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Full text of "Schleiermachers Kurze Darstellung des theologischen Studiums"

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Quellenschriften  zur 
Geschichte  des 


QUELLENSCHRIFTEN 


ZUR 


fiESCHICHTE  DES  PROTESTANTISMUS 


IN  VERBINDUNG  MIT  ANDEREN  FACHGENOSSEN 


HERAUSGEGEBEN  VON 


Professor  D.  CARL  STANGE. 


ZEHNTES  HEFT. 

SCHLEIERMACHERS   KURZE   DARSTELLUNG 
DES   THEOLOGISCHEN   STUDIUMS. 


LEIPZIG. 
A.  DEICHEßT'SCHE  VERLAGSBUCHH.  NACHF. 

1910. 


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SCHLEIERMACHERS 


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KURZE  DARSTELLUNG 
DES  THEOLOGISCHEN  STUDIUMS 


ERSTE  AUFLAGE    1811 
ZWEITE  AUFLAGE  1830 


KRITISCHE  AUSGABE 

MIT  EINLEITUNG  UND  REGISTER 

VON 

HEINRICH  SCHOLZ 

LICENTIAT  UND  PRIVATDOZENT  DER  THEOLOGIE 
AN  DER  UNIVERSITÄT  BERLIN. 


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LEIPZIG. 
A.  DEICHERT'SCHE  VERLAGSBUCHH.  NACHF. 

1910. 


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E  prophetico  genere,  si  veniam  demus, 
dicat  aliquis  eam  esse  methodum,  dicat 
quoque  e  poetico,  interiori  illo  vocis 
sensu,  quo  Aristotelici  poetici  dicuntur. 

Nitzsch,  Observationes  ad  theolo- 
giam  practicam  felicius  excolendam. 
Bonner  Programm  1831  p.  2. 


Alle  Kechte  vorbehalten. 


Vorrede. 


Die  Wendung  zu  Schleiermaclier  ist  zweifellos  eine  der 
wichtigsten  Bewegungen  auf  dem  Felde  der  systematischen 
Theologie  seit  dem  Tode  Albrecht  Ritschis.  Es  hat  sich  in 
zwanzigjähriger  Prüfung  gezeigt,  daß  der  Göttinger  Meister 
dem  Theologen  der  Glaubenslehre  doch  nicht  so  überlegen  ist, 
wie  er  selbst  von  sich  geglaubt  hat.  Mehr  und  mehr  hat  man 
angefangen,  auf  die  Schleiermacherschen  Problemstellungen 
zurückzugehen,  sie  historisch  zu  analysieren  und  auf  ihre 
bleibende  Bedeutung  zu  prüfen.  Man  hat  dabei  Wertvolles 
und  Wertvollstes  entdeckt  und  ist,  wenn  auch  langsam  und 
zögernd  genug,  im  Historischen  gerechter,  im  Prinzipiellen 
vertrauensvoller  gegen  ihn  geworden.  Man  ist  auf  dem  Wege,- 
zu  erkennen,  daß  jede  lebendige  Berührung  mit  ihm,  wie  die 
lebendige  Berührung  mit  Kant,  geistige  Renaissance  bedeutet. 
Ein  ersichtlich  intensiveres  Studium  seiner  Werke  ist  die 
Folge  dieser  Erkenntnis. 

An  die  Freunde  des  Schleiermacherstudiums  wendet  sich 
die  vorliegende  Publikation.  Sie  möchte  ihnen  Schleiermachers 
theologisches  Programm  in  einer  kritischen  Ausgabe  bieten. 
Dazu  gehörte  der  synoptische  Druck  der  beiden  von  Schleier- 
macher selbst  besorgten  Texte,  deren  bequeme  Darbietung 
nicht  nur  ein  immanentes  Hilfsmittel  zum  Verständnis  der 
Gedanken,  sondern  zugleich  ein  wichtiges  Dokument  zur  Ent- 
wicklungsgeschichte der  Schleiermacherschen  Theologie  er- 
schließt. 


VI  Vorrede. 

Die  EinrichtUDg  ist  so  getroffen,  daß  der  Text  der  zweiten 
Auflage  voranstellt  und  die  korrespondierenden  Paragraphen 
der  ersten  Ausgabe  in  Petit-Druck  darunter  mitgeteilt  sind. 
Da  Schleiermacher  bei  der  zweiten  Bearbeitung  hin  und  her 
Paragraphenkomplexe  umgestellt  hat,  so  habe  ich,  wo  es  der 
Sinn  erlaubte,  um  die  Übersicht  nicht  zu  schädigen,  den  Text 
der  ersten  Auflage  im  ganzen  nach  dem  der  zweiten  umge- 
staltet, aber  durch  regelmäßige  Verweisungen  den  Leser  in 
Stand  gesetzt,  sich  überall  leicht  die  ursprüngliche  Ordnung 
wiederherzustellen.  In  den  wenigen  Fällen,  wo  der  Aufbau 
des  Textes  dieses  Verfahren  nicht  zuließ,  wo  eine  Paragraphen- 
folge innerlich  verändert  war,  habe  ich  mich  darauf  beschränkt, 
Gruppe  gegen  Gruppe  zu  setzen,  und  dies  auch  äußerlich  durch 
Kursivdruck  angedeutet.  Außerdem  sind  Einzelparagraphen 
der  ersten  Auflage,  die  in  der  zweiten  gestrichen  sind,  durch 
Kui^sivdruck  ausgezeichnet. 

Der  Text  beruht,  wie  selbstverständlich,  auf  genauer  Ver- 
gleichung  der  Originale  und  wiederholt  dieselben  mit  allen 
sprachlichen  Eigentümlichkeiten  und  Unebenheiten,  z.  B.  Ahn- 
dung statt  Ahnung,  neutestamentisch  statt  neutestamentlich, 
keinesweges  statt  keineswegs ;  aber  auch  fordern  neben  fodern, 
zusammenhängen  neben  zusammenhangen  usf  Ebenso  wurde 
darauf  verzichtet,  die  leider  sehr  ungleichmäßigen  Sperrungen 
Schleiermachers,  die  das  Verständnis  erleichtern  sollen,  in 
seinem  Sinne  zu  ergänzen.  Dagegen  ist  Orthographie  und 
Interpunktion  den  neuen  Regeln  angepaßt.  Die  wenigen 
Konjekturen,  die  ich  mir  unverbindlich  erlaubt  habe,  sind  teils 
in  eckigen  Klammern  im  Text,  teils  als  Anmerkungen  mitge- 
teilt worden. 

Die  Einleitung,  die  neben  der  Entstehungsgeschichte  die 
wichtigsten  Prolegomena  zum  Verständnis  des  äußerst 
schwierigen  Textes  enthält,  möchte  beiden,  dem  Forscher  und 
dem  Anfänger,  dienen.  Das  beigefügte  Register  berücksichtigt 
neben  den  Grundbegriffen  der  Schleiermacherschen  Theologie 
namentlich  die  Problemstellungen  der  Glaubenslehre,  gleichviel, 


Vorrede.  VII 

ob  sie  in  der  Enzyklopädie  nur  angedeutet  oder  fortgeführt 
werden.    Die  Vergleichung  wird  immer  lehrreich  sein. 

Eine  Umschreibung  der  in  der  zweiten  Ausgabe  der 
Glaubenslehre  zitierten  Paragraphen  der  ersten  Auflage  der 
Enzyklopädie  in  die  korrespondierenden  Paragraphen  der 
zweiten  wird  um  so  w^eniger  erforderlich  sein,  als  Stange  in 
seiner  kritischen  Neu -Ausgabe  der  Glaubenslehre  (neuntes 
Heft  dieser  Sammlung,  Leipzig  1910)  alle  nötigen  Verweisungen 
bequem  zusammengestellt  hat  (S.  220  f). 

Die  ,Kurze  Darstellung'  ist  nach  Schleiermachers  Tode 
noch  einmal  im  ersten  Bande  der  theologischen  Abteilung 
seiner  Werke  gedruckt  worden.  Außerdem  ist  sie  in  Hendels 
Bibliothek  der  Gesamtliteratur  Nr.  833 — 834  und  in  der  Bibliothek 
theologischer  Klassiker  (Gotha,  Perthes)  mit  anderen  kleineren 
Schriften  zusammen  1893  als  48.  Band  erschienen.  Alle  drei 
Ausgaben  beschränken  sich  auf  den  Text  der  zweiten  Auflage 
und  bieten  auch  diesen  nicht  kritisch-korrekt. 

Berlin,  im  September  1910. 

Heinrich  Scholz. 


Einleitung/) 


§  1. 

Entstehung  und  Wirkungen. 

Die  Kurze  Darstellung  des  theologischen  Studiums  ist 
eine  Frucht  der  akademischen  Lehrtätigkeit  Schleiermachers 
und  das  erste  klassische  Dokument  seiner  unvergleichlich- 
systematischen Begabung  auf  dem  Felde  der  Theologie.  Eine 
gute  und  gründliche  Einführung  in  den  Zusammenhang  der 
theologischen  Disziplinen  hat  Schleiermacher  von  dem  Moment 
an,  wo  er  das  Katheder  bestieg,  für  einen  wertvollsten  Dienst 
an  der  akademischen  Jugend  und  für  eine  wichtigste  Aufgabe 
des  akademischen  Lehramtes  gehalten. 

So  fügte  es  sich,  daß  er  bereits  in  seinem  ersten  Semester 
in  Halle,  Winter  1804/05,  »Enzyklopädie  und  Methodologie'  an- 
kündigte und  las.^)  Der  Anfang  wurde  ihm  schwer  genug; 
aber  dann  fand  er  sich  in  die  Aufgabe  und  dachte  schon  im 
November  daran,  das  glücklich  in  Gang  gebrachte  Kolleg  zu 
einer  stehenden  Vorlesung  zu  machen  (Br.  G.  2,  vgl.  Br.  IV  105). 
Im  Sommer  1805  hat  er  es  gleich  noch  einmal  gelesen  ^),  und 


^)  Abkürzungen:  Br.  I — IV  =  Schleiermachers  Leben  in  Briefen, 
hrsg.  von  Jonas  und  Dilthey.  Vier  Bände.  1,  II  zweite  Auflage  1860, 
III  1861,  IV  1863. 

Br.  G.=  Schleiermachers  Briefwechsel  mit  G aß ,  hrsg.  von  W.  G aß  1852. 

2)  InteUigenz-Blatt  der  HalHschen  L.  Z.  1804  Nr.  155  p.  1249. 

3)  Ibid.  1805  Nr.  56  p.  449. 


Einleitung.  IX 

sich  bei  der  Wiederholung  in  seiner  ganzen  Ansicht  sehr  be- 
stärkt gefühlt  (Br.  G.  28).  Er  hat  sich  schon  damals  Auf- 
zeichnungen gemacht  und  das  freilich  sehr  fragmentarische 
Konzept,  das  den  ersten  Teil  unvollständig,  den  zweiten  gar 
nicht,  vom  dritten  nur  die  erste  Hälfte  enthielt,  im  November 
1805  seinem  Freunde  Gaß  zur  Durchsicht  geschickt;  dachte 
er  doch  bereits  daran,  bei  der  nächsten  Wiederholung  einen 
gedruckten  Abriß  im  gedrängtesten  Stil  dem  mündlichen 
Vortrag  zum  Grunde  zu  legen  (Br.  G.  36  f.). 

Das  sollte,  nach  seiner  damaligen  Absicht,  im  Winter 
1806/07  geschehen.  Aber  da  war  Halle  nicht  mehr.  Die 
Katastrophen  von  Jena  und  Auerstedt  hatten  die  Universi- 
tät zertrümmert.  Und  erst  im  Winter  1808  kam  Schleier- 
macher dazu,  die  Enzyklopädie  wieder  vorzutragen.  Es  war 
in  Berlin,  wo  er,  mit  Friedrich  August  Wolf,  Fichte  u.  a., 
als  designierter  Professor  der  zu  erwartenden  Universität^ 
aus  freiem  Antrieb  Vorlesungen  hielt.  Das  2-stündig  ange- 
kündigte Kolleg  ist  am  7.  Januar  1808  begonnen  worden.^) 

Und  wieder  Avar  es  die  Enzyklopädie,  mit  deren  Vor- 
trag er  das  erste  Semester  der  neugestifteten  Hochschule^ 
AVinter  1810/11,  eröffnete.  Hatte  er  sie  auch  diesmal  noch 
zweistündig  gelesen,  so  w^agte  er  es  im  nächsten  Winter, 
1811/12,  „vor  einem  halben  Dutzend  Zuhörern"  (Br.  IV  184), 
sie  dreistündig  vorzutragen.  Die  nächste  Wiederholung,  die 
für  den  Winter  1813/14  in  Aussicht  genommen  war,  ist,  wegen 
gänzlicher  Verödung  der  Universität  durch  den  Krieg  mit 
Napoleon,  nicht  zustande  gekommen  (Br.  G.  114).  Dafür  hat 
sich  die  Enzyklopädie  in  den  beiden  folgenden  Lesungen,  Winter 
1814,15  und  Winter  1816/17,  zu  einem  vierstündigen  Kolleg  er- 


^)  Vgl.  Köpke,  Die  Gründung  der  Universität  Berlin  1860  S.  58  und 
141,  und  die  Ankündigung  in  der  Spenersclien  Zeitung  1807  Nr.  156.  — 
Schleiermacher  war  im  September  1807  für  die  in  Aussicht  gestellte  Uni- 
versität vorgemerkt  worden  (Köpke,  a.  a.  0.  S.  44,  Br.  G.  72)  und  hat  am 
14,  Juli  1808  auf  Humboldts  Antrag  vom  5.  Juli  ein  Warte geld  von  500 
Talern  erhalten  (Köpke  S.  64). 


X  Einleitung. 

weitert.  Endlich,  im  Winter  1819/20,  hat  Schleiermacher  sie 
fünfstündig  gelesen  —  und  zwar  Morgens  von  7 — 8  Uhr !  Da- 
mit waren  die  Maße  endgiltig  festgelegt.  Als  fünfstündiges 
Kolleg  hat  Schleiermacher  die  Enzyklopädie  noch  viermal 
vorgetragen:  in  den  Sommersemestern  1824,  1827,  1829  und 
im  Winter  1831/32.1) 

Schleiermacher  hat  demnach  in  dreißig  Jahren  zwölfmal 
Enzyklopädie  gelesen ;  sie  gehört  mit  der  theologischen  Ethik, 
die  er  auch  zwölfmal,  und  der  Dogmatik,  die  er  dreizehnmal 
vorgetragen  hat,  zu  seinen  theologischen  Hauptkollegien  und 
ist  in  der  Tat  eine  „stehende  Vorlesung"  geworden.  Er  hat 
sie  zweimal  in  Halle,  zehnmal  in  Berlin  gehalten:  viermal 
zweistündig  —  denn  die  beiden  Vorlesungen  in  Halle  werden 
auch  zweistündig  gewesen  sein:  länger  gewiß  nicht,  da  er 
sie  auch  in  Berlin  zunächst  so  gehalten  hat ;  aber  auch  nicht 
kürzer,  da  sie  nicht  als  Publika  angekündigt  waren  —  ein- 
mal dreistündig,  zweimal  vierstündig  und  fünfmal  fünfstündig. 

Es  wäre  wichtig  und  für  die  Aufklärung  der  Entwick- 
lungsgeschichte und  das  Verständnis  einzelner  Partieen  des 
Werkes,  namentlich  des  ersten  Teils  und  der  geschichts- 
philosophischen  Erörterungen  des  zweiten,  ein  großer  Gewinn, 
wenn  noch  erläuternde  Aufzeichnungen  von  Schleiermacher 
oder  Nachschriften  existierten.  Leider  sind  Nachforschungen 
vergeblich  gewesen.  Das  Archiv  der  Literatur-Gesellschaft 
in  Berlin,  das  den  zugänglichen  Nachlaß  Schleiermachers  ver- 
wahrt, enthält  nichts  davon,  und  auch  Herr  Professor  Dil- 
they  erklärt,  kein  Erläuterungsmaterial  zu  besitzen.  Wir 
sind  also  auf  den  Text  beschränkt,  den  Schleiermacher  selbst 
hat  drucken  lassen. 

Der  Gedanke  an  den  Druck  ist  fast  so  alt  wie  die  Vor- 
lesung selbst.  Schon  im  Oktober  1804  hat  Schleiermacher 
eine   Drucklegung    der   Leitsätze    ins    Auge   gefaßt.^)      Alt- 

^)  Die  Daten  nach  dem  Berliner  Lektionskatalog. 
2)  13.  Okt.  1804  an  R  e  i  m  e  r :  Vielleicht  ist  auch  die  Enzyklopädie  das 
erste,  worüber  ich  etwas  drucken  lasse  (Br.  IV  105). 


Einleitung.  XI 

modische  Prinzipien  und  bedenklichste  Begriffe  von  der  Auf- 
gabe und  Methode  des  theologischen  Studiums,  wie  sie  bald 
nach  seiner  Berufung  von  der  Hallischen  Fakultät  ei'neuert 
wurden,  unterstützten  den  Plan  und  befestigten  in  Schleier- 
macher die  Idee  einer  kurzen  öffentlichen  Darstellung  seiner 
eigenen,  durchaus  abweichenden  Ansicht.  Um  so  mehr,  als 
er  sich,  aus  Solidaritätsgefühl,  in  einen  peinlichen  Wider- 
spruch mit  sich  selbst  verwickelt  hatte.  Im  Jahre  1805  hatte 
die  theologische  Fakultät  in  Halle  eine  „Anweisung  für  an- 
gehende Theologen  zur  Übersicht  ihres  Studiums  und  zur 
Kenntnis  der  vorzüglich  für  sie  bestimmten  Bildungsanstalten 
und  anderer  akademischer  Einrichtungen  auf  der  königlich 
preußischen  Friedrichs  -  Universität"  in  Druck  gegeben.  ^) 
Dieses  Programm  —  ein  Manifest  von  32  Seiten  —  war  ein 
echtes  Zeichen  der  Zeit,  d.  i.  der  Epoche,  die  Schleiermacher 
und  sein  Geschlecht  zu  überwinden  berufen  waren.  Geistlos, 
formlos,  überladen  und  pedantisch,  stellte  es  den  schulmäßig- 
schulmeisterlichen  Betrieb  möglichst  vieler  Disziplinen,  ohne 
Rücksicht  auf  die  idealen  Faktoren,  in  denen  das  Schleier- 
machersche  Geschlecht  unter  der  Führung  Fi  cht  es  und 
Schellings  die  bewegenden  Kräfte  und  den  wahrhaften  Wert 
der  Wissenschaft  entdeckt  hatte,  als  die  Normalform  des  theolo- 
gischen Studiums  dar.  Das  unerfreuliche  Dokument  war  in 
der  Jenaer  L.  Z.  1806  Nr.  79  und  78  von  einem  ungenannten 
Rezensenten  wegen  seiner  unfreien,  utilitarisch-beschränkt- 
verwirrenden  Haltung  heftig  angegriffen  worden.  Schleier- 
macher fand  die  Kritik  recht  „brav",  lobte  sie  auch  unter 
Freunden  während  eines  vorübergehenden  Aufenthaltes  in 
Berlin  (Br.  G.  45),  hatte  aber  gleichwohl,  da  er  inzwischen 
(am  7.  Februar  1806)  zum  Ordinarius  aufgerückt  war,  aus 
kollegialischen  Rücksichten  und  um  nicht  gleich  bei  der 
ersten  Gelegenheit  als  Fremdnatur  zu  erscheinen,  die  offizielle 


^)  Ein  Exemplar  dieses  selten  gewordenen  Schriftchens  befindet  sich 
auf  der  Königsberger  Universitätsbibliothek. 


XII  Einleitung. 

Gegenkundgebung  der  Hallischen  Fakultät  mit  unterschrieben 
(Br.  G.  52).  Um  so  bestimmter  dachte  er  daran,  für  den 
nächsten  Vortrag  der  Enzyklopädie  ein  eigenes  Heftchen 
drucken  zu  lassen.^) 

Das  wäre  vielleicht  schon  im  Winter  1806  geschehen, 
wenn  nicht  der  Krieg  und  die  Aufhebung  der  Universität  da- 
zwischen gekommen  wäre.  Es  hat  dann  noch  vier  Jahre 
gedauert,  bis  der  erste  Text  erschien.  Daß  Schleiermacher 
in  der  Unruhe  des  Jahres  1808,  wo  er  die  Enzyklopädie 
wieder  vortrug,  zu  keiner  Drucklegung  gekommen  ist,  begreift 
sich  aus  der  Lage  der  Zeit  und  aus  den  wichtigeren  Dingen, 
die  ihn  damals  beschäftigten,  der  Gründung  der  Berliner 
Universität  und  der  Gründung  des  eigenen  Hauses.  So  ver- 
schob sich  der  Plan  bis  zur  Eröffnung  der  neuen  Hochschule, 
ja  über  dieselbe  hinaus.  ^^)  Der  „Lehrplan",  d.  i.  die  Arbeit 
in  der  Kommission  zur  Errichtung  der  Universität,  in  die  er 
auf  Humboldts  i^ntrag  durch  Kabinetsordre  vom  30.  Mai 
1810  mit  Uhden  und  Süvern  berufen  war,  und  die  in  der 
Zeit  vom  3.  Juni  bis  4.  Oktober  in  einigen  zwanzig  Sitzungen 
tagte, ^)  machte  ihm  die  rechtzeitige  Ausarbeitung  des  Textes 
unmöglich;  am  1.  September  war  noch  nichts  geschrieben 
(Br  G.  78).  Vermutlich  hat  die  Ausarbeitung,  da  die  zeit- 
raubende Universitätskommission  bis  in  den  Oktober  hinein 
tagte,  erst  mit  der  Vorlesung  selbst  begonnen.  Sie  erstreckte 
sich  bis  zum  Ende  des  Jahres.    Die  Vorrede  ist  im  Dezember 


1)  So  an  Gai],  im  Sommer  1806  (Br.  G.  53).  —  An  Reimer  hatte 
er  schon  unter  dem  25.  Dezember  1805  geschrieben,  daß  er  zur  nächsten 
Michaelismesse  mit  einem  kleinen  theologischen  Kompendium  aufzutreten 
gedenke  (Br.  II  48). 

2)  Daß  Schleiermacher  ihn  auch  in  der  Zwischenzeit  nicht  aus  den 
Augen  gelassen  hat,  zeigt  ein  Brief  an  H.  von  Willich,  wo  er,  unter  dem 
28.  März  1809,  Folgendes  schreibt:  Bleibt  es  dabei,  daß  die  Universität,  wie 
es  die  meisten  hoffen,  Michaeli  eröffnet  wird,  dann  siehst  Du  mich  noch 
diesen  Sommer  ein  Büchlein  schreiben,  nur  ein  kleines  akademisches  Hand- 
buch (Br.  II  235). 

3j  Köpke,  S.  76. 


Einleitung.  XIII 

geschrieben.  Am  29.  Dezember  konnte  Schleiermacher  seinem 
Freunde  Gaß  in  Breslau  mitteilen,  daß  die  Enzyklopädie 
nun  endlich  fertig  geworden  sei.  „Ich  bin  neugierig,"  fügt 
er  hinzu,  „ob  sie  eine  neue  Quelle  von  Yerketzerungen  werden 
wird.  Mir  sind  die  Sachen  nun  durch  Adelfache  Behandlung 
so  familiär  geworden,  daß  ich  nicht  finde,  was  Anlaß  dazu 
geben  könnte.  Nur  daß  viel  Gespenster  darin  seien,  werden 
die  Leute  sagen,  theologische  Disziplinen,  die  es  nie  gegeben 
habe  und  nie  geben  werde.  Da  werde  ich  nun  den  Beweis 
durch  die  Tat  zu  führen  haben,  was  aber  freilich  zum  Teil  erst 
nach  Erscheinung  meiner  Ethik  geschehen  kann."  (Br.  G.  87). 

Der  genaue  Titel  der  ersten  Auflage,  bei  deren  Ausar- 
beitung Schleiermacher  erfahren  sollte,  „wie  ungeheuer  schwer 
ein  Kompendium  ist,"  ^)  ist  folgender:  Kurze  Darstellung  des 
theologischen  Studiums,  zum  Behuf  einleitender  Vorlesungen 
entworfen  von  F.  Schleiermacher,  der  Gottesgelahrtheit  Doktor 
und  öffentl.  ordentl.  Lehrer  an  der  Universität  zu  Berlin, 
evang. -ref.  Prediger  an  der  Dreifaltigkeitskirche  daselbst, 
ordentl.  Mitglied  der  Königl.  Preuß.  und  korresp.  der  Königl. 
Bairischen  Akademie  der  AVissenschaften.-)  Berlin  1811.  In 
der  Realschulbuchhandlung. 

Es  war  eine  Programmschrift  erster  Ordnung,  voll  neuer, 
epochemachender,  revolutionärer  Ideen,  die  Schleiermacher 
mit  seinem  Kompendium  der  theologischen  Welt  und  Wissen- 
schaft vorlegte.  Er  selbst  ist  sich  dessen  bewußt  gewesen 
und  dachte  nicht  gering  von  seinem  Entwurf.  x41s  er  gehört 
hatte,  daß  der  Breslauer  Theologe  und  Kirchenhistoriker 
Augusti  das  Schriftchen  in  Weimar  als  einen  geistreichen 
Scherz  verbreitet  haben  sollte  —  was  übrigens  nicht  zutraf 
(Br.  G.  105 f.)  —  schrieb  er  an  Gaß,  nicht  ohne  ein  leises 
Zeichen  von  Unmut :  „Du  kannst  ihm  immer  sagen,  mir  sei  es 


')  So  noch  am  12.  Juni  1813  an  Fr.  Schlegel  (Br.  III  430). 

^)  Mitglied  der  Münchener  Akademie  ist  Schleiermacher,  wie  Herr 
Pastor  Merkel-München  für  mich  festzustellen  die  Güte  gehabt  hat,  durch 
Eeskript  vom  19.  März  1808  geworden. 


XIV  Einleitung. 

SO  ernst  damit,  daß  ich  es  ordentlich  für  eine  Probe  halte, 
ob  es  jemand  mit  der  Theologie  ernstlich  und  im  rechten 
Sinne  meint,  wenn  es  ihm  wenigstens  ernsthaft  vorkommt 
(Br.  G.  103)."  Um  so  auffallender  ist  es,  daß  die  Kritik  das 
Büchlein,  trotz  der  Berühmtheit  seines  Verfassers,  fast  gänz- 
lich mit  Schweigen  übergangen  hat.  Weder  die  Hallische, 
noch  die  Jenaische  Literaturzeitung  hat  von  dem  Abriß 
Kenntnis  genommen,  auch  später  nicht,  als  er  in  zweiter, 
erweiterter  Auflage  erschien.  Ebenso  stumm  sind  Fachzeit- 
schriften und  Eezensionsorgane,  von  denen  etwa  zwanzig  ein- 
gesehen wurden,  an  beiden  Auflagen  vorübergegangen.  Nur 
die  Heidelberger  Jahrbücher  der  Literatur  haben  eine  aus- 
führliche Analyse  und  Kritik  des  Schleiermacherschen  Kom- 
pendiums gebracht:  1812  S.  511—530.  Verfasser  der  Anzeige, 
die  mit  S.  unterzeichnet  ist,  ist  höchst  wahrscheinlich  und 
nahezu  gewiß  der  Heidelberger  Dogmatiker  und  spätere  Freund 
Schleiermachers,  F.  H.  Chr.  Schwarz.^)  Die  verständnis- 
volle und  sympathische  Rezension  analysiert  das  Schleier- 
machersche  Programmbüchlein  vortrefflich.  Der  ungemeine 
Horizont  des  Entwurfs  und  die  systematisch  -  schöpferische 
Kraft  seines  Urhebers  werden  rückhaltlos  anerkannt.  Unter 
den  geltend  gemachten  Bedenken  sind  drei  Bemerkungen 
hervorzuheben:  1.  der  Protest  gegen  die  Zurücksetzung  des 
Alten  Testamentes  (S.  526);  2.  der  Zweifel  an  der  Berech- 


1)  1766—1837,  Schwiegersohn  Jung-Stillings ,  seit  1804  Geheimer 
Kirchenrat  tind  D  a  u  b  s  Kollege  in  Heidelberg,  Verfasser  eines  Grundrisses 
der  kirchlich-protestantischen  Dogmatik  (Heidelberg  1816).  Schleiermacher, 
der  ihn  im  Herbst  1814  persönlich  kennen  und  schätzen  lernte,  hat  ihn  in 
der  Vorrede  zur  zweiten  Auflage  der  Glaubenslehre  p.  V  als  den  ersten  Dog- 
matiker der  Unionskirche  und  damit  als  seinen  Gesinnungsvorgänger  aus- 
gezeichnet. —  Dai3  hinter  dem  S.  sich  Schwarz  verbirgt,  ist  dadurch  er- 
wiesen, daß  in  der  von  ihm  verfaßten  Besprechung  der  Glaubenslehre,  in 
den  Heidelberger  Jahrbüchern  1822  u.  23,  einer  der  ersten  und  bedeutendsten 
Anzeigen  des  großen  Werkes,  ein  schon  in  dem  kritischen  Referat  über 
die  Enzyklopädie  gegen  Schleiermacher  erhobener  Einwurf  pünktlich  wieder- 
holt wird.    Näheres  siehe  unten. 


Einleitung.  XV 

tigung  und  Durchführbarkeit  des  Gedankens,  die  Theologie 
auf  die  Ethik  zu  gründen  und  dadurch  organisch  mit  der 
absoluten  Wissenschaft  zu  verbinden  (S.  523);  3.  die  ent- 
schiedene Ablehnung  der  methodischen  Regel,  daß  die  philo- 
sophische Theologie  als  Wissenschaft  vom  Wesen  des  Christen- 
tums ihren  Standpunkt  über  dem  Christentum  nehmen  müsse. 
Es  ist  der  einzige  Punkt,  wo  unser  Kritiker  scharf  und  er- 
regt wird  und  seine  ruhige  Sachlichkeit  opfert;  er  nennt 
dieses  Prinzip  „in  der  Wurzel  un christlich"  und  steht  nicht 
an,  es  geradezu  als  ein  Werk  der  Erbsünde  zu  bezeichnen 
(S.  525).^) 

Fragt  man,  ob  und  wie  diese  Kritik,  die  einzige,  die 
uns  bekannt  geworden  ist,  auf  Schleiermacher  gewirkt  hat, 
so  kann  die  Antwort  nur  durch  Vergleichung  der  zweiten 
Auflage  gewonnen  werden.  Dabei  ergibt  sich,  daß  Schleier- 
macher an  allen  drei  Punkten  bei  seiner  Ansicht  geblieben 
ist.  Nur  in  Bezug  auf  den  dritten  hat  er  sich  in  der  zweiten 
Auflage  schärfer  und  unmißverständlicher  gefaßt.  Er  hat 
§  7  S.  70  der  ersten  Auflage  (S.  97  unserer  Ausgabe)  als 
eine  überflüssige  Wiederholung  von  §  4  S.  12  (S.  14  unserer 
Ausgabe)  gestrichen,  und  in  dem  korrespondierenden  §  33  der 
zweiten  Auflage  ausdrücklich  hervorgehoben,  daß  der  Stand- 
punkt der  philosophischen  Theologie  über  dem  Christentum 
rein  logisch  -  formal,  als  Aufstieg  zum  Allgemeinbegriff  der 
Religion,  durchaus  nicht  als  inhaltliche,  von  Werturteilen 
getragene  Erhebung  über  das  Christentum  gedacht  sei.    Da- 


^)  Sachlich  identisch,  wenn  auch  in  der  Form  sehr  viel  milder,  hat 
der  Verfasser  zehn  Jahre  später  über  denselben  kritischen  Punkt  in  der 
Anzeige  der  ersten  Auflage  der  Glaubenslehre  geurteilt.  „Die  Worte,  wo- 
mit der  §  6  schließt  „Sollen  wir  also  andere  Glaubensweisen  in  ihrer  Wahr- 
heit betrachten,  so  müssen  wir  auch  um  deswillen  unser  tätiges  Verhältnis 
zum  Christentum  für  diese  Zeit  ruhen  lassen",  müßte  Eef.  nach  seiner 
Überzeugung  dahin  umändern,  daß  wir  gerade  dafür  und  für  diese  Zeit 
unser  tätiges  Verhältnis  im  Christentum  aufs  stärkste  wirken  lassen"  (Heidel- 
berger Jahrbücher  1822  S.  965). 


XVI  Einleitung. 

mit  ist  aber  materiell  nichts  geändert,  sondern  nur  in  der 
Form  präzisiert,  was  Schleiermacher  schon  1811  allein  ge- 
wollt und  gefordert  hat,  und  was  ein  aufmerksamer  Leser 
schon  damals  nicht  hätte  mißverstehen  sollen. 

Trotz  der  erstaunlich  geringen  Beachtung,  die  Schleier- 
machers Kompendium  in  der  öffentlichen  Kritik  gefunden 
hat,  ist  es,  schon  in  seiner  ersten  Fassung,  nicht  ganz  ohne 
Wirkungen  geblieben.  Das  erste  Zeugnis  dafür  ist,  merk- 
würdig genug,  eine  katholische  Enzyklopädie:  Kurze  Ein- 
leitung in  das  Studium  der  Theologie,  von  Joh.  Seb.  Drey, 
Tübingen  1819.  Der  Verfasser,  der  p.  IV  der  Vorrede 
Schleiermachers  Grundriß  mit  Achtung  nennt,  teilt  ganz  und 
gar  dessen  Wissenschaftsbegriff,  der  die  Theologie  der  Aggre- 
gate zertrümmert,  um  eine  methodisch  organisierte,  vielmehr 
sich  selbst  organisierende  Theologie  an  ihre  Stelle  zu  setzen 
(p.  IV  u.  V).  Wie  die  prinzipielle  Haltung,  so  ist  auch  manches 
wichtige  Stück  des  ausgeführten  Entwurfs  von  Schleiermachers 
Einfluß  zeugend:  so  die  eigentümliche,  bis  auf  den  Wortlaut 
durch  Schleiermacher  bestimmte  Erweichung  der  überlieferten 
Schulbegriffe  ,orthodox'  und  ,heterodox'  zu  Symbolen  für  die 
auf  Erhaltung  und  Umgestaltung  der  überkommenen  Lehr- 
form gerichteten  Bestrebungen  (S.  173).  —  Zu  den  Wirkungen 
Schleiermachers  kann  auch  gerechnet  werden,  daß  Gaß  in 
Breslau,  im  Winter  1822/23,  nach  seinem  Leitfaden  Enzj^- 
klopädie  vortrug  (Br.  G.  195).^) 

Bei  so  begrenztem  Wirkungsfelde  kann  es  nicht  auffallen, 
daß  erst  nach  zwanzig  Jahren  eine  neue  Auflage  nötig  wurde. 
Sie  erschien  im  Spätherbst  1830;  die  Vorrede  ist  im  Oktober 
geschrieben,  der  Druck  wird  Mitte  November  vollendet  ge- 
wesen sein.  Am  18.  November  konnte  Schleiermacher  an 
Gaß  berichten,  daß  die  zweite  Auflage  der  Enzyklopädie 
fertig  sei  (Br.  G.  228).    Nachrichten  über  den  Gang  und  den 


^)  Dasselbe   hat   Schleiermachers   ^'achfolg•er   Twesten   im   Winter 
1842/43  in  Berlin  getan  (nach  dem  Lektionskatalog). 


Einleitung.  XVII 

Zeitraum  der  Ausarbeitung,  die  mit  der  Revision  der  Glaubens- 
lehre zusammenfiel,  sind  nicht  vorhanden.  Der  genaue  Titel 
der  zweiten  Auflage  lautet:  Kurze  Darstellung  des  theologi- 
schen Studiums  zum  Behuf  einleitender  Vorlesungen.  Ent- 
worfen von  Dr.  Fr.  Schleiermacher.  Zweite  umgearbeitete 
Ausgabe.  Berlin  1830.  Gedruckt  und  verlegt  bei  G.  Reimer. 
Die  angekündigte  Umarbeitung  stellt  sich  vor  allem  als 
Erweiterung  dar.  Sämtliche  Paragraphen  haben  in  der 
zweiten  Ausgabe  Erläuterungen  erhalten,  die  den  oft  rätsel- 
haft gedrängten  Text  des  ersten  Entwurfs  dem  allgemeinen 
Verständnis  näher  bringen  und  dadurch  eines  der  wichtigsten 
Hindernisse  für  die  Wirkung  des  Werkes  aus  dem  Wege 
räumen  sollen.^)  Eine  ausführliche  Untersuchung  der  Unter- 
schiede beider  Auflagen  würde  die  Grenzen  dieser  Einleitung 
überschreiten.  Sie  müßte,  um  exakt  zu  sein,  von  Paragraph 
zu  Paragraph  vollzogen  werden,  und  bleibt  dem  Studium  des 
Lesers  überlassen.  Im  ganzen  wird  man  sagen  dürfen,  was 
Schleiermacher  von  der  zweiten  Auflage  der  Glaubenslehre 
in  ihrem  Verhältnis  zur  ersten  gesagt  hat:  er  habe  viel  und 
auch  wieder  nichts  geändert  (Br.  G.  222).  Der  Text  ist  fast 
überall  umgeschrieben,  erweitert,  verkürzt,  und  hin  und  her 
auch  in  größeren  Zusammenhängen  überarbeitet  und  neu  ge- 
ordnet. Die  leitenden  Prinzipien  aber  sind  durchaus  die- 
selben geblieben  und  mit  ihnen  das  Gefüge  des  Schleier- 
macherschen  Entwurfs.  Unter  den  größeren  Veränderungen 
ist  nur  die  Umstellung  der  beiden  Hauptteile  der  Praktischen 
Theologie  zu  erwähnen,  der  aber  nach  Schleiermachers  eigener 
Aussage   keine  methodische  Bedeutung  zukommt  (vgl.  S.  106 

^j  Die  nachteihgen  Folgen  des  körperlosen  Paragraphenstils  der  ersten 
Auflage  hat  schon  Twesten  richtig  empfunden,  wenn  er,  unter  dem  23. 
März  1823,  an  Schleiermacher  schreibt:  tJberhaupt  ist  bei  allem,  was  Sie 
schreiben,  gewiß  mehr  die  Kürze,  als  die  Ausführlichkeit  zu  bedauern  .  .  . 
So  hätte  schon  Ihre  Enzyklopädie  weit  tiefer  eingreifen  müssen,  wenn  die 
Xürze  derselben  sie  nicht  vielen  zu  einem  verschlossenen  Buch  gemacht 
hätte  (Heinrici,  August  Twesten  1889  S.  380). 

n 


XVIII  Einleitung. 

unserer  Ausgabe).  Daß  im  einzelnen  Vieles,  und  durchaus 
nicht  nur  Gleichgiltiges  geändert  ist,  kann  hier  nur  ange- 
deutet werden.  So  wird,  um  nur  ein  Beispiel  zu  nennen,  der 
dogmatische  Beweis  in  der  ersten  Auflage  (S.  60  [S.  80  unserer 
Ausgabe]  §  20)  abhängig  gemacht  von  dem  Befunde  des 
Kanons  und  der  Spekulation,  die  in  der  zweiten  Auf- 
lage (§  210)  gestrichen  ist,  usf. 

Wiewohl  auch  der  zweite,  verbesserte  Entwurf  keine 
selbständige  Besprechung  gefunden  hat,  so  hat  er  doch  ganz 
anders  gewirkt.  Die  inspirierende  Kraft  und  Größe,  die 
Nitzsch  und  Lücke  ihm  nachgerühmt  haben,^)  ist  durch 
die  Geschichte  bestätigt  worden.  Kein  namhafter  Methodiker 
des  19.  Jahrhunderts,  der  nicht  in  der  Auseinandersetzung* 
mit  ihm  sich  seine  Prinzipien  gebildet  hätte!  Den  Umfang 
dieser  Wirkungen  zu  beschreiben,  können  wir  uns  um  so 
eher  erlassen,  als  dies  erst  jüngst  mit  erschöpfender  Gründ- 
lichkeit von  Alfred  Eckert  geschehen  ist,  in  seiner  ,Ein- 
führung  in  die  Prinzipien  und  Methoden  der  evangelischen 
Theologie',  Leipzig  1909,  S.  23—51.  Am  stärksten  scheint 
Schleiermacher  gewirkt  zu  haben  auf  den  Schwedischen  Theo- 
logen Propst  Reuterdahl  (1795—1870;  vgl.  Haucks  Real- 
Enzyklopädie,  dritte  Auflage,  Bd.  16,  S.  705  ff.),  dessen  enzyklo- 
pädischer Entwurf  (Inledning  litt  Theologien.  Lund  1837.  VIII 
u.  520  S.)  der  einzige  zu  sein  scheint,  der  die  Theologie  mit 
Schleiermacher  in  einen  philosophischen,  historischen  und 
praktischen  Teil  zerlegt,  und,  mit  E  o  t  h  e  s  Abriß,  der  einzige, 
der  auch  die  Einordnung  der  Dogmatik  in  die  historische 
Theologie  von  Schleiermacher  übernommen  hat.^)    Unter  den 

^)  Nitzsch,  Observationes  ad  theologiam  practicam  felicius  excolen- 
dam,  Bonner  Programm  1831  p.  2:  e  prophetico  genere,  si  veniam  demiis, 
dicat  aliquis  eam  esse  methodum,  dicat  qiioque  e  poetico,  interiori  illo  vocis 
sensu,  quo  Aristotelici  poetici  dicuntur.  —  „Mehr  eine  Theologie  der  Zu- 
kunft, als  der  Gegenwart"  (Lücke,  in  den  , Studien  u.  Kritiken*  1834  S.  973). 

^)  Der  genauere  Aufbau  des  in  Deutschland  nicht  zugänglichen  Werkes 
(vgl.  auch  Eckert,  a,  a.  0.  S.  39  Anm.  43),  ist,  nach  einer  gütigen  Mt- 
teilung  Ton  Herrn  Professor  Söderblom-Upsala,  folgender: 


Einleitung.  XIX 

deutschen  Entwürfen  ist  zweifellos  Kothes  Kompendium 
(Theologische  Enzyklopädie,  hrsg.  von  H.  Ruppelius,  Witten- 
berg 1880),  nach  Form  und  Gehalt  (bis  auf  die  spekulative 
Theologie,  durch  die  er  die  philosophische  Schleiermachers  er- 
setzt) weitaus  am  meisten  durch  Schleiermacher  bestimmt. 
Rothe  ist,  mit  A.  Dorn  er  (Grundriß  der  Enzyklopädie  der 
Theologie,  Berlin  1901),  der  aber  sachlich  ganz  andere  Wege 
geht,  der  einzige,  der  sich,  wie  Schleiermacher,  sehr  zum 
Gewann  für  die  pünktliche  Erörterung  des  Strukturproblems, 
auf  eine  formale  Übersicht  beschränkt  hat,  wie  er  mit 
Reuter  da  hl  der  einzige  ist,  der  die  Dogmatik  mit  Schleier- 
macher zu  den  historischen  Disziplinen  zieht. 


§2. 
Gehalt  und  Gliederung. 

Es  kann  nicht  die  x4.ufgabe  dieser  Einleitung  sein,  den 
Gehalt  des  Schleiermacherschen  Entw^urfs  analytisch  zu  ent- 
wickeln, nachdem  erst  eben  Alfred  Eckert  in  seiner  oben 
genannten  ,Einführung'  eine  ebenso  genaue,  wie  in  den  Haupt- 
stücken überzeugende  Würdigung  des  Werkes  geliefert  hat 
(S.  52—96.    Vgl.  auch  das  kritische  Referat  von  W  Bender, 


I.  Theologins  begrepp  (Begriff) 
II.  Theologins  utgrening  (Verzweigung) 
A)  Philosophische  Theologie 

a)  Eeligions-Psychologie 

b)  Eeligionsgeschichte  u.  -philosophie 

c)  Apologetik 

d)  Polemik 

B)  u.  C)  wie  bei  Schleiermacher.  —  Schleiermachers  Einfluß  auf 
Schweden  anlangend,  ist  es  wichtig  zu  wissen,  daß  Schweden  das  einzige 
außerdeutsche  Land  ist,  das  eine  tJbersetzung  der  Glaubenslehre  besitzt. 
Die  tJbertraguug  ist,  wie  Herr  Prof.  S öd erblom  mir  gleichzeitig  mitteilt, 
nach  der  zweiten  Auflage  erfolgt,  von  Dr.  Ignell,  unter  dem  Titel:  Den 
Christliga  tron  (tro  =  Glaube),  eftar  evangeliska  kyrkans  grundsatser,  Stock- 
holm, Hoeggström  1842 — 46,  sechs  Lieferungen. 

II* 


XX  Einleitung. 

Schleiermachers  Theologie  II  1878  S.  299—350).  Nur  einige 
Hauptpunkte,  die  den  geschichtlichen  Fortschritt  bezeichnen, 
sollen  kurz  umschrieben  werden. 

Drei  Stücke  sind  es,  durch  die  sich  der  Schleiermachersche 
Entwurf  prinzipiell  von  allen  früheren  Entwürfen  unterscheidet 
und  neue,  epochemachende  Gesichtspunkte  aufschließt:  (1).  die 
Deduktion  der  Theologie  aus  einem  einzigen  organisierenden 
Prinzip;  (2).  die  Entdeckung  der  kritischen  Methode,  jenseits 
von  Spekulation  und  Empirismus;  (3).  die  Einordnung  der 
Theologie  in  das  S3^stem  der  Geistes-,  oder,  wenn  Rickerts, 
durch  Schleierraachers  Ethik  vorbereiteter  Ausdruck  vor- 
zuziehen ist,  der  Kulturwissenschaften.  In  diesen  charakte- 
ristischen Stücken  sind  folgende  Hauptmomente  enthalten. 

(1).  Der  Versuch,  die  Theologie  aus  einem  Prinzip  zu 
deduzieren,  ist,  innerhalb  der  theologischen  Wissenschaft, 
eben  so  neu  und  überraschend,  wie  die  Erzeugung  dieses 
Prinzips  aus  dem  Motiv  der  Kirchenleitung.  Vergleicht  man 
die  gangbarsten  älteren  Enzyklopädien  von  Nösselt  und 
Planck,^)  die  Schleiermacher  selbst  noch  bei  seinen  ersten 
Vorlesungen  zur  Ausfüllung  benutzt  hat  (Br.  G.  2),  so  ist  der 
neue  Geist  seines  eigenen  Entwurfs  an  diesem  Punkte  am 
stärksten  fühlbar.  Nösselt  und  Planck  stellen  die  einzelnen 
theologischen  Disziplinen  einfach  empirisch  nebeneinander, 
ohne  nach  dem  inneren  Zusammenhang  zu  fragen.  Für 
Schleiermachers  Entwurf  ist  gerade  diese  Frage  grundlegend 
geworden:  das  macht  der  neue  Wissenschaftsbegriif,  in  den 
er  sich  hineingedacht  hat.  Er  hat  ihn  nicht  selbst  entdeckt. 
Er  ist  unter  Kantischen  Anregungen  zuerst  von  dem  älteren 
Eeinhold  entwickelt,  dann  von  Fichte  ausgebaut  und 
endlich   von   Schelling,   in   seinen  Vorlesungen  über   die 


^)  Joh.  Aug.  Nösselt  (f  1807),  Anweisung  zur  Bildung  angehender 
Theologen.  3  Teile.  Halle  1786 — 89,  zweite,  yerm.  u.  verb.  Auflage  1791 
(noch  1818/19  in  dritter  Auflage  von  Niemeyer  herausgegeben).  —  G.  J. 
Planck  (1751—1833),  Einleitung  in  die  Theologische  (so!)  Wissenschaften. 
2  Teüe.    Göttingen  1794/95. 


Einleitung  XXI 

Methode  des  akademischen  Studiums  1803,  in  grandiosester 
Architektonik  vollendet  worden.  ^)  Zwei  Momente  kon- 
stituieren diese  neue  Wissenschaftslehre:  (1).  formell  das 
Postulat  einer  streng  methodischen  Ableitung  des  Zyklus  der 
Wissenschaften  aus  der  Idee  des  Absoluten  (bei  Schelling  und 
Schleierraacher  des  Identitätsprinzips  und  seiner  Digres- 
sionen);  (2).  materiell  die  Anschauung  der  Wissenschaft  als 
eines  lebendigen,  durch  die  Einheit  seiner  Teile  in  einer 
Idee  zur  Unauflöslichkeit  erhobenen  Organismus,  und,  im  Zu- 
sammenhange damit,  die  Überwindung  des  mechanistischen 
Wissenschaftsbegriifs. 

Beginnen  wir  mit  dem  zweiten  Punkte,  so  hängt  der 
wissenschaftliche  Charakter  der  Theologie  offenbar  daran,  daß 
es  gelingt,  ein  Prinzip  zu  finden,  aus  dem  die  einzelnen 
Zweige  derselben  organisch  abgeleitet  werden  können.  Dieses 
Prinzip  glaubt  Schleiermacher  gefunden  zu  haben  in  dem  Motiv 
der  Kirchenleitung,  und  sein  Kompendium  ist  der  Versuch, 
die  Theologie  nach  diesem  Prinzip  als  ein  in  sich  geschlossenes 
Ganzes  zu  organisieren.  Indem  er  die  Aufgaben  der 
Theologie  aus  dem  Zweck  der  Kirchenleitung  zu 
begreifen  sucht,  gewinnt  er  das  Band,  das  sie 
innerlich  umschließt,  und  die  Basis,  auf  der  sich 
die  Theologie  in  seinem  Sinne  als  Wissenschaft 
konstituieren  kann.  Freilich  auch  dann  nur  als  Wissen- 
schaft zweiter  Ordnung,  oder,  wie  Schleiermacher  sich  aus- 
drückt, als  positive  Wissenschaft. 


^)  Eine  pünktliche  Untersuchung  des  Schleiermacherschen  Wissenschafts- 
begriffs und^  als  unentbehrlicher  Voraussetzung  desselben,  der  Wissenschafts- 
idee des  kritischen  und  romantischen  Idealismus  überhaupt,  ist  eine  noch 
ungelöste  Aufgabe,  —  Vgl.  meine  Andeutungen  in  , Christentum  u.  Wissen- 
schaft in  Schleiermachers  Glaubenslehre',  Berlin  1909  S.  49  ff.  u.  S.  61  Anm.  1. 
—  Ferner  Eckert,  Einführung  S.  52  ff.  (dort  dasselbe  Desiderat  S.  57 
Anm.  16),  H.  Süskind,  Der  Einfluß  SchelHngs  auf  die  Entwicklung  von 
Schleiermachers  System,  1909  S.  93ff.  u.  E.  Sprang  er,  in  der  Einleitung 
zu  jFichte,  Schleiermacher,  Steffens  über  das  Wesen  der  Universität'  (PhiL 
Bibl.  Bd.  120,  Leipzig  1910)  p.  XIV  ff. 


XXII  Einleitung. 

Das  führt  auf  den  ersten  Punkt  zurück.  Die  Theologie 
kann  trotz  des  Prinzips,  das  sie  zur  Wissenschaft  erhebt, 
nicht  im  eigentlichen  Sinne  Wissenschaft  sein,  weil  sie  dem 
Vollbegriif  der  Wissenschaft  nicht  genügt.  Dazu  müßte  sie, 
nach  Schelling,  dem  Schleiermacher  hier  folgt,  aus  der  Idee 
des  Absoluten  zu  entwickeln  sein,  was  Schleiermacher  (gegen 
Schelling;  vgl.  seine  Eezension  der  , Vorlesungen'  Br.  IV  579  ff., 
namentlich  S.  584)  für  eine  Unmöglichkeit  hält.  Denn  es 
gibt  nur  zwei  Manifestationen  des  Absoluten,  die  Erscheinung 
des  rein-identischen  Seins  unter  dem  Übergewicht  des  Eealen, 
als  Natur,  und  unter  dem  Übergewicht  des  Idealen,  als  Ver- 
nunft und  Geschichte.  Demnach  gibt  es  auch  nur  zwei 
„eigentliche'*  Wissenschaften:  die  Philosophie  der  Natur  und 
die  Philosophie  des  geistig-geschichtlichen  Lebens  (die  ,Ethik'), 
mit  ihren  empirischen  Korrelaten,  der  Naturkunde  und  der 
Geschichtswissenschaft,  und  über  beiden  eine  Wissenschafts- 
lehre (Transszendentalphilosophie,  Fundamentallehre,  Dia- 
lektik), die  die  Idee  des  Seins  und  des  Wissens  zu  entwickeln, 
ihr  gegenseitiges  Verhältnis  zu  bestimmen  und  auf  dem  so 
gewonnenen  Grunde  den  Kosmos  der  Wissenschaften  auf- 
zubauen hat. 

Die  Ausscheidung  der  Theologie  aus  der  „reinen"  Sphäre 
des  absoluten  Wissens  und  ihre  Einordnung  unter  die  „posi- 
tiven" Wissenschaften  bedeutet  demnach  zunächst  und  ur- 
sprünglich, daß  die  Theologie  nicht  spekulativ  begründet,  noch 
spekulativ  zu  begründen  ist  —  eine  Einsicht,  die  Schleier- 
macher früh  vor  den  wissenschaftlichen  Führern  seines  Zeit- 
alters vorausgehabt  hat  und  deren  energische  Übertragung 
von  der  Religion  (vgl.  die  ,Eeden')  auf  die  Theologie  inner- 
halb seiner  eigenen  Entwicklung  ein  Fortschritt  ersten  Ranges 
ist.  Der  Ausdruck  .positive  Wissenschaft'  hat  aber  nach 
Schleiermachers  Andeutungen  auch  einen  positiven  Sinn  und 
bedeutet,  daß  die  Theologie  ihren  Gegenstand  immer  schon 
vorfindet,  daß  das  Prinzip,  aus  dem  sie  entspringt,  etwas  Ge- 
gebenes ist,  und  zwar,  wie  Schleiermacher  behauptet  oder  doch 


Einleitung.  XXIII 

ZU  behaupten  scheint,  etwas  von  außen  her  Gegebenes,  das 
sich  bei  genauerer  Betrachtung  als  eine  praktische  Aufgabe 
herausstellt. 

Hierzu  ist  folgendes  zu  bemerken.  Unanfechtbar  ist  der 
Begriif  der  Theologie  als  positiver  Wissenschaft  in  dem  Sinne, 
daß  sie  ihr  Prinzip  nicht  hervorbringt,  sondern  als  gegebene 
Größe  hinnimmt.  Die  Einnahme  dieses  Standpunktes  ist  gleich- 
bedeutend mit  der  prinzipiellen  Überwindung  der  rationalen 
und  spekulativen  Theologie  und  ein  epochemachender  Fort- 
schritt von  allerhöchster  Wichtigkeit.  Daß  die  Theologie 
nicht  eine  Begriffs-,  sondern  eine  Gegenstands  Wissenschaft  ist, 
diese  Erkenntnis  ausgesprochen  und  wirksam  in  Kraft  gesetzt 
zu  haben,  ist  eine  der  Taten,  durch  die  sich  Schleiermacher 
in  der  Geschichte  der  Methodik  ein  bleibendes  Denkmal 
gesetzt  hat.  Und  es  bedeutet  in  diesem  Zusammenhange  nicht 
viel,  daß  sich  bei  ihm  mit  dem  Begriff  des  Positiven  zugleich 
die  Vorstellung  „zweiter  Ordnung"  verbindet.  Zwar  daß  es 
„reine"  Wissenschaften  gibt,  und  daß  wir  dieselben  in  der 
reinen  Mathematik  besitzen,  mindestens  in  der  nichteuklidischen 
Geometrie,  die  zweifellos  keine  praktische  Abzweckung  hat, 
sondern  nur  für  sich  selber  existiert,  hätte  man  nicht  be- 
streiten sollen.  ^)  Aber  auch  das  ist  unwidersprechlich,  daß 
die  reine  Wissenschaft,  an  welche  Schleiermacher  gedacht  hat, 
die  Wissenschaft  der  Konstruktionen,  heute  gegenstandslos 
geworden  ist,  und  daß  im  Laufe  des  19.  Jahrhunderts  die 
positiven  Wissenschaften  mehr  und  mehr  in  ihre  Posten  ein- 
gerückt sind.  Da  endlich  alle  Wissenschaften  aus  dem  Er- 
kenntnistrieb entspringen  und  auf  die  Erforschung  der  Wahr- 
heit gerichtet,  also  der  Idee  nach  theoretisch  sind  -),  so  sind 
sie  im  Prinzip  gleichwertig  und  bilden  nur  insofern  ein  abge- 
stuftes System,  als  sich  in  einigen  der  Wissenstrieb  unmittel- 


^)  wie  Eckert  es  tut,  Einführung  S.  53;  darum  ist  die  Scheidung 
zwischen  eigentlicher  und  positiver  Wissenschaft  doch  haltbar  und  sogar  not- 
wendig (gegen  Eckert  S,  57). 

2)  gegen  Eckert,  der  das  Gegenteil  behauptet  (S,  53  ff.). 


XXIV  Einleitung. 

bar  objektiviert,  in  anderen  dagegen  an  einer  gegebenen  Er- 
scheinung entzündet.  Will  man  nach  diesem  sekundären  Maß- 
stab Wissenschaften  erster  und  zweiter  Ordnung  unterscheiden 
—  und  es  ist  kein  Grund,  dies  nicht  zu  tun  —  so  fällt  die 
Theologie  durchaus  unter  die  Wissenschaften  zweiter  Ordnung^ 
d.  i.  sie  ist,  wie  schon  oben  bemerkt  wurde,  nicht  Begriffs-^ 
sondern  Gegenstandswissenschaft.  Und  Schleiermacher  bleibt 
im  Recht. 

Um  so  bedenklicher  scheinen  die  übrigen  Bestimmungen 
zu  sein.  Indem  nämlich  Schleiermacher  die  Theologie  aus 
dem  „konstitutiven  Prinzip"  der  Kirchenleitung  hervorgehen 
läßt,  scheint  er  ein  der  Wissenschaft  fremdes,  die  Eeinheit 
der  Forschung  bedrohendes  Motiv  praktisch-äußerlicher  Natur 
in  den  Mittelpunkt  gerückt  zu  haben.  Ein  Motiv,  das  im 
Wortsinn  konsequent  entwickelt,  die  Theologie  zu  ruinieren 
droht,  indem  es  sie  zu  einer  höheren  Technik  erniedrigt. 
Eine  Reihe  äußerst  gewagter  Behauptungen,  wie  die,  daß 
eine  rein  wissenschaftliche,  d.  i.  philologisch-historische  Be- 
schäftigung mit  dem  Kanon  nur  gegen  denselben  gerichtet 
sein  könne  (§  147)  u.  a.  m.  sind  Folgen  dieses  Ansatzes,  der 
bei  flüchtiger  Betrachtung  geeignet  scheint,  die  Theologie  zu 
diskreditieren  und  Schleiermachers  Leitgedanken,  der  theo- 
logischen Forschung  und  Wissenschaft  ein  festes,  gediegenes 
Rückgrat  zu  geben,   um  seine  besten  Wirkungen  zu  bringen. 

Ist  das  Schleiermachers  Meinung  gewesen?  Die  Frage 
auf  werfen  heißt  sie  verneinen.  Und  hier  stellen  wir  den  Satz 
voran,  daß  Schleiermachers  Ungeheurer  idealismus 
in  dem  Begriff  der  Kirche,  und  folglich  auch  dem 
der  Kirchenleitung,  idealePotenzen  aufleuchten 
sieht,  die  auch  die  trübste  Wirklichkeit,  damals 
vielleicht  nochtrüberalsheute,  nichtauslöschen 
kann,  unddie,  wosiewirksamempfunden  werden, 
sich  zu  dem  kosmischen  Rahmen  verdichten,  der 
alles  theologische  Denken  umspannt.  Die  wahr- 
haft grandiose  Naivetät,  mit   der  er  immer  und  überall  die 


Einleitung.  XXV 

dürftigste  Erscheinung*  der  Kirche  ins  Ideelle  hinaufgehoben 
hat,  ist  der  Schlüssel  zum  Verständnis  seiner  Theologie  und 
seines  enzyklopädischen  Ansatzes. 

Gleichwohl  bleiben  Bedenken  zurück,  und  es  fragt  sich^ 
ob  wir  den  Schleiermacherschen  Ansatz  nicht  dennoch  modifi- 
zieren müssen,  um  schwersten  Mißverständnissen  zu  begegnen 
und  Irrtümer  zu  verhüten,  die  aus  dem  Stichwort  ,Kirchen- 
leitung"'  nach  dem  empirischen  Sprachgebrauch  fast  notwendig 
entspringen  müssen.  Für  Schleiermacher  ist  Kirchenleitung 
letztlich  nichts  anderes,  als  die  Selbstberufungder  Theo- 
logie zu  charaktervoller  Pflege  evangelischen 
Geistes  und  evangelischer  Gesinnung  durch  das 
Medium  der  Wissenschaft,  also  nichts  von  „Kirchen- 
regiment". Aber  die  Tatsache,  daß  unsers  Wissens  noch  kein 
Schleiermacherforscher  auf  diese  Spur  gekommen  ist,  scheint 
zu  beweisen,  daß  das  Stichwort  unglücklich  gewählt  und  durch 
ein  besseres  zu  ersetzen  ist. 

Wissenschaft  ist  methodisch  geschulter  Wahrheitssinn, 
sonst  nichts.  Das  hat  Schleiermacher  so  gut  gewußt,  wie 
irgend  ein  großer  Forscher  neben  ihm.  Er  hat  für  die  un- 
abhängige Erkenntnis,  grade  in  der  Theologie,  nicht  nur  ge- 
lebt, sondern  gekämpft  und  gelitten,  wie  die  Geschichte  seines 
Lebens  in  der  Epoche  des  reaktionären  Hochkirchentums  be- 
weist. Die  Kirchlichkeit  seiner  Theologie  ist  immer  zweifel- 
haft gewesen.  Die  Kraft  und  Freude  seines  Lebens  war  stets 
die  freie,  unabhängige  Forschung,  mit  dem  aufrechten  Willen, 
der  Kirche  zu  dienen,  aber  auch  mit  dem  unbeugsamen  Ver- 
trauen darauf,  daß  diese  Art  von  Kirchendienst  zugleich  die 
wahre  Kirchenleitung  sei.  Kirchlichkeit  als  Maxime  und  Ge- 
sinnung, aber  nicht  als  Forschungsprinzip  und  -methode:  das 
ist  die  intellektuelle  Existenzform,  die  er  selbst  im  Begriff 
des  Kirchen  fürst  en  (§  9)  idealisiert  und  verewigt  hat.  Damit 
hat  er  sich  selbst  berichtigt.  Und  wir  meistern  ihn  nicht, 
sondern  bringen  ihn  nur  mit  sich  selber  in  Einklang,  wenn 
wir  aus  dem  konstitutiven  Prinzip  (§  81)   ein  teleologisches 


XXVI  Einleitung. 

Moment  und  aus  dem  objektiven  Faktor  eine  subjektive  Be- 
dingung machen,  die  deshalb  nicht  minder  verbindlich  ist. 
Denn  daß  der  Glaube  an  die  Kirche  und  die  Liebe  zur  Kirche 
auch  auf  protestantischem  Boden  erst  den  Theologen  machen, 
daß  eine  Theologie  ohne  die  Bereitschaft,  der  Kirche  zu 
dienen,  wäre  es  auch  noch  so  indirekt,  aufhört,  Theologie  zu 
sein,  ist  ein  i^xiom,  das  auch  im  Zeitalter  der  Eeligionsge- 
schichte  nicht  dauernd  bestritten  werden  wird. 

Schleiermacher  hat  selbst  den  Punkt  bezeichnet,  an  dem 
wir  einzusetzen  haben,  um  seinen  Ansatz  zu  korrigieren,  ohne 
seine  Absichten  zu  zerstören.  Er  hat  durch  seinen  kühnen 
Wurf  zwei  Ziele  auf  einmal  erreichen  wollen,  die  für  die 
Methodik  noch  heute  gelten,  (1).  eine  selbständige  theo- 
logische Wissenschaft,  (2).  eine  selbständige  theologische 
Wissenschaft:  das  erste  durch  Einführung  eines  eigenen 
Prinzips,  das  zweite  durch  Aufrichtung  des  Zweckbegriffs 
der  Kirchenleitung.  Aus  der  Tendenz  auf  die  Kirchenleitung 
hat  er  den  theologischen  Charakter  der  in  der  Theologie  ge- 
sammelten Kenntnisse  und  Probleme  ableiten  wollen.  Kirch- 
liche Brauchbarkeit  —  so  könnte  es  scheinen  —  ist  der  Prüf- 
stein und  Maßstab  theologischer  Wissenschaft,  ist  der  Be- 
ziehungspunkt, der  die  einzelnen  theologischen  Disziplinen  zu 
einem  Ganzen  zusammenschließt,  und  der  darüber  entscheidet, 
ob  eine  wissenschaftliche  Bestrebung  theologisch  ist  oder 
nicht  (§  6).  Aber  wenn  wir  genauer  zusehen,  so  finden  wir, 
daß  Schleiermacher  selbst  nicht  vermocht  hat,  diesen  Ge- 
sichtspunkt streng  durchzuführen.  An  einer  ganzen  Reihe 
von  Stellen,  z.  B.  auch  in  dem  oben  angeführten  §  147,  wird 
das  Motiv  der  Kirchenleitung  stillschweigend  durch  ein  anderes 
ersetzt,  nämlich  durch  das  Interesse  am  Christentum. 
Und  während  z.  B.  in  §  81  die  Kirchenleitung  als  das  kon- 
stitutive Prinzip  der  Theologie  erscheint,  bezeichnet  §  84 
vielmehr  die  immer  r  e  i  n  e  r  e  D  a  r  s  t  e  1 1  u  n  g  d  e  s  W  e  s  e  n  s 
des  Christentums  als  den  letzten  Zweck  aller 
Theologie  (vgl.  §313).     Also  nicht  Erziehung  zur  Kirchen- 


Einleitung-.  XXVII 

leitung',  sondern  zum  Verständnis  des  Christentums  das  End- 
ziel, und  der  methodische  Erwerb  dieses  Verständnisses,  mit 
allen  Voraussetzungen  und  Folgerungen,  das  organisierende 
Prinzip  und  der  substantielle  Kern  aller  theologischen  Forschung 
und  Wissenschaft! 

Welch  eine  bedeutsame  Verschiebung  des  Standpunktes! 
Die  Spannung  beider  Gedanken  reihen,  die  nur  durch  ent- 
schiedene Subordination  der  ersten  unter  die  zweite  gelöst 
werden  kann,  die  aber  bei  Schleiermacher  ungelöst  bleibt, 
weil  er  sie,  wie  oben  gezeigt,  mit  idealistischer  Intuition  un- 
mittelbar als  Einheit  anzuschauen  vermochte,  tritt  schon  im 
Text  und  der  Anmerkung  des  ersten  Paragraphen  zutage. 
Der  Text  bestimmt  die  Theologie  als  eine  Gegenstandswissen- 
schaft, die  den  Glauben  bzw.  das  Christentum  voraussetzt 
und  dessen  methodische  Durchdringung  zum  Objekt  hat;  die 
Anmerkung  setzt  sie  scheinbar  zu  einer  Technik  herab,  indem 
sie  sie  auf  die  Lösung  einer  spezifisch  praktischen  Aufgabe 
zurückführt.  Der  Begriff  des  Positiven  hat  also  einen  doppelten 
Inhalt ;  er  bedeutet  im  guten  Sinne  den  Gegebenheitscharakter 
der  Theologie^):  daß  sie  ihr  Objekt  nicht  zu  erzeugen,  sondern 
zu  erforschen,  zu  beschreiben,  zu  kritisieren  und  dadurch 
wirksam  in  Kraft  zu  setzen  hat.  Und  er  kann  im  schlechten 
Sinne  den  technischen  Charakter  der  Theologie  bedeuten,  den 
wir  als  ein  zu  enges,  verwirrendes,  durch  Schleiermacher 
selbst  überwundenes  Prinzip  abzulehnen  haben.  Schleier- 
macher behauptet  freilich  in  der  Anmerkung  zu  §  5,  daß  der 
Glaube  an  und  für  sich  eines  theologischen  Apparates  nicht 
bedürfe,  weder  zu  seiner  Wirksamkeit  in  der  einzelnen  Seele, 
noch  auch  in  den  Verhältnissen  des  geselligen  Familienlebens. 
Wohl  aber,  fügen  wir  in  seinem  Sinne  hinzu,  als  Prinzip  einer 
eigenen  Gemeinschaft  oder  Kirche,  und  erinnern  an  §  2,  der 
die  einseitige  Haltung  von   §  5  gleichsam  im  voraus  über- 


^)  zu   dem   auch    ihre   konfessionelle    Klangfarbe    gehört;    siehe   im 
Eegister  unter  ,Konfessioneller  Charakter  der  Theologie'. 


XXVIII  Einleitung. 

windet,  indem  er  das  Gesetz  (oder  die  Tatsache)  konstatiert, 
daß  jeder  zu  einer  geistigen  Macht  erstarkte  Glaube,  d.  i.  doch 
wohl  jeder  Glaube,  der  es  zu  Kirche  und  Bekenntnis  gebracht 
hat,  die  Tendenz  habe,  sich  eine  Theologie  anzubilden,  um 
sich  über  sich  selbst  zu  verständigen.  Die  Theologie  ein 
Postulat  des  nach  methodischer  Selbstbesinnung 
im  weitesten  Umfange  strebenden  Glaubens  — 
das  ist  der  evangelische  Standpunkt,  den  Schleiermacher  in 
der  Praxis  des  Lebens  und  der  Forschung,  unbekümmert  wie 
wenige,  vertreten  hat,  der  der  Theologie  ihre  Selbständigkeit 
und  zugleich  ihren  wissenschaftlichen  Charakter  sichert,  in- 
dem sie  nämlich  die  erprobten  Methoden  der  geisteswissen- 
schaftlichen Arbeit  überhaupt  furchtlos  auf  ihr  Gebiet  über- 
trägt und  dabei  in  ihrem  Gewissen  durch  das  Vertrauen  zu 
einer  Kirche  getragen  wird,  die  aus  dem  Geiste  der  Wahrheit 
geboren  sein  will  und  sich  im  Prinzip  bereit  erklärt,  in  jedem 
ernstlichen  Ringen  nach  Wahrheit  die  Stimme  Gottes  zu  ver- 
nehmen. Es  kann  kein  Zweifel  darüber  sein,  daß  wir  im 
Geiste  Schleiermachers  handeln  und  zugleich  die  ent- 
scheidenden Grundmotive  seiner  Theologie  auf  eine  wirksamere 
Art  in  Kraft  setzen,  wenn  wir  den  Ansatz  der  Enzyklopädie 
nach  diesen  Prinzipien  korrigieren. 

(2).  Die  Entdeckung  der  kritischen  Methode,  als  einer 
Synthese  von  Induktion  und  Deduktion  (vgl.  §§  21  und  32)^ 
ist  nach  zwei  Seiten  epochemachend.  Sie  hat  zu  ihrer  Zeit 
namentlich  gewirkt  als  Eeaktion  und  Antithese  gegen  den 
fanatischen  Apriorismus  der  idealistischen  Systematik,  die 
alles,  auch  Glaube  und  Christentum,  spekulativ  konstruieren 
wollte,  ohne  auf  die  Geschichte  Rücksicht  zu  nehmen.  Wir 
fürchten  diese  Richtung  nicht  mehr.  Sie  hat  sich  selbst  das 
Grab  gegraben.  Daran  ändert  die  Tatsache  nichts,  daß 
einzelne  Fanatiker  der  Gegenwart  sie  wieder  zum  Leben  er- 
wecken wollen.  Aber  zu  Schleiermachers  Zeit  war  sie  eine 
Macht,  die  wirksamste  Ausprägung  des  Besten,  was  man  hatte, 
oder  doch  zu  haben  meinte,  und  der  Kampf  gegen  sie  wurde 


Einleitung:.  XXIX 

mehr  und  mehr  als  Sünde  wider  den  heiligen  Geist  der 
Wissenschaft  empfunden.  Daß  Schleiermacher  den  Mut  ge- 
habt hat,  diese  Sünde  auf  sich  zu  nehmen  und  den  Kampf 
mit  der  ihm  eigenen  zähen  Energie  sicher  und  sieghaft  durch- 
zuführen, wiewohl  er  selbst  als  Philosoph  die  kühnsten  Speku- 
lationen wagte,  ist  eine  Tat,  die  die  Theologie  des  19.  und  — 
des  20.  Jahrhunderts  ihm  nie  vergessen  darf,  wenn  sie  sich 
auf  ihre  Ursprünge  besinnt. 

Heut  droht  uns  eine  andere  Gefahr.  An  die  Stelle  der 
Spekulation  hat  sich  der  Empirismus  geschoben  und  mehr 
und  mehr  zum  Tyrannen  entwickelt.  Die  Hingebung  an  die 
Geschichte  hat  einen  Historismus  erzeugt,  der  ebenso  dog- 
matisch geworden  ist,  wie  der  Apriorismus  der  Hegeischen 
Schule.  Wir  fangen  an,  die  Unzulänglichkeit  dieses  Stand- 
punktes zu  empfinden.  Der  Streit  um  das  Wesen  des  Christen- 
tums hat  deutlich  genug  gezeigt,  daß  die  Historie  allein  nicht 
genügt,  daß  ohne  charaktervolle  Prinzipien,  die  zwar  an  der 
Geschichte  entwickelt  sind,  aber  nicht  aus  der  Geschichte 
stammen,  eine  wirksame,  probeli altige,  überzeugende  Theologie 
unmöglich  ist.  Schleiermacher  hat  es  vorausgesagt  und  prin- 
zipiell den  Weg  beschritten,  an  dem  die  theologische  Wissen- 
schaft der  Zukunft  hängt,  den  kritischen  Weg,  den  Kant  als 
die  Synthese  des  Empirischen  und  des  Kationalen,  und  Goethe 
als  die  Verbindung  des  Historisclien  mit  dem  Produktiven 
bezeichnet  hat.  Die  Tatsache,  daß  Schleiermacher  oft  genug 
(z.  B.  im  Leben  Jesu)  mehr  konstruiert,  als  wir  heute  zulässig 
finden,  erklärt  sich  genugsam  aus  der  Lage  des  Zeitalters,  aus 
dem  Mangel  an  gediegenem  historischen  Wissen  und  der  damit 
zusammenhängenden  tastenden  Unsicherheit  der  historischen 
Methode.  Jedenfalls  kann  sie  die  epochemachende  Entdeckung 
Schleiermachers  nicht  auslöschen  und  uns  nicht  von  dem  Urteil 
entbinden,  daß  er  im  Prinzip  das  Richtige  gesehen  und  durch 
die  Einführung  der  kritischen  Methode  die  Einseitigkeiten  der 
Spekulation  und  des  Empirismus  grundsätzlich  überwunden  hat.^) 

^)  Auch  darin  wird  ScWeierm acher  recht  behalten,  daß  die  Ausübung 


XXX  Einleitung. 

(3).  Die  Einordnung  der  Theologie  in  das  Sj^stem  der  Geistes- 
oder Kulturwissenschaften  ist  unter  den  Schleiermacherschen 
Neuerungen  der  am  meisten  individuell  bedingte  und  darum 
am  häufigsten  mißverstandene  und  angegriffene  Punkt  seines 
theologischen  Programms.  Sie  fällt  mit  der  Anknüpfung  der 
Theologie  an  die  Ethik  zusammen,  die  bekanntlich  im  Sinne 
Schleiermachers  ein  Doppeltes  ist,  spekulative  Theorie  der 
Kultur  und  Grundlegung  der  Kulturwissenschaften,  die,  wie 
Ästhetik ,  Politik  und  Keligionsphilosophie  (§  23  Anm.)  ^\ 
unmittelbar  aus  ihr  entspringen  und  so  den  Übergang  ver- 
mitteln von  der  AVissenschaft  erster  zur  Wissenschaft  zweiter 
Ordnung. 

Wir  haben  schon  oben  (S.  XIV  f.)  gesehen,  wie  wenig  der 
erste  Kritiker  der  Enzyklopädie  die  synthetischen  Bestrebungen 
Schleiermachers  gebilligt,  oder,  um  es  gleich  richtiger  zu 
sagen,  wie  wenig  er  sie  verstanden  hat.  Andere  sind  darin 
nicht  glücklicher  gewesen.  So  tadelt  es  Eosenkranz  in 
seiner  Kritik  der  Schleiermacherschen  Glaubenslehre  1836 
aufs  schärfste,  daß  Schleiermacher  die  Grundlegung  seiner 
Dogmatik  in  Lehnsätzen  aus  der  Ethik,  Eeligionsphilosophie 
und  Apologetik  gegeben  habe.  Es  sei  ein  unwissenschaftliches 
Verfahren,  eine  selbständige  Wissenschaft,  wie  die  Theologie 
sie  nach  Schleiermacher  doch  sei,  durch  Lehnsätze  aus  fremden 


dieser  Methode  in  jedem  einzelnen  Falle  eine  Kunst  ist,  ein  Talent,  das 
den  Denker  und  Forscher  macht  (siehe  im  Eegister  unter  ,Kunst',  ferner 
Dialektik  §§  17  ff.,  dazu  Halperns  Ausgabe  S.  49 ff.)  —  Eine  genaue  Unter- 
suchung über  die  Beziehungen  zwischen  Kunst  u.  Wissenschaft  bei  Schleier- 
macher und  den  Eomantikern  würde  ebenfalls  zu  den  Aufgaben  der  oben 
als  Desiderat  bezeichneten  Analyse  des  Schleiermacherschen  Wissenschafts- 
begriffs gehören. 

^)  Die  beiden  ersten  hat  Schleiermacher  selbst  bearbeitet  (WW  III 
7  u.  8),  die  dritte  nur  angedeutet,  in  den  berühmten  §§  7 — 10  der  Glaubens- 
lehre. —  Als  vierte  koordinierte  Wissenschaft  müßte,  den  vier  großen 
Kultursphären  entsprechend,  eigentlich  noch  die  Soziologie  hinzukommen. 
Schleiermacher  hat  sie  nicht  genannt,  (1).  weil  der  Name  damals  noch  nicht 
geprägt  war,  (2).  weil  seine  Ethik  selbst  als  eine  (spekulative)  Soziologie 
verstanden  werden  kann. 


Einleitnng.  XXXI 

Disziplinen,  die  nicht  einmal  absolut  gewiß,  sondern  nur  hypo- 
thetisch giltig  sein  sollen,  festzustellen  und  einzuleiten  (S.  20). 
Ein  Urteil,  das  von  der  Mehrzahl  der  Forscher  im  wesent- 
lichen noch  heute  unterschrieben  wird.  Mindestens  hält  man 
Schleiermachers  Verfahren  für  ein  gewagtes,  unfruchtbares 
und  darum  überflüssiges  Experiment. 

Was  wollte  Schleiermacher  mit  jenen  Anknüpfungen? 
Warum  legt  er  so  großes  Gewicht  darauf,  die  Theologie  teils 
unmittelbar  (§§  22  und  29  der  Enz3^klopädie ;  vgl.  §§  3 — 6 
der  Glaubenslehre),  teils  durch  das  Medium  der  Religions- 
philosophie (Enzykl.  §  23,  Gl.  §§  7—10)  mit  der  Ethik  zu 
verbinden?  Die  i^ntwort  liegt  in  drei  Momenten:  einer 
methodischen,  einer  sachlichen  und  einer  persönlichsten  Er- 
v/ägung. 

Die  methodische  Wurzel  des  Schleiermacherschen  Ver- 
fahrens liegt  in  seiner  Wissenschaftslehre.  Schleiermacher 
hält  streng  dara^uf,  daß  jede  Einzelwissenschaft,  gleichviel,  ob 
erster  oder  zweiter  Ordnung,  ehe  sie  in  die  Materie  eindringt, 
sich  erst  formell  durch  pünktliche  Eintragung  in  die  Wissen- 
schaftsskala und  durch  Feststellung  ihrer  Beziehungen  zu  den 
nächst  höheren  Disziplinen,  und,  durch  sie,  zum  höchsten 
Wissen,  gleichsam  als  Wissenschaft  legitimiert.  Das  ist  nicht 
spielerischer  Eigensinn,  sondern  unmittelbare  Folge  des  neuen 
Wissenschaftsbegriffs,  den  wir  oben  beschrieben  haben,  und 
der,  wie  er  die  Einzelwissenschaft  als  einen  Organismus  setzt, 
in  dem  jeder  Teil  den  anderen  beseelt,  wie  er  selbst  von  ihm 
beseelt  Avird,  so  auch  das  Gefüge  der  Wissenschaften  als  die 
lebendige  Verzweigung  eines  gemeinsamen  Grundstockes  an- 
schaut, der  die  Idee  des  Wissens  selber  ist.  Wir  werden  diese 
Anschauung,  in  dem  Umfange,  in  welchem  sie  Schleiermacher 
bewegt  hat,  heute  nicht  mehr  teilen  können.  Aber  daß  sie 
etwas  kräftig-Lebendiges  hat,  zu  logischer  Pünktlichkeit  er- 
zieht, und  ein  mächtiger  Damm  ist  gegen  die  fortschreitende 
gegenseitige  Entfremdung  der  Fachwissenschaften,  wie  wir 
sie  täglich  um  uns   erleben,  wird  niemand  leugnen  können. 


XXXII  Einleitung. 

Das  zweite  Motiv  ist  sachlicher  Art.  Es  wendet  sich,  im 
echtesten  Geist  der  idealistischen  Denkart  und  Gesinnung, 
gegen  den  Empirismus  des  Zufalls.  P-^s  kann  nicht  sein,  daß 
geistige  Güter  erster  Ordnung  aus  Zufallsursachen  entsprungen 
sind.  Es  muß  gelingen,  eine  Erscheinung;  wie  das  Urphänomen 
des  Frommseins  und  seine  Objektivierung  in  einer  Kirche, 
aus  dem  Geiste  der  Intelligenz  zu  begreifen,  es  gleichsam  auf 
den  Quellgrund  alles  höheren  Seins,  die  Berührung  der  Natur 
mit  der  Vernunft,  zurückzuleiten.  Mit  anderen  Worten:  die 
Tatsache  der  Keligion  und  ihrer  stetigen  Erscheinung  unter 
der  Form  einer  Kirche  muß  sich  als  ein  organisches  Stück 
des  allgemeinen  Ethisierungsprozesses  begreifen  lassen,  der 
durch  das  Handeln  der  Vernunft  auf  die  Natur  wirksam  ein- 
geleitet ist.  Und  ebenso  muß  das  Christentum,  unbeschadet 
seiner  Originalität,  mit  dem  religiösen  Phänomen  an  sich 
irgendwie  zusammenhängen;  ist  doch  das  ganze  Universum 
des  Geistes  ein  einziger  großer  Entwicklungsprozeß.  So  ent- 
steht der  Theologie  die  Aufgabe,  die  Knotenpunkte  aufzu- 
zeigen, an  denen  das  Christentum  mit  der  Religion  und  diese 
wieder  mit  dem  „allgemeinen  Lebensquell",  der  Brunnenstube 
der  Intelligenz,  zusammenhängt.  Und  es  ergibt  sich,  in  ge- 
nauer Parallele  zu  dem  genealogischen  Wissenschaftsbilde, 
eine  genealogische  Gegenstandsbetrachtung,  die  sich  bis  zu 
den  Wurzeln  des  Geistigen  erstreckt  und  erst  unmittelbar 
vor  den  Toren  des  ewig  Unerforschlichen  innezuhalten  ge- 
sonnen ist.  Auch  dies  offenbar  ein  grandioser  Gedanke,  der 
keineswegs  blind  phantastisch  ist,  sondern  als  letztes  Ideal 
auch  einem  minder  kühnen  und  anspruchsvollen  Denken  immer 
wieder  wichtig  werden  wird. 

Endlich  das  individuellste  Moment.  Schleiermachers 
Theologie  ist  die  reife  und  gediegene  Frucht  einer  synoptischen 
Weltansicht.  Er  glaubte  an  die  Einheit  der  geistigen  Welt 
mit  einer  Kraft  und  Freudigkeit,  er  erlebte  sie  in  sich  in 
der  Fülle  der  Motive,  die  seinen  reichen  Geist  bewegten,  mit 
einem  Elementargefühl,   das   sich  nicht  oft  wiederholen  wird. 


Einleitung.  XXXIII 

Er  sah  Keligion  und  Christentum,   die   er  mit  hochbegabtem 
Auge,   wie  wenige  vor  ihm,   in  ihrer  körnigen  Eigenart  ge- 
schaut hat,  doch   immer  zugleich  in  innigster  Berührung  mit 
den  bewegenden  Mächten  des  Geistes  überhaupt,  und  so  wurde 
es  die  Losung  seiner  Theologie,  wie  er  es  selbst  in  dem  vor- 
liegenden Entwurf  mit  klassischen  Worten  ausgesprochen  hat : 
Religion  und  Christentum  „im  Zusammenhange  mit  den  übrigen 
Tätigkeiten  des  menschlichen  Geistes  zu  verstehen"   (§  21). 
Dies  ist  der  tiefste  und  letzte  Grund  der  scheinbar  so  zweck- 
losen und  ermüdenden  Zurüstungen,   durch  die  sich  Schleier- 
macher,   in    der   Enzyklopädie    und    in    der   Einleitung   der 
Glaubenslehre,  den  Weg  zu  seinem  Objekt  gebahnt  hat.    Er 
wollte,   was  er  innerlich   schaute   und   als  das  Mark  seines 
Lebens  empfand,  auch  in  der  begrifflichen  Darstellung  aus- 
prägen, er  wollte  das  großeProblem  derSynthesen 
nicht,  wie  die  meisten  vor  ihm  und  nach  ihm,  der 
Virtuosität  des  Subjekts  überlassen,  sondern  an 
demObjekte  selbst  w^  irksam  und  mit  überzeugen- 
der  Besonnenheit    einer    probe  haltigen    Lösung 
entgegenführen.    Die  ganze  Schleiermachersche  Theologie 
ist  schließlich  nichts  anderes,  als   der  begriffliche  Ausdruck 
dieses  Lebensgefühls.    Wer  ihn  von  hier  aus  nicht  begreift, 
wird  ihn  niemals  ganz  verstehen.    Aber  er  hat  dann  auch 
kein  Eecht,    sich   über   ihn  hinauszusetzen  und  ihn  zu  den 
Überwundenen  zu  zählen. 

Wir  schließen  diese  Einleitung  mit  einer  summarischen 
Übersicht  über  den  Gedankengang  des  Werkes,  indem  wir 
die  einzelnen  Paragraphengruppen  nach  Stichworten  zusammen- 
ordnen. Eingehende  Analj^sen  findet  man  bei  W.  Bender, 
Schleiermachers  Theologie  II 1878  S.  299 ff.  und  bei  A.  Eckert, 
Einführung  usw.  S.  13  ff.  —  Wegen  des  gediegenen  historischeu 
Horizontes  ist  auch  das  kürzere  Referat  bei  W.  Gaß,  Ge- 
schichte der  prot.  Theologie  IV  1867  S.  533  ff.  immer  noch 
lehrreich  und  lesenswert. 


III 


Einleitung. 

§§    1—  8  Begriff  der  Theologie. 

§§    9 — 13  Theorie  und  Praxis  in  der  Theologie. 

§§  14—17  Theologische  Bildungsziele. 

§§  18 — 20  Begriff  der  theologischen  Enzyklopädie. 

§§  21—23  Theologie  und  Philosophie. 

§§  24—31  Gliederung  der  Theologie. 

I.  Philosophische  Theologie.^) 

Einleitung. 

§§  32 — 42  Die  Grundprobleme  der  philosophischen  Theologie:  Bestimmung 
des  Wesens  des  Christentums  (Apologetik)  u.  Kritik  seiner  empirischen 
Trübungen  (Polemik). 

A.   Grundsätze  der  Apologetik. 

§§  43 — 48  Die  Grundbegriffe  der  Apologetik. 
§§  49—53  Zur  Methode  der  Apologetik. 

B.   Grundsätze  der  Polemik 

§§  54 — 58  Die  Grundbegriffe  der  Polemik. 
§§  59—62  Zur  Methode  der  Polemik. 

§§  63—68  Schlußbetrachtungen  zur  philosophischen  Theologie. 

II.  Historische  Tlieologie. 

Einleitung. 

§§  69—70  Begriff  der  historischen  Theologie. 

§§  71—80  Geschichtsphilosophische  Grundbegriffe  (Epochen  u.  Perioden). 

§§  81 — 85  Gliederung  der  historischen  Theologie. 


^)  Der  Ausdruck  ist  „offenbar  deshalb  gewählt,  weil  es  sich  um  Bear- 
beitung von  Begriffen  handelt,  ein  Geschäft,  das  von  anderen  Philosophen 
als  Philosophie  schlechthin  bezeichnet  wird."    (Eckert,  Einführung  S.  80.) 


Inhalt.  XXXV 

§§  86—102  Methodische  Vorbemerkungen   in  Bezug   auf   die  Hauptzweige 
der  historischen  Theologie. 

A.  Exegese. 
§§  103—109  Umfang  und  Begriff  des  Kanons,  i) 
§§  110—124  Über  höhere  und  niedere  Kritik. 

§§  125 — 131  Über  die  sprachlichen  Grundlagen  der  Bibelwissenschaft. 
§§  132 — 139  Idee  und  Prinzipien  der  biblischen  Hermeneutik.^) 
§§  147 — 148  Allgemeine  Schlußbemerkungen. 

B.  Kirchen geschichte. 

§§  149 — 159  Die  allgemeinen  Prinzipien  der  Geschichtswissenschaft.^) 

§§  160 — 165  Die  allgemeine  Aufgabe  der  Kirchengeschichte. 

§§  166—176  Die,  Außenseite   der  Kirchengeschichte  (Kirchengeschichte   im 

engeren  Sinne;  Verfassungsgeschichte). 
§§  177 — 183  Die  Innenseite  der  Kirchengeschichte  (Dogmengeschichte). 
§§  184 — 194  Zur  Methode  des  kirchenhistorischen  Studiums. 

C.  Dogmatik  und  Statistik. 
§  195  Einleitung. 

1.  Dogmatik. 
§§  196-202  Begriff  und  Aufgabe  der  Dogmatik.*) 
§§  203—208  Orthodoxie  und  Heterodoxie.^) 
§§  209—212  Der  kirchliche  Charakter  der  Dogmatik. 
§§  213—217  Der  wissenschaftliche  Charakter  Dogmatik.^) 
§§  218—222  Zur  Methode  des  dogmatischen  Studiums. 
§§  223-231  Glaubens-  und  Sittenlehre.') 

2.  Statistik. 
§§  232—241  Begriff  und  Aufgabe  der  Statistik. 
§§  242—248  Zur  Methode  des  statistischen  Studiums. 
§§  249—250  Folgerungen. 

§§  251—256  Schlußbetrachtungen  zur  historischen  Theologie. 


^)  Vgl.  Schleiermachers  Einleitung  ins  Neue  Testament  (WW  I  8). 
2)  Vgl.  Schleiermachers  Hermeneutik  (WW  I  7). 
^)  Vgl.  die  Einleitung   in   das  Studium  der  Kirchengeschichte   1806 
WW  I  11  S.  623  ff. 

*)  Vgl.  Glaubenslehre  §  19. 

^)  Glaubenslehre  §  25. 

ö)  Glaubenslehre  §  17. 

')  Glaubenslehre  §  26  —  Christliche  Sitte  S.  12  ff. 

III* 


XXXVI  Inhalt. 

III.    Praktische  Theologie.^) 

§§  257—266  Die  Grandprobleme  der  praktischen  Theologie. 
§§  267—276  Disposition  der  praktischen  Theologie. 

A.  Kirchendienst. 
§§  277—279  Gliederung  des  Kirchendienstes. 
§§  280-289  Die  erbauende  Tätigkeit. 
§§  290—308  Die  leitende  Tätigkeit. 

§§  291—302  Seelsorge. 

§§  303 — 306  Organisation  des  Gemeindelebens. 
§§  307—308  Epilog. 

B.  Kirchenregiment. 

§§  309—314  Prolegomena. 

§§  315—327  Die  kirchliche  Autorität. 

§§  315—317  Kirchendienst. 

§§  318—327  Kirchengesetzgebung. 
§§  328—334  Die  freie  Geistesmacht. 

§§  328-329  Einleitung. 

§§  330—331  Der  akademische  Lehrer. 

§§  332—334  Der  theologische  Schriftsteller. 
§§  335 — 338  Schlußbetrachtungen  zur  praktischen  Theologie. 


^)  Vgl.  Schleiermachers  Praktische  Theologie  (WW  I  13). 


Vorerinnerimg 

zur  ersten  Ausgabe. 


Es  ist  mir  immer  ungemein  schwierig  erschienen,  nach 
Anleitung  eines  fremden  Handbuchs  akademische  Vorträge  zu 
halten;  denn  jede  abweichende  Ansicht  scheint  zugleich  eine 
Abweichung  zu  fordern  von  einer  aus  einem  andern  Gesichts- 
punkt entstandenen  Ordnung.  Freilich  wird  es  um  desto 
leichter,  je  mehr  die  eigentümlichen  Ansichten  der  einzelnen 
über  einzelnes  einer  gemeinschaftlichen  über  das  Ganze  unter- 
geordnet sind,  das  heißt,  je  mehr  das  besteht,  was  man  eine 
Schule  nennt.  Allein  wie  wenig  dies  jetzt  in  der  Theologie 
der  Fall  ist,  weiß  jedermann.  Aus  demselben  Grunde  also, 
der  es  mir  zum  Bedürfnis  macht,  wenn  ein  Leitfaden  ge- 
braucht werden  soll,  was  doch  in  mancher  Hinsicht  nützlich 
ist,  einen  eigenen  zu  entwerfen,  bin  ich  unfähig,  den  Anspruch 
zu  machen,  daß  andere  Lehrer  sich  des  meinigen  bedienen 
mögen.  Scheint  es  mir  daher  zu  viel,  was  nur  für  meine 
jetzigen  und  künftigen  Zuhörer  bestimmt  ist,  durch  den  Druck 
in  das  große  Publikum  zu  bringen:  so  tröste  ich  mich  damit, 
daß  diese  wenigen  Bogen  meine  ganze  dermalige  Ansicht  des 
theologischen  Studiums  enthalten,  welche,  wie  sie  auch  be- 
schaffen sei,  doch  vielleicht  schon  durch  ihre  Abweichung  an- 
regend wirken  und  Besseres  erzeugen  kann. 

Andere  pflegen  in  Enzj^klopädien  auch  einen  kurzen  Aus- 
zug der  einzelnen  dargestellten  Disziplinen  selbst  zu  geben; 
mir  schien  es  angemessener,  denen  zu  folgen,  welche  in  solchen 


TT  Vorerinnerung. 

Vorträgen  lieber  alle  Aufmerksamkeit  auf  dem  Formalen  fest- 
halten, damit  die  Bedeutung  der  einzelnen  Teile  und  ihr  Zu- 
sammenhang desto  besser  aufgefaßt  werde. 

Berlin,  im  Dezember  1810. 

D.  F.  Schleiermacher. 


Vorerinnerung 

zur  zweiten  Ausgabe. 


Nach  beinahe  zwanzig  Jahren,  die  seit  der  ersten  Er- 
scheinung dieses  Büchleins  vergangen  sind,  war  es  wohl 
natürlich,  daß  ich  im  einzelnen  vieles  zu  verändern  fand; 
wiewohl  Ansicht  und  Behandlungsweise  im  ganzen  durchaus 
dieselben  geblieben  sind.  Was  ich  in  Ausdruck  und  Stellung 
geändert  habe,  ist  hoffentlich  auch  gebessert.  Wie  ich  denn 
auch  wünsche,  daß  die  kurzen,  den  Hauptsätzen  beigefügten 
Andeutungen  ihren  Zweck,  dem  Leser  eine  Erleichterung  zu 
gewähren,  nicht  verfehlen  mögen. 

Daß  in  der  ersten  Ausgabe  jeder  Abschnitt  seine  Para- 
graphen besonders  zählte,  verursachte  viel  Weitläuftigkeit  beim 
eitleren,  und  ist  deshalb  geändert  worden. 

Berlin,  im  Oktober  1830. 

D.  F.  Schleiermacher. 


Inhalt. 

Seite 

Allgemeine  Einleitung  §  1 — 31 1 

Erster  Teil.    Von  der  philosophischen  Theologie  §  32—68  .  13 

Einleitung  §  32—42 13 

Erster  Abschnitt.     Grundsätze  der  Apologetik  §  43 — 53    ...  18 

Zweiter  Abschnitt.     Grundsätze  der  Polemik  §  54 — 62     ...  23 

Schluß betrachtungen  über  die  philosophische  Theologie  §  63 — 68  27 

Zweiter  Teil.    Von  der  historischen  Theologie  §  69— 256  .    .  30 

Einleitung  §  69—102 30 

Erster  Abschnitt.    Die  exegetische  Theologie  §  103—148      .    .  43 
Zweiter  Abschnitt.    Die  historische  Theologie  im  engeren  Sinne 

oder  die  Kirchengeschichte  §  149—194 58 

Dritter  Abschnitt.   Die  geschichtliche  Kenntnis  von  dem  gegen- 
wärtigen Zustande  des  Christentums  §  195 — 250     ....  73 

I.  Die  dogmatische  Theologie  §  196—231 74 

II.  Die  kü-chüche  Statistik  §  232—250 89 

Schlußbetrachtungen  über  die  historische  Theologie  §  251 — 256  96 

Dritter  Teil.    Von  der  praktischen  Theologie  §  257—338  .    .  99 

Einleitung  §  257—276 99 

Erster  Abschnitt.  Die  Grundsätze  des  Kirchendienstes  §  277—308  107 
Zweiter    Abschnitt.      Die    Grundsätze    des    Kirchenregimentes 

§  309—334 118 

Schlußbetrachtungen  über  die  praktische  Theologie  §  335—338  130 


Kurze  Darstellung 
des  theologischen  Studiums 

zum  Behuf  einleitender  Vorlesungen. 


Einleitung. 


§  1.    Die  Theologie  in  dem  Sinne,  in  welchem  das  Wort 

hier  immer  genommen  \yird,  ist  eine  positive  Wissenschaft, 

deren  Teile  zu  einem  Ganzen  nur  verbunden  sind  durch  ihre 

gemeinsame  Beziehung  auf  eine  bestimmte  Glaubensweise,  d.  h. 

eine   bestimmte  Gestaltung   des  Gottesbewußtseins;  die   der 

christlichen   also  durch  die  Beziehung  auf  das  Christentum.^) 

Eine  positive  Wissenschaft  überhaupt  ist  nämlich  ein  solcher  Inbegriff 
wissenschaftlicher  Elemente,  welche  ihre  Zusammengehörigkeit  nicht 
haben,  als  ob  sie  einen  vermöge  der  Idee  der  Wissenschaft  notwendigen 
Bestandteil  der  wissenschaftlichen  Organisation  bildeten,  sondern  nur, 
sofern  sie  zur  Lösung  einer  praktischen  Aufgabe  erforderlich  sind.  — 
Wenn  man  aber  ehedem  iine  rationale  Theologie  in  der  wissenschaft- 
lichen Organisation  mit  aufgeführt  hat :  so  bezieht  sich  zwar  diese  auch 
auf  den  Gott  unseres  Gottesbewußtseins,  ist  aber  als  spekulative  Wissen- 
schaft von  unserer  Theologie  gänzlich  verschieden. 

§  2.  Jeder  bestimmten  Glaubensweise  wird  sich  in  dem 
Maß,  als  sie  sich  mehr  durch  Vorstellungen,  als  durch  sym- 
bolische Handlungen  mitteilt,  und  als  sie  zugleich  geschicht- 
liche Bedeutung  und  Selbständigkeit  gewinnt,  eine  Theologie 
anbilden,  die  aber  für  jede  Glaubens  weise,  weil  mit  der  Eigen- 
tümlichkeit derselben  zusammenhängend,  sowohl  der  Form  als 
dem  Inhalt  nach,  eine  andere  sein  kann.-) 

^)  S.  1.  §  1.  Die  Theologie  ist  eine  positive  Wissenschaft,  deren  ver- 
schiedene Teile  zu  einem  Ganzen  nur  verbunden  sind  durch  die  gemeinsame 
Beziehung  auf  eine  bestimmte  Religion;  die  der  christlichen  also  auf  das 
Christentum. 

^)  §  2.    Jeder  bestimmten  Religion  wird  sich,  in  dem  Maß,  als  sie  ge- 
schichtliche Bedeutung  und  Selbständigkeit  erhält,  das  heißt  sich  zur  Kirche 
gestaltet,  eine  Theologie  anbilden,   deren  Organisation  nur  aus  der  Eigen- 
tümlichkeit jener  zu  verstehen,  und  also  für  jede  eine  andere  ist. 
Schleierm.,  Th.  St.  1 


2  Einleitung.  §  3 — 5. 

Nur  in  dem  Maße,  weil  in  einer  Gemeinschaft  von  geringem  Umfang 
kein  Bedürfnis  einer  eigentlichen  Theologie  entsteht,  und  weil  bei 
einem  Übergewicht  symbolischer  Handlungen  die  rituale  Technik, 
welche  die  Deutung  derselben  enthält,  nicht  leicht  den  Namen  einer 
Wissenschaft  verdient, 

§  3.  Die  Theologie  eignet  nicht  allen,  welche  und  sofern 
sie  zu  einer  bestimmten  Kirche  gehören,  sondern  nur  dann 
und  sofern  sie  an  der  Kirchenleitung  teilhaben;  so  daß  der 
Gegensatz  zwischen  solchen  und  der  Masse  und  das  Hervor- 
treten der  Theologie  sich  gegenseitig  bedingen.^) 
Der  Ausdruck  Kirchenleitung  ist  hier  im  weitesten  Sinne  zu  nehmen, 
ohne  daß  an  irgendeine  bestimmte  Form  zu  denken  wäre. 

§  4.  Je  mehr  sich  die  Kirche  fortschreitend  entwickelt, 
und  über  je  mehr  Sprach-  und  Bildungsgebiete  sie  sich  ver- 
breitet, um  desto  vielteiliger  organisiert  sich  auch  die  Theo- 
logie; weshalb  denn  die  christliche  die  ausgebildetste  ist.-) 

Denn  je  mehr  beides  der  Fall  ist,  um  desto  mehr  Differenzen,  sowohl  der 
Vorstellung,  als  der  Lebensweise,  hat  die  Theologie  zusammenzufassen, 
und  auf  desto  mannigfaltigeres  Geschichtliche  zurückzugehen. 

§  5.  Die  christliche  Theologie  ist  sonach  der  Inbegriff 
derjenigen  wissenschaftlichen  Kenntnisse  und  Kunstregeln, 
ohne  deren  Besitz  und  Gebrauch  eine  zusammenstimmende 
Leitung  der  christlichen  Kirche,  d.  h.  ein  christliches  Kirchen- 
regiment, nicht  möglich  ist.^) 
Dieses  nämlich  ist  die  in  §  1  aufgestellte  Beziehung :  denn  der  christliche 
Glaube  an  und  für  sich  bedarf  eines  solchen  Apparates  nicht,  weder  zu 


^)  S.  1.  §  3.  Die  Theologie  eignet  nicht  allen,  welche  und  sofern  sie  zur 
Kirche  gehören,  sondern  nur,  welchen  und  sofern  sie  die  Kirche  leiten. 
Der  Gegensatz  zwischen  solchen  und  der  Masse  und  das  Hervortreten  der 
Theologie  bedingen  sich  gegenseitig. 

2)  S.  2.  §  4.  Je  mehr  die  Kirche  sich  fortschreitend  entwickelt,  und  durch 
je  mehr  Sprach-  und  Bildungsgebiete  sie  sich  verbreitet,  um  desto  viel- 
teiliger und  zusammengesetzter  organisiert  sich  auch  die  Theologie.  Daher 
ist  die  christliche  auch  die  gebildetste. 

3)  §  5.  Die  christliche  Theologie  ist  der  Inbegriff  derjenigen  wissen- 
schaftlichen Kenntnisse  und  Kunstregeln,  ohne  deren  Anwendung  ein  christ- 
liches Kirchenregiment  nicht  möglich  ist. 


§  6—9.  Emleitung.  3 

seiner  Wirksamkeit  in  der  einzelnen  Seele,  noch  aitch  in  den  Verhält- 
nissen des  geselligen  Familienlebens. 

§  6.  Dieselben  Kenntnisse,  wenn  sie  ohne  Beziehung  auf 
das  Kirchenregiment  erworben  und  besessen  werden,  hören 
auf,  theologische  zu  sein,  und  fallen  jede  der  Wissenschaft  an- 
heim,  der  sie  ihrem  Inhalte  nach  angehören.^) 

Diese  Wissenschaften  sind  dann  der  Natur  der  Sache  nach  die  Sprach- 
kunde und  Geschichtskunde,  die  Seelenlehre  und  Sittenlehre,  nebst  den 
von  dieser  ausgehenden  Disziplinen  der  allgemeinen  Kunstlehre  und  der 
Keligionsphilosophie. 

§  7.  Vermöge  dieser  Beziehung  verhält  sich  die  Mannig- 
faltigkeit der  Kenntnisse  zu  dem  Willen,  bei  der  Leitung  der 
Kirche  wirksam  zu  sein,  wie  der  Leib  zur  Seele.  ^) 

Ohne  diesen  Willen  geht  die  Einheit  der  Theologie  verloren,  und  ihre 
Teile  zerfallen  in  die  verschiedenen  Elemente. 

§  8.  Wie  aber  nur  durch  das  Interesse  am  Christentum 
jene  verschiedenartigen  Kenntnisse  zu  einem  solchen  Ganzen 
verknüpft  werden:  so  kann  auch  das  Interesse  am  Christen- 
tum nur  durch  Aneignung  jener  Kenntnisse  sich  in  einer 
zweckmäßigen  Tätigkeit  äußern.^) 

Eine  Kirchenleitung  kann  zufolge  §  2  nur  von  einem  sehr  entwickelten 
geschichtlichen  Bewußtsein  ausgehen,  aber  auch  nur  durch  ein  klares 
Wissen  um  die  Verhältnisse  der  religiösen  Zustände  zu  allen  übrigen 
recht  gedeihlich  werden. 

§  9.  Denkt  man  sich  religiöses  Interesse  und  wissen- 
schaftlichen Geist   im   höchsten  Grade   und   im   möglichsten 


^)  S.  2.    §  6.    Dieselben  Kenntnisse,  ohne  diese  Beziehung,  hören  auf,  theo- 
logische zu  sein,  und  fallen  jede  einer  andern  Wissenschaft  anheim. 

2)  §  7.  Die  Mannigfaltigkeit  der  Kenntnisse  ist  der  Leib,  der  Trieb, 
zum  Wohl  der  Kirche  gesetzmäßig  wirksam  zu  sein,  ist  die  Seele. 

^)  §  8.  Wie  jene  Kenntnisse  nur  durch  das  Interesse  am  Christentum 
zu  dem  Ganzen  verknüpft  werden,  welches  die  Theologie  bildet:  so  kann 
auch  nur  durch  die  Aneignung  jener  wissenschaftlichen  Kenntnisse  das 
Interesse  am  Christentum  zu  der  zweckmäßigen  Tätigkeit  gedeihen,  durch 
welche  die  Kirche  wirklich  erhalten  und  weiter  gebildet  wird. 

1* 


4  Einleitung.  §  9—11. 

Gleichgewicht  für  Theorie  und  Ausübung  vereint:  so  ist  dies 

die  Idee  eines  Kirchenfürsten.  ^) 

Diese  Benennung  für  das  theologische  Ideal  ist  freilich  nur  angemessen, 
wenn  die  Ungleichheit  unter  den  Mitgliedern  der  Kirche  groß  ist,  und 
zugleich  ein  Einfluß  auf  eine  große  Eegion  der  Kirche  mögUch.  Sie 
scheint  aber  passender,  als  der  schon  für  einen  besonderen  Kreis  ge- 
stempelte Ausdruck  Kirchenvater,  und  schließt  übrigens  nicht  im 
mindesten  die  Erinnerung  an  ein  amtliches  Verhältnis  in  sich. 

§  10.  Denkt  man  sich  das  Gleichgewicht  aufgehoben :  so 
ist  derjenige,  welcher  mehr  das  Wissen  um  das  Christentum 
in  sich  ausgebildet  hat,  ein  Theologe  im  engeren  Sinn;  der- 
jenige hingegen,  welcher  mehr  die  Tätigkeit  für  das  Kirchen- 
regiment in  sich  ausbildet,  ein  Kleriker.^) 

Diese  natürliche  Sonderuug  tritt  bald  mehr,  bald  weniger  äußerlich  hervor; 
je  mehr  aber,  um  desto  weniger  kann  die  Kirche  ohne  eine  lebendige 
Wechselwirkung  zwischen  beiden  bestehen.  —  Übrigens  wird  im  weiteren 
Verfolg  der  Ausdruck  Theologe  in  der  Kegel  in  dem  weiteren,  beide 
Kichtungen  umfassenden  Sinne  genommen. 

§  11.    Jedes  Handeln  mit  theologischen  Kenntnissen  als 

solchen,  von  welcher  Art  es  auch  sei,  gehört  immer  in  das 

Gebiet  der  Kirchenleitung;  und  wie  auch  über  die  Tätigkeit 

in  der  Kirchenleitung,  sei  es  mehr  konstruierend  oder  mehr 

regelgebend,  gedacht  werde,  so  gehört  dieses  Denken  immer 

in  das  Gebiet  des  Theologen  im  engeren  Sinn.^) 

Auch  die  wissenschaftliche  Wirksamkeit  des  Theologen  muß  auf  die 
Förderung  des  Wohles  der  Kirche  abzwecken,  und  ist  also  klerikalisch ; 
und  alle  technischen  Vorschriften  auch   über  die  eigentlich   klerika- 


*)  S.  3.  §  9.  Beides,  religiöses  Interesse  und  wissenschaftlicher  Geist,  im 
höchsten  Grade  und  im  möglichsten  Gleichgewicht  zur  Theorie  und  Aus- 
übung vereint,  ist  die  Idee  eines  Kirchenfürsten. 

2)  §  10.  Insofern  jemand  in  Beziehung  auf  das  Christentum  mehr  das 
Wissen  in  sich  ausbildet,  ist  er  ein  Theologe,  insofern  er  mehr  in  der 
unmittelbaren  Ausbildung  des  Kirchenregimentes  begriffen  ist,  ist  er  ein 
Kleriker. 

3)  §  11.  Jedes  reale  Handeln  mit  den  so  geleiteten  wissenschaftlichen 
Kenntnissen  gehört  zum  Kirchenregiment,  und  jede  Kenntnis  der  Regeln 
und  Bedingungen  auch  der  unmittelbarsten  Ausübung  gehört  zur  Theologie. 


§  12—14.  Einleitung.  5 

üschen  Tätigkeiten  gehören  in  den  Kreis  der  theologischen  Wissen- 
schaften. 

§  12.  Wenn  demzufolge  alle  wahren  Theologen  auch  an 
der  Kirchenleitung  teilnehmen,  und  alle,  die  in  dem  Kirchen- 
regiment wirksam  sind,  auch  in  der  Theologie  leben:  so  muß 
ungeachtet  der  einseitigen  Richtung  beider  doch  beides,  kirch- 
liches Interesse  und  wissenschaftlicher  Geist,  in  jedem  ver- 
eint sein.^) 

Denn  wie  im  entgegengesetzten  Falle  der  Gelehrte  kein  Theologe  mehr 
wäre,  sondern  nur  theologische  Elemente  in  dem  Geist  ihrer  besonderen 
Wissenschaft  bearbeitete:  so  wäre  auch  die  Tätigkeit  des  Klerikers 
keine  kunstgerechte  oder  auch  nur  besonnene  Leitung,  sondern  lediglich 
eine  verworrene  Einwirkung. 

§  13.  Jeder,  der  sich  zur  leitenden  Tätigkeit  in  der 
Kirche  berufen  findet,  bestimmt  sich  seine  Wirkungsart  nach 
Maßgabe,  wie  eines  von  jenen  beiden  Elementen  in  ihm  über- 
wiegt."^) 

Ohne  einen  solchen  inneren  Beruf  ist  niemand  in  Wahrheit  weder  Theologe 
noch  Kleriker;  aber  keine  von  beiden  Wirkungsarten  hängt  irgend  da- 
von ab,  daß  das  Kirchenregiment  die  Basis  eines  besonderen  bürger- 
lichen Standes  ist.^) 

§  14.  Niemand  kann  die  theologischen  Kenntnisse  in 
ihrem  ganzen  Umfange  vollständig  innehaben,  teils  weil  jede 
Disziplin  im  einzelnen  ins  Unendliche  entwickelt  werden  kann, 
teils  weil  die  Verschiedenheit  der  Disziplinen  eine  Mannig- 


^)  S.  3.  §  12.  Wenn  also  nur  diejenigen  im  eigentlichen  Sinne  Theologen 
sind,  welche  auf  irgendeine  Weise  auch  das  Kirchenregiment  ausüben,  und 
nur  diejenigen  das  Kirchenregiment  ausüben  können,  welche  wahrhaft  Theo- 
logen sind:  so  muß  bei  der  einseitigen  Eichtung  dennoch  beides,  religiöses 
Interesse  und  wissenschaftlicher  Geist,  in  jedem  vereinigt  sein. 
2)  S.  4.  §  13.  Welches  von  beiden  in  ihm  überwiegt,  darnach  hat  jeder,  der 
sich  zur  leitenden  Tätigkeit  in  der  Kirche  berufen  fühlt,  seine  Wirkungsart 
zu  bestimmen. 

^)  §  14.  Diese  sowohl,  als  noch  viel  mehr  die  Theologie  selbst  ist 
keinesweges  davon  abhängig,  daß  das  Kirchenregiment  die  Basis  eines  be- 
sondern bürgerlichen  Standes  ist. 


6  Einleitung.  §  14—17. 

faltigkeit  von  Talenten  erfordert,  welche  einer  nicht  leicht  in 
gleichem  Grade  besitzt.^) 

Jene  Entwicklungsfähigkeit  zur  unendlichen  Vereinzelung  gilt  sowohl  von 
allem,  was  geschichtlich  ist  und  mit  Geschichtlichem  zusammenhängt, 
als  auch  von  aUen  Kunstregeln  in  Bezug  auf  die  Mannigfaltigkeit  der 
Fälle,  welche  vorkommen  können. 

§  15.    Wollte  sich  jedoch  deshalb  jeder  gänzlich  auf  Einen 

Teil  der  Theologie  beschränken :  so  wäre  das  Ganze  weder  in 

einem,  noch  in  allen  zusammen.^) 

Letzteres  nicht,  weil  bei  einer  solchen  Art  von  Verteilung  kein  Zusammen- 
wirken der  einzelnen  von  verschiedenen  Fächern,  ja  streng  genommen 
auch  nicht  einmal  eine  Mitteilung  unter  ihnen  stattfinden  könnte. 

§  16.  Daher  ist,  die  Grundzüge  aller  theologischen  Dis- 
ziplinen inne  zu  haben,  die  Bedingung,  unter  welcher  auch 
nur  eine  einzelne  derselben  in  theologischem  Sinn  und  Geist 
kann  behandelt  werden. 

Denn  nur  so,  wenn  jeder  neben  seiner  besonderen  Disziplin  auch  das 
Ganze  auf  allgemeine  Weise  umfaßt,  kann  Mitteilung  zwischen  allen 
und  jedem  stattfinden,  und  nur  so  jeder  vermittelst  seiner  Haupt- 
disziplin eine  Wirksamkeit  auf  das  Ganze  ausüben.^) 

§  17.  Ob  jemand  eine  einzelne  Disziplin,  und  was  für 
eine,  zur  Vollkommenheit  zu  bringen  strebt,  das  wird  bestimmt 
vornehmlich  durch  die  Eigentümlichkeit  seines  Talentes,  zum 
Teil  aber  auch  durch  seine  Vorstellung  von  dem  dermaligen 
Bedürfnis  der  Kirche.*) 


^)  S.  4.  §  15.  Niemand  kann  die  ganze  Aufgabe  der  Theologie  vollständig 
lösen,  teils  wegen  der  Unendlichkeit  der  darunter  befaßten  Kenntnisse,  teils 
weil  die  Verschiedenheit  der  Disziplinen  auch  eine  Mannigfaltigkeit  von 
Talenten  erfordert,  die  nicht  in  gleichem  Grade  vereint  sein  können. 

2)  §  16.  Wollte  jeder  sich  gänzlich  auf  Einen  Teil  beschränken:  so 
wäre  das  Ganze  weder  in  einem,  noch  auch,  weil  kein  lebendiges  Zusammen- 
wirken stattfände,  in  allen  zusammen. 

^)  S.  5.  §  17.  Jeder  kann  sich,  um  es  zur  Vollkommenheit  darin  zu  bringen, 
nur  Einen  Teil  der  Theologie  zunächst  widmen,  muß  aber,  um  vermittelst 
dieses  auf  das  Ganze  zu  wirken,  auch  das  Ganze  in  allgemeinem  Sinn 
auffassen. 

*)  §  18.    Was  jeder  von  allen  Teilen  der  Theologie  inne  haben  muß, 


§  18.  Einleitung.  7 

Der  glückliche  Fortgang-  der  Theologie  überhaupt  hängt  großenteils  da- 
von ab,  daß  sich  zu  jeder  Zeit  ausgezeichnete  Talente  für  dasjenige 
finden,  dessen  Fortbildung  am  meisten  not  tut.  Immer  aber  können 
diejenigen  am  vielseitigsten  wirksam  sein,  welche  die  meisten  Disziplinen 
in  einer  gewissen  Gleichmäßigkeit  umfassen,  ohne  in  einer  einzelnen 
eine  besondere  Virtuosität  anzustreben;  wogegen  diejenigen,  die  sich 
nur  einem  Teile  widmen,  am  meisten  als  Gelehrte  leisten  können.^) 

§  18.  Unerläßlich  ist  daher  jedem  Theologen  zuerst  eine 
richtige  Anschauung  von  dem  Zusammenhang  der  verschie- 
denen Teile  der  Theologie  unter  sich,  und  dem  eigentümlichen 
Wert  eines  jeden  für  den  gemeinsamen  Zweck.  Demnächst 
Kenntnis  von  der  innern  Organisation  jeder  Disziplin  und 
denjenigen  Hauptstücken  derselben,  welche  das  Wesentlichste 
sind  für  den  ganzen  Zusammenhang.  Ferner  Bekanntschaft 
mit  den  Hilfsmitteln,  um  sich  jede  jedesmal  erforderliche 
Kenntnis  sofort  zu  verschaffen.  Endlich  Übung  und  Sicherheit 
in  der  Anwendung  der  notwendigen  Vorsichtsmaßregeln,  um 
dasjenige  aufs  beste  und  richtigste  zu  benutzen,  was  andere 
geleistet  haben. ^) 

Die  beiden  ersten  Punkte  werden  häufig  unter  dem  Titel  theologische 
Enzyklopädie  verbunden,  auch  wohl  noch  der  dritte,  nämlich  die  theo- 
logische Bücherkunde,  in  dieselbe  Pragmatie  hineingezogen.  Der  vierte 
ist  ein  Teil  der  kritischen  Kunst,  welcher  nicht  als  DiszipHn  ausge- 

ist  das  Allgemeine,  nach  der  Einheit  des  Zwecks  hin  Liegende;  was  jeder 
nur  von  Einem  Teil  erwerben  kann,  ist  das  besondere,  an  die  Eigentüm- 
lichkeit des  Talents  und  des  Gegenstandes  Gebundene. 
1)  S.  5.  §  19.  Je  mehr  jemand  praktisch  sein  will,  um  desto  universeller 
muß  er  auch  sein  als  Theologe;  je  mehr  als  Gelehrter  leisten,  um  desto 
mehr  immer  nur  mit  Einem  Teile  sich  beschäftigen. 

2)  §  20.  Jenes  Allgemeine  (18)  ist  1.  richtige  Anschauung  von  dem 
Zusammenhange  der  verschiedenen  Teile  der  Theologie  unter  sich  und  mit 
dem  Zweck,  2.  Wissenschaft  von  demjenigen  in  jedem,  was  am  meisten 
mit  den  übrigen  und  dem  Zweck  zusammenhängt,  3.  Bekanntschaft  mit 
den  IVIitteln,  um  sich  jede  nötige  Kenntnis  sofort  zu  verschaffen,  4.  und 
mit  den  nötigen  Vorsichtsmaßregeln,  um  das,  was  andere  geleistet  haben, 
zu  benutzen.  Das  Besondere  ist  die  Vollständigkeit  in  den  einzelnen  Dis- 
ziplinen, und  das  Ziel  derselben  die  Keinigung  und  Erweiterung  des 
ihnen  schon  Geleisteten. 


8  Einleitung.  §  19—21. 

arbeitet  ist,  und  über  welchen  sich  überhaupt  nur  wenige  Eegeln  mit- 
teilen lassen,  so  daß  er  fast  nur  durch  natürliche  Anlage  und  Übung 
erworben  werden  kann. 

§  19.  Jeder,  der  sich  eine  einzelne  Disziplin  in  ihrer 
Vollständigkeit  aneignen  will,  muß  sich  die  Eeinigung  und 
Ergänzung  dessen,  was  in  ihr  schon  geleistet  ist,  zum  Ziel 
setzen. 

Ohne  ein  solches  Bestreben  wäre  er  auch  bei  der  vollständigsten  Kennt- 
nis doch  nur  ein  Träger  der  Überlieferung,  welches  die  am  meisten 
untergeordnete  und  am  wenigsten  bedeutende  Tätigkeit  ist. 

§  20.  Die  enzyklopädische  Darstellung,  welche  hier  ge- 
geben werden  soll,  bezieht  sich  nur  auf  das  erste  von  den 
oben  (§  18)  nachgewiesenen  allgemeinen  Erfordernissen;  nur 
daß  sie  zugleich  die  einzelnen  Disziplinen  auf  dieselbe  Weise 
behandelt,  wie  das  Ganze.  ^) 

Eine  solche  Darstellung  pflegt  man  eine  formale  Enzyklopädie  zu  nennen ; 
wogegen  diejenigen,  welche  materielle  genannt  werden,  mehr  von  dem 
Hauptinhalt  der  einzelnen  Disziplinen  einen  kurzen  Abriß  geben,  mit 
der  Darstellung  ihrer  Organisation  aber  es  weniger  genau  nehmen.  — 
Insofern  die  Enzyklopädie  ihrer  Natur  nach  die  erste  Einleitung  in 
das  theologische  Studium  ist,  gehört  allerdings  dazu  auch  die  Technik 
der  Ordnung,  nach  welcher  bei  diesem  Studium  zu  verfahren  ist,  oder 
was  man  gewöhnlich  Methodologie  nennt.  Allein  was  sich  hievon 
nicht  von  selbst  aus  der  Darstellung  des  inneren  Zusammenhanges  er- 
gibt, das  ist  bei  dem  Zustand  unserer  Lehranstalten  sowohl,  als  unserer 
Literatur,  zu  sehr  von  Zufälligkeiten  abhängig,  als  daß  es  lohnen 
könnte,  auch  nur  einen  besonderen  Teil  unserer  Disziplin  daraus  zu 
bilden. 

§  21.  Es  gibt  kein  Wissen  um  das  Christentum,  wenn 
man,  anstatt  sowohl  das  Wesen  desselben  in  seinem  Gegen- 
satz gegen  andere  Glaubensweisen  und  Kirchen,  als  auch  das 
Wesen  der  Frömmigkeit  und  der  frommen  Gemeinschaften  im 
Zusammenhang  mit  den  übrigen  Tätigkeiten  des  menschlichen 


^)  S.  6.  §  21,  Die  enzyklopädische  Darstellung  hat  es  mit  der  Anschauung 
des  Wesens  und  Zusammenhanges  der  verschiedenen  Teile  zu  tun,  ohne 
sich  mit  dem  Materiellen  selbst  zu  befassen. 


§  21—24.  Einleitung.  9 

Geistes  zu  verstehen,  sich  nur  mit  einer  empirischen  Auf- 
fassung begnügt.^) 
Daß  das  Wesen  des  Christentums  mit  einer  Geschichte  zusammenhängt, 

bestimmt  nur  die  Art  dieses  Verstehens  näher,  kann  aber  der  Aufgabe 

selbst  keinen  Eintrag  tun. 

§  22.  Wenn  fromme  Gemeinschaften  nicht  als  Verirrungen 
angesehen  werden  sollen:  so  muß  das  Bestehen  solcher  Ver- 
eine als  ein  für  die  Entwicklung  des  menschlichen  Geistes 
notwendiges  Element  nachgewiesen  werden  können.^) 

Das  erste  ist  noch  neuerlich  in  den  Betrachtungen  über  das  Wesen  des 
Protestantismus  geschehen.  Die  Frömmigkeit  selbst  ebenso  ansehen 
ist  der  eigentliche  Atheismus. 

§  23.    Die    weitere   Entwicklung    des   Begriffs   frommer 

Gemeinschaften  muß  auch  ergeben,  auf  welche  Weise  und  in 

welchem  Maß  die  eine  von  der  andern  verschieden  sein  kann, 

imgleichen,  wie  sich  auf  diese  Differenzen  das  Eigentümliche 

der  geschichtlich  gegebenen  Glaubensgenossenschaften  bezieht. 

Und  hiezu  ist  der  Ort  in  der  Religionsphilosophie.  ^) 

Der  letztere  Name,  in  diesem  freilich  noch  nicht  ganz  gewöhnlichen  Sinne 
gebraucht,  bezeichnet  eine  Disziplin,  welche  sich  in  Bezug  auf  die  Idee 
der  Kirche  zur  Ethik  ebenso  verhält,  wie  eine  andere,  die  sich  auf  die 
Idee  des  Staates,  und  noch  eine  andere,  die  sich  auf  die  Idee  der 
Kunst  bezieht. 

§  24.  Alles,  was  dazu  gehört,  um  von  diesen  Grund- 
lagen aus  sowohl  das  Wesen  des  Christentums,  wodurch  es 
eine  eigentümliche  Glaubensweise  ist,  zur  Darstellung  zu 
bringen,   als   auch  die  Form   der  christlichen  Gemeinschaft 


^)  S.  6.  §  22.  Weder  das  Wesen  des  Christentums  oder  einer  bestimmten 
Kirche  überhaupt,  woraus  im  Gegensatz  gegen  das  Zufällige  allein  (2)  die 
Organisation  der  Theologie  zu  verstehen  ist,  noch  das  Wesen  der  Kirche 
im  allgemeinen  kann  bloß  empirisch  aufgefaßt  werden. 

2)  §  23.  Soll  es  überhaupt  Kirchen  geben :  so  muß  die  Stiftung  und 
das  Bestehen  solcher  Vereine  als  ein  notwendiges  Element  in  der  Entwick- 
lung des  Menschen  können  in  der  Ethik  nachgewiesen  werden. 
2)  S.  7.  §  2-4.  Die  lebendige  Darstellung  dieser  Idee  muß  auch  das  Gebiet 
des  Veränderlichen  darin  nachweisen,  welches  die  Keime  alles  Individuellen 
enthält. 


10  Einleitung.  §  24—25 

und    zugleich    die   Art,    wie    beides   sich    wieder  teilt   und 
differentiiert ,    dieses    alles    zusammen    bildet   den   Teil    der 
christlichen   Theologie,   welchen  wir  die  philosophische 
Theologie  nennen.^) 
Die  Benennung  rechtfertigt  sich  teils  aus  dem  Zusammenhang  der  Auf- 
gabe mit  der  Ethik,  teils  aus  der  Beschaffenheit  ihres  Inhaltes,  indem 
sie  es  großenteils  mit  Begriffsbestimmungen  zu  tun  hat.    Eine  solche 
Disziplin  ist  aber   als  Einheit  noch  nicht  aufgestellt   oder  anerkannt, 
weil  das  Bedürfnis  derselben,   so  wie  sie  hier  gefaßt  ist,    erst  aus  der 
Aufgabe,   die  theologischen  Wissenschaften  zu  organisieren,   entsteht. 
Der  Stoff  derselben  ist   aber  schon  in  ziemlicher  Vollständigkeit  be- 
arbeitet   zufolge    praktischer   Bedürfnisse,    welche   aus   verschiedenen 
Zeitumständen  erwuchsen. 

§  25.  Der  Zweck  der  christlichen  Kirchenleitung  ist  so- 
wohl extensiv  als  intensiv  zusammenhaltend  und  anbildend; 
und  das  Wissen  um  diese  Tätigkeit  bildet  sich  zu  einer 
Technik,  welche  wir,  alle  verschiedenen  Zweige  derselben  zu- 
sammenfassend, mit  dem  Namen  der  praktischen  Theo- 
logie bezeichnen.-) 


^)  S.  7.  §  25.  Hieraus  das  Wesentliche  in  der  gesamten  Erscheinung 
der  christlichen  Kirche  zu  verstehen,  ist  die  Aufgabe  des  philosophischen 
Teiles  der  Theologie. 

§  26.    Die  philosophische  Theologie  ist  die  Wurzel  der  gesamten 
Theologie. 

§  27.    Sie  ist  so  wenig  bearbeitet,  daß  ihr  sogar  noch  der  bestimmte 
und  allgemein  geltende  Name  fehlt. 

2)  §  28.  Der  Zweck  des  christlichen  Kirchenregimentes  kann  nur 
dahin  gehen,  dem  Christentum  sein  zugehöriges  Gebiet  zu  sichern  und 
immer  vollständiger  anzueignen,  und  innerhalb  dieses  Gebietes  die  Idee 
des  Christentums  immer  reiner  darzustellen. 

S.  8.  §  29.  Hierzu  muß  es  eine  Technik  geben,  welche  sich  auf  den 
Besitz  der  darzustellenden  Idee  und  auf  die  Kenntnis  des  zu  regierenden 
Ganzen  stützt. 

§  30.    Die  Darstellung  dieser  Technik  ist  der  praktische  Teil  der 
Theologie. 

§  31.    Die  praktische  Theologie  ist  die  Krone  des  theologischen 
Studiums. 

§  32.    Sie  ist  bisher  mehr  in  Bezug  auf  das  Kleine  und  Einzelne, 
als  auf  das  Große  und  Ganze  als  Theorie  behandelt. 


§  26—28.  Einleitung.  H 

Auch  diese  Disziplin  ist  bisher  sehr  ungleich  bearbeitet.  In  großer  Fülle 
nämlich,  was  die  Geschäftsführung  im  einzelnen  betrifft;  hingegen 
was  die  Leitung  und  Anordnung  im  großen  betrifft,  nur  sparsam,  ja 
in  disziplinarischem  Zusammenhange  nur  für  einzelne  Teile. 

§  26.  Die  Kirclienleitung  erfordert  aber  auch  die  Kennt- 
nis des  zu  leitenden  Ganzen  in  seinem  jedesmaligen  Zu- 
stande, welcher,  da  das  Ganze  ein  geschichtliches  ist,  nur  als 
Ergebnis  der  Vergangenheit  begriffen  werden  kann;  und 
diese  Auffassung  in  ihrem  ganzen  Umfang  ist  die  histo- 
rische Theologie  im  weiteren  Sinne  des  Wortes.^) 

Die  Gegenwart  kann  nicht  als  Keim  einer  dem  Begriff  mehr  ent- 
sprechenden Zukunft  richtig  behandelt  werden,  wenn  nicht  erkannt 
wird,  wie  sie  sich  aus  der  Vergangenheit  entwickelt  hat. 

§  27.    Wenn  die  historische  Theologie  jeden  Zeitpunkt 

in  seinem  wahren  Verhältnis  zu  der  Idee  des  Christentums 

■darstellt:   so  ist  sie  zugleich  nicht  nur  die  Begründung  der 

praktischen,  sondern  auch  die  Bewährung  der  philosophischen 

Theologie.^) 

Beides  natürlich  um  so  mehr,  je  mannigfaltigere  Entwicklungen  schon 
vorliegen.  Daher  war  die  Kirchenleitung  anfangs  mehr  Sache  eines 
richtigen  Instinkts,  und  die  philosophische  Theologie  manifestierte  sich 
nur  in  wenig  kräftigen  Versuchen. 

§  28.  Die  historische  Theologie  ist  sonach  der  eigent- 
liche Körper  des  theologischen  Studiums,  welcher  durch  die 
philosophische  Theologie   mit  der  eigentlichen  Wissenschaft, 


^)  S.  8.  §  33.  Die  christliche  Kirche  als  das  zu  Regierende  ist  ein  Werden- 
des, in  welchem  die  jedesmahge  Gegenwart  begriffen  werden  muß  als  Pro- 
dukt der  Vergangenheit  und  als  Keim  der  Zukunft. 

§  34.  Dasjenige,  worauf  gewirkt  werden  soll,  ist  also  nicht  zu 
verstehen  ohne  seine  Geschichte,  und  diese  in  ihrem  ganzen  Umfang  bildet 
den  historischen  Teil  der  Theologie. 

^)  S.  9.  §  35.  Indem  die  historische  Theologie  jeden  Zeitpunkt  darstellt 
in  Bezug  auf  das  Prinzip,  enthält  sie  die  Bewährung  der  philosophischen, 
indem  in  Bezug  auf  den  vorhergegangenen,*)  enthält  sie  die  Begründung 
•der  praktischen. 


*   sc.  Zeitpunkt. 


12  Einleitung.  §  28—30. 

und  durch  die  praktische  mit  dem  tätigen  christlichen  Leben 

zusammmenhängt.^) 

Die  historische  Theologie  schließt  auch  den  praktischen  Teil  geschichtlich 
in  sich,  indem  die  richtige  Auffassung  eines  jeden  Zeitraums  auch  be- 
kunden muß,  nach  was  für  leitenden  Vorstellungen  die  Kirche  während 
desselben  regiert  worden.  Und  wegen  des  im  §  27  aufgezeigten  Zu- 
sammenhanges muß  sich  ebenso  auch  die  philosophische  Theologie  in 
der  historischen  abspiegeln. 

§  29.  Wenn  die  philosophische  Theologie  als  Disziplin 
gehörig  ausgebildet  wäre,  könnte  das  ganze  theologische  Stu- 
dium mit  derselben  beginnen.  Jetzt  hingegen  können  die  ein- 
zelnen Teile  derselben  nur  fragmentarisch  mit  dem  Studium 
der  historischen  Theologie  gewonnen  werden ;  aber  auch  dieses 
nur,  wenn  das  Studium  der  Ethik  vorangegangen  ist,  welche 
wir  zugleich  als  die  Wissenschaft  der  Prinzipien  der  Geschichte 
anzusehen  haben. ^) 

Ohne  die  fortwährende  Beziehung  auf  ethische  Sätze  kann  auch  das 
Studium  der  historischen  Theologie  nur  unzusammeuhängende  Vor- 
übung sein,  und  muß  in  geistlose  Überlieferung  ausarten;  woher  sich 
großenteils  der  oft  so  verworrene  Zustand  der  theologischen  Disziplinen 
und  der  gänzliche  Mangel  an  Sicherheit  in  der  Anwendung  derselben 
auf  die  Kirchenleitung  erklärt. 

§  30.  Nicht  nur  die  noch  fehlende  Technik  für  die 
Kirchenleitung  kann  nur  aus  der  Vervollkommnung  der 
historischen  Theologie  durch  die  philosophische  hervorgehen, 
sondern  selbst  die  gewöhnliche  Mitteilung  der  Regeln  für  die 
einzelne   Geschäftsführung  kann   nur  als   mechanische   Vor- 


*)  S.  9.  §  36.  Die  historische  Theologie  ist  der  eigentliche  Körper  des 
gesamten  theologischen  Studiums  und  faßt  auf  ihre  Art  auch  die  andern 
beiden  Teile  in  sich. 

2)  §  37.  Die  Ethik  ist  die  Wissenschaft  der  Prinzipien  der  Ge- 
schichte; diese  also  wird  bei  jedem  theologischen  Studium  vorausgesetzt, 
und  es  gründet  sich  auf  sie. 

§  88.  Für  eines  jeden  theologisches  Studium  müßte  der  philo- 
sophische Teil,  wenn  er  schon  zur  Disziplin  ausgebildet  wäre,  der  erste  sein. 
Solange  jeder  ihn  sich  selbst  bilden  muß,  kann  er  nur  neben  dem  histo- 
rischen gewonnen  werden. 


§  30—32.  Einleitung.  13 

Schrift  wirken,  wenn  ihr  nicht  das  Studium  der  historischen 
Theologie  vorangegangen  ist.^) 

Aus  der  übereilten  Beschäftigung  mit  dieser  Technik  entsteht  die  Ober- 
flächlichkeit in  der  Praxis,  und  die  Gleichgiltigkeit  gegen  wissen- 
schaftliche Fortbildung. 

§  31.  In  dieser  Trilogie,  philosophische,  historische  und 
praktische  Theologie,  ist  das  ganze  theologische  Studium  be- 
schlossen ;  und  die  natürlichste  Ordnung  für  diese  Darstellung 
ist  unstreitig  die,  mit  der  philosophischen  Theologie  zu  be- 
ginnen und  mit  der  praktischen  zu  schließen.-) 

Bei  welchem  Teüe  wir  auch  anfangen  wollten:  so  würden  wir  immer 
wegen  des  gegenseitigen  Verhältnisses,  in  welchem  sie  miteinander 
stehen,  manches  aus  den  andern  voraussetzen  müssen. 


Erster  Teil. 

Von  der  philosophischen  Theologie. 


Einleitung. 

§  32.  Da  das  eigentümliche  Wesen  des  Christentums 
sich  ebensowenig  rein  wissenschaftlich  konstruieren  läßt,  als 
es  bloß  empirisch  aufgefaßt  werden  kann :  so  läßt  es  sich  nur 
kritisch  bestimmen  (vgl.  §  23)  durch  Gegeneinanderhalten 
dessen,  was  im  Christentum  geschichtlich  gegeben  ist,  und  der 
Gegensätze,  vermöge  deren  fromme  Gemeinschaften  können 
voneinander  verschieden  sein.^) 

^)  S.  9.  §  39.  Was  sich  zunächst  auf  die  Ausübung  bezieht,  die  praktische 
Theologie,  ist  für  das  Studium  das  letzte. 

2)  S,  10.  §  40.  Es  ist  also  zu  handeln  zuerst  von  der  philosophischen 
Theologie,  dann  von  der  historischen  und  zuletzt  von  der  praktischen.  In 
diesen  ist  das  ganze  Studium  beschlossen. 

3)  S.  11.    §    1.    So  wenig  das  eigentümliche  Wesen  des  Christentums  bloß 


14  Erster  Teil.  §  33—34. 

Sowenig  sich  die  Eigentümlichkeit  einzelner  Menschen  konstruieren  läßt, 
wenngleich  allgemeine  Kubriken  für  charakteristische  Verschiedenheiten 
angegeben  werden  können:  ebensowenig  auch  die  Eigentümlichkeit 
solcher  zusammengesetzter  oder  moralischer  Persönlichkeiten. 

§  33.  Die  philosophische  Theologie  kann  daher  ihren 
Ausgangspunkt  nur  über  dem  Christentum  in  dem  logischen 
Sinne  des  Wortes  nehmen,  d.  h.  in  dem  allgemeinen  Begriff 
der  frommen  oder  Glaubensgemeinschaft.^) 

Zufolge  des  Vorigen  nämlich  kann  überhaupt  jede  bestimmte  Glaubens- 
form und  Kirche  nur  vermittelst  ihrer  Verhältnisse  des  Neben-  und 
Nacheinanderseins  zu  andern  richtig  verstanden  werden;  und  dieser 
Ausgangspunkt  ist  insofern  für  alle  analogen  Disziplinen  anderer 
Theologien  derselbe,  indem  alle  auf  denselben  höheren  Begriff  und  auf 
eine  Teilbarkeit  desselben  zurückgehen  müssen,  um  jene  Verhältnisse 
darzulegen. 

§  34.    Wie  sich  irgend  ein  geschichtlich  gegebener  Zustand 

des  Christentums  zu  der  Idee  desselben  verhält,  das  bestimmt 

sich  nicht  allein  durch  den  Inhalt  dieses  Zustandes,  sondern 

auch  durch  die  Art,  wie  er  geworden  ist. 2) 

Beides  ist  allerdings  durcheinander  bedingt,  indem  verschieden  beschaffene 

Zustände  aus  demselben  früheren  nur  können  durch  einen  verschiedenen 

Prozei3  hervorgegangen  sein,  und  ebenso  umgekehrt.     Um  so  sicherer 

aber  kann  bald  mehr  das  eine,  bald  mehr  das  andere  zur  Auffindung 

jenes  Verhältnisses  benutzt  werden.    Und  daß  in  einem  lebendigen  und 

geschichtlichen  Ganzen  nicht  alle  Zustände  sich  zu  der  Idee  desselben 

gleich  verhalten,  versteht  sich  von  selbst. 

~~  » 

empirisch  kann  aufgefaßt  werden  (Einl.  22),   eben  so   wenig  läßt  es  sich 
rein  wissenschaftlich  aus  Idee  allein  ableiten. 

S.  11.  §  2.  Es  ist  also  nur  durch  Gegeneinanderhalten  des  geschichtlich 
in  ihm  Gegebenen  und  des  in  der  Idee  der  Keligion  und  der  Eirche  als 
veränderliche  Größe  Gesetzten  zu  bestimmen. 

§  3.  Da  dasselbe  von  allen  geschichtlich  gegebenen  Keügions- 
formen  und  Kirchen  gilt:  so  ist  in  diesem  Sinn  jede  nur  mit  ihrem  Ver- 
hältnis des  Neben-  und  Nacheinanderseins  zu  andern  zugleich  zu  verstehen. 
1)  S.  12.  §  4.  Der  Standpunkt  der  philosophischen  Theologie  in  Beziehung 
auf  das  Christentum  überhaupt  ist  nur  über  demselben  zu  nehmen, 

2)  §  5.  Das  Verhältnis  des  im  Christentum  geschichtlich  Gegebenen 
zu  der  Idee  desselben  drückt  sich  nicht  nur  durch  den  Inhalt  aus,  sondern 
auch  durch  die  Art  des  Werdens. 


§  35—36  Einleitung:.  I5 

§  35.  Da  die  Ethik  als  Wissenschaft  der  Geschichts- 
prinzipien auch  die  Art  des  Werdens  eines  geschichtlichen 
Ganzen  nur  auf  allgemeine  Weise  darstellen  kann:  so  läßt 
sich  ebenfalls  nur  kritisch  durch  Vergleichung  der  dort  auf- 
gestellten allgemeinen  Differenzen  mit  dem  geschichtlich  Ge- 
gebenen ausmitteln,  was  in  der  Entwicklung  des  Christen- 
tums reiner  Ausdruck  seiner  Idee  ist,  und  was  hingegen  als 
Abweichung  hievon,  mithin  als  Krankheitszustand,  angesehen 
werden  muß.^) 

Krankheitsziistände  gibt  es  in  geschichtlielien  Individuen  nicht  minder, 
als  in  organischen;  von  untergeordneten  Differenzen  in  der  Entwicklung 
kann  hier  nicht  die  Rede  sein. 

§  36.  So  oft  das  Christentum  sich  in  eine  Mehrheit  von 
Kirchengemeinschaften  teilt,  welche  doch  auf  denselben  Namen, 
christliche  zu  sein,  Ansprüche  machen:  so  entstehen  dieselben 
Aufgaben  auch  in  Beziehung  auf  sie;  und  es  gibt  dann,  außer 
der  allgemeinen,  für  jede  von  ihnen  noch  eine  besondere  philo- 
sophische Theologie.-) 


1)  S.  12.  §  6.  Die  Ethik  als  Wissenschaft  der  Geschichtsprinzipien  muß 
darstellen,  wie  dasjenige  wird,  was  in  einem  geschichtlichen  Ganzen  reiner 
Ausdruck  der  Idee  ist.    Sie  kann  es  aber  nur  im  allgemeinen. 

§  7.  Nur  durch  Gegeneinauderhaltung  des  Gegebenen  mit  den 
dort  aufgestellten  allgemeinen  Formen  läßt  sich  von  dieser  Seite  erkennen, 
was  in  dem  geschichtlich  gegebenen  Christentum  reiner  Ausdruck  der  Idee 
desselben  ist. 

§  8.  Wie  keine  geschichtUche  Erscheinung  ihrer  Idee  rein  ent- 
spricht, sondern  Abweichungen  enthält,  die  in  jener  nicht  aufgehen  und 
nur  als  Krankheitszustand  zu  begreifen  sind,  so  auch  das  Christentum. 

S.  13.  §  9.  Nur  durch  Gegeneinanderhaltung  eines  Gegebenen  mit  dem 
als  Wesen  des  Christentums  Erkannten  läßt  sich  inne  werden,  was  wirk- 
lich als  Krankheit  zu  setzen  ist. 

2)  §  10.  Das  Christentiim,  wie  jede  Kirche,  teilt  sich  selbst  in  Par- 
teien, die  unter  sich  im  relativen  Gegensatze  stehen  und  sich  zur  christ- 
lichen Kirche  selbst  verhalten,  wie  diese  und  andere  gegebene  Kirchen  zur 
absoluten  Idee  der  Kirche. 

§  11.  Alles  bisher  (1—9)  Gesagte  gilt  also  notwendig  auch 
von  ihnen. 


16  Erster  Teil.  §  37—39. 

Offenbar  befinden  wir  uns  in  diesem  Fall;  denn  wenn  auch  jede  von 
diesen  besonderen  Gemeinschaften  alle  anderen  für  krankhaft  gewordene 
Teile  erklärte:  so  müi3ten  doch  von  unserem  Ausgangspunkt  (s.  §  33) 
aus  schon  zum  Behuf  der  ersten  Aufgabe  die  Ansprüche  aller  jenem 
kritischen  Verfahren  anheimfallen.  Unsere  besondere  philosophische 
Theologie  ist  daher  protestantisch. 

§  37.    Da  die  beiden  hier  —  in  §  32  und  35  —  gestellten 

Aufgaben  den  Zweck  der  philosophischen  Theologie  erschöpfen : 

so  ist  diese  ihrem  wissenschaftlichen  Gehalt  nach  Kritik,  und 

sie  gehört  der  Natur  ihres  Gegenstandes  nach  der  geschichts- 

kundlichen  Kritik  an.^) 

In  der  Lösung  dieser  Aufgaben  ist  nämlich  alles  enthalten,  was  der 
historischen  Theologie  sowohl,  als  der  praktischen,  in  ihrer  Beziehung 
zur  Kirchenleitung  zum  Grande  legen  muß. 

§  38.  Als  theologische  Disziplin  muß  der  philosophischen 
Theologie  ihre  Form  bestimmt  werden  durch  ihre  Beziehung 

auf  die  Kirchenleitung.  ^)  ~~-—r- — 

Das   gilt  natürlich  auch  von  jeder  speziellen  philosophischen  Theologie. 

§  39.  Wie  jeder  in  seiner  Kirchengemeinschaft  nur  ist 
vermöge  seiner  Überzeugung  von  der  Wahrheit  der  sich  darin 
fortpflanzenden  Glaubensweise:  so  muß  die  erhaltende  Rich- 
tung der  Kirchenleitung  auch  die  Abzweckung  haben,  diese 
Überzeugung  durch  Mitteilung  zur  Anerkenntnis  zu  bringen. 
Hiezu  bilden  aber  die  Untersuchungen  über  das  eigentümliche 
Wesen  des  Christentums  und  ebenso  des  Protestantismus  die 


^)  S.  13.  §  12.  Da  die  hier  gestellten  Aufgaben  den  Inhalt  der  philo- 
sophischen Theologie  erschöpfen:  so  ist  diese  ihrem  Innern  Wesen  nach 
Kritik  und  führt  ihren  Namen  nur  in  einem  weitern  Sinne,  wegen  ihrer 
unmittelbaren  Beziehung  auf  die  Hauptsätze  der  Ethik. 
*)  S.  14.  §  17.  Als  theologische  Disziplin  nimmt  die  philosophische  Theo- 
logie ihre  Form  von  dem  Interesse  an  dem  Wohlbefinden  und  der  Fort- 
bildung der  Kirche. 

§  18.  Als  solche  ist  sie,  jedesmal  wenn  ein  solcher  Gegensatz 
besteht,  auch  wesentlich  in  einer  Kirchenpartei  befangen,  und  also  für  jede 
eine  besondere. 

S.  15.    §  19.    Als  solche  enthält  sie,  dem  Obigen  zufolge,  die  Prinzipien 
der  Apologetik  und  der  Polemik  und  ist  in  diesen  ganz  beschlossen. 


§  39—40.  Einleitung.  17 

Grundlage,  welche  daher  den  apologetischen  Teil  der  philo- 
sophischen Theologie  ausmachen,  jene  der  allgemeinen  christ- 
lichen, diese  der  besonderen  des  Protestantismus.^) 
Bei  dieser  Benennung  ist  an  keine  andere  Verteidigung  zu  denken,   als 
welche  von  der  Anfeindung  der  Gemeinschaft  abhalten  will.    Das  Be- 
streben,  auch    andere   in   diese  Gemeinschaft   hineinzuziehen,    ist  eine 
klerikalische,    allerdings    aus    der   Apologetik   schöpfende    Ausübung: 
und  eine  Technik  für  dasselbe,  die  aber  kaum  anfängt  sich  zu  bilden, 
wäre  der  zunächst  auf  der  Apologetik  beruhende  Teil  der  praktischen 
Theologie. 

§  40.  Da  jeder,  nach  Maßgabe  der  Stärke  und  Klarheit 
seiner  Überzeugung,  auch  Mißfallen  haben  muß  an  den  in 
seiner  Gemeinschaft  entstandenen  krankhaften  Abweichungen : 
so  muß  die  Kirchenleitung,  vermöge  ihrer  intensiv  zusammen- 
haltenden Richtung  (§  25),  zunächst  die  Abzweckung  haben, 
diese  Abweichungen  als  solche  zum  Bewußtsein  zu  bringen. 
Dies  kann  nur  vermöge  richtiger  Darstellung  von  dem  Wesen 
des  Christentums  und  so  auch  des  Protestantismus  geschehen, 
welche  daher  in  dieser  Anwendung  den  polemischen  Teil  der 
philosophischen  Theologie  bilden,  jene  der  allgemeinen,  diese 
der  besonderen  protestantischen. 2) 

Die  klerikalische  Praxis,  welche  auf  die  Beseitigung  der  Krankheitszu- 
stände  ausgeht,  hat  hier  ihre  Prinzipien;  und  die  Technik  derselben 
wäre  der  zunächst  auf  die  Polemik  zurückgehende  Teil  der  praktischen 
Theologie. 


^)  S.  13,  §  13.  Der  lebendige  Sinn  des  einzelnen  in  einer  Kirche  und 
Kirchenpartei  ist  zugleich  seine  innere  Überzeugung  von  ihrer  geschicht- 
lichen Giltigkeit. 

S.  14.  §  14.  Die  lebendige  Tätigkeit  des  einzelnen  im  Kirchenregiment 
ist  zugleich  das  Bestreben,  ihre  innere  Giltigkeit  auch  äußerlich  geltend  zu 
machen  oder  sie  zu  verteidigen. 

^)  §  15.  Das  lebendige  Sein  des  einzelnen  in  einer  Kirche  oder 
Kirchenpartei  ist  zugleich  sein  inneres  Mißfallen  an  den  krankhaften  Ab- 
weichungen, die  darin  vorkommen. 

§  16.  Zur  Tätigkeit  des  einzelnen  im  Kirchenregiment  gehört 
auch  das  Bestreben,  diese  Abweichungen  als  solche  kenntlich  zu  machen 
und  hinwegzuschaffen, 

Schleierm.,  Th.  St.  2 


18  Erster  Teil.  §  41—43. 

§  41.  So  wie  die  Apologetik  ihre  Richtung  ganz  nach 
außen  nimmt,  so  die  Polemik  die  ihrige  durchaus  nach  innen. 

Die  weit  gewöhnlicher  so  genannte,  nach  außen  gekehrte  besondere  Po- 
lemik der  Protestanten,  z.  B.  gegen  die  Katholiken,  und  ebenso  die 
allgemeine  der  Christen  gegen  die  Juden  oder  auch  die  Deisten  und 
Atheisten,  ist  ebenfalls  eine  im  weiteren  Sinne  des  Wortes  klerikalische 
Ausübung,  welche  einerseits  mit  unserer  Disziplin  nichts  gemein  hat, 
andererseits  auch  schwerlich  von  einer  wohl  bearbeiteten  praktischen 
Theologie  als  heilsam  dürfte  anerkannt  werden.  Man  könnte  allerdings 
behaupten,  diese  Ausübung  müsse  nur  nicht  als  eine  protestantische 
angesehen  werden,  sondern  als  eine  allgemein  christliche,  so  habe  sie 
ihre  Eichtuug  auch  nach  innen.  Allein  dann  ginge  sie  auch  nicht, 
wie  es  doch  immer  gemeint  ist,  gegen  den  Katholizismus  im  ganzen, 
sondern  nur  gegen  dasjenige  darin,  was  nicht  seiner  eigentümlichen 
Form  angehört,  sondern  als  Krankheitszustand  des  Christentums  zu 
betrachten  ist. 

§  42.  Da  nun  die  philosophische  Theologie  keine  weiteren 
Aufgaben  enthält:  so  ist  im  folgenden  zu  handeln  von  der 
Organisation  der  Apologetik  und  der  Polemik,  und  zwar  der  allge- 
meinen christlichen  sowohl,  als  der  besonderen  protestantischen. 

Entweder  also  zuerst  von  der  allgemeinen  philosophischen  Theologie  in 
ihren  beiden  Teilen,  und  dann  ebenso  von  der  besonderen;  oder  zuerst 
von  der  Apologetik,  der  allgemeinen  und  besonderen,  und  dann  ebenso 
von  der  Polemik.    Die  letztere  Anordnung  ist  vorgezogen  worden. 


Erster  Abschnitt. 
Grundsätze  der  Apologetik. 

§  43.  Da  der  Begriff  frommer  Gemeinschaften  oder  der 
Kirche  sich  nur  in  einem  Inbegriff  nebeneinander  bestehender 
und  aufeinander  folgender  geschichtlicher  Erscheinungen  ver- 
wirklicht, welche  in  jenem  Begriff  eins,  unter  sich  aber  ver- 
schieden sind :  so  muß  auch  von  dem  Christentum  durch  Dar- 
legung sowohl  jener  Einheit,  als  dieser  Differenz  nachgewiesen 
werden,   daß  es  in  jenen  Inbegriff  gehört.     Dies  geschieht 


§  43—45.  Erster  Abschnitt.  19 

mittelst  Aufstellung  und  Gebrauchs  der  Wechselbegriffe  des 
Natürlichen  und  Positiven.^) 

Die  Aufstellung  dieser  Begriffe,  wovon  jener  das  Gemeinsame  aller,  dieser 
die  Möglichkeit  verschiedener  eigentümlicher  Gestaltungen  desselben 
aussagt,  gehört  eigentlich  der  Keligionsphilosophie  an ;  daher  dieselben 
auch  gleich  giltig  sind  für  die  Apologetik  jeder  frommen  Gemeinschaft. 
Könnte  nun  auf  diese  Weise  auf  die  Eeligionsphilosophie  bezogen 
werden;  so  bliebe  für  die  christliche  Apologie  hieven  nur  übrig,  was 
der  folgende  Paragraph  enthält. 

§  44.  Auf  den  Begriff  des  Positiven  zurückgehend,  muß 
dann  für  das  eigentümliche  Wesen  des  Christentums  eine 
Formel  aufgestellt  und  mit  Beziehung  auf  das  Eigentümliche 
anderer  frommen  Gemeinschaften  unter  jenen  Begriff  sub- 
sumiert werden.-) 

Dies  ist  zwar  die  Grundaufgabe  der  Apologetik ;  aber  je  mehr  eine  solche 
Formel  nur  durch  ein  kritisches  Verfahren  (vgl.  §  32)  gefunden  werden 
kann,  um  desto  mehr  kann  sie  sich  erst  im  Gebrauch  vollständig  be- 
währen. 

§  45.  Das  Christentum  muß  seinen  Anspruch  auf  ab- 
gesondertes geschichtliches  Dasein  auch  geltend  machen  durch 
die  Art  und  Weise  seiner  Entstehung;  und  dieses  geschieht 
durch  Beziehung  auf  die  Begriffe  Offenbarung,  Wunder  und 
Eingebung.^) 
Je  mehr  auf  ursprüngliche  Tatsachen  zurückgehend,   desto  größeres  An- 


^)  S.  15.  §  1.  Da  die  Idee  der  Kirche  sich  nur  in  einer  Mehrheit  ge- 
schichtlicher Erscheinungen  realisiert,  welche  in  jener  Idee  eins,  unter  sich 
aber  verschieden  sind:  so  muß  auch  von  dem  Christentum,  wenn  es  als  eine 
solche  geltend  gemacht  werden  soll,  sowohl  jene  Einheit  als  diese  Differenz 
nachgewiesen  werden.  Diese  Untersuchung  umfaßt  die  Wechselbegriffe  des 
Natürlichen  und  Positiven. 

2)  §  2.  Sie  muß,  auf  allgemeine  Bestimmung  darüber,  worin  das 
eigentümliche  Wesen  einer  besondern  Eeligionsform  und  Kirche  zu  setzen 
sei,  sich  gründend,  in  diesem  Gebiet  das  Wesen  des  Christentums  nach- 
weisen. 

^)  S.  16.  §  5.  Das  Christentum,  als  neue  und  ursprüngliche  Tatsache,  muß 
sich  auch  durch  die  Art,  wie  es  entstanden  ist,  (I.  Einl.  5)  ausweisen. 
Diese  Untersuchung  umfaßt  die  Begriffe  von  Offenbarung,  Wunder  und 
Eingebung.  » 

2* 


20  Erster  Teil.  §  46—48. 

recht   auf   Selbständigkeit,   und   umgekehrt;    wie    dasselbe    auch,   bei 
anderen  Arten  der  Gemeinschaft  stattfindet. 

§  46.  Wie  aber  die  geschichtliche  Darstellung  der  Idee 
der  Kirche  auch  als  fortlaufende  Reihe  anzusehen  ist:  so  muß 
ungeachtet  des  §§  43  und  44  Gesagten  doch  auch  die  ge- 
schichtliche Stetigkeit  in  der  Folge  des  Christentums  auf  das 
Judentum  und  Heidentum  nachgewiesen  werden,  welches 
durch  Anwendung  der  Begriffe  Weissagung  und  Vorbild  ge- 
schieht.^) 

Das  rechte  Maß  in  Feststellung  und  Gebrauch  dieser  Begriffe  ist 
vielleicht  die  höchste  Aufgabe  der  Disziplin;  und  je  vollkommener 
gelöst,  desto  festere  Grundlage  hat  die  von  außen  anbildende  Aus- 
übung. 

§  47.  Da  die  christliche  Kirche,  wie  jede  geschichtliche 
Erscheinung,  ein  sich  Veränderndes  ist:  so  muß  auch  nach- 
gewiesen werden,  wie  durch  diese  Veränderungen  die  Einheit 
des  Wesens  dennoch  nicht  gefährdet  wird.  Diese  Unter- 
suchung umfaßt  die  Begriffe  Kanon  und  Sakrament.-) 

Die  Apologetik  hat  es  mit  den  dogmatischen  Theorien  über  beide  nicht 
zu  tun;  indem  diese  hier  nicht  antizipiert  werden  können.  Beide 
Tatsachen  aber  beziehen  sich  ihrem  Begriff  nach  auf  die  Stetigkeit 
des  Wesentlichen  im  Christentume,  der  erste,  wie  sie  sich  in  der  Pro- 
duktion der  Vorstellung,  der  andere,  wie  sie  sich  in  der  Überlieferung 
der  Gemeinschaft  ausspricht. 

§  48.  Wie  der  Begriff  der  Kirche  sich  wissenschaftlich 
nur  ergibt  im  Zusammenhang  (vgl.  §  22)  mit  denen  aller 
andern   aus  dem  Begriff"  der  Menschheit  sich  entwickelnden 


^)  S.  16.  §  6.  Da  die  ganze  geschichtliche  Darstellung  der  Idee  der  Kirche 
auch  als  Eine  fortlaufende  Eeihe  anzusehen  ist:  so  muß  ebenso  auch  auf 
der  andern  Seite  das  Hervorgehen  des  Christentums  aus  dem  Judentum  und 
Heidentum  dargestellt  werden.  Diese  Untersuchung  umfaßt  die  Begriffe 
von  Weissagung  und  Vorbild. 

2)  S.  17.  §  7.  Da  die  christliche  Kirche  als  geschichtliche  Erscheinung  ein 
Zeitliches,  also  sich  Veränderndes  ist :  so  ist  auch  auszuführen,  woran  unter 
diesen  Veränderungen  die  bleibende  Einheit  des  Wesens,  sowohl  im  Gebiete 
der  Lehre,  als  der  Gemeinschaft,  kann  erkannt  werden.  Diese  Untersuchung 
bezieht  sich  auf  die  Begriffe  Kanon  und  Sakrament. 


§  48—49.  Erster  Abschnitt.  21 

Organisationen  gemeinsamen  Lebens:  so  muß  nun  auch  von 
der  christlichen  Kirche  nachgewiesen  Averden,  daß  sie  ihrem 
eigentümlichen  Wesen  nach  mit  allen  jenen  Organisationen 
zusammenbestehen  kann,  welches  sich  aus  richtiger  Erörterung 
der  Begriffe  Hierarchie  und  Kirchengewalt  ergeben  muß.^) 

Vorzüglich  kommen  hier  in  Betracht  der  Staat  und  die  Wissenschaft. 
Denn  niemanden  könnte  zugemutet  werden,  die  Giltigkeit  des  Christen- 
tums anzuerkennen,  wenn  es  durch  sein  Wesen  einem  von  diesen  ent- 
gegenstrebte. Die  Aufgabe  ist  daher  um  so  vollständiger  gelöst,  je 
bestimmter  gezeigt  werden  kann,  daß  diese  inneren  Institutionen  der 
Kirche  ihrem  Begriffe  nach  nur  die  unabhängige  Entwicklung  der- 
selben im  Zusammenhang  mit  Staat  und  Wissenschaft  bezwecken, 
nicht  aber  die  gleich  unabhängige  Entwicklung  jener  zu  stören  meinen. 
Alles  hierüber  in  die  praktische  Theologie  Gehörige  bleibt  hier  ausge- 
schlossen. 

§  49.  Je  mehr  in  allen  diesen  Untersuchungen  auf  beides 
Bezug  genommen  wird,  sowohl  darauf,  daß  das  Christentum 
als  organische  Gemeinschaft  bestehen  will,  als  auch  darauf, 
daß  es  sich  vorzüglich  durch  den  Gedanken  darstellt  und  mit- 
teilt (vgl.  §  2),  um  desto  mehr  müssen  sie  den  Grund  zu  der 
Überzeugung  legen,  daß  auch  von  Anfang  an  (vgl.  §  44)  das 
Wesen  des  Christentums  richtig  ist  aufgefaßt  w^orden.'-) 

Wenn  sich  doch  in  allem,  was  sich  auf  Lehre  und  Verfassung  bezieht, 
dasselbe  Wesen  des  Christentums  übereinstimmend  mit  der  aufgestellten 
Formel  ausspricht:  so  ist  dies  die  beste  Bewährung  für  diese. 


^)  S.  17.  §  8.  Da  die  Kirche  als  notwendiges  Erzeugnis  auf  einem  und 
demselben  Grunde  beruht  mit  allen  andern  in  der  Entwickelung  der  Mensch- 
heit sich  wesentlich  ergebenden  Organisationen  eines  gemeinsamen  Lebens : 
so  muß  auch  von  dem  Christentum  nachgewiesen  werden,  daß  es  mit  jenen 
allen  zusammenbestehen  kann.  Dieses  Bestreben  geht  aus  auf  richtige  Be- 
stimmung der  Begriffe  Hierarchie  und  Kirchengewalt. 
2)  S.  16.  §  3.  Da  das  eigentümliche  Wesen  einer  besondern  Religionsform 
sich  auf  der  idealen  Seite  am  kenntlichsten  in  ihren  Dogmen  ausspricht  und 
auf  der  realen  in  ihrer  Verfassung:  so  muß,  um  die  innere  Konsistenz  des 
Christentums  darzustellen,  nachgewiesen  werden,  wie  sich  dasselbige  Wesen 
in  beiden  ausspricht. 

§  4.    Diese  Kongruenz  muß  die  Probe  geben,  daß  das  Wesen  des 
Christentums  richtig  aufgefaßt  ist. 


22  Erster  Teil.  §  50-52. 

§  50.  Befindet  sich  die  Kirche  in  einem  Zustande  der 
Teilung,  so  muß  die  spezielle  Apologetik  einer  jeden  Kiichen- 
partei,  mithin  jetzt  auch  die  protestantische,  denselben  Gang 
einschlagen,  wie  die  allgemeine.^) 

Denn  die  Aufgabe  ist  dieselbe,  und  das  Verhältnis  jeder  einzelnen 
Kirchenpartei  zu  den  übrigen  gleich  dem  des  Christentums  zu  den 
andern  verwandten  Glaubensgemeinschaften.  Die  in  §  47  geforderte 
Nachweisung  führt  auf  die  Begriffe  von  Konfession  und  Ritus,  und 
bei  der  in  §  48  beschriebenen  kommt  es  vorzüglich  auf  das  Verhältnis 
zum  Staat  an. 

§  51.  Auch  die  allgemeine  christliche  Apologetik  wird 
in  diesem  Fall,  von  der  Ansicht  jeder  besonderen  Gestaltung 
des  Christentums  affiziert,  sich  in  jeder  eigentümlich  ge- 
stalten.^) 

Dies  wird  allerdings  um  desto  weniger  der  Fall  sein,  je  strenger  aus  der 
Erörterung  alles  Dogmatische  ausgeschieden  wird.  Niemals  aber  darf 
es  so  weit  gehen,  daß  jede  nur  sich  selbst  als  Christentum  zur  Aner- 
kenntnis bringen  will,  die  andern  aber  als  unchristlich  darstellt.  Wofür 
schon  durch  die  Scheidung  der  allgemeinen  und  besondern  Apologetik 
gesorgt  werden  soll. 

§  52.  Da  mehrere  im  Gegensatz  miteinander  stehende 
christliche  Kirchengemeinschaften  sich  nur  bilden  konnten  aus 
einem  Zustande  des  Ganzen,  in  welchem  kein  Gegensatz  aus- 
gesprochen war :  so  hat  sich  jede  um  so  mehr  gegen  den  Vor- 
wurf der  Anarchie  oder  der  Korruption  zu  verteidigen,  als 
auch  jede  wieder  geneigt  ist,  von  sich  selbst  zu  behaupten, 
daß  sie  an  den  ursprünglichen  Zustand  anknüpfe.^) 


^)  S.  17.  §  9.  Auf  gleiche  Weise  hat  die  Apologetik,  wiefern  sie  sich  auf 
eine  besondere  Kirchenpartei  richtet,  sowohl  deren  mit  andern  gemeinsames 
Sein  in  der  christlichen  Kirche,  als  auch  ihr  besonderes  Für-sich-Bestehn 
zu  begründen.  Ihr  Gegenstand  ist  in  diesem  Sinne  vorzüglich  alles,  was 
unter  die  Begriffe  Konfession  und  Kitus  gehört. 

2)  S.  18.  §  10.  Nicht  nur  kann  jede  Kirchenpartei  nur  sich  selbst  und 
nicht  auch  die  andere  verteidigen,  sondern  ihre  Ansicht  wird  sich  auch  mehr 
oder  weniger  durch  das  ganze  Geschäft  der  Apologetik  hindurchziehen. 

^)  §  11.    Da  Kirchenparteien   als  Gegensatz  nur  entstehen   können 
aus  einem  Zustande     in  welchem  kein  Gegensatz  stattfindet :   so  hat  jede 


§  53—54.  Zweiter  Abschnitt.  23 

Weder  war  im  ursprünglichen  Christentum  ein  Gegensatz  ausgesprochen, 
noch  kann  jemals  ein  Gegensatz  an  die  Stelle  eines  anderen  treten, 
ohne  daß  jener  vorher  verschwunden  wäre. 

§  53.  Da  eben  deshalb  jeder  Gegensatz  dieser  Art  inner- 
halb des  Christentums  auch  dazu  bestimmt  erscheint,  wieder 
zu  verschwinden:  so  wird  die  Vollkommenheit  der  speziellen 
Apologetik  darin  bestehen,  daß  sie  divin atorisch  auch  die 
Formen  für  dieses  Verschwinden  mit  in  sich  schließt.^) 

Eine  prophetische  Tendenz  soll  hierdurch  der  speziellen  Apologetik 
keinesweges  beigelegt  werden.  Aber  je  richtiger  in  dieser  Beziehung 
das  eigentümliche  Wesen  des  Protestantismus  aufgefaßt  ist,  um  desto 
haltbarere  Gründe  wird  die  spezielle  Apologetik  darbieten,  um  falsche 
Unionsversuche  abzuwehren,  da  jeder  auf  der  Voraussetzung  beruht, 
der  Gegensatz  sei  schon  in  einem  gewissen  Grade  verschwunden. 


Zweiter  Abschnitt. 
Crrundsätze  der  Polemik.^) 

§  54.  Krankhafte  Erscheinungen  eines  geschichtlichen 
Organismus  (vgl.  §  35)  können  teils  in  zurücktretender  Lebens- 
kraft gegründet  sein,  teils  darin,  daß  sich  beigemischtes  Fremd- 
artige in  demselben  für  sich  organisiert.^) 


sich  zu  verteidigen  gegen  den  Vorwurf  entweder  der  Anarchie   oder  der 
Korruption. 

^)  S  18.  §  12.  Da  solche  Gegensätze  innerhalb  des  Christentums  schon  oft 
wieder  verschwunden  sind:  so  muß  die  besondere  Apologetik  auch  sich 
selbst  begrenzen,  und  wissen,  wo  das  abgesonderte  Dasein  einer  Partei 
nicht  mehr  vermag  als  eigentümliche  Darstellung  des  Christentums  zu  gelten. 
^)  S.  19.  §  1.  Die  Prinzipien  der  Polemik  gehören  zur  philosophischen 
Theologie  als  ihre  negative  Seite,  als  die  Auffindung  und  Anerkennung 
dessen,  loas  in  der  Erscheinung  des  Christentums  seiner  Idee  nicht  entspricht. 
^)  §  2.  Es  kann  in  der  Erscheinung  ein  allgemein  geschwächter 
Lebensprozeß  nicht  mehr  der  ursprünglichen  Kraft  der  einwohnenden  Idee 
entsprechen;  es  kann  teilweise  etwas  absterben  oder  sich  nicht  neu  ent- 
wickeln, was  zur  Darstellung  der  Idee  gehört;  es  kann  endlich  in  der  Er- 
scheinung sich  etwas  entwickeln,  was  der  Idee  widerspricht. 


24  Erster  Teil.  §  55-57. 

Es  ist  nicht  nötig,  hiebei  auf  die  Analogie  mit  dem  animalischen  Orga- 
nismus zurückzugehen ;  derselbe  Typus  kann  auch  schon  an  den  Krank- 
heiten der  Staaten  zur  Anschauung  gebracht  werden. 

§  55.  Da  der  Trieb,  die  christliche  Frömmigkeit  zum 
Gegenstand  einer  Gemeinschaft  zu  machen,  nicht  notwendig 
in  gleichem  Verhältnis  steht  mit  der  Stärke  dieser  Frömmig- 
keit selbst:  so  kann  bald  mehr  das  eine  von  beiden  geschwächt 
sein  und  zurücktreten,  bald  mehr  das  andere. 

Beides  in  der  höchsten  Vollkommenheit  vereinigt,  bildet  freilich  den  nor- 
malen Gesundheitszustand  der  Kirche,  der  aber  während  ihres  ge- 
schichtlichen Verlaufs  nirgends  vorausgesetzt  werden  kann.  Eben 
daraus  aber,  daß  dieser  Gesundheitszustand  nur  als  die  vollständige 
Einheit  jenes  Zwiefachen  beschrieben  werden  kann,  folgt  schon,  daß 
einseitige  Abweichungen  nach  beiden  Seiten  hin  möglich  sind. 

§  56.  Diejenigen  Zustände,  durch  welche  sich  vorzüglich 
offenbart,  daß  die  christliche  Frömmigkeit  selbst  krankhaft 
geschwächt  ist,  werden  unter  dem  Namen  Indifferentis- 
mus zusammengefaßt;  und  die  Aufgabe  ist  daher,  zu  bestimmen, 
wo  das,  was  als  eine  solche  Schwächung  erscheint,  wirklich 
beginnt,  krankhaft  zu  sein,  und  in  wie  mancherlei  Gestalten 
dieser  Zustand  sich  darstellt.^) 

Es  ist  die  gewöhnliche  Bedeutung  dieses  Ausdrucks,  Gleichgiltigkeit  in 
Bezug  auf  das  eigentümliche  Gepräge  der  christlichen  Frömmigkeit 
darunter  zu  verstehen;  wobei  allerdings  noch  Frömmigkeit  ohne  be- 
stimmtes Gepräge  stattfinden  kann.  —  Außerdem  aber  werden  häufig 
Zustände  auf  Rechnung  einer  solchen  Schwäche  geschrieben,  die  ganz 
anders  zu  erklären  sind.  —  Daß  bei  wirklichem  Indifferentismus  auch 
der  christliche  Gemeinschaftstrieb  geschwächt  sein  muß,  ist  natür- 
lich; dies  ist  aber  dann  nur  Folge  der  Krankheit,  nicht  Ursache  der- 
selben. 

§  57.  Diejenigen  Zustände,  welche  vornehmlich  auf  ge- 
schwächten Gemeinschaftsbetrieb   deuten,  werden  durch  den 


1)  S.  19.  §  3.  Die  allgemeinste  Form  des  ersten  Übels  ist  der  Indifferen- 
tismus. Wenn  dieser  aus  dem  Prinzip  des  Christentums  hervorginge:  so 
würde  dieses  sich  selbst  aufheben.  Soll  also  dem  Christentum  eine  not- 
wendige Existenz  zukommen:  so  muß  er  nachgewiesen  werden  als  Krank- 
heitszustand. 


57 — 59.  Zweiter  Abschnitt.  25 

Namen  Separatismus  bezeichnet,  welcher  also  ebenfalls 
in  seinen  Grenzen  und  seiner  Gliederung  genauer  zu  be- 
stimmen ist.^) 

Genauer,  als  gewöhnlich  geschieht,  ist  zu  unterscheiden  zwischen  eigent- 
lichem Separatismus  und  Neigung  zum  Schisma;  zumal  Jener,  unge- 
achtet seiner  gänzlichen  Negatiyität,  oft  den  Schein  Ton  dieser  an- 
nimmt. Offenbar  ist,  daß  der  Gemeinschaftstrieb,  wenn  er  in  seiner 
vollen  Stärke  vorhanden  ist,  auch  alle  Glieder  durchdringen  muß.  Er 
ist  also  desto  mehr  geschwächt,  je  mehrere  sich  bewußt  und  absicht- 
lich ausschließen,  ungeachtet  sie  dieselbe  christliche  Frömmigkeit  zu 
besitzen  behaupten. 

§  58.  Da  das  eigentümliche  Wesen  des  Christentums 
sich  vorzüglich  ausspricht  einerseits  in  der  Lehre  und  anderer- 
seits in  der  Verfassung:  so  kann  sich  in  der  Kirche  auch 
Fremdartiges  organisieren,  teils  in  der  Lehre  als  Ketzerei, 
Häresis,  teils  in  der  Verfassung  als  Spaltung,  Schisma;  und 
beides  ist  daher  in  seinen  Grenzen  und  Gestaltungen  zu  be- 
stimmen.^) 

In  den  meisten  Fällen,  jedoch  nicht  notwendig,  wird,  wenn  sich  eine  ab- 
weichende Lehre  verbreitet,  daraus  auch  eine  besondere  Gemeinschaft 
entstehen ;  allein  diese  ist  als  bloße  Folge  jenes  Zustandes  nicht  eigent- 
liche Spaltung.  Ebenso  wird  sich  innerhalb  einer  Spaltung  großen- 
teils, jedoch  nicht  notwendig,  auch,  abweichende  Lehre  entwickeln; 
allein  diese  braucht  deshalb  nicht  häretisch  zu  sein. 

§  59.  Alle  hier  aufgestellten  Begriffe  können  weder  bloß 
empirisch    gefunden,    noch    rein    wissenschaftlich    abgeleitet 


^)  S.  20.  §  4.  Die  allgemeinste  Form  des  zweiten  Übels  ist  der  Separa- 
tismus. Wenn  dieser  dem  Prinzip  des  Christentums  gemäß  wäre :  so  würde 
er  die  Kirche,  d.  h.  seine  geschichtliche  Realität  selbst  zerstören.  Er  muß 
also  begriffen  werden  als  Krankheit. 

§  5.  We7in  das  dem  Wesen  des  Christentums  Zuwiderlaufende 
auch  außer  der  Erscheinimg  desselben  gesetzt  wird:  so  ist  es  kein  Gegen- 
stand  der  Polemik.  Gegen  den  Atheismus  oder  gegen  einen  antireligiösen 
Verein  gibt  es  keine  Polemik. 

2)  §  6.  Das  innerhalb  der  Erscheinung  des  Christentums  seinem 
Wesen  Widerstreitende  ist,  wenn  es  sich  in  der  Lehre  selbständig  organi- 
siert, Ketzerei,  wenn  in  der  Gemeinschaft,  Spaltung. 


26  Erster  Teil.  §  59-61. 

werden,   sondern  nur  durch  das   hier  überall  vorherrschende 

kritische  Verfahren  festgestellt;   weshalb  sie  sich   durch  den 

Gebrauch  immer  mehr  bewähren  müssen,  um  ganz  zuverlässig 

zu  werden.^) 

In  Bezug  auf  Spaltung  und  Ketzerei  muß  wegen  der  großen  Mannig- 
faltigkeit der  Erscheinungen  dies  Verfahren  auf  einer  Klassifikation 
beruhen,  welche  sich  dadurch  bewährt,  daß  die  vorhandenen  Erschei- 
nungen mit  Leichtigkeit  darunter  subsumiert  werden  können.  In 
Bezug  auf  Indifferentismus  und  Separatismus  bewährt  es  sich  desto 
mehr,  je  mehr  es  hindert,  daß  nicht  durch  allzugroße  Strenge  für 
krankhaft  erklärt  werde,  was  noch  gesund  ist,  und  umgekehrt, 

§  60.  Was  als  krankhaft  aufgestellt  wird,  davon  muß 
nachgewiesen  werden,  teils  seinem  Inhalte  nach,  daß  es  dem 
Wesen  des  Christentums,  wie  sich  dieses  in  Lehre  und  Ver- 
fassung ausgedrückt  hat,  widerspricht  oder  es  auflöst,  teils 
seiner  Entstehung  nach,  daß  es  nicht  mit  der  von  den  Grund- 
tatsachen des  Christentums  ausgehenden  Entwicklungsweise 
zusammenhängt.^) 

Je  mehr  beides  zusammentrifft  und  sich  gegenseitig  erklärt,  um  desto 
sicherer  erscheint  die  Bestimmung. 

§  61.  In  Zeiten,  wo  die  christliche  Kirche  geteilt  ist, 
hat  jede  spezielle  Polemik  einer  besonderen  christlichen 
Kirchengemeinschaft  denselben  Weg  zu  verfolgen,  wie  die  all- 
gemeine. 

Die  Sachverhältnisse  sind  dieselben.  Nur  daß  einerseits  in  solchen  Zeiten 
natürlich  Indifferentismus  und  Separatismus  ursprünglich  in  den  par- 
tiellen Kirchengemeinschaften  einheimisch  sind,  und  nur  insofern  all- 
gemeine  Übel   werden,    als  sie   sich   in   mehreren   nebeneinander   be- 


^)  S.  20.  §  7.  Vermöge  des  Gegensatzes  (I.  Einl.  1.  2)  muß  gelten,  daß 
weder  bloß  empirisch  aufgefaßt,  noch  rein  wissenschaftlich  abgeleitet  werden 
kann,  was  im  einzelnen  Häresis  und  Schisma  ist,  sondern  nur  durch  Gegen- 
einanderhalten des  Gegebenen  und  der  Idee. 

*)  S.  21.  §  8.  Das  polemische  Verfahren  ist  daher,  die  Ausartung  an  dem 
Inhalt  zu  beweisen,  entweder  durch  W^iderspruch  gegen  Kanon  und  Sakra- 
ment (T.  I.  Abschn.  I.  7),  in  Bezug  auf  die  Kirche,  und  gegen  Konfession 
und  Ritus  (Ebend.  9),  in  Bezug  auf  die  Partei,  oder  durch  die  natürliche 
Kongruenz  zwischen  Häresis  und  Schisma  (Ebend.  8). 


§  62—63.  Schlußbetrachtungen  27 

stehenden  christlichen  Gemeinschaften  gleichmäi3ig  vorfinden,  anderer- 
seits aber,  was  nur  dem  eigentümlichen  Wesen   einer  partiellen  Ge- 
meinschaft widerspricht,  nie  sollte  durch  den  Ausdruck  häretisch  ode 
schismatisch  bezeichnet  werden. 

§  62.  Da  die  ersten  Anfänge  einer  Ketzerei  allemal  als 
Meinungen  einzelner  auftreten,  und  die  einer  Spaltung  als 
Verbrüderungen  einzelner;  eine  neue  partielle  Kirchengemein- 
schaft  aber  auch  nicht  füglich  anders,  als  ebenso,  zuerst  er- 
scheinen kann:  so  müssen  die  Grundsätze  der  Polemik,  wenn 
vollkommen  ausgebildet,  Mittel  an  die  Hand  geben,  um  schon 
an  solchen  ersten  Elementen  zu  unterscheiden,  ob  sie  in  krank- 
hafte Zustände  ausgehen  werden,  oder  ob  sie  den  Keim  zur 
Entwicklung  eines  neuen  Gegensatzes  in  sich  schließen.^) 

Wie  überhaupt  dieser  Satz  gleichlautend  ist  mit  §  53,  so  ist  auch  hier 
dasselbe  wie  dort  zu  bemerken,  in  Bezug  nämlich  auf  solche  Toleranz 
gegen  das  Krankhafte  einerseits,  und  andererseits  auf  Beantwortung 
der  billigen  Freiheit  für  dasjenige,  was  sich  neu  zu  differentiieren  im 
Begriff  steht. 


ScMußbetrachtungeu 

über  die  philosophische  Theologie. 

§  63.  Beide  Disziplinen,  Apologetik  und  Polemik,  wie 
sie  sich  gegenseitig  ausschließen,  bedingen  sich  auch  gegen- 
seitig. 2) 

*)  S.  21.  §  9.  Das  dem  Wesen  des  Christentums  Widerstreitende  muß 
sich  auch  kundtun  durch  seine  Entstehungsart  (I.  Einl.  5 — 7),  und  die 
Prinzipien  der  Polemik  müssen  streben,  diese  zu  bestimmen. 

§  10.  Die  ersten  erscheinenden  Elemente  der  Häresis  sind 
Meinungen  einzelner,  die  der  Spaltung  Konventikula.  Die  Prinzipien  der 
Polemik  müssen  streben,  das  Krankhafte  auch  schon  an  diesen  zu  erkennen. 

§  11.  Eine  neue  Kirchenpartei  erscheint  zuerst  ebenso.  Jede 
Kraft  also,  welche  einen  Unterschied  zwischen  Partei  und  Schisma  aner- 
kennt, muß  bestrebt  sein,  ihn  in  den  ersten  Elementen  erkennbar  zu  be- 
stimmen. 

^)  S.  22.  §  1.  Die  Prinzipien  der  Apologetik  und  Polemik  bedingen  sich 
gegenseitig,  wie  ihre  Gebiete  sich  ausschließen. 


28  Erster  Teil.  §  64—66. 

Sie  schließen  sich  ans  durch  ihren  entgegengesetzten  Inhalt  (vgl.  §  39 
und  40)  und  durch  ihre  entgegengesetzte  Richtung  (vgl.  §  41).  Sie 
bedingen  sich  gegenseitig,  weil  Krankhaftes  in  der  Kirche  nur  erkannt 
werden  kann  in  Bezug  auf  eine  bestimmte  Vorstellung  von  dem  eigen- 
tümlichen Wesen  des  Christentums,  und  weil  zugleich  bei  den  Unter- 
suchungen, durch  welche  diese  Vorstellung  begründet  wird,  auch  die 
krankhaften  Erscheinungen  vorläufig  mit  unter  das  Gegebene  aufge- 
nommen werden  müssen,  welches  bei  dem  kritischen  Verfahren  zum 
Grunde  gelegt  werden  muß. 

§  64.    Beide  Disziplinen  können  daher  nur  durcheinander 

und  miteinander  zu  vollkommener  Entwicklung  gelangen. 

Eben  deshalb  nur  durch  Annäherung  und  nur  nach  mancherlei  Umge- 
staltungen. Vgl.  §  51,  indem  das  dort  Gesagte  auch  für  die 
Polemik  gilt. 

§  65.    Die  philosophische  Theologie  setzt  zwar  den  Stoff 

der  historischen  als  bekannt  voraus,  begründet  aber  selbst  erst 

die  eigentlich  geschichtliche  Anschauung  des  Christentums.^) 

Jener  Stoff  ist  das  Gegebene  (vgl.  §  32),  welches  sowohl  den  Unter- 
suchungen über  das  eigentümliche  Wesen  des  Christentums,  als  auch 
denen  über  den  Gegensatz  des  Gesunden  und  Krankhaften  (vgl.  §  35) 
zum  Grunde  liegt.  Das  Kesultat  dieser  Untersuchungen  bestimmt  aber 
erst  den  Entwicklungswert  der  einzelnen  Momente,  mithin  die  ge- 
schichtliche Anschauung  des  ganzen  Verlaufs. 

§  66.    Die  philosophische  Theologie  und  die  praktische 

stehen  auf  der  einen  Seite  gemeinschaftlich  der  historischen 

gegenüber,  auf  der  andern  Seite  aber  auch  eine  der  andern.^) 

Jenes,  weil  die  beiden  ersten  unmittelbar  auf  die  Ausübung  gerichtet 
sind,   die  historische  Theologie   aber   rein  auf  die  Betrachtung.    Denn 


1)  S.  22.  §  2.  Die  philosophische  Theologie  setzt  dfis  Material  der  histo- 
rischen voraus,  begründet  aber  selbst  das  Urteil  über  das  einzelne  und  also 
die  gesamte  geschichtliche  Anschauung  des  Christentums. 

2)  §  3.  Der  philosophische  Teil  der  Theologie  und  der  praktische 
stehen  zusammen  dem  historischen  entgegen,  weil  sie  beide  unmittelbar  auf 
Ausübung  gerichtet  sind,  jener  aber  nur  auf  Betrachtung.  Sie  stehen  ein- 
ander selbst  entgegen  als  erstes  und  letztes,  indem  durch  jenen  erst  der 
Gegenstand  für  diesen  fixiert  wird,  und  indem  jener  sich  an  die  höchste 
wissenschaftliche  Konstruktion  anschließt,  dieser  das  Besonderste  der  Technik 
in  sich  faßt. 


§  67—68.  Schlußbetrachtungen.  29 

wenngleich  Apologetik  und  Polemik  allerdings  Theorien  sind,  von  denen 
man  apologetische  und  polemische  Leistungen  wohl  zu  unterscheiden 
hat :  so  vollenden  sie  doch  erst  in  diesen  ihre  Bestimmung,  und  werden 
nur  um  dieser  willen  aufgestellt.  —  Beide  aber  stehen  einander  gegen- 
über, teils  als  Erstes  und  Letztes,  indem  die  philosophische  Theologie 
erst  den  Gegenstand  fixiert,  den  die  praktische  zu  behandeln  hat,  teils 
weil  die  philosophische  sich  an  rein  wissenschaftliche  Konstruktionen 
anschließt,  die  praktische  hingegen  in  das  Gebiet  des  Besonderen  und 
Einzelnen  als  Technik  eingreift. 

§  67.  Da  die  philosophische  Theologie  eines  jeden  wesent- 
lich die  Prinzipien  seiner  gesamten  theologischen  Denkungsart 
in  sich  schließt:  so  muß  auch  jeder  Theologe  sie  ganz  für  sich 
selbst  produzieren.^) 

Hiedurch  soll  keinesweges  irgend  einem  Theologen  benommen  werden, 
sich  zu  einer  von  einem  anderen  herrührenden  Darstellung  der  philo- 
sophischen Theologie  zu  bekennen;  nur  muß  sie  von  Grund  aus  als 
klare  und  feste  Überzeugung  angeeignet  sein.  Vornehmlich  aber  wird 
gefordert,  daß  die  philosophische  Theologie  in  jedem  ganz  und  yoll- 
ständig  sei,  ohne  für  diesen  Teil  den  in  §§  14 — 17  gemachten  Unter- 
schied zu  berücksichtigen;  weil  nämlich  hier  alles  grundsätzlich  ist, 
und  jedes  auf  das  genaueste  mit  allem  zusammenhängt.  Daß  aber 
alle  theologischen  Prinzipien  in  diesem  Teile  des  Ganzen  ihren  Ort 
haben,  geht  aus  §  65  und  66  unmittelbar  hervor. 

§  68.    Beide  Disziplinen    der   philosophischen  Theologie 

sehen  ihrer  Ausbildung  noch  entgegen.-) 

Die  Tatsache  begreift  sich  zum  Teil  schon  aus  den  hier  aufgestellten 
Verhältnissen.  Teils  auch  bezog  mau  einerseits  die  Apologetik  zu 
genau  und  ausschließend  auf  die  eigentlich  apologetischen  Leistungen, 
zu  denen  sich  die  Veranlassungen  nur  von  Zeit  zu  Zeit  ergaben,  wo- 
gegen die  hierher  gehörigen  Sätze  nicht  ohne  bedeutenden  Nachteil 
für  die  klare  Übersicht  des  ganzen  Studiums  in  den  Einleitungen  zur 


^)  S.  22.  §  4.  Da  der  philosophische  Teil  die  beiden  andern  bedingt,  selbst 
aber  nichts  enthält,  was  jemand  nur  von  andern  überkommen  könnte:  so 
gibt  es  in  ihm  nicht  Allgemeines  und  Besonderes  zu  trennen,  sondern  jeder 
muß  ihn  ganz  besitzen  und  selbst  für  sich  erzeugt  haben. 

S.  23.    §  5.    Die  philosophische   Theologie   eines   jeden   enthält  die   ge- 
samten Prinzipien  seiner  theologischen  Denkungsart. 

2)  §  6.    Es  ist  natürlich,  daß  sie  eben  deshalb  nicht  leicht  zu  einer 
förmlichen  theologischen  Disziplin  wird  ausgebildet  werden. 


30  Zweiter  Teil.  §  69—70. 

Dogmatik  ihren  Ort  fanden.  Erst  in  der  neuesten  Zeit  hat  man  auge- 
fangen, sie  in  ihrer  allgemeineren  Abzweckung  und  ihrem  wahren  Um- 
fange nach  wieder  besonders  zu  bearbeiten.  Die  Polemik  andererseits 
hatte,  vorzüglich  weil  man  ihre  Kichtung  verkannte,  schon  seit  ge- 
raumer Zeit  aufgehört,  als  theologische  Disziplin  bearbeitet  und  über- 
liefert zu  werden. 


Zweiter  Teil. 

Von  der  historischen  Theologie. 


Einleitung. 

§  69.  Die  historische  Theologie  (vgl.  §  26)  ist  ihrem 
Inhalte  nach  ein  Teil  der  neueren  Geschichtskunde ;  und  als 
solchem  sind  ihr  alle  natürlichen  Glieder  dieser  Wissenschaft 
koordiniert.^) 

Sie  gehört  vorläufig  der  Innern  Seite  der  Geschichtskunde,  der  neueren 
Bildungs-  und  Sittengeschichte  an,  in  welcher  das  Christentum  offenbar 
eine  eigene  Entwicklung  eingeleitet  hat.  Denn  dasselbe  nur  als  eine 
reine  Quelle  von  Verkehrtheiten  und  Rückschritten  darstellen,  ist  eine 
veraltete  Ansicht. 

§  70.  Als  theologische  Disziplin  ist  die  geschichtliche 
Kenntnis  des  Christentums  zunächst  die  unnachläßliche  Be- 
dingung alles  besonnenen  Einwirkens  auf  die  weitere  Fort- 
bildung desselben,  und  in  diesem  Zusammenhange  sind  ihr 
dann  die  übrigen  Teile  der  Geschichtskunde  nur  dienend 
untergeordnet.-) 


1)  S.  24.    §  1.    Ihrem  Inhalt  nach  ist  die  historische  Theologie  ein  Teil  der 
neueren  Geschichte,  vorzüglich  der  Sitten-  und  Bildungsgeschichte,   und 
aUen  übrigen  natürlichen  Gliedern  derselben  koordiniert. 
[§  2  siehe  zu  §  86  der  zweiten  Auflage.] 
2)  §  3.    Als  theologische  Disziplin  ist  die   geschichtliche  Kenntnis 
des  Christentums  zunächst  die  unnachläßliche  Bedingung  alles  besonnenen 


71 — 72.  Einleitung.  31 

Hieraus  ergibt  sich  schon,  wie  verschieden  das  Studium  und  die  Behand- 
lungsweise  derselben  Masse  von  Tatsachen  ausfallen,  wenn  sie  ihren 
Ort  in  unserer  theologischen  Disziplin  haben,  und  wenn  in  der  allge- 
meinen Geschichtskunde,  ohne  daß  jedoch  die  Grundsätze  der  geschicht- 
lichen Forschung  aufhörten,  für  beide  Gebiete  dieselben  zu  sein. 

§  71.  Was  in  einem  geschichtlichen  Gebiet  als  einzelner 
Moment  hervortritt,  kann  entweder  als  plötzliches  Entstehen 
angesehen  werden,  oder  als  allmähliche  Entwicklung  und 
weitere  Fortbildung.^) 

In  dem  Gebiete  des  einzelnen  Lebens  ist  jeder  Anfang  ein  plötzliches 
Entstehen,  von  da  an  aber  alles  andere  nur  Entwicklung.  Auf  dem 
eigentlich  geschichtliehen  Gebiet  aber,  dem  des  gemeinsamen  Lebens, 
ist  beides  einander  nicht  streng  entgegengesetzt,  und  nur  des  Mehr 
und  Minder  wegen  wird  der  eine  Moment  auf  diese,  der  andere  auf 
die  entgegengesetzte  Weise  betrachtet.^) 

§  72.  Der  Gesamtverlauf  eines  jeden  geschichtlichen  Ganzen 
ist  ein  mannigfaltiger  Wechsel  von  Momenten  beiderlei  Art.^) 

Nicht  als  ob  es  an  und  für  sich  unmöglich  wäre,  daß  ein  ganzer  Verlauf 
als  fortgehende  Entwicklung  von  einem  Anfangspunkte  aus  angesehen 
werden  könnte.  Allein  wir  dürfen  nur  entweder  die  Kraft  selbst  auch 
als  ein  Mannigfaltiges  ansehen  können,  dessen  Elemente  nicht  alle 
gleichzeitig  zur  Erscheinung  kommen,  oder  wir  dürfen  nur  in  der  Ent- 
wicklung selbst  Differenzen  schnellerer  und  langsamerer  Fortschreitung 
wahrnehmen  können,  und  nicht  leicht  wird  eines  von  beiden  fehlen: 
so  sind  wir  schon  genötigt,  Zwischenpunkte  von  dem  entgegengesetzten 
Charakter  anzunehmen. 


Ein  Wirkens  auf  die  Fortbildung  desselben,  und  die  übrigen  Teile  desselben 
Geschichtsgebietes  sind  ihr  nur  subsidiarisch  untergeordnet.  Als  Hilfs- 
wissenschaft eignet  sie  sich  vorzüglich  an,  was  zum  Verständnis  ihrer 
Dokumente  gehört. 

^)  S.  25.  §  4.  Alles,  was  als  ein  einzelnes  im  Gebiet  der  Geschichte  hervor- 
tritt, kann  angesehen  werden  entweder  als  plötzliches  Entstehen  oder  als 
allmähliche  Fortbildung  und  Entwickelung. 

^)  §  5.  Beide  Ansichten  sind  aber  einander  nur  relativ  entgegen- 
gesetzt, so  daß  jeder  Zustand  nur  ein  Übergewicht  ist  des  einen  von  beiden 
über  das  andere. 

^)  §  6.  Der  Verlauf  eines  geschichtlichen  Ganzen  ist  ein  vielfacher 
Wechsel  beider  Zustände. 


32  Zweiter  Teil.  §  73—75. 

§  73.  Eine  Heihe  von  Momenten,  in  denen  ununter- 
brochen die  ruhige  Fortbildung  überwiegt,  stellt  einen  geord- 
neten Zustand  dar  und  bildet  eine  geschichtliche  Periode ;  eine 
Eeihe  von  solchen,  in  denen  das  plötzliche  Entstehen  über- 
wiegt, stellt  eine  zerstörende  Umkehrung  der  Verhältnisse  dar 
und  bildet  eine  geschichtliche  Epoche.^) 

Je  länger  der  letztere  Zustand  dauerte,  um  desto  weniger  würde  die 
Selbigkeit  des  Gegenstandes  festgehalten  werden  können,  weil  aller 
Gegensatz  zwischen  Bleibendem  und  Wechselndem  aufhört.  Daher  je 
länger  der  Gegenstand  als  einer  und  derselbe  feststeht,  um  desto  mehr 
überwiegen  die  Zustände  der  ersten  Art. 

§  74.  Jedes  geschichtliche  Ganze  läßt  sich  nicht  nur  als 
Einheit  betrachten,  sondern  auch  als  ein  Zusammengesetztes, 
dessen  verschiedene  Elemente,  wenngleich  nur  in  untergeord- 
netem Sinn  und  in  fortwährender  Beziehung  aufeinander,  jedes 
seinen  eignen  Verlauf  haben. 

Solche  Unterscheidungen  bieten  sich  überall  unter  irgend  einer  Form 
dar;  und  sie  werden  mit  desto  größerem  Recht  hervorgehoben,  je  mehr 
der  eine  Teil  zu  ruhen  scheint,  während  der  andere  sich  bewegt,  und 
also  beide  relativ  unabhängig  voneinander  erscheinen. 

§  75.  Es  gibt  daher,  um  das  unendliche  Materiale  eines 
geschichtlichen  Verlaufs  zu  übersichtlicher  Anschaulichkeit 
zusammenzufassen,  ein  zwiefaches  Verfahren.  Entweder  man 
teilt  den  ganzen  Verlauf  nach  Maßgabe  der  sich  ergebenden 
revolutionären  Zwischenpunkte  in  mehrere  Perioden,  und  faßt 
in  jeder  alles,  was  sich  an  dem  Gegenstande  begeben  hat, 
zusammen;  oder  man  teilt  den  Gegenstand  der  Breite  nach, 
sodaß  sich  mehrere  parallele  Reihen  ergeben,  und  verfolgt 
den  Verlauf  einer  jeden  besonders  durch  die  ganze  Zeitlänge. ^) 


^)  S.  25.  §  7.  Ein  Zeitraum,  in  welchem  das  ruhige  Fortbilden  überwiegt, 
stellt  einen  gesetzmäßigen  Zustand  dar  und  bildet  eine  geschichtliche 
Periode.  Ein  solcher,  in  welchem  das  plötzliche  Entstehen  überwiegt,  stellt 
einen  Wechsel  oder  Umkehrung  der  Verhältnisse,  eine  Revolution  dar,  und 
bildet  eine  geschichtliche  Epoche. 

[§§  8 — 10  «iehe  zu  §§  78—80  der  zweiten  Auflage.] 
2)8.26.     §  11.    Um  das   unendlich  mannigfache  Materiale   der  Geschichte 


§  76—78.  Einleitung.  33 

Natürlich  lassen  sich  auch  beide  Einteilungen  verbinden,  indem  man  die 
eine  der  andern  unterordnet,  sodaß  entweder  jede  Periode  in  parallele 
Reihen  geteilt,  oder  jede  Hanptreihe  für  sich  wieder  in  Perioden 
zerschnitten  wird.  Das  darstellende  Verfahren  ist  desto  unvollkommener, 
je  mehr  bei  diesen  Einteilungen  willkürlich  verfahren  wird,  oder  je 
mehr  man  dabei  wenigstens  nur  Äußerlichkeiten  zum  Grunde  legt. 

§  76.  Ein  geschichtlicher  Gegenstand  postuliert  über- 
wiegend die  erste  Teihmgsart,  je  weniger  unabhängig  von- 
einander seine  verschiedenen  Glieder  sich  fortbilden,  und  je 
stärker  dabei  revolutionäre  Entwicklungsknoten  hervorragen; 
und  wenn  umgekehrt,  dann  die  andere.^) 
Denn  in  letzterem  Falle  ist  eine  ursprüngliche  Gliederung  vorherrschend, 
im  ersten  eine  starke  Differenz  im  Charakter  verschiedener  Zeiten. 

§  77.    Je  stärker  in  einem  geschichtlichen  Verlauf  der 

Gegensatz  zwischen  Perioden  und  Epochen  hervortritt,   um 

desto  schwieriger  ist  es  in  Darstellung  der  letzteren,    aber 

desto  leichter  in  der  der  ersteren,  die  verschiedenen  Elemente 

(§  74)  voneinander  zu  sondern.-) 

Denn  in  Zeiten  der  Umbildung  ist  alle  Wechselwirkung  lebendiger  und 

alles  einzelne   abhängiger  von  einem   gemeinsamen  Impuls;  wogegen 

der  ruhige  Verlauf  das  Hervortreten  der  Gliederung  begünstigt. 

§  78.  Da  nicht  nur  im  allgemeinen  der  Gesamtverlauf 
aller  menschlichen  Dinge,  sondern  auch  in  diesem  die  ganze 
Folge  von  Äußerungen  einer  und  derselben  Kraft  Ein  Ganzes 


zur  Anschaulichkeit  zusammenzufassen,  gibt  es  ein  zwiefaches  Verfahren. 
Man  teilt  die  Zeit  und  faßt  alles  zusammen ,  was  in  einer  gewissen  Zeit- 
einheit geschehen  ist,  oder  man  teilt  den  Inhalt  und  faßt  alles  zusammen, 
was  in  der  gesamten  Zeit  je  einen  einzelnen  Teil  betrifft. 
1)  S.  27.  §  12.  In  dem  Gegenstand  selbst  ist  das  erste  immer  gegeben 
durch  die  Umkehrung  der  inneren  Verhältnisse,  woraus  die  Epochen  sich 
bilden,  und  das  letzte  durch  die  Art,  wie  die  Kraft  selbst,  deren  Äußerungen 
betrachtet  werden,  sich  darin  ursprünglich  teilt  und  gliedert. 

-)  §  13.  Während  des  ruhigen  Fortschreitens  lassen  sich  die 
koexistierenden  organischen  Teile  des  Ganzen  leichter  gesondert  in  ihrer 
relativen  Selbständigkeit  betrachten ;  in  Zeiten  der  Umbildung  hingegen  ist 
alle  Wechselwirkung  lebendiger  und  jedes  einzelne  abhängiger  von  dem 
gemeinsamen  Zustande.  Daher  eignet  sich  die  eine  Darstellungsart  im 
allgemeinen  mehr  für  die  Perioden,  die  andere  für  die  Epochen. 
Schleierm.,  Th.  St.  3 


34  Zweiter  Teil.  §  78—80. 

bildet:  so  kann  jedes  Hervortreten  eines  kleineren  gescliiclit- 
lichen  Ganzen  auf  zwiefache  Weise  angesehen  werden,  ein- 
mal als  Entstehen  eines  Neuen,  noch  nicht  Dagewesenen,  dann 
aber  auch  als  Ausbildung  eines  schon  irgenwie  Vorhandenen.^) 

Dies  erhellt  schon  aus  §  71.  Was  während  des  Zeit  Verlaufs  in  Bezug' 
auf  alles  schon  neben  ihm  Fortlaufende  allerdings  als  ein  Neues  zu 
betrachten  ist,  kann  doch  mit  irgend  einem  früheren  Moment  auf  ge- 
nauere Weise,  als  mit  allen  übrigen  zusammengehören. 

§  79.    So  kann   auch  der  Verlauf  des  Christentums  auf 

der  einen  Seite  behandelt  werden  als  eine  einzelne  Periode 

eines  Zweiges  der  religiösen  Entwicklung;   dann  aber  auch 

als  ein  besonder [e]s  geschichtliches  Ganzes,  das  als  ein  Neues 

entsteht,    und  abgeschlossen    für  sich   in   einer  Reihe  durch 

Epochen  getrennter  Perioden  verläuft. ^j 

Daß  hier  ausdrücklich  nur  von  einem  Zweige  der  religiösen  Entwicklung 
die  Eede  ist,  geht  auf  §  74  zurück.  Wie  man  die  große  Mannigfaltig- 
keit religiöser  Gestaltungen  auch  gruppiere,  immer  werden  einige  auch 
zum  Christentum  ein  solches  näheres  Verhältnis  haben,  daß  sie  eine 
Gruppe  mit  demselben  bilden  können. 

§  80.  Die  historische  Theologie,  wie  sie  sich  als  theo- 
logische Disziplin  ganz  auf  das  Christentum  bezieht,  kann  sich 
nur  die  letzte  Behandlungsweise  aneignen.") 

Man  vergleiche  §§  69  und  70.  Außerdem  aber  könnte  der  christliche 
Glaube  nicht  sein,  was  er  ist,  wenn  die  Grundtatsache  desselben  nicht 
ausschließend  als  ein  Ursprüngliches  gesetzt  wird. 


^)  S.  26.  §  8.  Da  die  Geschichte  überhaupt,  und  so  auch  besonders  die 
ganze  Folge  von  Tätigkeiten  Einer  Kraft  nur  Ein  Ganzes  bildet:  so  kann 
jeder  erste  Zustand  eines  kleineren  geschichtlichen  Ganzen  zwiefach  ange- 
sehen werden,  als  Entstehen  eines  Neuen,  und  als  Ausbildung  eines  schon 
Dagewesenen. 

2)  §  9.  Die  Geschichte  des  Christentums  läßt  sich  ansehen  als  eine 
einzelne  Periode  in  der  Eeligionsgeschichte  überhaupt.  Aber  es  läßt  sich 
auch  ansehn  als  ein  eignes  geschichtliches  Ganzes,  sein  Anfang  als  eine 
Entstehung,  und  sein  ganzer  Verlauf  als  eine  Reihe  durch  Epochen  ge- 
trennter Perioden. 

3)  §  10.  Die  historische  Theologie ,  als  mit  ihrem  ganzen  Zweck 
innerhalb  des  Christentums  stehend,  faßt  die  letztere  Ansicht  auf. 


§  81—83.  Emleitung.  35 

§  81.  Von  dem  konstitutiven  Prinzip  der  Theologie  aus 
den  geschichtlichen  Stoff  des  Christentums  betrachtet,  steht 
in  dem  unmittelbarsten  Bezug  auf  die  Kirchenleitung  die  ge- 
schichtliche Kenntnis  des  gegenwärtigen  Momentes,  als  aus 
welchem  der  künftige  soll  entwickelt  werden.  Diese  mithin 
bildet  einen  besonderen  Teil  der  historischen  Theologie.^) 

Um  richtig  und  angemessen  sowohl  auf  Gesundes  und  Krankes  einzu- 
wirken, als  auch  zurückgebliebene  Glieder  nachzufordern,  und  um  aus 
fremden  Gebieten  Anwendbares  für  das  eigene  zu  benutzen. 

§  82.  Da  aber  die  Gegenwart  nur  verstanden  werden 
kann  als  Ergebnis  der  Vergangenheit:  so  ist  die  Kenntnis 
des  gesamten  früheren  Verlaufs  ein  zweiter  Teil  der  histo- 
rischen Theologie.^) 

Dies  ist  nicht  so  zu  verstehen,  als  ob  dieser  Teil  etwa  eine  Hilfswissen- 
schaft wäre  für  jenen  ersten;  sondern  beide  verhalten  sich  auf  dieselbe 
Weise  zur  Kirchenleitung,  und  sind  einander  nicht  untergeordnet, 
sondern  beigeordnet. 

§  83.  Je  mehr  ein  geschichtlicher  Verlauf  in  der  Ver- 
breitung begriffen  ist,  sodaß  die  innere  Lebenseinheit  je  weiter 
hin,  desto  mehr  nur  im  Zusammenstoß  mit  andern  Kräften 
erscheint:  um  desto  mehr  haben  diese  auch  teil  an  den  ein- 
zelnen Zuständen;  sodaß  nur  in  den  frühesten  das  eigentüm- 
liche ^yesen  am  reinsten  zur  Anschauung  kommt. ^) 
Auch  das  gilt  ebenso  von  allen  verwandten  geschichtlichen  Erscheinungen, 


^)  S.  27.  §  14.  Für  das  organische  Prinzip  der  Theologie  ist  das  Un- 
mittelbarste die  Kenntnis  des  gegenwärtigen  Momentes,  an  welchen  der 
künftige  soll  geknüpft  werden.  Diese  wird  also  auch  besonders  heraus- 
gehoben. 

2)  S.  28.  §  15,  Da  aber  die  Gegenwart  nur  kann  verstanden  werden  als 
Kesultat  der  Vergangenheit:  so  setzt  jene  Darstellung  die  Kenntnis  von 
dieser  voraus. 

3)  §  16.  Da  jeder  geschichtliche  Verlauf  die  weitere  Entwicklung 
einer  Kraft  darstellt  in  ihrem  Zusammensein  mit  andern:  so  wächst  mit 
der  Zeit  auch  die  Einwirkung  von  diesen,  und  es  wird  schwieriger,  die 
ursprüngliche  Kraft  in  der  Äußerung  rein  anzuschauen. 

§  17.    Aus  demselben  Grunde   erscheint  diese  Kraft  am  reinsten 
in  ihren  frühesten  Äußerungen. 

3* 


36  Zweiter  Teil.  §  84—86. 

und  ist  der  eigentliche  Grund,  warum  so  viele  Völker  mißverständlich 
die  früheste  Periode  des  Lebens  der  Menschheit  als  die  Zeit  der  höchsten 
Vollkommenheit  ansehen. 

§  84.  Da  nun  auch  das  christliche  Leben  immer  zu- 
sammengesetzter und  verwickelter  geworden  ist,  der  letzte 
Zweck  seiner  Theologie  aber  darin  besteht,  das  eigentümliche 
Wesen  desselben  in  jedem  künftigen  Augenblick  reiner  dar- 
zustellen :  so  hebt  sich  natürlich  die  Kenntnis  des  Urchristen- 
tums als  ein  dritter  besonderer  Teil  der  historischen  Theo- 
logie hervor.^) 

Allerdings  ist  auch  das  Urchristentum  schon  in  dem  Gesamtverlauf  mit 
enthalten;  allein  ein  anderes  ist,  es  als  eine  Eeihe  von  Momenten  zu 
behandeln,  und  ein  anderes,  nur  dasjenige  zur  Betrachtung  zu  ziehen, 
auch  aus  verschiedenen  Momenten,  woraus  der  reine  Begriff  des  Christen- 
tums dargestellt  werden  kann. 

§  85.    Die  historische  Theologie  ist  in  diesen  drei  Teilen, 

Kenntnis  des  Urchristentums,  Kenntnis  von  dem  Gesamt  verlauf 

des  Christentums,  und  Kenntnis  von  seinem  Zustand  in  dem 

gegenwärtigen  Augenblick,  vollkommen  beschlossen. ^j 

Nur  ist  nicht  die  Ordnung,  in  welcher  wir  sie  abgeleitet  haben,  auch 
die  richtige  für  das  Studium  selbst.  Sondern  die  Kenntnis  des  Ur- 
christentums als  zunächst  der  philosophischen  Theologie  sich  an- 
schließend, ist  das  erste,  und  die  Kenntnis  des  gegenwärtigen  Augen- 
blicks, als  unmittelbar  den  Übergang  in  die  praktische  Theologie 
bildend,  ist  das  letzte.^) 

§  86.     Wie   für  jeden   Teil   der   Geschichtskunde   alles 


1)  S.  28.  §  18.  Da  es  der  letzte  Zweck  aller  Theologie  ist,  das  Wesen 
des  Christentums  in  jedem  künftigen  Augenblick  reiner  darzustellen:  so 
muß  sie  auch  dasjenige,  worin  es  am  reinsten  anzuschauen  ist,  besonders 
herausheben. 

2)  §  19.  Die  historische  Theologie  teilt  sich  demnach  in  die  Kennt- 
nis von  dem  Anfang  des  Christentums,  in  die  Kenntnis  von  seinem  weiteren 
Verlauf  und  in  die  Kenntnis  von  seinem  Zustand  in  dem  gegenwärtigen 
Augenblick. 

^)  S.  31.  §  29.  Die  Kenntnis  des  gegenwärtigen  Augenblicks  ist,  da  sie 
sich  zunächst  an  die  Ausübung  anknüpft,  unter  allen  Teilen  der  historischen 
Theologie  für  das  Studium  der  letzte.     [Vgl.  S.  30  (38  dieser  Ausg.)  §  24.] 


§  86—87.  Einleitung.  37 

Hilfswissenschaft  ist,  was  die  Kenntnis  des  Schauplatzes  und 
der  äußeren  Verhältnisse  des  Gegenstandes  erleichtert,  und 
was  zum  Verstehen  der  Monumente  aller  Art  gehört :  so  zieht 
auch  die  historische  Theologie  zunächst  die  übrigen  Teile  des- 
selben Geschichtsgebietes  (vgl.  §  40),  dann  aber  noch  alles, 
w^as  zum  Verständnis  der  Dokumente  gehört,  als  Hilfswissen- 
schaft herbei.^) 

Diese  Hilfskenntnisse  sind  mithin  teils  historisch  im  engeren  Sinn,  teils 
geographisch,  teils  philologisch. 

§  87.  Das  Urchristentum  ist  in  Bezug  auf  jene  normale 
Behandlung  desselben  gegen  den  weiteren  geschichtlichen  Ver- 
lauf nicht  füglich  anders  abzugrenzen,  als  daß  unter  jenem 
der  Zeitraum  verstanden  wird,  w^orin  Lehre  und  Gemeinschaft 
in  ihrer  Beziehung  aufeinander  erst  w^urden,  und  noch  nicht 
in  ihrer  Abschließung  schon  waren.-) 

Auch  diese  Bestimmung  jedoch  könnte  leicht  zu  weit  ausgedehnt  werden, 
weil  Lehre  und  Gemeinschaft  in  Bezug  aufeinander  immer  im  Werden 
begriffen  bleiben;  und  eine  feste  Grenze  entsteht  zunächst  nur,  wenn 
man  jede  Zeit  ausschließt,  in  der  es  schon  Differenz  der  Gemeinschaft 
um  einer  Differenz  der  Lehre  willen  gab.  Aber  auch  zu  enge  Schranken 
könnte  man  unserer  Bestimmung  geben,  wenn  man  davon  ausgeht,  daß 
schon  seit  dem  Pfingsttage  eine  abgeschlossene  Gemeinschaft  bestand; 
und  eine  angemessene  Erweiterung  entsteht  nur,  wenn  man  bevor- 
wortet,  die  eigentlich  christliche  Gemeinschaft  sei  erst  abgeschlossen 
worden,  als  mit  Bewußtsein  und  allgemeiner  Anerkennung  Juden  und 
Heiden  in  derselben  vereint  waren,   und  Ähnliches  gilt  auch  von  der 


^)  S.  24.  §  2.  Für  Jede  Geschichte  ist  alles  Hilfswissenschaft,  was  die 
Kenntnis  des  Schauplatzes  und  der  äußeren  Verhältnisse  des  Gegenstandes 
erleichtert  oder  zum  Verstehen  der  Monumente  nötig  ist. 
2)  S.  29.  §  20.  Wenn  der  Gegenstand  der  historischen  Theologie  organisch 
geteilt  (11.  12)  werden  soll:  so  sondern  sich  zunächst  Lehrbegriff  und 
Kirchenverfassung  (I.  Erst.  Abschn.  3  [S.  21  dieser  Ausg.]). 

§  21.  Das  entstehende  Christentum,  Urchristentum,  umfaßt  nur  die 
Zeit,  wo  beide  erst  wurden,  also  nicht  abgesondert  von  einander  schon  waren. 

§  22.  Wird  es  noch  besonders  der  theologischen  Idee  gemäß  als 
reinster  Eepräsentant  des  christlichen  Prinzips  (17.  18)  angesehen:  so  kann 
die  Betrachtung  nicht  nach  jenen  Teilen  zerfallen ;  sondern  nur,  wenn  man 
es  als  einen  frühem  Moment,  gleichartig  mit  den  folgenden,  betrachtet. 


38  Zweiter  Teil.  §  88—90. 

Lehre.  So  treffen  beide  Bestimmungen  ziemlicn  zusammen  mit  der 
mehr  äußerlichen  des  Zeitalters  der  unmittelbaren  Schüler  Christi. 
§  88.  Da  die  für  den  angegebenen  Zweck  auszusondernde 
Kenntnis  des  Urchristentums  nur  aus  den  christlichen  Doku- 
menten, die  in  diesem  Zeitraum  der  christlichen  Kirche  ent- 
standen sind,  kann  gewonnen  werden,  und  ganz  auf  dem 
richtigen  Verständnis  dieser  Schriften  beruht:  so  führt  diese 
Abteilung  der  historischen  Theologie  auch  insbesondere  den 
Namen  der  exegetischen  Theologie.^) 

Da  auch  in  den  andern  beiden  Abteilungen  das  Meiste  auf  Auslegung 
beruht:  so  ist  die  Benennung  allerdings  willkürlich,  aber  doch  wegen 
des  eigentümlichen  Wertes  dieser  Schriften  leicht  zu  rechtfertigen. 
§  89.    Da  wegen  des  genauen  Zusammenhanges  mit  der 
philosophischen  Theologie,  als  dem  Ort  aller  Prinzipien,  jeder 
seine  Auslegung  selbst  bilden  muß:  so  gibt  es  auch  hier  nur 
weniges,  was  man  sich  von  den  Virtuosen  (vgl.  §§  17  und  19) 
kann  geben  lassen.-) 
Vorzüglich  nur  dasjenige,  was  zur  Auslegung  aus  den  Hilfswissenschaften 
herbeigezogen  werden  muß. 

§  90.  Die  Kenntnis  von  dem  weiteren  Verlauf  des 
Christentums  kann  entweder  als  Ein  Ganzes  aufgestellt 
werden,  oder  auch  geteilt  in  die  Geschichte  des  Lehrbegriffs 
und  in  die  Geschichte  der  Gemeinschaft.^) 


^)  S.  29.  §  23.  Die  für  jenen  Zweck  ausgesonderte  Kenntnis  des  Urchristen- 
tums ist  in  den  wenigen  schriftlichen  Dokumenten  enthalten,  welche  den 
Kanon  bilden,  und  beruht  vornehmlich  auf  deren  richtigem  Verständnis. 
Daher  der  Namen:  exegetische  Theologie. 

2)  S.  30.  §  24.  Die  exegetische  Theologie  reiht  sich  zunächst  an  die  philoso- 
phische an  und  ist  unter  allen  Teilen  der  historischen  Theologie  für  das 
Studium  der  erste.     [Vgl.  §  85  Anm.  der  zweiten  Auflage.] 

§  25.    Ihrer  Natur  nach  hat  der  Unterschied  des  Allgemeinen  und 
Besonderen  (Einl.  20)  in  ihr  den  kleinsten  Spielraum. 

3)  §  26  [=  §  92  der  zweiten  Auflage].  Die  Darstellung  von  dem 
weitern  Verlauf  des  Christentums,  oder  die  eigentliche  Geschichte  desselben, 
enthält  eine  Unendlichkeit  von  Einzelheiten.  Daher  ist  in  ihr  der  Gegen- 
satz zwischen  dem  Allgemeinen  und  Besondern  am  größesten. 

§  27.    Der  Breite  nach   sondert  sie   sich  in  die  Geschichte    des 
Lehrbegriffs  und  die  Geschichte  der  Verfassung  (20). 


§  91—92.  Einleitung.  39 

Weil  nämlich  die  Geschichte  des  Lehrbegriffs  nichts  anderes  ist,  als  die 
Entwicklung  der  religiösen  Vorstellungen  der  Gemeinschaft.  Sowohl 
die  Vereinigung  von  beiden,  als  auch  die  Geschichte  der  Gemeinschaft 
besonders  dargestellt,  führt  den  Namen  Kirchengeschichte:  so  wie  die 
des  Lehrbegriffs  besonders  den  Namen  Dogmengeschichte. 

§  91.    Sowohl  beide   Zweige  zusammen,  als   auch  jeder 
für  sich  allein,  stellen,  der  Länge  nach  betrachtet,  einen  un- 
unterbrochenen Fluß  dar,  in  welchem  jedoch  vermittelst  der 
Begriffe  von  Perioden  und  Epochen  (vgl.  §  73)  Entwicklungs- 
knoten   gefunden  werden   können,   um   die   Unterschiede   zu 
fixieren  zwischen  solchen  Punkten,  welche  durch  eine  Epoche 
geschieden  sind,   und  also  verschiedenen  Perioden  angehören, 
sowie  auch  zwischen   solchen,   die  zwar  innerhalb  derselben 
zwei  Epochen  liegen,  so  jedoch,  daß  der  eine  mehr  das  Er- 
gebnis der  ersten  enthält,   der   andere   mehr   als  eine  Vor- 
bereitung der  zweiten  erscheint.^) 
Denkt  man  sich  dazwischen  noch  Punkte,   welche  in  einer  Periode  das 
Größte  der  Entwicklung  ihrer  Anfangsepoche  enthalten,  aber  noch  den 
Nullpunkt  der   Schlußepoche  darstellen:   so  gibt  dieses,   durch   beide 
Zweige  und  durch  alle  Perioden  durchgeführt,  ein  Netz  der  wertvollsten 
Momente. 

§  92.    Da  der  Gesamtverlauf  des  Christentums  eine  Un- 
endlichkeit von  Einzelheiten  darbietet:  so  ist  hier  am  meisten 
Spielraum  für  den  Unterschied  zwischen  dem  Gemeinbesitz 
und  dem  Besitz  der  Virtuosen.-) 
Jenes  Netz  bis  zu   einem  Analogon  von  Stetigkeit  im  Umriß  vollzogen, 
ist  das  Minimum,  welches  jeder  besitzen  muE;   die  Erforschung  und 
Ausführung  des  einzelnen  ist,  auch  unter  viele  verteilt,  ein  unerschöpf- 
liches Gebiet. 


^)  S.  30.  §  28.  Der  Länge  nach  stellt  jede  von  diesen  einen  ununter- 
brochenen Fluß  dar,  in  welchem  sich  nur  nach  den  Begriffen  von  Perioden 
und  Epochen  (7)  feste  Punkte  bilden,  an  denen  man  die  Unterschiede 
fixieren  kann  zwischen  mehreren  Punkten,  die  durch  Epochen  geschieden 
sind,  und  zwischen  mehreren,  die  zwar  zu  Einer  Periode  gehören,  aber  so, 
daß  der  eine  mehr  das  Resultat  der  vorhergegangenen  Epoche  darstellt,  der 
andere  mehr  die  folgende  vorbereitete. 

[§  29  siehe  zu  §  81  der  zweiten  Auflage,  Anm.] 
2)  Siehe  §  26. 


40  Zweiter  Teil.  §  93—95. 

§  93.  Nicht  jeder  Moment  eignet  sich  gleich  gut  dazu, 
als  ein  in  sich  zusammenhangendes  Ganze  dargestellt  zu 
werden;  sondern  am  meisten  der  Kulminationspunkt  einer 
Periode,  am  wenigsten  ein  Punkt  während  einer  Epoche  oder 
in  der  Nähe  derselben.^) 

Während  einer  Umkehrung  kann  immer  nur  einzelnes  abgesondert,  und 
nicht  leicht  anders,  als  in  der  Form  des  Streites  zur  Erörterung  kommen. 
Nahe  an  einer  Epoche  kann  zwar  das  Bedürfnis  einer  zusammen- 
hangenden Darstellung  sich  schon  regen,  die  Versuche  können  aber 
nicht  anders,  als  unvollständig  ausfallen.  Dies  zeigt  sich  auch,  sowohl 
in  den  ersten  Anfängen  der  Kirche  nach  der  apostolischen  Zeit,  als 
auch  bei  uns  in  den  ersten  Zeiten  der  Eeformation. 

§  94.    In  solchen  Zeiten,  wo  der  Aufgabe  genügt  werden 

kann,  sondert  sich  dann  von  selbst  Darstellung  der  Lehre  und 

Darstellung  des  gesellschaftlichen  Zustandes.-) 

Denn  wenn  sich  auch  dasselbe  eigentümliche  Wesen  der  Kirche  oder 
einer  partiellen  Kirchengemeinschaft  in  beiden  ausspricht:  so  hangen 
doch  beide  von  zu  verschiedenen  Koeffizienten  ab,  als  daß  nicht  ihre 
Veränderungen  und  also  auch  der  momentane  Zustand  beider  ziemlich 
unabhängig  voneinander  sein  sollte. 

§  95.    Die  Darstellung  des  gesellschaftlichen  Zustandes 
der  Kirche  in  einem  gegebenen  Moment  ist  die  Aufgabe  der 
kirchlichen  Statistik.^) 
Erst  seit  kurzem*)  ist  dieser  Gegenstand  in  gehöriger  Anordnung  diszi- 


^)  S.  31.  §  30.  Je  mehr  ein  Moment  von  einer  Eevolution  entfernt  ist  und 
das  Kesultat  der  vorhergehenden  Epoche  in  seiner  Vollendung  enthält,  um 
desto  leichter  sondern  sich  auch  in  seiner  Darstellung  Lehrbegriff  und  Ver- 
fassung. Auch  erhellt  durch  diese  Sonderung  desto  besser,  inwiefern  beide 
denselben  Charakter  ausdrücken. 

2)  §  31.  Je  mehr  er  noch  in  eine  Epoche  verwebt  ist,  um  desto 
weniger  vermag  er  für  sich,  sondern  nur  im  ganzen  Zusammenhang  mit 
dieser  dargestellt  zu  werden. 

3)  Siehe  §  33. 

*)  Schi,  denkt  wohl  an  das  grundlegende  Werk  des  Göttinger  Theologen 
C.  F.  Stäudlin,  Kirchliche  Geographie  und  Statistik,  2  Teile,  Tüb.  1804. 
Er  selbst  hat,  nach  den  Angaben  des  Berliner  Lektionskataloges,  Kirchliche 
(Geographie  und)  Statistik  5-stündig,  im  Winter  1826/27,  Sommer  1827  und 
Winter  1833/34  gelesen. 


§  96—98.  Einleitung.  41 

plinarisch   behandelt   worden,   daher   auch,   sowohl   was  Stoff,   als  was 
Form  betrifft,  noch  vieles  zu  leisten  übrig  ist. 

§  96.  Die  Aufgabe  bleibt,  auch  wenn  eine  Trennung 
obwaltet,  für  alle  einzelnen  Kirchengemeinschaften  doch  wesent- 
lich dieselbe. 

Jede  wird  dann  freilich  ein  besonderes  Interesse  haben,  ihren  eignen 
Zustand  auf  das  genaueste  zu  kennen,  und  insofern  wird  eine  Un- 
gleichheit eintreten,  die  aber  auch  eintritt,  wenn  die  Kirche  ungeteilt 
ist.  Es  kann  aber  nur  großen  Nachteil  bringen,  wenn  die  Lenkenden 
einer  einzelnen  Kirchengemeinschaft  nicht  mit  dem  Zustande  des 
andern  der  Wahrheit  nach  bekannt  sind. 

§.  97.  Die  zusammenhängende  Darstellung  der  Lehre,  wie 
sie  zu  einer  gegebenen  Zeit,  sei  es  nun  in  der  Kirche  im  all- 
gemeinen, wann  nämlich  keine  Trennung  obwaltet,  sonst  aber 
in  einer  einzelnen  Kirchenpartei,  geltend  ist,  bezeichnen  wir 
durch  den  Ausdruck  Dogmatik  oder  dogmatische  Theologie.^) 

Der  Ausdruck  Lehre  ist  hier  in  seinem  ganzen  Umfang  genommen.  Die 
Bezeichnung  systematische  Theologie,  deren  man  sich  für  diesen  Zweig 
immer  noch  häufig  bedient,  und  welche  mit  Recht  vorzüglich  hervor- 
hebt, daß  die  Lehre  nicht  soll  als  ein  Aggregat  von  einzelnen 
Satzungen  vorgetragen  werden,  sondern  der  Zusammenhang  ins  Licht 
gesetzt,  verbirgt  doch  auf  der  anderen  Seite  zum  Nachteil  der  Sache 
nicht  nur  den  historischen  Charakter  der  Disziplin,  sondern  auch  die 
Abzweckung  derselben  auf  die  Kirchenleitung,  woraus  vielfältige  Miß- 
verständnisse entstehen  müssen. 

§  98.    In  Zeiten,  wo  die  Kirche  geteilt  ist,  kann  nur  jede 

Partei  selbst  ihre  Lehre  dogmatisch  behandeln. ^j 

Weder  wenn  eine  Theologie  der  einen  Partei  die  Lehren  anderer  im 
Zusammenhang  nebeneinander  behandeln  wollte,  würde  Unparteilich- 
keit und  Gleichheit  zu  erreichen  sein,  da  nur  der  eine  Zusammenhang 


^)  S.  31.    §  32.    Die  Darstellung  des  Lehrbegriffs  einer  Kirche  oder  Kirchen- 
partei in  einem  gegebenen  Moment  ist  die  Aufgabe  der  Dogmatik. 
2)  S.  32.    §  33  [=  §  95  der  zweiten  Auflage].    Die  Darstellung  der  Ver- 
fassung der  Kirche  in  einem  gegebenen  Moment  ist  die  Aufgabe  der  kirch- 
lichen Statistik. 

§  34  [=  §§  96  u.  98  der  zweiten  Auflage].  Die  erste  bleibt  ihrer 
Natur  nach  mehr  in  den  Grenzen  einer  Partei  stehen,  die  andere  verbreitet 
sich  ihrer  Natur  nach  mehr  über  das  Ganze. 


42  Zweiter  Teil.  §  99—101 

für  ihn  Wahrheit  ist,  der  andere  aber  nicht;  noch  auch,  wenn  er  nur 
die  seinige  zusammenhangend  behandeln,  und  nur  die  Abweichungen 
der  andern  an  gehöriger  Stelle  beibringen  wollte,  weil  diese  dann  doch 
aus  ihrem  natürlichen  Zusammenhang  herausgerissen  würden.  Das 
erste  geschieht  dennoch,  was  die  Hauptpunkte  betrifft,  unter  dem 
Namen  der  Symbolik,  das  andere  unter  dem  der  komparativen  Dogmatik. 

§  99.    Beide  Disziplinen,  Statistik  und  Dogmatik,  sind 

ebenfalls  unendlich,   und  stehen  also,   was  den  Unterschied 

zwischen  dem  Gemeinbesitz  und  dem  Gebiet  der  Virtuosität 

betrifft,  der  zweiten  Abteilung  gleich.^) 

Von  der  kirchlichen  Statistik  leuchtet  dies  ein.  Aber  auch  im  Gebiet 
der  Dogmatik  ist  nicht  nur  jede  einzelne  Lehre  fast  ins  Unendliche 
bestimmbar,  sondern  auch  ihre  Darstellung  in  Bezug  auf  abweichende 
Vorstellungsarten  anderer  Zeiten  und  Örter  ist  ein  Unendliches. 

§  100.  Jeder  muß  sich,  sowohl  was  die  Kenntnis  des  Ge- 
samtverlaufs, als  auch,  was  die  des  vorliegenden  Momentes 
betrifft,  seine  geschichtliche  Anschauung  selbst  bilden.^) 

Sonst  würde  auch  die  auf  beiden  gleichmäßig  beruhende  Tätigkeit  in 
der  Kirchenleitung  keine  selbsttätige  sein. 

§  101.  Müssen  hiezu  geschichtliche  Darstellungen  ge- 
braucht werden,  welche  nie  frei  sein  können  von  eigentüm- 
lichen Ansichten  und  Urteilen  des  Darstellenden:  so  muß  auch 
jeder  die  Kunst  besitzen,  aus  denselben  das  Materiale  für 
seine  eigene  Bearbeitung  möglichst  rein  auszuscheiden.^) 

Auch  dieses  gilt  für  die  Dogmatik  und  Statistik  nicht  minder  als  für  die 
Kirchenffeschichte. 


^)  S.  32.  §  35.  Da  man  beide  ebenfalls  ins  Unendliche  vervollständigen 
kann:  so  stehn  sie  in  Absicht  des  Gegensatzes  zwischen  dem  Allgemeinen 
und  Besondern  der  eigentlichen  Kirchengeschichte  gleich. 

2)  §  36.  Die  geschichtliche  Anschauung  muß  überall  selbst  gebildet 
sein,  weil  sonst  auch  die  darauf  beruhende  Tätigkeit  in  der  Kirche  keine 
selbständige  sein  würde. 

^)  §  37.  Geschichtliche  Darstellungen  können  nie  frei  sein  von 
eigentümlichen  Ansichten  und  Urteilen  des  Darstellenden.  Soll  also  jemand 
vermittelst  derselben  sich  seine  eigene  geschichtliche  Anschauung  bilden: 
so  muß  er  durch  Kritik  imstande  sein,  das  Materiale  daraus  für  seine  eigene 
Bearbeitung  rein  auszuscheiden. 


§  102—105.  Erster  Abschnitt.  43 

§  102.    Historische  Kritik  ist,  wie  für  das  gesamte  Gebiet 

der  Geschichtskunde,  so  auch  für  die  historische  Theologie  das 

allgemeine  und  unentbehrliche  Organon.^) 

Sie  steht  als  vermittelnde  Kunstfertigkeit  den  materiellen  Hilfswissen- 
schaften gegenüber. 


Erster  Abschnitt. 
Die  exegetische  Theologie. 

§  103.  Nicht  alle  christliche  Schriften  aus  dem  Zeit- 
raum des  Urchristentums  sind  schon  deshalb  Gegenstände  der 
exegetischen  Theologie,  sondern  nur,  sofern  sie  dafür  gehalten 
werden,  .  zu  der  ursprünglichen,  mithin  (vgl.  §  83)  für  alle 
Zeiten  normalen  Darstellung  des  Christentums  beitragen  zu 
können. 

Es  liest  in  der  Natur  der  Sache  und  ist  auch  vollkommen  tatsächlich 
begründet,  daß  es  gleich  anfangs  auch  unvollkommene,  mithin  zum 
Teil  falsche  Auffassung  —  also  auch  Darstellung  —  des  eigentümlich 
christlichen  Glaubens  gegeben  hat. 

§  104.  Die  Sammlung  dieser  das  Normale  in  sich  tragen- 
den Schriften  bildet  den  neutestamentischen  Kanon  der  christ- 
lichen Kirche.") 

Das  richtige  Verständnis  von  diesem  ist  mithin  die  einzige  wesentliche 
Aufgabe  der  exegetischen  Theologie,  und  die  Sammlung  selbst  ihr  ein- 
ziger ursprünglicher  Gegenstand.^) 

§  105.    In  den  neutestamentischen  Kanon  gehören  wesent- 


^)  S.  32.  §  38.  Die  historische  Kritik  ist  die  Vermittlerin  alles  wahren 
Aneignens  auf  dem  Gebiet  der  Geschichte  überhaupt,  also  auch  der  histo- 
rischen Theologie. 

2)  S.  33.  §  2.  Die  Idee  des  Kanon  ist,  daß  er  die  Sammlung  derjenigen 
Dokumente  büdet,  welche  die  ursprüngliche,  absolut  reine  und  deshalb  für 
alle  Zeiten  normale  Darstellung  des  Christentums  enthalten. 

3)  §    1.    Die  exegetische   Theologie   als   besondere  Disziplin   kann 
gich  nur  auf  die  Idee  des  Kanon  beziehen. 

[§§  3  u.  4  siehe  zu  §  115  der  zweiten  Auflage,  Anm.] 


44  Zweiter  Teil.  §  105—107. 

lieh  sowohl  die  normalen  Dokumente  von  der  Wirksamkeit 
Christi,  an  und  mit  seinen  Jüngern,  als  auch  die  von  der  ge- 
meinsamen Wirksamkeit  seiner  Jünger  zur  Begründung  des 
Christentums.-) 

Dies  ist  auch  schon  der  Sinn  der  alten  Einteilung  des  Kanon  in  Evay- 
yelliov  und  aitöaroloi.  Einen  Unterschied  in  Bezug  auf  kanonische 
Dignität  zwischen  diesen  beiden  Bestandteilen  festzusetzen,  ist  an  und 
für  sich  kein  Grund  vorhanden.  Welches  doch  gewissermaßen  der 
Fall  sein  würde,  wenn  man  behauptete,  beide  verhielten  sich  zu  ein- 
ander, wie  Entstehung  und  Fortbildung,  noch  mehr,  wenn  man  der 
sich  selbst  überlassenen  Wirksamkeit  der  Jünger  die  normale  Dignität 
absprechen  dürfte.^) 

§  106.  Da  weder  die  Zeitgrenze  des  Urchristentums,  noch 
das  Personale  desselben  genau  bestimmt  werden  kann:  so 
kann  auch  die  äußere  Grenzbestimmung  des  Kanon  nicht  voll- 
kommen fest  sein.^) 

Für  beides  gemeinschaftlich,  Zeit  und  Personen,  ließe  sich  zwar  eine  feste 
Formel  für  das  Kanonische  aufstellen;  sie  würde  aber  doch  zu  keiner 
sicheren  Unterscheidung  über  das  Vorhandene  führen,  wegen  der  über  die 
Persönlichkeit  mehrerer  einzelner  Schriftsteller  obwaltenden  Ungewißheit. 

§  107.  Diese  Unsicherheit  ist  ein  Schwanken  der  Grenze 
zwischen  dem  Gebiet  der  Schriften  apostolischer  Väter  und 
dem  Gebiet  der  kanonischen  Schriften.^) 

Denn  das  Zeitalter  der  apostolischen  Väter  liegt  zwischen  dem,    in  wel- 


^)  S.  34.  §  5.  Da  Entstehen  und  Fortbilden  (II.  Einl.  5)  unmerklich  in 
einander  übergehn,  und  der  Anfang  auch  als  ein  früherer  Punkt  in  der 
Fortbildung  und  nach  den  Gesetzen  dieser  kann  betrachtet  werden :  so  muß 
die  Erscheinung  des  Kanon,  welche  nur  die  Dokumente  der  Entstehungszeit 
enthalten  kann,  notwendig  schwanken. 

2)  §  6.  Er  enthält  wesentlich  die  Dokumente  von  dem  Zusammen- 
sein Christi  mit  seinen  Jüngern,  und  die  von  dem  Zusammenwirken  der 
Jünger  zur  Gründung  des  Christentums. 

^)  §  7.  Durch  das  Zusammensein  dieser  beiden  Teile  im  Kanon  ist 
schon  die  Unzertrennlichkeit  des  Entstehens  und  der  Fortbildung  auch  in 
Bezug  auf  diese  Idee  gesetzt. 

*)  S.  35.  §  8.  Die  Zeit  der  apostolischen  Väter  liegt  zwischen  der,  wo  der 
Kanon  wurde,  und  der,  wo  der  Kanon  war.  Die  Grenze  zwischen  ihnen 
und  dem  zweiten  Teil  des  Kanon  kann  schwanken. 


§  108—110.  Erster  Abschnitt.  45 

ehern  der  Kanon  erst  anfing,  zu  werden,  und  dem,  in  welchem  er  schon 
abgesondert  bestand.  Und  der  Ausdruck  ,Apostolische  Väter'  ist  hier  in 
solchem  Umfange  zu  verstehen,  daß  die  Unsicherheit  den  ersten  Teil 
des  Kanon  ebenso  trifft,  wie  den  zweiten. 

§  108.    Da  auch  der  Begriff  der  normalen  Dignität  nicht 

kann  auf  unwandelbar  feste  Formeln  gebracht  werden :  so  läßt 

sich  auch  aus  Innern  Bestimmungsgründen  der  Kanon  nicht 

vollkommen  sicher  umschreiben. 

Wenn  wir  zum  normalen  Charakter  der  einzelnen  Sätze  auf  der  einen 
Seite  die  vollkommene  Reinheit  rechnen,  auf  der  andern  die  FüUe  der 
daraus  zu  entwickelnden  Folgerungen  und  Anwendungen:  so  haben 
wir  nicht  Ursache,  die  erste  anderswo,  als  nur  in  Christo  schlechthin, 
anzunehmen,  und  müssen  zugeben,  daß  auch  auf  die  zweite  bei  allen 
andern   die   natürliche  Unvollkommenheit  hemmend  einwirken  konnte. 

§  109.    Christliche  Schriften   aus   der  kanonischen  Zeit, 

welchen  wir  die  normale  Dignität  absprechen,  bezeichnen  wir 

durch  den  Ausdruck  Apokryphen,   und  der  Kanon   ist   also 

auch  gegen  diese  nicht  vollkommen  fest  begrenzt.^) 

Die  meisten  neutestamentischen  Apokryphen  führen  diesen  Namen  frei- 
lich nur,  weil  sie  dafür  genommen  wurden,  oder  dafür  gelten  wollten, 
der  kanonischen  Zeit  anzugehören.  Der  Ausdruck  selbst  ist  in  dieser 
Bedeutung  willkürlich,  und  würde  besser  mit  einem  andern  vertauscht. 

§  110.  Die  protestantische  Kirche  muß  Anspruch  darauf 
machen,  in  der  genaueren  Bestimmung  des  Kanon  noch  immer 
begriffen  zu  sein;  und  dies  ist  die  höchste  exegetisch-theologische 
Aufgabe  für  die  höhere  Kritik.-) 

Der  neutestamentische  Kanon  hat  seine  jetzige  Gestalt  erhalten  durch, 
wenngleich  nicht  genau  anzugebende,  noch  in  einem  einzelnen  Akt 
nachzuweisende  Entscheidung  der  Kirche,  welcher  wir  ein  über  alle 
Prüfung  erhobenes  Ansehen  nicht  zugestehen,   und  daher  berechtigt 


■  *)  S.  35.  §  9.  Die  Apokryphen  sind  Schriften  aus  den  Zeiten  des  Kanon, 
welche  aber  das  christliche  Prinzip  nicht  in  seiner  Reinheit  darstellen 
sondern  an  irgendeine  Ausartung  grenzen.  Der  erste  Teil  des  Kanon  hat 
gegen  sie  natürlich  nur  eine  unsichere  Grenze. 

2)  §  10.  Inwiefern  der  Kanon  seiner  Idee  rein  entsprechen  soll,  muß 
die  Kirche  noch  immer  im  Bestimmen  desselben  begriffen  sein,  weil  die 
vollständige  Kongruenz  nie  mit  Gewißheit  zu  erkennen  ist. 


46  Zweiter  Teil.  §  111—113. 

sind,  an  das  frühere  Schwanken  neue  Untersuchungen  anzuknüpfen. 
Die  höchste  Aufgabe  ist  diese,  weil  es  wichtiger  ist  zu  entscheiden,  ob 
eine  Schrift  kanonisch  ist  oder  nicht,  als  ob  sie  diesem  oder  einem 
andern  Verfasser  angehört,  wobei  sie  immer  noch  kanonisch  sein  kann. 

§  111.    Die   Kritik  hat  beideriei  Untersuchungen   anzu- 
stellen, ob  nicht  im  Kanon  Befindliches  genau  genommen  un- 
kanonisch,  und   ob   nicht  außer  demselben  Kanonisches  un- 
erkannt vorhanden  sei.^) 
Noch  neuerlich  ist  eine  Untersuchung  der  letzten  Art  im  Gange  gewesen ; 
die  von  der  ersten  haben  eigentlich  nie  aufgehört. 

§  112.  Beide  Aufgaben  gelten  nicht  nur  für  ganze 
Bücher,  sondern  auch  für  einzelne  Abschnitte  und  Stellen  der- 
selben."^) 

Ein  unkanonisches  Buch  kann  neue  kanonische  Stellen  enthalten ;  so  wie 
das  meiste,  was  einem  kanonischen  Buch  von  späterer  Hand  einge- 
schoben ist.  Unkanonisches  sein  wird. 

§  113.  Wie  die  höhere  Kritik  ihre  Aufgabe  großenteils 
nur  durch  Annäherung  löset,  und  es  keinen  andern  Maßstab 
gibt  für  die  Tüchtigkeit  eines  Ausspruches,  als  die  Kon- 
gruenz der  innern  und  äußern  Zeichen:  so  kommt  es  auch 
hier  nur  darauf  an,  wie  bestimmt  äußere  Zeichen  darauf  hin- 
deuten, daß  ein  fragliches  Stück  entweder  dem  späteren  Zeit- 
raum der  apostolischen  Väter  oder  dem  vom  Mittelpunkt  der 
Kirche  entfernten  Gebiet  der  apokryphischen  Behandlung  an- 
gehöre, und  innere  darauf,  daß  es  nicht  in  genauem  Zusammen- 
hang mit  dem  AVesentlichen  der  kanonischen  Darstellung  auf- 
gefaßt und  gedacht  sei.^) 

^)  S.  35.  §  11.  Er  bleibt  also  insofern  immer  ein  Gegenstand  für  beide 
Aufgaben  der  höheren  Kritik,  sowohl*)  Unerkanntes  zur  Anerkennung  zu 
bringen,  als*)  Verdächtiges  auszustoßen. 

2}  S.  36.  §  14.  Nicht  nur  ganze  Schriften  sind  in  diesem  Sinne  der  Gegen- 
stand für  die  höhere  Kritik,  sondern  auch  einzelne  Stellen. 
3)  S.  35.  §  12.  Wie  es  für  die  höhere  Kritik  in  den  meisten  Fällen  keine 
andere  Gewißheit  gibt,  als  eine  Annäherung,  die  durch  möglichstes  Zu- 
sammentreffen der  äußeren  Kennzeichen  und  der  innern  erreicht  wird:  so 
könnte  auch  hier  an  äußeren  Zeichen  nur  erkannt  werden,  daß  etwas  in  die 


*)  erg.  etwa:  in  Bezug  darauf, 


§  114—115.  Erster  Abschnitt.  47 

Solange  noch  beiderlei  Zeichen  gegeneinander  streiten,  oder  in  jeder 
Gattung  einige  auf  dieser,  andere  aber  auf  jener  Seite  stehen,  ist  keine 
kritische  Entscheidung  möglich.  —  Daß  hier  unter  dem  Mittelpunkt 
der  Kirche  weder  irgend  eine  Eäumlichkeit,  noch  auch  eine  amtliche 
Würde  zu  verstehen  sei,  sondern  nur  die  Vollkommenheit  der  Ge- 
sinnung und  Einsicht,  bedarf  wohl  keiner  Erörterung. 

§  114.    Die  Kritik  könnte  beiderlei  ausgemittelt  und  mit 

vollkommner  Sicherheit,  was  kanonisch   sei,   und   was  nicht, 

neu  und  anders  bestimmt  haben,  ohne  daß  deshalb  notwendig 

wäre,  den  Kanon  selbst  anders  einzurichten.^) 

Notwendig  wäre  es  nicht,  weil  das  Unkanonische  doch  als  solches  kann 
anerkannt  werden,  wenn  es  auch  seine  alte  Stelle  behält,  und  ebenso 
das  erwiesen  Kanonische,  wenn  es  auch  außerhalb  des  Kanon  bliebe. 
Zulässig  aber  müßte  es  dann  sein,  den  Kanon  in  zv/eierlei  Gestalt  zu 
haben,  in  der  geschichtlich  überlieferten  und  in  der  kritisch  ausge- 
mittelten. 

§  115.    Dasselbe  gilt  von  der  Stellung  der  alttestamen- 

tischen  Bücher  in  unserer  Bibel. 

Daß  der  jüdische  Kodex  keine  normale  Darstellung  eigentümlich  christ- 
licher Glaubenssätze  enthalte,  wird  wohl  bald  allgemein  anerkannt 
sein.  Deshalb  aber  ist  nicht  nötig  —  wiewohl  es  auch  zulässig  bleiben 
muß  —  von  dem  altkirchlichen  Gebrauch  abzuweichen,  der  das  Alte 
Testament  mit  dem  Neuen  zu  einem  Ganzen  als  Bibel  vereinigt.^} 


späteren  Zeiten  der  apostolischen  Väter  oder  in  das  vom  Mittelpunkt  der 
Kirche  ferne  Gebiet  der  apokryphischen  Behandlungen  fiele,  und  an  inneren, 
daß  es  nicht  im  unmittelbaren  Zusammenhang  mit  den  wesentlichen  und 
herrschenden  Ansichten  des  Kanon  gedacht  wäre. 

S.  36.    §  13.    Dasselbe  gilt  umgekehrt  für  den  Fall,  daß  noch  etwas  in 
den  Kanon  Aufzunehmendes  gefunden  würde. 

^)  §  15.  Sieht  man  den  Kanon  als  etwas  historisch  Gegebenes  an: 
so  muß  er  bleiben,  wie  er  ist.  Der  Gedanke  ist  nicht  statthaft,  daß  die  erste 
Kirche  im  wesentlichen  falsch  darüber  sollte  entschieden  haben;  und  so 
wäre,  selbst  wenn  es  ausgemacht  werden  könnte,  daß  einzelne  Schriften 
andere  Verfasser  haben,  als  denen  sie  beigelegt  werden,  dies  kein  Grund, 
sie  zu  entkanonisieren. 

[§§  16—37  siehe  zu  §§  126  ff.  der  zweiten  Auflage.] 
^)  S.  33.    §    3.    Den  jüdischen  Kodex  mit  in  den  Kanon  ziehen,  heißt,  das 
Christentum  als  eine  Fortsetzung  des  Judentums  ansehn,  und  streitet  gegen 
die  Idee  des  Kanon. 


48  Zweiter  Teil.  §  116—119. 

§  116.  Die  Vervielfältigung  der  neutestamentischen  Büclier 

aus  ihren  Urschriften  mußte  denselben  Schicksalen  unterworfen 

sein,  wie  die  aller  andern  alten  Schriften.^) 

Der  Augenschein  hat  alle  Vorurteile,  welche  hierüber  ehedem  geherrscht 
haben,  längst  schon  zerstört. 

§  117.  Auch  die  übergroße  Menge  und  Verschiedenheit 
unserer  Exemplare  von  den  meisten  dieser  Bücher  gewährt 
keine  Sicherheit  dagegen,  daß  nicht  dennoch  die  ursprüng- 
liche Schreibung  an  einzelnen  Stellen  kann  verloren  ge- 
gangen sein.^) 

Denn  dieser  Verlust  kann  sehr  zeitig,  ja  schon  bei  der  ersten  Abschrift 
erfolgt  sein,  und  zwar  möglicherweise  auch  so,  daß  dies  nicht  wieder 
gut  gemacht  werden  konnte. 

§  118.    Die  definitive  Aufgabe  der  niederen  Kritik,   die 

ursprüngliche  Schreibung  überall  möglichst  genau  und  auf  die 

überzeugendste  Weise  auszumitteln,  ist  auf  dem  Gebiet  der 

exegetischen  Theologie  ganz  dieselbe  wie  anderwärts.^) 

Die  Ausdrücke  niedere  und  höhere  Kritik  werden  hier  hergebrachtermaßen 
gebraucht,  ohne  weder  ihre  Angemessenheit  rechtfertigen,  noch  ihre 
Abgrenzung  gegeneinander  genauer  bestimmen  zu  wollen.*) 

§  119.  Der  neutestamentische  Kritiker  hat  also  auch,  so 
wie  die  Pflicht,  denselben  Regeln  zu  folgen,  so  auch  das  Recht 
auf  den  Gebrauch  derselben  Mittel. 


S.  34.    §    4.    Die  Kenntnis  des  jüdischen  Kodex  ist  die  allgemeine  Hilfs- 
wissenschaft für  die  gesamte  historische  Theologie. 

^)  S.  42.  §  40.  Keine  Vorstellungsart  vom  Kanon  kann  leugnen,  daß  der 
Text  desselben  den  nämlichen  Schicksalen  müsse  unterworfen  sein,  wie  jede 
andere  schriftliche  Urkunde. 

2)  §  41.  Die  Möglichkeit,  daß  die  ursprüngliche  Schreibart  könne 
verloren  gegangen  sein,  ist  beim  Kanon  nicht  geringer,  als  bei  jeder  andern 
Schrift. 

3)  §  38.  Alles,  was  er  bedarf,  ist  dem  Ausleger,  erst  dann  gegeben, 
wenn  er  auch  einen  berichtigten  und  zuverlässigen  Text  vor  sich  hat.  Dies 
ist  die  Aufgabe  der  niedern  Kritik. 

■*)  §  39.  Die  Grenze  zwischen  dieser  und  der  höhern  ist  schwer, 
und  überall  nicht  nach  der  Größe  des  Gegenstandes,  worauf  es  ankommt 
zu  bestimmen. 


•§  120—122.  Erster  Abschnitt.  49 

Weder  kann  es  daher  verboten  sein,  im  Fall  der  Not  (vgl.  §  117)*)  Ver- 
mutungen zu  wagen,  noch  kann  es  besondere  Eegeln  geben,  die  nicht 
aus  den  gemeinsamen  müßten  abgeleitet  werden  können. 

§  120.  In  demselben  Maß,  als  die  Kritik  ihre  Aufgabe  löst, 
muß  sich  auch  eine  genaue  und  zusammenhängende  Geschichte 
des  neutestamentischen  Textes  ergeben  und  umgekehrt,  sodaß 
eines  dem  andern  zur  Probe  und  Gewährleistung  dienet.') 

Selbst  was  auf  dem  Wege  der  Vermutung  Piichtiges  geleistet  wird,  muß 
sich  auf  Momente  der  Textgeschichte  berufen  können,  und  umgekehrt 
müssen  auch  wieder  schlagende  Verbesserungen  die  Geschichte  des 
Textes  erläutern, 

§  121.  Für  die  theologische  Abzweckung  der  Beschäftigung 
mit  dem  Kanon  hat  die  Wiederherstellung  des  Ursprüuglichen 
nur  da  unmittelbaren  Wert,  wo  der  normale  Gehalt  irgendwie 
beteiliget  ist.-) 

Keinesweges  aber  soll  dies  etwa  auf  sogenannte  dogmatische  Stellen  be- 
schränkt werden,  sondern  sich  auf  alles  erstrecken,  was  für  solche  auf 
irgend  eine  Weise  als  Parallele  oder  Erläuterung  gebraucht  werden  kann. 

§  122.  Dies  begründet  den,  da  die  kritische  Aufgabe 
•ein  Unendliches  ist,  hier  notwendig  aufzustellenden  Unterschied 
zwischen  dem,  was  von  jedem  Theologen  zu  fordern  ist,  und 
dem  Gebiet  der  Virtuosität.^) 

Die  Forderung  gilt  eigentlich  nur  für  den  protestantischen  Theologen; 
denn  der  römisch-katholische  hat  streng  genommen  das  Eecht,  zu  ver- 
langen, daß  ihm  die  Vulgata,  ohne  daß  eine  kritische  Aufgabe  übrig 
bleibe,  geliefert  werde. 


1)  S.  43,  §  46.  Die  nächste  Aufgabe  der  Kritik  ist  die ,  eine  möglichst 
richtige  und  genaue  Geschichte  des  Textes  zu  liefern,  welche  aber  auch 
noch  nicht  zustande  gebracht  ist. 

2)  §  43,    Die  vollkommene  Wiederherstellung  des  Textes  hat  beim 
Kanon  nicht  denselben  philologischen  Wert,  wie  bei  andern  Schriftstellern. 

§  45.  Rein  theologisch  betrachtet,  haben  nur  diejenigen  Varianten 
unmittelbare  Wichtigkeit,  welche  irgendetwas  zur  ursprünglichen  Darstellung 
des  Christentums  Gehöriges  betreffen.  Für  den  Kritiker  sind  alle  wichtig, 
weil  jede  ein  Beitrag  zur  Beurteilung  seiner  Quellen  ist. 
^)  S.  42.  §  42.  Die  Aufgabe  der  Kritik  in  ihrem  ganzen  Umfange  ist  eine 
unendhche.     Daher  sie  auch  ein  Feld  für  eine  besondere  Virtuosität  enthält. 

*)  Im  Text  der  zweiten  Originalausgabe  fälschlich  §  17. 
Schleierm..  Th.  St.  4 


50  Zweiter  Teil.  §  123— 125> 

§  123.  Da  jeder  Theologe  —  auch  im  weiteren  Sinne^ 
des  Wortes  —  um  der  Auslegung  willen  (vgl.  §  89)  in  den 
Fall  kommen  kann  (vgl.  §  121),  auch  einer  kritischen  Über« 
Zeugung  zu  bedürfen:  so  muß  jeder,  um  sich  die  Arbeiten 
der  Virtuosen  selbsttätig  anzueignen  und  zwischen  ihren 
Eesultaten  zu  wählen,  sowohl  die  hier  zur  Anwendung- 
kommenden  kritischen  Grundsätze  und  Regeln  inne  haben,  als 
auch  eine  allgemeine  Kenntnis  von  den  wichtigsten  kritischen 
Quellen  und  ihrem  Wert.^) 

Eine  notdürftige  Anleitung  hiezu  findet  sich  teils  in  den  Prolegomenen 
der  kritischen  Ausgaben,  teils  wird  sie  auch  unter  jenem  Mancherlei 
mitgegeben,  welches  man  Einleitung  ins  N.  Test,  zu  nennen  pflegt. 

§  124.  Von  jedem  Virtuosen  der  neutestamentischen  Kritik 
ist  alles  zu  fordern,  was  dazu  gehört,  sowohl  den  Text  voll- 
ständig und  folgerecht  überall  nach  gleichen  Grundsätzen  zu 
konstituieren,  als  auch  einen  kritischen  Apparat  richtig  und 
zweckmäßig  anzuordnen. 

Dies  sind  rein  philologische  Aufgaben.  Es  ist  aber  nicht  leicht  zu  denken^ 
daß  ein  Philologe  ohne  Interesse  am  Christentum  seine  Kunst  daran 
wenden  sollte,  sie  für  das  Neue  Testament  zu  lösen,  da  dieses  an. 
sprachlicher  Wichtigkeit  hinter  andern  Schriften  weit  zurücksteht. 
Sollte  es  indes  jemals  der  Theologie  an  solchen  Virtuosen  fehlen:  so 
gäbe  es  auch  keine  Sicherheit  mehr  für  dasjenige,  was  für  die  theo- 
logische Abzweckung  dieses  Studiums  geleistet  werden  muß. 

§  125.  Bei  allem  Bisherigen  (§§  116—124)  liegt  die 
Voraussetzung  zum  Grunde,  daß  eigene  Auslegung  nur  der- 
jenige bilden  kann,  welcher  mit  dem  Kanon  in  seiner  Grund- 
sprache umgeht. 

Die  kritische  Aufgabe  hätte  sonst  nur  einen  Wert  für  den  Übersetzer,, 
und  zwar  auch  nur  in  dem  §  121  beschriebenen  Umfang. 


^)  S.  43.  §  44.  Das  Allgemeine,  für  jeden  Notwendige,  ist,  die  Prinzipien 
der  Kritik  zu  kennen,  um  die  Virtuosen  der  Kritik  als  Autorität  in  ein- 
zelnen Fällen  prüfen  zu  können,  und  der  Gründe  seines  Urteils  selbst 
mächtig  zu  sein.  Daraus  entsteht  dann  die  ebenfalls  unentbehrliche  Kennt- 
nis ihrer  Hauptresultate. 

[§§  47—60  siehe  zu  §§  145  ff.  der  zweiten  Auflage.] 


§  126—128.  Erster  Abschnitt.  51 

§  126.    Da  auch  die  meisterhafteste  Übersetzung  nicht 
vermag  die  Irrationalität  der  Sprachen  aufzuheben:   so  gibt 
es  kein  vollkommenes   Verständnis  einer  Eede  oder  Schrift 
anders  als  in  ihrer  Ursprache.^) 
Unter  Irrationalität  wird  nur  dieses  Bekannte   verstanden,    daß  weder 
ein  materielles  Element,  noch  ein  formelles  der  einen  Sprache  ganz  in 
einem  der  andern  aufgeht.     Daher  kann   eine  Rede  oder  Schrift  ver- 
mittelst einer  Übersetzung,   mithin   auch  die  Übersetzung    selbst   als 
solche,  nur  demjenigen  vollkommen  verständlich  sein,   der  sie  auf  die 
Grundsprache  zurückzuführen  weii3. 

§  127.    Die  Ursprache  der  neutestamentischen  Bücher  ist 

die  griechische;  vieles  (nach  §  121)  Wichtige  aber  ist  teils 

unmittelbar  als  Übersetzung  aus  dem  Aramäischen  anzusehen, 

teils  hat  das  Aramäische  mittelbaren  Einfluß  darauf  geübt.-) 

Die  früheren  Behauptungen,  daß  einzelne  Bücher  ursprünglich  aramäisch 

geschrieben  seien,   sind  schwerlich  mehr   zu  berücksichtigen.     Vieles 

aber   von   dem,  was   als  Eede   oder  Gespräch  aufbewahrt  worden,   ist 

ursprüngHch   aramäisch    gesprochen.     Der   mittelbare  Einfluß   ist  die 

unter  dem  Namen  des  Hebraismus  bekannte  Sprachmodifikation. 

§  128.    Schon  die  vielfältigen  direkten  und  indirekten,  in 
neutestamentischen  Büchern  auf  alttestamentische  genommenen 
Beziehungen  machen  eine  genauere  Bekanntschaft  mit  diesen 
Büchern,  also  auch  in  ihrer  Grundsprache,  notwendig.^) 
Um  so  mehr,   als  diese  sich  zum  Teü  auf  sehr  wichtige  Sätze  beziehen, 
worüber  die  Auslegung   selbst  gebildet   sein   muß,   mithin   auch   ein 
richtiges  Urteil  über  das  Verhältnis  der  gemeinen  griechischen  Über- 
setzung des  Alten  Testaments  zur  Grundsprache  unerläßlich  ist. 

^)  S.  37.  §  16.  Keine  Eede  kann  vollständig  verstanden  werden,  als  in  der 
Ursprache.  Auch  die  vollkommenste  Übersetzung  hebt  die  Irrationalität 
der  Sprachen  nicht  auf. 

§  17.    Auch  Übersetzungen  versteht  nur  derjenige  vollkommen, 
der  zugleich  mit  der  Ursprache  bekannt  ist. 

2)  §  18.  Die  Ursprache  des  Kanon  ist  zwar  griechisch ;  vieles  aber 
ist  unmittelbar  Übersetzung  aus  dem  Aramäischen,  und  noch  mehreres  ist 
mittelbar  so  anzusehn. 

3)  §  19.    Da  auf  dem  richtigen  Verständnis  des  Kanon  überall  das 

eigene  Urteil  darüber,  was  ursprünglich  christlich  ist,  beruht:  so  muß  jeder 

Theologe  den  Kanon  auch  durch  sich  selbst  verstehen. 

4* 


52  Zweiter  Teil.  §  129—131. 

§  129.    Je  geringer  die  Verbreitung  und  die  Produktivität 

einer  Mundart  ist,  um  desto  weniger  ist  sie   anders,  als  im 

Zusammenhange  mit  allen  ihr  verwandten  ganz  verständlich. 

Welches,  auf  das  Hebräische  angewendet,  für  das  vollkommenste 

Verständnis  des  Kanon  auch  eine  hinreichende  Kenntnis  aller 

semitischen  Dialekte  in  Anspruch  nimmt. ^) 

Von   jeher   ist  daher  auch  das  Arabische  und  Kabbinische  für  die  Er- 
klärung der  Bibel  zugezogen  worden. 

§  130.    Diese  Forderung,  welche  vielerlei  der  Abzweckung 

unserer  theologischen  Studien  unmittelbar  ganz  Fremdes  in 

sich  schließt,  ist  indes  nur  an  diejenigen  zu  stellen,  welche  es 

in  der  exegetischen  Theologie  zur  Meisterschaft  bringen  wollen, 

und  zwar  in  dieser  bestimmten  Beziehung.^) 

Von  dieser  rein  philologischen  Eichtung  gilt  dasselbe,  was  zu  §  124  ge- 
sagt worden  ist. 

§  131.  Jedem  Theologen  aber  ist  aus  dem  Gebiet  der 
Sprachkunde  zuzumuten  eine  gründliche  Kenntnis  der  griechi- 
schen, vornehmlich  prosaischen  Sprache  in  ihren  verschiedenen 
Entwicklungen,  die  Kenntnis  beider  alttestamentischen  Grund- 
sprachen, und  vermittelst  derselben  eine  klare  Anschauung  von 
dem  Wesen  und  Umfang  des  neutestamentischen  Hebraismus; 
endlich,  um  die  Arbeiten  der  Virtuosen  zu  benutzen,  außer 
einer  Bekanntschaft  mit  der  Literatur  des  ganzen  Faches,  be- 
sonders ein  selbstgebildetes  Urteil  über  das  Zuviel  und  Zu- 
wenig, das  Natürliche  und  das  Erkünstelte  in  der  Anwendung 
des  Orientalischen.^) 


^)  S.  37.    §  20.    Da  kein  Dialekt  vollkommen  verstanden  wird  ohne  seine 
verwandten  Dialekte:   so  ist   auch   die  vollständigste  Kenntnis  des  Kanon 
nur  durch  die  Kenntnis  aller  semitischen  Dialekte  möglich. 
2)  S.  38.     §  21.    Nur  dieser  zweite  Punkt  (20),  nicht  auch  der  erste  (19), 
kann  zu  der  speziellen  Virtuosität  auf  diesem  Gebiet  gehören. 

^)  §  22.  Auch  hier  ist  nächst  der  Literatur  Kritik  der  Virtuosen 
(Einl.  20  3,  4)  eine  notwendige  Ergänzung,  um  im  Gebrauch  das,  was  ein- 
seitige Liebhaberei  am  Seltnen  und  Scharfsinnigen  von  dem,  was  echt 
philologisches  Talent  erzeugt  hat,  zu  unterscheiden. 


§  132—135.  Erster  Abschnitt.  53 

Denn  hierin  ist  aus  Liebhaberei  von  den  einen,  aus  Vorurteil  von  den 
andern,  immer  wieder  nach  beiden  Seiten  hin  gefehlt  worden. 

§  132.  Das  vollkommne  Verstehen  einer  Rede  oder  Schrift 
ist  eine  Kunstleistung-,  und  erheischt  eine  Kunstlehre  oder 
Technik,  welche  wir  durch  den  Ausdruck  Hermeneutik  be- 
zeichnend) 

Kunst,  schon  in  einem  engeren  Sinne,  nennen  wir  jede  zusammengesetzte 
Hervorbringung,  wobei  wir  uns  allgemeiner  Eegeln  bewußt  sind,  deren 
Anwendung  im  einzelnen  nicht  wieder  auf  Eegeln  gebracht  werden 
kann.  Mit  Unrecht  beschränkt  man  gewöhnlich  den  Gebrauch  der 
Hermeneutik  nur  auf  größere  Werke  oder  schwierige  Einzelheiten. 
Die  Eegeln  können  nur  eine  Kunstlehre  bilden,  wenn  sie  aus  der  Natur 
des  ganzen  Verfahrens  genommen  sind,  und  also  auch  das  ganze  Ver- 
fahren umfassen. 

§  133.  Eine  solche  Kunstlehre  ist  nur  vorhanden,  sofern 
die  Vorschriften  ein  auf  unmittelbar  aus  der  Natur  des 
Denkens  und  der  Sprache  klaren  Grundsätzen  beruhendes 
System  bilden. 

So  lange  die  Hermeneutik  noch  als  ein  Aggregat  von  einzelnen,  wenn 
auch  noch  so  feinen  und  empfehlenswerten  Beobachtungen,  allgemeinen 
und  besonderen,  behandelt  wird,  verdient  sie  den  Namen  einer  Kunst- 
lehre noch  nicht.^) 

§  134.  Die  protestantische  Theologie  kann  keine  Vor- 
stellung vom  Kanon  aufnehmen,  welche  bei  der  Beschäftigung 
mit  demselben  die  Anwendung  dieser  Kunstlehre  ausschlösse."') 

Denn  dies  könnte  nur  geschehen,  wenn  man  irgendwie  ein  wunderbar 
inspiriertes  vollkommenes  Verständnis  desselben  annähme. 

§  135.    Die  neutestamentischen  Schriften  sind  sowohl  des 


^)  S.  38.  §  23.  Alles  Verstehen  einer  Eede  oder  Schrift  ist,  weil  dazu  eine 
selbsttätige  Produktion  gehört  nach  Gesetzen,  deren  Anwendung  nicht 
wieder  auf  Gesetze  zu  bringen  ist,  eine  Kunst. 

2)  S.  39.  §  27.  Wer  die  Eegeln  der  Auslegung  nur  als  ein  Aggregat  von 
Observationen  besitzen  will,  muß  einem  fremden  unklaren  Gefühl  folgen. 

^)  §  29.  Es  gibt  keine  Vorstellungen  über  den  Kanon,  welche  die 
Anwendung  der  so  gefundenen  hermeneutischen  Eegeln  auf  denselben 
aufhöbe. 


54  Zweiter  Teil.  §  135—137. 

inneren  Gehaltes,  als  der  äußeren  Verhältnisse  wegen  von  be- 
sonders schwieriger  Auslegung.^) 

Das  erste,  weil  die  Mitteilung  eigentümlicher,  sich  erst  entwickelnder 
religiöser  Vorstellungen  in  der  abweichenden  Sprachbehandlung  nicht- 
nationaler Schriftsteller  zum  großen  Teil  aus  einer  minder  gebildeten 
Sphäre  sehr  leicht  mißverstanden  werden  kann.  Letzteres  weil  die 
Umstände  und  Verhältnisse,  welche  den  Gedankengang  modifizieren, 
uns  großenteils  unbekannt  sind,  und  erst  aus  den  Schriften  selbst 
müssen  erraten  werden. 

§  136.  Sofern  nun  der  neutestamentische  Kanon  vermöge 
der  eigentümlichen  Abzweckung  der  exegetischen  Theologie 
als  Ein  Ganzes  soll  behandelt  werden,  an  und  für  sich  be- 
trachtet aber  jede  einzelne  Schrift  ein  eignes  Ganze  ist, 
kommt  noch  die  besondere  Aufgabe  hinzu,  diese  beiden  Be- 
handlungsweisen  gegeneinander  auszugleichen  und  miteinander 
zu  vereinigen,^) 

Die  gänzliche  Ausschließung  des  einen  oder  andern  dieser  Standpunkte, 
wie  sie  aus  entgegengesetzten  theologischen  Einseitigkeiten  folgt,  hat 
zu  aUen  Zeiten  Irrtümer  und  Verwirrungen  in  das  Geschäft  der  Aus- 
legung gebracht. 

§  137.  Die  neutestamentische  Spezialhermeneutik  kann 
nur  aus  genaueren  Bestimmungen  der  allgemeinen  Regeln  in 
Bezug  auf  die  eigentümlichen  Verhältnisse  des  Kanon  bestehen.^) 

^)  S.  38.  §  24.  Die  Auslegung  des  Kanons  gehört  zu  den  schwierigsten, 
teils  weil  das  Spekulativ-Religiöse  in  dem  unbestimmten  Sprachgebrauch 
nicht-nationaler  Schriftsteller  aus  einer  im  ganzen  ungebildeten  Sphäre  sehr 
vielen  Mißdeutungen  ausgesetzt  ist,  teils  weil  die  Umstände,  welche  den 
Gedankengang  des  Schriftstellers  motivierten,  uns  häufig  ganz  unbekannt 
sind,  und  erst  durch  die  Schriften  selbst  müssen  erraten  werden. 
2)  S.  40.  §  31.  Da  das  Ziel  aller  Auslegung  darin  besteht,  jeden  einzelnen 
Gedanken  mit  seinem  Verhältnis  zur  Idee  des  Ganzen  zugleich  richtig  auf- 
zufassen, und  so  den  Akt  des  Schreibens  nachzukonstruieren :  so  muß  vor- 
züglich bestimmt  werden,  inwiefern  für  die  Auslegung  der  Kanon  als  Ein 
Ganzes  zu  nehmen,  und  inwiefern  jede  einzelne  Schrift  desselben  für  sich 
zu  betrachten  ist. 

^)  S.,  39.    §  28.     Die  Auslegungskunst  ist  eine  philologische  Disziplin,   die 
auf  eben  so  festen  Prinzipien,  als  irgendeine  andere  beruht. 
S.  40.    §  30.    Die  Spezialhermeneutik  des  Kanon  ist  nur  die  nähere  Be- 


§  138—140.  Erster  Abschnitt.  55 

Sie  kann  um  so  mehr  nur  allmählich  zu  der  strengeren  Form  einer  Kunst- 
lehre ausgebildet  werden,  als  sie  zu  einer  Zeit  gegründet  wurde,  wo 
auch  die  allgemeine  Hermeneutik  nur  noch  als  eine  Sammlung  von 
Observationen  bestand. 

§  138.  Die  Kiinstlelire  der  Auslegung  kann  auf  zweifache 
Weise  gestaltet  werden,  ist  aber  in  jeder  Fassung  der  eigent- 
liche Mittelpunkt  der  exegetischen  Theologie.^) 

Die    allgemeine  Hermeneutik   kann   entweder   ganz   hervortreten,    sodaß 
das  Spezielle  nur   als  Korollarien  erscheint,    oder  umgekehrt  kann  das 
Spezielle  zusammenhängend  organisiert  und  auf  die  allgemeinen  Grund- 
sätze dann  nur  zurückgewiesen  werden.  —  Die  Ausübung  ist  zwar  aller- 
dings durch  Sprachkunde  und  Kritik  bedingt ;  aber  die  Grundsätze  selbst 
haben    den  entschiedensten  Einfluß,   sowohl   auf   die  Operationen   der 
Kritik,  als  auch  auf  die  feineren  Wahrnehmungen  in  der  Sprachkunde. 
§  139.    Daher   gibt   es   auch   hier   nichts,   weshalb  sich 
einer  auf  andere  verlassen  dürfte:  sondern  jeder  muß  sich  der 
möglichsten  Meisterschaft  befleißigen.-) 
Je  mehr  der  Gegenstand  schon  bearbeitet  ist,  um  desto  weniger  darf  sich 
diese  gerade  in  neueren  Auslegungen  zeigen  wollen. 
§  140.    Keine  Schrift  kann  vollkommen  verstanden  werden, 
als  nur  im  Zusammenhang  mit  dem   gesamten  Umfang  von 
Yorstellungen,  aus  welchem  sie  hervorgegangen  ist,  und  ver- 
mittelst der  Kenntnis   aller  Lebensbeziehungen,   sowohl   der 
Schriftsteller,  als  derjenigen,  für  welche  sie  schrieben.^^) 

Stimmung  jener  [sc.  allgemeinen]  Eegeln  in  Bezug  auf  die  besondere  Sprache 
des  Kanon,  und  auf  die  besondere  Gattung,  zu  der  die  Schriften  gehören, 
aus  denen  er  besteht. 

^)  S.  39.  §  26.  Die  Auslegungskunst  ist  der  Mittelpunkt  der  exegetischen 
Theologie,  und  in  Absicht  auf  sie  findet  kein  Unterschied  statt  zwischen 
allgemeinem  Besitz  und  besonderer  Virtuosität.  Auch  da,  wo  man  die 
Sprachkenntnis  nur  als  Notiz  hat,  muß  doch  die  Auslegung  eigen  sein. 

2)  §  25.  Da  jeder  Theologe  zu  einem  eigenen  Verständnis  des 
Kanons  gelangen  soll:  so  muß  auch  jeder  diese  Kunst  selbst  üben,  und 
darf  keine  Auslegung  auf  Autorität  annehmen. 

3)  S.  40.  §  32.  Jede  Schrift  kann  nur  vollkommen  verstanden  werden 
durch  die  Kenntnis  der  Literatur,  der  sie  angehört,  des  Zeitalters  und  be- 
sonders des  PubUkums ,  für  welches  sie  geschrieben  wurde ,  und  der  be- 
sondern Beziehungen,  aus  denen  sie  hervorgegangen  ist. 


56  Zweiter  Teil.  §  141—143. 

Denn  jede  Schrift  verhält  sich  zu  dem  Gesamtleben,  wovon  sie  ein  Teil 
ist,  wie  ein  einzelner  Satz  zu  der  ganzen  Eede  oder  Schrift. 

§  141.  Der  geschichtliche  Apparat  zur  Erklärung  des 
Neuen  Testamentes  umfaßt  daher  die  Kenntnis  des  älteren 
und  neueren  Judentums,  sowie  die  Kenntnis  des  geistigen  und 
bürgerlichen  Zustandes  in  den  Gegenden,  in  welchen  und  für 
welche  die  neutestamentischen  Schriften  verfaßt  wurden.^) 

Daher  sind  die  alttestamentischen  Bücher  zugleich  das  allgemeinste  Hilfsbuch 
zumVerständnis  des  Neuen  Testamentes,  nächstdem  die  alttestamentischen 
und  neutestamentischen  Apokryphen,  die  späteren  jüdischen  Schriftsteller 
überhaupt,  sowie  die  Geschichtschreiber  und  Geographen  dieser  Zeit  und 
Gegend.  Alle  diese  wollen  ebenfalls  in  ihrer  Grundsprache  kritisch 
und  nach  den  hermeneutischen  Regeln  gebraucht  werden. 

§  142.    Viele  von  diesen  Hilfsquellen  sind  bis  jetzt  noch 
weder  in  möglichster  Vollständigkeit,  noch  mit  der  gehörigen 
Vorsicht  gebraucht  worden.-) 
Beides    gilt   besonders   von   den   gleichzeitigen   und   späteren   jüdischen 
Schriften. 

§  143.    Dieser  Gesamtapparat  nimmt  also  noch  auf  lange 
Zeit  die  Tätigkeit  vieler  Theologen  in  Anspruch,  um  die  bis- 
herigen Arbeiten  der  Meister  dieses  Fachs  zu  berichtigen  und 
zu  ergänzen.^) 
Von  einer  andern  Seite  gehen  diese  Arbeiten  in  die  Apologetik  zurück, 
indem   die  Gegner   des  Christentums   sich   immer  wieder  die  Aufgabe 
stellen,    es  ganz  aus   dem,   was  schon  gegeben  war,   und  zwar  nicht 
immer  als  Fortschritt  und  Verbesserung,   zu  erklären.    Hieher  gehört 
aber  nur  die  reine  und  vollständige  Zubereitung  des  geschichtlichen 
Materials. 


^)  S.  41.  §  33.  Keine  Vorstellungsart  vom  Kanon  kann  diese  Bedingungen 
des  Verstehens  für  überflüssig  erklären. 

^)  §  34.  Da  diese  Bedingungen  ein  Unendliches  enthalten:  so  tritt 
hier  der  Unterschied  zivischen  dem  Allgemeinen  und  Besondern  wieder  vor- 
züglich ein. 

^)  §  35.  Die  großen  Züge  zu  kennen,  wodurch  das  Ganze  klar  wird,, 
und  sich  dadurch  ein  richtiges  Bild  der  neutestamentischen  Zeit  zu  ent- 
werfen, ist  die  Pflicht  eines  jeden;  die  Masse  des  Einzelnen  zusammenzu-- 
bringen,  wodurch  Einzelnes  und  Kleines  erläutert  wird,  ist  die  Sache  der 
Virtuosen  dieses  Faches. 


§  144—147.  Erster  Abschnitt.  57 

§  144.  Was  sich  liievon  zum  Gemeinbesitz  eignet,  wird, 
teils  unter  dem  Titel  jüdischer  und  christlicher  Altertümer, 
teils  mit  vielerlei  anderem  verbunden,  in  der  sogenannten  Ein- 
leitung zum  Neuen  Testament  mitgeteilt.^) 

In  der  letzteren,  die  überhaupt  wohl  einer  Umgestaltung  bedürfte,  wird 
noch  manches  vermißt ,  was  doch  vorzüglich  nach  §  141  hieher 
gehört,  weil  man  es  zur  Lesung  des  Neuen  Testamentes  mitbringen 
muß.  —  Was  sich  jeder  von  den  Virtuosen  dieses  Fachs  geben 
lassen  kann,  findet  sich  teils  in  Sammlungen  aus  einzelnen  Quellen, 
teils  in  Kommentaren  zu  den  einzelnen  neutestamentischen  Büchern. 

§  145.    Die  Hauptaufgabe  der  exegetischen  Theologie  ist 

noch  keinesweges  als  vollkommen  aufgelöst  anzusehen.^) 

Selbst  wenn  man  abrechnet,  daß  es  einzelne  Stellen  gibt,  die  teils  nie 
werden  mit  vollkommener  Sicherheit  berichtigt,  teils  nie  zu  allgemeiner 
Befriedigung  erklärt  werden. 

§  146.  Auch  für  die  hieher  gehörigen  Hilfskenntnisse  be- 
steht die  doppelte  Aufgabe  fort,  das  Materiale  immer  mehr 
zu  vervollständigen,  und  von  dem  Verarbeiteten  immer  mehr 
in  Gemeinbesitz  zu  verwandeln.^) 

Schon  das  erste  Studium  unter  der  Anleitung  der  Meister  muß  nicht 
nur  den  Grund  zu  dem  letzten  legen,  und  vermittelst  desselben  die 
Ausübung  der  Kunstlehre  gemäß  beginnen,  sondern  auch  die  ver- 
schiedenen einzelnen  Gebiete  in  Bezug  auf  die  darin  noch  zu  er- 
werbende Meisterschaft  wenigstens  aufschließen. 

§  147.    Eine   fortgesetzte  Beschäftigung   mit   dem   neu- 


^)  S.  41.  §  36.  Der  erste  Grund  zum  Besitz  dieser  Hüfskenntnisse  wird 
gelegt  durch  diejenigen  Notizen,  die  man  in  den  Einleitungen  in  das  Neue 
Testament  zu  vereinigen  pflegt. 

§  37.    Die  Quellen,  woraus  Erläuterungen  zu  nehmen  wären,  sind 
noch  lange  nicht  erschöpft. 

[§§  38 — 46  siehe  zu  §§  116  ff.  der  zweiten  Auflage.] 
2)  S.  43.    §  47.    Wie   das  Verständnis  des  Kanon  überall  noch  nicht  voll- 
endet ist,   so  darf  auch  der  einzelne  Theologe   sein  Studium  desselben  nie 
als  vollendet  ansehn. 

^)  S.  44.  §  48.  Der  akademische  Unterricht  kann  nur  den  Grund  dazu 
legen,  muß  aber  auch  schon  beide  Richtungen,  die  auf  die  Universalität 
und  die  auf  die  Virtuosität,  in  sich  vereinigen. 


58  Zweiter  Teil.  §  147—150. 

testamentisclien  Kanon,  welche  nicht  durch  eigenes  Interesse 

am  Christentum  motiviert  wäre,  könnte  nur  gegen  denselben 

gerichtet  sein.^) 

Denn   die  rein  philologische  und  historische  Ausbeute,    die   der  Kanon 

verspricht,  ist  nicht  reich  genug,  um  zu  einem  solchen  zu  reizen.   Aber 

auch  die  Untersuchungen  der  Gegner  (vgl.  §  143)  sind  sehr  förderlich 

geworden  und  werden  es  auch  in  Zukunft  werden. 

§  148.  Jede  Beschäftigung  mit  dem  Kanon  ohne  philo- 
logischen Geist  und  Kunst  muß  sich  in  den  Grenzen  des  Ge- 
bietes der  Erbauung  halten;  denn  in  dem  der  Theologie 
könnte  sie  nur  durch  pseudodogmatische  Tendenz  Verwirrung 
anrichten.^) 

Denn  ein  reines  und  genaues  Verstehenwollen  kann  bei  einem   solchen 
Verfahren  nicht  zum  Grunde  liegen. 


Zweiter  Abschnitt. 

Die  historische  Theologie  im  engeren  Sinn 
oder  die  Kircheugeschichte. 

§  149.  Die  Kirchengeschichte  im  weiteren  Sinne  (vgl. 
§  90)  ist  das  Wissen  um  die  gesamte  Entwicklung  des  Christen- 
tums, seitdem  es  sich  als  geschichtliche  Erscheinung  fest- 
gestellt hat.^) 

Was   dasselbe   abgesehen   hievon   nach  außen   hin   gewirkt  hat,    gehört 
nicht  mit  in  dieses  Gebiet. 

§  150.  Jede  geschichtliche  Masse  läßt  sich  auf  der  einen 
Seite  ansehen  als  Ein  untrennbares  werdendes  Sein  und  Tun, 


1)  S.  44.    §  49.     Ohne  religiöses  Interesse  läßt  sich  kein  fortgesetztes  Studium 
des  Kanon  denken,  es  müßte  denn  ein  gegen  ihn  selbst  gerichtetes  sein, 

2)  §  50.  Ohne  philologischen  Geist  kann  die  Beschäftigung  mit  dem 
Kanon  nur  asketisch  sein,  oder  sie  wird  ins  Pseudodogmatische  ausarten. 

3)  §  1.  Der  Gegenstand  der  Kirchengeschichte  ist  der  Inbegriff 
alles  dessen,  was  das  Christentum  von  seinem  Entstehen  bis  jetzt  geworden 
ist  oder  gewirkt  hat. 


^  150—152.  Zweiter  Abschnitt.  59 

auf  der  andern  als  ein  Zusammengesetztes  aus  unendlich  vielen 
einzelnen  Momenten.  Die  eigentlich  geschichtliche  Betrach- 
tung ist  das  Ineinander  von  beiden.^) 

Das  eine  ist  nur  der  eigentümliche  Geist  des  Ganzen,  in  seiner  Beweg- 
lichkeit angeschaut,  ohne  daß  sich  bestimmte  Tatsachen  sondern;  das 
andere  nur  die  Aufzählung  der  Zustände  in  ihrer  Verschiedenheit, 
ohne  daß  sie  in  der  Identität  des  Impulses  zusammengefaßt  werden. 
Die  geschichtliche  Betrachtung  ist  beides,  das  Zusammenfassen  eines 
Inbegriffs  von  Tatsachen  in  Ein  Bild  des  Innern,  und  die  Darstellung 
des  Innern  in  dem  Auseinandertreten  der  Tatsachen. 

§  151.  So  ist  auch  jede  Tatsache  nur  eine  geschicht- 
liche Einzelheit,  sofern  beides  identisch  gesetzt  wird,  das 
Äußere,  Veränderung  im  Zugleichseienden,  und  das  Innere, 
Funktion  der  sich  bewegenden  Kraft.-) 

Das  Innere  ist  in  diesem  Ausdruck  als  Seele  gesetzt,  das  Äußere  als 
Leib,  das  Ganze  mithin  als  ein  Leben. 

§  152.  Das  Wahrnehmen  und  Im-Gedächtnis-Festhalten 
der  räumlichen  Veränderungen  ist  eine  fast  nur  mechanische 
Verrichtung,  wogegen  die  Konstruktion  einer  Tatsache,  die 
Verknüpfung  des  Äußeren  und  Inneren  zu  einer  geschicht- 
lichen Anschauung,  als  eine  freie  geistige  Tätigkeit  anzu- 
sehen ist.^) 

Daher  auch,  was  mehrere  ganz  als  dasselbe  wahrgenommen,  sie  doch  als 
Tatsache  verschieden  auffassen. 


*)  S.  45.  §  2.  Es  läßt  sich  ansehn  von  der  einen  Seite  als  Eine  einzige 
Anschauung,  von  der  andern  als  ein  Ganzes  von  unendlich  vielen  einzelnen 
Anschauungen. 

''^)  §  3.  Jede  Tatsache  als  geschichtliche  Einzelheit  ist  ein  Äußeres, 
die  räumliche  Veränderung,  und  ein  Inneres,  die  Funktion  der  Kraft,  welche 
betrachtet  wird,  identisch  gedacht. 

^)  S.  46.  §  6.  Das  Aneinanderfügen  wahrgenommener  räumlicher  Verände- 
rungen und  ihr  Festhalten  im  Gedächtnis  ist  Mechanismus;  die  Verknüpfung 
des  Innern  und  Äußern  zu  einer  geschichtlichen  Anschauung  ist  Kon- 
struktion, Tätigkeit  eines  Talentes. 

§  7  [=  §  155  der  zweiten  Auflage].  Das  Leben,  die  eigene  ge- 
schichtliche Existenz  des  einzelnen  Menschen,  entwickelt  dieses  Talent 
von  selbst. 


60  Zweiter  Teil.  §  153—156. 

§  153.  Die  Darstellung  der  räumlichen  Veränderungen 
als  solcher  in  ihrer  Gleichzeitigkeit  und  Folge  ist  nicht  Ge- 
schichte, sondern  Chronik;  und  eine  solche  von  der  Christ- 
liehen  Kirche  könnte  sich  nicht  als  eine  theologische  Dis- 
ziplin geltend  machen.^) 
Denn  sie  gäbe  von  dem  Gesamtverlauf  dasjenige  nicht,  was  in  einer  Be- 
ziehung zur  Kirchenleitung  steht. 

§  154.    Nur   der  Stetigkeit  wegen  müssen   auch  in  die 
geschichtliche  Auffassung  solche  Ereignisse  mit  aufgenommen 
werden,   die  eigentlich  nicht  als  geschichtliche  Elemente  an- 
zusehen sind.-) 
Dahin  gehört   der  Wechsel  der   Personen,    welche   an   ausgezeichneten 
Stellen   wirksam   waren,    wenn   auch    ihre   persönliche   Eigentümlich- 
keit  keinen  merklichen  Einfluß   auf  ihre  öffentlichen  Handlungen   ge- 
habt hat. 

§  155.  Die  geschichtliche  Auffassung  ist  ein  Talent^ 
welches  sich  in  jedem  durch  das  eigne  geschichtliche  Leben, 
wiewohl  in  verschiedenem  Grade,  entwickelt,  niemals  aber 
jener  mechanischen  Fertigkeit  ganz  entbehren  kann. 

Wie  im  gemeinen  Leben,  so  auch  im  wissenschaftlichen  Gebiet  verfälscht 
ein  aufgeregtes  selbstisches  Interesse,  mithin  auch  jedes  Parteiwesen^ 
am  meisten  den  geschichtlichen  Blick. 

§  156.  Zu  dem  geschichtlichen  Wissen  um  das  nicht 
Selbsterlebte  gelangt  man  auf  zwiefachem  Wege,  unmittelbar^ 
aber  mühsam  zusammenschauend,  durch  die  Benutzung  der 
Quellen,  leicht,  aber  nur  mittelbar,  durch  den  Gebrauch  ge- 
schichtlicher Darstellungen.^) 

^)  S.  45.  §  4.  Die  Auseinanderreißung  der  räumlichen  Veränderungen  für 
sich  ist  nicht  Geschichte,  sondern  Chronik.  Es  gibt  viele  Veränderungen^ 
die  gar  nicht  als  geschichtliche  Elemente  anzusehen  sind. 

§  5.  Wie  überall  auch  die  vollständigste  Chronik  nur  Vorarbeit 
ist  für  die  Geschichte:  so  kann  die  Chronik  der  christlichen  Kirche  beson- 
ders gar  nicht  als  theologische  Disziplin  gedacht  werden,  weil  sie  mit 
dem  Interesse  an  der  Wirksamkeit  für  das  Christentum  in  gar  keinem  Zu- 
sammenhange steht. 

2)  [§§  8  ff.  siehe  zu  §§  160  If.  der  zweiten  Auflage.] 
^)  S.  52.    §  36.    Es  gibt    eine   zwiefache  Art,   um    das   Geschichtliche   za 
wissen:  aus  den  Quellen  selbst,  und  aus  geschichtlichen  Darstellungen. 


§  157—160.  Zweiter  Abschnitt.  Ql 

Nicht  leicht  wird  es  auf  irgend  einem  geschichtlichen  Gebiet  möglich 
sein,  auf  dem  der  Kirchengeschichte  aber  gewiß  nicht,  der  letzteren  zu 
entraten. 

§  157.  Quellen  im  engeren  Sinn  nennen  wir  Denkmäler 
und  Urkunden,  welche  dadurch  für  eine  Tatsache  zeugen,  daß 
sie  selbst  einen  Teil  derselben  ausmachen. ^j 

Geschichtliche  Darstellungen  von  Augenzeugen  sind  in  diesem  strengeren 
Sinn  schon  nicht  mehr  Quellen.  Doch  verdienen  sie  den  Namen  um 
so  mehr,  je  mehr  sie  sich  der  Chronik  nähern,  und  ganz  anspruchslos 
nur  das  Wahrgenommene  wiedergeben. 

§  158.    Aus  geschichtlichen  Darstellungen  kann  man  nur 
zu  einer  eigenen  geschichtlichen  Auffassung  gelangen,  indem 
man  das  von  dem  Schriftsteller  Hineingetragene  ausscheidet. 
Dies  wird  erleichtert,   wenn  man  mehrere  Darstellungen  derselben  Eeihe 
von  Tatsachen  vergleichen  kann,  um  so  mehr,  wenn  sie  aus  verschie- 
denen Gesichtspunkten  genommen  sind. 

§  159.  Zu  dem  Wissen  um  einen  Gesamtzustand,  wie 
er  ein  Bild  des  Inneren  (vgl.  §  150)  darstellt,  gelangt  man 
nur  durch  beziehende  Verknüpfung  einer  Masse  von  zusammen- 
gehörigen Einzelheiten.  2) 

Dies  ist  daher  die  größte,  alles  andere  voraussetzende  und  in  sich 
schließende  Leistung  der  geschichtlichen  Auffassungsgabe. 

§  160.  Die  Kirchengeschichte  im  weiteren  Sinn  (vgl.  §  90) 
soll  als  theologische  Disziplin  vorzüglich  dasjenige,  was  aus 
der  eigentümlichen  Kraft  des  Christentums  hervorgegangen 
ist,  von  dem,  was  teils  in  der  Beschaffenheit  der  in  Bewegung 
gesetzten  Organe,  teils  in  der  Einwirkung  fremder  Prinzipien 
seinen  Grund  hat,  unterscheiden,  und  beides  in  seinem  Hervor- 
treten und  Zurücktreten  zu  messen  suchen.^) 

1)  S.  52.  §  87.  Quellen  im  engeren  Sinne  für  einzelne  Tatsachen  sind  nur 
Monumente  und  Urkunden,  welche  selbst  Teüe  der  gesuchten  Begebenheit 
sind,  oder  unmittelbar  auf  dieselbe  zurückweisen.  Geschichtliche  Dar- 
stellungen, wenn  auch  von  Zeitgenossen,  sind  doch  nur  mittelbare  Quellen. 
^)  §  38.  Ein  gesamter  Zustand  kann  nur  nachgewiesen  werden  aus 
einer  großen  Masse  analoger  einzelner  Tatsachen. 
^)  S.  46.     §  10.    Die  Kirchengeschichte,  als  theologische  Disziplin,  soll  vor- 


62  Zweiter  Teil.  §  161—163. 

Nor  war  es  eine  sehr  verfehlte  Methode,  Tim  deswillen  die  Darstellung- 
selbst  zu  teilen  in  die  der  günstigen  und  der  ungünstigen  Ereignisse.. 

§  161.    Von   dem  ersten  Eintritt   des  Christentums  an^. 

also  aucli   schon  in   der  Zeit  des  Urchristentums,  kann  man 

verschiedene,  selbst  wieder  mannigfaltig  teilbare  Funktionen 

dieses  neuen  wirksamen  Prinzips  unterscheiden,  und  auch  in 

der  geschichtlichen  Darstellung  voneinander  sondern.^) 

Auch  dies  gilt  allgemein  von  allen  bedeutenden  geschichtlichen  Erschei- 
nungen, von  allen  religiösen  Gemeinschaften  nicht  nur,  sondern  auch 
von  den  bürgerlichen. 

§  162.    Keine  von   diesen  Funktionen   aber  ist  in  ihrer 

Entwicklung  ohne  ihre  Beziehung  auf  die  anderen  vollkommen 

zu  verstehen;  und  jeder  als  ein  relatives  Ganze  auszusondernde 

Zeitteil  wird  nur  durch  die  Gegenseitigkeit  ihrer  Einwirkungen 

aufeinander,  w^as  er  ist.^) 

Denn  die  lebendige  Kraft  ist  in  jedem  Momente  ganz  gesetzt,  und  kanu 
daher  nur  ergriffen  werden  in  der  gegenseitigen  Bedingtheit  aller  ver- 
schiedenen Funktionen. 

§  163.    Der  Gesamtverlauf  des  Christentums  kann   alsa 
nur  vollständig  aufgefaßt  werden  durch  die  vielseitige  Kom- 
bination beider  Verfahrungsarten,  indem  jede,  was  der  andern 
auf  einem  Punkte  gefehlt  hat,  auf  einem  andern  ergänzen  muß.^) 
Während  wir  nur  die  eine  Funktion  verfolgen,  bleibt  uns  die  Anschauung 


züglich  das,  was  fremden  Einwirkungen  zuzuschreiben,  von  dem,  was  rein 
aus  dem  Prinzip  selbst  hervorgegangen  ist,  unterscheiden, 
1)  S.  46.  §  8  [vgl.  auch  §  166  der  zweiten  Auflage].  Sobald  das  Christen- 
tum als  tätiges  Prinzip  in  die  Welt  eingetreten  ist,  kann  man  die  Bildung^ 
der  gemeinsamen  Lehre  und  die  Bildung  des  gemeinsamen  Lebens  als  zwei 
Funktionen  desselben  unterscheidifen. 

2)  §  9.  Wie  aber  die  Kirche  die  Gemeinschaft  der  Lehre  sowohl,, 
als  des  Lebens  ist:  so  ist  auch  keine  von  beiden  Funktionen  ohne  die-l 
andre  in  ihrer  Tätigkeit  zu  verstehen,  und  jeder  Moment  ist  nur  in  dei 
ungetrennten  Betrachtung  lebendig  und  richtig  aufzufassen. 
3)  S.  47.  §  13.  Die  Aufgabe,  den  geschichtlichen  Verlauf  des  Christentums 
zu  erkennen,  kann  nur  durch  die  vielseitigste  Kombination  beider  Ver- 
fahrungsarten vollständig  gelöset  werden,  indem  jede  ergänzen  mui3,  wa»| 
der  andern  fehlt. 


§  164—167.  Zweiter  Abschnitt.  63 

des  Gesamtlebens  aus  den  Augen  gerückt,  und  wir  müssen  uns  vorbe- 
halten, diese  nachzuholen.  Während  wir  die  gleichzeitigen  Züge  zu 
Einem  Bilde  zusammenschauen,  vermögen  wir  nicht  die  einzelnen  Ele- 
mente genau  zu  schätzen,  und  müssen  uns  vorbehalten,  sie  an  dem 
gleichartigen  Früheren  und  Späteren  zu  messen, 

§  164.  Je  mehr  man  die  verschiedenen  Funktionen  bei 
der  geschichtlichen  Betrachtung-  ins  Einzelne  und  Kleine  zer- 
spaltet, desto  öfter  muß  man  Punkte  zwischeneinschieben, 
welche  das  getrennt  Gewesene  wieder  vereinigen.  Je  größer 
die  parallelen  Massen  genommen  werden,  desto  länger  kann 
man  die  Betrachtung  der  einzelnen  ununterbrochen  fortsetzen.^) 

Die  Perioden  können  also  desto  größer  und  müssen  desto  kleiner  sein, 
je  größere  oder  kleinere  Funktionen  man  behandelt. 

§  165.    Die  wichtigsten  Epochenpunkte  indes  sind  immer 

solche,   die  nicht  nur  für  alle  Funktionen   des  Christentums 

den  gleichen  Wert  haben,  sondern  auch  für  die  geschichtliche 

Entwicklung  außer  der  Kirche  bedeutend  sind. 

Da  die  Erscheinung  des  Christentums  selbst  zugleich  ein  weltgeschicht- 
licher Wendepunkt  ist:  so  kommen  diesem  andere  auch  nur  in  dem 
Maße  nahe,  als  sie  ihm  hierin  gleichen. 

§  166.  Die  Bildung  der  Lehre,  oder  das  sich  zur  Klar- 
heit bringende  fromme  Selbstbewußtsein,  und  die  Gestaltung 
des  gemeinsamen  Lebens,  oder  der  sich  in  jedem  durch  alle 
und  in  allen  durch  jeden  befriedigende  Gemeinschaftstrieb 
sind  die  beiden  sich  am  leichtesten  sondernden  Funktionen  in 
der  Entwicklung  des  Christentums.") 

Dies  gibt  sich  dadurch  zu  erkennen,  daß  auf  der  einen  Seite  große  Ver- 
änderungen vor  sich  gehen,  während  auf  der  andern  alles  beim  Alten 
bleibt,  und  für  die  eine  Seite  ein  Zeitpunkt  bedeutend  ist  als  Ent- 
wicklungsknoten, der  für  die  andere  bedeutungslos  erscheint. 

§  167.    Die  Bildung   des  kirchlichen  Lebens  wird  vor- 


^)  S.  51.    §  35.    Je  mehr  man  die  geschichtlichen  Funktionen  so  vereinzelt 
betrachtet,  um  desto  öfter  muß  man  auf  Punkte  kommen,  wo  man  das  Ge- 
trennte wieder  vereinigen  muß;  je   mehr  man  sich  nur  an  die  größeren 
Glieder  hält,  um  desto  länger  kann  man  unaufgehalten  fortschreiten. 
2)  [Vgl.  S.  46  §  8  der  ersten  Auflage.l 


ß4  Zweiter  Teil.  §  167—169. 

züglich  mitbestimmt  (vgl.  §  160)   durch   die  politischen  Ver- 
hältnisse  und    den   gesamten   geselligen    Zustand;    die  Ent- 
wicklung der  Lehre  hingegen   durch   den   gesamten  wissen- 
schaftlichen Zustand,   und  vorzüglich  durch  die  herrschenden 
Philosopheme.^) 
Dieses  Mitbestimmtwerden  ist  natürlich  und  unvermeidlich,  bedingt  mit- 
hin  nicht    schon  an   und   für   sich   krankhafte  Zustände,    enthält  aber 
allerdings  den  Grund  ihrer  Möglichkeit.  —  Allgemeinere  epochemachende 
Punkte,    welche  von   einer   neuen   Entwicklung   der  Erkenntnis    aus- 
gehen, werden  sich  in  der  christlichen  Kirche  auch  am  meisten  in  der 
Geschichte  der  Lehre,  solche  hingegen,  welche  von  Entwicklungen  des 
bürgerlichen  Zustandes  ausgehen,  werden  sich  auch  am  meisten  in  dem 
kirchlichen  Leben  kundgeben. 

§  168.    Auf  der  Seite  des  kirchlichen  Lebens  sondern  sich 
wiederum   am  leichtesten  die  Entwicklung  des  Kultus,   d.  h. 
der   öffentlichen  Mitteilungsweise  religiöser  Lebensmomente, 
und   die  Entwicklung  der  Sitte,  d.  h.   des  gemeinsamen  Ge- 
präges, welches  der  Einfluß  des  christlichen  Prinzips  den  ver- 
schiedenen Gebieten  des  Handelns  aufdrückt.^) 
Der  Kultus  verhält  sich  zu  der  Sitte,  wie  das  beschränktere  Gebiet  der 
Kunst  im  engeren  Sinne  zu  dem  unbestimmteren  des  geselligen  Lebens 
überhaupt.^) 

§  169.  Die  Entwicklung  des  Kultus  wird  vorzüglich  mit- 
bestimmt durch  die  Beschaffenheit  der  dazu  geeigneten,  in 
der  Gesellschaft  vorhandenen  Darstellungsmittel,  und  durch 
deren  Verteilung  in  der  Gesellschaft.  Die  Fortbildung  der 
christlichen  Sitte  hingegen  durch  den  Entwicklungs-  und  Ver- 
teilungszustand der  geistigen  Kräfte  überhaupt.*) 


^)  S.  47.  §  12.  Die  Bildung  des  gemeinsamen  christlichen  Lebens  wird 
vorzüglich  affiziert  durch  die  politischen  Verhältnisse  und  durch  den  ge- 
selligen Zustand  überhaupt. 

§  11.    Die  Bildung  der  Lehre  wird  vorzüglich  affiziert  durch  die 
herrschenden  Philosopheme  und  den  wissenschaftlichen  Zustand  überhaupt. 

2)  §  14.     In   der  Bildung   des   gemeinsamen  Lebens   unterscheiden 
sich  wieder  die  Büdung  der  Sitte  und  die  Bildung  des  Kultus. 
')  S.  49.     §  21.    Der  Kultus  verhält  sich  zu  der  Sitte,  wie  das  beschränkte 
Gebiet  der  Kunst  zu  dem  größeren  des  geselligen  Lebens. 

*)  [Zu  §  169  b  vgl.  S.  48  §  18  der  ersten  Auflage.] 


§  170—172.  Zweiter  Abschnitt.  65 

Nämlich  was  das  erste  betrifft,  so  beruht  die  Mitteilung-  oder  der  Um- 
lauf religiöser  Erregungen,  welcher  nach  denselben  bewirkt  werden 
soll,  lediglich  auf  der  Darstellung.  Was  das  andere  betrifft,  so  ruhen 
in  diesem  Zustand  alle  Motive,  deren  sich  die  religiöse  Gesinnung 
bemächtigen  soll. 

§  170.  Beide  aber,  Sitte  und  Kultus,  sind  in  ihrer  Fort- 
Mdung  auch  so  sehr  aneinander  gebunden,  daß,  wenn  sie  in 
dem  Maß  von  Bewegung  oder  Buhe  zu  sehr  voneinander  ab- 
w^eichen,  entweder  der  Kultus  das  Ansehen  gewinnt,  in  leere 
■Gebräuche  oder  Aberglauben  ausgeartet  zu  sein,  während  das 
■christliche  Leben  sich  in  der  Sitte  bewährt,  oder  umgekehrt 
ruht  auf  der  herrschenden  Sitte  der  Schein,  daß  sie,  während 
die  christliche  Frömmigkeit  sich  durch  den  Kultus  erhält, 
mir  das  Ergebnis  fremder  Motive  darstelle.^) 

In  dieser  verschiedenen  Beurteilungsweise  bekundet  sich  ein  mit  jener 
Ungleichmäßigkeit  zusammenhängender  innerer  Gegensatz  unter  den 
Gliedern  der  Gemeinschaft. 

§  171.    Je   plötzlicher   auf   einem  von  beiden  Gebieten 

ibedeutende    Veränderungen    eintreten,    um    desto    mehreren 

^Reaktionen  sind  sie  ausgesetzt;  wogegen  nur  die  langsameren 

sich  als  gründlich  bewähren.^) 

Das  erste  versteht  sich  indes  nur  von  solchen  Veränderungen,  die  nicht 
zugleich  auch  mehrere  Gebiete  umfassen.  Dergleichen  werden  daher 
leicht  voreilig  als  epochemachende  Punkte  angesehen,  da  doch  oft 
wenig  Wirkungen  von  ihnen  zurückbleiben. 

§  172.  Langsame  Veränderungen  können  nicht  als  fort- 
laufende Keihe  aufgefaßt,  sondern  nur  an  einzeln  hervorzu- 


'  ^)  S.  47.     §  15.    Beides  ist  aber  auch  ineinander :  denn  jedes  kann  auf  das 
andere  zurückgeführt  werden. 

S.  48.  §  16.  Jedes,  wenn  es  sich  isoliert,  verliert  seinen  Charakter. 
Denn  der  Kultus  ohne  Sitte  erscheint  nur  als  Ceremonie  oder  Aberglauben, 
und  die  Sitte  ohne  Kultus  nur  als  ein  Kesultat  des  geselligen  Zustandes, 
nicht  des  religiösen  Prinzips. 

2)  S.  49.  §  22.  In  beiden  sind  nur  diejenigen  Veränderungen  gründlich, 
welche  langsam  vor  sich  gehen;  je  schneller,  desto  mehr  Scheinbares  ist 
darin. 

Schleierm..  Th.  St.  5 


66  Zwieiter  Teil.  §  172—174. 

hebenden  Punkten  zur  Anschauung  gebracht  werden,  welche 

die  Fortschritte  von  einer  Zeit  zur  andern  darstellen.^) 

Auch  diese  aber  dürfen  nicht  willkürlich  gewählt  werden,  sondern  sie 
müssen,  wenn  auch  nur  in  untergeordnetem  Sinn,  eine  Ähnlichkeit 
haben  mit  epochemachenden  Punkten, 

§  173.  Die  geschichtliche  Auffassung  ist  auf  diesem  Ge-^ 
biet  desto  vollkommener,  je  bestimmter  das  Verhältnis  des 
christlichen  Impulses  zu  der  sittlichen  und  künstlerischen 
Konstitution  der  Gesellschaft  vor  Augen  tritt,  und  je  über- 
zeugender, was  der  gesunden  Entwicklung  des  religiösen 
Prinzips  angehört,  von  dem  Schwächlichen  und  Krankhaften 
geschieden  wird,^) 
Denn  dadurch  wird  den  Ansprüchen  der  Kirchen leitung  an  eine  christ- 
liche Geschichtskunde  genügt. 

§  174.    Die   kirchliche   Verfassung   kann   zamal   in    der 
evangelischen  Kirche,   wo  es  ihr  an   aller  äußeren  Sanktion 
fehlt,   nur    als    dem   Gebiet   der  Sitte   angehörig  betrachtet 
werden. 
Dieser  Satz  liegt,   recht  Terstanden,   jenseit  aller  über   das  evangelische 
Kirchenrecht  noch   obwaltenden  Streitigkeiten,    und    spricht  nur  den 
wesentlichen  Unterschied   zwischen  bürgerlicher  und  kirchlicher  Ver- 
fassung aus. 


^)  S.  49.    §  23.    Die  langsamen  Veränderungen  sind  nicht  in  einer  ununter- 
brochen fortlaufenden  Reihe  aufzufassen,  sondern  nur  in  diskreten  Punkten, 
welche  die  Fortschritte  von  einer  Zeit  zur  andern  darstellen. 
2)  S.  48.    §  17   [=  §  174  der  zweiten  Auflage].     Da   die   kirchliche   Ver- 
fassung ohne  äußere  Sanktion  ist,  fällt  sie  ganz  unter  das  Gebiet  der  Sitten. 

§  18  [vgl.  §  169  b  der  zweiten  Auflage].  An  der  Sitte  zeigt  sich, 
wie  die  religiöse  Gesinnung  in  die  verschiedenen  Teile  des  Handelns  ein- 
tritt, und  wie  sie  sich  zu  den  übrigen  Motiven  verhält. 

§  19.  In  diesem  Zusammensein  des  religiösen  Prinzips  mit  den 
übrigen  Motiven  begreift  sich  allein  alles  das,  was  zwar  in  der  Kirche  ist, 
aber  nicht  aus  der  Kirche  hervorging,  und  ivovon  sie  sich  reinigen  soll. 

§  20  [zu  §§  19  u.  20  vgl.  §  173  der  zweiten  Auflage].  Ebenso 
auch  die  intensive  Verschiedenheit,  mit  der  das  religiöse  Prinzip  sich  der 
verschiedenen  Gebiete  des  Lebens  bemächtigt,  aus  der  Jedesmaligen  moralischen- 
Konstitution  des  Zeitalters  oder  der  Nation. 

[§  21  siehe  zu  §  168  Anm.  der  zweiten  Auflage.] 


§  175—178.  Zweiter  Abschnitt.  67 

§  175.    Diejenigen  gröi^eren  Entwicklungsknoten,  welche 

außer    der    Kirche    auch    das   bürgerliche   Leben    affizieren, 

werden  sich  in  der  Kirche  am  unmittelbarsten  und  stärksten 

in  der  Verfassung  offenbaren.^) 

Weil  doch  kein  anderer  Teil  der  christlichen  Sitte  so  sehr  (vgl.  §  lfi7) 
mit  den  politischen  Verhältnissen  zusammenhängt. 

§  176.     Die   kirchliche  Verfassung  ist   am   meisten  dazu 

geeignet,   daß   sich   an  ihre  Entwicklung  die  geschichtliche 

Darstellung  des  gesamten  christlichen  Lebens  anreihe.-) 

Denn  sie  hat  den  unmittelbarsten  Einfluß  auf  den  Kultus,  verdankt 
ihre  Haltung  dem  Gesamtzustand  der  Sitte,  und  ist  zugleich  der 
Ausdruck  von  dem  Verhältnis  der  religiösen  Gemeinschaft  zur  bürger- 
lichen. 

§  177.  Der  Lehrbegriif  entwickelt  sich  einerseits  durch 
die  fortgesetzt  auf  das  christliche  Selbstbewußtsein  in  seinen 
verschiedenen  Momenten  gerichtete  Betrachtung,  andrerseits 
durch  das  Bestreben,  den  Ausdruck  dafür  immer  überein- 
stimmender und  genauer  festzustellen.^) 

Beide  Richtungen  hemmen  sich  gegenseitig,  indem  die  eine  nach  außen 
geht,  die  andere  nach  innen.  Daher  charakterisieren  sich  verschiedene 
Zeiten  durch  das  tJbergewicht  der  «inen  oder  der  andern. 

§  178.  Die  Ordnung,  in  welcher  hiernach  die  ver- 
schiedenen Punkte  der  Lehre  hervortreten  und  die  Haupt- 
massen der  didaktischen  Sprache  sich  gestalten,  muß  im 
großen  wenigstens  begriffen  werden  können  aus  dem  eigen- 
tümlichen Wesen  des  Christentums.^) 


^)  S.  49.  §  25.  Da  die  größten  Revolutionen  in  der  Kirchengeschichte 
diejenigen  sind,  welche  nicht  die  Kirchengeschichte  allein  betreffen:  so 
werden  sich  auch  diese  am  stärksten  in  der  Verfassung  offenbaren. 

2)  §  24.  Die  Entwicklung  der  kirchlichen  Verfassung,  welche  ihren 
nächsten  Bezug  auf  den  Kultus  hat,  ihre  Haltung  durch  die  Sitte  bekommt, 
und  zugleich  das  Verhältnis  der  Kirche  zum  Staat  ausdrückt,  ist  allein 
geschickt,  den  fortlaufenden  Faden  zu  bilden,  an  den  sich  das  übrige 
anreiht. 

3)  [§  177  =  s.  50  §  28  der  ersten  Auflage;  siehe  unten.] 

^)  S.  50.     §  26.    Nur  wenn  man  die  Bildung  des  Lehrbegriffs  isoliert  be- 

5* 


68  Zweiter  Teil.  §  179—181. 

Denn  es  wäre  widernatürlich,  wenn  Vorstellungen,  die  diesem  am  näch- 
sten verwandt  sind,  sich  zuletzt  entwickeln  sollten. 

§  179.  Nur  in  einem  krankhaften  Zustande  der  Kirche 
können  einzelne  persönliche  oder  gar  außerkirchliche  Ver- 
hältnisse einen  bedeutenden  Einfluß  auf  den  Gang  und  die 
Ergebnisse  der  Beschäftigung  mit  dem  Lehrbegriff  ausüben.^) 

Wenn  dies  dennoch  nicht  selten  der  FaU  gewesen  ist:  so  haben  doch 
zumal  neuere  Geschichtschreiber  weit  mehr,  als  der  Wahrheit  gemäß 
ist,  auf  Kechnung  solcher  Verhältnisse  geschrieben. 

§  180.    Je  weniger  die  Entwicklung  des  Lehrbegriffs  frei 

bleiben  kann  von  Schwanken  und  Zwiespalt:   um  desto  mehr 

tritt   auch  das  Bestreben  hervor,  teils  die  Übereinstimmung 

eines   Ausdrucks    mit    den   Äußerungen   des   Urchristentums 

nachzuweisen,   teils  ihn   auf  anderweitig  zugestandene,  nicht 

aus  dem  christlichen  Glauben  erzeugte  Sätze,  die  dann  Philo- 

sopheme  sein  werden,  zurückzuführen.^) 

Beides  würde,  wiewohl  später  und  nicht  in  demselben  MaGe,  geschehen, 
wenn  auch  kein  Streit  obwaltet ;  denn  zu  jenem  treibt  schon  der  christ- 
liche Gemeingeist,  zu  dem  andern  das  Bedürfnis,  sich  von  der  Zusam- 
menstimmung  des  zur  Klarheit  gekommenen  frommen  Selbstbewußt- 
seins und  der  spekulativen  Produktion  zu  überzeugen, 

§  181.  Nur  in  einem  krankhaften  Zustande  kann  beides 
so  gegeneinander  treten,  daß  die  einen  nicht  wollen  über  die 
ur christlichen  Äußerungen  hinaus   die  Lehre  bestimmen,  die 


trachtet,  kann  man  sich  die  Aufgabe  stellen,  eine  innere,  mit  dem  Wesen 
des  Christentums  in  Bezug  stehende  Gesetzmäßigkeit  in  seiner  Entwicklung 
aufzufinden. 

^)  S.  50.  §  27.  Völlig  äußere  Lebensverhältnisse  können  nicht  den  wahren 
Grund  enthalten  zu  wichtigen  Entscheidungen  im  Gebiet  des  Lehrbegriffs. 
2)  §  28  [==  §  177  der  zweiten  Auflage].  Die  allmähliche  Bildung 
des  Lehrbegriffs  ist  auf  der  einen  Seite  die  fortschreitende  Betrachtung 
des  christlichen  Prinzips  nach  allen  Beziehungen,  auf  der  andern  das  Auf- 
suchen des  Ortes  für  die  Aussagen  des  christlichen  Gefühls  in  dem 
geltenden  philosophischen  System. 

§  29  [=  §  180  der  zweiten  Auflage].  Jenes  endet  in  der  De- 
duktion aus  dem  Kanon,  dieses  in  der  Übereinstimmung  mit  zugestandenen 
philosophischen  Sätzen. 


§  181—184.  Zweiter  Abschnitt.  69 

andern  philosophische  Sätze  in  die  christliche  Lehre  ein- 
führen, ohne  auch  nur  durch  Beziehung  auf  den  Kanon  nach- 
weisen zu  wollen,  daß  sie  auch  dem  christlichen  Bewußtsein 
angehören.^) 
Jene  wirken  hemmend  anf  die  Entwicklung  der  Lehre,  diese  trüben  und 
verfälschen  ebenso  das  Piinzip  derselben. 

§  182.    Die  Änderungen,  welche   das  Verhältnis  beider 
Richtungen  erleidet,   zu  kennen,  gehört  wesentlich  zum  Ver- 
ständnis der  Entwicklung  der  Lehre. 
Nur  zu  oft  erhält  man  durch  Verabsäumung  solcher  Momente  nur  eine 
Chronik  statt  der  Geschichte,  und  die   theologische  Abzweckung  der 
Disziplin  geht  ganz  verloren. 

§  183.    Eben  so  wichtig  ist,  Kenntnis  zu  nehmen  von 
dem  Verhältnis  in  den  Bewegungen  der  theoretischen  Lehren 
und  der  praktischen  Dogmen,   und,   wo  sie  weit  auseinander 
gehen,  ist  es  natürlich,  die  eigentliche  Dogmengeschichte  zu 
trennen  von  der  Geschichte  der  christlichen  Sittenlehre.-) 
Im  ganzen  ist  allerdings  die  eigentliche  Glaubenslehre  durch  vielfältigere 
und  heftigere  Bewegungen  gebildet  worden;    doch  darf  die  entgegen- 
gesetzte Richtung  um  so  weniger  übersehen  werden. 

§  184.    Bedenken  wir,  wieviel  Hilfskenntnisse  erfordert 


^)  S.  50.  §  30.  Da  das  Gleichgewicht  beider  Gesichtspunkte  fast  nirgends 
gegeben  ist:  so  ist  darauf  zu  achten,  wie  der  eine  über  den  andern  das 
Übergewicht  hat. 

S.  51.  §  31  [zu  §§  30  n.  31  vgl.  §  182  der  zweiten  Auflage].  Es  können 
teils  in  derselben  Zeit  verschiedene  Parteien  in  dieser  Hinsicht  einander 
gegenüberstehn,  teils  auch  verschiedene  Zeiten  durch  ein  Übergewicht  des 
einen*)  über  das  andere  sich  unterscheiden. 

§  32.  Das  Bestreben,  philosophische  Systeme  in  die  Theologie  ein- 
zuführen, pflegt  mit  der  Anwendung  einer  richtigen  Schriftauslegung  im 
Gegensatz  zu  stehen. 

^)  §  33.    Man    kann   in   der  Entwicklung   des  Lehrbegriffs   unter- 
scheiden die  Bildung  der  theoretischen  und  der  praktischen  Dogmen. 

§  34.  Es  unterscheiden  sich,  wiewohl  im  ganzen  die  praktische 
Seite  zurücksteht,  immer  Parteien  oder  Schulen,  welche  vorzüglich  das  eine 
oder  das  andere  betreiben, 

[§  35  siehe  zu  §  164,  §§  36-38  zu  §§  156—159  der  zweiten  Auflage.] 

*)  erg.  etwa:  Verfahrens. 


70  Zweiter  Teil.  §  184—186. 

werden,  um  diese  verschiedenen  Zweige  der  Kirchengescliichte 
zu  verfolgen:  so  ist  dieses  Gebiet  offenbar  ein  unendliches, 
und  postuliert  einen  großen  Unterschied  zwischen  dem,  was 
jeder  inne  haben  muß,  und  dem,  was  (vgl  §  92)  nur  durch 
die  Vereinigung  aller  Virtuosen  gegeben  ist. 

Zu  diesen  Hilfskenntnisseu  gehört,  wenn  alles  im  Zusammenhang-  ver- 
standen werden  soll,  die  gesamte  irgend  zeitverwandte  Gesehichtskunde, 
und,  wenn  alles  aus  den  Quellen  entnommen  werden  soll,  das  ganze 
betreffende  philologische  Studium  und  vornehmlich  die  diplomatische 
Kritik.^) 

§  185.    Im  allgemeinen  kann   nur  gesagt  werden,   daß 

aus    diesem    unendlichen    Umfang  jeder   Theologe    dasjenige 

inne  haben  muß,  was  mit  seinem  selbständigen  Anteil  an  der 

Kirchenleitung  zusammenhängt.^) 

Diese  dem  Anschein  nach  sehr  beschränkte  Formel  setzt  aber  voraus, 
daß  jeder  außer  seiner  bestimmten  lokalen  Tätigkeit  auch  einen  allge- 
meinen, wenn  gleich  in  seinen  Wirkungen  nicht  bestimmt  nachzu- 
weisenden Einfluß  auszuüben  strebt. 

§  186.  Wie  nun  der  jedesmalige  Zustand,  aus  welchem 
ein  neuer  Moment  entwickelt  werden  soll,  nur  aus  der  ge- 
samten Vergangenheit  zu  begreifen  ist,  zunächst  aber  doch 
der  letzten  epochemachenden  Begebenheit  angehört:  so  ist 
die  richtige  Anschauung  von  dieser,  durch  alle  früheren 
Hauptrevolutionen  nach  Maßgabe  ihres  Zusammenhanges  mit 
derselben  deutlich  gemacht,  das  erste  Haupterfordernis.^) 


*)  S.  52.  §  39.  Hilfswissenschaften,  um  aus  den  Quellen  zu  einer  ge- 
schichtlichen Anschauung  zu  gelangen,  sind  das  gesamte  philologische 
Studium,  diejenige  Kritik,  welche  über  die  Echtheit  der  Monumente  ent- 
scheidet, die  historische  Kritik  überhaupt,  und  endlich  die  sämtliche  übrige 
Geschichte. 

^)  S.  53.  §  40.  Was  aus  dem  unendlichen  Gebiet  der  Kirchengeschichte 
jeder  Theolog  inne  haben  muß,  das  läßt  sich  nur  aus  dem  theologischen 
Zweck  beurteilen. 

§  41.    Jeder  muß    also   die  Kirchengeschichte   inne  haben  nach 
Maßgabe  des  Interesses  des  gegenwärtigen  Augenblicks. 

^j  §  42.     Jeder  letzte  Augenblick,  an  den  sich  ein  künftiger  knüpfen 
soll,  ist  vorzüglich  gegründet  in  der  letzten  revolutionären  Begebenheit. 


§  187—189.  Zweiter  Abschnitt.  71 

Daß  hier  keine  besondere  Rücksicht  darauf  genommen  werden  kann,  ob 
der  gegenwärtige  Moment  schon  mehr  die  künftige  Epoche  vorbereitet, 
liegt  am  Tage;  denn  dies  selbst  muß  zunächst  aus  seinem  Verhältnis 
zur  letzten  beurteilt  Averden. 

§   187.     Damit    aber   dieses   nicht   eine  Reihe   einzelner 

Eilcler   ohne    Zusammenhang   bleibe,   müssen    sie   verbunden 

werden   durch   das   nicht  dürftig-  ausgefüllte  Netz  (vgl.  §  91) 

der  Hauptmomente  aus  jedem  kirchengeschichtlichen  Zweige 

in  jeder  Periode.^) 

Und  dieses  muß  als  Fundament  selbständiger  Tätigkeit  auch  ein 
womöglich  aus  verschiedenartigen  Darstellungen  Zusammenge- 
schautes  sein. 

§  188.  Zu  einer  lebendigen,  auch  als  Impuls  kräftigen, 
g-eschichtlichen  xlnschauung  gedeiht  aber  auch  dieses  nur, 
wenn  der  ganze  Verlauf  zugleich  (vgl.  §  150)  als  die  Dar- 
stellung des  christlichen  Geistes  in  seiner  Bewegung  auf- 
gefaßt, mithin  alles  auf  Ein  Inneres  bezogen  wird.-) 

Erst  unter  dieser  Form  kann  die  Kenntnis  des  Gesamtverlaufs  auf  die 
Kirohenleitung  einwirken. 

§  189.  Jede  lokale  Einwirkung  erfordert  eine  genauere 
und,  nach  Maßgabe  des  Zusammenhanges  mit  der  Gegenwart, 
der  Vollständigkeit  annähernde  Kenntnis  dieses  besonderen 
Gebietes.-^) 


Durch  diese  hat  sich  aber  noch  manches  aus  dem  vorigen  Zustande  der 
Euhe  hinübergeschlichen,  ja  sie  ist  selbst  in  diesen  gegründet  usf.,  sodaß 
die  Kenntnis  aller  Hauptrevolutionen  nach  Maßgabe  ihres  Zusammenhanges 
mit  dem  gegenwärtigen  Augenblick  das  erste  ist. 

^)  S.  53.  §  43.  Zwischen  je  zwei  Epochen  gibt  es  untergeordnete  Haupt- 
punkte, aus  denen  man  erkennen  kann,  wie  die  Kraft  von  jeder  ab-  oder 
zunimmt,  und  diese  sind  das  zweite  Unentbehrliche. 

■2)  S.  54.  §  44.  Der  gemeinsame  Geist  und  Charakter  eines  Zeitalters 
kann  nur  fixiert  werden  in  einem  großen  historischen  Bilde.  Wer  sich 
nicht  ein  solches  von  jedem  Zeitalter  entwerfen  kann,  der  lebt  nicht  in  der 
Geschichte. 

^)  §  47.  Es  ist  in  der  KirchengescMchte  schiverer,  als  anderwärts,  zu 
treuen  Darstellungen  der  Tatsachen  zu  gelangen.  An  geschichtlichen  Kunst- 
icerken  mangelt  es  noch  überall. 


72  Zweiter  Teil.  §  190—19?. 

Die  Regel  modifiziert  sich  von  selbst  nach  dem  Umfang  der  Lokalität^ 
indem  die  kleinste  einer  einzelnen  Gemeine  oft  in  dem  Fall  ist,  eine- 
besondere Geschichte  nicht  zu  haben,  sondern  nur  als  Teil  eines- 
größeren  Ganzen  gelten  zu  können. 

§   190.     Jeder  muß   auch   wenigstens  an  einem  kleinen 

Teil  der  Geschichte  sich  im  eigenen  Aufsuchen  und  Gebrauch 

der  Quellen  üben.^) 

Sei  es  nun,  daß  er  nur  beim  Studium  genau  und  beharrlich  auf  die 
Quellen  zurückgehe,  oder  daß  er  selbständig  aus  den  Quellen  zusam- 
mensetze. Sonst  möchte  einem  schwerlich  auch  nur  so  viel  historische 
Kritik  zu  Gebote  stehen,  als  zum  richtigen  Gebrauch  abweichender  Dar- 
stellungen erfordert  wird. 

§  191.  Eine  über  diesen  Maßstab  hinausgehende  Be- 
schäftigung mit  der  Kirchengeschichte  muß  neue  Leistungen 
beabsichtigen.^) 

Nichts  ist  unfruchtbarer,  als  eine  Anhäufung  von  geschichtlichem  Wissen^ 
welches  weder  praktischen  Beziehungen  dient,  noch  sich  anderen  in. 
der  Darstellung  hingibt. 

§  192.  Diese  können  sowohl  auf  Berichtigung  oder  Ver- 
vollständigung des  Materials,  als  auch  auf  größere  Wahrheit 
und  Lebendigkeit  der  Darstellung  gehen.^) 

Die  Mängel  in  allen  diesen  Beziehungen  sind  noch  unverkennbar  uni 
leicht  zu  erklären. 

§  193.    Das  kirchliche  Interesse  und  das  Wissenschaft- 


^)  S.  55.  §  49.  Da  das,  was  zum  allgemeinen  Bedarf  gehört,  zumeist  nur 
aus  abgeleiteten  Quellen  kann  geschöpft  werden,  und  die  Kritik  historischer 
Kompositionen,  welche  hiezu  gehört,  am  besten  durch  eigne  Übungen  dieser 
Art  gewonnen  wird:  so  sollte  jeder  wenigstens  irgend  einen  kleinen  Teil 
der  Kirchengeschichte  aus  den  Quellen  studieren,  und  so  viel  von  den 
Quellen  eiues  jeden  Zeitalters  gelesen  haben,  als  nötig  ist,  um  sich  das 
Totalbild  desselben  recht  zu  beleben. 

2)  S.  54.  §  45.  Was  hierüber  hinausgeht,  gehört  zu  demjenigen  Betrieb 
der  Kirchengeschichte,  welcher  auf  die  Vervollkommnung  und  Vollendung 
der  einzelnen  Teile  als  solcher  ausgeht. 

^)  §  46.  Wer  etwas  als  Virtuose  in  der  Kirchengeschichte  leisten 
will,  bezweckt  entweder,  Tatsachen  aus  den  Quellen  auszumitteln  und  zu 
berichtigen,  oder   einen  Zeitraum  richtiger  und  eigentümlich  darzustellen. 


§  193—195.  Dritter  Abschnitt.  73 

liehe  können  bei  der  Beschäftigung  mit  der  Kirchengeschichte 
nicht  in  Widerspruch  miteinander  geratend) 

Da  wir  uns  bescheiden,  für  andere  keine  Eegeln  zu  geben,  beschränken 
wir  den  Satz  auf  unsere  Kirche,  welcher,  als  einer  forschenden  und 
sich  selbst  fortbildenden  Gemeinschaft,  auch  die  vollkommenste  Un- 
parteilichkeit nicht  zum  Nachteil  gereichen,  sondern  nur  förderlich  sein 
kann.  Darum  darf  auch  das  lebhafteste  Interesse  der  evangelischen 
Theologen  an  seiner  Kirche  doch  weder  seiner  Forschung,  noch  seiner 
Darstellung  Eintrag  tun.  Und  ebensowenig  ist  zu  fürchten,  daß  die 
Resultate  der  Forschung  das  kirchliche  Interesse  schwächen  werden; 
sie  können  ihm  im  schlimmsten  Fall  nur  den  Impuls  geben,  zur  Be- 
seitigung der  erkannten  UnvoUkommenheiten  mitzuwirken. 

§  194.  Die  kirchengeschichtlichen  Arbeiten  eines  jeden 
müssen  teils  aus  seiner  Neigung  hervorgehen,  teils  durch  die 
Gelegenheiten  bestimmt  werden,  die  sich  ihm  darbieten.-) 

Ein  lebhaftes   theologisches  Interesse  wird  immer  die   erste  den  letzten 
;       zuzuwenden,  oder  für  erstere  auch  die  letztere  herbeizuschaffen  wissen. 


Dritter  Abschnitt. 

Die  geschichtliche  Kenntnis  von  dem  gegenwärtigen 
Zustande  des  Christentums. 

§  195.  Wir  haben  es  hier  zu  tun  (vgl.  §  94—97)  mit 
der  dogmatischen  Theologie,  als  der  Kenntnis  der  jetzt  in 
der  evangelischen  Kirche  geltenden  Lehre,  und  mit  der  kirch- 

^)  S.  55.  §  50.  Das  religiöse  Interesse  und  das  wissenschaftliche  können 
einander  beim  Studium  der  Kirchengeschichte  nie  in  den  Weg  treten. 

§  51.    Wenn  die  Liebe,   mit  welcher  ein  Betrachtender  in  einer 

Kirchenpartei  steht,  rechter  Art  ist,  kann  sie  nie  blenden  oder  verfälschen. 

S.  56.    §  52.    Die  strenge  Unparteilichkeit,  welche  der  wissenschaftliche 

Geist  fodert,   ist  weder   Indifferentismus,  noch  kann   sie  je   einer  Kirche 

oder  Partei  zum  Schaden  gereichen. 

2)  S.  55.  §  48.  Die  auf  die  Bereicherung  der  Wissenschaft  Bezug  habenden 
Arbeiten  eines  jeden  müssen  ein  gemeinsames  Produkt  seiner  Neigung  und 
der  Gelegenheiten  sein,  die  sich  im  darbieten. 


74  Zweiter  Teil.  §  195—196. 

liehen  Statistik,  als   der  Kenntnis   des  gesellscliaftliclien  Zu- 
s  tan  des  in  allen  verschiedenen  Teilen  der  christlichen  Kirche.^) 

Der  hier  der  dogmatischen  Theologie  angewiesene  Ort,  welche  sonst  auch 
unter  dem  Namen  der  systematischen  Theologie  eine  ganz  andere 
Stelle  einnimmt,  muß  sich  selbst  vermittelst  der  weiteren  Ausführung 
rechtfertigen.  Hier  ist  nur  nachzuweisen,  daß  die  beiden  genannten 
Disziplinen  die  Überschrift  in  ihrem  ganzen  Umfang  erschöpfen.  Dies 
erhellt  daraus,  daß  es  eigentlich  in  der  Kirche,  wie  sie  ganz  Gemein- 
schaft ist,  nichts  zu  erkennen  gibt,  was  nicht  ein  Teil  ihres  gesell- 
schaftlichen Zustandes  wäre.  Die  Lehre  ist  nur  aus  diesem,  weil  ihre 
Darstellung  einer  eigentümlichen  Behandlung  fähig  und  bedürftig  ist, 
herausgenommen.  Dies  konnte  allerdings  mit  anderen  Teilen  des 
gesellschaftlichen  Zustandes  auch  geschehen;  solche  sind  aber  noch 
nicht  als  theologische  Disziplinen  besonders  bearbeitet.  Kann  aber  in 
Zeiten,  wo  die  Kirche  geteilt  ist,  (nach  §  98)  nur  jede  einzelne  Kirchen- 
gemeinschaft ihre  eigene  Lehre  dogmatisch  bearbeiten:  so  fragt  sich, 
wie  kommt  der  evangelische  Theologe  zur  Kenntnis  der  in  andern 
christlichen  Kirchengemeinschaften  geltenden  Lehre,  und  welchen  Ort 
kann  unsere  Darstellung  dazu  anweisen?  Am  unmittelbarsten  durch 
die  dogmatischen  Darstellungen,  welche  sie  selbst  davon  geben,  die 
aber  für  ihn  nur  geschichtliche  Berichte  werden.  Der  Ort  aber  in 
unserer  Darstellung  ist  die  bis  auf  den  gegenwärtigen  Moment  verfolgte 
Geschichte  der  christlichen  Lehre,  für  welche  jene  Darstellungen  die 
echten  Quellen  sind.  Aber  auch  die  Statistik  kann  bei  jeder  Gemein- 
schaft einen  besonderen  Ort  haben  für  die  Lehre  derselben. 

I.  Die  dogmatische  Theologie. 

§    196.     Eine    dogmatische   Behandlung    der   Lehre   ist 
weder  möglich  ohne  eigne  Überzeugung,  noch  ist  notwendig, 


1)  S.  56.  §  1  [=  §  198  a  der  zweiten  Auflage].  Die  zusammenfassende 
Darstellung  des  letzten  Moments  in  der  geschichtlichen  Kirche  kann  nur 
zeigen  wollen,  in  welchem  Verhältnis  bis  dahin  das  Prinzip  der  laufenden 
Periode  sich  nach  allen  Seiten  hin  entwickelt  hat. 

§  2.  Eben  dieses  Zweckes  wegen  darf  auch  hier  die  Trennung 
in  Verfassung  und  Lehrbegriff  (IL  Einl.  20)  stattfinden;  nur  muß  die  Be- 
ziehung beider  auf  einander  nicht  vernachlässigt  werden. 

§  3.  Diejenige  theologische  Disziplin,  welche  unter  dem  Namen 
der  thetischen  oder  dogmatischen  Theologie  bekannt  ist,  hat  es  eben  zu 
tun  mit  der  zusammenhangenden  Darstellung  des  in  der  Kirche  jetzt  grade 
geltenden  Lehrbegriffs. 


§  196—198.  Dritter  Abschnitt.  75 

daß   alle,   die  sich  auf  dieselbe  Periode  derselben  Kirchen- 
gemeinschaft  beziehen,  unter  sich  übereinstimmen. 

Beides  könnte  man  daraus  schließen  wollen,  daß  sie  es  nur  (vgl.  §§  97 
und  98)  mit  der  zur  gegebenen  Zeit  geltenden  Lehre  zu  tun  habe. 
Allein  wer  von  dieser  nicht  überzeugt  ist,  kann  zwar  über  dieselbe, 
und  auch  über  die  Art,  wie  der  Zusammenhang-  darin  gedacht  wird, 
Bericht  erstatten,  aber  nicht  diesen  Zusammenhang  durch  seine  Auf- 
stellung bewähren.  Nur  dieses  letzte  aber  macht  die  Behandlung  zu 
einer  dogmatischen;  jenes  ist  nur  eine  geschichtliche,  wie  einer  und 
derselbe  sie  bei  gehöriger  Kenntnis  auf  die  gleiche  Weise  von  aUen 
Systemen  geben  kann.  —  Die  gänzliche  Übereinstimmung  aber  ist  in 
der  evangelischen  Kirche  deshalb  nicht  notwendig,  weil  auch  zu  der- 
selben Zeit  bei  uns  Verschiedenes  nebeneinander  gilt.  Alles  nämlich 
ist  als  geltend  anzusehen,  was  amtlich  behauptet  und  vernommen 
wird,  ohne  amtlichen  Widerspruch  zu  erregen.  Die  Grenzen  dieser 
Differenz  sind  daher  allerdings  nach  Zeit  und  Umständen  weiter  und 
enger  gesteckt. 

§  197.  Weder  eine  bewährende  Aufstellung-  eines  In- 
"begriffs  von  überwiegend  abweichenden  und  nur  die  Über- 
zeugung des  einzelnen  ausdrückenden  Sätzen  würden  wdr  eine 
Dogmatik  nennen,  noch  auch  eine  solche,  die  in  einer  Zeit 
auseinandergehender  Ansichten  nur  dasjenige  aufnehmen  wollte, 
worüber  gar  kein  Streit  obwaltet.^) 

Das  erste  wird  niemand  in  Abrede  stellen.  Aber  auch  die  von  da  aus- 
gehende Streitfrage,  ob  Lehrbücher  wirklich  für  dogmatische  gelten 
können,  welche  über  die  geltende  Lehre  nur  geschichthch  berichten, 
bewährend  aber  nur  Sätze  aufstellen,  gegen  welche  amtlicher  Einspruch 
erhoben  werden  könnte,  gereicht  noch  unserm  Begriff  zur  Bestätigung. 
—  Eine  lediglich  irenische  Zusammenstellung  wird  großenteils  so  dürftig 
und  unbestimmt  ausfallen,  daß  es  nicht  nur,  um  eine  Bewährung  her- 
vorzubringen, überall  an  den  Mittelgliedern  fehlen  wird,  sondern  auch 
an  der  nötigen  Schärfe  der  Begriffsbestimmung,  um  der  Darstellung 
Vertrauen  zu  verschafien. 

§  198.  Die  dogmatische  Theologie  hat  für  die  Leitung 
der  Kirche  zunächst  den  Nutzen,  zu  zeigen,  wie  mannigfaltig 


^)  S.  57.  §  4.  Weder  eine  zusammenhangende  Darstellung  einer  ab- 
weichenden, bloß  subjektiven  Überzeugung,  noch  die  Aufstellung  einer  so- 
genannten biblischen  Theologie,  noch  die  geflissentliche  friedliebende  Be- 
seitigung alles  Streitigen  entspricht  jenem  Begriff. 


76  Zweiter  Teil.  §  198—200. 

und  bis  auf  welchen  Punkt  das  Prinzip  der  laufenden  Periode 
sich  nach  allen  Seiten  entwickelt  hat.  und  Avie  sich  dazu  die 
der  Zukunft  anheimfallenden  Keime  verbesserter  Gestaltungen 
verhalten.  Zugleich  gibt  sie  der  Ausübung  die  Norm  für 
den  volksmäßigen  Ausdruck,  um  die  Rückkehr  alter  Ver- 
wirrungen zu  verhüten  und  neuen  zuvorzukommen.^) 

Dieses  Interesse  der  Ausübung  fällt  lediglich  in  die  erhaltende  Funktion 
der  Kirehenleitung,  und  ursprünglich  hievon  ist  die  allmähliche  Bildung 
der  Dogmatik  ausgegangen.  Die  Teilung  des  ersten  erklärt  sich  aus- 
dem,  was  über  den  Gehalt  eines  jeden  Momentes  im  allgemeinen  (vgl. 
§  91)  gesagt  ist. 

§   199.     In  jedem  für  sich  darstellbaren  Moment  (vgL 

§  93)  tritt  das,  was  in  der  Lehre  aus  der  letztvorangegangenen 

Epoche  herrührt,  als  das  am  meisten  kirchlich  Bestimmte  auf^ 

dasjenige  aber,  wodurch  mehr  der  folgenden  Bahn  gemacht 

wird,  als  von  einzelnen  ausgehend.'-^) 

Das  erste  nicht  nur  mehr  kirchlich  bestimmt,  als  das  letzte,  sondern  auch 
mehr,  als  das  aus  früheren  Perioden  mit  Herübergenommene;  das 
letztere  um  so  mehr  nur  auf  einzelne  zurückzuführen,  je  weniger  noch 
eine  neue  Gestaltung  sich  bestimmt  ahnden  läßt. 

§  200.  Alle  Lehrpunkte,  welche  durch  das  die  Periode 
dominierende  Prinzip  entwickelt  sind,  müssen  unter  sich  zu- 
sammenstimmen ;  wogegen  alle  andern,  solange  man  von  ihnen 
nur  sagen  kann,  daß  sie  diesen  Ausgangspunkt  nicht  haben, 
als  unzusammenhangende  Vielheit  erscheinen.^) 

Das  dominierende  Prinzip  kann  aber  selbst  verschieden  aufgefaßt  sein,  und 
daraus  entstehen  mehrere  in  sich  zusammenhangende,  aber  voneinander 
verschiedene  dogmatische  Darstellungen,  welche,  und  vielleicht  nicht  mit 


1)  [Zu  §  198  a  vgl.  S.  56  §  1  der  ersten  Auflage.] 
2)  S.  57.     §  5.     Da  jeder  für  sich  de.rstellbare  Moment  (II.  Einl.  30)  zwischen 
zwei  Epochen  liegt,  so  ist  in  demselben  auch  in  Bezug  auf  den  Lehrbegriff 
teils  das  durch  die  erstere  Gesetzte  in  der  Kirche  vorhanden,  teils  das  die 
letzte  Vorbereitende. 

§  6.    Das  erste  aber  tritt  auf  überwiegend   als  das  kirchlich  Be- 
stimmte, das  letztere  überwiegend  als  das  von  einzelnen  Ausgehende. 

^)  §  7.    Vergleichungsweise  erscheint  das  erstere  überall  als   sich 
selbst  gleich,  als  Einheit,  das  zweite  als  unter  sich  verschieden,  als  Vielheit. 


§  201—203.  Dritter  Abschnitt.  77 

Unrecht,  auf  gleiche  Kirchlichkeit  Anspruch  machen.  —  AVeun  die 
heterogenen  vereinzelten  Elemente  zusammengehen,  geben  sie  sich  ent- 
weder als  eine  neue  Auffassung  des  schon  dominierenden  Prinzips  zu 
erkennen,  oder  sie  verkündigen  die  Entwicklung  eines  neuen.  ^) 

§  201.  Wie  zur  vollständigen  Kenntnis  des  Zustandes 
der  Lehre  nicht  nur  dasjenige  gehört,  was  in  die  weitere 
Fortbildung  wesentlich  verflochten  ist,  sondern  auch  das,  was, 
wenn  es  auch  als  persönliche  Ansicht  nicht  unbedeutend  war, 
doch  als  solche  wieder  verschwindet:  so  muß  auch  eine 
umfassende  dogmatische  Behandlung  alles  in  ihrer  Kirchen- 
gemeinschaft  gleichzeitig  Vorhandene  verhältnismäßig  berück- 
sichtigen.-) 

Der  Ort  hiezu  muß  sich  immer  finden,  wenn  in  dem  Bestreben,  den  auf- 
gestellten Zusammenhang  zu  bewähren,  Vergleichungen  und  Parallelen 
nicht  versäumt  werden. 

§  202.  Eine  dogmatische  Darstellung  ist  desto  voll- 
kommener, je  mehr  sie  neben  dem  Assertorischen  auch  divina- 
torisch  ist.^) 

In  jenem  zeigt  sich  die  Sicherheit  der  eigenen  Ansicht;  in  diesem  die 
Klarheit  in  der  Auffassung  des  Gesamtzustandes. 

§  203.  Jedes  Element  der  Lehre,  welches  in  dem  Sinne 
konstruiert  ist,  das  bereits  allgemein  Anerkannte  zusamt  den 
natürlichen  Folgerungen  daraus  festzuhalten,  ist  orthodox; 
jedes  in  der  Tendenz  Konstruierte,  den  Lehrbegriff  beweglich 


1)  [§§  8  u.  9  siehe  zu  §  208  der  zweiten  Auflage.] 
^)  S.  59.  §  17.  Zur  vollständigen  Kenntnis  des  gegenwärtigen  Augefti- 
l)licks  gehört  nicht  nur  dasjenige,  was  in  die  Zukunft  hinübergenommen 
wird  und  wesentlich  in  die  weitere  Fortbildung  verflochten  ist,  sondern 
auch  dasjenige,  was  ebenso  erzeugt,  als  rein  persönliche  Ansicht  wieder 
verschwindet. 

§  18.  Da  die  Darstellung  des  Lehrbegriffs  auch  die  Eichtung, 
welche  das  Ganze  als  ein  Bewegliches  nimmt,  bezeichnen  soll,  so  muß  sie 
alles  gleichzeitig  Vorhandene  verhältnismäßig  berücksichtigen. 

3)  §  19.  Keine  Darstellung  des  Lehrbegriffs  kann  treu  sein,  die 
nicht  zugleich  divinatorisch  ist.  Das  Divinatorische  ist  desto  reichhaltiger, 
je  weiter,  und  desto  schwieriger,  je  näher  der  zu  beschreibende  Augenblick 
dem  Kulminationspunkte  einer  Periode  liegt. 


78  Zweiter  Teil.  §  203—206, 

ZU  erhalten  und  anderen  Auffassungsweisen  Eaum  zu  machen, 
ist  heterodox.^) 

Es  scheint  zu  eng,  wenn  man  diese  Ausdrücke  ausschließlich  auf  das 
Verhältnis  der  Lehrmeinungen  zu  einer  aiifgestellteu  Norm  beziehen 
will ;  derselbe  Gegensatz  kann  auch  stattfinden,  wo  es  eine  solche  nicht 
gibt.  Nach  obiger  Erklärung  kann  vielmehr  aus  der  orthodoxen  Eich- 
tung  erst  das  Symbol  hervorgehen,  und  so  ist  es  oft  genug  geschehen^ 
Was  aber  fremd  scheinen  kann  an  dieser  Erklärung,  ist,  daß  sie  gar 
nicht  auf  den  Inhalt  der  Sätze  an  und  für  sich  zurückgeht;  und  doch 
rechtfertigt  sich  auch  dieses  leicht  bei  näherer  Betrachtung. 

§  204.    Beide   sind,   wie  für  den   geschichtlichen   Gang 

des  Christentums  überhaupt,   so  auch  für  jeden  bedeutenden 

Moment  als  solchen,  gleich  wichtig.^) 

Wie  es  bei  aller  Gleichförmigkeit  doch  keine  wahre  Einheit  gäbe  ohne 
die  ersten:  so  bei  aller  Verschiedenheit  doch  keine  bewußte  freie  Be- 
weglichkeit ohne  die  letzten. 

§  205.    Es  ist  falsche  Orthodoxie,  auch  dasjenige  in  der 

dogmatischen  Behandlung   noch  festhalten  zu  wollen,  was  in 

der  öffentlichen  kirchlichen  Mitteilung  schon  ganz  antiquiert 

ist,  und  auch  durch  den  wissenschaftlichen  Ausdruck  keinen 

stimmten  Einfluß  auf  andere  Lehrstücke  ausübt.^) 

Eine  solche  Bestimmung  muß  offenbar  wieder  beweglich  gemacht,  und 
die  Frage  auf  den  Punkt  zurückgeführt  werden,   wo  sie  vorher  stand. 

§  206.  Es  ist  falsche  Heterodoxie,  auch  solche  Formeln 
in  der  dogmatischen  Behandlung  anzufeinden,  welche  in  der 
kirchlichen    Mitteilung    ihren    wohlbegründeten    Stützpunkt 


^)  S.  58.  §  10.  Jedes  Element  des  Lehrbegriffs,  welches  in  dem  Sinn  kon- 
struiert ist,  das  bereits  Bestehende  und  Fixierte  zusamt  seinen  natürlichen. 
Folgerungen  festzuhalten,  ist  orthodox. 

§  11.  Jedes  Element,  welches  in  dem  Sinne  konstruiert  ist,  den 
Lehrbegriff  beweglich  zu  erhalten  und  neue  Darstellungen  von  dem  Wesen, 
des  Christentums  zu  eröffnen,  ist  heterodox. 

2)  §  12.    Beide  sind  für  den  geschichtlichen  Gang  des  Christentums 
und  für  jeden  Moment,  der  darin  Bedeutung  haben  soll,  gleich  wichtig. 
3)  S.  59.     §  13.     Auch  dasjenige  festhalten  wollen  im  Lehrbegriff,  was  be- 
reits antiquiert   ist,   und   so    die   Fortschreitung  hemmen,   ist  die  falsche 
Orthodoxie. 


§  206—208.  Dritter  Abschnitt.  79 

haben,  und  deren  wissenschaftlicher  Ausdruck  auch  ihr  Ver- 
hältnis zu  andern  christlichen  Lehrstücken  nicht  verwirrt.^) 

Hierdurch  wird  also  die  knechtische  Bequemlichkeit  keinesweges  gerecht- 
fertigt, welche  alles,  woran  sich  viele  erbauen,  stehen  lassen  will, 
wenn  es  sich  auch  mit  den  Grundlehren  unseres  Glaubens  nicht 
verträgt. 

§  207.  Eine  dogmatische  Darstellung  für  die  evangelische 
Kirche  wird  beiderlei  Abweichungen  vermeiden,  und  ungeachtet 
der  von  uns  in  Anspruch  genommenen  Beweglichkeit  des  Buch- 
staben doch  können  in  allen  Hauptlehrstücken  orthodox  sein ; 
aber  auch,  ungeachtet  sie  sich  nur  an  das  Geltende  hält, 
doch  an  einzelnen  Orten  auch  Heterodoxes  in  Gang  bringen 
müssen.^) 

Das  hier  Aufgestellte  wird,  wenn  diese  Disziplin  sich  von  ihrem  Begriff 
aus  gleichmäßig  entwickelt,  immer  das  natürliche  Verhältnis  beider 
Elemente  sein,  und  sich  nur  ändern  müssen,  wenn  lange  Zeit  eines 
von  beiden  Extremen  geherrscht  hat. 

§  208.  Jeder  auf  einseitige  "Weise  neuernde  oder  das 
Alte  verherrlichende  Dogmatiker  ist  nur  ein  unvollkommenes 
Organ  der  Kirche,  und  wird  von  einem  falsch  heterodoxen 
Standpunkt  aus  auch  die  Sachgemäßeste  Orthodoxie  für  falsche 
erklären,  und  von  einem  falsch  orthodoxen  aus  auch  die  leiseste 
und  unvermeidlichste  Heterodoxie  als  zerstörende  Neuerung 
bekriegen.^) 


')  S.  59.  §  14.  Alles  beweglich  machen  wollen,  ohne  selbst  das  Wesent- 
liche des  Christentums  und  seiner  laufenden  Periode  zu  schonen,  zerstört 
die  Einheit  der  geschichtlichen  Erscheinung  und  ist  die  falsche  Heterodoxie. 

§  15  [vgl.  §  208  b  der  zweiten  Auflage].  Jeder  in  einer  Eela- 
tivität  Befangene  steht  in  Gefahr,  was  zum  Wahren  und  Falschen  der  ent- 
gegengesetzten gehört,  zu  verwechseln. 

^)  §  16.  Jede  treue  und  den  Zustand  der  Kirche  wirklich  um- 
fassende Darstellung  des  Lehrbegriffs  muß  in  ihrem  Fundament  und  Haupt- 
gebäude orthodox  sein,  eben  so  notwendig  aber  auch  in  einzelnen  Teilen 
einzelnes  Heterodoxe  enthalten. 

[§§  17—19  siehe  zu  §§  201  f.  der  zweiten  Auflage.] 
^)  S.  58.    §  8.    Je  mehr  noch  das  Prinzip  der  frühern  Epoche  im  Entwickeln 


80  Zweiter  Teü.  §  209—210. 

Diese  Schwaukungen  sind  es  vornelimlicli,  welche  bis  jetzt  fast  immer 
verhinderten,  daß  die  dogmatische  Theologie  der  evangelischen  Kirche 
sich  nicht  in  einer  ruhigen  Fortschreitung  entwickeln  konnte. 

§  209.  Jeder  in  die  dogmatische  Zusammenstellung  auf- 
genommene Lehrsatz  muß  die  Art,  wie  er  bestimmt  ist,  be- 
währen, teils  durch  unmittelbare  oder  mittelbare  Zurück- 
führung  seines  Geh  altes  auf  den  neutestamentischen  Kanon, 
teils  dui'ch  die  Zusammenstimmung  des  wissenschaftlichen 
Ausdrucks  mit  der  Fassung  verwandter  Sätze. ^) 

Alle  Sätze  aber,  auf  welche  in  diesem  Sinn  zurückgegangen  wird,  unter- 
liegen derselben  Regel ;  sodaß  es  hier  keine  andere  Unterordnung  gibt, 
als  daß  diejenigen  Sätze  am  wenigsten  beider  Operationen  bedürfen,  für 
welche  der  volksmäßige,  der  schriftmäßige  und  der  wissenschaftliche  Aus- 
druck am  meisten  identisch  sind,  sodaß  jeder  Glaubensgenosse  sie  gleich  an 
der  Gewißheit  seines  unmittelbaren  frommen  Selbstbewußtseins  bewährt. 
—  Diese  Unterscheidung  wird  wohl  zurückbleiben  von  der,  wie  sie  ge- 
wöhnlich gefaßt  wurde,  schon  als  antiquiert  zu  betrachtenden,  von 
Fundamentartikeln  und  anderen. 

§  210.  Wenn  sich  die  Behandlung  des  Kanon  bedeutend 
ändert,  muß  sich  auch  die  Art  der  Bewährung  einzelner 
Lehrsätze  ändern,  ungeachtet  ihr  Inhalt  unverändert  derselbe 
bleibt.-^) 

Das  orthodoxe  dogmatische  Interesse  darf  niemals  den  exegetischen  Unter- 
suchungen in  den  Weg  treten  oder  sie  beherrschen;  aber  das  Weg- 
fallen einzelner  sogenannter  Beweisstellen  ist  auch  an  und  für  sich  kein 
Zeugnis  gegen  die  Richtigkeit  eines   geltenden  Lehrsatzes.    Wogegen 


begriffen  ist,  um  desto  weniger  können  sich  die  Elemente  bemerklich 
machen,  welche  die  folgende  vorbereiten, 

S.  58.  §  9.  Jeder  ganz  oder  partiell  den  Lehrbegriff  Aussprechende,  der 
sich  in  der  Relativität  für  eines  von  beiden  befindet,  ist  nur  ein  unvoll- 
kommenes Organ  der  Kirche. 

^)  S.  60.  §  20.  Jedes  in  der  Darstellung  aufgenommene  Element  muß 
die  Art,  wie  es  bestimmt  ist,  bewähren,  am  Kanon  sowohl,  als  an  der 
Spekulation. 

[§§  21—24  siehe  zu  §§  211  f.  der  zweiten  Auflage.] 
2)  S.  61.    §  25.     Wenn  die  Behandlung  des  Kanon  sich  ändert,   muß  sich 
auch  die  Art  der  Bewährung  einzelner  Teile  des  Lehrbegriffs  ändern,  ohne 
jedoch,  daß  sie  selbst  sich  änderten. 


§  211—213.  Dritter  Abschnitt.  81 

fort  geltende  kanonisclie  Bewährung  einem  Lehrsatz  Sicherheit  gewähren 
muß  gegen  die  heterodoxe  Tendenz. 

§  211.  Für  Sätze,  welche  den  eig-entümlichen  Charakter 
der  gegenwärtigen  Periode  bestimmt  aussprechen,  kann  das 
Zurückführen  auf  das  Symbol  die  Stelle  der  kanonischen  Be- 
währung vertreten,  wenn  wir  ans  die  damals  geltende  Aus- 
legung noch  aneignen  können.^) 

In  diesen  Fällen  wird  es  auch  ratsam  sein,  die  Übereinstimmung  mit 
dem  Symbol  hervorzuheben,  um  diese  Sätze  bestimmter  von  anderen 
(vgl.  §§  199,  200,  203)  zu  unterscheiden.  Dasselbe  gilt  aber  keines- 
weges  für  Sätze,  welche  aus  früheren  Perioden  durch  reine  Wieder- 
holung in  das  Symbol  der  laufenden  herübergenommen  sind. 

§  212.  Da  der  eigentümliche  Charakter  der  evangelischen 
Kirchenlehre  unzertrennlich  ist  von  dem  durch  den  Ausgang 
der  Reformation  erst  fixierten  Gegensatz  zwischen  der  evan- 
gelischen und  römischen  Kirche:  so  ist  auch  jeder  auf  unsere 
Symbole  zurückzuführende  Satz  nur  insofern  vollständig  be- 
arbeitet, als  er  den  Gegensatz  gegen  die  korrespondierenden 
Sätze  der  römischen  Kirche  in  sich  trägt.-) 

Denn  weder  ein  Satz,  in  Beziehung  auf  welchen  der  Gegensatz  unserer- 
seits schon  wieder  aufgehoben  wäre,  noch  einer,  dem  dieser  Gegensatz 
fremd  wäre,  könnte  hinreichende  Bewährung  in  der  Beziehung  auf  das 
Symbol  finden. 

§  213.  Der  streng  didaktische  Ausdruck,  welcher  durch 
die  Zusammengehörigkeit  der  einzelnen  Formeln  dem  dogma- 
tischen Verfahren  seine   wissenschaftliche  Haltung  gibt,  ist 


^)  S.  60.  §  21.  Was  in  Bezug  auf  das  Ganze  und  den  ersten  Anfang  der 
Kanon  ist,  das  ist  in  Bezug  auf  die  laufende  Periode  und  ihren  Anfang 
-das  Symbol. 

§  22.    Die  Bewährung  der  orthodoxen  Elemente  des  Lehrbegriffs 
-am  Kanon  ist  vermittelt  durch  die  am  Symbol. 

^)  S.  61.  §  23.  Die  letzte  Epoche  in  der  Geschichte  des  Christentums  ist 
die  Keformation,  durch  welche  sich  der  Gegensatz  zwischen  Protestanten 
und  Katholiken  festgestellt  hat. 

§  24.    Die  Beziehung  beider  Parteien  auf  einander  muß  bei  der 
Darstellung  überall  ins  Auge  gefaßt  werden. 

Schleiemi..  Th.  St.  6 


82  Zweiter  Teil.  §  213—216. 

abhängig"  von  dem  jedesmaligen  Zustand  der  philosophischen 

Disziplinen.^) 

Teils  wegen  des  logischen  Verhältnisses  der  Formeln  zu  einander,  teils 
weil  viele  Begriffsbestimmungen  auf  psychologische  und  ethische  Ele- 
mente zurückgehen. 

§  214.  Das  dialektisciie  Element  des  Lehrbegriffs  kann 
sich  an  jedes  philosophische  Sj'stem  anschließen,  welches  nicht 
das  religiöse  Element,  entweder  überhaupt,  oder  in  der  be- 
sonderen Form,  welcher  das  Christentum  zunächst  angehören 
will,   durch  seine  Behauptungen  ausschließt  oder  ableugnet.^) 

Daher  alle  entschieden  materialistischen  und  sensualistischen  Systeme,  di& 
man  aber  wohl  schwerlich  für  wahrhaft  philosophisch  gelten  lassen 
wird  —  und  alle  eigentlich  atheistischen  werden  auch  diesen  Cha- 
rakter haben  —  nicht  für  die  dogmatische  Behandlung  zu  brauchen 
sind.    Noch   engere  Grenzen  im   allgemeinen  ^zu  ziehen,  ist  schwierig. 

§  215.  Einzelne  Lehren  können  daher  sowohl  in  gleich- 
zeitigen dogmatischen  Behandlungen  verschieden  gefaßt  sein^ 
als  auch  zu  verschiedenen  Zeiten  verschieden  lauten,  während 
in  beiden  Fällen  ihr  religiöser  Gehalt  keine  Verschiedenheit 
darbietet.^) 

Wegen  Verschiedenheit  der  gleichzeitig  bestehenden  oder  aufeinander 
folgenden  Schulen  und  ihrer  Terminologien,  Solche  Differenzen  werden 
aber  auch  nur  durch  IVIißverständnis  Gegenstand  eines  dogmatischen 
Streites. 

§  216.  Ebenso  kann  ein  Schein  von  Ähnlichkeit  ent- 
stehen zwischen  Sätzen,  deren  religiöser  Gehalt  dennoch  mehr 
oder  weniger  verschieden  ist. 

Nicht  nur  kann  sich  im  einzelnen  die  Differenz  verschiedener  theologi- 
scher  Schulen    derselben  Kirche   verbergen   hinter   der   Identität   der 


1)  S.  61.  §  26  [vgl.  auch  §§  215  u.  216  der  zweiten  Auflage].  Durch  Be- 
ziehung auf  verschiedene  philosophische  Systeme  entsteht  ein  verschiedener 
Ausdruck  der  einzelnen  Lehren,  ohne  daß  die  Identität  der  ursprünglichen 
religiösen  Affektiou  des  Gemütes,  welche  durch  die  Lehre  repräsentiert 
werden  soll,  dadurch  aufgehoben  würde. 

2)  §  27.    An  jedes  wahrhaft  philosophische  System   kann  sich    die 
Darstellung  des  Lehrbegriffs  anschließen. 

3)  [Zu  §§  215  u.  216  vgl.  auch  S.  61  §  26  der  ersten  Auflage.] 


§  217—219.  Dritter  Abschnitt.  83 

wissenschaftlichen  Terminologie,  sondern  auch  protestantische  und  ka- 
tholische Sätze,  zumal  bei  einiger  Entfernung  von  den  symbolischen 
Hauptpunkten,  können  gleichbedeutend  erscheinen, 

§  217.    Die  protestantische  dogmatische  Behandlung  muß 
danach  streben,    das  Verhältnis   eines    jeden  Lehrstücks   zu 
dem    unsere  Periode  beherrschenden   Gegensatz  zum   klaren 
Bewußtsein  zu  bringen. 
Dies  ist  ein  nur  auf  diesem  Wege  zu  befriedigendes  Bedürfnis  der  Kir- 
chenleitung, in  welches   unrichtige  Vorstellungen  von  dem  Zustande 
dieses  Gegensatzes,  ob  und  wo  er  durch  Annäherung  beider  Teile  schon 
im  Verschwinden  begriffen  sei,  oder  umgekehrt,  ob  und  wo  er  sich  erst 
bestimmter  zu  entwickeln  anfange,    die    schwierigsten  Verwirrungen 
hervorbringen  muß. 

§  218.  Die  dogmatische  Theologie  ist  in  ihrem  ganzen 
Umfang  ein  Unendliches,  und  bedarf  einer  Scheidung  des  Ge- 
bietes besonderer  Virtuosität  und  des  Gemeinbesitzes.^) 

Dieser   bezieht   sich   aber   natürlich   nur   auf   den  Umfang   des   zu  ver- 
arbeitenden Stoffes,  nicht  auf  die  Sicherheit  und  Stärke  der  Überzeugung, 
oder  auf  die  Art,  wie  diese  gewonnen  wird. 
§  219.    Von  jedem   evangelischen  Theologen  ist  zu  ver- 
langen,   daß    er  im   Bilden    einer    eignen   Überzeugung  be- 
griffen sei  über  alle  eigentlichen  Örter  des  Lehrbegriffs,  nicht 
nur  so,   wie   sie  sich  aus  den  Prinzipien  der  Reformation  an 
sich    und   im   Gegensatz   zu   den  römischen   Lehrsätzen   ent- 
wickelt haben,  sondern  auch,  sofern  sich  Neues  gestaltet  hat, 
dessen   für  den  Moment  wenigstens  geschichtliche  Bedeutung 
nicht  zu  übersehen  ist.-) 

1)  S.  62.  §  28.  Da  der  Lehrbegriif  der  Kirche  aus  den  Meinungen  ein- 
zelner entsteht,  und  in  demselben  immer  durchgehende  und  bleibende  Ele- 
mente mit  einander  verbunden  sind  :  so  ist  auch  die  Kenntnis  seines  jedes- 
maligen Zustandes  ein  Unendliches,  in  welchem  die  Gebiete  des  allgemeinen 
Besitzes  und  der  besonderen  Virtuosität  zu  unterscheiden  sind. 

2)  §  29.    Zu  dem  allgemeinen  Gebiet  gehört  die  vollständige  Kennt- 
nis  alles  desjenigen  im  Lehrbegriff  beiden  Kirchenparteien,   was  sich  auf 
das  Prinzip  der  letzten  Epoche  bezieht,  und  die  Kenntnis  desjenigen  Neuen, 
woran  man  erkennen  kann,  daß  es  von  geschichtlicher  Bedeutung  ist. 
r§  30  ff.  siehe  zu  §§  222  ff.  der  zweiten  Auflage.] 

6* 


84  Zweiter  Teil.  §  220—221. 

Unter  einem  Ort  verstehe  ich  einen  solchen  Satz  oder  Inbegriff  von 
Sätzen,  welche  teils  im  Kanon  und  Symbol  einen  bestimmten  Sitz 
haben,  teils  nicht  übergangen  werden  können,  ohne  daß  andere  von 
demselben  Umfang  und  Wert  dunkel  und  unverständlich  werden.  — 
Der  Ausdruck  ,Im  Bilden  der  Überzeugung  begriffen  sein'  schließt  keines- 
weges  einen  skeptischen  Zustand  ein,  sondern  nur  das  dem  Geist 
unserer  Kirche  wesentliche  innere  Empfänglichbleiben  für  neuere  Unter- 
suchungen, insofern  teils  die  Behandlung  des  Kanon  sich  ändern,  teüs 
eine  andere  Quelle  für  den  dogmatischen  Sprachgebrauch  sich  eröffnen 
kann.  Auch  bezieht  diese  Forderung  sich  zunächst  nicht  auf  den 
Glauben,  so  wie  er  ein  Gemeingut  der  Christen  ist,  sondern  auf  die 
streng  didaktische  Fassung  der  Aussagen  über  denselben. 

§  220.  Das  dogmatische  Studium  muß  daher  beginnen 
mit  der  Auffassung  und  Prüfung  einer  oder  mehrerer  streng 
zusammenhängender  Darstellungen  des  kirchlich  Festgestellten, 
als  weiterer  Ausbildung  der  ihrer  Natur  nach  nur  fragmen- 
tarischen Symbole.^) 

Dogmengeschichte  muß  dabei,  wenn  auch  nur  so,  wie  auch  der  Laie  die 
Grundzüge  davon  inne  haben  kann,  notwendig  vorausgesetzt  werden. 
—  Man  unterscheide  übrigens  und  stelle  zusammen  solche  Darstellungen, 
welche  ihre  Sätze  überwiegend  aus  dem  symbolischen  Buchstaben  ent- 
wickeln, und  solche,  welche  dem  Geist  der  Symbole  treu  zu  bleiben 
behaupten,  wenn  sie  auch  ihren  Buchstaben  ebenfalls  der  Kritik  unter- 
werfen. 

§  221.  In  Bezug  auf  das  Neue,  aus  dem  Symbol  nicht 
Verständliche,  muß,  inwiefern  es  in  dieses  Gebiet  gehöre,  zu- 
nächst die  Betrachtung  entscheiden,  ob  mehreres  auf  einen 
gemeinsamen  Ursprung  zurückweist  und  eine  gemeinsame  Ab- 
zweckung  verrät.^) 


^)  S.  64.  §  40.  Da  der  Lehrbegriff  als  ein  Ganzes  soll  angeschaut  werden 
und  die  Konsequenz  weit  leichter  auffällt  an  dem  mehr  Entwickelten:  so 
muß  das  Studium  des  gegenwärtigen  Zustandes  des  Lehrbegriffs  anfangen 
mit  einer  streng  zusammenhangenden  Darstellung  des  kirchlichen  Fixierten, 
als  weiterer  Ausbildung  der  ihrer  Natur  nach  nur  fragmentarischen  Symbole. 
2)  S.  65.  §  41,  Bei  der  Kenntnis  des  Neuen,  aus  dem  Symbol  Verständ- 
lichen, muß  man  sich  gleich  die  Aufgabe  stellen,  eine  gemeinsame  Haltung 
und  Abzweckung  darin  zu  finden. 


§  222—223.  Dritter  Abschnitt.  85 

Denn  je  mehr  dies  der  Fall  ist,  um  desto  sicherer  kann  ein  geschicht- 
liches Eingreifen  solcher  Ansichten  vermutet  werden. 

§  222.  Genaue  Kenntnis  aller  gleichzeitigen  Behandlungs- 
weisen  und  schwebenden  Streitfragen,  sowie  aller  gewagten 
Meinungen,  und  festes  Urteil  über  Grund  und  Wert  dieser 
Formen  [Formeln?]  und  Elemente  bilden  das  Gebiet  der 
dogmatischen  Virtuosität.^) 

Das  feste  Urteil  ist  zu  verstehen  mit  Vorbehalt  der  frischen  Empfäng- 
lichkeit (vgl.  §  218),  die  dem  Meister  nicht  minder  notwendig  ist,  als 
dem  Anfänger,  —  Unter  gewagten  Meinungen  sind  nicht  nur  die 
ephemeren  Erscheinungen  launenhafter  und  ungeordneter  Persönlich- 
keiten zu  verstehen,  sondern  auch  alles,  was  als  eigentlich  krankhaft 
auf  antichristliche  oder  mindestens  antievangelische  Impulse  zu  redu- 
zieren ist  und  Gegenstand  der  polemischen  Ausübung  wird.^) 

§  223.  In  der  bisherigen  Darstellung  ist  auf  die  jetzt 
überwiegend  übliche  Teilung  der  dogmatischen  Theologie  in 
die  Behandlung  der  theoretischen  Seite  des  Lehrbegriffs,  oder 
die  Dogmatik  im  engeren  Sinn,  und  in  die  Behandlung  der 
praktischen  Seite,  oder  die  christliche  Sittenlehre,  um  so  weniger 
Rücksicht  genommen,  als  diese  Trennung  nicht  als  wesentlich 
angesehen  werden  kann ;  wie  sie  denn  auch  weder  überhaupt, 
noch  in  der  evangelischen  Kirche  etwas  Ursprüngliches  ist.^) 
Weder  die  Bezeichnungen  theoretisch  und  praktisch,  noch  die  Ausdrücke 


^)  S.  65.  §  42.  Ebenso  ist  für  das,  was  sich  als  krankhaft  zu  erkennen 
gibt,  ein  in  dem  Geist  des  Zeitalters  liegendes  antichristliches  oder  irreligiöses 
Prinzip  aufzusuchen. 

2)  S.  62.  §  30.  Zur  besondern  Virtuosität  gehört  die  genaue  Kenntnis 
aller  einzelnen  Streitigkeiten  und  gewagten  Meinungen,  auch  diejenigen 
[derjenigen?],  welche  wieder  verschwinden,  ohne  für  sich  allein  in  die  Ge- 
schichte eingegriffen  zu  haben. 

3)  §  31  [vgl.  §  230  der  zweiten  Auflage].  Alles  bisher  (3—30)  Ge- 
sagte gilt  gleich  sehr  von  der  theoretischen  Seite  des  Lehrbegriffs,  der 
christhchen  Glaubenslehre  oder  Dogmatik  im  engern  Sinne,  und  von  seiner 
praktischen,  der  christlichen  Sittenlehre. 

S.  63.  §  32.  Beide  sind  nicht  von  Anfang  her  getrennte  Disziplinen 
gewesen,  stehen  auch  nicht  immer  mit  einander  im  Gleichgewicht,  weder 
der  innem  Ausbildung,  noch  der  äußeren  Darstellung. 


86  Zweiter  Teil.  §  224—225. 

Glaubens-  und  Sittenlehre  sind  völlig  genau.  Denn  die  christlichen 
Lehensregeln  sind  auch  theoretische  Sätze,  als  Entwicklungen  von  dem 
christlichen  Begriff  des  Guten;  und  sie  sind  nicht  minder  Glaubens- 
sätze, wie  die  eigentlich  dogmatischen,  da  sie  es  mit  demselben 
christlich  frommen  Selbstbewußtsein  zu  tun  haben,  nur  so,  wie  es  sich 
als  Antrieb  kundgibt.  —  Wenn  nun  gleich  nicht  geleugnet  werden 
kann,  daß  die  vereinigte  Behandlung  beider  einer  in  vieler  Hinsicht 
unvollkommenen  Periode  der  theologischen  Wissenschaften  angehört: 
so  läßt  sich  doch  eine  fortschreitende  Verbesserung  auch  dieses  Ge- 
bietes sehr  wohl  ohne  eine  solche  Trennung  denken. 

§  224.  A¥enn  die  Trennung  beiderlei  Sätzen  den  Vorteil 
gewährt,  leichter  in  ihrer  Zusammengehörigkeit  aufgefaßt  zu 
werden:  so  hat  sie  der  christlichen  Sittenlehre  noch  den  be- 
sonderen Vorteil  gebracht,  daß  sie  nun  eine  ausführlichere 
Behandlung  erfährt.^) 

Das  letztere  ist  indes  nicht  wesentlich  eine  Folge  der  Trennung.  Denn 
es  läßt  sich  auch  eine  vereinigte  Behandlung  denken  in  umgekehrtem 
Verhältnis,  als  wirklich  früher  stattgefunden  hat;  und  dann  würde 
derselbe  Vorteil  auf  Seiten  der  Dogmatik  gewesen  sein.  Dem  ersten 
steht  gegenüber,  daß  eine  wohlgeordnete,  lebendige  Vereinigung  beider 
eine  vorzügliche  Sicherheit  dagegen  zu  gewähren  scheint,  daß  die 
eigentlichen  dogmatischen  Sätze  nicht  so  leicht  sollten  in  geistlose 
Formeln,  noch  die  ethischen  in  bloß  äußerliche  Vorschriften  ausarten 
können, 

§  225.  Aus  der  Teilung  des  Gebietes  kann  sehr  leicht 
die  Meinung  entstehen,  als  ob  bei  ganz  verschiedener  Auf- 
fassung der  Glaubenslehre  doch  die  Sittenlehre  auf  dieselbige 
Weise  könnte  aufgefaßt  werden  und  umgekehrt. 

Dieser  Irrtum  ist  in  unser  kirchliches  Gemeinwesen  schon  sehr  tief 
eingedrungen,  und  ihm  kann  nur  von  der  wissenschaftlichen  Behand- 
lung aus  wirksam  entgegengearbeitet  werden. 


^)  S.  63.  §  83.  Je  weniger  eine  genaue  Korrespondenz  in  der  Organisation 
der  theoretischen  und  praktischen  Philosophie  zu  Tage  liegt;  je  weniger 
im  Leben  selbst  die  spekulativen  Meinungen  auch  die  Lebensweise  be- 
stimmen oder  von  ihr  bestimmt  werden;  endlich,  je  weniger  gleichförmig 
nach  beiden  Seiten  das  Prinzip  der  letztvergangenen  oder  nächstkünftigen 
Epoche  sich  ausbildet :  um  desto  zweckmäßiger  ist  die  Trennung  beider  Seiten 
des  Lehrbegriffs  in  zwei  verschiedene  Disziplinen. 


§  226—228.  Dritter  Abschnitt.  87 

§  226.  Die  TeiluDg  findet  eine  große  Rechtfertigung 
sowohl  darin,  daß  die  Bewährung  aus  dem  Kanon  und 
Symbol  sich  bedeutend  anders  gestaltet  bei  den  ethischen 
Sätzen,  als  bei  den  dogmatischen,  als  auch  darin,  daß  die 
Terminologie  für  die  einen  und  die  andern  aus  verschiedenen 
wissenschaftlichen  Gebieten  herstammt. 

Wir  haben  zwar  in  dieser  Beziehung'  die  theologischen  Wissenschaften 
überhaupt  auf  die  Ethik  und  die  von  ihr  abhängigen  Disziplinen 
zurückgeführt;  betrachten  wir  aber  die  dogmatische  Theologie  ins- 
besondere, so  rührt  doch  die  Terminologie  der  eigentlichen  Glaubens- 
lehre großenteils  aus  der  philosophischen  Wissenschaft  her,  die  unter 
dem  Namen  rationaler  Theologie  ihren  Ort  in  der  Metaphysik  hatte, 
wogegen  die  christliche  Sittenlehre  überwiegend  nur  aus  der  Pflichten- 
lehre der  philosophischen  Ethik  schöpfen  kann,^) 

§  227.    Die  Trennung  beider  Disziplinen  hat  auch   ein 
verkehrtes  eklektisches  Verfahren  erzeugt,  indem  man  meinte, 
ohne  Nachteil  bei  der  christlichen  Sittenlehre  auf  eine  andere 
philosophische  Schule   zurückgehen    zu    dürfen,    als   bei  der 
Glaubenslehre.  ^) 
Man  darf  sich  nur  die  Möglichkeit  einer  ungeteilten  Behandlung  der  dog- 
matischen Theologie  vergegenwärtigt  haben,   um   dies  schlechthin  un- 
statthaft zu  finden. 

§  228.  Die  abgesonderte  Behandlung  ist  desto  sach- 
gemäßer, je  ungleichförmiger  auf  beiden  Seiten  der  Verlauf 
^er  Periode  in  Bezug  auf  die  Entwicklung  des  Prinzips  und 
die  Spannung  des  Gegensatzes  entweder  wirklich  gewesen  ist, 
oder  je  weniger  gleichmäßig  doch  die  wissenschaftliche  Be- 
trachtung dem  wirklichen  Verlauf  gefolgt  ist.^) 


^)  S.  63.  §  34.  Die  theoretische  Seite  des  Lehrbegriffs  verhält  sich  zur 
rationalen  Theologie,  wie  die  praktische  Seite  zur  Pflichtenlehre  der  ratio- 
nalen Ethik. 

§  35.  Was  sich  für  rationale  Theologie  ausgibt,  ist  oft  nur  Dog- 
matik,  und  was  für  rationale  Ethik,  oft  nur  religiöse  Moral:  beides  mit 
Absonderung  des  eigentümlich  Christlichen. 

2)  S.  64.  §  36.  Die  theoretische  und  praktische  Seite  des  Lehrbegi'iffs 
können  nicht  ohne  gänzliche  Ertötung  auf  verschiedenartige  philosophische 
Systeme  bezogen  werden. 

'^)  §  37.    Der  kirchliche  Gegensatz    der  jetzigen  Periode  hat  sich 


88  Zweiter  Teil.  §  229—231. 

Man  würde  vielleicht  mit  Unrecht  behaupten,  daß  in  Bezug  auf  die 
Sittlichkeit  selbst  der  Gegensatz  zwischen  Protestantismus  und  Ka- 
tholizismus minder  entwickelt  sei,  als  in  Bezug  auf  den  Glauben;  aber 
daß  er  in  unsern  christlichen  Sittenlehren  bei  weitem  nicht  so  ausge- 
arbeitet ist,  als  in  unserer  Dogmatik,  scheint  unleugbar. 

§  229.  Viele  Bearbeitungen  der  christlichen  Sittenlehre 
lassen  unleugbar  von  dem  Typus  einer  theologischen  Dis- 
ziplin nur  wenig  durchschimmern,  und  sind  von  philosophischen 
Sittenlehren  wenig  zu  unterscheiden.^) 

Daß  dies  von  dem  nachteiligsten  Einfluß  auf  die  Kirchenleitung  sein  muß^ 
leuchtet  ein.  Bei  einer  ungeteilten  Behandlung  könnte  sich  für  die 
sittenlehrigen  Sätze  ein  solches  Resultat  nicht  gestalten,  es  müßte 
denn  auch  die  Glaubenslehre  ihren  Charakter  verleugnen. 

§  230.  Die  abgesonderte  Behandlung  beider  Zweige  der 
dogmatischen  Theologie  wird  desto  unverfänglicher  sein,  j& 
vollständiger  alles  von  §§  196 — 216  Gesagte  auch  auf  die 
christliche  Sittenlehre  angewendet  wird,  und  je  mehr  man  in 
jeder  von  beiden  Disziplinen  den  Zusammenhang  mit  der 
andern  durch  einzelne  Andeutungen  wiederherstellt.-) 

Das  erste  kann  hier  nicht  besonders  ausgeführt  werden;  die  Möglichkeit 
des  letzten  erhellt  aus  dem  zu  §  224  Gesagten. 

§  231.  Wünschenswert  bleibt  immer,  daß  auch  die  un- 
geteilte Behandlung  sich  von  Zeit  zu  Zeit  wieder  geltend 
mache.  ^) 

Nur  bei  einer  sehr  großen  Ausführlichkeit  möchte  dies  kaum  möglich; 
sein,  ohne  daß  die  Masse  alle  Form  verlöre. 


auf  der  praktischen  Seite  des  Lehrbegriffs  für  jetzt  noch  nicht  so  stark 
ausgeprägt,  als  auf  der  theoretischen. 

^)  S.  64.  §  38.  Je  mehr  Wissenschaft  und  bürgerliches  Lehen  in  der 
Mealität  getrennt  sind,  um  desto  iveniger  bestimmen  sich  auch  Lehr^ 
meinungen  und  Maximen  gegenseitig. 

2)  §  39.  Wenn  auch  beide  Seiten  des  Lehrbegriffs  als  besondere 
Disziplinen  behandelt  werden,  so  entsteht  desto  notwendiger  die  Aufgabe,, 
bei  jedem  einzelnen  Satz  der  einen  auf  das,  was  sich  daraus  für  die  andere 
ergibt,  zurückzuweisen. 

')  [§§  40-42  siehe  zu  §§  220  f.  der  zweiten  Auflage.] 


§  232—234.  Dritter  Abschnitt.  89 


IL  Die  kirchliche  Statistik. 

§  232.  In  dem  Gesamtzustand  einer  kirchlichen  Gesell- 
schaft unterscheiden  wir  die  innere  Beschaffenheit  und  die 
äußeren  Verhältnisse,  und  in  der  ersten  wieder  den  Gehalt, 
der  sich  darin  nachweisen  läßt,  und  die  Form,  in  welcher  sie 

besteht.  1) 

Manches  scheint  allerdings  eben  so  leicht  nnter  die  eine,  als  unter  die 
andere  Hauptabteilung  gebracht  werden  zu  können,  immer  aber  doch 
in  einer  andern  Beziehung,  sodaß  dies  der  Eichtigkeit  der  Einteilung 
keinen  Eintrag  tut. 

§  233.  Die  Aufgabe  umfaßt  in  Zeiten,  wo  die  christliche 
Kirche  nicht  äußerlich  eines  ist,  alle  einzelnen  Kirchengemein- 
schaften. ^) 

Jede  ist  dann  für  sich  zu  betrachten,  und  die  Verhältnisse  einer  jeden 
zu  den  übrigen  finden  von  selbst  ihren  Ort  in  der  zweiten  Hälfte. 
—  Aber  auch  wenn  einzelne  Kircheugemeinschaften  nicht  bestimmt 
voneinander  geschieden  wären,  würden  doch  einzelne  Teile  der  Kirche 
sich  sowohl  ihrer  inneren  Beschaffenheit,  als  ihren  Verhältnissen  nach 
so  sehr  von  andern  unterscheiden,  daß  Einteilungen  dennoch  müßten 
gemacht  werden. 

§  234.  Der  Gehalt  einer  kirchlichen  Gemeinschaft  in 
einem  gegebenen  Zeitpunkt  beruht  auf  der  Stärke  und  Gleich- 
mäßigkeit, w^omit  der  eigentümliche  Gemeingeist  derselben 
die  ganze  ihr  zugehörige  Masse  durchdringt.^) 


^)  S,  65.  §  43.  Die  Kenntnis  des  gegenwärtigen  Zustandes  der  Kirche, 
oder  die  kirchliche  Statistik,  hat  vorzüglich  zu  betrachten  die  religiöse  Ent- 
wicklung, die  kirchliche  Verfassung  und  die  äußeren  Verhältnisse  der 
Kirche  im  gesamten  Gebiet  der  Christenheit. 

2)  §  44.  Wenn  durch  das  Entwickluugsprinzip  einer  Periode  ein 
Gegensatz  mehrerer  Kirchenparteien  sich  gebildet  hat :  so  ist  jeder  in  allen 
diesen  Beziehungen  auch  ein  eigner  Gang  während  dieser  Periode  vorge- 
zeichnet, und  daher  jede  Partei  für  sich  und  in  Vergleichung  mit  den 
andern  zu  betrachten. 

^)  S.  66.  §  45.  Das  Maß  und  die  Art  der  religiösen  Entwicklung  bestimmt 
sich  teils  nach  dem  Verhältnis,  in  welchem  der  Lehrbegriff  zu  dem  reli- 
giösen Bewußtsein  der  Gemeinheit  steht,   teils  nach  dem,  in  welchem  sich 


90  Zweiter  Teil.  §  235—237. 

Zunächst  also  und  im  allgemeinen  der  Gesundheitszustand  derselben  in 
Bezug  auf  Indifferentismus  und  Separatismus  (vgl.  §§  56  u.  57),  Dieser 
wird  aber  erkannt  einerseits  aus  den  Entwicklungsexpouenten  des 
Lehrbegriffs  mit  Küeksicht  auf  die  Einstimmigkeit  oder  Mannigfaltig- 
keit der  Resultate  und  auf  das  Interesse  der  Gemeinde  an  dieser 
Funktion,  andererseits  aus  dem  Einfluß  des  kirchlichen  Gemeingeistes  auf 
die  übrigen  Lebensgebiete,  und  aus  der  Manifestation  desselben  in  dem 
gottesdienstlichen  Leben. 

§  235.  Je  größere  Diiferenzen  sich  hierüber  in  weit  ver- 
breiteten Kirchengemeinschaften  vorfinden,  nm  desto  zweck- 
widriger ist  es,  bei  bloßen  Durchschnittsangaben  sich  zu  be- 
gnügen. 

Das  Lehrreichste  für  die  Kirchenleitung  würde  verloren  gehen,  wenn 
nicht  die  am  meisten  verschiedenen  Massen  in  Bezug  auf  die  wich- 
tigsten in  Betracht  kommenden  Punkte  miteinander  verglichen 
würden. 

§  236.  Das  Wesen  der  Form,  unter  welcher  eine  Kirchen- 
gemeinschaft besteht,  oder  ihrer  Verfassung,  beruht  auf  der 
Art,  wie  die  Kirchenleitung  organisiert  ist,  und  auf  dem  Ver- 
hältnis der  Gesamtheit  zu  denen,  welche  an  der  Kirchen- 
leitung teilnehmen,   oder  zu  dem  Klerus  im  weiteren  Sinn.^) 

Die  große  Mannigfaltigkeit  der  Verfassungen  macht  es  notwendig,  sie 
unter  gewisse  Hauptgruppen  zu  verteilen,  wobei  aber  Vorsicht  zu 
treffen  ist,  sowohl,  daß  man  nicht  zu  viel  Gewicht  auf  die  Analogie 
mit  den  politischen  Formen  lege,  als  auch,  daß  man  nicht  über  den 
allgemeinen  Charakteren  die  spezifischen  Differenzen  übersehe.^) 

§  237.  Die  Darstellung  der  iunern  Beschaffenheit  ist 
desto  vollkommner,  je  mehr  Mittel  sie  darbietet,  den  Einfluß 


im  Leben  das  religiöse  Prinzip  jeder  Partei  zu  den  herrschenden  sinnlichen 
Motiven  findet. 

S.  66.  §  46.  Die  Unterabteilungen  sind  also  hier  zu  bestimmen  nach 
der  Verschiedenheit  der  gemeinschaftlich  großen  Massen  einwohnenden 
Sinnesart. 

^)  §  47.  Das  Wesen  Jeder  kirchlichen  Verfassung  drückt  sich  aus 
durch  das  Verhältnis,  in  welchem  Laien  und  Klerus  gegeneinander  stehen. 

2)  §  48.  Da  hier  die  Analogie  mit  den  politischen  Verhältnissen 
besonders  heraustritt,  so  bestimmen  sich  auch  nach  diesen  die  Unter- 
abteüungen. 


§  237—240.  Dritter  Absehuitt.  91 

der  Verfassung   auf  den  inneren   Zustand,   und  umgekehrt, 

richtig  zu  schätzen. 

Denn  dies  hängt  mit  der  größten  Aufgabe  der  Kirchenleitimg  zusammen, 
und  ohne  diese  Beziehung  bleiben  alle  hieher  gehörigen  Angaben  nur 
tote  Notizen,  wie  alle  statistischen  Zahlen  ohne  geistvolle  Kombination. 

§  238.  Die  äußeren  Verhältnisse  einer  Kirchengemein- 
schaft, die  nur  Verhältnisse  zu  andern  Gemeinschaften  sein 
können,  sind  teils  die  zu  gleichartigen,  nämlich  sowohl  die 
des  Christentums  und  einzelner  christlichen  Gemeinschaften  zu 
den  außerchristlichen,  als  auch  die  der  christlichen  Kirchen- 
gemeinschaften zu  einander,  teils  die  zu  ungleichartigen,  und 
hierunter  vornehmlich  zu  der  bürgerlichen  Gesellschaft  und 
2ur  Wissenschaft  im  ganzen  Umfang  des  Wortes.^) 

Wir  betrachten  die  letzte  als  eine  Gemeinschaft  schon  deshalb,  weil  die 
Sprache  alle  wissenschaftliche  Mitteilung  bedingt,  und  jede  doch  ein 
besonderes  Gemeinschaftsgebiet  bildet,  sodaß  die  Verhältnisse  derselben 
Kirchengemeinschaft  ganz  verschieden  sein  können  in  verschiedenen 
Sprachgebieten. 

§  239.  Jede  Kirchengemeinschaft  steht  mit  den  sie  be- 
rührenden in  einem  Verhältnis  der  Mitteilung  sowohl,  als  der 
Gegenwirkung,  welche  auf  das  mannigfaltigste  können  ab- 
^•estuft  sein  vom  Maximum  des  einen  zum  Minimum  des  andern 
bis  umgekehrt. 

Unter  Berührung  soll  nicht  etwa  nur  lokales  Zusammenstoßen  verstanden 
werden,  sondern  jede  Art  von  Verkehr.  Gegenwirkung  aber  ist,  auch 
abgesehen  von  aller  nach  außen  gehenden  Polemik,  teils  durch  das 
gemeinsame  Zurückgehen  auf  den  Kanon,  teils  durch  die  von  außen 
anbildende  Tätigkeit,  die  nicht  als  gänzlich  fehlend  angesehen  werden 
kann,  bedingt. 

§  240.  Das  Verhältnis  kirchlicher  Gemeinschaften  zu 
eigentümlichen  Ganzen  des  Wissens  schwankt  zwischen  den 
beiden  Einseitigkeiten:  der,  wenn  die  Kirche  kein  Wissen 
gelten  lassen  will,  als  dasjenige,  welches  sie  sich  zu  ihrem 
besondern  Zweck  aneignen,  mithin  auch  selbst  hervorbringen 


.^)  S.  67.     §  49.    Das  Wesentliche  der  äußeren  Verhältnisse  ist  die  Lage  der 
Kirche  gegen  den  Staat  und  gegen  die  Wissenschaft. 


92  Zweiter  Teil.  §  240-243. 

kann,  und  der,  wenn  das  objektive  Bewußtsein  die  Wahrheit 
des  Selbstbewußtseins  in  Anspruch  nehmen  will. 

Denn  auf  diesen  beiden  Punkten  sehließen  beide  Gemeinschaften  einander 
aus.  Zwischen  beiden  in  der  Mitte  liegt  als  gemeinsamer  Annäherungs- 
punkt ein  gegenseitiges  tätiges  Anerkennen  beider.  Die  Aufgabe  ist^ 
ins  Licht  zu  setzen,  wie  sich  ein  bestehendes  Verhältnis  zu  diesen 
Hauptpunkten  stellt. 

§  241.  Das  Gleiche  gilt  von  dem  Verhältnis  zwischen  Kirche 
und  Staat.  Nur  daß  man  hier,  wo  sich  bestimmtere  Formeln 
[Formen?]  entwickeln,  leichtersieht,  teils  wie  nicht  leicht  ein 
gegenseitiges  Anerkennen  stattfindet,  ohne  doch  ein  kleine» 
Übergewicht  auf  die  eine  oder  andere  Seite  zu  legen,  teils 
wie  zumal  das  evangelische  Christentum  seine  Ansprüche  be- 
stimmt begrenzt.^) 

Daß  eine  Theorie  über  dieses  Verhältnis  nicht  hierher  gehört,  versteht 
sich  von  selbst.  Viele  aber  von  den  hier  nachgewiesenen  Ortern  werden 
auch  in  dem  sogenannten  Kirchenrecht  behandelt,  nur,  wie  auch  schon 
der  Name  andeutet,  überwiegend  aus  dem  bürgerlichen  Standpunkt 
betrachtet. 

§  242.    Die  kirchliche  Statistik  ist  nach  diesen  Grund- 

Zügen  einer  Ausführung  ins  Unendliche  fähig. 

Diese  muß  aber  natürlich  immer  erneuert  werden,  indem  nach  einge- 
tretener Veränderung  die  jedesmaligen  Elemente  der  Kirchengeschichte 
zuwachsen. 

§  243.  Daß  man  sich  bei  uns  nur  zu  häufig  auf  die 
Kenntnis  des  Zustandes  der  evangelischen  Kirche,  ja  nur  des 
Teiles  beschränkt,  in  welchem  die  eigene  Wirksamkeit  liegt,, 
wirkt  höchst  nachteilig  auf  die  kirchliche  Praxis.-) 


^)  S.  67.  §  50.  Ein  besonderes  Gebiet  ivircl  also  da  sein,  wo  diese  in  ihrer 
Bildung  und  Einwirkung  auf  einander  einen  eigentümlichen  Gang  ge- 
nommen  haben. 

§  51.  Aus  dem  Bisherigen  ergibt  sich,  daß  die  Unterabteilungen- 
für diese  Darstellung  nach  dem  Nationalchardkter  vorzüglich  müssen  ge- 
nommen werden. 

2)  §  53.    Seine  Kenntnis  nur  auf  den  Umfang  der  einzelnen  Partei^ 
der  man  angehört,  zu  beschränken,  ist  kaum  für  den  Punkt,  wo  die  Span- 


§  244—246.  Dritter  Abschnitt.  93 

Nichts  begüustigt  so  sehr  das  Verharren  bei  dem  Gewohnten  und  Her- 
gebrachten, als  die  Unkenntnis  fremder,  aber  doch  verwandter  Zu- 
stände. Und  nichts  bewirkt  eine  schroffere  Einseitigkeit,  als  die  Furcht, 
daß  man  anderwärts  werde  Gutes  anerkennen  müssen,  was  dem  eigenen 
Kreise  fehlt,  ^j 

§  244.  Eine  allgemeine  Kenntnis  von  dem  Zustande  der 
gesamten  Christenheit  in  den  hier  angegebenen  Hauptverhält- 
nissen, nach  Maßgabe  wie  jeder  Teil  mit  dem  Kreise  der 
eignen  Wirksamkeit  zusammenhängt,  ist  die  unerläßliche  For- 
derung an  jeden  evangelischen  Theologen.-) 

Die  hieraus  freilich  folgende  Verpflichtung  zu  einer  genaueren  Kenntnis 
des  Näheren  und  Verwandteren  ist  doch  nur  untergeordnet.  Denn  eine 
richtige  Wirksamkeit  auf  die  eigne  Kirchengemeinschaft  ist  nur  mög- 
lich, wenn  man  auf  sie  als  auf  einen  organischen  Teil  des  Ganzen 
wirkt,  welcher  sich  in  seinem  relativen  Gegensatz  zu  den  andern  zu 
erhalten  und  zu  entwickeln  hat. 

§  245.    Durch  besondere  Beschäftigung  mit  diesem  Fach 

ist  noch  vieles  zu  leisten,   sowohl  was  den  Stoff  anlangt,  als 

was  die  Form.^) . 

Die  neueste  Zeit  hat  zwar  viel  Material  herbeigeschafft ;  aber  es  ist  selten 
aus  den  rechten  Gesichtspunkten  aufgefaßt.  Und  umfassendere  Arbeiten 
gibt  es  noch  so  wenige,  daß  die  beste  Form  noch  nicht  gefunden 
sein  kann. 

§  246.    Die   bloß    äußerliche  Beschreibung  des  Vorhan- 


nuug  zwischen  ihr  und  der  entgegengesetzten  am  höchsten  gestiegen  ist, 
zu  rechtfertigen. 

^)  S.  68.  §  54.  Mangel  an  Kenntnis  des  gegenwärtigen  Zustandes,  sowohl 
des  Lehrbegriffs,  als  der  kirchlichen  Gesellschaft,  ist  eine  Hauptursache  des 
toten  Mechanismus  in  der  Praxis. 

2)  S.  67.  §  52.  Da  jedes  bestimmte  Gebiet  innerhalb  der  Kirche  als  ein 
organischer  Teil  des  Ganzen  anzusehen,  und  also  bewußte  Wirksamkeit 
darauf  ohne  Kenntnis  des  Ganzen  nicht  möglich  ist :  so  ist  Kenntnis  von  dem 
dermaligen  Zustande  des  Ganzen  nach  Maßgabe  jenes  Einflusses  die  uner- 
läßliche Pflicht  eines  jeden. 

^)  S.  68.  §  57.  Eine  ganz  ins  einzelne  gehende  Kenntnis  auch  des  wirk- 
lich individuell  Gebildeten  kann  nur  die  Virtuosität  einzelner  sein. 

§  58.    Da  diese  nie  ganz  ohne  Einseitigkeit  sein  ivird^  so  ist  auch 
zu  ihrer  richtigen  Benutzung  Kritik  unentbehrlich. 


94  Zweiter  Teü.  §  246—248. 

denen  ist  für   diese  Disziplin,   was   die  Chronik  für  die  Ge- 
schichte ist.^) 

Bei  dem  gegenwärtigen  Zustand  derselben  aber  ist  es  schon  verdienst- 
lich, Unbekannteres  nnd  Abweichenderes  auch  nur  auf  diese  Weise  zur 
allgemeinen  Kenntnis  zu  bringen.  Bloß  topographische  und  onomastische 
oder  bibliographische  Notizen  sind  natürlich  das  am  wenigsten  Frucht- 
bare. ^) 

§  247.  Eine  ins  einzelne  gehende  Beschäftigung  mit  dem 
gegenwärtigen  Zustande  des  Christentums,  welche,  nicht  vom 
kirchlichen  Interesse  ausgehend,  auch  keinen  Bezug  auf  die 
Kirchenleitung  nähme,  könnte  nur,  wenn  auch  ohne  wissen- 
schaftlichen Geist  betrieben,  ein  unkritisches  Sammelwerk 
sein;  je  wissenschaftlicher  aber,  um  desto  mehr  würde  sie  sich 
zum  Skeptischen  oder  Polemischen  neigen.^) 

Der  Impuls  kann  wegen  Beschaffenheit  der  Gegenstände  nicht  von  einem 
rein  wissenschaftlichen  Interesse  herrühren.  Fehlt  also  das  für  die 
Sache :  so  muß  eins  gegen  die  Sache  wirksam  sein.  Ahnliches  gilt  von. 
der  Kirchengeschichte. 

§  248.  Ist  das  religiöse  Interesse  von  wissenschaftlichem 
Geist  entblößt:  so  wird  die  Beschäftigung,  statt  ein  treues 
Eesultat  zu  geben,  nur  der  Subjektivität  der  Person  oder 
ihrer  Partei  dienen.*) 

Denn  nur  der  wissenschaftliche  Geist  kann,  wo  ein  starkes  Interesse  vor- 
waltet, welches  vom  Selbstbewußtsein  ausgeht,  vor  unkritischer  Partei- 
lichkeit sicherstellen. 


^)  S.  68.  §  55  [vgl.  §  243  Anm.  der  zweiten  Auflage].  Die  lebendige  Tätig- 
keit iti  dem  Gebiet  Einer  Partei  kann  nicht  leiden  durch  Anerkennung  des 
Guten,   welches  sich  in  der  entgegengesetzten  findet. 

2)  §  56.  Alles  bloß  Topographische,  Onomastische  und  Biblio* 
graphische  ist  nur  als  Hilfskeuntnis  anzusehen. 

^)  §  59,  Ohne  religiöses  Interesse  wird  die  Kenntnis  von  einem 
gegebenen  Zustande  des  Christentums,  je  weiter  ins  einzelne  verfolgt,  um 
desto  geistloser  und  zur  bloßen  Gedächtnissache,  und  je  wissenschaftlicher 
betrieben,  um  desto  skeptischer  und  polemischer. 

*)  S.  69.  §  60.  Ohne  philosophischen  und  kritischen  Geist  wird  sie  nie 
ein  treues  Eesultat  geben,  sondern  nur  der  Subjektivität  der  Person  oder 
der  Kirchenpartei  zur  Erhöhung  dienen. 


§  249—250.  Dritter  Abschnitt.  95 

§  249.  Die  Disziplin,  welche  man  gewöhnlich  Symbolik 
nennt,  ist  nur  aus  Elementen  der  kirchlichen  Statistik  zu- 
sammengesetzt, und  kann  sich  in  diese  wieder  zurückziehn.^) 

Sie  ist  eine  Zusammeustellung  des  Eigentümhchen  in  dem  Lehrbegriff 
der  noch  jetzt  bestehenden  christUchen  Parteien;  und  da  diese  nicht 
nach  Weise  der  Dogmatik  (vgl.  §§  196  u.  233j  mit  Bewährung  des 
Zusammenhanges  vorgelegt  werden  können:  so  muß  die  Darstellung 
rein  historisch  sein.  Der  nicht  ganz  der  Sache  entsprechende  Name, 
weil  nämlich  nicht  alle  Parteien  Symbole  in  dem  eigentlichen  Sinne 
des  Wortes  haben,  kann  nur  sagen  wollen,  daß  der  Bericht  sich  an  die 
am  meisten  klassische  und  am  allgemeinsten  anerkannte  Darstellung 
einer  jeden  Glaubensweise  halte.  Ein  solcher  Bericht  muß  aber  in 
unserer  Disziplin  (vgl.  §  234)  die  Grundlage  bilden  zu  der  Darstellung 
der  Verhältnisse  des  Lehrbegriffs  in  der  Gemeinschaft;  und  der  Unter- 
schied ist  nur  der,  daß  dort  der  Lehrbegriff  einer  Gemeinschaft  be- 
schrieben wird  in  Verbindung  mit  ihren  übrigen  Zuständen,  in  der 
Symbolik  aber  in  Verbindung  mit  den  Lehrbegriffen  der  andern  Ge- 
meinschaften, wiewohl  wir  auch  für  die  Statistik  schon  (vgl.  §  235)  das 
komparative  Verfahren  empfohlen  haben. 

§  250.    Auch   die  biblische  Dogmatik  kommt  der  Weise 

der  Statistik  in   der  Behandlung  des  Lehrbegriffs  näher,   als 

der  eigentlichen  Dogmatik. -j 

Denn  unsere  Kombinationsweise  ist  so  sehr  eine  andere,  und  teils  ist  für 
die  neutestamentischen  biblischen  Sätze  das  Zurückgehen  auf  den  alt- 
testamentischen  Kanon  nur  ein  sehr  ungenügendes  Surrogat  für  unser 
Zurückgehn   auf  den  neutestamentischen,   teils  fehlt  uns  dort  überall 


^)  S.  69.  §  1.  Da  die  Symbole  für  eine  einzelne  Periode  dasselbe  sind, 
was  der  Kanon  für  das  gesamte  Christentum:  so  pfleg-t  man  auch  die 
Symbolik  als  eine  einzelne,  untergeordnete  Disziplin  anzusehen. 

§  2.  Nur  ist  aus  demselben  Grunde  das  Historische,  was  dort 
nur  als  Propädeutik  dient,  bei  ihr  die  Hauptsache,  und  das  Philologische 
dagegen  untergeordnet. 

2)  §  3.  Will  man  einen  Moment  der  Vergangenheit  fixieren  und  sich 
recht  lebendig  hinein  versetzen :  so  muß  mau  sich  ihn  ebenso,  wie  die  Dog- 
matik es  mit  der  Gegenwart  macht,  in  einer  zusammenhangenden  Dar- 
stellung vor  Augen  halten. 

S.  70.  §  4.  Was  man  biblische  Theologie  nennt,  ist  nur  eine  solche 
Darstellung  des  Lehrbegriffs  in  der  kanonischen  Zeit,  insofern  man  diese 
als  Einen  Moment  ansehen  kann. 


96  Zweiter  Teil.  §  251—252. 

die  weitere  Entwicklung:  der  späteren  Zeiten,  die  in  unsere  Überzeugung 
so  eingegangen  ist,  daß  wir  uns  jene  nicht  so  aneignen  können,  wie 
es  einer  eigentlich  dogmatischen  Behandlung  wesentlich  ist.  Die  Dar- 
stellung des  Zusammenhanges  der  biblischen  Sätze  in  ihrem  eigentüm- 
lichen Gewand  ist  also  überwiegend  eine  historische.  Und  wie  jedes 
zusammenfassende  Bild  (vgl.  §  150)  eines  als  Einheit  gesetzten  Zeit- 
raums eigentlich  die  Statistik  dieser  Zeit  und  dieses  Teils  ist:  so  ist 
die  biblische  Dogmatik  nur  ein  Teil  von  diesem  Bilde  des  apostolischen 
Zeitalters. 


Sclilußbetrachtungeu 

über  die  historische  Theologie. 

§  251.  Wiewohl  im  ganzen  in  der  christlichen  Kirche 
die  hervorragende  Wirksamkeit  einzelner  auf  die  Masse  ab- 
nimmt, ist  es  doch  für  die  historische  Theologie  mehr,  als  für 
andere  geschichtliche  Gebiete,  angemessen,  die  Bilder  solcher 
Zeiten,  die,  als,  wenn  auch  nur  in  untergeordnetem  Sinne, 
epochemachend,  als  Einheit  aufzufassen  sind,  an  das  Leben 
vorzüglich  wirksamer  Einzelner  anzuknüpfen.^) 

Ab  nimmt  diese  Wirksamkeit,  weü  sie  in  Christo  absolut  war,  und  wir 
keinen  Späteren  den  Aposteln  gleichstellen,  von  denen  doch  nur  wenige 
eine  bestimmte  persönliche  Wirksamkeit  übten.  Je  weiter  hin,  desto 
mehr  immer  der  gleichzeitigen  Einzelnen,*)  welche  einen  neuen  Um- 
schwung bewirkten.  Jedoch  ist  dies  keinesweges  nur  auf  d^s  Zeitalter 
der  sogenannten  Kirchenväter  zu  beschränken.  Wohl  aber  können  wir 
sagen,  daß  sich  jeder  einzelne  hiezu  desto  mehr  eigne,  je  mehr  er  dem 
Begriff  eines  Kirchenfürsten  entspricht,  daß  aber  solche,  je  weiter  hin- 
aus, desto  weniger  zu  erwarten  seien.  Auch  einzelne  als  Andeutung 
und  Ahndung  merkwürdige  Abweichungen  im  Lehrbegriff  werden  oft 
am  besten  mit  dem  Leben  ihrer  Urheber  verständlich. 

§  252.  Die  Kenntnis  des  geschichtlichen  Verlaufs,  welche 
schon  zum  Behuf  der  philosophischen  Theologie  (vgl.  §  65) 
vorausgesetzt   werden    muß,    darf  nur   die   der  Chronik  an- 


^)  S.  70.    §  5.    Die    Elemente    jeder    historisch-theologischen   Darstellung 
sind  weit  mehr  biographisch,  als  historisch. 

*)  Es  sollte  wohl  heißen :  desto  mehr  waren  es  immer  die  gleichzeitigen 
Einzelnen  usw. 


%  252—254.  Scblußbetrachtuugen.  97 

gehörige  sein,  welche  unabhängig  ist  vom  theologischen  Studium : 
hingegen  die  wissenschaftliche  Behandlung  des  geschichtlichen 
Verlaufs  in  allen  Zweigen  der  historischen  Theologie  setzt 
die  Eesultate  der  philosophischen  Theologie  voraus.^) 

Dies  gilt,  wie  aus  dem  Obigen  erbellt,  für  die  exegetiscbe  Theologie  und 
die  dogmatiscbe  nicbt  minder,  als  für  die  bistoriscbe  im  engeren  Sinn. 
Denn  alle  leitenden  Begriffe  werden  in  den  Untersucbungen,  welcbe  die 
pbilosopbiscbe  Tbeologie  bilden,  definitiv  bestimmt. 
§  253.    Hieraus    und   aus   dem   dermaligen  Zustand  der 
philosophischen  Theologie  (vgl.  §  68)  erklärt  sich,  wenn  nicht 
die  große  Verschiedenheit  in  den  Bearbeitungen  aller  Zweige 
der  historischen  Theologie,  doch  der  Mangel  an  Verständigung 
über  den  ursprünglichen  Sitz  dieser  Verschiedenheit. 2) 
Denn  sie  selbst  würde  bleiben,  weil,  was  §  51  von  der  Apologetik  gesagt 
und  §  64  auch  auf  die  Polemik  ausgedehnt  ist,  nicht  nur  in  Bezug  auf 
die  verschiedenen  Gestaltungen,   die  das  Christentum  in  verschiedenen 
Kirchengemeinschaften  erhält,  gelten  muß,  sondern  auch  von  den  nicht 
unbedeutenden  Verschiedenheiten,  die  noch  innerhalb  einer  jeden  statt- 
finden.   Hat  aber  jede  Partei  ihre  philosophische  Theologie   gehörig 
ausgearbeitet:   so  muß  auch  deutlich  werden,  welche  von  diesen  Ver- 
schiedenheiten mit  einer  ursprünglichen  Differenz  in  der  Auffassung  des 
Christentums  selbst  zusammenhängen,  und  welche  nicht. 

§  254.  Philosophische  und  historische  Theologie  müssen 
noch  bestimmter  auseinander  treten,  können  aber  doch  nur 
mit-  und  durcheinander  zu  ihrer  Vollkommenheit  gelangen.^) 

1)  S.  70.  §  6.  Diejenige  Kenntnis  des  Christentums,  welche  vorausgesetzt 
werden  muß,  um  zur  philosophischen  Theologie  zu  gelangen,  braucht  nur 
die  esoterische  zu  sein,  welche  dem  eigentlichen  theologischen  Studium 
vorangeht;  die  ganze  Organisation  der  historischen  Theologie  aber  gründet 
sich  auf  die  Eesultate  der  philosophischen. 

2)  §  7.  Die  philosophische  Theologie  nimmt  iliren  StandpunU  über 
dem  Christentum,  die  historische  innerhalb  desselben. 

3)  §  8.  Darum  kann  und  muß,  genau  betrachtet,  jeder  Gegenstand 
der  historischen  Theologie  auch  Gegenstand  für  die  philosophische  sein, 
und  die  letztere  ist  die  beständige  Begleiterin  der  ersteren. 

S.  71.     §  12.    Philosophische  und  historische  Theologie  können  nur  mit- 
und  durcheinander  zur  Vollkommenheit  gedeihen. 

§    9.    Je  weniger  die  phüosophische  Theologie  sich  noch  als  Dis- 
Schleierm.,  Th.  St.  '^ 


98  Zweiter  Teil,  SchluCbetrachtungen.  §  255—256, 

Alle  Zweige  der  historischen  Theologie  leiden  darunter,  daß  die  philoso-^ 
phische  in  ihrem  eigentümlichen  Charakter  (vgl.  §  33)  noch  nicht  aus- 
gearbeitet ist.  Aber  die  philosophische  Theologie  würde  ganz  willkür- 
lich werden,  wenn  sie  sich  von  der  Verpflichtung  losmachte,  alle  ihre 
Sätze  durch  die  klarste  Geschichtsauffassung  zu  belegen.  Und  ebenso- 
würde  die  historische  alle  Haltung  verlieren ,  wenn  sie  sich  nicht  auf 
die  klarste  Entwicklung  der  Elemente  der  philosophischen  Theologie: 
beziehen  wollte. 

§  255.    In   der  gegenwärtig"eii  Lage  kann  der  Vorwurf^ 

daß   einer  in  der  historischen  Theologie  nach  willkürlichen 

Hypothesen  verfahre,  eben  so  leicht  unbillig  sein,  als  er  auch 

gegründet  sein  kann.^) 

Gegründet  ist  er,  wenn  jemand  die  Elemente  der  philosophischen  Theologie- 
durch  bloße  Konstruktion  konstituieren  will,  und  dann  die  Begeben- 
heiten darnach  deutet.  Unbillig  ist  er,  wenn  jemand  nur  nicht  Hehl 
hat,  daß  seine  philosophische  Theologie,  wie  sie  ihm  mit  der  historischen 
wird,  sich  auch  durch  ihre  Angemessenheit  für  diese  bestätigt. 

§  256.    Dasselbe  gilt  von   dem  Vorwurf,   daß   einer  die 

historische  Theologie  in  geistlose  Empirie  verwandle.^) 

Er  ist  gegründet,  wenn  jemand  die  in  der  philosophischen  Theologie  zu 
ermittelnden  Begriffe,  um  sie  in  der  historischen  zu  gebrauchen,  als^ 
etwas  empirisch  Gegebenes  aufstellt.  Unbillig  ist  er,  wenn  jemand  nur 
gegen  die  apriorische  Konstruktion  dieser  Begriffe  protestiert,  und  auf 
dem  kritischen  Verfahren  (vgl.  §  32)  besteht. 


ziplin  anerkennen  macht,  um   desto   eher  werden  beide  Behandlungsarten 

vermengt  und  verwechselt. 

^)  S.  71.    §  10.    Daher  werden  diejenigen,  welche  sich  mit  dem  historischen 

Studium  zugleich  ihre  philosophische   Theologie  bilden,   so  leicht  von  den 

Empirikern   beschuldigt,    daß    sie   die    Geschichte   nach   ihren   Hypothesen 

deuten. 

2)  §  11.  Ebenso  werden  diejenigen,  welche  in  der  philosophischen 
Theologie  alles  historisch  bewähren  wollen,  von  denen,  welche  sich  die 
ihrige  aus  einem  fremden  Standpunkt  gebildet  haben,  für  geistlose  Em- 
piriker angesehen. 


§  257—259.  Einleitung.  99 

Dritter  Teil. 

Von  der  praktischen  Theologie. 


Einleitung". 

§  257.  Wie  die  philosophische  Theologie  die  Gefühle 
der  Lust  und  Unlust  an  dem  jedesmaligen  Zustand  der  Kirche 
zum  klaren  Bewußtsein  bringt:  so  ist  die  Aufgabe  der  prak- 
tischen Theologie,  die  besonnene  Tätigkeit,  zu  welcher  sich 
die  mit  jenen  Gefühlen  zusammenhängenden  Gemütsbewegungen 
entwickeln,  mit  klarem  Bewußtsein  zu  ordnen  und  zum  Ziel 
zu  führen.^) 

Wie  die  philosophische  Theologie  hier  aufgefaßt  ist  in  der  Einwirkung 
ihrer  Eesultate  auf  einen  unmittelbaren  Lebensmoment:  so  auch  die 
praktische,  wie  ihre  Eesultate  in  einen  solchen  Lebensmoment  eingreifen. 

§  258.  Die  praktische  Theologie  ist  also  nur  für  die- 
jenigen, in  welchen  kirchliches  Interesse  und  wissenschaftlicher 
Geist  vereinigt  sind.^) 

Denn  ohne  das  erste  entstehen  weder  jene  Gefühle,  noch  diese  Gemüts- 
bewegungen, und  ohne  wissenschafthchen  Geist  keine  besonnene  Tätig- 
keit, welche  sich  durch  Vorschriften  leiten  ließe,  sondern  der  dem  Er- 
kennen abgeneigte  Tätigkeitstrieb  verschmäht  die  Eegeln.^) 

§  259.  Jedem  besonnen  Einwirkenden  entstehen  seine 
Aufgaben    aus  der  Art,   wie   er  den  jedesmal  vorliegenden 


^)  S.  72.  §  1.  Wie  die  philosophische  Theologie  die  Gefühle  der  Lust  und 
Unlust  an  den  Ereignissen  in  der  Kirche  zur  klaren  Erkenntnis  bringt:  so 
bringt  die  praktische  Theologie  die  aus  ihnen  entstehenden  Gemüts- 
bewegungen in  die  Ordnung  einer  besonnenen  Tätigkeit. 

^)  §  2.  Das  Bedürfnis  der  praktischen  Theologie  entsteht  also  nur 
für  den,  in  welchem  religiöses  Interesse  und  wissenschaftlicher  Geist  ver- 
eint sind. 

^)  §  3.    Die   Einwirkung   auf   die   Kirche    ohne   wissenschaftlichen 

Geist  ist  nur  eine  unbewußte,  und  jede  ohne  Interesse  am  Christentum  ist 

nur  eine  zufällige. 

7* 


100  Dritter  Teil.  §  259—261. 

Zustand  nacli  seinem  Begriif  von   dem  Wesen  des  Christen- 
tums und  seiner  besonderen  Kircliengemeinschaft  beurteilt.^) 

Denn  da  die  Aufgabe  im  allgemeinen  nur  Kirchenleitung  ist:  so  kann  er 
nur  jedesmal  alles,  was  ihm  gut  erscheint,  fruchtbar  machen,  das  Ent- 
gegengesetzte aber  unwirksam  machen  und  umändern  wollen. 

§  260.  Die  praktische  Theologie  will  nicht  die  Aufgaben 
richtig  fassen  lehren;  sondern  indem  sie  dieses  voraussetzt, 
hat  sie  es  nur  zu  tun  mit  der  richtigen  Verfahrungsweise 
bei  der  Erledigung  aller  unter  den  Begriff  der  Kirchenleitung 
zu  bringenden  Aufgaben. 

Für  die  richtige  Fassung  der  Aufgaben  ist  durch  die  Theorie  nichts 
weiter  zu  leisten,  wenn  philosophische  und  historische  Theologie  klar 
und  im  richtigen  Maß  angeeignet  sind.^)  Denn  alsdann  kann  auch  der 
gegebene  Zustand  in  seinem  Verhalten  zum  Ziel  der  Kirchenleitung 
richtig  geschätzt,  mithin  auch  die  Aufgabe  demgemäß  gestellt  werden. 
Wohl  aber  müssen  zum  Behuf  der  Vorschriften  über  die  Verfahrungs- 
weise die  Aufgaben,  indem  man  vom  Begriff  der  Kirchenleitung  aus- 
geht, klassifiziert  und  in  gewissen  Gruppen  zusammengestellt  werden. 

§  261.  Will  man  diese  Regeln  als  Mittel,  wodurch  der 
Zweck  erreicht  werden  soll,  betrachten :  so  müßte  doch  wegen 
Unterordnung  der  Mittel  unter  den  Zweck  alles  aus  diesen 
Vorschriften  ausgeschlossen  bleiben,  was,  indem  es  vielleicht 
die  Lösung  einer  einzelnen  Aufgabe  förderte,  doch  zugleich 
im  allgemeinen  das  kirchliche  Band  lösen  oder  die  Kraft  des 
christlichen  Prinzips  schwächen  könnte.^) 
Der  FaU  ist  so  häufig,  daß  dieser  Kanon  notwendig  wird.     Offenbar  kann 


^)  S.  73.  §  4.  Jedem  besonnen  Einwirkenden  entsteht  sein  jedesmaliger 
Zweck  durch  die  Art,  wie  ihm  die  Ereignisse  in  der  Kirche  aus  dem  Stand- 
punkt der  philosophischen  Theologie  erscheinen. 

§  5.  Ein  Ereignis  als  solches  ist  aber  nur  in  der  Verbindung 
des  Einzelnen  mit  dem  Allgemeinen  und  in  der  Einheit  der  Gegenwart  und 
Vergangenheit  gesetzt. 

^)  §  6.  Die  praktische  Theologie  beruht  also  sowohl  der  Materie, 
als  der  Form  nach  auf  den  beiden  vorigen  Zweigen. 

^)  §  7.  Die  technischen  Vorschriften,  welche  die  praktische  Theo- 
logie aufstellt,  haben  also  zum  Gegenstand  die  Wahl  und  Anwendung  der 
Mittel  zu  den  einem  jeden  entstehenden  Zwecken. 


§  262—263.  Einleitung.  101 

die  einzelne  gute  Wirkung  eines  solchen  Mittels  nur  eine  zufällige  sein ; 
wenn  sie  nicht  auf  einem  bloßen  Schein  beruht,  sodaß  die  Lösung  doch 
nicht  die  richtige  ist. 

§  262.  Ebenso,  weil  der  Handelnde  die  Mittel  nur  an- 
wenden kann  mit  derselben  Gesinnung-,  vermöge  deren  er  den 
Zweck  will:  so  kann  keine  Aufgabe  gelöst  werden  sollen 
durch  Mittel,  welche  mit  einem  von  beiden  Elementen  der 
theologischen  Gesinnung  streiten.^) 

Auch  dieses  beides,  Verfahrungsarten ,  welche  dem  wissenschaftlichen 
Geist  zuwiderlaufen,  und  solche,  welche  das  kirchliche  Interesse  im 
ganzen  gefährden,  indem  sie  es  in  irgend  einer  einzelnen  Beziehung 
zu  fördern  scheinen,  sind  häufig  genug  vorgekommen  in  der  kirchlichen 
Praxis, 

§   263.     Da   aber   alle   besonnene   Einwirkung   auf   die 

Kirche,  um  das  Christentum  in  derselben  reiner  darzustellen, 

nichts  anders  ist,  als  Seelenleitung ;  andere  Mittel  aber  hiezu 

gar  nicht  anwendbar  sind,   als  bestimmte  Einwirkungen  auf 

die  Gemüter,  also  wieder  Seelenleitung :  so  kann  es,  da  Mittel 

und  Zweck  gänzlich  zusammenfallen,  nicht  fruchtbar  sein,  die 

Regeln  als  Mittel  zu  betrachten,  sondern  nur  als  Methoden.-) 

Denn  Mittel  muß  etwas  außerhalb  des  Zweckes  Liegendes,  mithin  nicht 
in  und  mit  dem  Zwecke  selbst  Gewolltes  sein,  welches  hier  nur  von 
dem  Alleräußerlichsten  gesagt  werden  kann,  während  alles  näher  Liegende 
selbst  in  dem  Zweck  liegt,  und  ein  Teil  desselben  ist.    Welches  Ver- 


S.  73.  §  8.  Keine  dieser  Vorschriften  darf  also  wegen  der  Unterord- 
nung der  Mittel  unter  den  Zweck  etwas  in  sich  haben,  was  beitragen 
müßte,  das  Kirchenband  zu  lösen  oder  die  Gewalt  des  christlichen  Prinzips 
irgendwie  zu  schwächen. 

1)  S.  74.  §  9.  Da  jede  wirkliche  Anwendung  eines  Mittels  unter  dem  all- 
gemeinen Prinzip  des  Handelnden  steht:  so  darf  auch  nichts  einem  von 
beiden  Elementen  der  theologischen  Gesinnung  zuwiderlaufen. 

2j  §  10.  Da  es  auf  dem  kirchlichen  Gebiet  kein  anderes  Objekt  des 
Einwirkens  gibt,  als  die  Gemüter:  so  fallen  alle  Kegeln  der  praktischen 
Theologie  unter  die  Form  der  Seelenleitung. 

§  11.  Da  auch  der  Zweck  aller  Einwirkung  auf  die  Kirche  nichts 
anders  sein  kann,  als  Seelenleitung:  so  fallen  Mittel  und  Zweck  völlig  zu- 
sammen. 


102  Dritter  Teil.  §  264—266. 

Mltnis  des  Teils   zum  Ganzen  in   dem  Ausdruck  Methode   das  Vor- 
herrschende ist. 

§  264.  Die  in  der  Kirchenleitung  vorkommenden  Auf- 
gaben klassifizieren  und  die  Verfahrungsweisen  angeben,  läßt 
sich  beides  aufeinander  zurückführen. 

Denn  jede  besondere  Aufgabe,  sowohl  ihrem  Begriff  nach,  als  in  ihrem 
•  einzelnen  Vorkommen,  ist  ebenso  ein  Teil  des  Gesamtzweckes,  nämlich 
der  Kirchenleituug ,  wie  jede  bei  den  besondern  Aufgaben  anzu- 
wendende Methode  nur  ein  Teil  derselben  ist.  Daher  läßt  sich  dies 
nicht  wie  zwei  Hauptteile  der  Disziplin  auseinanderhalten,  indem  die 
Klassifikation  auch  nur  die  Methode  angibt,  um  die  Gesamtaufgabe 
zu  lösen. 

§  265.  Alle  Vorschriften  der  praktischen  Theologie  können 
nur  allgemeine  Ausdrücke  sein,  in  denen  die  Art  und  Weise 
ihrer  Anwendung  auf  einzelne  Fälle  nicht  schon  mit  bestimmt 
ist  (vgl.  §  132),  d.  h.  sie  sind  Kunstregeln  im  engeren  Sinne 
des  Wortes.^) 

In  allen  Eegeln  einer  mechanischen  Kunst  ist  jene  Anwendung  schon 
mit  enthalten;  wogegen  die  Vorschriften  der  höheren  Künste  alle  von 
dieser  Art  sind,  sodaß  das  richtige  Handeln  in  Gemäßheit  der  Kegeln 
immer  noch  ein  besonderes  Talent  erfordert,  wodurch  das  Rechte  ge- 
funden werden  muß. 

§  266.  Die  Regeln  können  daher  nicht  jeden,  auch  unter 
Voraussetzung  der  theologischen  Gesinnung,  zum  praktischen 
Theologen  machen,  sondern  nur  demjenigen  zur  Leitung  dienen, 
der  es  sein  will  und  es  seiner  innern  Beschaffenheit  und 
seiner  Vorbereitung  nach  werden  kann.^) 

Damit  soll  weder  gesagt  sein,  daß  zu  dieser  Ausübung  ganz  besondere, 
nur  wenigen  verliehene  Naturgaben  gehören,  noch  auch,  daß  die  ge- 
samte Vorbereitung  dem  Entschluß  vorausgehen  müsse. 


^)  S.  74.  §  12.  Alle  praktisch  theologischen  Vorschriften  können  nur 
relativ  und  unbestimmt  ausgedrückt  werden,  indem  sie  erst  durch  das 
Individuelle  jedes  gegebenen  Falles  und  nur  für  ihn  völlig  bestimmt  und 
positiv  werden. 

2)  §  13.    Daher    können    sie,    wie   alle  Kuustregeln,    den  Künstler 
nicht  bilden,  sondern  nur  leiten. 


§  267—269.  Einleitung.  103 

§  267.  Wie  die  christliche  Theologie  überhaupt,  mithin 
auch  die  praktische,  sich  erst  ausbilden  konnte,  als  das 
Christentum  eine  geschichtliche  Bedeutung  erhalten  hatte  (vgl. 
^§  2—5),  und  dieses  nur  vermittelst  der  Organisation  der 
christlichen  Gemeinschaft  möglich  war:  so  beruht  nun  alle 
eigentliche  Kirchenleitung  auf  einer  bestimmten  Gestaltung 
des  ursprünglichen  Gegensatzes  zwischen  den  Hervorragenden 
und  der  Masse. ^) 

Ohne  einen  solchen,  der  mannigfachsten  Abstufungen  fähigen,  in  dem 
Verhältnis  der  Mündigen  zu  den  Unmündigen  aber  naturgemäß  be- 
gründeten Gegensatz  könnte  aller  Fortschritt  zum  Besseren  nur  in 
einer  gleichmäßigen  Entvricklung  erfolgen,  nicht  durch  eine  besonnene 
Leitung.  Ohne  eine  bestimmte  Gestaltung  desselben  aber  könnte  die 
Leitung  nur  ein  Veihältnis  zwischen  einzelnen  sein,  die  Gemeinschaft 
also  nur  aus  losen  Elementen  bestehen,  und  nie  als  Ganzes  wirken, 
woran  doch  die  geschichtliche  Bedeutung  gebunden  ist. 

§  268.  Diese  bestimmte  Gestaltung  ist  die  zum  Behuf 
der  Ausgleichung  und  Förderung  festgestellte  Methode  des 
Umlaufs,  vermöge  deren  die  religiöse  Kraft  der  Hervor- 
ragenden die  Masse  anregt,  und  wiederum  die  Masse  jene 
auffordert. 

Daß  auf  diese  Weise  eine  Ausgleichung  erfolgt,  und  die  Masse  den  Her- 
Torragenden  näher  tritt,  ist  natürlich;  Förderung  aber  ist  nur  zu  er- 
reichen, wenn  mau  die  religiöse  Kraft  überhaupt  und  namentlich  unter 
den  Hervorragenden  in   der  Gemeinschaft   als   zunehmend  voraussetzt. 

§  269.  In  der  Übereinstimmung  mit  allem  Bisherigen 
werden  wir  sonach  in  der  christlichen  Kirchenleitung  vor- 
nehmlich zu  betrachten  haben  die  Gestaltung  des  Gegen- 
satzes behufs  der  Wirksamkeit  vermittelst  der  religiösen  Vor- 
stellungen, und  die  behufs  des  Einflusses  auf  das  Leben,  oder 


^)  S.  74.  §  14.  Die  praktische  Theologie  kann  in  ihrem  eigentümlichen 
-Charakter  nur  in  dem  Maß  sich  entwickeln,  als  in  der  Kirche  der  Gegen- 
satz zwischen  Klerus  und  Laien  heraustritt. 

S.  75.  §  15.  Die  möglichen  Gegenstände  der  Einwirkimg  lassen  sich 
■also  ebenso  zusammenfassen,  ivie  die  Wahrnehmungen  des  Zustandes  einer 
ausgebildeten  Kirche  in  einem  gegebenen  Moment. 


104  Dritter  Teil.  §  269—271, 

die  leitende  Tätigkeit  im  Kultus  und  die  in  der  Anordnung^ 

der  Sitte. 

Beides  unterscheidet  sich  zwar  sehr  bestimmt  in  der  Erscheinung,  ist 
aber  der  Formel  nach  allerdings  nur  ein  unvollkommner  Gegensatz. 
Denn  der  Kultus  selbst  besteht  nur  als  geordnete  Sitte ;  und  da  es  den 
Anordnungen  an  aller  äußeren  Sanktion  fehlt,  so  beruht  ihre  Giltig- 
keit  auch  nur  auf  der  Wirksamkeit  vermittelst  der  Vorstellung.  Dies- 
zwiefache  Verhältnis  wird  aber  auch  sein  Eecht  behaupten. 

§  270.  Da  die  Hervorragenden  dieses  nur  sind  vermöge 
der  beiden  Elemente  der  theologischen  Gesinnung,  das  Gleich- 
gewicht von  diesen  aber  nirgend  genau  vorauszusetzen  ist: 
so  wird  es  auch  eine  leitende  Wirksamkeit  geben,  welche 
mehr  klerikalisch  ist,  und  eine  mehr  theologische  im  engeren 
Sinne  des  Wortes.^) 

Es  ist  nicht  nachzuweisen,  daß  diese  Differenz  mit  der  vorigen  zusam- 
menfällt, noch  weniger,  daß  sie  nur  das  eine  Glied  derselben  teilt; 
mithin  sind  beide  vorläufig  als  koordiniert  und  sich  kreuzend  zu  be- 
trachten. 

§  271.  Das  Christentum  wurde  erst  geschichtlich,  als 
die  Gemeinschaft  aus  einer  Verbindung  mehrerer  räumlich 
bestimmter  Gemeinden  bestand,  die  aber  auch  jede  den  Gegen- 
satz zur  Gestalt  gebracht  hatten,  als  wodurch  sie  erst  Ge- 
meinden wurden.  Daher  nun  gibt  es  eine  leitende  Wirk- 
samkeit, deren  Gegenstand  die  einzelne  Gemeinde  als  solche 
ist,  und  die  also  nur  eine  lokale  bleibt,  und  eine  auf  das 
Ganze  gerichtete,  w^elche  die  organische  Verbindung  der  Ge- 
meinen, das  heißt  die  Kirche,  zum  Gegenstand  hat.'^j 


^)  S.  76.  §  20.  Da  die  Elemente  der  theologischen  Gesinnung  nirgends, 
als  im  Gleichgewicht  anzusehen  sind:  so  geht  jede  Einwirkung  von  einem 
Übergewicht  entweder  der  klerikalischen  oder  der  rein  theologischen  Tätig- 
keit aus. 

^)  S.  75.  §  16.  Da  die  Kirche  ein  organisches  Ganzes  ist:  so  ist  jede  Ein- 
wirkung auf  dieselbe  entweder  eine  allgemeine  oder  eine  lokale,  jedoch 
so,  daß  dieser  Gegensatz  immer  nur  ein  relativer  ist. 

§  17.    Der  kleinste  organische  Teil,  worauf  eine  Einwirkung  ge- 
richtet sein  kann,  ist  eine  Gemeinde. 


§  272—274.  Emleitmig.  105 

Auch  dieser  Gegensatz  ist  unvollständig,  indem  mittelbar  aus  der  Leitung 
der  einzelnen  Gemeine  etwas  für  das  Ganze  hervorgehen  kann;  und 
ebenso  kann  eine  aus  dem  Standpunkt  des  Ganzen  bestimmte  leitende 
Tätigkeit  zufällig  nur  eine  einzelne  Gemeine  treffen.  Im  wirklichen 
Verlauf  findet  sich  beides  sehr  bestimmt. 

§  272.  In  Zeiten  der  Kirchentrennimg  sind  nur  die  Ge- 
meinden Eines  Bekenntnisses  organisch  verbunden,  und  die 
allgemeine  leitende  Tätigkeit  in  ihrer  Bestimmtheit  nur  auf 
diesen  Umfang  beschränkt.^) 

Es  gibt  allerdings  auch  Einwirkungen  von  einer  Kirchengemeinschaft 
aus  auf  andere;  aber  sie  können  nicht  den  Charakter  einer  leitenden 
Tätigkeit  haben.  —  Aber  auch  wenn  keine  solche  Trennung  wäre, 
würden  doch  bei  der  gegenwärtigen  Verbreitung  des  Christentums 
äußere  Gründe  das  Bestehen  einer  allgemeinen,  alle  Christengemeinen 
auf  Erden  umfassenden  Kirchenleitung  unmöglich  machen. 

§  273.  Da  nun  die  Verfahrungsweisen  sich  richten  müssen 
nach  der  Art,  wie  der  Gegensatz  gefaßt  und  gestaltet  ist:  so 
muß  auch  die  Theorie  der  Kirchenleitung  eine  andere  sein 
für  jede  anders  konstituierte  Kircheugemeinschaft ;  und  wir 
können  daher  eine  praktische  Theologie  nur  aufstellen  für  die 
evangelische  Kirche. 

Ja  nicht  einmal  ganz  für  diese,  da  auch  innerhalb  ihrer  zu  viele  Ver- 
schiedenheiten des  Kultus  und  besonders  der  Verfassung  vorkommen. 
Wir  werden  daher  nur  die  deutsche  im  Auge  haben. 

§  274.  Wir  sehen  den  zuletzt  in  §  271  ausgesprochenen 
Gegensatz  als  den  obersten  Teilungsgrund  an,  und  nennen 
die  leitende  Tätigkeit  mit  der  Richtung  auf  das  Ganze  das 
Kirchenregiment,  die  mit  der  Richtung  auf  die  einzelne 
Lokalgemeine  den  Kirchen  dienst.^) 


^)  S.  75.  §  18.  In  einer  Periode,  worin  ein  Gegensatz  dominiert,  ist  die 
höchste  unmittelbare  Einheit  für  eine  reale  Einwirkung  die  Kirchenpartei, 
und  also  die  Praxis  eines  jeden  durch  den  Geist  seiner  Partei  bedingt. 

§  19.    Diese  Beschränkung   der  Praxis  nimmt  nur  ab,   insofern 
die  Spannung  der  Gegensätze  selbst  sich  auflöst. 

2)  S.  76.  §  21,  Die  auf  das  Ganze  gerichtete  Tätigkeit  nennen  wir  das 
Kirchenregiment  im  engeren  Sinne,  als  ein  Übergewicht  des  einzelnen  über 
das  Ganze  bezeichnend. 


106  Dritter  Teil.  §  275—276. 

Nicht  als  ob  es  in  der  Natur  der  Sache  läge,  daß  dies  die  Haiipteinteilung 
sein  müßte,  sondern  weil  dies  dem  gegenwärtigen  Zustand  unserer 
Kirche  das  Angemessenste  ist.  Es  gibt  anderwärts  Verhältnisse,  in 
denen  von  Kirchenregiment  in  diesem  Sinne  wenig  zu  sagen  wäre, 
weil  es  nur  ein  sehr  loses  Band  ist,  wodurch  eine  Mehrheit  von  Ge- 
meinen zusammengehalten  wird.  —  Für  unsere  beiden  Teile  bietet  sich 
übrigens  noch  eine  andere  Benennungsweise  dar,  nämlich,  wenn  der 
eine  Kirchenregiment  heißt,  den  andern  Gemeinderegiment  zu  nennen. 
Die  obige  ist  aber  aus  demselben  Grunde  vorgezogen  worden,  aus 
welchem  dies  die  Haupteinteilung  geworden,  weil  nämlich  der  Verband 
der  Gemeinen,  wie  wir  ihn  vorzugsweise  Kirche  nennen,  hervorragt, 
und  es  daher  angemessen  ist,  auch  den  andern  Teil  auf  diese  Gesamt- 
heit zu  beziehen;  da  denn  die  Pflege  eines  einzelnen  Teils  nur  er- 
scheinen kann  als  ein  Dienst,  der  dem  Ganzen  geleistet  wird. 

§  275.    Der  Inhalt   der   praktischen  Theologie  erschöpft 

sich  in  der  Theorie  des  Kircheuregimentes  im  engeren  Sinne 

und  in  der  Theorie  des  Kirchendienstes. ^) 

Die  oben  §§  269  und  270  angegebenen  Gegensätze  müssen  nämlich  in 
diesen  beiden  Hauptteilen  aufgenommen  und  durchgeführt  werden. 

§  276.  Die  Ordnung  ist  an  und  für  sich  gleichgiltig. 
Wir  ziehen  vor,  den  Anfang  zu  machen  mit  dem  Kirchen- 
dienst, und  das  Kirchenregiment  folgen  zu  lassen.*) 

Gleichgiltig  ist  sie,  weil  auf  jeden  Fall  die  Behandlung  des  voran- 
gehenden Teiles  doch  auf  den  Begriff  des  hernach  zu  behandelnden, 
und  auf  die  mögliche  verschiedene  Gestaltung  desselben  Kücksicht 
nehmen  muß.  —  Es  ist  aber  die  natürliche  Ordnung,  daß  diejenigen, 
welche  sich  überhaupt  zur  Kirchenleitung  eignen,  ihre  öffentliche  Tätig- 
keit mit  dem  Kirchendienste  bes'innen. 


S.  75.  §  22.  Die  auf  das  Einzelne  gerichtete  lokale,  weil  sie  nur  im 
Namen  des  Ganzen  ausgeübt  werden  kann,  nennen  wir  als  Handlung  des 
einzelnen  den  Kirchendienst. 

^)  S.  76.     §  23.    Die    praktische    Theologie  ist  demnach   erschöpft  in   der 
Theorie  des  Kirchenregimentes  im    engeren  Sinn  und  des  Kirchendienstes. 
*)  Anm. ;  In  der  ersten  Auflage  ist  die  Theorie  des  Kirchenregimentes 
der  des  Kirchendienstes  vorangestellt. 


§  277—279.  Erster  Abschnitt.  107 

Erster  Abschnitt. 
Die  Grundsätze  des  Kirchendienstes. 

§  277.  Die  örtliche  Gemeine,  als  ein  Inbegriff  in  dem- 
selben Ranm  lebender  nnd  zu  gemeinsamer  Frömmigkeit  ver- 
bundener christlicher  Hauswesen  gleichen  Bekenntnisses,  ist 
die  einfachste  vollkommen  kirchliche  Organisation,  innerhalb 
welcher  eine  leitende  Tätigkeit  stattfinden  kann.^) 

Der  Sprach  gebrauch  gibt  noch  Landesgemeiue,  Kreisgemeine:  aber  hier 
findet  nicht  immer  eben  eine  gemeinsame  tjbung  der  Frömmigkeit 
statt.  Er  gibt  uns  auch  Hausgemeine;  allein  hier  ist  die  leitende 
Tätigkeit  nicht  eine  eigentümlich  vom  religiösen  Interesse  ausgehende. 

§  278.  Der  Gegensatz  überwiegender  Wirksamkeit  und 
überwiegender  Empfänglichkeit  muß,  wenn  ein  Kirchendienst 
stattfinden  soll,  wenigstens  für  bestimmte  Momente  überein- 
stimmend fixiert  sein.-j 

Ohne  bestimmte  Momente  kein  gemeinsames  Leben;  und  ohne  ttberein- 
kommen,  wer  mitteilend  sein  soll,  und  wer  empfänglich,  wäre  es  nur 
Verwirrung.  Die  Verteilung  wird  eine  willkürliche  bei  Voraussetzung 
der  größten  Gleichheit;  aber  auch  bei  der  größten  Ungleichheit  muß 
doch  Empfänglichkeit  allen  zukommen.  —  Die  Bestimmung  dieses  Ver- 
hältnisses für  jede  Gemeine  gehört  der  Natur  der  Sache  nach  dem 
Kirchenregiment  an. 

§  279.  Die  leitende  Tätigkeit  im  Kirchendienst  ist  (vgl. 
§  269)  teils  die  erbauende,  im  Kultus  oder  dem  Zusammen- 
treten der  Gemeine  zur  Erweckung  und  Belebung  des  frommen 
Bewußtseins,  teils   die  regierende,   und  zwar  hier  nicht  nur 


^)  S.  84.  §  1.  Die  leitende  Tätigkeit,  welche  nicht  auf  das  Ganze  der 
Kirche  gerichtet  ist,  kann  nur  die  Gemeine,  als  die  kleinste  vollkommene 
religiöse  Organisation,  zum  Gegenstande  haben. 

^)  S.  85,  §  2  Da  der  leitenden  Tätigkeit  ein  Objekt  gegenüber  stehen 
muß.  in  welchem  ein  Übergewicht  von  Eezeptivität  gesetzt  ist:  so  kann 
der  Kirchendienst,  und  also  auch  seine  Theorie,  nur  in  dem  Maß  hervor- 
treten, als  der  Gegensatz  zwischen  Klerus  und  Laien  sich  wenigstens  der 
Verrichtung  nach  gebildet  hat. 


108  Dritter  Teil.  §  279—281. 

durch  Anordnung  der  Sitte,  sondern  auch  durch  Einfluß  auf 
das  Leben  der  einzelnen.^) 

Diese  zweite  Seite  konnte  oben  (§  269)  nur  so  bezeichnet  werden,  wie  e& 
auch  für  das  Kirchenregiment  gilt.  Der  Earchendienst  aber  würde 
einen  großen  Teil  seiner  Aufgabe  verfehlen,  wenn  die  leitende  Tätig- 
keit sich  nicht  auch  einzelne  zum  Gegenstand  machte. 

§  280.  Die  erbauende  Wirksamkeit  im  christlichen  Kultus 
beruht  überwiegend  auf  der  Mitteilung  des  zum  Gedanken 
gewordenen  frommen  Selbstbewußtseins,  und  es  kann  eine 
Theorie  darüber  nur  geben,  sofern  diese  Mitteilung  als  Kunst 
kann  angesehen  Averden.^) 

Das  überwiegend  gilt  zwar  (vgl.  §  49)  vom  Christentum  überhaupt, 
in  diesem  aber  wiederum  vorzüglich  von  dem  evangelischen.  —  Ge- 
danke ist  hier  im  weiteren  Sinne  zu  nehmen,  in  welchem  auch  die 
Elemente  der  Poesie  Gedanken  sind.  Kunst  in  gewissem  Sinne  muß 
in  jeder  zusammenhängenden  Folge  von  Gedanken  sein.  Die  Theorie 
muß  beides  zugleich  umfassen,  in  welchem  Grade  Kunst  hier  gefordert 
wird  oder  zugelassen,  und  durch  welche  Verfahruugsweisen  die  Ab- 
sicht zu  erreichen  ist. 

§  281.  Das  Materiale  des  Kultus  im  engeren  Sinne 
können  nur  solche  Vorstellungen  sein,  welche  auch  im  In- 
begriif  der  kirchlichen  Lehre  ihren  Ort  haben ;  und  die  Theorie 
hat  also,  was  den  Stoif  betrifft,  zu  bestimmen,  was  für 
Elemente  der  gemeinen  Lehre,  und  in  welcher  Weise  [sie]  sich 
für  diese  Mitteilung  eignen.*) 


^)  S.  85.  §  3.  Im  Kultus  steht  in  diesem  Sinne  die  gesamte  Gemeine  dem 
Kleriker  gegenüber;  im  religiösen  Zusammenleben  überhaupt  einzelne,  aber 
als  Glieder  der  Gemeine  und  in  Bezug  auf  sie. 

2)  §  4.  Da  der  Kultus  in  das  Gebiet  der  Kunst  fällt  und  aus  Kunst- 
elementen zusammengesetzt  ist:  so  ist  die  Theorie  des  Kultus  im  allge- 
meinen die  religiöse  Kunstlehre. 

3)  §  5  [=  §  282  der  zweiten  Auflage].  Sie  hat  teils  den  religiösen 
Stil  in  jeder  Kunst  zu  bestimmen,  teils  die  Art,  wie  aus  ihnen  insgesamt 
das  religiöse  Kunstwerk,  der  Kultus,  zu  bilden  ist. 

S.  86.     §  6.    Was  im  Kultus  in  das  Gebiet  der  Sprache  fällt,   muß   sich 
reduzieren  lassen  auf  den  Lehrbegriff. 

§  7.    Also  ist  auch  die  Vollkommenheit  aller  dieser  Elemente  dea 


§  282-284.  Erster  Abschnitt.  109 

Materiale  im  engem  Sinne  sind  diejenigen  Vorstellungen,  welche  für 
sich  selbst  sollen  mitgeteilt  werden,  im  Gegensatz  derer,  die  diesen 
nur  dienen  als  Erläuterung  und  Darstellungsmittel.  —  Und  da  dieselben 
Vorstellungen  in  der  mannigfaltigsten  Weise  vom  Volksmäßigen  bis 
zum  streng  Wissenschaftlichen,  von  der  Umgangssprache  bis  zur  red- 
nerischen und  dichterischen  verarbeitet  sind :  so  muß  bestimmt  werden, 
welche  von  diesen  Schattierungen  allgemein  oder  in  verschiedener  Be- 
ziehung sich  für  den  Kultus  eignen. 

§  282.  Da  der  christliche  Kultus,  und  besonders  auch 
der  evangelische,  aus  prosaischen  und  poetischen  Elementen 
zusammengesetzt  ist:  so  ist,  was  die  Form  anlangt,  zuerst 
zu  handeln  von  dem  religiösen  Stil,  dem  prosaischen  sowohl, 
als  dem  poetischen,  wie  er  dem  Christentum  eignet;  dann 
aber  auch  von  den  verschiedenen  Mischungsverhältnissen 
beider  Elemente,  wie  sie  in  dem  evangelischen  Kultus  vor- 
kommen können. 

Die  Theorie   der  kirchlichen  Poesie   gehört  wenigstens   insoweit  in  die 

Lehre  vom  Kirchendienst,  als  auch  die  Auswahl  aus  dem  Vorhandenen 

nach  denselben  Grundsätzen  muß  gemacht  werden. 

§  283.  Einförmigkeit  und  Abwechselung  haben  auf  die 
Wirksamkeit  aller  Darstellungen  dieser  Art  unverkennbaren 
Einfluß ;  daher  ist  auch  die  Frage  zu  beantworten,  inwiefern, 
rein  aus  dem  Interesse  des  Kultus,  der  besseren  Einsicht  die 
Eücksicht  auf  das  Bestehende  aufgeopfert  werden  muß,  oder 
umgekehrt. 

Zunächst  scheint  die  Frage  nur  hieher  zu  gehören  in  dem  Maß,  als  sie 
innerhalb  der  Gemeine  selbst  entschieden  werden  kann,  ohne  Zutritt 
des  Kirchenregiments.  Allein  da  die  Gemeine  doch  auch  ganz  frei 
sein  kann  in  dieser  Beziehung,  so  wird  diese  Sache  am  besten  ganz 
hieher  gezogen. 

§  284.  So  sehr  es  auch  dem  Geist  der  evangelischen 
Kirche  gemäß  ist,  die  religiöse  Rede  als  den  eigentlichen 
Kern  des  Kultus  anzusehen:  so  ist  doch  die  gegenwärtig 
unter  uns  herrschende  Form  derselben,  wie  wir  sie  eigentlich 


Kultus  zu  bestimmen  nach  ihrem  Verhältnis  zum  Lehrbegriff,  dessen  Fest- 
setzung daher  die  besondere  Theorie  dieses  Teiles  ausmacht. 


110  Dritter  Teil.  §  284—287, 

durch   den   Ausdruck   Predigt   bezeichnen,    in    dieser   Be- 
stimmtheit nur  etwas  Zufälliges.^) 

Dies  gellt  hinreichend  schon  aus  der  Geschichte  unseres  Kultus  hervor; 
noch  deutlicher  wird  es,  wenn  man  untersucht,  wovon  die  große  Un- 
gleichheit in  der  Wirksamkeit  dieser  Vorträge  eigentlich  abhängt. 

§  285.    Da  die  Disziplin,  welche  wir  Homiletik  nennen^ 

gewöhnlich  diese  Form  als  feststehend  voraussetzt,  und  alle 

Regeln  hauptsächlich   auf  diese   bezieht:  so  wäre  es  besser, 

diese  Beschränktheit  fahren  zu  lassen,  und  den  Gegenstand 

auf  eine  allgemeinere  und  freiere  Weise  zu  behandeln.^) 

Der  Unterschied  zwischen  eigentlicher  Predigt  und  Homilie,  welcher  seit 
einiger  Zeit  so  berücksichtigt  zu  werden  anfängt,  daß  man  für  die 
letztere  eine  besondere  Theorie  aufstellt,  tut  der  Forderung  unseres 
Satzes  bei  weitem  nicht  Genüge. 

§  286.  Fast  überall  finden  wir  in  der  evangelischen 
Kirche  den  Kultus  aus  zwei  Elementen  bestehend:  dem  einen, 
welches  ganz  der  freien  Produktivität  dessen,  der  den  Kirchen- 
dienst verrichtet,  anheimgestellt  ist,  und  einem  andern,  worin 
dieser  sich  nur  als  Organ  des  Kirchenregimentes  verhält.") 

In  der  ersten  Hinsicht  ist  er  vorzüglich  der  Prediger,  in  der  andern 
der  Liturg. 

§  287.  Von  dem  liturgischen  Element  kann  hier  nur 
die  Rede  sein  unter  der  Voraussetzung,  daß  und  in  welchem 
Maß  eine  freie  Selbstbestimmung  auch  hiebei  noch  statt- 
findet. 


^)  S.  87.  §  13.  Die  religiöse  Eede  ist  zwar  ein  wesentliches  Element  des 
Kultus;  aber  ihre  Form  sowohl,  als  der  Grad  ihres  Hervortretens  vor  den 
übrigen,  ist  sehr  zufällig. 

2)  §  14.  Die  Theorie  ihrer  Form  ist  ein  Teil  der  religiösen  Kunst- 
lehre; die  ihrer  Materie  muß  sich  ergeben  aus  dem  Verhältnis  der  Elemente 
des  Kultus  zum  Lehrbegriff. 

^)  S.  86.  §  8.  Der  Kleriker  ist  im  Kultus  teils  Kepräsentant  der  kon- 
stituierten kirchlichen  Autorität  als  Liturg,  teils  handelt  er  mit  individueller 
Selbsttätigkeit  als  Prediger. 

§    9.    Beide  Handlung siveisen  sind  eben  so  wenig  außer  einander, 
als  Freiheit  und  Gebundenheit  des  Kultus  sich  außer  einander  darstellen^ 


§  288—290.  Erster  Abschnitt.  Hl 

Die  Frage  über  die  Selbstbestimmung'  kann  nur  ans  dem  Standpunkt  des 
Kirchenregiments  entschieden  werden.  Hier  könnte  sie  es  nur,  sofern 
nachzuweisen  wäre,  daß  eine  gänzliche  Verneinung  mit  dem  Begriff 
des  Kultus  in  der  evangelischen  Kirche  streitet. 

§  288.  Da  der  Kirchendienst  im  Kultus  wesentlich  an 
organische  Tätigkeiten  gebunden  ist,  welche  eine  der  Hand- 
lung gleichzeitige  Wirkung  hervorbringen:  so  ist  zu  ent- 
scheiden, ob  und  inwiefern  auch  diese  ein  Gegenstand  von 
Kunstregeln  sein  können,  und  solche  sind  demgemäß  aufzu- 
stellen. 

Die  Eegeln  wären  dann  eine  Anwendung  der  Mimik  in  dem  weiteren 
Sinne  des  Wortes  auf  das  Gebiet  der  religiösen  Darstellung. 

§  289.  Da  die  Handlungen  des  Kirchendienstes  an  eine 
beschränkte  Räumlichkeit  gebunden  sind,  welche  ebenfalls 
durch  ihre  Beschaffenheit  einen  gleichzeitigen  Eindruck  machen 
kann:  so  ist  zu  entscheiden,  inwiefern  ein  solcher  zulässig 
ist  oder  wünschenswert,  und  demgemäß  Eegeln  darüber  auf- 
zustellen. 

Da  die  Umgrenzung  des  Eaumes  nur  eine  äußere  Bedingung,  mithin 
Nebensache,  nicht  ein  Teil  des  Kultus  selbst  ist:  so  würden  die  Eegeln 
nur  sein  können  eine  Anwendung  der  Theorie  der  Verzierungen  auf 
das  Gebiet  der  religiösen  Darstellung. 

§  290.  Sehen  wir  lediglich  auf  den  Gegensatz  über- 
wiegend Produktiver  und  überwiegend  Empfänglicher  inner- 
halb   der  Gemeine,   sodaß  wir   die  letzteren   als  gleich  be- 


sondern  müssen  überall  ineinander  sein,  nur  in  verschiedenem  Verhältnis, 
und  können  nur  nach  Maßgabe  des  tibergewichtes  der  einen  Funktion  über 
die  andere  von  einander  gesondert  werden. 

S.  86.  §  10.  Daher  ist  die  doppelte  Aufgabe  zu  lösen,  wie  und  wodurch 
auch  in  den  liturgischen  Verrichtungen  die  individuelle  Freiheit  sich  zu 
offenbaren  habe,  und  icie  und  ivodurch  auch  in  den  freien  die  liturgische 
Repräsentation. 

S.  87.  §  11.  In  der  repräsentativen  Tätigkeit  muß  das  kirchlich  Be- 
stimmte oder  die  Vergangenheit  vorherrschen,  in  der  individuellen  hingegen 
das  Bestreben  nach  Fortbildung  oder  die  Zukunft. 

§  12.    Da  nun  jede  Sandlung  aus  beiden  zusammengesetzt  sein 
soll:  so  ist  die  Aufgabe  zu  lösen,  wie  sich  beides  vereinigen  läßt. 


112  Dritter  Teil.  §  290—293. 

trachten:  so  kann  es  in  der  Gemeine  eine  leitende  Tätigkeit 
geben,  welche  Gemeinsames  hervorbringt;  sofern  aber  unter 
den  Empfänglichen  ein  Teil  hinter  dem  Ganzen  zurückbleibt : 
so  ist  ihr  Zustand  als  Einzelner  Gegenstand  der  leitenden 
Tätigkeit.!) 

Die  letztere  ist  schon  unter  dem  Namen  der  Seelsorge  bekannt;  und 
wir  machen  mit  ihr  den  Anfang,  da  immer  die  Aufhebung  einer  solchen 
Ungleichheit  als  die  erste  Aufgabe  erscheint.  Erstere  nennen  wir  die 
anordnende,  und  sie  bringt  sowohl  Lebensweisen  hervor,  als  einzelne 
gemeinsame  Werke. 

§  291.  Gegenstände  der  Seelsorge  im  weiteren  Sinn  sind 
zunächst  die  Unmündigen,  in  der  Gemeine  zu  Erziehenden; 
und  die  Theorie  der  zur  Organisation  des  Kirchendienstes 
gehörenden,  auf  sie  zu  richtenden  Tätigkeit  wird  die  Kate- 
chetik  genannt. 

Der  Name  ist  nur  von  einer  zufälligen  Form  der  unmittelbaren  Aus- 
übung hergenommen,  mithin  für  den  ganzen  Umfang  der  Aufgabe  zu 
beschränkt. 

§  292.    Das  katechetische  Geschäft  kann  nur  richtig  ge- 
ordnet werden,  wenn  zwischen  allen  Beteiligten  eine  Einigung 
über  den  Anfangspunkt  und  Endpunkt  desselben  besteht. 
Sofern  also  ist,  wenn   diese  Einigung  sich  nicht  von  selbst  ergibt,    das 
Geschäft  sowohl,  als  die  Theorie  abhängig  von  der  ordnenden  Tätigkeit. 
§  293.     Vermöge    des    Zweckes,    die    Unmündigen    den 
Mündigen   gleich   zu  machen,   sofern  nämlich  diese  die  Emp- 
fänglichen sind,  muß  das  Geschäft  aus  zwei  Teilen  bestehen: 


^)  S.  87.     §  15.    Die  klerikalische   Tätigkeit,    deren  unmittelbarer  Gegen- 
stand die  einzelnen  sind,  ist  die  Seelsorge. 

§  16.  Ohne  Seelsorge  kann  eine  Gemeine  weder  bestehen,  noch 
sich  reproduzieren. 

[Die  folgenden  §§  17 — 22  bilden  das  ungefähre  Gegenstück  zu 
§§  291—295  der  zweiten  Auflage.] 

§  17.  Die  einzelnen  können  nur  insofern  Gegenstand  einer  be- 
sonderen klerikal iscJien  Tätigkeit  werden,  als  sie  sich  nicht  in  der  Identität 
mit  der  Gemeine  befinden. 

S.  88.  §  18.  Die  Seelsorge  geht  also  zuerst  auf  die  Hervorbringung 
dieser  Identität  bei  denjenigen,  ivelche  einen  natürlichen  Anspruch  auf  die- 
selbe haben. 


§  293—295.  Erster  Abschnitt.  113 

•daß  sie  nämlich  ebenso  empfänglich  werden  für  die  erbauende 

Tätigkeit  und  auch  ebenso  (vgl.  §  279)  für  die  ordnende;  und 

■die  Aufgabe  ist,  beides  durch  ein  und  dasselbe  Verfahren  zu 

«erreichen. 

Das  erste  ist  die  Belebung  des  religiösen  Bewußtseins  nach  der  Seite  des 
Gedankens  hin,  das  andere  die  Erweckung  desselben  nach  der  Seite 
des  Impulses. 

§  294.  Sofern  aber  zugleich  der  Zweck  sein  muß,  sie  zu 
«iner  größeren  Annäherung  an  die  überwiegend  Selbsttätigen 
Yorzubereiten :  so  ist  zu  bestimmen,  wie  dies  geschehen  könne, 
ohne  ihr  Verhältnis  zu  den  andern  Mündigen  zu  stören. 

Wie  die  Katechetik  überhaupt  auf  die  Pädagogik  als  Kunstlehre  zurück- 
geht: so  ist  auch  dieses  eine  allgemein  pädagogische  Aufgabe,  die 
sich  aber  doch  in  Bezug  auf  das  religiöse  Gebiet  auch  besonders 
bestimmt. 

§  295.  Da  nach  beiden  Seiten  (vgl.  §  293)  hin,  nicht 
nur  die  Frömmigkeit  im  Gegensatz  gegen  das  sinnliche  Selbst- 
bewußtsein, sondern  auch  in  ihrem  christlichen  Charakter  und 
als  die  evangelische  zu  entwickeln  ist:  so  ist  auch  hier  das 
Verhalten  der  individuellen  und  universellen  Richtung  zu  ein- 
ander, sowohl  in  Bezug  auf  die  Ausgleichung  als  die  Fort- 
schreitung (vgl.  §  294),  zu  bestimmen. 

Es  ist  um  so  notwendiger,  diese  Aufgabe  in  die  Theorie  aufzunehmen,  als 


S.  88.  §  19.  Die  Ericeckung  des  religiösen  Prinzips  überhaupt  zum 
Bewußtsem  imd  zur  Selbsttätigkeit  ist  alle7nal  zugleich  auf  Hervorbringung 
der  individuellen  Form  der  Religiosität  in  einer  bestimmten  Kirchenpartei 
gerichtet. 

§  20.  Sie  ist  ebenso  allemal  zugleich  Aufregung  des  Veränder- 
lichen und  den  Augenblick  Charakterisierenden  und  Einpflanzung  des 
Bleibenden  und  Normalen. 

§  21.  Aus  diesen  Bestimmungen  sind  also  die  materiellen 
Prinzipien  der  Katechetik  abzuleiten. 

§  22.  Da  das  Verhältnis  des  Klerikers  zu  den  Katechumenen 
kein  vollständiges  Zusammenleben  ist,  und  nur  in  der  Bealität  des  Lebens 
sich  augenscheinlich  zeigen  kann,  wie  iveit  das  religiöse  Prinzip  jedesmal 
gebildet  ist:  so  kann  die  Aufgabe,  diesen  Mangel  zu  ersetzen,  nur  durch 
■die  Methodik  jenes  Verhältnisses  gelöset  werden. 

Schleierm.,  Th.  St.  8 


114  Dritter  Teil.  §  296—299- 

in  der  neuesten  Zeit  die  merkwürdigsten  Verirrnngen  in  diesem  Punkt 
vorgekommen  sind. 

§  296.  Aus  ähnlichem  Grunde  können  diejenigen  Ein- 
zelnen Gegenstände  einer  ähnlichen  Tätigkeit  werden,  welche 
als  religiöse  Fremdlinge  im  Umkreis  oder  der  Nähe  einer 
Gemeine  leben,  und  dies  erfordert  dann  eine  Theorie  über 
die  Behandlung  der  Konvertenden.^) 

Je  bestimmter  die  Grundsätze  der  Katechetik  aufgestellt  sind,  um  desto 
leichter  müssen  sich  diese  daraus  ableiten  lassen. 

§  297.    Da  aber  diese  Wirksamkeit  nicht  so  natürlich 

begründet  ist:  so  wären  auch  Merkmale  aufzustellen,  um  zu 

erkennen,  ob  sie  gehörig  motiviert  ist.^) 

Denn   es  kann  hier  auf  beiden  Seiten  gefehlt  werden,   durch  zu  leichtes 
Vertrauen  und  durch  zu  ängstliche  Zurückhaltung. 

§  298.    Bedingterweise  könnte   sich  eben  hier  auch  die 
Theorie  des  Missionswesens  anschließen,  weiche  bis  jetzt  nock 
so  gut  als  gänzlich  fehlt. 
Am   leichtesten   freilich   nur,   wenn  man  davon  ausgeht,   daß   alle  Be- 
mühungen dieser  Art  nur  gelingen,  wo  eine  christliche  Gemeine  bestehtv 

§  299.  Einzeln  können  solche  Mitglieder  der  Gemeine 
Gegenstände  für  die  Seelsorge  werden,  welche  ihrer  Gleichheit 
mit  den  andern  durch  innere  oder  äußere  Ursachen  yerlustig^ 
gegangen  sind;  und  die  Beschäftigung  mit  diesen  nennt  man 
die  Seel sorge  im  engeren  Sinne. ^) 


^)  S.  89.  §  23.  Inwiefern  bei  NichtChristen  ein  Verlangen  nach  dieser 
Identität  nur  durch  das  Anschauen  des  religiösen  Lebens  einer  Gemeine 
lebendig  erregt  werden  kann,  gehört  hieher  auch  die  Befriedigung  dieses 
Verlangens  oder  die  Vorbereitung  der  Konvertenden. 

2)  §  24.  Da  dieses  Verlangen  schon  eine  Eegung  des  religiösen 
Prinzips  nicht  nur,  sondern  auch  des  auf  gewisse  Weise  bestimmten  ist: 
so  hat  die  Theorie  festzusetzen,  was  und  wieviel  von  der  Identität  mit  der 
Gemeine  schon  da  sein  muß,  um  einen  Anspruch  auf  diesen  Teil  der 
Seelsorge  zu  begründen,  und  auf  welchem  Wege  das  Fehlende  zu  er- 
gänzen ist. 

^)  §  25.  Bei  denen,  welche  schon  zur  Gemeine  gehören,  kann  die 
Identität  mit  derselben  innerlich  oder  äußerlich  verletzt  sein. 

§  26.    Das  Bestreben,   den  krankhaften  Zustand  einzelner,  liege 


§  300—301.  Erster  Abschnitt.  115 

Da  nämlich  die  Gleichheit  in  der  Wirklichkeit  immer  nur  das  Kleinste 
der  Ungleichheit  ist:  so  sollen  diejenigen,  die  unter  den  Gleichen  die 
Letzten  sind,  hier  nicht  gemeint  sein ;  wie  denn  diese  auch  immer  vor- 
handen sind,  jene  aber  nur  zufällig. 

§  300.  Da  nun  in  diesem  Falle  ein  besonderes  Ver- 
hältnis anzuknüpfen  ist:  so  hat  die  Theorie  zunächst  zu  be- 
stimmen, ob  es  überall  auf  beiderlei  Weise  entstehen  kann, 
von  dem  Bedürftigen  aus  und  von  dem  Mitteilenden  aus,  oder 
unter  welchen  Verhältnissen  welche  Weise  die  richtige  ist.^) 

Die  große  Verschiedenheit  der  Behandlung  dieses  Gegenstandes  in  ver- 
schiedenen Teilen  der  evangelischen  Kirche  ist  bis  jetzt  weder  kon- 
struiert, noch  beseitigt. 

§  301.  Da  ein  solcher  Verlust  der  Gleichheit  aus  Innern 
Ursachen  sich  nur  in  einer  Opposition  zeigen  kann  gegen  die 
erbauende  oder  die  ordnende  Tätigkeit:  so  ist  demnächst  zu 
bestimmen,  ob  und  wie  im  Geist  der  evangelischen  Kirche  das 
Verfahren  aus  beiden  Elementen  (vgl.  §  279)  zusammen- 
zusetzen ist ;  endlich  auch,  ob,  wenn  die  Seelsorge  ihren  Zweck 
nicht  erreicht,  ihr  Geschäft  immer  nur  als  noch  nicht  beendigt 
anzusehen  ist,  oder  ob  und  wann  und  inwiefern  der  Zu- 
sammenhang der  unempfänglich  Gewordenen  mit  den  Leitenden 
als  aufgehoben  kann  angesehen  werden.-) 

Die  Aufhebung  dieses  Zusammenhanges  zöge  auch  die  des  Zusammen- 
hanges mit  der  Gemeine  als  solcher  nach  sich. 


nun  die  Abweichung  mehr  im  Theoretischen  oder  im  Praktischen,  wieder 
aufzuheben,  ist  die  Seelsorge  im  engern  Sinn. 

^)  S.  90.  §  27.  Da  dieses  Verhältnis  angeknüpft  werden  kann  teils  von 
dem  Klerus,  teils  von  den  Laien:  so  hat  die  Theorie  zu  bestimmen,  welches 
unter  welchen  Umständen  das  rechte  ist. 

2)  §  28.  Da  es  enden  kann  entweder  in  Wiederherstellung,  oder  in 
Abbrechung  bis  auf  weiteres,  oder  in  gänzliche  Trennung :  so  hat  die  Theorie 
zu  zeigen,  wie  das  erste  möglichst  zu  befördern  und  das  letzte  möglichst 
zu  verhüten  sei,  nebst  den  Grenzen  dieser  Möglichkeit. 

§  29.  Äußerlich  ist  die  Identität  derer  mit  der  Gemeine  verletzt, 
Avelche  außer  Stand  gesetzt  sind,  an  ihrem  gemeinsamen  religiösen  Leben 
teilzunehmen. 

8* 


116  Dritter  Teil.  §  302—305. 

§  302.  In  Hinsicht  der  durch  die  Wirksamkeit  äußerer 
Ursachen  notwendig  gewordenen  Seelsorge  ist  außer  der  ersten 
Aufgabe  (vgl.  §  300)  nur  noch  zu  bestimmen,  wie  die  Über- 
einstimmung dieser  amtlichen  ^Wirksamkeit,  die  wesentlich  die 
geistige  Krankenpflege  umfaßt,  mit  der  geselligen  der  Emp- 
fänglichen aus  der  Gemeine  zu  erreichen  ist.^) 

Denn  das  im  §  301  in  Frage  Gestellte  kann  hier  kanm  streitig  sein,  da 
hier  nur  zu  ergänzen  ist,  was  durch  den  momentan  aufgehobenen  An- 
teil im  gemeinsamen  Leben  versäumt  wird.  Die  erbauende  Tätigkeit 
grenzt  hier  zu  nahe  an  das  gewöhnliche  Gespräch,  um  einer  besonderen 
Theorie  zu  bedürfen. 

§  303.  Die  innerhalb  der  Gemeine  anordnende  Tätigkeit 
(vgl.  §  290)  erscheint  in  Beziehung  auf  die  Sitte  beschränkt, 
teils  durch  die  umfassenderen  Einwirkungen  des  Kirchen- 
regimentes, teils  durch  die  unabweisbaren  Ansprüche  der  per- 
sönlichen Freiheit. 

Man  kann  nur  sagen:  erscheint;  denn  die  Leitenden  müssen  durch  ihr 
eigenes  persönliches  Freiheitsgefühl  zurückgehalten  werden,  nicht  in 
dieses  Gebiet  einzugreifen.  Eben  dadurch  aber  sollten  auch  die  Leitenden 
im  Kirchenregiment  abgehalten  werden,  nicht  zentralisierend  in  das 
Gebiet  der  Gemeine  einzugreifen. 

§  304.  Da  die  evangelische  Sitte  ebenso  wie  die  Lehre, 
im  Gegensatz  gegen  die  katholische  Kirche,  noch  in  der  Ent- 
wicklung begriifen  ist:  so  sind  nur  im  allgemeinen  Regeln 
aufzustellen,  wie  das  Gesamtleben  von  einem  gegebenen  Zu- 
stande aus  allmählich  der  Gestalt  näher  gebracht  werden  kann, 
welche  der  reiferen  Einsicht  der  Vorgeschrittenen  gemäß  ist. 

Der  gegebene  Zustand  kann  entweder  noch  unerkannt  mancherlei  vom 
Katholizismus  in  sich  tragen,  oder  auch  irrtümlich  Schranken,  welche 
das  Christentum  selbst  stellt,  überschritten  haben. 

§  305.  Da  das  Leben  auch  in  der  christlichen  Gemeine 
zugleich  durch  gesellige  und  bürgerliche  Verhältnisse  bestimmt 
wird:  so  ist  anzugeben,  auf  welche  Weise  auch  in  diesem 


^)  S.  90.  §  30.  Die  Aufgabe  der  klerikalischen  Krankenpflege  geht  also 
dahin,  jenen  Mangel  so  zu  ergänzen,  daß  die  innere  Identität  darunter  nicht 
leide,  sondern  sich  unter  den  gegebenen  Umständen  vollkommen  offenbare. 


§  305—308.  Erster  Abschnitt.  117 

Gebiet,  so  weit  dies  von  lokalen  Bestimmungen  ausgehen  kann, 
dem  Einfluß  des  christlichen  und  evangelischen  Geistes  größere 
Geltung  zu  verschaffen  ist. 

Überall  kann  hier  nur  von  der  Verfahrungsweise  die  Eede  sein,  indem 
das  Materielle  der  ordnenden  Tätigkeit  von  der  geltenden  Auffassung 
der  christlichen  Lehre,  besonders  der  Sittenlehre  abhängt. 

§  306.    Da  von  der  ordnenden  Tätigkeit  auch  die  Auf- 
forderungen zur  Vereinigung  der  Kräfte  ausgehen  müssen  zum 
Behuf  aller  solcher  gemeinsamen  Werke,  welche  in  dem  Be- 
griff und  Bereich  der  Gemeine  liegen :  so  ist  es  wichtig,  diese 
Grenze  (vgl.  §  303)  zu  bestimmen. 
Die  Aufgabe  ist,   dasjenige,  was   für  die   amtliche  Wirksamkeit  gehört, 
und  beständig  fortgeht,   z.  B.  das  ganze  Gebiet   des  Diakonats  im  ur- 
sprünglichen Sinn,  Yon  dem  zu  scheiden,   was  nur  Ton  dem  persön- 
lichen Verhältnis   einzelner  Leitenden  auf  einen  Teil  der  Masse   aus- 
gehen kann. 

§  307.  Der  Kirchendienst  ist  hier  als  Ein  Gebiet  be- 
handelt worden,  ohne  die  verschiedene  mögliche  Weise  der 
Geschäfts  Verteilung  irgend  beschränken  zu  wollen. 

Sonst  hätten  wir  schon  die  Theorie  der  kirchlichen  Verfassung  vorweg- 
nehmen müssen.  Wir  können  daher  auch  hier  nur  nach  alter  Weise 
alle,  die  an  den  Geschäften  des  Kirchendienstes  teilnehmen,  in  dem 
Ausdruck  Klerus  auf  dieser  Stufe  zusammenfassen. 

§  308.  Auch  nur  in  dieser  Allgemeinheit  kann  daher  die 
Frage  behandelt  werden,  ob  und  was  für  einen  Einfluß  das 
kirchliche  Verhältnis  zwischen  Klerus  und  Laien  auf  das 
Zusammensein  der  ersten  mit  den  letzten,  sowohl  in  den 
bürgerlichen,  als  in  den  geselligen  und  wissenschaftlichen  Ver- 
hältnissen werde  zu  äußern  haben.  ^) 


1)  S.  90.  §  31.  Kleriker  und  Laien  sind  nicht  nur  in  der  Gemeine  und  in 
Bezug  auf  sie  zusammen,  sondern  auch  im  Staat,  in  den  allgemeinen  ge- 
selligen Verhältnissen,  und  bisweilen  im  wissenschaftlichen  Verein. 

S.  91.  §  32.  Inwiefern  diese  Verhältnisse  dem  Kirchlichen  entweder 
förderlich  sein  können  oder  ihm  entgegenwirken:  so  hat  die  Theorie  der 
klerikalischen  Amtsklugheit  zu  bestimmen,  teils  wie  das  Förderliche  in 
ihnen   vorzüglich  könne   gehoben  und  geltend  gemacht  werden;  teils  wie 


118  Dritter  Teil.  §  309—310. 

Die  Aufgaben,  welche  gewöhnlich  unter  dem  Namen  der  Pastoral- 
klugheit behandelt  wurden,  erscheinen  hier  als  ganz  untergeordnet, 
und  ihre  Lösung  beruht  auf  der  Erledigung  der  Frage,  ob  und  welcher 
spezifische  Unterschied  stattfinde  zwischen  den  Mitgliedern  des  Klerus, 
welche  den  Kultus  leiten,  und  den  übrigen. 


Zweiter  Abschnitt. 
Die  Grundsätze  des  Kirclieüregimentes. 

§  309.  Wenn  das  Kirchenregiment  in  der  Gestaltung 
eines  Zusammenhanges  unter  einem  Komplexus  von  Gemeinden 
beruht:  so  ist  zunächst  die  Mannigfaltigkeit  der  Verhältnisse, 
welche  sich  zwischen  dem  Kirchenregiment  und  den  Gemeinden 
entwickeln  können,  zu  verzeichnen,  und  zu  bestimmen,  ob  durch 
den  eigentümlichen  Charakter  der  evangelischen  Kirche  einige 
Formen  bestimmt  ausgeschlossen  oder  andere  bestimmt  postu- 
liert werden. 

Es  wird  nämlich  vorausgesetzt,  daß  die  Gestaltung  eines  solchen  Zusam- 
menhanges weder  dem  Wesen  des  Christentums  widerspricht,  noch  die 
Selbsttätigkeit  der  Gemeinen  aufhebt. 

§  310.  Da  die  Art  und  Weise,  wie  sich  die  überwiegend 
Selbsttätigen  in  einem  solchen  geschlossenen  Komplexus  zur 
Ausübung  des  Kirchenregiments  gestalten,  und  wie  sich  dessen 
Wirksamkeit  und  die  freie  Selbsttätigkeit  der  Gemeinen  gegen- 
seitig erregt  und  begrenzt,  die  innere  Kirchenverfassung  bildet: 
so  hat  die  obige  Aufgabe  die  Tendenz,  diese  für  die  evan- 
gelische Kirche,  sowohl  in  ihrer  Mannigfaltigkeit,  als  in  ihrem 
Gegensatz  gegen  die  katholische,  auf  Grundsätze  zurück- 
zuführen.^) 


der  Streit  zwischen  ihnen  entweder  rein  aufzulösen  ist,  oder,  wenn  nicht, 
wie  die  andern  Verhältnisse  dem  kirchlichen  so  unterzuordnen  sind,  daß  es 
nicht  unter  ihnen  leide. 

1)  S.  77.  §  1.  Da  das  Kirciienregiment  hei  Protestanten  und  Katholiken 
auf  eine  ganz  verschiedene  Weise  geführt  ivird:  so  kann  auch  jede  Theorie 


§  311—312.  Zweiter  Abschnitt.  119 

Die  Lösung  muß  einerseits  auf  dogmatische  Sätze  zurückgehen,  und  kann 
andererseits  nur  durch  zweckmäßigen  Gebrauch  der  Kirchengeschichte 
und  der  kirchlichen  Statistik  gelingen. 

§  311.  Da  die  evangelische  Kirche  dermalen  nicht  Einen 
Xomplexus  von  Gemeinen  bildet,  und  in  verschiedenen  auch 
die  innere  Verfassung  eine  andere  ist,  die  Theologie  hingegen 
für  alle  dieselbe  sein  soll:  so  muß  die  Theorie  des  Kirchen- 
regimentes  ihre  Aufgaben  so  stellen,  wie  sie  für  alle  mög- 
lichen evangelischen  Verfassungen  dieselben  sind,  und  von 
jeder  aus  können  gelöst  werden. 

Das  dermalen  soll  nur  bevorworten,  daß  die  Unmöglichkeit  einer 
jeden  äußeren  Einheit  der  evangeUschen  Kirche  wenigstens  nicht  ent- 
schieden ist. 

§  312.  Da  jedes  geschichtliche  Ganze  nur  durch  dieselben 
Kräfte  fortbestehen  kann,  durch  die  es  entstanden  ist:  so  be- 
steht das  evangelische  Kirchenregiment  aus  zwei  Elementen, 
dem  gebundenen,  nämlich  der  Gestaltung  des  Gegensatzes  für 
den  gegebenen  Komplexus,  und  dem  ungebundenen,  nämlich 
der  freien  Einwirkung  auf  das  Ganze,  welche  jedes  einzelne 
Mitglied  der  Kirche  versuchen  kann,  das  sich  dazu  berufen 
glaubt.^) 


desselben   nnmittelbar  und   in  gleichem  Sinne   nur  für   eine   von   beiden 
Parteien  gelten. 

S.  77.  §  2.  Jede  also,  die  in  dieser  Periode  ihre  Anwendung  finden  will, 
■flH?//;  sich  an  die  letzten  Resultate  der  j)hilosophischen  Theologie  (I.  Erste 
Abt.  9—12  [S.  22  f.  dieser  Ausgabe])  anschließen,  um  das  Uare  Bewußtsein 
von  diesem  Gegensatz  und  seiner  Bedeutung  zum  Grunde  zu  legen. 

§  3.  Dieses  klare  Beicußtsein  fehlt  nicht  nur,  icenn  man  den 
innern  Grund  der  Verschiedenheit  beider  Parteien  verkennt,  sondern  eben 
so  sehr,  icenn  man  alles,  ivas  sich  in  beiden  verschieden  gestaltet,  voreiliger 
Weise  als  notwendig  aus  dem  Gegensatz  entsprungen  betrachtet. 
*)  S.  78.  §  4.  Wenn  auch  mit  und  aus  dem  Gegensatz  zwischen  Klerus 
und  Laien  sich  in  der  Kirche  eine  äußere  Autorität  konstituiert  hat:  so 
kann  doch  nicht  alle  zum  Kirchenregiment  gehörige  Tätigkeit  auch  von 
ihr  ausgehn;  sondern  es  gibt  dann  eine  Tätigkeit  der  Kirchengewalt  und 
eine  Tätigkeit  einzelner,  welche  oder  sofern  sie  nicht  zur  Kircheugewalt 
gehören. 


120  Dritter  Teil.  §  313—314. 

Die  evangelische  Kirche,  nicht  mir  in  Bezug  anf  die  Berichtigung  der 
Lehre,  sondern  auch  ihre  Verfassung  oder  ihr  gebundenes  Kirchenregi- 
ment, ist  ursprünglich  aus  dieser  freien  Einwirkung  entstanden,  ohne 
welche  auch,  da  das  gebundene  mit  der  Verfassung  identisch  ist,  eine 
Verbesserung  der  Verfassung  denkbarer  Weise  nicht  erfolgen  könnte. 
—  Damit  die  letzte  Bestimmung  nicht  tumultuarisch  erscheine,  muß 
nur  bedacht  werden,  daß,  wenn  sich  einer,  der  nicht  zu  den  über- 
wiegend Produktiven  gehört,  doch  berufen  glauben  sollte,  der  Versuch 
von  selbst  in  nichts  zerfallen  würde. 

§  313.  Beide  können  nur  denselben  Zweck  haben  (vgL 
§  25),  die  Idee  des  Christentums  nach  der  eigentümlichen 
Auffassung  der  evangelischen  Kirche  in  ihr  immer  reiner  zur 
Darstellung  zu  bringen,  und  immer  mehr  Kräfte  für  sie  zu 
gewinnen.  Das  organisierte  Element  aber,  die  kirchliche 
Macht  oder  richtiger  Autorität,  kann  dabei  ordnend  oder  be- 
schränkend auftreten,  das  nicht  organisierte  oder  die  freie 
geistige  Macht  nur  aufregend  und  warnend.^) 

Einverstanden  jedoch,  daß  auch  der  kirchlichen  Macht  jede  äußere 
Sanktion  für  ihre  Aussprüche  fehlt;  sodaß  der  Unterschied  wesentlich 
darauf 'hinausläuft,  daß  diese  als  Ausdruck  des  Gemeingeistes  und  Ge- 
meiusinnes  wirken,  die  freie  geistige  Macht  aber  etwas  erst  in  den  Ge- 
meinsinn und  Gemeingeist  bringen  will. 

§  314.  Der  Zustand  eines  kirchlichen  Ganzen  ist  desto 
befriedigender,  je  lebendiger  beiderlei  Tätigkeiten  ineinander 
greifen,  und  je  bestimmter  auf  beiden  Gebieten  mit  dem  Be- 
wußtsein ihres  Gegensatzes  gehandelt  wird.^) 


^)  S.  78.  §  5  [vgl.  §  314  Anm.  der  zweiten  Auflage].  Die  KirchengeioaU  geht 
natürlich  im  ganzen  mehr  auf  Erhaltung  und  Aushildung  des  durch  die 
letzte  Epoche  schon  Fixierten,  die  einzelnen  mehr  auf  die  fortschreitende 
Vorbereitung  des  Folgenden. 

§  6.     Ebenso  zeigt  sich  in  der  Tätigkeit  der  KirchengetvaU  mehr 
das  Ubergeivicht  des  religiösen  Interesse.,  in  der  auf  das  Ganze  gerichteten 
Tätigkeit  der  einzelnen  mehr  das  Ubergeivicht  des  tcissenschafUichen  Geistes. 
^)  §  7.    Auf  beiden  Gebieten  muß  mit  dem  Bewußtsein  des  Gegen- 
satzes, den  sie  bilden,  gehandelt  werden. 

§  8.     Beide  Tätigkeiten  müssen  aber  auch  gegenseitig  in  einander 
greifen,  wenn  das  Kirchenregiment  vollkommen  sein  soll. 
S.  79.     §  9.    Die  natürlichen  Aufgaben  für  das  Kirchenregiment  sind  in 


§  315—317.  Zweiter  Abschnitt.  121 

Die  kirchliche  Autorität  hat  also  zu  vereinigen,  und  die  Theorie  mui]  die 
Formel  dafür  (vgl.  §  310)  aufsuchen,  wie  ihr  überwiegend  obliegt, 
das  durch  die  letzte  Epoche  gebildete  Prinzip  zu  erhalten  und  zu  be- 
festigen, zugleich  aber  auch  die  Äußerungen  freier  Geistesmacht  zu 
begünstigen  und  zu  beschützen,  welche  allein  die  Anfänge  zu  um- 
bildenden EntAvicklungen  hervorbringen  kann.  Ebenso  für  die  freie 
Geistesmacht,  wie  sie,  ohne  der  Stärke  der  Überzeugung  etwas  zu  ver- 
geben, sich  doch  mit  dem  begnügen  könne,  was  durch  die  kirchliche 
Autorität  ins  Leben  zu  bringen  ist. 

§  315.  Da  ein  größerer  kirchlicher  Zusammenhang  nur 
stattfinden  kann  bei  einem  gewissen  Grade  von  Gleichheit 
oder  einer  gewissen  Leichtigkeit  der  Ausgleichung  unter  den 
ihn  konstituierenden  Gemeinden :  so  hat  auch  überall  die  kirch- 
liche Autorität  einen  Anteil  an  der  Gestaltung  und  Aufrecht- 
haltung des  Gegensatzes  zwischen  Klerus  und  Laien  in  den 
Gemeinen. 
Nämlich  nur  einen  Anteil,  weil  die  Gemeine  früher  ist,  als  der  kirch- 
liche Nexus,  und  weil  sie  nur  ist,  sofern  dieser  Gegensatz  in  ihr  besteht 

§  316.    Da  dieser  Anteil  ein  Größtes  und  ein  Kleinstes 
sein  kann:  so  hat  die  Theorie  diese  Verschiedenheit  erst  zu 
fixieren,  und  dann  zu  bestimmen,  welchen  anderweitigen  Ver- 
hältnissen und  Zuständen  jede  Weise  zukomme,  und   ob  sie 
dieselbige   sei   für  alle  Funktionen   des  Kirchendienstes  oder 
eine  andere  für  andere. 
Denn   daß  in  diesem  scheinbar  stetigen  Übergang   vom  Kleinsten  zum 
Größten   sich   doch   gewisse  Punkte  als  Hauptunterschiede  feststellen 
lassen,  versteht  sich  aus  allen  ähnlichen  Fällen  von  selbst. 

§  317.    Da  ferner  jene  Gleichheit  weder  als  unveränder- 
lich, noch   als   sich  immer  von   selbst   wiederherstellend  an- 


beiden  KircJienparteien  dieselben  der  Form  nach;  sie  geben  aber  bei  der 
Auflösung  in  jeder  ein  verschiedenes  Resultat  dem  Inhalte  nach,  iceil  die 
Bedingungen  verschieden  sind. 

S.  79.  §  10  [=  §  313  der  zweiten  Auflage,  erste  Hälfte].  Alles,  luas  zur 
Darstellung  der  Idee  des  Christentums  in  der  Kirche  gehört,  mag  es  nun 
auf  das  innerste  Wesen  desselben,  oder  auch  nur  auf  seine  natürlichen 
äußeren  Verhältnisse  sich  beziehen,  ist  ein  Gegenstand  des  Kirchenregimentes. 


122  Dritter  Teil.  §  317-319. 

gesehen  werden  kann,  mithin  sie  zugleich  ein  Werk  der 
kirchlichen  Autorität  sein  muß:  so  ist  die  Art  und  Weise, 
diesen  Einfluß  auszuüben,  das  heißt  der  Begriff  der  kirch- 
lichen Gesetzgebung,  zu  bestimmen.^) 

Zugleich;  weil  sie  nämlich  in  gewissem  Sinne  schon  vorhanden  sein 
muij  vor  der  kirchlichen  Autorität.  —  Der  Ausdruck  Gesetzgebung 
bleibt,  weil  die  kirchliche  Autorität  ebenfalls  aller  äußeren  Sanktion 
entbehrt,  immer  ungenau. 

§  318.  Da  nun  diese  Gleichheit  zunächst  nur  erscheinen 
kann  im  Kultus  und  in  der  Sitte,  beide  aber  an  sich  der 
adäquate  Ausdruck  der  an  jedem  Orte  herrschenden  Frömmig- 
keit sein  sollen:  so  entsteht  die  Aufgabe,  beides  durch  die 
kirchliche  Gesetzgebung  zu  vereinigen  und  vereint  zu  er- 
halten.-) 

Es  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  daß  dies  nur  durch  Annäherimg  ge- 
schehen kann,  und  daß  also  die  Theorie  vorzüglich  darauf  sehen  muß, 
das  Schwanken  zwischen  dem  Übergewicht  des  einen  und  des  andern 
in  möglichst  enge  Grenzen  einzuschließen. 

§  319.  Da  beide  nur,  sofern  sie  sich  selbst  gleich  bleiben, 
als  Ausdruck  der  kirchlichen  Einheit  fortbestehen  können, 
alles  aber,  was  und  sofern  es  Ausdruck  und  Darstellungs- 
mittel ist,  seinen  Bedeutungswert  allmählich  ändert:  so  ent- 
steht die  Aufgabe  für  die  Gesetzgebung,  sowohl  die  Freiheit 
und  Beweglichkeit  von  beiden  anzuerkennen,  als  auch  ihre 
Gleichförmigkeit  zu  begründen.^) 


^)  S.  79.     §  11.     Die  Tätigkeit  der  Kirchengewalt  im  Kirchenregiment  ist 
vorzüglich  eine  gesetzgebende. 

[§§  12—14  siehe  zu  §§  320  u.  321  der  zweiten  Auflage.] 
^)  S.  80.    §  15.    Die  Gesetzgebung  für  den  Kultus  muß   darauf  gerichtet 
sein,  daß  er  der  adäquate  Ausdruck  des  religiösen  Sinnes,  je  länger,  je  mehr, 
werde  und  bleibe. 

")  §  16.  Insofern  der  religiöse  Sinn  sich  mannigfaltig  modifiziert, 
und  alles,  was  Ausdruck  ist,  seinen  Wert  und  Bedeutsamkeit  allmählich 
wechselt,  muß  auch  der  Kultus  sich  mannigfaltig  gestalten  können  nach 
Erfordernis  von  Ort  und  Zeit,  und  also  muß  statutarisch  begründet  werden 
seine  Freiheit  und  Beweglichkeit. 

§  17.    Insofern  der  religiöse  Sinn  in  einer  Kirchenpartei  immer 


^  320—321.  Zweiter  Abschnitt.  123 

Hiedurcli  muß  sich  zugleich  auch  das  Verhältnis  der  kirchlichen  Autorität 
zum  Kirchendienst  in  der  Konstitution  des  Kultus  und  der  Sitte  wenig- 
stens in  bestimmte  Grenzen  einschließen. 

§  320.  Der  kirchlichen  Autorität  muß  ferner  geziemen, 
im  Falle  einer  Opposition  in  den  Gemeinen,  rühre  sie  nun 
her  (vgl.  §  299)  von  einzelnen,  aus  der  Einheit  mit  dem 
Ganzen  Gefallenen,  oder  von  zurückgetretener  Einheit  über- 
haupt, als  höchster  Ausdruck  des  Gemeingeistes,  den  Aus- 
schlag zu  geben,  wenn  innerhalb  der  Gemeine  keine  Einigung 
zu.  erzielen  ist.^) 

Geltend  wird  dieser  Ausschlag  immer  nur,  sofern  auch  die  Opponenten 
nicht  aufhören  wollen,  in  diesem  kirchlichen  Verein  ihren  christlichen 
Gemeinschaftstrieb  zu  befriedigen. 

§  321.  Insofern  die  kirchliche  Autorität  hierauf  ent- 
weder durch  allgemeine  Bestimmungen  einwirkt,  oder  wenig- 
stens solchen  folgt,  wo  sie  einzeln  zutritt,  muß  hier  die  Frage 
erledigt  werden,  ob  und  unter  welchen  Verhältnissen  in  einem 
evangelischen  Kirchenverein  Kirchenzucht  stattfinde  oder  auch 
Kirchenbann.-) 
Letzterer  nämlich,  sofern  die  Aufhebung  des  Verhältnisses  eines  einzelnen 


und  überall  sich  gleich  ist,  und  der  Kultus  auch  dessen  Einheit  auszu- 
drücken hat,  muß  er  überall  erkannt  werden  können  als  diese  Partei 
repräsentierend,  und  also  hat  man  statutarisch  zu  begründen  seine  Gleich- 
iörmigkeit. 

S.  81.  §  18.  SoU  beides  in  einer  Gesetzgebung  notwendig  verbunden  sein: 
so  darf  die  Freiheit  nie  in  Wülkür  und  Subjektivität  ausarten  können,  und 
die  Gleichförmigkeit  sich  nie  in  tote  Form  verwandeln. 
^)  S.  79.  §  12.  In  Absicht  auf  das  religiöse  Leben  überhaupt  hat  die 
Xirchengewalt  zu  bestimmen,  wie  das  Krankhafte,  was  sich  in  der  sicht- 
baren Kirche  erzeugt,  aus  derselben  auszuscheiden  ist. 

2)  §  13.  i)ie  Aufgabe,  ein  Verfahren  zu  finden,  welches  auf  das 
Fremdartige  wirkt,  ohne  selbst  ein  Fremdartiges  zu  sein,  muE,  richtig  ge- 
löst, die  wahre  Kirchenzucht  darstellen. 

S.  80.  §  14.  Wie  aber  eine  ausschließende  Gewalt  geübt  werden  kann, 
ohne  eine  fremde  äußere  Sanktion  zu  Hilfe  zu  nehmen,  dies  muß  darge- 
stellt werden  durch  den  Kirchenbann. 

[§§  15—18  siehe  zu  §§  318  u.  319  der  zweiten  Auflag^.] 


124  Dritter  Teil.  §  322—323. 

zur  Gemeine  oder  zum  Kirchenverein  von  der  Autorität  ausgesprochen 
werden  kann.  Ersteres,  insofern  eine  stattgehabte  Opposition  nur  durch 
eine  öffentliche  Anerkennung  ihrer  Unrichtigkeit  solle  beendigt  werden, 
können. 

§  322.  Über  das  Verhältnis  der  kirchlichen  Autorität  zu 
dem  Lehrbegriff  machen  sich  noch  so  entgegengesetzte  An- 
sichten geltend,  daß  es  unmöglich  scheint,  einen  gemeinsamen 
Ausgangspunkt  zu  finden,  sodaß  eine  Theorie  nur  bedingter- 
weise kann  aufgestellt  werden. 

Ja,  es  möchte  sogar  nicht  einmal  leicht  sein,  die  Parteien  zum  Einver- 
ständnis über  den  Ort,  wo  der  Streit  entschieden  werden  sollte,  mithin, 
gleichsam  zur  Wahl  eines  Schiedsrichters  zu  bringen. 

§  323.  Ausgehend  einerseits  davon,  daß  der  evangelische 
Kirchenverein  entstanden  ist  mit  und  fast  aus  der  Behaup- 
tung, daß  keiner  Autorität  zustehe,  den  Lehrbegriff  fest- 
zustellen oder  zu  ändern,  andererseits  davon,  daß  wir,  ungeachtet 
der  Mehrheit  evangelischer  Kirchenvereine,  welche  ver- 
schiedenen Maximen  folgen,  doch  Eine  evangelische  Kirche 
und  eine  diese  Einheit  bezeugende  Lehrgemeinschaft  aner- 
kennen: glauben  wir  die  Aufgabe  nur  so  stellen  zu  dürfen. 
Es  sei  zu  bestimmen,  wie  die  kirchliche  Autorität  eines  jeden 
Vereins,  anerkennend,  daß  Änderungen  in  den  Lehrsätzen 
und  Formeln  nur  entstehen  dürfen  aus  den  Forschungen 
einzelner,  wenn  diese  in  die  Überzeugung  der  Gemeine  auf- 
genommen werden,  diese  Wirksamkeit  der  freien  Geistes- 
macht beschützen,  zugleich  aber  die  Einheit  der  Kirche  in 
den  Grundsätzen  ihres  Ursprungs  festhalten  könne.^) 

Natürlich  soll  keinesweges  ausgeschlossen  werden,  daß  nicht  dieselben^ 
welche  als  kirchliche  Autorität  wirken,  auch  könnten  die  Wirksamkeit 
der  freien  Forschung  ausüben;   sondern  nur  um  so  strenger  ist  darauf 

^)  S.  81.     §  19.    Die  immer  fortgehende  Bildung  des  Lehrbegriffs  geht  von 
den  Tätigkeiten  der  einzelnen  aus. 

§  20.  Die  gesetzgebende  Tätigkeit  der  Kirchengewalt  muß  den 
einzelnen  ihre  freie  Wirksamkeit  auf  diesem  Gebiet  sichern,  und  doch 
zugleich  die  Lehre  an  dem  Symbol,  durch  welches  sie  konstituiert  ist, 
festhalten. 


§  324—325.  Zweiter  Abschnitt.  125 

zu  lialteu,  daß  sie  dies  nicht  in  der  Weise  und  unter  der  Firma  der 
kirchlichen  Autorität  tun.  —  Ganz  entgegengesetzt  aber  muß  die  Auf- 
gabe gestellt  werden,  wenn  man  von  der  Voraussetzung  ausgeht,  daß 
die  Kirche  nur  durch  eine  in  einem  anzugebenden  Grade  genaue  Gleich- 
förmigkeit der  Lehre  als  Eine  bestehe. 

§  324.    Das  Obige  (vgl.  §  322)  gilt  auch  von  den  Rechten 
imd  Obliegenheiten   der   kirchlichen  Autorität  in  Bezug  auf 
die  Verhältnisse  der  Kirche  zum  Staat,  indem  keine  Hand- 
lungsweise, welche  irgend  vorgeschrieben  werden  könnte,  sich 
einer  allgemeinen  Anerkennung  erfreuen  würde.^) 
Nur  dies  scheint  bemerklich  zu  sein,  daß  da,  wo  die  evangelische  Kirche 
gänzlich   vom  Staat   getrennt  ist,   niemand   andere  Wünsche  hegt;   da 
aber,  wo  eine  engere  Verbindung  zwischen  beiden  stattfindet,  die  Mei- 
nungen in  der  Kirche  geteilt  sind. 

§  325.  Ausgehend  einerseits  davon,  daß,  wenn  die  Kirche 
nicht  will  eine  w^eltliche  Macht  sein,  sie  auch  nicht  darf  in 
<lie  Organisation  derselben  verflochten  sein  wollen,  andererseits 
davon,  daß,  was  Mitglieder  der  Kirche,  welche  an  der  Spitze 
des  bürgerlichen  Regiments  stehn,  in  dem  kirchlichen  Gebiet 
tun,  sie  doch  nur  in  der  Form  der  Kirchenleitung  tun  können, 
vermögen  wir  die  Aufgabe  nur  so  zu  stellen.  Es  sei  zu  be- 
stimmen, auf  welche  Weise  die  kirchliche  Autorität  unter  den 
verschiedenen  gegebenen  Verhältnissen  dahin  zu  wirken  habe, 
daß  die  Kirche  wieder  in  eine  kraftlose  Unabhängigkeit  vom 
Staat,  noch  in  eine  wie  immer  angesehene  Dienstbarkeit  unter 
ihm  gerate.^) 

1)  S.  81.  §  21.  Die  Kirchengewalt  hat  ferner,  durch  ihre  gesetzgebende 
Tätigkeit  von  Seiten  der  Kirche,  deren  Verhältnis  zum  Staat  zu  bewahren 
oder  zu  berichtigen. 

§  22.  Das  Verhältnis  beider  zu  einander  ist  nie  als  ein  reines 
ruhiges  Gleichgewicht  Yorauszusetzen. 

2)  S.  82.  §23.  Die  Aufgabe  ist  daher,  den  etwanigen  Eingriffen  des 
Staats  in  das  Gebiet  der  Kirche  abzuhelfen,  selbst  aber  keine  Eingriffe  in 
in  das  seinige  zu  tun. 

§  24.  Die  Theorie  des  Kirchenregiments  hat  zu  zeigen,  wie  man 
dahin  gelangen  könne,  daß  das  Verhältnis  der  Kirche  zum  Staat  weder  eine 
kraftlose  Unabhängigkeit  sei,  noch  eine  angesehene  Dienstbarkeit. 


126  Dritter  Teil.  §  326—327. 

Die  Theorie  ist  höchst  schwierig  aufzustellen,  und  gewährt  doch  wenig 
Ausbeute,  weil,  wenn  die  kirchliche  Autorität  schon  eine  Verschmelzung^ 
der  Kirche  mit  der  politischen  Organisation  oder  eine  den  Einfluß 
äußerer  Sanktion  benutzende  Verfahrungsart  in  kirchlichen  Angelegen- 
heiten vorfindet,  sie  unter  ihrer  Form  nur  indirekt  dagegen  wirken 
kann,  alles  andere  aber  von  den  allmählichen  Einwirkungen  der  freien 
Geistesmacht  erwarten  muß.  —  Und  wie  wenig  Übereinstimmung  auch 
in  den  ersten  Grundsätzen  ist,  wird  am  besten  daraus  klar,  daß,  wo 
die  Kirche  sich  in  einer  Dienstbarkeit  ohne  Ansehen  befindet,  immer 
einige  vorziehen  werden,  in  der  Dienstbarkeit  Ansehen  zu  erwerben,, 
andere  aber  unangesehen  zu  bleiben,  wenn  sie  nur  unabhäugig  werden 
können. 

§  326.  Dieselbe  Aufgabe  kehrt  noch  in  einer  besonderen 
Beziehung  wieder,  wenn  der  Staat  die  gesamte  Organisation 
der  Bildungsanstalten  in  die  seinige  aufgenommen  hat,  indem 
alsdann  in  Beziehung  auf  die  geistige  Bildung,  durch  welche 
allein  sowohl  der  evangelische  Kultus  erhalten  werden,  als 
auch  eine  freie  Geistesmacht  in  der  Kirche  bestehen  kann, 
ebenfalls  kraftlose  Unabhängigkeit  oder  wohlhabende  Dienst- 
barkeit drohen. 

Für  dieses  Gebiet  kann  unter  ungünstigen  Umständen  sehr  leicht  das 
schwierige  und  nicht  auf  einfache  Weise  zu  lösende  Dilemma  entstehen, 
ob  der  Kirchenverein  sich  solle  mit  dem,  wenn  auch  noch  so  dürftigen 
Apparat  begnügen,  den  er  sich  unabhängig  erwerben  und  bewahren 
kann,  oder  ob  er  es  wagen  solle,  auch  aus  mit  nicht-evangelischen 
Elementen  versetzten  Quellen  zu  schöpfen. 

§  327.  Da  die  verschiedenen  für  sich  abgeschlossenen 
Gemein  vereine ,  w^elche  zusammen  die  evangelische  Kirche 
bilden,  teils  durch  äußerliche,  der  Veränderung  unterworfene 
Verhältnisse,  teils  dui'ch  Differenzen  in  der  Sitte  oder  Lehre^ 
deren  Schätzung  ebenfalls  der  Veränderung  unterworfen  ist^ 
gerade  so  begrenzt  sind,  die  meisten  aber  sich  durch  diese 
Begrenzung  an  ihrer  Selbständigkeit  gefährdet  finden :  so  ent- 
steht die  Aufgabe  für  jeden  von  ihnen,  sich  einem  genaueren 
Zusammenhang  mit  den  übrigen  offen  zu  halten  und  ihn  in 
seinem  Innern  vorzubereiten,  damit  keine  günstige  Gelegenheit, 
ihn  hervorzurufen,  versäumt  w^erde. 


§  328—330.  Zweiter  Abschnitt.  127 

Diese  Aufgabe  bezeichnet  zugleich  das  Ende  des  Gebietes  der  kirchlichen 
Autorität;  denn  nicht  nur  stirbt  mit  der  Lösung  der  Aufgabe  jedes 
bisherige  Kirchenregiment  seinem  abgesonderten  Sein  ab,  sondern  auch 
die  Lösung  selbst,  weil  sie  über  das  Gebiet  der  abgeschlossenen 
Autorität  hinausgeht,  kann  nur  durch  die  Wirksamkeit  der  freien 
Geistesmacht  hervorgerufen  werden. 

§  328.  Da  das  ungebundene  Element  des  Kirclien- 
regimentes  (vgl.  §  312),  welches  wir  durch  den  Ausdruck 
freie  Geistesmacht  in  der  evangelischen  Kirche  be- 
zeichnen, als  auf  das  Ganze  gerichtete  Tätigkeit  einzelner, 
eine  möglichst  unbeschränkte  Öffentlichkeit,  in  welcher  sich 
der  einzelne  äußern  kann,  voraussetzt:  so  findet  es  sich  jetzt 
vornehmlich  in  dem  Beruf  des  akademisclien  Theologen  und 
des  kirchlichen  Schriftstellers.^) 

Bei  dem  ersten  Ausdruck  ist  nicht  gerade  an  die  nur  zufällige,  jetzt 
noch  bestehende  Form  zu  denken;  doch  wird  immer  eine  mündliche, 
große  Massen  der  zur  Kirchenleitung  bestimmten  Jugenä  vielseitig  an- 
regende Überlieferung  etwas  höchst  Wünschenswertes  bleiben.  —  Unter 
dem  letzten  sind  in  dieser  Beziehung  diejenigen  nicht  mit  begriffen, 
welche  nur  ihre  Verrichtungen  im  Kirchendienst  auf  die  Schrift  über- 
tragen. 

§  329.  Beide  werden  ihre  allgemeinste  Wirkung  (vgl. 
§§  313,  314)  nur  in  dem  Maß  vollbringen,  als  sie  dem  Be- 
griff des  Kirchenfürsten  (vgl.  §  9)  nahe  kommen. 

Des  in  §  9  erwähnten  Gleichgewichts  bedürfen  beide  um  so  weniger,  als 
sie  sich  mit  ihrer  Produktion  in  dem  Gebiet  einer  besonderen  wissen- 
schaftlichen Virtuosität  bewegen.  Aber  in  demselben  Maß  werden  sie 
auch  keine  allgemeine  anregende  Wirkung  auf  das  Kirchenregiment 
ausüben. 

§  330.  Da  der  akademische  Lehrer  in  der  von  religiösem 
Interesse  vorzüglich  belebten  Jugend  den  wissenschaftlichen 
Geist  in  seiner  theologischen  Richtung  erst  recht  zum  Be- 
wußtsein bringen  soll:   so  ist  die  Methode  anzugeben,  wie 


^)  S.  82.  §  25.  Die  auf  das  Ganze  gerichtete  Tätigkeit  der  einzelnen  ist 
im  gegenwärtigen  Zustande  der  Kirche  nur  die  des  akademischen  Lehrers 
und  die  des  Schriftstellers. 


128  Dritter  Teil.  §  330—332. 

dieser  Geist  zu  beleben  sei,  ohne  das  religiöse  Interesse  zu 

schwächen.^) 

Wie  wenig  man  noch  im  Besitz  dieser  Methode  ist,  lehrt  eine  nur  zu 
zahlreiche  Erfahrung.  Es  bleibt  übrigens  dahingestellt,  ob  diese  Me- 
thode eine  allgemeine  sei,  oder  ob  es  bei  verschiedenen  Disziplinen  auf 
Verschiedenes  ankommt. 

§  331.  Da  das  Vorhandene  um  so  weniger  genügt,  als*) 
der  wissenschaftliche  Geist  die  einzelnen  Disziplinen  durch- 
dringt: so  ist  eine  Verfahrungsweise  aufzustellen,  wie  die 
Aufmunteruug  und  Anleitung,  um  die  theologischen  Wissen- 
schaften weiter  zu  fördern,  zugleich  zu  verbinden  sei  mit  der 
richtigen  Wertschätzung  der  bisherigen  Ergebnisse,  und  mit 
treuer  Bewahrung  des  dadurch  in  der  Kirche  niedergelegten 

Guten.-) 
Eine  gleiche  Erfahrung  bewährt  hier  denselben  Mangel,   und  unleugbar 
kommt  von  der  allzuscharfen  Spannung  zwischen  .denen,  welche  Neues 
bevorworten,   und  denen,  welche   sich  vor   dem  Allen  beugen,   vieles 
auf  Eechnung  der  Lehrweise. 

§  332.  Sofern  die  schriftstellerische  Tätigkeit  auf  Be- 
streitung des  Falschen  und  Verderblichen  gerichtet  ist :  so  ist 
dem  theologischen  Schriftsteller  besonders  die  Methode  anzu- 
geben, wie  er  sowohl  das  Wahre  und  Gute,  woran  sich  jenes 
findet  und  womit  es  zusammenhängt,  nicht  nur  auffinden, 
sondern  auch  zur  Anerkenntnis  bringen  kann,  als  auch  dem 
Eigentümlichen,  worin  es  erscheint,  seine  Beziehung  auf  das 
kirchliche  Bedürfnis  anweisen.^) 


^)  S.  82.  §  26.  Da  mit  dem  akademischen  Studium  der  wissenschaftliche 
Geist  erst  recht  zum  Bewußtsein  kommt:  so  hat  die  Theorie  für  den  aka- 
demischen Lehrer  die  Aufgabe  zu  lösen,  wie  er  den  wissenschaftlichen  Geist 
zu  beleben  habe,  ohne  das  religiöse  Interesse  zu  schwächen, 

2j  §  27.  Da  in  dem  Maß,  als  erkannt  wird,  was  noch  zu  leisten 
ist,  das  Bisherige  nicht  genügt:  so  ist  auch  die  Aufgabe  zu  lösen,  wie  zum 
persönlichen  Vorwärtsbringen  aufzumuntern  sei,  ohne  die  Anhänglichkeit 
an  das  in  der  Kirche  Bestehende  zu  zerstören. 

3)  S.  83.  §  28.  Inwiefern  die  Tätigkeit  des  Schriftstellers  die  Bestreitung 
der  Irrtümer  zum  Zweck  hat,  das  Falsche  aber  immer  nur  an  dem  Wahren 

*)  =  je  mehr. 


§  333—334.  Zweiter  Abschnitt.  129 

Der  Satz,  daß  aller  Irrtum  nur  an  der  Wahrheit  ist,  und  alles  Schlechte 
nur  am  Guten,  ist  die  Grundbedingung  alles  Streites  und  aller  Kor- 
rektion. Der  letzte  Teil  der  Aufgabe  ruht  einerseits  auf  der  Voraus- 
setzung, daß  Irriges  und  Schädliches,  wenn  nicht  durch  Eigentümlich- 
keit getragen,  wenig  Einfluß  ausüben  kann,  andererseits  auf  der,  daß 
alle  Gaben  in  der  Kirche  sich  erweisen  können  zum  gemeinen  Nutzen. 

§  333.  Sofern  sie  Neues  zur  Anerkenntnis  bringen  und 
empfehlen  will,  wäre  eine  Formel  zu  finden,  wie  die  Dar- 
stellung- des  Gegensatzes  zwischen  dem  Neuen  und  Alten,  und 
die  des  Zusammenhanges  zwischen  beiden,  sich  am  besten 
unterstützen  können.^) 

Denn  ohne  Gegensatz  wäre  es  nicht  neu,  und  ohne  Zusammenhang  wäre 
es  nicht  anzuknüpfen. 

§  334.  Da  die  öffentliche  Mitteilung  sich  leicht  weiter 
verbreitet,  als  sie  eigentlich  verstanden  wird :  so  entsteht  die 
Aufgabe,  jene  Darstellung  so  einzurichten,  daß  sie  nur  für 
diejenigen  einen  Keiz  hat,  von  denen  auch  ein  richtiger  Ge- 
brauch zu  erwarten  ist.-) 


sein  kann:  so  ist  die  besondere  Aufgabe  des  theologischen  Schriftstellers, 
das  Wahre  und  Gute,  wovon  der  Irrtum  ausgegangen  ist,  zu  schonen. 
^)  S.  83.  §  29.  Insofern  sie  auf  Verbreitung  nener  Ansichten  ausgeht, 
jedes  Neue  aber  im  Gegensatz  gegen  ein  Altes  steht:  so  ist  die  Aufgabe, 
das  Neue  so  darzustellen,  daß  der  Gegensatz  weder  verfehlt,  noch  zu  weit 
ausgedehnt  werde. 

2)  §  30,  Im  allgemeinen,  da  die  Mittel  der  wissenschaftlichen  IVIit- 
teilung  an  sich  weiter  reichen,  als  das  Gebiet,  in  dem  sie  im  eigentlichen 
Sinne  verstanden  wird,  und  da  jeder  Lesende  von  dem  Seiniüen  bei  der 
Auslegung  dazutut:  so  ist  die  Aufgabe,  die  Darstellung  so  einzurichten, 
daß  sie  sich  nicht  weiter  verbreitet,  als  sie  nützen  kann,  und  daß  sie  nicht 
anders  ausgelegt  wird,  als  sie  gemeint  war. 

S.  84.  §  31.  Beide,  die  Kirchengetvalt  und  die  einzelnen,  müssen  sich 
der  Grenzen  ihrer  Tätigkeit  im  Kirchenregiment  bewußt  sein,  um  desto 
richtiger  ineinander  zu  greifen. 

§  32.  Da  die  Kirchengeivalt  iceder  im  vollen  Bewußtsein  dieses 
engeren  Gegensatzes ,  noch  des  iveiteren  zivischen  Klerus  und  Laien  kon- 
stituiert worden  ist:  so  muß  sie  sich  selbst  beweglich  erhalten,  um  der  fort- 
schreitenden Einsicht  zu  entsprechen  und  sich  als  vollen  Ausdruck  der  jedes- 
maligen religiösen  Kraft  zu  erhalten. 

Schleierm..  Th.  St.  9 


130  Dritter  Teü.  §  335—336. 

Die  sonst  hiezu  fast  ausschließend  empfohlene  und  angewendete  Regel, 
sich  bei  Darstellungen,  von  denen  Mißdeutung  oder  Mißbrauch  zu  er- 
warten ist,  nur  der  gelehrten  Sprache  zu  bedienen,  ist  den  Verhält- 
nissen nicht  mehr  angemessen. 


Schlußbetrachtungen 

über  die  praktische  Theologie. 

§  335.  Von  der  Scheidung  zwischen  dem,  was  jedem  ob- 
liegt, und  dem,  was  eine  besondere  Virtuosität  konstituiert, 
konnte  hier  keine  Erwähnung  geschehen.^) 

Denn  sie  kann  nur  auf  zufälligen  oder  fast  persönlichen  Beschränkungen 
beruhen,  und  ergibt  sich  dann  von  selbst.  An  und  für  sich  betrachtet, 
kann  jeder  zur  Kirchenleitung  Berufene  auf  jede  Weise  wirksam  sein; 
und  es  gibt  nicht  sowohl  verschiedene  trennbare  Gebiete,  als  nur  ver- 
schiedene Grade  erreichbarer  Vollkommenheit. 

§  336.  Die  Aufgaben,  zumal  im  Gebiet  des  Kirchen- 
regiments, wird  derjenige  am  richtigsten  stellen,  der  sich 
seine  philosophische  Theologie  am  vollkommensten  durch- 
gebildet hat.  Die  richtigsten  Methoden  werden  sich  dem- 
jenigen darbieten,  der  am  vielseitigsten  auf  geschichtlicher 
Basis  in  der  Gegenwart  lebt.  Die  Ausführung  muß  am 
meisten  durch  Naturanlagen  und  allgemeine  Bildung  gefördert 
werden.^) 


^)  S.  91.  §  1.  Da  kein  Theologe  ohne  allen  Anteil  der  leitenden  Tätig- 
keit ist,  keiner  aber  auch  alle  Teüe  derselben  umfaßt:  so  liegt  jedem  ob, 
von  der  praktischen  Theologie  dasjenige  inne  zu  haben,  woraus  das  richtige 
Verhältnis  eines  jeden  Teils  der  Praxis  zum  Ganzen  sich  erkennen  läßt: 
so  wie  die  Theorie  jeder  einzelnen  Art  der  Tätigkeit  das  Gebiet  des  Be- 
sondern bildet. 

2)  §  2.  Das  Allgemeine  der  praktischen  Theologie  wird  der  am 
klarsten  sehen,  der  sich  die  philosophische  Theologie  am  meisten  angeeignet 
hat;  das  Besondere  und  der  Ausführung  Nächste  wird  jeder  um  so  sicherer 
finden,  je  geschichtlicher  er  in  der  Gegenwart  lebt. 


§  337—338.  ScMußbetrachtnngen.  131 

Wenn  nicht  alles,  was  in  dieser  enzyklopädischen  DarsteUnng  auseinander 
gelegt  ist.  hier  gefordert  würde,  so  wäre  sie  unrichtig,  so  wie  die 
Forderung  unrichtig  wäre,  wenn  sie  etwas  enthielte,  was  in  keiner 
enzyklopädischen  Darstellung  enthalten  sein  kann. 

§  337.  Der  Zustand  der  praktischen  Theologie  als  Dis- 
ziplin zeigt,  daß,  was  im  Studium  jedes  einzelnen  das  Letzte 
ist,  auch  als  das  Letzte  in  der  Entwicklung  der  Theologie 
überhaupt  erscheint.^) 

Schon  deshalb,  weil  sie  die  Durchbildung  der  philosophischen  Theologie 
(vgl.  §§  66  und  259)  voraussetzt. 

§  338.  Da  sowohl  der  Kirchendienst,  als  das  Kirchen- 
regiment, in  der  evangelischen  Kirche  wesentlich  durch  ihren 
Gegensatz  gegen  die  römische  bedingt  ist:  so  ist  es  die  höchste 
Vollkommenheit  der  praktischen  Theologie,  beide  jedesmal  so 
zu  gestalten,  wie  es  dem  Stande  dieses  Gegensatzes  zu  seinem 
Kulminationspunkte  angemessen  ist.^) 

Hiedurch  geht  sie  besonders  auf  die  höchste  Aufgabe  der  Apologetik 
(vgl.  §  53)  zurück. 


^)  S.  92.  §  3.  Schon  hieraus  läßt  sich  schließen,  was  auch  die  Erfahrung 
ergibt,  daß  die  praktische  Theologie,  und  besonders  die  Theorie  des  Kirchen- 
regiments im  engeren  Sinne,  noch  nirgends  recht  ausgebildet  sein  kann. 
Was  im  Studium  eines  jeden  einzelnen  das  letzte  ist,  erscheint  auch  als 
das  letzte  in  der  Entwicklung  der  Theologie  überhaupt. 

^)  §  4,     Theorie  des  Kirchenregimentes  sowohl,  als  des  Kirchendienstes 
ist  notwendig  in  jeder  herrschenden  Kirchenpartei  eine  andere. 

§  5.  Die  höchste  Aufgabe  für  diese  Theorie  ist  daher  auch,  sie 
so  zu  stellen,  daß  der  jedesmal  bestehende  Gegensatz  der  Parteien  durch 
ihre  Ausübung  weder  erschlaffen  könne,  noch  auch  über  seine  natürUiche 
Dauer  auf  künstUche  Art  verlängert  werde,  um  sich  zu  überleben.  Hie- 
durch schließt  sich  die  höchste  Aufgabe  für  die  praktische  Theologie  un- 
mittelbar an  die  höchste  der  ersten  theologischen  Disziplin,  nämüch  der 
Apologetik. 


9* 


Register. 


Anm.  Die  mit  Seitenzahlen  versehenen  Paragraphen  beziehen  sich 
auf  den  Text  der  ersten  Auflage.  Die  eingeklammerten  Ziffern  bezeichnen 
die  Seiten  dieser  Ausgabe.  Zu  den  angeführten  Paragraphen  der  zweiten 
Auflage  ist  regelmäßig  der  Text  der  ersten  zu  vergleichen. 


Absolutheit  des  Christentums  S.  16 

[19]  §5  §80  Anm.  §  108  Anm.  §  165 

Anm. 
Altes  Testament  §  115  §  129  ff.  §  141 

Anm. 
Apokryphen  §  109 
Apologetik  §39  Anm.  §41 
Apostolische  Väter  §  107 
Assertorisch  und  divinatorisch  §  53 

§202 
Atheismus  §  22  Anm.  S.  20  [25]  §  5 

§  214  Anm. 
Autorität,  kirchliche  §  313  §  314  Anm. 

§  317  Anm. 
Biblische  Theologie  §250 
Chronik  §  153  §  157  Anm.  §  246  §  252 
Dogma  S.  16  [21]  §3  §166  §177 
Dogmatik  §97  §195  ff. 
Dogmatik  und  Ethik  §  223  ff.  §  230 f. 
Dogmatischer  Beweis  §209  ff.  §226 
Dogmengeschichte  §  90  Anm.    §  183 

§  220  Anm. 
Einleitung  ins  Neue  Testament  §  123 

Anm.  §144 
Empirie     und     Spekulation     §     59 

(geistlose)  Empirie  §21  §256 


Enzyklopädie  §  18  §  20 

Ethik,  philosophische  §  6  Anm.   §  23 

Anm.    §  29   (=  Wissenschaft  der 

Prinzipien  der  Geschichte)  §35 
— ,  theologische  §  223  §  228  Anm. 
— ,  philosophische   und  theologische 

§  226  Anm. 
Exegese  und  Dogmatik  §  121   §  210 

Anm. 
Glaube  und  Wissen  §  48  Anm.  §  240 
Häresis  und  Schisma  §  58 
Hebraismus  §  127  Anm.  §  131 
Hermeneutik  §132  ff. 
Hierarchie  und  Kirchengewalt  §  48 
Homiletik  §  285 

Indifferentismus  §  56  §  234  Anm. 
Individualismus,  religiöser;  Grenzen 

desselben  §251 
Inspiration  §  134  Anm. 
Interesse  am  Christentum  §  8   §  124 

Anm.  §  147 
Irrationalität  der  Sprachen  §  126 
Kanon  §104  ff.  §209 f. 
Kanon  und  Sakrament  §  47 
Katechetik  §  291 
Kirchenfürst  §  9  §  329 


Kegister. 


133 


Kirchengeschichte  S.  44  [58]  §  1 

Kirchengeschichte  und  Dogmatik  §  82 
Anm. 

Kirchenleitung  §  3  §  38  §  81  §  153 
Anm.  §  217  Anm.  §  235  Anm.  §  237 
Anm.  §  260  Anm.  §  267  §  272  Anm. 

Kirchenrecht  §  174  Anm.  §  241  Anm. 

Kirchenregiment  §  5 

Kirchenregiment  und  Kirchendienst 
§274 

Kirchenzucht  und  Kirchenbann  §  321 

Kirche  und  Dogma  §  323 

Kirche  und  Kirchen  §  327 

Kirche  und  Staat  §  48  Anm.  S.  67  [91] 
§  49  §  241  §  325 

Kleriker  §  10  i?  270 

Klerus  und  Laien  S.  66  [90]  §  47  S.  74 
[103]  §14  S.  85  [107]  §2  S.  90  [115] 
§27  §308  S.  78  [119]  §4  §315 

Konfession  und  Ritus  §  50  Anm. 

Konfessionalismus ;  Grenzen  desselben 
§51  Anm.  §  52  Anm.  §53  §243  f. 

Konfessioneller  Charakter  der  Theo- 
logie §21  §36  §98  §212  §217 
§  228  Anm.  §  273  §  295  §  304  §  310 
§338 

Kultus  und  Sitte  §  168  ff.  §  269  §  318 
Kunst   und   Kunstregeln  §  18  Anm. 

§132  §265  f.  §280  Anm. 
Kritik,  höhere  und  niedere  §  110  §  113 

§118 

Methode  §  70  Anm.  §  116  §  118  §  134 

§  148  §  263 
Methodologie  §  20  Anm. 
Missionskunde  §  298 
Moralische  Person  §  32  Anm. 

Natürlich  und  positiv  §  43 
Norm  (in  der  Dogmatik)  §  198  §  203 
Anm. 

Offenbarung,  Wunder,  Eingebung  §  45 
Orthodox  und  heterodox  §203  ff.  §  207 


Pädagogik  §294  Anm. 
Perioden  und  Epochen  §  73 
Philosophie   (Spekulation)  und  Dog- 
matik  (Theologie)    §  167    §  180  f. 
S.  51  [69]  §32  S.  60  [80]  §20  §213  f. 
§229 

Philosophische  Theologie  u.  Christen- 
tum §33  S.  70  [97]  §7 

Polemik  §40  f. 

Prinzipien  der  Geschichtsphilosophie 
§71  ff.  §150  ff.  §186  ff. 

Protestantismus  §  39  f.  §  122  Anm. 
§  196  Anm.  §  228  Anm. 

Religion  und  Geistesleben  §  8  Anm. 
§21  f.  §48  §326 

Religionsphilosophie  §  6  Anm.  §23 
§  43  Anm. 

Religiöses  Interesse  und  wissen- 
schaftlicher Geist  §9  §12  §193 
§  247  f.  §  258  §  262  Anm.  S.  78  [120] 
§6  §330f. 

Seelsorge  §  290  Anm.  §  299 
Separatismus  §  57  §  234  Anm. 
Statistik  §  95  §  195  §  233 
Symbol  §211f. 
Symbolik  §249 

Systematische  Theologie  §  97  Anm. 
§195  Anm. 

Terminologie  §  215  Anm.  §  216  Anm. 

§  226  Anm. 
Theologe   §  10   §  270  Akademischer 

Theologe  §  328  §  330 
Theologie,  Definition  §  1  §  5 
—   exegetische  §  88  §  103 
— ,  historische  §26  §69  f.  §80   §85 
— ,  philosophische  §  24  §  37  §  67  §  89 

§252  Anm.  §254  Anm.  §257 
— ,  praktische  §25  §257  f.  §260 
— ,  rationale  §  1  Anm.  §  226  Anm. 

Übersetzungen  §  126 
Urchristentum  §  87  §  161  §  180 


134 


Eegister. 


Verfassung  S.  16  [21]  §  3  §  1 74  §  176 

§236 
Wahrheit  und  Irrtum  §  332  Anm. 
Weissagung-  und  Vorbild  §46 
Wesen   des   Christentums  §  21    §  24 

§32  §39  §49  Anm.  §60  §84  §178 

§259  §313 


Wissenschaft  §  1  §  28  §  32 
Wahrheit  des  Christentums  §  39 
Zusammenhang     der     theologischen 

Disziplinen  §  18   §  27    §  39  Anm. 

§  40  Anm.   §§  63—66   §  143  Anm. 

§252  ff.  §336. 


Lippert  &,  Co.  (G.  Pätz'sche  Buchdi*.),  Naumburg  a.  S. 


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Date  Due 


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PRINTED 


IN  U.  S.  A. 


BW1910.Q35V.  10 

Schleiermachers  Kurze  Darstellung  des 

Princeton  Theological  Seminary-Speer  Library 


1    1012  00035  1611 


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