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Quellenschriften zur
Geschichte des
QUELLENSCHRIFTEN
ZUR
fiESCHICHTE DES PROTESTANTISMUS
IN VERBINDUNG MIT ANDEREN FACHGENOSSEN
HERAUSGEGEBEN VON
Professor D. CARL STANGE.
ZEHNTES HEFT.
SCHLEIERMACHERS KURZE DARSTELLUNG
DES THEOLOGISCHEN STUDIUMS.
LEIPZIG.
A. DEICHEßT'SCHE VERLAGSBUCHH. NACHF.
1910.
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SCHLEIERMACHERS
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KURZE DARSTELLUNG
DES THEOLOGISCHEN STUDIUMS
ERSTE AUFLAGE 1811
ZWEITE AUFLAGE 1830
KRITISCHE AUSGABE
MIT EINLEITUNG UND REGISTER
VON
HEINRICH SCHOLZ
LICENTIAT UND PRIVATDOZENT DER THEOLOGIE
AN DER UNIVERSITÄT BERLIN.
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LEIPZIG.
A. DEICHERT'SCHE VERLAGSBUCHH. NACHF.
1910.
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E prophetico genere, si veniam demus,
dicat aliquis eam esse methodum, dicat
quoque e poetico, interiori illo vocis
sensu, quo Aristotelici poetici dicuntur.
Nitzsch, Observationes ad theolo-
giam practicam felicius excolendam.
Bonner Programm 1831 p. 2.
Alle Kechte vorbehalten.
Vorrede.
Die Wendung zu Schleiermaclier ist zweifellos eine der
wichtigsten Bewegungen auf dem Felde der systematischen
Theologie seit dem Tode Albrecht Ritschis. Es hat sich in
zwanzigjähriger Prüfung gezeigt, daß der Göttinger Meister
dem Theologen der Glaubenslehre doch nicht so überlegen ist,
wie er selbst von sich geglaubt hat. Mehr und mehr hat man
angefangen, auf die Schleiermacherschen Problemstellungen
zurückzugehen, sie historisch zu analysieren und auf ihre
bleibende Bedeutung zu prüfen. Man hat dabei Wertvolles
und Wertvollstes entdeckt und ist, wenn auch langsam und
zögernd genug, im Historischen gerechter, im Prinzipiellen
vertrauensvoller gegen ihn geworden. Man ist auf dem Wege,-
zu erkennen, daß jede lebendige Berührung mit ihm, wie die
lebendige Berührung mit Kant, geistige Renaissance bedeutet.
Ein ersichtlich intensiveres Studium seiner Werke ist die
Folge dieser Erkenntnis.
An die Freunde des Schleiermacherstudiums wendet sich
die vorliegende Publikation. Sie möchte ihnen Schleiermachers
theologisches Programm in einer kritischen Ausgabe bieten.
Dazu gehörte der synoptische Druck der beiden von Schleier-
macher selbst besorgten Texte, deren bequeme Darbietung
nicht nur ein immanentes Hilfsmittel zum Verständnis der
Gedanken, sondern zugleich ein wichtiges Dokument zur Ent-
wicklungsgeschichte der Schleiermacherschen Theologie er-
schließt.
VI Vorrede.
Die EinrichtUDg ist so getroffen, daß der Text der zweiten
Auflage voranstellt und die korrespondierenden Paragraphen
der ersten Ausgabe in Petit-Druck darunter mitgeteilt sind.
Da Schleiermacher bei der zweiten Bearbeitung hin und her
Paragraphenkomplexe umgestellt hat, so habe ich, wo es der
Sinn erlaubte, um die Übersicht nicht zu schädigen, den Text
der ersten Auflage im ganzen nach dem der zweiten umge-
staltet, aber durch regelmäßige Verweisungen den Leser in
Stand gesetzt, sich überall leicht die ursprüngliche Ordnung
wiederherzustellen. In den wenigen Fällen, wo der Aufbau
des Textes dieses Verfahren nicht zuließ, wo eine Paragraphen-
folge innerlich verändert war, habe ich mich darauf beschränkt,
Gruppe gegen Gruppe zu setzen, und dies auch äußerlich durch
Kursivdruck angedeutet. Außerdem sind Einzelparagraphen
der ersten Auflage, die in der zweiten gestrichen sind, durch
Kui^sivdruck ausgezeichnet.
Der Text beruht, wie selbstverständlich, auf genauer Ver-
gleichung der Originale und wiederholt dieselben mit allen
sprachlichen Eigentümlichkeiten und Unebenheiten, z. B. Ahn-
dung statt Ahnung, neutestamentisch statt neutestamentlich,
keinesweges statt keineswegs ; aber auch fordern neben fodern,
zusammenhängen neben zusammenhangen usf Ebenso wurde
darauf verzichtet, die leider sehr ungleichmäßigen Sperrungen
Schleiermachers, die das Verständnis erleichtern sollen, in
seinem Sinne zu ergänzen. Dagegen ist Orthographie und
Interpunktion den neuen Regeln angepaßt. Die wenigen
Konjekturen, die ich mir unverbindlich erlaubt habe, sind teils
in eckigen Klammern im Text, teils als Anmerkungen mitge-
teilt worden.
Die Einleitung, die neben der Entstehungsgeschichte die
wichtigsten Prolegomena zum Verständnis des äußerst
schwierigen Textes enthält, möchte beiden, dem Forscher und
dem Anfänger, dienen. Das beigefügte Register berücksichtigt
neben den Grundbegriffen der Schleiermacherschen Theologie
namentlich die Problemstellungen der Glaubenslehre, gleichviel,
Vorrede. VII
ob sie in der Enzyklopädie nur angedeutet oder fortgeführt
werden. Die Vergleichung wird immer lehrreich sein.
Eine Umschreibung der in der zweiten Ausgabe der
Glaubenslehre zitierten Paragraphen der ersten Auflage der
Enzyklopädie in die korrespondierenden Paragraphen der
zweiten wird um so w^eniger erforderlich sein, als Stange in
seiner kritischen Neu -Ausgabe der Glaubenslehre (neuntes
Heft dieser Sammlung, Leipzig 1910) alle nötigen Verweisungen
bequem zusammengestellt hat (S. 220 f).
Die ,Kurze Darstellung' ist nach Schleiermachers Tode
noch einmal im ersten Bande der theologischen Abteilung
seiner Werke gedruckt worden. Außerdem ist sie in Hendels
Bibliothek der Gesamtliteratur Nr. 833 — 834 und in der Bibliothek
theologischer Klassiker (Gotha, Perthes) mit anderen kleineren
Schriften zusammen 1893 als 48. Band erschienen. Alle drei
Ausgaben beschränken sich auf den Text der zweiten Auflage
und bieten auch diesen nicht kritisch-korrekt.
Berlin, im September 1910.
Heinrich Scholz.
Einleitung/)
§ 1.
Entstehung und Wirkungen.
Die Kurze Darstellung des theologischen Studiums ist
eine Frucht der akademischen Lehrtätigkeit Schleiermachers
und das erste klassische Dokument seiner unvergleichlich-
systematischen Begabung auf dem Felde der Theologie. Eine
gute und gründliche Einführung in den Zusammenhang der
theologischen Disziplinen hat Schleiermacher von dem Moment
an, wo er das Katheder bestieg, für einen wertvollsten Dienst
an der akademischen Jugend und für eine wichtigste Aufgabe
des akademischen Lehramtes gehalten.
So fügte es sich, daß er bereits in seinem ersten Semester
in Halle, Winter 1804/05, »Enzyklopädie und Methodologie' an-
kündigte und las.^) Der Anfang wurde ihm schwer genug;
aber dann fand er sich in die Aufgabe und dachte schon im
November daran, das glücklich in Gang gebrachte Kolleg zu
einer stehenden Vorlesung zu machen (Br. G. 2, vgl. Br. IV 105).
Im Sommer 1805 hat er es gleich noch einmal gelesen ^), und
^) Abkürzungen: Br. I — IV = Schleiermachers Leben in Briefen,
hrsg. von Jonas und Dilthey. Vier Bände. 1, II zweite Auflage 1860,
III 1861, IV 1863.
Br. G.= Schleiermachers Briefwechsel mit G aß , hrsg. von W. G aß 1852.
2) InteUigenz-Blatt der HalHschen L. Z. 1804 Nr. 155 p. 1249.
3) Ibid. 1805 Nr. 56 p. 449.
Einleitung. IX
sich bei der Wiederholung in seiner ganzen Ansicht sehr be-
stärkt gefühlt (Br. G. 28). Er hat sich schon damals Auf-
zeichnungen gemacht und das freilich sehr fragmentarische
Konzept, das den ersten Teil unvollständig, den zweiten gar
nicht, vom dritten nur die erste Hälfte enthielt, im November
1805 seinem Freunde Gaß zur Durchsicht geschickt; dachte
er doch bereits daran, bei der nächsten Wiederholung einen
gedruckten Abriß im gedrängtesten Stil dem mündlichen
Vortrag zum Grunde zu legen (Br. G. 36 f.).
Das sollte, nach seiner damaligen Absicht, im Winter
1806/07 geschehen. Aber da war Halle nicht mehr. Die
Katastrophen von Jena und Auerstedt hatten die Universi-
tät zertrümmert. Und erst im Winter 1808 kam Schleier-
macher dazu, die Enzyklopädie wieder vorzutragen. Es war
in Berlin, wo er, mit Friedrich August Wolf, Fichte u. a.,
als designierter Professor der zu erwartenden Universität^
aus freiem Antrieb Vorlesungen hielt. Das 2-stündig ange-
kündigte Kolleg ist am 7. Januar 1808 begonnen worden.^)
Und wieder Avar es die Enzyklopädie, mit deren Vor-
trag er das erste Semester der neugestifteten Hochschule^
AVinter 1810/11, eröffnete. Hatte er sie auch diesmal noch
zweistündig gelesen, so w^agte er es im nächsten Winter,
1811/12, „vor einem halben Dutzend Zuhörern" (Br. IV 184),
sie dreistündig vorzutragen. Die nächste Wiederholung, die
für den Winter 1813/14 in Aussicht genommen war, ist, wegen
gänzlicher Verödung der Universität durch den Krieg mit
Napoleon, nicht zustande gekommen (Br. G. 114). Dafür hat
sich die Enzyklopädie in den beiden folgenden Lesungen, Winter
1814,15 und Winter 1816/17, zu einem vierstündigen Kolleg er-
^) Vgl. Köpke, Die Gründung der Universität Berlin 1860 S. 58 und
141, und die Ankündigung in der Spenersclien Zeitung 1807 Nr. 156. —
Schleiermacher war im September 1807 für die in Aussicht gestellte Uni-
versität vorgemerkt worden (Köpke, a. a. 0. S. 44, Br. G. 72) und hat am
14, Juli 1808 auf Humboldts Antrag vom 5. Juli ein Warte geld von 500
Talern erhalten (Köpke S. 64).
X Einleitung.
weitert. Endlich, im Winter 1819/20, hat Schleiermacher sie
fünfstündig gelesen — und zwar Morgens von 7 — 8 Uhr ! Da-
mit waren die Maße endgiltig festgelegt. Als fünfstündiges
Kolleg hat Schleiermacher die Enzyklopädie noch viermal
vorgetragen: in den Sommersemestern 1824, 1827, 1829 und
im Winter 1831/32.1)
Schleiermacher hat demnach in dreißig Jahren zwölfmal
Enzyklopädie gelesen ; sie gehört mit der theologischen Ethik,
die er auch zwölfmal, und der Dogmatik, die er dreizehnmal
vorgetragen hat, zu seinen theologischen Hauptkollegien und
ist in der Tat eine „stehende Vorlesung" geworden. Er hat
sie zweimal in Halle, zehnmal in Berlin gehalten: viermal
zweistündig — denn die beiden Vorlesungen in Halle werden
auch zweistündig gewesen sein: länger gewiß nicht, da er
sie auch in Berlin zunächst so gehalten hat ; aber auch nicht
kürzer, da sie nicht als Publika angekündigt waren — ein-
mal dreistündig, zweimal vierstündig und fünfmal fünfstündig.
Es wäre wichtig und für die Aufklärung der Entwick-
lungsgeschichte und das Verständnis einzelner Partieen des
Werkes, namentlich des ersten Teils und der geschichts-
philosophischen Erörterungen des zweiten, ein großer Gewinn,
wenn noch erläuternde Aufzeichnungen von Schleiermacher
oder Nachschriften existierten. Leider sind Nachforschungen
vergeblich gewesen. Das Archiv der Literatur-Gesellschaft
in Berlin, das den zugänglichen Nachlaß Schleiermachers ver-
wahrt, enthält nichts davon, und auch Herr Professor Dil-
they erklärt, kein Erläuterungsmaterial zu besitzen. Wir
sind also auf den Text beschränkt, den Schleiermacher selbst
hat drucken lassen.
Der Gedanke an den Druck ist fast so alt wie die Vor-
lesung selbst. Schon im Oktober 1804 hat Schleiermacher
eine Drucklegung der Leitsätze ins Auge gefaßt.^) Alt-
^) Die Daten nach dem Berliner Lektionskatalog.
2) 13. Okt. 1804 an R e i m e r : Vielleicht ist auch die Enzyklopädie das
erste, worüber ich etwas drucken lasse (Br. IV 105).
Einleitung. XI
modische Prinzipien und bedenklichste Begriffe von der Auf-
gabe und Methode des theologischen Studiums, wie sie bald
nach seiner Berufung von der Hallischen Fakultät ei'neuert
wurden, unterstützten den Plan und befestigten in Schleier-
macher die Idee einer kurzen öffentlichen Darstellung seiner
eigenen, durchaus abweichenden Ansicht. Um so mehr, als
er sich, aus Solidaritätsgefühl, in einen peinlichen Wider-
spruch mit sich selbst verwickelt hatte. Im Jahre 1805 hatte
die theologische Fakultät in Halle eine „Anweisung für an-
gehende Theologen zur Übersicht ihres Studiums und zur
Kenntnis der vorzüglich für sie bestimmten Bildungsanstalten
und anderer akademischer Einrichtungen auf der königlich
preußischen Friedrichs - Universität" in Druck gegeben. ^)
Dieses Programm — ein Manifest von 32 Seiten — war ein
echtes Zeichen der Zeit, d. i. der Epoche, die Schleiermacher
und sein Geschlecht zu überwinden berufen waren. Geistlos,
formlos, überladen und pedantisch, stellte es den schulmäßig-
schulmeisterlichen Betrieb möglichst vieler Disziplinen, ohne
Rücksicht auf die idealen Faktoren, in denen das Schleier-
machersche Geschlecht unter der Führung Fi cht es und
Schellings die bewegenden Kräfte und den wahrhaften Wert
der Wissenschaft entdeckt hatte, als die Normalform des theolo-
gischen Studiums dar. Das unerfreuliche Dokument war in
der Jenaer L. Z. 1806 Nr. 79 und 78 von einem ungenannten
Rezensenten wegen seiner unfreien, utilitarisch-beschränkt-
verwirrenden Haltung heftig angegriffen worden. Schleier-
macher fand die Kritik recht „brav", lobte sie auch unter
Freunden während eines vorübergehenden Aufenthaltes in
Berlin (Br. G. 45), hatte aber gleichwohl, da er inzwischen
(am 7. Februar 1806) zum Ordinarius aufgerückt war, aus
kollegialischen Rücksichten und um nicht gleich bei der
ersten Gelegenheit als Fremdnatur zu erscheinen, die offizielle
^) Ein Exemplar dieses selten gewordenen Schriftchens befindet sich
auf der Königsberger Universitätsbibliothek.
XII Einleitung.
Gegenkundgebung der Hallischen Fakultät mit unterschrieben
(Br. G. 52). Um so bestimmter dachte er daran, für den
nächsten Vortrag der Enzyklopädie ein eigenes Heftchen
drucken zu lassen.^)
Das wäre vielleicht schon im Winter 1806 geschehen,
wenn nicht der Krieg und die Aufhebung der Universität da-
zwischen gekommen wäre. Es hat dann noch vier Jahre
gedauert, bis der erste Text erschien. Daß Schleiermacher
in der Unruhe des Jahres 1808, wo er die Enzyklopädie
wieder vortrug, zu keiner Drucklegung gekommen ist, begreift
sich aus der Lage der Zeit und aus den wichtigeren Dingen,
die ihn damals beschäftigten, der Gründung der Berliner
Universität und der Gründung des eigenen Hauses. So ver-
schob sich der Plan bis zur Eröffnung der neuen Hochschule,
ja über dieselbe hinaus. ^^) Der „Lehrplan", d. i. die Arbeit
in der Kommission zur Errichtung der Universität, in die er
auf Humboldts i^ntrag durch Kabinetsordre vom 30. Mai
1810 mit Uhden und Süvern berufen war, und die in der
Zeit vom 3. Juni bis 4. Oktober in einigen zwanzig Sitzungen
tagte, ^) machte ihm die rechtzeitige Ausarbeitung des Textes
unmöglich; am 1. September war noch nichts geschrieben
(Br G. 78). Vermutlich hat die Ausarbeitung, da die zeit-
raubende Universitätskommission bis in den Oktober hinein
tagte, erst mit der Vorlesung selbst begonnen. Sie erstreckte
sich bis zum Ende des Jahres. Die Vorrede ist im Dezember
1) So an Gai], im Sommer 1806 (Br. G. 53). — An Reimer hatte
er schon unter dem 25. Dezember 1805 geschrieben, daß er zur nächsten
Michaelismesse mit einem kleinen theologischen Kompendium aufzutreten
gedenke (Br. II 48).
2) Daß Schleiermacher ihn auch in der Zwischenzeit nicht aus den
Augen gelassen hat, zeigt ein Brief an H. von Willich, wo er, unter dem
28. März 1809, Folgendes schreibt: Bleibt es dabei, daß die Universität, wie
es die meisten hoffen, Michaeli eröffnet wird, dann siehst Du mich noch
diesen Sommer ein Büchlein schreiben, nur ein kleines akademisches Hand-
buch (Br. II 235).
3j Köpke, S. 76.
Einleitung. XIII
geschrieben. Am 29. Dezember konnte Schleiermacher seinem
Freunde Gaß in Breslau mitteilen, daß die Enzyklopädie
nun endlich fertig geworden sei. „Ich bin neugierig," fügt
er hinzu, „ob sie eine neue Quelle von Yerketzerungen werden
wird. Mir sind die Sachen nun durch Adelfache Behandlung
so familiär geworden, daß ich nicht finde, was Anlaß dazu
geben könnte. Nur daß viel Gespenster darin seien, werden
die Leute sagen, theologische Disziplinen, die es nie gegeben
habe und nie geben werde. Da werde ich nun den Beweis
durch die Tat zu führen haben, was aber freilich zum Teil erst
nach Erscheinung meiner Ethik geschehen kann." (Br. G. 87).
Der genaue Titel der ersten Auflage, bei deren Ausar-
beitung Schleiermacher erfahren sollte, „wie ungeheuer schwer
ein Kompendium ist," ^) ist folgender: Kurze Darstellung des
theologischen Studiums, zum Behuf einleitender Vorlesungen
entworfen von F. Schleiermacher, der Gottesgelahrtheit Doktor
und öffentl. ordentl. Lehrer an der Universität zu Berlin,
evang. -ref. Prediger an der Dreifaltigkeitskirche daselbst,
ordentl. Mitglied der Königl. Preuß. und korresp. der Königl.
Bairischen Akademie der AVissenschaften.-) Berlin 1811. In
der Realschulbuchhandlung.
Es war eine Programmschrift erster Ordnung, voll neuer,
epochemachender, revolutionärer Ideen, die Schleiermacher
mit seinem Kompendium der theologischen Welt und Wissen-
schaft vorlegte. Er selbst ist sich dessen bewußt gewesen
und dachte nicht gering von seinem Entwurf. x41s er gehört
hatte, daß der Breslauer Theologe und Kirchenhistoriker
Augusti das Schriftchen in Weimar als einen geistreichen
Scherz verbreitet haben sollte — was übrigens nicht zutraf
(Br. G. 105 f.) — schrieb er an Gaß, nicht ohne ein leises
Zeichen von Unmut : „Du kannst ihm immer sagen, mir sei es
') So noch am 12. Juni 1813 an Fr. Schlegel (Br. III 430).
^) Mitglied der Münchener Akademie ist Schleiermacher, wie Herr
Pastor Merkel-München für mich festzustellen die Güte gehabt hat, durch
Eeskript vom 19. März 1808 geworden.
XIV Einleitung.
SO ernst damit, daß ich es ordentlich für eine Probe halte,
ob es jemand mit der Theologie ernstlich und im rechten
Sinne meint, wenn es ihm wenigstens ernsthaft vorkommt
(Br. G. 103)." Um so auffallender ist es, daß die Kritik das
Büchlein, trotz der Berühmtheit seines Verfassers, fast gänz-
lich mit Schweigen übergangen hat. Weder die Hallische,
noch die Jenaische Literaturzeitung hat von dem Abriß
Kenntnis genommen, auch später nicht, als er in zweiter,
erweiterter Auflage erschien. Ebenso stumm sind Fachzeit-
schriften und Eezensionsorgane, von denen etwa zwanzig ein-
gesehen wurden, an beiden Auflagen vorübergegangen. Nur
die Heidelberger Jahrbücher der Literatur haben eine aus-
führliche Analyse und Kritik des Schleiermacherschen Kom-
pendiums gebracht: 1812 S. 511—530. Verfasser der Anzeige,
die mit S. unterzeichnet ist, ist höchst wahrscheinlich und
nahezu gewiß der Heidelberger Dogmatiker und spätere Freund
Schleiermachers, F. H. Chr. Schwarz.^) Die verständnis-
volle und sympathische Rezension analysiert das Schleier-
machersche Programmbüchlein vortrefflich. Der ungemeine
Horizont des Entwurfs und die systematisch - schöpferische
Kraft seines Urhebers werden rückhaltlos anerkannt. Unter
den geltend gemachten Bedenken sind drei Bemerkungen
hervorzuheben: 1. der Protest gegen die Zurücksetzung des
Alten Testamentes (S. 526); 2. der Zweifel an der Berech-
1) 1766—1837, Schwiegersohn Jung-Stillings , seit 1804 Geheimer
Kirchenrat tind D a u b s Kollege in Heidelberg, Verfasser eines Grundrisses
der kirchlich-protestantischen Dogmatik (Heidelberg 1816). Schleiermacher,
der ihn im Herbst 1814 persönlich kennen und schätzen lernte, hat ihn in
der Vorrede zur zweiten Auflage der Glaubenslehre p. V als den ersten Dog-
matiker der Unionskirche und damit als seinen Gesinnungsvorgänger aus-
gezeichnet. — Dai3 hinter dem S. sich Schwarz verbirgt, ist dadurch er-
wiesen, daß in der von ihm verfaßten Besprechung der Glaubenslehre, in
den Heidelberger Jahrbüchern 1822 u. 23, einer der ersten und bedeutendsten
Anzeigen des großen Werkes, ein schon in dem kritischen Referat über
die Enzyklopädie gegen Schleiermacher erhobener Einwurf pünktlich wieder-
holt wird. Näheres siehe unten.
Einleitung. XV
tigung und Durchführbarkeit des Gedankens, die Theologie
auf die Ethik zu gründen und dadurch organisch mit der
absoluten Wissenschaft zu verbinden (S. 523); 3. die ent-
schiedene Ablehnung der methodischen Regel, daß die philo-
sophische Theologie als Wissenschaft vom Wesen des Christen-
tums ihren Standpunkt über dem Christentum nehmen müsse.
Es ist der einzige Punkt, wo unser Kritiker scharf und er-
regt wird und seine ruhige Sachlichkeit opfert; er nennt
dieses Prinzip „in der Wurzel un christlich" und steht nicht
an, es geradezu als ein Werk der Erbsünde zu bezeichnen
(S. 525).^)
Fragt man, ob und wie diese Kritik, die einzige, die
uns bekannt geworden ist, auf Schleiermacher gewirkt hat,
so kann die Antwort nur durch Vergleichung der zweiten
Auflage gewonnen werden. Dabei ergibt sich, daß Schleier-
macher an allen drei Punkten bei seiner Ansicht geblieben
ist. Nur in Bezug auf den dritten hat er sich in der zweiten
Auflage schärfer und unmißverständlicher gefaßt. Er hat
§ 7 S. 70 der ersten Auflage (S. 97 unserer Ausgabe) als
eine überflüssige Wiederholung von § 4 S. 12 (S. 14 unserer
Ausgabe) gestrichen, und in dem korrespondierenden § 33 der
zweiten Auflage ausdrücklich hervorgehoben, daß der Stand-
punkt der philosophischen Theologie über dem Christentum
rein logisch - formal, als Aufstieg zum Allgemeinbegriff der
Religion, durchaus nicht als inhaltliche, von Werturteilen
getragene Erhebung über das Christentum gedacht sei. Da-
^) Sachlich identisch, wenn auch in der Form sehr viel milder, hat
der Verfasser zehn Jahre später über denselben kritischen Punkt in der
Anzeige der ersten Auflage der Glaubenslehre geurteilt. „Die Worte, wo-
mit der § 6 schließt „Sollen wir also andere Glaubensweisen in ihrer Wahr-
heit betrachten, so müssen wir auch um deswillen unser tätiges Verhältnis
zum Christentum für diese Zeit ruhen lassen", müßte Eef. nach seiner
Überzeugung dahin umändern, daß wir gerade dafür und für diese Zeit
unser tätiges Verhältnis im Christentum aufs stärkste wirken lassen" (Heidel-
berger Jahrbücher 1822 S. 965).
XVI Einleitung.
mit ist aber materiell nichts geändert, sondern nur in der
Form präzisiert, was Schleiermacher schon 1811 allein ge-
wollt und gefordert hat, und was ein aufmerksamer Leser
schon damals nicht hätte mißverstehen sollen.
Trotz der erstaunlich geringen Beachtung, die Schleier-
machers Kompendium in der öffentlichen Kritik gefunden
hat, ist es, schon in seiner ersten Fassung, nicht ganz ohne
Wirkungen geblieben. Das erste Zeugnis dafür ist, merk-
würdig genug, eine katholische Enzyklopädie: Kurze Ein-
leitung in das Studium der Theologie, von Joh. Seb. Drey,
Tübingen 1819. Der Verfasser, der p. IV der Vorrede
Schleiermachers Grundriß mit Achtung nennt, teilt ganz und
gar dessen Wissenschaftsbegriff, der die Theologie der Aggre-
gate zertrümmert, um eine methodisch organisierte, vielmehr
sich selbst organisierende Theologie an ihre Stelle zu setzen
(p. IV u. V). Wie die prinzipielle Haltung, so ist auch manches
wichtige Stück des ausgeführten Entwurfs von Schleiermachers
Einfluß zeugend: so die eigentümliche, bis auf den Wortlaut
durch Schleiermacher bestimmte Erweichung der überlieferten
Schulbegriffe ,orthodox' und ,heterodox' zu Symbolen für die
auf Erhaltung und Umgestaltung der überkommenen Lehr-
form gerichteten Bestrebungen (S. 173). — Zu den Wirkungen
Schleiermachers kann auch gerechnet werden, daß Gaß in
Breslau, im Winter 1822/23, nach seinem Leitfaden Enzj^-
klopädie vortrug (Br. G. 195).^)
Bei so begrenztem Wirkungsfelde kann es nicht auffallen,
daß erst nach zwanzig Jahren eine neue Auflage nötig wurde.
Sie erschien im Spätherbst 1830; die Vorrede ist im Oktober
geschrieben, der Druck wird Mitte November vollendet ge-
wesen sein. Am 18. November konnte Schleiermacher an
Gaß berichten, daß die zweite Auflage der Enzyklopädie
fertig sei (Br. G. 228). Nachrichten über den Gang und den
^) Dasselbe hat Schleiermachers ^'achfolg•er Twesten im Winter
1842/43 in Berlin getan (nach dem Lektionskatalog).
Einleitung. XVII
Zeitraum der Ausarbeitung, die mit der Revision der Glaubens-
lehre zusammenfiel, sind nicht vorhanden. Der genaue Titel
der zweiten Auflage lautet: Kurze Darstellung des theologi-
schen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. Ent-
worfen von Dr. Fr. Schleiermacher. Zweite umgearbeitete
Ausgabe. Berlin 1830. Gedruckt und verlegt bei G. Reimer.
Die angekündigte Umarbeitung stellt sich vor allem als
Erweiterung dar. Sämtliche Paragraphen haben in der
zweiten Ausgabe Erläuterungen erhalten, die den oft rätsel-
haft gedrängten Text des ersten Entwurfs dem allgemeinen
Verständnis näher bringen und dadurch eines der wichtigsten
Hindernisse für die Wirkung des Werkes aus dem Wege
räumen sollen.^) Eine ausführliche Untersuchung der Unter-
schiede beider Auflagen würde die Grenzen dieser Einleitung
überschreiten. Sie müßte, um exakt zu sein, von Paragraph
zu Paragraph vollzogen werden, und bleibt dem Studium des
Lesers überlassen. Im ganzen wird man sagen dürfen, was
Schleiermacher von der zweiten Auflage der Glaubenslehre
in ihrem Verhältnis zur ersten gesagt hat: er habe viel und
auch wieder nichts geändert (Br. G. 222). Der Text ist fast
überall umgeschrieben, erweitert, verkürzt, und hin und her
auch in größeren Zusammenhängen überarbeitet und neu ge-
ordnet. Die leitenden Prinzipien aber sind durchaus die-
selben geblieben und mit ihnen das Gefüge des Schleier-
macherschen Entwurfs. Unter den größeren Veränderungen
ist nur die Umstellung der beiden Hauptteile der Praktischen
Theologie zu erwähnen, der aber nach Schleiermachers eigener
Aussage keine methodische Bedeutung zukommt (vgl. S. 106
^j Die nachteihgen Folgen des körperlosen Paragraphenstils der ersten
Auflage hat schon Twesten richtig empfunden, wenn er, unter dem 23.
März 1823, an Schleiermacher schreibt: tJberhaupt ist bei allem, was Sie
schreiben, gewiß mehr die Kürze, als die Ausführlichkeit zu bedauern . . .
So hätte schon Ihre Enzyklopädie weit tiefer eingreifen müssen, wenn die
Xürze derselben sie nicht vielen zu einem verschlossenen Buch gemacht
hätte (Heinrici, August Twesten 1889 S. 380).
n
XVIII Einleitung.
unserer Ausgabe). Daß im einzelnen Vieles, und durchaus
nicht nur Gleichgiltiges geändert ist, kann hier nur ange-
deutet werden. So wird, um nur ein Beispiel zu nennen, der
dogmatische Beweis in der ersten Auflage (S. 60 [S. 80 unserer
Ausgabe] § 20) abhängig gemacht von dem Befunde des
Kanons und der Spekulation, die in der zweiten Auf-
lage (§ 210) gestrichen ist, usf.
Wiewohl auch der zweite, verbesserte Entwurf keine
selbständige Besprechung gefunden hat, so hat er doch ganz
anders gewirkt. Die inspirierende Kraft und Größe, die
Nitzsch und Lücke ihm nachgerühmt haben,^) ist durch
die Geschichte bestätigt worden. Kein namhafter Methodiker
des 19. Jahrhunderts, der nicht in der Auseinandersetzung*
mit ihm sich seine Prinzipien gebildet hätte! Den Umfang
dieser Wirkungen zu beschreiben, können wir uns um so
eher erlassen, als dies erst jüngst mit erschöpfender Gründ-
lichkeit von Alfred Eckert geschehen ist, in seiner ,Ein-
führung in die Prinzipien und Methoden der evangelischen
Theologie', Leipzig 1909, S. 23—51. Am stärksten scheint
Schleiermacher gewirkt zu haben auf den Schwedischen Theo-
logen Propst Reuterdahl (1795—1870; vgl. Haucks Real-
Enzyklopädie, dritte Auflage, Bd. 16, S. 705 ff.), dessen enzyklo-
pädischer Entwurf (Inledning litt Theologien. Lund 1837. VIII
u. 520 S.) der einzige zu sein scheint, der die Theologie mit
Schleiermacher in einen philosophischen, historischen und
praktischen Teil zerlegt, und, mit E o t h e s Abriß, der einzige,
der auch die Einordnung der Dogmatik in die historische
Theologie von Schleiermacher übernommen hat.^) Unter den
^) Nitzsch, Observationes ad theologiam practicam felicius excolen-
dam, Bonner Programm 1831 p. 2: e prophetico genere, si veniam demiis,
dicat aliquis eam esse methodum, dicat qiioque e poetico, interiori illo vocis
sensu, quo Aristotelici poetici dicuntur. — „Mehr eine Theologie der Zu-
kunft, als der Gegenwart" (Lücke, in den , Studien u. Kritiken* 1834 S. 973).
^) Der genauere Aufbau des in Deutschland nicht zugänglichen Werkes
(vgl. auch Eckert, a, a. 0. S. 39 Anm. 43), ist, nach einer gütigen Mt-
teilung Ton Herrn Professor Söderblom-Upsala, folgender:
Einleitung. XIX
deutschen Entwürfen ist zweifellos Kothes Kompendium
(Theologische Enzyklopädie, hrsg. von H. Ruppelius, Witten-
berg 1880), nach Form und Gehalt (bis auf die spekulative
Theologie, durch die er die philosophische Schleiermachers er-
setzt) weitaus am meisten durch Schleiermacher bestimmt.
Rothe ist, mit A. Dorn er (Grundriß der Enzyklopädie der
Theologie, Berlin 1901), der aber sachlich ganz andere Wege
geht, der einzige, der sich, wie Schleiermacher, sehr zum
Gewann für die pünktliche Erörterung des Strukturproblems,
auf eine formale Übersicht beschränkt hat, wie er mit
Reuter da hl der einzige ist, der die Dogmatik mit Schleier-
macher zu den historischen Disziplinen zieht.
§2.
Gehalt und Gliederung.
Es kann nicht die x4.ufgabe dieser Einleitung sein, den
Gehalt des Schleiermacherschen Entw^urfs analytisch zu ent-
wickeln, nachdem erst eben Alfred Eckert in seiner oben
genannten ,Einführung' eine ebenso genaue, wie in den Haupt-
stücken überzeugende Würdigung des Werkes geliefert hat
(S. 52—96. Vgl. auch das kritische Referat von W Bender,
I. Theologins begrepp (Begriff)
II. Theologins utgrening (Verzweigung)
A) Philosophische Theologie
a) Eeligions-Psychologie
b) Eeligionsgeschichte u. -philosophie
c) Apologetik
d) Polemik
B) u. C) wie bei Schleiermacher. — Schleiermachers Einfluß auf
Schweden anlangend, ist es wichtig zu wissen, daß Schweden das einzige
außerdeutsche Land ist, das eine tJbersetzung der Glaubenslehre besitzt.
Die tJbertraguug ist, wie Herr Prof. S öd erblom mir gleichzeitig mitteilt,
nach der zweiten Auflage erfolgt, von Dr. Ignell, unter dem Titel: Den
Christliga tron (tro = Glaube), eftar evangeliska kyrkans grundsatser, Stock-
holm, Hoeggström 1842 — 46, sechs Lieferungen.
II*
XX Einleitung.
Schleiermachers Theologie II 1878 S. 299—350). Nur einige
Hauptpunkte, die den geschichtlichen Fortschritt bezeichnen,
sollen kurz umschrieben werden.
Drei Stücke sind es, durch die sich der Schleiermachersche
Entwurf prinzipiell von allen früheren Entwürfen unterscheidet
und neue, epochemachende Gesichtspunkte aufschließt: (1). die
Deduktion der Theologie aus einem einzigen organisierenden
Prinzip; (2). die Entdeckung der kritischen Methode, jenseits
von Spekulation und Empirismus; (3). die Einordnung der
Theologie in das S3^stem der Geistes-, oder, wenn Rickerts,
durch Schleierraachers Ethik vorbereiteter Ausdruck vor-
zuziehen ist, der Kulturwissenschaften. In diesen charakte-
ristischen Stücken sind folgende Hauptmomente enthalten.
(1). Der Versuch, die Theologie aus einem Prinzip zu
deduzieren, ist, innerhalb der theologischen Wissenschaft,
eben so neu und überraschend, wie die Erzeugung dieses
Prinzips aus dem Motiv der Kirchenleitung. Vergleicht man
die gangbarsten älteren Enzyklopädien von Nösselt und
Planck,^) die Schleiermacher selbst noch bei seinen ersten
Vorlesungen zur Ausfüllung benutzt hat (Br. G. 2), so ist der
neue Geist seines eigenen Entwurfs an diesem Punkte am
stärksten fühlbar. Nösselt und Planck stellen die einzelnen
theologischen Disziplinen einfach empirisch nebeneinander,
ohne nach dem inneren Zusammenhang zu fragen. Für
Schleiermachers Entwurf ist gerade diese Frage grundlegend
geworden: das macht der neue Wissenschaftsbegriif, in den
er sich hineingedacht hat. Er hat ihn nicht selbst entdeckt.
Er ist unter Kantischen Anregungen zuerst von dem älteren
Eeinhold entwickelt, dann von Fichte ausgebaut und
endlich von Schelling, in seinen Vorlesungen über die
^) Joh. Aug. Nösselt (f 1807), Anweisung zur Bildung angehender
Theologen. 3 Teile. Halle 1786 — 89, zweite, yerm. u. verb. Auflage 1791
(noch 1818/19 in dritter Auflage von Niemeyer herausgegeben). — G. J.
Planck (1751—1833), Einleitung in die Theologische (so!) Wissenschaften.
2 Teüe. Göttingen 1794/95.
Einleitung XXI
Methode des akademischen Studiums 1803, in grandiosester
Architektonik vollendet worden. ^) Zwei Momente kon-
stituieren diese neue Wissenschaftslehre: (1). formell das
Postulat einer streng methodischen Ableitung des Zyklus der
Wissenschaften aus der Idee des Absoluten (bei Schelling und
Schleierraacher des Identitätsprinzips und seiner Digres-
sionen); (2). materiell die Anschauung der Wissenschaft als
eines lebendigen, durch die Einheit seiner Teile in einer
Idee zur Unauflöslichkeit erhobenen Organismus, und, im Zu-
sammenhange damit, die Überwindung des mechanistischen
Wissenschaftsbegriifs.
Beginnen wir mit dem zweiten Punkte, so hängt der
wissenschaftliche Charakter der Theologie offenbar daran, daß
es gelingt, ein Prinzip zu finden, aus dem die einzelnen
Zweige derselben organisch abgeleitet werden können. Dieses
Prinzip glaubt Schleiermacher gefunden zu haben in dem Motiv
der Kirchenleitung, und sein Kompendium ist der Versuch,
die Theologie nach diesem Prinzip als ein in sich geschlossenes
Ganzes zu organisieren. Indem er die Aufgaben der
Theologie aus dem Zweck der Kirchenleitung zu
begreifen sucht, gewinnt er das Band, das sie
innerlich umschließt, und die Basis, auf der sich
die Theologie in seinem Sinne als Wissenschaft
konstituieren kann. Freilich auch dann nur als Wissen-
schaft zweiter Ordnung, oder, wie Schleiermacher sich aus-
drückt, als positive Wissenschaft.
^) Eine pünktliche Untersuchung des Schleiermacherschen Wissenschafts-
begriffs und^ als unentbehrlicher Voraussetzung desselben, der Wissenschafts-
idee des kritischen und romantischen Idealismus überhaupt, ist eine noch
ungelöste Aufgabe, — Vgl. meine Andeutungen in , Christentum u. Wissen-
schaft in Schleiermachers Glaubenslehre', Berlin 1909 S. 49 ff. u. S. 61 Anm. 1.
— Ferner Eckert, Einführung S. 52 ff. (dort dasselbe Desiderat S. 57
Anm. 16), H. Süskind, Der Einfluß SchelHngs auf die Entwicklung von
Schleiermachers System, 1909 S. 93ff. u. E. Sprang er, in der Einleitung
zu jFichte, Schleiermacher, Steffens über das Wesen der Universität' (PhiL
Bibl. Bd. 120, Leipzig 1910) p. XIV ff.
XXII Einleitung.
Das führt auf den ersten Punkt zurück. Die Theologie
kann trotz des Prinzips, das sie zur Wissenschaft erhebt,
nicht im eigentlichen Sinne Wissenschaft sein, weil sie dem
Vollbegriif der Wissenschaft nicht genügt. Dazu müßte sie,
nach Schelling, dem Schleiermacher hier folgt, aus der Idee
des Absoluten zu entwickeln sein, was Schleiermacher (gegen
Schelling; vgl. seine Eezension der , Vorlesungen' Br. IV 579 ff.,
namentlich S. 584) für eine Unmöglichkeit hält. Denn es
gibt nur zwei Manifestationen des Absoluten, die Erscheinung
des rein-identischen Seins unter dem Übergewicht des Eealen,
als Natur, und unter dem Übergewicht des Idealen, als Ver-
nunft und Geschichte. Demnach gibt es auch nur zwei
„eigentliche'* Wissenschaften: die Philosophie der Natur und
die Philosophie des geistig-geschichtlichen Lebens (die ,Ethik'),
mit ihren empirischen Korrelaten, der Naturkunde und der
Geschichtswissenschaft, und über beiden eine Wissenschafts-
lehre (Transszendentalphilosophie, Fundamentallehre, Dia-
lektik), die die Idee des Seins und des Wissens zu entwickeln,
ihr gegenseitiges Verhältnis zu bestimmen und auf dem so
gewonnenen Grunde den Kosmos der Wissenschaften auf-
zubauen hat.
Die Ausscheidung der Theologie aus der „reinen" Sphäre
des absoluten Wissens und ihre Einordnung unter die „posi-
tiven" Wissenschaften bedeutet demnach zunächst und ur-
sprünglich, daß die Theologie nicht spekulativ begründet, noch
spekulativ zu begründen ist — eine Einsicht, die Schleier-
macher früh vor den wissenschaftlichen Führern seines Zeit-
alters vorausgehabt hat und deren energische Übertragung
von der Religion (vgl. die ,Eeden') auf die Theologie inner-
halb seiner eigenen Entwicklung ein Fortschritt ersten Ranges
ist. Der Ausdruck .positive Wissenschaft' hat aber nach
Schleiermachers Andeutungen auch einen positiven Sinn und
bedeutet, daß die Theologie ihren Gegenstand immer schon
vorfindet, daß das Prinzip, aus dem sie entspringt, etwas Ge-
gebenes ist, und zwar, wie Schleiermacher behauptet oder doch
Einleitung. XXIII
ZU behaupten scheint, etwas von außen her Gegebenes, das
sich bei genauerer Betrachtung als eine praktische Aufgabe
herausstellt.
Hierzu ist folgendes zu bemerken. Unanfechtbar ist der
Begriif der Theologie als positiver Wissenschaft in dem Sinne,
daß sie ihr Prinzip nicht hervorbringt, sondern als gegebene
Größe hinnimmt. Die Einnahme dieses Standpunktes ist gleich-
bedeutend mit der prinzipiellen Überwindung der rationalen
und spekulativen Theologie und ein epochemachender Fort-
schritt von allerhöchster Wichtigkeit. Daß die Theologie
nicht eine Begriffs-, sondern eine Gegenstands Wissenschaft ist,
diese Erkenntnis ausgesprochen und wirksam in Kraft gesetzt
zu haben, ist eine der Taten, durch die sich Schleiermacher
in der Geschichte der Methodik ein bleibendes Denkmal
gesetzt hat. Und es bedeutet in diesem Zusammenhange nicht
viel, daß sich bei ihm mit dem Begriff des Positiven zugleich
die Vorstellung „zweiter Ordnung" verbindet. Zwar daß es
„reine" Wissenschaften gibt, und daß wir dieselben in der
reinen Mathematik besitzen, mindestens in der nichteuklidischen
Geometrie, die zweifellos keine praktische Abzweckung hat,
sondern nur für sich selber existiert, hätte man nicht be-
streiten sollen. ^) Aber auch das ist unwidersprechlich, daß
die reine Wissenschaft, an welche Schleiermacher gedacht hat,
die Wissenschaft der Konstruktionen, heute gegenstandslos
geworden ist, und daß im Laufe des 19. Jahrhunderts die
positiven Wissenschaften mehr und mehr in ihre Posten ein-
gerückt sind. Da endlich alle Wissenschaften aus dem Er-
kenntnistrieb entspringen und auf die Erforschung der Wahr-
heit gerichtet, also der Idee nach theoretisch sind -), so sind
sie im Prinzip gleichwertig und bilden nur insofern ein abge-
stuftes System, als sich in einigen der Wissenstrieb unmittel-
^) wie Eckert es tut, Einführung S. 53; darum ist die Scheidung
zwischen eigentlicher und positiver Wissenschaft doch haltbar und sogar not-
wendig (gegen Eckert S, 57).
2) gegen Eckert, der das Gegenteil behauptet (S, 53 ff.).
XXIV Einleitung.
bar objektiviert, in anderen dagegen an einer gegebenen Er-
scheinung entzündet. Will man nach diesem sekundären Maß-
stab Wissenschaften erster und zweiter Ordnung unterscheiden
— und es ist kein Grund, dies nicht zu tun — so fällt die
Theologie durchaus unter die Wissenschaften zweiter Ordnung^
d. i. sie ist, wie schon oben bemerkt wurde, nicht Begriffs-^
sondern Gegenstandswissenschaft. Und Schleiermacher bleibt
im Recht.
Um so bedenklicher scheinen die übrigen Bestimmungen
zu sein. Indem nämlich Schleiermacher die Theologie aus
dem „konstitutiven Prinzip" der Kirchenleitung hervorgehen
läßt, scheint er ein der Wissenschaft fremdes, die Eeinheit
der Forschung bedrohendes Motiv praktisch-äußerlicher Natur
in den Mittelpunkt gerückt zu haben. Ein Motiv, das im
Wortsinn konsequent entwickelt, die Theologie zu ruinieren
droht, indem es sie zu einer höheren Technik erniedrigt.
Eine Reihe äußerst gewagter Behauptungen, wie die, daß
eine rein wissenschaftliche, d. i. philologisch-historische Be-
schäftigung mit dem Kanon nur gegen denselben gerichtet
sein könne (§ 147) u. a. m. sind Folgen dieses Ansatzes, der
bei flüchtiger Betrachtung geeignet scheint, die Theologie zu
diskreditieren und Schleiermachers Leitgedanken, der theo-
logischen Forschung und Wissenschaft ein festes, gediegenes
Rückgrat zu geben, um seine besten Wirkungen zu bringen.
Ist das Schleiermachers Meinung gewesen? Die Frage
auf werfen heißt sie verneinen. Und hier stellen wir den Satz
voran, daß Schleiermachers Ungeheurer idealismus
in dem Begriff der Kirche, und folglich auch dem
der Kirchenleitung, idealePotenzen aufleuchten
sieht, die auch die trübste Wirklichkeit, damals
vielleicht nochtrüberalsheute, nichtauslöschen
kann, unddie, wosiewirksamempfunden werden,
sich zu dem kosmischen Rahmen verdichten, der
alles theologische Denken umspannt. Die wahr-
haft grandiose Naivetät, mit der er immer und überall die
Einleitung. XXV
dürftigste Erscheinung* der Kirche ins Ideelle hinaufgehoben
hat, ist der Schlüssel zum Verständnis seiner Theologie und
seines enzyklopädischen Ansatzes.
Gleichwohl bleiben Bedenken zurück, und es fragt sich^
ob wir den Schleiermacherschen Ansatz nicht dennoch modifi-
zieren müssen, um schwersten Mißverständnissen zu begegnen
und Irrtümer zu verhüten, die aus dem Stichwort ,Kirchen-
leitung"' nach dem empirischen Sprachgebrauch fast notwendig
entspringen müssen. Für Schleiermacher ist Kirchenleitung
letztlich nichts anderes, als die Selbstberufungder Theo-
logie zu charaktervoller Pflege evangelischen
Geistes und evangelischer Gesinnung durch das
Medium der Wissenschaft, also nichts von „Kirchen-
regiment". Aber die Tatsache, daß unsers Wissens noch kein
Schleiermacherforscher auf diese Spur gekommen ist, scheint
zu beweisen, daß das Stichwort unglücklich gewählt und durch
ein besseres zu ersetzen ist.
Wissenschaft ist methodisch geschulter Wahrheitssinn,
sonst nichts. Das hat Schleiermacher so gut gewußt, wie
irgend ein großer Forscher neben ihm. Er hat für die un-
abhängige Erkenntnis, grade in der Theologie, nicht nur ge-
lebt, sondern gekämpft und gelitten, wie die Geschichte seines
Lebens in der Epoche des reaktionären Hochkirchentums be-
weist. Die Kirchlichkeit seiner Theologie ist immer zweifel-
haft gewesen. Die Kraft und Freude seines Lebens war stets
die freie, unabhängige Forschung, mit dem aufrechten Willen,
der Kirche zu dienen, aber auch mit dem unbeugsamen Ver-
trauen darauf, daß diese Art von Kirchendienst zugleich die
wahre Kirchenleitung sei. Kirchlichkeit als Maxime und Ge-
sinnung, aber nicht als Forschungsprinzip und -methode: das
ist die intellektuelle Existenzform, die er selbst im Begriff
des Kirchen fürst en (§ 9) idealisiert und verewigt hat. Damit
hat er sich selbst berichtigt. Und wir meistern ihn nicht,
sondern bringen ihn nur mit sich selber in Einklang, wenn
wir aus dem konstitutiven Prinzip (§ 81) ein teleologisches
XXVI Einleitung.
Moment und aus dem objektiven Faktor eine subjektive Be-
dingung machen, die deshalb nicht minder verbindlich ist.
Denn daß der Glaube an die Kirche und die Liebe zur Kirche
auch auf protestantischem Boden erst den Theologen machen,
daß eine Theologie ohne die Bereitschaft, der Kirche zu
dienen, wäre es auch noch so indirekt, aufhört, Theologie zu
sein, ist ein i^xiom, das auch im Zeitalter der Eeligionsge-
schichte nicht dauernd bestritten werden wird.
Schleiermacher hat selbst den Punkt bezeichnet, an dem
wir einzusetzen haben, um seinen Ansatz zu korrigieren, ohne
seine Absichten zu zerstören. Er hat durch seinen kühnen
Wurf zwei Ziele auf einmal erreichen wollen, die für die
Methodik noch heute gelten, (1). eine selbständige theo-
logische Wissenschaft, (2). eine selbständige theologische
Wissenschaft: das erste durch Einführung eines eigenen
Prinzips, das zweite durch Aufrichtung des Zweckbegriffs
der Kirchenleitung. Aus der Tendenz auf die Kirchenleitung
hat er den theologischen Charakter der in der Theologie ge-
sammelten Kenntnisse und Probleme ableiten wollen. Kirch-
liche Brauchbarkeit — so könnte es scheinen — ist der Prüf-
stein und Maßstab theologischer Wissenschaft, ist der Be-
ziehungspunkt, der die einzelnen theologischen Disziplinen zu
einem Ganzen zusammenschließt, und der darüber entscheidet,
ob eine wissenschaftliche Bestrebung theologisch ist oder
nicht (§ 6). Aber wenn wir genauer zusehen, so finden wir,
daß Schleiermacher selbst nicht vermocht hat, diesen Ge-
sichtspunkt streng durchzuführen. An einer ganzen Reihe
von Stellen, z. B. auch in dem oben angeführten § 147, wird
das Motiv der Kirchenleitung stillschweigend durch ein anderes
ersetzt, nämlich durch das Interesse am Christentum.
Und während z. B. in § 81 die Kirchenleitung als das kon-
stitutive Prinzip der Theologie erscheint, bezeichnet § 84
vielmehr die immer r e i n e r e D a r s t e 1 1 u n g d e s W e s e n s
des Christentums als den letzten Zweck aller
Theologie (vgl. §313). Also nicht Erziehung zur Kirchen-
Einleitung-. XXVII
leitung', sondern zum Verständnis des Christentums das End-
ziel, und der methodische Erwerb dieses Verständnisses, mit
allen Voraussetzungen und Folgerungen, das organisierende
Prinzip und der substantielle Kern aller theologischen Forschung
und Wissenschaft!
Welch eine bedeutsame Verschiebung des Standpunktes!
Die Spannung beider Gedanken reihen, die nur durch ent-
schiedene Subordination der ersten unter die zweite gelöst
werden kann, die aber bei Schleiermacher ungelöst bleibt,
weil er sie, wie oben gezeigt, mit idealistischer Intuition un-
mittelbar als Einheit anzuschauen vermochte, tritt schon im
Text und der Anmerkung des ersten Paragraphen zutage.
Der Text bestimmt die Theologie als eine Gegenstandswissen-
schaft, die den Glauben bzw. das Christentum voraussetzt
und dessen methodische Durchdringung zum Objekt hat; die
Anmerkung setzt sie scheinbar zu einer Technik herab, indem
sie sie auf die Lösung einer spezifisch praktischen Aufgabe
zurückführt. Der Begriff des Positiven hat also einen doppelten
Inhalt ; er bedeutet im guten Sinne den Gegebenheitscharakter
der Theologie^): daß sie ihr Objekt nicht zu erzeugen, sondern
zu erforschen, zu beschreiben, zu kritisieren und dadurch
wirksam in Kraft zu setzen hat. Und er kann im schlechten
Sinne den technischen Charakter der Theologie bedeuten, den
wir als ein zu enges, verwirrendes, durch Schleiermacher
selbst überwundenes Prinzip abzulehnen haben. Schleier-
macher behauptet freilich in der Anmerkung zu § 5, daß der
Glaube an und für sich eines theologischen Apparates nicht
bedürfe, weder zu seiner Wirksamkeit in der einzelnen Seele,
noch auch in den Verhältnissen des geselligen Familienlebens.
Wohl aber, fügen wir in seinem Sinne hinzu, als Prinzip einer
eigenen Gemeinschaft oder Kirche, und erinnern an § 2, der
die einseitige Haltung von § 5 gleichsam im voraus über-
^) zu dem auch ihre konfessionelle Klangfarbe gehört; siehe im
Eegister unter ,Konfessioneller Charakter der Theologie'.
XXVIII Einleitung.
windet, indem er das Gesetz (oder die Tatsache) konstatiert,
daß jeder zu einer geistigen Macht erstarkte Glaube, d. i. doch
wohl jeder Glaube, der es zu Kirche und Bekenntnis gebracht
hat, die Tendenz habe, sich eine Theologie anzubilden, um
sich über sich selbst zu verständigen. Die Theologie ein
Postulat des nach methodischer Selbstbesinnung
im weitesten Umfange strebenden Glaubens —
das ist der evangelische Standpunkt, den Schleiermacher in
der Praxis des Lebens und der Forschung, unbekümmert wie
wenige, vertreten hat, der der Theologie ihre Selbständigkeit
und zugleich ihren wissenschaftlichen Charakter sichert, in-
dem sie nämlich die erprobten Methoden der geisteswissen-
schaftlichen Arbeit überhaupt furchtlos auf ihr Gebiet über-
trägt und dabei in ihrem Gewissen durch das Vertrauen zu
einer Kirche getragen wird, die aus dem Geiste der Wahrheit
geboren sein will und sich im Prinzip bereit erklärt, in jedem
ernstlichen Ringen nach Wahrheit die Stimme Gottes zu ver-
nehmen. Es kann kein Zweifel darüber sein, daß wir im
Geiste Schleiermachers handeln und zugleich die ent-
scheidenden Grundmotive seiner Theologie auf eine wirksamere
Art in Kraft setzen, wenn wir den Ansatz der Enzyklopädie
nach diesen Prinzipien korrigieren.
(2). Die Entdeckung der kritischen Methode, als einer
Synthese von Induktion und Deduktion (vgl. §§ 21 und 32)^
ist nach zwei Seiten epochemachend. Sie hat zu ihrer Zeit
namentlich gewirkt als Eeaktion und Antithese gegen den
fanatischen Apriorismus der idealistischen Systematik, die
alles, auch Glaube und Christentum, spekulativ konstruieren
wollte, ohne auf die Geschichte Rücksicht zu nehmen. Wir
fürchten diese Richtung nicht mehr. Sie hat sich selbst das
Grab gegraben. Daran ändert die Tatsache nichts, daß
einzelne Fanatiker der Gegenwart sie wieder zum Leben er-
wecken wollen. Aber zu Schleiermachers Zeit war sie eine
Macht, die wirksamste Ausprägung des Besten, was man hatte,
oder doch zu haben meinte, und der Kampf gegen sie wurde
Einleitung:. XXIX
mehr und mehr als Sünde wider den heiligen Geist der
Wissenschaft empfunden. Daß Schleiermacher den Mut ge-
habt hat, diese Sünde auf sich zu nehmen und den Kampf
mit der ihm eigenen zähen Energie sicher und sieghaft durch-
zuführen, wiewohl er selbst als Philosoph die kühnsten Speku-
lationen wagte, ist eine Tat, die die Theologie des 19. und —
des 20. Jahrhunderts ihm nie vergessen darf, wenn sie sich
auf ihre Ursprünge besinnt.
Heut droht uns eine andere Gefahr. An die Stelle der
Spekulation hat sich der Empirismus geschoben und mehr
und mehr zum Tyrannen entwickelt. Die Hingebung an die
Geschichte hat einen Historismus erzeugt, der ebenso dog-
matisch geworden ist, wie der Apriorismus der Hegeischen
Schule. Wir fangen an, die Unzulänglichkeit dieses Stand-
punktes zu empfinden. Der Streit um das Wesen des Christen-
tums hat deutlich genug gezeigt, daß die Historie allein nicht
genügt, daß ohne charaktervolle Prinzipien, die zwar an der
Geschichte entwickelt sind, aber nicht aus der Geschichte
stammen, eine wirksame, probeli altige, überzeugende Theologie
unmöglich ist. Schleiermacher hat es vorausgesagt und prin-
zipiell den Weg beschritten, an dem die theologische Wissen-
schaft der Zukunft hängt, den kritischen Weg, den Kant als
die Synthese des Empirischen und des Kationalen, und Goethe
als die Verbindung des Historisclien mit dem Produktiven
bezeichnet hat. Die Tatsache, daß Schleiermacher oft genug
(z. B. im Leben Jesu) mehr konstruiert, als wir heute zulässig
finden, erklärt sich genugsam aus der Lage des Zeitalters, aus
dem Mangel an gediegenem historischen Wissen und der damit
zusammenhängenden tastenden Unsicherheit der historischen
Methode. Jedenfalls kann sie die epochemachende Entdeckung
Schleiermachers nicht auslöschen und uns nicht von dem Urteil
entbinden, daß er im Prinzip das Richtige gesehen und durch
die Einführung der kritischen Methode die Einseitigkeiten der
Spekulation und des Empirismus grundsätzlich überwunden hat.^)
^) Auch darin wird ScWeierm acher recht behalten, daß die Ausübung
XXX Einleitung.
(3). Die Einordnung der Theologie in das Sj^stem der Geistes-
oder Kulturwissenschaften ist unter den Schleiermacherschen
Neuerungen der am meisten individuell bedingte und darum
am häufigsten mißverstandene und angegriffene Punkt seines
theologischen Programms. Sie fällt mit der Anknüpfung der
Theologie an die Ethik zusammen, die bekanntlich im Sinne
Schleiermachers ein Doppeltes ist, spekulative Theorie der
Kultur und Grundlegung der Kulturwissenschaften, die, wie
Ästhetik , Politik und Keligionsphilosophie (§ 23 Anm.) ^\
unmittelbar aus ihr entspringen und so den Übergang ver-
mitteln von der AVissenschaft erster zur Wissenschaft zweiter
Ordnung.
Wir haben schon oben (S. XIV f.) gesehen, wie wenig der
erste Kritiker der Enzyklopädie die synthetischen Bestrebungen
Schleiermachers gebilligt, oder, um es gleich richtiger zu
sagen, wie wenig er sie verstanden hat. Andere sind darin
nicht glücklicher gewesen. So tadelt es Eosenkranz in
seiner Kritik der Schleiermacherschen Glaubenslehre 1836
aufs schärfste, daß Schleiermacher die Grundlegung seiner
Dogmatik in Lehnsätzen aus der Ethik, Eeligionsphilosophie
und Apologetik gegeben habe. Es sei ein unwissenschaftliches
Verfahren, eine selbständige Wissenschaft, wie die Theologie
sie nach Schleiermacher doch sei, durch Lehnsätze aus fremden
dieser Methode in jedem einzelnen Falle eine Kunst ist, ein Talent, das
den Denker und Forscher macht (siehe im Eegister unter ,Kunst', ferner
Dialektik §§ 17 ff., dazu Halperns Ausgabe S. 49 ff.) — Eine genaue Unter-
suchung über die Beziehungen zwischen Kunst u. Wissenschaft bei Schleier-
macher und den Eomantikern würde ebenfalls zu den Aufgaben der oben
als Desiderat bezeichneten Analyse des Schleiermacherschen Wissenschafts-
begriffs gehören.
^) Die beiden ersten hat Schleiermacher selbst bearbeitet (WW III
7 u. 8), die dritte nur angedeutet, in den berühmten §§ 7 — 10 der Glaubens-
lehre. — Als vierte koordinierte Wissenschaft müßte, den vier großen
Kultursphären entsprechend, eigentlich noch die Soziologie hinzukommen.
Schleiermacher hat sie nicht genannt, (1). weil der Name damals noch nicht
geprägt war, (2). weil seine Ethik selbst als eine (spekulative) Soziologie
verstanden werden kann.
Einleitnng. XXXI
Disziplinen, die nicht einmal absolut gewiß, sondern nur hypo-
thetisch giltig sein sollen, festzustellen und einzuleiten (S. 20).
Ein Urteil, das von der Mehrzahl der Forscher im wesent-
lichen noch heute unterschrieben wird. Mindestens hält man
Schleiermachers Verfahren für ein gewagtes, unfruchtbares
und darum überflüssiges Experiment.
Was wollte Schleiermacher mit jenen Anknüpfungen?
Warum legt er so großes Gewicht darauf, die Theologie teils
unmittelbar (§§ 22 und 29 der Enz3^klopädie ; vgl. §§ 3 — 6
der Glaubenslehre), teils durch das Medium der Religions-
philosophie (Enzykl. § 23, Gl. §§ 7—10) mit der Ethik zu
verbinden? Die i^ntwort liegt in drei Momenten: einer
methodischen, einer sachlichen und einer persönlichsten Er-
v/ägung.
Die methodische Wurzel des Schleiermacherschen Ver-
fahrens liegt in seiner Wissenschaftslehre. Schleiermacher
hält streng dara^uf, daß jede Einzelwissenschaft, gleichviel, ob
erster oder zweiter Ordnung, ehe sie in die Materie eindringt,
sich erst formell durch pünktliche Eintragung in die Wissen-
schaftsskala und durch Feststellung ihrer Beziehungen zu den
nächst höheren Disziplinen, und, durch sie, zum höchsten
Wissen, gleichsam als Wissenschaft legitimiert. Das ist nicht
spielerischer Eigensinn, sondern unmittelbare Folge des neuen
Wissenschaftsbegriffs, den wir oben beschrieben haben, und
der, wie er die Einzelwissenschaft als einen Organismus setzt,
in dem jeder Teil den anderen beseelt, wie er selbst von ihm
beseelt Avird, so auch das Gefüge der Wissenschaften als die
lebendige Verzweigung eines gemeinsamen Grundstockes an-
schaut, der die Idee des Wissens selber ist. Wir werden diese
Anschauung, in dem Umfange, in welchem sie Schleiermacher
bewegt hat, heute nicht mehr teilen können. Aber daß sie
etwas kräftig-Lebendiges hat, zu logischer Pünktlichkeit er-
zieht, und ein mächtiger Damm ist gegen die fortschreitende
gegenseitige Entfremdung der Fachwissenschaften, wie wir
sie täglich um uns erleben, wird niemand leugnen können.
XXXII Einleitung.
Das zweite Motiv ist sachlicher Art. Es wendet sich, im
echtesten Geist der idealistischen Denkart und Gesinnung,
gegen den Empirismus des Zufalls. P-^s kann nicht sein, daß
geistige Güter erster Ordnung aus Zufallsursachen entsprungen
sind. Es muß gelingen, eine Erscheinung; wie das Urphänomen
des Frommseins und seine Objektivierung in einer Kirche,
aus dem Geiste der Intelligenz zu begreifen, es gleichsam auf
den Quellgrund alles höheren Seins, die Berührung der Natur
mit der Vernunft, zurückzuleiten. Mit anderen Worten: die
Tatsache der Keligion und ihrer stetigen Erscheinung unter
der Form einer Kirche muß sich als ein organisches Stück
des allgemeinen Ethisierungsprozesses begreifen lassen, der
durch das Handeln der Vernunft auf die Natur wirksam ein-
geleitet ist. Und ebenso muß das Christentum, unbeschadet
seiner Originalität, mit dem religiösen Phänomen an sich
irgendwie zusammenhängen; ist doch das ganze Universum
des Geistes ein einziger großer Entwicklungsprozeß. So ent-
steht der Theologie die Aufgabe, die Knotenpunkte aufzu-
zeigen, an denen das Christentum mit der Religion und diese
wieder mit dem „allgemeinen Lebensquell", der Brunnenstube
der Intelligenz, zusammenhängt. Und es ergibt sich, in ge-
nauer Parallele zu dem genealogischen Wissenschaftsbilde,
eine genealogische Gegenstandsbetrachtung, die sich bis zu
den Wurzeln des Geistigen erstreckt und erst unmittelbar
vor den Toren des ewig Unerforschlichen innezuhalten ge-
sonnen ist. Auch dies offenbar ein grandioser Gedanke, der
keineswegs blind phantastisch ist, sondern als letztes Ideal
auch einem minder kühnen und anspruchsvollen Denken immer
wieder wichtig werden wird.
Endlich das individuellste Moment. Schleiermachers
Theologie ist die reife und gediegene Frucht einer synoptischen
Weltansicht. Er glaubte an die Einheit der geistigen Welt
mit einer Kraft und Freudigkeit, er erlebte sie in sich in
der Fülle der Motive, die seinen reichen Geist bewegten, mit
einem Elementargefühl, das sich nicht oft wiederholen wird.
Einleitung. XXXIII
Er sah Keligion und Christentum, die er mit hochbegabtem
Auge, wie wenige vor ihm, in ihrer körnigen Eigenart ge-
schaut hat, doch immer zugleich in innigster Berührung mit
den bewegenden Mächten des Geistes überhaupt, und so wurde
es die Losung seiner Theologie, wie er es selbst in dem vor-
liegenden Entwurf mit klassischen Worten ausgesprochen hat :
Religion und Christentum „im Zusammenhange mit den übrigen
Tätigkeiten des menschlichen Geistes zu verstehen" (§ 21).
Dies ist der tiefste und letzte Grund der scheinbar so zweck-
losen und ermüdenden Zurüstungen, durch die sich Schleier-
macher, in der Enzyklopädie und in der Einleitung der
Glaubenslehre, den Weg zu seinem Objekt gebahnt hat. Er
wollte, was er innerlich schaute und als das Mark seines
Lebens empfand, auch in der begrifflichen Darstellung aus-
prägen, er wollte das großeProblem derSynthesen
nicht, wie die meisten vor ihm und nach ihm, der
Virtuosität des Subjekts überlassen, sondern an
demObjekte selbst w^ irksam und mit überzeugen-
der Besonnenheit einer probe haltigen Lösung
entgegenführen. Die ganze Schleiermachersche Theologie
ist schließlich nichts anderes, als der begriffliche Ausdruck
dieses Lebensgefühls. Wer ihn von hier aus nicht begreift,
wird ihn niemals ganz verstehen. Aber er hat dann auch
kein Eecht, sich über ihn hinauszusetzen und ihn zu den
Überwundenen zu zählen.
Wir schließen diese Einleitung mit einer summarischen
Übersicht über den Gedankengang des Werkes, indem wir
die einzelnen Paragraphengruppen nach Stichworten zusammen-
ordnen. Eingehende Analj^sen findet man bei W. Bender,
Schleiermachers Theologie II 1878 S. 299 ff. und bei A. Eckert,
Einführung usw. S. 13 ff. — Wegen des gediegenen historischeu
Horizontes ist auch das kürzere Referat bei W. Gaß, Ge-
schichte der prot. Theologie IV 1867 S. 533 ff. immer noch
lehrreich und lesenswert.
III
Einleitung.
§§ 1— 8 Begriff der Theologie.
§§ 9 — 13 Theorie und Praxis in der Theologie.
§§ 14—17 Theologische Bildungsziele.
§§ 18 — 20 Begriff der theologischen Enzyklopädie.
§§ 21—23 Theologie und Philosophie.
§§ 24—31 Gliederung der Theologie.
I. Philosophische Theologie.^)
Einleitung.
§§ 32 — 42 Die Grundprobleme der philosophischen Theologie: Bestimmung
des Wesens des Christentums (Apologetik) u. Kritik seiner empirischen
Trübungen (Polemik).
A. Grundsätze der Apologetik.
§§ 43 — 48 Die Grundbegriffe der Apologetik.
§§ 49—53 Zur Methode der Apologetik.
B. Grundsätze der Polemik
§§ 54 — 58 Die Grundbegriffe der Polemik.
§§ 59—62 Zur Methode der Polemik.
§§ 63—68 Schlußbetrachtungen zur philosophischen Theologie.
II. Historische Tlieologie.
Einleitung.
§§ 69—70 Begriff der historischen Theologie.
§§ 71—80 Geschichtsphilosophische Grundbegriffe (Epochen u. Perioden).
§§ 81 — 85 Gliederung der historischen Theologie.
^) Der Ausdruck ist „offenbar deshalb gewählt, weil es sich um Bear-
beitung von Begriffen handelt, ein Geschäft, das von anderen Philosophen
als Philosophie schlechthin bezeichnet wird." (Eckert, Einführung S. 80.)
Inhalt. XXXV
§§ 86—102 Methodische Vorbemerkungen in Bezug auf die Hauptzweige
der historischen Theologie.
A. Exegese.
§§ 103—109 Umfang und Begriff des Kanons, i)
§§ 110—124 Über höhere und niedere Kritik.
§§ 125 — 131 Über die sprachlichen Grundlagen der Bibelwissenschaft.
§§ 132 — 139 Idee und Prinzipien der biblischen Hermeneutik.^)
§§ 147 — 148 Allgemeine Schlußbemerkungen.
B. Kirchen geschichte.
§§ 149 — 159 Die allgemeinen Prinzipien der Geschichtswissenschaft.^)
§§ 160 — 165 Die allgemeine Aufgabe der Kirchengeschichte.
§§ 166—176 Die, Außenseite der Kirchengeschichte (Kirchengeschichte im
engeren Sinne; Verfassungsgeschichte).
§§ 177 — 183 Die Innenseite der Kirchengeschichte (Dogmengeschichte).
§§ 184 — 194 Zur Methode des kirchenhistorischen Studiums.
C. Dogmatik und Statistik.
§ 195 Einleitung.
1. Dogmatik.
§§ 196-202 Begriff und Aufgabe der Dogmatik.*)
§§ 203—208 Orthodoxie und Heterodoxie.^)
§§ 209—212 Der kirchliche Charakter der Dogmatik.
§§ 213—217 Der wissenschaftliche Charakter Dogmatik.^)
§§ 218—222 Zur Methode des dogmatischen Studiums.
§§ 223-231 Glaubens- und Sittenlehre.')
2. Statistik.
§§ 232—241 Begriff und Aufgabe der Statistik.
§§ 242—248 Zur Methode des statistischen Studiums.
§§ 249—250 Folgerungen.
§§ 251—256 Schlußbetrachtungen zur historischen Theologie.
^) Vgl. Schleiermachers Einleitung ins Neue Testament (WW I 8).
2) Vgl. Schleiermachers Hermeneutik (WW I 7).
^) Vgl. die Einleitung in das Studium der Kirchengeschichte 1806
WW I 11 S. 623 ff.
*) Vgl. Glaubenslehre § 19.
^) Glaubenslehre § 25.
ö) Glaubenslehre § 17.
') Glaubenslehre § 26 — Christliche Sitte S. 12 ff.
III*
XXXVI Inhalt.
III. Praktische Theologie.^)
§§ 257—266 Die Grandprobleme der praktischen Theologie.
§§ 267—276 Disposition der praktischen Theologie.
A. Kirchendienst.
§§ 277—279 Gliederung des Kirchendienstes.
§§ 280-289 Die erbauende Tätigkeit.
§§ 290—308 Die leitende Tätigkeit.
§§ 291—302 Seelsorge.
§§ 303 — 306 Organisation des Gemeindelebens.
§§ 307—308 Epilog.
B. Kirchenregiment.
§§ 309—314 Prolegomena.
§§ 315—327 Die kirchliche Autorität.
§§ 315—317 Kirchendienst.
§§ 318—327 Kirchengesetzgebung.
§§ 328—334 Die freie Geistesmacht.
§§ 328-329 Einleitung.
§§ 330—331 Der akademische Lehrer.
§§ 332—334 Der theologische Schriftsteller.
§§ 335 — 338 Schlußbetrachtungen zur praktischen Theologie.
^) Vgl. Schleiermachers Praktische Theologie (WW I 13).
Vorerinnerimg
zur ersten Ausgabe.
Es ist mir immer ungemein schwierig erschienen, nach
Anleitung eines fremden Handbuchs akademische Vorträge zu
halten; denn jede abweichende Ansicht scheint zugleich eine
Abweichung zu fordern von einer aus einem andern Gesichts-
punkt entstandenen Ordnung. Freilich wird es um desto
leichter, je mehr die eigentümlichen Ansichten der einzelnen
über einzelnes einer gemeinschaftlichen über das Ganze unter-
geordnet sind, das heißt, je mehr das besteht, was man eine
Schule nennt. Allein wie wenig dies jetzt in der Theologie
der Fall ist, weiß jedermann. Aus demselben Grunde also,
der es mir zum Bedürfnis macht, wenn ein Leitfaden ge-
braucht werden soll, was doch in mancher Hinsicht nützlich
ist, einen eigenen zu entwerfen, bin ich unfähig, den Anspruch
zu machen, daß andere Lehrer sich des meinigen bedienen
mögen. Scheint es mir daher zu viel, was nur für meine
jetzigen und künftigen Zuhörer bestimmt ist, durch den Druck
in das große Publikum zu bringen: so tröste ich mich damit,
daß diese wenigen Bogen meine ganze dermalige Ansicht des
theologischen Studiums enthalten, welche, wie sie auch be-
schaffen sei, doch vielleicht schon durch ihre Abweichung an-
regend wirken und Besseres erzeugen kann.
Andere pflegen in Enzj^klopädien auch einen kurzen Aus-
zug der einzelnen dargestellten Disziplinen selbst zu geben;
mir schien es angemessener, denen zu folgen, welche in solchen
TT Vorerinnerung.
Vorträgen lieber alle Aufmerksamkeit auf dem Formalen fest-
halten, damit die Bedeutung der einzelnen Teile und ihr Zu-
sammenhang desto besser aufgefaßt werde.
Berlin, im Dezember 1810.
D. F. Schleiermacher.
Vorerinnerung
zur zweiten Ausgabe.
Nach beinahe zwanzig Jahren, die seit der ersten Er-
scheinung dieses Büchleins vergangen sind, war es wohl
natürlich, daß ich im einzelnen vieles zu verändern fand;
wiewohl Ansicht und Behandlungsweise im ganzen durchaus
dieselben geblieben sind. Was ich in Ausdruck und Stellung
geändert habe, ist hoffentlich auch gebessert. Wie ich denn
auch wünsche, daß die kurzen, den Hauptsätzen beigefügten
Andeutungen ihren Zweck, dem Leser eine Erleichterung zu
gewähren, nicht verfehlen mögen.
Daß in der ersten Ausgabe jeder Abschnitt seine Para-
graphen besonders zählte, verursachte viel Weitläuftigkeit beim
eitleren, und ist deshalb geändert worden.
Berlin, im Oktober 1830.
D. F. Schleiermacher.
Inhalt.
Seite
Allgemeine Einleitung § 1 — 31 1
Erster Teil. Von der philosophischen Theologie § 32—68 . 13
Einleitung § 32—42 13
Erster Abschnitt. Grundsätze der Apologetik § 43 — 53 ... 18
Zweiter Abschnitt. Grundsätze der Polemik § 54 — 62 ... 23
Schluß betrachtungen über die philosophische Theologie § 63 — 68 27
Zweiter Teil. Von der historischen Theologie § 69— 256 . . 30
Einleitung § 69—102 30
Erster Abschnitt. Die exegetische Theologie § 103—148 . . 43
Zweiter Abschnitt. Die historische Theologie im engeren Sinne
oder die Kirchengeschichte § 149—194 58
Dritter Abschnitt. Die geschichtliche Kenntnis von dem gegen-
wärtigen Zustande des Christentums § 195 — 250 .... 73
I. Die dogmatische Theologie § 196—231 74
II. Die kü-chüche Statistik § 232—250 89
Schlußbetrachtungen über die historische Theologie § 251 — 256 96
Dritter Teil. Von der praktischen Theologie § 257—338 . . 99
Einleitung § 257—276 99
Erster Abschnitt. Die Grundsätze des Kirchendienstes § 277—308 107
Zweiter Abschnitt. Die Grundsätze des Kirchenregimentes
§ 309—334 118
Schlußbetrachtungen über die praktische Theologie § 335—338 130
Kurze Darstellung
des theologischen Studiums
zum Behuf einleitender Vorlesungen.
Einleitung.
§ 1. Die Theologie in dem Sinne, in welchem das Wort
hier immer genommen \yird, ist eine positive Wissenschaft,
deren Teile zu einem Ganzen nur verbunden sind durch ihre
gemeinsame Beziehung auf eine bestimmte Glaubensweise, d. h.
eine bestimmte Gestaltung des Gottesbewußtseins; die der
christlichen also durch die Beziehung auf das Christentum.^)
Eine positive Wissenschaft überhaupt ist nämlich ein solcher Inbegriff
wissenschaftlicher Elemente, welche ihre Zusammengehörigkeit nicht
haben, als ob sie einen vermöge der Idee der Wissenschaft notwendigen
Bestandteil der wissenschaftlichen Organisation bildeten, sondern nur,
sofern sie zur Lösung einer praktischen Aufgabe erforderlich sind. —
Wenn man aber ehedem iine rationale Theologie in der wissenschaft-
lichen Organisation mit aufgeführt hat : so bezieht sich zwar diese auch
auf den Gott unseres Gottesbewußtseins, ist aber als spekulative Wissen-
schaft von unserer Theologie gänzlich verschieden.
§ 2. Jeder bestimmten Glaubensweise wird sich in dem
Maß, als sie sich mehr durch Vorstellungen, als durch sym-
bolische Handlungen mitteilt, und als sie zugleich geschicht-
liche Bedeutung und Selbständigkeit gewinnt, eine Theologie
anbilden, die aber für jede Glaubens weise, weil mit der Eigen-
tümlichkeit derselben zusammenhängend, sowohl der Form als
dem Inhalt nach, eine andere sein kann.-)
^) S. 1. § 1. Die Theologie ist eine positive Wissenschaft, deren ver-
schiedene Teile zu einem Ganzen nur verbunden sind durch die gemeinsame
Beziehung auf eine bestimmte Religion; die der christlichen also auf das
Christentum.
^) § 2. Jeder bestimmten Religion wird sich, in dem Maß, als sie ge-
schichtliche Bedeutung und Selbständigkeit erhält, das heißt sich zur Kirche
gestaltet, eine Theologie anbilden, deren Organisation nur aus der Eigen-
tümlichkeit jener zu verstehen, und also für jede eine andere ist.
Schleierm., Th. St. 1
2 Einleitung. § 3 — 5.
Nur in dem Maße, weil in einer Gemeinschaft von geringem Umfang
kein Bedürfnis einer eigentlichen Theologie entsteht, und weil bei
einem Übergewicht symbolischer Handlungen die rituale Technik,
welche die Deutung derselben enthält, nicht leicht den Namen einer
Wissenschaft verdient,
§ 3. Die Theologie eignet nicht allen, welche und sofern
sie zu einer bestimmten Kirche gehören, sondern nur dann
und sofern sie an der Kirchenleitung teilhaben; so daß der
Gegensatz zwischen solchen und der Masse und das Hervor-
treten der Theologie sich gegenseitig bedingen.^)
Der Ausdruck Kirchenleitung ist hier im weitesten Sinne zu nehmen,
ohne daß an irgendeine bestimmte Form zu denken wäre.
§ 4. Je mehr sich die Kirche fortschreitend entwickelt,
und über je mehr Sprach- und Bildungsgebiete sie sich ver-
breitet, um desto vielteiliger organisiert sich auch die Theo-
logie; weshalb denn die christliche die ausgebildetste ist.-)
Denn je mehr beides der Fall ist, um desto mehr Differenzen, sowohl der
Vorstellung, als der Lebensweise, hat die Theologie zusammenzufassen,
und auf desto mannigfaltigeres Geschichtliche zurückzugehen.
§ 5. Die christliche Theologie ist sonach der Inbegriff
derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln,
ohne deren Besitz und Gebrauch eine zusammenstimmende
Leitung der christlichen Kirche, d. h. ein christliches Kirchen-
regiment, nicht möglich ist.^)
Dieses nämlich ist die in § 1 aufgestellte Beziehung : denn der christliche
Glaube an und für sich bedarf eines solchen Apparates nicht, weder zu
^) S. 1. § 3. Die Theologie eignet nicht allen, welche und sofern sie zur
Kirche gehören, sondern nur, welchen und sofern sie die Kirche leiten.
Der Gegensatz zwischen solchen und der Masse und das Hervortreten der
Theologie bedingen sich gegenseitig.
2) S. 2. § 4. Je mehr die Kirche sich fortschreitend entwickelt, und durch
je mehr Sprach- und Bildungsgebiete sie sich verbreitet, um desto viel-
teiliger und zusammengesetzter organisiert sich auch die Theologie. Daher
ist die christliche auch die gebildetste.
3) § 5. Die christliche Theologie ist der Inbegriff derjenigen wissen-
schaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Anwendung ein christ-
liches Kirchenregiment nicht möglich ist.
§ 6—9. Emleitung. 3
seiner Wirksamkeit in der einzelnen Seele, noch aitch in den Verhält-
nissen des geselligen Familienlebens.
§ 6. Dieselben Kenntnisse, wenn sie ohne Beziehung auf
das Kirchenregiment erworben und besessen werden, hören
auf, theologische zu sein, und fallen jede der Wissenschaft an-
heim, der sie ihrem Inhalte nach angehören.^)
Diese Wissenschaften sind dann der Natur der Sache nach die Sprach-
kunde und Geschichtskunde, die Seelenlehre und Sittenlehre, nebst den
von dieser ausgehenden Disziplinen der allgemeinen Kunstlehre und der
Keligionsphilosophie.
§ 7. Vermöge dieser Beziehung verhält sich die Mannig-
faltigkeit der Kenntnisse zu dem Willen, bei der Leitung der
Kirche wirksam zu sein, wie der Leib zur Seele. ^)
Ohne diesen Willen geht die Einheit der Theologie verloren, und ihre
Teile zerfallen in die verschiedenen Elemente.
§ 8. Wie aber nur durch das Interesse am Christentum
jene verschiedenartigen Kenntnisse zu einem solchen Ganzen
verknüpft werden: so kann auch das Interesse am Christen-
tum nur durch Aneignung jener Kenntnisse sich in einer
zweckmäßigen Tätigkeit äußern.^)
Eine Kirchenleitung kann zufolge § 2 nur von einem sehr entwickelten
geschichtlichen Bewußtsein ausgehen, aber auch nur durch ein klares
Wissen um die Verhältnisse der religiösen Zustände zu allen übrigen
recht gedeihlich werden.
§ 9. Denkt man sich religiöses Interesse und wissen-
schaftlichen Geist im höchsten Grade und im möglichsten
^) S. 2. § 6. Dieselben Kenntnisse, ohne diese Beziehung, hören auf, theo-
logische zu sein, und fallen jede einer andern Wissenschaft anheim.
2) § 7. Die Mannigfaltigkeit der Kenntnisse ist der Leib, der Trieb,
zum Wohl der Kirche gesetzmäßig wirksam zu sein, ist die Seele.
^) § 8. Wie jene Kenntnisse nur durch das Interesse am Christentum
zu dem Ganzen verknüpft werden, welches die Theologie bildet: so kann
auch nur durch die Aneignung jener wissenschaftlichen Kenntnisse das
Interesse am Christentum zu der zweckmäßigen Tätigkeit gedeihen, durch
welche die Kirche wirklich erhalten und weiter gebildet wird.
1*
4 Einleitung. § 9—11.
Gleichgewicht für Theorie und Ausübung vereint: so ist dies
die Idee eines Kirchenfürsten. ^)
Diese Benennung für das theologische Ideal ist freilich nur angemessen,
wenn die Ungleichheit unter den Mitgliedern der Kirche groß ist, und
zugleich ein Einfluß auf eine große Eegion der Kirche mögUch. Sie
scheint aber passender, als der schon für einen besonderen Kreis ge-
stempelte Ausdruck Kirchenvater, und schließt übrigens nicht im
mindesten die Erinnerung an ein amtliches Verhältnis in sich.
§ 10. Denkt man sich das Gleichgewicht aufgehoben : so
ist derjenige, welcher mehr das Wissen um das Christentum
in sich ausgebildet hat, ein Theologe im engeren Sinn; der-
jenige hingegen, welcher mehr die Tätigkeit für das Kirchen-
regiment in sich ausbildet, ein Kleriker.^)
Diese natürliche Sonderuug tritt bald mehr, bald weniger äußerlich hervor;
je mehr aber, um desto weniger kann die Kirche ohne eine lebendige
Wechselwirkung zwischen beiden bestehen. — Übrigens wird im weiteren
Verfolg der Ausdruck Theologe in der Kegel in dem weiteren, beide
Kichtungen umfassenden Sinne genommen.
§ 11. Jedes Handeln mit theologischen Kenntnissen als
solchen, von welcher Art es auch sei, gehört immer in das
Gebiet der Kirchenleitung; und wie auch über die Tätigkeit
in der Kirchenleitung, sei es mehr konstruierend oder mehr
regelgebend, gedacht werde, so gehört dieses Denken immer
in das Gebiet des Theologen im engeren Sinn.^)
Auch die wissenschaftliche Wirksamkeit des Theologen muß auf die
Förderung des Wohles der Kirche abzwecken, und ist also klerikalisch ;
und alle technischen Vorschriften auch über die eigentlich klerika-
*) S. 3. § 9. Beides, religiöses Interesse und wissenschaftlicher Geist, im
höchsten Grade und im möglichsten Gleichgewicht zur Theorie und Aus-
übung vereint, ist die Idee eines Kirchenfürsten.
2) § 10. Insofern jemand in Beziehung auf das Christentum mehr das
Wissen in sich ausbildet, ist er ein Theologe, insofern er mehr in der
unmittelbaren Ausbildung des Kirchenregimentes begriffen ist, ist er ein
Kleriker.
3) § 11. Jedes reale Handeln mit den so geleiteten wissenschaftlichen
Kenntnissen gehört zum Kirchenregiment, und jede Kenntnis der Regeln
und Bedingungen auch der unmittelbarsten Ausübung gehört zur Theologie.
§ 12—14. Einleitung. 5
üschen Tätigkeiten gehören in den Kreis der theologischen Wissen-
schaften.
§ 12. Wenn demzufolge alle wahren Theologen auch an
der Kirchenleitung teilnehmen, und alle, die in dem Kirchen-
regiment wirksam sind, auch in der Theologie leben: so muß
ungeachtet der einseitigen Richtung beider doch beides, kirch-
liches Interesse und wissenschaftlicher Geist, in jedem ver-
eint sein.^)
Denn wie im entgegengesetzten Falle der Gelehrte kein Theologe mehr
wäre, sondern nur theologische Elemente in dem Geist ihrer besonderen
Wissenschaft bearbeitete: so wäre auch die Tätigkeit des Klerikers
keine kunstgerechte oder auch nur besonnene Leitung, sondern lediglich
eine verworrene Einwirkung.
§ 13. Jeder, der sich zur leitenden Tätigkeit in der
Kirche berufen findet, bestimmt sich seine Wirkungsart nach
Maßgabe, wie eines von jenen beiden Elementen in ihm über-
wiegt."^)
Ohne einen solchen inneren Beruf ist niemand in Wahrheit weder Theologe
noch Kleriker; aber keine von beiden Wirkungsarten hängt irgend da-
von ab, daß das Kirchenregiment die Basis eines besonderen bürger-
lichen Standes ist.^)
§ 14. Niemand kann die theologischen Kenntnisse in
ihrem ganzen Umfange vollständig innehaben, teils weil jede
Disziplin im einzelnen ins Unendliche entwickelt werden kann,
teils weil die Verschiedenheit der Disziplinen eine Mannig-
^) S. 3. § 12. Wenn also nur diejenigen im eigentlichen Sinne Theologen
sind, welche auf irgendeine Weise auch das Kirchenregiment ausüben, und
nur diejenigen das Kirchenregiment ausüben können, welche wahrhaft Theo-
logen sind: so muß bei der einseitigen Eichtung dennoch beides, religiöses
Interesse und wissenschaftlicher Geist, in jedem vereinigt sein.
2) S. 4. § 13. Welches von beiden in ihm überwiegt, darnach hat jeder, der
sich zur leitenden Tätigkeit in der Kirche berufen fühlt, seine Wirkungsart
zu bestimmen.
^) § 14. Diese sowohl, als noch viel mehr die Theologie selbst ist
keinesweges davon abhängig, daß das Kirchenregiment die Basis eines be-
sondern bürgerlichen Standes ist.
6 Einleitung. § 14—17.
faltigkeit von Talenten erfordert, welche einer nicht leicht in
gleichem Grade besitzt.^)
Jene Entwicklungsfähigkeit zur unendlichen Vereinzelung gilt sowohl von
allem, was geschichtlich ist und mit Geschichtlichem zusammenhängt,
als auch von aUen Kunstregeln in Bezug auf die Mannigfaltigkeit der
Fälle, welche vorkommen können.
§ 15. Wollte sich jedoch deshalb jeder gänzlich auf Einen
Teil der Theologie beschränken : so wäre das Ganze weder in
einem, noch in allen zusammen.^)
Letzteres nicht, weil bei einer solchen Art von Verteilung kein Zusammen-
wirken der einzelnen von verschiedenen Fächern, ja streng genommen
auch nicht einmal eine Mitteilung unter ihnen stattfinden könnte.
§ 16. Daher ist, die Grundzüge aller theologischen Dis-
ziplinen inne zu haben, die Bedingung, unter welcher auch
nur eine einzelne derselben in theologischem Sinn und Geist
kann behandelt werden.
Denn nur so, wenn jeder neben seiner besonderen Disziplin auch das
Ganze auf allgemeine Weise umfaßt, kann Mitteilung zwischen allen
und jedem stattfinden, und nur so jeder vermittelst seiner Haupt-
disziplin eine Wirksamkeit auf das Ganze ausüben.^)
§ 17. Ob jemand eine einzelne Disziplin, und was für
eine, zur Vollkommenheit zu bringen strebt, das wird bestimmt
vornehmlich durch die Eigentümlichkeit seines Talentes, zum
Teil aber auch durch seine Vorstellung von dem dermaligen
Bedürfnis der Kirche.*)
^) S. 4. § 15. Niemand kann die ganze Aufgabe der Theologie vollständig
lösen, teils wegen der Unendlichkeit der darunter befaßten Kenntnisse, teils
weil die Verschiedenheit der Disziplinen auch eine Mannigfaltigkeit von
Talenten erfordert, die nicht in gleichem Grade vereint sein können.
2) § 16. Wollte jeder sich gänzlich auf Einen Teil beschränken: so
wäre das Ganze weder in einem, noch auch, weil kein lebendiges Zusammen-
wirken stattfände, in allen zusammen.
^) S. 5. § 17. Jeder kann sich, um es zur Vollkommenheit darin zu bringen,
nur Einen Teil der Theologie zunächst widmen, muß aber, um vermittelst
dieses auf das Ganze zu wirken, auch das Ganze in allgemeinem Sinn
auffassen.
*) § 18. Was jeder von allen Teilen der Theologie inne haben muß,
§ 18. Einleitung. 7
Der glückliche Fortgang- der Theologie überhaupt hängt großenteils da-
von ab, daß sich zu jeder Zeit ausgezeichnete Talente für dasjenige
finden, dessen Fortbildung am meisten not tut. Immer aber können
diejenigen am vielseitigsten wirksam sein, welche die meisten Disziplinen
in einer gewissen Gleichmäßigkeit umfassen, ohne in einer einzelnen
eine besondere Virtuosität anzustreben; wogegen diejenigen, die sich
nur einem Teile widmen, am meisten als Gelehrte leisten können.^)
§ 18. Unerläßlich ist daher jedem Theologen zuerst eine
richtige Anschauung von dem Zusammenhang der verschie-
denen Teile der Theologie unter sich, und dem eigentümlichen
Wert eines jeden für den gemeinsamen Zweck. Demnächst
Kenntnis von der innern Organisation jeder Disziplin und
denjenigen Hauptstücken derselben, welche das Wesentlichste
sind für den ganzen Zusammenhang. Ferner Bekanntschaft
mit den Hilfsmitteln, um sich jede jedesmal erforderliche
Kenntnis sofort zu verschaffen. Endlich Übung und Sicherheit
in der Anwendung der notwendigen Vorsichtsmaßregeln, um
dasjenige aufs beste und richtigste zu benutzen, was andere
geleistet haben. ^)
Die beiden ersten Punkte werden häufig unter dem Titel theologische
Enzyklopädie verbunden, auch wohl noch der dritte, nämlich die theo-
logische Bücherkunde, in dieselbe Pragmatie hineingezogen. Der vierte
ist ein Teil der kritischen Kunst, welcher nicht als DiszipHn ausge-
ist das Allgemeine, nach der Einheit des Zwecks hin Liegende; was jeder
nur von Einem Teil erwerben kann, ist das besondere, an die Eigentüm-
lichkeit des Talents und des Gegenstandes Gebundene.
1) S. 5. § 19. Je mehr jemand praktisch sein will, um desto universeller
muß er auch sein als Theologe; je mehr als Gelehrter leisten, um desto
mehr immer nur mit Einem Teile sich beschäftigen.
2) § 20. Jenes Allgemeine (18) ist 1. richtige Anschauung von dem
Zusammenhange der verschiedenen Teile der Theologie unter sich und mit
dem Zweck, 2. Wissenschaft von demjenigen in jedem, was am meisten
mit den übrigen und dem Zweck zusammenhängt, 3. Bekanntschaft mit
den IVIitteln, um sich jede nötige Kenntnis sofort zu verschaffen, 4. und
mit den nötigen Vorsichtsmaßregeln, um das, was andere geleistet haben,
zu benutzen. Das Besondere ist die Vollständigkeit in den einzelnen Dis-
ziplinen, und das Ziel derselben die Keinigung und Erweiterung des
ihnen schon Geleisteten.
8 Einleitung. § 19—21.
arbeitet ist, und über welchen sich überhaupt nur wenige Eegeln mit-
teilen lassen, so daß er fast nur durch natürliche Anlage und Übung
erworben werden kann.
§ 19. Jeder, der sich eine einzelne Disziplin in ihrer
Vollständigkeit aneignen will, muß sich die Eeinigung und
Ergänzung dessen, was in ihr schon geleistet ist, zum Ziel
setzen.
Ohne ein solches Bestreben wäre er auch bei der vollständigsten Kennt-
nis doch nur ein Träger der Überlieferung, welches die am meisten
untergeordnete und am wenigsten bedeutende Tätigkeit ist.
§ 20. Die enzyklopädische Darstellung, welche hier ge-
geben werden soll, bezieht sich nur auf das erste von den
oben (§ 18) nachgewiesenen allgemeinen Erfordernissen; nur
daß sie zugleich die einzelnen Disziplinen auf dieselbe Weise
behandelt, wie das Ganze. ^)
Eine solche Darstellung pflegt man eine formale Enzyklopädie zu nennen ;
wogegen diejenigen, welche materielle genannt werden, mehr von dem
Hauptinhalt der einzelnen Disziplinen einen kurzen Abriß geben, mit
der Darstellung ihrer Organisation aber es weniger genau nehmen. —
Insofern die Enzyklopädie ihrer Natur nach die erste Einleitung in
das theologische Studium ist, gehört allerdings dazu auch die Technik
der Ordnung, nach welcher bei diesem Studium zu verfahren ist, oder
was man gewöhnlich Methodologie nennt. Allein was sich hievon
nicht von selbst aus der Darstellung des inneren Zusammenhanges er-
gibt, das ist bei dem Zustand unserer Lehranstalten sowohl, als unserer
Literatur, zu sehr von Zufälligkeiten abhängig, als daß es lohnen
könnte, auch nur einen besonderen Teil unserer Disziplin daraus zu
bilden.
§ 21. Es gibt kein Wissen um das Christentum, wenn
man, anstatt sowohl das Wesen desselben in seinem Gegen-
satz gegen andere Glaubensweisen und Kirchen, als auch das
Wesen der Frömmigkeit und der frommen Gemeinschaften im
Zusammenhang mit den übrigen Tätigkeiten des menschlichen
^) S. 6. § 21, Die enzyklopädische Darstellung hat es mit der Anschauung
des Wesens und Zusammenhanges der verschiedenen Teile zu tun, ohne
sich mit dem Materiellen selbst zu befassen.
§ 21—24. Einleitung. 9
Geistes zu verstehen, sich nur mit einer empirischen Auf-
fassung begnügt.^)
Daß das Wesen des Christentums mit einer Geschichte zusammenhängt,
bestimmt nur die Art dieses Verstehens näher, kann aber der Aufgabe
selbst keinen Eintrag tun.
§ 22. Wenn fromme Gemeinschaften nicht als Verirrungen
angesehen werden sollen: so muß das Bestehen solcher Ver-
eine als ein für die Entwicklung des menschlichen Geistes
notwendiges Element nachgewiesen werden können.^)
Das erste ist noch neuerlich in den Betrachtungen über das Wesen des
Protestantismus geschehen. Die Frömmigkeit selbst ebenso ansehen
ist der eigentliche Atheismus.
§ 23. Die weitere Entwicklung des Begriffs frommer
Gemeinschaften muß auch ergeben, auf welche Weise und in
welchem Maß die eine von der andern verschieden sein kann,
imgleichen, wie sich auf diese Differenzen das Eigentümliche
der geschichtlich gegebenen Glaubensgenossenschaften bezieht.
Und hiezu ist der Ort in der Religionsphilosophie. ^)
Der letztere Name, in diesem freilich noch nicht ganz gewöhnlichen Sinne
gebraucht, bezeichnet eine Disziplin, welche sich in Bezug auf die Idee
der Kirche zur Ethik ebenso verhält, wie eine andere, die sich auf die
Idee des Staates, und noch eine andere, die sich auf die Idee der
Kunst bezieht.
§ 24. Alles, was dazu gehört, um von diesen Grund-
lagen aus sowohl das Wesen des Christentums, wodurch es
eine eigentümliche Glaubensweise ist, zur Darstellung zu
bringen, als auch die Form der christlichen Gemeinschaft
^) S. 6. § 22. Weder das Wesen des Christentums oder einer bestimmten
Kirche überhaupt, woraus im Gegensatz gegen das Zufällige allein (2) die
Organisation der Theologie zu verstehen ist, noch das Wesen der Kirche
im allgemeinen kann bloß empirisch aufgefaßt werden.
2) § 23. Soll es überhaupt Kirchen geben : so muß die Stiftung und
das Bestehen solcher Vereine als ein notwendiges Element in der Entwick-
lung des Menschen können in der Ethik nachgewiesen werden.
2) S. 7. § 2-4. Die lebendige Darstellung dieser Idee muß auch das Gebiet
des Veränderlichen darin nachweisen, welches die Keime alles Individuellen
enthält.
10 Einleitung. § 24—25
und zugleich die Art, wie beides sich wieder teilt und
differentiiert , dieses alles zusammen bildet den Teil der
christlichen Theologie, welchen wir die philosophische
Theologie nennen.^)
Die Benennung rechtfertigt sich teils aus dem Zusammenhang der Auf-
gabe mit der Ethik, teils aus der Beschaffenheit ihres Inhaltes, indem
sie es großenteils mit Begriffsbestimmungen zu tun hat. Eine solche
Disziplin ist aber als Einheit noch nicht aufgestellt oder anerkannt,
weil das Bedürfnis derselben, so wie sie hier gefaßt ist, erst aus der
Aufgabe, die theologischen Wissenschaften zu organisieren, entsteht.
Der Stoff derselben ist aber schon in ziemlicher Vollständigkeit be-
arbeitet zufolge praktischer Bedürfnisse, welche aus verschiedenen
Zeitumständen erwuchsen.
§ 25. Der Zweck der christlichen Kirchenleitung ist so-
wohl extensiv als intensiv zusammenhaltend und anbildend;
und das Wissen um diese Tätigkeit bildet sich zu einer
Technik, welche wir, alle verschiedenen Zweige derselben zu-
sammenfassend, mit dem Namen der praktischen Theo-
logie bezeichnen.-)
^) S. 7. § 25. Hieraus das Wesentliche in der gesamten Erscheinung
der christlichen Kirche zu verstehen, ist die Aufgabe des philosophischen
Teiles der Theologie.
§ 26. Die philosophische Theologie ist die Wurzel der gesamten
Theologie.
§ 27. Sie ist so wenig bearbeitet, daß ihr sogar noch der bestimmte
und allgemein geltende Name fehlt.
2) § 28. Der Zweck des christlichen Kirchenregimentes kann nur
dahin gehen, dem Christentum sein zugehöriges Gebiet zu sichern und
immer vollständiger anzueignen, und innerhalb dieses Gebietes die Idee
des Christentums immer reiner darzustellen.
S. 8. § 29. Hierzu muß es eine Technik geben, welche sich auf den
Besitz der darzustellenden Idee und auf die Kenntnis des zu regierenden
Ganzen stützt.
§ 30. Die Darstellung dieser Technik ist der praktische Teil der
Theologie.
§ 31. Die praktische Theologie ist die Krone des theologischen
Studiums.
§ 32. Sie ist bisher mehr in Bezug auf das Kleine und Einzelne,
als auf das Große und Ganze als Theorie behandelt.
§ 26—28. Einleitung. H
Auch diese Disziplin ist bisher sehr ungleich bearbeitet. In großer Fülle
nämlich, was die Geschäftsführung im einzelnen betrifft; hingegen
was die Leitung und Anordnung im großen betrifft, nur sparsam, ja
in disziplinarischem Zusammenhange nur für einzelne Teile.
§ 26. Die Kirclienleitung erfordert aber auch die Kennt-
nis des zu leitenden Ganzen in seinem jedesmaligen Zu-
stande, welcher, da das Ganze ein geschichtliches ist, nur als
Ergebnis der Vergangenheit begriffen werden kann; und
diese Auffassung in ihrem ganzen Umfang ist die histo-
rische Theologie im weiteren Sinne des Wortes.^)
Die Gegenwart kann nicht als Keim einer dem Begriff mehr ent-
sprechenden Zukunft richtig behandelt werden, wenn nicht erkannt
wird, wie sie sich aus der Vergangenheit entwickelt hat.
§ 27. Wenn die historische Theologie jeden Zeitpunkt
in seinem wahren Verhältnis zu der Idee des Christentums
■darstellt: so ist sie zugleich nicht nur die Begründung der
praktischen, sondern auch die Bewährung der philosophischen
Theologie.^)
Beides natürlich um so mehr, je mannigfaltigere Entwicklungen schon
vorliegen. Daher war die Kirchenleitung anfangs mehr Sache eines
richtigen Instinkts, und die philosophische Theologie manifestierte sich
nur in wenig kräftigen Versuchen.
§ 28. Die historische Theologie ist sonach der eigent-
liche Körper des theologischen Studiums, welcher durch die
philosophische Theologie mit der eigentlichen Wissenschaft,
^) S. 8. § 33. Die christliche Kirche als das zu Regierende ist ein Werden-
des, in welchem die jedesmahge Gegenwart begriffen werden muß als Pro-
dukt der Vergangenheit und als Keim der Zukunft.
§ 34. Dasjenige, worauf gewirkt werden soll, ist also nicht zu
verstehen ohne seine Geschichte, und diese in ihrem ganzen Umfang bildet
den historischen Teil der Theologie.
^) S. 9. § 35. Indem die historische Theologie jeden Zeitpunkt darstellt
in Bezug auf das Prinzip, enthält sie die Bewährung der philosophischen,
indem in Bezug auf den vorhergegangenen,*) enthält sie die Begründung
•der praktischen.
* sc. Zeitpunkt.
12 Einleitung. § 28—30.
und durch die praktische mit dem tätigen christlichen Leben
zusammmenhängt.^)
Die historische Theologie schließt auch den praktischen Teil geschichtlich
in sich, indem die richtige Auffassung eines jeden Zeitraums auch be-
kunden muß, nach was für leitenden Vorstellungen die Kirche während
desselben regiert worden. Und wegen des im § 27 aufgezeigten Zu-
sammenhanges muß sich ebenso auch die philosophische Theologie in
der historischen abspiegeln.
§ 29. Wenn die philosophische Theologie als Disziplin
gehörig ausgebildet wäre, könnte das ganze theologische Stu-
dium mit derselben beginnen. Jetzt hingegen können die ein-
zelnen Teile derselben nur fragmentarisch mit dem Studium
der historischen Theologie gewonnen werden ; aber auch dieses
nur, wenn das Studium der Ethik vorangegangen ist, welche
wir zugleich als die Wissenschaft der Prinzipien der Geschichte
anzusehen haben. ^)
Ohne die fortwährende Beziehung auf ethische Sätze kann auch das
Studium der historischen Theologie nur unzusammeuhängende Vor-
übung sein, und muß in geistlose Überlieferung ausarten; woher sich
großenteils der oft so verworrene Zustand der theologischen Disziplinen
und der gänzliche Mangel an Sicherheit in der Anwendung derselben
auf die Kirchenleitung erklärt.
§ 30. Nicht nur die noch fehlende Technik für die
Kirchenleitung kann nur aus der Vervollkommnung der
historischen Theologie durch die philosophische hervorgehen,
sondern selbst die gewöhnliche Mitteilung der Regeln für die
einzelne Geschäftsführung kann nur als mechanische Vor-
*) S. 9. § 36. Die historische Theologie ist der eigentliche Körper des
gesamten theologischen Studiums und faßt auf ihre Art auch die andern
beiden Teile in sich.
2) § 37. Die Ethik ist die Wissenschaft der Prinzipien der Ge-
schichte; diese also wird bei jedem theologischen Studium vorausgesetzt,
und es gründet sich auf sie.
§ 88. Für eines jeden theologisches Studium müßte der philo-
sophische Teil, wenn er schon zur Disziplin ausgebildet wäre, der erste sein.
Solange jeder ihn sich selbst bilden muß, kann er nur neben dem histo-
rischen gewonnen werden.
§ 30—32. Einleitung. 13
Schrift wirken, wenn ihr nicht das Studium der historischen
Theologie vorangegangen ist.^)
Aus der übereilten Beschäftigung mit dieser Technik entsteht die Ober-
flächlichkeit in der Praxis, und die Gleichgiltigkeit gegen wissen-
schaftliche Fortbildung.
§ 31. In dieser Trilogie, philosophische, historische und
praktische Theologie, ist das ganze theologische Studium be-
schlossen ; und die natürlichste Ordnung für diese Darstellung
ist unstreitig die, mit der philosophischen Theologie zu be-
ginnen und mit der praktischen zu schließen.-)
Bei welchem Teüe wir auch anfangen wollten: so würden wir immer
wegen des gegenseitigen Verhältnisses, in welchem sie miteinander
stehen, manches aus den andern voraussetzen müssen.
Erster Teil.
Von der philosophischen Theologie.
Einleitung.
§ 32. Da das eigentümliche Wesen des Christentums
sich ebensowenig rein wissenschaftlich konstruieren läßt, als
es bloß empirisch aufgefaßt werden kann : so läßt es sich nur
kritisch bestimmen (vgl. § 23) durch Gegeneinanderhalten
dessen, was im Christentum geschichtlich gegeben ist, und der
Gegensätze, vermöge deren fromme Gemeinschaften können
voneinander verschieden sein.^)
^) S. 9. § 39. Was sich zunächst auf die Ausübung bezieht, die praktische
Theologie, ist für das Studium das letzte.
2) S, 10. § 40. Es ist also zu handeln zuerst von der philosophischen
Theologie, dann von der historischen und zuletzt von der praktischen. In
diesen ist das ganze Studium beschlossen.
3) S. 11. § 1. So wenig das eigentümliche Wesen des Christentums bloß
14 Erster Teil. § 33—34.
Sowenig sich die Eigentümlichkeit einzelner Menschen konstruieren läßt,
wenngleich allgemeine Kubriken für charakteristische Verschiedenheiten
angegeben werden können: ebensowenig auch die Eigentümlichkeit
solcher zusammengesetzter oder moralischer Persönlichkeiten.
§ 33. Die philosophische Theologie kann daher ihren
Ausgangspunkt nur über dem Christentum in dem logischen
Sinne des Wortes nehmen, d. h. in dem allgemeinen Begriff
der frommen oder Glaubensgemeinschaft.^)
Zufolge des Vorigen nämlich kann überhaupt jede bestimmte Glaubens-
form und Kirche nur vermittelst ihrer Verhältnisse des Neben- und
Nacheinanderseins zu andern richtig verstanden werden; und dieser
Ausgangspunkt ist insofern für alle analogen Disziplinen anderer
Theologien derselbe, indem alle auf denselben höheren Begriff und auf
eine Teilbarkeit desselben zurückgehen müssen, um jene Verhältnisse
darzulegen.
§ 34. Wie sich irgend ein geschichtlich gegebener Zustand
des Christentums zu der Idee desselben verhält, das bestimmt
sich nicht allein durch den Inhalt dieses Zustandes, sondern
auch durch die Art, wie er geworden ist. 2)
Beides ist allerdings durcheinander bedingt, indem verschieden beschaffene
Zustände aus demselben früheren nur können durch einen verschiedenen
Prozei3 hervorgegangen sein, und ebenso umgekehrt. Um so sicherer
aber kann bald mehr das eine, bald mehr das andere zur Auffindung
jenes Verhältnisses benutzt werden. Und daß in einem lebendigen und
geschichtlichen Ganzen nicht alle Zustände sich zu der Idee desselben
gleich verhalten, versteht sich von selbst.
~~ »
empirisch kann aufgefaßt werden (Einl. 22), eben so wenig läßt es sich
rein wissenschaftlich aus Idee allein ableiten.
S. 11. § 2. Es ist also nur durch Gegeneinanderhalten des geschichtlich
in ihm Gegebenen und des in der Idee der Keligion und der Eirche als
veränderliche Größe Gesetzten zu bestimmen.
§ 3. Da dasselbe von allen geschichtlich gegebenen Keügions-
formen und Kirchen gilt: so ist in diesem Sinn jede nur mit ihrem Ver-
hältnis des Neben- und Nacheinanderseins zu andern zugleich zu verstehen.
1) S. 12. § 4. Der Standpunkt der philosophischen Theologie in Beziehung
auf das Christentum überhaupt ist nur über demselben zu nehmen,
2) § 5. Das Verhältnis des im Christentum geschichtlich Gegebenen
zu der Idee desselben drückt sich nicht nur durch den Inhalt aus, sondern
auch durch die Art des Werdens.
§ 35—36 Einleitung:. I5
§ 35. Da die Ethik als Wissenschaft der Geschichts-
prinzipien auch die Art des Werdens eines geschichtlichen
Ganzen nur auf allgemeine Weise darstellen kann: so läßt
sich ebenfalls nur kritisch durch Vergleichung der dort auf-
gestellten allgemeinen Differenzen mit dem geschichtlich Ge-
gebenen ausmitteln, was in der Entwicklung des Christen-
tums reiner Ausdruck seiner Idee ist, und was hingegen als
Abweichung hievon, mithin als Krankheitszustand, angesehen
werden muß.^)
Krankheitsziistände gibt es in geschichtlielien Individuen nicht minder,
als in organischen; von untergeordneten Differenzen in der Entwicklung
kann hier nicht die Rede sein.
§ 36. So oft das Christentum sich in eine Mehrheit von
Kirchengemeinschaften teilt, welche doch auf denselben Namen,
christliche zu sein, Ansprüche machen: so entstehen dieselben
Aufgaben auch in Beziehung auf sie; und es gibt dann, außer
der allgemeinen, für jede von ihnen noch eine besondere philo-
sophische Theologie.-)
1) S. 12. § 6. Die Ethik als Wissenschaft der Geschichtsprinzipien muß
darstellen, wie dasjenige wird, was in einem geschichtlichen Ganzen reiner
Ausdruck der Idee ist. Sie kann es aber nur im allgemeinen.
§ 7. Nur durch Gegeneinauderhaltung des Gegebenen mit den
dort aufgestellten allgemeinen Formen läßt sich von dieser Seite erkennen,
was in dem geschichtlich gegebenen Christentum reiner Ausdruck der Idee
desselben ist.
§ 8. Wie keine geschichtUche Erscheinung ihrer Idee rein ent-
spricht, sondern Abweichungen enthält, die in jener nicht aufgehen und
nur als Krankheitszustand zu begreifen sind, so auch das Christentum.
S. 13. § 9. Nur durch Gegeneinanderhaltung eines Gegebenen mit dem
als Wesen des Christentums Erkannten läßt sich inne werden, was wirk-
lich als Krankheit zu setzen ist.
2) § 10. Das Christentiim, wie jede Kirche, teilt sich selbst in Par-
teien, die unter sich im relativen Gegensatze stehen und sich zur christ-
lichen Kirche selbst verhalten, wie diese und andere gegebene Kirchen zur
absoluten Idee der Kirche.
§ 11. Alles bisher (1—9) Gesagte gilt also notwendig auch
von ihnen.
16 Erster Teil. § 37—39.
Offenbar befinden wir uns in diesem Fall; denn wenn auch jede von
diesen besonderen Gemeinschaften alle anderen für krankhaft gewordene
Teile erklärte: so müi3ten doch von unserem Ausgangspunkt (s. § 33)
aus schon zum Behuf der ersten Aufgabe die Ansprüche aller jenem
kritischen Verfahren anheimfallen. Unsere besondere philosophische
Theologie ist daher protestantisch.
§ 37. Da die beiden hier — in § 32 und 35 — gestellten
Aufgaben den Zweck der philosophischen Theologie erschöpfen :
so ist diese ihrem wissenschaftlichen Gehalt nach Kritik, und
sie gehört der Natur ihres Gegenstandes nach der geschichts-
kundlichen Kritik an.^)
In der Lösung dieser Aufgaben ist nämlich alles enthalten, was der
historischen Theologie sowohl, als der praktischen, in ihrer Beziehung
zur Kirchenleitung zum Grande legen muß.
§ 38. Als theologische Disziplin muß der philosophischen
Theologie ihre Form bestimmt werden durch ihre Beziehung
auf die Kirchenleitung. ^) ~~-—r- —
Das gilt natürlich auch von jeder speziellen philosophischen Theologie.
§ 39. Wie jeder in seiner Kirchengemeinschaft nur ist
vermöge seiner Überzeugung von der Wahrheit der sich darin
fortpflanzenden Glaubensweise: so muß die erhaltende Rich-
tung der Kirchenleitung auch die Abzweckung haben, diese
Überzeugung durch Mitteilung zur Anerkenntnis zu bringen.
Hiezu bilden aber die Untersuchungen über das eigentümliche
Wesen des Christentums und ebenso des Protestantismus die
^) S. 13. § 12. Da die hier gestellten Aufgaben den Inhalt der philo-
sophischen Theologie erschöpfen: so ist diese ihrem Innern Wesen nach
Kritik und führt ihren Namen nur in einem weitern Sinne, wegen ihrer
unmittelbaren Beziehung auf die Hauptsätze der Ethik.
*) S. 14. § 17. Als theologische Disziplin nimmt die philosophische Theo-
logie ihre Form von dem Interesse an dem Wohlbefinden und der Fort-
bildung der Kirche.
§ 18. Als solche ist sie, jedesmal wenn ein solcher Gegensatz
besteht, auch wesentlich in einer Kirchenpartei befangen, und also für jede
eine besondere.
S. 15. § 19. Als solche enthält sie, dem Obigen zufolge, die Prinzipien
der Apologetik und der Polemik und ist in diesen ganz beschlossen.
§ 39—40. Einleitung. 17
Grundlage, welche daher den apologetischen Teil der philo-
sophischen Theologie ausmachen, jene der allgemeinen christ-
lichen, diese der besonderen des Protestantismus.^)
Bei dieser Benennung ist an keine andere Verteidigung zu denken, als
welche von der Anfeindung der Gemeinschaft abhalten will. Das Be-
streben, auch andere in diese Gemeinschaft hineinzuziehen, ist eine
klerikalische, allerdings aus der Apologetik schöpfende Ausübung:
und eine Technik für dasselbe, die aber kaum anfängt sich zu bilden,
wäre der zunächst auf der Apologetik beruhende Teil der praktischen
Theologie.
§ 40. Da jeder, nach Maßgabe der Stärke und Klarheit
seiner Überzeugung, auch Mißfallen haben muß an den in
seiner Gemeinschaft entstandenen krankhaften Abweichungen :
so muß die Kirchenleitung, vermöge ihrer intensiv zusammen-
haltenden Richtung (§ 25), zunächst die Abzweckung haben,
diese Abweichungen als solche zum Bewußtsein zu bringen.
Dies kann nur vermöge richtiger Darstellung von dem Wesen
des Christentums und so auch des Protestantismus geschehen,
welche daher in dieser Anwendung den polemischen Teil der
philosophischen Theologie bilden, jene der allgemeinen, diese
der besonderen protestantischen. 2)
Die klerikalische Praxis, welche auf die Beseitigung der Krankheitszu-
stände ausgeht, hat hier ihre Prinzipien; und die Technik derselben
wäre der zunächst auf die Polemik zurückgehende Teil der praktischen
Theologie.
^) S. 13, § 13. Der lebendige Sinn des einzelnen in einer Kirche und
Kirchenpartei ist zugleich seine innere Überzeugung von ihrer geschicht-
lichen Giltigkeit.
S. 14. § 14. Die lebendige Tätigkeit des einzelnen im Kirchenregiment
ist zugleich das Bestreben, ihre innere Giltigkeit auch äußerlich geltend zu
machen oder sie zu verteidigen.
^) § 15. Das lebendige Sein des einzelnen in einer Kirche oder
Kirchenpartei ist zugleich sein inneres Mißfallen an den krankhaften Ab-
weichungen, die darin vorkommen.
§ 16. Zur Tätigkeit des einzelnen im Kirchenregiment gehört
auch das Bestreben, diese Abweichungen als solche kenntlich zu machen
und hinwegzuschaffen,
Schleierm., Th. St. 2
18 Erster Teil. § 41—43.
§ 41. So wie die Apologetik ihre Richtung ganz nach
außen nimmt, so die Polemik die ihrige durchaus nach innen.
Die weit gewöhnlicher so genannte, nach außen gekehrte besondere Po-
lemik der Protestanten, z. B. gegen die Katholiken, und ebenso die
allgemeine der Christen gegen die Juden oder auch die Deisten und
Atheisten, ist ebenfalls eine im weiteren Sinne des Wortes klerikalische
Ausübung, welche einerseits mit unserer Disziplin nichts gemein hat,
andererseits auch schwerlich von einer wohl bearbeiteten praktischen
Theologie als heilsam dürfte anerkannt werden. Man könnte allerdings
behaupten, diese Ausübung müsse nur nicht als eine protestantische
angesehen werden, sondern als eine allgemein christliche, so habe sie
ihre Eichtuug auch nach innen. Allein dann ginge sie auch nicht,
wie es doch immer gemeint ist, gegen den Katholizismus im ganzen,
sondern nur gegen dasjenige darin, was nicht seiner eigentümlichen
Form angehört, sondern als Krankheitszustand des Christentums zu
betrachten ist.
§ 42. Da nun die philosophische Theologie keine weiteren
Aufgaben enthält: so ist im folgenden zu handeln von der
Organisation der Apologetik und der Polemik, und zwar der allge-
meinen christlichen sowohl, als der besonderen protestantischen.
Entweder also zuerst von der allgemeinen philosophischen Theologie in
ihren beiden Teilen, und dann ebenso von der besonderen; oder zuerst
von der Apologetik, der allgemeinen und besonderen, und dann ebenso
von der Polemik. Die letztere Anordnung ist vorgezogen worden.
Erster Abschnitt.
Grundsätze der Apologetik.
§ 43. Da der Begriff frommer Gemeinschaften oder der
Kirche sich nur in einem Inbegriff nebeneinander bestehender
und aufeinander folgender geschichtlicher Erscheinungen ver-
wirklicht, welche in jenem Begriff eins, unter sich aber ver-
schieden sind : so muß auch von dem Christentum durch Dar-
legung sowohl jener Einheit, als dieser Differenz nachgewiesen
werden, daß es in jenen Inbegriff gehört. Dies geschieht
§ 43—45. Erster Abschnitt. 19
mittelst Aufstellung und Gebrauchs der Wechselbegriffe des
Natürlichen und Positiven.^)
Die Aufstellung dieser Begriffe, wovon jener das Gemeinsame aller, dieser
die Möglichkeit verschiedener eigentümlicher Gestaltungen desselben
aussagt, gehört eigentlich der Keligionsphilosophie an ; daher dieselben
auch gleich giltig sind für die Apologetik jeder frommen Gemeinschaft.
Könnte nun auf diese Weise auf die Eeligionsphilosophie bezogen
werden; so bliebe für die christliche Apologie hieven nur übrig, was
der folgende Paragraph enthält.
§ 44. Auf den Begriff des Positiven zurückgehend, muß
dann für das eigentümliche Wesen des Christentums eine
Formel aufgestellt und mit Beziehung auf das Eigentümliche
anderer frommen Gemeinschaften unter jenen Begriff sub-
sumiert werden.-)
Dies ist zwar die Grundaufgabe der Apologetik ; aber je mehr eine solche
Formel nur durch ein kritisches Verfahren (vgl. § 32) gefunden werden
kann, um desto mehr kann sie sich erst im Gebrauch vollständig be-
währen.
§ 45. Das Christentum muß seinen Anspruch auf ab-
gesondertes geschichtliches Dasein auch geltend machen durch
die Art und Weise seiner Entstehung; und dieses geschieht
durch Beziehung auf die Begriffe Offenbarung, Wunder und
Eingebung.^)
Je mehr auf ursprüngliche Tatsachen zurückgehend, desto größeres An-
^) S. 15. § 1. Da die Idee der Kirche sich nur in einer Mehrheit ge-
schichtlicher Erscheinungen realisiert, welche in jener Idee eins, unter sich
aber verschieden sind: so muß auch von dem Christentum, wenn es als eine
solche geltend gemacht werden soll, sowohl jene Einheit als diese Differenz
nachgewiesen werden. Diese Untersuchung umfaßt die Wechselbegriffe des
Natürlichen und Positiven.
2) § 2. Sie muß, auf allgemeine Bestimmung darüber, worin das
eigentümliche Wesen einer besondern Eeligionsform und Kirche zu setzen
sei, sich gründend, in diesem Gebiet das Wesen des Christentums nach-
weisen.
^) S. 16. § 5. Das Christentum, als neue und ursprüngliche Tatsache, muß
sich auch durch die Art, wie es entstanden ist, (I. Einl. 5) ausweisen.
Diese Untersuchung umfaßt die Begriffe von Offenbarung, Wunder und
Eingebung. »
2*
20 Erster Teil. § 46—48.
recht auf Selbständigkeit, und umgekehrt; wie dasselbe auch, bei
anderen Arten der Gemeinschaft stattfindet.
§ 46. Wie aber die geschichtliche Darstellung der Idee
der Kirche auch als fortlaufende Reihe anzusehen ist: so muß
ungeachtet des §§ 43 und 44 Gesagten doch auch die ge-
schichtliche Stetigkeit in der Folge des Christentums auf das
Judentum und Heidentum nachgewiesen werden, welches
durch Anwendung der Begriffe Weissagung und Vorbild ge-
schieht.^)
Das rechte Maß in Feststellung und Gebrauch dieser Begriffe ist
vielleicht die höchste Aufgabe der Disziplin; und je vollkommener
gelöst, desto festere Grundlage hat die von außen anbildende Aus-
übung.
§ 47. Da die christliche Kirche, wie jede geschichtliche
Erscheinung, ein sich Veränderndes ist: so muß auch nach-
gewiesen werden, wie durch diese Veränderungen die Einheit
des Wesens dennoch nicht gefährdet wird. Diese Unter-
suchung umfaßt die Begriffe Kanon und Sakrament.-)
Die Apologetik hat es mit den dogmatischen Theorien über beide nicht
zu tun; indem diese hier nicht antizipiert werden können. Beide
Tatsachen aber beziehen sich ihrem Begriff nach auf die Stetigkeit
des Wesentlichen im Christentume, der erste, wie sie sich in der Pro-
duktion der Vorstellung, der andere, wie sie sich in der Überlieferung
der Gemeinschaft ausspricht.
§ 48. Wie der Begriff der Kirche sich wissenschaftlich
nur ergibt im Zusammenhang (vgl. § 22) mit denen aller
andern aus dem Begriff" der Menschheit sich entwickelnden
^) S. 16. § 6. Da die ganze geschichtliche Darstellung der Idee der Kirche
auch als Eine fortlaufende Eeihe anzusehen ist: so muß ebenso auch auf
der andern Seite das Hervorgehen des Christentums aus dem Judentum und
Heidentum dargestellt werden. Diese Untersuchung umfaßt die Begriffe
von Weissagung und Vorbild.
2) S. 17. § 7. Da die christliche Kirche als geschichtliche Erscheinung ein
Zeitliches, also sich Veränderndes ist : so ist auch auszuführen, woran unter
diesen Veränderungen die bleibende Einheit des Wesens, sowohl im Gebiete
der Lehre, als der Gemeinschaft, kann erkannt werden. Diese Untersuchung
bezieht sich auf die Begriffe Kanon und Sakrament.
§ 48—49. Erster Abschnitt. 21
Organisationen gemeinsamen Lebens: so muß nun auch von
der christlichen Kirche nachgewiesen Averden, daß sie ihrem
eigentümlichen Wesen nach mit allen jenen Organisationen
zusammenbestehen kann, welches sich aus richtiger Erörterung
der Begriffe Hierarchie und Kirchengewalt ergeben muß.^)
Vorzüglich kommen hier in Betracht der Staat und die Wissenschaft.
Denn niemanden könnte zugemutet werden, die Giltigkeit des Christen-
tums anzuerkennen, wenn es durch sein Wesen einem von diesen ent-
gegenstrebte. Die Aufgabe ist daher um so vollständiger gelöst, je
bestimmter gezeigt werden kann, daß diese inneren Institutionen der
Kirche ihrem Begriffe nach nur die unabhängige Entwicklung der-
selben im Zusammenhang mit Staat und Wissenschaft bezwecken,
nicht aber die gleich unabhängige Entwicklung jener zu stören meinen.
Alles hierüber in die praktische Theologie Gehörige bleibt hier ausge-
schlossen.
§ 49. Je mehr in allen diesen Untersuchungen auf beides
Bezug genommen wird, sowohl darauf, daß das Christentum
als organische Gemeinschaft bestehen will, als auch darauf,
daß es sich vorzüglich durch den Gedanken darstellt und mit-
teilt (vgl. § 2), um desto mehr müssen sie den Grund zu der
Überzeugung legen, daß auch von Anfang an (vgl. § 44) das
Wesen des Christentums richtig ist aufgefaßt w^orden.'-)
Wenn sich doch in allem, was sich auf Lehre und Verfassung bezieht,
dasselbe Wesen des Christentums übereinstimmend mit der aufgestellten
Formel ausspricht: so ist dies die beste Bewährung für diese.
^) S. 17. § 8. Da die Kirche als notwendiges Erzeugnis auf einem und
demselben Grunde beruht mit allen andern in der Entwickelung der Mensch-
heit sich wesentlich ergebenden Organisationen eines gemeinsamen Lebens :
so muß auch von dem Christentum nachgewiesen werden, daß es mit jenen
allen zusammenbestehen kann. Dieses Bestreben geht aus auf richtige Be-
stimmung der Begriffe Hierarchie und Kirchengewalt.
2) S. 16. § 3. Da das eigentümliche Wesen einer besondern Religionsform
sich auf der idealen Seite am kenntlichsten in ihren Dogmen ausspricht und
auf der realen in ihrer Verfassung: so muß, um die innere Konsistenz des
Christentums darzustellen, nachgewiesen werden, wie sich dasselbige Wesen
in beiden ausspricht.
§ 4. Diese Kongruenz muß die Probe geben, daß das Wesen des
Christentums richtig aufgefaßt ist.
22 Erster Teil. § 50-52.
§ 50. Befindet sich die Kirche in einem Zustande der
Teilung, so muß die spezielle Apologetik einer jeden Kiichen-
partei, mithin jetzt auch die protestantische, denselben Gang
einschlagen, wie die allgemeine.^)
Denn die Aufgabe ist dieselbe, und das Verhältnis jeder einzelnen
Kirchenpartei zu den übrigen gleich dem des Christentums zu den
andern verwandten Glaubensgemeinschaften. Die in § 47 geforderte
Nachweisung führt auf die Begriffe von Konfession und Ritus, und
bei der in § 48 beschriebenen kommt es vorzüglich auf das Verhältnis
zum Staat an.
§ 51. Auch die allgemeine christliche Apologetik wird
in diesem Fall, von der Ansicht jeder besonderen Gestaltung
des Christentums affiziert, sich in jeder eigentümlich ge-
stalten.^)
Dies wird allerdings um desto weniger der Fall sein, je strenger aus der
Erörterung alles Dogmatische ausgeschieden wird. Niemals aber darf
es so weit gehen, daß jede nur sich selbst als Christentum zur Aner-
kenntnis bringen will, die andern aber als unchristlich darstellt. Wofür
schon durch die Scheidung der allgemeinen und besondern Apologetik
gesorgt werden soll.
§ 52. Da mehrere im Gegensatz miteinander stehende
christliche Kirchengemeinschaften sich nur bilden konnten aus
einem Zustande des Ganzen, in welchem kein Gegensatz aus-
gesprochen war : so hat sich jede um so mehr gegen den Vor-
wurf der Anarchie oder der Korruption zu verteidigen, als
auch jede wieder geneigt ist, von sich selbst zu behaupten,
daß sie an den ursprünglichen Zustand anknüpfe.^)
^) S. 17. § 9. Auf gleiche Weise hat die Apologetik, wiefern sie sich auf
eine besondere Kirchenpartei richtet, sowohl deren mit andern gemeinsames
Sein in der christlichen Kirche, als auch ihr besonderes Für-sich-Bestehn
zu begründen. Ihr Gegenstand ist in diesem Sinne vorzüglich alles, was
unter die Begriffe Konfession und Kitus gehört.
2) S. 18. § 10. Nicht nur kann jede Kirchenpartei nur sich selbst und
nicht auch die andere verteidigen, sondern ihre Ansicht wird sich auch mehr
oder weniger durch das ganze Geschäft der Apologetik hindurchziehen.
^) § 11. Da Kirchenparteien als Gegensatz nur entstehen können
aus einem Zustande in welchem kein Gegensatz stattfindet : so hat jede
§ 53—54. Zweiter Abschnitt. 23
Weder war im ursprünglichen Christentum ein Gegensatz ausgesprochen,
noch kann jemals ein Gegensatz an die Stelle eines anderen treten,
ohne daß jener vorher verschwunden wäre.
§ 53. Da eben deshalb jeder Gegensatz dieser Art inner-
halb des Christentums auch dazu bestimmt erscheint, wieder
zu verschwinden: so wird die Vollkommenheit der speziellen
Apologetik darin bestehen, daß sie divin atorisch auch die
Formen für dieses Verschwinden mit in sich schließt.^)
Eine prophetische Tendenz soll hierdurch der speziellen Apologetik
keinesweges beigelegt werden. Aber je richtiger in dieser Beziehung
das eigentümliche Wesen des Protestantismus aufgefaßt ist, um desto
haltbarere Gründe wird die spezielle Apologetik darbieten, um falsche
Unionsversuche abzuwehren, da jeder auf der Voraussetzung beruht,
der Gegensatz sei schon in einem gewissen Grade verschwunden.
Zweiter Abschnitt.
Crrundsätze der Polemik.^)
§ 54. Krankhafte Erscheinungen eines geschichtlichen
Organismus (vgl. § 35) können teils in zurücktretender Lebens-
kraft gegründet sein, teils darin, daß sich beigemischtes Fremd-
artige in demselben für sich organisiert.^)
sich zu verteidigen gegen den Vorwurf entweder der Anarchie oder der
Korruption.
^) S 18. § 12. Da solche Gegensätze innerhalb des Christentums schon oft
wieder verschwunden sind: so muß die besondere Apologetik auch sich
selbst begrenzen, und wissen, wo das abgesonderte Dasein einer Partei
nicht mehr vermag als eigentümliche Darstellung des Christentums zu gelten.
^) S. 19. § 1. Die Prinzipien der Polemik gehören zur philosophischen
Theologie als ihre negative Seite, als die Auffindung und Anerkennung
dessen, loas in der Erscheinung des Christentums seiner Idee nicht entspricht.
^) § 2. Es kann in der Erscheinung ein allgemein geschwächter
Lebensprozeß nicht mehr der ursprünglichen Kraft der einwohnenden Idee
entsprechen; es kann teilweise etwas absterben oder sich nicht neu ent-
wickeln, was zur Darstellung der Idee gehört; es kann endlich in der Er-
scheinung sich etwas entwickeln, was der Idee widerspricht.
24 Erster Teil. § 55-57.
Es ist nicht nötig, hiebei auf die Analogie mit dem animalischen Orga-
nismus zurückzugehen ; derselbe Typus kann auch schon an den Krank-
heiten der Staaten zur Anschauung gebracht werden.
§ 55. Da der Trieb, die christliche Frömmigkeit zum
Gegenstand einer Gemeinschaft zu machen, nicht notwendig
in gleichem Verhältnis steht mit der Stärke dieser Frömmig-
keit selbst: so kann bald mehr das eine von beiden geschwächt
sein und zurücktreten, bald mehr das andere.
Beides in der höchsten Vollkommenheit vereinigt, bildet freilich den nor-
malen Gesundheitszustand der Kirche, der aber während ihres ge-
schichtlichen Verlaufs nirgends vorausgesetzt werden kann. Eben
daraus aber, daß dieser Gesundheitszustand nur als die vollständige
Einheit jenes Zwiefachen beschrieben werden kann, folgt schon, daß
einseitige Abweichungen nach beiden Seiten hin möglich sind.
§ 56. Diejenigen Zustände, durch welche sich vorzüglich
offenbart, daß die christliche Frömmigkeit selbst krankhaft
geschwächt ist, werden unter dem Namen Indifferentis-
mus zusammengefaßt; und die Aufgabe ist daher, zu bestimmen,
wo das, was als eine solche Schwächung erscheint, wirklich
beginnt, krankhaft zu sein, und in wie mancherlei Gestalten
dieser Zustand sich darstellt.^)
Es ist die gewöhnliche Bedeutung dieses Ausdrucks, Gleichgiltigkeit in
Bezug auf das eigentümliche Gepräge der christlichen Frömmigkeit
darunter zu verstehen; wobei allerdings noch Frömmigkeit ohne be-
stimmtes Gepräge stattfinden kann. — Außerdem aber werden häufig
Zustände auf Rechnung einer solchen Schwäche geschrieben, die ganz
anders zu erklären sind. — Daß bei wirklichem Indifferentismus auch
der christliche Gemeinschaftstrieb geschwächt sein muß, ist natür-
lich; dies ist aber dann nur Folge der Krankheit, nicht Ursache der-
selben.
§ 57. Diejenigen Zustände, welche vornehmlich auf ge-
schwächten Gemeinschaftsbetrieb deuten, werden durch den
1) S. 19. § 3. Die allgemeinste Form des ersten Übels ist der Indifferen-
tismus. Wenn dieser aus dem Prinzip des Christentums hervorginge: so
würde dieses sich selbst aufheben. Soll also dem Christentum eine not-
wendige Existenz zukommen: so muß er nachgewiesen werden als Krank-
heitszustand.
57 — 59. Zweiter Abschnitt. 25
Namen Separatismus bezeichnet, welcher also ebenfalls
in seinen Grenzen und seiner Gliederung genauer zu be-
stimmen ist.^)
Genauer, als gewöhnlich geschieht, ist zu unterscheiden zwischen eigent-
lichem Separatismus und Neigung zum Schisma; zumal Jener, unge-
achtet seiner gänzlichen Negatiyität, oft den Schein Ton dieser an-
nimmt. Offenbar ist, daß der Gemeinschaftstrieb, wenn er in seiner
vollen Stärke vorhanden ist, auch alle Glieder durchdringen muß. Er
ist also desto mehr geschwächt, je mehrere sich bewußt und absicht-
lich ausschließen, ungeachtet sie dieselbe christliche Frömmigkeit zu
besitzen behaupten.
§ 58. Da das eigentümliche Wesen des Christentums
sich vorzüglich ausspricht einerseits in der Lehre und anderer-
seits in der Verfassung: so kann sich in der Kirche auch
Fremdartiges organisieren, teils in der Lehre als Ketzerei,
Häresis, teils in der Verfassung als Spaltung, Schisma; und
beides ist daher in seinen Grenzen und Gestaltungen zu be-
stimmen.^)
In den meisten Fällen, jedoch nicht notwendig, wird, wenn sich eine ab-
weichende Lehre verbreitet, daraus auch eine besondere Gemeinschaft
entstehen ; allein diese ist als bloße Folge jenes Zustandes nicht eigent-
liche Spaltung. Ebenso wird sich innerhalb einer Spaltung großen-
teils, jedoch nicht notwendig, auch, abweichende Lehre entwickeln;
allein diese braucht deshalb nicht häretisch zu sein.
§ 59. Alle hier aufgestellten Begriffe können weder bloß
empirisch gefunden, noch rein wissenschaftlich abgeleitet
^) S. 20. § 4. Die allgemeinste Form des zweiten Übels ist der Separa-
tismus. Wenn dieser dem Prinzip des Christentums gemäß wäre : so würde
er die Kirche, d. h. seine geschichtliche Realität selbst zerstören. Er muß
also begriffen werden als Krankheit.
§ 5. We7in das dem Wesen des Christentums Zuwiderlaufende
auch außer der Erscheinimg desselben gesetzt wird: so ist es kein Gegen-
stand der Polemik. Gegen den Atheismus oder gegen einen antireligiösen
Verein gibt es keine Polemik.
2) § 6. Das innerhalb der Erscheinung des Christentums seinem
Wesen Widerstreitende ist, wenn es sich in der Lehre selbständig organi-
siert, Ketzerei, wenn in der Gemeinschaft, Spaltung.
26 Erster Teil. § 59-61.
werden, sondern nur durch das hier überall vorherrschende
kritische Verfahren festgestellt; weshalb sie sich durch den
Gebrauch immer mehr bewähren müssen, um ganz zuverlässig
zu werden.^)
In Bezug auf Spaltung und Ketzerei muß wegen der großen Mannig-
faltigkeit der Erscheinungen dies Verfahren auf einer Klassifikation
beruhen, welche sich dadurch bewährt, daß die vorhandenen Erschei-
nungen mit Leichtigkeit darunter subsumiert werden können. In
Bezug auf Indifferentismus und Separatismus bewährt es sich desto
mehr, je mehr es hindert, daß nicht durch allzugroße Strenge für
krankhaft erklärt werde, was noch gesund ist, und umgekehrt,
§ 60. Was als krankhaft aufgestellt wird, davon muß
nachgewiesen werden, teils seinem Inhalte nach, daß es dem
Wesen des Christentums, wie sich dieses in Lehre und Ver-
fassung ausgedrückt hat, widerspricht oder es auflöst, teils
seiner Entstehung nach, daß es nicht mit der von den Grund-
tatsachen des Christentums ausgehenden Entwicklungsweise
zusammenhängt.^)
Je mehr beides zusammentrifft und sich gegenseitig erklärt, um desto
sicherer erscheint die Bestimmung.
§ 61. In Zeiten, wo die christliche Kirche geteilt ist,
hat jede spezielle Polemik einer besonderen christlichen
Kirchengemeinschaft denselben Weg zu verfolgen, wie die all-
gemeine.
Die Sachverhältnisse sind dieselben. Nur daß einerseits in solchen Zeiten
natürlich Indifferentismus und Separatismus ursprünglich in den par-
tiellen Kirchengemeinschaften einheimisch sind, und nur insofern all-
gemeine Übel werden, als sie sich in mehreren nebeneinander be-
^) S. 20. § 7. Vermöge des Gegensatzes (I. Einl. 1. 2) muß gelten, daß
weder bloß empirisch aufgefaßt, noch rein wissenschaftlich abgeleitet werden
kann, was im einzelnen Häresis und Schisma ist, sondern nur durch Gegen-
einanderhalten des Gegebenen und der Idee.
*) S. 21. § 8. Das polemische Verfahren ist daher, die Ausartung an dem
Inhalt zu beweisen, entweder durch W^iderspruch gegen Kanon und Sakra-
ment (T. I. Abschn. I. 7), in Bezug auf die Kirche, und gegen Konfession
und Ritus (Ebend. 9), in Bezug auf die Partei, oder durch die natürliche
Kongruenz zwischen Häresis und Schisma (Ebend. 8).
§ 62—63. Schlußbetrachtungen 27
stehenden christlichen Gemeinschaften gleichmäi3ig vorfinden, anderer-
seits aber, was nur dem eigentümlichen Wesen einer partiellen Ge-
meinschaft widerspricht, nie sollte durch den Ausdruck häretisch ode
schismatisch bezeichnet werden.
§ 62. Da die ersten Anfänge einer Ketzerei allemal als
Meinungen einzelner auftreten, und die einer Spaltung als
Verbrüderungen einzelner; eine neue partielle Kirchengemein-
schaft aber auch nicht füglich anders, als ebenso, zuerst er-
scheinen kann: so müssen die Grundsätze der Polemik, wenn
vollkommen ausgebildet, Mittel an die Hand geben, um schon
an solchen ersten Elementen zu unterscheiden, ob sie in krank-
hafte Zustände ausgehen werden, oder ob sie den Keim zur
Entwicklung eines neuen Gegensatzes in sich schließen.^)
Wie überhaupt dieser Satz gleichlautend ist mit § 53, so ist auch hier
dasselbe wie dort zu bemerken, in Bezug nämlich auf solche Toleranz
gegen das Krankhafte einerseits, und andererseits auf Beantwortung
der billigen Freiheit für dasjenige, was sich neu zu differentiieren im
Begriff steht.
ScMußbetrachtungeu
über die philosophische Theologie.
§ 63. Beide Disziplinen, Apologetik und Polemik, wie
sie sich gegenseitig ausschließen, bedingen sich auch gegen-
seitig. 2)
*) S. 21. § 9. Das dem Wesen des Christentums Widerstreitende muß
sich auch kundtun durch seine Entstehungsart (I. Einl. 5 — 7), und die
Prinzipien der Polemik müssen streben, diese zu bestimmen.
§ 10. Die ersten erscheinenden Elemente der Häresis sind
Meinungen einzelner, die der Spaltung Konventikula. Die Prinzipien der
Polemik müssen streben, das Krankhafte auch schon an diesen zu erkennen.
§ 11. Eine neue Kirchenpartei erscheint zuerst ebenso. Jede
Kraft also, welche einen Unterschied zwischen Partei und Schisma aner-
kennt, muß bestrebt sein, ihn in den ersten Elementen erkennbar zu be-
stimmen.
^) S. 22. § 1. Die Prinzipien der Apologetik und Polemik bedingen sich
gegenseitig, wie ihre Gebiete sich ausschließen.
28 Erster Teil. § 64—66.
Sie schließen sich ans durch ihren entgegengesetzten Inhalt (vgl. § 39
und 40) und durch ihre entgegengesetzte Richtung (vgl. § 41). Sie
bedingen sich gegenseitig, weil Krankhaftes in der Kirche nur erkannt
werden kann in Bezug auf eine bestimmte Vorstellung von dem eigen-
tümlichen Wesen des Christentums, und weil zugleich bei den Unter-
suchungen, durch welche diese Vorstellung begründet wird, auch die
krankhaften Erscheinungen vorläufig mit unter das Gegebene aufge-
nommen werden müssen, welches bei dem kritischen Verfahren zum
Grunde gelegt werden muß.
§ 64. Beide Disziplinen können daher nur durcheinander
und miteinander zu vollkommener Entwicklung gelangen.
Eben deshalb nur durch Annäherung und nur nach mancherlei Umge-
staltungen. Vgl. § 51, indem das dort Gesagte auch für die
Polemik gilt.
§ 65. Die philosophische Theologie setzt zwar den Stoff
der historischen als bekannt voraus, begründet aber selbst erst
die eigentlich geschichtliche Anschauung des Christentums.^)
Jener Stoff ist das Gegebene (vgl. § 32), welches sowohl den Unter-
suchungen über das eigentümliche Wesen des Christentums, als auch
denen über den Gegensatz des Gesunden und Krankhaften (vgl. § 35)
zum Grunde liegt. Das Kesultat dieser Untersuchungen bestimmt aber
erst den Entwicklungswert der einzelnen Momente, mithin die ge-
schichtliche Anschauung des ganzen Verlaufs.
§ 66. Die philosophische Theologie und die praktische
stehen auf der einen Seite gemeinschaftlich der historischen
gegenüber, auf der andern Seite aber auch eine der andern.^)
Jenes, weil die beiden ersten unmittelbar auf die Ausübung gerichtet
sind, die historische Theologie aber rein auf die Betrachtung. Denn
1) S. 22. § 2. Die philosophische Theologie setzt dfis Material der histo-
rischen voraus, begründet aber selbst das Urteil über das einzelne und also
die gesamte geschichtliche Anschauung des Christentums.
2) § 3. Der philosophische Teil der Theologie und der praktische
stehen zusammen dem historischen entgegen, weil sie beide unmittelbar auf
Ausübung gerichtet sind, jener aber nur auf Betrachtung. Sie stehen ein-
ander selbst entgegen als erstes und letztes, indem durch jenen erst der
Gegenstand für diesen fixiert wird, und indem jener sich an die höchste
wissenschaftliche Konstruktion anschließt, dieser das Besonderste der Technik
in sich faßt.
§ 67—68. Schlußbetrachtungen. 29
wenngleich Apologetik und Polemik allerdings Theorien sind, von denen
man apologetische und polemische Leistungen wohl zu unterscheiden
hat : so vollenden sie doch erst in diesen ihre Bestimmung, und werden
nur um dieser willen aufgestellt. — Beide aber stehen einander gegen-
über, teils als Erstes und Letztes, indem die philosophische Theologie
erst den Gegenstand fixiert, den die praktische zu behandeln hat, teils
weil die philosophische sich an rein wissenschaftliche Konstruktionen
anschließt, die praktische hingegen in das Gebiet des Besonderen und
Einzelnen als Technik eingreift.
§ 67. Da die philosophische Theologie eines jeden wesent-
lich die Prinzipien seiner gesamten theologischen Denkungsart
in sich schließt: so muß auch jeder Theologe sie ganz für sich
selbst produzieren.^)
Hiedurch soll keinesweges irgend einem Theologen benommen werden,
sich zu einer von einem anderen herrührenden Darstellung der philo-
sophischen Theologie zu bekennen; nur muß sie von Grund aus als
klare und feste Überzeugung angeeignet sein. Vornehmlich aber wird
gefordert, daß die philosophische Theologie in jedem ganz und yoll-
ständig sei, ohne für diesen Teil den in §§ 14 — 17 gemachten Unter-
schied zu berücksichtigen; weil nämlich hier alles grundsätzlich ist,
und jedes auf das genaueste mit allem zusammenhängt. Daß aber
alle theologischen Prinzipien in diesem Teile des Ganzen ihren Ort
haben, geht aus § 65 und 66 unmittelbar hervor.
§ 68. Beide Disziplinen der philosophischen Theologie
sehen ihrer Ausbildung noch entgegen.-)
Die Tatsache begreift sich zum Teil schon aus den hier aufgestellten
Verhältnissen. Teils auch bezog mau einerseits die Apologetik zu
genau und ausschließend auf die eigentlich apologetischen Leistungen,
zu denen sich die Veranlassungen nur von Zeit zu Zeit ergaben, wo-
gegen die hierher gehörigen Sätze nicht ohne bedeutenden Nachteil
für die klare Übersicht des ganzen Studiums in den Einleitungen zur
^) S. 22. § 4. Da der philosophische Teil die beiden andern bedingt, selbst
aber nichts enthält, was jemand nur von andern überkommen könnte: so
gibt es in ihm nicht Allgemeines und Besonderes zu trennen, sondern jeder
muß ihn ganz besitzen und selbst für sich erzeugt haben.
S. 23. § 5. Die philosophische Theologie eines jeden enthält die ge-
samten Prinzipien seiner theologischen Denkungsart.
2) § 6. Es ist natürlich, daß sie eben deshalb nicht leicht zu einer
förmlichen theologischen Disziplin wird ausgebildet werden.
30 Zweiter Teil. § 69—70.
Dogmatik ihren Ort fanden. Erst in der neuesten Zeit hat man auge-
fangen, sie in ihrer allgemeineren Abzweckung und ihrem wahren Um-
fange nach wieder besonders zu bearbeiten. Die Polemik andererseits
hatte, vorzüglich weil man ihre Kichtung verkannte, schon seit ge-
raumer Zeit aufgehört, als theologische Disziplin bearbeitet und über-
liefert zu werden.
Zweiter Teil.
Von der historischen Theologie.
Einleitung.
§ 69. Die historische Theologie (vgl. § 26) ist ihrem
Inhalte nach ein Teil der neueren Geschichtskunde ; und als
solchem sind ihr alle natürlichen Glieder dieser Wissenschaft
koordiniert.^)
Sie gehört vorläufig der Innern Seite der Geschichtskunde, der neueren
Bildungs- und Sittengeschichte an, in welcher das Christentum offenbar
eine eigene Entwicklung eingeleitet hat. Denn dasselbe nur als eine
reine Quelle von Verkehrtheiten und Rückschritten darstellen, ist eine
veraltete Ansicht.
§ 70. Als theologische Disziplin ist die geschichtliche
Kenntnis des Christentums zunächst die unnachläßliche Be-
dingung alles besonnenen Einwirkens auf die weitere Fort-
bildung desselben, und in diesem Zusammenhange sind ihr
dann die übrigen Teile der Geschichtskunde nur dienend
untergeordnet.-)
1) S. 24. § 1. Ihrem Inhalt nach ist die historische Theologie ein Teil der
neueren Geschichte, vorzüglich der Sitten- und Bildungsgeschichte, und
aUen übrigen natürlichen Gliedern derselben koordiniert.
[§ 2 siehe zu § 86 der zweiten Auflage.]
2) § 3. Als theologische Disziplin ist die geschichtliche Kenntnis
des Christentums zunächst die unnachläßliche Bedingung alles besonnenen
71 — 72. Einleitung. 31
Hieraus ergibt sich schon, wie verschieden das Studium und die Behand-
lungsweise derselben Masse von Tatsachen ausfallen, wenn sie ihren
Ort in unserer theologischen Disziplin haben, und wenn in der allge-
meinen Geschichtskunde, ohne daß jedoch die Grundsätze der geschicht-
lichen Forschung aufhörten, für beide Gebiete dieselben zu sein.
§ 71. Was in einem geschichtlichen Gebiet als einzelner
Moment hervortritt, kann entweder als plötzliches Entstehen
angesehen werden, oder als allmähliche Entwicklung und
weitere Fortbildung.^)
In dem Gebiete des einzelnen Lebens ist jeder Anfang ein plötzliches
Entstehen, von da an aber alles andere nur Entwicklung. Auf dem
eigentlich geschichtliehen Gebiet aber, dem des gemeinsamen Lebens,
ist beides einander nicht streng entgegengesetzt, und nur des Mehr
und Minder wegen wird der eine Moment auf diese, der andere auf
die entgegengesetzte Weise betrachtet.^)
§ 72. Der Gesamtverlauf eines jeden geschichtlichen Ganzen
ist ein mannigfaltiger Wechsel von Momenten beiderlei Art.^)
Nicht als ob es an und für sich unmöglich wäre, daß ein ganzer Verlauf
als fortgehende Entwicklung von einem Anfangspunkte aus angesehen
werden könnte. Allein wir dürfen nur entweder die Kraft selbst auch
als ein Mannigfaltiges ansehen können, dessen Elemente nicht alle
gleichzeitig zur Erscheinung kommen, oder wir dürfen nur in der Ent-
wicklung selbst Differenzen schnellerer und langsamerer Fortschreitung
wahrnehmen können, und nicht leicht wird eines von beiden fehlen:
so sind wir schon genötigt, Zwischenpunkte von dem entgegengesetzten
Charakter anzunehmen.
Ein Wirkens auf die Fortbildung desselben, und die übrigen Teile desselben
Geschichtsgebietes sind ihr nur subsidiarisch untergeordnet. Als Hilfs-
wissenschaft eignet sie sich vorzüglich an, was zum Verständnis ihrer
Dokumente gehört.
^) S. 25. § 4. Alles, was als ein einzelnes im Gebiet der Geschichte hervor-
tritt, kann angesehen werden entweder als plötzliches Entstehen oder als
allmähliche Fortbildung und Entwickelung.
^) § 5. Beide Ansichten sind aber einander nur relativ entgegen-
gesetzt, so daß jeder Zustand nur ein Übergewicht ist des einen von beiden
über das andere.
^) § 6. Der Verlauf eines geschichtlichen Ganzen ist ein vielfacher
Wechsel beider Zustände.
32 Zweiter Teil. § 73—75.
§ 73. Eine Heihe von Momenten, in denen ununter-
brochen die ruhige Fortbildung überwiegt, stellt einen geord-
neten Zustand dar und bildet eine geschichtliche Periode ; eine
Eeihe von solchen, in denen das plötzliche Entstehen über-
wiegt, stellt eine zerstörende Umkehrung der Verhältnisse dar
und bildet eine geschichtliche Epoche.^)
Je länger der letztere Zustand dauerte, um desto weniger würde die
Selbigkeit des Gegenstandes festgehalten werden können, weil aller
Gegensatz zwischen Bleibendem und Wechselndem aufhört. Daher je
länger der Gegenstand als einer und derselbe feststeht, um desto mehr
überwiegen die Zustände der ersten Art.
§ 74. Jedes geschichtliche Ganze läßt sich nicht nur als
Einheit betrachten, sondern auch als ein Zusammengesetztes,
dessen verschiedene Elemente, wenngleich nur in untergeord-
netem Sinn und in fortwährender Beziehung aufeinander, jedes
seinen eignen Verlauf haben.
Solche Unterscheidungen bieten sich überall unter irgend einer Form
dar; und sie werden mit desto größerem Recht hervorgehoben, je mehr
der eine Teil zu ruhen scheint, während der andere sich bewegt, und
also beide relativ unabhängig voneinander erscheinen.
§ 75. Es gibt daher, um das unendliche Materiale eines
geschichtlichen Verlaufs zu übersichtlicher Anschaulichkeit
zusammenzufassen, ein zwiefaches Verfahren. Entweder man
teilt den ganzen Verlauf nach Maßgabe der sich ergebenden
revolutionären Zwischenpunkte in mehrere Perioden, und faßt
in jeder alles, was sich an dem Gegenstande begeben hat,
zusammen; oder man teilt den Gegenstand der Breite nach,
sodaß sich mehrere parallele Reihen ergeben, und verfolgt
den Verlauf einer jeden besonders durch die ganze Zeitlänge. ^)
^) S. 25. § 7. Ein Zeitraum, in welchem das ruhige Fortbilden überwiegt,
stellt einen gesetzmäßigen Zustand dar und bildet eine geschichtliche
Periode. Ein solcher, in welchem das plötzliche Entstehen überwiegt, stellt
einen Wechsel oder Umkehrung der Verhältnisse, eine Revolution dar, und
bildet eine geschichtliche Epoche.
[§§ 8 — 10 «iehe zu §§ 78—80 der zweiten Auflage.]
2)8.26. § 11. Um das unendlich mannigfache Materiale der Geschichte
§ 76—78. Einleitung. 33
Natürlich lassen sich auch beide Einteilungen verbinden, indem man die
eine der andern unterordnet, sodaß entweder jede Periode in parallele
Reihen geteilt, oder jede Hanptreihe für sich wieder in Perioden
zerschnitten wird. Das darstellende Verfahren ist desto unvollkommener,
je mehr bei diesen Einteilungen willkürlich verfahren wird, oder je
mehr man dabei wenigstens nur Äußerlichkeiten zum Grunde legt.
§ 76. Ein geschichtlicher Gegenstand postuliert über-
wiegend die erste Teihmgsart, je weniger unabhängig von-
einander seine verschiedenen Glieder sich fortbilden, und je
stärker dabei revolutionäre Entwicklungsknoten hervorragen;
und wenn umgekehrt, dann die andere.^)
Denn in letzterem Falle ist eine ursprüngliche Gliederung vorherrschend,
im ersten eine starke Differenz im Charakter verschiedener Zeiten.
§ 77. Je stärker in einem geschichtlichen Verlauf der
Gegensatz zwischen Perioden und Epochen hervortritt, um
desto schwieriger ist es in Darstellung der letzteren, aber
desto leichter in der der ersteren, die verschiedenen Elemente
(§ 74) voneinander zu sondern.-)
Denn in Zeiten der Umbildung ist alle Wechselwirkung lebendiger und
alles einzelne abhängiger von einem gemeinsamen Impuls; wogegen
der ruhige Verlauf das Hervortreten der Gliederung begünstigt.
§ 78. Da nicht nur im allgemeinen der Gesamtverlauf
aller menschlichen Dinge, sondern auch in diesem die ganze
Folge von Äußerungen einer und derselben Kraft Ein Ganzes
zur Anschaulichkeit zusammenzufassen, gibt es ein zwiefaches Verfahren.
Man teilt die Zeit und faßt alles zusammen , was in einer gewissen Zeit-
einheit geschehen ist, oder man teilt den Inhalt und faßt alles zusammen,
was in der gesamten Zeit je einen einzelnen Teil betrifft.
1) S. 27. § 12. In dem Gegenstand selbst ist das erste immer gegeben
durch die Umkehrung der inneren Verhältnisse, woraus die Epochen sich
bilden, und das letzte durch die Art, wie die Kraft selbst, deren Äußerungen
betrachtet werden, sich darin ursprünglich teilt und gliedert.
-) § 13. Während des ruhigen Fortschreitens lassen sich die
koexistierenden organischen Teile des Ganzen leichter gesondert in ihrer
relativen Selbständigkeit betrachten ; in Zeiten der Umbildung hingegen ist
alle Wechselwirkung lebendiger und jedes einzelne abhängiger von dem
gemeinsamen Zustande. Daher eignet sich die eine Darstellungsart im
allgemeinen mehr für die Perioden, die andere für die Epochen.
Schleierm., Th. St. 3
34 Zweiter Teil. § 78—80.
bildet: so kann jedes Hervortreten eines kleineren gescliiclit-
lichen Ganzen auf zwiefache Weise angesehen werden, ein-
mal als Entstehen eines Neuen, noch nicht Dagewesenen, dann
aber auch als Ausbildung eines schon irgenwie Vorhandenen.^)
Dies erhellt schon aus § 71. Was während des Zeit Verlaufs in Bezug'
auf alles schon neben ihm Fortlaufende allerdings als ein Neues zu
betrachten ist, kann doch mit irgend einem früheren Moment auf ge-
nauere Weise, als mit allen übrigen zusammengehören.
§ 79. So kann auch der Verlauf des Christentums auf
der einen Seite behandelt werden als eine einzelne Periode
eines Zweiges der religiösen Entwicklung; dann aber auch
als ein besonder [e]s geschichtliches Ganzes, das als ein Neues
entsteht, und abgeschlossen für sich in einer Reihe durch
Epochen getrennter Perioden verläuft. ^j
Daß hier ausdrücklich nur von einem Zweige der religiösen Entwicklung
die Eede ist, geht auf § 74 zurück. Wie man die große Mannigfaltig-
keit religiöser Gestaltungen auch gruppiere, immer werden einige auch
zum Christentum ein solches näheres Verhältnis haben, daß sie eine
Gruppe mit demselben bilden können.
§ 80. Die historische Theologie, wie sie sich als theo-
logische Disziplin ganz auf das Christentum bezieht, kann sich
nur die letzte Behandlungsweise aneignen.")
Man vergleiche §§ 69 und 70. Außerdem aber könnte der christliche
Glaube nicht sein, was er ist, wenn die Grundtatsache desselben nicht
ausschließend als ein Ursprüngliches gesetzt wird.
^) S. 26. § 8. Da die Geschichte überhaupt, und so auch besonders die
ganze Folge von Tätigkeiten Einer Kraft nur Ein Ganzes bildet: so kann
jeder erste Zustand eines kleineren geschichtlichen Ganzen zwiefach ange-
sehen werden, als Entstehen eines Neuen, und als Ausbildung eines schon
Dagewesenen.
2) § 9. Die Geschichte des Christentums läßt sich ansehen als eine
einzelne Periode in der Eeligionsgeschichte überhaupt. Aber es läßt sich
auch ansehn als ein eignes geschichtliches Ganzes, sein Anfang als eine
Entstehung, und sein ganzer Verlauf als eine Reihe durch Epochen ge-
trennter Perioden.
3) § 10. Die historische Theologie , als mit ihrem ganzen Zweck
innerhalb des Christentums stehend, faßt die letztere Ansicht auf.
§ 81—83. Emleitung. 35
§ 81. Von dem konstitutiven Prinzip der Theologie aus
den geschichtlichen Stoff des Christentums betrachtet, steht
in dem unmittelbarsten Bezug auf die Kirchenleitung die ge-
schichtliche Kenntnis des gegenwärtigen Momentes, als aus
welchem der künftige soll entwickelt werden. Diese mithin
bildet einen besonderen Teil der historischen Theologie.^)
Um richtig und angemessen sowohl auf Gesundes und Krankes einzu-
wirken, als auch zurückgebliebene Glieder nachzufordern, und um aus
fremden Gebieten Anwendbares für das eigene zu benutzen.
§ 82. Da aber die Gegenwart nur verstanden werden
kann als Ergebnis der Vergangenheit: so ist die Kenntnis
des gesamten früheren Verlaufs ein zweiter Teil der histo-
rischen Theologie.^)
Dies ist nicht so zu verstehen, als ob dieser Teil etwa eine Hilfswissen-
schaft wäre für jenen ersten; sondern beide verhalten sich auf dieselbe
Weise zur Kirchenleitung, und sind einander nicht untergeordnet,
sondern beigeordnet.
§ 83. Je mehr ein geschichtlicher Verlauf in der Ver-
breitung begriffen ist, sodaß die innere Lebenseinheit je weiter
hin, desto mehr nur im Zusammenstoß mit andern Kräften
erscheint: um desto mehr haben diese auch teil an den ein-
zelnen Zuständen; sodaß nur in den frühesten das eigentüm-
liche ^yesen am reinsten zur Anschauung kommt. ^)
Auch das gilt ebenso von allen verwandten geschichtlichen Erscheinungen,
^) S. 27. § 14. Für das organische Prinzip der Theologie ist das Un-
mittelbarste die Kenntnis des gegenwärtigen Momentes, an welchen der
künftige soll geknüpft werden. Diese wird also auch besonders heraus-
gehoben.
2) S. 28. § 15, Da aber die Gegenwart nur kann verstanden werden als
Kesultat der Vergangenheit: so setzt jene Darstellung die Kenntnis von
dieser voraus.
3) § 16. Da jeder geschichtliche Verlauf die weitere Entwicklung
einer Kraft darstellt in ihrem Zusammensein mit andern: so wächst mit
der Zeit auch die Einwirkung von diesen, und es wird schwieriger, die
ursprüngliche Kraft in der Äußerung rein anzuschauen.
§ 17. Aus demselben Grunde erscheint diese Kraft am reinsten
in ihren frühesten Äußerungen.
3*
36 Zweiter Teil. § 84—86.
und ist der eigentliche Grund, warum so viele Völker mißverständlich
die früheste Periode des Lebens der Menschheit als die Zeit der höchsten
Vollkommenheit ansehen.
§ 84. Da nun auch das christliche Leben immer zu-
sammengesetzter und verwickelter geworden ist, der letzte
Zweck seiner Theologie aber darin besteht, das eigentümliche
Wesen desselben in jedem künftigen Augenblick reiner dar-
zustellen : so hebt sich natürlich die Kenntnis des Urchristen-
tums als ein dritter besonderer Teil der historischen Theo-
logie hervor.^)
Allerdings ist auch das Urchristentum schon in dem Gesamtverlauf mit
enthalten; allein ein anderes ist, es als eine Eeihe von Momenten zu
behandeln, und ein anderes, nur dasjenige zur Betrachtung zu ziehen,
auch aus verschiedenen Momenten, woraus der reine Begriff des Christen-
tums dargestellt werden kann.
§ 85. Die historische Theologie ist in diesen drei Teilen,
Kenntnis des Urchristentums, Kenntnis von dem Gesamt verlauf
des Christentums, und Kenntnis von seinem Zustand in dem
gegenwärtigen Augenblick, vollkommen beschlossen. ^j
Nur ist nicht die Ordnung, in welcher wir sie abgeleitet haben, auch
die richtige für das Studium selbst. Sondern die Kenntnis des Ur-
christentums als zunächst der philosophischen Theologie sich an-
schließend, ist das erste, und die Kenntnis des gegenwärtigen Augen-
blicks, als unmittelbar den Übergang in die praktische Theologie
bildend, ist das letzte.^)
§ 86. Wie für jeden Teil der Geschichtskunde alles
1) S. 28. § 18. Da es der letzte Zweck aller Theologie ist, das Wesen
des Christentums in jedem künftigen Augenblick reiner darzustellen: so
muß sie auch dasjenige, worin es am reinsten anzuschauen ist, besonders
herausheben.
2) § 19. Die historische Theologie teilt sich demnach in die Kennt-
nis von dem Anfang des Christentums, in die Kenntnis von seinem weiteren
Verlauf und in die Kenntnis von seinem Zustand in dem gegenwärtigen
Augenblick.
^) S. 31. § 29. Die Kenntnis des gegenwärtigen Augenblicks ist, da sie
sich zunächst an die Ausübung anknüpft, unter allen Teilen der historischen
Theologie für das Studium der letzte. [Vgl. S. 30 (38 dieser Ausg.) § 24.]
§ 86—87. Einleitung. 37
Hilfswissenschaft ist, was die Kenntnis des Schauplatzes und
der äußeren Verhältnisse des Gegenstandes erleichtert, und
was zum Verstehen der Monumente aller Art gehört : so zieht
auch die historische Theologie zunächst die übrigen Teile des-
selben Geschichtsgebietes (vgl. § 40), dann aber noch alles,
w^as zum Verständnis der Dokumente gehört, als Hilfswissen-
schaft herbei.^)
Diese Hilfskenntnisse sind mithin teils historisch im engeren Sinn, teils
geographisch, teils philologisch.
§ 87. Das Urchristentum ist in Bezug auf jene normale
Behandlung desselben gegen den weiteren geschichtlichen Ver-
lauf nicht füglich anders abzugrenzen, als daß unter jenem
der Zeitraum verstanden wird, w^orin Lehre und Gemeinschaft
in ihrer Beziehung aufeinander erst w^urden, und noch nicht
in ihrer Abschließung schon waren.-)
Auch diese Bestimmung jedoch könnte leicht zu weit ausgedehnt werden,
weil Lehre und Gemeinschaft in Bezug aufeinander immer im Werden
begriffen bleiben; und eine feste Grenze entsteht zunächst nur, wenn
man jede Zeit ausschließt, in der es schon Differenz der Gemeinschaft
um einer Differenz der Lehre willen gab. Aber auch zu enge Schranken
könnte man unserer Bestimmung geben, wenn man davon ausgeht, daß
schon seit dem Pfingsttage eine abgeschlossene Gemeinschaft bestand;
und eine angemessene Erweiterung entsteht nur, wenn man bevor-
wortet, die eigentlich christliche Gemeinschaft sei erst abgeschlossen
worden, als mit Bewußtsein und allgemeiner Anerkennung Juden und
Heiden in derselben vereint waren, und Ähnliches gilt auch von der
^) S. 24. § 2. Für Jede Geschichte ist alles Hilfswissenschaft, was die
Kenntnis des Schauplatzes und der äußeren Verhältnisse des Gegenstandes
erleichtert oder zum Verstehen der Monumente nötig ist.
2) S. 29. § 20. Wenn der Gegenstand der historischen Theologie organisch
geteilt (11. 12) werden soll: so sondern sich zunächst Lehrbegriff und
Kirchenverfassung (I. Erst. Abschn. 3 [S. 21 dieser Ausg.]).
§ 21. Das entstehende Christentum, Urchristentum, umfaßt nur die
Zeit, wo beide erst wurden, also nicht abgesondert von einander schon waren.
§ 22. Wird es noch besonders der theologischen Idee gemäß als
reinster Eepräsentant des christlichen Prinzips (17. 18) angesehen: so kann
die Betrachtung nicht nach jenen Teilen zerfallen ; sondern nur, wenn man
es als einen frühem Moment, gleichartig mit den folgenden, betrachtet.
38 Zweiter Teil. § 88—90.
Lehre. So treffen beide Bestimmungen ziemlicn zusammen mit der
mehr äußerlichen des Zeitalters der unmittelbaren Schüler Christi.
§ 88. Da die für den angegebenen Zweck auszusondernde
Kenntnis des Urchristentums nur aus den christlichen Doku-
menten, die in diesem Zeitraum der christlichen Kirche ent-
standen sind, kann gewonnen werden, und ganz auf dem
richtigen Verständnis dieser Schriften beruht: so führt diese
Abteilung der historischen Theologie auch insbesondere den
Namen der exegetischen Theologie.^)
Da auch in den andern beiden Abteilungen das Meiste auf Auslegung
beruht: so ist die Benennung allerdings willkürlich, aber doch wegen
des eigentümlichen Wertes dieser Schriften leicht zu rechtfertigen.
§ 89. Da wegen des genauen Zusammenhanges mit der
philosophischen Theologie, als dem Ort aller Prinzipien, jeder
seine Auslegung selbst bilden muß: so gibt es auch hier nur
weniges, was man sich von den Virtuosen (vgl. §§ 17 und 19)
kann geben lassen.-)
Vorzüglich nur dasjenige, was zur Auslegung aus den Hilfswissenschaften
herbeigezogen werden muß.
§ 90. Die Kenntnis von dem weiteren Verlauf des
Christentums kann entweder als Ein Ganzes aufgestellt
werden, oder auch geteilt in die Geschichte des Lehrbegriffs
und in die Geschichte der Gemeinschaft.^)
^) S. 29. § 23. Die für jenen Zweck ausgesonderte Kenntnis des Urchristen-
tums ist in den wenigen schriftlichen Dokumenten enthalten, welche den
Kanon bilden, und beruht vornehmlich auf deren richtigem Verständnis.
Daher der Namen: exegetische Theologie.
2) S. 30. § 24. Die exegetische Theologie reiht sich zunächst an die philoso-
phische an und ist unter allen Teilen der historischen Theologie für das
Studium der erste. [Vgl. § 85 Anm. der zweiten Auflage.]
§ 25. Ihrer Natur nach hat der Unterschied des Allgemeinen und
Besonderen (Einl. 20) in ihr den kleinsten Spielraum.
3) § 26 [= § 92 der zweiten Auflage]. Die Darstellung von dem
weitern Verlauf des Christentums, oder die eigentliche Geschichte desselben,
enthält eine Unendlichkeit von Einzelheiten. Daher ist in ihr der Gegen-
satz zwischen dem Allgemeinen und Besondern am größesten.
§ 27. Der Breite nach sondert sie sich in die Geschichte des
Lehrbegriffs und die Geschichte der Verfassung (20).
§ 91—92. Einleitung. 39
Weil nämlich die Geschichte des Lehrbegriffs nichts anderes ist, als die
Entwicklung der religiösen Vorstellungen der Gemeinschaft. Sowohl
die Vereinigung von beiden, als auch die Geschichte der Gemeinschaft
besonders dargestellt, führt den Namen Kirchengeschichte: so wie die
des Lehrbegriffs besonders den Namen Dogmengeschichte.
§ 91. Sowohl beide Zweige zusammen, als auch jeder
für sich allein, stellen, der Länge nach betrachtet, einen un-
unterbrochenen Fluß dar, in welchem jedoch vermittelst der
Begriffe von Perioden und Epochen (vgl. § 73) Entwicklungs-
knoten gefunden werden können, um die Unterschiede zu
fixieren zwischen solchen Punkten, welche durch eine Epoche
geschieden sind, und also verschiedenen Perioden angehören,
sowie auch zwischen solchen, die zwar innerhalb derselben
zwei Epochen liegen, so jedoch, daß der eine mehr das Er-
gebnis der ersten enthält, der andere mehr als eine Vor-
bereitung der zweiten erscheint.^)
Denkt man sich dazwischen noch Punkte, welche in einer Periode das
Größte der Entwicklung ihrer Anfangsepoche enthalten, aber noch den
Nullpunkt der Schlußepoche darstellen: so gibt dieses, durch beide
Zweige und durch alle Perioden durchgeführt, ein Netz der wertvollsten
Momente.
§ 92. Da der Gesamtverlauf des Christentums eine Un-
endlichkeit von Einzelheiten darbietet: so ist hier am meisten
Spielraum für den Unterschied zwischen dem Gemeinbesitz
und dem Besitz der Virtuosen.-)
Jenes Netz bis zu einem Analogon von Stetigkeit im Umriß vollzogen,
ist das Minimum, welches jeder besitzen muE; die Erforschung und
Ausführung des einzelnen ist, auch unter viele verteilt, ein unerschöpf-
liches Gebiet.
^) S. 30. § 28. Der Länge nach stellt jede von diesen einen ununter-
brochenen Fluß dar, in welchem sich nur nach den Begriffen von Perioden
und Epochen (7) feste Punkte bilden, an denen man die Unterschiede
fixieren kann zwischen mehreren Punkten, die durch Epochen geschieden
sind, und zwischen mehreren, die zwar zu Einer Periode gehören, aber so,
daß der eine mehr das Resultat der vorhergegangenen Epoche darstellt, der
andere mehr die folgende vorbereitete.
[§ 29 siehe zu § 81 der zweiten Auflage, Anm.]
2) Siehe § 26.
40 Zweiter Teil. § 93—95.
§ 93. Nicht jeder Moment eignet sich gleich gut dazu,
als ein in sich zusammenhangendes Ganze dargestellt zu
werden; sondern am meisten der Kulminationspunkt einer
Periode, am wenigsten ein Punkt während einer Epoche oder
in der Nähe derselben.^)
Während einer Umkehrung kann immer nur einzelnes abgesondert, und
nicht leicht anders, als in der Form des Streites zur Erörterung kommen.
Nahe an einer Epoche kann zwar das Bedürfnis einer zusammen-
hangenden Darstellung sich schon regen, die Versuche können aber
nicht anders, als unvollständig ausfallen. Dies zeigt sich auch, sowohl
in den ersten Anfängen der Kirche nach der apostolischen Zeit, als
auch bei uns in den ersten Zeiten der Eeformation.
§ 94. In solchen Zeiten, wo der Aufgabe genügt werden
kann, sondert sich dann von selbst Darstellung der Lehre und
Darstellung des gesellschaftlichen Zustandes.-)
Denn wenn sich auch dasselbe eigentümliche Wesen der Kirche oder
einer partiellen Kirchengemeinschaft in beiden ausspricht: so hangen
doch beide von zu verschiedenen Koeffizienten ab, als daß nicht ihre
Veränderungen und also auch der momentane Zustand beider ziemlich
unabhängig voneinander sein sollte.
§ 95. Die Darstellung des gesellschaftlichen Zustandes
der Kirche in einem gegebenen Moment ist die Aufgabe der
kirchlichen Statistik.^)
Erst seit kurzem*) ist dieser Gegenstand in gehöriger Anordnung diszi-
^) S. 31. § 30. Je mehr ein Moment von einer Eevolution entfernt ist und
das Kesultat der vorhergehenden Epoche in seiner Vollendung enthält, um
desto leichter sondern sich auch in seiner Darstellung Lehrbegriff und Ver-
fassung. Auch erhellt durch diese Sonderung desto besser, inwiefern beide
denselben Charakter ausdrücken.
2) § 31. Je mehr er noch in eine Epoche verwebt ist, um desto
weniger vermag er für sich, sondern nur im ganzen Zusammenhang mit
dieser dargestellt zu werden.
3) Siehe § 33.
*) Schi, denkt wohl an das grundlegende Werk des Göttinger Theologen
C. F. Stäudlin, Kirchliche Geographie und Statistik, 2 Teile, Tüb. 1804.
Er selbst hat, nach den Angaben des Berliner Lektionskataloges, Kirchliche
(Geographie und) Statistik 5-stündig, im Winter 1826/27, Sommer 1827 und
Winter 1833/34 gelesen.
§ 96—98. Einleitung. 41
plinarisch behandelt worden, daher auch, sowohl was Stoff, als was
Form betrifft, noch vieles zu leisten übrig ist.
§ 96. Die Aufgabe bleibt, auch wenn eine Trennung
obwaltet, für alle einzelnen Kirchengemeinschaften doch wesent-
lich dieselbe.
Jede wird dann freilich ein besonderes Interesse haben, ihren eignen
Zustand auf das genaueste zu kennen, und insofern wird eine Un-
gleichheit eintreten, die aber auch eintritt, wenn die Kirche ungeteilt
ist. Es kann aber nur großen Nachteil bringen, wenn die Lenkenden
einer einzelnen Kirchengemeinschaft nicht mit dem Zustande des
andern der Wahrheit nach bekannt sind.
§. 97. Die zusammenhängende Darstellung der Lehre, wie
sie zu einer gegebenen Zeit, sei es nun in der Kirche im all-
gemeinen, wann nämlich keine Trennung obwaltet, sonst aber
in einer einzelnen Kirchenpartei, geltend ist, bezeichnen wir
durch den Ausdruck Dogmatik oder dogmatische Theologie.^)
Der Ausdruck Lehre ist hier in seinem ganzen Umfang genommen. Die
Bezeichnung systematische Theologie, deren man sich für diesen Zweig
immer noch häufig bedient, und welche mit Recht vorzüglich hervor-
hebt, daß die Lehre nicht soll als ein Aggregat von einzelnen
Satzungen vorgetragen werden, sondern der Zusammenhang ins Licht
gesetzt, verbirgt doch auf der anderen Seite zum Nachteil der Sache
nicht nur den historischen Charakter der Disziplin, sondern auch die
Abzweckung derselben auf die Kirchenleitung, woraus vielfältige Miß-
verständnisse entstehen müssen.
§ 98. In Zeiten, wo die Kirche geteilt ist, kann nur jede
Partei selbst ihre Lehre dogmatisch behandeln. ^j
Weder wenn eine Theologie der einen Partei die Lehren anderer im
Zusammenhang nebeneinander behandeln wollte, würde Unparteilich-
keit und Gleichheit zu erreichen sein, da nur der eine Zusammenhang
^) S. 31. § 32. Die Darstellung des Lehrbegriffs einer Kirche oder Kirchen-
partei in einem gegebenen Moment ist die Aufgabe der Dogmatik.
2) S. 32. § 33 [= § 95 der zweiten Auflage]. Die Darstellung der Ver-
fassung der Kirche in einem gegebenen Moment ist die Aufgabe der kirch-
lichen Statistik.
§ 34 [= §§ 96 u. 98 der zweiten Auflage]. Die erste bleibt ihrer
Natur nach mehr in den Grenzen einer Partei stehen, die andere verbreitet
sich ihrer Natur nach mehr über das Ganze.
42 Zweiter Teil. § 99—101
für ihn Wahrheit ist, der andere aber nicht; noch auch, wenn er nur
die seinige zusammenhangend behandeln, und nur die Abweichungen
der andern an gehöriger Stelle beibringen wollte, weil diese dann doch
aus ihrem natürlichen Zusammenhang herausgerissen würden. Das
erste geschieht dennoch, was die Hauptpunkte betrifft, unter dem
Namen der Symbolik, das andere unter dem der komparativen Dogmatik.
§ 99. Beide Disziplinen, Statistik und Dogmatik, sind
ebenfalls unendlich, und stehen also, was den Unterschied
zwischen dem Gemeinbesitz und dem Gebiet der Virtuosität
betrifft, der zweiten Abteilung gleich.^)
Von der kirchlichen Statistik leuchtet dies ein. Aber auch im Gebiet
der Dogmatik ist nicht nur jede einzelne Lehre fast ins Unendliche
bestimmbar, sondern auch ihre Darstellung in Bezug auf abweichende
Vorstellungsarten anderer Zeiten und Örter ist ein Unendliches.
§ 100. Jeder muß sich, sowohl was die Kenntnis des Ge-
samtverlaufs, als auch, was die des vorliegenden Momentes
betrifft, seine geschichtliche Anschauung selbst bilden.^)
Sonst würde auch die auf beiden gleichmäßig beruhende Tätigkeit in
der Kirchenleitung keine selbsttätige sein.
§ 101. Müssen hiezu geschichtliche Darstellungen ge-
braucht werden, welche nie frei sein können von eigentüm-
lichen Ansichten und Urteilen des Darstellenden: so muß auch
jeder die Kunst besitzen, aus denselben das Materiale für
seine eigene Bearbeitung möglichst rein auszuscheiden.^)
Auch dieses gilt für die Dogmatik und Statistik nicht minder als für die
Kirchenffeschichte.
^) S. 32. § 35. Da man beide ebenfalls ins Unendliche vervollständigen
kann: so stehn sie in Absicht des Gegensatzes zwischen dem Allgemeinen
und Besondern der eigentlichen Kirchengeschichte gleich.
2) § 36. Die geschichtliche Anschauung muß überall selbst gebildet
sein, weil sonst auch die darauf beruhende Tätigkeit in der Kirche keine
selbständige sein würde.
^) § 37. Geschichtliche Darstellungen können nie frei sein von
eigentümlichen Ansichten und Urteilen des Darstellenden. Soll also jemand
vermittelst derselben sich seine eigene geschichtliche Anschauung bilden:
so muß er durch Kritik imstande sein, das Materiale daraus für seine eigene
Bearbeitung rein auszuscheiden.
§ 102—105. Erster Abschnitt. 43
§ 102. Historische Kritik ist, wie für das gesamte Gebiet
der Geschichtskunde, so auch für die historische Theologie das
allgemeine und unentbehrliche Organon.^)
Sie steht als vermittelnde Kunstfertigkeit den materiellen Hilfswissen-
schaften gegenüber.
Erster Abschnitt.
Die exegetische Theologie.
§ 103. Nicht alle christliche Schriften aus dem Zeit-
raum des Urchristentums sind schon deshalb Gegenstände der
exegetischen Theologie, sondern nur, sofern sie dafür gehalten
werden, . zu der ursprünglichen, mithin (vgl. § 83) für alle
Zeiten normalen Darstellung des Christentums beitragen zu
können.
Es liest in der Natur der Sache und ist auch vollkommen tatsächlich
begründet, daß es gleich anfangs auch unvollkommene, mithin zum
Teil falsche Auffassung — also auch Darstellung — des eigentümlich
christlichen Glaubens gegeben hat.
§ 104. Die Sammlung dieser das Normale in sich tragen-
den Schriften bildet den neutestamentischen Kanon der christ-
lichen Kirche.")
Das richtige Verständnis von diesem ist mithin die einzige wesentliche
Aufgabe der exegetischen Theologie, und die Sammlung selbst ihr ein-
ziger ursprünglicher Gegenstand.^)
§ 105. In den neutestamentischen Kanon gehören wesent-
^) S. 32. § 38. Die historische Kritik ist die Vermittlerin alles wahren
Aneignens auf dem Gebiet der Geschichte überhaupt, also auch der histo-
rischen Theologie.
2) S. 33. § 2. Die Idee des Kanon ist, daß er die Sammlung derjenigen
Dokumente büdet, welche die ursprüngliche, absolut reine und deshalb für
alle Zeiten normale Darstellung des Christentums enthalten.
3) § 1. Die exegetische Theologie als besondere Disziplin kann
gich nur auf die Idee des Kanon beziehen.
[§§ 3 u. 4 siehe zu § 115 der zweiten Auflage, Anm.]
44 Zweiter Teil. § 105—107.
lieh sowohl die normalen Dokumente von der Wirksamkeit
Christi, an und mit seinen Jüngern, als auch die von der ge-
meinsamen Wirksamkeit seiner Jünger zur Begründung des
Christentums.-)
Dies ist auch schon der Sinn der alten Einteilung des Kanon in Evay-
yelliov und aitöaroloi. Einen Unterschied in Bezug auf kanonische
Dignität zwischen diesen beiden Bestandteilen festzusetzen, ist an und
für sich kein Grund vorhanden. Welches doch gewissermaßen der
Fall sein würde, wenn man behauptete, beide verhielten sich zu ein-
ander, wie Entstehung und Fortbildung, noch mehr, wenn man der
sich selbst überlassenen Wirksamkeit der Jünger die normale Dignität
absprechen dürfte.^)
§ 106. Da weder die Zeitgrenze des Urchristentums, noch
das Personale desselben genau bestimmt werden kann: so
kann auch die äußere Grenzbestimmung des Kanon nicht voll-
kommen fest sein.^)
Für beides gemeinschaftlich, Zeit und Personen, ließe sich zwar eine feste
Formel für das Kanonische aufstellen; sie würde aber doch zu keiner
sicheren Unterscheidung über das Vorhandene führen, wegen der über die
Persönlichkeit mehrerer einzelner Schriftsteller obwaltenden Ungewißheit.
§ 107. Diese Unsicherheit ist ein Schwanken der Grenze
zwischen dem Gebiet der Schriften apostolischer Väter und
dem Gebiet der kanonischen Schriften.^)
Denn das Zeitalter der apostolischen Väter liegt zwischen dem, in wel-
^) S. 34. § 5. Da Entstehen und Fortbilden (II. Einl. 5) unmerklich in
einander übergehn, und der Anfang auch als ein früherer Punkt in der
Fortbildung und nach den Gesetzen dieser kann betrachtet werden : so muß
die Erscheinung des Kanon, welche nur die Dokumente der Entstehungszeit
enthalten kann, notwendig schwanken.
2) § 6. Er enthält wesentlich die Dokumente von dem Zusammen-
sein Christi mit seinen Jüngern, und die von dem Zusammenwirken der
Jünger zur Gründung des Christentums.
^) § 7. Durch das Zusammensein dieser beiden Teile im Kanon ist
schon die Unzertrennlichkeit des Entstehens und der Fortbildung auch in
Bezug auf diese Idee gesetzt.
*) S. 35. § 8. Die Zeit der apostolischen Väter liegt zwischen der, wo der
Kanon wurde, und der, wo der Kanon war. Die Grenze zwischen ihnen
und dem zweiten Teil des Kanon kann schwanken.
§ 108—110. Erster Abschnitt. 45
ehern der Kanon erst anfing, zu werden, und dem, in welchem er schon
abgesondert bestand. Und der Ausdruck ,Apostolische Väter' ist hier in
solchem Umfange zu verstehen, daß die Unsicherheit den ersten Teil
des Kanon ebenso trifft, wie den zweiten.
§ 108. Da auch der Begriff der normalen Dignität nicht
kann auf unwandelbar feste Formeln gebracht werden : so läßt
sich auch aus Innern Bestimmungsgründen der Kanon nicht
vollkommen sicher umschreiben.
Wenn wir zum normalen Charakter der einzelnen Sätze auf der einen
Seite die vollkommene Reinheit rechnen, auf der andern die FüUe der
daraus zu entwickelnden Folgerungen und Anwendungen: so haben
wir nicht Ursache, die erste anderswo, als nur in Christo schlechthin,
anzunehmen, und müssen zugeben, daß auch auf die zweite bei allen
andern die natürliche Unvollkommenheit hemmend einwirken konnte.
§ 109. Christliche Schriften aus der kanonischen Zeit,
welchen wir die normale Dignität absprechen, bezeichnen wir
durch den Ausdruck Apokryphen, und der Kanon ist also
auch gegen diese nicht vollkommen fest begrenzt.^)
Die meisten neutestamentischen Apokryphen führen diesen Namen frei-
lich nur, weil sie dafür genommen wurden, oder dafür gelten wollten,
der kanonischen Zeit anzugehören. Der Ausdruck selbst ist in dieser
Bedeutung willkürlich, und würde besser mit einem andern vertauscht.
§ 110. Die protestantische Kirche muß Anspruch darauf
machen, in der genaueren Bestimmung des Kanon noch immer
begriffen zu sein; und dies ist die höchste exegetisch-theologische
Aufgabe für die höhere Kritik.-)
Der neutestamentische Kanon hat seine jetzige Gestalt erhalten durch,
wenngleich nicht genau anzugebende, noch in einem einzelnen Akt
nachzuweisende Entscheidung der Kirche, welcher wir ein über alle
Prüfung erhobenes Ansehen nicht zugestehen, und daher berechtigt
■ *) S. 35. § 9. Die Apokryphen sind Schriften aus den Zeiten des Kanon,
welche aber das christliche Prinzip nicht in seiner Reinheit darstellen
sondern an irgendeine Ausartung grenzen. Der erste Teil des Kanon hat
gegen sie natürlich nur eine unsichere Grenze.
2) § 10. Inwiefern der Kanon seiner Idee rein entsprechen soll, muß
die Kirche noch immer im Bestimmen desselben begriffen sein, weil die
vollständige Kongruenz nie mit Gewißheit zu erkennen ist.
46 Zweiter Teil. § 111—113.
sind, an das frühere Schwanken neue Untersuchungen anzuknüpfen.
Die höchste Aufgabe ist diese, weil es wichtiger ist zu entscheiden, ob
eine Schrift kanonisch ist oder nicht, als ob sie diesem oder einem
andern Verfasser angehört, wobei sie immer noch kanonisch sein kann.
§ 111. Die Kritik hat beideriei Untersuchungen anzu-
stellen, ob nicht im Kanon Befindliches genau genommen un-
kanonisch, und ob nicht außer demselben Kanonisches un-
erkannt vorhanden sei.^)
Noch neuerlich ist eine Untersuchung der letzten Art im Gange gewesen ;
die von der ersten haben eigentlich nie aufgehört.
§ 112. Beide Aufgaben gelten nicht nur für ganze
Bücher, sondern auch für einzelne Abschnitte und Stellen der-
selben."^)
Ein unkanonisches Buch kann neue kanonische Stellen enthalten ; so wie
das meiste, was einem kanonischen Buch von späterer Hand einge-
schoben ist. Unkanonisches sein wird.
§ 113. Wie die höhere Kritik ihre Aufgabe großenteils
nur durch Annäherung löset, und es keinen andern Maßstab
gibt für die Tüchtigkeit eines Ausspruches, als die Kon-
gruenz der innern und äußern Zeichen: so kommt es auch
hier nur darauf an, wie bestimmt äußere Zeichen darauf hin-
deuten, daß ein fragliches Stück entweder dem späteren Zeit-
raum der apostolischen Väter oder dem vom Mittelpunkt der
Kirche entfernten Gebiet der apokryphischen Behandlung an-
gehöre, und innere darauf, daß es nicht in genauem Zusammen-
hang mit dem AVesentlichen der kanonischen Darstellung auf-
gefaßt und gedacht sei.^)
^) S. 35. § 11. Er bleibt also insofern immer ein Gegenstand für beide
Aufgaben der höheren Kritik, sowohl*) Unerkanntes zur Anerkennung zu
bringen, als*) Verdächtiges auszustoßen.
2} S. 36. § 14. Nicht nur ganze Schriften sind in diesem Sinne der Gegen-
stand für die höhere Kritik, sondern auch einzelne Stellen.
3) S. 35. § 12. Wie es für die höhere Kritik in den meisten Fällen keine
andere Gewißheit gibt, als eine Annäherung, die durch möglichstes Zu-
sammentreffen der äußeren Kennzeichen und der innern erreicht wird: so
könnte auch hier an äußeren Zeichen nur erkannt werden, daß etwas in die
*) erg. etwa: in Bezug darauf,
§ 114—115. Erster Abschnitt. 47
Solange noch beiderlei Zeichen gegeneinander streiten, oder in jeder
Gattung einige auf dieser, andere aber auf jener Seite stehen, ist keine
kritische Entscheidung möglich. — Daß hier unter dem Mittelpunkt
der Kirche weder irgend eine Eäumlichkeit, noch auch eine amtliche
Würde zu verstehen sei, sondern nur die Vollkommenheit der Ge-
sinnung und Einsicht, bedarf wohl keiner Erörterung.
§ 114. Die Kritik könnte beiderlei ausgemittelt und mit
vollkommner Sicherheit, was kanonisch sei, und was nicht,
neu und anders bestimmt haben, ohne daß deshalb notwendig
wäre, den Kanon selbst anders einzurichten.^)
Notwendig wäre es nicht, weil das Unkanonische doch als solches kann
anerkannt werden, wenn es auch seine alte Stelle behält, und ebenso
das erwiesen Kanonische, wenn es auch außerhalb des Kanon bliebe.
Zulässig aber müßte es dann sein, den Kanon in zv/eierlei Gestalt zu
haben, in der geschichtlich überlieferten und in der kritisch ausge-
mittelten.
§ 115. Dasselbe gilt von der Stellung der alttestamen-
tischen Bücher in unserer Bibel.
Daß der jüdische Kodex keine normale Darstellung eigentümlich christ-
licher Glaubenssätze enthalte, wird wohl bald allgemein anerkannt
sein. Deshalb aber ist nicht nötig — wiewohl es auch zulässig bleiben
muß — von dem altkirchlichen Gebrauch abzuweichen, der das Alte
Testament mit dem Neuen zu einem Ganzen als Bibel vereinigt.^}
späteren Zeiten der apostolischen Väter oder in das vom Mittelpunkt der
Kirche ferne Gebiet der apokryphischen Behandlungen fiele, und an inneren,
daß es nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit den wesentlichen und
herrschenden Ansichten des Kanon gedacht wäre.
S. 36. § 13. Dasselbe gilt umgekehrt für den Fall, daß noch etwas in
den Kanon Aufzunehmendes gefunden würde.
^) § 15. Sieht man den Kanon als etwas historisch Gegebenes an:
so muß er bleiben, wie er ist. Der Gedanke ist nicht statthaft, daß die erste
Kirche im wesentlichen falsch darüber sollte entschieden haben; und so
wäre, selbst wenn es ausgemacht werden könnte, daß einzelne Schriften
andere Verfasser haben, als denen sie beigelegt werden, dies kein Grund,
sie zu entkanonisieren.
[§§ 16—37 siehe zu §§ 126 ff. der zweiten Auflage.]
^) S. 33. § 3. Den jüdischen Kodex mit in den Kanon ziehen, heißt, das
Christentum als eine Fortsetzung des Judentums ansehn, und streitet gegen
die Idee des Kanon.
48 Zweiter Teil. § 116—119.
§ 116. Die Vervielfältigung der neutestamentischen Büclier
aus ihren Urschriften mußte denselben Schicksalen unterworfen
sein, wie die aller andern alten Schriften.^)
Der Augenschein hat alle Vorurteile, welche hierüber ehedem geherrscht
haben, längst schon zerstört.
§ 117. Auch die übergroße Menge und Verschiedenheit
unserer Exemplare von den meisten dieser Bücher gewährt
keine Sicherheit dagegen, daß nicht dennoch die ursprüng-
liche Schreibung an einzelnen Stellen kann verloren ge-
gangen sein.^)
Denn dieser Verlust kann sehr zeitig, ja schon bei der ersten Abschrift
erfolgt sein, und zwar möglicherweise auch so, daß dies nicht wieder
gut gemacht werden konnte.
§ 118. Die definitive Aufgabe der niederen Kritik, die
ursprüngliche Schreibung überall möglichst genau und auf die
überzeugendste Weise auszumitteln, ist auf dem Gebiet der
exegetischen Theologie ganz dieselbe wie anderwärts.^)
Die Ausdrücke niedere und höhere Kritik werden hier hergebrachtermaßen
gebraucht, ohne weder ihre Angemessenheit rechtfertigen, noch ihre
Abgrenzung gegeneinander genauer bestimmen zu wollen.*)
§ 119. Der neutestamentische Kritiker hat also auch, so
wie die Pflicht, denselben Regeln zu folgen, so auch das Recht
auf den Gebrauch derselben Mittel.
S. 34. § 4. Die Kenntnis des jüdischen Kodex ist die allgemeine Hilfs-
wissenschaft für die gesamte historische Theologie.
^) S. 42. § 40. Keine Vorstellungsart vom Kanon kann leugnen, daß der
Text desselben den nämlichen Schicksalen müsse unterworfen sein, wie jede
andere schriftliche Urkunde.
2) § 41. Die Möglichkeit, daß die ursprüngliche Schreibart könne
verloren gegangen sein, ist beim Kanon nicht geringer, als bei jeder andern
Schrift.
3) § 38. Alles, was er bedarf, ist dem Ausleger, erst dann gegeben,
wenn er auch einen berichtigten und zuverlässigen Text vor sich hat. Dies
ist die Aufgabe der niedern Kritik.
■*) § 39. Die Grenze zwischen dieser und der höhern ist schwer,
und überall nicht nach der Größe des Gegenstandes, worauf es ankommt
zu bestimmen.
•§ 120—122. Erster Abschnitt. 49
Weder kann es daher verboten sein, im Fall der Not (vgl. § 117)*) Ver-
mutungen zu wagen, noch kann es besondere Eegeln geben, die nicht
aus den gemeinsamen müßten abgeleitet werden können.
§ 120. In demselben Maß, als die Kritik ihre Aufgabe löst,
muß sich auch eine genaue und zusammenhängende Geschichte
des neutestamentischen Textes ergeben und umgekehrt, sodaß
eines dem andern zur Probe und Gewährleistung dienet.')
Selbst was auf dem Wege der Vermutung Piichtiges geleistet wird, muß
sich auf Momente der Textgeschichte berufen können, und umgekehrt
müssen auch wieder schlagende Verbesserungen die Geschichte des
Textes erläutern,
§ 121. Für die theologische Abzweckung der Beschäftigung
mit dem Kanon hat die Wiederherstellung des Ursprüuglichen
nur da unmittelbaren Wert, wo der normale Gehalt irgendwie
beteiliget ist.-)
Keinesweges aber soll dies etwa auf sogenannte dogmatische Stellen be-
schränkt werden, sondern sich auf alles erstrecken, was für solche auf
irgend eine Weise als Parallele oder Erläuterung gebraucht werden kann.
§ 122. Dies begründet den, da die kritische Aufgabe
•ein Unendliches ist, hier notwendig aufzustellenden Unterschied
zwischen dem, was von jedem Theologen zu fordern ist, und
dem Gebiet der Virtuosität.^)
Die Forderung gilt eigentlich nur für den protestantischen Theologen;
denn der römisch-katholische hat streng genommen das Eecht, zu ver-
langen, daß ihm die Vulgata, ohne daß eine kritische Aufgabe übrig
bleibe, geliefert werde.
1) S. 43, § 46. Die nächste Aufgabe der Kritik ist die , eine möglichst
richtige und genaue Geschichte des Textes zu liefern, welche aber auch
noch nicht zustande gebracht ist.
2) § 43, Die vollkommene Wiederherstellung des Textes hat beim
Kanon nicht denselben philologischen Wert, wie bei andern Schriftstellern.
§ 45. Rein theologisch betrachtet, haben nur diejenigen Varianten
unmittelbare Wichtigkeit, welche irgendetwas zur ursprünglichen Darstellung
des Christentums Gehöriges betreffen. Für den Kritiker sind alle wichtig,
weil jede ein Beitrag zur Beurteilung seiner Quellen ist.
^) S. 42. § 42. Die Aufgabe der Kritik in ihrem ganzen Umfange ist eine
unendhche. Daher sie auch ein Feld für eine besondere Virtuosität enthält.
*) Im Text der zweiten Originalausgabe fälschlich § 17.
Schleierm.. Th. St. 4
50 Zweiter Teil. § 123— 125>
§ 123. Da jeder Theologe — auch im weiteren Sinne^
des Wortes — um der Auslegung willen (vgl. § 89) in den
Fall kommen kann (vgl. § 121), auch einer kritischen Über«
Zeugung zu bedürfen: so muß jeder, um sich die Arbeiten
der Virtuosen selbsttätig anzueignen und zwischen ihren
Eesultaten zu wählen, sowohl die hier zur Anwendung-
kommenden kritischen Grundsätze und Regeln inne haben, als
auch eine allgemeine Kenntnis von den wichtigsten kritischen
Quellen und ihrem Wert.^)
Eine notdürftige Anleitung hiezu findet sich teils in den Prolegomenen
der kritischen Ausgaben, teils wird sie auch unter jenem Mancherlei
mitgegeben, welches man Einleitung ins N. Test, zu nennen pflegt.
§ 124. Von jedem Virtuosen der neutestamentischen Kritik
ist alles zu fordern, was dazu gehört, sowohl den Text voll-
ständig und folgerecht überall nach gleichen Grundsätzen zu
konstituieren, als auch einen kritischen Apparat richtig und
zweckmäßig anzuordnen.
Dies sind rein philologische Aufgaben. Es ist aber nicht leicht zu denken^
daß ein Philologe ohne Interesse am Christentum seine Kunst daran
wenden sollte, sie für das Neue Testament zu lösen, da dieses an.
sprachlicher Wichtigkeit hinter andern Schriften weit zurücksteht.
Sollte es indes jemals der Theologie an solchen Virtuosen fehlen: so
gäbe es auch keine Sicherheit mehr für dasjenige, was für die theo-
logische Abzweckung dieses Studiums geleistet werden muß.
§ 125. Bei allem Bisherigen (§§ 116—124) liegt die
Voraussetzung zum Grunde, daß eigene Auslegung nur der-
jenige bilden kann, welcher mit dem Kanon in seiner Grund-
sprache umgeht.
Die kritische Aufgabe hätte sonst nur einen Wert für den Übersetzer,,
und zwar auch nur in dem § 121 beschriebenen Umfang.
^) S. 43. § 44. Das Allgemeine, für jeden Notwendige, ist, die Prinzipien
der Kritik zu kennen, um die Virtuosen der Kritik als Autorität in ein-
zelnen Fällen prüfen zu können, und der Gründe seines Urteils selbst
mächtig zu sein. Daraus entsteht dann die ebenfalls unentbehrliche Kennt-
nis ihrer Hauptresultate.
[§§ 47—60 siehe zu §§ 145 ff. der zweiten Auflage.]
§ 126—128. Erster Abschnitt. 51
§ 126. Da auch die meisterhafteste Übersetzung nicht
vermag die Irrationalität der Sprachen aufzuheben: so gibt
es kein vollkommenes Verständnis einer Eede oder Schrift
anders als in ihrer Ursprache.^)
Unter Irrationalität wird nur dieses Bekannte verstanden, daß weder
ein materielles Element, noch ein formelles der einen Sprache ganz in
einem der andern aufgeht. Daher kann eine Rede oder Schrift ver-
mittelst einer Übersetzung, mithin auch die Übersetzung selbst als
solche, nur demjenigen vollkommen verständlich sein, der sie auf die
Grundsprache zurückzuführen weii3.
§ 127. Die Ursprache der neutestamentischen Bücher ist
die griechische; vieles (nach § 121) Wichtige aber ist teils
unmittelbar als Übersetzung aus dem Aramäischen anzusehen,
teils hat das Aramäische mittelbaren Einfluß darauf geübt.-)
Die früheren Behauptungen, daß einzelne Bücher ursprünglich aramäisch
geschrieben seien, sind schwerlich mehr zu berücksichtigen. Vieles
aber von dem, was als Eede oder Gespräch aufbewahrt worden, ist
ursprüngHch aramäisch gesprochen. Der mittelbare Einfluß ist die
unter dem Namen des Hebraismus bekannte Sprachmodifikation.
§ 128. Schon die vielfältigen direkten und indirekten, in
neutestamentischen Büchern auf alttestamentische genommenen
Beziehungen machen eine genauere Bekanntschaft mit diesen
Büchern, also auch in ihrer Grundsprache, notwendig.^)
Um so mehr, als diese sich zum Teü auf sehr wichtige Sätze beziehen,
worüber die Auslegung selbst gebildet sein muß, mithin auch ein
richtiges Urteil über das Verhältnis der gemeinen griechischen Über-
setzung des Alten Testaments zur Grundsprache unerläßlich ist.
^) S. 37. § 16. Keine Eede kann vollständig verstanden werden, als in der
Ursprache. Auch die vollkommenste Übersetzung hebt die Irrationalität
der Sprachen nicht auf.
§ 17. Auch Übersetzungen versteht nur derjenige vollkommen,
der zugleich mit der Ursprache bekannt ist.
2) § 18. Die Ursprache des Kanon ist zwar griechisch ; vieles aber
ist unmittelbar Übersetzung aus dem Aramäischen, und noch mehreres ist
mittelbar so anzusehn.
3) § 19. Da auf dem richtigen Verständnis des Kanon überall das
eigene Urteil darüber, was ursprünglich christlich ist, beruht: so muß jeder
Theologe den Kanon auch durch sich selbst verstehen.
4*
52 Zweiter Teil. § 129—131.
§ 129. Je geringer die Verbreitung und die Produktivität
einer Mundart ist, um desto weniger ist sie anders, als im
Zusammenhange mit allen ihr verwandten ganz verständlich.
Welches, auf das Hebräische angewendet, für das vollkommenste
Verständnis des Kanon auch eine hinreichende Kenntnis aller
semitischen Dialekte in Anspruch nimmt. ^)
Von jeher ist daher auch das Arabische und Kabbinische für die Er-
klärung der Bibel zugezogen worden.
§ 130. Diese Forderung, welche vielerlei der Abzweckung
unserer theologischen Studien unmittelbar ganz Fremdes in
sich schließt, ist indes nur an diejenigen zu stellen, welche es
in der exegetischen Theologie zur Meisterschaft bringen wollen,
und zwar in dieser bestimmten Beziehung.^)
Von dieser rein philologischen Eichtung gilt dasselbe, was zu § 124 ge-
sagt worden ist.
§ 131. Jedem Theologen aber ist aus dem Gebiet der
Sprachkunde zuzumuten eine gründliche Kenntnis der griechi-
schen, vornehmlich prosaischen Sprache in ihren verschiedenen
Entwicklungen, die Kenntnis beider alttestamentischen Grund-
sprachen, und vermittelst derselben eine klare Anschauung von
dem Wesen und Umfang des neutestamentischen Hebraismus;
endlich, um die Arbeiten der Virtuosen zu benutzen, außer
einer Bekanntschaft mit der Literatur des ganzen Faches, be-
sonders ein selbstgebildetes Urteil über das Zuviel und Zu-
wenig, das Natürliche und das Erkünstelte in der Anwendung
des Orientalischen.^)
^) S. 37. § 20. Da kein Dialekt vollkommen verstanden wird ohne seine
verwandten Dialekte: so ist auch die vollständigste Kenntnis des Kanon
nur durch die Kenntnis aller semitischen Dialekte möglich.
2) S. 38. § 21. Nur dieser zweite Punkt (20), nicht auch der erste (19),
kann zu der speziellen Virtuosität auf diesem Gebiet gehören.
^) § 22. Auch hier ist nächst der Literatur Kritik der Virtuosen
(Einl. 20 3, 4) eine notwendige Ergänzung, um im Gebrauch das, was ein-
seitige Liebhaberei am Seltnen und Scharfsinnigen von dem, was echt
philologisches Talent erzeugt hat, zu unterscheiden.
§ 132—135. Erster Abschnitt. 53
Denn hierin ist aus Liebhaberei von den einen, aus Vorurteil von den
andern, immer wieder nach beiden Seiten hin gefehlt worden.
§ 132. Das vollkommne Verstehen einer Rede oder Schrift
ist eine Kunstleistung-, und erheischt eine Kunstlehre oder
Technik, welche wir durch den Ausdruck Hermeneutik be-
zeichnend)
Kunst, schon in einem engeren Sinne, nennen wir jede zusammengesetzte
Hervorbringung, wobei wir uns allgemeiner Eegeln bewußt sind, deren
Anwendung im einzelnen nicht wieder auf Eegeln gebracht werden
kann. Mit Unrecht beschränkt man gewöhnlich den Gebrauch der
Hermeneutik nur auf größere Werke oder schwierige Einzelheiten.
Die Eegeln können nur eine Kunstlehre bilden, wenn sie aus der Natur
des ganzen Verfahrens genommen sind, und also auch das ganze Ver-
fahren umfassen.
§ 133. Eine solche Kunstlehre ist nur vorhanden, sofern
die Vorschriften ein auf unmittelbar aus der Natur des
Denkens und der Sprache klaren Grundsätzen beruhendes
System bilden.
So lange die Hermeneutik noch als ein Aggregat von einzelnen, wenn
auch noch so feinen und empfehlenswerten Beobachtungen, allgemeinen
und besonderen, behandelt wird, verdient sie den Namen einer Kunst-
lehre noch nicht.^)
§ 134. Die protestantische Theologie kann keine Vor-
stellung vom Kanon aufnehmen, welche bei der Beschäftigung
mit demselben die Anwendung dieser Kunstlehre ausschlösse."')
Denn dies könnte nur geschehen, wenn man irgendwie ein wunderbar
inspiriertes vollkommenes Verständnis desselben annähme.
§ 135. Die neutestamentischen Schriften sind sowohl des
^) S. 38. § 23. Alles Verstehen einer Eede oder Schrift ist, weil dazu eine
selbsttätige Produktion gehört nach Gesetzen, deren Anwendung nicht
wieder auf Gesetze zu bringen ist, eine Kunst.
2) S. 39. § 27. Wer die Eegeln der Auslegung nur als ein Aggregat von
Observationen besitzen will, muß einem fremden unklaren Gefühl folgen.
^) § 29. Es gibt keine Vorstellungen über den Kanon, welche die
Anwendung der so gefundenen hermeneutischen Eegeln auf denselben
aufhöbe.
54 Zweiter Teil. § 135—137.
inneren Gehaltes, als der äußeren Verhältnisse wegen von be-
sonders schwieriger Auslegung.^)
Das erste, weil die Mitteilung eigentümlicher, sich erst entwickelnder
religiöser Vorstellungen in der abweichenden Sprachbehandlung nicht-
nationaler Schriftsteller zum großen Teil aus einer minder gebildeten
Sphäre sehr leicht mißverstanden werden kann. Letzteres weil die
Umstände und Verhältnisse, welche den Gedankengang modifizieren,
uns großenteils unbekannt sind, und erst aus den Schriften selbst
müssen erraten werden.
§ 136. Sofern nun der neutestamentische Kanon vermöge
der eigentümlichen Abzweckung der exegetischen Theologie
als Ein Ganzes soll behandelt werden, an und für sich be-
trachtet aber jede einzelne Schrift ein eignes Ganze ist,
kommt noch die besondere Aufgabe hinzu, diese beiden Be-
handlungsweisen gegeneinander auszugleichen und miteinander
zu vereinigen,^)
Die gänzliche Ausschließung des einen oder andern dieser Standpunkte,
wie sie aus entgegengesetzten theologischen Einseitigkeiten folgt, hat
zu aUen Zeiten Irrtümer und Verwirrungen in das Geschäft der Aus-
legung gebracht.
§ 137. Die neutestamentische Spezialhermeneutik kann
nur aus genaueren Bestimmungen der allgemeinen Regeln in
Bezug auf die eigentümlichen Verhältnisse des Kanon bestehen.^)
^) S. 38. § 24. Die Auslegung des Kanons gehört zu den schwierigsten,
teils weil das Spekulativ-Religiöse in dem unbestimmten Sprachgebrauch
nicht-nationaler Schriftsteller aus einer im ganzen ungebildeten Sphäre sehr
vielen Mißdeutungen ausgesetzt ist, teils weil die Umstände, welche den
Gedankengang des Schriftstellers motivierten, uns häufig ganz unbekannt
sind, und erst durch die Schriften selbst müssen erraten werden.
2) S. 40. § 31. Da das Ziel aller Auslegung darin besteht, jeden einzelnen
Gedanken mit seinem Verhältnis zur Idee des Ganzen zugleich richtig auf-
zufassen, und so den Akt des Schreibens nachzukonstruieren : so muß vor-
züglich bestimmt werden, inwiefern für die Auslegung der Kanon als Ein
Ganzes zu nehmen, und inwiefern jede einzelne Schrift desselben für sich
zu betrachten ist.
^) S., 39. § 28. Die Auslegungskunst ist eine philologische Disziplin, die
auf eben so festen Prinzipien, als irgendeine andere beruht.
S. 40. § 30. Die Spezialhermeneutik des Kanon ist nur die nähere Be-
§ 138—140. Erster Abschnitt. 55
Sie kann um so mehr nur allmählich zu der strengeren Form einer Kunst-
lehre ausgebildet werden, als sie zu einer Zeit gegründet wurde, wo
auch die allgemeine Hermeneutik nur noch als eine Sammlung von
Observationen bestand.
§ 138. Die Kiinstlelire der Auslegung kann auf zweifache
Weise gestaltet werden, ist aber in jeder Fassung der eigent-
liche Mittelpunkt der exegetischen Theologie.^)
Die allgemeine Hermeneutik kann entweder ganz hervortreten, sodaß
das Spezielle nur als Korollarien erscheint, oder umgekehrt kann das
Spezielle zusammenhängend organisiert und auf die allgemeinen Grund-
sätze dann nur zurückgewiesen werden. — Die Ausübung ist zwar aller-
dings durch Sprachkunde und Kritik bedingt ; aber die Grundsätze selbst
haben den entschiedensten Einfluß, sowohl auf die Operationen der
Kritik, als auch auf die feineren Wahrnehmungen in der Sprachkunde.
§ 139. Daher gibt es auch hier nichts, weshalb sich
einer auf andere verlassen dürfte: sondern jeder muß sich der
möglichsten Meisterschaft befleißigen.-)
Je mehr der Gegenstand schon bearbeitet ist, um desto weniger darf sich
diese gerade in neueren Auslegungen zeigen wollen.
§ 140. Keine Schrift kann vollkommen verstanden werden,
als nur im Zusammenhang mit dem gesamten Umfang von
Yorstellungen, aus welchem sie hervorgegangen ist, und ver-
mittelst der Kenntnis aller Lebensbeziehungen, sowohl der
Schriftsteller, als derjenigen, für welche sie schrieben.^^)
Stimmung jener [sc. allgemeinen] Eegeln in Bezug auf die besondere Sprache
des Kanon, und auf die besondere Gattung, zu der die Schriften gehören,
aus denen er besteht.
^) S. 39. § 26. Die Auslegungskunst ist der Mittelpunkt der exegetischen
Theologie, und in Absicht auf sie findet kein Unterschied statt zwischen
allgemeinem Besitz und besonderer Virtuosität. Auch da, wo man die
Sprachkenntnis nur als Notiz hat, muß doch die Auslegung eigen sein.
2) § 25. Da jeder Theologe zu einem eigenen Verständnis des
Kanons gelangen soll: so muß auch jeder diese Kunst selbst üben, und
darf keine Auslegung auf Autorität annehmen.
3) S. 40. § 32. Jede Schrift kann nur vollkommen verstanden werden
durch die Kenntnis der Literatur, der sie angehört, des Zeitalters und be-
sonders des PubUkums , für welches sie geschrieben wurde , und der be-
sondern Beziehungen, aus denen sie hervorgegangen ist.
56 Zweiter Teil. § 141—143.
Denn jede Schrift verhält sich zu dem Gesamtleben, wovon sie ein Teil
ist, wie ein einzelner Satz zu der ganzen Eede oder Schrift.
§ 141. Der geschichtliche Apparat zur Erklärung des
Neuen Testamentes umfaßt daher die Kenntnis des älteren
und neueren Judentums, sowie die Kenntnis des geistigen und
bürgerlichen Zustandes in den Gegenden, in welchen und für
welche die neutestamentischen Schriften verfaßt wurden.^)
Daher sind die alttestamentischen Bücher zugleich das allgemeinste Hilfsbuch
zumVerständnis des Neuen Testamentes, nächstdem die alttestamentischen
und neutestamentischen Apokryphen, die späteren jüdischen Schriftsteller
überhaupt, sowie die Geschichtschreiber und Geographen dieser Zeit und
Gegend. Alle diese wollen ebenfalls in ihrer Grundsprache kritisch
und nach den hermeneutischen Regeln gebraucht werden.
§ 142. Viele von diesen Hilfsquellen sind bis jetzt noch
weder in möglichster Vollständigkeit, noch mit der gehörigen
Vorsicht gebraucht worden.-)
Beides gilt besonders von den gleichzeitigen und späteren jüdischen
Schriften.
§ 143. Dieser Gesamtapparat nimmt also noch auf lange
Zeit die Tätigkeit vieler Theologen in Anspruch, um die bis-
herigen Arbeiten der Meister dieses Fachs zu berichtigen und
zu ergänzen.^)
Von einer andern Seite gehen diese Arbeiten in die Apologetik zurück,
indem die Gegner des Christentums sich immer wieder die Aufgabe
stellen, es ganz aus dem, was schon gegeben war, und zwar nicht
immer als Fortschritt und Verbesserung, zu erklären. Hieher gehört
aber nur die reine und vollständige Zubereitung des geschichtlichen
Materials.
^) S. 41. § 33. Keine Vorstellungsart vom Kanon kann diese Bedingungen
des Verstehens für überflüssig erklären.
^) § 34. Da diese Bedingungen ein Unendliches enthalten: so tritt
hier der Unterschied zivischen dem Allgemeinen und Besondern wieder vor-
züglich ein.
^) § 35. Die großen Züge zu kennen, wodurch das Ganze klar wird,,
und sich dadurch ein richtiges Bild der neutestamentischen Zeit zu ent-
werfen, ist die Pflicht eines jeden; die Masse des Einzelnen zusammenzu--
bringen, wodurch Einzelnes und Kleines erläutert wird, ist die Sache der
Virtuosen dieses Faches.
§ 144—147. Erster Abschnitt. 57
§ 144. Was sich liievon zum Gemeinbesitz eignet, wird,
teils unter dem Titel jüdischer und christlicher Altertümer,
teils mit vielerlei anderem verbunden, in der sogenannten Ein-
leitung zum Neuen Testament mitgeteilt.^)
In der letzteren, die überhaupt wohl einer Umgestaltung bedürfte, wird
noch manches vermißt , was doch vorzüglich nach § 141 hieher
gehört, weil man es zur Lesung des Neuen Testamentes mitbringen
muß. — Was sich jeder von den Virtuosen dieses Fachs geben
lassen kann, findet sich teils in Sammlungen aus einzelnen Quellen,
teils in Kommentaren zu den einzelnen neutestamentischen Büchern.
§ 145. Die Hauptaufgabe der exegetischen Theologie ist
noch keinesweges als vollkommen aufgelöst anzusehen.^)
Selbst wenn man abrechnet, daß es einzelne Stellen gibt, die teils nie
werden mit vollkommener Sicherheit berichtigt, teils nie zu allgemeiner
Befriedigung erklärt werden.
§ 146. Auch für die hieher gehörigen Hilfskenntnisse be-
steht die doppelte Aufgabe fort, das Materiale immer mehr
zu vervollständigen, und von dem Verarbeiteten immer mehr
in Gemeinbesitz zu verwandeln.^)
Schon das erste Studium unter der Anleitung der Meister muß nicht
nur den Grund zu dem letzten legen, und vermittelst desselben die
Ausübung der Kunstlehre gemäß beginnen, sondern auch die ver-
schiedenen einzelnen Gebiete in Bezug auf die darin noch zu er-
werbende Meisterschaft wenigstens aufschließen.
§ 147. Eine fortgesetzte Beschäftigung mit dem neu-
^) S. 41. § 36. Der erste Grund zum Besitz dieser Hüfskenntnisse wird
gelegt durch diejenigen Notizen, die man in den Einleitungen in das Neue
Testament zu vereinigen pflegt.
§ 37. Die Quellen, woraus Erläuterungen zu nehmen wären, sind
noch lange nicht erschöpft.
[§§ 38 — 46 siehe zu §§ 116 ff. der zweiten Auflage.]
2) S. 43. § 47. Wie das Verständnis des Kanon überall noch nicht voll-
endet ist, so darf auch der einzelne Theologe sein Studium desselben nie
als vollendet ansehn.
^) S. 44. § 48. Der akademische Unterricht kann nur den Grund dazu
legen, muß aber auch schon beide Richtungen, die auf die Universalität
und die auf die Virtuosität, in sich vereinigen.
58 Zweiter Teil. § 147—150.
testamentisclien Kanon, welche nicht durch eigenes Interesse
am Christentum motiviert wäre, könnte nur gegen denselben
gerichtet sein.^)
Denn die rein philologische und historische Ausbeute, die der Kanon
verspricht, ist nicht reich genug, um zu einem solchen zu reizen. Aber
auch die Untersuchungen der Gegner (vgl. § 143) sind sehr förderlich
geworden und werden es auch in Zukunft werden.
§ 148. Jede Beschäftigung mit dem Kanon ohne philo-
logischen Geist und Kunst muß sich in den Grenzen des Ge-
bietes der Erbauung halten; denn in dem der Theologie
könnte sie nur durch pseudodogmatische Tendenz Verwirrung
anrichten.^)
Denn ein reines und genaues Verstehenwollen kann bei einem solchen
Verfahren nicht zum Grunde liegen.
Zweiter Abschnitt.
Die historische Theologie im engeren Sinn
oder die Kircheugeschichte.
§ 149. Die Kirchengeschichte im weiteren Sinne (vgl.
§ 90) ist das Wissen um die gesamte Entwicklung des Christen-
tums, seitdem es sich als geschichtliche Erscheinung fest-
gestellt hat.^)
Was dasselbe abgesehen hievon nach außen hin gewirkt hat, gehört
nicht mit in dieses Gebiet.
§ 150. Jede geschichtliche Masse läßt sich auf der einen
Seite ansehen als Ein untrennbares werdendes Sein und Tun,
1) S. 44. § 49. Ohne religiöses Interesse läßt sich kein fortgesetztes Studium
des Kanon denken, es müßte denn ein gegen ihn selbst gerichtetes sein,
2) § 50. Ohne philologischen Geist kann die Beschäftigung mit dem
Kanon nur asketisch sein, oder sie wird ins Pseudodogmatische ausarten.
3) § 1. Der Gegenstand der Kirchengeschichte ist der Inbegriff
alles dessen, was das Christentum von seinem Entstehen bis jetzt geworden
ist oder gewirkt hat.
^ 150—152. Zweiter Abschnitt. 59
auf der andern als ein Zusammengesetztes aus unendlich vielen
einzelnen Momenten. Die eigentlich geschichtliche Betrach-
tung ist das Ineinander von beiden.^)
Das eine ist nur der eigentümliche Geist des Ganzen, in seiner Beweg-
lichkeit angeschaut, ohne daß sich bestimmte Tatsachen sondern; das
andere nur die Aufzählung der Zustände in ihrer Verschiedenheit,
ohne daß sie in der Identität des Impulses zusammengefaßt werden.
Die geschichtliche Betrachtung ist beides, das Zusammenfassen eines
Inbegriffs von Tatsachen in Ein Bild des Innern, und die Darstellung
des Innern in dem Auseinandertreten der Tatsachen.
§ 151. So ist auch jede Tatsache nur eine geschicht-
liche Einzelheit, sofern beides identisch gesetzt wird, das
Äußere, Veränderung im Zugleichseienden, und das Innere,
Funktion der sich bewegenden Kraft.-)
Das Innere ist in diesem Ausdruck als Seele gesetzt, das Äußere als
Leib, das Ganze mithin als ein Leben.
§ 152. Das Wahrnehmen und Im-Gedächtnis-Festhalten
der räumlichen Veränderungen ist eine fast nur mechanische
Verrichtung, wogegen die Konstruktion einer Tatsache, die
Verknüpfung des Äußeren und Inneren zu einer geschicht-
lichen Anschauung, als eine freie geistige Tätigkeit anzu-
sehen ist.^)
Daher auch, was mehrere ganz als dasselbe wahrgenommen, sie doch als
Tatsache verschieden auffassen.
*) S. 45. § 2. Es läßt sich ansehn von der einen Seite als Eine einzige
Anschauung, von der andern als ein Ganzes von unendlich vielen einzelnen
Anschauungen.
''^) § 3. Jede Tatsache als geschichtliche Einzelheit ist ein Äußeres,
die räumliche Veränderung, und ein Inneres, die Funktion der Kraft, welche
betrachtet wird, identisch gedacht.
^) S. 46. § 6. Das Aneinanderfügen wahrgenommener räumlicher Verände-
rungen und ihr Festhalten im Gedächtnis ist Mechanismus; die Verknüpfung
des Innern und Äußern zu einer geschichtlichen Anschauung ist Kon-
struktion, Tätigkeit eines Talentes.
§ 7 [= § 155 der zweiten Auflage]. Das Leben, die eigene ge-
schichtliche Existenz des einzelnen Menschen, entwickelt dieses Talent
von selbst.
60 Zweiter Teil. § 153—156.
§ 153. Die Darstellung der räumlichen Veränderungen
als solcher in ihrer Gleichzeitigkeit und Folge ist nicht Ge-
schichte, sondern Chronik; und eine solche von der Christ-
liehen Kirche könnte sich nicht als eine theologische Dis-
ziplin geltend machen.^)
Denn sie gäbe von dem Gesamtverlauf dasjenige nicht, was in einer Be-
ziehung zur Kirchenleitung steht.
§ 154. Nur der Stetigkeit wegen müssen auch in die
geschichtliche Auffassung solche Ereignisse mit aufgenommen
werden, die eigentlich nicht als geschichtliche Elemente an-
zusehen sind.-)
Dahin gehört der Wechsel der Personen, welche an ausgezeichneten
Stellen wirksam waren, wenn auch ihre persönliche Eigentümlich-
keit keinen merklichen Einfluß auf ihre öffentlichen Handlungen ge-
habt hat.
§ 155. Die geschichtliche Auffassung ist ein Talent^
welches sich in jedem durch das eigne geschichtliche Leben,
wiewohl in verschiedenem Grade, entwickelt, niemals aber
jener mechanischen Fertigkeit ganz entbehren kann.
Wie im gemeinen Leben, so auch im wissenschaftlichen Gebiet verfälscht
ein aufgeregtes selbstisches Interesse, mithin auch jedes Parteiwesen^
am meisten den geschichtlichen Blick.
§ 156. Zu dem geschichtlichen Wissen um das nicht
Selbsterlebte gelangt man auf zwiefachem Wege, unmittelbar^
aber mühsam zusammenschauend, durch die Benutzung der
Quellen, leicht, aber nur mittelbar, durch den Gebrauch ge-
schichtlicher Darstellungen.^)
^) S. 45. § 4. Die Auseinanderreißung der räumlichen Veränderungen für
sich ist nicht Geschichte, sondern Chronik. Es gibt viele Veränderungen^
die gar nicht als geschichtliche Elemente anzusehen sind.
§ 5. Wie überall auch die vollständigste Chronik nur Vorarbeit
ist für die Geschichte: so kann die Chronik der christlichen Kirche beson-
ders gar nicht als theologische Disziplin gedacht werden, weil sie mit
dem Interesse an der Wirksamkeit für das Christentum in gar keinem Zu-
sammenhange steht.
2) [§§ 8 ff. siehe zu §§ 160 If. der zweiten Auflage.]
^) S. 52. § 36. Es gibt eine zwiefache Art, um das Geschichtliche za
wissen: aus den Quellen selbst, und aus geschichtlichen Darstellungen.
§ 157—160. Zweiter Abschnitt. Ql
Nicht leicht wird es auf irgend einem geschichtlichen Gebiet möglich
sein, auf dem der Kirchengeschichte aber gewiß nicht, der letzteren zu
entraten.
§ 157. Quellen im engeren Sinn nennen wir Denkmäler
und Urkunden, welche dadurch für eine Tatsache zeugen, daß
sie selbst einen Teil derselben ausmachen. ^j
Geschichtliche Darstellungen von Augenzeugen sind in diesem strengeren
Sinn schon nicht mehr Quellen. Doch verdienen sie den Namen um
so mehr, je mehr sie sich der Chronik nähern, und ganz anspruchslos
nur das Wahrgenommene wiedergeben.
§ 158. Aus geschichtlichen Darstellungen kann man nur
zu einer eigenen geschichtlichen Auffassung gelangen, indem
man das von dem Schriftsteller Hineingetragene ausscheidet.
Dies wird erleichtert, wenn man mehrere Darstellungen derselben Eeihe
von Tatsachen vergleichen kann, um so mehr, wenn sie aus verschie-
denen Gesichtspunkten genommen sind.
§ 159. Zu dem Wissen um einen Gesamtzustand, wie
er ein Bild des Inneren (vgl. § 150) darstellt, gelangt man
nur durch beziehende Verknüpfung einer Masse von zusammen-
gehörigen Einzelheiten. 2)
Dies ist daher die größte, alles andere voraussetzende und in sich
schließende Leistung der geschichtlichen Auffassungsgabe.
§ 160. Die Kirchengeschichte im weiteren Sinn (vgl. § 90)
soll als theologische Disziplin vorzüglich dasjenige, was aus
der eigentümlichen Kraft des Christentums hervorgegangen
ist, von dem, was teils in der Beschaffenheit der in Bewegung
gesetzten Organe, teils in der Einwirkung fremder Prinzipien
seinen Grund hat, unterscheiden, und beides in seinem Hervor-
treten und Zurücktreten zu messen suchen.^)
1) S. 52. § 87. Quellen im engeren Sinne für einzelne Tatsachen sind nur
Monumente und Urkunden, welche selbst Teüe der gesuchten Begebenheit
sind, oder unmittelbar auf dieselbe zurückweisen. Geschichtliche Dar-
stellungen, wenn auch von Zeitgenossen, sind doch nur mittelbare Quellen.
^) § 38. Ein gesamter Zustand kann nur nachgewiesen werden aus
einer großen Masse analoger einzelner Tatsachen.
^) S. 46. § 10. Die Kirchengeschichte, als theologische Disziplin, soll vor-
62 Zweiter Teil. § 161—163.
Nor war es eine sehr verfehlte Methode, Tim deswillen die Darstellung-
selbst zu teilen in die der günstigen und der ungünstigen Ereignisse..
§ 161. Von dem ersten Eintritt des Christentums an^.
also aucli schon in der Zeit des Urchristentums, kann man
verschiedene, selbst wieder mannigfaltig teilbare Funktionen
dieses neuen wirksamen Prinzips unterscheiden, und auch in
der geschichtlichen Darstellung voneinander sondern.^)
Auch dies gilt allgemein von allen bedeutenden geschichtlichen Erschei-
nungen, von allen religiösen Gemeinschaften nicht nur, sondern auch
von den bürgerlichen.
§ 162. Keine von diesen Funktionen aber ist in ihrer
Entwicklung ohne ihre Beziehung auf die anderen vollkommen
zu verstehen; und jeder als ein relatives Ganze auszusondernde
Zeitteil wird nur durch die Gegenseitigkeit ihrer Einwirkungen
aufeinander, w^as er ist.^)
Denn die lebendige Kraft ist in jedem Momente ganz gesetzt, und kanu
daher nur ergriffen werden in der gegenseitigen Bedingtheit aller ver-
schiedenen Funktionen.
§ 163. Der Gesamtverlauf des Christentums kann alsa
nur vollständig aufgefaßt werden durch die vielseitige Kom-
bination beider Verfahrungsarten, indem jede, was der andern
auf einem Punkte gefehlt hat, auf einem andern ergänzen muß.^)
Während wir nur die eine Funktion verfolgen, bleibt uns die Anschauung
züglich das, was fremden Einwirkungen zuzuschreiben, von dem, was rein
aus dem Prinzip selbst hervorgegangen ist, unterscheiden,
1) S. 46. § 8 [vgl. auch § 166 der zweiten Auflage]. Sobald das Christen-
tum als tätiges Prinzip in die Welt eingetreten ist, kann man die Bildung^
der gemeinsamen Lehre und die Bildung des gemeinsamen Lebens als zwei
Funktionen desselben unterscheidifen.
2) § 9. Wie aber die Kirche die Gemeinschaft der Lehre sowohl,,
als des Lebens ist: so ist auch keine von beiden Funktionen ohne die-l
andre in ihrer Tätigkeit zu verstehen, und jeder Moment ist nur in dei
ungetrennten Betrachtung lebendig und richtig aufzufassen.
3) S. 47. § 13. Die Aufgabe, den geschichtlichen Verlauf des Christentums
zu erkennen, kann nur durch die vielseitigste Kombination beider Ver-
fahrungsarten vollständig gelöset werden, indem jede ergänzen mui3, wa»|
der andern fehlt.
§ 164—167. Zweiter Abschnitt. 63
des Gesamtlebens aus den Augen gerückt, und wir müssen uns vorbe-
halten, diese nachzuholen. Während wir die gleichzeitigen Züge zu
Einem Bilde zusammenschauen, vermögen wir nicht die einzelnen Ele-
mente genau zu schätzen, und müssen uns vorbehalten, sie an dem
gleichartigen Früheren und Späteren zu messen,
§ 164. Je mehr man die verschiedenen Funktionen bei
der geschichtlichen Betrachtung- ins Einzelne und Kleine zer-
spaltet, desto öfter muß man Punkte zwischeneinschieben,
welche das getrennt Gewesene wieder vereinigen. Je größer
die parallelen Massen genommen werden, desto länger kann
man die Betrachtung der einzelnen ununterbrochen fortsetzen.^)
Die Perioden können also desto größer und müssen desto kleiner sein,
je größere oder kleinere Funktionen man behandelt.
§ 165. Die wichtigsten Epochenpunkte indes sind immer
solche, die nicht nur für alle Funktionen des Christentums
den gleichen Wert haben, sondern auch für die geschichtliche
Entwicklung außer der Kirche bedeutend sind.
Da die Erscheinung des Christentums selbst zugleich ein weltgeschicht-
licher Wendepunkt ist: so kommen diesem andere auch nur in dem
Maße nahe, als sie ihm hierin gleichen.
§ 166. Die Bildung der Lehre, oder das sich zur Klar-
heit bringende fromme Selbstbewußtsein, und die Gestaltung
des gemeinsamen Lebens, oder der sich in jedem durch alle
und in allen durch jeden befriedigende Gemeinschaftstrieb
sind die beiden sich am leichtesten sondernden Funktionen in
der Entwicklung des Christentums.")
Dies gibt sich dadurch zu erkennen, daß auf der einen Seite große Ver-
änderungen vor sich gehen, während auf der andern alles beim Alten
bleibt, und für die eine Seite ein Zeitpunkt bedeutend ist als Ent-
wicklungsknoten, der für die andere bedeutungslos erscheint.
§ 167. Die Bildung des kirchlichen Lebens wird vor-
^) S. 51. § 35. Je mehr man die geschichtlichen Funktionen so vereinzelt
betrachtet, um desto öfter muß man auf Punkte kommen, wo man das Ge-
trennte wieder vereinigen muß; je mehr man sich nur an die größeren
Glieder hält, um desto länger kann man unaufgehalten fortschreiten.
2) [Vgl. S. 46 § 8 der ersten Auflage.l
ß4 Zweiter Teil. § 167—169.
züglich mitbestimmt (vgl. § 160) durch die politischen Ver-
hältnisse und den gesamten geselligen Zustand; die Ent-
wicklung der Lehre hingegen durch den gesamten wissen-
schaftlichen Zustand, und vorzüglich durch die herrschenden
Philosopheme.^)
Dieses Mitbestimmtwerden ist natürlich und unvermeidlich, bedingt mit-
hin nicht schon an und für sich krankhafte Zustände, enthält aber
allerdings den Grund ihrer Möglichkeit. — Allgemeinere epochemachende
Punkte, welche von einer neuen Entwicklung der Erkenntnis aus-
gehen, werden sich in der christlichen Kirche auch am meisten in der
Geschichte der Lehre, solche hingegen, welche von Entwicklungen des
bürgerlichen Zustandes ausgehen, werden sich auch am meisten in dem
kirchlichen Leben kundgeben.
§ 168. Auf der Seite des kirchlichen Lebens sondern sich
wiederum am leichtesten die Entwicklung des Kultus, d. h.
der öffentlichen Mitteilungsweise religiöser Lebensmomente,
und die Entwicklung der Sitte, d. h. des gemeinsamen Ge-
präges, welches der Einfluß des christlichen Prinzips den ver-
schiedenen Gebieten des Handelns aufdrückt.^)
Der Kultus verhält sich zu der Sitte, wie das beschränktere Gebiet der
Kunst im engeren Sinne zu dem unbestimmteren des geselligen Lebens
überhaupt.^)
§ 169. Die Entwicklung des Kultus wird vorzüglich mit-
bestimmt durch die Beschaffenheit der dazu geeigneten, in
der Gesellschaft vorhandenen Darstellungsmittel, und durch
deren Verteilung in der Gesellschaft. Die Fortbildung der
christlichen Sitte hingegen durch den Entwicklungs- und Ver-
teilungszustand der geistigen Kräfte überhaupt.*)
^) S. 47. § 12. Die Bildung des gemeinsamen christlichen Lebens wird
vorzüglich affiziert durch die politischen Verhältnisse und durch den ge-
selligen Zustand überhaupt.
§ 11. Die Bildung der Lehre wird vorzüglich affiziert durch die
herrschenden Philosopheme und den wissenschaftlichen Zustand überhaupt.
2) § 14. In der Bildung des gemeinsamen Lebens unterscheiden
sich wieder die Büdung der Sitte und die Bildung des Kultus.
') S. 49. § 21. Der Kultus verhält sich zu der Sitte, wie das beschränkte
Gebiet der Kunst zu dem größeren des geselligen Lebens.
*) [Zu § 169 b vgl. S. 48 § 18 der ersten Auflage.]
§ 170—172. Zweiter Abschnitt. 65
Nämlich was das erste betrifft, so beruht die Mitteilung- oder der Um-
lauf religiöser Erregungen, welcher nach denselben bewirkt werden
soll, lediglich auf der Darstellung. Was das andere betrifft, so ruhen
in diesem Zustand alle Motive, deren sich die religiöse Gesinnung
bemächtigen soll.
§ 170. Beide aber, Sitte und Kultus, sind in ihrer Fort-
Mdung auch so sehr aneinander gebunden, daß, wenn sie in
dem Maß von Bewegung oder Buhe zu sehr voneinander ab-
w^eichen, entweder der Kultus das Ansehen gewinnt, in leere
■Gebräuche oder Aberglauben ausgeartet zu sein, während das
■christliche Leben sich in der Sitte bewährt, oder umgekehrt
ruht auf der herrschenden Sitte der Schein, daß sie, während
die christliche Frömmigkeit sich durch den Kultus erhält,
mir das Ergebnis fremder Motive darstelle.^)
In dieser verschiedenen Beurteilungsweise bekundet sich ein mit jener
Ungleichmäßigkeit zusammenhängender innerer Gegensatz unter den
Gliedern der Gemeinschaft.
§ 171. Je plötzlicher auf einem von beiden Gebieten
ibedeutende Veränderungen eintreten, um desto mehreren
^Reaktionen sind sie ausgesetzt; wogegen nur die langsameren
sich als gründlich bewähren.^)
Das erste versteht sich indes nur von solchen Veränderungen, die nicht
zugleich auch mehrere Gebiete umfassen. Dergleichen werden daher
leicht voreilig als epochemachende Punkte angesehen, da doch oft
wenig Wirkungen von ihnen zurückbleiben.
§ 172. Langsame Veränderungen können nicht als fort-
laufende Keihe aufgefaßt, sondern nur an einzeln hervorzu-
' ^) S. 47. § 15. Beides ist aber auch ineinander : denn jedes kann auf das
andere zurückgeführt werden.
S. 48. § 16. Jedes, wenn es sich isoliert, verliert seinen Charakter.
Denn der Kultus ohne Sitte erscheint nur als Ceremonie oder Aberglauben,
und die Sitte ohne Kultus nur als ein Kesultat des geselligen Zustandes,
nicht des religiösen Prinzips.
2) S. 49. § 22. In beiden sind nur diejenigen Veränderungen gründlich,
welche langsam vor sich gehen; je schneller, desto mehr Scheinbares ist
darin.
Schleierm.. Th. St. 5
66 Zwieiter Teil. § 172—174.
hebenden Punkten zur Anschauung gebracht werden, welche
die Fortschritte von einer Zeit zur andern darstellen.^)
Auch diese aber dürfen nicht willkürlich gewählt werden, sondern sie
müssen, wenn auch nur in untergeordnetem Sinn, eine Ähnlichkeit
haben mit epochemachenden Punkten,
§ 173. Die geschichtliche Auffassung ist auf diesem Ge-^
biet desto vollkommener, je bestimmter das Verhältnis des
christlichen Impulses zu der sittlichen und künstlerischen
Konstitution der Gesellschaft vor Augen tritt, und je über-
zeugender, was der gesunden Entwicklung des religiösen
Prinzips angehört, von dem Schwächlichen und Krankhaften
geschieden wird,^)
Denn dadurch wird den Ansprüchen der Kirchen leitung an eine christ-
liche Geschichtskunde genügt.
§ 174. Die kirchliche Verfassung kann zamal in der
evangelischen Kirche, wo es ihr an aller äußeren Sanktion
fehlt, nur als dem Gebiet der Sitte angehörig betrachtet
werden.
Dieser Satz liegt, recht Terstanden, jenseit aller über das evangelische
Kirchenrecht noch obwaltenden Streitigkeiten, und spricht nur den
wesentlichen Unterschied zwischen bürgerlicher und kirchlicher Ver-
fassung aus.
^) S. 49. § 23. Die langsamen Veränderungen sind nicht in einer ununter-
brochen fortlaufenden Reihe aufzufassen, sondern nur in diskreten Punkten,
welche die Fortschritte von einer Zeit zur andern darstellen.
2) S. 48. § 17 [= § 174 der zweiten Auflage]. Da die kirchliche Ver-
fassung ohne äußere Sanktion ist, fällt sie ganz unter das Gebiet der Sitten.
§ 18 [vgl. § 169 b der zweiten Auflage]. An der Sitte zeigt sich,
wie die religiöse Gesinnung in die verschiedenen Teile des Handelns ein-
tritt, und wie sie sich zu den übrigen Motiven verhält.
§ 19. In diesem Zusammensein des religiösen Prinzips mit den
übrigen Motiven begreift sich allein alles das, was zwar in der Kirche ist,
aber nicht aus der Kirche hervorging, und ivovon sie sich reinigen soll.
§ 20 [zu §§ 19 u. 20 vgl. § 173 der zweiten Auflage]. Ebenso
auch die intensive Verschiedenheit, mit der das religiöse Prinzip sich der
verschiedenen Gebiete des Lebens bemächtigt, aus der Jedesmaligen moralischen-
Konstitution des Zeitalters oder der Nation.
[§ 21 siehe zu § 168 Anm. der zweiten Auflage.]
§ 175—178. Zweiter Abschnitt. 67
§ 175. Diejenigen gröi^eren Entwicklungsknoten, welche
außer der Kirche auch das bürgerliche Leben affizieren,
werden sich in der Kirche am unmittelbarsten und stärksten
in der Verfassung offenbaren.^)
Weil doch kein anderer Teil der christlichen Sitte so sehr (vgl. § lfi7)
mit den politischen Verhältnissen zusammenhängt.
§ 176. Die kirchliche Verfassung ist am meisten dazu
geeignet, daß sich an ihre Entwicklung die geschichtliche
Darstellung des gesamten christlichen Lebens anreihe.-)
Denn sie hat den unmittelbarsten Einfluß auf den Kultus, verdankt
ihre Haltung dem Gesamtzustand der Sitte, und ist zugleich der
Ausdruck von dem Verhältnis der religiösen Gemeinschaft zur bürger-
lichen.
§ 177. Der Lehrbegriif entwickelt sich einerseits durch
die fortgesetzt auf das christliche Selbstbewußtsein in seinen
verschiedenen Momenten gerichtete Betrachtung, andrerseits
durch das Bestreben, den Ausdruck dafür immer überein-
stimmender und genauer festzustellen.^)
Beide Richtungen hemmen sich gegenseitig, indem die eine nach außen
geht, die andere nach innen. Daher charakterisieren sich verschiedene
Zeiten durch das tJbergewicht der «inen oder der andern.
§ 178. Die Ordnung, in welcher hiernach die ver-
schiedenen Punkte der Lehre hervortreten und die Haupt-
massen der didaktischen Sprache sich gestalten, muß im
großen wenigstens begriffen werden können aus dem eigen-
tümlichen Wesen des Christentums.^)
^) S. 49. § 25. Da die größten Revolutionen in der Kirchengeschichte
diejenigen sind, welche nicht die Kirchengeschichte allein betreffen: so
werden sich auch diese am stärksten in der Verfassung offenbaren.
2) § 24. Die Entwicklung der kirchlichen Verfassung, welche ihren
nächsten Bezug auf den Kultus hat, ihre Haltung durch die Sitte bekommt,
und zugleich das Verhältnis der Kirche zum Staat ausdrückt, ist allein
geschickt, den fortlaufenden Faden zu bilden, an den sich das übrige
anreiht.
3) [§ 177 = s. 50 § 28 der ersten Auflage; siehe unten.]
^) S. 50. § 26. Nur wenn man die Bildung des Lehrbegriffs isoliert be-
5*
68 Zweiter Teil. § 179—181.
Denn es wäre widernatürlich, wenn Vorstellungen, die diesem am näch-
sten verwandt sind, sich zuletzt entwickeln sollten.
§ 179. Nur in einem krankhaften Zustande der Kirche
können einzelne persönliche oder gar außerkirchliche Ver-
hältnisse einen bedeutenden Einfluß auf den Gang und die
Ergebnisse der Beschäftigung mit dem Lehrbegriff ausüben.^)
Wenn dies dennoch nicht selten der FaU gewesen ist: so haben doch
zumal neuere Geschichtschreiber weit mehr, als der Wahrheit gemäß
ist, auf Kechnung solcher Verhältnisse geschrieben.
§ 180. Je weniger die Entwicklung des Lehrbegriffs frei
bleiben kann von Schwanken und Zwiespalt: um desto mehr
tritt auch das Bestreben hervor, teils die Übereinstimmung
eines Ausdrucks mit den Äußerungen des Urchristentums
nachzuweisen, teils ihn auf anderweitig zugestandene, nicht
aus dem christlichen Glauben erzeugte Sätze, die dann Philo-
sopheme sein werden, zurückzuführen.^)
Beides würde, wiewohl später und nicht in demselben MaGe, geschehen,
wenn auch kein Streit obwaltet ; denn zu jenem treibt schon der christ-
liche Gemeingeist, zu dem andern das Bedürfnis, sich von der Zusam-
menstimmung des zur Klarheit gekommenen frommen Selbstbewußt-
seins und der spekulativen Produktion zu überzeugen,
§ 181. Nur in einem krankhaften Zustande kann beides
so gegeneinander treten, daß die einen nicht wollen über die
ur christlichen Äußerungen hinaus die Lehre bestimmen, die
trachtet, kann man sich die Aufgabe stellen, eine innere, mit dem Wesen
des Christentums in Bezug stehende Gesetzmäßigkeit in seiner Entwicklung
aufzufinden.
^) S. 50. § 27. Völlig äußere Lebensverhältnisse können nicht den wahren
Grund enthalten zu wichtigen Entscheidungen im Gebiet des Lehrbegriffs.
2) § 28 [== § 177 der zweiten Auflage]. Die allmähliche Bildung
des Lehrbegriffs ist auf der einen Seite die fortschreitende Betrachtung
des christlichen Prinzips nach allen Beziehungen, auf der andern das Auf-
suchen des Ortes für die Aussagen des christlichen Gefühls in dem
geltenden philosophischen System.
§ 29 [= § 180 der zweiten Auflage]. Jenes endet in der De-
duktion aus dem Kanon, dieses in der Übereinstimmung mit zugestandenen
philosophischen Sätzen.
§ 181—184. Zweiter Abschnitt. 69
andern philosophische Sätze in die christliche Lehre ein-
führen, ohne auch nur durch Beziehung auf den Kanon nach-
weisen zu wollen, daß sie auch dem christlichen Bewußtsein
angehören.^)
Jene wirken hemmend anf die Entwicklung der Lehre, diese trüben und
verfälschen ebenso das Piinzip derselben.
§ 182. Die Änderungen, welche das Verhältnis beider
Richtungen erleidet, zu kennen, gehört wesentlich zum Ver-
ständnis der Entwicklung der Lehre.
Nur zu oft erhält man durch Verabsäumung solcher Momente nur eine
Chronik statt der Geschichte, und die theologische Abzweckung der
Disziplin geht ganz verloren.
§ 183. Eben so wichtig ist, Kenntnis zu nehmen von
dem Verhältnis in den Bewegungen der theoretischen Lehren
und der praktischen Dogmen, und, wo sie weit auseinander
gehen, ist es natürlich, die eigentliche Dogmengeschichte zu
trennen von der Geschichte der christlichen Sittenlehre.-)
Im ganzen ist allerdings die eigentliche Glaubenslehre durch vielfältigere
und heftigere Bewegungen gebildet worden; doch darf die entgegen-
gesetzte Richtung um so weniger übersehen werden.
§ 184. Bedenken wir, wieviel Hilfskenntnisse erfordert
^) S. 50. § 30. Da das Gleichgewicht beider Gesichtspunkte fast nirgends
gegeben ist: so ist darauf zu achten, wie der eine über den andern das
Übergewicht hat.
S. 51. § 31 [zu §§ 30 n. 31 vgl. § 182 der zweiten Auflage]. Es können
teils in derselben Zeit verschiedene Parteien in dieser Hinsicht einander
gegenüberstehn, teils auch verschiedene Zeiten durch ein Übergewicht des
einen*) über das andere sich unterscheiden.
§ 32. Das Bestreben, philosophische Systeme in die Theologie ein-
zuführen, pflegt mit der Anwendung einer richtigen Schriftauslegung im
Gegensatz zu stehen.
^) § 33. Man kann in der Entwicklung des Lehrbegriffs unter-
scheiden die Bildung der theoretischen und der praktischen Dogmen.
§ 34. Es unterscheiden sich, wiewohl im ganzen die praktische
Seite zurücksteht, immer Parteien oder Schulen, welche vorzüglich das eine
oder das andere betreiben,
[§ 35 siehe zu § 164, §§ 36-38 zu §§ 156—159 der zweiten Auflage.]
*) erg. etwa: Verfahrens.
70 Zweiter Teil. § 184—186.
werden, um diese verschiedenen Zweige der Kirchengescliichte
zu verfolgen: so ist dieses Gebiet offenbar ein unendliches,
und postuliert einen großen Unterschied zwischen dem, was
jeder inne haben muß, und dem, was (vgl § 92) nur durch
die Vereinigung aller Virtuosen gegeben ist.
Zu diesen Hilfskenntnisseu gehört, wenn alles im Zusammenhang- ver-
standen werden soll, die gesamte irgend zeitverwandte Gesehichtskunde,
und, wenn alles aus den Quellen entnommen werden soll, das ganze
betreffende philologische Studium und vornehmlich die diplomatische
Kritik.^)
§ 185. Im allgemeinen kann nur gesagt werden, daß
aus diesem unendlichen Umfang jeder Theologe dasjenige
inne haben muß, was mit seinem selbständigen Anteil an der
Kirchenleitung zusammenhängt.^)
Diese dem Anschein nach sehr beschränkte Formel setzt aber voraus,
daß jeder außer seiner bestimmten lokalen Tätigkeit auch einen allge-
meinen, wenn gleich in seinen Wirkungen nicht bestimmt nachzu-
weisenden Einfluß auszuüben strebt.
§ 186. Wie nun der jedesmalige Zustand, aus welchem
ein neuer Moment entwickelt werden soll, nur aus der ge-
samten Vergangenheit zu begreifen ist, zunächst aber doch
der letzten epochemachenden Begebenheit angehört: so ist
die richtige Anschauung von dieser, durch alle früheren
Hauptrevolutionen nach Maßgabe ihres Zusammenhanges mit
derselben deutlich gemacht, das erste Haupterfordernis.^)
*) S. 52. § 39. Hilfswissenschaften, um aus den Quellen zu einer ge-
schichtlichen Anschauung zu gelangen, sind das gesamte philologische
Studium, diejenige Kritik, welche über die Echtheit der Monumente ent-
scheidet, die historische Kritik überhaupt, und endlich die sämtliche übrige
Geschichte.
^) S. 53. § 40. Was aus dem unendlichen Gebiet der Kirchengeschichte
jeder Theolog inne haben muß, das läßt sich nur aus dem theologischen
Zweck beurteilen.
§ 41. Jeder muß also die Kirchengeschichte inne haben nach
Maßgabe des Interesses des gegenwärtigen Augenblicks.
^j § 42. Jeder letzte Augenblick, an den sich ein künftiger knüpfen
soll, ist vorzüglich gegründet in der letzten revolutionären Begebenheit.
§ 187—189. Zweiter Abschnitt. 71
Daß hier keine besondere Rücksicht darauf genommen werden kann, ob
der gegenwärtige Moment schon mehr die künftige Epoche vorbereitet,
liegt am Tage; denn dies selbst muß zunächst aus seinem Verhältnis
zur letzten beurteilt Averden.
§ 187. Damit aber dieses nicht eine Reihe einzelner
Eilcler ohne Zusammenhang bleibe, müssen sie verbunden
werden durch das nicht dürftig- ausgefüllte Netz (vgl. § 91)
der Hauptmomente aus jedem kirchengeschichtlichen Zweige
in jeder Periode.^)
Und dieses muß als Fundament selbständiger Tätigkeit auch ein
womöglich aus verschiedenartigen Darstellungen Zusammenge-
schautes sein.
§ 188. Zu einer lebendigen, auch als Impuls kräftigen,
g-eschichtlichen xlnschauung gedeiht aber auch dieses nur,
wenn der ganze Verlauf zugleich (vgl. § 150) als die Dar-
stellung des christlichen Geistes in seiner Bewegung auf-
gefaßt, mithin alles auf Ein Inneres bezogen wird.-)
Erst unter dieser Form kann die Kenntnis des Gesamtverlaufs auf die
Kirohenleitung einwirken.
§ 189. Jede lokale Einwirkung erfordert eine genauere
und, nach Maßgabe des Zusammenhanges mit der Gegenwart,
der Vollständigkeit annähernde Kenntnis dieses besonderen
Gebietes.-^)
Durch diese hat sich aber noch manches aus dem vorigen Zustande der
Euhe hinübergeschlichen, ja sie ist selbst in diesen gegründet usf., sodaß
die Kenntnis aller Hauptrevolutionen nach Maßgabe ihres Zusammenhanges
mit dem gegenwärtigen Augenblick das erste ist.
^) S. 53. § 43. Zwischen je zwei Epochen gibt es untergeordnete Haupt-
punkte, aus denen man erkennen kann, wie die Kraft von jeder ab- oder
zunimmt, und diese sind das zweite Unentbehrliche.
■2) S. 54. § 44. Der gemeinsame Geist und Charakter eines Zeitalters
kann nur fixiert werden in einem großen historischen Bilde. Wer sich
nicht ein solches von jedem Zeitalter entwerfen kann, der lebt nicht in der
Geschichte.
^) § 47. Es ist in der KirchengescMchte schiverer, als anderwärts, zu
treuen Darstellungen der Tatsachen zu gelangen. An geschichtlichen Kunst-
icerken mangelt es noch überall.
72 Zweiter Teil. § 190—19?.
Die Regel modifiziert sich von selbst nach dem Umfang der Lokalität^
indem die kleinste einer einzelnen Gemeine oft in dem Fall ist, eine-
besondere Geschichte nicht zu haben, sondern nur als Teil eines-
größeren Ganzen gelten zu können.
§ 190. Jeder muß auch wenigstens an einem kleinen
Teil der Geschichte sich im eigenen Aufsuchen und Gebrauch
der Quellen üben.^)
Sei es nun, daß er nur beim Studium genau und beharrlich auf die
Quellen zurückgehe, oder daß er selbständig aus den Quellen zusam-
mensetze. Sonst möchte einem schwerlich auch nur so viel historische
Kritik zu Gebote stehen, als zum richtigen Gebrauch abweichender Dar-
stellungen erfordert wird.
§ 191. Eine über diesen Maßstab hinausgehende Be-
schäftigung mit der Kirchengeschichte muß neue Leistungen
beabsichtigen.^)
Nichts ist unfruchtbarer, als eine Anhäufung von geschichtlichem Wissen^
welches weder praktischen Beziehungen dient, noch sich anderen in.
der Darstellung hingibt.
§ 192. Diese können sowohl auf Berichtigung oder Ver-
vollständigung des Materials, als auch auf größere Wahrheit
und Lebendigkeit der Darstellung gehen.^)
Die Mängel in allen diesen Beziehungen sind noch unverkennbar uni
leicht zu erklären.
§ 193. Das kirchliche Interesse und das Wissenschaft-
^) S. 55. § 49. Da das, was zum allgemeinen Bedarf gehört, zumeist nur
aus abgeleiteten Quellen kann geschöpft werden, und die Kritik historischer
Kompositionen, welche hiezu gehört, am besten durch eigne Übungen dieser
Art gewonnen wird: so sollte jeder wenigstens irgend einen kleinen Teil
der Kirchengeschichte aus den Quellen studieren, und so viel von den
Quellen eiues jeden Zeitalters gelesen haben, als nötig ist, um sich das
Totalbild desselben recht zu beleben.
2) S. 54. § 45. Was hierüber hinausgeht, gehört zu demjenigen Betrieb
der Kirchengeschichte, welcher auf die Vervollkommnung und Vollendung
der einzelnen Teile als solcher ausgeht.
^) § 46. Wer etwas als Virtuose in der Kirchengeschichte leisten
will, bezweckt entweder, Tatsachen aus den Quellen auszumitteln und zu
berichtigen, oder einen Zeitraum richtiger und eigentümlich darzustellen.
§ 193—195. Dritter Abschnitt. 73
liehe können bei der Beschäftigung mit der Kirchengeschichte
nicht in Widerspruch miteinander geratend)
Da wir uns bescheiden, für andere keine Eegeln zu geben, beschränken
wir den Satz auf unsere Kirche, welcher, als einer forschenden und
sich selbst fortbildenden Gemeinschaft, auch die vollkommenste Un-
parteilichkeit nicht zum Nachteil gereichen, sondern nur förderlich sein
kann. Darum darf auch das lebhafteste Interesse der evangelischen
Theologen an seiner Kirche doch weder seiner Forschung, noch seiner
Darstellung Eintrag tun. Und ebensowenig ist zu fürchten, daß die
Resultate der Forschung das kirchliche Interesse schwächen werden;
sie können ihm im schlimmsten Fall nur den Impuls geben, zur Be-
seitigung der erkannten UnvoUkommenheiten mitzuwirken.
§ 194. Die kirchengeschichtlichen Arbeiten eines jeden
müssen teils aus seiner Neigung hervorgehen, teils durch die
Gelegenheiten bestimmt werden, die sich ihm darbieten.-)
Ein lebhaftes theologisches Interesse wird immer die erste den letzten
; zuzuwenden, oder für erstere auch die letztere herbeizuschaffen wissen.
Dritter Abschnitt.
Die geschichtliche Kenntnis von dem gegenwärtigen
Zustande des Christentums.
§ 195. Wir haben es hier zu tun (vgl. § 94—97) mit
der dogmatischen Theologie, als der Kenntnis der jetzt in
der evangelischen Kirche geltenden Lehre, und mit der kirch-
^) S. 55. § 50. Das religiöse Interesse und das wissenschaftliche können
einander beim Studium der Kirchengeschichte nie in den Weg treten.
§ 51. Wenn die Liebe, mit welcher ein Betrachtender in einer
Kirchenpartei steht, rechter Art ist, kann sie nie blenden oder verfälschen.
S. 56. § 52. Die strenge Unparteilichkeit, welche der wissenschaftliche
Geist fodert, ist weder Indifferentismus, noch kann sie je einer Kirche
oder Partei zum Schaden gereichen.
2) S. 55. § 48. Die auf die Bereicherung der Wissenschaft Bezug habenden
Arbeiten eines jeden müssen ein gemeinsames Produkt seiner Neigung und
der Gelegenheiten sein, die sich im darbieten.
74 Zweiter Teil. § 195—196.
liehen Statistik, als der Kenntnis des gesellscliaftliclien Zu-
s tan des in allen verschiedenen Teilen der christlichen Kirche.^)
Der hier der dogmatischen Theologie angewiesene Ort, welche sonst auch
unter dem Namen der systematischen Theologie eine ganz andere
Stelle einnimmt, muß sich selbst vermittelst der weiteren Ausführung
rechtfertigen. Hier ist nur nachzuweisen, daß die beiden genannten
Disziplinen die Überschrift in ihrem ganzen Umfang erschöpfen. Dies
erhellt daraus, daß es eigentlich in der Kirche, wie sie ganz Gemein-
schaft ist, nichts zu erkennen gibt, was nicht ein Teil ihres gesell-
schaftlichen Zustandes wäre. Die Lehre ist nur aus diesem, weil ihre
Darstellung einer eigentümlichen Behandlung fähig und bedürftig ist,
herausgenommen. Dies konnte allerdings mit anderen Teilen des
gesellschaftlichen Zustandes auch geschehen; solche sind aber noch
nicht als theologische Disziplinen besonders bearbeitet. Kann aber in
Zeiten, wo die Kirche geteilt ist, (nach § 98) nur jede einzelne Kirchen-
gemeinschaft ihre eigene Lehre dogmatisch bearbeiten: so fragt sich,
wie kommt der evangelische Theologe zur Kenntnis der in andern
christlichen Kirchengemeinschaften geltenden Lehre, und welchen Ort
kann unsere Darstellung dazu anweisen? Am unmittelbarsten durch
die dogmatischen Darstellungen, welche sie selbst davon geben, die
aber für ihn nur geschichtliche Berichte werden. Der Ort aber in
unserer Darstellung ist die bis auf den gegenwärtigen Moment verfolgte
Geschichte der christlichen Lehre, für welche jene Darstellungen die
echten Quellen sind. Aber auch die Statistik kann bei jeder Gemein-
schaft einen besonderen Ort haben für die Lehre derselben.
I. Die dogmatische Theologie.
§ 196. Eine dogmatische Behandlung der Lehre ist
weder möglich ohne eigne Überzeugung, noch ist notwendig,
1) S. 56. § 1 [= § 198 a der zweiten Auflage]. Die zusammenfassende
Darstellung des letzten Moments in der geschichtlichen Kirche kann nur
zeigen wollen, in welchem Verhältnis bis dahin das Prinzip der laufenden
Periode sich nach allen Seiten hin entwickelt hat.
§ 2. Eben dieses Zweckes wegen darf auch hier die Trennung
in Verfassung und Lehrbegriff (IL Einl. 20) stattfinden; nur muß die Be-
ziehung beider auf einander nicht vernachlässigt werden.
§ 3. Diejenige theologische Disziplin, welche unter dem Namen
der thetischen oder dogmatischen Theologie bekannt ist, hat es eben zu
tun mit der zusammenhangenden Darstellung des in der Kirche jetzt grade
geltenden Lehrbegriffs.
§ 196—198. Dritter Abschnitt. 75
daß alle, die sich auf dieselbe Periode derselben Kirchen-
gemeinschaft beziehen, unter sich übereinstimmen.
Beides könnte man daraus schließen wollen, daß sie es nur (vgl. §§ 97
und 98) mit der zur gegebenen Zeit geltenden Lehre zu tun habe.
Allein wer von dieser nicht überzeugt ist, kann zwar über dieselbe,
und auch über die Art, wie der Zusammenhang- darin gedacht wird,
Bericht erstatten, aber nicht diesen Zusammenhang durch seine Auf-
stellung bewähren. Nur dieses letzte aber macht die Behandlung zu
einer dogmatischen; jenes ist nur eine geschichtliche, wie einer und
derselbe sie bei gehöriger Kenntnis auf die gleiche Weise von aUen
Systemen geben kann. — Die gänzliche Übereinstimmung aber ist in
der evangelischen Kirche deshalb nicht notwendig, weil auch zu der-
selben Zeit bei uns Verschiedenes nebeneinander gilt. Alles nämlich
ist als geltend anzusehen, was amtlich behauptet und vernommen
wird, ohne amtlichen Widerspruch zu erregen. Die Grenzen dieser
Differenz sind daher allerdings nach Zeit und Umständen weiter und
enger gesteckt.
§ 197. Weder eine bewährende Aufstellung- eines In-
"begriffs von überwiegend abweichenden und nur die Über-
zeugung des einzelnen ausdrückenden Sätzen würden wdr eine
Dogmatik nennen, noch auch eine solche, die in einer Zeit
auseinandergehender Ansichten nur dasjenige aufnehmen wollte,
worüber gar kein Streit obwaltet.^)
Das erste wird niemand in Abrede stellen. Aber auch die von da aus-
gehende Streitfrage, ob Lehrbücher wirklich für dogmatische gelten
können, welche über die geltende Lehre nur geschichthch berichten,
bewährend aber nur Sätze aufstellen, gegen welche amtlicher Einspruch
erhoben werden könnte, gereicht noch unserm Begriff zur Bestätigung.
— Eine lediglich irenische Zusammenstellung wird großenteils so dürftig
und unbestimmt ausfallen, daß es nicht nur, um eine Bewährung her-
vorzubringen, überall an den Mittelgliedern fehlen wird, sondern auch
an der nötigen Schärfe der Begriffsbestimmung, um der Darstellung
Vertrauen zu verschafien.
§ 198. Die dogmatische Theologie hat für die Leitung
der Kirche zunächst den Nutzen, zu zeigen, wie mannigfaltig
^) S. 57. § 4. Weder eine zusammenhangende Darstellung einer ab-
weichenden, bloß subjektiven Überzeugung, noch die Aufstellung einer so-
genannten biblischen Theologie, noch die geflissentliche friedliebende Be-
seitigung alles Streitigen entspricht jenem Begriff.
76 Zweiter Teil. § 198—200.
und bis auf welchen Punkt das Prinzip der laufenden Periode
sich nach allen Seiten entwickelt hat. und Avie sich dazu die
der Zukunft anheimfallenden Keime verbesserter Gestaltungen
verhalten. Zugleich gibt sie der Ausübung die Norm für
den volksmäßigen Ausdruck, um die Rückkehr alter Ver-
wirrungen zu verhüten und neuen zuvorzukommen.^)
Dieses Interesse der Ausübung fällt lediglich in die erhaltende Funktion
der Kirehenleitung, und ursprünglich hievon ist die allmähliche Bildung
der Dogmatik ausgegangen. Die Teilung des ersten erklärt sich aus-
dem, was über den Gehalt eines jeden Momentes im allgemeinen (vgl.
§ 91) gesagt ist.
§ 199. In jedem für sich darstellbaren Moment (vgL
§ 93) tritt das, was in der Lehre aus der letztvorangegangenen
Epoche herrührt, als das am meisten kirchlich Bestimmte auf^
dasjenige aber, wodurch mehr der folgenden Bahn gemacht
wird, als von einzelnen ausgehend.'-^)
Das erste nicht nur mehr kirchlich bestimmt, als das letzte, sondern auch
mehr, als das aus früheren Perioden mit Herübergenommene; das
letztere um so mehr nur auf einzelne zurückzuführen, je weniger noch
eine neue Gestaltung sich bestimmt ahnden läßt.
§ 200. Alle Lehrpunkte, welche durch das die Periode
dominierende Prinzip entwickelt sind, müssen unter sich zu-
sammenstimmen ; wogegen alle andern, solange man von ihnen
nur sagen kann, daß sie diesen Ausgangspunkt nicht haben,
als unzusammenhangende Vielheit erscheinen.^)
Das dominierende Prinzip kann aber selbst verschieden aufgefaßt sein, und
daraus entstehen mehrere in sich zusammenhangende, aber voneinander
verschiedene dogmatische Darstellungen, welche, und vielleicht nicht mit
1) [Zu § 198 a vgl. S. 56 § 1 der ersten Auflage.]
2) S. 57. § 5. Da jeder für sich de.rstellbare Moment (II. Einl. 30) zwischen
zwei Epochen liegt, so ist in demselben auch in Bezug auf den Lehrbegriff
teils das durch die erstere Gesetzte in der Kirche vorhanden, teils das die
letzte Vorbereitende.
§ 6. Das erste aber tritt auf überwiegend als das kirchlich Be-
stimmte, das letztere überwiegend als das von einzelnen Ausgehende.
^) § 7. Vergleichungsweise erscheint das erstere überall als sich
selbst gleich, als Einheit, das zweite als unter sich verschieden, als Vielheit.
§ 201—203. Dritter Abschnitt. 77
Unrecht, auf gleiche Kirchlichkeit Anspruch machen. — AVeun die
heterogenen vereinzelten Elemente zusammengehen, geben sie sich ent-
weder als eine neue Auffassung des schon dominierenden Prinzips zu
erkennen, oder sie verkündigen die Entwicklung eines neuen. ^)
§ 201. Wie zur vollständigen Kenntnis des Zustandes
der Lehre nicht nur dasjenige gehört, was in die weitere
Fortbildung wesentlich verflochten ist, sondern auch das, was,
wenn es auch als persönliche Ansicht nicht unbedeutend war,
doch als solche wieder verschwindet: so muß auch eine
umfassende dogmatische Behandlung alles in ihrer Kirchen-
gemeinschaft gleichzeitig Vorhandene verhältnismäßig berück-
sichtigen.-)
Der Ort hiezu muß sich immer finden, wenn in dem Bestreben, den auf-
gestellten Zusammenhang zu bewähren, Vergleichungen und Parallelen
nicht versäumt werden.
§ 202. Eine dogmatische Darstellung ist desto voll-
kommener, je mehr sie neben dem Assertorischen auch divina-
torisch ist.^)
In jenem zeigt sich die Sicherheit der eigenen Ansicht; in diesem die
Klarheit in der Auffassung des Gesamtzustandes.
§ 203. Jedes Element der Lehre, welches in dem Sinne
konstruiert ist, das bereits allgemein Anerkannte zusamt den
natürlichen Folgerungen daraus festzuhalten, ist orthodox;
jedes in der Tendenz Konstruierte, den Lehrbegriff beweglich
1) [§§ 8 u. 9 siehe zu § 208 der zweiten Auflage.]
^) S. 59. § 17. Zur vollständigen Kenntnis des gegenwärtigen Augefti-
l)licks gehört nicht nur dasjenige, was in die Zukunft hinübergenommen
wird und wesentlich in die weitere Fortbildung verflochten ist, sondern
auch dasjenige, was ebenso erzeugt, als rein persönliche Ansicht wieder
verschwindet.
§ 18. Da die Darstellung des Lehrbegriffs auch die Eichtung,
welche das Ganze als ein Bewegliches nimmt, bezeichnen soll, so muß sie
alles gleichzeitig Vorhandene verhältnismäßig berücksichtigen.
3) § 19. Keine Darstellung des Lehrbegriffs kann treu sein, die
nicht zugleich divinatorisch ist. Das Divinatorische ist desto reichhaltiger,
je weiter, und desto schwieriger, je näher der zu beschreibende Augenblick
dem Kulminationspunkte einer Periode liegt.
78 Zweiter Teil. § 203—206,
ZU erhalten und anderen Auffassungsweisen Eaum zu machen,
ist heterodox.^)
Es scheint zu eng, wenn man diese Ausdrücke ausschließlich auf das
Verhältnis der Lehrmeinungen zu einer aiifgestellteu Norm beziehen
will ; derselbe Gegensatz kann auch stattfinden, wo es eine solche nicht
gibt. Nach obiger Erklärung kann vielmehr aus der orthodoxen Eich-
tung erst das Symbol hervorgehen, und so ist es oft genug geschehen^
Was aber fremd scheinen kann an dieser Erklärung, ist, daß sie gar
nicht auf den Inhalt der Sätze an und für sich zurückgeht; und doch
rechtfertigt sich auch dieses leicht bei näherer Betrachtung.
§ 204. Beide sind, wie für den geschichtlichen Gang
des Christentums überhaupt, so auch für jeden bedeutenden
Moment als solchen, gleich wichtig.^)
Wie es bei aller Gleichförmigkeit doch keine wahre Einheit gäbe ohne
die ersten: so bei aller Verschiedenheit doch keine bewußte freie Be-
weglichkeit ohne die letzten.
§ 205. Es ist falsche Orthodoxie, auch dasjenige in der
dogmatischen Behandlung noch festhalten zu wollen, was in
der öffentlichen kirchlichen Mitteilung schon ganz antiquiert
ist, und auch durch den wissenschaftlichen Ausdruck keinen
stimmten Einfluß auf andere Lehrstücke ausübt.^)
Eine solche Bestimmung muß offenbar wieder beweglich gemacht, und
die Frage auf den Punkt zurückgeführt werden, wo sie vorher stand.
§ 206. Es ist falsche Heterodoxie, auch solche Formeln
in der dogmatischen Behandlung anzufeinden, welche in der
kirchlichen Mitteilung ihren wohlbegründeten Stützpunkt
^) S. 58. § 10. Jedes Element des Lehrbegriffs, welches in dem Sinn kon-
struiert ist, das bereits Bestehende und Fixierte zusamt seinen natürlichen.
Folgerungen festzuhalten, ist orthodox.
§ 11. Jedes Element, welches in dem Sinne konstruiert ist, den
Lehrbegriff beweglich zu erhalten und neue Darstellungen von dem Wesen,
des Christentums zu eröffnen, ist heterodox.
2) § 12. Beide sind für den geschichtlichen Gang des Christentums
und für jeden Moment, der darin Bedeutung haben soll, gleich wichtig.
3) S. 59. § 13. Auch dasjenige festhalten wollen im Lehrbegriff, was be-
reits antiquiert ist, und so die Fortschreitung hemmen, ist die falsche
Orthodoxie.
§ 206—208. Dritter Abschnitt. 79
haben, und deren wissenschaftlicher Ausdruck auch ihr Ver-
hältnis zu andern christlichen Lehrstücken nicht verwirrt.^)
Hierdurch wird also die knechtische Bequemlichkeit keinesweges gerecht-
fertigt, welche alles, woran sich viele erbauen, stehen lassen will,
wenn es sich auch mit den Grundlehren unseres Glaubens nicht
verträgt.
§ 207. Eine dogmatische Darstellung für die evangelische
Kirche wird beiderlei Abweichungen vermeiden, und ungeachtet
der von uns in Anspruch genommenen Beweglichkeit des Buch-
staben doch können in allen Hauptlehrstücken orthodox sein ;
aber auch, ungeachtet sie sich nur an das Geltende hält,
doch an einzelnen Orten auch Heterodoxes in Gang bringen
müssen.^)
Das hier Aufgestellte wird, wenn diese Disziplin sich von ihrem Begriff
aus gleichmäßig entwickelt, immer das natürliche Verhältnis beider
Elemente sein, und sich nur ändern müssen, wenn lange Zeit eines
von beiden Extremen geherrscht hat.
§ 208. Jeder auf einseitige "Weise neuernde oder das
Alte verherrlichende Dogmatiker ist nur ein unvollkommenes
Organ der Kirche, und wird von einem falsch heterodoxen
Standpunkt aus auch die Sachgemäßeste Orthodoxie für falsche
erklären, und von einem falsch orthodoxen aus auch die leiseste
und unvermeidlichste Heterodoxie als zerstörende Neuerung
bekriegen.^)
') S. 59. § 14. Alles beweglich machen wollen, ohne selbst das Wesent-
liche des Christentums und seiner laufenden Periode zu schonen, zerstört
die Einheit der geschichtlichen Erscheinung und ist die falsche Heterodoxie.
§ 15 [vgl. § 208 b der zweiten Auflage]. Jeder in einer Eela-
tivität Befangene steht in Gefahr, was zum Wahren und Falschen der ent-
gegengesetzten gehört, zu verwechseln.
^) § 16. Jede treue und den Zustand der Kirche wirklich um-
fassende Darstellung des Lehrbegriffs muß in ihrem Fundament und Haupt-
gebäude orthodox sein, eben so notwendig aber auch in einzelnen Teilen
einzelnes Heterodoxe enthalten.
[§§ 17—19 siehe zu §§ 201 f. der zweiten Auflage.]
^) S. 58. § 8. Je mehr noch das Prinzip der frühern Epoche im Entwickeln
80 Zweiter Teü. § 209—210.
Diese Schwaukungen sind es vornelimlicli, welche bis jetzt fast immer
verhinderten, daß die dogmatische Theologie der evangelischen Kirche
sich nicht in einer ruhigen Fortschreitung entwickeln konnte.
§ 209. Jeder in die dogmatische Zusammenstellung auf-
genommene Lehrsatz muß die Art, wie er bestimmt ist, be-
währen, teils durch unmittelbare oder mittelbare Zurück-
führung seines Geh altes auf den neutestamentischen Kanon,
teils dui'ch die Zusammenstimmung des wissenschaftlichen
Ausdrucks mit der Fassung verwandter Sätze. ^)
Alle Sätze aber, auf welche in diesem Sinn zurückgegangen wird, unter-
liegen derselben Regel ; sodaß es hier keine andere Unterordnung gibt,
als daß diejenigen Sätze am wenigsten beider Operationen bedürfen, für
welche der volksmäßige, der schriftmäßige und der wissenschaftliche Aus-
druck am meisten identisch sind, sodaß jeder Glaubensgenosse sie gleich an
der Gewißheit seines unmittelbaren frommen Selbstbewußtseins bewährt.
— Diese Unterscheidung wird wohl zurückbleiben von der, wie sie ge-
wöhnlich gefaßt wurde, schon als antiquiert zu betrachtenden, von
Fundamentartikeln und anderen.
§ 210. Wenn sich die Behandlung des Kanon bedeutend
ändert, muß sich auch die Art der Bewährung einzelner
Lehrsätze ändern, ungeachtet ihr Inhalt unverändert derselbe
bleibt.-^)
Das orthodoxe dogmatische Interesse darf niemals den exegetischen Unter-
suchungen in den Weg treten oder sie beherrschen; aber das Weg-
fallen einzelner sogenannter Beweisstellen ist auch an und für sich kein
Zeugnis gegen die Richtigkeit eines geltenden Lehrsatzes. Wogegen
begriffen ist, um desto weniger können sich die Elemente bemerklich
machen, welche die folgende vorbereiten,
S. 58. § 9. Jeder ganz oder partiell den Lehrbegriff Aussprechende, der
sich in der Relativität für eines von beiden befindet, ist nur ein unvoll-
kommenes Organ der Kirche.
^) S. 60. § 20. Jedes in der Darstellung aufgenommene Element muß
die Art, wie es bestimmt ist, bewähren, am Kanon sowohl, als an der
Spekulation.
[§§ 21—24 siehe zu §§ 211 f. der zweiten Auflage.]
2) S. 61. § 25. Wenn die Behandlung des Kanon sich ändert, muß sich
auch die Art der Bewährung einzelner Teile des Lehrbegriffs ändern, ohne
jedoch, daß sie selbst sich änderten.
§ 211—213. Dritter Abschnitt. 81
fort geltende kanonisclie Bewährung einem Lehrsatz Sicherheit gewähren
muß gegen die heterodoxe Tendenz.
§ 211. Für Sätze, welche den eig-entümlichen Charakter
der gegenwärtigen Periode bestimmt aussprechen, kann das
Zurückführen auf das Symbol die Stelle der kanonischen Be-
währung vertreten, wenn wir ans die damals geltende Aus-
legung noch aneignen können.^)
In diesen Fällen wird es auch ratsam sein, die Übereinstimmung mit
dem Symbol hervorzuheben, um diese Sätze bestimmter von anderen
(vgl. §§ 199, 200, 203) zu unterscheiden. Dasselbe gilt aber keines-
weges für Sätze, welche aus früheren Perioden durch reine Wieder-
holung in das Symbol der laufenden herübergenommen sind.
§ 212. Da der eigentümliche Charakter der evangelischen
Kirchenlehre unzertrennlich ist von dem durch den Ausgang
der Reformation erst fixierten Gegensatz zwischen der evan-
gelischen und römischen Kirche: so ist auch jeder auf unsere
Symbole zurückzuführende Satz nur insofern vollständig be-
arbeitet, als er den Gegensatz gegen die korrespondierenden
Sätze der römischen Kirche in sich trägt.-)
Denn weder ein Satz, in Beziehung auf welchen der Gegensatz unserer-
seits schon wieder aufgehoben wäre, noch einer, dem dieser Gegensatz
fremd wäre, könnte hinreichende Bewährung in der Beziehung auf das
Symbol finden.
§ 213. Der streng didaktische Ausdruck, welcher durch
die Zusammengehörigkeit der einzelnen Formeln dem dogma-
tischen Verfahren seine wissenschaftliche Haltung gibt, ist
^) S. 60. § 21. Was in Bezug auf das Ganze und den ersten Anfang der
Kanon ist, das ist in Bezug auf die laufende Periode und ihren Anfang
-das Symbol.
§ 22. Die Bewährung der orthodoxen Elemente des Lehrbegriffs
-am Kanon ist vermittelt durch die am Symbol.
^) S. 61. § 23. Die letzte Epoche in der Geschichte des Christentums ist
die Keformation, durch welche sich der Gegensatz zwischen Protestanten
und Katholiken festgestellt hat.
§ 24. Die Beziehung beider Parteien auf einander muß bei der
Darstellung überall ins Auge gefaßt werden.
Schleiemi.. Th. St. 6
82 Zweiter Teil. § 213—216.
abhängig" von dem jedesmaligen Zustand der philosophischen
Disziplinen.^)
Teils wegen des logischen Verhältnisses der Formeln zu einander, teils
weil viele Begriffsbestimmungen auf psychologische und ethische Ele-
mente zurückgehen.
§ 214. Das dialektisciie Element des Lehrbegriffs kann
sich an jedes philosophische Sj'stem anschließen, welches nicht
das religiöse Element, entweder überhaupt, oder in der be-
sonderen Form, welcher das Christentum zunächst angehören
will, durch seine Behauptungen ausschließt oder ableugnet.^)
Daher alle entschieden materialistischen und sensualistischen Systeme, di&
man aber wohl schwerlich für wahrhaft philosophisch gelten lassen
wird — und alle eigentlich atheistischen werden auch diesen Cha-
rakter haben — nicht für die dogmatische Behandlung zu brauchen
sind. Noch engere Grenzen im allgemeinen ^zu ziehen, ist schwierig.
§ 215. Einzelne Lehren können daher sowohl in gleich-
zeitigen dogmatischen Behandlungen verschieden gefaßt sein^
als auch zu verschiedenen Zeiten verschieden lauten, während
in beiden Fällen ihr religiöser Gehalt keine Verschiedenheit
darbietet.^)
Wegen Verschiedenheit der gleichzeitig bestehenden oder aufeinander
folgenden Schulen und ihrer Terminologien, Solche Differenzen werden
aber auch nur durch IVIißverständnis Gegenstand eines dogmatischen
Streites.
§ 216. Ebenso kann ein Schein von Ähnlichkeit ent-
stehen zwischen Sätzen, deren religiöser Gehalt dennoch mehr
oder weniger verschieden ist.
Nicht nur kann sich im einzelnen die Differenz verschiedener theologi-
scher Schulen derselben Kirche verbergen hinter der Identität der
1) S. 61. § 26 [vgl. auch §§ 215 u. 216 der zweiten Auflage]. Durch Be-
ziehung auf verschiedene philosophische Systeme entsteht ein verschiedener
Ausdruck der einzelnen Lehren, ohne daß die Identität der ursprünglichen
religiösen Affektiou des Gemütes, welche durch die Lehre repräsentiert
werden soll, dadurch aufgehoben würde.
2) § 27. An jedes wahrhaft philosophische System kann sich die
Darstellung des Lehrbegriffs anschließen.
3) [Zu §§ 215 u. 216 vgl. auch S. 61 § 26 der ersten Auflage.]
§ 217—219. Dritter Abschnitt. 83
wissenschaftlichen Terminologie, sondern auch protestantische und ka-
tholische Sätze, zumal bei einiger Entfernung von den symbolischen
Hauptpunkten, können gleichbedeutend erscheinen,
§ 217. Die protestantische dogmatische Behandlung muß
danach streben, das Verhältnis eines jeden Lehrstücks zu
dem unsere Periode beherrschenden Gegensatz zum klaren
Bewußtsein zu bringen.
Dies ist ein nur auf diesem Wege zu befriedigendes Bedürfnis der Kir-
chenleitung, in welches unrichtige Vorstellungen von dem Zustande
dieses Gegensatzes, ob und wo er durch Annäherung beider Teile schon
im Verschwinden begriffen sei, oder umgekehrt, ob und wo er sich erst
bestimmter zu entwickeln anfange, die schwierigsten Verwirrungen
hervorbringen muß.
§ 218. Die dogmatische Theologie ist in ihrem ganzen
Umfang ein Unendliches, und bedarf einer Scheidung des Ge-
bietes besonderer Virtuosität und des Gemeinbesitzes.^)
Dieser bezieht sich aber natürlich nur auf den Umfang des zu ver-
arbeitenden Stoffes, nicht auf die Sicherheit und Stärke der Überzeugung,
oder auf die Art, wie diese gewonnen wird.
§ 219. Von jedem evangelischen Theologen ist zu ver-
langen, daß er im Bilden einer eignen Überzeugung be-
griffen sei über alle eigentlichen Örter des Lehrbegriffs, nicht
nur so, wie sie sich aus den Prinzipien der Reformation an
sich und im Gegensatz zu den römischen Lehrsätzen ent-
wickelt haben, sondern auch, sofern sich Neues gestaltet hat,
dessen für den Moment wenigstens geschichtliche Bedeutung
nicht zu übersehen ist.-)
1) S. 62. § 28. Da der Lehrbegriif der Kirche aus den Meinungen ein-
zelner entsteht, und in demselben immer durchgehende und bleibende Ele-
mente mit einander verbunden sind : so ist auch die Kenntnis seines jedes-
maligen Zustandes ein Unendliches, in welchem die Gebiete des allgemeinen
Besitzes und der besonderen Virtuosität zu unterscheiden sind.
2) § 29. Zu dem allgemeinen Gebiet gehört die vollständige Kennt-
nis alles desjenigen im Lehrbegriff beiden Kirchenparteien, was sich auf
das Prinzip der letzten Epoche bezieht, und die Kenntnis desjenigen Neuen,
woran man erkennen kann, daß es von geschichtlicher Bedeutung ist.
r§ 30 ff. siehe zu §§ 222 ff. der zweiten Auflage.]
6*
84 Zweiter Teil. § 220—221.
Unter einem Ort verstehe ich einen solchen Satz oder Inbegriff von
Sätzen, welche teils im Kanon und Symbol einen bestimmten Sitz
haben, teils nicht übergangen werden können, ohne daß andere von
demselben Umfang und Wert dunkel und unverständlich werden. —
Der Ausdruck ,Im Bilden der Überzeugung begriffen sein' schließt keines-
weges einen skeptischen Zustand ein, sondern nur das dem Geist
unserer Kirche wesentliche innere Empfänglichbleiben für neuere Unter-
suchungen, insofern teils die Behandlung des Kanon sich ändern, teüs
eine andere Quelle für den dogmatischen Sprachgebrauch sich eröffnen
kann. Auch bezieht diese Forderung sich zunächst nicht auf den
Glauben, so wie er ein Gemeingut der Christen ist, sondern auf die
streng didaktische Fassung der Aussagen über denselben.
§ 220. Das dogmatische Studium muß daher beginnen
mit der Auffassung und Prüfung einer oder mehrerer streng
zusammenhängender Darstellungen des kirchlich Festgestellten,
als weiterer Ausbildung der ihrer Natur nach nur fragmen-
tarischen Symbole.^)
Dogmengeschichte muß dabei, wenn auch nur so, wie auch der Laie die
Grundzüge davon inne haben kann, notwendig vorausgesetzt werden.
— Man unterscheide übrigens und stelle zusammen solche Darstellungen,
welche ihre Sätze überwiegend aus dem symbolischen Buchstaben ent-
wickeln, und solche, welche dem Geist der Symbole treu zu bleiben
behaupten, wenn sie auch ihren Buchstaben ebenfalls der Kritik unter-
werfen.
§ 221. In Bezug auf das Neue, aus dem Symbol nicht
Verständliche, muß, inwiefern es in dieses Gebiet gehöre, zu-
nächst die Betrachtung entscheiden, ob mehreres auf einen
gemeinsamen Ursprung zurückweist und eine gemeinsame Ab-
zweckung verrät.^)
^) S. 64. § 40. Da der Lehrbegriff als ein Ganzes soll angeschaut werden
und die Konsequenz weit leichter auffällt an dem mehr Entwickelten: so
muß das Studium des gegenwärtigen Zustandes des Lehrbegriffs anfangen
mit einer streng zusammenhangenden Darstellung des kirchlichen Fixierten,
als weiterer Ausbildung der ihrer Natur nach nur fragmentarischen Symbole.
2) S. 65. § 41, Bei der Kenntnis des Neuen, aus dem Symbol Verständ-
lichen, muß man sich gleich die Aufgabe stellen, eine gemeinsame Haltung
und Abzweckung darin zu finden.
§ 222—223. Dritter Abschnitt. 85
Denn je mehr dies der Fall ist, um desto sicherer kann ein geschicht-
liches Eingreifen solcher Ansichten vermutet werden.
§ 222. Genaue Kenntnis aller gleichzeitigen Behandlungs-
weisen und schwebenden Streitfragen, sowie aller gewagten
Meinungen, und festes Urteil über Grund und Wert dieser
Formen [Formeln?] und Elemente bilden das Gebiet der
dogmatischen Virtuosität.^)
Das feste Urteil ist zu verstehen mit Vorbehalt der frischen Empfäng-
lichkeit (vgl. § 218), die dem Meister nicht minder notwendig ist, als
dem Anfänger, — Unter gewagten Meinungen sind nicht nur die
ephemeren Erscheinungen launenhafter und ungeordneter Persönlich-
keiten zu verstehen, sondern auch alles, was als eigentlich krankhaft
auf antichristliche oder mindestens antievangelische Impulse zu redu-
zieren ist und Gegenstand der polemischen Ausübung wird.^)
§ 223. In der bisherigen Darstellung ist auf die jetzt
überwiegend übliche Teilung der dogmatischen Theologie in
die Behandlung der theoretischen Seite des Lehrbegriffs, oder
die Dogmatik im engeren Sinn, und in die Behandlung der
praktischen Seite, oder die christliche Sittenlehre, um so weniger
Rücksicht genommen, als diese Trennung nicht als wesentlich
angesehen werden kann ; wie sie denn auch weder überhaupt,
noch in der evangelischen Kirche etwas Ursprüngliches ist.^)
Weder die Bezeichnungen theoretisch und praktisch, noch die Ausdrücke
^) S. 65. § 42. Ebenso ist für das, was sich als krankhaft zu erkennen
gibt, ein in dem Geist des Zeitalters liegendes antichristliches oder irreligiöses
Prinzip aufzusuchen.
2) S. 62. § 30. Zur besondern Virtuosität gehört die genaue Kenntnis
aller einzelnen Streitigkeiten und gewagten Meinungen, auch diejenigen
[derjenigen?], welche wieder verschwinden, ohne für sich allein in die Ge-
schichte eingegriffen zu haben.
3) § 31 [vgl. § 230 der zweiten Auflage]. Alles bisher (3—30) Ge-
sagte gilt gleich sehr von der theoretischen Seite des Lehrbegriffs, der
christhchen Glaubenslehre oder Dogmatik im engern Sinne, und von seiner
praktischen, der christlichen Sittenlehre.
S. 63. § 32. Beide sind nicht von Anfang her getrennte Disziplinen
gewesen, stehen auch nicht immer mit einander im Gleichgewicht, weder
der innem Ausbildung, noch der äußeren Darstellung.
86 Zweiter Teil. § 224—225.
Glaubens- und Sittenlehre sind völlig genau. Denn die christlichen
Lehensregeln sind auch theoretische Sätze, als Entwicklungen von dem
christlichen Begriff des Guten; und sie sind nicht minder Glaubens-
sätze, wie die eigentlich dogmatischen, da sie es mit demselben
christlich frommen Selbstbewußtsein zu tun haben, nur so, wie es sich
als Antrieb kundgibt. — Wenn nun gleich nicht geleugnet werden
kann, daß die vereinigte Behandlung beider einer in vieler Hinsicht
unvollkommenen Periode der theologischen Wissenschaften angehört:
so läßt sich doch eine fortschreitende Verbesserung auch dieses Ge-
bietes sehr wohl ohne eine solche Trennung denken.
§ 224. A¥enn die Trennung beiderlei Sätzen den Vorteil
gewährt, leichter in ihrer Zusammengehörigkeit aufgefaßt zu
werden: so hat sie der christlichen Sittenlehre noch den be-
sonderen Vorteil gebracht, daß sie nun eine ausführlichere
Behandlung erfährt.^)
Das letztere ist indes nicht wesentlich eine Folge der Trennung. Denn
es läßt sich auch eine vereinigte Behandlung denken in umgekehrtem
Verhältnis, als wirklich früher stattgefunden hat; und dann würde
derselbe Vorteil auf Seiten der Dogmatik gewesen sein. Dem ersten
steht gegenüber, daß eine wohlgeordnete, lebendige Vereinigung beider
eine vorzügliche Sicherheit dagegen zu gewähren scheint, daß die
eigentlichen dogmatischen Sätze nicht so leicht sollten in geistlose
Formeln, noch die ethischen in bloß äußerliche Vorschriften ausarten
können,
§ 225. Aus der Teilung des Gebietes kann sehr leicht
die Meinung entstehen, als ob bei ganz verschiedener Auf-
fassung der Glaubenslehre doch die Sittenlehre auf dieselbige
Weise könnte aufgefaßt werden und umgekehrt.
Dieser Irrtum ist in unser kirchliches Gemeinwesen schon sehr tief
eingedrungen, und ihm kann nur von der wissenschaftlichen Behand-
lung aus wirksam entgegengearbeitet werden.
^) S. 63. § 83. Je weniger eine genaue Korrespondenz in der Organisation
der theoretischen und praktischen Philosophie zu Tage liegt; je weniger
im Leben selbst die spekulativen Meinungen auch die Lebensweise be-
stimmen oder von ihr bestimmt werden; endlich, je weniger gleichförmig
nach beiden Seiten das Prinzip der letztvergangenen oder nächstkünftigen
Epoche sich ausbildet : um desto zweckmäßiger ist die Trennung beider Seiten
des Lehrbegriffs in zwei verschiedene Disziplinen.
§ 226—228. Dritter Abschnitt. 87
§ 226. Die TeiluDg findet eine große Rechtfertigung
sowohl darin, daß die Bewährung aus dem Kanon und
Symbol sich bedeutend anders gestaltet bei den ethischen
Sätzen, als bei den dogmatischen, als auch darin, daß die
Terminologie für die einen und die andern aus verschiedenen
wissenschaftlichen Gebieten herstammt.
Wir haben zwar in dieser Beziehung' die theologischen Wissenschaften
überhaupt auf die Ethik und die von ihr abhängigen Disziplinen
zurückgeführt; betrachten wir aber die dogmatische Theologie ins-
besondere, so rührt doch die Terminologie der eigentlichen Glaubens-
lehre großenteils aus der philosophischen Wissenschaft her, die unter
dem Namen rationaler Theologie ihren Ort in der Metaphysik hatte,
wogegen die christliche Sittenlehre überwiegend nur aus der Pflichten-
lehre der philosophischen Ethik schöpfen kann,^)
§ 227. Die Trennung beider Disziplinen hat auch ein
verkehrtes eklektisches Verfahren erzeugt, indem man meinte,
ohne Nachteil bei der christlichen Sittenlehre auf eine andere
philosophische Schule zurückgehen zu dürfen, als bei der
Glaubenslehre. ^)
Man darf sich nur die Möglichkeit einer ungeteilten Behandlung der dog-
matischen Theologie vergegenwärtigt haben, um dies schlechthin un-
statthaft zu finden.
§ 228. Die abgesonderte Behandlung ist desto sach-
gemäßer, je ungleichförmiger auf beiden Seiten der Verlauf
^er Periode in Bezug auf die Entwicklung des Prinzips und
die Spannung des Gegensatzes entweder wirklich gewesen ist,
oder je weniger gleichmäßig doch die wissenschaftliche Be-
trachtung dem wirklichen Verlauf gefolgt ist.^)
^) S. 63. § 34. Die theoretische Seite des Lehrbegriffs verhält sich zur
rationalen Theologie, wie die praktische Seite zur Pflichtenlehre der ratio-
nalen Ethik.
§ 35. Was sich für rationale Theologie ausgibt, ist oft nur Dog-
matik, und was für rationale Ethik, oft nur religiöse Moral: beides mit
Absonderung des eigentümlich Christlichen.
2) S. 64. § 36. Die theoretische und praktische Seite des Lehrbegi'iffs
können nicht ohne gänzliche Ertötung auf verschiedenartige philosophische
Systeme bezogen werden.
'^) § 37. Der kirchliche Gegensatz der jetzigen Periode hat sich
88 Zweiter Teil. § 229—231.
Man würde vielleicht mit Unrecht behaupten, daß in Bezug auf die
Sittlichkeit selbst der Gegensatz zwischen Protestantismus und Ka-
tholizismus minder entwickelt sei, als in Bezug auf den Glauben; aber
daß er in unsern christlichen Sittenlehren bei weitem nicht so ausge-
arbeitet ist, als in unserer Dogmatik, scheint unleugbar.
§ 229. Viele Bearbeitungen der christlichen Sittenlehre
lassen unleugbar von dem Typus einer theologischen Dis-
ziplin nur wenig durchschimmern, und sind von philosophischen
Sittenlehren wenig zu unterscheiden.^)
Daß dies von dem nachteiligsten Einfluß auf die Kirchenleitung sein muß^
leuchtet ein. Bei einer ungeteilten Behandlung könnte sich für die
sittenlehrigen Sätze ein solches Resultat nicht gestalten, es müßte
denn auch die Glaubenslehre ihren Charakter verleugnen.
§ 230. Die abgesonderte Behandlung beider Zweige der
dogmatischen Theologie wird desto unverfänglicher sein, j&
vollständiger alles von §§ 196 — 216 Gesagte auch auf die
christliche Sittenlehre angewendet wird, und je mehr man in
jeder von beiden Disziplinen den Zusammenhang mit der
andern durch einzelne Andeutungen wiederherstellt.-)
Das erste kann hier nicht besonders ausgeführt werden; die Möglichkeit
des letzten erhellt aus dem zu § 224 Gesagten.
§ 231. Wünschenswert bleibt immer, daß auch die un-
geteilte Behandlung sich von Zeit zu Zeit wieder geltend
mache. ^)
Nur bei einer sehr großen Ausführlichkeit möchte dies kaum möglich;
sein, ohne daß die Masse alle Form verlöre.
auf der praktischen Seite des Lehrbegriffs für jetzt noch nicht so stark
ausgeprägt, als auf der theoretischen.
^) S. 64. § 38. Je mehr Wissenschaft und bürgerliches Lehen in der
Mealität getrennt sind, um desto iveniger bestimmen sich auch Lehr^
meinungen und Maximen gegenseitig.
2) § 39. Wenn auch beide Seiten des Lehrbegriffs als besondere
Disziplinen behandelt werden, so entsteht desto notwendiger die Aufgabe,,
bei jedem einzelnen Satz der einen auf das, was sich daraus für die andere
ergibt, zurückzuweisen.
') [§§ 40-42 siehe zu §§ 220 f. der zweiten Auflage.]
§ 232—234. Dritter Abschnitt. 89
IL Die kirchliche Statistik.
§ 232. In dem Gesamtzustand einer kirchlichen Gesell-
schaft unterscheiden wir die innere Beschaffenheit und die
äußeren Verhältnisse, und in der ersten wieder den Gehalt,
der sich darin nachweisen läßt, und die Form, in welcher sie
besteht. 1)
Manches scheint allerdings eben so leicht nnter die eine, als unter die
andere Hauptabteilung gebracht werden zu können, immer aber doch
in einer andern Beziehung, sodaß dies der Eichtigkeit der Einteilung
keinen Eintrag tut.
§ 233. Die Aufgabe umfaßt in Zeiten, wo die christliche
Kirche nicht äußerlich eines ist, alle einzelnen Kirchengemein-
schaften. ^)
Jede ist dann für sich zu betrachten, und die Verhältnisse einer jeden
zu den übrigen finden von selbst ihren Ort in der zweiten Hälfte.
— Aber auch wenn einzelne Kircheugemeinschaften nicht bestimmt
voneinander geschieden wären, würden doch einzelne Teile der Kirche
sich sowohl ihrer inneren Beschaffenheit, als ihren Verhältnissen nach
so sehr von andern unterscheiden, daß Einteilungen dennoch müßten
gemacht werden.
§ 234. Der Gehalt einer kirchlichen Gemeinschaft in
einem gegebenen Zeitpunkt beruht auf der Stärke und Gleich-
mäßigkeit, w^omit der eigentümliche Gemeingeist derselben
die ganze ihr zugehörige Masse durchdringt.^)
^) S, 65. § 43. Die Kenntnis des gegenwärtigen Zustandes der Kirche,
oder die kirchliche Statistik, hat vorzüglich zu betrachten die religiöse Ent-
wicklung, die kirchliche Verfassung und die äußeren Verhältnisse der
Kirche im gesamten Gebiet der Christenheit.
2) § 44. Wenn durch das Entwickluugsprinzip einer Periode ein
Gegensatz mehrerer Kirchenparteien sich gebildet hat : so ist jeder in allen
diesen Beziehungen auch ein eigner Gang während dieser Periode vorge-
zeichnet, und daher jede Partei für sich und in Vergleichung mit den
andern zu betrachten.
^) S. 66. § 45. Das Maß und die Art der religiösen Entwicklung bestimmt
sich teils nach dem Verhältnis, in welchem der Lehrbegriff zu dem reli-
giösen Bewußtsein der Gemeinheit steht, teils nach dem, in welchem sich
90 Zweiter Teil. § 235—237.
Zunächst also und im allgemeinen der Gesundheitszustand derselben in
Bezug auf Indifferentismus und Separatismus (vgl. §§ 56 u. 57), Dieser
wird aber erkannt einerseits aus den Entwicklungsexpouenten des
Lehrbegriffs mit Küeksicht auf die Einstimmigkeit oder Mannigfaltig-
keit der Resultate und auf das Interesse der Gemeinde an dieser
Funktion, andererseits aus dem Einfluß des kirchlichen Gemeingeistes auf
die übrigen Lebensgebiete, und aus der Manifestation desselben in dem
gottesdienstlichen Leben.
§ 235. Je größere Diiferenzen sich hierüber in weit ver-
breiteten Kirchengemeinschaften vorfinden, nm desto zweck-
widriger ist es, bei bloßen Durchschnittsangaben sich zu be-
gnügen.
Das Lehrreichste für die Kirchenleitung würde verloren gehen, wenn
nicht die am meisten verschiedenen Massen in Bezug auf die wich-
tigsten in Betracht kommenden Punkte miteinander verglichen
würden.
§ 236. Das Wesen der Form, unter welcher eine Kirchen-
gemeinschaft besteht, oder ihrer Verfassung, beruht auf der
Art, wie die Kirchenleitung organisiert ist, und auf dem Ver-
hältnis der Gesamtheit zu denen, welche an der Kirchen-
leitung teilnehmen, oder zu dem Klerus im weiteren Sinn.^)
Die große Mannigfaltigkeit der Verfassungen macht es notwendig, sie
unter gewisse Hauptgruppen zu verteilen, wobei aber Vorsicht zu
treffen ist, sowohl, daß man nicht zu viel Gewicht auf die Analogie
mit den politischen Formen lege, als auch, daß man nicht über den
allgemeinen Charakteren die spezifischen Differenzen übersehe.^)
§ 237. Die Darstellung der iunern Beschaffenheit ist
desto vollkommner, je mehr Mittel sie darbietet, den Einfluß
im Leben das religiöse Prinzip jeder Partei zu den herrschenden sinnlichen
Motiven findet.
S. 66. § 46. Die Unterabteilungen sind also hier zu bestimmen nach
der Verschiedenheit der gemeinschaftlich großen Massen einwohnenden
Sinnesart.
^) § 47. Das Wesen Jeder kirchlichen Verfassung drückt sich aus
durch das Verhältnis, in welchem Laien und Klerus gegeneinander stehen.
2) § 48. Da hier die Analogie mit den politischen Verhältnissen
besonders heraustritt, so bestimmen sich auch nach diesen die Unter-
abteüungen.
§ 237—240. Dritter Absehuitt. 91
der Verfassung auf den inneren Zustand, und umgekehrt,
richtig zu schätzen.
Denn dies hängt mit der größten Aufgabe der Kirchenleitimg zusammen,
und ohne diese Beziehung bleiben alle hieher gehörigen Angaben nur
tote Notizen, wie alle statistischen Zahlen ohne geistvolle Kombination.
§ 238. Die äußeren Verhältnisse einer Kirchengemein-
schaft, die nur Verhältnisse zu andern Gemeinschaften sein
können, sind teils die zu gleichartigen, nämlich sowohl die
des Christentums und einzelner christlichen Gemeinschaften zu
den außerchristlichen, als auch die der christlichen Kirchen-
gemeinschaften zu einander, teils die zu ungleichartigen, und
hierunter vornehmlich zu der bürgerlichen Gesellschaft und
2ur Wissenschaft im ganzen Umfang des Wortes.^)
Wir betrachten die letzte als eine Gemeinschaft schon deshalb, weil die
Sprache alle wissenschaftliche Mitteilung bedingt, und jede doch ein
besonderes Gemeinschaftsgebiet bildet, sodaß die Verhältnisse derselben
Kirchengemeinschaft ganz verschieden sein können in verschiedenen
Sprachgebieten.
§ 239. Jede Kirchengemeinschaft steht mit den sie be-
rührenden in einem Verhältnis der Mitteilung sowohl, als der
Gegenwirkung, welche auf das mannigfaltigste können ab-
^•estuft sein vom Maximum des einen zum Minimum des andern
bis umgekehrt.
Unter Berührung soll nicht etwa nur lokales Zusammenstoßen verstanden
werden, sondern jede Art von Verkehr. Gegenwirkung aber ist, auch
abgesehen von aller nach außen gehenden Polemik, teils durch das
gemeinsame Zurückgehen auf den Kanon, teils durch die von außen
anbildende Tätigkeit, die nicht als gänzlich fehlend angesehen werden
kann, bedingt.
§ 240. Das Verhältnis kirchlicher Gemeinschaften zu
eigentümlichen Ganzen des Wissens schwankt zwischen den
beiden Einseitigkeiten: der, wenn die Kirche kein Wissen
gelten lassen will, als dasjenige, welches sie sich zu ihrem
besondern Zweck aneignen, mithin auch selbst hervorbringen
.^) S. 67. § 49. Das Wesentliche der äußeren Verhältnisse ist die Lage der
Kirche gegen den Staat und gegen die Wissenschaft.
92 Zweiter Teil. § 240-243.
kann, und der, wenn das objektive Bewußtsein die Wahrheit
des Selbstbewußtseins in Anspruch nehmen will.
Denn auf diesen beiden Punkten sehließen beide Gemeinschaften einander
aus. Zwischen beiden in der Mitte liegt als gemeinsamer Annäherungs-
punkt ein gegenseitiges tätiges Anerkennen beider. Die Aufgabe ist^
ins Licht zu setzen, wie sich ein bestehendes Verhältnis zu diesen
Hauptpunkten stellt.
§ 241. Das Gleiche gilt von dem Verhältnis zwischen Kirche
und Staat. Nur daß man hier, wo sich bestimmtere Formeln
[Formen?] entwickeln, leichtersieht, teils wie nicht leicht ein
gegenseitiges Anerkennen stattfindet, ohne doch ein kleine»
Übergewicht auf die eine oder andere Seite zu legen, teils
wie zumal das evangelische Christentum seine Ansprüche be-
stimmt begrenzt.^)
Daß eine Theorie über dieses Verhältnis nicht hierher gehört, versteht
sich von selbst. Viele aber von den hier nachgewiesenen Ortern werden
auch in dem sogenannten Kirchenrecht behandelt, nur, wie auch schon
der Name andeutet, überwiegend aus dem bürgerlichen Standpunkt
betrachtet.
§ 242. Die kirchliche Statistik ist nach diesen Grund-
Zügen einer Ausführung ins Unendliche fähig.
Diese muß aber natürlich immer erneuert werden, indem nach einge-
tretener Veränderung die jedesmaligen Elemente der Kirchengeschichte
zuwachsen.
§ 243. Daß man sich bei uns nur zu häufig auf die
Kenntnis des Zustandes der evangelischen Kirche, ja nur des
Teiles beschränkt, in welchem die eigene Wirksamkeit liegt,,
wirkt höchst nachteilig auf die kirchliche Praxis.-)
^) S. 67. § 50. Ein besonderes Gebiet ivircl also da sein, wo diese in ihrer
Bildung und Einwirkung auf einander einen eigentümlichen Gang ge-
nommen haben.
§ 51. Aus dem Bisherigen ergibt sich, daß die Unterabteilungen-
für diese Darstellung nach dem Nationalchardkter vorzüglich müssen ge-
nommen werden.
2) § 53. Seine Kenntnis nur auf den Umfang der einzelnen Partei^
der man angehört, zu beschränken, ist kaum für den Punkt, wo die Span-
§ 244—246. Dritter Abschnitt. 93
Nichts begüustigt so sehr das Verharren bei dem Gewohnten und Her-
gebrachten, als die Unkenntnis fremder, aber doch verwandter Zu-
stände. Und nichts bewirkt eine schroffere Einseitigkeit, als die Furcht,
daß man anderwärts werde Gutes anerkennen müssen, was dem eigenen
Kreise fehlt, ^j
§ 244. Eine allgemeine Kenntnis von dem Zustande der
gesamten Christenheit in den hier angegebenen Hauptverhält-
nissen, nach Maßgabe wie jeder Teil mit dem Kreise der
eignen Wirksamkeit zusammenhängt, ist die unerläßliche For-
derung an jeden evangelischen Theologen.-)
Die hieraus freilich folgende Verpflichtung zu einer genaueren Kenntnis
des Näheren und Verwandteren ist doch nur untergeordnet. Denn eine
richtige Wirksamkeit auf die eigne Kirchengemeinschaft ist nur mög-
lich, wenn man auf sie als auf einen organischen Teil des Ganzen
wirkt, welcher sich in seinem relativen Gegensatz zu den andern zu
erhalten und zu entwickeln hat.
§ 245. Durch besondere Beschäftigung mit diesem Fach
ist noch vieles zu leisten, sowohl was den Stoff anlangt, als
was die Form.^) .
Die neueste Zeit hat zwar viel Material herbeigeschafft ; aber es ist selten
aus den rechten Gesichtspunkten aufgefaßt. Und umfassendere Arbeiten
gibt es noch so wenige, daß die beste Form noch nicht gefunden
sein kann.
§ 246. Die bloß äußerliche Beschreibung des Vorhan-
nuug zwischen ihr und der entgegengesetzten am höchsten gestiegen ist,
zu rechtfertigen.
^) S. 68. § 54. Mangel an Kenntnis des gegenwärtigen Zustandes, sowohl
des Lehrbegriffs, als der kirchlichen Gesellschaft, ist eine Hauptursache des
toten Mechanismus in der Praxis.
2) S. 67. § 52. Da jedes bestimmte Gebiet innerhalb der Kirche als ein
organischer Teil des Ganzen anzusehen, und also bewußte Wirksamkeit
darauf ohne Kenntnis des Ganzen nicht möglich ist : so ist Kenntnis von dem
dermaligen Zustande des Ganzen nach Maßgabe jenes Einflusses die uner-
läßliche Pflicht eines jeden.
^) S. 68. § 57. Eine ganz ins einzelne gehende Kenntnis auch des wirk-
lich individuell Gebildeten kann nur die Virtuosität einzelner sein.
§ 58. Da diese nie ganz ohne Einseitigkeit sein ivird^ so ist auch
zu ihrer richtigen Benutzung Kritik unentbehrlich.
94 Zweiter Teü. § 246—248.
denen ist für diese Disziplin, was die Chronik für die Ge-
schichte ist.^)
Bei dem gegenwärtigen Zustand derselben aber ist es schon verdienst-
lich, Unbekannteres nnd Abweichenderes auch nur auf diese Weise zur
allgemeinen Kenntnis zu bringen. Bloß topographische und onomastische
oder bibliographische Notizen sind natürlich das am wenigsten Frucht-
bare. ^)
§ 247. Eine ins einzelne gehende Beschäftigung mit dem
gegenwärtigen Zustande des Christentums, welche, nicht vom
kirchlichen Interesse ausgehend, auch keinen Bezug auf die
Kirchenleitung nähme, könnte nur, wenn auch ohne wissen-
schaftlichen Geist betrieben, ein unkritisches Sammelwerk
sein; je wissenschaftlicher aber, um desto mehr würde sie sich
zum Skeptischen oder Polemischen neigen.^)
Der Impuls kann wegen Beschaffenheit der Gegenstände nicht von einem
rein wissenschaftlichen Interesse herrühren. Fehlt also das für die
Sache : so muß eins gegen die Sache wirksam sein. Ahnliches gilt von.
der Kirchengeschichte.
§ 248. Ist das religiöse Interesse von wissenschaftlichem
Geist entblößt: so wird die Beschäftigung, statt ein treues
Eesultat zu geben, nur der Subjektivität der Person oder
ihrer Partei dienen.*)
Denn nur der wissenschaftliche Geist kann, wo ein starkes Interesse vor-
waltet, welches vom Selbstbewußtsein ausgeht, vor unkritischer Partei-
lichkeit sicherstellen.
^) S. 68. § 55 [vgl. § 243 Anm. der zweiten Auflage]. Die lebendige Tätig-
keit iti dem Gebiet Einer Partei kann nicht leiden durch Anerkennung des
Guten, welches sich in der entgegengesetzten findet.
2) § 56. Alles bloß Topographische, Onomastische und Biblio*
graphische ist nur als Hilfskeuntnis anzusehen.
^) § 59, Ohne religiöses Interesse wird die Kenntnis von einem
gegebenen Zustande des Christentums, je weiter ins einzelne verfolgt, um
desto geistloser und zur bloßen Gedächtnissache, und je wissenschaftlicher
betrieben, um desto skeptischer und polemischer.
*) S. 69. § 60. Ohne philosophischen und kritischen Geist wird sie nie
ein treues Eesultat geben, sondern nur der Subjektivität der Person oder
der Kirchenpartei zur Erhöhung dienen.
§ 249—250. Dritter Abschnitt. 95
§ 249. Die Disziplin, welche man gewöhnlich Symbolik
nennt, ist nur aus Elementen der kirchlichen Statistik zu-
sammengesetzt, und kann sich in diese wieder zurückziehn.^)
Sie ist eine Zusammeustellung des Eigentümhchen in dem Lehrbegriff
der noch jetzt bestehenden christUchen Parteien; und da diese nicht
nach Weise der Dogmatik (vgl. §§ 196 u. 233j mit Bewährung des
Zusammenhanges vorgelegt werden können: so muß die Darstellung
rein historisch sein. Der nicht ganz der Sache entsprechende Name,
weil nämlich nicht alle Parteien Symbole in dem eigentlichen Sinne
des Wortes haben, kann nur sagen wollen, daß der Bericht sich an die
am meisten klassische und am allgemeinsten anerkannte Darstellung
einer jeden Glaubensweise halte. Ein solcher Bericht muß aber in
unserer Disziplin (vgl. § 234) die Grundlage bilden zu der Darstellung
der Verhältnisse des Lehrbegriffs in der Gemeinschaft; und der Unter-
schied ist nur der, daß dort der Lehrbegriff einer Gemeinschaft be-
schrieben wird in Verbindung mit ihren übrigen Zuständen, in der
Symbolik aber in Verbindung mit den Lehrbegriffen der andern Ge-
meinschaften, wiewohl wir auch für die Statistik schon (vgl. § 235) das
komparative Verfahren empfohlen haben.
§ 250. Auch die biblische Dogmatik kommt der Weise
der Statistik in der Behandlung des Lehrbegriffs näher, als
der eigentlichen Dogmatik. -j
Denn unsere Kombinationsweise ist so sehr eine andere, und teils ist für
die neutestamentischen biblischen Sätze das Zurückgehen auf den alt-
testamentischen Kanon nur ein sehr ungenügendes Surrogat für unser
Zurückgehn auf den neutestamentischen, teils fehlt uns dort überall
^) S. 69. § 1. Da die Symbole für eine einzelne Periode dasselbe sind,
was der Kanon für das gesamte Christentum: so pfleg-t man auch die
Symbolik als eine einzelne, untergeordnete Disziplin anzusehen.
§ 2. Nur ist aus demselben Grunde das Historische, was dort
nur als Propädeutik dient, bei ihr die Hauptsache, und das Philologische
dagegen untergeordnet.
2) § 3. Will man einen Moment der Vergangenheit fixieren und sich
recht lebendig hinein versetzen : so muß mau sich ihn ebenso, wie die Dog-
matik es mit der Gegenwart macht, in einer zusammenhangenden Dar-
stellung vor Augen halten.
S. 70. § 4. Was man biblische Theologie nennt, ist nur eine solche
Darstellung des Lehrbegriffs in der kanonischen Zeit, insofern man diese
als Einen Moment ansehen kann.
96 Zweiter Teil. § 251—252.
die weitere Entwicklung: der späteren Zeiten, die in unsere Überzeugung
so eingegangen ist, daß wir uns jene nicht so aneignen können, wie
es einer eigentlich dogmatischen Behandlung wesentlich ist. Die Dar-
stellung des Zusammenhanges der biblischen Sätze in ihrem eigentüm-
lichen Gewand ist also überwiegend eine historische. Und wie jedes
zusammenfassende Bild (vgl. § 150) eines als Einheit gesetzten Zeit-
raums eigentlich die Statistik dieser Zeit und dieses Teils ist: so ist
die biblische Dogmatik nur ein Teil von diesem Bilde des apostolischen
Zeitalters.
Sclilußbetrachtungeu
über die historische Theologie.
§ 251. Wiewohl im ganzen in der christlichen Kirche
die hervorragende Wirksamkeit einzelner auf die Masse ab-
nimmt, ist es doch für die historische Theologie mehr, als für
andere geschichtliche Gebiete, angemessen, die Bilder solcher
Zeiten, die, als, wenn auch nur in untergeordnetem Sinne,
epochemachend, als Einheit aufzufassen sind, an das Leben
vorzüglich wirksamer Einzelner anzuknüpfen.^)
Ab nimmt diese Wirksamkeit, weü sie in Christo absolut war, und wir
keinen Späteren den Aposteln gleichstellen, von denen doch nur wenige
eine bestimmte persönliche Wirksamkeit übten. Je weiter hin, desto
mehr immer der gleichzeitigen Einzelnen,*) welche einen neuen Um-
schwung bewirkten. Jedoch ist dies keinesweges nur auf d^s Zeitalter
der sogenannten Kirchenväter zu beschränken. Wohl aber können wir
sagen, daß sich jeder einzelne hiezu desto mehr eigne, je mehr er dem
Begriff eines Kirchenfürsten entspricht, daß aber solche, je weiter hin-
aus, desto weniger zu erwarten seien. Auch einzelne als Andeutung
und Ahndung merkwürdige Abweichungen im Lehrbegriff werden oft
am besten mit dem Leben ihrer Urheber verständlich.
§ 252. Die Kenntnis des geschichtlichen Verlaufs, welche
schon zum Behuf der philosophischen Theologie (vgl. § 65)
vorausgesetzt werden muß, darf nur die der Chronik an-
^) S. 70. § 5. Die Elemente jeder historisch-theologischen Darstellung
sind weit mehr biographisch, als historisch.
*) Es sollte wohl heißen : desto mehr waren es immer die gleichzeitigen
Einzelnen usw.
% 252—254. Scblußbetrachtuugen. 97
gehörige sein, welche unabhängig ist vom theologischen Studium :
hingegen die wissenschaftliche Behandlung des geschichtlichen
Verlaufs in allen Zweigen der historischen Theologie setzt
die Eesultate der philosophischen Theologie voraus.^)
Dies gilt, wie aus dem Obigen erbellt, für die exegetiscbe Theologie und
die dogmatiscbe nicbt minder, als für die bistoriscbe im engeren Sinn.
Denn alle leitenden Begriffe werden in den Untersucbungen, welcbe die
pbilosopbiscbe Tbeologie bilden, definitiv bestimmt.
§ 253. Hieraus und aus dem dermaligen Zustand der
philosophischen Theologie (vgl. § 68) erklärt sich, wenn nicht
die große Verschiedenheit in den Bearbeitungen aller Zweige
der historischen Theologie, doch der Mangel an Verständigung
über den ursprünglichen Sitz dieser Verschiedenheit. 2)
Denn sie selbst würde bleiben, weil, was § 51 von der Apologetik gesagt
und § 64 auch auf die Polemik ausgedehnt ist, nicht nur in Bezug auf
die verschiedenen Gestaltungen, die das Christentum in verschiedenen
Kirchengemeinschaften erhält, gelten muß, sondern auch von den nicht
unbedeutenden Verschiedenheiten, die noch innerhalb einer jeden statt-
finden. Hat aber jede Partei ihre philosophische Theologie gehörig
ausgearbeitet: so muß auch deutlich werden, welche von diesen Ver-
schiedenheiten mit einer ursprünglichen Differenz in der Auffassung des
Christentums selbst zusammenhängen, und welche nicht.
§ 254. Philosophische und historische Theologie müssen
noch bestimmter auseinander treten, können aber doch nur
mit- und durcheinander zu ihrer Vollkommenheit gelangen.^)
1) S. 70. § 6. Diejenige Kenntnis des Christentums, welche vorausgesetzt
werden muß, um zur philosophischen Theologie zu gelangen, braucht nur
die esoterische zu sein, welche dem eigentlichen theologischen Studium
vorangeht; die ganze Organisation der historischen Theologie aber gründet
sich auf die Eesultate der philosophischen.
2) § 7. Die philosophische Theologie nimmt iliren StandpunU über
dem Christentum, die historische innerhalb desselben.
3) § 8. Darum kann und muß, genau betrachtet, jeder Gegenstand
der historischen Theologie auch Gegenstand für die philosophische sein,
und die letztere ist die beständige Begleiterin der ersteren.
S. 71. § 12. Philosophische und historische Theologie können nur mit-
und durcheinander zur Vollkommenheit gedeihen.
§ 9. Je weniger die phüosophische Theologie sich noch als Dis-
Schleierm., Th. St. '^
98 Zweiter Teil, SchluCbetrachtungen. § 255—256,
Alle Zweige der historischen Theologie leiden darunter, daß die philoso-^
phische in ihrem eigentümlichen Charakter (vgl. § 33) noch nicht aus-
gearbeitet ist. Aber die philosophische Theologie würde ganz willkür-
lich werden, wenn sie sich von der Verpflichtung losmachte, alle ihre
Sätze durch die klarste Geschichtsauffassung zu belegen. Und ebenso-
würde die historische alle Haltung verlieren , wenn sie sich nicht auf
die klarste Entwicklung der Elemente der philosophischen Theologie:
beziehen wollte.
§ 255. In der gegenwärtig"eii Lage kann der Vorwurf^
daß einer in der historischen Theologie nach willkürlichen
Hypothesen verfahre, eben so leicht unbillig sein, als er auch
gegründet sein kann.^)
Gegründet ist er, wenn jemand die Elemente der philosophischen Theologie-
durch bloße Konstruktion konstituieren will, und dann die Begeben-
heiten darnach deutet. Unbillig ist er, wenn jemand nur nicht Hehl
hat, daß seine philosophische Theologie, wie sie ihm mit der historischen
wird, sich auch durch ihre Angemessenheit für diese bestätigt.
§ 256. Dasselbe gilt von dem Vorwurf, daß einer die
historische Theologie in geistlose Empirie verwandle.^)
Er ist gegründet, wenn jemand die in der philosophischen Theologie zu
ermittelnden Begriffe, um sie in der historischen zu gebrauchen, als^
etwas empirisch Gegebenes aufstellt. Unbillig ist er, wenn jemand nur
gegen die apriorische Konstruktion dieser Begriffe protestiert, und auf
dem kritischen Verfahren (vgl. § 32) besteht.
ziplin anerkennen macht, um desto eher werden beide Behandlungsarten
vermengt und verwechselt.
^) S. 71. § 10. Daher werden diejenigen, welche sich mit dem historischen
Studium zugleich ihre philosophische Theologie bilden, so leicht von den
Empirikern beschuldigt, daß sie die Geschichte nach ihren Hypothesen
deuten.
2) § 11. Ebenso werden diejenigen, welche in der philosophischen
Theologie alles historisch bewähren wollen, von denen, welche sich die
ihrige aus einem fremden Standpunkt gebildet haben, für geistlose Em-
piriker angesehen.
§ 257—259. Einleitung. 99
Dritter Teil.
Von der praktischen Theologie.
Einleitung".
§ 257. Wie die philosophische Theologie die Gefühle
der Lust und Unlust an dem jedesmaligen Zustand der Kirche
zum klaren Bewußtsein bringt: so ist die Aufgabe der prak-
tischen Theologie, die besonnene Tätigkeit, zu welcher sich
die mit jenen Gefühlen zusammenhängenden Gemütsbewegungen
entwickeln, mit klarem Bewußtsein zu ordnen und zum Ziel
zu führen.^)
Wie die philosophische Theologie hier aufgefaßt ist in der Einwirkung
ihrer Eesultate auf einen unmittelbaren Lebensmoment: so auch die
praktische, wie ihre Eesultate in einen solchen Lebensmoment eingreifen.
§ 258. Die praktische Theologie ist also nur für die-
jenigen, in welchen kirchliches Interesse und wissenschaftlicher
Geist vereinigt sind.^)
Denn ohne das erste entstehen weder jene Gefühle, noch diese Gemüts-
bewegungen, und ohne wissenschafthchen Geist keine besonnene Tätig-
keit, welche sich durch Vorschriften leiten ließe, sondern der dem Er-
kennen abgeneigte Tätigkeitstrieb verschmäht die Eegeln.^)
§ 259. Jedem besonnen Einwirkenden entstehen seine
Aufgaben aus der Art, wie er den jedesmal vorliegenden
^) S. 72. § 1. Wie die philosophische Theologie die Gefühle der Lust und
Unlust an den Ereignissen in der Kirche zur klaren Erkenntnis bringt: so
bringt die praktische Theologie die aus ihnen entstehenden Gemüts-
bewegungen in die Ordnung einer besonnenen Tätigkeit.
^) § 2. Das Bedürfnis der praktischen Theologie entsteht also nur
für den, in welchem religiöses Interesse und wissenschaftlicher Geist ver-
eint sind.
^) § 3. Die Einwirkung auf die Kirche ohne wissenschaftlichen
Geist ist nur eine unbewußte, und jede ohne Interesse am Christentum ist
nur eine zufällige.
7*
100 Dritter Teil. § 259—261.
Zustand nacli seinem Begriif von dem Wesen des Christen-
tums und seiner besonderen Kircliengemeinschaft beurteilt.^)
Denn da die Aufgabe im allgemeinen nur Kirchenleitung ist: so kann er
nur jedesmal alles, was ihm gut erscheint, fruchtbar machen, das Ent-
gegengesetzte aber unwirksam machen und umändern wollen.
§ 260. Die praktische Theologie will nicht die Aufgaben
richtig fassen lehren; sondern indem sie dieses voraussetzt,
hat sie es nur zu tun mit der richtigen Verfahrungsweise
bei der Erledigung aller unter den Begriff der Kirchenleitung
zu bringenden Aufgaben.
Für die richtige Fassung der Aufgaben ist durch die Theorie nichts
weiter zu leisten, wenn philosophische und historische Theologie klar
und im richtigen Maß angeeignet sind.^) Denn alsdann kann auch der
gegebene Zustand in seinem Verhalten zum Ziel der Kirchenleitung
richtig geschätzt, mithin auch die Aufgabe demgemäß gestellt werden.
Wohl aber müssen zum Behuf der Vorschriften über die Verfahrungs-
weise die Aufgaben, indem man vom Begriff der Kirchenleitung aus-
geht, klassifiziert und in gewissen Gruppen zusammengestellt werden.
§ 261. Will man diese Regeln als Mittel, wodurch der
Zweck erreicht werden soll, betrachten : so müßte doch wegen
Unterordnung der Mittel unter den Zweck alles aus diesen
Vorschriften ausgeschlossen bleiben, was, indem es vielleicht
die Lösung einer einzelnen Aufgabe förderte, doch zugleich
im allgemeinen das kirchliche Band lösen oder die Kraft des
christlichen Prinzips schwächen könnte.^)
Der FaU ist so häufig, daß dieser Kanon notwendig wird. Offenbar kann
^) S. 73. § 4. Jedem besonnen Einwirkenden entsteht sein jedesmaliger
Zweck durch die Art, wie ihm die Ereignisse in der Kirche aus dem Stand-
punkt der philosophischen Theologie erscheinen.
§ 5. Ein Ereignis als solches ist aber nur in der Verbindung
des Einzelnen mit dem Allgemeinen und in der Einheit der Gegenwart und
Vergangenheit gesetzt.
^) § 6. Die praktische Theologie beruht also sowohl der Materie,
als der Form nach auf den beiden vorigen Zweigen.
^) § 7. Die technischen Vorschriften, welche die praktische Theo-
logie aufstellt, haben also zum Gegenstand die Wahl und Anwendung der
Mittel zu den einem jeden entstehenden Zwecken.
§ 262—263. Einleitung. 101
die einzelne gute Wirkung eines solchen Mittels nur eine zufällige sein ;
wenn sie nicht auf einem bloßen Schein beruht, sodaß die Lösung doch
nicht die richtige ist.
§ 262. Ebenso, weil der Handelnde die Mittel nur an-
wenden kann mit derselben Gesinnung-, vermöge deren er den
Zweck will: so kann keine Aufgabe gelöst werden sollen
durch Mittel, welche mit einem von beiden Elementen der
theologischen Gesinnung streiten.^)
Auch dieses beides, Verfahrungsarten , welche dem wissenschaftlichen
Geist zuwiderlaufen, und solche, welche das kirchliche Interesse im
ganzen gefährden, indem sie es in irgend einer einzelnen Beziehung
zu fördern scheinen, sind häufig genug vorgekommen in der kirchlichen
Praxis,
§ 263. Da aber alle besonnene Einwirkung auf die
Kirche, um das Christentum in derselben reiner darzustellen,
nichts anders ist, als Seelenleitung ; andere Mittel aber hiezu
gar nicht anwendbar sind, als bestimmte Einwirkungen auf
die Gemüter, also wieder Seelenleitung : so kann es, da Mittel
und Zweck gänzlich zusammenfallen, nicht fruchtbar sein, die
Regeln als Mittel zu betrachten, sondern nur als Methoden.-)
Denn Mittel muß etwas außerhalb des Zweckes Liegendes, mithin nicht
in und mit dem Zwecke selbst Gewolltes sein, welches hier nur von
dem Alleräußerlichsten gesagt werden kann, während alles näher Liegende
selbst in dem Zweck liegt, und ein Teil desselben ist. Welches Ver-
S. 73. § 8. Keine dieser Vorschriften darf also wegen der Unterord-
nung der Mittel unter den Zweck etwas in sich haben, was beitragen
müßte, das Kirchenband zu lösen oder die Gewalt des christlichen Prinzips
irgendwie zu schwächen.
1) S. 74. § 9. Da jede wirkliche Anwendung eines Mittels unter dem all-
gemeinen Prinzip des Handelnden steht: so darf auch nichts einem von
beiden Elementen der theologischen Gesinnung zuwiderlaufen.
2j § 10. Da es auf dem kirchlichen Gebiet kein anderes Objekt des
Einwirkens gibt, als die Gemüter: so fallen alle Kegeln der praktischen
Theologie unter die Form der Seelenleitung.
§ 11. Da auch der Zweck aller Einwirkung auf die Kirche nichts
anders sein kann, als Seelenleitung: so fallen Mittel und Zweck völlig zu-
sammen.
102 Dritter Teil. § 264—266.
Mltnis des Teils zum Ganzen in dem Ausdruck Methode das Vor-
herrschende ist.
§ 264. Die in der Kirchenleitung vorkommenden Auf-
gaben klassifizieren und die Verfahrungsweisen angeben, läßt
sich beides aufeinander zurückführen.
Denn jede besondere Aufgabe, sowohl ihrem Begriff nach, als in ihrem
• einzelnen Vorkommen, ist ebenso ein Teil des Gesamtzweckes, nämlich
der Kirchenleituug , wie jede bei den besondern Aufgaben anzu-
wendende Methode nur ein Teil derselben ist. Daher läßt sich dies
nicht wie zwei Hauptteile der Disziplin auseinanderhalten, indem die
Klassifikation auch nur die Methode angibt, um die Gesamtaufgabe
zu lösen.
§ 265. Alle Vorschriften der praktischen Theologie können
nur allgemeine Ausdrücke sein, in denen die Art und Weise
ihrer Anwendung auf einzelne Fälle nicht schon mit bestimmt
ist (vgl. § 132), d. h. sie sind Kunstregeln im engeren Sinne
des Wortes.^)
In allen Eegeln einer mechanischen Kunst ist jene Anwendung schon
mit enthalten; wogegen die Vorschriften der höheren Künste alle von
dieser Art sind, sodaß das richtige Handeln in Gemäßheit der Kegeln
immer noch ein besonderes Talent erfordert, wodurch das Rechte ge-
funden werden muß.
§ 266. Die Regeln können daher nicht jeden, auch unter
Voraussetzung der theologischen Gesinnung, zum praktischen
Theologen machen, sondern nur demjenigen zur Leitung dienen,
der es sein will und es seiner innern Beschaffenheit und
seiner Vorbereitung nach werden kann.^)
Damit soll weder gesagt sein, daß zu dieser Ausübung ganz besondere,
nur wenigen verliehene Naturgaben gehören, noch auch, daß die ge-
samte Vorbereitung dem Entschluß vorausgehen müsse.
^) S. 74. § 12. Alle praktisch theologischen Vorschriften können nur
relativ und unbestimmt ausgedrückt werden, indem sie erst durch das
Individuelle jedes gegebenen Falles und nur für ihn völlig bestimmt und
positiv werden.
2) § 13. Daher können sie, wie alle Kuustregeln, den Künstler
nicht bilden, sondern nur leiten.
§ 267—269. Einleitung. 103
§ 267. Wie die christliche Theologie überhaupt, mithin
auch die praktische, sich erst ausbilden konnte, als das
Christentum eine geschichtliche Bedeutung erhalten hatte (vgl.
^§ 2—5), und dieses nur vermittelst der Organisation der
christlichen Gemeinschaft möglich war: so beruht nun alle
eigentliche Kirchenleitung auf einer bestimmten Gestaltung
des ursprünglichen Gegensatzes zwischen den Hervorragenden
und der Masse. ^)
Ohne einen solchen, der mannigfachsten Abstufungen fähigen, in dem
Verhältnis der Mündigen zu den Unmündigen aber naturgemäß be-
gründeten Gegensatz könnte aller Fortschritt zum Besseren nur in
einer gleichmäßigen Entvricklung erfolgen, nicht durch eine besonnene
Leitung. Ohne eine bestimmte Gestaltung desselben aber könnte die
Leitung nur ein Veihältnis zwischen einzelnen sein, die Gemeinschaft
also nur aus losen Elementen bestehen, und nie als Ganzes wirken,
woran doch die geschichtliche Bedeutung gebunden ist.
§ 268. Diese bestimmte Gestaltung ist die zum Behuf
der Ausgleichung und Förderung festgestellte Methode des
Umlaufs, vermöge deren die religiöse Kraft der Hervor-
ragenden die Masse anregt, und wiederum die Masse jene
auffordert.
Daß auf diese Weise eine Ausgleichung erfolgt, und die Masse den Her-
Torragenden näher tritt, ist natürlich; Förderung aber ist nur zu er-
reichen, wenn mau die religiöse Kraft überhaupt und namentlich unter
den Hervorragenden in der Gemeinschaft als zunehmend voraussetzt.
§ 269. In der Übereinstimmung mit allem Bisherigen
werden wir sonach in der christlichen Kirchenleitung vor-
nehmlich zu betrachten haben die Gestaltung des Gegen-
satzes behufs der Wirksamkeit vermittelst der religiösen Vor-
stellungen, und die behufs des Einflusses auf das Leben, oder
^) S. 74. § 14. Die praktische Theologie kann in ihrem eigentümlichen
-Charakter nur in dem Maß sich entwickeln, als in der Kirche der Gegen-
satz zwischen Klerus und Laien heraustritt.
S. 75. § 15. Die möglichen Gegenstände der Einwirkimg lassen sich
■also ebenso zusammenfassen, ivie die Wahrnehmungen des Zustandes einer
ausgebildeten Kirche in einem gegebenen Moment.
104 Dritter Teil. § 269—271,
die leitende Tätigkeit im Kultus und die in der Anordnung^
der Sitte.
Beides unterscheidet sich zwar sehr bestimmt in der Erscheinung, ist
aber der Formel nach allerdings nur ein unvollkommner Gegensatz.
Denn der Kultus selbst besteht nur als geordnete Sitte ; und da es den
Anordnungen an aller äußeren Sanktion fehlt, so beruht ihre Giltig-
keit auch nur auf der Wirksamkeit vermittelst der Vorstellung. Dies-
zwiefache Verhältnis wird aber auch sein Eecht behaupten.
§ 270. Da die Hervorragenden dieses nur sind vermöge
der beiden Elemente der theologischen Gesinnung, das Gleich-
gewicht von diesen aber nirgend genau vorauszusetzen ist:
so wird es auch eine leitende Wirksamkeit geben, welche
mehr klerikalisch ist, und eine mehr theologische im engeren
Sinne des Wortes.^)
Es ist nicht nachzuweisen, daß diese Differenz mit der vorigen zusam-
menfällt, noch weniger, daß sie nur das eine Glied derselben teilt;
mithin sind beide vorläufig als koordiniert und sich kreuzend zu be-
trachten.
§ 271. Das Christentum wurde erst geschichtlich, als
die Gemeinschaft aus einer Verbindung mehrerer räumlich
bestimmter Gemeinden bestand, die aber auch jede den Gegen-
satz zur Gestalt gebracht hatten, als wodurch sie erst Ge-
meinden wurden. Daher nun gibt es eine leitende Wirk-
samkeit, deren Gegenstand die einzelne Gemeinde als solche
ist, und die also nur eine lokale bleibt, und eine auf das
Ganze gerichtete, w^elche die organische Verbindung der Ge-
meinen, das heißt die Kirche, zum Gegenstand hat.'^j
^) S. 76. § 20. Da die Elemente der theologischen Gesinnung nirgends,
als im Gleichgewicht anzusehen sind: so geht jede Einwirkung von einem
Übergewicht entweder der klerikalischen oder der rein theologischen Tätig-
keit aus.
^) S. 75. § 16. Da die Kirche ein organisches Ganzes ist: so ist jede Ein-
wirkung auf dieselbe entweder eine allgemeine oder eine lokale, jedoch
so, daß dieser Gegensatz immer nur ein relativer ist.
§ 17. Der kleinste organische Teil, worauf eine Einwirkung ge-
richtet sein kann, ist eine Gemeinde.
§ 272—274. Emleitmig. 105
Auch dieser Gegensatz ist unvollständig, indem mittelbar aus der Leitung
der einzelnen Gemeine etwas für das Ganze hervorgehen kann; und
ebenso kann eine aus dem Standpunkt des Ganzen bestimmte leitende
Tätigkeit zufällig nur eine einzelne Gemeine treffen. Im wirklichen
Verlauf findet sich beides sehr bestimmt.
§ 272. In Zeiten der Kirchentrennimg sind nur die Ge-
meinden Eines Bekenntnisses organisch verbunden, und die
allgemeine leitende Tätigkeit in ihrer Bestimmtheit nur auf
diesen Umfang beschränkt.^)
Es gibt allerdings auch Einwirkungen von einer Kirchengemeinschaft
aus auf andere; aber sie können nicht den Charakter einer leitenden
Tätigkeit haben. — Aber auch wenn keine solche Trennung wäre,
würden doch bei der gegenwärtigen Verbreitung des Christentums
äußere Gründe das Bestehen einer allgemeinen, alle Christengemeinen
auf Erden umfassenden Kirchenleitung unmöglich machen.
§ 273. Da nun die Verfahrungsweisen sich richten müssen
nach der Art, wie der Gegensatz gefaßt und gestaltet ist: so
muß auch die Theorie der Kirchenleitung eine andere sein
für jede anders konstituierte Kircheugemeinschaft ; und wir
können daher eine praktische Theologie nur aufstellen für die
evangelische Kirche.
Ja nicht einmal ganz für diese, da auch innerhalb ihrer zu viele Ver-
schiedenheiten des Kultus und besonders der Verfassung vorkommen.
Wir werden daher nur die deutsche im Auge haben.
§ 274. Wir sehen den zuletzt in § 271 ausgesprochenen
Gegensatz als den obersten Teilungsgrund an, und nennen
die leitende Tätigkeit mit der Richtung auf das Ganze das
Kirchenregiment, die mit der Richtung auf die einzelne
Lokalgemeine den Kirchen dienst.^)
^) S. 75. § 18. In einer Periode, worin ein Gegensatz dominiert, ist die
höchste unmittelbare Einheit für eine reale Einwirkung die Kirchenpartei,
und also die Praxis eines jeden durch den Geist seiner Partei bedingt.
§ 19. Diese Beschränkung der Praxis nimmt nur ab, insofern
die Spannung der Gegensätze selbst sich auflöst.
2) S. 76. § 21, Die auf das Ganze gerichtete Tätigkeit nennen wir das
Kirchenregiment im engeren Sinne, als ein Übergewicht des einzelnen über
das Ganze bezeichnend.
106 Dritter Teil. § 275—276.
Nicht als ob es in der Natur der Sache läge, daß dies die Haiipteinteilung
sein müßte, sondern weil dies dem gegenwärtigen Zustand unserer
Kirche das Angemessenste ist. Es gibt anderwärts Verhältnisse, in
denen von Kirchenregiment in diesem Sinne wenig zu sagen wäre,
weil es nur ein sehr loses Band ist, wodurch eine Mehrheit von Ge-
meinen zusammengehalten wird. — Für unsere beiden Teile bietet sich
übrigens noch eine andere Benennungsweise dar, nämlich, wenn der
eine Kirchenregiment heißt, den andern Gemeinderegiment zu nennen.
Die obige ist aber aus demselben Grunde vorgezogen worden, aus
welchem dies die Haupteinteilung geworden, weil nämlich der Verband
der Gemeinen, wie wir ihn vorzugsweise Kirche nennen, hervorragt,
und es daher angemessen ist, auch den andern Teil auf diese Gesamt-
heit zu beziehen; da denn die Pflege eines einzelnen Teils nur er-
scheinen kann als ein Dienst, der dem Ganzen geleistet wird.
§ 275. Der Inhalt der praktischen Theologie erschöpft
sich in der Theorie des Kircheuregimentes im engeren Sinne
und in der Theorie des Kirchendienstes. ^)
Die oben §§ 269 und 270 angegebenen Gegensätze müssen nämlich in
diesen beiden Hauptteilen aufgenommen und durchgeführt werden.
§ 276. Die Ordnung ist an und für sich gleichgiltig.
Wir ziehen vor, den Anfang zu machen mit dem Kirchen-
dienst, und das Kirchenregiment folgen zu lassen.*)
Gleichgiltig ist sie, weil auf jeden Fall die Behandlung des voran-
gehenden Teiles doch auf den Begriff des hernach zu behandelnden,
und auf die mögliche verschiedene Gestaltung desselben Kücksicht
nehmen muß. — Es ist aber die natürliche Ordnung, daß diejenigen,
welche sich überhaupt zur Kirchenleitung eignen, ihre öffentliche Tätig-
keit mit dem Kirchendienste bes'innen.
S. 75. § 22. Die auf das Einzelne gerichtete lokale, weil sie nur im
Namen des Ganzen ausgeübt werden kann, nennen wir als Handlung des
einzelnen den Kirchendienst.
^) S. 76. § 23. Die praktische Theologie ist demnach erschöpft in der
Theorie des Kirchenregimentes im engeren Sinn und des Kirchendienstes.
*) Anm. ; In der ersten Auflage ist die Theorie des Kirchenregimentes
der des Kirchendienstes vorangestellt.
§ 277—279. Erster Abschnitt. 107
Erster Abschnitt.
Die Grundsätze des Kirchendienstes.
§ 277. Die örtliche Gemeine, als ein Inbegriff in dem-
selben Ranm lebender nnd zu gemeinsamer Frömmigkeit ver-
bundener christlicher Hauswesen gleichen Bekenntnisses, ist
die einfachste vollkommen kirchliche Organisation, innerhalb
welcher eine leitende Tätigkeit stattfinden kann.^)
Der Sprach gebrauch gibt noch Landesgemeiue, Kreisgemeine: aber hier
findet nicht immer eben eine gemeinsame tjbung der Frömmigkeit
statt. Er gibt uns auch Hausgemeine; allein hier ist die leitende
Tätigkeit nicht eine eigentümlich vom religiösen Interesse ausgehende.
§ 278. Der Gegensatz überwiegender Wirksamkeit und
überwiegender Empfänglichkeit muß, wenn ein Kirchendienst
stattfinden soll, wenigstens für bestimmte Momente überein-
stimmend fixiert sein.-j
Ohne bestimmte Momente kein gemeinsames Leben; und ohne ttberein-
kommen, wer mitteilend sein soll, und wer empfänglich, wäre es nur
Verwirrung. Die Verteilung wird eine willkürliche bei Voraussetzung
der größten Gleichheit; aber auch bei der größten Ungleichheit muß
doch Empfänglichkeit allen zukommen. — Die Bestimmung dieses Ver-
hältnisses für jede Gemeine gehört der Natur der Sache nach dem
Kirchenregiment an.
§ 279. Die leitende Tätigkeit im Kirchendienst ist (vgl.
§ 269) teils die erbauende, im Kultus oder dem Zusammen-
treten der Gemeine zur Erweckung und Belebung des frommen
Bewußtseins, teils die regierende, und zwar hier nicht nur
^) S. 84. § 1. Die leitende Tätigkeit, welche nicht auf das Ganze der
Kirche gerichtet ist, kann nur die Gemeine, als die kleinste vollkommene
religiöse Organisation, zum Gegenstande haben.
^) S. 85, § 2 Da der leitenden Tätigkeit ein Objekt gegenüber stehen
muß. in welchem ein Übergewicht von Eezeptivität gesetzt ist: so kann
der Kirchendienst, und also auch seine Theorie, nur in dem Maß hervor-
treten, als der Gegensatz zwischen Klerus und Laien sich wenigstens der
Verrichtung nach gebildet hat.
108 Dritter Teil. § 279—281.
durch Anordnung der Sitte, sondern auch durch Einfluß auf
das Leben der einzelnen.^)
Diese zweite Seite konnte oben (§ 269) nur so bezeichnet werden, wie e&
auch für das Kirchenregiment gilt. Der Earchendienst aber würde
einen großen Teil seiner Aufgabe verfehlen, wenn die leitende Tätig-
keit sich nicht auch einzelne zum Gegenstand machte.
§ 280. Die erbauende Wirksamkeit im christlichen Kultus
beruht überwiegend auf der Mitteilung des zum Gedanken
gewordenen frommen Selbstbewußtseins, und es kann eine
Theorie darüber nur geben, sofern diese Mitteilung als Kunst
kann angesehen Averden.^)
Das überwiegend gilt zwar (vgl. § 49) vom Christentum überhaupt,
in diesem aber wiederum vorzüglich von dem evangelischen. — Ge-
danke ist hier im weiteren Sinne zu nehmen, in welchem auch die
Elemente der Poesie Gedanken sind. Kunst in gewissem Sinne muß
in jeder zusammenhängenden Folge von Gedanken sein. Die Theorie
muß beides zugleich umfassen, in welchem Grade Kunst hier gefordert
wird oder zugelassen, und durch welche Verfahruugsweisen die Ab-
sicht zu erreichen ist.
§ 281. Das Materiale des Kultus im engeren Sinne
können nur solche Vorstellungen sein, welche auch im In-
begriif der kirchlichen Lehre ihren Ort haben ; und die Theorie
hat also, was den Stoif betrifft, zu bestimmen, was für
Elemente der gemeinen Lehre, und in welcher Weise [sie] sich
für diese Mitteilung eignen.*)
^) S. 85. § 3. Im Kultus steht in diesem Sinne die gesamte Gemeine dem
Kleriker gegenüber; im religiösen Zusammenleben überhaupt einzelne, aber
als Glieder der Gemeine und in Bezug auf sie.
2) § 4. Da der Kultus in das Gebiet der Kunst fällt und aus Kunst-
elementen zusammengesetzt ist: so ist die Theorie des Kultus im allge-
meinen die religiöse Kunstlehre.
3) § 5 [= § 282 der zweiten Auflage]. Sie hat teils den religiösen
Stil in jeder Kunst zu bestimmen, teils die Art, wie aus ihnen insgesamt
das religiöse Kunstwerk, der Kultus, zu bilden ist.
S. 86. § 6. Was im Kultus in das Gebiet der Sprache fällt, muß sich
reduzieren lassen auf den Lehrbegriff.
§ 7. Also ist auch die Vollkommenheit aller dieser Elemente dea
§ 282-284. Erster Abschnitt. 109
Materiale im engem Sinne sind diejenigen Vorstellungen, welche für
sich selbst sollen mitgeteilt werden, im Gegensatz derer, die diesen
nur dienen als Erläuterung und Darstellungsmittel. — Und da dieselben
Vorstellungen in der mannigfaltigsten Weise vom Volksmäßigen bis
zum streng Wissenschaftlichen, von der Umgangssprache bis zur red-
nerischen und dichterischen verarbeitet sind : so muß bestimmt werden,
welche von diesen Schattierungen allgemein oder in verschiedener Be-
ziehung sich für den Kultus eignen.
§ 282. Da der christliche Kultus, und besonders auch
der evangelische, aus prosaischen und poetischen Elementen
zusammengesetzt ist: so ist, was die Form anlangt, zuerst
zu handeln von dem religiösen Stil, dem prosaischen sowohl,
als dem poetischen, wie er dem Christentum eignet; dann
aber auch von den verschiedenen Mischungsverhältnissen
beider Elemente, wie sie in dem evangelischen Kultus vor-
kommen können.
Die Theorie der kirchlichen Poesie gehört wenigstens insoweit in die
Lehre vom Kirchendienst, als auch die Auswahl aus dem Vorhandenen
nach denselben Grundsätzen muß gemacht werden.
§ 283. Einförmigkeit und Abwechselung haben auf die
Wirksamkeit aller Darstellungen dieser Art unverkennbaren
Einfluß ; daher ist auch die Frage zu beantworten, inwiefern,
rein aus dem Interesse des Kultus, der besseren Einsicht die
Eücksicht auf das Bestehende aufgeopfert werden muß, oder
umgekehrt.
Zunächst scheint die Frage nur hieher zu gehören in dem Maß, als sie
innerhalb der Gemeine selbst entschieden werden kann, ohne Zutritt
des Kirchenregiments. Allein da die Gemeine doch auch ganz frei
sein kann in dieser Beziehung, so wird diese Sache am besten ganz
hieher gezogen.
§ 284. So sehr es auch dem Geist der evangelischen
Kirche gemäß ist, die religiöse Rede als den eigentlichen
Kern des Kultus anzusehen: so ist doch die gegenwärtig
unter uns herrschende Form derselben, wie wir sie eigentlich
Kultus zu bestimmen nach ihrem Verhältnis zum Lehrbegriff, dessen Fest-
setzung daher die besondere Theorie dieses Teiles ausmacht.
110 Dritter Teil. § 284—287,
durch den Ausdruck Predigt bezeichnen, in dieser Be-
stimmtheit nur etwas Zufälliges.^)
Dies gellt hinreichend schon aus der Geschichte unseres Kultus hervor;
noch deutlicher wird es, wenn man untersucht, wovon die große Un-
gleichheit in der Wirksamkeit dieser Vorträge eigentlich abhängt.
§ 285. Da die Disziplin, welche wir Homiletik nennen^
gewöhnlich diese Form als feststehend voraussetzt, und alle
Regeln hauptsächlich auf diese bezieht: so wäre es besser,
diese Beschränktheit fahren zu lassen, und den Gegenstand
auf eine allgemeinere und freiere Weise zu behandeln.^)
Der Unterschied zwischen eigentlicher Predigt und Homilie, welcher seit
einiger Zeit so berücksichtigt zu werden anfängt, daß man für die
letztere eine besondere Theorie aufstellt, tut der Forderung unseres
Satzes bei weitem nicht Genüge.
§ 286. Fast überall finden wir in der evangelischen
Kirche den Kultus aus zwei Elementen bestehend: dem einen,
welches ganz der freien Produktivität dessen, der den Kirchen-
dienst verrichtet, anheimgestellt ist, und einem andern, worin
dieser sich nur als Organ des Kirchenregimentes verhält.")
In der ersten Hinsicht ist er vorzüglich der Prediger, in der andern
der Liturg.
§ 287. Von dem liturgischen Element kann hier nur
die Rede sein unter der Voraussetzung, daß und in welchem
Maß eine freie Selbstbestimmung auch hiebei noch statt-
findet.
^) S. 87. § 13. Die religiöse Eede ist zwar ein wesentliches Element des
Kultus; aber ihre Form sowohl, als der Grad ihres Hervortretens vor den
übrigen, ist sehr zufällig.
2) § 14. Die Theorie ihrer Form ist ein Teil der religiösen Kunst-
lehre; die ihrer Materie muß sich ergeben aus dem Verhältnis der Elemente
des Kultus zum Lehrbegriff.
^) S. 86. § 8. Der Kleriker ist im Kultus teils Kepräsentant der kon-
stituierten kirchlichen Autorität als Liturg, teils handelt er mit individueller
Selbsttätigkeit als Prediger.
§ 9. Beide Handlung siveisen sind eben so wenig außer einander,
als Freiheit und Gebundenheit des Kultus sich außer einander darstellen^
§ 288—290. Erster Abschnitt. Hl
Die Frage über die Selbstbestimmung' kann nur ans dem Standpunkt des
Kirchenregiments entschieden werden. Hier könnte sie es nur, sofern
nachzuweisen wäre, daß eine gänzliche Verneinung mit dem Begriff
des Kultus in der evangelischen Kirche streitet.
§ 288. Da der Kirchendienst im Kultus wesentlich an
organische Tätigkeiten gebunden ist, welche eine der Hand-
lung gleichzeitige Wirkung hervorbringen: so ist zu ent-
scheiden, ob und inwiefern auch diese ein Gegenstand von
Kunstregeln sein können, und solche sind demgemäß aufzu-
stellen.
Die Eegeln wären dann eine Anwendung der Mimik in dem weiteren
Sinne des Wortes auf das Gebiet der religiösen Darstellung.
§ 289. Da die Handlungen des Kirchendienstes an eine
beschränkte Räumlichkeit gebunden sind, welche ebenfalls
durch ihre Beschaffenheit einen gleichzeitigen Eindruck machen
kann: so ist zu entscheiden, inwiefern ein solcher zulässig
ist oder wünschenswert, und demgemäß Eegeln darüber auf-
zustellen.
Da die Umgrenzung des Eaumes nur eine äußere Bedingung, mithin
Nebensache, nicht ein Teil des Kultus selbst ist: so würden die Eegeln
nur sein können eine Anwendung der Theorie der Verzierungen auf
das Gebiet der religiösen Darstellung.
§ 290. Sehen wir lediglich auf den Gegensatz über-
wiegend Produktiver und überwiegend Empfänglicher inner-
halb der Gemeine, sodaß wir die letzteren als gleich be-
sondern müssen überall ineinander sein, nur in verschiedenem Verhältnis,
und können nur nach Maßgabe des tibergewichtes der einen Funktion über
die andere von einander gesondert werden.
S. 86. § 10. Daher ist die doppelte Aufgabe zu lösen, wie und wodurch
auch in den liturgischen Verrichtungen die individuelle Freiheit sich zu
offenbaren habe, und icie und ivodurch auch in den freien die liturgische
Repräsentation.
S. 87. § 11. In der repräsentativen Tätigkeit muß das kirchlich Be-
stimmte oder die Vergangenheit vorherrschen, in der individuellen hingegen
das Bestreben nach Fortbildung oder die Zukunft.
§ 12. Da nun jede Sandlung aus beiden zusammengesetzt sein
soll: so ist die Aufgabe zu lösen, wie sich beides vereinigen läßt.
112 Dritter Teil. § 290—293.
trachten: so kann es in der Gemeine eine leitende Tätigkeit
geben, welche Gemeinsames hervorbringt; sofern aber unter
den Empfänglichen ein Teil hinter dem Ganzen zurückbleibt :
so ist ihr Zustand als Einzelner Gegenstand der leitenden
Tätigkeit.!)
Die letztere ist schon unter dem Namen der Seelsorge bekannt; und
wir machen mit ihr den Anfang, da immer die Aufhebung einer solchen
Ungleichheit als die erste Aufgabe erscheint. Erstere nennen wir die
anordnende, und sie bringt sowohl Lebensweisen hervor, als einzelne
gemeinsame Werke.
§ 291. Gegenstände der Seelsorge im weiteren Sinn sind
zunächst die Unmündigen, in der Gemeine zu Erziehenden;
und die Theorie der zur Organisation des Kirchendienstes
gehörenden, auf sie zu richtenden Tätigkeit wird die Kate-
chetik genannt.
Der Name ist nur von einer zufälligen Form der unmittelbaren Aus-
übung hergenommen, mithin für den ganzen Umfang der Aufgabe zu
beschränkt.
§ 292. Das katechetische Geschäft kann nur richtig ge-
ordnet werden, wenn zwischen allen Beteiligten eine Einigung
über den Anfangspunkt und Endpunkt desselben besteht.
Sofern also ist, wenn diese Einigung sich nicht von selbst ergibt, das
Geschäft sowohl, als die Theorie abhängig von der ordnenden Tätigkeit.
§ 293. Vermöge des Zweckes, die Unmündigen den
Mündigen gleich zu machen, sofern nämlich diese die Emp-
fänglichen sind, muß das Geschäft aus zwei Teilen bestehen:
^) S. 87. § 15. Die klerikalische Tätigkeit, deren unmittelbarer Gegen-
stand die einzelnen sind, ist die Seelsorge.
§ 16. Ohne Seelsorge kann eine Gemeine weder bestehen, noch
sich reproduzieren.
[Die folgenden §§ 17 — 22 bilden das ungefähre Gegenstück zu
§§ 291—295 der zweiten Auflage.]
§ 17. Die einzelnen können nur insofern Gegenstand einer be-
sonderen klerikal iscJien Tätigkeit werden, als sie sich nicht in der Identität
mit der Gemeine befinden.
S. 88. § 18. Die Seelsorge geht also zuerst auf die Hervorbringung
dieser Identität bei denjenigen, ivelche einen natürlichen Anspruch auf die-
selbe haben.
§ 293—295. Erster Abschnitt. 113
•daß sie nämlich ebenso empfänglich werden für die erbauende
Tätigkeit und auch ebenso (vgl. § 279) für die ordnende; und
■die Aufgabe ist, beides durch ein und dasselbe Verfahren zu
«erreichen.
Das erste ist die Belebung des religiösen Bewußtseins nach der Seite des
Gedankens hin, das andere die Erweckung desselben nach der Seite
des Impulses.
§ 294. Sofern aber zugleich der Zweck sein muß, sie zu
«iner größeren Annäherung an die überwiegend Selbsttätigen
Yorzubereiten : so ist zu bestimmen, wie dies geschehen könne,
ohne ihr Verhältnis zu den andern Mündigen zu stören.
Wie die Katechetik überhaupt auf die Pädagogik als Kunstlehre zurück-
geht: so ist auch dieses eine allgemein pädagogische Aufgabe, die
sich aber doch in Bezug auf das religiöse Gebiet auch besonders
bestimmt.
§ 295. Da nach beiden Seiten (vgl. § 293) hin, nicht
nur die Frömmigkeit im Gegensatz gegen das sinnliche Selbst-
bewußtsein, sondern auch in ihrem christlichen Charakter und
als die evangelische zu entwickeln ist: so ist auch hier das
Verhalten der individuellen und universellen Richtung zu ein-
ander, sowohl in Bezug auf die Ausgleichung als die Fort-
schreitung (vgl. § 294), zu bestimmen.
Es ist um so notwendiger, diese Aufgabe in die Theorie aufzunehmen, als
S. 88. § 19. Die Ericeckung des religiösen Prinzips überhaupt zum
Bewußtsem imd zur Selbsttätigkeit ist alle7nal zugleich auf Hervorbringung
der individuellen Form der Religiosität in einer bestimmten Kirchenpartei
gerichtet.
§ 20. Sie ist ebenso allemal zugleich Aufregung des Veränder-
lichen und den Augenblick Charakterisierenden und Einpflanzung des
Bleibenden und Normalen.
§ 21. Aus diesen Bestimmungen sind also die materiellen
Prinzipien der Katechetik abzuleiten.
§ 22. Da das Verhältnis des Klerikers zu den Katechumenen
kein vollständiges Zusammenleben ist, und nur in der Bealität des Lebens
sich augenscheinlich zeigen kann, wie iveit das religiöse Prinzip jedesmal
gebildet ist: so kann die Aufgabe, diesen Mangel zu ersetzen, nur durch
■die Methodik jenes Verhältnisses gelöset werden.
Schleierm., Th. St. 8
114 Dritter Teil. § 296—299-
in der neuesten Zeit die merkwürdigsten Verirrnngen in diesem Punkt
vorgekommen sind.
§ 296. Aus ähnlichem Grunde können diejenigen Ein-
zelnen Gegenstände einer ähnlichen Tätigkeit werden, welche
als religiöse Fremdlinge im Umkreis oder der Nähe einer
Gemeine leben, und dies erfordert dann eine Theorie über
die Behandlung der Konvertenden.^)
Je bestimmter die Grundsätze der Katechetik aufgestellt sind, um desto
leichter müssen sich diese daraus ableiten lassen.
§ 297. Da aber diese Wirksamkeit nicht so natürlich
begründet ist: so wären auch Merkmale aufzustellen, um zu
erkennen, ob sie gehörig motiviert ist.^)
Denn es kann hier auf beiden Seiten gefehlt werden, durch zu leichtes
Vertrauen und durch zu ängstliche Zurückhaltung.
§ 298. Bedingterweise könnte sich eben hier auch die
Theorie des Missionswesens anschließen, weiche bis jetzt nock
so gut als gänzlich fehlt.
Am leichtesten freilich nur, wenn man davon ausgeht, daß alle Be-
mühungen dieser Art nur gelingen, wo eine christliche Gemeine bestehtv
§ 299. Einzeln können solche Mitglieder der Gemeine
Gegenstände für die Seelsorge werden, welche ihrer Gleichheit
mit den andern durch innere oder äußere Ursachen yerlustig^
gegangen sind; und die Beschäftigung mit diesen nennt man
die Seel sorge im engeren Sinne. ^)
^) S. 89. § 23. Inwiefern bei NichtChristen ein Verlangen nach dieser
Identität nur durch das Anschauen des religiösen Lebens einer Gemeine
lebendig erregt werden kann, gehört hieher auch die Befriedigung dieses
Verlangens oder die Vorbereitung der Konvertenden.
2) § 24. Da dieses Verlangen schon eine Eegung des religiösen
Prinzips nicht nur, sondern auch des auf gewisse Weise bestimmten ist:
so hat die Theorie festzusetzen, was und wieviel von der Identität mit der
Gemeine schon da sein muß, um einen Anspruch auf diesen Teil der
Seelsorge zu begründen, und auf welchem Wege das Fehlende zu er-
gänzen ist.
^) § 25. Bei denen, welche schon zur Gemeine gehören, kann die
Identität mit derselben innerlich oder äußerlich verletzt sein.
§ 26. Das Bestreben, den krankhaften Zustand einzelner, liege
§ 300—301. Erster Abschnitt. 115
Da nämlich die Gleichheit in der Wirklichkeit immer nur das Kleinste
der Ungleichheit ist: so sollen diejenigen, die unter den Gleichen die
Letzten sind, hier nicht gemeint sein ; wie denn diese auch immer vor-
handen sind, jene aber nur zufällig.
§ 300. Da nun in diesem Falle ein besonderes Ver-
hältnis anzuknüpfen ist: so hat die Theorie zunächst zu be-
stimmen, ob es überall auf beiderlei Weise entstehen kann,
von dem Bedürftigen aus und von dem Mitteilenden aus, oder
unter welchen Verhältnissen welche Weise die richtige ist.^)
Die große Verschiedenheit der Behandlung dieses Gegenstandes in ver-
schiedenen Teilen der evangelischen Kirche ist bis jetzt weder kon-
struiert, noch beseitigt.
§ 301. Da ein solcher Verlust der Gleichheit aus Innern
Ursachen sich nur in einer Opposition zeigen kann gegen die
erbauende oder die ordnende Tätigkeit: so ist demnächst zu
bestimmen, ob und wie im Geist der evangelischen Kirche das
Verfahren aus beiden Elementen (vgl. § 279) zusammen-
zusetzen ist ; endlich auch, ob, wenn die Seelsorge ihren Zweck
nicht erreicht, ihr Geschäft immer nur als noch nicht beendigt
anzusehen ist, oder ob und wann und inwiefern der Zu-
sammenhang der unempfänglich Gewordenen mit den Leitenden
als aufgehoben kann angesehen werden.-)
Die Aufhebung dieses Zusammenhanges zöge auch die des Zusammen-
hanges mit der Gemeine als solcher nach sich.
nun die Abweichung mehr im Theoretischen oder im Praktischen, wieder
aufzuheben, ist die Seelsorge im engern Sinn.
^) S. 90. § 27. Da dieses Verhältnis angeknüpft werden kann teils von
dem Klerus, teils von den Laien: so hat die Theorie zu bestimmen, welches
unter welchen Umständen das rechte ist.
2) § 28. Da es enden kann entweder in Wiederherstellung, oder in
Abbrechung bis auf weiteres, oder in gänzliche Trennung : so hat die Theorie
zu zeigen, wie das erste möglichst zu befördern und das letzte möglichst
zu verhüten sei, nebst den Grenzen dieser Möglichkeit.
§ 29. Äußerlich ist die Identität derer mit der Gemeine verletzt,
Avelche außer Stand gesetzt sind, an ihrem gemeinsamen religiösen Leben
teilzunehmen.
8*
116 Dritter Teil. § 302—305.
§ 302. In Hinsicht der durch die Wirksamkeit äußerer
Ursachen notwendig gewordenen Seelsorge ist außer der ersten
Aufgabe (vgl. § 300) nur noch zu bestimmen, wie die Über-
einstimmung dieser amtlichen ^Wirksamkeit, die wesentlich die
geistige Krankenpflege umfaßt, mit der geselligen der Emp-
fänglichen aus der Gemeine zu erreichen ist.^)
Denn das im § 301 in Frage Gestellte kann hier kanm streitig sein, da
hier nur zu ergänzen ist, was durch den momentan aufgehobenen An-
teil im gemeinsamen Leben versäumt wird. Die erbauende Tätigkeit
grenzt hier zu nahe an das gewöhnliche Gespräch, um einer besonderen
Theorie zu bedürfen.
§ 303. Die innerhalb der Gemeine anordnende Tätigkeit
(vgl. § 290) erscheint in Beziehung auf die Sitte beschränkt,
teils durch die umfassenderen Einwirkungen des Kirchen-
regimentes, teils durch die unabweisbaren Ansprüche der per-
sönlichen Freiheit.
Man kann nur sagen: erscheint; denn die Leitenden müssen durch ihr
eigenes persönliches Freiheitsgefühl zurückgehalten werden, nicht in
dieses Gebiet einzugreifen. Eben dadurch aber sollten auch die Leitenden
im Kirchenregiment abgehalten werden, nicht zentralisierend in das
Gebiet der Gemeine einzugreifen.
§ 304. Da die evangelische Sitte ebenso wie die Lehre,
im Gegensatz gegen die katholische Kirche, noch in der Ent-
wicklung begriifen ist: so sind nur im allgemeinen Regeln
aufzustellen, wie das Gesamtleben von einem gegebenen Zu-
stande aus allmählich der Gestalt näher gebracht werden kann,
welche der reiferen Einsicht der Vorgeschrittenen gemäß ist.
Der gegebene Zustand kann entweder noch unerkannt mancherlei vom
Katholizismus in sich tragen, oder auch irrtümlich Schranken, welche
das Christentum selbst stellt, überschritten haben.
§ 305. Da das Leben auch in der christlichen Gemeine
zugleich durch gesellige und bürgerliche Verhältnisse bestimmt
wird: so ist anzugeben, auf welche Weise auch in diesem
^) S. 90. § 30. Die Aufgabe der klerikalischen Krankenpflege geht also
dahin, jenen Mangel so zu ergänzen, daß die innere Identität darunter nicht
leide, sondern sich unter den gegebenen Umständen vollkommen offenbare.
§ 305—308. Erster Abschnitt. 117
Gebiet, so weit dies von lokalen Bestimmungen ausgehen kann,
dem Einfluß des christlichen und evangelischen Geistes größere
Geltung zu verschaffen ist.
Überall kann hier nur von der Verfahrungsweise die Eede sein, indem
das Materielle der ordnenden Tätigkeit von der geltenden Auffassung
der christlichen Lehre, besonders der Sittenlehre abhängt.
§ 306. Da von der ordnenden Tätigkeit auch die Auf-
forderungen zur Vereinigung der Kräfte ausgehen müssen zum
Behuf aller solcher gemeinsamen Werke, welche in dem Be-
griff und Bereich der Gemeine liegen : so ist es wichtig, diese
Grenze (vgl. § 303) zu bestimmen.
Die Aufgabe ist, dasjenige, was für die amtliche Wirksamkeit gehört,
und beständig fortgeht, z. B. das ganze Gebiet des Diakonats im ur-
sprünglichen Sinn, Yon dem zu scheiden, was nur Ton dem persön-
lichen Verhältnis einzelner Leitenden auf einen Teil der Masse aus-
gehen kann.
§ 307. Der Kirchendienst ist hier als Ein Gebiet be-
handelt worden, ohne die verschiedene mögliche Weise der
Geschäfts Verteilung irgend beschränken zu wollen.
Sonst hätten wir schon die Theorie der kirchlichen Verfassung vorweg-
nehmen müssen. Wir können daher auch hier nur nach alter Weise
alle, die an den Geschäften des Kirchendienstes teilnehmen, in dem
Ausdruck Klerus auf dieser Stufe zusammenfassen.
§ 308. Auch nur in dieser Allgemeinheit kann daher die
Frage behandelt werden, ob und was für einen Einfluß das
kirchliche Verhältnis zwischen Klerus und Laien auf das
Zusammensein der ersten mit den letzten, sowohl in den
bürgerlichen, als in den geselligen und wissenschaftlichen Ver-
hältnissen werde zu äußern haben. ^)
1) S. 90. § 31. Kleriker und Laien sind nicht nur in der Gemeine und in
Bezug auf sie zusammen, sondern auch im Staat, in den allgemeinen ge-
selligen Verhältnissen, und bisweilen im wissenschaftlichen Verein.
S. 91. § 32. Inwiefern diese Verhältnisse dem Kirchlichen entweder
förderlich sein können oder ihm entgegenwirken: so hat die Theorie der
klerikalischen Amtsklugheit zu bestimmen, teils wie das Förderliche in
ihnen vorzüglich könne gehoben und geltend gemacht werden; teils wie
118 Dritter Teil. § 309—310.
Die Aufgaben, welche gewöhnlich unter dem Namen der Pastoral-
klugheit behandelt wurden, erscheinen hier als ganz untergeordnet,
und ihre Lösung beruht auf der Erledigung der Frage, ob und welcher
spezifische Unterschied stattfinde zwischen den Mitgliedern des Klerus,
welche den Kultus leiten, und den übrigen.
Zweiter Abschnitt.
Die Grundsätze des Kirclieüregimentes.
§ 309. Wenn das Kirchenregiment in der Gestaltung
eines Zusammenhanges unter einem Komplexus von Gemeinden
beruht: so ist zunächst die Mannigfaltigkeit der Verhältnisse,
welche sich zwischen dem Kirchenregiment und den Gemeinden
entwickeln können, zu verzeichnen, und zu bestimmen, ob durch
den eigentümlichen Charakter der evangelischen Kirche einige
Formen bestimmt ausgeschlossen oder andere bestimmt postu-
liert werden.
Es wird nämlich vorausgesetzt, daß die Gestaltung eines solchen Zusam-
menhanges weder dem Wesen des Christentums widerspricht, noch die
Selbsttätigkeit der Gemeinen aufhebt.
§ 310. Da die Art und Weise, wie sich die überwiegend
Selbsttätigen in einem solchen geschlossenen Komplexus zur
Ausübung des Kirchenregiments gestalten, und wie sich dessen
Wirksamkeit und die freie Selbsttätigkeit der Gemeinen gegen-
seitig erregt und begrenzt, die innere Kirchenverfassung bildet:
so hat die obige Aufgabe die Tendenz, diese für die evan-
gelische Kirche, sowohl in ihrer Mannigfaltigkeit, als in ihrem
Gegensatz gegen die katholische, auf Grundsätze zurück-
zuführen.^)
der Streit zwischen ihnen entweder rein aufzulösen ist, oder, wenn nicht,
wie die andern Verhältnisse dem kirchlichen so unterzuordnen sind, daß es
nicht unter ihnen leide.
1) S. 77. § 1. Da das Kirciienregiment hei Protestanten und Katholiken
auf eine ganz verschiedene Weise geführt ivird: so kann auch jede Theorie
§ 311—312. Zweiter Abschnitt. 119
Die Lösung muß einerseits auf dogmatische Sätze zurückgehen, und kann
andererseits nur durch zweckmäßigen Gebrauch der Kirchengeschichte
und der kirchlichen Statistik gelingen.
§ 311. Da die evangelische Kirche dermalen nicht Einen
Xomplexus von Gemeinen bildet, und in verschiedenen auch
die innere Verfassung eine andere ist, die Theologie hingegen
für alle dieselbe sein soll: so muß die Theorie des Kirchen-
regimentes ihre Aufgaben so stellen, wie sie für alle mög-
lichen evangelischen Verfassungen dieselben sind, und von
jeder aus können gelöst werden.
Das dermalen soll nur bevorworten, daß die Unmöglichkeit einer
jeden äußeren Einheit der evangeUschen Kirche wenigstens nicht ent-
schieden ist.
§ 312. Da jedes geschichtliche Ganze nur durch dieselben
Kräfte fortbestehen kann, durch die es entstanden ist: so be-
steht das evangelische Kirchenregiment aus zwei Elementen,
dem gebundenen, nämlich der Gestaltung des Gegensatzes für
den gegebenen Komplexus, und dem ungebundenen, nämlich
der freien Einwirkung auf das Ganze, welche jedes einzelne
Mitglied der Kirche versuchen kann, das sich dazu berufen
glaubt.^)
desselben nnmittelbar und in gleichem Sinne nur für eine von beiden
Parteien gelten.
S. 77. § 2. Jede also, die in dieser Periode ihre Anwendung finden will,
■flH?//; sich an die letzten Resultate der j)hilosophischen Theologie (I. Erste
Abt. 9—12 [S. 22 f. dieser Ausgabe]) anschließen, um das Uare Bewußtsein
von diesem Gegensatz und seiner Bedeutung zum Grunde zu legen.
§ 3. Dieses klare Beicußtsein fehlt nicht nur, icenn man den
innern Grund der Verschiedenheit beider Parteien verkennt, sondern eben
so sehr, icenn man alles, ivas sich in beiden verschieden gestaltet, voreiliger
Weise als notwendig aus dem Gegensatz entsprungen betrachtet.
*) S. 78. § 4. Wenn auch mit und aus dem Gegensatz zwischen Klerus
und Laien sich in der Kirche eine äußere Autorität konstituiert hat: so
kann doch nicht alle zum Kirchenregiment gehörige Tätigkeit auch von
ihr ausgehn; sondern es gibt dann eine Tätigkeit der Kirchengewalt und
eine Tätigkeit einzelner, welche oder sofern sie nicht zur Kircheugewalt
gehören.
120 Dritter Teil. § 313—314.
Die evangelische Kirche, nicht mir in Bezug anf die Berichtigung der
Lehre, sondern auch ihre Verfassung oder ihr gebundenes Kirchenregi-
ment, ist ursprünglich aus dieser freien Einwirkung entstanden, ohne
welche auch, da das gebundene mit der Verfassung identisch ist, eine
Verbesserung der Verfassung denkbarer Weise nicht erfolgen könnte.
— Damit die letzte Bestimmung nicht tumultuarisch erscheine, muß
nur bedacht werden, daß, wenn sich einer, der nicht zu den über-
wiegend Produktiven gehört, doch berufen glauben sollte, der Versuch
von selbst in nichts zerfallen würde.
§ 313. Beide können nur denselben Zweck haben (vgL
§ 25), die Idee des Christentums nach der eigentümlichen
Auffassung der evangelischen Kirche in ihr immer reiner zur
Darstellung zu bringen, und immer mehr Kräfte für sie zu
gewinnen. Das organisierte Element aber, die kirchliche
Macht oder richtiger Autorität, kann dabei ordnend oder be-
schränkend auftreten, das nicht organisierte oder die freie
geistige Macht nur aufregend und warnend.^)
Einverstanden jedoch, daß auch der kirchlichen Macht jede äußere
Sanktion für ihre Aussprüche fehlt; sodaß der Unterschied wesentlich
darauf 'hinausläuft, daß diese als Ausdruck des Gemeingeistes und Ge-
meiusinnes wirken, die freie geistige Macht aber etwas erst in den Ge-
meinsinn und Gemeingeist bringen will.
§ 314. Der Zustand eines kirchlichen Ganzen ist desto
befriedigender, je lebendiger beiderlei Tätigkeiten ineinander
greifen, und je bestimmter auf beiden Gebieten mit dem Be-
wußtsein ihres Gegensatzes gehandelt wird.^)
^) S. 78. § 5 [vgl. § 314 Anm. der zweiten Auflage]. Die KirchengeioaU geht
natürlich im ganzen mehr auf Erhaltung und Aushildung des durch die
letzte Epoche schon Fixierten, die einzelnen mehr auf die fortschreitende
Vorbereitung des Folgenden.
§ 6. Ebenso zeigt sich in der Tätigkeit der KirchengetvaU mehr
das Ubergeivicht des religiösen Interesse., in der auf das Ganze gerichteten
Tätigkeit der einzelnen mehr das Ubergeivicht des tcissenschafUichen Geistes.
^) § 7. Auf beiden Gebieten muß mit dem Bewußtsein des Gegen-
satzes, den sie bilden, gehandelt werden.
§ 8. Beide Tätigkeiten müssen aber auch gegenseitig in einander
greifen, wenn das Kirchenregiment vollkommen sein soll.
S. 79. § 9. Die natürlichen Aufgaben für das Kirchenregiment sind in
§ 315—317. Zweiter Abschnitt. 121
Die kirchliche Autorität hat also zu vereinigen, und die Theorie mui] die
Formel dafür (vgl. § 310) aufsuchen, wie ihr überwiegend obliegt,
das durch die letzte Epoche gebildete Prinzip zu erhalten und zu be-
festigen, zugleich aber auch die Äußerungen freier Geistesmacht zu
begünstigen und zu beschützen, welche allein die Anfänge zu um-
bildenden EntAvicklungen hervorbringen kann. Ebenso für die freie
Geistesmacht, wie sie, ohne der Stärke der Überzeugung etwas zu ver-
geben, sich doch mit dem begnügen könne, was durch die kirchliche
Autorität ins Leben zu bringen ist.
§ 315. Da ein größerer kirchlicher Zusammenhang nur
stattfinden kann bei einem gewissen Grade von Gleichheit
oder einer gewissen Leichtigkeit der Ausgleichung unter den
ihn konstituierenden Gemeinden : so hat auch überall die kirch-
liche Autorität einen Anteil an der Gestaltung und Aufrecht-
haltung des Gegensatzes zwischen Klerus und Laien in den
Gemeinen.
Nämlich nur einen Anteil, weil die Gemeine früher ist, als der kirch-
liche Nexus, und weil sie nur ist, sofern dieser Gegensatz in ihr besteht
§ 316. Da dieser Anteil ein Größtes und ein Kleinstes
sein kann: so hat die Theorie diese Verschiedenheit erst zu
fixieren, und dann zu bestimmen, welchen anderweitigen Ver-
hältnissen und Zuständen jede Weise zukomme, und ob sie
dieselbige sei für alle Funktionen des Kirchendienstes oder
eine andere für andere.
Denn daß in diesem scheinbar stetigen Übergang vom Kleinsten zum
Größten sich doch gewisse Punkte als Hauptunterschiede feststellen
lassen, versteht sich aus allen ähnlichen Fällen von selbst.
§ 317. Da ferner jene Gleichheit weder als unveränder-
lich, noch als sich immer von selbst wiederherstellend an-
beiden KircJienparteien dieselben der Form nach; sie geben aber bei der
Auflösung in jeder ein verschiedenes Resultat dem Inhalte nach, iceil die
Bedingungen verschieden sind.
S. 79. § 10 [= § 313 der zweiten Auflage, erste Hälfte]. Alles, luas zur
Darstellung der Idee des Christentums in der Kirche gehört, mag es nun
auf das innerste Wesen desselben, oder auch nur auf seine natürlichen
äußeren Verhältnisse sich beziehen, ist ein Gegenstand des Kirchenregimentes.
122 Dritter Teil. § 317-319.
gesehen werden kann, mithin sie zugleich ein Werk der
kirchlichen Autorität sein muß: so ist die Art und Weise,
diesen Einfluß auszuüben, das heißt der Begriff der kirch-
lichen Gesetzgebung, zu bestimmen.^)
Zugleich; weil sie nämlich in gewissem Sinne schon vorhanden sein
muij vor der kirchlichen Autorität. — Der Ausdruck Gesetzgebung
bleibt, weil die kirchliche Autorität ebenfalls aller äußeren Sanktion
entbehrt, immer ungenau.
§ 318. Da nun diese Gleichheit zunächst nur erscheinen
kann im Kultus und in der Sitte, beide aber an sich der
adäquate Ausdruck der an jedem Orte herrschenden Frömmig-
keit sein sollen: so entsteht die Aufgabe, beides durch die
kirchliche Gesetzgebung zu vereinigen und vereint zu er-
halten.-)
Es liegt in der Natur der Sache, daß dies nur durch Annäherimg ge-
schehen kann, und daß also die Theorie vorzüglich darauf sehen muß,
das Schwanken zwischen dem Übergewicht des einen und des andern
in möglichst enge Grenzen einzuschließen.
§ 319. Da beide nur, sofern sie sich selbst gleich bleiben,
als Ausdruck der kirchlichen Einheit fortbestehen können,
alles aber, was und sofern es Ausdruck und Darstellungs-
mittel ist, seinen Bedeutungswert allmählich ändert: so ent-
steht die Aufgabe für die Gesetzgebung, sowohl die Freiheit
und Beweglichkeit von beiden anzuerkennen, als auch ihre
Gleichförmigkeit zu begründen.^)
^) S. 79. § 11. Die Tätigkeit der Kirchengewalt im Kirchenregiment ist
vorzüglich eine gesetzgebende.
[§§ 12—14 siehe zu §§ 320 u. 321 der zweiten Auflage.]
^) S. 80. § 15. Die Gesetzgebung für den Kultus muß darauf gerichtet
sein, daß er der adäquate Ausdruck des religiösen Sinnes, je länger, je mehr,
werde und bleibe.
") § 16. Insofern der religiöse Sinn sich mannigfaltig modifiziert,
und alles, was Ausdruck ist, seinen Wert und Bedeutsamkeit allmählich
wechselt, muß auch der Kultus sich mannigfaltig gestalten können nach
Erfordernis von Ort und Zeit, und also muß statutarisch begründet werden
seine Freiheit und Beweglichkeit.
§ 17. Insofern der religiöse Sinn in einer Kirchenpartei immer
^ 320—321. Zweiter Abschnitt. 123
Hiedurcli muß sich zugleich auch das Verhältnis der kirchlichen Autorität
zum Kirchendienst in der Konstitution des Kultus und der Sitte wenig-
stens in bestimmte Grenzen einschließen.
§ 320. Der kirchlichen Autorität muß ferner geziemen,
im Falle einer Opposition in den Gemeinen, rühre sie nun
her (vgl. § 299) von einzelnen, aus der Einheit mit dem
Ganzen Gefallenen, oder von zurückgetretener Einheit über-
haupt, als höchster Ausdruck des Gemeingeistes, den Aus-
schlag zu geben, wenn innerhalb der Gemeine keine Einigung
zu. erzielen ist.^)
Geltend wird dieser Ausschlag immer nur, sofern auch die Opponenten
nicht aufhören wollen, in diesem kirchlichen Verein ihren christlichen
Gemeinschaftstrieb zu befriedigen.
§ 321. Insofern die kirchliche Autorität hierauf ent-
weder durch allgemeine Bestimmungen einwirkt, oder wenig-
stens solchen folgt, wo sie einzeln zutritt, muß hier die Frage
erledigt werden, ob und unter welchen Verhältnissen in einem
evangelischen Kirchenverein Kirchenzucht stattfinde oder auch
Kirchenbann.-)
Letzterer nämlich, sofern die Aufhebung des Verhältnisses eines einzelnen
und überall sich gleich ist, und der Kultus auch dessen Einheit auszu-
drücken hat, muß er überall erkannt werden können als diese Partei
repräsentierend, und also hat man statutarisch zu begründen seine Gleich-
iörmigkeit.
S. 81. § 18. SoU beides in einer Gesetzgebung notwendig verbunden sein:
so darf die Freiheit nie in Wülkür und Subjektivität ausarten können, und
die Gleichförmigkeit sich nie in tote Form verwandeln.
^) S. 79. § 12. In Absicht auf das religiöse Leben überhaupt hat die
Xirchengewalt zu bestimmen, wie das Krankhafte, was sich in der sicht-
baren Kirche erzeugt, aus derselben auszuscheiden ist.
2) § 13. i)ie Aufgabe, ein Verfahren zu finden, welches auf das
Fremdartige wirkt, ohne selbst ein Fremdartiges zu sein, muE, richtig ge-
löst, die wahre Kirchenzucht darstellen.
S. 80. § 14. Wie aber eine ausschließende Gewalt geübt werden kann,
ohne eine fremde äußere Sanktion zu Hilfe zu nehmen, dies muß darge-
stellt werden durch den Kirchenbann.
[§§ 15—18 siehe zu §§ 318 u. 319 der zweiten Auflag^.]
124 Dritter Teil. § 322—323.
zur Gemeine oder zum Kirchenverein von der Autorität ausgesprochen
werden kann. Ersteres, insofern eine stattgehabte Opposition nur durch
eine öffentliche Anerkennung ihrer Unrichtigkeit solle beendigt werden,
können.
§ 322. Über das Verhältnis der kirchlichen Autorität zu
dem Lehrbegriff machen sich noch so entgegengesetzte An-
sichten geltend, daß es unmöglich scheint, einen gemeinsamen
Ausgangspunkt zu finden, sodaß eine Theorie nur bedingter-
weise kann aufgestellt werden.
Ja, es möchte sogar nicht einmal leicht sein, die Parteien zum Einver-
ständnis über den Ort, wo der Streit entschieden werden sollte, mithin,
gleichsam zur Wahl eines Schiedsrichters zu bringen.
§ 323. Ausgehend einerseits davon, daß der evangelische
Kirchenverein entstanden ist mit und fast aus der Behaup-
tung, daß keiner Autorität zustehe, den Lehrbegriff fest-
zustellen oder zu ändern, andererseits davon, daß wir, ungeachtet
der Mehrheit evangelischer Kirchenvereine, welche ver-
schiedenen Maximen folgen, doch Eine evangelische Kirche
und eine diese Einheit bezeugende Lehrgemeinschaft aner-
kennen: glauben wir die Aufgabe nur so stellen zu dürfen.
Es sei zu bestimmen, wie die kirchliche Autorität eines jeden
Vereins, anerkennend, daß Änderungen in den Lehrsätzen
und Formeln nur entstehen dürfen aus den Forschungen
einzelner, wenn diese in die Überzeugung der Gemeine auf-
genommen werden, diese Wirksamkeit der freien Geistes-
macht beschützen, zugleich aber die Einheit der Kirche in
den Grundsätzen ihres Ursprungs festhalten könne.^)
Natürlich soll keinesweges ausgeschlossen werden, daß nicht dieselben^
welche als kirchliche Autorität wirken, auch könnten die Wirksamkeit
der freien Forschung ausüben; sondern nur um so strenger ist darauf
^) S. 81. § 19. Die immer fortgehende Bildung des Lehrbegriffs geht von
den Tätigkeiten der einzelnen aus.
§ 20. Die gesetzgebende Tätigkeit der Kirchengewalt muß den
einzelnen ihre freie Wirksamkeit auf diesem Gebiet sichern, und doch
zugleich die Lehre an dem Symbol, durch welches sie konstituiert ist,
festhalten.
§ 324—325. Zweiter Abschnitt. 125
zu lialteu, daß sie dies nicht in der Weise und unter der Firma der
kirchlichen Autorität tun. — Ganz entgegengesetzt aber muß die Auf-
gabe gestellt werden, wenn man von der Voraussetzung ausgeht, daß
die Kirche nur durch eine in einem anzugebenden Grade genaue Gleich-
förmigkeit der Lehre als Eine bestehe.
§ 324. Das Obige (vgl. § 322) gilt auch von den Rechten
imd Obliegenheiten der kirchlichen Autorität in Bezug auf
die Verhältnisse der Kirche zum Staat, indem keine Hand-
lungsweise, welche irgend vorgeschrieben werden könnte, sich
einer allgemeinen Anerkennung erfreuen würde.^)
Nur dies scheint bemerklich zu sein, daß da, wo die evangelische Kirche
gänzlich vom Staat getrennt ist, niemand andere Wünsche hegt; da
aber, wo eine engere Verbindung zwischen beiden stattfindet, die Mei-
nungen in der Kirche geteilt sind.
§ 325. Ausgehend einerseits davon, daß, wenn die Kirche
nicht will eine w^eltliche Macht sein, sie auch nicht darf in
<lie Organisation derselben verflochten sein wollen, andererseits
davon, daß, was Mitglieder der Kirche, welche an der Spitze
des bürgerlichen Regiments stehn, in dem kirchlichen Gebiet
tun, sie doch nur in der Form der Kirchenleitung tun können,
vermögen wir die Aufgabe nur so zu stellen. Es sei zu be-
stimmen, auf welche Weise die kirchliche Autorität unter den
verschiedenen gegebenen Verhältnissen dahin zu wirken habe,
daß die Kirche wieder in eine kraftlose Unabhängigkeit vom
Staat, noch in eine wie immer angesehene Dienstbarkeit unter
ihm gerate.^)
1) S. 81. § 21. Die Kirchengewalt hat ferner, durch ihre gesetzgebende
Tätigkeit von Seiten der Kirche, deren Verhältnis zum Staat zu bewahren
oder zu berichtigen.
§ 22. Das Verhältnis beider zu einander ist nie als ein reines
ruhiges Gleichgewicht Yorauszusetzen.
2) S. 82. §23. Die Aufgabe ist daher, den etwanigen Eingriffen des
Staats in das Gebiet der Kirche abzuhelfen, selbst aber keine Eingriffe in
in das seinige zu tun.
§ 24. Die Theorie des Kirchenregiments hat zu zeigen, wie man
dahin gelangen könne, daß das Verhältnis der Kirche zum Staat weder eine
kraftlose Unabhängigkeit sei, noch eine angesehene Dienstbarkeit.
126 Dritter Teil. § 326—327.
Die Theorie ist höchst schwierig aufzustellen, und gewährt doch wenig
Ausbeute, weil, wenn die kirchliche Autorität schon eine Verschmelzung^
der Kirche mit der politischen Organisation oder eine den Einfluß
äußerer Sanktion benutzende Verfahrungsart in kirchlichen Angelegen-
heiten vorfindet, sie unter ihrer Form nur indirekt dagegen wirken
kann, alles andere aber von den allmählichen Einwirkungen der freien
Geistesmacht erwarten muß. — Und wie wenig Übereinstimmung auch
in den ersten Grundsätzen ist, wird am besten daraus klar, daß, wo
die Kirche sich in einer Dienstbarkeit ohne Ansehen befindet, immer
einige vorziehen werden, in der Dienstbarkeit Ansehen zu erwerben,,
andere aber unangesehen zu bleiben, wenn sie nur unabhäugig werden
können.
§ 326. Dieselbe Aufgabe kehrt noch in einer besonderen
Beziehung wieder, wenn der Staat die gesamte Organisation
der Bildungsanstalten in die seinige aufgenommen hat, indem
alsdann in Beziehung auf die geistige Bildung, durch welche
allein sowohl der evangelische Kultus erhalten werden, als
auch eine freie Geistesmacht in der Kirche bestehen kann,
ebenfalls kraftlose Unabhängigkeit oder wohlhabende Dienst-
barkeit drohen.
Für dieses Gebiet kann unter ungünstigen Umständen sehr leicht das
schwierige und nicht auf einfache Weise zu lösende Dilemma entstehen,
ob der Kirchenverein sich solle mit dem, wenn auch noch so dürftigen
Apparat begnügen, den er sich unabhängig erwerben und bewahren
kann, oder ob er es wagen solle, auch aus mit nicht-evangelischen
Elementen versetzten Quellen zu schöpfen.
§ 327. Da die verschiedenen für sich abgeschlossenen
Gemein vereine , w^elche zusammen die evangelische Kirche
bilden, teils durch äußerliche, der Veränderung unterworfene
Verhältnisse, teils dui'ch Differenzen in der Sitte oder Lehre^
deren Schätzung ebenfalls der Veränderung unterworfen ist^
gerade so begrenzt sind, die meisten aber sich durch diese
Begrenzung an ihrer Selbständigkeit gefährdet finden : so ent-
steht die Aufgabe für jeden von ihnen, sich einem genaueren
Zusammenhang mit den übrigen offen zu halten und ihn in
seinem Innern vorzubereiten, damit keine günstige Gelegenheit,
ihn hervorzurufen, versäumt w^erde.
§ 328—330. Zweiter Abschnitt. 127
Diese Aufgabe bezeichnet zugleich das Ende des Gebietes der kirchlichen
Autorität; denn nicht nur stirbt mit der Lösung der Aufgabe jedes
bisherige Kirchenregiment seinem abgesonderten Sein ab, sondern auch
die Lösung selbst, weil sie über das Gebiet der abgeschlossenen
Autorität hinausgeht, kann nur durch die Wirksamkeit der freien
Geistesmacht hervorgerufen werden.
§ 328. Da das ungebundene Element des Kirclien-
regimentes (vgl. § 312), welches wir durch den Ausdruck
freie Geistesmacht in der evangelischen Kirche be-
zeichnen, als auf das Ganze gerichtete Tätigkeit einzelner,
eine möglichst unbeschränkte Öffentlichkeit, in welcher sich
der einzelne äußern kann, voraussetzt: so findet es sich jetzt
vornehmlich in dem Beruf des akademisclien Theologen und
des kirchlichen Schriftstellers.^)
Bei dem ersten Ausdruck ist nicht gerade an die nur zufällige, jetzt
noch bestehende Form zu denken; doch wird immer eine mündliche,
große Massen der zur Kirchenleitung bestimmten Jugenä vielseitig an-
regende Überlieferung etwas höchst Wünschenswertes bleiben. — Unter
dem letzten sind in dieser Beziehung diejenigen nicht mit begriffen,
welche nur ihre Verrichtungen im Kirchendienst auf die Schrift über-
tragen.
§ 329. Beide werden ihre allgemeinste Wirkung (vgl.
§§ 313, 314) nur in dem Maß vollbringen, als sie dem Be-
griff des Kirchenfürsten (vgl. § 9) nahe kommen.
Des in § 9 erwähnten Gleichgewichts bedürfen beide um so weniger, als
sie sich mit ihrer Produktion in dem Gebiet einer besonderen wissen-
schaftlichen Virtuosität bewegen. Aber in demselben Maß werden sie
auch keine allgemeine anregende Wirkung auf das Kirchenregiment
ausüben.
§ 330. Da der akademische Lehrer in der von religiösem
Interesse vorzüglich belebten Jugend den wissenschaftlichen
Geist in seiner theologischen Richtung erst recht zum Be-
wußtsein bringen soll: so ist die Methode anzugeben, wie
^) S. 82. § 25. Die auf das Ganze gerichtete Tätigkeit der einzelnen ist
im gegenwärtigen Zustande der Kirche nur die des akademischen Lehrers
und die des Schriftstellers.
128 Dritter Teil. § 330—332.
dieser Geist zu beleben sei, ohne das religiöse Interesse zu
schwächen.^)
Wie wenig man noch im Besitz dieser Methode ist, lehrt eine nur zu
zahlreiche Erfahrung. Es bleibt übrigens dahingestellt, ob diese Me-
thode eine allgemeine sei, oder ob es bei verschiedenen Disziplinen auf
Verschiedenes ankommt.
§ 331. Da das Vorhandene um so weniger genügt, als*)
der wissenschaftliche Geist die einzelnen Disziplinen durch-
dringt: so ist eine Verfahrungsweise aufzustellen, wie die
Aufmunteruug und Anleitung, um die theologischen Wissen-
schaften weiter zu fördern, zugleich zu verbinden sei mit der
richtigen Wertschätzung der bisherigen Ergebnisse, und mit
treuer Bewahrung des dadurch in der Kirche niedergelegten
Guten.-)
Eine gleiche Erfahrung bewährt hier denselben Mangel, und unleugbar
kommt von der allzuscharfen Spannung zwischen .denen, welche Neues
bevorworten, und denen, welche sich vor dem Allen beugen, vieles
auf Eechnung der Lehrweise.
§ 332. Sofern die schriftstellerische Tätigkeit auf Be-
streitung des Falschen und Verderblichen gerichtet ist : so ist
dem theologischen Schriftsteller besonders die Methode anzu-
geben, wie er sowohl das Wahre und Gute, woran sich jenes
findet und womit es zusammenhängt, nicht nur auffinden,
sondern auch zur Anerkenntnis bringen kann, als auch dem
Eigentümlichen, worin es erscheint, seine Beziehung auf das
kirchliche Bedürfnis anweisen.^)
^) S. 82. § 26. Da mit dem akademischen Studium der wissenschaftliche
Geist erst recht zum Bewußtsein kommt: so hat die Theorie für den aka-
demischen Lehrer die Aufgabe zu lösen, wie er den wissenschaftlichen Geist
zu beleben habe, ohne das religiöse Interesse zu schwächen,
2j § 27. Da in dem Maß, als erkannt wird, was noch zu leisten
ist, das Bisherige nicht genügt: so ist auch die Aufgabe zu lösen, wie zum
persönlichen Vorwärtsbringen aufzumuntern sei, ohne die Anhänglichkeit
an das in der Kirche Bestehende zu zerstören.
3) S. 83. § 28. Inwiefern die Tätigkeit des Schriftstellers die Bestreitung
der Irrtümer zum Zweck hat, das Falsche aber immer nur an dem Wahren
*) = je mehr.
§ 333—334. Zweiter Abschnitt. 129
Der Satz, daß aller Irrtum nur an der Wahrheit ist, und alles Schlechte
nur am Guten, ist die Grundbedingung alles Streites und aller Kor-
rektion. Der letzte Teil der Aufgabe ruht einerseits auf der Voraus-
setzung, daß Irriges und Schädliches, wenn nicht durch Eigentümlich-
keit getragen, wenig Einfluß ausüben kann, andererseits auf der, daß
alle Gaben in der Kirche sich erweisen können zum gemeinen Nutzen.
§ 333. Sofern sie Neues zur Anerkenntnis bringen und
empfehlen will, wäre eine Formel zu finden, wie die Dar-
stellung- des Gegensatzes zwischen dem Neuen und Alten, und
die des Zusammenhanges zwischen beiden, sich am besten
unterstützen können.^)
Denn ohne Gegensatz wäre es nicht neu, und ohne Zusammenhang wäre
es nicht anzuknüpfen.
§ 334. Da die öffentliche Mitteilung sich leicht weiter
verbreitet, als sie eigentlich verstanden wird : so entsteht die
Aufgabe, jene Darstellung so einzurichten, daß sie nur für
diejenigen einen Keiz hat, von denen auch ein richtiger Ge-
brauch zu erwarten ist.-)
sein kann: so ist die besondere Aufgabe des theologischen Schriftstellers,
das Wahre und Gute, wovon der Irrtum ausgegangen ist, zu schonen.
^) S. 83. § 29. Insofern sie auf Verbreitung nener Ansichten ausgeht,
jedes Neue aber im Gegensatz gegen ein Altes steht: so ist die Aufgabe,
das Neue so darzustellen, daß der Gegensatz weder verfehlt, noch zu weit
ausgedehnt werde.
2) § 30, Im allgemeinen, da die Mittel der wissenschaftlichen IVIit-
teilung an sich weiter reichen, als das Gebiet, in dem sie im eigentlichen
Sinne verstanden wird, und da jeder Lesende von dem Seiniüen bei der
Auslegung dazutut: so ist die Aufgabe, die Darstellung so einzurichten,
daß sie sich nicht weiter verbreitet, als sie nützen kann, und daß sie nicht
anders ausgelegt wird, als sie gemeint war.
S. 84. § 31. Beide, die Kirchengetvalt und die einzelnen, müssen sich
der Grenzen ihrer Tätigkeit im Kirchenregiment bewußt sein, um desto
richtiger ineinander zu greifen.
§ 32. Da die Kirchengeivalt iceder im vollen Bewußtsein dieses
engeren Gegensatzes , noch des iveiteren zivischen Klerus und Laien kon-
stituiert worden ist: so muß sie sich selbst beweglich erhalten, um der fort-
schreitenden Einsicht zu entsprechen und sich als vollen Ausdruck der jedes-
maligen religiösen Kraft zu erhalten.
Schleierm.. Th. St. 9
130 Dritter Teü. § 335—336.
Die sonst hiezu fast ausschließend empfohlene und angewendete Regel,
sich bei Darstellungen, von denen Mißdeutung oder Mißbrauch zu er-
warten ist, nur der gelehrten Sprache zu bedienen, ist den Verhält-
nissen nicht mehr angemessen.
Schlußbetrachtungen
über die praktische Theologie.
§ 335. Von der Scheidung zwischen dem, was jedem ob-
liegt, und dem, was eine besondere Virtuosität konstituiert,
konnte hier keine Erwähnung geschehen.^)
Denn sie kann nur auf zufälligen oder fast persönlichen Beschränkungen
beruhen, und ergibt sich dann von selbst. An und für sich betrachtet,
kann jeder zur Kirchenleitung Berufene auf jede Weise wirksam sein;
und es gibt nicht sowohl verschiedene trennbare Gebiete, als nur ver-
schiedene Grade erreichbarer Vollkommenheit.
§ 336. Die Aufgaben, zumal im Gebiet des Kirchen-
regiments, wird derjenige am richtigsten stellen, der sich
seine philosophische Theologie am vollkommensten durch-
gebildet hat. Die richtigsten Methoden werden sich dem-
jenigen darbieten, der am vielseitigsten auf geschichtlicher
Basis in der Gegenwart lebt. Die Ausführung muß am
meisten durch Naturanlagen und allgemeine Bildung gefördert
werden.^)
^) S. 91. § 1. Da kein Theologe ohne allen Anteil der leitenden Tätig-
keit ist, keiner aber auch alle Teüe derselben umfaßt: so liegt jedem ob,
von der praktischen Theologie dasjenige inne zu haben, woraus das richtige
Verhältnis eines jeden Teils der Praxis zum Ganzen sich erkennen läßt:
so wie die Theorie jeder einzelnen Art der Tätigkeit das Gebiet des Be-
sondern bildet.
2) § 2. Das Allgemeine der praktischen Theologie wird der am
klarsten sehen, der sich die philosophische Theologie am meisten angeeignet
hat; das Besondere und der Ausführung Nächste wird jeder um so sicherer
finden, je geschichtlicher er in der Gegenwart lebt.
§ 337—338. ScMußbetrachtnngen. 131
Wenn nicht alles, was in dieser enzyklopädischen DarsteUnng auseinander
gelegt ist. hier gefordert würde, so wäre sie unrichtig, so wie die
Forderung unrichtig wäre, wenn sie etwas enthielte, was in keiner
enzyklopädischen Darstellung enthalten sein kann.
§ 337. Der Zustand der praktischen Theologie als Dis-
ziplin zeigt, daß, was im Studium jedes einzelnen das Letzte
ist, auch als das Letzte in der Entwicklung der Theologie
überhaupt erscheint.^)
Schon deshalb, weil sie die Durchbildung der philosophischen Theologie
(vgl. §§ 66 und 259) voraussetzt.
§ 338. Da sowohl der Kirchendienst, als das Kirchen-
regiment, in der evangelischen Kirche wesentlich durch ihren
Gegensatz gegen die römische bedingt ist: so ist es die höchste
Vollkommenheit der praktischen Theologie, beide jedesmal so
zu gestalten, wie es dem Stande dieses Gegensatzes zu seinem
Kulminationspunkte angemessen ist.^)
Hiedurch geht sie besonders auf die höchste Aufgabe der Apologetik
(vgl. § 53) zurück.
^) S. 92. § 3. Schon hieraus läßt sich schließen, was auch die Erfahrung
ergibt, daß die praktische Theologie, und besonders die Theorie des Kirchen-
regiments im engeren Sinne, noch nirgends recht ausgebildet sein kann.
Was im Studium eines jeden einzelnen das letzte ist, erscheint auch als
das letzte in der Entwicklung der Theologie überhaupt.
^) § 4, Theorie des Kirchenregimentes sowohl, als des Kirchendienstes
ist notwendig in jeder herrschenden Kirchenpartei eine andere.
§ 5. Die höchste Aufgabe für diese Theorie ist daher auch, sie
so zu stellen, daß der jedesmal bestehende Gegensatz der Parteien durch
ihre Ausübung weder erschlaffen könne, noch auch über seine natürUiche
Dauer auf künstUche Art verlängert werde, um sich zu überleben. Hie-
durch schließt sich die höchste Aufgabe für die praktische Theologie un-
mittelbar an die höchste der ersten theologischen Disziplin, nämüch der
Apologetik.
9*
Register.
Anm. Die mit Seitenzahlen versehenen Paragraphen beziehen sich
auf den Text der ersten Auflage. Die eingeklammerten Ziffern bezeichnen
die Seiten dieser Ausgabe. Zu den angeführten Paragraphen der zweiten
Auflage ist regelmäßig der Text der ersten zu vergleichen.
Absolutheit des Christentums S. 16
[19] §5 §80 Anm. § 108 Anm. § 165
Anm.
Altes Testament § 115 § 129 ff. § 141
Anm.
Apokryphen § 109
Apologetik §39 Anm. §41
Apostolische Väter § 107
Assertorisch und divinatorisch § 53
§202
Atheismus § 22 Anm. S. 20 [25] § 5
§ 214 Anm.
Autorität, kirchliche § 313 § 314 Anm.
§ 317 Anm.
Biblische Theologie §250
Chronik § 153 § 157 Anm. § 246 § 252
Dogma S. 16 [21] §3 §166 §177
Dogmatik §97 §195 ff.
Dogmatik und Ethik § 223 ff. § 230 f.
Dogmatischer Beweis §209 ff. §226
Dogmengeschichte § 90 Anm. § 183
§ 220 Anm.
Einleitung ins Neue Testament § 123
Anm. §144
Empirie und Spekulation § 59
(geistlose) Empirie §21 §256
Enzyklopädie § 18 § 20
Ethik, philosophische § 6 Anm. § 23
Anm. § 29 (= Wissenschaft der
Prinzipien der Geschichte) §35
— , theologische § 223 § 228 Anm.
— , philosophische und theologische
§ 226 Anm.
Exegese und Dogmatik § 121 § 210
Anm.
Glaube und Wissen § 48 Anm. § 240
Häresis und Schisma § 58
Hebraismus § 127 Anm. § 131
Hermeneutik §132 ff.
Hierarchie und Kirchengewalt § 48
Homiletik § 285
Indifferentismus § 56 § 234 Anm.
Individualismus, religiöser; Grenzen
desselben §251
Inspiration § 134 Anm.
Interesse am Christentum § 8 § 124
Anm. § 147
Irrationalität der Sprachen § 126
Kanon §104 ff. §209 f.
Kanon und Sakrament § 47
Katechetik § 291
Kirchenfürst § 9 § 329
Kegister.
133
Kirchengeschichte S. 44 [58] § 1
Kirchengeschichte und Dogmatik § 82
Anm.
Kirchenleitung § 3 § 38 § 81 § 153
Anm. § 217 Anm. § 235 Anm. § 237
Anm. § 260 Anm. § 267 § 272 Anm.
Kirchenrecht § 174 Anm. § 241 Anm.
Kirchenregiment § 5
Kirchenregiment und Kirchendienst
§274
Kirchenzucht und Kirchenbann § 321
Kirche und Dogma § 323
Kirche und Kirchen § 327
Kirche und Staat § 48 Anm. S. 67 [91]
§ 49 § 241 § 325
Kleriker § 10 i? 270
Klerus und Laien S. 66 [90] § 47 S. 74
[103] §14 S. 85 [107] §2 S. 90 [115]
§27 §308 S. 78 [119] §4 §315
Konfession und Ritus § 50 Anm.
Konfessionalismus ; Grenzen desselben
§51 Anm. § 52 Anm. §53 §243 f.
Konfessioneller Charakter der Theo-
logie §21 §36 §98 §212 §217
§ 228 Anm. § 273 § 295 § 304 § 310
§338
Kultus und Sitte § 168 ff. § 269 § 318
Kunst und Kunstregeln § 18 Anm.
§132 §265 f. §280 Anm.
Kritik, höhere und niedere § 110 § 113
§118
Methode § 70 Anm. § 116 § 118 § 134
§ 148 § 263
Methodologie § 20 Anm.
Missionskunde § 298
Moralische Person § 32 Anm.
Natürlich und positiv § 43
Norm (in der Dogmatik) § 198 § 203
Anm.
Offenbarung, Wunder, Eingebung § 45
Orthodox und heterodox §203 ff. § 207
Pädagogik §294 Anm.
Perioden und Epochen § 73
Philosophie (Spekulation) und Dog-
matik (Theologie) § 167 § 180 f.
S. 51 [69] §32 S. 60 [80] §20 §213 f.
§229
Philosophische Theologie u. Christen-
tum §33 S. 70 [97] §7
Polemik §40 f.
Prinzipien der Geschichtsphilosophie
§71 ff. §150 ff. §186 ff.
Protestantismus § 39 f. § 122 Anm.
§ 196 Anm. § 228 Anm.
Religion und Geistesleben § 8 Anm.
§21 f. §48 §326
Religionsphilosophie § 6 Anm. §23
§ 43 Anm.
Religiöses Interesse und wissen-
schaftlicher Geist §9 §12 §193
§ 247 f. § 258 § 262 Anm. S. 78 [120]
§6 §330f.
Seelsorge § 290 Anm. § 299
Separatismus § 57 § 234 Anm.
Statistik § 95 § 195 § 233
Symbol §211f.
Symbolik §249
Systematische Theologie § 97 Anm.
§195 Anm.
Terminologie § 215 Anm. § 216 Anm.
§ 226 Anm.
Theologe § 10 § 270 Akademischer
Theologe § 328 § 330
Theologie, Definition § 1 § 5
— exegetische § 88 § 103
— , historische §26 §69 f. §80 §85
— , philosophische § 24 § 37 § 67 § 89
§252 Anm. §254 Anm. §257
— , praktische §25 §257 f. §260
— , rationale § 1 Anm. § 226 Anm.
Übersetzungen § 126
Urchristentum § 87 § 161 § 180
134
Eegister.
Verfassung S. 16 [21] § 3 § 1 74 § 176
§236
Wahrheit und Irrtum § 332 Anm.
Weissagung- und Vorbild §46
Wesen des Christentums § 21 § 24
§32 §39 §49 Anm. §60 §84 §178
§259 §313
Wissenschaft § 1 § 28 § 32
Wahrheit des Christentums § 39
Zusammenhang der theologischen
Disziplinen § 18 § 27 § 39 Anm.
§ 40 Anm. §§ 63—66 § 143 Anm.
§252 ff. §336.
Lippert &, Co. (G. Pätz'sche Buchdi*.), Naumburg a. S.
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Date Due
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PRINTED
IN U. S. A.
BW1910.Q35V. 10
Schleiermachers Kurze Darstellung des
Princeton Theological Seminary-Speer Library
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