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Ludwig Tiefs
Ba rı fc
Vierzehnter Band.
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Erzaͤhlungen und Novellen.
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bei G. Reimer,
Dem
Baron von Rumohr.
XIV. Band.
Wie gern verweilt meine Erinnerung bei Ihrem
Namen. Im Jahr 1804 lernte ich Sie in
Muͤnchen kennen, als mich bald darauf eine
ſchwere Krankheit befiel, die mich der Bewe⸗
gung und jeder Lebensfreude beraubte. Bruͤ⸗
derlich troͤſteten, zerſtreuten Sie mich, halfen
Sie mir. In manchen Stunden, da ich den |
Gebrauch der Hand nicht hatte, ſchrieben Sie
nieder, was ich Ihnen von meiner Bearbeitung
der Niebelungen diktirte. Dieſe Hefte, von
Ihrer Hand, bewahre ich als ein theures Ange—
denken. Mit Ihnen reiſete ich im Jahr 1805
nach Italien, lebte viel mit Ihnen in Rom,
und in Ihrer Geſellſchaft kam ich im folgen-
den Jahre nach Deutſchland zuruͤck. Dre
Kunſt, den Forſchungen uͤber dieſe, haben Sie
Ihr Leben gewidmet. Oefter ſind wir uns
wieder begegnet, und die alte Freundſchaft iſt
nicht erloſchen.
L. Tieck.
Inhalt.
Schickſal.
Die männliche Mutter.
Die Rechtsgelehrten.
Die Verſoͤhnung. Ein Märchen.
Peter Lebrecht.
Der Fremde.
Die Freunde.
Der Geheimniß volle. Eine Novelle.
XIV Band.
Eric s iu, en
1795.
Zu allen Zeiten haben die Menſchen ſich gern deut—
lich machen wollen, was ſie ſich unter dem Worte
Schickſal zu denken haͤtten. Man ſieht dies hohe
bedeutungsvolle Wort ſo unendlich oft geſchrieben,
man hoͤrt es taͤglich nennen, und wenige verbinden
einen Begriff damit; es iſt fuͤr uns eine Art
von Symbol, ein Bild, unter welchem wir ge—
woͤhnlich den Gang der Umſtaͤnde zuſammenſaſſen,
deren natuͤrlichen, nothwendigen Zuſammenhang wir
recht gut einſehen. Oft beehren wir einen Zufall
mit dieſem Namen des Schickſals, der fuͤr uns bloß
deswegen Zufall iſt, weil wir uns nicht um die Urſa—
chen ſeines Einſchreitens bekuͤmmert haben; oft ſogar
laſſen wir uns von unſrer menſchlichen Schwaͤche ſo
weit verleiten, unſre armſeligſten Fehler einem hoͤhern,
unſichtbaren Weſen zur Laſt zu legen, in einer be—
dauernswuͤrdigen Vergeßlichkeit nennen wir zuweilen
die Folgen eines Rauſches oder einer Unmaͤßigkeit
Schickſal, wo wir bloß uns ſelbſt und unſre Sinn⸗
lichkeit anklagen ſollten.
Man hat viel daruͤber geſtritten, ob und wie ſich
der freie moraliſche Wille mit dem Schickſal vereinigen
ließe. Der Leſer darf nicht fuͤrchten, daß ich geſonnen
ſei, zu dieſem Streite auch mein Scherflein beizutra—
1 *
*
4
gen; dieſe ernſthafte Einleitung ſoll mir dazu dienen,
ihn auf meine wahrhafte Geſchichte um ſo aufmerkſamer
zu machen. Es iſt die Geſchichte eines Mannes, der
lange Zeit von Widerwaͤrtigkeiten verfolgt wurde, die
ihm durch alle ſeine Plane kreuzten, der im bittern
Unmuthe hundertmal ſein hartes Verhaͤngniß anklagte,
der es immer von neuem verſuchte, gegen dieſes ſoge—
nannte Verhaͤngniß anzukaͤmpfen. Der geneigte auf—
merkſame Leſer mag entſcheiden, ob er nicht meiſten—
theils ſelber Schuld an ſeinem Schickſale war.
So ernſthaft ich aber auch angefangen habe; ſo
darf doch Niemand eine Erzaͤhlung im hohen tragi—
ſchen Style erwarten, in welchem der Held durch
tauſend Leiden, eines fuͤrchterlicher als das andere,
endlich dahin gebracht wird, daß er ſich, den Himmel
und das Verhaͤngniß verwuͤnſcht in aufgethuͤrmten
Bildern ſpricht, und ſich in die Dunkelheit feiner Me—
taphern verliert; alles dies will ich dem Leſer erſparen,
weil wir jetzt an aͤhnlichen Erzählungen ſchon außeror—
dentlichen Ueberfluß haben. Man wird auch bald inne
werden, daß mir der Held meiner Geſchichte, Anton
von Weiſſenau, zu einer ſo fuͤrchterlichen Darſtel—
lung gar keine Gelegenheit giebt.
Er war der Sohn einer ziemlich reichen Fami⸗
lie, die in einer angenehmen Gegend des füdlichen
Deutſchlands auf ihrem einſamen Gute lebte. — Der
Sohn zeigte von Kindheit auf viele Faͤhigkeiten, man
ließ ihn daher ſchon früh in allen Wiſſenſchaften un:
terrichten. Der Vater verſchrieb ſich einen Hofmeiſter,
der auf einer der dortigen Univerfitgen fir einen Pos
lyhiſtor galt, und gab ihm ein anſehnliches Gehalt,
3
um feinen talentvollen Sohn in allen Kenntniſſen voll:
kommen zu machen. Neben dieſem Hofmeiſter wurden
noch andere Lehrer gehalten, die ihn in der Muſik
und im Tanzen unterrichten mußten. Anton hatte
ein gutes Gedaͤchtniß, und einen Verſtand, der ſchnell
eine Sache, wenn ſie nicht zu ſchwer war, begriff, er
war dabei gut gewachſen, und hatte vor allen Dingen
ein anſehnliches Vermoͤgen zu hoffen; zum Ungluͤck
war er dabei der einzige Sohn, ſo daß Hofmeiſter
und Eltern, Frauen und Fraͤulein, Nachbarn und
Bauern ihm von Kindheit an ſchmeichelten, daß alles
bewundert ward, was er nur ſagte und that, und er
auf dieſe Art eitel und eingebildet wurde, daß er ſich
ſchon fruͤh fuͤr verſtaͤndiger als alte Maͤnner hielt, und
ſich eben dadurch die Verachtung manches geſcheidten
Mannes zuzog.
Als man glaubte, daß er von ſeinem Hofmeiſter
nichts mehr lernen koͤnne, ward er auf eine Univerfis
tät geſchickt. Er vertauſchte fie bald mit einer prote—
ſtantiſchen, um dort mit mehr Bequemlichkeit die Auf—
klaͤrung ſtudiren zu koͤnnen. Er legte ſich anfangs mit
großem Eifer auf die ſchoͤnen Wiſſenſchaften, er machte
viele Verſe und ſchrieb ſogar ein Schauſpiel: aber
bald behagte ihm dieſer leere Schaum, wie er es
nannte, nicht mehr, er trieb nun die Philoſophie
aus allen Kraͤften, ſuchte alle Syſteme zu faſſen und
zu begreifen, er las taͤglich den Plato und Ariſtoteles,
Des Cartes und Newton, Leibnitz und Wolf. Von
jenen kuͤhnen Traͤumen des menſchlichen Geiſtes, die
man die offenbarte Philoſophie nennen koͤnnte,
ging er endlich zur kritiſchen uͤber, und ward in
kurzer Zeit ihr waͤrmſter und eiftigfter Anhänger, weil
6
fie ihn über alles erhob, was je Leute, die man für
geſcheidt gehalten hatte, geſagt und geſchrieben hatten.
Bald war er in der ganzen Stadt als der aͤrgſte phir
loſophiſche Klopffechter bekannt, in ſeinem Zimmer und
auf der Straße, bei Beſuchen und auf Spaziergaͤngen
hatte er die Wuth zu widerlegen und Proſelyten zu
machen. Leute, die nicht ſo ſtreitſuͤchtig waren, ver—
mieden ihn gern. |
Nach dreien Jahren kam er zur Freude feiner
Eltern und Verwandten in ſein Vaterland zuruͤck.
Schon nach einigen Wochen nannte man ihn in der
ganzen Gegend nur den philoſophiſchen Edel—
mann; er ſuchte alle Gutsbeſitzer zu bekehren, er
ſprach mit dem Feuereifer eines Apoſtels, und alle die
Leute, bei denen es ihm nicht gelang, haßte und ver—
achtete er. Da die Bekehrungen in unſern Zeiten oft
nicht gerathen, ſo ſah er ſich bald einſam und verlaſ—
ſen; um ſo emſiger ergab er ſich nun ganz dem
Studio ſeiner Lieblingswiſſenſchaft. Man ſah ihn
nicht anders, als in Geſellſchaft eines Buchs oder mit
gen Himmel gerichteten Augen in tranſcendentalen
Regionen mit der Seele wandernd.
Welche Fruͤchte, welche neue bisher ungeahndete
Entdeckungen wird dieſer Eifer nicht hervorbringen! —
Doch vielleicht, daß ſich die Scene ändert. — Man
ſieht wenigſtens ſchon in der Gegend dort ein Maͤd—
chen, die vielleicht bei ihm das Bekehrungsgeſchaͤft mit
beſſerem Erfolge verſucht, als es ihm ſelbſt bis jetzt
gelungen iſt.
f Ohngefaͤhr eine Viertelmeile von Weiſſenau lag
das Gut des Herrn von Birkheim. Sein Vater
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war als Kaufmann ein fehr reicher Mann geworden,
der Sohn hatte ſich nach deſſen Tode adeln laſſen und
einen anſehnlichen Landſitz gekauft, eine reiche Frau
geheirathet, und mit ihr eine Tochter gezeugt, die er
nach dem Tode ſeiner Frau ſelber erzog. — Als er
aͤlter wurde, fiel es ihm nach und nach ein, daß das
Geld fuͤr den Adelsbrief ziemlich unnuͤtz ausgegeben ſei,
und er ſuchte es nun von allen moͤglichen Dingen
wieder abzuſparen; daruͤber kam er ſo ſehr in die Ge—
wohnheit des Sparens hinein, daß er in der ganzen
Gegend fuͤr einen Geizhals ausgeſchrieen war. In
keinem Fehler nimmt der Menſch ſo leicht und ſo ge—
ſchwinde zu, als im Geize; bald lebte der Herr von
Birkheim einſam auf ſeinem Gute, von Niemand
beſucht, da er ſelber keinen Freund oder Bekannten
beſuchte; bald ſchafftie er alle Bedienten ab, die Gou—
vernante ſeiner Tochter ward fortgeſchickt, und er ſaß
nun mit dieſer allein in ſeinem Schloſſe, nur von
einem ſteinalten Bedienten und einer alten Koͤchin auf—
gewartet. Er las manche neuere Buͤcher uͤber die Er—
ziehung, und keine gefielen ihm ſo ſehr, als die,
welche auf Einſchraͤnkung der Beduͤrfniſſe drangen,
darauf, daß man junge Leute, beſonders Frauenzim—
mer, mehr von den Wiſſenſchaften zuruͤckhalten ſollte.
Der Vater befolgte alle dieſe Vorſchriften bei ſeiner
Tochter ſehr genau, er hielt ihr keine Lehrer und Leh—
rerinnen, die alte Koͤchin war neben ihrem eigentlichen
Amte ihre Kammerjungfer und Aufwaͤrterin, Sitten:
meiſterin und Erzieherin. Da das Maͤdchen auf die
Art kelne Lehrſtunden hatte, konnte ſie deſto fleißiger
ſpazieren gehen; ſie wußte weder Aſtronomie, noch
Mathematik, weder Philoſophie noch Muſik, aber auf
8
ihren einſamen Spaziergaͤngen bildete ſich ihr geſunder,
natuͤrlicher Verſtand aus, unbefangen geht ſie dort
durch die Allee, um einem Philoſophen den Kopf zu
verdrehen, der alles, was ſie nicht weiß, an den Fin⸗
gern herzaͤhlen kann.
Auf einem Spaziergange begegnete Anton der
jungen reizenden Caroline; fie fang ein luſtiges Lieds
chen, und ging ſchnell mit einer Verbeugung an ihm
vorbei. Er las ein tiefſinniges Buch. Ihr ſchwarzes
Auge ſtreift ſeinen finſtern Blick, der ſich ſchwer und
langſam vom Buche aufhebt; ſie geht voruͤber, und er
kann es nicht unterlaſſen, ihr nachzuſehn. — Gedanken-
voll ſetzt er ſich auf eine Raſenbank, er glaubt noch
über die menſchliche Seele nachzudenken, und wieder—
holt ſich nur in der Phantaſie die leichtſchwebende Ge—
ſtalt des Maͤdchens. Was iſt es, das dieſe Vorſtel—
lung unaufhoͤrlich in ſeine Seele zuruͤckbringt? Er kann
es nicht begreifen, und verfällt in angenehme Träumer
reien, als Caroline wieder von ihrem Spaziergange
zuruͤckkoͤmmt. Er ſteht ehrerbietig auf, macht eine
tiefe Verbeugung, und vergißt es daruͤber, ihr ins
Geſicht zu ſehen. Als fie fort iſt, will er ihr nach,
um den Blick ihres ſchwarzen freundlichen Auges auf:
zufangen; er ſteht unſchluͤſſig, die Zeit verlaͤuft, und
fie iſt verſchwunden. Unwillig nimmt er die philofos
phiſche Abhandlung aus dem Graſe auf, und geht
nach Hauſe. | |
Tiefſinnig feßt er ſich in einen Stuhl. Er fraͤgt
ſich: was ihm ſei? und kann auf dieſe Frage in dem
ganzen Woͤrterbuche ſeines Verſtandes keine Antwort
finden; er greift nach ſeinen Buͤchern und wirft ſie
9
—
ſogleich wieder weg, denn * ie kommen ihm alle abge:
ſchmackt vor.
Der Leſer wird es ſogleich errathen, was die Ur:
ſach dieſer gaͤnzlichen Veraͤnderung war: nichts anders,
als Liebe. Mit dieſem Worte bezeichnen wir taͤglich
gewiſſe Erſcheinungen in der menſchlichen Seele, die
uns ſehr raͤthſelhaft, ja unbegreiflich vorkommen wuͤr—
den, wenn wir uns nicht daran gewoͤhnt haͤtten, das
Wort Liebe zu nennen, und uns nun einzubilden,
wir haͤtten ſie erklaͤrt; jedermann verſteht dies Wort
anders, in jeder Seele zeigt ſich dieſe Verwandlung
auf eine verſchiedene Weiſe. Was war es aber ei—
gentlich, das in dem einzigen Blicke lag, der bewirkte,
daß Anton fo plöglich fein Steckenpferd abgeſchmackt
fand? — Ihr, die ihr die menfchliche Seele in ihre klein—
ſten Beſtandtheile zerſpalten wollt, antwortet lieber nicht,
denn ich werde euch nie Recht geben. Schweigt eben—
falls, ihr kalten materiellen Philoſophen, die ihr den Kno—
ten zerſchneidet, ſtatt ihn aufzuloͤſen, und die ihr alles auf
einen phyſiſchen Trieb hinausleiten wollt, denn euch
werde ich noch weniger glauben.
Mag es zugehen wie es will, genug, Anton war
ſeit dieſem Tage ein ganz andrer Menſch. Er ſperrte
ſich nicht mehr auf ſeinem Zimmer ein, er ließ ſich
neue Kleider machen, er ging oft ſpazieren, und am
liebſten in der Naͤhe des Schloſſes, wo Caroline
wohnte. Er ſah ſie zuweilen am Fenſter, zuweilen
begegnete er ihr auch in der Allee; er ward jedesmal,
wenn er ſie ſah, verwirrt und ſchuͤchtern; er hatte es
ſich ſelbſt noch nicht geſagt, daß er liebe: wie haͤtte
er es ihr ſagen koͤnnen? N
10
Einige Wochen waren fo verfloffen, als Anton
mit fich einig ward, daß er wohl verliebt fein muͤſſe.
Er verglich es mit dem, was er ehemals in Romanen
und Schauſpielen uͤber die Liebe geleſen hatte, und
zweifelte dann wieder; er ſchlug eines der neueſten Buͤ—
cher nach, und berechnete, wie viel Verſtand er wohl
noch verlieren muͤſſe, um ſich mit Ehren als Liebhaber
produziren zu koͤnnen; denn er fand ſich gegen jene
Verliebten außerordentlich kaltbluͤtig und vernuͤnftig.
Er ließ endlich die Buͤcher liegen, und beſchloß, un—
vorbereitet, und wenn es nicht anders ſein koͤnnte, auch
unpoetiſch einen Sturm auf das Herz des geliebten
Gegenſtandes zu verſuchen.
Die Gelegenheit dazu fand ſich ſehr bald. An
einem ſchoͤnen Sommertage ſaß er wieder in der Allee,
die nach dem Schloſſe des Herrn von Birkheim
fuͤhrte, als Caroline herunter kam, um ſich im
Schatten der Baͤume zu erquicken. Anton machte
wieder ſeine Verbeugung, Caroline die ihrige, indem
ſie im Begriff war, weiter zu gehen. Jetzt ſammelte
der furchtſame Liebhaber allen ſeinen Muth, und bot
ihr ſeinen Arm beim Spazierengehen an; das Maͤdchen
nahm ihn, und ſie ſchlenderten neben einander den
Gang hinunter. Anton druͤckte ſich faſt das Herz ab,
um dem Fraͤulein etwas Schoͤnes, Zaͤrtliches oder Ver—
bindliches zu ſagen: aber wenn er eben damit uͤber die
Zungenſpitze fahren wollte, ſo kam es ihm jedesmal ſo
abgeſchmackt vor, daß er es eilig wieder zuruͤcknahm.
Wie viele Komplimente, wie viel ſuͤßer Unſinn ging
an dieſem Tage verloren! Man ſprach vom ſchoͤnen
Wetter, von der Ausſicht, von den Annehmlichkeiten
eines Spazierganges, und von dem Vergnuͤgen, daß
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man ſich habe kennen lernen. Sie waren zu einer
Laube gekommen, und beide ſetzten ſich ſchweigend nieder.
Caroline machte eine Bemerkung uͤber die Stille,
und Anton ergriff endlich dieſe Gelegenheit, um eine
Liebeserklaͤrung vorzuberriten. 5
Sie wollen mir alſo erlauben zu ſprechen? fragte
er mit einem bedeutenden Blicke. |
Warum wollen Sie erft auf meine Erlaubniß warten?
Und wovon ich nur immer will, Sie zu unterhalten?
Mir wird jede Unterhaltung von Ihnen angenehm ſein?
Nun ſo ſehen Sie denn zu Ihren Fuͤßen (er kniete
naͤmlich ploͤtzlich nieder) einen Menſchen, der Sie an—
betet, für den es, ohne Sie, kein Gluͤck in dieſem
Leben giebt. Ja, mein Fraͤulein! Sie haben meinen
Stolz gedemuͤthigt, und mich aus dem Gebiete des
Unſinns ins ſchoͤne menſchliche Leben zuruͤckgerufen.
Zu Ihren Fuͤßen will ich meine Philoſophie und alle
meine Traͤumereien abſchwoͤren, zu Ihren Fuͤßen eine
geſundere und beſſere Weisheit lernen. Glauben Sie
mir, Schoͤnſte, Theuerſte, ich frage nichts mehr nach
den Kategorien und Denkformen; mein erſtes morali—
ſches Princip iſt jetzt die Liebe, und ſeit ich Sie kenne,
wuͤnſche ich nichts ſehnlicher, als die Gegenſtaͤnde außer
mir zu erkennen. b
Mit einem lauten Gelaͤchter ſprang Caroline auf
und ließ ihn auf den Knien liegen; er blieb noch lange
in dieſer Stellung, denn dieſe unerwartete Wendung
hatte ihn uͤberraſcht, dann ſtand er langſam auf, und
ging mit bekuͤmmerten Blicken nach Hauſe. Sein Muth
war voͤllig niedergeſchlagen, und nirgends, weder beim
Ariſtoteles, noch Plato, weder bei Kant, noch Karteſius
konnte er Troſt für feine Leiden finden.
12
Caroline erzählte indeß mit lautem Lachen der
alten Koͤchin ihr Abenteuer; ſie war anfangs uͤber die
unvermuthete Wendung des Geſpraͤchs erſtaunt und be—
treten geweſen, und der Schluß war ihr ſo ſpashaft
und komiſch vorgekommen, daß fie ganz athemlos vor
Lachen nach Hauſe gelaufen war. — O du weißt nur
nicht, welch Schickſal deiner harret, ſonſt wuͤrdeſt du,
ſtatt zu lachen, Thraͤnen vergießen, du wuͤrdeſt nicht
eines ungluͤcklichen Liebhabers ſpotten, der dir nur darum
mißfaͤllt, weil er auch im Feuer der Leidenſchaft ſeine
Philoſophie nicht vergeſſen kann; koͤnnteſt du in die
Zukunft ſehen, o ſo wuͤrdeſt du dich ihm ohne Bedenken
in die Arme geworfen haben. Hat man dir nie geſagt,
daß Amor ein rachſuͤchtiger Bube ſei, und daß er jede
Verſpottung der Liebe hart beſtraft?
In einer benachbarten kleinen Stadt wohnte ſeit
undenklichen Zeiten ein alter Edelmann. Er war von
altem Hauſe, hatte ein anſehnliches Vermoͤgen, das er
in der Stille verwaltete, und dabei ſo wenig ausgab,
als nur immer möglich. Er war ſchon uͤber ſechzig
Jahr, und unverheirathet, aber von einer feſten und
dauerhaften Geſundheit; alle Frauenzimmer vermied
er, als ein aͤchter Hageſtolz und erklaͤrter Weiberhaſſer.
Die aͤhnliche Stimmung der Gemuͤther, ein gewiſſer
Zug der Sympathie führte dieſen Herrn von Ahl—
feld mit dem Herrn von Birkheim zuſammen, ihre
Bekanntſchaft ward bald zu einer vertrauten Freund—
ſchaft. Lange gingen ſie oft mit einander ſpazieren,
und theilten ſich ihre Ideen uͤber die beſte Oekonomie
mit, oder einer beſuchte den andern. Der alte Hage—
ſtolz gab dem Herrn von Birkheim manchen guten
Rath, wie er den Garten beſſer benutzen koͤnnte,
13
oder ein Kornfeld mit einer andern Frucht beſaͤen;
Birkheim befand ſich jedesmal wohl dabei, und
die Bande der Dankbarkeit knuͤpften ihn noch feſter
an ſeinen Freund.
Als beide ohngefaͤhr ſeit einem halben Jahre mit
einander Bekanntſchaft gemacht hatten, verſpuͤrte man
plotzlich an dem Herrn von Ahlfeld eine ſehr auf:
fallende Veraͤnderung. Er war ſonſt ein Anhaͤnger der
Mode geweſen, die er mit ſeinem Gelde zugleich von
ſeinem Vater geerbt hatte, alles, was er trug, war
auch eigentlich aus der Garderobe ſeines verſtorbenen
Vaters; man mußte oft uͤber die ſeltſame Carricatur
lachen, wenn er mit ſeinem rothen Sammtrocke, mit
langſamem, gravitaͤtiſchen Schritte uͤber die Straße
ging. Jetzt erſchien er mit einemmale in einem Kleide
von feinem rothen Tuche nach dem neueſten Schnitte,
mit einem neuen Degen und einer Peruͤcke mit her—
untergekaͤmmten Haaren, die ihm einen Anſtrich von
Empfindſamkeit gab. Es iſt wahr, er blieb immer
noch, wie zuvor, Carricatur, aber man konnte jetzt
wenigſtens nicht mehr die Schuld auf ſeinen Schneider
ſchieben. Sein alter Freund fragte ihn oft und drin;
gend, was ihn zu dieſer ſeltſamen Verwandlung ver—
mocht habe, aber er wich immer ſorgſam feinen, Fra:
gen aus; er ſpielte den Geheimnißvollen, um ihn nach
einiger Zeit mit einer Erklaͤrung deſto angenehmer zu
uͤberraſchen.
Caroline bemerkte bald, daß alles, was der alte
Hageſtolz vornahm, nur gegen ſie gerichtet ſei, und
dieſe Entdeckung machte ihr nicht wenig Angſt. Sie
ging ihm allenthalben aus dem Wege, aber er folgte
ihr allenthalben; der Herr von Ahlfeld ſagte ihr
14
immer etwas Schmeichelhaftes, und unterließ nicht,
ihr jedesmal Suͤßigkeiten vom Conditor mitzubringen.
Sie ſind ja wahrhaftig ganz wie die jungen Herrn,
rief ihm manchmal der Herr von Birkheim zu,
ich kenne Sie nicht wieder; Sie ſind mit einemmale
ganz jung geworden, und ſo artig, wie ich auch wohl
zuweilen in meiner Jugend war. — Ahlfeld freuete
ſich innerlich uͤber dieſes Lob, aber Caroline konnte
weder die Artigkeit, noch die Jugend an dem Hageſtolz
finden.
Er uͤbte ſich aber unaufhoͤrlich in einem angeneh—
men Betragen; er machte, wenn er allein war, Kom—
plimente vor ſeinem Spiegel, er ſuchte ſeinem Geſichte
ein jugendlicheres Anſehn zu geben, er las neuere Buͤ—
cher, um mit der Sprache der Liebhaber bekannt zu
werden. Er erſchrack aber, da er nichts, als wilde
Ausrufungen fand, ein ewiges Niederſtuͤrzen vor dem
geliebten Gegenſtande, entſetzliche Fluͤche und Schwuͤre.
Er uͤberlegte, daß dazu ein Koͤrper gehoͤre, der mehr
abgehaͤrtet ſei, als der ſeinige, und eine Lunge von
einem dauerhafteren Stoffe, er legte daher dieſe Buͤcher
wieder fort und ſtudirte ſich in die Sprache der Bar
niſen hinein; er fand hier beſſer ſeine Rechnung,
und lernte es ſehr bald, in zierlich geſetzten ellenlangen
Perioden ſeine Zaͤrtlichkeit vorzutragen. Nachdem er
an einem Morgen alles wohl uͤbelegt hatte, ging er,
mit zierlichen Phraſen ausgeruͤſtet, nach dem Schloſſe
des Herrn von Birkheim, um heute einen entſchei—
denden Schlag zu wagen.
Caroline glaubte am heutigen Tage vor ihrem
Anbeter Ruhe zu haben, und ſaß mit einer weiblichen
Arbeit auf ihrem Zimmer, als der Herr von Ahl feld
15
ſchoͤn geſchmuͤckt und mit einem feſtlichen Anſtande
hineintrat. Er ſetzte ſich zu ihr, man ſprach anfangs
uͤber gleichguͤltige Gegenſtaͤnde, aber das Fraͤulein merkte
doch, daß ihr Liebhaber etwas auf dem Herzen habe.
Endlich ergriff er ihre Hand, und ſagte mit einem
feierlichen Ton: „Mein Fraͤulein! ſollten Sie es
wirklich ganz unbemerkt gelaſſen haben, wie mein
Herz ſeit einiger Zeit unaufhoͤrlich zu dem Ihrigen
hingezogen wird? Dieſes Attachement betheure ich
Ihnen mit dieſem ehrerbietigen Handkuſſe, iſt nicht, wie
Sie vielleicht glauben koͤnnten, ein Werk des Zufalls,
oder eine voruͤbergehende Neigung: nein, meine Ver—
ehrungswuͤrdige, es iſt ein unwiderſtehlicher Hang,
der Wille des Verhaͤngniſſes, der mir dieſe grauſamen
und zaͤrtlichen Feſſeln anlegt. O mein Fraͤulein, leſen
Sie in meinen Augen die Zaͤrtlichkeit, die mein Herz
hineingeſchrieben hat; leſen Sie dort, und antworten
Sie mir ebenfalls durch einen guͤtigen, mildſtrahlenden
Blick: wollen Sie mich aber unausſprechlich gluͤcklich
machen, o ſo erlauben Sie Ihrer Zunge die wenigen
Worte zu ſagen: ich liebe Sie!“ —
Nach dieſer Rede kniete er ehrfurchtsvoll nieder
und erwartete in dieſer demuͤthigen Stellung ſein Todes⸗
urtheil, welches ihm auch ohne Zweifel geſprochen ſein
wuͤrde, wenn nicht in dieſem Augenblicke der Herr
von Birkheim von ohngefaͤhr hereingetreten waͤre,
um dieſer Scene ein Ende zu machen. Die vrrwirrte
und beſchaͤmte Caroline entlief in ein anderes Zim—
mer, der Liebhaber hob ſich langſam vom Boden auf,
und der Vater konnte vor lautem Aachen noch immer
nicht zu Worte kommen.
Woruͤber lachen Sie? fragte Ahlfeld halb verwirrt.
16
Worüber? Zum Henker, über Sie! — Hat Sie
meine Tochter endlich gedemuͤthigt? Nun, das iſt mir
ſchon Recht! — Ja, ja, Herr von Ahlfeld, jedem
ſchlaͤgt endlich die Stunde, da hilft kein Straͤuben.
Man kann den Weibern auf lange, aber Me tan
nicht auf immer entlaufen!
Laſſen Sie uns ein geſcheidtes Wort mit einander
reden, lieber Herr von Birkheim.
Herzlich gern, lieber Freund!
Nun eroͤffnete der Verliebte dem Vater ſein zaͤrt—
liches Herz und hielt foͤrmlich um ſeine Tochter an.
Der Vater freute ſich uͤber den Antrag, und ſagte
endlich: „Aber eins, lieber Freund! muß ich Ihnen
noch zu überlegen geben, nämlich, ob Ihre Liebe fo
ſtark iſt, daß Sie meine Tochter ohne alle Ausſteuer
nehmen wollen. Nach meinem Tode iſt ſie natuͤrlicher⸗
weiſe die Erbin meines ganzen Vermögens: aber ich
habe mir feſt vorgenommmen, ſo lange ich lebe, auch
nicht einen Heller davon herauszugeben, und dieſen
Vorſatz werde ich gewiß nicht brechen.“
Der Liebhaber bat ſich uͤber dieſe unerwartete Be—
dingung einige Tage Bedenkzeit aus, die ihm vom Vater
gern zugeſtanden wurden; ſchon am folgenden Tage
kam Ahlfeld zuruͤck, und ging den Vorſchlag des
Vaters ein. Die Alten waren nun einig, ſie wollten
es jetzt verſuchen, die Tochter dahin zu bringen, daß
dieſe ihren Plan eben ſo annehmlich faͤnde.
Caroline hatte ſich auf den Antrag ſchon gefaßt
gemacht, ſie erſchrack daher nicht, und verbarg den
Widerwillen gegen ihren Liebhaber fo gut es ihr mög-
lich war. Sie gab keine entſcheidende Antwort, und
ſowohl der Liebhaber als der Vater verließen ſie in der
17
Hoffnung, daß ſie ſich gewiß zu dieſer vortheilhaften
Heirath bequemen werde.
Troſtlos ſaß indeß das Maͤdchen, und dachte auf
Mittel, um dem Schickſal, das ihr ſo fuͤrchterlich
war, zu entfliehen. Sie bereuete jetzt ihr Betragen
gegen den jungen Weiſſenau, ſie bat ihn im Her—
zen tauſendmal um Vergebung, denn er war ihre ein—
zige Hoffnung.
Anton war nicht weniger betruͤbt als ſie; mit
traurigem Auge ſah er oft nach dem Schloſſe hinuͤber,
er wagte es nicht mehr in der Allee ſpazieren zu
gehen, weil er fuͤrchtete, Carolinen zu begegnen
und ſich von ihr verhoͤhnt zu ſehn. Caroline im
Gegentheil, ging jetzt haͤufiger als je in die Allee, ſie
erwartete alle Tage ihren philoſophiſchen Liebhaber,
der jetzt, gegen den Herrn von Ahlfeld gehalten,
ein Adonis ſchien.
Ein Ohngefaͤhr fuͤhrte ſie endlich wieder beide zu—
ſammen. Sie gruͤßten ſich, er wollte vorbeigehn, ſie
erkundigte ſich nach ſeinem Befinden und nach der
Urſach ſeiner Traurigkeit. Er benutzte dieſe guͤnſtige Ge—
legenheit, um ihr noch einmal ſeine Liebe zu erklaͤren,
eine Erklaͤrung, die jetzt ohne Lachen angehoͤrt ward.
Caroline erzaͤhlte ihrem Liebhaber die Gefahr, in
der ſie jetzt ſchwebe, ihm auf ewig entriſſen zu werden.
Anton war erſtaunt, und wußte kein anderes Mittel,
als ſich ſelbſt als Sohn dem Herrn von Birkheim
anzutragen: der Schritt ſchien bedenklich, aber der
einzige, der ſich jetzt thun ließe.
Der Vater quälte indeſſen die Tochter um eine
entſcheidende Antwort, ſie antwortete in zweideutigen
Ausdruͤcken, ſo lange es nur moͤglich war; da aber
XIV. Band, 2
18
der Vater zornig auf eine beſtimmte Erklärung drang,
ſo ſagte ſie endlich mit feſter Stimme: ſie koͤnne nie
die Gemahlin des Herrn von Ahlfeld werden.
Der Vater wuͤthete, da er ſeinen Plan in Gefahr
ſah zu ſcheitern, feine Tochter war ſchon ſeit langer
Zeit ſeine Sorge wegen der Mitgift geweſen, jetzt ſah
er die erwuͤnſchteſte Gelegenheit, ſie ohne Ausſteuer zu
verheirathen, und dieſe Gelegenheit ſollte er nicht be—
nutzen duͤrfen. N
Meine Tochter iſt eine Boshafte, eine Ungehorſame,
die ihren Vater ins Grab bringen wird! rief er dem
eintretenden Herrn von Ahlfeld entgegen. — Ca—
roline entfernte ſich. — Sie iſt ungehorſam? fragte
Ahlfeld mit einem betruͤbten Ton. — Ja, antwortete
der Vater, ſie ſchlaͤgt Ihre Hand aus, ſie — o ich
bin von Sinnen! Ich habe ſchon Gaͤſte zur Hochzeit
eingeladen, ich habe ſchon nach der Reſidenz des be;
nachbarten Fuͤrſten an den Prior, meinen Vetter ge—
ſchrieben, er koͤmmt gewiß, um ſie beide zu trauen,
und haͤtte aus Freundſchaft gewiß nichts fuͤr die Muͤhe
genommen, ſondern es ſich im Gegentheil zur Ehre ge—
rechnet! — Und nun ſind mit einemmale alle meine
Freuden, alle meinen ſchoͤnen Plane zu Grunde
gerichtet!
Der junge Herr von Weiſſenau ließ ſich jetzt
zu einem geheimen Geſpraͤch mit dem Vater ſeiner
Geliebten melden; dieſer erſtaunte nicht wenig, da ſich
noch ein Liebhaber ſeiner Tochter fand. Anton bat
ſo dringend und beweglich um ſeine Einwilligung, daß
der Alte mehr als einmal in Verlegenheit gerieth; er
ſahe die Halsſtarrigkeit ſeiner Tochter, er erwaͤgte ob
dieſer Liebhaber nicht auch vielleicht die Bedingung ein—
19
gehn würde, die er dem Herrn von Ahlfeld vorge—
legt hatte; er beſann ſich eine Zeitlang und verſprach
ihm endlich ſeine Tochter, wenn er ſie ohne Ausſteuer
nehmen wollte. — Nichts weiter? rief Anton ent—
zuͤckt, o fo bin ich ein gluͤcklicher Menſch! — aber
vergeſſen Sie nicht, rief ihm Birkheim nach, daß
dazu die Einwilligung Ihrer Eltern mee iſt! —
Anton flog nach Hauſe.
Was thuts, ſagte der Vater zu ſich ſelbſt, wenn
ich auch ſchon dem Herrn von Ahlfeld mein Wort
gegeben habe? Die Familie des Weiſſenau iſt reis
cher und angeſehener, er iſt jung und huͤbſch, und
meine Tochter wird wenigſtens gegen dieſe Heirath keine
Einwendungen machen; ich werde ſie noch vortheilhaf—
ter los, als ich jemals gedacht haͤtte.
Anton ging ſogleich zu ſeinen Eltern. Sein Vater
war ein harter und rauher Mann, eingebildet auf ſein
Vermögen und feinen Adel; man kann daher vermu—
then, welchen Eindruck die Bitte ſeines Sohnes auf
ihn machte. — Schaͤmſt du dich nicht, ſagte er mit
der groͤßten Unfreundlichkeit, mir ſo etwas zu ſagen?
— Meinem Sohn ein Maͤdchen ohne Ausſteuer! —
Von buͤrgerlicher Abkunft, deren Vater ſich erſt durch
Geld in unſern Stand hat hineinſchleichen muͤſſen! Ein
Mädchen, der es ſchon eine Ehre fein müßte, wenn
du nur an ſie daͤchteſt, dieſe verſpricht man dir unter
ſo ſchimpflichen Bedingungen, und du haſt ſogar die
Frechheit, meine Einwilligung zu ſolcher Meſſalliance
zu hoffen?
Die Bitten, die Thraͤnen des Sohnes waren ver—
gebens, noch mehr aber die philoſophiſchen Gruͤnde,
mit denen er beweiſen wollte, ſein Vater habe Unrecht,
nge
20
er ſaͤhe das Verhaͤltniß von einer ſchiefen Seite an;
das Gluͤck des Sohnes muͤſſe ihm, wenn er ihn liebe,
theurer als alle ſeine Vorurtheile ſein. — Der Vater
nannte ihn einen Narren, und ging fort, ohne ihn
weiter anzuhoͤren. 5
Anton war troſtlos, Caroline ebenfalls, als er
ihr die Nachricht uͤberbrachte. Der Herr von Birk—
heim dachte jetzt wieder an den aͤlteren Liebhaber,
und drohte ſeiner Tochter, ſie zu einer Verbindung
mit dieſem zu zwingen. Jedermann machte Plane,
Anton und Caroline entſchloſſen ſich zur Flucht.
Der Prior aus der Reſidenz kam unterdeſſen an.
Man entdeckte ihm die Lage der Sachen, und er
ſprach weitlaͤuftig und lange mit Carolinen, er zer—
gliederte ihr die Pflichten eines Kindes gegen ihre
Eltern; er ſchalt auf die thoͤrichte Liebe, die gewoͤhn—
lich unter jungen Leuten herrſcht, und ſie zu tauſend
dummen Streichen verleitet; er bewieß ihr aus dem
alten und neuen Teſtamente, daß es ihre Schuldigkeit
ſei, den Befehl ihres Vaters zu erfuͤllen; er lobte end—
lich den alten Braͤutigam und ſchimpfte auf Anton:
aber alle ſeine Bemuͤhungen waren vergebens, er ge—
wann nichts weiter damit, als daß das Maͤdchen noch
halsſtarriger wurde, daß ſie endlich geradezu erklaͤrte,
nur der Eigennutz ihres Vaters ſei an ihrem Ungluͤcke
Schuld.
Der Praͤlat kam in Verlegenheit, Herr von A hl—
feld war in Verzweiflung, der Vater wuͤthete. —
Alle machten Verſuche, ſie dem Befehl des Vaters ge—
neigt zu machen, ſogar die alte Koͤchin trat mit hinzu,
um das Herz ihres Fraͤuleins zu ruͤhren, aber dieſe
blieb, wie vorhin, bei ihrem Vorſatz.
21
Der Praͤlat verſchloß ſich nun mit dem Vater,
um mit ihm zu überlegen, welche Mittel man in die⸗
fer Lage ergreifen muͤſſe. — Am folgenden Morgen
ward Caroline ſchon ganz fruͤh, als noch alles in
der Gegend ſchlief, in einen Wagen gepackt, der Praͤ—
lat ſetzte ſich zu ihr, der alte Bediente begleitete ſie,
und ſo fuhr man nach einem Kloſter, das ſeitwaͤrts
und einſam ohngefaͤhr ſechs Meilen von dem Schloſſe
Birkheim lag. Die Priorin war eine Freundin
des Praͤlaten, ihr ward Caroline mit dem Be—
deuten uͤberliefert, eine ſtrenge Aufſicht auf ſie zu
haben. Der Praͤlat fuhr fort und Caroline ſaß
in ihrer einſamen Zelle und weinte.
Man war entſchloſſen, ſie ein halbes Jahr hin—
durch hier leben zu laſſen. Der Vater glaubte, daß
die Einfoͤrmigkeit der Lebensart und die Langeweile ſie
dann wohl bewegen würden, ihre Hand dem Herrn
von Ahlfeld zu geben.
Anton war in Verzweiflung, daß Caroline ab—
gereifet ſei, und daß Niemand wiſſe, wohin. Er fragte
Jedermann, und keiner konnte auf ſeine Fragen Ant—
wort geben. Er hatte einen ſehr ſcharfſinnigen und
weitlaͤuftigen Plan erſonnen, mit ſeiner Geliebten zu
entfliehen, und dann die Einwilligung ſeiner Eltern
zu erzwingen, und nun war Caroline fort, und alle
ſeine klugen Erfindungen waren umſonſt.
Unter dem Vorwande, einen Freund zu beſuchen,
reiſte er nach einer Woche ab, uud ſtreifte allenthalben
in der Gegend umher, um Carolinen wiederzufin—
den. Er beſuchte alle kleinen Staͤdte und Doͤrfer,
lauerte bei jedem Hauſe, wo es ihm nur auf irgend
eine Art wahrſcheinlich war, daß ſie ſich aufhalten
22
koͤnne: aber bis jetzt war ſeine Muͤhe noch immer ver—
gebens geweſen. — In einer Dorſſchenke hoͤrte er
einſt von ohngefaͤhr erzaͤhlen, daß man vor drei
Wochen ein ſehr ſchoͤnes Fraͤulein in das benachbarte
Kloſter gebracht habe, die ſehr betruͤbt ausgeſehen
hätt, — Anton ſchloß mit Recht, daß dieß feine
Geliebte fein würde, — Er hatte nun nichts angele—
gentlicheres zu thun, als Tag und Nacht um das
Kloſter herumzuſchleichen, und zu erwarten, ob er
nicht einmal ſeine Geliebte ſehn wuͤrde. Er gewann
bald durch Geld und Freundlichkeit ein junges Maͤd—
chen, das im Kloſter eine Art von Aufwaͤrterin war,
und dieſe erzaͤhlte ihm endlich fuͤr gewiß, daß Caro—
line hier ſeit einiger Zeit wohne. Anton hatte itzt
ſogar das Gluͤck, ſie einmal an einem Fenſter in der
Ferne zu ſehen; die Augen der Liebhaber ſind ſchaͤrfer
als die Augen der uͤbrigen Leute; er erkannte ſie ſo—
gleich, und bemerkte ſogar, daß ſie traurig ſei. Auch
Caroline mußte ihren Geliebten geſehn haben, denn
ſie kam jetzt haͤufiger, als ſonſt, an das Fenſter; ſie
winkten einander zu, aber wie wenig ſind Liebende mit
ſtummen Winken zufrieden? — Anton erſann ein
neues Projekt, und als es voͤllig zu Stande war,
ſchrieb er feiner Geliebten folgenden poetiſchen und phi—⸗
loſophiſchen Brief.
Geliebte!
So hab' ich Dich endlich doch wiedergefunden,
trotz der Bosheit meiner und Deiner Verfolger! Die
Liebe beſiegt alle Hinderniſſe, und ſie wird auch uns
gluͤcklich machen. Aber laß uns jetzt nicht von neuem
die koſtbare Zeit verſaͤumen, da wir beide wiſſen,
23
—
was wir von unfern Eltern zu hoffen haben; frei:
willig werden ſie nie unſre Haͤnde in einander legen,
wir muͤſſen ſie zwingen! — Wie? hoͤr' ich Dich
fragen. — Nun ſo hoͤre mich, theureſte Geliebte, und
willige in meinen Vorſchlag. — Ich habe eine Stelle
entdeckt, wo ich bequem uͤber die Mauer des Kloſters
ſteigen kann; von dort komme ich leicht zu dem Fen—
ſter, an welchem ich Dich nun ſchon zu meiner Freude
ſo oft geſehen habe. Beſchreibe mir, wo ich von dort
aus Dein Zimmer finde, und ich komme dann morgen
in der Nacht zu Dir. — Keine Einwendungen, wenn
Du mich liebſt, Theureſte; ich ſehe Dich jetzt ſchon
als meine Gattin an, und was findeſt Du denn an
dieſem Schritte tadelnswuͤrdiges? Laß keine falſche
Schaam, kein Vorurtheil, keinen von den gewoͤhn—
lichen Einwuͤrfen in Deinem Herzen gegen mich ſpre—
chen, denn an dieſer Nacht, an dieſer Erfuͤllung meiner
Bitte haͤngt das Gluͤck unſers ganzen kuͤnftigen Lebens. —
Ich verlaſſe Dich dann vor Anbruch des Morgens,
und wir haben uns ſelber als Mann und Frau den
Segen geſprochen. Mögen Sie Dich dann im Klofter
aufbewahren; mag mir mein hartherziger Vater ſeine
Einwilligung verſagen; mag der Deinige Dir eine
Ausſteuer verweigern: uns kann alles gleichguͤltig ſeyn.
In Dir ſchlummert dann ein Pfand, das ſie bald
wider ihren Willen zwingen wird, ſich zu vergleichen,
und uns Sohn und Tochter zu nennen. Den Eigen—
ſinnigen muß man mit Eigenſinn begegnen, um ihren
Trotz zu beugen: darum Geliebte, willige in meinen
Vorſchlag. Thuſt Du es nicht, ſo bin ich elend,
und auch Du biſt es; denn Dein Vater wird
gewiß am Ende Mittel finden, Dich mit dem
24
alten verliebten Gecken zu verbinden, und dann find
wir auf ewig auseinander geriſſen. — Oder wuͤnſcheſt
Du lieber mich ſterben zu ſehen und Dich an einen
alten, abgeſchmackten Narren ſchmieden zu laſſen: nun
wohl, ſo zerreiß dieſen Brief und antworte mir nicht. —
Doch nein, warum will ich denn zweifeln? Du ſiehſt
Dich ſelbſt als meine geliebte Gattin an, und wenn
es einſt Dein Wunſch war, mich Gemahl nennen zu
koͤnnen, warum wollteſt Du mir denn nicht noch heut
Dein Zimmer und Deine Arme oͤffnen? worin liegt
die Suͤnde, wenn wir ein Gluͤck genießen, das unſer
Eigenthum iſt, und wenn dieſer Genuß zugleich die
Quelle unſrer kuͤnftigen Seligkeit wird? — Schicke
mir durch die Ueberbringerin dieſes Blattes ein paar
Worte, in welchen Du mir die Lage Deines Zimmers
beſchreibſt. Ich ſage Dir Lebewohl, bis ich Dich ſelbſt
in meine Arme ſchließe.
Der Deine bis in den Tod.
Dieſen Brief gab er dem Maͤdchen, das ihn noch
an eben dem Tage Carolinen uͤberbrachte Dieſe
erſtaunte, als ſie den Vorſchlag ihres Geliebten ergriff,
uͤberlegte eine Zeitlang, was ſie antworten ſollte, und
ſchrieb ihm endlich folgendes:
Mein Theuerſter!
Ihr Brief hat mich uͤberraſcht. Ich fuͤhle es, daß
ich viel dagegen ſagen koͤnnte und ſollte. Ich bin im
Begriff, es zu thun, und dann lege ich doch wieder
die Feder nieder. — Da es Ihr Gluͤck entſcheidet,
wie Sie ſagen, da Sie es als einen Beweis meiner
Liebe anſehn; ſo kommen Sie in der folgenden Nacht.
25
Das bewußte Fenſter wird offen fein, es ſtoͤßt auf einen
langen Gang, dieſen gehn Sie ganz hinunter. Die letzte
Thuͤr zur rechten Hand iſt die meinige. Ich zittre, indem
ich Sie erwarte. Leben Sie wohl!
Caroline.
Wie groß fuͤhlte ſich unſer Held, als er dieſe Zeilen
erhalten hatte; er ward dadurch voͤllig von Carolinens
Liebe uͤberzeugt; er fuͤhlte ſich in eben dem Augenblick
uͤber alle Zufaͤlligkeiten, uͤber den Eigenſinn ſeiner Eltern
und den Geiz des alten Birkheim erhoben. Er hatte
nun ein Mittel ausfindig gemacht, das ihm ohne allen
Widerſpruch den Beſitz ſeiner Geliebten verſicherte; ſtolz
ſtand er da, wie der Regent ſeines Schickſals, und ſagte
eine Tirade nach der andern, die alle beweiſen ſollten:
der Menſch vermoͤge alles, wenn er es nur ernſtlich
wolle. — Mit heißer Sehnſucht erwartete er die folgende
Nacht; er ſchlief nur wenig, der Gedanke an Caroli—
nen erhielt ihn wach.
Seine Geliebte konnte noch weniger ſchlafen; bald
gereute ihr die Antwort, die ſie ihm gegeben hatte, bald
ſah ſie wieder aus dem Fenſter, ob die Sonne nicht bald
aufgehen wollte, bald gingen ihr die Stunden zu lang—
ſam, bald zu ſchnell. — Der Tag erſcheint, und ein
Wagen faͤhrt bei dem Kloſter vor. Die junge Graͤſin
von Werdenburg ſteigt mit ihrer Mutter aus der
Kutſche, die Mutter empfiehlt der Priorin ihre Tochter,
die auf ein Jahr hier wohnen ſoll, und faͤhrt wieder fort.
Man giebt der Graͤfin ein Zimmer, das ihr truͤbe und
melancholiſch vorkoͤmmt. Die Priorin, die ſich der rei—
chen Graͤfin gern verbindlich machen will, zeigt ihr
26
mehrere Zimmer, und auch das, welches Caroline
bewohnt. Die Ausſicht in einen Garten, die freie Luft,
die größeren Fenſter, alles gefiel der Graͤfin, und ſogleich
wird Carolinen vorgeſchlagen, aus dieſem Zimmer
auszuziehn, und ein andres in Beſitz zu nehmen. Daß
ſie ſich weigerte, kann man ſich denken; ſie erſchoͤpfte alle
moͤglichen Entſchuldigungen, die man alle unguͤltig fand.
Halb und halb gab ſie endlich ihre Einwilligung, und es
ward ſogleich eine Aufwaͤrterin gerufen, die ihre Sachen
mußte einpacken helfen. Die Graͤfin bezieht das Zimmer,
und Caroline das, welches erſt fuͤr ihre Nebenbuhlerin
beſtimmt geweſen war.
Das erſte, was ſie that, war, daß ſie im heftigen
Verdruß einen Brief an ihren Geliebten ſchrieb, worin
ſie ihm den ungluͤcklichen Zufall meldete, der ſo ploͤtzlich
ihren Plan zerſtoͤrt habe. Sie gab der Vertrauten den
Brief, und ging ſinnend auf und ab. — Spaͤt am
Abend koͤmmt die Vertraute zuruͤck; der Herr iſt nirgends
zu finden, ruft ſie unwillig, und giebt Carolinen das
Billet zuruͤck; ich bin drei Stunden nach ihm herumge—
laufen, ſchicken Sie es ihm lieber morgen fruͤh, vielleicht
daß ich ihn dann treffe.
Caroline, die wohl wußte, daß es morgen, auch
noch ſo fruͤh, immer ſchon zu ſpaͤt ſein wuͤrde, ſteckte das
Billet betruͤbt ein, und uͤberließ ſich ihrem Tiefſinn, der
ſich bald in Angſt verwandelte. Bei jedem Geraͤuſch
glaubte ſie ihren Geliebten zu hoͤren, der die beſchriebene
Thuͤr in einem ungluͤcklichen Mißverſtaͤndniß eroͤffnet.
Wie ſoll ſie es verhindern? Sie wohnt auf der ganz ent—
gegengeſetzten Seite des Kloſters. Sie faͤhrt zuſammen,
wenn ſich die Wetterfahne dreht; Verdruß und Angſt
27
haben ſie endlich fo ermuͤdet, daß fie auf ihr Bette
ſinkt und einfchläft.
In der Mitternachtsſtunde, als alles ſchlief, ging
Anton mit pochendem Herzen nach dem Kloſter hin;
er ſieht die Lichter ausgeloͤſcht, und ſteigt leiſe uͤber die
Mauer hinuͤber und durch das offene Fenſter. Den
Gang hinunterſchleichend, naͤhert er ſich ſchon der be—
zeichneten Thuͤr. — Ungluͤcklicher! wird dich keine
boͤſe Ahndung zuruͤckhalten, und dir ſagen, daß du der
Narr des Zufalls biſt? — Nein, er oͤffnet die Thuͤr,
und ſteht im Zimmer der Gräfin,
Er war erſtaunt, als er Niemand fand; er glaubte,
Caroline wuͤrde ihm ſogleich froh entgegenhuͤpfen
und ihn an ihren Buſen druͤcken. Er horchte und
hoͤrte ein leiſes Athemholen, trat an's Bett und ſahe
ein Frauenzimmer, die er noch immer fuͤr Caroli—
nen hielt, im tiefen Schlafe. Noch immer verwun—
dert, wollte er ſie leiſe wecken, aber von der Reiſe
ermuͤdet, ſchlief die Graͤfin ſehr feſt. Er nahm ſie
endlich in ſeine Arme, und bedeckte Mund und Buſen
mit tauſend Kuͤſſen, indem er ſie unaufhoͤrlich ſeine
geliebte Caroline nennt.
Die Graͤfin erwachte endlich, und that einen
lauten Schrei, als ſie ſich ſo unvermuthet in den
Armen eines Mannes fand. — Sei doch ſtill, theure
Caroline! ſprach er ihr ins Ohr, komm zu dir und
erkenne mich, deinen Geliebten. —
Die Graͤfin aber ſchrie nur noch heftiger, ſie rief
mit kreiſchender Stimme um Huͤlfe, und der ungluͤck—
liche Anton ſtand wie aus den Wolken gefallen, un—
28
gewiß, ob er da bleiben, oder den Ruͤckweg nehmen
ſollte. — Er vermuthete endlich den Zuſammenhang
der ſonderbaren Begebenheit, und machte ſich eben zum
Ruͤckzuge fertig, als er ſchon in der Ferne Weiberſtim—
men in einem verworrenen Chor hoͤrte. Er machte die
Thuͤre auf, und der Schimmer von vielen Lichtern
kam ihm entgegen; alte und junge Nonnen, halb an—
gezogen und in voͤlligem Negligee, kamen auf ihn zu,
und ſchrien immer noch um Huͤlfe, ob ſie gleich alle
ſchon beiſammen waren, Carolinen ausgenommen.
Er ſchlug den Mantel uͤber das Geſicht und ging vor,
alle wichen ihm erſchrocken, wie einem Geſpenſte, aus,
er erreichte das Fenſter, die Mauer, und durch einen
Sprung war er wieder im freien Felde.
So iſt denn alles, rief er aus, gegen mich und
meine Liebe verſchworen! Ich bin der ungluͤcklichſte
Menſch und mein Schickſal das grauſamſte. — Be:
truͤbt ſchlich er fort.
Die Graͤfin mußte indeß ihr Abentheuer erzaͤhlen,
man beklagte ſie recht ſehr, und errieth ſogleich, daß das
Ganze eine Verabredung mit Carolinen ſeyn muͤſſe.
Man erinnerte ſich der hartnaͤckigen Weigerung, ihr
Zimmer zu verlaſſen, man hielt alle Umſtaͤnde genau
zuſammen, und die Vermuthung ward zur Gewißheit.
— Am Morgen ließ die Priorin das ungluͤckliche
Maͤdchen rufen: Sie duͤrfen, ſprach ſie in einem
rauhen Ton zu ihr, nicht laͤnger hier verweilen, und
den Aufenthalt der Unſchuld entweihen; reiſen ſie ab,
und ſein ſie froh, wenn wir den ganzen Vorfall,
der ſo ſehr zu Ihrer Schande gereicht, verſchwiegen
halten. N |
29
Man ſchickte einen Boten an ihren Vater; er war
erſtaunt und in Wuth, er durfte es nicht wagen, ſie
wieder zu ſich kommen zu laſſen, da er dieſe Probe
ihres unternehmenden Geiſtes erfahren hatte. Er mußte
alſo ein andres Mittel erſinnen.
Ziemlich weit von ihm, in einer anſehnlichen Stadt,
lebte eine Muhme von ihm, eine alte Jungfer von
funfzig Jahren. Man hatte ihm geſagt, daß alte
Jungfern am liebſten und genaueſten die Unſchuld be—
wachten, daß es leichter ſei, den Satan ſelbſt, als ſie,
zu betruͤgen, ſo daß der alte Birkheim glaubte, ſeine
Tochter koͤnne nirgends einen beſſern Schutz finden. —
Er ließ alſo Carolinen abholen, und ſchickte ſie mit
einem Briefe, in welchem er die ſtrengſte Aufſicht an—
befohl, an ihre Tante. — Anton, der noch immer
in der Gegend geblieben war, erfuhr vom Kutſcher den
Ort, nach welchem Caroline hingefuͤhret wurde; er
beſuchte feine Eltern auf einige Tage, um ſich mit.
neuem Gelde zu verſehen, und ging dann, wohin ihn
das Schickſal zu neuen Abentheuern und neuen Un—
gluͤcksfaͤllen rief. |
Die Tante, zu der man Carolinen brachte,
war wirklich fuͤr das Amt einer Aufſeherin wie gebo—
ren. Ihre Augen waren vom Alter nicht geſchwaͤcht,
ſondern ſie ſahe damit beſſer, wie manches zwanzigjaͤh—
rige Maͤdchen; ſie war nicht phlegmatiſch, ſondern im
Gegentheil in einer beſtaͤndigen Thaͤtigkeit; nach allem,
was in ihrer kleinen Wirthſchaft vorfiel, ſahe ſie ſelbſt;
ſie lebte in der Stadt faſt ohne alle Bekanntſchaft, ſie
war beſtaͤndig in ihrem Hauſe eingeſchloſſen; zum Ueber—
fluß waren vor ihren Fenſtern eiſerne Gitter, aus
30
denen fie, oder das Mädchen, die ihr aufivartete, nur
felten herausſahen. Kurz, alles, das Haus ſowohl als
ihre Bewohner, hatten ein fo menfchenfeindliches
Anſehen, daß fih fo leicht Niemand dieſer bee
naͤherte.
Hier nun ſollte Caroline, ſo lange bis ſie ſich
gebeſſert habe, lebendig vergraben werden. Sie machte
ein ſehr verdruͤßliches Geſicht, als ſie in das Zimmer
der ehrwuͤrdigen Tante trat: dieſe las den Brief, und
empfing ſie wie ein Schlachtopfer, an dem ſie alle ihre
Launen üben koͤnne. Das arme Mädchen fand es hier
in der großen Stadt einſamer, als in dem Klofter,
das ſie verlaſſen hatte, oft ſehnte ſie ſich dorthin zu—
ruͤck, und beweinte dann mit haͤufigen Thraͤnenguͤſſen
den Verluſt ihres Liebhabers. Sie wußte nicht, was
aus ihm geworden war, wo er nach dem Abentheuer
geblieben ſei, ob er ihren jetzigen Aufenthalt erfahren
habe, ob er noch an ſie denke, und was der zaͤrtlichen
Beſorgniſſe und Fragen mehr waren, in denen die
Liebe ſo außerordentlich erfinderiſch iſt.
Ihr Geliebter hatte ſie indeſſen nicht vergeſſen, er
ging taͤglich dem Hauſe voruͤber, in welchem ſein Maͤd—
chen gefangen ſaß; ihn ſchauderte, wenn er die dicken
eiſernen Staͤbe ſah, und noch mehr, wenn das ſchwarz—
braune Geſicht der Tante zwiſchen ihnen durchblickte:
die Fenſter waren zwar zur ebnen Erde, aber fuͤr ihn
unzugaͤnglicher, als eine Dachſtube; die Thuͤre des
Hauſes war beſtaͤndig verſchloſſen, die Magd war eben—
falls eine alte Jungfer, und ihrer Herrſchaft treu erge—
ben, weil beide mit einander aufgewachſen waren. Er
ſah gar keine Hoffnung und keinen Ausweg, er ver—
31
wünfchte fein grauſames Verhaͤngniß, das ihm alle
ſeine Wuͤnſche vereitelte.
Dem Haufe der Tante gegenüber war ein Gafts
hof, der einem Manne gehoͤrte, der ziemlich dick war,
und deſſen junge und huͤbſche Frau unſern Liebhaber
oft ſehr freundlich angeſehen hatte, wenn er vor dem
Hauſe auf- und abgegangen war. Lange ſann An—
ton, ob er nicht alle dieſe Umſtaͤnde ſo beugen und
richten koͤnne, daß ſie ihm guͤnſtig wuͤrden, und alle
zu einem Zwecke dienten. Wenn er nur im Hauſe
des Gaſtwirths ſein koͤnnte, ſo konnte er hoffen, viel—
leicht einmal ſeine Geliebte zu ſprechen, ſie wenigſtens
haͤufiger zu ſehen. An einem Mittage ſah er endlich,
daß die Tante ihr Eſſen aus dem Gaſthofe holen ließ,
und in demſelben Augenblick war auch ſein Plan
gemacht.
Er ging nun noch haͤufiger in der Straße auf und
ab, die Augen immer nach den Fenſtern der ſchoͤnen
Frau im Gaſthofe gerichtet; fie bemerkte feine Auf:
merkſamkeit und ſah ihn jedesmal nach, wenn er vor—
bei ging; nach einigen Tagen gruͤßte man ſich ſehr
freundlich, und beide warteten nur auf eine Gelegen⸗
heit, um ſich muͤndlich noch naͤher kennen zu lernen. —
Dieſe fand ſich bald, da ſie von der Frau des
Hauſes emſig geſucht ward. Anton war auf der
Promenade, und es war ſchon ſpaͤt; Jedermann ging
ſchon nach Hauſe, nur ein ſehr elegant gekleidetes
Frauenzimmer ging noch auf und ab; als Anton
naͤher kam, ſah er, daß es die huͤbſche Frau aus dem
Gaſthofe ſei. Er verſaͤumte nicht die Unterredung anz
32
zufangen, und fie klagte, daß eine Freundin ihr Wort
nicht gehalten habe, und ſie ſie nun auf der Prome—
nade ſo lange vergebens habe erwarten muͤſſen. Nur
Ihre angenehme Geſellſchaft kann mich entſchaͤdigen,
ſchloß ſie, und er reichte ihr den Arm, um ſie nach
Hauſe zu fuͤhren.
Unterweges freute man ſich ſehr, daß man ſich habe
kennen lernen; Anton wuͤnſchte, daß er oͤfter das
Gluͤck haben möchte, Madam zu ſehn; Madam Lin d—
ner antwortete, daß das Gluͤck auf ihrer Seite ſein
würde, daß aber ihr Mann übertrieben eiferfüchtig ſei,
und daher keine Beſuche von jungen Leuten in ſeiner
Familie dulde. — Sie alſo wuͤrden mich nicht un—
gern ſehen, Madam? fragte Anton mit einem zaͤrt—
lichen Blick. — Ein ſanfter Haͤndedruck war die Ant—
wort. — Nun ſo werd' ich bald das Vergnuͤgen ha—
ben, Sie recht oft zu ſehen! — Er kuͤßte ihre Hand,
ſie ſtanden vor dem Hauſe und ſie verließ ihn. —
Anton warf noch einen ſchwermuͤthigen Blick nach
den Fenſtern ſeiner ungluͤcklichen Geliebten: ja, rief
er aus, ich muß dich befreien, arme Caroline! gebe
nur der Himmel, daß mein Projekt diesmal gelingen
moͤge! —
Am folgenden Tage ſtand Herr Lindner in ſei⸗
nem Zimmer und rauchte ſein Pfeifchen, als ein Be—
dienter von ſonderbarem Anſehn hereintrat. Er trug
eine abgeſchabte Livree, und vom alten Hute hing ein
langer Flor über den Ruͤcken; eben fo war ein ſchwar—
zer Flor um den linken Arm gewickelt. Sein Geſicht
war betruͤbt; er wiſchte ſich die Augen und machte ein
paar tiefe Verbeugungen. — Was will Er, mein
33
Freund? fragte Lindner mit einer tiefen Baßſtimme.
— Ach, verehrungswuͤrdiger Herr, klagte der Bediente
in einem weinerlichen Tone, ich komme her, Sie
recht ſehr um eine Gefaͤlligkeit zu bitten.
Lindner. Hier wird nichts gegeben, mein
Freund. —
Bediente. Ich verlange auch kein Allmoſen.
Lindner. Nun, was verlangt Er denn?
Bediente. Haben Sie Zeit, und wollen Sie
die Gewogenheit haben mich anzuhoͤren?
Lindner. Red' Er. i
Der Lakai von der traurigen Geſtalt raͤuſperte ſich
und hob dann feine Erzählung an: Ach, mein werth—
geſchaͤtzter Herr, ſo wie Sie mich da vor ſich ſehn,
bin ich ein ehemaliger Bedienter von einem Herrn,
deſſen Gut vier Meilen von hier liegt. Sehn Sie,
es war ein chriſtlicher und guter Herr, aber, Gott
hab ihn ſelig, nun iſt er verſtorben, wie Sie auch an
meiner Trauer ſehn koͤnnen, und ich bin außer Dienſt
geſetzt. Nun wuͤrde es mir freilich wohl nicht an
einer neuen Herrſchaft fehlen, wenn ich mir die Muͤhe
geben wollte, mich darnach umzuſehn; aber ſehn Sie,
mit Ihrer Erlaubniß, ſo ein chriſtlicher Mann der
ſelige Herr auch war, der gewiß keinem Menſchenkinde.
zu großen Ueberlaſt machte, und der auch als ein voͤl—
liger Chriſt geſtorben iſt, und mir etliche hundert
Thaler in ſeinem Teſtamente vermacht hat: ſehn Sie,
ſo hab' ich doch, wie man wohl zu ſagen pflegt, im
Lakaienſtande ein Haar gefunden. Nicht, als ob die
Arbeit zu ſchwer waͤre, nein, Gottlob, grade umge—
XIV. Band. 3
34
kehrt; aber man ſieht doch gern gerade aus, und
wuͤnſcht mit der Zeit auch einmal ein nahrbarer und
feßhafter Mann zu werden, der doch auch feine Familie
ehrlich und fleißig ernaͤhrt; und ſehn Sie, das kann
man als Bedienter zeitlebens nicht, und darum bin ich
eigentlich zu Ihnen gekommen, um Sie zu bitten,
hochgeſchaͤtzter Herr, einen armen, verwaiſ'ten Teufel
fuͤr Geld und gute Worte in Ihre Dienſte zu nehmen,
damit er einmal als Koch ſein Stuͤckchen Brod eſſen
kann; denn ich denke immer, wer andern zu eſſen giebt,
fuͤr den faͤllt auch wohl ſelber etwas ab, und das liebe
Eſſen iſt denn dabei doch eine Waare, die nie aus der
Mode kommt.
Er iſt ziemlich weitlaͤuftig, mein Freund, ſagte der
Gaſtwirth, indem er ihn noch einmal genau betrachtete.
Wenn wir uͤber das Lehrgeld einig werden koͤnnen, ſo
will ich ihn behalten.
Mit dem Kontrakte wurde man bald fertig, und
der neue Lehrling ward in die Kuͤche eingefuͤhrt.
Wie freute ſich Anton uͤber ſeine gluͤckliche Liſt,
als er mit der weißen Kuͤchenſchuͤrze herumlief! Wie
erſtaunte die Frau, als ſie am Mittage ihren Liebha—
ber als Kuͤchenjungen vor ſich ſtehen fah! — Unſer
verliebter Projektmacher hatte nun vor's Erſte alle ſeine
Zwecke gluͤcklich erlangt; er war ein Mitglied des Hau—
ſes geworden, ohne vom Wirth erkannt zu ſeyn; die
Frau hatte geglaubt, es geſchehe ihrentwegen, und er
hoffte ſie durch ſeinen Verſtand bald in ſein eigentliches
Intereſſe hineinzuziehen. Er wuͤnſchte nun nichts ſehn—
licher, als daß die Magd der alten Tante einmal krank
werden moͤchte, um ſo gluͤcklich zu ſeyn, ſeiner Gelieb—
ten das Eſſen hinuͤberzutragen.
35
Auch diefer letzte Wunſch ward erfüllt, und er ber
ſtand fo lange darauf, daß man ihn hinuͤberſchicken
ſolle, bis es geſchah. Caroline haͤtte ſich bald durch
ihre Freude verrathen, als ſie ihren Geliebten wieder
vor ſich ſah; er winkte, ſie maͤßigte ſich, und die Tante
war diesmal einfaͤltiger als gewoͤhnlich, und hatte nichts
gemerkt. f
Er ſahe nun Carolinen taͤglich, und ſie unter—
hielten ſich durch zaͤrtliche Pantomimen; die wachſame
Alte aber verhinderte beſtaͤndig, daß ſie mit einander
ſprachen. An einem Tage war die Gelegenheit guͤnſtig,
und Anton gab ſeiner Geliebten einen Zettel und
eine Feile, die er zu dieſer Abſicht bei ſich trug. —
Fliehen Sie, ſtand auf dem Papiere, benutzen Sie
dieſes Inſtrument, ich ſehe keine andre Rettung.
Halb wider ſeinen Willen war unterdeß die Be—
kanntſchaft mit Madam Lindner auch fortgeſchritten.
So ſehr ihn in manchen Augenblicken die Untreue
aͤrgerte, die er taͤglich gegen ſeine Vielgeliebte beging,
ſo war doch die Schoͤnheit der Frau und die guͤnſtige
Gelegenheit gar zu verfuͤhreriſch. Er haͤtte ſich auch
den Haß der Frau zugezogen, oder haͤtte ſich ihr wohl
gar verdaͤchtig gemacht, wenn er eine Intrigue ploͤtzlich
wieder abgebrochen haͤtte, die er doch ſelber eingeleitet
hatte, und der zu gefallen er ſich nur, wie ſie ſich ein—
bildete, verkleidet in ihr Haus geſchlichen hatte. —
Was konnte er alſo thun? Unter einer zwiefachen Geſtalt
diente er der himmliſchen und irdiſchen Venus.
Er konnte es nicht vermeiden, daß ſein Herr ihn
nicht bisweilen verſchickt haͤtte; er wurde an einem
Tage ſehr verlegen, als er mit einer Rechnung in das
Zimmer eines alten Univerſitaͤtsfreundes trat, der ſich
3 *.
36
feit einiger Zeit in dieſer Stadt niedergelaſſen hatte.
Anton war ſogleich erkannt, und um nicht das Ge⸗
faͤhrlichſte zu wagen, mußte er ſeinen Freund Mil—
berg zum Mitwiſſer ſeines Geheimniſſes machen. Man
lachte und trank auf die Geſundheit der unbekannten
Geliebten, denn Anton war doch ſo klug geweſen,
ihm nicht den Zuſammenhang der ganzen Sache zu
entdecken, er hatte ihm bloß geſagt, daß er dieſe Ver—
kleidung noͤthig gefunden habe, um eine Intrigue, die
ihn jetzt beſchaͤftige, zu Ende zu fuͤhren. Beide trenn—
ten ſich, indem natuͤrlicher Weiſe Milberg die ſtrengſte
Verſchwiegenheit verſprach.
Anton lebte indeß in einer großen Einfoͤrmigkeit
fort, er ſah Carolinen oft, ſprach ſie aber nie, weil
dies die Wachſamkeit der alten Tante unmoͤglich machte.
— Mit Schrecken ſah er an einem Morgen vor feinem.
Gaſthofe den Herrn von Birkheim und den alten
Ahlfeld aus einem Wagen ſteigen; ſie kamen, um
zu ſehen, ob ſich Caroline nach einem halben Jahre
gebeſſert habe. Die beiden Angekommenen logierten
in Lindners Gaſthofe und es ward ihm ſehr ſchwer,
ſich vor ihren Blicken zu verbergen.
Aber bald drohete ihm noch ein neues Ungluͤck; die
Eiferſucht bereitete ſeiner Seele neue Schmerzen. Sein
Freund Milberg begegnete ihm auf der Straße, und
redete ihn an: ſage mir, lieber Freund, was iſt un
für ein Mädchen, das dir gegenüber wohnt? — Wo?
— In den Fenſtern mit den Eiſenſtangen bei dem alten
haͤßlichen Weibe. — Ich erinnere mich. — Sie iſt
ein Engel; ich gehe alle Tage vorbei, um nur zuwei—
len das himmliſche Geſicht zu ſehen; ich denke, Sie
„
37
muß mich bald kennen lernen. Weißt du nicht, ob man
in dem Hauſe Zutritt haben kann?
Weiter war nichts noͤthig, um Antons Seele
mit der peinlichſten Unruhe zu fuͤllen. Schon ſieht er
in ſeinem Freunde einen neuen Nebenbuhler, ſchon
hadert er von neuem mit dem Schickſale, das ihn
ohne Raſt verfolgt; er ſieht kein anderes Mittel als
die Aufmerkſamkeit ſeines Freundes auf einen andern
Gegenſtand zu lenken. Daher beſchrieb er ihm die
Schoͤnheit der Madam Lindner, behauptete, daß eine
Bekanntſchaft mit dieſer ungleich leichter und dankbarer
ſei, als mit der Schoͤnen hinter dem Gitterfenſter,
geſtand endlich, daß er ſelbſt mit dieſer in einer ver—
trauten Verbindung ſtehe, jetzt aber dieſer Intrigue
uͤberdruͤßig ſei. — Milberg ward wirklich auf die
Erzaͤhlung ſeines eiferſuͤchtigen Freundes aufmerkſam,
und da dieſer ihm oftmals verſicherte, daß Madam
Lindner nicht zu den grauſamen Schoͤnen gehoͤre,
beſchloß er wirklich, einen Angriff auf ihr Herz zu
verſuchen.
Er ging vor dem Hauſe vorbei, und ſahe ſie am
Fenſter; die Beſchreibung und die Lobeserhebungen ſei—
nes Freundes ſchienen ihm nicht übertrieben. Er fuchte -
nun ihre Aufmerkſamkeit auf ſich zu lenken, aber alle
ſeine Muͤhe war umſonſt. Er ließ ſich dadurch nicht
abſchrecken, ſondern ging um ſo fleißiger durch dieſe
Straße, und ward aus Eigenſinn am Ende wirklich
in Madam Lindner verliebt. Wenn er ſie auf der
Straße ſah, ging er ihr nach, in der Kirche ſtellte er
ſich neben ſie und ſuchte ſie anzureden; aber ſie gab
weiter gar nicht auf ihn Acht, oder ſchreckte ihn mit
einer ſehr kurzen Antwort zuruͤck. Es mag beim erſten
38
Anblick ſonderbar ſcheinen, daß viele Weiber, die ſich
kein großes Bedenken daraus machen, ihrem Manne
untreu zu ſein, ihrem Liebhaber eine unwandelbare
Treue ſchenken. Dies gehoͤrt zu den eigenſinnigen und
wunderbaren Launen des weiblichen Geſchlechts, die
ſich am Ende auf eine feine Delikateſſe hinausfuͤhren
laſſen, die dem maͤnnlichen Geſchlechte ganz zu fehlen
ſcheint.
Milberg ward durch ſein Ungluͤck gegen ſeine
Geliebte und gegen ſeinen Freund aufgebracht; da ihm
alle Beſuche mißgluͤckten, beſchloß er ſich an beiden zu
raͤchen; er dachte auf ein Mittel, ſeiner Rache auf
eine gute und wirkſame Art genug zu thun. — An—
ton ſah indeß mit blutendem Herzen den alten Ahl—
feld taͤglich ſeine Geliebte beſuchen, er verwuͤnſchte
ihn im Herzen, aber dieſe Verwuͤnſchungen konnten
ihm nichts helfen, er mußte in jedem Augenblicke fuͤrch—
ten, daß Caroline ihre Einwilligung zu der verhaß—
ten Verbindung geben wuͤrde. — Milberg ſprach
ihn wieder und ſagte, daß er eine Bitte an ihn habe:
Madam Lindner, ſagte er, iſt gegen alle meine Bit—
ten taub, fuͤr alle meine Aufmerkſamkeiten blind und
unempfindlich geweſen; ich achte ſie ſeitdem um ſo hoͤ—
her, nur fuͤrchte ich, daß ich ſie durch meine Zudring—
lichkeit beleidigt habe, und das wuͤrde mich kraͤnken.
Um mich zu überzeugen, daß fie keinen Groll gegen
mich hat, mußt du ſie uͤberreden, daß ſie mich in dei—
ner Geſellſchaft in meinem Gartenhauſe beſucht, wir
wollen dann froh mit einander ſein, und wenn es noͤ—
thig ſein ſollte, eine allgemeine Verſoͤhnung feiern.
Anton hatte viel dagegen einzuwenden, aber ſein
Freund hoͤrte nicht eher auf ihn zu bitten, und zu
39
quaͤlen, bis er ihm verfprochen hatte, bei feiner Ge:
liebten alles anzuwenden, um ſie in die Geſellſchaft
ſeines Freundes zu fuͤhren. Madam hatte noch weit
mehr dagegen einzuwenden, ſie gab aber auch den drin—
genden Bitten ihres Liebhabers nach, und der Tag
ward feſtgeſetzt, an welchem ſie den Freund in ſeinem
Gartenhauſe beſuchen wollten. — Sie ahndeten nicht,
daß dieſer Tag fuͤr ſie ein Tag des Ungluͤcks ſeyn
wuͤrde.
Milberg machte alles zu ihrem Empfange bereit,
er ordnete die Tafel ſehr geſchmackvoll an, ſchrieb aber
in der Bosheit ſeines Herzens zugleich einen Brief an
den eiferſuͤchtigen Mann, worin er ihm meldete, daß
wenn er ſeine Frau in artiger Geſellſchaft finden wollte,
er nur nach einem Gartenhauſe, welches er ihn naͤher
bezeichnete, um eine gewiſſe Stunde kommen ſollte. —
Madam Lindner ließ ſich von Anton, der ſich
am heutigen Tage wieder in ſeine ordentlichen Kleider
geworfen hatte, nach dem Gartenhauſe führen. Man
ißt, trinkt und lacht, als man ploͤtzlich ein Gepolter
vernimmt.
Milberg geht fort, um zu ſehen, was es giebt
und koͤmmt nicht wieder; das Gelaͤrm nähert ſich im⸗
mer mehr, ſchon unterſcheidet man die tiefe Baßſtimme
des alten Lindner; Madam will in Ohnmacht fal:
len, und Anton weiß nicht was er thun ſoll. Die
Thuͤr oͤffnet ſich, und der erboßte Mann tritt herein,
die Frau faͤllt wirklich in Ohnmacht und Anton er—
ſchrickt. Alles iſt erſtaunt ſich hier anzutreffen; der
Liebhaber kann nicht begreifen, durch welchen ungluͤck—
lichen Zufall ſich der Mann hieher verirrt habe, und,
40
der Mann ſteht wie verfteinert, da er den Kuͤchenjun⸗
gen als einen jungen Herrn und als den Liebhaber
ſeiner Frau wiederfindet. Hinter dem Herrn Lindner
zieht eine ganze Schaar von Marquers, Koͤchen und
Hausknechten einher, jeder mit den Waffen ſeines Stan-
des verſehen, alle ſtehn ſtarr da und betrachten den
verwandelten Kuͤchenjungen, der ſich Mühe giebt, Ma—
dame, die noch immer in Ohnmacht liegt, ins Leben
zuruͤckzurufen. —
Sie ſchlug endlich die Augen wieder auf, und Ans
ton zog den Degen, um ſich durch ſeine Feinde einen
Weg zu bahnen; ſie wichen ihm alle aus; und er
gewann das freie Feld. — Hier ſah er in großer Eil
den Herrn von Ahlfeld mit mehreren Bedienten zu
Pferde vorbeiſprengen; er erfuhr von dem einen, daß
Fraͤulein Caroline ihrer Tante entwiſcht ſei, und man
ihr jetzt nachſetze.
Ungluͤcklicher Anton! rief der Liebhaber jetzt in
Verzweifelung aus. — Sie iſt entflohen, entflohen
ohne dich, ein Freund hat dich verrathen, eine Geliebte
verlaͤßt dich, alle Plaͤne, die ich aufbaue, wirft das
verhoͤhnende Schickſal wieder um; ich verliere meine
Zeit und meine Muͤhe in einem langweiligen, unauf—
hoͤrlichen Spiele, das mich nie gewinnen laͤßt. — Er
bedachte in der Leidenſchaft nicht, daß er manches aus
ſeinem Plane wohl haͤtte weglaſſen koͤnnen, und daß
er das Schickſal alfo ſehr mit Unrecht anklage.
Wohin ſollte er ſich nun wenden? — Wohin war
Caroline entflohn? — Er uͤberlaͤßt ſich auf gut Gluͤck
dem Wege, ſchweift umher, ſucht Carolinen in
allen Doͤrfern und in allen Waͤldern, und nach einigen
41
Wochen koͤmmt er müde und verzweiflungsvoll in der
Reſidenz des benachbarten Fuͤrſten an. Er geht durch
alle Straßen, er kehrt in einem Gaſthofe ein, er fraͤgt
auf eine verſteckte Art nach ſeiner Geliebten; aber da
iſt kein Menſch, der ihm Antwort geben kann.
Er hoffte immer noch, Nachrichten von ſeiner Ge—
liebten zu bekommen, darum blieb er laͤnger in der
Reſidenz. Er machte auch einige Bekanntſchaften, die
ihm die Zeit verkuͤrzten, und nach einiger Zeit zog
eine huͤbſche Kaufmannsfrau, die ihm gegenuͤber wohnte,
ſeine Augen auf ſich. Sie bemerkte ihn ebenfalls, und
ohne daß er es wollte, war bald ein Augengeſpraͤch
zwiſchen ihnen entſtanden. Da er Carolinen nicht
wiederfand, ſo ſuchte er ſich zu zerſtreuen, und dies
Abentheuer ſchien ihm alſo recht von ſelbſt in den Weg
zu kommen. Der Mann dieſer Frau handelte mit
Tuͤchern und Sachen, die zum Anzug gehoͤren. Anton
bemerkte den Augenblick, in welchem der Mann auss
ging, und ſogleich war er ſelber bei der ſchoͤnen Frau
im Laden. Sie ward roth, verlegen, und fragte: was
zu ſeinem Befehl ſtehe? Er forderte eine geſtickte Weſte,
und die Frau ſuchte ihren ganzen Laden durch, ohne
das Verlangte finden zu koͤnnen, und ſchaͤmte ſich end—
lich, da eine Menge von Weſten vor ihr lagen. Er
bezahlte, was ſie gefordert hatte, ohne auch nur im
mindeſten zu handeln, und da er nur gegenuͤber wohnte,
nahm er die Weſte ſelbſt mit ſich.
Es ſchien ihm jetzt eben nicht unſchicklich, daß er ſich
nach ihrem Befinden erkundigte, wenn er vorbeiging;
daß er ſich bei dieſer Frage etwas lange aufhielt, und
hundert andre Fragen und Bemerkungen in ſie verflocht,
42
kann man leicht vermuthen. Sie verſtanden ſich bald
beide, und Caroline war halb vergeſſen. — Der
Leichtſinnige, vielleicht aber, daß ſeine Strafe nicht
ausbleibt.
Er lernte auch den Mann kennen. Herr Wage—
mann war eine kleine, ziemlich alte Figur; er war
vierzig Jahr alt, und gegen jedermann freundlich und
hoͤflich; er hatte ehedem Philoſophie ſtudirt, und in muͤßi—
gen Stunden war ſie noch jetzt ſein Steckenpferd. Er
freute ſich jedesmal, wenn er in einem Geſpraͤch weil
und daher ſagen konnte, nur mußte der andre oft
ſehr von der Langenweile leiden, wenn er ihm alle ſeine
Gruͤnde auseinander ſetzte. Dieſer Mann gewann bald
den Held unſrer Geſchichte ſehr lieb, weil dieſer noch
immer nicht ganz den Philoſophen verlaͤugnen konnte.
Sie diſputirten oft mit einander, und einer uͤberzeugte
den andern nicht. Anton ward auch zuweilen zum
Mittagseſſen gebeten, und hatte nun deſto oͤfter Gele—
genheit, die liebenswuͤrdige Frau zu ſprechen, und ſeine
Unterhandlungen fortzuſetzen. — Sie waren bald mit
einander einig, und jetzt beſuchte ſie Anton zwar nicht
mehr ſo haͤufig oͤffentlich, aber deſto oͤfter ſchlich er ſich
heimlich zu ihr.
Er trat an einem Morgen ans Fenſter — und —
ſieht er recht? — darf er ſeinen Augen trauen? —
Caroline ſitzt in dem Anzuge eines Dienſtmaͤdchens
in dem Laden der Madam Wagemann! — Nein,
er irrt ſich nicht, ſie iſt es, und er taumelt erſchrocken
zuruͤck.
Er freute ſich, daß er Carolinen wieder gefun—
den hatte, und doch verdroß es ihn halb; vorzuͤglich,
daß er ſie jetzt, und unter dieſen Umſtaͤnden wieder—
43
ſah, und befonders in jenem Haufe. Dann überlegte
er wieder, daß dies ihm eigentlich lieber fein muͤſſe,
daß der Umgang mit dieſer Frau ihm vielleicht ſelber
behuͤlflich ſein koͤnne, um Carolinen wieder in eine
anſtaͤndigere Lage zu verſetzen. — Er wiegt ſich mit,
hundert Vorſtellungen ein, und redet einer Leidenſchaft
das Wort, indem er noch uͤber Carolinens Zuſtand
nachzudenken glaubt.
Er ſchlich zu Madam Wagemann hinüber. —
Haben Sie, fragte fie ihn, das huͤbſche Mädchen bes
merkt, das ſeit geſtern in meinen Dienſten iſt? — O
ja! — Ei, wie lebhaft Sie antworten; nur keine Un:
treue, mein Herr! — Wie koͤnnen Sie daran denken?
Aber wo haben Sie ſie her? — Sie kam geſtern zu
mir, und bat ſo flehentlich, daß ich ſie in meine Dienſte
nehmen ſollte, daß ich's dem armen huͤbſchen Kinde
nicht abſchlagen konnte.
Anton fand bald Gelegenheit, Carolinen allein
zu ſprechen; um ſich nicht zu verrathen, mußten ſie
beide die Freude uͤber ihr Wiederſehn unterdruͤcken.
Er verdeckte ſein Verhaͤltniß mit Madam Wagemann,
und vertroͤſtete ſeine Geliebte auf eine baldige Be—
freiung aus ihrem jetzigen Stande. Er verſprach alles
anzuwenden, um ſobald als moͤglich mit ihr gluͤcklich
zu ſein.
Sie erzaͤhlte ihm, wie ſie an demſelben Abend ent—
flohn ſei, als ſie mit Ahlfeld haͤtte verlobt werden
ſollen; nach manchen Drangſalen habe ſie ſich hieher
gewandt, und um nicht ſo leicht aufgefunden zu wer—
den, Dienſte genommen.
Die Frau Wagemann war auf ihren Liebhaber
eiferſuͤchtig, und ließ ihn daher in ihrem Hauſe nicht
44
allein; außerdem fand ſich aber auch keine Gelegenheit,
daß Anton ſeine Geliebte ſprechen konnte, und ſo
ſchlich eine Woche nach der andern hin. — Den
Nachbarn und Freunden Wagemanns war indeſſen das
Verhaͤltniß zwiſchen der Frau und dem jungen Mens
ſchen nicht verborgen geblieben; es giebt immer eine
Menge dienſtfertiger Leute, die ſich ein großes Verdienſt
daraus machen, auch den Ehemann uͤber ſolche Ver—
haͤltniſſe aufzuklaͤren, nicht aus Liebe zur Tugend,
ſondern aus bloßer Freude an Zwiſt und an Klaͤt—
ſchereien.
Der philoſophiſche Kaufmann hoͤrte aber nur wenig
auf das, was ihm alle feine Nachbarn fo häufig ins
Ohr ſagten. — Ich bin, ſagte er zu ſich ſelbſt, der
Treue meiner Frau verſichert, denn ſie hat ſie mir
verſprochen; ſie hat bisher alles gehalten, was ſie ver—
ſprochen hat, warum ſoll ich denn nun glauben, daß
ſie gerade dies Verſprechen nicht halten wird? Es giebt
hier nur zweierlei Faͤlle. Entweder meine Frau liebt
mich, nun ſo bin ich gewiß, daß ſie mir ihre Treue
bewahrt: oder ſie liebt mich nicht, was kann mir dann
vernuͤnftigerweiſe daran liegen, wenn ſie ihre Treue
bricht? —
Man ſieht, Herr Wagemann war zu einem
Ehemann geboren, und wenn alle Maͤnner ſo daͤchten,
wuͤrde man nicht ſo oft in den Familien die traurigen
Scenen ſehn, die die Eiferſucht veranlaßt.
Die Einfluͤſterungen hoͤrten aber nicht auf, ja man
ſagte es dem Kaufmann bald ganz laut. In allen
Geſellſchaften fing er mit ſeiner Kaltbluͤtigkeit der Ge—
genſtand des Spotts zu werden; man nannte ihm ſo
oft das Wort Ehre, und ſuchte fein Gefühl dafuͤr
45
empfindlich zu machen, daß fein Blut am Ende an:
fing ſchneller zu laufen. Fremdes Gefühl ſteckt uns
oft an, wir nehmen weit leichter von einem Fremden
ein Vorurtheil auf, als daß wir uns von ſeinen Gruͤnden
uͤberzeugen laſſen. Er nahm ſich aber dennoch vor,
ſeine Frau nicht eher zu beſtrafen, bis er ſich mit ſei—
nen eignen Augen von ihrer Untreue uͤberfuͤhrt haͤtte,
und dazu fand ſich ſehr bald Gelegenheit.
Er that eines Tages als wenn er ausgehe, und
ſah, daß bald nachher Anton nach ſeinem Hauſe hin—
uͤberſchlich. Durch eine Hinterthuͤr kam er zuruͤck, oͤff—
nete mit ſeinem Hauptſchluͤſſel die Zimmer, und ging
in einen Saal, der dicht an die Schlafſtube ſeiner
Frau ſtieß. Er haͤtte nicht noͤthig gehabt, durch die
Spalte der Thuͤr zu ſehn, um voͤllig von ihrer Un—
treue uͤberzeugt zu ſein; aber er wollte dennoch auch
ſein Auge uͤberzeugen, und nun ſah er eine Scene,
die Julio Romano vielleicht ſehr mahleriſch wuͤrde
gefunden haben, und auf die Aretino vielleicht ſehr
niedliche Verſe gemacht haͤtte; ihm gefiel aber dieſe
Perſpektive gar nicht, und ſeinem Gedaͤchtniſſe wollte
kein einziger Vers beifallen. — Er ſchlich ſich wieder
fort und nahm ſich feſt vor, ſich an ſeiner Frau auf
eine exemplariſche Art zu raͤchen.
Er verbarg indeß dieſen Vorſatz ſehr geſchickt; er
war gegen ſeine Frau und ihren Liebhaber eben ſo
freundlich, als gewoͤhnlich, und ſprach eben ſo gern
als ſonſt über philoſophiſche Materien. Acht Tage wa:
ren indeß verfloſſen, als Wagemann unſern Helden
zum Mittagseſſen zu ſich bat; es war oft geſchehen,
und niemand fand darin etwas Auffallendes. — An—
ton kam, der Kaufmann war ſehr vergnuͤgt, und
46
trank bei Tiſche mehr, als gewöhnlich, fo daß er am
Ende einen ziemlichen Rauſch zu haben ſchien. Die
Frau und ihr Liebhaber lachten oft uͤber ſeine Spaͤße
und komiſchen Stellungen, und er lachte ſelber aus
vollem Halſe mit. Gegen Abend ſchlug er ſelbſt zuerſt
vor, nach der Komoͤdie zu fahren, und man nahm
gern ſeinen Vorſchlag an; die Frau bat nur um die
Erlaubniß, auch ihr Maͤdchen mitnehmen zu duͤrfen,
und der Mann willigte um ſo lieber ein, weil er dieſe
mit in das Complot gegen ſeine Ehre verwickelt glaubte.
Man fuhr weg, und der Kutfcher hatte ſchon am vo—
rigen Tage ſeine Ordre bekommen. Der Wagen haͤlt
ſtill, alle erſtaunen; der Mann bittet ſeinen Freund
auszuſteigen und zu klingeln; dieſer thuts. — Wo
ſind wir denn? ruft die Frau; die Klingel wird gezo—
gen, eine große eiſerne Gitterthuͤr geht auf, und der
Wagen rollt hinein.
Anton ſteht noch immer in tiefen Gedanken vor
der Thuͤr, immer im Begriff, noch einmal zu klingeln,
um zu ſehen, wo ſeine beiden Geliebten geblieben
ſind. — Die Thuͤr oͤffnet ſich wieder, der Wagen
faͤhrt wieder heraus, der Kaufmann nur allein drin—
nen, der aus vollem Halſe lacht, als er Anton noch
vor der Thuͤr ſtehn ſieht.
Ein altes Muͤtterchen ging grade durch die einſame
Straße, und Anton geht auf ſie zu, um zu fragen,
was das große Gebaͤude mit der eiſernen Thuͤre fuͤr
ein Haus fe. — Dies Gebäude da? je, das Ge:
faͤngniß, lieber Herr. — Anton fuhr zuſammen.
Wird das Schickſal, ſagte er ergrimmt durch die
Zaͤhne murmelnd, noch nicht bald muͤde ſein, mich zu
47
verfolgen? — Diesmal fagte er weiter nichts, denn
Schmerz und Zorn überfielen ihn zu ploͤtzlich.
Er ging mit der alten Frau, die in der Naͤhe
wohnte, und da in ihrem Hauſe grade ein Zimmer leer
war, zog er bei ihr ein. — Er erfuhr von ihr, daß
der Praͤſident von Mohrfeld, ein ſehr ſtrenger und
harter Mann, neben andern Geſchaͤften auch die Ober—
aufſicht uͤber das Gefaͤngniß, oder Correktionshaus habe;
daß er die Zuͤchtlinge ſehr ſtreng halten ließe; daß ſie
ſelbſt einmal in Gefahr geweſen ſei, hineinzukommen,
weil ſie aus chriſtlicher Barmherzigkeit zwei armen ver—
liebten Leuten in ihrem Haufe Zuſammenkuͤnfte verz
ſchafft habe; daß die Frau des Praͤſidenten aber eine
deſto gutherzigere Dame ſei, daß ſie beſonders viel von
den Herren Geiſtlichen halte, und in manchen Stunden
auch uͤber ihren Mann viel vermoͤge. — Anton ließ
von allem dem, was ſie ihm erzaͤhlte, kein Wort auf
die Erde fallen.
Wagemann und der Praͤſident waren ein paar
alte Freunde; daher war es dem Kaufmann ſehr leicht
geworden, mit ihm die Beſtrafung ſeiner Frau zu ver—
abreden. — Dem Praͤſidenten fiel bald Carolinens
Schoͤnheit auf, und da er hoͤrte, daß ſie unſchuldig
ſei, gab er ihr heimlich ein Zimmer in ſeinem Hauſe
zu bewohnen, und beſtuͤrmte ſie taͤglich mit Bitten und
Verſprechungen. Caroline aber war taub fuͤr ſeine
Stimme; ſie dachte nur immer an ihren ungluͤcklichen
treuloſen Liebhaber.
Dieſer hatte noch immer nicht gelernt, daß ſeine
Plane nichts taugten, und hatte ſchon wieder einen
andern fertig, der ſo genau auf die Umſtaͤnde kalkulirt
war, daß er gar nicht zweifelte, er muͤſſe den gluͤck—
48
lichſten Erfolg haben. Schon am folgenden Morgen
geht er in dem eleganten Anzuge eines Geiſtlichen dem
Hauſe des Praͤſidenten vorbei; die ſchlanke Figur, das
bluͤhende Geſicht zogen die Aufmerkſamkeit der Praͤſi—
dentin auf ſich; er ſahe ſie und gruͤßte ſie ſehr ehrer—
bietig; freundlich erwiederte ſie dieſen Gruß. — Taͤg—
lich ging er ein paarmal vor dem Hauſe vorbei; ſie
ſtand jedesmal am Fenſter, jedesmal wechſelte er mit
ihr ein paar zaͤrtliche Blicke. — Die Alte war die
Vertraute ſeiner Intrigue, und ſie rieth ihm jetzt, ein
Billet an die Praͤſidentin zu ſchreiben, das ſie ſelber
uͤberbringen wolle. — Er folgt ihrem Rath, und die
Alte macht ſich auf den Weg.
Die Praͤſidentin freut ſich, eine alte Bekanntſchaft
wieder zu ſehen, ſie nimmt den Brief, und die Alte
entfernt ſich wieder, um am Nachmittage Antwort zu
holen. Sie hat ſchon angefangen, ihn zu leſen, aber
ihr Mann iſt heimlich ins Zimmer getreten, und nimmt
ihr itzt mit einer ploͤtzlichen Wendung den Brief aus
der Hand. — Er lieſt, und ſie kann nichts anders
thun, als in Ohnmacht fallen.
Schoͤnſte Frau,
Werden Sie meine Kuͤhnheit zu groß finden, wenn
ich, als ein Unbekannter, es wage, Ihren unwider—
ſtehlichen Reizen zu huldigen; wenn ich ſogar wage,
Ihnen dies zu geſtehn? Aber verbieten Sie der Sonne
zu leuchten, und Ihrer Schoͤnheit die Augen aller
Maͤnner auf ſich zu ziehn. — O hoͤren Sie einen
ungluͤcklichen Liebhaber an, der aus mehr als einer
Urſache Sie zu ſprechen wuͤnſcht, den das Schickſal
zur Verdammniß ſcheint auserleſen zu haben, daß er
49
in hoffnungsloſer Liebe verſchmachten ſoll. Hoͤren Sie
mich an, das Haus der Ueberbringerin iſt ein Zufluchts—
ort fuͤr geheimnißvolle Geſtaͤndniſſe; wenn Sie mich
unausſprechlich gluͤcklich machen wollen, ſo machen Sie,
daß ich Sie heut Abend dort ſprechen kann, nur auf
wenige Minuten, nur um Ihnen ein Geheimniß und
eine Bitte vorzutragen, an deren Erfuͤllung mein Leben
haͤngt. — Finden Sie dieſe Worte zu dreuſt, und
habe ich uͤberhaupt, von Ihrer Schoͤnheit geblendet,
zuviel gewagt, zuͤrnen Sie auf mich; ſo muß ich mich
unterſchreiben
der Ungluͤcklichſte aller Sterblichen.
Er hatte dieſem Briefe mit Vorbedacht dieſe zweiz
deutige Wendung gegeben, weil er der Praͤſidentin
ſeine Liebe zu Carolinen und ihr Schickſal entdecken
wollte: ob dieſer Plan klug geweſen waͤre, ſteht noch
immer zu bezweifeln, da er aber ſogleich in der An—
lage durch einen Zufall ſcheiterte, fo hat die Erfah—
rung nichts daruͤber entſcheiden koͤnnen.
Der Praͤſident wuͤthete, und ſeine Frau warf ſich
ihm zu Fuͤßen; ſie betheuerte ihre Unſchuld, er hoͤrte
ſie nicht. — Wie kann der Bube ſo frech ſein, rief
er aus, wenn er Sie nicht geſprochen hat? — Aber
ich ſchwoͤre Ihnen, daß es fo if. — Gut, wir wol:
len ſehn, ſetzen Sie ſich nieder und ſchreiben, was ich
Ihnen diktiren werde.
Die Frau ſetzte ſich nieder, und der Praͤſdent dik⸗
tirte folgendes Billet:
Mein Herr!
So gerne ich Ihren Vorſchlag annaͤhme, fo ſeh ich
mich doch gezwungen, heute zu Haufe zu bleiben. Aber
XIV. Band. 4
50
um vier Uhr bin ich allein, machen Sie mir das Ver⸗
gnuͤgen, mich zu beſuchen, aber in weiblichen Kleidern,
die Ihnen gewiß ſehr gut ſtehen muͤſſen. Ich bin
| Ihre Freundin.
Wie freute ſich Anton, als er dieſes Papier er:
hielt! Er ahndete nichts von feinem Ungluͤck. — Die
Alte mußte ſogleich einen weiblichen Anzug beſorgen;
er kleidete ſich an, und ging mit tauſend Hoffnungen
nach dem Hauſe des Praͤſidenten. — Ein Bedienter
fuͤhrte ihn in das Zimmer der Praͤſidentin, und bat
ihn nur einen Augenblick zu verweilen, da die Präfiden:
tin Beſuch habe, der ſich aber bald entfernen wuͤrde.
Anton hoͤrt Jemand kommen, er wird blaß, denn
es iſt der Praͤſident. — Da meine Frau, fing dieſer
an, noch nicht das Vergnuͤgen haben kann, Sie zu
ſehen, ſo waͤre es ſehr unartig von mir, eine ſo ſchoͤne
Dame ganz allein zu laſſen. Man ſetzt ſich, und der
Praͤſident faͤngt ein Geſpraͤch an, das dem verkleideten
Anton die hoͤchſte Angſt verurſacht. Er ſteht auf
um ſich zu entfernen, er verſpricht ein andermal wie—
der zu kommen, aber der Praͤſident noͤthigt ihn ſo
dringend da zu bleiben, daß er es nicht abſchlagen
konnte. — Gut, daß ich daran denke, fing der Praͤ—
ſident wieder an, Sie koͤnnen mir vielleicht einen Rath
ertheilen, in einer Sache, die mir ſehr auf dem Her⸗
zen liegt. — Ich? — Ein unverſchaͤmter junger
Geiſtlicher hat die Frechheit, ſich in meine Frau zu
verlieben, das koͤnnt' ich ihm vielleicht noch verzeihen;
aber ſehn Sie, er erkuͤhnt ſich, ihr dieſen ſchaͤndlichen
Brief zu ſchreiben. — Er gab Anton ſeinen eigenen
Brief; der ungluͤckliche Liebhaber machte Miene vom
51
Stuhl zu fallen. — Nun, was fagen Sie, fragte
der Präfident, wie würden fie dieſen Niedertraͤchtigen
beſtrafen! — Ich würde ihm verzeihn, fagte Anton
ſtotternd! — Da find Sie froͤmmer, als ich, denn
das iſt gar nicht mein Wille, ſondern ich habe dieſen
Unverſchaͤmten kommen laſſen, um ihn recht derb zu
zuͤchtigen. —
Anton zitterte beftig z der Praͤſident winkte, und
vier Bedienten traten herein, jeder mit einer großen
Ruthe bewaffnet. — Sie warfen ſich auf ihn, und
vollzogen eben die befohlne Exekution an ihm. Bei
jedem Streiche rief Anton aus: O Schickſal, Schick;
ſal! welch ein ſchaͤndliches Ende nehmen auf deinen
Befehl alle meine Plane!
Als dieſe Zuͤchtigung vorbei war, glaubte er ſich
entfernen zu koͤnnen, aber der Praͤſident trat ihm in
den Weg. — Wir ſind noch nicht fertig, ſagte er,
wir wollen noch beide einen guten Freund beſuchen,
einen Praͤlaten, dem ich doch einen Geiſtlichen uͤberlie—
fern will, der ſeinem Stande ſo große Ehre macht.
Anton's Bitten waren vergebens, er wurde die
Treppe hinuntergefuͤhrt, es war unterdeß Abend gewors
den, eine Kutſche hielt vor der Thuͤr und man ſtieg
hinein. — Vor dem Hauſe eines Priors ward ſtill
gehalten, man ging hinein, der Praͤſident voran, und
das Maͤdchen, das ihm folgt, ſinkt dem Prior weinend
in die Arme, es war Caroline, ſeine Nichte.
Sie hatte in der Dunkelheit vor dem Hauſe die
Hand ihres Geliebten ergriffen, und war ſtatt ſeiner
in den Wagen geſtiegen; fie bat jetzt kniend den Praͤ—
ſidenten im Namen ihres Liebhabers um Verzeihung,
der ihm nach der harten Zuͤchtigung auch gern vergab,
4 *
52
ſo wie ſeiner Frau, die jetzt den Schein der Unſchuld
fuͤr ſich hatte. Anton ward geholt, er uͤberließ
ſich ganz der Empfindung der Zaͤrtlichkeit, als er Ca—
rolinen wieder ſah, und damit er endlich einmal
etwas zum Lobe des Schickſals ſagen koͤnne, kam noch
an demſelben Abend Carolinens Vater an und trat
bei dem Prior ab; vom allgemeinen Flehen beſtuͤrmt,
verſtand er ſich zu einer anſehnlichen Ausſteuer, und
Anton erhielt nach ſo vielen Leiden und Widerwaͤr—
tigkeiten zu ſeiner Verbindung mit Carolinen die
Einwilligung ſeiner Eltern.
Der Kaufmann Wagemann nahm ſeine Frau,
allen ſeinen Nachbarn zum Trotz wieder zu ſich; er
war ſeitdem noch hartnaͤckiger in ſeiner Philoſophie
geworden, und lebte mit ihr, wie ehedem. —
Am Hochzeittage ſagte Anton, indem er ſeine
Frau in ſeinen Armen hielt: o Schickſal, ſo haſt du
dich endlich mit mir verſoͤhnt? —
So tief liegen manche Schwachheiten im Menſchen.
Das Schickſal hatte es nie der Muͤhe werth gefunden,
ſich mit ihm zu entzweien.
Der alte Ahlfeld ſagte um ſich zu troͤſten: Ich
ſehe, das Schickſal will durchaus, daß ich kein betro⸗
gener alter Ehemann werden ſoll.
Die maͤnnliche Mutter.
Erzählung.
1795.
Gerade in einer der beſten Reden, die einer der be:
ruͤhmteſten Prediger von der Kanzel hielt, war es, in
welcher der junge Baron von Biederfeld ſeine Au—
gen auf das junge, ſittſame Fraͤulein von Bergen
warf. Die Kirchen dienen ſehr oft zum Gottesdienſte der
Liebe, und die beiden jungen Leute ſahen ſich hier öfter;
er ging ihr nach, wenn ſie die Kirche verließ, und
fand jedesmal Gelegenheit, ihr etwas Verbindliches zu
ſagen, oder ihr in dem Gedraͤnge den Arm zu bieten,
ſo daß die arme Amalie jedesmal mit einem feuerro—
then Geſichte aus der Kirche in die freie Luft trat.
Ihrer Mutter, die eine ſehr kluge Frau war, ent—
gingen, trotz ihres ſcharfſichtigen Blickes, alle dieſe
Kleinigkeiten, wie es denn ſehr oft bei verſtaͤndigen
Leuten der Fall iſt. Sie erhalten ihren Scharfſinn
in einer ununterbrochenen Thaͤtigkeit, und uͤberſehen
voͤllig eine Menge von geringfuͤgigen Umſtaͤnden, die
nur gar zu oft, im Fortlaufe der Zeit, ihre klug aus:
gedachten Plane zertruͤmmern. Amaliens Mutter war
eine Frau mit einer faſt maͤnnlichen Gemuͤthsart; ſie
hatte in ihrer Jugend viel geleſen und gedacht, ja ſich
ſelbſt mit einigen Faͤchern der Gelehrſamkeit bekannt
gemacht; ihr Vater hatte ſie fruͤh an einen Mann
verheirathet, der ihr gleichguͤltig war, und den ſie
56
nach der Hochzeit nur aus Pflicht und Gewohnheit
liebte. Ihr waren daher alle Empfindungen der Liebe,
und ihre Leiden und Freuden, unbekannt geblieben.
Die Liebe iſt es eigentlich, die dem edlen Charakter
die letzte Vollendung geben muß; bei ihr waren, bei
allen Vortrefflichkeiten, die rauhen und widrigen Ecken
geblieben. Sie hatte ihre Tochter nach einem eigenen
Syſteme erzogen, das ſie aus keinem Buche gelernt
hatte; ſie hatte vorzuͤglich geſtrebt, Amalien zu ihrer
Vertrauten zu machen, die ihr keinen ihrer Gedanken,
nicht die unbedeutendſte ihrer Empfindungen verſchwie—
ge; es war ihr auch bis in das achtzehnte Jahr ihrer
Tochter gelungen, ſo daß das Verhaͤltniß zwiſchen bei—
den mehr wie zwiſchen zwei Geſchwiſtern war, als wie
man es gewoͤhnlich zwiſchen Eltern und Kindern findet.
Aber in dieſes achtzehnte Jahr fiel die merkwuͤrdige
Predigt, in welcher ſich Biederfeld und Amalie
zum erſtenmale ſahen. Wer kann die magiſche Kraft
beſchreiben oder begreifen, die ſo oft in einem einzigen
Blick eines ſchoͤnen Auges liegt? Amalie konnte dem
Zuge gar nicht widerſtehen, der jedesmal in der Kirche
ihren Kopf dahin drehte wo Biederfeld ſtand, und
Biederfeld hatte jedesmal eine ſolche Stellung gewaͤhlt,
daß er in der ganzen Kirche nichts weiter als 55 ge⸗
liebte Amalie ſehn konnte.
Man traf ſich von ohngefaͤhr in Concerten und in
der Komoͤdie, man ſprach mit einander, und hatte ſich
hunderterlei unbedeutende Sachen zu erzaͤhlen. Bie—
derfeld haͤtte gern um die Hand des Maͤdchens ange—
halten, allein ſein Vermoͤgen war zu klein, um dieſen
verwegnen Schritt zu wagen, und da er wußte, daß
57
die Frau von Bergen zwar ſo viel beſaß, um mit
ihrer Tochter anſtaͤndig leben zu koͤnnen, aber nichts
weniger als reich war, ſo verwuͤnſchte er in manchen
Stunden den Zufall, ſeine Armuth, und die druͤckenden
Verhaͤltniſſe unſrer Welt. Hundertmal nahm er ſich
vor, Amalien zu vergeſſen und ſie nicht weiter aufzuſu—
chen, und das Schickſal ſpielte ihm immer den Streich,
daß er ſie noch an demſelben Tage irgendwo ſah, und
wenn er nur einen einzigen ſtreifenden Blick ihres glaͤn—
zenden Auges auffing, ſo hob ein Seufzer ſeine Bruſt,
und alle ſeine Vorſaͤtze kamen ihm ſo abgeſchmackt vor,
daß er ſich ſelbſt haͤtte verachten muͤſſen, wenn er noch
weiter daran gedacht haͤtte ſie auszufuͤhren.
Amalien ging es faſt eben ſo. Sie konnte es
ſelbſt nicht begreifen, warum es ihr unmoͤglich ſei, ihrer
guten Mutter von Biederfeld und ſeiner Schoͤnheit
zu erzählen. Sie hatte ſchon oft feinen Namen auf
der Zunge, aber wenn ihr dann der guͤtige aber doch
ernſte Blick ihrer Mutter begegnete, ſo ſchlug ſie be—
ſchaͤmt die Augen nieder, und fing irgend ein gleichguͤl—
tiges Geſpraͤch an, das ihr doch wichtiger als ihre
Liebe duͤnkte. |
Es kam aber bald eine Zeit, wo fie aus einer an:
dern Urſache ſchwieg. Jetzt kamen ihr ihre Empfindun—
gen nicht mehr kindiſch und abgeſchmackt vor, ſo daß
ſie ſie aus Schaam verbarg, ſondern ſie fuͤhlte ſich nun
uͤber ihre Mutter erhaben, ſie machte aus ihrer Liebe
ein Geheimniß, weil ſie ſich einbildete, kein anderes
Weſen koͤnne die hohen und lautern Empfindungen
ihres Herzens begreifen, jedes fremde Ohr duͤnkte ihr
unheilig, um ihm den Namen Biederfeld und ihre
58
Wuͤnſche anzuvertrauen. Sie ward fetzt nachdenkend
und liebte die Einſamkeit, ſie las Gedichte mit Ent—
zucken, und ſaß ſtundenlang in Traͤumereien verloren,
ſo daß ſie nichts ſah und hoͤrte, was um ſie her vor—
ging, und wie aus dem Schlafe auffuhr, wenn die
Mutter ſie zuweilen rief. Dieſe aber bemerkte noch
immer nichts, ſondern meinte, das luſtige, fluͤchtige
Maͤdchen komme nun nach und nach zu Verſtande.
So gewiß iſt es, daß alle Menſchen, die wir im
gemeinen Leben klug und verſtaͤndig nennen, nur bis
auf eine gewiſſe Linie mit ihrer Klugheit reichen, und
ſich jedesmal verrechnen, wenn ſie ſich weiter wagen.
Die Frau von Bergen hatte nie geliebt, ſie verſtand
alſo alle Symptome der Liebe an ihrer Tochter unrecht;
ihre ganze Erziehung bis dahin war ſehr gut und con—
ſequent geweſen, ſie hatte fuͤr alle Faͤlle ſtets die beſten
und wirkendſten Mittel in Bereitſchaft; aber hier ver—
ließ ſie ihr guter Genius voͤllig, ſo daß ſie ihre
Tochter ganz frei und ungehindert den Weg gehen ließ,
den ſie ſich ſelber ohne alle andre Beihuͤlfe gebahnt
hatte. |
Es gab freilich auch manche Stunden, worin Am a—
lie ſich das unvernuͤnftige ihrer Leidenſchaft vorwarf,
und wenn nur jemand geweſen waͤre, dem ſie ſich
ganz haͤtte vertrauen koͤnnen, ſo waͤre auch ihre Hei—
lung vielleicht nicht unmoͤglich geweſen. Aber vom er—
ſten Augenblicke hatte ihre Liebe den Reiz des Geheim—
nißvollen bekommen, das bewog ſie, alles was vorfiel,
jeden Blick und jede unvermuthete Zuſammenkunft, je:
des geſprochene Wort und jede kleine Aufmerkſamkeit
als ein heiliges Geheimniß zu betrachten, deſſen Ver—
59
rath ihr Unglück machen würde. -— Er war ſo ſchoͤn
und liebte ſie ſo innig, wie haͤtte ſie ſo grauſam ſein
koͤnnen, ihn nicht mit aller Zaͤrtlichkeit wieder zu
lieben?
Er druͤckte ihr eines Tages ein Billet in die Hand,
ſo daß es niemand bemerkte. Sie beſann ſich am
Abend lange ob ſie es leſen ſollte, ja ſie hatte ſchon
angefangen ſich auszuziehen, um ſich ſchlafen zu legen,
als ſie es dennoch erbrach, und unter langem Herz—
klopfen folgende Worte las:
„Die Liebenswuͤrdigſte ihres Geſchlechts verdient
„auch die hoͤchſte Liebe; fuͤr Sie war mein Herz
„geſchaffen, weil es der Liebe am meiſten faͤhig iſt.
„Vom erſten Augenblicke, in welchem ich Sie ſah,
„war es Ihr Eigenthum. Die Bande, die mich feſ-
„ſeln, ſind zu ſuͤß, als daß ich jemals ſtreben koͤnnte,
„Sie zu zerreißen: aber wäre es Ihnen wohl möglich,
„fuͤr die heftigſte Liebe unempfindlich zu bleiben, wenn
„das hoͤchſte, das einzige Gluͤck meines Lebens darin
„beſteht', Ihnen nicht gleichguͤltig zu ſein?“
Amalie las das Billet, und las es immer wieder
von neuem, ſie wußte es ſchon auswendig, als ſie noch
immer nicht den Inhalt ganz begriffen hatte. Sie über:
legte dann lange, wie ſie ſich nehmen ſolle, ſie ergriff
die Feder, um in ein paar Zeilen zu antworten, und kam
in zehn Briefen, ohne daß fie es bemerkte, in fo weitlaͤuf—
tige, ruͤhrende Tiraden hinein, in denen ſie von Ungluͤck
und Liebe, von Sehnſucht und Unmoͤglichkeit, Thraͤnen
und Verzweiflung durcheinander ſprach, daß ſie vor ſich
ſelber erſchrak, und es nur nach einer großen Selbſtuͤber—
windung dahin brachte, daß ſie ihrem Liebhaber in weni—
60
gen und zweideutigen Worten Beſcheid gab. Sie legte
ſich hierauf zu Bette, konnte aber die ganze Nacht nicht
ſchlafen.
Die Erklaͤrung von beiden Seiten war nun foͤrmlich
geſchehen, und mit der Annahme des erſten Briefes war
zugleich eine große und ununterbrochene Correſpondenz
eroͤffnet. Der Liebhaber fand faſt an jedem Tage Gele—
genheit, feinem Mädchen einen Brief zuzuſtecken oder zus
ſtecken zu laſſen. Geheime Zuſammenkuͤnfte wurden ver:
anſtaltet, und alles ging den Weg, den ſolche Intriguen
gewoͤhnlich nehmen, das Geheimniß wird zur Gewohn—
heit, und mit jedem neuen Tage werden neue Billette ges
ſchrieben, oder neue Zuſammenkuͤnfte veranſtaltet.
Einige aufmerkſame Beobachter, deren Geſchaͤft es iſt,
alle Anekdoten und Familienvorfaͤlle zu wiſſen, und die
über alle Liebſchaften ein foͤrmliches Regiſter halten, woll—
ten nach einem halben Jahre bemerken, daß ſich Bieder—
feld und Amalie weit ſeltner an oͤffentlichen Oertern
ſaͤhen, weit weniger mit einander ſpraͤchen, und ſich oft
beide zu vergeſſen ſchienen. Sie ſchloſſen auf einen Zank,
auf eine Kaͤlte, die gewoͤhnlicherweiſe irgend einmal bei
ſolchen Begebenheiten eintritt, und oft durch die kleinſten
Zufaͤlligkeiten veranlaßt wird; ob ſie ſich irrten oder nicht,
wird der Leſer aus dem Verfolge dieſer Erzaͤhlung erfahren,
aber Amalie gab ihnen wenigſtens zu ihren Schluͤſſen
alle Gelegenheit, denn fie war außerdem zerſtreut und trau
rig, man bemerkte, daß fie oft für ſich ſeufzte, ein gehei⸗
mer Kummer ſchien an ihrem Herzen zu nagen.
Ihrer Mutter ſelbſt war ſeit einiger Zeit dieſe Veraͤn—
derung im Weſen Amaliens aufgefallen, ſie hatte
aber nur wenig daraus geſchloſſen, weil ſie uͤberzeugt war,
61
/
ihre Tochter würde ſich ihr ſchon entdecken, wenn fie irgend
etwas auf dem Herzen hätte. Amalie aber entdeckte
ihr nichts, ſondern bat bloß um die Erlaubniß, irgend ein
muſikaliſches Inſtrument lernen zu duͤrfen; fie wählte
vor allen uͤbrigen die Laute, und ſagte, ſie haͤtte von
einem Frauenzimmer ſprechen hoͤren, das ſie vorzuͤglich
gut ſpiele; man ſchickte nach dieſer, und Amalie
nahm taͤglich eine Stunde.
Bei den erſten Stunden war die Mutter ſelbſt zu⸗
gegen, und freute ſich uͤber die ſchnellen Fortſchritte,
die ihre Tochter machte. Amalie begriff in kurzer
Zeit die Anfangsgruͤnde der Kunſt, und ihre Lehrmei—
ſterin war außerordentlich mit ihr zufrieden. Die Mut⸗
ter, die oft Beſuche zu geben hatte, oder durch ein
andres Geſchaͤft abgehalten wurde, ließ ihre Tochter
nachher in ihren Lehrſtunden allein, und ſchon nach
einigen Wochen konnte ihr Amalie am Abende kleine
Arien auf ihrer Laute vorſpielen.
Ploͤtzlich blieb die Lehrmeiſterin aus, fie ſchien vers
ſchwunden, denn Niemand konnte von ihr Nachricht
geben. Die Mutter war betruͤbt, daß die Lehrſtunden
unterbrochen wurden, und Amalie noch mehr, die
gerade im Begriff geweſen war, auf der Laute eine
Kuͤnſtlerin zu werden. Amaliens Betruͤbniß kehrte
wieder, und die Mutter erkundigte ſich von ſelbſt bei
ihr, was ihr fehle, erhielt aber keine befriedigende
Antwort. f
Um dieſe Zeit ward eine Vermaͤhlung bei Hofe
gefeiert, und die öffentlichen Luſtbarkeiten, die Pracht
der Reſidenz, zog den Adel der Provinzen nach der
Hauptſtadt. Unter den Fremden, welche taͤglich anka⸗
62
men, befand ſich auch der Graf Holfeld, einer der
reichſten Edelleute, und aus einer der angeſehenſten
Familien; er war ein Mann, der durch ſeine ange—
nehme Bildung und durch einen edlen Anſtand ſich
jedermann empfahl, er war dreißig Jahr alt, und
hatte ſich auf Reiſen gebildet; er beſaß nicht jenes ab—
geſchmackte, galante Weſen vieler jungen Herren, aber
ſeine Unterhaltung war dafuͤr auch um vieles angeneh—
mer und verſtaͤndiger, wenn naͤmlich der, mit dem er
ſprach, Verſtand genug hatte, um ſeinen Witz zu
verſtehn.
Der Graf ſah Amalien von ohngefaͤhr im Thea—
ter, und vom erſten Augenblick intereſſirte er ſich fuͤr
ſie; er machte die Bekanntſchaft der Mutter, und war
häufig und am Ende faſt täglich in ihrem Haufe; er
verſaͤumte nichts, um feine Aufmerkſamkeit für Amas
lien zu beweiſen, er war ihr Begleiter zu allen Con:
certen und Baͤllen, und die ganze Stadt ſprach ſchon
von ihm als dem kuͤnftigen Gatten des Fraͤuleins von
Bergen, als Amalien dieſer Gedanke noch gar
nicht eingefallen war.
Die Mutter ſah die Zuneigung des Grafen mit
Wohlgefallen, ſie hatte bis jetzt ihre Tochter in Anſe—
hung ihrer Hand voͤllige Freiheit gelaſſen, und ſchon
mehrere Parthien zuruͤckgewieſen, weil die Liebhaber
nicht gewußt hatten, ſich Amaliens Liebe zu erwer—
ben; ſie war uͤberzeugt, ihre Tochter wuͤrde die Ver—
dienſte des Grafen erkennen, und nichts gegen ſeinen
Antrag einzuwenden haben. — Amalie ſchien auch
dem Grafen entgegenzukommen, ihre Heiterkeit kehrte
etwas zuruͤck, und fie war ſehr gern in feiner Gefell:
ſchaft. f
63
Die Mutter irrte nicht, wenn fie einen Heiraths—
antrag des Grafen erwartete, denn kaum waren vier—
zehn Tage verfloſſen, als der Graf ihr ſeine Vermoͤ—
gensumſtaͤnde auseinander ſetzte, und um die Hand
ihrer Tochter bat. Sie antwortete, daß dies ganz
allein von Amalien abhinge. Der Graf verließ ſie,
und die Mutter ließ die Tochter rufen, um ſie ſelbſt
um ihre Neigung zu fragen.
Das Zimmer ward verſchloſſen, und die Mutter
fing an: Liebe Tochter, du haſt geſehn, daß es nie
meine Abſicht geweſen iſt, dich zu irgend einer Heirath
zu zwingen, wenn die Parthie auch noch ſo vortheil—
haft war, ich habe alles immer auf deinen Ausſpruch
ankommen laſſen: der Graf hat um dich angehalten,
ſage mir aufrichtig, kannſt du ihn lieben?
Ich erkenne, antwortete Amalie, die Vorzuͤge
des Grafen, ich ſchaͤtze ihn ſo, wie ich bis jetzt noch
keinen Mann geſchaͤtzt habe, ich wuͤrde an ſeiner Seite
eine gluͤckliche Gattin ſein, aber liebſte Mutter, ich
kann ihn nicht heirathen !
Du achteſt ihn, du wuͤrdeſt mit ihm gluͤcklich fen,
und kannſt ihn doch nicht heirathen? Wie verſtehſt
du das?
Amaliens Augen floſſen von Thraͤnen uͤber, ſie
ſtand auf, und ſank zu den Fuͤßen ihrer Mutter nieder,
ſie ſchluchzte und konnte nicht ſprechen. Ein gewalti—
ger Schmerz ſchien ihr Inneres zu erſchuͤttern, ein—
zelne Ausrufungen entführen ihr unwillkuͤhrlich.
Was iſt dir, meine Tochter? rief die Mutter aus.
Was iſt dir, mein Kind? — dein Herz wird zerriſ—
ſen, ſchuͤtte dein Leiden aus in den Buſen deiner
Mutter. 6
64
Ach! rief Amalie, Ihre Tochter iſt ſehr ungluͤck—
lich; darf ich Ihnen mein Ungluͤck vertrauen? Wird
ſich Ihre zaͤrtliche Liebe nicht in Haß und Abſcheu ver;
wandeln? — Ach nein, denn meine innere Quaal,
meine Verzweiflung hat mich ſchon hinlaͤnglich beſtraft.
Nun ſo rede, meine Tochter! O ich ungluͤckliche
Mutter! Sollte ich mich in dir geirrt haben? —
Sollte alle meine Zaͤrtlichkeit, meine liebevolle Sorge
unnuͤtz geweſen ſein? —
Ich will ſie nicht hintergehn, ſagte Amalie mit
einem ſchmerzlichen Ton, ich habe Sie lange genug
hintergangen, aber jetzt will ich aufrichtig ſein. — Ja,
Mutter, Sie ſehn zu Ihren Fuͤßen ein ungluͤckliches,
ein verfuͤhrtes Maͤdchen, die deſto ungluͤcklicher iſt, da
der geliebte Verfuͤhrer ſie nach dem Verluſt ihrer Un⸗
ſchuld verlaſſen hat.
Die Mutter erſchrak. Welcher Schmerz, von ihrem
einzigen, geliebten Kinde dies Bekenntniß zu hören;
ſie betrachtete ſie lange ſtumm, dann hob ſie ſie ſanft
von der Erde auf, und ſchloß ſie in ihre Arme.
Du biſt doch mein Kind, meine geliebte Tochter,
rief ſie aus. — Laß uns jetzt daran denken, wie wir
dein Unglück erleichtern, ſtatt darüber zu klagen. Trockne
deine Thraͤnen, und vertraue dich mir ganz; dieſer
Fehltritt wird die. für die Zukunft die beſte und lehr—
reichſte Warnung ſein.
Amalie weinte von neuem, und beſchwor ihre
Mutter, ihr zu verzeihen. Sie entdeckte ihr, daß ſie
ſich ſeit zwei Monaten ſchwanger fuͤhle, und die Mut—
ter fing an, uͤber ihren Zuſtand nachzudenken.
Meine Tochter, fing ſie an, der Graf will dich
heirathen, und ſein Antrag iſt fuͤr uns der vortheil⸗
65
hafteſte. Es wäre etwas leichtes, die Heirath jetzt zu
vollziehen, und ihn zu hintergehen; man koͤnnte ihn
auch mit deiner Niederkunft betruͤgen, aber mein Ge—
fuͤhl empoͤrt ſich dagegen. Das Geheimniß koͤnnte
endlich doch entdeckt werden, und du waͤrſt dann dop—
pelt ungluͤcklich. Auch verheimlichen wollen wir deine
Schwangerſchaft nicht, um dich nach der Entbindung
mit ihm zu verheirathen, ſondern die ganze Welt ſoll
ſie erfahren. — Nur muß alles nach meinem Plan
mit großer Behutſamkeit und Vorſicht gethan werden,
beſonders muß der Graf noch einige Zeit hingehalten
werden. — Frage mich jetzt noch nicht, wie alles
dies veranſtaltet werden ſoll; genug, ich werde dir
alles weitlaͤuftig vorſchreiben, was du thun und laſ—
fen ſollſt. — Aber jetzt erzähle mir umſtaͤndlich deine
Geſchichte.
Ich ſoll alſo alle Schmerzen von neuem empfinden?
ſagte Amalie. — Sie bedachte ſich einen Augen—
blick, und dann erzaͤhlte ſie, was der Leſer zum Theil
ſchon weiß, ihre Liebe gegen Biederfeld, wie dieſe
Leidenſchaft entſtanden und gewachſen ſei, und welchen
ungluͤcklichen Ausgang ſie endlich genommen habe.
Ich bat Sie ſo inſtaͤndig, ſagte ſie, mir auf der
Laute Unterricht geben zu laſſen; ach! dies war nichts
als eine Erfindung meines Liebhabers, weil er dies
Inſtrument vorzuͤglich gut ſpielte. Er kam in Weiber—
kleidern, und wir waren taͤglich allein. — Seine
Liebe, meine Schwachheit, — die Gelegenheit, —
ach! ich vergaß endlich mich und die Tugend, und
ſtuͤrzte in den Abgrund, der mich ſeitdem ſo elend
gemacht hat. —. Kaum war der Fehltritt geſchehn,
XIV. Band, 5
66
fo verließ mich der Ungetreue plotzlich; er kam nicht
wieder, und ich habe ſeitdem nicht einmal einen Brief,
nicht eine einzige Nachricht von ihm erhalten, wo er
ſich aufhaͤlt.
Amalie weinte und ſeufzte von neuem. Die Mut—
ter tröftete fie, ſoviel ſie konnte. Wir muͤſſen, ſagte
ſie endlich, auf Mittel denken, deine Schande zu ver—
hüten. — In acht Tagen ſollſt du verheirathet fein,
aber nicht an den Grafen, ob ich dich gleich fuͤr ihn
beſtimmt habe.
Ich bitte Sie, liebe Mutter, ſagte Amalie, er—
klaͤren Sie mir das Raͤthſel, das mir durchaus unbe—
greiflich iſt.
In acht Tagen, antwortete die Mutter, biſt du
verheirathet, in drei Monaten Wittwe, jedermann er—
faͤhrt dann deine Niederkunft, und du wirſt dann die
Frau des Grafen.
Das alles iſt mir noch immer unbegreiflich, ſagte
Amalie; — wen ſoll ich denn in acht Tagen hei⸗
rathen?
Laß mich nur ſelber den Plan ausfuͤhren, den ich
entworfen habe. Der Graf muß ſich auf ein paar
Tage entfernen; erwiedre ſeine Liebe, wenn er mit dir
davon ſpricht. —
Schon am folgenden Tage ſagte die Frau von
Bergen mehreren ihrer Anverwandten, daß der Graf
von Silberſee ſich um ihre Tochter bewuͤrbe; ſie kenne
ſeine Familie und ſeine Guͤter, die ſehr anſehnlich waͤren,
nur von der Reſidenz weit entlegen. Er habe ihr. ge:
ſchrieben, daß er in einigen Tagen ſelber kommen wolle,
um Amalien den Vorſchlag zu thun.
67
Der Graf Holfeld beſuchte indeß Amalien täg-
lich, und ſagte ihr, daß er ſich jetzt genoͤthigt ſehe,
auf einige Zeit nach ſeinen Guͤtern zuruͤckzureiſen, weil
ihm feine Mutter geſchrieben habe, fie ſei krank gewor-
den, und wuͤnſche ihn zu ſehn.
Er reiſte ab, und die Mutter freute ſich daruͤber,
daß ein Zufall ſich ſo gut in ihren Plan fuͤge. —
Kaum war er abgereiſt, ſo ward ein Ehekontrakt auf—
geſetzt, in welchem der Graf von Silberſee als ihr
Eidam genannt war. Der Notarius ſchrieb in ihrem
Zimmer den Kontrakt fertig, und der Graf von Sil—
berſee trat in das Zimmer, ein Mann, der ziemlich
alt war, eine große ſchwarze Peruͤcke trug, und ein
praͤchtiges Kleid, — Amalien umarmte und unter—
zeichnete. — Die Mutter, denn niemand als fie,
war dieſer Graf, entfernte ſich darauf wieder, kam in
ihren weiblichen Kleidern zuruͤck, und unterzeichnete
noch einmal. Dann ging der Notarius zu einigen
Verwandten, und erhielt auch ihre Unterſchrift.
Es war ſehr gut, daß die ſtrenge, unerbittliche
Obrigkeit nie etwas von dieſem Unternehmen einer zaͤrtli—
chen Mutter erfahren hat. Sie wuͤrde nur den Betrug
geſtraft haben, ohne die muͤtterliche Liebe in Anſchlag
zu bringen. i
Man fuhr mit einigen Freunden auf ein benach—
bartes kleines Gut; die Mutter ſpielte hier die naͤm—
liche Rolle. Amalie ward mit dem Grafen getraut,
und weder die Gaͤſte noch der Prediger hatten die
Mutter erkannt; denn die Mutter hatte vorgegeben, ſie
ſei krank, und muͤſſe alſo in der Stadt zuruͤckbleiben.
Man blieb einige Tage auf dem Gute. Amalie
ging und fuhr mit ihrem Gemal, dann mußte der
5 *
68
Graf von Silberſee abreifen, um auf feinen Guͤ⸗
tern manche Sachen, die dort vorgefallen waren, in
Ordnung zu bringen. — Der Graf Holfeld war
indeß zuruͤckgekommen, ſeine Mutter war geſtorben.
Amalie hatte ſchon vorher, auf Anrathen ihrer
Mutter, ein paar Worte an ihn geſchrieben, worin ſie
ihm meldete, daß ſie den Bitten und Befehlen ihrer
Mutter nicht habe widerſtehen koͤnnen, den Grafen
Silberſee zu heirathen; ſie bitte um ſeine kuͤnftige
Achtung, wenn ſie auch jetzt nicht mehr auf ſeine Liebe
rechnen duͤrfe.
Der Graf war wirklich uͤber dieſen unerwarteten
Vorfall niedergeſchlagen. Er beſuchte die Mutter und die
Neuverheirathete; man ſah, daß der Graf Amalien
immer noch liebte. Er bat um die Erlaubniß, fie in
der Abweſenheit ihres Mannes zuweilen beſuchen zu duͤr—
fen; ſie ward ihm gern zugeſtanden.
So vergingen zwei Monate. Amalie weinte noch
zuweilen uͤber ihren Verfuͤhrer, ſie war aber doch mehr
getroͤſtet. Sie zeigte zuweilen Briefe von ihrem falſchen
Gemal, und ſagte dann, daß ſie ſich ſchwanger fuͤhle.
Nach drei Monaten erhielt ſie einen Brief, worin
der Graf Silberſee ſchrieb, daß er krank geworden
ſei. Sie war daruͤber, wie es einer rechtſchaffenen
Frau geziemt, betruͤbt; ſie wollte durchaus abreiſen,
aber ein ungluͤcklicher Fall, der in ihrer Schwanger—
ſchaft gefaͤhrlich war, hielt ſie zuruͤck, und nach einigen
Tagen erhielt ſie die ungluͤckliche Nachricht vom Tode
ihres Gemals. Die ganze Stadt wußte fie in weni⸗
gen Stunden. |
Ein lautes Jammern und Wehklagen im Haufe!
Vielleicht ſind wenige wirklich geſtorbene Ehemaͤnner ſo
69
aufrichtig bedauert worden, als dieſer, der nirgends
exiſtirt hatte. Alle Bedienten gingen ſchwarz. Amalie
ließ ſich vor niemand ſehn; man fuhr vor, um zu
condoliren, und alles was zur Trauer und den dabei
uͤblichen Ceremonien gehoͤrt, geſchah in aller Form.
Der Graf Holfeld freute ſich im Herzen uͤber
dieſen gluͤcklichen Zufall. Er beſuchte nach einiger Zeit
die troſtloſe Wittwe, und glaubte zu bemerken, daß ſie
noch freundſchaftlicher als vordem mit ihm umgehe.
Die Mutter war mit der Tochter aufs Land gereiſt;
der Graf hatte ſie begleitet. Amalie kam nieder, und
der Graf war Pathe des jungen Sohns.
Der Graf erklaͤrte ſich immer deutlicher für Ama:
lien. Sie hatte ſich an ſeine Geſellſchaft und ſeine
Liebe gewoͤhnt. Das Trauerjahr war zu Ende, er hielt
um Amalien an, Mutter und Tochter willigten ein,
und die Verlobung ward nach wenigen Tagen gefeiert.
Ein Fremder ſtuͤrzt plöglich in den Saal, und Ama:
lie fliegt ihm wie unwillkuͤhrlich in die Arme. Es war
Biederfeld. Ein allgemeines Erſtaunen! Holfeld
ſtand verſteinert da! —
O ich habe dich wieder! rief Biederfeld aus,
und druͤckte die verlorne Geliebte feſter an ſeine Bruſt.
Was wollen Sie? rief die Mutter, die jetzt die cher
malige Lehrmeiſterin ihrer Tochter erkannte. — Amalie
lag halb ohnmaͤchtig in ſeinen Armen, und konnte nur
das Wort ſtammeln: Treuloſer! —
Nein, das bin ich nicht, rief er aus, bei Gott
nicht! — Er erzaͤhlte nun weitlaͤuftig, wie er vor einem
Jahre ploͤtzlich in ein Duell ſei verwickelt worden, nach
welchem er auf einige Zeit habe entfliehen muͤſſen. Er
ſei hierauf gefaͤhrlich krank geworden, und habe alſo
70
feiner Geliebten keine Nachricht von ſich geben koͤnnen.
Jetzt komme er zuruͤck; ſein reicher Onkel ſei geſtorben,
und habe ihn zum Erben eingeſetzt, und ſein einziger
Wunſch ſei jetzt, durch die Hand Amaliens begluͤckt
zu werden. — ö
Der Graf Holfeld ſah jetzt den Zuſammenhang
der Geſchichte, und verließ die Geſellſchaft mit ſchwerem
Herzen, aber ohne, wie ein juͤngerer Liebhaber vielleicht
gethan hätte, in Verzweiflung zu fallen. — Die Vers
lobung der lange Getrennten ward nun gefeiert, und die
Mutter war vergnuͤgt daruͤber, daß ihr Plan nun unnuͤtz
ſei; denn, ſagte ſie, jedes Geheimniß kann doch endlich
entdeckt werden, und ſetzt dann immer die Perſonen,
die dabei intereſſirt ſind, in ein 3 Licht, als
ſie eigentlich verſchulden. ü
Die Rechtsgelehrten.
Erzählung.
1795.
In einer angeſehenen Stadt Deutſchlands lebte Wer⸗
ner, ein Mann, der wegen ſeiner gruͤndlichen Kennt—
niß der Rechte in der Gegend weit umher beruͤhmt
war: aus entlegenen Staͤdten kamen ſogar oft Leute
zu ihm, um ſich ſeines Raths zu bedienen, oder ihm
verwickelte Prozeſſe aufzutragen. Auf dieſe Art hatte
ſich Werner in vielen Jahren ein ſehr anſehnliches
Vermoͤgen geſammelt, und da er ſehr ſparſam lebte
und ſtets fleißig arbeitete, wuchs ſein Kapital mit jedem
Jahre.
Werner hatte eine ſchoͤne Tochter von achtzehn
Jahren, der es nicht an Liebhabern fehlte, weil ihr
Vater in der Stadt fuͤr einen reichen Mann bekannt
war; hundert Schmetterlinge umflogen vergeblich den
goldenen Schein ihres Vermoͤgens, ſie unterhielt ſich
mit allen, ohne einem einzigen auch nur den kleinſten
Vorzug zu geben. Keiner von allen Freiern verſtand
die Kunſt, das Herz der Tochter oder des Vaters zu
ruͤhren, der ihren Aufwand von Witz und Windbeu—
teleien nur als eben ſo viele Feuerwerke anſah, die an—
gezuͤndet wuͤrden, um ſeine Tochter zu beluſtigen, und
die nicht die mindeſte Spur zuruͤcklaſſen, wenn ſie eine
Zeitlang geleuchtet haben. Er wuͤnſchte ſich immer
einen Schwiegerſohn, der die Rechte vollkommen inne
74
habe, damit er ihn dereinft im Alter bei feinen ver:
worrenen Arbeiten unterſtuͤtzen, und dem er ſein großes
Kapital von Schikanen, Rechtsverdrehungen, und die
ganze Alchymie ſeiner erworbenen Erfahrungen verma—
chen koͤnne. Werner hatte keine maͤnnlichen Erben,
und es ſchmerzte ihn daher ſchon außerordentlich, daß
ſein Familienname mit ihm verloͤſchen ſolle; aber den
Gedanken konnte er durchaus nicht ertragen, daß alle
ſeine Gelehrſamkeit, das Pfund, mit dem noch ſo man—
cher haͤtte wuchern koͤnnen, mit ihm ſolle begraben wer—
den. Er warf daher ſeine ſcharfſichtigen Augen umher,
um unter den vielen Juͤnglingen und Maͤnnern einen
Mann nach ſeinem Herzen zu entdecken, aber er fand
nirgends, was er ſuchte.
Der eine war ihm zu klug und vorſchnell, ſprach
für einen jungen Menſchen viel zu vernünftig und ab-
ſprechend, ſo, daß er ſich in ſeiner Geſellſchaft einige—
mal einfaͤltig vorgekommen war, und dies Gefuͤhl war
ihm unertraͤglich, beſonders aber in der Gegenwart von
juͤngern Leuten. — Ein andrer trug Hut und Rock
viel zu ſehr a J Anglois, als daß zu hoffen ſtand,
man koͤnne aus ihm einen vernünftigen Rechtsgelehr—
ten ziehn. — Ein dritter, der ſich weniger nach dem
Modejournal trug, war zu empfindſam, ſprach mit
Enthuſiasmus gegen die unnoͤthige Verlaͤngerung der
Prozeſſe, und verglich zuweilen die Advokaten mit un—
geſchickten Badern, die oft, um eine Krankheit zu he—
ben, dem Patienten ſo viel Blut ablaſſen, daß er her—
nach an einer Entkraͤftung ſtirbt. — Noch ein andrer
war ihm zu philoſophiſch, und wollte alles auf das
erſte Princip der Moral zuruͤckfuͤhren, ſprach von den
verſchiedenen Denkformen, und verſtand ſich im Ge—
ER
gentheil nicht auf die mannichfaltigen Muͤnzſorten des
deutſchen Reichs. — Ich kann hier unmoͤglich alle
Liebhaber Louiſens ſchildern, weil ich ſonſt eine Bil—
dergallerie aller jungen Leute der Stadt liefern müßte;
ſo wie es nothwendig war, ſich geſchmackvoll zu klei—
den und das Theater zu beſuchen, eben ſo nothwendig
war es, eine Zeitlang in Louiſen verliebt zu ſein,
ihr auf allen Schritten zu folgen, und täglich einiges
mal ihrem Fenſter voruͤberzugehn.
Louiſe ſchien, wie geſagt, eine von den unem⸗
pfindlichen Schoͤnen zu ſein, die alle Huldigungen mit
eben der Kaͤlte empfangen, mit der ſie die Zeitungen
leſen, denn ſie intereſſirte ſich wirklich fuͤr einen Artikel
im Modejournal weit lebhafter, ais für alle franzoͤſi—
ſchen und griechiſchen Epigramme, die die jungen Her—
ren an ſie richteten. Aber fuͤr jedes Herz liegt ein
Pfeil in Amors Koͤcher verſteckt, um auch einmal eine
poetiſche Redensart anzubringen, und eben ſo allgemein
angenommen der Satz iſt: „Alle Menſchen muͤſſen ſter—
ben:“ eben ſo allgemein richtig iſt die Behauptung:
„Alle Menſchen muͤſſen ſich Einmal verlieben.“ —
Vielleicht bloß um dieſen Satz nicht unwahr zu
machen, kam Eduard Schmidt, ein junger, wohl—
gewachsner Menſch, in Louiſens Geburtsſtadt an.
Er machte mit Herrn Werner Bekanntſchaft, weil
dieſer einen verwickelten Prozeß fuͤr den Onkel des
jungen Menſchen uͤbernehmen ſollte. Dieſer Onkel war
ein reicher Kaufmann, und hatte ſeinen elternloſen Nef—
fen zu ſich genommen, der faſt alle feine Geſchaͤfte be—
trieb. Der alte Werner ſah den jungen Eduard
faſt täglich, und dieſer ſah faſt eben fo oft deſſen Toch—
76
ter; Louiſens Schönheit zog ihn an, und er gehörte
ſchon nach einigen Tagen unter die Anzahl ihrer oͤffent—
lichen Liebhaber.
Eduard hatte kanm einige Wochen hindurch fo
Louiſen den Hof gemacht, als er ſich ploͤtzlich zur
ruͤckzog, und ſie doch in derſelben Zeit viel lieber, als
vorher, hatte. Er wollte nicht gern zu dem großen
Haufen gehoͤren, der aus Eitelkeit oder Langeweile das
Maͤdchen belagerte, er ſchaͤtzte ſie zu ſehr, um ihr eine
alberne erzwungene Achtung zu beweiſen, die die mei—
ſten Liebhaber nur zeigen, um ihren Witz geltend zu
machen, oder um in der Uebung zu bleiben, Abge—
ſchmackheiten zu ſagen. Es giebt gewiſſe empfindſame
Herzen, die nur auf einzelne Tage den ſogenannten
galanten Ton der Welt annehmen koͤnnen, und auch
dieſe Tage nachher bereuen, die die Narrheit haben,
noch etwas außer ihrem Verſtande zu achten, naͤmlich
ihr Herz: zu dieſen Thoren gehoͤrte Eduard; denn
man kann dieſe Leute allerdings Thoren nennen, weil
fie ſich in der großen Welt nur gar zu haufig lächerlich
machen, nachher ihre Empfindungen verſchließen, und
von jedermann verkannt, und für einfältig gehalten
werden. Die Empfindſamkeit iſt auch jetzt ſo etwas
verächtliches geworden, daß es ſelbſt die Schüler nicht
mehr der Muͤhe werth finden, ſich mit ihr einzulaſſen.
Man findet allenthalben Leute, die über die Empfin—
dungen ſpotten, alle unſre Luſtſpiele ſind noch immer
voll davon, daß man nicht zu ſtark fuͤhlen ſolle,
obgleich die wenigen empfindſamen Carrikaturen, die
man vielleicht noch findet, gewiß nicht des Aufwan—
des von Witz werth ſind, den man dabei anzuwenden
ſtrebt.
77
Louiſe bemerkte mit Mißvergnuͤgen die Zuruͤckzie—
hung des jungen Fremden, und eben dadurch, daß ſie
ihn nun gar nicht mehr zu bemerken ſtrebte, ward ihr
Auge immer unwiderſtehlicher zu ihm hingezogen. Wir
finden in tauſend Buͤchern tauſend Vorſchriften, wie
man einer ſo gefaͤhrlichen Leidenſchaft, als die Liebe
iſt, entgehen koͤnne: alle dieſe Regeln aber ſcheinen
von Leuten erfunden, die nicht verliebt waren, oder
wenigſtens den Zuſtand des Verliebtſeins ſchon lange
vergeſſen hatten, denn ihr Rath iſt in den vorkommen—
den Faͤllen gar nicht auszufuͤhren. So wandte Louiſe
nicht ihre Blicke von Eduard ab, ſondern ſie ſah
ihm heimlich nach, wenn er die Straße hinunterging,
in Geſellſchaften erkundigte ſie ſich nach ihm, wenn es
auf eine gute Art geſchehen konnte; es war ihr inter—
eſſant, wenn er anders, als gewoͤhnlich gekleidet, und
in welche Haͤuſer er hineinging.
Eduard ahndete von dem allen nichts, er war
zu beſcheiden, um es ſich zuzuſchreiben, wenn Louiſe
aus dem Fenſter ſah, indem er durch die Straße eilte,
er bemerkte nicht den freundlichen Gegengruß, den
er für fein ziemlich linkiſches Kompliment erhielt. Er
ſuchte ſich uͤber ihre Unempfindlichkeit zu troͤſten, und
ihren Namen aus ſeinem Gedaͤchtniſſe zu verdraͤngen.
Aber dieſe Bemuͤhung war durchaus vergebens; denn
da er mit dem Vater faſt taͤglich Geſchaͤfte hatte, ihn
an manchen Tagen ſo gar mehr als einmal ſah, ſo
ward er dadurch nur gar zu oft an ſeine ungluͤckliche
Liebe erinnert. Er oͤffnete jedesmal mit einem tiefen
Seufzer die Thuͤr des Hauſes, er ſah ſich jedesmal
um, ob nicht vielleicht durch einen Zufall Louiſens
78
Zimmer offen ſtehe, oder ob ſie ihm nicht vielleicht
auf dem Gange begegne; er wuͤnſchte taͤglich ſeine Ge—
ſchaͤfte fuͤr ſeinen Onkel geendigt, und erſchrak dann
wieder vor dem Gedanken der Abreiſe. Ein Verliebter
weiß ſelten genau, was er wuͤnſcht, ſeine Gedanken
ſind ſo dunkel und verworren, wie eine Gegend, die
nur ſchwach vom Monde erleuchtet wird.
Herr Werner war eines Tages ſo eben ausge—
gangen, als Eduard in das Haus trat, um ihn zu
ſprechen; Louiſe begegnete ihm und entſchuldigte ihren
Vater. Er bat um die Erlaubniß, ihn im Hauſe er—
warten zu dürfen; Louiſe führte ihn auf das Zim—
mer ihres Vaters, und leiſtete ihm aus Hoͤflichkeit Ge—
ſellſchaft. — Beide waren in einer ziemlich großen
Verlegenheit, man ſuchte aus allen Ecken muͤhſam ein
Geſpraͤch hervor, das nur ſo eben noch zuſammenhielt;
Eduard ſchoß endlich dadurch foͤrmlich Breſche und
hob alle Verlegenheit auf, indem er Louiſen auf die
feurigſte Art ſeine Liebe erklaͤrte.
Louiſe war lange zweifelhaft, wie ſie ſich nehmen
ſolle, dieſe Erklaͤrung kam ihr zu unerwartet, als daß
ſie irgend einige Maaßregeln auf dieſen Fall haͤtte er—
greifen koͤnnen; in dieſer Verlegenheit geſtand ſie eben—
falls ihre Zuneigung, ſie hatte alle die gewoͤhnlichen
Waffen des weiblichen Geſchlechts verloren, und ſo en—
digte ſich die Scene mit Kuͤſſen und Umarmungen.
Kaum hatten ſich die beiden Zaͤrtlichen eine ewige,
felſenfeſte Treue geſchworen, als der Rechtsgelehrte
Werner in das Zimmer trat. Louiſe entfernte ſich
mit Ehrerbietung vor der Gelehrſamkeit ihres Vaters,
und die beiden Maͤnner gingen an ihr Geſchaͤfte. Aber
79
der Schreibtiſch ſammt allen Seſſeln tanzten und walz
ten vor den Augen des bezauberten Liebhabers, er war
immer im Begriff, dem Vater den Schwur ſeiner ewi—
gen Treue zu wiederholen und ihn geliebte Louiſe
zu nennen; der Alte hielt den jungen Menſchen fuͤr
etwas betrunken, weil er heute gar nicht klug aus
ihm werden konnte. Eduard entfernte ſich ſobald
als moͤglich. Ä
Der Weg war nun einmal gebrochen, und die beiden
Liebenden ſahen ſich taͤglich, außer den muͤndlichen
Geſpraͤchen aber wechſelten fie noch! Briefe; Edu ard
nahm ein Zimmer in einem Hauſe, das dem Wer—
nerſchen grade uͤberſtand, und er ſah nun auch noch
ſo viel aus dem Fenſter, als es nur ſeine Geſchaͤfte zu—
laſſen wollten.
Je mehr Eduard nach und nach der oͤffentliche
und ernſthafte Liebhaber Louiſens wurde, um fo
mehr zogen ſich die uͤbrigen jungen Herrn zuruͤck; ſie
ſahen, daß ihnen endlich jemand vorgezogen wurde, die
Coquetterie war alſo in demſelben Augenblicke auf bei—
den Seiten eingeſtellt, in welchem Louiſe die Eitel—
keit ihrer Anbeter belridigt hatte. Louiſe vermißte ihre
vorigen Beſuche nicht, und der Vater, den ſeine Arbei—
ten beſchaͤftigten, bemerkte keine Veraͤnderung.
Den Liebenden verfliegen Wochen und Monate wie
angenehme Tage, ihre Phantaſie iſt unaufhoͤrlich be—
ſchaͤftigt, fie haben ſtets mit fo wichtigen Vorfaͤllen
zu thun, daß ſie gar nicht die Abſchnitte der Zeit be—
merken wuͤrden, wenn ſie nicht eines Spazierganges
wegen ſehnlichſt auf den einen Tag hofften, und ihnen
ein andrer wieder wegen einer kleinen Zwiſtigkeit auf
80
ewig merkwuͤrdig bliebe. Auf dieſe Art war jetzt ein
halbes Jahr verfloſſen, und Louiſe wunderte ſich ſehr,
als es ſo ploͤtzlich und unerwartet Winter ward, und
Eduard ſtampfte mit den Fuͤßen, als er einen Brief
von ſeinem Onkel bekam, in welchem ihm dieſer befahl,
die Stadt zu verlaſſen und zu ihm zu kommen.
Nun waren beide in der heftigſten Bewegung; man
ſeufzte und weinte, man verwuͤnſchte den Onkel und
das Schickſal, man wollte dem alten Werner die
gegenſeitige Liebe entdecken, aber Louiſe, die ihren
Vater kannte, kam bald von dieſer Uebereilung zuruͤck.
Eduard hatte kein eignes Vermoͤgen, er hing noch
ganz von ſeinem Onkel ab, und der alte Werner
war viel zu ſehr ein Freund des Gewiſſen, als daß
er nicht bei dieſer Entdeckung hätte ſchaͤumen und aufs
brauſen ſollen.
Was den Jammer noch mehr vermehrte, war, daß
Eduard mit ſeinem Onkel eine weite Reiſe uͤber's
Meer thun ſollte, um mit dieſem eine Handelsſpeku—
lation auszufuͤhren. Die Gefahren des Todes ſtellten
ſich der Phantaſie des Maͤdchens ſo lebhaft dar, daß
ſie in Ohnmacht fiel, als ihr der Geliebte zuerſt die
ſchreckliche Neuigkeit ankuͤndigte. — „Ich bin elend,
unglücklich und verlaſſen!“ rief fie zu wiederholtenma—
len, als fie wieder zum Leben erwachte. Eduard vers
gaß in dem Augenblicke ſeinen eignen Kummer, und
ſuchte ſie zu troͤſten, aber ſeine Bemuͤhung war ver—
gebens.
Der Tag des Abſchieds kam endlich; Werner be—
dauerte die Abreiſe des jungen Mannes, den er ſo oft
geſehen hatte, er wuͤnſchte ihm Gluͤck auf dem Meere
81
und gab ihm einige gute Lehren auf den Weg, dann
ging er wieder in ſein Zimmer und ſetzte ruhig ſeine
Arbeiten fort. Aber wie ſehr war dieſer Abſchied von
dem verſchieden, den Eduard von ſeiner Geliebten
nahm! Man konnte faſt kein Wort ſprechen, häufige
Thraͤnen erſtickten bei beiden die Sprache, Louiſe
ſchien der Verzweifelung nahe, und Eduard verließ
ſie endlich, ging nach Hauſe, und reiſte, in eine dumpfe
Betaͤubung verſunken, ab.
Da ſaß nun das Mädchen einſam auf ihrem Zim-
mer, und ſahe mit gepreßtem Herzen dem rollenden
Wagen nach. Alle ihre ſchoͤnen Traͤume gingen ſo
ploͤtzlich aus, alles verloſch, wie die Sonne hinter
einem Nebel, ſie dachte unaufhoͤrlich an Eduard und
den ſchrecklichen Abſchied. Bei dieſer großen Span—
nung ihrer Lebensgeiſter fiel ſie in ein Fieber, das ihr
bald die Roͤthe von den Wangen und die Munterkeit
aus den Augen nahm. Die Vorſorge des Vaters und
des Arztes ſtellten ſie zwar nach einiger Zeit wieder
her, aber ſie verlor darum nicht den melancholiſchen
Blick, mit dem ſie jetzt die Welt betrachtete, ſie war
gern allein, und las in der Einſamkeit die zaͤrtlichen
Briefe, die ſie von Eduard erhalten hatte; ſie kuͤßte
tauſendmal die geliebten Schriftzuͤge, und ſprach mit
dem Papier, als wenn Er es waͤre, kurz, ſie beging
alle die Thorheiten, die die kaͤlteren Menſchen fo oft
verlachen, die aber das zartere Herz mit Freuden und
Quaalen uͤberſchuͤtten.
Gluͤcklich iſt der, der unter ſolchen Umſtaͤnden einen
Vertrauten findet, dem er ſich ganz hingiebt, mit dem
er taͤglich uͤber das Ungluͤck ſeiner Lage ſpricht, der
XIV. Band. 6
889
ihm antwortet, wenn es auch nur die allerabgenutzteſten
Troſtgruͤnde ſein ſollten, denn der Schmerz ſpricht ſich
nach und nach aus der Bruſt über die Lippen hinweg;
je mehr man von einem Gegenſtande redet, und ſich
in Worten erſchoͤpft, je mehr vergißt man nach und
nach den Gegenſtand ſelbſt. Aber Louiſe war nicht
ſo gluͤcklich, ſie mußte ihre Empfindungen ganz in
ſich ſelbſt verſchließen, und eben deswegen wurden ſie
dauernder und peinvoller; ſie ſuchte auch keine Seele,
der ſie ſich vertrauen wollte, obgleich vielleicht manche
ihrer Freundinnen es verdient haͤtten; denn die tiefern
Empfindungen einer feinen Seele vertragen nicht die
kalte aͤußere Luft, wahrhaft empfindende Menſchen ſchaͤ—
men ſich gewöhnlich, von ihren Empfindungen zu ſpre—
chen, zwiſchen ihren Lippen und ihrem Herzen giebt
es keine andre Bruͤcke, als einen tiefen Seufzer, der
fuͤr die meiſten Ohren eine Hieroglyphe iſt.
Werner erhielt nach mehreren Wochen einen Brief
von einem feiner Korreſpondenten, daß das Schiff des
Eduard Schmidt und feines Onkels ungluͤcklich gez
weſen, und daß beides, Mannſchaft und Ladung, in
einem heftigen Sturme untergegangen ſei. Werner
ſchuͤttelte den Kopf, und erinnerte ſich nach langer Zeit
wieder einmal des jungen Menſchen, er trug gar kein
Bedenken, dieſe Nachricht ſeiner Tochter bei Tiſche, als
eine von den vielen Neuigkeiten, mitzutheilen. Louiſe
ward blaß und ging auf ihr Zimmer, wo ſie mehrere
Stunden in einer todtenaͤhnlichen Betäubung lag. Alle
ihre Hoffnungen, ſelbſt die entfernteſten, waren nun
untergeſunken, alles oͤde und naͤchtlich um ſie her, ſie
wagte es nicht, einen Blick in die Zukunft zu werfen,
ja nur an den folgenden Tag zu denken, auf einem
83
unabſehlichen wilden Meere trieb fie einſam und vers
laſſen auf einem kleinen Nachen umher. In den erſten
Anfaͤllen der Verzweiflung faßte ſie den Vorſatz zu
ſterben und ihrem Geliebten nachzufolgen, ſie machte
hundert ſeltſame und ſchreckliche Entwuͤrfe, ihre Blicke
waren ſtarr und unbeweglich auf den Boden gerichtet.
Aber ſo wie die Schwaͤche der menſchlichen Seele tau—
ſendfaches Ungluͤck erzeugt; ſo liegt auch wieder in ihr
der groͤßte, ja der einzige Troſt fuͤr den Elenden, daß
ſein Geiſt ſehr bald einer hohen Spannung erliegt,
unvermerkt laͤßt er die Fluͤgel ſinken, und faͤllt wieder
in die Welt, in die gewöhnliche Alltaͤglichkeit zuruͤck.
So kehrte auch Louiſe wieder zuruͤck, aber der Schreck,
der Gram, die unaufhoͤrliche Furcht, die Reue, alle
ihre Wuͤnſche ſo ploͤtzlich zerſchmettert zu ſehen, warfen
ſie aufs Krankenbette. Der Vater, der ſeine Tochter
zaͤrtlich liebte, ließ jetzt ſogar oft manche von ſeinen
Arbeiten liegen, um ihr Geſellſchaft zu leiſten und
Troſt zuzuſprechen, der Arzt bot ſeine ganze Kunſt auf,
um ſie dem Tode, der ſie ſchon als ſeine Beute an—
ſah, wieder zu entreißen. Seine Sorgfalt gelang ihm
endlich, Louiſe war außer Gefahr.
Des Vaters Freude, der fein Kind ſchon verloren
gegeben hatte, uͤberſtieg alle Graͤnzen, er ſahe ſich und
ſeiner gewoͤhnlichen Kaltbluͤtigkeit gar nicht mehr aͤhn—
lich, er belohnte den Arzt reichlich, und behauptete
dieſem in's Angeſicht, daß er ihn nie genug belohnen
koͤnne; eine Redensart, die bis dahin noch Niemand
aus ſeinem Munde gehoͤrt hatte.
Neun bis zehn Meilen von der Stadt beſaß Wer—
ner ein kleines Landgut mit einem Garten und Wein—
6 *
84
berge. Wenn es ſeine Geſchaͤfte erlaubten, reiſte er
in manchen Jahren des Herbſtes dorthin, lebte einige
Wochen auf dem Lande, und kehrte mit erneuerter
Geſundheit zur Stadt und zu ſeinen Geſchaͤften zuruͤck.
Auf Anrathen des Arztes reiſte er jetzt mit ſeiner Toch—
ter dorthin, in der gefunden Landluft ſollte ihre Ges
ſundheit gaͤnzlich wieder hergeſtellt werden.
Es ſchien auch wirklich, als wenn ſich Louiſe auf
dem Lande auffallend erholte; ihre Farbe kehrte etwas
zuruͤck, und ihr Betragen ward munterer; ſie war auf
dem Lande von keinen Geſellſchaftern geaͤngſtigt, die
ihr zur Laſt fielen, indem ſie ſich einbildeten, die
Trauernde zu zerſtreuen; fie beluſtigte ſich hier auf eins
ſamen Spaziergaͤngen und in Geſellſchaft der ſchoͤnen
Natur. Nach Verlauf von einigen Wochen wollte der
Vater wieder zur Stadt zuruͤckkehren, ſie bat ihn aber
ſo dringend und anhaltend, daß er ſie dort ließ und
er allein nach Haufe fuhr,
Er kam an und fand eine Menge von Prozeſſen
liegen, die ihm alle ſeine Zeit raubten. Louiſens
Briefe meldeten ihm indeß, daß ſie von Tage zu Tage
geſuͤnder und froher werde, und daß ſie ihn mit voͤllig
hergeſtellter Geſundheit wieder zu ſehen hoffe; dieſe
Briefe waren die Erquickung und Erholung des Va—
ters, der oft bei ſeinen uͤberhaͤuften Arbeiten anfing,
muͤrriſch und verdruͤßlich zu werden.
Um dieſe Zeit kam ein junger Menſch von der
Univerſitaͤt zuruͤck, der von allen Profeſſoren der Rechte
Empfehlungsſchreiben an Werner hatte. Er war
nämlich anf der Akademie außerordentlich fleißig gewe—
ſen, hatte kein Kollegium verſaͤumt, und war den Pro—
85
fefforen mit feinen Beſuchen außerordentlich oft zur
Laſt gefallen; und da es eine in Europa uͤbliche Sitte
iſt, daß man einen ſolchen Menſchen, der uns recht
oft Langeweile gemacht hat, bei ſeiner Abreiſe Briefe
mitgiebt, damit er auch einigen unſrer Bekannten die
Zeit verderbe, ſo war der Herr Kandidat Beſenberg
ſehr reichlich mit dieſen Anweiſungen zum Ennuͤyiren
ausgeſteuert. Er war ein Menſch, der in allen Sachen,
die nicht zur Rechtsgelehrſamkeit gehören, völlig un—
wiſſend war; ſein Benehmen war linkiſch und laͤcher—
lich; wenn er nicht uͤber Paragraphen der Novellen
ſprechen konnte, ſo ſchwieg er lieber ſtille, denn er
hatte den Grundſatz, daß man ſich in jedem Diskurſe
uͤber ſein Brodſtudium unterrichten muͤſſe, ſonſt
mache man nur, wie ein Verſchwender, mit Lippen
und Athem unnoͤthigen Aufwand. Er war ohne Ver—
moͤgen, aber dabei ſo geizig, daß er von dem wenigen,
was er auf der Univerſitaͤt gehabt hatte, noch ein klei—
nes erſpartes Kapital mit ſich brachte: er raſirte und
friſirte ſich ſelbſt, er war ſich ſelbſt Bedienter und
Freund, denn bis dahin hatte er noch keine Seele ge—
funden, die ſich die Muͤhe gegeben hatte, mit ihm zu
ſympathiſiren. Dieſer Mann kam jetzt an, und über:
reichte dem alten Werner mit einer demuͤthigen Ver—
beugung ſeine Empfehlungsſchreiben.
Werner faßte ſogleich eine große Hochachtung fuͤr
einen jungen Menſchen, den ihm die Profeſſoren, ſeine
alten Bekannten, ſo außerordentlich lobten. Er bat
ihn zum Eſſen und uͤber Tiſche fuͤhrte man ſehr lehr—
reiche Geſpraͤche, es wurden mehrere ſchwierige Fälle
abgehandelt und abdiſputirt; Werner fand, daß der
Kandidat in manchen Sachen, die er jetzt ſchon etwas
86
vergeſſen hatte, beſſer Beſcheid wiſſe, als er; und da
ihm dieſer endlich nach geendigter Mahlzeit, mit dem
dankenden Kuſſe das Kompliment in den Mund ſteckte,
daß er nun erſt von der Univerſitaͤt auf die wahre
hohe Schule der Rechtsgelehrſamkeit gekommen ſei,
um ſich voͤllig auszubilden, ſo ward Werner von der
liebenswuͤrdigen Beſcheidenheit des jungen Menſchen ſo
bezaubert, daß er von dieſem Augenblicke ſein waͤrmſter
und aufrichtigſter Freund war.
Beſenberg war, trotz ſeiner Einfalt, geſcheidt
genug, um zu bemerken, daß er an dem alten Rechts—
gelehrten einen großen Goͤnner gefunden habe, er ſuchte
ihm daher auf alle Art zu ſchmeicheln, er ging oft
lange um ihn herum, bis er irgend einen Einfall an—
bringen konnte, den er fuͤr ein ſchickliches und erquick—
liches Kompliment hielt, und da die meiſten Menſchen
ihr Ohr ſehr willig ſelbſt den platteſten Schmeicheleien
hinhalten, die manchmal nur durch eine feine, kaum
bemerkbare Linie von den Sottiſen getrennt ſind: ſo
erfreute ſich Werner herzlich uͤber dieſen Bewunderer,
den er gefunden hatte. — Sie ſetzten ihren Umgang
fort, und Werner gewann ſeinen Freund mit jedem
Tage lieber, er ließ ihn endlich unter ſeiner Aufſicht
arbeiten, und war mit der Art, mit welcher dieſer es
that, außerordentlich zufrieden. Beſenberg vermehrte
indeſſen auch ſeine Kenntniſſe, und lernte ſeine Theorie
praktiſch anwenden. Der Alte lernte immermehr die
Gelehrſamkeit ſeines jungen Freundes kennen, ſah
ſeinen unermuͤdlichen Fleiß, dachte an ſein Alter
und an die Schwaͤche, die dieſem bald folgen wuͤr—
de, und nahm ſich endlich in einer frohen Stunde
87
vor, das Gluͤck des jungen Menſchen zu
machen. | Ä
Es giebt wenig Menſchen, die den Fühnen Aus:
druck, Gluͤck machen, bedenken, es wird taͤglich da—
von mit eben der Leichtigkeit geſprochen, wie vom Tuch
machen oder andern Manufakturwaaren, und man
ſieht nur gar zu gewoͤhnlich Muͤnzen und Banken als
Niederlagen und Vorrathskammern an, in
welchen Gluͤck für ganze Generationen liegt. Neuere
Kauͤnſtler ſollten ſich gar nicht mehr die Mühe geben,
die Fortuna oder irgend eine Goͤttin mit einem großen
Fuͤllhorn abzubilden, in unſrer Mythologie erſetzt ein
gefuͤllter Geldbeutel einen ganzen Schwarm von Goͤt—
tern, die in der fabelhaften Zeit, in der Kindheit der
Welt, am Gluͤcke der Menſchen arbeiteten. Manche
deute, welche behaupten, es gabe in unſerm Zeitalter
weniger Royaliſten, als ehemals, haben es ganz ver—
zeſſen, wie alle Menſchen, ſie ſelbſt mitgerechnet, vor
den gemuͤnzten Bildniſſen der gekroͤnten Haͤupter nie
derknieen und ſie anbeten: denn die Regenten ſitzen
als Werkmeiſter und Inſpektoren in den Fabriken des
menſchlichen Gluͤcks oben an, und regieren und
gebieten uͤber Farbe und Modell, ſpediren dann das
Produkt in ihre Länder, und laſſen es unter ihre Unter⸗
gebene vertheilen, jedem fein Maaß, je nachdem fie glau⸗
ben, daß es ihm heilſam ſei. g
Das Gluͤck, welches der alte Werner jetzt machen
wollte, beſtand in nichts anderm, als ſeine Tochter
dem jungen Beſenberg zur Frau zu geben, und
ihm bei ſeinem Tode ſein Vermoͤgen und ſeine Praxis
zu hinterlaſſen. In den muͤßigen Abendſtunden ſann
88
er dieſem Plane weiter nach, und baute ihn unmerk⸗
licherweiſe fo aus, daß er endlich zum feſten Entſchluſſe
geworden war. i
Die Tochter kam zuruͤck, und bei weitem froher
und geſunder als vorher, ſie hatte etwas von ihrer
ſonſtigen Munterkeit wieder bekommen, ihre Augen
hatten wieder Feuer und ihre Wangen Roͤthe; der Va—
ter freute ſich, und der Arzt ward in ſeinen Bemer—
kungen uͤber die Heilſamkeit der Landluft beſtaͤtigt.
Beſenberg machte ihr ſeine Aufwartung, und zer—
gliederte ihr den Zuſammenhang von einigen verwickel—
ten Prozeſſen, die er im Begriff war, noch mehr zu
verwickeln, um einen unaufloͤslichen Knoten daraus
zu machen, den man nachher entweder mit dem Meſſer
zerſchneiden muͤßte, um lauter unbrauchbare Enden zu
bekommen, oder ihn zum Andenken des menſchlichen
Scharfſinns ganz und gar liegen zu laſſen.
Es bedarf gar keiner Erinnerung, daß der rechts—
gelehrte Beſenberg Louiſen durchaus mißfiel, ſie
antwortete ihm in der erſten Unterredung faſt gar nicht,
oder mit Unwillen, ſie gaͤhnte oft, und verließ ihn
endlich. Der Advokat aber bemerkte es gar nicht, daß
er ihr mißfallen haͤtte; daß ſie ſo wenig geſprochen
hatte, ſchrieb er ihrer Beſcheidenheit zu, und war herz—
lich mit ſich ſelbſt zufrieden. Der Vater eroͤffnete nun
ſeinem kuͤnftigen Schwiegerſohne ſeinen Plan, der fuͤr
Entzuͤcken und Dankbarkeit außer ſich war; er zweifelte
keinen Augenblick, daß er das Herz der Tochter gewin—
nen wuͤrde, da der Vater ſo ſehr fuͤr ihn eingenom—
men war. Louiſe hoͤrte mit Erſtaunen und Schreck
den Vorſchlag ihres Vaters, ſie machte hundert Ein⸗
89
wendungen, die aber alle nicht gehöret wurden; der
Vater hatte ſich dieſen Gedanken ſo feſt in den Kopf
geſetzt, daß ihn keine Ueberredung und keine Bitten
verdraͤngen konnten; und da Louiſe auch glaubte, es
wuͤrde mit der Ausfuͤhrung des Projekts nicht ſo ſehr
geeilt werden, ſo bot ſie nicht alle ihre Kunſt auf, um
den Vater von dieſem Vorſatz zuruͤckzubringen.
Beſenberg betrug ſich von jetzt in Louiſens
Geſellſchaft ganz als ihr Braͤutigam, er gab ſich gar
keine Muͤhe, ihre Gunſt zu gewinnen, weil er ſich als
ihren privilegirten Geliebten anſah; das einzige was er
that, war, daß er ſich ein neues, etwas moderneres
Kleid machen ließ. Louiſe hielt immer alles noch
fuͤr Scherz, und laͤchelte zuweilen uͤber den ſeltſamen
Braͤutigam, wenn er ſie auf der Promenade fuͤhrte,
und ſo gravitaͤtiſch neben ihr hinging, ſie ſo mit ſeinen
Augen bewachte, als wenn es kein Voruͤbergehender
wagen ſollte, mit einem Blicke ſeine Braut auch nur
zu ſtreifen. Werner hatte ſeinen Vorſatz allen ſeinen
Bekannten mitgetheilt, und Beſenberg empfing die
Gratulationen mit dem kaͤlteſten und geſetzteſten Weſen
von der Welt.
Louiſe hoͤrte von ihrem Vater, von Beſenberg,
von allen ihren Freundinnen und Bekannten, daß ſie
eine Braut ſei, daß ſie es am Ende ſelbſt glaubte.
Ihre Schwermuth war kaͤlter geworden, lag aber im—
mer noch uͤber allen ihren Stunden ausgebreitet; in
Geſellſchaft verſtellte ſie ſich etwas mehr, aber ſie fuͤhlte
ſich in der Einſamkeit immer noch ungluͤcklich, das Les
ben erſchien ihr in einem gleichguͤltigen Lichte, und alle
Freuden ſtanden weit weg, in einer neblichten Ferne.
90
Sie gewoͤhnte ſich daher beinahe an den Gedanken ver—
heirathet zu werden, in ihrer Gefuͤhlloſigkeit war ihr
auch der Mann ziemlich gleichguͤltig, dem ſie zu Theil
werden ſollte, da ihr das Schickſal jenen entriſſen hatte,
den ſie einzig mit Liebe umfangen konnte. Ein Menſch,
der ſich ungluͤcklich fuͤhlt, iſt auch weit leichter zu einem
kleinlichern Egoismus geneigt, als die Seele, die durch
Freude und Hoffnung aufrecht erhalten wird; ſie uͤber—
legte daher zuweilen, wenn ſie allein war, daß es im
Grunde fuͤr ſie, wenn ſie doch einmal heirathen ſollte,
am vortheilhafteſten waͤre, einen einfaͤltigen Mann zu
nehmen, der ſich mehr ſeinen Geſchaͤften, als ihr, wid—
mete, der ihr daher nicht ſo zu Laſt fallen wuͤrde, als
ein anderer, der ihr ſeine Liebe aufdringen wollte, —
und fo gewoͤhnte fie ſich nach und nach, einen Gedan—
ken ruhig zu ertragen, der ihr, wenn Eduard noch
gelebt haͤtte, fuͤrchterlich geweſen waͤre.
Nur ward ſie manchmal auf ihr kuͤnftiges Schickſal
aufmerkſamer, wenn ſie das Betragen ihres Braͤuti—
gams genauer beobachtete. Er that ihr auch nicht den
kleinſten Schritt entgegen, ſtand nicht in der geringſten
Furcht ihr Mißfallen zu erregen, ſondern ſah ſie fuͤr
ein Kapital an, das ihm ſo ſicher, wie in der Bank
liege, und auf keinen Fall verloren gehen koͤnne. Hat
der Menſch aber einmal auf ſeine Hoffnungen reſignirt,
und feine Ausſicht begraͤnzt: fo gewöhnt er ſich nach—
her an ſein truͤbes Schickſal, wie an das truͤbe Wetter,
das er nicht aͤndern kann. Dies war der Fall mit
Louiſen; um ihren Vater nicht aufzubringen, that fie
jeden Schritt, den dieſer forderte, der nur noch dar—
auf wartete, daß ſich Beſenberg anſaͤßig machen ſollte,
um ihn foͤrmlich zu ſeinem Schwiegerſohne zu erklaͤren.
91
Der Winter und der Sommer vergingen unter
allerhand unbedeutenden Vorfaͤllen, die Zeit mindert
alle Leiden, ſie nimmt nicht den Gram von uns weg,
abek fie rückt uns unvermerkt weiter von ihm fort, bis
er uns immer kleiner und kleiner erſcheint, und endlich
ſich in dem Nebel der Vergangenheit verliert. Jedes
Ungluͤck erſcheint uns dann nur wie ein Traum, der
uns einige Stunden hindurch aͤngſtigte, der helle Tag,
der uns umgiebt, verſpottet die dunklen Phantomen,
die es nicht wagen, naͤher zu ruͤcken.
Es war jetzt die Zeit der Weinleſe da, und der
alte Werner machte wieder den Plan, ſein Landgut
in dieſer froͤhlichen Zeit zu beſuchen; er wollte dort
zugleich die Verlobung ſeiner Tochter und ihres Viel⸗
getreuen feiern, der dazu die glaͤnzendſten Anftalten.
machte. Er legte naͤmlich ſein natuͤrliches Haupthaar
ab, und ließ ſich dafuͤr das paſſendere Haar von einer
Ziege anmeſſen, er warf ſich uͤber Hals und Kopf in
die Gravitaͤt hinein, und gab den letzten Reſten des
jugendlichen Ausſehens ihren Abſchied, er ließ ſich exa—
miniren, beſtand außerordentlich gut, und war nun
geſchworner und ſehr beruͤhmter Advokat. Man gratu—
lirte von allen Seiten, und die Stadt pries ſich gluͤck—
lich, ein ſolches Subjekt innerhalb ihren Mauern zu
beſitzen.
Man machte ſchon Anſtalten zur Abreiſe, als der
junge Herr von Roſenfeld um die Erlaubniß bat,
in ihrer Geſellſchaft zu reiſen, um ganz in der Naͤhe
des Wernerſchen Gutes einen Vetter zu beſuchen.
Werner ſchaͤtzte es ſich fuͤr eine Ehre, und veraͤnderte
nun den Plan, um die Reiſe noch luſtiger zu machen.
92
Er miethete nämlih ein Schiff, um mit dieſem ge⸗
maͤchlich den Strom hinunter bis unter die Fenſter
ſeines Landhauſes zu fahren; in dieſes Schiff wurden die
noͤthigen Sachen beſorgt, und an einem heitern Herbſt—
morgen ſtieg die ganze Geſellſchaft ein, und das Schiff
ſtieß froͤhlich und munter vom Lande.
Ro ſenfeld war ein lebhafter, feuriger, junger
Menſch, er gehoͤrte zu den Leuten, die ſich fuͤr witzig
halten, und in dieſem Irrthume jedermann beleidigen,
der in ihrer Gegenwart beſcheiden bleibt. Er hielt ſich
fuͤr einen allumfaſſenden Kopf, weil er in manche Kol—
legia auf der Univerfität, von der er erſt kuͤrzlich zu—
ruͤckgekommen war, als Hoſpes hineingelaufen war, und
von ohngeſaͤhr die vorgetragenen Sachen fo ziemlich
verſtanden hatte. Er ging mit vielen Leuten um, bloß
um ſie kennen zu lernen, und lernte ſie nur kennen,
um ihnen in Gegenwart von andern Sottiſen zu ſagen.
Er machte Gedichte ohne Reim und Rhytmus, und
mit häufigen Sprachfehlern, er war eitel und verliebte
ſich in jedes Maͤdchen, bloß um ſeinen Bekannten ſa—
gen zu koͤnnen: er ſei in die und die ganz erſtaunlich
verliebt; er war immer elegant friſirt, aͤrgerte ſich aber
bei jeder Gelegenheit gern, und ſchlug ſich mit der
Hand vor den Kopf, weil er ſich einbildete, ein kleines
Herabhaͤngen der Haare in die Stirn kleide ihn vor—
zuͤglich gut. Wenn man mit ihm ſprach, ſo antwor—
tete er bei hellem Wetter zuweilen durch einen Triller,
bei truͤbem durch Pfeifen, bloß um ſeine Originalitaͤt
auszudruͤcken. Die jetzige Reiſe machte er eigentlich
nur, um nachher ſagen zu koͤnnen, er habe ſie ge—
macht, denn in dieſer Abſicht beging er die meiſten ſei—
ner Narrheiten. Dieſer Menſch war ein Gift, aber
. 93
zugleich ein Gegengift, wenn man lange mit Befen:
berg zuſammen geweſen war; denn in ſolchen Stun—
den erſchien dieſer queckſilberne Narr gegen jenen ſauer—
toͤpfiſchen, verſeſſenen, dummlakoniſchen Narren liebens—
würdig, aber wenn man eine Zeitlang mit ihm ge:
ſprochen hatte, ward er ſo fade und abgeſchmackt, daß
man mit Emſigkeit die Geſellſchaft des eingepuderten
Advokaten wiederſuchte.
Natuͤrlich war ſchon, als man die Stadt noch nicht
aus dem Geſichte verloren hatte, Roſenfeld in
Louiſen verliebt, er ſang einige Arietten, die er ihr
mit den Augen widmete, und gleichſam uͤberreichte, er
maß ihren Liebhaber mit veraͤchtlichen Blicken, und
trank bei der erſten Gelegenheit Bruͤderſchaft mit ihm,
um ſich in ſeiner Geſellſchaft noch weniger geniren zu
duͤrfen. Das Wetter war ſchoͤn, die Gegenden, denen
man vorbeifuhr, reizend, alle Seelen waren daher hei—
ter geſtimmt, und man nahm ſeine luſtige ſeltſame
Galanterie mit Beifall auf. Fuͤr feinere Seelen iſt
dies ein Wink, nicht zu naͤrriſch zu werden, ſie fallen
dann ihrem wilden Humor in den Zuͤgel, aber Ro—
ſenfeld ſtieß ihm, dadurch aufgemuntert, beide Spo—
ren in die Seiten, und galloppirte unbeſonnen weiter,
ohne vor oder hinter ſich zu blicken. Louiſe war
zum erſtenmale wieder in einer humoriſtiſchen Stim—
mung, ſie ward daher von der Narrheit ihres neuen
Liebhabers unterhalten, es machte ihr Freude, ihn mit
dem richterlichen Beſenberg zu vergleichen, und zu
bemerken, wie ſich beide von Herzen verachteten.
Man ſtieg zuweilen ans Land, um ſpazieren zu
gehen und zu eſſen; dieſe Gelegenheiten nutzte Roſen⸗
94
feld neben Louiſen zu wandeln, und ihr feine fun-
kelnagelneue Leidenſchaft durch bluͤhende Metaphern zu
verſtehen zu geben, ſie antwortete immer in Scherz,
in welchem man weder Ja noch Nein ſagt, ſondern
ſich wie ein gejagtes Amphibium aus dem einen Ge—
biete in das andere rettet. Roſenfeld nahm die
Sache immer wichtiger, er glaubte am Ende ſelbſt,
und ſchwur es ſich ſogar heimlich zu, er ſei diesmal
recht ernſthaft verliebt. — Im Schiffe ſpottete er
dann wieder uͤber den ſteifen ungelenken Braͤutigam,
der ihm lateiniſche Sticheleien zuruͤckgab, die in dieſer
todten unverſtaͤndlichen Sprache fuͤr Roſenfeld ihre
Spitze verloren; man fing ſogar einigemal an, etwas
zu zanken, aber der Vater ſpielte immer den Friedens—
ſtifter, und ließ es nicht zu den letzten Gaͤhrungen des
Witzes von beiden Seiten kommen, und ſelbſt das
ſchaukelnde Schiff neigte ſie oft muthwillig nahe zu—
ſammen, als wenn ſie ſich umarmen ſollten, doch Ro—
ſenfeld that es nicht, und Beſenberg haͤtte es
nicht gelitten, um ſich Anzug und Peruͤcke nicht ver—
derben zu laſſen.
Alle ſpringen endlich aus dem Schiffe, ſie richten
ſich ein, Roſenfeld bleibt im Dorfe, und verſchiebt
noch den Beſuch bei ſeinem Vetter, um Louiſen
deſto naͤher zu ſein.
Jeder unterhielt ſich, ſo gut er konnte, Louiſe
ging oft einſam ſpazieren, oft auch in das Dorf, und
beſuchte Baͤuerinnen, die ſie im vorigen Jahre hatte
kennen lernen; Roſenfeld folgte ihr auf allen Schrit—
ten, er ſuchte ſie fuͤr ſich geneigt zu machen, und
malte ihr daher in langen Beſchreibungen die ſchoͤne
95
Natur aus, die ſie deutlicher und beſſer gemalt dicht
vor Augen hatte. Es gelang ihm endlich etwas, zwar
nicht Louiſens Neigung zu gewinnen, aber doch ihr
ihren Bräutigam noch unangenehmer zu machen, fie
ließ ihm dies merken, und Roſenfeld verſprach ihr,
ſie von dieſem Ueberlaͤſtigen zu befreien.
Auf dieſe Art waren ohngefaͤhr acht Tage verfloſ—
ſen, als Werner einen Tag fuͤr die Feierlichkeit der
Verlobung beſtimmte, es ſollte dabei Niemand weiter
zugegen ſein, als der junge Roſenfeld, und ein
paar Bekannte aus der Nachbarſchaft.
Jetzt muß der Autor noch zwei Perſonen kurz be—
ſchreiben, die in dem hiſtoriſch-vaterlaͤndiſchen Paſtoral—
Schauſpiele, welches ſich dialogiſirt darſtellen ſoll, Mitz
ſpieler waren.
Herr Erich war ein Prediger des benachbarten
Dorfes. Er trug ſich ganz ſchwarz, den Kragen und
die Stiefelmanſchetten ausgenommen, er ſah immer
ehrwuͤrdig aus, und lachte daher auch nur ungern, da—
mit ihm die Gravitaͤt nicht unvermerkt aus den Ge—
ſichtszuͤgen entwiſche. Wenn man ihn nur anſah,
wurde man fihon erbaut; er ſprach fo langſam und
bedaͤchtlich, daß man ſeiner Rede hundert Schritt vor—
auflaufen konnte, und uͤberzeugt ſein, daß ſie ihren
Fuß in dieſelben Fußſtapfen ſetzen wuͤrde. Er hatte
vor keinem Menſchen Achtung, der nicht wenigſtens
uͤber dreißig Jahr alt war, er ſprach uͤberaus gern mit
Dummen, weil dieſe ſich von ihm belehren ließen, und
ihre etwannigen Widerſpruͤche nur dazu dienten, ihm
Gelegenheit zu neuen Belehrungen zu geben; demuͤthi—
ger Knecht nannte er ſich darum gern, damit das:
96
„Wohlwuͤrden,“ deſto beſſer abſtechen möchte: dabei
glaubte der Mann aber ſtets, er ſei ein Mann nach
dem Herzen Gottes, weil er wiſſentlich keine von den
Todſuͤnden begangen hatte, und kitzelte ſich in den
Abendſtunden oft damit, wie es nach ſeinem Tode in
der Leichenrede immer heißen wuͤrde: „Der Wohlſelige,
in dem Herrn Entſchlafene.“ —
Der zweite war ein ausgedoͤrrter, hypochondriſcher
Amtmann, der aus einem Anfall von Schwermuth
ſich auf ſeine Renten geſetzt hatte, und dieſe andaͤchtig
und in der Furcht des Herrn verzehrte. Er war ein
wenig ſparſam, und die Bauern, die uͤberhaupt in den
Diſtinctionen nicht ſehr Beſcheid wiſſen, nannten ihn
geizig. Als er noch Amtmann war, las er fleißig die
Bibel; ſeine Lieblingsſtelle war: „Laſſet einen jeden
Tag fuͤr das Seine ſorgen:“ er verſtand darunter die
Gefaͤlle und Abgaben. Sein zweiter Spruch war: „Ge—
bet den Armen, doch laſſet die Linke nicht wiſſen, was
die Rechte thut;“ — da er aber ein wenig mißtrauiſch
war, ſo mochte er wohl ſeine rechte Hand doch nicht
fuͤr verſchwiegen genug halten, ſondern etwa argwoͤh—
nen, ſie koͤnnte manches bei dem haͤufigen Haͤndefalten
der Linken wieder erzaͤhlen; er hielt es daher fuͤr das
Geſcheidteſte, den Armen gar nichts zu geben. — Da—
bei war er in ſeinen Reden einſylbig, ſprach und ſang
ungern, that, ſo viel es moͤglich war, alle Reden in
Gedanken ab, und ward deswegen fuͤr ungemein klug
gehalten, weil er gar nicht ſprach. \
Und nun geht der Vorhang auf: — —
Werner, Beſenberg und Louiſe ſaßen in
ihrem Zimmer, als jemand klopfte, und Paſtor Erich
hereintrat. —
97
Werner. Es freut mich ungemein, daß Sie mir
haben die Ehre erzeigen wollen. Sie umarmen ſich. —
Wie haben ſich Ihre Wohlwuͤrden ſeitdem befunden? Wir
haben uns lange nicht geſehn.
Erich. Wohl, Gott ſei Lob und Dank, wohl —
Ja, es iſt eine geraume Zeit; ſie vergeht ſchnell. —
Die Mamſell Tochter?
Louiſe verneigt ſich
Werner. Aufzuwarten. |
Erich. Habe die Ehre von Herzen zu gratuliren.
Louiſe verneigt ſich.
Werner. Danke gehorſamſt. |
Erich. Sie thun jetzt einen wichtigen Schritt in
Ihrem Leben, Gott wird Ihnen ſeinen Segen rg
men laſſen.
Louiſe verneigt ſich.
Werner. Ich hoffe, das wird er, Herr Prediger.
Der Amtmann trat herein.
Amtmann. Guten, guten Tag, werthgeſchaͤtzter
Herr Werner. — Wie befunden?
Werner. Wohl, wohl, freue mich unendlich —
Umarmungen.
Amtmann. Gratulire gehorfamft, — Hab' auch
ein neues Pferd gekauft.
Werner. Danke unterthaͤnigſt. —
Amtmann. Der Herr Braut gam?
Beſenberg. Habe die Ehre.
Amtmann. Cratulire.
XIV. Band.
*
—8
98
Beſenberg. Viel Gnade, Freude für mich, und
ſage gehorſamſten Dank.
Erich. Sie ſind geſonnen, ſich heut chriſtlich in
dem Herrn mit ſammen zu verloben?
Werner. Wenn es dem Himmel gefaͤllt, ſo iſt
es unſer allerſeitiger Wille. — Belieben Sie doch
guͤtigſt Platz zu nehmen; belieben Sie zu koſten. —
Er ſchenkt ein, man trinkt.
Amtmann. Gut Glas Wein.
Beſenberg. Ungemein excellent und delikat! —
Roſenfeld tritt herein, und macht von allen Sei—
ten Verbeugungen, die beiden Fremden ſehen ſein Luft—
ſpringerweſen mit großen Augen an. |
Roſenfeld. Ich habe die Ehre meinen herzlich:
ſten Gluͤckwunſch abzuſtatten, daß die ewig laͤchelnde
Fortuna ſtets in ihrem Hauſe wohnen moͤge.
Verbeugungen; er ſetzt ſich und fixirt beſtaͤndig Toni:
ſen, laͤchelt, und man ſieht, daß er ſich auf ſeinen
Verſtand etwas zu Gute thut. Er hatte naͤmlich einen
Univerſitaͤtsfreund von ſich in der Naͤhe aufgetrieben,
einen Menſchen, der von Jugend auf in Privatkomoͤ—
dien die erſte Rolle geſpielt hatte. Mit dieſem und
einem Kammermaͤdchen hatte er einen Plan abgeredet,
um die Verlobung auf jeden Fall zu hintertreiben.
Wachtel, ſo hieß ſein Freund, ſetzte den Genuß ſei—
nes Lebens darin, Bekannte und Unbekannte zum Beſten
zu haben, er lief oft verkleidet umher, fand ſich in
jede Rolle gleich ganz gut, die er ſpielen wollte, und
war ſelbſt ſeinen beſten Freunden zuweilen unkenntlich.
Auf die Geſchicklichkeit dieſes Menſchen verließ ſich Ro;
99
ſenfeld, er erwartete ihn in kurzer Zeit, und ſuchte
daher die Geſellſchaft vorzubereiten.
Roſenfeld. Ich trinke auf Ihr Wohlſein, Herr
Braͤutigam, und auf die lange Dauer dieſer Freude.
Beſenberg. Gratias! — Sie wird dauern un:
aufhoͤrlich, bis ſpaͤt im Alter, werthgeſchaͤtzter Herr
Roſenfeld.
Roſenfeld. Dafür konnen Sie aber nicht gut
ſagen, mein Herr, ich habe ſchon manchmal erlebt, daß
dies Gluͤck nur bis drei Tage nach der Hochzeit waͤhrte.
Beſenberg. Dieſes kann nur bei Menſchen der
Fall geweſen ſein, die ſich nicht ſo zaͤrtlich liebten.
Erich. Bei den Gottloſen.
Amtmann. Richtig. — c
Roſenfeld. Es entſteht aber zuweilen ein gar
ploͤtzliches Ungluͤck. Ich habe Fälle erlebt, die außer:
ordentlich feltſam waren, und herrlichen Stoff zu Ko—
moͤdien liefern wuͤrden. Und ſo koͤnnen Sie auch nicht
dafuͤr ſtehn — —
Beſenberg. Ich glaube aber dafuͤr ſtehn zu
koͤnnen, ich bin noch bis jetzt Gottlob in keiner Komoͤdie
erſchienen.
Roſenfeld. Was nicht iſt, kann noch werden;
Gott fuͤhrt ſeine Heiligen oft wunderlich.
Werner. Nein, auch ich will Buͤrge dafuͤr ſein.
Roſenfeld. Ich will auch eben nicht laͤnger
zweifeln; — aber Sie werden ſich doch in der Kirche
aufbieten laſſen?
Beſenber g. Ohne Zweifel,
.
100
Erich. Unſre Religion bringt es fo mit ſich.
Roſenfeld. Sie fuͤrchten doch keinen Einſpruch 2
Beſenberg. Wo ſollte denn der Einſpruch her—
kommen?
Roſenfeld. Man kann manchmal nicht wiſſen,
Sie ſind jung, haben ein empfindſames Herz, — wenn
dies nicht mehr frei waͤre —
Beſenberg. Hypotheſen!
Werner. Ich kenne meinen Schwiegerſohn.
Roſenfeld. Sie ſind ſo zuverſichtlich?
Beſenberg. Das kann ich ſein.
Roſenfeld. Beſinnen Sie ſich, ich bin Ihr auf—
richtiger Freund, und ich möchte nicht gern —
Beſenberg. O, laſſen wir die Spaͤße.
Roſenfeld heimlich zu ihm. Aber geben Sie doch
klein bei, ich weiß ja alles.
Beſenberg. Nun, was wiſſen Sie denn?
Werner. Was haben Sie denn für Heimlichkei—
ten, Herr Sohn?
Beſenberg. O, nichts; ich werde nur ein wenig
gefoppt, es beliebt dem Herrn von Roſenfeld, einen
gnaͤdigen Scherz mit mir vorzunehmen.
Roſenfeld. O nicht im mindeſten, ich bin heut
weit ernſthafter, als gewoͤhnlich.
Beſenberg. O man kennt ſie ſchon.
Roſenfeld mit verſteltem Zorne. Man kennt mich?
— Nein, mein Herr, aber nun ſoll man mich und
auch Sie kennen lernen. Ich haͤtte gern geſchwiegen,
101
wenn es wäre möglich geweſen, aber da Sie mich nun
ſelbſt auffordern — |
Werner. Wie? Was ift denn? Ums Himmels
willen! 9
Erich. Unfriede? — Mit nichten muͤſſe ſich der
in fo angenehme Geſellſchaft einſchleichen.
Roſenfeld. Der Herr da fordert mich nun durch
ſeine Beleidigungen auf, alles zu ſagen. — Es mag
alſo ſein, — und kurz und gut, ich ſage Ihnen, es
kann und wird allerdings Einſpruch geſchehen.
Einſpruch? riefen alle mit einer Stimme.
Ja, meine Herren, fuhr Roſenfeld ſehr ernſt,
haft fort, dieſer Menſch da hat ein armes Maͤdchen
verlaſſen, und ungluͤcklich gemacht. —
Ich ein Maͤdchen ungluͤcklich gemacht? Hat man
je dergleichen gehoͤrt! rief Beſenberg mit dem groͤß—
ten Erſtaunen.
Roſenfeld. Er hat ihre Liebe gemißbraucht,
und ſie dann auf die ſchaͤndlichſte Weiſe verrathen. Die
Pflicht und die chriſtliche Liebe fordern mich auf, zu
ſprechen.
Werner. Nun, ſo ſprechen Sie, mein Herr,
ſprechen Sie! e
Beſenberg. Ich falle aus den Wolken — ich
bin verſteinert, — boshafte Luͤgen. —
Roſenfeld. Luͤgen? — Nun, ſo will ich Ihnen
denn Jemand hereinfuͤhren, und ich will doch ſehen,
ob Sie den auch werden Luͤgen ſtrafen.
Er ging.
Die ganze Geſellſchaft war hoch verwundert. Be—
102
ſenberg proteſtirte in abgebrochenen Worten unauf⸗
hoͤrlich gegen dieſe Beſchuldigung. — Roſenfeld
kam mit dem Kammermaͤdchen zurück,
Roſenfeld. Hier ſteht nun die Ungluͤckliche vor
Ihnen, meine Herren. — Sehn Sie nur, wie der
Boͤſewicht in Ihrer Gegenwart roth wird. —
Beſenberg. Ich roth?
Roſenfeld. Kennen Sie nicht dieſe Perſon?
Beſenberg. Woher ſollt' ich Sie denn kennen? —
Was, Chriſtoph, fuhr das Maͤdchen auf, Du
willſt mich nicht kennen? — Ach, wie viel Gottloſig—
keit hat der Menſch hinter ſeinen Ohren! — Er kann
ſich ſo ehrlich und dumm anſtellen. — Die Schlange
unter Blumen.
Beſenberg. Die Sache wird ernſthaft, meine
Herrn! — entweder ich bin verruͤckt, oder ich habe die—
ſes Maͤdchen nie mit Augen geſehn! —
Boshaft biſt Du, rief Charlotte wuͤthend aus.
— Nicht mit Augen geſehn? — Ach mir gehn die
Augen und der Verſtand über ſolche Riedertraͤchtigkeiten
uͤber! — Nicht mit Augen geſehn? — Hab' ich nicht
neben Dir auf der Univerſitaͤt in der kleinen Gaſſe ge—
wohnt? — Haſt Du mich nicht immer in Deinem blauen
abgetragenen Mantel beſucht? — Haſt Du nicht —
Beſenberg. Das Weibsbild iſt offenbar im Kopfe
verrückt.
Charlotte. Ja, aus Liebe zu Dir, Du Undank:
barer! — Ach, was ſoll ich nun anfangen, da er ſo
verſtockt iſt, und mich gar nicht einmal kennen will? —
Ach, ich bin ein ungluͤckliches Maͤdchen auf Zeitlebens!
103
Beſenberg. Der kuͤrzeſte Weg waͤre, hier eine
gerichtliche Unterſuchung anzuſtellen.
Charlotte. Ja, ja, thu es nur, damit Deine
Schande und Deine Niedertraͤchtigkeit recht offenbar
werden, damit es die ganze Welt erfaͤhrt, wie hinter—
liſtig Du mich betrogen haſt.
Werner. Ich weiß beim Himmel nicht, was ich
denken ſoll.
Beſenberg. Daß das ohne Zweifel ein Streich
vom Herrn von Roſenfeld iſt.
Roſenfeld. Von mir, nun fo wollt' ich — —
Erich. Sapienti sat! — Man follte die erhitzten
Gemuͤther wieder ein wenig beruhigen, ehe der Diskurs
fortgeſetzt wird.
Amtmann. Jeder ſollte ſich beſinnen, ein Glas
Wein trinken, und dann mit Bedacht weiter reden.
Werner. Hier iſt nichts zu beſinnen; mir faͤngt
an der Kopf umherzugehn. — Sollte ich mich ſo ge—
irrt haben? Sollten alle meine Plane ſo in Einem
Augenblicke zerfallen?
Beſenberg. Ich betheure oͤffentlich und laut
meine Unſchuld, ich ſchwoͤre, daß mir dieſe Kreatur
unbekannt iſt, ich erkenne ſie nicht und werde ſie nie
erkennen!
Charlotte. Kreatur? — Kreatur? — O, das
ſoll einem nicht durch die Seele gehn, das ſoll nicht
kraͤnken! — Man koͤnnte verruͤckt druͤber werden. —
Aber ſchon gut, ſchon gut, ich habe meinen Vater her-
beſtellt, wir wollen doch ſehn, ob Sie dem auch ſo
dreiſt ins Geſicht leugnen werden.
104
Beſenberg. Das werd' ich, das werd' ich ganz
ohne Zweifel.
Werner. Leugnen iſt noch kein Beweiſen, und
auf die Beweiſe koͤmmt es hier einzig und allein an.
Wie geſagt, ich weiß gar nicht mehr, was ich denken ſoll.
Beſenberg. Sie fangen an zu zweifeln, en
geſchaͤtzter Herr Schwiegervater?
Werner. Den Namen, Herr Sohn, verbitt' ich
mir, bis die Geſchichte da ausgemacht iſt. Das ſcheint
mir jetzt noch im weiten Felde zu liegen. |
Beſenberg. Ich ſchwoͤre —
Charlotte. Hoͤren Sie nicht darauf, er ſchwoͤrt
falſch, er hat mir auch geſchworen, und ſeinen Schwur
doch gebrochen. — Kommen Sie nur herein lieber
Vater und raͤumen Sie hier etwas auf.
Jetzt trat ein langer alter Mann von ehrwuͤrdigem
Anſehn in das Zimmer, es war Niemand anders als
der verkleidete Wachtel. Er trug ein Kind in den
Armen, das ohngefaͤhr ein Jahr alt zu ſeyn ſchien.
Ich bitt' um Verzeihung, daß ich ſo dreiſt bin.
Ich bin der Vater dieſes ungluͤcklichen Maͤdchens und
der Großvater dieſer armen verlaſſenen Waiſe hier. Der
gottloſe Menſch da hat mir einen Enkel gegeben, und
will nun ſein Blut nicht anerkennen.
Beſenberg. Enkel!! —
Allen verſagte das Wort im Munde, ſogar der Amt⸗
mann blickte auf und betrachtete aufmerkſam das Kind.
Roſenfeld. Gar kein Zweifel, denn ſehn Sie
nur, iſt ihm das Kind nicht wie aus den Augen ge—
ſchnitten? — i
105
Beſenberg. Ueber dieſe Frechheit will mir faft
der Verſtand ſtille ſtehn.
Wachtel. Glaube nicht, daß Du mit Deiner
Bosheit gluͤcklich Deinen Endzweck erreichen wirſt. —
Und ſollte ſich Niemand anders weiter finden, ſo bin
ich feſt geſonnen, Dir den Hals umzudrehen. Ich
halte es fuͤr die Pflicht eines Vaters.
Beſenberg griff erſchrocken nach ſeiner Halsbinde,
das Zimmer ward ihm zu eng und kam ihm wie eine
Moͤrdergrube vor, er ſchien ſich ein Wild zu ſein, das
man von allen Seiten jagte, und deſſen Fell und Fleiſch
man ſchon unter die Anweſenden vertheilt hatte.
Werner. Ihre Miene wird immer verwirrter,
Sie wiſſen nichts Vernuͤnftiges zu antworten, das boͤſe
Gewiſſen ſieht ihnen aus den Augen heraus,
Amtmann. Er iſt quasi vogelfrei.
Beſenberg. Vogelfrei? — Vogelfrei? — Wiſſen
Sie denn, was der Ausdruck bedeutet, mein Herr?
Wachtel. Daß Du der groͤßte Schurke auf Got—
tes weitem Erdboden biſt. — Ach, meine Herrn! ein
alter Vater fuͤhlt ſich zu ſehr gekraͤnkt, als daß er ſeinen
Zorn in Schranken halten koͤnnte, die ſtarken Gefuͤhle
der Natur vergeſſen die Hoͤflichkeit, — und Thraͤnen
machen mir die Zunge ſchwer.
Erich. Armer Alter! Da habt Ihr ein Glas
Wein! Erholt Euch wieder. |
Wachtel. Danke, danke, wohlwuͤrdiger Herr. —
Ach, Herr, er iſt ja um nichts beſſer, faſt um nichts
reicher, als ich bin, wir ſind ja alle nur Menſchen,
>
106
warum will er meine Tochter denn nicht zur Frau neh—
men? — Aber nein, es iſt wahr, er iſt kein Menſch,
er iſt ein Ungeheuer von der groͤßten Sorte!
Charlotte. Ach ſchimpft nicht ſo Vater, ich liebe
ihn doch immer noch. —
Roſenfeld. Nun Herr Beſenberg, faſſen
Sie einen kurzen Entſchluß! Sind Sie der jaͤmmer—
lichen Rolle noch nicht bald uͤberdruͤßig, die Sie ſpie—
len? Erklären Sie ſich, wollen Sie das Mädchen hei—
rathen? Hier iſt ein Herr Geiſtlicher, der ſogleich die
Muͤhe uͤber ſich nehmen wird, Sie beide zu kopuliren.
Erich. Um Unrecht wieder Recht zu machen, mit
Freuden.
Werner. Meine Tochter bekoͤmmt er nun ſo in alle
Ewigkeit nicht.
Dies ging dem armen Advokaten denn doch zu weit,
er ſprang auf und ſtieß den Prieſter heftig von der
Seite, der ihm die Hand freundlich zur Friedensſtif—
tung entgegen ſtreckte. Der Amtmann ruͤckte ſchnell
hinter den Tiſch, und Roſenfeld folgte ihm mit
einer Kapriole. Wuͤthend nahte ſich Beſenberg
Wachteln und dem Kinde. Das ſchaͤndliche Balg!
rief er aus, und hob tuͤckiſch die Hand auf, um dem
Kinde einen derben Schlag zu geben, als Louiſe
plöglich weinend hervorſtuͤrzte, und mit dem Ausruf:
mein Eduard! den Kleinen in ihre Arme ſchloß, und
mit Thraͤnen und Kuͤſſen bedeckte.
Ein neues Erſtaunen machte alle Geſichter ſtarr,
alle waren wie in einem bezauberten Feenſchloſſe, Nie—
mand traute mehr ſeinen Sinnen. — Nur Werner
ſchien nun ploͤtzlich den Zuſammenhang der ganzen Ge—
107
ſchichte zu errathen, er war vor Zorn nicht Herr feiner
ſelbſt, er eilte ſchaͤumend auf Louiſen zu, die er—
ſchrocken zur Thuͤr hinaus und zur Treppe hinuntereilte.
Die verkleideten Perſonen vergaßen ihre Rolle und
redeten in ihrer natuͤrlichen Sprache, ſie fanden ganz
andere Scenen vor, als ſie einſtudirt hatten, und wa—
ren wie betaͤubt; man hielt es gar nicht mehr der Muͤhe
werth, die vorige Geſchichte in Erwaͤhnung zu bringen,
ſondern man dachte nur an die ploͤtzliche Wendung,
die ſie genommen hatte: nur Beſenberg ſaß jetzt
kuͤhn und trotzig im Gefuͤhl ſeiner Unſchuld da.
Athemlos, bleich, mit verworrenem Auge kam
Louiſe zuruͤck, — und wer an ihrem Arme? —
Eduard Schmidt, der todtgeglaubte. Eine wun—
derbare Begebenheit draͤngte die andere, dem alten Wer—
ner tanzte das Zimmer und alle Meublen vor den Augen
umher; man erkannte ſich, man ſuchte Worte und fand
vor Erſtaunen keine; man fragte und wartete auf keine
Antwort; wie eine Geſellſchaft von Betrunkenen ſprach
alles durch einander, Nachſaͤtze voran, und die Vorder—
ſaͤtze hinkten hinter her. — Als der Sturm der Verwun—
derung und Verwirrung ſich etwas gelegt hatte, klaͤrte
ſich alles auf, Eduard hatte ſich damals im Schiff—
bruche gerettet, ſein Onkel war geſtorben und er hatte
deſſen Vermoͤgen geerbt, hatte aber wegen tauſenderlei
Hinderniſſe nicht ſchreiben koͤnnen; die Briefe in der
Stadt waren liegen geblieben, und er hatte ſich nun
ſelbſt auf den Weg nach dem Gute gemacht, ſeine
Louiſe wieder zu ſehn, er druͤckte ſie und ſeinen Sohn
zärtlich in feine Arme, die Verlobung ward noch an
demſelben Tage gefeiert.
108
Beſenberg und Roſenfeld waren beide gleich.
verdruͤßlich, erfterer, weil ihm die Braut nun gänzlich
mit dem Vermoͤgen des Alten genommen war, und
Roſenfeld daruͤber, daß er nun alle ſeine Maſchinen
vergebens hatte ſpielen laſſen. ö
Man ſuͤhnte ſich von allen Seiten wieder aus, und
in wenigen Wochen feierten Louiſe und Eduard
ihre Hochzeit. —
Der Abend daͤmmerte ſchon, als ein junger Ritter
mit ſeinem Roſſe ein einſames Thal durchtrabte; die
Wolken wurden nach und nach dunkler, der Schein des
Abends ward bleicher, ein kleiner Bach murmelte leiſe,
unter den uͤberhaͤngenden Gebuͤſchen des Berges verſteckt.
Der Ritter ſeufzte und uͤberließ ſich feinen Gedan⸗
ken; die Zügel lagen ſchlaff auf dem Nacken des Roſ—
ſes, es fuͤhlte nicht mehr den Sporn des Reiters, und
ging jetzt mit langſamem Schritt auf dem ſchmalen Pfade,
der ſich um den ſteilen Felſen wand.
Das Geraͤuſch des kleinen Baches ward lauter, der
Huftritt droͤhnte durch die Einſamkeit, die Schatten
wurden dichter, die Ruinen einer alten Burg lagen
wunderbar auf dem Abhange des gegenuͤberſtehenden
Berges. Der Ritter vertiefte ſich immer mehr in ſeinen
Gedanken, er ſahe ſtarr in die Dunkelheit hinaus und
bemerkte die Gegenſtaͤnde kaum, die ihn umgaben.
Jetzt ging der Mond hinter ihm auf, ſein Glanz
vergoldete die Wipfel der Baͤume und Gebuͤſche, das
Thal ward noch enger und der Schatten des Ritters
reichte zum gegenuͤberſtehenden Berge; ſilbern ſchaͤumte
der Strom uͤber Felſenſtuͤcke, und eine Nachtigall begann
leiſe ihr entzuͤckendes Lied, das bald lauter aus dem
Walde wiederhallte. — Der Ritter ſahe jetzt vor ſich
eine krummgewachſene Weide, die ſich uͤber den Bach
beugte, das Waſſer floß durch ihre uͤberhaͤngenden Zweige.
112
Als er naher kam, gewannen die dunkeln Uinriffe eine
beſtimmtere Form, er ſahe jetzt deutlich die Geſtalt eines
Moͤnchs, tiefgebuͤckt ſtand ſie da und ließ die kleinen
Wellen durch die Hoͤhlung der Hand laufen, ein leiſes
Wimmern aͤchzte: „ſie koͤmmt nicht, ſie koͤmmt nicht;
ach ewig wird ſie nicht herbei ſchwimmen!“
Das Roß ſprang ſcheu von der Seite, ein ploͤtzli—
ches Grauen ergriff den Ritter, er ſchlug beide Sporen
in die Seiten des Pferdes, das lautwiehernd mit ihm
davon ſprengte.
Der enge Pfad erweiterte ſich und fuͤhrte in einen
dicken Eichenwald, der Mond ſchoß nur einzelne Strah—
len durch die dichtverflochtnen Zweige. Bald ſtand der
Ritter vor einer Hoͤhle, aus der ihm ein kleines Feuer
entgegen leuchtete, er ſtieg ab, band ſein Roß an einen
Baum, und ging in die Hoͤhle.
Vor einem hölzernen Crucifixe lag ein alter Einſiedler
in tiefer Andacht auf den Knieen, er bemerkte den ein—
tretenden Ritter nicht, ſondern betete inbruͤnſtig weiter.
Ein langer weißer Bart floß auf ſeine Bruſt hinab, die
Jahre hatten tiefe Furchen in ſeine Stirn gezogen, ſeine
Augen waren matt, er hatte das Anſehn eines Heili—
gen. Der Ritter ſtand entfernt, faltete die Haͤnde und
betete einige Ave Maria's, dann erhob ſich der Greis,
trocknete ſich eine Thraͤne vom Auge und bemerkte den
Fremden in ſeiner Wohnung. |
Sei mir willkommen! rief er aus, und bot dem
Ritter die Hand, die von Alter zitterte. —
Der Ritter druͤckte ſie ihm herzlich, er fuͤhlte ſich
zu ihm hingezogen und ſeine Ehrfurcht ging in Liebe
über, Ä |
Du thateſt gut bei mir einzukehren, fuhr der Ein:
113
ſiedler fort, denn du findeft hier auf mehrere Stunden
kein Dorf oder keine Herberge. — Aber warum biſt du
ſo ſtill? Setze dich zum Feuer und ruhe aus, dann will
ich dir ein kleines Mahl auftragen, ſo gut und reichlich
als es dieſe Hoͤhle vermag.
Der Ritter nahm den Helm vom Haupte, ſeine brau—
nen Locken fielen um ſeinen Nacken, der Alte betrach—
tete ihn mit einem pruͤfenden Blick.
Warum irrt dein Auge ſo ſcheu und unſtaͤt umher?
fing er von neuem freundſchaftlich an.
Der Ritter ſchien ſich zu ſammeln. Ein wunder—
bares Grauen hat mich befallen, antwortete er, ſeit ich
durch jenes Thal ritt. — Erklaͤre mir, wenn du kannſt,
die ſeltſame Erſcheinung, die ich dort ſah. — Oder iſt
es kein Geiſt, iſt es ein Bewohner dieſer Gegenden? —
Aber es iſt nicht moͤglich, ich ſah' ihn wie Nebeldampf
im Schein des aufgehenden Mondes hin und her wan—
ken, ein kalter Schauder jagte mich hieher. — Erklaͤre
mir dies Raͤthſel und die Worte, die ich durch das
Geſaͤuſel der Buͤſche vernahm.
Du ſahſt die Erſcheinung? fragte der Eremit mit
einem Tone, der von inniger Theilnahme zeugte. —
Nun, ſo ſetze dich zum Feuer, ich will dir die ungluͤck—
liche Geſchichte erzaͤhlen.
Sie ſetzten ſich beide. Der Greis ſchien im Nach—
ſinnen verloren, der Ritter war aufmerkſam. Nach
einem kurzen Stillſchweigen begann der Einſiedler:
Jetzt ſind es faſt dreißig Jahr, als ich ſo wie du,
das Land nach Abentheuern und Fehden durchſtreifte, als
meine Locken eben ſo um meine Schultern floſſen, mein
Blick eben ſo kuͤhn den Gefahren entgegen ſah. Der
Gram hat mich vor der Zeit zu einem hinfaͤlligen Greiſe
XIV. Band. 8
114
gemacht, du findeft keine Spur mehr von dem kraft—
vollen Manne, der damals die Achtung der Ritter und
die Herzen der Maͤdchen gewann. Alles liegt jetzt wie
ein Traum hinter mir, Leiden und Freuden ſtehn in
einer daͤmmernden Ferne. Lebt wohl ihr gluͤcklichen
Tage der Vergangenheit, kaum ein Schimmer von euch
dringt jetzt zu meinem kalten Herzen zuruͤck. —
Ich hatte einen Bruder, der nur zwei Jahre aͤlter
war, als ich. Wir waren uns aͤhnlich an Geſtalt und
Geſinnung, nur war er feuriger und ſtuͤrmiſcher, vor—
zuͤglich zum Jachzorn geneigt. Wir liebten uns innig,
wir genoſſen keine Freude ohne einander, in jeder Fehde
kaͤmpfte er an meiner Seite, wir ſchienen nur für eins
ander zu leben.
Er lernte ein Fraͤulein kennen, deren Liebe bald
einen vollendeten Mann in ihm erzog. Ihre Zartheit
milderte ſeine wilde Seele, ſie gab ihm jene Sanftheit,
die jedem Menſchen unentbehrlich iſt, wenn ihn das
Auge des Freundes liebenswuͤrdig finden ſoll. Klara
ward ſein Weib und nach einem Jahre Mutter eines
Knaben. Seinem Gluͤcke ſchien nichts mehr zu fehlen.
Um dieſe Zeit ward das Kreuz von neuem gegen die
Unglaͤubigen gepredigt, von heiligem Eifer entbrannt
guͤrtete er das Schwert um ſeine Huͤfte, er nahm das
Zeichen des Erlöfers auf feinen Mantel und zog mit der
begeiſterten Schaar den Gefahren und dem Ruhm ent⸗
gegen. Meine Bitten und die Thraͤnen ſeines Weibes
waren zu ſchwach, ihn zuruͤckzuhalten, ſein entbrannter
Eifer riß ihn aus unſern Armen. — Ach Himmel! ich
hoffte damals noch, ihn zu unſrer Freude einſt wieder
zu ſehn, ich ahndete Gefahren fuͤr ihn, aber nicht jene
115
traurigen Vorfälle, die mich um alle Nreuden meines
Lebens betrogen haben.
Wir erwarteten jetzt vergeblich einen Boten, unſre
bange Ungeduld ließ uns tauſend Unfaͤlle fuͤrchten, ſo
wie ſie uns ſtets wieder mit neuer Hoffnung naͤhrte.
Eine Woche nach der andern, ein Monat nach dem
andern verfloß, ohne daß unſre Erwartung auf irgend
eine Art befriedigt wurde. Wir vernahmen zwar, daß
ſchon auf dem Wege nach dem gelobten Lande taufend:
faͤltiges Ungemach die Kreuzfahrer getroffen, ſie waren
von wilden Horden angefallen und dem Elend und jedem
Mangel Preis gegeben, der groͤßte Theil von ihnen
hatte ſich in die Waͤlder zerſtreut, um dort dem Hunger
oder den wilden Thieren zur Beute zu werden; aber
wir hatten keine Nachricht, die meinen Bruder beſon—
ders betraf, und wir mußten uns an den Gedanken
gewoͤhnen, daß auch er zu der großen Anzahl jener
Ungluͤcklichen gehoͤre. Seine verlaſſene Wittwe weinte
taͤglich um ihn, ſie hoͤrte nur wenig auf die Troſtgruͤnde,
die ohne Kraft aus dem wehmuͤthigen Herzen eines lei—
denden Bruders kamen.
Fuͤnf lange kummervolle Jahre waren uns ſo unter
Klagen und Thraͤnen verfloſſen, als ich auf einem Tur⸗
niere die Tochter Wilhelms von Orlaburg ſahe. O Rit—
ter, laßt mich bei dieſem glaͤnzenden Zeitpunkte meines
Lebens einen Augenblick verweilen, daß ich meinen Geiſt
an der ſchoͤnen Vergangenheit labe. Ach mir ging ein
reizender Fruͤhling auf, aber der Winter kam finſtrer
zu meinem Herzen zuruͤck, keine Blume iſt mir aus
jenen ſonnigten Tagen uͤbrig geblieben, alle hat ein
ſchadenfroher Sturmwind gepfluͤckt. — Ida von
Orlaburg war das reizendſte weibliche Geſchoͤpf,
8 *
116
— —
anmuthig und voll Majeftät, ihre hohe Geſtalt forderte
von jedermann Verehrung, und ihre Menſchenliebe
gewann ihr alle Herzen. Sie verband die Liebens—
wuͤrdigkeit des Weibes mit dem Adel der maͤnnlichen
Staͤrke.
Sie ſahe auf dem Turniere ihres Vaters Klara, ihre
Seele ward von dem tiefen Kummer angezogen, der aus
den Blicken des verlaſſenen Weibes ſprach; Freundſchaf—
ten werden im Ungluͤck am ſchnellſten und feſteſten ges
ſchloſſen. Beide ſahen ſich Häufig, fie liebten ſich wie
zwei Schweſtern, die mit einander aufgewachſen, ſich
keinen Gedanken verſchweigen, und als Ida's Vater
ſtarb, hatte Klara ihre Freundin als einen beſtaͤndigen
Gaſt in ihrer Burg. Ida war's, die ihr endlich die
Thraͤnen von den mattgeweinten Augen trocknete, die ſie
wieder beim Aufgang der Soͤnne laͤcheln lehrte, und die
mir endlich, da ich ſie ſo oft ſah, mein Herz und meine
Ruhe raubte.
Ich erfuhr alle Quaalen und Seligkeiten der Liebe,
meine Naͤchte waren ſchlaflos, meine Tage ohne Raſt,
ſchoͤner lag die Welt vor meinen Blicken da, allenthal:
ben bluͤhten Reize und Lieblichkeiten unter meinen Fuß—
tritten auf, eine ſtuͤrmende Sehnſucht draͤngte mich zu
ihr hin, und doch klopfte in ihrer Gegenwart mein Herz
noch ungeſtuͤmer.
Bin ich nicht ein Kind, zu dir fo weitſchweiſig von
meinen Thorheiten zu reden? — Nach einigen Monden
entdeckte ich ihr meine Liebe, ſie verſicherte mich mit
einer Engelsſtimme ihrer Zuneigung, wir wurden ver—
lobt und — wer konnte mein Gluͤck mit mir empfin⸗
den? — nach zweien Monaten ward unſre Vermaͤlung
feſtgeſetzt. — Wie zaͤhlte ich jeden Tag und jede Stunde!
117
der Strom der Zeit floß mir mit verdruͤßlicher Trägheit
vorüber, ich wuͤnſchte ihn im ſchaͤumenden Sturze meis
nen Fuͤßen voruͤberrollen zu ſehn. —
Jetzt erhielten wir endlich einen Boten, der uns
Nachrichten von meinem Bruder brachte. Es war ein
Ritter aus Spanien, der ihn in Afrika geſehn hatte.
Corſaren hatten das Schiff, mit welchem er reiſte, ero—
bert, und ihn als Sklaven nach Tunis verkauft, man
hatte fuͤr ſeine Freiheit ein ſehr hohes Loͤſegeld ſeſtgeſetzt.
Wir waren uͤber dieſe Nachricht mehr erfreut als
betruͤbt, weil wir ſeinen Tod ſchon als gewiß angenom—
men hatten. Klara trocknete ſich jetzt die Thraͤnen von
den Augen und uͤberließ ſich ihrer Freude. Sie brachte,
ſo ſchnell als moͤglich, die verlangte Summe zuſammen,
und machte ſich fertig, ihrem Manne ſelbſt entgegen zu
reiſen.
Der fremde Ritter reiſte nämlich nach Spanien zu:
ruͤck, in feiner Geſellſchaft wollte ſich Klara auf den Weg
machen, und Ida faßte den Entſchluß, in Rittersklei⸗
dern ihre Freundin, von der ſie ſich unmoͤglich trennen
koͤnne, zu begleiten.
Meine dringenden Bitten waren vergebens, ich mußte
endlich ihrem beiderſeitigen Verlangen nachgeben; der
junge Sohn meines Bruders ward der Aufſicht eines
Kloſters anvertraut. — Sie reiſten ab, ahndungsvoll
ſah ihnen mein thraͤnendes Auge nach.
Wie brannt' ich vor Begierde, ſie zu begleiten, aber
ich war in eine Fehde verwickelt, ich hatte einem Freunde
meine Huͤlfe zugeſagt, und mein gegebenes Wort hielt
mich in Deutſchland zuruͤck. — Ach! zur ungluͤcklichen
Stunde reiſten ſie ab, ich ſahe ſie ſeitdem nicht wieder.
118
Von dieſem Augenblicke fängt der ſchwarze Theil mei⸗
nes Lebenslaufes an. — Ich war in der Fehde gluͤck—
lich. — O, waͤr' ich doch unter dem Schwerte eines
Feindes niedergeſunken, um nicht von jahrelangen Marz
tern gefoltert zu werden, um den fuͤrchterlichen Stunden
zu entgehn, in denen ich zuerſt — o vergieb mir dieſe
Thraͤnen, ſie fließen noch oft dem Andenken meiner Ida
und meines Bruders, das Alter kann uns nicht ſo ab—
ſtumpfen, daß der Schmerz nicht zuweilen mit neuer
Gewalt in unſere Bruſt zuruͤckkehrte.
Auf dem Wege bekam Ida den ungluͤcklichen Gedan—
ken, ſich meinem Bruder nicht zu entdecken, bis ſie alle
in ihr Vaterland zuruͤckgekommen waͤren, um ihn dann
als meine Braut deſto freudiger zu uͤberraſchen. — Sie
kamen in Spanien an, und ſandten die verlangte Summe
nach Tunis. Mein Bruder ward frei; auf den Flügeln
der Sehnſucht eilte er uͤber's Meer, er fand ſeine Gattin
wieder, und vergaß an ihrem Halſe in einem Augenblick
des Entzuͤckens, die Leiden, die er ſeit Jahren erduldet
hatte.
Ida ward ihm bald darauf als ein Freund vorge⸗
ſtellt; er empfing ſie mit Zaͤrtlichkeit, und genoß einige
Tage, in der Naͤhe ſeiner Gattin, ein Gluͤck, das er
ſo lange hatte entbehren muͤſſen. Bald aber wurzelten
feine Augen auf Ida, er bemerkte die Zärtlichkeit zwi⸗
ſchen ihr und ſeiner Gattin, und ein Verdacht ſchlich
in ſeine Seele. — Sie iſt mir untreu geworden! rief
er aus, wenn er allein war; ſie theilt ihr Herz e
mir und dieſem verhaßten Fremdling!
Er beobachtete nun Beide genauer als vorher, und
glaubte bald ſeinen Argwohn gerechtfertigt zu ſehn; er
glaubte Liebe zu entdecken, welche zu verheimlichen, beide
119
nicht einmal bemüht wären. Er ward nach und nach
kälter gegen feine Gattin, und verheimlichte ihr die
Wunde, die fie feinem Herzen gefchlagen hatte, indeß
fie unbefangen und ohne Furcht ihre Liebe faft gleich zivi:
ſchen ihren Gemal und ihrer Freundin vertheilte.
Die Eiferſucht wuͤthete im Herzen meines Bruders,
er fing an Klara und ihren Begleiter zu haſſen, er gab
jeder Miene und jeder Bewegung Bedeutung, die innre
Wuth raubte ihm den Schlaf, oder ſein Argwohn ſchreckte
ihn in verhaßten Traͤumen.
Dar um alſo bin ich uͤber Meere gekommen? ſprach
er, wenn er allein war; dies iſt meine Freude des Wie;
derſehns? Dies ſind alſo die Freuden meiner Liebe? Ich
bin gekommen, um wuͤthende Schmerzen einzuſammeln,
an der Seite eines treuloſen Weibes ſeh' ich meine Hei:
math wieder, und ſie koͤmmt mir ſelbſt entgegen, um
mir recht fruͤh ihre Frechheit und ihre gebrochenen Eide
anzukuͤndigen!
Er machte einen alten Knappen zum Vertrauten ſei⸗
nes Grams, beide beobachteten nun mit unermuͤdeter
Aufmerkſamkeit die beiden Freundinnen. Sie ſahen tau⸗
ſend Beweiſe der vermeinten Untreue, ohne den wahren
Zuſammenhang der Sache auch nur zu vermuthen, die
Wuth meines Bruders flieg immer höher, und ein ſchwar—
zer Entſchluß fing endlich an in ſeiner Seele reif zu
werden. — |
Er war mit ihnen und feinem vertrauten Diener auf
einem kleinen Nachen, der Mond war aufgegangen, und
das Schiff trieb langſam den ruhigen Strom hinunter;
er ſaß kalt und ohne Bewußtſein neben Klara, die ihre
Hand in die ſeinige legte. Mit einem pruͤfenden Blick
ſah' er ihr in's Auge, ihr Gemal war ihr fremd, ſie
120
ſchlug ſcheu die Augen nieder. Ida hatte die andre Hand
ſeiner Gemalin ergriffen. —
Verraͤtherin! rief er ploͤtzlich, — Betruͤgerin, die du
mit der Ruhe eines Mannes, mit Treue und Schwuͤren
ſpielſt! — Ach, fein guter Geiſt trat zuruͤck; er ſtieß knir—
ſchend den Dolch in Klara's Buſen, Ida ſank ohnmaͤch—
tig an der Seite ihrer Freundin nieder, er nahm den blu—
tigen Dolch, hob' ihn ſchaͤumend auf, — und traf auch
das Herz meiner Ida. —
Die ſterbende Klara entdeckte ihm ſeinen ſchrecklichen
Irrthum. — Ihr Blut ſchwamm den Strom hinab, —
ihr Auge brach. Er ſtand lange wie betaͤubt, dann ſprang
er in den Fluß, ohne Bewußtſein ſchwamm er an's Land,
taub und ſtumm, ohne Gefuͤhl und Klagen trat er ſeine
Ruͤckkehr nach Deutſchland an. —
So hatte denn ein ungluͤcklicher Scherz alle meine
Freuden und Hoffnungen zertruͤmmert: ich ſtand indeß
am Fenſter der Burg und harrte auf die Ruͤckkehr meiner
Geliebten. Ich ſprang aus meinem Nachdenken oft auf,
wenn ich den Hufſchlag eines Roſſes vernahm, mein
Auge ſah ſtarr uͤber das Feld und die Berge hin, ein
freudiger Schauder ergriff mich, wenn ich in der Ferne
eine weibliche Geſtalt wahrnahm.
Endlich kam ein Ritter auf einem ſchwarzen Roſſe her—
angeſprengt: es war mein Bruder, — aber ach! ich
hatte mich vergebens gefreut. Sein Geſicht war verfal—
len, ſeine Augen rollten wild, ſein Herz klopfte ungeſtuͤm.
Wo iſt Ida und Klara? rief ich aus.
Eine Thraͤne antwortete mir, er hing ſtumm an mei—
nem Halſe. — „Im Grabe,“ ſprach er endlich unter
heftigem Schluchzen.
O Himmel, es waren fuͤrchterliche Stunden, die ich
124
damals durchlebte! — Meine Fauſt zuckte, mein Herz
zog ſich krampfhaft zuſammen, eine Stimme fluͤſterte mir
leiſe Mord und Rache zu, — aber ich ſah das Elend
meines Bruders, ich vergab ihm, und wohl mir, daß ich
es that! |
O hätte er ſich nur felber vergeben. Aber fein Un:
gluͤck und ſein Verbrechen ſtand bei Tage und in der Nacht
vor ſeiner Seele. Klara kam zu ihm in ſeinen Traͤumen
zuruͤck, und zeigte ihm den Dolch, an dem das Blut ih:
res Herzens klebte, — er laͤchelte ſeitdem nicht wieder.
Ich bin zum grimmigſten Elende verdammt, rief er,
indem er meine Hand ergriff; auch jenſeits werd' ich
keine Ruhe finden, mein Geiſt wird umherirren und Klara
ſuchen, und ſie niemals finden, eine fuͤrchterliche Zukunft
ſchleppt ſich mir langſam voruͤber; — ach Bruder! auch
im Tod' iſt keine Hoffnung mehr fuͤr mich.
Mein Herz war gebrochen, aber mein Leben war jetzt
dazu beſtimmt, ihn zu troͤſten; wir verließen die Burg
und legten die Ritterkleidung ab, ein heiliges Gewand
bedeckte uns, ſo wallfahrtete ich mit meinem Bruder durch
Waͤlder und uͤber einſame Fluren, bis uns endlich dieſe
Hoͤhle aufnahm.
Er ſtand oft Tage lang an jenem Strom und ſahe
ſtarr in die Wellen hinein, ſelbſt in der Nacht war er zu—
weilen dort, und ſaß auf einem abgeriſſenen Felſenſtuͤck,
ſeine Thraͤnen rannen in den Fluß, mein Troſt war
vergebens.
Endlich entdeckte er mir, Klara ſei ihm im Traum er:
ſchienen, ſie koͤnne ſich nicht eher verſoͤhnen, habe ſie ihm
angekuͤndigt, bis ihr Blut den kleinen Strom herun—
terſchwimme: darum ſitze er nun an jenem Ufer, zaͤhle
und beobachte jede Welle, um die Blutstropfen wieder
122
zufinden, die in jener unglücklichen Stunde aus ihrem
Herzen ſprangen.
Ich weinte, als ich den Wahnſinn meines Bruders
ſah', ich wollte dieſen Gedanken von ihm entfernen, aber
unmoͤglich. — Ach! rief er aus, und im fernen Spa:
nien iſt ihr Blut vergoſſen worden, es floß den Strom
hinunter, in's Meer hinab, — wie lange ſoll es nun
waͤhren, ehe es zu den Quellen bis hieher zuruͤckkehrt?
Er verließ nun faſt den Bach nicht mehr; ſein Schmerz
fo wie fein Wahnſinn, vermehrte ſich mit jedem Tage, —
endlich brach ihm das Herz. — Ich habe ihn hier bei mei—
ner Hoͤhle begraben. 8
Seitdem habe ich oft ſeinen Schatten am Strome
figen fehn, er beobachtete noch immer die voruͤberfließen—
den Wellen und ſeufzt leiſe: Sie koͤmmt nicht, ſie koͤmmt
nicht! — Ein Grauen hat mich jeglichesmal ergriffen,
und ich bete bis zur Mitternachtsſtunde fuͤr die eg ſei⸗
nes Geiſtes. —
Der Eremit ſchwieg jetzt, ſah vor ſich nieder, und
betete ſtill ſeinen Roſenkranz. Der Ritter hatte mit ge:
ſpannter Aufmerkfamkeit der Erzaͤhlung zugehoͤrt, und
fragte nach einiger Zeit:
Und wo blieb der Sohn deines Bruders
Wir ſuchten ihn, antwortete der Greis, vergebens im
Kloſter, er war den Moͤnchen heimlich entſprungen. —
Dein Name?
Warum ſiehſt du mich ſo ſtarr an? m von
Waldburg!
O mein Oheim! rief der Ritter, und warf ſich an die
Bruſt des erſtaunten Einſiedlers. — Zweifelt nicht, rief
er aus, ach! jene ungluͤckliche Schattengeſtalt am an
ſie iſt der RO meines Vaters.
123
Deines Vaters, — der hieß —
Karl von Waldburg! — Ich entſprang den Moͤnchen,
weil mir ihr einſames Kloſter ein Gefaͤngniß ſchien, —
ich diente bei einem Ritter, — und jetzt hab' ich ſeit eini⸗
gen Jahren meinen Vater und Euch geſucht!
O mein Sohn! rief der Greis, und ſchloß ihn inni⸗
ger in ſeine Arme. — Ja, du biſt's! Ich kenne dich an
dieſem Auge, dies ſind die Zuͤge deines Vaters, ſeine
braunen Locken.
O mein ungluͤcklicher Vater! ſeufzte der Juͤngling. —
Koͤnnt' ich ſeinem irrenden Geiſte Ruhe ſchaffen! O koͤnn⸗
ten meine Gebete den Himmel und den Schatten meiner
Mutter verſoͤhnen! —
Er ſtand nachdenkend und mit gefalteten Haͤnden. —
Oheim! rief er aus, — wenn ich den Sinn des Traumes
recht deutete, wenn der Geiſt meiner Mutter den Elenden
auf mich verwieſen hätte! — O kommt! —
Sie verließen die Hoͤhle. — Wolken hingen vor dem
Monde, eine heilige Stille war uͤber die Welt ausgegoſſen,
ſie traten wie in einen Tempel in den einſamen Wald. —
Karl kniete auf den Grabhuͤgel ſeines Vaters:
Geiſt meines Vaters, betete er mit Inbrunſt —
hoͤre deinen Sohn, — hoͤre deinen Sohn, o Mutter!
und du, guͤtiger Himmel! laß mein Flehen nicht uner—
füllt. Schenke dem Ungluͤcklichen Ruhe, laß in dieſem
Grabe den furchtbaren Pilger eine Herberge finden. —
O laß mich von dir vernehmen, Geiſt meines Vaters,
ob ich den Sinn der Weiſſagung faßte; o wuͤrdige mich
eines Winkes, ob du mit dem Geiſte meiner Mutter aus:
geſoͤhnt biſt. —
Wie der Wiederhall einer leiſen Floͤte fluͤſterte es in
den Wipfeln, zwei glaͤnzende Erſcheinungen ſanken herab,
124
in einander geſchlungen. Sie kamen näher. — Wir find
verſoͤhnt! wehte eine uͤberirdiſche Stimme, zwei Haͤnde
ſtreckten ſie uͤber den Knieenden, wie ein ſanfter Wind
flogen die Worte uͤber ihn hin: Sei bieder! —
Eine Wolke trat vor dem Monde zuruͤck, die Erſchei—
nungen zerfloſſen in den hellen Silberglanz. — Mit
frohem Erſtaunen ſahen ihnen lange die beiden Sterb—
lichen nach. —
Wenn ſich Jemand die Mühe giebt, irgend eine Ge⸗
ſchichte ernſthaft zu erzaͤhlen, ſo iſt es die Pflicht der
Zuhörer aufmerkſam zu fein, und wenigſtens nach dem
Schein ſeinen Erzaͤhlungen Glauben beizumeſſen. Aber
bei jeder Geſchichte, die ſich nur etwas über das All:
tägliche erhebt, auszurufen: eredat Judaeus apella! mit
der Zweifelſucht den Verfaſſer queer uͤber den Weg zu
laufen, iſt aͤußerſt unartig; wenn der Leſer alles beſſer
weiß, ſo ſollte er, meines Beduͤnkens nach, gar nicht
mehr leſen. Ich flehe daher die Gutherzigkeit aller an,
die dieſe Erzaͤhlung aufſchlagen, mir doch ja auf mein
Wort zu glauben, nicht die Belege aus Akten zu for⸗
dern, und einem Schriftſteller ſoviel Ehrgefuͤhl zuzu⸗
trauen, daß er nicht eine ganze hochanſehnliche Verſamm⸗
lung vorſaͤtzlich mit Luͤgen wird hintergehen wollen. Ich
hoffe, der Verfaſſer des Genius und der Memoir's
des Grafen von G. . hat nicht den Schriftftelfer:
glauben ſo ſehr durchloͤchert, daß nicht noch mancher
derbere Leſer in dem Netze ſollte ſtecken bleiben.
Sind Sie aber in einer ſehr unglaͤubigen Stim—
mung, ſo machen Sie Feuer im Kamin, ſetzen Sie
ſich dicht umher, und loͤſchen Sie das Licht aus. Laſ—
fen Sie die Feuerbraͤnde ihr mattes auf- und nieder
ſchießendes Licht im Zimmer verbreiten, und dann nehmen
128
Sie das Buch und fangen Sie an zu leſen: ich habe
immer gefunden, daß ein Kaminfeuer die Phantaſie erhebt,
und den vorlauten Verſtand etwas zum Schweigen
bringt, und damit in nachfolgender Erzaͤhlung ja nicht
zuviel Verſtand hineingerathen moͤchte, ſchreibe ich ſie
vorſorglicherweiſe ebenfalls beim Kaminfeuer.
Es gab eine Zeit, da ſich viele von den beliebteſten
Hiſtorien anfingen: „Es war einmal ein Mann“ u. ſ.
w. Es ſollte mir nicht viel Muͤhe und Scharfſinn
koſten um zu beweiſen, daß dies die wahre Art ſei, eine
Erzaͤhlung anzufangen; ich will aus dieſem Anfange
gewiß eben ſo viel herausbringen, als manche Commen—
tatoren aus den erſten Verſen des Homer demonſtrirt
haben. Die Aufmerkſamkeit wird ſogleich unmittelbar
auf den Hauptgegenſtand gelenkt, mit deſſen Lage und
Beſchaffenheit man ſogleich bekannt gemacht wird. Zu
dieſem Mittelpunkte draͤngen ſich dann alle Theile der
Geſchichte, und man ſteht unvermerkt mitten in der
Verwickelung. — Alſo:
Es war einmal ein Man, der war jung, ſchoͤn
und reich. Er liebte ein Maͤdchen und ward von ihr
wieder geliebt. Seine Ausſicht in die Zukunft war
die heiterſte.
Seine Liebe war nicht die Wirkung einer ploͤtzlichen
Laune, die immer eben ſo ſchnell verbluͤht, als ſie ent—
ſteht, ſondern ein vertrauter freundſchaftlicher Umgang
hatte ſeit Jahren dieſe Liebe gegruͤndet. Friedrich
Loͤwenſtein und Amalie Willmann waren im
Bluͤthenalter des Lebens, ſie empfanden das reine Gluͤck
einer unſchuldigen ungeſtoͤrten Liebe, ſie uͤberließen ſich
ruhig der wechſelnden Zeit, die fuͤr ſie nur ein breiter
129
glaͤnzender Strom des Vergnuͤgens war. Beider Eltern
hatten von Jugend auf ihre Liebe beguͤnſtigt, man
ſetzte ſchon den Tag zur Verlobung feſt, als das Ziel
ihrer Wuͤnſche noch weiter zuruͤck geruͤckt ward.
Loͤwenſtein mußte abreiſen, um in einer entle—
genen Gegend eine Erbſchaft zu heben, deren Ueberlie—
ferung man ſich dort widerſetzte. Er nahm von Ama—
lien zaͤrtlichen Abſchied, beide troͤſteten ſich mit dem
Gedanken, daß ſie ſich ſehr bald wiederſehen wuͤrden.
Loͤwenſtein reiſte ab.
In ſeinem erſten Briefe meldete er ſogleich, daß die
Schwierigkeiten groͤßer waͤren, als er ſie ſich vorgeſtellt
habe, daß ihm ein Prozeß drohe, bei welchem er gegen—
waͤrtig ſein muͤſſe, und daß er leider nur durch Schrift
zu ſeiner Geliebten ſprechen koͤnne. Amalie war be—
truͤbt, und troͤſtete fih nur durch die häufigen .
die ſie ſchrieb und empfing.
Der junge Lindner kam jetzt von ſeinen Reiſen
zuruͤck, ein Menſch, mit dem Amalie ſchon in der
Jugend bekannt geweſen war. Seine Familie war eine
von den angeſehenſten in der Provinzialſtadt, in welcher
Amalie wohnte; man beſuchte ſich gegenſeitig, und
Lindner zeichnete ſehr bald Amalien von allen uͤbri⸗
gen Freundinnen aus. Er war ein ſchoͤner Mann, der
ſich voͤllig auf der Reiſe gebildet hatte, er erzaͤhlte mit
vielem Intereſſe von den Gegenſtaͤnden, die er geſehen,
und von den kleinen Abentheuern, die er beſtanden hatte.
Da er ſehr lebhaft und geiſtreich war, verſtand er die
Kunſt, auch das Unintereſſanteſte anziehend zu machen.
Aber Amalie ſuchte ſehr bald ‚feine Geſellſchaft zu ver⸗
XIV. Band. 9
130
meiden, denn feine Auszeichnung feste ſte in Verlegen:
heit, und der feurige Blick, der zuweilen ihrem Auge
begegnete, machte ſie erroͤthen.
Lindner bemerkte dieſes Zuruͤckziehen, und um ſo
eifriger draͤngte er ſich ihr auf, alle ſeine Bemuͤhungen
waren nur nach ihr gerichtet, ſein Witz ſtrebte nur nach
ihrem belohnenden Laͤcheln. Er war in einem unaufz
hoͤrlichen Zweikampf mit Amaliens Blicken begriffen,
ihr Auge machte ihn verlegen, und doch that es ihm
wohl, wenn es auf ihm ruhte.
So vergingen Tage und Wochen, und Lindner
bemerkte endlich, daß er Amalien liebe; eine Ents
deckung, die ihn außerordentlich niederſchlug, weil er
wußte, daß ſie mit Loͤwenſtein verſprochen ſei. Er
zwang ſich ſeine Leidenſchaft zu unterdruͤcken, aber ſeine
Vernunft war ſchwaͤcher als ſeine Liebe, er verlor Schlaf
und Munterkeit, und der bluͤhende Juͤngling ging bleich
und abgezehrt wie ein Schwindſuͤchtiger umher. —
Er entdeckte ſich ſeinem Vater, der alles fuͤr ſeinen
einzigen Sohn anzuwenden verſprach. Er ging auch wirk—
lich und ſtellte die ganze Lage der Sachen den Eltern
Amaliens in das hellſte Licht, er ſprach mit dem
Maͤdchen ſelber, aber er kam ohne Troſt zu ſeinem
Sohne zuruͤck.
Dieſer uͤberließ ſich nun gaͤnzlich ſeiner Schwermuth;
die heftige Liebe iſt zu eigenſinnig, um den Vorſtellun⸗
gen und Bitten der Freunde und Verwandten Gehoͤr
zu geben. Er war jetzt immer allein, ſein liebſter Auf⸗
enthalt war der Kirchhof, wo er unaufhoͤrlich vor dem
Erbbegraͤbniß ſeiner Familie auf und niederging, und
131
den Stamm einer Linde mit ſeinen Thraͤnen benetzte, in
welchen Amalie einſt auf einem ihrer Spaziergaͤnge zum
Scherz ihren Namen geſchnitten hatte. Es waͤhrte nicht
lange, ſo zog ihm die zu große Spannung der Seele
ein hitziges Fieber zu, an welchem er ſtarb.
Seine Eltern ſahen ihn ſchweigend und weinend in
die Gruft ſetzen, in welcher ſie vor ihrem Sohne hatten
ruhen wollen. Der Vorhang ſiel rauſchend vor der
Buͤhne ihres Lebens und ihrer Hoffnungen nieder, ſie
hatten jetzt in der Welt nichts weiter zu thun, als ihren
Sohn zu beweinen und zu ſterben.
Amalie war uͤber dieſen ungluͤcklichen Vorfall
aͤußerſt betruͤbt, ſie ſchrieb ihrem Geliebten alle Umſtaͤnde
dieſer traurigen Begebenheit, der ihr dafuͤr die erfreu—
liche Nachricht gab, daß er nun die frohe Ausſicht habe,
in wenigen Wochen ſeine verdrießlichen Geſchaͤfte zu ber
endigen, und dann auf den Fluͤgeln der Liebe zu ihr
zuruͤckzueilen.
Mit Sehnſucht erwartete Amalie die Ankunft
Loͤwenſteins; dieſer eilte fo ſehr es nur möglich war,
um den hoͤchſten Freuden des Lebens in die Arme zu
fliegen.
Alles war geendigt, Loͤwenſtein raſſelte über die
Chauſſeen nach feiner Heimath zurück, feine Liebe erſchien
ihm bei ſeiner langen Abweſenheit in einem ganz neuen
Gewande, er nahm ſich nicht die Muͤhe die Gegenſtaͤnde
um ſich her anzublicken, denn Amaliens Bildniß
fuͤllte einzig ſeine Seele und ſeine Augen, ſo daß er
ſie allenthalben wandeln ſahe, in jedem gruͤnen Buſche,
auf jedem Fußſteige, zwiſchen den Kornfeldern; in dem
9 *
132
vor ihm fahrenden Wagen konnte Niemand anders als
Amalie ſitzen, und er ließ dann ſo ſchnell fahren, als
wenn ihm ſeine Geliebte entfliehen wollte, um in den
ſremden Wagen hinein zu ſehen und ſich betrogen zu
finden. — Der fremde Boden eilte unter ihm hinweg,
und er begruͤßte freudig die Graͤnze ſeines Vaterlandes.
Jedes Dorf und jeder Baum kam ihm hier ſchon ſo
vertraut und freundſchaftlich vor, er verſenkte oft ſeinen
Blick in den kuͤhlen Schatten der Gebuͤſche, und ſprach
wie im Traume nur von ihr, er redete ſie ſchon an
und fragte, was ſie mache, und horchte dann auf das
Geſaͤuſel der Baumwipfel uͤber ſich, um ſich aus den
unverſtaͤndlichen Accenten eine ſuͤße Antwort herauszu⸗
hören.
Das freundlichſte Abendroth ſtand auf den Hügeln,
als er nur noch ohngefaͤhr eine Meile von feinem Wohn—
orte entfernt war; er bildete ſich ein, in der rothen
Gluth ſchon die Spitzen der vaterſtaͤdtiſchen Thuͤrme zu
entdecken, als durch einen Stoß das Rad von der ge—
brochenen Are ablief, und der Wagen im Felde ſtehen
bleiben mußte. Loͤwenſteins Unruhe war zu heftig,
um die Ausbeſſerung des Wagens abzuwarten. Er über:
trug dem Bedienten die Aufſicht uͤber das Gepaͤck, und
eilte fort, um noch zu Fuße vor dem Einbruch der
Nacht ſeine Vaterſtadt zu erreichen.
Der Weg fuͤhrte durch einen dichten Eichenwald, der
ſich bis nahe vor die Thore der Stadt erſtreckte. Man
ging uͤber kleine Huͤgel und durch anmuthige Thaͤler;
oft ſchien ſich der Weg, der ſich ploͤtzlich wandte, in das
Dickicht des Waldes zu verlieren, und dann lag wieder
133
eine friſche grüne Wieſe da, rings von hohen Waldbaͤu—
men umkraͤnzt. Loͤwenſtein eilte, und uͤberließ ſich
ganz dem wunderbaren Spiele ſeiner Phantaſie. Er
war als Knabe manchmal auf dieſen Fußſteigen ge:
gangen, war nachher lange nicht in dieſe Gegend ge—
kommen, und bemuͤhte ſich nun die dunkeln und ver⸗
worrenen Erinnerungen feſtzuhalten, die ihm zuweilen
wie ſchwarze Wolken voruͤberfuhren. Ein Abendwind
ging durch die rauſchenden Gebuͤſche hinter ihm her,
graue Wolken flatterten um die Kronen einzelner fchlans
ker Fichten, ein raͤthſelhafter Wiederſchein des Abend:
rothes ſtand mitten im dunkeln Walde, und aͤugelte
durch die gruͤne Finſterniß. Mit feinen Knabenjahren
fielen ihm manche Aengſtlichkeiten dieſes Alters ein, er
erinnerte ſich lebhaft, wie er manchmal beim einſamen
Wiederhall ſeiner Fußtritte kalt und bleich geworden
war, und. er horchte jetzt unwillkuͤhrlich auch auf das
Echo ſeines Ganges, das in den dicht gepflanzten Eichen
wie fein Genius in der Ferne wandelte; er fuhr zu:
ſammen, und eilte noch ſchneller, um dieſe Furcht von
ſich abzuſchuͤtteln.
In dieſen daͤmmernden Abendſtunden, von Waͤldern
und ſtummer Einſamkeit umgeben, erſcheint uns das
gewuͤhlvolle menſchliche Leben gewoͤhnlich truͤbſelig und
freudenleer, eine unbekannte Furcht vor unbekannten
Gegenſtaͤnden nimmt uns bei der Hand, und wie mit
einem neu geſchaffenen Blicke ſehen wir in die Welt
hinein, die alle ihre bunten Farben verloren hat, und
in einer monotonen Truͤbheit daliegt. Loͤwenſteins
Phantaſie war geſpannt, und es iſt nicht zu verwun⸗
dern, wenn er jeden Athemzug des Windes aufmerkſamer
134
behorchte, und zuweilen hinunter in die zitternde Dim;
merung ſah, die hinter ihm lag.
Die Finſterniß haͤngte noch dichtere Schleier zwi:
ſchen die Baͤume, als er wirklich einen deutlichen Fuß—
tritt hinter ſich zu hoͤren glaubte. Ungewiß ſtand er
ſtill und wartete auf das Naͤherkommen. Ein blauer
Mantel wogte und wuͤhlte ſich aus den übereinander:
liegenden Schatten hervor, ein Menſch naͤherte ſich ihm
langſam, als wie in tiefen Gedanken verſunken. Mit
einem kleinen Schauder gruͤßte Loͤwenſtein zuerſt,
und eine freundliche Stimme dankte ihm, und bat ihn
um ſeine Begleitung durch den dunkeln und einſamen
Wald.
Es war ein junger Menſch, der auch nach der
Stadt wollte, und Loͤwenſtein ſchuͤttelte plöglich feine
Furcht und alle ſeine druͤckenden Gefuͤhle von ſich, und
zog die Luft des Himmels mit großen freien Zuͤgen ein,
die er eben erſt wie Kerkerduͤnſte durch die Zaͤhne ein—
geathmet hatte. Das Geſpraͤch lenkte ſich bald auf
die Stadt und ihre Bewohner, und der junge Unbe—
kannte ſchien in den meiſten Familien ſehr zu Hauſe
zu ſein. Loͤwenſtein unterhielt ſich an manchen
Anekdoten und unbedeutenden Stadtneuigkeiten, die ihm
der Fremde mittheilte; ein lebhaftes Geſpraͤch machte,
daß er die Laͤnge des Weges und die Dunkelheit gar
nicht bemerkte.
Ich bin dieſen Weg noch nicht oft gegangen,
begann der Unbekannte, darum geh' ich in der Fin⸗
ſterniß gern in Geſellſchaft, um mich in den kreuzen⸗
den Fußſteigen nicht zu verirren, oder, wenn ich
135
falſch gehe, wenigſtens nicht allein zu ſein, denn
ich muß Ihnen meine Schwachheit geſtehen, ich fuͤrchte
mich leicht in der Nacht.
Loͤwenſtein. Ich habe dieſe Kinderei heute auch
zum erſtenmale an mir bemerkt. — Die Phantaſie
ſpielt uns oft ſeltſame Streiche.
Der Fremde. Die Finſterniß erſcheint unſerm
Geiſte als ein feindſeliges Weſen, das die Umriſſe aller
ſichtbaren Gegenſtaͤnde verwandelt und verwirret, und
uns ſo in eine fremde bis dahin unbegreifliche Welt
verſetzt. Es ſchneidet dann eine Ahnung durch unſer
Gemuͤth, wie wenn all' unſer Wiſſen, all' unſer Gluͤck
nur ein leeres taubes Chaos waͤre, und dies macht uns
betruͤbt und wirft unſern ſtolzen Geiſt darnieder.
Loͤwenſtein. Wir vernehmen dann gleichſam in
jedem voruͤbergehenden Laute eine Stimme, die uns
aus unſerm klaͤglichen Schlafe zu wecken ſtrebt.
Der Fremde. Der Wald faͤngt ſchon vor uns
an licht zu werden; wir ſind nicht mehr weit von der
Stadt. |
Loͤwenſtein. O Himmel! ſehn Sie, ſehn Sie
dort — ich ſehe ſchon die zerſtreuten Lichter, die mir
durch den Nebel entgegen blicken! Ich werde fie wie:
derſehn!
Der Fremde. Sie ſind ſehr vergnuͤgt.
Loͤwenſtein. Ach Freund, ich eile einem Maͤd—
chen in die Arme, das ich ſo innig, ſo einzig liebe,
und deſſen Gegenliebe mich zum gluͤcklichſten Mens
ſchen macht.
Der Fremde. Bemerken Sie, wie das, was
136
wir unſern Geiſt nennen, von den aͤußern Gegenftän:
den abhaͤngt. Jetzt da wir im freien Felde ſtehen, die
Stadt mit ihren Lichtern wie ein Sternamphitheater
vor uns ſehen, iſt alles das in Ihrer Seele erloſchen,
was Sie eben ſo ſchoͤn und bedeutungsvoll ſagten.
Loͤwenſtein. Ach Freund, die Liebe ſtaͤrkt unſer
Auge, auch in der truͤbſten Verworrenheit ı ein reizendes
harmoniſches Ganze zu finden. 9
Der Fremde. Die Liebe? — Ach ie in
Ihren Jahren dachte ich gerade: fo. ö
Löwenſtein. Sie ſcheinen doch, ſoviel ich ſehen
kann, nicht viel aͤlter als ich zu ſein. |
Der Fremde. Ich zweifle ſelbſt. — Aber glau⸗
ben Sie mir, ein einziger Tag, eine einzige Stunde
koͤnnen den Juͤngling in einen Greis verwandeln.
Loͤwenſtein. Sie find melancholiſch und ich be—
klage Sie. —
Der Fremde. Daß die Menſchen doch ſo gern
damit zufrieden ſind, wenn ſie einem fremdartigen Weſen
einen Namen geben; mit einem Worte iſt alles in
Richtigkeit gebracht, und ſie glauben die Erſcheinung zu
verſtehen, die ihnen unbegreiflich iſt. —
Loͤwenſtein. Sie ſind vielleicht in der Liebe
ungluͤcklich geweſen.
Der Fremde. Liebe iſt auch nur ein
Name; ach! die Menſchen wiſſen nicht, was fie wol:
len. — Warum lieben Sie und ſtreben nach Gegen—
liebe? Ich glaube die einzige Urſache, warum wir leben,
iſt um zu ſterben. |
Loͤwenſtein. Welch ein truͤbſeliger Gedanke! —
137
Aber ſie denken ihn jetzt nur, das Morgenroth oder
das kuͤnftige Jahr wird ihn aus ihrer Seele nehmen,
und dann haben Sie doch immer Unrecht gehabt.
Der Fremde. Unrecht? und deswegen, weil kein
Gedanke und keine e im Mensehen die .
bleibt? 1 1% e
Löwenſtein. Ich bitte Sie, beſuchen Sie mich
zuweilen, ich will es verſuchen, Sie heiterer zu machen.
Er nannte ihm ſeinen Namen und ſeine Wohnung.
Der Fremde. Ich will Sie beſuchen; wenn Sie
ſich nur nicht verheiratheten. Sie wären mir dann noch
einmal fo theuer! | | |
Loͤwenſtein. Sind Sie ein Weiberfeind?
Der Fremde. Ich kann ſie nicht lieben. —
Loͤwenſtein. Ich wette, man hat Ihnen Streiche
geſpielt; aber Sie werden ſi ich gewiß mit dem Geſchlechte
wieder verſoͤhnen.
Der Fremde. Ich 3
Loͤwenſtein. Lernen Sie mein Mädchen kennen,
und Sie werden es. — Ich bitte Sie von zu meis
ner Hochzeit.
Der Fremde. Ich danke Ihnen, und ich werde
ohnfehlbar kommen.
Der Unbekannte ſtand jetzt vor einem kleinen Gebaͤude
ſtille. — Wir muͤſſen Abſchied nehmen, fagte er, denn
hier iſt meine Wohnung.
Loͤwenſtein. So klein und eng? — Iſt es
Ihnen nicht unbequem? — Zwar die Ausſicht und das
Leben im Freien erſetzt das wieder.
pi
138
Der Fremde. Der Menſch braucht wenig, und
Raum am allerwenigſten, wenn er mit ſich ſelbſt zufrie⸗
den iſt. — Leben Sie wohl, an Ihrem Hochzeittage
ſeh' ich Sie.
Loͤwenſtein reichte ihm die Pens und aus dem
Mantel reichte ihm der Fremdling die ſeinige. Loͤwen—
ſtein druͤckte ſie warm und herzlich, und ſchrie auf, als
er ein kaltes duͤrres Todtenbein fuͤhlte. — Der Unbe—
kannte verſchwand hinter eine Thuͤr.
Mit Grauſen und Angſt kaͤmpfend blieb Loͤwen⸗
ſtein lange wie feſt gewurzelt; hinter ihm ſtand eine
große Linde, ein Alter ging vorbei, den er zitternd
fragte, wem die kleine Wohnung gehoͤre.
Der Alte ſchuͤttelte bedenklich den Kopf, und .
ihm, daß es das Lindnerſche Erbbegraͤbniß ſei.
Schneidend kamen alle Erinnerungen zu Loͤwen—
ſtein zuruͤck, er kannte jetzt den Kirchhof recht gut, der
vor dem Thore lag; mit zitternden Fuͤßen wankte er in
die Stadt.
Sie begrüßte ihn nicht fo herzlich und patriarcha—
liſch, als er erwartet hatte, alle Haͤuſer kamen ihm
vor wie große ſteinerne Saͤrge; mit einem kalten Ent
ſetzen ging er durch die Straßen, wie er es als Knabe
empfunden hatte, wenn er die Geſchichte jener Stadt
las, deren Einwohner in Steine verwandelt wurden.
Amalie und ihre Eltern kannten den Bleichen,
vor Froſt Zitternden, nicht wieder, ſeine Phantaſie war
"an
zu ſehr zerruͤttet, er erzählte ihnen den ganzen Vorfall.
Amalie ward ſtill und truͤbſinnig, alle Freuden des
Wiederſehens blieben aus. Der Vater gab ſich Muͤhe,
die ganze Sache philoſophiſch zu erklaͤren; Loͤwenſtein
habe die Geſchichte Lindners im Sinne gehabt, ſei
plotzlich auf den Kirchhof gerathen, und feine Phantaſie
habe ihm alle Begebenheiten untergeſchoben.
Loͤwenſtein war einige Tage bettlaͤgrig; er erins
nerte ſich jetzt, was der bleiche Unbekannte uͤber die
Freuden des Lebens geſagt hatte, und fand alles ſo wahr
und paſſend. — Beſuche, alle Arten von Zerſtreuungen
ſtellten ihn nach und nach wieder her; er dachte nur an
die Erſcheinung, wenn er allein war; ſo nahte ſich der
Tag, der zur Hochzeit beſtimmt war; der Prieſter legte
die Haͤnde der Liebenden in einander, und beide waren
unausſprechlich gluͤcklich.
In der Geſellſchaft der Froͤhlichen wird auch der
Truͤbſinnige heiter, aber der Gluͤckliche findet ſich ſelig.
Loͤwenſtein war auf dem hoͤchſten Gipfel ſeiner
Wonne, Muſik und Wein begeiſterten ihn ſo ſehr, daß
er beinahe in eine frohe Laune verfiel, die an den
Wahnſinn graͤnzte. Ein Bedienter rief ihn hinaus,
weil ihn vor der Thuͤr jemand ſprechen wollte. —
Ein Gepolter — Geſchrei — Loͤwenſtein wird blutend
in den Saal gebracht, vom Wein betaͤubt war er die
Treppe hinuntergeſtuͤrzt; der Arzt, der geholt ward,
ſprach ihm das Leben ab. — Er ſagte waͤhrend der
Todeszuckungen mit ſchwacher Stimme, daß Lindner
auf der Mitte der Treppe geſtanden, und ihn mit der⸗
elben Todtenhand hinuntergewinkt habe.
140
Amalie ſtieß einen lauten Schrei aus als er ftarb,
ſie ſprach wahnſinnig und zeigte den Gaͤſten den geſtor—
benen Br se der an der —. ra und fie
ſtarr betrachte, —
Sie ſtarb nach einigen Wochen in den heftigen
Ausbruͤchen des Wahnwitzes.
Es war ein ſchoͤner Fruͤhlingsmorgen, als Ludwig
Wandel ausging, um auf einem Dorfe, das einige
Meilen entfernt war, einen kranken Freund zu beſuchen.
Dieſer hatte ihm geſchrieben, daß er gefährlich darnie—
der liege und ihn gern noch einmal zu ſehn und zu ſpre⸗
chen wuͤnſche.
Der muntre Sonnenſchein glaͤnzte in den Nec
Gebuͤſchen; die Voͤgel zwitſcherten und ſprangen hin und
wieder; die froͤhlichen Lerchen ſangen uͤber den leichten,
voruͤberfliegenden Wolken! Duͤfte kamen von den friſchen
Wieſen und alle Obſtbaͤume in den Gaͤrten bluͤhten weiß
und frenndlich.
Ludwigs trunkenes Auge ſchweifte auf allen Ger
genſtaͤnden umher; ſeine Seele wollte ſich erweitern, aber
dann dachte er an ſeinen kranken Freund und ging wie—
der in ſtiller Betruͤbniß weiter; die Natur hatte ſich
umſonſt fo hell und glänzend geſchmuͤckt, er ſah in fei:
ner Phantaſie nur das Krankenbett und ſeinen leidenden
Bruder. |
Wie Geſang von jedem Zweige ſchallt, rief er aus;
die Toͤne der Voͤgel vermiſchen ſich lieblich mit dem Fluͤ—
ſtern der Blaͤtter, und ich hoͤre aus der Ferne doch die
Seufzer des Kranken durch das ſuͤße Conzert.
Indem kam ein Zug geputzter Baͤuerinnen aus dem
Dorfe; alle gruͤßten ihn freundlich und erzaͤhlten ihm,
144
wie fie mit munterm Sinne nach einer Hochzeit wall:
fahrteten , wie die Arbeit für heute ruhen und dem Fefte
Platz machen muͤſſe. Er hoͤrte ihnen zu, und noch aus
der Ferne erſchallte ihr Jubel; ihm klangen die Lieder
nach, die ſie ſangen, aber er ward immer betruͤbter. Im
Walde ſetzte er ſich auf einen umgehauenen Baum nie—
der, zog den ſchon oft geleſenen Brief aus der Taſche
und las noch einmal.
Vielgeliebter Freund!
Ich weiß nicht, warum Du mich ſo ganz vergeſſen
haſt, daß ich gar keine Nachrichten von Dir erhalte.
Daruͤber verwundere ich mich nicht, daß die Menſchen
mich verlaſſen, aber das betruͤbt mich inniglich, daß auch
Du Dich gar nicht um mich kuͤmmerſt. Ich bin gefähr:
lich krank, ein Fieber erſchoͤpft alle meine Kraͤfte; wenn
Du noch laͤnger zoͤgerſt, mich zu beſuchen, ſo kann ich
Dir nicht verſprechen, ob Du mich noch wiederſiehſt.
Die ganze Natur lebt auf und fuͤhlt ſich friſch und
kraͤftig, nur ich ſinke ermattet zuruͤck; mich erquickt
die neue Waͤrme nicht, ich ſehe die gruͤne Flur nicht,
nur den Baum, der vor meinem Feuſter rauſcht und
meinen Gedanken lauter Todtenlieder ſingt. Meine
Bruſt iſt enge, der Athem wird mir ſchwer, und manch—
mal ſcheint es mir, als wuͤrden die Waͤnde meines Zim⸗
mers immer dichter zuſammenruͤcken und mich fo er-
druͤcken. Ihr übrigen in der Welt feiert jetzt die ſchoͤn—
ſte Zeit des Lebens, und ich muß hier in der Kranken⸗
behauſung verſchmachten. Ich wollte gern den Fruͤh—
ling aufgeben, wenn ich nur Dein liebes Angeſicht noch
einmal wieder ſehn koͤnnte; aber ihr Geſunden denkt
nie ernſthaft daran, was es eigentlich zu ſagen habe,
145
wenn man krank ift, wie theuer uns dann in der Huͤlf—
loſigkeit der Beſuch des Freundes iſt; ihr wißt die koſt—
baren Minuten des Troſtes nicht zu ſchaͤtzen, weil euch
die ganze Welt mit warmer, inniger Freundſchaft um—
faͤngt. Ach wenn ihr den ſchrecklichen Tod und das
noch ſchrecklichere Krankſein ſo kenntet, wie ich! O
Ludwig, wie wuͤrdeſt Du dann eilen, um dieſe zer—
brechliche Form ſchnell noch einmal wieder zu erkennen,
die Du bisher Deinen Freund nannteſt und die nach—
her ſo unbarmherzig in Stuͤcke geſchlagen wird. Wenn
ich geſund waͤre, wuͤrd' ich Dir entgegeneilen und mir
einbilden, Du koͤnnteſt in dieſem Augenblicke vielleicht
krank liegen. Wenn ich Dich nicht wiederſehn ſollte,
ſo lebe wohl. —
Welchen ſonderbaren Eindruck machte der Schmerz
dieſes Briefes auf Ludwigs Herz in der froͤhlichen
Natur, die beglaͤnzt vor ſeinen Augen ſo herrlich dalag.
Er weinte und ſtuͤtzte das Haupt auf die Hand. Jubi⸗
lirt nur, ihr Waldbewohner! dachte er bei ſich, denn
ihr kennt keine Klage, ihr fuͤhrt ein leichtes, poetiſches
Leben, und dazu ſind euch die raſchen Schwingen ver—
liehen; o wie gluͤcklich ſeid ihr, daß ihr nicht trauern
duͤrft! Der warme Sommer ruft euch und ihr wuͤnſcht
nichts weiter, ihr tanzt ihm entgegen und wenn der
Winter kommen will, ſeid ihr verſchwunden. O du
leichtbefiedertes, froͤhliches Waldleben! wie beneid' ich
dich! Warum ſind dem armen Menſchen ſo viele
ſchwere Sorgen in ſein Herz gelegt? Warum darf er
nicht lieben, ohne durch Jammer ſeine Liebe zu erkau—
fen? Durch Elend fein Gluͤck? Das Leben rauſcht wie
eine fluͤchtige Quelle unter unſern Fuͤßen hinweg, und
loͤſcht nicht unſern Durſt, unſre heiße Sehnſucht.
XIV. Band. 10
146
Er verlor fih immer mehr in Gedanken, dann ſtand
er auf und ſetzte ſeinen Weg durch den dichten Wald
fort. Wenn ich ihm nur helfen koͤnnte, rief er aus;
wenn mir nur die Natur irgend ein Mittel darböte,
ihn zu retten; ſo aber habe ich nichts als das Gefuͤhl
meiner Schwaͤche und den Schmerz uͤber den Verluſt
meines Freundes. In meiner Kindheit glaubt' ich an
Zauberei und an ihre uͤbernatuͤrliche Huͤlfe; o waͤr' ich
jetzt ſo gluͤcklich, daß ich ſo, wie damals, auf ſie hoffen
koͤnnte.
Er beſchleunigte feine Schritte, und unwillkuͤhrlich
kamen ihm alle Erinnerungen aus feinen fruͤheſten Kin—
derjahren zuruͤck; er folgte den lieblichen Geſtalten, die
ihm winkten, und war bald ſo in einem Labyrinthe
verwickelt, daß er die Gegenſtaͤnde nicht bemerkte, die
ihn umgaben. Er hatte vergeſſen, daß es Fruͤhling
war, daß ſein Freund krank ſei; er horchte auf die
wunderbaren Melodieen, die zu ihm wie von fernen
Ufern heruͤbertoͤnten; das Seltſamſte geſellte ſich zum
Gewoͤhnlichſten; ſeine ganze Seele wandte ſich um.
Aus dem Hintergrunde des Gedaͤchtniſſes, aus dem tie—
fen Abgrunde der Vergangenheit wurden alle die Ge—
ſtalten hervorgetrieben, die ihn einſt entzuͤckt oder geaͤng⸗
ſtigt hatten; aufgeſtoͤrt wurden alle die ungewiſſen Phan⸗
tome, die ohne Geſtalt herumflattern und oft mit wuͤ—
ſtem Geſumſe unſer Haupt umgeben. Puppen, Kin—
derſpiele und Geſpenſter tanzten vor ihm her und be—
deckten ganz den gruͤnen Raſen, daß er keine Blume
zu ſeinen Fuͤßen gewahr werden konnte. Die erſte
Liebe umgab ihn mit ihrem daͤmmernden Morgenſchim—
mer und ließ funkelnde Regenbogen auf die Aue nie:
derfallen; die erſten Schmerzen zogen vorbei und droh—
147
ten ihm, am Ende des Lebens in eben der Geftalt
wiederzukommen. Ludwig ſuchte alle dieſe wechſeln—
den Gefühle feſtzuhalten und in dieſem magiſchen Ge:
nuſſe ſich ſeiner ſelbſt bewußt zu bleiben, aber vergeblich:
wie raͤthſelhafte Buͤcher mit bunten grotesken Figuren,
die ſich ſchnell auf einen Augenblick eroͤffnen und dann
plöglich wieder zugeſchlagen werden; fo unftät, fo flatternd
zog alles feiner Seele vorüber.
Der Wald öffnete ſich und feitwärts lagen auf dem
offenen Felde einige alte Ruinen, mit Wartthuͤrmen und
Waͤllen umgeben. Ludwig verwunderte ſich, daß er
unter ſeinen Traͤumen den Weg ſo ſchnell zuruͤckgelegt
habe. Er ſchritt aus ſeiner Schwermuth heraus, ſo wie
er aus dem Schatten des Waldes trat; denn oft ſind
die Gemaͤlde in uns nur Wiederſcheine von den aͤußern
Gegenſtaͤnden. Jetzt ging wie eine Morgenſonne die
Erinnerung in ihm auf, wie er zuerſt den Genuß der
Poeſie habe kennen lernen, wie er zum erſtenmal den
holden Einklang verſtanden, den manches men
niemals vernimmt.
Wie unbegreiflich, ſagte er zu ſich, flog damals das
zuſammen, was mir auf ewig durch große Kluͤfte getrennt
ſchien; die ungewiſſeſten Ahndungen in mir erhielten
Form und Umriß, und ſtrahlten Schimmer von ſich,
in denen ich tauſend Nebengeſtalten erblickte, die ich bis
dahin noch niemals wahrgenommen hatte. So ward
mir nun das genannt, was ich immer hatte ausſprechen
wollen; ich empfing nun die ſchoͤnſten Schaͤtze der Erde,
die meine Sehnſucht bis dahin vergeblich geſucht hatte;
und wie hab' ich dir ſeitdem, du goͤttliche Kraft der
Phantaſie und Dichtkunſt, ſo alles zu danken! Wie haſt
du meinen Lebenslauf eben gemacht, der erſt fo ver—
10 *
148
worren ſchien! Immer neue Quellen des Genuſſes und
des Gluͤckes haſt du mich entdecken laſſen, ſo daß ſich
mir jetzt nirgends eine duͤrre Wuͤſte entgegenſtreckt; alle
Ströme der füßen, wolluͤſtigen Begeiſterung haben ihren
Lauf durch mein irdiſches Herz genommen, ich bin trun—
ken worden, und habe die Himmliſchen kennen gelernt.
Die Sonne ging unter und Ludwig verwunderte ſich
daruͤber, daß es ſchon Abend ſein ſollte; er fuͤhlte keine
Muͤdigkeit, er war auch noch weit von dem Ziele ent—
fernt, das er vor der Nacht hatte erreichen wollen.
Er ſtand ſtill und begriff es nicht, wie es komme, daß
ſich der purpurrothe Abend ſchon über die Wolken aus:
ſtreckte; daß ſo große Schatten fielen und die Nachtigall
aus dem dichten Gebuͤſche ihr klagendes Lied begann.
Er ſah ſich um; die Ruinen lagen weit zuruͤck, ganz
mit rothem Glanze uͤbergoſſen, und er war jetzt zwei—
felhaft, ob er ſich nicht von der geraden, ihm ſo wohl—
bekannten Straße entfernt habe.
Jetzt fiel ihm ein Bild aus ſeiner fruͤhen Kindheit
ein, das bis dahin noch nie wieder in ſeine Seele ge—
kommen war; eine furchtbare weibliche Geſtalt, die vor
ihm uͤber das einſame Feld hinſchlich, ohne ſich nach
ihm umzuſehn, und der er wider ſeinen Willen folgen
mußte, die ihn in unbekannte Gegenden nach ſich zog,
und deren Gewalt er ſich durchaus nicht erwehren koͤnne.
Ein leiſer Schauer ſchlich uͤber ihn hin, und doch war
es ihm unmoͤglich, ſich jener Geſtalt deutlicher zu erin—
nern, oder ſich mit der Seele in jenen Zuſtand zuruͤck—
zufinden, in welchem dieſes Bild zuerſt in ihm aufge—
ſtiegen war. Er ſtrebte nach, alle dieſe ſeltſamen Empfin—
dungen in ſich abzuſondern, als er ſich durch einen Zu—
fall etwas genauer umſah und ſich wirklich an einem
149
Orte befand, den er bis dahin, ſo oft er auch dieſes
Weges gegangen war, noch nie geſehen hatte. Bin ich
bezaubert? rief er aus, oder haben mich meine Traͤume
und Phantaſien verruͤckt gemacht? Iſt es die wunder—
bare Wirkung der Einſamkeit, daß ich mich ſelber nicht
wieder erkenne, oder ſchweben Geiſter und Genien um
mich her, die meine Sinnen gefangen halten? Warlich,
wenn ich mich nicht aus mir ſelbſt herausreiße, ſo
erwarte ich hier jenes Frauenbild, das mir in meiner
Kindheit auf allen wuͤſten Plaͤtzen vorſchwebte.
Er ſuchte alle Phantaſien von ſich zu entfernen, um
ſich im Wege wieder zurecht zu finden; aber ſeine Erin—
nerungen wurden immer verwirrter, die Blumen zu ſei—
nen Fuͤßen wurden groͤßer, das Abendroth wurde noch
gluͤhender und wunderſeltſame Wolken hingen tief zur
Erde hinunter, wie Vorhaͤnge von einer geheimnißreichen
Scene, die ſich bald eroͤffnen wuͤrde. Es entſtand ein
klingendes Sumſen in dem hohen Graſe und die Hal—
men neigten ſich gegeneinander, als wenn ſie ein Ge—
ſpraͤch fuͤhrten und ein leichter warmer Fruͤhlingsregen
plaͤtſcherte dazwiſchen, als wenn er alle ſchlummernde
Harmonien in den Waͤldern, in den Gebuͤſchen, in den
Blumen aufwecken wollte. Nun klang und toͤnte alles,
tauſend ſchoͤne Stimmen redeten durch einander, Geſaͤnge
lockten ſich und Toͤne ſchlangen ſich um Toͤne, und in
dem niederſinkenden Abendrothe wiegten ſich unzaͤhlige
blaue Schmetterlinge, auf deren breiten Fluͤgeln der
Schein funkelte. Ludwig glaubte im Traume zu liegen,
als ſich ploͤtzlich die ſchweren, dunkelrothen Wolken wie—
der aufhoben, und eine weite unabſehlich weite Ausſicht
öffneten. Im Sonnenſchein lag eine prächtige Ebene
da und funkelte mit friſchen Waͤldern und bethautem
\
150
Buſchwerk. In der Mitte ftrahlte ein Pallaſt mit tau⸗
ſend und tauſend Farben, wie aus lauter beweglichen
Regenbogen und Gold und Edelſteinen zuſammengeſetzt;
ein voruͤbergehender Fluß warf ſpielend die mannichfal—
tigen Schimmer zuruͤck, und eine weiche roͤthliche Luft
umfing das Zauberſchloß. Da flogen fremde, niegeſe—
hene Voͤgel umher, und ſcherzten mit ihren rothen und
gruͤnen Fluͤgeln gegen einander, groͤßere Nachtigallen
ſangen mit lauteren Toͤnen durch die wiederklingende
Natur; Flammen ſchoſſen durch das gruͤne Gras hin,
und flatterten bald hier, bald dort, und fuhren dann
in Kreiſen um das Schloß herum. Ludwig ging
naͤher und hoͤrte holdſelige Stimmen folgendes ſingen:
Wandersmann von unten
geh' uns nicht voruͤber,
weile in dem bunten .
Zauberpallaſt lieber.
Haſt du Sehnſucht ſonſt A
nach den fernen Freuden,
o, wirf ab die Leiden! i
und betritt das laͤngſtgewuͤnſchte Land.
Ohne ſich zu bedenken, tritt Ludwig jetzt auf die
glänzende Schwelle, und ſcheute ſich nur einen Augen:
blick, ſeinen Fuß auf das blanke Geſtein zu ſetzen;
dann ging er hinein. Die Thuͤren ſchloſſen ſich hinter
ihm zu.
Hieher! hieher! riefen ungeſehene Stimmen, wie
aus dem innerſten Pallaſte, und er folgte dem Klange
mit lautklopfendem Herzen. Alle ſeine Sorgen, alle
ſeine ehemaligen Erinnerungen waren abgeſchuͤttelt; ſein
193...
Inneres tönte von den Geſaͤngen wieder, die ihn Außer;
lich umgaben; alle Sehnſucht war geſtillt; alle gefanns
ten und ungekannten Wuͤnſche in ihm waren befriedigt.
Die rufenden Stimmen wurden ſo ſtark, daß das ganze
Gebaͤude erſchallte, und er konnte ſie immer noch nicht
finden, ob er gleich ſchon laͤngſt im Mittelpunkte des
Pallaſtes zu ſtehn glaubte.
Ein rothwangiger Knabe trat ihm endlich entgegen
und begrüßte den fremden Gaſt; er führte ihn durch
praͤchtige Zimmer voller Glanz und Geſang, und trat
endlich mit ihm in den Garten, wo Ludwig, wie er
ſagte, erwartet wuͤrde. Er folgte betaͤubt ſeinem Fuͤh—
rer, und der ſchoͤnſte Duft von tauſend Blumen quoll
ihm entgegen. Große befchattete Gänge empfingen fie;
Ludwigs ſchwindelnder Blick konnte kaum die Wipfel
der uralten hohen Baͤume erreichen; auf den Zweigen
ſaßen buntfarbige Voͤgel, Kinder ſpielten in den Baͤumen
auf Guitarren und ſie und die Voͤgel ſangen dazu.
Springbrunnen erhoben ſich, in denen das reine Mor—
genroth zu ſpielen ſchien; die Blumen waren hoch wie
Stauden, und ließen den Wanderer unter ſich hinweg—
gehen. Er hatte bis dahin noch keine ſo heilige Empfin—
dung gekannt, als ihn jetzt durchgluͤhte; noch kein ſo
reiner himmliſcher Genuß hatte ſich ihm offenbaret; er
war uͤbergluͤckſelig.
Helle Glocken toͤnten durch die Baͤume und alle
Wipfel neigten ſich, die Voͤgel ſchwiegen ſo wie die
Kinder mit ihren Guitarren, die Roſenknoſpen entfal—
teten ſich und der Knabe brachte jetzt den Fremden in
eine glaͤnzende Verſammlung.
Auf ſchoͤnen Raſenbaͤnken ſaßen erhabene Weiberge—
ſtalten, die ernſtlich mit einander redeten. Sie waren
152
größer als die gewöhnlichen Menſchen, und hatten in
ihrer uͤberirdiſchen Schönheit zugleich etwas furchtbares,
das jedes Herz zuruͤckſchreckte. Ludwig wagte es nicht,
ihr Geſpraͤch zu unterbrechen; es war ihm, als ſei er
unter die homeriſchen Goͤttergeſtalten verſetzt, als duͤrfe
von keinen Gedanken die Rede ſein, mit denen ſich die
Sterblichen unterhalten. Kleine poſſierliche Geiſter ſtan—
den als Diener umher und warteten aufmerkſam auf
den erſten Wink, um plöglich ihre ruhige Stellung zu
verlaſſen; ſie betrachteten den Fremdling, und ſahen ſich
dann untereinander mit ſpoͤttiſchen, bedeutungsvollen
Mienen an. Die Frauen hoͤrten endlich auf zu ſprechen,
und winkten Ludwig zu ſich heran, der noch immer
verlegen da ſtand; er naͤherte ſich zitternd.
Sei unbeſorgt! ſagte die Schoͤnſte von ihnen, Du
biſt uns hier willkommen und wir haben Dich ſchon ſeit
lange erwartet; Du haſt Dich immer in unſre Woh—
nung gewuͤnſcht, biſt Du nun zufrieden?
O wie unausſprechlich glücklich bin ich! rief Lud wig
aus, alle meine kuͤhnſten Traͤume ſind in Erfuͤllung
gegangen, meine frechſten Wuͤnſche ſtehn jetzt vor mir,
ja ich bin, ich lebe in ihnen. Wie es zugegangen iſt,
kann ich ſelber noch nicht begreifen, aber genug, daß
es ſo iſt; warum ſoll ich uͤber dieſes Raͤthſelhafte ſchon
eine neue Klage fuͤhren, da kaum meine ehemaligen
Klagen geendigt ſind!
Iſt dieſes Leben, fragte die Dame, ſehr von Deinem
vorigen verſchieden?
Des vorigen Lebens, ſagte Ludwig, kann ich mich
kaum noch erinnern. Iſt mir doch dieſes jetzige gesdene
Daſein geworden! nach dem alle meine Sinne, alle meine
Ahndungen ſo bruͤnſtig ſtrebten, wonach alle Wuͤnſche
|
|
j
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153
flogen, was ich mit meiner Phantafle erfaſſen wollte,
mit meinen innerſten Gedanken erringen; aber immer
blieb das Bild fremde ſtehen, wie in Nebel eingehuͤllt.
Und es iſt mir nun endlich doch gelungen? Hab' ich
dies neue Dafein gewonnen und hält es mich umfan—
gen? — O verzeiht mir, ich weiß in der Trunkenheit
nicht, was ich ſpreche, und ſollte meine Worte freilich
in einer ſolchen Verſammlung genauer abwaͤgen.
Die Dame winkte und alle Diener waren ſogleich
geſchaͤftig; auf allen Baͤumen regte es ſich, allenthalben
lief es und kam, und in weniger als einem Augenblicke
ſtand eine Mahlzeit ſchoͤner Früchte und ſuͤßduftender
Weine vor Ludwig da. Er ſetzte ſich wieder und
Muſik erklang von neuem, und um ihn drehten ſich in
ſchoͤngeſchlungenen Reihen Juͤnglinge und Maͤdchen, und
ungeſtaltete Kobolde belebten den Tanz und erweckten
mit ihren Poſſen lautes Gelaͤchter. Ludwig gab auf
jeden Ton, auf jede Geberde Acht; er fuͤhlte ſich neu—
geboren, da er in dieſes freudenvolle Leben eingeweiht
ward. Warum, dachte er bei ſich, werden nur unſre
Traͤume und Hoffnungen ſo oft verlacht, da ſie ſich
doch weit fruͤher erfuͤllen, als man jemals vermuthen
konnte? Wo ſteht denn nun die Grenzſaͤule zwiſchen
Wahrheit und Irrthum, die die Sterblichen immer mit
ſo verwegenen Haͤnden aufrichten wollen? O ich haͤtte
in meinem ehemaligen Leben nur noch oͤfter irren ſollen,
ſo waͤre ich vielleicht fruͤher fuͤr dieſe Seligkeit reif ge—
worden.
Die Taͤnze verſchwanden, die Sonne ging unter, die
ehrwuͤrdigen Frauen erhoben ſich. Ludwig ſtand eben—
falls auf und begleitete ſie auf ihrem Spaziergange durch
154
den ſtillen Garten. Die Nachtigallen klagten mit ge:
daͤmpfter Stimme und ein wunderbarer Mond zog her—
auf. Die Bluͤthen thaten ſich dem ſilbernen Scheine
auf und alle Blätter wurden vom Mondglanze angezuͤn—
det, die weiten Gaͤnge ergluͤhten und warfen ſeltſame
gruͤne Schatten, rothe Wolken ſchliefen auf den fernen
Gefilden im gruͤnen Graſe, die Springbrunnen waren
golden und ſpielten hoch in den klaren Himmel hinein.
Jetzt wirſt Du ſchlafen wollen, ſagte die ſchoͤnſte
unter den Frauen, und wies dem entzuͤckten Wanderer
eine dunkle Laube, die mit bequemen Raſen und weichen
Polſtern belegt war. Dann verließen ſie ihn und er
blieb allein.
Er ſetzte ſich nieder und bemerkte den magiſchen
Daͤmmerſchein, der ſich durch das dichtverſchlungene Laub
brach. Wie wunderlich! ſagte er zu ſich ſelber, daß ich
jetzt vielleicht nur ſchlafe und es mir dann traͤumen kann,
ich ſchliefe zum zweitenmale ein, und haͤtte einen Traum
im Traume, bis er ſo in die Unendlichkeit fortginge
und keine menſchliche Gewalt mich nachher munter machen
koͤnnte. Aber, ich Unglaͤubiger! die ſchoͤne Wirklichkeit
iſt es, die mich beſeligt, und mein voriger Zuſtand iſt
vielleicht nur ein ſchwermuͤthiger Traum geweſen.
Er legte ſich nieder und Luͤftchen ſpielten um ihn;
Wohlgeruͤche gaukelten und kleine Voͤgel ſangen Schlaf—
lieder. Im Traume duͤnkte ihm, als ſei der Garten
umher veraͤndert, die großen Baͤume waren abgeſtorben,
der goldene Mond war aus dem Himmel herausgefallen
und hatte eine truͤbe Luͤcke zuruͤckgelaſſen; aus den
Springbrunnen ſprudelten ſtatt des Waſſerſtrahls kleine
Genien hervor, die ſich in der Luft uͤbereinander warfen
155
und die ſeltſamſten Stellungen bildeten; ſtatt der Geſaͤnge
durchſchnitten Jammertoͤne die Luft, und jede Spur des
glückfeligen Aufenthalts war verſchwunden. Ludwig
erwachte unter bangen Empfindungen und ſchalt auf
ſich ſelbſt, daß ſeine Phantaſie noch die verkehrte Ge—
wohnheit der Erdbewohner habe, alle empfangenen Geſtal—
ten barock und wild zu vermiſchen und ſie uns ſo im
Traume wieder vorzufuͤhren.
Ein lieblicher Morgen zog herauf und die Frauen
begruͤßten ihn wieder. Er ſprach mit ihnen beherzter
und war heut mehr geſtimmt, froͤhlich zu ſein, weil ihn
die umgebende Welt nicht mehr ſo ſehr in Erſtaunen
ſetzte. Er betrachtete den Garten und den Pallaſt, und
fättigte fih mit der Pracht und dem Wunderbaren, das
er dort antraf. So lebte er mehrere Tage glücklich,
und glaubte, daß ſein Gluͤck nie hoͤher ſteigen koͤnne.
Zuweilen war es, als wenn ein Hahnengeſchrei in
der Naͤhe erſchallte, dann erzitterte der ganze Pallaſt
und ſeine Begleiterinnen wurden bleich; es geſchah ge—
woͤhnlich des Abends und man legte ſich bald darauf
ſchlafen. Dann kam wohl ein Gedanke an die vergeſ—
ſene Erde in die Seele Ludwigs, dann lehnte er ſich
manchmal weit aus den Fenſtern des glaͤnzenden Palla—
ſtes heraus, um die flüchtigen Erinnerungen feſtzuhal—
ten, um die Landſtraße wieder zu finden, die nach ſei—
nen Gedanken dort voruͤbergehn mußte. In dieſer Stim—
mung war er an einem Nachmittage allein, und be—
dachte, wie es ihm jetzt eben ſo unmoͤglich falle, ſich
der Welt deutlich zu entſinnen, als er ehemals dieſen
poetiſchen Aufenthalt habe erahnden koͤnnen, da war es,
als wenn ein Poſthorn in der Ferne ertoͤnte, als wenn
er die raſſelnde Bewegung eines Wagens vernaͤhme.
* 156 5
Wie fonderbar, ſagte er zu ſich, fallt jetzt ein Schim-
mer, eine leiſe Erinnerung der Erde in meine Freuden
hinein, die mich wehmuͤthig macht. Fehlt mir denn
hier etwas? Iſt mein Gluͤck noch unvollendet?
Die Frauen kamen zuruͤck. Was wuͤnſcheſt Du
Dir? fragten ſie beſorgt, Du ſcheinſt betruͤbt. Ihr
werdet lachen, antwortete Ludwig, allein gewährt mir
dennoch meine Bitte. Ich hatte in jenem Leben einen
Freund, deſſen ich mich kaum noch dunkel erinnere; er
iſt krank, ſo viel ich weiß; macht ihn durch Eure Kunſt
geſund. — Dein Wunſch iſt ſchon erfuͤllt, ſagten fie.
Aber, ſagte Ludwig, vergoͤnnt mir noch zwei Fragen.
Rede.
Faͤllt kein Schimmer der Liebe in dieſe wundervolle
Welt hinein? Geht keine Freundſchaft unter dieſen Lau—
ben? Ich dachte, jenes Morgenroth der Fruͤhlingsliebe
wuͤrde hier ewig dauern, das in jenem Leben nur gar
zu ſchnell erliſcht, und von dem die Menſchen dann
nachher als wie von einem Fabelwerke ſprechen. Daß
ich es Euch geſtehe, ich fuͤhle nach dieſen Empfindungen
eine unbeſchreibliche Sehnſucht.
Du ſehnſt Dich alſo nach der Erde zuruͤck?
Nimmermehr! rief Ludwig aus; denn ſchon in
jener kalten Erde ſehnte ich mich nach Freundſchaft und
Liebe, und ſie kamen mir nicht naͤher. Der Wunſch
nach dieſen Gefuͤhlen mußte mir die Gefuͤhle ſelber
erſetzen, und darum trachtete ich darnach, hier zu lan—
den, um hier alles in der ſchoͤnſten Vereinigung anzu⸗
treffen.
Thor! ſagte die ehrwuͤrdige Frau, ſo haſt Du Dich
ja auf der Erde nach der Erde geſehnt, und nicht
157
gewußt, was Du thateft, da Du Dich hieher wuͤnſch—
teſt; Du haſt Deine Wuͤnſche uͤberſchrien und Deinen
menſchlichen Empfindungen Phantaſien untergeſchoben.
Aber wer ſeid Ihr? rief Ludwig beſtuͤrzt.
Wir ſind die alten Feen, ſagten jene, von denen
Du ſchon ſeit lange wirft gehört haben. Sehnſt Du
Dich heftig in die Erde zuruͤck, ſo wirſt Du dorthin
zuruͤckkommen. Unſer Reich bluͤht empor, wenn die
Sterblichen ihre Nacht bekommen, ihr Tag iſt unſre
Nacht. Unſre Herrſchaft iſt ſeit lange und wird noch
lange bleiben; ſie ſteht unſichtbar unter den Menſchen;
nur Dir ward es vergoͤnnt, uns mit Augen zu ſehn.
Sie wandte ſich um, und Ludwig erinnerte ſich,
daß es dieſelbe Geſtalt war, die ihn unwiderſtehlich in
der fruͤhen Jugend nachgezogen hatte, und vor der er
ein heimliches Entſetzen hegte. Er folgte ihr auch jetzt
und rief: Nein! ich will nicht zur Erde zuruͤck! ich will
hier bleiben! — So errieth ich alſo, ſagte er zu ſich
ſelber, ſchon in meiner Kindheit dieſe hohe Geſtalt?
So mag die Aufloͤſung zu manchem Raͤthſel noch in
uns liegen, das wir zu erforſchen zu traͤge ſind.
Er ging viel weiter, als er gewoͤhnlich zu thun
pflegte, fo daß der Feengarten ſchon weit hinter ihm
lag. Er ſtand in einem romantiſchen Gebirge, wo
Epheu wild und lockig die Felſenwaͤnde hinaufgewachſen
war; Klippen waren auf Klippen gethuͤrmt und Furcht—
barkeit und Groͤße ſchienen dieſes Reich zu beherrſchen.
Da kam ein fremder Wandrer auf ihn zu und gruͤßte
ihn freundlich und redete ihn ſo an: Es iſt mir lieb,
daß ich Dich nun doch wieder ſehe. — Ich kenne Dich
nicht, ſagte Ludwig. — Das kann wohl ſeyn, ant—
—
158
wortete jener, aber Du glaubteſt mich ſonſt einmal recht
gut zu kennen. Ich bin Dein krankgeweſener Freund.
Unmoͤglich! Du biſt mir ganz fremde!
Bloß deswegen, ſagte der Fremde, weil Du mich
heut zum erſtenmal in meiner wahren Geſtalt ſiehſt;
bisher fandeſt Du nur Dich ſelber in mir wieder. Du
thuſt auch darum Recht, hier zu bleiben, denn es giebt
keine Freundſchaft, es giebt keine Liebe, hier nicht, wo
alle Taͤuſchung niederfaͤllt.
Ludwig ſetzte ſich nieder und weinte.
Was iſt Dir? fragte der Fremde.
Daß Du der Freund meiner Jugend ſein ſollſt,
antwortete Ludwig, iſt das nicht klaͤglich genug? O
komm mit mir zu unſrer lieben, lieben Erde zuruͤck, wo
wir uns unter taͤuſchenden Formen wieder erkennen, wo
es den Aberglauben der Freundſchaft giebt. Was ſoll
ich hier?
Was hilft es? antwortete der Fremde. Du wirft
doch ſogleich wieder zuruͤck wollen, die Erde iſt Dir
nun nicht glaͤnzend genug, die Blumen ſind Dir zu
klein, die Geſaͤnge zu unterdruͤckt. Die Farben koͤnnen
ſich aus den Schatten nicht ſo hell hervorarbeiten, die
Blumen gewaͤhren nur kleinen Troſt und verwelken
ſchnell, die Singevoͤgel denken an ihren Tod und ſingen
beſcheiden: hier aber geht alles in's Große.
O ich will mich zufrieden ſtellen, rief Ludwig unter
heftigen Thraͤnenguͤſſen aus, nur komm wieder mit mir
zuruͤck und ſei mein voriger Freund, laß uns dieſe
Wuͤſte, dieſes glänzende Elend verlaſſen.
Indem ſchlug er die Augen auf, weil ihn jemand
heftig ruͤttelte. Neben ihn neigte ſich das freundliche,
159
aber blaſſe Angeſſcht feines kranken Freundes. — Biſt
Du doch geſtorben? rief Ludwig aus.
Geſund geworden bin ich, Du boͤſer Schlaͤfer, ant—
wortete jener. Beſuchſt Du ſo Deine kranken Freunde?
Komm mit mir, mein Wagen hält dort und es zieht
ein Gewitter herauf.
Ludwig richtete ſich empor. Er war im Schlafe
von dem Baumſtamm heruntergeſunken, der aufgeſchla—
gene Brief ſeines Freundes lag neben ihm.
So bin ich wirklich wieder auf der Erde? rief er
freudig aus; wirklich? und es iſt kein neuer Traum?
Du wirſt ihr nicht entgehn, antwortete der Kranke
laͤchelnd, und beide ſchloſſen ſich herzlich in die Arme.
Wie gluͤcklich bin ich, ſagte Ludwig, daß ich 1
wieder habe, daß ich empfinde wie ſonſt, und daß D
wieder geſund biſt.
5 Ploͤtzlich, antwortete der kranke Freund, ward ich
krank, und eben ſo ploͤtzlich wieder geſund; ich wollte
daher den Schrecken, den Dir mein Brief muß gemacht
haben, wieder verguͤten und zu Dir reiſen; auf dem
halben Wege finde ich Dich hier ſchlafend.
Ach! ich verdiene Deine Liebe gar nicht, ſagte
Ludwig.
Warum? |
Weil ich fo eben an Deiner Freundſchaft zweifelte.
Doch nur im Schlafe.
Es waͤre wunderlich genug, ſagte Ludwig, wenn
es am Ende doch wirklich Feen gaͤbe.
160
Sie find gewiß, antwortete jener, aber das find
nur Erdichtungen, daß fie ihre Freude daran haben, die
Menſchen gluͤcklich zu machen. Sie legen uns jene
Wuͤnſche in's Herz, die wir ſelber nicht kennen, jene
uͤbertriebene Forderungen, jene uͤbermenſchliche Luͤſtern—
heit nach uͤbermenſchlichen Guͤtern, daß wir nachher in
einem ſchwermuͤthigen Rauſche die ſchoͤne Erde mit ihren
herrlichen Gaben verachten.
Ludwig antwortete mit einem Haͤndedruck. ——
ier UI rc BE
Eine Geſchichte
ohne Abentheuerlichkeiten.
Er ſter geil.
17996
XIV. Band. 11
Erſtes Kapitel.
Vorrede.
Lieber Leſer, Du glaubſt nicht, mit welcher innigen
Wehmuth ich Dich dieſe Blaͤtter in die Hand nehmen
ſehe, denn ich weiß es voraus, daß Du ſie wieder weg—
werfen wirft, ſobald du nur einige fluͤchtige Blicke hin—
eingethan haſt. Da mir aber Deine Bekanntſchaft gar
zu theuer iſt, ſo will ich wenigſtens vorher alles moͤg—
liche verſuchen um dich feſtzuhalten; lies daher wenig—
ſtens das erſte Kapitel, und wenn wir uns nachher
nicht wiederſehen ſollten, ſo lebe tauſendmal wohl. —
Um deine Gunſt zu gewinnen, muͤßte ich meine
Erzaͤhlung ungefaͤhr folgendermaßen anfangen:
„„Der Sturmwind raſſelte in den Fenſtern der alten
Burg Wallenſtein. — Die Mitternacht lag ſchwarz
uͤber dem Gefilde ausgeſtreckt, und Wolken jagten ſich
durch den Himmel, als Ritter Karl von Wallenſtein
auf feinem ſchwarzen Roſſe die Burg verließ, und un:
verdroſſen dem pfeifenden Winde entgegen trabte. —
Als er um die Ecke des Waldes bog, hoͤrt er neben
ſich ein Geraͤuſch, ſein Roß baͤumte, und eine weißliche
Schattengeſtalt draͤngte ſich aus den Gebuͤſchen her—
vor.“ — — —
Ich wette, Du wirſt es mir nicht vergeben koͤnnen,
daß ich dieſe intereſſante abentheuerliche und ungeheuer—
1
164
liche Geſchichte nicht fortſetze, ob ich gleich, wie das der
Fall bei den neueren Romanſchreibern iſt, ſelbſt nicht
weiß, wie ſie fortfahren, oder gar endigen ſollte.
In medias res will ich geriſſen ſein! rufen die Leſer,
und die Dichter thun ihnen hierin auch ſo ſehr den
Willen, daß ihre Erfindungen weder Anfang noch Ende
haben. Der Leſer aber iſt zufrieden, wenn es ihm nur
recht ſchauerlich und grauerlich zu Muthe wird. Rieſen,
Zwerge, Geſpenſter, Hexen, etwas Mord und Todt—
ſchlag, Mondſchein und Sonnenuntergang, dieß mit
Liebe und Empfindſamkeit verſuͤßlicht, um es glatter
hinterzubringen, ſind ungefaͤhr die Ingredienzien, aus
denen das ganze Heer der neuſten Erzaͤhlungen, vom
Petermaͤnnchen bis zur Burg Otranto, vom Genius
bis zum Hechelkraͤmer, beſteht. Der Marquis von
Groſſe hat dem Geſchmack aller Leſegeſellſchaften eine
andere Richtung gegeben, aber ſie haben ſich zugleich
an ſeinem ſpaniſchen Winde den Magen verdorben;
mit Herrn Spieß hat man ſich gewoͤhnt, Ueberall und
Nirgends zu ſein; und keine Erzaͤhlung darf jetzt mehr
Anſpruch machen, geleſen zu werden, wenn der Leſer
nicht vorherſieht, daß ihm wenigſtens die Haare dabei
bergan ſtehen werden. |
Um kurz zu fein, lieber Leſer, will ich Dir nur
mit duͤrren Worten ſagen: daß in der unbedeutenden
Geſchichte meines bisherigen Lebens, die ich Dir jetzt
erzaͤhlen will, kein Geiſt oder Unhold auftritt; ich habe
auch keine Burg zerſtoͤrt, und keinen Rieſen erlegt; fer
verſichert, ich ſage dieß nicht aus Zuruͤckhaltung, denn
waͤre es der Fall geweſen, ich wuͤrde Dir alles, der
Wahrheit nach, erzaͤhlen.
165
Auch muß ich Dir leider noch bekennen, daß ich
mich in keine geheime Geſellſchaft habe einweihen laſſen;
ich kann Dir alſo keine myſtiſchen und hieroglyphiſchen
Caͤremonien beſchreiben, ich kann Dir nicht das Ver-
gnuͤgen machen, Sachen zu erzaͤhlen, von denen Du
nicht eine Sylbe verſtehſt. —
Muſaͤus faßte die glückliche Idee, durch feine Volks:
maͤhrchen das Gewimmere und Gewinſ'le der Siegwar—
tianer zu uͤbertoͤnen. Es iſt ihm auch wirklich ſo ſehr
gelungen, daß das pecus imitatorum unzaͤhlbar iſt.
Alles hat ſich raſch die Thraͤnen der Empfindſamkeit
aus den Augen gewiſcht, die Cypreſſen und Myrthen
im Haare ſind verwelkt, ſtatt der Seufzer hoͤrt man
Donnerſchlaͤge, ſtatt eines Billet doux oder eines
Haͤndedrucks, nichts als Geſpenſter und Teufel! —
Das iſt jetzt auf der großen Chauſſee der Meſſen
ein Fahren und Reiten! Hier ein Schriftſteller, der
mit ſeinem Helden geradewegs in die Hoͤlle hineinjaͤgt;
dort eine Kutſche, hinter der, ſtatt des Lakais, ein
glaͤnzender Genius ſteht; dort gallopirt ein andrer, und
hat ſeinen Helden auf dem Pferde vor ſich; dort wird
einer ſogar auf einem Eſel fortgeſchleppt, und droht
in jedem Augenblick herunter zu fallen; — o Himmel!
man iſt in einer beſtaͤndigen Gefahr, zertreten zu wer—
den! — Wohin ich ſehe, nichts als Revolutionen,
Kriege, Schlachten, und hoͤlliſche Heerſchaaren! —
Nein, ich vermeide dieſe geraͤuſchvolle Landſtraße, und
ſchlage dafuͤr lieber einen kleinen Fußſteig ein, — was
chut's, wenn ich auch ohne Geſellſchaft gehe; vielleicht
begegnet mir doch noch ein guter unbefangener Menſch,
der ſich, eben fo wie ich, vor jenen ſchrecklichen Polter;
Zeiſtern fürchtet! —
166
Aber wird es nicht bald Zeit werden, meine vers
ſprochene Geſchichte anzufangen? — Ich ſehe, die
Leſer, die mir noch uͤbrig geblieben ſind, fangen auch
ſchon an zu blaͤttern, und ſich wenigſtens nach einigen
Vorfaͤllen umzuſehn. — Zuvor muß ich aber doch noch
um eine kleine Geduld erſuchen. —
Ich weiß naͤmlich nicht, ob die Lektuͤre meiner Leſer
nicht zuweilen in manche Faͤcher hinein gerathen iſt, wo
man ſich daran gewoͤhnt, Schriftſteller recht viel von
ſich ſelbſt ſprechen zu hoͤren. Doch, Sie werden ja
wohl in manchen unſrer deutſchen Journale bewandert
ſein.
Ich heiße, wie Sie vielleicht ſchon werden gemerkt
haben, Lebrecht; ich wohne auf einem kleinen Land—
hauſe, in einer ziemlich ſchoͤnen Gegend. Ich ſchreibe
dieſe Geſchichte alſo nicht aus einem Gefaͤngniſſe, noch
weniger den Tag vor meiner Hinrichtung, ob es Ihnen
gleich vielleicht außerordentlich vielen Spaß machen wuͤrde.
Ich bin nicht melancholiſch, noch engbruͤſtig, eben fo
wenig bin ich verliebt, ſondern meine gute junge Frau
ſitzt neben mir, und wir ſprechen beſtaͤndig ohne En—
thuſiasmus oder zaͤrtliche Ausrufungen miteinander; —
ja, ich weiß am Ende warlich nicht, wo das Intereſſe
fuͤr meine Erzaͤhlung herkommen ſoll. —
Sehn Sie, meine Geſchichte iſt zwar nicht ganz
gewoͤhnlich und alltaͤglich, aber es fehlt ihr doch das
eigentlich Abentheuerliche, um fie anziehend zu machen; — N
die einzige Hoffnung, meine fihöne Leſerinnen, die mir
übrig bleibt, iſt, daß Sie gerade von der Langeweile
ſo geplagt werden, daß Sie mich aus bloßer Verzweif-
lung leſen.
167
Ich muß Ihnen alſo zuvoͤrderſt bekennen, daß ich
ein Mitglied der katholiſchen Kirche bin. —
Nicht wahr, Sie lachen über die albernen Vorur⸗
theile, daß ich dieß noch mit in Anſchlag bringe?
Freilich iſt man jetzt ſo aufgeklaͤrt, daß man gar kei⸗
nen Unterſchied unter den Religionsparteien mehr macht;
man faͤngt ſelbſt an, die Juden nicht mehr fuͤr eine
andere Art von Menſchen zu halten; die beliebten Uns
terredungen und Diſpuͤten drehen ſich alle um dieſen
Gegenſtand; man ſchaͤtzt jede andre Religion mehr, als
die, zu welcher ſich unſre Eltern bekennen, ohne weder
mit der einen noch der andern Partei bekannt zu ſein, —
o was haben wir nicht in den neuern Zeiten fuͤr Fort—
ſchritte in der Toleranz gemacht!
Aber ich habe nun ſchon viele der eifrigſten Beken⸗
ner der Toleranz geſehen, die einen andern Menſchen
darum haßten, weil er ein Ariſtokrat nach ihrer
Meinung war; jener wuͤthete wieder gegen den Demos
kraten.
Ach, die meiſten Menſchen muͤſſen immer einen
Titel haben, unter welchem ſie leben koͤnnen. Der
verfolgte Parteigeiſt iſt aus der Religion in die Poli—
tik uͤbergegangen; der Himmel verhuͤte, daß wir hier
nicht eben ſo entehrende Verirrungen des e e
Herzens erleben! —
Ich bin alſo, um es dem Leſer noch einmal zu
wiederholen, Katholik; (Demokraten und Ariftofra:
ten kannte man in jenem Zeitpunkt noch nicht, in
welchen meine Geſchichte fälltz) und zum Verſtaͤndniß
dieſer Geſchichte iſt es nothwendig, daß der Leſer die
Rubrik wiſſe, unter welcher ich als Bekenner des Chri—
168
ſtenthums ſtehe; darum wird er mir die Mittheilung
dieſer Nachricht verzeihen.
Ich erinnere mich mit Vergnuͤgen der Vergangenheit;
möge es dem Leſer nicht beſchwerlich fallen, mir zuzus
hoͤren. —
Und nun zu meiner Geſchichte. —
Diejenigen, die dieß erſte Kapitel geleſen haben,
werden wahrſcheinlich auch die folgenden leſen, denn ich
habe mit Vorbedacht das langweiligſte vorangeſtellt. —
Zweites Kapitel.
Meine Jugend, — Erziehung, — Univerſitaͤtsjahre, — ich
bekomme eine Hofmeiſterſtelle.
Man ſieht ſogleich, daß ich mich nicht ſehr bei der Er—
zaͤhlung meiner Jugendgeſchichte aufzuhalten denke, ob
ſie gleich, in der Manier vieler unſrer Romanſchreiber
dargeſtellt, einen maͤßigen Band fuͤllen koͤnnte. — Aber
ich denke, das leſende Publikum hat ſchon ſeit lange
genug und uͤbergenug an den paͤdagogiſchen Unterſu—
chungen, Erzaͤhlungen von Univerſitaͤtsvorfaͤllen, und
dergleichen. Ich verſtehe es nicht, alle dieſe Armſelig—
keiten wichtig zu machen, darum will ich nur ſchnell
daruͤber hingehn. —
Als zuerſt meine Gedanken erwachten, traf ich mich
in einem kleinen Hauſe eines Dorfes. Ich erinnere
mich noch deutlich einer Weide, die vor unſrer Thuͤre
ſtand, und in deren Zweigen der Schein der Sonne
flimmerte. Ein braͤunlicher Mann, den ich Vater, und
169
eine ſehr freundliche Frau, die ich Mutter nannte,
waren meine taͤglichen Geſellſchafter. Außerdem hatte
ich noch einen Bruder und eine Schweſter.
Ich lebte den einen Tag fort, wie den andern, und
auf dieſe Art wird man nach und nach aͤlter, man
weiß ſelbſt nicht wie es geſchieht. Ich half meinem
Vater in Kleinigkeiten auf dem Felde, oder meiner
Mutter in der Wirthſchaft, oder ſchlug mich mit mei—
nem Bruder herum. Kurz, mir verging die Zeit ſehr
geſchwind, und ich hatte nie Urſache uͤber Langeweile
zu klagen.
Meine Erziehung war die einfachſte, und vielleicht
auch die beſte von der Welt. Ich ſtand fruͤh auf, und
ging früh wieder ſchlaſßen. An Bewegung fehlte es
mir nicht; meine Mutter Marthe ſchlug mich zuwei⸗
len, wenn ich unartig war, trotz ihrer Freundlichkeit,
ſonſt ließ ſie mir allen moͤglichen Willen. Ich ſprang,
lief und kletterte; fiel ich, ifo war es meine eigene
Schuld, und mein eigener Schade; bekam ich von
einem groͤßern Jungen, den ich geneckt hatte, Schlaͤge,
ſo bedauerte mich niemand; hatt' ich mich am Abend
unter meinen kleinen Freunden verſpaͤtet und erkaͤltet,
ſo war ich am folgenden Abend deſto vorſichtiger.
Marthe hatte kein paͤdagogiſches Werk ſtudirt, aber
ſie erzog mich ganz nach ihrem geraden Menſchenver—
ſtande, und ich danke es ihr noch heute, daß man mich
nach keinem Elementarwerk oder Kinderfreunde, in
keinem Philantropin oder Schnepfenthal verbildete, daß
man mich nicht ſchon im ſechſten Jahre zum Philoſo—
phen machte, um zeitlebens ein Kind zu bleiben, wie
das bei ſo manchen Produkten unſrer Nene Erzie⸗
hung der Fall iſt. —
!
170
Die Gegend des Dorfes war ſchoͤn und abwech—
ſelnd; und auf meinen einſamen Spaziergaͤngen erwachte
zuweilen ein gewiſſes dunkles Gefuͤhl in mir, ein Drang,
etwas mehr zu wiſſen und zu erfahren, als ich bisher
gelernt hatte. Vorzuͤglich, wenn die Glocke die Leute
zur Kirche einlud; und nun die alten Frauen, ihren Ro—
ſenkranz ſtill betend, daher wackelten, befiel mich eine Art
von heiligem Grauen, noch mehr aber, wenn der Prie—
ſter nun ſelber kam, und ſich jeder im Zuge ehrfurchts—
voll vor ihm neigte, und ich nachher aus der Ferne
den Geſang aus der Kirche vernahm. — Bei jeder
Moͤnchskutte empfand ich eine unwillkuͤhrliche Ehrfurcht,
und trotz dieſer entſtand bald der Wunſch in mir, auch
einſt ſo einherzutreten, und von jedem Voruͤbergehen—
den den Zoll der Ehrerbietung einzuſammeln. Ich
hing im Stillen dieſem Wunſche immer mehr nach,
und erwachte oft ſehr unangenehm aus meinen ſchoͤnen
Traͤumen, wenn der Vater mich mit aufs Feld nahm,
um ihm in ſeiner Arbeit zu helfen.
So tief liegt die Sucht, ſich uͤber ſeine Nachbarn
zu erheben, in der Seele des Menſchen. Ich ſchien
auch fuͤr den Stand, den ich mir wuͤnſchte, wie ge—
boren. In meiner Kindheit war es gar nicht meine
Sache, viel uͤber einen Gegenſtand nachzudenken, oder
wohl gar an irgend etwas zu zweifeln. Marthe mochte
mir noch ſo ungeheure Maͤhrchen erzaͤhlen, ich haͤtte
mich fuͤr die Authenticitaͤt des Siegfried und der Hey—
monskinder todtſchlagen laſſen; jeden Fremden, den ich
durch unſer Dorf wandern ſah, betrachtete ich ſehr
genau, ob es nicht etwa der ewige Jude Ahasverus ſei.
Man erſtaunte uͤber meine großen und ſeltenen Ta—
lente zum geiſtlichen Stande; beſonders gewann mich
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der Pater Bonifaz eines benachbarten Kloſters fehr
lieb. Er ſah meine tiefe Andacht in der Kirche, die
Feſtigkeit meines Glaubens, meinen Abſcheu gegen
jede Art von Ketzerei, — o wie viel Muͤhe gab ſich
der gute Mann, mich vollends fuͤr die gute Sache zu
gewinnen!
Dieſer Knabe, rief oft Bonifaz in hoher Be—
geiſterung, ich ahnde es, wird einſt ein Schutzgeiſt und
Reformator der rechtglaͤubigen Kirche werden; ein Schwert
in der Hand Gottes gegen die Ketzer, eine Geißel gegen
die Freigeiſter und Gotteslaͤſterer, ein Vernichter der
Recenſenten und Literaturzeitungen, eine Qualmbuͤchſe
den Fackeln der Aufklärer! |
Ich verſtand zwar von dieſen Deklamationen nichts,
aber doch nahm ich mir vor, die Prophezeihung mei—
nes theuren en nicht zu Schanden werden zu
laſſen.
Der Pater nahm itzt ſelbſt die Muͤhe auf ſich, mich
zu unterrichten, da ich in der Schule des Dorfes kein
vorzuͤglicher Gelehrter werden konnte. Er bemerkte
bald, daß ihm meine Faͤhigkeiten den Unterricht ſehr
erleichterten, denn ich lernte in ſehr kurzer Zeit Leſen
und Schreiben, auch begriff ich bald ſo viel vom La—
teiniſchen, daß ich meinem Lehrer ſehr verfaͤngliche Fra—
gen vorlegte, die er ſich nicht zu beantworten getraute.
Meine Eltern ſahen mich als ein Wunderthier an,
und wurden ernſtlich darauf bedacht, meine ungeheuren
Talente nicht ganz verloren gehen zu laſſen. Pater
Bonifaz ſchlug ihnen vor, mich in die naͤchſte Stadt
auf ein Gymnaſium zu ſchicken, und dieſer Vorſchlag
ward bald von ihnen genehmigt. Als mir dieſer Ent—
ſchluß angekuͤndigt ward, erfuhr ich zugleich einen an—
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dern Umſtand, der eigentlich für mich von der größten
Wichtigkeit haͤtte ſein ſollen.
Meine Mutter ſagte mir nämlich, daß fie und mein
Vater nicht meine wahren, ſondern nur meine Pfle—
geeltern waͤren, daß ſie mir aber den Namen mei—
nes wirklichen Vaters, verſchiedener Urſachen wegen,
nicht nennen koͤnne; dieſer wuͤnſche indeſſen, daß ich
mich dem geiſtlichen Stande widme, und wolle mich
daher ſtudiren laſſen.
Dieſe Nachricht machte eben keinen beſondern und
bleibenden Eindruck auf mich, ſo uͤberraſchend ſie viel—
leicht jedem andern Kinde geweſen ſein wuͤrde. —
Meine Eltern gaben mir ihren Segen und ihre Thraͤ—
nen mit auf den Weg, Pater Bonifaz hielt eine lange
ſehr ruͤhrende Rede, und ich reiſte nach der Stadt ab.
In dieſer Stadt war zugleich eine katholiſche Uni—
verſitaͤt, und ich hatte alſo gleich die bequemſte Gelegen—
heit, vom Schuͤler zum Juriſten zu avanciren, denn
ſo nannte man hier die Studenten, da man unter dem
Namen Student jedweden Schuͤler begriff.
Man hatte mich an den Profeßor X ... gewie—
ſen, und dieſer nahm ſich meiner faſt vaͤterlich an; an
ihn war das Geld adreſſirt, das ich vierteljaͤhrlich
empfing; und ihm hab' ich vorzuͤglich die Aufklaͤrung
meines finſtern Kopfes zu verdanken. Er zerſtreute
nach und nach die ſchwarzen Phantome, die durch Bo—
nifaz bei mir einheimiſch geworden waren, ein Sonnen-
ſtrahl der Vernunft fiel in die dunkeln Gaͤnge des Aber—
glaubens, und ich ward unmerklich ein ganz andres Weſen.
So lebt! ich ein Jahr nach dem andern, und war
ziemlich fleißig. Ich verließ die Schule, und ward
nun im eigentlichſten Verſtande Ju riſt, denn die Theo⸗
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\
logie war mir itzt zuwider. — Ich vollendete den Cur⸗
ſus, und ſtand nun da, als ein foͤrmlich gemachter
Mann, aber ohne irgend zu wiſſen, was ich nun in
der Welt mit meiner Gelehrſamkeit anfangen ſolle. Ich
hatte mich mit hunderterlei Sachen angefuͤllt, ohne mich
nur ein einzigesmal zu fragen: wozu?
Gluͤcklicherweiſe hatte ich neben den juriſtiſchen
Wiſſenſchaften auch Sprachen und etwas Philoſophie
ſtudirt; und mein Beſchuͤtzer, der Profeſſor R...
that mir itzt einen Vorſchlag, den ich ſogleich mit bei—
gen Haͤnden ergriff.
Aus W.. hatte ihm der Praͤſident von Blum:
bach geſchrieben, er ſei fuͤr ſeine Soͤhne um einen
Hofmeiſter verlegen, und baͤte ihn alſo, ihm ein ſchick⸗
liches Subjekt vorzuſchlagen. X ... warf feine Au:
gen auf mich, ich ward vom Praͤſidenten angenommen;
X . . gab mir noch manchen guten Rath mit, wos
mit ich aber noch nicht recht umzugehen wußte, und
ſo machte ich mich auf den Weg nach der großen
Stadt WMW
Drittes Kapitel.
Der Leſer wird ſehen, daß ich ein Narr bin.
Ich ſetzte mich mit großer Zufriedenheit in den Wa—
gen, der mich an den Ort meiner Beſtimmung bringen
ſollte. Ich ward in eine mir ganz unbekannte Welt
hineingefahren, ohne Menſchenkenntniß und Kenntniß
meiner ſelbſt, ohne genau zu wiſſen, wer ich ſei; nur
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mit dem Namen Lebrecht ausgeftattet, der, wenn er
mir auch eigentlich nicht zukam, mir doch immer als
Vorſchrift dienen konnte, nach der ich handelte.
Indem der Wagen fuhr und der Kutſcher fluchte,
fing ich an bei mir ſelbſt zu uͤberlegen, von welcher
Art meine kuͤnftige Beſchaͤftigung ſein wuͤrde, und ob
ich dem Amte auch wohl gewachſen waͤre, das man mir
anvertraute. — Ich ließ alle meine Kenntniſſe und Ta—
lente die Revuͤe paſſiren, und war nicht wenig mit mir
ſelbſt zufreieden, als ich die ganze große Maſſe uͤberſah.
Ich verſtehe Latein und Griechiſch, ſagte ich ziem-
lich laut zu mir ſelbſt, doch ſo, daß es der Kutſcher
nicht hoͤren konnte; etwas Franzoͤſiſch, die Geſchichte
der alten und neuen Welt kann ich an den Fingern
hererzuͤhlen, dabei bin ich ein guter Juriſt, und ver:
ſtehe vortrefflich mit den Atqui's und Ergo's umzu—
gehn. Habe ich nicht einmal diſputirt und dreimal op:
ponirt? Ließ ich nicht zur Freude der ganzen Univer—
fität den Diſputanten neulich in das ſcharfſinnigſte
Dilemma laufen, daß er weder vor noch ruͤckwaͤrts
konnte?
Ich bekam eine ordentliche Ehrfurcht vor mir ſel—
ber, denn ich hatte noch nie die Bilance zwiſchen dem,
was ich wußte und nicht wußte, ſo genau gezogen.
Ich hatte das Schickſal der meiſten jungen Leute, die
den erſten Ausflug in die Welt verſuchen. Sie haben
ſich von Jugend auf nur mit ſich ſelbſt beſchaͤftigt, und
ſich doch kaum von Einer Seite kennen lernen, ſie
bemerken an ſich ſelbſt nur Vorzuͤge, an jedem andern
nur Fehler. Mit der Miene der Unparteilichkeit tre⸗
ten ſie auf die Wagſchale, um zu wiegen, wie viel ſie
werth find: mit ſelbſtgefaͤlligem Laͤcheln blicken fie um:
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her, da ſie ſo tief niederſinken, und bemerken nicht, daß
auf die andere Schale noch keine Gewichte geſtellt ſind.
Die Straße war ſehr beſucht und jedermann, der
vorbeiging, gruͤßte mich ſehr freundlich und ehrerbietig;
wer vorbeifuhr, ſahe neugierig in den Wagen hinein
und machte nicht ſelten ein ſpoͤttiſches Geſicht. Doch
ich ließ mich alles dieß nicht kuͤmmern.
Es war ein ſchoͤnes Fruͤhlingswetter und die Gegend,
durch welche ich reiſte, angenehm und abwechſelnd.
Meine Phantafie ward von den reizenden Gegenſtaͤn⸗
den, die mich umgaben, angefriſcht, ich erinnerte mich
gerade zur rechten Zeit, daß ich auch ein paarmal Verſe
gemacht haͤtte, um in eine Menge von ſuͤßen Traͤumen
zu fallen. Ich hatte mancherlei ſehr empfindſame Sa⸗
chen geleſen und die menſchliche Geſellſchaft kam mir als
eine große, zaͤrtliche Familie vor, in welcher ſich nur
zuweilen ein Kind vom rechten Wege verliert und nur
der Zaͤrtlichkeit bedarf, um ſogleich wieder zuruͤckgefuͤhrt
zu werden. Ich nahm mir alſo vor, ein recht edler,
fein empfindender Menſch zu werden, um recht viele
Verirrte wieder auf den rechten Weg zu bringen; mir
ſtiegen die Thraͤnen in die Augen, wenn ich mir die
vielen Edelthaten lebhaft vorſtellte, die ich gewiß noch
veruͤben wuͤrde. Beſonders aber ward mein Herz ge—
ruͤhrt, wenn ich uͤberlegte, welche innige und zaͤrtliche
Herzensfreude ich aus meinen kuͤnftigen Eleven bilden
muͤßte, wie vielen Dank mir die Eltern ſchuldig ſein
würden, welchen Nutzen der Staat aus meiner Erzie—
hungskunſt zoͤge, wie die ganze Welt meiner kuͤnftig
mit Ehrfurcht und Ruͤhrung erwaͤhnen ſollte.
Ja, rief ich in meinem Enthuſiasmus aus, — die
Menſchen ſind gut, wenn man ihnen nur mit Liebe
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entgegen koͤmmt, die Welt ift ſchoͤn, wenn man nur
zu leben verſteht! — Ja, ich werde gluͤcklich ſein,
mein Gluͤck im Gluͤcke meiner Brüder ſuchen. — O
kommt an mein Herz, ihr Ungluͤcklichen und Leidenden,
hier findet ihr Troſt und Huͤlfe; kommt an meine Bruſt,
ihr Verfolgten und Verirrten, hier findet ihr keinen
Haß und keine Unverſoͤhnlichkeit! Die lauterſte, reinſte
Menſchenliebe ſpringt fuͤr euch in dieſem Herzen.
Ich ſtreckte meine Arme ſehnſuchtsvoll aus, es ſchien,
als wenn die ſonnenbeglaͤnzte Welt meiner Umarmung
entgegenſtrebe.
Der Fuhrmann, der im letzten Wirthshauſe etwas
zuviel getrunken hatte, wollte in einen Nebenweg ein—
lenken, — ungluͤcklicherweiſe lief das Hinterrad uͤber
einen Erdhuͤgel, die Pferde gingen weiter, — der Was
gen knackte und fiel in demſelben Augenblicke um.
Der Fuhrmann raffte ſich auf, ſah ſeine Kutſche
auf einen Augenblick an und fing dann auf die kalt⸗
bluͤtigſte Weiſe von der Welt an, die graͤßlichſten Fluͤche
auszuſtoßen. Nach ſeinen Exclamationen war Niemand
als der Teufel mit allen hoͤlliſchen Geiſtern an dieſem
Vorfalle Schuld. Vom Schreck betaͤubt, lag ich noch
immer im Wagen, bis mich der ergrimmte Fuhrmann
hervorzog und ſich dann Mühe gab, den Wagen wie:
der aufzurichten.
Iſt Er denn toll? rief ich im hoͤchſten Unwillen
aus, als ich wieder auf den Beinen ſtand und zur
Beſinnung gekommen war.
Haben Sie ſich Schaden gethan, junger Herr?
fragte der Fuhrmann ganz phlegmatiſch.
Nein, aber —
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„Nun, fo wollen wir Gott danken, daß es noch
ſo gluͤcklich abgelaufen iſt.“
Ach, was! gluͤcklich abgelaufen! — Ich ſaß in
Gedanken und erſchrak nicht wenig. — Kuͤnftig trink'
Er nicht ſo viel.
„Nun, nun, — wenn der Wagen nur erſt wieder
ſtuͤnde!“
So lange zu trinken, bis man zum Vieh wird und
nicht mehr den Weg ſehen kann! Pfui!
„Nun, ſo vergeben Sie's mir nur, es ſoll nicht
wieder geſchehn.“
Ich zankte aber immer weiter fort und ward mit
jedem Worte heftiger. Der Fuhrmann wußte nicht, ob
er verdruͤßlich oder beſchaͤmt ausſehn ſollte; da ich aber
immer fort deklamirte und in meinem Feuereifer von
der Suͤnde ſprach, daß er das Leben eines Menſchen
ohne Noth in Gefahr ſetze, nahm er endlich ein ſehr
demuͤthiges Geſicht an und bat tauſendmal um Verzei—
hung. — Einige Bauern, die hinzugekommen waren,
halfen den Wagen wieder aufrichten; beſaͤnftigt ſetzte ich
mich wieder hinein und fuhr weiter.
Ich wurde itzt erſt gewahr, daß die Hand des Fuhr—
manns blute, er klagte mir auch, daß er ſich beim Fal—
len den Arm etwas verrenkt habe. Nun erſt fiel mir
die Tirade wieder ein, die mir halb im Halſe war ſtecken
geblieben, und ich haͤtte meiner Seits herzlich gerne
den Fuhrmann wieder um Verzeihung bitten moͤgen.
Ei der ſchoͤnen Vorſaͤtze! ſprach ich zu mir ſelber,
aber weit leiſer, als ich die vorige Deklamation her—
geſagt hatte. — Kaum faͤllt der Wagen um, ſo biſt
du auch ſchon aus deiner Menſchenfreundlichkeit heraus—
gefallen: ei was würde erſt ein wirkliches Ungluͤck auf
XIV. Band. 12
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dein zartes Herz wirken! — Warum gehörte denn die:
fer Fuhrmann nun nicht zu jenen Brüdern, die du ſo
feurig an deine Bruſt druͤcken wollteſt? — Weil er
dir einen kleinen Schreck gemacht hatte. — Warlich
meine Phantaſien haben mich mehr berauſcht, als ihn
der Brandtewein, und in meiner Trunkenheit handle ich
dreimal inkonſequenter als er. —
Mein Kopf ſank um volle dreißig Grad auf meine
Bruſt hinab, meine Atqui's und Ergo's kamen mir
nicht mehr halb ſo reſpektabel vor, und daß ich Verſe
machte, hatte ich rein vergeſſen. — Auf dieſer Reiſe,
die mehrere Tage dauerte, machte ich mehrere aͤhnliche
Erfahrungen. Mein Stolz fing nach und nach an
etwas abzunehmen, und ich habe es bei mir jederzeit
gefuͤhlt, daß eine Reiſe mich beſcheidner, kluͤger und
menſchenfreundlicher gemacht hat. Der weite gewoͤlbte
Himmel uͤber mir ſagt mir jederzeit, wie armſelig ich
mich mit meiner Eitelkeit in die Groͤße der Natur ver—
liere, jeder Berg macht mich auf meine winzige Per—
fon aufmerkſam. In jeder Schenke ſieht man Mens
ſchen, die in ſo vielen Sachen mit ihrem geraden
Sinne weiter reichen, als wir mit allen unſern feinen
und gelaͤuterten Gedanken: bei unſrer Sucht, mit unſe—
rer hohen Aufklaͤrung zu prahlen, wird man alle Au—
genblicke mit der Naſe darauf geſtoßen, daß man noch
voller Vorurtheile ſtecke. Sobald ich die Stadt mit
ihren Haͤuſern und dem Gedraͤnge ihrer Menſchen aus
den Augen verliere, fange ich auch an, mehr in mich
ſelbſt zuruͤckzugehn: die Armſeligkeiten, die in der Ger
ſellſchaft immer noch einen Anſchein von Wichtigkeit
behalten, verlieren ſich in der klaren Natur, — ich
ſehe den Gluͤcklichen und den Ungluͤcklichen meinem Her:
179
zen näher geruͤckt, ich verſuche es, die laͤſtige bunte
Kleidung, die uns von Jugend auf angeſchnuͤrt wird,
abzuſtreifen, und als einfacher Menſch dazuſtehn.
Es koͤmmt mir daher immer ſonderbar vor, daß
viele Leute von ihren Reiſen naͤrriſcher, vorurtheilsvoller,
eitler und menſchenfeindlicher zuruͤckkommen, als ſie ſie
antraten. — Aber dieſe treiben ſich meiſt nur im Ge—
wuͤhl der Menſchen umher, ſie fahren ſchnell der Huͤtte
voruͤber nach der Stadt zu, um in der Bereicherung
ihrer Menſchenkenntniß ſich durch keine Nichtswuͤrdigkeit
aufhalten zu laſſen. Sie lachen, gaͤhnen und verlaͤum—
den in der großen Welt und denken gar nicht daran,
wie elend klein dieſe große Welt gegen Gottes freie
große Welt iſt. — |
Nachdem wir fieben Tage gefahren waren, gruͤßten
uns die Leute nicht mehr, die bei uns vorbeigingen:
wir kamen an die Thore von W... — Ich werde
auf Tod und Leben examinirt und eine ganze Stunde
viſitirt. Man fand nichts Verdaͤchtiges an meiner Per—
ſon und in meinem Koffer und ließ mich fahren. Ich
ſtieg in einem Gaſthofe ab.
Viertes Kapitel.
Ich trete als Hofmeiſter auf.
Ich zog mein beſtes Kleid an, uͤberlegte meine Kom—
plimente und ließ mich beim Praͤſidenten melden. Ich
hatte nicht ſehr lange im Vorzimmer gewartet, als ein
ziemlich großer und ziemlich ſtarker Mann mit einer
Bu‘
180
9
trocken freundlichen Miene hereintrat und ſich nach
den erſten Verbeugungen freute mich kennen zu lernen
und daß ich angekommen ſei. Ich erwiederte, beides
ſei meine Schuldigkeit, und auf ſeinen Befehl geſche—
hen, wobei ich die Verbeugungen nicht ſparte, und in
einer unaufhoͤrlichen Verlegenheit war.
„Der Profeſſor X ...,“ ſagte der Praͤſident ſehr
verbindlich, „hat mir viel von Ihren Talenten und
Kenntniſſen geſagt und auf ſeine Empfehlung“ — —
Ich ward roth, verbeugte mich und huſtete.
„Und ich hoffe, daß Sie meine Erwartungen
nicht“ — —
Ich huſtete ſtaͤrker, ward noch roͤther und verbeugte
mich noch tiefer.
„Ich ſchaͤtze mich alſo gluͤcklich, daß ein junger
Mann“ — —
Ich brachte in meinem Huſten ſo viele Variationen
an, als nur irgend moͤglich war.
Es wird ſelten der Fall ſein, daß, wenn jemand
recht ſehr verlegen iſt, es nicht auch der andre werden
ſollte, der mit ihm ſpricht. Die Verlegenheit iſt eben
ſo anſteckend, wie Lachen, Melancholie, Gaͤhnen und
der Schnupfen. Der Praͤſident erwartete eine große
Menge von Gegenkomplimenten, und da dieſe ausblie—
ben, mein Katharr und die Roͤthe in meinem Geſicht
aber mit jeder Sekunde zunahmen, ich mich auch eini—
gemal beim Ausſcharren in die Fußdecke verwickelte,
und er wahrſcheinlich fuͤrchtete, ich würde mich aus lau—
ter Beſcheidenheit noch zuletzt in den Wandſpiegel reti—
riren: ſo wußte er am Ende ſelber nicht recht, was
er ſprechen ſollte; er ſahe ſich genoͤthigt, von meinen
181
Lobeserhebungen abzubrechen und das Geſpraͤch auf
meine Reiſe zu lenken.
Nun hatte ich mir freilich wohl eine ganze Stunde
vorher den Kopf zerbrochen, was ich dem Praͤſidenten
ſagen wollte, und es fehlte mir warlich nicht an
Schmeicheleien und Komplimenten; aber mit einem
Komplimente gut umzugehn, iſt eben ſo ſchwer, wie
mit einem Waldhorn. Wer es nicht zu blaſen verſteht,
mag es zehnmal an den Mund ſetzen, es bleibt ſtumm;
oder bringt man ja einen Ton heraus, ſo erſcheint,
ſtatt der ſuͤßen Accente ein ſo rauher, unfreundlicher
Schall, daß man ſich die Ohren zuhaͤlt. — Ich habe
oft Leute, die Sottiſen ſehr kaltbluͤtig und witzig be:
antworten konnten, bei einem ungeſchickt angebrachten
Komplimente ſo roth werden ſehn, daß ich mich in
ihre Seele ſchaͤmte; wie viele Feindſchaften ſind nicht
ſchon entſtanden, weil jemand dem andern eine Su.
ßigkeit von der verkehrten Seite praͤſentirt hat!
So that mir nun warlich von allen den ſchoͤnen
Sachen, die ich ſagen wollte, die Zungenſpitze weh.
Ich hoffte immer noch einen Nebenweg zu finden, wo
ich einlenken koͤnnte; aber vergebens, das Geſpraͤch
ging ſtets gerade aus. — Die Sache war, daß ich
mir den Praͤſidenten ganz anders vorgeſtellt hatte, als
ich ihn fand. Ich hatte mir ihn als einen ſteifen,
trocknen, ſtolzen alten Mann gedacht; ich hatte mir daher
eine Menge captationes benevolentiae gedrechſelt, um
ihn mir geneigt zu machen, ich hatte Umwege zu ſei⸗
nem Herzen geſucht, ſo richtig auf Menſchenkenntniß
und die gewoͤhnlichen Vorurtheile des Adels kalkulirt,
ſo fein und neu, daß es mir eine herzliche Freude ge—
nacht hatıe. Dabei war ich mir fo groß und hoch über
|
|
\
182
ihm erhaben vorgekommen, daß ich ſeine Schwaͤchen zu
meinem Vortheil zu nutzen verſtehe und ihn dennoch glau—
ben mache, wie ſehr ich ihn verehre. Und nun alles ge—
rade umgekehrt! — Er tritt mir zuvorkommend entgegen,
er iſt freundlich und ſagt mir eine Hoͤflichkeit uͤber die
andre, er ſcheint zu glauben, daß ich ihm mit meiner
Reiſe den groͤßten Gefallen von der Welt gethan habe:
dadurch, daß ich auf dieſe Art erhoben ward, ſank ich in
mir ſelbſt ganz unbeſchreiblich. Ich wußte meine Rolle
vortrefflich auswendig, aber als ich auf das Theater trat,
ward ein andres Stuͤck gegeben, und ich war nicht Schau—
ſpieler genug, um aus dem Stegreife gut zu ſpielen.
Ich erzaͤhlte nun meine Reiſe ſo intereſſant, als es
mir nur immer moͤglich war, der Praͤſident ſchien auch
Vergnuͤgen daran zu finden, endlich kam er wieder auf
die Urſache meiner Reiſe zuruͤck.
„Ich glaube,“ ſagte er, „daß man einem Manne
von Talenten, der die Erziehung der Kinder uͤbernimmt,
nie genug danken koͤnne. Ich finde es alſo billig, daß
man ihm ſeine Lage, die ſehr viele Unannehmlichkeiten
hat, fo angenehm als möglich mache; Sie wohnen natuͤr—
licherweiſe in meinem Hauſe und eſſen an meinem Tiſche.
Die übrigen Beduͤrfniſſe erhalten Sie ebenfalls und außer:
dem jaͤhrlich zweihundert Thaler. — Sind Sie damit
zufrieden?“
Wer war zufriedener, als ich, und ich glaube, 8 mich
viele Hofmeiſter beneiden werden.
„Ich habe zwei Soͤhne,“ fuhr der pee fort,
„die beide ſehr gut geartet find, und deren Liebe und Zu-
neigung Sie ſich alſo ſehr bald erwerben werden. Sie
werden die Neigungen und den Charakter eines jeden ken—
|
183
nen lernen und ihn darnach behandeln; ich traue Ihnen
Menſchenkenntniß genug zu“ — f
Ich war unſchluͤßig, ob ich roth werden ſollte. —
„Um mit Kindern richtig zu verfahren, die es noch
nicht gelernt haben ſich zu maskiren.“
Ich ward bis uͤber die Ohren roth.
„Den juͤngſten werden Sie etwas wild und ausgelaſ—
ſen finden, aber er iſt nichts weniger als boshaft, und
der aͤlteſte, darf ich ungeſcheut behaupten, iſt ein ganz vor⸗
zuͤglicher Kopf, ein wahres Genie; Sie werden ſelbſt
uͤber den Knaben erſtaunen, er hat fuͤr ſeine Jahre ſchon
außerordentlich viel geleiſtet. — Ich habe außerdem noch
eine Tochter, fuͤr die ich aber eine beſondere Erzieherin
habe. — Ich hoffe, meine Soͤhne ſollen unter Ihrer
Leitung bald ſehr weit kommen.“
Ich verbeugte mich wieder: der Praͤſident ging in ſein
Zimmer und ich in meinen Gaſthof zuruͤck. Ich zog noch
an demſelben Tage in das Haus des Praͤſidenten und
machte meine Einrichtungen: am folgenden Morgen ſollte
ich den Kindern und der Frau Gemalin vorgeſtellt werden.
Ich ſetzte mich in einen Seſſel und betrachtete die ele—
ganten Moͤbeln meines Zimmers, dann uͤberlegte ich meine
Lage und zukuͤnftigen Pflichten. — Der Praͤſident war
ein guͤtiger Mann, er hatte mir auch eine Stelle verfpros
chen, wenn ich mehrere Jahre das Amt eines Pädagogen
verwaltet hatte, von ſeiner Großmuth konnte ich eine
etwas mehr als mittelmaͤßige Verſorgung erwarten. Die
Perſpektive meines Lebens war in der That die heiterſte.
Meine Beſtimmung kam mir groß und ehrenvoll
vor. Ich ließ durch meinen Kopf noch einmal die paͤda—
gogiſchen Bemerkungen gehn, die ich entweder geleſen,
oder ſelbſt gemacht hatte, um ſie in meiner jetzigen Lage
184
anzuwenden. Ich nahm mir vor, ein völliges Syſtem zu
erbauen, nach welchem ich meine Zoͤglinge zu edlen,
großen und verſtaͤndigen Menſchen bildete, und ich
fiel gar nicht auf die Frage: ob ich die rechte Bedeutung
dieſer drei Worte auch wohl verſtehe? — Der aͤlteſte
Sohn war ein Genie, — was ließ ſich von dieſem nicht
alles erwarten? Ich konnte wohl gar ſo gluͤcklich ſein, der
Hofmeiſter eines Menſchen zu werden, der eine Epoche
in der Weltgeſchichte machte. — Ich legte mich erſt ſpaͤt
mit den angenehmſten Vorſtellungen ſchlafen und erwar—
tete ſehnlichſt den andern Morgen.
Haͤtte ich freilich damals ſchon gewußt, daß es in jeder
Familie wenigſtens Ein Genie giebt, ſo waͤre vielleicht
vieles Große von meinen ſtolzen Traͤumen zuſammenge—
ſunken.
Fuͤnftes Kapitel.
Die Präſidentin und die übrigen Hausgenoſſen.
Man kann ſich vorſtellen, daß ich nicht zu lange im Bette
blieb, und daß ich mich ſo gut herauszuputzen ſuchte, als
es mir nur immer moͤglich war. Ich ſtand lange vor
dem Spiegel, muſterte meinen Anzug, ſo wie meine Ma—
nieren, und nahm mir feſt vor, die heutige Unterredung
nicht wieder ſo, wie die geſtrige, verderben zu laſſen: ich
beſchloß, mich mit allen meinen Kraͤften zuſammen zu
nehmen. Ich muß noch jetzt uͤber mich laͤcheln, wenn
ich daran denke, wie oft ich in meinem Gedaͤchtniſſe einige
Komplimente wiederholte, damit ſie mir nicht wieder unter
den Haͤnden verloren gingen.
185
Als ich fertig war, meldete mich der Bediente. —
Ich trat in das Zimmer der Praͤſidentin und fand die
gnaͤdige Frau in einem graͤzioͤſen Negligee am Theetiſch.
Ich machte meine Verbeugungen und ſie die ihrigen, jedes
von uns auf ſeine eigene Art, ich als unterthaͤniger Diener,
ſie als gnaͤdige Beſchuͤtzerin, die ſich aber in der Herablaſ—
ſung zu Geringern ſehr gluͤcklich fand. — Es ließe ſich
ein eigenes weitlaͤuftiges Kapitel uͤber die verſchiedenen
Beugungen, Neigungen und Kopfbewegungen ſchreiben:
vielleicht, daß es der Leſer im zweiten Theile dieſer wahr:
haftigen Geſchichte findet, denn wenn ich ihn hier mit
meinen Reflerionen ſchon wieder unterbrechen wollte, ſo
wuͤrde ich mir mit vollem Rechte ſeinen Unwillen zuziehen.
Nachdem die erſten Eingangsredensarten voruͤber
waren, die ſich bei jeder neuen Bekanntſchaft mehr oder
weniger aͤhnlich ſehen, fragte mich die Praͤſidentin mit
einem leichthingeworfenen Tone: Nun, wie gefallen Sie
ſich in W... 2
Nichts in der Welt haͤtte mir erwuͤnſchter kommen
koͤnnen. — Noch nie habe ich mich ſo gluͤcklich gefuͤhlt,
antwortete ich triumphirend, als ſeit ich die Ehre habe
in Ihrem Hauſe zu ſein. —
Und nun fuhr ich fort weiter auseinander zu ſetzen,
wie mir daher W. .. ganz außerordentlich reizend vor⸗
kommen muͤßte. Wenn ich mich in zu große Schmeiche—
leien hinein verirrte, ſo kam mir die Praͤſidentin auf hal⸗
bem Weg entgegen, um mich wieder zurecht zu weiſen. —
Eine jede zeremonioͤſe Unterredung koͤmmt mir immer vor,
wie ein Strom, auf welchem unaufhoͤrlich Eisſchollen
gegen eine Bruͤcke anſchwimmen. Man ſieht immer
ſchon aus der Ferne ein großes, gewaltiges Kompliment
einherſchwimmen, aber alle Schollen laufen gegen die
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Eisbrecher auf und fallen fo in den Strom zuruͤck. —
Auch dieſe Eisbrecher koͤnnen von ſehr verſchiedener Art
und Beſchaffenheit ſein, ſie koͤnnen in einer Verbeugung,
einem Laͤcheln, in einem Gegenkomplimente beſtehen,
oder auch darin, daß man das Kompliment des andern
gar nicht zu verſtehen ſcheint; dieſe letztern ſind von der
allerzerſtoͤrendſten Gattung.
Die Praͤſidentin war eine Frau von mittlern Mean,
mittler Statur, mittelmaͤßiger Schoͤnheit, mittelmaͤßigem
Verſtande: — kurz, man ſieht, ſie gehoͤrte zu den mittel—
maͤßigen Leuten, deren Zahl in der Welt die groͤßte iſt,
ob ſich gleich keiner ſelbſt unter dieſe Rubrik einſchreiben
will.
Wir ſchwatzten zuſammen bis zum Mittagseſſen, und
ich war heute mit mir ſelber ganz außerordentlich zufrie—
den. Mein Witz ward zwar in einigen kleinen Vorpoſten—
gefechten geſchlagen, aber doch ward keine von meinen
Batterien zum Schweigen gebracht, noch weniger ver—
lor ich ein Haupttreffen. Ich ſchien der Praͤſidentin ſpas—
haft genug vorzukommen, und wir wurden endlich zum
Eſſen abgerufen.
Man ſagte mir, daß die Familie alle Tage in
einem beſtimmten Saale zuſammen aͤße; die Familie
beſtand aus dem Praͤſidenten, ſeiner Frau, einer Toch—
ter und ſeinen zweien Soͤhnen! man that mir die Ehre
an, mich von dieſem Tage auch dazu zu rechnen, ſo
wie die Erzieherin der kleinen Fraͤulein von Blumbach.
Die Soͤhne wurden an meine Seite geſetzt, und
ich ſahe wechſelsweiſe bald den einen, bald den andern
an, um das Genie herauszufinden, aber ich konnte
aus mir ſelber nicht klug werden, als mir beide wie
ganz gewoͤhnliche Kinder vorkamen. Aus dem, was
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fie zuweilen fagten, ſchien ſogar eine Art von Dumms
heit hervorzuleuchten, von der aber weder Papa noch
Mama Notiz nahmen.
Die Tochter ſchien ein ganz artiges, niedliches, klei⸗
nes Maͤdchen zu ſein; da fie mit meinen Amtsgeſchaͤf—
ten nichts zu thun hatte, bekuͤmmerte ich mich wenig
um ſie. Deſto oͤfter aber und ganz unwillkuͤhrlich fie—
len meine Augen auf ihre Gouvernante. Ich hatte
mir dieſe unter dem Charakter einer gewöhnlichen franz:
zoͤſiſchen Mamſell gedacht, ſie war mir daher in
meiner Vorſtellung immer aͤußerſt unintereſſant vorgekom—
men: ich fand aber jetzt, daß ſie eine Deutſche ſei
und daß ihre Augen ſo wie ihr Geſicht außerordentlich
viel Anziehendes haͤtten. Mir fielen hundert Stellen
vom wunderbaren Zuge der Sympathie ein, die ich bis
jetzt immer für baaren Unſinn erklärt hatte. Ihr ſchoͤ—
nes blaues Auge ruhte zuweilen auf mir und ich konnte
ihren Blick nicht ein einzigmal aushalten, mir war
jedesmal, als wenn mir die Sonne in's Geſicht ſchiene.
Ihre blonden Haare fielen in ungekuͤnſtelten Locken auf
den weißen Nacken hinab; in ihrem Weſen herrſchte
eine unbeſchreibliche Sanftheit, die faſt an's Melancho—
liſche graͤnzte. Ein Wort, das ſie ſagte, klang wie
Muſik in meinen Ohren.
Meine Frau hat mir uͤber die Schulter geſehn, und
mir jetzt eben laͤchelnd die Feder aus der Hand genom:
men; ich muß daher mit meiner Beſchreibung aufhoͤren,
ich hoffe uͤberdieß, daß jeder Leſer ſich die Perſon hin—
zudenken wird; kann er es aber nicht, ſo darf er nur
irgend eine von den weitlaͤuftigen Beſchreibungen in
den neueſten Romanen nachfchlagen.
Ich bemerkte, daß noch ein Gedeck uͤbrig ſei, und
188
war auf die Perſon ſehr neugierig, die noch erſcheinen
ſollte. Endlich erſchien ein ſehr wohlgewachſener, junger
Menſch, den die Frau vom Hauſe als Herr von
Baͤrenklau begruͤßte. Er ſetzte ſich auf den leeren
Stuhl neben der liebenswuͤrdigen Erzieherin, und ich
war bald mit mir ſelber einig, daß er, trotz ſeinem
einnehmenden Weſen, dieſe Stelle nicht verdiene.
Ich glaubte zu ſehen, daß ſeine feurigen Augen oft
den ſanften Blicken des Maͤdchens begegneten und ich hatte
Gelegenheit, eine Menge von Bemerkungen zu machen,
von denen die vorzuͤglichſte war, daß ich gegen den Herrn
von Baͤrenklau ein ſehr linkſches und ungeſchicktes Be⸗
nehmen habe. Dieſe Bemerkung that meiner Eitelkeit
außerordentlich wehe, ich glaubte daher am Ende, das
gewandte Weſen des Herrn vou Baͤrenklau ſei nur ein
Zeichen, daß er kein ſo gruͤndlicher Philoſoph ſei, als ich.
Als wir gegeſſen hatten, ging ich ich mit meinen
beiden hoffnungsvollen Zoͤglingen auf mein Zimmer.
Ich fand nun bald, worin das Genie des aͤlteſten
beſtand: er hatte naͤmlich ein ganz außerordentliches
Gedaͤchtniß fuͤr Vokabeln, Namen und Phraſen, bei
denen er ſich aber gar nichts dachte. Er ſagte mir
den groͤßten Theil der lateiniſchen Grammatik mit einer
Fertigkeit her, die mich in Erſtaunen wuͤrde geſetzt
haben, wenn ich nicht kurz vorher ein Kunſtpferd ge—
ſehn, deſſen viele und wunderbaren Kuͤnſte auch auf
das Gedaͤchtniß berechnet waren. Ich fand bald, daß
der juͤngſte, ungeachtet er nur wenig wußte, weit mehr
Verſtand als fein Bruder hatte, den man durch unzei⸗
tiges Lob zu einem nee phlegmatiſchen Narren
gemacht hatte.
Wozu denn die vielen Charakterſchilderungen? hoͤre
189
ich verdruͤßlich meine Leſer ausrufen. — Am Ende ift
alles das unnuͤtz und hat weiter gar keinen Bezug auf
Ihre Geſchichte, Herr Verfaſſer, die an ſich ſchon lang—
weilig genug iſt. —
Nun, haben Sie nur Geduld. — Sie koͤnnen jetzt
weder von dem einen, noch dem andern urtheilen, denn,
meine theuern Leſer, Sie ſtehn immer noch in der An—
kuͤndigung oder dem Erſten Akte.
So haͤtten Sie das ſo einrichten ſollen, daß ſich
die Charaktere Ihrer Perſonen in Handlungen zeigen.
Dadurch haͤtte Ihr Buch an Langeweile verloren und
Ihre Perſonen an Intereſſe gewonnen.
Wenn nun dieſe Perſonen aber damals gerade gar
nichts thaten, oder wenigſtens nichts vornahmen, was
ich bemerkte? — Ich will doch lieber etwas langwei—
lig werden, als Sie mit Luͤgen amuͤſiren.
So haͤtten Sie Ihre Geſchichte gar nicht ſchreiben
ſollen, denn ſo wie ſie bis jetzt erſcheint, verdient ſie
es durchaus nicht. — Es iſt eine Alltagsgeſchichte von
der alltaͤglichſten Art. |
Habe ich denn aber das nicht gleich in meinem
erſten Warnungs-Kapitel geſagt? —
Doch, ich wende mich wieder zu meiner Erzählung.
Sechſtes Kapitel.
Ich werde verliebt.
„Gottlob!“ hoͤr' ich die ungeduldigen Leſerinnen rufen,
indem ſie dieß Kapitel aufſchlagen, „der langweilige
Menſch faͤngt nun vielleicht an intereſſanter zu werden!“ —
Ich muß aber bekennen, daß bei ſo vielen Schriftſtel—
190
lern nichts langweiliger und ermuͤdender iſt, als die
detaillirten Beſchreibungen des verliebten Approſchirens:
wie ſie vom Blick zum Haͤndedruck, vom Haͤndedruck
zum Kuſſe und von dieſem endlich weiter uͤbergehen;
dann ſich wieder mit der Vielgeliebten entzweien, einen
eiferſuͤchtigen Zweiſpruch halten, und ſich nach vielen
Debatten wieder zu einer Ausſoͤhnung bequemen, die
der Leſer ſchon über zwei ganze Bogen vorausſahe.
Wer dieſe Officialberichte von dem Kriege der Liebe
gern lieſt, der uͤberſchlage dieſes Kapitel, denn ich habe
mir vorgenommen, nur ſehr im Allgemeinen uͤber meine
Liebe zu ſprechen.
Der Leſer wird es gewiß ſchon errathen haben, daß
ich in Niemand anders, als die ſchoͤne Gouvernante ver—
liebt wurde. Meine Augen trafen immer oͤfter und
öfter die ihrigen, mit jedem Tage entdeckte ich neue
Vollkommenheiten an ihr, mit jedem Tage entwickelte
ſich ihre ſchoͤne Seele reizender. — Ich bemerkte ſehr
bald, daß ihr Blick dem meinigen haͤufiger begegnete,
daß ſie roth ward, wenn mein Auge auf ihrer Geſtalt
verweilte, daß ſie oft meine Geſellſchaft ſuchte, und
doch im Geſpraͤche mit mir in eine Art von Verlegen—
heit gerieth. Ich ſchloß aber aus allen dieſen Bemer—
kungen bei weitem nicht ſo viel, als ich mit vollem
Rechte haͤtte ſchließen koͤnnen: ich hielt alles mehr fuͤr
Zufaͤlligkeit und wagte es gar nicht, dieſe Zeichen auf
eine guͤnſtige Art fuͤr mich auszulegen. — In mir
ſelber ging eine wunderbare Veraͤnderung vor. —
Meine Lehrſtunden, die ich bis jetzt mit großem Eifer
gehalten hatte, fingen an mir Langeweile zu machen;
meine Zoͤglinge erſchienen mir um ein großes Theil
einfaͤltiger; alle meine enthufiaftifhen Entwürfe kamen
191
mir albern und abgeſchmackt vor. Dagegen flieg die
Wagſchale auf der andern Seite um vieles mehr, als
ſie auf der einen ſank: es kam mir vor, als wenn
meine Seele eine große Revolution erlitten haͤtte, es
ging ein Licht in mir auf, das alles erleuchtete, was
bis dahin dunkel und verworren in mir gelegen hatte.
Es hatte ſich mir ploͤtzlich ein helles kriſtallenes Glas
vor die Augen geſchoben und ich ſahe itzt die Welt weit
ſchoͤner und reizender als ehedem.
Die Liebe iſt bei den meiſten Menſchen die erſte ber
wegende Kraft, die ihre Faͤhigkeiten entwickelt, und dem
traͤgen, einfoͤrmigen Gange des gewoͤhnlichen Lebens
einen neuen, raſchen Schwung giebt. Sie iſt über
haupt das größte und nothwendigſte Rad in der menſch—
lichen Geſellſchaft. Was iſt es anders, als die Liebe,
um welche ſich das Intereſſe der ganzen Welt dreht?
Iſt ſie nicht der eigentliche Mittelpunkt, um welchen
alle Wuͤnſche und Plane der Sterblichen laufen? Die
Liebe iſt ein Gegenſtand, uͤber den ſich Niemand zu
Ende ſpricht; ihre Jugend iſt unverwelklich, ſelbſt der
Greis erinnert ſich am Ende ſeiner Laufbahn noch mit
Entzuͤcken der Stunden, in welchen er im Morgenrothe
ſtand, das dieſe Gottheit um ihn her goß. Staaten
und Familien werden durch dieſen großen Magnet in
ihrem Gange erhalten, und die Schwaͤrmerei einiger
Philoſophen iſt eben ſo natuͤrlich als verzeihlich, wenn
ſie den Zuſammenhang des ganzen Weltgebaͤudes durch
eine große allgemeine Liebe erklaͤren wollten.
Nur wenigen Menſchen gelingt es, ſich von dem
Geſetze der Liebe frei zu machen und ſie ſind fuͤr un—
gluͤcklich zu erklären; ihnen iſt das Licht ausgelöfcht,
das uns armen Sterblichen durch das truͤbe Labyrinth
192
des Lebens leuchten muß, fie ftehen fo albern und ohne
Abſicht in der Welt da, wie ein Tauber in einem Kon:
zertſaale. — So weit die Sonne ſcheint, iſt Liebe
das reinſte Element der menſchlichen Seele und ſelbſt
der Groͤnlaͤnder und Hottentotte ergreifen dieß reizende
Band, um ſich an die Geſellſchaft der uͤbrigen Men—
ſchen zu reihen. N
Es iſt ſehr gewöhnlich , daß ein Verliebter, (vorzuͤg—
lich bei ſeiner erſten Liebe) meint, die ganze Welt ſei
fuͤr ſeine Leidenſchaft blind. Das ganze Haus wußte
ſchon, daß ich verliebt war, ehe ich es mir noch ſelbſt
geſagt hatte, Ganz vorzuͤglich richtete der Herr von
Baͤrenklau ſeine Augen auf mich, die als die Augen
eines Nebenbuhlers noch unendlich ſcharfſichtiger waren,
als die der uͤbrigen Leute im Hauſe; er ſprach von jetzt
an entweder ſehr kurz und unfreundlich mit mir, oder,
wenn er mich nur irgend vermeiden konnte, ging er
mir ſorgfaͤltig aus dem Wege; ohne es ſelbſt zu wiſſen,
that ich das naͤmliche.
Louiſe hatte indeß meine Liebe ebenfalls bemerkt,
und ſie naͤherte ſich mir mit jedem Tage etwas mehr.
Wir wurden oft ganz von ungefaͤhr im Garten oder
Zimmer in lange freundſchaftliche Geſpraͤche verwickelt,
und ein jedes von uns trug redlich das ſeinige dazu
bei, das Geſpraͤch ſo lange waͤhren zu laſſen, als es
nur immer moͤglich war. Wie ein Feuerlaͤrmen er—
ſchreckte mich oft die Stimme des Bedienten, der uns
zum Eſſen abrief, und zu meinen Eleven und Lehrſtun—
den ging ich mit ſo ſchwerem Herzen, als wenn ich in
ein Gefaͤngniß wandern muͤßte. Mein Zimmer kam
mir eng und finſter vor, die Geſellſchaft eines jeden
Menſchen langweilig; waͤhrend des Unterrichts hatte ich
193
keine Ruhe und verſprach mich in jeder Minute, wenn
ich wußte, daß ſie mit der Praͤſidentin im Garten war.
Mit einem Worte, ich lernte den ſchweren Dienſt, zu
welchem die meiſten Menſchen irgend einmal in ihrem
Leben abgerichtet werden.
Der Herr von Baͤrenklau verlor ſeinen Witz und
ſeine gute Laune. Er ſaß ſtumm und verdruͤßlich bei
Tiſche, oder blieb gar aus; er war zerſtreut, ſprach
verkehrt, oder antwortete auf eine vorgelegte Frage gar
nichts, indeß ich, als der triumphirende Sieger, ihm
gegenuͤberſaß und mich in den muntern Augen Louiſens
ſpiegelte, kaum aß und trank, wenig ſprach und viel
ſeufzte. — |
Ich denke jetzt daran, daß dieſe Tiſchgeſellſchaft
fuͤr den Praͤſidenten außerordentlich langweilig muß ge—
weſen ſein, denn auch Louiſe nahm nur an wenigen
Sachen Antheil: damals aber fiel mir dieſer Gedanke
gar nicht ein. |
An einem Nachmittage, als ich mit Louiſen vor⸗
zuͤglich lange geſprochen hatte, begegnete mir der Herr
von Baͤrenklau auf dem Saale, er ſchien mich dies—
mal geſucht zu haben, da er mir ſonſt immer auswich,
und dies war auch wirklich der Fall.
So in Eile, Herr Lebrecht? fragte er mich.
Daß ich nicht fagen koͤnnte, antwortete ich ihm
halb verlegen: denn feine Geſellſchaft war mir vorzügs
lich jetzt ſehr zuwider, da ich den Kopf ganz voll von
dem hatte, was ich ſo eben mit Louiſen geſprochen hatte.
Sie kommen von Louiſen? fragte er in einem halb
ſpoͤttiſchen Ton.
Ihnen aufzuwarten.
Baͤrenklau. Herr Lebrecht, ich kann es, und
XIV. Band. 13
194
mag es Ihnen auch nicht länger bergen, daß Sie mich
durch Ihre Vertraulichkeit mit Louiſen auf's aͤußerſte
beleidigen. 6
Ich ſtand ganz erſchrocken vor ihm. — Durch
welche Vertraulichkeit? wollte ich ihn fragen, aber in
der Zerſtreuung ſagte ich: Wie ſo? |
Baͤrenklau. Weil ich ſie liebe, weil fie es weiß,
daß ich ſie liebe: weil ich ihr meine Hand anbieten will.
Ich war wie aus den Wolken gefallen.
Und Sie, fuhr mein Nebenbuhler hitziger fort, kom—
men hieher, um auf eine ſehr alberne Art die Rolle
ihres Liebhabers zu ſpielen, um zu ſeufzen und zu
ſchmachten, mir ihre Zuneigung zu entziehn, und —
wer ſind Sie? Was fuͤr ein Gluͤck beſitzen Sie, das
Sie ihr anbieten koͤnnten? — Sie find Herr Le b—
recht, und weiter nichts, und von Ihrer Liebe moͤch—
ten Sie gar armſelige Zinſen ziehn.
Itzt hob ich nach und nach den Kopf in die Hoͤhe,
denn mein Blut fing an warm zu werden.
Ich hoffe, fuhr Baͤrenklau fort, Sie werden
unſer Geſpraͤch nicht vergeſſen, und dieſer Herr Leb⸗
recht wird mir nicht von neuem Urſach geben, mich
uͤber ihn zu beklagen. 5
Er wollte gehn, als ich mich erhitzt zu ihm wandte.
Mein Herr, ſagte ich ſehr zornig, Sie haben kein
Recht zu dieſem Betragen, Sie nennen meinen Namen
da mit einer Verachtung, die mich beleidigen ſoll; Sie
wollen mich den großen Unterſchied unſers Standes
fuͤhlen laſſen, — aber wahrhaftig, ich habe ihn noch
nie fo wenig gefühlt, als gerade in dieſem Augenblicke. —
Ich habe mich meines buͤrgerlichen Namens nicht zu
ſchaͤmen und ich danke Gott ſogar fuͤr dieſen Namen,
195
da er mir beſtaͤndig eine Vorſchrift meines Verhaltens
ſein kann. — Sind Sie denn wirklich auch auf Ihren
Namen ſtolz? Baͤrenklau, Greifenhahn, und
ſo manche adeliche Familiennamen ſind nicht ſo unſchul—
dig und loͤblich, als mein ſchlichter Name Peter Leb—
recht! Sie deuten nur auf Raub und Mord und
Unterdruͤckung. — Auf Ihre uͤbrigen Aeußerungen
mag ich ihnen gar nicht antworten, aber ich hoffe,
Sie werden unſer Geſpraͤch nicht vergeſſen, und dieſer
Herr von Baͤrenklau wird mir nicht wieder Urſach
eben, mich uͤber ihn zu beklagen.
Baͤrenklau ſahe mich eine Weile an, dann lachte
er laut auf und ging lachend fort. — Ich ging in
nein Zimmer und kam mir vor wie der große Aleranz
der; ich ging lange heftig auf und ab, und ſetzte mich
erſt in einen Seſſel zur Ruhe, als die Sonne der
Vernunft durch den Nebel der Leidenſchaften brach, und
ch mir außerordentlich abgeſchmackt vorkam. Ich nahm
nir hunderterlei Sachen vor, machte Plane und ver—
varf ſie wieder, und war den ganzen Tag, ſo wie
den darauf folgenden, aͤußerſt verdruͤßlich. Doch hatte
das alles den Erfolg, daß ich nun wenigſtens mit mir
elber über den Satz einig ward: ich ſei wirklich
verliebt.
Siebentes Kapitel.
Liebesgeftändniffe.
Ss fing jetzt eine Periode meines Lebens an, in wel—
her ich einen Tag nach dem andern vertraͤumte, ohne
13
196
die große Summe zuſammen zu zählen, die aus dieſen
einzelnen Tagen endlich entſtand. Das Geſchaͤft meines
Lebens ſchien mir nur darin zu beſtehen, die ſchoͤne
Louiſe Wertheim zu lieben: muͤßig kam ich mir
nur dann vor, wenn ich ſie nicht ſahe. Man mochte
mir ein Geſchaͤft auftragen, welches man wollte, man
mochte mit mir ſprechen, was man wollte, es mochte
vorfallen, was da wollte, ſo waren meine Gedanken
doch ſtets und unaufhoͤrlich nach ihr hingerichtet; ſo
wie die Nadel des Kompaſſes ſtets nach Norden zeigt,
man mag ihn auch drehen und wenden, wie man will.
Ich war itzt ſchon ſeit einem Jahre im Hauſe des
Praͤſidenten. Ich hielt taͤglich Lehrſtunden mit meinen
Zoͤglingen, die freilich mit jedem Tage etwas mehr
lernten, aber nichts weniger als außerordentliche Talente
zeigten; ich ſah taͤglich den Praͤſidenten und ſeine Ge—
malin und was mir vorzuͤglich wichtig war, taͤglich
Louiſen. Ich fing jetzt an zu bemerken, daß ſie
mich allen ihren uͤbrigen Bekanntſchaften vorzog, daß
ſich ihr Geſicht jedesmal erheiterte, wenn ich im Gar—
ten oder im Zimmer zu ihr trat. Ich überlegte, um
welche Zeit ich wohl im Stande ſeyn wuͤrde, ihr, als
der Gebieterin meines Herzens, ein Gluͤck anzubieten,
das nicht ganz unter dem Mittelmaͤßigen ſei: es war
das erſtemal in meinem Leben, daß ich Plane machte
und an die Zukunft dachte; aber die Liebe, die ſo ot
blind iſt, Öffnet uns auch fehr oft die Augen über manche
Gegenſtaͤnde, bei denen wir ſonſt immer vorbeigegalf
gen ſeyn wuͤrden, ohne ſie zu bemerken.
Zuweilen kam ſie mir ſo liebenswuͤrdig vor, 0
ich ihr in der groͤßten Geſellſchaft haͤtte um den Hals
fallen moͤgen, mit ihr vor den Altar treten, und meine
|
|
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197
Hand in die ihrige legen laſſen. Aber mir fiel noch
gluͤcklicherweiſe in meinem Enthuſiasmus jedesmal ein,
daß man mich fuͤr einen ausgemachten Narren halten
wuͤrde. Fremde Augen ſehn immer in unſre Liebe durch
ein ſchlecht geſchliffenes Glas hinein, alle Gegenſtaͤnde
erſcheinen ihnen dunkel, verkehrt und zerriſſen. \
Ich hatte feit einem Jahre Louiſen geliebt, und
ſchmeichelte mir ſchon ſeit lange mit ihrer Gegenliebe.
Aber unerachtet unſrer taͤglichen Zuſammenkuͤnfte waren
wir noch gar nicht darauf gefallen, uns gegen einan—
der zu erklaͤren; ich nahm mir an einem ſchoͤnen Tage
recht feſt vor, ganz gruͤndlich von meiner Geliebten
ſelbſt zu erfahren, wie ich mit ihr ſtehe. Der Praͤſi⸗
dent war mit ſeiner Frau gerade ausgefahren, der
Herr von Baͤrenklau war auf einige Tage verreiſt, um
einen kranken Onkel zu beſuchen, ich war mit Louiſen
im Hauſe allein und hatte ſo die beſte Gelegenheit,
mich ungeſtoͤrt mit ihr uͤber einen Punkt zu erklaͤren,
der mir ſo außerordentlich wichtig war.
Ich las ihr oft vor und wir hatten auch den heu—
tigen Nachmittag zu einer poetiſchen Geiſtesergoͤtzung
beſtimmt. Ich war in einem ungewoͤhnlichen Feuer
und meine Art zu deklamiren brachte es bald dahin,
daß ſich die ſchoͤnen Augen Louiſens mit Thraͤnen fuͤll—
ten, ſie beweinte den ungluͤcklichen erdichteten Helden
der Geſchichte ſo aufrichtig, wie nur ſelten ein wirklich
Elender beweint wird. Ich ward durch ihre Ruͤhrung
‚gerührt, unſre thraͤnennaſſen Blicke begegneten fich, weit
ves ward plotzlich das Buch mit allen feinen Ungluͤcks—
allen und Liebesſeufzern geworfen, ich lag an ihrem
Halſe und geſtand ihr meine Liebe, die Verſicherung
chen Gegenliebe zitterte auf ihren ſchoͤnen Lippen. Die
198
Poeſie war nur ein Prolog unſrer Empfindungen gewes
ſen, ein aufgegebenes Thema, das wir jetzt ſchoͤner und
geiſtreicher aus dem Stegereife durchfuͤhrten.
Was ſagten und erzaͤhlten wir uns nicht einander!
Keine Ausrufungen der Freude, keine Seufzer und
zaͤrtlichen Haͤndedruͤcke wurden geſpart, manche Sachen,
die ſich von ſelbſt verſtanden, ſagten wir uns tauſend⸗
mal und wiederholten ſie immer von neuem, ohne im
Gegentheil nach der Erklaͤrung einiger poetiſchen Phra—
ſen zu fragen, die der offenbarſte Unſinn waren. Das
Geſpraͤch zweier Liebenden iſt wie die Melodie der Aeo⸗
lusharfe, ſtets dieſelben Toͤne ohne Rhytmus und An—
ordnung, die aber trotz ihrer Einfoͤrmigkeit dem Ohre
in einer ſchoͤnen Gegend wohl thun.
Den Beſchluß unſrer Erklaͤrungen machten zärtliche
und wechſelſeitige Kuͤſſe. Der Kuß iſt von jeher das
Siegel aller verliebten Verſprechungen geweſen, das
ſicherſte Unterpfand der Zaͤrtlichkeit. Der Kuß iſt das,
wonach der Liebhaber Jahre hindurch ſchmachtet, und
waͤhrend ſich die Lippen noch beruͤhren, ſchon nach einem
neuen Kuſſe duͤrſtet. Wenn man die Liebe mit einer
Pflanze vergleichen will, ſo iſt der Kuß die Blume der
Liebe, ſchoͤner und reizender wie die Frucht, zu welcher
ſich endlich die Bluͤte entwickelt. — Ich habe oft
darüber nachgedacht, worin das Entzuͤckende, das See⸗
lenerhebende in der Beruͤhrung einer maͤnnlichen und |
weiblichen Lippe liegen koͤnne, aber bis jetzt iſt es mir f
noch nicht gelungen, dem bezaubernden Geheimniſſe auf
die Spur zu kommen: ſo wie die oberſte Spitze unſers
geiſtigen Menſchen offenbar im Kopfe zu ſuchen iſt, ſo j
ſcheint ſich die feinſte Spitze unſrer Sinnlichkeit in den !
Lippen zu befinden. Es iſt vielleicht unmöglich, hier |
f |
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0
1
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199
tiefer einzudringen, ich wenigſtens gebe es völlig auf,
hierüber je eine gründliche und kritiſche Abhandlung zu
ſchreiben.
Unſre Seelen waren nun durch einen foͤrmlichen Konz
trakt einverſtanden, meine eifrigſten Wuͤnſche waren
erfuͤllt, die ganze Zukunft meines Lebens lag wie ein
rothbluͤhendes Roſenthal vor mir, wo eine aufbrechende
Knoſpe die andre draͤngt, und ein Abbluͤhen der ſchoͤ—
nen Gebuͤſche unmoͤglich macht.
Ich entwarf nun in der Einſamkeit paradieſiſche
Plane meiner zukuͤnſtigen Ehe, ein großes Gewebe
breitete ſich vor meiner Seele aus, ganz aus goldenen
Träumen gewirkt. — Wenn der Verliebte einmal in
das Gebiet der Poeſie hineingerathen iſt, ſo iſt es un—
moͤglich, ihn in die Proſa des gewoͤhnlichen Lebens
herunterzuziehn. Er iſt wie ein Luftball, der ſich den
feſthaltenden Stricken entriſſen hat; geduldig muͤſſen die
Zuſchauer unten warten, bis die leichte Luft nach und
nach aus ihm verflogen iſt und er von ſelbſt auf die
Erde zuruͤckfaͤllt.
Achtes Kapitel.
Andre Erklaͤrungen. — Ich bin eiferfüchtig.
Ich fing nun halb mit Vorbedacht an, meine Liebe
für Louiſen öffentlicher zu zeigen, denn nach dieſem Vor;
fall ſah ich mich ſchon als ihren Mann an, als ihren
Beſchuͤtzer gegen jede Verfuͤhrung. Ich kam mir um
ein großes wichtiger vor, denn ich fuͤhlte in mir ſchon
den kuͤnftigen Ehegatten und Hausvater: ſeit der em:
200
pfindſamen Scene mit meiner Geliebten war ich zu
einem Helden herangewachſen, der dreiſter und mit
feſterm Selbſtvertrauen in die Welt hineinſchritt; ſehr
lebhaft fiel mir wieder ein, daß ich ſonſt auf der Uni—
verſitaͤt Verſe gemacht und bei allen feierlichen Gele—
genheiten mich ſtets in poetiſchen Empfindungen im Na—
men der ganzen Stadt ergoſſen hatte; in jeder Stunde,
die mir nun uͤbrig blieb, machte ich Verſe, in denen
meine Geliebte bald mit der Venus, bald mit den Gra—
zien verglichen ward, oder ich ließ ſie auch allein ohne
alle Vergleichung einhertreten, und alle möglichen menſch—⸗
lichen Tugenden trugen ihr die Schleppe ihres Kleides
nach. Wer verliebt iſt, liegt freilich nur in einem tie:
fen Traume, was er ſieht und was ihn entzuͤckt, ſind
nur ſeine eigene Phantaſieen: aber wie oft wuͤnſcht man
nicht beim Erwachen in einen ſchoͤnen Traum zuruͤck
zu ſinken?
Auf eine kurze Zeit ward ich auf eine ſehr unan—
genehme Art geweckt. Die Frau Praͤſidentin ließ mich
naͤmlich eines Morgens zu ſich rufen, und hielt mir,
nach den vorläufigen Wetter- und Neuigkeitsgeſpraͤchen,
ungefaͤhr folgende Rede:
Meine Wenigkeit habe, ſeit meinem erſten Eintritt
in ihr Haus, ſogleich ihren ganzen Beifall erhalten;
ich ſei nicht einer von jenen modiſchen Hofmeiſtern, die
ſich die Zeit nur auf den oͤffentlichen Promenaden zu
vertreiben ſuchen und ihr Amt als ein Joch anſehen,
an welchem ſie nur von der hoͤchſten Noth gezwungen
ziehen: ſondern ich habe mein Geſchaͤft ſtets mit Eifer
und großer Liebe zur Sache getrieben, und ſie erkenne
mit Dankbarkeit die Fortſchritte, die ihre Soͤhne ſeit-
dem in den Wiſſenſchaften gethan haͤtten, ſo daß man
201
—
ſchon darauf gedacht habe, in zwei Jahren den aͤlteſten
auf die Univerſitaͤt zu ſchicken, den juͤngern aber unge—
faͤhr um dieſelbe Zeit beim Regimente anzuſtellen. Nur
habe man ſeit mehrerer Zeit eine Schwachheit an mir
entdeckt, und dies ſei meine entſchiedene Neigung fuͤr
Louiſen, die an ſich ſelbſt gar nicht zu tadeln waͤre,
als nur in ſo ferne, daß ich ſeit der Zeit meine Pflicht
etwas nachlaͤſſiger gethan haͤtte und uͤberhaupt in allen
meinen Geſchaͤften ſaumſeliger geworden waͤre. Dies
ſei aber nicht der einzige und groͤßte Schaden, ſondern
ich zerſtoͤre dadurch vielleicht noch Louiſens Gluͤck, wel—
ches doch gewiß nicht meine Abſicht ſei. Der Herr von
Baͤrenklau ſei naͤmlich ſchon ſeit langer Zeit ihr
erklaͤrter Liebhaber, er ſei arm und ohne Eltern und
haͤnge bloß von einem alten, ſehr reichen Onkel ab,
auf deſſen Erbſchaft er nur hoffe, um ſich und Louiſen
gluͤcklich zu machen. Ich moͤchte alſo wohl bedenken,
ob ich meiner Geliebten nicht vielleicht ein Gluͤck raube,
das ich ihr nie geben koͤnne. |
Ich ſtand während dieſer Rede wie verein, Bir
renklau war ein Edelmann, ich hatte ihm folglich nie
die ernſthafte Abſicht zugetraut, Louiſen heirathen zu
wollen; dabei war ich mir nun wie ihr Ritter vorge—
kommen, der ihre Tugend gegen die Anfaͤlle der Ver—
fuͤhrung vertheidige: jetzt kam ich mir ploͤtzlich wie ein
alberner Menſch vor, der ſich mit ſeiner unzeitigen
Liebe zwiſchen die Hoffnungen zweier Liebenden draͤngte.
— Ich ſtand im tiefen Nachſinnen.
Ich hoffe, fuhr die Praͤſidentin fort, daß ſie dar—
uͤber nachdenken werden, was ich Ihnen geſagt habe:
mein Rath iſt aus dem beſten Wohlwollen gegen Sie
entſtanden, ſuchen Sie ihn zu benutzen.
202
Ich empfahl mich und ging verdruͤßlich auf mein
Zimmer. — Aber Louiſe liebt mich ja! rief ich aus;
dies einzige hebt ja alles auf, was man mir da geſagt
hat. — Oder ſollte es nicht fein? — Ich ward arg-
woͤhniſch und beſchloß, Louiſen genauer als bisher zu
beobachten.
Nach einigen Tagen hatte ich ein Gefpräch mit
dem Praͤſidenten, das meine Seele wieder etwas auf—
richtete.
Er ſagte mir, daß ſeine Frau die Vertraute des
Herzens meines Nebenbuhlers ſei, daß fie ihn daher
von je beſchuͤtzt habe; daß er ſelbſt meine Neigung fuͤr
Louiſen eben nicht mißbilligen koͤnne, ich ſolle nur noch
zwei Jahre fortfahren, meinem Amte mit Eifer vorzu—
ſtehen, dann hoffe er mir eine ziemlich eintraͤgliche Stelle
zu verſchaffen, und es komme dann nur auf Louiſen
und mich an, ob wir uns heirathen wollten. Er
wuͤnſche mein Gluͤck, und es ſei ihm daher alles er—
wuͤnſcht, was ich ſelbſt zu meinem Gluͤcke für zuträg-
lich halte.
Mein Herz war durch das Geſpraͤch mit dem Praͤ—
ſidenten wieder etwas erleichtert, nur quaͤlte mich jetzt
der Zweifel, ob Louiſe mich auch wohl wirklich liebe. —
Ich beobachtete ſie faſt allenthalben, und zwar nicht
mehr mit den Augen eines Verliebten, ſondern mit
den Blicken eines Eiferſuͤchtigen. Wenn ich mit ihr
ſprach, lauerte ich auf jedes Wort, dem man etwa
eine doppelte Bedeutung geben koͤnne. Wer durch die
Schule der Liebe geht, macht nach den erſten Schrit—
ten ſogleich mit der Eiferſucht Bekanntſchaft; ſie
und die Liebe ſind zwei unzertrennliche Weſen, und ſo
uneigennuͤtzig der Liebende iſt, ſo ſehr aller Aufopfe—
203
rungen fähig, ſo eigennuͤtzig und ſelbſtſuͤchtig macht ihn
die Liebe auf der andern Seite wieder. Kein freund—
licher Blick ſeines Maͤdchens darf einen andern Gegen—
ſtand ſtreifen, er moͤchte jedes ihrer Worte auffangen,
und beneidet die ganze Welt, daß er nicht allein ſeine
Geliebte ſieht. |
Gegen keine von allen Leidenſchaften läßt ſich fo
außerordentlich viel Vernuͤnftiges ſagen, als gegen die
Eiferſucht, und keine von allen iſt fuͤr die Vernunft ſo
gaͤnzlich taub, als eben dieſe. Der Freund kann ſich
außer Athem demonſtriren und der Eiferſuͤchtige ihm in
jedem Punkte recht geben, und doch laͤßt er ſich nicht
eine Handbreit von dem Orte verdraͤngen, wo er ein—
mal ſteht.
Hundertmal beſchloß ich, auf Baͤrenklau nicht wie:
der boͤſe zu ſeyn, und hundertmal aͤrgerte ich mich
ſchon, wenn ich ihn nur durch die Thür eintreten fah.
Durch tauſend Proben glaubte ich endlich hinlaͤng—
lich von Louiſens Liebe fuͤr mich uͤberzeugt zu ſein; ich
zaͤhlte nun aͤngſtlich jeden Tag, der verfloß, und meine
Liebe ſtand ungeduldig auf den Zaͤhen, um uͤber die
außerordentlich langen zwei Jahre hinwegzuſehn.
Auch dem ungeduldigen Liebhaber entlaͤuft unter den
Haͤnden eine Stunde nach der andern. Die zwei Jahre
waren nun faſt verlaufen, meine Zoͤglinge waren an
Koͤrper und Geiſt ſehr gewachſen, Louiſens Schoͤnheit
hatte zugenommen, ſo wie meine Liebe, und jetzt ſtarb
zu meiner großen Freude ein Buͤrgermeiſter in einer
anſehnlichen Provinzialſtadt und machte mir einen ſehr
eintraͤglichen Poſten offen, den mir der Praͤſident for
gleich verſprach und auch durch ſein Anſehn leicht ver—
ſchaffen konnte. Baͤrenklau war um dieſe Zeit zu ſeinem
204
Onkel gereift, der in einer Krankheit nach ihm ver:
langt hatte. Ich ward mit Louiſen verlobt, und mir
blieb nichts zu wuͤnſchen übrig. — Auch die Praͤſi⸗
denten ſchien jetzt mit meiner Verbindung mit Louiſen
zufrieden und wir alle waren froh und gluͤcklich.
Neuntes Kapitel.
Ich bekomme ein Amt und eine Frau.
Ich hatte indeß das juriſtiſche Studium nicht ganz
verabſaͤumt und vorzüglich jetzt ſuchte ich meine juriſti—
ſchen Buͤcher von neuem hervor. Ich war beſorgt,
daß ich zu dem verſprochenen Amte nicht die noͤthigen
Kenntniſſe hinzubringen moͤchte, repetirte daher fleißig
alles, was ich ſchon einmal gewußt hatte, und ſuchte
noch manches Neue hinzu zu lernen; ich ließ daher
Louiſen oͤfter allein, als bisher geſchehen war. Der
Praͤſident lobte meinen Eifer, behauptet aber, daß meine
Beſorgniß ganz ungegruͤndet ſei. Gelehrſamkeit, ſagte
er, iſt es warlich nicht, was Sie in einem buͤrgerli—
chen Amte brauchen, ſondern Kopf genug, um ſich in
die Geſchaͤfte hinein zu finden, und Geduld, um nicht
zu ermuͤden. Alles, was Sie auf der Univerſitaͤt ge—
lernt haben, muͤſſen Sie groͤßtentheils wieder vergeſſen:
durch die Routine und Erfahrung lernen Sie im Ge—
gentheil alles, was Sie in Ihrem Amte brauchen. Ein
Gelehrter, der in das buͤrgerliche Leben eintritt, kommt
mir oft vor, wie ein guter Reiter, der, um eine Reiſe
zu machen, in ein Schiff hineintritt. Seine Reitkunſt
205
iſt ihm hier ganz überflüßig, er muß ſich vom Winde
wegfuͤhren laſſen, er muß ſich allen Geſetzen unterwer—
fen, denen alle Reiſende dort unterworfen ſind, er muß
auch, wie alle, die zum erſtenmale reiſen, eine See—
krankheit aushalten. Dieſe Seekrankheit, Herr Lebrecht,
kann bei Ihnen etwa das erſte Vierteljahr hindurch
dauern, in welchem Sie mit den Geſchaͤften bekannt
werden, dann aber laſſen Sie ſich unbefangen von den
ſchwellenden Segeln wegfuͤhren. Alles geht dann ſeinen
ordentlichen Gang, den einen Tag ſo wie den andern,
Sie werden von Ihren Geſchaͤften gelenkt, ſtatt daß
Sie Ihre Arbeiten regieren ſollten. — Darum laſſen
Sie nur alle Furcht und unnuͤtze Beſcheidenheit fahren;
wenn Sie Ihr Amt angetreten haben, werden Sie
ſehn, daß ich die Wahrheit geſagt habe.
Durch dieſe Rede ward ich zuverſichtlicher, denn ich
konnte ja uͤberzeugt ſein, daß der Praͤſident aus Er—
fahrung ſpreche, ich uͤberließ mich alſo ungeſtoͤrt der
Hoffnung, die mir eine ſchoͤne Zukunft verſprach.
Die Perioden im menſchlichen Leben ſind ſehr aͤngſt—
lich, in welchen man mit Furcht oder Sehnſucht ein
Ungluͤck oder Gluͤck erwartet, und jeden Tag und jede
Stunde ſorgſam zur Summe der verfloſſenen zaͤhlt,
und mit bangem, ahndungsvollem Herzen auf die Zeit
hinblickt, die noch verfließen ſoll. Meine Hochzeit mit
Louiſen war jetzt feſtgeſetzt, und ich ſtrich mit zitternder
Hand jeden Tag im Kalender aus, und zaͤhlte und
uͤberzaͤhlte jedesmal, wie viele Tage noch übrig wären.
Es war beſchloſſen worden, daß dieſe Hochzeit auf
einem Gute des Praͤſidenten gefeiert werden ſollte, das
in einer ziemlichen Entfernung von der Stadt lag. Er
wollte dorthin reiſen, um ſo den Anfang zu einer Reiſe
206
in das Reich des benachbarten Fürften zu machen, die
er in Amtsgeſchaͤften thun mußte.
Auf dem Landhauſe ward alles unterdeß zur Feier
des Hochzeitfeſtes eingerichtet, die Familie fuhr endlich
in mehrern Waͤgen ab, weil alle eine oder ein paar
Wochen auf dem Lande zubringen wollten.
Der Herr von Baͤrenklau begegnete uns unterwegs
in tiefer Trauer, ſein Onkel war geſtorben und er fuhr
nach W.. zuruͤck. Ich ſah Louiſen mit einem bedeu—
tenden Blicke an, ſie ſchien ihn aber nicht zu verſtehn,
vielleicht wollte ſie ihn auch nicht verſtehn.
Wir kamen an einem ſchoͤnen Sommertage an.
Das niedliche Haus und die ſchoͤne helle Landſchaft
ſchienen uns freundlich zu begruͤßen; alle Einwohner
des Dorfes waren in einem frohen Aufruhr, daß ſie
ihren Herrn einmal wiederſahen. Der dunkeln, geraͤuſch—
vollen Stadt auf einige Tage entronnen, wachten alle
frohen Bilder meiner Jugend wieder in meiner Seele
auf, eine Heiterkeit goß ſich durch alle meine Nerven,
wie ich ſie lange nicht empfunden hatte.
Die geladenen Gaͤſte fanden ſich auch nach einigen
Tagen ein, im Haufe und im Dorfe war ein beſtaͤn—
diges frohes Getuͤmmel, jeder Neuankommende ward
mit einer jauchzenden Muſik empfangen. Man gratu⸗
lirte, man freute ſich, mich und meine Braut kennen
zu lernen, man ſchwatzte hundert Sachen durcheinan—
der, und nicht ſelten ſchlich ich mich betaͤubt in die
freie Luft, um mich von dem Schwindel zu erholen,
in welchen mich das unaufhoͤrliche Gewirre verſetzte. —
Dieſe Feiertage des Lebens, wo alle Geſchaͤfte ſtill ſtehn,
der Gang der gewoͤhnlichen Lebensweiſe unterbrochen
wird, und es nur unſer Amt und unſre Pflicht iſt,
—
207
beftändig ein recht freundliches Geſicht zu machen und
aus vollem Halſe zu lachen, ſind oft neben ihren An—
nehmlichkeiten ſehr druͤckend und beſchwerlich. Man
ſchwimmt betaͤubt die geraͤuſchvolle Fluth mit hinunter,
und die Zeit, die wir zur Froͤhlichkeit beſtimmten, iſt
uns am Ende, wie in einem tiefen langweiligen Schlaf
verfloſſen. — Doch das war nicht bei mir der Fall,
denn ich ſtaͤrkte meinen Geiſt wieder durch die Erinne—
rung an Louiſen, durch ihre Gegenwart, durch die Hoff—
nung einer freudenreichen Zukunft.
Nun erſchien der Hochzeitstag ſelbſt. — Ich und
Louiſe wurden getraut, meine Freude hatte ihren hoͤch—
ſten Gipfel erſtiegen, worauf ich ſeit Jahren gehofft
hatte, war nun erfuͤllt. g
Man aß und trank und war guter Dinge. Bei
Tiſch erzaͤhlten ſich die alten Herren ihre Jugendge—
ſchichten, und die jungen ſagten den Damen Kompli-
mente oder Abgeſchmacktheiten, wie es das Gluͤck gerade
fuͤgte; viele ſahen ſich fuͤr Helden an, wenn ſie meine
Louiſe durch eine unanſtaͤndige Zweideutigkeit roth ge—
macht hatten; andre fanden ſich gluͤcklich darin, wenn
man ſie ihren Erzaͤhlungen nach fuͤr recht ausſchweifend
hielt, und kaͤmpſten beſtaͤndig gegen ihre beſſere Natur,
denn ſie wurden ſelbſt bei ihren erdichteten Abentheuern
beſchaͤmt, und gaben ſich alle Muͤhe, dies Rothwerden
zu verbergen; noch andre machten ſich uͤber den Tiſch
hinuͤber Confidenzen und nannten dabei Namen, Haus
und Tag; oder liebaͤugelten mit den Damen, — kurz,
die Geſellſchaft war ſo beſchaffen, wie man ſehr oft
eine große Geſellſchaft trifft. —
Nachher tanzte man, und Tanz und Wein machte
jedermann froh und munter. Ich tanzte bis ſpaͤt in
208
die Nacht faſt mit allen anweſenden Damen und ging
dann, um Louiſen aufzuſuchen. — Sie war in keinem
Zimmer zu finden: ich durchſtreifte den Garten, dort
eben ſo wenig; das ganze Dorf, — man hatte ſie nir—
gends geſehn. — Die Geſellſchaft ward unruhig, man
ſuchte allenthalben und allenthalben vergebens; die Nacht
verſtrich und Louiſe kam nicht zuruͤck.
O ungluͤckſelige Hochzeit! — O ungluͤcklicher Braͤu—
tigam Peter Lebrecht, da ſtehſt du nun im Schlafzim—
zimmer ohne Braut! .
Zehntes Kapitel.
Unvermuthete Geſellſchaft.
Welcher Schmerz war dem meinen zu vergleichen?
Nur der kann ihn nachempfinden, der einen aͤhnlichen
Verluſt in einem aͤhnlichen Augenblicke erlitten hat. —
Tauſend Vorſtellungen gingen durch meinen Kopf, eine
immer truͤbſinniger als die andere; ich ſtand plotzlich
verlaſſen und einſam da, wie in einer dicken Finſterniß,
von allen meinen Hoffnungen und Wuͤnſchen auf immer
abgeriſſen. —
Aber, wo war Louniſe ſo ploͤtzlich hingekommen? —
Ich ahndete gar keine Möglichkeit, mir dieſes Raͤthſel
anfzulöfen. — Man durchſtrich in den folgenden Tagen
zu Fuße und zu Pferde die ganze Gegend, bei allen
Nachbarn wurden Erkundigungen eingezogen, aber kein
Menſch wußte uns Nachrichten von ihr zu geben; ich
ſelber durchſtrich jeden Wald und jedes Feld in der
Nachbarſchaft; und da alle meine Nachforſchungen ver
.
gebens waren, uͤberließ ich mich endlich einer dumpfen,
truͤben Gleichguͤltigkeit, in welcher unſer Koͤrper oft
viele Tage verlebt, ohne daß es die Seele bemerkt.
Die Gaͤſte nahmen traurig nach und nach Abſchied,
es ward immer einſamer um uns her, jedermann, dem
ich begegnete, hielt es fuͤr ſeine Schuldigkeit, mir ein
trauriges Geſicht entgegenzuhalten und ſo ward ich mit
jeder Stunde verdruͤßlicher. — Mir war in meinem
Lebenslaufe noch wenig Unannehmllichkeit aufgeſtoßen,
und noch kein einziges aͤhnliches Ungluͤck, ich wußte mich
daher gar nicht zu benehmen: wenn man nur erſt mit
der Art bekannt iſt, wie man auf eine ſchickliche Weiſe
gewiſſe Vorfaͤlle im menſchlichen Lebenanfaſſen muß, ſo iſt
man auch fihon halb getroͤſtet. Für viele Menſchen
liegt in den Ceremonien des Betrübtfeins eben fo viel
Beruhigung, wie fuͤr andere im berauſchenden Wein.
Mit tiefgeſenktem Kopfe, ſchweren Seufzern und
heimlichen Verwuͤnſchungen gegen das Menſchengeſchlecht,
(das ſich freilich in nichts anderm gegen mich vergan—
gen hatte, als daß es mir keine Nachrichten von Loui—
ſen geben konnte,) ſchlich ich eines Tages durch die
benachbarten Fluren. Ich hatte eine Flinte auf mei—
nen Ruͤcken gehängt, um wenigſtens unterwegs gegen
einen Hafen meinen Unwillen auszulaſſen, der es wagen
würde, mir in den Weg zu kommen. Mein Spazier—
gang dauerte laͤnger, als ich mir vorgenommen hatte,
ich verirrte mich in einen Wald hinein und verließ bald
in der Zerſtreuung den gebahnten Weg: ich luſtwan—
delte auf kleinen Fußſteigen bald hiehin bald dorthin,
und durchtrabte in allen moͤglichen Richtungen den Wald.
An dem Stande der Sonne bemerkte ich endlich, daß
es anfangen wolle, Abend zu werden, ich fing daher
XIV. Band. 14
210
an, den Ruͤckweg zu ſuchen: aber allenthalben, wohin
ich mich auch wandte, ſchien der Wald dichter zu wer—
den, ich ſahe und hoͤrte keinen Menſchen; ich rief,
aber Niemand antwortete mir, meine Stimme ſchallte
weit den Forſt hinunter, aber kein Ton kam troͤſtend
zu mir zuruͤck. Ein Haſe lief mir quer uͤber den Weg.
— Auch du willſt mich noch verwirrt machen! rief ich
aus, legte das Gewehr an, verfehlte aber. — Ich
achtete auf die boͤſe Vorbedeutung nicht, wie es denn
bei einem Menſchen ſehr natuͤrlich iſt, der ſchon den
bitterſten Becher des Ungluͤcks gekoſtet zu haben glaubt:
ich hatte aber Unrecht, denn wenn wir auch ſchon elend
ſind, ſo hat doch immer noch eine Verdruͤßlichkeit neben
uns Platz, die unſern Unwillen erhoͤht, wenn ſie auch
noch ſo klein iſt; der Verfolg dieſes Kapitels wird einen
deutlichen Beweis davon liefern. — Ich gab mir im—
mer noch Muͤhe, mich aus dem Walde herauszufinden;
ich kannte damals die Kunſtgriffe der Jaͤger noch nicht,
nach welchen ſie die Weltgegenden beſtimmen koͤnnen,
oder, wenn ich ſie auch gekannt haͤtte, waͤren ſie mir
doch unnütz geweſen, denn ich wußte ungluͤcklicherweiſe
nicht, ob das Landhaus vom Walde ſuͤdlich oder noͤrd—
lich laͤge.
Meine Phantaſie war geſpannt, und mir fielen
aus Romanen und Erzählungen hundert abentheuerliche
Scenen ein, die in einem ſolchen dichten Walde vor—
gehn: bald ſahe ich Spitzbuben und Moͤrder mit ihren
verborgenen Hoͤhlen und Schlupfwinkeln, bald eine ver—
folgte Unſchuld, endlich fielen mir gar einige Geſpen—
ſtergeſchichten ein, die mir den Anblick des freien Fel—
des noch wuͤnſchenswuͤrdiger machten: ſo ſehr ich vorher
gewuͤnſcht hatte, jemanden zu begegnen, ſo ſchuͤchtern
211
ſahe ich mich jetzt zuweilen um, ob auch nicht jemand
hinter mir gehe. Als ich noch immer nicht den Aus:
weg finden konnte, war ich endlich feſt uͤberzeugt, daß
mir irgend ein merkwuͤrdiges Abentheuer bevorſtehe.
Und warlich, ein Menſch, der ſich in einem dichten
Walde verirrt, und den jetzt die Nacht wahrſcheinlich
uͤbereilt, — wenn dieſer unter ſolchen Umſtaͤnden kein
Abentheuer findet, ſo iſt er wirklich nicht dazu geboren,
irgend etwas Wunderbares zu erleben, und ein ſolcher
laſſe es ja bleiben, ſeine Geſchichte der Welt mitzu—
theilen.
Ich mochte nach dieſen Betrachtungen noch kaum
eine Viertelſtunde weiter gegangen ſein, — als die Erde
plotzlich unter mir einſank — und ich in eine tiefe
Grube ſtuͤrzte. —
Als ich mich von meinem Schreck erholt hatte, fing
ich an, meinen neuen Aufenthalt genauer in Augenſchein
zu nehmen. Es war eine ziemlich tiefe, ſteile und ge—
raͤumige Grube, die ich beim Hinunterfallen fuͤr eine
Moͤrderhoͤhle, oder die Wohnung irgend eines Erdgeiſtes
oder Ruͤbezahl hielt, von der ich aber nun wohl ſahe, daß
ſie den Bauern nur dazu diene, um Fuͤchſe oder andres
überläftiges Wildpret auf eine geſchickte und leichte Art
wegzufangen. Ich verſuchte es in die Hoͤhe zu klettern,
aber die Waͤnde waren zu ſteil und zu hoch; mein Rufen
war ebenfalls umſonſt, und ich ſah mich nun genoͤthigt,
in Geduld den erſten Bauer zu erwarten, der mich aus
meinem Gefaͤngniß erloͤſen wuͤrde.
Ich ſah mich in meiner Wohnung etwas genauer um,
und mußte lachen, als ich einen Fuchs und einen Haſen
in einem Winkel der Hoͤhle ſitzen ſah. Meine erſte Be—
14 *
212
wegung war, nach der Buͤchſe zu greifen und recht be;
quem zu einiger Zerſtreuung die beiden Fremdlinge weg—
zuſchießen: aber ein Anfall von Gutmuͤthigkeit hielt mich
zuruͤck, ich wollte mit ihnen zugleich die Aufloͤſung meines
Schickſals erwarten.
Warlich! ein feines Abentheuer! rief ich aus. Kann
man etwas Platteres erdenken? Statt einen Geiſt zu
erblicken, oder eine Moͤrderhoͤhle zu finden, falle ich in
eine Fuchsgrube: ſtatt eine bedraͤngte Unſchuld aus den
Klauen ihres Verfolgers zu retten, finde ich hier einen
Haſen und einen Fuchs, um mir mit ihnen die Zeit zu
vertreiben.
Ich uͤberlegte ernſthafter mein ſonderbares Schickſal.
Der Menſch iſt einmal ſo ſtolz, daß er durchaus will, die
Vorſehung lenke jeden ſeiner Schritte. — Ich habe mich
verliebt, dachte ich bei mir ſelber, um mich zu verhei—
rathen; mich verheirathet, um meine Frau zu verlieren;
meine Frau verloren, um in eine Fuchsgrube zu fallen:
was wird das Reſultat dieſer ſonderbaren Begebenheit
ſein? Was in aller Welt kann die Vorſehung fuͤr einen
Plan dabei haben, daß ſie mich in dieſes Loch hat fallen
laſſen? Alle Begebenheiten meines Lebens ſcheinen ſich
nur darum aneinander gereiht zu haben, um mich endlich
hieher zu führen. — Wahrhaftig, wenn ich nicht hier den
Stein der Weiſen entdecken ſollte, fo würde ich das ziem—
lich unnuͤtz finden!
Als ich mich wieder umſah, hatte ſich der Haſe, ver—
muthlich aus Furcht vor mir, ganz nahe an den Fuchs
gedraͤngt: ihre feindſelige Natur ſchien ſich hier verloren
zu haben, das gemeinſchaftliche Ungluͤck hatte ſie zu
Freunden gemacht, denn der Fuchs ſaß ganz ſtill und
213
leutſelig auf feinem Hintern, bewachte meine Bewe—
gungen mit ſeiner ſpitzen Schnautze und ſeinen glaͤnzen—
den Augen, und ſchien gegen ſeinen furchtſamen Nachbar
nicht das mindeſte Boͤſe im Schilde zu fuͤhren. Das
Zutrauliche der beiden Thiere ruͤhrte mich, ich beobachtete
ihre Stellungen, und freute mich jetzt uͤber mich ſelber,
daß ich meiner Mordgier nicht nachgegeben hatte.
Der Fuchs ſah unverwandt nach der Jagdtaſche und
ich theilte meinen beiden Freunden den Vorrath von
Brot und anderm Eßbaren aus, den ich bei mir hatte;
ſie erkannten meine Guͤte und entzweiten ſich uͤber kei—
nen Biſſen.
Wie beſchaͤmt ihre Eintracht, dachte ich, die Menſchen,
die ſich unaufhoͤrlich verfolgen, und auf das Ungluͤck
ihres Nachbars ewig ihr Gluͤck aufzubauen ſuchen! —
Alle, die ihr der Habſucht, dem Geize, Stolze oder
Neide froͤhnt, die ihr eure Bruͤder niederdruͤckt, um eure
Eitelkeit zu befriedigen, o koͤnnt ich euch doch vor einen
Spiegel führen, in welchem ihr euch und eure Leidens
ſchaften ſo erblicktet, wie ich euch ſehe!
Der Haſe ſahe mich hier mit einem ſo freundlichen
Blicke an, als wenn er in meine Seele geleſen haͤtte, er
kam zutraulich naͤher, vermuthlich, um anzufragen, ob
ich nicht noch mehr genießbare Sachen bei mir haͤtte.
Beſchaͤmt ſah ich nach meinem Gewehr, und ſtreichelte
das kleine Thier, das zitternd unter meiner Hand ſtehn
blieb und furchtſam lauſchend ſeine langen Ohren ruͤck—
waͤrts legte.
Dir ſoll nichts geſchehen, ſagte ich mit ſo milder
Stimme, als mir nur moͤglich war; ſeid unbeſorgt, ihr
lieben Gefaͤhrten meines Ungluͤcks. — Ich erwartete ein
214
Abentheuer hier, denen ähnlich, die die muͤßige Phantaſie
der Dichter erſchafft, und war unzufrieden, nur euch
arme Nothleidende hier anzutreffen; aber ich war ein
Thor. — Iſt dieſe Hoͤhle nicht eine Moͤrdergrube, in
welcher ihr als ſchuldloſe Opfer der Mordſucht aufgeſpart
ſitzt? Waͤre ich ſelbſt nicht beinahe ein Moͤrder gewor—
den? — Ich dachte, vielleicht eine angefallene Unſchuld
von ihrem Unterdruͤcker zu befreien, und warlich, auch
bei euch kann ich dieſen Hang nach einer edeln That befrie—
digen. — Du armer unſchuldiger Fuchs ſollſt wahr:
ſcheinlich zu Tode geprellt, oder zeitlebens, wie Bajazet,
als ein Schauſpiel von den Kindern verhoͤhnt werden,
weil du vielleicht einem Bauer einmal ein paar Eier aus—
getrunken haſt. Was muͤßte mir geſchehn, was allen
Menſchen, wenn jeder Durſt ſo hart beſtraft werden
follte? — Du, (ich wandte mich hier zum Haſen) ſollſt
geſchlachtet und gebraten werden, weil du einen Kohle
kopf angefreſſen haſt. — O heiliger Laurentius, was
muͤßte den Leuten geſchehn, die muthwillig mit ihrem
Jagdgefolge ganze Saatfelder zerſtampfen, und um einen
Hirſch zu erlegen, ſechs Aecker, die Hoffnung von ſechs
Familien, verderben? — Es herrſcht ein ewiger ſtiller
Krieg im Menſchengeſchlecht, und einer entgeht nur der.
Peitſche, oder dem Meſſer des andern, weil er ſich hin—
ter das furchtbare Anſehn eines andern verkriechen kann,
der ſelbſt wieder einen Ruͤckenhalter braucht und hat.
Der Arme aber, der ohne Schutz, ohne Anſehn
unter der gefraͤßigen Menge ſteht, iſt allen Pfeilen
der Verfolgung und der Niedertraͤchtigkeit preis gege—
ben: laͤßt er ſich, von Gram und von Armuth zu Boden
gedruͤckt, zu einer That verleiten, die er tauſendmal um
ſich her, unter öffentlichen Privilegien begehen ſieht, —
215
fo wird er von der jauchzenden Rotte dem ehernen, un:
barmherzigen Geſetz entgegengeſchleudert, um dort zu
verbluten. Ich will euer Beſchuͤtzer werden, ihr beiden
Ungluͤcklichen, ich will euch euren Verfolgern entreißen,
da ihr ſonſt auf der großen, weiten Erde keinen andern
Freund habt. Jedermann, der euch erblickt, ſetzt euch
feindlich nach, wohin ihr tretet, iſt euch eine Falle gelegt
und nur wenigen von euch iſt es gegoͤnnt, eines ruhigen
Todes in eurer Heimath zu ſterben. —
Ich war einmal geruͤhrt, und fuhr daher ungeſtoͤrt
zu deklamiren fort:
Wenn doch ſo manche, die ſich verfolgen und anfein—
den, einſt eben ſo unvermuthet in eine enge Hoͤhle zuſam—
mengefuͤhrt wuͤrden, um ſo zu empfinden, wie goͤttlich
das Gefuͤhl der Freundſchaft und des Wohlwollens ſei:
um zu fuͤhlen, wie noͤthig die Liebe den Menſchen ſei,
und die gegenſeitige Unterſtuͤtzung und Ertragung der
Fehler und Schwachheiten. Wie ſchnell wuͤrden ſich
Feinde ausſoͤhnen und einer in den Arm des andern flie—
gen, wenn ſie einſt ploͤtzlich von ihren Geſchaͤften losge—
riſſen wuͤrden, und in einer dunkeln Einſamkeit, ohne
Huͤlfe und Troſt da ſaͤßen, nur den Bruder gegen uͤber
ſaͤhen, den fie haſſen. Aber die Menſchen laufen ihre ge:
wohnte Bahn in dem Getuͤmmel fort, das ſie betaͤubt:
keiner reicht dem andern die Hand, kein Auge forſcht nach
dem hoͤchſten Schatz des Lebens, nach der Liebe, die
uns aus dem Blicke des Freundes begruͤßt; in jedem, der
uns entgegen kommt, ſehn wir nur einen Menſchen, der
unſern Weg enger macht, und ſo verſchmachten wir in
einem ſeelenloſen Geraͤuſch.
Durch mein ganzes Leben habe ich den vortheilhaften
Einfluß dieſes unbedeutenden Abentheuers geſpuͤrt, darum
216
mag mir der Leſer meine Weitſchweifigkeit verzeihen.
Oft, wenn ich gleichguͤltig bei dem Elende meiner Bruͤder
voruͤbergehen wollte, dachte ich von ungefaͤhr an die
Grube, und eine friſche, erwaͤrmende Menſchenfreund—
lichkeit ſtroͤmte zu meinem Herzen: oft reichte ich die
Hand zur Verſoͤhnung, wenn ich mich ſonſt vielleicht
in einem kalten Haß verſchloſſen haͤtte. — Ich konnte
nachher nie einen Muff von Fuchsfell ſehn, ohne ein
unwillkuͤhrliches Wohlwollen zu empfinden: er erregte
bei mir ungefaͤhr die Empfindung, die der gute ehrliche
Yorik hatte, wenn er ſeine hoͤrnerne Lorenzodoſe ber
trachtete. — Viele ſeiner Leſer haben nachher aus em—
pfindſamer Spaßhaftigkeit eine Lorenzodoſe gefuͤhrt, ohne
irgend etwas dabei zu empfinden, ja man hat ſogar
ſagen wollen, daß ein Lorenzoorden exiſtirt habe. —
Ich habe mich nie mit dieſen Spielereien der Empfind—
ſamkeit vertragen koͤnnen, fie ſetzen gewoͤhnlich Mangel
an wahrer Empfindung voraus; ich wuͤnſche nicht, daß
jemand mir zu Ehren einen Orden errichte, deſſen Kenn—
zeichen ein Fuchsmuff, ader ein Haſenfell iſt.
Aber Niemand wird laͤugnen, daß oft ein unbedeu—
tender Vorfall einen großen Einfluß auf die Wendung
hat, die unſer Charakter nimmt. — Auf einer meiner
Reiſen fiel in der Nacht der Wagen um, und es zer—
brach etwas, das mich am Fortkommen hinderte. Es
war im November und ein pfeifender Wind trieb einen
ſchneidenden Regen durch die Luft; kein Haus, kein
Dorf war in der Naͤhe, der Poſtillion ritt nach dem
naͤchſten Flecken, um Leute zu holen, die den Wagen
wieder herſtellen koͤnnten: ich wickelte mich in meinen
Mantel ein, fo gut es mir moͤglich war, aber ein em—
pfindlicher Froſt bemaͤchtigte ſich bald aller meiner Glieder,
247
Mit ungeduldiger Sehnſacht ſah ich dem Poſtillion ent:
gegen, der immer noch nicht zuruͤckkam. Ich ward
unwillig, aber ich ſah auch bald ein, wie ſehr ich
Unrecht hatte, ich ging auf und ab, um mich etwas
zu erwaͤrmen und die Zeit zu verkuͤrzen. Da dachte ich
zum erſtenmale recht lebhaft an euch Elenden, die ihr
in einer armſeligen Huͤtte dem Mangel und dem Froſte
preis gegeben ſeid, die ihr in der kalten Novembernacht
ungeduldig den Aufgang der Sonne erwartet, und
aͤngſtlich die Tage abzaͤhlt, in welchen ihr die ſtrengere
Kaͤlte fuͤrchtet; die ihr mit einem Schrei des Erſchrek—
kens den erſten Schnee wahrnehmt, indeß der Reiche
ſchon in Gedanken die bunten Schlitten ſieht und das
Geklingle der muntern Pferde hoͤrt. — Seit jener
Nacht fuhr meine Hand jedesmal in die Taſche, ohne
daß ich es wußte, wenn ich im Winter einen Armen
am Wege ſitzen ſahe, oder eine Mutter mir begegnete,
die an ihrer Bruſt ihr Kind mit ihren Seufzern und
Thraͤnen zu erwaͤrmen ſchien. — Der Ungluͤckliche ver—
ſteht den Ungluͤcklichen am beſten, und wenn uns Truͤb—
ſale auch oft nur im Vorbeigehn geſtreift haben, ſo
iſt uns ſchon dadurch das Geſchlecht der Elenden naͤher
geruͤckt.
Ich bin ſchon ſo tief in der Schuld meiner Leſer,
daß ich dieſer Abſchweifung wegen gar nicht einmal um
Verzeihung bitten mag.
Ich hatte indeß gar nicht bemerkt, daß es wirklich
Nacht geworden war. Ich ſpuͤrte große Muͤdigkeit,
und legte mich bequemer, war aber ſehr beſorgt, daß
noch irgend ein zahmes oder wildes Thier mir von oben
auf den Kopf fallen moͤchte: ich uͤberließ mich dem
218
guͤtigen Zufall, lehnte mich an die feuchten Wände
meiner engen Wohnung und ſchlief endlich wirklich ein.
In der Nacht wachte ich oft auf, und hoͤrte dumpf
zu mir hinunter das Rauſchen des Waldes, ich bog
mich in mich ſelbſt zuſammen, ſo viel ich konnte, um
nicht zu frieren und ſchlief weiter.
Ich erwachte, als einzelne Sonnenſtrahlen an den
Mauern meines Gefaͤngniſſes auf und nieder flimmer—
ten, etwas erſtarrt ſtand ich auf und glaubte in einiger
Entfernung Menſchenſtimmen zu hoͤren. Ich rief laut
und ſchoß aus der Oeffnung meine Buͤchſe ab, aber
ohne allen Erfolg. Meine beiden Freunde erſchraken
außerordentlich und der furchtſame Haſe verkroch ſich
unter den Bauch des Fuchſes.
Bis gegen Mittag wartete ich noch geduldig, als
ich wirklich hoͤrte, wie ſich Leute der Grube naͤherten.
Es waren Bauern, die nachſehn wollten, was ſie ge—
fangen hatten, und nicht wenig erſtaunten, neben ihrem
Fange auch einen Jaͤger zu erblicken. Sie ſchafften
mich ſogleich mit Stricken aus der Hoͤhle, und nach
mir wurden auch meine beiden Gefaͤhrten, jeder ein—
zeln, herausgeholt. — Ich belohnte die Landleute reichz
lich fuͤr den Dienſt, den ſie mir geleiſtet hatten, doch
unter der Bedingung, daß ſie mir die beiden Thiere
uͤberlaſſen moͤchten. Mit dem herzlichſten Wohlwollen
ließ ich nun den Haſen davon ſpringen, und als dieſer
eine ziemliche Strecke gelaufen war, eben ſo den Fuchs,
der ſich in der Ferne noch ein paarmal ſehr verſtaͤndig
nach mir umſahe, als wenn er mir fuͤr ſeine Freiheit
danken wollte. — Die Bauern lachten uͤber meine
Narrheit, und brachten mich auf einen Weg, der mich
319
aus dem Walde in ein benachbartes Dorf führen follte ;
wir nahmen Abſchied und jedermann von uns ging
vergnuͤgt ſeine Straße.
Eilftes Kapitel.
Ruͤckerinnerungen.
Als ich kaum eine halbe Stunde durch den Wald ge—
gangen war, trat ich in's freie Feld und erwachte wie
aus einen Traum. Es war dieſelbe Flur, in der ich
meine Kindheit zugebracht hatte, ich ſah ſchon das Doͤrf—
chen in der Ferne vor mir liegen. — Alle vorhergehen—
den Begebenheiten hatten mich zu einer Art von Schwaͤr—
merei geſtimmt, und mit einem freudenvollen Schrei
ſtand ich nun mit untergeſchlagenen Armen ſtill, und
rief alle Erinnerungen aus meiner Kindheit in meine
Seele zuruͤck. Jeder Baum war mir faſt noch bekannt,
ich wußte jetzt recht gut, daß ich ſelbſt dieſen Theil des
Waldes oft durchſtrichen hatte; ich ſah in der Ferne die
blauen Berge liegen, hinter denen in der Kindheit alle
meine Wuͤnſche und Hoffnungen gewohnt hatten. Ueberall,
wohin mein Auge ſich nur wendete, begegnete mir eine
angenehme Erinnerung und gruͤßte mich ſo zutraulich,
wie ein Freund, der uns lange nicht geſehen hat.
Dort ſtand die Windmuͤhle vor mir, auf der ich ſo oft
mit den Kindern des Muͤllers geſpielt hatte, ich ſahe
durch die dichten Gebuͤſche den Fluß im Schein der
Sonne flimmern, der mir tauſendmal zum Baden ger
dient. — Ich ſtand lange und ſann in dieſer Heimath
220
meiner Jugend, meinem bisherigen Leben nach: fo wenige
Jahre auch verfloſſen waren, ſo wenig Abentheuer ich
auch erfahren hatte, ſo war mein Sinn doch durch
ein Leiden gepruͤft, das mein Herz zerriſſen hatte; ich
hatte doch unterdeß viele Reſultate uͤber mein Herz ge—
ſammelt, und den Schluͤſſel zu meinem innerſten Selbſt
gefunden: manches, was mir ſonſt an mir groß und
ehrwuͤrdig erſchienen war, kam mir nun wie Dunſt
und nichtiger Nebeldampf vor: ich war mit mir ſelber
uͤber hundert Erſcheinungen in meinem Herzen einig,
die ich ſonſt als fremde Weſen in einer ehrfurchtsvollen
Entfernung betrachtet hatte. Von dieſem Felde war
ich ausgegangen, in die Welt hinein, und ich kam jetzt
zuruͤck in meine e kluͤger, aber bei weitem un⸗
gluͤcklicher.
Wie mit dem ehemaligen Kinderſinn ſchritt ich zwi—
ſchen die wohlbekannten Aecker hindurch: jede Blume
im Graſe ſchien mir noch dieſelbe, die mich damals fo
freundlich angeblickt hatte; ich verlor mich in einem ſuͤßen
wonnevollen Rauſch.
O, ſeid mir gegruͤßt, ihr holden Erinnerungen der
frohen Kinderzeit, wenn ihr aus den gruͤnen Wipfeln
der Baͤume herabſteigt und mir jenen paradieſiſchen
Traum wieder aufſchließt, aus dem man als Knabe ſo
ungern erwacht. Wie holdſelig winkt uns durch einen
roſenrothen Schleier die Welt und die Zukunft an!
Mit ſchuldloſem Herzen, ohne Harm und Neid, ohne
Haß und Groll, wandeln wir dahin, mit zartem Wohl—
wollen den Buſen ganz ausgefuͤllt: wir taumeln durch
den goldnen Schein des Morgens fort, geben jedermann,
der uns begegnet, einen frohen Haͤndedruck, und ahn—
den nirgend Tuͤcke und Bosheit, weil wir mit unſerm
221
eignen Sinn vertraut zu fein glauben. — Gluͤckſeliges
Alter, in welchem der Menſch keine andern Wuͤnſche und
Hoffnungen kennt, als die dicht vor ſeinen Fuͤßen bluͤhen
und die er mit ſeinen kleinen Armen abreichen kann: in
jenen Jahren iſt der Menſch gluͤcklich und gut, fein ſpaͤ—
teres Leben iſt ein unaufhoͤrlicher, ohnmaͤchtiger Kampf
gegen Fehler und Schwachheiten, ein Rennen nach
Wuͤnſchen und Hoffnungen, das ihm den Athem raubt
und ihn die Freuden nicht bemerken laͤßt, denen er vor—
uͤbergeflohen iſt. — Sei mir gegruͤßt, du holde Zeit!
Schon die Erinnerung jener goldnen Fruͤhlingstage,
wenn ſie durch unſre Seele zieht, macht uns froher und
beſſer. |
Ich kam nun dicht vor das Dorf. Faſt alles war
noch ſo, wie damals, als ich es verlaſſen hatte: nur we⸗
nige neue Huͤtten waren angebaut, eine ganz zerfallen.
Jetzt ſahe ich das Dach unſers Hauſes heruͤberragen;
ich lenkte um die Ecke, und ſtand nun vor der Wohnung,
wo ich erzogen war. Die große Linde vor der Thuͤre
erinnerte mich alle an die ſchauerlichen Geſpenſtergeſchichten,
die man mir hier am Abend erzaͤhlet hatte, und an den
Pater Bonifaz, der mich ſo oft an dieſer Stelle zur
Saͤule des ſinkenden Chriſtenthums hatte einweihen wollen.
Ich kam in den Hof, alles ſtand und lag umher, wie
gewoͤhnlich, in der Scheune hoͤrt' ich dreſchen, nur ein
unbekannter Spitz bellte mir unhoͤflich entgegen, und
ſtrebte, ſich von der Kette loszureißen. Ich bedauerte
im Stillen den alten getreuen Phylax, öffnete die kleine
Thuͤre, und trat in die niedrige Wohnſtube. Ich hatte
ſie ganz anders, und beſonders viel geraͤumiger erwartet:
wie im Traum ging ich auf die Mutter Marthe zu
und ſchloß ſie in meine Arme. Sie war erſtaunt,
to
8
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kannte mich nicht und wußte gar nicht, was ſie ſagen
ſollte. Ich gab mich zu erkennen und bat ſie um Ver—
zeihung, daß ich mich nicht ſchon fruͤher um ſie und
ihre Kinder bekuͤmmert haͤtte. Ihre Tochter kam nach
Hauſe und erſtaunte nicht wenig, den kleinen Peter
als einen großen Jaͤger wieder zu finden. Auch der
Vater kam mit ſeinem Sohn von der Feldarbeit zuruͤck
und die Freude war nun allgemein. Ich mußte ihnen
meine bisherige Lebensgeſchichte erzaͤhlen, man konnte
mich nicht genug von allen Seiten betrachten, man be—
wunderte meine Groͤße und noch mehr, daß ich deſig—
nirter Burgemeiſter ſei, man freute ſich uͤber mein ge—
ſundes Ausſehn und noch mehr daruͤber, daß ich ſie
nicht vergeſſen haͤtte, da ſie mich von Jugend auf ſo
vorzuͤglich geliebt hatten. Man erzaͤhlte mir unordentlich
durcheinander, daß Pater Bonifaz und Phylax ge—
ſtorben waͤren, und daß man alle Tage fuͤrchte, der
Thurm ihrer Kirche wuͤrde einfallen. Die guten Leute
ſchienen durch meine Anweſenheit eben ſo berauſcht, als
ich es war. |
Wir festen uns zu Tiſche: ein kleines laͤndliches
Mahl ward aufgetragen und zwar noch in demſelben
Geſchirre, aus welchem man mich groß gefuͤttert hatte;
ein einziger Teller war zerbrochen, und flatt feiner ein
neuer angeſchafft; man wollte mir dieſen zu meiner Ehre
vorſetzen, ich griff aber nach einem alten, deſſen roth⸗
geſchriebenen Spruch ich noch auswendig wußte. —
Noch nie hatte mir ein Mittagsmahl ſo gut geſchmeckt;
eine allgemeine Heiterkeit machte, daß uns die Stunden
wie Minuten verſchwanden.
Der Vater blieb mir zu Ehren länger als gewoͤhn⸗
lich, er ging nur nach dem Acker, als ich ihm ver—
223
ſprochen hatte, dieſe Nacht in ſeiner Wohnung zuzu—
bringen. Er umarmte mich noch einigemal, dann ver—
ließ er mich: ſein Sohn begleitete ihn, die Tochter be—
ſorgte die haͤusliche Wirthſchaft.
Kaum ſah ich mich mit der geſchwaͤtzigen Mutter
Marthe allein, als mir zum erſtenmal eine Frage
einfiel, an die ich noch bisher gar nicht gedacht hatte. —
Wir ſind allein, liebe Mutter, fing ich an, Ihr habt
juſt, wie ich ſehe, einige Zeit uͤbrig; — ſagt mir, wer
bin ich eigentlich, da ich nicht Euer Sohn bin?
Lieber Lebrecht, antwortete ſie mir mit ihrer ge—
ſchwaͤtzigen Art, ach, daruͤber ließe ſich gar vielerlei
ſprechen: daruͤber ließen ſich gar wunderliche Geſchich⸗
ten erzaͤhlen. Sonſt durft' ich nicht, jetzt iſt es mir
ſchon eher erlaubt, da Du unterdeſſen, liebes Kind, zu
Verſtande gekommen biſt.
Nun ſo ſprecht, ſo erzaͤhlt denn die wunderlichen Ge—
ſchichten, fiel ich ungeduldig ein: ich bin endlich neu—
gierig geworden, zu erfahren, wer meine Eltern ſind.
Die Sonne ſchien auf die Fenſter der Stube, ich
fuͤhrte Marthe aus dem ſchwuͤlen Zimmer unter die
kuͤhlen Zweige der Linde; ich wiederholte meine Bitte,
Marthe fing ihre Erzählung an, und ich erfuhr, was
der Leſer auch erfahren wird, wenn er ſich die Muͤhe
giebt, das folgende Kapitel zu leſen.
2
8
Hin
Zwölftes Kapitel.
Epiſode. — Der neue Siegwart, eine Kloſtergeſchichte.
Gleich beim Anfang dieſes Kapitels ſtoͤßt mir eine Be—
denklichkeit auf, die nicht ſo klein iſt, als ſie vielleicht
dem Leſer ſcheinen mag. Wie bekannt, erzaͤhlt mir
Mutter Marthe eine Geſchichte, um mir zu ſagen, wer
meine Eltern ſind; nun entſteht aber die große Frage,
wie ich dieſe Erzaͤhlung vortragen ſoll? — Soll ich
meiner guten alten Pflegmutter, die kein groͤßer Gluͤck
kannte, als etwas zu erzaͤhlen, das Wort aus dem
Munde nehmen und in meiner eigenen Perſon ſpre—
chen? Das waͤre warlich eine große Undankbarkeit von
meiner Seite, das hieße ihre zaͤrtliche Sorgfalt fuͤr mich
in meiner Jugend, ihre Freude, als ſie mich jetzt wie—
derſah, ſehr ſchlecht vergelten. Wenn ich ſie redend
einfuͤhre, wird meine Erzaͤhlung auch uͤberdies noch dra—
matiſcher, die Darſtellung wird lebendiger und fuͤr den
Leſer um ſo intereſſanter. — Ich war ſo eben ſchon
entſchloſſen, die Erzaͤhlung anzufangen, als mir wieder
meine alten Bedenklichkeiten einfielen. Mutter Marthe
erzaͤhlte naͤmlich ſo weitlaͤuftig, daß ihre Geſchichte allein
groͤßer ſein wuͤrde, als der ganze erſte Theil dieſes
Werks. Das waͤre aber eben kein groß Ungluͤck gewe—
ſen, denn der Weitfchweifigkeit find die Leſer ſchon an
den Geſchichten, die recht dramatiſch ſein ſollen, ge—
woͤhnt; auch das ſchlechte und unrichtige Deutſch wuͤrde
mich nicht abhalten, ihre Erzaͤhlung woͤrtlich nachzu—
ſchreiben, denn viele Leſer wuͤrden die Unrichtigkeiten
gar nicht bemerken und bei den andern koͤnnten ſie
225
immer noch für treue Nachahmungen der Natur gelten:
aber man wuͤrde ſchwerlich aus meiner guten alten
Pflegemutter recht klug werden koͤnnen, und obgleich
meine Leſer auch daran vielleicht durch viele der neuften
Buͤcher gewoͤhnt ſind, ſo lieb' ich doch die Deutlichkeit
gar zu ſehr, als daß ich ihr nicht ohne Bedenken alle
uͤbrigen Schoͤnheiten aufopfern ſollte.
Ich erzähle alſo im Namen der Mutter Marthe:
Der Herr von Buͤhrau hatte bis in ſein fuͤnf und
zwanzigſtes Jahr ſehr fromm und eingezogen gelebt, als
er von ungefaͤhr auf den Gedanken kam, ſich zu verhei—
rathen. Es war leicht voraus zu ſehn, daß er als Eher
mann nichts von ſeiner Froͤmmigkeit verlieren wuͤrde,
denn ſeine Geliebte, das Fraͤulein Doͤlling, war noch
froͤmmer, als er. Sie ſprachen oft zuſammen, wie ſie
ſich in ihrem kuͤnftigen Eheſtande die Schriften des alten
und neuen Teſtamentes erklaͤren wollten; ob ſie das
Hohelied zu den apokryphiſchen Buͤchern rechneten, kann
ich nicht ſagen; genug, fie verlobten ſich und der Hoch:
zeitstag ward feſtgeſetzt. |
Alles ward zu dieſem feierlichen Tage vorbereitet,
die Gaͤſte erſchienen, der Tag ſelbſt brach an, ſie wur—
den getraut, man gratulirte, ſie weinten fromme Thraͤ—
nen und die Gaͤſte fingen an, ſich im Rheinwein zu
betrinken, als ſie ſich in eine ſtille einſame Laube des
Gartens zuruͤckzogen, um noch einmal mit einander zu
uͤberlegen, welche ſchwere Pflichten ſie beide in ihrem
jetzigen Stande zu tragen haͤtten. Sie rechneten ſich
die Liebe und die Geduld vor, die alle Eheleute, ver—
moͤge ihres Amtes, gegen einander und mit einander
haben muͤſſen: die Sorgfalt fuͤr die Erziehung ihrer
Kinder; kurz, ſie machten ſich mit allen den Pflichten
XIV. Band. 15
226
Langeweile, die die meiſten Verheiratheten ſchon im erſten
Vierteljahr der Ehe vergeſſen. — In der Nähe des
Gartens war eine Kirche, und die Orgel ſchallte fo
feierlich in ihr frommes Ohr, daß ſie dem Drange nicht
widerſtehn konnten, dem Gottesdienſte beizuwohnen.
Sie ſchlichen durch eine Hinterthuͤr aus dem Garten in
die Kirche hinein. Ein begeiſterter Kapuziner predigte
gerade uͤber den bekannten Text des Paulus: Es iſt
beſſer freien, denn Brunſt leiden. — Er gab
dem Apoſtel in ſo weit recht, daß er ſeinen Satz nicht
geradezu fuͤr Unwahrheit erklaͤrte: aber nach und nach
erhob er den Stand der Unverehlichten mit ſo großen
Lobeserhebungen, wie ſie Gott und ſeinem Throne
naͤher ſtaͤnden, wie ſie einſt reinere Freuden ſchmecken
würden, von denen die übrigen Menſchen keinen Ber
griff hätten, daß Weiber und Mädchen häufige Thraͤ—
nen der Andacht vergoſſen. — Aber Niemand ward von
der Predigt ſo hingeriſſen, als die beiden Neuvermaͤhl—
ten: ſie gingen wieder mit frommen Vorſaͤtzen nach
Hauſe. Die Gaͤſte hatten ſie nicht vermißt, oder die ſie
vermißt hatten, mochten ihre Abweſenheit vielleicht einer
ganz verſchiedenen Urſache zuſchreiben. Man brachte den
Abend ſehr froͤhlich zu und die beiden Eheleute bann
ſich in ihr Schlafzimmer.
Die Nacht ward nicht ſo hingebracht, wie es bei
den meiſten Leuten zu ſein pflegt, die ſich nun mit
der Bewilligung des Prieſters und dem Segen der
Kirche umarmen duͤrfen; ſondern ſie fielen beide auf die
Kniee und ſchickten andaͤchtige Gebete zum Himmel,
nicht etwa, um Segen für ihre Nachkommenſchaft her:
abzuflehen, ſondern um ſich in ihrem ſonderbaren Vor:
ſatze zu ſtaͤrken. Der Mann erklaͤrte jetzt der Frau,
227
daß er feſt entſchloſſen ſei, dieſe Nacht nicht anders als
in Gebeten mit ihr hinzubringen, die Frau freute ſich
uͤber dieſen Entſchluß: dann machten ſie aus, daß ſie
in den kuͤnftigen Nächten, von einander abgeſondert,
ſchlafen wollten, um den Verſuchungen des boͤſen Gei—
ſtes deſto weniger ausgeſetzt zu fein. Der Himmel ver⸗
lieh ihnen die verlangte Staͤrke, oder Schwaͤche, wie
man es nennen will und ſie ſahen mit unbeflecktem Ge⸗
muͤthe den Aufgang der Sonne. Die Gäfte gratulir⸗
ten und brachten die gewoͤhnlichen Spaͤße an, die ein
jeder von ſeinem Vater ſchon geerbt hatte und die ohne
Zweifel hergeſagt werden muͤſſen, wenn man eine Hoch⸗
zeitfeier nicht für höchft mangelhaft erklären ſoll.
Kaum war ein Vierteljahr verfloſſen, als der Herr
von Buͤhrau, zum Erſtaunen ſeiner Bekannten und
zur Freude ſeiner Verwandten in ein Moͤnchskloſter
ging; als unbefleckte Jungfrau ging die Frau in ein
Nonnenkloſter. Seine Verwandten erbten ſeine Guͤter
und nannten ihn einen frommen Mann; einige ſeiner
Freunde, die gern an ſeinem Tiſch gegeſſen hatten,
nannten ihn einen Narren. — So verſchieden iſt das
Urtheil der Leute: man kann es unmoͤglich allen recht
machen.
Meine Leſer werden ſich bei dieſer Stelle gewiß
uͤberraſcht finden, aber das iſt eben die Kunſt, um eine
Epiſode intereſſant zu machen. Die meiſten haͤtten gewiß
darauf geſchworen, daß der Herr von Buͤhrau mein
Vater waͤre, und nun geht er ploͤtzlich in ein Kloſter
und ſeine Frau wird Nonne. —
Kaum war der Herr von Buͤhrau ſeit einem halben
Jahre im Kloſter, als er anfing blaß und mager zu
werden und beſtaͤndig über Krankheit, Herzensbangig⸗
15 *
228
—
keiten und Bruſtbeſchwerden zu klagen. Eine gewiſſe
melancholiſche Wehmuth hatte ſich ſeiner bemeiſtert, er
konnte ſtundenlang ſeufzen und die trüben Wände feiner
Zelle anſehn. Er hatte aͤngſtliche Träume, das Kloſter
ward ihm zu eng, er wuͤnſchte ſich in die weite Welt
zuruͤck. Er dachte dann an feine Frau und verwuͤnſchte
ſeine Froͤmmigkeit und den Kapuziner. Der Arzt fand
ſeinen Puls mit jedem Tage bedenklicher; ſein Zuſtand
ward fuͤr gefaͤhrlich erklaͤrt und der Prior gab endlich
ſeine Einwilligung, daß der Pater Placidus, (ſo
hieß der Herr von Buͤhrau als Kloſterbruder,) auf einen
Monat ein Bad beſuchen koͤnne. Er reiſte ab und
athmete ſchon zufriedener die freie Luft des Himmels ein.
Ein ſeltſamer Zufall, oder die Natur, hatte es ſo
veranlaßt, daß die Frau von Buͤhrau alle die naͤm⸗
lichen Symptome an ſich bemerkte. Ihr Arzt rieth ihr
ebenfalls die Brunnenkur, und ein noch ſeltſamerer Zu—
fall machte, daß beide Eheleute, ohne daß ſie es wuß—
ten, ſich in einem und eben demſelben Bade aufhielten.
Der Pater Placidus ging haͤufig ſpazieren, am
liebſten beſuchte er einſame Gegenden, wo er ſich ganz
ungeſtoͤrt ſeiner Melancholie uͤberlaſſen konnte; eben dieß
war auch bei ſeiner Frau der Fall. Haͤtte der Zufall,
der ſchon ſo viel gethan hatte, um ſie zuſammen zu
fuͤhren, nicht auch das Letzte thun ſollen?
Der nachdenkende Pater ging an einem ſchoͤnen
Tage dem Gemurmel eines Baches nach, der ſich immer
tiefer in dichtverwachſene Gebuͤſche hinabſenkte. Er ſetzte
ſich endlich in das weiche Moos und dachte von neuem
uͤber ſeinen Zuſtand wach; das Gemurmel des Bachs,
der ſuͤße Geſang der Voͤgel verſetzten ihn nach und
nach in ſehr empfindſame Traͤumereien; als er endlich
229
von ungefähre aufblickte, ſteht eine ſchoͤne, weibliche
Geſtalt vor ihm, er Wann ſie genauen; es ift feine
Frau.
Anfangs waren ſie beide erſtaunt, ſich hier zu fin
den; das Erſtaunen mußte bald der Freude Platz ma—
chen, und die Freude wieder der Reue, daß ſie beide
einen zu voreiligen Schritt in's Kloſter gethan hatten.
Alle dieſe Geſpraͤche veranlaßten natuͤrlicherweiſe eine Ver—
traulichkeit, die ſelbſt in ihrem ehemaligen Eheſtande
nicht unter ihnen ſtatt gefunden hatte: die empfindſame
Nonne ſank in das weiche Moos hinab, die Arme ihres
Mannes fingen fie auf. Man vergaß Klofter und Klo—
ſtergeſetze, ſie uͤberließen ſich ganz der Leidenſchaft, die
erſt jetzt in ihnen erwachte; der Bruder Placidus,
vergaß ſeine Gebete zum Himmel zu ſchicken, Kuͤſſe,
Seufzer und Umarmungen ließen ihm nicht Zeit, zu
Worte zu kommen und als er endlich wieder Athem ge—
wonnen hatte, war es zu ſpaͤt. |
Der Pater ward gefund, die Wangen der Nonne
faͤrbten ſich wieder: beide reiſten in ihr Klofter zurück.
Bald ward die Nonne, die ihr Geluͤbde vergeſſen
hatte, durch ein Pfand unter ihrem Herzen daran erin—
nert. — Was konnte man thun? Sie ſuchte ihre
Schwangerſchaft zu verbergen, die man demungeachtet
bald entdeckte. Sie geſtand ihr Verbrechen, man ver—
hoͤrte den Pater Placidus, beider Ausſagen ſtimm⸗
ten vollkommen uͤberein. — Ihr Verbrechen kam vor
billige, menſchliche Richter; man erwaͤgte, daß ſie durch
das Anſehn der Kirche, Mann und ar wären, man
verzieh ihnen.
Die Nonne kam mit Zwillingen nieder, wovon der
männliche kein anderer iſt, als der Held der Geſchichte,
250
Peter Lebrecht. Um feine Abkunft zu verbergen,
hatte man ihn einer Baͤuerin mit dieſem unaͤchten Na⸗
men zur Erziehung uͤbergeben.
Von meiner Schweſter hatte Frau Marthe weiter
keine Nachrichten, als daß man ſie in ein entferntes
Dorf einer gewiſſen Frau Moͤhring zu erziehen ge—
geben habe. —
Es war unterdeſſen unter der Linde Abend gewor⸗
den, ich ging mit der Erzaͤhlerin wieder in die Hütte,
wir ergoͤtzten uns in freundſchaftlichen Geſpraͤchen und
an einem laͤndlichen Abendeſſen, dann ging ich ſchlafen.
Froh und munter erwachte ich, ich beſchenkte meine
Pflegeeltern und verließ ſie nach vielen zaͤrtlichen Um⸗
armungen.
Dreizehntes Kapitel.
Ich verliere mein Amt und gewinne einen Prozeß.
Man hatte mich auf den Weg nach dem Gute des
Praͤſidenten gebracht und ich ging jetzt unter mancherlei
Gedanken meine Straße. Ich hatte eine Braut verlo—
ren, war in eine Grube gefallen, hatte meine Pflege:
eltern gefunden, um den Namen und die feltfame Ger
ſchichte meines wahren Vaters zu erfahren. Jetzt wußte
ich zugleich, warum ich in meiner Kindheit eine ſo große
Vorliebe fuͤr den geiſtlichen Stand gehabt hatte. —
Ich hatte Stoff genug zum Nachdenken und ſtand
ſchon, ehe ich es vermuthete, vor dem Landhauſe des
Praͤſidenten.
231
Man war meinetwegen in großer Angſt geweſen,
man hatte gefuͤrchtet, ich koͤnnte in meiner Melancholie
wohl gar einen deſperaten Entſchluß faſſen; Louiſe
war noch immer nicht aufgefunden.
Ich ging mit dem Praͤſidenten auf ſein Zimmer und
erzaͤhlte ihm mein Abentheuer und meine Entdeckung;
er war erſtaunt und dachte lange uͤber die ſonderbare
Geſchichte nach. Es entſtand jetzt die Frage, ob man
mir die Guͤter, die mir eigentlich gehoͤrten, nicht wie—
der verſchaffen koͤnnte: er verſprach, mich mit ſeinem
ganzen Einfluſſe zu unterſtuͤtzen.
In weniger Zeit war ein foͤrmlicher Prozeß 89
leitet. In dieſer Periode meines Lebens ward ich es
vorzuͤglich inne, wie unſchaͤtzbar ein Freund iſt, deſſen
Macht uns beſchuͤtzen kann: der Ausgang meines Strei—
tes waͤre immer zweifelhaft geweſen, ja es iſt mir jetzt
ſogar wahrſcheinlich, daß ich den Prozeß verloren, wenn
ſich der Praͤſident nicht meiner vaͤterlich angenommen
haͤtte. Durch ſeine Freunde und durch Leute, die wieder
Gefaͤlligkeiten von ihm erwarteten, brachte er es endlich
dahin, daß die Guͤter, die bis jetzt ein Eigenthum mei⸗
ner Verwandten geweſen waren, mir zugeſprochen
wurden.
Ich war jetzt Herr eines großen Vermoͤgens; um aber
allen kuͤnftigen Chikanen zu entgehn, verkaufte ich meine
Beſitzungen ſogleich wieder fuͤr eine ſehr anſehnliche Summe
an meine Verwandten, und beſchloß nun, erſt eine Ge—
gend aufzuſuchen, wo es mir genug gefiele, um mich
dort haͤuslich niederzulaſſen.
Ich dankte dem Praͤſidenten, dem ich n nie genug danken
konnte, legte mein noch nicht angetretenes Amt wieder
nieder und machte mich zur Abreiſe fertig. Ich hoffte
232
auch noch meine Braut unterwegs anzutreffen und diefe
Hoffnung war eine Urſache mehr, ſehr bald abzureiſen.
Ich brachte mein Geld auf eine ſichere Art unter,
beſuchte noch einmal meine guten Pflegeeltern und ber
lohnte, ſo viel als moͤglich iſt, ihre Liebe fuͤr mich;
dann machte ich mich auf den Weg, um Abentheuer aufs
zuſuchen. |
Vierzehntes Kapitel.
Ich lerne meinen Vater perſoͤnlich kennen.
Es ſiel mir ein, daß es doch wohl nicht mehr als billig
ſei, mich nach meinen eigentlichen Eltern zu erkundigen.
Auf meine Erkundigungen erfuhr ich, daß meine Mut—
ter ſchon geſtorben ſei, daß aber mein frommer Vater
noch lebe. Ich reiſte ſogleich nach der Gegend, in
welcher ſein Kloſter lag.
Die Gegend war einſam, aber ſehr agen das
Kloſter lag auf einem Berge, von wo man weit umher
bluͤhende Gefilde und Staͤdte und Doͤrfer uͤberſahe.
Ich ließ mich im Kloſter melden und empfand einen
kleinen Schauder, als ich die dunkeln Kreuzgaͤnge hin—
unter ging nnd in die engen trüben Zellen der Mönche
hineinblickte. Das Kloſter kam mir vor, wie eins von
den dunkeln unterirdiſchen Zauberſchloͤſſern, von denen
ich zuweilen in meiner Kindheit hatte erzaͤhlen hoͤren,
in welchen eine Schaar von Menſchen auf ihre Lebens—
zeit hineingebannt war, um hier wie in einem Grabe
zu exiſtiren.
23
Ich hatte gleich nach Endigung meines Prozeſſes wies
der meinen ſchlichten Namen Peter Lebrecht ange—
nommen und unter dieſem ließ ich mich beim Pater
Placidus melden. Er ſtand bei einem Blumenbeete
und betrachtete mit einem aufmerkſamen Auge die aufbluͤ—
henden Aurikeln. Sehn Sie, kam er mir mit einem
heiligen Ton entgegen, wie man allenthalben in der
Natur die Erinnerung an den Tod findet, alles winkt
und deutet auf unſre Sterblichkeit, damit uns der
Gedanke an den Tod ſtets einen neuen Antrieb zue
Tugend gebe. |
Ich verbeugte mich und ſah ihn mit einem mitlei⸗
digen Laͤcheln an, mit einer andaͤchtigen Miene wandte
er ſich wieder zu ſeinen Aurikeln.
O armſeliges Menſchengeſchlecht! dachte, oder PR
ich meinem Innern: auserleſen, um die Liebe zum
Leben wie eine Suͤnde zu betrachten. Ihr Elenden, die ihr
hier lebendig eingegraben ſeid, auf immer von der Natur
und allen ihren Freuden verſtoßen! Losgeriſſen von
allen Menſchen, iſt euch die Thaͤtigkeit, das Wirken
unmoͤglich, Geſaͤnge ſind eure Tugend, eine verſaͤumte
Hora euer Laſter; wenn ihr euer eingeſunkenes Auge in
truͤbem Gruͤbeln auf ein welkes Blatt heftet, ſo bildet
ihr euch ein, mehr gethan zu haben, als der Mann,
der im Getuͤmmel der Welt mit himmliſcher Menſchen—
freundlichkeit ſeine ſinkenden Bruͤder unterſtuͤtzt. — Was
iſt bei euch Tugend? — Die Regeln Eures Ordens. —
Das geadelte Leben des Menſchen iſt die Ausbildung
ſeiner Vernunft und ſeiner Gefuͤhle, euch iſt beides
unnuͤtz und unmoͤglich. Jedermann ſtrebt aus dem
dumpfen Schlaf zu erwachen, der ihn an die Thierheit
N
234
feſſelt und ener Daſein ift ein einziges Beſtreben, immer
tiefer und tiefer in dieſen Todesſchlaf zu verſinken.
Es war ſehr gut, daß mein frommer Vater nichts
von dieſem inwendigen Geſpraͤche verſtand, er nahm
mein Stillſchweigen fuͤr mitgefuͤhlte Andacht und fuͤhrte
mich mit großer Zufriedenheit durch alle Gaͤnge des
kleinen Gartens, zeigte und erklaͤrte mir das, was ange—
pflanzt war, und konnte nicht genug eine Paſſions—
blume, die in der Nacht ae war, bewun⸗
dern.
Ich bat ihn, mir auch ſeine Zelle zu zeigen. Wir
verließen den Garten und er fuͤhrte mich auf ſein enges,
dunkles Zimmer. Matt und gedaͤmpft brach der muntre
Sonnenſchein durch die kleinen getruͤbten Scheiben, ein
Krucifix hing an der kahlen ſchwarzen Wand, ein andres
ſtand auf einem kleinen Tiſche, in einem Winkel ein Bett.
Ich ſagte ihm hier, wer ich ſei und ſchloß ihn in
meine Arme. Eine milde Roͤthe leuchtete in ſeinem
blaſſen Angeſichte auf, er ſchien verlegen, er ſchlug die
Augen nieder und druͤckte mich dann mit Innigkeit an
ſeine Bruſt. Mein Sohn! rief er aus; o ich danke
dem Himmel, daß er meine Bitten erhoͤrt hat, und ihn
mir von Angeſicht zu Angeſicht zeigt!
Wir ſetzten uns beide und der alte Mann ſchien ſich
Bug vielen Jahren zum erſtenmale wieder als Menſch
zu fuͤhlen.
Aber, mein Sohn, ſagte er nach einer langen Pauſe,
in welcher er mich aufmerkſam betrachtet hatte, ich finde
in deinem Geſichte eine auffallende Aehnlichkeit mit dei—
ner Mutter, folge ihrem und meinem Beiſpiele und
verlaß das unruhige Getuͤmmel der Welt, wo unſer
ganzes Leben nichts als ein Kampf gegen Laſter und
235
Schwachheiten iſt. Zwiſchen den ſtillen Mauern eines
Kloſters kannſt du ruhig leben, ohne zu fuͤrchten, Gott
in jedem Augenblicke zu beleidigen; jeder Tag hat hier
ſein beſtimmtes Tagewerk, ein Gebet reiht ſich an das
andre, keine Verſuchungen fallen dich an. Hier giebt
es keine Vorfälle, in welchen du das Gleichgewicht vers
lieren und ungewiß ſein kannſt, ob die Tugend in
einer gewiſſen Lage wohl Tugend ſei. Nein, hier
geht dein Leben immer gerade aus, folge meinem Rathe,
mein Sohn, und meinem Beiſpiele.
Ich fand dazu jetzt weniger Beruf als je; ich nahm
einen zaͤrtlichen Abſchied von meinem Vater und verließ
feinen truͤbſeligen Aufenthalt. — Er ſah mir wehmuͤ—
thig nach, als ich wieder in das unruhige Gewuͤhl des
Lebens und der Menſchen hinunterging; ich habe ihn
ſeitdem nicht wieder geſehn.
Funfzehntes Rapitel.
Reiſebeſchreibung.
Ich komme nun endlich zu einem Kapitel, auf das ich
mich ſchon vom Anfange meines Buchs gefreut hatte,
weil es eigentlich das werden ſollte, welches meiner
Erzaͤhlung ihren eigentlichen Werth und ihre Nutzbar—
keit geben ſollte: und nun ich endlich ſo weit gekommen
bin, weiß ich nicht recht, was ich mit dieſem Kapitel
anfangen ſoll. Ganz auslaſſen moͤcht' ich es nicht gern,
und doch weiß ich nicht eigentlich, was ich erzählen ſoll.
Ich hatte mir naͤmlich vorgenommen, hier eine gruͤnd—
236
liche ſtatiſtiſche Nachricht von ganz Europa einzuſchalten,
um dadurch mein Buch fuͤr die leſebegierige Jugend
recht nuͤtzlich und anziehend zu machen, mir auch dane—
ben die naſeweiſen Anmerkungen mancher Recenſenten
abzuweiſen, daß meine ganze Erzaͤhlung keinen eigent—
lichen praktiſchen Nutzen habe. Ich hatte mir ſchon
alle Buͤcher zurecht gelegt, die ich hier ausſchreiben
wollte, als mir zu meinem groͤßten bee einige
Bedenklichkeiten einfielen.
Die gefaͤhrlichſte Klippe eines Schriftſtellers iſt Can
geweile; wer vor dieſer gluͤcklich vorbeiſegelt, hat
immer ſchon einen ſehr großen Vortheil gewonnen, wenn
ſein Schiff auch nur mit Ballaſt geladen ſein ſollte. Ich
fuͤrchtete alſo, und wahrſcheinlich ſehr mit Recht, daß
dieſe vortreffliche Ladung fuͤr mein kleines en. .
ſchwer ſein wuͤrde, und ließ alles liegen.
Ich will alſo nur ohne alle geographiſche und ſtati⸗
ſtiſche Nachrichten erzählen, daß ich zuerſt Deut ſch—
land, mein geliebtes Vaterland, durchreiſte. Man koͤnnte
mich am Ende fuͤr einen gefaͤhrlichen Menſchen halten,
wenn ich von dieſem Lande nicht alles Gute ſagte und
darum will ich lieber gar nichts davon ſagen. 1
In Frankreich mißfielen mir die Reichen und
jammerten mich die Armen: vor lauter bon ton konnte
man mit Niemand umgehn. Ich hielt mich aber doch
ziemlich lange in dieſem Lande auf, weil es mir im
Ganzen außerordentlich gefiel.
Daß ich mich verleiten ließ, uͤber die Pyrenden zu
gehn, um dem altfraͤnkiſchen, rechtglaͤubigen, hausmuͤt—
terlich faulen Spanien einen Beſuch abzuſtatten, mag
mir der Himmel vergeben, denn es gereut mich noch
am heutigen Tage. Ich war in einer unaufhoͤrlichen
—
237
Angſt vor der heiligen Inquiſition; ein paarmal ward
ich auf der öffentlichen Landſtraße beraubt, und zwar
von denſelben Leuten, die ich fuͤr mein Geld angenom—
men hatte, um mich gegen Raͤuber zu ſchuͤtzen.
In Italien hatte ich mancherlei Abentheuer, die
aber zu weitlaͤuftig ſind, als daß ich ſie hier erzaͤhlen
koͤnnte. Von den Antiken habe ich viel gelitten; ich
ließ mir zum Ungluͤcke einfallen, ein Kunſtkenner zu
werden, und da bin ich um vieles Geld betrogen wor—
den. Eine Menge ganz moderne Antiken ſtehn noch
immer in meinem Studirzimmer und predigen mir un—
aufhoͤrlich die Wahrheit: „Was deines Amts nicht iſt,
da laß deinen Fuͤrwitz!“ — Indeſſen, was hätte ich
auch Großes damit anfangen koͤnnen, wenn alle die
Onyxe und Carniole, die ich beſitze, nun auch wirklich
unter Auguſt oder Tiber geſchnitten waͤren? Sie
kommen mir jedesmal, wenn ich ſie betrachte, recht nied⸗
lich vor, und ſo habe ich ihnen denn den Fehler, fuͤr
den ſie gar nicht koͤnnen, vergeben: daß naͤmlich das
Alterthum nicht an ihnen klebt. — Doch betrachte
ich einen ſchoͤngeſchnittenen Kaͤfer immer mit einer
vorzuͤglichen Ehrfurcht, weil ich von dieſem glaube, daß
er aͤcht iſt: er hat vielleicht vor zweitauſend Jahren eins
mal an einer aͤgyptiſchen Kinderklapper ſeine Rolle ge—
ſpielt. — In Neapel waͤr' ich faſt erſtochen worden,
weil man eiferſuͤchtig auf mich war, doch kam ich durch
einen Zufall noch mit dem Leben davon: o, der Zu—
fall iſt ein herrliches Ding, ihm hat der Leſer dieſe
ganze Geſchichte zu danken, denn waͤre ich in Neapel
erſtochen worden, ſo haͤtte ich hoͤchſtens ein Geſpraͤch im
Reiche der Todten ſchreiben koͤnnen, und die ſind jetzt
aus der Mode gekommen.
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Ich reiſte über Frankreich zuruͤck und von da nach
England. Die ganze Inſel iſt voll von ſeltſamen
Leuten, ein gutes Volk und ein boͤſes, je nachdem man
es gerade trifft, oder macht; phlegmatifch und voll Enthu—
ſiasmus. — Ich beſah alle Merkwuͤrdigkeiten des Lan—
des, aber nirgends ſchlug in mir mein Herz ſo hoch
und ſo ungeſtuͤm, als in dem Hauſe, in welchem
Shakſpeare geboren iſt. Ich ſah im Geiſte den gro—
ßen Sterblichen dort durch die Zimmer gehn; ich be—
lauſchte ihn bei ſeinen Arbeiten, die ſeiner Feder ent—
floſſen zu ſein ſchienen, ohne daß er ſelbſt ihr hohes
Gepraͤge, ihre Goͤttlichkeit geahndet hat. — Es gab
mir einen Stich ins Herz, als ich vor der Kirche in
Stratford vorbeiging, in welchem ſeine Aſche ruht, daß
auch er, wie der Elendeſte ſeines Geſchlechts, durch das
Leben hat hindurchgehen muͤſſen, ohne daß wir es be—
greifen koͤnnen, wohin er gegangen iſt.
Ich wollte nicht weiter nach Norden reiſen, weil
ich einen großen Abſcheu vor dem Froſte habe; ich bes
ſchloß alſo, in mein Vaterland zuruͤckzukehren.
Allenthalben machte ich die Erfahrungen, die Scar—
mentado auf ſeinen Reiſen gemacht hat. Es iſt alſo
uͤberfluͤſſig, wenn ich noch ein Wort über meine Wan⸗
derungen ſage.
Sechzehntes Kapitel.
Hannchen.
Ich kam zuruͤck und mein alltaͤgliches Vaterland kam
mir nach meinen Reiſen mit einemmale ganz neu vor.
So wie ein altes Kleid, das wir verdruͤßlich in den
Schrank haͤngen und es in langer Zeit nicht anſehn,
uns hernach wieder beſſer und neuer vorkommen kann;
ſo ging es mir gerade mit meinen Landsleuten, mit
ihren Sitten, ihrer Sprache, ihren Städten und Doͤr—
fern, Weibern und Toͤchtern. Das Alltaͤgliche und
Langweilige beſtimmen und meſſen wir immer nach dem,
was dicht um uns herum iſt, das, was uns ergoͤtzen
ſoll, ſuchen wir immer in der Ferne. Von Jugend
auf iſt es unſer Studium geweſen, uns alles Fremde,
Sitten, Sprache, Kleidertrachten u. ſ. w. gewoͤhn—
lich zu machen; wir ſollten es nur einmal verſuchen,
uns das Gewoͤhnliche fremd zu machen, und wir
wuͤrden daruͤber erſtaunen, wie nahe uns ſo manche
Belehrung, ſo manche Ergoͤtzung liegt, die wir in einer
weiten, muͤhſamen Ferne ſuchen. Das wunderbare
Utopien liegt oft dicht vor unſern Fuͤßen, aber wir ſehn
mit unſern Teleskopen daruͤber hinweg. —
Ich kam alſo in Deutſchland zuruͤck: der Praͤſi—
dent war indeß geſtorben, und ſein aͤlteſter, genievoller
Sohn hatte die Welt noch immer nicht erleuchtet, ich
hoͤrte nichts von Louiſen und hatte ſie, ich muß es
zu meiner Schande geſtehn, faſt vergeſſen, —
Ich bin ein ſehr großer Freund von Fußreiſen, und
240
auf dieſe Art durchſtreifte ich auch einſt eine der ange;
nehmſten Gegenden von Deutfchland, die in einer ziem—
lichen Entfernung von W... und dem Orte meiner
Erziehung lag. — Es war am Nachmittage und die
Sonne ziemlich ſchwuͤl, als ich in ein dichtes, ange⸗
nehmes Gehoͤlz trat. Mir fiel von ungefähr mein
Abentheuer im Walde und in der Fuchsgrube wieder
ein und natuͤrlicherweiſe auch meine ſeltſame Hochzeit
mit Louiſen, die noch immer nicht vollzogen war. Ich
ging mit dieſen Gedanken einen angenehmen Fußſteig
hinab, der ſich in hundert Kruͤmmungen um die Baͤume
ſchlaͤngelte, bald einen kleinen Huͤgel hinauf, bald wie—
der in ein niedliches Thal hinabfuͤhrte; die Sonne
konnte nur an einzelnen Stellen durch die dichtgefloch—
tene gruͤne Decke des Waldes dringen und eine lieb—
liche Kuͤhlung ſaͤuſelte in den Gebuͤſchen; ich uͤberließ
mich meiner poetiſchen Stimmung und mochte wohl ein
paar Stunden ſo gegangen ſein, als ich ploͤtzlich bei
einer alten Eiche ſtill ſtand und meinen Gang und
meine Gedanken unterbrach.
Die Urſache dieſer Unterbrechung war ein allerlieb—
ſtes Bauermaͤdchen, das ſich auf die anmuthigſte Art
von der Welt im Schatten des Baums gelagert hatte
und dort unbefangen und ſorgenlos ſchlief. Ihr blon⸗
des Haar hatte ſich aufgeloͤſt und wiegte ſich im Graſe,
ihre weiße Bruſt hob ſich ruhig, ihr Arm hing noch
halb an einem Koͤrbchen, das mit Fruͤchten angefuͤllt
neben ihr ſtand. |
Ich blieb ſtehn und konnte von dem reizenden Schau⸗
ſpiele mein Auge gar nicht wieder wegwenden. —
Wenn nur keine Schlange, oder kein Thier ihr zu nahe
241
koͤmmt, fagte ich zu mir ſelbſt, und beſchloß, hier fo
lange Acht zu geben, bis ſie aufgewacht ſein wuͤrde.
Welch ſchoͤnes Geſicht! ſagte ich leiſe, welche fri—
ſchen Lippen! Welche Unſchuld auf den Wangen! —
Wenn in dieſem Koͤrper eine unbefangne Seele wohnt,
ein gerader und richtiger Verſtand, was koͤnnte ſich dann
ein ehrlicher Mann wohl mehr an der Gefaͤhrtin ſeines
Lebens wuͤnſchen? — Vielleicht Sprachen? — Damit
fie ſich in keiner natürlich ausdruͤcken koͤnnte. — Mu:
ſik? — Ein einfaches Maͤdchen hat gewoͤhnlich einen
Inſtinkt zum Singen, wie die Voͤgel im Walde, und
ihre Geſpenſtergeſchichten und naiven Schaͤferlieder ha—
ben mehr Sinn, als die langweiligen und gedrechſelten
Arien und Rondos, mit denen die Ohren in den Kons
zerten und Schauſpielen ſo oft geplagt werden: troviale
Allgemeinplaͤtze in Poeſie und Muſik. — Feine Welt? —
Ich liebe die ungekuͤnſtelte ungeſchminkte Natur mehr. —
Stand? — Ach guter Peter Lebrecht, von dieſem Vor—
urtheile haſt du dich ja ſchon lange losgemacht.
Nun denn alſo, Freund, was hindert dich, ſo
gluͤcklich zu werden, als es ein Menſchenkind auf dieſer
Welt nur werden kann? — Fuͤhlſt du nicht ſchon einen
geheimen Zug, der dich an dieſes Maͤdchen feſſelt? —
Lege, wenn ſie erwacht, ihre Hand in die deinige, und
lade in dieſer ſchoͤnen Gegend ein ſtilles, haͤusliches
Gluͤck bei dir zu Gaſte! — Vergiß die ganze leere ge—
raͤuſchvolle Welt und lebe dir, der Liebe und der Men—
ſchenfreundlichkeit in einer gefuͤhlvollen, lebendigen Ein—
ſamkeit!
Aber halt, Freund Lebrecht, daß du auch nicht die
Rechnung ohne den Wirth machſt! — Sollte ſich dies
XIV. Band. 16
242
Mädchen nicht irgend einen gefunden, geraden jungen
Burſchen zum Geliebten auserfohren haben? Willſt du
das Gluͤck zweier Menſchen ſtoͤren, und dich mit deinen
Antraͤgen in die Eintracht der Familien draͤngen? —
Nun, wir wollen den Erfolg abwarten.
Ich ſtand noch eine ganze Weile ſo und ſprach und
diſputirte mit mir ſelber. Endlich ſchlug das Maͤdchen
ein Paar große, himmelblaue Augen auf; es war, als
wenn ſich am erſten Fruͤhlingstage die Wolken verziehn
und ein warmer Sonnenblick durch den blauen Luftraum
dringt. Sie ſahe mich und ward verlegen, ſie wußte
nicht, was ich wollte und was ſie aus mir machen
ſollte. — Mein Herz war warm geworden und es waͤre
mir etwas Leichtes geweſen, in Verſen zu ſprechen; da
ich ſie aber damit nicht erſchrecken wollte, ſchwieg ich
noch eine Weile ſtill, um meinen Verſtand zu einer ge—
ſetzten Proſe zu ſammeln.
Wir erklaͤrten uns endlich gegenſeitig und ich bot
mich an, ſie nach Hauſe zu begleiten. Sie hatte nichts
gegen dieſen Antrag einzuwenden und wir gingen nun,
ſo viel als moͤglich war, den Fußſteig neben einander.
Unterwegs erzaͤhlte ſie mir, daß ihr Vater ein Paͤchter
und dabei ein guter Mann ſei, daß er viel auf ſie
halte, weil ſie ſeine einzige Tochter ſei, und daß ſie
ihm auch alles zu Gefallen thue, was ſie ihm nur an
den Augen abſehen koͤnne: daß fie ein gewiſſer Ch ri—
ſtel gern heirathen wollte, daß ſie ihn aber nicht moͤge,
weil er ihr zu dumm ſei, daß ich nur zu ihrem Vater
mit hinein kommen ſolle, daß er gerne mit fremden
Leuten umgehe, um ſich von ihnen etwas erzaͤhlen zu
laſſen.
243
Ich ward von dem Mädchen, von ihrer Unbefan—
genheit und der Art ſich auszudruͤcken, immer mehr be—
zaubert; die zutrauliche Daͤmmerung, die jetzt herein—
brach, und den Wald geheimnißvoll und magiſch machte,
trug auch das ihrige dazu bei, um mich an das ſchoͤne
Maͤdchen noch mehr zu feſſeln.
Wir kamen jetzt an einen kleinen runden See, in
dem ſich die Abendroͤthe ſpiegelte, an der Seite lag ein
niedliches Haͤuschen und daneben ſtreckte ſich ein kleines
Dorf einen Huͤgel hinan. Es war ein erquickender
Anblick, die Huͤtten zu ſehn, vor uns das Waſſer und
den gruͤnen, daͤmmernden Wald. Wir gingen in das
Haus und der Vater empfing mich ſehr freundlich: er
war ſchon ſeiner Tochter wegen beſorgt geweſen und
dankte mir ſehr herzlich, daß ich ſie nach Hauſe beglei—
tet hatte. — Es war ein gerader, ſchlichter Mann, der
gern Neuigkeiten hoͤrte und gern erzaͤhlte, der ſich fuͤr
einen der merkwuͤrdigſten Menſchen in der Welt hielt,
weil er in ſeinem Dorfe der angeſehenſte war. Aber
bei allen ſeinen Schwachheiten war Paͤchter Martin
doch ein ſehr liebenswuͤrdiger Mann, wenn man es
naͤmlich uͤberhaupt der Muͤhe werth finden will, die
Menſchen zu lieben.
Ich blieb einige Wochen im Dorfe, ich wurde beim
Vater immer mehr bekannt und mit Hannchen immer
vertrauter. Ich entdeckte mich dem Alten und er war
vor Entzuͤcken außer ſich, daß er einen Schwiegerſohn
bekommen ſollte, der kein Bauer waͤre: wie die Welt
da die Augen aufreißen wuͤrde, meinte er.
Ich ſpielte mit Hannchen noch einmal daſſelbe tän-
delnde Spiel durch, das meine Phantaſie ſchon einmal
16 *
244
in Louiſens Gegenwart befchäftigt hatte: nur war Hann:
chen noch weit ungekuͤnſtelter als Louiſe, fie verliebte ſich
wirklich in mich, da bis jetzt noch kein Gegenſtand ihr
Herz geruͤhrt hatte.
Die Liebe iſt ein Fruͤhling, der uns in jedem Jahre
von neuem entzuͤckt: in jedem Mai bilden wir uns ein,
noch kein einzigesmal fo empfunden zu haben.
Es giebt in dieſer Welt kein ſchoͤneres Schauſpiel,
als der Anblick einer guten, unbefangenen Seele, die
uns mit jedem Tage mehr entgegenkommt, ſich mit
jeder Stunde inniger an unſer Herz ſchließt, auf jeden
Ton des Mundes horcht, und jede Meinung des Ge—
liebten, auch uͤber den geringfuͤgigſten Gegenſtand,
wichtig und voll Bedeutung findet. Eins lebt und
wohnt im Auge des andern, die Blicke auf einander ge—
heftet, die Haͤnde in einander gedruͤckt, die Seelen in
einander geflochten, wandeln ſie durch ein Paradies und
bleiben bei jeder Blume mit gemeinſchaftlichem Ent—
zuͤcken ſtehn. — O wer nie geliebt hat, gleicht dem
Wurm, der in ſeinem eigenen, engen Geſpinnſte ſtirbt:
er lebt in einem truͤben, beſchraͤnkten Eigennutz, er
kennt nur den ſchlechtern Theil ſeines Weſens. Wohl
ihm, wenn auf den Wink der Liebe ſich die glaͤnzenden
Fittige aus ihm entwickeln, neue Sinne aufthun und
ihm neue Freuden bruͤderlich entgegenkommen; in der
Liebe der Geliebten findet er ſich verjuͤngt, neue Tu—
genden wachen in ſeinem Buſen auf, alles, was wuͤſt
und dunkel in ihm lag, wird wie vom goldnen Schein
der Morgenſonne erleuchtet.
Ich ward mit Hannchen verlobt, und wir waren
beide unausſprechlich gluͤcklich. —
Siebzehntes Kapitel.
Seltſame Zuſammenkunft.
Um Hannchen Vergnuͤgen zu machen, beſuchte ich zu—
weilen mit ihr die benachbarten Gegenden. Sie freute
ſich außerordentlich, wenn ſie ſah, wie die Welt doch
weit größer ſei, als fie fie ſich gedacht hatte; jede Kleis
nigkeit war ihr merkwuͤrdig.
So beſuchten wir einige merkwuͤrdige Ruinen, die
ungefaͤhr zehn Meilen von unſerm Dorfe lagen. Es
war ſchoͤn Wetter, eine ſchoͤne Gegend, durch die der
Wagen raſch dahinfuhr, wir waren ſehr froh und zu—
frieden. Hannchen ergoͤtzte ſich an der Ausſicht von der
zertruͤmmerten Burg herab und fuͤrchtete ſich dann wie:
der vor den wilden, zerſtreuten Steinmaſſen. — Ein
kleiner Junge kletterte ſehr dreiſt unten am Berge herum,
er ſchien kaum fünf Jahr zu haben; ploͤtztich fiel er
von einem ſteilen Abſatz des Berges hinunter, Hann:
chen ſchrie laut auf und ich ſprang hinab, um ihm zu
helfen. a
Er war verwundet, aber nicht gefaͤhrlich; ich fragte,
wo er hin gehoͤre, und er zeigte auf ein naheſtehendes
großes Haus. Hannchen ging wieder in's Wirthshaus
und ich trug das Kind ſelbſt hinuͤber.
Ich ſahe, daß das Haus einem Edelmann gehoͤren
muͤſſe, denn mir kamen mehrere Bediente entgegen; ich
ließ mich melden, die Mutter ſaß in ihrem Zimmer.
246°
Kaum hatte fie die Nachricht vom Vorfalle bekommen,
ſo flog ſie weinend auf das Kind zu, kuͤßte es heftig
und ſchalt dann wieder feine Unart, verband es ſorg⸗
faͤltig und gebot ihm, ſich kuͤnftig mehr in Acht zu
nehmen. — Erſtarrt, erſchrocken und wie in einem
Traume ſtand ich indeſſen an einer Wand gelehnt,
denn dieſe Mutter war Niemand anders, als meine
Louiſe.
Sie that einen lauten Schrei, als fie mich bemerkte.
Sie ſchien ungewiß, in Zweifeln, ob ſie ſich auch nicht
irre: ein Bedienter ging indeß durch das Zimmer, und
nannte von ungefaͤhr eine Frau Moͤrnig, die das
Kind ſchon wieder heilen wuͤrde. Der Name war mir
bekannt, ich ward nachdenkend und glaubte am Ende
den wunderbaren Zuſammenhang des Ganzen gefaßt
zu haben.
Ich erkundigte mich nach dieſer Frau, ſie war die
Erzieherin Louiſens geweſen; ich ſank jetzt mit neuer
Liebe an Louiſens Bruſt, es war meine Schweſter.
Sie fand ſich bald in den Zuſammenhang unſrer
Geſchichte, ſie erzaͤhlte mir, daß ſie an unſerm Hoch—
zeittage von Baͤrenklau entführt ſei; daß fie ihn ans
fangs gehaßt und beſtaͤndig geweint habe, fortgefahren
habe, ihn zu haſſen, aber ohne zu weinen, daß ſeine
Bemuͤhungen, ſeine unabaͤnderliche Liebe endlich ihr
Herz geruͤhrt haͤtten, daß ſie nun von neuem angefan—
gen habe zu weinen, daß von mir gar keine Nachrich—
ten angekommen, oder vielleicht alle von ihrem Gelieb—
ten verſteckt worden waͤren. Der Onkel ſei indeß ge—
ſtorben und ſie ſei ſeine Frau und Mutter von zwei
Kindern geworden.
247
Wir ſtanden noch Arm in Arm, als Baͤrenklau
hineintrat. Sein Erſtaunen war nicht geringe, mich
hier zu finden; er vereinigte ſeine Freude mit der unſri—
gen, als wir ihm unſre Entdeckung mittheilten.
Ich hatte mir indeß dicht bei meinem Schwieger—
vater ein kleines, aber bequemes Haus bauen laſſen,
ich ſah meine Schweſter oft und Hannchen alle Tage. —
Und was weiter?
Und hier iſt fuͤr's Erſte meine Geſchichte aus. Ich
ward mit Hannchen verheirathet, unſre Hochzeit war
ein Feſt fuͤr die ganze Gegend.
Und? —
O, ich ſehe, es iſt Zeit, daß ich meine Geſchichte
ſchließe. —
Achtzehntes Kapitel.
Iſt das vorletzte Kapitel. — Der Verfaſſer nimmt von
ſeinen Leſern Abſchied.
Hier waͤre nun alſo der erſte Theil meiner wahrhaften
Geſchichte beſchloſſen. Viele Leſer werden nicht begrei—
fen koͤnnen, was denn der folgende Theil enthalten
ſolle, da in dieſem nun alles, was etwa noch intereſſi⸗
ren koͤnnte, beigelegt und in Richtigkeit gebracht iſt. —
Man hat ſich in ſehr vielen Romanen daran gewoͤhnt,
daß jeder Theil mit einem Donnerſchlage ſchließt und
der Verfaſſer ſeine Leſer jedesmal auf der letzten Seite
plotzlich aus den Wolken fallen läßt, daß fie dann mit
einemmale daſtehn, ſich umſehn, und nicht wiſſen, wie
ihnen geſchehn iſt, dann häufig in den Buchladen oder
zum Buͤcherverleiher laufen, und ſich nach dem zweiten
Theile des intereſſanten Buches außer Athem
fragen. |
Für dieſe Leſer mein Buch auf die. gehörige Art
zu ſchließen, wäre wahrhaftig für mich das größte und
ſchwierigſte Kunſtſtuͤck geweſen. Denn wenn ich auch
unredlicherweiſe von der Wahrheit meiner Geſchichte
haͤtte abweichen wollen, welche Erfindung haͤtte ich wohl
auftreiben koͤnnen, um dieſe fluͤchtigen Goͤnner feſtzu—
halten? — Haͤtte ein ſchrecklicher, kleiner, laͤcherlicher,
graͤßlicher Kobold mein Haus mit einemmale beſuchen
und mir ein entſetzliches Ungluͤck prophezeien ſollen? —
249
Das ging nicht an, denn ich hatte gleich in meinem
erſten Kapitel geſagt, daß ich mich mit ſolchen Narren—
theidingen gar nicht einlaſſen wollte. — Oder haͤtte
meine Frau Hannchen wieder ploͤtzlich verſchwinden
ſollen? — Der Vorfall war in meiner Geſchichte ſchon
einmal da geweſen; obgleich viele Leute uͤberzeugt zu
ſein ſcheinen, daß eine Frau ein Gut ſei, das man
nicht zu oft verlieren und wiederfinden koͤnne.) —
Kurz, ich hätte wirklich keinen Ausweg gewußt.
Bei aͤhnlichen Buͤchern als der Genius, faͤllt mir
immer eine Geſchichte von einem Geizhalſe ein; viel
leicht iſt ſie nicht allen meinen Leſern bekannt, und da
ſie nur kurz iſt, will ich ſie noch erzaͤhlen.
Ein Mann, der ſehr geizig war, wollte doch ſeinen
Freunden einmal ein Feſt geben. Er konnte es aber
nicht uͤber ſein karges Herz bringen, daß er von allen
Gerichten ſo viel beſorgt haͤtte, daß ſich ſeine Gaͤſte
hätten fättigen koͤnnen; um jeden Vorwurf aber von
ſich abzulehnen und es zugleich ſo einzurichten, daß von
den aufgetragenen Speiſen noch auf den morgenden Tag
etwas uͤbrig bliebe, erfand er folgendes Mittel. Er ſagte
naͤmlich gleich beim Anfang der Mahlzeit ſeinen Freun—
den von einem uͤberaus delikaten Kuchen, den er habe
backen laſſen, ſie moͤchten ſich alſo den Appetit nicht zu
ſehr an den ſchlechtern Speiſen verderben. Die Erwar—
tung war geſpannt, der Gaumen gereizt, man aß von
allen Schuͤſſeln nur wenig, weil man immer den vor—
trefflichen Kuchen erwartete. Er kam aber nicht, der
Wirth entſchuldigte ſich damit, der ganze edle Kuchen
ſei ungluͤcklicherweiſe die Treppe herunter gefallen, und
„) Siehe den Genius von Groſſe.
250
die getaͤuſchten Gaͤſte mußten nun ihren Hunger mit
Brot und ſchlechter Butter befriedigen.
Haſt du nicht, lieber Leſer, ſtatt dieſes verſprochenen
Kuchens, eine Schuͤſſel ausgemerzter tauber Nuͤſſe im
Genius und andern Erzaͤhlungen dieſer Art gefunden?
Fern ſei es daher von mir, irgend etwas zu verſpre—
chen, was ich nicht im Stande bin, zu halten. — Fuͤr
wen dieſer erſte Theil nicht ganz langweilig geweſen iſt,
dem verſpreche ich auch im folgenden einige Unterhaltung;
dieſer Leſer kann dann dieſen erſten Theil gewiſſermaßen als
eine Vorrede zum zweiten anſehn, in welchem ſich Charak—
tere, Perſonen und ihre Art zu denken mehr ent—
wickeln werden. —
Ich habe im ſchlechten Wetter dieſes erſte Bändchen,
neben meiner Frau ſitzend, geſchrieben. Es werden noch
mehr regnichte Tage einfallen und ich habe noch manches
auf dem Herzen, woruͤber ich wohl mit einem guten
Freunde ſchwatzen moͤchte. Wenn alſo zuweilen jemand
von den ewigen Revolutionen und politiſchen Syſtemen,
philoſophiſchem Gezaͤnk und myſtiſchen aͤſthetiſchen Ab:
handlungen, Geiſter- und Rittergeſchichten muͤde und
betaͤubt weggeht, um ſich zu erholen, und ich habe ihm
nicht ganz mißfallen, ſo kann er mich am kleinen See
vor meiner Thuͤr ſitzend antreffen und ich will ihm dann
auf meine Art meine Geſchichte weiter vorſchwatzen, die
freilich kein Grauſen, kein Erſtarren, kein Zaͤhnklappen
erregt; aber deſto beſſer, ſo kommen meine Zuhoͤrer we—
nigſtens ohne Fieber davon.
251
Neunzehntes oder letztes Kapitel.
Die moraliſche Tendenz dieſes Buchs.
Beinahe haͤtt' ich noch zu guter Letzt das Beſte vers
geſſen und haͤtte meine Geſchichte ſo, wie einen Hund
ohne Schwanz, in die Welt hineinlaufen laſſen. Ich
haͤtte wahrhaftig mit meiner Zerſtreuung uͤbel ankom—
men koͤnnen, ich hätte lieber meine ganze Geſchichte uns
geſchrieben laſſen ſollen, als ſie ohne moraliſche Ten—
denz zu ſchreiben. — Wir ſind jetzt alle ſo ungemein
moraliſch geworden, daß wir in allen Kleinigkeiten außer
uns etwas Moraliſches ſuchen; ja, wir geberden uns
ganz wunderbar, wenn man unſrer uͤberfeinen Tugend
einen ſo gewaltigen Streich ſpielt und ihr etwa einen
Schwank oder eine luſtige Poſſe erzaͤhlt, die aber keine
moraliſche Tendenz hatte, denn das iſt der Kunſt—
ausdruͤck dafuͤr.
Dieſe moraliſche Tendenz, um es noch einmal zu
nennen, koͤmmt mir vor wie der Salat, den man zu
jedem poetiſchen Backwerke eſſen muß, um es ſchmack—
haft zu finden.
Keiner wird hoffentlich den moraliſchen Endzweck
meiner Erzaͤhlung verfehlen; es iſt naͤmlich kein andrer,
252
——
als daß ſich ja Niemand foll trauen laſſen, ohne vor:
her den Taufſchein feiner Frau zu ſehn. — Denn
wie viel Ungluͤck haͤtte daraus entſtehen koͤnnen, wenn
ich meine leibliche Schweſter geheirathet haͤtte? — —
Ende des erſten Theils.
Der Gebeimnipgvolle
NR Oo tie
Es war ſchon Abend, und ein Schneegeſtoͤber verdun-
kelte die Luft noch mehr, als die Wirthin des Gaſt—⸗
hofes den Aufwaͤrter befahl, das Thor des Hauſes zu
verriegeln. Bei dem Wetter, rief fie, koͤmmt doch
keine Herrſchaft mehr; der große Wagen iſt in die
Stadt gefahren, wie es immer geſchieht.
Wer weiß, antwortete der Diener, die Thore der
Feſtung werden nun geſchloſſen, und da iſt manchem
vornehmen Herrn ſchon mit unſerm Haufe gedient ge:
weſen. — Sieh da! rief er lebhaft, als ſich jetzt wirk⸗
lich ein Poſthorn vernehmen ließ, und die Pferde auch
ſchon im ſtarken Trabe herbei ſprangen, und vor dem
Hauſe ſtille ſtanden.
Kann ich ein geheiztes Zimmer haben? ſagte ein
junger Mann, indem er, ſich ſchuͤttelnd, herab ſtieg, das
Haus und die Wirthin vornehm muſterte, und zugleich
dem Poſtillion befahl, ſeinen kleinen Mantelſack in das
untere Gemach zu tragen, welches ihm die dienſtfer—
tige Wirthin vorerſt als ein durchwaͤrmtes angewieſen
hatte.
Das muß ein vornehmer Mann ſein, ſagte die
Magd zur Wirthin, als der Poſtillion mit ſeinem Wa—
gen wieder weggefahren war. Wie ſo? fragte dieſe.
Er hat ſich ſchon erkundigt, fuhr jene geſchwaͤtzig fort, ob
256
nicht eine Equipage angekommen fei, ihn von hier wel—
ter zu bringen. Indem trat der junge Mann heraus,
und befahl das Thor zu oͤffnen, weil er ſich noch ein
wenig im Freien umſchauen wollte. Zugleich beſtellte
er ein gutes und reichliches Abendeſſen, und ließ ſich die
Namen der vorraͤthigen Weine herſagen. Die Wirthin
lief aͤngſtlich in die Kuͤche, ſtellte die Maͤgde an, und
vermehrte das ſchon große Feuer, damit nachher der
gnaͤdige Herr nicht warten duͤrfe.
Es war voͤllig finſter geworden, als der junge Rei—
ſende zuruͤckkehrte. Indem er in das Thor wieder ein—
treten wollte, ſah er in der Ferne einige dunkle Geſtal—
ten naͤher ſchleichen; aber ehe er ſie noch unterſcheiden
konnte, ſtuͤrzte mit ihm zugleich und vor ihm vorbei
ein Unbekannter herein, der haſtig das Hausthor zu—
ſchlug, und ſich in demſelben Augenblick knieend und
flehend vor ihm hinwarf. Der junge Mann trat ver—
wundernd zuruͤck, jener aber ſprach gelaͤufig und gebildet
in einer fremden Sprache: machen Sie mich nicht un—
gluͤcklich, mein Herr; Ihre Großmuth flehe ich an,
Sie koͤnnen mich retten, wenn Sie mir nur erlauben,
hier im Hauſe zu bleiben, und wenn Sie das Wenige,
was meine Schlafftelle koſten kann, guͤtigſt bezahlen.
Verweigern Sie mir dieſe geringe Huͤlfe, ſo machen Sie
einen Ungluͤcklichen voͤllig elend, der mit ſeiner ganzen
Familie Ihnen gern als einem vom Himmel Geſandten
ſein ganzes Gluͤck zu danken haben moͤchte.
Die auf den Steinen des Thorweges hingeworfene
Geſtalt, der gute Ausdruck des Bittenden, das Ploͤtz—
liche der Begebenheit hatten den Juͤngling erſchreckt
und erſchuͤttert. Stehn Sie auf, rief er ihm ebenfalls
Franzoͤſiſch zu: wenn ich Ihnen helfen kann, muͤſſen
287
die Hausgenoſſen Sie nicht hier fo finden. Erheben
Sie ſich.
Der Aufwaͤrter kam mit Licht, da er das Thor
hatte zuwerfen hoͤren, und der Schein fiel auf eine
der ſonderbarſten Phyſiognomieen, die es dem Reiſen—
den faſt verleidete, daß er dem Bittenden ſeine Huͤlfe
zugeſagt hatte. Blaß und zitternd lehnte dieſer an der
Mauer, und wehrte mit einem dunkeln Tuche ſo viel
als moͤglich den Schein vom Geſichte ab; er war mit
einem ſchlechten Oberrock bekleidet, und eine Thraͤne,
die jetzt aus einem klaren blauen Auge trat, und ganz
die Angſt und Verlegenheit des Armen ausdruͤckte, ver—
mochte uͤber den jungen Mann ſo viel, daß er von ſeinem
erſten Verſprechen der Ueberraſchung nicht wieder ab⸗
ging. Hier iſt noch, ſagte er zu der herbeieilenden
Wirthin, ein Mann, der mir angehoͤrt, und den ich
Ihnen empfehle; er iſt mir mit Briefen nachgeſchickt.
Geben Sie ihm ein gutes Zimmer und Bett, Wein
und Abendeſſen; ich werde alles bezahlen.
Der Fremde, der alles zu verſtehen ſchien, verneigte
ſich anſtaͤndig; ſeine Lippen zitterten, er ſchien noch etwas
ſagen zu wollen, aber ploͤtzlich wandte er ſich ſchweigend
um, und folgte der Magd, die ihm nach dem Hinter⸗
gebaͤude leuchtete.
Der junge Mann war in das Eßzimmer zur ebenen
Erde getreten. Er ging unruhig hin und her, und
konnte ſich von der Erſchuͤtterung, die er verbergen
wollte, nicht erholen. Iſt der Kutſcher und die Equi—
page immer noch nicht da? fragte er die Wirthin, die
jetzt mit dem Aufwaͤrter den Tiſch deckte, und Speiſen
und Wein auftrug. Nein, Ihr' Gnaden, antwor—
XIV. Band. 17
258
AR
tete dieſe, der Schnee hindert wohl jetzt das ſchnelle
Reiſen. |
Setzen Sie fih zu mir, fagte der junge Mann,
es iſt mir verdrießlich, allein zu eſſen. Die Wirthin,
geſchmeichelt und verlegen zugleich, verbeugte und
kruͤmmte ſich, ſchaͤtzte ſich einer ſolchen Ehre unwuͤrdig,
behauptete, fie würde dergleichen Unhoͤflichkeit nimmer
mehr wagen, und ſetzte ſich doch endlich ſelbſtgefaͤllig
laͤchelnd ihm gegen uͤber. Sie ſuchte ihre beſten Gaben
der Unterhaltung hervor, und erboſte ſich uͤber den toͤl—
piſchen Aufwaͤrter, der das Lachen nicht unterdruͤcken
konnte, da er ſie ſo ungeſchickt ſich geberden, und ſo
vieles Unnoͤthige breit und umſtaͤndlich erzählen hörte.
Sie war eben ſo neugierig, als redſelig, und der
junge Mann, vom Wein erheitert, ließ ſie auch nicht
lange daruͤber in Ungewißheit, wohin er wolle, und
weshalb er ſich von dem unguͤnſtigen Wetter nicht von
ſeiner Reiſe habe abhalten laſſen. i
Ich reife zu meiner Braut nach Franken, fing er
an zu erzählen; ein Freund hat mir feine Eguipage
entgegen ſchicken wollen, und es iſt mir ein Raͤthſel,
weshalb fie nicht kommt. Einige dringende Geſchaͤfte,
in Sachen meines Monarchen, die ich durchaus nicht
aufſchieben konnte, haben bis jetzt meine Reiſe immer
noch verzoͤgert; der alte Graf aber, mein kuͤnftiger
Schwiegervater, hat nun ſo ſtark gemahnt, daß ich
alles bei Seite geſchoben, einiges ſelbſt unbeendigt habe
liegen laſſen, um mich nur meiner jungen reizenden
Braut nicht laͤnger zu entziehen. Der Mann, den Sie
dort einquartirt haben, iſt mir noch in groͤßter Eile
nachgeſandt, um mir einige wichtige Nachrichten mit⸗
e37
zutheilen, die ich unterwegs gewiß auch nicht unbenutzt
laſſen werde.
Es ging die Glocke, und nachdem das Thor geoͤffnet
war, trat ganz weiß beſchneiet, in Muͤtze und weißem
Schaafpelz ein unterſetzter alter Mann herein, der ſich
gleich laut ſchreiend und ziemlich vertraut an den Frem—
den wandte: da ſind Sie ja, Herr von Kronenberg;
ei! welchen muͤhſeligen Weg habe ich die letzte Meile
heruͤber machen muͤſſen. — Er uͤberreichte einen Brief,
den der Reiſende haſtig aufbrach, und aus dem ihm
zehn oder zwoͤlf Goldſtuͤcke, die nicht weiter eingepackt
waren, entgegen fielen.
Der Brief enthielt folgendes: „Der alte Herr traͤgt
Bedenken, in dieſem boͤſen Wetter ſeine Pferde den
ſchlimmen Weg gehn zu laſſen, noch mehr aber aͤngſtet
er ſich um den neuen ſchoͤnen Wagen. Du mußt alſo
ſchon verzeihen, daß ich Dir, da ich meinen Vater, der
ſchon nicht ſonderlich gut geſtimmt iſt, nicht noch mehr
aufbringen will, durch unſern alten Chriſtoph die Ein—
lage uͤberſende, damit Du mit der Poſt die Strecke
uͤber die Berge reiſen kannſt. Auf der letzten Station
findeſt Du die Equipage, und morgen Abends hofft
Dich zu umarmen Dein Carl v. Wildhauſen.“
Die Wirthin betrachtete den baͤuriſchen Bothen
etwas verwundert; doch der Herr von Kronenberg ſandte
den Alten gleich hinaus, um ihn nach ſeiner muͤhſeligen
Wanderung verpflegen zu laſſen. Dann nahm er eins
der Goldſtuͤcke und winkte den Aufwaͤrter herbei, indem
er ſagte: bringt dies dem Fremden im Hintergebaͤude,
damit er morgen ſeine Ruͤckreiſe antreten kann: zu—
gleich ſoll fuͤr mich auf morgen fruͤh die Poſt beſtellt
werden.
417.»
260
Das Geſpraͤch ſtockte, fo lebhaft und vertraulich es
auch erſt geweſen war; auch konnte es nicht in den Gang
kommen, als der Diener den herzlichen Dank des Frem⸗
den meldete, und die Frau ſich nach dieſem etwas naͤher
erkundigte. Die Verlegenheit ſtieg aber noch hoͤher, als
mit dem von der Poſt zuruͤckkehrenden Aufwaͤrter zugleich
ein Fremder herein trat, dem ſich der Reiſende mit dem
Ausrufe: mein Freimund! in die Arme warf.
Ich wollte meinen Augen nicht trauen, ſagte die-
fer; ich zweifelte, als ich dem erleuchteten Fenſter vor-
uͤber ging, daß Du es ſein koͤnnteſt. Wie in aller
Welt —
Er ſah jetzt die am Tiſche ſitzende Wirthin, die er
mit erſtauntem Auge muſterte. Der junge Kronenberg
wußte nicht, was er ſagen ſollte; die aͤltliche Frau zwang
ſich, die Faſſung nicht zu verlieren, und den Platz zu
behaupten, zu dem ſie erſt mit Hoͤflichkeit war gezwungen
worden; doch nahm ſich endlich der Reiſende aus Noth
ſo viel zuſammen, daß er ſie bat, nach dem Fremden
und zugleich nach dem hergeſandten Hausknecht zu ſehn,
ob beiden auch nichts abgehn moͤchte. Die Frau erhob ſich
langſam, und verließ nicht ohne Zeichen der Empfindlich—
keit das Zimmer. |
Sonderbarer Menſch! ſagte Freimund, Du ſcheinſt
die Frau zu Deiner Geſellſchaft eingeladen zu haben, und
ſendeſt ſie nun meinetwegen wieder fort! Wie kommſt
Du uͤberhaupt hieher? Zehn Meilen von Deiner Hei—
math? Da ich Dich dort verheirathet und gluͤcklich glau⸗
ben mußte?
Kronenberg verriegelte die Thuͤr und lehnte die Laden
der Fenſter an; dann ſagte er leiſe: verrathe mich gegen
Niemand, daß Du mich hier angetroffen haft, denn es
261
mir vielen Schaden thun. Ich heirathe nicht, die Ver:
bindung iſt voͤllig aufgehoben.
Alſo iſt das Geruͤcht, dem ich nicht glauben wollte,
rief der Freund aus, dennoch wahr? Und Fraͤulein
Caͤcilie —
Sie findet ſich, ſie wuͤnſcht es im Grunde ſelbſt. —
Aber wie kommſt Du hieher?
Ich war, ſagte jener, zwei Meilen von hier auf der
Jagd, und bin im Begriff nach Hauſe zu reiten. Ich
wollte binnen wenigen Tagen Dich beſuchen, um Dich als
Ehemann kennen zu lernen.
Laſſen wir dies Geſpraͤch, ſagte Kronenberg, mit
empfindlichem Tone abbrechend, — ich und Caͤcilie waͤren
ungluͤcklich geworden, wahrhaft elend, — ich kann aber
unmoͤglich ſo ploͤtzlich und in Eil das ganze Gewebe von
Empfindungen, Verhaͤltniſſen und Mißverſtaͤndniſſen aus—
einanderfalten, das dieſen Schritt, wenn er auch auffal—
lend iſt, nothwendig machte. |
Ungluͤck — Elend — fagte der Freund, ja dies
ſind freilich zwei ſchwer wiegende Worte, die im Leben
meiſtentheils weit mehr Sinn, als „Gluͤck“ und „Wonne“
haben. — Und wohin gehſt Du von hier? |
Auch das darf ich Dir nicht ſagen, antwortete der
Verſtimmte, und keinem meiner Freunde. —
Sieh da, nahm Freimund das Wort, um dem Ge—
ſpraͤch eine voͤllig entgegengeſetzte Wendung zu geben,
Du fuͤhrſt ja das Werk mit Dir, von welchem jetzt in
allen Geſellſchaften die Rede iſt. Findet man groͤßten—
theils die Beobachtungen wahr und ſcharfſinnig, fo er—
ſchreckt doch viele der kecke Ton und die harte Anklage
eines Mannes, der jetzt einen Theil von Europa regiert.
Die groͤßte Neugier iſt aber darauf geſpannt, wer wohl
262
der Autor fein möchte. Man räth auf Bekannte und
Unbekannte. Daß dies Buch Dir nur nicht, wenn Du
vielleicht weit reiſen ſollteſt, gefaͤhrlich wird. 1
Mir? ſagte Kronenberg mit Laͤcheln. Und von wem
glaubſt Du es geſchrieben? |
Ich bin hierüber ganz unwiſſend. Auch ift mir die
Schreibart voͤllig fremd.
Das ſollte ſie Dir doch, wenigſtens zum Theil,
nicht fein, denn Du haft ſchon manches vom Verfaſſer
geleſen.
Du kennſt ihn alfo? — Da Kronenberg geheim⸗
nißvoll und etwas ſchelmiſch laͤchelte, ſo fuhr Freimund
uͤberraſcht und erſchreckt heraus: Wie? Du bift es a
nicht ſelbſt? Unmoͤglich!
Warum unmoͤglich? erwiederte jener; ich will damit
nicht ſagen, daß geradezu alles von mir herruͤhre;
auch konnte ich natuͤrlich hier in Deutſchland nicht alle
Thatſachen erfahren. Aber da ich, wie Du weißt, gute
Quellen in Paris habe, mit Maͤnnern verbunden bin,
die die Regierung nahe beobachten konnten, ſo war ich
dadurch in den Stand geſetzt, die Schilderung dieſes
gefaͤhrlichen Mannes, wie ich glaube, ziemlich getreu
entwerfen zu koͤnnen. |
Das iſt mir fo neu, rief Freimund aus, daß ich
mich noch von meinem Erſtaunen nicht erholen kann.
Und Du wagſt es, dies zu geſtehen, da uns vielleicht,
ja wahrſcheinlich, ein Krieg mit dieſem wunderbaren
Manne und ſeinem aufgeregten Volke nicht mehr fern
iſt? Da unſerm Vaterlande wohl die ſonderbarſten und
traurigſten Verhaͤltniſſe zubereitet werden?
Was der Deutſche thut und behauptet, antwortete
der Freund, muß er auch mit Muth koͤnnen vertreten:
263
Nach einer Stunde verließ Freimund, nachdem er
noch einmal ſeine wohlgemeinten Warnungen wieder—
holt hatte, den Reiſenden. Dieſer ging nachdenkend
auf ſein Zimmer, und als er am Morgen vom Poſt—
horn geweckt wurde und ſich ſchnell angekleidet hatte,
fand er die Rechnung, die er zwar nicht klein vermuthet,
übermäßig groß. Er dachte bei ſich, daß fie wohl maͤßi⸗
ger ausgefallen ſein wuͤrde, wenn die hoͤfliche und ver—
traute Converſation mit der Wirthin nicht waͤre unter—
brochen worden. Ein offner Wagen war vorgefahren,
und da ſich wieder ein Schneegeſtoͤber ankuͤndigte, be—
ſtieg Kronenberg dieſes Fuhrweſen mit unfreundlicher
Miene; denn er mußte in den Bergen und ſchlechten
Wegen einen ziemlich unangenehmen Tag erwarten. Der
Aufwaͤrter ſchalt auf die ſchlechte Einrichtung der Poſten,
die Wirthin zeigte ſich aber nicht. Als der Wagen um
das Haus fuhr, ſah durch ein ſchmales Fenſter ein
bleiches Geſicht, welches der Reiſende fuͤr das des Bit—
tenden von geſtern Abend erkannte; dieſer ſtreckte die
Haͤnde, mit denen er vorher den Mund beruͤhrte, wie
dankend, ihm nach. Kronenberg huͤllte ſich in ſeinen
Mantel, und hatte keine Luſt, mit dem alten Chriſtoph,
der ſich in ſeinem Schaafpelz auf den Wagen gewaͤlzt
hatte, ein Geſpraͤch anzuknuͤpfen; er war um ſo miß—
launiger, da er im Abfahren einen ſpoͤttiſchen Zug in
dem Geſichte des Aufwaͤrters bemerkt zu haben glaubte.
Kaum hatten ſie ſich eine halbe Meile von der Stadt
entfernt, als der Wagen, gegen einen Baumſtamm ge—
worfen, umfiel, und die Reiſenden in den tiefen Schnee
ſtuͤrzten. Das iſt eine muͤhſelige Anſtalt, fagte vers
264
drießlich der alte Chriſtoph; dieſe letzte Meile hat mich
auch geſtern den groͤßten Aerger und die meiſte Anſtren—
gung gekoſtet. Ein Wagen mit Korn wurde in die
Stadt geſchickt, das ging noch leidlich — dann fand
ich Gelegenheit, mit dem Poſtwagen weiter zu fahren,. —
aber dieſe letzte Meile hier im Gebirge! Kronenberg
ſuchte ihn zu troͤſten, und als man ſich wieder vom
Schnee geſaͤubert hatte und aufgeſtiegen war, froh, daß
der Unfall keine ſchlimmeren Folgen gehabt hatte, mußte
der junge Mann den Alten ſchon gewaͤhren laſſen, der
ſich durch Schwatzen fuͤr ſeine Leiden zu entſchaͤdigen
ſuchte. Er berichtete weitläufig den Zuſtand der ganzen
Haushaltung jener Familie, die Kronenberg noch dieſen
Abend ſehen ſollte; er verlor ſich in Geſchichten und
Anekdoten, und verſchwieg nicht viele Laͤcherlichkeiten,
die den alten gnaͤdigen Herrn charakteriſirten, und den
Sohn, den Freund Ferdinands, nicht in das beſte Licht
ſtellten. Nichts als Noth und Plackerei, fügte er end:
lich ſeinem Berichte hinzu; und wenn ſie am Ende gar
nicht mehr aus und ein wiſſen, ſo iſt der alte Chriſtoph
gut genug, um Rath zu ſchaffen, oder meilenweit zu
wandern, um nur die lieben Pferde zu ſchonen, und
den neumodiſchen Kutſcher nicht verdrießlich zu machen;
denn glauben Sie mir nur, mein gnaͤdiger Herr, auf
mein Wort: unter tauſend Herrſchaften iſt kaum eine
halbe, die das Regieren verſteht: der beſte Domeſtik
kommt aus den Straͤngen, wenn ihm nicht auf eine
vernuͤnftige Art befohlen wird; er verliert nach und nach
ſeine Gaben und ſeine Tugend dazu. Anerkannt muß
der Menſch werden, mag er doch treiben, was er will;
ohne das keine Sicherheit. Wenn ich ein junger Lieu—
tenant waͤre, wollte ich den aͤlteſten und gewiegteſten
265
Grenadier aus feiner Faſſung bringen, und ihn durch
beſtaͤndiges Maͤkeln und unvernuͤnftiges Tadeln in vier
Wochen confus und zum unordentlichen und ſchlechten
Soldaten machen. Ich hoͤre manchmal, wenn ich durch
den großen Saal gehe, daß der junge Herr uͤber Re—
genten und Staatsmaͤnner raͤſonnirt, und alle fuͤr nichts
Beſonderes halten will, indem ſie die Regierungskunſt
nicht verſtaͤnden. Ob er Recht hat, weiß ich nicht, aber
bei ſich ſollte er doch ja anfangen; denn er ruinirt alle
Bedienten im Schloß durch ſeine Zerſtreutheit, und
nachher, wenn er Fehler verurſacht hat, durch unnoͤ—
thige Strenge; fo macht er fie nach und nach alle tuͤk⸗
kiſch; etliche ſind ſchon Schurken geworden, die nun
die andern auch anſtecken. Denn, wie geſagt, ohne
verſtaͤndige Ordnung, Puͤnktlichkeit, Stundenhalten,
giebt es gar keinen Menſchenverſtand in der Welt.
Du biſt immer ein zu ſtrenger und moraliſcher Kauz
geweſen, antwortete Kronenberg unter ſeinem Mantel
hervor.
Warum Kauz? fuhr Chriſtoph fort: Kauz ſollte
man nur ſolche Leute tituliren, aus denen man nicht
klug werden kann. Ich verlange von meiner Herr—
ſchaft und allen Menſchen, die mir in die Quere oder
in die Richte kommen, nichts Beſondres und Kurioſes,
keine Liebe oder großmuͤthige Geſchenke, keine raren
Tugenden und brillante Klugheits-Mirakel, ſondern das
allerordinaͤrſte Weſen, was eigentlich der Hund noch
von ſeinem Herrn fordern kann, wenn er ein brauch—
bares Thier bleiben ſoll. Und dies Ding, eben weil
es ſo ordinaͤr iſt, iſt allen den neuern uͤberweiſen Her—
ren zu geringe — es faͤllt nicht in die Augen, es iſt
auch noch nicht fuͤr einen Pfennig Lobenswerthes daran;
266
darum geht es auch ganz in der Welt aus, und eben
deswegen wird es auch bald ſo wenig Diener wie Her—
ren auf Erden geben, ſondern nur eine allgewaltige
Confuſion, ein Hin- und Herſchreien, ein Spektakel,
hinter dem nichts ſteckt, — und dann heißt es am Ende
doch, der gemeine Mann taugt nichts.
Du biſt alſo mit der ganzen Welt unzufrieden?
warf Kronenberg ein.
Ich kenne die Welt nur ſo weit, murrte der Alte
fort, als meine Naſe reicht. Ich verſtehe es nicht,
wie man die Menſchen nicht kennt, mit denen man
taͤglich zu thun hat. So kenne ich meine Herrſchaft
und was zum Hauſe gehoͤrt. Aber die Herrſchaft, am
wenigſten unſer junger uͤberkluger Herr, kennt uns,
ihre Bedienten nicht — ſie ſieht ſo wenig, was an
uns gut iſt, als was nicht taugt. Wird man nun
manchmal gelobt um etwas, wo ein tuͤchtiger Herr den
Stock hervorſuchte, oder ausgehunzt wegen Sachen,
die man ſo recht mit Verſtand und Liebe gethan hat,
kriegen die Schlechten in allem Streite Recht, wird jede
Verhetzung und dumme Klaͤtſcherei von den Gnaͤdigen
mit Freuden aufgenommen, ſo iſt auch bald ein Neſt
von ſchlechten Dienftboten fertig. Ich denke nur, ſolche
Herren, die ihr kleines Hausweſen nicht in Ordnung
halten koͤnnen, ſollten nicht über ihre Vorgeſetzten .fo
ſcharfe Maͤuler aufthun.
Das verſtehſt Du nicht, ſagte der junge Mann;
die Kaͤlte und das Wetter, am meiſten Dein geſtriger
Marſch, haben Dich verdrießlich gemacht.
Und das rechtſchaffen, ſagte Chriſtoph. Sie thaten
geſtern, als kennten Sie mich nicht, und es hing auch
267
nur an einem Haare, fo wäre ich Ihnen geftern Abend
nicht vor Augen gekommen.
Und wie das? —
Endlich ſah ich die verwuͤnſchte Feſtung vor mir
liegen, ſo fuhr Chriſtoph fort, und da ich nun mich
um die Stadt herumquaͤlte, um nach Ihrem Wirths—
hauſe zu kommen, wurde es ſchon ganz finſter, und
ſtuͤrzend und fallend, hungrig, durſtend und erfroren
bin ich nun in der Naͤhe des goldnen Schwans, und
ſehe ſchon die Lichter. Da kommen mit einem mal vier
bis fuͤnf Kerle um die Ecke hervor, nehmen mich feſt,
und ſchreien: nun, endlich! dir haben wir lange fchon
aufgelauert! Ich wehr' mich und ſtoße und ſchlage,
und als es mir endlich gelingt, meine dicke Muͤtze auf—
zuknoͤpfen, weil ich vor der nicht zu Worte konnte, ſo
ſchrie ich nun aus aller Macht: was wollt ihr denn,
ihr Hollunken, ihr Straßenraͤuber? nebſt einigen andern
Ehrentiteln, die mir im Zorn heraus fuhren. Da ließen
ſie mich los, gingen wieder um die Ecke, und brumm—
ten: nein, der iſt es nicht, laßt ihn! der Mann ver—
ſteht unſre gute deutſche Mutterſprache zu vollkommen.
— So weiß ich nicht, fuͤr welchen Haſenfuß ſie mich
muͤſſen gehalten haben; aber man ſieht doch daraus,
wie kein Menſch dem andern mehr traut, wie man
ſelbſt auf der Landſtraße nicht ſicher iſt, wie die Con—
fuſion immer mehr um ſich greift, und alles, mag ich
hinkommen, wohin ich will, ganz anders ausſieht, als
wie vor zwanzig oder dreißig Jahren.
Die muͤhſelige Station war unter dieſen und aͤhn—
lichen Geſpraͤchen zu Ende, fruͤher, als man gedacht
hatte. Nun breitete ſich wieder das ebene Land aus,
und die Reiſenden erreichten auch ohne alle Unfaͤlle die
268
nächfte Poſt, wo fie im kleinen Staͤdtchen den neuen
Wagen ſchon vor dem Gaſthofe halten ſahen. Der
elegante Kutſcher begrüßte den jungen Herrn, Kronen:
berg ſetzte ſich, da es Mittag war, an die Wirthstafel,
und ließ, nach einem freundlichen Geſpraͤch, dem alten
Chriſtoph, ſo wie dem Kutſcher, ein gutes Eſſen und
eine Flaſche Wein vorſetzen. Der Alte ſchmunzelte vor
ſich hin, als wenn er daͤchte: der Herr will thun, als
wenn er mit uns Domeſtiken umgehen muͤßte.
Man fuhr luſtig wieder aus der Stadt, indem der
Kutſcher nach engliſcher Weiſe auf einem der Pferde
ritt. Der bequeme Wagen erſchien nach dem offnen
Fuhrwerke der Poſt dem jungen Reiſenden aͤußerſt an—
genehm. Auch waͤhrte es nicht lange, ſo hatte ihn die
ſchaukelnde Bewegung in einen angenehmen Schlummer
gewiegt. Als er nach einem Stuͤndchen erwachte, hoͤrte
er von draußen vom Bocke der Kutfche ein ſeltſames
verwirrtes Geſpraͤch, und ſah, daß ſich neben den alten
Chriſtoph noch Jemand geſetzt hatte. Der Alte eiferte
und ſprach laut, und der Fremde ſchien ihn nicht recht
zu verſtehen und erwiederte nur im gebrochenen Deutſch.
Im Ereifern ſtießen ſie einmal an das Glas, und der
Fremde ſah erſchrocken um. Bei dieſer Wendung glaubte
Kronenberg jenen Mann wieder zu erkennen, der ſich
ihm geſtern Abend auf eine ſo auffallende Weiſe genaͤ—
hert hatte. Es ſchien ihm aber unmoͤglich, daß dieſer
ſich ſchon hier befinden koͤnne, indem er ſelbſt, trotz
den ſchlechten Wegen, ſchnell genug gereiſet war.
Er fand ſich in dieſen Betrachtungen geſtoͤrt, indem
man jetzt durch eine kleine Stadt fuhr, und auf dem
269
ganz zerriſſenen Pflaſter der Wagen fo erfchüttert wurde,
daß auch bald, obgleich der Kutſcher ziemlich vorſichtig
lenkte, etwas zerbrochen war. Man hielt vor der
Schenke, der Fremde half aͤmſig und hoͤflich dem Rei—
ſenden beim Ausſteigen, indeß Chriſtoph den Schmidt
herbei rief. Der Unbekannte war im Zimmer eben ſo
eifrig, den jungen Kronenberg beim Auskleiden zu be—
dienen, und fragte dann, ob er ſonſt irgend etwas
befehle. Die Diener brachten einige Erfriſchung, und
nachdem ſich der Fremde ebenfalls hatte ſetzen muͤſſen,
fragte ihn der junge Maun: wie iſt es nur moͤglich,
daß Sie mich ſchon haben einholen koͤnnen, da ich Sie
unmöglich wieder zu ſehn erwarten durfte?
Es konnte auch nur durch den ſonderbarſten Zufall
geſchehen, antwortete der Unbekannte in ſeiner Sprache:
Sie waren kaum abgereiſet, als ein Kourier mit einer
eiligen Sendung ankam: Der Mann war mir bekannt,
und er nahm mich bis zur naͤchſten großen Stadt, wo
ſich unſere Wege trennten, mit. Auf dem guten Wege,
obgleich er einige Meilen weiter iſt, konnten wir ſchnel—
ler reiſen; in der Stadt traf ich einen abgehenden Wa—
gen, der mich bis zu jenem Orte brachte, in dem ich
Ihre Equipage antraf, die ich ſo dreiſt war, auf Ihre
guͤtige Erlaubniß rechnend, zu benutzen, und hier werde
ich mich Ihnen mit geruͤhrtem Danke empfehlen, und
das Bild meines Wohlthaͤters ewig in meinem treuen
Herzen bewahren; denn ſchon ganz nahe iſt jene Stadt,
wo ich Huͤlfe und Freunde mit Sicherheit erwarten
darf.
Sie verzeihen, ſagte Kronenberg, wenn ich vor un—
ſerm Abſchiede einige Fragen an Sie richte. Sie uͤber—
raſchten mich geſtern, und ich war, als ich mich beſon—
270
nen hatte, nicht ohne Unruhe, ob ich mir nicht ſelbſt
Unfaͤlle zuziehe, ob ich nicht vielleicht ſogar etwas
Straͤfliches that. Ich ſehe, Sie vermeiden es, in den
Staͤdten geſehn zu werden; Sie wurden, als wir zu—
erſt auf einander trafen, ſogar verfolgt, und da Sie
mich intereſſirt haben, da ich ſehe, daß ich einem feinen
und gebildeten Manne, ſo viel ich konnte, geholfen
habe, ſo moͤchte ich auch wohl durch eine etwas naͤhere
Bekanntſchaft ein ungetruͤbtes Bild von Ihnen in mei⸗
nem Gedaͤchtniß aufbewahren.
Mein Herr, ſagte der Unbekannte, mein Namen
bleibt Ihnen voͤllig fremd, wenn ich Ihnen auch ſage,
daß ich Cronibert heiße und mit meiner Familie in
Rouen wohne. Dasjenige, was ſo ſeltſam erſcheinen
mag, iſt ein gewoͤhnliches Ungluͤck, eine klaͤgliche Lage,
in die ich gerieth, als Familienverhaͤltniſſe und eine
vermeintliche Erbſchaft mich nach dem noͤrdlichen Deutſch—
land riefen. Statt eines gehofften großen Vermoͤ—
gens fand ich Verwirrung; näher ſcheinende Anfprüche
und kuͤnſtliche Verhandlungen vor den Gerichten ver-
draͤngten meine Forderungen. Fuͤr einen laͤngern Auf—
enthalt war meine Baarſchaft nicht eingerichtet — von
Hauſe konnte ich nur ſpaͤrlichen Zuſchuß erwarten, und
als dieſer endlich ankam, ging das Meiſte davon wieder
auf, um die Schulden zu bezahlen, die ich indeſſen
hatte machen muͤſſen. Mit leichter Boͤrſe und ſchwerem
Herzen begab ich mich auf den Ruͤckweg, im bittern
Gefuͤhl, den Meinigen ſtatt der Wohlhabenheit nur
groͤßere Armuth zuruͤck zu bringen. Die kleine Summe,
ſo ſehr ich ſparte, obgleich ich meiſt zu Fuß wanderte,
war endlich doch voͤllig geſchwunden, und was ich nun
empfand, als mir ein boͤſer Menſch in der Nachther⸗
221
—
berge meinen Paß geraubt hatte, und ich ſo manchen
Hartherzigen um ein Almoſen anſprechen mußte, koͤnnen
Sie ſich unmoͤglich vorſtellen, da mir ſelbſt bis dahin
dieſe Gefuͤhle unbekannt geblieben waren. In dieſer
ſchrecklichen Lage war ich auch dort im Staͤdtchen nach
Huͤlfe umhergewandert; die Armenaufſeher waren mir
auf die Spur gekommen, ſie hatten erfahren, daß ich
ohne Paß ſei, und waͤren Sie, mein verehrter Be—
ſchuͤtzer, weniger großmuͤthig geweſen, ſo haͤtte man
mich dort als Bettler und Vagabonden feſt geſetzt, und
ich und meine Frau und unerzogenen Kinder waren dem
Verderben Preiß gegeben.
Er konnte dieſe Erzaͤhlung nicht ohne Thraͤnen
ſchließen, ſo wenig als ſie Kronenberg ohne Ruͤhrung
hatte hoͤren koͤnnen. Es giebt freilich Verhaͤltniſſe,
ſagte dieſer bewegt, die ſo furchtbar den Menſchen ein—
engen und foltern, daß es grauſam und gottlos waͤre,
wenn auch der Wildfremde, ohne lange zu fragen,
nicht herbei ſpringen und helfen wollte. Ich wuͤnſchte
nur, ich koͤnnte mehr fuͤr Sie thun, als Ihnen noch
eine kurze Strecke Ihrer Reiſe erleichtern. — Mit
dieſen Worten wollte er dem Ungluͤcklichen noch einige
Goldſtuͤcke in die Hand druͤcken, dieſer aber trat mit
dem edelſten Ausdrucke einige Schritte zuruͤck und rief
aus: nein, mein Wohlthaͤter, das kann ich von Ihnen
nicht annehmen, denn Sie haben genug fuͤr mich ge—
than, und da ich zwei Meilen von hier Freunde und
gewiſſe Huͤlfe finde, ſo waͤre dies nur ein Mißbrauch
Ihrer Guͤte. Koͤnnte ich nur ſo gluͤcklich ſein, Ihnen
einmal einen Dienſt, oder nur eine Gefaͤlligkeit zu er—
zeigen, ſo wuͤrde ich mich unbeſchreiblich gluͤcklich ſchaͤtzen.
Doch, ſich einem edlen Manne verpflichtet fühlen, iſt
272
auch eine ſchoͤne und beruhigende Empfindung, ſo wie
der Edle ſich ſchon darin beſeligt findet, denen, die es
durch Dankbarkeit verdienen, eine Wohlthat erzeigt zu
haben.
Mit dieſen Worten verbeugte er ſich und ging zur
Thuͤr hinaus. In dieſer wandte er ſich noch einmal
dankend um und ſo geruͤhrt ſich Kronenberg fuͤhlte,
ſo war doch im letzten ſcheidenden Blicke des Fremden
wieder etwas ſo Stechendes, ſo viel lauernde Liſt, in
dem blaſſen Geſicht ſo viel Widerwaͤrtiges, daß dieſer
Wechſel ſeiner Empfindungen dem jungen Manne wie
traͤumeriſch, ja beinah fieberhaft vorkam. Er ſchalt ſich
endlich ſelbſt uͤber ſein Mißtrauen und meinte, es ſei
nur Taͤuſchung und Erhitzung von der Reiſe, wenn
ihm der Fremde im letzten Augenblicke ſo durchaus wi—
derwaͤrtig erſchienen ſei. — Der Wagen war wieder
hergeſtellt und Chriſtoph bereit zur Abreiſe. Wo haben
Sie denn, fragte er muͤrriſch, dieſen fremden Hecht
aufgefiſcht, gnaͤdiger Herr? denn er berief ſich auf Sie,
als er dort vor dem Thor auf unſere Kutſche kletterte.
Ein armer Menſch, ſagte Kronenberg, an dem man
ſich ein Gotteslohn verdient, wenn man ihm hilft, ein
ungluͤcklicher Familienvater. Was hatteſt Du denn mit
ihm abzuhandeln und zu ſtreiten?
Je, der franzoͤſiſche Wirrwarr, antwortete jener,
wollte Fuhrwerk und Pferde tadeln, und alles beſſer
wiſſen. Ich verſtand freilich wohl fein Kauderwelſch
nicht, und er konnte auch meine Meinung nicht recht
faſſen, indeſſen giebt das immer den beſten und leb⸗
hafteſten Diskurs. Ich bin mit dem Kerl ſchon eine
mal zuſammen gekommen, und dazumal haben wir uns
noch mehr gezankt.
273
Wo denn? fragte Kronenberg verwundert.
Je, vorigen Sommer, erzaͤhlte Chriſtoph weiter,
als wir mit dem alten gnaͤdigen Herrn auf ſeinem Gut
da hinten im Gebirge waren. Eines Morgens finde
ich den Patron, den ich ſchon viel hatte umherſtreifen
ſehn, in unſerm Garten. Er mußte über die Planke
geſtiegen fein. Da ſaß er und zeichnete die ganze Ger
gend ab. Er meinte, es ſei bei uns im Lande viel
Natur und Perſpektive, und ein gewiſſes Bellvue, und
was er des Zeugs mehr durch einander ſchwadronirte.
Ich fuͤhrte ihn aber ohne Umſtaͤnde durch den Hof und
drohte ihm, es dem gnaͤdigen Herrn zu ſagen. Dazu—
mal gab er mir ein Trinkgeld und ſah nicht ſo bettel—
haft aus. Am folgenden Tage ſah ich ihn auch in
einer Geſellſchaft, aus der ich unſern alten Herrn ab—
holte.
Chriſtoph mußte ſein Geſchwaͤtz unterbrechen, denn
ſie ſtiegen ein und kamen bald in der Stadt an, wo
der Freund des Reiſenden wohnte, vor deſſen Hauſe
der Wagen auch nach wenigen Minuten ſtille hielt,
Ein lautes Geſchrei empfing den abſteigenden Gaſt.
Alle Bedienten liefen durch einander, ein jeder befahl,
keiner gehorchte; jeder fing an, ein Geſchaͤft zu ver—
richten, welches er ſogleich, von einer andern Anord—
nung geſtoͤrt, unterbrach. So ging Kronenberg die
große Treppe hinauf; als er aber im großen Vorſaal
ſtand, hatten ihn alle Diener verlaſſen, und er blieb
im Finſtern zuruͤck. Der kalte Saal gab ihm Muße
genug, uͤber dieſe ſonderbare Beſchaffenheit des Hauſes
ſeine Betrachtungen anzuſtellen. Er tappte umher, um
XIV. Band. 18
274
eine Thür zu finden, wagte aber nicht, ſich mit Ber
ſtimmtheit zu bewegen, um nicht etwas umzuſtoßen,
oder zu verletzen. Indem er endlich den Griff eines
Schloſſes gefaßt hatte, wurde die Thuͤr von innen ge—
öffnet, und Chriſtoph trat ihm mit einer Laterne ent—
gegen. Es iſt zu arg! rief dieſer aus, Sie noch hier?
die Wirthſchaft wird doch mit jedem Tage toller! Hier
im Finſtern? Kommen Sie nur ſchnell zum jungen
Herrn, der gewiß noch nicht einmal weiß, daß Sie
ſchon angekommen find.
Er fuͤhrte den Fremden uͤber einen langen Gang,
und im wohlgeheizten Zimmer ſaß Karl von Wildhau—
fen unter Buͤchern, Akten und Briefſchaften wie ver—
graben. Er ſprang auf und begruͤßte herzlich den
Freund. Ich hatte Dich noch nicht erwartet, rief er
aus, und keiner von den Schurken koͤmmt auch, um
mir zu melden, daß Du angekommen biſt! Und wie
iſt Deine Lage nun, Freund? Ich weiß nur das Wer
nigſte davon, erzaͤhle.
Da ſie allein waren, hatte Kronenberg kein Beden⸗
ken, ſich ihm auf dieſe Weiſe zu eroͤffnen: Dir am
beſten, mein Theurer, iſt es bekannt, wie das wenige
Vermoͤgen, das mein Vater mir hinterließ, in Speku⸗
lationen, Verbeſſerungen des kleinen Gutes, die ſich
nur zu bald als Verſchlimmerungen bewaͤhrten, aufge—
gangen iſt. Glaͤubiger, vorzuͤglich Wechſelſchulden,
drängten, und es blieb mir, wie ich ſchon laͤngſt fürche
tete, kein andrer Schritt uͤbrig, als den ich nun jetzt zum
Nachtheil meines Rufes wirklich habe thun muͤſſen.
Mein karger Oheim wird nun vielleicht helfen, der bis—
her mit Rath und Vermahnung ſo freigebig, aber mit
That und wirklicher Unterſtuͤtzung deſto ſparſamer war.
W
Es ſchien ja aber doch, ſagte Karl, daß Deine Hei—
rath alles ins Gleiſe bringen koͤnne, und darum war
ich erſchreckt, als Du mir plotzlich ſchriebſt, auch dieſe
ſei zuruͤck gegangen.
Es war mir ſchwer, fuhr Kronenberg fort, den
Gedanken zu faſſen, einer Heirath Gluͤck und Wohl:
ſtand zu verdanken. Dazu kam, daß Caͤcilie, die mich
erſt zu lieben ſchien, mit jedem Tage kaͤlter gegen mich
wurde. Ich muß vermuthen, daß eine andre, vielleicht
bis dahin verheimlichte Leidenſchaft die Urſach dieſes
veraͤnderten Betragens war. Auch konnte ich mich nicht
entſchließen, dem Vater, ſo oft er mich auch dazu auf—
forderte, die ganze Troſtloſigkeit meiner Lage zu ent—
decken; das Wort erſtarb mir jedesmal auf der Zunge.
Dieſe falſche oder rechte Schaam hat es wohl veran—
laßt, daß ſich auch der Vater auffallend von mir zuruͤck
zog. Ich fuͤhlte mich endlich unbeſchreiblich unbehag—
lich in der Familie, ja es fehlte mir bald an jeder Faſ—
ſung, die Rolle mit Anſtand durchzufuͤhren, die ich
zu voreilig uͤbernommen hatte. Das Schlimmſte aber
war — h
Wie? rief Karl aus, noch eh: Schlimmeres?
Laß mich enden, ſagte Kronenberg. Der Brudrr,
ein hitziger junger Mann, wie Du ihn kennſt, kam
auf den Gedanken, es ſei fuͤr ſeine Schweſter und die
Familie beſchimpfend, daß ich die Verbindung, die in
der Umgegend bekannt genug geworden war, wieder
loͤſen wollte, und fand es feiner Pflicht und Ehre gemäß,
mich zu fordern.
Teufel! rief der Freund aus, — und? — 5
Wir ſchlugen uns auf Piſtolen, er ward ſchwer
verwundet, ſo wie mir es ſchien, toͤdtlich. Du begreifſt,
18 *
278
daß dies meine Flucht noch mehr beſchleunigen, und
in die ganz huͤlfloſe Lage ſtuͤrzen mußte, in der ich
Dir von der Grenze jenen kurzen Brief ſandte, in
welchem ich Deine Freundſchaft und Deinen Beiſtand
aufrief.
Du kennſt mich, ſagte Karl mit dem groͤßten Aus—
druck der Herzlichkeit, Du zweifelſt an meiner Freund-
ſchaft nicht, indeſſen iſt Dir auch meine beſchraͤnkte
Lage bekannt. Ein Kapital, ſo viel ich nur ſchaffen
kann, ſteht zu Deinen Dienſten, es ſollte groͤßer ſein,
vielleicht ſo, daß Deine Lage dadurch wieder hergeſtellt
wuͤrde, wenn ich meinem Vater mit dergleichen Vor—
ſchlaͤgen kommen duͤrfte. Der iſt aber ſteinhart, am
haͤrteſten gegen Menſchen, von denen er glaubt, daß
ſie durch Leichtſinn und ſchlechte Wirthſchaft ſich ihr
Unheil ſelbſt zugezogen haben. Ich will mich an Dei
nen Oheim und Deine ſchlimmſten Glaͤubiger werden,
damit in Deiner Abweſenheit nur Dein Name nicht
verunglimpft werde. Nun, was denkſt Du fuͤr jetzt
anzufangen, wenn ich Dir für Deine weitere Reife
auch wohl mit 1% oder zwoͤlfhundert Thalern helfen
kann? denn dies bare wohl das Aeußerſte, wohin
meine Kraͤfte reichen. |
Kronenberg umarmte feinen Freund gerührt und
fagte dann: Du bleibſt der Alte, und wußte ich doch,
daß ich auf Deine Liebe rechnen konnte, ſeit der Schule
biſt Du mir treuer geweſen, wie meine eigne Seele.
Ich denke jetzt nach jener Stadt des ſuͤdlichen Deutſch—
land zu gehen, von der ich Dir ſchon ſonſt geſprochen
habe. Dort finde ich alte Bekanntſchaften, die ich erz
neure, ich habe ſehr gute Empfehlungen bei mir, die
mich mit Maͤnnern von Einfluß verbinden werden, und
|
277
fo denke ich durch Talente, Kenntniſſe und Fleiß mir
dort eine Laufbahn zu eroͤffnen, die mich zu einem
neuen und beſſern Leben fuͤhren ſoll, als ich bisher
kannte; und vielleicht komme ich ſo weit, daß ich als—
dann ganz mein vaͤterliches Vermoͤgen verſchmerzen und
vergeſſen kann. Kannſt Du unterdeſſen etwas davon
retten, durch Deinen Kredit, dadurch, daß Du meinen
Oheim mir geneigter machſt, iſt es um ſo beſſer und
ſichrer, im Fall mein Plan, der mir nicht unvernuͤnftig
duͤnkt, ſich doch als Schimaͤre ausweiſen ſollte.
Dir iſt bei Deinen Talenten vieles moͤglich, ant—
wortete Karl, vorzuͤglich, wenn Du den poetiſchen Be—
ſchaͤftigungen mehr entſagſt und Dich den ernſtern Wiſ—
ſenſchaften widmeſt.
Du erinnerſt mich eben, rief jener aus, daß ich
Dir einen großen Brief von Deinem intereſſanten
poetiſchen Freunde mitbringe, der Dir gewiß Freude
machen wird. 5
Gieb! ſagte Karl mit großer Lebhaftigkeit, und jener
ſuchte im Rock, Oberrock und Mantel, doch vergeblich.
Die ganze Brieftaſche wird doch nicht, — ſtotterte er
endlich erſchreckt, — nein, — ſie muß im Wagen
ſein. — Es ward geklingelt, ein Bedienter ausgeſandt,
die Kutſche zu durchſuchen, dieſer kam aber nach einer
Viertelſtunde zuruͤck, und ſchwor, daß ſich keine Spur
des Verlornen in allen Taſchen und Schubkaſten des
Wagens finde. Indeſſen war Chriſtoph auch herbeiger
rufen worden, und Kronenberg fuhr auf ihn mit der
Frage los: Erinnerſt Du Dich nicht, Alter, ob Du
im naͤchſten Staͤdichen, oder im erſten Gaſthof eine
rothe, ziemlich große Brieftaſche in meinen Haͤnden,
oder auf dem Tiſche geſehn haſt?
278
Der gnaͤdige Herr, antwortete der Alte in feiner
verdroſſenen Weiſe, muͤßte es ſich wohl eigentlich am
allerbeſten erinnern: ich kann nur ſagen, daß ich nichts
weiß und nichts von einer ſolchen Taſche geſehn habe,
weder im erſten, noch zweiten Gaſthofe.
Auch nicht vielleicht, fiel Kronenberg ein, dort im
Walde, wo wir mit dem Wagen umſielen? Iſt ſie dort
liegen geblieben? Sahſt Du ſie nicht vielleicht auf dem
Boden? |
Chriſtoph trat einen Schritt zurück, und ſah ihn
dann von der Seite und mit zugekniffenen Augen an:
wenn ich nun Ja ſagte, gnaͤdiger Herr? Und wollte
zu meiner Entſchuldigung etwa anfuͤhren, ich haͤtte das
große Ding fuͤr eine abgefallene getrocknete Hanbutte
gehalten und deswegen im Schnee liegen laſſen? Ver⸗
diente ich nicht die ausgewogenſten und eindringlichſten
Schlaͤge?
Kronenberg mußte lachen, ſo verdruͤßlich er war.
So habe ich denn die wichtigſten Briefe, und obenein
meinen Paß eingebuͤßt, den ich mir von hier auf keine
Weiſe wieder ſchaffen kann.
Da haben wir's! rief Chriſtoph: der fremde Menſch,
der in der letzten Schenke ſo dienſtfertig war, Sie aus—
zukleiden, ſo daß er mich vor purer Hoͤflichkeit recht
grob zuruͤck ſtieß, der ſich mit dem Oberrock ſo viel zu
ſchaffen machte, ihn ſo ſorgfaͤltig faltete und buͤrſtete,
der Spitzbube hat auch gewiß die Brieftaſche »gefehn
und gefifcht, denn einen ſolchen Paß kann ein Schelm
und Spion immer am beſten brauchen.
Sollte es wohl — ſagte Kronenberg —
Gewiß, fuhr Chriſtoph fort. Was hat er mir nicht
alles auf dem Kutſchbock vorſchwadronirt, er fragte nach
2,79
allem, und kannte doch ſchon jeden Weg und Winkel
im ganzen Lande. i
Von wem ſprecht Ihr? fragte Karl.
Ei, von dem Menſchen, antwortete Chriſtoph in
Eifer, den Sie ja voriges Jahr auch mehr als einmal
muͤſſen geſehen haben, mein gnaͤdiger Herr, in Geſell—
ſchaft von Ihrem Herrn Vater. Sie nannten ihn alle
immer nur den großen Naturfreund, weil er alle Waͤl—
der, Schluchten und Berge durchkroch, und jede Felſennaſe
abzeichnete. Dazumal ſah er recht reputirlich aus, aber
jetzt hat er ganz das Weſen eines Straßenraͤubers.
Als Kronenberg erzaͤhlt hatte, was ihm mit dieſem
Mann begegnet fei, fand fein Freund es nicht unwahr⸗
ſcheinlich, daß dieſer ſich des Portefeuille, hauptſaͤchlich
des Paſſes wegen, wohl habe bemaͤchtigen koͤnnen; er
befahl jedoch, daß mit dem Fruͤheſten Chriſtoph nach
dem naͤchſten Staͤdtchen zuruͤck reiten ſolle, um in der
Schenke noch einmal nachzuſuchen. Chriſtoph entfernte
ſich mit halb hoͤrbarem Gemurmel, daß er nun doch
wieder derjenige ſein muͤſſe, der die Fahrlaͤſſigkeit der
Herrſchaften gut machen ſolle.
Ein Diener rief die jungen Leute in den Speiſe—
ſaal. Kronenberg begruͤßte die Mutter ſeines Freundes,
die ſehr artig gegen ihn war, und ſich freute, ihn nach
geraumer Zeit einmal wieder zu ſehn. Der Vater ſaß
abſeit an einem kleinen Tiſche, und las eifrig in einem
Buche, ſo daß er vom Abendeſſen, ſo wie von dem
fremden Gaſte gar keine Notiz nahm. Sie ſind ſer—
virt! rief die gnaͤdige Frau zu ihm hinuͤber. Setze
Dich, mein Schatz, antwortete der alte Herr mit tiefer
Stimme, fangt immer an zu eſſen, ich komme noch
280
zeitig genug; kann ich mich doch von meinem herrlichen
Buche noch gar nicht trennen.
Man ſetzte ſich. Sie muͤſſen ſchon, ſagte die gnaͤ—
dige Frau ſehr verbindlich, einem Landedelmann dieſen
Mangel an Attention verzeihen, mein werther Herr von
Kronenberg, ich und mein Sohn wiſſen um ſo mehr
das Gluͤck zu ſchaͤtzen, daß Sie nach laͤnger als einem
Jahre unſre entfernte Gegend und unſer kleines Staͤdt—
chen wieder beſuchen, und der Reſidenz und allen glaͤn—
zenden Cirkeln dort Ihre Geſellſchaft entziehen wollen.
Mein lieber Sohn hat mir einigemal aus Ihren Brie—
fen vorgeleſen, und mir ſelbſt von Ihren poetiſchen
Produkten mitgetheilt, die mich entzuͤckt haben, und die
ich, ſo weit meine ſchwache Einſicht reicht, fuͤr vor—
trefflich halte.
Ein ſolcher Beifall, antwortete Kronenberg, wird
mich befeuern, kuͤnftig Beſſeres zu leiſten.
Man will zwar, fuhr die Dame fort, jetzt ganz
neue und unerhoͤrte Sachen hervorbringen, und es iſt
ſo weit gekommen, daß mancher ſogar verlangt, wir
ſollen alles vergeſſen, was wir in unſerer Jugend ge—
lernt und als das Rechte erkannt haben. Aber die
Folgezeit wird ausweiſen, daß unſre Vorfahren doch
nicht ſo ganz uͤbel thaten, ſich einer gebildeten Nation
anzuſchmiegen, die durch eigne Kultur uns zeigen kann,
was man vermeiden und was man erſtreben muß.
Sie ſprechen ohne Zweifel, fragte Kronenberg, von
der franzoͤſiſchen? i
Von welcher ſonſt? ſagte die Dame etwas ſpitzig.
Giebt es denn, genau genommen, eine andere?
Der alte Herr fing, in ſeinem Buch vertieft, an,
laut zu ſingen. Sollte nicht jede Nation, warf Kro—
281
nenberg befcheiden ein, ihre eigne Literatur haben koͤn—
nen, und hat die deutſche nicht ſchon laͤngſt bedeutende
Schritte in ihrer eigenthuͤmlichen Kultur gethan?
Die deutſche! erhob die gnaͤdige Frau den Ton:
auch von Ihnen, dem verſtaͤndigen Freunde, muß ich
dergleichen hoͤren? Wann iſt ſie denn deutſch geweſen,
wann hat ſie denn nur gezeigt, daß ſie dergleichen
wirklich will, im Fall ſich ein vernuͤnftiger Gedanke
ſelbſt mit ſolchem Vorſatze vereinigen ließe? Barbariſch,
unwiſſend, ungelenk, und eben ſo politiſch als literariſch
ohnmaͤchtig war ſie froh dankbar, als ſie von Ludwig
dem Vierzehnten erfuhr, was ſie ſollte, und kam zu—
gleich zur Beſinnung, als Redner, Geſchichtſchreiber
und Dichter ihr damals zeigten, was ſie ohngefaͤhr den—
ken und fuͤhlen muͤſſe. Sehn wir nicht auch von die—
ſem Augenblicke an ein reges Wetteifern im Schreiben,
Verſemachen und Predigen ganz im Sinne und in
Nachahmung ihrer großen Vorbilder, die ſie freilich nie—
mals erreichen konnten? Ich weiß wohl, daß eine bar—
bariſche Periode eintrat, und ein Verſuch, ſich von die—
ſen Muſtern loszureißen, denen man gleich zu werden
verzweifeln mußte. Aber was war es denn nun? Ein
ſklaviſches Nachkriechen hinter den rohen Englaͤndern
her, die noch niemals einen klaren und heitern Blick
in die Welt thun konnten, ſondern bei denen Hypochon—
derie und Lebensuͤberdruß die Stelle des Tiefſinns ver—
treten muͤſſen. Angebetet, abgeſchrieben, nachgeahmt,
und das ſchlechte Muſter uͤbertrieben, wurde nun wie—
der. Von einem Ende des Landes zum andern er—
ſchallte jetzt dieſe Lehre, und man unterſchied nicht eins
mal das Beſſere vom Schlechteren. Wo iſt denn alſo
jemals das Originale, wirklich Nationale hervorgetreten?
282
Ich bin überzeugt, daß der Deutſche nichts Selbſtſtaͤn—
diges iſt, daß, wenn es ſo fortgeht, die Zeit vielleicht
nicht mehr fern iſt, wo er beim vergeſſenen und aber—
glaͤubiſchen Spanier bettelt, deſſen weggeworfene Bro—
ſamen aufhaſcht, und aus deſſen wurmzernagten Kruzi—
firen und Idolen ſich feine Goͤtterbilder ſchnitzt, vor
denen er dann wieder in rohem, ſchnell entſchwindenden
Fanatismus eine Zeitlang kniet. —
Ich bewundere noch mehr dieſe ſcharfe Art ſich auszu—
druͤcken, ſagte Kronenberg ſehr geſchmeidig, als die Maſſe
von Kenntniſſen, die ein ſo kuͤhnes Urtheil, meine gnaͤ—
digſte Frau, bei Ihnen vorausſetzt.
Sie ſcheinen auch der Meinung zu ſein, war die
Antwort der Dame, daß es den Frauen unmoͤglich ſei,
verſtaͤndig zu werden, und freilich, wenn man alle die
Einrichtungen betrachtet, welche die Maͤnner getroffen
haben, um uns in der Unmuͤndigkeit zu erhalten, ſo iſt
es nicht ſonderlich zu verwundern, wenn die meiſten In—
dividuen meines Geſchlechts zeitlebens kindiſch bleiben, be—
ſonders da ſie nur durch dieſe halb natuͤrliche, halb affektirte
Niaiſerie den Maͤnnern gefallen. Im Alter ſieht dies Weſen
freilich um ſo betruͤbter aus, und es entſchließen ſich alsdann
auch die meiſten ziemlich kurz, ſich geradezu in Drachen
oder Betſchweſtern zu verwandeln: wenn die Schlimmſten
es ſogar zu der Virtuoſitaͤt bringen, dieſe beiden Thier—
gattungen mit einander zu vereinigen.
Unvergleichlich! rief Kronenberg aus.
Heuchelt nur und ſchmeichelt euch! murrte der alte
Herr auf ſein Buch niedergebuͤckt.
Ich hoffe, fuhr die gnaͤdige Frau fort, Sie gehoͤren
nicht zu dieſen Maͤnnern, deren eigne Armſeligkeit die
Frauen noch armſeliger haben will, damit ſie ſich vor
283
dieſem Spiegel nicht zu ſchaͤmen brauchen. Ich würde
nicht meine Ueberzeugung gegen Sie ausſprechen, wenn
ich Sie nicht fuͤr eine Ausnahme hielte. Erinnere ich
mich doch auch von ehemals, wie ſehr wir in Bewunde—
rung jener Nation uͤbereinſtimmten, die ſich jetzt mit
Recht die große nennt, die es nunmehr fuͤhlt, daß ſie es
iſt, die Europa gebildet hat und in Zukunft erſt noch zu
einem geſitteten Welttheil machen wird; denn was iſt
wohl geſchehen, erfunden, eingerichtet, gedacht, (wenn
es irgend der Beachtung wuͤrdig iſt) was es die neuere
Welt nicht ihr zu danken haͤtte?
Der Menſch, liebe Mutter, aͤndert ſich aber zuwei—
len, ſagte der Sohn laͤchelnd, und ich weiß nicht, in
wie fern wir beide noch mit unſerm Freunde überein:
ſtimmen werden.
Das waͤre ſchwaͤcher als ſchwach, rief ſie aus: denn
es bewieſe, daß Ihre fruͤhere Ueberzeugung keine wahre,
ſondern nur angeflogene Nachbeterei geweſen waͤre, und
ich habe Ihr Genie und Ihren wahrhaft gebildeten
Geiſt immer viel zu hoch geſtellt, als daß ich mir auch
nur den entfernteſten Verdacht ſolcher Art gegen Sie
erlauben duͤrfte.
Jetzt ſtand der Herr von Wildhauſen auf, ſchloß
ſein Buch und begab ſich an den Tiſch. Er verneigte
ſich nur nachlaͤſſig gegen Kronenberg, ſchenkte ſich ein
großes Glas Rheinwein ein, erhob es und rief: die
Geſundheit des Verfaſſers von jenem Buche! Ja, haͤt—
ten wir mehr dergleichen, gebraͤche es nicht an Muth
und Originalitaͤt, ſo wuͤrden wir es bald weiter gebracht
haben. Denn das, mein verehrter Eheſchatz, iſt die
Hauptſuͤnde meiner Landsleute, daß wir uns immer
noch ſchaͤmen, dumm zu fein: damit kirren uns in:
284
und auslaͤndiſche Narren, und wiſſen uns alle moͤgliche
Thorheiten und Fratzen um den Nacken zu werfen, weil
ſie uns weiß machen koͤnnen, es ſei Klugheit und Witz,
in dergleichen Sattel- und Zaumzeuge zu wandeln;
ihnen zu gefallen werfen wir ſo oft das Beſte unſrer
Sitten und Einſichten weg, weil ſie uns perſuadiren
koͤnnen, es ſei altfraͤnkiſche, kurzſichtige Dummheit.
Gerade ſo, wie man ehemals die Wilden behandelte,
die um Gold einen einfaͤltigen Spiegel eintauſchten.
Sie, der junge Freund meines Sohnes, ſo wie mein
Sohn ſelbſt, werden noch einmal mit Thraͤnen aus
dem Schutt graben wollen, was ſie jetzt mit Lachen
unter die Fuͤße treten, denn meine verehrte Gattin wird
alsdann hoffentlich ſchon mit mir zu den Ahnen ver—
ſammelt ſein, von wo wir dann vielleicht durch ein
heimliches Fenſter mit etwas himmliſcher Gelaſſenheit
auf die kleine Nation und die ungeheuer große Confu—
ſion herunter ſchauen koͤnnen.
Wer mit Ihnen ſtritte! ſagte hoͤhniſch die Dame.
Wer nicht logiſch folgern und noch weniger dialektiſch
unterſcheiden kann, ſollte doch ein fuͤr allemal das Dis—
putiren aufgeben.
Auf Ihre Geſundheit! rief der Housherd indem er
ein noch groͤßres Glas ausleerte; o Himmel, welche
Kraft und robuſte Natur gehoͤrt dazu, alles dies uͤber—
oder unterirdiſche Zeug ſo zu Gebote zu haben, wie es
immer zu Ihrem Kommando bereit ſteht. Mein Kopf
und Geiſt ſind freilich anders eingerichtet, denn ent—
weder beide müßten von dem aufbraufenden Gebraͤue
berſten, oder ſie muͤßten es ſo verdauen, daß es mir
nicht immer und zu ſo een Zeiten auf die Zunge
kaͤme.
285
Die Gemalin wurde roth vor Zorn und der Sohn
verlegen; Kronenberg, um die zu aͤngſtliche Stille zu
unterbrechen, fragte: darf man nicht wiſſen, was es fuͤr
ein Buch war, was Sie ſo eben laſen?
Gewiß, rief ſie aus, jener mauſſade Autor, der ſich
an einen Gegenſtand und an einen Charakter gewagt
hat, die ihm viel zu erhaben ſind, und der ſeinen
Mangel an Einſicht recht breit mit deutſcher Plattituͤde
zudeckt. Sonderbar! daß die Fremden ein bezeichnen—
des Wort fuͤr etwas haben, das bei uns eigentlich nur
zu Hauſe iſt! wir haben keinen Namen fuͤr dieſe unſre
Nationaltugend, aber freilich, wir bemerken auch gar
nicht einmal, daß dergleichen einen Tadel zulaſſen moͤchte
und taufen es Patriotismus, Biederkeit, Treue, und
nach Gelegenheit deutſchen Sinn und ſelbſt Liebens—
wuͤrdigkeit.
Der Alte war aufgeſtanden, um das Buch herbei
zu holen. Sehn Sie, ſagte er, den Titel aufſchlagend,
dies herrliche Werk iſt es, welches Sie, mein junger
Herr von Kronenberg, wohl leſen und ſtudieren ſollten,
wenn Ihre poetiſche Ader Ihnen dazu Ruhe und Ein—
ſicht ließe. Da koͤnnten Sie lernen und von falſcher
Bewundrung zuruͤck kommen.
Und den beſſern Geiſt tödten, rief die Dame des
Hauſes.
Streiten wir nicht, ſagte Kronenberg, ich kenne
das Buch und fuͤhre es mit mir. | |
In der That? rief der Alte; — und wer möchte
wohl der Verfaſſer ſein? Mich wundert nur, daß es
nicht ſchon verboten iſt, da der fremde Einfluß in un—
ſerm Vaterlande nun gar zu maͤchtig wirkt. Auch ſoll
ſich der Verfaſſer nur in Acht nehmen.
286
Kronenberg zögerte ein Weilchen, doch dann rückte
er mit dem Bekenntniſſe heraus, welches er ſeinem
Freunde Freimund ſchon gethan hatte, daß eben Nie—
mand anders, als er ſelber das berufene und freilich
ziemlich gefaͤhrliche Werk geſchrieben habe.
Wie? riefen alle zugleich im groͤßten Erſtaunen, und
da das Mahl ſo eben geendigt war, ſo entfernte ſich
die Dame des Hauſes mit einer kurzen Verneigung und
einem hoͤhniſchen Laͤcheln: der Alte aber riß den jungen
Mann ſtuͤrmiſch an ſeine Bruſt und rief wie begeiſtert:
ſoll es mir fo wohl werden, den edlen Deutſchen ken—
nen zu lernen, der es in unſrer armſeligen Zeit gewagt
hat, ſo dreiſt dieſe große Wahrheiten zu ſagen? Und
Sie, Sie ſind es, junger Mann? Vergeben Sie mir
alles, was ich gegen Sie nur jemals geſprochen oder
gedacht. Morgen werden wir uns wieder ſehn und
naͤher kennen lernen.
Als Kronenberg wieder auf dem Zimmer ſeines jun—
gen Freundes war, ſagte dieſer zu ihm: ſo viel ich
Dir, theurer Ferdinand, auch immer zugetraut habe,
ſo hatte ich doch niemals ein ſolches Werk von Dir er⸗
warten koͤnnen, das ich, ſo ſehr es auch allen meinen
Anſichten widerſpricht, hoch ſtellen muß. Und wie haſt
Du nur ſelbſt ſo ſchnell Dein politiſches Glaubensbe—
kenntniß geaͤndert?
Laſſen wir das jetzt, ſagte Kronenberg, mich freut
es, daß durch dieſe Veranlaſſung Dein Vater eine beſ—
ſere Meinung von mir bekommen hat. Du ließeſt heut
ein Wort über ihn fallen. Wäre es nun nicht mög:
lich, daß er zur Verbeſſerung meiner Umſtaͤnde mit:
wirkte?
287
Karl lachte laut, dann fagte er verlegen: vergieb,
wenn mich dieſer Gedanke komiſch uͤberraſchte, und
wenn ich gezwungen bin, als Sohn die Schwachheiten
meiner Eltern ins Licht zu ſtellen. Haͤtteſt Du Dich
nicht durch Deine unvermuthete Autorſchaft jetzt bei
meiner Mutter auf Lebenszeit verhaßt gemacht, ſo waͤre
Dein Gedanke ausfuͤhrbar geweſen, wenn Dir mein
Vater auch nicht dieſe Freundſchaft erwieſen und Ehren—
erklaͤrung gethan haͤtte. Jetzt aber haſt Du es eigent—
lich mit beiden verdorben. Der alte Herr iſt immer
nur ſo heroiſch in Gegenwart von Fremden, weil er
vorausſetzt, daß die Frau des Hauſes ſich alsdann maͤßi⸗
gen wird; er weiß aber auch ſchon vorher, daß er in
der Einſamkeit des Schlafzimmers ſeinen Patriotismus
und Uebermuth buͤßen muß, er wird dann um ſo tiefer
gedemuͤthigt, als er ſich erſt von Deutſchheit und Wein
begeiſtert erhob. Du wirſt morgen Zeuge ſein, wie er
um ſo aͤngſtlicher als Flehender da kriecht, wo er heut
als Herr tyranniſirte, und von dieſer ſchwachen Inkon—
ſequenz, die ſich alles gefallen laͤßt, ſo ſehr ſie auch zu
Zeiten poltert, hat meine Mutter hauptſaͤchlich ihre Anz
ſicht vom deutſchen Charakter abſtrahirt. Alſo kannſt
Du Dir wohl denken, wie ſehr ſie ihn bewachen wird,
damit er nichts fuͤr Dich thue, und wir koͤnnen froh
ſein, wenn er Dich nicht geradezu verfolgt und einen
Streit vom Zaun bricht, um ſich bei ſeiner Gattin
wieder in Gunſt und Anſehn zu ſetzen.
Als Kronenberg zu dieſen ſonderbaren Eroͤffnungen
ſeufzend den Kopf ſchuͤttelte, fuhr der Freund fort:
laſſen wir das: ich habe an Dich eine Bitte von der
groͤßten Wichtigkeit. Du willſt, wie ich weiß, weiter
reiſen: wenn Du gehſt, fo nimm Deinen Weg uͤber
288
das Gut Neuhaus, zehn Meilen von hier, das Dir
ſchon bekannt iſt. Dort wirſt Du die Tochter des Hau—
ſes kennen lernen. Sie iſt der Inhalt aller meiner
Wuͤnſche; aber mein Vater iſt ſtarr und unerbittlich
dieſer Verbindung entgegen, und meine Mutter giebt
ihm hierin nach, weil ſie vor Jahren einmal von der
Familie beleidigt wurde. Dein Wort gilt aber jetzt bei
meinem Vater fo viel, daß ein empfehlender Brief, eine
vortheilhafte Schilderung gewiß Alles zu meinem Beſten
wird thun koͤnnen.
Kronenberg ſchied mit dem Verſprechen, den Verſuch
zu machen, und begab ſich zu Ruhe.
Es zeigte ſich am folgenden Mittage, wie ſehr der
junge Wildhauſen in ſeiner Schilderung die richtigen
Farben gewaͤhlt hatte. Die gnaͤdige Frau war ſehr
hochfahrend, kurz, und bemühte ſich gar nicht, ihre
Verſtimmung zu verbergen; der Herr des Hauſes war
ſo ſcheu und demuͤthig, daß er kaum die Augen aufzu—
ſchlagen wagte, und eben ſo, wie jedes lauten Wortes,
enthielt er ſich auch heute des Weins. Es wollte ſich
keine Veranlaſſung finden, daß die Dame ihren Un—
muth haͤtte auslaſſen koͤnnen; nur als der Bediente Zei—
tungen und Broſchuͤren herein brachte, rief ſie mit einem
gellenden Ton: tragt das Zeug alles fogleich wieder
fort! Ich bin es endlich uͤberdruͤßig, ſo einfaͤltigen
Plunder in meinem Hauſe herum liegen zu ſehn, in
welchem der groͤßte Mann der neuern Jahrhunderte ſo
armſelig gemißhandelt wird! Wenn die franzoͤſiſchen
Blaͤtter kommen, ſo bringt ſie mir! — Herr von Wild—
hauſen ſah mit wehmuͤthig klaͤglichem Blicke dem Diener
289
nach, und ſchickte ein verſchaͤmt bittendes Auge hinter
ihm drein, wagte aber kein Wort, um ſeine Lieblings—
lektuͤre zu retten. Ja auch jenes geſtern ſo hoch ge—
prieſene Werk war nicht zu erblicken, und die Vermu—
thung Karls, daß die despotiſche Laune der Mutter es
wohl verſchloſſen halten moͤchte, ſchien ſich zu beſtaͤtigen.
Es herrſchte oft Stille am Mittagstiſche; denn die Er—
zaͤhlungen des Sohnes, noch weniger aber die Scherze
und Anekdoten, welche Kronenberg wagte, fanden Bei—
fall oder Unterſtuͤtzung. Als man ſich vom Tiſche erhob,
entfernte ſich die gnaͤdige Frau ſogleich, und indem der
alte Herr mit geſenkten Blicken folgte, ſtieß er im Vor:
beigehn an Kronenberg, und fluͤſterte: kommen Sie in
einem Viertelſtuͤndchen auf mein Zimmer! — Die bei—
den jungen Freunde machten indeß einen Spaziergang
durch den Garten. 8
Nach kurzer Zeit ging Kronenberg, der ſich der
Hausordnung ſchon fuͤgen lernte, mit leiſen Schritten
nach der Stube des Herrn von Wildhauſen. Er fand
den alten Mann noch immer verlegen, der in ſeinen
Papieren kramte, und ſich aͤngſtigte, wie er ſeine Rede
anfangen ſollte. — Tugend wird nicht immer erkannt,
mein theurer junger Freund, — ſo ſtotterte er endlich, —
und ich werde auch oft nicht verſtanden. Der Menſch
iſt ein ſchwaches Weſen. Wenn ich meinem Gemuͤth
folgen dürfte, — indeſſen — wer weiß — in Zu:
kunft — ich hoͤre, daß Sie in Verlegenheit ſind, und
leicht an Ihrer vorhabenden Reiſe gehindert werden
koͤnnten. Iſt es mir nicht moͤglich, alles fuͤr Sie zu
thun, was ich wuͤnſche, ſo nehmen Sie wenigſtens dies
Darlehn, das Sie mir nach Ihrer Bequemlichkeit in
beſſern Zeiten zuruͤckzahlen koͤnnen. —
XIV. Band. 19
290
Mit diefen Worten überreichte er ihm einen Beutel
mit zweihundert Goldſtuͤcken. Und, fuhr er fort, ein
Andenken muͤſſen Sie von mir annehmen; ich dachte
erſt, Ihnen meine Equipage — aber es ſind — kurz,
ich gebe Ihnen ein treffliches, gut gerittenes Pferd,
das mir nur etwas zu muthig iſt. In der Jugend
und bei feſter Geſundheit, wie die Ihrige, iſt dies die
angenehmſte Art zu reiſen.
Sie beſchaͤmen, Sie uͤberhaͤufen mich, ſagte der
junge Mann. 5
Ohne Umſtaͤnde, eiferte der Alte, — denn meine
Frau aͤngſtigt ſich auch um dieſes Thier, weil es uns allen
zu wild iſt. Glauben Sie aber nicht, daß ich ſo ganz
ohne Eigennutz handle. Ich habe eine große Bitte an
Sie, durch deren Erfuͤllung Sie mich ſehr verpflichten,
und wenn Ihnen die Sache gelingt, die ich wuͤnſche,
ſo machen Sie mich wahrhaft gluͤcklich.
Nennen Sie Ihre Wuͤnſche.
So lange es Ihnen bei uns gefaͤllt, ſind Sie mir
der willkommenſte Gaſt; aber wenn Sie abreiſen, erzei—
gen Sie mir die Freundſchaft, uͤber Neuhaus zu gehen.
Dort werden Sie eine Familie ſehn, die aus den wider—
waͤrtigſten Mitgliedern beſteht, die die Einbildung nur
erſinnen koͤnnte; am gehaͤſſigſten aber iſt die Tochter des
Hauſes, ohne Grundſaͤtze, eitel, kokett, allem Guten,
vorzuͤglich allen deutſchen Geſinnungen abhold, und Va—
ter, Mutter, Sohn und Tochter bilden ein Neſt von
ausgemachten Atheiſten, denen nichts hoͤher ſteht, als
Voltaire, Diderot, und die traurige Geſellſchaft jener
jetzt faſt ſchon faſt veralteten Freigeiſter. Mein Sohn
iſt in das Maͤdchen vernarrt, und denkt es durchzu—
ſetzen, fie mir als Schwiegertochter ins Haus zu brin—
291
gen. Muß ich einmal nachgeben, ſo zieh' ich auf meine
alten Tage noch in die Fremde. Lernen Sie die Leute
kennen, und rathen Sie dann meinem Sohn, auf den
Sie ſo viel vermoͤgen, mit vollem Herzen ab. Spre—
chen Sie mit dem Vater dort, der vielleicht Vernunft
annimmt, und legen Sie ihm unverhohlen auf eine
feine Weiſe meinen Widerwillen dar. — Nach dieſer
Rede umarmte der alte Mann den jungen Freund herz—
lich, und fuͤgte dann geruͤhrt hinzu: und nun beſchwoͤre
ich Sie noch, mit vaͤterlichem Wohlwollen, geſtehn Sie
nicht mit ſo edler Offenherzigkeit, daß Sie der Verfaſſer
jenes merkwuͤrdigen Buches ſind. Wir ſehen truͤben
Zeiten entgegen. Alles deutet auf einen hoͤchſt ungleis
chen Kampf, der Deutſchlands Freiheit im gefaͤhrlichſten
Spiel verlieren wird. Noch hat man ſich nicht erklaͤrt.
Bis dahin werden die Regierungen gewiß jene Aeuße—
rungen nicht gut heißen, und nachher, wenn die Tra—
goͤdie aufgefuͤhrt iſt, iſt ihre Sicherheit, ja ihr Leben
geradezu gefaͤhrdet. b
Ich werde Ihre Warnung, erwiederte Kronenberg,
zu Herzen nehmen. Sie haben ſo ſehr Recht, daß das
Buch in meinem Vaterlande ſogar ſchon verboten iſt.
Wie man auf der Graͤnze des Herzogthums erfahren,
daß ich der Verfaſſer ſei, begreife ich nicht; aber neu—
lich am Abend, als ich Ihren Bothen erwartete, lauer—
ten mir vier bis fuͤnf Menſchen auf, denen 1 nur durch
Liſt entgangen bin.
Karl war erfreut, als ihm Kronenberg das Geld
uͤberreichte, das er vom Vater erhalten hatte. Es
wurde beſchloſſen, mit dieſer Summe die dringendſten
Glaͤubiger fuͤrs erſte zum Schweigen zu bringen, wenn
auch nicht zu befriedigen, im Fall der Oheim ſich auf
49°
292
gar keine ngen einlaſſen wollte. Geſchaͤhe dies
aber, ſo koͤnne Kronenberg das Geld nachgeſchickt
werden. s
Nach dem Abendeſſen warteten die beiden Freunde
noch bis tief in der Nacht hinein; aber Chriſtoph kam
noch immer nicht zuruͤck, um von der Brieftaſche und
dem verlornen Paſſe Nachricht zu bringen. Als man
ſich ſchon uͤberwacht trennen wollte, klapperte ein Pferd
den Hof herein, und man vernahm Chriſtophs Stimme,
der den eingeſchlafnen Stallknecht aufſchrie. Gewiß,
ſagte Kronenberg, hat der Menſch die ganze Reiſe, bis
zu jener Stelle, wo wir mit dem Wagen n aus
ruͤck gemacht.
Indem kam Chriſtoph herauf, erhitzt und außer
Athem, und noch viel verdruͤßlicher, als gewoͤhnlich.
Haſt Du die ganze Reiſe zuruͤck gemacht, armer Menſch?
rief ihm Karl entgegen.
Das habe ich wohl bleiben laſſen, antwortete der
Alte, denn im vorletzten Wirthshauſe hatte ich ja noch
die vermaledeite Brieftaſche des gnaͤdigen Herrn geſehn.
Ich bin nur in der letzten Schenke abgeſtiegen, habe
das ganze Haus umgekehrt, die Schraͤnke aufgebrochen,
die Betten umgeworfen, Stuhl und Bank, aber verge—
bens durchgeſucht.
Aber Du biſt faſt vier und zwanzig Stunden ab—
weſend; wo haſt Du Dich denn umhergetrieben?
O, dreizehn Stunden wenigſtens habe ich recht ſtill
und ruhig geſeſſen.
Wie das? ;
Laſſen Sie ſich dienen, fagte der Alte, und werden
Sie nicht ungeduldig. Als ich die Hausſuchung dort
mit aller Strenge vollbracht und den Wirthen Schreck
293
und Aerger in den Leib gejagt hatte, feste ich mich
wieder auf. Kaum zweitauſend Schritte auf dem Ruͤck—
wege reitet mir jemand auf einem Queerwege voruͤber:
ein huͤbſches Pferd, der Mann gut angezogen — und —
wer war es? derſelbe verdaͤchtige Patron, der Ihnen,
nach meinem Glauben, die Brieftaſche weggemauſt
hat. — Ich links, ſeitwaͤrts ihm nach. Der Kerl hat
mich laͤngſt geſehn und erkannt. Sein boͤſes Gewiſſen
treibt ihn, daß er ploͤtzlich einen Feldweg rechts ein—
ſchlaͤgt, als wenn er ſo gleichſam ſpeculirend ſpazieren
ritte. Ich auch von der großen Straße ab, ihm ges
folgt. Das mochte er ſich wohl nicht vermuthen, denn
nun ſetzte er ſich in geſtreckten Gallopp. Den konnte
unſer guter Ackergaul ihm nicht nachthun; aber ich ließ
nicht ab, denn ich dachte den Schelm in der Stadt
arretiren zu laſſen. Was das Pferd laufen kann, ge—
ſpornt, in die Ribben gearbeitet, bin ich eher, als ich
dachte, am Stadtthor. Die Buͤrgerwache ſteht ſchon
im Gewehr; ich frage nach dem und dem, und beſchreibe
ihn, als man mich anhält und vom Pferde noͤthigt;
in die Wache werde ich geſetzt. Von da geht's zum
Buͤrgermeiſter. Ich ſei ein Bettler, ein Landftreicher
und ſo weiter, ein verdaͤchtiger Taugenichts — ich muͤſſe
auf den Thurm. Himmelselement! da ſtoben mir die
Worte und Redensarten vom Munde, und es war
manches darunter, was der Buͤrgermeiſter nicht in Gna—
den aufnahm. Meinen Paß ſollte ich aufweiſen. Einen
Paß, bei einem Spazierritt! — Ich muͤſſe ins Ge—
faͤngniß; ein ehrſamer feiner Mann, der ſich ausgewie—
ſen, und nach ſeinem Paſſe ein Baron Kronenberg ſei,
habe mich denuneirt, wie er ſich ausdruͤckte. Kein
Fluchen und Schimpfen half. Ich guckte dort uͤber
294
das Thor durch ein enges Gitter, und fah über die
ganze Stadt weg. Auf den Abend, als es ſchon dunkel
war, geht der Rittmeiſter Herr von Wolf die Gaſſe
herunter. Ich ſchrei', was ich aus dem Halſe bringen
kann: erzähle ihm meinen Caſus. Er bittet mich end;
lich los, und da ich viel von Satisfaction raͤſonnire,
meint der Buͤrgermeiſter, ich ſolle dem Himmel danken,
ſo wohlfeil abzukommen; denn fuͤr mein Schimpfen auf
die Obrigkeit muͤßte ich eigentlich acht Tage bei Waſſer
und Brot ſitzen. Der Schließer mußte nun auch noch
ein Trinkgeld haben. Jetzt hatte ich noch ſechs volle
Meilen zuruͤck. — Hab' ich's doch immer geſagt: die
complete Confuſion iſt ſchon im Lande; der Dieb laͤßt
den Redlichen einſtecken, die verkehrte Welt oder die
Revolution iſt da!
Nach einiger Zeit befand ſich Kronenberg zu Pferd,
um ſeinen Beſuch in Neuhaus abzuſtatten. Der Fruͤh—
ling und die Sommerwaͤrme hatten ſich eingeſtellt, und
dem Reiſenden, der ſeine Sorgen vergeſſen, war jetzt
ſo leicht und wohlgemuth, wie es dem Juͤnglinge wohl
zu ſein pflegt, wenn er ſich das erſtemal von ſeiner
Heimath entfernt, um die Welt kennen zu fernen. Er
hatte ſchon in der Naͤhe einige angenehme Landſitze be;
ſucht, und war heiteren Sinnes durch Wald und Ge—
birge geſtrichen, und jetzt, auf dem luſtigen Wege in
der Ebene, gingen die Geſtalten und Begebenheiten
ſeiner fruͤheſten Jugend ſeinem Geiſte voruͤber; er war
in jener froͤhlichen Traͤumerei befangen, in der uns alle
Erinnerungen ergoͤtzen, und Thorheit wie Ernſt mit
gleichen Blicken anſchauen. Er hatte auch oft Gelegen-
|
295
heit gehabt, der Warnung feines Freundes eingedenk zu
fein; denn fein Roß wollte kuͤnſtlich und mit aller Auf:
merkſamkeit behandelt fein. Es war von guter Race
und kraͤftig, aber durch ſeine Reiter verwoͤhnt; die
Eigenſchaften des Herrn gehn auf gewiſſe Weiſe in die
Thiere uͤber, und ſo war dieſes ſeltſam zerſtreut; es
ſcheute oft ohne Veranlaſſung, und ſprang von der Seite,
auch ſtolperte es ohne alle Urſach': es war einmal ſchon
geſchehn, daß es den Zaum vor die Zaͤhne nahm und
im blinden Rennen fortſtuͤrzte, ohne auf ſeinen Regie—
rer und deſſen Willensmeinung die mindeſte Ruͤckſicht
zu nehmen. So ward es eine Nebenabſicht Kronen—
bergs bei dieſer Reiſe, da er ſich fuͤr einen trefflichen
Reiter hielt, das ſchoͤne Thier wieder an Ordnung und
Vernunft zu gewoͤhnen: er lernte beim Erziehn, daß
er ebenfalls mehr zerſtreut ſei, als er von ſich geglaubt
hatte: der ſchlimmſte Fehler, durch den jede Erziehung,
bei vernuͤnftigen oder unvernuͤuftigen Weſen, unmoͤglich
wird.
Am folgenden Tage ſah er von einer Anhoͤhe das
Schloß hinter Gehoͤlzen ſchon vor ſich liegen, als ſich
ein junger Menſch, ebenfalls zu Pferde, zu ihm ge—
ſellte. Als dieſer nach einigen Fragen und Antworten
die Abſicht Kronenbergs erfahren hatte, rief er aus:
ei! da kommen Sie ja recht zu gelegener Zeit, denn in
zwei oder drei Tagen wird die Hochzeit des Fraͤuleins
ſein.
Des Fraͤuleins vom Hauſe? — Unmoͤglich!
Warum unmoͤglich? Sie wollen doch nicht Einſpruch
thun? Das Feſt wird um ſo glaͤnzender, weil der Vater
an dem naͤmlichen Tage das Andenken ſeiner fuͤnf und
zwanzigjaͤhrigen Verbindung feiern will. Die ganze
296
— ER
Nachbarſchaft iſt ſchon laͤngſt eingeladen, und da die
Sache ſo weltbekannt iſt, ſo konnte ich gar nicht ver—
muthen, daß fie Ihnen fremd fein würde, Das Schloß
wimmelt von Gaͤſten, und Sie werden ſich vielleicht in
einem Wirthſchaftsgebaͤude oder der Pachterwohnung be—
gnuͤgen muͤſſen.
Aber in aller Welt, rief Kronenberg aus, wen hei—
rathet das Fraͤulein? |
Das ift eben das Sonderbare von der Sache, ſchwatzte
der junge Menſch mit dem Ausdruck des größten Leicht,
ſinns gelaͤufig weiter: es iſt eine Parthie, an die Vater
und Mutter und ſelbſt das Maͤdchen noch vor einem
Vierteljahr unmoͤglich denken konnten: denn es iſt eine
Mesalliance, die auch eigentlich ganz gegen alle Ver—
nunft ſtreitet. Denken Sie nur, vor ſechszehn Wo—
chen etwa kommt ein junger Fant durch das Dorf,
giebt einen Brief ab, wird freundlich aufgenommen, ein
Menſch ohngefaͤhr meines Alters, mir auch im Weſen
und Geſicht nicht unaͤhnlich. Er iſt ſo eben von der
Univerſitaͤt abgegangen, ein Amtmanns-Sohn, ſieben
bis acht Meilen von hier wohnhaft. Das junge Blut
macht Verſe, ſpricht Zaͤrtlichkeit, iſt artig, lieſt Buͤcher
vor. Wie ein Narr wird er in das reiche ſchoͤne Maͤd—
chen verliebt; ſie wird unvermerkt von derſelben Narr—
heit angeſteckt; die Eltern ſind unzufrieden, die Mutter
weint, der Vater tobt. Doch alles Fluchen hat ſeine
Graͤnze, auch die ergiebigſten Thraͤnen verſiegen, nur die
Liebe iſt ewig und unerſchoͤpflich. Nicht wahr, ſo ſagt
ja alle Welt? Das bewaͤhrt ſich denn auch hier, und
zum boͤſen Spiel gute Miene machen, iſt eigentlich die
ganze Kunſt der vornehmen Leute. Kurz, der junge
Windbeutel iſt gluͤcklich.
297
Verzeihen Sie die Frage, ſagte der Reiſende: Sie
ſind wohl ſelbſt der Braͤutigam?
Mit ſchadenfrohem lautem Lachen ſah der junge
Menſch ihn an, gab dem Pferde die Sporen, und flog
davon, ſo daß das leichte Sommerroͤckchen in der Luft
nachflatterte, indem er noch zuruͤck rief: kommen Sie
bald nach, Kamerad.
Armer Freund, ſagte Kronenberg zu ſich ſelber, ſo
iſt es alſo mit deiner Hoffnung und allen deinen Wuͤn—
ſchen auf immer zu Ende! Eben ſo iſt dein Vater nun
aller Sorge enthoben, und meine entgegengeſetzten Auf—
traͤge duͤrfen mir jetzt keinen Kummer machen. Er ritt
in Gedanken langſamer, und als er endlich auf den
Hof des Schloſſes kam, ſprang ihm der junge leichte
Menſch ſchon wieder aus dem Stalle entgegen. Aha!
rief er mit lachender Miene, da ſind Sie ja endlich!
Sie werden ſich aber verwundern, wen Sie oben bei
dem Herrn Baron finden werden! Einen alten Be—
kannten!
Doch nicht etwa meinen Freund, den Herrn von
Wildhauſen, der mir vorangeeilt iſt? fragte Kronenberg.
Nein, er heißt ganz anders.
Oder Herr Freimund?
Weit davon.
Doch nicht etwa gar, ſagte der junge Mann zoͤgernd,
ein Herr Wandel?
Richtig! rief der Juͤngling, und ſprang die Treppe
hinauf, indem er noch bemerkt hatte, wie Kronenberg
plotzlich blaß geworden war; denn auf dieſen Mann
lautete ſein bedeutendſter Wechſel. Er uͤberlegt ſchnell,
ob es nicht beſſer ſei, raſch wieder das Pferd zu be—
ſteigen und eilig die Landſtraße zu gewinnen; indeſſen
298
aber waren die Stalldiener ſchon herzu gekommen, und
Bediente umgaben ihn. Er ſah ſich wie ein Gefange—
ner an, und folgte mit ſchwerem Herzen dem voran—
eilenden Diener, der ihn melden wollte. Vom Balkon
herunter begruͤßte ihn mit holdſeliger Freundlichkeit eine
ſchoͤne Maͤdchengeſtalt. Indem er den Blick wieder
erhob, glaubte er ein muthwilliges oder auch vielleicht
boshaftes Lachen zu ſehn, das ſich aber augenblicklich
wieder in ein holdſeliges Lächeln aufloͤſte. Als er die
Treppe hinan und uͤber den weiten Vorſaal ſchritt, ver—
wunderte er ſich uͤber die Ruhe und Stille im Hauſe,
die bei den vielen Gaͤſten unbegreiflich war. Der Ba—
ron kam ihm mit heiterer Bewillkommnung entgegen,
indem er ſich freute, einen Freund des jungen Wildhau—
fen kennen zu lernen, der ihm die Einſamkeit feines
laͤndlichen Hauſes ermunternd beleben wuͤrde.
Einſamkeit? fragte Kronenberg verwundert: ich muß
fuͤrchten, Ihrem Hauſe bei dieſem ſchoͤnſten Feſte Ihres
Lebens ein uͤberlaͤſtiger Gaſt zu ſein.
Der Baron ſah ihn verwundert an. Die Vermaͤ—
lung Ihrer Tochter, Ihre ſilberne Hochzeit, fuhr Kro—
nenberg fort — aber der Baron unterbrach mit ſchal—
lendem Gelächter feine Rede, und rief endlich: ich
wette, Sie find ſchon unſerm Windbeutel, dem jungen
Wehlen, in die Haͤnde gefallen. Dieſer Menſch, ein
Univerſitaͤtsfreund meines Sohnes, hat es ſich ſchon
ſeit lange zum Geſchaͤft gemacht, Unwahrheiten auf
Unwahrheiten zu erſinnen, und dadurch iſt ihm endlich
das Luͤgen ſo zur Natur geworden, daß er ſelbſt bei
den gleichguͤltigſten Dingen niemals der Wahrheit ge—
treu bleiben kann. Von keinem Spaziergange koͤmmt
er zuruͤck, ohne etwas Gleichguͤltiges zu erdenken, das
299
ihm wohl haͤtte begegnen koͤnnen. Mit meiner Tochter
uͤbt er tauſend Eulenſpiegelſtreiche. Wir ſind es alle ſo
gewohnt, daß kein Menſch im Hauſe mehr auf ihn
hoͤrt, und daher iſt es ihm ein Feſttag, einmal auf
einen Fremden zu treffen, der ſein Naturell noch nicht
kennt.
Dem jungen Mann ſiel durch dieſe Erklaͤrung eine
Laſt von der Bruſt, daß er alſo auch wohl von dem
Herrn Wandel nichts zu befuͤrchten habe: dennoch aber
konnte er eine Empfindlichkeit nicht unterdruͤcken, ſich
von einem jungen Burſchen ſo genaͤrrt zu ſehn. Wenn
der junge Menſch, ſagte er, das Luͤgen ſo zu ſeiner
Gewohnheit gemacht hat, ſo iſt es mehr als Scherz;
man darf dieſe voͤllige Verachtung der Wahrheit wohl
ein Laſter nennen. Und wird er dieſen Hang nie zum
Boͤſen anwenden? Ich fürchte, dieſe Thorheit, die
zwar jetzt nur noch Lachen erregen ſoll, wird ihm und
andern in Zukunft manche bittre Thraͤne bereiten. Wie
kann man nur ſo mit dem Leben ſpielen! Er wird
aber auch gewiß ſeiner Strafe und einer, vielleicht zu
ſpaͤten Reue nicht entgehn.
Trefflich! ſagte der Baron mit Laͤcheln: aber, lieber
junger Freund, haben Sie denn ſchon viele Leute ge—
kannt, die die Wahrheit geſprochen haben? Alles in
der Welt luͤgt ja doch, jedes auf ſeine Weiſe, und die
des naͤrriſchen Wehlen iſt noch eine der unſchuldigſten.
Ich vertraue keinem Menſchen, und mache auch nicht
die unnuͤtze Forderung, daß mir einer trauen ſoll.
Wahrheit haͤlt die Welt gewiß nicht zuſammen, und
welchen Schreck würde es geben, wenn die gute Krea—
tur, von der ſchon ſo viel gefabelt iſt, wirklich einmal
erſchiene. Sie haben ſich recht warm und herzlich aus—
300
gedrückt, und manchem Andern würde das noch mehr,
als mir gefallen; denn, — kommen Sie, Liebſter, in
den Garten! — ich glaube immer bemerkt zu haben,
daß wir diejenigen Fehler an andern am bitterſten ruͤ—
gen, von denen wir uns ſelber nicht ganz frei fuͤhlen.
Im Garten traf man die Frau und Tochter, mit
dem jungen Wahrheitsfeinde. Kronenberg war bei den
letzten Worten des Barons uͤbermaͤßig roth geworden.
Wehlen naͤherte ſich ihm ohne alle Verlegenheit, und
erzählte ſelbſt fein luſtiges Stuͤckchen, wie er es nannte.
Sie haben mich ſchon ganz, ſagte Kronenberg, wie
einen vertrauten Freund behandelt, und ich muß Ihnen
dafuͤr danken. Haben's nicht Urſach', erwiederte der
Springinsfeld; die Sache waͤre gewiß ganz unſchuldig,
wenn nicht jedes, auch das beſte und dickhaͤutigſte Ge—
wiſſen in der Welt irgend ein wundes Fleckchen haͤtte;
ſo haben Sie mir ſelbſt den Namen Wandel wie einen
Zauberſtab in die Hand gegeben, mit dem ich Sie er—
ſchrecken kann. Darauf muß ich naͤchſtens doch noch
einmal eine Geſchichte erfinden. ö
Der Reiſende fing an, verſtimmt zu werden; denn
dieſer zu leichte und ruͤckſichtloſe Ton ſchien ihm an die
Ungezogenheit zu graͤnzen, und er begriff nicht, wie
ihn die Bewohner des Hauſes, vorzuͤglich die Damen,
dulden konnten. Dieſe aber ſchienen ſich ganz behaglich
zu fuͤhlen, und der junge Thor wurde durch Beifall
aufgefordert, auf dieſe ziemlich rohe Weiſe noch mehr
die Unterhaltung zu beherrſchen. Jetzt kam auch der
Sohn des Hauſes von der Jagd, und indem er Flinte
und die geſchoſſenen Schnepfen dem nachfolgenden Jaͤ—
ger übergeben, rief er aus: ei! Wehlen! da biſt Du
ja! Im Gehoͤlz iſt Dein Vater, und ſagt, er bringe
301
Dir das Geld, um das Du neulich gefchrieben haft. —
Ohne Antwort ſprang jener fort, worauf der junge
Baron ein lautes Gelaͤchter aufſchlug: ſo habe ich ihn
denn auch einmal mit gleicher Muͤnze bezahlt, rief er
aus; er ſetzt was darein, daß man ihn nicht ſoll hin—
tergehen koͤnnen. Sein Vater denkt nicht daran, her—
zukommen. f
Kronenberg würde ſich ſehr unbehaglich gefühlt ha—
ben, wenn die Freundlichkeit des ſchoͤnen Maͤdchens,
und ihre zuvorkommende verbindliche Weiſe ihn nicht
entſchaͤdigt haͤtten. Bei Tiſche ſaß er neben ihr, und
die Unterhaltung war, wenn auch unbedeutend, doch
heiter und leicht; und erſt gegen das Ende der Mahl—
zeit ſchlich der gedemuͤthigte Wehlen herbei, und war,
wie alle behaupteten, ſeit einem Monate zum erſten—
male beſchaͤmt und ſchweigſam verlegen.
Ich muß die Familie erſt noch mehr kennen lernen,
ſagte nach einigen Tagen Kronenberg zu ſich ſelber;
ich weiß meine Unterhandlung noch nicht anzuknuͤpfen.
Er mochte es ſich ſelber nicht geſtehn, daß ihn die zu—
vorkommende Freundlichkeit der Tochter feſſelte. Schien
ſie doch fuͤr ihn nur Auge zu haben, und in ſeinen
Blicken zu leben; an ſeinem Arme ging ſie ſpazieren,
und ſprach nur mit ihm, wenn auch die andern ſie
begleiteten; von ihm ließ ſie ſich vorleſen, und lobte
ſeine Stimme und den Ausdruck, mit welchem er las,
mehr, als er es je von ſeinen Freunden ſonſt vernom—
men hatte. So gingen die Stunden und Tage unter
Scherz und Spiel hin, und er konnte die Minuten
nicht finden, fuͤr ſeinen Freund zu ſprechen, noch we—
_302_
niger aber dieſem, oder dem alten Wildhauſen den ver:
fprochenen Brief zu fehreiben.
Als man ſich wieder an einem regnigten Nachmit;
tage in der Bibliothek mit einem Buche unterhalten
hatte, fing Kronenberg an: ich geſtehe, nach dem, was
man mir von Ihrer Vorliebe fuͤr die franzoͤſiſche Lite—
ratur geſagt hatte, konnte ich nicht glauben, hier alle
unſere guten deutſchen Schriftſteller anzutreffen, und ich
bin immer noch verwundert, daß ich Ihnen bis jetzt
nur aus dieſen, nach Ihrem Verlangen, 175 vorleſen
duͤrfen.
Lieber Herr Baron, ſagte die Mutter, ich ſehe hier
nichts, woruͤber Sie ſich verwundern koͤnnten. Es iſt
nur, daß wir die Lectuͤre nicht uͤberall ſo ernſthaft und
ſchwerfaͤllig nehmen, wie die meiſten Menſchen, die die
ſehr laͤſtige Rolle nun einmal uͤbernommen haben, fuͤr
dieſe oder jene Parthie enthuſiaſtiſch erhitzt, oder in
Feindſchaft dagegen entbrannt zu ſein. Da ſetzen ſie
ſich denn ſelbſt ein Geſpenſt zuſammen, das ſie Geſchmack,
oder Fortſchritte der Kultur, oder Bildung betiteln, dem
ſie ihren Zeitvertreib zum Opfer bringen, und an das
ſie doch ſelbſt in vielen Stunden nicht glauben, um
ſich nur recht erhaben vorzufcommen. Was ſoll
man immer thun? So wie wir einmal beſchaffen ſind,
muͤſſen wir zu Zeiten leſen — das geht mit unſern
weiblichen Arbeiten Hand in Hand, und dabei ver—
ſchwindet denn ſo recht behaglich Stunde, Tag und
Woche. |
Fräulein Lila hatte kurz vorher noch mit Begei—
ſtrung und glaͤnzenden Augen von dem tiefen Eindruck
geſprochen, den die Tragoͤdie, ſo trefflich vorgetragen,
auf fie mache, und die begeiſterte Eitelkeit des Vorle—
‚303
ſers war durch die letzte Rede mit einiger Gewaltthaͤ—
tigkeit abgekuͤhlt worden. Man ſchwimmt, ſagte Lila
jetzt, auf einem Strom von Wohllaut gemaͤchlich hin,
und merkt nicht das Verweilen der Gegenwart.
Das verſtehe ich nicht, rief Wehlen aus, ich freue
mich nur druͤber (indem er auf die Dichter und Ro—
manſchreiber hindeutete), daß alle dieſe Reihen deut—
ſcher, franzoͤſiſcher und engliſcher Buͤcher das ſo recht
im Großen und Umfaſſenden getrieben haben, was auch
meine Liebhaberei iſt. In allen dieſen Centnern von
Luͤgen wuͤrde doch auch noch kein Gran von Wahr—
heit herausgebrannt werden koͤnnen. Und mir will der
ehrbare, moraliſche Herr von Kronenberg meine unſchul—
dige Gemuͤthsergoͤtzung verargen!
Wie kann man dergleichen nur mit einander verglei—
chen! rief dieſer aus.
Warum nicht? bemerkte der Sohn des Hauſes.
Es iſt daſſelbe Talent, nur mehr ausgebildet und aus:
gefponnen. Darum habe ich mich auch von Kindheit
an daruͤber geaͤrgert, wenn meine Mutter oder Schwe—
ſter uͤber das erſonnene Zeug Thraͤnen vergießen konn—
ten. Ich kann nicht beſchreiben, wie ſeltſam mir der—
gleichen Aeußerungen, lautes Lachen, oder ein geſpann⸗
tes Intereſſe, vorgekommen ſind, da ich noch niemals
in der Taͤuſchung geweſen bin. Ich habe aber auch
bemerkt, daß man ſich erſt wirklich dazu abrichten, recht
eigentlich dreſſiren muß, um ein ſolches Papierleben in
Buͤchern fuͤhren zu koͤnnen; auch verlieren dieſe Leute
alles Auge und allen Sinn fuͤr die Wirklichkeit.
Aber, ſagte der Vater mit ernſter und wichtiger
Miene, laßt uns, meine Freunde, unſre franzoͤſiſchen
Lieblinge wieder vornehmen; denn es ſteht uns vielleicht
304
nahe bevor, daß wir die Sprache und die Ausdrücke
der feinen Geſellſchaft dieſer Nation hoͤchſt brauchen.
Wer ſich mit dem Franzoſen gut und auf ſeine Weiſe
zu unterhalten weiß, hat ihn, ſchon halb gewonnen,
und wenn die Monarchen Truppen mobil machen und
Arſenale und Artillerieparks anlegen und vermehren, ſo
laßt uns auch wieder, meine Theuren, uns jener Wen—
dungen, Witzſpiele, der leichten Konverſationsſprache
unſerer ſogenannten Feinde bemaͤchtigen, um ihnen durch
die genaue Kenntniß ihrer Racine, Voltaire und Dide—
rot den gelindeſten Widerſtand zu thun.
Ja wohl, ſagte der Sohn, dieſes ſind Schutz- wenn
auch nicht Trutz-Waffen, die uns vielleicht ſehr nuͤtzen
koͤnnen.
Luͤgen muß man, warf Wehlen lachend ein, daß
die Kerl' nicht aus noch ein wiſſen, und ſchwadroniren,
daß ſie ſich als Deutſche vorkommen; dann hat man
gewonnen.
Als am folgenden Tage Kronenberg mit dem Fraͤu—
lein im Garten allein war, ſchien es ihm, daß ſie ſich
noch vertraulicher gegen ihn betruͤge. Er gab ebenfalls
ſeiner Stimmung nach, und machte ſich doch innerlich
Vorwuͤrfe, daß er des Auftrages, den ihm ſein Freund
gegeben hatte, wenig gedenke. Er konnte ſein Beneh—
men nur dadurch vor ſich ſelber entſchuldigen, daß er
bei ſich ausmachte, fein Freund ſei niemals geliebt wor:
den, und es ſei daher Unrecht, eine Verbindung zu
befoͤrdern, durch welche beide nur ungluͤcklich werden
koͤnnten. Ob er ein Gluͤck annehmen duͤrfe, das ohne
ſeine Zuthun, wie eine reife Frucht in ſeinen Schooß
falle, daruͤber war er noch unentſchieden; auch fuͤhlte
305
er keine Leidenſchaft, und uͤberließ alſo den Erfolg der
Zukunft, ihn ſo oder ſo zu entſcheiden. |
Aus diefen Sophismen wurde er ſchnell genug auf
eine unangenehme Art geriſſen, indem das Fraͤulein mit
veränderter Stimme und Miene plotzlich ausrief: fo
gehoͤren Sie denn alſo auch zu der Mehrzahl jener
charakterloſen Maͤnner, die keiner Lockung widerſtehen,
keine anſcheinende Gunſt mit edler Art abweiſen koͤnnen?
Sie wollen ein Freund ſein, und haben kaum noch
den Namen meines Geliebten gegen mich ausgeſprochen?
Er meldete mir, noch ehe Sie kamen, daß Sie fuͤr
ihn handeln wuͤrden; aber beim geringſten Anſchein,
als ob ich Ihnen wohl wollte, hatten Sie auch alle
Ihre Verſprechungen vergeſſen. So oft ich mir noch
einen ſolchen Scherz erlaubt habe, ſo iſt er mir auch
gelungen, und es iſt den Maͤdchen daher wohl nicht
zu verargen, wenn fie von der Trefflichkeit des maͤnn—
lichen Geſchlechts keine zu erhabenen Begriffe einfams
meln koͤnnen. f
Kronenberg ſuchte ſich ſchnell zu faſſen, und erwie—
derte: aber glauben Sie denn in der That, reizendes
Fräulein, daß ich nicht gleich die verſtaͤndige Koquette
in Ihnen erkannte? Meinen Sie denn wirklich, ich
habe etwas anderes gewollt, als Sie auf die Probe
ſtellen, wie weit Sie Ihren Muthwillen treiben moͤch—
ten? Ich muß mir viel Schauſpieler-Talent zutrauen,
daß Sie, die Sie ſo fein ſind, ſo feſt an den zaͤrtli—
chen Schaͤfer in mir haben glauben koͤnnen.
Mit dieſem Talente, antwortete ſie im Lachen, ſteht
es doch nur ſo ſo; den Verliebten ſpielten Sie wenig—
ſtens viel natuͤrlicher, als jetzt den Weltmann, der ſeine
ſchlau angelegte Maske abwirft. Sie ſind offenbar in
XIV. Band. 20
306
Verlegenheit, fo ſehr Sie fih auch ſammeln wollen.
O ja, mein Herr, in der Schule der großen Welt
haben Sie noch vieles zu lernen; Sie ſind ihr nur
aus einer der unterſten Klaſſen entlaufen.
Sie verließ ihn ſpottend, und der Verſtimmte ging
in eine dunkle Laube, wo er den Sohn des Hauſes
leſend antraf. Wo iſt Ihr Herr Vater? rief er leb
haft; ich komme, Abſchied von ihm zu nehmen, denn
meine Reiſe iſt dringend. Mein Vater, antwortete der
Sohn, ift oben in feinem Arbeitzimmer, in der noth:
wendigſten und uͤberfluͤßigſten Beſchaͤftigung von der
Welt.
Wie ſoll ich das verſtehn?
Sie haben ja wohl von ihm gehoͤrt, daß er ſeinen
Stolz darein ſetzt, ſeine Guͤter ſelbſt zu bewirthſchaften.
Es fuͤgt ſich aber, daß er gar nichts von der Sache
verſteht. Seine Leute wiſſen das auch; aber er wendet,
wie er meint, die groͤßte Kunſt an, ihnen dies zu ver—
bergen. Wirthſchafter, Foͤrſter, Verwalter muͤſſen taͤg—
lich zu ihm kommen, um Rechenſchaft von ihren Arbei—
ten abzulegen und neue Befehle zu empfangen. Dieſe
Konferenz dauert einige Stunden. Der gute Vater
quaͤlt ſich, treffliche Fragen auszuſinnen, Verordnungen
zu machen, die unmoͤglich oder unausfuͤhrbar ſind, und
um die Sache nicht ins Leichtſinnige zu ſpielen, und
die Komoͤdie zu ſchnell zu beſchließen, herrſcht oft ein
viertelſtuͤndiges heiliges Stillſchweigen, wenn er nichts
mehr zu fragen, und die andern natuͤrlich auch nichts
mehr zu antworten wiſſen. Vor dieſer Stunde fuͤrchtet
er ſich an jedem Tage, und hat taͤglich eine geraume
Zeit noͤthig, um ſich von ihr zu erholen. Gehn Sie
307
hinauf, vielleicht erlöfen Sie ihn dadurch aus feinem
Fegefeuer.
Kronenberg folgte dieſem Winke, und traf im Zims
mer des Barons die aufgeſtellte Dienerſchaft, in ſchwei—
gender erzwungener Aufmerkſamkeit, und den Herrn
ſinnend, den ſtarren Blick zum Himmel gerichtet. Sein
Geſicht erheiterte ſich, als er den Eintretenden wahr—
nahm; er verabſchiedete alle, mit dem Ausruf: mor—
gen weitlaͤufiger — ich habe heute nicht länger Zeit.
Er bedauerte, als er hoͤrte, daß ſein unterhaltender
Gaſt ihn ſchon morgen oder uͤbermorgen verlaſſen wolle.
Indem hoͤrte man Thuͤren laut werfen, heftiges Schellen,
Geſchrei der Bedienten, dazwiſchen die laute Stimme
des jungen Herrn, und eilende Tritte über die Corri—
dore und die Treppe hinab und hinauf. Um's Him⸗
mels Willen, rief der erſtaunte Kronenberg, was hat
das zu bedeuten? Sein Sie ruhig, antwortete der
Baron gelaſſen, es iſt nichts weiter, als daß mein
Sohn ſtudirt. — Wie? Studirt? — Ja, er kuͤn⸗
digte mir ſchon heute Morgen an, daß er noch vor
Abend ſeine Studien wieder beginnen wolle, und
da ich weiß, daß es dabei etwas unruhig zugeht, ſo
war ich auf dies Getuͤmmel ſchon gefaßt. Der junge
Mann, wie Sie werden bemerkt haben, lebt ziemlich zers
ſtreut und eigentlich unbeſchaͤftigt. So lange dieſe unbe;
ſtimmten Spaziergaͤnge, Jagdvergnuͤgungen, leichte
Lectuͤre, Reiten und Beſuchemachen ſeine Zeit hinneh—
men, iſt er ziemlich ruhig. Aber alle drei Monate
faͤllt es ihm einmal wieder ein, daß er ſeine Studien
nicht ganz vernachlaͤſſigen darf. Alsdann ſchleppt er
ſich wichtige tiefſinnige Buͤcher zuſammen, und ſetzt
ſich mit dem redlichſten Eifer zu ihnen nieder. Aber
20 *
308
kaum hat er fie aufgeſchlagen, ſo fallen ihm in diefer
einſamen Zuruͤckgezogenheit tauſend Dinge ein, an welche
er ſonſt niemals denkt: da hat ein Bedienter dies und
jenes verſchleppt, was er wieder ſuchen muß; es muß
ein nothwendiges Billet in die Nachbarſchaft verſendet
werden; da ſchickt man, den Tiſchler und Schmidt zu
rufen, um eiligſt und mit Heſtigkeit ein Utenſil zu be—
ſtellen, das eigentlich uͤberfluͤßig iſt; da laͤßt man in
der Bibliothek herum reißen, um ein Buch zu ſuchen,
das nachher verkramt wird. Und ſo Ein laͤrmendes
Geſchaͤft nach dem andern. Es iſt darum nicht immer
wahr, daß die Muſen die Einſamkeit und Stille lieben,
und haben wir keine brauſenden Waſſerfaͤlle, bei denen
es ſich, wie viele verſichern, vortrefflich ſoll denken laſ—
ſen, ſo benutzen wir hier die Treppen zu Kaskaden
und die zugeſchlagenen Thuͤren als Echo des Gebirges.
Kronenberg entfernte ſich mit einem ſonderbaren
Gefuͤhl; er dachte nach, wie in dieſer Familie kein Mit—
glied das andere zu achten ſcheine, und alle doch ſo
ziemlich gut mit einander fertig wuͤrden. Als man am
Abend ſich beim Thee wieder verſammelte, trat die
Mutter mit Freundlichkeit zum Gaſte, und fluͤſterte ihm
zu: meine Tochter hat mir geſagt, Sie haͤtten den
Scherz des jungen Maͤdchens mit einiger Empfindlichkeit
aufgenommen; aber als ein Mann von Welt ſollten
Sie es nicht. Was koͤnnen wir armen Weiber in der
Einſamkeit anders thun, was uns wenigſtens ſo unter—
hielte, als die Huldigungen der Jugend und des Alters
annehmen? Lieber junger Freund, das iſt ja nur eine
andere Art von Kartenſpiel, und geſchickt miſchen, mit
Feinheit ſpielen, den Andern errathen, ſich ſelbſt nie
bloß geben, am allerwenigſten aber dieſen artigen Scherz
309
für Ernſt halten, dies alles find Eigenſchaften, die
eine gute Erziehung durchaus lehren muß, und ich habe
es mich bei meiner verſtaͤndigen Tochter Zeit und Muͤhe
koſten laſſen, ihr alle dieſe kleinen Kuͤnſte beizubringen,
damit ſie niemals das Opfer eines Kluggebildeten werde,
der die Unerfahrne mit dergleichen fangen und un—
glücklich machen koͤnnte. Wir thoͤren die Männer, muͤſ—
ſen uns aber niemals bethoͤren laſſen, und ich wunderte
mich ſchon am erſten Tage, daß Sie ſo haſtig in das
Garn gingen.
Kronenberg verbeugte ſich hoͤflich, und dankte mit
einiger Ruͤhrung, daß man es mit ihm noch ſo gnaͤdig
habe machen wollen. Bald aber wurde jedes leiſere
Geſpraͤch durch die Schwaͤnke unterbrochen, welche der
junge Wehlen in ſeiner ſchreienden Manier vortrug,
und denen Vater und Sohn ſchon ſeit einiger Zeit ein
williges Ohr geliehen hatten. Es war ein Brief ange—
kommen. Ah! von dem alten Baron Mannlich! rief
Wehlen aus — der im vorigen Jahre ſo lange das
Maͤhrchen der Nachbarſchaft war, als er zum Beſuch
ſich in Ihrem Hauſe aufhielt. Eine ſeiner ſonderbar—
ſten Geſchichten iſt Ihnen gewiß noch unbekannt. Sie
waren damals verreiſt, und er ließ es ſich recht gerne
gefallen, mit mir einige Tage allein hier zu hauſen.
Ich bin auf der Jagd. Vor dem Dorfe bricht ein
Wagen; der alte Herr macht ſich herbei, hilft einem
aͤltern und juͤngern Frauenzimmer auf die Fuͤße, die,
wie ſich nachher auswies, zwei Erzieherinnen waren,
fuͤhrt ſie ſpazieren, zeigt ihnen Garten und Gegend,
und endlich auch ſogar das ganze Schloß, als ſein
Eigenthum. Um ſich recht bei den Daͤmchen in Auto—
ritaͤt zu ſetzen, ſchilt er mit den Domeſtiken der Herr—
310
ſchaft, wettert und flucht in den Wirthſchaftsgebaͤuden
herum, befiehlt, daß dieſes und jenes am folgenden
Tage ganz anders eingerichtet werde, und da die Knechte
und Tageloͤhner verbluͤfft ihn nicht begreifen, prahlt er
gegen ſeine Begleitung, wie ſehr alle ſeine Unterthanen
ſeine Majeſtaͤt fuͤrchten. Das Luſtigſte aber war, daß
er einen Bauer, der auf eignem Hofe Tabak rauch—
te, unter auffallendem Laͤrm und großem Geſchrei ins
Gefaͤngniß ſtecken ließ. Als nun die Frauenzimmer,
vom Wandern, Laͤrmen und unendlicher Verehrung
ganz ermuͤdet, endlich in ihrem alten geflickten Waͤgel—
chen weiter reiſeten, mußte er mit mehrern Thalern
den eingeſperrten Bauer zufrieden ſtellen, die Dorfge—
richte beſtechen, den Knechten und Tageloͤhnern anfehns
liche Trinkgelder geben, und an mich Unbedeutenden
viele Umarmungen und Kuͤſſe, ſo wie herzliche Freund—
ſchafts-Betheurungen wenden, damit nur Keiner vers
riethe, mit welchem Glanze falſcher Herrlichkeit er ſich
als dreiſtuͤndlicher Tyrann aufgeputzt hatte.
Viele Scherze und Anekdoten kamen nun auf die
Bahn, und der junge Menſch ſchien wirklich uners
ſchoͤpflich; obgleich viele ſeiner Erzaͤhlungen keine ſon—
derliche Spitze hatten, ſo fanden ſie dennoch an den
Hausgenoſſen gutwillige Zuhoͤrer, und Kronenberg, der
ſchon laͤngſt verſtimmt war, begriff nicht, wie Geſchicht—
chen, ohne allen Zuſammenhang, ohne geiſtige Der:
bindung, die Geſellſchaft erheitern konnten. Er aͤußerte
eine beſcheidene Kritik, und der Baron antwortete: ich
geſtehe Ihnen, mir ſind das, was man Anekdoten
nennt, geradezu die angenehmſte Unterhaltung. Dieſe
abgeriſſenen Einfaͤlle und Schnurren ergoͤtzen eben da—
durch, daß wir keiner Vorbereitung beduͤrfen, um ſie
311
zu verſtehen und zu ſchmecken. Was mich aus der
Geſchichte intereſſirt, iſt doch auch nichts anders, und
ich erwarte immer noch den geiſtreichen Autor, der mir
einmal alle die Schwerfaͤlligkeiten in Spaͤße verwandelt,
und dieſe ſcheinbare und langweilige Verbindung, dieſe
Folge von Wirkungen und Urſachen voͤllig aufloͤſt; denn
alles iſt doch nur Lüge. Einige franzoͤſiſche Memoires
naͤhern ſich demjenigen ſchon ſo ziemlich, was ich ver⸗
lange.
Die Literatur aller Nationen, ſagte das Fraͤulein,
kann auch nicht anders intereſſant dargeſtellt werden,
nur als Chaos einzelner, abgeriſſener, oft bizarrer, oft
unbegreiflicher Erſcheinungen zieht ſie mich an.
Ei! ei! rief der junge Wehlen aus, dann iſt die
deutſche auf dem beſte Wege Ihren vollkommenſten
Beifall zu gewinnen. Bald wird es dahin gekommen
ſein, daß unſere alljaͤhrlichen kleinen Kalenderchen
uns die zuſammenhangendſten und größten Werke lies
fern. Dieſe Weihnachtlaͤmmchen, denen das Maͤulchen
mit Gold verklebt iſt, oder denen erſt, wie den Kaͤtz—
chen, nach neun Tagen etwa die muntern Aeuglein
geoͤffnet werden, wenn ſchoͤne feine und wohlgeſpitzte
Finger die glimmende Verkleiſterung von den zarten
Blaͤttchen abgeſchliffen, und Gedichten wie Erzaͤhlungen
die Zunge geloͤſt haben. Aber ſo niedlich die Bildchen,
ſo feinſinnig deren Erklaͤrung, ſo ruͤhrend die Geſchicht—
chen, ſo zartgeflochten die Verſe auch ſein moͤgen, ſo
finde ich trotz dem kleinen Formate in dieſen Werken
immer noch zu viel deutſche Schwerfaͤlligkeit, und mit
dieſer eine zu beſtimmte Einſeitigkeit. Der unbilligen
Richtung auf Weihnachten, Neujahr, und des gratuli⸗
renden Umwandelns, wie Kirchendiener und Nacht—
312
wächter, gar nicht einmal zu gedenken. Dagegen unfre
Wochenſchriften und Tagesblaͤtter! Nicht wahr, hier
ſind auf wenigen Seiten die Weltgeſchichte, die Gelehr—
ſamkeit, Satyre, Epigramm, Stadtklaͤtſcherei, Recen—
ſion, Theater, Anekdote, Wetterbeobachtung, Raͤthſel,
Liberalismus, Winke für Regenten, Philoſophie, Cha-
raden und Gedichte noch obenein, ausgeſchuͤttet. Und
welcher polniſcher Reichstag, wenn auf einer Toilette
ſieben oder acht Blaͤtter dieſer Art aufgeſchichtet liegen.
Widerſpruch, Antwort, Widerruf, Gezaͤnk des Einen
mit dem Andern, hier Lob, wo jener tadelt, dort eine
Entdeckung, die ſchon uralt iſt, bei jenem eine An:
frage, die jedes Lexikon beantworten kann, dann ein
philoſophiſcher Zweifel, ob es wohl gut ſei, den Senf
zu lange nach der Mahlzeit zu genießen. Hier nehmen
ſich auch erſt die Erzaͤhlungen gut aus, bei denen es
immer wieder von neuem heißt: die Fortſetzung folgt. Es
iſt nur zu tadeln, daß man von dieſen immer noch zu
große Maſſen reicht. Wenn ich ein ſolches Blatt her—
ausgaͤbe, ich ließe mir es nicht nehmen, die merkwuͤr—
dige Begebenheit etwa in folgenden Portionen zu liefern;
Emmelinhypothenuſios ging aus der Thuͤr.
Fortſetzung folgt. |
Er ſah ſich um und rief:
Fortſetzung folgt.
Fortſetzung folgt,
313
Denn er hatte einen Blick gethan —
Fortſetzung folgt.
—
In die Ewigkeit.
Fortſetzung folgt,
Bis ihn eine Schwalbe wieder zum wirklichen Leben
erweckte. N
Schluß nächftens,
Worauf er zurück in fein Haus ging,
Beſchluß.
Bei einer ſolchen Behandlung koͤnnte der Scharf—
ſinn der Leſer doch noch in Thaͤtigkeit kommen; aber
bei der jetzigen Anſtalt iſt es unmoͤglich, daß ſie nicht
bald alles errathen, und ſich zu ſehr dem Strome der
Empfindungen hingeben, was unſre Landsleute eben
gar zu nervenſchwach und gefuͤhlvoll macht.
Ein Wagen fuhr vor, und der neugierige Wehlen
lief hinab, zu ſehn, wer angelangt ſei. Er kam ſchnell
zuruͤck, und rief: freuen Sie ſich! der Herr iſt nun
endlich da, den Sie ſchon ſo lange erwartet haben,
um die Verhandlungen über die Güter zu beſchließen.
Da man ihm aber niemals glaubte, ſo antworteten
ihm alle nur mit lautem Gelaͤchter. Es waͤhrte aber
nicht lange, ſo trat ein ſchoͤner junger Mann herein,
dem die Familie mit einem Ausruf der Verwundrung
31
a
entgegen ſchritt, und ihn dann herzlich begrüßte. In
dieſem ploͤtzlichen Getuͤmmel vergaß man ſeinen Namen
zu nennen, oder ihm die Fremden vorzuſtellen. Ich
habe, ſagte der Eingetretene, als die Ruhe wieder her—
geſtellt war, eine Reiſe durch mein Vaterland gemacht,
und das hat mich abgehalten, fruͤher zu Ihnen zu kom—
men, wie ich wohl, unſern Verabredungen gemaͤß, thun
mußte. Zuletzt habe ich mich laͤnger, als ich ſollte, im
Hauſe des Grafen Burchheim aufgehalten.
Kronenberg ward aufmerkſam. Die aͤlteſte Tochter,
Caͤcilie, fuhr jener fort, hatte ein ſonderbares Schickſal
erlebt, wenn der Ausdruck hier erlaubt iſt; ihr ſchoͤnes
Gemuͤth mußte dieſe Begebenheit uͤberwinden, und ich
war etwas behuͤlflich, ſie zu zerſtreuen.
Ich weiß, ſagte Kronenberg; ihr Geliebter hat ſie
plotzlich verlaſſen und fein Wort zurück genommen, weil
er eine andere Leidenſchaft in ihrem Herzen entdeckte.
Nein, mein Herr, antwortete der Fremde mit einem
ſcharfen Ton und glaͤnzendem Auge: man hat Sie ganz
falſch berichtet. Ein junger Menſch von Familie, den
der Vater mit zuvorkommender Guͤte behandelt, macht
ſich nach und nach im Hauſe nothwendig; er ſchmei—
chelt Allen, er iſt gegen die Tochter zaͤrtlich. Mit dem
Vater patriotiſch, mit dem Sohn koſmopolitiſch phan⸗
taſirend, die Mutter mit Hofgeſchichten unterhaltend,
mit den Kindern ſpielend, wird er Allen Alles. Dem
Vater weiß er große Reichthuͤmer vorzubilden, und dieſer
wuͤnſcht ſeine geliebte Tochter gut verſorgt zu ſehn.
Caͤcilie fühlt keine Neigung zu ihrem Liebhaber; indeſ—
ſen iſt ſie dem Vater nicht entgegen, deſſen Gluͤck und
Liebe ſie uͤber alles ſchaͤtzt, und — wie junge unſchul⸗
dige Gemuͤther oft den Verſuch machen — ſie beſtrebt
315
fih, den Widerwillen, den ſie im Geheim gegen dieſe
Verbindung fuͤhlt, zu uͤberwinden. Indeſſen vernimmt
man nicht ohne Verwunderung, daß der Liebende, ſo
oft er abweſend iſt, eine reiche Familie, eine halbe
Tagereiſe von dort, fleißig beſucht; man murmelt, daß
er auch dort der Tochter den Hof mache. Dies beſtaͤ⸗
tigt ſich, und zugleich laͤuft die Kunde ein, daß er ſtatt
der angegebenen Schaͤtze nur große Schulden habe, daß
Wechſel ihn verfolgen. Die Tochter iſt gekraͤnkt —
der verletzte Vater ſucht ihn zum Geſtaͤndniß der Wahr—
heit zu bringen — er laͤugnet ſtandhaft. Da nimmt
ſich der empoͤrte Sohn vor, ihn auf ernſtere Weiſe zur
Rede zu ſtellen, und der zaͤrtliche Liebhaber iſt plotzlich
aus der Gegend verſchwunden.
Sollte es einen ſolchen Charakter geben? fragte der
Baron.
O dieſer Menſch, fuͤgte der Erzaͤhlende hinzu, iſt
im Stande, den Bauern zu erzaͤhlen, er habe mit vor
Troja gefochten, und einem Dorfſchulmeiſter, er ſei
der Verfaſſer von allen Werken des Voltaire.
Gleich darauf entſtand ein eifriges Geſpraͤch uͤber
Guͤterkauf, und Geſchaͤft- und Geldverhaͤltniſſe. Kro—
nenberg nahm noch einmal Abſchied, weil er morgen
mit dem Fruͤheſten feine Reiſe fortſetzen muͤſſe; für dies
ſen Abend entſchuldigte er ſich, indem er noch einige
hoͤchſt dringende Briefe zu ſchreiben habe. So wurde
er nicht ſonderlich bemerkt, und bald darauf bei den
wichtigen Verhandlungen, welche alle Gemuͤther zu ſpan—
nen ſchienen, vergeſſen; nur der junge Wehlen ſchlich
ihm nach, um draußen etwas feierlicher und mit mehr
316
Ruͤhrung von ihm Abſchied zu nehmen, und ihm das
beſte Gluͤck zu wuͤnſchen.
In der naͤchſten Stadt ſchrieb Kronenberg an den
Baron Wildhauſen und deſſen Sohn. Im Brief an
den erſten ſtand unter andern folgendes: Atheiſten, mein
verehrter Freund, ſind dieſe Leute wohl nicht zu nennen;
aber freilich kuͤmmern ſie ſich nur wenig um Gott oder
Menſchen. Die Tochter kann in einer gluͤcklichen Ehe
anders und beſſer werden, vorzuͤglich, wenn es moͤglich
iſt, ſie von der Langeweile zu erloͤſen, welche die ganze
Familie zu Grund richtet und ſich auch dieſer jungen
Seele bemeiſtert hat. Ich bin aber uͤberzeugt, daß ein
ſo gruͤndlicher Verſtand, als der Ihrige, ſie am erſten
wieder herſtellen kann, wenn ſie noch irgend zu retten
iſt. So hoch, wie ich nach Ihrer Schilderung glauben
mußte, wird die franzoͤſiſche Literatur von dieſen Leu—
ten gar nicht geſtellt; ſie toleriren ſie nur, wie ſie es
auch mit der groͤnlaͤndiſchen und japaniſchen thun wuͤr—
den; und Ihre verehrte Frau Gemalin moͤchte eben an
dieſer geringſchaͤtzenden Gleichguͤltigkeit das groͤßte Aer—
gerniß nehmen.
Was Deine Geliebte betrifft, (ſo ſtand im Briefe
an den Sohn) ſo kann ich mir unmoͤglich denken, daß
Du mit dieſer gluͤcklich ſein wuͤrdeſt. Indeſſen laͤßt ſich
dergleichen freilich nicht berechnen. Ich beſorge nur,
wenn es noch einmal dahin kommt, Du mußt einen
ſehr trivialen Spaßmacher mit in den Kauf heirathen,
der dem Seelenheile des Fraͤuleins bis jetzt noch unent—
behrlich ſcheint. Er iſt dieſer Familie, was die Unruhe
der Uhr — und gewiß, wenn ſie von ihm nicht immer
7
nn m
aufgezogen wird, fo fteht fie gar ſtill. — Von mir mag
ich kaum mehr fprechen, ſo laͤſtig fuͤngt mir an, der
Umgang mit mir ſelbſt zu werden. Ich fuͤrchte, das
Gluͤck, welches ich in der Jugend ſo muthwillig ver—
ſcherzt habe, wird mir niemals wieder entgegen kommen.
Eine gewiſſe Summe von Erfahrungen iſt jedem Men—
ſchen beſtimmt; ich habe dieſe vielleicht ſchon fruͤh voll—
ſtaͤndig empfangen, und wie der verlorne Sohn zweck—
los ausgegeben. Lange haͤtte ich wohl davon zehren
ſollen, und muß nun um ſo fruͤher beſchließen.
Er ſiegelte die Briefe. Sein Pferd war ſchon vor—
gefuͤhrt, weil er im Augenblick abreiſen wollte. Da
eilte der Kellner noch herauf, und rief: gnaͤdigſter Herr,
da unten iſt der junge Graf von Burchheim, der Sie
in einem wichtigen Geſchaͤfte ſprechen will. Kronen—
berg verfaͤrbte ſich. So habe ich ihn doch nicht ver—
meiden koͤnnen, ſprach er leiſe zu ſich ſelbſt; es ſei!
Dies loͤſt vielleicht in einem Augenblicke, woran ich
ſonſt wohl noch viele Jahre hindurch aufzuwickeln hätte.
Er ging hinab; der Fremde zeigte ſich nicht. Nachdem
Kronenberg ein Weilchen gewartet hatte, beſtieg er ſein
Pferd. Wo iſt Graf von Burchheim? rief er noch
einmal zum Fenſter hinauf. Hier! rief Jemand hinter
dem Thorwege hervor, und im naͤmlichen Augenblicke
ſprang auch der junge Wehlen lachend zum Reiter hin.
Dieſer aber, im aͤußerſten Grade zornig, holte mit der
Reitgerte aus, und gab mit dieſer dem Spoͤtter einen
Hieb ins Geſicht. Wehlen, dieſe Begegnung nicht ver—
muthend, ſprang erſt zuruͤck, gab aber dann mit einem
Stocke dem Pferde, das ſchon davon ſprengte, einen ſo
derben Schlag, daß es ſich in ſeinen ſchnellſten Lauf
ſetzte, und mit Lebensgefahr des Reiters durch die Gaſ—
318
fen und das Ihor rannte, Die ganze Stadt gerieth in
Aufruhr, und gab den jungen Mann verloren. Im
Freien ſetzte das Thier uͤber den Graben am Wege,
rannte durch friſch geackertes Feld, und ſtuͤrzte endlich
ermattet nieder. Kronenberg beſann ſich bald, half
dem Gaule wieder auf, und ſuchte über Wieſen, Fußr
ſtege und durch Wald die Landſtraße wieder zu ge—
winnen.
Bei heiterm Sonnenwetter ſtreifte er durch die ſchoͤ
nen Gegenden, hielt ſich zuweilen in den Städten läns
ger auf, machte Bekanntſchaften, verweilte an den
Badeorten, und ſuchte ſich zu beſchaͤftigen und zu zer—
ſtreuen. Jetzt war er in die Thaͤler eines romantiſchen
Gebirges eingedrungen, und der Wechſel von Wald und
Berg, Huͤgel und Wieſe, ergoͤtzte ihn innig. Nur
mußte er ſich geſtehn, daß das Verhaͤltniß, in welchem
er zu feinen Pferde ſtand, immer lockerer zu werden
drohe; er konnte ſich nicht verſchweigen, daß das Thier
fügfamer und verſtaͤndiger geweſen ſei, da er es erſt
uͤberkommen. Keine der alten Tücken war ihm abge:
woͤhnt worden; es hatte ſich ſeitdem viele neue ange—
eignet, und war jetzt in manchen Stunden kaum zu
bezaͤhmen. Im Stillen war Kronenberg ſchon mit ſich
überein gekommen, es bei einer vortheilhaften Gelegen;
heit zu verkaufen oder umzutauſchen.
Am heutigen Tage, ob es ſich gleich zum Herbſte
neigte, war das Wetter beſonders warm, und der aben—
theuernde Reiſende fuͤhlte ſich wieder wohl und zufrie—
dener, als er ſeit einiger Zeit mit ſich ſelber geweſen
war. O, du liebliche Natur, ſagte er faſt laut, indem
er langſam an Huͤgeln und Rebengelaͤndern hinritt, wie
haſt du doch Balſam und Troſt fuͤr jeden Schmerz!
319
O, du erhabenfte Lehrerin! wer nur immer fähig und
offenen Sinnes genug wäre, deine Worte zu verneh—
men und zu verſtehen! Wie biſt du ſo lauter und ſo
wahr! Vom heitern Himmel weht und tönt die reine
Liebe, aus dem Walde klingt ein heiliges Rauſchen,
die Waͤſſer plaudern mit ſuͤßer Geſchwaͤtzigkeit, die Bergs
ſtroͤme brauſen, und uͤber Flur und Wieſe und Wald
weht ein Geiſt der Eintracht, Lauterkeit und Wahrheit.
Die Thiere, die Voͤgel, das ſchwimmende Geſchlecht,
ſie alle ſind und bleiben ihrem Berufe getreu. Kaum
daß der hochbeinige Storch dort am Weiher mit ſeinem
abgemeſſenen Gange etwas mehr Gravitaͤt affectirt, als
er gerade noͤthig hätte, und die kleine Bachſtelze mit
einiger uͤbertriebenen Munterkeit hin und her wipt,
und fuͤr witziger angeſehen ſein will, als ihr wohl zu
Muthe fein mag. Aber, der Menſch — der arme Menſch!
Kaum iſt ihm die Zunge geloͤſt, ſo umfaͤngt ihn ſchon
im erſten Lallen die Luͤge, und laͤßt ihn auch nicht wie⸗
der los; ſelbſt ſeine innerſten Gedanken werden unwahr,
ſeine Pulſe heucheln, und er verliert im Labyrinth der
Zweifel, der Entſchuldigung, des Aufputzes, der Eitel—⸗
keit ſich ſelbſt. Und doch iſt es ſo bequem, ehrlich und
wahr zu ſein. Die Sache ſelbſt, wenn die Luͤge kaum
Schatten zu nennen iſt. Hat denn wohl Affectation
und durch Luͤge erzwungenes Lob und Bewunderung
meinem Herzen nur einige der Schmerzen, der Vernich—
tungen verguͤten koͤnnen, die es erdulden mußte, wenn
man meiner Armſeligkeit auf die Spur kam, oder ſie
ganz entdeckte? Ja, von heut, von jetzt an will ich
allen Taͤuſchungen entſagen, und das Leben ſelbſt fin:
den, das ſich mir bisher immer hinter Schattengebilden
verborgen hielt.
320
Er ſah in der Ferne einen angenehmen Landſitz vor
ſich liegen: ein geraͤumiges Haus, ziemlich in altem
Styl gebaut, daneben ein Obſt- und Gemuͤſegarten,
Springbrunnen, und hinten ein großer Park, das
Ganze mit einer Mauer umſchloſſen. Als er naͤher
kam, bemerkte er, daß die Landſtraße links vor dem
Hauſe, neben der Mauer vorbeifuͤhre: aber das große
Thor in dieſer war ganz geöjinet, und durch dieſes
uͤberſah er ſchon den innern Hof. Auf einer großen
Rampe des Schloſſes waren viele Menſchen verſammlet;
er unterſchied einige huͤbſche Maͤdchengeſichter; es that
ihm ſchon leid, daß er nicht mit Schicklichkeit über den
Hof reiten dürfe, um fie näher in Augenſchein zu neh—
men. Als wenn ſein Pferd dieſen ſeinen Gedanken ge—
fuͤhlt haͤtte, und ihm ſeinen Wunſch erleichtern wollte,
ſetzte es ſich jetzt, von ſeinen Tuͤcken beſtochen, in das
ſtaͤrkſte Rennen, und damit gerade auf den Thorweg
zu. So wie die verſammelte Menſchenmaſſe auf der
breiten Treppe das bemerkte, ſprangen einige von dieſer
herab; alle aber ſtreckten die Arme aus, und riefen:
Vetter! Couſin! theurer Vetter! Endlich da! — Das
Roß, von dieſer Bewillkommnung aufgemuntert, ach-
tete nun nicht mehr des Zaums und der Sporen, ſon—
dern ſtuͤrzte ſchnell weiter, und ſchon war, allem ſeinen
Ablenken zum Trotz, der beſchaͤmte Kronenberg im Hofe.
Das Freudengeſchrei der eingebildeten Verwandten nahm
zu, und der geaͤngſtete Reiter fuͤrchtete, das Pferd
wuͤrde nun eben ſo toll und blind mit ihm zu dem
Thorwege gegenüber hinausſetzen, und die ſchnell ent;
taͤuſchte Vetterſchaft der zu raſch voruͤber eilenden Er—
ſcheinung ein ſchallendes Gelaͤchter nachſenden. Um dies
zu verhuͤten, wandte er alle Mittel an; er wollte hal-
321
ten, die Geſellſchaft um Verzeihung bitten, und dann
im ruhigen Schritt weiter reiten. So hatte er be—
ſchloſſen; aber ganz ein anderes ſein unbezaͤhmbares
Roß. Dieſes baͤumte, ſprang von der Seite, und da
Kronenberg jetzt ſelbſt die kalte Faſſung verlor, ſchlug
es mit ihm uͤber, und warf ihn im Fall gegen den
ſteinernen Brunnen des Hofes. Blut rann ihm in die
Augen, und das letzte, was er hoͤrte, war ein gellender
Aufſchrei. Alle liefen hinzu; aber ſchon war um ihn
Nacht — er hatte die Beſinnung verloren. |
Jene große Begebenheit, welche Deutſchland völlig
zu vernichten ſchien, war indeſſen eingetreten. Alle
Dinge veraͤnderten ploͤtzlich ihre Geſtalt, und man konnte
voraus ſehn, daß binnen wenigen Jahren auch jene
Einrichtungen, die fuͤr jetzt noch beſtanden, dem neuen
Geiſte wuͤrden weichen muͤſſen. Eine allgemeine Laͤh—
mung hatte die Gemuͤther ergriffen. Denn bei einer
fo ungeheuren und ſchnellen Umkehrung fuͤhlen die mei—
ſten Menſchen ihr Ungluͤck weniger, als wenn ſie vor—
bereitet zu ſein ſcheinen, und allgemach von der ge—
wohnten Lage ſcheiden ſollen.“ Die Nothwendigkeit iſt
eine ſtrenge Lehrerin, und man geſteht ſich ſelber nicht,
wie unbedingt man ihr folgt, da ſie keine Einrede an—
nimmt und keinen Aufſchub geſtattet. Waren die Par
trioten einer Verzweiflung hingegeben, in der ſie, faſt
wie im Sturm, alle uͤbrigen Guͤter ſchnell mit dem
Leben haͤtten uͤber Bord werfen moͤgen, ſo triumphirten
dagegen die Neuerungsſuͤchtigen, und konnten eine ge—
wiſſe Schadenfreude nicht verbergen, daß nun wenigſtens
alles das wuͤrde weichen muͤſſen, wogegen ſie ſo oft und
XIV. Band. 21
322
manchmal vor tauben Ohren gepredigt hatten. Der ges
meine Mann war betaͤubt; er litt und klagte, ohne viel
zu denken, und Greiſe, die ſich fuͤr erfahrner hielten,
meinten unſchuldig genug, dieſer Krieg wuͤrde, wie
fruͤhere, mit allen ſeinen Folgen voruͤbergehn, und dann
den Dingen wieder Platz machen, die er nur auf einen
gewiſſen Zeitraum verdraͤngt habe.
Manche Woche hindurch hatte Kronenberg auf ſei—
nem Krankenbett gelegen, und weder von großen noch
kleinen Begebenheiten Kunde empfangen; denn ſein Be—
wußtſein war noch immer nicht zuruͤck gekehrt, und der
Arzt hatte ihn mehr wie einmal fuͤr verloren gehalten.
Der Kranke ſprach nicht, und ſchien auch weder zu
ſehn, noch zu hoͤren. Die ganze Familie war abwech—
ſelnd um ihn beſchaͤftigt, am guͤtigſten die Mutter, die
in ſeiner Pflege unermuͤdlich war. Dies war um ſo
verdienſtlicher, da der große Haushalt, dem ſie ſelber
vorſtand, ſchon ihre ganze Thaͤtigkeit forderte; um fo
mehr jetzt, da das Gut von taͤglichen Durchmaͤrſchen
und Einquartierungen geplagt wurde. Oft war Idas
große Haus ſo beſetzt, daß das Getuͤmmel ſogar bis in
die abgelegene Krankenſtube drang, und wenn ſelbſt die
Waͤrter ſich oft aͤngſteten, ſo ging dem Betaͤubten we—
nigſtens für jetzt alle dieſe Unruhe unbewußt vorüber..
Die Toͤchter des Hauſes, ſo wie der Vater, ſahen den
Leidenden oft, den ſie fuͤr ein Mitglied ihrer Familie
hielten; aber manche gerngeſehene Beſuche aus der Nach—
barfchaft, fo wie Reiſende, am meiſten aber die unwill—
kommenen Gaͤſte ſtoͤrten und ſchwaͤchten die Theilnahme,
die ſich fuͤr den Kranken ohne dieſe Umſtaͤnde noch
ſtaͤrker wuͤrde ausgeſprochen haben.
Der erſte Schnee fiel wieder. Der Arzt und die
|
323
Gräfin waren nebſt der Waͤrterin und einem alten
Diener in der Krankenſtube zugegen. Da erhob
ſich der Kranke plotzlich im Bett, ſetzte ſich auf—
recht, betrachtete die Umſtehenden, und ſchaute dann
nach dem Fenſter, das nur halb mit den Vorhaͤngen
verhuͤllt war. Ha! rief er aus: iſt die Equipage noch
nicht da? Ich fuͤrchte, der Chriſtoph wird mit der
Baͤrenmuͤtze und feinem Schaafpelz ganz allein ankom⸗
men; aber ſorgen Sie doch wenigſtens fuͤr den edlen
Unbekannten dort in ſeinem Stuͤbchen — ich will ja
gerne alles verguͤten, Frau Wirthin.
Himmel! rief die Gräfin, er hat den Verſtand vers
loren. Er phantaſirt wohl nur, meinte der Arzt; doch
da er den Puls des Kranken unterſuchte, zweifelte er
auch daran, und meinte, dieſe Reden entſtaͤnden vielleicht
nur durch Erinnerungen, die in Krankheiten oft plotzlich
hervortreten, indeſſen andere, zwiſchen liegende Zuſtaͤnde
auf lange wie verſchuͤttet waͤren. So war es auch mit
dem Patienten, der immer noch in jenem Gaſthofe zu
ſein glaubte, in welchem er im erſten Fruͤhjahr die
Nachricht von ſeinem Freunde Wildhauſen erwartet hatte;
vielleicht war es das Schneegeſtoͤber, welches gerade dieſe
Momente wieder hervor rief. Der Arzt erklärte ihn
übrigens für gerettet, und meinte, mit den zunehmen⸗
den Kraͤften wuͤrde das Gedaͤchtniß auch wieder nach
und nach zuruͤck kehren.
Am folgenden Tage fand der Arzt den Kranken ſchon
um vieles beſſer. Er konnte feine Erinnerungen ſchon deut:
licher und ſicherer verknuͤpfen; nur wie er hieher gekom—
men ſei, unter welchen Umſtaͤnden, dies blieb ihm noch
völlig dunkel. Naͤchſt dem Himmel, fagte der Arzt, ha—
ben Sie der verehrungswuͤrdigen Graͤfin Ihre Rettung
21 *
324
zu danken; eine ſolche muͤtterliche Pflege vermag mehr
als alle Aerzte. Die Graͤfin kam wieder und leiſtete dem
Patienten Geſellſchaft, als der Doktor ſich entfernt hatte.
Sie freute ſich, ihn gerettet, ihn ſelbſt ſchon in der
Beſſerung zu finden. Aber, rief Kronenberg, wie komm'
ich nur hierher? Wie verdiene ich dieſe Guͤte? Wer ſind
Sie, Verehrte? Wie kann ich nur danken fuͤr alle dieſe
Liebe? x
Schweigen Sie, antwortete die Graͤfin, der Arzt
hat Ihnen das Reden noch ſtrenge verboten. Koͤnnen
Sie Ihre Erinnerung denn immer noch nicht ſammeln,
daß wir Sie, theurer Vetter, ſchon ſeit lange erwarteten?
Endlich ſchreiben uns entfernte Verwandte, welchen Tag
Sie eintreffen werden; Sie erſcheinen, und indem wir
Ihnen ſchon die Arme entgegen ſtrecken, wirft ein entſetz—
liches Schickſal Sie blutend, zertruͤmmert vor unſere Fuͤße
hin. Was wir dabei gelitten, koͤnnen Sie ermeſſen —
ich, mein Mann, alle meine Kinder, die wir uns ſo herz—
lich auf Ihre Bekanntſchaft freuten. Von Caͤcilien will
ich gar ſchweigen.
Caͤcilie? rief der Kranke, wie entſetzt; fie iſt hier?
Wo ſollte ſie ſonſt ſein? fuhr die Graͤfin fort.
Doch, davon, wenn Sie beſſer ſind. Das arme Maͤd—
chen hat unendlichen Kummer geduldet. Wie ſon—
derbar, wie ſchmerzhaft haben wir uns muͤſſen kennen
lernen.
Durch oͤftere Beſuche, ſowohl vom Arzt wie von der
Familie, konnte der Leidende ſich endlich ſo viel zuſam—
men ſetzen, daß man ihn fuͤr einen Baron Feldheim halte,
den man an jenem Tage erwartet habe. Er mußte ver—
muthen, daß es ein Plan geweſen ſei, ihn mit der aͤlte—
ſten Tochter dieſes graͤflichen Haͤuſes Werthheim zu ver—
325
binden. Er lernte nach und nach alle Mitglieder der Fa—
milie kennen, und als er ſich ſchon wohler fuͤhlte, be—
ſuchten ihn ſelbſt die Toͤchter auf Augenblicke, und dieſe
ſo wie die Soͤhne, fand er liebenswuͤrdig; die Aeltern
mußte er verehren, aber eine ſelige Empfindung durch—
drang ihn, wenn er auf Minuten Caͤcilien erblickte;
denn ihm war alsdann, als wenn ſich eine himmlifche
Erſcheinung ſeinem Lager naͤhere.
Die Krankheit machte es ihm unmoͤglich, viel uͤber
ſeine ſonderbare Lage nachzudenken, noch weniger uͤber ſie
zu ſprechen; er ließ ſich alſo ſchweigend alle Pflege und
die herzliche Liebe gefallen, die ihm mit dem natürlich:
ſten Ausdrucke entgegen gebracht wurde. In einſamen
Stunden nahm er ſich vor, den Irrthum, in welchem
Alle befangen waren, außzuklaͤren, fo wie er ſich nur ſtaͤr—
ker fühlte; aber er ſchauderte ſchon jetzt vor dieſem Augen—
blick, und ließ alſo im wohlthuenden Leichtſinn Stunden,
Tage und Wochen hinſchwinden. Wenn ihn ſein Ge—
wiſſen mahnte, ſo beſchwichtigte er es mit der ſchwachen
Ausrede, daß er dieſen Zuſtand nicht herbei gefuͤhrt, daß
er den Irrthum nicht erſonnen, die Familie alſo auch
nicht hintergangen habe.
O Caͤcilie! ſprach er in einer ſtillen Nacht zu ſich
ſelber; jetzt biſt du geraͤcht, denn dieſer Engel hier zer—
reißt mir Herz und Seele; ich kann nicht geſunden; ich
kann nicht bleiben und nicht reiſen. Ach, welch' ein
armer, elender Menſch, wie nichtig bin ich doch Zeit
meines Lebens geweſen! Kann nicht Reue, ernſter Wille
alles wieder gut machen? Ja, ich fuͤhle neue Kraͤfte in
meinem Innern erwachen; vielleicht iſt mir noch nicht
alles Heil verloren. N
326
Mit den zunehmenden Kräften kehrte dem Kranken im:
mer mehr die Erinnerung zuruͤck. Er durfte es jetzt ſchon
wagen, anfangs nur auf kurze Zeit, die Wohnzimmer
und den Saal zu beſuchen, in welchem die ganze Geſell—
ſchaft zu Zeiten verſammelt war. Das erſtemal war Kro—
nenberg einer Ohnmacht nahe, als er bei den vielfachen
Reden, unter den verſchiedenartigen Geſtalten, auch
feinen Theil am Geſpraͤch nehmen und durchführen ſollte.
Die Familie, welche er ſchon kannte, war zugegen; Caͤ—
cilie ſaß einſam an einem Fenſter, und leuchtete ihm wie—
der wie eine Erſcheinung entgegen; die zweite Tochter,
blond und voll, und immer heiter, ſpielte mit einem alten,
muͤrriſchen Officier der Fremden Schach. Die Mutter
erklärte dem Kranken, es geſchaͤhe hauptſaͤchlich, um dies
ſen boͤſen Menſchen, der als Kommandant auf dieſem
Schloſſe wohnte, in guter Laune zu erhalten. Die
juͤngſte Tochter, Leonore, ſprach mit einem juͤngern, ſehr
hoͤflichen, feinen Franzoſen, und die beiden Bruͤder hat—
ten ſich dieſer Gruppe ebenfalls zugeſellt, um den Fremden
von ſeinen Feldzuͤgen erzaͤhlen zu hoͤren. Die Mutter
mit ihrer Arbeit beſchaͤftigt, ſprach mit einem Muſiker,
einem Freunde des Hauſes, der oft zum Beſuch hinkam,
und als geiſtreicher Freund, beſonders in dieſen bedraͤng—
ten Zeiten, der Familie faſt nothwendig geworden war.
Der Vater ging ab und zu, und war oft im Geſpraͤch mit
einem ſtillen jungen Manne, einem entfernten Verwand—
ten des Hauſes, dem auch Caͤcilie viele Aufmerkſamkeit
ſchenkte, indeß der Muſiker ihn oft mit ſcheelen Blicken
von der Seite betrachtete.
Natuͤrlich gratulirten alle dem Geneſenden, und die
vielen Dankſagungen, die Ruͤhrungen, die er erwiedern,
die vielſeitigen Theilnahmen, auch der ganz Fremden, die
327
er beachten mußte, dies alles erfchöpfte ihn fo, daß er
kaum zu dieſen Anſtrengungen die gehoͤrigen Kraͤfte auf—
bieten konnte. Man bedachte nicht, daß es fuͤr den
Schwachen die groͤßte Aufmerkſamkeit ſein wuͤrde, ihm
Ruhe zu goͤnnen. Doch war alles leichter zu uͤberſtehen,
als die Zaͤrtlichkeit eines alten greiſen Mannes, der nicht
muͤde werden konnte, ihn zu umarmen, ihn geruͤhrt
und mit Thraͤnen an ſeine Bruſt zu druͤcken, und mit
zitternder Stimme zu erzaͤhlen, wie ſehr er an jenem
Tage erſchrocken ſei. Er ward endlich faſt mit Gewalt
entfernt, und die Mutter ſagte halb ſcherzend: Sie
muͤſſen meinem guten alten Bruder ſchon verzeihen;
er macht freilich die Verwandtſchaft etwas zu ſehr gel—
tend; man muß ihn bei ſeinem Alter ſchon gewaͤhren
laſſen.
Als Kronenberg laͤnger im Saale blieb, bemerkte
er, durch Krankheit und lange Entfernung von den Men—
ſchen an allen Sinnen geſchaͤrft, daß der junge Ver—
wandte, Emmerich, eine Leidenſchaft fuͤr Caͤcilien zu
verbergen ſuche, und dies um ſo mehr, da der Muſi—
ker jeden feiner Blicke bewachte; Caͤcilie ſchien dem Lies
benden mit einer gewiſſen Aengſtlichkeit auszuweichen,
und ergriff die erſte Gelegenheit, ſich recht vertraut zum
Kranken hinzuſetzen, um viel und angelegentlich mit
ihm zu ſprechen. In dieſem Geſpraͤch entwickelte ſie
den Reiz eines ſchoͤnes Gemuͤthes, die Ruͤhrung eines
Herzens, das bis dahin noch keinen gefunden hatte,
dem es ganz im vollen Vertrauen entgegen kommen
konnte. Kronenberg fuͤhlte ſich beſchaͤmt, da er nicht
begriff, wodurch er dieſen Vorzug verdiene; aber doch
war ihm im Leben noch nie ſo wohl geworden. Der
juͤngere Officier naͤherte ſich ihnen ebenfalls, und ſprach
328
fo freundlich zu Kronenberg, als wenn er dieſen ſchon
ſeit vielen Jahren gekannt haͤtte. Caͤcilie nahm die
erſte Gelegenheit wahr, ſich zu entfernen. Als ſich
hierauf der Muſiker in das Geſpraͤch miſchte, und auf
bittere Weiſe von den Mitgliedern der Familie ſprach,
ward Kronenberg aͤngſtlich, und wuͤnſchte ſich zu ent—
fernen. Aber bald gewann alles eine andere Geſtalt;
denn Adjutanten ſprengten vor das Schloß und melde—
ten, daß der Marſchall auf ſeiner Reiſe fuͤr dieſe Nacht
hier einkehren werde. Die Officiere gingen ihnen ent—
gegen, der Herr des Hauſes ward gerufen, Alles ge—
rieth in Bewegung! und nach einiger Zeit erſchien ein
ſtattlicher Mann, der hoͤſtich und mit feiner Lebensart
den Grafen und die Graͤfin begruͤßte, und dieſe, da
ſchon angerichtet war, zur Tafel fuͤhrte. Sein Betra—
gen war ſo fein, daß er Niemand in Verlegenheit
ſetzte; vielmehr fuͤhlten ſich alle behaglicher, als gewoͤhn—
lich, und alle waren in unbefangener Heiterkeit auch
liebenswuͤrdiger, als ſonſt. Nach aufgehobenem Tiſche
benutzte Kronenberg die allgemeine Verwirrung, um ſich
unbemerkt wieder auf fein einſames Zimmer zuruͤckzu—
ziehn. Erſchoͤpft warf er ſich auf das Bett, und uͤber—
dachte ſeinen ſonderbaren Zuſtand. Noch niemals in
ſeinem Leben war ihm ſo wohl und weh geweſen: ihm
duͤnkte, er ſei noch niemals mit Menſcheu umgegangen;
alle ſeine bisherigen Bekannten und Freunde erſchienen
ihm nur als hohle Larven, die er nicht begriff, und die
ihn nicht verſtanden, bei denen es ſich auch des Ver—
ftändniffes nicht verlohnte. Glaubte er doch auch erſt
jetzt aus einem dumpfen Schlafe erwacht zu ſein, der
bis dahin alle ſeine Sinne gefeſſelt hatte. Wenn ihm
die Freundlichkeit der uͤbrigen Menſchen nur als einge—
5
329
lernte Grimaſſe erſchien, fo lernte er jetzt erft fühlen,
was Vertrauen, Glauben und Liebe ſei. Und doch,
fuhr er in ſeinen Betrachtungen fort, iſt es vielleicht
nur eine kranke Stimmung, die mir die Dinge in die—
ſem Lichte zeigt, und eine kuͤnftige Gewoͤhnlichkeit wird
mich wohl wieder eines andern belehren, und hofmei—
ſternd meinen jetzigen Zuſtand Ueberſpannung ſchelten.
Und kann ich denn dieſe zarte Liebe, dieſes holde Ent—
gegenkommen mir aneignen? Gilt es denn nicht viel—
mehr einer erlogenen Maske, einem unbekannten Frem:
den? Wie qualvoll iſt mein Zuſtand, daß ich nicht der
ſein darf, der ich ſeit dem Erwachen meiner beſſern
Kraͤfte ſein moͤchte! |
Indem er fo mit fich felber ſchalt, und eine Weh—
muth ſich ſeines ganzen Weſens bemaͤchtigte, hoͤrte er
leiſe an feiner Thuͤr, die er verſchloſſen hatte, raſcheln.
Nicht lange, ſo ward ein Schluͤſſel umgedreht, vorſich—
tig, aber doch mit einigem Geraͤuſch, und ſie oͤffnete
ſich. Kronenberg, von einem Schirme verdeckt, konnte
das ganze Gemach uͤberſchauen. Der alte Verwandte,
der ihm heut mit ſeiner Zaͤrtlichkeit ſo laͤſtig gefallen
war, trat leiſe herein. Nun iſt er doch einmal in der
Geſellſchaft, fluͤſterte er fuͤr ſich. Er ſah ſich behutſam
um; dann ging er an den Schrank, oͤffnete die Schub—
laden, und kramte in der Waͤſche und den wenigen
Buͤchern. Der Mantelſack, der im Winkel lag, ent—
ging ſeiner Aufmerkſamkeit nicht; aber dieſen fand er
leer. Er hat auch, ſprach er wieder zu ſich ſelber, ver—
dammt wenig Sachen bei ſich: haͤtte mein Schwager
nicht ſein Geld aufgehoben, ſo koͤnnte man ihn fuͤr
einen armen Schlucker halten. Und keine Brieftaſche!
keine Papiere! keine Schatulle! Er wiederholte ſeine
330
Nachforſchung, und da er wirklich nichts weiter ent—
decken konnte, entfernte er ſich mit einem unzufriednen
Gemurmel. — Kronenberg, der mit ſtummem Er—
ſtaunen dieſen unvermutheten Beſuch angeſehen hatte,
dachte noch lange uͤber deſſen Bedeutung nach, bis ihn
endlich ein wohlthaͤtiger Schlummer von dieſen, ſo wie
allen uͤbrigen Betrachtungen befreite.
Am folgenden Morgen traf Kronenberg den Muſiker
allein im Saal. Er konnte ſich nicht enthalten, ihm
die geſtrige ſonderbare Begebenheit mitzutheilen. O,
rief jener aus, uͤber dergleichen muͤſſen Sie ſich gar
nicht wundern, denn das kann Ihnen noch oft begeg—
nen. Dieſer alte Baron Mannlich, der Bruder der
Gräfin, hat in feinem Muͤßiggange, der ihm Lange:
weile macht, nicht eher geruht, bis er ſich einen Haupt—
ſchluͤſſel zuwege gebracht hat; wie er die Gaͤſte des Hau—
ſes ſpricht, ſo haͤlt er es auch fuͤr nothwendig, ihr
Zimmer, wenn ſie nicht zugegen ſind, genau zu unter—
ſuchen. Und Gnade dem, der irgend Papiere und
Briefe umher liegen laͤßt! denn er nimmt ſie mit, um
ſie zu ſtudieren und gelegentlich zu verlieren, oder ſich
die dunkeln Stellen vom Schulmeiſter erklaͤren zu laſ—
ſen. Auf elegante Kleinigkeiten, wie Nadelbuͤchſen,
Scheeren, Riechflaͤſchchen, macht er ordentlich Jagd,
und hat davon ſchon wirklich ein Arſenal angelegt, aus
welchem er manchmal beduͤrftige Kammerjungfern un—
terſtuͤtzt, um ſich ihrer Dankbarkeit zu erfreuen.
Kronenberg mußte lachen. Der Name Mannlich
ſchien ihm bekannt, doch konnte er ſich nicht erinnern,
wo er ihm vorgekommen ſei. Der Muſiker, welcher
331
einmal ins Sprechen gerathen war, fuhr, auch unauf—
gefordert, in ſeiner Schilderung der Familie fort. Sie,
mein Herr von Feldheim, ſagte er mit bitterm Aus—
drucke, haben den Weg gefunden, ſich der Liebe der
Graͤfin, wenn Sie auch nicht ihr Verwandter waͤren,
auf ewig zu verſichern. Wo die alte gute Dame nur
pflegen und wohlthun kann, da iſt ſie in ihrem Ele—
mente; ſie ſpielt ſo gern den Doctor, und da ich ihre
Leidenſchaft kenne, fo fingire ich zu Zeiten eine Unpäß-
lichkeit, vorzuͤglich nach einem kleinen Gezaͤnk (denn ſie
kann mich eigentlich nicht leiden), um mich nur wieder
in Gunſt zu ſetzen. Aber freilich, fo mit ganz einge:
ſchlagenem Kopf, unter einem zerſchmetterten Pferde todt
und ohnmaͤchtig liegen, aus Stirn, Naſe und Auge
bluten, heißt die Sache ins Große ſpielen; und dage—
gen nehmen ſich meine kleine Huͤlfsbeduͤrftigkeiten nur
armſelig aus.
Es ſcheint mir grauſam, ſagte Kronenberg empfind—
lich, dieſen ſchoͤnen Trieb ins Laͤcherliche ziehn zu wollen.
So? antwortete der Muſikus: Sie ſind wohl auch
human, empfindſam und ſentimental? Laſſen Sie ſich
von aller Welt kuriren und verweichlichen, ich habe
gar nichts dagegen; ich ſage ja nur, Ihr Auftritt hier
im Hauſe, oder Ihr Hereinfall in die Familie, war
eben durch dieſen Unfall auffallend genug, und die
Graͤfin genoß, trotz ihres Schrecks, die Freude, alle
ihre Kuͤnſte an Ihrem Leichname entwickeln zu koͤnnen.
Sie moͤchte die Toͤchter auch gern zu Wohlthaͤterinnen
erziehn — die halten es aber mehr mit den geſunden
Maͤnnern, und bei denen haben Sie ſich durch Ihre
Krankheit nicht ſo ſehr empfohlen. Die beiden juͤngern
Graͤfinnen ſind voll Uebermuth und Schalkheit, gefal—
332
len fih nur, wenn fie andern gefallen, und ſchonen
mit ihren Reizen weder Feind noch Freund. Welch
Lamentiren, welch Schelten, welch patriotiſches Ver—
zweifeln, als die Schlacht verloren war! Sie wollten
bis Norwegen und Groͤnland fluͤchten, um nur keinem
von dieſen verruchten Feinden in ſein undeutſches Auge
ſehen zu muͤſſen. Und jetzt! Sidonchen gefaͤllt ſich
außerordentlich in der Geſellſchaft des jungen, freund—
lichen Majors; ſie nimmt alle ſeine Huldigungen mit
Freuden an, und iſt verdruͤßlich, wenn ſie ihn einen
Tag nicht ſieht. Und die kleine Leonore hilft ihrer
verſtaͤndigen Schweſter treulich, den liebenswuͤrdigen
tapfern Mann bewundern. Wenn wir Muſik machen,
geſchieht es eigentlich nur ſeinetwegen; ſeine Favorit—
ſtuͤcke, die gemeiniglich die ſchlechteſten find, muͤſſen vor:
getragen werden; er ſchmeichelt und luͤgt, und ſie ver—
ehren, heucheln und bewundern. Das iſt ſo der Lauf
der Welt. \ |
Aber der Vater? Unmoͤglich kann er ein ſolches
Verhaͤltniß gern ſehn.
Es iſt auch nichts Ernſthaftes, erwiederte jener. —
Die liebe, leidige, beſeligende Coquetterie, das, was bei
den meiſten Maͤdchen das Gluͤck ihrer Jugend macht!
Und der alte Herr iſt ſo gut und brav, ſo ohne Arg,
daß er nur heiter iſt, wenn ſeine Kinder gefallen. Er
hat ſeinen Zorn gegen die Franzoſen, die er nicht be—
greift, auch bei Seite packen muͤſſen, und ſucht wieder
ſeine feinen Redensarten hervor, die er ſeit lange ver—
geſſen hatte. Er kann es aber doch nicht laſſen, jede
Einquartierung mit ſeinen deutſchen Drohungen und
der Schilderung unſerer Tapferkeit zu erſchrecken, die
ihn immer heimlich oder oͤffentlich vorlacht. Darum
ift auch jener Tuͤckmaͤußer, der blaſſe Anverwandte, fein
Liebling, weil der manchmal den Daͤmpfer vom In—
ſtrument nimmt, und in recht lauten und heroiſchen
Toͤnen ſeinem Widerwillen Luft macht. Der prophezeit
uns allen, und den Fremden zugleich, ſehr oft den
Fall Frankreichs und das Wiedererwachen unſerer Na—
tion. Der junge Major Dupleſſis lacht nur daruͤber,
aber der alte muͤrriſche Kapitain Liancourt runzelt oft
gewaltig die Stirn, und zwiſchen ihm und Emmerich
wird es gewiß einmal etwas geben; auch es waͤre wohl
ſchon geſchehn, wenn der aͤlteſte Sohn, Konrad, nicht
ſo oft mit dem Franzoſen auf die Jagd ginge, und
der juͤngſte, Anton, nicht mit ihm auf ſeine laͤppiſche
Weiſe ſchaͤkerte. Die jungen Herren konnten auch erſt
nicht Haß genug gegen die Feinde in allen Winkeln
ihres Weſens auftreiben, und nun ſind ihnen dieſe,
und taͤglich neue Beſuche, ſo nothwendig, daß ſie ohne
ſie vor Langeweile nicht aus noch ein wuͤßten.
Sie haben nun, ſagte Kronenberg, die ganze Fa—
milie charakteriſirt und nicht mit liebevoller Hand ge—
zeichnet; nur Caͤcilien erwähnten Sie nicht.
Weil dieſe gar nicht zu den andern gehoͤrt! rief
der Muſikus bewegt und zornig aus: weil dieſes alberne
Weſen, die gar nicht weiß, was ſie will, wie eine Er—
ſcheinung aus dem dritten Himmel iſt. Sie ſieht und
hoͤrt nicht, was um ſie vorgeht, ſie liebt und haßt
nicht, ſie iſt zu ſchoͤn, ſo daß man verzweifeln moͤchte,
und ſie weiß von ihrer Schoͤnheit ſo wenig Gebrauch
zu machen, daß ſie wie ein einfaͤltiges Kind herumwandelt.
Ei, dieſes Weſen, dieſe Augen, dieſe Stimme, — ja,
das Herz koͤnnte ſie mir umwenden und einen andern
Menſchen aus mir machen. Aber Liebe? — nein, ſie
334
laͤßt ſich nicht träumen, daß es dergleichen geben koͤnne,
wenn nicht in ihrem innerſten Herzen eine dumme Ver—
ehrung fuͤr jenen ernſthaften und langweiligen Vetter
wohnt, dem ich wuͤnſchte, daß er noch ſchlimmer da
draußen gegen den Brunnen ſtuͤrzen moͤchte, um nie—
mals wieder aufzuſtehn.
Mit wilden Geberden rannte der grimmige Menſch
fort, und Kronenberg fuͤhlte, wie bei der letzten Aeuße—
rung ein empfindlicher Schmerz durch ſeinen Buſen
zuckte. Er fuͤrchtete, daß Caͤcilie wohl ſchon lieben
koͤnne, vielleicht ohne es zu wiſſen, und ein Gefuͤhl
von Verzweiflung tauchte in ihm auf; ſeine Nichtigkeit
ergriff ihn, und er ſehnte ſich fort in die Weite, ja
in den Tod, um nur dieſe Bedraͤngniß von ſich zu
ſchuͤttn. Der alte Graf Werthheim uͤberraſchte ihn
und ſtoͤrte ſeine Gedanken. Er erzaͤhlte vom Marſchall,
deſſen Erſcheinung ihm in dieſer traurigen Zeit eine reine
Freude gewaͤhrt hatte. Dieſer ſchon bejahrte Mann
hatte das Ungluͤck des Landes empfunden, und eben ſo
mild als verſtaͤndig uͤber die neueſten Begebenheiten ge—
ſprochen. Der Graf war geruͤhrt, daß er bei Feinden
gewiſſermaßen mehr Troſt finde, als ſo oft bei Einge—
bornen, ja nahe Befreundeten; denn ſeine eignen Soͤhne
waren, wie er klagte, nur ſelten, vom Geſchwaͤtz jenes
Muſikers verleitet, mit ihm einig. Denn es giebt Guͤ—
ter, die ſich oft, eben weil ſie unſichtbar und die hoͤch—
ſten ſind, der Schaͤtzung der Menge entziehn; dagegen
dieſe gewoͤhnlichen Menſchen ſo oft andere erringen wol—
len, deren Werth ſie viel zu hoch anſchlagen, weil ihr
Inhalt namhaft gemacht werden kann, und ihre aͤußere
Erſcheinung mit blendendem Glanze auftritt. Dieſes
ſtille Gluͤck, dieſe aͤchte Deutſchheit war es, welche der
335
Graf fo oft vertheidigen mußte, und ſich immer, trotz
des ſtaͤrkeren Beiſtandes ſeines Verwandten, nur ſchwach
fuͤhlte, und gewoͤhnlich aus dem Felde geſchlagen wurde,
wenn man ihm gegenüber den Ruhm der großen Na—
tion, ihre Eroberungen, ihre politiſche und militärifche
Ausbildung, ihre Gerichtsverfaſſung und alles das, was
die Bewundrung der neueſten Zeiten erregt hat, ent—
gegen ſetzte. Es ſchien, daß er und der Marſchall, der
nur wenige Meilen davon, und wie man glaubte, auf
laͤnger ſeinen Sitz aufgeſchlagen hatte, ſich in wirklicher
Freundſchaft gefunden und erkannt hatten. Der alte
Mann erzaͤhlte nicht ohne Bewegung, wie auch Kro—
nenberg, deſſen Krankheit und Geſicht, vorzuͤglich aber
ſeine verſtaͤndigen, wenn auch nur wenigen Worte, den
Heerfuͤhrer innig intereſſirt hätten. Es war die Aus-
ſicht, daß man ihn oͤfter ſehn wuͤrde, und damit die
Hoffnung gewonnen, daß Officiere wie Soldaten ſich
in dieſem Diſtrikte gut wuͤrden betragen muͤſſen.
Die Geſellſchaft verſammelte, ſich wieder zu Muſik
und Spiel; Kronenberg beobachtete noch aufmerkſamer
den melankoliſchen Verwandten, wie ihn der Muſikus
nannte, und es blieb ihm nicht zweifelhaft, daß er
Caͤcilien liebe, auch ſie ſchien ihm geneigter, wie allen
Uebrigen. Mit bittern Gefuͤhlen zog ſich der Kranke
auf ſein einſames Lager zuruͤck.
Kronenberg erfreute ſich bald einer beſſern Geſund—
heit, und ſeine gaͤnzliche Wiederherſtellung ſchien nicht
mehr entfernt. In der Zerſtreuung, in welcher er
lebte, fand er nur ſelten einige Minuten, um über
ſeinen Zuſtand nachzudenken. Die politiſchen Begeben—
336
heiten, an welchen die Famlie natürlich das lebhafteſte
Intereſſe nahm, die Durchmaͤrſche, die mannichfaltigen
Charaktere, die im Hauſe auftraten, die Beſorgniſſe,
welche ſie oft erregten, ſo wie die Vermittelungen,
welche immer wieder nothwendig wurden — alles Dinge,
an welchen Kronenberg ſeinen Theil nehmen mußte,
ließen ihm ſo ſchnell Wochen und Monden verfließen,
daß er in der Verwirrung und Betaͤubung kaum noch
ſeiner fruͤheren Vorſaͤtze gedachte. Dazu kamen, um
das bewegte Leben zu vermehren, Koncerte, an denen
oft die benachbarten Familien Theil nahmen, Vorleſun—
gen, in welchen Kronenberg in der Regel ſich hoͤren
ließ, Spazierfahrten und Beſuche bei auswaͤrtigen Be—
freundeten. War er einmal von der groͤßern Geſell—
ſchaft entfernt, fo beſchaͤftigte ihn der geiſtreiche Muſi—
kus, mit dem er ſich mehr, als er anfangs denken.
konnte, verſoͤhnt hatte. Vertrauter aber war er mit
den beiden Franzoſen, vorzuͤglich mit dem juͤngern, deſ—
ſen freundliche, geſchmeidige Hoͤflichkeit ihn voͤllig bezau—
berte. Er konnte der Art, wie dieſer Fremde ihm
ſeine Hochachtung bezeigte, wie er ſein Vertrauen ſuchte,
und der Herzlichkeit, mit welcher er ſeine Freundſchaft
erwiederte, unmöglich widerſtehen. Auch Caͤcilien war
er viel naͤher gekommen; in manchen Augenblicken glaubte
er ſich von ihr geliebt; ſah er aber dann wieder, wie
ſie in andern Stunden ſich mißtrauiſch von ihm zuruͤck
zog, wie aͤngſtlich ſie ihn vermied, wie fremd ſie ſeine
leidenſchaftliche Anrede erwiederte, ſo glaubte er, ſich
zu taͤuſchen, und eine ungluͤckliche Stimmung bemaͤch—
tigte ſich ſeiner, in welcher er gegen alle Welt, am
meiſten gegen den zuruͤckgezogenen Emmerich, ungerecht
war, der ihm als die verhaßte Urſache von Caͤciliens
337
verändertem Benehmen erſchien. So ſehr aber dieſer
das Fraͤulein lieben mochte, ſo war ſein Charakter dem
des Verſtimmten voͤllig unaͤhnlich; denn er blieb auch
gegen Kronenberg freundlich, und antwortete ſelten auf
die Bitterkeiten, die er oft von dieſem, und noch oͤfter
von dem gallſuͤchtigen Muſikus anzuhoͤren bekam.
Die Eltern, wie es argloſen Menſchen oft zu gehen
pflegt, bemerkten von allen dieſen Verhaͤltniſſen wenig
oder nichts. Dem Vater ſchien es zu kraͤnken, daß
ſein junger Freund, dem er zugethan war, mit den
Feinden feines Vaterlandes in ein vertrauliches Ver—
haͤltniß trat, und oft Geſinnungen zu aͤußern ſchien,
die er undeutſch nennen mußte.
An einem Nachmittage hatten ſich die buen ent⸗
fernt, und ſo ſehr es ſonſt der Graf vermied, ſiel unter
den Maͤnnern das Geſpraͤch dennoch auf die Politik.
Vor kurzem war der letzte Hoffnungsſchimmer erloſchen,
und als der Vater ſeufzend klagte: jetzt ſind wir, und
mit uns ganz Deutſchland, voͤllig verloren! rief der
Muſikus in feinem bittern Humor ploͤtzlich aus: Verlo⸗
ren? Und was wäre denn daran noch zu verlieren ge
weſen? Was hattet ihr Deutſche denn noch, das euch
zu Deutſchen, zu einem Volke machen konnte? Die innere
Entzweiung hat ſchon laͤngſt alle eure Kräfte gebrochen,
und jedes National-Intereſſe, jede großartige Verbin:
dung unmöglich gemacht. Je mehr jede Provinz, jedes
Laͤndchen ſich iſolirte und vom allgemeinen Bande loͤſte,
je mehr glaubten fie an Selbſtſtaͤndigkeit und Patrio⸗
tismus gewonnen zu haben. Sie verſchmachteten in
engherziger Kleingeiſterei, waͤhrend einige Reſidenzen
in nachgeſpielter feiner Lebensart, in nachgebeteten Phra—
ſen dieſe Pfalbuͤrger und ihren Sinn verſpotteten. Die
XIV. Band. 22
338
größeren Reiche belauerten einander neidiſch, und hiel-
ten immer ſchadenfroh den Verluſt des Nebenbuhlers
fuͤr eigenen Gewinn. Laͤngſt ſchon war die Freiheit
entflohn, der Sinn aus den leeren Formen der alten
Verfaſſung entwichen, und die truͤbſeligen Ruinen konn—
ten hoͤchſtens nur noch Geiſt und Aufſchwung hemmen
und laͤhmen. Nie hat auch der Deutfche ſelbſtſtaͤndig
ſein wollen; man laſſe ihm ſeine Kindereien, ſeine Recht—
haberei, und er wird gerade in der Unterdruͤckung, wenn
es dem Nachbar nur eben ſo ſchlimm ergeht, immer noch
freudig mit dem Spielzeuge klappern und ſich gluͤcklich
waͤhnen. Wird ihnen aber jetzt die klaͤgliche Reichs—
ſtaͤdterei, dieſer Nuͤrnberger Tand aus den Haͤnden ge—
ſchlagen; geht ein friſcher Geiſt mit unwiderſtehlicher
Kraft durch alle ihre Laͤnder, und zerreißt und verbin—
det, was noch nie vereinigt, was ſeit lange nicht ge—
trennt war: ſo erwachen ſie wohl, und huldigen nun
beſonnen einer neuen Gewalt, die dazu beſtimmt ſcheint,
Europa zu beherſchen. Ja, gezwungen werden ſie, ſtatt
des kleinſtaͤdtiſchen Provinz-Eigenſinnes einen europaͤi—
ſchen großartigen Geiſt in ſich zu bilden. Wie viel
Gut gewinnen ſie alſo, gegen den ſcheinbaren Verluſt
armſeliger Schatten. Steht es nicht zu hoffen, daß
unter fremder Herrſchaft ſich erſt das erzeugen moͤchte,
was man deutſch, national, eigenthuͤmlich nennen duͤrfte?
War es ja doch nur bis jetzt die Buͤcherwelt, die die
Verlaſſenen ihre Literatur nennen wollen, welche bis—
her ein gewiſſes Einverſtaͤndniß unter den mancherlei
Gebraͤuchen, Staͤmmen, Sekten und Religionen, Dia—
lekten und gegenſeitigen Befeindungen aufweiſen konnte.
Moͤgen ſie dieſe doch nun zu etwas Edlem, Richtigem
ausarbeiten, zu einer Geſtalt vollenden, die fie mit eini-
339
gem Vertrauen ihren Nachkommen überliefern dürfen.
Vielleicht, ja wahrſcheinlich, waren es die verſchieden—
artigen Verfaſſungen, alle die Ueberreſte aus dunkeln
Jahrhunderten, die das Reifen dieſer Frucht bisher
unmoͤglich gemacht. Beſſer, daß dieſe große Erſchuͤt—
terung, der die Welt nicht mehr ausweichen kann, uns
von einer fremden gebildeten Nation mitgetheilt werde,
die große Erfahrungen gemacht und uͤberwunden, von
einem Manne, vor dem ſich zu beugen keine Schande
iſt, als daß dieſe Begebenheit aus der Verworrenheit
der Menge, aus blindem Drangſal, aus der Schlaff—
heit hervorgehe. Kunſt und Wiſſenſchaft, Philoſophie
und Poeſie, auf welche die Deutſchen ſo eitel ſind,
moͤgen nun ihre Schwingen entfalten, und den Flug
um ſo hoͤher richten, als ſie nicht mehr gegen hemmende
Politik und vielfaͤltige buͤrgerliche Einrichtungen zu kaͤm—
pfen haben. Die Freiheit der Preſſe iſt wenigſtens
das erſte Gut, auf welches wir mit Gewißheit rechnen
duͤrfen. Alle die armen Journaliſten, die bisher nur
matt und leiſe dieſes und jenes durften ahnden laſ—
ſen, wenigſtens lispeln, ſie duͤrfen jetzt die Trompete
nehmen, und das von den Daͤchern verkuͤndigen, was
etwa nur noch in den vertrauteſten Kreiſen gefluͤſtert
wurde. Erſt durch dieſe kann eine oͤffentliche Meinung in
Deutſchland geboren werden; und auch dieſe Kunſt oder
dies Handwerk, durch Journale und Zeitungen Geſinnun—
gen zu verbreiten, muͤſſen wir erſt von den Franzoſen und
hauptſaͤchlich von den Englaͤndern lernen. So lange es
bei uns noch ganze Doͤrfer giebt, die weder leſen moͤ—
gen noch koͤnnen, iſt es mir immer, als ob man von
einem Geſpenſte rede, wenn man von der deutſchen
Literatur ſpricht. Ueberlege ich alſo unbefangen und
*
340
in groͤßerem Sinne das, was uns jetzt zugeſtoßen iſt,
ſo wage ich es zu behaupten, daß unſer Verluſt mit
einem Mikroſkop muß aufgeſucht werden, daß unſer
Gewinn aber etwas Unermeßliches ſey.
Der Franzoſe laͤchelte ſelbſtgefaͤllig. Kronenberg
ſchwieg nachdenkend, und betrachtete den Grafen, der
ſich voll Verdruß auf die Lippen biß; der finſtre Lian⸗
court machte eine Miene, aus der man ſo wenig Bei—
fall als Unzufriedenheit leſen konnte; und da Alle ſchwie—
gen, machte der Redner eben Anſtalt, in ſeiner Ab—
handlung fortzufahren, als Emmerich, gluͤhend roth im
Geſicht und mit glaͤnzenden Augen, in dieſe Worte
ausbrach:
Wie? Literatur, Kunſt und Poeſie koͤnnten ohne
Vaterland da ſein? Ohne dieſes Grundgefuͤhl, welches
dieſen Bluͤthen erſt Klima und Waͤrme verleihen muß?
So leicht wollte ich glauben, daß der ſtarre Leichnam
eines Greiſes wieder zur Jugendfriſche und allen Lei—
denſchaften belebt werden koͤnnte. Man kann noch fra—
gen, was wir verloren haben? Nicht dieſes und jenes,
ſondern alles; und daß es Deutſche giebt, die ſo fragen
koͤnnen, die mit ſophiſtiſcher Ueberweisheit jene hohen,
einzig hohen Guͤter verkennen und verſchmaͤhen, dies
iſt das Elend unſerer Tage; daran ſind wir zu Grunde
gegangen. Geblendet vom Glanz auslaͤndiſcher Herr—
lichkeit ſtrebten wir nach Dingen, die uns nicht aneig:
nen, die keine Guͤter, kein Gluͤck fuͤr uns ſind, und
lernten die Gaben, das wahre Gluͤck, die einheimiſche
Trefflichkeit verſchmaͤhen, die uns ein guͤtiges Schick—
ſal noch gegoͤnnt und gelaſſen hatte. Wenn dieſes
Gluͤck, dieſe Freiheit, die ſich nicht in Zahlen, nicht
in geſchriebenen Paragraphen aufweiſen laͤßt, einmal
341
ganz verſcherzt fein wird, dann werden wir an ihrem
Grabmal erſt wiſſen, was wir beſeſſen haben. Und
jetzt, durch dieſen ungeheuern Schlag, ſollte eine Frei—
heit, auch die kleinſte nur, errungen werden koͤnnen?
das wenigſtens, was man die Freiheit der Preſſe nennt?
O, wir werden ſehen, wie alle unſere Zeitungen, wie
alle Flugblaͤtter, die ſo oft die Miene der Freiheit an⸗
genommen haben, dem Sieger huldigen; wie dieſelben
Menſchen, die bitter und ungerecht gegen ihre angebor—
nen Fuͤrſten waren, nun ſchmeichelnd im Staube krie⸗
chen. Freiheit! welch' großes, ſchoͤnes Wort! welch'
edles Herz möchte nicht für dieſes koſtbarſte Gut ergluͤ⸗
hen! Nur wahre ſich der Beſſere, wenn er das Hoͤchſte
zu vertheidigen ſtrebt, nicht aus mißverſtandenem Eifer
ſich denen beizugeſellen, die ohne Staat und Vaterland,
Diener des Augenblicks und der bethoͤrten Menge, dies
heilige Wort in ihren Fahnen fuͤhren, um ihrem Groll,
ihrem Haß der Obrigkeit, ihrer Zerſtoͤrungswuth Bahn
zu brechen. Druͤcken uns Maͤngel, bedarf der Staat
neuer Kraͤfte, ſo erwecke man dieſe; man heile jene,
aber auf dem geſetzlichen Wege; warne, unterrichte der—
jenige, der ſich dazu berufen fühlt, und zeige in ver—⸗
ſtaͤndigen Schriften, daß er ſein Vaterland kennt und
liebt, daß er es verdient, Staatsmaͤnnern und dem
Monarchen als Rathgeber, der Menſchheit ſelbſt als
Wohlthaͤter zu erſcheinen. Aber wie, den Journalen,
den Zeitungen und Tagesblaͤttern ſollen wir dieſes Pal—
ladium vertrauen? Dieſe Krankheit wuͤnſcht man uns
als Gewinn, daß ſie ſich allgemein verbreite, an wel—
cher England vielleicht einmal verbluten muß, und gern
die groͤßten Opfer braͤchte, wenn es dieſe Preßfrechheit
hemmen koͤnnte? Wie gutmuͤthig ſorgen die Regie—
342
rungen doch, daß auch der aͤrmſte Unterthan ſchreiben
und leſen lerne, waͤhnend, daß dieſes nur Kennzeichen
der Bildung des gemeinen Mannes ſei; wie arbeiten
ſie ſorgfaͤltig, damit er nur ja in Zukunft alle die
ungerechten und oft haͤmiſchen Angriffe erfahre, die die
beſten Bemuͤhungen der Regenten erleiden muͤſſen. Man
ſehe nur jene engliſchen Zeitungen an, wenn man mich
der Uebertreibung beſchuldigt, die fuͤr den Landmann,
ja fuͤr den Poͤbel der Provinzen berechnet ſind, und
wahrlich nicht Belehrung, Zurechtweiſung, edeln Frei—
heitsſinn enthalten, ſondern nur immer wieder die ver—
derblichen Funken ausſtreuen, ob denn nicht einer ein—
mal zum Mordbrand aufſchlage. Und brauche ich denn
jenſeit des Meeres nach Beiſpielen zu ſuchen? Liegen
ſie uns nicht naͤher, wenn auch vielleicht nicht ganz ſo
bösartig? Welche Maſſe von ſeichtem Raiſonnement,
welche elenden Deklamationen, welcher unberufene und
unſinnige Haß gegen jede Obrigkeit hat ſich bei uns
ſeit dieſer unſeligen Revolution geſammelt und ausge—
ſprochen! Welche unmenſchliche Schadenfreude uͤber das
unerhoͤrteſte Ungluͤck, welche Gleichguͤltigkeit bei den
ſchrecklichſten Begebenheiten! Vorzeit und Gegenwart
moͤchten die Schreier eben ſo unphiloſophiſch als unhi—
ſtoriſch in den Abgrund werfen und vernichten, um nur
ihre chimaͤriſche Zukunft, die tyranniſche Oberherrſchaft
ihrer Grillen zu begruͤnden. Sie zuͤrnen in ihrem Frei—
heitseifer, wenn der Deſpotismus Heinrichs, des deut—
ſchen Kaiſers, von einem kraͤftigen Papſt gebrochen
wird, der in jenem Zeitalter Freiheit feſter gruͤndete, als
ſie zu traͤumen vermoͤgen; ſie finden es aber ganz in der
Ordnung, wenn Ludwig der Maͤrtyrer von einem ver—
ruchten Revolutions-Tribunal gemißhandelt wird. Bis
343
jetzt war es anders bei uns, als in Frankreich und
England, und unſer Volk darf ſtolz darauf ſein. Faſt
ſeit zwanzig Jahren ertoͤnen dieſe Grundſaͤtze durch unſre
Gebirge und Fluren, die Heere des Feindes ſind faſt
eben ſo viele Jahre abwechſelnd die Beherrſcher ver—
ſchiedener Provinzen; und wo iſt ein Land, ein Stamm,
eine Stadt, ja, ich moͤchte ſagen ein Dorf, zu nennen,
die ihrem angebornen Fuͤrſten treulos geworden waͤren?
Nein, feſter ſind die Bande gezogen, inniger iſt dieſe
Liebe entzuͤndet. Was haben ſie gelitten, die Aermſten,
und mit welchem Jauchzen haben ſie ihre Fuͤrſten wie⸗
der begruͤßt! Nein, das koͤnnen die deutſchen Herrſcher
auch nie vergeſſen, nie dieſe Hingebung, dieſe Opfer,
dieſe unwandelbare Treue (die ſich immer bewaͤhren
wird) mit Undank erwiedern. Nie werden ſie in den
Irrthum verfallen, die Stimmen jener Blaͤtter mit der
Stimme ihres Volks zu verwechſeln.
Mithin, warf der Muſiker ein, wird die jetzige große
Begebenheit ohne allen Nutzen ſein?
Der Himmel hat fie zugelaſſen, antwortete Emme⸗
rich, und aus dem tiefſten Elende blitzt mir eine Hoffnung
entgegen. Wir werden Alle zur Erkenntniß kommen;
wir werden uns vereinigen, ein wahrer Nationalſinn
wird und muß erwachen, und alle Provinzen bruͤderlich
verbinden. Vielleicht faͤllt dann einmal ein Gluͤck, ein
ungeheures Schickſal vom Himmel, und eine allgemeine
Flamme lodert uͤber Berg und Flur, ein Freiheitsruf
ertoͤnt durch alle Gauen, ein Fuͤrſtenwort erklingt durch
alle Waͤlder, und nun verſammelt ſich Jung und Alt um
die vielgeliebten Regenten, und es gelingt vielleicht durch
des Himmels Gnade, was jetzt unmoͤglich ſcheint.
344
Sie werden zum Propheten! ſagte der Muſikus
haͤmiſch: in jeder goldnen Zeit werden Sie ſich dann
ohne Zweifel niederſetzen, und ein Journal oder Wo—
chenblatt in einem ganz entgegengeſetzten Sinne her—
ausgeben, jedes Gebrechen loben, den Miniſtern ſchmei—
cheln, das Mittelalter zuruͤckwuͤnſchen, und den Deſpo—
tismus predigen.
Nein! rief Emmerich lebhaft aus, wenn ich dann
noch athme und mich bewegen kann, ſo nehme ich eine
Muskete auf die Schulter, und trete mit dem aͤrmſten
und niedrigſten meiner Bruͤder in Reihe und Glied.
Er konnte ſeine Ruͤhrung nicht verbergen, und ent—
ſernte ſich ſchnell; der Graf folgte ſeinem Lieblinge, er—
ſchrocken uͤber das, was er auszuſprechen gewagt hatte.
Der Muſikus ſchickte beiden ein lautes Gelaͤchter nach,
in welches der heitere Dupleſſis einſtimmte; Liancourt
aber ſtand auf, und ſagte: beim Himmel! giebt es noch
viele ſolche Menſchen in Deutſchland, ſo koͤnnen wir hier
noch einmal einen harten Stand haben. Er hat uns geſagt,
was wir eigentlich nicht hoͤren durften; aber er iſt jung
und brav, und wir ſind hier Gaͤſte und keine Spione.
Ich kann die Dinge nicht ganz ſo ſehn, wie er, und
uͤber dieſes Kapitel ließe ſich noch vieles ſagen, manches
naͤher eroͤrtern, anderes beſchraͤnken. Wo aber eine
Geſinnung aus dem Vollen geht, da hat ſie auf ihre
Weiſe immer Recht. — Er ging hinaus, und hoͤrte
kaum auf die Scherze, die Dupleſſis ihm nachrief. Jetzt
entfernte ſich auch der Muſikus, und Dupleſſis ſagte
zu Kronenberg, mit dem er ſich jetzt allein befand:
auf dieſe Weiſe, wie es dieſer verſtimmte Juͤngling ſich
traͤumt, geht es weder jetzt, noch in der Zukunft; aber
meine Imagination hat die ganze Nacht das verarbeitet,
345
was Sie mir geftern und vorgeſtern eröffneten. Sie
kennen meinen Haß gegen die jetzige Verfaſſung meines
Vaterlandes, gegen den Mann, dem wir alle als un⸗
ſerm ſogenannten Kaiſer demuͤthig huldigen muͤſſen; er
vergeudet unſere beſten Kraͤfte, und dankt uns kaum
dafuͤr; ſein Ehrgeiz verpraßt das ungeheure Erbtheil,
das er aus den blutigen Händen des Aufruhrs empfan⸗
gen; und er ruht nicht eher, bis er ſich und zugleich
uns alle zerſchmettert hat.
Kronenberg antwortete: wenn wir einmal wieder
allein und ungeſtoͤrt auf ihrem Zimmer ſind, ſollen Sie
eine deutlichere Einſicht in jenen großen Plan haben,
von dem Ihnen einige Eroͤrterungen kaum noch einen
fernen Anblick gewähren koͤnnen. Durch zanz Deutſch⸗
land, ja wohl noch weiter, zieht ſich dieſe große Vers
bindung; die Bruͤder kennen ſich und verſtehen ſich durch
Zeichen, Schrift und Rede, die jedem andern unver⸗
daͤchtig ſind. Wenn alles reif iſt, ſo wird von allen
Seiten das Ungeheure hervortreten und mit vielen aber
ſichern Schlaͤgen die Geſtalt der Welt veraͤndern.
Und wer lenkt, fragte Jener, dieſe weitverſchlun—
gene Verbindung?
Man hat, ſagte Kronenberg, trotz meiner Jugend,
viel Vertrauen in mich geſetzt, daß ich mich wohl ohne
Eitelkeit einen der Regierenden nennen darf. Ich habe
jetzt einen großen Theil von Deutſchland geſehn, und
die Reiſe hieher benutzt, neue Faͤden anzuknuͤpfen, neue,
bedeutende Mitglieder anzuwerben, und mich den ober—
ſten Haͤuptern bekannt zu machen. Jetzt nur hat meine
unverſehene Krankheit ſo manches gehindert, wenigſtens
verzoͤgert; ich konnte nicht ſchreiben — man wußte nicht
wo ich war.
346
Sit der Graf in Ihrem Bunde?
Nein, er iſt, wie ſeine Soͤhne, viel zu ſchwach,
um Theil zu nehmen; ſeichte Schwaͤrmer, wie jener
Emmerich, koͤnnten uns nur ſchaden.
Koͤnnen Sie mir aber nicht einige der groͤßten Haͤup—
ter namhaft machen, damit ich der Sache noch mehr
vertraue? denn vornehme, wichtige Leute muͤſſen doch,
wie Sie ſelbſt ſagen, Mitglieder ſein.
Nicht heut! erwiederte Kronenberg; binnen kurzem
ſollen Sie alles erfahren, was ich ſelber weiß. Aber
dieſe Aufſtaͤnde, im Ruͤcken der Armee, dieſe kleinen
Corps, die ſich hier in unſerer Naͤhe formirt haben,
ſind ſchon ein Vorſpiel.
Duppleſſis wurde von einer Ordonanz abgerufen,
und bald nachher trat Emmerich wieder herein. Er
ſchien etwas ſagen zu wollen, und war doch verlegen.
Endlich naͤherte er ſich und faßte Kronenbergs Hand.
Mein Theurer, fing er an, den ich fo gern meinen
Freund nennen moͤchte, — warum weichen Sie mir, und
oft mit Verachtung, aus? — Kronenberg war verle—
gen. Sie vertrauen ſich Menſchen, fuhr jener fort, die
es nicht verdienen, und entdecken ihnen vielleicht Dinge,
die dieſe Fremden am wenigſten erfahren duͤrften. Ich
zittre, wenn Ihnen etwas zuſtoßen ſollte, und nicht
blos als Ihr Freund, ſondern noch mehr als Freund
des edelſten, ſchoͤnſten und herrlichſten Weſens, das die
Natur jemals erſchaffen hat.
Wen meinen Sie? fragte Kronenberg.
Sollten Sie es nicht wiſſen, brauche ich Caͤcilien
noch zu nennen? Sie aͤngſtet ſich, daß ſie Sie mit
dieſem langweiligen Fremden in ſo genauer Verbindung
ſehn muß; ſie fuͤrchtet davon die ſchlimmſten Folgen.
347
Können Sie es denn uͤber fih gewinnen, dieſer hoid:
ſeligen Erſcheinung auch nur eine Secunde ihres Lebens
zu truͤben? Waͤr' ich ſo gluͤcklich, wie Sie, welches
Opfer wäre mir wohl zu groß? Und Sie koͤnnen an:
ſtehn, daß ich es doch heraus ſage — Ihre Eitelkeit
etwas zu zaͤhmen? Denn ſie iſt die Kette, wodurch
dieſer Menſch Sie bindet. Er bewundert Sie, er ver—
goͤttert Ihre Talente, er ſchmeichelt Ihnen. Ob es ihm
Ernſt iſt, weiß ich nicht; daß er aus Abſicht luͤge, will
ich nicht behaupten — aber ganz unwahrſcheinlich iſt es nicht.
Sie kraͤnken mich! rief Kronenberg aus. Ich halte
Dupleſſis fuͤr einen edeln Menſchen; auch habe ich
weiter keine Verbindung mit ihm, als wie ſie täglich
unter Gebildeten ſtatt findet.
Sie wollen mich nicht verſtehn, fuhr Emmerich
etwas beleidigt fort; Sie weichen mir wieder aus, wie
immer. Auch der Graf, der Sie wie ein Vater liebt,
laͤßt Sie bitten, ja beſchwoͤren, vorſichtig zu ſein.
Aber ich begreife nicht, wie die ganze Familie ploͤtz—
lich zu dieſer unnoͤthigen Angſt gekommen iſt.
Lieber Feldheim, Sie wiſſen, mit welcher Sorg—
falt der Graf jenes Buch aufhob, welches Sie mit ſich
fuͤhren, wie er es verbarg, weil nach dem Autor ſchon
laͤngſt geheime Nachforſchung geſchieht. Sie forderten
es zuruͤck, und wir erſtaunten, ja erſchraken, als Sie
es uns vertrauten, daß Sie der Verfaſſer ſeien. Die
Bewunderung des Grafen iſt freilich nicht groͤßer, als
ſeine Furcht, daß Ihr Talent Sie ungluͤcklich machen
koͤnne. Aber heute fruͤh, als er und ich dieſen Du—
pleſſis beſuchen, finden wir das Werk dort offenbar lie—
gen; er nennt uns Sie als den Urheber; mit einem
Schwall von Hyperbeln erhebt er die Vortrefllichkeit
348
des Buchs, vergoͤttert Sie, und ſagt mir, Sie en
ſich ihm unverholen entdeckt.
Kronenberg war auf einen Augenblick erlegt doch
faßte er ſich bald, und ſagte: ich ehre den Mann, und
hielt ihn nicht fuͤr ſo geſchwaͤtzig. Doch ſehe ich auch
kein Ungluͤck, da er ſich nur Leuten vertraut hat, die
ſchon um die Sache wußten. N
Davon ift die Rede nicht, erwiederte Emmerich
ernſt; Sie ſollten unſere treue Warnung mehr achten.
Lieber Freund, ſagte Kronenberg mit einem geheim—
nißvollen Laͤcheln, Sie aͤngſtigen ſich um Kleinigkeiten.
Ich wuͤnſchte, Sie koͤnnten groͤßeren Anſichten Raum
geben, ſo wuͤrde ich Ihnen manches entdecken, was
Ihr Herz erhoͤbe, und dieſe kleinliche Furcht auf immer
verjagte. Darf ich zu Ihnen reden?
Emmerich trat einen Schritt zuruͤck. Iſt es moͤg—
lich? rief er aus, indem er ihn ſcharf betrachtete; koͤn—
nen Eitelkeit und Geheimnißkraͤmerei den Menſchen ſo
tief aushoͤhlen, daß er das ſchoͤnſte Gluͤck, das vor ihm
liegt, mit Fuͤßen von ſich ſtoͤßt, um Wolkengebilden
nachzulauſen? — O du arme Caͤcilie! — Mit dieſen
Worten verließ er eilig das Zimmer.
Man hatte ſich vorgeſetzt, an einem freundlichen
Tage in der Nachbarſchaft einen Beſuch zu machen.
Da alle Fremden mit eingeladen waren, und außer den
Dfficieren noch andere Gaͤſte im Haufe wohnten, auch
der Muſicus und der vermeintliche Feldheim nicht fehlen
durften: ſo wurden verſchiedene Wagen gebraucht und
eingerichtet, und die Gräfin, die gewöhnlich die Beſor—
gung und Eintheilung der Geſellſchaft uͤber ſich nahm,
349
hatte an ſolchen Tagen viel zu rechnen und zu über:
legen. Es war ihr daher nicht angenehm, als fie wäh:
rend ihrer Betrachtungen durch ein zu lautes Geſpraͤch
im Nebenzimmer geſtoͤrt wurde, in welchem die Kammer-
jungfern, von denen einige mitfahren ſollten, lachten
und ſchrieen, und nur beruhigt wurden, als der alte
Baron Mannlich zu der Schweſter in das Zimmer trat.
Lieber Bruder, ſagte die Gräfin, warum zeigſt Du Dei:
nen Gaͤſten immer wieder von neuem dieſe Bloͤße, und
giebſt Veranlaſſung, uͤber Dich zu ſcherzen? — Sei ſtille,
fluͤſterte der alte Mann, es geſchah zu Deinem und zu
Aller Beſten. — Zu meinem Beſten? — Ich habe
eben eine Unterſuchung angeſtellt, die hoͤchſt wichtig war.
Die Waͤſcherin iſt drinnen, und da ich das eine Hals—
tuch fortnehmen und Dir bringen will, riſſen ſie mir
es wieder weg, und das war die ganze Unruhe. Aber
die Sache ſelbſt iſt wichtig. Denke Dir, alle Waͤſche
unſers Vetters, des jungen Feldheim, iſt mit v. K. ges
zeichnet. Wie erklaͤrſt Du das?
Lieber Bruder, ſagte die Gräfin, es iſt hoͤchſt uns
ſchicklich, daß Du Dich immer in dergleichen Dinge mi—
ſcheſt; vielleicht haſt Du nicht recht geſehn, vielleicht —
wer weiß, woher es kommt. Ich habe keine Zeit zu
dieſen wichtigen Betrachtungen.
Auf ſeinem Zimmer, fuhr der Alte fort, habe ich
dieſen ſilbernen Stift gefunden, auch v. K. gezeichnet.
Meine Augen ſind noch gut; ſieh ſelber her, ſo kannſt
Du es erkennen. Ein Petſchaft fuͤhrt er gar nicht mit
ſich: kein Wappen! Iſt das nicht unbegreiflich?
Du haft ja fo oft gehört, ſagte die Gräfin, daß ihm
feine Brieftaſche mit vielen andern Sachen iſt entwen—
det worden.
350
Ich ruhe nicht, rief der Alte, bis ich weiß, wer er
iſt. Er hat noch keinen einzigen Brief bekommen, ſeit
er hier iſt — er hat noch keinem Menſchen geſchrieben.
Iſt das nicht unnatuͤrlich?
Unnatuͤrlich? bei dem jetzigen unſichern Poſtweſen?
Und wer ſollte er denn ſein, wenn er nicht unſer Vetter
waͤre?
Neulich, fuhr der alte Mann fort, erzaͤhlte ich ihm
ein Langes und Breites von meiner Tante Kugelmann,
die er doch in ſeiner Familie oft muß haben nennen
hoͤren; ſie iſt beruͤhmt, die Frau, und nach einer Stunde
nannte er ſie Baroneſſe Kegelfrau. Da iſt mir der
Verſtand voͤllig ſtill geſtanden.
Die Graͤfin lachte. — Daß ich in Halle ſtudirt
habe, war ihm eine ganz neue Sache. Nun, das weiß
doch die ganze Welt, um wie viel mehr ein Vetter. Es
war ihm auch was Neues, daß mein Bruder ein krum—
mes Bein hat; den Mann in unſerm Wappen hielt er
vorgeſtern fuͤr einen Affen. Das alles geht mir ſo im
Kopf herum, daß ich mich nicht zu laſſen weiß. Darum
muß ich Zerſtreuung ſuchen.
Sei nur fertig, lieber Freund, ſagte die Graͤfin, denn
wir fahren gleich, und Du richteſt es immer ſo ein,
daß wir warten muͤſſen, und kennſt doch die Ungeduld
meines Mannes.
Naͤchſtens muß er mir, rief der Alte, das Wap—
pen der Feldheim erklaͤren, und wenn's da auch hapert —
Du weißt ja, Lieber, daß die jetzige junge Welt auf
dergleichen nicht ſehr achtet.
Er wird doch kein verruchter Gottesleugner ſein!
rief der Alte im hoͤchſten Zorne, und entfernte ſich, mit
den Fuͤßen ſtampfend.
351
Als man zur Fahrt aufbrechen wollte, war lange
ein Hin- und Herhandeln um die Plaͤtze, und welche
Kutſche früher, welche ſpaͤter abgehn koͤnne. Kronen:
berg eilte noch einmal in den Saal, um ein entlehntes
Buch wieder an feinen Platz zu ſtellen. Faſt im nams
lichen Augenblicke trat Caͤcilie durch die andere Thuͤr
herein, um ihren Hut abzuholen, den ſie hier vergeſſen
hatte. Kronenberg bat um die Erlaubniß, ſich zu ihr
in den Wagen ſetzen zu duͤrfen; ſie gewaͤhrte ſie, im
Fall es nicht der Einrichtung ihrer Mutter widerſpreche.
Im kleinen Hin- und Herſtreiten verzoͤgerten ſie, und
achteten nicht auf eine leiſe Bewegung, die ſie an der
Thuͤre hörten. Sie war verſchloſſen, als fie endlich hin—
aus gehen wollte; man wollte die zweite oͤffnen, ſie
widerſetzte ſich ebenfalls, und die dritte war in demſel—
ben Zuſtande. Kronenberg ſah Caͤcilien verlegen und
erröthend an. O weh! rief dieſe, der boͤſe, alte, zer—
ſtreute, wunderliche Once! Mit feinem Hauptſchluͤſſel,
den er immer bei ſich fuͤhrt, um ſich mit allen Schloͤſ—
ſern zu thun zu machen, hat er uns eingeriegelt! Und,
ſehn Sie, da fahren ſchon alle Wagen uͤber das Feld
im ſchnellſten Trabe hin! |
Kronenberg wollte ein Fenſter aufreißen, aber Caͤcilie
hielt ihn zuruͤck, indem ſie ſagte: keine Uebereilung!
Alle Bedienten ſind mitgefahren und geritten; Verwal—
ter und Gaͤrtner, Brauer und ihre Hausgenoſſen ſind
ſo entfernt, vielleicht auch ausgegangen, daß wir ſie
nicht errufen koͤnnen. Einen zufaͤllig Voruͤbergehenden
in Anſpruch zu nehmen, koͤnnte nur dazu nutzen, den
Schloſſer aus dem naͤchſten Orte herbei zu holen; und
welches Aufſehn, das ich durchaus nicht wuͤnſchen kann,
352
würde die Begebenheit machen! denn einzuholen find die
Reiſenden nicht wieder.
Eine ſonderbare Lage, ſagte Kronenberg.
Die wir nur ſo wenig wie moͤglich zur Geſchichte
der Provinz machen muͤſſen, erwiederte Caͤcilie; der Ort,
wohin ſie fahren, iſt zwei Meilen von hier entfernt;
ſie koͤnnen uns nicht fruͤher, als dort, vermiſſen; ſenden
ſie auch in der groͤßten Eile zuruͤck, ſo braucht der
Bote doch wieder zwei Stunden, und wir muͤſſen alſo
vier in Ruhe hier aushalten. Ob es dann noch der
Muͤhe verlohnt, zu fahren, iſt die Frage. Sie koͤnnen
wenigſtens hinuͤber reiten. Alſo Geduld iſt das, was
wir am noͤthigſten brauchen; faſten muͤſſen wir auch.
Setzen Sie ſich alſo dorthin, und laſſen Sie, lieber
Vetter, uns mancherlei erzaͤhlen, uns vielleicht etwas
vorleſen, oder ſpielen Sie dort auf dem Forte-Piano.
Kronenberg that es. Er war über dieſe ſeltſame
Lage, in die er ploͤtzlich gerathen war, ſo erſtaunt, daß
er ſelbſt nicht wußte, wie er ſich benehmen ſollte.
Konnte ein Liebender einen gluͤcklicheren Zufall wuͤn—
ſchen, als dieſen, der ihm fo viele Stunden eine unge:
ſtoͤrte Einſamkeit vergoͤnnte: dem Gegenſtande ſeiner Lei-
denſchaft alle ſeine Gefuͤhle zu ſagen, wozu ihm in
dieſer unruhigen Zeit immer noch die Gelegenheit ge—
mangelt hatte? Eine Fee, fing er an, hat Sie, theure
Caͤcilie, in dieſe Gefangenſchaft verſetzt, damit Sie
mich anhoͤren ſollen; damit Sie erfahren, wie ich von
Ihnen denke.
Sie ſollen auch wiſſen, wie ich von Ihnen denke,
erwiederte ſie. Vielleicht iſt es moͤglich zu machen, daß
wir uns verſtehen. Und doch —
353
Wie? ſollten Sie an meinen Empfindungen zwei—
feln koͤnnen? Noch zweifeln, daß mein Gluͤck oder Un—
gluͤck an Ihren Lippen haͤngt?
Caͤcilie ging ſinnend im Zimmer auf und ab; dann
feste fie ſich zu Kronenberg, und fragte: denken Sie
ſich denn auch bei dieſen Worten etwas? oder ſind es
nur die hergebrachten Redensarten?
Sie kraͤnken mich, Theuerſte!
Nun ja, Vetter, ich will glauben, daß Sie mir
gut, recht gut ſind; iſt das etwas Beſonderes? das bin
ich allen Menſchen. Was hoͤher als dieſe Freundſchaft,
dieſes Wohlwollen ſteht, kann etwas Himmlliſches,
Ueberirdiſches ſein, aber auch wohl, ſo ahndet mir,
etwas recht Boͤſes; oder auch nur Schein, mit Luͤge
und Trug vermiſcht. Ach, die armen Menſchen! ſie
wiſſen es ja oft ſelber nicht, wenn ſie ſich und andere
hintergehen.
Kronenberg faßte ihre Haͤnde; er ließ ſich auf ein
Knie nieder; er kuͤßte die dargebotene Hand, und wie—
derholte ſeine Betheurungen. Wie erſchrak er aber, als
ſie ihn ploͤtzlich zuruͤckſtieß, wie entſetzt vor ihm floh,
mit lautem Weinen und Schluchzen ſich auf das Sopha
ſetzte, und das Haupt troſtlos in die Kiſſen verbarg.
Lange konnte ſie auf ſeine Ermunterungen, auf ſeine
Bitten keine Antwort geben; die Stimme verſagte ihr
immer von neuem, und da auch er zu Thraͤnen geruͤhrt
wurde, erhob fie ſich endlich, wie noch ſtaͤrker erſchuͤt—
tert, und rief: Feldheim! Vetter! Auch Thraͤnen?
Woruͤber?
Daß ich das Leben meines Lebens ſo troſtlos ſehen
muß; daß ich verkannt werde.
XIV. Band. 23
354
Ach! Liebſter! klagte fie: nein, ich, ich kenne Sie;
von den Uebrigen moͤgen Sie vielleicht verkannt werden.
Kann man den mißverſtehen, den man liebt?
Sie lieben mich? O Caͤcilie, ja, Du biſt meine
Gottheit! rief Kronenberg, und ſtuͤrzte wieder zu ihren
Fuͤßen nieder. O, dann bin ich der Gluͤcklichſte der
Menſchen; dann ſollſt Du mit mir ſelig werden.
Elend, ſagte ſie mit ſchwerem Tone, werden wir
beide ſein, vielleicht die Elendeſten aller Menſchen.
Giebt es einen tiefern Jammer, ein klaͤglicheres Herze—
leid, als lieben und nicht achten, eine, eine Seele aus:
erwaͤhlen muͤſſen, ſich ihr ganz, unbedingt hingeben
wollen, und doch nicht vertrauen koͤnnen? Zweifeln, wo
uns der ſchoͤnſte Glaube erheiternd erfriſchen muͤßte?
In den Tempel gehen, um in erſter Fruͤhlingswaͤrme,
im neuen Geſundheitsgefuͤhl nach Todesnaͤchten Gott
anzubeten, und auf dem Altar ein luͤgenhaftes Fratzen—
bild zu finden?
Kronenberg war vernichtet, und vermochte keine
Antwort zu geben; denn jeder Gedanke verſagte ihm.
Sie konnte ungeſtoͤrt fortfahren: Wenn ich ſchon ſonſt
von Dir reden hoͤrte, wie mahlte meine neugierige
Dhantafie Dein Bildniß aus. Du ſollteſt kommen.
Die Stunde ſchlug, und das Entſetzlichſte geſchah; eine
Begebenheit, ſchlimmer als Tod, ereignete ſich vor mei—
nen Augen. Ich kannte Dich nicht, nur meine Schmer—
zen um Dich. Wie ein Heiliger warſt Du mir gewor—
den. O, Himmel! wie wenig verſtehen die Menſchen,
was Wohlthun iſtl Sie belaͤcheln oft meine theure Mut—
ter. Iſt ſie Dir denn nicht auch Mutter, faſt mehr
als Mutter geworden? Zum zweitenmal biſt Du durch
ſie da, und genießeſt des Lichtes und Deiner ſelbſt.
355
Ein Gegenſtand freudiger Ruͤhrung, wehmuͤthiger Wonne
war mir Dein Krankenlager. Dein Erwachen, Dein
erſter Blick, der in mein Auge traf, war wie ein Strahl
des Himmels, wie ein Aufſchaun aller Liebe, die durch
alle Welten leuchtet und waltet. Ich ſah Dich oͤfter,
und mir war, als wuͤrde kein heller Tag, wenn ich
nicht Deinen Blick gefuͤhlt hatte. Schlief doch mein
Auge noch, und war bewoͤlkt, bis des Deinen brauner
Glanz es erweckte. Ich hatte nun erſt erfahren, was
die Augen bedeuten. Ach! was ſchwatze, was faſele ich
alles durch einander, ich armes Kind? Mit der zuneh—
menden Geſundheit, mit der verſchwindenden Gefahr
kamſt Du mir immer näher: ich ward Dir inniger vers -
traut. Ich glaubte immer Deine Gedanken zu hoͤren,
und oft ſprachſt Du auch das, was ich eben gedacht
hatte, wörtlich und buchſtaͤblich fo, nur alles in füßem
Klang, in Feuer und Herzlichkeit getaucht. Ich wußte
nur von Dir, und kaum noch, daß ich lebte, als
nur in Dir. — — Und nun —!
Nun? O, halten Sie ein, Geliebteſte! Nein, fah—
ren Sie fort, ſagen Sie mir Alles, zerſchmettern Sie
mich ganz. |
Nun wieder wohl und gefund, fprechend und ſcher—
zend in der Menſchenmenge, geliebt von uns Allen,
geſchmeichelt von Jedem; und, wenn ich hinzutrat, als
wenn ich in einen tiefen Abgrund ſchaute, in eine un—
abſehliche Herzensleere und kalte Oede. Jeder fremde
Ton, das unbekannteſte Weſen ſtand Ihnen naͤher, war
Ihnen mehr, als ich und mein Jammer. Ich ſchwin—
delte mit Entſetzen in dieſe Tiefe hinunter. Der kalte
Schauer, der in fruͤher Kindheit uͤber mich kam, wenn
ich meinen geliebten Wachspuppen nun endlich recht in
2E®
356
die Augen von Glas ſchauen wollte, und einen Blick
des Bewußtſeins erhaſchen, kam uͤber mich. In dem
Weſen, das mein fein ſollte, dem ich ſchon ganz ge:
hoͤrte, Grauen und Finſterniß, Tod; aus ihm ein nich—
tiges Geſpenſt blinzend und lachend, — und wandte
ich von dort den Blick in die uͤbrige Welt, die mir bis
dahin ſo lieb geweſen war: kalte Troſtloſigkeit des Gra—
bes. Kein Mann kann dieſen fuͤrchterlichen Zuſtand
ermeſſen und verſtehen. Ich fuͤhlte mich ganz, ganz
verloren, und ohne alle Ausſicht, mich jemals, oder
irgend etwas zu gewinnen. Jede Sprache iſt zu arm,
das Entſetzen dieſes Bewußtſeins auszuſprechen. Alles
war mir verſtaͤndlicher, als der Eine; wie lieb, wie
hold war Emmerichs Auge! wie vertraute ich ſeinem
Herzen! wie edel erſchien mir der finſtre Liancourt! ja
ſelbſt Dupleſſis war mir naͤher, nur Du mir voͤllig
entruͤckt; und doch war mein Herz wie durch einen
graͤßlichen Zauber gebunden, und ſo oft ich ſtrebte,
es loszureißen, fuͤhlte ich auch, daß die Faͤden meines
Lebens, ja die Fugen meines Geiſtes, moͤcht' ich faſt
ſagen, brechen wollten.
Kronenberg war ſo heftig erſchuͤttert, daß ſein ganzer
Koͤrper zitterte. Sein Geſicht war leichenblaß, und
keine Thraͤne drang aus dem ſtarren, faſt gebrochenen
Auge.
O, des Jammers! fuhr Caͤcilie klagend fort, — das
iſt alſo, mußt' ich zu mir ſelber ſagen, das Gluͤck der
Liebe? Das iſt es nun, womit die Menſchen heucheln
und ſpielen, und in klaͤglicher Eitelkeit, in beweinens—
wuͤrdiger Verblendung den Unſinn des Lebens, die Ver—
zweiflung des Daſeins in Grimaſſe und Redensart, in
abgeſchmackten Selbſtbetrug hinein retten, um nur das
357
göttliche Angeſicht der Wahrheit nicht zu erblicken? Und
ich, Aermſte! mußte nun unter Millionen erleſen ſein,
Ernſt damit machen zu wollen; mit einem Gefuͤhl, als
ſollte ich Stuͤcke meines Koͤrpers, Hand, Arm, das
zerriſſene Herz als Karten ausſpielen, um die andern
Mitſpieler zum Lachen oder Entſetzen zu bewegen. Was
quaͤl' ich mich, Dir, Abgeſtorbener, Dir, wandelnde
Leiche, deutlich zu machen, wovon auch kein Sonnen—
ſtaub des Gefuͤhls in Deinem verfinſterten Geiſte ſchim—
mern wird? Gaͤbe es noch Kloͤſter, dahin würde ich
flüchten. Nur ganz ſich Gott in ſtillſter Grabesein—
ſamkeit widmen, kann vielleicht Troſt fuͤr dieſe Schmer—
zen bieten.
Kronenberg erhob ſich, und es war ihr, als komme
ein ganz verwandelter Menſch ihr entgegen. Sie haben
geſiegt, ſagte er mit matter Stimme, und — ich fuͤhle
es mit ſtiller Beruhigung, ich darf es ausſprechen, fuͤr
die Ewigkeit. Ja, Liebſte, Ihre Seele hat mich erkannt,
aber auch wie mit magiſcher Kraft auf die meinige, die
entſchlummert war, gewirkt. Ich fuͤhle es, der Menſch
kann und muß zweimal geboren werden, und dies war
der große, wichtigſte Moment meines Lebens, wo der
Ewige ſelbſt durch dieſen Mund zu mir geſprochen hat.
Ein ungeheurer Schmerz hat meine Seele entbunden;
aber jetzt fuͤhle ich mich wohl und heiter, leicht und
klar; ein ſuͤßer Tod hat nun alles begraben, was nicht
zu mir und meinem Selbſt gehoͤrte.
Caͤcilie ſah ihn getroͤſtet an. O, Theurer, rief ſie,
aus dieſen Augen ſieht jetzt ein Kindergeiſt, ja, die Un:
ſchuld ſelbſt, die Wahrheit. Kann es, wird es ſo blei—
ben? Wird nicht wieder der Schein dieſen redlichen Blick
verlocken und umwandeln?
358
Nein, ſagte Kronenberg. Ich weiß es jetzt, wie die
Nichtigkeit, die mit unſerm innerſten Weſen verwebt iſt,
wie dieſer leere Schatten der Wirklichkeit mich ganz
umdunkelt hatte. Das iſt die arme Schwaͤche unſers
Weſens, die Sterblichkeit, daß wir dieſes Leere fuͤr ein
Wahres halten, uns ſelbſt entfliehn, und immer wieder,
wenn die innere Stimme ruft, wenn das Goͤttliche ſich
erhebt, dieſes Nichtſein dem Himmel und der Wirklich—
keit vorbauen. Dies, ich habe es laͤngſt geahndet und
in dieſer Stunde geſchaut, dies iſt der boͤſe Geiſt in
uns, von dem die Thorheit ſo viel gefabelt hat; Fabeln,
die er ſelbſt ihr in den Mund gelegt; denn hat man
dieſes Unweſen erkannt, ſo iſt es graͤßlicher, als das
wildeſte Geſpenſt, als alle ſataniſche Ungeheuer, die die
Fieberkranken je ſchauten. Dieſes Weſen iſt da und
nicht da, es iſt Unſinn, ein Nichts, die Ohnmacht
ſelbſt, und doch ſo furchtbar und gewaltig, ſo greulich
wirklich, weil es die Wahrheit, Vernunft, Wirklichkeit,
das Goͤttliche in uns bemeiſtern und vernichten kann.
So arm iſt unſer irdiſcher Zuſtand, den nur die Liebe
von ſeinen Banden erloͤſen konnte, und immer von
neuem erloͤſen muß.
Ich verſtehe Sie ganz, ſagte Caͤcilie erfreut. O,
himmliche Wahrheit und Unſchuld! Jeder Menſch hat
doch einmal deine Suͤßigkeit geſchmeckt, und doch gehen
faſt alle wieder zur finſtern Luͤge hin, die ihnen nur
Wermuth bietet. Wie ein freigemachter Vogel flattert
die Seele in dieſen reinen blauen Himmel hinauf, um
im klaren Licht zu ſchwimmen, — und mit elendem
Netze, mit Leim laͤßt ſich das Unſterbliche wieder in den
Schmuz hinabziehen und feſt kleben.
Hoͤren Sie jetzt alles, rief Kronenberg aus, alles,
359
in dieſer feierlichen, großen Stunde. Und müßte ich
augenblicks ſterben, ja müßt ich Ihre Liebe auf immer
verlieren, und ewig nur Ihren Hohn und Verachtung
fuͤhlen: es iſt ein Muth, eine Ruhe in mir, daß ich
auch dies ertragen koͤnnte. Ich habe Ihnen viel, weit
mehr zu ſagen, als Sie vermuthen. Um ſo mehr Sie
mir zu vergeben haben, um ſo groͤßer kann ſich Ihre
Liebe zeigen.
Er warf ſich nieder und lehnte ſeinen Kopf in ihren
Schoos. Jetzt nicht, lieber Vetter, ſagte ſie aufſtehend
in dieſem Augenblicke nicht! ich bin zu ſehr erſchuͤttert.
Goͤnnen Sie mir ein Weilchen Ruhe, nachher wollen
wir ſprechen.
Sie ſetzte ſich an den Fluͤgel und phantaſirte in
ſchwermuͤthigen Paſſagen. Der ſonderbare Moment war
voruͤber, in welchem der bereuende Kronenberg ſich ganz
hatte entdecken wollen. Jetzt weinte Caͤcilie und ward
immer ruhiger, große Thraͤnen rollten durch die ſchoͤnen
Augenwimpern auf die Taſten nieder; aber ſie ſpielte
ungeſtoͤrt weiter, und endigte zuletzt mit ganz heitern
Accorden. Nun iſt mir wohl! rief ſie aus, aufſtehend;
ſo ſoll, ſo wird es immer zwiſchen uns bleiben. Das
iſt das Gluͤck; nicht wahr, mein Lieber?
Kronenberg, der im Fluß ſeiner Gedanken geſtoͤrt
worden war, konnte das Wort nicht finden, um wieder
anzuknuͤpfen. Von dieſen feinen Stimmungen der Seele
haͤngt im Leben weit oͤfter Gluͤck oder Ungluͤck ab, Ent⸗
zweiung der Freunde, Verkanntwerden, Groll, der ſich
immer ſtaͤrker und ſtaͤrker feſt ſetzt und das Daſein ver—
bittert, als die meiſten Menſchen es glauben oder beach:
ten. So konnte ſich jetzt der junge Mann nicht ent—
ſchließen, gewaltſam wieder einzuſetzen, um das Bekenntniß
360
alles Thoͤrigten und aller Unwahrheiten, die er ſich er:
laubt hatte, in das Herz ſeiner Geliebten nieder zu
legen, wozu es ihn mit allen Kraͤften draͤngte, dieſe
letzte Laſt von ſeinem Buſen zu waͤlzen. Sie kramte
indeſſen, um ihre Gefuͤhle zu beruhigen, in Papieren
und alten Zeitungen. Welcher Wuſt! rief ſie aus;
und lauter Unheil! Nichts als Elend! Kommen Sie,
Vetter, leſen Sie! mein Kopf iſt ſo ſchwach. Aber
nicht von den politiſchen Artikeln! ſuchen Sie unter
den Anzeigen, Aufrufen und dergleichen, wo man oft
ſonderbares und laͤcherliches Zeug findet.
Kronenberg nahm eines der aͤlteren Blaͤtter in die
Hand, und ihm ſchwindelte. Er ſah eine Ladung ſeiner
Glaͤubiger, die ihn aufforderten ſich zu ſtellen, mit voller
Nennung ſeines Namens. Er verbarg das Blatt ſchnell,
und ein ſchadenfroher Geiſt ließ ihn ein zweites auf—
ſchlagen, in welchem ein Kronenberg beſchrieben und
als verdaͤchtiger Menſch verfolgt wurde. Es mußte
jener Armſelige ſein, der ihm wahrſcheinlich ſeine Schreib—
tafel entwendet hatte. Aber ſo erſchreckt, zagend, nach—
denkend, hatte er Muth und Entſchluß verloren, dem
geliebten Weſen ſeinen wahren Namen und ſein Ver—
haͤltniß zu entdecken.
Kronenberg ergriff die Hand Caͤciliens und ſagte:
jetzt Theuere, laſſen Sie uns nicht die Stunde mit
den unnuͤtzen Blaͤttern verderben. Ich ſehe, wie ange—
griffen, wie ſchwach Sie ſind. Die Zeit vergeht, Sie
haben nichts genoſſen, es iſt ſchon ſpaͤt, und immer
noch nicht abzuſehn, daß Sie vor dem Abend Huͤlfe
bekommen koͤnnen. Er ging mit ihr im Saale auf
und ab, dann lehnten ſie ſich Hand in Hand an das
361
Fenſter, und er ſah verlegen und nach Gedanken fu:
chend in das Feld hinaus. Jenſeit des Gartens ſahen
ſie Gewehre blinken, welche ſich naͤherten. Schon wie—
der verdruͤßliche Einquartierung! rief er aus, das hat
kein Ende. Ich bewundre die Geduld Ihrer Eltern,
und daß ſie gegen jeden Fremden, ſei er noch ſo
roh und ungebildet, dieſelbe Freundlichkeit behalten
koͤnnen.
Was iſt zu thun? antwortete Cäcilie. Doch beſſer
ſo, als ſich durch Groll und Empfindlichkeit die Plage
noch ſchwerer machen. Und am Ende belohnt ſich dieſe
Freundlichkeit doch; denn auf unſern Guͤtern iſt noch
nichts vorgefallen, da man auf ſo vielen andern manche
Unthat beklagt.
Das Kommando ruͤckte naͤher. Es trat jetzt in den
Garten, und Kronenberg bemerkte zu ſeiner Verwun—
derung, daß ſie jetzt, als ſie in das Thor traten, den
Gaͤrtner gebieteriſch in ihre Mitte nahmen. Sie ſchrit—
ten durch den Garten, den Fenſtern des Saals vor—
bei. Der Anfuͤhrer fragte den Gaͤrtner: hier wohnt
doch ein Baron Feldheim? Ja, antwortete dieſer; aber
er iſt heut ſo wenig zu Hauſe geblieben als die uͤbri—
gen; alle ſind ausgeflogen. Wir wiſſen es, antwortete
jener; — beſetzt, Leute, alle Zugaͤnge, alle Thuͤren
des Schloſſes, laßt Jeden hinein, aber keinen, bis auf
weitere Ordre, heraus! Ihr, Freund, indem er ſich zum
Gaͤrtner wandte, muͤßt in unſerer Mitte bleiben, und
Ihr dürfe mit keinem Menſchen ſprechen. — Warum?
— Bis wir den Vogel haben, antwortete die rauhe
Stimme. Ihr koͤnntet ihn wohl warnen laſſen, daß er
umkehrte und ſeinen Weg durch die Felder ſuchte. Nach—
her koͤnnt Ihr gehn, wohin Ihr wollt.
302
Was iſt das? ſagte Caͤcilie zitternd, als fie vorüber
waren. Ich ſelbſt, antwortete Kronenberg, habe mir
Verderben durch kindiſche Prahlerei, durch eine Eitel—
keit, die mehr als abgeſchmackt iſt, zubereitet. Ich bin
verloren, wenn ich mich nicht retten kann. — Aber
wie? — Der Garten iſt nicht beſetzt, ich ſteige durch
jenes Fenſter hinunter; es muß gehn, wie es kann —
die tiefen Fugen in den Steinen der Ruſtika bieten
Raum fuͤr Fuß und Hand — ich treffe dann das Pfir—
ſichſpalier. Habe ich doch wohl ehemals ohne Noth
noch gefaͤhrlichere Dinge unternommen. Noch iſt Haus
und Garten leer, noch kann es in dieſer Einſamkeit
des Sonntags gelingen.
Er oͤffnete behutſam das Fenſter. Vetter! ſagte
Caͤcilie, und ſah ihn mit einem durchdringenden Blicke
an; alſo ſo weit haſt Du Dich nun gefuͤhrt? So wird
unſer neuer Bund auf die grauſamſte Art zerriſſen?
Und ich darf nicht einmal fragen, was Dich von mir
treibt. Mußt Du entfliehn?
Jetzt muß ich, rief er aus. In kurzer Zeit ſehn
wir uns wieder; ich ſelbſt werde die Wetterwolken zer—
ſtreuen, die mir jetzt drohen. Lebe wohl. Er breitete
die Arme aus, ſie kam ihm entgegen, und druͤckte den
erſten Kuß mit zitternden Lippen auf ſeinen Mund.
Das Fenſter war ſchon geoͤffnet, er ſtieg behutſam hin—
aus. Vom Rande ſuchte er mit dem Fußſpitzen die
Fuge — es gelang; er half ſich mit aller Vorſichtigkeit
hinunter — ſchon war er dem Spalier nahe — er ſtuͤtzte
ſich auf dieſes — aber die Stange brach, und er ſtuͤrzte
hinab. Mit einem tiefen Seufzer ſchloß Cäcilie das
Fenſter; ſie wagte nicht zu fragen, nachzuſehn, um
ihn nicht zu verrathen. >
363
Als Kronenberg ſich wieder beſann, fühlte er, daß
der eine Fuß ihm ſeinen Dienſt verſagte. Er wußte
nicht, ob das Bein gebrochen, oder nur ausgerenkt ſei.
So empfindlich die Schmerzen waren, ſo unterdruͤckte
er doch jede Klage; er kroch uͤber die Beete und durch
die Hecken, um ſich dem Gartenthor zu nähern, Er
wußte zwar nicht, wie er ſich im Felde forthelfen ſollte,
es ſchien ihm aber nothwendig, alles zu wagen, denn
er ſah nun wohl ein, daß Dupleſſis ihn verrathen
habe. Durch ein ſeitwaͤrts ſtehendes Gebuͤſch naͤherte
er ſich jetzt dem Thorweg, der in das Feld fuͤhrte; er
beugte um, ſah aber zu ſeinem Erſchrecken auch hier
einen Soldaten Wache halten. Dieſer hatte die krie—
chende Geſtalt bemerkt, ging ihr naͤher, und nahm ſie
feft, da er fie für verdächtig halten mußte. Er rief
feine Kameraden herbei, und da man auch den Gaͤrt—
ner holte, ward der Fliehende ſogleich als der Feldheim,
der arretirt werden ſollte, erkannt. Man fuͤhrte ihn,
weil er nicht gehen konnte, nach dem Gartenſaal. Jetzt
hörte man auch ſchon die Geſellſchaft in den verſchie—
denen Wagen zuruͤck kommen. Die Eltern, die ſich
um die vermißte Tochter aͤngſtigten, deren ſonderbares
Ausbleiben ſie nicht begreifen konnten, waren ſchnell,
nach kurzer Begruͤßung der Freunde, wieder umgekehrt.
Noch ehe ſich die ſonderbare Urſache aufklaͤrte, die ihnen
bald nicht mehr ſo wichtig war, vernahmen ſie das
ungluͤckliche Schickſal ihres Verwandten. Die Verwir—
rung war allgemein. Herrſchaft und Diener ſtuͤrmten
und liefen durcheinander. Ein Chirurgus ward geholt.
Dieſer renkte dem Kranken den Fuß, der nicht gebro—
chen war, bald wieder ein; doch blieben Schmerzen
und Geſchwulſt. Aber es ſchien alles unwichtig gegen
364
jenes furchtbare Schickſal, welches den geliebten Ver:
wandten bedrohte. Dieſer ſaß wieder, wie in der erſten
Zeit der Geneſung, betaͤubt im großen Saal. Der
Vater nahm den finſtern Liancourt bei Seite, und
fragte nach dem Zuſammenhang; Dupleſſis war nicht
mit zuruͤck gekommen, ſondern hatte ſich zu ſeinem Ge—
neral verfuͤgt. Der ungluͤckliche junge Mann, ſagte
der Officier, hat ſich gegen meinen Kameraden als
Verfaſſer jenes beruͤchtigten Buchs bekannt — noch
mehr, er hat ſich geruͤhmt, geheime Verbindungen zu
leiten, die unſere Armee und den Kaiſer bedrohen. Nach
dem Verfaſſer jenes Buchs iſt ſeit lange geforſcht —
Dupleſſis zeugt gegen ihn — er ſelbſt kann ſein Wort
nicht leugnen. So eben erhalte ich die Ordre, ihn ſelbſt
nach der Stadt zu bringen; er muß ſich dort vor ein
Kriegsgericht ſtellen, er wird in wenigen Tagen er—
ſchoſſen.
Der alte Baron Mannlich, der ſich mit feinem grei—
ſen Kopf dicht zwiſchen die Sprechenden geſchoben hatte,
brach jetzt in ein lautes Geſchrei aus, wodurch er das
laut bekannt machte, was fuͤr alle Uebrigen noch ein
Geheimniß bleiben ſollte. Erſchoſſen? rief er heftig, in—
dem er den Kranken in die Arme nahm: was? unſer
eigner leiblicher Vetter, ſo aus unſrer Mitte heraus?
Das iſt uns noch niemals begegnet. Unſere Verwandt—
ſchaft iſt ſchon nur ſo klein, und ſie ſoll auf ſolche
barbariſche Weiſe noch mehr vermindert werden? Ja,
lieber, guter Vetter, Sie ſind gewiß mein Vetter, wenn
Sie auch mein Wappen fuͤr einen Affen hielten. Ach!
wir ſind ja Alle Menſchen, und koͤnnen irren. Ein
Tag iſt nicht wie der andere. Sie waͤren gewiß zur
Erkenntniß gekommen. Sehen Sie, Freund, das
355
kommt davon, wenn Edelleute Bücher ſchreiben wollen
— ſie verſtehn das Ding nicht recht anzufaſſen; nein,
niemals bin ich darauf verfallen. Und geheime Geſell—
ſchaften! Pfui! das iſt nun vollends ganz unanſtaͤndig.
O, Herr Major, laſſen Sie uns doch den lieben treff—
lichen Vetter.
Er warf ſich auf den Ungluͤcklichen, und bedeckte
ihn mit ſeinen Thraͤnen. Es war nun ſchwer, ihn
von Kronenberg zu entfernen, denn er hielt es fuͤr
Pflicht, ſeinen Schmerz recht unverkennbar zu zeigen.
Caͤcilie war auf ihr Zimmer gegangen, und wollte
ſich weder von der Mutter, noch von ihren Schweſtern
Troſt einſprechen laſſen. Emmerich draͤngte ſich herzu,
ſagte ihr ein Paar Worte, ſprach dann mit dem Vater,
und eilte in den Stall, um ein Pferd ſatteln zu laſſen.
Noch in der Nacht ritt er mit der groͤßten Eile davon.
Der Vater ſprach mit Kronenberg; dieſer aber antwor—
tete wenig, und erklaͤrte nur, er habe ſein Schickſal
verdient, und zwar, weil er mit der Wahrheit ſo fre—
ventlich geſpielt, nicht, weil die Dinge wirklich geſchehn
waͤren, die ſeine Eitelkeit nur ausgeſagt haͤtte.
Die Verwirrung des Hauſes ſollte noch vermehrt
werden. Denn als man ſich zur traurigen Abendmahl—
zeit niederlaſſen wollte, ward ein Kapitaͤn mit zwei
Gefangenen gemeldet. Er erſchien und erklaͤrte, daß
er mit einem Kommando im Dorfe Platz nehmen
muͤſſe, denn er habe ſchon fuͤnf Meilen gemacht. Er
hatte ſich geſtern bei einem Staͤdtchen gegen eine Ueber—
zahl von Bauern und deutſchen Soldaten ſchlagen muͤſ—
ſen, mit einem jener kleinen Korps, von denen man
neulich geſprochen hatte; endlich ſei ihm gelungen, ihrer
Meiſter zu werden; nach einigem Verluſt ſei die Mann—
366
ſchaft entflohn, und ihre beiden Anführer gefangen ges
nommen worden. Er beklagte die jungen Leute. Sie
waren auf ihr Wort frei geweſen, und hatten in einem
kleinen Städtchen jenſeit des Fluſſes ihr Standguartier-
gehabt. Von der Noth des Vaterlands bedraͤngt, hatte
der Aeltere wie in Verzweiflung eine Anzahl junger
Burſche und Soldaten zuſammengerafft, den zweiten
Officier uͤberredet, und ſo waren ſie, von einem unſe—
ligen Geiſte getrieben, freiwillig in ihr Ungluͤck gerannt.
Das verſtaͤrkt leider Ihre Selbſtanklage, ſagte Lian—
court, ſich theilnehmend zu Kronenberg wendend. —
Die Thuͤren oͤffneten ſich wieder, und die beiden Ge—
fangenen wurden herein gefuͤhrt. Der aͤltere, braun
und wild, hatte den Ausdruck reſignirter Verzweiflung;
der juͤngere war blond, und ſein Geſicht war nur eine
ſtille Klage uͤber ſein Ungluͤck und ſeinen fruͤhen Tod,
in ſo friſcher unerfahrner Jugend. Dieſen juͤngeren
kannten die Maͤdchen, und die Wehklage ward laut und
allgemein, ſo daß Kronenberg auf einige Zeit vergeſſen
ſchien. In fruͤheren Jahren war der junge Menſch
ein Spielgefaͤhrte im Hauſe geweſen, wenn er zuweilen
mit ſeiner alten Mutter zum Beſuch heruͤber gekommen
war. Er war ruͤhrend, ihn von ſeinem Ungluͤck erzaͤh—
len zu hoͤren. Nach jener ungluͤcklichen Schlacht, ſagte
er, ward ich, wie ſo viele, gefangen, ich ward auf
mein Wort freigelaſſen, und jenes Städtchen, nicht
weit von hier, ward mir zum Aufenthalt angewieſen.
Der ſchmale Sold, den man uns verſprochen hatte, blieb
freilich aus; indeſſen, da der Feind ſo manches wichti—
gere Verſprechen bricht, haͤtten wir daruͤber nicht zu
klagen gebraucht, denn die Buͤrger des Orts und die
wohlhabenden Einwohner unterſtuͤtzten uns. Mein Freund
367
aber war nicht fo ruhig, wie ich. Er nannte mein
Weſen Feigheit und Engherzigkeit. Bei jeder neuen
Nachricht ward er wild. Er iſt immer ein tuͤchtiger
Officier geweſen, und ich hatte ſchon ſeit Jahren die
groͤßte Hochachtung vor ihm. Er brachte mir endlich
auch ſeine Geſinnung bei, daß es ehrlos ſei, beim voͤl—
ligen Untergange des Vaterlandes ſo ſtill zu ſitzen, und
ſich von Allmoſen fuͤttern zu laſſen. So zog ich mit
ihm aus. Wir waren beide und auch die uͤbrigen, wie
berauſcht; denn es war uns nicht anders, als koͤnnten—
wir mit unſern geringen Kraͤften unſern geliebten Koͤnig
retten. Wir wurden geſchlagen, mein Freund gefangen.
Mir gelang es zu entkommen: mein voriger Wirth im
Staͤdtchen verbarg mich unter ſeinem Dache unter Saͤ—
cken und Geraͤthe. Die Franzoſen ruͤckten nach, und
vermutheten, daß ich dort ſei; man drohte, wer mich
verborgen hielte, ſolle erſchoſſen und ſein Haus der Erde
gleich gemacht werden. Da kam der alte weißhaarige
Baͤcker weinend zu mir gelaufen. Er hatte allen Muth
verloren. Was war zu thun? So ging ich denn als
freiwilliger Gefangener in die untere Stube hinab, wo
ich meinen Freund ſchon traf. Ich weiß nicht, was
geſchehen kann. Man ſagt, ſie werden uns erſchießen.
Er endigte ſeinen Bericht nicht ohne Thraͤnen, vor—
zuͤglich da er die jungen Maͤdchen ſo heftig weinen ſah.
Der Muſikus, uͤber den Saal ſchleichend, ſagte jetzt zu
Liancourt, laut genug: das iſt die Soldaten-Ehre die—
ſer Deutſchen! Ihr heiliges Wort zu brechen, um
Meuter zu werden.
Schweigen Sie, mein Herr! ſagte Liancourt heftig,
wenn ich nicht vergeſſen ſoll, was ich dieſem Hauſe
ſchuldig bin. Achten Sie das Ungluͤck dieſer Armen,
368
wenn Sie kein Mitleid fühlen. Die Form haben fie
verletzt, und ſich gegen uns ſchwer vergangen; aber, bei
Gott, wenn die Mehrzahl des Heeres und der Anfuͤh—
rer dieſes Gefuͤhls geweſen waͤren, ſo ſtuͤnde es wohl
um Deutſchland und Frankreich anders.
Man ſetzte ſich endlich zu Tiſche. Der hinzugekom—
mene Officier wollte ſeine Gefangenen ermuntern, und
ſagte: froh, meine Herren; es wird ſo ſchlimm nicht
werden.
Das Schlimmſte, rief der aͤltere Gefangene, kann
mich nicht uͤberraſchen, und ſollte ich freigeſprochen
werden, ſo erklaͤre ich meinen Richtern, daß ich das
wieder thue, weshalb ich jetzt vor ſie gefuͤhrt werde.
Der Officier erzaͤhlte hierauf noch vom geſtrigen
Gefecht. Wunderbar, fuͤgte er hinzu, daß ein fremder
Herr und eine Dame auch darein verwickelt wurden.
Sie waren auf der Landſtraße, und da wir ploͤtzlich aus
einem Hinterhalte hervorbrachen, und jene Mannſchaft
uns entgegen eilte, waren ſie abgeſchnitten, und muß—
ten, da wir ſie in die Mitte nahmen, die Kugeln um
ſich pfeifen hoͤren. Der junge Mann iſt auch am Arm
verwundet. Er iſt auf einem elenden Wagen bis hie—
her gefahren, und hofft hier im Orte eine beſſere Ge—
legenheit zu finden. Er iſt mit ſeiner ſchoͤnen Frau in
der Schenke abgeſtiegen.
Da der Graf dies hoͤrte, ſchickte er ſogleich ſeinen
Jaͤger hin, um ihn einzuladen; ein Mann von Erzie⸗
hung, mit ſeiner Gattin, und obenein verwundet, mahnte
ihn zu dringend, ihn als Gaſt aufzunehmen, ſo uͤber—
voll ſein Haus auch am heutigen Tage ſchon war.
Nicht lange, ſo erſchien ein junger wohlgebildeter Mann
mit einer ſchoͤnen Frau am Arm, der ſich entſchuldigte,
369
daß er den Wirthen noch überläftig ſei. Kronenberg,
der ſeitwaͤrts in einem Seſſel ſaß, haͤtte verſinken moͤgen,
denn die Dame war Niemand anders, als jene verlaſ—
ſene Caͤcilie, gegen die er ſich ſo viel vorzuwerfen hatte,
und in ihrem Begleiter erkannte er jenen jungen Mann,
der ihn fo ploͤtzlich aus der Familie zu Neuhaus vers
trieben hatte. Sie bemerkten ihn beide nicht ſogleich.
Da Sie mir, fuhr der junge Mann fort, auf meinen
langen Brief, den ich ſchon vor ſechs Wochen abſendete,
nicht geantwortet haben, ſo ſchloß ich daraus auf Ihren
Zorn, und wollte Ihnen auch jetzt nicht beſchwerlich
fallen; nun laden Sie uns aber doch ſo freundlich ein,
und ich muß Sie fuͤr verſoͤhnt halten.
Wie? ſagte der Graf: verſoͤhnt? Einen Brief?
Kennen wir uns denn? | Ka.
Lieber Himmel! rief jener aus! Sie haben wohl
durch die Unruhe der Zeiten meine Entſchuldigung, viel:
leicht Rechtfertigung, gar nicht erhalten? Ich ſollte
Sie ja ſchon im Sommer beſuchen, lieber Onkle; ich
heiße Feldheim, und das iſt meine Gattin, Gräfin
Burchheim. Alles, alles enthielt mein Brief.
Ich traͤume wohl, rief der alte Graf: mein Vetter
Feldheim? Sie? Und jener junge Mann dort? Der
iſt ja mein Neffe!
Kronenberg erhob ſich. So iſt denn der Augen⸗
blick gekommen, ſagte er, wo alles zuſammenbricht;
und mag es doch! verdiene ich ja die kleinſte Achtung
nicht mehr. Die Kugel, die mein elendes Herz zerreißt,
ſoll mir willkommen ſein. |
Alle waren erſtaunt. Caͤcilie erzählte ihnen mit
einiger Ueberwindung, wer der Fremde ſei, und auch
der wahre Feldheim erkannte ihn jetzt wieder. Alſo
XIV. Band. 24
370
Spitzbuben und Betrüger, rief der alte Baron aus,
wollen ſich in meine Familie ſchleichen? Darum wußte
der Herr alſo nichts von den krummen Beinen mei—
nes aͤlteſten Bruders? Darum das Zeichen in der
Waͤſche? O, es bleibt dabei, ich bin der einzige Kluge
im Hauſe, und meine uͤberweiſe Frau Schweſter wird
kuͤnftig mehr auf mich hoͤren.
Ohne noch ein Wort zu erwiedern, ging Kronen:
berg aus dem Saal. Der Vater folgte ihm auf ſein
Zimmer, und ſprach lange mit ihm. Dann ging er
zur Tochter, die noch wachte. Allen verging die Nacht
in Sorge und Kummer. |
ETF
Ohne Jemand von der Familie des Grafen zu ſehen,
beſtieg Kronenberg am folgenden Morgen den Wa—
gen, Liancourt ſetzte ſich zu ihm; den Ruͤckſitz nahmen
die beiden arretirten Officiere ein, und zu Pferde beglei-
teten die offene Chaiſe zwoͤlf Dragoner mit ihrem An—
fuͤhrer. Kronenberg hoͤrte kaum auf den freundlichen
Zuſpruch Liancurts. Als der Wagen ſich wandte, ent
deckte er am Fenſter eine weiße Geſtalt, in welcher er
Caͤcilien zu erkennen glaubte. Sein Leben war wie in
einen Traum, wie in ein ſeltſames Maͤhrchen zuſam⸗
mengeronnen. Lieber junger Mann, fing Liancourt
wieder an, wie konnten Sie die Unbeſonnenheit ſo weit
treiben, einem feindlichen Officier Ihre gefaͤhrlichſten
Geheimniſſe zu vertrauen? Man will jetzt behaupten,
es ſei alles nicht ſo, was Sie von ſich ſelber ausgeſagt
haben; jugendliche Eitelkeit habe Sie nur verleitet, um
fuͤr etwas Wichtiges zu gelten. Dies iſt zu unwahr⸗
ſcheinlich, als daß es einer von uns glauben koͤnnte.
371
Sollte es aber dennoch fein, fo muß ſich eine unbe
greifliche Seelenkrankheit Ihrer bemeiſtert haben, von
der mir noch kein aͤhnliches Beiſpiel vorgekommen iſt.
Aber kein Kriegsgericht wird darauf achten, da Ihr
eignes Wort und das Zeugniß Dupleſis's gegen Sie
ſtreitet. Wie kann man überhaupt eine Negation bes
weiſen?
Kronenberg ſtimmte dem ernſten Mann, in dem ſich
Alle bisher geirrt hatten, vollkommen bei; er ſagte
nichts zu feiner Vertheidigung, ſondern gab ſich in dum⸗
pfer Betaͤubung vollkommen verloren. Es wandelte ihn
von Zeit zu Zeit an, als wenn er uͤber ſich lachen
muͤßte, daß um ein Poſſenſpiel, das ihm jetzt aberwitzig
erſchien, er ſein Leben dem Schein eines Verbrechens
hingeben muͤſſe. Er konnte ſein Gefuͤhl nicht bemei—
ſtern, mit welchem er jene andern beiden Schlachtopfer
beneidete, die fuͤr eine That, fuͤr Muth und Verzweif⸗
lung durch feindliche Kugeln ihr Blut verſpritzen ſollten.
Man kam in der Stadt an; tauſend Neugierige
muſterten die Gefangenen. Kronenberg erhielt ein
Stuͤhchen für ſich allein.
Schon am folgenden Morgen ſah er ſeine beiden
Ungluͤcksgefaͤhrten mit verſchlungenen Armen ſeinem
kleinen Fenſter voruͤbergehen. Es ſchien ihr Gang vor
das Kriegsgericht zu ſein. Mit jeder Minute, ſagte er
zu ſich ſelbſt, ruͤckt nun der Augenblick naͤher, der auch
mein Daſein loͤſen, und mich einer fremden, ungekann—
ten und ungeahndeten Exiſtenz uͤbergeben wird. Darfſt
du es dir geſtehen, daß dies Wahrheit, Wirklichkeit,
und kein leeres Nebelgebilde iſt? Nein, dieſer Leichtſinn,
24 *
372
der uns Schmerz und Leid durch fein ſchwindelerregen⸗
des Gaukeln verdeckt, der unſere Seele immer und im:
mer von ſich ſelber abzieht, iſt mir völlig entſchwun—
den. Dieſe Betaͤubung iſt entflohn, und ich bin mit
meinem Elende allein. Und daß ich mich verachten
muß! das ich mich verſpotten moͤchte! — Das
Schickſal goͤnnte mir Freunde; es verzieh mir meis
nen Mangel an Edelmuth, es ließ mich von jenem
Sturz wieder zum Leben erwachen; die trefflichſten
Menſchen nahmen mich als Sohn auf; ein himmliſches
Weſen erniedrigte ſich ſo tief, mich zu lieben. Der
ganze Himmel kam mir entgegen; aber mich geluͤſtete
mehr, mit dem Narrenhut zu klingeln, und den Kol—
ben ſo zu tragen, daß er andern Thoren in die Augen
fiel. Hatte ich doch alle Mahnungen des beſſern Geis
ſtes von mir gewieſen! und darum iſt es recht, daß die
letzte, auf welche ich nun endlich merke, zu ſpaͤt kommt.
Er hoͤrte Schuͤſſe. Die Armen! ſeufzte er, und
betete unwillkuͤhrlich. Gleich darauf trat der alte Aufs
ſeher herein. Sie haben es uͤberſtanden, die guten Jun⸗
gen, ſagte dieſer: es war ein erbaͤrmlicher Anblick. Als
ſie vom Kriegsgericht zuruͤck kamen, gingen ſie in die
Kirche, und empfingen mit Andacht das heilige Abend⸗
mahl. Das junge Blut mit den gelben Haaren weinte
immerfort, und beklagte ſeine alte Mutter und ſeine
eigne Jugend. Der andere drohte, und ſagte, es muͤßte
bald die Zeit kommen, wo ſeine Kameraden ihren Tod
rächen würden. Lieber Himmel, das ſagt ſich bald und
thut ſich ſchwer; doch hat es ihm einen Troſt gegeben.
Der juͤngſte war gleich todt; der braune lebte noch, und
winkte, wie er zuſammengeſtuͤrzt war, mit der Hand,
daß ſie ſchnell noch einmal ſchießen ſollten; denn ſprechen
378,
konnte er wohl nicht mehr. Als es wieder 2
war, lag er auch ganz ruhig.
Der Alte wuͤrde noch laͤnger geſchwatzt haben, wenn
nicht eine Ordonnanz eingetreten waͤre, um Kronenberg
abzurufen. Dieſer erhob ſich gleichguͤltig, in der Ueber—
zeugung, daß man ihn vor ein Kriegsgericht fuͤhren
wuͤrde. War er doch beinahe froh, das Poſſenſpiel des
Lebens abſchuͤtteln zu koͤnnen. Er folgte ſeinem Fuͤhrer
in ein großes Haus, flieg die Treppe hinan, und bes
fand ſich jetzt im Vorſaal, der von Uniformen wim⸗
melte. Man ließ ihn ſtehn. Officiere aller Waffen⸗
gattungen gingen in das innere Gemach, und kehrten
zuruͤck; andere verließen das Haus; Nachrichten und
Briefe kamen. Ein hagerer Mann, in reich geſtickter
Uniform, naͤherte ſich dem betaͤubten Kronenberg, und
betrachtete ihn mit pruͤfendem Auge; dann ſprach er mit
einigen Naheſtehenden, offenbar uͤber die Perſon und
das Vergehen des Arreſtanten. Nach einiger Zeit ging
er zum zweitenmal in das Zimmer, und verweilte dort
lange. Indeſſen verminderte ſich der Haufe der War⸗
tenden, und nun ward Kronenberg hineingerufen. Er
erſtaunte nicht wenig, als er im großen Saale Nie⸗
mand als den Marſchall ſah, den er vor einiger Zeit
hatte kennen lernen. Dieſer betrachtete ihn lange Zeit,
und ſagte dann: junger Mann, Sie geben ein trauri⸗
ges Beiſpiel, wie Jugendfehler, die von vielen Men:
ſchen oft als gleichguͤltig betrachtet werden, bis in die
tödtlichfte Gefahr locken koͤnnen. Sie haben Freunde —
ich will hoffen, nicht] ganz unverdient — die das Aeußerſte
für Sie thun. In der Nacht iſt ein Herr von Emme—
rich heruͤder geeilt, um mich fruͤh zu ſprechen und vor⸗
zubereiten; kann ein Freund, die Beredſamkeit eines
374
Bruders die Unſchuld eines Angeklagten darthun, fo hat
er Alles gethan. Der edle Graf, ein verehrungswuͤrdi⸗
ger Charakter, iſt gleich nach ihm eingetroffen, und hat
wie ein Vater für Sie geredet; mit Thraͤnen der Ruͤh—
rung hat er Sie in Schutz genommen. Seine Tochter,
die Ihnen beſtimmt war, indem man Sie fuͤr einen
Andern hielt, gehoͤrt ſeit Ihrem Ungluͤcke kaum dem
Leben mehr an; die Mutter auch iſt untroͤſtlich. Ueber⸗
legen Sie alles dies, und ziehen Sie die Summe, ob
Sie, der ſo lange es uͤber ſich gewinnen konnte, unter
einem fremden Namen dieſe edle Familie zu hintergehen,
nur den zehnten Theil dieſer uͤberſchwenglichen und bei⸗
ſpielloſen Liebe verdient haben.
Ihro Excellenz, ſagte Kronenberg kalt, koͤnnen es
mir nicht eindringlicher ſagen, als ich es ſelbſt ſchon ge⸗
than habe, daß ich ein Nichtswuͤrdiger geweſen bin.
Was haben Sie verdient?
Den Tod, hundertmal; denn wer das Leben und
die Wahrheit durch Luͤgen ſchaͤndet, verdient nicht .
Liebe und das Licht des Himmels.
Und doch wollen Ihre Freunde behaupten, und
wollen es aus Ihrem Munde gehoͤrt haben, daß jene
Intriguen, derentwegen Sie angeklagt ſtehen, nicht
exiſtiren, daß Sie von jenem Buche keine Zeile an.
ben haben.
So iſt es; aber was ich wirklich gethan, welch' Herz
ich zerriſſen, welcher jaͤmmerlichen Eitelkeit ich mein und
fremdes Gluͤck zum Opfer gebracht habe, iſt mehr, iſt
ſchwerer Verbrechen, als jenes, weshalb man mir hier
den Stab brechen wuͤrde.
Der Marſchall oͤffnete einen W Kennen Sie
dieſe Brieftaſche? |
375
Kronenberg nahm fie in die Hand. Es iſt die mei⸗
nige, ſagte er verwundert, eine ſeit lange vermißte; ich
bin erſtaunt, daß ſie mir ſo unvermuthet, und unter
dieſen Umſtaͤnden vor das Auge kommt.
Indem trat hinter der niedergelaſſenen Gardine eines
tiefen Fenſters jener blaſſe Mann in der reichen Civil⸗
Uniform hervor, der den Juͤngling ſchon draußen mit
Aufmerkſamkeit betrachtet hatte. Kennen Sie mich nicht
mehr? redete er den Verwirrten an.
Durch die Stimme kam ihm die Erinnerung wieder.
Es war jener Fremde, den er am erſten Tage ſeiner
Reiſe im Gaſthofe auf ſo ſeltſame Weiſe hatte kennen
lernen. 4
Als ein großmuͤthiger, junger Mann, fagte der
Fremde, nahmen Sie ſich meiner damals an, beſchuͤtz⸗
ten und verſorgten mich. Ich war in einer uͤblen Lage;
ein Kluͤgerer hatte mir meine Paͤſſe entwendet, in der
einſamen Gegend war mein Geld ausgegangen, und
das Schlimmſte war, man war mir und meiner Ver⸗
kleidung auf der Spur. Es war nahe daran, daß ich
entdeckt und feſtgenommen wurde. Dann war meine
Reife, meine mehr als jahrelange Bemuͤhung umſonſt.
Sie halfen aus der Noth, und es war nicht recht dank⸗
bar von mir, bekenne ich ſelbſt, daß ich mir Ihren
Paß aneignete. Sie retteten mich damals, und ich
kann Sie jetzt retten; denn ich bin mehr, wie Alle,
von Ihrer Unſchuld uͤberzeugt. |
Wie das? fragte der Marſchall.
Ich fand, fuhr der Fremde fort, außer dem Paß
noch einige Briefſchaften in dieſem Portefeuille, und
Sie erlauben mir, junger Freund, (es iſt einmal nicht
zu aͤndern) dem Herrn Marſchall folgendes Blatt zu
376
uͤberſetzen; es iſt von Ihrem Oncle; und wenn es nicht
ganz artig iſt, ſo hebt es doch die Anklage voͤllig auf.
Er las in franzoͤſiſcher Sprache:
Ungerathener Neffe!
Deine Schulden werde ich nicht bezahlen; Deines
Gutes, welches Du in Grund und Boden verdorben
Haft, werde ich mich nicht annehmen; es heißt das
Geld ins Waſſer ſchmeißen, wenn Du mit Deinen neus
modiſchen Theorieen der Wirthſchafter bleibſt. Die ans
dern Teufeleien, die Du treibſt, ſind aber noch aͤrger.
Willſt Du denn zwei Maͤdchen heirathen? Der Narr
wird ſich aber zwiſchen zwei Stuͤhle niederſetzen, und
keine bekommen, und damit geſchieht ihm ſchon Recht.
Es waͤre Dir zu goͤnnen, wenn Dir die Soͤhne oder
die Vaͤter noch obenein einen Denkzettel gaͤben. Aber
vielleicht nimmt ſich noch jemand anders die Muͤhe, Dir
nach dem Halſe zu greifen, der Dich verdammt jucken
muß. Das Buch, Haſenfuß, das ich Dir neulich von
der Reiſe mitbrachte, und das Du mir zur patriotiſchen
Ergoͤtzlichkeit vorleſen mußteſt, das Werk, Du Alberner,
in dem Dir unſer Paſtor noch Einiges erklaͤren mußte,
das willſt Du nun geſchrieben haben? So hat mir
mein Bedienter und auch der Schulmeiſter erzaͤhlt,
denen Du es weis gemacht haſt. Die Dummheit kann
Dich ja ins Gefaͤngniß bringen. Vollends muß ich ja
hoͤren, daß Du den rothhaarigen Peruͤckenmacher haſt
anwerben wollen; Du ſollteſt fuͤr Engliſchen Sold ein
Regiment gegen die Franzoſen errichten. Der alte ein⸗
fältige Herr von Matthias war auch ganz voll davon.
Dem hatteſt Du noch vorgelogen, Du ſeiſt der Chef
eines geheimen Ordens, von dem ſich die Wirkungen
377
bald zeigen würden. Ich bitte Dich, Taugenichts,
um Deines Leibes und Deines Seelen Heil, zieh
doch endlich den Hanswurſt aus Deinem verkehr—
ten Gemuͤthe, und laſſe das verfluchte Luͤgen, wozu
Du von fruͤher Jugend inclinirteſt. Es iſt wahr, ich
bin Dein Oncle, Dein naͤchſter Verwandter, und
von Rechtswegen ſollteſt Du wohl dereinſt von mir
mein bischen Armuth erben; aber, der Teufel ſoll mich
holen, wenn ich es nicht lieber alten Spitalweibern ver:
mache, falls Du nicht in Dich ſchlaͤgſt, und ein ganz
anderer Kerl aus Dir wird. Uebrigens bleibe ich,
NB. wenn Du mich kuͤnftig mit Quaͤlereien um Geld
verſchonſt, Dein wohlaffectionirter Oncle
Richard.
Der Marſchall hatte dieſes vaͤterliche Sendſchreiben
nicht ohne einiges Laͤcheln anhoͤren koͤnnen. Sie ſehen
alſo hieraus, fuhr der Fremde fort, daß unſer Freund
voͤllig, was ſeine hieſige Anklage betrifft, gerechtfertiget
ſteht. Sie koͤnnen ihn frei geben, ihn, der ſchon genug
fuͤr die arme, mißverſtandene Eitelkeit gelitten hat.
Sollte ſich aber noch das kleinſte Bedenken finden, ſo
nehme ich alle Verantwortung auf mich. Ich reiſe noch
heute ab; in weniger Zeit ſpreche ich den Kaiſer; ich
werde ihm ſelbſt die ganze Sache erzaͤhlen, und ich
weiß voraus, daß es ihn zum Lachen bringen wird,
auf welche Weiſe die Deutſchen zuweilen Spas treiben.
Heißt es nicht, muthwillig auf gluͤhendem Stahl ein
Ballet mit bloßen Sohlen tanzen wollen?
Sie find frei, mein Herr, fagte der Marfchall.
Ich denke, der Vorfall wird Ihnen zur Schule gedient
haben.
Kronenberg nahm ſeine Brieftaſche, dankte beiden
XIV. Band. | 25
378
Herren, und wußte nicht, wie er aus dem Zimmer und
Vorſaal wieder auf die Straße gekommen war. Er
ſah um ſich, und in den blauen Himmel hinein; er
fuͤhlte wieder, daß das Leben ein Gut ſei, das ſich nicht
ſo leicht, wie ein abgetragenes Kleid, wegwerfen laſſe.
Ein Diener redete ihn an, und fuͤhrte ihn nach einem
Hauſe, wo er den Grafen traf. Vaͤterlich nahm ihn
dieſer auf, und nach Gluͤckwuͤnſchen uͤber die Errettung
aus der augenſcheinlichen Lebensgefahr, auf welche Kro—
nenbergs Beſchaͤmung nur wenig erwiederte, ſagte er
endlich: es iſt manchen Menſchen ohne Zweifel ein
gewiſſer Zauber beigeſellt, ein Talisman, der ihnen
allenthalben Liebe und Freundſchaft erwirbt, und ſie
gluͤcklich macht, wenn fie dieſe entgegenkommende Syms
pathie beachten. So iſt es mir, und uns Allen, mit
Ihnen ergangen. Erwarten Sie von mir kein Wort
mehr uͤber dieſe Jugendſchwaͤchen, die Ihnen dieſe
ſchwere Lehre zugezogen haben, welche Sie ganz gewiß
zu Herzen nehmen werden, oder Sie muͤßten mehr als
leichtſinnig ſein. Unſer ganzes Haus haͤngt mit Liebe
an Ihnen; ich habe um Sie, wie um einen leiblichen
Sohn getrauert. Die Thraͤnen, die meine gute Frau
um Ihr Schickſal vergoſſen hat, das Wohlwollen, mit
dem ſie Ihnen verzieh, alles das mag ich Ihnen jetzt
nicht als Beweiſe unſrer Freundſchaft auffuͤhren. Alles,
was Sie mir ſelbſt neulich uͤber ſich und Ihre Lage
geſagt, habe ich reiflich erwogen; aber mehr, als Sie
je thun koͤnnten, hat unſer Emmerich gethan. Dieſer
Mann iſt Ihnen mit der reinſten, faſt beiſpielloſen
Freundſchaft ergeben. Ja, mein junger, theurer Freund,
es wohnt ein edler Geiſt, eine aͤchte Geſinnung in Ihrer
Bruſt, die ſich nun entwickeln wird; wir Alle, ſo viel
379
gute Menſchen koͤnnen nicht gänzlih im Irrthum fein.
Ich kenne Ihre Familie; Ihr Oheim Richard ift mein
Univerſitaͤtsfreund; wir wollen uns mit dieſem vereini—
gen, und Sie und wir Alle werden gluͤcklich ſein. Ich
habe bisher von meiner Tochter, von Caͤcilien, geſchwie⸗
gen. Der Glaube, daß ſie den in Ihnen kennen lernte,
der ihr gewiſſermaßen beſtimmt war, hat Sie ganz und
auf ewig zur Ihrigen gemacht. Sie hat mir ihr ganzes
Herz enthuͤllt; und innig geruͤhrt muß ich dieſem Bunde,
der ſich wie durch ein Wunder geknuͤpft hat, meinen
Segen geben.
Großmuͤthigſter der Menſchen, rief Kronenberg be—
wegt aus, Vater! Sie berauben mich aller Worte und
jedes Danks. Auch kann kein Menſch, ſelbſt der beſte
nicht, ſo viele Liebe verdienen, viel weniger ich. Mein
ganzes Daſein, jeder Pulsſchlag wird Dank und Freude
ſein. Glauben Sie mir, ich bin erwacht, und unter ſo
edlen Menſchen werde ich gut und edel fuͤhlen. Jeder
Athemzug ſei Wahrheit.
Er war ſo erſchuͤttert, daß er verſtummen mußte.
Er entfernte ſich auf einige Zeit, um durch die Stadt
und vor den Thoren herum zu irren, und feinen Ges
fuͤhlen Luft zu machen. Caͤcilie! rief er aus, Dir bin
ich wieder gegeben, Du biſt mir geſchenkt. Welche
Unendlichkeit von Gluͤck und Liebe in dem Einen Wort!
O, Caͤcilie! Aber ich fuͤhle es, ich weiß es: kein Herz
haͤtte Dich ſo lieben koͤnnen, wie das meinige, und nur
Deine himmliſche Liebe konnte das, was in mir gut
und rein war, erkennen.
Er fuhr aus ſeiner Traͤumerei auf, als ihm eine
alte Hand die Schulter beruͤhrte. Er ſah ſich um, und
fuhr vor des wohlbekannten Chriſtophs Geſichte zuruͤck.
380
Du hier? rief er aus; um's Himmelswillen! wie
kommſt Du hieher?
Mit meinem Herrn, erwiederte der Alte. Ach! es
ſind noch mehr Leute hier, die Sie kennen. Wir ha—
ben Sie ſchon ſeit lange geſucht.
Indem begegnete ihnen jener unbekannte Franzoſe
in ſeiner reichen Uniform. Er ſtand ſtill, gruͤßte Kro—
nenberg, und redete dann den Diener an: Nun, wie
geht's, mein guter Chriſtoph? Seid Ihr auch wieder
da? Chriſtoph war verbluͤfft, verneigte ſich tief, ſah ihn
wieder an, und rief dann aus: Ei, du aller Welt
blaues Wunder! Iſt es moͤglich, daß Sie der curioſe
Mann von damals ſind? Nun ſo habe ich doch ſchon
immer geſagt, daß der juͤngſte Tag vor der Thuͤr ſein
muß! N
Jetzt naͤherte ſich Karl von Wildhauſen, und ver—
wunderte ſich ſehr, ſeinen Diener in dieſem Geſpraͤch
zu finden. Der Fremde verweilte nicht laͤnger, nachdem
er Kronenberg noch einige freundliche Worte geſagt hatte.
Die beiden Freunde umarmten ſich herzlich; alles Sonder—
bare, rief Karl aus, alles Seltſame wird gewoͤhnlich.
Geſtern komme ich in Geſchaͤften hier an, heute mor—
gen vernehme ich Dein Ungluͤck; ich halte Dich fuͤr ver—
loren, jetzt finde ich Dich frei; unſer Chriſtoph macht
die vornehmſten Bekanntſchaften; Dein Oncle Richard
brennt, Dich in ſeine Arme zu ſchließen.
Er iſt auch hier? rief Kronenberg aus.
Mit mir hieher gekommen, antwortete der Freund;
ich habe ihn dahin vermocht, ſich Deiner anzunehmen;
Deine Glaͤubiger ſind befriedigt. Aber nun war uns
Deine Spur ganz verloren. Wir machten dann eine
Geſchaͤftsreiſe; er kommt mit mir in die hieſige Gegend,
381
und dringt darauf, einen Abſtecher nach dem Gute eines
alten Schulfreundes, des Grafen Wertheim zu machen;
darum ſind wir hier, und wollten nun nach dem Land—
ſitze hinuͤber fahren. Da erfuhren wir heut fruͤh durch
das Geruͤcht Deine Arreſtation und Gefahr, und zugleich
die ſonderbarſten Dinge von Deinem Leben. Bei dieſen
Nachrichten kam der alte Mann außer ſich; nun zeigte
ſich erſt, wie ſehr er Dich immer geliebt hatte, da er
Dich verloren geben ſollte.
Indem ſie ſich dem Thore naͤherten, lief ihnen ſchon
der alte Mann entgegen, ſtuͤrzte weinend in Kronen—
bergs Arme, und rief: So habe ich Dich denn wieder,
Du mein einziger Freund, mein Neffe, mein Sohn?
Du biſt mir wieder gegeben? Du biſt frei? Wem haͤtte
ich das doch nachlaſſen ſollen, was mein iſt, wenn Du
verloren warſt? Aber jetzt, mein Freund, wollen wir
Alle vernuͤnftig werden, und ich will den Reigen an—
fuͤhren; denn erſt habe ich Dich in der Jugend verzogen,
nachher bin ich zu ſtrenge gegen Dich geweſen.
Sie gingen in Geſellſchaft zum alten Grafen, und
die Freude der Wiedererkennung war allgemein. Fah⸗
ren wir wieder auf das Gut hinaus, ſagte der Vater;
man wird uns dort mit der groͤßten Angſt erwarten.
So muß ich nur meine Frau abholen, ſagte Karl.
Deine Frau? fragte Kronenberg. Die Du recht gut
kennſt, antwortete jener; das Fraͤulein aus Neuhaus.
Ich bin gluͤcklich mit ihr; der junge Wehlen iſt Lieute—
nant geworden, und im Felde; die Tochter iſt als Frau
recht vernuͤnftig, und noch ſo liebenswuͤrdig als ſonſt.
Und meine Mutter, mein Theuerſter, hat jetzt ganz zu
Deiner Fahne geſchworen; es iſt deutſch-patriotiſch; es
iſt unglaublich, was Einquartirungen vermoͤgen.
382
Alle fuhren hinaus. Käcilie und die Mutter waren
entzuͤckt, daß die Gefahr ſo gluͤcklich ihrem Hauſe vor—
uͤbergegangen war; der Vetter Feldheim hatte ſich mit
feiner jungen Frau ſchon wieder entfernt.
Als die Verbindung Caͤciliens und Kronenbergs zur
Zufriedenheit aller Uebrigen beſchloſſen war, ſagte der
Muſikus zu Liancourt: ſei ein Menſch nur recht arm—
ſelig und dumm, fange er nur recht einfaͤltige Streiche
an, ſo wird ſich das Gluͤck eines ſolchen gerade annehmen.
Man vermißte ihn nicht, als er den Cirkel dieſer
Freunde von jetzt vermied. Emmerich verſchmerzte auf
edle Weiſe das Opfer, das ſein Herz hatte bringen
muͤſſen, und Kronenberg ging ſeitdem in ſeinem Eigen—
ſinne ſo weit, daß er es auch nicht einmal dulden konnte,
wenn im Scherz die Unwahrheit geſagt wurde.
bp
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Title 85
de Schritten
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