SÄ^**), dass er sich einst in
seinem 27. Lebensjahr in einer verliebten Attitüde überrascht
habe, die Arme nach dem am gegenüberliegenden Fenster er-
scheinenden Bilde der fernen Geliebten ausgestreckt; beim
Vollwachen bemerkte er, dass der Vollmond diese liebliche
Gestalt war. Im folgenden Jahr, wo er den Wohnort gewech-
selt hatte und sein Gesundheitsgefühl etwas getrübt war,
machte er wiederum eine interessante Beobachtung. »Ein
leichtsinniger Schreiber«, so erzählt er, »hatte sich im Früh-
jahr 18SÖ in dem Oberamtsgerichtsgebäude zu M. erschossen.
Die Furchtsamkeit, welche einen Bewohner dieses Gebäudes
bestimmte, einige Zeit auswärts zu schlafen, wurde der Gegen-
stand des Witzes in heiterer Abendgesellschaft. Verf. war im
jugendlichen Uebbrmuth so weit gegangen, dass er sich anbot,
in der Bettstelle des Entleibten eine Nacht zuzubringen. Da
jedoch niemand darauf bestand, verfügte er sich zu gewohnter
Zeit, kaum etwas aufgeregter als sonst, nach Hause. Er
mochte einige Stunden geschlafen haben, da erschien ihm der
Selbstmörder, in ein weisses Leintuch gehüllt, hohen Wuchses
und wankenden Schrittes vom Fenster her langsam dem Nacht-
lager zuschreitend. Also doch der Schreiber! war der erste
Gedanke des Halbwachen; der zweite war: es ist ein Spuk,
dem ein Ende gemacht werden muss. Ein entschlossenes Um-
wenden im Bette hatte auch diese Wirkung und der Spuk war
im Momente enträthselt. Vor dem hohen Fenster des mittel-
alterlichen Gebäudes stand der Vollmond in strahlender Glorie.
Der stark yibrirende Licbtreflex der Fensterscheiben hatte der
erleuchteten Fläche den Schein der Bewegung gegeben, wozu
sodann die Gestaltungskraft des Traumes die menschlichen Um-
risse, das Leichentuch und die durch die Abendunterhaltung
disponibel gewordene Persönlichkeit fügte«. — Grösser als bei
uns, wo solche Fälle im Ganzen selten vorkommen, mag der
Einfluss des Mondes in südlichen und östlichen Gegenden,
wie in Griechenland, am persischen Meerbusen u. s. w. sein,
wo Diana alias Luna die Pfeile ihrer Strahlen mit solcher
Schärfe versendet, dass Leute, welche im Freien schlafen und
— 111 —
auf deren Gesicht das volle Licht fällt, von Gesichtsrose, ja
von vortlbergehendem Wahnsinn befallen werden i*«). — Der
Feuerschein der durch das Licht in Brand gerathenen Gardine
verursachte einem Schlafenden das Traumbild einer grossen
Feuersbrunst; erschrocken erwachte er, sah jetzt die Gefahr,
in welcher er wirklich schwebte, und traf die geeigneten Vor-
kehrungen. Krauss sagt (S. 639), dass er hauptsächlich dann
von Feuersbrunst geträumt habe, wenn er, des Genusses
geistiger Getränke ungewohnt, solche vorher zu sich genommen.
£s möchten also manche von den Träumen , welche , wie Scku-
bert und Andere hervorhoben, auf äusserst wunderbare Weise
Feuersbrünste schon lange vorher und in weiter Feme ver-
kündigten, auf sehr rationelle Weise sich erklären lassen. —
Scherner träumte , als einst früh zwischen 5 und 6 Uhr die
Sonnenstrahlen auf den Schläfer fielen, von einem feurigen
Drachen, welcher auf ihn zusprang.. Plötzlich sah er den
Drachen weichen ; erwacht bemerkte er, dass die Sonne augen-
blicklich durch Wolken verdeckt war. Die auf den Schläfer
fallenden Mond- und Sonnenstrahlen mögen besonders ein gutes
Theil Material zu der Bildung der religiösen, engelgleichen,
mit himmlischer Glorie umgebenen Lichtgestalten abgeben. —
Ein Nachtlicht wird, da es eine gleichmässige Wirkung wäh-
rend des ganzen Schlafes hat, weniger im Stande sein, Traum-
vorstellungen zu erwecken, wie dies ein plötzlich einfallender,
nicht allzu greller Strahl thut; es hat aber jedenfalls Einfluss
auf die Helligkeit des Traumraumes überhaupt. — Starke Blitze
bei Herannahung eines Gewitters pflegen das Erwachen herbei-
zuführen.
Die Eindrücke des Gehörssinns haben nicht immer, wie
Lazarus^^'^ meint, das Erwachen zur Folge, sondern werden
bei gewisser Intensität, vorzüglich am Morgen zu Traumvor-
stellungen. Worte, RedeU; die verschiedensten Töne und Ge-
räusche von aussen : das Summen der Insecten , die Stimmen
der Vögel , der Glockenschlag u. s* w. rufen Associationen
wach und bringen dadurch Bilder hervor, welche nach der
Individualität, Beschäftigung und dem Beruf eines Jeden be-
stimmte Gestalt annehmen. Der in der Nähe eines rauschen-
den Stromes oder Wasserfalles Schlafende gjaubt Kanonen-
donner zu hören. Ist man beim Anhören einer Rede einge-
— 112 —
schlummert, so rufen die Worte des Redners entsprechende
Traume wach ; durch einzelne einwirkende TOne wird oft dem
Schlafenden der Genuss eines Concertes verschafft, das in den
meisten Fällen höchst harmonisch und anmuthig erscheint. Ein
zur Erde fallendes Buch oder eine zugeschlagene Thür führt
zur Vorstellung eines abgefeuerten Schusses, der sich dann
die aller Einzelheiten eines Duells oder einer Schlachtenscene
anreihen. Das Schnarchen des in demselben Zimmer Schlafen-
den wird wie das eigene zuweilen als das Tosen der Brandung
oder eines Bergstroms vernommen. Das Plätschern des Regens
wird, besonders wenn eine Reise beabsichtigt ist und die Auf-
merksamkeit schon am Tage auf das Wetter gerichtet war,
zur Ueberschwemmung , der massige Wind, welcher um die
Hausecke streicht, zum Sturm und Orkan. Die Glocken töne
beim Schlagen der Uhren oder Frtth-Läuten haben die ver-
schiedensten Wirkungen. Dem oder der Liebenden rufen sie
das Bild der Trauung, der Hochzeit und aller dazu gehörigen
Scenen wach; der besorgte philisterhafte Hausvater vernimmt
Sturmgeläute, woran sich die Vorstellungen von Feuersbrunsten
und Revolutionen mit allen ihren Einzelheiten anreihen; der
Melancholische hört die Todtenglocke und sieht, wie man einen
Dahingeschiedenen zu Grabe trägt. Das Pochen an der Thür,
in anderen Fällen sogar das Ticken der Uhr führt zu Hammer-
oder Axtschlägen mit den dazu gehörigen Bildern der Schmiede,
der arbeitenden Holzhauer im Walde oder der Zimmerieute.
Der krähende Hahn giebt das Motiv zu den mannigfachsten
Vorstellungen. Die Stimme des Nachtwächters — im Wachen
schon für Viele ein Gegenstand des Schreckens — kann dem
Träumenden ganz fürchterliche Scenen verursachen; zuweilen
verwandelt sich aber auch das Singen derselben in ein mehr
oder minder liebliches Concert. Schemer wurde einst durch
das Blasen des Postillons zu dem Traume veranlasst, dass er
auf einem Spaziergange in Breslau fernen Ghoralgesang aus
der Elisabethkirche vernähme. Solche Träume religiösen In-
halts, wo zuweilen selbst die Stimme Jehovahs vernommen
wird, ruft oft bei Gewittern der mit nicht allzu grellen Blitzen
verbundene Donner hervor, da der tiefrollende Ton des Donnera
an und für sich eine ernste Stimmung veranlasst. — Maury
war in seiner Kindheit in Folge starker Hitze eingeschlafea
— 113 —
und träumte, dasjs ouib seinen Kopf auf einen Ambos lege und
mit wiederholten Schlägen darauf hämmere. Er hörte im Traum
sehr deutlich die schweren Hammerschläge, anstatt dass aber
der Kopf dadurch in Stücke ging, zerschmolz er zu Wasser.
Beim Erwachen fand sich Maury in Schweiss gebadet und
hörte zugleich in einem benachbarten Hofe, wo ein Hufschmied
wohnte, den Schall von wirklichen Hammerschlägen.
Auf diese Thatsache gestützt, . dass von aussen kommende
Gehörseindrücke zu Traumvorstellungen verarbeitet werden,
haben schon Viele Versuche angestellt, durch leises Hineinrufen
von Namen und einzelnen Worten in das Ohr eines Schlafen-
den demselben willkürlich Träume hervorzurufen. Schemer
erwähnt einen Bericht des Dr, Abercombie^ nach welchem einem
englischen Officier von der Expedition nach Ludwigsburg im
Jahre 4758 dessen Kameraden zur grossen Belustigung Aller jeg-
liche Art von Träumen willkürlich hervorbringen konnten. Wenn
ein bekannter Freund ihm einzelne auf ein Duell bezügliche
Worte ins Ohr flüsterte, glaubte er alle Einzelheiten desselben
zu durchleben; zuletzt drückte man ihm dann eine Pistole in
die Hand, er feuerte ab und erwachte. Ein andres Mal spie-
gelte man ihm vor, er sei über Bord gefallen und forderte ihn
auf, sich durch Schwimmen zu retten, worauf er dann alle
Bewegungen des Schwimmens machte i®^). Nudow bemerkt,
dass man einen, der mit offenem Munde schlafe^ dazu veran-
lasse, Schwimmbewegungen zu machen, wenn man ihm mit
einem Schwamm Wasser in den Mund tröpfele. — Wir werden
nicht mit Scherner grosses Gewicht darauf legen, dass ein
Freund es war, welcher dem Officier willkürlich Träume ver-
ursachen konnte, und nicht annehmen, dass diese durch den
Gemüthsconnex und den »Willensstrahk des Wachenden, wel-
cher auch Träume in die Ferne bewirke, hervorgerufen wurden.
Die Empfindung des geflüsterten Wortes hebt die Association
empor, ebenso wie ein im Wachen von uns ausgesprochenes
Wort in dem Anderen eine Beihe von Vorstellungen erregt,
deren Verlauf durch die weitere Unterhaltung geregelt und
nach gewissen Punkten hingelenkt wird. Eines Morgens flüsterte
ich einem meiner Freunde, als derselbe noch schlief, den Na-
men einer uns beiden bekannten Person ins Ohr, worauf er
zwar von der Person, welche ich im Sinne hatte, nicht selbst,
Bad e stock, Schlaf n. Traum. g
— 114 —
aber von einer anderen, die denselben Namen fahrte, träumte.
Derselbe Freund rief einem Bekannten zu einer Zeit, wo sie
sieli beide auf das Schachspiel capricirt hatten, leise : Schach !
Gardez la reine 1 in^s Ohr, worauf der Schlttfer Bewegungen mit
der Hand machte, als ob er die entsprechenden Ztige thun
wollte. Schemer führt noch ein spasshaftes Beispiel an (S. 369).
Ein verschmähter Liel^ber, der jedoch die Gunst der Mutter
besass^ erhielt von dieser die Erlaubniss, seiner Angebeteten im
Schlafe seinen Namen ins Ohr flüstern zu dürfen, was ihm ein
kluger Freund gerathen hatte. Bald zeigte sich eine merkwür*
dige Umstimmung bei dem Mädchen: sie wurde ihm gewogen
und gab ihm endlich die Hand. Um ihre plötzliche Sinnes-
änderung befragt, gab sie zur Antwort, sie habe ihren Mann
in lebhaften , oft wiederholten Träumen lieb gewonnen. —
Wenn ausführbar, wäre dieses Mittel in solcherlei critischen
Fällen nicht übel und vielleicht mehr zu empfehlen als alle
Fenster-Paraden , Liebesblicke und Liebesseufzer ! Scherner
scheint übrigens den Fall ganz ernst zu betrachten und er-
klärt ihn durch den »electrischen Sebnsuchtsstrahl« , welcher
auf die Geliebte überginge. Es ist freilich Sdbade, dass solche
electrische Kräfte nicht immer grosse Wirkung haben und zu-
weilen keinen Gegenstrom induciren ; — vielleicht sind sie je-
doch nicht stark genug, wenn die Wirkung ausbleibt! Die
Thatsache aber ist durch zahlreiche Erfahrungen constatirt, dass
man einer Person, von weicher man öfters träumt, ganz be-
sonders gewogen wird. Es ist dies das allgemeine psycholo-
gische Gesetz von der Wirkung oft wiederkehrender Vorstel-
lungen, welche bekanntlich dem Menschen «etwas in den Kopf
setzena können. Wie nämlich jeder Gegenstand, der den Geist
längere Zeit in Anspruch nimmt, für diesen eine hohe Bedeu-
tung gewinnt, so wird eine Person, an die wir öfter zu denken
genöthigt werden, uns immer mehr werth, wenn kein beson-
derer Grund vorliegt, sie etwa gering zu sdiätzen. Wie bei
denen, welche ihre Geheimnisse sich gegenseitig vertrauen,
innige Freundschaft bezw. Liebe, oft unbewusst, sich allmählich
entwickelt, und eine solche Beichte neben ihrer Süssigkeit auch
etwas Gefährliches für beide Theile hat, so ist es auf der an-
deren Seite eine falsche Methode, wenn der Eifersüchtige seine
Geliebte mit Zweifeln quält, ob sie ihm treu und ein andrer
— 115 —
nicht vielleicht gltlekticher als er sei, denn dadurch wird sie
genIHhigt oA an diesen Nebenbuhler zu denken, gegen den sie
fr^lher vollständig gleichgültig war, und es entwickelt sich das
Gegeiitbeil von dem, was der Liebende bezweckte. Bekannt
ist ferner, dass ein scharfes Verbot erst recht zur üeberlretung
desselben anreizt.
Obi^e Experimente sind nur, wenn mit grosser Vorsicht
unternommen, von Erfolg gekrönt, denn erstens gelingen sie aus
früher erörterten Gründen überhaupt nicht während des Tief-
schlafs, sondern nur im Morgenschlaf, dem Reiche der Träume ;
dann aber ist der Morgenschlaf sehr leise, und die Annäherung
an das Ohr des Schläfers kann schon durch den warmen Hauch,
die Veränderung der Lichtwirkung u. s. w. denselben er-
wecken. Deshalb muss, um letzteres zu verhüten, das Hinein-
rufen fast zu einem Hineinhauchen abgeschwächt Werden;
allein dasselbe darf auch nicht zu schwach sein, weil dann der
Reiz nicht perceptionsfähig ist. Die Thatsache, dass der Schwel-
lenwerth des Reizes im Schlaf höher gelegen ist als im Wachen,
wird allerdings durch die andere gewissermassen compensirt,
dass der Träumende nicht wie der Wachende mit der Auf-
merksamkeit einzelne Vorstellungen ausschliesslich verfolgt und
die anderen weniger beachtet, auch nicht so viele Eindrücke
wie am Tage sich ihm aufdrängen und seine geistige Thätigkeit
zersplittern, — allein das Maximum liegt ohnehin viel tiefer
als im Wachen und die dem Traume charakteristische Eigen-
tbümlichkeit der Uebertreibunst bei eesteieerter Reizbarkeit des
O ^^ Kj
Gehirns bringt die Vorstellungen noch ausserdem diesem Maxi-
mum nahe. Im Allgemeinen ergiebt sich Folgendes : ist ein Reiz
sehr schwach , so wird er vom Träumer nicht wahrgenommen,
erreicht er aber eine gewisse Intensität, so wird er von dem-
selben zu Traumvorstellungen verwendet, was bei Steigerung
der Intensität noch eine Zeit lang geschehen kann, indem die
daraus entstehenden Traumbilder lebhafter und unheimlicher
für den Schläfer werden, — bis endlich, wenn der Reiz eine
gewisse Maximalgrenze der Intensität überschreitet, derselbe
das Erwachen herbeiführt. So wohnte ich einst im Traume
einem Concert bei; die Vorstellungen wurden lebhafter, die
Musik wurde lauter und verlor den früheren Schmelz sanfter
Harmonien, ich erwachte plötzlich und hörte nun die Reveille
8*
— 116 —
vor dem Fenster blasen. Auch bei einem Gewitter ist sehr
leicht Aehnliches zu beobachten, wo der fem grollende Donner
in die Traumvorstellungen verwebt wird, sobald er aber beim
Herannahen des Gewitters stärker wird, oft durch Mitwirkung
des starken Lichtreizes eines Blitzes das Erwachen herbei-
führt.
Die Geruchs- und Geschmacksempfindungen spielen
-seltener eine Rolle im Traum, da die betreffenden Nerven we-
niger im Schlafe erregt werden, doch kommen auch hier manche
Beispiele vor. Durch im Schlafzimmer stehende Blumen oder
andere riechl)are Substanzen können Vorstellungen von Ge-
wächshäusern, Parfttmerieläden oder nach Pomade und Odeurs
duftender Elegants, — durch einen brenzlichen Geruch solche
von Feuersbrünsten, durch Arzneistoffe die von Krankensälen
u. s. w. hervorgerufen werden, ebenso wie die sich umsetzende
Vundflüssigkeit und die im Munde zurückgebliebenen Speise-
, reste die Geschmacksnerven zu erregen und dadurch entspre-
chende Vorstellungen zu veranlassen vermögen. Letztere sind
vielleicht bei Gourmands besonders häufig. In Betreff der Ge-
ruchsempfindungen im Traume habe ich die Eigenthümlichkeit
beobachtet, dass ihre Qualität verschwindet und in die der
Gesichtsempfindung übergeht; hei den Bildern der Landschaf-
ten, Gewächshäuser und Parfüroerieläden rieche ich die Blumen
oder aromatischen Substanzen nicht, sondern sehe sie. Eine
ähnliche Bemerkung VoUcmann's fand ich später bei Fechner ^^^) :
»Geruchsträume kann ich mich nicht erinnern, gehabt zu haben,
Geschmacksträume habe ich bestimmt nie. Ich esse im Traum
gar nicht selten, aber stets ohne Geschmacksempfindung«.
Sputa machte dieselbe Beobachtung (S. 494). Diese beiden
Sinne pflegen wir überhaupt als niedere weniger zu üben
als den höheren des Gesichts und Gehörs. »Während wir
gewiss«, sagt Sputa (S. 4B9j, »alle bestrebt sind, unser Auge
möglichst frei auszubilden, es künstlerisch zu ergötzen, es
pflegen durch die schönsten Kunstwerke der Plastik und Ma-
lerei, während wir unser Gehör hüten, es durch die erhaben-
sten Schöpfungen der Musik zu cultiviren bemüht sind, ja es
geradezu als eine Forderung an den gebildeten Mensdben stellen,
dass er wenigstens einiges Verständniss in diesen Künsten
l besitze, sich ein Urtheil bilde, pflegen wir auf der anderen
— 117 —
Seite den Geruchs^ und Geschmackssinn äusserst stiefmütter-
lich zu behandeln. Einen Mann, der Wohlgerüche besonders
liebt, oder gar in den verschiedenen Parfüms bewandert ist,
schelten wir im Allgemeinen wohl als unmännlich, zahlen ihn
nicht recht für voll. Nicht viel besser geht's dem Gourmdnd
von Profession, — er gilt für eine selbstsüchtige, prosaische,
sinnliche Natur«. Kant sagt: »Welcher Organsinn ist der un-
dankbarste und scheint auch der entbehrlichste zu sein? Der
des Geruchs. Es belohnt nicht, ihn zu cultiviren, oder wohl
gar zu verfeinem, um zu geniessen; denn es giebt mehr Ge^
genstände des Ekels (vornehmlich in volksreichem Oertem),
als der Annehmlichkeit, die er verschaffen kann, und der Ge-
nuss durch diesen Sinn kann immer auch nur flüchtig und
vorübergehend sein, wenn er vergnügen sollt *70) , — Auch man-
gelt ihnen eine specifiscbe Erinnemng. Man erinnert sich, wie
eine Rose sieht, aber nicht wie sie riecht; ebenso, dass
eine Speise angenehm oder unangenehm schmeckt aber man
empfindet nicht genau nach, wie sie schmeckt. Aus diesem
Mangel in der Reproduction erklärt sich das geringere Vor-
kommen und die Eigenthümlichkeit der betreffenden Vorstel-
lungen im Traum. Wie man geäussert hat, dass Hunde,
wenn sie eine Psychologie schrieben, jedenfalls den Geruchs-
sinn als den wichtigsten bezeichnen würden, so kann man
auch sagen, dass sie, sowie alle Thiere, deren Gemchs- oder
Geschmackssinn stark entwickelt ist, von diesen jedenfalls be-
deutend mehr Material zu ihren Träumen beziehen als der
Mensch.
Sehr viel Elemente zu den Traum-Illusionen liefern die
Druck-, Temperatur- und übrigen Empfindungen
der Haut. Die Bettdecke wird wie das Kopfkissen eben
so oft zur geliebten Person erhoben und umarmt, als sie bei
Schwimmübungen und ähnlichen Bewegungen den elastischen
Untergrund abgiebt. Sie kann aber auch ziemlich unangenehme
Situationen hervorrufen: ein junger Mann, dem sie an einem
Zipfel in den Mund gedrungen war und ihn am Athmen hin-
derte, träumte, er stehe vor einem Ofen, aus dessen geöffneter
Thür ihm Asche und Rauch entgegen geweht wurde und ihm
den Mund erfüllte. Ein unschuldiger Strohhalm oder eine
Falte im Betttuch kann durch den auf eine Hautstelle auiS^e-
— US —
übten Druck die Vorstellung von MordiBstnimeiilen und den
duzu gehörigen R&uberabenteuern wachrufen. So trttumte Je-
mand, dass er unter Banditen gefallen sei und diese ihm einen
grüssUehen Tod dadurch bereiten wollten, dass sie ihn pfähl-
ten, d. h. auf einen Pfahl stellten, dessen Spitae ihm durch
den Fuss drang. Durch die Todesangst erwacht bemerkte er,
dass sich ein Strohhalm zwischen seiner grossen Zehe und der
ihr benachbarten eingezwängt hatte und etwas drückte. Eine
schlechte Lage lUsst uns von Ungeheuern und Gefahren der
mannigfachsten und seltsamsten Art bedri&ngan. Man hat eine
gefährliche und mühselige Arbeit oder einen Ringkampf zu
bestehen, man besteigt einen hohen, steilen Berg oder man
kann, während man von Räubern auf das Hartnäckigste ver-
folgt wird, nicht von der Stelle kommen und sdiwebt in Ge-
fahr ermordet zu werden. Parasiten bereiten dem Träumen-
den ganz merkwürdige Scenen. — Der Temperaturwechsel in
Folge reichlicher oder mangelhafter Bedeckung des Körpers
und seiner einzelnen Theile veranlasst die verschiedenartigsten
Vorstellungen. Eine herabgefallene Bettdecke wird zuweilen
die Ursache der grossen Verlegenheit, in welehe man versetzt
wird, wenn man träumt, in mangelhafter Toilette auf der
Strasse oder in Gesellschaft zu erscheinen. Ein massiger Luft-
zug wird zum gewaltigen Orkan, der den Vielgereisten alle
Schrecken eines Seesturms erleben lässt. Ein seiner schützen-
dep Decke beraubter Fuss wird Veranlassung zum Spazier-
gange auf einem Sdineefelde oder kaltem Estrich mit blossen
Füssen, oder zum Durchwaten eines Baches; die entblüsste
Brust versetzt uns {in einen Strom, in weichem wir sehwim-
mep. Jemandem» der die heisse Wärmflasche mit den Füssen
berührte, träumte, dass er den Aetna bestieg und auf heisser
Lava ging; ein Anderer glaubte mit der Gigarre Löcher in
seine Kleider gebrannt zu haben, so dass das Feuer bis auf
die Haut drang, — erwacht bemerkte er, dass dem Ofen eine
ungewöhnliche Wärme entströmte.
Schon mehr subjectiver Natur sind die Empfindungen und
Vorstellungen, welche sich aus dem Druck einaehiier Körper-
theile auf einander ergeben. Der beim längeren Uebereinander^
liegen der Beine und Füsse entstehende Schmerz der Knöchel
und anderer gepreaster Theile wird zum Hundebiss oder An-
-^ 119 —
setzen von Schr&pCkö|xfeD ; die auf der Brust liegende kalte
Hand zum hassliehen kalten Thier. Bei dem veräBderten Drack
der Gelenke wird maa von Krebsen geängstigt, welche mit
ihren Scheeren die betreffenden Glieder umfassen : so trflumte
ieh vor Kurzem, dass ich mich in einer Menagerie umsah und
plötzlich von einem hasslichen, einer Meerkatze ahnliehen Thiere
em]>findiich in den Finger gebissen wurde. Die Hauteinpfin-
düng des Kitzels auf der Oberlippe lasst zuweilen einen ge-
waltigen Schnurii)art herauswachsen, ein anderes Mal wird
man mit Scheeren oder Zangen gezwickt; bei einer unange-
nehmen Empfindung am Fusse glaubt man. in Glas oder Scher^
ben zu treten. »Wenn diie Hand durch Druck auf die Nerven
in lähmungsartigen Zustand gerathen ist, so erscheint sie im
Traum als ein fremder Kdrper, der uns unangenehm berührt,
oder es wird eine Person geträumt, die uns Gewalt anthun
will. Ist gar die ganze Seite lahmungsartig afficirt, so glau-
ben wir einen Fremden neben uns liegend, den wir vergebens
aus der unmittelbaren Nähe zu entfernen bemüht sind«, sagt
Purkiiye. Man sieht, wie nahe der Traum mit jenen krank-
haften Zustanden der Besessenheit und des Dämonenwahns
verwandt ist. — Unterdrückungen der Hauttranspiration, leichte
catarrhalische und rheumatische Affiectionen verursachen un-
ruhigen Schlaf und lebhafte Trüume. Geschwüre und Wun-
den m(^en, wenn vorhanden, — erstere schon vor d«n Aus-
bruch auch manchen Reiz ausüben und die Traume beein«-
flussen. Friedreieh erzählt: »Ich erinnere mich, dass icb ab
Gandidat der Medicin bei einem Kranken die Nachtwache
hatte, der an einem grossen Abscesse am Schenkel litt und
sich denselben aus Furcht vor dem Messer nicht öffnen lassen
wollte; plötzlich erwachte er unter Weinen und Schreien und
erzählte mir, es habe ihm geträumt, wie man ihm mit Gewalt
in seinen Abscess geschnitten habe; als ich ihn untersuchte,
war derselbe geborsten« ^^^) .
Auch bei Femhaltung aller äusseren Einwirkungen sind
die Sinne nicht vollständig von Erregung frei. Beim Auge,
auf dessen Netzhaut der intramoleculare Druck, beim Ohre und
der Haut, wo die unvermeidlichen Geräusche des eigenen
Körpers, die Wärmeausstrahlung u. s. w. als Reize wirken,
finden fortwährend subjective Erregungen statt ^"^^j. Man hat
— 120 ~
Licht- und Farbenersdiemuiigeii und empfindet im Ohr ein
leises Klingen, welches den aus der Ferne kommenden objec-
tiven Eindrücken gleicht und von ihnen, besonders beim Ein-
schlafen, nicht mehr zu unterscheiden ist.
Die subjectiven Erregungen des Auges führen zu
den Vorstellungen bunter Vögel, Schmetterlinge, oder Blumen
und andrer farbiger sowie leuchtender Gegenstände. Diese
erscheinen dann in der Mehrzahl, indem die einzelnen Licht-
punkte objectivirt werden. Eine Menge von Obst liegt vor
uns, schillerndes Geflügel zeigt sich, wir erblicken hellblitzen-
des Silber und Gold oder glänzende Perlen, oder die deutsche
Hausfrau sieht schönes weisses Linnen vor sich ausgebreitet,
wenngleich die Zahl derer, welche, wie Jean Faul meint, der
Teufel durch das Geschenk eines Korbes sauberer Wäsche zu,
einem Gontract zu veranlassen vermag^ auch in Deutschland
immer kleiner wird. Der Religiöse sieht Engel und wohl Gott
selbst in seiner Majestät und Glorie, «in Anderer glänzende
Meteore, vulkanische Eruptionen, Feuersbrünste, Feuerwerke,
illuminirte Städte, Säle voll Pracht und Herrlichkeit, herrliche
Landschaften und Alpenglühen : Alle bewundem die Grossartig-
keit der Erscheinungen, die sie im Wachen noch nie gesehen.
Die Wichtigkeit dieser Reize in Bezug auf den Traum hat be-
sonders Joh. Müller betont. »Die Traumbilder«, sagt er, »sind
nichts anderes, als die leuchtenden Phantasmen, welche vor
dem Einschlafen bei geschlossenen Augen in der Sehsinnsub-
stanz erscheinen«. . . . »Wenn alle äussere SoUicitatton zur
Lichterscheinung durch das Elementarische aufgehört, wirken
nun auch die inneren organischen Reize um so mächtiger sym-
pathische Erregungen. Jede Störung des Blutumlaufs *er-
scheint in dieser ruhenden aber durch ihre Ruhe höchst reiz-
baren Sehsinnsubstanz als Lichterscheinung. Die Strahlen, die
wallenden Nebel, die Lichtflecke, die Feuerkugeln, diese sich
metamorphosirenden Farbenfelder, wovon unser dunkles Seh-
feld bei geschlossenen Augen nie ganz frei ist, sind nichts
anders als die Reflexe von Zuständen anderer Organe auf ein
Organ^ das in jedem Zustand sich entweder licht, dunkel oder
farbig empfindet. — Diese beweglichen Meteore des dunkeln
Sehfeldes sind alle plötzlich verschwunden, wenn wir die Augen
öffnen, weil die äusseren Reize viel mächtiger sind. Aber in
— 121 —
dem lange geschlossenen ausruhenden Auge, das durch Nichts
mehr als das Innere erregt wird, steigern sich diese inneren
Meteore oft zu einer wunderbaren Lebhaftigkeit. Die Phan-
tasie, sich selbst überlassen, knüpft diese wallenden, ihre 6e*
stalt wechselnden Erscheinungen im dunkeln Sehfelde an das,
was sie durch äussere Nöthigung schon einmal hat einbilden
mtissem i^^) . Affectionen der Unterleibsorgane , welche durch
das Gangliensystem dem Gehirn und Auge übermittelt werden,
verursachen bei hysterischen und hypochondrischen Personen
Erscheinungen von Nebel, Spinngewebe, Gitterwerk und man-
nigfacher anderer Bilder. »Drückt das mit Blut überfüllte
Adergeflecht der Netz baut diese für jeden Reiz empfindliche
Membran, so erscheinen die afficirten Stellen als Adergeflecht
leuchtend«.
Schon oft hat man darauf aufmerksam gemacht, dass
Träume mit vielen Lichterscheinungen selten bei ganz Gesunden
vorkommen und ein Anzeichen irgend einer Stdhing im Orga-
nismus seien. Der ungewohnte Genuss geistiger Getränke kann
des Schläfers Auge vielfach erregen; entweder er sieht in die
helle Flamme einer Feuersbrunst oder es erscheinen ihm an-
dere, seinem sonstigen Vorstellungskreise entsprechende leuch-
tende Bilder. Ein Freund erzählte mir, dass er einst, als
er noch das Gymnasium besuchte, eine Prämie bekommen und
darauf, wie es der Brauch ist, sich mit seinen Kameraden an
einem Fässchen Bier erfreut habe. Als er nach Hause ging,
disputirte er noch eifrigst mit einem anderen Schüler des
Gymnasiums über die Wahrtieit und Glaubhaftigkeit einer
Offenbarung Gottes. Im Traum ging er darauf mit diesem
Kameraden spazieren und sah um den am Himmel stehenden
Mond in leuchtender Schrift die Worte geschrieben: ita est
voluntas mea. Diese Worte drückten deutlich das Nachwirken
der Vorstellungen vor dem Einschlafen aus ; sie gaben den In-
halt zu der aus centraler Reizung entsprungmien leuchtenden
Erscheinung ab.
Diese Erregungen des Auges dauern oft ebenso wie sie
dem eigentlichen Traum beim Einschlafen voriiergehen, nadi
dem Erwachen als Nachbilder des Traumes noch fort, bis sie
durch die stärkeren äusseren Eindrücke versdieucht werden.
Spinoza spricht in einem Briefe an Feter BcUling davon, dass er
— 122 —
•ines Morgens das fiild eines Menschen, von welchem er ge^
irflumt, noch deutlich gesehen habe; dasselbe versdiwand,
wenn er mit den Augen etwas Bestimmtes fixlrte, kehrte aber
wieder, wenn er den Blick herumsehweifen Hess, bis es ^ad-
lieh allmählich verschwand ^^^j. Jean Paul behauptet ebenfalls,
zuweilen nach dem Erwachen noch »Wahnmensehen« neben
sich gesriien zu haben ^^^j. Nach Joh, Müller behalten sie zwar
ihre bestandige Oertlichkeit in dem Sehfelde, bededien aber
mit der Bewegung der Augen andre Theile der äusseren sicht-
baren Welt (S. 36). Derselbe theilt eine Beobaehtung Gruit"
huisen^s, welche sogar eine ermüdende Wirkung der Traum-
Empfindung ergab, mit: »Mir träumte, ich zeige einer Dame
die schön violettblaue Farbe des Flussspathes auf gllihendeii
Kohlen. Dies Experiment gelang im Traum scheinbar so gut,
dass mir davon die Augen wie im Sonnenlichte geblendet
wurden. Darüber erweckte ich mich, und ich hatte im Auge
einen gelben Fleck. Dieser Fleck wurde endlieh violettschwarz,
dann öfinete ich die Augen, da ward er gegen das Fenster
gehalten, dunkler als die anderen Stellen des Auges und be-
wegte sich genau wie andere Täuschungen im Wachen mit den
Augen llber die Gegenstände hina^?^). Burda(A heiichiet, dass
Jemand, der die Musterung einer Bibliothek von der linken
zur rechten im Traume abgehalten hatte, die BUder der Bttcher
einige Secunden lang von der rechten zur linken am Auge
vorübergingen.
Beim Gehörssinn findet das umgekehrte Yerhältniss als
beim Gesichtssinn statt. Während bei letzterem die subjectiven
Erregungen vor den objectiven vorwalten, treten bei dem er-
steren die subjectiven bedeutend vor den von aussen kommen-
den zurück. Doch ruft das Ohrensausen auch zuweilen Vor-
stellungen hervor; das heftige Klopfen der Arterien wird als
tobendes Geräusch vernommen und das Summen im Ohr bldbl
wie die Gesiehtsempfindung noch nach dem Erwachen fühlbar.
Die Empfindungen der einzelnen Sinne oombtniren sich
und bilden die ungeheur mannigfaltigen Traumscenen. Zu-
weilen aber vereinigen sie sich zu einer einzigen : wenn z. B.
eine unangenehme Hautempfindung zu der subjectiven d'^s Ge-
sichts hinzutritt, bestimmt diese erste den Gefdlilston der Vor-
stellung und der Träumende glaubt, eine Baupe oder ein an^
— 123 —
<tore8 hlissUebes Thier krieche an ihm herum. IHe Inner-i-
vationsempfindungen bei ausgefilhrter oder auefa blos
intendirler Bewegung fehlen ^ obgleich sie weniger als im
Wachen vorkommen, durchaus nicht ganz. BekanntHdi ver^
geht keine Nacht wo wir nicht Bewegungen ausführten, reflee^
torische sowohl als beabsichtigte ; die Zahl der nur intendirten
aber, besonders der zum Sprechen, ist noch viel bedeutender.
Die Beflexe, welche keine Vorstellung voraussetzen, ver»
Ursachen solche durch die veränderten Zustände des Muskels
bei seiner Erregung. Im Wachen werden die ausgeführten
Bewegungen mit dem beabsichtigten Erfolge verglichen, die
Aufmerksamkeit also darauf gelenkt, die Vorstellungen selbst
dadurch gehoben und die sich an dieselbe knüpfenden Asso-
ciationen verdrängt; im Schlaf geschieht dies alles nicht, der
Lauf der associirten Vorstellungen bleibt also ungehemmt.
Leute, denen ein Sinnesgebiet für äussere Eindrücke ver-
schlossen ist, entbehren keineswegs gänzlich der Empfindungen
und Vorstellungen dieses Sinnes. Bei vollständig Erblindeten
oder Taubgewordnen erhält sich viele J^re lang die Licht-
und Klangempfindung in der Form von Träumen, Hallucina-
tionen und Erinnerungsbildern. Der Professor Baczko in Königs»-
berg, welcher im 23. Lebensjahre erblindete, wollte freilich
seine Traumbilder aus dem Umstände ableiten , dass er sich
früher viel mit Malen, Modelliren und anderen Kunstarbeiten
beschäftigt habe. Dagegen zeigen viele andere Fälle, dass auch
ohne solche Uebung Erregungen vorkommen. Baczko bemerkt,
dass der blinde Flötenspieler Dulon , welcher in den ersten
Tagen seines Lebens erblindete, also beinahe einem Blindge-
bornen gleich zu achten war, ihm erzählt habe, dass er zu-
weilen in seinen Träumen grässliche verzerrte Gestalten, allein
immer nur dieselben sähe. Biester sagt: »In Merkendorf bei
Anspach lebte noch vor wenig Jahren eine alte stockblinde
Hebamme, die mir klagte, dass nichts sie mehr quäle, als öftere
Erscheinungen nicht von Geistern , sondern von Thieren und
Menschen, die sie leibhaftig mit grellen Farben vor sich sähe,
als ob sie nicht blind- wäre« ^''^). Nach Esquirol sprach ein
Geschäftsmann, welcher nach einem sehr thätigen Leben im
44. Jahre vom schwarzen Staar befallen und bald darauf Mania*
cus wurde, mit Personen, die er zu sehen glaubte. Aueh sah
— 124 -
«r sonderbare Dinge, worüber er zuweilen das lebhaftesle
Entztteken verrieth. Aehnlich waren die Erscheinungen einer
tobsttehtigen, 38 Jahr alten Jüdin. Bei einigen Blinden fand
man diese Erinnerungsbilder vom Wetter abhängig; bei hei-
terer Luft hatten sie angenehme Erscheinungen, bei trübem
Wetter sahen sie verworrene Gestalten. C G, Carus^ Bemerk-
ung, dass der , welcher als Kind das Gesicht verloren , alle
Gesichts-Vorstellungen so vollständig vergesse, dass er sich
derselben auch nicht mehr im Traume erinnere, ein Erwach-
sener aber die Vorstellungen nie vergesse, wenn sie auch mit
den Jahren erblassten und seltener auftauchten^ 7^), — wird
durch obige Erzählung Baczko's von Dulon und manche andere
Beobachtungen nicht bestätigt \^^) . Aehnlich wie Carus äussert
sich Burdach und setzt hinzu, dass ein Verwundeter, der an
Krücken gehen musste, eine Zeit lang mit gesundem Gange,
dann nur mit Krücken sich träumte, und eine Frau, welche
den Knochenfrass am Arme hatte, nie im Traume mit diesem
Arme etwas verrichtete (S. 5Q5). — Die berühmte, unglück-
liche Laura Bridgmann, die blind und taubstumm zugleich ist,
soll während ihrer Träume wie beim Nachdenken im wachen
Zustande ihre Finger bewegen i®^).
Die rhythmischen Bewegungen der Lunge bei der Respi-
ration werden im Traum zu Flugbewegungen, nicht nur des
eigenen, sondern auch anderer Körper, oder zum Niederschw^e-
ben eines Engels. Erdmann erblickt darin ein Zeichen von
Gesundheit, wenn solche Bilder vorkommen. — Das durch die
Kaumuskeln hervorgebrachte Aufeinanderschlagen der Zähne
gestaltet sich zu einem Ungeheuer mit geöffnetem Rachen und
schrecklichem Gebiss, oder es äussert sich in milderer Weise
als Ausfallen der Zähne. Scherner geht in der Symbolik auch
hier so weit, dass er beide Reihen Zähne in zwei Reihen blond-
lockiger Knaben, welche in Kampflust auf einander losgehen,
wiederfindet (S. i67j. Volkelt erblickt in gemeisselten Steinen
das Hauptsymbol für die Zähne, welche bei Erweichung des
Zahnfleisches als mit Koth bedeckt erscheinen (S. 53) ; ein
andres Mal entspricht der kreisförmigen Reihe der Zähne ein
Kreis blondhaariger Mädchen mit zarter Leibesfarbe. Es klingt
^ies ähnlich, wie wenn Scherner an einer anderen Stelle in
glatten Semmeln den nackten Leib symbolisirt sein lässt.
— 125 — .
Was -wir Gemeingeftthl zu nennen pflegen, ist der
Gesammteindruck der mehr oder minder harmonischen Zusam-
mensiimmung der Functionen aller einzelnen Theile des Orga-
nismus. Je nachdem nun dasselbe gehoben oder deprimirt
ist, äussert es auch seine Wirkung auf die Traumvorstellun-
gen: das gehobene macht sieh in angenehmen, das deprimirte
in unangenehmen Trttumen geltend, gleich wie wir im Wachen
bei guter Stimmung alles in rosigem Lichte erblicken, während
die ttble alles unangenehm erscheinen lässt. Der Hypochonder
kann sich auf bdse Traume gefasst machen, der in der Fülle der
Kraft stehende, heitere Jüngling hat Chancen zu angenehmen
Träumen voll Lust, Freude und Liebe. — Eine Eigenthttmlichkeit
des Traumes besteht darin, dass sich dieses Gemeingeftthl in
seine einzelnen Bestandtheile auflöst und die gehobenen oder ge-
störten Functionen der Theile des Organismus sich einzeln ob-
jectiviren, oft in einem Grade der Störung, welcher sich dem
wachen Bewusstsein noch gar nicht bemerklich macht. So ist
der Traum von Zahnoperationen oft Vorläufer von Zahnschmerzen
des folgenden Tages oder der anderen Nacht. In der ersten
Nacht war der Schmerz nicht so intensiv, um den Schlaf zu
sistiren, machte sich aber bemerklich genug, um ein entspre-
chendes Traumbild hervorzurufen.
Die Athembeklemmung und das Herzklopfen,
manchmal durch eine schiefe Lage oder das Legen der Hände un-
ter den Kopf und der dadurch erschwerten Girculation des Blutes
hervorgerufen, lässt die Schläfer eine grosse Angst ausstehen,
welche sie sich durch verschiedene Ursachen bedingt vorstellen.
Eine junge Dame ist mit ihrer Toilette noch nicht fertig wenn
der Ball schon beginnt; der Hausfrau sind vor einem Diner
alle Speisen verbrannt, oder sie hat die Schlüssel zu den
Schränken verloren und findet sie trotz aller Bemühung nicht
wieder; der Geistliche soll auf die Kanzel steigen und ist zur
Predigt noch nicht präparlrt; der Gandidal soll sein Examen
ablegen und kann sich absolut auf Nichts besinnen. Die Bil-
der werden zuweilen drohender. Der Knabe sieht sich von
Hunden, der Jüngling und Mann von Räubern oder einer Meng&
Feinde verfolgt, die Jungfrau wird von einem Trunkenen be-
lästigt, der sich in den Kopf gesetzt hat, sie zu küssen, die
Frau erblickt wohl gar ihr Kind in den schäumenden Fluthen
— 126 —
eines Stromes oder in sonstiger Gefahr, ein schweres Gewitter
naht mit allen seinen Schredcen und Alles ist düster und
angsterregend.
Steigert sich die Athembeklemmung zur Athemnoth,
welche im Wachen als besdiwerliches Athemholen empfunden
wird, so entsteht das vielgefUrchtete sogenannte Alpdrücken
(lat. : incubus, succubus; grieoh. : irptÄkrri^: frane* : cauchemar;
engl.: nightmare; niedersachs. : Maar; oberd.: Schrüterlein,
Schretzel , Trud) . Früher waren in soldien Träumen die
Dämonen dominirend : Alpmönnchen, schwarze und weisse
Gnomen und Bergkobolde nahten sich und warfen sich dem
Schläfer auf die Brust, wie die meisten wilden Stämme in
neuerer Zeit noch glauben. Der Dämon Koin trachtet darnach,
den Australier zu erwürgen, der böse Na hockt auf dem Ma-
gen des Karenen ; der nordamerikanische Indianer, vom Schmause
gesftttigt, wird von nächtlichen Geistern besucht, die Cariben
fühlen den Schmerz, den ihnen die Schläge des Dämons Ma-*
boya im Traume verursachen, am Morgen noch, — die Indianer
Südamerikas suchen sich vor dem Besuche dieser bösen Geister
durch Feuerbrände zu schützen. Auch bei den Bauern mancher
Districte Europas sliid die Elfen und Alpe noch nicht verges-
sen. Bei den Antillen-Insulanern sind es die Geister der Todten,
welche verschwinden, wenn man sie fest angreift. Die Neu-
seeländer und die Bewohner der Samoa-Inseln erkennen in
ihnen schädliche Gottheiten, — die gelegentlich übernatürliche
Geburten veranlassen können, — in Lappland herrscht eine
ähnliche Meinung ^^^). Augusiin selbst meint, die Besuche der
incubi seien durch eine solche Menge von Beispielen bezeugt,
dass man sie nicht leugnen könne. Die Chronisten Gregor Vim
TourSy Frodoard, Matthew von Westminster theilen solche wun-
derbare Geschichten mit. Raoul G/ater berichtet: »Ich sah ein-
mal Nachts gegen Morgen vor mir am Fusse meines Bettes ein
scheussliches kleines Ungeheuer von kaum menschlicher Gestalt
erscheinen. Es schien mir von mittlerer Grösse zu sein, einen
dünnen Hals, mageren Wuchs, sehr schwarze Augen und eine
enge faltige Stirn zu haben. Die Nase war breit, der Mund
gross, die Lippen wulstige das Kinn kurz und spitzig; ein
Bocksbart, gerade spitze Ohren, schmutzige trockene Haare,
Hundszähne, spitziger Hinterkopf, vorspringende Brust, Buckel,
— 127 —
welke Lenden, schmutzige Kleidung vervollsUindiglen dieses
Bild. Es fasste den Rand meines Bettes, schftttelte ihn mit
furchtbarer Crewalt, und sprach: Du warst nicht mehr lange
hier bleiben. Alsbald erwache ich voWet Schrecken ....
springe aus meinem Bette^ eile zum Kloster und werfe mich
vor dem Altar nieder, wo ich lange Zeit erstarrt von Furcht
liegaa bleibe«. Er sah den Teufel noch zwei andere
Male. Guibert de Noigent erzählt: »In einer Nacht wurde
«eh durch Beklemmvingen erweckt; ich glaube, es war gerade
Winter. Ich lag in meinem Bette und fühlte mich sicher beim
Scheine einer hellbrennenden Lampe. Plötzlich schien mir das
tiefe Schweigen um mich durch eine Menge von eben kom-»
m^ader Stimmen unterbrochen zu werden. Im selben Augen-
blicke wurde mein Kopf gleichsam in einen Traumzustand ein*
gewiegt, ich verlor den Gebrauch meiner Sinne und glaubte
einen gewissen Verstorbenen erscheinen zu sehen, von welchem
Jemand mit lauter Stimme verktlndete, er sei im Bade umge-
bracht. Durch diese Erscheinung erschreckt stürzte ich von
meinem Platze mit lautem Geschrei fort, die Lampe verlöschte,
und mitten in der furchtbaren Finstemiss erblickte ich den
Dämon in seiner eigenen Gestalt neben dem Todten stehen« ^^^) .
Papst Innocenz VIIL erliess im Jahre i484 eine Bulle, welche
die incubi als eine Anklage enthielt gegen »viele Leute beiderlei
Geschlechts, die ihres Seelenheils vergessend vom katholischen
Glauben abgefallen sind«.
Bei uns tragen die Träume jetzt mehr einen zoologischen
Charakter. Der Tiger, Bär, Stier, schwarze Zottenhund ^ die
Boa Gonstrictor spielen eine Bolle. Doch auch Anderes, über-^
haupt alles, was den Begriff grosser Gefahr in sich schliesst,
kann den Inhalt zu solchen Traum Vorstellungen abgeben. Dem
Einen rollt ein Bad über d«n Leib, den Anderen trifft ein
herabrollender Fels, ein umstürzendes Gebäude. Alles Schreck-
liche in Geschichte und Bomanenwelt, die Qualen der Inqui-
sition, das Stöhnen des von Schlangen umstrickten Laoeoon
und Dant&'s ergreifende Schreckens-Schilderungen übertrifft die
Pein und Angst des Alpdrückens. Oft stossen die Schlafenden
einen unartioulirten, halb durch Furcht erstickten Schrei aus,
sinken erschöpft auf das Lager, um bald bei Wiederkehr der
Besinnung sich am Gefühl der Errettung aus einer Lebensgefahr
— 128 —
zu erfreuen. Meist sind die Trttume nach der Individualität
verschieden, es giebt jedoch auch genereile Typen, wie als
historischer der incubus der Hexen, als geographisdier der
Yampyrismus bekannt ist.
Sahmon Maimon träumte einst, als er lange Zeit sich mit
der Kabbala beschäftigt hatte, dass die dämonische Lilith (ver-
fahrende weibliche Gottheit der Kabbala) sich auf ihn stflrze,
während er zu anderer Zeit nach Beschäftigung mit erhabenen
Ideen die holdselige Umarmung der frommen Göttin Schechina
genoss. Bei Damen, besonders nervösen, ist es nicht selten,
dass sich ihnen im Schlaf ein unheimlicher Geist, der meist
gespensterhaft und undeutlich bleibt, zuweilen aber auch die
Gestalt bekannter Personen annimmt, nähert und auf ihre Brust
stttrtzt. — Einige merkwürdige Beispiele erzählt Krauss. Ein
ganzes Bataillon französischer Soldaten, welches in einer alten
Abtei bei Tropea in Galabrien einquartirt war, wurde um die
Mittemachtsstunde vom Alp befallen, erhob sich wie ein Mann
vom Lager und rannte von panischem Schreck gejagt, kopfüber
hinaus ins Freie. Auf die Frage, was sie denn so entsetzt
habe, antworteten alle wie aus einem Munde, der Teufel sei
in Gestalt eines grossen, schwarzen, zottigen Hundes durch
eine Thür hereingekommen, sei ihnen mit Blitzesschnelle auf
die Brust zugefahren und wieder durch eine dem Eingang ent-
gegengesetzte Thür verschwunden. Dieselbe Scene wiederholte
sich in der folgenden Nacht, ungeachtet sich die Officiere nach
allen Seiten vertheilt hatten um gegen den Teufel Wache zu
stehen, und nun wäre keine Macht der Erde mehr im Stande
gewesen, die Soldaten in ihr Nachtquartier zurückzubringen. —
Diese sonderbare Erscheinung erklärt sich sehr einfach. Die
Soldaten hatten an einem heissen Junitage einen forcirten
Marsch von 40 Miglien gemacht, waren dann in die Abtei, die
eigentlich nicht so viel Leute fassen konnte, eingepfercht wor-
den, hatten sich dort auf ein wenig Stroh gebettet und, weil
es an Decken fehlte, sich nicht entkleidet. Die Erschöpfung,
das schlechte Lager und die beengenden Kleidungsstücke be-
wirkten zusammen die physiologische Erregung, welche bald
eine nahe liegende reproducirte Vorstellung zu ihrem Inhalte
nahm. Die Ortsbewohner hatten nämlich den Soldaten ge-
sagt, in der Abtei würden sie Wunder erfahren^ indem der
— 129 —
Teufel dort in Gestalt eines schwarzen zottigen Hundes sein
Wesen treibe ^^) . Krauss rechnet als ferneren Grund noch ein
eigeiithümliches Miasma dazu, welches sich besonders in leer-
stehenden grossen Gebäuden entwickele, und führt als Bestäti-
gung eine eigene Beobachtung an. Als angehender Praktiker
bezog er ein seit längerer Zeit leer stehendes, übrigens nach
drei Seiten freies und auch sonst gut gebautes Haus niedrer
Bauart, ohne beim Einzug geahnt zu haben, dass dasselbe
der Tummelplatz Kemer-Eschenmayerschen Spukgesindels sein
sollte. In der ersten Nacht erweckte ihn um die Mittemachts-
stunde eine in ein dunkles Tuch gehüllte Gestalt, welche sich
von dem gegenüberliegenden Fenster her dem Fussende seiner
Bettstelle genähert hatte und sich nun gegen ihn herunter
neigte, bis sie die Bettdecke berührte, dann aber rasch wieder
verschwand. In der folgenden Nacht erwachte er wieder um
dieselbe Zeit mit der unheimlichen Vorstellung der Spuk-
gestalt; sie erschien auch, näherte sich der Bettdecke, ver-
schwand aber plötzlich , ohne dieselbe zu berühren. In der
dritten Nacht erwachte er nochmals mit der beängstigenden
Ahnung des Gespenstes, ohne es jedoch zu sehen. Von da an
wurde er nicht wieder gestört. Krauss hatte sich, wie er selbst
meint, jetzt an die Spukatmosphäre »acclimatisirt«. Erst ein
halbes Jahr später kam ihm zu Ohren, dass das Haus wegen
solcher Erscheinungen berüchtigt sei. — Auf solche Miasmen
deuten nach seiner Meinung auch die Alpmännchen hin, welche
nach Ennemoser sogar die Thiere in panisdien Schreck ver-
setzen ^^^j und die dem Hirten bald als ein altes Männchen
mit zerrissenen Kleidern, bald als zottiger Hund erschienen.
Da das Alpdrücken gewöhnlich kurz nach Mittemacht ein-
tritt, glaubte Prout es aus dem Einfluss des Blutes, welches nach
seinen Beobachtungen um Mittemacht das Maximum der Kohlen-
sättigung zeigte, erklären zu können. Das dickflüssige , venöse
Blut circulirt, sagte er, langsamer und wirkt vielleicht auch
auf das Gentralorgan. So gelangte man zu dem Satze, dass
die Geisterstunde ihren Keimpunkt in der überschüssigen Kohle
des mitternächtlichen Blutes habe. Andre meinen, dass auch die
geschlechtlichen Perioden nicht ohn.e Einfluss seien , da das
Alpdrücken bei vollblütigen Personen oft scheinbar ohne Ver-
anlassung vorkomme. Bei Manchen ist es eine Folge von Diät-
Badestock, Schlaf n. Traum. 9
— 130 —
fehlern oder von Gemttthsbewegungen ; gmsiigen Krankheiten
geht es zuweilen voraus und bei organischen Herzkrankheiten,
asthmatischen Affectionen, höheren Graden der Hypochondrie
und Hysterie leigt es sich in Wiederholungen. Macnish sagt:
»Ich hatte Anfalle von diesem Leiden, wenn ich im Armstuhie
sass oder mit dem Kopfe mich auf den Tisch legte. Und in
der That sind dies die Körperlagen, welche den Alp am wahr-
scheinlichsten veranlassen können, da die Lungen dann mehr,
als in jeder anderen zusammengedrückt werden. Ich habe
.aber auch den Alp sehr deutlidi gefühlt, wenn ich auf der
Seite lag und weiss viele Fälle ahnlicher Art auch bei
Andern« i®*) .
/. Börner machte Versuche, indem er fest schlafenden,
gesunden Menschen die Bettdecke derartig über das Gesicht
schob, dass der Mund ganz und die Nasenlöcher theilweise
bedeckt wurden. Der Schlafende athmete darauf in langge-
dehnten Zügen, sein Gesicht röthete sich, seine Athemmuskeln
geriethen in angestrengteste Thätigkeit, die Halsvenen schwollen
an und bei jedem Athemzug wurde ein ächzender Ton aus-
gestossen. Bald erfolgte unter sichtlicher Anstrengung ein Um-
drehen des ganzen Körpers und Abwerfen der Decke vom Ge-
sicht, wodurch der Schlaf wieder normal wurde. Nach dem
Erwachen erzählte die Person , bei welcher man den Versuch
angestellt, sie habe geträumt, der Alp in Gestalt eines häss-
lichen Unholdes — ein etwas rauhes Tuch gab die Vorstellung
von einem rauhen, zottigen Thiere, die die Respirationsmün-
dung bedeckende Hand das Bild eines feindlichen mensch-
lichen Wesens, — läge ihr auf der Brust ^^^). Binz bemerkt,
dass bei Schnupfen nach einer etwas schweren Abendmahlzeit
die katarrhalische Absonderung und Schwellung der Nasen-
schleimhaut eintritt, wenn der Mund wie gewöhnlieh ge-
schlossen ist. Dadurch wird der Luft immer mehr die Pas-
sage verlegt, es häuft sich Kohlensäure an und verursacht
Angstträume, bis endlich im Verlaufe derselben der Mund ge-
öffnet wird, der Sauerstoff einströmt und die Himgespinnste
zerstört. Neben der Atbembeklemmung wird auch eine zu
reichliche Abendmahlzeit Ursache der Alpträume, besonders
das kindliche Alter ist denselben ausgesetzt. ))In frühem Zei-
ten gab man ihm Amulete und Heiligenbilder in's Bett, um es
— 131 —
vor dem Nahen der Hexen und Kobolde zu bewahren; heute
reicht eine zweckmässige Regelung der Abenddiät weiter als
<las kirchlici^e Rüstzeug« ^^^j .
Ein leichter Kopfschmerz, sei es ein durch angestrengte
fgeistige Arbeit, durch Gemttthshewegungen und andere Ur-
sachen bedingter innerer oder durch Druck von aussen her-
vorgerufener, führt im Traum die missUchsten Bilder vor. Ein
leiser Anflug von Schwindel iässt uns schnelle Reisen machen,
wobei sich oft die Wagen im Kreise drehen. Ich träumte ein-
mal, dass ich aus einem Bahnwagen herausspringe als der
Zug schon vollständig im Gange war; ich kam glücklich und
unversehrt zur Erde, fühlte mich aber mit einer gewissen
JUacht nach der Seite der fahrenden Wagen hingedrängt. Als
-endlich der Zug und mit ihm die grosse Gefahr vorüber war,
fühlte ich immer noch einen gewissen Wirbel und das Drängen
nach einer Seite; ich erwachte und empfand einen massigen
Kopfschmerz, den eine schlechte Lage verursacht hatte. Bei
«inem massigen Rückenschmerz träumte Jemand, dass er ein
Paquet geschickt bekäme; als er es geöffnet, waren Kröten
darin, welche sich unter das Betttuch verkrochen. Ein ge-
ringer Intercostalschmerz wird zum Dolchstich oder Biss eines
wüthenden Hundes. Ernährungsprocessstörungen üben eben-
falls einen grossen Einfluss aus, daher die schon im Alterthum
■sehr bekannte Erscheinung, dass vieles Essen vor Schlafen-
gehen schlechte Träume verursacht. Doch werden wir nicht
mit Schei^ner annehmen, dass der Traum dabei das ganze Ein-
^eweidesystem unter der Form von breiten , zuweilen sehr
schmutzigen Stadt-, dann engeren Dorfstrassen symbolisire.
In diesen letzteren Fällen, wo die Reize des Organismus und
die daraus sich ergebenden Gemeingefühle schwach sind, be-
■stimmt oft nicht der Inhalt der Vorstellungen^ sondern ihr Ge-
lühlston die Association. Es entstehen Bilder, deren Inhalt
dem Gefühlston der eigentlichen Eindrücke entspricht. Zu-
weilen tritt statt der Association nach Gleichartigkeit die des
Gontrastes hervor. Der Träumende sucht seinen Hutiger und
Durst dadurch zu verscheuchen , dass er Anderen beim Essen
und Trinken zusieht ^ und die lucallische Ausstattung dieser
Mahlzeiten erregt seinen Appetit nur immer noch mehr; in
anderen Fällen dagegen versetzt der Durst den Schläfer in
9*
— 132 —
eine von Sonnenbrand durchglühte Wttste. Eine leichte Uebel-
keit erregt die Vorstellung eines drohenden Ungeheuers mit
gähnendem Rachen und bereitet dem Schläfer Gefahren aller
Art. Die Ursache der Träume, in welchen das Wasser eine
grosse Rolle spielt, bildet in den meisten Fällen der Urindrang
des Schläfers ^^^) ; tritt dazu noch die subjective Erregung des
Gesichtssinns, so schwimmen in den Flüssen und Seen in allen
Farben schillernde Fische herum. Ich meine hiermit nicht,
wie Schemer und Volkelt, dass die Phantasie unmittelbar den
Reiz erschaue, umbilde und unter dem Bilde des Wassers oder,
wie Scherner sagt, die Harnblase unter dem eines Koffers,
Fasses, Tabaks- oder Strickbeutels, ja einer Droschke, welche
im ersten Stock eines Hauses hält, weil diese Höhe der des
Organs am »Leibgebäude« entspreche, — darstelle; wir haben
eine dunkle Empfindung des Druckes der Harnblase und ihres
Inhaltes, da diese jedoch zu schwach ist um selbst voltständig
ins Bewusstsein zu treten, vielmehr den Charakter eines vagen
Gefühls trägt, so wird durch sie nur die Reproduction der
schon oft im Bewusstsein gewesenen, starken Vorstellung des
Wassers, welche dann wieder andere Associationen nach sich
zieht, veranlasst. Zuweilen bleibt die unmittelbare Empfin-
dung in bedeutend minderer Stärke, also in relativer Selbst^
ständigkeit neben der Reproduction stehen und bildet mit
ihr zusammen ein Bild; in den meisten Fällen aber ver-
schwindet sie völlig vor der Macht der älteren und stärkeren.
Der gerade nicht vorzügliche Witz VoUcelfs, dass eine solche
Erklärungsweise gegen alle Analogie des Wachens Verstösse^
da es dort doch nicht Regel sei, dass Jemandem, der einen
wohlschmeckenden Käse verzehre, sich die ihm ganz gleich-
gültige Vorstellung Butter in so üppiger Weise aufdränge, dass
er darüber sofort den Käse vergessen mtbsse, — widerlegt un-
sere Ansicht keineswegs. Wenn Volkelt sich einmal genau im
Wachen beobachtete^ würde er finden, dass, wenn man sich
gehen, d. h. die Aufmerksamkeit zurücktreten und die Asso-
ciationen herrschen lässt, man nicht nur von Käse auf Butter,
sondern noch auf ganz andere, höchst entfernt liegende Dinge
gerathen kann. In jedem Moment während des Wachens drän-
gen sich die Associationen auf, nur der energische Wille und
die auf gewisse Vorstellungen gerichtete Aufmerksamkeit fixirt
— 133 —
diese allein und lässt die anderen zurücktreten. Sobald diese
active Aufmerksamkeit nachlässt, wie im Traum und in den
träumerischen Zuständen des Wachens, treten die Associationen
hervor und ein tolles Spiel der Gedanken beginnt. Wenn
man etwa^ als dem gewöhnlichen Yorstellungskreise höchst
fem liegend bezeichnen will, sagt man: dies wäre mir nicht
im Traume eingefallen. Man erkennt oder ftthlt also allent-
halben, dass der Traum in dem Laufe der Gedanken und
deren Verbindungen vom Wachen abweicht und Sonderbares
erzeugen kann.
Wie es zuweilen zu geschehen pflegt, dass bei Affectionen
irgend eines Körpertheils der benachbarte mit erregt wird oder
als erregt erscheint ^^'), so theilt sich die Erregung obiger Or-
gane den in der Nähe localisirten des Geschlechts mit. Auf
diese Weise, oder auch durch unmittelbare Erregung, beson-
ders in den bekannten Perioden, entstehen die je nach der
Stärke des Reizes, der Individualität und speciellen Stim-
mung des Einzelnen mehr oder minder sittlichen erotischen
Träume 19»).
Die zweite Hauptcategorie der Elemente des Traumes bil-
den diejenigen Reproductionen, welche entweder durch
Association mit den äusseren Eindrücken und den Erregungen
des Organismus verknüpft sind, oder selbstständig aufsteigen
und dann ihre physiologische Disposition in den durch Verän-
derungen der Blutcirculation veranlassten automatischen Erre-
gungen sensorischer Theile des centralen Nervensystems haben.
Hier kann sich die psychische Individualität eines Jeden zur
vollen Geltung bringen und die grdsste Verschiedenheit der
Träume verursachen, denn die Anlagen und geistigen Erwerb-
ungen des Menschen sind sehr verschieden. Schleiermacher sagt :
»Wenn wir zwei Individuen in einem und demselben Moment
denselben Einflüssen aussetzen, so wird das Resultat in beiden
verschieden sein, und der Grund der Verschiedenheit wird
nicht etwa bloss darin liegen, dass dem einen schon anderes
von aussen eingebildet ist als dem andern, sondern dass ein
jeder schon seine eigenthümliche Art hat, das ihn von aussen
Gegebene in seine Lebenseinheit aufzunehmen und zu verar-
beiten, und dass diese Lebenseinheit selbst eine andere ista^^^].
Noch mehr als im Wachen zeigen sich die Eigenthümlichkeiten
— 134 —
der Individualitäten im Traume. Im Wachen, so lautet bereit»
ein Ausspruch des alten Herdclit, haben alle eine gemeinschaft—
lidie Welt, im Schlafe und Traume hat ein jeder seine eigene.
Alles, was der Mensch durch seine Sinne aufgenommen, was-
die Seele durch Verbindung und Trennung der Vorstellungen-
an Gedanken gewonnen, kann im Traum auftauchen. Be-
sonders aber machen sich die Vorstellungen geltend, weiche-
weit verzweigte Associationen und einen starken Gefühlston,
oder wie Strümpell es nennt, »psychischen Werth« besitzen, und
die gleichsam als Monarchen den sich um sie in grosser Menge-
gruppirenden geringeren Vorstellungen gegenüber zu betrachten
sind. Als Xerxes vor seinem Zuge gegen Griechenland von>
diesem seinem Entschlüsse durch guten Rath abgelenkt, durcb
Träume aber immer wieder dazu angefeuert wurde, sagte schon
der alte rationelle Traumdeuter der Perser, Artabanos, treffend
zu ihm, dass die Traumbilder meist das enthielten, was der
Mensch schon im Wachen denke ^^^j,
Ereignisse, welche einen Wendepunkt in unserem eignen^
Leben oder in dem uns nahe stehender Personen herbeigeführt
haben, erfüllen die Träume sehr oft mit freundlichen oder
schreckhaften Bildern. Welche Fülle der lieblichsten Scenen'
bietet der Traum dem Liebenden I Alle seligen Stunden der
Vergangenheit geniesst er noch einmal, ja schöner und herr-
licher noch erscheint ihm Alles. In einem bekannten Volks-
und Liebesliede heisst es:
Bin ich gleich weit von dir
Bin ich doch im Traum bei dir
Und red' mit dir;
Wenn ich erwachen thu'
Bin ich aliein.
Es besteht eine Wechselwirkung: die Liebe ruft Traum-
scenen hervor und diese wirken wieder auf die Liebe zurück,
bestärken und vertiefen sie. Hier, wo kein örtlicher Reiz die
Bilder bestimmt, ist bei reinen Naturen Alles moralisdh und
zart gehalten und das Herz »jauchzt himmelan«, bis der Mensch
endlich am Morgen aus diesem Paradies vertrieben wird und
bemerkt, dass Alles nur »Traum und Schaum« war.
Wie die Träume der Jugend zuweilen das ganze Leben
hindurch nachklingen, so wird andrerseits gerade diese Zeit^
— 135 —
welche uns die meisten neuen und deshalb starken Eindrücke
geliefert , im Traum sehr oft in den schönsten Bildern vorge-
fahrt. Aber auch unangenehme Vorstellungen machen sich
geltend. Das Unbehagen hat Fritz Reuter, der, wie er selbst
erzählt, als Knabe »nie ein sehr eifriger Besucher der Schule«
war, bis in den Schlaf seiner späten Jahre verfolgt: in bdsen
Träumen »hatte er sich entweder nicht präparirt, oder irgend
einer seiner vielen Lehrer hielt ihm ein schrecklich roth per-
lustrirtes Exercitium unter die Nase, das er ihm dann schliess-
lich um die Ohren schlug«. — Wichtiges und Unwichtiges,
was wir längst vergessen glaubten, taucht wieder auf. In der
frühesten Kindheit erlernter Sprüche und Verse erinnern wir
uns wieder, wir erblidLen mit der grössten Deutlichkeit eine
Person vor uns, die wir seit vielen Jahren nicht wieder ge-
sehen. So hatte nach dem Bericht A. Maury^s der Freund
desselben in seiner Kindheit die Umgegend von Montbrison be-
sucht, wo er erzogen war. Fünfundzwanzig Jahre nachher
machte er eine Reise in das Forez, um den Schauplatz seiner
Jugendspiele und die alten Freunde seines Vaters wieder zu
sehen, mit denen er seitdem nicht wieder zusammengekommen
war. Die Nacht vor seiner Abreise nun findet er sich im
Traum an das Ziel seiner Reise versetzt, an einem Ort bei
Montbrison, den er vorher nicht gesehen hat. Er trifft daselbst
einen Herrn an, dessen Züge ihm unbekannt sind und der ihm
sagt, dass er H. T,, ein Freund seines Vaters sei, welchen er
allerdings in der Kindheit gesehen hatte, ohne sich jedoch auf
mehr als den Namen desselben besinnen zu können. Als er
wirklich nach Montbrison kam, war sein Erstaunen gross, in-
dem er dieselbe Localität und denselben Hn. T. dort wieder-
erkannte^ die er im Traume gesehen hatte. Die Züge des
letzteren waren nur etwas gealtert^*^)* — Eine ähnlidie
Wirkung hat, wie Maury dazusetzt, die Blindheit. Ein Ga-
pitän, der in Folge seiner in Afrika erhaltenen Wunden das
Gesicht verloren hatte, erzählte demselben, dass ihm seit die-
sem Unglück die gänzlich erloschene Erinnerung gewisser Loca-
litäten mit äusserster Deutlichkeit zurückgekehrt wäre. Die
anormale Erinnerung einer Dame bei der Gefahr des Ertrin-
kens ist schon besprochen worden. Häufig sind solche Er-
scheinungen bei manchen Krankheiten, besonders dem Fieber.
— 136 —
Ein oft erwähnter Fall ist die Geschiehte eines Rostocker Bauers,
der im Fieberdeliiium die vor 60 Jahren zufällig vernom-
menen griechischen Anfangsworte des Johannesevangeliums
plötzlich recitirte. Noch sonderbarer ist die von Beneke mit-
getheilte Geschichte einer Bauersfrau, welche im Fieberpa-
roxismus syrische, chaldäische und hebräische Worte aussprach,
die sie als kleines Mädchen in der Wohnung eines gelehrten
Predigers zufällig vernommen hatte. — »Ein Mädchen«, erzählt
Macnish^^^), »wurde von einem gefährlichen Fieber befallen und
in dem Paroxismus des Deliriums, das sich dabei einstellte,
horte man sie in einer Sprache reden, die einige Zeit lang
kein Mensch verstand. Endlich ermittelte man, das es Walisch
sei ; eine Sprache, von der sie, ehe sie krank wurde gar nichts
wusste, und von der sie auch nach der Genesung keine Silbe
reden konnte« Einige Zeit lang war die Sache gar nicht zu
erklären, bis man endlich weiter forschte und ermittelte, dass
sie in Wales geboren und in der Sprache dieses Landes als
Kind erzogen worden sei, ob sie schon solche nachher ganz
vergessen hatte«. Nach C. G. Carus kam es einem englischen
Opiumesser vor dem Eintritt der vollen narkotischen Wirkung
des betäubenden Mittels vor, als ob alles, was ihm je in das
Bewusstsein gekommen, mit einem Male wie eine sonnenbe-
schienene Gegend vor ihm ausgebreitet sei. Bekannt ist, dass
nicht nur bei Sterbenden, sondern im hohen Alter überhaupt
ELindheitserinnerungen besonders lebhaft hervortreten. Wasi- i
ansky bemerkte dies recht deutlich an Kant^^^)* Mehrere Bei-
spiele solcher anormaler Erinnenwgen vor dem Tode und in
somnambulen Zuständen sammelten Pctssavant und Schubert ^^^j .
In allen diesen Fällen geht der physiologischen Veränderung im
Gehirn eine Veränderung der gewöhnlichen psychischen Thätig-
keiten parallel. Doch mag wohl die Erinnerung sich nie über das
dritte oder zweite Lebensjahr hinaus erstrecken, da erst hier
die Continuität des Bewusstseins beginnt, indem das Kind ver-
gangene Eindrücke mit den gegenwärtigen dauernd verknüpft.
Im Traum verflieht sich nun das Alte, Vergangene mit
dem Neuen, und es entstehen so Bilder der seltsamsten Art.
Eine unglückliche Jugendliebe, die ja unter Umständen eine
psychische Disposition zum Wahnsinn werden kann, mag sich
in den Träumen sehr lange und äusserst lebhaft geltend machen,
— 137 —
und hier wird vielleicht der Spruch des Terenz^ dass die Liebe
steigt, je mehr die Hoffnung sinkt, am meisten bewahrheitet.
Der Mensch pflegt das räumlich und zeitlich Entfernte zu
idealisiren, und der Gedanke webt um die gemeine Wirklich-
keit den goldnen Duft der Morgenröthe. Die Menschheit hat
ihr Paradies voll naiver Unschuld in grauer Vergangenheit und
das evnge, selige, mit aller Freude und Wonne erfüllte Leben
in der Zukunft. Die Völker preisen ihr vergangenes goldenes
Zeitalter oder sehnen sich nach den Ländern mit dem »ewig
heitern Himmela; es zieht sie hin nach dem Lande, »wo die
Gitronen blühen«. So hat auch jeder einzelne Mensch seine
wonnevolle Jugend und seine »schöne« Heimath. Wenn er
über erstere hinaus ist, versetzt er sich gern in sie zurück
und wünscht wieder jung zu sein ; wenn er die Heimath ver-
lassen, fühlt er eine tiefe Sehnsucht nach ihr und der ab-
wesende Freund erscheint ihm unentbehrlich. Im Traum er-
scheinen ihm die Lieben, die dort vielleicht seiner gedenken,
und es steigen empor die Bilder der Fluren, auf welchen er
sich als Knabe getummelt, der Lieblingsplätze, wo er so gern
geweilt, — oder die Abschiedsscene malt sich in allen ihren
Details aus. Der Knabe und Jüngling dagegen, der von der
grossen Welt nur das kleine Stück seiner Heimath kennt,
sehnt sich hinaus in die Feme, in das Wogen und Treiben
fremder Völker; das Ungesehene zeigt sich ihm im Traum in
den schillerndsten Farben, alle seine Bestrebungen und Ideale
sind deshalb auf die Zukunft gerichtet. So ist der Mensch:
nie lässt er sich am Gegebenen vollständig genügen, entweder
er beklagt, dass die wonnige Vergangenheit geschwunden, oder
er wartet mit Sehnsucht auf die Freuden der Zukunft; er
sehnt sich nach der Erfüllung seines Wunsches als einem letz-
ten, höchsten Ziel, und hat er dieses erreicht, so sieht er
es mit anderen Augen an, es erscheint ihm minder begehr-
ungswürdig, denn seine Begeisterung dafür ist geschwunden,
rastlos strebt er weiter, bildet sich neue Ideale, neue Wünsche 1
Gerade das, was Schwierigkeiten bietet, reizt ihn am meisten.
Was man den Deutschen zuweilen zum Vorwurf gemacht hat,
dass sie nicht energisch in der Gegenwart zu leben wüssten,
sondern durch unpraktisches Streben nach Idealen verleitet,
ebenso wie sie das, was »nicht weit her« ist, gering achten.
— 138 —
stets ihre HoflFnungen auf die zeitliche Ferne setzen, — möchte
ich für eine Eigenthttmlichkeit ^der Menschenseele überhaupt
halten, die zwar mehr oder minder durch die gewaltsamen
Forderungen der Gegenwart unterdrückt, nie aber ganz ver-
nichtet wird; denn wo sie am Tage keinen Raum findet, er-
füllt sie die Träume und spiegelt dem Schläfer die Verwirk-
lichung seiner Ideale vor. Die Hoffnung ist eine Spannung in
die Zukunft, von der man sich vorwärts und hinaufziehen lässt
»wie durch einen spirituellen Flaschenzug«, sagt Scherner ^^'').
Alles was die Seele nicht ganz bestimmt zu gewissen Vor-
stellungen zwingt, sondern den Associationen Raum zur Ent-
wickelung lässt^ sei es nach rückwärts in die Vergangenheit
oder nach vorwärts in die Zukunft oder in die räumliche
Ferne, hat für den Menschen einen grossen Reiz. Gerade in
dem Ausklingen der Associationen und des mit ihnen verbun-
denen Gefühlstones, also der Stimmungen, beruht der Zauber,
welchen die Einsamkeit auf Viele übt, beruht auch die Süssig-
keit des Traumes und aller träumerischen Zustände des see-
lischen Sichgehenlassens und der Schwärmerei. Im Traum
giebt man sich den Vorstellungen und Bildern der Gegenwart
hin, ohne einzelne zu fixiren, spannende Erwartung liegt meist
fem und wir fühlen nie Langeweile.
Die meisten Wünsche stellt uns der Traum verwirklicht
dar ^^^) . Manches Talent und Genie, dem die Ungunst äusserer
Verhältnisse die Ausbildung seiner Anlagen versagte, wird nach
den Mühen des Tages im Schlafe von Träumen beglückt sein,
die ihm gestatten, seines eigentlichen Wesens wieder froh zu
werden. Wie vermeinter Besitz, imaginäre Erfüllung von
Wünschen, deren Verweigerung oder Vernichtung einen psy-
chischen Grund zum Wahnsinn abgaben, den Inhalt des Deli-
riums bilden und nach VermOgensverlusten der Kranke sich
für ausserordentlich reich hält, während das betrogene Mädchen
sich zärtlich geliebt sieht, — so lässt auch der Traum den
Mann von den Sorgen des Daseins befreit, das Glück, welches
er am Tage schmerzlich entbehren muss, geniessen und den
Armen in Schätzen wühlen. Der unglücklich Liebende hält
die Braut in seinen Armen und empfängt als zärtlichen Tribut
die Küsse, nach denen er sich am Tage vergeblich sehnt. Ich
las irgendwo von einem Manne — es war wohl ein Haus-
— 139 —
knecht, — • der seine Absicht, zum Militär zu kommen, nicht
erreichte, und bei welchem sich diese Vorstellung nun stets
in den Träumen hervordrängte : während er am Tage Stiefel
putzte, kommandirte er des Nachts als Major seine Unter-
gebenen.
In letzteren Fällen wurden nicht die Vorstellungen repro-
ducirt, welche schon am Tage vorherrschten, sondern solche,
die unter die Schwelle des Bewusstseins gesunken und von
den Tagesinteressen Niedergehalten wurden. Diese dunklen
Vorstellungen, auf welche vorztlglich aufmerksam gemacht zu
haben ein grosses Verdienst Leibnitz^s bildet, hat der Mensch
in ausserordentlicher Menge. Wenn man sich diese alle auf
einmal in's Bewusstsein rufen konnte), so ^ürde man , wie
Kant bemerkt, sich für eine Art Gottheit halten und über sei-
nen eigenen Geist erstaunen. Dies ist aber nicht möglich, da
die Enge des Bewusstseins immer nur einer kleinen Anzahl
Raum gestattet. Man sieht also, wie unendlich mannigfaltig
sich der Traum gestalten kann, da aus der ungeheuren Anzahl
derselben abwechselnd einige aufsteigen und das Bewusstsein
des Schläfers erfüllen. In Bezug auf dieses Emportauchen dunk-
ler Vorstellungen im Traum gebraucht Aristoteles den sonder-
baren Vergleich, dass die Erscheinungen aufstiegen, wie wie-
derbelebte Frösche wenn es aufthaue ^*^) ; passender möchte
man es wohl vergleichen mit dem Sichtbarwerden der Sterne
am Abend nach dem Verschwinden der Sonne. Die Sterne
leuchten auch am Tage, ihr Licht wird aber durch das viel
bedeutendere der Sonne überstrahlt und dem Auge nicht sicht-
bar; ist dieses grosse jedoch verschwunden, so tauchen die zahl-
losen kleinen empor ebenso wie die dunklen oder »kleinen«
Vorstellungen beim Verschwinden der stärkeren Interessen des
Tages. Darauf beruht die leicht zu beobachtende Thatsache,
dass nach heftigen Gemüthsbewegungen, traurigen erschüttern-
den Ereignissen des Tages ganz andere heitere Vorstellungen
im Traume hervortreten und den Schläfer alles Leid und Un-
glück vergessen lassen. Die Liebe, die der Wachende sich
selbst nicht eingestehen wollte und gewaltsam niederdrückte,
erfüllt des Schläfers Herz ganz^^), und am Tage nachhallend
weiss sie seinen Willen allmählich zu besiegen ; die im Keime
begriffene, welche noch unbewusst in der Brust schlummert,
— 140 —
offenbart sieh im Traum , wie über Nacht sich aus der Knospe
eine herrliche Blume entfaltet. Da der individuelle Taet in
der Wirkung dieser dunklen Vorstellungen besteht, so treten
diese letzteren, wenn sie einmal am Tage nicht recht wirksam
gewesen, d. h. wenn eine Tactlosigkeit begangen worden ist,
im Traume hervor und es quält den Schläfer die Erinnerung.
Volkelt sagt, dass ihm im Traume oft ein Freund erschienen
sei, mit welchem er unrechter Weise den Briefwechsel längere
Zeit unterbrochen hatte. Andererseits können sie durch früheres
Hervortreten zur Warnung oder Aufmunterung sich gestalten.
Darum stellt Socrates die Wirkung seines Dämonions, welches
nichts Anderes als der individuelle Tact war, mit den Befehlen
zusammen, weiche dem Menschen von Gott im Traume zugin*
gen. Aehnliches geschieht beim Gewissen, denn :
»Verbrechen wecken unnatürHche Gewissensangst und die
belad'ne Seele beichtet dem tauben Kissen ihre Schuld«.
(Shakesp. Macbeth^ A. V).
Daher erscheinen die Eumeniden oder Erinnyen der Griechen,
»die Schlagenjungfrau'n mit dem bluthroth glühenden Blick«,
welche als Rachegöttinnen jeder Unthat das personificirte Gewis-
sen bilden, besonders dem Schlafenden, oder überhaupt in der
Nacht: den unglücklichen Orestes quälten sie zuerst »Nachtstr,
als er »der Mutter Aschenkrug bewachte« 201) . Der Verbrecher
durchlebt im Traum seine That mit allen ihren Nebenumstän-
den, den ihr vorangegangenen Seelenkampf und ihre Folgen;
die Geister der Ermordeten steigen auf und fluchen ihm wie
dem teuflischen Richard im Lager von Bosworth. Als finstere,
drohende Gestalten nahen sich die Gedanken, welche er im
Wachen gewaltsam niederhielt, bis endlich auch hier ihm die
Herrschaft verloren geht und dieselben in Hallucinationen,
welche bekanntlich bei Verbrechern nicht selten sind, mit
grosser Lebhaftigkeit emportauchen. Beide Stufen hat uns
Shakespeare in seiner nachtwandelnden Lady Maxbeth und
ihrem hallucinirenden Gatten meisterhaft geschildert.
Besonders machen sich die Vorstellungen geltend, welche
als Gontraste die Gedanken und Stimmungen des Wachens
überhaupt, besonders aber der letzten Tage unbewusst be-
gleiteten. Wer am Tage eine betrübende Nachricht erhielt,
schwelgt zuweilen im Traum im höchsten Entzücken, und dem
— 141 —
Kinde des Gittcks fliessen des Nachts wohl Kummerthrftnen.
Dies scheinen schon wilde Stämme zu beobachten, welche — z. B.
die Sulus — die Meinung hegen, dass die Träume in ihr Gegen-
iheil ausschlagen. Auf einem solchen Princip, sowie auf dem
der Symbolik beruhen die Traumbücher der Inder, Perser,
Araber und die meisten auf diese sich stützenden, im Mittel-
alter, — besonders am Ende desselben — herausgegebenen
Oneirocritica^^^). Und so findet denn in den Ausläufern
derselben, den »Traumbüchlein«, welche die Aufklärung der
Zeit noch nicht vollständig hat verdrängen können, noch jetzt
manche Schöne, dass ihr eine erträumte Hochzeit Tod, Reich»
thum Armuth und umgekehrt bedeute.
Nach dem Vorhergehenden wird es uns nicht schwer sein
den Fall zu erklären, welchen mir eine Dame mittheilte und
der nicht selten vorkommen mag. Sie habe, erzählte sie, die
Nachricht von der Reconvalescenz ihrer Mutter nach einer
leichten Unpässlichkeit erhalten und darauf geträumt, dass die-
selbe sehr krank, fast dem Tode nahe sei. Dies bestätigte
sich später auch anscheinend wunderbarer Weise, da die Kran-
heit sich mit stärkerer Macht wieder einstellte. War bei der
Dame die Vorstellung von der Reconvalescenz der Mutter
dominirend, so ist der Traum aus der Erscheinung des Gon-
trastes zu erklären, herrschte dagegen die der früheren Un-
pässlichkeit und die damit verbundene Besorgniss vor, so war
es die einfache Uebertreibung, welche das Bild hervorrief.
Dies Beispiel führt uns zugleich zu den zahlreichen Er-
scheinungen, wo nicht eine schon längst in der Seele vorhan*
dene sondern erst in der letzten Zeit appercipirte Vorstellung
im Traum hervortritt. Ein unerwartetes Ereigniss der letzten
Tage in unserem eigenen Leben und derer, die uns durch
Verwandtschaft, Freundschaft oder sonst wie nahe stehen,
welches einen tieferen Eindruck auf uns machte, stellt sich
der Seele im Traum in derselben oder in phantastisch ver-
änderter Gestalt dar, oder wird Ursache, dass die damit durch
Association verknüpften Vorstellungen hervortreten. Die Nach-
richt vom Tode eines Angehörigen trifft ein, ergreift und be-
schäftigt die Seele, und der Verstorbene selbst erscheint im
Traum wieder. Vermisst ja doch der Mensch das Liebste am
meisten dann, wenn es ihm durch Entfernung oder Tod ent-
— 142 —
rttdU ist; Hess es ihn früher gleichgültig, so denkt er jetzt
fortwährend daran, und unablässig steht vor seiner Seele das
Eiid des für immer Verlorenen! — Jedoch auch weniger er-
greifende, zuweilen freudige Nachrichten : das Eintreffen irgend
eines Geschenkes, ein Brief von lieber Hand, interessante
Einzelheiten aus der vorhergegangenen Conversation oder Lee-
türe, alles was am Tage vorher mit den Sinnen wahrgenom-
men worden, der Gedanke beim Einschlafen selbst — kann
im Traume hervortreten und zuweilen aueh^ wie schon er-
wähnt, (fen Inhalt der durch andere Reize veranlassten Bilder
und Scenen abgeben. Hat man am Tage einem Examen bei-
gewohnt und fühlt man des Nachts eine leichte Beengung,
so versetzt der Traum den Schläfer auf die Schulbank und
lässt ihn alle Angst eines nicht präparirten Schülers ausstehen.
Die detaillirte Schilderung irgend eines Mordes, welche wir in
der Zeitung gelesen, setzt uns der Verfolgung der Häscher aus,
die in uns den Thäter vermuthen. Wer über die Unsterb-
lichkeit der Seele vor Schlafengehen disputirt, kann hoffen.
Beweise für seine Ansicht im Traume zu finden. Zurüstungen
zu einer Festlichkeit am Tage versetzen den Schläfer schon
mitten in den Genuss und die Freuden derselben; ein Brief
von lieber Hand wird Veranlassung zu einem ersehnten per-
sönlichen Zusammentreffen, welches dem Träumenden das
schönste, seligste Glück verschafft, bis er am Morgen ent-
täuscht wird und bemerkt ^ dass es eben nur »une mauvaise
plaisanterie« war ; die angenehme Unterhaltung mit einer Dame
am Tage lässt den Schläfer eine vollständige Liebeserklärung
machen, die an den sie begleitenden Annehmlichkeiten^ Küssen
und Kosen, Nichts zu wünschen übrig lässt.
Maury sah unter den Schlummerbildern die Züge einer
Person, die ihn zwei Tage vorher besucht hatte und deren
originelle und etwas lächerliche Gestalt ihm aufgefallen war;'
dann aber auch seine eigene Figur, nachdem er am Abend
längere Zeit sich in dem Spiegel betrachtet hatte ; um zu.
sehen, ob er nicht einige sichtbare Zeichen des Augenübels,
an welchem er litt, entdecken könnte. Eines Abends hörte
er sich in einem Mittelzustande zwischen Schlaf und Wachen
ganz deutlich selbst sprechen, als wenn er in einem Saale
eine Rede hielte. Namentlich fielen ihm gewisse Worte und
— 143 —
Phrasen in^s Ohr; plötzlich trat man mit Licht in das Zimmer
und er erwachte. Jetzt erinnerte er sich, dass die Phrasen,
die er von sich selbst geh<)rt zu haben glaubte, die Ausgänge
von Phrasen eines Aufsatzes (composition) waren, den er vor
kurzem mehrmals seinen Freunden vorgelesen ^^-^j . — Wandt
hatte einst in der Zeitung gelesen, dass in einer Stadt die
Cholera ausgebrochen sei; dann mit einem Bekannten über
eine Dame gei'edet, wobei ihm derselbe einige Thatsachen er-
zählte, aus denen der eigennützige Sinn derselben hervorging,
und endlich begegnete ihm am Tage der Leichenzug eines be-
kannten Mannes. Nachts darauf träumte er, dass sich ein
Leichenzug vor dem Hause aufstellte, an welchem er Theil
nehmen sollte, es war das Begräbniss eines vor längerer Zeit
verstorbenen Freundes. Die Frau des Verstorbenen, die er-
wähnte Dame, forderte ihn und einen anderen Bekannten auf,
sich an der gegenüberliegenden Seite der Strasse aufzustellen,
um an dem Zuge Theil zu nehmen. Als sie fortgegangen, be-
merkte der Bekannte : »Das sagt sie uns, weil dort drüben die
Cholera herrscht; deshalb möchte sie diese Seite der Strasse
für sich behalten!« 204) ic^ selbst hörte eines Tages in der
Unterhaltung von Jemand äussern, dass ein uns bekannter
junger Getreidehändler ein sehr gutes Geschäft mache und
selbst bei dem Beinigen des Getreides oft gegenwärtig sei.
im Traume sah ich ihn dann vor einer Maschine stehen, welche
die Form einer grossen Hechel hatte, und einzelne Getreide-
körner mit den Fingern herausklauben. Ich hörte von einem
Künstler, dass derselbe seine Brust in enormem Grade auf-
blähen könnte und sah dies Kunststück im Traunie ausgeführt ;
von einem sehr jugendlichen Studenten vernahm ich, dass er
promoviren wollte, in der folgenden Nacht begegnete er mir
und ich gratulirte ihm, da er das Examen gut bestanden.
Dann ritt ich im Traum, nachdem ich mich am Abend in einer
Gesellschaft von Beitpferden unterhalten, ein Pferd zu Tode,
ohne der Reitkunst sonst mächtig zu sein. Ein andres Mal
äusserte ich kurz vor Schlafengehen zu einem Freunde, dass
ich mich früher viel mit dem Studium der Geschichte be-
schäftigt habe: im Traume sah ich mich auf eine Bank des
Gymnasiums zurückversetzt, wo ich einen Vortrag über das
Leben Leibnitz's, dessen Philosophie ich am Tage zuvor stu-
— 144 —
dirt hatte, hielt. Ein mir bekannter Schnllehrer erzählte, dass
er bei dem Vorstände des Dorfes, wo er seine erste Stelle an-
treten sollte, seine Aufwartung gemacht und die Nacht darauf
geträumt habe, er sei mit der Tochter des Schulzen verlobt.
Ja höchst Unwichtiges, beiläufig Wahrgenommenes, auf wel-
ches man am Tage nicht geachtet, macht sich breit. Ich habe
oft beobachtet, dass Gedanken, welche auf dem Spaziergange
aufgetaucht, sofort aber wieder verschwunden waren, im Traum
sich nochmals zeigten und zu ganzen Scenen ausbreiteten.
Leise oder stärker angeregte Stimmungen erscheinen in voller
Macht : so träume ich besonders lebhaft nach dem Besuche des
Theaters.
Die in Folge centraler Reizung emportauchenden Repro-
ductionen werden nun sowohl durch neue automatische Er-
regungen als auch durch äussere und innere Eindrücke viel-
fach unterbrochen und durchkreuzt; dadurch wechselt die
Scene fortwährend, besonders in den Morgenträumen, und es
entsteht die bunte Mannigfaltigkeit, die dem Traume das cha-
rakteristische Gepräge gegenüber dem wachen Denken mit
verleiht.
Capitel VI.
Der unterschied des Traumes vom wachen Denken.
im Talmitd lautet ein Spruch, dass kein Traum oirne
Narriiett sei und Cicero redet davon, dass es nichts Verkehr-
tes, Barockes und aller Regel Spottendes gäbe, was der Traum
nicht aufnehme ^^*) . In der That scheint es unmöglidi, in die*
sem tollen Treiben feste Gesetze zu erkennen; d^ strengen
Polizei des vernünftigen, den wachen Vorstellungslauf leiten*
den Willens und der Aufmerksamkeit sidi entziehend, wirbelt
der Traum im tollen Spiel Alles kaleidoskopartig durch ein*
ander. Was in der Wirklichkeit zusanunengehürt , wird zer*
rissen, und zusammenschmilzt, was getrennt ist und sich
gegenseitig ausschliesst. Man kann hier den Vergleich an-
wenden, den Goethe an einer Stelle ^^j von dem wirren Durchs
einander eines verzweifelnden Gemüthes braucht : es ist »wie
wenn von ungefähr unter der Zurüstung ein Feuerwerk in
Brand geräth und die künstlich gebohrten und gefüllten Hül*
sen, die, nach einem gewissen Plane geordnet und abgebrannt,
prächtig abwechselnde Feuerbilder in die Luft zeichnen sollten,
BunmeW unordentlich und gefährlich durch einander zischen
und sausen«. Scherner , der die »zarten, weichplastischen«
Schöpfungen der Nacht den »batzigen Zusätzen« und der
»stümperhaften Arbeit des Wachens« gegenüber und die der
ersteren Kunst »in ihrer Art« höher stellt, muss an anderen
Stellen. auch zugestehen, dass diese Art eben zuweilen eine
närrische ist. Denn wenn er Erdbeeren an Bosenspalieren
indet^ einen Erhängten sieht, der den Strick um die Taille
geschlungen bat, wenn Sperlinge von einem Weizenfelde aus
zu ihm sprechen, Musiker mit ihren Instrumenten tanzen, oder
eine Frau ihren Säugling statt in Linnen in weisses Papier
B ade stock, Schlaf n. Traum. 10
— 146 —
wickelt 2®^, — 80 zeigt sich darin eine dehr barocke Verbindung
zwischen verschiedenen Vorstellungskreisen; einige von ihm
mitgetheilte Anfänge von sogenannten loSchablonentraumena
kurz nach dem Einschlafen : »Unter den grOssten Modificationen
einer schlauen Westentasche verbirgt er« ... . oder : »Ja, ja,
man bricht Sperlingsprobleme« — würde Niemand im Wachen
für herrliche Geistesproducte ansehen. Erinnerungen aus langer
Vergangenheit und Vorstellungen der Gegenwart oder einzelne
Glieder weit von einander liegender Vorstellungskreise ver-
binden sich zu einem einzigen Bilde, oder es entwickelt sich
aus einer Reproduction und einem unmittelbaren äusseren oder
inneren Eindruck eine höchst sonderbare neue Scene, worin
oft die schroffsten Gegensätze friedlich neben einander bestehen.
Heermann erzählt, dass er einst mit Eolikschmerzen einge-
schlafen sei und darauf geträumt habe, der Unterleib sei ihm
geöffnet und es werde an ihm der nervus sympathicus prä-
parirt. — Nachdem Schemer einst mit einem Pastor einem
Weingelage beigewohnt hatte, sah er sich im Traum in der
Kirche und hörte den Gantor singen, erblickte aber dabei
hi^er dem Chor ein geräumiges Vereinszimmer, wo gegessen
und getrunken wurde. Ein andres Mal traf er einen gelähm-
ten Gelehrten mit bunter Offioiersuniform auf einem Balle an;
während man im Saale tanzte, zog iemst und feierlich ein
Leichenzug vorüber. — Volkelt stellte sich einen schwarzpolir-
ten Violin-Kasten als Sarg vor und warf statt der Erdschollen
Zuckerstücke darauf. — Ich selbst träumte einst, ich wolle
die Vorlesung eines Professors besuchen und mir im Hörsaal
einen Platz sichern ; statt jedoch wie gewöhnlich die Karte da-
bei zu benutzen, schrieb ich meinen Namen auf einen Hand-
schuh, der noch dazu nicht einerlei Farbe hatte, sondern ge-
streift war, ähnlich wie ich vorher ein Damenkleid im Theater
gesehen hatte. Ein andermal sah ich Husaren auf einem Dach-
boden herumreiten.
Es giebt nichts Festes und Beharrliches ; schnell wechseln
die Vorstellungen und die Bilder sind in stetiger Metamorphose
begriffen. Scherner wurde auf eine Wildente aufmeri^sam ge-
macht; als er hinsah, war es ein Paradiesvogel, näher herzu-
tretend erblickte er einen prächtig schillernden Pfau, der sich
plötzlich in einen riesigen Storch verwandelte. Ein Bogen
— 147 —
Tresorscheine wurde zum weissen Halstuch, dann zum Damen«
mantel. Gruithuisen träumte auf einem Pferde zu reiten,
welches sich in einen Bock umwandelte; letzterer wurde ein
Kalb, das Kalb eine Katze, die Katze ein schönes Mädchen und
dieses eine alte Frau; der Baum, auf welchen die Katze klet-
terte, wandelte sich in eine Kirche, letztere in einen Garten;
das Orgelspiel in der Kirche endlich wurde zum Spielen der
Katze auf der Maultrommel und dieses zum Gesang des Mäd-
chens. Besonders zeichnen sich die Schlummerbilder durch
solchen fortwährenden Wandel aus. Wenn man im Traum
Gedrucktes oder Geschriebenes sieht und etwas genau fixirt,
80 verändert sich in jedem Augenblick die Stellung der Buch-
staben, Silben und Satztheile. Schemer erschien das Wort
^Philosophie« in einer Form, welche in Bezug auf Zusammen-
setzung sehr viel Aehnlichkeit mit » Popocatepetl < hatte. Der
abstract denkende Mathematiker und der speculative Philosoph
hat hier ebenso wenig Macht über seine Vorstellungen wie
das Kind, welches noch nichts von Problemen und logischen
Denkgesetzen weiss. ^ — Es erscheint mir als ein unnützes Be-
mühen, wenn manche Forscher in diesem Labyrinth sich durch
eine oft recht detaillirte Eintheilung und Classification
der Träume zurecht finden wollen ^^^j. Die Betrachtung der
Elemente des Traumes und der Associationsgesetze der Vor-
stellungen giebt einen solchen leitenden Faden am besten.
Noch weniger fruchtbringend ist nach meiner Meinung der
Versuch Einiger, das Vorkommen aller einzelnen Formen und
Mittel der Poesie und Rhetorik, wie dei^ Personification,
der Hyperbel, Antithese, Ironfb* aller Arten von Metaphern,
der Allegorie u. s. w., im Traum nachzuweisen.
Die Haupteigenthümlichkeit der einzelnen VorsteJIungen
bildet ihre Lebhaftigkeit und Uebertreibung, welche
ihren physiologischen Grund in der durch Veränderung der
Blutcircul^tion veranlassten gesteigerten Reizbarkeit des centra-
len Nervensystems hat. Das sanfte Bauschen des Windes in
den Blättern der Bäume wird zum Brausen des Orcans, das
Fallen eines Buches zum Schuss ; Maury vernahm die in seiner
Nähe versuchsweise vorgenommene Reibung einer Zange mit
einem Stahl als Sturmgeläut ; ein leichter Schmerz irgend einer
Art zeigt sich in einem hohen Grade gesteigert und das Un-
10»
— 148 —
gehetwrikbe hemehi vor. Die BUder treten eotwedw sofbri
in ttbertriebener Form auf oder werden allmählich gesteigert,
besonders bei der FMtdauer eines leisMi Schmenes nnd einer
nnbehaglichen. Empfindung, wie bei der Athembeklenimung*
Die Gestalten blähen sich zuweilen auf wie Faust's Pudel, sie
zeigen keine Proportion ihrer einzelnen Theile; alles, was dem
wachen Denken unverhältnissmässig, widerstreitend und un-
vereinbar erscheint, bringt der Traum iii Verbindung. Daher
erscheinen uns die Gegenstände weniger durch ihre Umrisse
und das Yerfaältniss ihrer einzelnen Theile anmuthig als durch
die Farben. Diese haben oft einen ausserordentlich sanften Ton
und die Zusammenstellung derselben erscheint uns prachtvoller
als wir sie je im Wachen gesehen oder zu sehen gehofft ha*
ben. Träume von wundersdiönen Gemälden, paradierischen
Gärten und ganzen Gegenden sind nichts Seltenes. Ebenso
ist die im Traum gehörte Musik zumeist ausserordentlich
schmelzend und wir ergötzen uns an den reizendsten Melo-
dien. »Der Traum schafft; sowie im Grässlichen, so im Schönen,
weit über die Erfahrung, ja über die Zusammensetzungen der*
selben hinaus und gebiert uns Himmel, Erde und Hölle zugleich«
sagt Jean Baut treffend ^^) . — Nicht nur der Intensität, sondern audi
der Ausdehnung und Breite nach wachsen oft die Vorstellungen
in's Maasslose ; wie in Stimmungsträumen ein dauerndes GefQhl
nicht müde wird stetig wechselnde Bilder hervorzubringen, die
ihrem Inhalte nach sämmtlich ihren Ursprung nicht verleugnen,
so pflegt audi eine momentan aufsteigende Freude oder ein
kurzwährendes Missbdiagen die Vorstellungen und Erschein-
ungen zu multipliciren. Freut sich Jemand über ein gefun-
denes Goldstück, so liegen sie bald wie gesät um ihn herum ;
das Ei^tzücken über eine schöne Blume zaubert ganze Garben
und prachtvolle, mit solchen und noch schöneren angefüllte
Gärten hervor; bewundert man einige schöne Vögel, so er-
blickt man sofort ganze Schaaren und d^i Himmel davon ver^
dunkelt; eine Dame sieht ganze Haufen von Sclmiuckgegen-
ständen und ganze Berge von Stoff zu ihrer Lieblingsrobe.
Wenn uns ein Ungeheuer bedroht, so sehen wir uns bald,
wohin wir uns auch wenden mögen, von Gefahren umringt,
und ein Bandit lockt die ganze Bande herbei.
Der schnelle Wechsel der Vorstellungen begünstigt das
— 149 —
Gefühlsleben, ohne es jedoch zu einer sentimentalen Ver-
tiefung kommen zu lassen. Im Traum sind wir alle Sangjui-
niker; gleichm^slg erregbar für alle Eindrücke, die sich uns
darbieten, leben wir im Augenblicke, fixiren höchst selten
eine einzelne Erscheinung, um sie selbstständig weiter zu ver-
folgen, sondern nehmen Alles hin, wie es eben kommt. Wie
das Kind schwelgt man im höchsten Glücke und kann im Augen-
blick darauf bei dem Wechsel der Eindrücke bis zu Thränen
gerührt werden ^^^). Jetzt spielt man den zärtlichsten Lieb-
haber, der sich in alle Wonnen des Gefühlslebens versenkt,
bald steigt eine andere Vorstellung auf und man fühlt die
Süssigkeit des Gedankenaustausches über ernste wissenschaft-
liche Gegenstände; man tanzt in einem Ballsaal, wo Alles nur
Freude und Heiterkeit zeigt, und sieht im nächsten Moment
einen feierlichen Leichenzug vorübergehen , der eine ernste
Stimmung veranlasst. Auch hier herrscht die Uebertreibung.
Lust und Freude erscheinen intensiver und »erlebte Gräuel sind
schwächer als das Graun der Einbildung«. Trotzdem sind die
Gefühle und Affecte für den Organismus weniger gefährlich.
Während im Wachen der Schreck bekanntlich Vielen den Tod
bringt und bei Leibnitz's Nichte die Freude über die Auffindung
der 6000 Ducaten unter dem Bett des Philosophen tödtlich wirkte,
ist noch Niemand vor Freude oder Schreck im Traum gestorben.
— Die höheren ästhetischen, sittlichen, religiösen Gefühle, Begei-
sterung für Freiheit und Vaterland bilden sich, wie Hochachtung
und Ehrerbietung, im Traume selbst nicht, da die dabei mitwir-
kenden höheren Geistesthätigkeiten zurückgetreten sind, sondern
sie sind, wenn sie vorkommen, der Nachhall der Tagestiromungen.
Das Gemüth ist überhaupt sehr oft die Basis der Träume.
Heimaths- und Liebessehnen taucht im Traume auf und der Re-
ligiöse verkehrt mit den Engeln, sieht Gott in seiner Glorie
und redet mit ihm; aber auch Zorn, Unwille und Verdriess-
lichkeit, sei es über eine erlittene Zurücksetzung, Ehrenkränk-
ung oder über Ghicanen und Intriguen feindlicher Neider macht
sich geltend. Während im Wachen das Gefühl durch die Re-
flexion wie das erste Menschenpaar bald seine Naivetät ver-
liert, sich gewissermassen schämt und verbirgt, herrscht es
hier unbeschränkt, bleibt in dem Wechsel der verschiedenen
Bilder bestehen und bestimmt den Inhalt derselben. Andrer-
— 150 —
seits bäBgt der eine Vorstellung begleitende GefOhlston von
der Beziehung derselben zu der Summe bereits erworbener
Vorstellungen ab; im Traume mangelt den einzelnen Repro*
ductionen dieser geistige Hintergrund und damit das Mass an
den sonstigen herrschenden Interessen ^^i). Femer sind die
Kdrperempfindungen , die das Gefühl mit beeinflussen, andere
geworden und damit das Gefühl uns entfremdet. Wie der
Jüngling und der Mann die Glüekseligkeit des Kindes für nich-
tig findet, weil seine Vorstellungen zahlreicher und klarer,
seine K(k*perempfindungen andere geworden sind und das Ge-
fühlsleben früherer Jahre ihm entfremdet ist, so kann sich ein
Genesener nicht in die Träume der Krankheit zurückversetzen,
während ein erneuter Krankheitsanfall dieselben wiederkehren
lässt. Daher sind die Gefühle und Affecte, welche aus der
Combination von Reproductionen unter einander und dieser mit
den aus unmittelbaren Körperempfindungen hervorgegangenen
Vorstellungen im Traume entstehen, denen des Wachens gegen-
über fremdartig und verzerrt 212) . Es ist eine bekannte Er-
scheinung; dass Scenen, welche uns im Wachen auf das tiefste
berühren würden, uns im Traume gleichgültig lassen ; etwas
Unbedeutendes aber uns mehr als billig aufregt; die Gefühle
des Traumes erscheinen dem prüfenden Verstände des Wachen-
den meist absurd und närrisch. Der aus dem Wechsel der
Vorstellungen hervorgegangene Aflect wiriit stärkend und be-
schleunigend auf denselben zurück und kann wohl das Er-
wachen herbeiführen. Der Gefühlston der unmittelbaren Em-
pfindungen des Gesichts- und Gehörssinns ist schon besprochen.
Bei normalem Gemeingefühl sind die angenehmen, bei krank-
haftem die unangenehmen Bilder vorwiegend ; doch verursacht
oft eine Störung im Organismus glänzende, prachtvolle Er-
scheinungen, die besonders durch ihre Lichtfülle sich auszeich-
nen. Die den Tod verkündenden Gestalten erscheinen weiss,
und die hellen glänzenden Lichtgestalten der Somnambulen
sowie ihre Besuche in paradiesischen, mit prachtvollen Blu-
men erfüllten Gegenden, ja fernen von Engeln bewohnten
Weltkörpern haben eine gewisse Berühmtheit erlangt, beson-
ders die der unter dem Namen »Seherin von Prevost« sehr
bekannt gewordenen Friederike Hauffe 2i3) . Mehr als der Inhalt
wirkt der Gefühlston der Vorstellungen im Traum auf die des
— 151 —
WacheiKS ein und die Stimmungen hallen lange nach. Es fin-
det ein fortwährender Kreislauf statt: die Gefühle des Tages
rufen Träume hervor und diese verstärken und vertiefen die
Gefühle.
üeber die Träume haben wir keine Macht.
Eben so wenig als wir uns durch blossen Vorsatz bestimmte
veranlassen können, vermögen wir, so lange wir nicht im Be-
sitz der Weltformel sind, über den Inhalt derselben vorher
etwas auszusagen. Es wäre dies ähnlich wie wenn wir sagen
wollten: morgen um die und die Stunde wird mir dies ein-
fallen und jener Gedanke sich in meiner Seele bilden. Zwar
sind wir bekanntlich nicht unfähig, unsere Erinnerung zu einer
bestimmten Zeit nach einem bestimmten Punkte hin zu lenken,
aber wir bedürfen dazu ausser mannigfachen Mitteln der Auf-
merksamkeit, des Vermögens, eine bestimmte Vorstellung aus
der grossen Masse der in unserer Seele vorhandenen zu fixiren
und festzuhalten. Den Vorstellungsverlauf können wir nie
willkürlich sistiren, wohl aber seine Richtung bestimmen und,
indem wir einzelne Vorstellungen länger im Auge behalten,
sie zur Klarheit erheben und die übrigen zurückdrängen, ihn
verlangsamen. Diese active Apperception aber ist im Traum
entschwunden; der Lauf der Vorstellungen lässt sich nicht
lenken wie im Wachen, sondern er folgt seinem eigenen
Willen, nämlich dem Gesetze der Beziehung der Vorstellungen
untereinander. Allerdings kann zuweilen einerseits da, wo
gewisse Vorstellungsmassen immer wiederzukehren pflegen,
z. B. bei Liebenden oder Religiösen, mit einiger Wahrschein-
lichkeit auf den Inhalt der Träume geschlossen werden,
andrerseits der Nachhall des wachen logischen Denkens den
ersten Traum nach dem Einschlafen bestimmen, so dass aus
den vorhandenen Prämissen der Schluss gezogen und dieser
als wunderbares Ergebniss des Traumes bei Vielen ein Docu-
ment für die höhere Entwickelung der Geisteskräfte abgiebt,
— allein wie diese Wahrscheinlichkeitsrechnung höchst trüge-
risch ist, da ganz andere Dinge, ja die Gegensätze im Traum
emportauchen können, so geht auch die energische Spontaneität
der Seele in den meisten Fällen schon im ersten Schlafe ver-
loren. Bereits bei der Schläfrigkeit bemerkt man ein allmäh-
liches Erlahmen der Selbstthätigkeit ; die Schlummerbilder
— 152 —
haben sich ilurer Herrschaft einzogen , und wenn sie luweilen
sich noch aufrafft^ so sind dies immer nur Lichtblitze vor und
in der völligen Finstemias. Im Traum werden die Vorstellung
gen percipirt wie im Wachen, wenn die Aufmerksamkeit sie
nicht erfasst; ihre Lebhaftigkeit erhalten sie nicht durch die
Activität der Seele, sondern durch die ihnen parallel gehenden
physiologischen Reiz-Zustände des Gehirns. Sie verweilen nicht so
lange als es dem Schläfer beliebt , sondern so lange es die ihnen
innewohnenden Gesetze der. Beziehung und die Dauer der ma-
teriellen Bedingungen es erlauben. Schnell wie sie gekommen
huschen sie vorüber und kehren sich nicht daran ^ ob der
träumende Liebhaber seine Geliebte gern noch länger gespro*
chen oder gektisst, der Zornige seinen Gegner zermalmt, der
Künstler ein herrliches Gemälde wie der Religiöse Gott , die
Engel und das Paradies noch länger angeschaut haben möchte*
Der Sprachgebrauch: »mir hat geträumt« deutet diese Passivi-
tät sehr gut an. Aehniiehes können wir beobachten bei dem
raschen Gedankengang im Rausch und der Ideenflucht der
Irrsinnigen^ wo überall physiologische Veränderungen zu Grunde
liegen. — Doch zieht sich eine in den meisten Fällen minimale,
in besonderen Verhältnissen aber gesteigerte Spannung durch
den ganzen Schlaf hindurch, welche den äusseren Reizen ent-
gegenkommt, sie steigert und dadurch das Erwachen herbei-
führt. Die Mutter erwacht bei dem leisesten Wimmern oder
Seufzen des Kindes, während alle anderen Eindrücke sie ruhig
schlafen lassen. Eines interessanten, von Brandts erzählten
Beispieles, welches eine solche innere Tendenz zeigt, wurde
schon oben Erwähnung gethan. Hat man sich am Abend vor-
her vorgenommen, ^u einer bestimmten Stunde aufzustehen,
so erwacht man gewöhnlich zu früh; erst bei Gewöhnung er-
langt man die Fähigkeit, zur bestin^mten Stunde aufzustehen,
indem das Schlagen der Uhr oder ein sonstiges Geräusch^
welches sonst nur einen Traum hervorgerufen haben würde,
den Schlaf verscheucht. Alle Personen, die Kohlschütter seinen
Experimenten unterwarf, äusserten, dass sie eine gewisse
Spannung während der ganzen Nacht nicht hätten los werden
können. Diese Spannung hat jedoch auf die Träume .selbst
keinen Einfluss und hebt die Regellosigkeit nicht auf, nur die
Eindrücke bringt sie einem Maximum näher.
— 153 —
Der rapide VorsteHungsverlauf ist der BiMniig neuer Com-
binationen günstig; man. macht oft im Traum, der überhaupt
wie viele Reizungszustände des Nervensystems das Rhythmische
und Metrische liebt, Gedichte, oder man kommt auf eine neue
philosophische Idee. Wer Neigung und Talent zur Musik hat,
componirt ein neues Stück, und der Maler findet einen neu^i
Gegenstand zu einem herrlichen Gemälde. Allein alle diese
neuen Producte sind höchst zweifelhafter Natm*. Wie der Irr*
sinnige das perpetuum mobile oder eine Idee, welche die
ganze Erdoberfläche ändern muss, gefunden eu haben glaubt,
nach der Genesung aber nicht begreifen kann, dass er solchen
Unsinn nicht sofort durchschaute, so erweist sich das herrliche
Traumgedieht, nach dem Erwachen als höchst trivial. Die
philosophische Idee, deren Tragweite wir nicht hoch genug
anschlagen konnten, ist der vollendetste Unsinn, das geistreiche
uad glänzende Aper9u platt, ja widersinnig, der köstliche Witz
höchst abgeschmackt und fade^^^j. Wir sprechen geläufig in
fremden Sprachen, von denen wir vorher nur sehr unvoUkom*
mene oder gar keine Kenntniss besassen ; am Morgen stellt sich
dann auch, wenn wir einige Phrasen davon noch im Gedächte
niss haben, heraus, dass kein Wort davon richtig ist. Wenn
Scherner sagt, dass uns »die Weichheit, der Wohlklang, d^
unmittelbare Fluss und das unwillkürlidie Auseinanderhervor«
schwellen der Reime« überrasche, nachdem wir uns am Tage
vergebens damit abgemüht (S. 283) , so gilt dies allerdings
für den Traum; andrer Ansicht aber würde man vielleicht
sein, wenn man ein solches Gedicht in demselben Wortlaute,
als man es in der Nacht gedichtet, am Morgen aufzeichnete.
Ebenso würde uns vielleicht die im Traum gehörte Musik oder
die durchwandelten Auen minder schön und himmlisch erschei-
nen, wenn wir dieselben völlig treu uns in das Gedächtniss
rufen könnten. Dies ist aber meist nicht der Fall, sondern
wir berichtigen diese Vorstellungen aus der .wachen Erfahrung
und glauben nun, es sei auch im Traum so gewesen. Deshalb
behält der Traum immer für den Künstler seine Wichtigkeit;
wenn er ihm die Ideale auch nicht unmittelbar und vollständig
liefert, so regt er doch durch seine GombinaHonen die Schöpfer-
kraft des Wachenden an, sie zu bilden und zu verwirklidien.
Es charakterisirt also den Traum eine bedeutende
— 154 —
Schwache des Unheils und des Schlusses. Zur Be-
urtbeilung und zum Schliessen gehören aus der Wirkung einer
Summe bereits erworbener Vorstellungen hervorgegangene
Gesichtspunkte, zu welchen das Gegebene in Beziehung ge-
setzt wird. Da aber die vorhandenen Yorstellungscomplexe
im tieferen Schlafe fast gar nicht und gegen Morgen nur
in einzelnen Theilen auftauchen, so wird auch das Urtheil
einseitig und schief. Man legt Gegenständen einen Werth bei^
der eigentlich ganz anderen zuzusprechen wäre, hält Triviali-
täten für Sublimitäten und bringt heterogene Dinge, deren
Vorstellungen kurz nach einander auftauchen, zu einander in
innere Beziehung. Mit Todten verkehrt man^ als ob sidi dies
von selbst verstände, wie mit Lebenden; Beattie ging sogar
einmal mit Hannibal ttber die Alpen ^^^j. Ein Andrer wohnte
einem Leichenbegängniss auf dem Dachboden bei; ich selbst
.sah Husaren auf dem Dachboden exerciren. Zuweilen wird
bei der Bildung von Schlüssen die logische Form erhalten, die
Prämissen aber sind falsch und in denselben Subject und
Prädicat gar nicht zusammengehörig, sondern aus ganz hetero-
genen Vorstellungskreisen entnommen. So bauen auch Irr-
sinnige oft auf ihren falschen Grundsätzen Urtheiie und Schlüsse
auf, die nach formaler Logik ganz richtig sind; da aber ihre
Basis, die fixen Ideen, nichtig sind, ist das ganze Gebäude
unhaltbar. Ist es auch Unsinn, so hat er doch Methode! Die
Geistesproducte des Traumes bedürfen deshalb ebenso wie die des
Rausches eine Berichtigung in der darauf folgenden Zeit. Was
die letzteren betrifft, so wussten dies die alten Deutschen sehr
wohl, die »an beiden Ufern des Rheinsa sitzend, nach Tdcitus^ Be-
richt beim Gelage beriethen und neue Pläne machten^ mit der de-
finitiven Entscheidung aber bis an den anderen Tag warteten^^^).
Da die Selbstthätigkeit der Seele im Schlaf zurückgetreten
ist und meistens nur passive Apperception stattfindet, so sind
hauptsächlich Association und Assimilation bei der
Verbindung der Vorstellungen thätig. Was ersiere betrifft,
so kommt hier besonders das Gesetz der Gleichartigkeit
zur Geltung, während die des räumlichen oder zeitlichen Zu-
sammenseins und der Aufeinanderfolge, welche man auch als
associative Gewöhnung überhaupt bezeichnet, — ersteres, wie
y. Stuart JUül richtig bemerkt ^i^), bei Künstlern, letzteres mehr
— 155 —
bei Gelehrten — im Wachen vorwalten. Begriffe^ Abstractionen,
Inductionen und alle höheren Geistesproducte j welche auf der
Association nach Gleichartigkeit beruhen, können sich jedodi
nicht entwickeln, weil die active AufmeiiLsamkeit dabei thätig
sein muss, welche hier mangelt. Die Ursache ruft uns sofort
die Wirkung, das Mittel den Zweck in das Bewusstsein. Die
Vorstellung von Bauholz, das Bild einer sdiönen im Walde
stehenden Tanne oder einer Holzaxt lässt uns den daraus oder
damit gefertigten Dachstuhl erblicken, welche die Zimmerleute
eben aufsetzen; gleich darauf tritt der Hausherr selbst auf
und verwickelt uns in ein langes Gesprach, in weldiem wir
alle Details seiner eigenen Erlebnisse und die Geheimnisse
seiner Familie erfahren. Wenn auch nur ein ganz geringes
Moment der Aehnlichkeit vorhanden ist, treten die Vorstellungen
zu einander in Beziehung; während das wache Denken bei
der Verbindung vorzugsweise die wesentlichen Merkmale be-
rücksichtigt , fasst der Traum ganz unwesentliche und dabei
von Vorstellungen aus ganz verschiednen Kreisen zusammen,
seine Gedanken erbalten dadurch oft denselben barocken Cha-
rakter wie die des Irrsinns. In absonderlichen Verbindungen
besteht freilich auch das Wesen der Thätigkeit des Genies;
während aber bei diesem, was frtther unwesentlich erschien,
sich später als wesentlich herausstellt, bleiben die Elemente
der Combinationen im Traum und Irrsinn für den vernünf-
tigen Denker unwesentlich. Andrerseits zeigt sich das phan-
tastische Schweifen der Gedanken im Wachen sowohl auf
Spaziergängen als bei der Hingabe an Schwärmereien der
mannigfachsten Art dem Traume sehr nahe verwandt. — Eine
besondere Glasse von Associationen, welche im Traume oft
vorkommen, ist noch zu erwähnen, nämlich die nach Wor-
ten. Maury träumte einmal, dass er eine pdlerinage (Pilg-
rimsfahrt) nach Jerusalem oder Mecca machte, fand sich
dann nach vielen Abenteuern, deren er sich später nicht mehr
erinnerte, beim Chemiker Pelletier; dieser gab ihm nach einem
Gespräch eine pelle (Schaufel) von Zink, die sein grosses
Schlachtschwert in einem darauf folgenden Traum bildete.
Ein Bekannter erzählte ihm, dass er sich einst im Traum im
jardin des plantes befand und dort den Reisenden Chardin
traf, welcher ihm zu seinem grossen Erstaunen den Roman
— 156 —
von Jules Janin »L'&ne mort et Ja femme gmlkytin^e« gab.
Maury selbst ging einst auf einrnr Strasse und las anf den
Meilensteinen die in Kilometern ausgedrdekten Entfernungen ,
fand sich dann plötzlich auf einem der grossen Wagen, deren
sich die Gewtb*zkrämer bedienen, und ein Mann häufte auf die
eine Wagsdiale derselben Kilo-Gewidite, um Maury zu
wägen; dann sagte ihm der Gewttrzhändler: »Sie sind nicht
in Paris, sondern auf der Inse} Gilolo«. Es folgten darauf
mehrere Bilder, in welchen er die Blume Lobelia, femer den
General Lopez, dessen beklagenswerthes Ende auf Guba er
kurz vorher gelesen hatte, sah; endlich erwachte er, indem
er eine Partie Lotto spielte ^^®). — Nach der Leetüre der Co-
moedien des Ar i Stephane s bäumte ich einst von diesen,
um aber bald auf Mephistopheles überzuspringen.
Die Assimilation übt ihre Macht besonders bei der
Verbindung gegenwärtiger innerer und äusserer schwacher
Eindrücke mit den durch sie hervorgerufenen Beproductionen.
Wir haben im vorigen Capitel viele Beispiele der Erscheinung
kennen gelernt, wo eine Erinnerung die unmittelbare Empfin*
düng verdrängt oder sieh dieselbe ganz unterthan madit: die
Vorstellung der bedrohenden Räuber^ des Ungeheuers und der
Gefahr überhaupt tritt vor der der Athembeklemmung , die
des Wassers vor der Empfindung des auf die Harnblase von
dem Inhalt ausgeübten Druckes u. s. w. in den Vordergrund.
Die eine gewisse Activität der Seele voraussetzende Ag-
glutination und Verschmelzung kommt seltener vor.
Zuweilen erblickt man eine Gegend, welche aus zwei bekann-
ten zusammengesetzt ist, und man pflegt dann am Morgen zu
sagen : mir war als ob ich an jenem Orte mich befinde , allein
es sdiien mir auch wieder ein anderer zu sein.
Die Summe aller seiner psychischen Thätigkeiten, der Ge-
danken, Gefühle und Willensbestrebungen pflegt der Mensch
unter der Einheit seiner eigenen Person, seiner Seele, seines
Ichs zusammenzufassen ; in den Wechsel äusserer und innerer
Wahrnehmungen lässt ihn das zusammenfassende, einheitliche
Selbstbewusstsein sich selbst als Besitzer aller einzelnen
fühlen. Bei der Constituirung desselben sind hauptsächlich
zwei Faotoren thätig: erstens die von uns gebildeten dauern-
den Vorstellungsreihen und Gruppen, welche sich ergeben
— 157 ~
aos den im eigwen Körper wurzelnden Bewegungsempfia-
düngen und Gemeingefttblen und den bei d^ Wiederholung
äusserer Eindrücke enisiandenen störkeren Erinnerungsbildern
sowie deren Associationen , — dann die bereits besprodiene
Aufmerksamkeit oder active Apperception. Wie nun die letz-
tere im Traiun in die passive übergeht, so ist auch die Zu«-
sammenfassung ganzer Yorsteilungs^ruppen unter wiem ein-
heitlichen Gesichtspunkt durdb die chaotische Wahrnehmung
und Erinnerung nur einzelner Elemente ders^en und deren
fortwährende Durchkreuzung gestört. In Folge dessen fühlt
sich der Mensdi nur in höchst besdiränkter Waise noch als
»loh«, als einheitlidier Besitzer aller seiner Vorstellungen; er
ist sich nicht mehr bewusst, dass alle Wahrnehmungen und
Vorstellungen die seinigen sind , sondern er setzt zuweilen
einen Theil derselben aus sich heraus, legt ihn' einrafi Anderen
bei und leidet so durch Spaltung seines Ichs eine zweite
Person, deren Inhalt seiner eigenen Persönlichkeit entsprungen,
die Fleisich von seinem Fleisch, Bein von seinem Bein ist.
Sehr häufig vernimmt der Schläfer von einer anderen Person,
sei es in Form von religiöser Offenbarung und Verkündigung,
oder in Conversation und im Examen, seine eigenen Gedanken,
und die Geheimnisse des Tages lässt der Traum durch Andere
er- und verrathen. Man versetzt sich auf die Schulbank zu-
rück und bemerkt mit Angst und Schrecken, dass beim Exa-
miniren der Nachbar immer mehr weiss und alle Fragen mit
Leichtigkeit beantwortet, mit denen man sich selbst vorher
vergebens abgemüht. So erzählt van Goens , dass er als elf-
jähriger Schüler der lateinischen Schule zu Utredit geträumt
habe, der Lehrer frage ihn nach einer lateinischen PIu*ase;
er war der erste in der Reihe und fühlte bedeutende Angst
ha*unterzukommen, da er die Antwort nicht fand ; sein Nach-
bar zeigte Ungeduld gefragt zu werden und dies steigerte
seine Angst bis zur Wuth, doch wurde die Frage vom Nachbar
beantwortet» Johmon träumte, dass er sich mit Jemandem
streite und der Gegner stets mehr Witz zeige als er selbst;
Lichtwberg vergats beim Erzählen einer Geschichte den Haupt-
umstand und wurde erst durch einen Andern daran erinnert.
Kanzri- und KMhederredner verlieren oft den Faden der Rede,
welche dann von einem Anderen zu Ende geführt wird. Noch
— 158 —
nach 26 Jahren war es van Goens unbegreiflich, wie sich die
Seele einen Mensehen fingire, der das beantworte, was sie
seihst wisse, sich aber einbilde, es nidit zu wissen. Schemer
glaubt die Sdiwierigkeit einfach durch die Annahme zu tosen,
dass hier ein Streit stattfinde zwischen der Miantasie und dem
Verstände, welchem das Problem entsprang; dass dieser letz-
tere bei der Herrschaft der Phantasie im Traum den Kttrzeren
ziehe und in Folge dessen sein Repräsentant dumm, der der
Phantasie klttger erscheine (S. 293). Ich mfkshte es jedoch
nicht für ein^n Streit der Seelenkrafte, sondern fttr einen
Wettkampf einzelner Vorstellungsgruppen halten. Wie wir im
Wachen eine gewisse Spannung und Unruhe empfinden, wenn
wir uns trotz aller Anstrengung auf etwas nicht besinnen
können, so gerathen wir im Traum in Unruhe und Affect, wenn
bei theilweisem Wiederauftauchen der Aufmerksamkeit und des
damit verbundenen Innervationsgefühls einer ins Bewusstsein
tretenden fixirten Vorstellung sich Schwierigkeiten entgegen-
setzen. Tritt dieselbe endlich in das Bewusstsein, so weicht
der Affect, und andrerseits -erscheint sie selbst fremd und dem
eigenen Ich entzogen. Maury berichtet, dass er einst mit
einem Anderen über die Unsterblichkeit der Seele im Traum
disputirte, wobei jeder entgegengesetzte GrQnde geltend machte.
Demselben passirte es zuweilen , dass ihm die zweite Person
etwas mittheilte, was er im Wachen selbst nicht zu wissen
schien. Eines Tags kam ihm das Wort »Hussidan« in Ge-
danken, von welchem er wohl wusste, dass es der Name einer
Stadt in Frankreich war, ohne dass er sich erinnern konnte,
wo die Stadt lag. Einige Tage darauf sah er im Traum eine
Person, die ihm sagte, dass sie von Mussidan komme. Er fragte
sie, wo diese Stadt läge; sie antwortete, es sei der Cantonsort
des Departement der Dordogne. Der Traum war Maury beim
Erwachen noch vollkommen gegenwärtig, doch wusste er
durchaus nicht, ob die Person im Traume das Richtige gesägt
oder nicht, schwebte vielmehr in dieser Hinsicht noch in der-
selben Ungewissheit als frtther. Als er aber ein geographisches
Wörterbuch nachschlug, fand sich zu seinem Erstaunen die
Bestätigung der Aussage. Zu einer anderen Zeit, als er die
englische Sprache studirte und sich gerade mit den Zeitwörtern
beschäftigte, träumte er, däss er englisch zu Jemand sagen
— 159 —
wollte, er habe ihm Tags zuvor einen Besuch abgestattet, und
dies so ausdrückte: »I called for you yesterday«, worauf ihm
dieser entgegnete: »Sie drücken sich unrichtig aus, es muss
heissen: I called on you yesterday«. Der Traum war Maury
ebenfalls noch vollkommen in der Erinnerung ; er griff sogleich
nach einer englischen Grammatik, die auf einem Tische neben
seinem Bette lag, und fand, dass die Person ganz Recht hatte ^^^j.
In allen diesen Fällen steigt eine Vorstellung, die während
des Tages unbewusst in der Seele schlummerte, über die
Schwelle des Bewusstseins. Besonders deutlich zeigt sich dies
in Offenbarungs- und todes verkündenden Träumen. In diesen
hat die zweite Person gewöhnlich den Charakter des Religiös-
Eriiabenen und spricht in Ehrfurcht erweckendem Tone; der
Schläfer selbst lauseht in Ehrerbietung und Staunen und ant-
wortet bescheiden. Augustin erzählt in einem seiner Briefe 2^),
dass ein berühmter Arzt seiner Zeit, Gennadius, in der Jugend
bei allem christlichen Sinn Zweifel über die Unsterblichkeit
der Seele gehegt habe. Im Traume erschien ihm nun ein
Jüngling, der, hellglänzend und mit ehrfurchteinflössendem An-
sehen, ihm zu folgen befahl. Sie kamen in eine Stadt und
hörten dort Töne eines äusserst lieblichen Gesanges. Auf Be-
fragen sagte der Jüngling, es seien Lobgesänge der Seligen
und Heiligen im Himmel. In einer anderen Nacht erschien
dieselbe Gestalt wieder und fragte Gennadius, ob er sie kenne ;
dieser bejahte und erzählte zur Bestätigung seinen vorigen
Traum. In Krankheiten, zuweilen auch bei blosser Alters-
schwäche kommt die Störung im Organismus und die sich vor-
bereitende Auflösung des Lebens im Traume zum Bewusstsein
und der Schläfer hört durch eine fingirte Person seinen Tod,
oft bis auf Tag und Stunde genau, voraussagen: so soll Chri-
stian III., König von Dänemark, seinen Tod acht Tage zuvor
durch einen weissgekleideten Mann im Traume erfahren haben.
Bei der Spaltung der Persönlichkeit wird der Zusammenhang
der zweiten Person mit dem Träumenden am meisten klar in
den Fällen, wo man sich selbst als Subject und Object fühlt.
So sagte eines Tages ein Bekannter voll Verwunderung zu mir,
man träume doch manchmal »närrisches Zeug«; vergangene
Nacht habe er sich selbst im Sarg liegen sehen und sich als
todt beklagt. Ein Analogen im Wachen bildet dazu das zweite
— 160 —
Gesicht (second sight), wie es besonders in Schottland vor*
kommt und wie es aus der oft angeführten Hallucination G^thes^
der auf der Rückreise von Sesenheim sich selbst im hechtgrauen
Rock begegnete, bekannt ist.
Neben der Zusammenfassung ist eine Hauptthätigkeit
des Bewusstseins die Trennung. Der Mensch trennt die
Vorstellungen von einander und unterscheidet in der Gesamn^t-
beit seiner psychischen Thätigkeiten die dauernden Yorstel-
lungsgruppen von den einzelnen wechselnden Eindrücken; so
erhält das Ich die Macht, ordnet mit Hülfe der Aufmerksam-
keit die einzelnen Vorstellungen nach gewissen Gesichtspunkten
in bestimmte Kreise ein und hält sie von den ihnen der Art
nach verschiedenen fem. Ebenso erkennt er den Unterschied
zwischen den schwachem Erinnerungsbildern und den stärkeren
gegenwärtigen Empfindungen einerseits^ sowie bei diesen letz-
teren zwischen denen des eigenen Organismus und den von
aussen kommenden andrerseits. Dadurch lernt er seinen Kör-
per den ihn afficirenden Aussendingen und sein Ich als die
Summe der KOrperempfindungen und der psychischen Thätig-
keiten überiiaupt anderen Wesen, denen er eine von seinen
Empfindungen und Vorstellungen unabhängige Wirklichkeit
nach Art der eigen^i zugesteht, gegenüberzustellen. Wenu
wir auch nicht in jedem Falle klar erkennen, was nur unsere
subjective Vorstellung ist und was dem äusseren Objecte selbst
an sich zukommt, so weiss doch Jeder im wachen, gesunden
Zustande, dass eine blosse Erinnerung etwas Anderes ist als
das wirkliche Anschauen und Hören in der Gegenwart, und
in den meisten Fällen vermögen wir die Producte der Einbil-
dungskraft von der Wirklichkeit zu trennen. Anders ist es im
Traum und im Wahnsinn , wo die Steigerung der centralen
Reizbarkeit den Producten der Phantasie eine Lebhaftigkeit
verleiht, wie sie sonst nur unmittelbare Eindrücke besitzen,
und wo die Selbstthätigkeit der Seele zurücktritt. Hier halten
wir alles für wahr, was die Einbildungskraft uns vors^negelt;
Vergangenes glauben wir nicht in der Erinnerung, sondern
in Wirklichkeit noch einmal zu durchleben, die Hoffnungen
und Wünsche erscheinen nicht nur ideale in Gedanken, son-
dern auch in der Wirklidikeit erfüllt. Wir meinen in Wahrheit
himmlische Musik zu hören und uns in paradiesischen Gegen-
— lei-
den zu befinden ; der Hauber würde uns nicht so viel Angst
einjagen, wenn wir ihn nicht für wirklich hielten^ und der
Liebende geniesst nur dadurch das höchste Glück, dass er kein
Phantom, sondern die Geliebte in Fleisch und Blut in den Ar-
men zu halten glaubt. Die Vorstellungen, deren Intensität bei
der engen Begrenzung des Bewusstseins im Traum noch mehr
gesteigert erscheint, werden nach aussen versetzt, und in die-
sem täuschenden »Wacfasfigurenkabinet« glaubt der Schläfer un-
ter lebenden Wesen und wirklichen Dingen zu verkehren; er
lässt sich täuschen wie durch die Mährchen die Jugend, wo
die Seele sich gern mit dem beschäftigt, was Reiz gewährt,
ohne dass es wahr ist. Wenn wir uns im Wachen dem freien
Spiele der Associationen überlassen, so sind wir auch, nach-
dem eine Anzahl von Vorstellungen an uns vorbeigerollt, ohne
dass die Aufmerksamkeit sie fixirte, geneigt, sie für wirklich
zu hallen ; dies letztere geschieht jedoch nur in den seltensten
Fällen, da die Erinnerungen nicht ganz die Stärke unmittel-
barer Eindrücke besitzen und wir die Fähigkeit haben, uns
sofort an der Aussenwelt zu orientiren. Im Traum dagegen
wirken immer nur einzelne Eindrücke von aussen mit, denn
erscheinen sie in höherem Grade combinirt, so führen sie das
Erwachen herbei; sie haben keine grössere Intensität als die
Erinnerungen und sind nicht im Stande, die Aufmerksamkeit
des Schläfers und sein Selbstbewusstsein zur Reaction aufzu-
fordern. Dieser ignorirt die wirkliche Aussenwelt, in welcher
er sich nicht zu orientiren vermag, und constauirt sich eine
neue aus seinen eigenen Vorstellungen : im Wachen haben wir
alle eine gemeinsame Welt, im Schlaf hat jeder seine eigene,
lautete ein Ausspruch Heracltfs, und Fichte hatte die Ansicht,
dass die Traumgebilde vom individuellen Subject, die Vorstel-
lungsgebilde der wirklichen Welt aber von der Gattungs- oder
Menschheits-Person, dem absoluten Ich producirt würden. Der
Träumende führt selbst ein Drama auf, in welchem er Spieler
und Zuschauer zugleich ist. Erst am Morgen kurz vor dem
Erwachen, wenn mehrere Eindrücke der Aussenwelt combinirt
empfunden, die Situationen affectvoller werden und die höheren
Geistesthätigkeiten wieder auftauchen, weiss man sich zuweilen
aus aller Noth und Bedrängniss dadurch zu retten, dass man
Alles für einen Traum und Humbug erklärt ^^).
Rade stock, Schlaf n. Traum. \l
— 162 —
Der Begriff der Gausalität wird im Traum nicht veroidi-
tet, sondern nur falsch angewendet , obgleich der Schläfer
nicht »bewusst und abstract«, wie Volkelt sagt, sondern wie
ein Kind; das von der Wichtigkeit des Causalitätsbegriffes noch
Nichts gehört, mit ihm operirt. Wie in den einzelnen Scenen
die Wirkung aus der Ursache in Gemässheit der Associations-
gesetze hervorgeht, so nimmt der Träumende nicht minder als
der Wachende an, dass seinen Empfindungen und Vorstellungen
etwas ausserhalb entsprechen müsse; da ihm jedoch die Un-
terscheidung zwischen objectiven Eindrücken und subjectiven
Empfindungen fehlt, so legt er beiden Realität zu Grunde und
erschafft sich aus wenigen unmittelbaren Empfindungen und
vielen Erinnerungsbildern eine neue Welt; er projecirt seine
Subjectivität hinein und schaut sie dann als etwas Selbständig
ges an. Ja wir fühlen oft den starren Eigensinn derselben
und erfahren, dass unsere Traumumgebung unserer Willkür
nicht gehorcht. Der Naturmensch hat noch nach dem Erwachen
die Ansicht, Alles wirklich erlebt zu haben, der cultivirte da-
gegen pflegt beim Erzählen der Träume zu sagen: »Mir schien
es, als ob es so wäre« 222J ,
Der Schläfer versetzt die Gegenstände in Raum und Zeit,
und die Seele fühlt in dieser Hinsicht ihre Schranken nicht
weniger als im Wachen. Es braucht nach dem Vorhergehen-
den wohl kaum näher ausgeführt zu werden, dass, wenn wir
von dem entferntesten Gegenden und Ländern träumen, un-
sere Seele ni^t etwa wirklich sich dort befindet ^23) ^ wie
Manche annehmen, ebensowenig wie sie in die graue Ver-
gangenheit zurück oder voraus eilt, um zu schauen, was ihr
im Wichen versagt war. Die Scenen spielen an den ver-
schiedensten Orten und wechseln mit rapider Schnelligkeit
ihren Schauplatz, aber stets ist der Raum, den man überblickt,
eng, die Umgrenzung dunkel und die Unterscheidung der ein-
zelnen Distancen schwach. Das Bewusstsein der Zeit ist bei
der zerstückten Erinnerung in hohem Grade verändert und
umfasst trotz der grossen Mannigfaltigkeit immer nur einige
Momente zugleich. Wir unterscheiden nach der rein succes-
siven Association der Vorstellungen, ohne reflectirend zu ver-
gleichen, zwischen früher und später, zwischen Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft, vermögen uns aber nicht die Ereig-
— 163 —
nisse ihrer ganzen Länge und I>auer naeh vorzustellen; hei
einer Reise tauchen die Vorstellungen der einzelnen Anleite-
punkte und der inzwischen verOassenen Zeit nur der Reihe
nach auf. Das Gleichzeitige und Gleichräumliche kommt uns
auch nur rein associativ durch das Gesetz der Coexistenz zum
Bewusstsein.
Nachdem wir somit den Zustand der einzelnen Greistes-
kräfte im Schlaf betrachtet hal>en, können wir übergehen zu
der Erörterung, ob dem Menschen seine Traumgedanken zuzu-
rechnen sind, oder nicht. »Quel n^a pas 6t6 le sort des ali^n^s !
On les a battua, emprisonn^s, enchain^s, brül6s, on les a con-
sult^s comme des oracles, honoris comme des dieux« (»Was
haben die Geisteskranken nicht für Schicksale gehabt I Man
hat sie gegeisselt, eingekerkert, gefesselt, verbrannt; man hat
sie um Rath gefragt wie Orakel, geehrt wie Götter«) — ruft
Leuret aus, und das Gleiche könnte man von denen sagen, die
bedeutungsvolle Träume hatten. Ein römischer Kaiser Hess
einen seiner Unterthanen, der geträumt hatte, dass er dem
Kaiser den Kopf abschlüge, hinrichten, indem er sagte, dass,
wer so etwas träume, auch derartige Gedanken im Wachen
haben müsse. Ohne auf ähnliehe düstere Anschauungen man-
cher Sittenlehrer alter und neuerer Zeit 22*) ^ nach welchen man
am Ende jeden einzelnen Menschen dafür verantwortlich ma-
chen müsse, dass in ihm eine gewisse Anlage zum Verbrecher
liegt, welche die Erziehung und das eigene sittliche Bewusst-
sein niederhielt, — führe ich aus der eigentlichen Traumlite-
ratur die etwas mildere Ansicht HildebrancPjs an, welcher dem
Menschen für jede im Traum begangene Sünde ein Minimum
von Schuld zusprechen will, da sich keine Traumthat denken
lasse, »deren erstes Motiv nicht irgendwie als Wunsch, Gelüst,
Regung vorher durch die Seele des Wachenden gezogen
wärea,225). Er folgt der Meinung PkUo's, dass ein Vollkom-
mener nie etwas Unreines träumen würde. Je reiner das Le-
ben, desto reiner sei der Traum, je unreiner jenes, desto un-
reiner dieser. VolkeU macht gegen die Bemerkung Schopen--
hauer^Sj dass Jeder im Traum seinem Charakter gemäss handle
und rede, den richtigen Einwurf, dass, wenn dies richtig
wäre, Jedermann sich für ein höchst schamloses, unsittliches
und verrücktes Individuum erklären müsse (S. 22), und schon
11*
— 164 —
Kant sagt, dass im Schlafe Dinge vorkommen, die von unsere
sonstigen Denkart himmelweit verschieden sind^^^^). Es ist su
berücksichtigen, dass die Associationen im Traume ablaufen
und die Vorstellungen sich verbinden, ohne dass Reflexion und
Verstand, ästhetischer Geschmack und sittliches Urtheil etwas da-
bei vermögen; das Urtheil ist höchst schwach und es herrscht
ethische Gleichgültigkeit vor. Andrerseits ist es auch nicht voll-
ständig richtig, wenn Kant meint, der Traum sei wohl^dazu da,
um uns die verborgnen Anlagen zu entdecken und zu offenba-
ren, nicht was wir sind, sondern was wir hätten werden kön-
nen, wenn wir eine andere Erziehung gehabt hätten ^27]. Dies
ist zwar sehr oft in Folge des Emporsteigens dunkler Vorstel-
lungen der Fall, gilt aber nicht für jeden Traum. Man beachtet
dabei nicht die zahlreichen Erscheinungen, wo eine reproducirte
Vorstellung mit einer gegenwärtigen , oder Reproductionen ganz
verschiedaier Vorstellungskreise unter einander sidi zu einem
Ganzen verbinden und dadurch oft Dinge, die man von dem
schlechtesten Menschen las oder h^te, auf das eigene Ich bezo-
gen werden. Wenn Jean Paul meint, dass Vorstellungen von Hö-
rensagen, welche man nicht selbst erlebt, im Traume nicht auf-
tauchen *^^^) , so ist dies ein Irrthum. Man hat äusserst zahlreiche
Beispiele, dass nach der Leetüre oder Unterhaltung von einem
begangenen Mord oder einer anderen Schandthat irgend ein Ge-
fühl des Unbehagens den Schläfer nöthigt, sich dasselbe durch
die Erinnerung des Mordes zu erklären ; er wird wegen des Ver-
brechens von Häschern verfolgt, und wenn er zuweilen sich
auch für unschuldig hält, fühlt er in manchen anderen Fällen
doch die Last der Uebelthat und fürchtet sich ungeheuer vor
der Strafe. Ein des Mordes, Diebstahls oder irgend eines Ver-
brechens unschuldig Angeklagter kann in Folge der vorherge-
gangenen Verhöre einen äusserst lebhaften Traum haben, in
welchem er sich als Thäter fühlt und alle Einzelheiten der
That durchmacht, ja sie im Affect laut erzählt, ohne dass dies
ein stricter Beweis für seine Schuld wäre.
Schon die bei stärkerer örtlicher Beizung entstandenen
erotischen Träume lassen oft die Anwendung eines scharfen
sittlichen Maassstabes unzulässig erscheinen. Man ist im Schlaf
weder vollständig ein Cato, noch ein Plato. — Mit Recht macht
Sputa darauf aufmerksam , dass Manche durch die Befriedigung
— 165 —
der Begierde» den Reiz ausidsen, während das bd stttlichen
Naturen nicht der Fall ist^^^). Der unreine Gedanke, durdi
dunkle Organempfindungen, besonders in der Pubertätsperiode
aber aueh später sehr oft, hervorgerufen, sueht fortwährend
sieh geltend zu machen, wird aber immer wieder niederge*
drückt so lange das Selbstbewusstsein thätig ist, schwindet
dieses ; so taucht er mit verstärkter Macht auf und das Unbe-
stimmte wird phantastisch in den kühnsten Bildern ausge-
deutet. Ein im Wachen ganz sittlicher Mensch kann von Din-
gen träumen, über die er sich später selbst entsetzt; die
sporadische Erinnerung vermag nidii die Menge von Vorstel-
lungen geordnet in das Bewusstsein zu rufen, die ein Urtheil
ermöglichen, der rapide Verlauf beschränkt die Dauer ihres
Verharrens auf demselben Klarheitsgrade noch, und die Ge-
danken und Handlungen entziehen sich dem Forum eines stren-
gen Richters. Wie dem Irrsinnigen, der unter dem Zwange
eines kranken Bildungsprocesses des Körpers und der Seele
steht, oder dem an Fieberparoxismus Leidenden seine Gedanken
nicht zurechenbar sind, so ist auch der Schläfer nicht für seine
sonderbaren Träume verantwortlieh zu machen. Wir können
nicht mit Pfaff sagen : »Erzähle mir eine Zeitlang deine Träume
und ich will dir sagen, wie es um dein Inneres stehto, denn
»Wir sind nicht wir,
Wenn die Natur, im Druck, die Seele zwiBgt
Zu leiden mit dem Körper «230).
Bei manchen Verbrechern haben lebhafte Träume den ersten
Gedanken an die Unthat angeregt ^ und am Tage verhinderten
körperliehe und geistige Störungen das sittliche. Urtheil, den-
selben niederzudrückend^^). Auch kann es geschehen, dass
ein im Traum gefasster Vorsatz eine Leibesbewegung veran-
lagst, die ihrerseits Veränderungen in der Aussenwelt bewirkt,
welche von dem Traumvorsatze völlig abweichen; eine Mutter
hat z. B. den Traum, ihr Haus brenne, sie wirft ihr Kind,
um es zu retten, zum hohen Fenster hinaus, wodurch es in
Wiritlichkeit zerschmettert wird und stirbt; oder es träumt
Jemand, sein Schlafkamerad wolle ihn ermorden und miss-
handelt ihn in Folge dessen aus Nöthwehr. Hoffbauer erzählt
einen Fall, wo in Schlesien ein Mann^ welcher in einem Wagen-
schuppen schlief, um Mitternacht aufwachte und eine Gestalt
— 166 —
auf sich zu kommen sah. Als dieselbe auf seinen Zuruf nicht
antwortete, ergriff er sofort eine Aict und schlug die Gestalt
in der Schlaftrunkenheit nieder. Durch das Stöhnen erweckt
und zur Besinnung gebracht erkannte er, dass er seine Frau,
welche in demselben Schuppen schlief, erschlagen hatte. Ein
anderer Fall dieser Art, wo ein französischer Edelmann seinen
Bruder, den er mit der Pistole in der Hand bewachte, durch
ein Traumbild erschreckt, erscboss, erregte im vorigen Jahr-
hundert allgemeines Aufsehen.
Der Zurechenbarkeit näher stehen jene Fälle, wo ein im
normalen Zustande ^efasster Vorsatz während des anormalen
ausgeführt wird. Gundisalve, ein spanischer Schulmeister,
pflegte des Nachts im Schlafe die Kinder zu lehren, sie zu
schelten und zu singen, als ob er Schule hielte. Ein Kloster-
bruder, welcher mit ihm in einer Kammer schlief, drohte, ihn
mit der Ruthe zu peitschen, wenn er des Nachts nicht ruhig
wäre. Da stand der Schulmeister in einer Nacht auf und stiess
eine grosse Scheere einige Mal in das Kissen seines Gefährten,
der ihn glücklicherweise, noch wachend, hatte kommen sehen
und sich rettete. Von einem anderen Nachtwandler wird er^
zählt, dass er mit dem Degen an der Seite über die Seine
schwamm und denjenigen ums Leben brachte, den zu morden
er sich wachend vorgenommen hatte. Ein Seiler in Halle er-
mordete während des Schlafwandels seine Geliebte, mit welcher
er sich wenige Tage zuvor entzweit hatte. Hennings^-^^) er-
zählt einige Beispiele, wo Leute sieh für Nachtwandler aus-
gaben, theils um Mitleid zu erregen, theils um sich ein Ansehen
und den Schein der Heiligkeit zu geben — so predigte ein
Jesuit jede Nacht mit grosser Gelehrsamkeit im Schlafe, —
theils endlich, um der Liebe Opfer zu bringen. »Auch fehlt es
nicht«, sagt er^ »an Beispielen solcher Personen, welche, um
den Zweck ihrer Neigung zu erreichen , die Larve der Nacht-
wandler angenommen haben. Dahin gehört jener Bauer, der
zu Aussig in Böhmen oft des Nachts aus Aem Bette stieg, die
Treppen auf- und abging und dabei die Magd im Hause fleis-
sig besuchte, so dass nach neun Monaten ein lebendiger Er-
folg dieser Besuche zum Vorschein kam«.
Ein Schutzmittel gegen den zu grossen Einfluss der ba-
rocken, ja gefährlichen Gedanken des Traumes auf das wache
— 167 —
geistige Leben besitzen wir in der leichten YergessHch-
keit derselben. Schon als Gymnasial-Primaner fand ich es
bei der Lectttre der Ilias nicht recht mit der Erfahrung Über-
einstimmend , wenn Homer schildert, wie Agamemnon und
Achilles sich aller Einzelheiten der in der Nacht gehabten
Träume am Morgen erinnern und die darin erhaltenen Winke
und Befehle .richtig ausführen. An einige Träume erinnert
man sich, an andere nur verworren, an dritte gar nicht, be-
sonders wenn man darüber wieder einschläft ; haben sie meh-
rere Scenen gebildet, so verwischt sich meist in» der Erinnerung
die Reihenfolge derselben. Zuweilen sagt uns nur ein sanftes
Nachklingen, dass wir geträumt haben, ohne dass wir uns be-
sinnen können, was; man spricht häufig im Schlaf, weiss
aber am Morgen nichts mehr davon und wundert sich, wenn
Andere es wollen gehört haben. Burdach ^ der von seinem
zehnten bis gegen das dreissigste Lebensjahr von Zeit zu Zeit
Anfalle von Schlafwandel bei sonst vollkommener Gesundheit
hatte, sagt von sich selbst : » Ich habe während dieses Zustan-
des Handlungen vorgenommen, die ich blos deshalb als die
meinigen anerkennen musste, weil sie von niemand Anderm
konnten vollzogen sein; so war es mir eines Tages unbegreif-
lich, als ich beim Erwachen bemerkte, dass ich kein Hemd
anhatte , und so blieb es trotz der grössten Anstrengung mich
zu besinnen, bis das Hemd in einem andern Zimmer zusammen-
gerollt unter einem Schranke versteckt gefunden wurde. Ein-
mal wurde ich im Schlafwandel durch die Frage geweckt,
was ich suche? Mein erster Gedanke war, ich dürfe es nicht
verrathen ; in demselben Augenblick aber fragte ich mich
selbst, was ich denn gewollt und nun zu verschweigen habe,
und strengte mich an die Erinnerung zu finden, aber vergeb-
lich«. Am meisten haften im Gedächtniss die dem Morgen zu-
nächst liegenden, die entfernteren bedeckt mehr oder minder
dichte Finsterniss; auch bleiben diejenigen länger haften,
deren Vorstellungen in Folge der sich aus den Situationen ent-
wickelnden Affecte eine grosse Lebhaftigkeit und Gefühlswärme
besassen. Ja, gerade das Barocke und Bizarre ist es oft, was
ihre Wirkung beharrlicher macht: alles Ungewöhnliche, un-
geheuerlich« erregt am meisten unser Interesse, und das
Sonderbare, Fremdartige merken wir eher als das, was uns
— 168 —
gleichgiltig lässt. Deshalb behalten wir meist gerade die
Träume^ welche ihrem Inhalte und ihrer Form nach am wei-
testen vom wachen Denken und der wirklichen Welt abweichen.
Schon der Säugling träumt, aber erst um das siebente Jahr
fängt, wie Burdach bemerkt, das Rind an, seine Träume zu
erzählen, während sie früher spurlos (oder besser erinnerungs-
los] vorübergingen; auch sind dieselben in solchem Alter
äusserst lebhaft und man hat Beispiele, wo Träume der Kind-
heit während des ganzen Lebens nachhallten. — Die Gründe
für die schnelle upd leichte Yergesslichkeit sind theils physio-
logischer, theils psychologischer Natur. Da die Traumvorstel-
lungen veränderten organischen Bedingungen ihre Entstehung
und ihren speciellen Charakter verdanken, so können sie
eigentlich auch nicht mehr bestehen , wenn diese nicht mehr
vorhanden sind oder wenigstens, wie Siebeck meint (S. 42),
nur so lange, als der Reizzustatid des Gehirns in das Wachen
noch hineinreicht. Kehrt dieselbe physiologische Disposition
wieder, so erscheinen auch die Vorstellungen aufs Neue;
häufig erinnert man sich an Träume, die man am Tage ver-
gessen hatte, in der folgenden Nacht wieder, wie das von
Augustin berichtete, oben angeführte Beispiel des Jünglings
Gennadius zeigt. Bekanntlich setzen Somnambulen die unter-
brochenen Reisen in fernen Welten bei erneuten Anfällen fort,
erinnern sich alles Vorhergegangenen und ihre Berichte setzen
oft in demselben Zeitmomente ein, wo die früheren Erschein-
ungen aufhörten. Aehnliche Beobachtungen hat man ati Nacht-
wandlern gemacht, die während des Tages absolut nichts mehr
von ihren seltsamen Wanderungen wussten. So erfuhr ein
Freund Burdach' s eines Morgens, dass seine Gattin in der letz-
ten Nacht auf dem Kirchdache gesehen worden sei ; als er sie
im Mittagsschlafe leise, den Mund gegen ihre Herzgrube ge-
richtet, nach ihrer Wanderung fragte, stattete sie einen voll-
ständigen Bericht ab und erwähnte unter Anderem, dass. sie
an einem Nagel auf dem Kirchdache sich den Ballen des linken
Fusses verwundet habe; nach dem Erwachen bejahte sie mit
Befremdung die Frage, ob sie an der bezeichneten Stelle
Schmerz empfinde, und konnte sich, als sie die Wunde fand,
nicht erklären, wie sie entstanden sei.
Deshalb lassen die Vorstellungen, trotzdem sie sämmtllch
— 169 —
sehr lebhaft zu sein scheinen, keine Wirkung zurück, die zu
dieser Intensität im Verhältniss stände; dieselbe ist nur mo-
mentan wie ihr Auftauehen selbst. Da sie zumeist aus den
sonst unter der Schwelle des Bewusstseins liegenden hervor-
gegangen, ist es nicht zu verwundern, wenn sie von den
stärkeren des Wachens wieder unter diese Schwelle hefabge-
drttckt werden. Träumen wir aber mehrere Male dasselbe,
so gewinnen sie durch Wiederholung eine stärkere Kraft, er-
regen das Interesse und haften im Gedächtniss.
Ferner lässt das Ungewöhnliche und Sonderbare ihrer Ver-
bindungen sie schnell vergessen ; sie treten selten ganz einzeln
auf, meist in bizarrer Zusammensetzung, die dem wachen
Denken zu fem liegt, als dass hier ein Eindruck die Repro-
duction einer ganzen Reihe von Traumvorstellungen veran-
lasste. Was hier verbunden, ist dort getrennt und was uns
hier heterogen und einander schlechthin ungleich erscheint,
wird dort verknüpft. Es ist nicht richtig, was Schleiermacher
sagt: »Das ist gewiss ein sehr seltener Fall, dass man sich
später erst eines Traumes erinnern sollte, dessen man sich
nichts gleich beim Erwachen erinnert hätte« 233j^ denn zuweilen
erfahren wir im Laufe des Tages etwas Aehnliches in gleicher
oder ähnlicher Beziehung, dann vermögen wir uns auch einzelner
Traumscenen zu erinnern, ohne sie jedoch gewöhnlich lange zu
behalten. Dazu kommt bei den Meisten eine specielle Interesse-
losigkeit für die Paradoxien des Traumes. Der energische,
den Tagesinteressen sich widmende Praktiker bekümmert sich
nicht um solche Faseleien ; sie gehen verloren ebenso wie die
Geschichte, die man uns aufdrängte und die ohne Zusammen-
hang oder uninteressant war. Vermehrt man das Interesse,
so steigert sich auch die Erinnerungsfähigkeit; es ist bekannt,
dass man Kinder, so zu sagen, an das Träumen gewöhnt,
wenn man ihnen erlaubt, ihre Träume zu erzählen, und führt
man bei methodischer Erforschung dieser Geheimnisse ein Ver-
zeichniss, so sind die Träume meist am Morgen noch im Ge-
dächtniss und zur Notiz geeignet.
— 160 —
Gesicht (second sight), wie es besosders in Schottland vor-
kommt und wie es aus der oft angeführten Hallucination G^theSj
der auf der Rückreise von Ses^i^heim sich selbst im hechtgrauen
Rock begegnete, bekannt ist.
Neben der Zusammenfassung ist eine Hauptthätigkeit
des Rewusstseins die Trennung. Der Mensch trennt die
Vorstellungen von einander und unterscheidet in der Gesamn^t**
heit seiner psydiischen Thätigkeiten die dauernden Yorstel-
lungsgruppen von den einzelnen wechselnden Eindrücken; so
erhält das Ich die Macht, ordnet mit Hülfe der Aufmerksam-
keit die einzeln^i Vorstellungen nach gewissen Gesichtspunkten
in bestimmte Kreise ein und hält sie von den ihnen der Art
nach verschiedenen fem. Ebenso erkennt er den Unterschied
zwischen den schwachem Erinnerungsbildern und den stäriceren
gegenwärtigen Empfindungen einerseits^ sowie bei diesen letz*
teren zwischen denen des eigenen Organismus und den von
aussen kommenden andrers^ts. Dadurch lernt er seinen Kör-
per den ihn afficirenden Aussendingen und sein Ich als die
Summe der KOrperempfindungen und der psychischen Thätig*
keiten überhaupt anderen Wesen, denen er eine von seinen
Empfindungen und Vorstellungen unabhängige Wirklichkeit
nach Art der eigenen zugesteht, gegenüberzustellen. Wenn
wir audi nicht in jedem Falle klar erkennen, was nur unsere
subjective Vorstellung ist und was dem äusseren Objecto selbst
an sich zuk<»nmt, so weiss doch Jeder im wachen, gesunden
Zustande, dass eine blosse Erinnerung etwas Anderes ist als
das wirkliche Anschauen und Hören in der Gegenw^art, und
in den meisten. Fällen vermögen wir die Producte der Einbil-
dungskraft von der WiiUichkeit zu trennen. Anders ist es im
Traum und im Wahnsinn , wo die Steigerung der centralen
Reizbarkeit den Producten der Phantasie eine Lebhaftigkeit
verleiht, wie sie sonst nur unmittelbare Eindrücke besitzen,
und wo die Selbstthätigkeit der Seele zurücktritt« Hier halten
wir alles für wahr, was die Einbildungskraft uns vorspiegelt;
Vergangenes glauben wir nicht in der Erinnerang, sondern
in Wii^lichkeit noch einmal zu durchleben, die Hoffnungen
und Wünsche erscheinen nicht nur ideal^ in Gedanken, son^
dem auch in der Wirklichkeit erfüllt. Wir meinen in Wahrheit
himmlische Musik zu hören und uns in paradiesischen Gegen-*
— 161 —
den zu befinden ; der Räuber würde uns nicht so viel Angst
einjagen, wenn wir ihn nicht für wirklich hielten^ und der
Liebende geniesst nur dadurch das höchste Glück, dass er kein
Phantom, sondern die Geliebte in Fleisch und Blut in den Ar-
men zu halten glaubt. Die Vorstellungen, deren Intensität bei
der engen Begrenzung des Bewusstseins im Traum noch mehr
gesteigert erscheint, werden nach aussen versetzt, und in die-
sem täuschenden »Wachsfigurenkabinet« glaubt der Schläfer un-
ter lebenden Wesen und wirklichen Dingen zu verkehren; er
lässt sich täuschen wie durch die Mährchen die Jugend, wo
die Seele sich gern mit dem beschäftigt, was Reiz gewährt,
ohne dass es wahr ist. Wenn wir uns im Wachen dem freien
Spiele der Associationen überlassen, so sind wir auch, nach-
dem eine Anzahl von Vorstellungen an uns vorbeigerollt, ohne
dass die Aufmerksamkeit sie fixirte, geneigt, sie für wirklich
zu halten ; dies letztere geschieht jedoch nur in den seltensten
Fällen, da die Erinnerungen nicht ganz die Stärke unmittel-
barer Eindrücke besitzen und wir die Fähigkeit haben, uns
sofort an der Aussenwelt zu orientiren. Im Traum dagegen
wirken immer nur einzelne Eindrücke von aussen mit, denn
erscheinen sie in höherem Grade combinirt, so führen sie das
Erwachen herbei; sie haben keine grössere Intensität als die
Erinnerungen und sind nicht im Stande, die Aufmerksamkeit
des Schläfers und sein Selbstbewusstsein zur Reaction aufzu-
fordern. Dieser ignorirt die wirkliche Aussenwelt, in welcher
er sich nicht zu orientiren vermag, und constauirt sich eine
neue aus seinen eigenen Vorstellungen : im Wachen haben wir
alle eine gemeinsame Welt, im Schlaf hat jeder seine eigene,
lautete ein Ausspruch HeracliVs^ und Fichte hatte die Ansicht,
dass die Traumgebilde vom individuellen Subject, die Vorstel-
lungsgebilde der wirklichen Welt aber von der Gattungs- oder
Menschheits-Person, dem absoluten Ich producirt würden. Der
Träumende führt selbst ein Drama auf, in welchem er Spieler
und Zuschauer zugleich ist. Erst am Morgen kurz vor dem
Erwachen, wenn mehrere Eindrücke der Aussenwelt combinirt
empfunden, die Situationen aflfectvoller werden und die höheren
Geistesthätigkeiten wieder auftauchen, weiss man sich zuweilen
aus aller Noth und Bedrängniss dadurch zu retten, dass man
Alles für einen Traum und ttümbug erklärt ^^).
Badestock, Schlaf u. Tranm. H
— 160 —
Gesicht (second sight), wie es besonders in Schottland vor*
kommt und wie es aus der oft angeführten Hallucination Gaethes^
der^ auf der Rückreise von Sesenheim sich selbst im hechtgrauen
Rock begegnete, bekannt ist.
Neben der Zusammenfassung ist eine Hauptthätigkeit
des Rewusstseins die Trennung. Der Mensch trennt die
Vorstellungen von einander und unterscheidet in der Gesanin^i-
heit seiner psychischen Thätigk^ten die dauernden Vorstel-
lungsgruppen von den einzelnen wechselnden Eindrücken; so
erhalt das Ich die Macht, ordnet mit Hülfe der Aufmerksam-
keit die einzelnen Vorstellungen nach gewissen Gesichtspunkten
in bestimmte Kreise ein und hält sie von den ihnen der Art
nach verschiedenen fem. Ebenso erkennt er den Unterschied
zwischen den schwachem Erinnerungsbildern und den stärkeren
gegenwärtigen Empfindungen einerseits^ sowie bei diesen letz*
teren zwischen denen des eigenen Organismus und den von
aussen kommenden andrerseits. Dadurch lernt er seinen Kör-
per den ihn afficirenden Aussendingen und sein Ich als die
Summe der Körperempfindungen und der psychischen Thätig*
keiten überhaupt anderen Wesen, denen er eine von seinen
Empfindungen und Vorstellungen unabhängige Wirklichkeit
nach Art der eigenen zugesteht, gegenüberzustellen. Wenn
wir auch nicht in jedem Falle klar erkennen, was nur unsere
subjective Vorstellung ist und was dem äusseren Objecte selbst
an sich zukommt, so weiss doch Jeder im wachen, gesunden
Zustande, dass eine blosse Erinnerung etwas Anderes ist als
das wirkliche Anschauen und Hören in der Gegenwart, und
in den meisten Fällen vermögen wir die Produete der Einbil-
dungskraft von der Wirklichkeit zu trennen. Anders ist es im
Traum und im Wahnsinn , wo die Steigerung . der centralen
Reizbarkeit den Producten der Phantasie eine Lebhaftigkeit
verleiht, wie sie sonst nur unmittelbare Eindrücke besitzen,
und wo die Selbstthätigkeit der Seele zurücktritt. Hier halten
wir alles für wahr, was die Einbildungskraft uns vorspiegelt;
Vergangenes glauben wir nicht in der Erinnerung, sondern
in Wirklichkeit noch einmal zu durchleben, die HofEhungen
und Wünsche erscheinen nicht nur ideal^ in Gedanken, son*
dem auch in der Wirklichkeit erfüllt. Wir meinen in Wahrheit
himmlische Musik zu hören und uns in paradiesischen Gegen-
— 161 —
den zu befinden ; der Räuber würde uns nicht so viel Angst
einjagen, wenn wir ihn nicht für wirklich hielten^ und der
Liebende geniesst nur dadurch das höchste Glück, dass er kein
Phantom, sondern die Geliebte in Fleisch und Blut in den Ar-
men zu halten glaubt. Die Vorstellungen, deren Intensität bei
der engen Begrenzung des Bewusstseins im Traum noch mehr
gesteigert erscheint, werden nach aussen versetzt, und in die-
sem täuschenden »Wachsfigurenkabinet« glaubt der Schläfer un-
ter lebenden Wesen und wirklichen Dingen zu verkehren; er
lässt sich täuschen wie durch die Mährchen die Jugend, wo
die Seele sich gern mit dem beschäftigt, was Reiz gewährt,
ohne dass es wahr ist. Wenn wir uns im Wachen dem freien
Spiele der Associationen tiberlassen, so sind wir auch, nach-
dem eine Anzahl von Vorstellungen an uns vorbeigerollt, ohne
dass die Aufmerksamkeit sie fixirte, geneigt, sie für wirklich
zu hallen ; dies letztere geschieht jedoch nur in den seltensten
Fällen, da die Erinnerungen nicht ganz die Stärke unmittel-
barer Eindrücke besitzen und wir die Fähigkeit haben, uns
sofort an der Aussenwelt zu orientiren. . Im Traum dagegen
wirken immer nur einzelne Eindrücke von aussen mit, denn
erscheinen sie in höherem Grade combinirt, so führen sie das
Erwachen herbei; sie haben keine grössere Intensität als die
Erinnerungen und sind nicht im Stande, die Aufmerksamkeit
des Schläfers und sein Selbstbewusstsein zur Reaction aufzu-
fordern. Dieser ignorirt die wirkliche Aussenwelt, in welcher
er sich nicht zu orientiren vermag, und constiuirt sich eine
neue aus seinen eigenen Vorstellungen : im Wachen haben wir
alle eine gemeinsame Welt, im Schlaf hat jeder seine eigene,
lautete ein Ausspruch HeraclifSj und Fichte hatte die Ansicht,
dass die Traumgebilde vom individuellen Subject, die Vorstel-
lungsgebilde der wirklichen Welt aber von der Gattungs- oder
Menschheits-Person, dem absoluten Ich producirt würden. Der
Träumende führt selbst ein Drama auf, in welchem er Spieler
und Zuschauer zugleich ist. Erst am Morgen kurz vor dem
Erwachen, wenn mehrere Eindrücke der Aussenwelt combinirt
empfunden, die Situationen aflfectvoller werden und die höheren
Geistesthätigkeiten wieder auftauchen, weiss man sich zuweilen
aus aller Noth und Bedrängniss dadurch zu retten, dass man
Alles für einen Traum und ttümbug erklärt ^^).
Badestock, Schlaf u. Traum. \\
1
— 174 —
ein junger Mensch gab seinem Schiafkameraden im Traum
eine mSlchtige Ohrfeige und wurde durch dessen laut und un-
willig geäusserte Verwunderung über diese seltsame^ Lieb-
kosung erweckt.
Das eigentliche Nachtwandeln stellt sich wie das
Traumreden besonders bei Jünglingen, seltener bei Mädchen,
in der Zeit der Mannbarkeits-Entwickelung ein. Femer macht
ein überreizter Zustand der Intelligenz und des Gemüthes zum
Schlafwandel geneigt; jüngere Leute, welche viel über Büchern
brüten, ältere, die nur dem Denken leben, dann junge sowohl
wie alte bei sporadischer zu starker Anstrengung des Geistes,
bei gewaltigen Gemüthserschütterungen oder krankhafter Affec-
tion des Gehirns überhaupt, erheben sich von ihrem Lager,
unternehmen mehr oder minder weitläufige und gefährliche
Wanderungen und vollziehen complicirte Handlungen. Die Dis-
position, welche viele Müsse und sitzende Lebensart oder eine
übernatürlich erhöhte Einbildungskraft vorbereiten, wird durch
einzelne heftig wirkende Leidenschaften oder angestrengtes
Nachdenken, andrerseits durch Uebermass in Essen und Trinken,
zuweilen auch durch meteorologische Einflüsse begünstigt und
zum Ausdruck gebracht; die Wirkung der auf den Schläfer
fallenden ' Strahlen des Mondliehts soll nicht unbedeutend sein.
Das männliche Geschlecht ist dieser Abnormität mehr unter-
worfen als das weibliche, bei welchem die Formen der Gata-
lepsie und des animalen Magnetismus sich vorwiegend finden.
Aristoteles redet davon, dass Manche im Schlafe Geschäfte wie
im Wachen verrichten 23») , und Diogenes Laertius führt einen
Sclaven des Pericies und den Stoiker Theon als Beispiele an 2*o) .
Im vorigen Jahrhundert hat man diesen wie allen ausserordent-
lichen Erscheinungen im Gebiete des Seelenlebens besonders
Aufmei^samkeit gewidmet und viele Beispiele aufgezeichnet;
dabei ist jedoch Manches übertrieben und Unwahrscheinliches
für wahr genommen worden, weil es eben ungewöhnlich und
seltsam war. Ein um Mittemacht im Hause umherwandelnder
schlafender Mensch, der von einer geheimnissvoll dämonischen
Kraft getrieben erscheint, kann leicht die Beschauer und Er-
zähler zu Uebertreibungen veranlassen.
Die Handlungen der Nachtwandler sind zuweilen zwecklos.
Knaben stehen vom Bett auf, laufen im Zimmer umher, wobei
— 175 —
sie manchmal vernehmbar vor sich hin murmeln, und legen
sich wieder nieder. Jeseph Frank erzählt von einem sechs-
zehnjährigen Jüngling; der über den ptötzlichen Tod seines
Vaters in Trübsinn verfiel, folgenden Traum: zwei furchtbare
Männer erschienen mit dem Befehl, ihnen zu folgen und droh-
ten, wenn nicht, so würden sie ihn in der nächsten Nacht
mit Gewalt fortschleppen. Zwei Tage darauf erschienen sie
wieder mit dem bleichen Schatten seines Vaters, welcher ihnen
befahl, ihn auch wider Willen fortzuschleppen. Er wurde
nun durch unermessliche und sehr schöne Landschaften ge-
tragen, hörte Saiten- und Flötenspiel, sah tanzende Chöre von
Jünglingen und nahm an auserlesenen Mahlzeiten Theil. Plötz-
lich verschwand der Schatten des Vaters^ beide Männer hoben
ihn hoch in die Luft und warfen ihn dann in ein Fass« Am
nächsten Morgen fanden ihn die Milchmädchen wirklich in
einem leeren Fasse, in welches er selbst hineingestiegen, mit
wenig Stroh bedeckt^ von der Winterkälte erstarrt und beinahe
leblos. Der Medicinalrath Ebers in Breslau berichtet von sei-
nem elfjährigen Stiefsohn , einem munteren , aufgeweckten
Knaben, dass derselbe im Schlaf laut gesprochen habe, zur
Zeit des Vollmondes aufgestanden und zwecklos umhergegangen
sei; er fasste automatisch diesen oder jenen Gegenstand an,
wich vor absichtlich hingestellten Hindernissen ruhig aus, öffnete
das Fenster und schaute hinaus, zeigte sich unempfindlich
gegen vorgehaltenes Licht bei halbgeschlossenen Augen und
gegen Anrufe, kehrte dann freiwillig in das Bett zurück und
hatte später keine Erinnerung an den Traumwandel. Einst
nahm er aus dem Repositorium den Rousseau heraus, setzte
sich hin und that, als lese er, doch sah er beim Blättern eben-
so automatisch aus als bei jedem andern Thun. Als Ebers
einmal, nachdem er ihn eine halbe Stunde lang hatte wandeln
lassen, mit der Reitpeitsche ihn kräftig auf das Gesäss hieb,
lief er schreiend in sein Bett. IVacbdem ihm noch ein wurm-
treibendes Mittel gegeben worden , verschwand der Nacht-
wandel ^^i).
Meist hat die Handlung im Ganzen den Anschein der
Zweckmässigkeit, allein es werden falsche Mittel oder richtige
Mittel falsch angewendet. Ein junger Mensch träumte, er
müsse ausreiten und benutzte das Fensterbret als Pferd, einem
— 176 —
Anderen diente die Dachrinne, ekiem Dritten eine Bank oder
der Ofen zu demselben Zweck. Jemand glaubte mit Einem
in Streit zu sein, stand «luf, nahm den Degen und hieb mit
demselben in der Luft herum sowie gegen Tische und Bänke.
Hof steter erzählt, er habe selbst als zwölfjähriger Knabe bei
einem bevorstehenden Gastmahl aufwarten sollen und sei des-
halb täglich von seinen Eltern angespornt worden. Des Abends
vor dem Gastmahle dachte er Über sein morgendes Geschäft
nach und ging, nachdem er einen Becher Wein getrunken,
zu Bett. Im Schlafe erhob er sich, ging nach dem Speise-
schrank und trug Servietten, Löffel und Messer in sein Bett,
bis er durch Geräusch und den Ruf seines Vaters erwachte.
Ein anderer Nachtwandler stieg an einem Strick nackt zum
Dach, nahm dort ein Vogelnest aus und packte die Jungen in
das Hemd. In allen diesen Fällen zeigt sich die Schwäche des
Urtheils im Traum und die illusorische Natur seiner Vorstel-
lungen. Das Fenster wird ftlr die Thür, das Fensterbret ftlr
ein Pferd und Tische und Bänke für Gegner gehalten.
Zuweilen aber erscheinen die Handlungen im Ganzen wie
im Einzelnen vollständig zweckmässig, besonders wenn sie
Fortsetzungen von Tagesgeschäften bilden. Ein Hausknecht
steht auf und putzt die Stiefel. Der Haushofmeister eines
Grafen verrichtete im Traum alle Geschäfte, als ob Gäste zu
erwarten seien, öffnete alle Schränke und räumte selbst
Hindemisse hinweg; jedoch trank er Wasser statt Wein, ja
er verzehrte Hundebrei statt Kohl mit dem grössten Appetit 2*2).
Ein Dienstmädchen soll im Schlaf Brot mit aller Sorgsamkeit
gebacken haben. Früher war die Geschichte des Nachtwand-
lers Negretti, der die complicirtesten Handlungen ausführte,
in Vieler Munde. Der Schüler arbeitet wohl an seinem ange-
fangenen Aufsatz weiter. Jessen berichtet von seinem Jugend-
freunde, einem jungen Juristen, dass derselbe einst vor Müdig-
keit über seiner Arbeit einschlief und sie am Morgen vollendet
fand ^3). Schindler sagt, dass ein Regierungssecretär Hoppe
eine Examenarbeil im Schlafe vollendete und so gut, dass er
sie unverändert abgab (?). Pfaff hielt sich nach vollendeten
Universitätsstudien eine Zeit lang im elterlichen Hause auf und
beschäftigte sich von früh bis spät mit einer wissenschaftlichen
Arbeit. Einst schlief er mit dem Gedanken über eine schwie-
— 177 —
rige Stelle ein, ohne damit sum Entschluss gekommen zu sein.
Plötzlich durch ein Gefühl von Frost erwacht fand er sich auf
dem Stuhle vor seinem Schreibtisch, auf welchem das Manuscript
lag, in dem Bibliotheksztmmer seines Vaters. £s war finster,,
und er hatte leise mehrere Zimmer durchwandert; in einem
derselben schliefen sogar seine Eltern, welche bei seiner Rückkehr
erwachten. Ebers berichtet, dass man sich in dem Institute^
wo er seine früheste Jugend zubrachte, erzählte, ein Genosse
habe schlafwandelnd eine schwere Prüfungsarbeit vollendet.
Früher war die Ansicht fast allgemein, dass im Schlaf-
wandel Probleme gelöst werden könnten, die dem Wachenden
unüberwindbare Schwierigkeiten entgegensetzten. Cardan be-
hauptele, eines seiner Werke im Traume ausgearbeitet zu haben.
Condillac fand oft des Morgens seine Arbeit vollendet und selbst
Burdach sagt : »Beispiele von Menschen, die während des Nacht-
wandels besser auf musikalischen Instrumenten spielten, ge-
läufiger in fremden Sprachen sich ausdrückten, leichter und
besser dichteten als im Wachen, sind häufig. Mein Jugend-
freund, Gustav Hansel, der sich wenig oder gar nicht im Dich-
ten versucht hatte, fand in der Zeit, als ihn der Gedanke an
die Befreiung Deutschlands von der französischen Herrschaft
lebhaft beschäftigte, eines Morgens auf seinem Arbeitstische
eine von ihm verfasste Ode an Napoleon^ welche Schwung der
Gedanken und Feuer des Ausdrucks mit Richtigkeit des Vers-
baues vereinte, unH alles Bemühen, sich seines Dichtens zu
erinnern, war vergeblicha (S. 507). M. Perty erzählt unter
vielen anderen sonderbaren Geschichten 244) von einem Studen-
ten in Amsterdam, der drei Abende erfolglos an der Entdeckung
eines Fehlers in einer schweren Rechnung gearbeitet hatte und
am Morgen des vierten Tages die Lösung fertig und zwar nach
einer neuen besseren Methode, die selbst seinem Professoi* un-
bekannt war, in seiner eigenen Handschrift vorfand. Schopen-
hauer hat ebenfalls die Ansicht, dass der Mensch im Schlaf
zu ausserordentlichen Leistungen des Geistes und Körpers be-
fähigt sei 245).
Weniger mystisch und begeistert lautet ein Bericht aus;
der Bonner medicinischen Klinik von Albers ^^). Ein Student
der Mathematik, dessen Vorfahren das Nachtwandeln auf ihn
und ^wei Brüder vererbt hatten, wurde sechs bis sieben Nächte
Bftdestocic, Schlaf u. Tr&nm. 1 2
— 178 —
■
von mehreren Personen zugleich beobachtet. Obgleich die da-
maligen Leiter der Klinik für mystische Auffassung nicht ganz
unempfänglich waren, bemerkte man doch keine höheren Ver-
standeskräfte an ihm. Tabakspfeife, Schreibzeug und ein Buch
wurden gleich automatisch von ihm behandelt. Eine Pfeife,
die er genommen, konnte er sich nicht selbst anzünden; als
man ihm dabei geholfen, ging sie wieder aus, da er nicht zog.
Er setzte sich an einen Tisch, nahm einen Bogen und schrieb
einige Buchstaben gut darauf; er griff zu einem Buche, blät-
terte um, ungefähr in der Zeit, wo man eine Seite kann ge-
lesen haben, hörte aber nicht auf, als man das Licht auslöschte.
Dann ging er zu einem der Anwesenden, fasste ihn unter
den Arm und nöthigte ihn, auf- und abzugehen. In einer an-
deren Nacht ging er an den mit zwei Lichtem besetzten Tisch,
nahm ein Buch und blätterte darin, als ob er läse; das Auge
wurde aber nicht bewegt, sondern blieb halb offen und starr,
auch hielt er das Buch in derselben Richtung als man die
Lichter entfernte. Alheims fuhr mit dem Finger in das Auge
des Kranken, welches sich erst schloss, als er die Hornhaut
berührte. Nachdem der Student das Buch hingelegt, griff er
zu Mappe und Hut, schloss die Thür auf und wollte offenbar
ins Colleg gehen. Als er die Hausthür verschlossen fand, kehrte
er wieder zurück, legte Mappe und Hut hin und ging wieder
auf und ab. Jede Berührung machte ihn schaudern, der Puls
war häufig und klein. Beim Namen gerufen wachte er nicht
auf, wie man es sonst von Nachtwandlern sagt, auch nicht,
als es direct in das Ohr geschah. Als er gerüttelt wurde,
erwachte er; die Augen schlössen sich, er fiel nach rückwärts
und rausste gehallen werden. Er wusste nicht, wo er war,
hatte keine Erinnerung an das Geschehene und wunderte sich,
ausser Bett und in Gesellschaft der ihn beobachtenden Perso-
nen zu sein. — In derselben Klinik befand sich ein nacht-
wandelndes Mädchen von 12t Jahren, bei welchem sich diese
Abnormität bald verlor, als durch die Aerzte Verdauung und
Blutbildung wieder in Ordnung gebracht waren. Binz theilt
aus eigener Beobachtung folgenden Fall mit (S. 51 ff,) : »K., ein
stets gesunder Mann aus gesunder Familie, in der Regel mit
vorzüglichem Schlaf begabt, litt während seiner Jünglings- und
frühern Mannesjahre daran. In jener Zeit bewohnte ich jähre-
■ — 179 —
lang das nämliche Haus mit ihm, später war ich sein Arzt.
K. war von lebhaftem Temperament. Seine gewöhnlichen
Träume äusserten sich in Sprechen unzusammenhängender
Worte und Aufsitzen- im Bett. Dabei blieb es aber meistens.
Eines Nachts, er mochte damals 17 Jahre zählen, stand er auf,
machte Licht, kleidete sich an, raffte die ünterrichtsbücher
des Gymnasiums, das er und ich besuchten, zusammen und
stieg die Treppe hinab bis in den Hausflur. Hier vor einer
grossen Uhr mit kräftigem Schlagwerk angekommen, blieb er
stehen und leuchtete wie regelmässig im Winter des Morgens
frtlh nach dem Zifferblatt. Der Zufall wollte, dass die Uhr in
diesem Augenblick 42t schlug. Bei den letzten Schlägen war er
so wach geworden, dass er das Unsinnige seiner Lage erkannte,
und erschreckt über sich und die Geisterstunde eilte er zu
mir, weckte mich und erzählte mir den Vorfall. So stand er,
die Bücher unter dem linken Arm, die Studierlampe in der
Hand; vor mir. Ich beruhigte ihn und er ging ruhig wieder
zu Bett. Ob die Bücher die für den folgenden Tag richtigen
waren, wurde nicht untersucht. K. hatte geträumt, es sei
Morgens gegen 7 Uhr, und er müsse zur Schule gehen. Auto-
matisch that er, was er fast täglich seit Sexta zu thun hatte,
und erst die vollen Töne der Uhr weckten ihn auf. Drasti-
scher und mehr an die Kletterberichte des Nachtwandeins er-
innernd war folgender Vorfall, der sich ereignete, als K. 32
Jahre alt und verheirathet war.
K. wird des Nachts gegen 2 Uhr wach, weil ihm die Kniee
schmerzten. Das Zimmer war vom Mond genügend beleuchtet,
um seine absonderliche Lage ihn erkennen zu lassen. Er kniete
nämlich im Hemd auf dem 6 Fuss hohen Porzellanofen des
Schlafzimmers und hielt sich mit beiden Händen krampfhaft
an dessen Seitenrändern, die profilartig vorsprangen, fest. Durch
Zuioif weckte er seine Frau, diese hielt den vor dem Ofen
stehenden Stuhl und auf seine Lehne tretend stieg K. herab.
K. war als guter Turner denselben Weg hinaufgestiegen. Den
weissen Ofen hatte er offenbar für ein Object seines Traumes
gehalten, von dem übrigens keine Erinnerung übrig blieb, und
erst der Schmerz der nackten Kniee rief die festschlafenden
Gehirnzellen zum Wachsein.
In seiner Jugend hatte K. einmal einen Arzt (Homöopathen)
12*
— 180 —
gegen seine Traumsucht consuliirt und von ihm Streukügelchen
erhalten, deren Erfolg Null war. Durch die Ofenexpedition trat
die Noth wendigkeit, etwas zu thun, zwingend hervor. Eine
genaue Anamnese führte mich auf zwei Ursachen der. lebhaften
Träume hin. K. sprach, rief und bewegte sich im Traum, wenn er
am späten Abend mit Anstrengung sich geistiger Arbeit hingege-
ben hatte oder wenn er schwere Speisen genossen. Am Abend
vor jener Nacht war beides geschehen, das letztere bei dem
stets gesegneten Appetit des K. in kräftiger Weise. Anord-
nung und genaue Befolgung einer demgemäss eingerichteten
Geistes- und Körperdiät machte allem Nachtwandeln und auf-
geregten Träumen von da an ein Ende«.
Zu starke Arbeit des Gehirns und des Darmkanals wirkten
also nach der nämlichen Richtung reizend. Dem häufigen leb-
haften Reden im Schlaf lag niemals ein nur halbwegs ver-
nünftiger Sinn zu Grunde. Von den Angehörigen K.'s wurde
öfters vergebens gesucht, einen solchen zu entdecken oder durch
Fragestellung einzuleiten, aber nichts als zusammenhangloses
Zeug kam zu Tage. Binz macht noch mit Recht darauf auf-
merksam, was sich nicht alles hätte daraus machen lassen,
wenn eine erzählend aufgeregte Phantasie nachgeholfen hätte.
»Aus dem Zusammenlegen der Schulbücher wäre leicht die
Schaffung eines lateinischen Aufsatzes geworden, und aus der
Ofenaffaire ein unerhörtes Klettern auf die First des Hauses«.
In manchen Fällen hatte der Nachtwandel ein schlimmes
Ende. Der fränkische Ritter Gültlingen verfiel im Jahre 4600
nach einer erlittenen Kopfwunde von jedem Uebermass im
Wein in Nachtwandel ; er stand auf und schlug so lange um
sich, bis er durch Aufreden erweckt und seiner Sinne wieder
mächtig wurde. Bei einer Gelegenheit, als er mit seinem
Freunde Conrad von Degenfeld, der unglücklicherweise auch
ein Nachtwandler war, und mit anderen Rittern tüchtig gezecht
hatte, wurde er berauscht. Sich seiner üblen Gewohnheit be-
wusst, hatte er verlangt, in einer Kammer allein zu schlafen
und ausserdem sein Seitengewehr in einer anderen Stube liegen
gelassen, jedoch vergessen, die Kammer hinter sich zu ver-
schliessen. Degenfeld's Knecht führte nun seinen Herrn in
dieselbe Kammer, der sich, um seinen Freund Gültlingen nicht
aufzuwecken, zu den Füssen des Bettes legte. In einem An-
— 181 —
falle des Nachtwandeins stand Degenfeld auf, hüllte sich in
das Betttuch und ging in der Kammer auf und ab, Gültlingen
erwachte darüber und rief seinen Freund an; da er keine
Antwort erhielt, so glaubte er, es sei ein Gespenst, fand seines
Freundes Degen und stiess ihn damit nieder. Herzog Friedrich
von Würtemberg sprach das Urtheil selbst, und Gültlingen
wurde am nttdisten Tage schon enthauptet 2^^) . — Hennings be-
richtet, dass im vorigen Jahrhundert ein Professor in Leipzig
dadurch ums Leben kam, dass er im Zustand des Nacht-
wandelns aus dem hoch gelegenen Fenster stürzte. — Das
Wiener Fremdenblatt brachte im August 4877 die Nachricht,
dass ein gesunder Mann, welcher träumte, er werde von einem
Strolche überfallen, aus dem Bette gesprangen sei, das Fenster
geöffnet und sich in den Hofraum gestürzt habe, wobei er
einem Knochenbruch erlitt. Der Referent erinnerte dabei da-
ran, dass einige Jahre vorher ebendaselbst ein »Justizwach-
manm jah aus dem Schlaf aufsprang, das geladene Gewehr
von der Wand herunterriss , auf seinen Gorporal anlegte und
diesem die Kugel in's Herz sohoss^^^).
In den meisten Fällen aber sollen die schwierigsten Hand-
lungen und die gefährlichsten Wanderungen über steile Dächer,
schmale Dachrinnen und Stege dem Nachtwandler geglückt
sein. Ennemoser berichtet von einem Bauer, der in einem
solchen Zustande einen starisLcn Baum an einem sehr gefähr-
lichen Felsabhange fällte, wo er sich am Tage nicht bingetraute.
Diese von Vielen als höchst wunderbar gepriesene Sicherheit
erklärt sich aus der illusorischen Natur des Traumes 2^^).
Wüsste der Nachtwandler, dass er auf einem Haus- oder
Kirchendach, auf einem Felsen in schwindelnder Höhe sich be-
finde, so würde ihn ebenso Furcht vor dem Herabstürtzen und
Schwindel als den Wachenden befallen; dies geschieht aber
nicht, da er sich einbildet auf dem Erdboden selbst zu sein.
Sicher würde er die Dachrinne nicht betreten, wenn er sie
wirklich erkennte und sie nicht für einen passabeln Weg hielt.
Ferner ist bekannt, dass wir im Wachen auf sehr schmalen und
steilen Pfaden ohne Gefahr gehen können, wenn wir schwindel-
frei sind und uns keine Furcht anwandelt ^ welche sonst den
Körper aus dem Gleichgewicht bringt. So lange die Illusion
währt, ist fUr den Nachtwandler die Gefahr nicht vorhanden,
— 182 —
wird diese Einbildung aber durch Anrufen gestört, so veriiert
er entweder, wie oben erwähnter Student durch den plötzlichen
heftigen Eindruck erschreckt, unmittelbar das Gleichgewicht,
oder es kommt ihm seine wirkliche Lage in das Bewusstsein
und damit die Furcht und der Schwindel ; er stürzt und wird
oft zerschmettert 2^®) .
Wie im Nachtwandel soll auch in den Träumen, wo der
Schläfer ruhig auf seinem Lager bleibt, eine YerstäriLung der
geistigen Kräfte vorkommen und theoretische nicht minder als
praktische Probleme, über welchen sich der Wachende ver-
gebens abmühte, gelöst worden sein ^^) . Ich meine hier nicht
die schon berührten zahlreichen Erscheinungen, wo sich ein
scheinbar hoher Gedanke im Wachen als vollendeter Unsinn
herausstellt, da, wie Volkelt sagt (S. 446), »die abstracten Ge-
dänkengefüge in den Hexenkessel der Traumphantasie gerathen
eine verrückte blödsinnige Verkörperung finden« müssen (I),
sondern ich spreche von den Fällen, wo der Geist etwas Neues
zu Tage förderte, was seine Wichtigkeit auch im Wachen be-
hielt. So kam der Kantianer Reinhold im Traum auf seine
Deduction der Categorien, so soll Sardini die Flageolettöne ge-
funden haben; Krüger sagt, dass ihm Träume zur Auflösung
mathematischer Aufgaben behilflich waren und Maignant fand
gleichfalls im Traum mathematische Lehrsätze oder auch Be-
weise dazu, erwachte freudig und schrieb sie auf. Der Arzt
Ruhmbaum in Breslau, welcher einst einen sehr gefährlich
Kranken in Behandlung hatte, war in Gedanken über diesen
Fall eingeschlafen, im Traum sah er ein medicinisches Buch
aufgeschlagen und darin die Art und Weise der Behandlung
sowie die Arzneimittel genau angegeben ; als er erwachte, notirte
er Alles, verfuhr so, und es glückte ihm vollständig. Burdach
sagt in Betreff solcher Träume: »Bei Anwandlungen von Er-
schöpfung, welche als Vorläufer eines Nervenfiebers sich arteten,
schwebten mir im Schlafe wissenschaftliche Aufgaben vor, die
ich nicht zu lösen vermochte, und die mich so lange peinigten,
bis ich erwachte; und bei neuem Einschlafen begann dieselbe
Qual. Im gesunden Zustande hatte ich oft im Traume wissen-
schaftliche Einfälle, die mir so wichtig vorkamen, dass ich da-
rüber erwachte; da ich sie mir dann als an mir angestellte
Erfahrungen mit dem Datum aufzeichnete, so finde ich, dass
— 183 —
^ie meist nur in die Sommermonate fielen. Oft bezogen sie
sich auf Gegenstände, mit welchen ich mich zu derselben Zeit
beschäftigte, waren jedoch in ihrem Inhalte mir ganz fremd : so
träumte ich während meiner Arbeit über das Gehirn am 6. Julius
4845, die Umbeugung des Rückenmarks zum Uebergange ins Ge-
hirn bezeichne den Gegensatz beider durch das Durchschneiden
ihrer Axen und durch das Zusammentreffen ihrer Strömungen in
einem Winkel, der beim Menschen mehr als bei Thieren einem
rechten sich nähere und die eigentliche Bedeutung der aufrechten
Stellung enthalte; am 47. Mai 4848 träumte ich von einem plexus
cephalicus des fünften Hirnneryen, der dem plexus brachialis und
cruralis entspreche; am 44. October desselben Jahres träumte
mir, die Gestalt des fomix werde durch die des Stabkranzes
bestimmt, der vorn weiter nach hinten trete, hinten mehr
divergire. Bisweilen aber betrafen diese Einfälle auch Gegen-
stände, über die ich zu derselben Zeit gar nidiit nachgedacht
hatte, und waren dann meist noch kühner; so z. B. im Jahre
4844, wo die gewöhnliche Ansicht des Kreislaufes bei mir fest-
stand , auch keine entgegengesetzte Vorstellung eines Andern
auf mich eingewirkt hatte, und ich mich überhaupt mit andern
Gegenständen beschäftigte, träumte ich, das Blut fliesse durch
eigne Macht und setze das Herz erst in Bewegung, so dass,
wenn man letzteres als den Grund des Kreislaufs betrachte,
dies eben so sei, als wolle man die Strömung des Bachs von
der Mühle ableiten, \^elche er treibt. Von solchen halbwahren
Einfällen, die mir im Traume so grosses Vergnügen gewährten,
führe ich nur noch einen an, welcher den Keim von Ansichten
in sich trug, die sich späterhin in mir entwickelten: am 47.
Junius 4822 dachte ich im Mittagsschlafe, der Schlaf sowie die
Verlängerung der Muskeln sei ein in sich Gehen, welches in
Aufhebung des Gegensatzes bestehe; im Gefühle der vollen
Klarheit , welche mir dieser Gedanke über einen grossen Kreis
der Lebenserscheinungen zu verbreiten schien, erwachte ich,
aber sogleich zog sich Alles wieder in die Dämmerung zurück,
da mir diese Ansicht zu fremd war« (S. 495 f.).
Man sieht leicht ein, dass in solchen Fällen die Leistung
der Verstandeskräfte nicht auf Rechnung des Traumes selbst
kommt, scmdem dass sie den Nachhall des wachen Lebens
bildet und nur die Wichtigkeit des die Erschlaffung lösenden
— 184 —
Schlafes fÜF das Leben des Menschen darthut. Die Elemente
zn den neuen Gedanken lagen bereit, aber die erschöpfte Seele
vermochte nicht, sie im Wachen zusammenzusetzen, sobald nun
im Schlaf die Ermüdung gewichen, traten diese Gedanken
wieder mit neuer Macht hervor; die Reproductionen werden
weniger als am Tage durch unmittelbare Sinneseindrttcke be-
einflusst, sie bleiben mehr isolirt und können die in ihnen lie-
genden Gedankenkeime ihrer ganzen Weite und Breite nach
zur Entwicklung bringen ; auch werden sie nicht vom Selbstbe-
wusstsein zu einer bestimmten Verbindung gezwungen, sondern
nach ihren Wahlverwandtschaften ziehen sie sich gegenseitig
an und liefern so zuweilen ein reineres Grystallisationsproduct.
Diese Elemente schlummern oft dem Menschen unbewusst in
seiner Seele, der Traum hebt sie über die Schwelle des Be-
wusstseins und bringt die entfernter liegenden zur Verknüpfung.
Erwacht staunt dann Mancher das neue Erzeugniss als Aeusser-
ung seiner eigenen erhöhten Geisteskraft an, oder er glaubt
wie Paulus in Betreff seiner Sinnesänderung, es sei durch
Einwirkung göttlicher Mächte hervorgebracht. Ein anderes
Mal liegen die Prämissen vollständig bereit und es bedarf nur
des Schlusssatzes, den der Schläfer zieht. Auf diese Weise
entstehen unter Millionen unbrauchbarer Gedanken auch einige
brauchbare. Der Nutzen des Traumes ist weniger positiv als
negativ ; er schafft nicht viel Neues, ist aber der Grund, dass am
Morgen sich Neues entwickelt. Was der Schlaf vorzugsweise für
des Menschen physische, das ist er für dessen psychische Natur,
die durch verminderte Thätigkeit neue Kraft sammelnde Erholung.
Andrerseits zeigen sich kurz vor dem Erwachen die hö-
heren Geistesthätigkeiten wieder. Grössere Vorstellungsmassen
steigen auf, das zusammenhängende Gedächtniss und das Ur-
theil gewinnt dadurch wieder Macht. Man bemerkt was un-
statthaft ist, was man aus mancherlei Rücksichten zu verbergen
hat, und sucht Schlauheit zu entwickeln; oder man findet, dass
das, was man geträumt, absurd war. Burdcuch sagt: »Die
Urtheilskraft bleibt lange Zeit indifferente Zuschauerin des
Traumes, lässt sich Vieles von der Phantasie gefallen und legt
sich erst dann darein, wenn diese es zu toll treibt: ich sah
in einem an Traum grenzenden Schlummerbiide ruhig zu, als
Häuser hin- und hersch webten, sich dann in Gassen reihten,
— 185 —
wie bei einer Polonaise, als sie aber endlich sich bückend zum
Thore hinaustanzten, war ich wach; ich war im Traume in
einem Reitergefechte , wo mit grosser Wuth gefochten wurde,
als aber mit dem Glockenschlage piölztich der Kampf aufhörte
und Alles sich kaltblütig und gelassen zum Frühstücke nieder-
setzte, erwachte ich« (S. 505). Man rettet sich aus aller Be-
drängniss oder führt bei einem freudigen Ereigniss die Ent-
täuschung selbst herbei, indem man sich zuraunt, es sei ja
Alles nur ein Traum. Wenn man sich mit Erforschung^der Ge-
heimnisse des Schlafes und Traumes beschäftigt und sich vorge-
nomm^i hat, die Träume zu merken, passirt es nicht gar sel-
ten, dass ein Halbwachen den Traum unterbricht und man sieh
irentj eine interessante Beobachtung gemacht zu haben ^ die
man sorgfältig notiren will ; manchmal freilich findet man sich
am Morgen getäuscht und erkennt das Triviale des Gedankens.
Vor nicht langer Zeit hatte ich eines Tages rechte Arbeitslust,
wurde jedoch durch Besuch verhindert, sie zu benutzen. In
der folgenden Nacht träumte mir, ich begegne einigen Bekann-
ten auf der Promenade, von denen mich der eine fragte : »Wie
würden Sie lateinisch ausdrücken : er kann nicht mehr mit
den Beinen strampeln«, was nach meiner Meinung so viel heis-
sen sollte als: er kann Nichts mehr ausrichten oder zu Wege
bringen; ich antwortete : )>Nihildum efficere potest«, veränderte
dies jedoch sofort in: »nihil jam efficere potest«. Gleich darauf
erwachte ich und wunderte mich, wie ich zu einer so selt-
samen Uebung in lateinischer Phraseologie gekommen.
Unter den Träumen mit scheinbar erhöhter Geisteskraft
bilden eine besonders hervorzuhebende Classe die viel genann-
ten prophetischen, welche Schemer den »Gipfel des Traum-
lebens« nennt ***).
Bei Homer sind die Träume von Zeus gesandt. (II. I. 63.
Freilich scheut sich Zeus auch nicht einen »täuschenden« Traum
zu senden; vergl. II. II. 7). Während Heraclit lehrte, dass
im Schlafe die Gemein^haft mit dem Himmelsäther beschränkt
sei und der Mensch des Nachts sich seibist ein trübes Licht
im Traum anzünde, nahmen die Pythagoreer eine prophetische
Kraft der Träume an, ehensorSokrates^^) und XenopÄon^w). Plato
glaubte, dass die Seele dann, wenn der Mensch einen guten
Lebenswandel führe, des Nachts im Traum mehr erkennen
— 186 —
könne als im Wachen ^^^) . Die Stoiker erkannten in dem Traum
Eingebungen höherer Mächte 2^): Ckrysippus lehrte, dass eine
die Zeichen der Dinge erklärende Kraft von den Göttern den
Menschen verliehen worden sei; PosidanmSj welcher dem Pa-
maetiiis gegenüber sich wieder dem Dogmati^nus zuwendete,
sprach von einem dreifachen Einflüsse der Götter ^7) . MtUarch
sagt, es sei nicht wunderbarer, dass die mantisehe Kraft der
Seele zukünftige Dinge voraus-, als dass die mnemonische
vergangene nachempfinde. HippocrcUes liess wenigstens einen
Theil der Träume von den Göttern herrühren, auch Gctlen^
welcher sonst über die pathologischen Träume manche treffende
Bemerkung machte^ gestand manchen prophetische Kraft zu.
Herophüos unterschied die gottgesandteu Träume von den ge-
wöhnlichen. Artemidorus schrieb wie Chrysippm ein Werk,
in welchem er seine Forschungen über diesen Gegenstand
niederlegte. Panyasis von Halikarndssos und ÄnUphon von A^en
gaben Anweisungen in Betreff der Deutung und Auslegung der
Träume ^*^) . — Paracelsus, der bertihmte Arzt des Mittelalters,
sprach von einem siderischen Theile der Menschenseele, wel-
cher sich während des Schlafs zu den Gestirnen aufschwinge,
um Neues und Höheres zu erfahren. Agrippa von N^tesheim
glaubte durch den blossen Willen Jemandem Träume hervon*ufen
zu können, selbst wenn er den Aufenthaltsort und
die Entfernung desselben nicht genau kenne. In
neuerer Zeit begeisterten sich die Schellingianer, wie Sdwbert^
Ennemoser und Andere für die prophetische Kraft der Träume.
Das moderne Zeitalter hat keine Seher mehr wie das Alter-
thum, aber das Geschlecht der Sibyllen ist nicht ausgestori>en ;
es findet seine Vertretung in den Kartenschlägerinnen und den
der Traumdeutung kundigen Frauen. Mademoiselle Lenormand
wusste Vielen in Frankreich ihr Schicksal zu deuten und sich
ein bedeutendes Vermögen zu erschwindeln. Besonders scheint
jedoch in unserem Volke von Alters her das schöne Geschlecht
das Privilegium zu haben, in die Zukunft zu schauen, denn
Tacitus berichtet bereits von den alten Germanen, dass sie die
Ahnungsgabe der Frauen hochachteten 2^^) . In den Bltttfaejahren
fühlt das Mädchen oft gewisse Kassandra-Stimmungen und eine
Neigung zu Allem, was ausserordentlich und seltsam ist. Dispo-
sitionen zu Sinnestäuschungen werden dadurch begünstigt und
— 1S7 —
Ahnungsträume siml äusserst willkommen; es liegt ein ge^
wisses Behagen darin, sich die Zukunft vorzustellen oder gar
sagen zu können: mein Traum ist eingetroffen. Bin grosses
Contingent liefern ferner die Träione schwangerer Frauen in
Bezug auf ihr Kind^^^j. In späterem Alter ahnt das Mütter-
chen, die keine grossen Hoffnungen mehr für dieses Leben
hegt, weniger in Betreff ihrer eigenen Person als derer, die
ihr nahestehen; auch übernimmt sie wohl die Mühe, jungen
Damen zur richtigen Deutung ihrer Träume zu verhelfen und
sagt das Glück eines liebenden Pärchens voraus.
Am Schluss einer Tragoedie des Sopkacles rufen die Greise
des Chors aus:
»Wohl Vieles vermag anschauend der Mensch
Zu erspähn \, doch eh' er geschaut , kennt auch
Kein Seher die Loose der Zukunft «26i),
Zwar kann ein Mensch, dessen Combinationsgabe grösser als
die der anderen ist, im Wachen wohl richtige Schlüsse auf die
Zukuuft ziehen und Manches sehen, was dem minder Klugen
verborgen ist, doch auf die Weissagungsgabe des Traumes soll
kein Verständiger sich verlassen : »Träume betrügen viele Leute
und fehlt denen, die darauf bauena, sagt der weise Sirach
(c. 34. V. 7.) . Man pflegt hundert oder tausend nicht eingetroffene
Träume über eiaem eingetroffenen zu vergessen, und wenn in der
Literatur, besonders in den vielbändigen sogenannten »Magazinena
des vorigen und des Anfanges des jetzigen Jahrhunderts, sowie
von Schubertj Schemer , Perty und anderen eine grosse Menge
Beispiele von eingetroffenen Ahnungs-Träumen angeführt wird, so
könnte man fragen wie der Mann in Griechenland im Tempel vor
dem Yerzeichniss der durch göttliche Hülfe geretteten Schifibrü-
chigen: wo sind denn die verzeichnet, denen das Glück nicht
wohlwollte und deren Ahnungen nicht eintrafen ? Lazarus sagt,
dass er viele Jahre lang jede im Wachen oder Traume mit be-
sonderer Stärke und Bestimmtheit auftretende Vorstellungs^
gruppe, die sich ihm mit der Lebhaftigkeit aufdrängte, welche
uns als [Ahnung der Verwirklichung des Vorstellungsinhaltes
so oft berichtet wird, notirt habe, ohne je eine derselben er-
füllt zu sehen 2<}2). Beim Eintreten eines unerwarteten Ereig-
nisses hört man vielfach ausrufen : das hätte ich nicht gedacht^
das hätte ich mir nicht träumen «lassen , — und kann daraus
— 188 —
abnehmen, dass der Geist sehr oft nicht zu den Objeeten »hin-
schwingt« und das ahnt, was ihm zu wissen ntttzlich wäret
Ueberdies ist es oft mit den eingetroffenen Träumen eine
missliche Sache ; das berüchtigte T)post hoc ergo propter hoc«,
das in der Wissenschaft schon so viel Unheil gestiftet und dem
Aberglauben einen bedeutenden Vorschub geleistet hat, lässt
den Menschen zwischen seinen Träumen und den Ereignissen
eine Beziehung von Ursache und Wirkung erkennen, die in
W^ahrheit gar nicht vorhanden ist. Es geschieht weder etwas,
weil man es geträumt hat, noch träumt man es, weil es ge-
schehen soll, sondern die Gedanken des Menschen und die
Realität entwickeln sich nach ihren eigenen Gesetzen. Freilich
ist bei dem, der tiefer in die Natur der Dinge eingedrungen
ist und einen grossen Theil ihrer Gesetze erkannt hat, das
Denken mehr »adäquat« als bei dem Thörichten und Unerfah-
renen, die Gedanken und ihre Verbindungen spiegein besser
die reale Entwickelung der Natur, — bei der ungeheuren Menge
der Verbindungen aber kann zuweilen bei Klugen wie bei Thö-
ridbten es einmal vorkommen , dass auch das phantastische Den-
ken mit der Wirklichkeit tlbereinstimmt^^'^j . Es ist dies so recht
das, was man »Zufalk nennen kann ; es ist nicht etwa ursachlos,
denn Alles in der Welt ist durch die Causalität bestimmt,
wohl aber ohne den tieferen Hintergrund und den engeren
Zusammenhang, den eine phantastische Mystik dahinter sucht.
Noch wichtiger ist der Umstand, dass Jeder, ohne Absicht zu
betrügen, unwillkürlich aus dem wachen Leben die Träume
umdeutet und bestimmt : man hat oft nur Aehnliches geträumt
und hält es für dasselbe; man bildet sich ein, mancherlei ge-
träumt zu haben , was der Traum in Wirklichkeit nicht ent-
hielt. Die Lücken zwischen den einzelnen zusammenhangs-
losen Vorstellungen werden in der Erinnerung ausgefüllt, das
Fehlende ergänzt und die Verbindung hergestellt. Wenn eine
Feuersbrunst ausbricht, wollen Viele sie schon mit allen ihren
Einzelumständen im Traum vorhergesehen haben, ohne dass
sie früher etwas davon äusserten. Wenn Damen beim Ein-
ziehen in ihr Haus, bei freudigen oder traurigen Ereignissen
jeglicher Art Alles so zu sehen glauben als sie es geträumt,
so ist es meist eine Selbsttäuschung. Trotzdem hat Pfaff nicht
ganz Unrecht; wenn er sagt; alle Skeptiker könnten mit ihren
— 189 —
»psychologischen SpitzfindigkeUen« die divinatorischen Träume
nicht wegleugnen, nur muss man ihre Anzahl besdiränken
und nicht glauben, die Divinationsgabe sei von Haus aus dem
Menschen eigen und eine in ihm wohnende erhöhte, göttliche
Kraft, welche im Traum besonders hervortrete, sondern die
wenigen Fälle auf natürliche Weise aus den Gesetzen des
Denkens ableiten. Eine solche Erklärung wird aber vielfach
dadurch erschwert oder' ganz verhindert, dass der Erzähler
nicht sagt, welche Gedanken und Gefühle er vorher im Wachen
gehabt hat; wir können nicht wissen, was vorher durch die
Seele eines Anderen gezogen ist und deshalb auch seine Träume
nicht immer auf ihre Ursachen zurückführen. Wenn man be-
rücksichtigt, dass im Traum keine höheren Mächte wirksam
sind und dass im Schlaf keine erhöhte Geistesthätigkeit statuirt
werden kann, so kann man mit Cicero sagen, auf Träume sei
gar nichts zu geben ^^^), trotzdem finden sich Fälle, — freilich
sind sie nicht zu häufig — wo Träume prophetisch sein können.
Zuerst sind hier zu nennen die pathologischen. Eine
Störung im Organismus, welche der Wachende noch gar nicht
spürt, oder durch die Interessen des Tages in Anspruch ge-;'
nommen sie nur dunkel fühlt, indem es ihm »anders zu Muthe«
ist, bringt sich der Schläfer, wenn die Geschäfte und Inter-
essen des wachen Lebens ruhen, zum vollen Bewusstsein ; die
Uebertreibung anticipirt die erst später eintretende Verschlim-
merung und der Träumende macht eine schwere Krankheit
durch, oder er sieht darauf hindeutende Bilder. Wiederholen
sich gewisse Anfälle von Krankheiten, so können auch die
vorausgehenden Träume stereotyp werden, besonders wenn
man an diesen Träumen Interesse nimmt, sie in der Erinner-
ung behält, viel an sie denkt oder von ihnen spricht. Mauchurt
erzählt von einem Geistlichen, welchem Menschengewimmel im
Traum Fieberanfalle , C. G. .Carus von Jemandem , dem wilde
Katzen Brustkrämpfe prognosticirten ; Hennings kannte eine
Dame, der die Erscheinung ihres Arztes im Traum eine Krank-
heit ankündigte ^^^j . Auch bestimmte Launen und Stimmungen
des Tages rufen oft gleiche Vorstellungen wach; , andrerseits
zeigen sich nach Genuss der Belladonna , des Daturin u. s. w.
stereotype Hallucinationen , und die in Säuferwahnsinn Ver-
— 190 —
falienen glauben alle von Ratten, Schlangen und Mäusen be-
drSingt zu werden.
Seelenkrankheiten deuten die Stadien ihres Entwickelungs-
und Heiiun^sprocesses häufig durch charakteristische Träume
an; andere Leidende erfahren zuweilen ihren Tod, ja den Tag
und die Stunde desselben. P/a/f berichtet (S. 87), dass seine
Schwester einst bei ihm zum Besuch war um ihn wegen eines
Leidens um Rath zu fragen ; er trieb mit seiner Tochter Abends
astronomische Studien, und da seine Schwester ein re^es In-
teresse für Wissenschaft besass, betheiligte sie sich an den-
selben. Eines Morgens erzählte sie beim Frühstück, dass sie
die ganze Nacht die Studien weiter getrieben, aber auch er-
fahren habe , dass sie zuerst in die Geheimnisse der Sternen-
welt eingeweiht werden würde. Meist gehen solche Todes-
ahnungen aus dem rein associativen Weiterverfolgen der durch
die Schmerz- Empfindungen sich ergebenden Gedankenreihen
hervor, zuweilen haben sie einen noch näher liegenden Grund :
die Kranken sprechen oft am Tage zu anderen Personen vom
Tode, sie haben schärfere Sinne als die Gesunden und hören,
wenn sie die Augen geschlossen haben und scheinbar schlafen.
Alles in ihrer Umgebung ^^) ; in solchen Augenblicken aber
pflegen die Angehörigen ihre Meinungen über den Zustand des
Kranken auszutauschen und die Hofliiungslosigkeit zu betrauern,
wahrend sie dem Wachenden den Glauben einzuflössen suchen,
er werde wieder genesen ; auch wird der Arzt noch unter der
Thür befrafi;t und der Patient hört, was man ihm zu verber-
gen sucht. Manche setzen sieh in den Kopf, dass sie an dem
Tage sterben werden , an welchem Eltern oder Kinder vor
ihnen hinschieden , die Angst verschlimmert — besondei*s bei
zarter Constitution — das Uebel und führt den Tod herbei,
üebrigens lehrt die Erfahrung, dass durchaus nicht alle der-
artige Ahnungen eintreffen, sondern die Todescandidaten oft
wieder genesen und sich noch lange ihres Daseins freuen. In
anderen Fällen steht der Traum, der eine solche Ahnung zu
enthalten scheint, mit den wirklichen Ereignissen in gar kei-
ner Beziehung. Wenn Dr. Bürstenbinder vor seiner letzten
Alpenreise träumte, er läge todtenstarr in einer Gletscherspalte
und später wirklich beim Uebergang über den Gurgler Ferner
in den Abgrund stürzte, da er das Seil der Führer ver-
— 191 —
schmähte ^^7), — so wird Niemand behaupten können, dass der
durch eine herabgefallene Bettdecke und den Gedanken an die
bevorstehende Reise hervorgerufene Traum mit dem wirklich
eingetretenen unglttcklichen Ereigniss im inneren Zusammen-
hang stand. Wenn man eine längere Reise zur See, ja nur
eine einfache Wasserpartie beabsichtigt , kann . sehr leicht im
Traum das Schiff scheitern und das Boot umschlagen.
Der Mensch erlangt im Traum noch mehr Aufschlüsse aber
die Zukunft als im Betreff seines leiblichen Befindens. Er er-
fährt, ob die Wünsche seines Herzens befriedigt und die Ideale
seines Geistes verwirklicht werden oder nicht, ob er Glück in
der Lotterie, im Spiel, in der Liebe oder im Leben überhaupt
habe, ob die Geliebte ihm treu bleibt, wohl auch ob er nach
dem Tode der ewigen Seligkeit theilhaftig wird; Alles liegt
offen und klar vor ihm. Zuweilen träumt man was man wünscht
und hält dann natürlich den Traum für eine wahrhafte Prophe-
zeiung, die wohl eintrefien kann^ wenn die Erfüllung des
Wunsches nicht unmöglich ist; oder es tauchen die Contrast-
vorstellungen auf und führen dem Schläfer die später wirklieh
nachfolgende Täuschung vor Augen. Der Mensch sieht Ge-
fahren, die ihm drohen, das Unglück, das ihn niederschmettern
soll ; bei einer bevorstehenden Reise lässt ihn der Nachhall der
Besorgniss, die er am Tage hegte, sich bestohlen, beraubt, ja
in Todesgefahr erblicken, «der er vergisst des Tages Schmerz
und schwelgt in dem Glück, welches er später wirklich ge-
niesst.
Dass Träume zuweilen eintreffen, ist nicht wunderbar, denn
es muss, wie schon Cicero richtig bemerkt, der, welcher so
viele Nächte so Vieles träumt, ebenso einmal einen richtigen
Gedanken finden, wie der passionirte Würfelspieler unter der
grossen Menge unglücklicher Würfe auch einmal einen glück-
liehen thut^^). Die Ahnungen sind nicht deshalb selten, weil,
wie Schemel* meint (S. 353), »die bevorstehenden schweren
und überhaupt für Glück oder Unglück entscheidenden Ge-
schicke, wodurch das Traumgemüt h zur Wahrnehmung erregt
wird, nur selten sind«, sondern weil die Anzahl der möglichen
Gedankenverbindungen im Traum ungeheuer gross, die der
günstigen aber sehr klein ist.
Diese Einsieht in die Zukunft kann zur Aufmunterung ^^^)
— 192 —
und Warnung sich gestalten. Joseph erhält im Traum die
Weisung, mit dem Ghristuskind nach Aegypten zu fliehen und
wird später auf dieselbe Weise aufgefordert, in seine Heimaih
zurückzukehren (Matth. 2, 43 u. 49). Die Gemahlin des Pilatus
hatte vor der Yerurtheilung Jesu einen schweren Traum und
forderte, ihren Gemahl auf: habe Du nichts zu schaffen mit
diesem Gerechten! ;Maith. 27, 49). Ferner ist bekannt der
warnende Traum der Gattin Gäsar's. — Jemand träumte, dass die
Zimmerdecke herabfiele und ihn zermalme ; er stand auf, ging
in ein anderes Zimmer und rettete sich so, da die Decke später
wirklich einstürzte. Die dunkle Wahrnehmung der Gefahr^
welcher er am Tage keine Aufmerksamkeit schenkte, hatte den
Traum erregt. £n)smus Francisci erfuhr in einem Traume, dass^
er in Gefahr sei, erschossen zu werden und entging derselben
am darauf folgenden Tage nur wie durch ein Wunder. Einer
vornehmen russischen Dame träumte ernst, drei ihrer Leibeigenen
seien . eben zum Fenster hereingestiegen und wollten sie er-
morden; sie erwachte, auf ihr Geschrei eilte die Dienerschaft^
welche in der Nähe schlief, herbei, und man fand bei sorg-
fältiger Durchsuchung wirklich drei Bauern mit Mordgewehren
in einer Laube des Gartens versteckt, da sie durch das Gesdirei
der Dame vertrieben worden waren ^ als sie das Fenster ge-
öffnet hatten. Das Wunderbare dieser Geschichte verschwindet,
wenn man die näheren Umstände genauer betrachtet: die Dame-
war wegen ihrer Grausamkeit gefürchtet und hatte schon oft
Drohungen hören müssen — ihre Besorgniss äusserte sich da-
rin, dass die Diener in der Nähe schlafen musöten, — dann
war die Nacht schwül und disponirte zu ängstlichen Träumen
und endlich befand sich das Fenster, durch welches die Mör-
der einsteigen wollten, dem Bett der Herrin gegenüber. Die
Warnung durch einen Traum ist das Hauptmoment in den ge-
nannten Dramen CcUderon's und Griüparzer^s^'^^]. In moralischer
Hinsicht behandelten sie auch Jean Paul in seiner bekannten
»Neujahrsnacht eines Unglücklichen« und NicoL Lenau in sei-
nem Gedicht »Warnung im Traum«.
Nicht nur das eigene Schicksal, sondern auch das von
Personen, welche uns durch Freundschaft, Verwandtschaft oder
sonst wie nahe stehen, wird uns verkündet, und diese Eigen-
thümlichkeit theilt der Traum ebenso wie die Erinnerung aus.
— 193 --
langer Vergangenheit mit der Todesstunde. Aristoteles bemerkt,
dass man am meisten die Zukunft der Freunde ahne, weil
man am meisten an sie denke 2^^). Ebenso oft wie die Ver-
ktlndigungen des eigenen Todes sind die Ahnungen vom Hin-
scheiden der Freunde und von Ungltlcksfällen , welche den
entfernten Geliebten oder Gatten treffen. Wenn ein Mädchen
ihren Bräutigam in den Krieg ziehen sieht, träumt sie wohl,
dass er schon gefallen sei, was später eintreffen kann. — Sehr
oft findet man einen von den Stoikern besonders hervorgeho-
benen Traum citirt. Zwei Freunde reisten zusammen nach
Megara, der eine blieb bei einem Bekannten, der andere über-
nadhtete in einem Wirthshause. Der erstere träumte, sein Freund
rufe ihn um Hülfe; da der Wirth ihn tödten wolle ; als ör er-
schre<^t aufgewacht, dann aber wieder eingeschlafen war, er-
schien der Freund zum zweiten Male und bat, seinen Tod zu
rächen, denn er sei vom Wirth getödtet und auf einem Wagen
unter Dünger geworfen worden, worauf man ihn in der Frühe
aus der Stadt zu schaffen beabsichtige. Der Mann begab sich
in Folge dieses Traumes am Morgen an das Stadtthor, fand alle
Einzelheiten bestätigt und zog den Mörder zur Rechenschaft ^^^j.
— Wie Mancher die Mittel gegen die eigene Krankheit und
Ruhmbaum die Behandlungsweise seines Patienten , so soll
Alexander der Grosse einst im Traum die Wurzel entdeckt
haben, welche seinem verwundeten, neben ihm schlafenden
Freund. Ptolemaeus die Gesundheit wiedergab.
Ein Brief, eine aus zweiter oder dritter Hand empfangene
Nachricht oder irgend ein Gedanke überhaupt rufen die Er-
innerungen an die schwache Constitution des Freundes oder
an die Gefahren, in welchen er sich befindet, wach; es beginnt
damit die Gedankenreihe, welche in der Ahnung des Todes
ihren Gipfelpunkt findet. Man braucht seine Zuflucht nicht
mit Scherner zu einem Liebes- oder WiHensstrahle zu nehmen,,
um eine solche Ahnung in die Ausdehnung des Raumes zu er-
klären ^7^). Ist die Entfernung nicht allzu gross, so können
zuweilen dieselben meteorologisehen und anderen Einflüsse^
welche dem Einen einen ängstlichen Traum hervorrufen, dem
Anderen bei seiner Krankheit den Tod bringen.
In anderen Fällen haben solche Ursachen- die gleichen
Wirkungen: zwei oder mehrere haben dann ganz denselben
BadeBtock, Schlaf n. TratuD. 1 3
— 194 —
Traum. Ein drastisches Beispiel, wo ein ganzes Regiinent Soldaten
im Schlaf dieselben Schreckbilder sah, ist schon beim Alpdrücken
berührt worden. Nudaw berichtet (S. 4S9j, dass ein berühmter
Danziger Naturforsdier in einem Gasthofe dbselbst wobfite,
welcher sehr mit Leuten angefüllt war. In einer Naoht kam
es ihm vor^ als ob ein Wagen die Strasse heraufführe und vor
dem Hause halte; er bemerkte genau, dass der Hausknecht
kam, die Thorflügel aufsehlug und dass der Wagen zum Hofe
hineinfuhr; er sah Leute aussteigen, ins Haus und auf ihr Zim-
mer gehen. Am folgenden Morgen erkundigte er sich beU^^g
bei dem Kellner, wer die neu angekommenen Fremden seien;
derselbe wunderte sich sehr, da alle Gäste ihn geragt hatten
und doch niemand angekommen war. Ein Sturmwind hatte bei
Allen die gleiche Vorstellung hervorgerufen. — Dass Mann und
FraU; Gesdiwister, Freunde, deren Gedankenkreise nahe ver-
wandt sind, ähnliche, ja gleiche Träume haben , komme ver-
hältnissmässig nicht selten vor und ist nicht wunderbar, da
die Anschauungsweise derer, die durch Vererbung Gleiches
überkommen haben, viel mit einander verkehren oder gleiche
Erziehung genossen, bei demselben gegebenen Objeete dieselbe
oder wenigstens ähnlich wiird^^^). Spitta erzählt, dass vor
einer Reihe von Jahren in Berlin ein Handlungscommis, Sohn
wohlhabender Eitern, nach einer nur eintägigen Kranklieit starb
und nach Ablauf eines Jahres in derselben Nacht sowohl dem
Vater wie der Mutter im Traum erschien, um ihnen zu melden,
dass er scheintodt begraben sei , und ihnen die Weisung zu er-
theilen, sie sollten sein Grab Offnen und für sein Seelenheil
beten. Die Erinnerung an den heissgeliebten Sohn beschaff-
tigte beide fortwährend, und da das Ereigniss so pldtzlieh er-
folgte, war ihnen vielleicht der Gedanke ausgestiegen, dass es
gar nicht möglich sein könne ; der Traum griff diesen Gedanken
auf und führte ihn nach seiner Weise aus. Auch mag die
vollständige Uebereinstimmung der Träume beider Gatten erst
durch die Erzählung des einen erfolgt sein, iiMlem dann der
andere die Vorstellung des ersten in seine eigene Erinnerung
übertrug und die Lücken des Traumes damit ausfüllte. —
Ein Freund von mir sah einst eine ihm wohlbekannte Dame
in glänzender Brautkleidung in einem prachtvollen Garten her-
umwandeln und seine einige Meilen entfernte Schwester hatte,
— 195 —
wie er später erfuhr, in jener Nacht einen sehr ähnlichen Traum
mit hellen Licht- und Farbenerscheinungen. Vorher hatte mein
Freund und ich beim gegenseitige!! Gedanken- und Gesinnungs-
austausch gefunden, dass wir in dieser Zeit beide vorzugsweise
nach dem Gefühlsleben hinneigten; bei ersterem war dies auf
die geschilderte Weise in die Erscheinung getreten, und warum
sollte nicht in der Seele einer jungen Dame die gleiche Stim-
mung ein ähnliches Bild, dos nur in seinem Object und viel-
leicht in einigen kleinen Einzelheiten verschieden ist, her-
vorrufen ?
Die harmonischen Träume Liebender haben einen gewissen
Ruf; dieselbe Atmosphäre, welche den einen Gegenstand ver-
liebt macht, erweckt in dein aüdören das gleiche Gefülil, sagt
Ostander, — und es iöt nicht wunderbar, dass bei beiden die
gleichen HiSiuptvorstellungen der geliebten Person und die sich
daran knüpfenden Associationen emportauchen. Wenn es einen
psychischen Rapport, einen »Gemüthsconnex« gäbe , welcher.
Wie Scherner meint, durch einen »electrischen Sehnsuchtsstrahl«
»wei Herzen unmittelbar in Verbindung treten lasse, so wäre
es doch seitsam, dass diese Leitung so oft unterbrochen wird
und der Liebes- oder Willensstrahl nicht immer sein Ziel er-
reicht. Bekanntlich denken wir nicht immer zu derselben Zeit,
y^b ein Freund oder Vei*Wandter sich unsrer erinnert, an ihn,
Sondern an ganz andere Dinge; auch würde es absurd sein,
wenn man zwischen allen Soldaten eines Regiments oder allen
Gästen eines Gasthoüs solchen »Gemüthsconnex« statuiren wollte.
Die Poesie kahn von der Liebe als dem heiligen »Götter-
strahl, dei^ in die Seele schlägt und trifft und zündet«, reden,
die Erfahrung aber lehrt, dass Manche mit allen ihren Liebes-
und Willensstrahlen das geliebte Herz nicht zu rühren vermögen !
13*
Capitel vnL
Die Yerschiedenheit der Tr&nme.
Viele Factoren sind es, welche die individuellen Charaktere
bilden und in den einzelnen die zeitweilig verschiedenen Denk-
weisen und Gemttthsstimmungen erzeugen. Der Mensch wird als
Theil der gesammten Natur mannigfach beeinflusst : er ist ab-
hängig von kosmisch-tellurischen Einwirkungen, durch den Zu-
sammenhang mit der Gattung haften ihm die vererbten Eigen-
thümlichkeiten der Race an, er wird bestimmt durch Geschlecht,
Alter und Leibesconstitution.
Die tellurisch -kosmischen Einflüsse sind schwer nachzu-
weisen und von den übrigen zu sondern ; meist indirect, wer-
den sie durch das Wetter und die sonstigen meteorologischen
Erscheinungen vermittelt. Die wissenschaftlichen Forschungen
der letzten Jahrhunderte haben die Astrologie verdrängt; wir
leben nicht mehr in den Zeiten , wo der Mensch sein Schicksal
aus der Stellung der Gestirne ableitete 275) und in den Planeten
»die sieben Herrscher des Geschicks« erblickte. Jupiter herrscht
nicht mehr, Venus spendet nicht mehr ihre Gunst, der »tückische
Mars« stiftet keinen Schaden , und in diesem Sinne können wir
mit Wallenstein sagen:
»Saturnus' Reich ist aus, der die geheime
Geburt der Dinge in dem Erdenschoos
Und in den Tiefen des Gemüths beherrscht,
und über allem, was das Licht scheut, waltet«.
(Schiller, Wallensteins Tod..A. I, Sc. 4).
Trotzdem ist nicht zu verkennen, dass der Wechsel der Jah-
reszeiten bei verschiedener Stellung der Erde zur Sonne , wenn
bei den Menschen auch minder als im Thierreiche wirksam,
— 197 —
unsere Gernttthsstimmungen beeinflusst. Lotze, welcher der
Meinung, dass der Mensch mit der Erde wie das Kind mit der
Mutter, wie der Parasit mit dem Organismus, auf dem er lebt,
durch eine tiefere Beziehung zusammenhinge, sowie anderen
mystischen Ansichten ttber die gewaltigen Einwirkungen des Kli-
mas auf die Bewohner entgegentritt, sagt : »Es mag.undwird
dabei bleiben, dass unser Gemeingeftthi von dem
Wetter, unsere Stimmung von Licht und Luft, die
Färbung unserer Beflexion von Jahreszeiten und
Klima beherrscht wird. Aber einestheils ist es Aber-
glaube, den Einfluss dieser schwer zu berechnenden Bedingun-
gen mit Uebertreibung hervorzuheben , während in den mensch-
lichen Leidenschaften und Verhältnissen deutliche und dringende
Bestimmungsgrttnde unsers wechselnden Verhaltens viel offen-
barer vorliegen; andemtheils ist, was auf diese Weise den
Einwirkungen der Natur unterliegt, eben nur das Reich unserer
Stimmungen, jener formlosen Zustände unsers Innern, die.
Wohl einen anderswoher entstandenen Entwickelungsdrang
hemmen oder fordern mögen, aber nie fQr sich dem mensch-
lichen Fortschritt eine bestimmte Richtung vorgezeichnet
hätten a 276).
Die grössere Erregbarkeit der Nerven bei den Kaltblütern
im Frühling und Herbst ist experimentirenden Physiologen
wohlbekannt 2^') ; bei den Warmblütern zeigt sich im Frühling
nicht minder eine erhöhte Sensibilität. Die Gemüthsstimmun-
gen des Menschen werdeii lebhafter; Freude, Hoffnung und
Liebe zeigen sich in ihrer vollen Stärke; Die ätherischen Tage,
welche Vereinigung und Zeugung der Pflanzen und der niede-
ren Thiere veranlassen , erwecken auch die Liebe in der ver-
nünftigen Seele ; dasselbe Naphtha der balsamischen Früblings-
luft hat auf Alle die gleiche Wiii^ung und überall hört man
Liebeslieder erschallen. Der Herbst disponirt mehr zu elegischen
und wehmüthigen Stimmungen.
Da man fand, dass die Aufnahme von Kranken in die
Irrenhäuser im Winter am seltensten und im Sommer am
häufigsten sei, so sagte man früher: es nimmt die Häufigkeit
' des Irrenzuwachses mit der periodischen Zu- oder Abnahme
der Wärme nach den Jahreszeiten zu oder ab. Geisteskrank-
heiten verschlimmem sich in den kalten Jahreszeiten am selten-
— i98 —
sten, in der warmen ajp bäufigs^ten und befolgen mit der
Häufigkeit der Selbstmorde das gleiche jahreszeiüidie Srsobei«^
nungsgesetz ^'^) . Griesmger weist jedoch dar«af hin, dass diese
statistischen Notizen von der häufigeren Aji&ahine keHien Be-
weis Ittr die h^uSger^e Entstellung liefern; .die F^lle st^m oft
schon veraltet und das unbequemere Reihen gebe vielleioht die
Ursache zur g^lngeren Aufnahme im Winter ab^^). Die $tar-
tistiker sprechen sogar voja ^em Einflüsse der Jahreßzeiteii
auf die einzelnen Formen des Irrseins. . Esqu^rol behauptet
und Jacabi beweist an 484 Fällen, da^s in Wintermooaten der
Aufbruch der Tobsucht am seltensten sei uDid dass der £om-
me^, oder noch n^ehr der Frühling eine Mehrzaiil von Er-
kraxikungen in dieser Form darbietet.
Die Verschiedenheit der Gemüthsstimmi^ngen im We(disel
der Ja^eszeiten wird sich unzweifelhaft auch im Traum jgeltend
machen, im Alterthum war die Ansicht verbreitet, dass der
Frühling mehr zu. ruhigen, der Herbst zu stürmischen Träumen
disponire [Tertullicm). Die Orientalen hielten die Träume im
Frühling für zuverlässiger als im Herbst und Winter und be*
merkten, dass sie am meisten lebhaft seien zur Zeit der Frucht*
reife, am wenigsten dann, wenn die Blätter fallen 2$<>). Doch
ermangeln erfahrungsijQässi^ auch die des Frühlings nicht der
LebhaJ^igkeit ; ?;ur Zeit wo der Flieder blUht und die Nachti-
gall singt , ' herrscht eine grosse Neigung zur träumerische^
Phantasie. Wobl kann die Jahreszeit zu der Färbung der
Träume beitragen, und dieselben mögen im Frühlii]^ mn meisten
die Liobje zum Tl^ema haben, bei Manchen vielleicht auch einen
vorzugsweise simalichen Charakter tragen.
Der Ejipflusß des Mpndes auf das physische und psychische
Leben der Menscihen ist vop je her übertrieben worden. Baco
soll während einer Mondl$nstemiss in Ohnmacht gefallen sein.
Gßlen suchte die Perioden hitziger Krankheiten mit ^em Um*
laufe des Mondes zu vergleichen, Petrus von Abano soll zuerst
auf den Eiufluss des periodjischen Umlaufes des Trabanten bei
psychischei;i Krankheiten geachtet haben. DiMfch Newton' $
Attractionssyste^i entstanden viele dahin bezüglicl^e Schwä|:me-
reien in Frankreich und Deutschland. Friedreich stellt in seiner
»allgemeinen Pathologie und Therapie« zur Erklärung, der mo-
natlichen Periodicität bei physiologischen und psychologischen
— 199 —
ErBchemungen die Hypothese auf, dass Erde und Mond früiier
einen Weltkörper gebildet hatten und jetzt noch theilweise
unter denselben Gesetzen ständen. Jacobi zieht den erhebliehen
Einfluss des Mondes in Zweifel, obgleieh er in einigen Fällen
vorhanden sei, Guislain aber nimmt ihn vollständig an. ))Wäh-
rend der Syzygien sollte nach Diemerbroek die Pest über-
hand nehmen, nach Balfour das Fieber häufiger ausbrechen,
nach GiUespie ein^ Verschlimmerung der Geschwüre eintreten,
nach Darwin Epilepsie und Wahnsinn häufiger vorkommen,
nach Buek die Steii>lichkeat zundimen; während der Qüa*-
draturen hingegen soll nach Jakson der Ausbruch von Fie-
bern aller Art häufiger werden und nach Darwin der Blut^
lauf an Stärke verlieren. Im Neumonde soU die Menstruation
bei Jxmgfrauen häufiger sein, nach andern Angaben die Wasser«^
sucht zunehmen, nach Ramazzini das Petechialfieber gefähr*
lieher werden und nach Bi^k die Sterblichkeit ihr Maximum
erreichen; im Vollmonde sollen mehr ältere Frauen menstruiren,
nach Wepfer und TvUp Anfälle von Apoplexie, Hemikranie,
Epilepsie und Manie häufiger vorkommen, nach Tulp die Kopf-
verletzungen gefährlicher werden und nach Buek die Todes-
fälle am seltensten sein. Kr^e, Scropheln, Balggesdiwülste,
Geschwüre, .Wurmzufälle und Wassersucht sollen mit dem
Monde zu- und abnehmen. Im zun^menden Monde soll nach
Reil der Schlaf der Kinder unruhiger werden ; im abnehmen-
den Monde sollen Wtbrmer und Hai*nsteine leichter abgehen,
nach Benot Asthma und Katarrh sich verschlimmern , und nach
Bttek mehr Geburtsfäile vorkommend ^^i) . Koster glaubte aus
zahlreichen Beobachtungen das Gesetz zu finden, dass am Tage
des Perigaeum (Erdnähe) und Apogaeum (Erdfeme) oder in
der Nähe sich leidit der Anfang oder das Ende eines Tobsucht^
anfailes ausbilde ^^^). — Nachdem jedoch Esquirol die Unruhe,
welche man bei mehreren Kranken zur Zeit des Vollmondes
bemerkte, durch herabgelassene Gardinen beseitigte, hat man
die Einwirkung des Mondes mehr in dessen Licht gesucht.
Schon der Gesunde fühlt im Wachen bei Mondsdiein eine
Neigung zu elegischen, sehnsüchtigen Stimmungen, welche den
geläufigen Gegenstand einer emj^ndsamen Poesie bilden; und
so werden wie bei Irrsinnigen und jeder krankhaften* Störung
der Sensibilität ebenso bei dem gesunden Schläfer die Licht-
— 200 —
strahlen des Mondes und die in Folge von vorüberhuschenden
Wolkenschatten wechselnde Beleuchtung nicht nur unmittel-
bar gewisse Vorstellungen wachrufen, sondern auch auf die
bestimmte Färbung und die Gemttthsbewegungen der Träume
einwirken *^^).
Dass die Witterung fttr unser psychisches Leben eine
grosse Bedeutung hat, ist bekannt. »Coeli tristitiam discutit
sol et humani animi nubila sol discutit« sagt Plinius treffend.
Bei üblem, nebelhaftem und düsterem Wetter sind die Ge-
danken schleichend, die Gefühle abgestumpfter und matter als
bei heiterem; der blaue Himmel bringt Frohsinn, Heiterkeit
und Hoffnung ; das Abendroth lässt uns Alles in rosigem Lichte
erscheinen*, während das Grau der Natur auch in unserem
Herzen die lachenden Farben verwischt und das Unbestimmte
und Düstere zur Herrschaft bringt. — Nicht unwesentlich ist
der Druck der Luft. Der Cretinismus steigt nicht über 3000
Fuss Höhe ; die Seherin von Prevorst fühlte ihren magnetischen
Zustand auf Bergeshdhen gesteigert, und Hallucinationen bei
Ersteigung hoher Berge sind nicht selten ^^^j. Ein englischer
Sehatzkammerlord wollte sogar von einem Zusammenhang zwi-
schen der Aufnahme einer Staatsanleihe und dem Barometer-
stände wissen I — und Goethe klagte in einem Briefe an Herder^
dass ihn der tiefe Stand des Quecksilbers ertödte. — Aus dem
anhaltend höheren Trockenheitsgrade der Luft erklärte Dresor
die bekannte instinctive und tieferer Erregung meist baare
Hastigkeit der Nordamerikaner. Der Einfluss des Windstriches er-
zeugt die reizbare Stimmung, in welche der Sirocco versetzt und
die in Italien sprüch wörtlich ist. Die Unruhe und üble Laune
in Folge gewisser Windrichtungen ist im Jura, sowie die Ver-
stimmung durch die trokenen Nordostwinde in Nordamerika
bekannt. Die Inder schreiben alle nervösen Krankheiten dem
Winde zu und benennen sie , nach der Verschiedenheit der-
selben ^^^j. Die Spannungsgrade der atmosphärischen Elektri-
cität äussern auf die Thiere eine grosse Einwirkung: Blutegel
steigen bei herannahendem Gewitter an die Oberfläche des
Wassers, Hummer schnellen ihre Scheeren von sich u. s. w.
Auch der Mensch entzieht sich derselben nicht, nur ist der
Eine mehr für dieselbe empfänglich; der Andere weniger.
Schiller fühlte sich während des Gewitters poetisch gestimmt,
— 201 —
Tycho de Brahe i^ries den ennunternden Einfluss von Gewittern
nuf sein geschwächtes Nervensystem. Osiander hebt hervor,
dass die Lufteleotricität bei Gewittern oft eine aussergewöhn-
liehe Steigerung der Geistesthätigkeiten zur Folge habe, in an-
deren Fallen sie suspendire ; Frauen hätten . vor Orkanen und
anderen Katastrophen ängstlidie Vorgefühle und Träume ge-
habt, und es erkläre sich daraus manche Ahnung in Betreff
des Todes von Freunden und Verwandten, indem dieselbe At-
mosphäre in dem Einen die Ahnung erzeuge und dem Anderen
den Tod bringe ^w).
Die Beschaffenheit der Luft bildet ein bedeutendes Moment
der Einwirkung des Klimas auf die psychischen Thätigkeiten
des Menschen. Schon im Alterthum war dies bekannt. Cicero
sagt, dass die Bewohner von Ländern, wo die Luft rein und
klar sei, mehr Intelligenz besässen als die, über welchen ein
grauer, düsterer Himmel sich wölbe ^^'^) . Die Griechen vor ihm
vergassen nicht, dies zum Preise ihrer Nation gegenüber den
nordischen Barbarenvölkern hervorzuheben ^^^) . Doch möchten
wir lieber von den Gemüthsbewegungen sagen, was jene von
der Intelligenz behaupten. Die ersteren nehmen in warmen
Gegenden mit dem immer blauen Himmel zu ; die Affecte und
Leidenschaften sind dort rascher, intensiver, aber weniger
dauernd. Wenn der Deutsche sich durch Treue in der Liebe
auszeichnet, so thut es ihm der Spanier und Italiener an Feuer
zuvor, bei jenem ersten ist sie ein mildwärmendes Feuer, bei
beiden letzteren eine verzehrende Gluth. Der Nordländer hasst
oder verachtet seinen Feind, der ihm Böses zugefügt, der Be-
wohner des Südens aber nimmt blutige Rache. Der Neger
endlich zeigt eine warhaft wollüstige Grausamkeit. — So mögen
denn auch dem Aequator näher wohnende Völker viel lebhafter
träumen als wir, und die farbenreiche Umgebung mag viel präch-
tigere Bilder dem Schläfer vorzaubern als die Einfachheit und Ein-
tönigkeit des Nordens. Der sinnlidxe Orientale weiss das Paradies
ganz anders zu schildern, als. es der nordamerikanische Indianer
oder der Eskimo sich vorstellt , oder wie es der Peseheräh sich
vorstellen würde, wenn er überhaupt etwas von Religion ii^üsste.
Da andrerseits das heisse Klima jede geistige Anstrengung er-
schwert^ don Gedankenlauf verlangsamt und die Willenskraft
herabdrückt, so befinden sich die Bewohner warmer und heisser
— 202 —
Gegenden schon wtthrend des Tages in einem traumSdiniidien
Zustande, den sie oft durch kttnfüidie Mittel ihm noch näher
zu bringen wissen. Schweigend sitit der Opium geniessende
Orientale da mit offenen, bald sehnsüchtig sdima^tenden,
bald wollüstig sinnlichen, bald starr vor sich hin stierenden
Augen, nur zuweilen, wenn er das Opium mit Kif oder Ha-
schisch vertauscht, wird er gesprächiger und giebt die kühnsten
Phantasiebilder zum besten. Das jdoloe far niente« der Italiener
ist fast zur stehenden Bezeidinung eines träumerischen Sicbge-
henlassens geworden.
So weit die Schädelcapacitat eines Polynesiers von der eines
geistig entwickelten Europäers, und das Gehirn sowie die Bil-
dung seiner Windungen bei einem Australier von dem des
Gauss verschieden ist, so viel Unterschied zeigen auch die gei-
stigen Fähigkeiten und Thätigkeiten der Menschen-Racen.
Es möchte einem Neger schwer gelingen, ein philosophisches
oder mathematisches Problem zu lösen — ein hervorragender
Kopf, wie Tou3saint liouverture, ist eine äusserst seltene Aus-
nahme, — und ein Papua kann sich nicht die Wichtigkeit der
Gesetze von der Erhaltung der Kraft ^m vollen Bewusstsein
bringen. So ist auch der Inhalt der Träume nicht derselbe.
Kein Polynesier glaubt im S^lafe, dass er die Deducticm der
Gategorien oder auch wohl einen Raum mit vier Dimensionen
gefunden habe, oder dass an ihm der nervus sympathl^is prä-
parirt würde. Ebenso bringt innerhalb derselben Race der
Fortschritt der Givilisation Verschiedenheiten hervor. Die Stei-
gerung der Industrie, der Künste und Wiss^äsdiaften setzt eine
allgemeine Steigerung der seelischen Thätigkeiten voraus; die
immer weitere Entfernung von einfachen Sitten, die Verbrei-
tung der feineren geistigen und leiblichen Genüsse bringt
früher unbekannte Neigungen und Leidenschaften mit sich. So
sind denn auch die Wünsche und Träume der heutigen deut-
schen und romanischen Völker andere geworden als die der
alten Indogermanen, und wenn die Traumvorstellungen sEoch
auf die Bildung von Religionsbegriffen einwirkten wie früiier;
würden wir dieselben vielleicht in ganz anderer Gestaltung
erblicken.
In Bezug auf die Vererbung ist constatirt, dass sieh nor<«-
male wie abnorme physische und psychische Dispositionen von den
— 203 —
Eltern auf die Kinder fortpflanzen, ja es tauchen — als Atavi^nuB
— Eigenschaften^ welche bei den Kindern weniger hervortreten^
wieder bei den Enkeln auf; Seiten verwandte zeigen eine geistige
und leibliche Aehnlichkeit, die auf die gemeinsamen Voreltern
zurückzuführen ist, ja sogar ein erster Gatte soll auf die Kinder
zweiter Ehe einen Einfluss ausüben. Die Sicherheit, mit weh*
eher Fischer und Schopenhauer ^^^) den Willen vom Vater und
den Intellect von der Mutter ableiten , beruht , wie Volkmcmn
meint, nidu auf ganz fester Basis. Die Gemüthsart der Mutier
scheint sich nach ihm auf die Kinder zu übertragen ; die Toch-
ter und der Sohn füblt \md träumt also wohl der Mutter nicht
ganz unähnlich«
lieber die Differenz der Geschlechtscharaktere ist
scjl^on viel geschrieben worden. Man sucht sie gern durch ein*
zelne Schlagworte auszudrücken; Burdach stellt sie einander
gegenüber als'hxdividualität und Universalität, ülrici und Andere
als Activität und Passivität , Beneke als Kräftigkeit und Reizem-
pfänglichkeit, Hartmann als hewusste und unbewusste Thätigkeit.
Die Hegel'sche Schule bezeichnet den Mann als Negation, das
Weib als Position ^^) und setzt damit in Parallele Wachen und
Schlaf, da letzterer die in sich selige und mit sich einige
weibliche Seite des Menschen sei. Die besten Schilderungen
geben W, v. Humboldt und Lotae ^^^) . — Letzterer ftihrt aus, dass
in den Verhältnissen des Knochengerüstes und der Muskulatur
eine geringere Grösse d/er Arbeitskraft des weibliehen Körpers
begrüükdet. und dieser zur Ueberwältigung grösserer Wider*-
stände, zu sdmellem Laufen oder sicherem Gange unter be*
deiitepdßr Last weniger geschickt ist. Dadurch wird das
Gen^eingefübl verändert, in wieidiem das Innewerden der
ElasUcität, SteHiing und Bewegung einen bedeutenden Bestand-*
t^eil bilden. Der männliche Körper bildet eine Ovale mit
grösstem Durcbmeisser in den Sehultem, der weibliche dieselbe
Ovalö mit grösster Breite in den Hüften. Der Mann fühlt sich
d^rch das Uebergewickt des oberen Theils zur Bewegung ge-r
drängt, während das Weib mit der Empfindung grösseren Ge-
bjimdenseiiis seinen Wirkungskreis in der Nähe findet, xddiese
gßringere Grösse der Kraft wird durch ein höheres Mass der
AnbeqaejQAungsfähigkeit an die verschiedensten Umstände aus*
geglichen«. Glück und Unglück weiss das Weib besser zu erf
— 204 —
tragen und sich in neue Lebensumstände leichter zu schicken.
Gewöhnung haftet mehr und die Unterhaltung wird um der
Unterhaltung willen gesucht. Die Intellectuellen Fähigkeiten
unterscheiden sich nur durch die £igenthümlichkeit der Ge-
fühlsinteressen ; der Wille des Mannes ist mehr auf Allgemeines,
der des Weibes auf Ganzes gerichtet. Männliche Art ist es,
zu zergliedern, weibliche dagegen, die Analyse zu hassen und
das fertige Ganze zu bewundern; der Gedanke des Mannes
sucht nach den Grttnden und Ursachen, der des Weibes nach
dem dadurch entstandenen Wirklichen, Fertigen. Der Mahn
strebt nach Achtung unter der grossen Allgemeinheit und tritt
gern in Gemeinschaft mit Gleichgesinnten, das Weib wünscht
nicht als Beispiel neben anderen zu gelten , sondern will als ein
geschlossenes Ganzes wegen seiner unvergleichlichen Eigenthüm-
lichkeit geliebt sein. Die Verabredungen der Männer sind kurz
und diese verlassen sich auf das Wort, die Frauen wollen die
Verpflichtungen durch tausend kleine Hülfsmittel verstärkt wis-
sen; erstere schätzen zeitliche Pünktlichkeit, letztere legen mehr
Werth auf harmonische Anordnung im Raum. Während der
Mann aus Principien Dinge unternimmt, deren Ende er nicht
abzusehen vermag, will das Weib das Fertige der Handlung
mit ihrem Erfolg sich anschaulich vorstellen. In Anschaffung
zeigen die Frauen oft Verschwendung, betrachten dagegen das
eimal erworbene Eigenthum als ein zusammengehöriges Ganzes,
das nicht zerplittert werden darf. Für sie ist Wahrheit das,
was zu dem Uebrigen in widerspruchslosem und harmonischem
Verhältniss steht, ohne dass es zugleich real und reell zu sein
braucht ; sie sind zum Schein geneigt. Sie lieben die Anschau-
lichkeit, versetzen sich gleichsam in die Dinge hinein und grübeln
nicht, warum dies Alles so wäre und wie es sein könnte ; sie be-
sitzen mehr Takt als Bewusstsein dessen, was sie thun oder thun
müssen, und Reflexion liegt ihnen mehr oder weniger fem.
Man sieht also, dass das W^eib mehr vom Gefühlston der
Eindrücke beherrscht wird, als es den Inhalt derselben berück-
sichtigt; vom Angenehmen wird* es mehr angezogen als vom
Wahren. Auch die Association nach dem Gefühlston ist bei
der Frau mehr zu finden als beim Manne, welcher nach dem
Inhalt associirt; ihre Gedankencombinationen erscheinen ihm
deshalb oft wunderbar und prophetisch. Eine augenblickliehe
— 205 —
Stimmung beherrscht sie , und sie empfindet zuweilen Wohl-
gefallen oder Missfallen, ohne die Gründe angeben zu können. Der
Mann will seinen Werth nach dem Inhalte seiner Leistungen ge-
schätzt und seine Achtung danach bemessen wissen, die Frau da*
gegen will geliebt sein, wie sie ebenfalls ihren Riditersprueh
durch die Liebe fäll(. Das Herz ist bei ihr mächtiger als der Kopf
und das Gefühl überwindet den Verstand. Die gemischten Gefühle
kommen häufig vor ; sie verbindet sanguinische Lebhaftigkeit mit
sentimentaler Warmherzigkeit, und die Liebe, dieser Herd von
Gefühlen, wie sie Nahlowsky^^^) nennt, bildet das Gebiet, wo
sie am meisten zu Hause ist. In der Association nach dem In-
halt der Vorstellungen wird bei ihr die Succession von der Coexi-
stenz bei weitem überwogen. Sie liebt harmonische Ordnung im
Raum, stellt sich Alles gern anschaulich und als Ganzes vor und
hat mehr Interesse für das Concreto al9 für das Abstracto. Mit
Huschke's Entdeckung der stärkeren Entwickelung dos Stimhirns
und des kleinen Gehirns beim Manne und des Scheitelhims beim
Weibe ^^^) könnte man vielleicht die Erfahrung zusammenhalten,
dass bei ersterem der Wille, bei letzterem das sensorielle Leben
vorwiegt 294) .
Diese Verschiedenheit der Geschlechtscbaraktere wird sich
denn auch im Traum geltend machen, in welchen die Frauen
sich besonders gern versetzen 2^6] . Die Liebe in ihren zahl-
reichen Modificationen und Stärkegraden sowie die übrigen Ge-
fühle bilden das Grundthema , und Ahnungen sind nicht selten»
Die Reizung bleibt mehr auf das sensorische Gebiet beschränkt ;
das Schlafreden kommt seltener vor als bei Männern, noch
weniger findet sich der Nachtwandel, dagegen zeigt sich häufig
eine bedeutende Steigerung der Sensibilität. Der Mann denkt
mehr an Stand und Beruf, er beschäftigt sich mehr mit theo-
retischen und praktischen Aufgaben, mit Familien-, Staats- und
Nationalangelegenheiten; die Frau widmet sich der Pflege der
Kinder und der Besorgung häuslicher Arbeiten. Doch gleicht
sich dieser Unterschied in der Ehe durch das Einleben in die
Sphäre des Anderen mehr und mehr aus.
Die individuellen Dispositionen zu bestimmten Gemüthg-
bewegungen bilden die Temperamente. »Was die Erreg-
barkeit in Bezug auf die sinnliche Empfindung , das ist das
Temperament in Bezug auf Trieb und Afiect. Wie wir eine
— 206 —
dauernde Erregbarkeit und daneben fortwährende Schwank-
ungen derselben unterscheiden können, so zeigt sich auch das
Tefioperameiit t^beil» als ein dauerndes theils in der Form
wechselnder Temperamentsan Wandlungen, die von äussern und
innem Ursaöhen abhängen konnena^^^j. — Lotse sagt: »Die
Menge der Vorstellungen, die in glei<^r Zeit durch das Be-
wusstsein ziehen, die Schnelligkeit ihres Wechsels, die Leb-
haftigkeit, mit welcher die Gedanken nach einer Richtung vor-^
züglich, oder nach vielen gleichmässig sich ausbreiten und
durch WiederankHngen früherer Eindrücke sich eine reichere
oder ärmere harmonische Begleitung erwecken; die Treue,
mit welcher ältere Wahrnehmungen unverändert festgehalten
werden, oder die Geschwindigkeit, mit welcher sie zu unbe-
stimmteren Gesammtzuständen verschmelzen ; die Beständigkeit,
mit der eine mit Antheil gefasste Idee sich in diesen mannig-
fachen Veränderungen erhält, oder die Leichtigkeit, mit welcher
Theilnahme und Aufmerksamkeit von ihrem ursprünglichen
Gegenstande auf die Menge sich zudrängender Nebenvorstel-
lungen abgelenkt werden ; die Grösse des Gefühles, welche die
Eindrücke überhaupt erregen, und die Nachhaltigkeit, mit welcher
dies Gefühl haftet, oder die Flüchtigkeit, mit der es verschwindet;
die Verdichtung der Strebungen um wenige Punkte, um welche
sie sich andauernd bemühen,, oder die Geneigtheit, von einer
Aufgabe zur andern überzuspringen; die verschiedene Grösse
des Dranges, in Bewegungen, Geberden und Worten den innern
Zuständen einen Ausdruck zu geben : Das alles sind Erschein^
ungen,. die in dieses Gebiet der Temperamente fallen. Sie
gleichen ganz den formellen Unterschieden in den Bewegungen
eines Stromes, der von mancherlei hineingeworfenen Wider-
ständen je nach der ursprünglichen Leicht- oder Schwe^flüssig-
keit des fliessenden Stoffes, nach der Neigung seines Falles
und nach der Gestalt seines Bettes bald zu tiefen und schweren,
bald zu oberflächlichen rasch wechselnd^i sich vielförMig kreu*'
zenden Wellen bewegt wird« 2»'),
Die Unterscheidung' in sanguinisches , melancbolisches,
cholerisches und phlegmatisches Temperament rührt von der
medicinischen Theorie Galen' s her ^^); die Vorstellungen, woraus
die Namen geflossen , sind längst veraltet , die Namen selbst
aber beibehalten worden. Zu starken Affecten neigt der Gho-
— 207 —
leriker und Melancholiker, zu sobWadien der Sangliiniker und
Phlegmatiker ; zu raschem Wechsel der Sanguiniker und Chole-
riker, zu langs^uoem der Melancholiker imd Phlegmatiker 2^^).
Der Sanguiniker nimmt voruFtheilslos die Eindrücke auf,
an jede geringe, wenig auffallende Wahrnehmung knttpft sich
ein leicht erregtes Geftthl ; dasselbe wechselt jedodhi rasch mit
seinem Anlasse und es findet ein schneller Uebergang von
einer Gemüthslage zur anderen statt. Dies führt oft zur Un-
stetigkeit eines Handelns, das sein Urtheil nieht aus einem
grösseren Gomplex von Vorstellungen, seine Materie nicht aus
zusammenfassender Ueberlegufig und dem Ganzen einer stehend
gewordenen Gesinnung, sondern voreilig aus dem Einzelnen
augenblicklicher Anlässe entnimmt. Das sehneile sanguinische
Temperament ermangelt der Stih'ke, welche das melancho-
lische oder , wie Lots^ es genannt wissen will^ das sentimen-
tale besitzt. Dieses ist wtthliger in Bezug auf die Eindrücke;
Vieles erscheint dem Melancholiker gleichgültig und fade, was den
Sanguiniker momentan bezaubert. Der Gefühlswerth erregt sein
Interesse, er ist geneigt, Stimmungen nachzuhängen, sie auf-
zusuchen und HOL grösserer Ausdehnung zu erzeugen als die
Veranlassung es rechtfertigt; dadurch kann das Bewusstsein
der Pflichten in seiner Entwickelung und Befestigung gehemmt
werden. Er liebt träumende Wiederholung alles Bbythmischen
und aller ästhetischen Eindrücke überhaupt; zu eigentlicher
Arbeit wenig geneigt, entwirft er Ideale eines besseren Zu-
standes der Wirklichkeit, hat aber keine Theilnehme für die
einzelnen verständigen Mittel, die dazu führen könnten; er
wird einerseits oft ungerecht und bitter gegen Andere, welche
seine Ansichten nicht theilen, andrerseits unpraktisch und un-
fähig, etwas wahrhaft Grosses au leisten und zur Lösung eines
Problems beizutragen. Geeigneter dazu ist der Choleriker.
Derselbe ist unempfänglich für zufällige Reize, die ausserhalb
des gewohnten Weges seiner Gedankenbewegung liegMi; neue
Eindrücke reproduciren nur die nächsten mit ihnen im Sinne
dieser Bew^ung zusammengehörigen Erinnerungen, und alle
in die herrschende Richtung, der Gemüthströmung nicht ein-
gehende Wahrnehmungen rufen nur geringe Gefühle wach.-
Bestimmtheit der Ziele charakterisirt das Temperament ^ das
vorzugsweise praktisch, vor der Anwendung gleichgültiger und
— 208 —
mühsamer Mittel, wel6he zur Erreichung des Zweckes noth-
wendig sind, nicht zurückschreckt. Es kann aber auch in das
Extrem überschlagend zur wachsenden Beschränkung des
geistigen Lebens und zunl eigensinnigen Beharren auf einer be-
stimmten Form der Mittel werden, aus welchem die »unwandel-
bare Consequenz« und die »bewusste DickkOpfigkeit« heraus-
wächst. Das phlegmatische Temperament verfällt nieht in
diesen Fehler ^<*^). Es lässt sich weder durch die wechselnden
Eindrücke von Gefühl zu Gefühl treiben, noch bevorzugt es
eine einseitige Form und Richtung menschlicher Bestrebungen
vor allen übrigen. Die »Schwerflüssigkeit« des inneren Lebens
wird von einzelnen Eindrücken kaum merklich bewegt, sammelt
sie entweder langsam bis zum Hervorbrechen einer kraftvollen
Leistung oder zeigt, wo ihr keine Gelegenheit zum Handeln
gegeben wird, wenigstens keine innere Unruhe, die eine solche
Gelegenheit aufzusuchen geböte. Zu wahrhaft grossen Leistungen
ist es .jedoch weniger befähigt ^<>^), denn diese verlangen eine
gewisse Beschränkung und die Lenkung aller geistigen Kräfte
nach einer Richtung hin, und die meisten Genies sind einseitig.
Die Temperamente haben der Reihe nach ihre Modezeit
gehabt und ihre Lobredner gefunden. »Seltsamerweise fällt
diese Reihe so ziemlich mit der Aufeinanderfolge der Tempera-
mente im Leben des Einzelnen zusammen: vor zwei Genera-
tionen hatte das sanguinische, vor einer das melaneholische
seine Culminationszeit, gegenwärtig scheint phlegmatische Blasirt-
heit sich einer Beliebtheit zu erfreuen« ^<^2) . Jedes hat seine
Licht- und Schattenseiten 3^^) , das schnelle bedarf der Stärke,
das schwache der Langsamkeit. Das starke giebt sich mit
Vorliebe den Unluststimmungen hin, das schwache zeigt eine
glücklichere Begabung für die Genüsse des Lebens. »Da jedes
Temperament seine Vorzüge und Nachtheile hat, so best^t für
den Menschen die wahre Kunst des Lebens darin, seine Affecte
und Triebe so zu beherrschen, dass er nicht ein Temperament
besitze, sondern alle in sich vereinige. Sanguiniker soll er sein
bei den kleinen Leiden \xßd Freuden des täglichen Lebens,
Melancholiker in den ernsteren Stunden bedeutender Lebens-
ereignisse, Choleriker gegenüber den Eindrücken, die sein
tieferes Interesse fesseln, Phlegmatiker in der Ausführung ge-
fasster Entschlüsse« ^<^*) .
. — 209 —
Wichtig sind die Temp^amenle für die Aetiotogie der
SinnesUiusobungea. Das Phlegma dispenirt sehr wenig daztt;
HaHucinationen findet man fast gar nicht uflKt von Illnsiotten
nur solche, welche siäi auf GeistesschwSlche und Unaufmerk-
sandelt zurd^ftthren lassen. Anders verhfth es sich mit dem
Sanguiniker; derselbe hat hfinft^r Sioneslttttschungen, weldie
meist einen fröhlichen Inhalt haben. Sanguinische Verrückte
sind eitel, glauben sieh gern in PalUsten und atif dmn Thron,
sehen allenthalben ihre Diener und hdren oft weibliche Stimmen«
Der Choleriker sieht ttberall Feinde , Diebe , MemchelroOrder,
Rfiubep; er erblickt fortwUhren^l feindlidie Machinationen, durch
welche seine Bestrebungen gestört werden sollen, hört Slimmen,
welche ihn verspotten und reizen oder ihm gewaltthlitige
Handlungen anbefehlen, er balgt sich zuweiien sogar mit seilten
vem>efOtlichen Feinden hemm und wird jämmeriidi geprttgeH
hn Allgemeinen hat er mehr Gehörs* als GesiohtstäuschuBgen.
Umgekehrt gestaltet sich das Yerhjlltniss beim Melancholicus'.^^),
bei welchem die letiteren vorwiegen. Er steht Grftber und
Leichname, schwante Menschen und Teufel und hört furchtbare
Töne. Die r^igiöaen VisionS^re sind zum grössten Theile Melan-
choliker 306) .
Natürlich haben aach die Träume von Leuten verschiedenen
Temperaments verschiedene Färbung. Nicht als ob dieses sich
selbst in den Traum übertrage und man Ewisehen eni&m chole-
rischen, melancholischen, sanguiaisifheB und' phlegmatischen
Träumer zu unterscheiden habe; im Traum sind wir alle,
was die Giemttthsbewegungeii betri^, mehr oder minder San^
guiniker, — der Inhalt aber wird durch dasselbe bestimmt.
Was in Folge des Temperaments mit seinen Associationen
unter einer bestimmtui Färbung oft in der Seele erscheint
und dadurch <iort gewissermassen einen bleibenden Sitz ge-
wonnen bat, oder auch — besonders beim Extrem des Tem-
peraments — während des Wachens vom energischen Willen
zurückgedrängt wird, taucht im Traum wieder auf, und
hier ist keiner für die Yorsteilungen und Affecte, zu welchen
das Temperament den Grund bildet, -*— mit Ausnahme d^
Fälle, wo der Vorsatz sich schon Im Wachen gebildet hatte -*•
verantwortlich, weil der Wille gesehwunden. Schon die Araber
kannten diesen Einfluss und schlössen sogar — freilich etwas
Bad es tock. Schlaf Q. Traum. 14
— 210 —
gewagt — aus dem Traum auf ein bestimmtes Temperament:
sie glaubten zu bemerken, dass Choleriker vorzugsweise
von heilem Feuer und Licbterscheinungen , Melancholiker
von Schrecken der Finstemiss, Schlangen, Scorpionen und
Giften, Phlegmatiker von Flüssen, Seen, Schnee und Eis,
Sanguiniker von Gärten, Wiesen^ lachenden Fluren träum*
ten 3<^7) . Diese Ansicht enthält einiges Richtige, mit der Modi-
fication <lerselben wollen wir uns nicht aufhalten, sie liegt in
der Schilderung der Yersdiiedenheit von Sinnestäuschungen,
welche zugleich fttr die Träume gilt; nur ist darauf hinzu-
weisen, dass man das Extrem nicht mit dem Typus ver-
wechseln darf und namentlich die krankhafte finstere Melancholie
zu unterscheiden hat von dem eigentlichen Temperament,
bei welchem das Geftlhl und die Gemttthsbewegungen eine be-
deutende Intensität haben und nach der ernsten Seite hin neigen.
Die Unterscheidung der vier Temperamente giebt nicht
etwa ein Schema ab, in welches sich die grosse Zahl der In-
dividuen einzwängen lasse ^^^) . Eigentliche' Temperamentsmen-
schen sind selten, und man findet in jedem Einzelnen immer
nur ein mehr oder minder annäherndes Bild des allgemeinen
Typus ^®^). Am besten prägen sich die Typen in den wech-
selnden »Temperamentsanwandlungen« während der einzelnen
Lebensalter aus. Sanguinisch ist das Kind: leichte Empfäng-
lichkeit fttr alle Eindrücke und schneller Wechsel in den Vor-
stellungen sind wichtig für die Ansammlung der mannigfaltigen
Kenntnisse; die Stimmungen sind nicht dauernd, und schnell
wird die Unlust vergessen. Dem Erwachen der physischen
Zeugungskraft geht das der psychischen in Bildung von Idealen
parallel: das überschwellende Kraftgefühi des Jünglings ruft
den Ehrgeiz hervor, vom Thatendrange beseelt entwirft er
seine idealen Pläne und hält Nichts für unmöglich. Die
natürliche Färbung seines Gemüthslebens bildet das melancho-
lische oder sentimentale Temperament. Mit Festigkeit des Cha-
rakters hat sich der Mann für bestimmte Zwecke entschieden,
nicht für die Zukunft oder Vergangenheit schwärmend lebt er
energisch in der Gegenwart; stark aber schnell wechselnd sind
seine Afiecte : er ist Choleriker. Das Phlegma endlich bildet
den Grundzug des höheren Alters.
Im frühesten Kindesaiter, wo der Vorrath sinnlicher und
— 211 —
geistiger Erfahrungen noch gering ist, walten die Körperge-
fühle im Traum vor; da vorzugsweise hier viele Krankheits*
formen voiiLommen, wie Zahnen, Krämpfe, Unterleibsbeschwer-
den u. s. w., so mdgen die Träume auch vielfach unangepehmer
Natur sein. Später werden die Spiele auf lachenden Fluren
fortgesetzt; zuweilen bereiten Schulscenen Yelrlegenheiten, meist
aber sind die Träume heiterer Natur und voll von Pracht und
Herrlichkeit. Das Schlafreden kommt sehr oft im Knabenalter
vor. Die Zeit der Geschlechtsentwickelung ist äusserst reidi
an Träumen; Liebe, Eifersucht^ beleidigter Stolz, iEhr- und
Ruhmbegierde, erhöhtes Macht^eftlhl, Sieg oder Untergang in
Gefahren bilden den Inhalt derselben^ Was der Jüngling im
Wachen für die Zukunft schwärmt und sich ersehnt, davon
bringt ihm der neckende Traum die Erfüllung; es entwickeln
sich sehr lebhafte, das Gemüth erregende Scenen, und Nacht-
wandel kommt am meisten vor. Die Jungfrau wird während
ihrer Entwickelung leicht zur religiösen Schwärmerin und ist
dabei doch etwas sinnlich; sie fühlt eine quälende S^nsucht
nach himmlischen Dingen-, flicht aber in ihren Vorstellungen
vom Ueberirdischen überall Gesch]eohtsbeziehungen ein; sie
liebt Leiden, Kummer und Sehmerzen und träumt nicht ungern
von Unglück. Im mittleren Alter haben bei der grösseren Gleich-
förmigkeit des äusseren Lebens auch die Träume einen mehr
Constanten Charakter. Der Mann sieht sich am Ziel und ver-
gisst im Glücke des Traumes die Sorgen der Wirklichkeit ; zu-
weilen aber veriassen «ie ihn nicht, und er bemerkt, wie
unzählige Feinde ihm furchtbare, endlose Intriguen spinnen
um ihn zu verderben. Bei dem Greise werden die Gemüths-
bewegungen schwächer und Nichts erregt ihn mehr übennäs-
sig; Erinnerungen aus früherer Zeit, besonders der Jugend,
steigen im Traume auf und wirken wie erfrischende Lüfte.
Die besondere Leibesconstitution ist — in Folge der
eigenthümlichen Gemeingefühle — nicht ohne Einfluss auf das
psycfaisdie Leben. »Das Bewusstseina, sagt Honvicz^^^), »ist
eine Gesammtftmction des ganzen Körpers bzw. des denselben
repräsentirenden Nervensystems. Jede Hautprevinz, jedes Glied,
jedes Oi^an, jedes Gewebe, > auch das Blut in seiner mehr oder
minder normalen Zusammensetzung und Beschaffenheit leistet mit-
telbar oder unmittelbar seinen Beitrag zum allgemeinen Bewusst-
14*
— 212 —
sein«. Eine enge Bnist mag ein ganz anderes GemeingefOU und
dadurch eiae andere Färim^ des allgemeinen Bewnsstseins be*
dingen, als eine gewMble. Kräftig gd)aute, blutreiche Personell
hdt^n ein kraftigeres, bewussleres Selbstgefühl, gegen welches
die empimdliche und argwohnische Reiiberkeit kleiner Menschen
oft auffiaiiend eonbrastirt. Dem Bmbonpeint pfleigl das dunkle
Gefühl einer Art von Freudigkeit des Besitzes zu folgen.
»Schmale Statur mit langem Halse disponirt zu Ruhe und Be-
dächtigkeit, gedrängter Kitaperbau mit kurzem Halse za Heftig«-
keit und Leidenschaftlichkeit (Napoleons Kurzhalsigkeit scheint
durch die bekannte abnorm geringe Pulsfrequenz paralysirt
worden za sein). . . . Von bes<mderem Einfluss &ai den psy-
chis<^en Habitus ist die Beschaffenheit, Menge und Bewegung
des Blutes . . . Die neuere Psychiatrie hat auf den lahmenden
Einfluss, den das U^>erwiegen von; Kohlenstoff im Blute auf
die E^twickelung des psychisdien Leb^is ausübt, und im
Gregensatze hierzu auf den Zusammenhang hingewiesen, der
zwischen vortretendem Phosphorgehalte Und Tobsucht besteht
(die schnelle geistige Reife rhachitiskranker Kinder, der Brand*
stiftungstrieb bei gestörter £volutien u. s. w.)«r>ii). Manche
Krankheiten haben ihren bestimnvten psychisdieo Reflex: ver-*
mehrte Galladabsonderung disponirt zu excitirenden , Bleich-
sucht uod Engbrüstigkeit zu deprimirenden Affecten ; Schwind-
süchtige entfalten zuweilen, wie man z. B. an Spinoza sehen
kann, ein besonders kksres Denken. Bei Brustkrankheiiten is>t
der Mens^ heiter, bei Bauehkrankheiten finster ^i^). Udb«r-
haupt ändern zahlreiebe Krairiüieiten Tempermneivt und Q^im*-
mung gewaltsam ab, und das Gemeingeftlhl eriiält versohfede-
nes €oiorit, ja nachdem dieses oder jenes Organ oder System
des Körpers in rascherer Ausbildung oder in Rttckgaiig seiner
Thätigkeit begriffen, durch unzählige wiederholte, rm Eineel^
neu unfoeobachtbare Erregungen^sich in jenem Gefühl« teehr
oder minder bemerkbar macht.
Nicht wenig werden die Träume dadurch beeiaflusst.
Hypochondrische und Hysl^isohe haben äusserst sdlireekhafte
Bilder. Bergmmm machte öfter die Beobachtung, dass an rep-
steckton Lung^iübeln Leidende Nachtwandler wairen, und Krunke
dieser Art sind mit fialluetnationen und Aipdrüdcen viel ge-
plagt. Die Störungen des BluUaufs bei Herz- wnd Gefüsser-
— 213 —
krankimgen haben oft psychiseke Krankheiten zur Folge ^^^j,
und da Gesichts- und Gefa(>rstäuschungen hier besonders httufig
sein aoUen^^^), so mögen auch die Träume vorsugsweiae von
seltsamen Farbenerscheinungen und Tönen erffiilt sein.
Dass die Lebens- und Nahrungsweise für das psychi-
sche Leben von Bedeutung sei, erkannte man schon im Alter-
thum. Wie die B.rahmanen den Genuas der Bananen hoch an-
sehlugen, so hatten bekanntlich die Pythagoreer ihre Spei-
sevorsehriften '^^^) . Bei den Hebräern und platonisirenden
Diätetikarn des Mittelalters erfreute sich der Honig des Rufes
einer firkenntniss und Gedächtniss ferdemden' Speise; im vori-
gen Jahrhundert genoss die Milch ein gleiches Ansehen und
Tissel versuchte psychische Wunderkuren durch Milchgenuss.
Dasa der Jod-Mangel in Wasser und Erde mit d^m Vorkom-
men des Gretinismus in Beiiehung stehe, hat Chatin wahr-
scheinlich gemacht. »Die Verbreitung dw Gewürze hat ihre
cuiturhistorisdie Bedeutung. Sie schlug, gleich jener der Ge-
realien den Weg ein, den die Sonne nimmt: von Osten nach We-
sten, die Kartoffeln und der Tabak gingen den entgegengesetzten
W^eg, jene bedrohen in Verbindung mit dem Braimtweine ernst-
lich ganse Völkerschaften, aus dem wac^isenden Verbrauche
dieses leitete Guislain die Zunahme gewisser Formen von See-
lenkrattkheiten aba^i«). Nahhwsky bemerkt, dass Gourmands
und Schlemmer kein tieferes Geffihl haben.
»Der Genuss stark alkoholhaltiger Getränke kurz vor dem
Schlafengehen bringt andere Träume hervor als der Genuss von
Thee, Wein, Bier, oder Kaffeeft '^^) . Die Träume der Berauschten
entaiehen sid;^ der Erinnerung, der Schnapstrinker soU dem
Inhalte nach, die niedrig&tra haben, auch bei starken Biertrin-
kern sind sie meist sinnlicher Natur; die Trunksucht kündigt
aich durch wüste Träume an. Pfaff meint fenier, dass einige
Speisen, wie grünes Gemüse, Kohl, Kohlrabi, Bohnen, dann
Knoblauch, Zwiebeln, Rettig und Käse vor Schlafengehen genossen
hässiiche Träuine hervorbringen. Die Abends genossenen Speisen
haben nicht etwa einen directen psychischen Reflex, sondern
wirken dureh ihr Verhältniss zur Verdauung; jeder, der kurz
vor Sehlafengehen irgend etwas in grösserer Menge geniesst,
muss' sich auf schlechte Träume gefasst machen, um so mehr,
je s^werer verdaulich die Speisen sind'*^).
— 214 —
Erziehung und Bildung kennen mannigfach auf das
psychische Leben überhaupt, also auch auf die Träume ein-
wirken. Zuerst kann durch VerzÄrteiung oder Abhärtung die
Körperconstitution und das Gemeingefühl verändert werden^
und dann ist die auf ihr basirende geistige Fähigkeit und Thd-
tigkeit unmittelbar von grosser Bedeutung für den Inhalt der
Träume. Anders als flache Gemüther fühlen, denken und
träumen die Menschen von tiefem Gemüth. »Bei ihnen rüttelt,
wie NMowsky^^^) sagt, »jedes einzelne Ereigniss am Stamme
ihres Gesammterlebnisses ; Lust und Leid, hier viel intensiver,
klingen auch länger nach, indem jedes wichtigere Yorkommniss
in seine Beziehungen zu anderweitig Erlebtem gebracht, und
selbst auf Ideen und Lebenszwecke zurUckbezogen wird. Wäh-
rend das oberflächliche Gemüth nur in den Tag hineinlebt,
vergleicht das tiefe : Sonst und Jetzt und ergeht sich vorahnend
selbst in der Zukunft. Das letztere wird darum zwar von je-
dem Leid schwerer betroffen; es ist dafür aber auch einer
Seligkeit fähig, von der das flache Gemüth keine Ahnung hat«.
— Wenn es die Domenkrone des Genies ist, alles Leid schwerer
und schmerzlicher zu fühlen als andere Menschen und das-
selbC; wie Pia^o sagt 820)^ in Folge einer »nicht unedlen Natur-
anlage« das Vergnügen derselben für ein »Blendwerk« hält, so
kennt es auch eine höhere Lust, die ein gewöhnlicher Mensch
nicht begreifen kann und sie deshalb für eingebildet und
Ueberspanntheit hält.
Leute aus den niedersten Classen sehen im Traum Teufel
und Geister, Spitzbuben und Raufbolde, die sie prügeln wol-
len, oder hören obscoene Stimmen. Gebildete glauben, dass feine
Intriguen ~ gegen sie gesponnen werden oder dass die Polizei
sie verfolgt. Die Salondame sieht sich in einem glänzenden
Cirkel mit grosser Angst im tiefsten Neglig^, und mitten unter
lärmender Freude und tumultvollen Tänzen um sie herum treibt
sie vergebens centnerschwere Angst sich zu versted^en oder
zu entfliehen, sie steht eingewurzelt den Blicken Aller ausge-
setzt. In gleichen Verhältnissen findet sich vielleicht die Bauer-
frau — in ihrer Dorfkirche. Der Entwickelungsgrad der Phan-
tasie, weiche ihr Material aus der Dicht- oder Tonkunst, der
Wissenschaft und dem practischen Leben entnimmt, ist auf die
Träume von bedeutendem Einfluss. Die Dame der Grossstadt,
— 215 —
die viel Romane gelesen, vielleicht gar ähnliche selbst erlebt,
kann sich die Liebesscenen ganz anders ausmalen als die naive
Schöne auf dem Lande ?^i). Allerdings haben, wie Lotze sagt'^),
alle dahingegangenen Geschlechter geliebt und gehasst, gehofft
und verzweifelt, gearbeitet und gespielt^ und die nach uns
kommenden werden uns darin gleichen ; dieselben Leidenschaf-
ten, die uns bewegen, dieselben intriguirenden Berechnungen
des Ehrgeizes und der Habsucht, dieselben versteckten Beweg-
gründe oder dieselbe offenherzige Hingebung der Liebe, die
wir in uns tadeln oder preisen, das alles hat von früh ah das
menschliche Geschlecht erregt; — es ist jedoch die Art und
Weise dieser Leidenschaften zu, berücksichtigen, man muss. nä-
her hinschauen, wie gehasst oder geliebt wurde und wird.
Von der Liebe einer Germanin entwirft Tacitus eine andere
Schilderung, als sie ein indiscreter Schriftsteller von den Aben-
teuern einer Hofdame unter der Regierung Ludwigs XIY . und XY.
wahrheitsgetreu geben könnte.
Die Leidenschaften, welche den Wachenden beherrschen 3^3}^
sowie der Stand und Beruf, welchem er angehört, bestimmen
den Inhalt der Träume. Der Ehrgeizige sieht entweder lauter
devote Personen um sich oder hört Spottreden, die ihn in seiner
eingebildeten Würde kränken; der Furchtsame erblickt überall
Verfolgungen, der Wollüstige malt sich Liebesscenen aus, und
der Geizige träumt viel von Dieben. Der Officier glaubt, seine
Compagnie vor sich zu haben, der Schneider sein Tuch, der
Tischler seine Hobelbank. Der Soldat liegt auf dem Schlacht-
felde verwundet und der feindliche Säbel blitzt über ihm, der
Bürger sieht in sein Haus ein Trupp Feinde eindringen; der
Gelehrte sucht mit grosser Angst ein Buch, der Bauer seinen
Karst. — Ausserordentliche Ereignisse im Familien- und Völ-
kerleben bilden oft den Inhalt der Träume, der sich bei den
Einzelnen verschieden gestaltet. Krieg, Revolution, Verhand-
lungen des Reichstags und Parlaments rufen den Soldaten
andere Träume hervor als den Kaufleuten, Bürgern und
Bauern.
Endlich i$t die Beschaffenheit des Schlafzimmers von Ein-
fluss. Bei schlechter Luft in demselben werden alle Angst-
träume begünstigt; und wenn man bei Irrsinnigen die Erfah-
rung machte, dass die Farbe ihrer Umgebung auf sie ausser-
— 216 —
ordentlich einwirkte ^^^j , so wird auch die Farbe der vom Biond
oder von der Sonne be&trahlten Tapeten und der Bettvorhänge
nicht nur in den Delirien der Fieberkranken, so&dem auch in
den Träumen nicht ohne Wirkung sein. Im Zimmer stehende
Slumen, eine tickende Uhr oder — wenn das Zimmer einer
Fabrik oder Werkstatte eines Schmiedes, Tischlers u. s. w.
naheliegt — Hammerschlage und andere Gerttusche lösen ver-
schiedene Traumvorstellungen aus. Nicht unwichtig ist end-
lich die Temperatur, die Bedeckung, die Unterlage und be-
sonders die Lage des Körpers.
Capitel
Vergleichung des Traumes mit dem Wahnsinn,
Die Aehnlichkeit des Traumes mit dem Wahnsinn hat man
sehen längst bemerkt. Kant sagt an einer Stelle: »der Ver-
rUekle ist ein Träumer im Wachena; ähnlich äussert sieh
Xrcmss: »der Wahnsinn ist ein Traum innerhalb des Sinnen-
wachseins« ^^) ; Schopenhauer nennt den Traum einen kurzen
Wahnsinn und den Wahnsinn einen langen Traum ^®} . Hagen
bemerkt : »Der Traum ist den psychischen Krankheiten analog«,
und an einer anderen Stelle: »Das Delirium künnen wir daher
bezeichnen als Traum-Leben, welches nicht durch Schlaf, son-
dern durch Krankheiten herbeigeführt ista^^^). Purkinje er-
kennt auch keinen qualitativen, sondern nur einen quan-
titativen Unterschied zwischen Traum und Wahnsinn an
(S. 449). KMschütter meint, wir seien berechtigt, die Hallu-
cinatioiien den Träum^a vollständig zu parallelisiren 3^^) ; ähn-
lich lautet die Ansicht vm Bina : »So lässt sich auch zwischen
Traum und HaKlucination eine scharfe Trennung nicht durch-
fuhren; beide gehen in einander Uber. Gemeinsam bleibt
beiden die eine Hauptsache, dass die logische Verkntlpfung der
im Gehirn entworfenen Yorsteilungem und die freibewusste
Thätigkeit des Willens gelähmt oder ganz aufgehoben sind;
nur ist, was wir im gewöhnlichen Leben Traum nennen, quan-
titativ die unterste Stufe der fiallueination und sie der höchst-
entwickelte Traum« (S. 23). Wundt endlich sagt: »In der
That können wir im Traum fast alle Erscheinungen, die uns
in den Irrenhäusern begegnen, selber durchleben« ^2^).
SpiUa fuhrt folgende Vergleichungsmomente an: i) Auf-
hebung bezw. Retardation des Selbstbewuss^seins , in Folge
dessen Unkenntniss tiber den Zustand als solchen, also Un-
— 218 —
möglichkeit des Erstaunens, Mangel des moralischen Bewasst-
seins; 2) modificirte Perception der Sinnesorgane und zwar
im Traume verminderte, im Wahnsinn im Allgemeinen sehr
gesteigerte; 3) Verbindung der Vorstellungen unter einander
lediglich nach den Gesetzen der Association und Reprdduction^
also automatische Reihenbildung, daher Unproportionalität der
Verhältnisse zwischen den Vorstellungen (Uebertreibungen,
Phantasmen), und aus Alle dem resultirend 4) Veränderung,
bezw. Umkehrung der Persönlichkeit und zuweilen der Eigen-
thttmlichkeiten des Charakters (S. 150).
Wir wollen bei der Betrachtung der Aehnlichkeiten zu-
nächst die physiologischen von den psychologischen
scheiden. Im Wahnsinn zeigt sich eine gesteigerte Reizbarkeit
und automatische Reizungen einzelner sensorischer und moto-
rischer Gebiete des Gehirns, die ebenso wie im Traum in
Veränderung der Blutcirculation ihren Grund haben. Veränderun-
gen des Pulsschlags scheinen alle Formen der geistigen Störung
zu begleiten und verrathen dieselben oft als frtlheste Symp-
tome. Gehimerkrankungen treten häufig als Folgen von Herz-
und Gefässerkrankungen auf^<>), oder es gehen die Störungen
des Blutkreislaufs von den Gefässen der Hirnhaut oder des
Gehirns selbst aus. »So liegt denn die Annahme nahe, dass
alle Arten automatischer Reizung der Gentraltheile , mögen
dieselben physiologische sein oder als pathologische Störungen
auftreten, im wesentlichen auf übereinstimmende Ursachen zu-
rückzuführen sind, nämlich auf Zersetzungsproducte der Ge-
webe, die entweder schon normaler Weise, wie bei gewissen
besonders reizbaren Gentraltheilen, den automatischen Gentren
des Verl. Marks, oder erst wenn sie in Folge von Störungen
des Blutaustausches in ungewöhnlicher Menge sich anhäufen,
die Reizung hervorbringen« ^^^j.
Je nachdem die Veränderungen im Gehirn mehr oder min-
der ausgebreitet sind, zeigen sich die Reizungserscheinungen
in grösserem oder geringerem Grade. Bei Erkrankungen sehr
kleiner Partien der Hirnrinde übernehmen andere stellvertre-
tend ihre Functionen und die Störungen versehwinden allmäh-
lich. Anders ist es, wenn die Veränderungen sich ausbreiten;
hier sind die Reizungsei*scheinungen in hohem Grade denen
im Schlaf ähnlich, nur sind sie intensiver. Sie gehören ebenso
— 219 —
t
wie diese dem sensorischen und motorischen Gebiete an: die
sensorische Erregung äussert sich als sehr lebhafte Hallucina-
tion und Illusion, die motorische verursacht Zwangshandlungen.
Dieselben Ursachen , welche zuerst erregend auf das centrale
Nervensystem wirken , vernichten allmählich die Functions-
fähigkeit desselben und es tritt Lähmung ein.
Die einzelnen in Folge der centralen Reizbarkeit äusserst
lebhaften Vorstellungen verbinden sich wie im Traum nach
den Gesetzen der Association, oder wie Wundt sich ausdrückt :
es vermengen sich die aus automatischer Reizung hervorge-
gangenen Empfindungen und Rewegungstriebe mit der in der
ursprünglichen und erworbenen Organisation des Gehirns be-
gründeten Disposition zu einem zusammenhängenden, mit den
Resten früherer Empfindungen verwebten Yorstellungsverlauf.
— Der Traum wie das Irrsein erhält seine wesentliche Färbung
und seinen bestimmten Grundton von der herrschenden Stim-
mung, welche entweder aus den psychischen Erlebnissen des
gesunden und wachen Lebens herübergenommen oder durch
Aenderung der organischen Zustände erst während des Schlafs
oder der Krankheit gegeben wird; besonders sind alle krank-
haften Eindrücke von den Verdauungs- überhaupt den Unter-
leibsorganen sehr bestimmend.
Die Elemente der Wahnideen sind theils äussere objective, -
theils subjective, dem eigenen Organismus entstammende Ein-
drücke, theils Reproductionen aus früherer Zeit. Im Gebiete
des Gesichts- und Gehtfrssinns und des Gemeingefühls findet
man die meisten Hallucinationen und Illusionen; die wenig-
sten Elemente liefern wie beim Traum der Geruchs- und Ge-
schmackssinn. Dem Fieberkranken steigen in den Delirien
wie dem Träumenden Erinnerungen aus langer Vergangenheit
auf; was der Wachende und Gesunde vergessen zu haben
schien, dessen erinnert sich der Schlafende und Kranke. Auch
in dem höheren Stadium des Wahnsinns wird das näher Lie-
gende immer augenblicklich wieder vergessen, während nicht
selten frühere, an Ereignisse längst vergangener Lebensperioden
geknüpfte Vorstellungen leicht reproducirt werden '^^). Dem
von körperlichen und geistigen Leiden Gequälten gewährt der
Traum, was die Wirklichkeit versagte: Wohlsein und Glück;
so heben sich auch bei dem Geisteskranken die lichten Bilder
— 220 —
voü Glttck , Grösse , Ertiabenheil und Reiohthum. Der ver-
meintUcfae Besitz von Gttiem und die imaginUre Erfttlluag von
Wünschen, deren Verweigerung oder Vernichtung eben einen
psychischen Grund des Irreseins abgäbe»; ntacfaen häufig den
Hauptinhalt des Deliriums aus. Die Frau, die ein theures
Kind verloren, detirirt in Mutterfreuden, wer Vermögensver-
iuste erlitten, hält «ch fttr ausserordentlich reich, das betrogene
Madchen sieht sich sartiich geliebt. Im Allgemeinen ist das
Gedächtniss nicht umfassend '^^j ; die bedeutende Enge des
Bewusstseins geslsattet nur wenigen Vorstellungen zugleich
Raum. Barocke Gedankenverbindungen und die
Schwäche des Urtheils sind es, welche den Traum und
den WahuMun hauptsächlich charakterisiren. Da nur wenige
Vorstellungen im Bewusstsein gegenwIMig sind, fehlt der
richtige Massstab CUr die neu hinzutretenden; sie werden in
ein falsches Verhältniss zu den übrigen gebracht und so ent-
wickelt sich eine Unpreportienalität in allen Bildern, weiche
dem Träumenden und GmsteskraAken vorschweben, lieber-
treibungen und Rodomeataded werden zur Regel, das Aben-
teuerlichste und Mzarrste wird &r möglich, ja selbstverständ-
lich gehalten, der platteste Unsinn wird zur unzweifelhaften
Wahrheit, da die Vorstellungen, welche ihn l>erichtigen konn-
ten, ni<^t ins Bewusstsein treten. Maoehe Geisteskranke sind
von grossem Entzücken erfüllt über die Entdeckungen, die sie
gemacht haben, was sie aber davon äuasom und demonstrfren,
ist der vollendetste Unsinn. Der sonst den Verlauf der Vor*
Stellungen beherrschende verailnftige Wille, wel<$her Ordnung
in das Chaos bringen konnte, ist geschwunden ; doch kommen
im Traum wie im Irrsinn Uobtblitze der höheren psychischen
Thätigkeiten vor. Ein Freund Jfotiry'«, der früher an einer
Geisteskrankheit gelitten hatte, aber vollkommen geheilt war,
erzählte ihm, er habe in seinem Wahnsinn geglaubt, zur Fa-
milie der Bourbons zu gehören und titel und Orden ver-
schwenderisch ausztttheilen ; von Zeit zu Zeit ehar habe er
doch die uabeslimmte Vorstellung gehabt, es sei nur Täusdiung
und alles wäre eine PhantasmagDrie, die er jedoch nicht habe
verbannen können ^^) . Der Irre zieht oft formal-logisch riditige
Felgeningen aus falschen Prämissen ; dasselbe fanden wir beim
Träum^Mlen. Dem rapiden Vorstellungslauf bei letzte-
— 221 -
rem entspricht die ideenflueht des ersteren. Bei beiden
fehlt jedes Zeitmass: wie wir im Traum Jahre in einer
Yiettelsinnde durchleben, so seheinen Ereignisse, welche nach
ihrem wirUiehen G^sehehen Monate erfordern wttrden , dem
Krankmi in kürzester Frist vorgegangen zu sdin.
Gemeinsam ist Imier die Spaltung der Persönlich-^
kalt. Eine Wahnsinnige , welcher religiöse Ueberspannung
und Processe den Kopf verrtt«ki hatten, war unaufhörlich in
einem Streit mit einem Richter begriffen, dem sie den Verlust
ihres Prooesses Schuld gab; sie hatte sogar merkwürdiger
Weise, um ihm antworten zu können, den (jode und das Pro^
cesBverlahren studirt, ;, — aber der Richter war, wie sie sagte,
stiirker als sie und brachte Argumente und juristisdie Aus-
drücke vor, die sie weder zu widerlegen noch sdbst zu ver-
stehen vermochte 33^). Unterhaltungen und Disputationen mit
eingebildeten Personen, Ofienbarungen von Christus und den
Engeln, YerlodLungen und Verfolgungen des Teufels finden sich
häufig in den Wahnideen. In Folge anormaler Gemeingefühle
hält der Besessene seinen Leib oder einzelne Gliedmassen für den
Wohnsitz des Teufels und der Dämonen, eb^sso wie der Träu-
mende zuweilen glaubt, eine fremde, ihm unangendmie Person
in seiner Nähe zu haben, deren fiinfluss er sich trotz alfcfr
Mühe nicht entstehen kann, oder Ungeheuer auf sich zu stür*
zen sieht. Dem Traumredner werden zuweilen die Worte wie
von einer Stimme dictirt; so giebt es aueh fremde Anreden
und Interpellationen, weldie von einzelnen Irren als »geist*
weise«, als »Seelenspradiea bezeichnet werden (psychische fial-
hieinatixmen Baillarger^s) ; [es sind ionlese innere Stimmen,
blosse sehr lebhafte VorsteUnngen, von denen es all« möglichen
Uebergänge bis zu dem lautesten Lärmen der Stimmen giebt s^^).
Den stere<)typen pathologischen Träumen ent^
sprechen die constanten Wahnideen bei denselben Krank*-
heiten, z. R. beim Säuferdelirium die von Ratten und Mäusen
und allerlei kleinen unangenehmen Tfaieren. Nach einzelnen
bestinunten psychischen Ursachen zeigen sidi ebenfalls, wenn
nicht constante, so doch oft sich findende Charaktere des Irre-
seins. Der Wahnsinn charakterisirt sich beim w«iblidien Ge-
schlecht nach ungltteklidier Liebe — welche oft im Traum eine
so wichtige Rolle spielt — gewöhnlich dunh eine tiefe, zu^
- 222 —
weilen in Stupor Übergebende melancbolische Depression, durch
Neigung zum Selbstmord, hysterische Gomplicationen, grosse
körperliche Entkrttftung^ häufigen Ausgang in Tuberculose.
Dai^ Irresein aus Schrecken zeigt am gewöhnlichsten den Cha-
rakter der Melancholie mit Stupor, mit oder ohne darauf fol-
gende Tobsucht. In d^r an Träumen so reichen Sdiwanger-
Schaft kommen oft leichtere psychische Störungen vor.
Der Traum und der Wahnsinn verschaffen in Folge der
gesteigerten Reizbarkeit des centralen Nervensystems allen
Vorstellungen die Stärke unmittelbarer Eindrücke; alle Gedan-
ken werden dadurch objectivirt und erhalten den Charakter sinn-
licher Wahrheit. Bei den meisten Genesenen ist die Erinnerung
an die früheren Wahnideen gesdiwunden, bei manchen ist sie
verworren und bruchstückweise. »Bald gleicht die Genesung
dem einfachen Erwachen: während das Individuum sich stau-
nend zu recht zu finden sucht, versinken die der Krankheit
angehörigen Vorstellungsmassen in kurzer Zeit und das alte
Ich tritt unversehrt und unbeeinträchtigt wieder an ihre Stelle.
Andere Male lösen sich die schon geknüpften Verbindungen
schwerer, und indem das alte Ich nur langsam erstarkt, besteht
die Genesung noch einmal aus einem peinlichen Kampfe, in
welchem der Erwachte jetzt oft des Zuspruchs, der Belehrung,
der Leitung durch fremden Willen zur eigenen Kräftigung be-^
darf. Es ist nicht selten, dass dann dodi nicht jeder Faden
des Wahngespinnstes sich heraus ziehen lässt, und auch der
Genesene behält mitunter für lange Zeit oder für immer als kleine
Ueberreste gewisse Tics und Bizarrerien, gewisse Verschroben-
heiten und Verstimmungen an sich, ja er erleidet zuweilen
von hier aus eine durchgreifende Aenderung seines Caraktersa^^^).
Wie die Traumbilder zuweilen den Schlaf selbst oder in ihren
Wirkungen überdauern, so haben in manchen Fällen auch die
Delirien beim Wahnsinn ihr Nachspiel. Viele Genesene
sagen, dass ihnen die ganze Zeit ihrer Krankheit
jetzt wie ein Traum, bald wie ein glücklicher,
viel häufiger aber wie ein schwerer und düsterer
vorkomme; einzelnen hat auch während des Irr-
seins ihr früheres gesundes Leben nur den Ein-
druck vergangener Träume gemacht.
Die Aehnlichkeit tritt besonders in dem Gedankenspiel
— 223 —
der Träume hervor, welche das Einschlafen begleiten. Die in
unendlichen Abstufungen in einander übergehenden Mitteizu-
stände zwischen Schlaf und Wachen begünstigen auisserordent-
lich das Auftreten von Illusionen und Phantasmen, welche sich
durch ein zügelloses Treiben der Phantasie und Verwirrung der
Intelligenz auszeichnen. Im Zustande der Schläfrigkeit, der
ihnen vorausgeht, zeigt sich das Individuum schwerföllig, torpid
und schweigsam; die Sinne werden stun)|>f, die Gesichtsein-
drücke verschwimmen, die Töne scheinen aus grösserer Ent-
fernung zu kommen, das Bewusstsein umhebelt sich, die Ant-
worten kommen verspätet; man vergisst sich halb und spricht
wohl auch Verkehrtes, — ganz so, wie man es beim Beginn
des Irrsinns beobachtet, dass die sensitive und motorische
Reaction gegen die Aussenwelt ermattet und dann Phantasmen
und verwirrt durch einander gehende Vorstellungen auftauchen.
Zu der allmählichen Beschwichtigung des Vorstellens und
Strebens, wie es im Tiefschlaf stattfindet, lässt es die dauernde
und schmerzliche Gemüthsbewegung des Irrsinnigen nicht
kommen, und man beobachtet auch in diesen Anfangsperioden
der Krankheit trotz der äusserlichen schläfrigen Ermattung sehr
gewöhnlich Sdilaflosigkeit. »Ein besonders wichtiges und häu-
figes solches Mittelglied für die psychische Erkrankung ist«,
wie Griesinger sagt (S. 472), »die anhaltende Schlaflosigkeit,
welehe die depressiven Affecte so oft mit sich bringen, welche
das Gehirn überreizt und die Ernährung herabsetzt. Sie bietet
daher auch in vorbereitenden Stadien des Irreseins oft einen so
wirksamen Angriffspunkt der Therapie«. Wenn nun aber Spitta
diese anhaltende Schlaflosigkeit* als einen sicheren Beweis an-
sieht, wie wenig statthaft es sei , Traum und Irrsinn ohne
weiteres mit einander zu »identificiren«, da der Traum »nur
im Schlafe möglich ist, nicht ohne die Voraussetzung des
Schlafes kann angenommen werden a (S. 454 f.), — so ist da-
gegen zu bemerken : erstens , dass Niemand beide Zustände
vollständig »identificiren«, sondern dass man nur ihre
Aehnlichkeit nachweisen und sie als verschiedene Gra-
dationen betraditen wird, — und dann, dass das Erwähnte
die Aehnlichkeit nicht in Zweifel stellt. Im Schlaf wird der
Reixungszustand durch die Lage, Veränderung der Respiration
u. s. w. periodisch und normal hervorgerufen, beim Wahnsinn
— 224 —
ist er die Folge von anormalen Vorg&ngen und Erkrankungen ;
seine entfernteren Ursachen sind also nicht dieselben, er selbst
aber zeigt keinen qualitativen, sondern nur einen quantitativen
Unterschied.
Der TiefsohUI gewährt bei der verringerten organischen
und minimalen psychischen Function ein Ausruhen, das äusser9t
wohlthätig wirkt; da dieser in Beginn des Irreseins fehlt, so
wird der Reixungszustand bedeutender und die Wahnideen
zeigen dann in ihrer Lebhaftigkeit einen Untersdiied von den
Traumvorstellungen. Bei der Entwickelung des Wahnsinns
fehlt die Periode, welche dem normalen Iforgentravm veran*
geht, ohne dass er selbst von diesem qualitiAiv versdiieden
würde; die quantitative Verschiedenheit aber wird dadurch
mit bedingt.
Die Muskelthätigkeit, deren Mangel man gewöhnlich
als charakteristischen Unterschied aulfasst, ruht nicht in jedem
Traum^ wie das Schlafreden und Nachtwandeln zeigt.
Besondere Aehnlichkeit mit dMn Irrsinn zeigen <Ke mag-
netischen Schlafzustände. »Das ausserordentliche Wohl-
gefühl in ihren höheren Graden, jene unbeschreiblichen Empfin-
dungen , die nicht mehr von dieser Welt zu sein scheinen,
finden sich wieder in der grossen Leichtigkeit und Behaglifh*
keit maneher maniacalischer Zustände und in dem seligen Ver^
sunkensein mancher Irren in Wohlgefüble, die sie nicht metxr
zu besehreiben vermögen und für die sie gleichfalls das Büd
einer Vereinigung mit dem Göttlichen wählen. Jene neue
Wortspraehe, die sich einzelne Somnambule als eine vermeinW
liehe Sprache des Geisierreiclus bilden, jene Neigung, sich »it
der Gonstruction des Weitalls und überhaupt mit den letaten
Prc^lemen des menschlichen Denkens mystisdi zu bescböftig^i,
bis auf das aflectirte Hochdeutsehreden bei Ung^ildeten
hinaus, — all dieses findet sidü bei manchen Verrückten in
denselben Gombinationen wieder und die viel grössere
Freiheit der Bßwegungsorgane in den letzteren Zu-
ständen dürfte in der That für einzelne Fälle den Hauptunter*
schied abgeben« ^^]. Die magnetische Exaltation- seheint sich
wie die wachende maniacalische nicht selten aus verenge^
gangenen Schmerzzuständen zu entwickeln und dann eine anta-
gonistische Ueberhebung, theils über das körperliche und
— 225 —
geislige Leiden im Wachen, theils über dunkle Traumzustände
mit Visionen, welche in der ersten Periode des magnetischen
Zustandes erscheinen, zu bilden. Auch den Somnambulen wird
ihre dürftige Weisheit meistens durch Yermittelung von Gesichts-
und GehGrshällucinationen mitgetheilt.
Bei schon vorbereiteter Krankheit s<$hrieb der erste Aus-
bruch sich öfters von einem sehr affectvollen. Traume her und
die vorherrschende Wahnidee stand mit den Vorstellungen des
Traumes in Verbindung*^®). Gregory macht darauf aufmerk-
sam , dass die Wahnbilder des Irrsinns nach der Genesung in
Träumen wieder auftauchen. Allison hebt die Erscheinung
nächtlicherGeisteskrankheit (noctumal insanity) hervor,
wo die Individuen bei Tage anscheinend vollkommen gesund
sind, während bei Nacht regelmässig Hallucinationen, Tobsucht-
anfalle u. s. w. auftreten **<^) . Auch Guislain berichtet einen
Fall, wo ein intermittirendes Irresein (r^ve d^lirant) an die
Stelle des normalen Schlafes trat; und dabei einen zwischen
wahrem Traum und Nachtwandeln stehenden Charakter zeigte ^^i).
Man hat darauf aufmerksam gemacht , dass trotz aller
Aehnlichkeit ein grosser Unterschied zwischen den Traumzu-
ständen und den Geisteskrankheiten stattfände, da jene nur
im Schlaf, diese aber während des Wachens auftreten, wo die
Verbindung mit der Aussenwelt ni<?ht gestört ist^^^j. Etwas
anders äussert sich Griesinger: )>Wenn nun auch nicht alle
irren Zustände den Charakter des Traumartigen in gleichem
Masse an sich haben, wenn solcher entschieden am meisten
einzelnen primären Zuständen, besonders der Melancholie mit
Stupor, wo in der That der Verkehr mit der wirkliehen Welt
in hohem Grade beschränkt ist und die meisten Eindrücke
phantastisch transformirt werden, auch einzelnen maniaca-
lischen Zuständen zukommt, wenn dagegen andere, namentlich
mehr secundäre Formen , wie die partielle Verrücktheit , alle
Zeichen eines vollen Wachens, eines äusserlich besonnenen
Verkehrs mit der Welt darbieten, so könnte immer noch ge-
fragt werden, ob solches Wachen, in dem zuweilen der Kranke
von seinem ganzen früheren Leben sich losgesagt oder dasselbe
ganz vergessen hat, indem er äusserlich in der Scheinwelt
seiner Hallucinationen, innerlich in ein Traumnetz von Wahn-
vorstellungen eingesponnen lebt, — ob solches Wachen in der
£ ade stock, Schlaf Q. Tranni. 15
— 226 —
Thal Dicht mehr Aehniichkeit mit manchen, das Tageslebeii
unvollständig deckenden magnetischen Zuständen habe, als mk
dem Wachen, das wir aus unserer Erfahrung als das gesunde
kennen« (S. 143). Ferner findet SpiUa einen Hau{rtuiKterschied
darin, dass im Traum verminderte, im Wahnsinn ge-
steigerte Perception der Sinnesorgane sich zeige. Er sagt:
»Die psychischen Krankheiten überhaupt als potenzirte Schlaf-
bezw. Traumzustände anzusehen, würde offenbar zu weit ge-
gangen sein, da ihnen auch in den Fällen, in denen das Selbst-
bewusstsein gänzlich aufgehd)en ist, doch einige Momente
fehlen , die den Schlaf noch besonders als solchen charak-
terimren. Hierher gehört hauptsächlich der Unterschied beider
Zustände in Betreff der Stärke der Sinnesperceptionen , die,
wie wir sahen, während des Schlafes nur in einem sehr ge-
hemmten und geringeren Grade möglich sind, was man bei den
meisten psychischen Anomalien im Allgemeinen nicht wahr-
nimmt, im Gegentheil, oft sind in diesen Zuständen die Sinne
ungemein geschärft und für den leisesten Eindruck empfänglich«
(S. 448; vergl. auch S. 450). — Es ist richtig, wenn er
die Besdiränkungen »oft« und »im Allgemeinen« dazusetzt,
denn es finden sich bei Geisteskranken sensitive und motorische
Zustände, welche in Verbindung mit der zugleich vorhandenen
Umdämmerung des Bewusstseins lebhaft an das Verhalten des
beginnenden Schlafes erinnern. Melancholische klagen zuweilen
über Anästhesie. »Ich sehe, ich höre, ich fühle«, sagen solche
Kranke, »aber die Gegenstände gelangen nicht bis zu mir, ich
kann die Empfindungen nicht aufnehmen ; es ist mir, als wäre
eine Wand zwischen mir und der Aussenwelt«. Man findet
bei ihnen eine Verminderung der peripherischißn Hautsen-
sibilität, so dass ihnen die Gegenstände undeutlicher erscheinen.
In ekstatischen Zuständen macht sich zuweilen eine Verminde-
rung des Willenseinflusses auf die Muskeln, Schwerbeweglich-
keit des ganzen Körpers mit Einschluss der Sprachoi^ane, bis
zur bildsäulenartigen, cataleptischen Erstarrung bemerklich ^^'^) .
Wo andrerseits eine erhöhte Empfindlichkeit sich zeigt, be-
ruht dies wohl weniger auf gesteigerter Thätigkeit des peri-
pherischen als des centralen Nervensystems. Da der Reiz-
zustand des Gehirns — der sich freilich alimählich von da
aus auch nach der Peripherie hin ausbreiten kann — ein ge-
— 227 —
s^eigerter iatr, erscbeinen di« Empfiadafi^n bedeutend ver*
stallt. DuBselbe ist in geringerem Grade auch Im Traum der
Fall ; Anas ist ttber^ieb^n : ein Ueines Gerfiuach wird als
KanaonendonDer und Sluvmgelttitt wahrgenommen, trotzdem
das^ pevipheriariie Nervensystem schwach functionirt und die
ftei2«cbw0lle- höher liegt.
Oer Traum, der meist von den Reproditctionen der
^ng9tan und ^teren Yergangenhett lebt, liefert durch seine
mannig^altigcoDt Combinätionen wechselndere Bflder^^^) , während
der Inre tamisk in festere Vorstellungskreise gebannt bleibt.
Bestimmte kfoen , die durch einen Zufall entstanden , repro-
duciren sieb iaamier wieder und gewinnen allmdhlich die Macht
llber alle anderem Vorstellungen sowie tiber das Handeln. Die
centrale Bieixbarkeit verleiht allen Yoratellungen eine ungewöhn-
liche' Stärke und bringt sie dfter zur Reproduotion ; da das
Bewusstsein nuff eipe begrenzte Zahl von Yorslellungen zu
faussen vermag, so ziehen sich ^ie leicht verfügbaren auf einen
immer enger weirdenden &reis zusammen. Sie fixiren sich und
lassen kelno' «yadereii meiir i^ben sich aufkommen. Wenn nadi
lä«geref Zeit der eentrale Reianistand aufhört, ist durch die
Verödung der centrale« Sinnesflächen das Bewusstsein über-
haupt emger geworden, und es haben in ihm nur noch jene
fixen Ideen Plata.
In Betreff der Spaltung der Persönlichkeit bemerkt
Sputa : »Das EigMithttmlieiie der drei Zustände liegt also darin,
dass bei voller geistiger Gvesondheit die Selbstdiremtion des
Ich jiar eine ideelle, hypothetische ist, in der Hypoehon-
drie und Melancholie sich zu objectiviren strebt, in der voll-
endeten Verrücktheit sich objectivirt hat. . . . Das wesent-
liche Moment, durch welches sich der Traum von den psy-
chisehep Alienationen unterscheidet, und weiches immer muss
festgehalten werd^i, liegt in der durchgängigen Einheit des
GemeingefilUs, der Gemeinempfindung, welche durch die hypo-
thetische Diremtion des Ich nicht aufgehoben wird, selbst dann
nicht, wenn wie beim Traume, diese Diremtion durch Vor-
phantasirung den Schein realer Wirklichkeit annimmt, und
damit die Bewusstseinsgrenze zwischen Ideellem und Realem
verschiebt, — wir sind stets im Stande, aus der'Theilung in
die Einheit zurückzukehren und die Trugvorstellungen später
15*
— 228 —
als solche zu erkennen und zu berichtigen. Diese Einheit
des GemeingeftthU fehlt beim Wahnsinn gänz-
lich a^^). An einer anderen Stelle sagt er jedoch: »Es kommt
sogar vor, dass bei organischen Functtonshemmungen , beson-
ders, wenn sie andauernd sind, sich die Gemeinempfindung
(Gemeingefühl) des Traumlebens von der des normalen wachen
Lebens ablöst, sich völlig gegen dieselbe kehrt, so dass ihre
Reproductionen nur sehr wenig, vielleicht gar nicht in die
Geschichte des wirklichen täglichen Lebens eingreifen und
aus ihm die Objecto der Traumvorstellungen entnehmen. In
diesen Fällen ist das charakteristische Moment, welches Traum-
leben und waches Leben mit einander gemeinsam haben, und
welches andrerseits das Traumleben von den psychischen Alie-
nationen als solchen trennt, die Einheit des Gemein-
geftthls, aufgehoben, indem die jenen organisdien Stör-
ungen entsprechenden Vorstellungen und Gefühle sich mit
einander verbindend, den ganzen bereits vorhandenen Bewusst-
seinsinbalt bis auf die Schwelle niederdrücken und nun ihrer-
seits neue Reihen bildend, den disparaten Traum erzeugen.
Derartige Träume können einem denkenden Arzte unter Um-
ständen die Diagnose einer verborgenen Krankheit wohl er^
leichtem, — treten dieselben häufig ein, so ist wegen
der stetig wachsenden Theilung und Spaltung des
Gemeingeftthis für die psychische Gesundheit zu
fürchten« (S. 484 f.). Er erkennt also an, dass manche
Träume, »die nicht selten mit einer gewissen Periodidtät sich
einstellen«, einen gewissen Uebergang zum Wahnsinn bilden
können.
Somit finden wir nicht nur ausserordentlich zahlreiche
Aehnlichkeiten, sondern auch Uebergänge dieser beiden Zu-
stande in einander, und es ergiebt sich, dass der Wajmsinn,
eine anormale, krankhafte Erscheinung, als eine Steigerung des
periodisch wiederkehrenden normalen Traumzustandes zu be-
trachten ist.
Capitel X.
Die träumerischen Zustände des Wachens.
Iräumerisch pflegt man die Zustände des Wachens zu
nennen , in welchen sich der Wille weniger energisch im
Denken und Handeln des Individuums wirksam zeigt, wie es
eben im Schlaf der Fall ist.
Der empfindsame Schwärmer, weicher durch die Ein-
drücke nicht zur kräftigen Reaction veranlasst wird, sondern
sich nur receptiv verhält und vorzugsweise am Gefühlswerth
Interesse nimmt, — der Idealist^ der sich mit. seinen Gedan-
ken lieber beschäftigt als mit den Dingen der äusseren, prak*
tischen W^elt und mehr in Vergangenheit und Zukunft als in
der Gegenwart zu leben scheint, der Wünsche hegt und Ziele
zu erreichen sucht, welche Anderen unerreichbar dünken —
wird nicht minder für einen »Träumer« gehalten als der wenig
befähigte Kopf, dem Nichts Interesse abgewinnen und den
Nichts zu begeistern vermag, weil er nie die Wichtigkeit eines
Gegenstandes zu ermessen weiss, um danach sein Handeln
einzurichten. Zuweilen sammelt sich bei Träumern ersterer
Art die Kraft, und es drängt sich plötzlich eine Schöpfung,
eine That hervor, die Niemand erwartet hat und welche Alles
in Erstaunen setzt. Viele Männer , deren Namen später mit
hoher Verehrung genannt wurden, — besonders in der Kunst
•— galten in der Jugend für untaugliche Schwärmer und Träu-
mer, da sie durch ihre individuelle Anlage zum inneren Ge-
danken- und Geistesleben und zwar nach einer bestimmten
Richtung hingetrieben wurden 8**) , — weshalb sie nur für das
Interesse zeigten, was in diese Richtung einschlug, während
sie für Anderes, dessen Gebiet ihnen ferner lag, sich mehr
oder minder unempfänglich zeigten. Andere^ die durch Miss-
t
— 230 —
griff der Erziehung oder durch die Ungunst äusserer Verhält-
nisse mit Gewalt in solche Gebiete, die ihnen fremd waren,
gedrängt und dadurch verhindert wurden, ihre Anlagen aus-
zubilden, verliess dieser träumerische Zustand nicht während
des ganzen Lebens, und der bedauemswerthe Zwiespalt ihrer
Anlage und Neigung mit den praktischen Bedürfnissen und
Pflichten verzehrte ihr bestes Markl
Der träumerische Geisteszustand wird bedingt theils durch
körperliche Constitution, die entweder angeboren mehr oder
minder während des ganzen Lebens, oder nur in einzelnen
Perioden der Entwickelung sich zeigt, theils durch momentane
psychische und physische Ursachen, theils endlich durch künst-
liche MUtel, durdi welche man sich Phantasien dtdr versohie-
deniäten Art hervorzaubert«
Das Weib ist, wie wir schon ausgeführt haben, der eigent-
liche Typus der Sensibilität im Gegensatz zum Manne, der den
Willen repräsentirt. Es bewegt sich am meisten innerhalb
des Gefühlslebens, Träume und Ahnungen haben ftlr dasselbe
ein grosses Interesse und sein ganzes Denken im Wachen ist
so zu sagen mehr oder minder Träumerei. Sinnend sittt die
junge Dame an ihrem Stickrahmen; die Gedanken eilen ohne
grosse Klarheit schnell Yorüber, es bilden sieh seltsame Ver-
bindungen, und die Phantasie malt die Bilder^ deren Gegen-
stsmd die mannigfachen Wünsche tmd Ideale sind, auf das
herrlichste auA. Sinnend blickt femer die Mutter auf das
spielende oder ruhig schlafende Kind und smcbt sich vorzu-
stellen, was die Zukunft in ihrem dunklen Schoosse für das-
selbe birgt, dd sie Glück oder Umt^iück, Leid oder Freude ihm
bringen wird^
Auch unter den Vertretern des mä&nli(^n Geschlechts
findet man soldae sensible Naturen. Das melancholische oder
Sieütimentale Temperament dLsponirt zu Phantaslereifm, es be-
günstigt das oft unnütze Grübeln und die Unthtttigkeit im
praktisoben Leben.
Mangel des energischen Willens diarakterisirt femer das
Leben des sanguinischen Kindes; schnell versdbwiniten die
Vorstellungen und Gefühle wie sie gekommen, und Olttok ist
die vorherrschende Stimmung ganz wie im Traum. Als be-
sonders iräumerisch ist aber die Zeit der eintretenden 6e-
— 231 —
sefalechtsreife bekannt ^^j. Hier fehlt nicht nur die kräftige
AeusseruDg des eben sich entwickelnden Willens, sondern es
tritt auch noch das andere Moment hinzu, die mehr oder we-
niger verminderte Pereeptionsfähigkeit äusserer Eindrtteke.
In sidi versunken vernimmt oft die erblühende Jungfrau wie
der Jlingling die Fragen nicht richtig, weidie an sie gerichtet
werden, vorübergehend sind ihre Stimmungen, unbestimmt
und nebelhaft gestaltet sich ihr I>enken. Phantastische Idediität,
das Streben nach einem dunklen Etwas in grauer unbestimm-
ter Feme und überhaupt das Unbestimmte, Masslose, der
schnelle Wechsel einander verdrängender Gedanken und Ge-
fühle ist diesem Lebensalter eigen ; sonderbare Launen, die eben
so schnell vergehen als sie gekommen, beherrschen den Men-
schen. Es diarakterisirt sich diese Zeit durch das sich Vor-
bereitende, gleichsam noch nicht Fertige, sondern Werdende
und daher Unbestimmte im physischen wie im psychischen
Gebiete. Der Jüngling fabricirt seine Liebesgedichte ä la Lenau
oder ä la Heine ; die Jungfrau ist bei aller, oft in das Mystisch-
Religiöse spielenden Schwärmerei sinnlich, ja zuweilen leicht
zu verführen, und ihre Phantasie zaubert ihr oft minder heilige
Bilder vor. — Später tritt ein ähnlicher träumerischer Zustand,
— besonders wenn das Gefühlsleben mehr ausgebildet und das
klare theoretische Denken weniger entwickelt ist, — bei Er-
regung des Gemüths ein. Die Liebe, welche zur Zeit der
Pubertät erwacht, aber dieselbe überdauert, ist »gedankenvoll«,
ohne dass die Gedanken besonders inhaltvoll und klar
sind; Wenige begeistert sie zu grossen Thaten, die Mehrzahl
versetzt sie in eiu dumpfes Brüten und in mystische Phantaste-
reien ^®) .
Hierher gehört auch das religiöse Versenktsein , die Ent-
zückung oder die Ekstase, von welcher Paulus bekanntlich sagt,
er wisse nicht, ob er dabei in oder ausser dem Leibe gewesen.
AugusUn erzählt von einem Mönche, der in der Entzückung
wie ein Todter war, und den man stechen, schneiden und
brennen konnte, ohne dass er es fühlte. Das Mittelalter hat
viele solcher Beispiele aufzuweisen.
Von Coleridge und Mozart wird gesagt, dass sie ihre
vollendetsten Werke in einer Art von bewusstleeekn Zustande
schufen ^^^),^ und Sokrates fand Aehnliches bei den Dichtem
_ 232 —
seiner Zeit. Ueberail, wo die Phantasie mehr ais das streng
logische Denken entwickelt ist, zeigt die Seelenthätigkeit mehr
oder minder den Charakter der Träumerei. Aber auch Newton
befand sich stundenlang in einer derartigen Vertieftheit des
Geistes, dass er fttr alle äusseren Eindrücke abgestorben zu
sein schien ; nach seiner eigenen Aussage wartete er in diesem
Zustande förmlich ab, bis ihm die Gedanken ganz von selbst
kamen, und er verdankte diesem Brüten seine grossartigen
Entdeckungen. Wo das Selbstbewusstsein momentan zurück-
getreten^ ja fast gänzlich geschwunden, ist oft die Keimstätte
der tiefsten Gedanken, da der Vorstellungslauf dann weniger
unterbrochen und die Gedanken sich gewissermassen nach ihren
Wahlverwandtschaften combiniren können. Freilich bedürfen
dann ,die meisten Producte einer nachfolgenden logischen
Prüfung.
Anderer Art als die psychische Goncentration , welche
weniger den Mangel des Willens als die verminderte Perception
äusserer Eindrücke mit dem Traum gemein hat, ist die nach
langer geistiger Arbeit eintretende Ermüdung, die durch hasti-
ges Spiel der Gedanken , welche der Aufmerksamkeit nicht mehr
Stand halten wollen, ihre Aehnlichkeit mit dem Traume be-
kundet. Auf Spaziergängen erhebt sich ein neckisches Spiel
der Vorstellungen; hastig und unbestimmt eilen sie vorüber,
die Phantasie verbindet sie zu seltsamen Gestaltungen, aber
die Bilder verschwinden rasch wieder und sind in stetem
Wechsel. Der Frühling und Herbst begünstigt das Gefühlsleben ;
die Dämmerung lässt durch die Unbestimmtheit der Eindrücke
der Phantasie Raum, das unvollkommen Aufgenommene nach
ihrer Weise zu ergänzen, während die scharfe Meditation den
Tag und das Licht liebt: es ist die Zeit phantastischer Träu-
merei. Wie am Abend ein Vorspiel, so hat der Traum oft
am Morgen ein Nachspiel. Sputa erzählt (S. 22), dass einer
seiner Universitätsfreunde fast jeden Morgen nach dem Auf-
stehen in einen Zustand der Träumerei verfiel , welcher einer
leichten Betäubung nicht unähnlich war; er sass auf seinem
Bette^ stierte vor sich hin und sah kaum, was um ihn vorging.
Diese Verfassung pflegte gewöhnlich so lange anzuhalten, bis
er sich das Gesicht gewaschen hatte, dann erst kam er wieder
ganz zu sich und war oft trotz der grössten Mühe nicht im
— 233 —
Stande, den Inhalt seiner Träumerei sich in das Gedächtniss
zurückzurufen. Manchmal gelang es ihm und dann konnte
man den Reichthum poetischer Bilder und Gleichnisse be-
wundern, welche ihm, einem sonst nüchternen und trockenen
Menschen, während seines Träumens gekommen waren.— Schlaf-*
trunkenheit zeigt sich besonders dann, wenn man zu frühzeitig
geweckt worden ist.
Je nach der Stellung und Lage des Körpers ist auch das
Denken verschieden ; stehend oder sitzend denkt man anders
als liegend, wo die Veränderung der Gemeingefühle und Blut*
circulation eine Modifieation der Denkweise bedingt; auf dem
Sopha liegend kann man bei wachen Sinnen träumen. Abdo-
minalaffectionen verursachen düstere Grübeleien : der Hypo-
chonder lässt seiner träumerischen Phantasie die Zügel schiessen
und malt sich Alles in den schwärzesten Farben aus **<>).
Ein heiteres, angenehmes Gedankenspiel kann sich Jeder
künstlich durch Mu^ik verschaffen. Es ist wunderbar, was
die Welt der Töne für eine Macht auf den Menschen ausübt;
sie löst »den Knoten der strengen Gedanken« und zieht die
Vorstellungen und Stimmungen mit sich fort. Wir fühlen die
Freude und den Schmerz , den sie auszusprechen scheinen, und
sind fast taub und blind für das, was um uns herum vorgeht.
Die tiefen Klänge der Orgel, bei welchen der Grundton nur
mit den nächst höheren Obertönen verbunden ist, stimmen uns
ernst, die hohen der Violine und anderer Instrumente heiter ^^<),
das Schmettern der Trompete erregt ^en Muth. Die elegischen
Klänge der Harfe, das Seufzen des Windes bei der Aeolsharfe
rufen bei nervösen Personen einen sehr hohen Grad von
Träumerei, »einen wahren psychisch-physischen Taumel, eine
ekstatische Sdiwärmerei« wie Sputa sagt, hervor. Alle Stim-
mungen und Gefühle des Menschen vermag aber die Geige
auszudrücken; sie lässt uns Freude und Trauer kurz hinter
einander und als gemischtes Gefühl zugleich empfinden, und
der Künstler lenkt mit ihren Tönen die Gedanken seiner Zu-
hörer, wie er es wünscht. Der Glockenklang, der doch immer
der gleiche ist^ ruft je nach den verschiedenen Umständen
verschiedene Erinnerungen und deren Associationen wach, und
es scheint uns, wie Schitier es in seinem herrlichen Gedicht
so trefflidi darstellt, der Ton selbst ein anderer zu sein.
— 234 —
»Schwer und bang« erscheint er beim BegraAmiss eines Dahin*
geschiedenen, indem die Gedanken an den Tod und die damit
zusammenhiSingenden Associationen und Stimmungen empor*
tauchen ; ):)heulend« sdballt die Glocke beim Aufruhr, sie »wim*
mert« bei Feuersgefahr. Sogar auf den der Religion mehr
entfremdeten und versweifelnden Mensehen ttbt der zur Kirche
rufende Glockenklang und der Orgelton einen mächtigen Zauber
aus ^2). Freilich iet die Wirkung nicht überall die gleiche;
sie ist schwächer bei abstract denkenden Verstandesmenschen
als bei sogenannten GemQthsmensohen , deren Gefühlsleben
ausserordentlich entwickelt ist, allein Niemand kann sich ihr
ganz entziehen. — Dabei kann man bediaditen, dass diie
Reizung von dem sensiblen auf das motorische Gebiet ttber«
geht. Bei jungen Leuten, die sehr gern tanzen, zucken un*
willkürlich die Füsse beim Rhythmus der Tanzmusik; weil
die Verbindung der Muskelbewegung mit der Geh^sempfindung
sehr oft vollzogen wurde , ist sie hier fest constant , analog
jeder Fertigkeit, geworden.
Da die Musik eine so grosse Wirkung auf den gesunden
Menschen ausübt, hat man sie von den frühesten Zeiten an als
therapeutisches Mittel bei der Melancholie gepriesen. Doch aus-
gezeichnete Beobachter , wie Eiquirol und Ferrus, haben <tie5
Mittel nicht immer gelobt. Die durch sie erregten Gefühle sind
zu flüchtig um auf die Dauer krankhaften Stimmtmgen ^sitgegen
zu treten, und sie hat nur dann eine die soimtigen Zerstreu*
ungsmittel übertreffende Wirkung, wenn sie von dem Kranken
selbst mit Neigung ausgeübt wird^^). Guislain sah, da»
Melancholische durch die Töne eines Piano, einer Vic^ne oder
eines anderen Instruments sogar ängstlich wurden. »Wenn die
Phänomene einer wirklichen Besserung sich Bahn zu brechen
anfangen, wenn der Schlaf wieder stäiiLt, wenn geringere
Traurigkeit, mehr Raschheit in den Antwoiten, mehr Spenta-
neität im Handeln, mdir Geneigtheit zum Aufstehen, zu Bie-
wegungen vorhanden ist, so kann man den Eänfluss der Musik
versuchen«. Gemeinsame Gesangttbungen waren von £rfolg^^).
Einer besonderen Art von Träumerei sei hier nodb Er-
wähnung gethan, welche B. Auerbach zuweilen in seinen Er«-
Zählungen aufftlhrt, nämlich der durch das Rollen und Schütteln
der Eisenbahnwagen und der dadurch veranlassten Kürper--
— 235 —
empfindungen beim Reisenden hervorgerufenen. Man sucht
unwillkürlich in dem Rollen der Räder einen gewissen Takt,
und die Phantasie, die an den Zweeken der Reise einen äus-
serst geeigneten Anknüpfungspunkt findet, ergeht sich in den
kühnsten Sprüngen.
Ein femenres Mittel, das Denken künstlieh ku träumerischem
werden zu lassen, ist der Tabak. Kant sagt. »Der Tabaks*
rauch ißt ein Reiz, der eine unbedeutende Empfindung erregt,
die weder angenehm noch unangen^m ist und oft wiederholt
werden kann, wo das Gemüth durch diese geringe Empfindung
immer in Bewegung gesetzt wird. Aber auch der Raut^ ist
eine Hauptsache dabei; im Finstem glaubt man immer, die
Pfeife sei ausgegangen, denn die mancherlei Figuren
des Rauchs malen der Phantasie so etwas Tor, und
die kleine Bewegung unterhält den Lauf des Gemüths, immer
seinen Gedanken nachzugehen«^^^}. Die Indianer Amerikas ver-
wenden den Tabak um visionäre Zustände zu erzeugen; un-
massige Gebrauch desselben kann Wahnsinn herbeiführen ^^^) .
Dieselben Wirkungen wie die des Tabaksrauchs haben andere
Räucherungen verschiedener Art. Die Folgen des Genusses
von Opium, Haschisch und anderer Narcotica sind
schön besprochen worden 3*>^.
Bekannt sind die Folgen des Genusses geistiger Ge-
tränke. In ^r Weinseligkeit scheinen die Vorstellungen
vorüberzufliegen, und dass die Trunkenheit ein kurzer Wahn-^
sinn sei, war schon ein Sprichwort des Alterthums.
Sogar viele einaelne Eigenthümlichkelten und Formen der
Träume finden wir im Wachen, wenn auch modificiit, wieder.
Vielfach wird unser Bemühen, unsere Aufmerksamkeit aof einen
Punkt zu concentrireU; durch Vorstellungen heterogener Kreise
gestört, welche sich* fortwährend aufdrängen und in uns die
Neigung zu sogenannten Ideensj>rüngen , yt^ sie der Traum
zeigt, hervorrufen. Das Selbstbewusstsein versckeudbt sie
wieder, je mehr aber dieses schwindet, desto grösser wird
ihre Macht. Wenn man etwas bereut, sich selbst darüber
Vorwürfe macht, sei es laut oder im Stillen, theilt sich das
Ich in zwei Hälften, die eine warnt und straft, die andere
wird gewarnt und gestraft und bleibt passiv. Es giebt Leute,
die ganz gesund sind und doch in sokhen Zuständen vor sich
— 236 —
hin reden, überhaupt sich ganz so geberden, als ob derjenige,
welcher den thtfrichten Streich begangen und auf den sie
schelten, ein ganz Anderer sei, oder als ob sie andererseits
vor einem sie ausscheltenden Richter ständen, um sich zu
yertheidigen und zu rechtfertigen. Nicht selten findet man
bekannlich solche, die ihre eigenen schlechten Gedanken bei
ganz gesunden Sinnen der fremden Einwirkung des Teufels
zuschreiben ; sie ringen mit diesem bösen Princip , als ob es
ein personliches, sie bedrängendes Wesen sei. Die eine Gruppe
von Vorstellungsmassen, welche die eine Hälfte des Ichs bildet,
kann die andere unterdrücken und sich die Herrschaft aneignen ;
es findet ein wirklicher Kampf zwischen diesen beiden Theilen
der Persönlichkeit statt. Der Hypochonder beschäftigt sich zu
viel mit sich selbst und hält gern Monologe; oft aber verliert
er bald die Herrschaft über die Vorstellungen, welche er aus
der Menge der anderen heraus und ihnen gegenüberstellte,
sie gewinnen durch ihre öftere Wiederkehr eine grosse Stärke
und objectiviren sich; was früher eine krankhafte Empfindung
war, wird jetzt zur insultirenden und molestirenden fremden
Person oder zum bedrängenden Ungeheuer.
Der Jüngling und die Jungfrau versetzen sich wohl schon
in die Zeit, wo ihre Wünsche erfüllt und ihre Ideale realisirt
sein werden, und es ist ihnen als ob sie der Gegenwart ent-
rückt wären. Wenn im Trauiü, wo Alles sinnliche Lebendig-
keit und Wahrheit gewinnt, der Unterschied zwischen der
Gegenwart und Zukunft, zwischen Wirklichkeit und Vorstellung
noch mehr verschwindet, so kann auch im Wachen ein ähn-
licher Zustand herbeigeführt werden. Die fortwährend wieder- '
kehrende Vorstellung der Grösse , der Erhabenheit und des
Reichthums kann allmählich zum Grössenwahn führen. Anteci-
pationen späterer Ereignisse kommen besonders bei Frauen
nicht nur in Träumen sondern auch im Wachen — namentlich
in erregten Zuständen — in Form von Ahnungen sehr häufig
vor 3^s) .
Nach vorhergegangener psychischer Concentration löst der
Schlaf »den Knoten der strengen Gedanken«; die vorher oft in
falsche Bahnen geleiteten Gedankenreihen combiniren sich
unabhängig vom Selbstbewusstsein, und es entsteht zuweilen
ein neues richtiges Gedankenproduct und der Schlusssatz wird
— 237 —
richtig aus den vorhandenen Prämissen gezogen. Ebenso kann
man am Tage manchmal mit einem Problem nicht zu Ende
kommen, man bricht ab, erholt sich und plötzlich steht vor
der Seele das fertige Resultat, welches man früher nicht zu
finden vermochte. Mann kann sich auf etwas durchaus nicht
besinnen und wenn man die Aufmerksamkeit wegwendet, steigt
es von selbst in der Erinnerung auf.
Wie in einigen Fällen an Stelle des normalen Schlafes ein
intermittirendes Irresein tritt, so unterbricht auch zuweilen ein
plötzlich eintretender wacher Traumzustand das gewöhnliche
Tageswachen, welches nach des ersteren Aufhören wieder an
derselben Stelle aufgenommen wird. Eine Dame war solchen
Paroxismen unterworfen : plötzlich in der Mitte der Unter-
haltung brach sie ab und fing an, von etwas ganz Anderem
zu sprechen; nach einiger Zeit nahm sie die Unterhaltung an
der Phrase, ja an dem Worte, wo sie stehen geblieben, wieder
auf und wusste nicht das Geringste von dem Zwischenfalle ^^^) .
Vollständig pathologische Zustände bezeichnen endlich die »Ideen-
sprünge« des Fieberdeliriums und des Wahnsinns.
Drei Sätze sind es hauptsächlich, die wir als Resultat
unserer Untersuchung hinstellen können. Die psychischen
und physischen Vorgänge gehen einander parallel.
Bei einer Erschütterung des Gemüths und der geistigen Kräfte
erscheint eine Störung im Organismus, besonders im Gehirn,
und eine Erkrankung des Organismus hat eine Veränderung
der psychischen Functionen zur Begleiterin. Der Verminderung
der organischen Functionen im Schlafe geht die Herabsetzung
der psychischen Thätigkeiten parallel, und im Wahnsinn be-
gleitet die Erkrankung des Geistes die des Gehirns und um-
gekehrt. Aber die Verbindung ist k^ine causale. Keines
der beiden Reiche des Lebens geht oder wirkt unmittelbar
hinüber in das andere oder ist ein Product desselben. Aus
Nervenprocessen wird weder Gedanke noch Empfindung und
GefQhl erklärt und ebensowenig erzeugt; sie sind von
Nervenbewegungen begleitet, entstehen aber nicht aus ihnen,
sie sind nicht Functionen des Gehirns oder Folgen der
körperlichen Thätigkeiten,* sondern Begleiter derselben.
Ferner zeigen die normalen und anormalen
— 238 —
geistigen Thätigkeiten in den verschiedenen Er-
Sjcheinungen und Verhältnissen keine qualitativ
ven, sondern nur quantitative Unterschiede. Wie
in der Natur zwisehen der niedrigsten uns v^abfnehmbaren
Form der psychischen Functionen anderer Wesen und denen
des Menschen eine unzählige Menge von Mittelstufen sich fin*
det (natura non facit saltus!), so aeigt auch die Seele des
Menschen in den verschiedenen Verhältnissen sich einer unge-
heueren Gradation fähig. Durch viele 'einzelne, aber
zusammenhängende und untrennbare Abstufun*
gen geht das wache Selbstbewu&stsein in das Be-
wusstsein des Schlafes und Traumes aber, und
zv^iscbson Gesundheit und Krankheit der Seele
findet man keineswegs eine feste Grenze, sondern
es giebt ein grosses Mittelgebiet von Störungen;
Niemand vermag genau zu sagen, wo die Vernunft
sich zur Unvernunft verkehrte. Treffend bemerkt
Idekr^^^) : » . . . . das Tageslicht der Vernunft geht durch
unzählige Dämmerungsstufen in die Nacht der Bewusstlosigkeit
ttber. Wer in jenem Zwielicht des Bewusstseins plötzlich
willkürlich eine Grenze ziehen wollte, an welcher die Ver-
nunft aufhöre, würde es ebenso machen wie Jene, welche,
aufgefordert einen Weizenhaufen zu deftniren,. zuletzt gestehen
mussten, dass ein Weizenkom schon einen Haufen bilde«.
In den heterogensten Zuständen kann man, wie Herbart sagt^^^),
dieselbe Seele und dieselben Gesetze des Vorstellens wieder-
erkennen. Die Grundformen zeigen sich rr- wenn auch zu-
weilen modificirt — überall; nur in Bezug auf die höheren
Thätigkeiten des Seibstbewusstseins , des. vernünftigen Willens
und der Urtheilskraft finden sehr bemerkenswerthe Unterschiede
statt. In äusserst feinen, unmerklichen Gradationen schwinden
dieselben ganz oder theilweise beim Uebergang des Wachens
in den Schlaf und der geistigen Gesundheit in Krankheit; sie
tauchen wieder auf beim Erwachen und bei der Genesung.
Nicht unpassend gebraucht Sputa das Bild des Regenbogens,
dessen äusserste Farben weit von einander abstehen und ver-
schieden sind, während doch die einzelnen einen solchen un-
merklichen Uebergang in einander zeigen, dass man sie nicht
sicher begrenzen kann^^^j.
— 239 —
Endlich greifen einestheils die verschiedeneu
Zustände in einander über: man findet sogenanntes
theilweises Wachen im Schlaf, Träumerei Jm Wachen, Licht-
blicke der höheren Geistesthätigkeit im Wahnsinn und inter-
mittirendes Irresein im gesunden Zustande, — andererseits
üben die Vorstellungen des einen, soweit es die
physiologischen Bedingungen zulassen, in dem
darauf folgenden ihren Einfluss aus, und >3S fin-
det eine gegenseitige Wechselwirkung statt. Die
geistigen Erwerbungen während des Tages und der Gesund-
heit bleiben meist im Traum und bei Erkrankungen : die dort
gebildeAea Yorstellungen werden hier reproduoirt und bilden
die Traumgedanken und Wahnideen. Ber von der geistigen
Krankheit Genesene behält noch manche S(»iderbai4:eiten, und
der Traum wirkt fort in den Stimmungen und Gedanken des
Tages. Weil der Mensch im Wachen mit der Erinnerang an
einen Dahingesdiiedenen sich lebhaft beschäftigt, träumt er
von diesem, und seine Erscheinung hilft ihm den Glauben an
eine persttnliche Fortdauer nach dem Tode bilden, die in eben
dem Grade der irdischen Existenz gleicht, als die Traumge-
bilde den Erseheinungen des wachen Lebens. Weil in man-
chen Krankheitsfermen der Mensch sich von einem Ungeheuer
besessen oder selbst in ein Thier verwandelt wähnt, glauben
viele Naturmenschen im gesunden Zustande, dass manche Leute
sich in ein Thier verwandeln können, um den anderen Scha-
den zu stiften.
Dass neben dem Körper es ein geistiges Princip gäbe, wel-
ches in ersterem wohnend das Wesen des Menschen ausmache,
erkannte oder fühlte man unmittelbar im Wachen, dass aber
dieses Princip selbstständig und vom Körper abtrennbar zu
denken sei, so dass es bei schlafendem Leibe wachen oder
sogar herumwandem könne, um Besuche abzustatten, — zur
Bildung dieser und vieler anderer Vorstellungen hat unzweifel-
haft der Traum hauptsächlich beigetragen.
^ Anhang.
Die neueren Theorien über die näheren Ursachen des Schlafes.
y> Aristoteles ^^^) und Galm widersprechen einander und
letzterer erklärt schliesslich unumwunden, er wisse nicht zu
sagen, wodurch der Schlaf verursacht werde. Spatere, weniger
ehrlich und weniger vorsichtig, stellten bis in die neueste Zeit
die abenteuerlichsten Hypothesen auf. Bald soll das Einschlafen
auf einer Austrocknung, bald wieder auf einer Ansammlung
von Feuchtigkeit, ja sogar auf einer Veränderung der Milz^ auf
einer Zunahme, dann wieder Abnahme der Blutmenge im Ge-
hirn, auf einer Compression des Gehirns, einem Collaps seiner
Ventrikel beruhen. Einige setzen eine Anhäufung von Kohlen*
säure voraus, andere eine Erschöpfung der Nerven. Johannes
Argenterius, der 1540 ein wortreiches Buch über Schlafen und
Wachen schrieb, hält die Abnahme der »eingeborenen Wärme«
für die Ursache des natürlichen Schlummers Ihren
Gipfelpunkt erreichte übrigens die physiologische Phantasie im
Jahre 1818, als ein junger Arzt allen Ernstes die Ansicht zu
begründen versuchte, dass das Einschlafen durch eine Explosion
verursacht werde, indem die )>positive und negative Electricität
des Gehirns« sich abgleichen sollen« *^®4). Marshall Hall, Haller
und Andere meinten, das Gehirn sei während des Schlafes
hyperämisch, die überfüllten Venen bedingten eine Compression
desselben; Andere, wie Blumenbach, hatten die Ansicht, die
Blutmenge des Gehirns nehme im Schlafe ab, und Durham
(1860) behauptet, im Schlafe finde Contraction der Arterien
statt und die Verminderung der Blutmenge sei die Ursache des
Schlafes. Er sah bei trepanirten Thieren, denen Glasplättchen
in die Schädelknochen eingekittet wurden, die Gehimoberfläche
blass werden , nachdem sie vorher roth gewesen. Dagegen
— 241 —
bemerkt Preyer (S. 11) : » . . . soviel ich finde, beziehen sich
alle diese Fälle nur auf künstlich durch Betäubung, z. B.
mittelst Chloroform, oder pathologisch herbeigeftthrte schlaf-
ähnliche Zustände. Durham bec^achiete chloroformirte ThierOi
. . . Diejenigen Forscher, welche Trepanirte ohne solche Ein-
griffe und Anomalien untersuchten , sahen durchaus keine regelt-
massige ' Erweiterung oder Verengerung der Blutge&sse des
Hirns und der Hirnhäute, sondern nur die schon von RecUdo
Colombo im 16. Jahrhundert entdeckten respiratorischen Hebun-
gen und Senkungen des Gehirns und den Puls«.
Preyer selbst stellt eine neue Theorie auf. Seine
Grundvoraussetzung ist, dass jeder geistige Process mit einem
lebhaften Sauerstoff-Verbrauch seitens des Substrats im Gehirn
verbunden sei. »Keine Willensäusserung , keine Empfindung
oder gar Wahrnehmung auf irgend welchem Sinnesgebiet , keine
Leidenschaft, sei sie erst im Entstehen, gleichsam als glimmen-
der Funke, sei sie zur Flamme schon angefacht, kurz keine
einzige Manifestation der Gehimthätigkeit kann zu Stande
kommen, ohne dass der Sauerstoff, den das Blut in das Ge*
hirn bringt, von den Ganglienzellen verzehrt wird. Fehlt es
der Ganglienzelle an Blutsauerstoff, dann erlöschen die Be-
wusstseinsthätigkeiten , die Aufmerkiäamkeit wird lahm , dann
steht das Wollen und Denken still, wie im Schlafe. Finden
jene psychischen Processe statt, dann fehlt es der Ganglienzelle
an Sauerstoff nicht« (S. 7; vergl. auch S. 10). Es gebe, der
Leber ausgenommen, im ganzen Organismus kein Gewebe,
welches den rothen Blutkörperchen so schnell wie das Hirn-
gewebe den Sauerstoff entziehe. Das Gehirn stelle seine Ar-
beit zum Theil ein, wenn die beiden Carotiden unterbunden
oder comprimirt vsürden ; auch tritt, vsie er sagt, nach grossem
Blutverlust leicht Schlafsucht ein. Dass dabei der Mangel an
Sauerstoff die Abnahme der Hirnthätigkeit bedinge, g^he aus
Experimenten hervor, bei denen ohne Unterbindung der Ge-
isse und ohne Aderlässe ähnliche Erscheinungen einträten,
wenn nur die Aufnahme des atmosphärischen Sauerstoffs er-r
Schwert und sistirt werde. Hier erfolge Schlaf und es zeige
sich, wenn Sauerstoff wieder zugeführt würde , ein allmähli-
ches Erwachen. Da nun, fährt er fort; schlechterdings nicht
angenommen werden kann, dass das zuströmende arterielle
B ade stock. Schlaf n. Traum. JQ
— 242 —
Blut im Schlafe weniger Sauerstoff enthalte^ so entsteht die
Frage, ob die vom Blute dem Gehirn zugeftthrte Sauerstoff-
menge im Schlafe anders verwendet wird als im Wachen und
wie, — oder ob im Schlafe weniger Sauerstoff in das Gehirn
gelangt, weil weniger Blut in dasselbe strömt. In Bezug auf
letztere Ansicht stimmt er Lenhossek bei, welcher den Schlaf
weder auf einer Steigerung noch auf einer Verminderung de^
Blutzuflusses zum Gehirn beruhen lässt, obgleich durch künst-
lich herbeigeführte Hyperämie und Anämie bewusstlose Zu-
stände verursacht werden könnten. »Dann aber«, sagt er,
»bleibt nach dem Vorigen nichts anderes übrig, als dass er
eine andere Verwendung findet im Schlaf, als. beim Wachsein,
und es fragt sich welche? Ich antworte, dass während
des Wachseins von der Muskelfaser und der Gang-
lienzelle gewisse Stoffe erzeugt werden, welche
im Buhezustande nicht oder nur in minimaler
Menge vorhanden sind, aber je grösser die An-
strengung und je intensiver die Sinnesthätigeit
waren, um so schneller entstehen, um so mehr
sich anhäufen müssen; dass diese Producte der
Muskel- und Gehirnthätigkeit, die Ermüdungs-
stoffe, leicht oxydabel sind, und wenn Beize feh-
len, den Sauerstoff an sich reissen, und sich
selbst damit oxydiren. Dieses, behaupte ich, ge-
schieht im Schlaf. Ist die Oxydation und damit Besei-
tigung der Ermüdungsstoffe weit fortgeschritten, so genügen
schon schwache Beize, den Blutsauerstoff der Ganglienzelle
wieder zuzuwenden : man erwacht. Häufen jene Stoffe wäh-
rend des Wachseins sich wieder an , so nimmt die Erregbar-
keit ab, die Bewusstseinsschwelie steigt, es tritt Ermüdung
und Schlaf ein , wenn nicht starke Beize den Sauerstoff ver-
hindern die Ermüdungsstoffe zu oxydiren, indem sie ihn selbst
benöthigen. Denn im wachen Zustande ist es eben dieser
Sauerstoff, welcher für die Inganghaltung der willkürlichen
Muskelaction , wie der psychischen Vorgänge verbraucht wird.
Das ist die Grundlinie der neuen Theorie. Es ist also zunächst
darzuthun, dass wirklich solche Körper wie die Ermüdungs-
stoffe sich bilden und anhäufen, dann dass sie einschläfernd
— 243 —
wirken. Ersteres ist bereits seit Jahren bewiesen. Letzteres
habe ich selbst experimentell festgestellt«^*).
Unter diese Ermüdungsstoffe rechnet er besonders Milch-
säure. Er führte dieselbe oder milchsaures Natron in den
Magen oder unter die Haut vieler Thiere ein und bemerkte,
dass; wenn starke Reize fern gehalten wurden,
Schlaf eintrat; dasselbe Resultat erhielt -er, wenn nicht Milch-
Säure selbst eingeführt, sondern nur die Bedingungen für ihre
reichliche Bildung gegeben wurden, wie nach ausgiebiger Ein-
führ von Kohlehydraten. Dann stellte er auch Versuche an
Menschen und zunächst an sich selbst an. Er empfand nach
Einführung von milchsaurem Natron ein starkes Ermüdungs-
' gefühl, ja schon nach reichliehem Genuss von geronnener Milch
trat bei ihm Schl^frigkeit ein.
Allein er bemerkt auch; »das Fernhalten der Reize
ist von fundamental er Wichtigkeit für das Gel in gen
dieser Experimente. Auch muss man dieselben über
grosse Zeiträume ausdehnen, da manche Thiere, wenn
sie nicht beschäftigt sind, von selbst einzuschla-
fen pflegen« (S. 23); ferner gesteht er selbst ein, dass der
Erfolg weder bei Thieren noch bei Menschen constant sei.
Bei einigen blieb jede hypnotische Wirkung aus und die Ver-
suchsindividuen verhielten sich nur ruhig. So fand auch
L. Meyer das milchsaure Natron subcutan gänzlich und Stoma-
chal mit Ausnahme von zwei Fällen so gut wie wirkungslos ^«ß) .
Auch Erler und Fischer ^^') konnten eine schlafmachende Wirkung
des milchsauren Natrons und der Milchsäure nicht constatiren;
letzterer wandte^ die Säure in Klystieren an, in welcher Form
sie von Mendel empfohlen worden war.
Eine andere Theorie als Preyer stellte E. Pflüger
auf 368J. Nach seiner Theorie des Lebens werden die Leistungen
der Organe durch die Dissociation der lebendigen Materie be-
dingt, die im wesentlichen eine Modification von Eiweiss ist ^®ö) .
Indem sich Kohlensäure fortwährend intramolecular durch Dis-
sociation bildet , welche Umlagerung der Atome erzeugt , so
wandelt sich die hierbei verbrauchte chemische potentielle
Energie zunächst in Wärme des neugebildeten Kohlensäure-
Molecüles um^^^), und die Atome des letzteren werden im
Momente der Bildung desselben in die heftigsten Oscillationen
16*
— 244 —
verseUt, wie es bei einer Explosion geschieht. Dieae während
des Lebens fortwährend ablaufenden Explosionen erzeugen
durch die Fortpflanzung der St5sse auf alle Theile der Mole—
cttle starke Vibrationen aller Atome. Am stärksten sind sie
während des Wachens. Versuche an Tfaieren, bei welchen
Entziehung des Sauerstoffs Schlaf und Scheintod herbeiführte^
ergaben, dass eine bestimmte Summe intramolecularen Sauer*
Stoffs die Fundamentalbedingung für den wachen Zustand ab-
giebt. Sie ermöglicht einen bestimmten Werth der Zahl der
Explosionen , welche in der Zeiteinheit bei gegebener Tempe-
ratur ausgelöst werden können.
Nun bildet nach Pflüger das ganze Nervensystem mit Ein-
schluss der Muskeln und wahrscheinlich aller Secretionsdrttsen
eine continuirlich zusammenhängende Masse, das animale
Zellennetz. Diese festweichen Massen stellt er sich jedoch
nicht wie ein wässriges Lösungsgemenge in Hüllen vor, son-
dern als organisirte d.h. mit einer Structur behaftete Materie.
Er denkt sit^fa die lebendigen Molecüle durch chemische Kräfte
kettenartig an einander geknüpft, so dass sie Fasern bilden,
die einzeln verlaufen oder mit anderen anastombsiren. In den
Interstitien dieses Fasernnetzes üimmt er wirkliche Lösungen
an von Salzen, Zersetzungsproducten, ja unter Umständen so-
gar von Nahrungseiweiss , das also noch nicht organisirt ist
u. s. w. Einen optischen Ausdruck hat dieses Moleculametz
in der fibrillären Structur der Ganglienzelle, des Axencylinders,
der Muskelfaser, der Drüsenzelle gefunden; doch sind diese
sichtbaren Fibrillmi wohl nur Fascikel nodi kleinerer Fäserchen.
Da nun diese elementaren Fibrillen wie eine Perlschnur aus
aneinander geknüpften Molecülen zusammengesetzt sind, deren
Atome in fortwährenden Oscilialionen sich befinden, so muss
jede Veränderung der Schwingung eines Atoms eine Verände-
rung der Schwingungen der benachbarten Atome und so fort
zur Folge haben. Femer weisen alle bekannten Thatsachen
darauf hin, dass in der grauen Substanz des Gehirns höchst
labile Zustände vorhanden sind, welche eine sehr starke Dis-
sociation zur Folge haben, die wahrscheinlich die in jedem
anderen Organe des Körpers stattfindenden übertrifft. Kein
Organ ist so abhängig von der Zufuhr des Sauerstoffs, wie
das des Gehirns, und seine graue Substanz zersetzt sich sogar
— 245 —
bei einer wenig über 0° betragenden Temperatur unter Säure-
bildung. Wenn nun in der grauen Substanz des Gebims die
mächtigsten Vibrationen während des wachen Zustandes wesent-
lich in Folge der Kohlensäurebildung statt finden^ so werden
die Erschütterungen nach allen oder vielen Bichtungen des
Körpers wellenartig übertragen.
Jede Erschütterung der bereits in Dissociation begriffenen
Molecüle des Körpers verstärkt aber die Dissociation, also den
Kraftverbrauch. Der wache Zustand bedingt an sich eine
Verstärkung der Consumtion der chemischen potentiellen Ener-
gie in allen Theilen des Nervensystems und in seinen Annexen.
Der Verbrauch an chemischer Spannkraft ist nun während des
wachen Zustandes so gross, dass die während derselben Zeit
mögliche Aufsaugung von Sauerstoff durch die lebendigen
Gehirnmolecüle nicht gleichen Schritt hält; so dass die graue
Substanz durch das Wachsein mehr verliert als gewinnt. Die
Kohlensäurebildung nimmt demnach stetig ab und die Explo-
sionen werden weniger zahlreich.
Zwar wird, wie bei aller Ermüdung, während des Wach-
seins durchaus nicht die ganze Kraft des Gehirns verbraucht,
wohl aber so viel, dass, wenn alle äusseren Erregungen, die
auf das Gehirn wirken , abgehalten werden , die gesunkene
Kohlensäurebildung allein nicht ausreicht, um die nothwendige
Grösse. der lebendigen Kräfte zu liefern, welche zur Erhaltung
des wachen Zustandes erfordert wird ^^^j . Auch können, wenn
der grosse Herd mächtiger Explosionen zur relativen Ruhe
gelangt, stärkere Erschütterungen nicht mehr secundär nach
allen Theilen des animalen Systems sich fortpflanzen. Der
Arbeitsverbrauch nimmt in allen Organen ab, die unter der
Herrschaft des Nervensystems stehen. Dies spricht »sich in der
Trägheit des Schlaftrunkenen aus: die Augenlider und der
Kopf sinken herab, die Muskeln des Rumpfes versagen ihren
Dienst, ^as Rückenmark kommt zur Ruhe, ja sogar das ver-
längerte Mark arbeitet schwächer ^^^j. Die Ersparniss an
Arbeits verbrauch ermöglicht nun die Erholung in
allen diesen Organen. Während des Schlafes er-
setzen die lebendigen Molecüle zugleich ihren Ver-
lust an verbrennbarer Mater ie, an Kohlenstoff und
Wasserstoff.
— 246 —
Diejenigen Vibrationen der Himmaterie, durch welche
das Bewusstsein bedingt ist, besitzen eine grosse Trägheit, so-
dass sie wie eine einmal angestossene Saite lange Dachtönen;
dafür spricht die starke Beeinträchtigung der Fähigkeit zum
Einschlafen nach starker geistiger Arbeit. Es würde sich daraus
ergeben, dass bei Ermüdung des Gehirns, wo die Kohlensäure-
bildung sehr herabgesetzt ist, doch noch gewaltige Schwing-
ungen von früheren Explosionen erzeugt, vorhanden sind. Ist
die Bewegung allmählich kleiner geworden, so genügt sie nicht
mehr zur Yermittelung starker Dissociation , und es häuft sich
immer mehr ausgeruhte und restituirte Substanz an.
Sobald aber die Himmolecüle während des Schlafes mehr
und mehr mit intramolecularem Sauerstoff gesättigt werden, muss
die Kohlensäurebildung zunehmen. Es wird wieder ein Stadium
erreicht, wo die Oscillationen der Atome in de^ MolecUlen
wachsen können, ohne dass die Grösse ihrer lebendigen Kraft
ausreicht, diejenige Stärke der Dissociation zu bedingen , wie
sie der wache Zustand erfordert, und ohne dass also der Ver-
brauch grösser als die Einnahme an Kraft wird. So muss die
Intensität der lebendigen Kraft der intramolecularen Schwingung
durch wachsende Kohlensäurebildung wieder zunehmen, bis
entweder durch Summation der Wirkung aus inneren Gründen
oder durch einen äusseren starken Anstoss, z. B. einen lauten
Schall, eine mächtige Welle , die durch das Gehirn läuft , so-
fort eine grosse Summe von Dissociationen , also reichliche
Kohlensäurebildung auslöst, die nun die weitere Auslösung
zahlreicher Dissociationen fort und fort zur Folge hat.
Der schlaftrunkene Zustand nach dem Erwachen scheint
darauf hinzudeuten, dass erst nach einer Summation der äus-
seren und inneren Reize diejenige Grösse der lebendigen Kraft
der intramolecularen Schwingung erzielt wird, wie sie der •
ganz wache Zustand nothwendig voraussetzt. Auch ist wegen
der Abnahme der Gesammtwärme die Cohäsion der wirksamen
Himmolecüle gesteigert, so dass Impulse wirkungslos werden,
welche sonst eine deutliche Wirkung haben. »Wachen oder
Schlaf hängt also primär für einen gegebenen Zeitpunkt nicht
von der Grösse der in dem Gehirn enthaltenen potentiellen
Energie, sondern von d^r Grösse der lebendigen Kräfte
der intramolecularen Bewegung ab« (S. 474).
— 247 —
Die Theorie giebt, wie Pflüger bemerkt; auch eine einfache
Erklärung des Winter- und Sommerschlafes der Thiere. Der
Winterschlaf tritt bei einer gewissen Anzahl von kalt- und
warmblütigen Thieren in Folge der längeren Einwirkung der
Kälte ein, wenn die Temperatur des Gehirns unter einen ge-
wissen Werth sinkt. Demnach verkleinert sich die intramole-
culare Vibration 3' 3), folglich auch die Intensität der Dissocia-
tion und der Kohlensäurebildung. Je tiefer die Temperatur
heräbgeht, um so stiller wird es im Gehirn und secundär in allen
Organen, deren Dissociation durch die Kälte auch primär verändert
erscheint. Jeder Winterschläfer verfällt zu jeder Jahreszeit durch
Kälte in Schlaf und wird durch künstliche Erhöhung der Tempe-
ratur erweckt ; je tiefer die Temperatur des Gehirns ist, desto
schwieriger ist er zu erwecken, da die Disgregation erzeugende
Wirkung derWärme vermindert ist, also die Cohäsion der Mole-
cüle zugenommen hat. — Eine heftige, Schmerzen erzeugende
Nervenreizung kann Erwachen zur Folge haben. Eiiie grosse
Quantität dem Gehirn zugeführter lebendiger Kraft löst in ihm
secundär lebendige Kräfte und also Kohlensäurebildung aus, weil
die Reizung die intramoleculare Wärme des Gehirnes steigert.
Dieser Zustand dauert aber nur kurze Zeit, denn wenn die
so angeregten Schwingungen an die lungebende kalte Materie
fortwährend zu viel lebendige Kraft verlieren, nehmen sie ab,
und das Thier versinkt, wenn ihm keine Wärme künstlich zu-
geführt wird, aufs Neue in Winterschlaf. Die erweckend
wirkende Temperatur liegt unter 0°G., es ist di^ tödtlichcj
welche hier zur Erhaltung der Existenz weckt, sofortige Wärme-
bildung im Körper in Folge des wachen Zustandes erregt und
es dem Thiere ermöglicht, sich tiefer einzugraben und zu
sichern. Die tödtliche Kälte erweckt das Thier, weil und in-
sofern sie grimmigen Schmerz erzeugt. Ganz unabhängig von
jeder Hypothese ist hier die Thatsache gegeben, dass Kälte,
d. h. verringerte lebendige Kraft in der peripherischen
Faser Schmerz, d. h. vermehrte lebendige Kraft in der
Ganglienzelle des centralen Nervensystems hervorruft.
Auch der Sommerschlaf der Amphibien in heissen Klima-
ten erklärt sich, wie Pflüger fortfährt, leicht mit dieser Theorie.
Die Hirnmaterie dieser Thiere — wohl ausschliesslich Amphi-
bien — mit trägem Stoffwechsel ist für einen raschen Umsatz
— 24S —
und flohnelle £meueruDg nicht eingerichtet, d. h. nicht fähig,
in der Weise mit einer hohen Summe von Spannkraft (intra-
moleoularem SauerstofiQ geladen zu werden ; ivie die der
Warmblüter. Sobald also die hohe Temperatur des Sommers
das Gehirn jener Amphibien erhitzt, findet eine Consumtion
der spärlichen Spannkraft in kurzer Zeit statt, d. h. der Ver-
brauch übertrifft den Ersatz an Kraft. Es muss demnach
Schlaf eintreten, der in der That so lange andauert, bis die
ktlhlere Jahreszeit wiederkehrt. »Man sieht also, da ss es
sehr verschiedene Zustände der Hirnmaterie sind,
welche zum Schlafe führen, die aber alle das ge-
meinsam haben, dass die intramoleculare Wärme,
also die Dissociation herabgesetzt ist«.
Dass die den psychischen Functionen des Wachens zunächst
parallel gehenden physiologischen Vorgänge im Schlafe herab-
gesetzt sind, darüber ist man einig. Nur über das nähere
Wie ist man noch verschiedener Ansicht. Doch wird die Zeit
wohl nicht allzufem sein, wo in der rüstig fortschreitenden
Wissenschaft der Physiologie eine Theorie sich als die einzig
richtige erweist und von Allen als solche anerkannt wird.
Anmerkungen.
1) Zur verschiedenen Deutung der »*dfftapatc täv ra^jidlTtov« vergl.
Veberweg f Geschichte der Philosophie, 5. Aufl. Bd. I, p. 214 flf., Anm. :
»An die Stelle der (von Plato beabsichtigten) dauernden Befreiung vom
Affect durch Ertödtung desselben setzt Aristoteles die zeitweilige Befreiung
von demselben durch die (künstlerische) Anregung und den Ablauf selbst.
Bei dem Hören der Musik, dem Anschauen der Darstellung einer Tragödie
etc. werden zunächst eben diejenigen Affecte durch den Ablauf selbst
wieder gestillt und gleichsam aus uns heraus geschafft (xa^aCpsrai), welche
das Kunstwerk in uns erregt hat, aber dieselbe xd^apot; betrifft mittelbar
auch alle gleichartigen, unter denselben Begriff fallenden Affecte, die
(potentiell) in uns liegen; diese werden von dem durch das Kunstwerk
erregten Gefühl gleichsam bewältigt und mit diesem zugleich werden dann
auch sie aufgehoben oder ausgestilgt, nämlich zeitweilig, bis allmählich sich
neues Bedürfniss ansammelt, das aufs neue Anregung und Ablauf verlangt«.
— Die Richtigkeit dieser Deutung statt des früheren : » Reinigung der Affecte«
suchte besonders /. Bennys nachzuweisen (Rh. Mus. N. F., XIV, p. 867 —
377 u. XV, p. 606 f.), doch ist das icddvjfia wohl nicht, wie er will, als
Gefühlsdisposition, sondern als einzelne Erregtheit des Gefühls zu
fassen.
2) Viele Thiere deuten durch Bewegungen u. s. w. im Schlafe an,
dass sie ebenfalls träumen. Der Hund knurrt, bellt und geberdet sich als
ob er ein Wild verfolge oder das Haus vor Eindringlingen bewache (vgl.
Lucret, f de rer. nat. IV, v. 988 ff.). Die meisten Bewegungen können zwar
als Reflexe erklärt werden, welche keine Empfindungen und Vorstellungen
voraussetzen, manche aber nicht. Femer werden bei ersteren durch die
dabei stattfindende Muskelarbeit jedenfalls nachträglich Empfindungen aus-
gelöst. Es ist anzunehmen, dass jedes Geschöpf, bei welchem sich psychi-
sche Functionen höheren und mittleren Grades zeigen , auch träumt. —
lieber das Seelenleben der Thiere überhaupt vergl. Wundty Vorlesungen
über die Menschen- und Thierseele, Bd. I, p. 443 — 460. ScheitUn, Versuch
einer vollständigen Thierseelenkunde. Stuttgart u. Tübingen 4 840. 2 Bde.
3) p. 4 25. Vergl. auch Menon, p. 86 etc. — Spinoxa scheut sich nicht,
den Willen Gottes als ein »ignorantiae asytum« für Viele zu bezeichnen
(Eth. P. 1. Ap.) — Kant sagt an einer Stelle seiner »Prolegomena zu jeder
künftigen Metaphysik« (herg. von Kirchmann , p. 90) : »Endlich müssen wir
nach einer richtigen Maxime der Naturphilosophie uns aller Erklärung der
Natureinrichtung, die aus dem Willen eines höchsten Wesens gezogen
— 250 —
worden, enthalten, weil dieses nicht mehr Naturphilosophie ist, sondern
ein Gestttndniss, dass es damit bei uns zu Ende gehe«.
4) Man wird vielleicht — ich hatte dies zu bemerken schon einmal
Gelegenheit, als ich mich mit diesem Gedanken beschäftigte und ihn vor
Mehreren aussprach, — über eine solche Erkl&rungsweise den Kopf schüt-
teln und um sie ganz zu vernichten , schnell bei der Hand sein mit der
viel gebrauchten Wendung, dass der Unsterblichkeitsglaube aus einem
»unerklärlichen Triebe« hervorgegangen, welcher der Seele des Menschen
von Natur innewohne und unvertilgbar sei. Allein auf solche Einwürfe
entgegne ich: erstens und hauptsächlich masse ich mir nicht an. Alles
mit dem Traum erklären zu können, ich nenne ihn nur einen Haupt-
fac tor neben anderen bei der Bildung des Unsterblichkeitsglauhens, denn
ich bin mir wohl bewusst, dass das, was den Geist längere Zeit vorzüg-
lich in Anspruch nimmt, für diesen eine Bedeutung gewinnt, welche es
in den Augen Anderer nicht hat, nicht haben kann; ferner hatte der Trieb,
wenn auch vorhanden, keine bestimmte Gestaltung, seinen Inhalt ent-
nahm eir eben den Traumvorstellungen; endlich würde man, wenn man
diesen »unerklärlichen Trieb« doch einmal zu erklären suchte, finden,
wie er an und für sich sowie in seiner Entwicklung dem Trauni viel
verdanke.
5) Vergl. Th, Fechner , Elemente der Psycho - Physik. Leipzig 1860.
Bd. II, p. 470.
6) S. Edw, B. TyloTy Die Anfänge der Cultur, übersetzt von W. Spengel
u. Fr, Poske. Leipzig 4 878. Bd. I, p. 448 f.
7) »The soul is more tendre and nesche
Than the bodi that hath bones and fleysohe;
Thanne the soul that is so tendere of kinde ,
Mote nedis hure penaunce hardere y-finde,
Than eni bodi that evere on live was«.
Vergl. TyloTy a. a. 0. I, p. 449.
8) Dfogen. Laert. X. 67—68. — Als Anaxagoras ^\e ein »Nüchterner
unter Trunkenen« erschien und den vouc als das die Welt ordnende und
leitende Princip in die Philosophie einführte, konnte er sich auch noch
nicht ganz über die materielle Ansicht erheben und nannte den Geist
» XercTÖxaTÖv xe itdfvrmv yjwjfjtdlTwv xa\ xa&apc&tarov. «
9) II. XXIIL v. 99 flf. :
»&C dtpa (paivf|oac «bp^Saxo ji?^^ «pCXigoiv,
viyexo TcTpiYuTa.«
Vergl. Odyss. VI, 20, wo Athene der Nausikaa im Traume erscheint:
»•^ §'dvep.ou obc itvot-^ iir^ooöto ö^fxvw xo6pt);«. (IV, K 02 schlüpft das von
Athene der Penelope gesendete Traumbild am Thürriegel vorbei).
Piato^ Phaed. p. 70.: »rd hi itcpl t^c 4'^X*')« iroXX-^jv diti<JT{av Tzapiysi toU
dv^p(67Toi<, [üi] iTreiSolv dTcoXXaYijj toö a(6(^T0< o65aftoii Itt :fl, dXX' ixeiv^ TJ
tjjAlp^ öiatpfteipTjTat ts xal d7roXX6ijTai, ijj oiv 6 Ävftpcoiro« dTCo^dviQ * e6^6« dttoX-
XaTOfJL^T] ToQ a(6(AaToc xal lxßa(vouoa djonep icveöfAa ^ xa^tvöc SiaoxeSa-
-- 251 —
ö^etoa oX^rfoii SiawTopL^VT] xai o6Biv £Tt o65afjiou ig.« Vergl p. 77 D. : »«iaj»« U
fjLoi Soxft« .... SeSi^vai tö twm :talS<ov, [a*^ äc dXTjÄ&c 6 Ävefio; aurriv 1%-
ßatvouoav ix toO c<6jAaToc Sia<|/\)aq[ xdl dtaoxeSav^oatv, aXXwc le %aX Stav lu^lQ
Ti; ^x'^| iv V7]vefJL(qt dXX' iv fASY^Xq) Tivi Ttve6fJLaTi dito^Tjoxwv.a
10) Odyss. XI. 207 flf. :
»Tpl; jjiev IcpcopfJLTfj^v, iXdetv x^ {xe ^Uftöc civc^Yet,
Tplc 5e fjLOi iv. X^^P*"''» ^*'f etxeXo'^ Tj xai övetptp
iTCTax'* IfjLol S' d(x<^c 65ü YeN^cxexo xt)p6di fAaXXov«.
V. 217 IT.: »oISti ce Uepcecpovcia, Aiöc ^y^*")?' «i^^ay^^si,
dXX' aÖTT] MxT) laxl ßpoxwv, 6xe x^v xe Ädvraaiv
o6 Y^P ^"^^ oapxa« xe xai doxea Ivec fy^oucw,
dXXa xÄ jx^v xe itupö; xpaxepov [lisoi aldopi^voio
BafxMÄ, ^Tcei xe Tcpföxa Xitciq Xe6x ioxia ftofi.6c'
4'^X'^ S', -^jux' Cvetpo«, ditoitxafjL^VT] ireTOXTjxai«.
Vergl. Pfafo Phaed. p. 80 C. (Der Leib verwest, die Seele aber geht in den
Hades). — Vergil, Aen. II. 793 f. :
»Ter frustra comprensa manus effugit imago
Par levibus ventis volucrique simillima somno«.
(v. 77iff. : »Quaerenti et tectis urbis sine fine furenti
Infelix simulacrum atque ipsius umbra Creusae
Visa mihi ante oculos et nota major imago«.)
Plato, Phaed. p. 84 C. »8 ^ xai l^^uca -^ xoia6x7] «J'^x-rj gapüvexai xe xai
IXxexai TidXis el; xöv 6paxö'rf xörov, cpöß«) xoti deiSou; xe xarAiSou, ÄOTcep X^Y^xai,
Ttepl xot (xv/jfjLaxot xe xai xou« xdcpouc xuXwSoufjL^VT], irept dt hi\ xai d)<p^ axxa ^J^u-
XÄv oxioeiS*?) 9avxölcp.axa, ota itapi^ovxai al xotaüxai ^^x^^ etSwXa,
ai fj.-?) xa&apmc dTtoXuöeToai dXXd xoü 6paxoü (xex^xoooai, Siö xai 6pö)vxat«.
11) Tt//ör, a. a. 0. I. p. 42'». — Die Frage nach der Ursache des Todes
und seines Unterschiedes vom Leben hat die andere weit verbreitete Auf-
fassung der Seele als »Athem, Hauch« veranlasst. Das Hebräische hat
nephesch, »Athem«, welches Wort in die Bedeutung »Leben, Seele, Geist,
Thier« übergeht; mach und neschamah erfahren denselben Uebergang von
» Athem « zu » Geist». Diesen entspricht das arabische nefs und ruh. Ebenso
ist die Geschichte des sanskritischen ätman und präna, des griechischen
psyche und pneuma (Bei Homer bezeichnet «j^uyf) noch bei weitem vor-
wiegend die nach dem Tode im Hades sich aufhaltende Seele, — die
Seele im Leben heisst bei ihm ^ufAÖ;, «ppdve; u. s. w. — erst später ge-
braucht man dieses Wort fast ausschliesslich für Seele überhaupt, auch
während des Lebens) , des lateinischen aniinus, anima, Spiritus. (Der Römer
beugte sich über den Todten , um seinen letzten Athemzug einzusaugen.
Auch bei den Seminolen in Florida wurde, wenn eine Frau bei der Ent-
bindung starb, das Kind über ihr Gesicht gehalten, um den scheidenden
Geist aufzunehmen und so für sein künftiges Leben Kraft und Wissen zu
erlangen.) — Im sla vischen »duch« hat sich »aus der Bedeutung »Athem«
die von Seele und Geist entwickelt; die Dialecte der Zigeuner haben (das
Wort duk in der Bedeutung »Athem, Geist, Gespenst.« — Die Westau-
stralier gebrauchen ein Wort waug für »Athem, Geist, Seele; in der
— 252 —
Nete!a-Sprache in Californien bedeutet piuts »Leben, Atbem, Seele«; die
Malayen sagen, die Seele des Sterbenden geht durch seine Nasenlöcher
von dannen, und auf Java gebrauchen sie dasselbe Wort fiawa für n Athem,
Leben und Seele«.
Bei manchen Völkern findet man sogar beide Ableitungs-
weisen — die aus dem Traum und die aus der Frage nach
dem Unterschied zwis-chen Leben und Tod — selbständig
neben einander vor. Manche Grönländer schrieben dem Menschen
zwei Seelen zu, nämlich seinen Schatten und seiaen Athem. In Nord-
ameri)ca ist die Dualität der Seele besonders im algonkinischen Glauben
ausgeprägt: eine Seele geht aus und sieht Träume, während die andere
zurückbleibt; beim Tode bleibt eine beim Körper und für diese stellen
die Ueberlebenden Gaben an Nahrungsmitteln aus, während die andere
ins Land der Todten zieht. Die Fidschi-Insulaner unterscheiden zwischen
dem »dunklen Geiste« eines Manschen oder seinem »Schatten«, der zum
Hades hinabsteigt, und seinem »lichten Geiste« oder dem Spiegelbilde,
welches in der Nähe seines Sterbeplatzes bleibt. Die Malagasy sagen, das
saioa oder Gemüth vergehe im Tode, das aina oder Leben werde blosse
Luft, aber das matoatoa oder der Geist umschwärme das Grab. Die Da-
kotas sagen sogar, der Mensch habe vier Seelen, von denen eine in der
Leiche bleibe, eine im Dorf verweile, eine in die Luft gehe und eine ins
Land der Geister ; die Khonds haben ebenfalls eine vierfache Eintheilung.
Die alten Aegypter machten in dem Todtenrituale einen Unterschied zwi-
schen ba, akh, ka und khaba {Birch übersetzt: »Seele, Gemüth, Existenz«
und »Schatten«).
12) Ovid, fast. V, 467 f.:
»Umbra cruenta Remi visa est assistere lecto
Atque haec exiguo murmure verba loqui«.
Homer, II. XXIII, 100:
Vergl. Odyss. XXIV, 6 flf. :
6p{jia^ot> ix r^ptj;, dsd t dXXif)XTQOtv Ix^vcaf
Ä»; al Texpi^üiat Äfx' TJ'iaav.«
13) Vergl. Bastian, der Mensch in der Geschichte. Bd. 11, p. 34 9.
Tylor, a. a. 0. I, p. 446. — Da die Aeusserungen der Seele oder des
Gespenstes auch durch die Stimme eines Mediums zu Stande kommen
sollen, so kann man diese Berichte mit dem Flüster- oder Murmelzauber,
dem »susurrus neoromanticus « in Verbindung bringen. (Vergl. Jesaias
XXIX, 4 : » Alsdann sollst du erniedrigt werden und aus der Erde reden
und aus dem Staube mit deiner Rede murmeln, dass deine Stimme sei
wie eines Zauberers aus der Erde und deine Rede aus dem Staube
wispele».)
14) 2V*or, a. a. 0. I. p. 434 flf. — Bastian, der Mensch in der
_ 253 —
Geschichte. Bd. II, p. 348 ff. YergL auch dessen » Psyehologi»«, p. 16 — 20. —
Waitz, Anthropologie der Naturvölker, Bd. III, p. 195. — Cranz, Grön-
land, p. 257. etc. — Nach der Yedanta-Lehre trennt sich die Seele im
tiefen Schlafe vom Körper und kehrt zum höchsten Gott oder zur allge-
meinen Weltseele aus dem Herzen , wo die Seele ihren Sitz in der Höhle
des Brahma hat, durch die »sushumna« genannte Arterie zurück und ver-
weilt dort während des tiefen Schlafes.
15) Vergl. Bastian, Oestliches Asien, Bd. I, p. 4 45. Bd. III, p. 258.
Der Mensch in der Geschichte. Bd. II, p. 322 f., 329, 363. — Psychologie
p. 111, 193. — WaitZf Anthropologie der Naturvölker* Bd. III, p. 199. Cranz,
Grönland p. 300. — Wuttke, Volksaberglaube p. 213 — 217 etc.
16) Vergl. Phaed. p. 65 ff., 82 C, (der Körper ein elp^fx^c der Seele) ^
91 E. Phaedr. 250 C. Rep. X, 611 C. Tim. 81 E, 86 B — 87 B. — Auch
das Christenthum betrachtete das »Fleisch« als das niedere, ja als da»
böse Princip. — Anders freilich äussert sich Homer in den Anfangsversen
der Ilias:
»iroXXdc h^ Icp^Cftouc 4'^x^^ ''Ai^t irpotatJAev
oimvoTsl TE TIÄOIV.«
Für die Existenz der Person ist dem griechischen Dichter der Körper die
Hauptsache, wie dies namentlich in den Siegesliedern Hndar's hervortritt.
Der kräftige, schön gebaute Körper der Helden erregt bei aller Hochach-
tung geistiger Eigenschaften seine Aufmerksamkeit und sein Interesse mehr
als die schattenhafte Seele, die er nicht in der Anschauung vorfindet und
von welcher er sich keine klare Vorstellung bilden kann. Der Mensch
klammert sich an das irdische Leben; auch nach dem Tode will er noch
auf Erden wenigstens ideell , in der Erinnerung der Menschen fortleben,
er will beweint, begraben sein und im Gedächtniss bleiben. (Vergl.
Odyss. XI, 71 ff.)
17) Hesiod, ip^a xai '^fi.ipai, 65:
Ze6; KpwlSt)« Ätttivaooe irar^p i? iteipaxa f^i^C
TY)Xou die' di^avciTcDV xoToiv Kpovo? dptßaaiXeOei *
%a\ Tol (Ji^ vatewötv dxtfiia ^ujxöv l^^ovtec
iv ptaxdipcov vif)aot9t Trap 'Qxeavöv ßa^öivY^v
^vßiei 4^pi»ec, ToTatv it,eKvrfiia xdpirov
TpU ^eoc ^dlXXovta tp^pci Cc(SQ>poc difpoupa«.
Vergl. zu dem Ganzen Tylor, a. a. 0, II, p. 60 ff. Bastian, Oestliches Asien.
Bd. I, p. 83 etc.
18) Vergl, BasUan, Psychologie, p. 224. — Cranz, Grönland, p. 258. —
Edda »Gylfaginning«. — Koran c. V, VI.
19) Vergl. 11. IX, 401 ff. :
»OO ^ap ifjLol ^u^'^c dvTd^iov o6^* oaa cpasiv
IXtov ixT^o^at, euvai<&fji6V0N TiToXUdpov.
— 254 —
zh icplv iiz dp-ZiNtjc» «plv ^X^ctv ufac 'A/aiÄv,
«Dotßoü 'An^XXovoc, IIiiÄot fvt TrexpiQioaTg.
XY]i9Tot fjL^ fdp te ß^e« «al t^ta pifjXa»
xTT]TolS^ TpiuoS^C Te xal tniiiDV fyN%ä xipYjva*
div(p6c Se 4^ux^- ^^^"''^ iX^iv o(ke XeioT'/|
^ oW ^XeT1^j, IttcI dtp xrv dlpLeitf'CTai Spxoc 6§6vtq>v«.
Odyss. XI, -^88 ff.
» My) hrf\ p..oi dtdi'^aTÖv f £ tcapa6Ba, ^aiSip.' 'O^uoae j *
ßouXolfAt]v .X* iirdpoupo^ doiv OT^teulfxev dfXXq>
dvSpl Tzaf dxXifjptp, (p p.i?j ßtoTO« ttoXuc ettj,
t) ira^tv vexjgaoi xaracp^tfi.&'^oiaiv dvdaaeiv«.
20) /. G. Müller, Amerikanische Urreligionen. p. 87, 224 etc. — Mei-
nerSf Geschichte cler Religion. Bd. II, p. 768. — Wuttke, Geschichte des
Heidenthums. Bd. I, p. i15. — Vergl. auch Tylor, — dem ich hier heson-s
ders folge — a, a. 0. .II, p. 83 — 4 03.
^) CranZy Grönland, p. a69. — Charlevoix, Nouvelle France, Bd. I,
p. 77. — Lescarbot, Hist. de ia Nouvelle France. Paris 4619, p. 679. —
Lery, Hist. d'un voy. en Br6sil. p. 234. — Coreal, Voy. aux Indes Oc.
Bd. I, p. 224'. — Rochefort, lies Antilles, p. 430. — Vergl. Tylor, II, p. 86.
— Eine eigentliche Yergeltungstheörie findet sich erst da , wo klare. Be-
griffe von wirklicher Moral sich zeigen, die eine Errungenschaft der Civi-
lisation bilden. Bei Homer befinden «ich Böse und Gute ohne Unterschied
im Hades. Die Vorstellung von dem Gericht des Minos, Aeacos und Rha-
damanthys (Odyss. XI, 567; vergl. auch Plato, Gorg. p. 524. A. Phaedon
p. 1 13 f. etc. — Vergil, Aen. VI. 431. etc.) ist nachhomerisch. Die Stelle in der
Odyssee über die Strafen des- Tityos, Tantaius und $isyphos (Odyss. XI,
576, 582, 593) ist ebenfalls eine Interpolation späterer Zeit; auch sind
diese Strafen nicht die Folgen eines in der Unterwelt über sie gehaltenen
Gerichts, sondern es sind gewisserniassen Nachwirkungen einer schon in
der Oberwelt über sie verhängten Verdammung. Später führte man als
Repräsentanten gestrafter Sünder noch hinzu den Ixion, die Danaiden, den
Salmoneus, Peirithoos, Phlegyas u. A. Nachdem nun eine Scheidung der
Todten nach Lohn und Strafe angenommen war, bestimmte man auch in
der Unterwelt die Orte für beide Classen und verlegte in dieselbe den
Tartarus als Ort der quälenden Strafe (PlatOf rep. X. p. jß16A. Vergil,
Aen. VI, 543 ff.) und das Elyslon als den Ort der Glückseligkeit (Vergil,
Aen. VI, 637 ff.) ; von deuen, welche ein mittleres Leben zwischen Gutem
und Bösem geführt hatten, glaubte man, dass sie auf der Asphodeloswiese
als körperliche Schatten umherirrten. — Bei den Juden finden wir die
Lehre von der künftigen Vergeltung nach der babylonischen Gefangenschaft
nicht mehr in unbestimmten Ausdrücken sondern als fest ausgesprochene
Ueberzeugung , wie sie einige Zeit darauf von dem Christenthum sanctio-
nirt wurde.
22) Wenn, wie Tylor sagt, (II, 123 f.), die geheimnissvolle Gewalt
ihn zu Boden wirft, ihn zwingt, sich in Convulsionen zu krümmen und
— 255 —
ZU winden, oder mit Riesenkraft und thierischer Wildheit sich auf die
JDmstehenden zu stürzen, mit verzerrtem Gesicht, wahsiniiigen Geberden
und einer ungewöhnlichen, nicht menschlich erscheinenden Stimme wilde
unzusammenhängende Worte der Verzückung auszustossen oder mit einer
Begabung und Beredsamkeit, die seine Fähigkeiten im gewöhnlichen Zu-
stande weit übersteigt, zu befehlen, zu rath^n, zu prophezeien, — so
scheint der Mensch sich selbst und seiner Umgebung das Werkzeug eines
Geistes, der ihn ergriffen hat oder in ihn eingefahren ist, geworden zu
sein., Das Heilmittel gegen die Krankheit besteht in der Befreiung von
den Geistern: der Exorcist spricht zu ihm, schmeichelt oder droht ihm,
bringt Geschenke dar, lockt ilin aus dem Körper des Patienten hervor,
oder treibt ihn aus und veranlasst ihn, seinen Wohnsitz in einem ändert
zu nehmen. Der Geist ist entweder die Seele ein^s Menschen oder ein
Dämon, sein Einfluss äussert sich sowohl in der Behaftung mit Krankheiten,
als durch Inspiration von Orakeln. Im australisch-tasmanischen Gebiet,
bei den Mintiras, einer niederen Race der malayischen Halbinsel, bei den
Dajacs auf Borneo und fast überall in Polynesien wird jede Krankheit
den Einwirkungen von Geistern zugeschrieben, die man sich entweder
geneigt machen oder durch gewaltsame Mittel von sich abhalten muss.
Bei den niederen Racen Americas, den Dacötas^ den Einwohnern der west-
indischen Inseln, den Patagoniern herrspht ein ähnlicher Glaube. In Africa
meinen die Basutos und Sulus, die Krankheiten seien durch die Geister
der Todten veranlasst; letztere werden von den Sehern erkannt oder von
dem Patienten selbst, der in seinen Träumen den Geist des Verstorbenen
zu sich kommen sieht, um ihn zu peinigen. Congostämme halten eben-
falls die Seelen der Todten, die in die Stellung von mächtigen Geistern
übergegangen sind , für die Ursache von Krankheit und Tod unter den
Menschen. Die Barolongs bringen Geisteskranken, als unter dem directen
Einflüsse einer Gottheit stehend, eine Art von Verehrung dar; in Ostafrica
gilt für Tollheit und Verstandesschwäche die einfache typische Erklärung
»er hat Teufel«. (Mit diesem Ausdruck suchten sich auch diö Juden un-
gewöhnliche Erscheinungen zu erklären; vergK Matth. XI, 4 8. Luc. VII, 33,
Joh. X, 20 etc.). — Die Krankheitsbesessenheit geht bei hysterischen und
epileptischen Affectionen in Orakelbesessenheit über. Der tasmanische Zau-
berer schreibt die Unfälle einer krampfartigen Contraction der Muskeln dem
Teufel zu. Im karenischen District der Pwos versetzt der »Wi« oder Pro-
phet sich künstlich in einen Zustand, in welchem er die Seelen der Ver-
storbenen sehen, ihre entfernte Heimat besuchen, sie in ihren Leib zurück-
rufen und somit Todle auferwecken kann ; diese Wis sind nervös leicht
erregbare Menschen, die sich zu Medien besonders eignen und beim
Orakelgeben wirklich in Convulsidnen verfallen. (Vergl. Bastian^ Oestliches
Asien. Bd. II, p. 414.). Die Ausprüche des Wahrsagers werden für Ein-
gebungen der Geister von Vorfahren gehalten. Bei der Schilderung, welche
ein solcher von seinem Zustande gab , erkennen wir alle Symptome der
Hysterie: er fühlte ein schweres Gewicht in seinem Körper bis hinauf in
die Schultern dringen, hatte lebhafte Träume und im Wachen Visionen
von Gegenständen, welche bei seiner Annäherung verschwanden, Lieder
— 256 —
kamen ihm in den Sinn, ohne dass er sie geiernt hatte, niui es ^^ar ihm
als ofo er i» der Luft fliege. Der Mann stammle, wie Calknvmy sagt, »aua
einer sehr »ensitivea Familie, die viele Doctoren hervorbringt. « Die Patago-
nier erwählen Leute, welche von Fallsucht oder Veitstani ergriffen sind , zu
Magiern , da sie die Geister selbst dazu zu bestimmen sehet oen ; unter
sibirischen Stämmen wählen die Schamanen Kinder, die ConvnlsioDeB
unterworfen sind, als besonders zu ihrem Stande befähigt aus. Bei man-
chen Stämmen arbeiten sich die Zauberer in den Zustand hinein, in wel-
chem sie die Inspirationen erlangen. — Die Ausdrücke »dämonisch« und
»exorcistisch« sind der classischen Welt entnommen, hei Hatner werden
die kranken , von Schmerzen gequälten Männer durch Dämonen heioEige-
sucht. (Odyss. V, 896: »OTu^cpö« hi oi ixpa< ^alfiov«. — vergl X, 44).
Pythagaras hielt die luflbeherrschenden Geister für die Ursache der Krank-
heiten von Menschen und Thieren, Epilepsie (£ii(Xt)<|^) war, wie der Name
besagt, das » Ergriffensein « des Kranken von einem übermenschlichen
Einflüsse. Wenn Herodoty III, S8 berichtet, Cambyses sei mit einer Krank-
heit behaftet gewesen, »welche manche die Heilige nennen«, so meint er
jedenfatls damit die Epilepsie (Vergl. Ebers , Eine ägyptische Ktfnigstochi^
II, p. 268). Wahnsinnig sein hetsst einen bösen Geist haben und die
Römer nannten solche Kranke »larvati«, »larvarum pleni« — »mit Geistern
erfüllt«. Juden und Christen hielten Raserei, Epilepsie, Stummfaeit und
Orakelkundgebungen für Einwirkung von Geistern (Vergl. Ifatth. IX, 81.
XII, 2«, XVII, 4 5. Marc. I, 28. IX, 17. Luc. IV, 83, 89. VIII, 27. IX, 89,
XIII, ii. Apostelgescb. XVI, 46 u. s. w.) Viele Kirchenväter geben Be-
schreibungen von Dämonen , die in den Leib von Menschen fahren , ihre
Gesundheit physisch und psychisch zerrütten, sie zwingen sich zu wälzen,
zu wüthen und zu schäumen, bis sie durch Beschwörung oder dem Pa-
tienten beigebrachten Schläge veranlasst werden, deren Körper zu ver-
lassen. Unter den unzähligen Exorcisationen im Mittelalter ist besonders
bekannt die Beschwörung des Dämons, von welchem Carl VI von Frank-
reich gequält wurde. — Vergl. BasUan, der Mensch in der Oeschichte.
Bd. II, p. K57 ff. und dessen Aufsatz über Besessenheit in seinen Beiträgen
zur vergleichenden Psychologie. Berlin 4 86^. Bd. I, p. 4 45—264.
23) Lucrez sagt (de rer. nat. V. v. 4 468 ff.):
»Quippe etenim jam tum divom mortalia secia
Egregias animo facies vigilante videbant,
Et magis in somnis, mirando corporis auctu-
Heis igitur sensum tribuebant, propterea quod
Membra movere videbantur vocesque superbas
Mittere pro facie praeclara et viribus amplis
Aeternamque dabant vitam, quia semper eorum
Suppeditabatur facies et forma manebat,
Et tarnen omnino, quod tantis viribus auetos
Non temere ulia vi convinci posse putabant;
Fortunisque ideo longo praestare putabant
Quod mortis timor haud quemquam vexnret eorum,
— 257 —
Et simul in somnis quia muita et mira videbant
Efficere et nuilum capere ipsos inde iaborem«.
— »BirkeDfit der in Meditationen über sich selbst versunkene Träumer, dass
nicht sein freier Wille das Denken beherrscht, so kann er leicht versucht
sein, wenn ihm die psychologischen Kenntnisse abgehen, das Es (Tad),
das in ihm denkt, aus sich hinaus zu versetzen, und aus Empfindungen
hat sich die ganze Götterweit projicirt«. (£(u<iai», Der Mensch in der Ge-
schichte. Bd. II, p. 553).
24) Die Pythia und die Priesterinnen zu Dodona werden von Plato
als »(Aaveiaai« bezeichnet, ebenso die Sibyllen; den Gegensatz zu dem
ekstatischen Zustand bildet das » aoocppoveiv « (Phaedrus p. 244). Auch bringt
er (xdvTi; mit fj.a(vofj.ai zusammen.
25) In der Mythen •> und Sagenbildung haben Vorstellungen
ähnlicher krankhafter Zustände eine grosse Rolle gespielt, besonders in
der Sage vom Währwolf. Der Glaube, dass ein Mensch sich in ein Tbier
verwandeln könne, um als solches sich an seinen Feinden zu rächen, ist
allverbreitet; während- man in den Gegenden, wo es Wölfe gab oder
noch giebt, diese zur Verwandlung benutzte, muss in Indien die Gestalt
des Tigers, in Afrika die des Leoparden, der Hyäne und des Löwen der-
artige Dienste leisten. Unter den Völkern Indiens reden die Stämme der
Garrow Hills und die Hos von Singbhum von der Verwandlung mancher
Menschen in einen Tiger ; ebenso behaupten die Khonds von Orissa, dass
einige von ihnen die Kunst »mleepa« besitzen und mit Hülfe eines Gottes
»mleepa« Tiger werden. Die Jakunen der malayischen Halbinsel sagen,
dass ein Mensch sich in einen Tiger verwandeln könne; die Verwand-
lung geschehe kurz vor dem Sprunge, und man will dies sogar beobachtet
haben. Nach Dobrizhoffer drohen die Zauberer der Abiponer in Südame-
rika denen, von welchen sie sich beleidigt glauben oder welche sie für
Feinde halten, sich in einen Tiger zu verwandeln und sie zu zerreissen.
In Afrika wird in der Kanuri-Sprache von Bornu vom subst. »bultu«
(Hyäne) »bultungin« (»ich verwandle mich in eine Hyäne«) grammatisch
abgeleitet und die Eingebornen behaupten, es gäbe eine Stadt, Namens
Kabutiloa, wo Jedermann diese Eigenschaft besitze. Aus dem Aschango-
land berichtet Du Chaillu ein Beispiel, wo ein Leopard zwei Männer
tödtete, dieser aber k^in eigentlicher Leopard, sondern ein verwandelter
Mensch war; nach längerem Forschen fand man Akondongo's Neffen Ako-
scho als den Thäter, welcher es auch gestand; obgleich ihn der Oheim
sehr liebte, musste er ihn doch preisgeben, und so wurde er in Gegen-
wart des Volkes langsam verbrannt. In Europa finden wir unter den
classischen Berichten die Geschichte des Petronius Arbiter (satir. 62) von
der Verwandlung eines »versipellis« (Wendehaut) . - Es kommt oft der Ge-
danke vor, dass ein Wolf verwundet wird und der, welcher seine Gestalt
trug, nachher eine ähnliche Wunde zeigt. Zu Augustinus Zeit verkün-
deten die Magier den Leuten, dass sie dieselben mit Hülfe gewisser
Kräuter in Wölfe verwandeln könnten, und der Gebrauch von Selben zu
solchem Zweck wird noch in verhältnissmässig neuer Zeit erwähnt. Hero-
Radestock, Schlaf u. Traum. ^7
— 258 —
doC«-Sage von den Neuri (IV, 405), welche in Jedem Jahre einige Tage
zu Wölfen werden, findet ihr Analogen auf slavischem Boden, indem liv-
Ulndische Zauberer sich jtttirlich einmal in einem Flusse badeo und da-
durch für zwölf Tage Wölfe werden. Viele Slaven halten überhaupt alle
die Wölfe, welche in scharfen Wintern Menschen anzugreifen wagen,
selbst für Menschen , die in Wolfsgestalt verhext sind. Den slaTischen
Ausdruck ßpuxöXaxoc (bulgarisch vrkolak) haben die modernen Griechen
statt des classischen Xuxdv^poiicoc aufgenommen ; er bezeichnet einen Men-
schen, welcher in einen cataleptischen Zustand verftillt, wtthrend seine
Seele in einen Wolf ftihrt und auf Blutgenuss ausgeht. In Deutschland
ist besonders im Norden die Sage vom Wolfsgürtel noch erhalten, und
im December darf man den Wolf nicht bei Namen nennen, sonst wird
man vom Währwolf zerrissen. Die altscandinavischen Sagas haben ihre
»WHbrwotfkrieger« und »Gestalten Wechsler« (hamrammr). Die D^ien er-
kennen noch heut zu Tage in einem Menschen einen Wtthrwolf, bei wel-
chem die Augenbrauen zusammenstossen. Das Wort werewolf (verevulf
in Cnut's Gesetz) in England ist noch eine alte Erinnerung an diesen
Glauben , der jetzt verdrängt ist , weil es eben dort keine Wölfe mehr
giebt. Die französische Sprache hat ebenfalls ein Wort für Wfthrwolf,
welches in älterer Form »gerulphus«, »garoul« und jetzt pleoaastisch
»loup-garou« lautet. Das Parlament der Franche-Comt^ erliess im Jahre
1 578 ein Gesetz, nach welchem die Währwölfe vertrieben werden sollten,
4 5&8 gab der Währwolf von Angers einen Beweis davon, dass seine Hände
und Füsse sich in Wolfsklauen verwandelten, 4 608 endlich erklärte der
Richter im Process des Jean Grenier, dass Lycanthropie eine verrückte
Täuschung, kein Verbrechen sei; aber noch 4658 gab eine satirische
Schilderung eines Schwarzkünstlers einen vollständigen Bericht über Währ-
wölfe. Selbst in unseren Tagen ist dieser Glaube bei den französischen
Bauern noch nicht erloschen; noch in den sechziger Jahren war es dem
Engländer Bqring - Crouid unmöglich, in Frankreich nach Dunkelwerden
einen Führer über einen einsamen Platz zu bekommen, welchen ein loup-
garou unsicher machte ; er wurde dadurch veranlasst, sein »Book of Were-
wolves« zu schreiben.
Durch alle einzelnen Localsagen zieht sich eine gemeinsame Grund*
idee hindurch, ein Beweis, dass sie bei den örtlich so sehr getrennten
Völkern denselben psychologischen Gesetzen ihren Ursprung verdanken.
Dass in krankhaften Zuständen der Mensch sich in ein Thier verwandelt
glaubt, kommt nicht selten vor. Nach SpieJmann geht nämlich aus einer
gänzlichen Umwandlung des Fühlens bei Melancholikern diejenige Form
der Melancholie hervor, die mit der Wahnvorstellung einer verwandelten '
Persönlichkeit verbunden ist, wie der Verwandlung in einen Wolf (Lycan^
tiiropie), einen Hund (Kynanthropie), einen Bären, e4ne Leiche, in Holz,
Butter, Spreu u. s. w. ; allgemein bezeichnet man diese Krankheit mit dem
Namen »Insania metamorphosis«, wohin die »insania zoanthropica« als be-
sondere Art gehört. — Vergl. Tylor, a. a. 0. I. p. 305 — 809. Bastian,
Der Mensch in der Geschichte. Bd. II. p. 3Sl — 34.
— 259 —
26) A, Sprenger, Das Leben uad die Lehre des Mohamoiad. Berlin
4864. Bd. II, p. 907-^S«S.
27) Bomer, Odyss. VIII, 79 ff. :
Tpo>a( Tc xal Aovaolot, At^c fUfdiXoi» ^d ßo»Xdk«.
Herodoi, 1. 4», 44, 49, S6, 46—54. ~ Bei den Hellenen stand es in
Blüthe bis ungefitbr zum peloponnesischen Kriege, der Zeit der berein-
brechenden Aufklärung; hohe Autorität hatte es bei dem dorischen
Stamme, zumeist in Sparta. Dureh politische Paitetnahme und Bestech*
liehkeit erregte es Misstrauen gegen sich and kam so in Verfall; Cicero
sagt im Sinn griechischer Philosophen und der Römer seiner Zeit: cur
isto modo jam oracula Delphis non eduntur, non modo nostra aetate,
sed iam diu, ut nihil possit esse contemtius? (de div. II, 57). 'Zur Zeit
Eaärimlt hob sich das Orakel wieder etwas, aber die Dinge, über welche
man es befragte, waren jetzt meist kleinliche Privatangelegenheiten. Von
den Kirchenvätern bekämpft, von den Kaisem geplündert, ward es end-
lich von Theod09iui gänzlich geschlossen.
28) Die unglückliche Johanna war im Jahre 4 442 zu Dom Remi ge-
boren, also zur Zeit ihres Auftretens 17, zur Zeit ihres Todes 49 Jahre
alt. In den »Notices et extraits de manuscripts de la Bibl. du Roi« 4790. 4.
— den Verdammungsprocess mit historischen Erläuterungen des del Aberdy
enthaltend, heisst es nach den Zeugenverhören: »Elle n'etoit pas sujett6e
suivant toutes apparences ä Tinfirmit^ sexuelle«. Das bei dem Fehlen der
Menstruation zurückbleibende, vielleicht auch periodisch aufwallende Blut
brachte bei Ihr die krankhafte Affection hervor, welche in geringerem
Grade in diesem Lebensalter häufig vorkommt und worin Kranke einer-
seits eine Sehnsucht nach Weissagungen und Ausserordentlichem über-
haupt haben, andrerseits diese Weissagung selbst oft ausüben und in
visionäre Zustände gerathen. — Vergl. Fr, B. Oeiander , Entwickelungs-
krankheiten in den Blüthenjahren des weiblichen Geschlechts. Göttingen
4847. Bd. I, p. 88 f. Fr, W. Hagen, Sinnestäuschungen. Leipzig 4887.
p. 4 65 f. Busch , das Geschlechtsleben des Weibes u. s. w. — BasUan
dagegen hält sie noch für gesund: »Bei dem religiösen Horizonte, in dem
Johanna d'Arc lebte, erklären sich ihre Visionen ungehindert aus einem
durch die politische Bedrängniss angeregten Irritationszustand des Nerven-
systems, wie er als solchernoch innerhalb des Gebiets voller
Gesundheit bestehen kann. Hätte sie in ihrem Dorfe fortgelebt,
beständigen Schmähungen und Misshandlungen seitens ihrer Umgebung
ausgesetzt, so würde bald dieser, durch die beständige Unruhe des, als
im Widerspruch mit der Aussenwelt stehend , zweifelnden Bewusstseins in
Reizung gehaltene Irritationszustand in eine das gesammte Wohlbefinden
des Organismus in Mitleidenschaft ziehende Wahnsinnskrankheit überge-
gangen sein. Dieses war um so mehr zu fürchten, da ihre rein subjectiven
Vorstellungen ihre Naturheilung, die bei Unmöglichkeit eigener Umände-
47*
— 260 —
rung nur darin liegt, den Ideenkreis der Zeitgenossen nach sich umzu-
ändern, nie hatten finden können. Dass sie trotzdem von dem Wahnsinn
verschont blieb, lag in den aussergewöhnlichen Verhältnissen, die sie als
Begeisterte an die Spitze der Heere stellten. So eiiiielt ihre eigenthümliehe
Weltanschauung, die das Publicum nicht zu sich heraufziehen konnte,
ihre nothwendige Compensation (um nicht durch beständiges Anstossen
in Fieberactionen getrieben zu werden) dadurch, dass die Zeitgenossen,
anstatt sie als krankhaft auszustossen, zu ihr als einer Gottheit aufschauten,
und ihr so erlaubten, ihre Ideenkreise alle in ihnen liegende Entwick-
lungskeime voll und ungehindert -hervortreiben zu lassen, während das
daraus entstehende Idealgebilde trotz setner Excentricität in der Gesellschaft
eben deshalb bewahrt werden konnte, weil man es von vornherein auf
einen exceptionellen Standpunkt gestellt hatte. Mit dieser vollen und un-
gehinderten Ausbildung ihrer Anschauungen war nun auch dem Uebergang
zum Wahnsinn bei ihr vorgebeugt, denn sie vermochte sich so zu der
von dem Organismus angestrebten Harmonie in klarstem Selbstbewusstsein
zu entfalten, und blieb, obwohl der Welt ein angestauntes Wunder, eben
deshalb sich selbst immer das im normalen Gesundheitsgefiihl fortlebende
Individuum.« (Der Mensch in der Geschichte. Bd. II. p. 537).
29) Vergl. E. R. Pfaff, Das Traumleben und seine Deutung nach den
Principien der Araber, Perser, Griechen, Inder und Aegypter. Leipzig
4868. p. 4 00. — In Bezug auf das Yoraufgehen sonderbarer Träume bei
Visionen vergl. die lebhaften Träume der Jungfrau von Orleans in Schiüer^s
Drama (I, 4 0).
30) Ein Nachkomme des Aristides lebte von Traumdeuterei (Plut.
Arist. 27). — In den Tempeln des Sehers Amphiaraos zu Oropos, dessen
Sohns Amphilochus und des Mopsos in Cilicien, des von letzterem in der
Weissagung besiegten Kalchas, des Sehers im trojanischen Kriege, und
des Podaletrios am Vorgebirge Garganus in Apulien, des Asclepios zu
Epidauros — legte man sich, um göttliche Offenbarungen, namentlich zur
Heilung von Kranken zu erhalten, auf dem Felle des Opferthieres zum
Schlafen nieder. Die Kranken -— meist solche, welche die Aerzte schon
aufgegeben hatten — wurden, wie Plinius berichtet, durch Räucherungen
und Getränke zu den Träumen vorbereitet, in welchen ihnen der Gott
das Heilmittel angab. Vergl. Preller, Römische Mythologie. 2. Aufl. Berlin
4865. p. 609 etc.
31) Vergl. NudoWj Versuch einer Theorie des Schlafes. Königsberg
4794. p. 489.
32) Vergl. besonders Götlie , Egmont. A. V, Shakespeare , Macbeth
A. II. Sc. 5.
33) II. II. V. 7 ff. Zeus ruft hier, um sein der Thetis gegebenes Ver-
sprechen zu erfüllen , und die Griechen in Noth zu bringen , damit sie
gezwungen den zürnenden Achill versöhnen und zu ihrer Hülfe herbei-
rufen sollen, den 5v£ipoc, entsendet ihn zu Agamemnon und lässt diesem
die täuschende Hoffnung eines Sieges vorspiegeln, wodurch die ^o^Aii im
zweiten Buche, die Einleitung des Kampfes im dritten und der eigentliche '
— 261 —
Beginn desselben im vierten Buche eingeleitet wird; v. 22 ff. vollzieht der
([veipoc den Befehl. — II. XXIII, v. 64 ff. erscheint die Seele des Patroklos
dem schlafenden Achilles , nm ihn zur Bestattung des Leichnams aufzu-
fordern , welche auch nach grossartiger Vorbereitung in's Werk gesetzt
und in demselben Buche beschrieben wird. — Odyss. VI., v. 43 ff. : Athene
fordert in Gestalt der Tochter des Dymas die Nausikaa auf, sich zum
Meeresstrande zu begeben um ihre Gewänder zu waschen. Dort findet sie
den Odysseus , welchen sie mit Kleidern versieht, mit Speise und Trank
erquickt und zu ihrer Mutter sendet, wo er sich die Aufnahme bei den
Phäaken erfleht. — Odyss. XV., v. 9 ff. erscheint Athene dem in Sparta
weilenden Telemack während des Schlafes, erinnert ihn an die Rückkehr
und warnt ihn vor den Nachstellungen der Freier.
Gewissermasen eine Theorie der Träume findet sich Odyss. XIX.
V. 562 ff.:
»^oial Y^p Te TTüXai dfAeNTjNÖJV elaiv övelpov
al jxev Y*P xepdeaoi Texe-j^axai, al ^ iXi^aszi'
Twv ot [iis % IXOrodi hiä icptcroü iXicpavTo;,
ot ^' dXe^aipovTai, Itte* dxpaavxa cpIpovTe^ *
ot hk 5tdt SeaTd>v xepdioov IXdnvt ^6paCe,
oTj)* iTUfxa xpalvouai ßpoTwv 6x6 x^v Tt; ISTjTat«.
Der Annahme, dass diese Theorie aus einem Wortspiele zwischen xipac
(Hom) und xpalvos (vollenden) einerseits, sowie IXecpac und ^Xe<patpo(jiat
andererseits abgeleitet sei , gab schon Eusthatius den Vorzug und sie ist
bis heutigen Tags die herrschende geblieben, obgleich noch andere Er-
klärungen auftauchten.
Nachbildungen dieser Mythe finden sich Horat, Od. III, 27, 44 : »imago
Vana quae porta fugiens ebuma Somnium ducit?«
Vergil. Aen. II. 893 ff. :
»Sunt geminae Somni portae, quarum altera fertur
Cornea, qua veris facilis datur exitus umbris;
Altera candenti perfecta nitens elephanto,
Sed falsa ad caelum mittunt insomnia Manes«.
Vergl. PUUo, Charmides p. 4 73.
Ein Traum gott, der später vorkommt, (Paus.U, 4 0. 2) kennt Homer
auch H. II, 6 nicht. (Die Erklärung dieser Stelle giebt Ludan, lup. trag. 40:
Zeu; — ifynzaxq. töv A^ap'^H-vova, ^^eip6v xtva ^euhi] iici7c£|i.4^ac dis woXXol
T&N 'AxaiSi^ dnoddvoie^.) — Die Wohnung der Träume ist auf dem Wege
nach dem Hades jenseits des Okeanos im Reiche der Nacht (Od. XXIV. 44 ff. :
»icdp 6' Xaas 'Qxeavou xe ^odc %al AsuxdSa ic^7]v,
ifih Tcap' 'HsXCoto nt^Xoc «al ^(aov dvelpinv
^jioav. « — VergU Aen. VI. 282 ff. :
»In medio ramos annosaque brachia pandit
Ulmus opaca, ingens, quam sedem Somnia vulgo
Vana teuere ferunt, foliisque sub omnibus haerent«.
Vergl. auch Ovtd, metam. XI. 592 ff.), wenn sie sich als göttliche
Wesen auch im Olymp aufhalten können. Bei Besiod heissen sie Kinder
der Nacht (theog. 24 4) und wohnen mit ihr im unterirdischen Dunkel
— 262 —
(theog. 748), bei Euripfaes Söhne der Erde, schwarzgefittgette Grenien
(Hec. S4); (Md nennt sie Kinder des Schlafgottes und führt aus der oa^
endlichen Zahl derselben die drei hanptsttchlichsten an -. Iforpheas, Ikelos
(oder Phobetor) und Phantasos (met. XI, MS ff.). Nach Verffil ist die Woh-^
nung des Schlafes Im Tartarus (Aen. VI, 890).
34) Von Dichterstellen will ich hier nur noch anführen: Sophokles,
Electra, v. 408 ff., v. 62 ff. — Euripides, Orest. v. 606 ff. Hec, v. 70 ff.,
587 f. — Plautus, Mil. glor. 11, 4. Curcul. 11, 2, 40 ff. Rud. III, '4, 6 ff.
Merc. II, 4, 5. Die späteren römischen Lustspieldichter gaben die allego-
rischen Träume auf. — Ovid, met. VII, 634 ff. VIII, 824. etc. — Goethe,
Egmont. Goetz v. Berlich. A. I. — Schiller, die Jungfrau von Orleans. I,
2. I, 40. Die Piccolomini 1, 8. Wallensteins Tod II, 3. V, 4. Die Braut
von Messina (Isabella und ihr Gemahl]. — Gutzkow, Uriel Acosta, IV, 3.
V, 2. — P. Heyse, Hans Lange IV, 4.
35) Der Inhalt ist folgender: Basilius , ein König von Polen, durch
einen Traum in der Zeit, wo die Königin guter Hoffnung war, erschreckt,
lässt den von ihr geborenen Sobn Siegismund in einen finstern Thurm
sperren und streng bewachen; als dieser zum Jüngling herangewachsen,
lässt er ihn plötzlich während des Schlafes in den Palast bringen und mit
aller Pracht umgeben. (Aehnlich wie der Lord den betrunkenen Kessel-
flicker in der Einleitung zu Shakespeare' s »der Widerspenstigen Zähmung«).
Da Siegismund sich jedoch sehr unbändig und grausam zeigt, wird er im
Schlafe wieder in seinen Thurm zurückgebracht und ihm beim Erwachen
gesagt, die Pracht und Herrlichkeit sei nur ein Traumbild gewesen. Bald
aber machen ihn die Polen , welche ihn zum Herrscher begehren , frei ;
der besiegte Vater kniet vor dem Sohne, allein dieser, durch den vermeint-
lichen Traum gewarnt, hebt ihn auf und zeigt sich mild und weise.
36) Inhalt : Ein Jüngling Rustan will, ungeachtet ihm im Hause seines
Oheims die Liebe von dessen Tochter winkt, von einem Sclaven aufge-
muntert, in die weite Welt ziehen um grosse Thaten zu vollbringen, wird
aber durch einen Traum gewarnt und bleibt. — Die Warnung durch
den Traum ist also das Hauptmoment in beiden Stüeken.
87) Vergl. Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre. II, C. 42. VII, C. 4.
VIII, C. 9. — W. Hauff, Lichtenstein p. 40, 4 08, 437, 362, 882 ff. —
G, Freytag, das Nest der Zaunkönige, p. 72, 79, 420. Die Brüder vom
deutschen Hause, p. 892. Marcus König, p. 209. — F. Dahn, Ein Kaispf
um Rom 2; Aufl. I, p. 444 f. 820 f. H, p. 48, 489, 207. III, 467 ff. IV. 4 7 f.
— G. Ebers, Eine ägypUsohe Königstochter. 4. Aufl. I, p. 402, 4 42. II,
33, 459, 484. HI, 34 ff., 80 f., 422, 202 (nach JSforodo^ HI, 30), 226. üarda
2. Aufl. I. p. 4 60, 255. — B. Auerbach, Dorfgeschichten. Bd. I, p. 37, 90.
Diethelm von Buchenberg p. 288. Edelweiss p. 348. Bärfüssele p. 38.
Zur guten Stunde. Bd. I, p. 46, 48. IV^ p. 54. Neue Dorfgeschichten II,
p. 34. Waldfried. II, p. 462. Landhans am Rhein. I, p. 494. II, p. 94,
486, 4 8«. — Turgenjew, drei Begegnungen p. «55-*-88 u. s. w. — In
Jean PauVs » Museum «t findet sich eine mehr philosophische Abhandlung:
»Blicke in die Traumwelt«.
— '263 —
39) PUüo, apol. p. 22; v«rgi. auch Ueaon, p. 99. Jod p. 584 etc. —
Andrarseits neniil Kant d«n Traum eine »unwillkürliche Dichtkunst« (A&->
thropologi«) herg. von Chr, Starke, Leipe. 4834. p. 4&3). Die verschiedenen
Formen der geistigen Thötigkeiten ^ — die traumhaften Zustände und die
Dichtung — haben nicht nur, wie unten zu besprechen sein wird, ähn-
liche Gesetze in der grossen Freiheit der Gedankencombinationen, sondern
sie zeigen auch dieselbe Wirkung. Alles erscheint dem Dichter wie dem
Träumenden belebt: der Bach hüpft wie ein Kind am Abhänge dahin
und plätschert unter Blumen spielend einher, zum Flusse erwachsen
^wird er kraftvoller und trägt schwere Lasten. In rasendem Toben
schwillt das Wasser hoch auf und überfluthet das Land, den Badenden
packt es an mit Frost und Krämpfen , mit unerbittlicher Umschlingung
hält es sein ertrinkendes Opfer fest. Das aus der Form strömende Erz
befreit sich selbst und die Elemente hassen das Gebild von Menschen-
hand. Tückisch entrollt der gewälzte Stein;
» . . . . wenn die Kugel los ist aus dem Lauf,
Ist sie kein todtes Werkzeug mehr, sie lebt,
Ein Geist fährt in sie, die Erinnyen
Ergreifen sie, des Frevels Rächerinnen,
Und führen tückisch sie den ärgsten Weg«.
{SchiUer, Wallensteins Tod. III.). Man redet in der Metapher von einem
Menschen, der von Liebe und innigen Wünschen »beseelt« ist oder
»begeistert« für Vaterland und Freiheit zu reden und zu kämpfen.
39) PlatOf Apol. p. 33. Kriton p. 44. Phaedon. p. 60 E.] Xenophovij
Anab. III, 4, 12. IV, 3, 8. VI, 4, 22. Kyrop. VIII, 7, 21. "
40) Rep. IX. p. 572. Phileb. p. 20 B. etc. — Das Organ der weissa-
genden Träume ist die Leber; auf ihrer glatten Oberfläche lässt die Ver-
nunft wie in einem Spiegel schreckhafte oder heitere Bilder erscheinen,
vermindert ihre natürliche Süssigkeit und Farbe duf-ch Einführung von
Galle oder stellt sie wieder her und schreckt oder beruhigt dadurch den
Theil der Seele, der hier seinen Ort hat. (Tim. p. 74).
41) Neben anderen kleinen Aufsätzen mit aufgenommen In die Aus-
gabe seines grösseren Werkes »De anima« (iiepl 4'^X'^^) ^^° Immanuel
Bekker, Berlin «829. p. 4 44 — 424.
42) L. II, c. 54 . §440: »Quid vero habet auctoritatis furor iste, quem di-
vinum vocatis, ut, quae sapiens non videat, ea videat insanus et is, qui hu-
manes sensus amiserit, divinos assecutus sit?« — Aeholieh sagt Aristoteles:
»TÖxe f Ap ^eov elvai t6v n£(AiiovTa, itpöc ttq ^X^ diXo^^i, xal tb jii?) toTc ßeXxl-
9tou %al 9povifAi»TeiTotc dXkä tou tox^uai n^ixireiv dfToicov«. (a. a. 0. p. 420).
— Wie den Weissagungen in Visionen und Träumen gegenüber, so verhält
sich Cicero auch skeptisch in Bezug auf die Kunst der haruspices und
die bei den Römern mehr als bei den Griechen ausgebildete künstliche
Divination überh»iipt; ja an einer anderen Steile (a. a. 0. deor. I, c. 26«
§ 74 ; vergl. de divin. IL c. 42 f.) bemerkt er geradezu, es erscheine ihm
wunderbar, dass der haruspex nicht lachen müsse, wenn er einen Colie-
gen bei der Ausübung seiner Amtsgeschäfte erblicke. Eine ähnliche An-
1
264* —
Sicht, welche durch die Lehren de» PoiiaafiiM, der in dieser Beziehung
von der Meinung der übrigen Stoilcer abwich, und anderer Philosophen
hervorgerufen war, — hatten die meisten gebildeten Römer jener Zeit.
43) De cura pro mortuis X — ^XII, epist. CLVIII. ^ Auch giebt er die
landlttufigen Begriffe von den Besuchen der Incubi an, die, wie er sagt,
durch Zeugnisse von solcher Zahl und solchem Gewicht bestätigt werden,
dass es für unverschämt gelten möchte, dieselben zu leugnen; dennoch
hütet er sich zu einem positiven Glauben an solche Geister sich zu be-
Icennen. (De clv. Dei XV, 48).
44) 6r. H. V. Schubert, die Symbolik des Traumes. Bamberg 4814, in
4. Aufl. nach dem Tode \les Verfassers herg. von Fr. H, Ranke, Leipzig
4862. — Vergl. auch dessen »Geschichte der Seele«. Tübingen 4830.
4. AuH. 4847.
45) Burdack, Die Physiologie als Erfahrungswissenschaft. Bd. III. —
Purkinje, »Wachen, Schlaf, Traum und verwandte Zustände « in Wagner' s
Handwörterbuch der Physiologie. Bd. III. Abth. 2. p. 443 — 480.
46) A. Maury, Le sommeil et les rdves. Trois. ödit. Paris 4 865. Vergl.
auch desselben Verfassers: De certains faits observ^s dans les röves et
dans r^tat intermödiaire entre la veille et le sommeil. Paris 4857. (April-
Heft der Annales m^ico-psychologiques du Systeme nerveux) . Von anderen
französischen Autoren sind noch zu nennen : A, Lemoine, Du sommeil au
point de vue physiologique et psychologique. Paris 4855. ^ Maine de
Biran, Nouvelles considörations sur le sommeil, les songes et le somnam-
bulisme. Jouffroy, M^langes philosophiques. Du sommeil. — Macario,
Du sommeil, des r^ves et du somnambulisme dans T^tat de sant6 et de
maladie. Paris 4857. — Doch waren mir leider diese Werke ebenso wie
die denselben Gegenstand behandelnden zahlreichen englischen Schriften
nicht zugänglich.
47) I. V. Strümpell, Ueber die Natur und Entstehung der Träume.
Leipzig 4874. 426 Seiten. Später erschien: Hildebrand, der Traum und
seine Verwendung für das Leben. Leipzig 4 875. Doch hat dies kleine Buch
(60 Seiten) keine gute Disposition; die darin aufgestellten Gegensätze,
welche sich im Traum finden sollen, sind nur willkürlich angenommen;
auch kann ich. Hildebrand nicht beistimmen , wenn er den Menschen für
seine Träume in Betreff ihrer Moralität verantwortlich machen will. Der
Vortrag Siebecl^s über den Traum hingegen, welcher abgedruckt ist in
der von H, Virchow und Fr. v, HoUzendorf herausgegebenen Sammlung
gemeinverständlicher Vorträge (Ser. XII. H. 279. Berlin 4 877), enthält
eine gedrängte (40 Seiten), interessante und dabei populär gehaltene Dar-
stellung der meisten wesentlichen Eigen thümlichkeiten des Traumes.
Ferner behandelten diesen Gegenstand in neuester Zeit noch C. Bin% in
einer kleinen (56 Seiten), mehr die physiologische Seite berücksichtigen-
den Schrift: »Ueber den Traum«. Bonn 4 878. — NiciAaus Grot, Snowidie-
ttia, kak predmet naucznaho analiza (Die Träume, ein Gegenstai^jl wissen-
schaftlicher Analyse). Kiew 4878. Diese kleine Schrift enthält nichts
Neues. Grots Eintheilung der Träume wird später angeführt werden. —
— 265 —
Das'Werk H. SpUta*s: »Die Schlaf- und Traumzustände der mensdüichen
Seele« ist im Vorwort schon besprochen worden.
48) Encyclopaedie der philosophischen Wissenschaften. Heidelberg
484 7. p. 246. — Die Ansichten seiner Schüler s. in Anmerk. 84.
49) Das Leben des Traumes. Berlin 4864. 874 Seiten. Dieses Buch
enthält eine Fülle von Material, welches aus einem jahrelangen fleissigen
Sammeln und Beobachten hervorgegangen, und manche treffliche Apergus ;
allein die Begeisterung für den Traum ist, wie schon die ersten Sätze im
Anfange (»Ich will über die Seele forschen und Entdeckungen machen,
so viel ich kann, und ich wag'sl Denn mich reizt ihre schöne Gestalt
und noch mehr, was dahinter verborgen liegt ; und mich reizt überhaupt
was verborgen ist, und ich habe eine unaussprechliche Sehnsucht danach«)
bekunden, zu gross. Der Gegenstand, welcher Schemer's Geist so lange
Zeit hauptsächlich in Anspruch genommen, hat zu grosse Bedeutung für
ihn erlangt, welche er für den unbefangenen Leser nicht hat. So ergeht
sich denn der Verfasser in poetischen Schilderungen der unübertreillichen,
symbolischen Malereien der im Traume erhabenen und weit die des Tages
hinter sich lassenden Phantasie. Den ganzen ersten Theil (p. 4 —'434)
füllt diese Schilderung aus, und es finden sich hier wenig Thatsachen,
welche nicht im zweiten Theile wiederholt wären. Die Symbolik — von
der einzelne Proben zu geben ich später Gelegenheit haben werde — hat
Scherner bis auf die kleinsten Punkte, wo sie oft an Lächerlichkeit grenzt,
durchzuführen versucht. Der Abschnitt über Abnungs- und Willkür-
träume ruft »unwillkürlich« die Erinnerung an das Wort Faust's wach :
»D'rum hab ich mich der Magie ergeben.
Ob mir durch Geistes Kraft und Mund
Nicht manch' Gefaeimniss würde kund«.
50) Die Traum -Phantasie. Stuttg. 4 875. Dies Werk enthält trotz
seiner 208 Seiten nicht viel Neues; es lehnt sich vollständig an Schemer's
Lob der symbolischen Phatasie an, und die allzugrosse Begeisterung,
welche Volkelt an Schemer tadelt (p. 482), erfüllt ihn zum Theil selbst.
Auch ist die Eintheilung, in Betreff deren er ebenfalls an Schemer's Werk
Ausstellungen zu machen hat, im wesentlichen diesem entnommen.
51) W. Wundty Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele.
Leipzig 4863, Vorrede; vergl. p. 20: »....Erfahrung und denkende
Betrachtung machen jede Wissenschaft. Die Erfahrung ist das Frühere,
sie liefert die Bausteine, das Denken ist nur der Mörtel, der die Bausteine
zusammenkittet. Aber das Gebäude hat den Kitt und die Steine nöthig«.
62) Weher y Art. »Tastsinn« in Wagner's Handwörterbuch der Physio-
logie. Bd. in. Abth. 2. -^ Fechi^ery Elemente der Psycho-Physik. 2 Bde.
Leipzig 4860. — Ren% und WeHf, Archiv für physiologische Heilkunde.
4866. — Nach dem psycho-physischen Gesetze entsprechen gleidien re-
lativen Reiz zuwüchsen gleiche Bmpfindungszuwüchse; mit der In-
tensitttt der Reize wächst und nimmt ab die Intensität der Empfindungen.
Die Zunahme des Reizes, wel<^e eine Zunahme der Empfindung bewirkt,
— 266 —
Steht xar gaBzen Reliilirke in einem ceMtaniMi VerbtfltDisB ; jeder Lfchfr-
reiz mus9 um Vioo > jeder Mnskelreii um Vit > jeder Sohell , Druck und
Teroperatorreiz endlich um Vs seiner Stärke wachsen, um einen Empfin-
dungszuwachs zu bewirken. Mathematisch aasgedrückt lautet das Gesetz :
die Empfindungen wachsen wie die Logarithmen , wenn die Reize wie die
Zahlen zunehmen oder: die Empfindung wttchst wie der Loga-
rithmus des Reizes. Die Methoden bei der Auffindung desselben
waren folgende:
4} Die Methode der eben merklichen Unterschiede. Sie
ist die von Weber aliein angewandte und bei der Druckempfindung ver-
hältnissmässtg am leichtesten auszuführen. Man legt auf die Hautstelle,
welche untersucht werden soll, kleine Gewichte, am besten aus Kork
oder Hollundermark, und probirt die Grösse des Gewichtes aus, die ge-
rade erforderlich ist, um eine eben merkliche Empfindung zu Stande zu
bringen. Aehnlich verföhrt man bei den anderen Sinnen.
2) Die Methode der richtigen und falschen Fälle. Sie
geht aus der vorigen hervor, wenn man den Reizunterschied so klein
nimmt, dass der Unterschied der Empfindung nicht mehr deutlich ist.
Dann ist eine Täuschung möglich, indem man bald den schwächeren Reiz
für den stärkeren, bald umgekehrt den stärkeren für den schwächeren
nimmt. Man bestimmt nun die Grösse des Reizunterschiedes, die unter
verschiedenen Umständen, also z. B. bei allmählichem Wachsen der Reiz-
stärke erfordert wird, um dasselbe Verhältniss richtiger und falscher
Fälle oder richtiger Fälle zur Totalzahl der Fälle zu erzeugen. Die Grösse
der Empfindlichkeit wird der Grösse jenes Reizunterschiedes umgekehrt
proportional gesetzt. Die Fälle , wo das Urtheil zweifelhaft bleibt, werden
halb den richtigen, halb den falschen Fällen zugezählt.
3) Die Methode der mittleren Fehler. Mit der vorigen von
Fechner ausgebildet beruht sie darauf, dass man durch Schätzung einen
Reiz so lange abstuft, bis er eine Empfindung bewirkt, die nach dem
Urtheil einer anderen Empfindung, welche ein Reiz von gegebener Stärke
veranlasst, gleich ist. Man begebt dabei im Allgemeinen einen gewissen
Fehler, der gefunden wird, wenn man den durch Schätzung herausge-
griffenen Reiz mit dem gegebenen Reize vergleicht. Aus einer grossen
Zahl der Versuche bestimmt man nun den mittleren Fehler; die Empfind-
lichkeit für Reizunterschiede ist dann der Grösse des mittferen Fehlers
umgekehrt proportional.
Dass das innere Gefühl des Glückes (moralisches Glück) dem Loga-
rithmus der äusseren Güter (physisches Glück) proportional ist — ein
Mensch, der 4^00 Tfaaler besitzt und dazu 400 htnzugewinnt, hat dasselbe
Glücksgefühl als einer, der 400 Thaler besitzt und 40 dazu gewinnt, —
bemerkte zuerst Daniel BemoulU in seinen »Specimen theoriae novae de
mensura sortis«, dann Laplace in seiner »Thtorie analytique des proba-
bilitöSff p. 487, 482; von letzterem rühren die Bezeichnungen physisches
und moralisches Glück (fortnne pbysique et morale) her. I^oisson erwähnt
die daraus sich ergebenden Folgerungen in seinen »Recherohes eur la
— 267 —
probabiHM«. JBtitor stellte um ein Jabr später, als B^moulU seinen S«ts
aussprach, die Function für die Abhängigkeit der Empfindnag der.Tooin-
tervaile von dem Verfaältnisse der Schwingungscahlen in seineidB »Tent»»
men novae theoriae« (mus. 471», p. 78) auf. Spttter gelangte Hwitari un-
abhängig von E^Uer zu derselben Auffassung ; Drebisch begrttndete dieselbe
in allgemeiner Weise und knüpfte -weitere Entwiokelungen dairan. ' Die
Verknüpfung der Sterngrössen mit den photometrischen Jntensitäten der
Sterne durch eine Function fanden unabhängig von einander SMnheil
(1887) und PogMon (4856).
53) »Spiel und Verbrauch der lebendigen Kraft Im Gehirne zu psy*
chophysischen und in anderen Theflen zu nicht psychophysischen Thätig-
keiten bestehen im' gewöhnlichen Gange des Lebens thatsächlich zugleich
und mit einander. Wir können denken und dabei noch Anderes mit un-
seren körperlichen Organen treiben, und thun es in der Regel. Jetzt aber
soll die Kraft des Denkens gesteigert werden. Sofort sehen wir, wie es,
statt lebendige Kraft aus eigener Quelle zur Verstärkung der psycho-
physischen Thäiigkeit, die es zu seiner eigenen Verstärkung braucht,
schaffen zu können, solche anderen körperlichen Thätigkeiten raubt, und
ohnedem sich nicht verstärken kann. Noch eben war Jemand in einer
starken körperlichen Arbeit begriffen , da kommt ihm ein Gedanke , der
ihn mehr als gewöhnlich beschäftigt, sofort sinken die Arme und bleiben
hängen, so lange der Gedanke und mithin die psychophysische Thätigkeit
desselben innerlich stark arbeitet, um ihre äussere Arbeit von Neuem zu
beginnen, wenn diese innere nachlässt. Wo war die lebendige Kraft der
Armbewegungen auf einmal hin? Sie diente, die Bewegungen im Kopfe
anzufachen.
So wie ein intensiver Gedanke nothwendig jede äussere Körperleistung
unterbricht, unterbricht umgekehrt ein Sprung jeden Gedankengang. Die
lebendige Kraft, welche der Sprung (1er Beine braucht, entgeht dem Gange
der psychophysischen Bewegungen, die das Denken braucht; und der
Geist hat weder die Macht, trotz des Verlustes den Gang wie früher fort-
zusetzen, noch den Verlust aus eigener Machtvollkommenheit zu er-
setzen.
Wir können die lebendige Kraft, die für die Willkür disponibel ist,
zwar theilen, aber sie bat zu jeder Zeit ihr Maximum, und das kann für
eine Art der Beschäftigung nur stattfinden nach Massgabe, als die puderen
ruhen. Ganz ebenso, wie wir, um möglichste Kraft in einem Arme zu
verwenden, den anderen ruhen lassen müssen, müssen wir alle Theile
des Körpers ruhen lassen, um möglichste Kraft im Kopfe zu verwenden,
und umgekehrt die Thätigkeit im Kopfe möglichst rulien lassen, um
möglichst kraftvolle Bewegungen mit den Gliedmassen auszuführen. Und
so sehen wir den tief Nachdenkenden so still wie möglich sitzen, und
Jemand, der läuft, Lasten hebt, nie zugleich in tiefen Gedanken. Es
widerspricht sich, geht nicht
Dasselbe Verhältniss als zwischen den psycbophysisehen und nicht
psychophysischen Thätigkeiten findet auch zwischen den einzelnen Ge-
— 268 —
bieten der psyohophysischen ThAtigkeiteB statt. lo eine nassere Aosdiauaog
ganz versunken sein und sngleioli tief nachdenken, geht nicht. Zugleich
aufmerksam sehen und hören, geht nicht. Um schttrfer auf etwas ani
reflectiren, müssen wir von Anderem mehr abstrahiren: und wie sich
die Aufinerksamkeit theüt, schwächt sie sich für das Einzelne
Die lebendige Kraft, die zum Holzhacken verwandt wird, und die
lebendige Kraf^ die zum Denken , das ist zu den unterliegenden psycho-
physischen Processen verwandt wird , sind nach Vorigem quantitativ nicht
nur vergleichbar, sondern selbst in einander umsetzbar, und hiemit beide
Leistungen selbst nach körperlicher Seite durch einen gemeinsamen Mass-
stab messbar. So gut ein gewisses Quantum lebendiger Kraft dazu ge-
hört, ein Scheit Holz zu spalten, eine gegebene Last bis zu gegebener
Höhe zu heben, so gut ein gewisses Quantum, einen Gedanken mit ge-
gebener Intensität zu denken : und jene Kraft kann sich in diese wandeln.
Diess ist keine Verunehrung des Denkens; seine Würde hängt an der
Weise, der Richtung, den Zielen seines Ganges, nicht an dem Masse oder
der ünmessbarkeit der körperlichen Bewegung, die es zu seinem Gange
braucht; wie die Entdeckungsreise des Columbus dadurch nicht an Werth
und Bedeutung verliert, dass die lebendige Kraft des Schiffes, das ihn
trug, so gut messbar war, als die 'eines zufällig geworfenen Steines oder
des Windes, und selbst die eine in die andere umsetzbar. Das Körper-
liche empfängt überhaupt Werth oderUnwerth von dem Geistigen, was damit
in Beziehung steht, und kann eben deshalb solchen dem Geistigen weder
geben noch nehmen. Gewiss ist, dass ein stiller Gefühls- und Gedanken-
gang grossen Werth haben, und sich doch an so schwache Bewegungen
knüpfen kann, dass eine ganz werthlose oder gar keine erhebliche äussere
körperliche Leistung .damit zu vollziehen wäre, wenn sie in solche um-
gesetzt werden sollte; aber eben so gewiss bleibt, <}a.ss, wenn das Ge-
fühls- und Gedankenleben zu grösserer Intensität gedeihen soll, die
unterliegenden körperlichen Bewegungen lebendiger von Statten gehen
müssen.
Dabei ist der Abhängigkeitsbezug, in welchem die Intensität der gei-
stigen Thätigkeit von der Grösse der ihr unterliegenden körperlichen steht,
nicht minder in umgekehrter Richtung geltend zu machen. So wenig ein
Gedanke mit einer gegebenen Intensität gedacht werden kann, ohne dass
eine gegebene lebendige Kraft der unterliegenden Bewegung entwickelt
wird, so wenig kann sich solche entwickeln, ohne dass der Gedanke mit
dieser Intensität gedacht wird. Nicht, dass zu jeder lebendigen Kraft
gegebener Grösse auch ein Gedanke von gegebener Intensität gehörte,
wohl aber zur lebendigen Kraft eines derartigen körperlichen Ganges, der
einen Gedankengang zu tragen vermag« [Fechner, Elemente der Psycho-
Physik. Bd. I, p. 37 ff., 48 f.).
Dchr Zufluss der ernährenden Stoffe aus dem Blut kann ab- und zu-
nehmen, aber niemals über eine gewisse Grenze gehen, welche durch die
Beschaffenheit des Nerven und die Art seiner Restitution durch die Er-
nährung nothwendig gegeben ist. Es giebt für den Nerven ein Maximum
chemischer Spannkraft, das zur Umwandlung in lebendige Kräfte verfüg-
— 269 —
bai* ist, und der Bewegungsvorgang im Nerven, welchen der Reiz auslöst^
hat deshalb eine Maximalgrenze, die er nie übertrifft. (Vergl. Wuadt,
Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele. Bd. I — Physlolog.
Psychol. p. 283).
54) Treffend sagt Wundt: »Der Gedanke entzieht sich unserer sinn-
lichen Wahrnehmung: wir können das Wort hören, das ihn ausspricht^
wir können den Menschen sehen , der ihn gebildet hat , wir können das
Gehirn zergliedern, das iho gedacht hat, aber das Wort, der Mensch, das
Gehirn sind nicht der Gedanke. Auch das Blut, das sich im Gehirn
bewegt, die chemische Wandlung der Stoffe, die in ihm vor sich geht,
die Wärme, die Electricittit , die dort frei werden, — Alles das ist kein
Gedanke«. — »Indem aber der Naturforscher dergestalt Denken und Hirn-
verrichtung mit einander identiticirte , fehlte er offenbar selbst gegen die
erste Regel naturwissenschaftlicher Logik, welche aussagt, dass nur ein
Zusammenhang von Erscheinungen, der als nothwendig nachgewiesen
werden kann , auch als ursächlich betrachtet werden darf. Ein ursäch-
licher Zusammenhang zwischen Hirn Verrichtung und Gedankenthätigkeit
ist noch nicht int Entferntesten dargethan«. Er weist mit Recht darauf
hin, dass der moderne Materialismus auch nicht einen nennenswerthen
Beitrag positiver Untersuchungsergebnisse geliefert, sondern sich damit
begnügt hat, über den Zusammenhang der physischen Vorgänge mit den
psychischen Verrichtungen unbegründete Ansichten aufzustellen. (A. a. 0.
I, p. 4 6 flf.). — Zu obiger Frage vergl. auch Du Bois-Reymond, Die
Grenzen der Naturerkenntniss , ein Vortrag. A. Lange, Geschichte des
Materialismus, t. Aufl. Iserlohn 1878 — 75. 2 Bde. Huschke, Schädel, Hirn
und Seele. Jena 4854; letzterer bezeichnet es geradezu als Wahnsinn,
geistige Functionen aus körperlichen Vorgängen direct abzuleiten. Tyn-
dall, Revue des cours scientifiques, 4868—69. FtcÄ, Lehrbuch der Ana-
tomie und Physiologie der Sinnesorgane. Lahr 4 864. (Er meint, die
äussere Vibration der inneren Empfindung gleichzusetzen , heisse : den
Schmerz eines Beinbruches aus dem Anblicke aneinanderstossender Wag-
gons deduciren) u. v. A. — Die von C. Vogt in seinem Werke »Köhler-
glaube und Wissenschaft« ausgesprochene Ansicht, dass die Seele eine
Secretion des Gehirns sei, findet sich übrigens schon bei Cabanis, Rapport
du physique et du moral de Thomme, Paris 4 844, p. 4 38. (Das Gehirn
J)ringt hervor »la s6cr6tion de la pens^e«; der Herausgeber, L. Peisse,
bemerkt dazu: »Cette phrase est rest^e c^l^bre«).
55) Manche scheinen das Problem von den Beziehungen des Körper-
lichen und Geistigen gerade vermittelst des Satzes von der Erhaltung der
Kraft lösen zu wollen. »Man nimmt allgemein an, dass dieses Gesetz de»
Gleichgewichtes (der Erhaltung der Kraft) alle Lebenserscheinungen und
besonders die Muskelzusammenziehung und die Nerventhätigkeit be»
herrscht. Lftsst sie sich nun aber auch auf geistige Erscheinungen an-
wenden? Sollte hier ein möglicher Uebergang von Nervenzustttnden zu
solchen des Bewusstseins gegeben sein? Gehören auch die geistigen Krttfte
in die Reihe der anderen Kräfte, und sind, wie diese, umsotzbar? Einige
— 270 —
der Zoitgenossen behaupten das. Bain i. B. hat Fälle gesammelt und mit-
geiheilt, aus denen er herleitet: 4) Das Gleichgewicht und die Ftthigkeit
von Nerven und geistigen Krilflen, sich in einander umzuwandeln ; 3} das
Gleichgewicht oder die Umwandlung der geistigen Kräfte untereinander.
So würde es seiner Ansicht nach möglich werden, einer-
seits einen gegebenen Nervenzustand in einen entsprechen-
den geistigen, andererseits die drei Hauptformen des geistigen Lebens,
Fühlen, Wollen und Denken einein die andere übergehenzu lassen,
und ein Gleichgewicht zwischen ihnen herzustellen, dergestalt, dass ein
Bewusstseinszustand die Umwandlung und den Verbrauch einer gewissen
Menge von Nervenkraft bedingte, und dass ein Zuwachs an Empfindung
nur durch eine Verminderung des Denkens und WoUens möglich wäre,
während die Gesammtkraft des lebenden Wesens bei allen diesen Wand-
lungen dieselbe bliebe. — Die glänzende Auseinandersetzung, die sich in
den »First principles« von Herbert Spencer (§74) findet, führt jeden Vor-
gang ohne Ausnahme auf das Gesetz der Krafterhaltung oder des Gleich-
gewichtes der Kräfte zurück. »Jede Vorstellung, jedes Gefühl«, sagt der
Verfasser, »erweist sich nur als Ergebniss einer physischen Kraft, welche
zu ihrer Erzeugung verbraucht wird, das ist das Prinzip , welches in der
Kürze ein Gemeinsatz der Wissenschaft werden wird« {Ribot, die Erblich-
keit, deutsch V. Dr. Otto Motzen, Leipz. 4 876, p. 278 f.).
Dagegen lautet ein bekannter Satz Du Bois-Reymond's : »Die mecha-
nische Ursache geht in der mechanischen Wirkung auf«!
56) Bei weniger verbreiteten Entartungen und Erkrankungen einzelner
Theile übernehmen andere Partien stellvertretend deren Functionen und
man bemerkt keine eigentliche psychische Veränderung und Störung.
Halter (Elem. phys. IV. p. 338), Amemann (Vers, über das Gehirn und
Rückenmark), Longet (Anat. et physiol. du syst. nerv. I, p. 669 f.) und
Andere sammelten Fälle, wo sogar bei weiterer Verbreitung sich keine
geistigen Störungen zeigten. Diemerbroek erzählt von einem Mädchen,
welchem die ganze rechte Himhälfte durch den Fall eines schweren Stei-
nes zerstört wurde und bei welchem noch 36 Stunden lang das psychische
und das sensorielle Leben sich ungestört zeigte. Einen ähnlichen Fall
erzählt Roloff von einem Weibe , bei welchem man bei der Section be-
deutende Zerstörungen ^der linken Himhälfte fand , während die rechte
Hemisphäre ganz normal war; bei diesem Individuum waren die psychi-
schen Functionen nicht im Mindesten getrübt. Bei einer alten Frau,
welche an Lungenentzündung starb, fand man die linke Gehirnhälfte voll-
kommen gesund, die rechte aber fast in allen ihren einzelnen Tfaetlen
atrophisch, und dieses Weib halte nie an der geringsten psychischen Stö«-
rung gelitten. Longet berichtet von einem 39jährigen Manne, dessea
geistige Kräfte keine merklichen Abweichungen darboten, ungeachtet die
ganze rechte Hemisphäre des grossen Gehirns fehlte. Neumawn führt einen
Fall an, in weichem eine Kugel eine ganze Hemisphäre zerstört hatte,
ifhne die Besinnung zu rauben. Äbercrombie berichtet von einer Frau,
bei welcher die Hälfte des Gehirns in eine krankhafte Masse aufgelöst
— 271 —
war, und die dennoch, einer Unvollkommenlieit des Sehens abgerechnet,
alle ihre geistigen Vermiigen bis zum letzten Angenblicke behielt, so dass
sie noch einige Stunden vor dem Tode einer fröhlichen Gesellschaft in
einem befreundeten Hause beiwohnte. Ein Mann, dessen (yHoUoran
erwtthnt, erlitt eine solche Verletzung am Kopfe, dass ein grosser Theil
der Hirnschale auf der rechten Seite weggenommen werden musste; da
eine starke Eiterung eingetreten war, so wurde bei jedem Verbände durch
die Oeifnung eine Menge Eiter mit grossen Quantitäten des Gehirns selbst
entfernt. So gesdiah es 47 Tage hindurch, und fast die Hälfte des Ge*
bims wurde, mit Materie vermischt, auf diese Weise ausgeworfen ; dessen*
ungeachtet behielt der Kranke alle seine Geisteskräfte bis zu dem Augen-
blicke seiner Auflösung, sowie auch während dieses ganzen Krankheits-
zttstandes seine Gemüthsstimmung ununterbrochen ruhig war. — Sömme-
ring (Hirn und Nerven, p. 400) sagt, es sei fast kein Theil der Gehirn-
masse, den man nicht zuweilen ohne Spur eines Nachtheiles für Leben
und Verstand verhärtet, verwundet, vereitert oder gestört gefunden hätte.
Ebenso bemerkt Burdach, die Erfahrung habe gelehrt, dass es keinen Theil
im Gehirn gäbe, dessen Abnormität nicht zuweilen eine Störung der
Seelenthätigkeit zur Folge gehabt hätte, aber ebenso auch keine, bei des*
sen Abnormität die Seelenthätigkeit nicht ungestört geblieben wäre. —
Doch ermüden in solchen Fällen von scheinbarer Ungestörtheit der psy-
chischen Functionen die Individuen schneller. Ferrus berichtet von einem
Generale, der durch eine Verwundung einen grossen Theil des linken
Scheitelbeines verloren hatte , was eine beträchtliche Atrophie der linken
Himhemisphäre nach sich zog, die sich äusserlich durch eine enorme
Depression des Schädels kund gab. Dieser General zeigte noch dieselbe
Lebhaftigkeit des Geistes, dasselbe richtige Urtheil als früher, konnte
sich aber geisMgen Beschäftigungen nicht mehr hingeben, ohne sich bald
ermüdet zu fühlen. Langet sagt bei Mittheilung dieser Erfahrung, er habe
einen alten Soldaten gekannt, der sich ganz in demselben Falle befilnde.
Feehner bemerkt: »Es verhält sich mit beiden Himhemisphären factisch
ebenso wie mit zwei Pferden, die vor einen und denselben Wagen ge-
spannt sind. Man kann das eine Pferd ausspannen und der Wagen geht
noch in demselben Sinne wie früher fort, nicht minder das andere, und
hiernach könnte man meinen , sie seien beide gleich überflüssig für den
Gang des Wagens ; der Wagen würde auch noch gehen, wenn man beide
ausspannt. Aber dann steht er still ; ut>d auch während beide am Wagen
sind, sind sie nicht blos da, sich für etwaigen WegfalL des andern zu
vertreten, sondern auch sich in dem Zuge zu unterstützen; denn spannt
man das eine aus, so geht der Wagen träger, oder wenn etwa noch
gleich schnell wegen stärkeren Antriebes des einen Pferdes, doch mit
minderer Dauer« (a. a. 0. II, p. 5S4; vergl. p. 896).
57) A. a. 0. I, p. 5; vergl. Ii; p. S88. — Wundt sagt: »Dies ist das
wichtige Endergebniss dieser Untersuchungsreihen , durch das mit einem
Mal der Gegensatz zwischen den physischen Vorgängen in den Sinnes-
organen und Nerven und dem psychischen Acte der Empfindung aufge-
— 272 —
hoben wird: beide Acte sind mit einander identisch, es kommt
nur auf den Ausgangspunkt, den wir nehmen, an, ob die Dinge in der
einen oder in der andern Form uns erscheinen. Damit ist der Dualismus
des materiellen und psychischen Geschehens bei der Empfindung im
Princip aufgehoben. Die Empfindung nur auf eine der beiden Formen
zurückführen wollen ist gleich einseitig und gleich falsch. Die Empfin-
dung ist die Identitttt beider Formen, sie ist ein ihrem Gehalt nach ein-
heitlicher Vorgang, der nur äusserlich, in Rücksicht auf die Methoden
der Untersuchung in zwei Formen auseinanderfällt. Die Methoden der
Untersuchung beruhen auf den Formen unserer Erkenntniss: die physi-
kalische Untersuchung beginnt mit der sinnlichen Seite der Erscheinungen,
die psychologische fängt mit der logischen Zergliederung ihres Zusammen-
hangs an. Beide Untersuchungsweisen sind so grundverschieden, dsiss
wir niemals weiter gelangen können, als, wie es hier geschehen ist, die
Identität des Objectes der Untersuchung zu beweisen. Sobald wir die
Uotersuchung selber aufnehmen, müssen wir uns der einen oder der an-
dern Methode vertrauen, und da giebt es bestimmte Fälle, wo die erste,
bestimmte Fälle, wo die zweite die zulässige ist; zuweilen können wir
auch mit Hülfte dieser bis zu einem gewissen Punkt kommen, der uns
auf jene hinweist und uns zu ihr nöthigt, wenn wir nicht mitten im Wege
stehen bleiben sollen. Aber die Methode ist nicht die Sache. Trotz aller
Divergenz der Methoden sind wir zu dem entscheidenden Beweis gelangt,
dass die Sache die nämliche ist. . . Der Satz, in welchem die Analyse
des Empfindungsprocesses sich abschliesst, ist dieser, dass mechani-
sche und logische Nothwendigkeit nicht dem Wesen, son-
dern nur der Betrachtungsweise nach verschieden sind.
Was uns die psychologische Zergliederung als eine Conti-
nuität von Schlüssen hinstellt, das ergiebt sich der physi-
kalischen Zergliederung als eine Continuität von Kraft-
wirkungen. . . . Mechanismus und Logik sind identisch.
Beide sind nur Formen für einen in seinem Wesen gleich-
artigen. Inhalt. Wenn auch unsere Beweisführung sich zunächst nur
auf die Empfindungen bezieht, so ist doch jetzt schon einleuchtend, dass
sie wahrscheinlich keineswegs auf das Empfindungsgebiet sich beschränken
wird, dass dem Princip der Identität des mechanischen und logischen
Geschehens wahrscheinlich eine weit allgemeinere Gültigkeit zukommt«.
»Somit sind Denken und Erfahrung nachgewiesen als an sich iden-
tische Processe, die nur in der Art, wie wir sie auffossen, aus einander
fallen. In dieser Auffassung unterscheiden Denken und Erfahrung sich
dadurch, dass das Denken die Erscheinungen und Veränderungen des
inneren Lebens, die Erfahrung die Erscheinungen und Veränderungen der
objectiven Natur enthält. Sind also Denken und Erfahrung einerlei in
ihrem Wesen, so heisst dies: die physischen Erscheinungen, die
wir allgemein als räumliche anschauen, und die psychischen
Erscheinungen, die wir stets als logische auffassen, sind mit
einander identisch. Und so kommen wir denn wieder auf jene Iden-
tität des Psychischen und Physischen, die schon in den früheren Unter-
— 27a —
snelHUigea sich immer ais der Schinsspunkt unterer Betrachlongen ergab.
Wir haben sie Merst nachgewiesen im Gebiet der Empfindang, wo es
sich zeigte, dass der physische Vorgang im Nerven und das psyehisofae
Fhftnomen der Bmpfindang einerlei sind ; wir worden dann darauf gefittrt
im Gebiet dw Wahrnehmung, wo steh ergab, dass die gesetimässtge
Regeinng der Reflexe, die zur Wahrnehmung führt, ebensowohl als ein
mechanischer wie als ein logischer Vorgang betrachtet werden konnte.
Jetzt kommen wir zum dritten Mai zu dem nttmlichen Ergebniss in etsem
Gebiet, wo es sich bereits um die seibstHndige Unterscheidung des Den-
kens und der Erfahrung handelt, — eine Unterscheidung, die bereits der
Vorstellung und dem Bewusstsein anhMmftillt. Bis zu dieser ansgebildc*
ten Stufe psychischer Thtttigk«t sind wir verm(^nd jene innere Einerlei-^
heit des Denkens und Seins, der logischen und mechanischen Nothwen-
digkeit, zu verfolgen und zu beweisen«.
»Dagegen lässt sich nicht leugnen, dass es üietaphysische Grundsätze
giebt, die wissenschaftlich, d. h. aus dem Wissen, aus der Erfahrung ge-
schöpft sind. Ein solcher Grundsatz ist nach unserer Darlegung das
Princip der Einerleiheit des physischen und psychischen Geschehens. Für
jenes gelten die Gesetze der Mechanik, für dieses die Gesetze
der Logik, und es lässt sich der Beweis führen, dass beider-
lei Gesetze an sich identisch sind, dass die innere Erfah-
rung als logische Nothwendigkeit auffasst was die äussere
als mechanische Nothwendigkeit ansieht«. (Vorlesungen über die
Menschen- und Thierseele. Bd. I, p. 199 f., 288. II, 437. — Vergl. zu
dem Ganzen auch Anmerk. Hl).
58) Auch »das Divintren ist nur der Form nach verschieden von dem
Empfinden des Zeitgeistes, eine krankhafte Steigerung und Caricatur des
Genies«. Der Geist bewegt sieh wie der Blitz von Anziehungspunkt zu
Anziehungspunkt, die leisesten Andeutungen und unzureichendsten Prä-
missen genügen demselben, ixm zu einem Schlüsse zu gelangen. {Sprenger
a. a. 0. !I, p. S88). — Fast jeder geniale Erfinder, von Columbus an
bie auf Stephenson, muss eine Zeit durchmachen, in der ihn die »soliden
Leute« für einen Projectmacher halten. {Röscher) — »Ein jeder na<A Prin-
cipien denkende Mensch denkt gleich dem Irren durch zubillige Associa*
tionen, die ein einseitiges Missverhältniss in sein Geistesleben werfen,
aber so lange sie in vermittelbarem Einklang mit dem normalen Horizont
bleiben, die höchste Blttthe desselben r^Mrttsentiren mögen, vielleicht aber
auch nur eine trügerische Giftpflanze, und deshalb müssen alle Principien
der psychologischen Analyse unterworfen werden. Sind sie zu bekämpfen,
so ist Nichts damit gethan, sie zu negiren. Der Irre, dem man seine fixe
Idee bestreitet, wird sich um so fester darin verrennen. Man muss Mif
den elementarsten Gedankenkern in der ganzen Vorstellungsreihe zurück*
gehen, die krankhafte Richtung in ihrer frühesten Quelle, in dem ersten
Momente abnormer Ablenkung aufspüren und sie dort wieder in das rich-
tige Gleis setzen, um damit auch alle Consequenzen in einem solchen
Folgen zu seben. Der Unterschied zwischen einem wirklich Geisteskranken
Bacl«itock, Scklafn. Traun. 18
— 274 —
und dem Genie besteht nur darin, dass »ich bei dem Ersteren jener An-
satzpunkt abnormer Störung mit pathologischen Zuständen iLörperUcher
Krankheiten assocürt hat und so (wenn überhaupt) nur durch Untstim-
nrang des ganzen Organismus zu heilen ist, während sich bei dem Andern
die Associationen in abstracten Gebilden bewegen und so auch durch die
Argumente der Sprache allein wieder aufgelöst oder verändert werden
können. . . . Salomon de Gaus» der Erfinder der Dampfmaschine, starb
im Bicötre 4644; aber obwohl seine Schriften von gesundem Verstände
zeugen, mag er nichts destoweniger geisteskrank gewesen sein, als man
ihn einsperrte. Die Begeisterung, mit der seine grosse Erfin-
düng ihn ergriff, die innerliehe Ueberzeugung ihrer Wichtigkeit und
unendliche Tragweite übten einen solch prädominirenden Einiluss auf
seinen ganzen Ideenkreis aus, dass sie sich fest und unauflöslich mit be-
stimmten Ansätzen des körperlichen Allgemeingefühls associirten und in-
dem sie durch den steten Widerspruch und den Spott seiner
Zeitgenossen in einem beständigen Zustand der Irritation
erhalten wurde, zerrüttend auf das allgemeine Wohlbefinden des
Körpers zurückwirken und seine ganze Weltanschauung nach einem spe-
cifisch krankhaften Typus umgestalten musste. Hätte er sich durch völlige
Kenntniss der psychologischen penkgesetze zu einer harmonischen Ruhe
objectiver Selbstbetrachtung erheben können , so würde er nur um so
fester an der Grösse und Wahrheit seiner neuen Idee festgehalten, aber
auch zugleich verstanden haben, weshalb sie seiner Zeit unbegreiflich
sei, indem er die durch sein specielles Studium auf seine Weltanschauung
ausgeübten Modificationen entsprechend berücksichtigt haben würde. . . .
Galilei war gleichfalls weiser, als seine Zeit, hatte die heftigsten Verfol-
gungen seiner Superiorität wegen zu erdulden; aber da er aus dem reli-
giösen Charakter dieser Verfolgungen leicht ihr Warum erklären konnte,
blieb er trotz des Zwiespalts mit seiner Umgebung in dem normalen Ho-
rizont derselben verharren. . . . Jeder kann die Erfahrung an sich selbst
machen, wie vielfach lange mit gleichgültigem Indifferentismus betrachtete
Gedanken, wenn sie in einer angeregten Discussion zufällig für die Stütze
der Vertheidigung angewendet wurden, plötzlich eine weiter greifende
Bedeutung annehmen , und sollten sie sich mit einem schon krankhaft
verstimmten Temperament associiren , so können sie leicht als die erste
Ursache durch abnorme Operationen weiter verbreiteten Wahnsinns un-
erschütterlich einwurzeln. . . . Bei jeder aus dem normalen Horizont seiner
Gegenwart heraustretenden Denkoperation wird der Forscher leicht an die
Schwelle des Wahnsinns geführt, da ihm bei den ausserhalb gebildeten
Vorstellungen die prüfende Controle steter Vergleichuog fehlt, um keiner
derselben einen überwiegenden Werth im Abschätzen der eine Gedanken-
reihe zusammensetzenden Glieder beizulegen«. (Bo^d'an, Der Mensch in
der Geschichte. Bd. II, p. 538, 535, 536).
59) Vergl. Horwicz, Psychologische Analysen auf physiologischer
Grundlage. B. II. H. I. p. 472.
60) Vergl. Lazarus, Zur Lehre von den Sinnestäuschungen. Zeitschr.
— 275 —
f. Völkerpsych. u. Sprachw., berausg. von LaMarus und SteinthaL Bd. V,
p. 1S9. — Daraus Hesse es sich vielleicht auch ableiten, dass Leute, die
weniger abstract zu denken fähig oder gewöhnt sind und alles sieh in die
Anschauung umsetien nrtissen, auch weniger schnell denken, — wie es
ja bei allen sogenannten Naturmenschen der Fall zu. sein pflegt — anbr
Sinnestttuschungen , in welchen sich die Reizung bis zur Peripherie aus*
dehnt , haben , als cultfvirte , schnell und abstract denkende Individuen ,
sobald letztere nicht krank sind. Es würde zugleich ein Beleg mehr für
unsere obige Ansicht sein, dass Sinnestäuschungen etc. in früheren Zeiten
eine grössere Rolle gespielt haben als jetzt in unseren cuUivirten Zustän-
den, wo das schnelle und abstracto Denken mehr an der Tagesordnung
ist, und viele Gedanken und Ideen daraus hervorgegangen sind, von wel-
chen wir es nicht vermuthen.
61) Ebenso lässt sich das Gesetz des Verhältnisses des Ganzen und
seiner Theile zu einander, welches Manche anführen, (vergl. «Spt^toa. a. 0.
p. 130) unter die genannten unterordnen. Indem man von einem Ganzen
einen Theil sich vorstellt, werden durch Associationen der Coexistenz und
Succession die Vorstellungen der anderen Theile wachgerufen, so ergänzt
sich eine menschliche Hand oder ein Arm zum ganzen Körper u. s. w.
Wo überhaupt mehrere Gesetze, wie das der Aehnlicbkeit und der Suc-
cession, zusammenwirken, ist das Gedächtniss treuer und der Ablauf
rascher; einen logisch zusammenhängenden Satz können wir leichter re-
produciren als willkürlich zusammengefügte sinnlose Worte. — Con-
t raste treten hauptsächlich da auf, wo die Spannung der Aufmerksamkeit
für einzelne Vorstellungen oder für eine bestimmte Form und Richtung
der Vorstellungen nachlässt um einem entgegengesetzten Spannungszu-
stande Platz zu machen. Wie beim Individuum, zeigt sich dies auch in
der gesammten Menschheit bei der Entwicklung. des Staates und der Cultur;
dadurch wurde Hegel zu der Annahme geführt, dass die Welt durch
Gegensätze fortschreite. Wenn eine Idee auf dem Gipfelpunkte steht und
unbedingt herrscht, entwickelt sich allmählich die ihr entgegengesetzte,
wird stärker und tritt mit grosser Macht hervor, wenn die erste sich
erschöpft und ausgelebt hat. — Die Bedeutung der Associationen zeigt
sich besonders in der Sprachgeschichte. Als die Australier zum ersten
Male ein europäisches Buch sahen, fiel es ihnen auf, dass es wie eine
Muschelschale auf- und zuginge, und demgemäss fingen sie an, Bücher
»Muscheln« (müyüm) zu nennen. Die Betrachtung der Dampfmaschine
gab im Englischen zu einer ganzen Gruppe von Uebergängen der Wort-
bedeutungen Veranlassung; die Dampfröhren heissen pipes oder tubes
d. h. Pfeifen oder Trompeten; die Ventile nennt man valves, Fallthüren,
die Lichtstrahlen beams oder rays, Stangen oder Stäbe; piston und cy>
linder bedeuten ursprünglich Mörserkeule und Walze. Das lateinische
juncus »ein Rohr« wird gemein lateinisch juncata »in einem Rohrkorbe
angefertigter Käse«, italienisch giuncata, »Sahnenkäse in einem Binsenkorb«,
französisch joncade und englisch junket, beides Zubereitungen der Sahne, und
endlich junketting parties »Schmausereien«, wo solche Leckereien gegessen
18*
— 27« —
werden u. 9. w. Dm deatsohe Kummer (kmnber) bedeutete nrspräaelich
alles was hindert, de» Weg versperrt, »8oimlt«, »SteinhaAifen« (franz. :
d^combres), »Damm«; iweitens von RechlSTerbiltnissen »Beschlagnahme«
oder »Arrest«, und wurde endlich in das etMsohe €M>iet fibertragen als
»Betrübttisa«, welche die Folge der oraleren fUr den M enschen beKoicfanet.
Beispiele solcher Art von üebertragungen finden sieh in allen Sprachen
in grosster Fttlle.
62) L. "VII. c. 45 f. 'Q; hi &pa izdsra jtev tov 'EXX'/jaTrovTOv bnh täv
dv^pdbnoQV, l^&auTa S£p&QC ^eourov ^fiaxdlptoe, (actoI ^i touto l^dfxpuae. Ma-
%^s hi (Atv' ^Aprdlßavoc 6 irctTpoic, Sc t6 npörzos ■fv<6{iT]'v dlTce^iSaTO IXeu^^poc
o6 oufißouXetjaiv S^pE^ orpaTcueal^at lirl t^v 'EXXdlSa, outoc «uvi^jp cppao^eU
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63) Ein sehr anxiehendes Beispiel davon findet sich bei B. Auerbach,
Barfüssele p. 4 76 f. Vergi. auch: »Zur guten Stunde«. Bd. I, p. 31 f. (»GeJ-
lert's letzte Weihnaehten «) und p. 97. (»Die Stiefiputter«) .
64) De rer. nat. L. V, v. 4388. — Plato spricht ebenfalls von den
Stimmungen, welche Schmerz und Freude zugleich in sich enthalten.
(Phlleb. p. 86—50).
65) Freilich ist es eigentlich kein Nebeneinander, sondern eine zeit-
liche Folge, da der Eintritt des zweiten Gefühls aber höchst schnell ist,
erscheinen beide Gefühle gleichzeitig, (conf. Nahlowsky, Gefühlsleben,
p. 58). — Bibot sagt sogar: »Es giebt im Bewusstsein nur scheinbar
gleichzeitige Zustände. Wenn uns manche Bewusstseinszustände gleich-
zeitig erscheinen {Hamilton behauptet, dass wir sieben Vorstellungen auf
einmal haben könnten) , so rührt dies einfach daher, dass ihre Folge zu
rasch ist, als dass wir ihre Unterbrechungen wahrnehmen könnten. « (Die
Erblichkeit. Deutsch v. Dr. Otto Motzen. Leipzig 1876. p. 263. Yergl.
auch Siebeck, Das Wesen der ästhetischen Anschauung. Berlin 1878. p. SO).
66) Ich folge hier der Terminologie von Wandt, welcher unter Per-
ception den Eintritt einer Vorstellung in das'Bewusstsain überhaupt, unter
Apperoeption die Erfassung derselben durch die Aofinerksamkeit versteht
(vergl. Physiol. Psychologie p. 718). LeiimUMf der den Begriff der Apper-
oeption in die Philosophie einführte , versteht darunter den Eintritt der
Perception in das SelbsAbewusstaeia (Op. phü. ed» Erämann p. 745).
Nach Berbart besteht in der VerschmehEong einer Vorstellungsmasee mit
einer anderen oder in der Aneignung der einen Masse durch die andern
das Wesen der Apperception. (Vergl. auch Siebeck, a. a. 0. p. 31). Doch
ist dabei die spontane Thätigkeit nicht genug berücksichtigt.
67) Ich meine damit nicht, dass man mit ihrer Hülfe alle psychischen
Processe, z. B. das logische Denken su erklären vermöge, sondern daau
gehört die spontane Thätigkeit der Seele, -^ welche Ich unter der aetiven
— 277 —
Apperception begreife und als einea Hauptfector der psychisehen Üeehanik
angeführt habe. Jedoch bilden sie insolem 4b» Wesen 4er Seele, als sie
in dem psychischen Leben der niederen und niedrigsten Form — soweit
diese unserer Beobachtuag zugänglich ist — bis huiaiif zu den höchsten'
sich vorfinden. In letzteren erleichlem sie die höheren Thätigkeiten, und
wo die Spontaneität der Seele mehr und mehr schwindet und die Seele
gleichsam in eine niedere Form sinkt, tä>en sie gerade ihre Herrschaft. —
/. Stuart Mill setzt die Gesetze der Association in Bezug auf ihre Wichtig-
keit für die Psychologie dem der Gravitation für die Astronomie an die
Seite, (conf. Ribotf La Psychologie anglaise contemporaine. Deux. 6d. Paris
1875. p. 426 u. p. 424). Die Entwicklung der Lehre von den Ideenassocia-
tionen von Plato bis auf Hume und Gerard stellt dar Hissmannt Geschichte
der Lehre von der Association der Ideen (abgedr. in der » Geschichte des
menschlichen Verstandes« von Fr, Flögel, Breslau 4 774S). Hume, der ge-
wöhnlich als eigentlicher Begründer der Lehre in dem Zustande, wie sie
jetzt besteht, angesehen wird, gibt drei Gesetze an : 4) Aehnliehkeit, 2) Ver-
bindung in Zeit und Raum, 3) Ursache und Wirkung. Weiter fortgesetzt
wurden seine psychologischen Untersuchungen besonders von Thom. Broum,
James Mill, /. Stttart Mill, AI, Bain (the senses and the intellect. London
4 855) und H. Spencer (Principles of psychology. 4865).
68) Vergl. Binz, lieber den Traum. Bonn 4878. p. 43—22. Hagen
a. a. O. p. 4 55 ff.
69) W. Preyer, Die fünf Sinne des Menschen. Leipzig 4870. p. 66.
70) M. Perty , Die mystischen Erscheinungen in der menschlichen
Natur, 2. Aufl. Leipz. u. Heidelb. 4872. B. I, p. 90. — Atudeie narkotische
Mittel der Naturvölker sind schon im ersten Gapitel erwälmt worden.
71) Vei^l. Tylor, a. a. O. H, p. 442 ff. — Sprenger, H, p. 266.
72) Vergl. die Zauberei und Geständnisse des Sicilianers in Schillers
Geisterseher und das »böse Räucherwerk« in den Ceremonieh des sici-
lianischen Priesters bei Benvenuto Cellini, (Lebensbeschreib. von Goethe,
B. H. C. 4).
73) Perty, a. a. 0. I, p. 92.
74) VergL BiM, Die Erblichkeit. Deutsch von Dr. 0. Hotnen, Leipzig
4876. p. U5 f.
760 W, Wundt, Physiol. Psychologie p. 4 94 u. «47.
76) Physiologische Anregungen, welche die psychischen begleiten
und die Reizbarkeit zur Reizung werden lassen, sind wohl immer vor-
handen, nur dass sie schwach und deshalb oft nicht bemerkbar sind.
Ein lebhafter Pulsschlag kann wohl lebhafte Detonationen im Ohr u. s. w.
hervorrufen.
77) H. Meyer, Untersuchungmi über die Physiologie der Nervenfinser.
Tübingen 484^3. p. 56 f.
7IB) Zeitschr. f. Völkerpsych. u. Bprachw. Bd. V, p. 4 48 ff.
— 278 —
Wi Vergl. das Gedicht »Die ErwaiiOBg« von SckUUr
»H<»r' ich das Pförtchen nicht gehen?
Hat nicht der Riegel geklirrt?
Nein, es war des Windes Wehen,
Der durch diese Pappeln schwirrt.
Stille! Was schlüpft durch die Hecken
Raschelnd mit eilendem Lauf?
Nein, es scheuchte nur der Schrecken
Aus dem Busch den Vogel auf.
Rief es von ferne nicht leise,
Flüsternden Stimmen gleich?
Nein, der Schwan ist's, der die Kreise
Ziehet durch den Silberteich.
Hör* ich nicht Tritte erschallen?
Rauscht's nicht den Laubgang daher?
Nein, die Fracht ist dort gefallen,
Von der eignen Fülle schwer.
Seh' ich nichts Weisses dort schimmern?
Glttnzt's nicht wie seidenes Gewand?
Nein, es ist der Sliule Flimmern
An der dunkeln Taxuswand«.
80) A. a. 0. p. 4i6 f.
81) Griesinger, Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten.
3. Aufl. Stuttg. 4861. p. i06.
82) Museum p. 3t9. Die meisten Gespenstererscheinungen sind ohne
Stimme und die Gespensterkl&nge ohne Gestalt. Nur Swedenborg sah und
hörte zugleich seine »Empfindbilder« etc.
83) Gfiesinger, p. 106.
84) In der HegeVschen Schule ist der Traum ein Naturact der Seele,
eine Reaction des Geistes gegen die Natur innerhalb derselben, eine un-
mittelbare Synthese von Schlaf und Wachen, in welcher der Geist, weil
schlafend, ohne wirkliche Sufojectivitttt dennoch eine scheinbare Objectivitftt
vor sich hat (vergl. Erdmann, Grundriss der Psychologie. 4. Aufl. Leipzig
1862. § S9, p. 19 f. — Rosenkranz j Psychologie, p. 417 f.). — Die An-
sichten der Schellingianer sind schon erwähnt worden. Eine ähn-
liche äusserst dunkle Mystik finden wir auch bei Lebenheim, (Versuch
einer Physiologie des Schlafes. Leipzig 1828. B. II, p. 188): »Wenn nun
auch die Richtung des Schlafes, als Leiden, den ganzen Menschen, mithin
auch seinen unsterblichen Geist erfasst; so geschieht dieses für den Geist
nur insofern , als er für sein irdisches Dasein mit der Leiblichkeit eins
geworden ist, deren Sünde ihn dem Gesetze unterwirft (!). Wie
sich dieses aber an dem Stoffe vollstreckt, und die Leiblichkeit in Nacht
versinkt: da wird die höhere Natur des Geistes wieder ihrer Ursprung-
— 279 —
liehen Freiheit theiHiaftig, und in der Busse des Leidens, worin der Ge-
rechtigkeit Genüge geschieht und der Leib dahingegeben
ist zur Sühne {!), ersteht, ein Vorbild künftigen Erstehens,
die erlöste Person, indem das All sein Leib ist. Dieses in-
nere Erwachen zum Allleben ist das Träumen, und jeder, der
uns mit Aufmerksamkeit gefolgt ist, wird mit uns darin übereinstimmen,
dass aller Schlaf ein magnetischer ist, worin das All das Individuum ver-
setzt«.
Schopenhauer nennt den Traum eine Reaction des Gehirns gegen die
Einwirkungen des sympathischen Nerven (Parerg. I, p. 249); Pfaff: ein
Wachen der Seele bei schlafendem Körper (a. a. 0. p. 3). — Kohlschütter
bemerkt: »Nun sind wir berechtigt, auch die Träume als Erscheinungen
einer stellenweis und partiell inmitten der allgemeinen Yerlangsamung
der Hirncirculation auftretenden, mehr der wachen ähnlichen Modification
derselben anzusehen«. (Zeitschr. f. rationale Med. IIL R. B. 34. p. 46).
Bins i der in Ansammlung von Ermüdungsstoffen die Ursache des Schla-
fes erblickt, sagt : »Immer geringer werden die in dem Gehirneiweiss auf-
gehäuften Ermüdungsstoffe, immer mehr von ihnen wird weiter zerlegt
oder von dem rastlos treibenden Blutstrom fortgespült. Da und dort
leuchten schon einzelne Zellenhaufen wach geworden hervor, während
rings umher noch alles in Erstarrung ruht. Es tritt nun die isolirte Ar-
beit der Einzelgruppen vor unser umnebeltes Bewusstsein, und zu ihr
fehlt die Controle anderer, der Association vorstehender Gehirntheile.
Darum fügen die geschaffenen Bilder, welche nicht den materiellen Ein-
drücken naheliegender Vergangenheit entsprechen, sich wild und regellos
an einander. Immer grösser wird die Zahl der freiwerdenden Gehirn-
zellen, immer geringer die Unvernunft des Träumens« etc. (a, a. 0. p. 48).
A. Maury sagt: »Le rdye tient ä ce que certaines parties de Tencöphale
et des appareils sensoriaux restent 6veill^s par suite d'une surexcitation
qui s'oppose ä Tengourdissement complet«. (Le sommeil et les rdves,
Paris 1861. p. 424. Vergl. Bin% p. 9).
Herbart bezeichnet den Traum als »ein allmähliches partielles und
zugleich sehr anomalisches Wachen« (Psychol. II. § 160. p. 420). Spitta
fasst, indem er den Tiefschlaf davon ausschliesst, den Begriff des Traumes
etwas enger als wir und sagt : »Der Traum besieht in der unwillkürlichen,
ins Bewusstsein tretenden, nach aussen gerichteten Projection einer Reihe
von Vorstellungsgebilden der Seele während des Schlafs, wodurch dieselben
den Schein objeotiver Realität für den Schlafenden erhalten (a. a. 0. p. 111).
— Vergl. hierzu aueh L. Macnish, Der Schlaf in allen seinen Gestalten.
Aus d. Engl. Leipzig 1885. p. 1 u. p. 81. Greiner, Der Traum und das
fieberhafte Irresein. Altenb. u. Leipz. 4817. p. 118 etc.
85) Schleiermacher f Psychologie, herg. von George, Sämmtl. Werke.
Abth. III. B. VI. p. 892.
86) Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie B. XVI. p. 417.
87) VergL Burdaeh, a. a. 0. III, p. 460 ff. und 315 ff. »Der ein-
fachen Periodicität unsers Planeten entspricht der Wechsel von Schlaf
— 2S0 —
und Wachen; der doppeUen PeriodiciU&t des WasMr- und Luftmeeres
enUprickt ein tweimaliger WecAisel im Blutsystem« (p. 545) etc.
fß) Em^l brachte bei Fröschen in gewöhnlicher nnd hängender Stel-
lung dnrch sorgfältige FemhaHnng von Eindrücken Schlaf henrvor and
-sucht zu zeigen , dass auch bei Vögeln Fernhattung von Eindrücken , be-
sonders voD Licht und Schall, Schlaf hervorbringe. (»Üeber die Abhängig-
keit des wachen Oetiimzustandes von äusseren Erregungen«. Arefa. f. d.
ges. Physiol. B. XIV. p. 4 58 — %\^). Ä, Strümpell berichtet von einem
Kranken, welcher im Jahre 4876 in die medicinisf^e Klinik von Leipzig
aufgenommen wurde. Demselben mangelten alle Sinnes- und Muskel-
empfindungen und nur durch das rechte Auge und das linke Ohr stand
er noch mit der Aussenwelt in Verbindung. Schloss man ihm diese Sinne
auch ab, so schlief der Kranke binnen Kurzem ein; man erweckte ihn
durch Rufe in's linke Ohr oder durch einen auf das rechte Aoge wirken-
den Lichtstrahl, während alles Schüttein u. s. w. vergeblich war. (Arcli.
f. d. ges. Physiol. B. XV, p. $78 f.).
89) Macnishj Der Schlaf in allen seinen Gestalten. Aus d. Engl.
Leipz. f835. p. 44.
90) A. a. 0. III. p. 484. Spitta sagt: »Der Schlaf findet im Gemüt h
seinen stärksten, einflussreichsten Gegner, es genügt ein geringer Grad der
Irritation desselben, um ihn zu verscheuchen. Wir können in Gedanken
grosse Pläne verarbeiten, mit der Lösung wichtiger Probleme beschäftigt
sein, — Alles dies wird uns, sobald das Gemüth davon unberührt bleibt,
nicht hindern, zur gewohnten Zeit die Ruhe des Schlafs zu suchen und
zu finden« (p. 68; vergl. p. 46: »Was die psychischen E in schlaf e-
rungsmittel anbetrifft, so concentriren sich dieselben hauptsächlich
auf die Entfernung aller das Gemüth in irgend welcher Weise
aufregenden Eindrücke«).
91) Element, physiol. IV. 804.
92) Vergl. Fechner, Elemente der Psychophysik. B. 11, p. 449.
93) Wagner^s Handwörterb. d. Physiol. B. III. Abth. II. p. 423. —-
Bnnemoser schrieb der Einstellung des Krankenlagers in den Meridian eine
therapeutische Wirkung zu (vergl. /. Michelet, Anthropologie und Psycho-
logie. Berlin 4840. p. 488). — Jetzt sind solche Ansichten einer mysti-
schen Naturphilosophie veraltet.
94) Braid brachte durch anhaftendes Fixiren der Augen Schlaf her-
vor; später wurden die Verm^e von JMmarquay und Giraud'Te^l(m in
Frankreich aufgenommen. — *Es giebt bekanntlich eine bei kürzeren Ope-
rationen in letzter Zeit vielfach angewandte Anästhesirungsmethode. Die-
selbe besteht darin, dass der Patient einen Gegenstand, den man ihm auf
ca. 4 5 Ctm. Entfernung vorhält, scharf fixiren muss, wobei er gleichzeitig
rasch und tief respirirt. Nach etwa zwei Minuten schwindet das Bewusst-
sein und der Kranke schläft«. {Fr. Siemens, »Zur Ldbre vom e]^leptischen
Schlaf und vom Schlaf überhaupt«. Arch. f. Psychiatrie und Nerven-
krankheiten Bd. IX, H. 4. p. 79).
— 281 —
9^ De soniB. o. 8. (a. a. O. p. 408) : »hih ftäXiota 'yCvövrat ihei>«t dir6
Tfjc Tpotpf^' i^p^ov Y^p fPoXO Tiite ^pöv «Lftl To 9fiifMiTfi>(sc ^tt^petoi«. iot^-
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Twv %aX tA &irv(0Ttxel[. Tzdisxa y^P xapTjßapfcav Tiotei , xa\ tä Troxd xal, xa ßpoi-
xd, fj.'/jxwv, {lav^paYÖpac, olvo;, alpat. xal xaTa9ep(SfL6vot xat vDOTdCo*^*
TSC TOüTO 5o«oüat Tzdoyrgvif xal diöüvaToööw atpetv t^v xe^aXi^v xal tä ßX^^apa.
xai jifixd Td aixa p^Xtsra toioütoc 6 öirvoc ' ttoXXi^ y^^P "h ^^^ '^®*'^ otttojv d^a-
du{i(a9tc. Iti 6' ^x x^TTCDv dvicuN • 6 (liv Y^^P *<57ro; aovTTjxTtxÖN, tö 5s 06^-
TTJYI*« T^'^s'^*' Äoitep tpo^i?) dTrewTo;, av jxt?) 4'^XP^'^ "ö* *^'' n<5ooi S£ xtve; tauTÖ
TOiÜTO TCOtOUOlV«.
96) lieber die Ursache des Schlafes. Stuttg. 1877. p. S8. — Vergl.
auch Mendel, die Mtlcfasttirre als Schiafinittel (Deutsch, medtcin. Wochen-
schrift vom 29. Apr. 4876. p. 493). Letzterer kommt zu dem Resultat,
dass Natriumlactat sich bei Agrypnien, wie sie im Verlauf von allgemein
schwachenden Krankheitszuständen / häufig auch in der Reconvalescenz
von schweren Erkrankungen auftreten, dann zur Beruhigung von Geistes-
kranken in besonders fingst) ich erregten Formen und zur Beseitigung ge-
wisser psychischer Krankheiten empfehle. — N, JerusalinMky, Ueber die
hypnotische Wirkung der Milchsäure und des milchsauren Natrons (Peters-
burg, medic. Wochenschr. No. 44. 4876). — C, Laufenauer, Die Milch-
säure als Schlafmittel (Pesther medic. Chirurg. Presse v. 39. Juli 4876.
p. 526—530).
97) Loth, Meyer j Zur schlafmachenden Wirkung des Nfttrum lacticum
(Arch. f. pathol. Anatomie. 66. p. 420 — 4 25). — Erler, Zur schlafmachen-
den Wirkung des Natrum lacticum (Med. Centralblatt 4876. p. 658 — 660f.
Fr, Fischer, Zur Frage der hypnotischen Wirkung der Milchsäure (Zeit-
schrift f. Psychmtrie. B. 83. p. 720—727).
98) Vergl. Burdach. HI. p. 484.
99) Museum p. 334.
100) Vergl. d. Aiihaag.
101) Physich Psychologie, p. 489.
102) Zeitechr. f. rationale Medicin. R. III. B. 34. p. 48 ff.
103) Nach Wundt ist die Zahl der Athmung bei Erwachsenen 4 6 — 24,
ulso Im ' Durchschnitt 29 in der Minute; in Extremen schwankt sie nach
Hutchinson zwischen 9 und 40, und bei Neugebomen zwischen 28 und 70.
Qi*^telet fand für die verschiedenen Lebensalter folgende Zahlen:
Maxiui.
Minim.
Mittel
Maxim.
Minim.
Mittel
Neugeb. 70
23
44
20—25 J. 24
44
48,7
5 Jahre 82
—
26
25—80 J. 24
45
46
45— 20J. 24
46
20
30—50 J. 23
44
48,4
Vergl. Wwtdty Piiysielogie des Menschen, t. Aufl. Erlangen 4878. p. 83^.
•^ 0, Funke, Physiologie. 4. Aufl. Leipzig 4863. I. p. 484.
— 282 —
104) A. J, Testa, Bemerkungen über die periodischen Verinderungen
im gesunden und krankhaften Zustande des menschlichen Körpers. Aus
d. Lat. Leipsig 4790. p. 814. — Vergl. Burdadb lU. p. 5il.
105) KohUckiUtery Zeitschr. f. ration. Med. R. III. B. 47. p. 947.
106) Die Lage ist im Schlaf nicht ohne Einfluss auf die Respiration;
nach Smith ist das inspirirte Luftquantum im Liegen ■■ 1 , in aufrechter
Stellung aber » 4,88. {Wundt, Physiol. d. Menschen p. 879). — Nach-
dem in neuerer Zeit Mosso bereits Beobachtungen über die Volumsver-
anderung des Armes während des Schlafes machte , stellte Dr. v. Bosch
ausführliche Untersuchungen an. (Die volumetrische Bestimmung des Blut-
drucks am Menschen. Wien 4878). Er fand ein deutliches Absinken des
Volumens, welches bei dem ersten Versuchsindividuum , einem 4 5jttbrigeD
Knaben, während des Einschlafens, bei dem zweiten, einem eojtfhrigeD
Manne, mit dem Beginne des Schlafes eintrat. Das Absinken dauerte in
allen Fällen nicht länger als eine Minute, dann traten, wie Bofcft durch
Versuche an 80 Individuen ~~ welche sich in horizontaler, ruhiger, zwang-
loser Lage von einer Decke geschützt, also unter gleichmässiger Tempe-
ratur im Bette befanden — erfuhr, wieder die durch frühere Beobachtun-
gen sclion bekannten Schwankungen während der Körperruhe ein. Die
durch diese Schwankungen gezeichneten Curven stellen langgestreckte,
ungleichmässige Wellen dar, in welchen sich ein rhythmisches An- und
Abschwellen des Armes, also eine Veränderung des Blutlaufs ausspricht.
107) BiMTdach p. 516 f. Der Einfluss der Lage macht sich hier nicht
minder wie bei der Respiration geltend. Knox giebt an , dass die Fre-
quenz beim Uebergang aus der liegenden in die aufrechte Stellung des
Morgens um 20, des Mittags um 43 und des Abends um 8 Schläge in der
Minute beschleunigt wurde (ibid. p. 581).
108) Vergl. BranäiSf Pathologie oder Lehre von den Affecten des
lebendigen Organismus. 2. Aufl. Kopenh. 484 5. p. 549.
109) Wundt, Physiologie, p. 454. — Daivy, Gierse und Halknann fan-
den das Minimum um Mittemacht, Felix von Bärensprung (Untersuchun-
gen über die Temperaturverhältnisse des Foetus und des erwachsenen
Menschen im gesunden und kranken Zustande. Arch. f. Anat. Physiol. etc.
von /. Müller. Jahrg. 4854. p. 4 86—475) um 4 Uhr Nachts; am Morgen
schnell steigend erreicht sie nach AngMbe des Letzteren das Maximum um
4 4 Uhr. Nachdem sie etwas gesunken, steigt sie wieder und hat um
6 — 7 Uhr ein zweites Maximum, worauf sie wiederum sinkt. Bärensprung
bemerkte, dass die Temperatur des Nachts sank, au.ch wean
man nicht schlief und dass sogar die Aufnahme der Nahrungsmittel
keine Aepderung hervorrief. Er hält die Undulationen also für typische,
welche durch veränderte Lebensweise nur modificirt, aber nicht auf-
gehoben werden könnten (p. 464). —
Bud. Lichtenfels und Bud. Fröhlich (Beobachtungen über die Gesetze
des Ganges der Pulsfrequenz und Körperwärme in den normalen Zustän-
den , sowie unter dem Einflüsse bestimmter Ursachen. Denkschr. d. k.
Akad. d. Wissensch. z. Wien. Mathemat-naturwissensch. Classe. B. lii.
— 283 —
Abth. 2. 485t) fanden den Stand des Pulses vor der Nahmngsaufnabme
und 5 — 6 Stunden nach derselben gleich. Sie nehmen an, dass der Zu-
sammenhang zwischen Puls und Körperwärme kein unmittelbarer, son-
dern durch gleiche Ursachen bedingt sei. Das Maximum für die Körper-
wärme fiel 4 — 2 Stunden später als das Maximum der Pulsfrequenz, ebenso
trat das Sinken später ein (p. 427).
110) Abhandl. d. k. Schwed. Acad. d. Wissensch. A. d. Schwed.
von Kästner, Bd. 80. p. 498 und Bd. 84. p. 75 ff.
111) Burdach III. p. 549. — Wundt, Physiologie, p. 448. — Purkinje
a. a. 0. p. 429: »Die Speichelsecretion ist schon wegen der eintretenden
Rahe der Kau- und Sprechorgane und wegen Mangel an Reizen, aber auch,
und hauptsächlich, wegen geringerem Erregungszustande der Drüsen, ver-
ringert. Auffallend ist die Verringerung der Thränensecretion, die schon
während der Schläfrigkeit die Augen trocken macht und mit zum Bedürf-
niss ihrer Schliessung beiträgt. Diese Trockenheit wird sehr lästig, wenn
wir gegen den Schlaf ankämpfen müssen, wo dann eine Anfeuchtung der
Augen oder der Gebrauch eines Thränen erregenden Reizmittels, z. B.
Schnupftabak, nicht wenig hilft. Auch die Secretion der Nasenschleim-
haut und der Schleimdrüsen am Gaumen und Schlünde, und so im ganzen
tractus intestinalis, ist im Schlafe vermindert«.
112) HelmhoUz fand für die einzelnen Factoren im Verbrauch der
Wärme folgende Zahlen: Strahlung und Verdunstung durch die Haut
77,50/q; Erwärmung der Ingesta 2,60/q; Erwärmung der Athmungsluft
5,2%; Lungenverdunstung 4 4,70/q. (Vergl. Wundt, Physiologie p. 462).
113) C. Reil (lieber die Ausdünstung und die Wärmeentwickelung
zur Tages- und Nachtzeit. Arch. f. d. Physiol. v. Meckel. Bd. VII.
p. 859—895) fand, dass die Ausdünstung im Darchschnitt in jeder Nacht-
stunde 4 Unze, in jeder Tagesstunde dagegen 4 Unze 7 Drachmen betrage.
Nach Lining (ibid. p. 876) ist das Verhältniss der Ausdünstung in der
Nacht zu der am Tage im März wie 4:4,44. April 4:4,27. Mai 4:4,54.
Juni 4:4,63. Juli 4:2,45. August 4 : 2,4 4. September 4 : 2,04. October
4 : 4,05. November 4 : 4,07. December 4 : 4,47. Januar 4 : 4,37. Februar
4 : 4,38. Das jährliche Verhältniss war also 4 : 4,54. — J. Keül erhielt bei
seinen Beobachtungen ähnliche Resultate (ib. p. 862). Das jährliche Ver-
hältniss war 42,468:48,804, also 4:4,54. — Martin (Abhandl. d. k. Schwed.
Acad. d. Wissensch., herg. v. Kästner, Bd. 40. p. 4 97) fand folgende Mittel-
zahlen der Ausdünstung:
In einer
Nachtstunde
In einer. Tagesstunde
Januar
41/8 Unze
2
Unzen
Februar
43/8 «
2V4
j>
März
41/4 »
2
»
April
4 V2 »
«Vs
i>
Mai
2 »
2V8
»
Juni
21/4 »
2
a
Juli
2V8 >>
2%
»
284
In einer Naohtstuiide
in
einer Ta^esetonde
Auguai i*/g ÜBie
iVe Dosen
September 4^/4 »
1 »
October 4V2 »
iV» •
November 4 Vs »
47/^ -
December 4 1/4 »
s »
VicL Weyrich sagt: »Wir tinden,
das» die
Perspiration hier
oder 6 Uhr Morgens) den niedrigsten Stand unter denjenigen einaimmt,
welche überhaupt im Laufe der Tagescurve vorkommen. — Derselbe be-
tragt ungefähr 90— 250/q unter dem Mittel werthe , weicher im vorliegen-
den Falle 3,54 Mm. Hg. Spannung beträgt. — Zur Nacht, beim Schlafen-
gehen, war der Stand der Perspiration (nach 4 2 Uhr Mitternacht) um
Weniges über dem Mittel. Man kann also die Herabsetzung,
welche die Function während einer sechsstündigen Nacht-
ruhe erleidet p.p., auf ein Viertel der ganzen Leistung ver-
anschlagen«. (Die unmerkliche Wasserverdunstung der menschlichen
Haut. Leipzig 4862. p. 224. — VergL auch p. 485 f., 488 f., 248 f. etc.).
114) Es enthält eine grosee Menge hoch zusammengesetzter Stoffe,
die eine gewaltige Menge von Spannkräften repräsentiren (Lecithin s
C44HgoNP09ss Distearylglycerinpfaosphorsäure -i- Trimethyloxäthylammonium-
hydroxyd (Neurin) , Cerebrin ■■ C87H33NO3, Cholesterin = C^H^aO
u. s. w.); gleichsam wie bei einer Lawine führt ein kleiner Aastoss die
Auslösung dieses grossen Vorrathes potentieller in actuelle Energie hert)ei.
115) Hegelf Encyclopaedie der philosophischen Wissenschaften. Hei-
delberg 4847. p. 243 ff. — Erdmann, Psychologische Briefe. 4. Aufl. Leipzig
4^^8. p. 448 f. Vgl. auch: Onindriss d. Psychologie. 4. Aufl. ^Leipzig
4862. p. 49. -^ C.G.CartfSf Psyche, zur Entwicklangsgeschichte der Seele.
%. Aufl. Pforcheim 48e«. p. 2f« etc.
116) Psychologische Analysen auf physiologischer Grundlage. Halle
4872. L p. 248.
117) Vergl. Wundt, Physiol. Psychol. p. 707. — L. A, Koch, Vom
Bewusstsefn in Zuständen sogenannter Bewusstlosigkeit. Stuttg. 4877. p. 43.
118) Physiol. Psychol. p. 790; vergl. p. 742: »So lange eine früher
gehabte Vorstellung nicht reproducirt wird, also unbewusst bleibt, ist
sie als eine Disposition vorhanden, welche auf einer physiologischen
Disposition in den Central theilen beruht, früher stattgehabte Erregungs-
vorgänge bei gegebenen Anlässen zu erneuern. Den zur Reproduction
bereit liegenden unbewussten Vorstellungen ein wirkliches inneres Dasein,
abgesehen von jener physiologischen Disposition, zuzuschreiben, ist durch
nichts gefordert und hat bei der enormen Zahl von Vorstellungen, die
man in einer Seele und in einem Centralorgan neben einander annehmen
müsste, nicht die geringste Wahrscheinlichkeit«.
119) Aehnlich äussert sich Ribot, der freilich auch das Selbstbe-
wusstsein als höchste Form mit unter den Begriff des Bewusstseins sub-
sumirt: »Das Bewusstsein wächst und nimmt ab, aber seine fortgesetzte
Abnahme erreicht niemals Null; denn was wir das Unbewusste
— 285 —
nennen, ist n«r ein Minimnm von Bewusstsein«. (Die Erblich*
keit. Deuteck v« Dr. O* Motzen Leipzig 4876. p. 955).
»Einer der ersten, die ein unbewaseles Bewusstsein gelehrt heben»
ist wohl Themas vo» Aquin, Später sprach LeilmU% von »pereepttones sine
apperceplione seu conscientia » ; Jipercep'tiones insenstbiles«, und Kant
folgte seinem Vorgänge. In neuester Zeit aber findet die Lehre von un-»
bewussten psyehi sehen Phänomenen zahlreiche Vertreter, und zwar in Man*
nem, die sonst nicht gerade verwandten Ricbtnngen ang^ören. So sagt der
ältere Mttty es gebe Empfindungen, deren wir uns aus gewohnter Unachtsam-»
keit nicht bewusst werden. EamiUon lehrt, dass die Kette unserer Ideen oft
nur durch unbewusste Mittelglieder verbunden sei. Ebenso glaubt Ltwex,
dass viele psychische Acte ohne Bewusstsein stattfinden. MauMey ma^^ht
die, wie er glaubt, sicher erwiesene Thatsache unbewusster Seelenthätig-
keit KU einem der Hauptgründe für seine psychologische Methode. Herbart
lehrt Vorstellungen, deren man sich nicht bewusst sei, und Beneke glaubt,
nur diejenigen , welche ein höheres Mass von Intensität besitzen , seien
von Bewusstsein begleitet. Auch Feckner sagt, die Psychologie könne von
unbewussten Empfindungen und Vorstellungen nicht Umgang nehmen»
Wundiy (in seinen Vorlesungen tiber die Menschen- und Thie^eele; in
Betreff seiner physiol. Psychologie vergl. oben), HeÜfifkcUZf Zöllner u. A.
behaupten, dass es unbewusste Schlüsse gebe. Vlrid sucht durch gehäufte
Argumente darzuthun , dass sowohl Empfindungen als auch andere psy-
chische Acte, wie LVebe und Sehnsucht, oft* unbewusst geübt würden.
Und «7. Harimanm haX eine ganze »Philosophie des Unbewussten« ausge-
arbeitet«. [Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte. Leipzig
4874. Bd. I, p. 4 84). •*-» »Für die Ableitung der unbewussten Vorstellungen
aus bewussten sprechen sich insbesondre CL Peramtt und Stahl aue, von
denen jener das Aufhören des Bewusetseins aus einer Art von AbslwmpAittg
durch Angewöhnung, dieser aus einer Ueberdeckung der ex. ratione —
Seelentfaätigkeit durch die ex ratiocinatione erklärte. Für Cudioarth war
die Apriorität des Unbewussten eiti nethwendiges Correlat für des Ange*
borensein der Ideen, während Malebranche die «raprüngliclie Bewusst
losigkeit so vieler Vorstellungen aus der Unmöglichkeit ibver gleicl»eiltgen
Apperception deducirte. . .*. Für die Kan tische Schule enthielt der
Begriff der unbewussten Vorst^lung einen inneren Widerspruch, weil »die-
Vorstellung , die nichts und ' die nicht vorstellt , keine Vorstellung se«i
kann«, wobei sie sich ireiiich wieder für den Oedanke» »unbewusster*
Veränderungen im Gemüthe freien Raum erhielt. KanU selb^ giebt die
Möglichkeit eines mittelbaren Bewusstseins von Vorstellungen, die de^
unmittelbaren Bewusstseins verlustig geworden, zu, seine »dunklen Vor^
Stollungen« aber sind so ziemlich Leibnitzen's schwache Vorstellungen. . . .
Der neuere Spirttualisoliis fand an der Wiederaufnahme der unbewussten
Vorstellungen ein besonderes Interesse, weil sie ihm jene Form darbot,
in der sich die organisch-vitalen Functionen der Seele vollziehen. In diesem
Sinne bezeichnete C. 6« Carus die Ableitung des bewussten Seelenlebens^
aus dem unbewussten als einen der Fundamentalsätze der neueren Psy^
chologie Auch in der englischen Psychologie der Gegenwart bildet
— 286 —
die Frage nach der ZuläMigkett unbewusster Vorstellungen den Gegenstand
einer lebhaft geführten Controverse. Wftbrend nämlich W. Hmnütan für
dieselbe das oft seltsame Vertreten latenter Vorstellangen unter abnormen
Einflüssen und die Zusammensetzung bewusster Gesammtvorstellungen
aus unbewussten Elementen geltend machte, opponirte ihm Namens der
»Associationspsychologie« insbesondere 51. Btillf der hierbei unwiDkürlich
auf Lockes c^en citirte, von der Schottischen Schule oft wiederholte For-
mel zurückkam (eine Empfindung oder Idee haben, heisst : deren Bewusst-
sein haben) und unbewusste Vorstellungen nur im Sinne unbewusster
Modificationen des Nerven gelten iiess. Marell knüpfte wieder an BamilUm
an und modificirte die Hypothese der unbewussten Vorstellungen, nament-
lich mit Rücksicht auf den Instinct, in einer Weise, die ihn in die un-
mittelbare Nähe der oben erwähnten spiritualistischen Theorien der neueren
deutschen Psychologie brachte. An Morell schloss sich im Wesentlichen
Murphy an, indem auch er das Gebiet der unbewussten Vorstellungen
hauptsächlich auf das der organischen Vorgänge beschränkte, während
Lewes das Unbewusstbleiben mancher Empfindungen lediglich aus deren
Schwäche und deren Unvermögen, Associationen anzuregen, erklärte.
Fassen wir der Uebersicht wegen die verschiedenen Ansichten über das
Wesen der unbewussten Vorstellungen zusammen, so ergeben sich dem-
nach folgende vier Hauptgruppen : unbedingte Verwerfung der unbewussten
Vorstellung (Aetn^id) , Anerkennung unbewusster Vorstellungen neben
bewussten {J, H. Fichte), Ableitung der bewussten Vorstellungen aus un-
bewussten [Benekejy der unbewussten aus bewussten {Herbart) •, {Volk-
mann ,' Lehrbuch der Psychologie. 2. Aufl. Cöthen 4875. Bd. I, p. 4 74,
475, 476}. — In neuerer Zeit hat man die Entstehung der Sinneswahr-
nehmungen auf unbewusste Schlussprocesse zurückgeführt, und Wundt
suchte in seinen Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele diese
Betrachtungsweise auf das ganze Gebiet der inneren Beobachtung auszu-
dehnen. Dagegen wollten Stumpf j Brentano u. A. die unbewussten Vor-
stellungen aus der Psychologie beseitigen. Brentano stützt sich dabei auf
Lotze, A, Bain, H. Spencer und /. St, Mill, welche, wie er sagt, eine un-
bewusste Vorstellung ebenfalls nicht anerkennen. Man habe nachzuweisen
versucht, dass gewisse in der Erfahrung gegebene Tbatsachen die An-
nahme eines unbewussten psychischen Phänomens als ihre Ursache ver-
langen, jedoch seien die Leistungen des Genies, welche Maudsley anführe
(Physiol. und Pathol. der Seele, deutsch von Böhm. p. 47f., 82 flf. ; vergl.
auch E. V. Hartmann, Phil. d. Unbewussten. 7. Aufl. I. p. 238, J. C. Fifcher,
Das Bewusstsein. Leipzig. 4 874. G. 6), nicht genugsam gesicherte Tbat-
sachen, da geniale Denker höchst selten sich zeigten; wo man bei Hart-
mann die Gesetze für die unbewussten psychischen Phänomene erwarten
sollte, seien diese nicht zu finden. Hamilton's Annahme unbewusster Vor-
stellungen als Mittelglieder in der Erinnerung bei der Erneuerung eines
früheren Gedankenzuges, welche oft im Bewusstsein ganz übersprungen
würden (vergl. auch Ew. Hering, Das Gedächtiiiss als eine allgemeine
Function der organisirten Materie. Vortr. geh. in d. K. Acad. d. Wissen-
schaften am 80. Mai 4 870. 2. Aufl. Wien 4876. p. 4 0)^ sei nicht als ein-
— 287 —
zig mögliche Erklttningsweise erwiesen. Weon Maudsley auf die Träume
hinweise, ia weichen Vorstellungen emportauchen, die uns unbekannt er-
scheinen, Ulrici anführe, dass wir oft in der Zerstreuung Jemanden an-
hören ohne zu wissen was er sagt, bei späterer Sammlung aber uns
seiner Worte erinnern, so sei alles dies bewusst gewesen, meint Brentano^
nur hätte sich bei dem zweiten Auftreten eine gewisse Association und
andere Seelenthätigkeiten, wie Affecte, angeknüpft, welche früher mangelten.
»Auch von Gefühlen der Zuneigung und Liebe sagt man wohl manchmal,
dass man, nachdem man sie langß schon gehegt, sich ihrer plötzlich be-
wusst werde. Die Wahrheit ist, dass man sich jedes einzelnen Actes be-
wusst war, als man ihn übte, dass man aber nicht in einer Weise darüber
reflectirte, welche die Gleichartigkeit der Seelenerscbeinung mit denjeni-
gen, welche man gemeinsam mit diesem Namen zu bezeichnen pflegt,
erkennen liess« (a. a. 0. p. 150). HelmhoHx berichtet ferner, dass er nicht
selten an den sogenannten Nachbildern Einzelheiten bemerkte, die er
beim Sehen des Gegenstandes nicht wahrgenommen habe (Physiol. Optik
p. 337), Brentano begegnete dasselbe; aber einestheils kann nach seiner
Meinung das Phänomen früher bewusst gewesen und wieder vergessen
worden sein, anderntheils ist nicht die frühere Empfindung, sondern der
Fortbest<nnd des früheren physischen Reizes Ursache des Nachbildes ; wenn
dieser früher wegen psychischer Hindernisse nicht zur Empfindung führte,
so kann er es jetzt thun, u. s. w. — Brentano kommt zu dem Resultat :
es giebt keine unbewusste Vorstellung (p. 180).
Hiergegen bemerkt A. Lange, dass man bei solchen Erörterungen sich
nicht auf Lotze stützen dürfe, denn dieser nehme ausdrücklich an, dass
die Vorstellungen mit Hirnfunctionen verbunden seien, welche sich, ohne
selbst Bewusstsein zu erregen, an unserem Gedankenlauf betheiligten (Med.
Psych. § 409 f.), und Brentano irre, wenn er glaube, mit bewusst gewe-
senen aber wieder vergessenen Vorstellungen auszukommen; Lange will
die Annahme einer unbewussten Production beim Genie aufrecht erhalten
wissen (Geschichte des Materialismus. 2. Aufl. II. Iserlohn 4875. p. 44-7;
vergl. p. 401).
1^) Th. Fechner, Elemente der Psycho-Physik II, p. 528.
121) Mikrokosm. 2. Aufl. Leipzig 4869. Bd. II, p. 879; vergl. auch
Medicinische Psycho!. Leipzig 4852. p. 548.
122) Das Leben des Traumes. Berlin 1864. p. 38 u. 4 02. — p. 98.
123) A. a. 0, p. 4 04 etc.
124) Schubert, Symbolik des Traumes. 4. Aufl. Leipzig 4862. p. 6,
40, 49, 78—95.
125) A. a. 0. p. 24 u. 25.
126) Museum p. 858.
127) Traitö des facultas de l'äme. Deux. 6d. Paris 4865. I, p. 476.
128) Vergl. Fechner's Centralblatt für Anthropologie und Naturwissen-
schaften. 4853, p. 774 f. — p. 43 ff. Solche Fälle von ungewöhnlicher
— 288 —
EriniMrung Migen sieh besonders in Z«st«nden grosser Erregung. — la
Bezug auf die unbedeatendsten DeMs mag irmlioh eine psychische Seihet-
tttuschung vorliegen, wie sie oft vofkomsDt. Man glavbt, alle Einzelheiten
gelrttnmt zu haben, während man die Lücken, die der Traum -wirklick
darbot, in der spSteren Erinnerang anwillkürlich ausfüllt.
189) E, KoMichütter, Messungen der Festigkeit des Schlafes. Zeitschr.
f. ration. Medic. herg. von Henle und Ffeufer. 8. Reihe. B. 47. p. 909 —
253. Von dem gegen Fe ebner geäusserten Gedanken, dass sich die
Tiefe des Schlafs wohl durch verschiedene Intensität von Schalleindrücken
me!!sen lasse, ausgehend, machte er an Leipziger Studirenden hierauf be-
zügliche Experimente. Er wandte dazu an den von Fechner coostruirten
Schallpendel, einen Pendelhammer, den man aus verschiedenen, an einem
Gradbogen abzulesenden Elevationen kann herabfallen lassen, und der den
Schall durch sein Anschlagen gegen eine dicke Schieferplatte erregt; der-
selbe wurde auf einen Tisch neben den Schlafenden gestellt und das Licht
so gerichtet, dass seine Strahlen gehindert waren, direct auf den Schläfer
zu fallen, wodurch der Schlafraum während der ganzen Dauer des Schlafes
gleichmässig erhellt und die absolute Festigkeit desselben zwar etwas
herabgesetzt, der Gang der Vertiefung resp. Verflachung aber nicht alte-
rirt wurde, wie es bei einem plötzlich eintretenden Lichtstrahl geschehen
wäre. Ebenso konnten auch die Schallwellen mit den von den Zimmer-
wänden zurückgeworfenen nicht interferiren, bevor sie das Ohr des Schla-
fenden getroffen.' Den letzteren behielt man nun genau im Auge und
Hess alle halbe Stunden Schläge von versdiiedener Intensität auf ihn
wirken. Als Criterium des wirklichen Erwachtseins hatte man vorher
ausgemacht, dass der Betreffende ein bestimmtes Wort aussprechen sollte ;
zugleich gebrauchte Kohlschütter die Vorsicht, erst « Schläge von glei-
cher Intensität wirken zu lassen, ehe er zu der höheren fortschritt, da-
mit, wenn der Schläfer den ersten vernommen, aber nicht im Stande
wäre, darauf zu reagiren, wie es uns bei den meisten Eindrücken im
Schlafe geschieht, er durch die folgenden Schläge der gleichen Intensität
dazu vermocht würde. Die zahlreichen, streng discutirten und notirten
Beobachtungen ergaben im wesentlichen übereinstimmende. ReaaUale.
130) Kohlschütter fand als Resultat seiner Beobachtungen, dßm »der
Schlaf anfangs rasch, dann langsamer sich vertieft, innerhalb der ersten
Stunde nach dem Einschlafen seine Maximaltiefe erreicht, von da an an-
fangs rasch, dann langsamer und langsamer sich verflacht und mehrere
Stunden vor dem Erwachen merklich unverändert eine sehr geringe Festig-
keit behält«, — Bei leichter Alkoholintoxication zeigte sich derselbe Gang
der Vertiefung und Verflachung, aber eine beträchtliche Herabsetzung der
absoluten Tiefe und der Dauer des Schlafes (p. 244).
131) Pathologie oder Lehre von den Affecten des lebendigen Oi^^nis-
mus. S. Aufl. Kopenh. 4845. p. 567.
132) Vergl. Faust' s Monolog nach seinem Spaziergange mit Wagner:
»Verlassen häb' ich Feld und Auen,
Die eine tiefe Nacht bedeckt.
— 269 —
Mit ahnungsvollem, heirgem Grauen
In uns die beasre Seele weckt.
Entschlafen sind nun wilde Triebe
Mit jedem ungestümen Thun;
Es reget sich die Menschenliebe,
Die Liebe Gottes regt sich nun« etc.
133) Ein merkwürdiges Beispiel solcher religiösen schwärmerischen
Liebe, die sich selbst über ihren wahren Ursprung, die Sinnlichkeit,
täuschte, theilt Moreau de Tours in seiner Psychologie morbide V, p. 969 —
277 mit. Vergl. Ribot, Die Erblichkeit. Deutsch v. Dr. 0. Hotxen, Leipz.
4 876. p. 988 ff. — Die junge Person berichtete von sich selbst: »Als ich
mich niederlegte, dehnte ein solches Aufschwellen alle meine Organe aus,
dass ich dadurch ganz betäubt und schwach wurde. Ich küsste ganz
leise , wie ein geschlagenes Hündchen , die Hand meines Meisters , und
dann sah ich, wie meine Gewohnheit in jeder gefährlichen Lage ist, die-
sen theuren Meister mit einem glühenden Blick voll Liebe und Vertrauen
an . . . Bei meinem Morgengebete pflegte ich die Betrachtungen des hei-
ligen FranQOis de Sales über das »Lied der Lieder« zu überdenken. In
einer Nacht also fühlte ich mich bei vollem Wachen schwebend in hoch*
sten Wonnen und erwartete mit einer Art von Schrecken, was der Herr
zu mir sagen würde. Nun sah ich ihn leibhaftig und geradeso, wie er
in dem »Liede der Lieder« dargestellt ist . . . er legte sich neben mich,
legte seine Füsse auf meine Füsse, kreuzte seine Hände mit meinen Hän-
den, erweiterte seine stechende Krone und wand sie um unserer Beider
Häupter; dann aber, während er mich lebendig die Schmerzen seiner
Dornen und seiner Nägeknale mitfühlen liess, drückte er seine Lippen
auf die meinigen, gab mir den göttlichsten Kuss eines göttlichen Gatten
und blies meinem Munde einen so entzückenden Hauch ein, dass dieser,
mein ganzes Wesen mit erfrischender Kraft durchströmend, es durch ein
unvergleichliches Wonneleben entzückend, ihm Alles ohne Rückhalt zu
eigen gewann«. Bei den ersten Worten denkt man unwillkürlich an
Plato'f Schilderung der Geschlechtsliebe: »6 hk d^vzsk'^z, 6 xdiv xöxe tcoXu-
To« l&iav, Tip&TOv {i^v Icppt^e xa( ti T(uv xiSxe &nf)Xdev aÖTÖv (»{idtwv, €iTa
TipooopQQV d)c deöv sIßExat, xai el (i.9j ^^uIt] xi^v x^c o^öSpa {iav(ac (ö^av,
^ot alv <»c dfo^fiaxt %a\ decp xoTc irai&ixoic i5(Svxa hk a6x6v oiov i%
TTJc cpp^xT)^ ficxaßoXV) xe xal i&ptbc xai depfi.<SxT]C. iif)dT]c Xa{Jißdi-
vet«. (Phaedr. p. 251). — »Wo ist der Menschenkenner und Bräutigam«,
sagt BogunUl Goltz an einer Stelle (Zur Characteristik und Naturgesch. der
Frauen, p. 279), »der aus einem Paar blitzender, junger Mädchenaugen,
oder aus solchen, die im Dufte einer augenblicklichen Herzensrührung
schwimmen, den sinnlichen Untergrund und das ordinäre Princip heraus-
findet, welches in einem Augenblick ganz wohl ein poetisches und seeli-
sches sein kann«. — Eine von allen sinnlichen Grundlagen getrennte, rein
geistige Liebe möchte schwerlich aufzufinden sein. Sie ist zwar von der
Begierde des Thieres weit verschieden, da sie mehr psychische Elemente
Badestock, Schlaf n. Traum. 19
— 290 —
— das Gefühl des Schönen , der Zuneigung , des Mitgefühls , der Bewun-
derung, der Lust am Hingeben, der Eigenliebe, der Freude am Besitze
und der Freiheit — enthlüt, entbehrt aber trotzdem nicht ganz die körper-
liche Grundlage.
134) W, Sander macht in einem Aufsätze »lieber die Beziehungen
der Augen zum wachenden und schlafenden Zustande des Gehirns and
über ihre Veränderungen bei Krankheiten « (Archiv f. Psychiatrie u. Ner-
venkrankheiten , redig. von C.Weilphal. Bd. IX, H. 1, p. 4 29 — U6) darauf
aufmerksam, dass dies nur vom Einschlafen, nicht vom Schlafe selbst
gilt, wie man früher fast allgemein annahm. — Besonders hervorstechend
Ist die Enge der Pupillen wahrend des Schlafes. »Die Pupillen erschei-
nen bei ruhigem und tiefem Schlafe kaum stecknadelkopfgross und noch
kleiner. Natürlich variirt die Grösse der Pupillen in engen Grenzen je
nach der Tiefe des Schlafes.
Jeder Reiz, welcher den Schlafenden trifft, führt, namentlich ein sen-
sibler oder acustischer, wenn er sich innerhalb gewisser, nach der Indi-
vidualität und der Schlaftiefe verschiedener, Grenzen hält und den Schlaf
nur verflacht, aber nicht vollständig unterbricht, zu einer entsprechenden
Erweiterung der Pupille, die ziemlich schnell vor sich geht, aber nur
langsam wieder zurückgeht, wenn der Schlaf wieder tiefer wird. Eine
solche vorübergehende Erweiterung kann schon durch das Aufheben des
Lides bewirkt werden, so dass man die Pupille nicht gleich von der ge-
wöhnlichen Enge findet, sondern eine Zelt lang warten muss, bis dieselbe
sich einstellt. Wirkt ein stärkerer Reiz ein, z. B. durch lautes Anrufen,
so dass der Schläfer erwacht, dann erweitert sich die Pupille in ganz
bedeutender Weise, so dass nur ein schmaler Saum der Iris übrig bleibt ;
nur langsam verengt sie sich wieder und zwar jetzt nach dem Erwachen
bis zu der der Beleuchtung entsprechenden Grösse; Es ist dies ein ganz
überraschender Anblick, wenn man bei heller Beleuchtung, welche man
auf den Schlafenden fallen lässt, die Pupillen sich so stark erweitern
sieht. Wenn man sich bei einzelnen Personen mit den Bewegungen ver-
traut gemacht hat, welche sie machen, wenn man sie im Schlafe mehr
oder weniger stört, ohne sie ganz zu erwecken, so kann man sich leicht
überzeugen, wie genau die Erweiterung der Pupille dem Grade des Er-
wachens folgt, wenn man sich so ausdrücken darf, und ebenso lässt sich
leicht beobachten , dass die Pupille ihre maximale Weite so lange beibe-
halt; bis der Erwachte seine Gedanken wieder gesammelt hat und voll-
ständig zu sich gekommen ist«.
» Oeffnet man das Auge, nachdem der Schlaf schon etwas länger an-
gedauert hat, so bemerkt man, dass die Cornea den spiegelnden Glanz,
der ihr während des Wachens eigen, verloren hat. Ursache davon ist,
dass sie mit einer zähen, schleimigen Flüssigkeit bedeckt ist, welche sich
in geringerer Menge auch auf der Sklera findet. In einzelnen Fällen ist
damit eine stärkere AnfüUung und dadurch scheinbare Vermehrung der
venösen Gefässe der Bindehaut verbunden. Diese Injeclion der Conjunc-
tiva bulbi im Schlaf erwähnt auch /. B, hanglet (nach einem Referat im
— 291 —
Archiv, g^n^r. 4872. Nov. p. 640) und schliesst daraus, wenn auch mit
Unrecht, auf einen congestiven Zustand des Gehirns während des Schlafes.
Was jene Schleimschicht anlangt, so kann man wohl an eine blosse me-
chanische Eindickung der an der vorderen Fläche des Auges abgeson-
derten Flüssigkeiten, wie man dies in andern Fällen thut, um so weniger
denken , als ja bei den geschlossenen Lidern eine Verdunstung des Was-
sers nicht so leicht wie bei geöffneten stattfinden kann. Vielmehr ist es
mir wahrscheinlich (und es wird dies später noch mehr einleuchten),
dass es sich in der That um eine veränderte Secretion handelt, welche
den schlafenden Zustand des Gehirns begleitet. Es bieten sich in dieser
Beziehung zwei Möglichkeiten: die hierbei in Betracht kommenden Drü-
sen, nämlich die beiden Thränendrüsen und die im Fornix der Bindehaut
enthaltenen zahlreichen kleinen Drüsen , deren physiologische Thätigkeit
durchaus noch nicht genau bekannt ist, können ja nach der vom Gehirn
ausgebenden Innervation abwechselnd und ein verschiedenes Secrei ab-
sondern, oder sie secerniren gemeinschaftlich, können aber entsprechend
ihr Secret ändern, gerade so, wie dies bekanntlich bei den Speichel-
drüsen je nach der Innervation bekannt ist. Gerade diese Analogie wird
uns der letzteren Annahme geneigter machen, wenn auch eine mass-
gebende Entscheidung nur durch das Experiment möglich sein dürfte.
Wie aber auch die Erklärung ausfallen möge, die Thatsache, dass über-
haupt während des Schlafes an der Vorderfläche des Bulbus eine anders
beschaffene Flüssigkeit sich befindet, als im Wachen, wird einer aufmerk-
samen Beobachtung nicht entgehen. Diese schleimige Schicht auf der
Cornea trägt wesentlich, wenn auch nicht allein, dazu bei, dass wir das
Auge beim Schlafenden und unter ähnlichen Verhältnissen als «erloschen«,
d. h. des Glanzes ermangelnd bezeichnen. So haben wir also als Unter-
schiede in der Erscheinung des schlafenden Auges gegenüber dem wachen-
den, die Enge der Pupille und die veränderte Beschaffenheit der be-
deckenden Flüssigkeit; es lässt sich ohne Weiteres hinzufügen, dass das
obere Augenlid, was wir allerdings nur beim Einschlafen sehen, sich
senkt, die Lidspalte kleiner wird und sich ganz schliesst, dass der Bul-
bus zurücksinkt und auch wohl in seiner Spannung nachzulassen scheint«.
(p. 4 83 f., 4 36 f.). — Eine Abhandlung: »Ueber das Verhalten der Pu-
pillen während des Schlafes nebst Bemerkungen zur Innervation der Iris«
veröffentlichten auch Hählmann und Witkowsky im Archiv für Anatomie
und Physiologie (1878, p. 409).
135) Joh. Müller^ Phantastische Gesichtserscheinungen. Coblenz 4 826.
— Gruithuisent Anthropologie. München 4 84 u. Beiträge zur Physiognosie
urjd Heautognosie. 4 84 2. — Purkinje ^ Beiträge zur Kenntniss des subjec-
tiven Sehens, dann: Beobachtungen und Versuche zur Physiologie der
Sinne. 2 Bde. Berlin 4823—26.
136) Zur Naturwissenschaft im Allgemeinen, bei der Besprechung
von Purkif^e's Schrift: Ueber das Sehen in subjectiver Hinsicht. Ausg.
d. Werke v. Prochaska. B. VI, p. 664.
137) Des hallucinations. Ste 6d, p. 26.
19»
-- 202 —
188) Ausg. d. Werke v. Frocktuka. III, p. 476.
199) Peckneff Elemente der Psycho^Physik. II, p. 476. — Jean Paul,
Müseam p. M5.
140) PurJNfv'e a. a. 0. p. i%0 und 444.
141) Ich verwahre mich hier gegen den etwaigen Vorwurf, dass ich
veraltete Ansichten mystischer Naturphilosophie wieder aufwärme. Die
besonnensten Empiriker der Jetztzeit weisen auf die Parallelität der phy-
sischen und psychischen Processe hin und viele scheinen zu der
spinozistischen Auffassung hinzuneigen, dass die Gesetze, unter
welchen die materielle Natur und das Denken steht, im Grunde die-
selben sind.
So reden die neueren englischen Psychologen nicht nur von einer
chemischen d.h. eiperimentellen Methode der Wissenschaft, sondern
auch von einer Chemie des Geistes bei der Gedankenverbindung. —
/. Stuart MiU, System der dednctiven und inductiven Logik. Deutsch v.
Schiel, 2. Aufl. B. II, p. 464 etc. •— Ribotf La psychologie anglatse con-
temporaine. p. 4S6. -^ Die Erblichkeit. Deutsch v. Dr. Otto Botxen,
Leipzig 4876. p. 262: ». . . . Die Gesetze des Seelenlebens ent-
sprechen bald denjenigen der Mechanik, bald denen der
Chemie, ja es ist wahrscheinlich dass die weitaus grössere Zahl den-
jenigen der Chemie gleichen«, p. 347: »Am Ende ist zwischen beiden
Gegensätzen, dem einen, nach welchem Denken die wesentliche und die
Natar eine abgeleitete Causaliiät ist, und dem anderen , der in der Natur
die wesentliche und im Denken eine abgeleitete Causalität sieht, doch
eine Versöhnung möglich, wenn man die Identität des Mechanis-
mus und der Logik, der Vernunft in der Natur und der Ver-
nunft im Denken annehmen will«. Vergl. p. 284 : ». . . . Das Leib-
liche ist das Seelische von »Aussen angesehen und das Seelische ist das
Leibliche von Innen angesehen. Der Untersobied zwischen Seele und Leib
ist subjectiv und nicht objectiv, er erstreckt sich nicht auf beider Wesen,
sondern auf die verschiedene Art, wie sie unserer Kenntniss zugänglich
werden. Die Ahysik ist dahin gekommen, den Unterschied von Wärme,
Licht und Ton nur darin zu erkennen, dass sie von verschiedenen Sinnen
empfunden werden, sodass also der Unterschied in uns selbst begründet
liegt. Die Seelenkunde muss zu der Erkenntniss gelangen, dass leiblich
und geistig nur darum uns unähnlich erscheinen, weil das eine durch
die äusseren Sinne .unter der Bedingung von Raum und Zeit, das andere
durch den inneren Sinn unter der Bedingung der Zeit wahrgenommen
wird, dergestalt, dass der Unterschied nur in uns liegt. Auf diese Weise
würde das Absolute in seiner bedingungslosen Gestalt durchaus ausser-
halb des Bereiches unserer Grenzen bleiben , und die bedingten Erschei-
nungen, durch welche es sich unserer Erfahrung enthüllt, stünden nur
durch eine Täuschung unseres Vorstellens in einem scheinbaren Gegen-
satze zu einander«. Vergl. hierzu auch Fechner ^ Elemente der Psycho-
Physik. Bd. I, p. 2 f. — Wundt, Vorlesungen über Menschen- und Thier-
seele. Bd. I, p. 499, Bd. 11, p. 487. — Als ich mich mit der Physiologie
— 293 —
des Schlafes beschäftigte , und die experimentell festgestellten Thatsachen
über den Gang der Vertiefung und VerflaGhung des Schlafes mit denen
bezüglich der Veränderung organischer Functionen zusammenstellte, als
ich ferner erkannte, dass jede Erkrankung des Gehirns, insofern nicht
eine andere Partie für die erkrankte stellvertretend functionire, eine gei-
stige Störung und umgekehrt begleite — trat mir der durchgängige Paral-
lelismus recht l^lar vor Augen, und immer mehr befestigte sich bei mir
die noch auf viele andere Thatsachen gestützte Ansicht, dass Seele und
Leib nur zwei verschiedene Erscheinungs- oder Betrachtungsweisen einer
und derselben Substanz seien.
142) »irpo|xeXlTt)ai«« auch »tä (Aixpd toü ^aveKrou fi.üot/)pta«. — Bei
Homer ist der Schlaf ein Bruder des Todes. 11. XIV. v. 284 :
»IvVöiwip ^(jt,ßXY]TO xaaiYv/|T(|) ^avcCroto«.
XVI. v. 674 f . : »n^f&Tce ti [aiv itopkitotoiv äiM. xpaiicvotsi ^ipsa^ot
5irv<t> %a\ ^vdhnp f^e^pidiootM c
Od. XIII. v. 79 f. :
»xQLt T(p v/j^upioc Sttjoc diel ffkufdpüi^vi fsiTcrev,
v/)YpeTOC, 'SiSioTos, öavc£tqi ä'fjwcoL ioixi&ft.
Nach Hesiod sind das Brüderpaar Schlaf und Tod Kinder der Nacht
und wohnen mit ihr im unterirdischen Dunkel. Theog. v. 748. — Vergll.
Aen. IV. v. 244:
»Dat somnos adimitque et lumina morte resignat«.
Plato apol. p. 40. — Cicero de senect. 80. — Napoleon soll einst von Cor-
visart verlangt haben, dass er ihm den Unterschied zwischen Schlaf und
Tod angäbe und dann die Frage selbst beantwortet haben indem er sagte,
der Schlaf sei die Aufhebung derjenigen Kräfte, welche von unserem
Willen abhängig sind, der Tod dagegen aller Kräfte, auch derjenigen,
welche nicht von unserem Willen abhängig sind. Vergl. Jan, der Schlaf.
Würzburg 4836. p. 34). — Anders äussert sich Fr, Fischer: »Der Schlaf
ist der Moment des vollsten körperlichen Lebens und somit der
gerade Gegensatz des Todes, nicht aber, nach dem trivialen, abge-
griffenen Bilde, sein Bruder«, (lieber den Schlaf. Einlad. z. Promotionsf.
d. Paedag. zu Basel. 4839).
143) Vergl. Ad. Kussmaul, Untersuchungen über das Seelenleben des
neugebornen Menschen. Leipzig und Heidelb. 48&9.
144) Sammlung gemeinverständl. Vorträge, herg. von A. Virchow und
Fr. V. Holtzendorff, H. 879, p. 40.
145) A. a. 0. p. 544. In neuester Zeit hat besonders Frohschammer
die Phantasie als Grundprincip des ganzen Weltprocesses zu erklären ver-
sucht. Aehnlich ist das aus den des bewusst wirkenden Absoluten HegeVs
sich entgegensetzenden Schwierigkeiten erwachsene » Unbewusste« E, v,
Hartmann's, Vergl. zu dieser Frage: Jürgen Bona Meyer, das Wesen der
Einbildungskraft. Zeitschr. f. Völkerpsychol. u. Sprachw. B. X, H. 4,
p. 86 ff. — Schemet^ u. Volkelt (a. a. O. p. 85^-96) äussern deshalb die
— 294 -^
Ansicht, dass die herrliclie, plastische PhaDtasie im Tramn die körper*
liehen Vorgänge unmittelbar er- und umscbaae.
146) Cicero. De divin. 11. c. 58 : »Faba quidem Pythagorei^utique ab—
stinuere: quasi vero eo cibo mens, non venter infletur«. — conf. De
natur. deor. II. c. 16.
147) BeatUe, Moralische und kritische Abhandlungen. Aus d. Engl.
Göttingen 47^9. B. 4, p. 407 f. — p. 425: »Wird überhaupt Jemand mit
bösen Trttumen heimgesucht, so mag er es, däuchtet mir, immer für ein
Zeichen halten, dass' etwas in seinem Körperbau verrttckt sei und daher
Massigkeit üben, fasten oder Körperbewegungen vornehmen, um die dro-
hende Gefahr abzulenken«. — Dieselbe Ansicht findet sich bei Muratori,
Die Einbildungskraft des Menschen, herg. von RichertZf Leipz. 4785. p. 274.
148) Brandis , Pathologie oder Lehre von den Affecten des mensch-
lichen 'Organismus. 2. Aufl. Kopenh. 4815. p. 560. vergl. Burdach a. a. O.
p. 488. — u4. Kraust, Zeitschr. f. Psychiatrie B. XV, p. 627. etc.
149) Apol. p. 40. D. »Kai cf^e ii.rfisit.ia ato^T^cjic lortv, dXX olov 5nvoc,
iTttihih TIC xa&e6$(uv |&v)(* ^vap [».rfik^ 6p$, ^aufidioiov x£p5oc fiv tXri b ^eCvocxoc «.
150) A. a. 0. p. 4 47 u. 4 49. Die Erfahrung lehrt das Gegentheil, dass
nämlich jugendliche Personen am meisten träumen, (vergl. Brandis a. a.D.
p. 560).
151) Leibnitii open omnia, ed. Erdmann. Berlin 4840. p. 497: »D'ail-
leurs on ne dort jamais si profondement , qu'on n'ait quelque sentiment
foible et confus, et on ne seroit jamais ^veill6 par le plus grand bruit
du monde, si on n'avoit quelque perception de son commencement, qui
est petitos. . Vergl. Monadol. §28. p. 707. — p. 487: »Je tiens que l'Ame
et m^me le corps n'est jamais sans action et que TAme n'est jamais sans
quelque perception. Mdme en dormant on a quelque sentiment confus et
sombre du lieu oü Ton est et d'autres choses«. — Die Seele sinkt hier
wie im Zustande der Ohnmacht nur auf den Standpunkt der niederen
Monade herab (Monadol. § 20. p. 706: »Dans cet 6tat T^me ne diiföre
point sensiblement d'une simple monade«.) welche nur eine Menge ver-
worrener Vorstellungen besitzt, die sich gegenseitig niederhalten und un-
terdrücken. (Nouv. ess. L. II, p. 224: »II reste quelque chose de toutes
nos pens^es passöes et aucune n'en sauroit jamais 6tre effac^ entiörement.
Or quand nous dormons sans songe et quand nous sommes dtourdis par
quelque coup, chute, Symptome ou autre accident, il se forme en nous
une infinite de«petits sentimens confus etc. — Monad. § 24. p. 706. »La
substance ne sauroit aussi subsister sans quelque affection , qui n'est au-
tre chose que sa perception : mais quand il y a une grande multftude de
petites perceptions, oü il n'y a rien de distingu^, on est ^tourdi«).
152) Anthropol. Herg. v. F. CA. Slarke. Leipz. 4884. p. 464. Vergl.
p. 4 65 u. 473.
, 158) Lehrbuch der Psychologie. 2 Aufl. Cöthen 4875. B. I, p. 890.
— 2«5 —
154) »Psycltologie nnd Psyehiatrie« in H. Wagner's Handwörterb. der
Physiologie. B. II, (p. 692 — 827) p. 790. — Nach ihm kommt nur der
"Wechsel der Empfindungen zum Bewusstsein, wfthrend diese selbst,
wenn sie gleichförmig andauern, nicht bewusst werden, (p. 700 f.).
155) »Kraft und Stoff«. 42. Aufl. Leipzig 4872. p. 224 ff.
156) Hihoty La psychol. angl. contemp. p. 898.
157) Psychologische Briefe. 4. Aufl. Leipzig 1868. p. 148.
- 158) Psyche, Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. 2. Aufl. Pforz-
heim 4860. p. 234.
159) BrandiSy a. a. 0. p. 560. — Pfaff, a. a. 0. p. 42 etc.
160) Elemente der Psycho-Physik. II, p. 444.
161) Purkinje, a. a. 0. p. 445. — Burdach, p. 489. — Spitta, p. 266.
162) A. a. 0. p. 704.
163) Vergl. A. Hortvicz, Psychologische Analysen auf physiologischer
Grundlage. Bdi II, H. 4. Halle 4 875. p. 4 20: »Es ist immer ein und der-
selbe Akt von der rohesten, dunkelsten Regung des Empfindens, das nur
in reflectorischem Muskelzucken oder in der Drüsensecretion oder in der
Resorption oder Absorption von Säften u. s. w. zum Ausdrucke kommt,
bis hinauf zum kühnsten Gedanken des Forschers . . . Wo Leben ist,
da ist auch Bewusst sein«. Vergl. auch p. 4.64 f.
164) Versuch über Geistersehen und was damit zusammenhängt.
Parerg. u. Paralipom. Bd. I. Leipzig 4877 (p. 244 — 828) p. 247.
■ 165) Allgemeine Zeitschrift f. Psychiatrie. Bd. 4 5, p. 642 f.
166) RosSy Reise auf den griechischen Inseln des aegeischen Meeres.
I, p. 4 85. — Schon Galen bemerkt, dass Leute, welche im hellen Mond-
schein schlafen, später eine Schwere im Kopfe spüren und Macrobius er-
zählt, dass deshalb die römischen Wärterinnen den Kindern die Köpfe
bedeckten, wenn sie im Mondschein gingen. (Vergl. Nttdow, a. a. 0.
p. 244).
167) Zeitschr. f. Völkerpsych. Bd. V, p. 484.
168) Dasselbe Beispiel findet man angeführt bei Beattiey Moralische
und kritische Abhandlungen. Aus d. Engl. Göttingen 4 789. Bd. I, p. 422.
169) A. a. 0. II, p. 479.
170) Anthropol 8. Aufl. Königsberg 4 820. § 20, p. 54.
171) Allgem; Diagnostik der psych. Krankheiten. 2. Aufl., p. 837.
172) Vergl. Wundt, Physiol. Psychol. p. 288. — Pflüger, Die teleolo-
gische Mechanik der lebendigen Natur. Bonn 4877. p. 58 u. 60.
173) Joh. Miüler, Phantastische Gesichtserscheinungen. Coblenz 4826.
p. 49 (conf. p. 24). — p. 48.
174) Opera posthuma, epist. 80: »Quum quodani mane, lucescente
jam coelo , ex somnio gravissimo evigilarem , imagines , quae mihi in
\
— 2«« —
somnio occurreffiPt, tarn, vlvüe ob oculos versabantor , wß si res ^ssenl
verae, et praesertim cv^uusdam- nigri et scabiosi Brasiliaai^ quem nuncpxaxD
antea videram. Haec imago partem maximam disparebat , qnando oeal«>s
in librum Tel aliud quid defigebam; quum primum vero oculos a tali
objecto rursus avertebam, sine attentione in aliquid oculos djBÜgendor,
mihi eadem ejusdem Aethiopis imago eadem vividitate et per vices appa-
rebat, donec paulatim circa caput dispareret«.
175) A. a. 0. p. »92.
176) GruUhuism, Beiträge zur Physiognosie ui»l Heautognosi^, p. 256.
— Ausser diesem hat noch manche Beispiele zusammengestellt fl. Meyer,
Physiologie der Nervenfaser, p. 809 (conf, Fechner, a. a. 0. II, p. 525) und
Strümpell, a. a. 0. p. 425, Anmerk. 7.
177) Berliner Monatsschrift. October 1800. p. 253.
178) A. a. 0. p. 227.
179) Wundt, Physiol. Psychol. p. 852 Anmerk.: »Ich habe über
diese Frage mit einem intelligenten , wissenschaftlich gebildeten Manne
correspondirt, der, in seinem achten Lebensjahre total erblindet, jetzt
etwa zwischen dreissig und vierzig steht. Derselbe versichert mich, ^ass
seine Traum- und Erinnerungsbilder die volle Lebhaftigkeit ihrer Farben
bewahrt haben«. Vergl. p. 647. — Beattie, Moralische und kritische Ab-
handlungen. Aus d. Engl. Bd. I, p. 187: »Ich kenne Jemanden sehr genau,
der in einem fünfmonatlichen Alter sein Gesicht durch die Pocken und
mit ihm alle seine Ideen eines sichtbmn Dinges verlor (Dr. Biacklock
in Edinbur^), der aber doch ein guter Dichter, ein tiefer PMlosoph und
Gottesgelehrter, kurz an Herz und Kopf gleich schätzbar ist. Er träunit
so häufig als andere Leute«.
180) Ribot, Die Erblichkeit, p. 291. — Ueber die geistige Entwicke-
lung solcher Unglücklichen überhaupt vergl. Burdach , Blicke in's Leben.
Leipzig 1842. Bd. II.
181) Vergl. Tylor, Die Anfänge der Gultur. Hebers, von Spengel und
Poske, Leipz. 1873. II, p. 190 fif.
182) Vergl. Rihot, Die Erblichkeit, p. 354.
188) »In der aufgeregten Zeit von 1849 war in den Casemea zu Ra-
statt das »Schräteli« sehr häufig« (Perty, Die mystischen Erscheinungen in
der menschlichen Natur. 2. Aufl. Leipz. u. Heidelb. 1872. B I, p. 139).
184) Vergl. auch Tylor, a. a. 0. II, p. 197.
185) Der Schlaf in allein seinen Gestalten. Aus d. Engl. Leipz. 1835.
p. 102.
186) /. Bömer, Das Alpdrücken^ seine Begründung und Verhütung.
Würzburg 1855. — »Meistens glaubt man die Rückenlage inne zu halten,
während in Wahrheit die Bauchlage bei dem Anfalle die häufigere ist«
(p. 8, 9, 27). Bei allmählicher Entwickelung der Athemnoth betritt der
Alp langsam das Zimmer und nähert sich dem Schläfer, während er ihm
bei plötzlich eintretender bedeutender Dyspnoe im Nu auf der Brust sitzt.
— 297 —
«
Besonders kommt die Elrsefaernang im tiefen Schlafe vor. Bisweilen ist
mit dem GeeCühle der Angst das der Wollust gepaart, namentlich bei den
Weibern , welche oft gl|iuben , der Alp habe an ihnen den coitus geübt
(Hexenprocesse). Mftnner haben durch den auf die Genitalien ausgeübten
DmdL analoge Sensationen und meistens Samenergüsse. — Von Schriften
früherer Zeit sind noch zu nennen : /. WtUler, Abhandlung über das Alp*
drücken, den gestörten Schlaf, erschreckende Trüume und nttchtliche Er-
scheinungen. Aus d. Engl, von E. Wolf. Krankf. 4820. — M. Strahlj Der
Alp, sein Wesen und seine Heilung. Berlin 4888. — Macniskf Der Schlaf
in allen seinen Gestalten. Aus d. Engl. Leipz. 4885, p. 97 — 444.
187) A. a. Q., p. 27 f.
188) Bei Kindern kommt es nicht selten vor, dass die gefüllte Harn-
blase oder der volle Darm den Traum der Befriedigung des Bedürfnisses
hervorruft und dieser wiederum die Ursache der wirklichen Entleerung
bildet.
189) Besonders zeigt sich dies in krankhaften Zuständen: »Schmerzt
uns nur der Finger, haben auch die übrigen gesunden Glieder etwas von
Webgefühl «r. {Shakesp. Othello A. III. Sc. 4). Bekannt ist diese Erscheinung
beim Zahnweh. — Andrerseits werden die »Mitbewegungen« oft angeführt.
190) Hier bewahrheitet sich das alte Wort, dass die Guten sich nur
im Traume erlauben, was die Schlechten im Wachen thun. Es ist, als
ob sich die Natur entschädigen wollte, indem sie dem Geiste die üppigen
Bilder vorzaubert, welche das sittliche Bewusstsein und die strenge Ar-
beit des Wachens verbannte; »in müss'ger Weile schafft der böse Geist«.
Wenn auch die Verse des Sophokles:
»IIoXXol Y^p "^^ t^V ÖNe(pa«tv ßporojv
fj.T)Tpl SuNeuvcKO^i^oav. *AXXÄ Tat»(^' Step
irap' o65iv döTi, JiqlaTa t6v ßCov ^ipet«.
(Oedip. rex. v. 984 ff. conf. Plato republ. IX, p.* 57i : »MirjTpl zt fÄp im-
)^€iperv [iXp^o^ai, (bc oTeTat, o6SeN ÖTCve?, d(XX(p Te 6T(pot>v dv^pcGirtov xal
^eöbv %a\ lh]p((DV, pLiatcpoveTv tc 6tiouv , ßp(&p.aT6; xe dizlyto^ai oOSev^c«)
ein Maximum bezeichnen, das selten erreicht wird und immerhin einen
Charakter in ein schiefes Licht bringen würde, so weiss doch Jedermann,
dass bei der Ausmalung von solchen Scenen meist die Sittlichkeit kein
Wort mitzusprechen hat. Plato sagt zwar, dass nur bei sinnlichen Na-
turen die wildesten Begierden hier ungezügelt walten, aber auch die alten
Kirchenväter klagen wiederholt über die Unheiligkeit ihrer Träume. —
Bei schwächeren Reizen herrscht jedoch zuweilen ein gewisses Zartgefühl.
Nur Nacken, Hctls oder Fuss der Erscheinungen zeigen sich eotblösst;
die Verhüllung der übrigen Theile lässt der Association Raum und wird
durch diese leise Andeutung um so reizender. Bei stärkeren Erregungen
kommt es selten zum vollständigen Abschluss der geschlechtlichen Sce-
nen, indem der materielle Akt dem Denken, welches bei der Ausmalung
des Abenteuers sich länger aufhält, gleichsam voraneüt; oder es stellen
sich, wie Du Frei in seinem Oneirocritieon meint, im letzten Augen-
blick noch unvermuthete Hindemisse entgegen. »Dum penem introduci-
— 298 —
mu8 dilatatione vaginae frictio prokibetor«. — Sehemer findat auch hier
iD einem aufrecht stehenden Manne, einem Kirohthurm mit abgestnoipfler
Spitze^ einem Baumstamm , in der Deichsel eines. Wagens, einem Tubus,
einer gefundenen Kli^rinette oder Tabaicspfeife , oder endlieh in spitzen
Waffen das mttnaliche, in einem langen, schmalen und schlüpfrigen Foss-
pfade das weibliche Geschlechtsorgan symbolisirt. Sogar die Schrittebge
und das Schamhaar zieht er, — letzteres als Gebüsch, Geäst oder Pelz-
werk — mit in die Symbolik. — Bei Affectionen des Uterus kann eine
Frau, die schon geboren hat, im Traum alle einzelnen Momente der Ge-
burt wieder durchleben.
191) Psychologie, herg. v. Georg«, Sttmmtl. Werke Abth. III, B. Yl,
p. 393.
192) LucreUus, de rer. nat. lY, v. 959 ff. :
»Et quo quisque fere studio devinctns adhaeret, '
aut quibus in rebus multum suinus ante morati
atque in ea ratione fuit contenta magis mens,
in somnis eadem plerumque videmur obire;
causidici causas agere et componere leges,
induperatores pugnare ac proelia obire,
nautae contractum cum ventis degere bellum,
nos agere hoc autem et naturam quaerere rerum
semper et inventam patriis exponere cbartis«.
Vergl. auch v. 1004 ff. Derselbe spricht auch von den Träumen der
Thiere (v. 988 ff.) :
»Yenantumque canes in moUi saepe quiete
jactant crura tarnen subito vocesque repente
mittunt et crebro redducunt naribus auras,
ut vestigia si teneant inventa ferarum,
expergefactique secuntur ioania saepe
cervorum simulacra, fugae quasi dedita cernant,
donec discussis redeant erroribus ad se.
At consueta domi catulorum blanda pr(^ago
discutere et corpus de terra corripere instant
proinde quasi ignotas facies atque ora tuantur«.
Herodot VII. c. 46: vicenXavTJo^ai auTat (jidXtOTa I(6&a9i al ü^vt^ tiüv <&veipdE-
Toiv, Td TIC of)(jiif>T}c <ppovT(Cei«. conf. Cicero, De divin. II. c. 67: »maximeque
reliquiae earum rerum moventur in animis et agitantur, de quibus vigi-
lantes aut cogitavimus aut egimus«.
193) Vergl. Fechner, Centralblatt 1853, p. 772. A, SMknpeü, a. a. 0.,
p. 41.
194) A. a. 0., p. 60.
195) Die Gedächtnisslosigkeit des höheren Alters für das Letzterlebte
bei oft aufgefrischter Erinnerung an die Jugendzeit erwähnt schon PkUo,
Tim. 26. B. und Aristoteles, Probl. XXX, 5. — Von Eeinsius erzählt man,
dass er in seinen letzten Jahren, von seiner ganzen philologischen Gelehr-
— 299 —
samkeit bloss das in früher Jugend memorirto vierte Buch der Aenetde
behalten. (Vergl. Volkmann, a. a. 0. I, p. 460.)
196) Passavant, Untersuchungen über den Leben smagnetismus, p. 99 ff»
— Schubert, Geschichte der Seele II, p. 43 ff. — Vergl. auch FeckneTy
Zend-Avesta, III, p. 27 ff. — Bekannt sind die Weissagungen vor
dem Tode. (Vergl. Hom, II. XVI, v. 850 ff. XXII, 358 etc.) Von der
grössten Wichtigkeit für das mehr oder minder lange Haften von »Vor-
stellungsresiduen « ist die physiologische Beschaffenheit des Gehirns. Bei
zunehmendem Alter nimmt das Gedächtniss ab; neue Eindrücke werden
rasch vergessen, Erinnerungen aus der Zeit, welche der Gedächtnissab-
nahme vorausgingen, bleiben länger haften, bis auch sie verschwinden.
Die Untersuchung weist nun nach, dass das Gehirn des alternden Men*
sehen härter wird , ein grösseres specifisches Gewicht hat , auf ein klei-
neres Volum zusammenschrumpft und dass die grösser werdenden Ge-
hirnhöblen sich mit Wasser füllen; die materielle Veränderung hält glei-
chen Schritt mit der geistigen Rückbildung, welche in absteigender Ord-
nung dieselbe Stufenfolge von Zuständen zurücklegt, als sie der Mensch
bei seiner Entwicklung in aufsteigender Linie durchläuft. Bei schnei!
eintretenden materiellen Veränderungen des Gehirns mit gleichzeitig er-
folgender geistiger Störung schrumpft der Wortvorrath der Kranken oft
auf eine äusserst kleine Anzahl zusammen, und sie bezeichnen zuweilen
die verschiedensten Dinge mit demselben Namen. Wenn die materielle
Störung im Gehirn sich ausgeglichen hat, werden (|ie Vorstellungen wieder
frei (vergl. Wundt, Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele I,
p. 382 f.). Den Umstand, dass Wahnsinn oft kurz vor dem Tode aufhört,
sucht Fechner daraus zu erklären, dass der Tod die kranken Theiie des
Gehirns, welche durch ihren Zusammenhang mit gesunden eine Störung
des geistigen Lebens bewirken, vor den gesunden zerstört; ähnlich wie
nach dem Ausspannen eines lahmen Pferdes, welches das andere im
Gange mit störte, der Wagen wohl schwächer aber ungestört geht. (Ele-
mente der Psycho-Physik. II, p. 535).
197) A. a. 0. p. 335. »AU^s setzt sein Vergnügen in die entfernteste
Zukunft; wir haben für die ganze Thätigkeit unserer Seele keine andern
Triebfedern als die, welche Hoffnung hervorbringt. Alles Gegenwärtige
interessirt nur, weil es mit dem Keime vom Künftigen geschwängert ist.
Daher ist es kein Wunder, dass wir allen Thorheiten nachhängen, die nur
eine Aussicht in unsem künftigen Zustand versprechen. Je mehr uns in
Ansehung der Zukunft unbekannt ist, desto mehr fallen wir mit Begierde
auf den geringsten Schein von zukünftigen Dingen und überlassen uns
jeder Thorheit, um nur mit einiger Scheinbarkeit Aussichten in die Zu-
kunft zu gewinnen«. [Kant, Anthropol. Herg.y, Starke Leipz. 1831. p. 188 f.).
— Schiller sagt: »Die Hoffnung führt ihn ins Leben ein,
Sie umflattert den fröhlichen Knaben,
Den Jüngling locket ihr Zauberschein,
Sie wird mit dem Greis nicht begraben;
Denn beschliesst er im Grabe den müden Lauf,
Noch am Grabe pflanzt er die Hoffnung «uf «.
— 300 —
198) Ein Sprach Cato'f lautet«:
Somnia ne eures, nam mens humana quid optet
Cum vigilat sperans per somnum cernit id ipsum.
Aehnlich sagte Claudian:
Omnia quae sensu volvuntur voia diurno
Haec tibi per somnum reddit amica quies.
Vergl. GrillpQrxer, Der Traum ein Leben. A. IV:
»Doch vergiss es nicht: die Trttume
Sie erschaffen nicht die Wünsche
Die vorhandenen wecicen sie;
Und, was jetzt verscheucht der Morgen,
Lag als Keim in dir verborgen«.
199) A. a. 0. p. 4<8.
200) Vorzüglich mag dies bei jungen Mädchen der Fall sein, welche
sich über ihre Gefühle selbst noch nicht klar geworden sind, oder auch
nicht selten, sei es aus Verstellung und der Scheu »vor andern Leuten«,
sei ,es aus andren Gründen ihre aufkeimenile Neigung zu verbergen suchen
und so unbewusst oder bewusst während des Tages Komödie spielen.
Mit Hülfe dieser Maske wissen sie Manchen zu täuschen, zu »siegen« oder
bei Misslingen sich noch auf »glänzende« Art aus der Affaire zu ziehen
bezw. zu rächen. Im Traum freilich fällt diese Maske; das sehnende Herz
ergötzt sich »mit süssen Bildern wesenlos zu spielen«, und entschädigt
sich für das, was es sich in der Wirklichkeit versagt. Bahnsen sagt:
»Selbst die natürliche Anmuth wird verleugnet, und auf Kosten ihrer
eigenen »Liebenswürdigkeit«, zu welcher sie doch sonst so eifrig Ver-
trauen zu erwecken suchen, werden Mädchen und Frauen schnippisch,
blos um nicht den Glauben entstehen zu lassen, dass sie liebten — es
ist nur der umgedrehte Stiel: Verbergen wahren Gefühls — sei es auch
nur das der Gleichgültigkeit — so gut wie erheuchelte Freundlichkeit. . . .
Wie der Igel seine Stacheln, so streckt das Mädchen die schnippischen
Dornen am weitesten aus, wenn es Gefahr ahnt — nämlich für sein Füh-
len, •— im eigenen Herzen die Keime einer »Neigung« treiben merkt. . .
Wohl mag der Mann von seltenstem Schicksal zu sagen haben, dem eine
wunderbare Fügung, wie sie unter Millionen von Fällen nicht einmal
wiederkehrt, zwischen den Klippen jener Charybdis unweiblicher Offen-
heit und dieser Scylla verfänglichsten Selbstbetrugs mitten hindurch führte
in einen Hafen der Gegenliebe, welchen das sicherste Bollwerk vor jedem
Andrang möglichen Zweifels schützt«. (Beiträge zur Chat^terologie. Leipz.
i867. B. n, p. 315 ff.). Auch der bekannte Knigge behandelt in einem
besonderen Abschnitt die Verstellung der Frauen und warnt vor ihr ; ebenso
Bogumil GoUz, — Doch ist über sie nicht ganz ein verdammendes Urtbeil
zu fällen. Es ist die natürliche Schutzwehr des »schwachen Geschlechts«,
und das Weib, welches ihre Liebe oder Bewunderung zu stark äussert
und Schmeicheleien sagt, wird bald lästig.
— 301 —
201) Euripides, Or. v. 40i ff. :
Men. : ^p£o) hk X6aa7)c Tc6xe ; xU -^ji^pa tot 9]^ ;
Or. : Iv TQ TciXaivav [atjtIp' i^t^Y^ouv Tdicpcp.
Men.: TcdTspa xaT' otxoüc i?j iTpoaeSp66ajv ::up^;
Or. : vuxTÖc ^^jkdiatns 69zim^ dvalpeoiv.
202) Nach dem Oneirocriticon des Astrampsychos bedeutet 1) nach
dem Princip der Symbolik: Felsen — gute Hoffnung, Netze — Unan-
nehmlichkeiten , klare Quelle — Seelenfriede, zertretene Schlange — un-
schädlicher Feind, Schlage — drohende Gefahr, sich waschen — Befreiung
von Sorgen; 2] nach dem Princip des Contrastes: Gold — getäuschte
Hoffnung, Küsse — Erregung feindlicher Bestrebungen, lachen — Unan-
nehmlichkeiten, sterben — Befreiung von Sorgen, weinen — grosse Freude,
Wein trinken — bevorstehender harter Kampf. — Aehnlich sind die Deu-
tungen des Nicephorus (Oneir, Lutetiae \ 608) : Zähne verlieren ^ Verlust
eines werthvoilen Gegenstandes, sich in der Tiefe befinden — moralischer
Verfall, Perlen — Thränen (was sich bekanntlich bis auf den heutigen
Tag erhalten hat}, lachen — Traurigkeit, Reichthum — Armuth, sterben
•— Befreiung von Sorgen, u. s. w. Alle diese Deutungen findet man au(^
in der bedeutenden Traumliteratur der Araber (vergl. Pfaff a. a. 0.
p. 432 ff.) welche zusammengestellt ist in der »Geschichte der arabischen
Literatur« des Barons Hammer- Pur gstdU. B. II, p. 499 ff. — Das Prin-
cip der Symbolik findet man auch in den Traumauslegungen Josephs
(vergl. 4. Mos. c. 40 f.). Ueberhaupt war die Traumdeutekunst im Orient
nicht ganz ohne psychologische Methode, wie man anzunehmen geneigt
wäre. Der Traumdeuter, dessen Stellung eine sehr angesehene war,
musste ein hochbegabter, gelehrter und tugendhafter Mann sein;
Belesenheit in den heiligen Büchern, ein feines wohlwollendes Benehmen,
Takt, Urtheilskraft, insbesondere aber Kenntniss des
menschlichen Herzens und der Physiognomik waren die Haupt-
erfordernisse. Von dem, welcher seine Träume gedeutet haben wollte, —
den Träumen der Poeten wurde kein Glaube beigemessen, da man an-
nahm , dass die Dichter ihre poetischen Phantasien oft für Traum-Einge-
bungen und divinatorische Inspiration hielten — verlangte man vor allem
die grösste Wahrheitsliebe und Genauigkeit, was freilich in Betreff des
Traumes schwierig zu erfüllen ist. Dann fragte man ihn nach Alter,
Herkunft, Religion, Rang und weltlicher Stellung, Beschäftigung
und Eigenheiten, ferner, ob er vor dem Traum zu Abend ge-
speist oder gefastet habe, mit welchen Gedanken er zu Bett
g-egangen, wo und in welcher Lage er den Traum gehabt
und auf welch^i Gegenstand sein Blick beim Erwachen zuerst gefallen
sei. Diese psychologische Methode wurde aber durch das vielfache Cere-
moniell verwirrt. Es gab Glücks- und Unglückstage , gute und schlimme
Jahreszeiten, die verschiedenen Stände und Religionsbekenntnisse beding-
ten verschiedene Deutung, und es musste Rücksicht darauf genommen
werden, ob der Traum zur Tages- oder Nachtzeit stattgefunden habe.
Sogar die Zeit der Erfüllung bestimmte man ungeföhr. Ein Tagestraum
1
— 302 —
konnte schon innerhalb, weniger Tage, ein nichtlicher spttter, nach 6 Mo-
naten, ja erst nach 20 — 40 Jahren in Erfüllung gehen. — Im Alterttnain und
besonders im Mittelalter schrieb man den Steinen eine magische Kraft
3u: der Krystall vertreibt dem Schlafenden die bdsen Trttome, der Ooyx
bringt ihm Schreckensgestalten im Traume hervor.
203) Fechn&r's Gentraiblatt 1858. p. 775.
«
804) Physiol. Psychol. p. 660. Anmerk. Eine interessante Zergliede-
•rang eines verwickelten Traumes und die Zurückftthrung desselben auf
seine einielnen Elemente liefert schon Murettorit Ueber die Einbildungs-
kraft des Menschen, deutsch v. Richerx, Leipzig 4785. T, p. &93 — 299.
205) De divin. II, c. 74 : »Nihil tarn praepostere, tarn incondite, tarn
monstniose cogitari potest, quod non possimus somniare«.
806) Wilhelm Meisters Lehrjahre. B. II, C. 4 .
207) A. a. 0. p. U8— 260 flf.
808) Krauss theilt sie ein in angenehme und una*ngenehme.
Die erste Klasse enthielt 44 (4) Lichtbilder, Lichtmeer, 2) WoUgerüche und
Blumengärten, 3) sieghafter Ringkampf, 4) Schnelllauf u. s. w.), — die zweite
^7 Unterabtheilungen (4) Kampfund Streit mit Niederlage, 2) Flucht mit zu-
nehmender Bewegungsunfiihigkeit u. s. w.). Noch detallirter ist die von
•einem anderen Gesichtspunkt ausgehende Classification Schemer'Sf welcher
im wesentlichen Volkelt folgt. -^ Andere unterscheiden somnia vaga
(wüste, chaotische) und fixa (geordnete), von letzteren finden wir bei
ffaff 4 Unterabtheilungen angeführt (4) somnia contemplativa oder histo-
rica, »Beschauungsträume«, in welchen der TiHumende Zuschauer bleibt,
2) hilaria oder jucunda, wo der Trfiumende selbst eine Hauptrolle spielt,
4) terrifica, 4) prophetica). Die Eintheilung der alten Oneirokritiker,
wie die des ArtenUdoros in. allegorische und speculative wol-
len wir hier nicht weiter ausführen. Purki/nje führt 3 Arten von Trftumen
•an (p. 450): 4) »Die sinnlichen Anschauungen des Traumes tauchen auf
und vergehen in ihrem Verlaufe häufig ohne alle wechselseitige Be-
ziehung in der mannigfaltigsteh Nacheinanderfolge« , 2) »ein andermal
verlaufen sie nach Beziehunge-n der Aehnlichkeit und des Ge-
gensatzes, ohne irgend einen Innern Verstand und zweck-
mässige Beziehlichkeit zu zeigen«; 3) die vollendetsten Träume
-sind solche, in denen das Gesetz der Causalität herrschend
ist, die einen pragmatischen Zusammenhang zeigen«. Diese
Eintheilung ist die am meisten ansprechende, da sie auch bei Berück-
sichtigung der Zeitfolge sich bestätigt: die erste Glasse bilden die Schlum-
merbilder, die zweite zumeist die dem Einschlafen folgenden und dem
Morgen entfernter, die dritte die ihm zunächst liegenden Träume. Doch
kommen in jeder dieser Periode oft alle drei Arten abwechselnd vor und
gehen in einander über. — SpiUa's Unterscheidung in 4) Nervenreiz
und 2) rein psychische Associationsträume (p. 477) entspricht der
von uns bei der Besprechung der Elemente des Traumes, aufgestellten Ein-
— 303 —
ttieUuDg. — Nicol Grot führt 8 Hauptcategorien an. 4) Empfindlich-
keitsträume (durch äussere und innere Eindrüpke hervorgerufen),
i) Reproductionsträume, welche er wieder in objective oder intel-
lectoelle und subjective oder Affect-Trttume eintheilt, und 8) Phantasie-
Träume, welche entweder mit dem Charakter einer mechanischen oder
logischen Verbindung hervortreten. (Snowidienia, kak predmet naucznaho
analiza. Kiew. 4878. p. 49).
209) Die Uebertreibung im Traume hebt schon Aristoteles* hervor :
»xal fap at fAixpol (Ae^d^Xat ^oxouaiv elvai .... olovrat y^p xepauvoOo^at xal
ßpovrao^t (xtxpwv ■Jj/oiv iv toi« Aal •^v^oiut^m)», %d\ [a^itoc xal ^Xuxioiv ^u-
(i.ä>v dliroXa6€iv dlxopiatou f^Xi'^ii.atoi xara^^^ovcoc, xal ßa^CC^iv hiä. nupö; xal
^epfxalveadat o^ö^pa {jLtxpok ^epfAaolac i7ep( Tiva piipT) YtlT'oP'^vt^c* iize^tipoiU-
voic 8e TauTa ^avepd toörov ^^ovra x^ xpöitov«. (A. a. 0. c. i, p. 4 21).
'210) Plato meint, dass im Schlafe und im Wahnsinn Jemand glauben
könne, Freude oder Schmerz zu fühlen, während es doch nicht wahr sei
(Phileb. p. 36 E.) ; allein dem ist nicht so. Das Gefühl ist etwas Subjec-
tives ; der Träumende freut sich wirklich, wenn auch der Wachende, den
die betreffenden Gegenstände gleichgültig lassen, über eine solche Freude
den Kopf schüttelt, sie für »närrischa, unmotivirt und daher eingebil-
det hält.
211) »Die Wabrnehmungsbilder von Dingen, Personen, Localitäten,
Begebenheiten und Handlungen des wachen Lebens werden einzeln sehr
zahlreich reproducirt, aber keines derselben bringt seinen psychischen
Werth mit«, sagt Strümpell (a. a. 0. p. 27).
212) »Bei körperUchen Störungen trennt sich oft die Gemeinempfin-
dung des Traumlebens von der des wachen Lebens gänzlich ab, und die
Erinnerungen des einen greifen fast gar nicht in die Geschichte des an-
deren zurück« (vergl. Volkmann, a. a. Q. l, p. 34 4). Interessante Beobach-
tungen dieser Art finden sich bei Schubert, (Symbol d. Traumes, p. 454),
r. A, Carus, (Psychologie, Leipzig 4808. .II. p. 204) Nasse (Zeilschr. 4 822.
H. 4. p. 233), und Jessen (Physiologie des Denkens. Hann. 4872. p. 66 ff.).
213) Vtele solcher Beispiele findet man in : Kieser's »Archiv des ani-
malen Magnetismus« (vergl. Schemer, p. 296 ff.). — Just, Kernet' s »Blätter
aus Prevorst« 4 834^38 (40 Hefte), sowie in dessen »Archiv für Beobach-
tungen aus dem Gebiete der Geisterkunde« Stuttg. 4840 — 46; im neuen
»Archiv für tellurischen Magnetismus«, herg. von Eschenmayer, Kieser,
Nasse und später von Nees von Esenbeck. Leipzig 4847 — 24 (4 2 Bde.) —
in Wolfarts »Aselepieion« , Berlin 48i.4 — 24 , den »Annales du mangn^tisme
antmals herg. von den Mitgliedern der Soci^tä du magnötisme animal.
Paris 4 84 7 — 49 (8 Bde.) und endlich in den Psychischen Studien, herg.-
von Aksdkow, . — Ferner handelten über den Somnambulismus : Passavant,
Untersuchungen über den Lebensmagnetismus. — Schubert, Geschichte der
Seele. B. IL Stieglitz, üeber den thierischen Magnetismus. Hannover 4844.
— Nees v<m Esenbeck, Entwickelungsgescbichte des magnetischen Schlafes
und Traumes. Bonn 4820. — Kieser, System des Tellurismus oder thieri-
— 304 —
«eben Magnetismut. S. Aufl. Le^xig 4 SM. i Bde. — Bnnemos^r, Der
Magnetismus im Verhältnifls zor Natur and Religfon. S. Aufl. Stuttgart 1653.
— C. G, CoruSf Ueber Lebensmagneliamus. Lelpiig 4857. — Jf. Pert/ff,
Die mystischen Erscheinungen in der menschlichen Natur. S. Aufl. Leip-
zig und Heidelberg 457i; — dann in mannigfachen Schriften auch Khige,
WienkoU, M, Wimer, Siglen, Qifnoiti, Einen andelwn Standpunkt ver-
tritt Fischer, Der Somnambulismus. Basel 45S9, Z Bde.
214) Schon Lwretius sagt :
»Cetera sie studia atque artes plerumque Tidentur
in somnis adimos hominum frustrata teuere«.
(De rer. nat. lY. y. 968 squ).
215) Moralische und kritische Abhandlungen. I. p. 484.
216) Tacitus, German. c. 22 : »Sed et de reconciliandis invicem ini-
micis et jungendis »fflnitatibus et adsciscendis principibus, de pace denique
ac hello plerumque in conviviis Consultant, tamquam nullo magis tem-
pore aut ad simplices cogitationes pateat animus aut ad magnas incales-
cat. — Postera die retractatur, et salva utriusque temporis ratio est: de-
liberant, dum fingere nesciunt, constituunt, dum errare
non possunt«. Aehnliches berichtet Herodot I. 433 von den Persem:
TÖ h* otv AS-Q o^t ßouXeuofA^voiot, to5to tiq 6aT€pai'(2 vi^^oiMi Tqpott^et 6
OT^fap^oc, ^ ToD olv d^ttc ßouXeOovTaif xal ^v |jkiv A5iq xaX v^^ooot, Tpivmi
a6Ttt), ^v hk (a9| äh-^ , fAerutat , rot (^ Sv v^^ovxcc icpoßouXt^tfaiNTat , fi^duoK^-
(Aevot dntStaiftvd&oxouoiv«.
217) System der deductiven und inductiven Logik, übers, v. SchieL
2. Aufl. Leipzig 4868. B. IL p. 465 ff. •— Vergl. Ribot, La psychol. angl.
cont. p. 4 27.
218) Vergl. rechnet's Centralblatt. 4 853. p. 770 L
219) Vergl. Fechner's Centralblatt. 4 853. p. 774 f.
220) Epist. 4 59. Edit. Antwerp. I, p. 428. VergJ. Schemer, p. 290 f.
221) Ein hier studirender Pole, den ich in einem wissenschaftlichen
Verein kennen lernte , erzahlte mir , er sei früher Nachtwandler gewesen
und jetzt steige ihm zuweilen im Traum selbst das Bewusstsein auf, es
sei Alles nicht wahr, aber trotzdem wichen die lalsofaen Traumbilder
nicht. — Schnell wie ein Blitz kommt und vergeht die höhere Geistes-
thätigkeit, bis ihr das Erwachen vollständig zur Herrschaft verhilft. .
222) So ist bei den Römern »videri« der stehende Ausdruck fUr die
Momente des Getrttumten, der bei der Angabe jedes Einzelumstandes
wiederholt zu werden pflegt, vergl. Pktmius (ed. Brix) , mil. glor. II. 4.
V. soff., curcul. III, 2. 49 ff., rud. III*, 4. 6 ff., mercat. II, 4. 5 ff. — Cicero,
de divinat. I. c. 28 ff. etc. — Der Grieche gebraucht ebenso »)oMtv«;
vergl. PUUo, Griten p. 44 B. etc. Im Mittelhochdeutschen ist »dünken«
der gewöhnliche Ausdruck (vergl. Herieloidefs Traum im Parcival: »si
dühte«). ^
— 305 —
223) Wenn man sich im Gedanken lebhaft mit einer Person beschäf-
tigt und davon nicht loskommen kann, so ist es allerdings» als ob die
Seele ganz zu dieser gewandert sei. — Uebrigens kann, wie man treffend
bemerkt hat, nach obiger Theorie ein berühmter Mann in Europa, wenn
er sich in gewissen Augenblicken melancholisch gestimmt fühlt, sich mit
dem Gedanken trOsten, dass seine Seele einigen armen Indianern in
Amerika oder Eingeborenen Australiens hilft.
224) So spricht z. B. Heinroth davon, dass alle Unfreiheit des Willens
als Sünde zu betrachten sei und kommt zu dem wunderbaren Satze:
»Die Unschuld wird nicht wahnsinnig«, (System der psychisch-gerichtlichen
Medicin. Leipz. 4829. p. 426. Yergl. auch dessen Lehrbuch der Störun-
gen des Seelenlebens. Leipz. 4848. Bd. II, p. 4 45). Wenn also eine solche
unglückliche Anlage sich von den Eltern auf die Kinder fortpflanzt, so
rftcht nach dieser Ansicht Gott die Sünde der Vttter bis in's dritte und
vierte Glied und Adams Sündenfall liess die Irrenhftuser bevölkern!
225) A. a. 0. p. 52. — Eine ähnliche Ansicht Ittsst Shakespeare den
Othello äussern. A. ill. Sc. 4 :
Jago: »Nun dies war nur Traum.
Othello: Doch er bewies vorhergegangene That«.
226) Anthrop. p. 474. — »Man begeht die entsetzlichsten Verbrechen
ganz ruhig, ohne jedes Zittern, ohne jede Reflection, ohne jede Spur von
Reu und Scham ; manche Trftume bieten eine wahrhaft ausgewählte Reihe
von Nichtswürdigkeiten dar, die ekelhaftesten, grobsinnlichsten Ausge-
burten der erhitzten Phantasie drängen sich auf. .... So ist z. B. Ver-
leumdung, Diebstahl, Mord, sinnliche Ausschweifungen und dergl. mehr
im Traum gar nichts Seltenes, ja oft zeigt uns der Traum eine solche
RafGnirtheit in der Zusammensetzung einer verbrecherischen Handlung,
dass man es kaum sollte für möglich halten«. (Spitta, a. a. 0. p. 438
und p. 444).
227) Ibid. — Vergl. auch Erdmann , Psychologische Briefe. 4. Aufl.
p. 424.
228) A. a. 0. p. 375.
229) A. a. 0. p. 4 44. — Oft ist das sinnliche Gefühl, welches den
Ausgangspunkt der Liebe bildet, durch zahlreiche Bewusstseinszustände
verdeckt, die stärker als es selbst sind ; darum ist es jedoch nicht weniger
mit allen den leiblichen Aufregungen, die ihm eigen sind, vorhanden. »Ein
junger Mann, frühzeitig ernsten Beschäftigungen ergeben, bis in sein sechs-
undzwanzigstes Jahr trotz mancher sich darbietenden Gelegenheit ohne
alle Erfahrung und ohne jeden Trieb zu jenen Lüsten, denen Andere mit
thörichter Hitze nachjagen, wird plötzlich ohne alle erkennbare Ursache
von einer Art Liebeswahnsinn erfasst. Er ergiebt sich einer wahrhaft
götzendienerischen Verehrung aller Frauen, aber, wie er zu versichern
nicht ermangelt, im besten Sinne, in allen Ehren, ohne jeden Hang zu
den sinnlichen Genüssen , die ihr Besitz gewährt. Diese Gefühle hüllt er
mehrere Monate hindurch vor der Welt in ein undurchdringliches Ge-
Badestock, Schlaf u. Traum. 20
— 36« —
heinmiss. deine Erziehung, seine Stellung in der Welt legen ihm diese
Pflicht auf. Alrt>ald aber erheben sich in ihnä lüsterne Vorstellungen, vor
denen er innerlich errdihet, und gegen welche er aus allen Krttften an-
kttmpft. Nach und nach nehmen sie aber derart Besitz* von ihm, daes
seine Vernunft nicht lange solchem Ansturm widerstehen kann. Diesen
geisllgen Zerrüttungen gesellen sich alsbald Anzeichen von Gehirnerwei-
chung bei, und ein gewaltsamer Ausbruch von Wahnsinn führt endlich
zum Tode«. [Moreau de Tours, Psycbol. morbj V, p. 259 £f. VergL Hibot,
Die Erblichkeit. Deutsch, v. Dr. Rotzen, Leipz. 4 876. p. 287). — Eine
ideal gehaltene, ungestandene Liebe kann ebenso, wie eine unglückliche
zum Wahnsinn führen , und beide haben auf das psychische Leben des
Menschen überhaupt einen Ungeheuern Einfluss.
290) Shakespeare, König Lear. A. U. Sc. 4.
2S1)' Ein solches Beispiel ersüfalt Macnish, Der Schlaf in allen seinen
Gestalten. Aus d. Engl. Leipz. 4885. pi 94 f.
2M) Von den Träumen und Nachtwandlern. Weimar 4784. p. 376 fif.
— Hoffbauer, Die Psychologie in ihren Hauptanwendungen auf die-Rechte-
pflege. Halle- 4808. p. SOO ff. — Vergl. Maonish, a. a. 0. p. 55.
233) Psychologie, herg. v. George, p. 852.
234) Efmemoser drückt dies nach seiner Weise so aus: »Der innere
Traumgenius wird zuweilen so lebendig , dass er einen ganz poetischao
Aufschwung nimmt, und sogar die Organe des Willens, die Muskelglteder
aufweckte«. (Ges<^idite der Magie. Leipzig 4844. p. 456).
235) Anders sagt der Arzt auf Dunsinan: »Ich kann mich nicht
in diese Krankheit finden«; er erkennt nur an, es sei
»Eine grosse Störung
In der Natur, zu gleicher Zeit die Wohithat
Des Schlafs geniessen und Geschäfte
Des Wachens thun«!
[Shakesp, Macbeth. A. V).
236) De divin II. c. 59. »Quod si ita natura paratum esset, ut ea
dormientes agerent, quae somniarent, alligandi omnes essent, qui cubitum
irent : maiores enim, quam Ulli insani, ^efficerent motus somniantes«.
237) Macnishy a. a. 0. p. 12ß.
238) A. a. 0. p. 564 f. — Macnish meint, dass man auf solche Weise
dem Schlafenden die verborgensten Geheimnisse seines Herzens entlocken
könne. So habe ein Mann die Untreue seines Weibes entdeckt; im Schlafe
entflohen ihr einige Worte und er Inrachte es heraus, dass. sie für den
folgenden Tag eine Zusammenkunft mit dem Geliebten verabredet hatte.
S^on schildert eine solche Scene in seiner Parasina :
»Und Hugo ging ins einsame Bett,
Gelüstend nach fremdem Weib,
Das schlief bereits gar lieblich und nett
Und koste des Gatten Leib.
— 307 —
Ein Traum erhitzte ihr klopfendes- Herz«
Die Wange voll Feuer ihr brennt,
Sifi rief nach dem Lieben mit Sehnsucht und Schmerz,
Den sie am Tage nicht kennt.
Sie umarmt, den Geipahl so lebhaft und warm,
Denn, sie glaubt: es lag ihr der Buhle im Arm«.
(Macnish, a. a. 0. p. f34). — Auf ähnliche Art will bekanntlich in
Shakespeare^s Othelle Jago die Liebe Cassios zur Desdemona entdeckt
haben.
239) »riepl Sttnioü xat i-^p'ri-^6poe(»^«, c. 2. »xwouNTat Ö' fvtoi xa^eu-
240), Oepl ßicuv etc. IL § 82. »Olcov U b Tidopeuc 6 Sxooixö; xoi(i,(6-
241) Cosptfr*« Wochenschrift f. d. gesammte Heilkunde. 4838, p. 787
u. 75dv — YergL Binz, a. a. 0., p. 40.
242) NudöWf Versuch einer Theorie des S&hlafs. Königsberg 4794,
p. 467.
24ä) Veosuch, einer wissenschaftlichen Begründung der Psychologie..
Berlin 4855, p. 589.
244) Pßffy a» a. 0.,^ p. 39. — Perty, Die mystischen Erscheinungen
in der menschlichen Natur. 2. Aufl. Leipzig u. Heidelberg 4872. Bd. I,
p. 444—^452. — Der jetzige Spiritualismus und verwandte Erfahrungen.
Ein Supplement. 4.877, p. 4 4 2. — Vergl. Binz, a. a. Q., p. 46.
245) Parerg. u. Phralip. Leipz. 4877. I, pv 280. Auch sein Anhänger
/. J^a^n«^ sagt : »So ist'es' vielleicht? a^ch eme doppelte Strahlenbrechung,
welche im Traum die Zukunft deutlicher erkennen lässt als im Wachen.
Aber man braucht d^ faiidike Seilie des Traumlebens noch gar nicht
hereinzuziehen , um die Erfahrung zuzugestehen , dass uns im' Traum oft
ein wunderbarer Aulschluss gegeben wird über den Charakter eines uns
persönlich Bekannten. Nachdem sich die abstract combinirende Yer-
muthung lange vergebens bemüht hat, Einsicht am gewinnen in die Mo-
tive, von denen andere sich leiten lassen, kann u«s in einem Traum
plötzlich »ein Licht darüber aufgehen« — vermöge jener Zauber-
kraft, nach welcher gewisse Arten von Träumen in der
Weise des Genies »den Dingen auf den Grund sehen«, hin-
ter dem Accidentellen das Essentielle schauen« (Beiträge zur
Charakterologie. Leipz. 4867. B. II, p. 426).
246) Beobachtungen auf dem Gebiete der Pathologie. III. Bonn 4 840,
p. 59—84. Vergl. Binz, a. a. 0., p. 50 f.
247) Moser, Paftriotisches Archiv f." Deutschland. B. 9, p. 287. Fried-
reich, Gerichtliche Psychologie p. 842. — Vergl. Hagen, Die Sinnestäu-
schungen, p. 825 f.
20*
— 308 —
248) Vergl. Bit^g, a. a. 0., p. 54.
249) W, E. Butch sagt: »Der Kranke nimmt mit dem Gesichte so—
wohl wie mit jedem andern Sinne wahr, oder hat wenigstens in einzelnen
Fallen das Verm<)gen hierzu, aber nur diejenigen Wahrnehmungen haben
einen Einfluss auf seinen Geist , und zwar einen ihm unbewussten , wei-
cher mit seinen Vorstellungen im Traum in irgend einer Beziehung
steht. Auf gleiche Weise verhttlt sich das Gehör . . . Bemerkenswertb
sind femer die Anomalien des Geschmackssinnes bei den Nachtwand-
lern. Ein Kranker verzehrte ohne unterschied jede Nahrung, welche
man ihm darreichte, und trank Wasser, obgleich er Wein verlangt hatte,
ohne sich zu beklagen«. (Das Geschlechtsleben des Weibes in physiolo-
gischer, pathologischer und therapeutischer Hinsicht. B. II. Leipz. 4840,
p. 559).
250) Ausser in den schon angeführten Werken findet man den Nacht-
wandel behandelt von Knoll, Abhandluagen vom Nachtwandeln. Quedlin-
burg 4758. — Dr. Pigatti, Sonderbare Geschichte des Job. Baptista Ne-
gretti, eines Nachtwanderers. — Macnish, a. a. 0., p. 415 ff. — und in
äusserst zahlreichen Dissertationen des 47. und 48. Jahrhunderts. (Vergl.
Jan, Der Schlaf, Würzburg 4 886, p. 444 f.) — Sehr viele Beispiele und
manche interessante Bemerkung findet man ferner bei Hennings, Von den
Träumern und Nachtwandlern. Weimar 4784, p. 369 — 576; Mur<Uori, Die
Einbildungskraft des Menschen, d. v. Richerz, Leipzig 4785, p. 304 — 374.
251) » Sind gleich die allermeisten Träume des natürlichen Schlafes
blosse Spiele der Innern Sinnesenergie: so sind sie es doch nicht alle,
und vielleicht giebt es keinen Menschen, der nicht zuweilen etwas Be-
deutungsvolles träumt, was ihn zunächst selbst angeht, wenn er über-
haupt aufgelegt und im Stande wäre, dasselbe zu beachten. Wenn das
Blut und die Seele des Schlafenden mit keinen störenden fremdartigen
Dingen beladen wäre ; wenn man die äussern Einflüsse, die das Träumen
bedingen , kennte ; wenn die Erinnerung der Traumgesichte stark genug -
bliebe , und wenn man die Sprache des Traums jedesmal verstünde : so
würde man an dem Traum oft einen belehrenden Genius haben. Träume
mit wechselnden Gestalten und gaukelndem zusammenhangslosem Ge-
wirre sind meist von körperlichen Unordnungen und Säftebewegungen
veranlasst, und wohl immer ohne Bedeutung. Eine höhere Classe bilden
die Allegorien, einfache, leicht deutbare Bilder mit einem mehr feststehen-
den Charakter. Oft werden damit ferne und künftige Ereignisse ange-
deutet, Gegenden und Schicksale werden im voraus erblickt, die man
später in der Erfahrung wirklich kennen lernt. Eine ' noch höhere Art
sind die divinatorischen Träume, die wie das magnetische Hellsehen über
Zeit und Raum entlegene Geheimnisse erblicken, welche meist den Träu-
menden nicht selbst angehen, und hier sind es dann ganz vorzüglich die
Symbole, welche ferne Begebenheiten und oft höhere An-
gelegenheiten des Geistes betreffen und wohl oft von höhe-
ren Einflüssen bedingt sein mögen«. (?) (Ennemoser, Geschichte
der Magie, p. 4 88).
— 309 —
2b2) A. a. 0. , p. 8S3. »Grossmftchtig wie die Natur des Geistes,
«strecken sie ihre Fühler weit in das All hinaus, und es entspricht die
Strahlweite ihrer Empfindkraft der in , der Geistessubstanz zusammengehal-
tenen Dichtheit, enormen Feinheit und Schwingungsmächtigkeit der psy-
chischen Seinskraft«. Von dem Princip ausgehend, dass es viel Dinge
zwischen Himmel und Erde gebe, von welchen sich die Schulweisheit
nüchterner Philosophie nichts »trttumen« lasse, ist er ein unbedingter An-
hänger des Glaubens an die durch psychischen Rapport oder »Gemüths-
connex« vermittelte Ahnung in die Raum- und Zeitfeme, und sagt, dass
»das Femwirken und Weitausstrahlen des Geistes normal-natürliche Eigen-
schaft seiner Lebensenergie« sei (p. 327), wie ja das Ehr^ und Ruhmge-
fühl, die Ideale des Jünglings und die Liebe des Mannes zum Weibe ein
solches Streben des menschlichen Geistes in die Universalität zeige. Das
Ahnen bestehe in dem freien »Hinschwingen« des Geistes nach dem Ob-
jecte u. s. w. — Die gleiche Ansicht hat Ennemoser (Yerq}. Geschichte
der Magie p. 433, 487 etc.).
253) PlatOy apol. p. 33 C: »dfjiol hk touto, d»c ^7*6 cpTjixt, icpoardTOTtTat
bizh ToO Oeo'j icpdtrcstv xal ix (j,avTe((nv xal ii ivuiCN((DV xal iravxl tpÖTitp, (pnep
tU TcoTe %a\ d[XX7) deCa (Jioipa d>t%p6»n(^ xal örtoüv irpoodra^e TCpe^Treiv«.
254) Anab. HI, 4, 4J. IV, 3, 8. VI, 4, 22. Kyrop. VIII, 7, 24.
255) Repub. IX, p. 572.
256) Cicero, de divin. L. I, II. c. 63 etc.
257) Cicero, de div. I. c. 80. § 64: »Sed tribus modis censet deorum
appulsu homines somniare, uno quod praevideat animus ipse per sese,
quippe qui deorum cognatione teneatur, altero, quod plenus aar sit im-
mortalium animomm, in quibus tamquam Insignitae notae veritatis appa-
reant, tertio, quod ipsi dii cum dormientibus coiloquantur«.
258) Eine Zusammenstellung der Meinungen über die Träume im
Alterthum lieferten: Cicero, de divin. und de nat. deor. — I. Schulze,
Dissertatio de somnis. Halae 4758. — /. Ennemoser, Geschichte der Magie.
Leipzig 4 844. p. 224 ff. B. Büchsenschtitz, Traum und Traumdeutung im
Alterthum. Berlin 4868. — Bei den Alten gab es Traum- und Todten-
orakel (vexuop^vrela, vexpofiiavTsra , ^\jyip'ito[t.Tzita) , die besonders von dem
Aberglauben des gemeinen Lebens gesucht wurden. Berühmt waren die
Heiligthümer des Sehers Amphiaraos zuOropos, des Amphilochos und Mopsos
in Kilikien, des Kalchas, und Padaleirios am Vorgebirge Garganus in Apu-
lien, des Asklepios zu Epidauros, wo man sich, um göttliche Offenbarun-
gen namentlich zur Heilung von Kranken zu erhalten, auf dem Felle des
Opferthieres zum Schlafe niederlegte. Die ct^oXa der Todten stiegen dann
aus der Erde hervor und erschienen im Traume, oder die Gottheit Hess
ihre Stimme vernehmen. Ein solches Traumorakel (iY%o(fj.T)aic, incubatio)
schildert uns Vergil Aen. VII, 86 ff.
259) Germ. c. 8: »Inesse quin etiam sanctum aliquid et providum
putant, nee aut consilia earum asperaantur aut response neglegunt. Vi-
— 31« —
dimus sub divo Vespasiano Veledam diu apud pleroaque numiais loco ha-
bitam ; sed et olim Albninam et comphiris alias venerati sunt, noo »adm-
latione neqne tamquam facerent deas«.
260) Zahlreiche Beispiele aus dem Alterthum findet man bei Cicero,
de divin. I. c. 20 ff.
Ml) Ajax (ed. Dindwrf) v. 4418 ff.:
»^ itoXXat ppoToic ioTtv l&ouoiv
T«v fAfXX/öviov 5 Tt npd^st«.
Vergl. Traoh. v. 4470:
Die Braut von Messina. Isabella:
»Die Kunst der Scfher ist ein eitles Nichts,
Betrüger sind sie oder sind betrogen.
Nichts Wahres lässt sich von der Zukunft wissen,
Du schöpfest drunten an der Hölle Flüssen,
Du schöpfest droben an dem Quell des Lichts.
Vermauert ist dem Sterblichen die Zukunft,
Und kein Gebet durchbohrt den ehrnen Himmel.
Ob rechts die Vögel fliegen oder links,
Die Sterne so sich oder anders fügen,
Nicht Sinn ist in dem Buche der Natur,
Die Traumkunst träumt, und alle Zeichen trügen«.
262) Zeitschr. f. Völkerpsych. B. V, p. 4 4 8.
26B) Plato Ittss't in seinem Dialog »Menon« den Sokrtden sagen., dass
der am besten zu lügen verstände, welcher das Richtige kenne, weil der
Nichtwissende aus Zufall wohl einmal das Richtige treffen, der Wissende
aber dasselbe zu nennen vermeiden könne.
264) De divin. II, c. 74 : »Si igitur neque deus est effector somnio-
rum neque naturae societas ulla cum somniis neque observatione inveniri
potuit scientia, eflectum est, ut nihil prorsus somniis tribuendum sit«. —
Vergl. Siraeh, c. 34. v. 4 ff . : »Unweise Leute betrügen sich selbst mit
thörichten Hoffnungen und Narren verlassen sich auf Träume. Wer auf
Träume hält, der greift nach dem Schatten und will den Wind haschen.
Träume sind nichts anders, denn Bilder ohne Wesen«. Vergl. Hioh c. 20, 8.
iVedig. Salom, 5, 6. — Harn, Od. XIX, v. 560 f.*:
flpfyr: oici xi itdlvra TeXeleroi dlN&ptj&Tcototv«.
Nibel, av. 25: »Swer geloubet treumen .... der enwei; derrehten maere
niht ze sagene«.
Shakesp, Romeo und Julie. A. I. Sc. 5. Mercut. : » Ich rede
Von Träumen, Kindern eines müss'gen Hirns.
Von niohts als eitler Phantasie erzeugt,
— 311 —
fiie aus so dünnem Stoff als Luft besteht
ÜQd.flüch.t'ger .wechselt als der Wind«.
Vergl. auch das Sprichwort : »Trfiume sind Schäume«.
265) Im Alterthum waren diese bei bestimmten Krankheitsformen
Constanten Träume schon bekannt. Aristoteles erwShnt dieselben (de div.
in som. a. a. 0. p. 424 : dfp* oöv iarX tän ivuitvtwv tä [ih o^ria, ta hi ot)-
[isXoL, olov Töv irepl t6 oßfAa oufJißaivövTooN ; Xir^^Qi ^oüv %a\ xftv iaTpAv ol
/aplevTs; I5tt 5tT ütpöSpa irpond^eiv toTc l-vuitvloic * diXo^ov 8' oStoic öiroXapetv
%a\ ToTc fjL-^j Te^vfxaic f*^, oxoTrouvpiivotc 5^ ti xai cptXooo^otioiv.) und Galen
specificiert dieselben 'in einer Weise (si incendium quis per somnum vide-
at, eum quidem flava infestari bile signüicatur^ si vero fumum aut call-
ginem aut profundas tenebras, atra bile gravatur, si imbres somniat, in
eo frigidam humiditatem abundare indicatur) , welche bis in das spätere
Mittelalter feststand. — Eine Sammlung pathologischer Träume findet man
bei Alberti, 'De vaticiniis aegrotorum. Ital. 4724. (vergl. Volkmann, a. a" 0.
I, p. 445).
266) Vergl. Sophokles, Philoct. v. 847 f. :
öirvoc Äüitvoc Xeuooctv«. '
267) Vergl. Hildebrand, a. a. 0. p. 82.
268) A. a. 0. II, c. 59: »Quis est enim, qui totum diem jaculans
non aliquando coUineet? Totas noctes dormimus neque uUa fere est, qua
non somniemus et miramur, aliquando id, quod somniarimus, evadere?
Quid est tam incertum quam talorum jactus? tarnen nemo est quin saepe
jactans Venerium jaciat aliquando, nonnumquam etiam iterum ac tertium ;
num igitur, ut inepti, Veneris id fieri impulsu malumus quam casu dicere?«.
Vergl. auch c. 74 : (cum) .... »casus autem innumerabilibus paene se-
culis in Omnibus plura mirabilia quam in somniorum visis effecerit«. etc.
— Manche treffende Bemerkung über Ahnungsträume findet man auch bei
Muratoriy die Einbildungskraft. I, p. 24 4 — 374.
269) Vergl. Plato, apol p. 33. C, Phaedon. p. 60 £. —- Xenophon,
Anab. IV, 3, 8. III, 4,44. Auf letzteren beruft sich Itician, der selbst
durch einen Traum bestimmt wurde, seine Berufsthätigkeit zu verlassen
und sich der Wissenschaft zuzuwenden. — Goethe erzählt, daas er für
seinen Grossvater besondere Hochachtung empfunden habe, da man der
Ueberzeugung war, dass er die Gabe der Weissagung besitze, besonders
in Dingen, die ihn selbst und sein Schicksal betrafen. Durch
bedeutende Träume sei er nämlich von dem, was sich ereignen sollte, un-
terrichtet forden. »So versicherte er z. B. seiner Gattin, zur Zeit, als
er noch unter die jungem Rathsherrn gehörte, , dass er bei der nächsten
Vacanz auf der Schöffenbank zu der erledigten Stelle gelangen würde.
Und als wirklich bald darauf einer der Schöffen vom Schlag gerührt Starb,
verordnete er am Tage der Wahl und Kugeiung, dass zu Hause im Stillen
alles zum Empfang der Gäste und Gratulanten solle eingerichtet werden, -
und die entscheidende goldene Kugel ward wirklich für ihn gezogen. Den
— 312 —
einfachen Traum, der ihn hiervon belehrt, vertraute er seiner Gattin fol-
gendermassen : Er habe sich in voller gewöhnlicher Rathsversammlung ge-
sehen, v/o alles nach hergebrachter Weise vorgegangen. Auf einmal habe
sich der nun verstorbene SchOff von seinem Sitze erhoben, sei herabge-
stiegen und habe ihm auf eine verbindliche Weise das Compliment ge-
macht: er mOge den verlassenen Platx einnehmen, und sei hierauf zur
Thüre hinausgegangen. Etwas Aehnliches begegnete, als der Schultheiss
mit Tod abging. Man zaudert in solchem Falle nicht lange mit Besetzung
dieser Stelle, weil man immer zu fürchten bat, der Kaiser werde sein
altes Recht, einen Schultheissen zu bestellen, irgend einmal wieder her-
vorrufen. Diesmal ward um Mitternacht eine ausserordentliche Sitzung
auf den andern Morgen durch den Gericbtsboten angesagt. Weil diesem
nun das Licht in der Laterne erlöschen wollte, so erbat er sich ein Stümpf-
chen, um seinen Weg weiter fortsetzen zu können. »Gebt ihm ein gan-
zes«! sagte der Grossvater zu den Frauen; »er hat ja doch die Mühe um
meinetwillen«. Dieser Aeusserung entsprach auch der Erfolg: er wurde
wirklich Schultheiss; wobei der Umstand noch besonders merkwürdig
war, dass, obgleich sein Repräsentant bei der Kugelung an der dritten
und letzten Stelle zu ziehen hatte, die zwei silbernen Kugeln zuerst her-
auskamen, und also die goldene für ihn auf dem Grunde des Beutels lie-
gen blieb. Völlig prosaisch, einfach und ohne Spur von Phantastischem
oder Wundersamen waren auch die übrigen der uns bekannt gewordenen
Träume. Ferner erinnere ich mich, dass ich als Knabe unter seinen
Büchern und Schreibkalendern gestört und darin unter andern auf Gärt-
nerei bezüglichen Anmerkungen aufgezeichnet gefunden: Heute Napht kam
N. N. zu mir und sagte .... Name und Offenbarung waren in Chiffern
geschrieben. Oder es stand auf gleiche Weise : Heute Nacht sah ich
Das Uebrige war wieder in Chiffern, bis auf die Yerbindungs- und andere
Worte, aus denen sich nichts abnehmen Hess«. (»Aus meinem Leben«.
B. I. Werke herg. von Prochaska, Bd. lY, p. 4 6). An einer andern Stelle
führt er jedoch auch einen Fall an, wo ein ganz ohne Reflexion und un-
bedacht, ja unschicklich von ihm selbst ausgesprochenes Wort sich zufäl-
ligerweise zur Prophezeihung gestaltete, (ibid. p. 44 f.).
270) Yergl. Anmerk. 35 u. 36.
271) A. a. 0. c. 2, p. 428.
272) Cicero, de div. L c. 27.
273) Scherner glaubt, wie Agrippa von Nettesheim, dass man durch
blossen Yorsatz des Willens einem Anderen in grosser Entfernung be-
stimmte Träume verursachen könne, indem dann ein geistiger »Strahl«,
dessen Schnelligkeit die des materiellen Lichtes bei weitem übertreffe, zu
der Seele des Schläfers dringe und sie errege; durch viele Beispiele sucht
er diese Ansicht zu bestätigen. Sogar Yerstorbene seien im Stande, einen
solchen Strahl zu den Lebenden auszusenden, wozu er als Beleg den er-
wähnten Traum des Mannes zu Megara sowie einige ähnliche aus seinem
eigenen Bekannten-Kreise anführt, (p. 367—874).
— 313 —
274) Moretm de Tours will in Bic^tre zwei junge Leute beobachtet
haben, welche dieselben krankhaften Neigungen, dieselben herrschenden
WahnideeBi dieselben Gehürshallucinationen hatten. Er berichtet: »Eine
äusserst merkwürdige Thatsache, die sehr häufig durch die Wärter und
uns selbst beobachtet wurde, ist folgende; von Zeit zu Zeit vollzog sich
in unregelmttsslgen Zwischenräumen von zwei, drei oder mehreren Mona-
ten ohne ersichtliche Ursache und gleichsam von freien Stücken durch
den Verlauf der Krankheit veranlasst ein sehr deutlicher Wechsel in dem
Verhalten beider Brüder.« Beide rafften sich nämlich zur selben Zeit und
oft am selben Tage aus dem Zustande gänzlicher Verdumpfung und Er-
schlaffung, in den sie gewöhnlich versunken waren, auf und baten den
Arzt inständig, ihnen die Freiheit zu geben. Ich habe diesen sonderbaren
Vorgang selbst dann sich wiederholen sehen, als sie von einander um
mehrere Kilometer Entfernung getrennt waren«. (Psychol.
morbide, p. 472. Einen gleichartigen Fall findet man bei TrousseaUy Gü-
nique mädicale I, 258; vergl. At6o<, Die Erblichkeit, p. 292).
275) Edmund sagt in Shakespeare' s König Lear (A. I. Sc. 2) : «Das ist
die ausbündige Narrheit dieser Welt, dass wenn wir an Glück krank sind
— oft durch die Uebersöttigung unsres Wesens, — wir die Schuld unsrer
Unfälle auf Sonne, Mond und Sterne schieben, als wenn wir Schurken
wären durch Nothwendigkeit, Narren durch himmlische Einwirkung,
Schelme, Diebe und Verräther durch die Uebermacht der Sphären, Trun-
kenbolde, Lügner und Ehebrecher durch erzwungene Abhängigkeit von
planetarischem Einfluss und alles worin wir schlecht sind, durch gött-
lichen Anstoss. Eine herrliche Ausflucht für den Liederlichen, seine hitzige
Natur den Sternen zur Last zu legen!«
276) Mikrokosm. 2. Aufl. Bd. II, p. 362 f. Er meint, die Seele sei
nicht ein blosser Spiegel der Natur, sondern trage in sich selbst die Ge-
setze ihrer Entwicklung, die von aussen nur angeregt werden könnten.
Er giebt jedoch zu, dass der Wechsel der Jahreszeiten durch das Schwan-
ken des Lebensgefühls beim Hinsterben und Wiederaufleben mit den sich
daran knüpfenden Erinnerungen und Hoffnungen eine grosse Bedeutung
für unser Gemüthsleben haben (p. 35|).
277) Vergl. Ludwig, Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Leipzig
4858, p. 426. — Der Nervenprocess bei Menschen geht in der Kälte lang-
samer, bei höherer Temperatur schneller von statten als bei mittlerer.
[Wundtf Physiol. Psychol. p. 254: »Erscheinungen, welche denjenigen glei-
chen, durch welche sich der herabgesetzte Kräftezustand verrätb, lassen
sich durch die Einwirkung der Kälte hervorbringen, wogegen der Ein*
fluss einer höheren Temperatur umgekehrt in Symptomen sich äussert,
die dem Zustand hoher Leistungsfähigkeit ähnlich sind«).
278) Ziliner y Ueber psychische Jahreszeitconstitutionen. Zeitschr. f.
Psychiatrie. 4859. B. 46. (p. 36*— 47) p. 45 f. — Reil schrieb in seinen
Rhapsodien ebenfalls den Jahreszeiten und der Atmosphäre einen Einfluss
auf die Paroxismen des periodischen Irreseins zu und behauptete, die Tag-
— 314 —
und Nachtgleiefaen im PrttUiiig und Heii^st Mien «iim<»B. — Adeiif/^Wiigner
sagt in seiner. statisUsch-nnthropQloglftcfaen Untenuchmig'übcr »dia Gesata-
mftSBigkeitin den soheiniMrwiUkttrllclMn menacbliohen H»ii^iuigeB« (p.SSf):
» Die Daten aus ganz EurofM stimmen so genau ilberein, 'dass man bereite
von einem Gesetz der Vertbeilung dar Selbsimorde über die JahfeszeiteB
sprechen kann. Entscheidend sind die Uebergaa^S'Zeiten mit
starkem Temperaturwechsel: der üebergang vcmi der Klüle gur
Wfirme, vom Winter zum Sommer wirkt steigernd, deijeni^^e von der
Wurme zur Kttlte, vom Sommer zum Winter herabdrückend auf die Selbst-
mordfrequenz ein. Das Maximum fällt in den Juni, das Miaimum in den
December, die drei Monate Mai bis Juli bilden, ohne grosse Verscbieden-
heiten innerhalb derselben , das Maximal-, die drei Monate Noveraber bis
Januar in gleicher Weise das Minimalquartal. Weder der absolute Hitze-
noch der absolute Kältegrad ist massgebend für die Zu- und Abnahme
der Selbstmorde. Die innere Ursache dieses Gesetzes der Vertbeilung der
Selbstmorde über die Jahreszeiten ist als solche noch unbekanot. Dass
Gehirnaffectionen mitzuspielen scheinen, ergiebt sich aus verschiedenen
Analogieen, namentlich auch daraus, dass diejenigen Fälle, in weichen
physische Leiden, und mehr noch Geisteskrankheiten das muthmassliche
Motiv des Selbstmords sind, von den Jahreszeiten noch stärker, wie die
anderen Fälle beherrscht zu werden scheinen, in welchen der Selbstmord
eine eigentlich willkürliche Handlung ist«. (Yergl. auch p. ItS — 35, 273).
279) Pathologie und Therapie psychischer Krankheiten. 2. Aufl. Stuttg.
1864. p. 454.
280) Pfaff, a. a. 0. p. 408.
281) Burdach, a. a. 0. III, p. 590.
282) »Untersuchungen über den Einfluss des Mondes auf das periodi-
sche Irrsein«. Zeitschr. f. Psychiatrie. B. 46. p. 445 — 42 und p. 698 — 74 2.
283) Nach dem. deutschen Volksglauben sind die Träume in der ersten
Nacht nach dem Vollmonde die bedeutungsreichsten (Wuttke),
284) Vergl. Fechnet's Centralblatt 4858. p. 784.
285) Bastian, Beiträge zur vergleichenden Psychologie, p. 4 58.
286) A. a. 0. p. 4 03 f. und 433 ff. — In Betreff des Erdbebens sagt
Cuvier: »Une augmentation de T^lectricit^ s'y manifeste aussi presque
toujours, et ils sont g^n^ralement annonc^s par le mugissement des bestiauX/
par l'inqui^tude des animaux domestiques, et dans les hommes par cette
Sorte de malaise, qui en Europe pr^cMe les orages dans les personnes
nerveuses« (Progr^s des sciences. I, p. 265).
287) De natur. deor. II. c. 46.
288) PUao, Tim. p. 24 C. Arist, Polit. VII. 7. — jüeberiden Ein-
fluss des Klimas auf die Denkweise der Menschen vergl. besonders Buddc,
Geschichte der Civüisation in England. Deutsch von Arnold Rüge, S. Aufig-
Leipzig und Heidelberg 4864. Bd. 1, Abth. 4, p. 65^-428. Die Gros»-
— 815 —
artigkeit der Natur und ihrer Erschfrinangen 'in den aussereuropälfichen
Ländern, ^welche eine Cultur besessen, in Indien, Peru u. s. w., «entwidcelt
die Phantasie des Menschen mehr als den Verstand und raubt ihm dais
ijrefühl seiner eigenen Würde und £raft ; dies zeigt sich in der Religion,
der Literatur und despotischen Staatsform dieser Völker. Das gemässigte
i^lima Europas dagegen Ifisst Verstand und Phantasie gteicdmiässig sich
entwickeln und macht dadurch eine wirkliche Wissenschaft möglich a. s.w.
289) Die Welt als Wille und Vorstellung , herg. von /. Frauenstädt,
2. Aufl. LeipBig'1877, B.li,p. 592: »Schwieriger aber ist das Problem, ob sich
hierbei sondern lasse, was dem Vater und was der Muttor angehört, wei-
ches also das geistige Erbtheil sei, das wir von jedem der Eltern übei^
kommen. Beleuchten wir nun dieses Problem mit unserer Granderkennt-
niss, dass der Wille das Wesen an sich, der Kern, das Radicale im
Menschen, der In teile et hingegen das Sekundere, das Adventitium, das
Accidenz jener Substanz sei; so werden wir, vor Befragung der Erfah-
rung, es w^enigstens als wahrscheinlich annehmen, dass, bei der Zeugung,
der Vater, als sexus potior und aeugeodes Prinzip, die Basis, das Radi-
cale des neuen Lebens, also den Willen verleihe, die Mutter aber, als
sexus sequior und bloss empfangendes Princip, das Sekundäre, den In-
tellect; dass also der Mensch sein Moralisches, seinen Charakter, seine
Neigungen, sein Herz, vom Vater erbe, hingegen den Grad, die Beschaffen-
heit und Richtung seiner Intelligenz von der Mutter. Diese Annahme nun
findet wirklich ihre Bestätigung in der Erfahrung .... Die eigene Er*-
fahrung hat den Vorzug völliger Gewissheit und grösster Specialität, wo-
durch der Nachtheil, der ihr daraus erwächst, dass ihre Sphäre beschränkt
und ihre Beispiele nicht allbekannt sind, überwogen wird. An sie zu-
nächst weise ich daher einen Jeden. Zuvörderst betrachte er sich selbst,
^gestehe sich seine Neigungen und Leidenschaften, seine Charakterfehler
und Schwäclien, seine Laster, so^ie auch seine Vorzüge und Tugenden,
wenn er deren hat, ein: dann aber denke er zurück. an seinen Vater, und
es wird nicht fehlen, dass er jene sämmtiichen Charakterzüge auch an
ihm gewahr werde. Hingegen wird er die Mutter oft 'von einem ganz
verschiedenen Charakter finden, und eine moralische Uebereinatimmung
mit dieser wird höchst selten, nämlich nur durch den besonderen Zufall der
Gleichheit des Charakters beider Eltern, statt finden«. — Burdach (a. a.
0. B. I. § 800) nimmt an, dieselbe psychische Eigenschaft könne bald vom
Vater, bald von der Mutter vererbt wetden, doch setzt er hinzu: »Im
Ganzen genommen, hat das Männliche mehr EinÜuss auf Bestimmung des
irritabeln Lebens, das Weibliehe hingegen mehr auf die Sensibilität«. ^
Allgemeiner äussert sich :Ribot: »Der Vater kann das Gehirn, die Mutter
den Magen, das eine das Herz, das andere die Leber, das eine den Darm-
canal, das andere die Bauchspeicheldrüse, das eine die Nieren, das andere
die Harnblase auf dasselbe Kind vereri:>en. Solche Thatsachen sind durch
anatomische Untersuchungen bei Mensch und Thier verbürgt. Sie get>en
die organische Grundlage für die manchmal so sonderbare Verschlingung
der Instincte, der Empfänglichkeiten für Krankheit und Leidenschaften bei-
— 316 —
der Eltern im Kinde. Zuweilen giebt der eine der Eltern das ganze Leib-
liche, der andere das ganze Geistige her Um uns kurz über die
directe Vererbung zu fassen, können wir sagen: Das Kind erbt von l>ei-
den Eltern ; keines Mon diesen übt auf den Sprtfssling eine ausschliessliche
Einwirkung ; aber eines von ihnen doch immer eine überwiegende. Die-
ses Uebergewicht kommt entweder in demselben oder im
entgegengesetzten Geschlechte zur Geltung Wenn man
den Vater in seiner Tochter, und. endlich in seinem Grosssohne -wieder
erscheinen sieht, die Mutter aber in ihrem Sohne und endlich in ihrer
Grosstocbter, so wird man sich ieicht überzeugen, dass jedes Geschlecht
mit der Zeit immer wieder sein Recht in Anspruch nimmt, falls -dies nicht
gleich anfangs geschehen ist«. (Die Erblichkeit. Deutsch, von Dr. OUo
Hotzm. Leipzig 4876, p. 4 77, p. 488 und p. 203). — Die Einflüsse der
Vererbung auf sich selbst schildert Goethe in folgenden Versen:
»Vom Vater hab' ich die Natur,
Des Lebens ernstes Führen;
Vom Mütterchen die Frohnatur
Und Lust zu fabuliren.
Urahnherr war der Schönsten hold.
Das spukt so hin und wieder;
Urahnfrau liebte Schmuck und Gold,
Das zuckt wohl durch die Glieder.
Sind nun die Elemente nicht
Aus dem Complex zu trennen,
Was ist denn an dem ganzen W^icht
Original zu nennen?«.
Wundt sagt: »Die Vererbung betrifft hauptsächlich das Gefühlsle-
ben, die unbewusste Unterlage unseres psychischen Daseins, Abände-
rungen kommen dagegen mehr innerhalb der bewussten Intelligenz zum
Vorschein. Die intellectuellen Anlagen können innerhalb der nämlichen
Familie weit auseinandergehen, weit seltener entwickeln sich erfahrungs-
gemfiss erhebliche Verschiedenheiten dßr Gemüthsanlage. Diese That-
sache scheint mir wohl erklärlich zu sein. Das Erkennen beruht weit
mehr auf freier, selbständiger Geistesarbeit als das Fühlen. Dieses besitzt
eine gewisse unabhängige Ursprünglichkeit. Da aber die bewusste Er-
kenntniss aus dem Gefühl entspringt und selbst wieder auf das Gefühl
zurückwirkt, so ist freilich auch hier keine feste Grenze zu ziehen, na-
mentlich gehen die bedeutenderen Abstufungen des Erkennens und Fühlens
stets parallel Was wir allein annehmen können und müssen in
geistiger wie in körperlicher Beziehung, ist die Vererbung der Anlagen.
Dass die Vererbung der körperlichen Eigen thümlichkeiten nur eine Ver-
erbung der Anlage zu einer bestimmten Körperbildung ist, zeigt die un-
mittelbare Beobachtung. Von allen den Eigenthümlichkeiten der körper-
lichen Bildung lässt der erste Keim noch keine Spur erkennen: sie sind
sämmtlich erst Producte selbständiger Entwickelung, sie können also auch
im Keime nur potentiell, d. h. als Anlagen enthalten sein«. (Vorlesungen
über die Menschen- und Thierseele. IL, p. 364}. — Ewald Hering fasst
— 317 —
die Vererbung — bei Thieren den Instinct, bei Menschen die Anlage —
als Gedächtniss der organisirten Materie, (üeber das Gedftchtniss
als eine allgemeine Function der organisirten Materie. Yortr. geh. in der
k. Acad. d. Wiss. in Wien am 80. Mai 4870). »Wenn dem Mutterorganismuft
durch lange Gewöhnung oder tausendfache Vebung Etwas so zur andern
Natur geworden ist, das« auch die in ihm ruhende Keimzelle davon in
einer, wenn auch noch so abgeschwächten Weise durchdrungen wird, und
letztere beginnt ein neues Dasein, dehnt sich aus und erweitert sich zu
einem neuen Wesen, dessen einzelne Theile doch immer nur sie selbst
sind und Fleisch von ihrem Fleische, und sie reproducirt dann das, was
sie schon einmal als Theil eines grossen Ganzen mit erlebte: so ist das
zwar eben so wunderbar, als wenn dem Greis plötzlich die Erinnerung
an die früheste Kindheit überkommt, aber es ist nicht wunderbarer als
dieses. ... So steht schliesslich jedes organische Wesen der Gegenwart
vor uns als ein Pröduct des unbewussten Gedächtnisses der organisirten
Materie, welche immer wachsend und immer sich theilend, immer neuen
Stofif assimilirend und anderen der organischen Welt zurückgebend ^ immer
Neues in ihr Gedftchtniss aufnehmend, um es wieder und wieder zu re-
produciren, reicher und immer reicher sich gestaltete, je länger sie lebte.
Die ganze individuelle Entwicklungsgeschichte eines höher organisirten
Thieres bildet aus diesem Gesichtspunkte eine fortlaufende Kette von Er-
innerungen an die Entwicklungsgeschichte jener grossen Wesenreihe, deren
Endglied dieses Thier bildet. . . . Gleichwohl müssen wir selbstverständ-
lich, wie dem übrigen Körper, so auch dem Gehirne des neugeborenen
Menschen ein weitgehendes Erinnerungs- oder Reproductionsvermögen des-
sen zuschreiben, was schon tausendfach an seinen Ahnen zur Entwick-
lung kam, und vermöge dessen er die zum Leben nöthigen Fertigkeiten,
soweit sie ihm nicht schon vollständig angeboren sind, jetzt ungleich ra-
scher und leichter erlernt, als sonst möglich wäre. Nur erscheint das,
was wir beim Thiere Instinct nennen, hier in freierer Form als Anlage.
Freilich die Begriffe sind ihm nicht angeboren, aber dass sie aus dem com*
plicirten Gemisch der Empfindungen so leicht und sicher herauskrystalli-
siren, das verdankt das Kind nicht seiner Arbeit, sondern der vieltausend-
jährigen Arbeit der Gehimsubstanz zahlloser Vorfahren«, (pp. 46, 48, 20).
290) Erdmann, I^hychologische Briefe. 4. Aufl. Leipzig 4868, p. 408
u. 4 4 7. — Grundriss der Psychologie. 4. Aufl. Leipzig 4862. § 26, p. 47 f.
291) Humboldt, »Ueber den Geschlechtsuntersohied und dessen Ein-
fluss auf die organische Natur« in ScMUer's Hören Bd. L H. 2, p. 99 — 482;
»lieber die männliche und weibliche Form«. Bd. I. H. 3, p. 80 — 4 08,
Bd. IL H. 4, p. 44—40. »Ueberall, wo der männliche und weibliche
Charakter sichtbar ist, wird man in ihm diese Seiten gewahr: in dem
ersteren ein Streben, mit trennender Heftigkeit erzeugend, in dem letz-
teren ein Bemühen, durch Verbindung erhaltend zu sein. Alle Eigen-
schaften, in welche gekleidet beide Geschlechter durch die Natur, aber
vorzüglich im Menschen erscheinen, bringen denselben verschiedenen Ein-
druck hervor. Die reizende Anmuth und liebliche Fülle der Weiblichkeit
— 318 —
bewegt die Sinne; die nicht sowohl aDschanliehe, aU bUdlicbe Vorstel-
lusgsart und der sinnliche Zusammenhang aller Begriffe ^eben der Phan-
tasie eilt reiches und lebendiges Bild, und die Biftheil des Charakters,
der jedem Eindruck offen, jeden mit entsprechender Innigkeit erwiedert,
rührt die Empfindung. So wirkt alles Weibliche vonügüoh auf di^emgea
Krttfite, welche den ganzen Menschen in seiner ursprünglichen EinÜachheü
leiten. Was dem Mann und seinem Geschleckte angehört» läest dagegen
diese minder befriedigt, beschäftigt aber mehr das Vermögen der Begriffe.
Die Gestalt hat mehr Bestimmtheit, als anmuJkhige Schönheit ; die Begriffe
sind deutli<^ittr und sorgflLltiger geschieden, stehen aber auch in weniger
leichter Verbindung; der Charakter ist stark und hat faste Riehtangen,
erscheint aber nicht selten auch einseitig und hart. Alles Mttnnliche, kann
man daher sagen , ist mehr aufklärend , alle» Weibliche naehr rührend.
Das eine gewährt mehr Licht, das andere mehr Wärme« (I, 2, p. 194 f.;
vergl. p. 420, 484). »Bin Herz, daa sich, von mannigfaltigen EmpfindiiD'
gen bewegt and von einer edeln Strebsamkeit beseelt, reich in sich selbst
ftUiU, aber den kühnen MnÜi vermiset, sich eine eigene Richtung zu ge-
ben, wird von unruhiger Sehnsucht gefoltert. Sich selbst umrerstfindiich
und arm im Schosse des üeberflusses, wünscht es ein Wesen zu finden,
das die verschlungenen Knoten seiner Gefühle freundlich löse. Je tiefer
die Quelle dieser verworrenen Stimmung verborgen liegt, desto schwerer
begegnet es der Gewährung seines Wunsches, aber desto inniger schiiesst
es sich an die gefundene Erscheinung an. Je länger es an ihr. verweilt,
desto mehr Berührungspunkte entdeckt es«, (p. 449). — Latze y Mikrokosm.
3. Aufl. p.aso^aga; Medicln. PaychoL p. 5&6— 564L --.Auch hei J.Bahnm
(Beiträge zur Charakterologie* Leipzig 48ft7. B. H, p. i97 ff.) findet mao
eine interessante Darstellung. — Sam, Smiles sagt: »Die Frau erzieht
menschlicher als alle andern Lehrer. Der Mann ist das Gehirn, die
Frau ist das Herz der Menschheit, er ist. das Urtheil, sie ist da»
Gefühl derselben, er ist deren Kraft, sie ist deren Anmuth, Zierde und
Trost. Selbsrt bei den klügsten Flauen scheint der Verstand hauptsächlich
aus dem Gefühlsleben zu entspringen. Leitet der Mann die Vernunft, so
pflegt die Frau die Gefühle, welche den Charakter hauptsächlich bestim-
men. Während er das Gedächtniss erfiillt, nimmt sie das Herz in Besita*
Sie macht uns lieben, wo er uns bloss glauben macht und durch sie vor-
nehmlich werden wir befähigt, zur Tugend zu gelangen« (Der Charakter,
deutsch von J^. StegeTy 2. Aufl. Leipzig 4874. p. 64). — Lindemann er-
hebt sich zu der merkwürdigen Aeusserung : der Mann ist das ufeurig^^
das Weib das »wässerige Princip« (!) (Anthropologie, Zürich 4 844. p. 426).
292) Das Gefühlsleben. Leipzig 4862, p. 224.
293) Vergl. »Schädel, Hirn und Seele«. Jena 4854, p. 49, 69, 70,
480, besond. 454, 482.
294) Wie oben erwähnt worden, liegt das Centrum der aetiven Auf-
merksamkeit und willkürlichen Bewegung in den vordei>dn, das für die
sensorischen Leitungsbehnen aber in den hinteren Theilen der Grosshim-
rinde. Vergl. Wundt, Physiol. Psychologie, p. 464 ff. u. p. 880.
I
— 319 —
295) Eine Dame theilte mir mit, dass sie weniger lebhaft trttume,
wenn sie viel spaBieren* gegangen, als wenn sie lange Zeit zu Hause zu-
gebracht und ihren Gedanken aachgehnigen habe. — Ueberhaupt sind
Leute , die viel denken und wenig Körperbewegung haben , die grössten
Trttumer.
IMe Sinnestäuschungen der Frauen . fallen mehr ab bei Männern in
die Geschlechtssphttre , bei abnormer Richtung des Geschlechtalebens be-
ziehen sie sich meist auf religiöse Gegenstände und Erscheinungen. Vergl.
Hag^n, Sinnestäuschungen i p« 4dg f. u. Grtesinger, a. a. 0,, p. i08. —
Die maanigfachen organischen Einwirkungen und die bekannten gemisch-
ten Gemüthsbewegungen bei Schwangeren und Wöchnerinnen verleihen
den Träumep ein eigenthümliches Colorit und Prophc»tie findet sich hier
besonders oft
296) Wundi, Physich Psychol. p. 816. — George sagt: »Je grösser
die Wachsamkeit ist für die Eindrücke, die uns treffen, desto lebhafter
muss auch die Freude oder der Schmerz sein, die sich daran knüpfen,
je geschärfter die Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand ist, desto stärker
wird auch die Hoffnung oder die Furcht sein, mit weicher wir ihn be-
tiaiehten. Ebenso verhält es sich, wenn wir die Beziehungen umkehren;
die Lebhaftigkeit der Freude wie des Schmerzes erhält uns wach und
verscheucht den Schlaf auch von dem ermüdeten Körper, Hoffnung und
Furcht steigern die Aufmerksamkeit auf alle Veränderungen, welche in
unserer Umgebung eintreten. Je deutlicher und bestimmter ferner die
Auffassung ist, desto kräftiger wird der Reiz oder der Abscheu, je tiefer
die Empfindung, desto dauernder die Befriedigung oder der Ekel. Diese
innige Wechselbeziehung zwischen Wahrnehmung und Affect giebt das
Temperament, welches seinem innersten Wesen nach daher nichts anderes
ist als die Bestimmtheit der Seele, vermöge welcher' sie in
dem durch diö Wahrnehmungen vermittelten Verkehr mit
der Aussenwelt zu gewissen Affecten der Lust oder Unlust
gestimmt wird, uijd vermöge welcher andererseits ihre Ge-
neigtheit zu gewissen Affecten die Art und Weise der Wahr-
nehmung selbst bedingt«. (Psychologie. Berlin 4854, p. 125. —
Auch im Einzelnen findet man' in diesem Buche in Bezug auf die Tem-
peramente manche sehr treffende Bemerkung.)
297) Mikrokosm. 2. Aufl. Bd. 11, p. 366 f. ; vergl. Medicin. Psychol.
p. 560—567.
29^ Man glaubte , dass bei dem ersten das Blut, bei dem zweiten
und dritten die schwarze oder gelbe Galle, bei dem letzten der Schleim
vorherrsche. — üeber die verschiedenen Meinungen in Betreff der phy-
siologischen Grundlage der Temperamente vergl. Harless, Art. »Tempe-
rament« in Wagner's HWB. d. Phys. Bd. III, Abth. 1.
290) Wundt untersebeidet deshalb starke und schwache, schnelle und
langsame Temperamente und stellt die Tafel auf:
— 320 —
t
Starke Schwache
Schnelle Cholerisch Sanguinisch
Langsame Melancholisch Phlegmatisch»
(a. a. 0., p. 847).
300) Kant sagt vom Phlegmatiker: »Sein glückliche^ Temperament
vertritt bei ihm die Stelle der Weisheit und man nennt ihn selbst im ge-
meinen Leben oft den Philosophen. Durch dieses ist er Anderen über-
legen, ohne ihre Eitelkeit zu krttnken. Man nennt ihn aucli oft durch-
trieben; denn alle aaf ihn losgeschnellte BalHsten und Gatapulten prallen
von ihm als einem Wollsack ab. Er ist ein vertriiglicher Ehemann, und
weiss sich die Herrschaft über Frau und Verwandte zu verscbaflen, in-
dessen dass er scheint allen zu Willen zu sein, weil er durch seinen un-
biegsamen aber überlegenen Willen den ihrigen zu dem seinen umzu-
stimmen versteht: wie Körper, welche mit kleiner Masse und grosser
Geschwindigkeit den Stoss ausüben, durchbohren, mit weniger Geschwin-
digkeit aber und grösserer Masse das ihnen entgegenstehende Hindemiss
mit sich fortführen, ohne es zu zertrümmern«. (Anthropol. 8. Aufl. Kö-
nigsberg 1820, p. 262).
301) Schopenhauer sagt geradezu: »Ein phlegmatisches Genie ist un-
möglich « (Die Welt als Wille und Vorstellung , herg. von Frauensiaedt.
2. Aufl. Leipz. 1877. Bd. II, p. 450).
302) Volkmann, a. a. 0. I, p. 212.
303) Jul, Bahnsen erörtert einmal in Anknüpfung an den Ausspruch
eines Franzosen: »Die Tugend ist Temperamentssache« — die »Tempera-
mentstugenden « (Mosaiken und Silhouetten. Leipz. 1877, p. 94 — 4 00} und
weist darauf hin, dass das Temperament ausschliesslich eine Form der
Handlungsweise ausdrückt und mit dem Inhalt zunächst gar nichts zu
thun hat. »Wie einer überhaupt ein Kunstwerk auf sicli wirken lässt,
bestimmt sich nach seiner ästhetischen Begabung — aber ob er die em-
pfangenen Eindrücke mit der üeberschwänglichkeit eines Enthusiasten
nach aussen setzt oder still innerlich in sich verarbeitet, darin giebt er
sein Temperament kund. Heftiges Auffahren, hitziges Drein-
fahren sind Fehler, die das Temperament begeht — aber
was zum einen oder andern veranlasst, ist Kennzeichen
des ethischen Charaktergehalts« (p. 96). — Wer seine Ungezogen-
heiten oder gar Rohfaeiten damit rechtfertigen will , dass sie » in seinem
Temperamente liegen«, thäte besser, mit Hülfe eines energischen Willens
diese enormen Fehler seiner Temperamentsäusserungen zu verbessern ; er
ist nicht für das Temperament selbst, wohl aber für die fehlerhaften
Aeusserungen desselben verantwortlich. — Vergl. hierzu auch George,
Psychologie. Berlin 1854, p. 133 f. und Lotze, Medic. Psych., p. 560.
304) Wundt, a. a. 0., p. 818.
305) Das Wort »Melancholie« kann ein Temperament, dann eine trübe
Gemüthsstimmung und endlich eine bestimmte Form von Seelenkrankheit,
welche die ersten beiden zur Disposition hat und aus ihnen hervorgebt,
— 321 —
bezeichnen. Das eigentliche Temperament wird hfinfig mit seinem krank-
haften Extrem verwechselt, und es ist deshalb gerechtfertigt, wenn Lo%%e *
den Namen »sentimentales Temperament« vorschlägt. — Bahn$m nennt
es das »anämatische«.
306) Vergl. Hagen, Sinnestäuschungen, p. 489 ff. — Griesinger da-
gegen meint, dass die vier Categorien niemals »zu empirischem Nachweis«
gekommen und dass ihnen in Bezug auf die Disposition zum Irrsinn kein
Wertb beizumessen sei (a. a. 0. p. 465).
307) Pfaff, a. a. O. p. 407 /.
308) /. Bahnsen glaubt es dadurch fertig zu bringen , dass er bei
jedem der vier Temperamente starke und schwache Spontaneität,
rasche und langsame Receptivität, tiefe und flache Impressiona-
bi lität (Grad des »Einwühlens« jedes Eindrucks in die Individualität),
nachhaltige und flüchtige Reagibilität unterscheidet und dadurch
sechszehn verschiedene Temperamentsformen erhält, in welche er alle
Individualitäten von der »grossartigen Heldennatur« bis zu dem »ewigen
Krakeeler«, dem »erbärmlichen Wichi voll verhaltenen Ingrimms« unter-
bringt (Beiträge zur Charakterologie. Leipz. 48$7. I, p. 14 fi*). •- Im
Einzelnen findet man bei ihm manche treffende Bemerkung. Der »mobile«
Sanguiniker veranschaulicht ihm das Sprichwort: »Am rollenden Stein
wächst kein Moos«; der unermüdliche Choleriker handelt nach dem
Wahlspruch: »Rast' ich, so rost' ich«. Den Anämatiker freilich schildert
er als ungemüthlichen Gesellen, als »Kleinigkeitskrämer«, der von Nichts
stark und kräftig afficirt, dafür aber von wahren Lappalien zu nachhalti-
ger Reaction angeregt werde, der von allem »viel Wesens« mache und
»in den kleinen Vorkommnissen des Alltags von entsetzlicher Umständlich-
keit« sei. — Indem er von vorn herein die »Posodynik« (Tr6oo;-656v7j)
als Lehre von dem Grade der Capacität für Schmerz und Lust nach dem
Gegensatz der D y s c o 1 i e (^uaxoXla) und E u c o 1 i e (e6xoXia) aus der Lehre
von den Temperamenten ausscheidet, will er auch den Namen des me-
lancholischen Tempera meats , »der die entstandene Confusion verschuldet
hat« verbannt wissen und setzt an Stelle des Melancholikers den »§6oxoXoc«.
— Er vergleicht die verschiedenen Temperamente in Bezug auf ihre Fähig-
keit, »die ursprüngliche Gestalt und Dimension nach starkem Anprall in
mehr oder minder fester Selbstbehauptung wiederzugewinnen« und sagt:
»Der Anämatiker ist einer Hohlkugel von dünner Guttapercha , der San-
guiniker einem massiven Gummiball, der Choleriker einer elfenbeinernen
Billardkugel, der Phlegmatiker einer eisernen Kegelkugel ähnlich« (p. 89).
309) Vischer sagt: »Der Melancholiker Hamlet zürnt cholerisch auf
sein Phlegma und bricht in sanguinische Freude übör die gelungene Finte
gegen den König aus« (Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. li,
§ asi, p. 494). JBeneke nimmt den Mund etwas voll, indem er bemerkt,
der Mensch könne zwanzig bis dreissig und mehr Temperamente zugleich
haben.
310) Psychologische Analysen auf physiologrscher Grundlage. Bd. II,
H. I, p. 462.
Radestock, Schlaf n. Traum. 21
— 322 -
311) FdOmiafii», a. a. 0. I, p. 494.
312) Vergl. Hagen, Sinnestlfiiischungen. p. 464.
313) Vergl. Griesinger, a. a. 0., p. 499 f.
314) Hagen, a. a. 0., p. 470 ff.
315) Cicero, de divin. II. c. 68; de nat. deor. II. c. 4 6.
316) Volkmann, a. a. 0. I, p. 497.
317) Pfafff a. a. 0., p. 6S.
318) Von der englischen Schriftstellerin RadcUffe sagte man sogar,
sie habe, um ihren Schlaf mit Schreckbildem mancher Romane zu er-
füllen , am Abend die unverdaulichsten Speisen genossen (vergl. Macnish,
Der Schlaf in allen seinen Gestalten. Aus d. Engl. p. 39).
319) Das Gefühlsleben, p. 80.
320) Phileb. p. 44. C. — Diese Geringachtung der Freuden der ge-
w(ihnlichen Menschen fand man in dem sonst heiteren Griechenvolk be-
sonders bei den Philosophen, wie bei HerakHt, Anaxagoras, — dessen
ernstes , würdevolles Wesen nicht wenig beigetragen haben mag , seinem
Freunde, dem grossen Perikles, die erhabene Ruhe zu verschaffen, — bei
den Stoikern und — schon im Extrem — den Cynikern. Bei den
Dichtern war sie seltener; besonders wird Sophokles als »e5xoXoc« ge-
schildert gegenüber dem »^6oxoXoc« Euripides, der den von den Philo-
sophen, namentlich von Anaxagoras empfangenen Einfluss nicht nur in
seinen Tragödien, sondern auch in seinem eigenen Charakter kund gab.
— Die Melancholie des Dichters Tasso hat uns Cro^he gut vor Augen ge-
führt. Letzterer sagt von sich selbst:
»Meine Dichtergluth war sehr gering,
So lang ich dem Guten entgegenging;
Dagegen brannte sie lichterloh,
Wenn ich vor drohendem €ebel floh. —
Zart Gedicht, wie Regenbogen,
Wird nur auf dunkeln Grund gezogen :
Darum behagt dem Dichtergenie
Das Element der Melancholie«.
Aristoteles lehrte, dass die Hitze des Blutes bei geistig bedeutenden Men-
schen grösser sei als bei anderen und jene zur Melancholie geneigt mache
(probl. SO. 4. Vergl. Cicero, Tuscul. I. c. 83 »Aristoteles quidem ait
omnes ingeniöses melancholicos esse«).
321) Eine interessante Schilderung der Naivetät findet man bei Bahn-
sen (Beiträge zur Charakterologie. Leipzig 4867. Bd. II, p. 818 ff.) — Bo-
gunUl GoUz sagt: es sterben an gebrochenem Herzen tnehr auf dem Melk-
schemel als auf dem Salondivan. — Andrerseits fand Marc d'Espine, dass
die Geschlechtsentwickelung in grossen Stttdten schneller vor sich gehe
und die Menstruation sich früher einstelle als auf dem Lande. H, Busch
bemerkt hierzu: »Der Unterschied der Pubertätsentwickelung bei den
Stadt- und Landbewohnern wird wohl hauptsächlich durch psychische
— 323 —
s
Einwirkung hervorgebracht, indem die frühe Reife des Geistes durch Er-
ziehung auch den Körper zu einem schnelleren Wachsthum anregt, der
zu sehr gesteigert die Ursache mannigfacher Krankheiten abgiebt. Als
einen anderen theilweise schon hierin mit begriffenen Grund kann man
das frühere Erwachen des Geschlechtstriebes in grossen Städten ansehen,
indem durch eine mehr sitzende Lebensart, durch reizende Nahrungs-
mittel, durch Anregung der Phantasie, durch böse Sitten und durch die
erhöhte Reizbarkeit im Allgemeinen die Geschlechtsorgane früh entwickelt
werden« (Das Geschlechtsleben des Weibes in physiologischer, patholo-
gischer und therapeutischer Hinsicht. Leipz. i8S9. Bd. I, p. 118).
322) A. a. 0. II, p. 345. Vergl. auch Humboldt, Kosmos. II, p. 19.
323) In Betreff des Einflusses der Stimmungen und Leidenschaften
auf das Denken des Menschen sagt Bahnsen : » Heute bei dieser Stimmung
verknüpfen sich mit einer »gegebenen« Anschauung in mir ganz andere
»Ideen«, als wie gestern bei einer andern; — dem Dyscolos sind andere
Analogien zur Hand als wie dem Eucolos; dem in Liebe Schmachtenden
thun sich andere Bildersäle in seiner Brust auf als wie dem Hasserfüllten;
— der Sanguiniker lässt auf der Bühne seiner Erinnerung die Reigen in
anderm Tempo tanzen als wie der Phlegmatiker ; das Naturell des Lüstlings
leibt seinen Puppen ein anderes Costüm als wie das des im Erkennen sein
Genüge suchenden Denkers den seinigen; — unter dem Leichentuch des
Grams bewegt sich ein ander Völkchen als wie vor dem Thyrsusstab der
Freude; — durch die Nacht der Sorge huschen andere Gespenster als
wie an dem bebenden Auge der Angst vorüber« (a. a. 0. II, p. 164).
324) Roth und Gelb regtauf, Blau stimmt herab, Grün hält auch
nach seinem Gefühlston die Mitte zwischen Gelb und Blau und bewirkt
eine ruhig heitere Stimmung, das zu Gelb complementäre Violett hat
schon etwas von der aufregenden Stimmung des Roth an sich. — Goethe
bezeichnet die Farbentöne von Roth bis Grün als die Plus-Seite, die
von Grün bis Violett als die Minus- Seite. — Die Maler nennen Gelb
die warme, Blau die kalte Farbe.
325) Zeitschr. f. Psychiatrie. B. XVI, p. 270.
326) Parerg. u. Paral. I, p. 246.
327) Die Sinnestäuschungen, p. 292. — »Psychologie und Psychiatrie«
in Wagner's Handwörterb. der Physiol. B. H, p. 812.
328) Zeitschr. f. ration. Medic. R. HI. B. 34, p. 46.
329) Phys. Psych, p. 662. — Besonders behandelten dieses Thema
Mawry, Annal. m6d.-psych. 1853. V, p. 404, Moreau, ibid. 1855, p. 11 ff.
u. 361 , M. Cruislain, Abhandlung über die Phrenopathien oder neues System
der Seelenstörungen, übers, v. Wunderlich, Stuttg. 1838.
330) Griesinger, a. a. 0. p. 200 f.
331) Wundt, a. a. 0. p. 191.
332) Vergl. Crriesinger, a. a 0. p. 31 und '347. — Aehnliches beob-
achtet man im höheren Alter;
21*
9
— 324 —
933) Schopenkau9r erkennt in dem unvollkommenen Gedächtoiss dias
Wesen des Wahnsinns; denn »die eigentliehe Gesundheit des Geistes. l>e-
steht in der vollkommenen Rtickerinoerung«, obgleich freilich das .G&-
dächtniss auch hier nicht Alles, sondern nur das Bedeutendste beinralif't
(Die Welt als Wille und Vorstellung, herg. von Frtme^taedt, 2. Aufl.
Leipzig 4877. Bd. II, p. 466).
334) Fechner*s Centralblatt für Naturwissenschaften und Anthropolo-
gie. 1853. p. 770.
r
335) Fechner, a. a. 0. p. 774.
336) Vergl. Griesinger, a. a. 0. p. 402.
337) Griesinger, p. 4 43 f.
338) Griesinger, a. a. 0. p. 442. — »Im Somnambulismus wie in
Geisteskrankheit ist etwas aus dem intellectuellen Menseben herausgenom-
men; der Regulator der psychischen Handlungen fehlt, der reflectirende
Spiegel ist gleichsam mit einem Schleier verhüllt«. (/. Guislain, Klinische
Vorträge über Geisteskrankheiten. Deutsch herg. von H, Laehr, Berlin
4854. p. 32).
339) Krauss, a. a. 0. p. 649. — Hagen y Sinnestäuschungen, p. 284.
— Griesinger, a. a. 0. p. 4 42.
340) Allgem. Zeitsehr. f. Psychiatrie. B. XXVI, p. 648.
341) Abhandlungen über die Phrenopathien oder neues System der
Seelenstörungen, Aus d. Franz. v. Wunderlich, Stuttg. 4838. p. 80.
342) Vergl. Guislain, Klin. Vorträge, p. 32. SpiUa, a. a. 0. p. 454.
343) Vergl. Griesinger, pp. 88 f., 406, 409, 284, 254.
344) Es kommen jedoch auch bekanntlich, — und zwar nicht selten,
Träume vor, in welchen sich gewisse Haupt- und Centralvorstellungen
stetig wiederholen. .
345) p. 232 u. 233. — Es giebt Fälle, wo Kranke ihr eigenes Ich
aus der Vergangenheit objectiviren und von sich selbst in der dritten
Person reden, indem die Continuität des Bewusstseins verloren geht.
•Vergl. hierzu Griesinger, Krankengesch. No. XLVI, p. 344. f. (»Die Per-
son von mir hat ihren Namen verloren, sie hat ihn hergegeben, als sie
in das Hospital eintrat« u. s. w.) auch M, Leidesdorf, Lehrbuch der psy-
chischen Krankheiten. Erlangen 4865. p. 4 47.
346) Schon Plato sagt vom besseren, begeisterten und nach dejn
Göttlichen strebenden Menschen: ». . . I^totifievoc Ber&v dv^tnitCvoiv oitou-
&ao(jLaT(uv xal 7rp6(; T(p 0s(({> iftYvöfievoc voudeTeixat (liv hnh Td)v iroXXov (bc
itapaxivÄv, dv^ooaidCwv Be X^XiQde to6c itoXXo6;«. (Phaedrus p. 249 D.j.
I
347) »Während der Jahre, wo der Blutzufiuss hauptsächlich nach dem
im Congestionszustand befindlichen Gesciilechtssystem statt findet, ver-
knüpft das Kind alle seine Ideen mit den Empfindungen dieses, wodurch
— 325 —
seine Gedanken und Anschauangen jene schwärmerischen Dinten auldäm-
mernder Phantasien erhalten, wie sie so überschwanglich in den lyrischen
Ergüssen der Dichterjüngiinge ausströmen. . . . Wird die naturgemttsse
Entwiclklung des Geschlechtssystems gehemmt oder auf felsohe Wege ge-
leitet,, so sind auch die späteren Jahre noch von den Schwörmereien des
Weltschmerzes durchzogen, gleichsam einer versetzten Liebe, die, da sie
aus künstlich incon^uenten Elementen zusammengesetzt ist, sich umsonst
nach einer Befriedigung sehnt, welche, um vollkommen zu sein, eine
ebenso künstlich incongruente Zusammensetzung besitzen müsste. Gefahr*
lieber wuchern beim weiblichen Geschlechte, wo der Apparat unmittelbar
mit dem Gesamuitorganismus zusammenhängt, jene constitutionellen Stö-
rungen des Nervensystems hervor, die dann häufig mit dem ganzen Leben
fortwachsen«. [Bastian, der Mensch in der Geschichte. Bd. I, p. 452, 453).
348) Auch bei der rein physischen Erregung des Geschlechtstriebes
tritt die Sensibilität hervor und der Wille mehr oder minder zurück.
»Die schwächere psychische Energie des Weibes unterliegt der heftigeren
Einwirkung des Geschlechtstriebes und sein Wille wird aufgehoben. So
sehr auch das moralische Gefühl und die Vorstellung der Folgen das
Mädchen von dem Nachgeben gegen den Geschlechtstrieb abhalten müssen,
so unterliegt es doch demselben, und es kann seine Tugend nur dadurch
schützen, dass es sich vor Angriffen bewahrt. Es unterliegt dann
oft in dem Bewusstsein seiner Schwäche, und zeigt sich mehr passiv, in-
dem der ganze Organismus durch jenen inneren Kampf gleichsam gelähmt
wird«. ( W, H, Busch, Das Geschlechtsleben des Weibes in physiologischer,
pathologischer und therapeutischer Hinsicht. Leipzig 4839. B. I, p. 4 95). —
Agathen hebt bei Plato hervor, dass Jeder, dem Eros nahe, zum Dichter
werde, »blieb zuvor er auch den Musen fremd«, (symp. p. 496 E.: »7ra<;
Youv TTOitjT^c "^ifseraiy xav afjiouoo«; tJ t6 Tiplv, oi5 av "Epox; 54'iQTai«).
349) S. Bastian, Beiträge zur vergleichenden Psychologie, p. 477. Der
Mensch in der Geschichte. Bd. II, p. 584.; über Mozart vergl. auch
E. V, Hartmann, Die Philosophie des Unbewussten. 7. Aufl. I, p. SS8,
und über die unbewusste Thätigkeit des Genies überhaupt C.Fischer, Das
Bewusstsein. Leipzig 4874. Gap. VI., A. Lange, Geschichte des Materialis-
mus 2. Aufl. Bd. II, p. 447. — Goethe sagt von sich selbst: »Die Aus-
übung dieser Dichtergabe konnte zwar durch Veranlassung erregt und be-
stimmt werden, aber am freudigsten und reichlichsten trat sie unwill-
kürlich, ja wider Willen hervor. \ Auch beim nächtlichen Erwachen trat
derselbe Fall ein, und ich hatte oft Lust, wie einer meiner Vorgänger,
mir ein ledernes Wamms machen zu lassen und mich zu gewöhnen, im
Finstern durchs Gefühl das, was unvermuthet hervorbrach, zu fixiren.
Ich war so gewohnt, mir ein Liedchen vorzusagen, ohne es wieder zu-
sammenfinden zu können, dass ich einigemal an den Pult rannte und mir
nicht die Zeit nahm, einen quer liegenden Bogen zurecht zu rücken^ sondern
das Gedicht von Anfang bis zu Ende, ohne mich von der Stelle zu rühren,
in der Diagonale herunterschrieb. In eben diesem Sinne griff ich weit
lieber zu dem Bleistift, welcher williger die Züge hergab : denn es war
— 326 —
mir einigemal begegnet, dass das Schnarren und Spritzen der Feder
mich aus meinem nachtwandlerischen Dichten aufweckte, mich zer-
streute und ein kleines Product in der Geburt erstickte». (Aus meinem
Leben. IV. B. 4(
350) In ihren höheren Graden stellt die Hypochondrie die mildeste
und massigste Form des Irreseins dar.
351) Auch wird durch das Verhältniss der zeitlichen Dauer der Klänge
ihre Wirkung gehoben. Der langsame Wechsel der tiefen Töne giebt den
ernsten und schwermüthigen , der schnelle der hohen den freudigen und
gehobenen Stimmungen Ausdruck; ferner werden langsame Tonschwing-
ungen in Folge der physiologischen Bedingungen im Ohr nicht so rasch
gedämpft als schnelle und lassen deshalb eine längere Nachdauer der Er-
regung zurück, welche den schnellen Wechsel der Empfindungen erschwert
(Vergl. HehnkoltZy Lehre von den Tonempfindungen. 3. Aufl. p. 238). In
Bezug auf ihre Wirkung hat man die hohen Töne mit den hellen Farben ,
die tiefen Töne mit den dunklen Farben in Parallele gestellt [NaMowsky,
Das Gefühlsleben, p. 4 44).
352) Meisterhaft schildert dies bekanntlich Goethe in der Scene, wo
der verzweifelnde Faust durch den das Osterfest verkündenden Glockenklang
und Chorgesang verhindert wird, das mit Gift gefüllte Glas, welches er
bereits an die Lippen gesetzt, zu leeren.
»Welch tiefes Summen, welch ein heller Ton
Zieht mit Gewalt das Glas von meinem Munde?
Was sucht ihr, mächtig und gelind
Ihr Himmelstöne, mich am Staube?
Rlingt dort umher, wo weiche Menschen sind!
Die Botschaft hör^ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube;
Und doch, an diesen Klang von Jugend auf gewöhnt
Ruft er auch jetzt zurück mich in das Leben.
Sonst stürzte sich der Himmelsliebe Kuss
Auf mich herab in ernster Sabbathstille;
Da klang so ahnungsvoll des Glockentones Fülle,
Und ein Gebet war brünstiger Genuss;
Ein unbegreiflich holdes Sehnen
Trieb mich, durch Wald und Wiesen hinzugebn.
Und unter tausend heissen Thränen
Fühlt' ich mir eine Welt entstehn.
Dies Lied verkündete der Jugend muntre Spiele,
Der Frühlingsfeier freies Glück;
Erinnrung hält mich nun mit kindlichem Gefühle
Vom letzten, ernsten Schritt zurück.
0, tönet fort, ihr süssen Himmelslieder!
Die Thräne quillt, die Erde hat mich wieder!«
— 327 —
— Und wie ergreift der Orgelton und Chorgesang des Traueramtes das
unglückliche Gretchen im Gefühle der Schuld:
»Mir ist, als ob die Orgel mir
Den Athem versetzte ,
Gesang mein Herz
Im Tiefsten löstet«
— »Die Macht des Gesanges« schildert uns Schiller:
»Verbündet mit den farchtbam Wesen,
Die still de» Lebens Faden drehn,
Wer kann des Sängers Zauber lösen,
Wer seinen Tönen widerstehn?
Wie mit dem Stab des Götterboten
Beherrscht er das bewegte Herz;
Er taucht es in das Reich der Todtcn,
Er hebt es staunend himmelwörts
Und wiegt es zwischen Ernst und Spiele
Auf schwanker Leiter der Gefühle.
So rafft von jeder eiteln Bürde,
Wenn des Gesanges Ruf erschallt,
Der Mensch sich auf zur Geisterwürde
Und tritt in heilige Gewalt;
Den hohen Göttern ist er eigen,
Ihm darf nichts Irdisches sich nahn,
Und jede andVe Macht muss schweigen,
Und kein Verhängniss föllt ihn an;
Es schwinden jedes Kummers Falten,
So lang des Liedes Zauber walten.
Und wie nach hoffnungslosem Sehnen,
Nach langer Trennung bitterm Schmerz,
Ein Kind mit beissen Reuethränen
Sich stürzt an seiner Mutter Herz:
So führt zu seiner Jugend Hütten,
Zu seiner Unschuld reinem Glück,
Vom fernen Ausland fremder Sitten
Den' Flüchtling der Gesang zurück.
In der Natur getreuen Armen
Von kalten Regeln zu erwarmen«. —
»Wie legen sich die Nachtigallenlieder
So trostvoll doch an's Menschenherz!
Als wenn sie mit der Sehnsucht Klängen
Vom Himmel zu uns nieder drängen,
Zu ziehn die Seele himmelwärts,
So süss-gewaltig ist ihr Tön«.
{Fr, Reuter),
— 328 —
363) Vergl. Griesmgery a. a. O. p, 599.
354) Klin. Vorträge, p. 410 f.
355) Anthropologie, herg. von Starke, Leipz. 1834. p. 113.
356) »Ich füge noch hinzu, dass das übertriebene Tabakrauchen zu
Geisteskrankheiten in Form der allgemeinen Paralyse disponirt. Ich habe
verschiedene Personen behandelt, bei denen man keine andere Ursache
entdecken konnte, als den täglichen Verbrauch von 10 bis 15 der stärk-
sten Cigarren« (Guislain, a. a. 0. p. 259).
357) Siehe Cap. III.
358) Ueberhaupt kann sogar — eine Antecipation niederen Grades
— bei Allen die auf einen äusseren Sinneseiodruck gespannte Aufmerk-
samkeit denselben eher appercipiren als er wirklich stattfindet ; beim Ader-
lass hat man zuweilen das Blut hervordringen sehen, ehe der Schnepper
einschlug etc. (Vergl. Wundt, Physiol. Psychol. p. 753. Fechner, Ele-
mente der Psycho-Physik. II, p. 433 f. etc.).
359) GriesingeTf a. a. 0. p. 112. — Einige Beispiele von krankhaften
Träumereien im Wachen führt auch an Mrtism, Darwin, Zoonomie oder
Gesetze des organischen Lebens. Aus d. Engl, von /. D. Brandis. Hanno-
ver 1795. Bd. I, p. 418, ff.
360) Lehrbuch der gerichltUchen Psychologie. Berlin 1857, p. 48.
361) Psychologie. Bd. II. § 163, p. 431.
362) A. a. 0. p. 289. — Vergl. Ovid, metam. VI, v. 63—67:
»Qualis ab imbre solet percussis solibus arcus
Inficere ingenti longum curvamine caelum:
In quo diversi niteant cum mille colores,
Transitus ipse tamen spectantia lumina fallit:
Usque adeo quod tangit idem est, — tamen ultima distant«.
363) Die Ansicht des Aristoteles über die Ursache des Schlafes s. De
somn. c. 3. Schluss (a. a. 0. p. 111): »tC fxev o3v tö alxiov tou xadeuBetv,
elpTjTat, Sti if) &7i6 toO ocofjiaTtiiiSou«; tou divacpepofji^vou bnb tou ou(i.^utou dep>
fjLou dvTiTreploTaoic d%p6m^ inl t6 icpöTOv alafrif]T/)ptov xal tI Iotiv 6 Sirvo*;,
8ti tou iTp(6Tou alodTr]T7)p(oü xaToXiritj/K; 7rpö<; t6 fx9j S6vao&at IvepYeiv dj
d'idfXTii f*.ev fis6^'^oi (o6 y^P ^'^S^/STai Vp"^ e^'^ott l*-"^ cufjißaivövTaiv t&v
ditepYaCofJiivwv a^TÖ), Ivexa 51 owTTjptac* 0(6Cei y°^P "h ^'^aTiaucic«.
364) Preyer, Ueber die Ursache des Schlafes. Ein Vortrag. Stuttgart
1877. p. 6. — Dieser junge Arzt war Johann Hehl aus Nürnberg, welcher
in seiner Inauguralabhandlung De somno (Erlangen 1818) schrieb: At si
duae electricitates nimis accumulantur , explosio fit, quam aequilibrium
sequitur, et in homine somnus. — Eine Uebersicht der in den früheren
Jahrhunderten erschienenen über den Schlaf handelnden Schriften giebt
G. V, Jan, Der Schlaf. Würzb. 1836. p. 129 ff. Vergl. auch p. 33 ff., wo
die vielen Ansichten über die Ursache des Schlafes zusammengestellt sind.
Hippokrates und Galenus : Zurücktreten der Wärme und des Blutes nach
den inneren Körpertheilen. — Alkmaeon : partielles Zurücktreten des Blu-
tes in die grösseren Gefässstämme. — Asklepiades und Caelius Aurelianus:
— 329 —
Verdickung der Lebensgeister. — PUfUus : Zurückgehen der Seele in sich.
— Boerhave und Stttart: Mangel der Lebensgeister. — Descartes: Zusam-
menfallen der Geisterröhren. — Godart und Girac : Erschlaffung der Birn-
fasem. — CüUen: collapsus des Nerv^nsaftes und Zusammenfallen des
Gehirns. — Hartley: Sinken der Gehirnkammern. — Hatter[: durch An-
häufung des Blutes in den Himgeftoen bewirkter Druck des Hirn-
marks — u. s. w.
365). A.a. 0. p. 42 f. Yergl. auch p. 49. — BerxeHus entdeckte 4907
im todten Muskel die Fleischmilchstture und fand 4844 im Fleische ge-
hetzter Thiere mehr, im Muskel gelähmter Extremitäten weniger als
in denen gesunder Thiere. — LielHg fand mehr Kreatin bei lebhaften,
wilden Thieren als bei ruhenden, zahmen. HeUnholtz ermittelte im Jahre
4845, dass der tetanisirte Muskel mehr in Weingeist lösliche Stoffe und
weniger im Wasser lösliche enthält als der ruhende. Johannes Ranke be-
wies, dass der Muskel während seiner Thätigkeit die Producte seines
Stoffwechsels, namentlich Milchsäure und Kreatin in sich aufhäufe. Dann
hat Claude Bemard schon im Jahre 4858 hervorgehoben, was Xtidt^^ und
Sczelkow bestätigten, dass der arbeitende Muskel an das ihn durchströ-
mende Blut mehr Kohlensäure abgiebt und ihm mehr Sauerstoff entzieht
als der ruhende. »Also ist ein Zweifel darüber unzulässig, dass im
wachen thätigen Zustande in den bluthaltigen Muskeln lebhaftere chemi-
sche Zersetzungsprocesse stattfinden, als in der Ruhe; somit wird in der
grössten Ruhe, d. h. während des Schlafes, eine Beseitigung solcher Sub-
stanzen, wie sie während der Thätigkeit erzeugt werden, durch Oxydation
wohl stattfinden können. Dieselben werden jedenfalls, wenn sie vor Ein-
tritt der Ruhe angehäuft waren, in derselben abnehmen müssen. Nicht
ganz so sicher, aber im höchsten Grade wahrscheinlich ist es, dass
für die nervösen Centralorgane dasselbe gilt, und vielleicht auch für die
peripheren Nerven« (p. 4 4) etc.
366) Lothar Meyer, Zur schlafmachenden Wirkung des Natrum lac-
ticum. Archiv f. pathol. Anat. 66. p. 4 80 — 425.
367) Erler j Zur schlafmachenden Wirkung des Natrum lacticum.
Medicin. Centralblatt 4876, p. 658 — 660. — Fr, Fischer, Zur Frage der
hypnotischen Wirkung der Milchsäure. Zeitschr. f. Psychiatrie. B. XXXIII,
p. 720—727.
368) Archiv f. d. gesammte Physiologie des Menschen und der Thiere,
herg. von Pflüger. Bd. X. Bonn 4876, p. 468 — 478.
369) Vergl. seinen Aufsatz: Ueber die physiologische Verbrennung
in den lebendigen Organismen, ibid. p. 264 — 867. — Er zeigte durch
Versuche, dass die Erregbarkeit ihren nächsten Grund im intramolecu-
laren Sauerstoffe hat und dass sie erlischt, wenn derselbe zur Bildung
von Kohlensäure verbraucht ist (p. S4 2 ff.). Er kommt zu dem Resultat:
»Der Lebensprocess ist die intramoleculare Wärme höchst
zersetzbarer und durch Dissociation — wesentlich unter
Bildung von Kohlensäure, Wasser und amidartigen Körpern
— sich zersetzender, in Zellsubstanz gebildeter Eiweiss-
— 330 —
molectile, Wielche sich fot^miHrread regeneriren und ancb
durch Palynt^xisi-Fuilg wac-haeii« (p. Ml^.
870) Ziir tirklttmng ftige idi noch Folgendes hinzu : Die organischen
Stoffe sind sämmtlich lose Verbindungen , welche durdt den thierischen
Organismus in festere tibergeführt werden; 4) reprttsentir^n sie also eine
grosse Summe von Spannkräften, S) gehen ihre Elemente leicht Yer^
bindungen , besonders mit Sauerstoff ein , mit anderen Worten : sie sind
leiofat verbreMibw. NamentUoh enthalten die organischen Stofll^ Koh-
lenstoff; sobald sich dieser mit Sauerstoff verbindet , entsteht 4) Koh*
lensllare, S) Wurme, indem Spannkraft in lebendige Kraft überg^it.
971) Daraus ist es erklttrlich, dass Thiere uYid Menschen (vergl. be-
sonders das von Strikmpett mitgetheUte Beispiel, Arch. f. d. ges. PhysioL
Bd. XIY) in Schlaf verfallen , wenn äussere Reize f^m gehalten werden.
37^ Eine ähnliche Schilderung vom Einschlafen giebt Huschke: »In
sllsser Gedankenverwirrung weicht unser Geist zuerst zurück aus den
Hemisphären in die Kette der grossen Hirnganglieo. Auch sie aber wer-
den gelähmt, Streifenhügel, Sehhügel und Vierhügel vermögen weder den
Blick mehr zu beleben, noch die Glieder zu stützen, das Augenlid sinkt,
verlassen von dem gelähmten Augenmuskelnerv, herab, das Gleichgewicht
verliert sich. Nur die ewig wache Quelle unseres Lebens, das verlän-
gerte Mark, bleibt unversehrt von diesem Rückgange. Gleich dem Herzen
das primum movens und ultimo moriens erhält es noch das Spiel der vi-
talen Rumpfmuskeln und die vitalen Processe selbst. €eber diese Grenze
hinaus, und es erfolgt Ohnmacht und Tod« (Schädel, Hirn und Seele des
Menschen und der Thiere. Jena 4854. p. 464).
373) Verg}. auch H* Clausiuf, Abbandlungen iiber die mechanische
Wärmetheoirie. Bi^aunschweig 4867. Bd. IJ, p. 23.5.
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