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Schriften 


Guͤerthe-Geſellſchaft 


Im Auftrage des Vorſtandes 


herausgegeben 


von 


Wolfgang von Oettingen 


30. Band 


Weimar 
Verlag der Goethe-Geſellſchaft 
1915 


Weimar und Deutſchland 


1815 * 1915 


Im Auftrage der Goethe-Geſellſchaft 


verfaßt 


von 


Uudoalf Wuſtmann 


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Weimar 


Verlag der Goethe -Geſellſchaft 
1915 


Das Jahr 1915 ſchließt das erſte Jahrhundert der 
Neugeſtaltung Deutſchlands nach den Freiheitskriegen, die 
für das Herzogtum Sachſen-Weimar-Eiſenach eine Gebiets— 
erweiterung und die Erhebung zum Großherzogtum Sachſen 
zur Folge hatte. Statt eines Jubeljahres wurde 1915 
aber ein ſchweres Kriegsjahr und niemand mochte an 
Feiern denken: wir leben ernſt den ſtrengen Forderungen 
der Zeit. Da ziemt uns denn mehr als je, mit Stolz 
der Geiſteskräfte zu gedenken, die unſer Volk beſeelen und 
es zu ſittlicher Feſtigkeit und edler Reife erzogen haben: 
das Jahrhundert herrlicher Arbeit und beiſpielloſen Auf— 
ſchwunges, das hinter uns liegt, ſoll nicht in Vergeſſenheit 
verſinken, ſondern als anſchauliches Vorbild klar vor uns 
liegen. Einen nicht geringen Anteil an dem Erſchaffen 
von Deutſchlands Größe hatte das Großherzogtum Sachſen, 
dem früher als andern deutſchen Ländern das Los gefallen 
war, den höchſten Zielen der Geſittung und der Bildung 
entſchloſſen und folgerichtig nachzuſtreben. Das will die 
Goethe-Geſellſchaft, deren Sitz Weimar iſt und deren 
Arbeiten die Früchte weimariſchen Bodens ſind, dem Geiſte 
des Ortes voll Dankbarkeit huldigend aufs neue verkündigen, 
aber eingehender und umfaſſender, als es bisher geſchehen 
iſt, es darſtellen. Sie übergibt daher ihren Mitgliedern 
als Jahresgabe 1915 ein Werk aus berufener Feder, das 


VI Zur Einleitung 


geeignet iſt, die Leiſtung des Großherzogtums beſonders 
auf den Gebieten der Künſte und der Wiſſenſchaften 
überſichtlich nachzuweiſen; und ſie wünſcht, daß die er— 
hebenden Erkenntniſſe, die aus dieſem Buche ſich mitteilen 
werden, weit über den Kreis ihrer Mitglieder hinaus in 
das deutſche Volk und in das Ausland dringen mögen 
zur Bekräftigung unſeres Willens, das koſtbare Erbe aus 
Weimar-Jena⸗Eiſenachs Vorzeit verſtehenden Geiſtes zu 
erfaſſen, um es ganz zu beſitzen. 


Der Herausgeber. 


Bei Ausführung der vorliegenden Jahrhundertſchrift 
iſt der Verfaſſer von den Staats- und ſtädtiſchen Behörden 
ſowie den wiſſenſchaftlichen und künſtleriſchen Anſtalten 
und ſonſtigen Organen des Großherzogtums Sachſen 
unterſtützt worden. Die Durcharbeitung der einſchlägigen 
Literatur, auch der muſikaliſchen, wurde ihm von der 
Königlichen öffentlichen Bibliothek in Dresden ermöglicht. 
Für alle Förderung auch an dieſer Stelle geziemend zu 
danken, iſt ihm eine angenehme Pflicht. 


Der Derfaſſer. 


Inhalt 


Bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts 


Das klaſſiſche Erbe. 

Der alte Goethe 

Im neuen Großherzogtum . 
Klaſſizismus und deutſcher Bund 


Im Zeitalter der Reichsgründung 


Schiller, Goethe und die Enkel 
Neue Politik, neue Wiſſenſchaft . 
Muſik, Bühne, Dichtung. 
Bildende Kunſt .. 


Das jüngſte Geſchlecht 


Weimar 

Jena 

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Jahrhundertwirkung 


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Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts 


Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 1 


Das klaſſiſche Erbe 


Als Carl Auguſt, der Herzog von Sachſen⸗Weimar 
und Eiſenach, im Jahre 1815 den Titel eines Groß— 
herzogs annahm, lag ein Menſchenalter fruchtbarſter 
Pflege deutſchen Geiſteslebens hinter ihm. Was in 
Weimar und Jena und den zugehörigen Thüringer 
Landſchaften ſeit den achtziger Jahren des achtzehnten 
Jahrhunderts von einigen großen Menſchen Wahres 
gedacht und Schönes gebildet worden war, das war zu 
einem reichen klaſſiſchen Erbe für alle kommenden Ge— 
ſchlechter angewachſen. 

Wohl hatte ſchon ſeine geniale Mutter, die jung 
verwitwete Herzogin Amalia, in dem verkümmerten 
Lande den Boden neu bereitet. Sie hatte verſtändig 
gewirtſchaftet; ſie hatte perſönlich erquickend regiert 
und Hof gehalten, dem Zeitalter ihres großen Oheims 
Friedrich gemäß, ja daraus hervorragend. Innig um 
die Erziehung ihrer Söhne beſorgt hatte ſie dafür ſchließ— 
lich 1772 Wieland nach Weimar berufen, und indem 
dieſer nun ſein bewegliches literariſches Talent hier 
ſpielen ließ, auch ſeit 1773 eine Zeitſchrift herausgab, 
den Teutſchen Merkur, die viel Vertrauen fand, und 


darin 1774 eines ſeiner gelungenſten Werfe veröffent- 
1* 


4 Anna Amalia und der junge Carl Auguſt 


lichte, den komiſchen Roman Die Abderiten, war noch 
unter ihrer Regentſchaft Weimar ein neuer Brennpunkt 
des deutſchen Schrifttums geworden: bedeutende 
Fremde von Stande ſuchten es auf, Künſtler und Ge— 
lehrte; Bibliothek und Theater waren dem Publikum 
zugänglich. Auch die Univerſität Jena hatte ihrer Frei⸗ 
gebigkeit zu danken. 

Aber mit alledem ſtand das Weimar ihrer Regierung 
außerhalb des feſteren Wollens und größeren Voll— 
bringens der Jahrzehnte um 1800. Iſt doch auch noch 
das erſte Jahrſiebent von Carl Auguſts Regierung 
und von Goethes Weimarer Zeit nur Vorland der 
klaſſiſchen Zeit geweſen. 

Carl Auguſt war ein achtzehnjähriger Jüngling, als 
er 1775 die Regierung antrat, ſich vermählte und Goethe 
nach Weimar zog. Er war inkräftig und eigenwillig, 
hoch begabt, militäriſcher Ausbildung geneigt. Luiſe, 
die junge Herzogin, zarter Natur und feinen Geiſtes, 
brachte ihm 1779 ein Töchterchen. Goethe, um ſechs 
Lebensjahre älter als der Herzog, verband ſich ihm ſo 
wahr und innig, als ob er zu ſeinem Schutzgeiſt berufen 
wäre, und der Herzog hing nicht minder an dem jung— 
berühmten Dichter. Als er ihn in den erſten Wochen 
um einen Superintendenten fragte, nannte Goethe ihm 
Herder, und Carl Auguſt berief dieſen damals Zweiund— 
dreißigjährigen nach Weimar. 

So brachen zunächſt jene morgendlichen Jahre des 
Weimarer Kreiſes an, wo Natur Lebensreich und 


Herder, Wieland, Goethe gegen 1780 5 


Liebling der Geiſter war. Herder hatte ſeine Sammlung 
von Volksliedern mitgebracht, er hatte ſie vortrefflich 
ausgewählt und neu überſetzt, niemand war ſo vertraut 
wie er mit der künſteloſen Art und Innigkeit der Ur— 
bilder; er veröffentlichte ſie 1778 und 1779. Wieland 
verflocht die franzöſiſche Romanze vom Ritter Hüon 
mit dem Elfenzwiſt aus Shakeſpeares Sommernachts— 
traum und breitete ſie in lockeren Stanzen wohlig 
plaudernd aus: ſein Oberon erſchien 1780. Auch Goethe 
war mit vollen Händen nach Weimar gekommen. Aber 
die Urfauſtſzenen befriedigten ihn nicht mehr ganz, wenn 
er ſie jetzt den neuen Freunden vorlas; und Egmont 
war durchaus im Werden wie Goethe ſelbſt an der 
Schwelle Weimars. Genug, daß er zunächſt 1776 den 
Dank für altdeutſche Anregungen in das Gedicht Hans 
Sachſens poetiſche Sendung faßte, da er ſich ſelbſt auf 
ſachſiſche Rechtfertigkeit gewieſen fühlte, wie jener vom 
Genius der Natur an der Hand geführt und ſchalkhaft 
wie er der Geſellſchaft luſtige Zwiſchenſpiele bereitend. 
Wenn ihn die Muſen in helleniſche oder italiſche Gefilde 
lockten, wo er mit Iphigenie und Taſſo zu neuer Klarheit 
zu dringen hoffte, indem er alte und gegenwärtige 
Schmerzen ablöſte, erreichte er das Ideal noch nicht, 
das ihm allmählich beſtimmter vorſchwebte, trotz Um— 
und Umſchreibens der Iphigenie. Zu Aufführungen 
einiger ſeiner Dramen und Spiele kam es zunächſt nur 
im Hofkreiſe, am liebſten unter freiem Himmel, wo 
Tiefurts Wieſe oder Ettersburgs Park die Szene hergab. 


6 Naturliebe der Weimarer Frühzeit 


Bei Saalaufführungen, z. B. im Wittumspalais der 
Herzogin Amalia, war Mieding als „Direktor der Natur“ 
tätig mit Verfertigung von Fels und Baum, Wolke 
und Waſſerfall; deſſen Tod 1782 gab Goethe Anlaß, 
auf dieſes raſtloſe Theatertreiben und ſeine gutmütig⸗ 
unvollkommenen Opfer in herzlichen Verſen zurückzu⸗ 
ſchauen. Unvollkommen in manchem Sinne blieb da- 
mals auch der Roman, der urſprünglich Wilhelm 
Meiſters theatraliſche Sendung genannt wurde: vor 
allem deshalb, weil ſich Goethe um 1783 von der ein— 
ſeitigen Theaterbegeiſterung ſeiner Jugend freigeworden 
fühlte und ſeine höhere, im weiteſten Sinne geſellſchaft⸗ 
liche Sendung begriff. Doch entſtanden an der Ilm 
und auf den Thüringer Höhen ſchöne Lieder als reinſter 
Ertrag der Weimarer Frühzeit. Goethe wohnte damals 
in dem Gartenhauſe vor der Stadt jenſeits der Ilm. 
Das ſchwärmende Hangen an der Natur ſtimmte zu 
der Jugend des Herzogs. Neben Cour und Zeremoniell 
bedurfte dieſer der freien Luft, der Jagd, des Tanzes 
und Schlittſchuhlaufs. Am Weihnachtstiſch der mun⸗ 
teren Herzogin-Mutter war Bänkelſängerſpott will— 
kommen, zur Geburtstagsredoute der jungen Herzogin 
am 30. Januar alljährlich heitere Maskerade mit Verſen; 
an Sommerabenden entzückte eine Waldillumination, 
und die Ilmauen bei Weimar und Tiefurt wurden durch 
geſchlängelte Wege und geſellige Plätze zu Naturparken 
umgebildet. Auch Goethe hatte anfangs bei alledem 
ſein Glück zu finden geglaubt; aber um 1780 verſchob 


Abſchluß von Goethes Jugend 7 


ſich ihm der Begriff des Menſchlichen nach dem andern 
Brennpunkte, ſein Geiſt drängte nach neuem Leben in 
echteſter Erkenntnis von Natur, Kunſt, Geſellſchaft und 
Politik, ſeine ſtaatsmänniſche Tätigkeit erhielt zeitweilig 
das Übergewicht, zum Beſten für ihn, den Herzog und 
das Land entrang er ſich dem Wahn und Traum eines 
bloßen Naturglücks. 

Die ihm ſchon ſo lieb gewordene Gegend öffnete ihm 
nun auch ihren Erdgrund zu bergmänniſchem Betrieb 
und geologiſcher Forſchung, und indem er in den Bau 
ihrer Steine und Pflanzen eindrang, verwuchs ſein 
Leben mit ihr mehr als anfangs bei der erſten entzückten 
Liebe, mit der er darüber hingefahren war. Alles 
Menſchliche der öffentlichen Geſchäfte zog ihn an, und 
er war hinter dieſen Dingen her wie ein Feind. Der 
Herzog ernannte ihn 1776 zum geheimen Legationsrat, 
1779 zum geheimen Rat, 1782 wurde er geadelt und 
übernahm vorübergehend das Kammerpräſidium. Das 
andere hinter ſich zu bringen — denn er fühlte ſeine 
Jugend zu Ende gehen — ordnete er Briefe und Schreib— 
ſal von 1772 bis 1782: dieſe zehn Jahre ſollten jetzt offen 
vor ihm liegen; alles drängte ihn zu Rückblick und Ab— 
ſchluß. 

Deshalb mußte damals auch ein wenigſtens vor— 
läufiges Ende mit Egmont gemacht werden. Goethe 
hatte die Geſtalt Egmonts als tragiſches Lebensbild 
unmittelbar vor dem Übergang nach Weimar erfaßt. 
Der rheiniſche leichte Sinn, wenn er bei Goethe die 


8 Zum 3. September 1783 


Oberhand behalten oder ſich ausſchließlich geltend ge— 
macht hätte, hätte ihn in dem ernft-treuen Thüringen 
in Kampf und Vernichtung führen können. Auf Eg- 
mont ſammelte er alle ſolche Züge, auch liebenswürdige, 
und feite ſich damit gegen die Gefahr eignen Scheiterns. 
Das Doppelgeſichtige des Werkes iſt auch in Goethes 
Hinaufwachſen aus dem Volkstum in die Staatsleitung 
begründet. Sicherer als ein Dämon ſeinen Egmont 
führte ihn der geſunde Geiſt der Welt. 

Man darf ſagen, daß ſich der frühreife Herzog ähnlich 
befeſtigte, hie und da von Goethe geleitet. 1783 wurde 
ihm der Erbprinz geboren. Goethe hatte manchmal 
mit Sorge den Herrn und ſeine nächſten Hoffreunde 
auf weniger klarem Wege geſehen. Als er einſt zu— 
ſammen mit ihnen uächtlicherweile bei Ilmenau im 
Walde raſtete, waren ihm Reime über dieſe ernſte Not 
zu Gemüte gedrungen. Jetzt, nach Jahren, ſah er den 
befreundeten Fürſten in geſicherter Bahn, er durfte 
ihm jene bangen Reime als verſchwundenen Traum 
vorführen und fügte und widmete ihm zum Geburtstag 
1783 das ſchöne Gedicht Ilmenau. Weimars klaſſiſcher 
Lebenswille war gewonnen, das Gleichgewicht von 
Phantaſie und Gegenwart, von Dichtung und Wahrheit. 

Auch der fünfzigjährige Wieland überſchritt damals 
eine klärende Scheide. Einige ſeiner Merkuraufſätze der 
Jahre 1782 und 1783 beſchäftigten ſich mit der Frage: 
Was iſt hochdeutſch? Sie lehnten den ſoeben von andrer 
Seite als Norm geforderten kurſächſiſchen Sprachge- 


Wieland und Herder um 1785 9 


brauch um 1750 ab, ſie gaben aber auch die naiven 
Sprachdreiſtigkeiten des letztverwichenen Jahrzehnts 
preis, ſie erklärten Freiheit für das Recht, Sichbeſcheiden 
für die Pflicht eines Schriftſtellers — in der Über— 
zeugung, daß das hochdeutſche Schrifttum im Aufſtieg 
zu neuer Größe begriffen ſei, — und ſtellten neben dem 
Nützlichkeitsſtandpunkt in Sachen der Sprache den künſt— 
leriſchen feſt. Wielands dichteriſcher Trieb ließ zwar 
nach, aber als Überſetzer fand er erſt jetzt ſein eigenſtes 
Gebiet. 1782 erſchien ſeine Übertragung der Epiſteln, 
1786 die der Satiren von Horaz, und 1788 folgten die 
Geſpräche Lukians. Da dieſer klaſſiſche Römer, dieſer 
ſpäte Grieche ſeiner Natur verwandt waren, gab er hier 
zum erſtenmal nahezu echte Antike ſtatt des erdichteten 
weichen Hellenentums ſeiner vorweimariſchen Romane. 
Und als darauf die franzöſiſche Revolution eintrat, er— 
hielt Deutſchland in Wielands monatlichen Aufſätzen im 
Merkur die klügſten Gedanken über jene Umwälzungen, 
die ein weltbürgerlicher Sinn äußern konnte. 
Wielands Weltbürgertum war das Ergebnis der 
Betriebſamkeit eines empfänglichen Mannes; Herders 
Menſchheitsglaube entſprang angebornem Edelſinn. 
Von den Stimmen der Völker in Liedern trachtete er 
andächtig tiefer nach dem Plane der Menſchheit. So— 
weit es die damaligen Wiſſenſchaften erlaubten, entwarf 
er in drei Bänden ſeine Ideen zur Philoſophie der Ge— 
ſchichte der Menſchheit und veröffentlichte ſie von 1784 
bis 1787: die Erde, ihre organiſierten Weſen, der Menſch 


10 Goethe gegen 1785 


wurden in großen Zügen vorgeführt, dieſer nach ſeinen 
verſchiedenen Formen und doch unverlierbarem Weſen, 
ſeinen mannigfachen klimatiſchen Bedingungen und 
Entwicklungsmöglichkeiten, ſeinen Anfängen unterſucht 
und nach einer eingehenderen Schilderung der oſt- und 
ſüdaſiatiſchen wie der der griechiſch-römiſchen Kulturen 
Humanität als das ewige Ziel aller Menſchenbildung 
aufgeſtellt. Ein Jahrzehnt ſpäter, von 1793 bis 1797, 
ließ Herder noch zehn Sammlungen Briefe zur Be— 
förderung der Humanität folgen und erklärte, nach der 
eigenen Humaniſierung ſtreben heiße nach dem Reiche 
Gottes trachten. 

Goethes Neuordnung begann damit, daß er 1782 
ein vornehmes Haus in der Stadt am Frauenplan 
bezog und den Sohn der Frau von Stein als Zögling 
zu ſich nahm, deren Liebe ihn damals beglückte. Seinen 
Staatspflichten hingegeben, zu naturwiſſenſchaftlicher 
Forſchung gezogen, war er geſchaffen, Menſchentum 
und Weltgeiſt noch viel gründlicher als Herder zu er— 
leben und auch poetiſch neu zu faſſen. Das Gedicht 
Die Geheimniſſe, das er 1784 darüber begann, blieb 
unvollendet; doch die einführenden Strophen ließen 
ſich als „Zueignung“ an die Spitze ſeiner Lyrik ſtellen. 
Denn er entſchloß ſich jetzt zu einer Geſamtausgabe 
ſeiner „Schriften“. Das meiſte davon genügte ihm 
freilich in der vorliegenden Niederſchrift nicht; woher die 
Muße und Freiheit nehmen, woher die ſüdeuropäiſche 
Stimmung, deren er zur Vollendung von manchem, zur 


Iphigenie 11 


Ergänzung ſeiner ſelbſt bedurfte? Seine alte Sehnſucht 
nach Italien ergriff ihn als einziger Rettungsgedanke, 
ſie gab ihm Mignons Lied ein, er ging 1786 dahin! 
Begeiſterung durch die Antike, die Wieland ver— 
mocht hatte eine Alceſte nach Euripides zu dichten, hatte 
Goethe in den erſten Weimarer Jahren auf die Iphigenie 
des Euripides geführt. Ein hartes Werk, voll Griechen— 
ſtolz und Griechenliſt, aber ein Symbol ſiegreicher Kultur— 
miſſion in der Fremde und ſo Goethes Seele damals 
verwandt. Freilich hatte gerade er in ſolchen Kämpfen 
die ſich bewährende Kraft reinen Menſchentums erfahren 
und danach Geſinnung und Handlung des Dramas 
wandeln müſſen. Die euripideiſche Iphigenie betrügt, 
die goethiſche zerreißt den Trug; die euripideiſche wird 
durch eine plötzliche Göttererſcheinung aus der Ver— 
ſtrickung gehoben, die goethiſche nur durch ihre ſich ent— 
faltende Reinheit zur Entwirrung des Knotens befähigt. 
Auf dem Lebensgrunde der hohen ſittlichen Spannung 
und zarten Geſelligkeit der erſten Weimarer Zeit war 
der Entwurf des Werkes gelungen, war manches Teil— 
chen ſofort in vollem Erblühen geſtaltet für immer, aber 
die ganze Form, der größere Rhythmus, der volle Fein— 
gehalt entſtanden in dem erſten Vierteljahr, das Goethe 
in Italien lebte. Im Sommer darauf trat das liebliche 
Werk ans Licht, im dritten Band ſeiner Schriften, das 
erſte große Zeugnis des neuen Weimarer Goethe. 
Goethes früheres Schriftſtellertum war in den beiden 
erſten Bänden der Ausgabe mit Werther und Götz ver— 


12 Egmont, Fauſt, Taſſo 


treten; anderes, kleinere wurde den Hauptwerken 
angereiht, die Lyrik für den Schlußband beſtimmt. 
Kaum etwas entging der erneuernden Durcharbeitung 
des reiferen Mannes und bewußteren Künſtlers, erſchien 
doch auch Werther um eine Epiſode vermehrt, die dem 
Leſer den Rückſchlag in ſeeliſches Gleichgewicht zu er— 
leichtern beſtimmt war. Die Vollendung des Egmont 
wurde durch friſche Händel Kaiſer Joſephs mit den 
Brabantern erleichtert; an ſich konnte Italien für dieſes 
Werk nicht mehr viel bedeuten. Ernſter war die Frage, 
ob die Vollendung des Fauſt hier gelingen werde. 
Goethe verzichtete und veröffentlichte ein Fragment, 
um manches längſt geſchriebene Teil gekürzt, durch 
zwei gewaltige Szenen aus Italien vertieft, in den 
übrigen herrlichen Jugendbruchſtücken mit ſtrenger 
Künſtlerhand leiſe gemeiſtert. 

Von Taſſo hatte Goethe ſchon im Vaterhauſe gehört; 
der Vater liebte den großen unglücklichen Dichter der 
italieniſchen Renaiſſance, und dem Sohn wurde die 
Fabel dieſes Dichterlebens vertraut, ehe er ſie verſtand. 
In Weimar gewann Taſſos Geſtalt für ihn Licht und 
Schatten durch eigene Erlebniſſe. Der Zwieſpalt des 
Dichters und Hofmanns, die ausſichtsloſe Liebe zu 
einer edlen Frau, eine zarte, geiſtvolle Gemeinſchaft 
um das Fürſtenhaus bildeten in Weimar ſein Geſchick 
wie einſt das Taſſos in Ferrara. Zum Teil ähnelten 
die neuen Schmerzen denen, die er vordem raſcher 
und naiver durch den Werther beſchwichtigt hatte, ge— 


Früchte der italieniſchen Reiſen 13 


wiſſermaßen ließ ſich die neue Gefahr mit der Egmonts 
vergleichen; doch erzeugte Weimar um 1780 wieder 
eine beſondere Lage und Not, und dieſe entfaltete 
Goethe tragiſcher, als es die Wirklichkeit getan hatte, 
im Taſſo. Zunächſt in Proſa, als Entwurf; diesmal 
vor allem mußte das Land des alten Dichters den neuen 
umgeben, wenn des Werkes Schönheit reifen ſollte. 
Taſſo wurde das Drama Goethes, das Italien am meiſten 
zu verdanken hat: wie Iphigenie der Morgengruß des 
neuen Deutſchland an Hellas, ſo iſt Taſſo ein deutſcher 
Akkord, der aus den Gärten von Florenz zu uns her— 
überdringt. Die letzten Fügungen an dem Werke ge— 
langen Goethe erſt ein Jahr nach der Rückkehr aus Italien 
im Sommer 1789 in dem Garten des galanten Schloſſes 
Belvedere über Weimar, wo ihm Belriguardo nachklang. 

Noch eine andere Spätfrucht Italiens gewann er 
daheim: in der Begeiſterung für Properz und in der 
Liebe zu der in ſein Haus geführten Chriſtiane Vulpius 
reiften ihm Römiſche Elegien. Und als ihn das Früh— 
jahr 1790 gar wieder in Venedig ſah, zur Erwartung 
und in Geſellſchaft der von Rom zurückkehrenden Her— 
zogin Amalia, entſtanden Venezianiſche Epigramme. 
Dann aber erprobte er den antiken Hexameter an einem 
deutſchen epiſchen Stoffe, an Reineke Fuchs: dieſe 
unheilige Weltbibel lehrte ihn damals wieder einmal, 
überein mit dem ungeheuern Erlebnis der franzöſiſchen 
Revolution, ſich, wenn auch halb verzweifelnd, an die 
unvermeidliche Wirklichkeit hingeben. 


14 Bühnen-, Bau- und Lebensſtil 


Seine Staatsgeſchäfte waren nun im allgemeinen 
gegen früher beſchränkt; doch übernahm er 1791 die 
Leitung des neu begründeten Hoftheaters: indem er 
die Schauſpieler für jedes Drama in gemeinſamen 
Leſeübungen zuſammenarbeitete, legte er den Grund 
zu dem Weimarer Bühnenſtil. In den erſten fünf 
Jahren dieſer neuen, bewußteren Tätigkeit fürs Theater 
fand er auch allmählich den Weg zur Vollendung von 
Wilhelm Meiſters Lehrjahren, wie der vom Theaterleben 
in allgemeinere Bildung mündende Roman ſchließlich 
genannt wurde. Zu gleicher Zeit wurde unter ſeiner 
Hilfe im Weimarer Park ein römiſches Haus für den 
Herzog gebaut; Goethe nannte es „das erſte Gebäude, 
das im Ganzen im reinern Sinne der Architektur auf⸗ 
geführt wird.“ Andern Troſt gewährte ihm wiſſen— 
ſchaftliche Arbeit, namentlich anatomiſche und optiſche 
Unterſuchungen, wobei ſich immer mehr ſeine Anſicht 
befeſtigte, daß in allem organiſchen Leben ein durch— 
gehender Typus walte, ſich verändernd und ſich er— 
hebend, eine Überzeugung von tiefer Bedeutung für 
ſeinen klaſſiſchen Lebenswillen. 

Für Goethes naturwiſſenſchaftliche Arbeiten wurde 
jetzt die lebhafte Univerſität Jena immer wichtiger, auf 
die umgekehrt die Weimarer Regierung den größten 
Einfluß hatte. Und wie die Weimarer Bühne das neue 
Beſte aus Nord- und Süddeutſchland mit reinem 
Streben aufnahm, auch Ifflands Werke ſpielte und 
Mozarts Opern (Don Juan, Zauberflöte) aufführte, 


Reinhold und Schiller in Jena 15 


ſo tat ſich das vorwärts drängende freie Jena als Haupt— 
pflegſtätte der neuen Kantiſchen Philoſophie auf, hinter 
deren geiſtiger Schärfe und ſittlicher Kraft alles Frühere 
zu verſinken ſchien. In den Jahren 1787 bis 1794 wirkte 
in ihrem Geiſte der Jenaer Profeſſor Reinhold, Wielands 
Schwiegerſohn, anziehend und befruchtend, auf dem 
Katheder wie als Schriftſteller. Wurde das Herzogtum 
Sachſen-Weimar jetzt nicht offenbar zu einer Mittelburg 
neuer deutſcher Hochbildung? 

Was Wunder, daß ſich auch der junge Schiller nach 
mancherlei Fahrten hierher gezogen fühlte. Mit ſeinem 
Don Carlos führte er ſich in Weimar ein, dem Werke, 
das, kunſt⸗ und ſittengeſchichtlich Goethes Iphigenie 
vergleichbar, ihn unterwegs zeigt aus dem Bereich 
negativ und aggreſſiv geſtimmter Wirklichkeitsdramen 
zu bejahenden Werken der Schönheit; Goethe brachte 
es 1792 auf die Weimarer Bühne. In Jena, wo Schiller 
1790 Charlotte von Lengefeld heiratete, hatte er 1789 
als Hiſtoriker begonnen; hier tauchte er um 1792, nach 
ſchwerer Erkrankung, auf Jahre in die Philoſophie der 
Kunſt. Mit der geiſtigen Stählung, die er ſich dabei 
holte, verband ſich körperliche Erholung auf einer Reiſe 
in die ſchwäbiſche Heimat, vom Auguſt 1793 bis zum 
Mai 1794, wo ihm der erſte Sohn bei den Großeltern 
geboren wurde und er in dem jungen Cotta einen 
Freund und Verleger gewann. Bald nach ſeiner Rück— 
kehr knüpfte ſich ihm in ſicherem Widerſpruch und voller 
Anerkennung die hohe Freundſchaft mit Goethe. 


16 Horen 


So war die Zeit vorbereitet für das größte Weimarer 
Jahrzehnt. Zwiſchen 1795 und 1805 wirkten Goethe 
und Schiller verbündet, in philoſophiſcher Ausbildung 
und künſtleriſcher Tätigkeit unaufhaltſam fortſchreitend. 
Schiller war die treibendere Kraft, und Goethe erlebte 
einen neuen Frühling, ſeine Erfahrung und Schillers 
Forderung näherten ſich einander. 

Beide waren die bedeutendſten Mitarbeiter an der 
1795 bis 1797 von Schiller herausgegebenen Monats- 
ſchrift Die Horen. Schiller veröffentlichte hier z. B. 
ſeine Briefe über die äſthetiſche Erziehung des Menſchen, 
ſeine Abhandlung über naive und ſentimentaliſche Dich— 
tung und philoſophiſche Gedichte wie den Spaziergang 
und Das Ideal und das Leben. Goethe ſteuerte u. a. 
die römiſchen Elegien bei und die Anfänge ſeiner Über— 
ſetzung von Benvenuto Cellinis Lebensbeſchreibung. 
Manches kleinere ſpendeten Herder und andere Freunde; 
auch jüngere Jenaer Geiſter reihten ſich gern an die 
Koryphäen, die Brüder Humboldt mit Erzählung und 
Abhandlung, Hölderlin mit Gedichten und A. W. 
Schlegel mit den erſten Proben ſeiner klaſſiſchen Über- 
ſetzungen aus Dante und Shakeſpeare. 

Das ungeheure Wachstum ſeines Weſens, das 
Schiller um die Mitte der neunziger Jahre erfuhr, 
lockte auch ſein lyriſches Talent wieder ans Licht und, 
zum Verfügen wie zum Schaffen aufgelegt, gab er auf 
die Jahre 1796 bis 1800 fünf jener Sammlungen heraus, 
wie ſie damals als Muſenalmanache beliebt waren, alles 


Muſenalmanache 17 


überragend, was vor und neben ihm unter dieſem 
Namen erſchien. 1796 las man da von ihm die pro— 
grammatiſchen Gedichte Die Macht des Geſanges, 
Pegaſus im Joche, Die Ideale, Die Würde der Frauen 
und zum Beſchluß Goethes Venezianiſche Epigramme. 
1797 ließ er Goethes Idylle Alexis und Dora den Vor— 
tritt, leitete dann ſelbſt mit dem Mädchen aus der 
Fremde ein, brachte die Klage der Ceres, und dann 
erſchienen die Helden vereint in den Tabulae votivae 
und verbündet in dem großen Spottgeſchenk der 414 
kenien, zu dem ſich Goethe bei Martial hatte anregen 
laſſen und das den literariſchen Standpunkt der beiden 
perſönlich deutlichſt ausſprach. 1798 wurde ein Füllhorn 
von Balladen ausgeſchüttet: Der Zauberlehrling, Der 
Handſchuh, Der Schatzgräber, Die Braut von Corinth, 
Ritter Toggenburg, Der Taucher, Der Gott und die 
Bajadere, Die Kraniche des Ibykus, Der Gang nach 
dem Eiſenhammer und was für köſtliche Dinge die 
Meiſter ſonſt noch dreinzugeben hatten. 1799 fanden die 
glücklichen Leſer die Mühlenballaden Goethes und ſeine 
Elegien Euphroſyne und Amyntas und von Schiller 
den Kampf mit dem Drachen, die Bürgſchaft, das 
eleuſiſche Feſt; 1800 das Lied von der Glocke. Von 
da ab genügte es Schiller, in andern Taſchenbüchern 
zu veröffentlichen, was ihm die Muſen an ähnlichen 
Gedichten und geſelligen Liedern noch fügten, während 
Goethe in einem eigenen, für 1804 zuſammen mit dem 


ſiebzigjährigen Wieland herausgegebenen Taſchenbuch 
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 2 


18 Goethe um 1800 


eine herrliche Nachleſe gab mit Dingen wie dem Stif— 
tungslied, Schäfers Klagelied und Hochzeitlied. Das 
größte, was aus dieſem lyriſchen Treiben entſprang, 
veröffentlichte Goethe als Taſchenbuch auf 1798, das 
idylliſche Epos Hermann und Dorothea, aus einem 
wirklichen Ereignis und Goethes Menſchenideen, aus 
vollem Gegenwartsgefühl und deutſcher Hexameter— 
ſchönheit innig gewoben. 

An der Weimarer Bühne wirkte Goethe beharrlich 
als Intendant und Regiſſeur: belehrend, übend und 
ausführend. Ifflands Gaſtſpiele 1796 und 1798 waren 
fördernde Muſter; 1796 ſtellte er den Egmont dar, als 
dies Schauſpiel, in Schillers Bearbeitung, zum erſten— 
mal auf der Bühne erſchien. Goethe lieferte bedeutende 
Prologe und Vorſpiele; Größeres blieb unvollendet, ſo 
die 1803 aufgeführte Natürliche Tochter, der Anfang 
einer Trilogie politiſchen Inhalts, als Geheimnis auch 
für Schiller entſtanden, während auf deſſen Betreiben 
Fauſt wieder vorgenommen wurde, ſo daß ſich der 
„erſte Teil“ rundete und der zweite mit Helenas Auf— 
treten begonnen wurde, ohne daß etwas davon zu 
Schillers Lebzeiten auf die Bühne gekommen wäre. 
Antike Maskenſpiele wurden verſucht, am glücklichſten 
mit Goethes Palaeophron und Neoterpe, Altrat und 
Neuluſt an der Jahrhundertwende. Noch war Goethe 
als Überſetzer tätig und führte von Voltaire 1800 
Mahomet, 1801 Tancred in gemäßigter deutſcher Form 
auf. 1802 wurde ſeine Iphigenie zum erſtenmal 


Von Wallenſtein bis Tell 19 


in Weimar öffentlich geſpielt, in Schillers Bearbei— 
tung. 

Schiller verwuchs in dem Jahrzehnt ſeiner Reife 
zum zweitenmal mit dem Theater; namentlich darum 
ſiedelte er Ende 1799 von Jena nach Weimar über, 
im Bunde mit Goethe den Spielplan zu beſtimmen 
entſchloſſen. Geſchichte auf Geſchichte durchglühte ſein 
dramaturgiſches Feuer, die Freiheit der Helden läuternd, 
die Notwendigkeit ihres Schickſals erhärtend. Jahrelang 
trug er ſich mit dem gewaltigen Plan des Wallenſtein, 
löſte ihn ab aus der Hiſtorie und verwandelte ihn ins 
Poetiſche, bis die drei Teile im Winter 1798 auf 1799 
allmählich weimariſche Bühnenereigniſſe wurden. Dann 
ergriff er die Geſchicke Maria Stuarts, der Jungfrau 
von Orleans, der Braut von Meſſina, des Tell: Jahr 
für Jahr ſchlugen ſeine großen neuen Werke ein, an 
ſittlicher Eigenkraft aller andern Dichtung überlegen, 
durch ihr Hochgefühl die Gipfel des fühlendſten Jahr⸗ 
hunderts. Dazwiſchen bearbeitete er Leſſing, Shake— 
ſpeare, Gozzi und Racine für die Weimarer Bühne und 
gab ihr jo einen Macbeth und einen Nathan, eine Tu⸗ 
randot und eine Phaedra. 

Das Theater war das Gebiet der Dichtung, woran 
auch der Herzog am regſten teilnahm. Seine kräftige, 
grunddeutſche Natur, ihrer fürſtlichen Aufgabe höchſt 
bewußt, hatte eine Vorliebe für das klaſſiziſtiſche Drama 
der Franzoſen. Er verwies Goethe auf Voltaire; und 


die erſten Aufführungen von Mahomet und Tancred, 
28 


20 Carl Auguſt und die Künitler 


von den Piccolomini und Phaedra waren es, die jetzt 
den Geburtstag der Herzogin ſchmückten, zu dem Goethe 
in jüngeren Jahren poetiſche Schnippchen hatte ſchlagen 
dürfen. Des Herzogs Einfluß auf das Theater betraf 
auch die Wahl der Schauſpieler für gewiſſe Rollen, 
ihre Ausſprache, die Gruppierung einer Szene, das 
Koſtüm. Er durchſchaute Schillers Kühnheit ebenſo 
wie Goethes genießendere Art; dort wiegelte er manch— 
mal ab, hier ſtachelte er gelegentlich etwas an. Er fühlte 
den unendlichen Wert beider. Kein Gruß ſchloß ſo oft 
ſeine Briefe an Goethe zwiſchen 1795 und 1805 wie der 
an „Schillern“, und für Goethe hatte er, wenn auch 
ſeltner als früher, über die Anrede „lieber Alter“ hinaus 
neue Worte inniger Freundſchaft. 

Lange beſchäftigte den Herzog der Neubau des 
Weimarer Schloſſes, und um die Jahrhundertwende 
wurde das Entſcheidende für einen Teil der inneren 
Ausſtattung durch lebende deutſche Künſtler getan. 
Damals waren auch die Weimarer Kunſtausſtellungen 
in Gang gekommen, jährlich im Herbſt zu ſehen, am 
Geburtstag des Herzogs eröffnet, wobei die Löſungen 
von Konkurrenzaufgaben gezeigt wurden. Goethes 
Helfer auf dieſem Gebiete war ſein älteſter römiſcher 
Vertrauter, der Maler und Kunſtfreund Heinrich Meyer, 
der von 1794 bis 1802 in Goethes Hauſe wohnte, für 
dieſes wie für das Schloß Deckengemälde ſchuf und mit 
Goethe faſt ſo Hand in Hand arbeitete wie Schiller im 
Reiche der Dichtung. 1797 lieferte er aus Rom ſeine 


Die Antike in Weimar um 1800 21 


Kopie des berühmteſten antiken Gemäldes im Vatikan, 
der aldobrandiniſchen Hochzeit, die in Goethes Haus 
gelangte. Die bildende Kunſt war der Hauptgegenſtand 
der 1798 bis 1800 von Goethe herausgegebenen Zeit— 
ſchrift Propyläen; vor einem engeren Kreiſe erſcheinend, 
ſprach ſie das Verhältnis der neuen Weimarer Bildung 
zu antiker Plaſtik und gegenwärtiger Zeichenkunſt aus. 
1803 brachte Fernow aus Rom den koſtbaren Nachlaß 
der Carſtensſchen Zeichnungen nach Weimar; der 
Herzog erwarb ſie 1804 und gab ſie der Bibliothek zur 
Verwahrung. So wirkte die Antike und, was in ihrem 
Sinne entſtand, auch für das Auge in dieſem Jahrzehnt 
in Weimar am tiefſten. Es war eine Art Abſchluß dazu, 
daß Goethe dem Begründer unſrer neueren Verehrung 
der Kunſt des Altertums ein Denkmal ſetzte und 1805 
das Werkchen „Winckelmann und ſein Jahrhundert“ 
herausgab, Briefe des Gefeierten und Aufſätze über ihn; 
er widmete es der Herzogin Amalia, der eigentlichen 
Zeitgenoſſin Winckelmanns, einer Begründerin ähn— 
lich jenem. 

Während Schiller Goethes Freundſchaft und des 
Herzogs Anerkennung genoß, ſtanden Wieland und 
Herder etwas abſeits, wenn auch nach wie vor in voller 
Gunſt bei den fürſtlichen Frauen. Es war dem antiki— 
ſcher Schönheit zugewandten Geiſt der Klaſſiker nicht 
gemäß, wie ſich Wieland jetzt mit Überſetzung des 
Satirikers Ariſtophanes und des nüchternen Xenophon 
beſchäftigte. Als ein Mißgriff Herders mußte es ihnen 


22 Herders Ausgang; jenaiſche Naturforſcher 


erſcheinen, daß dieſer unter dem heitern Namen ſeiner 
Sammlung Terpſichore ſchmerzenvolle lateiniſche Je— 
ſuitengedichte aus dem dreißigjährigen Kriege ver— 
deutſchte. Zu verwandt im Gedanken war an der 
Jahrhundertwende ſein Aeon und Aeonis mit Goethes 
Palaeophron und Neoterpe, um Herders poetiſche 
Schwäche nicht bloßzuſtellen. Erſt mit der Überſetzung 
der Romanzen von dem ſpaniſchen Helden Cid gab er 
kurz vor ſeinem Tode den Deutſchen noch einmal ein 
Geſchenk würdig der beſten Jahre Weimars. Er und 
Wieland hatten ſich auch durch ihre Ablehnung Kants 
von Goethe ebenſo entfernt wie von dem Geiſte Jenas, 
der Goethen auch jetzt glücklich belebte, wie Schiller dort 
groß geworden war. 

Goethe verkehrte vor allem mit den älteren Jenaer 
Naturwiſſenſchaftern und Medizinern, indem er unter 
ihnen lernte und anregte und nächſt dem Herzog für 
ihre Sammlungen ſorgte; es waren der Balte Loder, 
des Herzogs Leibarzt — er veröffentlichte in Weimar 
1794 bis 1803 anatomiſche Tafeln zur Beförderung der 
Kenntnis des menſchlichen Körpers — und die beiden 
Thüringer Batſch und Hufeland: jener der Begründer 
der naturforſchenden Geſellſchaft, wo ſich Goethe und 
Schiller fanden, dieſer der Verfaſſer der Kunſt das 
menſchliche Leben zu verlängern, deren beide erſte 
Auflagen in Jena 1797 und 1798 erſchienen. Schiller, 
ſolange er in Jena wohnte, ſtand den jüngeren Philo— 
ſophen und Theologen näher. Jena wurde jetzt vollends 


Fichte, Schelling, Hegel 23 


die Hauptſtadt der deutſchen Philoſophie; nach kantiſcher 
Lehre drängte ſich hier die deutſche Jugend, nirgends 
fand ſie ſolche Energie der Ideen wie hier unter den 
neuen Dozenten. Als der milde Reinhold 1794 weg— 
ging, trat der tapfere Fichte aus Sachſen an ſeine 
Stelle: hatte Kant die Grenze von Naturerkenntnis 
und ſubjektivem Geiſt gezogen, ſo warf ſich Fichte ganz 
auf die ſubjektiviſtiſche Seite und entwickelte ſeine 
Wiſſenſchaftslehre von dieſem Standpunkt aus ſo, daß 
man in ſeinem Subjektivismus den Zentralgedanken 
der Zeit erblicken konnte. Er überſpannte nur den 
Bogen: des Atheismus verdächtigt, drohte er der 
Regierung mit ſeinem Weggang; dieſe entließ ihn 1799. 
Seinen Platz beſetzte ſofort der kaum vierundzwanzig— 
jährige Schelling: den Moraliſten und Naturverächter 
löſte der Aſthetiker und Naturſchwärmer ab. Er knüpfte 
an Spinozas Pantheismus an und an Goethes Fauſt 
und Metamorphoſenlehre und an die jüngſten elektriſchen 
und chemiſchen Erkenntniſſe und entwarf eine Natur- 
philoſophie, deren Ganzes berauſchte. 1801 folgte ihm 
nach Jena ſein älterer Freund Hegel und erdachte hier 
um 1805 die Phänomenologie des Geiſtes: dieſer Lehre 
von der allmählichen Selbſtoffenbarung des Weltgeiſtes 
in der Geſchichte war Herrſchaft auf ein halbes Jahr— 
hundert und Ruhm für alle Zeiten beſchieden. Fichtes 
Altersgenoß und ein Landsmann von Schiller, Hegel 
und Schelling war der Orientaliſt und Theologe Paulus, 
ſeit 1793 ordentlicher Profeſſor in Jena, mit Schillers 


24 Gebrüder Humboldt, Schlegel, Tied 


befreundet, von den Studenten geliebt und vom Herzog 
gegen Verketzerung geſchützt. Und von bedeutenden 
Preußen wiſſenſchaftlicher Anlage weilten um 1796 
gern die Brüder von Humboldt in Jena im Verkehr 
mit Schiller, beide noch in den zwanziger Jahren ihres 
Lebens, Wilhelm, der Philolog, zu täglichem philo— 
ſophiſch-äſthetiſchen Austauſch bereit, Alexander, der 
Naturwiſſenſchafter, in geiſtreicher Unterhaltung über 
phyſiologiſche Fragen. 

Ihnen allen waren damals Poeſie und Wiſſenſchaft 
keine ganz zu trennenden Dinge. Ahnlich dachten die 
jungen romantiſchen Dichter, die um 1800 ihr Feldlager 
in Jena hatten. Allerdings wirkten ſie teilweiſe im 
Gegenſatz zu den Klaſſikern; ſie fielen von Schiller ab. 
Goethes Roman Wilhelm Meiſter aber bedeutete ihnen 
— neben der franzöſiſchen Revolution und Fichtes 
Philoſophie — die größte Tendenz der Gegenwart; 
daran knüpfte auch ihr Name Romantik an. Durch 
die Formenſtrenge ihrer Poeſie führten ſie die Arbeit 
der Klaſſiker unmittelbar fort; freilich hatten ſie keinen 
Lebensertrag von ſittlichem Gehalt zu geben. In 
A. Wilhelm Schlegels Jenaer Jahren, zwiſchen 1796 
und 1800, wurden ſeine Meiſterüberſetzungen von 
ſechzehn Shakeſpeareſchen Dramen nahezu vollendet; 
das Neue an dieſer Arbeit war die genaue Wiedergabe 
der poetiſchen Formen des Urbildes. Er wirkte auch 
ſonſt als Formkünſtler und -bereicherer, z. B. führte 
er das Sonett ein. Sein Bruder Friedrich hatte Ver— 


Jenaiſche Romantik 25 


dienſte durch die poetische Erſchließung des Mittelalters 
etwa mit einem Gedicht wie „Auf der Wartburg“. Neben 
den hannöveriſchen Brüdern Schlegel erſchienen die 
Berliner Brüder Tieck. Von ihnen war Friedrich der 
Bildhauer; er ſchuf im Herbſt 1801 in Weimar die 
Büſte Goethes, die der Familie beſonders lieb wurde. 
Der andre, der Dichter Ludwig Tieck, verlebte von 
Herbſt 1799 bis Sommer 1800 glückliche Monate in 
Jenas romantiſchem Kreiſe; hier gab der Verleger 
Frommann, der eins der verbindlichſten und anregend— 
ſten Häuſer in Jena machte, Tiecks beſte Jugendwerke, 
damals geſammelt heraus als Romantiſche Dichtungen, 
darunter zum erſtenmal Genoveva, Rotkäppchen, Me— 
luſine. Aus dem nahen Weißenfels war der junge 
Freiherr von Hardenberg da, Novalis genannt, voll 
herzlicher Phantaſie, der auch Schiller nie verleugnete, 
vom Rhein her traf der zwanzigjährige Student 
Clemens Brentano ein und vermehrte das geiſtreiche 
Gebrodel, und ſie alle ſtellten ſamt ihren Frauen oder 
Bräuten ein entzücktes Jugendkonzert dar, mit neuen 
Tönen in die klaſſiſche Muſik einzuſtimmen geſonnen. 
Beiläufig: von Brentanos Jenaer Braut, Sophie 
Mereau, hatte der junge Beethoven das Lied Feuer— 
farbe komponiert, das 1793 Schillers Frau aus Bonn 
geſchickt erhielt. Vielleicht iſt ja auch eine früheſte 
Sinfonie Beethovens gegen das Jahr 1800 zuerſt 
in Jena geſpielt worden. 

Welche Fülle von Geiſtern und geiſtigen Taten in 


— 


26 Jenas Sturz 


dem einen Jahrzehnt in den beiden Brennpunkten des 
Herzogtums! Ein Schöpferdrang und eine Meiſterſchaft 
ohnegleichen in der Geſchichte unſres Schrifttums. 
Das Gefäß mußte überfließen, ein Teil der Naturen 
ermatten. Abgeſehen von den nur kurz in Jena weilen— 
den riſſen die Jahre 1802 und 1803 viele Lücken: Herder 
und Batſch ſtarben, Loder und Hufeland gingen nach 
Preußen, Paulus und Schelling nach Süddeutſchland 
wie 1806 auch Hegel. Goethe verlor 1805 Schiller. 
Dazu kamen die politiſchen Schläge: Jena ſah Napoleons 
Sieg über Preußen, das Herzogtum Weimar mußte 
dem preußiſchen Bündnis entſagen. Dieſen Bedräng— 
niſſen erlag im Frühjahr 1807 die Stifterin ſo vieles 
Guten, die Herzogin-Mutter Amalia. 

In dem Jahrzehnt nach Schillers Tode hat man 
die goldenen Früchte Weimars nicht mehr in ſolcher 
Fülle reifen ſehen wie vorher. Goethe und andre 
überkam das Gefühl der Entbehrung. Und trotzdem: 
wie ſich Zeit und Menſchen hier wiederum erneuerten, 
das ergab nochmals herrlichen Gewinn. 

Von Ende 1806 bis Ende 1813 gehörte das Herzog— 
tum dem Rheinbund an. Napoleon ließ es nicht an 
Druck auf das Land, an Rückiichtsloſigkeit gegen den 
Hof fehlen; dem greiſen Wieland begegnete er mit 
Reſpekt, Goethe nötigte ihm Achtung ab. Nächſt Carl 
Auguſt und Luiſe trat der Erbprinz Carl Friedrich in 
den Vordergrund mit ſeiner jungen Gemahlin Maria 
Paulowna, deren feſtlicher Begrüßung in Weimar 


Goethe um 1810 27 


Schillers letztes Werk gegolten hatte, Die Huldigung 
der Künſte. Beiden hohen Frauen ſich zu empfehlen 
nahm Goethe Gelegenheit durch wiſſenſchaftliche Werke 
und durch Reime zu Geburtstagsſpielen. Herzogin 
Luiſe hatte einen Vortrag von ihm über Farben— 
lehre mit Teilnahme gehört; ihr widmete er, was er 
1810, nach mehr als zwanzigjähriger Bemühung, an 
mannigfachen Beobachtungen und Gedanken zu dieſem 
Gegenſtand zuſammenfaſſen konnte. Die Erbprinzeſſin 
erhielt im folgenden Jahre die Schrift über den 
brandenburger Künſtler Philipp Hackert zugeeignet, 
den vortrefflichen Maler italieniſcher Landſchaft, den 
ihre ruſſiſchen Vorfahren hervorragend unterſtützt 
hatten; Goethe war ſeit ſeiner italieniſchen Reiſe mit 
ihm in Beziehung geblieben und konnte eine künſtleriſche 
Verwandlung und geſchichtliche Ergänzung von Hackerts 
Aufzeichnungen geben. Im Jahre 1810 wurden die 
winterlichen Geburtstage beider Fürſtinnen durch ſeine 
ſchönen Stanzen Die romantiſche Poeſie gefeiert, ge— 
ſprochen zu einem glänzenden Maskenzug des Minne— 
ſingers, Heldendichters, Brunhilds, Siegfrieds uſw., 
verfaßt zum Ruhme altheimiſcher Pflege der Dichtung 
durch die Wettiner auf der Wartburg. Und ſo nahm 
Goethes Tätigkeit wie der Geiſt der Zeit überhaupt 
eine Wendung vom klaſſiſchen zum deutſchen Altertum, 
von der Menſchengeſtalt zur Landſchaft, von unermüd— 
licher poetiſcher Schöpfung zu vermehrter wiſſenſchaft— 
licher Beſchäftigung und Beſchaulichkeit. 


28 Wahlverwandtſchaften; Dichtung und Wahrheit 


Die Gefahr, die mit Napoleons Einmarſch in Thü— 
ringen hereinbrach, gebot, heimiſche Sitte als heiligen 
Halt zu ergreifen, und Goethe ließ ſich ſofort im Oktober 
1806 mit Chriſtiane kirchlich trauen. Aber dagegen 
drang bald eine neue Gefahr an, indem er die junge 
Minna Herzlieb im Frommannſchen Haufe in Jena her— 
anwachſen ſah und ſich von ihrem Weſen tief angezogen 
fühlte. Ihr zuliebe ſchuf er die ſchönſten Sonette; dann 
erſann er aber zur Abwehr die Geſchichte von den Wahl— 
verwandtſchaften und veröffentlichte ſie 1809 als drei— 
zehnten (Ergänzungs-) Band ſeiner ſeit 1805 zum 
erſtenmal nun bei Cotta geſammelt erſchienenen 
„Werke“. Eine andere Mädchenbekanntſchaft wurde 
ihm von Frankfurt aus dem Kreiſe ſeiner Mutter zuteil: 
Bettina Brentano beſuchte ihn, widmete ihm ſchwärme— 
riſche Verehrung, und ein lebhafter Briefwechſel ent- 
ſpann ſich. 1808 beſuchte dagegen Goethes achtzehn— 
jähriger Sohn die Großmutter; wenige Wochen darauf 
ſtarb ſie. Goethe, zur Einkehr bei ſich ſelbſt auch durch 
ſeine Ohnmacht den Welthändeln gegenüber aufgefor— 
dert, wachſenden epiſchen Sinnes, begann ſeine Jugend 
in eingehender Erzählung vor ſich aufzubauen. 1811 
bis 1814 erſchienen die drei erſten Teile Dichtung und 
Wahrheit aus ſeinem Leben; bei der Vorbereitung 
dazu ging ihm als neuer Gehilfe der junge Philologe 
Riemer an die Hand, der Hauslehrer ſeines Sohnes. 

Der erſte literariſche Abſchluß ſeiner Licht- und 
Farbenſtudien erregte in Goethe den Wunſch, nun an 


Kantate und Ballade um 1810 29 


die akuſtiſch⸗muſikaliſchen Grundfragen zu gehen; zu— 
gleich mußte ſeiner neuen Hausführung muſikaliſche Ge— 
ſelligkeit günſtig ſein, und aus dem um 1809 allwöchent— 
lich zweimal, als Übung und Aufführung durchgeführten 
Muſizieren bei ihm erwuchs neue lyriſche Anregung: die 
Texte zu Johanna Sebus, Rinaldo und einer idylliſchen 
Kantate entſtanden. Ja Goethe gedachte einige der 
erhabenſten Balladenmotive verſchmolzen zu einer 
Oper zu entwickeln, die der Löwenſtuhl heißen ſollte; 
doch formten ſie ſich im weſentlichen zuvor in den 
fieberhaft erregten Glückstagen nach der Schlacht bei 
Leipzig als Ballade vom vertriebenen und zurück— 
kehrenden Grafen. Andere romantiſche Motive wurden 
in dem deutſchen Frühling 1813 in dem Totentanz, 
dem getreuen Eckart und der wandelnden Glocke ge— 
ſtaltet. Bei der Hinwendung zur Muſik war die ſich 
allmählich befeſtigende Freundſchaft mit dem Berliner 
Dirigenten und Komponiſten Zelter von Wert. 

In dieſen Jahren der öſterreichiſchen und deutſchen 
Freiheitskriege erwachte auch die Teilnahme an deut— 
ſcher, germaniſcher Bildkunſt wieder. 1809 gelangten 
Dürers Zeichnungen für Kaiſer Maximilians Gebetbuch 
zu Goethes Augen, in neueſter Steinzeichnung verviel— 
fältigt, 1813 kamen Abgüſſe von Apoſtelſtatuen des 
Viſcherſchen Sebaldusgrabes in ſeine Sammlung. 1811 
legte ihm der junge Boiſſerée aus Heidelberg gotiſche 
Baukunſt und Malerei in geordneten Nachbildungen vor 
und die neuen Zeichnungen des jungen Cornelius zu 


30 Wiederaufleben Jenas 


den Nibelungen. Friedrichs Landſchaften, Kerſtings 
Innenräume fanden in Weimar frühe Bewunderung 
und Käufer; und der Landſchaftsmaler wurde als 
Dichter verſtanden bei der Betrachtung Ruisdaeliſcher 
Arbeiten. 

Anders als Goethes eigene Sammlungen wuchſen 
unter ſeiner Leitung und unter vermehrter Fürſorge 
des Fürſten die des Staates an. In Weimar mußte 
1809 das Bibliotheksgebäude erweitert werden, das 
zugleich den Kunſtſammlungen diente. In Jena galt 
es, auch für mehr Raum und zweckmäßige Umſtellungen 
zu ſorgen, als Sternwarte und anatomiſches Muſeum 
eingerichtet und die Kabinette für Phyſik und Chemie, 
für Oſteologie und Zoologie neu begründet wurden. 
An jungen Lehrkräften taten ſich der Naturwiſſen— 
ſchafter Oken und der Hiſtoriker Luden in Jena hervor: 
Oken ſchränkte ſich von der Naturphiloſophie im Schel— 
lingſchen Sinne auf die ſchlichtere „Naturgeſchichte“ 
ein; Luden, herderiſch beeinflußt, begeiſterte durch ſeine 
Vorträge über das Studium der vaterländiſchen Ge— 
ſchichte und forderte feſten Volksſinn und deutſche Ein- 
heit. In der Studentenſchaft hafteten ſeine Gedanken 
trotz alten Verfaſſungsſonderweſens, und im Frühling 
1813 eilten ſämtliche Jünglinge der Landsmannſchaft 
Vandalia nach Breslau unter die preußiſchen Fahnen. 

Goethes Hauptſorge war auch in dieſem Jahrzehnt 
der Weimarer Bühne zugewandt, und hier hatte er von 
neuem die Freude, gut begabte und ihm ergebene junge 


Weimariſches Theater um 1810 31 


Schauſpieler heranzubilden, namentlich in dem Ehepaar 
Wolff. Noch harrte Taſſo der Uraufführung; ſie ging 
auf Andringen Wolffs und Riemers und nach Goethes 
Wünſchen Anfang 1807 vor ſich, ein Zeugnis der im 
Rheinbundfrieden aufatmenden Kunſt. Zu andern 
Taten lockte die neue Shakeſpeareüberſetzung, wenn 
auch Romeo und Julia umgearbeitet werden zu müſ— 
ſen ſchien, und die friſche Bekanntſchaft Calderons: 
deſſen Standhafter Prinz, Leben ein Traum, Zenobia 
wurden dem Weimarer Theater gewonnen; auch Dich— 
tungen von Heinrich von Kleiſt und Theodor Körner, 
Zacharias Werner und Müllner führte man jetzt auf. 
Ifflands letztes Gaſtſpiel, Ende 1813, weihte das ver— 
einte Bemühen dieſes Jahrzehnts; 1815 wurde ſein, 
des ſoeben Verſchiedenen, und Schillers Andenken in 
einem Bühnenſpiel gefeiert, für das Goethe an ſeinen 
Epilog zu Schillers Glocke, ſchon 1805 und erweitert 
1810 geſprochen, nun die allerletzte Strophe fügte: 

Wir haben alle ſegenreich erfahren, 

Die Welt verdank ihm, was er ſie gelehrt; 

Schon längſt verbreitet ſichs in ganze Scharen, 

Das eigenſte, was ihm allein gehört ... 
Damals empfand Goethe, das Weimarer Theater ſei 
auf ſeinen höchſten ihm erreichbaren Punkt gelangt; 
bald darauf entſagte er der Leitung, die er über fünf— 
undzwanzig Jahre geführt hatte. 

Die Antike wirkte hier durch ihn weiter fort. Ihr 

blieb ja auch der greiſe Wieland getreu, bis in ſeine 


32 Pandora und Epimenides 


letzten Tage mit der ihm jetzt beſonders zuſagenden 
Überſetzung von Ciceros Briefen beſchäftigt; als er 1813 
heimging, hielt ihm Goethe in der Weimarer Loge 
die Gedenkrede, in demſelben kleinen Saale des 
Wittumspalais, wo vor einem Menſchenalter die 
Iphigenie zuerſt geſpielt worden war. Goethes Kennt— 
nis der Antike wuchs immer noch durch Vermehrung 
ſeiner Sammlungen an Büſten, geſchnittenen Steinen 
und ähnlichem; 1813 erwarb er einen Abguß des großen 
Zeuskopfes, der in Otricoli ausgegraben worden war. 
So wandelte auch in griechiſcher Geſtalt, was er jetzt 
größtes für die Bühne zu dichten unternahm. Von 
Pandora wurde 1807 nur ein erſter Teil abgeſchloſſen; 
aber als von der Berliner Hoftheaterleitung der Ruf 
an ihn erging, die ſiegreiche Rückkehr der Freiheits— 
krieger zu feiern und ihm ein ſymboliſcher Mittelpunkt 
dafür in dem Schläfer Epimenides erſchien, raffte er 
die großen Erlebniſſe des Jahrzehnts und ſeine ganze 
einzige Kraft zu dem herrlichſten aller deutſchen Feſt— 
ſpiele zuſammen: des Epimenides Erwachen wurde in 
Berlin im Jahre 1815 dreimal aufgeführt, am 30. März 
als dem Jahrestage des Einzugs in Paris, am 1. Juni 
zur Rückkehr des Königs und am 19. Oktober zur Jahres— 
feier der Leipziger Völkerſchlacht, und darauf in Weimar 
Anfang 1816 zur Geburtstagsnachfeier für die Landes— 
fürſtin. 

Wie Epimenides für Berlin, ſo war Pandora für 
Wien beſtimmt. Das Weimarer Theater gab Gaſtſpiel— 


1815 33 


folgen in Leipzig und Halle. Schillers Dramen wurden 
auf allen deutſchen Bühnen geſpielt und erhöhten Sinn 
und Geiſt der Jugend. Die beiten nord- und ſüddeutſchen 
Muſiker, allen voran Reichardt, Zelter und Beethoven, 
trugen viele Goethiſche Lieder als Geſänge in das 
deutſche Haus. 

So war Weimars klaſſiſche Dichtung, von Carl 
Auguſt als erſtem gepflegt und geliebt, im Jahre 1815 
die Morgengabe ſeines Großherzogtums an das neue 
Deutſchland. 


Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 3 


Der alte Goethe 


Der Zeitabſchnitt, der um das Jahr 1815 fühlbar 
und bald darauf tiefer deutlich eintrat, machte ſich auch 
in Goethes Hauſe geltend: 1816 ſtarb ſeine Frau; 1817 
heiratete ſein Sohn, und bald belebten Enkel das Haus 
des Großvaters. Sein Berufs- und Wanderleben ver— 
engte ſich: 1817 entſagte er der Leitung des Weimarer 
Theaters, und nach ausgedehnten rheiniſchen Sommer— 
reiſen der Jahre 1814 und 1815 verließ er nun, außer 
zu einigen böhmiſchen Badekuren, das Großherzogtum 
bis zu ſeinem Tode nicht mehr. 

Er empfand die Beſchränkung, und der Gedanke 
tauchte wohl auf, im Alter ſollte man doch in einer 
großen Stadt leben. Manchmal fragte er ſich, ob mehr 
Berührung mit der Außenwelt, ob auswärtige Wirkung 
durch perſönliche Gegenwart ihn und ſeine Freunde nicht 
mehr fördern könne als die einſame Hockerei, die man 
ihm wohl vorwarf. Aber die Gedanken der Ruhe über— 
wogen doch, und mit der Zeit wurde es ihm zur behag— 
lichen Gewißheit, daß er auch jo in einem großen leben- 
digen Zuſammenhang webe, ja vielleicht inniger und 
gründlicher, als wenn er ſich nach außen bewegt und 
zerſtreut hätte. Das erkannte auch ſein beſter Alters- 


Verſtimmungen 35 


freund, Zelter in Berlin, mit den Worten an: „Gar 
gern ſehe ich Dich, wie Du gleich einer Spinne Deine 
Fäden nach allen Seiten anhängſt und beobachtend in 
der Mitte ſchwebſt.“ 

Das natürliche Vorwärts der Welt und die alljähr- 
lich immer ſchwächere Erneuerung ſeiner Natur wollten 
auf das behutſamſte in lebendigem Zuſammenhang 
erhalten werden. Konnten ſeine ruhigen wiſſenſchaft— 
lichen Anſichten dem heraufziehenden neuen Zeitalter 
genügen, das ihm als turbulent erſchien? Das neue 
Menſchen⸗ und Weltweſen drehte ſich um ihn, den 
immer perſönlicher ſich Auskriſtalliſierenden, herum, daß 
es ihm manchmal hätte ſchwindlig werden mögen. Es 
war ja ſeinerſeits arge Verkennung der jungen Zeit⸗ 
genoſſen, wenn er in einem ausnahmsweiſe überreizten 
Zuſtand ſich zuredete: „Dem redlich denkenden Ein— 
ſichtigen bleibt es gräßlich, eine ganze nicht zu verachtende 
Generation unwiederbringlich im Verderben zu ſehen.“ 
Wohl mußte ihm die Schwäche des fortgeſetzten Klaſſi— 
zismus, der weiterhallenden Romantik, das Bizarre 
manches neuen Realiſten gleicherweiſe zuwider ſein, 
und ſo verſteht ſich ſein um das Jahr 1820 wiederholt 
geäußerter Entſchluß, an der neueſten deutſchen Lite⸗ 
ratur, wenn überhaupt, nur noch äußerſt enthaltſam 
teilzunehmen. „Die Eile der neuſten Zeit“ wurde ihm 
dauernd unerquicklich. Andrerſeits verdroß ihn die 
neue, romantiſche Liebe, die ſich deutſchen Altertümern 


zuwandte, ſo daß er einmal ganz modern ausrief: 
3 * 


36 Verdruß und Verſöhnung 


Amerika, du haſt es beſſer 

Als unſer Kontinent, das alte, 
Haſt keine verfallene Schlöſſer 

Und keine Baſalte. 

Dich ſtört nicht im Innern, 

Zu lebendiger Zeit, 

Unnützes Erinnern 

Und vergeblicher Streit. 

Benutzt die Gegenwart mit Glück! 
Und wenn nun eure Kinder dichten, 
Bewahre ſie ein gut Geſchick 

Vor Ritter-, Räuber: und Geſpenſtergeſchichten. 


Ein andermal äußerte ſich auch das verſtimmte Alter 
in dem ſo ungoethiſch wie möglich klingenden Rat, mit 
dem er einen Silveſterbrief an Zelter ſchloß: „Beſieh 
Dir ja die weite Welt gelegentlich, ſolange ſie Dir Spaß 
macht. Ich habe mir die äſthetiſche Anſicht derſelben 
(die landſchaftliche) durch die wiſſenſchaftliche ganz ver— 
dorben, und dabei kommt endlich auch nicht viel heraus.“ 
Aber ſolchen Mißmut verbannte er doch ſchließlich 
gründlich. An denſelben Freund faßte er im Frühjahr 
1820 einmal ſein Altersdaſein in die Worte zuſammen: 
„Unbedingtes Ergeben in den unergründlichen Willen 
Gottes, heiterer Überblick des beweglichen, immer freis- 
und ſpiralartig wiederkehrenden Erde-Treibens, Liebe, 
Neigung, zwiſchen zwei Welten ſchwebend, alles Reale 
geläutert, ſich ſymboliſch auflöſend. Was will der Groß» 
papa weiter?“ 

Goethes Haus war geräumig genug, die Familie 


Großvater Goethe 37 


ſeines Sohnes Auguſt bequem mit zu faſſen, und Goethe 
lebte mit ihr in erfreulichen Verhältniſſen. Auguſt hatte 
die Rechte ſtudiert; ohne das Studium abgeſchloſſen zu 
haben, hatte er im Weimarer Staatsdienſt Beſchäftigung 
als Helfer ſeines Vaters gefunden und von ſeinem Paten, 
dem Großherzog, den Titel Kammerrat erhalten. Der 
gewandte und geſellige junge Mann war eine angenehme 
Vermittlerperſon für heimiſche, geſchäftliche und geſell— 
ſchaftliche Aufgaben und Abſichten des alten Goethe. 
Er gehörte nicht zu den nächſten literariſchen Gehilfen 
des Altmeiſters, wurde aber immer auf dem laufenden 
erhalten über des Vaters Beſchäftigung. Wie der alte 
Hausherr etwelche Not der jungen Leute im ſtillen 
treulich mittrug, ſo nahmen ihm Auguſt und ſeine 
hübſche, kluge Frau Ottilie ein gutes Teil der frohen 
Pflichten des Hauswirtes ab. Ottilie begrüßte gern 
Ausländer bei ſich und brachte die Herausgabe einer 
Zeitſchrift Chaos zuſtande, ſo daß Goethe über ihre 
„Konſular⸗ und Redaktorpflichten“ ſcherzte. Dem 
Sohn teilte er ſich perſönlich vertraulich bei einem 
Glaſe Wein gegen Mitternacht mit; zu literar- und 
künſtleriſcher und weiterer Lebensausſprache gewann 
er 1823 den feinſinnig auf ihn eingehenden Nieder— 
ſachſen Eckermann, der ihm während ſeines letzten 
Lebensjahrzehntes näher ſtand als die dauernd bei— 
rätigen Meyer und Riemer. 

Im Sommer ergab ſich Verkehr genug dadurch, 
daß viele Reiſende ihn beſuchten. Junge Dichter, 


38 Beſuch 


Küuſtler, Muſiker, Gelehrte fuhren nach Weimar, 
huldigten ihm, brachten ihm Erſtlinge oder ſpielten 
ihm vor, empfingen weiſende Worte und fühlten ſich 
mit Huld aufgenommen. Alte Freunde ſprachen vor 
oder kehrten zu Wochenbeſuch in Weimar ein. So 
manches Jahr verſammelte der 28. Auguſt einen grö— 
ßeren Kreis von Verehrern des Siebzigers, des Achtzi— 
gers, darunter Engländer, Franzoſen, Polen. 1827 
erzeigte ihm der junge kunſtbegeiſterte Bayernkönig 
Ludwig J. die Ehre, ihn zu dieſem Tage zu beſuchen; 
auch deſſen Schwager, der ähnlich geſinnte preußiſche 
Kronprinz, kam zu Goethe nach Weimar. Dann durfte 
er im Herbſt ſich preiſen: „Mich, den mittelländiſchten 
Menſchen, haben die beſten Wallfahrer beſucht.“ 

Aber im Winter lebte der alte Goethe einſam. Da 
diktierte er fleißig, ſo daß er einmal ſagen konnte, ſeine 
ganze Exiſtenz ſtehe auf dem Papiere. Sein Arbeits» 
ſtübchen war nach Süden aufs Freie hinaus gelegen, 
es wurde von der Winterſonne beſchienen, dort gedieh 
wiſſenſchaftliche und künſtleriſche Beſchäftigung, dort 
gedachte er der auswärtigen Freunde, denen er eigent— 
lich alles, was er noch ſchuf, zubereitete, von dort aus 
führte er ſeinen großen Briefwechſel ſo ſorgſam, daß 
ſeine aus der Zeit von 1815 bis 1832 erhaltenen Briefe 
nun gedruckt faſt ſechsundzwanzig Bände füllen, mehr 
als die Hälfte ſeiner erhaltenen Lebenskorreſpondenz. 
Da gingen die Zeilen an die Weimarer Behörden und 
Organe aus, die Begrüßungen der einheimiſchen Fürſt⸗ 


Briefwechſel 39 


lichkeiten und Freunde, die herzlichen Briefe nach Jena 
an Knebel, nach Leipzig an Rochlitz, nach Dresden an 
Carus, die Geſchäfts-, kunſt- und wiſſenſchaftlichen 
Schreiben an Cotta und Boiſſerée in Stuttgart und 
an den Grafen Reinhard in Frankfurt, an Nees von 
Eſenbeck in Bonn, von da die ergiebigen und vertrauten 
Mitteilungen nach Berlin an den guten Freund Zelter, 
an die lange lebensaufwärts begleiteten Brüder Hum— 
boldt, an den Schauſpielintendanten Graf Brühl und 
den Philoſophen Hegel, an die drei vortrefflichen 
Staatsräte Nicolovius, Schulz und Süvern. Er hatte 
Alt und Jung zu bedenken, für Erhabenſte und Geringſte 
die Form zu wählen, und in jedem Satze war es Goethe, 
der diktierte oder ſchrieb, ob an den Staatskanzler 
Metternich in Wien oder an einen Gymnaſiaſten in 
Rudolſtadt. Dieſe Briefe trugen ihm reiche Gegenernte, 
am erquickendſten von Zelter; vieles Deutſche zog er ſo 
an ſich heran, manche großen Intereſſen verknüpfte die 
Feder, die ſeine Briefe unterzeichnete. 

Seine Teilnahme ſtreckte ſich auf literariſchen Wegen 
weit über Deutſchlands Gegenwart in Raum und Zeit 
hinaus. Als er zur Ergänzung ſeiner ſonſtigen Bekennt— 
niſſe Tag⸗ und Jahreshefte über ſein weimariſches 
Leben bis 1822 zuſammenſtellte, hatte er allein für das 
Jahr 1821 von folgenden Dingen zu berichten. Aus 
der altgriechiſchen Dichtung ward die Frage der Ein— 
heitlichkeit der homeriſchen Gedichte im Anſchluß an 
neueſte deutſche und engliſche Literatur erörtert und 


40 Literariſche Teilnahme (1821) 


ein Verſuch gemacht, die neu mitgeteilten Fragmente 
der euripideiſchen Tragödie Phaethon zu ergänzen. 
Andre griechiſche Schriftſteller mußten als etwaige 
Quelle zu Mantegnas Triumphzug Caeſars durch— 
geſehen werden, der Goethe damals beſchäftigte, und 
Knebels endlich veröffentlichte Lucrezüberſetzung führte 
ihrerſeits in das Rom Caeſars. Aus England erregten 
Lord Byron und Sir Walter Scott Anteil, und engliſche 
Vermittlung führte zu bewundernder Vertiefung in die 
altindiſche Literatur. Aus Spanien wirkte ein neueres 
Reiſebuch mit geſchichtlichen Schilderungen der jüngſten 
Vergangenheit ein und zwei noch unbekannte Calderon— 
ſche Stücke, aus Italien ein neues Trauerſpiel von Man— 
zoni. In Paris wurde die Übertragung von Goethes 
Theaterſtücken ins Franzöſiſche beachtet; und der Ruſſe 
Purkinje regte Goethe auf durch ſein Werk über das 
ſubjektive Sehen. Endlich trat Altdeutſchland mit einer 
märchenhaft ausgedehnten Legende von den heiligen 
drei Königen in ſeinen Kreis, mit Steindrucken nach 
der Boiſſeréeſchen Gemäldeſammlung, mit Boiſſerées 
Abhandlung über den Kölner Dom und noch vielen 
kleineren Sachen, die verarbeitet wurden. 

Muſik war nicht Goethes Element, aber noch im 
Sommer 1830 durfte der alte Goethe verſichern, ſein 
Verhältnis zur Muſik ſei noch immer dasſelbe, er höre 
ſie mit Vergnügen, Anteil und Nachdenken; dabei liebte 
er ſich das Geſchichtliche. Im Herbſt 1818, als er zur 
Erfüllung einer Dichteraufgabe in das ſtille Berka ent— 


Klavierſpiel gejchichtlich 41 


wichen war, ließ er ſich von dem dortigen Organiſten 
Schütz täglich drei bis vier Stunden vorſpielen: von 
Sebaſtian Bach über Händel, Karl Philipp Emanuel 
Bach, Haydn und Mozart bis zu Beethoven. Und 
als ihn 1830 der junge Felix Mendelsſohn zum letzten— 
mal beſuchte, wurde wieder bei den Klaviervorträgen 
der Gang der Geſchichte eingehalten von der Bachſchen 
Zeit über Gluck und die Klaſſiker zu den neueren Tech— 
nikern und Mendelsſohns eignen Werken; „denn wer 
verſteht irgendeine Erſcheinung, wenn er ſich nicht von 
dem Gang des Herankommens penetriert?“ Für Se— 
baſtian Bach ging ihm zwar dieſer geſchichtliche Vorblick 
ab, ſeine Größe mußte und konnte er in Berka in voll— 
kommener Gemütsruhe intuitiv erfaſſen: „Ich ſprach 
mir's aus: als wenn die ewige Harmonie ſich mit ſich 
ſelbſt unterhielte, wie ſich's etwa in Gottes Buſen, kurz 
vor der Weltſchöpfung, möchte zugetragen haben. So 
bewegte ſich's auch in meinem Innern, und es war mir, 
als wenn ich weder Ohren, am wenigſten Augen, und 
weiter keine übrigen Sinne beſäße noch brauchte.“ Wie 
Bach ſeine ſchwerſten Variationen zur Unterhaltung 
eines an Schlafloſigkeit leidenden Grafen geſchrieben 
hatte, ſo nahm Goethe Bachſche Klaviermuſik auf: „ich 
lege mich ins Bett und laſſe mir von unſerm Bürger— 
meiſterorganiſten in Berka Sebaſtiana ſpielen.“ 

Da er, um mit Inſtrumentalmuſik in Fühlung zu 
bleiben, vor allem auf Klaviermuſik angewieſen war, 
ließ er ſich von Rochlitz in Leipzig einen Streicherſchen 


42 Der alte Goethe und die Muſiker 


Flügel ausſuchen, und das wertvolle Inſtrument kam 
im Sommer 1821 gerade zu rechter Zeit an, daß der 
gleich darauf von Zelter herangeführte Felix Mendels— 
ſohn zum erſtenmal ſein Talent vor Goethe hören laſſen 
konnte. Nächſt ihm, und noch virtuoſer, ſpielte Hummel 
öfter vor Goethe auf dieſem Flügel, der Weimarer 
Meiſter, und in Goethes letztem Lebensſommer die junge 
Klara Wieck und am Alltag ſeine Enkel. Die ganz 
beſondere Weichheit der Empfindung, bei der ihn im 
Sommer 1823 in Marienbad Muſik überwältigte, in dem 
Geſang der Milder und dem Klavierſpiel der Szyma— 
nowska, überwand Goethe wieder; mit gutem Mute 
hörte er 1825 abermals Mendelsſohn und hoffte danach 
von neuem, daß ſeine Umgebung wieder tonſelig werde. 

In allen Muſikfragen wandte er ſich an Zelter; 
deſſen muſikaliſche Bildung war ihm die gemäßeite, 
deſſen Kompoſitionsweiſe ſeiner Lieder war ihm die 
liebſte. Als es ihm in hohem Alter einmal auffiel, daß 
unter ſeinen Gedichten an Perſonen keines an einen 
ſo geiſtverwandten und herzverbundenen Freund 
wie Zelter war, erklärte er es daher, „daß alles Lyriſche, 
was ich ſeit dreißig Jahren gedichtet, als in ſeinem 
Sinne und Geiſte erfaßt, ihm zu eigentlicher muſikaliſcher 
Belebung geſendet worden.“ Zelter konnte ſich das 
Urteil eines Berliner Kritikers, ſeine Goethekompoſi— 
tionen ſeien mehr äſthetiſch als muſikaliſch wertvoll, 
gefallen laſſen, da er von Goethe hörte: „Deine Kom— 


poſitionen fühle ich ſogleich mit meinen Liedern identiſch, 


Geſchenke von auswärts 43 


die Muſik nimmt nur, wie ein einſtrömendes Gas, den 
Luftballon mit in die Höhe. Bei andern Komponiſten 
muß ich erſt aufmerken, wie ſie das Lied genommen, 
was ſie daraus gemacht haben.“ Aus vielen Briefen 
Zelters erfuhr Goethe allerlei aus dem Berliner Kon— 
zert⸗ und Operntreiben. 

Zwiſchen den ſeltenern und flüchtigen Gaben der 
Muſik, die ſich dem alten Goethe boten, erſchienen in 
dichterer Fülle dauernde Geſchenke, die ſeinem wiſſen— 
ſchaftlichen Denken und ſeinem Anſchauen des Schönen 
gewidmet waren. So erfreuten ihn auswärtige Gelehrte 
und Reiſende: z. B. 1818 zum Geburtstag Profeſſor 
Schweigger mit einem neuen optiſchen Apparat, 1820 
ein mecklenburgiſcher Kammerherr mit bedeutenden 
Mineralien aus Tirol und ein däniſcher Kammerherr 
mit schönen Opalen von den Faröern. 1828 ſandte ihm 
der alte Anatom und Freund Loder, der inzwiſchen vom 
herzoglich weimariſchen längſt zum königlich preußiſchen 
und weiter zum kaiſerlich ruſſiſchen Leibarzt geworden 
war, einen Prachtkaſten in ledernem Gehäuſe mit einer 
Sammlung ſibiriſcher Mineralien und ruſſiſcher Koſt— 
barkeiten. Einige Verehrer bedachten ihn mit Er— 
innerungsſtücken ſeines eigenen Lebens: der Dresdner 
Landſchafter Carus 1820 mit dem von ihm gemalten 
Brockenhaus, der bayriſche Architekt Klenze 1828 mit 
ſeinem Gemälde der Ruinen des Zeustempels von 
Agrigent, und in demſelben Jahre ſandte der Groß— 
herzog von Mecklenburg-Strelitz zum 28. Auguſt die 


44 Goethe als Sammler 


eichene Standuhr aus Goethes Elternhaus. Die Berliner 
Bildhauer Tieck und Rauch wetteiferten ihn zu erfreuen, 
der ältere 1825 mit einem Werke von Carſtens, der 
Parze Atropos, die er ergänzt hatte, und 1828 mit den 
Modellen zu Kaſſandra und Achill, die er für das Ber— 
liner Schloß gearbeitet hatte, der jüngere mit den Reliefs 
zu ſeinem Berliner Blücherdenkmal u. a. Man wußte, 
daß man Goethe mit guten Kopien nach bedeutenden 
Antiken eine beſondere Freude mache, und ſo ließ ihm 
1823 Staatsrat Schultz die große Juno Ludoviſi zugehen 
und 1829 der König von Bayern den Niobiden Ilioneus. 
Manches schöne Geſchenk ſchmückte am 7. November 1825 
ſeine Zimmer, als man den fünfzigjährigen Jubeltag 
ſeines Eintreffens in Weimar feſtlich beging. 

Goethe war im Alter Sammler von Beruf geworden, 
d. h. er lebte für ſeine Sammlungen und zehrte von 
ihnen. Schon im Vaterhauſe hatte ihn eine gediegene 
Privatſammlung umgeben, und manches Stück daraus 
hatte er geerbt; in jungen Weimarer Jahren hatte er 
ſich eine Sammlung von Handzeichnungen angelegt, in 
Italien ſich mit einer kleinen Antikenſammlung umgeben 
und dann in Weimar ab und zu weiter dies und jenes 
erworben, auch eine große Steinſammlung vom Thü— 
ringer Walde allmählich zuſammenerklopftund-getragen. 
Erſt im Alter aber betrieb er das Sammeln ſtreng zu 
täglichem Genuß und ſteter Belehrung, indem er auf 
Auktionen ankaufen ließ, billige Gelegenheiten aus— 
nutzte, ihm merkwürdige Stücke mit zäher Abſicht im 


Bei Betrachtung Saftlebens 45 


Auge behielt, bis ein glücklicher Kauf gelang. So beſaß 
er ſchließlich über 2000 Stiche, Holzſchnitte u. dgl. und 
über 1000 Handzeichnungen; unter jenen überwogen 
die Italiener, unter dieſen die Deutſchen. 1819 bedeutete 
für ihn die Erwerbung eines ausgezeichneten Abdrucks 
von Schongauers Tod der Maria die Erfüllung eines 
„uralten Wunſches“, anderes wurde wiſſenſchaftlich 
verwertet, und das beſte wurde ihm zum Lebensſymbol 
und als ſolches auch Freunden mitgeteilt. So genoß 
er im zweiundachtzigſten Lebensjahre eine angenehme 
Zeichnung von Saftleben, eine Rheinlandſchaft aus 
deſſen fünfundſiebzigſtem Jahre, und äußerte ſich dar— 
über getroſt zum alten Zelter: „Das merkwürdige 
dieſes Blättchens iſt: daß wir die Natur und den Künſtler 
im Gleichgewicht miteinander gehen und beſtehen ſehen, 
ſie ſind ruhig befreundet; er iſt, der ihre Vorzüge ſieht, 
anerkennt und ſich aufs billigſte mit ihnen abzufinden 
ſucht. Hier iſt ſchon Nachdenken und Überlegung, ent— 
ſchiedenes Bewußtſein, was die Kunſt ſoll und vermag, 
und doch ſehen wir die Unſchuld der ewig gleichen 
Natur vollkommen gegenwärtig unangetaſtet. Dieſer 
Anblick erhielt mich aufrecht, ja es ging ſo weit, daß, 
wenn ich mich augenblicklich ſchlecht befand und davor— 
trat, fühlt' ich mich wirklich unwürdig es anzuſehn. 
Der tüchtige mutige Geſelle, der ſolches vor hundert 
Jahren in heiterſter Gegenwart niedergeſchrieben hatte, 
konnte den kümmerlich Beſchauenden, inmitten der 
triſten thüringiſchen Hügelberge kaum erdulden. Wiſcht' 


46 Kunſt⸗ und Naturalienbeſitz 


ich mir aber die Augen aus und richtete mich auf, ſo war 
es denn freilich heiterer Tag wie vorher.“ An Marmor— 
und Elfenbeinſachen, Holzſchnitzereien und Wachsar— 
beiten, Bronzefiguren und Reliefs und geſchnittenen 
Steinen beſaß er manches merkwürdige, dazu etwa 
750 antike Münzen und eine herrliche, ihm liebwerteſte 
Medaillenſammlung, mit über 1100 Stücken allein aus 
Italien, und mehr als 100 Majolikaſchüſſeln und-Vaſen, 
die er zwiſchen 1817 und 1829 erwarb, meiſt aus der 
Sammlung des Hauptmanns von Derſchau in Nürn⸗ 
berg. Mineralien aber hatte er ſchließlich über 10000 
Stück, dazu zoologiſche Merkwürdigkeiten, präparierte 
Schädel und phyſikaliſche Inſtrumente und Hilfsmittel 
aller Art zur Farbenlehre. Schon 1819 konnte er ſagen: 
„Mir will nun nicht mehr wohl werden als in meinem 
Hauſe, das beſonders den Sommer alle Vorteile genießt 
und wo mir ſo vieljährig zuſammengetragene Beſitz— 
tümer zu Gebote ſtehen, die mir Freude und Nutzen 
bringen.“ 

Goethes Verhältnis zur bildenden Kunſt war in 


früheren Jahren ſo dringend geweſen, daß er es bis 


zur Ausübung als Radierer und Landſchaftszeichner 
getrieben hatte. So weit ging ſeine Luſt im Alter 
nicht mehr; aber gelegentlich wirkte er andeutend und 
beratend bei der Entſtehung von größeren Kunſtwerken 
mit. Die ſchönen rheiniſchen Eindrücke des Sommers 
1815, wo er zufällig an der Wiedereröffnung der 
Rochuskapelle bei Bingen teilgenommen hatte, klangen 


2 > 


Für Bingen und Roitod 47 


in Weimar nach, und das Bild des heiligen Rochus, 
wie er völlig ausgebeutelt von ſeinem Palaſt die Pilger— 
ſchaft antritt, wurde 1816 in Goethes Kreiſe erfunden, 
ſkizziert, gemalt und gelangte als willkommnes Ge— 
ſchenk in die Kapelle am Rhein. Eine andre faſt 
gleichzeitige Wirkung gelang nach Roſtock. Dort ſollte 
das erſte Standbild Blüchers errichtet werden, Schadow 
in Berlin hatte den Auftrag dazu erhalten, Goethe in 
Weimar aber ſollte die Oberleitung haben. So mußte 
der Realiſt Schadow ſeine in bloßer Wahrhaftigkeit ge— 
ſehene Heldengeſtalt ſamt den gleichartigen Reliefbildern 
am Sockel — Sturz bei Ligny und Sieg bei Waterloo — 
antikiſierend verhüllen und geiſtig bereichern: Blüchern 
wurde ein Löwenfell um die Schultern geſchlungen, und 
ſtatt eines Offiziers, der den mit dem Pferde geſtürzten 
Feldherrn deckt, wurde ein geflügelter Genius beige— 
geben. Goethe ſelbſt empfand, daß damit ein ſeltſames 
Grenzwerk geſchaffen wurde, das wie ein Januskopf 
zwei Anſchauungen vereinigte. 

Schadow war im Februar 1816 bei Goethe, um 
dieſe Dinge mit ihm zu beſprechen. Damals arbeitete 
er auf Auguſt von Goethes Wunſch ein Wachsmedaillon 
mit Goethes Bildnis, nahm auch Goethes Geſichtsmaske 
ab und nach dieſer ſchuf er 1823 ſeine Marmorbüſte 
des alten Goethe. Schadows Maske diente auch den 
beiden Berliner Meiſtern Tieck und Rauch als Grund— 
lage, als ſie Goethe 1820 in Jena beſuchten und ihre 
beiden Büſten zu gleicher Zeit in demſelben Raume nach 


48 Büſten und Bildniſſe des alten Goethe 


ihm modellierten. Seit 1815 verging kein Jahr bis zu 
Goethes Tode, wo er nicht einmal gemalt, gezeichnet 
oder in Ton gebildet worden wäre, ſo daß er ſcherzte: 

Sibylliniſch mit meinem Geſicht 

Soll ich im Alter prahlen! 

Je mehr es ihm an Fülle gebricht, 

Deſto öfter wollen ſie's malen! 
Das anregende Zuſammenſein mit hervorragenden 
Künſtlern war das Erfreuliche für ihn bei ſolchem Still— 
halten; die wenigen Sommertage mit Tieck, Rauch und 
Schinkel als Viertem waren von lebhaften, leidenſchaft— 
lichen Kunſtunterhaltungen erfüllt und belebten ihn ſelbſt 
in der Erinnerung noch durch ihre gedrängte Produkti— 
vität. Der Engländer, der Ruſſe, der Franzoſe be— 
mächtigte ſich nun ſo auch ſeines Anblicks; zuletzt zeich— 
neten ihn die beiden Weimarer Schwerdgeburth und 
Preller in Leben und Tod. 

Goethe hat im Alter wiederholt ausgeſprochen, daß 
das Auge bei ihm vorwalte, und die bildende Kunſt 
hat ihm, wie ſie ihn als Sammler und Freund be— 
ſchäftigte, auch als Gelehrten zu tun gegeben. Was er 
da mitzuteilen hatte, legte er in ſeiner Zeitſchrift „Kunſt 
und Altertum“ allmählich von 1816 bis 1832 in ſechs 
Bänden nieder; Meyer und andre Freunde lieferten 
ihm manchen Beitrag dazu. Hier erſchien ſeine Studie 
über die Frage, wie denn Myrons Werk, die vielge— 
rühmte Kuh, eigentlich ausgeſehen habe, und die Ab— 
handlungen über Philoſtrats Gemälde, Mantegnas 


Kunſt und Altertum; Zur Naturwiſſenſchaft 49 


Triumphzug und Leonardos Abendmahl, hier erzählte 
er aufs anmutigſte von dem Rochustage am Rhein, 
hier veröffentlichte er auch ſeine Verſe zu Tiſchbeins 
Idyllen und zu ſeinen eigenen Handzeichnungen, als 
Schwerdgeburth dieſe geſtochen herausgab. Wiſſen— 
ſchaftliches Denken, herzhafter Genuß und unbeirrbarer 
Blick für die echteſten Lebensgüter durchflechten ſich in 
dieſen Heften ſo reizvoll wie wohl in keiner andern 
deutſchen Zeitſchrift wieder. 

Ahnlich wirkte er in ein paar Bänden, die er zwiſchen 
1817 und 1824 zur Naturwiſſenſchaft überhaupt und 
beſonders zur Morphologie herausgab. Metamorphoſe, 
der Wandel der Geſtalten, in Botanik und Zoologie 
war hier das Hauptthema, aber ſittliches und poetiſches, 
allgemeine Theorie und perſönliches wurde leicht, frei 
und wie notwendig dazwiſchen gefügt. Noch immer 
wurde die Farbenlehre weiter getrieben, auch geologi— 
ſches dankbar hinzugelernt, namentlich in dem ergiebigen 
Böhmen. Überraſchenden Gewinn brachte ihm aber 
jetzt das Wolkenſtudium nach Howard. Im Sommer 
1818 quartierte er ſich an der Jenaer Saalbrücke drüben 
im Erkerzimmer der Tanne zu Camsdorf ein und 
„genoß mit Bequemlichkeit, bei freier und ſchöner Aus— 
und Umſicht, beſonders der charakteriſtiſchen Wolken— 
erſcheinungen“; er „beachtete ſie, nach Howard, in bezug 
auf Barometer und gewann mancherlei Einſicht.“ Er 
zeichnete die Wolkenformen; im Frühjahr und Sommer 


1820 führte er ſtreng Wolkentagebuch, ſchrieb darauf 
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 4 


50 Zur eignen Lebensbeſchreibung 


den Aufſatz „Wolkengeſtalt“, und 1821 entſtand als 
Abſchluß ein Gedicht über die Hauptworte von Howards 
Terminologie. Manche wunderbare Strophe aus dem 
Zuſammenhang von Natureinſicht und Menſchenleben, 
über tiefe menſchliche Beziehungen zu dem unendlichen 
All eröffnete, begleitete und rundete auch dieſe Hefte. 

Der Zauber des Perſönlichen, der von hier ausging, 
hing auch damit zuſammen, daß Goethe bei allem, was 
er tat, nicht aufhörte, den eigenen Lebensſtrom ge— 
ſchichtlich zu überſehen. Autobiographiſche Arbeit war 
ihm auch jetzt Bedürfnis; und hatte er am Ende der 
mittleren Jahre ſeine Jugend wieder vor ſich ausge— 
breitet, ſo galt es jetzt, Mitte und Alter zugleich zu 
bewältigen. Tagebücher und Briefe wurden zu Zettel 
und Einſchlag, darein ſtickte die Erinnerung ihre bunten 
Farben, und auch fremde Fäden wurden zur Schilderung 
entrückter Zeiten und Erlebniſſe nicht verſchmäht. So 
entſtand ſeine Italieniſche Reiſe und wurde 1816 und 
1817 als Anfang der zweiten Abteilung „Aus meinem 
Leben“ veröffentlicht. Mitten in der Ordnung und 
Redigierung der alten Papiere kam es ihm vor, als 
ob er nur in der Vergangenheit lebe, und das Ungegen— 
wärtige der Sache machte ihm die Arbeit oft läſtig; 
den Plan, das Werk mit Bildern herauszugeben, ließ 
er fallen. 1822 konnte er die Erzählung ſeiner Teil— 
nahme an der Kampagne in Frankreich aus dem Jahre 
1792 folgen laſſen; daran ſchloß er den Bericht über 
die damalige Belagerung von Mainz. Auch ein vierter 


Tag- und Jahreshefte 51 


Band Dichtung und Wahrheit wurde nach langer Pauſe 
geſchrieben und ſo dieſes biographiſche Hauptwerk 
glücklich bis zu ſeinem Eintritt in Weimar fortgeführt. 
Die Lücken, die zwiſchen den größeren Lebensbildern 
blieben, füllte er einigermaßen durch eine Art Chronik 
aus, die ſummariſchen Tag- und Jahreshefte bis 1822. 
Nach mancherlei Anläufen entſchloß er ſich, dieſe rück— 
wärts zu ſchreiben, ſo daß er, als er 1823 begann, 
zunächſt mit deutlich ihm bekanntem zu tun hatte und 
durch dies allmählich das Verſchwundene, Verſchollene 
zurückrufen ließ. 1825 war er aber doch wieder im 
natürlichen Fahrwaſſer, arbeitete im Mai das erſte 
Jahrfünft des 19. Jahrhunderts aus und wollte „dieſen 
edlen Faden gern zart und ſorgfältig durch- und aus— 
ſpinnen; es iſt der Mühe wert und eigentlich keine 
Mühe, ſondern die größte Genugtuung, und ich freue 
mich ſchon, die große Kluft vom Anfang des Jahrhun— 
derts bis heute ſtetig ausgefüllt zu ſehen.“ 

Bei der autobiographiſchen Beſchäftigung mit dem 
großen Jahrzehnt von 1795 bis 1805 nahm Goethe 
ſeinen damaligen Briefwechſel mit Schiller zur Hand, 
und er fand das dort beiderſeits ausgeſprochne ſo 
bedeutend, daß er beſchloß, dieſen Quell geiſtigen und 
künſtleriſchen Ringens, dieſe Werkſtättenbilder ſelbſt zu 
veröffentlichen. In ſechs Bändchen erſchienen die 
Briefe 1828 und 1829; der letzte und mit ihm das Ganze 
wurde König Ludwig J. von Bayern gewidmet. Wäh— 


rend der Redaktion, Ende Oktober 1824, empfand er: 
4 * 


52 Die Briefwechſel mit Schiller und Zelter 


„Es wird eine große Gabe ſein, die den Deutſchen, ja 
ich darf wohl ſagen den Menſchen geboten wird. Zwei 
Freunde der Art, die ſich immer wechſelſeitig ſteigern, 
indem ſie ſich augenblicklich expektorieren. Mir iſt es 
dabei wunderlich zumute, denn ich erfahre, was ich 
einmal war.“ Aber nach einer ſolchen Außerung, die 
leicht kläglich klang, gewann der alte Goethe, der doch 
auf ſich zu halten Grund hatte, ſofort wieder Oberwaſſer 
und erkühnte ſich fortzufahren: „Doch iſt eigentlich das 
lehrreichſte der Zuſtand, in welchem zwei Menſchen, 
die ihre Zwecke gleichſam par force hetzen, durch innere 
Übertätigkeit, durch äußere Anregung und Störung 
ihre Zeit zerſplittern; ſo daß doch im Grunde nichts 
der Kräfte, der Anlagen, der Abſichten völlig wertes 
herauskommt. Höchſt erbaulich wird es ſein; denn 
jeder tüchtige Kerl wird ſich ſelbſt daran zu tröſten 
haben.“ Der Briefwechſel mit Zelter diente ihm ebenſo 
um 1825 erſt zur Herſtellung der Tag- und Jahreshefte 
und wurde dann ſelbſt zur Veröffentlichung beſtimmt. 
Goethe nannte ihn im Juni 1826, wo der größte Teil 
ſauber abgeſchrieben und in mehrere Bände geheftet 
vor ihm lag, „ein wunderliches Dokument, das an 
wahrem Gehalt und barockem Weſen wohl kaum ſeines— 
gleichen finden möchte.“ 

Goethe erlebte im Alter noch zwei Geſamtausgaben 
ſeiner Werke. Eine zwanzigbändige Oktavausgabe 
erſchien von 1815 bis 1819; als ihr Abdruck eben ein— 
geleitet war, forderte man chronologiſche Reihenfolge, 


Letzte Ausgabe; neue Fabeln 53 


das lehnte Goethe aber mit Erfolg ab. 1825 wurde 
die Ausgabe letzter Hand in Angriff genommen. Sie 
wuchs von 1827 bis 1830 auf vierzig Bändchen in Sedez 
an, eine zierliche Taſchenausgabe; daneben lief eine 
Oktavausgabe her. Mit den ſich unmittelbar anſchlie— 
ßenden Veröffentlichungen aus Goethes Nachlaß kam 
die Sedezausgabe bis 1834 auf 55 Bändchen, die Oftav- 
ausgabe bis 1842 auf 60 Bände. 

Daß der Dichter Goethe keine dieſer Ausgaben 
ohne neue Schätze und Kleinodien erſcheinen ließ, 
verſteht ſich von ſelbſt. Von ſich und andern wußte er, 
„daß jeder etwas eignes in ſich hat, das er auszubilden 
gedenkt, indem er es immer fortwirken läßt. Dieſes 
wunderliche Weſen hat uns nun tagtäglich zum beſten, 
und ſo wird man alt, ohne daß man weiß wie oder 
warum. Beſeh ich es recht, ſo iſt es ganz allein das 
Talent, das in mir ſteckt, was mir durch alle Zuſtände 
durchhilft, die mir nicht gemäß ſind und in die ich mich 
durch falſche Richtung, Zufall und Verſchränkung ver— 
wickelt ſehe.“ Ihm ließ die Luſt zu fabulieren auch zu 
Beginn ſeines Alters keine Ruhe. Alljährlich brachte 
Cottas Taſchenbuch für Damen eine neue Erzählung 
von ihm: 1816 das nußbraune Mädchen, 1817 die 
neue Meluſine, 1818 den Mann von fünfzig Jahren. 
Hielt er dieſe Dinge mit ähnlichem älteren zuſammen 
wie der Pilgernden Törin, die er ſchon 1809 in dem— 
ſelben Taſchenbuch veröffentlicht hatte, ſo war es alles 
Erfahrenes, Erwandertes, was er ſo geſchöpft und ent— 


54 Wilhelm Meiſters Wanderjahre 


wickelt oder mit Hilfe von Okulation alter Sagenſtoffe 
bei ſich gezüchtet hatte. Schon 1810 hatte er, auch in 
Cottas Taſchenbuch, in dieſem Sinne den Anfang von 
Wilhelm Meiſters Wanderjahren gebracht; jetzt nach 
zehn Jahren begann ſich die Kette zu ſchließen, ihr 
ideeller Zuſammenhang wurde bewußt gefördert, was 
Goethe eigenſtes an pädagogiſchem und ſozialem Denken 
beſaß, ins Poetiſche dieſes Geländes übertragen und 
abgeſchloſſen. Ging es dabei nicht ohne redaktionelle 
Härten ab, ſo entſchädigten dafür ein andermal zuſam— 
menfügende Glücksſtunden, wo er ſeine Sammlung 
verwerten konnte. Jener von Väterhausrat umgebene 
alte Freund, bei dem Wilhelm am Schluſſe des erſten 
Teils eintritt, erinnert an den Sammler Goethe, ſein 
junger Beſitzgenoſſe an Goethes Sohn — wie ander— 
ſeits auch in Wilhelm und Felix Teile von beiden ge— 
ſtaltet ſind — und das ehrwürdige elfenbeinerne Kruzi— 
fix, von dem der Alte wunderbarerweiſe die Teile in 
langen Zeiträumen nacheinander erhalten hat, iſt gewiß 
nach dem altſächſiſchen Kreuzfuß des zwölften Jahr— 
hunderts in Goethes Sammlung erdichtet worden. Auch 
mit Beziehung auf ſolche Zwiſchenzüge durfte Goethe 
ſagen, als das Werk im Herbſt 1821 bei den Freunden 
eintraf: „Ich kann mich rühmen, daß keine Zeile drinnen 
ſteht, die nicht gefühlt oder gedacht wäre.“ 

So verband ſich dem alten Goethe auch Lyrik und 
Wiſſenſchaft. Noch zur Zeit der Hochkämpfe der Frei— 
heitskriege hatte er, ſich ruhig zu erhalten, ſeine Ge— 


Weſt⸗öſtlicher Divan 55 


danken nach dem fernen Südoſten gewandt und orienta— 
liſche Sitte und Dichtung erkundet und erkannt. Dann 
erlebte er die beglückenden Rheinreiſen der Sommer 1814 
und 1815: neue Betrachtung, neue Liebe ſchlugen 
dem alten Sänger zu neuen Liedern aus, und in den 
nächſten Jahren reifte es weiter in dem Garten, den 
er in der Stille im Wettſtreit mit dem altperſiſchen 
Dichter Hafis — deſſen Überſetzung ihm zum Buch der 
Bücher geworden war — angelegt hatte. Um recht von 
Herzen orientaliſche Luft zu atmen zu glauben, lernte 
Goethe nicht nur die Sprache, auch die verſchnörkelte 
Urſchrift, er vergegenwärtigte ſich das Leben der 
Beduinen, vertiefte ſich in Mahomets Leben, nahm 
früher geleſene Reiſebücher mit erhöhter Abſicht durch: 
1815 ließen ſich ſchon mehrere Bücher ſeines Weſtöſt— 
lichen Divans in der Handſchrift abteilen. Die folgenden 


Jahre ergänzte er das Werk, ſammelte weitere Vor— 
arbeit zu einem hiſtoriſchen und erklärenden Teil dazu 
und machte ſich immer einheimiſcher in Perſien und 
Arabien, bis das Ganze 1819 erſcheinen konnte. Einige 
ſchöne Gedichte nahm er auf von der jungen Frankfurter 
Freundin Marianne Willemer, ſeiner Suleika, die mit 
ihm in poetiſchem Geſpräch und Begrüßung verknüpft 
lebte. Bis zu ſeinem Tode fügte ſich ihm noch manches, 
das im Sinne des Divan empfangen und darein einzu— 
ſchalten geplant war. 

Orientaliſches Dichten und Trachten reichte bei 
Goethe bis in die erſten Weimarer Jahre zurück, wo 


56 Greiſenlyrik 


Herder ihm dies Gefilde zuerſt erſchloſſen hatte. So 
hat der alte Goethe noch andre frühe lyriſche Keime 
zu ſpäter Blüte gebracht. Zu der Legende vom Gott 
und der Bajadere entſtand erſt 1821 die Geſchwiſter⸗ 
dichtung, wie das Gebet des Paria erhört und ihm eine 
ſchuldverſtrickte reine Frau zur Göttin geſetzt wird und 
der Paria dankt, in eine enge Folge dreier Gedichte 
geformt. Und als ihn ein letzter tiefer Liebeswahn 
ergriff und im Verwehen ſchmerzte, 1823 in Marienbad 
zu Ulrike von Levetzow, geſtaltete er auch dies zur 
Trilogie: Werthers Schatten beſchwor er, wie Taſſo 
fühlte er es ſich noch einmal von einem Gott gegeben, 
zu ſagen, was er litt, und der überquellenden Muſik 
mußte er es danken, daß ſie ſchließlich das noch immer 
beklommene Herz in beſeligenden Tränen gelöſt habe. 
Wie Sand am Meer ſind die kleinen lyriſchen In— 

ſchriften, Dank- und Sendblätter, die ſich dem alten 
Goethe tagaus tagein rundeten. Selbſt „Um Mitter- 
nacht“ wurde ihm einmal bei hehrem Mondſchein 
unvorbereitet und unbezweckt zu einem ihm deſto 
lieberen Liede. Oft genug machte er gegenüber Wider— 
wärtigem ſeinem Herzen in einem Xenion Luft, freilich 
wurden es nun zahme und gereimte Kenien: 

Kein Stündchen ſchleiche dir vergebens, 

Benutze was dir widerfahren. 

Verdruß iſt auch ein Teil des Lebens, 

Den ſollen die Xenien bewahren. 

Alles verdienet Reim und Fleiß, 

Wenn man es recht zu ſondern weiß. 


Weimariſcher Maskenzug, Berliner Prologe 57 


Epigrammatiſches wurde gemünzt, Paraboliſches er— 
funden, Helden- und Liebeslieder aus fremden Sprachen 
überſetzt. 

Einmal dichtete er auch noch für die Weimarer 
Bühne: eine Rückſchau des einzigen überlebenden 
Altmeiſters auf die große gemeinſame Weimarer Zeit. 
Die Kaiſerin Mutter von Rußland war im Winter 1818 
zu Beſuch bei ihrer Tochter der Erbgroßherzogin und 
ſollte in einem Maskenzug auf dem Theater die viel— 
jährigen poetiſchen Leiſtungen des Weimariſchen Muſen— 
kreiſes in einzelnen Gruppen vorüberwandeln ſehen, 
die verweilend ſich ſelbſt in ſchicklichen Gedichten er— 
klärten. Kein Wunder, daß dieſer geiſt- und liebevolle 
Epilog Goethes, in der Stille von Berka mit wunder— 
barer Schnelle geſchaffen, zu den berühmten Geſtalten 
von Muſarion bis zu Turandot günſtig aufgenommen 
wurde und in der Erinnerung haftete. Als 1821 das 
neue Berliner Schauſpielhaus mit der Iphigenie er— 
öffnet wurde, bat ihn der Intendant Graf Brühl um 
einen Prolog, und nochmals kommandierte Goethe 
die Poeſie zu dieſer altvertrauten Aufgabe. In ſeinem 
achtzigſten Jahre ſandte er derſelben Bühne aus freien 
Stücken eine kleine gereimte Vorrede, als ſein Hans 
Sachs als Einleitung zu dem gleichnamigen Schauſpiel 
von Deinhardſtein geſprochen wurde. Ja, im zweiund— 
achtzigſten ſtellte er nochmals Philemon und Baucis 
dar — Schon zu Schillers Zeit in einem ſeiner Vorſpiele 
verwendet — jetzt als Einleitung des fünften Aktes 


58 Der zweite Teil des Fauſt 


im zweiten Teil des Fauſt, und trat als Wandrer ſelbſt 
bei den beiden Alten ein, die ihm ein langes Dichter— 
leben über Vertraute geblieben waren und die er erſt 
vor kurzem in den Wanderjahren abermalsgeſtaltet hatte. 

An vielen Tagebuchſtellen hat Goethe in ſeinen letzten 
Lebensjahren die Vollendung des Fauſt als das Haupt— 
werk, das Hauptgeſchäft, den Hauptzweck bezeichnet, 
der ihm noch oblag. Seit ſeiner Jugend, wo er den 
erſten, individuellen Teil zumeiſt ſchrieb, trug er den 
Gang der weitern, allgemeineren Handlung in Haupt— 
zügen wie ein Märchen in ſich. Es verging die Hälfte 
ſeiner mittleren Jahre, ohne daß dieſer zweite Teil 
über Pläne und Schemata hinausrückte. Schiller 
befeuerte ihn zu dem Werke, auch entſtand im einzelnen 
vieles vom dritten und fünften Akt, Helena und Fauſts 
Tod, fertig aber wurde nichts. Noch weniger bearbeitet 
waren die Maſſen des erſten, zweiten und vierten 
Aktes. Von neuem ruhten die gewaltigen Bruchſtücke 
und Träume. 

Als Goethe ſeine Werke für die 1815 begonnene 
neue Geſamtausgabe durchſah und an der Vollendung 
des Fauſt faſt verzweifelte, ſchrieb er ein Schema des 
zweiten Teiles nieder, um einen Rahmen für etwaige 
von ihm zu veröffentlichende Bruchſtücke geben zu 
können. Dies Schema blieb ungedruckt, veraltete auch 
in Goethes Gedanken, kam aber nach Jahr und Tag 
dem jungen Eckermann zu Augen, und der ließ nun 
wie einſt Schiller keine Ruhe und mahnte und trieb 


Helena 59 


zur Ausführung namentlich auch durch den geſcheiten 
Anteil, den er an dem bereits begonnenen nahm, und 
verſtand ſo Goethe weitere Produktion „zu extorquieren“. 
„Sie können es ſich zurechnen, wenn ich den zweiten 
Teil des Fauſt zuſtande bringe. Ich habe es Ihnen 
ſchon oft geſagt, aber ich muß es wiederholen, damit 
Sie es wiſſen“, waren Goethes Worte zu Eckermann 
an einem Märzſonntag des Jahres 1830, als die Arbeit 
ſchon weit gediehen war. 

Wieder war es im Frühjahr 1825 aus Anlaß der 
neu vorzubereitenden Ausgabe letzter Hand, daß ſich 
Goethe entſchloß, mit Fauſt zu Ende zu kommen. Das 
am weiteſten ausgebildete nahm er zuerſt vor und 
bereicherte den letzten Akt. Faſt gleichzeitig, aber länger 
beſchäftigte ihn der dritte Akt. Helena war ſein älteſtes 
griechiſches und eines ſeiner allergrößten Symbole, 
neben ihr ſchrumpfen die Iphigenien und Pandoren ein, 
ſie, die Idee antiker Schönheit, war die geiſtige Mutter, 
mit der er ſeine ganze klaſſiſche Dichtung gezeugt hatte. 
So konnte ſie, auf die er undenkliche Zeit und Sorgfalt 
verwendet, doch erſt nach Erfüllung des klaſſiſchen Zeit— 
alters dargeſtellt werden, und es fügte ſich wunderbar, 
daß Goethe in Byron ein jüngeres Talent von hohem 
poetiſchen Reiz und Reichtum erlebte, nach deſſen 
Schickſal er jetzt einen Sohn Fauſtens und Helenas, den 
Jüngling Euphorion, als die Poeſie einführen konnte. 
Zugunſten dieſes neuen Ausgangs des Zwiſchenſpiels 
ließ er Alteres fahren und brachte 1826 „mit einem 


60 Sm Frühling 1827 


gewaltſamen Anlauf die Helena endlich zum überein- 
ſtimmenden Leben. Wie vielfach hatte ſich dieſe in 
langen, kaum überſehbaren Jahren geſtaltet und um— 
geſtaltet. Nun mag ſie im Zeitmoment ſolidesziert 
endlich verharren.“ 1827 wurde ſie als klaſſiſch— 
romantiſche Phantasmagorie im vierten Bändchen der 
Ausgabe letzter Hand unter kleinen dramatiſchen Neu— 
lingen mitgeteilt. 

Nun galt es noch zwei große Lücken auszufüllen, 
die rückwärtige Verbindung von Helena nach dem erſten 
Teil und die fortſetzende auf den Schluß zu herzu— 
ſtellen. Am Himmelfahrtstage 1827, in einer ſchönen 
und tätigen Frühlingszeit, ſchrieb Goethe aus ſeinem 
Garten an Zelter: „Nun aber ſoll das Bekenntnis im 
ſtillen zu Dir gelangen, daß ich durch guter Geiſter 
fördernde Teilnahme mich wieder an Fauſt begeben 
habe und zwar gerade dahin, wo er, aus der antiken 
Wolke ſich niederlaſſend, wieder ſeinem böſen Genius 
begegnet. Sage das niemanden; dies aber vertrau ich 
Dir, daß ich von dieſem Punkt an weiter fortzuſchreiten 
und die Lücke auszufüllen gedenke zwiſchen dem völligen 
Schluß, der ſchon längſt fertig iſt. Dies alles ſei Dir 
aufbewahrt und vor allem in Manufkript aus Deinem 
Mund meinem Ohr gegönnt“; er rechnete dabei auf 
Zelters Beſuch und deſſen gute, muſikaliſche Vortrags— 
weiſe. Aber von dem Anfang des vierten Aktes, der 
demnach in jenen Tagen entſtand, wandte ſich Goethe 
unter dem Eindruck der erquickenden Maimorgen dem 


Arbeit am Fauſt 61 


Anfang des erſten Aktes zu und eröffnete ihn mit 
Ariels Geſang: 

Wenn der Blüten Frühlingsregen 

Über alle ſchwebend ſinkt, 

Wenn der Felder grüner Segen 

Allen Erdgebornen blinkt . .. 
Ein Chor von Holsharfen ſolle dies Lied begleiten, 
ſchrieb er im September an Zelter; „ob dergleichen 
ſchon ausgeführt worden, iſt mir nicht bekannt. Dieſe 
Gelegenheit aber, etwas wunderſames hervorzubringen, 
ſollteſt Du Dir nicht entgehen laſſen.“ Im Sommer 
wurde ein Teil der Kaiſerſzenen des erſten Aktes fertig; 
die Thronſaalſzene las Goethe am 1. Oktober Eckermann 
und am 13. Oktober Zelter zum erſtenmal vor. Bis 
Ende November kam der große Mummenſchanz ins 
reine, der in der Erfindung des Papiergeldes gipfelt 
— der bedeutendſte aller Goethiſchen Maskenzüge, für 
Deutſchland gedichtet wie manche früheren für Weimar. 
Die folgende Luſtgartenſzene wurde im Laufe des 
Winters nur ſo weit fertig, wie ſie Goethe zu Oſtern 
1828 als vorläufiges Ende ſeines Fauſt im zwölften 
Bändchen der Ausgabe letzter Hand veröffentlichte mit 
der Schlußbemerkung: Iſt fortzuſetzen. 

Im Sommer 1828 gelang der Anfang des zweiten 
Aktes. Vorgeleſen aber wurde er den Nächſtvertrauten 
erſt an der Jahreswende 1829 auf 1830, nachdem auch 
die Schlußſzenen des erſten Aktes geſtaltet worden 
waren und jo der ganze vordre Zuſammenhang end» 


62 Vollendung des Fauſt 


gültig hergeſtellt war. Goethe hatte ſich in die alten 
leichten gereimten Versmaße ſeiner Frühzeit wieder 
eingelebt, längerer Aufenthalt in dem nun hochge— 
wachſenen Garten ſeiner erſten Weimarer Jahre be— 
förderte die Anknüpfung an ſeine Jugendgeſpinſte; 
ſelbſt die europäiſche Politik erinnerte durch Lepanto 
an jene Zeit, wo man ſchon einmal gern davon ge— 
ſprochen hatte, 

Wenn hinten, weit, in der Türkei 

Die Völker aufeinanderſchlagen. 
In der erſten Hälfte von 1830 ſchwoll dann allmählich 
die klaſſiſche Walpurgisnacht heran, durch eine lebens— 
längliche Beſchäftigung mit der griechiſchen bildenden 
Kunſt vorbereitet, als Auguſt und Eckermann zur Reiſe 
nach Italien aufbrachen. Und im folgenden Jahre 
ergab ſich als letzter Reſt der vierte Akt. An ſeinem 
zweiundachtzigſten Geburtstage ſah Goethe das Werk 
getan. 

Die letzten fünf Jahre Arbeit am Fauſt wurden 
durch ſchmerzliche Verluſte unterbrochen. Im Juni 
1828 ſtarb der Großherzog Carl Auguſt. Goethe mußte 
bei dem verwundeten Zuſtande ſeines Innern wenig— 
ſtens ſeine äußern Sinne ſchonen und ging auf Wochen 
nach Dornburg. Er hätte an keinem Orte verweilen 
können, wo die Tätigkeit ſeines Fürſten auffallender 
anmutig vor die Sinne trat. Seit fünfzig Jahren hatte 
er ſich mehrmals an dieſer Stätte mit ihm des Lebens 
gefreut, der herrlichen, fröhlichen Ausſicht auf das Saal— 


Letzte Verluſte 63 


tal und der wohlunterhaltenen Gärten mit feenhaft 
geſchmückten Roſenlauben, dabei das hinzuerworbene 
neu aufgeputzte Schlößchen und der jüngſt angelegte, 
gedeihende Weinberg. Das alles erſchien ihm in der 
Trauer „in erhöhteren Farben wie der Regenbogen auf 
ſchwarzgrauem Grunde.“ Eine der erregteſten Nächte 
auf ihre beiden Geburtstage hin ließ Stimmungs— 
kräfte in ihm aufzucken wie einſt zur Zeit des Freundes— 
liedes An den Mond und von Jägers Abendlied und 
ſchenkte ihm die Strophen „Dem aufgehenden Voll— 
monde.“ An demſelben 28. Auguſt ſtarb in Weimar der 
Schauſpieler Wolff, von allen Jüngeren der einzige 
Künſtler, der ſein Talent ganz nach Goethes Lehre 
gebildet hatte. 

Im Februar 1830 ſchied auch die Großherzogin 
Luiſe. Goethe teilte die Kunde dem alten Berliner 
Freunde am Schluſſe eines ſchwarz geſiegelten Briefes 
mit als „ein zwar gefürchtetes, aber durch Hoffnung 
abgelehntes Übel. Hiebei wirſt Du manches zu denken 
haben, als Mitgenoſſe unſres Denkens und Empfindens.“ 
Im Herbſt dieſes Jahres traf aus Italien die Nachricht 
vom Tode von Goethes Sohn ein. „Prüfungen erwarte 
bis zuletzt“ überſetzte ſich der greiſe Vater das alte 


Nemo ante obitum beatus. „Hier nun allein kann der 


große Begriff der Pflicht uns aufrecht erhalten. Ich 
habe keine Sorge als mich phyſiſch im Gleichgewicht 
zu bewegen; alles andere gibt ſich von ſelbſt. Der 


Körper muß, der Geiſt will, und wer ſeinem Wollen 


64 Abſchied 


die notwendigſte Bahn vorgeſchrieben ſieht, der braucht 
ſich nicht viel zu beſinnen.“ 

Dabei erlitt Goethes Körper doch einen Stoß, er 
erkrankte gefährlich, genas aber wieder. Er konnte das 
Jahr 1831 tätig durchleben. Seinen letzten Geburtstag 
beging er in Ilmenau. Dort hinauf, wo er ſich mit 
der Erde Weimars beſonders verwachſen fühlte, hatte 
es ihn noch einmal gezogen, und er genoß in den 
ſchönſten Tagen des Sommers das Wiederſehen nach 
langer Pauſe. Er freute ſich der Lindenalleen, die er 
vor fünfzig Jahren hatte pflanzen ſehen, und beſuchte 
im Wagen die Umgegend auf neuen guten Landſtraßen, 
wo ſonſt kaum gehbare Fußwege geweſen waren; er 
genoß das reizende Landſchaftsbild und ſann zurück. 
„Nach ſo vielen Jahren war denn zu überſehen: das 
Dauernde, das Verſchwundene. Das Gelungene trat 
vor und erheiterte, das Mißlungene war vergeſſen und 
verſchmerzt.“ Auch nach dem höchſten Gipfel der 
Tannenwälder ließ er ſich fahren, erſtieg ihn und las 
an dem einſamen Bretterhäuschen ſeine alte Inſchrift 
des Liedes wieder: „Über allen Gipfeln iſt Ruh. . .. 
Warte nur, balde ruheſt du auch.“ 

Und ſo geſchah es. Nach einem ſtill verbrachten 
Winter und kurzer Krankheit löſte ſich am 22. März 1832 
von Goethes ſterblichem Teil das ewige. 


Im neuen Großherzogtum 


Unſer großer Herzog — ſo hieß Carl Auguſt bei den 
Seinen ſchon im Freiheitskrieg. Im Dezember 1813, 
als er ſich den Verbündeten anſchloß, ſchrieb der junge 
Jenaer Profeſſor Kieſer von ihm: „Übrigens kennen 
ſie alle unſern großen Herzog nicht, wenn ſie für ihn 
fürchten, der wie ein Phönix im Kampfe jugendlich 
erſtehen wird.“ Und als die Weimarer im Januar 1814 
ins Feld zogen, heißt es in dem erſten Briefe nach der 
Heimat: „Recht ſehr hat mich der Abſchied von unſerer 
großen Herzogin und braven Großfürſtin gerührt, da 
beide ſo rein und ſchön die Sache anſehen.“ Vom 
Wiener Kongreß brachte Carl Auguſt, außer einer 
mäßigen Gebietsvergrößerung, die die öſtlichen Amter 
des Landes durch Hinzufügung des Neuſtädter Kreiſes 
beſſer zuſammenſchloß, ſeine Erhöhung zum Range eines 
Großherzogs mit. 

Aber auch auf die deutſche Bundesakte hatte er ſich 
in Wien verpflichtet, und in dieſer lautete ein Artikel: 
„In allen Bundesſtaaten wird eine landſtändiſche Ver— 
faſſung ſtattfinden.“ Großherzog Carl Auguſt von 
Weimar iſt der erſte unter allen deutſchen Fürſten 


geweſen, der dieſe Verheißung erfüllt hat. Er berief 
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 5 


66 Verfaſſung und Einkommenſteuergeſetz 


alsbald konſtituierende Stände zuſammen und ließ es 
ihnen als ſeinen Willen erklären, „die für Deutſchland 
aufgegangene Hoffnung in ſeinem Lande zu verwirk— 
lichen, die Lehre der außerordentlichen Schickſale be— 
nutzend auf Eintracht das Glück des Staates zu gründen, 
die Eintracht aber auf die Gleichheit vor dem Geſetz, 
das Ebenmaß und das Verhältnis in dem Vorteile wie 
in den Laſten zu bauen, das die Grundveſte des Staates 
ſei.“ Seine Regierung legte einen Verfaſſungsentwurf 
vor, er wurde in gemeinſamer Beratung mit den 
Ständen überarbeitet und am 5. Mai 1816 Geſetz. Er 
gewährte eine Verfaſſung, die zeitgemäß über die alt— 
ſtändiſche Ordnung hinausging, ohne vorſchnell ſpäter 
reifendes verwirklichen zu wollen: dem Landtag, aus 
einer Kammer beſtehend, wurde Steuerverwilligung 
und Geſetzberatung zugebilligt, dem Einzelnen perſön— 
liche Freiheit und Sicherheit gewährleiſtet; auch Preß— 
freiheit wurde von neuem zugeſichert. Das ganze 
jüngere Deutſchland grüßte dieſe erſte Landesverfaſſung; 
und Weimar tat den zweiten Schritt allen andern 
voran und ſchuf auf Grund der Verfaſſung 1821 das 
erſte deutſche Einkommenſteuergeſetz: alle Staatsbürger 
wurden als ſteuerpflichtig gemäß ihrer Leiſtungsfähigkeit 
erklärt und hatten ihr bewegliches Einkommen ſelbſt 
einzuſchätzen. 

Das kühne Vorgehen Weimars hatte zur Folge, daß 
hier auch die politiſche Journaliſtik grünte, kecker als 
irgendwo in Deutſchland. In Weimar ſelbſt gab Lindner 


Burſchenſchaft 67 


ein Oppoſitionsblatt heraus, in Jena legten ſich die 
namhafteſten jüngeren Profeſſoren ins Zeug gegen 
Metternich und für die großdeutſche Reichs- und Kaiſer— 
idee, der Hiſtoriker Luden in ſeinem Staatsverfaſſungs— 
archiv und in der Zeitſchrift Nemeſis und der Natur— 
wiſſenſchafter Oken mit der enzyklopädiſchen Zeitung 
Iſis. Die Köpfe wurden noch wärmer dadurch, daß 
auch die Anhänger des Alten, der Ruhe ein Parteiblatt 
gründeten: Kotzebue, ein Weimarer Kind, bekannt 
durch ſeine ruſſiſchen Erlebniſſe und Beziehungen und 
als gewandteſter Luſtſpiellieferant ſeiner Zeit, gründete 
das literariſche Wochenblatt. 

Die Jugend nahm am lebhafteſten Partei, und im 
Zeichen des nationalen Einheitsgedankens gründeten 
ſchon am 12. Juni 1815 hervorragende Jenaer Stu— 
denten die „Burſchenſchaft“, darunter ehemalige Lützo— 
wer Jäger und alte Mitglieder der Landsmannſchaften 
Vandalia und Thuringia. Freiheit, Ehre und Vaterland 
wurde die Loſung, im Turnen ſich zu üben, dem 
Chriſtentum treu zu ſein waren andere Gebote, die 
man befolgte; ſchwarz, rot, gold die Farben, ernſt und 
einfach die deutſche Burſchentracht. Binnen wenigen 
Tagen umfaßte der neue Jenaer Bund dreihundert 
Jünglinge; und raſch griffen ſeine Gedanken auf andre 
Univerſitäten über, denn es war ja nur der ſich ver— 
jüngende Geiſt der Zeit, der hier in Jena zuerſt in der 
akademiſchen Jugend zündete. 


Ein großes Feſt ſollte die Erweiterung zur deutſchen 
5* 


68 Wartburgfeſt 


Burſchenſchaft einleiten, zugleich eine Feier der Leip⸗ 
ziger Schlacht und des Theſenanſchlags Luthers, und 
ſo wurde zum 18. Oktober 1817 nach der Wartburg 
eingeladen; gern hatte Carl Auguſt die Erlaubnis ge— 
geben. Sechshundert deutſche Studenten kamen und 
zogen am Morgen des Hauptfeſttages unter dem 
Geläute der Eiſenacher Glocken durch den Herbſtwald 
hinan zu der halb vergeſſenen Ruine, die die Wartburg 
damals noch war. Unter ihnen vier Jenaer Dozenten: 
Oken, Schweitzer, der kurz darauf ins Miniſterium 
berufen wurde, Kieſer, der im Januar 1814 als Pro— 
feſſor und Wachtmeiſter die Fahne der Weimarer 
Freiwilligen gegen die Franzoſen geſchwungen hatte, 
und Fries, der Philoſoph, einſt in Jena neben Fichte 
und Schelling wenig beachtet, inzwiſchen in Heidelberg 
zu Bedeutung und Anſehen gelangt und 1816 von 
Carl Auguſt nach Jena zurückberufen in der Hoffnung, 
„daß er daſelbſt die Philoſophie neu begründen werde“; 
„Deutſchlands Jünglingen“ hatte er ſoeben ſeine Schrift 
„Vom deutſchen Bund und deutſcher Staatsverfaſſung“ 
gewidmet. In dem dichtbeſetzten alten Feſtſaale der 
Wartburg ſprach für die Studenten Riemann, mit dem 
eiſernen Kreuz von Waterloo auf der Bruſt, ernſt und 
beherzt von der Hoffnung der Deutſchen auf Einheit 
und Freiheit, von der Kampfbereitſchaft des Geiſtes 
der Wahrheit und Gerechtigkeit gegen den der Unter— 
drückung. Fries rief begeiſtert: „Sei uns gegrüßt, du 
helles Morgenrot eines ſchönen Tages, der über unſer 


Reaktion 69 


schönes Vaterland heraufkommt; ſei uns gegrüßt, du 
geiſteswarmer, jünglingsfriſcher Lebensatem, von dem 
ich durchhaucht fühle mein Volk!. . . . Laſſet euch den 
Freundſchaftsbund eurer Jugend, den Jugendbundes— 
ſtaat, ein Bild werden des vaterländiſchen Staates . . . 
laſſet aus ihm den Geiſt kommen in das Leben unſers 
Volkes, denn jünglingsfriſch ſoll uns erwachſen deutſcher 
Gemeingeiſt für Vaterland, Freiheit und Gerechtigkeit.“ 
Oken ſprach ruhiger und warnte davor, ſich als politiſche 
Partei auftun zu wollen. Abends, wo der Eiſenacher 
Landſturm ein Freudenfeuer auf dem benachbarten 
Wartenberge entfacht hatte, gab es einen Studentenulk: 
mißliebige Staats- und Polizeiſchriften wurden in effigie 
verbrannt, d. h. ihre Titelblätter ins Feuer geworfen. 
Zum Beſchluß des Feſtes gingen die Burſchen in der 
Eiſenacher Kirche vereint zum heiligen Abendmahl. 
Mancher hat dieſe Tage als die erhebendſten und be— 
deutendſten ſeines Lebens in der Erinnerung behalten. 
Es dauerte nicht lange, ſo begannen die Verdächti— 
gungen des Wartburgfeſtes. Einige norddeutſche Zei— 
tungen kritiſierten es, bei der Weimarer Regierung 
liefen Beſchwerden und Klagen von Einzelnen und 
andern Regierungen ein, eine ruſſiſche Denkſchrift 
empfahl Unterdrückung aller akademiſchen Freiheit in 
Deutſchland. Anfangs wehrte Carl Auguſt beim 
Bundestag Übelnehmen und Angriff ab, aber als im 
März 1819 der Jenaer Student Sand in Mannheim 
Kotzebue ermordete, mußte er dem Andringen der 


70 Der Burſch Fritz Reuter 


Großſtaaten nachgeben: im Sommer 1819 wurde in 
Karlsbad beſchloſſen, die Univerſitäten zu ſäubern und 
ſtrenger zu regieren, die Burſchenſchaft zu verbieten, 
die Preßfreiheit aufzuheben. In Jena ſah ſich Oken 
vor die Wahl geſtellt, ſeine Zeitſchrift Iſis oder ſeine 
Profeſſur aufzugeben — er verzichtete auf die Bro» 
feſſur —, und Fries wurde abgeſetzt. Die Burſchen— 
ſchaft löſte ſich im November 1819 auf, bildete ſich 
zwar ſofort heimlich wieder, in Jena als Germanen 
und Arminen, aber ſie trübte oder verſchärfte ſich nun. 

In einen bedenklichen Zuſtand war ſie eben geraten 
— durch den Beſchluß des Frankfurter Burſchentags 
vom September 1831, an einem etwaigen Volksaufſtand 
zur Herbeiführung eines freien und einheitlichen Staats— 
lebens teilzunehmen —, als Oſtern 1832 der stud. jur. 
Fritz Reuter aus Mecklenburg nach dem jugendgeiſt— 
berühmten Jena überſiedelte und bei der unterneh- 
menden Gruppe der Germanen einſprang. Zwar 
beteiligte er ſich nicht aktiv und perſönlich an politiſchen 
Treibereien, immerhin — nach Jahren hegte er keinen 
Zweifel daran — mußte die bürgerliche Geſellſchaft 
damals einen Jenenſer Burſchen als „einen ſihr unver— 
daulichen Happen“ empfinden. Im Winter 1832 auf 
1833 kam es zu wilden Schlägereien zwiſchen den 
ſchneidigeren Germanen und den läſſigeren Arminen, 
ein weimariſches Militärkommando rückte in Jena ein, 
die Ruhe wurde mit Gewalt und Strenge wieder— 
hergeſtellt; Reuter trat aus und kehrte gegen Oſtern 


Jenas Rückgang um 1830 1 


1833 in die Heimat zurück. Dort hielt er ſich den Sommer 
über in der Stille, während allenthalben auf junge 
„Verbrecher“ ſeines Schlages gefahndet und über 
tauſend ergriffen wurden. Als er im Herbſt das Wetter 
vorüber glaubte und in Berlin weiter ſtudieren wollte, 
wurde er verhaftet und erlebte nun die Zeit, die trotz 
aller Not des Leibes und Gemütes ſeinen elementaren 
Humor nicht verſiegen machte, ſeine „Feſtungstid“, ja 
die auch eine neue Liebe des Urniederdeutſchen zum 
Thüringer Lande nicht ganz auslöſchte. 

Es war damals keine Blütezeit der Univerſität Jena. 
Die Reform, die ihr Carl Auguſt 1816 hatte angedeihen 
laſſen, ſchlug zwar anfangs zum Guten aus: man zählte 
wieder 800 Studenten, aber dann kamen die Karlsbader 
Beſchlüſſe und ihre Folgen, der Beſuch ging während 
der zwanziger und bis Mitte der dreißiger Jahre auf 
500 zurück und fiel dann weiter auf kaum 400. Daß 
ſich ſeit 1826 außer Weimar und Gotha auch Altenburg 
und Meiningen an den Erhaltungskoſten beteiligten, 
machte die Abgelegenheit nicht wett, der Jena anheim— 
fiel. Wirkten doch auch die namhafteſten Lehrer all— 
mählich mehr im Sinne der Vergangenheit, als der ſonſt 
in der Offentlichkeit lebendigen Gegenwart. 

Luden konnte wohl in dem Zeitalter nach den 
Freiheitskriegen ſchließlich als der Neſtor der deutſchen 
Hiſtoriker gelten. Von Herder angeregt, deſſen Ideen 
zur Philoſophie der Geſchichte der Menſchheit er 1821 
zum zweitenmal ausgehen ließ und einleitete, war er 


72 Luden und Fries 


dann Schelling näher getreten, und deſſen hochtönende 
Gedanken hallten vielfach bei ihm wider. Die Ge— 
ſchichte mit philoſophiſchem Geiſte zu ergreifen, ſah er 
als ſeine Lebensaufgabe an; Vaterland, Philoſophie, 
die Geſchichtſchreibung als Poeſie waren die Sterne, 
um die ſein Denken kreiſte. Dabei kam viel Abſtraktes 
zuſtande, während ihn in der Erforſchung und Dar— 
ſtellung des Wirklichen anderwärts jüngere Kräfte weit 
übertrafen. Immerhin iſt ſein 1821 erſchienenes Mittel— 
alter — „das Mittelalter iſt, wo teutſches Leben und 
teutſche Art hervortritt oder nachgewieſen werden 
kann“ — die erſte Geſamtwürdigung des deutſchen 
Mittelalters geweſen, und ſeiner zwölfbändigen Ge— 
ſchichte des teutſchen Volkes, 1825 bis 1837 veröffent— 
licht, konnte er 1843 noch eine kürzere dreibändige 
Geſchichte der Teutſchen folgen laſſen; er ſtarb 1847. 

Es war Carl Auguſt 1819 nicht leicht geworden, 
Fries zu entlaſſen; er bot ihm Tiefurt zum Aufenthalt 
an. Aber Fries widmete ſich lieber abſeits ſeinen 
Studien der Seelenkunde und ſchrieb ſein Hauptwerk, 
die pſychologiſche Anthropologie. Da er auch mathe— 
matiſch und naturwiſſenſchaftlich geſchult war, war es 
möglich, ihm 1824 die Jenaer Profeſſur für Mathematik 
und Phyſik zu übertragen; auch wurden ihm philoſophi— 
ſche Privatiſſima geſtattet, und in dieſen wirkte er nun 
weſentlich als Ergänzer Kants, auch als Ironiſierer 
Hegels. Nicht Philoſophie, nur philoſophieren wollte 
er lehren, dazu trieb er meiſterhaft innere Selbſtbeob— 


Rieſer 13 


2 


8 


achtung. Kants Kritik der Vernunft galt es ihm zu 
einer Theorie der Vernunft fortzubilden; den innern 
Sinn, bei dem er von der Selbſterkenntnis ausging, 
entfaltete er bis zur vollſtändigen Reflexion. So gelangte 
er zu einer religiös-äſthetiſchen Weltanſchauung mit dem 
Schlußſatz: „Wir wiſſen um das Endliche, wir glauben 
an das Ewige, und wir ahnen das Ewige im Endlichen.“ 
Er lebte wie ein antiker Weiſer, und ſo fand er dankbare 
Schüler; 1838 erhielt er auch die volle philoſophiſche 
Lehrfreiheit zurück und ſtarb 1843. 

Eine andere Verbindung von Naturwiſſenſchaft und 
Philoſophie ſtellte neben ihm Kieſer dar. Sein Syſtem 
der Medizin, das er 1817 bis 1819 veröffentlichte, 
knüpfte an Schelling an, und dieſe phantaſtiſch-ideale 
Richtung verfolgte er erſt recht 1821 in ſeinem Syſtem 
des telluriſchen und tieriſchen Magnetismus. Auch dem 
Somnambulismus widmete er Aufmerkſamkeit, und 
ſchließlich mündete ſein ärztliches Intereſſe in der 
Pſychiatrie: bis 1847 beſchäftigte ihn vor allem ſeine 
Privatklinik, dann die Leitung der großherzoglichen 
Irrenanſtalt. Als liberaler Patriot vertrat er viele 
Jahre die Univerſität im Landtage und wurde 1848 
in das Frankfurter Vorparlament gewählt; als deutſcher 
Naturwiſſenſchafter wurde er 1847 Director Epheme— 
ridum der Kaiſerlich Leopoldiniſch-Caroliniſchen Aka— 
demie der Naturwiſſenſchaften und 1858 deren Präſident, 
semper idem, tenax propositi bis ins hohe Alter. 

Zu denen, auf die ſich Jenas Ruf im Zeitalter des 


74 Döbereiner 


Bundestags gründete, gehörte auch der Chemiker 
Döbereiner. Carl Auguſt hatte den Autodidakten 1810 
von der Bierbrauerei weg berufen und 1818 zum Ordi— 
narius ernannt, er und Goethe ſchenkten ihm Vertrauen, 
und der preußiſche Staat bediente ſich ſeiner; 38 Jahre 
wirkte er in Jena. Als er 1822 die Entzündbarkeit 
von Platinmohr durch Waſſerſtoffgas entdeckte und 
damit eine Zündlampe konſtruierte, wurde er allbekannt; 
erſt das Phosphorſtreichholz verdrängte ſeine Lampe. 
Mit Hülfe der qualitativen Unterſuchung ſeiner Zeit 
erklärte er die Entſtehung von Eſſig aus Weingeiſt 
und erkannte und nannte den Sauerſtoffäther; dieſer 
wurde freilich bald durch die weitertragende quantitative 
Unterſuchung Liebigs von neuem in Aldehyd und Acetol 
zerlegt. Döbereiners ſauberer Vortrag, die Eleganz 
ſeiner Experimente und ſeine Biederkeit, ſein Witz zogen 
die Studenten an. 

Hat Carl Auguſt an der Entwicklung Jenas nicht nur 
Freude gehabt, ſo war der perſönliche Gewinn, den 
ihm ſonſt die letzten zwölf Jahre ſeiner Regierung 
brachten, deſto größer. Auf ſeiner Reiſe nach Mailand 
im Jahre 1822 erfreute ihn auch fremde Anerken— 
nung: die Italiener nannten ihn il principe uomo. 
Als er 1825 an ſeinem Geburtstag das fünfzigjährige 
Regierungsjubiläum beging, überſchüttete ihn ſein 
thüringiſches Volk mit Liebe, und er war nun der 
volkstümlichſte deutſche Fürſt. Sein Verſtändnis 
für alles edelſte des Menſchengeiſtes wie für die Ge— 


Carl Auguſts Jubiläum 75 


ſundheit der Naturforſchung und dabei ſeine Mann— 
haftigkeit und ſein ſchlichtes Gehaben hatten ihn den 
Deutſchen ſo nahe gebracht. „Die gedrungene, kräftige 
Geſtalt, das Einfache, Ruhige, Körnige ſeiner Worte 
und Gebärden machten einen imponierenden Eindruck, 
obgleich die äußere Erſcheinung der eines intelligenten 
Landwirtes ähnelte“, ſagte der Zeichner Ludwig Richter, 
der ihn als Siebzehnjähriger ſah. In Weimar kannte 
jedes Kind den alten Herrn, wie er ſelbſt ſeine Kaleſche 
fuhr, in Militärmütze und abgetragenem Mantel, eine 
Zigarre rauchend. 

Unter den Freuden ſeines Jubiläums war eine merk— 
würdig: nahezu vollendet ſtand der Bau eines Schul— 
und Bethauſes, das mit eigenen Händen Zöglinge der 
Geſellſchaft der „Freunde in der Not“ errichtet hatten. 
Dieſen Verein hatte der Schriftſteller Falk in Weimar 
nach dem Kriege gegründet, um ſich der verwaiſten und 
verwilderten Kinder anzunehmen: Mädchen brachte er 
in Dienſten unter, Knaben als Lehrburſchen im Hand— 
werk. Einſt von Wieland als zukunftsreicher Satiriker 
willkommen geheißen, hatte Falk ſo ſeine Bitterkeit 
gegen die Geſellſchaft in Milde verwandelt. Sein Unter— 
nehmen blühte, als ihn 1826 der Tod abrief; 1829 wurde 
es in eine öffentliche Erziehungsanſtalt für verwahrloſte 
Kinder umgewandelt und beſtand weiter als Falkſches 
Inſtitut. 

Zu Ende ſeiner Zeit hat es Carl Auguſt noch beglückt, 
daß ſich neue Verbindungen ſeines Hauſes mit den 


76 Verlobung der Enkelinnen; Carl Auguſts Tod 


Hohenzollern knüpften. Zwei Enkelinnen waren ihm 
vor dem Enkel geboren worden und wuchſen in der 
geiſtig reinen Luft Weimars heran, im Sommer oft 
in Jena in dem großen Griesbachſchen Garten am 
Fürſtengraben wohnhaft, den Maria Paulowna 1818 
für ſie ankaufte und der nun Prinzeſſinnengarten hieß. 
Die beiden preußiſchen Prinzen Wilhelm und Karl 
weilten im November 1826 zu längerem Beſuch in 
Weimar; ſie brachten ganz friſches Leben an den kleinen 
Hof, und 1827 vermählte ſich Prinz Karl mit Carl 
Auguſts älteſter Enkelin Marie. Goethe ſah mit Rührung 
das Behagen des Großherzogs an den Gäſten und an 
dem neuen Verhältnis. Das zweite Bündnis der nach 
ihm genannten Auguſta mit Wilhelm, für Deutſchland 
von größerer Bedeutung, erlebte Carl Auguſt nicht 
mehr, aber er ſah es kommen. Eine Reiſe nach Berlin 
im Frühſommer 1828 war ſeine letzte Unternehmung. 
Auf alle berliniſch-weimariſchen Beziehungen fiel ein 
Strahl dieſes Beſuchs; die geheimnisvolle Klarheit des 
Fürſten bei viel körperlicher Schwäche wurde bemerkt, 
und Alexander von Humboldt, der faſt täglich um ihn 
war, ſchrieb: „Nie habe ich den großen menſchlichen 
Fürſten lebendiger, geiſtreicher, milder und an aller 
ferneren Entwicklung des Volkslebens teilnehmender 
geſehen als in den letzten Tagen, die wir ihn hier be— 
ſeſſen.“ Auf der Rückreiſe überraſchte ihn der Tod am 
14. Juni in Graditz bei Torgau: er ſtarb mit dem Blick 
nach der untergehenden Sonne. Am 21. abends „ſtanden 


Tod der Großherzogin Luiſe. Die neue Herrſchaft 77 


die in Trauer gekleideten Bürger am Weichbild Weimars 
bis zum römiſchen Hauſe im Park mit ſtummen, blaſſen 
Geſichtern in dichten Reihen, als die teuren Überreſte 
nach dieſem ſeinem Lieblingsaufenthalt gebracht wurden 
und durch den bewölkten Sommerhimmel unabläſſig die 
leuchtenden Blitze ohne Donner und Regen zuckten.“ 
Als ſich ein Jahr darauf Wilhelm von Preußen und 
Auguſta von Weimar in Berlin vermählten, war der 
Abſchied der bedeutenden und liebenswürdigen Prin— 
zeſſin das letzte tiefgehende Erlebnis der verwitweten 
Großherzogin Luiſe. Schon im Herbſt 1828, nach einem 
ihrer letzten Beſuche bei Goethe, dem erſten nach Carl 
Auguſts Tode, hatte ſie ausgeſprochen: „Goethe und ich 
verſtehen uns vollkommen, nur daß er noch den Mut hat 
zu leben und ich nicht.“ Goethe hatte damals bei ihrem 
Weggange vor ſich hin gemurmelt: „Welch eine Frau, 
welch eine Frau!“ Sie entſchlief im Februar 1830. 
Die neue Herrſchaft war geſonnen und gewillt, den 
empfangenen Lebensfaden fortzuſpinnen. Dafür bürgte 
ebenſo das ruhige, milde Weſen des Großherzogs Carl 
Friedrich wie das künſtleriſche und humane Intereſſe 
der Großherzogin Maria Paulowna. Eine Hauptgewähr 
für die Stetigkeit der Entwicklung waren auch die von 
Carl Friedrich noch lange beibehaltenen Miniſter von 
Fritſch, von Gersdorff und Schweitzer. Fritſch war ein 
Sohn jenes Miniſters, neben den einſt der junge Goethe 
getreten war; er iſt von 1815 bis 1843 weimariſcher 
Staatsminiſter geweſen, meiſt mit Rechtsweſen, 


78 Fritſch und Gersdorff; Zollverein und Eiſenbahn 


Verwaltung, Polizei und Steuerſachen beauftragt. 1819 
führte er für Weimar die Verhandlungen in Karlsbad. 
Gersdorff hatte ſich als geſchickter Vertreter Weimars auf 
dem Wiener Kongreß bewährt und dort mehr Einfluß 
gehabt, als Weimar an ſich zukam; es geſchah auf ſein 
Betreiben, daß die beabſichtigte Kreiseinteilung des 
Bundes abgelehnt, daß Mainz zur Bundesfeſtung 
erklärt wurde. Im neuen Großherzogtum, deſſen 
Gebiet er vor allem hatte feſtſtellen helfen, waren die 
Finanzordnung von 1821 und die Einkommenſteuer im 
weſentlichen ſein Werk. 

Die erſte weimariſch-deutſche Aufgabe unter dem 
neuen Großherzog war die Zollvereinsfrage. Karl 
Auguſt hatte noch einen mitteldeutſchen Zollverein 
zwiſchen dem preußiſchen und dem ſüddeutſchen ins 
Auge gefaßt. Er kam zuſtande und konnte ſich auch 
einige Jahre, auf die Königreiche Sachſen und Hannover 
geſtützt, halten. Aber ſchon arbeitete Preußen auf einen 
deutſchen Zollverein hin, einigte ſich mit Süddeutſchland 
und auch mit Gotha und Meiningen über einen zoll 
freien Handelsweg nach dem Süden, und damit war 
das Ende des mitteldeutſchen Zollvereins nahe gerückt: 
1833 ſchloſſen ſich alle thüringiſchen Staaten dem preu— 
ßiſchen Zollverein an, insgeſamt durch einen weimari— 
ſchen Generalbevollmächtigten vertreten. Nach wenigen 
Jahren tauchte eine zweite Verkehrsfrage auf: die einer 
Eiſenbahnverbindung des Großherzogtums. Die Ver— 
handlungen darüber führten 1840 zu einem Vertrag 


Schweißer 79 


zwiſchen Weimar, Gotha, Preußen und Kurheſſen, die 
thüringiſche Hauptbahnlinie wurde feſtgelegt. 1846 war 
die Strecke Halle —Weimar fertig, und bald wurde auch 
Eiſenach angeſchloſſen. 

Am konſervativpſten wirkte der Miniſter Schweitzer. 
Auch er ſtammte aus Carl Auguſts Schule: auf deſſen 
Wunſch hatte er als junger Juriſt an der Verfaſſung 
weſentlich mitgearbeitet und war dann 1818 ins Mini— 
ſterium berufen worden, wo er jahrelang ohne be— 
ſtimmtes Departement wichtige Geſchäfte einzeln über— 
tragen erhielt. Seit 1827 führte er den Vorſitz bei 
Erziehungs- und Unterrichtsſachen, nach Goethes Tode 
übernahm er die Oberaufſicht über die unmittelbaren 
Anſtalten für Wiſſenſchaft und Kunſt und leitete ſeit 
1842 wechſelnd beſtimmte Departements, wobei ihm 
ſeine im Gebiete eines Kultusminiſteriums liegenden 
alten Aufgaben ſtets erhalten blieben. 

Mancher gute Weimarer dieſes Zeitalters hat es 
bedauert, daß ein ſo hervorragender Mann wie Prinz 
Bernhard, Carl Auguſts zweiter Sohn, ein Recke ' an 
Körper und Geiſt, fern von der Heimat lebte und 
wirkte. Es waren prophetiſche Worte und ein Omen— 
name geweſen, als Herder 1792 das Kind taufte: es 
ſei die Zeit gekommen, wo die Fürſten die Berechtigung 
zu dem Vorrecht ihrer Geburt zu erweiſen hätten. Der 
tapfere Prinz erhielt 1809 nach der Schlacht bei Wagram 
als jüngſter Offizier von Napoleon das Kreuz der Ehren— 
legion, 1815 kämpfte er bei Quatrebras und Waterloo 


80 Prinz Bernhard 


und wurde dann Generalmajor in dem neuen Königreich 
der Niederlande, wohin ihm eine meiningiſche Prin⸗ 
zeſſin als Gemahlin folgte. Seine Bemühungen galten 
im Frieden vor allem der Beſſerung des dortigen 
Offizierſtandes; in dem Kampfe des Jahres 1830, wo 
ſich Belgien losriß, ſchlug er den Feind, da gebot ein 
Waffenſtillſtand ihm Einhalt. Nochmals leiſtete er von 
1849 ab Holland Soldatendienſte durch Übernahme 
eines dreijährigen ſchwierigen Kommandos auf Java. 
Dazwiſchen beſchäftigten große Reiſen in Europa und 
nach den Vereinigten Staaten von Amerika ſeinen 
kühnen Sinn; eine Berufung auf den griechiſchen 
Thron aber ſchlug er 1829 aus. Erſt an ſeinem Lebens— 
abend hat er vorübergehend wieder in Weimar geweilt; 
er ſtarb 1862 in Liebenſtein. 

Inzwiſchen rückte neben die ältere Schicht der be— 
rühmteren Jenaer Profeſſoren allmählich eine jüngere; 
dieſe können recht eigentlich als die Vertreter der Zeit 
Carl Friedrichs gelten, auch wenn ihre Anfänge zum 
Teil noch unter Carl Auguſt fallen. Da war der Philologe 
und Archäologe Göttling, ein Jenaer Kind, von 1822 
an außerordentlicher Profeſſor, als welcher er Goethe 
bei der letzten Ausgabe ſeiner Werke philologiſch unter— 
ſtützte, allerdings mehr grammatiſch knüſelig und geiſt— 
reich begleitend, als redlichſt auf den Grund gehend; 
1831 wurde er Ordinarius. Um 1850 galt er als die 
ſchönſte Zierde, ja das geiſtige Haupt der Univerſität. 
Die griechiſche Akzentlehre, nach kleinen Anläufen 1835 


Göttling und Schulze 81 


abſchließend dargeſtellt, die Geſchichte der altrömiſchen 
Verfaſſung, 1840 veröffentlicht, waren Hauptarbeiten 
von ihm; er gab Ariſtoteles und Heſiod heraus, und 
recht nach ſeinem Sinne war es wohl, als ihm 1843 
der Nachweis gleichzeitiger Bildniſſe von Thusnelda 
und Thumelicus gelang. Das 1845 von ihm geſtiftete 
archäologiſche Muſeum wuchs ſo ſchnell, daß er den 
Katalog 1854 zum drittenmal ausgeben mußte. Ein— 
faches, inniges Weſen, ſprudelnder Humor, vielſeitige 
Intereſſen und Kenntniſſe, auf großen Reiſen genährt, 
durchleuchteten ſeine Vorträge. 

Wie galten zu Beginn dieſer Zeit Wiſſenſchaftlichkeit 
und Altertumswiſſenſchaft noch als unzertrennlich! Als 
ſich der junge praktiſche Landwirt Schulze, 1816 vor— 
züglicher Schüler der Tiefurter Muſterwirtſchaft und 
ſeit 1817 Verwalter der großherzoglichen Kammergüter, 
1819 in Jena für Land- und Volkswirtſchaft habilitierte, 
ſchrieb er eine Abhandlung: De aratri Romani forma 
et compositione! Und auch dann vertraute er ſich nicht 
ſofort ſeiner Wiſſenſchaft ganz an, ſondern nahm noch 
den Umweg über die Philoſophie, wurde Schüler von 
Fries, durchdachte die philoſophiſche Begründung der 
Volkswirtſchaftslehre und ſchrieb 1825 über Weſen und 
Studium der Wirtſchaftslehre und der Cameralwiſſen— 
ſchaften. Jetzt erſt fühlte der Dreißigjährige die Arme 
frei zu kräftiger Verfolgung ſeines Ziels: 1826 wurde 
das neue Lehrinſtitut für Landwirtſchaft eröffnet und 
1832 das neue Lehrgebäude dazu. In Norddeutſchland 

Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 6 


82 Haſe 


wurde man auf ihn aufmerkſam, drei Jahre wirkte er 
in Eldena, ließ ſich aber dort bei ungünſtigen Verhält— 
niſſen nicht halten und kehrte 1838 mit dreißig Eldenaer 
Schülern nach Jena zurück, um nun hier zwei Jahr— 
zehnte lang große Anziehungskraft zu üben, beſonders 
ſeitdem er mit dem Inſtitut die Ackerbauſchule in dem 
nahen Zwätzen verband. Auch betrieb er das landwirt⸗ 
ſchaftliche Vereinsweſen Thüringens, und 1856 krönte 
er ſein wiſſenſchaftliches Schriftſtellertum mit einem 
Lehrbuch der Nationalökonomie. Um die Verpflanzung 
des akademiſchen Studiums der Landwirtſchaft an die 
Univerſität, um die Förderung des landwirtſchaftlichen 
Fortſchritts war er gleich verdient. 

Zwei andere junge Jenaer Profeſſoren kamen auf 
den Weg der geſchichtlichen Betrachtung ihrer Wiſſen— 
ſchaft und wurden ſo ihrer ſelbſt und eines neuen Stand— 
punktes gewiß. Der Theolog Haſe, dereinſt Burſchen— 
ſchafter, hatte als angehender Dozent in Leipzig eine 
Lanze gegen den Supranaturalismus für friſches ratio— 
nales Denken in ſeiner Wiſſenſchaft gebrochen, und 
ſeine Berufung an die thüringiſche Univerſität 1830 
ſah man in Halle an „als ganz im Sinne des jugendlich 
voranſchreitenden Jena geſchehen.“ Nun aber erkannte 
er es, auch einer romantiſchen Ader ſeines Weſens treu, 
als ſeinen Beruf, die Forderung der Vernunft mit dem 
Verlangen des Gefühls, freies Denken mit chriſtlichem 
Geiſte als einig darzuſtellen; er konnte und mußte den 
Rationaliſten Mangel an geſchichtlichem Sinn vor— 


Häſer und Schleiden 83 


werfen: er ſelber ſah hüben und drüben die Säulen 
der Kirche ragen, in beiden Lagern gelehrte und fromme 
Männer. Seinem Lehrbuch der Kirchengeſchichte, das 
1834 zum erſtenmal erſchien, ſagte man nach, der Ver— 
faſſer ſei bei Goethe in die Schule gegangen und habe 
dieſem das Geheimnis abgelernt, jenes klare, erquickende 
Licht über die Darſtellung auszugießen, wo auch das 
ſcharf Ausgeſchnittene nie zu grell ins Auge falle. — 
Einen etwas andern, aber vergleichbaren Wechſel machte 
der Mediziner Häſer durch, der Sohn des Weimarer 
Kapellmeiſters aus Goethes Zeit. Als Schüler Kieſers 
diſſerierte er 1834 in Jena ſchellingiſch im Banne der 
Naturphiloſophie de influentia epidemica; während er 
hier 1836 zum Dozenten, 1839 zum außerordentlichen 
und 1846 zum ordentlichen Profeſſor aufrückte, hob ihn 
das Studium der Geſchichte der Medizin aus dieſer 
Sackgaſſe und neben ſeiner ſachlicher werdenden Heil— 
wiſſenſchaft entſtand bis 1845 ſein Lehrbuch der Ge— 
ſchichte der Medizin, das ſich in ſpäteren Auflagen zu einer 
„mediziniſch-hiſtoriſchen Bibel“ erweiterte und erhöhte. 

Viel leidenſchaftlicher erlebte Schleiden den Wechſel 
von einem klaſſiſch-formalen Wiſſen zu einer neuen 
Naturwiſſenſchaft. Mit zweiundzwanzig Jahren hatte 
er das juriſtiſche Doktorexamen gemacht, mit fünfund— 
dreißig holte er in Jena das philoſophiſche nach und 
ſtieg hier zwiſchen 1840 und 1850 allmählich zum ordent— 
lichen Profeſſor auf. Als er 1842 ſeine Grundzüge der 
wiſſenſchaftlichen Botanik veröffentlichte, leitete er ſie 


6 * 


84 Froriep 


methodologiſch ein über das Weſen der induktiven 
Forſchung im Gegenſatz zur dogmatiſchen Philoſophie, 
forderte und zeigte Studium und Anwendung der 
Entwicklungsgeſetze auf die Botanik und erkannte als 
Ziel dieſes Weges eine gründliche Neugeſtaltung der 
Metamorphoſenlehre. Er lieferte manches unhaltbare 
neben viel brauchbarem, rückſichtsloſe Polemik neben 
reiner Erkenntnis. So wirkte er populär wie wiſſen⸗ 
ſchaftlich, am breiteſten wohl durch das Buch „Die 
Pflanze und ihr Leben“, das zwiſchen 1847 und 1864 
in ſechs Auflagen erſchien. — Ein Zeichen des friſchern 
Jenaer Geiſtes aus der mittleren Regierungszeit 
Carl Friedrichs war der ſchöne Verlauf der vierzehnten 
Naturforſcherverſammlung im Herbſt 1836. 

An dem Jenaer Gelehrtenleben hatte Weimar teil, 
indem die Profeſſoren öfter zu Vorträgen herüber be— 
fohlen wurden. Maria Paulowna, von Anfang an in 
Weimars kunſtwiſſenſchaftliche Bildung tief eingeweiht, 
befriedigte ſo ihr Verlangen nach andauernder geiſtiger 
Nahrung; dabei beriet ſie namentlich der Weimarer 
Obermedizinalrat Froriep, jahrelang zu wöchentlichem 
Vortrag verpflichtet. Er hatte früher als Profeſſor der 
Medizin und 1814 bis 1816 in Stuttgart als königlicher 
Leibarzt gewirkt, ehe ihn Carl Auguſt nach Weimar 
berief. Hier übernahm er 1818 das Verlagsgeſchäft 
und geographiſche Inſtitut, das ſich Landes-Induſtrie— 
comptoir nannte; ſein Schwiegervater Bertuch hatte es 
gegründet und drei Jahrzehnte erfolgreich geleitet. 


Altweimarer Schriften über Gothe 85 
Froriep ſchien unerſchöpflich in Unternehmungen, gab 
die geographiſchen Ephemeriden bis 1832, eine Biblio— 
thek der Reiſebeſchreibungen bis 1835 heraus, einige 
Jahre auch ein Gartenmagazin“), ein chemiſches Labo— 
ratorium, eine kliniſche Handbibliothek, Notizen aus 
dem Gebiet der Natur- und Heilkunde uſw., aber er 
war doch mehr Gelehrter als Kaufmann, und nach 
ſeinem Tode 1847 wurde das Geſchäft allmählich großen— 
teils eingeſtellt. 

Sonſt waren in Weimar literariſch noch einige Ge— 
treue aus Goethes Kreiſe tätig, im Sinne ihres Meiſters. 
Meyer, der ihn nur wenige Wochen überlebte, hatte 
Maria Paulowna viele Jahre kunſtgeſchichtlich belehren 
dürfen, zuletzt als Witwer täglicher Gaſt ihres Hauſes. 
Der Kanzler von Müller veröffentlichte 1832 ſeine 
klugen Beiträge zum Verſtändnis von Goethes Per— 
ſönlichkeit, und auch des verſtorbenen Falk plaudernde 
Aufzeichnungen durften nun gedruckt werden: Goethe 
aus näherem perſönlichen Umgang dargeſtellt. Riemer, 
ſein älteſter philologiſcher Berater, der 1814 eine Freun— 
din von Goethes Frau aus deſſen Hauſe weg geheiratet 
hatte, Gymnaſiallehrer und Bibliothekar, von 1837 bis 
zu ſeinem Tode 1845 Oberbibliothekar, brachte 1841 
zwei Bände Mitteilungen über Goethe heraus, inhalt— 


*) In der Hoffmannſchen Hofbuchhandlung in Weimar 
lernte zu Anfang der dreißiger Jahre Ernſt Keil, deſſen jung— 
deutſchen Journaliſtentrieb die altweimarer Luft beeinflußte, 
der ſpätere Herausgeber der Gartenlaube. 


86 Riemer, Eckermann, Schuchardt; Coudray 


voll und gelehrt, wenn auch bisweilen pedantiſch und 
verdrießlich; als Dichter war er vorwiegend Nachahmer 
Goethes, beſtenfalls unbedeutender Parallelläufer, ver— 
einzelt hat er ihn doch auch angeregt. Sein und Ecker— 
manns Hauptverdienſt gegenüber dem Zeitalter war, 
daß ſie die Herausgabe von Goethes Werken fortſetzten, 
den veröffentlichten wie den nachgelaſſenen. Von Ecker⸗ 
manns berühmt gewordenen Geſprächen mit Goethe 
erſchienen die erſten zwei Bände 1836, ein dritter 1848; 
Eckermann unterrichtete übrigens den jungen Erbgroß— 
herzog Carl Alexander in Literatur und Engliſch und 
wurde ſpäter Bibliothekar der Großherzogin; er ſtarb 
1854. Schuchardt, Goethes letzter Sekretär und Gehilfe 
bei ſeinen Sammlungen, gab 1848 und 1849 im Auftrag 
der Enkel ein vollſtändiges Verzeichnis von Goethes 
kunſt⸗ und naturwiſſenſchaftlichen Sammlungen in drei 
Bänden bei Frommann in Jena heraus. Damals waren 
dieſe Sammlungen verpackt und verſchloſſen und Goe— 
thes Haus an Bekannte der Familie vermietet; die 
Schwiegertochter ſelbſt war 1839 mit ihren Kindern 
nach Wien übergeſiedelt. 

Auch der Weimarer Oberbaudirektor Coudray hatte 
noch zu Goethes Kreis gehört, von Carl Auguſt in dem— 
ſelben Jahre wie Froriep berufen. Eine bewegte 
Bildungslaufbahn lag hinter ihm; im Weimariſchen 
ſollte ihm namentlich der Wegebau zu tun geben, worin 
Carl Auguſt außerordentliches verlangte und wofür 
Coudray bis zu ſeinem Tode 1845 ſorgte. Noch ein 


Kaufmann, Schorn und Luiſe Seidler 87 


dritter Weimarer Ruf des Jahres 1816 erging an den 
ausgezeichneten Bildhauer Kaufmann in Rom, einen 
gereiften Künſtler aus Canovas Schule. Zu ſeinen 
erſten Weimarer Werken gehörten die Porträtbüſten Carl 
Auguſts und Maria Paulownas, die ihren Platz im 
Schloſſe fanden; auch arbeitete er Giebelreliefs an das 
römiſche Haus im Park und eine Chriſtusſtatue in die 
Garniſonkirche, tüchtig in der idealiſierenden Weiſe der 
Zeit; er ſtarb 1829. Kaum ein Jahrzehnt weimariſchen 
Wirkens war auch dem Kunſtſchriftſteller Schorn beſchie— 
den, der 1833 teils als Erſatz für Meyer, teils für Goethe 
eingriff: er hatte die Zeichenſchule zu fördern, die fürſt— 
liche Freigebigkeit auf junge Talente zu lenken, ließ die 
großherzogliche Kunſtſammlung neu aufſtellen und be— 
ſtärkte den Entſchluß der Herrſchaft, Räume eines neu 
erbauten Schloßflügels als ein Denkmal der vier klaſſi— 
ſchen Dichter Weimars ausmalen zu laſſen. 

Eine Seele der Weimarer Kunſt jener Zeit war die 
Malerin Luiſe Seidler. Sie ſtammte aus Jena, wurde 
von Goethe geſchätzt, dem ſie das Rochusbild für Bingen 
ausführte, und von Carl Auguſt gefördert, der ſie nach 
Rom ſchickte: dort verlebte ſie glückliche Jahre in der 
deutſchen Künſtlerkolonie. 1823 kehrte ſie zurück, wurde 
auf Goethes und Meyers Empfehlung Zeichenlehrerin 
der Prinzeſſinnen und erhielt 1824 auch die Aufſicht 
über die kleine wertvolle Gemäldeſammlung im Jäger— 
haus übertragen, wo ſie freie Wohnung und freies 
Atelier genoß. Ihre Schülerin Auguſta von Sachſen— 


[0 2) 


8 Gemäldeſammlung 


Weimar bewahrte ihr ein treues Andenken auch auf 
dem Königsthron. Sie porträtierte viel; ihre größeren 
Gemälde waren meist romantiſchrchriſtliche Kirchenbilder 
von klaſſiziſtiſchen Formen und fröhlich bunten, ſüßen 
Farben. Gleich anfangs befahl ihr Carl Auguſt, einen 
Karton mit der heiligen Eliſabeth für die Wartburg 
auszuführen; das preußiſche Kronprinzenpaar hatte 
droben im Herbſt 1826 ſeine Freude an dem neuen 
Bilde, und die hinaufpilgernden fuldiſchen Bauern 
ſtärkten davor ihre Andacht. 

Schorn ließ die Gemäldeſammlung 1836 nach dem 
Fürſtenhaus überſiedeln. Mancher bedeutende Beſuch 
kehrte hier und in Luiſe Seidlers Werkſtatt ein. Von 
Ausländern beſaß die Galerie zwar nur wenige min— 
dere Italiener, auch einen Tiepolo, aber manches 
gute Stück niederländiſcher und deutſcher Kunſt, dar— 
unter zwei Ruysdael, ein paar Dürer und Cranache, 
Dietrich und Seekatz, Graff und Tiſchbein, einige 
Kobell und von Friedrich die Regenbogenlandſchaft 
zu Schäfers Klagelied. Für die Vermehrung ſorgte 
Maria Paulowna in ihrer großartigen Weiſe: dem 
klaſſiſchen Schatz der Carſtensſchen Zeichnungen fügte 
ſie außer einem Karton von Neher ſpäter die Cornelius— 
ſchen Entwürfe zu einer Berliner Domfriedhofshalle 
hinzu und Blätter von Genelli; aus Schuchardts Cra— 
nachſammlung erwarb ſie 1852 die unſchätzbaren Bild— 
niſſe des jungen Kurfürſten Johann Friedrich und ſeiner 
Braut Sibylle von Cleve. 


Dichterzimmer im Schloß 89 


Seit 1816 war der Weſtflügel des Weimarer Schloſſes 
unter Coudrays Leitung allmählich neu erbaut worden; 
in der Mitte der dreißiger Jahre war er ſo weit fertig, daß 
man daran ging, einige Prunkzimmer als Dichterzimmer 
kunſtvoll auszuſtatten. Die Großherzogin und Schorn 
bedachten und betrieben den Plan. Für die Innen— 
architektur wurde Schinkel zugezogen, er entwarf das 
Galeriezimmer, das Goethes Andenken gewidmet war, 
und Angelika Facius aus Weimar, die geſchickte Schü— 
lerin Rauchs, hatte Türreliefs zu modellieren, damit 
ſie in Bronze ausgeführt würden. Man übertrug 
die Gemälde der beiden Hauptzimmer dem jungen 
Neher in München, einem der beſten Schüler von 
Cornelius: er ſtellte an den Wänden in der Art ſeines 
Meiſters Szenen aus Goethes und Schillers Dramen 
dar, darüber Frieſe aus Goethes Lyrik und Romanen, 

aus Schillers Balladen und Glocke. Das Herderzimmer 
15 Jäger aus Leipzig. Für das Wielandzimmer 
beſtimmte man das bedeutendſte der jungen weimari— 
ſchen Talente, den dreißigjährigen Friedrich Preller, der 
ſeine Aufgabe als Landſchafter eigen anfaßte. 

Preller war 1804 in Eiſenach geboren, aber ſeit 
ſeinem erſten Jahre in Weimar aufgewachſen. Als 
zehnjähriger Gymnaſiaſt trat er in die Zeichenſchule 
ein, und Meyer, ihr damaliger Leiter, konnte bald 
Goethe auf ihn aufmerkſam machen. Goethe erkannte 
ſofort die geſunde Begabung des feinfühligen Burſchen, 
ließ ihn Wolken zeichnen und gab ihm auch ſonſt Winke 


90 Der junge Preller 


über Landſchaftskunſt; er beförderte ſeine erſte Reiſe 
nach Dresden, wo Preller in der Galerie kopierte, und 
nach Antwerpen, wohin ihn Carl Auguſt mitnahm, als 
er den Prinzen Bernhard in Gent beſuchte. Preller 
entwickelte ſich ſo ſicher und verheißend, daß ihn Carl 
Auguſt 1826 zu einem größeren Studienaufenthalt nach 
Italien ſchickte. Fünf Jahre lebte er dort, anfangs 
länger in Mailand, dann die ſchönſte Zeit über bei den 
deutſchen Künſtlern in Rom. Die Landſchaften des 
alten Koch lehrten ihn neu ſehen, neben ihm zeichnete er 
in der Campagna, und bei einem Ausflug in die Neapeler 
Gegend bevölkerte ſeine Phantaſie dieſe unwillkürlich 
mit den Geſtalten der Odyſſee. Von jüngeren Deutſchen 
trat ihm damals Dr. Härtel aus Leipzig nahe und deſſen 
Schwager, der Jenaer Theolog Haſe; Goethes Sohn 
verſchied in Rom in Prellers Armen. Bald nach ſeiner 
Rückkehr in die Heimat nahmen ſich Hof und Staat 
von neuem ſeiner an: der Großherzog übertrug ihm 
den Zeichenunterricht bei dem Erbprinzen, Maria Pau— 
lowna beſtellte jährlich eine Landſchaft bei ihm, und er 
erhielt die erſte Lehrerſtelle an der Weimarer Zeichen— 
ſchule, dazu freie Wohnung und Werkſtatt im Jäger— 
hauſe, wo er nun lange Jahre über der etwas zimper— 
lichen Seidlerin wohnte und, überlegen, wie er ihr 
ſchon damals war, und guter Laune, „ſeinen dreißig— 
jährigen Krieg“ mit ihr führte. Auch der erſte große 
auswärtige Auftrag ſtellte ſich ein: für das „römiſche 
Haus“ in Leipzig, das ſich Härtel erbaute, hatte er einen 


Maria Paulownas muſikaliſche Bildung 91 


Erdgeſchoßſaal mit Odyſſeewandbildern zu ſchmücken. 
Mit vielen italieniſchen Studienblättern verſehen und 
nach guten Lehren geübt, machte er ſich zum erſtenmal 
friſchen Mutes an ein Werk, das dreißig Jahre ſpäter 
ſeiner erhöhten Kunſt nochmals gelingen und ihn erſt 
dann auf den Gipfel des Ruhmes führen ſollte. Von 
Ende der dreißiger bis Ende der vierziger Jahre führten 
ihn mehrere Reiſen nach dem Norden, nach Rügen und 
Norwegen, und hier reifte in hunderten von Skizzen 
und Gemälden allmählich die volle Kraft ſeiner dra— 
matiſch-naturaliſtiſchen Wiedergabe der Landſchaft wie 
ſein heroiſcher Sinn für das Herbleidenſchaftliche in 
ihr. Einer der Schüler, die ihn dabei begleiteten, war 
der junge Hummel aus Weimar, ein Sohn des Kapell— 
meiſters. 

Maria Paulownas künſtleriſcher Sinn war am ent— 
wickeltſten in der Muſik. 

Der Töne Kraft, die aus den Saiten quillet, 
Du kennſt ſie wohl, Du übſt ſie mächtig aus — 

ſo hatte Schiller die junge Fürſtin einſt begrüßt, und 
kaum eine Familienfeier, ein Karfreitag verging, wozu 
ſie nicht ſelbſt etwas komponierte. Sie veranlaßte 1819, 
daß Weimar als ſeinen Kapellmeiſter und ihren Lehrer 
den vielleicht ausgezeichnetſten Klaviermeiſter der da— 
maligen Welt in Hummel gewann. Er war als Knabe 
Mozarts Haus- und Leibſchüler geweſen und hatte faſt 
unbewußt in deſſen Muſik ſprechen gelernt. In der 
Wiener Schule bildete er ſich weiter, als Klavierlehrer 


92 Johann Nepomuk Hummel 


wie als Komponiſt, und drang um 1815 zu ſelbſtändig 
erweiterten Formen vor wie dem Konzertrondo, der 
Klavierfantaſie, bildete auch damals das Talent frei 
zu fantaſieren völlig an ſich aus. Kunſt und Ruf blieben 
ihm in Weimar treu, ja erreichten hier den Gipfel. 
Vorzügliche junge Talente wie Hiller und Henſelt 
kamen 1825 aus Frankfurt und 1831 aus München, 
um bei ihm „die letzte Klavierweihe zu emp— 
fangen.“ Faſt alljährliche Konzertreiſen in die Haupt— 
ſtädte Europas verſammelten tauſende von Hörern zu 
ſeinen Füßen und brachten ihm fabelhafte Einnahmen, 
wertvolle Geſchenke. Hiller hatte das Glück, ihn 1827 
nach Wien begleiten und neben ihm ſpielen zu dürfen 
und ſein erſtes Werk, ein Klavierquartett, dort heraus— 
geben zu können; Hummel beſuchte damals Beethoven 
kurz vor deſſen Ende, es war ein erſchütterndes Wieder— 
ſehen. Um ſeiner gedrungenen Geſtalt, putzig-naiven 
Art und Zauberkraft willen nannten ihn Goethe und 
Zelter den Gnom; am 4. April 1826 ſchrieb Zelter nach 
Weimar: „Wir erwarten Euren gnomiſchen Virtuoſen, 
der uns einmal wieder die Ohren reiben will, und ich 
vernehme ihn gern wieder, denn er iſt allein, was ſeine 
ganze Brüderſchaft zuſammen“ und am 23. Mai: 
„Hummel hat zwei einträgliche Konzerte gegeben, wie— 
wohl die Zeit feiner Ankunft nicht mehr die vorteil» 
hafteſte ſchien. Für mich iſt er ein Summarium jetziger 
Klavierkunſt, indem er echtes und neues mit Sinn und 
Geſchick verbindet. Man merkt keine Finger und Saiten, 


Ne} 
os 


Konzertprogramm und Kompoſitionen 


man hört Muſik; alles kommt ebenſo ſicher und leicht 
heraus, als es ſchwer iſt. Ein Gefäß vom ſchlechteſten 
Leimen mit Pandorens Schätzen gefüllt.“ In Weimar 
führte Hummel 1828 die Hofkapellkonzerte ein und 
gründete den Witwenpenſionsfonds. 

Was er dabei an Muſik bot, zeigt eines der letzten 
ſeiner Konzerte im März 1837: im erſten Teil Mozarts 
Pariſer D-Dur Symphonie, eine Arie von Roſſini und 
Hum mels D-Dur Konzert Les adieux, von einem Sohn 
des Komponiſten geſpielt; als zweiter Teil eine Arie 
aus der Schöpfung, Maurers Concert für vier Violinen 
und aus des Fürſten Radziwill Fauſtkompoſition die 
Szene Bauern unter der Linde; der dritte Teil die 
Ouvertüre zu den Vehmrichtern von Berlioz, eine 
freie Fantaſie Hummels ſelbſt über Themen u. a. aus 
Don Juan und das Finale aus Roſſinis Belagerung 
von Korinth. Von ſeinen Weimarer Kompoſitionen 
zeigten die Kirchenmuſiken am deutlichſten das Anemp— 
fundene ſeiner Tonſprache, das Kyrie ſeiner C-Dur 
Meſſe kennt keine tiefe Not der Kreatur. Eigentümlicher 
waren ſeine Klavier- und Kammermuſikwerke. Zwar 
konnte man auch da den Eindruck haben, daß jemand 
Mozarts Mundart fließend mit vermehrter geſellſchaft— 
licher Eleganz ſpreche, daß er ſchmeichle, wo Beethoven 
rührt, und eine Rakete ſteigen laſſe, wo jener Feſſeln 
ſprengt; aber manchmal war es auch, als ob ſich den 
Mozartſchen Motiven eine erweiterte Tragfähigkeit 
unterſchiebe, als ſtellten ſich neue harmoniſche Wand— 


94 Lobe und der junge Liſzt 


lungen, friſches figürliches Gerank ein: hier haben 
Mendelsſohn, Chopin, Schumann, Liſzt aufgegriffen 
und weitergebildet. Hummels mächtige Klavierſchule, 
das Flügelpult erdrückend, erwies den großen Fortſchritt 
der zwei jüngſten Menſchenalter über K. Ph. E. Bach 
hinaus, zog die Summe der klaſſiſchen Wiener Klavier- 
technik und führte leiſe in das Land, wo ſich der junge 
Schumann am genialſten tummelte. 

Die neue Muſik, die gegen die Mitte des 19. Jahr⸗ 
hunderts die Herrſchaft antrat, fand in Weimar ihren 
erſten entzückten und exzentriſchen Vertreter in dem 
Flötiſten und Bratſchiſten Lobe, der 1797 in Weimar 
geboren war. Als Theoretiker, Komponiſt und Muſik— 
ſchriftſteller tätig und gewandt, brachte er komiſche 
Opern auf die Weimarer Bühne und ſprach ſich in 
Schumanns Neuer Zeitſchrift für Muſik und in andern 
Blättern keck und draſtiſch aus. Der Gedanke einer 
modernen Muſiktheorie packte ihn, 1844 veröffentlichte 
er ſeine erſte, kleinere Kompoſitionslehre und ſiedelte 
dann nach Leipzig über. Hummels Stelle hatte in— 
zwiſchen der Pariſer Chelard angetreten, der mit 
einigen Opern in Deutſchland mehr Glück gehabt hatte 
als in ſeiner Heimat, aber nach wenigen Jahren mußte 
er den jungen Liſzt neben ſich Fuß faſſen ſehen: dieſer 
dirigierte, als Weimarer Hofkapellmeiſter anfangs nur 
in außerordentlichem Dienſt angeſtellt, zuerſt 1842 bei 
der Hochzeitsfeier des Erbprinzen Carl Alexander. 

Die Oberleitung der Weimarer Bühne hatte der 


Genaſt und Frau 95 


Intendant Freiherr von Spiegel von 1828 bis 1847 
inne, und er regierte ſein Völkchen ganz in Goethes 
alter, allmählich als pedantiſch empfundener Ordnung. 
Seine rechte Hand dabei war in den dreißiger und 
vierziger Jahren der Sänger und Schauſpieler Genaſt, 
von 1833 bis 1851 zugleich Opernregiſſeur, ein Sohn 
von Goethes langjährigem treuen Regiſſeur. Er war 
1814 noch unter Goethes Leitung in Mozarts Ent— 
führung zuerſt in Weimar aufgetreten, war dann 
draußen vorwärts gekommen, hatte ſich 1820 in Leipzig 
mit einer ſchönen Darſtellerin feiner Frauenrollen 
vermählt — ihre Schweſter war die Gattin des be— 
rühmten Dresdener Liebhabers Emil Devrient —, und 
beide wurden 1829 auf Lebenszeit in Weimar engagiert. 
Damals war hier noch ein tüchtiges Enſemble aus 
Goethes Schule beiſammen, wenn ſich auch nicht ver— 
hindern ließ, daß eine allerbeſte Kraft wie Laroche, für 
Luſtſpielcharaktere, nach Wien ging. 1829 wurde an 
Goethes Geburtstag zum erſtenmal der Fauſt in 
Weimar aufgeführt mit Laroche als Mephiſtopheles, 
dem dreißig Jahre lang niemand an Witz und Unheim— 
lichkeit in dieſer Rolle gleichkam, 1830 der Götz mit 
Genaſt in der Titelrolle, 1831 Chelards Macbeth; zur 
Trauerfeier nach Goethes Tode wurde Taſſo geſpielt 
mit Frau Genaſt als Prinzeſſin und Genaſt als Antonio. 
In den fünfziger Jahren wirkte Genaſt nur noch als 
Schauſpieler, vorher auch als Opernbariton und -Baß 
— Don Juan, Saraſtro, Pizarro, Kaſpar — und wenn 


96 Landſchaftspflege 


in Weimar Tenornot war, punktierte ihm Hummel 
auch eine Rolle wie den Maſaniello. Als gewandter 
Geſellſchafter und beliebter Gaſtſpieler in Leipzig, 
Dresden, Breslau, auch in Wien und Paris bekannt, 
zog er auswärtige Bühnenkräfte und Dichter mit Erfolg 
nach Weimar, deſſen Überlieferung von den Raupach 
und Immermann ſehr wohl, ja auch von Gutzkow und 
Laube noch etwas geſchätzt wurde, wenn ſie ihre neuen 
Dramen hier zur Einſtudierung vorlaſen. 1829 kam 
Marſchner mit „Templer und Jüdin“ nach Weimar 
und ſuchte noch eine Originalmelodie für ein Lied 
Ivanhoes; Genaſt verſchaffte ihm ein altſchottiſches 
Liederbuch aus Ottilies von Goethe Beſitz, da fand 
ſich Rat. 

So traten Regierung und Hof Carl Friedrichs und 
Maria Paulownas wieder für Wiſſenſchaft und Kunſt 
im Großherzogtum ein, nicht mit der Genialität Carl 
Auguſts, aber unter den deutſchen Fürſten ihrer Zeit 
hervorragend. Und wieviel Sorge und Liebe wandten 
ſie ſonſt Land und Leuten zu. Sie gründeten Obſt— 
baumſchulen. Den Park von Belvedere vergrößerten 
und verſchönerten ſie und öffneten ihn allen. Um 
Eiſenach ließen ſie herrliche Baum- und Wegeanlagen 
entſtehen, wobei Oberforſtrat König bis zu ſeinem 
Tode 1849 trefflich beriet. Dort war ſchon 1805, als 
Maria Paulowna einzog, das Mariental ihr zu Ehren 
genannt worden, und als man 1832 die ſüdlich weiter— 
führende duftig tauende Schlucht gangbar machte, 


Landesfürſorge 97 


wurde ſie nach der Schweſter der Großherzogin, der 
Königin der Niederlande, Annatal genannt. Auf dem 
bewaldeten Gipfel des Kickelhahns erſtand 1854 ein 
Turm zu weiter Ausſicht ins Thüringer Land. 

Noch als Erbgroßherzogin gab Maria Paulowna 
den Anſtoß zur Errichtung von Sparkaſſen: 1821 wurde 
an ihrem Geburtstag die erſte in Weimar eröffnet. 
Eine Frucht der Freiheitskriege waren die Frauen— 
vereine: 1817 verfaßte Maria Paulowna Statuten für 
den zu Weimar. 1816 wurde zu Neujahr die erſte 
Weimarer Induſtrieſchule eröffnet — raſch folgten 
andere — 1817 gab es ſchon 20 weimariſche Induſtrie— 
ſchulen für Mädchen mit 813 Schülerinnen, 1827 60 
mit 2357, 1858 125 mit 5020. Aus der freien Zeichen— 
ſchule ging die Bauſchule, aus dieſer 1829 die Gewerken— 
ſchule hervor. Arbeitsanſtalten für Erwachſene folgten, 
Spinn- und Suppenanſtalten, Almoſenkaſſen und 
Waiſenhäuſer und — die Lieblingsſchöpfung Maria 
Paulownas — Kleinkinderbewahranſtalten. 1829 bis 
1832 wurde das Weimarer Geſamthoſpital erbaut, das 
Luiſenſtift. „Unermüdliche Wohltäterin, aufmerkſamſte 
Leiterin“ war Maria Paulowna bei all dieſer ſozialen 
Arbeit. 

Und doch: die patriarchaliſche Gemütlichkeit, die 
hier waltete, ſollte der Zeit immer weniger anſtehen, 
wie auch Carl Auguſts Verfaſſung zu morſchen anfing. 
Der junge Miniſter von Watzdorf, ſeit 1843 Fritſchs 
Nachfolger, war mit Gersdorff bemüht, den neueſten 

Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 7 


98 Carl Friedrichs Ausgang 


politiſchen Forderungen der Landtagsoppoſition gerecht 
zu werden, da trieb die Sturmflut im März 1848 ihre 
Wellen über das Weimarer Land. Carl Friedrich ſah 
die tumultuariſche Menge im Schloßhof, er mußte die 
älteren Miniſter entlaſſen, neben Watzdorf berief er 
den Eiſenacher Advokaten von Wydenbrugk auf Ver— 
langen des Volkes ins Miniſterium, und beide lenkten 
in den nächſten Jahren die weimariſchen Verhältniſſe 
in neue Bahnen, noch unter Carl Friedrich, aber wohl 
mehr im Sinne ſeines Sohnes. Schließlich erfuhr 
Großherzog Carl Friedrich doch noch einmal die ganze 
Liebe ſeiner Weimarer: 1853 feierte er wenige Tage 
vor ſeinem Tode das fünfundzwanzigjährige Regierungs— 
jubiläum, da zollte ſein Volk dem gütigen Fürſten all— 
gemeine Dankbarkeit. 


Klaſſizismus und deutſcher Bund 


Fragt man nach der Wirkung des weimariſchen 
Geiſtes auf die Deutſchen in der Zeit von den Frei— 
heitskriegen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, ſo 
ſpringt der Unterſchied zwiſchen der nachlaſſenden Kraft 
Wielands und Herders und der wachſenden Goethes 
und Schillers in die Augen. Buchhändleriſch ſtanden 
alle vier anfangs zurück hinter den Klaſſikern der alten 
Welt. Aber ihre Namen genoſſen gemeinſamen Volks— 
ruhmes: in Sachſen wurden in den zwanziger Jahren 
Bilderbogen mit den Köpfen der vier Weimarer verkauft. 

Wieland galt noch als unterhaltſamer, kluger Schrift— 
ſteller. Das Menſchentum, auf das die Jahrzehnte um 
1800 ſo ſtolz waren, hatte er mit erwecken helfen; um 
die Beſtimmung des Menſchen drehe ſich alles bei ihm, 
und ſo gehöre er allen Zeiten an, das glaubte um 1820 
noch mancher von ihm. Ganz allmählich wurde freilich 
die Aufforderung: „Lies den Wieland“ immer weniger 
befolgt. Man begann ihn als kleinlich zu empfinden; 
der junge Hebbel meinte, als er die Abderiten geleſen 
hatte: die jetzigen Abderiten richteten nicht immer 
Eſelsfehden, ſondern oft das Schickſal eines edlen 


Volkes. Schon die erſte Geſamtausgabe ſeiner Werke, 
7% 


100 Nachwirkung Wielands 


die J. G. Gruber in Halle 1818 bis 1828 in 49 Bändchen 
für den Leipziger Verleger Göſchen beſorgte, war unter 
dem hiſtoriſchen Geſichtspunkt angelegt: die Poeſien, 
von denen Wieland ausgegangen war und die er ſpäter 
in entbehrliche Supplementbände verwieſen hatte, 
wurden an die Spitze geſtellt. Noch 1839 und 1853 
konnten zwei neue Auflagen ſeiner ſämtlichen Werke 
zu erſcheinen beginnen. Die einzige Dichtung von ihm, 
die man noch einzeln kaufte, war der öfter gedruckte 
Oberon. Daß man mit ihr in Zuſammenhang blieb, 
dazu hat gewiß Webers 1825 in Dresden komponierte 
und ſeit 1826 gern geſpielte Oper viel beigetragen, 
deren Text der engliſche Dichter Planché nach Wieland 
und Shakeſpeare geſchrieben hatte. Um Neujahr 1834 
ſtieß der kompoſitionsluſtige junge Felix Mendelsſohn 
in Düſſeldorf auf Kotzebues Operntext nach Wielands 
Wunſchmärchen Pervonte, und er beſtürmte ſofort ſeinen 
Freund Klingemann in London, ihm daraus etwas 
beſſeres zu machen; aber nach beiderſeitiger einjähriger 
Bemühung blieb der Plan liegen. Wie der Zauberflöten— 
text von Schikaneder teilweiſe aus zwei Wielandſchen 
Werken abgeleitet war, dem Oberon und dem Märchen 
„Lulu oder die Zauberflöte“ im dritten Band des Dſchin— 
niſtan, ſo lebte überhaupt etwas von dem Geiſte von Wie— 
lands Dichtung in der deutſchen romantiſchen Oper fort. 

Herders geſammelte Werke erſchienen zuerſt in den 
Jahren 1805 bis 1820 in der Cottaſchen Buchhandlung 
in 45 Bänden, dort nochmals 1827 bis 1830 in 60 Bän⸗ 


Herders Leſerſchaft und Gelehrtennachfolge 101 


den und ſchließlich 1852 bis 1854 als vierzigbändige 
Taſchenausgabe. Herders Gattin und ſein Sohn, 
von einigen Gelehrten unterſtützt, beſorgten anfangs 
dieſe Ausgaben, die ſich noch an die leſenden und nicht 
bloß die gelehrten Deutſchen wandten. Der Cid ragte 
hervor: ihn allein hat Cotta zwiſchen 1832 und 1853 
noch ſechsmal auflegen können, und zweien dieſer 
Sonderausgaben kam die junge deutſche Holzſchneide— 
kunſt der dreißiger Jahre nach Zeichnungen Neureuthers 
zugute. Herders religiöſe und geſchichtsphiloſophiſche 
Schriften zogen Grundlinien einer Weltanſchauung, 
die ſich mancher tiefer denkende deutſche Jüngling vor 
der Mitte des 19. Jahrhunderts noch angeboren fühlte. 
Begriffe wie Volkstum und Volkslied, Entwicklung und 
Humanität ſind von Herders perſönlichem Wirken un— 
zertrennbar und ſind in ſeinem Sinne bis gegen 1850 
geſchätzt worden. Die Gelehrten, die am gründlichſten 
und entſcheidendſten nach Herder unter ſeinem Einfluß 
arbeiteten, waren Wilhelm von Humboldt und die 
Brüder Grimm. Von ſeiner Geſchichtsphiloſophie 
zweigten ſich des alten Humboldt weitblickende For— 
ſchungen „Über die Verſchiedenheit des menſchlichen 
Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geiſtige Ent— 
wickelung des Menſchengeſchlechts“ ab und zeigten, was 
Herder angedeutet hatte, Zuſammenhang und Zu— 
ſammenſtimmung der Menſchenſprachen. Was der 
junge Wilhelm Grimm 1812 über Herder geſchrieben 
hatte: „Beklagen wir, daß er leiblich aus unſerer Mitte 


102 Herder in Romantik und Muſik 


verſchwunden, ſo lebt doch ſein Geiſt noch unter uns, 
tätig und wirkend“, behielt für die Brüder noch lange 
Geltung. Die Herderſchen Überſetzungen aus dem 
Nordiſchen waren nur Verſuche, Proben; das ver— 
beſſerten die Grimm jetzt: 1815 erſchien ihre Edda— 
überſetzung. In ſeinen letzten Jahren hatte Herder 
wieder ſeinen alten Gedanken ergriffen, die deutſchen 
Kindermärchen für die junge Welt künftiger Geſchlechter 
zu ſammeln; die Brüder Grimm führten das aus: 
1812 und 1815 erſchienen ihre Kinder- und Haus— 
märchen, 1816 und 1818 ihre deutſchen Sagen. Auch 
die in Herders Iduna bezeichnete Lücke der deutſchen 
Bildungsmittel, den Mangel einer einheimiſchen My— 
thologie und Heldenſage, haben ſie ſpäter ausgefüllt. 
Eine bayriſche Gymnaſialvorſchrift verlangte zeitweilig 
die Pflege Herderſcher Lieder neben denen von Goethe 
und Schiller. Herders „Lied des Lebens“ (nach Moncrif) 
iſt bis gegen 1850 in vielen Sammlungen gedruckt 
worden, auch zum Geſang, z. B. nach der Weiſe Ohne 
Lieb und ohne Wein, und neben den kleineren Be— 
mühungen Beethovens und Schuberts um Muſik zu 
Texten aus Herder entſtanden um 1820 zwei der 
ſchönſten Jugendwerke Loewes, als opus 1 ſein Edward 
und für opus 2 Exlkönigs Tochter: der Balladen- und 
Legenden-Komponiſt Loewe iſt von Herder ausgegangen. 
Und wäre das Volkslied Wenn ich ein Vöglein wär' 
nach 1815 noch an die ſechzigmal komponiert worden, 
wenn Herder nicht die Worte zuerſt hätte drucken laſſen? 


Ausgaben von Schillers Werken 103 


Weitaus die größte Wirkung war damals Schiller 
beſchieden. Wurde auch in den geringeren Ständen 
noch weniger geleſen, ſo dafür in den bürgerlichen und 
höheren deſto mehr und eindringender: hier herrſchte 
um 1830 eine ſo tiefe Teilnahme an der Literatur, wie 
ſich ihrer wenige Menſchenalter der deutſchen Geſchichte 
haben rühmen können, und vor allem drangen Schillers 
Werke ins Leben. Ihre erſte Geſamtausgabe, 1812 bis 
1815 in zwölf Bänden erſchienen, war trotz des Wiener 
Nachdruckes bald vergriffen. 1818 auf 1819 brachte 
Cotta die zweite Auflage zugleich mit einer billigeren 
Taſchenausgabe und einer neuen Wiener Ausgabe auf 
den Markt. Von dieſen ging die Taſchenausgabe am 
ſchnellſten ab, Cotta druckte ſie 1822 neu, während in 
Karlsruhe 1822, in Grätz 1824 und in Augsburg 1826 
abermals Nachdrucker ihr Publikum fanden. Zwiſchen 
1830 und 1840 mußte Cotta acht, im nächſten Jahrzehnt 
noch drei Geſamtausgaben folgen laſſen. In vielen 
Bürgerwohnungen galt eine ſolche Ausgabe von 
Schillers ſämtlichen Werken als ein Hauptſchatz, und 
die heranwachſende Jugend machte ſich ihn vorleſend 
am Familientiſche oder auf der Wanderung zu eigen. 
Um die Jahrhundertwende war noch Klopſtock der 
Träger der herkömmlichen Begeiſterung geweſen, jetzt 
trat Schiller an ſeine Stelle. Durch keinen andern 
deutſchen Schriftſteller fühlten ſich nun die meiſten ſo 
genährt und beglückt. 

Vor allem durch ſeine Gedichte, die philoſophiſchen 


104 Schillers Gedichte und die Jugend 


und die Balladen. Außer den Geſamtausgaben wurden 
Schillers Gedichte in Einzeldrucken von Cotta zwiſchen 
1816 und 1823 achtmal aufgelegt, zwiſchen 1830 und 
1850 dreizehnmal. Alles was von großer Sehnſucht 
nach einer beſſeren Welt in ihnen lebt, wirkte teils als 
ältere Grundſtimmung weiter, aus der ſich die übrigen 
Werke der Klaſſiker erhoben, teils rührte es an den 
neueſten Zuſtand von Deutſchland, das man zur Bundes— 
zeit ſo gern mit Hamlet verglich. „Die Götter Griechen— 
lands“ erfüllten noch um 1835 den Dresdener Kreuz— 
ſchüler Walter mit ſo warmer Begeiſterung für die 
Welt des alten Hellas und Rom, daß auch er einen 
ganzen Zukunftsglauben von der Erziehung der Deut— 
ſchen zur Kalokagathie darauf baute. Schiller und 
Poeſie — das wurden in vielen Köpfen die zunächſt 
beieinander liegenden Begriffe. Auch bei der unſicheren 
Stellung, die die Schule damals zur Pflege ſeiner 
Dichtung noch einnahm, lernte der geweckte Schüler 
keine andern Gedichte jo gern freiwillig, um fie zu 
deklamieren, als Schillerſche Balladen. Gegen die 
Mitte des Jahrhunderts konnte man es ſchon erkennen, 
daß eine neue Gefahr für die echte Bewertung Schillers 
dadurch auftauche, daß ihr lichter Satzbau, ihre ge— 
drungnen Strophen, die Wurfkraft ihrer Worte ſie zu früh 
bei der Jugend einführten und dadurch ihr tieferes 
Verſtändnis teilweiſe unterbunden würde. 

Beſſer als die Schule — die Hochſchule tat noch 
gar nichts dazu — vermochte die Bühne mitzuwirken, 


Schillers Dramen und die Bühne 105 


daß Schillers dichteriſcher Geſamtwert den Deutſchen 
erſchloſſen und immer wieder vor Augen geführt wurde. 
Zwar waren ſeine Hauptdramen nicht auf allen Hof— 
bühnen gleichmäßig gelitten; die Räuber und Tell 
waren hier und da verpönt und Wallenſtein in Wien 
zu Metternichs Zeit nur in Umarbeitung möglich; 
zuerſt Ende September 1848 hat das Burgtheater den 
ganzen Wallenſtein aufgeführt. So ſtanden um 1820 
aus Schillers Reifezeit die Dramen mit weiblichen 
Titelrollen im Vordergrund, und das dankbarſte aller 
klaſſiſchen Theaterſtücke war die Jungfrau von Orleans, 
deren romantiſche Züge ja auch die neuen, der Ro— 
mantik beſonders ergebenen Gemüter feſſelten. Als 
Frau Crelinger vom Berliner Hoftheater 1820 an 
53 Abenden in Wien ſpielte, trat ſie achtmal als Jo— 
hanna auf, und im Jahre 1826 ſpielten zeitweiſe alle 
drei Wiener Bühnen die Jungfrau, am liebſten vor 
dem dankbaren Sonntagspublikum.?) In den männ— 
lichern, tatendurſtigern vierziger Jahren aber wurde Tell 
am meiſten gegeben. Dem entſprach der Abſatz dieſer 
Werke bei den Leſern: Maria Stuart erlebte vier 
Auflagen zwiſchen 1815 und 1825, die Jungfrau vier 
zwiſchen 1815 und 1822, Tell von 1817 bis 1831 nur 
drei; in den vierziger Jahren aber mußte von Tell 
beinahe jedes Jahr eine neue Auflage erſcheinen. So 

*) Noch als im Jahre 1835 Immermann in Düſſeldorf 
ſie bei ſchönſtem Maiwetter gab, füllte ſie das Haus zu 


ſeinem Erſtaunen, und er buchte vergnügt die 228 Taler 
Einnahme von „dem alten Battaillenpferd“. 


106 Schiller und Shakeſpeare 


wurde er auch zu einem gemäßigten Symbol des Jahres 
1848: am 23. März gab man ihn den Berlinern als 
klärendes Wahrzeichen in den Tagen der Aufregung, 
die erſte Vorſtellung der Karlsruher Bühne in der 
badiſchen Revolution brachte ihn, und die Düſſeldorfer 
Theaterdirektion erhielt den Dank „vieler deutſcher 
Brüder“ für ſeine damalige Aufführung. Auch Don 
Carlos wirkte in ähnlichem Sinne, namentlich wenn 
ein ſo idealer Marquis Poſa darin erſchien wie der 
Dresdner Emil Devrient. 

Fortwährend fanden neue Werke des Tages ihren 
Weg auf die Bühne und ſchmälerten die klaſſiſche Bahn, 
die Stimmung der Zeit ſpannte ſich unweigerlich einem 
neuen Realismus zu, und doch blieb Schiller während 
des ganzen Zeitalters der erſte Stolz des deutſchen 
Theaters. Auch Shakeſpeare konnte ihm nicht viel 
anhaben, obwohl er um 1820 zum erſtenmal faſt mit 
allen Werken planmäßig und erfolgreich unſerer Bühne 
zugeführt wurde; 1815 war das Verhältnis der Schiller— 
ſchen Dramen zu denen Shakeſpeares wie das von 4 
zu 1, 1825 etwa wie das von 4 zu 2, ohne daß Schillers 
Geſamtaufführungszahl zurückging. Das war kein rein 
künſtleriſches Ergebnis; ein neues Wollen, das liberale 
und das nationale, ſah in Schiller den beſten Herold, 
er galt als „Dichter der Freiheit“, immer höher ſtieg 
das Banner ſeines Namens für Deutſchland. 

Ein gutes Teil der nationalen Hoffnungen und 
Wünſche loderte in den Schillerfeſten auf, die ſich hier 


Schillerfeſte 107 


und dort einbürgerten. 1815, zehn Jahre nach des 
Dichters Tode, hatte nur in Weimar eine Gedenkfeier 
ſtattgefunden. 1825 gründeten die Stuttgarter den 
Geſangverein Liederkranz mit der Verpflichtung, jqährlich 
am 9. Mai ein öffentliches Feſt zu Schillers immer 
neuem Ruhm zu feiern, und die Breslauer Liedertafel 
beging den Geburtstag des Dichters. Größere Schiller— 
feſte folgten 1830 bei Rudolſtadt, 1835 in Rottweil, 
1837 in Frankfurt am Main; wie in Stuttgart ſo fanden 
alljährlich Schillerfeſte ſeit 1829 auch in Breslau und 
dann in Leipzig ſtatt, wo der 1840 gegründete Schiller— 
verein ſie trug. In Stuttgart ſollte das erſte Denkmal 
Schillers erſtehen, dazu wurde hier 1837 Schillers 
Album? ausgegeben, eine Sammlung von Denkworten 
hervorragender lebender Dichter und Schriftſteller auf 
ihn aus allen deutſchen Landen. In Breslau war 
Hoffmann von Fallersleben eine Seele der Feſte und 
der junge Laube einer ihrer begeiſtertſten Teilnehmer. 
In Leipzig ſtand Robert Blum an der Spitze und war 
wiederholt Feſtredner, auch ſprachen und ſangen Laube, 
Moſen und Prutz; dieſer rief in Schillerſchen Jamben: 

Es braucht die Wahrheit ihre Kämpfer auch, 

Der Sieg des Geiſts will auch errungen ſein: 

O ſeid denn einig für den Kampf der Zeit! ... 

So wird in euch der Geiſt des Dichters wach, 

So, Freunde, wird's ein echtes Schillerfeſt! 

Daß Goethes Wirkung damals ſo ganz anders war 

als die Schillers, lag zum Teil daran, daß Schiller, der 
jung geſtorbene, faſt ein Menſchenalter früher des Nach— 


108 Goethes engere Wirkung 


ruhms teilhaftig geworden iſt als Goethe, daß Goethe 
die Hälfte jener Zeit noch mit erlebte, als ein Unab— 
geſchloſſener zu ihr ſprach, in unfertigem Verhältnis zu 
ihr ſtand. Das Bürgertum feierte den Todestag des 
verewigten Schiller laut, kleine Kreiſe den Geburtstag 
des lebenden alten Goethe mit gedämpfter Ehrfurcht; 
und die erſten beiden Jahrzehnte nach Goethes Tode 
waren von zu neuem, fremden Leben erfüllt, als daß 
ſie an Goethes mehr privater Wirkung vorläufig viel 
hätten ändern können: 1849 kam es nur zu einer lauen 
Jahrhundertfeier. 

Seine feinere Lyrik, ſeine Epik wollte kaum dekla— 
miert werden, lieber im ſtillen Kämmerlein genoſſen 
und bedacht. Seine Lieder wurden im Salon und von 
der Liedertafel geſungen, ſeine Gedanken bewundert 
inmitten jener alten perſönlichen Geſelligkeit, deren 
letzte Blüte in den vierziger Jahren war. Seine Balla— 
den entzückten vornehme Kreiſe daheim und in Mode— 
bädern. Im Auguſt 1818, beim Fürſten Schwarzenberg 
in Karlsbad, wurde Mignon in Beethovens Kompoſition. 
geſungen; Gentz erzählt davon: „Die ganze Geſellſchaft 
wurde lebhaft ergriffen; Goethe hatte Tränen in den 
Augen.“ Im Auguſt 1825 in Ems, bei einer Abend— 
geſellſchaft des preußiſchen Kronprinzenpaares, rezitierte 
Pius Alexander Wolff die Braut von Korinth, und Carl 
Maria von Weber ſpielte dazu melodramatiſch frei 
Klavier, beides ſchwer kranke Künſtler; Webers Sohn 
berichtet: „Die Wirkung auf das hochgebildete Audi— 


Vereinzelter Goethegenuß 109 


torium war eine bedeutende; der Kronprinz dankte, 
den beiden kleinen, bleichen, ſchwarz gekleideten, gewal— 
tigen Männern die Hände drückend, tief erſchüttert, mit 
Tränen in den Augen.“ Um 1820 trafen ſich in Rom 
deutſche Künſtler in der Zelle der Malerin Luiſe Seidler 
am Sonnabend abend zu regelmäßigem Picknick; wenn 
keine Tagesereigniſſe zu beſprechen waren, wurden 
dabei Werke wie Taſſo, Iphigenie oder Wilhelm Meiſter 
vorgeleſen. In den deutſchen Provinzialſtädten aber 
verſtrichen Jahre, ehe einmal eine kleinere Sortiments— 
buchhandlung ein Exemplar von Goethes Werken 
abſetzte. 

So war es auch im Theater; allerlei Leute ſahen 
bei einem Goethiſchen Schauſpiel zu, aber ſein eigent— 
liches Publikum fühlte ſich darunter als eine beſondere 
Gemeinde. Das waren dieſelben, die auch zu Hauſe 
Goethevorleſungen veranſtalteten; ſo laſen in Berlin 
Mendelsſohns 1824 vor dreißig Gäſten den Taſſo, und 
dabei wirkte das Schauſpielerpaar Wolff mit, dem 
Goethe in Weimar die Rollen einſtudiert hatte. Überall, 
wohin Goethes Briefwechſel bedeutende Männer ihm 
verknüpfte, gab es ſolche kleine Goetheanhängerſchaften; 
überall, wo Männer wohnten, die einmal als junge 
Leute vor ihn hatten treten dürfen, lebten Goethe— 
kennertum und -ſchwärmertum weiter, im ſtillen gläu— 
big, in allerlei gelehrten Berufen tätig. Bis gegen Be— 
ginn der vierziger Jahre war in ſolchen Kreiſen noch 
etwas von der traulichen Wärme zeitgenöſſiſcher Mit— 


110 Goetheverehrer 


wirkung beim Leſen Goethes vorhanden. Der Rechts— 
hiſtoriker Gaupp in Breslau, 1824 mit ſeiner jungen 
Gemahlin zu Beſuch in Jena und Weimar, verehrte 
Goethe zeitlebens als ſeinen ausſchließlichen Lieblings⸗ 
ſchriftſteller; er kannte ganze Seiten aus ſeinen Werken 
auswendig und wußte für jede Lebensbeziehung einen 
Goethiſchen Spruch; fein Studierzimmer war mit 
Goethebildern aller Art geſchmückt. In Dresden ſtellten 
Carus und Quandt, in Leipzig Rochlitz verwandte 
Goethefreunde dar. An der Leipziger Thomasſchule 
wirkte in den dreißiger Jahren ein Magiſter Dietrich 
aus Gottfried Hermanns Schule als feſſelnder Lehrer 
tief anregend, der Deutſch und Latein auf geſchickteſte 
Weiſe verband; aber davon, daß er ein ſo feiner Goethe— 
kenner war, wie es damals wenige gab, erhielten auch 
die beſten ſeiner Schüler keine Ahnung. Unter den 
nächſten und ferneren Verehrern höheren Alters wirkte 
Goethes Scheiden vernichtend: in Berlin folgte ihm 
der getreue Zelter ſofort im Tode, in Wien fühlte Gent 
bei der Nachricht aus Weimar auch ſeine letzte Stunde 
nahe. Daß um dieſe Zeit der Schulunterricht Goethe 
noch nicht viel abzugewinnen verſtand, iſt begreiflich; 
allenfalls wurde der Dichter der Iphigenie als An— 
hängſel zu Euripides gewürdigt, hie und da gingen 
Eigenbrödler auf dies und jenes ſeiner Werke ein. 
Wie es Schillerſtädte gab, ſo ragten Frankfurt am 
Main und Berlin als Hauptſtätten der Verehrung Goethes 
hervor. In Frankfurt lebte alte Freundſchaft und 


Berlin und Goethe 111 


pflegte die Erinnerung an den jungen Goethe, fein 
Elternhaus und an die Rhein- und Mainreiſen des 
alten Herrn. Zu Berlin fühlte ſich Goethe ſelbſt in 
ſeinem letzten Jahrzehnt „in einem ſtillen wunderlichen 
Verhältnis“; die Stadt nötigte ihn durch ihr haſtiges, 
genießendes, tätiges Treiben, ihre Entwicklung in Breite 
und Größe zur Bewunderung, und die Berliner Goethe— 
kreiſe behaupteten, nirgends würde er beſſer verſtanden 
als bei ihnen. 1821 wurde das neue Schauſpielhaus 
mit Goethes neuem Prolog und der Iphigenie eröffnet; 
die Stimmung beim Prolog „erhob ſich vom innig 
Andächtigen zum lauteſten Jubel“ und „das Lied der 
Parzen hat jedes Herz erſchüttert — man ſchien es noch 
nie gekannt zu haben“ ſchreibt Zelter. 1827 berichtete 
er über eine Clavigo-Aufführung: „Die erſten vier Akte 
gingen gut; den zweiten konnte man vollkommen 
nennen; auch ward er beſonders beifällig aufgenommen, 
wie denn Dein Publikum ſo ziemlich beiſammen war“ 
und 1830: „Geſtern ward einmal wieder Dein Taſſo 
gegeben und zwar mit einer Vollendung, wie ſie nur 
hier möglich iſt, von beiden Seiten, der Artiſten und 
Zuſchauer, wie wenn das ganze Stück neu, unverhofft, 
erwünſcht geweſen wäre.“ Auch der König nahm dieſen 
Taſſo gut auf, das Werk wurde infolgedeſſen bei Hofe 
geleſen und beſprochen. Die Berlin-Weimarer Be— 
ziehungen erſchienen in mehr als einem Sinne ver— 
heißungsvoll; Ende Oktober ſchrieb Goethe an die 
Berliner Freunde, als dem Prinzenpaar Wilhelm und 


112 Vorleſer und Umdichter des Fauſt 


Auguſta ein Sohn, der ſpätere Kaiſer Friedrich, geboren 
wurde: „Uns und Euch iſt zu gleicher Zeit ein neuer 
Stern aufgegangen, an deſſen Anblick wir uns eine 
Weile ergötzen wollen.“ In den folgenden Jahrzehnten 
glänzten das Haus Varnhagens von Enſe und ſeiner 
Rahel und der Kreis Bettinas von Arnim als Mittel— 
punkte des Berliner Goetheweſens, in jo ausſchließen⸗ 
dem Sinne, daß Varnhagens Goethekult den jungen 
Laube abſtieß und Bettina den jungen Hermann 
Grimm zu Goethedünkel und Schillerverachtung be— 
ſtimmte. Heine nannte 1838 Varnhagen den „Statt— 
halter Goethes auf Erden.“ 

In Berlin iſt es auch zuerſt zu Fauſtaufführungen 
gekommen. Eine Zeitlang hatte des Werkes erſter Teil, 
um den es ſich bis zu Goethes Tode eigentlich nur 
handeln konnte, vielfach als unaufführbar gegolten. 
Das hatten ſich Vorleſer zunutze gemacht; in Breslau 
hatte ſchon 1810 Ludwig Devrient das Vorſpiel auf 
dem Theater in der Aula der Univerſität vorgetragen, 
und in den zwanziger Jahren wirkte Holtei als Wander— 
vorleſer für die Fauſtdichtung begeiſternd. Auch einen 
Bühnenerſatz erdreiſtete man ſich kurzerhand durch neue 
Fauſtdichtungen nach Goethe zu ſchaffen, Holtei ſelbſt 
machte einen ſolchen Verſuch, einen andern der Braun— 
ſchweiger Theaterdirektor Klingemann. Inzwiſchen 
hatten die preußiſchen Prinzen den Entſchluß gefaßt, 
Goethes Fauſt unter ſich aufzuführen. Von dem 
Kronprinzen hörte man, er lebe und webe in Fauſt, 


Erſte Aufführungen des Fauſt LI 


Fürſt Radziwil war mit der Kompoſition beſchäftigt; 
den Mephiſto übernahm Prinz Karl von Mecklenburg, 
den Schauſpieldirektor Zelter, Fauſt und Gretchen die 
geeignetſten Berliner Schauſpieler. Die Sache rückte 
langſam vorwärts, 1819 fand die erſte Teilaufführung 
ſtatt, vermehrte folgten, aber 1832 war die Radziwilſche 
Kompoſition noch nicht abgeſchloſſen, als es wieder 
einmal eine ſolche Hofaufführung gab.) Die Teilnahme 
erlahmte, da der Fauſt nun öffentlich erſchien. Das 
Jahr 1829 hat ihn der deutſchen Bühne erobert: im 
Januar brachte ihn zuerſt Klingemann in Braunſchweig 
und im Juni in Hannover, zu Goethes achtzigſtem 
Geburtstag führte ihn Dresden und Leipzig in Tiecks 
Bearbeitung auf, Bremen, Frankfurt am Main (aus— 
gewählte Szenen) und Weimar, im November Magde— 
burg. Anfang 1830 folgten Nürnberg und München, 
1832 kurz vor Goethes Tode Stuttgart und zu Goethes 
Totenfeier (ausgewählte Szenen) Wien; in Berlin 
wurde das Werk erſt 1838 öffentlich geſpielt. Ohne 
Bearbeitung ging es dabei nirgends ab, ſelbſt an die 
Goethiſche für Weimar ſchloß ſich eine zweite Wei 
marer durch Eckermann; aber für die Wiedergabe der 
Hauptrollen ſtellte ſich nun doch eine Überlieferung 

*) In dieſen Jahren wurde der Fauſt als Leſewerk in 
Berlin erſt bekannt; 1816 bei der erſten Rollenausteilung 
„hatte kein Menſch ein eignes Exemplar. Es ward herum— 
geſchickt. Die meiſten Buchhändler hatten ſelber keins. Es 
wurde zuſammengeborgt, das Gedicht war allen unbekannt“, 
ſo berichtet Zelter, der dabei war. 

Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 8 


114 Goethes literarwiſſenſchaftlicher Einfluß 


ein, Fauſt war als letztes der Klaſſikerdramen für die 
deutſche Bühne gewonnen: das tauſendmal daheim 
geleſene und beſprochene Werk erklang wie ein wohl— 
lautendes Echo, bewegte ſich als geliebtes Bild vor den 
geiſtentzückten Sinnen. 

Auf die Wiſſenſchaften dieſes Zeitalters hat Goethe 
vielfältig gewirkt. Im einzelnen ſah man hier und dort 
genauer als er, an Überblick kam ihm keiner gleich und 
an Größe der Geſamteinſicht auch niemand, trotz Hegel. 
In Jacob Grimms Arbeitsſtube ſtand Goethes Statuette 
von Rauch, in dem anſtoßenden Zimmer ſeines Bruders 
Wilhelm die Büſte Goethes von Weiſſer. Im April 1818 
traf der vierundzwanzigjährige Friedrich Diez in Jena 
mit Goethe zuſammen, bis dahin mit ſpaniſchen Ro— 
manzen beſchäftigt; Goethe lenkte ſeinen Blick auf die 
Schönheit der altprovenzaliſchen Dichtung, ſchrieb ihm 
den Titel der neuerdings erſchienenen großen Choix des 
poesies originales des Troubadours von Raynouard 
auf und ermunterte ihn, dieſem Gebiet ſeine Kraft zu 
widmen. Diez gab dem Winke ſtatt: 1826 wurde ſein 
grundlegendes Werk über die Poeſie der Troubadours 
fertig, 1829 das über Leben und Werke der Trouba— 
dours, um 1840 allmählich ſeine große Grammatik der 
romaniſchen Sprachen und 1853 das etymologiſche 
Wörterbuch dazu. Gewiß, dieſe Forſchungen mußten 
damals gemacht werden; aber Goethe war es doch, 
der dem geeignetſten Talent zu guter Stunde die ent— 
ſcheidende Anregung gab. Weit eindringender iſt ſeine 


Goethes naturwiſſenſchaftliche Wirkung 115 


Wirkung in die naturwiſſenſchaftliche Forſchung ge— 
weſen, hier war er ſelbſt bahnbrechend, befreiend und 
ſichernd vorgegangen. Seine anregende und emp— 
fangende naturwiſſenſchaftliche Korreſpondenz, wie 
er ſie ſchließlich in neun ſtarken Heften geordnet hielt, 
ſchwoll von 1815 bis 1832 um ſiebenhundert Briefe an, 
von denen er über dreihundert ſelbſt abgeſandt hatte; 
Botanik und Mineralogie, Optik und Meteorologie, 
Chemie und Anatomie der Zeit ſtanden mit ihm in 
fortwährender Wechſelwirkung. Auf der Berliner 
Verſammlung der deutſchen Naturforſcher und Arzte 
1828 feierte Alexander von Humboldt den abweſenden 
„Goethe, den die großen Schöpfungen dichteriſcher 
Phantaſie nicht abgehalten haben, den Forſcherblick in 
alle Tiefen des Naturlebens zu tauchen“, und der 
Münchener Botaniker Martius bekannte in ſeinem 
Vortrag über die Architektonik der Pflanzen, daß ſeine 
Grundanſicht „überhaupt das Reſultat von jener mor— 
phologiſchen Anſicht von der Blume iſt, die wir unſerm 
großen Dichter Goethe danken.“ In den vierziger 
Jahren glaubten die neuen Ernüchterer der Wiſſenſchaft 
ſich gegen Goethes Denkweiſe ablehnend verhalten zu 
müſſen; wer an ihn anknüpfte, wie 1848 Fechner in 
ſeiner berühmt gewordenen Nanna (Über das Seelen— 
leben der Pflanzen), ſetzte ſich trotz kritiſch anerkennenden 
Verhaltens heftigem Angriff aus, weil man Goethes 
Betrachtungsweiſe der Hegels zu ähnlich fand. Hat 
doch auch Hegels ſchier allmächtige Aſthetik damäls 


8 


116 Goethe und Schopenhauer 


Goethes Ruf — wie den Schillers — beſtärkt. Ein 
Schüler Hegels war jener Dozent Hotho, deſſen Berliner 
Univerſitätsvorleſung im Winter 1828 auf 1829 De 
Goethio poeta ejusque scriptis poeticis der junge 
Helmuth von Moltke hörte, der ſich in ſeinen Briefen 
an Mutter und Bruder ſo gern auf Goethe bezieht. 

Schopenhauer war in Weimar aufgewachſen, wo 
ſeine ſchriftſtellernde Mutter lebte; er war in Berührung 
mit Goethe gekommen, und beide hatten anregende 
tiefe Geſpräche miteinander geführt. Goethe, der 
geklärte, ſah bald, was den ſuchenden Neuling von ihm 
trennte, und einiges davon hat er wohl in der Bakka— 
laureusſzene des Fauſt ausgeſprochen; Schopenhauer 
aber hat einen bedeutenden Teil ſeines Philoſophierens 
von Goethe empfangen. Seine Erkenntnistheorie und 
Aſthetik war kantiſch; ſein intuitives Erfaſſen der Phä— 
nomene, ſein Zurückgehen auf das „Urphänomen“, 
das er einmal für ſeine Eigentümlichkeit erklärte, war 
goethiſch. Wie ſehr er beiden verpflichtet war, deſſen 
war er ſich kaum bewußt, obwohl er es an Verehrung 
beider nicht hat fehlen laſſen. Das Disharmoniſche 
ſeines Ergebniſſes beruht mit auf dem Unvermögen, 
auf der Verzweiflung, Kritizismus und Intuition auf 
einen Nenner zu bringen. Schopenhauer war inſofern 
ein Hauptvertreter der Epigonie jenes Zeitalters, die 
ein anderer hervorragender Geiſt, Immermann, in 
dem Roman Die Epigonen (1836) bekannt hat. Wie 
Schopenhauer ſubjektiv Goethe und Kant in ſich auf— 


Epigoniſches 217 


nahm, jo, aber leichter, gedachte es der junge Grabbe 
mehr objektiv zu machen, indem er Mozarts und 
Goethes bedeutendſte Bühnengeſtalt übertrumpfend 
vereinigen wollte, auch er ein Epigone: 1824 erſchien 
ſein „Don Juan und Fauſt“. Und Hebbel bemerkte 
ſich Ende der dreißiger Jahre in ſeinem Tagebuch: 
„Fauſt und Chriſtus zuſammenkommend“. Eine andere 
Seite des Nachzüglertums dieſer Zeit hatte der alte 
Zelter erkannt, wenn er einmal von ihrem enkomiaſti— 
ſchen Weſen ſprach. Und doch wäre es einſeitig und 
unrecht, das Zeitalter des deutſchen Bundes bis zur 
Mitte des Jahrhunderts nur als Epigonentum anſehen 
zu wollen; es ſchuf den deutſchen Zollverein als Vor— 
ſtufe zum neuen deutſchen Reiche und hatte auch lite— 
rariſch einen Januskopf. 

Welcher Wirrwarr in der Beurteilung Schillers und 
Goethes durch ſo manchen der damaligen neuen Lite— 
raten! Da war um 1820 die Romantik mit ihrer herben 
Kritik Schillers auf dem Plan; unter dem Panier 
Shakeſpeares und der Hiſtorie zog ſie gegen ihn an, er 
ſei zu ſchwach geweſen, die Wirklichkeit in ihrer ganzen 

Bedeutung für die Kunſt zu faſſen: ſo ſagten die 
Schwächlinge von Schiller dem ſtarken. Welche törich— 
ten, knabenhaften Außerungen haben Männer wie 
Schleiermacher und die Schlegel über ihn von ſich 
gegeben, welches lieb- und verſtändnisloſe Gerede 
Tieck, dieſe in ihrer Negierung ſo unfruchtbaren Autori— 
täten! In Würzburg lehrte der Philoſoph Wagner, 


118 Mißurteile über die Klaſſiker 


daß ſich Schiller zu Goethe verhalte wie Branntwein 
zu Wein, und der junge Platen verzeichnete das 1819 
gläubig in ſein Tagebuch; doch habe auch Goethe, der 
mehr heidniſche als chriſtliche Dichter, noch nicht „das 
höchſte“ erreicht, ſondern erſt — Friedrich von Heyden, 
ein längſt vergeſſenes Nämchen. Auf Goethe ſahen 
es dann die Federn des jungen Deutſchland ab, die 
Menzel und Börne und ihre Gefolgſchaft. Seine Un⸗ 
popularität, ſeine italieniſche Perrücke, ſein Egoismus 
und ſeine Kälte wurden aufs Korn genommen und 
verſpottet; und alles Gezeter und Geläſter bewies nur 
die Größe der Wirkung des Angefochtenen und den 
Flugſand der Angreifer. Aus dieſen papiernen Waffen— 
gängen erhielten ſich lange die kurzſichtigen Schlagworte 
äußerlich - innerlich, aktiv paſſiv, ſubjektiv — objektiv, 
idealiſtiſch-realiſtiſch, mit denen mancher nachgeborene 
Klügling das Weſen Schillers und Goethes in ſeine 
kleinen Hände zu ſchöpfen meinte. Zum Teil waren es 
Leute, die von einer neuen literariſchen Zukunft träum— 
ten, aber nicht geboren, ſie zu ſchaffen, nach rückwärts 
ſchlugen, weil ſie die Gipfel ihres Jahrhunderts, von 
denen ſie herkamen, immer niedriger ſahen. 

Nach ſolchen Nebeln brach die Sonne wieder durch, 
wenn größere echte Zeugniſſe von dem Leben und 
Weſen der Weimarer Klaſſiker friſch veröffentlicht 
wurden. Der erſte Strahl dieſer Art war Goethes 
und Schillers Briefwechſel, von Goethe ſelbſt noch 
ausgeſandt. Es folgten dann auf der einen Seite vor 


Biographisches, Literaturgeſchichte, Sprache 119 


allem 1835 Bettinas „Briefwechſel Goethes mit einem 
Kinde“ und 1836 Eckermanns Geſpräche mit Goethe, 
andrerſeits 1836 Andreas Streichers getreue Erzählung 
von Schillers Flucht von Stuttgart und Aufenthalt in 

Mannheim und ſchließlich 1847 der Briefwechſel Schil— 
lers mit ſeinem Freunde Körner. So mußte man bio— 
graphiſch und perſönlich in der Erkenntnis beider Dichter 
vorwärtskommen, manche Einzelarbeit bewies es, und 
in den vierziger Jahren war die Zeit auch für größere 
literargeſchichtliche Einſtellungen reif geworden, wie ſie 
von Gervinus und Vilmar mit Ernſt gewagt wurden. 

Am innigſten wirkten Goethe und Schiller wohl auf 
die ſchaffenden Künſtler jener Jahrzehnte. Das Poetiſche 
aller Künſte bewegte ſich unwillkürlich noch in den ſitt— 
lichen und äſthetiſchen Wellen, die dem ganzen Jahr— 
hundert von 1750 bis 1850 beſonders eigen waren. 
Der Sprachbereich, in dem Gellert, Klopſtock und Leſſing 
den neuen Ton angegeben hatten, hatte durch Goethe 
und Schiller Fluß und Kraft, gefällige Schönheit 
und große Gedanken in ſolcher Fülle und Macht er— 
halten, daß alle nächſtfolgende Sprachkunſt unwillkürlich 
noch von dieſem Weſen widerhallte. Die ſchlechteſte 
Zeitungsproſa der dreißiger Jahre hatte einen Hauch 
von Weimarer Klaſſikerdeutſch. Von den jüngeren 
Dichtern, ſoviel neue Stimmungen, ſo wahrhaft eigene 
Erlebniſſe ſie formten, galt doch immer ein wenig der 
Vorderſatz des Diſtichons, das Schiller dem Dichterling 
ſeiner Zeit zugerufen hatte: 


120 Nachfolge im Drama 


Weil ein Vers dir gelingt in einer gebildeten Sprache, 

Die für dich dichtet und denkt, glaubſt du ſchon Dichter zu fein? 
Hebbel variierte das bewußt oder unbewußt: 

Was in den Formen ſchon liegt, das ſetze nicht dir auf die 

Rechnung: 

Iſt das Klavier erſt gebaut, wecken auch Kinder den Ton. 
Was ſie waren, das waren ſie alle Weimar zum Teil 
ſchuldig, auch wenn Grillparzer der einzige war, der ſo 
weit ging zu erklären, er bliebe am liebſten da ſtehen, 
wo Goethe und Schiller geſtanden hätten. Raupach 
hat in jenen drei Jahrzehnten über hundert Dramen 
geſchrieben und mit ihnen den größten damaligen Erfolg 
auf der deutſchen Bühne gehabt; aber ſeine Jamben— 
dichtung fährt in einem Wagen daher, vor den Schillers 
Roſſe geſpannt ſind. Verraten doch auch Hebbels 
Jugendfragmente auf Schritt und Tritt den Einfluß 
der Jugenddramen Schillers, und noch im Gyges klingt 
der Ruf: „O einen Augenblick Vergeſſenheit!“ wie das 
Negativ zu dem Wunſch im Carlos: „O eines Pulſes 
Dauer nur Allwiſſenheit!““) Im weſtöſtlichen Divan 
pries der Dichter begeiſtert: 

O du mein Phosphor, meine Kerze, 
Du meine Sonne, du mein Licht 


*) Aus vielen andern Parallelen, die man zuſammengeſtellt 
hat, ſei noch herausgegriffen: Don Carlos „Mein Gehirn treibt 
öfters wunderbare Blaſen auf, die ſchnell, wie ſie entſtanden 
ſind, zerſpringen“ und Herodes „So war das mehr als eine 
tolle Blaſe des Gehirns, wie ſie zuweilen aufſteigt und zer— 
platzt“; Iphigenie „Ja ſchwinge deinen Stahl. — Zerreiße 
dieſen Buſen und eröffne den Strömen, die hier ſieden, einen 


Lyriſche Nachfolge 121 


in Rückerts Liebesfrühling klang es gleich beſchwingt, 
ſcheinbar noch entzückter, aber doch weniger ſinnkräftig: 
Du meine Seele, du mein Herz, 
Du meine Wonn', o du mein Schmerz. 

Die Verwandtſchaft oder Abhängigkeit faſt aller deut— 
ſcher Dramatik und Lyrik im Bundeszeitalter zu Schiller 
und Goethe einzuſehen iſt freilich uns Spätergeborenen 
erſt recht möglich geworden, denen der gemeinſame 
Abſtand von Klaſſizismus und Nachſängertum zuſtatten 
kommt. Jene Jahrzehnte ſelbſt genoſſen ihre Zuge— 
hörigkeit zur Dichtung der Weimarer Klaſſiker in vielen 
Parodien, halb im Scherz, halb im Ernſt zu heiterfeſt— 
lichen Gelegenheiten geſchrieben. Einer der entſchloſſen— 
ſten Neugeſinnten, Herwegh, der unwillkürlich vor Fried— 
rich Wilhelm IV. den Marquis Poſa ſpielte, bäumte 
ſich vergebens auf, als er 1843 dem deutſchen Vaterland 
ſein ſpöttiſches Wiegenlied widmete: 

Und ob man dir alles verböte, 

Doch gräme dich nicht zu ehr, 

Du haſt ja Schiller und Goethe: 

Schlafe, was willſt du mehr? 


Weg!“ und Gyges „Hier rauſcht der Quell des Lebens, den 
du ſuchſt. Den Schlüſſel [das Schwert] haſt du ſelbſt. So 
ſperre auf“; Maria Stuart „Man breitet aus, ſie ſchwinde, 
läßt ſie kränker .. werden .. jo ſtirbt ſie in der Menſchen 
Angedenken. — Ihr Leben iſt mir heilig“ und Agnes Bernauer: 
„Man breitet aus, daß ſie geſtorben iſt. Nein, Preiſing, 
das Sakrament iſt mir heilig“. Wahre Kraft und reine Schön— 
heit ſind in dieſen Bauſteinen auf ſeiten der Klaſſiker, und 
Hebbels Gedanken ſind geſtelzt und gepreßt. 


122 Ein Vergleich Heines 


An Platen läßt ſich zeigen, wie er von Goethe durch 
Motive, von Schiller mehr durch Sprache beeinflußt 
wurde. Heine hat für ſeine Proſa, wie auch der alternde 
Tieck noch, eifrig bei Goethe gelernt. Keiner hat damals 
jo glänzende Feuilletonworte der Goethehuldigung ge— 
funden wie Heine, und wie riß es doch auch an ihm, 
daß er Goethe als Menſch, als Politiker zeitweilig ge— 
häſſig beurteilte. Im Herbſt 1824 hatte er Goethe beſucht, 
einige Jahre darauf ſchilderte er Goethes damaliges 
Verhalten gegen ihn, mit ſcharfem Inſtinkt bemerkt, 
als ob er Goethes Beurteilung der ganzen jungen zeit— 
genöſſiſchen Dichterſchar in dem einen Bilde zuſammen— 
faſſen wollte, als das eines ernſten Adlers, der „aus 
ſeinen einſamen Träumen aufgeſtört, mich mit gering— 
ſchätzigem Unmute anſah“, er konnte „noch immer ſo 
erhabenmütig auf ſeinem feſten Felſen ſitzen, und ſo 
ſeelenfrei zum Himmel emporſtarren, oder ſo imper— 
tinent ruhig auf mich herabglotzen. So ein Adler hat 
einen unerträglich ſtolzen Blick und ſieht einen an, als 
wollte er ſagen: Was biſt du für ein Vogel? Weißt 
du wohl, daß ich noch immer ein König bin, ebenſogut 
wie in jenen Heldenzeiten, als ich Jupiters Blitze trug 
und Napoleons Fahnen ſchmückte? Biſt du etwa ein 
gelehrter Papagei, der die alten Lieder auswendig 
gelernt hat und pedantiſch nachplappert? oder eine 
vermüffte Turteltaube, die ſchön fühlt und miſerabel 
girrt? oder eine Almanachsnachtigall? oder ein abge— 
ſtandner Gänſerich, deſſen Vorfahren das Kapitol 


Uhlands und Hebbels Dank 123 


gerettet? oder gar ein ſerviler Haushahn, dem man 
aus Ironie das Emblem des kühnen Fliegers, nämlich 
mein Miniaturbild, um den Hals gehängt hat, und der 
ſich deshalb ſo mächtig ſpreizt, als wäre er nun ſelbſt 
ein Adler?“ Später hat Heine ſeinen beſten Gedanken 
über Goethe wohl in dem Satze geſagt: „Die Natur 
wollte wiſſen, wie ſie ausſieht, und erſchuf Goethe“ als 
ihren Spiegel. 1829 wurde Uhland, als er Bertran 
de Born und Die Ulme zu Hirſau dichtete, zu dem 
ſchönen Geſtändnis ſeiner Münſterſage hingeriſſen und 
ſchloß es mit den Worten: 

Wer iſt noch, der ſich wundert, 

Daß ihm der Turm erdröhnt, 

Dem nun ein halb Jahrhundert 

Die Welt des Schönen tönt? 


Hebbel beſprach mit ſich und Freunden in Tagebüchern 
und Briefen, wie Schiller und Goethe auf ihn eingewirkt 
hätten — mein Goethe, ſagt er einmal — und feierte 
die Heroen in Epigramm, Sonett und Prolog; er 
hat die Wiener Goethefeier 1849 durchgeſetzt, die man 
die erſte dortige Regung der Gebildeten nach der 
Revolution genannt hat. 

So zehrten und lernten die kleineren und größeren 
Dichter von den großen. Die Muſiker aber hatten 
die damals ſchönere Beſtimmung, manches Werk der 
großen Dichter erſt zu erfüllen, zu vollenden. Auf ſie 
wirkte die klaſſiſche Dichtung vermöge des bewußteſten 
rhythmiſchen Formempfindens, bei ihnen erweckte ſie 


124 Neunte Symphonie 


die deutlichſte Stimmung, ihnen entlockte ſie neue 
Motive und Melodien; ſie vermählten ſich ihr am innig— 
ſten, am willigſten und brachten ihr die ſchönſte Mitgift. 

Beethoven hat ſich dreißig Jahre mit der Abſicht 
getragen, Schillers Lied an die Freude zu komponieren. 
Endlich war er reif und mächtig, die beiten Strophen 
auf das gewaltigſte auszuſtatten. Er ſchrieb 1822 den 
unerhörten Unterbau der drei erſten Sätze ſeiner neunten 
Symphonie dazu und verlieh dann dem Chor, Männer- 
ſtimmen, Soloquartett und Orcheſter zu Schillers großen 
Gedanken eine Urgewalt der Töne, wie ſie vorher und 
nachher nicht wieder geſchaffen worden iſt. Kühnſte 
Freiheit und ſtrengſter Ordnungswille durchwalten den 
Rhythmus, allgemeinſter Jubel prägt hier die Melodie, 
innigſter Andachtsſchauer dort die Akkorde, tändelnde 
Freude und Wolluſt der Kreatur wechſeln mit hin— 
reißendem Tanz- und Heldenſchritt, und in liebendem 
Entzücken und gedrängteſter Kunſt erklingen die Worte 
„wo dein ſanfter Flügel weilt.“ Aus Schillers Funken 
hat Beethoven Freudenfeuer angefacht. 

In Wien erreichte eben damals auch der junge 
Schubert den Gipfel ſeiner neuen, ſüßen Liederkunſt. 
Er hat gegen hundert Gedichte Goethes in wenig mehr 
als einem Jahrzehnt komponiert. Als Siebzehnjähriger 
hatte er mit Geſängen aus dem Fauſt (Meine Ruh iſt 
hin, Domſzene), Schäfers Klagelied und Nachtgeſang 
genial begonnen; Schäfers Klagelied war das erſte 
ſeiner Lieder, das öffentlich geſungen wurde, 1819 in 


Schuberks Goethelieder 125 


einem Wiener Gaſthofskonzert. In dem einen Jahre 
1815 entquollen ihm 130 Lieder, darunter 45 von 
Goethe, am 19. Auguſt allein dieſe fünf: Heidenröslein, 
Rattenfänger, Bundeslied, An den Mond, Schatzgräber, 
den Tag darauf: Wer kauft Liebesgötter, Meeresſtille 
und Wonne der Wehmut; an der Jahreswende entſtand 
ſein Erlkönig, den er 1821 als op. 1 drucken laſſen 
konnte, und für op. 2 bis 5 wählte er weitere elf Lieder 
Goethes. Ihr Erfolg lockte ihn, Goethe mit erneuter 
Luſt vorzunehmen: Mahomets Geſang, der Geſang 
der Geiſter über den Waſſern, Grenzen der Menſchheit 
gelangen ihm jetzt und die köſtlichen Kompoſitionen von 
Divanliedern; und es war doch kaum ein Jahr ver— 
gangen, wo er nicht ſeine goldnen Früchte von Goethes 

Baum gepflückt hätte: 1816 Jägers Abendlied, An 

Schwager Kronos und die Harfnerlieder aus Wilhelm 
Meiſter, 1817 Ganymed uſw. Mignons Lied Nur 
wer die Sehnſucht kennt komponierte er fünfmal 
(Beethoven viermal). Manche von Schuberts Goethe— 
liedern ſind erſt nach ſeinem Tode, eine Reihe erſt in 
der zweiten Hälfte des Jahrhunderts gedruckt worden; 
aber das in den zwanziger Jahren erſchienene genügte 
vollauf, ihn ſofort neben Beethoven an die Spitze aller 

Goethekomponiſten zu ſtellen. Der friſche Quell Goe— 
thes, anmutig gebändigt, hier floß er mit einer Muſik 
zuſammen, die auf einer jüngeren Stufe, aberin derſelben 
Richtung ſtrotzend hervorbrach. Auch von Schiller hat 
Schubert viel und gern komponiert, mit Glück beſonders 


126 Kleinere und ältere Muſik 


Jugendgedichte, auch von ihm das meiſte im Jahre 
1815, Hoffnung und An den Frühling da zweimal, 
und Mädchens Klage zum zweitenmal, zu deren erſter 
Kompoſition es 1811 ſchon den vierzehnjährigen Knaben 
getrieben hatte. Auch von dieſen Werken iſt kaum die 
Hälfte bis zur Mitte des Jahrhunderts veröffentlicht 
worden; Schubert fand nicht eben raſch Eingang. 
Konkurrierte doch für die Zeitgenoſſen ſelbſt in Oſterreich 
mit ihm u. a. der Prager Muſikhäuptling Tomaſchek, 
von Goethe geſchätzt, — ſein op. 1, Schillers Erwartung, 
war 1800 gedruckt worden und 1850 ſtarb er — und 
veröffentlichte z. B. zwiſchen op. 53 und 60 einige 
Dutzend Lieder von Goethe und in op. 84 bis 89 eine 
Reihe von Schiller. 

Das Zeitalter begnügte ſich vielfach noch mit 
Reichardts und Zelters Muſik zu Goethe und Schiller 
und ſonſtigen alten Weiſen, die ſich eingebürgert hatten. 
Man ſchrieb ſich gern ſeinen Liederband für den eigenen 
Bedarf noch ſelbſt zuſammen, und dieſelbe Hand, die 
in jungen Jahren auf einer der erſten Seiten das 
Silveſterlied „Des Jahres letzte Stunde“ eingetragen 
hatte, dann Goethes „Sänger“ in der ſchwachen, be— 
quemen Schreiberſchen Kompoſition und „Freude, 
ſchöner Götterfunken“ mit der bekannten gefälligen 
Marſchmelodie, ſchrieb in alten Tagen als merkwür— 
digſte Neuigkeit hinzu „Sie ſollen ihn nicht haben, den 
freien deutſchen Rhein.“ Etwas höhere muſikaliſche 
Anſprüche machten die Kreiſe, die Schillers „Hoffnung“ 


Liedertafel 127 


in Methfeſſels oder Lachners Kompoſition ſangen oder 
„Würde der Frauen“ in der von Conradin Kreutzer. 
An der Liedertafel oder als „Tafelgeſänge für Männer: 
ſtimmen“ waren Schillers kräftige Rhythmen beliebt: 
Friedrich Schneider, Rietz u. a. komponierten die 
„Dithyrambe“ für Männerchor, Lortzing den „Früh— 
ling“, Loewe „Würde der Frauen“; aber auch Goethes 
kophthiſches Lied mit der derben Lehre, die Narren zu 
Narren zu haben, war etwa in Bernhard Kleins mun— 
terer, hausbackener Kompoſition (op. 14) für einen 
ſolchen Kreis eine Herzensweide, auch Kuhlaus un— 
zähligemal geſungenes „Über allen Gipfeln“, und Carl 
Blums ſimples Männerquartett „Kleine Blumen, 
kleine Blätter“ artete von hier aus um die Mitte des 
Jahrhunderts allmählich zum einfachen Volksliede um. 
Von den dreiunddreißig zwiſchen 1815 und 1850 ent— 
ſtandenen Erlkönig-Kompoſitionen iſt nur eine für 
Männerchor geſchrieben, zwei dramatiſierend für ge— 
miſchten Chor und Soli, in Wien iſt er wiederholt als 
Melodram aufgetiſcht worden; großen Anklang hat 
neben Schuberts Erlkönig nur der von Loewe gefunden. 

Loewe war von den hervorragenden zeitgenöſſiſchen 
Muſikern faſt der einzige, der ſelbſt mit Goethe über 
Muſik geſprochen hatte; Goethes Familie blieb ihm 
auch anhänglich, der junge Walther von Goethe wurde 
Mitte der dreißiger Jahre fein Schüler — um diefelbe 
Zeit komponierte Loewe viel von Goethe — und be— 
kannte ſpäter, Loewe ſei der einzige geweſen, bei deſſen 


128 Loewe und Mendelsjohn 


Kompoſitionen von Goethiſchen Werken er ſich ganz 
und gar dem Eindrucke hingeben könnte, den Diele 
„identiſchen Wiedergaben“ in der Seele des Zuhörers 
hervorriefen. Was Loewe an Fülle des muſikaliſchen 
Genies abging, erſetzte er durch haushälteriſche Be— 
ſcheidenheit und durch Sinn für das Dämoniſche, Grazie 
und Humor. In Liedern und Hymnen übertrafen ihn 
andere — neben Schuberts Ganymed und Schumanns 
Talisman verblaſſen ſeine Kompoſitionen —; in den 
nächtlichen Balladen und den indiſchen Legenden war 
er zu ſeiner Zeit kaum zu übertreffen. Für Schillers 
Gang nach dem Eiſenhammer nahm er B. A. Webers 
Orcheſterzwiſchenſpiele zu Hilfe, wodurch ein Werk von 
faſt oratoriſcher Breite entſtand. 

Als Loewe 1833 in Stettin die erſte Walpurgisnacht 
als ſtrophiſche Ballade komponierte, war das Gedicht 
ſoeben in Berlin als große Kantate mit Orcheſter- und 
Chormuſik zum erſtenmal aufgeführt worden. So hatte 
Mendelsſohn das heidniſche Werkchen in Italien mit 
ſeiner Muſik umwoben, im Frühling und Sommer 1831, 
in einer ähnlichen Stimmung, wie Goethe die Hexen— 
küche in Italien ſchrieb, und über den Schluß noch an 
Goethe ſelbſt aus Mailand berichtet: „Wenn der alte 
Druide ſein Opfer bringt, und das Ganze ſo feierlich 
und unermeßlich groß wird, da braucht man gar keine 
Muſik erſt dazu zu machen, ſie liegt ſo klar da, es klingt 
alles ſchon, ich habe mir immer ſchon die Verſe vor— 
geſungen, ohne daß ich dran dachte.“ Neben dieſer 


Robert Franz und Robert Schumann 129 


Hauptarbeit des jungen Nachmeiſters und ſeiner Ouver— 
türe Meeresſtille und glückliche Fahrt fiel ſein Dutzend 
Goethelieder nicht ſchwer in die Wagſchale; noch leichter 
wog die gleiche Menge, die ſich ſeine Schweſter Fanny 
aus Goethes Lyrik komponierte. Darum, weil Goethe 
das Menſchliche ausſprach, glaubte ihn jeder auf ſeine 
Weiſe muſizieren zu können. Um die Mitte des Jahr— 
hunderts brachte auch Robert Franz ein Heft geſchmack— 
voll komponierter Lieblinge aus Goethe (op. 33); doch 
errang unter dieſen norddeutſchen Liedmeiſtern in 
Goethes Gefolge Schumann durch Frohmut und Zart— 
ſinn den Preis. Er wagte ſich auch mit größerem Recht 
als Loewe u. a. an die Kompoſition des Fauſt: im Jahre 
1844 gelang ihm der größere Teil der Schlußſzene, er— 
haben empfunden, nicht neu genug aus ſich geſchöpft, 
und in den nächſten Jahren fügte er weitere Teile und 
Szenen an, zuletzt eine Ouvertüre, die freilich nur etwa 
wie ſeine Ouvertüren zu Hermann und Dorothea und 
zur Braut von Meſſina wirken konnte. 

Die damalige Bildkunſt hat die Gedanken Weimars 
am ſchwächſten zurückgeſtrahlt. Als Symbole ſtanden 
die bekannteren chriſtlichen Anſchauungen im Vorder— 
grund, die ſich eben neu belebten“); und die danach ſich 
allmählich erhebende realiſtiſche Tendenz wählte ſich 
eigene Stoffe. Doch eröffnete den kleinen Reigen ein 


*) Damit mag es zuſammenhängen, daß von Schiller am lieb— 
ſten dargeſtellt wurde, wie der Graf von Habsburg dem Prieſter 
ſein Pferd übergibt (Pforr, Schnorr, Führich, Schwind). 

Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 9 


130 Illuſtrationsgemälde 


hervorragender Name: 1816 erſchienen im Kupferſtich 
die in Rom vollendeten Zeichnungen zu Fauſt von Cor- 
nelius. Ein Jahrzehnt ſpäter ging man in Düſſeldorf 
zum kontemplativen Illuſtrationsgemälde über: Scha- 
dow malte Mignon, Hildebrandt Fauſt und Gretchen 
im Kerker und die beiden Leonoren, Hübner den Fiſcher. 
Dieſe Düſſeldorfer übertraf bald an Erfolg beim deut— 
ſchen Publikum der Halbfranzoſe Ary Scheffer mit ſei— 
nem Fauſt, Gretchen, Mignon; was Heine von ſeinem 
Gretchen ſagte, galt in gewiſſem Sinne damals von 
mancher ſolchen Klaſſikerfigur: „Sie iſt zwar Wolfgang 
Goethes Gretchen, aber ſie hat den ganzen Friedrich 
Schiller geleſen, und ſie iſt viel mehr ſentimental als 
naiv, und viel mehr ſchwer idealiſch als leicht graziös.“ 
Der junge Kaulbach hatte zu Anfang der dreißiger Jahre 
in dem neuen Münchener Königsbau Wandbilder im 
cornelianiſchen Stil nach Goethe auszuführen und nach 
Wieland zu entwerfen — wie ſie ſich auch anderwärts 
Fürſt und reicher Kunſtfreund malen ließen —; als 
ſpäter ſein Trieb durchbrach, ſatiriſch der Wirklichkeit 
nachzugehen, worin er Heine ähnelte, zeichnete er die 
1846 veröffentlichten Illuſtrationen zu Reineke Fuchs, 
eine vergnügliche Erniedrigung des Werkes. Auch jenen 
Fiſcher Hübners hätte Goethe nicht gebilligt; derartiges 
laſſe ſich nicht malen, hatte er ſchon 1823 einmal ge— 
äußert. Möglich, daß er dieſen Standpunkt auch 1828 
Stieler gegenüber ausſprach, der dem Fiſcher Hübners 
mit einem eignen Bilde zu entgegnen dachte; Stielers 


Schadow, Richter, Schwind 131 


Fiſcher blieb unvollendet. Klingt doch auch zum Teil 
goethiſch, was Hegel in ſeiner Aſthetik über Schadows 
Mignon ſagte: „Der Charakter Mignons iſt ſchlechthin 
poetiſch. Was ſie intereſſant macht, iſt ihre Vergangen— 
heit, die Härte des äußeren und inneren Schickſals, der 
Widerſtreit italieniſcher, in ſich heftig aufgeregter Leiden— 
ſchaft in einem Gemüt, das ſich darin nicht klar wird, 
dem jeder Zweck und Entſchluß fehlt, und das nun, in 
ſich ſelbſt ein Geheimnis, abſichtlich geheimnisvoll ſich 
nicht zu helfen weiß. Ein ſolches volles Konvolut kann 
nun wohl vor unſerer Phantaſie ſtehen, aber die Malerei 
kann es nicht, wie es Schadow gewollt hat, ſo ohne 
Beſtimmtheit der Situation und der Handlung einfach 
durch Mignons Geſtalt und Phyſiognomie darſtellen.“ 

Durch einen Auftrag Hübners erhielt der junge 
Ludwig Richter Anlaß, Goethes und Schillers be— 
kannteſte Bühnengeſtalten darzuſtellen: er malte am An— 
fang der vierziger Jahre für Hübners Dresdner Theater— 
vorhang zu dem Figurenfries unten u. a. Götz, Fauſt, 
Egmont, Wallenſtein, Jungfrau von Orleans und 
Tell“); bald darauf machten ihn ſeine Zeichnungen zu 
Hermann und Dorothea und zur Glocke, wie die zu 
Märchen und Liedern allbekannt und beliebt. Auf 
kleinere Kreiſe, aber genial, wirkte der junge Schwind 

*) Der Vorhang verbrannte mit Sempers Theaterbau; 
1862 wurde er nach der erhaltenen Zeichnung für Leipzig neu 
ausgeführt, und dort haben Richters traute Geſtalten viele 
Jahrzehntelang die Augen der Zuſchauer vor Beginn jeder 


Aufführung freundlich geſtimmt. 
9* 


132 Denkmäler und Dichterhäuſer 


mit Bildchen wie Schwager Kronos, Erlkönig und Schatz⸗ 
gräber (um 1830): in ihnen klangen zugleich muſikaliſche 
Eindrücke nach, die er von ſeinem Freunde Schubert er- 
halten hatte; den Humor von Ritter Kurts Brautfahrt 
im Bilde zu faſſen und zu ſteigern, gelang ihm erſt 1840 
nach zehnjährigem Bemühen. Dann führte er nach 
Goethes Aufſatz die philoſtratiſchen Gemälde für die 
neue Karlsruher Kunſthalle in eigenem Sinn aus, und 
1844 ſammelte er Verehrung und Liebe in dem glück— 
ſtrahlenden Transparent „Goethes Geburt.“ 

Niemand anders als die berühmteſten Bildhauer des 
Zeitalters ſchien berufen, Schiller und Goethe der 
heimiſchen Nachwelt im Denkmal zu zeigen: Thorwald— 
ſen ſchuf für Stuttgart das 1839 unter großem Jubel und 
in Anweſenheit der Söhne enthüllte Schillerdenkmal und 
Schwanthaler für Frankfurt 1844 das Denkmal Goethes; 
mit Rauch begannen Unterhandlungen wegen eines 
Denkmals für Goethe und Schiller zuſammen. 

Schillers Haus in Weimar ging 1847 in den 
Beſitz dieſer Stadt über; der Gedanke, Goethes 
Haus für den deutſchen Bund anzukaufen, zerſchlug 
ſich: noch war die Verehrung des weimariſchen 
Geiſtes zu zerſplittert wie das deutſche Volk ſelbſt. 


Im Zeitalter der Reichsgründung 


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Schiller, Goethe und die Enfel 


Im Sommer des Jahres 1870 verbrannte auf dem 
Kickelhahn die Hütte mit Goethes Inſchrift; ſie wurde 
durch eine Nachbildung erſetzt. Im Juli 1870 holte 
Bismarck zu dem Schlage aus, dem das neue Reich 
entſprang. Untergang eines weimariſchen Wahrzeichens, 
ſeine künſtliche Erneuerung durch literargeſchichtlich 
geleitete Pietät und Neubau der deutſchen Nation, was 
hatten ſie miteinander zu tun? 

Das Zeitalter von den fünfziger bis in den Beginn 
der achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts war 
eines von denen in unſrer Geſchichte, wo der Deutſche 
ganz der eignen Kraft vertrauend, faſt ganz in die 
Gegenwart ſchauend handelte. Mit friſchem Blick für 
die neue Notwendigkeit riſſen die preußiſchen Führer 
unſer Schickſal aus dem Sumpf der Bundeszeit heraus 
und ſtellten es auf feſten Boden. Die geiſtige Erquickung 
der fünfziger Jahre, trotz trüben Regiments, die wirt— 
ſchaftliche Kräftigung und die deutſchen Kämpfe der ſech— 
ziger Jahre mußten vorangehen, ehe an der Wende zum 
dritten Jahrzehnt die Haupttat gelang, die Beſiegung 
Frankreichs allein durch deutſche Kraft und die Begrün— 
dung des Hohenzollernkaiſertums; etwas mehr als ein 


136 Schillers und Goethes Jugend in der Kunſt 


Jahrzehnt währte noch der Ausbau des Reiches, bis die 
Männer, die um 1850 mitzuwirken begonnen hatten, 
allmählich aus den Reihen traten und ſich abermals eine 
Zeitwende ankündigte. An die Stelle des unmittelbar 
überlieferten Zuſammenlebens mit Goethe und Schiller 
trat damals zum erſtenmal leiſe die bewußte Auswahl 
aus älterem Gut, wenn man ſich inmitten des neuen 
Deutſchland für die alten Weimarer Führer erklärte. 
Und wie gleich und gleich ſich gern geſellt, ſo war eine 
Vorliebe der naiv und natürlich gewordenen Nation für 
den jungen Schiller, den jungen Goethe unverkennbar. 

Die Dichter gingen dabei den Gelehrten voran. Schon 
1843, in zweiter Auflage 1856, erſchien der große Roman 
von Hermann Kurz „Schillers Heimatsjahre“; und auf 
der Bühne der vierziger Jahre hatte Laube mit den 
„Karlsſchülern“ den größten Erfolg: 1846 ſpielten fünf 
Theater das Werk an Schillers Geburtstag. Zeichner 
und Maler ſchloſſen ſich an: Schiller in der Karlsſchule 
wurde ein beliebter Vorwurf, und Theobald von Oers 
Bild „Erſte Vorleſung der Räuber“ war ein Treffer. 
Noch in den ſiebziger Jahren behauptete Paul Lindau, 
die neue deutſche Dramatik könne an nichts beſſeres 
anknüpfen als an Kabale und Liebe. Der junge Goethe 
folgte in dichteriſch ſchwächeren Arbeiten: Gutzkow führte 
ihn 1852 im „Königsleutnant“ vor und Heinrich König 
1856 das Frankfurter Elternhaus in dem Roman „Der 
Stadtſchultheiß.“ 

Auch die Gelehrten beſchäftigten ſich mit den 


Goethes und Schillers Jugend in der Wiſſenſchaft 137 


jungen Dichtern genauer. Adolf Schöll in Weimar ver— 
öffentlichte 1846 Briefe und Aufſätze Goethes aus den 
Jahren 1766 bis 1786 und dann bis 1851 den Schatz 
der Briefe Goethes an Frau von Stein; in einer Neben— 
frucht dieſer Arbeit, in dem Eröffnungsaufſatz des ſeit 
1851 von Prutz herausgegebenen Deutſchen Muſeums 
„Zu Goethes Leben“, wies er Die Geſchwiſter als 
einen Gewinn Goethes aus dem Verhältnis zu Frau 
von Stein nach, wobei ſeine neue Forſchungs- und 
Deutungsweiſe in das perſönliche der Entſtehung des 
Werkchens tief eindrang und damit ein wiſſenſchaftliches 
Vorbild wurde. In Jena zeigte 1858 Kuno Fiſchers 
Schrift über „Die Selbſtbekenntniſſe Schillers“, was 
alles in deſſen Jugenddramen und -gedichten als Dar— 
ſtellung ſeines eignen Seelenlebens zu gelten habe; 
1856 erhielt man das nachgelaſſene Hauptwerk des 
fleißigen Boas „Schillers Jugendjahre“. Erſt 1875 
erſchien nach langer Vorbereitung durch Hirzel und 
Bernays die philologiſch reifſte Gabe dieſer Art in drei 
Bänden, „Der junge Goethe“ (1764-1776), eine Aus— 
gabe von Goethes Jugendwerken in ihrer erſten, jugend— 
lichen Geſtalt — die der Dichter für die geſammelten 
Werke ſpäter vielfach überarbeitet hatte — ſamt ſeinen 
gleichzeitigen Briefen: ſo trat er „dem deutſchen Leſer 
zu traulich ungezwungenem Geiſtesverkehr entgegen.“ 
Bernays durfte ſagen: „Wenn jetzt der junge Goethe 
wieder Einkehr hält bei ſeinem Volke, ſo blickt ſein 
ſtrahlendes Auge auf ein von neuem Jugendleben durch— 


138 Bedeutungsverſchiebungen in der Sprache 


ſtrömtes, in ſicherer Kraft aufgerichtetes Deutſchland. 
Wir fangen an zu begreifen, in welchem Sinne die 
Begründer unſerer Literatur, indem fie für die Menſch— 
heit dachten und ſchufen, zugleich an der Erhebung ihres 
Volkes gearbeitet haben; wir erblicken ſie in der erſten 
Reihe unſerer Volkshelden und leuchtend vor allen 
den jungen Goethe, den Befreier deutſcher Kunſt und 
deutſchen Geiſtes“ Und nun wurde im folgenden 
Jahrzehnt der junge Goethe das Lieblingsthema literar— 
geſchichtlicher Univerſitätsvorträge, und 1879 ver— 
öffentlichte Scherer ſeine zergliedernden Studien „Aus 
Goethes Frühzeit.“ 

Die Sprache der Natur verſtand ſich leicht auch 
über ein Jahrhundert hin. Aber wie ſtimmten jetzt 
höheres Klaſſikerdeutſch und neueſter Sprachgebrauch? 
Bedeuteten z. B. Talent und Charakter für die 
Mehrheit ohne weiteres noch das, was Goethe im 
Taſſo bei der Gegenüberſtellung der Bildung beider 
gemeint hatte? Gerade das umgekehrte von Goethes 
Wort ſei wahr, konnte man jetzt behaupten: der ſittliche 
Charakter Schillers habe ſich in der Stille gebildet, das 
Talent Goethes habe im Hof- und Weltleben geblüht. 
Charakter wurde gleich Willensmenſch, Talent gleich 
Schönheitskünder geſetzt und die Rollen kurzerhand, 
auf die Dichter verteilt. Schiller hatte in der Glocke von 
einem namenloſen Sehnen des Jünglings geſprochen 
und wörtlich ein nicht benennbares, unbejtimmtes 
Sehnen damit gemeint; jetzt wurde unter dieſem ſtarken 


Neue Wahrheit und alte Dichtung 139 


Schillerſchen Worteindruck jede große Sehnſucht ſuper— 
lativiſch zum „namenloſen Sehnen“ geſtempelt, auch 
wenn ſie ein ganz beſtimmtes Ziel hatte: um 1860 ſprach 
Max Maria von Weber, der Eiſenbahntechniker und 
Sohn des Muſikers, von „namenloſer Heimatſehnſucht“, 
ohne den Widerſpruch beider Worte zu ſpüren. So ver— 
wirrte ſich das Verhältnis zur Sprache der Klaſſiker, 
ſo trübte ſich ihre urſprüngliche Wirkung. 

Vor allem aber mußte das Wirklichkeitsſtreben, das 
ſtarke und geſunde, aber auch das derbe und grobe, mit 
Händen greifende, das die neuen Jahrzehnte enthüllten, 
dem Dichten und Trachten der gereiften Klaſſiker in die 
Parade fahren. Der Roman „Soll und Haben“ und 
„Die Journaliſten“, die Mundartdichtung von Gotthelf 
und Reuter, die feine Beobachtung von Storm und 
Keller drangen in Lebensgegenden, wovon bei Goethe 
und Schiller nichts zu leſen war. Dieſer Realismus 
hatte nicht Oſteologie ſtudiert, aber er hatte geſunde Kno— 
chen, und anders als einſt „der Dichtung Schleier“ warf 
er einen neuen feinen Geſamthauch von Wahrheitsſtim— 
mung über die Dinge. Der Humor im „Fähnlein der 
ſieben Aufrechten“ hatte ſo friſche Würze, daß manchem 
die Hexameter von Hermann und Dorothea daneben 
als Stubenſchönheit erſchienen. Was Wunder, daß ſich 
bald nach 1850 feſtſtellen ließ, daß auf dem Bücher— 
markt eine herabſetzende Beurteilung der Klaſſiker ein— 
reiße? daß die Forderung nach dem neuen bürgerlichen 
Drama als Zukunftsheil immer lauter wurde? 


140 Verkennung Schillers 


Beſonders Schiller wurde von dieſen Stimmen 
verrufen, ſein „Idealismus“ ihm verdacht und verdäch— 
tigt; und wo die Realiſten vom trübſten Waſſer ſaßen 
und ſich mit Büchners „Kraft und Stoff“ nährten oder 
unter Schopenhauers Einfluß lugubre Weiſen blieſen, da 
ſah es um das Verſtändnis Schillers vollends böſe aus. 
Eduard von Hartmann, der 1869 die Philoſophie des 
Unbewußten brachte, deutete den Satz „Das Leben iſt 
der Güter höchſtes nicht“ ſchief dahin, daß dieſer Gedanke 
am Ende der Tragödie die höchſte Erkenntnis des um— 
ſonſt ringenden Helden ſei und Aufgeben des Kampfes, 
Lebensentſagung, Schmerzloſigkeit das letzte Ziel. Und 
in den ſiebziger Jahren bewieſen nicht nur Dührings 
Berliner Vorträge die Blindheit der „Poſitiviſten“ für 
Schillers Gehalt und Kunſt, auch Otto Ludwigs Shake— 
ſpeareſtudien tollten ſich in eine verbitterte Polemik gegen 
Schillers Dramen hinein. Um 1883 war in dem Eigen- 
ſchwung der wechſelnden Zeiten, wenn man dem Durch— 
ſchnitt der neumündigſten Wortführer glaubte, Schillers 
Geltung recht ſchwach. 

Für Goethe war die Stimmung damals günſtiger; 
ihm kam zugute, was man unter ſeinem „Realismus“ 
verſtand, was man als ſeine Naturverwandtſchaft emp— 
fand und als ſein Naturintereſſe kannte. Und doch 
machten gerade einige der hervorragendſten Naturwiſſen— 
ſchafter gegen ihn teilweiſe Front: der Phyſiker Helm— 
holtz verehrte zwar den Dichter, beurteilte aber die 
Farbenlehre abfällig, und der Phyſiologe Du Bois— 


Tadler Goethes 141 


Reymond, der 1872 im goethiſchen Sinne mit ſeinem 
Ignorabimus ein lebhaftes Echo erweckte, polemiſierte 
ſchließlich 1882 gegen die ganze Perſönlichkeit unter dem 
Stichwort „Goethe und kein Ende“ (das ſchon 1851 im 
Prutzſchen Muſeum ausgegeben worden war). Von den 
Philoſophen und Philoſophaſtern hatte Viſcher mit ſeiner 
witzigen Parodie des zweiten Teils von Fauſt den 
Erfolg, daß durch ſie weite Kreiſe davon ferngehalten 
wurden; Hartmann glaubte, Taſſo als ein verfehltes 
Kunſtwerk an den Pranger ſtellen zu können, und 
Dühring nannte Goethes Poeſie unmoraliſch, weil ſie 
die Realität beſchönige, und unäſthetiſch, weil ſie unſern 
Wirklichkeitsſinn verletzte: beides einflußkräftige Lite— 
raten. Mancher Bequemling unter den neuen Dichtern, 
von Gegenwartsluſt trunken, dachte, was Alfred Meißner 
ausſprach: „Ich ſage Ihnen, lieber Freund, Goethe iſt 
über die Maßen langweilig“; aber auch Hebbel erklärte, 
daß ihm manche Dichtungen Goethes nicht genügten, 
weil ihre Schönheit aus keinem Ringen hervorgehe, 
und ähnlich tadelte Otto Ludwig, daß Goethe die Natur 
zu paſſiv gedacht, vorwiegend ihr ſtilles, in ſich gebun— 
denes Wachſen betrachtet habe, für den Inſtinkt des 
unbändigen, ungebärdigen in ihr habe er keinen Sinn 
gehabt. Und ſchließlich: was ſich an friſchem Volks— 
geiſt, an deutſcher Tatkraft in Bismarck ſo groß be— 
kundete, mußte es nicht Goethe und Schiller nach dem 
Hintergrund zu drängen? Das Geſchlecht nach 1850 
erlebte, wie ſich ein neuer Jahrhundertring zu bilden 


142 Die Nation und die Klaſſiker 


anfing und die Goethiſche Welt in das Innere zurück— 
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Trotzdem: Weimars Klaſſiker wirkten weiter wie 
das fertige neben dem werdenden und wie das ewige 
neben dem heutigen. Ob man nun mit Gottfried Keller 
bekannte: „Wasewig gleich bleiben muß, iſt das Beſtreben 
nach Humanität, in welchem uns jene Sterne, Goethe 
und Schiller, wie diejenigen früherer Zeiten, vor— 
leuchten“ oder mit Herman Grimm einſah, das höchſte 
ſei, an den großen Gedanken, für die die Menſchheit da 
iſt, ſich immer beteiligt zu wiſſen, im ganzen hielt die 
Nation auf die Klaſſiker wie auf ein koſtbarſtes Erbſtück, 
das man gern benutzt, und hing an ihnen, vom Thron 
bis in den unbewußten Winkel. Von König Johann von 
Sachſen, dem Überſetzer Dantes, wiſſen wir, daß er einige 
Werke Goethes bewunderte und Schiller wirklich liebte; 
im Ränzel des wandernden Handwerksburſchen ſteckten 
Schillers Gedichte, und aus einem auf Löſchpapier ge— 
druckten Liederbüchel für Handwerksburſche hatte der 
junge Dorfſchuſter „Kleine Blumen, kleine Blätter“ ge— 
lernt, von deſſen entſtelltem Geſang Keller (1882 im 
Sinngedicht) erzählt: „Die unverwüſtliche Seele des 
Liedes bewirkte das Gegenteil eines lächerlichen Ein— 
drucks.“ 

Jenem Satz von dem ſich gleichbleibenden Beſtreben 
nach Humanität — einer Huldigung auch für Herders 
Gedanken — hatte Keller hinzugefügt: „Was aber dieſe 
Humanität jederzeit umfaſſen ſolle: dies zu beſtimmen 


Schillerfeſte 1855 und 1859 143 


hängt nicht vom Talent und dem Streben ab, ſondern 
von der Zeit und der Geſchichte.“ Da war nun jetzt 
zu bemerken, daß ſich Humanität und Kosmopolitismus 
ſchieden. Der himmelblaue Kosmopolitismus, auf den 
noch in der Paulskirche mancher deutſche Geiſt ein— 
geſchworen war, verblaßte jetzt neben dem friſchen Grün 
eines humanen Nationalismus, wie er namentlich in 
all den Kreiſen erwachte, die man als Vorläufer oder 
Mitglieder zu der werdenden nationalliberalen Partei 
rechnen konnte, der damaligen wahren Mitte des deut— 
ſchen Volkes. Dieſe Vorläufer des Nationalliberalis— 
mus waren es vor allen, die in den fünfziger Jahren 
die überzeugteſte Begeiſterung bei den beiden großen 
Schillerfeſten (1855 und 1859) an den Tag legten, ob— 
wohl ſich damals im Zeichen Schillers die vaterländiſche 
Hoffnung des deutſchen Volkes überhaupt einte. Die 
fünfzigjährige Gedenkfeier an Schillers Tod hatte noch 
mehr literariſches Weſen, wie ſie auch ein Literatur— 
ergebnis zeitigte: für die Dresdner Schillerſtiftung 
floſſen aus Alldeutſchland reiche Mittel zuſammen, um 
verdienten Schriftſtellern im äußern Lebenskampf zu 
helfen. 1859 aber, an Schillers hundertjährigem Ge— 
burtstag, verband ſich Deutſchland in der Erwartung 
ſeiner politiſchen Einigung zur Feier Schillers wie zu 
der des Genius der Nation. Was etwa von Schiller— 
krittelei in modernen Literatenkreiſen irrlichtelierte, in 
einem Anſturm der Begeiſterung wurde es überrannt. 
In ungezählten Reden und Liedern und Schriften floß 


144 Jahrhundertfeier von Schillers Geburtstag 


das Herz vom Dank an Schiller und vom Glauben an 
Deutſchland zugleich über, in Schulen und Univerfi- 
täten, an Bankettafeln und auf Marktplätzen; Gelehrte 
und Politiker, Dichter und Handwerksmeiſter, Kaufleute 
und Rechtsanwälte gaben das Gelöbnis der Treue, 
das Herwegh nun in die Worte faßte: 

Er wird ein Freund das deutſche Volk begleiten, 

So lang das deutſche Volk beſteht. 
Der greiſe Jacob Grimm wies darauf hin, daß ſich an 
Schillers Sprachtalent und -kunſt das Schrift- und 
Rededeutſch aller Neueren gebildet habe, daß die Mutter- 
ſprache ſelbſt durch ihn gewonnen habe. Gutzkow rief: 
„Er war der Erzieher ſeines Volkes; er lehrte es feſt— 
zuſtehen dem Atem der Geſchichte! Das, das iſt das 
Geheimnis unſerer Liebe zu Schiller! Die Erhebung 
unſerer Herzen! Der Mut zur Tat!“ Der junge Fontane 
feierte ihn als den Ergänzer Klopſtocks und Goethes: 


Geboren war die Welt der Ideale; 
Hell ſchien das Licht; nur für die nächtgen Zeiten 
Gebrach uns noch das Feuer der Fanale, 
Gebrach uns noch das Feuer, das von weiten 
Zu Waffen ruft, von hohem Bergeskamme, 
Wenns gilt, für Sitte, Land und Thron zu ſtreiten; 
Gebrach uns noch die hohe, heilge Flamme, 
Die unſern Sinn von Kleinheit, Selbſtſucht reinigt 
Und uns zuſammenſchweißt zu einem Stamme, 
Und Schiller kam — und Deutſchland war geeinigt. 


Der Nachfolge des Künſtlers galt 1859 die preußiſche 
Stiftung des Schillerpreiſes. Auf den Morgen dieſes 
Jahres folgte der Mittag von 1870, und wieder war 


Schiller und 1870; feine damaligen Denkmäler 145 


Schiller dabei. Die für das Vaterland begeiſtert ſtritten, 
unempfindlich gegen alle Beſchwerden des Krieges, 
waren erfüllt von Schillerſchen Idealen: ſo bezeugte es 
der Offizier und Archäologe Bötticher, und der Philo— 
loge Birt fügte hinzu: „Wer das Jahr 1870 miterlebt 
hat, der wird dies unſerm Schiller nie vergeſſen.“ Tell 
und Wallenſteins Lager entſprachen auf allen deutſchen 
Bühnen am beſten dem Gefühl der Nation in der großen 
Stunde der Tat. Ja kurz danach blickte Raabe (1872 
im „Dräumling“) auf die Feier von 1859 zurück „als die 
wahre Geburtsſtunde der Einheit des deutſchen Volkes.“ 
1859 wurde der Grundſtein zu dem Denkmal Schillers 
in Berlin gelegt, und 1871 wurde dies Werk von Begas 
enthüllt. Hier und dort in Deutſchland bezeugte eine 
Reihe andrer Schillermäler die Dankbarkeit jener Jahr— 
zehnte für Schillers Schaffen. Am raſcheſten erhoben 
ſie ſich zu Beginn der ſechziger Jahre nacheinander: 
1862 in Mannheim und Mainz, 1863 in München und 
1865 in Frankfurt am Main, Hannover und Hamburg. 
In dem Heimatſtädtchen Marbach ſtand Schillers Bild 
ſeit dem 9. Mai 1876 und in der öſterreichiſchen Kaiſer— 
ſtadt ſeit ſeinem Geburtstag desſelben Jahres. In Wien 
wurde zwar nach 1866 der Denkmalsplan unter 
Schwierigkeiten, aber mit um ſo größerer Zähigkeit und 
Begeiſterung gefördert; Hamerling kündete 1869: 


Gen Norden weiſen ſoll ernſt und ſtill 
Die Dichterhand von Erz — 
Der Pfahl, der deutſche Lande noch trennt, 
Er geht durch des Dichters Herz! 
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 10 


146 Neue Schillerausgaben 


Beſſer als Denkmäler zeugten von der Größe der Wir- 
kung Schillers in den ſechziger und ſiebziger Jahren die 
damaligen neuen Geſamt- und Einzelausgaben ſeiner 
Werke. Schiller wurde ja nicht nur gekauft, ſondern 
auch geleſen, vorgeleſen und gelernt, von Eltern zu 
Kindern, von der Jugend unter ſich. 1867 erloſch das 
Cottaſche Privileg; in demſelben Jahre begann der 
Reclamſche Verlag die rötlichen Heftchen ſeiner Univerſal— 
Bibliothek auszuſenden: der Tell für zwanzig Pfennige! 
Und dabei erſchienen zwiſchen 1862 und 1867 noch 17 
Geſamt -und 62 Einzelausgaben von Schillers Werken 
und in den nächſten ſieben Jahren nochmals faſt ebenſo— 
viel. Großen Anklang fanden ſchließlich die illuſtrierten 
Ausgaben, die des Hallbergerſchen Verlags in Stuttgart 
und die des Groteſchen in Berlin: von der Hallberger— 
ſchen waren 1882 52000 Stück abgeſetzt. 1876 wurde 
auch die von Jacob Grimm 1859 geforderte große kritiſche 
Ausgabe wiſſenſchaftlicher Beſtimmung für Schiller 
vollendet, durch Karl Goedeke und eine Reihe gewiſſen— 
hafter Mitarbeiter. Und neben der Geſamtausgabe 
ſtand die Biographie im Hausbücherſchrank: ausführlich 
und beredt, zuverläſſig und begeiſtert genug ſchrieb 
Palleske ſein Buch „Schillers Leben und Werke“ zum 
Jubiläum 1859, daß es dreißig Jahre lang als die deutſche 
Schillerbiographie dienen konnte. 

Die Bühne diente vor allem zur Unterhaltung mit 
Luſtſpielen und Poſſen; alles ernſte neue aber vermochte 
Schiller und Goethe nicht in den Schatten zu ſtellen. 


Die Bühne und die Klaſſiker 147 


tamentlich bewährte ſich jetzt die von Gottſchall in den 
fünfziger Jahren achſelzuckend anerkannte „feuerfeſte 
Klaſſizität“ Schillers. Damals fingen Hof- und größere 
Stadttheater an, ab und zu billige Volksvorſtellungen 
von einem der Weimarer Werke zu geben. Feinere 
Beurteiler kamen freilich nur gern, wenn ein berühmter 
Gaſt eine Rolle beſonders ſehenswert erwarten ließ. 
Zu Anfang der ſechziger Jahre, wo der neue Geiſt recht 
friſch hervortrat, konnte man Klage darüber hören, daß 
die klaſſiſchen Dramen weniger anzögen als früher; 
1867 aber klang es wieder: „Wer kennt unſern Schiller 
nicht faſt auswendig? Dennoch ſind ſeine Trauerſpiele 
noch bis zur Stunde, wo ſie durchgängig gut dargeſtellt 
werden, Kaſſaſtücke und machen vollere Häuſer, als 
irgendeine noch unbekannte Novität zu erzielen vermag.“ 
Als 1870 die Gewerbefreiheit auch im Theaterbetrieb 
ſtattfand, bemächtigten ſich ſofort beſſere Nebenbühnen 
des guten Schauſpiels, und etwa bis 1877 waren nun 
in Berlin auf dem Nationaltheater, im Bellealliance— 
theater und im Stadttheater vor allem Schiller und 
Shakeſpeare neben Benedix und Gutzkow, Hebbel und 
Ludwig oft zu ſehen. Das Berliner Hofſchauſpiel zeigte 
in dem Jahrhundert von 1786 bis 1885 in ganzen 1926 
Aufführungen Schillerſcher Dramen neben 1760 von 
Shakeſpeare und 832 von Goethe; über 200 mal wurden 
hier die Jungfrau von Orleans, Maria Stuart, Don 
Carlos und Wallenſteins Tod geſpielt, Fauſt 194 mal, 


ebenſooft wie Kabale und Liebe. An der Wiener Hof— 
10* 


148 Laubes Regie 


burg, wo bis 1850 Maria Stuart das beliebteſte Trauer⸗ 
ſpielgeweſen war, traten nun die Räuber und Wallenſtein 
in den Vordergrund. Daß dieſe Aufführungen von den 
fünfziger bis in den Beginn der achtziger Jahre an Güte 
freilich im ganzen mehr ab- als zunahmen, ſcheint kaum 
zu bezweifeln zu ſein. 8 

Hervorragende Verdienſte um die Darſtellung klaſſi— 
ſcher Dramen hatten damals Laube und Dingelſtedt. 
Heinrich Laube leitete von 1850 bis 1866 das Burgtheater, 
dann kurze Zeit das Leipziger Stadttheater und ſchließlich 
bis 1878 das Stadttheater in Wien. Nicht im Sinne 
der weimariſchen Schauſpielkunſt, wie ſie ihm in all- 
mählicher Verbildung namentlich auf mitteldeutſchen 
Bühnen entgegentrat. Er knüpfte, ſeiner Zeit und 
Perſönlichkeit gemäß, lieber an die natürliche Wahrheits— 
kunſt der Hamburger Dramaturgen vor hundert Jahren 
an, an Leſſing und Schröder. Wohl verſtand er, was 
Weimar für die deutſche Tragödie großes und neues 
bedeutet hatte; aber er glaubte auch den Keim zur Miß— 
bildung in der antikiſierenden Figurenplaſtik Goethes, 
in der gelegentlichen Anlehnung an franzöſiſchen Konven— 
tionalismus zu erkennen. Laubes plaſtiſcher Sinn war 
mehr auf das Geſamtgeſchehen auf der Bühne gerichtet; 
ihn ſtörte — wie viele ſeiner friſch empfindenden Zeit— 
genoſſen — die ſpätweimariſche Deklamation, er hatte 
die entſchiedene Empfindung, der weimariſche Jamben— 
geſang ſei als übertrieben und überlebt abzuweiſen. 
Aus den weimariſchen Spielplänen waren Iffland und 


Dingelſtedts Bühnentechnik 149 


Kotzebue verſchwunden, die einſt dort die breite Wirk— 
lichkeitsunterlage gebildet hatten, die klaſſiſche Pflanze 
hatte damit an brauchbarer Krume verloren, und den 
neuen Realismus ſeit Mitte des 19. Jahrhunderts dem 
alten Klaſſizismus als Nährboden unterzufügen, war 
keine leichte Aufgabe. Niemand hat ſeinerzeit daran 
mit ſo viel Bewußtſein und Kraft gearbeitet wie Laube; 
ohne Härte ging es nicht ab, wie er auch Schillers 
Demetriusfragment ohne Rückſicht auf Schillers Plan 
ergänzte, ja ohne den Verſuch, im Schillerſchen Tone 
fortzufahren. Dingelſtedt war 1851 bis 1856 Intendant 
an der Münchner Hofbühne und, nach einer zehnjährigen 
Tätigkeit in Weimar, Laubes Nachfolger an der Burg 
bis 1881. Er übertraf Laube als glänzender Bühnen— 
techniker in der Herausarbeitung großer Geſamteindrücke, 
im prächtigen Dekorations- und Statiſtenweſen; ſeine 
erſte „Tat“ war der Münchner Klaſſikerzyklus von 1854, 
wo Kabale und Liebe den Vogel abſchoß; in Wien 
ſetzte er zuerſt den ungeſtrichenen Carlos mit Poſas 
Forderung der Gedankenfreiheit 1879 durch. Als er 
Laubes Eſſex aufzuführen gedachte, ein Werk, das 
halb im Zeichen der Maria Stuart, halb gegen ſie 
erfunden war, meldete er es einem Freunde mit dem 
Zuſatz: „Heinrich, mir graut vor dir!“ So ſtanden dieſe 
Herren, widerwillig und folgſam, bewußt und unbewußt, 
unter dem Einfluß Weimars. 

In Dresden ſpielte um 1860 noch Emil Devrient, der 


—— 


Liebling des vorigen Zeitalters, den Taſſo in älterer, ideal 


150 Muſteraufführungen 


gerichteter Weiſe; neben ihm ſtand fein großer realiſti⸗ 
ſcher Rival Dawiſon als Antonio. Die Dresdner Jugend 
genoß es als höchſtes Bühnenerlebnis, den Streit dieſer 
Männer zu vernehmen, der urſprünglich ein Streit in 
Goethes Bruſt geweſen war und jetzt zum Wettſtreit 
der Zeiten und der Darſtellerperſönlichkeiten wurde, 
den Streit aus Anlaß des Kranzes; noch entſchied ſie 
ſich vielleicht lieber für Taſſo-Devrient bei deſſen 
Worten „Sei erſt ſo groß, mir ihn nicht zu beneiden“, 
bis Antonio mit der Zeit an Beifall gewann. Ebenbürtig 
dieſen Männern ſpielte als Prinzeſſin die Bayer-Bürck, 
nach Laubes Urteil auch die beſte Iphigenie ihrer Zeit. 
In Wien ſtanden 1858 unter Laube zum erſtenmal 
Sonnenthal als Clavigo und Lewinski als Carlos neben— 
einander, der eine liebenswürdig, ſenſitiv, launiſch, der 
andre geſcheit, trocken, konſequent. Es war kein jo 
beziehungsreicher Gegenſatz wie im Dresdner Taſſo, 
aber mit gleichmäßiger Naturtreue wurde hier die 
poetiſche Atmoſphäre erfüllt und der Zeitgeiſt des 
ſterbenden Rokoko gebildet; jahrzehntelang blieb dieſes 
Paar typiſch. Die berühmteſte damalige Gaſtſpielerin, 
die Wolter, bevorzugte die glänzenderen neuern Rollen 
einer Medea und Meſſalina; auch der Ziegler lagen dieſe 
wohl beſſer, während ihre Johanna eine manierierte 
Heroine war. Die Geſamtgaſtſpiele der Meininger in 
den ſiebziger und achtziger Jahren trieben die Ge— 
ſchichtswahrheit der Ausſtattung auf die Spitze, boten 
aber auch künſtleriſch ſo wertvolles, daß ſie als neue 


Goetheausgaben 151 


Erfüllung neben den ausgetretenen Bahnen der orts— 
üblichen Klaſſikervorſtellungen erſchienen. 

All dieſe Bühnenarbeit, ſoweit ſie den weimariſchen 
Werken gewidmet war, diente mehr Schiller als Goethe, 
und auch das volle Maß der lauten Nationalbegeiſterung 
für Schiller war Goethe nicht beſchieden. Im ſtillen 
aber eroberte er ſich das Geſchlecht der Enkel ebenſo— 
gut, ja mit ſteigendem Erfolge, während der Schillers 
nachließ. In den Jahren von 1868 bis 1874 erſchienen 
neben 17 Geſamt- und 96 Einzelausgaben von Schiller 
27 Geſamt⸗ und 162 Einzelausgaben von Goethe. 
Darunter waren zwei Reclamſche Goetheausgaben, 
eine große in 45 Bänden und eine Auswahl in 16 Bänden 
— Goethes Fauſt wurde Nr. 1 und 2 der Reclamſchen 
Hefte —, ſowie die erſte illuſtrierte Goetheausgabe des 
Groteſchen Verlags, die 1870 in zwanzig Bänden fertig 
wurde und in den folgenden vier Jahren vier neue 
Auflagen erlebte. Vor den vielen Cottaſchen Drucken 
ſicherte ſich die Ausgabe des Berliner Verlegers Hempel 
damals den beſten wiſſenſchaftlichen Ruf: ſie erſchien 
allmählich heftweiſe in 36 Teilen in den Jahren 1868 
bis 1879. Über Goethes Leben konnte man ſich in 
der nüchternen Biographie von Viehoff unterrichten — 
viermal zwiſchen 1847 und 1876 aufgelegt — zog aber 
meiſt das wohlwollende Buch des Engländers Lewes 
vor — ſeit 1857 fünfzehn deutſche Auflagen in dreißig 
Jahren —, bis Herman Grimms geiſtreiche Berliner 
Goethevorleſungen — in drei Buchauflagen zwiſchen 


152 Goethegemeinde 


1876 und 1882 — einen künftig einzunehmenden höheren 
Standpunkt andeuteten. Ohne Frage war es vor allem 
die Goethiſche Lyrik, die immer wieder von neuem an 
den Dichter feſſelte, und ſo war es auch der lyriſchſte 
unter den jüngeren Bildhauern zu Ende des Zeitalters, 
Schaper, deſſen Goetheſtatue im Wettbewerb für Berlin 
endlich ſiegte und 1880 im Tiergarten enthüllt wurde. 

Schiller wirkte auf das Zeitalter einheitlich wie ein 
ſtarkes Licht mit ſeinem Schatten daneben; Goethes 
Kunſt und Weſen wurde in vielfarbiger Brechung auf— 
genommen. Die wachſenden Ausgabenziffern zeugten 
von ſeiner Verehrung in die Breite. Aber wie im 
verborgenen blühte darunter die „ſtille Gemeinde“ 
Goethes, für die wenige Kenner und Gelehrte ihre 
Privatdrucke verſandten: Goethes Teplitzer Verschen 
auf einem Guldenſchein an Chriſtine von Ligne wurde 
„zur kleinen Erbauung der ſtillen Gemeinde am 
22. März 1860 verteilt von W. Freiherr von Bieder— 
mann“ und das „Tagebuch“ 1861 von Hirzel. Nur 
zum Verſchenken ließ Hirzel auch die drei Verzeichniſſe 
ſeiner Goethebibliothek 1848, 1861 und 1874 drucken; 
erſt 1884 brachte ſein Neffe eine letzte Ausgabe in den 
Handel. Unter den Journaliſten kam es auf, x-beliebige 
Themata mit einem Goethewort anzuſchneiden; wer 
von der Hamburger Börſenſpekulation reden wollte, 
begann mit dem Vers von dem Kerl, der ſpekuliert. 
Erlebte doch auch Büchmanns Sammlung geflügelter 
Worte in den zwanzig Jahren von ihrem erſten 


Neuere Literaturgeſchichte und Goethephilologie 153 


Erſcheinen (1864) bis zu Büchmanns Tode dreizehn 
Auflagen, und nächſt der Bibel hatten Goethe und 
Schiller die meiſten Zitate darein geliefert. Um die 
Mitte des Jahrhunderts überwog das ſachliche Intereſſe, 
um 1880 trat das künſtleriſche wieder deutlicher hervor. 
Daher erweckte das Buch des Oſtpreußen Alexander Jung 
„Goethes Wanderjahre und die wichtigſten Fragen des 
19. Jahrhunderts“ ein ſoziologiſches Echo; ſpäter ſpielte 
Karl Hillebrand den Verfaſſer des Wilhelm Meiſter 
gegen die angeblich überall herrſchende moraliſtiſche 
Abſicht der neuſten Romanſchriftſteller aus, und Victor 
Hehns „Gedanken über Goethe“ wurden ein Buch nach 
dem Herzen kunſtfähiger Goethefreunde. 

Für die Schillerpflege, noch mehr aber für die 
Goethekenntnis des Zeitalters war es ein Vorteil, 
daß damals neuere Literaturgeſchichte unter den kultur— 
geſchichtlichen Teilwiſſenſchaften faſt eine Modewiſſen— 
ſchaft war, obwohl noch ein Stiefkind der Univerſitäten. 
Mag die ganze Erſcheinung etwas nachzügleriſches zu 
dem Jahrhundert von Leſſing bis Uhland haben, an 
ſich war ſie neu, und ſie war notwendig, um der Gegen— 
wart und Zukunft die Wege zu den Quellen der klaſſi— 
ſchen Dichtung offen zu halten. Der erſte Univerſitäts— 
profeſſor für dieſe Wiſſenſchaft war Prutz in Halle, 
und 1851 hieß es in dem Proſpekt zu der erſten, von 
ihm herausgegebenen Zeitſchrift ſeines und verwandter 
Gebiete, zu dem Deutſchen Muſeum: „Eine bedeutende 
Stelle namentlich wird es der Literaturgeſchichte ein— 


154 Scherer; Schöll, Bratranek, Boas 


räumen, dieſer für das Volksbewußtſein ſo wichtigen, 
darum auch in jüngſter Zeit mit Recht ſo beliebt ge— 
wordenen Wiſſenſchaft.“ Schiller vermochte die tätigen 
mehr zu begeiſtern, Goethe tat den beſchaulicheren 
wohler, und ſo entſtand zuerſt die Goethephilologie: 
von ihr ſprach man ganz vereinzelt ſeit Beginn der 
ſechziger Jahre, bis 1877 Scherer ihre Fahne mit Alarm 
aufhob. 

So nachgoethiſch wie Schöll hat fie freilich damals 
nicht jeder betrieben. Der ſah es 1851 als etwas 
tröſtliches an, daß die Beſchäftigung mit Goethe mehr 
und mehr „an die lebendige Form herantrete.“ Für 
ihn war der Punkt des Intereſſes, daß man das Schöne 
und Bedeutende natürlich entſtehen, das Auszeichnende, 
Widerſprechende, Bemerkenswerte aus dem hervorgehen 
ſehe, was allen Menſchen gemein ſei — man denke 
an Goethes Metamorphoſenlehre. Er zuerſt ſagte 
dem alten Optimismus ab, der die Darſtellung Goethes 
mit einem zu heiter epiſchen Schimmer überzogen 
habe, und er ſprach aus: „Am Genie ſtellt ſich das 
Natürliche reiner dar als an gewöhnlichen Menſchen 
von kollektiver und verworrner Beſtimmung.“ Verwandt 
ſolcher Betrachtung, überdies naturwiſſenſchaftlich unter— 
richtet, waren die Studien Bratraneks, der allein das 
Vertrauen von Goethes Erben beſaß und mit ſeinem 
Werk über Egmont und Wallenſtein beiden Klaſſikern 
huldigte; das tat auch Boas in dem anſpruchsloſen, 
aber gründlichen und erfolgreichen Werke „Schiller und 


Loeper, Düntzer, Bernays, Hildebrand 155 


Goethe im Xenienkampf“ (1851). Herr von Loeper 
in Berlin, von 1854 bis 1886 im hohenzolleriſchen 
Hausminiſterium tätig, hatte als Gymnaſiaſt mit Goethe— 
kollektaneen begonnen und trieb es ſo fort als treu 
ergebener Liebhaber, dem Goethe Führer durchs Leben 
wurde, der Hauptmitarbeiter an der Hempelſchen Aus— 
gabe. Düntzer in Köln lieferte 83 Heftchen „Erläute— 
rungen zu den deutſchen Klaſſikern“, darunter allein 
1863 bis 1865 ſieben Bändchen Kommentar zu Schillers 
Gedichten, durch Plattheit und Rechthaberei unzulänglich, 
aber durch Vielwiſſen ihrer Zeit unentbehrlich. Bernays 
in München verfolgte die Idee, die Methode der klaſſi— 
ſchen Philologie in aller Strenge auf das Gebiet der 
neueren Literaturgeſchichte zu übertragen, am präziſeſten 
in ſeiner Erſtlingsſchrift „Über Kritik und Geſchichte des 
Goethe'ſchen Textes“; als Rezitator volltönend und als 
Profeſſor wortreich genoß er ſelbſtgefällig den Abglanz 
der Literatur wie keiner. Außerlich am erfolgreichſten 
bereitete ſchließlich Scherer die Goethephilologie und 
verwandtes dem nächſten Dozentengeſchlecht vor. Tiefer 
als alle wirkte Rudolf Hildebrand mit dem Gedanken, die 
volkstümliche deutſche Weltanſchauung mit der Goethes 
und Schillers zu vereinigen; dahin zielte er als Leip— 
ziger Univerſitätsprofeſſor, dazu lieferte er als beſter 
Mitarbeiter am Grimmſchen Wörterbuch unermüdlich 
Beiträge, vor allem in den großen Artikeln: Geiſt, 
Gemüt, Genie. 

Hildebrand hatte in dieſem Sinne auch einigen 


156 Die Schule und die Klaſſiker 


Einfluß auf die Schule, als Gymnaſiallehrer wie durch 
ſein Buch vom deutſchen Unterricht (zuerſt 1867). 
Errang man doch erſt jetzt für Schiller und Goethe 
einen feſten Platz in den Mittelſchulen. Sachte genug, 
und unter Kampf. Hieckes Aufforderung, „unſere 
Schüler unter Leſſings, Schillers und Goethes freudig 
flatternde Paniere“ zu ſcharen (1849), fand nicht ſo 
ſchnell Nachfolge, wie Raumers Abhandlung „Über 
den Unterricht im Deutſchen“ (1852) annahm; 1854 
ordnete in Preußen Stiehls Regulativ für die Lehrer— 
ſeminare ſtreng an, die „ſogenannte klaſſiſche Literatur“, 
d. h. die deutſche, fernzuhalten. In den ſechziger Jahren 
ging es aber vorwärts. Als Eckſtein 1863 das Rektorat 
der Leipziger Thomasſchule antrat und den deutſchen 
Unterricht in Prima übernahm, begründete er ſeine 
Erklärung vor den Kollegen, Leſſing und Goethe ein— 
gehender traktieren zu wollen, damit: die Schüler 
müßten auch etwas zum Begeiſtern haben; er, der erſte 
Lateiner unter den damaligen Schulphilologen, ſtellte 
damit die heutige Begeiſterungskraft von Virgil und 
Horaz und doch auch von den Griechen in Frage. Noch 
immer gab es Lehrer wie den alten Weber in Weimar, 
die zwar ihren ganzen außerdienſtlichen Kunſt- und 
Wiſſenſchaftstrieb den deutſchen Dichtern widmeten, 
aber in der Schule lieber die Fineſſen der lateini— 
ſchen Grammatik in die Köpfe meißelten. Der freie 
lateiniſche Aufſatz galt noch überall als der Gipfel der 
humaniſtiſchen Bildung; es erſchien als Verwegenheit, 


Vom deutſchen Unterricht 157 


an dieſem Platz ſich den deutſchen Aufſatz zu denken. 
Einen breiten Raum beſetzte die pädagogiſche Literatur 
über die antiken Schriftſteller, die Schulausgaben von 
dieſen; ein ſchmales Rinnſal bildeten daneben ein paar 
Sentenzenſammlungen aus Goethe u. a. als Themata— 
vorrat zu deutſchen Aufſätzen und in den ſiebziger Jahren 
die erſten Schulausgaben deutſcher Klaſſikerdramen. 
Und wie oft litt der neue Unterricht noch daran, daß 
man zunächſt die epigoniſch-philologiſche Methode 
des altklaſſiſchen Betriebs von 1835 jetzt um 1865 einfach 
auf das deutſche Gebiet übertrug! Bei dem Durchkauen 
von Schillers Verhältnis zu ſeinen Balladenquellen 
und dem Auswägeln der guten und ſchlechten Versfüße 
in Hermann und Dorothea verging manchem Schüler 
die Luſt, dieſe Dichtungen je wieder aufzuſchlagen. 
Und doch war ſchließlich auch jetzt ſchon der Nutzen 
größer als der Schade, auch wo nur ein grober Eindruck 
von dem Nationalwert der Klaſſiker blieb. In un— 
zähligen Schulklaſſen zeigten doch die Weimarer Werke 
der Jugend deutſche Wahrheit und Schönheit. 

So beteiligte ſich alt und jung im dritten Geſchlecht, 
viele tauſende von lebendigen Verhältniſſen zu den 
größten deutſchen Dichtern der Neuzeit anzuknüpfen, 
zu unterhalten. Und neben Schule und Bühne, Haus— 
leſe und Feſtrede halfen vermehrter Notendruck und 
Klavierbau und führten den Goetheliederſegen der 
Schubert und Zeitgenoſſen als Haus- und Konzertmuſik 
dem zweiten Geſchlecht erſt recht in Fülle zu. War 


158 Philoſophie, Naturwiſſenſchaft, Poeſie 


aber die Einwirkung auf die ſchöpferiſchen Geiſter in 
Wiſſenſchaft und Kunſt noch ſo ſtark wie früher? 

Man darf Lotzes „Mikrokosmus“ (1856—1869) das 
Werk nennen, das als giltige Philoſophie der Zeit durch 
die Anerkennung der Natur als letzten Schöpfungs— 
zweckes und Aufſtellung von Modellen mehr als Typen 
des Lebens von Goethes geſamtem Denken einen Strahl 
empfangen hatte und weitergab. Die Naturwiſſen⸗ 
ſchaft ſebſt ging damals überwiegend rein induktiv vor 
und wehrte Goethes Ideen mehr ab, als daß ſie ſich 
unmittelbar produktiv von ihnen hätte beeinfluſſen laſſen. 

Die Dichter wußten, was ſie trotz mancher Einzel— 
kritik an Schiller und Goethe hatten. Hebbel ließ ſich 
in ſeiner Todesſtunde den „Spaziergang“ vorleſen. 
Keller und Anzengruber wichen von einer tiefen Ver— 
ehrung Schillers nie ab. Als ſich zu Anfang der achtziger 
Jahre bei einer Verſammlung am Bodenſee ein Ecktiſch 
von Gäſten zuſammengefunden hatte, Lingg, Scheffel, 
Meißner, bei denen auch Rittmeiſter von Schiller ſaß, 
ein Enkel des Dichters, und ein Trinkſpruch auf dieſen 
Dichterwinkel ausgebracht wurde und der Rittmeiſter 
für ſeine Perſon abwehrte, er ſei bloß Enkel, nicht 
Dichter, rief Scheffel: „Wir ſind alle Enkel Schillers. 
Hoch Schiller! hoch! hoch!“ Und Hamerling hat bekannt, 
zu Goethes Fauſt, Iphigenie, Pandora und den lyri— 
ſchen Gedichten kehre er immer und immer wieder zurück. 

Wie hätte die ſchöpferiſche Bereicherung da ganz aus— 
bleiben ſollen! Nannte man doch Paul Heyſe ſeit den 


Lyrik, Epos, Drama 159 


fünfziger Jahren den Erben Goethes. Die damalige 
Lyrik wurde als Rückkehr zur Natur gegenüber der poli— 
tiſchen Dichtung der vierziger Jahre empfunden, und „zur 
Wahrheit und Natur zurückführen“ war damals in vieler 
Munde, auch wenn unter dieſem Luftzug manchmal 
im Garten der deutſchen Lyrik nur charakterloſe Minder— 
jährigkeit grünte. Gerade in der Lyrik war die ge— 
wollte Reinheit der Natur am wenigſten zu ſpüren, 
hier blieb ein feiner klaſſiſcher Firnis, bei Geibel wie 
bei Heyſe. Selbſt Hebbels „Mutter und Kind“ möchte 
künſtleriſch ein Zwilling zu Hermann und Dorothea 
ſein. Neue Sprößlinge, vorläufig am alten Spalier 
gezogen. 

Am beſten gelang die Verbindung von Alt und Neu 
in der Proſa, hier mußte ſich das Wirklichkeitszeitalter 
ganz offenbaren. Keller hat wohl an Goethes Proſa 
am meiſten wirklich gelernt, weniger Auerbach, Heyſe, 
Wilbrandt; auch in Technik, ja Stoffwahl knüpften ſie 
mehr oder minder an Wilhelm Meiſter an. Anderwärts 
blieb es bei der Kopie: Richard Wagner gefiel ſich ſpäter 
in der hochſtiliſierten Sprache des alten Goethe wie in 
einem fremden Königsſchlafrock. Eine ähnliche Er— 
ſcheinung waren die Schillerepigonendramen der ſech— 
ziger und ſiebziger Jahre, zum Teil mit dem Schiller— 
preis gekrönt wie 1866 Lindners Brutus und Collatinus, 
1869 Geibels Sophonisbe und 1878 Niſſels Agnes von 
Meran; der Preis war geſtiftet in erſter Linie für Dramen 
ernſten Charakters, die ſich dem klaſſiſchen Stil Schillers 


160 Neue Muſik zu Goethes Liedern 


annäherten. Mit einem wilden Schoß, dem Schwank 
„Fauſt und Gretchen“, hatte 1856 der Berliner Poſſen⸗ 
fabrikant Jacobſon ſeinen erſten großen Erfolg im 
Friedrich-Wilhelmſtädtiſchen Theater. 

Wie die Nachwirkung Weimars auf die Dichter im 
Zeitalter der Reichsgründung ſchwächer war als in den 
vormärzlichen Jahrzehnten, ſo wurden nun auch die 
weimariſchen Lieder ſeltner komponiert. Für den 
größten Teil von ihnen durfte man ſagen: der Bedarf 
war gedeckt durch das, was das vorige Geſchlecht an 
Muſik zu Goethe und Schiller geſchaffen hatte. Kuhlaus 
Über allen Gipfeln iſt in der zweiten Hälfte des 19. 
Jahrhunderts noch über dreißigmal neu gedruckt worden, 
und wie viele Schubertſche Goethe-Lieder wurden jetzt 
erſt zum erſtenmal aus ſeinem Nachlaß veröffentlicht! 
Die kleineren Formen der Reichardt und Zelter genügten 
dem neuern Muſikſinne nicht mehr und waren aus der 
Hausmuſik verſchwunden, die reicheren aber von Schu— 
bert bis Schumann fanden in den fünfziger bis achtziger 
Jahren ihre größte Verbreitung. Wer als Komponiſt 
muſikaliſch darüber nicht hinausgehen wollte, blieb ge— 
wöhnlich hinter dieſen Muſtern zurück wie etwa Taubert 
mit ſeinem neuen Heidenröslein oder die Meinardus, 
F. Hiller u. a., wenn ſie „An den Mond“ auf ihre Weiſe 
komponierten. Wer wie Jenſen im „König von Thule“ 
ſchärfere Dramatik, rezitativiſchere Teile, erhitzendere 
Harmonik einführte, zerſtörte damit den urſprünglichen 
Liederton. In ſeinem neuen Mignonlied erreichte 


Jenſen, Bruch 161 


Jenſen zwar Schumanns Grazie, aber die kehrreimende 
Frage „Kennſt Du das Land“ wiederholte er ſo oft, 
daß er das urſprüngliche Ebenmaß goethiſchen Emp— 
findens barock ſchwächte. Immerhin wurde von 
den vier beliebteſten Liedern Goethes neu komponiert 
„Der du von dem Himmel biſt“ für Einzelgeſang etwa 
vierzigmal und außerdem für Männerchor über zwanzig— 
mal, „Über allen Gipfeln“ für Einzelgeſang etwa dreißig— 
mal und für Männerchor etwa zwölfmal und „Fülleſt 
wieder Buſch und Tal“ und „Erſter Verluſt“ auch für 
eine Singſtimme jedes etwa dreißigmal: welches Zeug— 
nis dafür, wie Goethes Naturgefühl auch in dieſem 
Geſchlecht weiter lebte! Nur ganz wenige Komponiſten 
griffen zu Herders Liederſammlungen. Schiller forderte 
zu einigen großen neuen Werken für Chor und Orcheſter 
auf, die geſteigerte Kraft dieſer Mittel an ſeinen Ge— 
danken zu erproben. 1879 veröffentlichte Bruch ſeine 
prächtige Kompoſition des Liedes von der Glocke. 

Der bedeutendſte Geſangskomponiſt des Zeitalters 
war Brahms. Man hat ſich gewundert, daß er nicht 
mehr Lieder von Goethe komponiert habe, und doch 
hat er nächſt der Bibel nirgends ſo oft wie bei ihm 
einen Text entnommen, im ganzen ſechzehnmal. Er 
empfand — ähnlich wie der Muſikhiſtoriker Spitta — 
das meiſte von Goethes Lyrik als geſättigte Kunſt und 
geſtand einmal: „Die letzte Strophe des Schubertſchen 
Suleika⸗Liedes Was bedeutet die Bewegung? iſt die 
einzige Stelle, wo ich mir ſagen muß, daß Goetheſche 

Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 11 


162 Brahms 


Worte durch die Muſik wirklich noch gehoben worden 
ſind. Sonſt kann ich das von keinem andern Goetheſchen 
Gedichte behaupten. Die ſind alle ſo fertig, da kann 
man mit Muſik nicht an.“ Dazu kam, daß Brahms 
andrerſe its die vorhandnen guten Goethekompoſitionen 
höchlich achtete — „das iſt ſchon gemacht“ ſagte er dann 
barſch —; nichts lag ihm ferner, als blinde oder eifrige 
Konkurrenzmacherei. So ſchlug er ſeine ſehr einſamen 
Wege durch Goethes Lyrik ein, und es mußten ſchon 
ganz beſondre Kunſtnotwendigkeiten oder Reizmöglich— 
keiten ſein, was ihn ab und zu zur Kompoſition Goethes 
aufrief. Dabei entſtanden dann — in den Jahrzehnten 
von 1857 bis 1877 gelegentlich — ſo köſtliche Dinge 
wie ſein echtes Sonett „Die Liebende ſchreibt“ — trotz 
Schubert und Mendelsſohn —, ſein ſchlichter wunder- 
barer „Troſt in Tränen“ und das Natur und Empfin— 
dung ſpiegelnde „Dämmrung ſenkte ſich von oben“ oder 
das luſtſtrotzende Trinkerlied „Hab ich tauſendmal ge— 
ſchworen.“ Fein und ſicher hat Brahms einzelne 
Lieder entdeckt, die eine unausgeſprochene Aufforderung 
Goethes zum Duett, zum Quartett enthielten; wie er 
auch Herderſche Liebeslyrik in den ſchönſten Duetten 
geſungen hat. Und ſo durfte er ſich wohl Goethes 
Kantatenvorwort geſagt ſein laſſen: 


Möge dies der Sänger loben, 
Ihm zu Ehren wards gewoben; 


er veröffentlichte als op. 50 den Rinaldo. Im Som— 
mer des Jahres 1863, am Strande von Blankeneſe, 


Geſänge mit Orcheſter 163 


zwiſchen Gärten und Flut, wohin er ſich aus dem üp— 
pigen Wien und der Nähe der leidenſchaftlich bewunder— 
ten Sängerin Duſtmann zurückgezogen hatte, wob der 
Dreißigjährige das Werk muſikaliſch aus widrigen Wind— 
zügen, ruckenden Ruderſchlägen und andern Geheim— 
niſſen der Rhythmen und Inſtrumente, der Liebe und 
Tatenluſt. Das Nebeinander von Heldentenorſolo und 
Männerchor im Rinaldo rief dann bald das ſchönere 
Paar von Altſtimme und Männerchor für die Rhap— 
ſodie aus Goethes Harzreiſe hervor: mit dem Gebet 
des Dichters für den unglücklichen Pleſſing verſchmolz 
das Brahmsſche für den vereinſamten Geiſt des ihm 
befreundeten Malers Feuerbach. 1868 am Strande 
von Wilhelmshaven ſang er Schillers edelſtem Schüler 
Hölderlin das Schickſalslied nach, als für ihn die Worte 
des an jenem Sommermorgen eben erſt gefundenen 
Hyperion Wahrheit waren: „Ich blieb am Ufer, blickte 
ſtill, von den Schmerzen des Abſchieds müd, in die 
See, von einer Stunde zur andern.“ Als Feuerbach 
1880 ſtarb, ſtimmte Brahms Schillers Nänie zu ſeinem 
Gedächtnis an. Und ſein letztes großes Chor- und 
Orcheſterwerk entſprang wieder aus einem Eindruck 
der Wiener Bühne: das Parzenlied Iphigeniens, von 
der Wolter geſprochen, ſetzte in dieſer zu engen Form 
die ganze Seele des Muſikers in Bewegung und ge— 
wann in ſeiner Kunſt größere Geſtalt. 

Indeſſen wuchs die Teilnahme der bildenden Künſte 


an der weimariſchen Dichtung. Die einen trieb ihr 
11* 


164 Illuſtration und Hiſtorienbild 


neues Talent für Genrebildchen zur Illuſtration von 
Hermann und Dorothea oder Fauſt oder dem 
Lied von der Glocke — das waren die Ramberg, 
Kreling, Liezen-Mayer. Wenn ein Maler wie der 
Bayer von Heckel zu Anfang der fünfziger Jahre mit 
ſeinen Genreſtücken Glück hatte, ſo ſtellten ſie Mignon 
und den Harfner oder Gretchen am Spinnrade dar; und 
wenn der Berliner Amberg 1870 fünf junge Mädchen 
im Buchenwald beim Vorleſen malte, was hätte er 
anziehenderes darunterſchreiben können als „Vorleſung 
aus Goethes Werther“? Die illuſtrierte Klaſſikerausgabe 
wurde Mode, und gegen 1880 war ein Hauptſchmuck 
des Mitteltiſches der „guten Stube“ womöglich eine 
Prachtausgabe von Hermann und Dorothea oder ein 
photographiſcher Schillerzyklus, auch wenn jener Auf— 
bewahrungsort und ſolche Aufmachung eher geeignet 
war, den Dichter ſelbſt in unverſtändlicher Entfernung 
zu halten. Die Hiſtorienmaler wetteiferten mit der 
Bühne und ſchlugen nun gern nächſte Nebenwege zu 
den bekannten Theaterbildern ein: ſo malte Schrader 
1850 Wallenſtein und Seni, Piloty 1855 Seni an der 
Leiche Wallenſteins und 1860 Wallenſteins Zug nach 
Eger, und um 1870 wandten ſich beide Maria Stuart zu: 
Piloty malte, wie ſie ihr Todesurteil anhört, Schrader, 
wie Eliſabeth das Urteil unterzeichnet, und „Maria 
Stuarts letzte Augenblicke“. Gabriel Max ließ Fauſt 
jahrelang kaum aus der Hand und gewann ihm mehrere 
Olgemälde ab wie 1873 „Gretchen in der Walpurgis— 


Feuerbach und Böcklin 165 


nacht“ und einen Zyklus von Zeichnungen für den 
Holzſchnitt in Rembrandtſcher Manier; ſein bizarrer, 
dem kranken Grauen geneigter Sinn erdachte auch „die 
Jungfrau von Orleans auf dem Scheiterhaufen.“ 

Für die griechiſchen Geſtalten der Klaſſiker hatten 
die bildenden Zeitgenoſſen meiſt weniger Verſtändnis. 
Wiederholt zogen nur Hero und Leander an; ſie wurden 
1865 von Victor Müller, 1880 von Keller gemalt. Die 
Iphigenie der Zeit ſchuf 1862 Feuerbach, beſtrebt, 
Goethes ganze Prieſterin in den Vers zuſammenzufaſſen 
„das Land der Griechen mit der Seele ſuchend“, 
womit er zugleich die Sehnſucht eines unhelleniſch 
geſtimmten Zeitalters verkündete und ſo doch anders 
als Goethe wirkte. Er fühlte ſich außer dem gelobten 
Lande; Böcklin trat an der Wende des Zeitalters (1878) 
keckeren Schrittes ein in die „Gefilde der Seligen“, 
wo über das tiefe blaue Waſſer zwiſchen Schwänen 
Helena auf Chirons Rücken getragen wird, wie die 
Worte der klaſſiſchen Walpurgisnacht es andeuteten. 
Auch in der Plaſtik konnte man beobachten, wie ſich 
allmählich aus deutſchem Realismus die Achtung vor 
dem Griechentum der Erſcheinung wieder erhob, z. B. 
begann der bayriſche Bildhauer Hirt gegen 1860 mit 
etwas opernhaften Statuetten und Gruppen wie Fauſt 
und Gretchen, Heidenröslein und ähnlichem aus 
Hermann und Dorothea und wandte ſich ſpäter an— 
tiken Stoffen zu. 

So wirkte Altweimar mit tauſend goldnen Fäden 


166 Dichterenkel 


zu der Einheit mit, die 1871 in eiſerner Politik geknüpft 
wurde. Auch die beiden Enkel Goethes haben damals 
geſchriftſtellert und komponiert, ohne Bedeutung für das 
Vaterland. Ein Enkel Schillers aber, Graf Gleichen— 
Rußwurm, erwarb ſich einen guten Namen in der 
deutſchen Landſchaftsmalerei; er gehörte der jungen 
Weimariſchen Schule an. Was brachte das neue 
Weimar überhaupt ins neue Reich mit? 


Neue Politik, neue Wiſſenſchaft 


Großherzog Carl Alexander übernahm die weima— 
riſche Regierung am 8. Juli 1853 im Alter von fünf 
unddreißig Jahren. Er war zu feinſtem Verſtändnis 
der klaſſiſchen Überlieferungen erzogen, aber auch zu 
einſichtiger Beurteilung und gewandtem Ergreifen 
gegenwärtiger Bewegungen. Beides trachtete er im 
Zuſammenhang zu erhalten, und es glückte ſeiner fein— 
fühligen Hand, indem er in die neue konſtitutionelle 
Regierungsform friſch hineingewachſen war. Seine 
Gemahlin Sophie war nicht minder zur Herrſcherin 
geboren, eine echte Oranierin an Selbſtzucht und An— 
ſpruchsloſigkeit, verſchwiegen und tatkräftig, klarblickend 
und kunſtſinnig; Pflichttreue und Menſchengefühl war 
ihr wie dem neuen Großherzog eigen. 1854 wurde 
ihnen das vierte Kind geboren, zu dem Sohn und zwei 
Mädchen die dritte Tochter. 

Bis 1859 waltete in Weimar auch die Großherzogin 
Mutter Maria Paulowna noch ihrer ausgedehnten 
Liebestätigkeit und freigebigen Kunſtpflege. 1854 beging 
das dankbare Land das goldene Jubiläum ihres Ein— 
tritts in Weimar, und noch einmal erſchien Schillers 
Huldigung der Künſte vor ihr auf dem Theater. Sie 


168 Carl Alexanders Anfänge 


hatte ſchließlich die Freude, ihre Tochter Auguſta zur 
preußiſchen Königin aufſteigen zu ſehen, und als deren 
Enkel geboren wurde, der ſpätere Kaiſer Wilhelm II., 
und der deutſche Beruf Preußens immer deutlicher 
hervortrat, hat ſie ſich wohl im ſtillen lächelnd eine 
Mutter von Deutſchland genannt. 

Carl Alexanders Regierungsanfang fiel in die Zeit, 
wo der deutſche Bund nach gefährlicher Kriſe wieder 
hergeſtellt worden war und, obwohl ſein Ende bevor— 
ſtand, die liberale Geſetzgebung der Jahrhundertmitte 
noch einmal zu verſtümmeln vermochte, in die Reaktion 
der fünfziger Jahre. Dieſe machte ſich in Weimar 
weniger geltend als anderswo. Zwar wurde 1854 
der fortſchrittlichſte Miniſterialchef entlaſſen, Wyden— 
brugk, — ſein Departement des Kultus und der Juſtiz 
übernahm Wintzingerode —, die andern leitenden Män— 
ner aber hielt der neue Großherzog feſt. Es waren 
Watzdorf, der führende Miniſter ſeit 1848, im beſondern 
mit den innern und äußern Angelegenheiten und denen 
des großherzoglichen Hauſes betraut, und Thon, der 
ſeit dem 1. Oktober 1849 das Finanzdepartement ver— 
waltete. Als Watzdorfs rechte Hand durfte Stichling 
gelten, ein genauer Altersgefährte des Großherzogs und 
einſt als Knabe deſſen Geſpiele und Unterrichtsgenoß, 
übrigens ein Enkel Herders.) 1867 ſchied auch Wintzin— 


*) Stichlings Vater hatte in erſter Ehe eine Tochter 
Wielands, in zweiter eine Tochter Herders zur Gemahlin. 


Landwirtſchaft und Gewerbe 169 


gerode wieder aus; von ſeinem Departement übernahm 
Watzdorf die Juſtiz und Stichling, der ſchon ſeit 1864 
das Referat über die unmittelbaren Anſtalten für Wiſſen— 
ſchaft und Kunſt gehabt hatte, die Leitung der Kultus— 
geſchäfte. 

In der neuen freien Gemeindeordnung gedieh die 
Landwirtſchaft des Großherzogtums, indem ſie in 
ſachgemäßer Bodenbearbeitung und Benutzung neuer 
Maſchinen vorwärtskam; wurde man doch in Jena 
darüber in einer für ganz Deutſchland muſtergiltigen 
Weiſe unterrichtet. Sechs Geſetze, zwiſchen 1848 und 
1869 beſchloſſen, erleichterten ihre Beweglichkeit auf dem 
Wege der Zuſammenlegung von Grundſtücken, und 
1869 wurde das wichtige Geſetz über die Ablöſung 
grundherrlicher und ſonſtiger Rechte zur möglichſten 
Befreiung des Grundbeſitzes erlaſſen. Zentralſtellen 
für Landwirtſchaft und Gewerbe wurden geſchaffen. 
Die 1850 grundſätzlich feſtgeſtellte Gewerbefreiheit trat 
vollſtändig mit Beginn des Jahres 1863 ein, nachdem 
die neue Gewerbeordnung 1862 Geſetz geworden war; 
Hand in Hand mit ihr ging die Einführung des 
neuen allgemeinen deutſchen Handelsgeſetzbuches. Die 
Strumpfwirkerei in Apolda, die Tabakpfeifenherſtellung 
in Ruhla, die Glasinduſtrie in Stützerbach entwickelten 
ſich gut und arbeiteten vielfach für den Bedarf außer— 
halb Thüringens, ja außerhalb Deutſchlands. Vereins- 
recht und Preßgeſetz, in den fünfziger Jahren be— 
ſchnitten, wurden 1868 für Weimar freiheitlich geordnet. 


170 Verkehr 


Eine Reihe Telegraphenſtränge ſorgten jetzt für 
raſcheſte Mitteilungen nach Preußen und Sachſen. Die 
Güte der weimariſchen Landſtraßen war von den 
benachbarten Großſtaaten kaum zu erreichen. Für den 
Fernverkehr von Gütern und Perſonen im Großherzog— 
tum wie ringsum hinaus in deutſches Land wurde ein 
Eiſenbahnnetz ausgebaut. Die 1855 mit Meiningen 
und Coburg-Gotha beſchloſſene Werrabahn lief ſeit 
November 1858 von Eiſenach bis Coburg, und als 
binnen kurzem auch die Anſchlußbahn bis zum bayriſchen 
Lichtenfels in Gang kam, war eine neue Verbindung 
zwiſchen Nord- und Süddeutſchland geſchaffen. Ende 
1871 konnte die Bahn Gera - Eichicht eröffnet werden, 
wiederum ein zukünftiges Mittelglied einer wichtigen 
Nord-Süd-Verbindung, zumal als ihr 1874 faal- 
abwärts von Rudolſtadt bis Großheringen ein neues 
Gleis angefügt wurde. 1874 wurde auch die Saal— 
Unſtrutbahn im Norden fertig, und dem großen ſächſiſch— 
thüringiſchen Verkehr dienten außer der alten Haupt— 
ſtrecke Leipzig-Frankfurt ſeit 1875 die Bahn Wolfs— 
gefährt-Greiz-Elſterberg und ſeit 1876 Weida-Werdau; 
dazu kam 1876 die für Innen- wie Nachbarverkehr 
gleich wichtige Strecke Weimar-Jena-Gera. Und 
wieviel Freude an Thüringer Landſchaft wurde über 
den Geſchäftsbetrieb hinaus bei den benachbarten 
Deutſchen dadurch rege, wieviel Beſucher wurden ins 
Weimariſche gezogen! 

Von Anfang an billigte Carl Alexander Watzdorfs 


Watzdorf 171 


Vorgehen; er kannte ſeine Anſchauungsweiſe als zeit— 
entſprechend, er ſah den Nutzen ſeiner Tätigkeit. Fürſt 
und Miniſter ſtimmten in liberaler Denkart und natio— 
nalen Hoffnungen überein. Innere Spannungen über— 
wanden beide durch ihre konſtitutionelle Geſinnung. 
Auch 1857, in einem Jahr des Streites zwiſchen Re— 
gierung und Landtag, verſtand Watzdorf die Gegenſätze 
zu mäßigen, und es war ein weithin treffendes Wort, 
womit er damals beſchwichtigte: es ſei eine Krankheit 
unſerer Zeit, daß die Energie nur zu häufig in dem 
Maße, wie ſie früher gefehlt habe, jetzt hervortrete. 
So konnte das Land 1866 dem Großherzog zur fünfzig— 
jährigen Jubelfeier der Weimarer Verfaſſung mit einer 
aufrichtigen Dankadreſſe huldigen und 1867 an der 
ſilbernen Hochzeit des Fürſtenpaares herzlich teilneh— 
men; 1868, zu Watzdorfs fünfundzwanzigjährigem 
Jubiläum, ehrten den beliebten Miniſter ſämtliche wei— 
mariſche Gemeinden mit einer großen goldnen Me— 
daille und beglückwünſchten ihn alle deutſchen Regenten. 

Inzwiſchen machte die neue Einigung Deutſchlands 
große Fortſchritte. 1862 trat zuerſt in Weimar ein 
deutſcher Abgeordnetentag zuſammen, um in den Kam— 
mern für den nationalen Gedanken zu wirken. War 
in den fünfziger Jahren Weimars Vertretung beim 
Bundestag nicht immer ein angenehmes Geſchäft, um 
ſeiner Hinneigung zu Preußen willen, ſo überraſchte 
doch auch Bismarcks kühne Politik in der Mitte der 
ſechziger Jahre: 1866 ſtanden Weimars Soldaten auf 


172 Von 1866 bis 1870 


jeiten des Bundes gegen Preußen, ohne zum Eingreifen 
in den Kampf zu kommen. Noch ehe der Friede über- 
all wieder geſchloſſen war, verknüpfte ſich Preußen am 
18. Auguſt mit den meiſten kleineren mittel- und 
norddeutſchen Staaten, darunter auch dem Großherzog— 
tum Sachſen-Weimar-Eiſenach, durch einen Bundes— 
vertrag, und aus dieſem ging der Norddeutſche Bund 
hervor. Am 22. Februar 1867 wurde zwiſchen Preußen 
und Weimar die Militärkonvention abgeſchloſſen, wo— 
nach das weimariſche Kontingent das fünfte thüringiſche 
Infanterieregiment Nr. 94 bildete mit der beſonderen 
Bezeichnung „Großherzog von Sachſen“ und ſeine drei 
Bataillone nach Weimar, Eiſenach und Jena gelegt 
wurden. Am 1. Juli trat die Norddeutſche Bundes— 
verfaſſung in Kraft, am 1. Oktober die neue Heeres— 
verfaſſung. 

Die Feuerprobe der Neuordnung war der deutſch— 
franzöſiſche Krieg. Weimars 94er, in einer Stärke 
von 2911 Mann ausgezogen, kämpften tapfer in ſieben— 
undzwanzig Schlachten und Gefechten mit; ſie verloren 
dabei im ganzen über ein Sechſtel des Regiments. Sie 
hatten teil an den Siegen von Wörth und Sedan; vom 
Oktober bis Januar halfen ſie in den Gegenden von 
Orleans und Le Mans viele franzöſiſche Anſtrengungen 
zur Befreiung des umklammerten Paris niederwerfen. 
Ein Diviſionsbefehl vom 19. November 1870 lautete: 
„Den Truppen iſt bekannt zu machen, daß das 
94. Regiment unter Beteiligung einer Kompagnie des 


Die ger im deutſch-franzöſiſchen Kriege 173 


83. Regiments geſtern ein glänzendes Gefecht gehabt 
und ohne Mitwirkung von Artillerie das von 1500 
Mann Linientruppen verteidigte Dorf Torçay mit 
Kolben und Bajonett erſtürmt hat. Der Verluſt des 
Feindes beträgt mindeſtens 300 Tote und Verwundete, 
200 Gefangene und viele Verſprengte“, und ein ſolcher 
vom 6. Dezember nach der mehrtägigen Schlacht bei 
Orleans ſchloß: „Ich ſpreche hiermit ſämtlichen Trup— 
pen der Diviſion meinen Dank aus, insbeſondere aber 
dem 94. Regimente und der Diviſionsartillerie, welche 
beide den härteſten Kampf gekämpft und die ſchwerſten 
Verluſte erlitten haben.“ Auch Chateaudun (18. Ok— 
tober), Cravant (8. bis 10. Dezember), la Fourche 
(6. Januar) waren Ruhmestage der Weimarer. Am 
12. Februar zog das Regiment in Verſailles ein; 
Ende des Monats kam das erſte Bataillon zu den 
Beſatzungstruppen des eroberten Paris. Der Groß— 
herzog ſah ſeine Soldaten nur ab und zu, obwohl er 
unabläſſig für ſie beſorgt war; ſein Aufenthalt und 
ſeine verantwortungsvollſte Tätigkeit war im deutſchen 
Hauptquartier, wo er einen regelmäßigen eigenhändigen 
Briefverkehr mit ſeinem Vetter dem Zaren Ale— 
rander II. unterhielt und der erfolgreiche Anwalt der 
guten Beziehungen zwiſchen dem preußiſchen und dem 
ruſſiſchen Kabinett während des Krieges war. 

Indes führte daheim die Großherzogin die Re— 
gentſchaft. Watzdorf erlebte das Ende des Krieges und 
das neue deutſche Reich nicht mehr; er ſtarb nach den 


174 Weimar und die Kaiſerkrone 


verheißungsvollen Tagen von Sedan. So erging am 
7. Dezember an Stichling der Befehl des Großherzogs 
aus Verſailles, den Antrag beim Bundesrat auf An- 
nahme der Kaiſerkrone durch Preußen zu ſtellen, und 
bereits am 10. Dezember wurde die danach entſpre— 
chend anders redigierte Reichsverfaſſung auch vom 
Reichstag des Norddeutſchen Bundes in dritter Leſung 
angenommen. Am 16. März 1871 raſtete Kaiſer Wil- 
helm J. auf der Rückkehr aus Frankreich eine Nacht am 
Weimarer Hofe, wo Großherzog Carl Alexander am 
10. März eingetroffen war und die Regierung wieder 
übernommen hatte; das 94. Regiment kehrte erſt Ende 
September in die Heimat zurück, da es mit zur Be— 
ſetzung Frankreichs bis zur Erfüllung der Friedens— 
bedingungen diente: herzlicher Jubel empfing auch 
im weimariſchen Lande im Frühling und Herbſt die 
ſiegreichen Fürſten und Truppen. 

Das weimariſche Miniſterium wurde 1871 neu 
geordnet. Thon, der langbewährte Leiter der Finan— 
zen, wurde vorſitzender Miniſter — er blieb es bis zu 
ſeinem Tode Ende 1882 — und Freiherr von Groß 
übernahm als neuer Departementschef Inneres und 
Außeres, während Stichling die Geſchäfte des groß— 
herzoglichen Hauſes, des Kultus und Unterrichts und 
der Juſtiz ſowie die Vertretung Weimars beim Bundes— 
rat in ſeiner Hand vereinigte. Rühmte man es Watz— 
dorf nach, daß er das weimariſche Staatsweſen in 
ruhiger Entwicklung, in ſteter Harmonie zwiſchen Fürſt 


Stichling 175 
und Volk aus der alten in die neue Zeit hereingeführt 
habe, ſo wurde es namentlich Stichlings Aufgabe, das 
Großherzogtum in die durch die Wiederaufrichtung 
des deutſchen Reiches neugeſchaffenen Verhältniſſe 
hinüberzuleiten, die Landesrechtſprechung der neuen 
Reichsgeſetzgebung anzupaſſen. In der zweiten Hälfte 
der ſiebziger Jahre lag der Schwerpunkt ſeiner Tätig— 
keit im Juſtizdepartement, und hier krönte er ſie mit 
der Eröffnung des thüringiſchen Oberlandesgerichts in 
Jena am 1. Oktober 1879, unter das ſich neben faſt 
allen thüringiſchen Staaten auch Preußen für die 
Kreiſe Schleuſingen und Ziegenrück ſtellte. 

Länger beſchäftigte den Enkel Herders die Leitung 
des Kirchen- und Schulweſens, und in ſeiner dreiund— 
zwanzigjährigen Verwaltung (1867 bis 1890) ſtieg der 
jährliche Aufwand des weimariſchen Kultusdeparte— 
ments von 300000 auf 900000 Mark. Die Teilnahme 
der Laien am evangeliſchen Kirchenregiment war in 
wenigen deutſchen Staaten ſchon im vorigen Zeitalter 
in Geſtalt von Gemeindepresbyterien, Diözeſan- und 
Generalſynoden eingerichtet worden; nach der Mitte 
des Jahrhunderts folgten die übrigen Staaten. In 
Weimar hatte die neue Geſetzgebung 1849 den Kirchen— 
rat und 1851 den Kirchgemeindevorſtand geſchaffen 
als oberſtes und unterſtes Glied dieſer Vertretung; 
die Mittelſtufe baute Stichling durch ſeine ſorgfältige 
Vorbereitung einer Synodalordnung. 1873 wurde ſie 
Geſetz, und ſeit 1874 kamen die Synoden aller vier 


176 Synode, Schulen; Univerſität 


Jahre zuſammen zur Regelung von Kirchenfragen wie 
einer günſtigeren Gehaltsordnung, der Form der kirch— 
lichen Trauung, nachdem das Reich die Ziviltrauung 
eingeführt hatte, eines neuen Geſangbuches uſw. 
1874 am Geburtstage des Großherzogs (24. Juni) 
konnte auch das von Stichling ausgearbeitete Volks- 
ſchulgeſetz veröffentlicht werden, das Beachtung weit 
außerhalb Weimars fand, ſelbſt in Frankreich und 
Amerika. Im Mittelſchulweſen empfand Stichling, 
ein kräftiger Förderer der weimariſchen Gymnaſien 
— 1876 eröffnete er das Jenaer —, die Regelung 
des Einjährigenzeugniſſes auf Grund der Wünſche des 
preußiſchen Kriegsminiſteriums als einen unnormalen 
Eingriff, aber feine Denkſchrift „Über die Reichsſchul⸗ 
kommiſſion“ vermochte daran zunächſt nichts zu ändern. 

Eine der vornehmſten Sorgen der weimariſchen 
Regierung war nach wie vor die für das Gedeihen 
der thüringiſchen Landesuniverſität, wobei ſie von den 
drei erneſtiniſchen Herzogtümern unterſtützt wurde. 
kun traf es ſich günſtig, daß Stichling mit dem neun 
Jahre älteren Moritz Seebeck herzlich befreundet war, 
dem Kurator der Univerſität Jena in den Jahren 
1851 bis 1877. Seebeck war ein Jenaer Kind, ein 
Sohn jenes Gelehrten, der an dem Ausbau von 
Goethes Farbenlehre durch Entdeckung der entoptiſchen 
Farben teilgenommen hatte. Nach einer kurzen Lehr— 
tätigkeit in Berlin war er zehn Jahre lang Erzieher 
des meiningiſchen Erbprinzen geweſen, des nachmaligen 


Seebeck 77 


Herzogs Georg, und dann von 1848 bis 1850 Ver— 
treter der thüringiſchen Staaten bei den vergeblichen 
Verſuchen, eine deutſche Reichsregierung zuſtande zu 
bringen. Was der junge Großherzog Carl Alexander 
einmal ſagte: er wiſſe nicht durch äußere Mittel die 
Univerſität groß machen zu können, ſondern durch 
Freiheit, das war auch des Kurators Seebeck, dieſes 
ſparſamen Haushalters, Überzeugung: nur bei Ge— 
währung möglichſter Freiheit könne die reine wiſſen— 
ſchaftliche Forſchung an der Univerſität gedeihen. Für 
Bauten (Bibliothek, Kollegienhaus, botaniſches Inſtitut) 
und Inſtitute (Arbeitsräume für Anatomie, Anſtalten 
für pathologiſche Anatomie, Phyſiologie, Zoologie, 
Chemie) verſtand er Mittel flüſſig zu machen; im 
Verkehr mit den Profeſſoren war er wiſſenſchaftlich 
nicht nur der empfangende Teil, und er ſorgte ge— 
ſchickt für die Ergänzung des Lehrkörpers. Seine 
Kuratel bedeutete eine wahre Durchfriſchung der 
Univerſität. 

Nicht als ob der geſchichtliche Sinn damals nach— 
gelaſſen hätte. Im Gegenteil: ein Anlaß ihn zu be— 
leben wurde das dreihundertjährige Jubiläum, das die 
Univerſität im Auguſt 1858 unter begeiſterter Teil— 
nahme feierte. Dazu tauchte der Gedanke auf, die 
Namen aller derer öffentlich ſichtbar zu machen, denen 
Jena ſeinen Ruhm verdanke, und zweihundert Tafeln 
mit Namen berühmter Studenten und Profeſſoren 


Jenas konnten, meiſt an ihren einſtigen Wohnhäuſern, 
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 12 


178 Jenas Denkmäler 


angebracht werden: keine andre deutſche Stadt hatte 
auf ſo engem Raume derartiges aufzuweiſen. Auf 
dem Marktplatze wurde inmitten von farbigen Fahnen 
und grünen Gewinden das eherne Denkmal der ſchweren 
Geſtalt Johann Friedrichs enthüllt mit dem Schwert 
in der Hand und der Bibel im Arm, des Stifters 
der Univerſität, ein Werk von Franz Drake, und 
Seebecks Rede davor ſchloß: „Wie er bis heute im 
Herzen des Volkes lebt, ſo durch die ſchaffende Kunſt 
des geiſtverwandten deutſchen Meiſters neu vergegen— 
wärtigt, ſtehe Johann Friedrich hier auch noch den 
ſpäteſten Enkeln mahnend und ermutigend vor Augen 
— Gottes Wort am Herzen, ſeine Hoffnung im Herrn, 
für Wahrheit und Recht unerſchütterlich feſt, in echter 
deutſcher Art ein Fürſt, ein Mann!“ 

Die Dankbarkeit mitten im Leben ſtehender ehe— 
maliger Schüler errichtete nun auch den beiten Jenaer 
Lehrern des vorigen Zeitalters Erinnerungsmäler: am 
Fürſtengraben wurde der Gedenkſtein für Doebereiner 
aufgeſtellt und — wiederum zwei Werke Drakes — 
die Bronzebüſten von Oken und Schulze — die 
Okenſche 1857 bei der 35. jener deutſchen Natur- 
forſcherverſammlungen, die Oken einſt ins Leben ge— 
rufen hatte, — und 1873 die Koloſſalbüſte von Fries 
an deſſen hundertſtem Geburtstage. Als Deutſchland 
1883 das Niederwalddenkmal erwartete, wurde gleich— 
ſam als Jenger Vorfeier dazu auf dem Eichplatz 
Donndorfs Burſchenſchaftsdenkmal enthüllt. 


Aus Hajes Spätzeit 179 


In der theologiſchen Fakultät vermittelte beide 
Zeitalter als die beherrſchende und anziehendſte Geſtalt 
Karl Haſe, deſſen Lebensjahre mit dem Jahrhundert 
liefen. Er hatte den größten Ruf als Kirchenhiſtoriker: 
ſein Lehrbuch der Kirchengeſchichte, zuerſt 1834 ver- 
öffentlicht, erſchien 1886 in elfter Auflage. Von ſeinen 
anderen Jugendarbeiten wurde die „Gnoſis“, ſeine 
Dogmatik, erſt 1869 das zweitemal, ſein „Leben Jeſu“ 
1865 das fünftemal aufgelegt. Das klaſſiſche Werk 
ſeines Alters, aus dem Bewußtſein der neuen Zeit 
heraus geſchaffen, wurde 1862 ſein „Handbuch der 
proteſtantiſchen Polemik gegen die römiſch-katholiſche 
Kirche“, maßvoll, ja leidenſchaftslos geſchrieben, aber 
durch Klarheit und Ironie völlig wirkſam und oft neu 
gedruckt. Wenn er 1858 beim Jubiläum von ſeiner 
Univerſität ſagen durfte, daß ſie im Laufe der Zeit 
unerſchrocken die Konſequenz des Proteſtantismus ge— 
zogen und ſeine Entwicklung in der Theologie mit 
vollzogen habe, „nämlich Verſöhnung der Geſchichte 
mit der Vernunft, der heiligen Überlieferung mit der 
wahrhaften Geiſtesbildung der Gegenwart, der freien 
Perſönlichkeit mit der chriſtlichen Gemeinſchaft“, ſo 
hatte er ſelbſt daran ein gutes Teil. Als zu Ende 
ſeiner Zeit die Haltbarkeit und Leiſtungsfähigkeit des 
freiheitlichen Standpunktes etwas fraglich wurde, und 
für die thüringiſche Hochſchule neue theologiſche Be— 
rufungen gefordert wurden, um „der einſeitigen libe— 


ralen und negierenden Richtung in Jena ein Gegen— 
12* 


180 Kirchenrat Schwarz; die drei Danz 


gewicht zu geben“, ſetzte ſich der Greis zur Wehr und 
proteſtierte gegen „das Eiſenacher Attentat auf die 
theologiſche Fakultät Jena im Jahre des Heils 1881.“ 
Er ſtarb 1890 im ſechzigſten Jahre ſeiner Jenaer Lehr— 
tätigkeit und überlebte ſo ſeinen Altersgenoſſen um 
zwanzig Jahre, den Kirchenrat Schwarz, der ſeit 1844 
neben ihm als ordentlicher Profeſſor der praktiſchen 
Theologie wirkte und ſeit 1849 das erſte geiſtliche 
Mitglied der oberſten Kirchenbehörde Weimars war. 
Schwarz war zugleich Superintendent in Jena und 
Lehrer der Homiletik, Katechetik und Ethik an der 
Hochſchule; ſeine hervorragendſte literariſche Arbeit 
war aber auch geſchichtlicher Art, eine quellenkundige 
Darſtellung des erſten Jahrzehnts der Univerſität Jena, 
zum Jubiläum verfaßt, ein genauer Bericht über die 
theologiſchen Strömungen, die einſt zur Gründung 
Jenas gegen Wittenberg geführt hatten. 

In der juriſtiſchen Fakultät war es namentlich die 
Aufgabe von Danz, aus der erſten in die zweite Hälfte 
des Jahrhunderts herüberzuführen. Er war eine der 
echteſten jenaiſchen Erſcheinungen damals: als Sohn 
des Kirchenhiſtorikers Danz 1806 hier geboren ſtarb 
er 1881 als Vater des ſpäteren Jenaer Profeſſors der 
Jurisprudenz Erich Danz. 1840 bis 1846 veröffent- 
lichte er ſein Lehrbuch über die Geſchichte des römi— 
ſchen Rechts, das 1871 bis 1873 neu aufgelegt wurde; 
1861 gab ihm der Entwurf des bürgerlichen Geſetz— 
buches für Sachſen Anlaß zu kritiſchen Arbeiten. Mit 


Leiſt, Stickel, Göttling 181 


größerer Kraft und weiterem geſchichtlichen Blick ver— 
tiefte ſich ſein Kollege Leiſt (1819 bis 1906) in den 
Zuſammenhang des alteuropäiſchen Rechtsweſens. Noch 
hegeliſierend war er 1846 mit ſeiner Schrift „Über die 
Entwicklung eines poſitiv-gemeinen Rechts in der zivi— 
liſierten Menſchheit“ hervorgetreten. 1850 ſchränkte er 
ſich auf den „Verſuch einer Geſchichte der römiſchen 
Rechtsſyſteme“ ein, und 1883 erſchien ſeine Gräko— 
italiſche Rechtsgeſchichte; von da aus nahm er im 
hohen Alter den Weg noch weiter rückwärts in das 
altariſche Jus gentium (1889) und Jus civile (1892), 
wobei ihm die in Jena blühende indogermaniſche 
Sprachwiſſenſchaft zuſtatten kam. 

Auch die philoſophiſche Fakultät brachte Häupter 
aus Goethes Zeit in die Bismarcks mit herüber, den 
Orientaliſten Stickel und den Philologen Göttling. 
Stickel, ein Eiſenacher Kind, über das Weimarer 
Gymnaſium an die Jenaer Univerſität gelangt und 
von Goethe auf ſein ſpäteres Sondergebiet gewieſen, 
die Münzkunde des Oſtens, lehrte als Ordinarius bis 
in die neunziger Jahre. Göttling erfreute Ferner— 
ſtehende mit der Weite ſeines Blicks, dem Reichtum 
ſeiner Kenntniſſe in den beiden Bänden ſeiner geſam— 
melten Abhandlungen (1851 und 1863); in ſeinen 
Jenaer Vorleſungen beſchränkte er ſich nun auf das 
griechiſche Altertum, ſeitdem er 1852 in Nipperdey 
einen tüchtigen Latiniſten neben ſich hatte. Nipperdey 
hat als ordentlicher Profeſſor von 1854 bis 1874 in 


182 Nipperdey und Moritz Schmidt 


Jena gelehrt und über römiſche Staatsaltertümer, 
römiſche Literaturgeſchichte, Salluſt, Horaz und latei⸗ 
niſche Syntax geleſen. Schon früher um die Kenntnis 
von Caeſar und Nepos verdient beſchäftigte er ſich nun 
mit Vorliebe, gründlich und geſchickt, mit der Kritik 
und Erklärung von Tacitus: 1852 erſchien zum erſten⸗ 
mal ſeine oft aufgelegte Ausgabe der Annalen; die 
kritiſche Geſamtausgabe von Tacitus, die er 1871 zu 
veröffentlichen begann, vollendete ſein Schüler Rudolf 
Schöll, ein Sohn des Weimarer Goethephilologen. 
Der dritte dieſer klaſſiſchen Philologen war Moritz 
Schmidt (1823-1888). Um die Mitte der fünfziger 
Jahre machte er das entſtellt überlieferte große Lexikon 
des Alexandriners Heſychios zum Mittelpunkt ſeiner 
Studien, und die erſten Veröffentlichungen darüber 
hatten 1857 ſeine Berufung als außerordentlicher Pro— 
feſſor nach Jena zur Folge. Zwiſchen 1858 und 1868 
lieferte er die fünfbändige Rieſenausgabe des Heſych, 
einen wichtigen Beitrag zur griechiſchen Lexikographie; 
1869 erhielt er nach Göttlings Tode deſſen Ordinariat. 
Nun warf er ſich auf die altgriechiſche Dialektforſchung, 
lykiſche, kypriſche Inſchriften und Gloſſare wurden 
gedeutet, daneben her gingen metriſche Studien und 
Überſetzungen (vom ſophokleiſchen Oedipus und Pin— 
dars Siegesgeſängen) und Ausgaben, die durch geiſt— 
reiche Textkritik hervorragten: 1872 von Hygins Fa— 
beln, 1875 von der Dichtkunſt des Ariſtoteles, 1880 
von der Antigone des Sophokles. Ganz im Altertum 


Rochus von Liliencron 183 
) 


lebend vermochte er jenen Schriften und Reden — 
gleichviel ob in deutſcher, lateiniſcher oder griechiſcher 
Sprache — einen klaſſiſchen Hauch mitzuteilen; denn 
ſeinem Weſen nach gehörte er noch zur „alten Schule“, 
auch wenn ſein Studienkreis eine neue Geſamtanſicht 
des Altertums vorbereitete. 

Es bezeichnet das Zeitalter, daß neben dieſen ſattel— 
feſten Bannerträgern der Antike die neueren Wiſſen— 
ſchaften der deutſchen Philologie und der vergleichenden 
Sprachforſchung kaum gelitten waren, ſich aber doch 
ſchließlich ihren Platz erkämpften. Der erſte Plänkler 
für ſie in Jena war der junge Rochus von Liliencron. 
Später wurde er anderwärts zum erfolgreichen Orga— 
niſator; als außerordentlicher Profeſſor für deutſche 
Sprache und Literatur von 1852 bis 1855 in Jena 
hatte er den Mut, mit dem Univerſitätsmuſikdirektor 
Stade zuſammen aus der großen Jenaer Minneſinger— 
handſchrift Lieder und Sprüche überſetzt und in neuem 
vierſtimmigen Satz herauszugeben. 

Befreundet mit ihm war der Thüringer Auguſt 
Schleicher, ein ſprachwiſſenſchaftliches Talent erſten 
Ranges, das ſeit 1850 nach Prag verſchlagen und dort 
zwar 1853 zum Ordinarius aufgerückt war, aber ſich in 
der ſlawiſchen Schwüle unglücklich fühlte. Auf einen 
Brief Seebecks an Schleicher in Sachen Keplers kam 
die Antwort mit dem Stoßſeufzer: „Können Sie mich 
nicht daheim an der Landesuniverſität Jena brau— 
chen?“ So wurde Schleicher Liliencrons Nachfolger 


184 Der Indogermaniſt Schleicher 


1857 als ordentlicher Honorarprofeſſor für vergleichende 
Sprachwiſſenſchaft und deutſche Philologie mit 600 
Talern Gehalt. Vergebens boten dem erſten Kenner 
der ſlawiſchen Sprachen, der er war, Warſchau, Peters— 
burg und Dorpat glänzend honorierte Stellungen an, 
er blieb in dem kleinen Jena, obwohl er hier nicht 
zu dem ihm verſprochenen Ordinariat gelangte und auf 
literariſchen Erwerb angewieſen war. Hatte er Sla— 
wiſch in Prag rein empiriſch getrieben, ſo vertiefte er 
ſich nun in die Theorie des Sprachlebens in der Rich— 
tung, daß er die Erklärung aller Tatſachen der Laut— 
geſchichte von der Phyſiologie der Sprechorgane erwar— 
tete. Seine Schriften Zur Morphologie der Sprache 
(1859), Die Darwinſche Theorie und die Sprachwiſſen— 
ſchaft (1863), Über die Bedeutung der Sprachwiſſen— 
ſchaft für die Naturgeſchichte des Menſchen (1865) 
ſuchten auf dieſem Wege vorwärtszukommen; ſein 
geleſenſtes Buch wurde „Die deutſche Sprache“ (fünf 
Auflagen von 1860 bis 1888), ſein bedeutendſtes Werk 
das „Compendium der vergleichenden Grammatik der 
indogermaniſchen Sprachen“ (vier Auflagen 1861 bis 
1876). Früher hatte man als „Sprachvergleichung“ 
nur Zuſammenſtellung und Deutung getrieben; Schlei— 
cher faßte zuerſt die Entſtehung der Verſchiedenheiten 
ins Auge, den hiſtoriſchen Vorgang und begründete 
ſo die ſtreng geſchichtliche Betrachtung der Sprache. 
In angeſpannteſter Arbeit — zu der ihm auch die 
Gartenpflege wurde, da er ſie ſofort in mikroſkopiſche 


Die jungen Delbrück und Sievers 185 


Botanik und geniale Blumenzüchterei großen Stils 
verwandelte — rieb er ſich früh auf; er ſtarb 1868, 
die eigentümlichſte und nachwirkendſte Perſönlichkeit 
unter den Sprachwiſſenſchaftern ſeiner Zeit. 

1870 erhielt Jena ein Ordinariat für vergleichende 
Sprachwiſſenſchaft und Sanſkrit und in dem jungen 
Berthold Delbrück den Gelehrten, der durch ſeine 
Pflege namentlich ſyntaktiſcher Forſchungen dem Amt 
ſofort wieder ein eigenes Gepräge verlieh. Für deutſche 
Philologie wurde ihm 1871 der zwanzigjährige Sievers 
als Extraordinarius beigegeben und 1876 auch er zum 
Ordinarius befördert. Solange er in Jena wirkte, 
bis 1883, erwies er ſich als der virtuoſeſte Kenner 
altgermaniſcher Sprachen durch ſeine Ausgabe des 
althochdeutſchen Tatian (1872), des altniederdeutſchen 
Heliand (1878), eine angelſächſiſche Grammatik und 
Beiträge zur Skaldenmetrik; die lautphyſiologiſche 
Seite der Sprache ſtellte er in ſeiner Phonetik (zu— 
erſt 1874) ſo vorzüglich dar, wie es damals wohl 
niemand weiter in Deutſchland vermochte. 

Unter Seebecks Kuratel wirkten in Jena auch drei 
der beſten deutſchen Hiſtoriker. 1851 wurde Droyſen 
berufen, der Zweiundvierzigjährige ſchon ein berühmter 
Mann durch das Jahrzehnt ſeines Kieler Lehramts, 
wo er in die nationalpolitiſchen Bewegungen der 
ſpätern vierziger Jahre, in die Entwicklung der ſchles— 
wig⸗holſteiniſchen Frage kräftig eingegriffen hatte; die 
bevorſtehende däniſche Reaktion erleichterte ihm den 


186 Guſtav Droyſen und Franz Xaver Wegele 


Übergang nach Jena. Zwar fügte er ſich hier nicht 
völlig ſo ein, wie man gehofft hatte. Weder ſchrieb er 
für das Jubiläum 1858 die Geſchichte der Univerſität, 
noch — was der Wunſch Carl Alexanders war — die 
Geſchichte Carl Auguſts: Preußen gehörte ſein Dichten 
und Trachten. 1851 war der erſte Band ſeiner Bio— 
graphie Yorks erſchienen; in Jena ſchrieb er die beiden 
folgenden Bände. Dann ſchuf er hier die drei erſten 
Bände ſeines größten Werks, der Geſchichte der preu— 
ßiſchen Politik, bis zu ihrem Niedergang im dreißig— 
jährigen Kriege. „Preußiſche Geſchichte“ war auch das 
eine der beiden Kollegien, die er in Jena neu las; 
zu dem andern, „Enzyklopädie und Methodologie des 
Geſchichtsſtudiums“, ſchrieb er 1858 den „Grundriß der 
Hiſtorik.“ Neben ihm lehrte mit Erfolg der junge 
Bayer Wegele, deſſen kultur- und nationalgeſchicht— 
liches Werk über Dante zwiſchen 1852 und 1879 drei 
Auflagen erlebte, und der 1854 die Reinhardsbrunner 
Annalen herausgab; auch ſpäter in Würzburg (ſeit 
1857) knüpfte er gern an die Jenaer Zeit an, z. B. 
mit einer Schrift über Goethe als Hiſtoriker. 

Als Droyſen 1859 nach Berlin überſiedelte, 
wurde der Berliner Adolf Schmidt (1812 bis 1887) 
ſein Nachfolger, der aus Zürich gern wieder in das 
werdende deutſche Reich zurückkehrte. Er brachte eine 
Fülle unverarbeiteter Quellenauszüge zur Geſchichte 
der franzöſiſchen Revolution mit, die er in Paris in 
den Berichten der Geheimpolizei hatte machen können, 


Adolf Schmidt 187 


und veröffentlichte nun 1867 bis 1871 ſeine auch die 
Franzoſen überraſchenden Tableaux de la revolution 
frangaise und 1874 bis 1876 das dreibändige Werk 
über Pariſer Zuſtände während der Revolutionszeit; 
zweierlei ſprang daraus hervor, wovon die bisherigen 
Erzähler, auch Droyſen, keine rechte Ahnung gehabt 
hatten: die große Wichtigkeit der wirtſchaftlichen Dinge 
für den Verlauf der Revolution und die Tatſache, daß 
nur eine ſtarkwillige Minderheit alle demokratiſchen 
Erfolge durchgeſetzt hatte. Wie umfaſſend Schmidts 
Geſchichtsblick war, zeigte 1874 ſein Buch „Epochen 
und Kataſtrophen“ mit den drei großen Abhandlungen 
über Perikles und ſein Zeitalter, den Nikaaufſtand unter 
Juſtinian und über Don Carlos und Philipp. Die 
ſpaniſche Studie ſuchte den Widerſpruch über das 
Weſen des Prinzen in den Geſandtſchaftsberichten zu— 
gunſten einer Auffaſſung zu entſcheiden, die der 
Schillerſchen nahekam, und regte die Frage der Glaub— 
würdigkeit ſolcher Berichte gründlich auf — gegenüber 
der damals beliebten Regel, die Wahrheit lediglich auf 
Seite der Peſſimiſten zu ſehen —; die altgriechiſche 
Skizze fand ſeit 1877 ihre Ausführung in dem groß 
artig angelegten Werke „Das perikleiſche Zeitalter“. 
Schmidts Begabung ruhte in der Ergänzung des Ma— 
terials durch geſunde Phantaſie; dabei betrieb er die 
Erforſchung der Bedingungen peinlich, wie noch zuletzt 
ſein Handbuch der griechiſchen Chronologie zeigte. 
Hiſtoriker zu einem guten Teil war auch der da— 


188 Bruno Hildebrand 


malige große Jenaer Nationalökonom Bruno Hilde— 
brand. Wie Droyſen hatte er die vierziger Jahre halb 
politiſch durchlebt, als Kämpe in Marburg gegen 
Haſſenpflug, und wie Adolf Schmidt kehrte er 1861 
aus der Schweiz gern in die Heimat zurück: er ſtammte 
aus Naumburg und war Portenſer geweſen. In Jena 
war er weniger als praktiſcher Volkswirtſchafter tätig 
— er leitete die Vorarbeiten für die Erbauung der 
Saalbahn —; ſeine beſte Kraft widmete er hier einer 
mächtigen wirtſchaftsgeſchichtlichen Forſchung. 1862 
begründete er die Jahrbücher für Nationalökonomie 
und Statiſtik und erhob ſie bald und auf die Dauer 
zu dem führenden Fachblatt erſten Ranges. 186 eröff— 
nete er das ſtatiſtiſche Bureau vereinigter thüringiſcher 
Staaten: hier wurde ſtaatswirtſchaftliche Forſchung 
getrieben, wurden die tüchtigſten jungen Nationale 
ökonomen erzogen wie Conrad, Scheel, Miaskowski. 
Hildebrands Lehrgabe und Lehrluſt wurden nicht 
müde, den hiſtoriſchen Sinn und das volkswirtſchaft— 
liche Verſtändnis miteinander zu bilden; wenige waren 
ſich damals ſo klar wie er darüber, daß das Verſtänd— 
nis der Gegenwart auch auf ſeinem Gebiete in leben— 
diger Beziehung ſtehe zu dem der Vergangenheit, daß 
keins ohne das andere gedeihen könne. Von dieſem 
Standpunkt aus war er entſchiedenſter Gegner des 
geſchichtsloſen Sozialismus, war er ſich der Grenzen 
gegen die alles mit gleichem Maße meſſende Natur— 
wiſſenſchaft bewußt: die Wirtſchaft der Völker war 


Nationalökonomiſche Schriften 189 


ihm wie ihre Sprache, ihre Literatur, ihr Recht, ihre 
Kunſt ſtets ein Glied der geſchichtlichen Entwicklungs- 
kette, und an dieſe auch den paſſenden Ring der 
Gegenwart ſchmieden zu helfen ſah er als eine Hälfte 
der Aufgabe des Nationalökonomen an. 1861 und 
1866 ſchrieb er über die Bevölkerung des alten Ita— 
liens, 1862 und 1869 über die Verteilung des Grund— 
beſitzes im klaſſiſchen Altertum. Wie in der Antike 
machte er ſich im Mittelalter zu Hauſe und behandelte 
daraus 1866 und 1869 die deutſche Woll- und Leinen— 
induſtrie, 1872 und 1875 Preiſe, Löhne und Steuern 
in Altheſſen. Seine entſcheidendſten Studien aber 
waren die über die gegenwärtigen Aufgaben der Na— 
tionalökonomie (1863), Natural-, Geld- und Credit— 
wirtſchaft (1864) und über die Entwicklungsſtufen der 
Geldwirtſchaft (1876). 1878 erloſch mit ihm eines 
der für deutſches Leben und deutſche Wiſſenſchaft be— 
deutendſten Gelehrtenleben des Zeitalters. 

Bei ſo ſtarkem Hervortreten des geſchichtlichen 
Denkens und ſo weitgehender Beſchränkung des ſyſte— 
matiſchen: was war das Schickſal des jenaiſchen Lehr— 
ſtuhls für Philoſophie ſelbſt? Fünfzehn Jahre ver— 
waltete ihn der hervorragendſte neuere Geſchicht— 
ſchreiber der Philoſophie, Kuno Fiſcher. Seine be— 
ſondre Gabe war es, große fremde Gedankenſyſteme 
von ihren ſchöpferiſchen Punkten aus nachzudenken und 
neuzubilden. So hatte er als Heidelberger Dozent 
ſeit 1850 und dann als Privatgelehrter — die Reaktion 


190 Kuno Fiſcher 


legte ihm dort das Handwerk — die erſten drei Bände 
ſeiner vielgerühmten Philoſophengeſchichte geſchrieben; 
drei und einhalb Jahre ließ man ihn auf eine ander⸗ 
wärtige Berufung harren, Berlin konnte zu keinem 
Schluſſe kommen, da meldete ihm Seebeck Ende 1856 
die Ernennung nach Thüringen, und der greiſe Hum— 
boldt ſchrieb an Bunſen: „So hat das kleine Jena 
einmal wieder die Ehre von Deutſchland gerettet.“ 
In Jena verfaßte Fiſcher die Bände über Kant (1861) 
und über Fichte (1869); daß die neue Philoſophie 
trotz Hegel an Kant anzuknüpfen habe, wurde ihm 
Glaube und Bekenntnis. Den älteren Philoſophen 
huldigte er von neuem durch ſeine Überſetzung der 
Hauptſchriften von Descartes (1863) und eine knappe, 
liebevolle Darſtellung von Spinozas Leben und Cha— 
rakter (1865). Seine glänzende Beredſamkeit zog alle 
Gelehrtenkreiſe des unphiloſophiſchen Zeitalters an, der 
Weimarer Hof berief ihn zu Vorleſungen ins Schloß 
und vertraute ihm die wiſſenſchaftliche Führung 
des Erbgroßherzogs zeitweilig an; der Boden der 
klaſſiſchen Dichtung ermunterte ihn, auch die Erklärung 
Schillers und Goethes zu betreiben. Wiederholt be— 
mühte ſich Heidelberg vergebens, ihn zurückzugewinnen; 
erſt dem dritten Rufe dorthin folgte er 1872. 
Während die Philoſophie zur Geſchichte der neueren 
Philoſopheme wurde, zogen die Naturwiſſenſchaften aus, 
unterſtützt von der Mathematik, einen ganz neuen 
Unterbau alles ſich entwickelnden Lebens anzulegen. 


Mathematik, Phyſik, Botanik 191 


Und daran erſt recht hatte Jena am hervorragendſten 
teil. Der beſonnene Karl Snell freilich, ſeit 1844 
Ordinarius für Mathematik und Phyſik und erſt 1886 
achtzigjährig geſtorben, war zu keiner großen Wirkung 
berufen, ſo behaglich ſicher ſeit 1846 ſein zweibändiges 
Werk in die Differential- und Integralrechnung ein— 
führte, ſo klar er ſich 1858 über „Die Streitfrage des 


Naturalismus“ als erkenntnistheoretiſches Problem 
äußerte. Auch ſein Nebenmann als Extraordinarius, 
Hermann Schaeffer aus Weimar, ein treuer Kauz, 
1850 in Jena für Mathematik habilitiert und ein 
halbes Jahrhundert hier lehrend, auch Phyſik, war 
nicht genug ſelbſtändig ſchaffender Gelehrter, um 
bei all ſeiner Herzensgüte und ſeinem urſprünglichen 
pädagogiſchen Geſchick eine wiſſenſchaftliche Führerrolle 
übernehmen zu können. Die große naturwiſſenſchaftliche 
Förderung kam von den biologischen Einzelwiſſen— 
ſchaften, von Botanik und Zoologie. 

In der erſten Hälfte des Zeitalters war die Botanik 
an der Spitze. Schleiden lehrte ſeit 1850 als Jenaer 
Ordinarius und hatte von hier aus ſchon im Jahr— 
zehnt vorher, namentlich durch ſeine „Grundzüge der 
wiſſenſchaftlichen Botanik“ unter der Fahne der In— 
duktion Schüler auch außerhalb Jenas zu ſammeln 
begonnen; ſein Werk „Die Pflanze und ihr Leben“ 
warb bis Mitte der ſechziger Jahre in dieſem Sinne 
fort. Der ſpekulativ-⸗naturphiloſophiſchen Richtung, als 
deren Haupt Nees von Eſenbeck galt, des alten Goethe 


192 Pringsheim und Haeckel 


einſtiger Korreſpondent, wurde durch das Mikroskop der 
Garaus gemacht. Auch durch ſein Handbuch der medi— 
ziniſch-pharmazeutiſchen Botanik(1852 ff.) übte Schleiden 
großen Einfluß; 1862 zog er ſich vorzeitig ins Privat— 
leben zurück. Zu ſeinem Nachfolger beſtellte man 
Pringsheim, einen jungen um die Kryptogamen-, 
beſonders die Algenforſchung verdienten Gelehrten, der 
auch weiterhin als wiſſenſchaftlicher Botaniker eine 
führende Rolle ſpielte; aber von Jena ſchied auch er 
ſchon 1868 wieder. 

Inzwiſchen war der Stern Haeckels aufgegangen. 
Haeckel habilitierte ſich 1861 in Jena und wurde hier 
bereits im folgenden Jahre außerordentlicher und 1865 
ordentlicher Profeſſor der Zoologie, einunddreißig 
Jahre alt. Dieſen frühen Erfolg verdankte er nament— 
lich ſeiner 1862 erſchienenen großen Monographie der 
Radiolarien. Und in der Ausarbeitung derartiger 
umfaſſender, eindringender, prächtig und anſchaulich 
ausgeſtatteter Einzelſtudien aus den niederſten Stufen 
der Tierwelt fuhr er fort: 1869 veröffentlichte er die 
„Entwicklung der Siphonophoren“, 1872 die Monographie 
der Kalkſchwämme — woran ſich 1877 die Studien zur 
Gaſträatheorie ſchloſſen, d. h. zu dem Gedanken, alle 
becherkeimförmigen Lebeweſen auf eine gemeinſame 
Stammform zurückzuführen — 1879 die Monographie 
der Meduſen uſw. Das alles wirkte nur auf die 
Kreiſe der zünftigen Naturwiſſenſchafter. An dieſe 
wandte ſich Haeckel auch 1866 mit ſeinem erſten uni— 


Genetijierung der Morphologie 193 


verſalen Werk, der Generellen Morphologie der Orga— 
nismen. Die Morphologie, die Goethe als Idealnexus 
geahnt, aber als geſchichtswirkliche Möglichkeit noch 
nicht genau ins Auge gefaßt hatte, die Darwin aber 
in dieſem Sinne mit ſeiner Ausleſetheorie aufzurollen 
begonnen hatte, unternahm Haeckel durchgehend ſo 
auszubilden; er ging bis auf den Grund der Möglich— 
keit der Entſtehung organiſcher Weſen aus anorgani— 
ſchem Stoff, wobei er dem Pflanzen— und Tierreich 
ein primitives Zwiſchenland in den Protiſten geſellte, 
er förderte die individuelle Ontogenie (durch das bio— 
genetiſche Grundgeſetz) und begründete die Phylogenie, 
die Entwicklungsgeſchichte organiſcher Stämme. Als 
die Mehrheit der Fachgenoſſen ſein Werk lau aufnahm, 
wandte er ſich mit einem Auszug an die gebildeten 
Laien, und dieſer, die Natürliche Schöpfungsgeſchichte, 
wurde von 1868 bis 1873 ſofort viermal aufgelegt. 
1874 ließ er als zweites großes populär-wiſſenſchaft— 
liches Werk über Darwinſche Fragen die Anthropo— 
genie folgen, bekanntes und neues miſchend; den An— 
griffen einiger Anatomen darauf antwortete er 1875 
in der Schrift: Ziele und Wege der heutigen Ent— 
wicklungsgeſchichte. So wuchs die Zahl der Leſer in 
Deutſchland wie der Hörer in Jena, und auch auf drei 
Verſammlungen deutſcher Naturforſcher und Arzte ver— 
kündete Haeckel ſeine Anſichten: 1863 in Stettin wurde 
er mit Achſelzucken aufgenommen, 1877 in München 


wahrte er die Freiheit ſeiner Forſchung und ihre 
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 13 


194 Anfänge von Abbe und Zeiß 


politiſche Unschuld ſiegreich gegen Virchow, und 1882 
in Eiſenach feierte er den eben verſchiedenen Darwin 
in der Zuſammenſtellung mit Goethe und Lamarck. 
Goethes morphologiſche Gedanken, Jenas Landſchaft 
förderten und beglückten ihn, obwohl es den frohſchwei— 
fenden Draufgänger immer wieder zu großen Studien- 
reiſen in die Ferne trieb: ſeine Indiſchen Reiſebriefe 
(1882) entwarfen ein Bild der Tropenvegetation, wie 
es ſeit Humboldts Kosmos kein Deutſcher weder ge— 
wagt noch vermocht hätte. 

Beſcheidner, aber gewiſſer ging Ernſt Abbe ſeinen 
Weg. Das Eiſenacher Arbeiterkind wurde an der Jenaer 
Univerſität der Schüler Schleidens und kehrte nach 
auswärtigen aſtronomiſchen Studien 1863 hierher 
wieder zurück, um ſich für Mathematik und Phyſik 
zu habilitieren. Auch wurde er 1870 außerordentlicher 
Profeſſor und 1877 Direktor der Sternwarte, aber 
daneben war er ſchon ſeit Mitte der ſechziger Jahre 
ſtiller Mitarbeiter in der kleinen optiſchen Werkſtatt 
von Zeiß, die ſeit 1846 beſtand. Karl Zeiß, eines 
Weimarer Drechslers Sohn, war in Jena von Schleiden 
auf die Herſtellung von Mikroskopen gelenkt worden 
und erkannte, daß hier bei beſſerer Verknüpfung von 
Wiſſenſchaft und Technik etwas feineres als bisher zu 
machen ſein müſſe; Abbe wurde ſein vertrauter Berater. 
Abbe dachte die Theorie des Mikroſkops zum erſten— 
mal phyſikaliſch und mathematiſch ganz durch, während 
bis dahin ein Teil der Herſtellung immer dem Pro— 


Theorie des Mikroſkops 195 


bieren auf Glück überlaſſen geweſen war. 1873 ver- 
öffentlichte er als neue Grundlage ſeine „Beiträge zur 
Theorie des Mikroſkops und der mikroſkopiſchen Wahr- 
nehmung“, 1874 las er zuerſt über Optik, 1876 er⸗ 
kannte er bei Beurteilung der Mikroſkopabteilung einer 
internationalen Ausſtellung in London, daß er Eng— 
länder und Franzoſen überflügelt hatte. Noch bedurfte 
er eines feineren Glaſes: wer lieferte ihm das? Wenn 
ſich zu den hervorragenden Spezialindividualitäten des 
Gelehrten und des Metalltechnikers noch der entſpre— 
chende Glasproduzent fände, welche Verbindung von 
Wiſſenſchaft und Wirtſchaft konnte daraus im folgenden, 
ſozialer Verpflichtung geneigten Zeitalter entſtehen! 
Das Abbeſche Mikroſkop tat ſeine erſten großen 
Dienſte in der Medizin: Robert Koch u. a. entdeckten mit 
ihm Bazillen, die vorher unerkennbar geweſen waren. 
Noch enger ſprach ſich für Jena der Zuſammenhang 
der neuen Naturwiſſenſchaften und der mediziniſchen 
Fakultät darin aus, daß Haeckel vom praktiſchen Arzt 
zum gelehrten Naturwiſſenſchafter wurde, und daß er 
das tat auf den Rat ſeines Freundes Gegenbaur, der 
umgekehrt aus derfphiloſophiſchen in die medizinische 
Fakultät übertrat. Unter den gleichzeitigen Jenaer 
Medizinern — dem ſpäter in Berlin leitenden Kliniker 
Gerhardt, dem Gynäkologen Schultze und dem Ana— 
tom Müller, die mit dem Phyſiologen Czermak an 
der damaligen Blüte Jenas teilhatten — war Gegen— 


baur der bedeutendſte. Von Hauſe und Studium aus 
13* 


196 Gegenbaur 


Würzburger hatte er ſchon 1851 als Doktorand die 
Veränderungen der Pflanzenwelt, die Unbeſtändigkeit 
der Art mit dem Gedanken behandelt, daß ſich daraus 
die Möglichkeit einer Entwicklung ergebe; vor Darwin 
hatte er den Gedanken des genetiſchen Zuſammen— 
hangs der Organismen klar erfaßt. 1855 kam er als 
außerordentlicher Profeſſor der Zoologie nach Jena, 
1858 übernahm er den Lehrſtuhl für Anatomie — von 
dem damals die Phyſiologie abgetrennt wurde, eine 
Spaltung, in der die meiſten deutſchen Univerſitäten 
dem Beiſpiel Jenas folgten —, und nun wandte er 
ſich beſonders der Anatomie der Wirbeltiere zu, wäh— 
rend der ſechziger Jahre in Freundſchaft mit Haeckel 
vorwärts gehend, deſſen Generelle Morphologie ihm 
mit Worten herzlichen Dankes gewidmet wurde. Hatten 
Gegenbaurs „Grundzüge der vergleichenden Anatomie“ 
in ihrer erſten Ausgabe (1859) nur eben den im Tier⸗ 
reich beſtehenden Zuſammenhang etwa im Sinne 
Goethes bemerkt auf Grund der beſtehenden „Zwi— 
ſchenglieder, die ſich wie Brücken über die Kluft der 
Grundtypen hinüber bauen und für die im Tierreiche 
waltende Einheitsidee Zeugnis ablegen“, ſo führte die 
zweite Ausgabe (1870) den Deſzendenzgedanken un— 
verſchleiert aus: die „Verwandtſchaft“ der Organismen 
habe keine bloß bildliche Bedeutung, ſondern es ſei 
nun die Aufgabe der vergleichenden Anatomie, „die 
mannigfachen, aus der Anpaſſung erworbenen Um— 
wandlungen der Organe Schritt für Schritt zu ver— 


Vergleichende Anatomie 197 


folgen“; das Ziel der vergleichenden Anatomie ſei alſo 
die Geſchichte des Organismus und ſeiner Teile. Auf 
dieſes Ziel hat Gegenbaur in Jena durch eine Reihe 
vorzüglicher Einzelunterſuchungen hingeſteuert: die 
Bildung des Knochengewebes (1864), die Bruſtfloſſe 
der Fiſche (1865), das Herz der Fiſche (1866), der 
Zuſammenhang zwiſchen dem primitiven Floſſenſkelett 
und dem Gliedmaßenſkelett landlebender Wirbeltiere 
wurden mit vielen neuen Beobachtungen und weit— 
tragenden Erwägungen dargelegt. Später in Heidel— 
berg, wohin er 1873 ſeinem Freunde K. Fiſcher folgte, 
bekannte Gegenbaur: „Jena war für mich in jeder 
Hinſicht eine hohe Schule, aus der ich vielfach belehrt 
hervorging, und alles, was ich in ſpäterer Zeit ge— 
leiſtet, hat dort ſeine Quelle und gibt mir Urſache zu 
dauerndem Dank.“ 

Das hätte mancher Jenaer Dozent und Student 
von ſich ſagen können. Auf engem Raume ein nahes 
Verhältnis der Fakultäten, im Herzen Deutſchlands 
die unmittelbaren Erinnerungen an Goethe und 
Schiller, Burgenromantik und proteſtantiſches Und 
doch! ernſte, raſtloſe Forſchung und froher Jugendſinn: 
wo wehte ſolcher Odem ſchöner freier Menſchlichkeit? 
Populär⸗-wiſſenſchaftliche Vorträge in den Roſenſälen, 
von Göttling und Haſe 1846 begründet, von Fiſcher 
und anderen gepflegt, ließen die nichtakademiſche 
Bürgerſchaft an dieſem Geiſte der Hochſchule teil— 
nehmen. Griff doch die Univerſität auch in das Muſik— 


198 Akademiſcher Geſangverein, Pädagogik 


leben bedeutend über: Ernſt Naumann und fein Afa- 
demiſcher Geſangverein gingen 1869 mit der Auf- 
führung des Brahmsſchen Requiem und 1870 mit 
der ſeiner Rhapſodie aus Goethes Harzreiſe vielen 
deutſchen Städten voran. 

Und ſo trieb die Univerſität noch einen anderen 
merkwürdigen Abſenker in der Stadt, die Stoyſche 
Schule. Stoy war ſeit 1846 außerordentlicher, ſeit 
1857 ordentlicher Honorarprofeſſor der Pädagogik; 
er leitete das pädagogiſche Seminar, dazu ſeit 1844 
eine private gymnaſiale Erziehungsanſtalt von Ruf 
(bis 1870) und eine zweiklaſſige (Armen-) Schule. 
Aus dieſer wurde 1848 die ganze zweite Knabenſchule 
der Stadt, 1854 ſiedelte er mit ihr in ein eigenes Haus 
mit Garten über, und 1858 beim Univerſitätsjubiläum 
feierte ſie die Weihe des unter großen Opfern Stoys 
und durch ſeine unermüdliche Liebe geförderten Neu— 
baus mit dem Glockentürmchen und dem Schulgarten 
und der Turnhalle, der erſten ihrer Art in Deutſchland. 
Nach einer ſpäteren Unterbrechung durch einige Heidel— 
berger Jahre und ein fruchtbares Semeſter in Oſter⸗ 
reich hat Stoy dieſe Schule bis zu ſeinem Tode (1885) 
regiert. Von hier aus gingen die Gedanken einer 
neuen Erziehung, der Pädagogik Herbarts, von Stoy 
vorbildlich und gemäß der kleinen beſcheidnen tapfern 
Stadt verwirklicht, in das deutſche Schulweſen über. 


—— Nn 


Muſik, Bühne, Dichtung 


Wie Jena nicht ohne Kunſt war, ſo war das Weimar 
der erſten dreißig Jahre von Carl Alexanders Regierung 
nicht ohne Wiſſenſchaft. Am Gymnaſium wirkten 
namhafte Philologen, an der Bibliothek Gelehrte von 
deutſchem Ruf. Ludwig Preller aus Hamburg, ſeit 
den dreißiger Jahren unter den Mythologen geſchätzt, 
hatte ſich nach einer in nationaler Beklemmung ver— 
laufenen Dorpater Profeſſur und einem ausgiebigen 
Aufenthalt in Italien 1846 als Profeſſor in Jena 
angeſiedelt; ſchon 1847 berief ihn die Regierung nach 
Weimar an die Spitze der Bibliothek. Maria 
Paulowna hörte in den letzten zwölf Jahren ihres 
Lebens gern ſeine wöchentlichen Vorträge, und Stich— 
ling wurde ſein Freund; während Preller der Groß— 
herzoginwitwe 1860 ein literariſches Denkmal ſetzte, 
hielt Stichling dem bald darauf Verſchiedenen in der 
Loge eine Gedenkrede und rühmte, „feine bei aller 
Eckigkeit und Unlenkſamkeit doch elaſtiſche, weil 
phantaſiereiche Natur.“ Preller verzeichnete die 
vielen wertvollen Handſchriften der Bibliothek zum 
erſtenmal; in den fünfziger Jahren galt er als einer 
der hervorragendſten deutſchen Mythologen des klaſſi— 


200 Weimarer Bibliothekare 


ſchen Altertums: ſeine nach manchen Einzelſtudien zuerſt 
1854 veröffentlichte Griechiſche Mythologie erſchien 
ſchon 1860 in zweiter, ſeine Römiſche Mythologie 
zwiſchen 1858 und 1883 in drei Auflagen. 

Auch Schöll aus Brünn, der Goethephilolog, 
nach Preller zwanzig Jahre als Leiter der Bibliothek 
tätig, hatte mythologiſche Studien getrieben, wie er 
denn ein außerordentlich kundiger Kunſtgelehrter war, 
dabei ein geiſtvoller Redner und zum Hauptberater 
bei der Pflege und Fortſetzung der klaſſiſchen Tradition 
Weimars wie geſchaffen. Schon 1843 als Direktor 
der großherzoglichen Kunſtſammlungen und der freien 
Zeichenſchule nach Weimar berufen, hatte er bei man— 
chem künſtleriſchen und literariſchen Unternehmen eine 
bedeutende Stimme abzugeben, und die vornehme 
Geſelligkeit ſeines gaſtfreien Hauſes erhöhte ſeinen 
Wert. Er erkannte ebenſo ſicher die beſondern Vor— 
züge von Klaus Groth und Hebbel, wie er, ſämtliche 
Dramen von Sophokles überſetzend, ſtellenweiſe eine 
zweifelhafte Annäherung an Euripides bei ihnen her— 
ausfand oder das altfränkiſche in Pindars Stil mit der 
gleichzeitigen archaiſchen Bildhauerkunſt in Beziehung 
zu ſetzen wußte. Mit Shakeſpeare und Herder, mit 
Schiller und Goethe war er innig vertraut. 

Neben Preller und neben Schöll ſtand als dritter 
Bibliothekar ſeit 1856 der junge Reinhold Köhler, in 
Weimar geboren und in Jena promoviert, zuletzt gleich— 
falls Bibliotheksdirektor, ein beſcheidner Meiſter der 


Neu-Weimar- Verein 201 


Märchenforſchung, ein hervorragender Kenner der 
deutſchen Kleinepik alter und neuer Zeit, ein gelehrter 
Helfer deutſcher Philologen allerwärts. Erſt nach ſeinem 
Tode (1892) wurden ſeine Einzelſtudien geſammelt; 
in den ſechziger und ſiebziger Jahren trat er ſelbſt nur 
ſelten hervor, z. B. indem er den Text Heinrichs von 
Kleiſt von den Retuſchen Tiecks und Julian Schmidts 
ſäuberte und Herders Cidquellen nachwies. Köhler 
gehörte zu dem ſich auftuenden „Neuweimarverein“, 
man ſah ihn im Lager Liſzts, und Peter Cornelius 
wurde ſein Herzensfreund, während Schöll eine Art 
Gegenpol zu Liſzt bildete. Denn Muſik tat in den 
fünfziger Jahren die aufregendſte Wirkung des neuen 
Weimars auf Deutſchland. 

Daß Liſzt, der wanderſüchtige, in Weimar für mehr 
als ein Jahrzehnt ſtandhielt, wurde teils durch ſeine 
Anſtellung gewährleiſtet, teils durch das Zuſammen— 
leben mit der Fürſtin Wittgenſtein. Sie hatte er 
Anfang 1847 in Kiew kennen gelernt, eine ſehr reiche 
Polin, hoher Schwärmerei in katholiſcher Kirchennarkoſe 
fähig, von beweglichſter Verſtandeskraft, ohne oft ein 
echtes Verhältnis zum Daſein finden zu können, Mutter 
einer zehnjährigen Prinzeß Marie, Gattin eines un— 
geliebten Gemahls. Ein Jahr darauf — kurz vor der 
Märzrevolution — floh ſie nach Einreichung der 
Scheidungsklage mit ihrer Tochter aus Rußland, um 
ſich mit Liſzt vermählen zu können, und ſtellte ſich auf 
ſeinen Rat unter den Schutz Maria Paulownas, 


202 Liſzt und die Fürſtin Wittgenſtein 


mit der fie als Kind am Petersburger Hofe zuſammen⸗ 
geweſen war. Die Großherzogin wies ihr das ſtattliche 
Gebäude der weimariſchen Altenburg — eines jener 
auf dem Oſtufer oſtmitteldeutſcher Städte geſondert 
gelegenen Grundſtücke, deren Name auf älteſte befeſtigte 
Siedelungsſtätte am Orte deutet, — zur Miete an. 
Hier erwartete die Fürſtin die Scheidung ihrer ruſſi— 
ſchen Ehe, zwölf Jahre umſonſt, hierher zog Liſzt, hier 
bildete ſich eine Art Muſenhof um beide, und das 
nahe Wäldchen, das Webicht, wurde zum Mittelpunkt 
neueſter Kulturbeziehungen. Aber die Fürſtin erhielt 
den ruſſiſchen Staatsbefehl, in ihre Heimat zurückzu— 
kehren; ſie folgte nicht, ward aus Rußland ausgewieſen, 
und Weimars Hof und Geſellſchaft zogen ſich von ihr 
zurück. Als endlich doch die ruſſiſchen Konſiſtorien in 
die Scheidung willigten, erhob der Biſchof von Fulda 
Bedenken, dem ſie in Weimar unterſtand; ſie eilte 1860 
nach Rom, um beim Papſt die neue Schwierigkeit zu 
überwinden, und kehrte nicht zurück. Um dieſelbe 
Zeit löſte Liſzt fein dauerndes Weimarer Verhältnis. 

Liſzts Perſönlichkeit war nach Geburt und Heimat 
aus deutſchem und ungariſchem gemiſcht, nach Kultur 
und Bildung war er teils Römling, teils Franzoſe. 
Mitten in ſeiner Weimarer Zeit, 1853, erklärte er in 
einem für die Offentlichkeit beſtimmten Brief an einen 
Deutſchen: „Ich ſchreibe Ihnen heute franzöſiſch; denn 
da ich die Gewohnheit habe, in dieſer Sprache zu 
denken, ſo iſt es mir bequemer, auf dieſe Weiſe die 


Sinfoniſche Dichtungen: Hercide funebre 203 


Ideen auszudrücken“. Es war damals ein neues Stre— 
ben in ihm; ſeine Pianiſtenlaufbahn glaubte er völlig 
abgetan. „Einſtweilen arbeite ich friedlich, ſoviel ich 
kann, mit Kopf und Feder, und nur bei ſolchem Ar— 
beiten, durch einige Jahre hin, wird es mir möglich 
ſein, jene Stufe hoher und wohlgegründeter Anerken— 
nung zu erlangen, die ich ernſthaft erſtrebe.“ Wenn 
er von Weimar aus durch neuartige Orcheſterwerke 
wirkte, „ſinfoniſche Dichtungen“, ſo wurzelte die erſte 
Gruppe davon in ſeiner franzöſiſchen Jugend. 

Er war mit zwölf Jahren nach Paris übergeſiedelt, 
hatte dort als neunzehnjähriger die Revolution von 
1830 erlebt und darüber eine Sinfonie entworfen; 
deren erſten Satz arbeitete er 1849 in Weimar, als 
ähnliche Zuckungen durch Deutſchland nachbebten, zu 
einer Héroide funèbre um. Gedämpfte Wirbel der 
Militärtrommel, Poſaunenſtöße auf gute, verminderte 
Septimenakkorde der Holzbläſer auf ſchlechte Taktteile, 
chromatiſches Gegeneinanderſichwinden des Streich— 
quartetts als Einleitung und dann ein großer Trauer— 
marſch ähnlicher Art in F-Moll mit kurzem ſüßen 
Zwiſchenſang in Des-Dur: damit wollte er, wie fein 
Vorwort ſagte, die „roten Finſterniſſe“ des Schmerzes 
ſchildern, der bei gewaltſamer Zerſtörung alter Ordnung 
durch die Welt geht, den Schrei des Entſetzens und das 
Schweigen nach der Kataſtrophe, und die Grabhügel 
der Gefallenen in ſchimmernde Schleier hüllen. Pro— 
grammuſik! Anfang der dreißiger Jahre hatte er mit 


204 Mazeppa und Bergiinfonie 


Victor Hugo freundlich verkehrt und ſich von deſſen 
leidenſchaftlich überladener Mazeppaviſion zu einer 
wilden Klaviermuſik hinreißen laſſen; die ſetzte er 1850 
in Weimar ins Orcheſter um und damit erſt in ihr 
wahres naturaliſtiſches Element ein. Ein Beckenſchlag 
(Peitſche) übergrellt den erſten diſſonanten Bläſer— 
ſchrei, das Streichquartett haſtet bald in knirſchenden 
Triolen, bald in Pizzikatogezupf und Bogenholzge— 
klapper durcheinander, während die Holzbläſer lange 
Wehlaute ſtöhnen, große Triller der einen Hälfte der 
Orcheſterſtimmen, chromatiſches Abwärtswimmern der 
anderen: die Leidensgaloppade des Koſakenhetmans 
und zugleich die Qual des an die Wirklichkeit geſchmie— 
deten grandioſen Menſchengeiſtes! Ein andres Hugo— 
ſches Gedicht beſchäftigte ihn noch länger: keine ſinfo— 
niſche Dichtung hat er ſo durch- und umgearbeitet wie 
Ce qu'on entend sur la montagne; auf den Ent— 
wurf in den dreißiger Jahren folgte die Inſtrumen— 
tation in Weimar 1849, eine erſte Aufführung hier 
1853, und 1857 ſtellte er das Werk an den Anfang 
der großen Veröffentlichung von neun Arbeiten 
gleicher Art. Hugo hatte von einer Höhe am Meer 
herab aus dem Rauſchen des Alls zu ſeinen Füßen 
zwei Stimmen herausgehört: die heitere, friedevolle 
der Natur und das böſe Unglücksgeſchrei der Menſch— 
heit. In dieſen Gehörswahn verſenkte ſich Liſzt und 
legte ihn in engem Anſchluß an das Gedicht als aku— 
ſtiſche Wirklichkeit dar. Ein andermal packte ihn La⸗ 


Les preludes, Taſſo, Prometheus 205 


martines Meditation, das Leben ſei eine Folge von 
Präludien zu dem erſten Feierklang des Todes, und 
er ſchrieb Les preludes über das Glück der Liebe, den 
Sturm, der es zerreißt, die Erholung in der Stille 
des Landes und das neue Hinaustreten in den Kampf 
des Lebens. 

So unweimariſch, vollends ungoethiſch die erſten 
dieſer Werke waren, mit den Préludes war doch die 
Möglichkeit gegeben, ſich den Gedanken unſerer Klaſ— 
ſiker zu nähern, und nun veranlaßte Weimars Boden 
Liſzt wirklich, auch Goethe, Herder und Schiller ſinfo— 
niſch zu bedenken. Taſſo freilich wurde nicht eben 
goethiſch angefaßt. Byron hatte die Klage des un— 
glücklichen Dichters im Kerker gedichtet; dieſe gab Liſzt 
wieder und legte ihr eine ſchwermütige venezianiſche 
Melodie zugrunde, in der er die Lagunenſchiffer die 
Anfangsſtrophen von Taſſos Jeruſalem hatte ſingen 
hören. Auch für die Fortſetzung des Werkes griff er 
außerhalb von Goethes Dichtung und ſchilderte den 
Triumph des Dichters auf dem Kapitol. So entſtand 
als Einleitung zur Weimarer Taſſoaufführung an 
Goethes hundertſtem Geburtstag Liſzts Tasso aus 
Lamento e trionfo. Als im folgenden Jahre Herders 
Weimarer Denkmal enthüllt und im Theater ſein 
Entfeſſelter Prometheus mit neuer Liſztſcher Muſik 
geſungen wurde, gab Liſzt eine Ouvertüre zu, die er 
ſpäter unter die ſinfoniſchen Dichtungen aufnahm: 
darin ſtellte er einen ähnlichen Gegenſatz wie im Taſſo 


206 Feſtklänge, Orpheus, Die Ideale 


dar, kühnen Trotz des Dulders und triumphierende 
Hoffnung auf Befreiung. Für das Weimarer Jubi⸗ 
läum Maria Paulownas 1854 entſtanden als Einlei⸗ 
tung zu Schillers Huldigung der Künſte die rauſchen⸗ 
den Feſtklänge. Kurz darauf gab eine Aufführung 
von Glucks Orpheus Anlaß, das Weſen beſänftigender, 
beſeligender Kunſt — in Erinnerung an das Orpheus⸗ 
bild einer etruriſchen Vaſe im Louvre — in prangen⸗ 
den Akkorden unter dem Namen dieſes Sängers an- 
zudeuten und auszumalen oder, wie Liſzts phraſen⸗ 
duftendes Vorwort ſagte, „den verklärten ethiſchen 
Charakter der Harmonien, welche von jedem Kunſtwerk 
ausſtrahlen, zu vergegenwärtigen, die Zauber und die 
Fülle zu ſchildern, womit ſie die Seele überwältigen, 
wie fie wogen gleich elyſiſchen Lüften, Weihrauch— 
wolken ähnlich mählich ſich verbreiten; den lichtblauen 
Ather, womit ſie die Erde und das ganze Weltall wie 
mit einer Atmoſphäre, wie mit einem durchſichtigen 
Gewand unſäglich myſteriöſen Wohllauts umgeben“. “) 
Und endlich 1857 das Septemberfeſt der Weihe des 
Denkmals für Goethe und Schiller. Binnen wenigen 
Wochen ſchrieb dafür Liſzt eine große orcheſtrale Para— 
phraſe der Empfindungen, die in Schillers Gedicht 
Die Ideale vorüberziehen: Wehmut beim Scheiden 
der Jugendideale, Glück der Erinnerung an ſie, an die 
Zeit des Aufſchwungs, der Allbelebung durch liebende 


*) Überſetzung von Peter Cornelius. 


Fauſtſinfonie, Hungaria 207 


Jugendluſt, der Erwartung von Liebe, Glück, Ruhm 
und Wahrheit, die Enttäuſchung auf des Weges Mitte 
und die bleibende Erquickung durch Freundſchaft und 
emſige Beſchäftigung; und ſchwärmeriſch, wie er war, 
fügte er einen Schluß hinzu, con somma passione 
zu ſpielen: „Das Feſthalten und dabei die unaufhalt— 
ſame Betätigung des Ideals iſt unſers Lebens höchſter 
Zweck. In dieſem Sinne erlaubte ich mir das Schiller— 
ſche Gedicht zu ergänzen durch die jubelnd bekräfti⸗ 
gende Wiederaufnahme der im erſten Satz voraus— 
gegangenen Motive als Schluß-Apotheoſe.“ Bei dem— 
ſelben Feſte huldigte Liſzt auch Goethe, mit der erſten 
öffentlichen Aufführung feiner 1855 komponierten Fauft- 
ſinfonie. Sie zeichnete in drei Sätzen die Charaktere 
Fauſts, Gretchens und Mephiſtos, ein Gewebe von 
Bühnen- und poetiſchen Eindrücken, die genialſte, die 
plaſtiſchſte aller dieſer ſinfoniſchen Schöpfungen. Im 
dritten Satze führte Liſzt aus, wie die mephiſtophe— 
liſchen Klänge durch fauſtiſche und gretchenhafte über— 
wunden werden, und konnte ſo mit dem Chor „Alles 
vergängliche iſt nur ein Gleichnis“ ſchließen. 

Mit einigen ſolcher Werke begab ſich Liſzt in Weimar 
dann auch wieder auf das Gebiet internationaler An— 
regungen. 1853 inſtrumentierte er einen ungariſchen 
Klaviermarſch für Orcheſter erweiternd um zu der 
ſinfoniſchen Dichtung Hungaria. Maria Paulowna 
legte ihm eine Kompoſition „Das Drama der Ge— 
ſchichte“ nach Kaulbach nahe; wirklich dachte er darauf 


208 Hunnenſchlacht, Danteſinfonie, Hamlet 


an eine „Weltgeſchichte in Bildern (W. Kaulbach) und 
Tönen (Liſzt)“, aber nur die Hunnenſchlacht wurde 
1856 ausgeführt. In demſelben Jahre näherte er ſich 
auch wieder ſtrengerem, gedrängterem Bau (wie im 
Fauſt) in der zweiſätzigen Danteſinfonie mit Andeu— 
tungen des Inferno und des Purgatorio, und 1859 
entſtand die ſinfoniſche Dichtung Hamlet. 

Soviel halbmuſikaliſches an all dieſen Werken war, 
da ſie vom Hörer verlangten, den an ſich mangel— 
haften Kompoſitionseindrücken mit allerlei Nebenvor— 
ſtellungen ſchauender und fühlender Phantaſie zu Hilfe 
zu kommen, ſo neu war das naturaliſtiſche Element 
ihrer Tonſprache im 19. Jahrhundert, ſo eng berührte 
es ſich mit der Wirklichkeitsſucht und dem Recht auf 
Wahrheit, das auf andern Gebieten damals Ober— 
waſſer bekam, und ſo feſt glaubte Liſzt an die Echtheit, 
ja auch an die Tiefe ſeiner unbändigen Gefühlsſprache. 
Aber dieſen Kraftäußerungen merkte man die Abſicht 
ſehr an, und ſie vereinten ſich ſchlecht mit dem großen 
Aufwand von Schönrednerei und Weihrauch, der ſie 
überall durchſetzte, und mit der Schwäche eigentlich 
kompoſitoriſcher Arbeit, die ſich in ihren vielen Se— 
quenzen, ihren pathetiſchen Uniſonos und ihrer oft 
ſeifenblaſigen Melodik verriet. 

Ein Teil dieſer Mängel trat bei der Kirchenmuſik 
zurück, da dieſe bei jedem Hörer gewiſſe Stimmungen 
vorausſetzt und durch ihren Text beſtimmte Gedanken 
erweckt. Doch ergab ſich hier für die Evangeliſchen 


Liſzts Kirchenmuſik 209 


die neue Schwierigkeit, daß Liſzts kirchenmuſikaliſche 
Arbeiten vorwiegend katholiſches Weſen erhielten — 
er hatte für ſich und die Fürſtin Caroline Wittgenſtein 
eine gemeinſame Betkammer in der Altenburg einrichten 
laſſen —, und für die Katholiken die, daß ſie teilweiſe 
eine ſehr ſubjektive Empfindungsſprache führten. Die 
größten ſeiner Schöpfungen in dieſer Gattung wurden 
meiſt ſpäter in Rom abgeſchloſſen; aber ihre Keime 
und Anfangsteile entſtanden in Weimar, ja ſeine 
friſcheſten Kirchenmuſikwerke ſchrieb er überhaupt hier. 
So den dreizehnten Pſalm und die 1856 vollendete 
Feſtmeſſe zur Einweihung der Kathedrale der unga— 
riſchen Stadt Gran; es war kein weiter Weg, der von 
den Naturſeligkeitsmotiven der Bergſinfonie zu dem 
Gloria dieſer Meſſe führte. Zur Zeit der ſich häufenden 
Weimarer Schwierigkeiten komponierte er aus dem 
geplanten großen Chriſtusoratorium die Seligpreiſungen 
„Les beatitudes, pour Carolyne‘ und ſchrieb dazu: 
„Elle est l’inspiration, la liberté et le salut de 
ma vie et je prie Dieu que nous fructifions en— 
semble pour la vie eternelle.‘ 

Ein beſonderes weimariſches Oratorium Liſzts 
wurde ſeine Legende von der heiligen Eliſabeth, der 
ungariſchen Prinzeſſin, die in der Blütezeit des Minne— 
ſangs und der Kreuzzüge Thüringens Landgräfin auf 
der Wartburg war. Roquette verfaßte ihm das Text— 
buch in ſechs Bildern: wie das Mägdlein auf die Wart— 


burg kommt, wie ihr junger Gemahl das Roſenwunder 
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 14 


210 Die heilige Eliſabeth 


mit ihr erlebt und wie er zum Kreuzzug Abſchied 
nimmt; wie ihre Schwiegermutter ſie in ſtürmiſcher 
Nacht vertreibt, ſie unter Werken der Barmherzigkeit 
verſcheidet und ſchließlich die feierlichſte Beſtattung 
durch den Hohenſtaufenkaiſer in der neuen Marburger 
Hauptkirche erhält. Liſzts Muſik verwandte dazu das 
älteſte kirchliche Gloria, neuere katholiſche Jeſushymnik 
und eine ungariſche Volksweiſe leitmotiviſch, vor allem 
einige altkatholiſche, melodiöſe Antiphonzeilen des Eliſa— 
bethtages, aus denen er auch die ſchwärmeriſche Ein— 
leitung wob; Ritterchöre und Unwetter ließen ihn Ge— 
pränge und Schrecken des Orcheſters entfalten. 1867 
erklang das Werk auf der erneuerten Wartburg zu 
ihrer muſikaliſchen Weihe, und an ſeinem ſiebzigſten 
Geburtstag ſah es Liſzt in Weimar auch auf der 
Bühne, wohl nicht ganz mit ſeinem Willen; dank 
dem Gegenſtand und der Neuheit der oratoriſchen 
Mache brach es ſich in Deutſchland Bahn. 

Der Naturburſche, der trotz großer Kulturfähig— 
keiten bei Liſzt dem Komponiſten wie dem Geſellſchafts— 
menſchen immer wieder durchbrach, machte auch ſein 
eigentlichſtes Weſen als Dirigent aus. Indem er bei 
der Orcheſterführung vor allem dem natürlichen Emp— 
finden mehr Geltung verſchaffen wollte, ſtellte er die 
Periodiſierung nach Motiven über das Taktſchlagen, 
behandelte er den Takt frei, den Rhythmus exploſiv, 
verzichtete am liebſten ganz auf den Taktſtock, beflügelte 
große Steigerungen mit ausgebreiteten Armen wie 


Liſzt und Wagner 211 


ein Adler und bildete ſo den Typus des Ausdrucks— 
dirigenten ſeines Zeitalters. Als ſolcher vermochte er 
die Opern des jungen Wagner, dieſe hervorragende 
Ausdruckskunſt um 1850, begeiſternd anzufaſſen, und 
Weimars Aufführungen von Fliegendem Holländer, 
Tannhäuſer und Lohengrin waren in den fünfziger 
Jahren berühmt, wie ſie das Weſen der Liebe mit 
neuer Glut malten und mit maſſigen Bühneneffekten 
umgaben. Als Wagner 1849 von Dresden nach der 
Schweiz floh, bereitete ihm Liſzt ein paar Ruhetage 
im Weimariſchen; damals hörte Wagner im Hoftheater 
hinter dem Vorhang der Hofloge verſteckt eine Probe 
des Tannhäuſer unter Liſzt, und die Lohengrinpartitur 
wurde auf der Altenburg in Verwahrung gegeben. 
Liſzt vergötterte ſie und führte das neue Werk an 
Goethes Geburtstag 1850 zum erſtenmal auf; Wagner 
war ihm unter den zeitgenöſſiſchen Muſikern wie ein 
„Veſuv unter künſtlichen Lämpchen, Feuergarben und 
Blumen auswerfend.“ Auch der Feſtſpielgedanke war 
zwiſchen beiden beſprochen worden; ſchon ſah Lifzt 
im Geiſte auf dem Weimarer Schießhausplatz die 
Bühne erſtehen, die ſpäter in Bayreuth gebaut wurde. 
Wie die Lohengrinmuſik die Eliſabethlegende beein— 
flußte, ſo entnahm Wagner manches aus Liſzts Kirchen— 
muſik für ſeinen Parſifal. Literariſch und dirigierend 
trat Liſzt ähnlich wie für Wagner nur noch für Berlioz 
ein: 1851 bot er den Weimarern deſſen Sinfonie 


„Harald in Italien“ und 1852 die Oper Benvenuto 
14 * 


212 Allgemeiner deutſcher Muſikverein 


Cellini, beides zum erſtenmal in Deutſchland. So ver- 
knüpften ſich damals die Namen Berlioz, Liſzt und 
Wagner als ein Dreigeſtirn moderner Muſik, und wie 
Berlioz die Damnation de Faust Liſzt widmete, ſo 
dieſer ſeine Fauſtſinfonie Berlioz, und Liſzt und 
Wagner einander Dante und Lohengrin. 

Dieſe groß gedachte Weimarer Tätigkeit Liſzts wurde 
durch Konzert- und Dirigentenreiſen oft unterbrochen. 
1853 leitete er ein mehrtägiges Muſikfeſt in Karlsruhe 
und 1857 in Aachen, beides wirkſame Unternehmungen 
zur Verbreitung der realiſtiſchen Muſik. 1859, als die 
Neue Zeitſchrift für Muſik in Leipzig ihr fünfund— 
zwanzigjähriges Beſtehen feierte, gründeten deren 
Häupter im Sinne Liſzts den Allgemeinen deutſchen 
Muſikverein zur Aufführung vor allem bemerkens— 
werter neuer Kompoſitionen auf jährlichen Tonkünſtler— 
feſten; der Großherzog Carl Alexander übernahm das 
Protektorat, das er ſich nicht leicht machte, und Liſzt 
das Ehrenpräſidium, und in den nächſten fünfund— 
zwanzig Jahren fanden dieſe Feſte dreimal in Weimar 
ſtatt, 1861, 1870 und 1884. 

Inmitten all deſſen blieb zur Pflege von Kammer— 
muſik wenig Spielraum übrig, und doch hat Liſzt 
auch da teilweiſe von Weimar aus eine deutſche Wir— 
kung getan. 1858 erſchienen ſechs Hefte Lieder von 
ihm. Wie er Lenaus Drei Zigeuner da läſſig vortrug, 
die Singſtimme mit den feinſten Biegungen eines 
modern gehörten Rezitativs ausſtattete, in der Klavier— 


Liſzts Lieder 213 


begleitung bald die Rauchwölkchen des einen, bald das 
Gefiedel des andern, bald das Schläferglück des dritten 
zeichnete, das war als naturaliſtiſche Gabe unüber— 
trefflich, wenn auch unmittelbar vor dem Schritt zum 
Lächerlichen. Andrerſeits war von da auch nur ein 
Schritt zum Melodram: als ſolches behandelte er 1858 
Bürgers Lenore, und der Totenritt zum Kirchhof und 
der Geiſtergeſindeltanz am Hochgericht wurden Meiſter— 
ſtückchen ſeines Klavierſatzes. Mit Goethes Liedern 
war er weniger glücklich; den König in Thule, Über 
allen Gipfeln zerkünſtelte er in exaltierte Teileffekte. 
Goethes inneres Maß war ihm ſo fremd, daß er der 
kleinen alten Hexe Bettina von Arnim, die ſeine 
Schillerverehrung jeſuitiſch nannte, erwiderte, daß ihm . 
der ſchlechteſte Jeſuit noch lieber wäre wie ihr ganzer 
Goethe. Einige hübſche Lieder ſchrieb er zu Texten 
der beiden unermüdlichen Hausdichter der Altenburg, 
Hoffmann von Fallersleben“) und Peter Cornelius. 
Auch die Klavierkompoſition des erſten Pianiſten der 
Welt, der er war, trat zurück; war er doch mehr mit 

*) Hoffmann lebte von 1854 bis 1860 in Weimar, eine 
Zeitlang vom Großherzog zur Herausgabe eines germaniſtiſchen 
Weimariſchen Jahrbuchs unterſtützt und literargeſchichtlich 
fleißig tätig; namentlich förderte er ſeine Horae belgicae, 
und das treffliche Buch „Unſere volkstümlichen Lieder“ er— 
ſchien 1859 in zweiter Auflage. Der oft von ihm angeſun— 
genen Prinzeſſin Wittgenſtein verdankte er es, daß ihn 1860 
der Herzog von Ratibor als Bibliothekar in Corvey an der 


Weſer anſtellte, wo der Dichter von „Deutſchland, Deutſch— 
land über alles“ ſeinen Hafen fand. 


214 Muſikaliſches Gefolge 


orcheſtraler Inſtrumentation älterer Klavierſachen von 
ſich und anderen beſchäftigt, ſchließlich auch mit der 
der berühmteſten Schubertſchen Lieder, darunter ſolcher 
von Goethe, ſowie Schubertſcher Märſche und einiger 
Lieder von ihm ſelbſt, zweifellos ein barocker Zug. 
Nur in der erſten Hälfte der Weimarer Zeit raffte er 
ſich zu ſo einem gehaltvollen Klavierwerk zuſammen 
wie der großen einſätzigen H-Moll-Sonate, die er 1853 
Schumann widmete: ihre trotzigen und ſehnſüchtigen 
Motive und ihre pianiſtiſchen Ränke erforderten den 
freieſten und raffinierteſten Spieler. 

Um Liſzt ſammelte ſich eine Schar vorzüglicher 
junger Muſiker, zum Teil Bewohner der Altenburg und 
Gäſte der Fürſtin, alle entſchloſſen, dem muſikaliſchen 
„Fortſchritt“ zu huldigen. Liſzt nannte ſie ſeine Murls, 
ſeine jungen Mohren, und mit ihren künſtleriſchen und 
journaliſtiſchen Fähigkeiten wirkten ſie auf Deutſchland 
in ſeinem Sinne. Einige hatte er ſelbſt für das Wei— 
marer Orcheſter geworben, 1849 den jungen Geiger 
Joſef Joachim, 1850 Bernhard Coßmann, der ſich in 
Paris, Leipzig und London den Celliſtenlorbeer geholt 
hatte, und 1854 den Geiger Alexander Ritter, ſoeben 
mit Wagners Nichte verheiratet, einer bisherigen Schau— 
ſpielerin und nun begehrten Sprecherin von Melo— 
dramen. Seit 1850 befand ſich Joachim Raff in Liſzts 
Gefolge in Weimar, immer aufgelegt zu formgewandter 
Schnellproduktion im programmatiſchen Fahrwaſſer, 
anfangs namentlich für Klavier; er verlobte ſich 1853 


— 1 


Lieder von Cornelius 31; 


mit der Schauspielerin Doris Genaſt, der Tochter des 
Weimarer Regiſſeurs. Hans von Bülow wurde 1852 
Liſzts Lieblingsſchüler, dem ſein Freund und Mitſchüler 
Hans von Bronſart nicht gleichkam, erſt einige Jahre 
ſpäter in ähnlichem Grade der junge Pole Carl Tauſig. 
Der belgiſche Laſſen, der thüringiſche Draeſeke ver— 
pflichteten ſich in Weimars Luft der Fahne Liſszts, 
ſchon 1852 auch unter andauernden Kämpfen mit 
ſeinem beſſern Ich der feinfühlige Peter Cornelius. 
Faſt alle komponierten, am fertigſten damals Raff 
und Laſſen, am ungeſtümſten Draeſeke. Am eigenſten 
Cornelius, der am dauerndſten mit der Altenburg zu— 
ſammenhing und immer einmal einer andern Zuflucht 
bedurfte, um ſich da zwiſchen den ſtarken Weimarer 
Eindrücken und Literatenaufträgen — wieviel mußte 
er von Liſzt und Berlioz überſetzen! — wieder ganz 
zu finden. Das gelang ihm das erſtemal im Sommer 
1853 auf dem Lande bei Saarlouis: dort ſandte er 
einer Muſikfreundin ſechs niedliche Gedichtchen als 
Briefe und komponierte ſie auch ſofort ebenſo 
beſcheiden poetiſch — ſein opus 1 —, das vom Veil— 
chen und das vom Spinnchen in der Miſchung von 
feinem Humor und zartem Schwung, die ſein innerſtes 
Weſen war. In den folgenden Jahren wurde die 
Bernhardshütte auf dem Südabhang des Thüringer 
Waldes, wo eine Schweſter verheiratet war, zur 
poetiſch-muſikaliſchen Traumſchmiede, aus der immer 
neue Liederkreiſe hervorgingen, eine Vaterunſerfolge 


216 Barbier von Bagdad 


über katholiſche Intonationen, ſchüchterne Liebeslieder 
an die junge Prinzeß Wittgenſtein, „Trauer und Troſt“ 
beim Tode der Frau eines väterlichen Freundes mit 
dem ſchlichten Kunſtgeſpinnſt „Ein Ton“, teilweiſe in 
Weimar auskomponiert. Da oben ſchuf er ſeit Herbſt 
1856 für ſeine Schwägerin ſechs Brautlieder und auf 
Weihnacht 1856 für das Haus der Schweſter ſechs 
Weihnachtslieder, die ſpäter noch kräftig umgearbeitet 
wurden: auf Liſzts Rat ſchrieb er das Dreikönigslied 
ganz neu und flocht den Morgenſternchoral darein. “) 

In Bernhardshütte und Weimar ſchrieb Cornelius 
auch ſeine erſte Oper, den Barbier von Bagdad. Er 
verwand damit glücklich eine unerwiderte Liebe, zu 
Rückerts Tochter, und ſpielte die Poeſie des Orients, 
wie ſie der zeitweiſe erhoffte Schwiegervater geſchaffen 
hatte, im Humor gegen ſich ſelbſt aus und übertrumpfte 
Vater und Tochter Rückert ſamt ſeinem Schickſal, in— 
dem er aus dieſen Lebensſchlacken ein heiteres Bühnen— 
ſtück herausläuterte voll klingenden Verstandes und es 
mit ſeiner Muſik in Luſt und Schönheit liebenswürdig 
tränkte, einer Muſik, die Schumann und Berlioz näher 
ſtand als Liſzt und Wagner. Liſzt hatte ſeine Freude 
an dem ihm gewidmeten Werk, gab allerlei Winke für 

*) Cornelius hat ſpäter je eine mehrſtimmige Kompoſi— 
tion zu Goethe und Schiller verfaßt; wunderlicher Eigenſinn 
ließ ihn „Troſt in Tränen“ als dramatiſche Szene auffaſſen 
und das Rütligelübde überdichten. Wieviel mehr ihm beide 


waren als den meiſten Geiſtern der Altenburg, ſagt ſein 
Tagebuch. 


Auflöſung der Altenburg 217 


die Ausfeilung und führte es am 15. Dezember 1858 
in Weimar auf. Es wurde ein Schickſalstag: die längſt 
gegen Liſzt angeſammelte Feindſchaft benutzte das 
Hervortreten dieſes unſchuldigſten ſeiner Schüler, den 
Meiſter zu treffen, und die Ziſcher überlärmten den 
Beifall. Liſzt verzichtete ſofort auf weitere Opern— 
direktion in Weimar, und in den nächſten Jahren 
verließen Cornelius und er die Stadt. 

Faſt waren ſie die letzten des Reigens von der 
Altenburg. Denn ſchon 1853 war Joachim nach Han— 
nover gegangen, 1855 Bülow nach Berlin, 1856 Ritter 
nach Stettin, 1857 Raff nach Heidelberg, 1859 die 
Prinzeſſin Wittgenſtein als Fürſtin Hohenlohe nach 
Wien und 1860 ihre Mutter nach Rom. Was aber 
mehr wog: es kamen die ſiebziger Jahre, wo der 
Liſztſche Naturalismus allmählich veraltete, wo ſeine 
beſten Jünger ſich leuchtenderen muſikaliſchen Sternen 
näherten, der Kunſt von Bach, Beethoven und Brahms. 
Damals erfüllte der alte Liſzt den Wunſch des Groß— 
herzogs Carl Alexander, jährlich auf einige Sommer— 
monate nach Weimar zurückzukehren, und von 1869 
bis zu ſeinem Tode 1886 hat er ſo dieſen deutſchen 
Mittelpunkt nochmals durch ſeine Kunſt und Lehre 
anziehend gemacht. Nun hauſte er im erſten Stock 
der Hofgärtnerei am Rande des Parkes, da fanden 
nun die Sonntagsmatineen ſtatt, da ſtellten ſich die 
jungen Klavierlöwen ein, von denen mancher eine 
Zierde des kommenden Zeitalters werden ſollte, da 


218 In der Hofgärtnerei 


ſammelte ſich wieder ein Schwarm internationaler 
Bewunderer. Denn Liſzt war noch Kaiſer unter den 
Pianiſten Europas und die faſzinierendſte Erſcheinung 
Weimars. Im April 1883 trat der junge Ruſſe Siloti 
zur erſten Stunde bei ihm ein. Es waren etwa fünf— 
undzwanzig Schüler und Schülerinnen da, Siloti 
ſpielte vor, und Liſzt griff öfters dazwiſchen. Als 
Siloti aufſtand, war es ihm, als ob ihn jemand be— 
zaubert hätte; er erzählt: „Ich ſah Liſzt an und 
fühlte, daß ſich etwas in mir vollzog und daß ganz 
neue und warme Gefühle mich plötzlich durchdrangen! . . 
Ich verließ Liſzts Haus wie ein neugeborener Menſch, 
mit dem Entſchluß im Auslande zu bleiben und bei 
ihm zu ftudieren.. Ich wurde mit einem Male ein 
Menſch, der weiß, was er will; ich wußte jetzt, daß 
es etwas gab, woran ich meine Seele wärmen konnte.. 
Ich wurde ein Weimarer.“ 

Auch Cornelius kehrte nach Weimar zurück, nur 
vorübergehend, aber zu einem bedeutenden Tage. 
Noch zur Zeit der letzten Arbeit am Barbier hatte er 
ſich auf die Suche nach einem neuen, ernſten Opern— 
ſtoff begeben, und Reinhold Köhler hatte ihn auf die 
Quellen gewieſen, aus denen Herders Cid hervor— 
gegangen war. Die andern Weimarer Freunde be— 
ſtärkten den Plan, dieſen Opernſtoff zu geſtalten. Das 
Werk wurde außerhalb Weimars geſchaffen: trotz 
Lohengrin- und Triſtaneinflüſſen reckte ſich der Idealiſt 
Cornelius in ihm auf, ſein war die edle Auffaſſung 


Der Corneliusſche Cid und Mildes 219 


von dem Liebeskampf der Kimene, ſein die ſchlacken— 
loſe Dichtung und die innige Melodik der feſtgeſchloſ— 
ſenen Muſikſtücke. In Weimar fanden im Mai 1865 
die beiden einzigen Aufführungen dieſes Cid ſtatt, die 
Cornelius erlebte, von ihm ſelbſt vorbereitet, von den 
Weimarer Sängern unter Stör begeiſtert ausgeführt. 
Neben Stör ſchaltete damals Laſſen als Nachfolger 
Liſzts an der Weimarer Oper und ließ ſein Talent 
und ſeine Kunſt in naturaliſtiſch und leitmotiviſch 
untermalenden Schauſpielmuſiken und vielen Liedern 
allmählich verflachen. 

Die Leiter der Weimarer Bühne wechſelten in den 
vierzig Jahren zwiſchen 1847 und 1887 nach Jahr: 
zehnten. Von 1847 bis 1857 waren der junge weima— 
riſche Freiherr von Ziegeſar und Herr von Beaulieu 
Intendanten, von 1857 bis 1867 Dingelſtedt und dann 
zwei Jahrzehnte Herr von Loén. Sie brachten die 
Weimarer Bühne, die vorher im Niedergang geweſen 
war, von neuem zu Ehren. Das war unter Ziegeſar 
und Beaulieu vor allem das Verdienſt Liſzts und des 
Ehepaars Milde. Roſa von Milde, von 1845 bis 1867 
die anmutigſte und bedeutendſte Sopraniſtin Weimars, 
wurde in den Frauenrollen von Wagner und von 
Cornelius nicht minder wie als Agathe und Fidelio 
geprieſen als Sängerin und als Darſtellerin, von keinem 
ſo hoch und fein wie von Peter Cornelius in Sonett 
und Stanze. Ihr Gemahl war der erſte Telramund 
und ein berühmter Wolfram und (ſeit 1869) Hans 


220 Weimariſches Schauſpiel um 1855 


Sachs und ſang neben ihr den Cid; er gehörte bis 
1884 der Weimarer Bühne an, und bis in die ſieb— 
ziger Jahre zählte man ihn zu den vorzüglichſten deut⸗ 
ſchen Konzertſängern. In Weimar wirkte er auch im 
Schauſpiel mit, ähnlich wie Vater Genaſt, der ſich in 
den fünfziger Jahren ganz auf Sprechrollen ein- 
ſchränkte. 

Unter Dingelſtedt gewann das Schauſpiel den 
Vorrang vor der Oper. Ein Anlauf dazu war ſchon 
unter den Vorgängern gemacht und gute junge Kräfte 
gewonnen worden in dem Komiker Hettſtedt und ſeiner 
heiteren, vornehmen Frau und dem Heldenſpieler 
Grans; dazu kam vorübergehend der Regiſſeur Marr, 
im Trauerſpiel nicht immer genehm, aber auch bei 
Liſzts Opernchören behilflich, indem er z. B. im „Fr 
delio“ im Chor der Gefangenen erſchien und durch 
wunderbare Maske und ergreifendes Spiel die Wirkung 
ſteigerte. Im Sommer 1853 gaben die Weimarer 
Schauſpieler ein Berliner Gaſtſpiel vier Wochen lang 
abwechſelnd mit Gutzkows Zopf und Schwert und 
Freytags nagelneuen Journaliſten. Genaſt wurde als 
Preußenkönig bejubelt und als Piepenbrink belacht, 
und Grans erquickte das Berliner Publikum als Bolz, 
Hettſtedt als Schmock und Marr als Oberſt Berg; war 
doch Weimar vom Dichter zur Uraufführung der 
Journaliſten in Ausſicht genommen worden, was nur 
ein Zufall verhinderte. 

Dingelſtedt erzielte eine Nachblüte des klaſſiſchen 


Dingelſtedts Weimarer Jahrzehnt 221 


Schauſpiels. Freilich nicht im Sinne Goethes: der 
würdige Ton, der in den fünfziger Jahren hier noch 
immer zu Hauſe geweſen war, wich einem flotten 
Tempo, die Bühne mußte ſich mit hiſtoriſch genauer 
Ausſtattung füllen, und dabei wurde mit mancher 
Dichtung ohne viel Skrupel umgeſprungen. In den 
Anfang ſeiner Regie fiel das große Septemberfeſt von 
1857, die Jahrhundertfeier von Carl Auguſts Geburts— 
tag mit Denkmalsweihen und Feſtſpiel: die berufen⸗ 
ſten Gäſte ſtellten die berühmteſten Szenen dar, 
Daviſon und Devrient König Philipp und Marquis 
Poſa, ſowie Antonio und Taſſo, auch den Mephifto 
und den Egmont, und Marie Seebach — von Schöll 
darum wegen der Sinnlichkeit einer Kurtiſane geſchol— 
ten — ein tiefleidenſchaftliches Gretchen und Klärchen. 
Dann zog Dingelſtedt den gießbachartig daherſtürzenden 
Charakterſpieler Lehfeld nach Weimar. Er wurde der 
erſte grimme Hagen, als Hebbels Nibelungen 1861 in 
Weimar zur Uraufführung kamen, und war mit Grans 
eine Hauptſtütze des kühnen Unternehmens, in einer 
Woche die Shakeſpeareſchen Königsdramen von 
Richard II. bis Richard III. vorzuführen. 

Damals war eben in Weimar unter dem Protektorat 
der Großherzogin Sophie die deutſche Shakeſpeare— 
geſellſchaft gegründet worden. Sie erhielt dauernd dort 
ihren Sitz; ihr Jahrbuch diente nun der Shakeſpeare— 
forſchung fort und fort, und in den nächſten Jahren be— 
gann man an die Verbeſſerung der Schlegel-Tieckſchen 


222 Shakeſpearegeſellſchaft und Schillerſtiftung 


Überſetzung zu gehen. Das genügte Dingelſtedt nicht, er 
wagte eine eigne Überſetzung und gewann den Dichter 
Wilhelm Jordan und u. a. die Germaniſten Simrock und 
Vie hoff zu Mitarbeitern: in den Jahren 1865 bis 1870 
konnte dieſe neue deutſche Shakeſpeareausgabe in neun 
Bänden erſcheinen, und ſie behauptete ſich durch meh— 
rere Auflagen. Weimar war inzwiſchen auch Vorort 
der deutſchen Schillerſtiftung geworden. Großherzog 
Carl Alexander förderte ſie, und Dingelſtedt war ihr 
Präſident. Als ihr Sekretär wurde 1861 Gutzkow nach 
Weimar berufen, der damals ſein größtes Werk, den 
Zauberer von Rom, abgeſchloſſen hatte und vielen als 
der hervorragendſte deutſche Dichter und Schriftſteller 
galt. Aber überreizt, wie er war, vertrug er ſich mit 
Dingelſtedt nicht und entrann dieſem gewandten Dik— 
tator bald wieder. Auch Franz Liſzt hatte ja vor 
Franz Dingelſtedt als einem Hauptwiderſacher das 
Feld geräumt. 

Die Loénſche Intendanz gab der Oper wieder 
mehr Spielraum. Doch ihre hervorragendſte Tat war 
die Aufführung von Otto Devrients Bühnenbearbei— 
tung beider Teile des Fauſt im November 1875, als 
es hundert Jahre ſeit Goethes Ankunft in Weimar 
waren. Devrient trachtete, den Grundgedanken der 
Dichtung, die Entwicklung Fauſts möglichſt deutlich 
zur Anſchauung zu bringen und richtete danach ſeine 
Kürzungen ein. Szeniſch erdachte er eine Myſterien— 
bühne in drei großen Stufen hintereinander empor 


Devrients Fauſteinrichtung 223 


auf der ſich im Prolog Hölle, Erde und Himmel ſcheiden 
ließen, die Walpurgisnacht auf dem Brocken und die 
Helenaſzene am Kaiſerhof geſchickt aufzubauen waren, 
auf der er die meiſten Gretchenſzenen ähnlich wie auf 
einem epiſchen Sammelbilde des 15. Jahrhunderts 
vereinigen konnte und die ihm ſchließlich zu einem 
wunderbaren Hilfsmittel für den ſymboliſchen Gehalt 
der Dichtung wurde. Mehrere Jahre wurde ſeine 
Bearbeitung in Weimar zu Oſtern wiederholt und 
führte Einheimiſchen und Gäſten das große Werk ge— 
nußreich zu Gemüte; man ſpielte eine neue Muſik 
von Laſſen dazu, und als rhetoriſche Kunſtleiſtung 
erhielt Mildes Lynkeus den Preis.*) In jenen Jahren 
wurde manches junge, ſchöne Talent an der Weimarer 
Bühne für das kommende Zeitalter gebildet; um 1870 
gehörten ihr Barnay und Claar an, um 1880 begannen 
Scheidemantel, ein geborner Weimarer, und Alvary, 
der Sohn Andreas Achenbachs, hier ihre Sängerlauf— 
bahn, und Agnes Sorma wurde 1882 von Weimar 
nach Berlin an das deutſche Theater gerufen. 

Im Weimariſchen waren zwei Dramendichter zu 
Hauſe, von denen einige Werke damals über viele 
deutſche Bühnen gingen. Alexander Roſt, in Weimar 
ſelbſt geboren und aufgewachſen, dem Staatsdienſt 
aus Künſtlertrieb entwichen, ſchrieb Geſchichtsdramen 
und Sagenſtücke, die ſeine Freunde mit Grabbe und 


*) 1880 wurde dieſe Weimarer Bearbeitung auch in Köln 
und Berlin geſpielt. 


224 Roſt und Lindner 


Hebbel verglichen. Sittlicher Kern und theatraliſcher 
Inſtinkt, ja eine Naturkraft, die in den beſten Szenen 
an Shakeſpeare erinnerte, waren nicht zu verkennen; 
Landgraf Friedrich mit der gebiſſenen Wange, Ludwig 
der Eiſerne wurden ſeine Helden, Berthold Schwarz 
und Thomaſius, und in dem „Regiment Madlo“, das 
im dreißigjährigen Kriege ſpielte, waren Genaſt und 
Lehfeld auf dem Platze. Roſt wurde früh von der 
Alkoholſucht erfaßt und verkam dadurch, trotzdem daß 
ſich ihm ein ſauberes Bürgerkind antrauen ließ und 
ihm in den letzten Jahren zum guten Engel wurde. 
Auch das Schickſal Albert Lindners verlief tragiſch. 
Er ſtammte aus dem nahen Sulza, und ſo war es 
keine angenehme Überraſchung für Dingelſtedt, als 
die große Erſtlingshandſchrift von Brutus und Colla— 
tinus, die der Regiſſeur Grans empfohlen, der 
Generalintendant ſelbſt aber barſch abgewieſen hatte, 
in Karlsruhe Glück hatte: bei der dortigen Philologen— 
verſammlung wurde das Werk mit größtem Erfolg 
geſpielt, und es erhielt kurz darauf den Schillerpreis! 
Lindner gab ſeine Rudolſtädter Lehrerſtelle mit hoch» 
fliegenden Erwartungen auf und ſiedelte mit ſeiner 
Familie nach Berlin über; aber ſein Talent beruhte 
doch mehr auf Shakeſpeare- und Schillernachbildung, 
neuen Dekadenzmotiven und theatraliſchem Wort— 
ſchwall, um ihm ſelbſt Lebenshalt und ſeinen Werken 
dauernde nationale Tragfähigkeit geben zu können. 

Es fehlte nicht viel, ſo wäre der echte Tragiker der 


Hebbel in Weimar 225 


Zeit ein Weimarer geworden, Friedrich Hebbel. 
Er beſuchte Weimar zuerſt kurz und ſtill im Mai 1857: 
im abendlichen Park dichtete er an den Greis Goethe, 
in Schillers Haus fühlte er ſich erſchüttert, er entnahm 
für ſeine Frau Lorbeerblätter von Goethes und Schillers 
Sarg und pflückte ihr Veilchen in Tiefurt. Im Som— 
mer 1858 traf er wieder ein, diesmal zur Aufführung 
ſeiner Genoveva von Dingelſtedt geladen, vom Groß— 
herzog mit Auszeichnung empfangen und auf der Alten— 
burg mit Intereſſe bewillkommnet; Liſzt elektriſierte 
auch ihn mit Zigeunerrhapſodien: „am Klavier iſt er 
ein Heros; hinter ihm in polniſch-ruſſiſcher National— 
tracht mit Halbdiadem und goldenen Troddeln die 
junge Fürſtin, die ihm die Blätter umſchlug und ihm 
dabei zuweilen durch die langen, in der Hitze des 
Spiels wild flatternden Haare fuhr. Traumhaft— 
phantaſtiſch!“ Goethes Enkel begrüßte ihn im Hauſe 
des Dichters mit Salve! und in Goethes Arbeitszimmer 
entfuhr ihm die Tirade: „Dies iſt das einzige Schlacht— 
feld, auf das die Deutſchen ſtolz ſein dürfen.“ 1861 
waren er und ſeine Frau in Weimar zur Uraufführung 
der Nibelungen, wo Chriſtine Hebbel im dritten Teil 
mitwirkte. Beider Verhältnis zu Wien hatte ſich 
damals geſpannt; Dingelſtedt warf das Wort hin: 
„Kommt zu uns!“ und machte ein Angebot, das durch 
das großherzogliche Paar geſtützt wurde. Aber nun 
zog Dingelſtedt zurück, dieſer charactere abominable, 


wie ihn die Großherzogin damals nannte, und lotſte 
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 15 


226 Wilhelmstal 


Hebbels Antagoniſten Gutzkow nach Weimar; das 
Künſtlerpaar blieb in Wien. Eine herzliche Genug— 
tuung empfing Hebbel im folgenden Sommer durch 
die Einladung des Großherzogs nach dem Sommerſitz 
Schloß Wilhelmstal; hier lernte er, des vertrauten 
Umganges von Fürſt und Fürſtin gewürdigt, beide 
recht ſchätzen. Gleich nach dem erſten Abend berichtete 
er an ſeine Frau über ein Geſpräch, „worin der Groß— 
herzog, der eine Schilderung von London und nament— 
lich von Shakeſpeares Heinrich dem Achten auf der 
engliſchen Bühne machte, ſich mir abermals als einen 
Mann von ſeltner Empfänglichkeit und ſcharfem Blick 
für das Eigentümliche aller Erſcheinungen zeigte“ und 
ſpäter nach einem kleinen Erlebnis auf der Wartburg: 
„der Großherzog ſoll fortan mein Heiliger in der Geduld 
ſein!“ Über die Fürſtin, die ihm im Lutherzimmer 
der Wartburg ein Neues Teſtament ſchenkte, ſchrieb 
er: „Sie iſt nicht bloß eine edle, ſondern auch eine 
tiefe Frau; ich hatte vor einigen Tagen ein Geſpräch 
mit ihr, das an drei Stunden dauerte und ſich über 
alles verbreitete, was den Menſchen auf Erden inter— 
eſſiert, und ich brauchte mir nicht den geringſten Zwang 
aufzulegen, ich konnte ſogar meinen Humor walten 
laſſen. Dabei ſaßen wir in der Tannenhütte, in der 
das Reh herumſpringt. Die Kinder ſpielten mit dem 
Tierchen, ſie ſtickte, auch der Pudel Asmodeus fand 
Zutritt, und wir ließen uns nicht einmal durch ein 
Gewitter vertreiben“ und am Schluſſe ſeines Aufent- 


Nibelungendichtungen 227 


haltes: „Sie iſt eine höchſt bedeutende Frau; ich glaubte 
ſchon ein Maß von ihr zu haben, habe es aber erſt 
geſtern erhalten. Man kann geradezu alles mit ihr 
ſprechen; die verſchämteſten Träume und die kühnſten 
Phantaſien wagen ſich ans Licht und werden verſtanden. 
Sie ſagte, ſie habe viel von ihrer Erzieherin gelernt, 
aber in negativem Sinn, nämlich was man nicht tun und 
wie man Dinge und Menſchen nicht behandeln dürfe.“ 

Das Wohlwollen des Großherzogs hatte ſich damals 
noch einem andern Nibelungendichter zugewendet. 
Während der Opernkomponiſt Wagner die nordiſch 
verwölkte und ins Mythiſche abgebogene Form der 
Sage benutzte und der Dramatiker Hebbel den geſchicht— 
lichen Konflikt zwiſchen Heiden- und Chriſtentum aus 
den Völkerwanderungskämpfen zugrunde legte, ver— 
tiefte ſich der Romandichter Scheffel in die Blütezeit 
des Minneſangs, um die damalige Geſtaltung des 
Nibelungenliedes als ein WerkHeinrichs von Ofterdingen 
erſcheinen zu laſſen, eine ſieghafte öſterreichiſche Schluß— 
gabe des vorher im thüringiſchen Wartburgkrieg be— 
ſiegten Sängers. Von 1857 bis 1863 trug ſich Scheffel 
mit der Abſicht, einen großen Wartburgroman Viola 
zu ſchreiben, und trachtete ihm in guten und düſtern 
Stunden emſig, glücklich und ängſtlich nach, wiederholt 
kehrte er als Gaſt des Großherzogs auf der Wartburg 
ein, ſtreifte in benachbarten Strichen des Thüringer 
Waldes, wanderte in der Donaulandſchaft, nahm Land 
und Leute aufs Korn, ſuchte Klöſter, Schlöſſer und 


15* 


228 Frau Aventiure 


Schänken heim und ließ vor alten Handſchriften und 
neuen Gelehrtenbüchern ſeine Phantaſie träumen. 
Dabei fügte ſich ihm manches Lied, der eignen Bruſt 
ſo notgedrungen entſproſſen wie ſeinem Geſchichtstraum 
abgepflückt, aber den Roman zwang er nicht. Wie 
ein Garten mit Statuen ſtand es vor ihm, bis er ſich 
entſchloß, den Garten preiszugeben und die fertige 
Lyrik allein zu veröffentlichen. Er durfte ſie mit 
den Worten ſeines Ofterdingen, mit dem er ins Hoch— 
gebirge entfloh, dem Großherzog widmen: 


Hier denk ich Dein, Du milder Fürſt im Norden, 
Und meine Grüße ſchweben in Dein Land: 
Ich weiß, Du biſt an mir nicht irr geworden, 
Ob alle mich vergeſſen und verkannt ... 


Im Gletſcherabſtrom ſtund mein Jagdwein kühle 
Und füllt den Kürbisbecher kalt und klar .. 
Froh bring ich ihn, den Glimmerblock zum Pfühle, 
Als Weihetrunk Frau Aventiuren dar. 


Seine dankbare Anhänglichkeit an Weimar erwieſen 
ſpäter zwei Feſtſpiele, Der Brautwillkumm auf Wart- 
burg, 1873 zur Hochzeit des Erbgroßherzogs ver— 
faßt, und beſonders Die Linde am Ettersberg, 1878 
zum fünfundzwanzigjährigen Regierungsjubiläum Carl 
Alexanders geſchrieben: da zeichnete er mit markigem 
Witz und friſcher Anſchaulichkeit weimariſches Volk 
und ließ den Jenaer Studenten die Anſpielung der 
Lehrerstochter auf Haeckel heiter zurechtweiſen: 


Mein freundlich Kind, du haſt nur halb gehört, 
Das Affentum galt nur zu Olims Zeit. 
Vorwärts zur Schönheit! lehrt die neue Lehre. 
Und wenn wir jetzt im Wettkampf um das Daſein 


1597 
D 


Scheffel in Ilmenau, Reuter in Eiſenach 2: 


Zur Schöpfung Krone lieblich uns verfeinert, 
So können uns ja einſt noch Schwingen wachſen, 
Und ſchon auf Erden wandeln wir als Engel 
Mit Flügeln, die empor zum Himmel tragen!“) 


Inzwiſchen hatte ſich 1863 ein anderer humorbe— 
gnadeter Erzähler am Fuße der Wartburg für die 
Dauer eingeſtellt, Fritz Reuter, mitten auf der Höhe 
ſeines Ruhmes, mitten in der Arbeit an ſeiner 
ſchönſten Volksdichtung, der Stromtid. Hier vollendete 
er ſie; von hier aus unternahm er 1864 die Reiſe 
nach Konſtantinopel, die ihm ſpäter den gleichnamigen 
Roman ergab, von hier 1865 den Triumphzug durch 
ſeine mecklenburgiſche Heimat, und hier brachte er 
1866 den köſtlichen Roman Dörchläuchting ans Licht. 
In demſelben Jahre erwarb er einen reizend gelegenen 


*) Es war im April 1878, daß Scheffel zur fröhlichen Arbeit 
an dieſer Dichtung in Ilmenau eintraf. Dort lebte ihm ein 
alter Studienfreund, Oberamtsrichter Schwanitz, der gehörte 
einem luſtigen Kreiſe an, der ſich jeden Sonnabend oben am 
Kickelhahn im Forſthauſe Gabelbach traf und ſich „Gemeinde 
Gabelbach“ nannte. Gleich am erſten Sonnabend führte 
Schwanitz Arm in Arm Scheffel mit hinan, und dieſer er— 
nannte ſich zum Jubel der Anweſenden zum Gemeindepoeten 
und betätigte ſich auch als ſolchen, zunächſt mit dem Wunſche: 


Daß die Gemeinde Gabelbach 
Waldluftfröhlich nie verkrach! 


Schwanitz baute den Gemeindeſcherz aus, kein geringerer als 
Fürſt Bismarck ließ ſich das Amt des Ehrenſchulzen gefallen, 
und Baumbach, Trojan, Seidel ſpielten ſpäter den Gemeinde— 
voeten. 1886 wurde daher an einer wald- und wieſengrünen 
Ecke am Kickelhahnwege ein Scheffelſtein mit dem Bildnis 
des Dichters errichtet. 


230 Reuters Haus 


Bau⸗ und Gartenplatz am Ausgang des Helltales 
ins Mariental, ſein ihn verehrender Nachbar der 
Großherzog fügte eine Ecke als Umwendeplatz hinzu, 
und 1868 konnte Reuter in ſein neues Haus einziehen. 
Dort genoß ſeine Frau vom Erker den Blick auf 
die Wartburg, und er pflegte mit all ſeiner Liebe 
den ſchönen Terraſſengarten; ſchließlich wurde ihm ein 
leidvoller, aber auch troſt⸗ und ehrenreicher Lebens— 
abend zuteil. Seiner Natur getreu ſoll er einige 
Damen, die zu ihm ſagten, er ſtehe über Goethe 
und Schiller, auf der Stelle verabſchiedet haben: 
„Adjüs, Madams!“ 


Bildende Kunſt 


Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ging 
eine merkwürdige Wandlung in Deutſchland vor ſich: 
die Urſprünglichkeit der künſtleriſchen Gehörsempfin— 
dung ließ nach, und der Augenſinn erholte ſich zu 
neuer Friſche. Es war ein glücklicher Zug in Carl 
Alexanders weimariſcher Kunſtpflege, daß er dieſer 
Umlegung der Kräfte nachgab; was ihm durch die 
Dichtung der fünfziger bis ſiebziger Jahre verſagt 
blieb, was er von der Muſik nur halb erhielt, das 
leiſtete ihm ganz die bildende Kunſt. 

Um dieſelbe Zeit jährte es ſich zum hundertſten 
Mal, daß Carl Auguſt und die Weimarer Dichter 
geboren waren. Ihre hehren Geſtalten in dauernden 
Denkmälern unter ſich zu ſehen wurde ein Wunſch der 
Weimarer; der Anſtoß zur Verwirklichung kam zum 
Teil von außen, da das deutſche Volk in ſeinen füh— 
renden Geiſtern und Gruppen teilnehmen wollte. Das 
Denkmal Herders wurde in Weimar noch unter Carl 
Friedrich errichtet. 1844 hatten die Freimaurerlogen 
von Weimar und Darmſtadt die erſte Anregung dazu 
gegeben, der Großherzog willigte ein, ein Weimarer 
Geſchäftsverein betrieb die Angelegenheit, und in zwei 


232 Herderdenkmal 


Münchner Meiſtern, dem Bildhauer Schaller und dem 
Erzgießer Miller, wurden die wichtigſten Kräfte ge— 
wonnen. Am 25. Auguſt 1850 wurde nach Gottes— 
dienſt und Feſtzug Herders Denkmal dicht vor der 
Südwand ſeiner Kirche enthüllt, bei Liſztſcher Feſt— 
muſik: die bronzene Geſtalt des edlen Denkers in der 
Haltung eines Geiſtlichen und mit einem Weſenszug 
vom Schulmann, die beteuernde Rechte auf der Bruſt, 
in der Linken die Blätter mit ſeinem Lebensſpruch 
„Licht, Liebe, Leben“, ein Antlitz mit Gelehrtenſtirn 
und Predigerlippe und ernſten, allem Menſchlichen 
offenen Augen. Das Feſtprogramm enthielt noch 
künſtleriſche Aufführungen und Schulfeiern. Am Vor— 
abend hörte man Herders Entfeſſelten Prometheus mit 
Liſzts Muſik im Hoftheater, und zum Beſchluß ver— 
hieß der Weimarer Maler Marterſteig lebende Bilder 
nach Herders Legenden zu ſtellen. Am Nachmittag 
vorher zogen achtzehnhundert Volksſchüler Weimars 
unter unaufhörlichem Jubel der kleinſten nach 
der Pappelbank Herders Ruhe am Ettersberg, von wo 
der große Mann ſo gern auf die Häuſer ſeiner Ge— 
meinde und das hohe Schieferdach ſeiner Kirche hinab— 
geſehen hatte. 

Die Errichtung von Herders Standbild brachte auch 
die Frage nach einem Weimarer Denkmal für Goethe 
und Schiller und einer Wielandſtatue in Fluß. Für 
Goethe und Schiller lag Rauchs Modell in antiker 
Tracht vor. Carl Alexander ließ jetzt bei König Lud— 


Ernſt Rietſchel 233 


wig von Bayern anfragen, ob auf ſeine Mitwirkung 
zu rechnen ſei; Ludwig war gewillt das Erz aus 
Navarinkanonen zu ſpenden. Erſt Anfang 1852 aber 
äußerte er ſeine Bereitwilligkeit unter der Bedingung, 
daß die Dichter in ihrer Zeittracht dargeſtellt und die 
Standbilder in München gegoſſen würden. Beides 
veranlaßte, daß der alte Rauch von der Aufgabe zu— 
rücktrat; ohne Groll, ja mit überzeugender Herzlichkeit 
ſchlug er ſeinen beſten Schüler Rietſchel dafür vor. 
Im Mai 1852 traf dieſen die Anfrage auf der Rück— 
kehr von einem einjährigen italieniſchen Erholungs— 
aufenthalt in Meran in glücklichen Tagen; er empfing 
ſie mit den Worten: „Welche Aufgabe! das Herrlichſte, 
was dem Bildhauer unſerer Zeit geboten ſein kann, 
aber auch der herrlichſten, der vollkommenſten Löſung 
wert. Werd' ich dieſe Löſung imſtande ſein? Mut 
und Zagen wechſelt in mir. Ob ich den Auftrag 
annehme?! Trotz des Zagens Ja, ja, ja!“ Im Herbſt 
darauf rang er zum erſtenmal mit der Modellfkizze 
und fühlte einen großen Teil der Schwierigkeiten durch. 
Anfang 1853 fand ſein kleines Gruppenmodell Beifall 
in Weimar und München, wenn auch Einzelheiten, 
namentlich die der Tracht, noch hin und her betüftelt 
wurden. Im Auguſt dieſes Jahres glaubte er die 
Modellierung im großen beginnen zu können, unter— 
brach ſie 1854 auf längere Zeit, ging dann 1855 mit 
gründlichen Anderungen vor, und arbeitete unter Sor— 
gen und Leiden, unermüdlich in ſchwerer Angſt ver— 


234 Denkmälervorarbeiten 


beſſernd im weſentlichen im Jahre 1856 das Denkmal 
bis zu Ende durch. Im Januar 1857 traf das herr- 
liche Modell bei dem Erzgießer Miller in München 
ein, errang die einſtimmige Bewunderung der Münchner 
Künſtler, und Miller machte ſich anheiſchig, es im 
Sommer gießen und ziſelieren zu laſſen, ſo daß der 
Herbſtbeginn für die Aufſtellung in Ausſicht genom— 
men werden konnte. Auch die Arbeit des Wiener 
Bildhauers Gaſſer an dem Wielanddenkmal war in 
dieſem Jahre ſo weit vollendet worden. 

Inzwiſchen hatte ein weimariſcher Ausſchuß durch 
einen Aufruf im März 1853 eine Sammlung im 
deutſchen Vaterland eingeleitet. Anfangs mit mäßigem 
Erfolg: die erſten Jahre brachten 7300 Taler ein, dann 
ſtockte der Zufluß, auch drohte Krieg. Erſt als das 
Jahr 1857 angebrochen war, ging es wieder vorwärts: 
der Gedanke, Carl Auguſts hundertſten Geburtstag mit 
der Denkmälerweihe zu begehen, beflügelte alle, die 
Sammlung ſtieg raſch faſt auf die doppelte Höhe, 
Fürſten und Städte, Vereine und einzelne ſteuerten 
bei, und der Großherzog von Baden ſchenkte die 
großen granitenen Sockel. Man förderte nun in 
Weimar den Plan, am 3. September als Gedenktag 
an Carl Auguſt den Grundſtein zu deſſen künftigem 
Denkmal zu legen und am folgenden Tage die neuen 
Dichterſtatuen zu enthüllen, das ganze Feſt aber als 
nationale Freudentage zu feiern. 

Das wurden ſie in einem alle Erwartungen über— 


Septemberfeſttage 1857 235 


treffenden Maße. Sie begannen mit heimiſchen Ver— 
ſammlungen in der Loge, zur Gründung einer neuen 
Schule und, in der ſechſten Morgenſtunde des 3. Sep— 
tember, der Geburtsſtunde Carl Auguſts, an der Fürſten— 
gruft. Dann ſteigerte ſich die Feſtſtimmung über die 
Grundſteinlegung auf dem Fürſtenplatz — wo zum 
erſtenmal das neue Weimariſche Landeslied erklang 
„Von der Wartburg Zinnen nieder“, gedichtet von 
Cornelius und komponiert von Liſzt — und über die 
Beſuche aller weimariſchen klaſſiſchen Stätten durch 
die vielen auswärtigen Gäſte zu der Theateraufführung, 
bei der Dingelſtedts Feſtſpiel Der Erntekranz den 
Vogel abſchoß. Oft unterbrach jubelnder Beifall die 
Aufführung, am begeiſtertſten, als bei den Huldigungen 
der Schnitter, Winzer, Gärtner und Bürger vor dem 
an der Linde aufgehängten Fürſtenbilde der Jenaer 
Student die deutſche Fahne hoch aufhob: 


Auch dieſer heilige Akkord, 

Der Oſt und Weſt und Süd und Nord 
Des alten Reichs allein noch eint, 

Wie tief er auch verſchollen ſcheint, 

Er fand in deiner deutſchen Bruſt 

Ein Echo, edler Carl Auguſt! 

Hätt' jedermann getan gleich dir, 

So wehte dieſes Siegspanier 

Vor einem einz'gen Volk und Heer 
Vom Apennin zum dän'ſchen Meer. 


Am folgenden Tage fand die Enthüllung von Wie— 
lands Denkmal bei geöffneten Regenſchirmen ſtatt, aber 


236 Enthüllung des Goethe-Schiller-Denkmals 


als ſich der Feſtzug hinüber nach dem Theaterplatz 
bewegte, kam Sonnenſchein, und nun war es einer 
der ſchönſten deutſchen Augenblicke des Jahrzehnts, ja 
vielleicht des Jahrhunderts, als die Denkmalshülle zu 
wallen begann, raſch niederfiel, die beiden Heroen 
im Sonnenglanze daſtanden, von einem Schauer des 
Staunens und dankbarſtem Jubel und Hochrufen aller 
empfangen. Das Weſen der geliebteſten Dichter hatte 
Rietſchels reines Gemüt ans Licht gebracht; ſo wie 
man ſie erblickte, ſah man ſie jedem deutſchen Zukunfts— 
tage entgegengehn: Schiller leicht kühn vorſchreitend, 
ſonntäglich, Goethe gelaſſen, auch nur ein Menſch, 
aber wie er nicht gleich wiederkommt. Der Künſtler 
hatte den Zufall nicht geſcheut, z. B. wie Schillers 
Blätterrolle den linken Rockteil zurückbricht, und doch 
eine innere Harmonie von größtem Gehalt erreicht; 
und wie hatte er das geiſtige Bündnis ſichtbar gemacht 
trotz abweichender Blickrichtung und geſonderter Hal— 
tung. Eines der in der Feſtmenge anweſenden 
Dichtergemüter, der Däne Anderſen, erſchaute einen 
anmutigen Zufall: ein weißer Schmetterling flog über 
Goethes und Schillers Haupt, als ob er nicht wüßte, 
auf welchem von ihnen er ſich niederlaſſen ſollte — 
als Sinnbild der Unſterblichkeit; nach kurzem Schwär— 
men erhob er ſich in das klare Sonnenlicht und ver— 
ſchwand. Die vaterländiſche Begeiſterung leuchtete am 
dritten Tage fort auf einer gemeinſamen Wartburg— 
fahrt der Gäſte des Großherzogs; mit friſchem Eichen— 


Carl Auguſt-Denkmal 237 


zweig am Hute ging man von da bergab, um abends 
im Weimarer Theater bei einer Fülle neueſter Liſzt— 
ſcher Muſik, zu Schillers und Goethes Gedanken ge— 
ſchrieben, und einigen orcheſtral und choriſch aufge— 
bauſchten Schubertſchen Liedern von beiden das Feſt 
ausklingen zu laſſen. 

Wem anders als Rietſchel hätte man jetzt das 
Denkmal für Carl Auguſt übertragen mögen? Aber 
auch diesmal verſchob ſich mit der Art der Auffaſſung 
der Name des zur Ausführung berufenen: an Riet— 
ſchels Stelle trat ſein Schüler Donndorf, ein Sohn 
Weimars, deſſen Reiterſtandbildentwurf gefiel. Man 
ſchloß 1865 mit ihm ab, nachdem der Landtag einen 
Zuſchuß von 12000 Talern bewilligt hatte, und ließ 
unter ſorgfältigen Vorarbeiten, namentlich der preußi— 
ſchen Gießerei Lauchhammer, die hundertjährige Wie— 
derkehr von Carl Auguſts Regierungsbeginn heran— 
kommen. Am 3. September 1875, nun dem Nachbar 
des Sedantags, wurde das ſchöne Erzbild Carl Auguſts 
in Anweſenheit des deutſchen Kaiſers enthüllt, und 
Kaiſerin Auguſta legte mit eigner Hand einen Lorbeer— 
kranz vor dem Denkmal ihres Großvaters nieder. 

Und ſchon drängte der lebhafte Wunſch nach einem 
fünften Weimarer Denkmal auf baldige Erfüllung: 
für die 1870 und 1871 auf franzöſiſchem Boden ge— 
fallenen tapfren Söhne des Großherzogtums aus dem 
94. Regiment und andren deutſchen Heeresteilen. Am 
24. Juni 1871, dem Geburtstag des eben aus dem 


238 Kriegerdenkmal in Weimar 


Felde zurückgekehrten Großherzogs, beſprach man ſich 
zum erſtenmal darüber, und auf Vorſchlag Prellers 
wurde der aus Weimar gebürtige Dresdner Bildhauer 
Haertel mit Entwürfen betraut. Im Sommer 1872 
bewilligte Kaiſer Wilhelm die erbetene Bronze aus 
eroberten franzöſiſchen Geſchützrohren, und im Herbſt 
entſchied ſich die Mehrheit des Denkmalsausſchuſſes 
für den Haertelſchen Entwurf „mit der Fahne“: auf 
die anderwärts willkommene Germania verzichtete man 
zugunſten der kräftigen Darſtellung zweier kämpfen— 
der Krieger, von denen der ältere ſieghaft vortretend 
über den fallenden jüngeren die Fahne hält. Ein 
Jahr ſpäter ſchloß man die endgültigen Verträge mit 
Haertel und dem Braunſchweiger Erzgießer Howaldt 
ab, und 1878 wurde auch dieſes Denkmal enthüllt, 
in dem neuen nördlichen Stadtteil Weimars auf dem 
Watzdorfplatz, an einem Maiſonntag nächſt dem Tage 
des Friedensſchluſſes. 

Wie hier Carl Alexander die lange ſtrittige Platz— 
frage durch einen glücklichen neuen Vorſchlag entſchied, 
ſo hatte er für Carl Auguſt das Reitermonument ge— 
fordert und 1857 den Platz vor dem Theater als beſte 
Stätte, gegen Rietſchels Wunſch, zur Aufſtellung be— 
ſtimmt. Unter den Weimarer Helfern bei all dieſen 
Denkmälern wirkten Friedrich Preller und Schöll mit, 
Schöll auch als begeiſternder Redner vor den Statuen 
Herders und Wielands; vor Goethe und Schiller hielt 
Gymnaſialdirektor Heiland die allen Anweſenden un— 


Schillerdenkmal für Berlin 239 


vergeßliche Feſtrede. Und in Weimar ſelbſt wurde 
damals das Schillerdenkmal für Berlin entworfen. 
Der dreißigjährige Reinhold Begas, ſeit 1861 kurze 
Zeit Lehrer der Bildhauerei an der Weimarer Kunſt— 
ſchule, ſchuf den Konkurrenzentwurf, der im Herbſt 
1863 in einem engeren Wettkampf endgültig ſiegte 
und zur Ausführung in Marmor beſtimmt wurde: 
er ſtellte den Dichter dar als Gipfel einer Brunnen— 
anlage über waſſerſpeienden Löwenköpfen und von 
vier Sockelfiguren umgeben, der lyriſchen und der 
dramatiſchen Dichtung, der Philoſophie und der Ge— 
ſchichte. So genügte damals weimariſche Plaſtik in 
doppeltem Sinne dem Drang, den geiſtigen Führern 
der Vergangenheit wie dem Heldenvolk der Gegenwart 
in mahnenden Geſchichtsmälern zu danken. 

Noch viel mehr lag dem Großherzog Carl Alexander 
in dieſen Jahrzehnten ein altdeutſches Denkmal ſeines 
Landes am Herzen und deſſen Erneuerung durch alle 
bildenden Künſte: die Wartburg. Er war zwanzig— 
jähriger Erbprinz, als er im Sommer 1838 mit ſeiner 
Mutter den ſchönen mittelalterlichen Reſten der von 
den Jahrhunderten überflickten und verbauten alten 
Burg nachging und von Maria Paulowna hörte: „Du 
ſollteſt einmal daran denken, dies wieder herzuſtellen.“ 
Das Wort haftete bei ihm, er griff die Sache gleich 
an, ließ ſich mit Freuden von ſeinem Vater zum 
Protektor der Wartburg ernennen und konnte, von 
ſeiner Mutter reichlich unterſtützt, noch als Erbgroß— 


240 Beginn der Wartburgerneuerung 


herzog binnen fünfzehn Jahren ein ſtattliches Stück 
der Arbeit vollbringen laſſen. 

Anfangs wurde ohne Plan gearbeitet; man war 
ja glücklich, die erſten Fenſteröffnungen wieder aus— 
brechen zu können und ihre romaniſchen Rundbogen, 
die die ſpätere Zumauerung gegen das Wetter geſchützt 
hatte, nun wieder in ſauberer Plaſtik vor der friſchen 
Luft ſtehen zu ſehen. Kurz darauf wurde, im Sommer 
1840, Arnswald zum Kommandanten der Wartburg 
beſtellt, ein liebenswürdiger Verehrer altdeutſcher 
Kunſt und Geſchichte; und an der erſten großen Be— 
ratung des Werkes hatten neben den Miniſtern Gers— 
dorff und Schweitzer noch Coudray und Schorn teil 
und jener Maler Simon, der im Weimarer Schloſſe 
an der Ausmalung der Dichterzimmer hatte helfen 
dürfen und ſich jetzt in wunderlichem Eifer zum Re— 
ſtaurator der Wartburg berufen fühlte, aber bald aus— 
ſchied. 

Im Sommer 1842 weilte Carl Alexander lange 
als Bräutigam oben und legte ſich Grundſätze und 
nächſtes Vorgehen zurecht: die Burg ſollte geſchichtlich 
möglichſt getreu als Denkmal der Minneſinger- und 
der Reformationszeit wieder erſtehen und ſpätere 
Zutaten wie vor allem das große Wohnhaus aus der 
Zeit Carl Auguſts beſeitigt werden. Als im Oktober 
das von der niederländiſchen Hochzeit kommende Paar 
auf der Wartburg eintraf, war in dem mittleren Saale 
des alten Palas eine zweite Arkadenreihe bloßgelegt, 


Die Wartburg um 1845 241 


und die Waffen der Burg ſchmückten den kahlen Raum. 
Kurz darauf kam auch der berühmte hiſtoriſierende 
Architekt aus München an, dem Carl Alexander die 
Leitung der Arbeiten damals zu übergeben gedachte, 
Ziebland; aber er betrieb es läſſig, und man wäre 
in den nächſten Jahren nicht über Herſtellung neuer 
Kapitäle nach dem reichen Formenſchatz der erhaltenen 
alten hinausgekommen, wenn Arnswald nicht fort— 
während den Bauzuſammenhang der älteſten Teile 
durchforſcht und dabei manches für die Erneuerung 
wichtige entdeckt hätte. Ein etwas ſpäterer Zeuge 
hat geſchildert, wie der Kommandant einmal „uner— 
müdlich und ausdauernd mit einigen Talern in der 
Hand ſo lange an der Wand herumkratzte, bis die 
eingemauerten Fenſter herauskamen.“ Von großem 
Werte war es auch, daß das tiefe Schuttlager des 
Hofes vom Sommer 1845 bis in das Frühjahr 1846 
gründlich abgeräumt wurde: da erſchien manche 
Andeutung zur älteren Baugeſchichte der Burg. 
Inzwiſchen war an die Stelle des Münchner 
Architekten eine Berliner Größe getreten, Quaſt, von 
Friedrich Wilhelm IV. empfohlen; aber auch er er— 
wies ſich nicht als der rechte Mann. Sein Wieder— 
herſtellungsplan vom Frühjahr 1846 fand lebhaften 
Widerſpruch bei ſechzig verſammelten deutſchen Archi— 
tekten, die im Herbſt die Wartburg beſuchten und 
ein Gutachten abgaben: man tadelte die Quaſtſche 


Rückſichtsloſigkeit gegenüber dem älteſten erhaltenen, 
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 16 


242 Hugo Nitgen 


die Abſicht die Umfaſſungsmauer niederzulegen, man 
wies ſeine modern prunkende Verſchönerungsſucht 
im Sinne engliſcher Gotik zurück und verlangte 
mehr Selbſtverleugnung. Und ſo wurde ſchließlich 
der Mann der Tat ein junger Profeſſor der Archi— 
tektur in Gießen, Ritgen, der über ein verwandtes 
Thema ſoeben einen anziehenden Vortrag gehalten 
hatte, als Nachzügler ſeiner Fachgenoſſen bei Arns— 
wald eingekehrt war und im Januar 1847 ſeine 
„Gedanken über die Reſtauration der Wartburg“ 
unterbreitete. Dieſe waren den Abſichten des Erb— 
großherzogs geſchickt angepaßt und genau auf Arns— 
walds und eigene Studien gegründet; ſie ſprachen 
ſich gut über die Frage aus „Was muß Deutſchland 
hoffen und wünſchen“, forderten eine geſchichtlich 
möglichſt wahre Architektur, keine romantiſche Täu— 
ſchung und betonten als erſtrebenswert, daß der Hof 
die Burg von Zeit zu Zeit bewohne, „indem nur 
dadurch der Zauber der Vergangenheit mit dem 
Reiz der Gegenwart vereint werden wird.“ Nicht 
nur der Burgherr, auch die nächſte Verſammlung 
der deutſchen Architekten billigten Ritgens Darlegun— 
gen; nach ſeinen Plänen wurde in den folgenden 
Jahren vorſichtig weitergearbeitet, und nachdem die 
Störung durch den däniſchen Krieg vorüber war, 
kam 1851 die Erneuerung der Wartburg unter ſeiner 
Leitung kräftig in Gang. 

Der Palas war das größte der alten Gebäude, 


Herſtellung des Palas 243 


in reifſtem Rundbogenſtil unter Landgraf Hermann 
zur Zeit der Hochblüte des Minneſanges errichtet; er 
beſonders hatte zur Wiederherſtellung gelockt, und 
1851 wurde ſein Südgiebel, nach dem Gebirge zu 
gelegen, bis zur Spitze bearbeitet, ſamt dem Söller, 
auf den Maria Paulowna im Juli zuerſt wieder 
hinaustreten konnte. Gleichzeitig wurde im Innern 
des Mittelſtockes die Querwand ausgeführt, die den 
Sängerſaal von der ſchmalen „Laube“ daran ſcheidet. 
Da Ritgen einen großen Teil des Jahres in Gießen 
beſchäftigt war, trat Baumeiſter Dittmar von Weimar, 
ein Schüler Zieblands, für die örtliche Bauleitung ein. 
Er ließ im März 1852 den alten Steinbruch an der 
Weſtſeite des Berges wieder anbrechen, und hier 
ſprengten und klopften nun die Arbeiter, während 
oben die Steinmetzen chämmerten, unter ihnen ſeit 
dem Mai auch der flinke Bildhauer Knoll, der im 
Hochſommer vier Wochen lang an der Spitze des 
Südgiebels ſchwebend den krönenden Löwen als da— 
mals höchſtes Stück rings in den Berglüften aus— 
meißelte. Die Maurer ſtellten indes den Nordgiebel 
neu her, die Zimmerleute trugen den Dachſtuhl ſtück— 
weiſe ab und erneuerten ihn, Anfang Oktober wurde 
bei ſchrecklichem Sturm das Dach des Palas gerichtet, 
raſch folgte ſeine Deckung — es war die letzte Arbeit 
des altbewährten Eiſenacher Meiſters Jakobi —: ſeit 
November 1852 ſchimmerte das Hauptdach der Wart— 


burg neu ins Land. Damals ſchrieb Arnswald an 
16* 


244 Helene von Orleans 


ſeinen Herrn: „Wir alle einen uns in der Liebe zur 
Sache, dieſe Liebe aber iſt es, die dem Bau überall 
das wahre mittelalterliche Leben und Gefühl verleiht, 
jenen Reiz, den man in alten Bauten findet, in neuen 
ſelten.“ Das folgende Jahr ließ im Frühling die 
getäfelte Decke über dem Sängerſaal gelingen und 
den Steindrachen auf dem Nordgiebel und weiterhin 
die Maurer-, Zimmerer- und Bildhauerarbeiten des 
großen oberen Feſtſaales: Ritgen hatte die Zeich— 
nungen dafür auf der Wartburg gearbeitet, Knoll die 
Kamine in Stein gehauen. Die bauliche Erneuerung 
des Palas war fertig, als Carl Alexander den Thron 
beſtieg. 

Man wußte, daß alte Burgen Wandmalereien 
hatten; Schwind wurde auserſehen, in einigen Haupt— 
räumen des Wartburgpalas zu malen. Seitdem ihm 
1849 auf einer Thüringer Reiſe dazu Ausſicht ge— 
worden war, brannte er, wie er ſagte, nach dieſer 
ſchönſten aller Arbeiten und führte ſofort für Maria 
Paulowna ein beziehungsreiches Probeblatt aus: 
Heinrich von Ofterdingen unter den Mantel der 
Landgräfin flüchtend. Auch die feinſinnige freundliche 
Baſe Carl Alexanders zeichnete er damals, die Her— 
zogin von Orleans, die ſeit ihrer Flucht aus Frank— 
reich in Eiſenach wohnende mecklenburgiſche Prinzeſſin, 
die die Wartburgarbeiter wie ein guter Geiſt oft 
beſuchte. Doch konnte erſt im Mai 1853 in Weimar 
die entſcheidende Beſprechung ſtattfinden, die ihm als 


Schwinds Wartburgarbeit 245 


Malbereich den Sängerſaal, den kleinen Landgrafen— 
ſaal daneben und die Eliſabethgalerie davor zuwies. 
Schwind ſah den Auftrag an „als eine Gabe, die, 
ſoweit es möglich iſt, mir das Leben noch teuer 
macht. Noch ein tüchtiges Wort mitzureden zugunſten 
unſerer ganz verfahrenen deutſchen Kunſt, es iſt aller 
Mühen eines geprüften Mannes wert.“ Er verſtän— 
digte ſich genau mit dem Architekten über die ge— 
plante Art der Umrahmung und Umwandung der 
Bilder, um etwas dem Raum harmoniſches, echte 
gemalte Säle zu ſchaffen, und zu Weihnachten des 
Jahres konnte er dem Großherzog die Skizzen für 
das Landgrafenzimmer ſenden und eine Nebenfolge 
von Rundbildern für die Eliſabethgalerie, die Werke 
der Barmherzigkeit. In den Sommermonaten 1854 
malte er eigenhändig im Landgrafenſaal auf einen 
neuen dünnen Kalkputz die ſieben breiten Sagen— 
bilder als herumlaufenden Wandfries; bei dem erſten 
beſuchte ihn eines Tages die Herzogin von Orleans, 
beſtieg ſtatt ſeiner die Leiter und pinſelte mit feiner 
Hand ein Blümchen hin. Im Mai 1855 brachte er 
ſich ein paar Geſellen mit, die ihm in der Eliſabeth— 
galerie halfen, doch tat auch hier das beſte ſeine 
Hand, ſein hingebender Eifer; im September ſchloß 
er die Arbeit mit dem großen Gemälde des Sänger— 
krieges ab. Einige Entwürfe waren liegen geblieben, 
anderes drängte ſich nachträglich zu: 1856, als er ſich 
ein Landhaus am Starnberger See baute, führte er 


246 Landgrafenzimmer 


noch die anmutige Legende vom Handſchuh der hei— 
ligen Eliſabeth als Olgemälde aus und noch ſpäter 
zur Erinnerung das Bildchen, wie er auf dem Mal— 
gerüſt im Landgrafenzimmer der Herzogin von Orle— 
ans die Palette hält. ! 

Das iſt das Schöne an Schwinds deutſcher Meiſter— 
ſchaft, wie er feinſte Menſchlichkeit — z. B. den dem 
Schmied zuhorchenden Landgrafen, den Ausdruck 
Eliſabeths beim Roſenwunder — mit volkstümlicher 
Geſundheit der Geſtalten verbindet. Und wie hat er 
gleich auf dem erſten Bilde Ludwig den Springer 
gezeichnet: breitbeinig, mit ganzen Sohlen auf dem 
vorderſten Fels fußfaſſend iſt der junge Herr ſeinem 
Gefolge voran zur Bergſpitze gelangt, und während 
ſie noch mit fröhlichem Hornruf durch das letzte 
Dickicht dringen, lieſt er es ſchon mit gelaſſener Ge— 
bärde dem Boden ab: Wart, Berg, du ſollſt mir 
eine Burg werden! Nicht nur breite Umrißlinien, 
zuletzt in das Bild gezogen, heben die Hauptgeſtalten 
deutlich heraus; unermüdliche Kunſtkritik hat bei dieſen 
Bilderfabeln auf der Wacht geſtanden, ſo daß Schmied 
und Landgraf körperlich und ſeeliſch, durch Beleuch— 
tung und Umrahmung — unter je einem Rund— 
bogen — für ſich geſtellt und doch zum Paar ge— 
worden ſind. Hier grüßte auch altdeutſche Kunſt, wie 
es Schwind liebte: der Übelacker im Hintergrund 
iſt Zukunftsbildchenn zu den entſcheidenden Augen— 
blicken vorn, und das Füchslein, das der ſtarkge— 


Eliſabethgalerie 247 


wandte Schmied an die Kette gelegt hat und das 
nun vergebens nach den Schwalben über ihm lugt 
— wie die ritterlichen Landſchädiger an die Kette 
kommen ſollen — erinnert nicht umſonſt an den 
Fuchs im Vordergrund auf einem der ſchönſten 
Marienblätter Dürers. In den ſtiliſierten Pflanzen— 
hintergründen der Eliſabethbilder webt ein Verſtändnis 
der Triebkraft des Grünen, das an Dürer und Goethe 
zugleich gemahnt. Wie die Formen, ſo ſprechen die 
Farben: bald derb, manchmal brummig, mit großer 
Luſt und erquickend. Und welchen Spaß mag Schwind 
gehabt haben, als er beim Durchſtöbern der thürin— 
giſchen Sagenquellen die Geſchichte von dem Eſel— 
beſitzer fand, dem der Landgraf hilft: das erfreute 
Eſelein durfte nicht fehlen, wo tragende Eſel ſeit 
alters zum Bergleben der Wartburg gehörten und 
ein hölzernes Eſeltreiberkäfterchen oben eins der beſt— 
erhaltenen Stücke war. 

Der Beziehungsreichtum von Schwinds Wartburg— 
bildern enthüllt ſich nicht dem erſten, raſch vorüber— 
gleitenden Blick, am wenigſten bei dem Hauptſtück, 
der großen Darſtellung des Sängerkrieges. Dieſen 
hatte Schwind ſchon zweimal ausgeführt, als ſtatt— 
liches Aquarell und als großes Olbild; fait je ein 
Jahrzehnt trennt die drei Arbeiten. Das Jugendwerk 
von 1837 zeigte einen ſtatiſtenreichen ruhigen Aufbau, 
der einigermaßen von Raffaels Disputa und Schule 
von Athen abſtammt; daraus wurde um 1845 eine 


248 Sängerſaal und Kapelle 


dramatiſch viel bewegtere Szene, auf der auch Schon 
das Jünglingspaar Goethe und Schiller als glücklich 
lauſchende Knappen mit erſcheinen. Welchen Auf— 
ſchwung hat aber vollends der Wartburgauftrag ge— 
bracht! Faſt alles iſt friſch durcheinander geſchüttelt 
und beſſer zuſammengebracht worden, das ſchöne 
neue Hauptmotiv zwiſchen Ofterdingen und Eliſabeth 
tritt in den Mittelpunkt, aus dem Hiſtoriengemälde 
wird ein Sagenbild, indem Klingſor, ſonſt die am 
feſteſten bewahrte Geſtalt, auf Wolken in ſiegreich 
fordernder Stellung erſcheint, eine Menge Regenten— 
und Künſtlerporträts aus Thüringens Gegenwart und 
klaſſiſcher Vergangenheit klingen an; der gemalte Saal 
ſetzt ſich in dem wirklichen fort, und auch die herr— 
liche Landſchaft draußen, die durch die Säulenfenſter 
grüßt, hilft hier das Jetzt und Einſt verknüpfen. 
Während Schwind tätig war, feierten die Bau— 
leute nicht. Zunächſt wurde die an den Sängerſaal 
rührende Kapelle im groben fertig: ſie konnte im 
Juni 1855 in Anweſenheit des Großherzogs neu ge— 
weiht werden, indem die Eröffnung einer Eiſenacher 
evangeliſchen Kirchenkonferenz hier oben ſtattfand. In 
den Jahren 1853 bis 1860 erſtand nördlich an den 
Palas anſchließend die Kemenate neu mit der Woh— 
nung des Burgherrn, auf den uralten Grundmauern, 
auf denen ſchon Carl Auguſt ſeinen Neubau errichtet 
hatte; 1857 wurde der ſchwierigſte Teil davon fertig, 
der über dem ſteilen Oſtfelſen hängende Erker. Auch 


Bergfried, Ritterhaus und Dirnitz 249 


hier wurde alles nach Ritgens Zeichnungen möglichſt 
getreu romaniſch und nun auch wohnlich eingerichtet; 
die hervorragendſten plaſtiſchen Stücke arbeiteten die 
beiden jungen Haertel und Donndorf, die ſpäter die 
Weimarer Denkmäler ſchufen. Der älteſte Burgteil 
wurde neu aufgeführt, der große Turm, Bergfried 
geheißen; gegen Ritgens gedrückte Form beſtimmte 
Preller ſeine ſtolze Höhe. Die feierliche Grundſtein— 
legung dazu hatte ſchon Ende 1853 ſtattgefunden, 
zum Glück eilte man hier nicht, ſo daß die Entdeckung 
der eigentlichen Grundmauer des Bergfrieds 1856 
noch zurechtkam. Im nächſten Jahre war der Turm 
ſchon hoch, als am Geburtstag des Großherzogs die 
Arbeiter da oben Nun danket alle Gott in die Lüfte 
ſangen, daß die Eiſenbahnbauer der Eiſenach-Coburger 
Strecke den Schall leiſe vernahmen und ihre Grüße 
hinaufwinkten. 

Der größere Teil der ſechziger Jahre verging über 
dem Ausbau des Ritterhauſes, wo Luther gewohnt 
hatte, und der Aufführung der Dirnitz, in deren 
hohem Saal Arnswald als Waffenkundiger eine präch— 
tige Sammlung aufſtellen durfte; gegen Norden 
ſchloſſen ſich Torhalle und neue Zugbrücke an bis zu 
dem ſteinernen Schilderhäuschen am Eingang. Inzwi— 
ſchen verwendete Welter von Köln großen Fleiß auf 
die dekorativ-romaniſche Ausmalung des Feſtſaales im 
Oberſtock des Palas und anderer Räume, und die 
Hoheiten wurden nicht müde, für eine geſchichtlich 


250 Wartburgausſtattung 1860 bis 1880 


bedeutende Ausſtattung zu ſorgen. Carl Alexander 
hängte 1863 in der Kapelle die Degen Guſtav Adolfs 
und Bernhards von Weimar auf — neue Magnete 
für lutheriſch-evangeliſche Herzen nannte ſie Arnswald 
—, ſeine Schweſter Auguſta ſtiftete 1864 Wand— 
gemälde und 1867 Glasmalereien in die Kapelle, und 
ſeine Gemahlin Sophie ſchenkte ihm 1863 das Pirk— 
heimerſtübchen aus dem Imhofſchen Hauſe in Nürn— 
berg, das 1867 im Ritterhauſe der Wartburg einge— 
baut werden konnte. So war 1867, als die Erneue— 
rung 214000 Taler gekoſtet hatte, eine Art Abſchluß 
erreicht: er wurde als Achthundertjahrfeier der Wart— 
burg mit Liſzts Heiliger Eliſabeth im Palas feſtlich 
begangen. 

Die ſiebziger Jahre endlich und der Anfang der 
achtziger vergingen über der Innenerneuerung des 
Ritterhauſes als eines Denkmals der Reformation 
und der Erbauung des Gadems als Dienerſchafts— 
wohnung an der Südweſtecke der Burg. Nahe dem 
wahren Lutherzimmer ließ Carl Alexander drei kleine 
ſtille Gemächer mit dem Blick auf das Werratal als 
behagliche Gebrauchszimmer in den Formen ſpäter 
Gotik und deutſcher Renaiſſance herrichten und ſtattete 
ſie mit echten und nachgeahmten Prachtmöbeln jener 
Zeit aus und mit Wandbilderfolgen aus Luthers 
Leben. Neue Weimarer Künſtler malten ſie in den 
Jahren 1872 und 1880. Von ihnen löſte Pauwels 
am beſten in Form und Farbe die Aufgabe, vom 


Wandgemälde der Reformationszimmer 251 


jungen Luther ſo zu erzählen, daß es das Holzge— 
wände befriedigend ſchmückte; flatteriger, ſchaumiger 
und der Zimmerkunſt weniger angepaßt waren Thu— 
manns Bilder aus der Großzeit des Reformators. 
Hielt dies alles den Beſucher in der Schwebe zwiſchen 
dem Hiſtorismus der ſiebziger Jahre und der Möglich— 
keit, Luthers eigne Zeit ſich vorzuſtellen, ſo verbanden 
ſich ſchließlich doch auch hier neue und alte Zeit zu 
eigentümlicher Stimmung. Carl Alexander ſah ſein 
Lieblingswerk gelungen, als in jenen Jahren die 
Männer von ihm gingen, die ein Menſchenalter lang 
ihr Leben größtenteils der Erneuerung der Wartburg 
gewidmet hatten: 1877 ſtarb Arnswald, 1885 Dittmar 
und 1889 der alte Ritgen. 

Die Wartburg wurde zur Zeit ihrer Erneuerung 
gern mit einem deutſchen Muſeum verglichen; in 
den ſechziger Jahren ging Carl Alexander wirklich 
an die Errichtung eines großherzoglichen Muſeums 
in Weimar. Seitdem die Gemäldeſammlung 1848 
aus dem Fürſtenhaus, wo Schorn ſie würdig unter— 
gebracht hatte, wieder hatte ausziehen müſſen, hatte 
ſie ein zerſtreutes und verkümmertes Daſein gehabt, 
zum Teil im Wittumspalais. Da erneuerten im 
Jahre 1857 die Denkmalsfeſttage den Wunſch des 
Fürſten, in Carl Auguſts Sinn die Künſte zu pflegen, 
und er faßte die Abſicht zu dem Muſeumsbau. Er 
bediente ſich dabei der Goetheſtiftung, die unter 
ſeinem Protektorat 1849 durch Liſzt begründet 


252 Weimarer Muſeumsbau 


worden war, damit ſie durch Preiſe an Maler, 
Bildhauer, Architekten, Muſiker oder Dichter deren 
Werke oder doch ihre Entwürfe nach Weimar brächte: 
jetzt ſollte ein Preisausſchreiben den Muſeumsplan 
beſchaffen. Der Landtag wirkte durch Bewilligung 
einer beträchtlichen Summe mit, der Bau wurde 
dem Prager Architekten Zitek übertragen, er konnte 
1863 an beherrſchender Stelle der nördlichen Neuſtadt 
beginnen, und 1869 wurde das ſtattliche Gebäude 
feierlich eröffnet. Stichlings Rede dabei ſchloß mit 
Wünſchen für das neue Haus, deren letzter lautete: 
„Es ſei ein neues würdiges Glied in der großen 
lebendigen Kette deutſchen Geiſteslebens, deutſcher 
Art und Kunſt! Das gebe Gott!“ 

In dem Muſeum erſchien der alte Beſtand der 
Weimarer Gemälde- und Zeichnungsſammlung um 
Plaſtik vermehrt. Es waren etwa dreißig der be— 
rühmteſten Götter- und Menſchenſtatuen der Antike 
in Gipsabgüſſen angeſchafft worden und Stücke nach 
Parthenonreliefs, auch die beiden gefeſſelten Sklaven 
von Michelangelo und zwei der beſten Arbeiten von 
Thorwaldſen, darunter die anmutige Gruppe, wie 
Ganymed den Adler des Zeus tränkt. An neuer 
Plaſtik erblickte man im Treppenhaus ein Rieſen— 
mal Goethes. Der Entwurf dazu ſtammte von 
Bettina von Arnim; ſie hatte Goethe auf hohem, 
reliefgeſchmücktem Sockel ſitzend modellirt, die 
Pſyche neben ihm, und der Bildhauer Steinhäufer 


Bettinas Goethe; Schwinds Märchen 258 


in Rom hatte ſich an die Ausführung gemacht, als 
Carl Alexander und Sophie auf ihrer italieniſchen 
Reiſe 1852 bei ihm eintraten. Die Erbgroßherzogin 
erwarb das Werk — den Sockel hatte Steinhäuſer 
weggelaſſen —, 1853 gelangte es zu Waſſer bis 
Magdeburg, auf dem Schienenweg bis Weimar und 
dann, von ſechs Ochſen langſam durch die Stadt 
gezogen, zunächſt in das Tempelherrenhaus im Park, 
wo es zwölf Jahre ſtand, ehe es in das Muſeum 
eingebaut werden konnte. Auch den langen Relief— 
fries der Hermannsſchlacht von Haertel überwies die 
Großherzogin und von den Schwindſchen Wartburg— 
entwürfen die zur Eliſabethgalerie, wozu der Groß— 
herzog die zum Landgrafenzimmer fügte. Seine 
köſtlichſte Gabe in das neue Haus war die hellfarbige 
Aquarellfolge des Märchens von den ſieben Raben, 
wohl Schwinds allerſchönſtes Werk, im Jahre 1857 
auf Grund alter Vorbereitung und noch unter der 
Nachwirkung der gliedernden Fenſterbogen der Wart— 
burg entſtanden, 1858 auf einer Münchner Jubiläums— 
ausſtellung zur größten Freude aller Beſucher er— 
ſchienen und ſofort vom Großherzog von Weimar 
erworben. Der alte lobeszähe Meiſter Cornelius 
ſchrieb dem Künſtler darüber: „Sie haben aus einer 
einfachen Volksſage ein ſo wunderbares Werk zu 
ſchaffen gewußt, das für die deutſche Nation für 
immer ein wahrer Schatz bleiben wird. Bei Wahr— 
heit, Natur und Leben atmet alles Anmut und 


254 Prellers Odyſſeekartone 


Seele, und was ich am höchſten dabei ſchätze, — 
es iſt alles mit wahrem Stil durchgeführt. Das 
zeigt ſich auch bis ins geringſte dieſer Arbeit, in 
jeder Haarlocke, in jeder Falte der Gewandung.“ 
Keine Worte können das holde Märchen ſo ſchön 
erzählen, wie es Schwind getan hat. 

Und doch war das Hauptereignis des neuen 
Muſeums noch ein anderes Werk, Prellers Odyſſee— 
bilder. Preller ſchien um das Jahr 1850 ganz in 
der Wiedergabe der nordiſchen Landſchaft aufzugehen; 
da brachte die alte Liebe zu Italien den ergrauenden 
Kopf wieder in ſchöpferiſche Unruhe. Seine Odyſſee— 
gemälde im römiſchen Haus in Leipzig ſeien ge— 
fährdet, ſo erfuhr er 1855; er reiſte mit ſeinem 
Sohn und Schüler hin, um ſie für ſeine Frau zu 
kopieren: der Sohn zeichnete ab, der Vater führte 
mit Sepia aus, worüber ſich ſeinem reiferen Kunſt— 
ſinn Variationsgedanken aufdrängten. Er arbeitete 
neue Kartone in etwas veränderten Formaten und 
Kompoſitionen über die alten Themen aus, fügte 
ganz neue hinzu und ſchickte ſie 1857 auf Ausſtel⸗ 
lungen nach Jena, Dresden, Berlin, mit überraſchen— 
dem Erfolg. 1858 errangen ſie einen Ehrenplatz 
auf jener Münchner Ausſtellung neben Schwinds 
Sieben Raben und den Auftrag Carl Alexanders, 
die Odyſſee in einen dafür herzurichtenden Raum zu 
malen, wobei noch nicht an das Muſeum gedacht 
war. Preller hätte ſofort eingewilligt, wenn er ſich 


Vollendung der Odyſſeegemälde 255 


nicht ſelbſt geſagt hätte, was andere ausſprachen, 
daß in dieſen Landſchaften zu viel nordiſches ſei. 
Er bekannte die Notwendigkeit neuer eingehender 
Studien in Italien, der Großherzog bewilligte die 
Koſten, und Preller ging Herbſt 1859 bis Sommer 
1861 zum zweitenmal nach Italien. Es wurde 
wieder eine glückliche Zeit wie vor dreißig Jahren, 
das Geſpräch mit Cornelius förderte, die Blätter 
ſeiner Studienhefte bedeckten ſich mit fein gezeich— 
neten Landſchafts- und Pflanzenſtudien aus der römi— 
ſchen und der Neapeler Gegend und von der Küſte 
Capris, wo der jähe Klippenwind ſireniſch ſingt und 
pfeift, und die heitere Schönheit dieſes Landes er— 
füllte nun recht erſt ſeinen ganzen Sinn. Er kehrte 
zurück und arbeitete neue Kartone zeichneriſch durch 
und malte die farbigen Vorlagen daneben.“) Der 
inzwiſchen entworfne Muſeumsſaal ermöglichte ſechzehn 
Odyſſeelandſchaften in guter Verteilung: an den 
ſchmalen Seitenwänden zu beiden Seiten der Türen 
je eine und an der großen geſchloſſenen Längswand, 
gegenüber der nördlichen Fenſterwand, zwölf in vier 
Gruppen zu drei mit je einem breiteren Mittelbild. 
Dies alles führte Preller daheim aus, in Wachs— 
farben auf Zementkalkſchicht in eiſernen Rahmen, 
die in die Muſeumswände eingeſetzt werden konnten. 
Dann malten ſeine beiden beſten Schüler am Ort 


*) Jene gelangten in das Leipziger Muſeum, dieſe in 
Eiſenacher Privatbeſitz. 


256 Zu Cranachs Gedächtnis 


den Sockelfries darunter, rote Figuren auf ſchwarz— 
braunem Grund, mit Telemachs und Penelopes 
Schickſalen, und das Ganze wurde farbig geſchickt 
umgeben. Die faſt durchlaufende Horizontlinie des 
blauen Meeres, die tadelloſen Formen der Menſchen— 
gruppen, die wunderbare Raumtiefe der meiſten 
Bilder wie überhaupt der hochentwickelte, vornehme 
Landſchaftsſinn gaben eine einheitliche, wohltuende 
Ergänzung der uralten Dichtung im Sinne eines 
Ausklangs der klaſſiſchen Weimarer Schule. 

Die fürſtliche Fürſorge für das Muſeum ließ auch 
nach der Eröffnung nicht nach. 1872 wurden drei 
Friedrichſche Sepialandſchaften, Hackerts Nemiſee, 
Schwinds Handſchuhlegende und einiges von Steinle 
überwieſen. 1873 wurden die Michelangeloabgüſſe 
um ſieben vermehrt; und die Bibliothek, die 1869 
ichon zwei Arbeiten Graffs herübergegeben hatte, 
ließ jetzt Cranachs Luther als Junker Jörg folgen. 
Das Andenken an Lucas Cranach den älteren, den 
Altersgefährten Johann Friedrichs des Großmütigen, 
wurde damals in Weimar mit großer Anhänglichkeit 
wiederholt gefeiert, kannte doch jedermann das eigen— 
tümliche Haus des treuen Reformationsmalers am 
Markte, ſeinen Grabſtein an der Hofkirche und das 
ſchöne Altargemälde von ihm und ſeinem Sohn in der 
Stadtkirche. 1872 veranlaßte ſein vierhundertjähriger 
Geburtstag, eine Büſte von ihm bei Donndorf in 
Auftrag zu geben; ſie wurde als Stiftung des 


Prellers letzte Arbeiten ö 257 


Fürſtenhauſes und der Cranachſchen Nachkommen 
1886 im Muſeum aufgeſtellt. 

Der greiſe Preller hat nach Vollendung ſeiner 
Odyſſee faſt noch ein Jahrzehnt in Weimar ſchaffen 
können und noch zweimal Italien beſucht. Seine 
fleißige und ſichere Hand fertigte noch viele Land— 
ſchaftszeichnungen, auch eine Reihe italieniſcher Ge— 
mälde, namentlich aus der Gegend von Olevano und 
als mächtigſtes die Ruinen von Paeſtum. Ja er ge— 
wann ſich noch ein neues Stoffgebiet und ſtellte 
Begebniſſe des alten Teſtaments in italieniſcher Land— 
ſchaft dar. Eine ſeiner letzten Arbeiten, Boas und 
Ruth, wurde für den Weimarer Verlagsbuchhändler 
Böhlau gemalt, der ſeit Beginn der fünfziger Jahre 
manche künſtleriſche Heimatsaufgabe mit ihm zuſam— 
men beraten hatte. Von 1868 bis 1873 führte er die 
Direktion der alten Weimarer Zeichenſchule: im Jäger— 
hauſe arbeiteten ſeine Schüler, in ſeinem Atelier in 
der Nähe die Schülerinnen, unter ihnen eine Tochter 
Stichlings. Zu Oſtern 1878 ſchloß Friedrich Preller 
die Augen. 

Von Prellers Schülern ſind drei zu deutſchem 
Ruf gelangt, die beiden älteren in Weimar, der 
jüngſte in der Nähe geboren. Carl Hummel arbeitete 
das ganze Zeitalter über in Freundſchaft mit Preller, 
aber künſtleriſch inſofern von ihm abweichend, als er 
das geſehene Naturbild ſelbſt immer mehr als völlig 


darſtellenswert empfand in ſeiner Beleuchtung, ſeiner 
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 17 


258 Carl Hummel, Preller d. j., Kanoldt 


atmoſphäriſchen Belebung, ſeinen Farben. Alle Breiten 
Deutſchlands und viele Gegenden Italiens waren ihm 
bekannt, von Holſtein bis Sizilien ſuchte er ſeine 
Motive; ſeine großen Aquarelle von Corſica aus der 
Wende der ſechziger und ſiebziger Jahre wurden ſeine 
friſcheſten und kräftigſten Sachen. Auch Friedrich 
Preller der jüngere, des Vaters Gehilfe und dank— 
barer Jünger auf der zweiten italieniſchen Reiſe, 
ſchlug dieſen realiſtiſcheren Weg ein, er berührte ſich 
mit Hummel auch in der Stoffwahl — ein von beiden 
geliebtes und gemaltes Naturbild war Tizians Hei— 
mattal Cadore —; er wurde nach Dresden berufen. 
Edmund Kanoldt lernte von 1864 bis 1869 bei Preller 
und gewann mit einem Odyſſeus auf der Ziegenjagd 
den Ehrenpreis der Goetheſtiftung; ihn führte die 
Entwicklung ſeines farbigen Geſamtempfindens zu 
einer eignen ſtimmungsvollen heroiſchen Landſchafts- 
kompoſition, als er ſich in Karlsruhe weiterbildete 
und doch der prelleriſch-goethiſchen Grundüberzeugung 
von der wahren Aufgabe des Landſchaftsmalers treu 
blieb. 

Faſt ein Jahrzehnt lang hatte der alte Preller 
die Freude, in Weimar einen Freund ſeiner erſten 
römiſchen Jahre neben ſich arbeiten zu ſehen: 1859 
kam Genelli. In ihm gewann Carl Alexander den 
ſtrengſten Epigonen der Carſtensſchen Schule, deſſen 
Phantaſie ganz in antikiſchen Geſtalten ſpielte und 
auch von Raffael und Michelangelo mehr als von der 


Genelli; Gründung der Kunſtſchule 259 


Natur gelernt hatte. Nach Jahrzehnten bittrer Not 
konnte er in Weimar noch einmal tiefer atmen, ſeine 
Aufträge für München und Wien erfüllen und auch 
für die Weimarer Sammlungen manches zeichnen. 
Er liebte es, die Wirkung des Sängers, des Erzählers 
auf Zuhörergruppen darzuſtellen, und man bewunderte 
beſonders ſeinen Homer; wer dies Blatt freilich ge— 
nauer mit der Darſtellung desſelben Gegenſtandes 
durch Carſtens verglichen hätte, konnte erkennen: bei 
Carſtens hebt ſich der erſte, lichtfrohe Flügelſchlag des 
Genius, auf deſſen Schwingen Genelli ſchließlich, 
ohne ſich ſelbſt der Erde zu entringen, mit künſteln— 
der Willkür trieb. 

Da war es ein glücklicher Ausgleich, daß es Carl 
Alexander gelang, zu derſelben Zeit eine Weimarer 
Kunſtſchule für Maler neueſten Schlags zu begründen: 
im Oktober 1860 wurde ſie eröffnet. Die berühmten 
älteren Schweſteranſtalten Düſſeldorf und München 
ſtanden dabei Gevatter: von Düſſeldorf kam Graf 
Kalckreuth, der Alpenmaler aus Schirmers Schule, 
und aus München der gewandte Figurenmaler und 
Illuſtrator Ramberg und das junge Freundespaar 
Böcklin und Lenbach. Kalckreuth führte die erſten 
ſechzehn Jahre das Direktorat. Die Verfaſſung war 
ſo frei wie die künſtleriſche Tendenz, ſo daß die Per— 
ſönlichkeiten leicht gegeneinander ausſchlugen und 
der „Realismus“ der neuen Schule bald berufen 
wurde; mit Preller und der alten Zeichenſchule Carl 


177 


260 Die Kunſtſchule in den jechziger Jahren 


Auguſts wollte ſich gar kein Verhältnis herſtellen. 
Trotzdem waren die Anfänge gut, die kleine Schüler— 
zahl ſtieg raſch, die erſte Lehrerausſtellung enthielt 
Trümpfe wie Lenbachs Hirtenknaben und Böcklins 
Raub an der Küſte, die Graf Schack für ſeine Münch⸗ 
ner Sammlung erwarb, und Kalckreuths Gralsburg, 
die der Großherzog im Weimarer Schloſſe mit Hum— 
mels Gärten der Armida paarte. Lehrer und Schüler 
belebten die Geſelligkeit Weimars von neuem in 
glänzender Weiſe, als ſich die Tür der Altenburg 
geſchloſſen hatte. Am raſcheſten entſchwanden Böcklin 
und Lenbach wieder, die es nach dem Süden zog; 
einige kräftige Bildniſſe blieben als Zeugniſſe ihrer 
Weimarer Tätigkeit, auch malte Böcklin hier eine 
große Jagd der Diana für Baſel: wieviel elementa- 
riſcher waren die römiſchen Landſchaftsmotive hier 
erfaßt und verdichtet als von Preller! 1861 wurde 
Pauwels von Antwerpen berufen, 1862 trat Doepler, 
vorher Koſtümzeichner am Theater, aus dem Reiche 
Dingelſtedts in das Kalckreuths über, und in der 
zweiten Hälfte der ſechziger Jahre, wo auch Ramberg 
nach München zurückging, wirkten als neue Lehrer 
der Hiſtorienmaler Wislicenus, aus Eiſenach gebürtig 
und in Düſſeldorf geſchult, der neuartige Religions- 
maler Plockhorſt, ein Schüler Pilotys, und ein an der 
Weimarer Schule ſelbſt gebildetes Talent, Thumann 
aus Leipzig. Auch deſſen Landsmann Pohle gehörte 
zu den tüchtigſten Schülern Weimars in den ſechziger 


Gehen und Kommen um 1870 261 


Jahren; er entwickelte ſich zu einem ausgezeichneten 
Bildnismaler, den man ſpäter nach Dresden rief. 
Bedeutendere Schülerkräfte ſtellte Schleſien in dem 
Grafen Harrach, einem geſellſchaftlichen Matador mit 
friſchen Augen und herb-klarer Malweiſe (18601868), 
und Brandenburg in dem kräftigen und derben Reali— 
ſten Guſſow (1861-1866); nur vorübergehend haben 
an der Wende der ſechziger Jahre Liebermann und 
Piglhein in Weimar gelernt. Von den Lehrern ſchieden 
1868 Wislicenus, 1869 Plockhorſt und 1870 Pauwels 
und Thumann aus. 

So mußte zu Anfang der ſiebziger Jahre die 
Lehrerſchaft zum großen Teil abermals neu ergänzt 
werden. Als erſten ſtellte Kalckreuth 1870 den Wei— 
marer Schüler Guſſow an: er rechtfertigte dieſe Be— 
rufung durch großes Lehrtalent, viele Schüler ſam— 
melten ſich um ihn; 1874 ging er nach Karlsruhe. 
1871 traten von Düſſeldorf der Geſchichtsmaler Baur 
und der junge Landſchaftsmaler Hagen ein, ein Schü— 
ler Oswald Achenbachs, und von Berlin Schauß; von 
ihnen zogen 1876, als Kalckreuth die Direktion nieder— 
legte, auch Baur und Schauß wieder von dannen. 
Da war es ein Glück, daß kurz vorher (1875) in dem 
Tiermaler Brendel, der ſich lange in Fontainebleau 
gebildet hatte, eine beſtändige naturaliſtiſche Kraft 
erſten Ranges gewonnen worden war; Hagen und er 
verwalteten in den nächſten Jahren die Direktion. 

Viel Einfluß auf die Schüler gewann Hagen. 


262 Weimarer Landſchaftskunſt um 1880 


Er wandelte dabei ſeine Sehweiſe und ſeine Palette 
mit ihnen, die zum Teil älter waren als er. In 
den ſiebziger Jahren erſchien den meiſten als natur» 
wahr eine Farbenharmonie, in der ein dunkelbrauner 
Grundton noch vorwaltete, wie ihn das Stubenlicht 
und damalige Atelierausſtattung mit ſich brachten, 
und novelliſtiſche Reize des Stoffes galten als unent— 
behrlich. Auch die beſten Schüler Hagens malten 
damals ſo, Fedderſen (1871 bis 1877), Haſemann 
(1872 bis 1878) und Hoffmann-Fallersleben (1874 
bis 1879), der in Weimar geborene Sohn des Ge— 
lehrten, ſelbſt der Weimarer Buchholz, der eigen— 
ſinnigſte dieſer Gruppe, der der Kunſtſchule von 
1867 bis 1876 als Lernender angehörte. Sie alle 
fanden in der erſten Hälfte der achtziger Jahre mehr 
oder weniger den Weg zu einer lichteren Farben— 
wirklichkeit im Freien und überſchritten damit die 
Schwelle zu einem neuen Zeitalter. Am feinfühlig— 
ſten drang Buchholz in das Frühlings- und Herbſt— 
weben der Weimarer Wälder ein. Neben Hagen 
ging ernſt und ſchlicht auch der Freiherr von Gleichen- 
Rußwurm auf dieſem befreienden Wege vorwärts, 
der auf Veranlaſſung des Großherzogs Carl Alexan— 
der ſein Talent in Weimar ſpät entwickelte, der 
Enkel Schillers. 


Das jüngſte Geſchlecht 


u» 


Weimar 


Wenn die Geſchichte des Jahrhunderts von 1815 
bis 1915, wie es das natürliche iſt, erzählt wird als 
Taten und Erlebniſſe dreier Menſchenalter, ſo wird 
mit dieſen drei Abſchnitten die Regierungszeit der 
Fürſten nicht immer zuſammenfallen. Carl Auguſt 
hat länger als fünfzig Jahre regiert und auch Carl 
Alexander faſt ein halbes Jahrhundert lang; beide 
haben in einer außergewöhnlich großen Berufszeit und 
Herrſchaftsdauer ſtandgehalten. Daß Carl Auguſts 
Regierung ein einheitlicheres Bild ergibt als die 
ſeines Enkels, beruht vor allem darauf, daß nur 
wenige Jahre ihres Anfangs dem vorhergehenden 
Zeitalter angehören, nur wenige ihres Endes dem 
nachfolgenden, während ſich ihr Haupt- und Mittel— 
teil mit einem geſchichtlichen Menſchenalter Deutſch— 
lands deckt. Carl Alexanders Regierung aber begann 
knapp nach dem Anfang einer neuen, der Bismarck— 
ſchen Zeit; nach deren Ablauf hat er faſt noch zwei 
Jahrzehnte ſeines ergreiſenden Alters das Großher— 
zogtum geführt, bis über die Jahrhundertgrenze 
herüber, während ein junges Geſchlecht um ihn 
herum die neueſte Zeit ſchuf. 


266 Carl Alexander und die literarischen Vereine 


Was Carl Alexander auch mit dieſem zweiten 
neudeutſchen Zeitalter verband, war ſein gleich— 
bleibendes Beſtreben, von Weimar aus dem ganzen 
Vaterlande zu dienen, ſein ſteter Wunſch, Weimar 
als eine Freiſtätte dem bewährten Talent offen zu 
halten, und dann ſein feiner und inniger Zuſammen— 
hang mit Goethe, durch den er auch die neueſten 
Goetheaufgaben zu geleiten wußte. Als Achtzig— 
jähriger bekannte er einmal: „Ich könnte alles 
entbehren, Goethe nicht.“ Als das neunzehnte 
Jahrhundert ſchloß, erließ er ſeine letzte öffentliche 
Kundgebung, ein gemeinſames Schreiben an die 
Goethegeſellſchaft, die Schillerſtiftung und die 
Shakeſpearegeſellſchaft, deren Protektorate er nun 
vereinigte: die Überlieferung einer unvergleichlichen 
Zeit Weimars im Geiſte ſeiner Vorfahren fortzu— 
führen, ſei ihm und ſeiner Gemahlin tief empfundene 
Pflicht geweſen, ihre Erfüllung aber nur möglich 
geworden durch die allgemeine und vertiefte Teil— 
nahme Deutſchlands an den Kulturarbeiten, „die 
mit Weimars Namen unlöslich verbunden ſind.“ Er 
hoffte, daß im zwanzigſten Jahrhundert dieſe Ver— 
bindung von Dauer ſein werde, „auch im Hinblick 
auf ſchöpferiſche Ausgeſtaltungen des Schönen und 
Wahren in neuen Formen, die eine aus der Vergangen— 
heit erwachſende große und reiche Zukunft dem deutſchen 
Volke ſpenden möge auf ſeinem Wege aufwärts zu 
den höchſten Zielen nationaler Entwickelung.“ 


Sophie und das goethiſche Erbe 267 


In dieſer Geſinnung ſtand ihm die Großherzogin 
Sophie faſt bis zuletzt zur Seite. Nicht genug, 
daß ſie im Weimariſchen das große ſoziale Erbe 
Maria Paulownas übernommen hatte und reichlich 
vermehrte — das 1854 von ihr gegründete Sophien— 
ſtift, eine wohlausgeſtattete höhere Töchterſchule, 
beſchenkte ſie 1878 mit einem ſtattlichen Neubau, 
1886 wurde ein großes Kranken- und Diakoniſſen— 
heim als Sophienhaus geweiht, noch ſpäter ihr 
Kinderheilbad in Stadt Sulza —: als geborene 
Niederländerin nahm ſie begeiſtert teil, als das 
Deutſche Reich zur Kolonialmacht wurde, und um 
dieſelbe Zeit fiel ihr die ſchöne Pflicht zu, das 
goethiſche Familienarchiv nutzbringend zu erhalten. 

Goethes Schwiegertochter war 1871 hochbejahrt 
kurz vor ihrem Tode in das Weimarer Haus zurück— 
gekehrt; dort hatten in den Dachzimmern ihre altern— 
den Söhne die ſiebziger Jahre über ein traurig 
einſames und verarmtes Leben geführt, nur beſtrebt, 
Goethes Sacherbe nicht zu ſchädigen. 1883 ſtarb 
Wolfgang, der jüngere, worauf Walther, der ältere, 
ſein Teſtament machte. Auch er ſtarb 1885. Das 
Teſtament ernannte zum Erben von Goethes Haus 
ſamt den darin verwahrten Sammlungen den Wei— 
mariſchen Staat und ſtellte dieſe Erbſchaft unter die 
beſondere Oberaufſicht des Großherzogs; das Familien— 
archiv ſamt dem ganzen literariſchen Nachlaß Goethes 
erhielt die Großherzogin zugeſprochen mit dem 


268 Goethe » National» Mujeum 


Wunſche, es zu empfangen als einen „Beweis tief— 
empfundenen, weil tiefbegründeten Vertrauens.“ So 
konnten ſich dieſe ſeit fünfzig Jahren verſchloſſenen 
Güter am Beginn eines neuen Zeitalters als deſſen 
Mitgift auftun. 

Das erſte Ziel war, Goethes Haus und ſeinen 
Wohninhalt möglichſt wieder ſo einzurichten, wie er 
es im Tode verlaſſen hatte. Die Nächſtverwandten 
von Ottilie und Chriſtiane, ein Graf Henckel von 
Donnersmarck und ein Vulpius, fanden ſich bereit, 
weſentliche Erbteile, die ſich nicht unter der Verwahrung 
der alten Schlüſſelverwalterin bei der Übergabe be— 
funden hatten und deshalb ihnen als Inteſtaterben 
zufielen, als beſondere Stiftung dem Hauſe zu über— 
weiſen; den Mietern wurde gekündigt, das alte Thü— 
ringer Holzgebäude im Innern zum Teil ſteinern 
erneuert und im Sommer 1886 das Vorderhaus des 
„Goethe-National-Muſeums“ allen ſehnſüchtigen 
Verehrern geöffnet, beinahe ein Jahr darauf auch 
die übrigen Wohnräume Goethes, darunter ſein 
Arbeits- und Schlafzimmer genau in dem Zuſtand 
von 1832. Für die Herrichtung der Empfangs- und 
Sammlungszimmer wurden alte Beſtitzverzeichniſſe 
verwendet, Notizen und Erinnerungen, wobei Groß— 
herzog Carl Alexander ſelbſt eingreifen konnte; im 
September 1888 betrat die verwitwete Kaiſerin 
Auguſta zum erſtenmal wieder das größte Zimmer, 
wo der Rieſenkopf der Juno ſteht, und brach in die 


Unter Rulands Verwaltung 269 


Worte aus: „Dies iſt genau, wie ich mir den Raum 
ſo wohl erinnere!“ Von Beginn der neuen Verwal— 
tung an ſtand dem Hauſe der Weimarer Muſeums— 
direktor Ruland über zwanzig Jahr lang vor. Die 
Oſtſeite des Gebäudes wurde 1889 bloßgelegt, als 
der Staat infolge eines nahen Brandes drei ſchmale 
Nachbarhäuschen wegreißen ließ, um Goethes Erbe 
gegen Feuersgefahr zu ſichen. Jahr um Jahr 
vermehrten nun manche Erwerbungen, viele Geſchenke 
von nah und fern den eröffneten wunderbaren 
Beſitz: Büſten und Bildniſſe fanden ſich herzu, 
reizende Silhouetten und feine Miniaturen, Goethes 
Schreibzeug, ſeine Brieftaſche uſw. 1891 ſtellte 
ſich die Zeichnung des Junozimmers mit Goethes 
Enkeln am Flügel ein, 1836 von Arnswald gefertigt, 
dem ſpäteren Wartburgkommandanten, 1892 Riemers 
Zeichnung vom alten Goethe auf der Straße, 1893 
getuſchte Landſchaftsblätter Goethes ſelbſt, 1894 das 
Kolbeſche Goethebildnis aus Schöllſchem Beſitz und 
getrocknete Blumen mit den Worten Ulrikes von 
Levetzow: „Der letzte ſehr kleine Reſt der vielen 
Blumen, welche Goethe mir in Marienbad 1822 
von ſeinen Spaziergängen mitbrachte.“ 1903 mußte 
das ſchmale Frankfurter Familienbild von Seekatz, 
im geſchnörkelten Rokokogoldrahmen, unter der breiten 
aldobrandiniſchen Hochzeit aus dem alten Rom Platz 
nehmen. So durchdrangen ſich allmählich Wohn— 
ſtätte und Muſeum mehr und mehr. 


270 Koetſchau und Oettingen 


In dieſe Fülle griff in den Jahren 1907 und 
1908 der neue Direktor Koetſchau kräftig ein. Er 
verfuhr nach dem Grundſatz, Wohn- und Sammlungs— 
räume ſeien zu unterſcheiden und in den Wohnräumen 
nur die Dinge zu laſſen, die dort aus Goethes Zeit 
urkundlich beglaubigt wären. Alles, was mehr ein 
Goethemuſeum zu bilden geeignet war, reihte er im 
Dachgeſchoß auf; dorthin verwies er auch den größten 
Teil von Goethes naturwiſſenſchaftlichen Sammlungen. 
Zur Neuordnung dieſer mineralogiſchen, botaniſchen 
und zoologiſchen Sachen gewann er vorübergehend 
im Hauſe weilende Helfer in Semper, Hanſen und 
Lehrs; und die Kunſtſammlungen ſuchte er durch 
wechſelnde Ausſtellungen in einigen Nebenzimmern 
zum Leben zu bringen. Es fehlte aber an Raum. 

Dieſem Mangel half glücklich der dritte Direktor 
ab, von Oettingen (ſeit 1909). Er erſah die häßliche, 
zwanzigjährige Blöße an der Oſtſeite zu einem 
feuerſicheren Anbau ungefähr von der Geſamtfront— 
erſcheinung der urſprünglichen Nachbarſchaft, und 
der ſachſen-weimariſche Staat und einzelne deutſche 
Spender reichten die Mittel dar, die ihm hier die 
vornehme Durchführung neuzeitlicher Sammlungs— 
räume mit Hülfe des Baurats Schrammen ermög— 
lichten (1914). Jetzt erſt konnten auch die drei 
naturwiſſenſchaftlichen Gehilfen in zwei neuen 
Vorderzimmern des Dachgeſchoſſes Steine, Pflanzen 
und Gebein nach Goethes Anſchauungen ſicher und 


Ausbreitung von Goethes Sammlungen 271 


überſichtlich durchordnen und teilweiſe vor Augen 
ſtellen, während ein vierter (Speyerer) nebenan 
Goethes phyſikaliſche Denkarbeit verdeutlichte, ſeine 
alten Inſtrumente und neue Parallelapparate auf— 
ſtellte und vor allem das prometheiſch vorſchauende 
in ſeiner Farbenlehre den heutigen Betrachter ſofort 
nachzuerfaſſen anwies. Im Hauptſtock darunter 
wurden zwei größere Räume als Muſeum für Klein— 
plaſtik, Münzen, Medaillen und Majolikaſchalen 
goethiſchen Beſitzes fürſtlich eingerichtet und als Studien— 
ſaal all ſeiner Handzeichnungen, Stiche uſw. und 
auch dieſe in wiſſenſchaftliche Behandlung (Kroeber) 
gegeben. So erfüllte ſich achtzig Jahre nach Goethes 
Tod der Wunſch ſeines Teſtamententwurfs: „Meine 
Sammlungen jeder Art ſind der genaueſten Fürſorge 
wert. Nicht leicht wird jemals ſo vieles und ſo vielerlei 
an Beſitztum intereſſanter Art bei einem einzigen 
Individuum zuſammenkommen. Ich habe nicht nach 
Laune oder Willkür, ſondern jedesmal mit Plan 
und Abſicht zu meiner eigenen folgerechten Bildung 
geſammelt und an jedem Stück meines Beſitzes 
etwas gelernt. In dieſem Sinne möchte ich dieſe 
meine Sammlungen gern konſerviert ſehen.“ 

Der im Innern wie im Außern vortrefflich an— 
geſchloſſene neue Oſtflügel erwies ſich auch ſonſt 
von Nutzen für das Goethehaus. In ſein Erdgeſchoß 
wurde die Hausmannswohnung verlegt, in ſeinen 
Keller die Warmwaſſerheizung für das Geſamtgebäude. 


272 Begründung des Goethe- und Schillerarchivs 


Aus Goethes Zimmern verſchwand die Moderluft 
der überfüllten Sammelkäſten; ſie konnten jenem 
wohnlichern Zuſtande mehr angenähert werden, 
wo Goethes Beſitz noch etwas kleiner war. So 
ergab ſich eine Überarbeitung des ganzen Hausweſens, 
zugleich mit vermehrter Rückſicht auf die urkundlichen 
Quellen, und weitere Herſtellung alter Zimmer, 
wie denn auch das Dachgeſchoß bedeutenden Zu— 
wachs an Goethebildniſſen erhielt. Mit alledem 
war es, als ob — neben dem unveränderlich tiefen 
Eindruck jener beiden durch Goethes lange Geiſtes— 
arbeit und Tod beſonders geweihten Hinterſtübchen — 
das Haus Atem bekäme. 

Den handſchriftlichen Nachlaß übernahm Groß— 
herzogin Sophie ſchon im Juni 1885 und begründete 
für ihn zunächſt in einem Saale des Schloſſes das 
Goethearchiv. Sie übertrug die erſte Sichtung Erich 
Schmidt und faßte alsbald die bedeutende Abſicht, 
Goethes und Schillers Handſchriften einmal unter 
einem Dache zu vereinigen. Der erſte Schritt da— 
zu war, daß ſie von Cotta die Briefe zwiſchen 
Goethe und Schiller kaufte; dieſe trafen 1888 nach 
Cottas Tode in Weimar wieder ein. Nun ſchenkten 
ihr 1889 die beiden Freiherren von Gleichen, Schillers 
Enkel und Urenkel, alle Urkunden und Handſchriften 
aus ihres Ahnen Erbſchaft mit der Beſtimmung, 
ſie mit dem Goethiſchen Schatze zum Goethe- und 
Schillerarchiv zu vereinigen: im Juni wurde dieſer 


Ein weimariſch-deutſches Literaturarchiv 273 


herrlichſte Zuwachs aus dem fränkiſchen Schloſſe 
Greifenſtein nach Weimar übergeführt. Wie hätten 
da Herders und Wielands Erben zurückbleiben ſollen? 
Bis zu Ende des Jahres fügte Staatsminiſter Stich— 
ling die Herderſtiftung hinzu, beſonders ergiebig für 
Herders Brautzeit und das frühe Jahrzehnt von 
1770 bis 1780, und Wielands Urenkel Reinhold, 
ein Enkel des Jenaer Profeſſors, das beträchtliche 
Wieland-Reinholdſche Brieferbe. Und wie Jahresringe 
ſetzten ſich weitere Kreiſe an: 1890 übergab die 
großherzogliche Bibliothek alle ihre Manufkripte der 
Winckelmann-Goethiſchen Zeit, 1891 wurden Goethes 
Briefe an Carus erworben und Otto Ludwigs 
Nachlaß: ſchon griff man nach dem bedeutendſten 
auch der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der 
Gedanke des Goethe- und Schillerarchivs weitete ſich 
zu dem eines Archivs der neueren deutſchen National— 
literatur. Es war Zeit, einen eigenen Schrein für 
dieſe Schriftenſammlung zu errichten: über der Ilm 
gleich jenſeit des Schloſſes erſtand nach dem Grund— 
riß der Großherzogin unter Aufwendung von einer 
Million der weiße Sandſteinbau in klaſſiſchen Formen 
und wurde im Juni 1896 eröffnet. 

Leiter des Archivs war damals Suphan als 
Nachfolger Erich Schmidts — der ſchon 1887 an die 
Berliner Univerſität übergeſiedelt war —, und bis 
1910 kurz vor ſeinem Tode hat der ſinnige, graziöſe 
Gelehrte die Sammlung gewahrt und mit großem 

Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 18 


274 Weimarer Goethephilologen 


Erfolg vermehrt.“) 1901 wurden viele Handſchriften 
von Gellert bis Geibel hinzugefügt, darunter Arndt, 
Uhland, Chamiſſo. Der vollſtändige Nachlaß von 
Hebbel — darunter Tagebücher und Briefe als Ge— 
ſchenk der Witwe —, von Immermann, Mörike und 
Freiligrath — auch dieſer als Geſchenk der Witwe — 
kamen in das Archiv und beträchliche Teile Platen 
und Rückert, Bauernfeld und Auerbach, Laube und 
Freytag, Heyſe und Storm, Keller und C. F. Meyer; 
ja Suphan konnte 1906 auch von einer niederdeutſchen 
Abteilung (Reuter und Groth) berichten, und ſchließ— 
lich erwarb er die aufgefundene Handſchrift der 
Urform des Wilhelm Meiſter. Dann übernahm 
Oettingen die Leitung des Archivs; ſeit Beginn war 
Wahle an der Einrichtung und Wartung tätig, von 
1896 bis 1912 leiſtete auch Schüddekopf Mitarbeit, ſeit 
1900 Hecker und ſeit 1913 Gräf, der ſchon anderthalb 
Jahrzehnt in freierer Beſchäftigung beigeſellt geweſen 
war. Denn hier wurde in ſtillem Fleiß eine dreißig— 
jährige Gelehrtenarbeit getan, dieſe Güter fort— 
während erſprießlich zu pflegen und jahraus jahrein 
Ernte für die deutſche Bildung tragen zu laſſen. 
Wer aber das Archiv beſuchen kam und ſeine 
Augen über die Schaukäſten wandern ließ, wen 
hätte nicht trotz aller gedruckten Bücher die tüpflige 


*) Vier Jahrzehnte beſchäftigte ihn daneben die Herſtel— 
lung einer neuen monumentalen Herderausgabe, deren letzte 
Bände, wie es ihm Mommſen am Anfang prophezeit hatte, 
auf ſeinen Sarg gelegt wurden. 


Die Goetheausgabe der Großherzogin Sophie 275 


Handſchrift von Otto Ludwig, die klug geſchäfts— 
männiſche von Keller, die diſtinguiert witzige von 
Scheffel über dieſe Geiſter belehrt, wer ſich nicht 
an Goethes ſchönen Schriftzügen auf den Oktav— 
blättchen mit je einer Stanze zum Epilog der Glocke, 
an ein paar gewaltigen Tell- oder Briefzeilen Schillers 
erhoben und in dieſen Räumen etwas von der Kraft 
des Wortes geſpürt, das im Anfang war? 

1885 kündigte die Großherzogin auch den Plan 
zu einer monumentalen Goetheausgabe an, die „das 
Ganze von Goethes literariſchem Wirken nebſt allem, 
was uns als Kundgebung ſeines perſönlichen Weſens 
hinterlaſſen iſt, in der Reinheit und Vollſtändigkeit 
darſtellen“ ſollte, die jetzt erſt möglich geworden war, 
und ſie ließ die Arbeit ſofort beginnen. Die Beamten 
ihres Archivs wurden dazu herangezogen, Schmidt und 
Suphan als Redaktoren, Wahle als Generalkorrektor, 
doch war ein großer Stab hervorragender auswärtiger 
Goethephilologen in Redaktion und Herausgabe da— 
bei tätig. Das Ganze wurde in vier Abteilungen 
zerlegt, von denen 1887 drei zu erſcheinen anfingen, 
die Werke, die Tagebücher und die Briefe; der erſte 
Band der naturwiſſenſchaftlichen Schriften wurde 
1890 ausgegeben. Das Jahr 1903 brachte den 
Abſchluß der dreizehn Tagebücherbände, 1904 den 
der gleich großen naturwiſſenſchaftlichen Abteilung, 
1909 den der fünfzig Bände voll Briefe; und 1915 


wurde der dreiundfünfzigſte und letzte Band der 
18. 


276 Goethegeſellſchaft und Goethetage 


Werke fertig: in ihm fanden die allerletzten noch 
unbekannten Späne aus Goethes Nachlaß ihren 
Platz, zurückgelegtes zu Elegien und Epigrammen, 
Entwürfe zu Fauſt und andern Dramen, Vorträge 
des Staatsbeamten und Einfälle aus ſeinen Notiz— 
büchern, z. B. der vielſagende: „Ein Menſch, kein 
Menſch.“ 

Wie ſich ein Springquell erſt in einem kleineren 
oberen Becken fängt, ehe er von da in das breitere 
Schlußbecken läuft, ſo bildete ſich um die neue Wei— 
marer Goethearbeit inmitten der allgemeinen deutſchen 
Teilnahme ein engerer Kreis: die Goethegeſellſchaft. 
Im Juni 1885 wurde ſie in Weimar gegründet, 
um alljährlich hier, meiſt zu derſelben ſchönen Jahres— 
zeit, zuſammenzukommen, neuen Gewinn heimzutra— 
gen, neue Gaben zu bringen. Bereits Ende 1886 
zählte ſie 2400, ſpäter 4000 Mitglieder. Ihr erſter 
langjähriger Präſident (bis 1899) war der greiſe 
Eduard von Simſon; dann ſtanden je ſieben Jahre 
Ruland und Erich Schmidt an der Spitze, worauf der 
Freiherr von Rheinbaben die Leitung übernahm. 
Alljährlich legte ſie ihren Mitgliedern womöglich etwas 
von Goethe auf den Weihnachtstiſch, das ſeinen Kreis 
erhellte und ſeine Wärme verbreitete, meiſt aus dem 
Archiv, oft aus dem Goethe-National-Muſeum. Mit, 
den herzerquickenden Plauderbriefen von Goethes 
Mutter an die Herzogin Amalia fing es an, bald 
folgten die an den Sohn (Suphan), und ſolch un— 


Schriften der Goethegeſellſchaft 277 


befangenen Ton ſetzte das geſchwätzige Tiefurter 
Journal (von der Hellen) fort; einen verwandten 
nahmen ſpäter die Briefe aus Ottilies Nachlaß (von 
Oettingen) wieder auf. Hundertjahrerinnerungen 
forderten ihr Recht: 1886 traten die Briefe und 
Tagebücher Goethes aus Italien an Frau von Stein 
und Herder ans Licht (Schmidt), 1890 der Brief— 
wechſel nach Italien aus den Jahren von 1788 bis 
1790 (Harnack), 1892 die Urkunden zur künſtleriſchen 
Geſchichte des Weimarer Hoftheaters unter Goethes 
Leitung (Wahle). Goethe und Lavater, Goethe und 
die Romantik, Goethe und Sſterreich ließen ſich in 
zuſammenhängenden Briefausgaben erläutert behan— 
deln. Von den Werken verdienten die Kenien (Schmidt 
und Suphan), die Maximen und Reflexionen (Hecker) 
nach den Handſchriften des Archivs eine beſondere 
Ausgabe, einige Liederhefte ſogar im Fakſimile, und 
eine kleine Probe von Goetheliedern mit zeitgenöſſi— 
ſcher Muſik, ja ein ausgewählter „Volksgoethe“ wurden 
gewagt. Das Goethe-National-Muſeum ſpendete ſie— 
ben Mappen mit Wiedergabe von gezeichneten Bild— 
niſſen und Landſchaften, zum Teil von Goethes Hand 
(Ruland, Koetſchau, Oettingen). Zwei dieſer Schrif— 
ten der Goethegeſellſchaft dienten Schiller: 1894 gab 
Kettner den ganzen Demetriusnachlaß heraus und zum 
9. Mai 1905 Suphan die Fakſimile von der Huldi— 
gung der Künſte, dem Monolog Marfas und dem 
Epilog zur Glocke. 


278 Goethejahrbücher 


Keine Goethegeſellſchaft ohne Goethejahrbuch! 
Das begann ſie freilich erſt zu Ende dieſer Zeit in 
eigner Redaktion (Gräf) zu unterhalten. Von 1880 
bis 1913 lief das von Geiger herausgegebene Jahr— 
buch, das ihr als Organ diente, ihre beſten Mitarbeiter 
lange auch zu den ſeinen zählte und für die Goethe— 
philologie während eines vollen Menſchenalters der 
bevorzugte Sammelplatz von Einzelarbeit geweſen iſt, 
zur Verbreitung von Vorträgen und Aufſätzen, von 
viel Quellenſtoff auch aus dem Goethe- und Schiller— 
archiv und einer Fülle kleiner Notizen. Und wie 
hätte ſich in Weimar nicht die Entwicklung des neuen 
Buchunternehmertums auf den Goethekult werfen 
ſollen und die Weimarer ortsgeſchichtliche Forſchung? 

Kein Zweifel: um Goethes willen tat dies Ge— 
ſchlecht in Weimar unverhältnismäßig viel mehr als 
im Namen Schillers. Aber ſchon die fromme Er— 
haltung von Schillers Haus durch die Stadt bedeutete 
eine Macht, ein Gut, das durch den ſittlichen Eindruck 
auf tauſende von Beſuchern dem Vaterlande Zinſen 
trug. Und von dieſem Hauſe ging jetzt beſondrer 
Segen und Dank auch für die neue deutſche Literatur 
aus; denn hier ſchlug die deutſche Schillerſtiftung 1890 
dauernd ihren Wohnſitz auf und entſchied die Ver— 
teilung ihrer wachſenden Mittel, ſoweit das nicht ſchon 
in ihren Zweigſtiftungen geſchah. Zu ihren Pfleg— 
lingen in dieſen Jahrzehnten gehörten Detlev von 
Liliencron und Klaus Groth, Guſtav Falke und Iſolde 


Schillerſtiftung um 1900 279 


Kurz, die Witwe von Gutzkow und die von Auerbach, 
Töchter von Storm und Hartleben, Enkel von Pichler 
und Mörike, ein Urenkel Jean Pauls, die Hinter— 
bliebenen von Gottfried Kinkel und von Heinrich Seidel. 
Auch etliche kleinere, manche geringe Talente reinen 
Willens hat ſie vor bittrer Not bewahrt und dem, 
der ſie darob leichtfertig angriff, deutlich heimgeleuch— 
tet; ſie hat eine große Schuld der Nation nach Kräften 
getilgt und mit alledem einen Hauch von Schillers 
Art lebendig erhalten. Ihre Generalſekretäre, nach 
deren Vorſchlag ihre Gaben zugemeſſen wurden, waren 
von 1869 bis 1902 der thüringiſche Dichter Julius 
Groſſe, ein Verwandter von Geibels Kunſt, und dann 
der feinſinnige und witzige Erzähler Hans Hoffmann; 
nach deſſen Tode (1909) übernahm der Danteforſcher 
Bulle Laſt und Dank des Amtes. 

Im jüngſten Jahrzehnt iſt im Zeichen Schillers 
noch eine andere weimariſch-deutſche Vereinigung 
wirkſam geworden, der deutſche Schillerbund. Der 
1896 nach Weimar übergeſiedelte Schriftſteller Bartels, 
anfangs vorwiegend literargeſchichtlich beſchäftigt, 
ſandte Oſtern 1905 eine Denkſchrift aus mit dem 
Vorſchlag, Weimarer Nationalfeſtſpiele für die deutſche 
Jugend zu begründen: in den Sommerferien ſollte 
hier in Wochenzyklen eine kleine Auswahl unſrer 
beſten Dramen von Leſſing bis Wildenbruch geſpielt 
werden vor Schülern und Schülerinnen von ſechzehn 
bis zwanzig Jahren, die aus ganz Deutſchland un— 


280 Jugendfeſtſpiele des Schillerbundes 


entgeltlich dazu eingeladen würden. Der Gedanke, 
gut begründet und als durchführbar nachgewieſen, 
fand in der deutſchen Lehrerſchaft wie in der Wei— 
marer Bürgerſchaft Beifall und Unterſtützung, und 
im Herbſt wurde zur Aufbringung der Mittel der 
Schillerbund gegründet mit einem halb weimariſchen, 
halb auswärtigen Vorſtand. Man arbeitete die nächſten 
Jahre tapfer an dem Ausbau der Sache weiter, her— 
vorragende Schriftſteller und Gelehrte traten dafür 
ein, in Weimar der Staatsminiſter und die Inten— 
danz, und im Sommer 1909 konnten die Feſtſpiele 
vor 2000 jungen deutſchen Geſichtern von Antwerpen 
bis Kremſier zum erſtenmal ſtattfinden: Tell, Minna 
von Barnhelm, der Prinz von Homburg und Egmont 
wurden aufgeführt. 1911 und 1913 fanden Wieder— 
holungen mit neuem Spielplan vor etwa 3000 Schü— 
lern ſtatt (aus fünfzig Gymnaſien uſw.), und wer die 
Begeiſterung der Jugend am Orte nicht mitzuerleben 
die Freude hatte, konnte ſich aus den vielen Dank— 
ſchreiben der Lehrer überzeugen, daß dieſe Jünglings— 
und Mädchenſcharen in ſolchen Feſtſpielwochen, von 
der weimariſch-thüringiſchen Umgebung angetan, wun— 
derbare Stunden deutſchen Glückes erlebten. Ein 
Teil der völkiſchen Jugendbewegung dieſes Jahrzehnts, 
zur bevorſtehenden Zeitenwende dem kommenden Ge— 
ſchlecht gewidmet, war hier in eine verheißungsvolle 
Bahn geleitet, das erkannten auch ein Beitrag des 
Kaiſers und das Fürwort des Reichstages an. 


Shakeſpearegeſellſchaft um 1900 281 


Der einzige nichtdeutſche Dichter, der dabei auf 
der Weimarer Bühne erſchien, war Shakeſpeare. 
Dieſem Stern der höchſten Höhe hatte Goethe ſeines 
Wertes Vollgewinn zu verdanken wiederholt bekannt, 
ihm und dem Gegenwartsglück im Umgang mit Char— 
lotte von Stein; ihn uns zu erhalten und immer 
beſſer zu vermitteln war dann die deutſche Shakeſpeare— 
geſellſchaft in Weimar gegründet worden. Sie hatte 
zu Anfang der ſiebziger Jahre unter dem nationalen 
Selbſtgefühl von 1871 und dem kurz darauf um ſich 
greifenden Materialismus keine günſtige Zeit gehabt, 
dann war die Erneuerung des Kunſtbewußtſeins auch ihr 
allmählich zugute gekommen. In den achtziger Jahren 
erhielt ſie ſich mit ungefähr 200 Mitgliedern, hob ſich 
darauf in zwei Sprüngen zu Anfang der neunziger 
und des neuen Jahrhunderts auf 325, auf 400 Mit— 
glieder und weiter auf 600. Namentlich zwei ihrer 
Präſidenten, ihr Veteran Oechelhäuſer (1890 bis 1904) 
und dann der ausgezeichnete Angliſt Brandl, förderten 
ſie, und 1914 feierte ſie ihr fünfzigjähriges Beſtehen. 
Außer ihrem Jahrbuch, das ſie in dieſer Zeit weſent— 
lich verbeſſerte, konnte ſie größere Schriften, Preis— 
arbeiten veröffentlichen, ihre Bibliothek — bei der 
großherzoglichen — wuchs raſch, deren Verzeichnis 
von wenigen Seiten (1882) auf 85 (1914), ſie ge— 
wann ein lebendiges Verhältnis zur deutſchen Bühne, 
und von ihrer einbändigen Volksausgabe der Schlegel— 
Tieckſchen Überſetzung, ſeit 1891 für drei Mark feil, 


282 Shakeſpearedenkmal; Wittumspalais 


wurden binnen zehn Jahren 60000 Stück gekauft. 
Ja auch Oechelhäuſers kühner Gedanke eines deut— 
ſchen Denkmals für Shakeſpeare wurde 1904 im 
Weimarer Park in der Geſtalt verwirklicht, die Otto 
Leſſing ihm gab: unter hohem Eſchen- und Ahorn- 
geäſt, keck zur Seite gebeugt im Schaffenstraum und 
innern Ferneblick, richtet er das halb ernſte, halb 
lächelnde Antlitz nach den Büſchen, als ob er Puck 
dort ſpringen ſähe, und die Andeutung einer Theater- 
ruine droben und das Gleichenſche Wappen aus dem 
ſpäten 16. Jahrhundert neben ihm ergänzen unbe— 
abſichtigt die ahndevolle Umgebung. 

Großherzog Carl Alexander führte es ein, die in 
Weimar ſich verſammelnden Mitglieder des Vorſtandes 
der Goethegeſellſchaft, der Schillerſtiftung und der 
Shakeſpearegeſellſchaft als ſeine Gäſte im Wittums— 
palais um ſich zu verſammeln. So wurde der Wohnſitz 
Anna Amalias auch in der jüngſten Vergangenheit 
noch benutzt, der übrigens als Weimariſche Sehens— 
würdigkeit von traulichſtem Reiz in urſprünglicher 
Geſtalt nun auch der allgemeinen Beſichtigung offen 
ſtand. Dankbar ſpürte der neue Beſucher das be— 
ſcheidene Glück des ſpäten achtzehnten Jahrhunderts 
in dem unmittelbaren Widerſchein des Weſens dieſer 
Fürſtin in ihren Privatzimmerchen, wo ſie der Ma— 
lerei, der Muſik oblag, und in den Erinnerungen, 
die das große Eck- und Leſezimmer erfüllen mit 
Bildniſſen ihrer Verwandten, mit dem von Goethes 


Das großherzogliche Haus um 1885 283 


Mutter geſchenkten Deckenleuchter und darunter dem 
großen, runden Tiſch, an dem ſich einſt die Hof— 
geſellſchaft ſamt den jungen Herder und Goethe ſo 
gern unterhielt. 1909 gelang es auch, ihren geliebten 
Sommerſitz, das Tiefurter Schlößchen, am Rande des 
ſtillbeglückenden kleinen Ilmparkes, — nach Ausräu— 
mung all der von Carl Friedrich dort untergebrachten 
Sammlungen — wieder in den alten Stand zu ſetzen 
der Zeit etwa von 1800, eine der erfreulichſten 
Neuordnungen altweimariſchen Beſitzes. 

Während all dieſer reichlichen und ſorgfältigen 
Pflege, die das jüngſte Zeitalter in Weimar dem 
klaſſiſchen Erbe angedeihen ließ, änderte ſich vieles 
im großherzoglichen Hauſe. Im Spätſommer 1873 
hatte ſich der Erbgroßherzog Carl Auguſt mit einer 
entfernten Verwandten vermählt, der Prinzeſſin 
Pauline von Weimar, und 1876 und 1878 waren 
dem Paar zwei Prinzen geboren worden. Von 
ſeinen drei Schweſtern war eine jung geſtorben; von 
den beiden andern heiratete die ältere Marie 1876 
den Prinzen Heinrich VII. von Reuß, den ſpäteren 
Botſchafter des Reiches in Wien, und die jüngere 
Eliſabeth 1886 den Herzog Johann Albrecht von 
Mecklenburg, der als Kolonialpolitiker und als Regent 
von Mecklenburg-Schwerin und dann von Braunſchweig 
deutſche Berufe erfüllte. Statt der nach auswärts 
gezogenen Töchter erfreuten die heranwachſenden 
Enkel die Großeltern, und am 8. Oktober 1892 feierte 


284 Erbgroßherzog Carl Auguſt 


das Land prächtig und herzlich die goldene Hochzeit 
ſeines Großherzogs Carl Alexander und der Groß— 
herzogin Sophie, und Deutſchlands Teilnahme klang 
in das ſeltene Feſt ein. 

Der Erbgroßherzog, von ſtillem, nicht leicht hervor— 
tretendem Weſen, ähnelte ſeinem Namensahnherrn 
in manchem Zug. Schon 1872 hatte er das Protek— 
torat über das landwirtſchaftliche Vereinsweſen über— 
nommen und gab nun hier manche gute Anregung; 
Mitte der achtziger Jahre nahm er teil an der Aus— 
arbeitung eines Geſetzentwurfs, der der Zerſplitterung 
des Bauernbeſitzes ſteuern und das Anerbenrecht im 
Großherzogtum einführen ſollte. In Forſtwirtſchaft 
und Fiſcherei galt er als kundiger Berater. Nicht 
minder beſchäftigten ihn die großen Fragen der Sozial— 
politik und die weimariſche Steuergeſetzgebung, auch 
der Stand der Landeskirche und die Entwicklung der 
evangeliſchen Miſſion. Zur bildenden Kunſt gewann 
er ein genaues Verhältnis als Sammler alter Radie— 
rungen, wobei er an den großherzoglichen Hausbeſitz 
ergänzend eng anknüpfte. Von Kaiſer Wilhelm II. 
wurde er 1892 zum General der Kavallerie befördert; 
im Mai 1893 übernahm er den Ehrenvorſitz der ver— 
einten Krieger- und Militärvereine des Großherzog— 
tums und ſah kurz darauf unter deſſen Abgeordneten 
manchen ihm aus dem franzöſiſchen Feldzug bekann— 
ten Mann wieder. Da ergriff den tüchtigen Fürſten 
ſchwere Krankheit, der er Ende 1894 erlag. 


ot 


Großherzog Wilhelm Ernſt 28: 


Großherzogin Sophie überlebte dieſen Schmerz 
nicht mehr lange; ſie ſtarb am 23. März 1897, als 
der Großherzog zur Jahrhundertfeier des Geburts— 
tages von Kaiſer Wilhelm I. in Berlin war. Er, der 
nun gebeugte Greis, ſollte auch im Spätſommer 1900 
auf der Wartburg den jüngeren ſeiner Enkel verlieren, 
den Prinzen Bernhard, ehe ihn ſelbſt in ſeinem 
dreiundachtzigſten Lebensjahre — wie Goethe — ein 
ſanfter Tod in Weimar am 5. Januar 1901 hinwegrief. 

An dieſem Tage übernahm Wilhelm Ernſt in 
ſeinem fünfundzwanzigſten Jahre die Regierung von 
Sachſen⸗Weimar⸗Eiſenach und verkündete: „Wir treten 
dieſelbe hierdurch mit der Erklärung an, daß Wir ſie 
treu und gewiſſenhaft im Einklang mit der Verfaſſung 
des Großherzogtums führen und das Andenken unſeres 
nun in Gott ruhenden Herrn Großvaters dadurch 
ehren werden, daß Wir in ſeinem Sinne wirken und 
die Überlieferungen unſeres Hauſes als ein teueres 
Vermächtnis bewahren und pflegen werden.“ Noch 
waren die Prüfungen des hohen Hauſes nicht zu 
Ende. Der junge Großherzog vermählte ſich zwar 
im Frühling 1903 in Bückeburg mit der verwaiſten 
Prinzeſſin Caroline von Reuß ä. L., und die zarte, 
kunſtfreundliche Herrſcherin zeigte ſich zu Wohltaten 
entſchloſſen wie Sophie, als das Sophienſtift ſein 
fünfzigjähriges Beſtehen beging, und wie Maria 
Paulowna, als der Hundertjahrtag von deren Ankunft 
in Weimar gefeiert wurde. Doch im Mai 1904 ſtarb 


286 Sachſen-weimariſches Staatsminiſterium um 1900 


jeine Mutter, und im Januar 1905 folgte ihr die 
neue Großherzogin in die Gruft. Fünf Jahre ſpäter 
ging Wilhelm Ernſt einen zweiten Bund mit der 
meiningiſchen Prinzeſſin Feodora ein. Ihm entſproſſen 
in den beiden folgenden Jahren die Prinzeſſin Sophie 
und ein Sohn; bei deſſen Taufe auf die Rufnamen 
Carl Auguſt wünſchte der anweſende Pate Kaiſer 
Wilhelm II.: „Möge der junge Herr, der in dem 
Lande geboren iſt, aus dem die Wartburg grüßt, 
vorbildlich ſein in ritterlicher Tugend, wie feine Vor— 
fahren und Ahnen, und ſein Schwert bereit halten 
für des Reiches Herrlichkeit. Möge er eine Säule 
unſerer evangeliſchen Kirche ſein, und möge er, von 
dem Geiſte der großen Dichterzeit Weimars umfloſſen, 
auch einſt ein Stützer und Förderer der deutſchen 
Wiſſenſchaft und Dichtung ſein.“ 

Wieder waren es die oberſten Staatsbeamten, die 
in ſolchem Wechſel inmitten des Zeitalters für den 
Zuſammenhang der Entwicklung Gewähr leiſteten. 
Der alte Freiherr von Groß, der 1890 an Stichlings 
Stelle Miniſter wurde, ſchied noch vor Carl Alexanders 
Tode aus dem Dienſt, aber ſein vortragender Rat 
in Präſidialſachen und nachmaliger Chef des Finanz— 
departements Rothe leitete das Miniſterium in der 
Folgezeit weiter, wobei er die Geſchäfte des groß— 
herzoglichen Hauſes, des Kultus und der Juſtiz ver— 
waltete und ihm als neuer Chef des Finanzdeparte— 
ments Hunnius andauernd zur Seite ſtand. Das 


Reich und Großherzogtum 287 


Departement für Inneres und Außeres war in wech— 
ſelnder Hand; Staatsminiſter Rothe aber übernahm 
von ſeinem Vorgänger auch die Vertretung Weimars 
beim Bundesrat, und er widmete ſich zugleich der 
Mitarbeit im Vorſtand der Stiftungen und gelehrten 
Geſellſchaften, die mit dem Namen des großherzog— 
lichen Hauſes und der großen Weimarer Dichter ver— 
bunden ſind. 5 

So wuchs das Großherzogtum in die neuen deut— 
ſchen Verhältniſſe herein, teils in einem ſich allmäh— 
lich befeſtigenden Zuſammenhang mit den thüringiſchen 
Nachbarſtaaten, auch mit Preußen und dem ganzen 
Reiche, teils auf Grund heimiſcher Entwicklung. Das 
Reich griff mit dem bürgerlichen Geſetzbuch und der 
großen Verſicherungsgeſetzgebung ein, deren Ausbau 
das ganze Zeitalter in Anſpruch nahm. Dem Schöp— 
fer des Reiches dankte das neue Weimarer Geſchlecht 
durch Errichtung eines Bismarckturmes an hoher freier 
Ecke des Ettersberges: am Sedantage 1900 wurde 
der Grundſtein dazu gelegt, Carl Alexander hatte den 
Platz mitten in ſeinem Jagdgebiete zur Verfügung ge— 
ſtellt, und das Miniſterium den nahen Kalkſteinbruch, 
und Ende Oktober 1901 wurde der Bau geweiht.“) 

Mit Preußen verband ſich das Großherzogtum 
vor allem dadurch enger, daß 1886 die Bahnen 

*) Dieſem Beiſpiel folgten Eiſenach und Jena: Die 
Eiſenacher Bismarckſäule wurde im Herbſt 1902 auf dem 


Wartenberge geweiht, die Jenaer im Frühjahr 1909 auf dem 
Tatzend; beide hatte der Dresdner Architekt Kreis entworfen. 


288 Thüringen und die neue Reichsgeſetzgebung 


der thüringiſchen Eiſenbahngeſellſchaft an den preu— 
ßiſchen Staat übergingen, auch mit der Verwandlung 
der thüringiſch-anhaltiſchen Staatslotterie (ſeit 1897) 
in eine heſſiſch-thüringiſche (ſeit 1902) und deren An— 
ſchluß an Preußen (ſeit 1906). Auf Grund eines 
Staatsvertrags, den Weimar 1910 mit Altenburg und 
den beiden Schwarzburg abſchloß und dem dann auch 
Coburg-Gotha beitrat, begann mit dem Oktober 1912 
das neue Thüringer Oberverwaltungsgericht in Jena 
ſeine Tätigkeit. Der alte thüringiſche Zoll⸗ und Han— 
delsverein wurde 1889 zum Thüringiſchen Zoll- und 
Steuerverein umgeſchaffen, und unter den zwölf Bezirks— 
zollämtern ſeines Gebietes wurden drei weimariſche 
gebildet; ſein Präſident in Erfurt ward zur oberſten 
Inſtanz ernannt für die jüngſte Reichsſteuergeſetz— 
gebung, die Erbſchaftsſteuer von 1906, die Stempel— 
abgabe von 1908 und die Zuwachsſteuer von 1911. 
Binnen einem Jahrzehnt wurde im Gehäuſe des 
weimariſchen Staates, teilweiſe im Verband mit 
thüringiſchen Nachbarn, ein neues Kammerweſen zum 
Teil im Anſchluß an die Reichsgeſetzgebung einge— 
führt: durch die Geſetze von 1900 und 1906 die 
Handwerkskammer; durch die von 1901 und 1907 die 
Sachverſtändigenkammern für Werke der Literatur, der 
Tonkunſt, der bildenden Künſte und der Photographie 
und durch Geſetz von 1906 die Handelskammer; auch 
die alte landwirtſchaftliche Zentralſtelle wurde 1909 
in eine Landwirtſchaftskammer umgewandelt. 


Landwirtſchaft um 1900 289 


Unter allen thüringiſchen Staaten iſt im Groß— 
herzogtum Sachſen-Weimar-Eiſenach der Anteil der 
landwirtſchaftlichen Bevölkerung verhältnismäßig groß. 
Während im Fürſtentum Reuß ä. L. 13 v. H. Landleute 
und Landwirte gegen 76 v. H. ſtehen mit einer Tätig— 
keit in Induſtrie, Handel und Gewerbe, im Herzogtum 
Sachſen-Meiningen 24 v. H. gegen 65 v. H., iſt 
das Verhältnis im Weimariſchen wie 30 v. H. zu 
55 v. H. Dieſe ländliche Urbeſchäftigung zu fördern, 
richtete der weimariſche Staat neuerdings landwirt— 
ſchaftliche Winterſchulen ein, 1900 in Markſuhl und 
1907 in Triptis. Das nähere über die theoretiſche 
Ausbildung inländiſcher Bewerber um Forſtdienſt— 
ſtellen wurde 1910 feſtgeſetzt, auch kam es zu einer 
Neuorganiſation der oberen Forſtbehörde, wie denn 
Großherzog Wilhelm Ernſt für dieſen Zweig der 
Landesnutzung warme Teilnahme zeigte. War doch 
auch in den zwanzig Jahren von 1883 bis 1903 der 
Forſtgrund zwar nur von 43 Tauſend auf 46 Tau— 
ſend Hektar gewachſen, der Reinertrag daraus aber 
von 932 Tauſend Mark faſt auf das doppelte. Der 
liberalen, zerſtückelnden Bodenpolitik früherer Zeit— 
alter, gegen die ſchon Erbgroßherzog Carl Auguſt 
anzukämpfen geſucht hatte, wurde 1912 ein Gegen— 
gewicht geſchaffen in dem Zuſammenlegungsgeſetz für 
Fluren und Flurteile: es ermöglichte, alten Streu— 
beſitz durch Austauſch unter den Dorfgenoſſen in zu— 


ſammenhängendes Beſitztum zu verwandeln, wobei 
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 19 


290 Bergbau und Induſtrie um 1900 


zugleich auf beſſere Anpaſſung der Flureinteilung an 
die Bodennatur geſehen wurde. Am ſtärkſten waren 
die Veränderungen im Bergweſen: an verſchiedenen 
Stellen des Landes fand man Kaliſalzlager und be— 
gann ſie mit Vorteil zu erſchließen, daher wurden 
1905 ein neues Berggeſetz und 1906 neue Ordnungen 
für die Bergpolizei und die Markſcheider erlaſſen; 
infolge dieſer Kaliunternehmungen war die Einnahme 
aus dem Bergregal z. B. zwiſchen 1899 und 1904 
von 25 auf 144 Tauſend Mark geſtiegen. 

Die thüringiſche Induſtrie bewahrte ſich bis zur 
Gegenwart einen doppelten Reiz, der auch der wei— 
mariſchen Induſtrie eigen blieb: ihre große Mannig— 
faltigkeit auf engem Raum und das Vertrauensver— 
hältnis in der Werkgemeinſchaft. Wo fände ſich in 
Deutſchland noch das patriarchaliſche Weſen öfter als 
hier, daß der Arbeiter mit ſeiner Kraft ein volles 
Menſchenalter hindurch demſelben Unternehmen dient? 
Und dabei erſtreckte ſich ihre Ein- und Ausfuhr über 
das Reich, ja über deſſen Grenzen hinaus: der neu— 
ſtädtiſche Kreis ſpann Jute aus Indien, und Apoldas 
Woll- und Wirkwaren wanderten auf den Weltmarkt. 
An der Bürgeler Töpferei ſah man deutlich, wie das 
Eindringen des neuen Unternehmertums das alte 
Handwerk umgeſtaltete. Dort hatte es 1861 noch 
43 Töpfermeiſter gegeben, dann hatten Gewerbefrei— 
heit und Induſtrialiſierung zu einer kritiſchen Zeit 
in den ſiebziger Jahren geführt, woraus ſich allmäh— 


Neue Schulung von Gewerbe und Handel 291 


lich der neue Dauerzuſtand ergab, wie ihn noch das 
Jahr 1914 aufwies, wo ſich neben vier Fabrikbetrie— 
ben doch neun Handwerksbetriebe, auf höherer Stufe 
als einſt, erhielten. Auch mit der elektriſchen Dreh— 
ſcheibe ließ ſich echte Thüringer Volkskunſt ausüben, 
gleichviel ob um 1880 eine Welle des damals moder— 
nen Kunſtgewerbes ſie überflutete oder um 1910 der 
Einfluß van de Veldes. Ein ausgezeichnetes Bei⸗ 
ſpiel techniſcher Verfeinerung tat ſich in Ilmenau 
auf: unter mitwirkender Aufſicht der phyſikaliſch-tech— 
niſchen Reichsanſtalt wurde hier eine großherzogliche 
Prüfungsanſtalt für Glasinſtrumente errichtet, um 
Thermometer, chemiſche Meßgeräte uſw. zu prüfen 
und zu beſcheinigen; dazu kamen im nächſten Jahr— 
zehnt drei verwandte Eichämter und 1894 als ſtaat— 
liche Lehrwerkſtatt eine Fachſchule für Glasinſtrumen— 
tenmacher und Feinmechaniker. Das kleine alte Weſen 
der zwei Gewerkenſchulen wandelte ſich und wuchs 
zwiſchen 1886 und 1896 zu den neuen ſechs Gewerbe— 
ſchulen. Ihnen geſellten ſich ſechs Handelsſchulen; 
denn ein Geſetz von 1912 ordnete für jede Gemeinde 
von mehr als 10000 Einwohnern eine kaufmänniſche 
Fortbildungsſchule an. Beſondere ſoziale Fürſorge 
errichtete 1901 die Weimarer Blindenwerkſtatt und 
ſtellte der Gewerbeinſpektion neue Aufgaben durch 
das Kinderarbeitsgeſetz von 1903 und das Haus— 
arbeitsgeſetz von 1911. In denſelben Jahrzehnten 


verwandelten ſich auch im Weimariſchen alte Real— 
19 * 


292 Weniger und Burkhardt 


ſchulen erſter Ordnung in Realgymnaſien, während 
die zweiter Ordnung die Militärberechtigung zum 
Einjährigenzeugnis erhielten. 

Der berühmteſte derzeitige Rektor des Großherzog— 
tums war Weniger; er leitete das Gymnaſium der 
Reſidenz von 1881 bis 1908 und nochmals ſeit Be— 
ginn des großen Krieges, als ſein Nachfolger ins 
Feld zog. In den Jahren 1884 bis 1913 veröffent- 
lichte er größere und kleinere Forſchungen über den 
altgriechiſchen Götterdienſt in Olympia, beſonders zur 
Verehrung des Zeus und der Artemis, und das 
mythologiſche Hauptwerk des Zeitalters, Roſchers 
Lexikon, verdankt ihm manchen Beitrag; auch zur 
Gymnaſialpädagogik und zur thüringiſchen Geſchichte 
lieferte er Bauſteine. Unter den deutſchen Archivaren 
ragte Burkhardt hervor, der von 1862 bis 1907 an 
der Spitze des weimariſchen Geheimen Staatsarchivs 
ſowie des erneſtiniſchen Geſamtarchivs ſtand. Als 
hier ein praktiſches Archivgebäude nach ſeinen Vor— 
ſchlägen errichtet und 1885 eröffnet wurde, erſchienen 
als ſeine Feſtgabe quellenmäßig bearbeitete Stamm— 
tafeln der Erneſtiniſchen Linien des Hauſes Sachſen; 
ſeine vielen Aufſätze in den Grenzboten und der All— 
gemeinen deutſchen Biographie, zu Goethes Weimarer 
Tätigkeit, zur Reformationsgeſchichte, zur Geſchichte 
Weimars, ſein Handbuch der deutſchen Archive — in 
großdeutſchem Rahmen und 1887 in ſtark vermehrter 
Auflage —, ſein Anteil an der Veröffentlichung von 


Neueſte weimariſche Kulturgeſchichtſchreibung 293 


Goethes Tagebüchern (Sophienausgabe) ſichern ihm 
ein wiſſenſchaftliches Gedenken. Auf eine noch längere 
Weimarer Tätigkeit, die gelegentlich nach Deutſchland 
hinausgriff, blickte ſchließlich der 1915 im zweiund— 
achtzigſten Jahre geſtorbene Herr von Bojanowski 
zurück: 1863 hatte ihn Watzdorf zur Leitung der 
Weimariſchen Zeitung berufen, und 1893 übertrug 
man ihm die der großherzoglichen Bibliothek, aus 
deren Direktionszimmer er die Gedächtnisſchriften zur 
jüngſten Geſchichte ſeines Fürſtenhauſes ausſandte. 
Die neuere weimariſche Kulturgeſchichte fand in einer 
Angehörigen des Steinſchen Geſchlechts eine kundige 
Berichterſtatterin, in Adelheid von Schorn, der Toch— 
ter Ludwig Schorns, die namentlich aus dem Liſzt— 
kreiſe viele anziehende Briefe mitzuteilen hatte. Und 
wer dieſen neuen weimariſch-deutſchen Kreis noch 
weiter ziehen wollte, könnte an Richard Voß erinnern, 
den Carl Alexander zum Bibliothekar der Wartburg 
ernannte, und auch an Schillers Urenkel, den ge— 
ſchmeidigen Eſſayiſten der neueren europäiſchen Kultur— 
geſchichte, Alexander von Gleichen-Rußwurm. 

Mehr als ſie alle ſchrieb und erzählte Helene 
Böhlau mit weimariſchem Herzblut. Nicht Geſchichte, 
aber Geſchichten, vor allem ihre eigene, und das mit 
ſo friſcher Luſt und hohem Gegenwartstemperament, 
daß es im ganzen echte Dokumente des Zeitalters 
wurden. Als neu und jung und thüringiſch quellend 
wurden ihre erſten Novellenverſuche gegen 1885 


294 Helene Böhlau 


empfunden; dann trieb das Schickſal fie aus dem 
Elternhaus und der Heimat an der Hand eines in 
Seelennot gewonnenen Mannes, und nun umſpann 
ſie in der Ferne all ihr Glück von Weimarer Erinne— 
rungen aus der Großmutterzeit und ſchrieb die Rats— 
mädelgeſchichten und die Altweimarer Geſchichten in 
verſchiedenen Folgen, verſuchte ſich auch in größeren 
ſozialproblematiſchen Romanen, und ſie ſtellte ihr 
eigenes Geſchick dar wie in einem Vermächtnis an 
die Vaterſtadt in dem Roman „Reines Herzens 
ſchuldig“ (1888) und ſpäter nochmals kräftiger, tiefer, 
unmittelbarer in dem Roman „Iſebies“ (1911). Das 
könnte man verſucht ſein goethiſch an ihr zu nennen, 
daß ihr Talent ihr durch einen ſchweren Kampf 
hindurch geholfen hat, obwohl bei ihr mehr eine 
künſtleriſche Rechtfertigung nach der Tat erfolgt. Die 
altweimariſche Stimmung am Ettersberg und in den 
älteſten Gaſſen der Stadt hat ſie manchem zu Danke 
poetiſiert. 

Deutſche Sinner und Dichter fühlten ſich unwider— 
ſtehlich nach Weimar gezogen. Da war zu Beginn 
des Zeitalters Hans Herrig: er ſchwärmte von der 
Neubelebung des religiöſen Elements in volksmäßiger 
Tönung mit Schopenhauerſchem Einſchlag, kämpfte 
für eine deutſche Volksbühne, und ſein Lutherfeſtſpiel 
erlebte 21 Auflagen, aber von Weimar aus, wohin 
er 1888 überſiedelte — ſeine Frau war eine Tochter 
des weimariſchen Kapellmeiſters Stör — war ihm 


Nietzſche und Wildenbruch 295 


nur noch geringe Wirkung beſchieden; er ſtarb 1892. 
Zu den Lieblingsgedanken des jungen Nietzſche hatte 
es gehört, ſeine Tage wenn nicht am Rhein, ſo in 
Weimar zu beſchließen; das erfüllte die treue Schwe— 
ſter, als der Geiſt des ikariſchen Fliegers gebrochen 
war, und bereitete ihm 1897 mit Hülfe van de 
Veldes ſein Krankenheim am Silberblick über der 
Stadt und geſtaltete es nach ſeinem Tode zum 
Nietzſche-Archiv aus. Die Kunſt von Klinger und 
Olde verewigte hier den Kopf des Mannes, der den 
von Goethe einſt für ſich abgelehnten Begriff des 
Übermenſchen zur Züchtung moderner Herrennaturen 
verwenden wollte und dem ſeine Kriegseindrücke von 
1870 das Ideal vom Willen zur Macht als allherrſchend 
eingeflößt hatten. Die Verehrung für den ſo fein— 
fühligen wie verwegenen Denker, in dem viele um 
ſeines glückhaltigen Höhenwahns, um ſeiner kühnen 
Worte willen einen Haupteroberer neudeutſcher Gei— 
ſteshaltung ſahen, wurde von Weimar aus von der 
Schweſter unabläſſig gepflegt. Auch Wildenbruch wurde 
an ſeinem Lebensabend ein ſtändiger Sommerbewoh— 
ner Weimars, das er um ſeiner klaſſiſchen Vergangen— 
heit und anmutigen Gegenwart willen ſchwärmeriſch 
liebte. Mit loderndem Herzen arbeitete er hier wie 
in Berlin an ſeinen letzten Dichtungen, nahm er hier 
an den Verhandlungen der Goethe-, der Shakeſpeare— 
geſellſchaft teil, ſah er 1905 die Weimarer Urauffüh— 
rung ſeiner „Lieder des Euripides“ und dichtete dar— 


296 Lienhard und die Heimatkunſt 


auf „Das Hohelied von Weimar.“ Droben am Horn 
neben ſeinem ſchönen von Schultze-Naumburg erbau— 
ten Hauſe bewegt der Abendwind die Rüſterzweige, 
daß die gegenüber golden untergehende Sonne ſein 
marmornes Sterbemal mit ſpielendem Lichte belebt. 

Was dieſe Männer nach Weimar führte und was 
ſo manchen andern im Geiſte dort landen läßt, hat 
Lienhard in ſeinen „Wegen nach Weimar“ angedeu— 
tet, einer Monatsſchrift dreier Jahre (1905 bis 1908), 
die ſich in Halbjahrskreiſen von heute und außen her 
über Heinrich von Stein und Emerſon, Shakeſpeare und 
Homer, über das Zeitalter Friedrichs des Großen, 
Herder und Jean Paul allmählich Schiller und Goethe 
näherte und dabei das Schaffen der Gegenwart be— 
leuchtete und zu befruchten ſuchte. „Wie einſt Peri— 
kles ſein Athen als die Hochſchule von Hellas empfand, 
ſo nenne ich in menſchlich weitem und geiſtig unbe— 
fangenem Sinne Weimar die Hochſchule des neuen 
deutſchen und neueuropäiſchen Kulturideals“, erklärte 
der Herausgeber. Mehr wollend als könnend ſuchte 
er auch als Lyriker und Dramatiker dieſes Ideal neu 
zu verwirklichen und, wie er vorübergehend in Wei— 
mar weilte, ſo ſchrieb er eine Wartburgtrilogie, deren 
erſter Teil Gedanken von Scheffels Wartburgroman 
verwandte. Beſcheidner, aber bodennäher arbeitete 
in dieſen Jahren Arminius aus genauerer Landes— 
kenntnis an Weimariſcher Heimatkunſt in Novelle, 
Roman und Drama. In dem Blick aufs Nahe, 


Schlaf, Hegeler, Ernſt; Hardt 297 


Kleine lag auch die Stärke von Schlaf, einem der 
Begründer des neuen Naturalismus, der 1904 nach 
Weimar überſiedelte und ſich hier auf dem Entwick— 
lungswege eines deutſchen, religiöſen Romanhelden— 
typs weiter taſtete, wobei er ſich in aſtronomiſche 
Fragen verfitzte, künſtleriſch völlig anſpruchslos, wäh— 
rend Hegeler in vielen Novellen zum Teil weimariſch 
heimatlichen Stoffes, aber berliniſcher Mache ſeine 
Technik befeſtigte. Von dieſer Gruppe hob ſich im 
letzten Jahrzehnt Paul Ernſt ab; proteusartig ſchlug 
er ſich durch viele flach erfaßte Gedanken und ſicher 
gebaute Sätzlein vorwärts, durch wirklichkeitsferne 
Stildramen und flink-platte Novelletten, moderniſierte 
das Stellamotiv in einem Roman und bot der 
Bühne wieder einmal einen Demetrius und ein 
Canoſſa, eine Brunhild und eine Ninon de Lenclos 
an. 

Ernſt Hardt kam als ein Dichter (1907) nach 
Weimar. Schnell hatte ihn ſein erſtes Drama, das 
mittelalterlicher Epik und Plaſtik entſtammte, Tantris 
der Narr, auf den Gipfel der Anerkennung mit 
Schillerpreis und Schillervolkspreis gehoben. Im 
Winter 1910 vollendete er hier ſeine Gudrun und 
gab den im alten Gedicht heiter geſehenen Geſtalten 
ſo herben Stolz und harte Gebärden, daß es ein 
nibelungentrotziges Trauerſpiel wurde. Dann gelang 
es ihm (Sommer 1912), für die Geſchichte von der 
Rückkehr des Grafen von Gleichen, die ſo oft mit 


298 Liſztſtiftung und Liſztdenkmal 


tragiſcher Miene angefaßt worden war, ein erheitern— 
des Licht aufzuſtecken und die beiden Frauen dieſes 
orientaliſierten Herren in dem Scherzſpiel Schirin und 
Gertraude in beluſtigender Einigkeit vorzuführen und 
ſo das Problem mit deutſchem Lachen ad absurdum 
zu führen. Der Orient lockte ihn weiter. 

Manches dieſer neuweimariſchen Werke wurde hier 
auch zuerſt aufgeführt; das weimariſche Theater wurde 
über zwei Jahrzehnte von dem genialen Spiele erſt 
des jungen Wiecke, dann des älteren Weiſer belebt. 
Doch pflegten die neuen Intendanten mit Vorliebe 
die Oper und ſetzten die liſztſche Überlieferung des 
vorigen Zeitalters fort. Es war zuerſt, nachdem ſich 
Wildenbruch der Werbung Carl Alexanders verſagt 
hatte, Bülows ehemaliger Mitſchüler bei Liſzt aus den 
Tagen der Altenburg, Hans Bronſart von Schellen— 
dorf (1887-1895); ihm fiel auch eine leitende Stel— 
lung zu, als es galt, für Liſzt ein Denkmal in Wei— 
mar zu ſchaffen. Zu Liſzts Gedächtnis richtete ſchon 
1892 die Fürſtin Hohenlohe, einſt als Prinzeſſin 
Marie auf der Altenburg gefeiert, die Liſztſtiftung 
ein — wodurch Liſzts Räume in der Hofgärtnerei 
nebſt dazu gehörigen Geſchenk- und Bücherſammlun— 
gen erhalten blieben —, und Liſztſtiftung und Allge— 
meiner deutſcher Muſikverein erließen 1894 einen 
Denkmalsaufruf für den Meiſter. Als 1899 die Mo— 
delle dazu eingingen, konnte der erſte Preis dem 
Münchner Bildhauer Hahn zugeſprochen werden; es 


Der junge Richard Strauß 299 


gelang ihm, den inſpirierten, milden Ausdruck des 
Kopfes noch zu ſteigern, ſo daß man ihn mit der 
nervöſen Rechten in Verbindung fühlte, und Ende 
Mai 1902 wurde das weiße Marmorſtandbild im 
Park nahe der Hofgärtnerei aufgeſtellt. 

Unter Bronſart erlebte der begabteſte Erneuerer 
der Liſzt⸗Wagnerſchen Kunſt in Weimar entſcheidende 
Jahre, der junge Richard Strauß. Seit Oktober 1889 
hier als Kapellmeiſter neben Laſſen tätig, hatte er 
zunächſt Gelegenheit, ſeinen Don Juan, ſeinen Mac— 
beth dirigierend zu hören, ſinfoniſche Dichtungen in 
Liſzts Fahrwaſſer, aber von neuem perſönlichen Tem— 
perament erfüllt; „Tod und Verklärung“, das ſchon 
im Programm an „Leid und Verklärung“ von Liſzts 
Prometheus anknüpfte, aber wiederum einen Grad 
naturaliſtiſcher zufaße, brachte er 1890 auf dem Ton— 
künſtlerfeſt in Eiſenach heraus, das innigſte und eigenſte 
dieſer Werke, in München begonnen und in Weimar 
fertig geſchrieben. In der Oper widmete er ſich 
vervollſtändigten Wagneraufführungen nach Bayreuther 
Muſter; vergebens ſuchte er ſeines Mentors Alexander 
Ritter „Faulen Hans“ im Spielplan einzubürgern, 
aber mit der Uraufführung einer anderen deutſchen 
Märchenoper hatte er großen Erfolg, mit Humper— 
dincks Hänſel und Gretel zu Weihnachten 1893. 
Damals war auch die Partitur ſeiner erſten eigenen 
Oper fertig geworden, Guntram, in Weimar angelegt 
und größtenteils auf Erholungsurlaub im Süden 


300 Guntram 


ausgearbeitet. So naiv er im Text ausſchüttete, wie 
es ihm ums Herz war, und dabei bald Uhland, bald 
Schiller, bald die „ſoziale Frage“ verwendete, 
ſo entſchieden behauptete er ſich in der Muſik 
mit Triſtan- und Parſifalklängen und nach eigenem 
Bekenntnis „als guter Wagnerianer“ und fühlte im 
Grunde doch noch mehr mendelsſohniſch. Triolenauf— 
ſchwünge, gepeitſchte Geigenläufe, Holzbläſerdickicht, 
neue harte und ſüße Klänge, ein verſchärfter Sub— 
jektivismus der Orcheſterſprache waren ſein Eigentum 
wie unter den Figuren der Narr, mit dem zu Be— 
ginn des zweiten Aktes die Ironie von Strauß breit 
präludierend einſetzte; ſchrieb er doch ſchon in Weimar 
auch den Textanfang zu einer Oper Eulenſpiegel 
nieder. Der Tenoriſt Zeller ſang den Guntram, die 
Sopraniſtin de Ahna ſein Widerſpiel Freihild; beide 
hatte Strauß aus München mitgebracht, beiden wid— 
mete er 1894 zwei Hefte mit Liedern. Op. 26 vor 
der Entſcheidung ſeines Liebesglücks auf zwei Texte 
Lenaus: ein geheim ſeliges, ſchüſſiges Singlied und 
und ein ſchier verzagtes Sprechlied; op. 27 vier Lieder, 
die den Beginn der Liedkunſt des jüngſten Zeitalters 
neben Hugo Wolfs Geſängen und dem großen Fluß 
der Brahmsſchen Lyrik bezeichnen, auf Texte von 
Henckell, Hart und Mackay: ihre chromatiſchen Akkord— 
veränderungen, gelöſt von altharmoniſchem Geſetz, 
vermitteln unausgeſprochene Empfindungswechſel, we— 
niger in den mouſſierenden, raſchen Stücken als in 


Gunlöd 301 


den ſchweren wie dem Eingangslied „Ruhe, meine 
Seele“ mit den optiſch-akuſtiſchen Effekten der Sonnen— 
blicke im Waldlaub, den motoriſch-akuſtiſchen Erinne— 
rungen an den Lebensſturm und dem pathetiſchen 
Staunen über die gewaltige Gegenwart. Kurz darauf 
zogen Strauß und ſeine Sängerin zur Hochzeit nach 
München davon. 

Der Ortszuſammenhang mit Liſzt bewirkte wohl 
auch, daß einer der früheſten ſeiner jungen Weimarer 
Freunde hier neue Pflege fand, Cornelius. Er hatte 
in ſeinen letzten Jahren an einer Oper Gunlöd ge— 
arbeitet, den Text und auch die beiden erſten Akte 
der Muſik niedergeſchrieben, vom Schlußakt nur 
wenige Bruchſtücke. Eine ſymboliſche Dichtung: Gun— 
löd, von dem wilden Suttung geraubt, bewahrt für 
Odin, der kommen wird, einen heiligen Trank, über— 
gibt dieſen auch Odin, der als Knecht in Suttungs 
Haus getreten iſt, wird darum von Suttung in den 
Gebirgsſchlund der Hel geführt, aber von den Alfen 
nach Walhall enthoben, wo ſie nun Odin ewig den 
Trank reicht. Auch hier Triſtanklänge als Huldigung 
für Wagner eingewoben, aber auch unfreiwillig man— 
ches wagneriſche in ſzeniſcher und ſprachlicher Erfin— 
dung; ſonſt mehr lyriſches, als dramatiſches Weſen, 
ja mehr Liebe zur Kunſt, als unmittelbare Schaffens— 
kraft. Einer erſten Ergänzung des ſchön empfundenen 
Werkes — durch den jungen Hoffbauer in München 
— nahm ſich Laſſen an und führte ſie überarbeitet 


302 Cornelius und Baußnern 


1891 in Weimar auf, von wo die Oper in den 
nächſten Jahren ihren Weg nach Straßburg und 
Mannheim fand. Nach einem Jahrzehnt brachte ihr 
das Corneliusfeſt 1903 in Weimar neues Leben: als 
hier der originale Barbier von Bagdad, von Mottls 
glänzender Retuſche befreit, und auch der Cid wieder 
bejubelt wurden, beſchloß man, ihr eine gediegenere 
Behandlung angedeihen zu laſſen und übergab ſie 
Waldemar von Baußnern in Köln, der ſie neu unter— 
baute und zu Ende führte, ſo daß ſie ſo von nieder— 
rheiniſchen Aufführungen 1910 auf die Weimarer 
Bühne zurückkehren konnte. Baußnern ſelbſt ſiedelte 
hierher als Direktor der großherzoglichen Muſikſchule 
über), und wie Cornelius ſein Werk „Hohes Lied 
der Seele“ deutend genannt hatte, ſo ſchrieb er hier 
und in der Schweiz „Das hohe Lied vom Leben und 
Sterben“ als ein großes weltliches Oratorium zu 
Worten von Goethe bis Nietzſche, naturandächtige 
Stimmen des Jahrhunderts mit muſikaliſchem Pathos 
vermählend, wobei beſonders die neueren Dichter wie 
C. F. Meyer, Polenz und M. von Stern einen ſtarken 
Ausdruck fanden. 

Bronſarts Nachfolger Herr von Vignau erhielt 
eine beſondere Aufgabe, als Großherzog Wilhelm 
Ernſt bald nach ſeinem Regierungsantritt den Neubau 
des Hoftheaters in Angriff nahm. Die Münchner 


*) Als Muſik- und Theaterſchule 1872 von Müllerhartung 
gegründet und von ihm dreißig Jahre geleitet. 


Theater- und Schloßbau 303 


Firma Heilmann und Littmann arbeitete 1905 ein 
Bauprogramm aus, wonach das Gebäude wenige 
Meter weiter ſüdlich als der alte Bau von 1825 zu 
ſtehen kommen ſollte, ſo daß Bühne nebſt Magazin— 
räumen 1906 errichtet werden konnten, während un— 
mittelbar daneben das alte Haus noch in Benutzung 
war; 1907 wurde der Zuſchauerraum und der ſonſtige 
Vorderteil des Gebäudes angefügt, und im Januar 
1908 fand die Einweihung ſtatt. In dem ſchwierigen 
Untergrund auf faſt 2000 Pfähle geſtützt erhob ſich 
die neue Laſt von Stein und Eiſen, im Außeren 
Weimars älterer ruhiger und vornehmer Bauweiſe 
angeglichen, im Innern mit allen techniſchen Möglich— 
keiten der Gegenwart ausgerüſtet, ja auch mit einem 
dreifach veränderlichen Proſzenium — mit Vorder— 
bühne für das Schauſpiel, oder mit offnem oder 
verdecktem Orcheſter — und ohne alle Proſzeniums— 
logen, der Zuſchauerraum in dem Farbendreiklang 
von Weiß, Gold und Grünblau. Von den zwei 
Millionen Koſten trug der Großherzog mehr als drei 
Fünftel, in den Reſt teilten ſich Land und Stadt. 
Kurz nach Vollendung des ſchönen Werkes übergab 
Herr von Vignau ſein Amt dem Freiherrn von 
Schirach. Die in erſter Linie am Theaterbau ſchaffenden 
Kräfte wurden auch zu dem Ergänzungsbau einer 
ſüdlichen Stirnſeite des großherzoglichen Schloſſes 
herangezogen, deren Außeres in den Jahren 1913 bis 
1915 vollendet wurde. 


304 Bau⸗ und Kunſtdenkmäler 


Die Bau- und Kunſtdenkmäler der Vergangenheit 
des Großherzogtums Sachſen und der andern thürin— 
giſchen Staaten außer Schwarzburg-Sondershauſen 
wurden in einem großen geſchichtlichen Inventariſa— 
tionswerke gemeinſchaftlich nach Amtsgerichtsbezirken 
aufgenommen. 1884 begann eine Kommiſſion die 
Arbeit, in der Lehfeldt als Konſervator und Be— 
reiſender vor allen tätig war. Bis zur Jahrhundert— 
wende, wo ihn der Tod abrief, brachte er 27 ſtatt— 
liche Hefte mit einer großen Fülle orts- und kunſt⸗ 
geſchichtlich verarbeiteten Stoffes zum Druck: darin 
waren Sachſen-Altenburg, Schwarzburg-Rudolſtadt 
und die beiden Reuß vollſtändig behandelt, vom Groß— 
herzogtum allein ein Dutzend Hefte (der Oſten und 
die Mitte) und Teile von Meiningen und Coburg— 
Gotha vorgelegt. Bis 1915 wurden unter dem neuen 
Konſervator Georg Voß weitere dreizehn Hefte in 
immer vollkommenerer Ausführung namentlich der 
Abbildungen fertig — ſeit 1906 in erweiterter Anlage 
unter Mitarbeiterſchaft von Ortshiſtorikern, aber unter 
Zugrundelegung des großen Lehfeldtſchen Nachlaſſes 
— und ſomit dieſes Ehrenwerk thüringiſcher Geſchichte 
und Kunſt binnen dreißig Jahren nahezu vollendet. 

Das großherzogliche Muſeum wurde den größten 
Teil dieſer Zeit über von Ruland geleitet; Koetſchau, 
der ihm folgte, griff auch hier ein, indem er minde— 
res beiſeite ſtellte und den Geſamteindruck veredelte. 
Das Muſeum übernahm aus der Bibliothek 1883 


Großherzogliches Muſeum und Ehrengalerie 305 


Cranachs erneſtiniſche Fürſtenbilder und 1912 alt— 
thüringiſche Schnitzaltäre; auch der Ankauf einiger 
Cranache gelang. Aus Goethes Zeit wurde z. B. 
eine Zeichnung des jungen Cornelius erworben, die 
er 1804 zum Wettbewerb der Weimariſchen Kunſt— 
freunde eingeſchickt hatte, und als Geſchenk der Fro— 
riepſchen Erben 1909 eine große Sammlung von 
Büſten und Figuren Klauers, des Weimarer Bild— 
hauers vom Ende des 18. Jahrhunderts. Der Beſitz 
an Prellers und Genellis Kunſt wuchs durch Ankauf 
und durch Überweiſungen aus dem Liſztſchen Erbe. 
Und wie ſo die altheimiſchen Werte vermehrt wurden, 
ſtellte ſich auch, zum achtzigſten Geburtstag Carl 
Alexanders, ein großes Geſchenk neuweimariſcher 
Künſtler ein: 140 Werke, darunter 100 Gemälde, 
wurden von ihnen als „Ehrengalerie“ überreicht und 
zur Hälfte in zwei Sälen des Muſeums gezeigt, Ar— 
beiten von Lehrern und Schülern der Kunſtſchule und 
anderen Neuweimarern aus den ſechziger bis neun— 
ziger Jahren, meiſt vom Ende des Jahrhunderts und 
vorwiegend Landſchaften, wobei Hagen und ſeine 
Schule an Zahl voranſtanden, aber auch Guſſow und 
die Seinen tüchtiges lieferten ſowie die jüngſten 
Meiſter und Geſellen und die einen altes brachten, 
die andern das neueſte, darunter Böcklin, Lenbach, 
Liebermann. Endlich erfuhr das Muſeum wertvollſten 
Zuwachs durch Überweiſungen aus großherzoglichem 


Beſitz wie das Sanſovinobildnis Tintorettos und ein 
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 20 


306 Muſeum am Karlsplatz 


Selbſtbildnis Rembrandts, Landſchaften von Hackert 
und Friedrich, drei feine Zimmerbildchen von Kerſting 
und Menzels große Begegnung Joſefs II. mit Fried— 
rich dem Großen. Der notwendige Raum für das 
alles ließ ſich beſchaffen, indem ein Tochtermuſeum 
am Karlsplatz abgezweigt wurde: dort hatte ſich ſchon 
1880 ein Verein zur Förderung der bildenden Kunſt 
und des Kunſtgewerbes aufgetan, ſtändige Ausſtellun— 
gen eingerichtet, 1903 ſeinen Beſitz dem Staatsfiskus 
überantwortet, und 1909 ſiedelte Koetſchau dorthin 
auch die reiche graphiſche und Bücherſammlung des 
Muſeums über und ſtellte eine ſchöne Porzellan— 
ſammlung auf, meiſt aus den großherzoglichen Schlöſ— 
ſern. 

Zu den Weimarer Malern des Zeitalters gehörten 
drei für ſich ſtehende Alte: Hummel, Behmer und 
Gleichen. Hummel erlebte die diamantene Hochzeit und 
ſtarb im fünfundachtzigſten Jahre 1906. Bis in das 
neue Jahrhundert herein malte er fleißig jene Art Land— 
ſchaften weiter, wie er ſie einſt in manches Fürſten— 
ſchloß geliefert hatte, und um 1883 war ſein Auge 
und ſeine Hand noch friſch genug, etwas von dem 
damals einziehenden Naturalismus mit zu empfinden 
und zu verarbeiten; Südtirol mit Cadore, Corſika 
und Sizilien, Holſtein und Thüringen ließen ihn nicht 
ruhen. Als 1892 der großherzogliche Garteninſpektor 
Hartwig ſein Gehölzbuch mit Beobachtungen und 
Erfahrungen eines fünfundvierzig Jahre tätigen Land— 


Altweimariſche Maler um 1900 307 


ſchaftsgärtners neu herausgab, zeichnete ihm Hummel 
dazu ſauber ſechzehn ſtattliche Bäume aus Thüringen, 
darunter die Schillereſche im Weimarer Park. Behmer, 
1915 im vierundachtzigſten Jahre geſtorben, gab mit 
ſeinem Mädchenbildnis „Wilde Roſen“ von 1875 zur 
Ehrengalerie eine Arbeit, die ſich von ſelbſt neben 
Scholderers, Trübners Kunſt derſelben Zeit ſtellt, 
und ſein im höchſten Alter vollendeter „Jüngling zu 
Nain“ iſt mit Eduard von Gebhardts Spätwerken im 
Ausdrucksgehalt der Köpfe und Hände verwandt, 
während Bildnisſkizzen von ihm aus derſelben Zeit 
auch fünfzig Jahre früher von einer geſchickten Hand 
gezeichnet ſein könnten. 

Ludwig von Gleichen-Rußwurm, durch Geburt 
und Geſinnung zum Vorſitzenden der Schillerſtiftung 
und in den Vorſtand der Goethegeſellſchaft berufen und 
1901 im dreiundſiebzigſten Jahre geſtorben, hat die 
Entwicklung zur modernen Landſchaftskunſt wohl am 
tiefſten in Weimar — und in ſeiner fränkiſchen Hei— 
mat — durchlebt und auch an der Schwelle des Greiſen— 
alters noch ſein Auge weitergebildet. Aus ſeinen Ra- 
dierungen — eine der älteſten iſt Weimar 1877 be— 
zeichnet —, auf denen er gern den einfachen Anblick 
eines in mittlerer Bodenhöhe vor die Luft geſtellten 
Bauern mit dem Schubkarren behandelt, hat man ihn 
ſchon als einen unſrer allerhervorragendſten Land— 
ſchafter erkannt; aber zeigt nicht auch das Gemälde 


mit dem Rundweg, das er zu Carl Alexanders acht— 
20* 


308 Landſchaftsmalerei; die Kunſtſchullehrer 


zigſtem Geburtstag beiſteuerte, in Farbe und Raum 
die perſönliche augenblickliche Erringung deſſen, was 
wir als Stil in der neueſten Landſchaftsmalerei gelten 
laſſen müſſen? Und ſolchen Stil neuerdings immer 
wieder aus dem echten Grunde geſteigerten Natur- 
ſtudiums herauszuläutern waren auch junge Künſtler 
in Weimar tätig, vor allen Lambrecht, der über ein 
Jahrzehnt lang den farbig ſo unſcheinbaren Eindruck 
von Birkenſtämmen im Schnee von der kleinen, zu— 
fälligen Steinzeichnung bis zu großen, bewußten 
Gemälden ſteigerte und über dem einen Gegenſtand 
unwillkürlich an Kraft, Zucht und Liebe der Land— 
ſchaftsdarſtellung überhaupt ins Ungemeine wuchs. 
Als Lehrer der Kunſtſchule wirkten das ganze 
Zeitalter hindurch Hagen und der 1883 berufene Bayer 
Thedy, von 1890 bis 1913 auch der Figurenmaler 
Frithjof Smith. Thedy ſchuf vorzügliche Bildniſſe, 
neben Genrebildern; Hagen befleißigte ſich des ſchlich— 
teſten Landſchaftsnaturalismus. Von 1885 bis 1890 
gehörte der Schule auch Graf Kalckreuth d. j. als 
Lehrer an, und daß er hier die Anfänge der Steige— 
rung ſeiner impreſſioniſtiſchen Kunſt ins Monumentale 
erlebte, zeigt ſein Schnitterbild aus Bergſulza in der 
Ehrengalerie. Die Leitung der Kunſtſchule hatte 
anfangs Brendel inne, dann Graf Schlitz-Görtz; 
Großherzog Wilhelm Ernſt übertrug ſie zu Beginn 
ſeiner Regierung an Olde und 1910 an den Worps— 
weder Mackenſen, kurz nachdem er die fünfzigjährige 


Olde und Hofmann; deutſcher Künſtlerbund 309 


Anſtalt zur Hochſchule für bildende Kunſt erhoben 
hatte. 

Oldes Verwaltung brachte bedeutendes Gegen— 
wartsleben: er malte eine Reihe der geſundeſten 
Bildniſſe; neben ihn trat Ludwig von Hofmann als 
eines der beſten deutſchen Talente für dekorative 
Wandmalerei und auf kürzere Zeit auch Saſcha 
Schneider. Die hervorragendſten Weimarer Künſtler 
wurden 1907 zur Ausſchmückung des neuen Theaters 
vereinigt: in den Flügeln des Wandelſaals malte Hof— 
mann wohl ſeine farbenſchönſten und lebensfroheſten 
Frieſe, Schneider bewegte Figurenträume in einem 
Braun, das ihm vielleicht der Lyſikratesfries im Goethe— 
haus nahegelegt hatte; Olde, Thedy und andere 
arbeiteten Großherzogsbildniſſe in die Fürſtenloge. 
Es war eine ehrende Anerkennung der neuen Kunſt 
Weimars, daß ſich die ſezeſſioniſtiſchen Gruppen hier 
1903 unter dem Grafen Keßler zum deutſchen Künſtler— 
bund mit Weimar als Vorort zuſammenſchloſſen. 

Als neue Gründung Wilhelm Ernſts wurde im 
Herbſt 1902 ein kunſtgewerbliches Seminar unter 
van de Velde eröffnet, eine Art Hochſchule für Kunſt— 
handwerker, und im Laufe der nächſten fünf Jahre 
zu einer Kunſtgewerbeſchule ausgebaut; den Schulbau 
dazu wie den Neubau der verſchwiſterten Kunſtſchule 
beſorgte van de Velde. Dieſer belgiſche Feuergeiſt 
war ſeit Mitte der neunziger Jahre mit einer ſich 
faſt überſtürzenden Energie auf den Spuren des Eng— 


310 Van de Velde 


länders Morris tätig, den Stil der Gegenwart in Haus 
und Gerät zu ſchaffen. Leidenſchaftlich und unge— 
ſchichtlich verwarf er die Leiſtung des neunzehnten 
Jahrhunderts; mit hartem Willen und glühender Luſt 
trachtete er überall die konſtruktive Idee zu ver— 
wirklichen, zu verdeutlichen, wobei er aus dieſem Nur 
oft ein Allzuviel machte; und das ihm eigene Doppel— 
weſen von entſchiedener Abſtraktion — gleichviel ob 
recht oder verfehlt — und Augengier nach ſchwellen— 
dem Linienfluß und neuem Farbenwert ſchuf vieles 
ungeahnte, manches ſchöne, manches bizarre. Die 
Dresdner Ausſtellung 1897 machte ihn in Deutſch— 
land bekannt, deutſche Aufträge zogen ihn nach Berlin, 
und er war eben mit der Vollendung des Hagener 
Muſeums Folkwang beſchäftigt, als ihn Weimar rief. 
Hier diente die neue Kunſtgewerbeſchule der Ausbil— 
dung von Kunſthandwerkern und förderte auch ſonſt 
das Kunſtgewerbe nicht nur des Großherzogtums; ſie 
zählte im erſten Jahre des vollen Betriebs (1907/8) 
27 Schüler, im ſechſten 76, und von dieſen waren 
27 Sachſen-Weimarer, 3 ſonſtige Thüringer, 42 wei— 
tere Deutſche und 4 Ausländer. Sie wurden in kunſt— 
gewerblichem Zeichnen, Farbenlehre und Ornamentik 
unterrichtet, eine Töpferwerkſtatt und Buchbinder— 
abteilung lieferten Kunſtſtücke, Metallarbeiter und das 
Atelier für Weberei und Stickerei erſtaunliches, indem 
Fachlehrer und -lehrerinnen unter dem anſpornenden 
Beiſpiel ihres Leiters ihr beſtes taten und daheim 


Kunſtgewerbeſchule 311 


etwelchen Verdienſt, auswärts erſte Preiſe erzielten. 
Van de Velde erbaute Stadt- und Landhäuſer von 
merkwürdiger Schönheit in Weimar, in Eſſen, in 
Chemnitz, auch in Hagen (Oſthaus 1902) und in Gera 
(Schulenburg 1915); er frappierte auf den Ausſtel— 
lungen in Dresden (1906) und Köln (1914) im Bunde 
mit dekorativen Malereien Hofmanns. Inzwiſchen hatte 
ſein ſtiliſtiſcher Wille — einer der ſtärkſten künſtleriſchen 
Trümpfe während der zweiten Hälfte des Zeitalters — 
eine Menge zum Teil beſonnenerer Nachfolger ge— 
funden, und ſeine vorwiegend romaniſche Abſtraktion 
und Senſitivität wurden mehr und mehr als fremder 
Tropfen in unſerm Blut empfunden. Der Ausbruch 
des europäiſchen Krieges wurde zur Schickſalsſtunde 
für van de Veldes Weimarer Tätigkeit, und 1915 ſchloß 
der Großherzog die Kunſtgewerbeſchule. Es war ein 
Ende, deſſen geſchichtliches Recht der tiefer blickende 
wohl leiſe mit Goethes Entlaſſung aus der Theater— 
leitung vor hundert Jahren zu vergleichen vermöchte. 

Die weimariſche Plaſtik des Zeitalters heißt zur 
Hälfte noch: Donndorf. Kurz nach Vollendung des 
Carl⸗Auguſt⸗Denkmals hatte der hier geborene Künſtler 
zwar den Ruf nach Stuttgart angenommen, in eine 
leitende Stellung Südweſtdeutſchlands; aber er blieb 
der Heimat dankbar und anhänglich und ſtiftete ihr 
des zum Zeichen den Bronzeguß der Brunnengruppe 
einer Mutter mit zwei Kindern, deren größeres ſchöp— 
fen gehen will. Als die Stadt das liebliche Bildwerk 


312 Die beiden Donndorf 


über dem neuen Granittrog an altbeſcheidnem Plätz— 
chen) im Herbſt 1895 übernahm, ſagte der ſechzig— 
jährige Adolf Donndorf: „An dieſe Stelle leitete meine 
gute Mutter, die Butte auf dem Rücken, meine erſten 
Kinderſchritte, und hier verträumte ich, während ſich 
der Eimer füllte, als Knabe manche Stunde. Deshalb 
gilt der Brunnen an dieſer Stelle auch dem Andenken 
meiner geliebten Mutter. Er gilt allen Müttern, er 
gilt der Mutterliebe, die nie vergolten werden kann..“ 
Wer die Ausführung mit der des Carl-Auguſt-Denk— 
mals verglich, konnte ſehen, daß Donndorf zu einer 
ſtiliſtiſch beruhigteren Formgebung übergegangen war, 
wenn es auch nicht der Stil war, den das Zeitalter 
auf Grund einer neuen Naturempfindlichkeit ſonſt 
errang. Dieſen gewann ſein Sohn Carl, und er zeigte 
ſich auf dem Wege dazu in der 1896 enthüllten Erz 
büſte des Erbgroßherzogs vor dem Muſeumsbrunnen. 
Der Vater Donndorf widmete der Stadt Weimar 
ſpäter ein zweites Geſchenk mit den meiſten ſeiner 
Gipsmodelle zu Denkmälern, ſeiner Denkmalsſkizzen, 
Büſten und Medaillons, darunter mancher weimariſchen 
Arbeit und großen nationalen Werken von Saar— 
brücken und Bonn bis Hermannſtadt, und 1907 er— 
öffnete die Stadt das dafür gebaute Donndorfmuſeum. 
Inzwiſchen aber hatte der Großherzog auch der Plaſtik 

*) An der dicht begrünten Wand des Hauſes des um 


Weimars jüngſte Vergangenheit hoch verdienten Kommer— 
zienrats Döllſtädt. 


Deutſch-europäiſcher Krieg 313 


an der Kunſtſchule eine Stätte bereitet und ſie 1905 
mit Brütt beſetzt: deſſen Nachtgruppe in der Weſt— 
eingangshalle des Schloſſes und das Landesdenkmal 
Carl Alexanders zu Pferde, das inmitten der Wipfel 
des geräumigen Carlsplatzes am 24. Juni 1907 ent- 
hüllt wurde, zeigten den neuen Meiſter. Doch ſchied 
er bald wieder, und ſo klang das Zeitalter mit Ar— 
beiten ſeines zweiten Nachfolgers Engelmann aus: der 
ſorgſam erſonnenen feinen Büſte des alten Goethe in 
deſſen Hauseingang und dem Standbild eines zum 
Kampfe ziehenden derben Jünglings, das als Ehren— 
mal für Wildenbruch zu Oſtern 1915 geweiht wurde 
und zugleich als Sinnbild für Deutſchlands kämpfende 
Jugend. 

Denn wie einſt zum deutſch-franzöſiſchen Kampfe, 
ſo ſtellte das ſächſiſch-thüringiſche Großherzogtum ſeine 
jungen Männer zum deutſch-europäiſchen Kriege, in 
Oſt und Weſt, zu Tat, Opfer und Sieg. Wilhelm 
Ernſt bewährte den Herzogsnamen, beim Sturm und 
im Lazarett, und Großherzogin Feodora ſchaltete 
als Regentin des Landes wie Sophie und als 
Obervorſteherin der Frauenvereine in Kriegsfürſorge. 
Die Gedanken dieſer Stadt Goethes und Schillers, 
wie ſie binnen einem Jahrhundert in gelaſſener Reg— 
ſamkeit größer, ſchöner und ehrenreicher geworden 
war, und die Liebe dieſes weimariſchen Landes reckten 
ſich mit ihren Angehörigen des deutſchen Heeres hinaus 
über die Reichsgrenzen. Kaiſer Wilhelm II. aber ſagte 


314 Wilhelm II. und das weimariſche Bataillon 


in ebendieſen Frühlingstagen 1915 draußen zu einem 
deutſchen Hiſtoriker: „Sehen Sie, da habe ich jetzt als 
Bewachungsbataillon des großen Hauptquartiers ein 
Thüringer Bataillon, lauter Sozialdemokraten, Jenen— 
ſer von Zeiß, die Apoldaer Strumpfwirker und Leute 
aus Weimar, und doch, ich habe die unmittelbare 
Gewißheit, daß ich mich ihnen anvertrauen kann wie 
einſt Eberhard mit dem Barte. Iſt das nicht herrlich?“ 


Jena 


Die thüringiſche Univerſitätsſtadt weimariſcher Zu— 
gehörigkeit bezeugte zu Beginn der neueſten Zeit ihre 
deutſche Geſinnung leuchtend, als ſie den Fürſten 
Bismarck Ende Juli 1892 empfing. Der entlaſſene 
ſiebenundſiebzigjährige Kanzler kehrte aus Kiſſingen 
zurück, nachdem ihm in Dresden die Sachſen, in 
München die Bayern, in Augsburg die Schwaben groß— 
artig gehuldigt hatten; in Jena dankten und frohlockten 
ihm die Thüringer. Als ſich die ſichere Kunde ſeines 
bevorſtehenden Kommens verbreitete, ſchafften die 
benachbarten Dörfler das Holz zu mächtigen Schichten 
auf die Berge für Freudenfeuer, die Stadt ſchmückte 
ſich mit Laub und Reiſern, die Häuſer mit Fahnen 
und neuen Kernreimen, der Marktplatz wurde zum 
Feſtſaal, und Vertreter andrer thüringiſcher Städte 
ſtellten ſich ein. Unbeſchreiblicher Jubel beim erſten 
Empfang, die Senats- und Profeſſorenbegrüßung im 
Bären und Bismarcks Ausfahrt während der Berg— 
feuer und der Fackelzug ereigneten ſich am Vorabend; 
am folgenden Sonntag vormittag ſangen die Kurrende 
und die Pauliner vor ſeinen Fenſtern, „Ein feſte 
Burg iſt unſer Gott“ und das wehmütig ernſte Jenaer 


316 Bismarck und Lipſius 


Lied „Auf den Bergen die Burgen, im Tale die 
Saale“, und die Umfahrt des Fürſten durch die Stadt 
ſchloß mit dem Marktfeſt als Höhepunkt dieſer 
Stunden, die durch eine Reihe geiſtreicher Anſprachen, 
manches Wort Bismarcks und zwei große politiſche 
Reden von ihm gewürzt wurden. Den Brunnen, 
bei dem ſein Zelt auf dem Markte ſtand, ließ die 
Stadt ſpäter künſtleriſch als Bismarckbrunnen faſſen 
durch Adolf Hildebrand, einen Sohn des Jenaer 
Nationalökonomen des vorigen Zeitalters. 

Es war der Jenaer Theologe Lipſius, der damals 
am Bahnhof Bismarck mit markigen Sätzen begrüßte. 
Er war halb philologiſcher Hiſtoriker, durch genaueſte 
Arbeit auf frühchriſtlichem Gebiete zu Hauſe, und 
halb Dogmatiker, der um 1890 noch als Sechzigjähriger 
den notwendigen Weg aus dem erfahrenſten Kritizis— 
mus in das gebundenere Reich theologiſcher Praxis 
fand und wies. In jungen Jahren war er ſchon 
1858 beim Univerſitätsjubiläum zum Jenaer Ehren— 
doktor ernannt worden, von 1861 bis 1871 hatten 
ihn Profeſſuren in Wien und Kiel beſchäftigt, und 
ſeitdem lehrte er in Jena; von hier ging die große 
Arbeit ſeiner Apokryphen Apoſtelgeſchichten und Apo— 
ſtellegenden aus (1883 bis 1890), hier arbeitete er 
die Auflagen des motivreichen Gedankengebäudes feiner 
Dogmatik, über deren dritter ihn der Tod 1892 ab— 
rief. Neben ihm wirkte als Kirchenhiſtoriker, da Haſes 
Kräfte abnahmen, Nippold, einer der Mitbegründer 


—1 


Theologiſche Fakultät 31 


des Evangeliſchen Bundes, d. h. der großen Zuſammen— 
faſſung der deutſchen evangeliſchen Chriſtenheit, die 
ſich 1887 in Frankfurt a. M. vollzog und anfangs 
namentlich von Halle, Jena und Erfurt aus betrieben 
wurde, woran Großherzogin Sophie von Anfang an 
teilnahm. Nachfolger von Lipſius wurde 1893 der 
vierzigjährige Wendt, deſſen „Syſtem der chriſtlichen 
Lehre“ 1907 reifte und der 1909 in einer Prorektorats— 
rede die neuerdings beliebte Zuſammenwerfung von 
Chriſtentum und Dualismus klar auseinander löſte, 
übrigens beſonders um ein genaueres Verſtändnis der 
Entſtehung des Johannesevangeliums bemüht. Zu 
Ende des 19. Jahrhunderts begann der ausgezeichnete 
Prediger Paul Drews in Jena ſeine akademiſche 
Tätigkeit in Reformationsgeſchichte und Paſtoraltheo— 
logie, der Begründer einer evangeliſchen „Kirchen— 
kunde“ der Gegenwart, der dann nach Gießen ging. 
1903 geſellte ſich der Homiletiker Thümmel hinzu, 
ein ſtreitbarer Proteſtant, und bald darauf Weinel, 
der unter den jüngeren Vertretern eines freien 
Chriſtentums raſch eine führende Stellung erlangte. 
Zum Teil war die Erneuerung des jenaiſchen religiöſen 
Geiſtes, die ſie und ihre Kollegen brachten — die 
Zahl der ordentlichen Theologieprofeſſoren ſtieg hier 
zwiſchen 1883 und 1913 von 4 auf 6 —, als Aus— 
einanderſetzung mit den moniſtiſchen Ideen zu ver— 
ſtehen, wie ſie vor allem von Haeckel ausgingen, aber 
auch von einem Jenaer Verleger propagiert wurden, 


318 Juriſtiſche Fakultät 


der die unkritiſchen, ſtaubaufwirbelnden Sammel— 
ſchriften von Arthur Drews über „Die Chriſtus— 
mythe“ und den Monismus veröffentlichte. 

Ein geſchloſſeneres Bild bietet die gleichzeitige 
juriſtiſche Fakultät Jenas. Faſt das ganze Zeitalter 
über lehrte Thon, der Sohn des weimariſ chen Miniſters, 
römiſches und dann auch deutſches bürgerliches Recht 
und im Wechſel mit Loening Strafrecht und -prozeß, 
und ſeit 1892 las Erich Danz als ordentlicher Profeſſor 
über römiſches Recht und Rechtsphiloſophie, der jüngſte 
Vertreter des alten Jenaer Gelehrtengeſchlechtes. 
Roſenthal war ſeit 1883, ſeit ſeinem dreißigſten Jahre, 
zuerſt als außerordentlicher und ſeit 1896 als ordent— 
licher Profeſſor für öffentliches und Staatsrecht tätig. 
Während er in Jena und Thüringen zugleich gelehrte 
und gemeinnützige Vereinigungen leitete, griffen ſeine 
Schriften auch nach ſeiner bayriſchen Heimat über, ja 
auf das Reich überhaupt und weiter: 1889 und 1906 
erſchienen die beiden Bände ſeiner Geſchichte des 
Gerichtsweſens und des Verwaltungsorganismus 
Bayerns, 1894 und 1908 die Studien über inter- 
nationales Eiſenbahnfrachtrecht und über die geſetzliche 
Regelung des Tarifvertrags und 1911 und 1913 die 
Schriften über die Reichsregierung und über den 
Wandel der Staatsaufgaben in der letzten Geſchichts— 
periode. Die juriſtiſchen Ordinariate Jenas wurden 
um ein ſiebentes vermehrt. 

Am ſtärkſten wuchs der Lehrkörper der Ordinarien 


Mediziniſche Fakultät 319 


der mediziniſchen Fakultät, von ſieben auf elf Stühle. 
Das dauernde Gepräge des Zeitalters wurde hier 
vor allem durch die Namen Riedel, Gärtner, von Barde— 
leben, Binswanger und Stintzing beſtimmt. Riedel 
war jenaiſcher Ordinarius von 1888 bis 1910 als 
Direktor der chirurgiſchen und der Poliklinik, berühmt 
beſonders als Unterleibschirurg, nachdem er 1897 
zuerſt die Frühoperation der Blinddarmentzündung 
ausgeführt und bekannt gemacht hatte, der tauſende 
ihr Weiterleben verdankten. Gärtner, früher zwölf 
Jahre Marinearzt und dann in Robert Kochs Geſund— 
heitsamt beſchäftigt, kam 1886 als Profeſſor nach 
Jena und wurde hier 1888 Ordinarius für Hygiene; 
ſein Leitfaden der Hygiene erſchien 1913 in ſechſter 
Auflage. Bardeleben, in . ſeit 1888 ordentlicher 
Honorarprofeſſor, verſtand als Vertreter der topo— 
graphiſchen Anatomie — ſein Atlas dazu wurde 1906 
zum viertenmal aufgelegt — Goethes Arbeiten auf 
dieſem Gebiete zu behandeln, auch als Mitarbeiter 
der Weimarer Ausgabe; er wirkte aber nach außen 
vor allem durch das großartig angelegte Handbuch 
der Anatomie des Menſchen, zu dem er die beſten 
Mitarbeiter gewann und das binnen zwanzig Jahren 
(1894 bis 1914) dem Abſchluß nahegebracht wurde. 
Binswanger übernahm 1882 eine ordentliche Profeſſur 
als Leiter der pſychiatriſchen Klinik und veröffentlichte 
viele Schriften zur Anatomie der Zentralnerven und 
des Gehirns, zur Paralyſe und Epilepſie, zur Neur— 


320 Jenaer Biologen in Berlin, München, Bonn 


aſthenie und Hyſterie. Stintzing endlich wurde 1892 
als Direktor der mediziniſchen Klinik nach Jena be— 
rufen; ſein ſiebenbändiges Handbuch der geſamten 
Therapie erſchien bis 1915 in vier Auflagen. 

Auf dem Grenzgebiet zur philoſophiſchen Fakultät 
wirkten in der erſten Hälfte des Zeitalters zeit— 
weilig auch vier Schüler Gegenbaurs und Haeckels, 
alle Dr. med. und Dr. phil., die ſpäter hervorragende 
auswärtige Lehrſtühle beſetzten: Oskar Hertwig, ſeit 
1881 Profeſſor der Anatomie und Direktor des ana— 
tomiſchen Inſtituts, ſiedelte 1888 nach Berlin über, 
ſein Jenaer Nachfolger Fürbringer 1901 nach Heidel— 
berg, ſein jüngerer Bruder Richard Hertwig ſchon 
1881 als Ordinarius nach Königsberg und ſpäter nach 
München, und Berworn, der in den neunziger Jahren 
als Privatdozent und Extraordinarius in Jena lehrte, 
übernahm 1901 ein Ordinariat für Phyſiologie in 
Göttingen, ſpäter in Bonn. *) Unter den Spezialiſten 
ragten die Ophthalmologen Kuhnt (1883 bis 1892, 
mit einer Urenkelin Herders und Tochter Stichlings 
vermählt) und Wagenmann (1892-1910) hervor, 
der eine ſpäter in Bonn, der andere in Heidelberg 
tätig. Außer der pſychiatriſchen Klinik und der hygie— 
niſchen Anſtalt wurde eine Ohrenklinik neu geſchaffen 


*) Oskar Hertwigs Lehrbuch der Entwicklungsgeſchichte 
des Menſchen erſchien 1910 in neunter, Richard Hertwigs 
Lehrbuch der Zoologie 1911 in zehnter Auflage und Verworns 
Allgemeine Phyſiologie (zuerſt 1895) 1909 in fünfter. 


Aus der Univerſitätsſtatiſtik um 1900 321 


und die andern mediziniſchen Anſtalten vergrößert, am 
ſtärkſten die chirurgiſche Klinik, von 88 auf 320 Betten. 

Die Jenaer Studentenzahl ſtieg zwiſchen 1883 
und 1913 im ganzen von 631 auf 1883 (im Sommer— 
ſemeſter 1914 überſchritt ſie das zweite Tauſend). 
Wie ſich die vier Fakultäten daran beteiligten, zeigt in 
abgekürzter, aber den Geſamtverlauf richtig andeutender 
Statiſtik folgendes Bild: 


Semeſter Theol. Jur. | Med. Phil. 
S.⸗S. 1883 127 120 139 245 
S.⸗S. 1900 44 217 190 317 
W. ⸗S. 1913/14 104 326 429 1024 


Ihrer Herkunft nach ſetzten ſie ſich zuſammen: 


Semeſer Weiten, peer Sonfige Ander 
S.⸗S. 1888 142 155 292 22 
S.⸗S. 1900 149 136 410 73 
S.⸗S. 1914 2230 230 1435 125 


Dazu vergleiche man das Verhältnis der Promo— 
tionen in der philoſophiſchen Fakultät während dieſer 


Zeit: 


Semeſter Sachſen⸗ And. erneſt. Sonſtige Aus⸗ 


Weimarer Thüringer Deutſche länder 
S.⸗S. 1883 6 5 9 5 
S.⸗S. 1900 1 — 14 4 
W.⸗S. 1913/4 4 33 3 


Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 21 


322 Mathematik, Phyſik, Chemie 


Aus dieſen Zahlen geht deutlich die wachſende 
Anziehungskraft der Univerſität Jena auf außerthürin⸗ 
giſche Deutſche im jüngſten Zeitalter hervor. Die 
Geſamtzahl der Studenten hat ſich etwa verdreifacht, 
die Zahl der außerthüringiſchen Deutſchen unter ihnen 
beinahe verfünffacht. In der philoſophiſchen Fakultät, 
die den Hauptanteil daran hatte, wurde dieſes Wachs— 
tum namentlich den Naturwiſſenſchaften verdankt, wie 
auch deren Sammlungen vor allen vermehrt und 
neue Anſtalten für techniſche Phyſik, Mikroſkopie, 
techniſche Chemie, Pharmazie und Nahrungsmittel— 
chemie gegründet wurden. 

Als Mathematiker lehrte Thomae faſt das ganze 
Zeitalter über in Jena, wohin er 1879 als Ordinarius 
berufen worden war, zu Anfang des neuen Jahr— 
hunderts auch Gutzmer (bis 1905) und dann Haußner. 
Die; Phyſik vertrat faſt ebenſolange Winkelmann. 
Neben ihm war Abbe als erfolgreichſter und berühm— 
teſter Optiker der Gegenwart und Aſtronom bis über 
die Jahrhundertgrenze tätig; er ſtarb 1905, und auch 
ſein tüchtigſter Schüler und Mitarbeiter Czapski wurde 
1907 weggerafft. 1889 trat der Chemiker Knorr auf 
die Dauer des Zeitalters in den Jenaer Kreis ordent— 
licher Profeſſoren; er entdeckteſ die Pyrazolverbin— 
dungen, unter denen das Antipyrin am wichtigſten 
wurde, er klärte das Weſen der Morphiumalkaloide 
auf uſw. Der Geolog und Kriſtallograph Linck, ſeit 
1894 Ordinarius in Jena, hatte ein Gebiet zu deuten, 


Geologie und Botanik 323 


dem vor hundert Jahren an demſelben Orte Goethes 
Bemühen gegolten hatte; ſo ſtellte er uns 1906 
Goethes Verhältnis zur Mineralogie und Geologie 
dar, gab ſeinen Schülern neue Geſteinsbücher an die 
Hand und faßte 1912 die mechaniſchen und chemiſchen 
Kreislaufvorgänge der Erdgeſchichte überſichtlich zu— 
ſammen. Als 1903 das neue mineralogiſche Inſtitut 
fertig wurde, ließ er ins Treppenhaus über Goethes 
Büſte deſſen Worte ſetzen: „Warum ich zuletzt am 
liebſten mit der Natur verkehre, iſt, weil ſie immer 
recht hat und der Irrtum bloß auf meiner Seite 
ſein kann. Verhandle ich hingegen mit Menſchen, ſo 
irren ſie, dann ich, auch ſie wieder und immer ſo 
fort, da kommt nichts aufs reine; weiß ich mich aber 
in die Natur zu ſchicken, ſo iſt alles getan.“ Auch 
der Botaniker Stahl, ſeit 1881 mehr als dreißig 
Jahre lang Ordinarius in Jena, behandelte das 
Pflanzenleben gern im Zuſammenhang der Schöp— 
fung, z. B. wenn er 1888 Pflanzen und Schnecken 
betrachtete oder 1893 von Regenfall und Blattgeſtalt, 
1912 von der Blitzgefahr der verſchiedenen Baum— 
arten ſprach. 

Der große Gedanke der Einheit der Schöpfung 
wurde aber am erfolgreichſten von dem berühmteſten 
Lehrer Jenas in dieſem Zeitalter vertreten, von 
Haeckel. Längſt war der Zoolog zum Biologen ge— 
worden; als Sechzigjähriger ließ er 1894 ſeine 
Syſtematiſche Phylogenie zu erſcheinen beginnen, 


21* 


324 Bom alten Haedel 


worin er den Stammbaum der Organismen deut— 
licher als bisher zu refonjtruieren unternahm, 1896 
veröffentlichte er nochmals eine jener großen Sonder— 
unterſuchungen, diesmal über Amphorideen und Cyſto— 
ideen, und von 1899 bis 1904 erſchien ſein Prachtwerk 
Kunſtformen der Natur. 1894 wurde ihm auch 
eine Stiftung von Schülern und Freunden darge— 
bracht, die er für die Erweiterung des 1883 begrün— 
deten zoologiſchen Inſtituts zu einem „phyletiſchen 
Muſeum“ beſtimmte; die große Sammelbeute ſeiner 
Forſchungsreiſen, der Ertrag ſeiner ſchriftſtelleriſchen 
Tätigkeit und die Vermehrung der Stiftung durch 
wohlhabende Gönner der Entwicklungslehre ermög— 
lichten 1908 die Eröffnung des Muſeums in Jena. 
Bald darauf trat er von ſeinem Lehramt zurück; 
aber ſein Geiſt und ſeine Feder ruhten nicht, ſeine 
Anſchauungen wie vorher immer wieder, immer 
weiter zu verbreiten. Wie er als hoher Sechziger 
nochmals den indiſchen Archipel bereiſte und 1901 
ſeine Eindrücke aus dieſer wundervollen malayiſchen 
Inſelwelt anſchaulich in dem Buche Aus Inſulinde 
vorlegte, ſo und noch mehr trieb es ihn, ſeine Ge— 
danken auch als maßgebend für Philoſophie und Reli— 
gion nachzuweiſen. Am Ende des 19. Jahrhunderts, 
auf deſſen zweite Hälfte er um ihres naturwiſſen— 
ſchaftlichen Fortſchritts willen mit Stolz zurückſah, 
zu Oſtern 1899, ſchloß er das Buch über die Welt— 
rätſel ab, deſſen bequeme Sprache trotz manches 


Landwirtſchaftslehre 325 


fragwürdigen neuen Fremdwortes ſehr vielen Leſern 
des neuen Zeitalters entgegenkam, die ſich über die 
bare Erfahrung und doch auf ihrem Grunde zu er— 
heben ſuchten, und nochmals ſchlugen die Lebens— 
wunder (1904) in dieſe Kerbe. Der unmittelbare 
Anſchluß an Goethe wurde bei alledem möglichſt ſicht— 
bar gemacht, und doch wurde nicht erwieſen, daß 
Goethes gelegentliche, in der Phantaſie eines Wer— 
denden gebildeten Worte und ſich wandelnden Be— 
griffe eine derartige Dogmatiſierung vertrügen: Goethe 
hatte ſein „Gott-Natur“ ja ſpäter ſehr entſchieden 
durch „Gott und die Natur“ erſetzt, während ſich 
Haeckel noch 1914 in dem Titel einer moniſtiſchen 
Streitſchrift an den Bindeſtrich klammerte. 

Unter denen ſeiner Kollegen, für deren Gebiet 
die Gefahr verhältnismäßig nahe lag, von einer 
materialiſtiſchen Doktrin beherrſcht zu werden, haben 
wenige die ſittlichen und religiöſen Kräfte mit ſolcher 
Beharrlichkeit geltend gemacht wie der Landwirtſchafts— 
lehrer von der Goltz. Er wirkte von 1886 bis 1896 
als Ordinarius in Jena, vordem in Königsberg, ſpäter 
in Bonn, von den Agrariern gemieden, von den 
Regierungen geſchätzt. Von Jena ließ er 1889 ſein 
dreibändiges Handbuch der geſamten Landwirtſchaft 
ausgehen und manche grundlegende Einzelarbeit zu 
Disziplinen ſeines Fachs, ſo daß er als der Neu— 
organiſator des Betriebes der Landwirtſchaftslehre in 
Wiſſenſchaft und lebendiger Beziehung mit der Praxis 


326 Staatswiſſenſchaften 


geprieſen werden konnte; hier entſtanden aber auch 
ſeine Vorträge über die Aufgaben der Kirche gegen— 
über dem Arbeiterſtand in Stadt und Land (1891) 
und „Rom oder Wittenberg“ (1892), jener als evan— 
geliſch-ſoziale Zeitfrage veröffentlicht, dieſer aus dem 
Jenaer Zweigverein des Evangeliſchen Bundes hervor- 
gegangen. Das ganze Zeitalter über, ſeit 1883, 
lehrte Pierstorff als Ordinarius der Staatswiſſen— 
ſchaften in Jena. Er behandelte u. a. Dinge wie 
Frauenarbeit und Frauenfrage (1900), den modernen 
Mittelſtand (1911); von den 45 Abhandlungen, die 
von 1901 bis 1913 aus ſeinem ſtaatswiſſenſchaftlichen 
Seminar hervorgingen, waren 23 gemeindeutſchen 
Fragen gewidmet, je 7 thüringiſchen und europäiſchen 
und 8 weltwirtſchaftlichen, und faſt alle beſchäftigten 
ſich mit der Gegenwart. 

Die Geſchichte der Gegenwart wurde auch von 
dem namhafteſten Jenaer Hiſtoriker des Zeitalters 
bevorzugt, von Lorenz. Ihr wandte er ſich vom 
Mittelalter zu etwa um dieſelbe Zeit, wo er (1885) 
durch Vermittlung Herzog Ernſts von Coburg nach 
Jena überſiedelte. Er kam aus Wien, wo er ſchon 
fünfundzwanzig Jahre lang ein Ordinariat verſehen 
hatte; und etwa gleichzeitig mit dem Ortswechſel 
wandelte er auch ſeine politiſche Geſinnung aus der 
liberalen in eine konſervative Denkart, der damaligen 
Wende des Zeitalters entſprechend. Seines fürſtlichen 
Beförderers Memoiren gab er 1887 bis 1889 heraus; 


Geſchichtswiſſenſchaft 327 


Aufzeichnungen andrer deutſcher Fürſten, darunter 
der Großherzöge von Baden und Weimar, durfte er 
zu dem Werke „Kaiſer Wilhelm und die Begründung 
des Reiches“ (1902) verwerten, das ihm freilich von 
ſeinen Spezialfachgenoſſen wenig gedankt wurde. Die 
Schuld daran lag wohl zum Teil an ſeiner markiert 
perſönlichen Behandlung geſchichtswiſſenſchaftlicher 
Dinge, deren Kehrſeite in Beziehung auf das Objekt 
war, daß er Kulturgeſchichte für eine Rumpelkammer 
erklärte. So vermochte er auch Goethe als Hiſtoriker 
nicht ganz gerecht zu werden); und wie hätte dabei 
ſein vielfaches Bemühen um eine geſchichtswiſſen— 
ſchaftliche Generationenlehre auf einen grünen Zweig 
kommen jollen? Sein Nachfolger Cartellieri (ſeit 1905) 
legte wieder mehr Gewicht auf mittelalterliche Ge— 
ſchichte. Alte Geſchichte lehrte indes Gelzer, beſonders 
kundig in der römiſchen Kaiſerzeit, und ſeit 1907 
deſſen Nachfolger Judeich. 

Auch unter den Philologen wirkten einige das 
ganze Zeitalter über. So der Indogermaniſt Delbrück, 
der ſeine ſyntaktiſche Hauptarbeit 1893 bis 1900 in 
drei Bänden einer Vergleichenden Syntax der indo— 
germaniſchen Sprachen vorlegte, einer der nachdenk— 
lichſten Sprachforſcher der Zeit; Wundts völkerpſycho— 
logiſches Werk über die Sprache beantwortete er 1901 
mit der Schrift „Grundfragen der Sprachforſchung“, 


*) Vgl. den Anhang zu ſeiner Schrift „Goethes poli- 
tiſche Lehrjahre“ (1893). 


328 Philologen 


wo er dem zu pſpychologiſcher Deutung geneigten 
Philoſophen manchmal den geſchichtlichen Verlauf 
entgegenhalten konnte, und auch Haeckels Gedanken 
beleuchtete er gelegentlich kritiſch auf Grund ſeiner 
ſchärferen Beobachtung von Worten und Begriffen. 
Der Altphilologe Goetz, ſeit 1880 Ordinarius in Jena, 
pflegte die lateiniſche Lyrik, beſonders aber Plautus, 
und widmete ſich von 1888 bis 1903 der Herausgabe 
des für die mittelalterliche Kulturgeſchichte wichtigen 
Corpus glossariorum latinorum. Hirzel, ein Sohn 
des Leipziger Verlegers und Goetheſammlers, ver— 
waltete die griechiſche Gedankenwelt und ihre Fort— 
wirkung, z. B. in den umſichtigen Schriften über den 
Dialog (1895) und über den böotiſchen Hiſtoriker Plu— 
tarch (1912), ohne den wir Deutſchen Die Kraniche 
des Ibykus, Die Teilung der Erde und Die Bürgſchaft 
nicht hätten, abgeſehen davon, daß ſich um 1790 der 
Jenaer Hiſtoriker Schiller mit der Abſicht eines „Neuen 
Plutarch“ trug. Der Germaniſt Kluge, von 1886 bis 
1893 Ordinarius in Jena, ließ von hier ſein viel 
benutztes Etymologiſches Wörterbuch der deutſchen 
Sprache ausgehen, und Jenas Luft legte ihm den 
Gedanken an Die deutſche Studentenſprache nahe; 
ſein zweiter Nachfolger Michels war mehr als Heraus— 
geber (3. B. der Proſageſtalt von Goethes Iphigenie 
in der Sophienausgabe) und als Grammatiker tätig. 

Während die ordentlichen Lehrſtühle der philoſo— 
phiſchen Fakultät von 16 auf 22 vermehrt wurden, 


Philoſophen 329 


waren zwei von ihnen von eigentlichen Philoſophen 
beſetzt. Eucken, ſeit 1874 Ordinarius in Jena, trach— 
tete immer danach, die Fäden zwiſchen Leben und 
Philoſophie kräftig zu erhalten und verfolgte daher 
den Begriff der Lebensanſchauung. Sein Werk über 
Die Lebensanſchauungen der großen Denker ging von 
dem Glücksverlangen der einzelnen Philoſophen aus 
und ſuchte ſo dieſe Helden des Geiſtes lebendig in 
uns werden zu laſſen; es wurde allmählich zur ge— 
leſenſten neuen Geſchichte der Philoſophie, durch zehn 
Auflagen von 1890 bis 1912. Namentlich im letzten 
Drittel ſeines Zeitalters, das einer idealiſtiſchen Philo— 
ſophie wieder geneigter war als alle ſpäteren Jahr— 
zehnte des 19. Jahrhunderts, fand er mit gewandten 
Schriften und fließenden Vorträgen auch außerhalb 
Jenas Gehör, ſei es daß er an ſeinen großen Vor 
gänger Fichte anknüpfte oder den neuen Begriff des 
Monismus läuterte oder die Verträglichkeit von 
Chriſtentum und Wiſſenſchaft erwies.?) Auf engere 
Kreiſe blieb Liebmann beſchränkt, der Metaphyſiker, 
der zum Teil dieſelben Kollegien wie Eucken im 
Wechſel mit ihm las (Pſychologie, Geſchichte der 
neueren Philoſophie). Eines der jüngſten Ordinariate 
der Fakultät erhielt 1913 der Pädagoge Rein über— 
tragen nach einer faſt dreißigjährigen Jenaer Lehre 


*) Vgl. auch jeine Schriften Geiſtige Strömungen der 
Gegenwart (4. Aufl. 1909), Der Wahrheitsgehalt der Reli— 
gion (3. Aufl. 1912), Hauptprobleme der Religionsphiloſophie 
der Gegenwart (5. Aufl. 1912). 


330 Eggeling 


in Didaktik und Ethik und manchem Verdienſt um 
planmäßige deutſche Erziehung des Zeitalters nament— 
lich durch ſein Enzyklopädiſches Handbuch der Päda— 
gogik, das von 1902 bis 1910 in zweiter Auflage 
zehnbändig erſchien. Die Kunſtwiſſenſchaften blieben 
noch auf den zweiten Chor der Extraordinariate und 
Privatdozenten angewieſen; doch widmete man der 
archäologiſchen Sammlung ſchöne Räume und den 
von Stein um 1910 neu belebten akademiſchen Kon— 
zerten friſche Teilnahme. 

Das alles vollzog ſich zum größten Teil, während 
Eggeling Kurator in Jena war (1884-1909). Er 
krönte ſeine Tätigkeit für ihr Wohl, ſeine Sorge um 
ihre Förderung durch die vier ſachſen-erneſtiniſchen 
Erhalterſtaaten, als die Hochſchule 1908 bei der Feier 
ihres dreihundertundfünfzigjährigen Beſtehens ein neues 
Verwaltungs-, Unterrichts- und Sammlungsgebäude 
bezog, an der Stelle des Jenaer Reſidenzſchloſſes an 
der Nordoſtecke der kleinen Altſtadt. Seit Jahren war 
der Wunſch nach einem ſolchen Geſamtheim lebhafter 
geworden, Stiftungen von einer bis dahin unerhörten 
Großartigkeit wurden dafür gemacht, die beteiligten 
Regierungen und Landtage und die Stadtgemeinde 
Jena trugen das ihrige bei, das Großherzogtum ſtellte 
den Baugrund zur Verfügung, und in dem Wettbewerb 
(1903) unter ſechs hervorragenden deutſchen Architekten 
ſiegte der Stuttgarter Theodor Fiſcher und konnte nun, 
geleitet von dem Vertrauen des Kurators, gelenkt 


Das neue Univerſitätsgebäude 331 


von den Wünſchen der akademiſchen Baukommiſſion, 
unterjtüßt von dem Regierungsbaumeiſter Ditt— 
mar, einen mächtigen Zweckbau von ausgepräg— 
ter neuer deutſcher Schönheit zu hohen Giebeln zwi— 
ſchen alten Bäumen aufführen. Gunſt und Kunſt 
ſchmückten ihn reichlich: für die Aula über das Kathe— 
der malte Prinz Ernſt von Sachſen-Meiningen das 
Reiterbild des kurfürſtlichen Stifters und an die große 
Seitenwand daneben Olde drei von den vier Bild— 
niſſen der regierenden fürſtlichen Erhalter; an der 
Hauptwand des Senatsſaales durfte Ludwig von Hof— 
mann eine Landſchaft mit den neun Muſen in tiefer 
Farbenpracht und vereinfachter Zeichnung darſtellen 
und an weiteren Wandflächen Hodler den Aus— 
zug deutſcher Studenten zum Freiheitskriege 1813, 
Saſcha Schneider das Paar des Lehrers und Schü— 
lers in antikiſierender Monumentalität und der 
Jenaer Meiſter Kuithan zwei bedeutende Figuren— 
gruppen: Denken und Empfinden. Nicht all dieſer 
Schmuck, aber der gebrauchsfertige Bau war im 
Sommer 1908 vollendet, als Eggeling die erſte 
Feier im neuen Hauſe mit Goethes altem Feſtwunſch 
für Jena einleitete: 

Wo Jahr um Jahr die Jugend ſich erneut, 

Ein friſches Alter würdge Lehre beut, 

Wo Fürſten reichlich hohe Gaben ſpenden, 

Was alles kann und wird ſich da vollenden, 


Wenn jeder tätig froh an ſeinem Teil. 
Heil jedem Einzelnen! Dem Ganzen Heil! 


332 Univerſitätsjubiläum 1908 


Die hochgeſteigerte Polyphonie Regerſcher Feſtmuſik 
erklang im Gottesdienſt und im Hauptaktus: in Gegen— 
wart der fürſtlichen Erhalter übergab der weimariſche 
Staatsminiſter Rothe das Haus, und an den Dank 
des Prorektors Delbrück ſchloſſen ſich mit Gruß und 
Wunſch der Jenaer Oberbürgermeiſter Singer, der vor 
ſechzehn Jahren Bismarck bewillkommnet hatte, und 
andere, zuletzt im Namen der früheren Dozenten der 
Leipziger Germaniſt Sievers, der der mächtig empor— 
blühenden kleinen Univerſitätsſtadt bezeugte, in ihr 
geſehen zu haben, „wie auch mit beſcheidenen Mitteln 
Großes zu leiſten iſt, wenn nur der richtige Sinn 
hinter der Arbeit ſteht“, und endlich im Namen der 
früheren Studenten der Bremer Bürgermeiſter Pauli, 
der 1846 als Fuchs in Jena eingezogen war, alle 
voll Dank für das hier erlebte frohe Freiheitsgefühl. 

Zu den Stiſtern am Hauſe gehörte der Jenaer 
Verlagsbuchhändler Fiſcher; verdankte er doch den 
Natur- und den Staatswiſſenſchaften dieſer Univerſität 
zum guten Teil die Entfaltung des ſeit 1877 von 
ihm geleiteten Geſchäftes, ſeitdem er es in den acht— 
ziger Jahren auf dieſe beiden Gebiete eingeſchränkt 
hatte. Er verlegte vieles von Haeckels Schriften und 
von denen ſeines Straßburger Fachgenoſſen Weismann, 
die Lehrbücher der beiden Hertwig, naturwiſſenſchaft— 
liche und ärztliche Zeitſchriften, z. B. das Centralblatt 
für Bakteriologie, das von 1887 bis 1913 71 Bände 
ertrug, wozu ſeit 1895 noch 40 Bände über landwirt— 


Jenaer Buchverlag 333 


ſchafkliche, technologische Bakteriologie uſw. kamen, 
die großen Handbücher der Hygiene und der Ana— 
tomie (Bardeleben), Verhandlungsberichte von natur— 
wiſſenſchaftlichen Geſellſchaften und Arbeiten aus 
Kliniken und Inſtituten, z. B. Ehrlichs, von Kopen— 
hagen bis Bern, und vieles andere; ſein Wörterbuch 
der Volkswirtſchaft, das 1897 zu erſcheinen begann, 
kam 1911 in dritter Auflage heraus.“) Die kräftigſte 
Unterſtützung aber kam der Univerſität von einem 
Kinde ihres Schoßes, aus der Entwicklung der künſt— 
lichen Optik durch Abbe **), von dem Zeißwerk und 
dem verbündeten Schottichen Glaswerk. 

In Jena hatte ſich ſchon 1829 Döbereiner mit 
Glasſchmelzverſuchen abgegeben und Goethe ihn dar— 
auf als das wichtigſte hingewieſen, das Verhältnis 
des Brechungs- und Zerſtreuungsvermögens bei dem 
neuen Glaſe zu ermitteln, auch weitere Unterſtützung 
in Ausſicht geſtellt; doch unterblieb der Fortgang, 
weil die mechaniſchen Werkzeuge zu mangelhaft waren. 
Dann hatte Schleiden das Mikroſkop zum Haupt— 
werkzeug des naturwiſſenſchaftlichen Fortſchritts ge— 
macht und Abbe die Theorie dieſer Waffe verbeſſert. 


*) Um die Pflege der äſthetiſchen, philoſophiſchen und 
religiöjen Kultur, um mancherlei Anregungen zu neudeutſcher 
Bildung war ſeit 1904 in Jena (früher in Leipzig) der Ver— 
lag von Diederichs bemüht, teilweiſe mit Neuausgaben älterer 
deutſcher und Überſetzungen ausländiſcher Literatur. 

**) Man ſpricht dieſen Namen in Thüringen mit ge— 
ſchloſſenem und etwas gedehntem Schluß-e aus. 


334 Otto Schott Anfänge 


Er harrte nur der Glasverbeſſerung als des Mittels 
zu weiterm Fortſchritt, und dieſe brachte ihm der 
junge Chemiker Schott aus Weſtfalen. Schott, mit 
einer Ader fauſtiſchen Erfindertriebes begabt, plante 
die geſamte Pyrochemie durchzubilden, beſchränkte 
ſich aber bald, von genialen Griffen in das Reich der 
Minerale und Elemente begünſtigt, auf die chemiſch 
verbeſſerte Glasſchmelze, als ſich hier wiſſenſchaftliche 
Gewinne und Rätſel ergaben und induſtrielle Ver— 
wertung in Sicht kam. Seine Proben neuen Lithium-, 
Bor- und Phosphorglaſes ſandte er ſeit 1879 zur 
optiſchen Prüfung an Abbe, und nach mancher Ent— 
täuſchung konnte dieſer, als er Schott 1881 zur hun— 
dertſten Verſuchsſchmelze beglückwünſchte, das Problem 
der völligen Achromatiſierung des Fernrohrobjektivs 
für gelöſt anſehen. 1882 ſiedelte Schott nach Jena 
über und richtete mit Abbe und den beiden Zeiß, 
Vater und Sohn, ein kleines Glaslaboratorium ein. 
Hierher leitete der Berliner Sternwartendirektor 
Förſter den preußiſchen Auftrag, ein möglichſt wärme— 
unempfindliches Thermometerglas zu ſchaffen, und 
als das Schott 1883 mit Ausprobung des Natron— 
glaſes gelang und er gleichzeitig für optiſche Zwecke 
die wichtige Erfindung der Boroſilikatgläſer durch— 
geprüft hatte, kam im Herbſt 1884 mit Unterſtützung 
des preußiſchen Staates die Firma „Glastechniſches 
Laboratorium Schott und Genoſſen“ in Gang: Frau 
Abbe brannte den erſten Ofen an. 


Das Schottſche Glaswerk 335 


Binnen dreißig Jahren entfaltete ſich dieſer Anfang 
zu der bedeutendſten Glashütte Deutſchlands mit 
mehr als 1300 Arbeitern. Der Siemensſche Ofen 
kam gerade recht, den Betrieb auf eine neue Grund— 
lage zu ſtellen, die Herſtellung der Ofenſteine, die 
Gußhäfenfabrikation wurden am Orte in die Hand 
genommen: immer größeren Umfang gewann die 
Anlage im Süden Jenas mit ihren rieſenſchlanken 
Eſſen. Der Verbrauch an Kohle zur Heizgasbereitung 
ſtieg auf wöchentlich zwei volle Güterwagen, Maſſen 
von Ton wanderten zur Gefäßbildung in die Hafen— 
ſtube und als fertige Häfen in die Schmelzöfen, von 
tauſend und abertauſend Säcken und Fäſſern voll 
Sand und Chemikalien wurde der Inhalt auf der 
Wage peinlich genau verteilt, im Miſchtrog gemengt 
und in den heißen Schmelzhäfen zu Glasmaſſe ein— 
geſchmolzen. Alles geſchah in einer ſich fortwährend 
verfeinernden wiſſenſchaftlichen Regelung der Erzeu— 
gung mit Hilfe von Chemie und Phyſik: ſpezifiſches 
Gewicht und ſpezifiſche Wärme des Glaſes wurden 
beobachtet, Zug- und Druckfeſtigkeit ſowie Elaſtizitäts— 
koeffizient der verſchiedenen chemiſchen Glasmiſchun— 
gen berechnet, Wärmeleitfähigkeit und thermiſcher 
Ausdehnungskoeffizient, die mittlere Lichtbrechung 
wie die mittlere Farbenzerſtreuung und die äußerſten 
zurzeit erreichbaren Grenzen dafür feſtgeſtellt. Die 
Mannigfaltigkeit der Aufträge wuchs, von der größten 
Fernrohrlinſe mit ihrer ſchwierigen Feinkühlung bis 


336 Das Zeißwerk 


zum ſchlichteſten Geräteglas: jene übertraf an optischer 
Reinheit, dieſes an Haltbarkeit in Hitze und Kälte 
alles bisher dageweſene. Beſonderem Glas wurde 
das Vermögen verliehen, die ultravioletten Strahlen 
ſichtbar aufzufangen (Uviolglas): infolgedeſſen ver— 
mehrte ſich die Erſcheinung der Sternenwelt für uns 
auf das anderthalbfache. Dem Auerſchen Glühſtrumpf 
wurde der Zylinder geſchaffen, der ihm erſt den ge— 
waltigen Wettbewerb mit dem elektriſchen Licht er— 
möglichte. Das Queckſilberuviollicht wurde der Haut— 
heilkunde zugeführt. So wirkten Schott, ſeine wiſſen— 
ſchaftlichen und Betriebsgehilfen und ſeine Glasbläſer. 

Inzwiſchen wuchs die optiſche Werkſtätte von 
Zeiß, mit der Schott in engem geſchäftlichen und 
perſönlichen Verband arbeitete, in der von Abbe ge— 
wieſenen Richtung noch bedeutender. 1875 war Abbe 
ihr Teilhaber geworden und 1881 der Sohn von Zeiß 
als dritter eingetreten; 1888 ſtarb Vater Zeiß und 
1889 ſchied der Sohn aus. Bis Frühjahr 1903 ſtand 
Abbe an der Spitze und neben und nach ihm ſeine 
phyſikaliſchen Schüler Czapski und Straubel, Fiſcher 
ſeit 1890 als Geſchäftsleiter, Bauersfeld ſeit 1908 
als techniſcher Oberleiter. Unter dieſen Männern 
vermehrte ſich die Arbeiterſchaft des Zeißwerkes von 
etwa 50 auf etwa 1000 an der Jahrhundertwende 
und weiterhin auf über 5000 Köpfe. Während das 
frühere Zeitalter unter Vater Zeiß nach handwerks— 
mäßiger Erfahrung vorgegangen war, wurde Mitte 


Mikroſkopie und Photographie 337 


der achtziger Jahre der erſte Konſtrukteur angeſtellt, 
und bis 1914 wurden es „vier große Konſtruktions— 
bureaus mit zuſammen rund 270 Beamten“ als 
„eigentliche Brücke zwiſchen den wiſſenſchaftlichen Ab— 
teilungen und den ausführenden Werkſtätten.“ Der 
gemeinſame Arbeitsraum dehnte ſich von einem kleinen 
Fabrikgebäude allmählich auf zwei große, hochbebaute 
Straßenviertel aus, wo der lichtgraue Eiſenbeton bald 
die dunkle Ziegelfarbe überwand. 

Anfangs ſtand die mikroſkopiſche Arbeit ganz im 
Vordergrund: 1886 erfand Abbe das apochromatiſche 
zehnlinſige Mikroskop mit einer früher nicht geahnten 
Bildſchärfe und Helligkeit, 1902 das Ultramikroſkop, 
das die Bewegungen von Milliontel Millimetern er— 
kennen ließ und kinematographiſche Aufnahmen des 
Bazillentreibens ermöglichte. 1885 und 1888 wurden 
Apparate für Mikrophotographie konſtruiert, 1898 
der als Zeißſches Epidiaſkop ſchnell berühmt gewordene 
Projektionsapparat für Beleuchtung mit auf- oder 
durchfallendem Licht. 1890 kamen die neuen photo— 
graphiſchen Objektive unter dem Namen Anaſtigmat 
heraus, ſpäter Protar genannt, zu einer Zeit, wo 
ſich der Gelehrte und der Liebhaber anſchickten, den 
Bereich des Geſchäftsphotographen zu erweitern: 
binnen zwanzig Jahren wurden 300 000 Stück davon 
in alle Welt geliefert.“) Aſtrooptik und Aſtromechanik 

*) 1909 ſchloß ſich das Zeißwerk mit einigen andern 


deutſchen Kamerafabriken zu einem Verband zuſammen, zur 
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 22 


338 Sternwarten, Kriegsoptik, Brillen 


wurden gepflegt und für Liebhaber und wiſſenſchaft— 
liche Inſtitute kleine und Rieſeninſtrumente hergeſtellt, 
3. B. für die Sternwarte Neuchatel in der Schweiz, 
ja ganze Sternwarten gebaut wie die durchaus neue 
in Bergedorf bei Hamburg. Jenaer Ausſichtsfern— 
rohre faßten Stand auf berühmten Landſchaftspunkten 
Deutſchlands, Oſterreichs und der Schweiz; Zeißſche 
Feldſtecher und Operngläſer verbreiteten ſich im 
Handel. Wichtige Erfindungen für Heer und Flotte 
waren die des Zielfernrohrs für Gewehre (1892), 
für Geſchütze (1894), des Prismenfernrohrs für Ge— 
wehre (1900), des Periſkops für Unterſeebote (1904), 
der Juſtiervorrichtung für Geſchütze (1906) und der 
verſchiedenen Fernmeſſer für Infanterie, Artillerie 
und Kriegsſchiffe, des Zielapparates für Geſchoß— 
abwurf, des Zielfernrohrs mit drehbarem Okular für 
Geſchütze auf Luftſchiffen (1912). Auch eine geodä— 
tiſche Abteilung ſchloß ſich den übrigen an und 
ſchließlich eine mediziniſche ſamt der Herſtellung von 
Brillen. 

Als Abbe in den achtziger Jahren mehr und 
mehr in die führende Stellung dieſes optiſchen 
Werkes einrückte, beſchäftigte „die ſoziale Frage“ 
tauſend Gemüter, d. h. vor allem die Fragen, wie 
die Fabrikarbeiterſchaft menſchenwürdig zu halten, 


Dresdner Ica, ſo daß es alleiniger Lieferant der Objektive 
blieb und den Bau von Apparaten für gelehrte und militä— 
riſche Zwecke in der Hand behielt. 


Carl - Zeik- Stiftung 339 


geſchäftsggemäß zu lohnen und wie ſie national zu 
feſtigen ſei. Ein Teil dieſer Fragen wurde durch 
Bismarcks Reichsverſicherungsgeſetzgebung beantwortet; 
in Jena gab Abbe ein Muſterbeiſpiel, wie in der 
Sache von anderer Seite vorwärts zu kommen wäre. 
Er begründete 1889 die Carl-Zeiß-Stiftung, indem 
er an dieſe ſein Recht an der optiſchen Werkſtätte, 
deren Geſamteigentümer er damals geworden war, 
ſowie ſeine Teilhaberſchaft an der Schottſchen Glas— 
hütte abtrat, „um für die wirtſchaftliche Sicherung 
und ſachgemäße Verwaltung der beiden Unter— 
nehmungen auch für eine entfernte Zukunft größere 
Gewähr zu ſchaffen als Privatunternehmer auf die 
Dauer zu bieten vermögen“: die Zeißſtiftung ſollte 
Inhaberin der Betriebe werden, des optiſch⸗techniſchen 
ſofort völlig, der Glashütte vorläufig in Gemeinſchaft 
mit Schott. Nach einer mehrjährigen Probezeit 
genehmigte Großherzog Carl Alexander das Statut; 
mit dem Jahre 1906 trat eine vorgeſehene Reviſion 
in Kraft. Der Grundgedanke dabei war, daß eben— 
ſo der Zweck wie das Mittel der Stiftung die 
günſtige Arbeitsgelegenheit für viele Menſchen ſei 
und daß ihre Erhalter und Mehrer zugleich ihre 
Nutznießer ſeien; es wurde alſo eine Produktivgenoſſen— 
ſchaft geſchaffen, die als ſolche aber nur wirtſchaft— 
lich durchgeführt wurde, in Verwaltung und Leitung 
dagegen ariſtokratiſch ſein ſollte. Mit konſequenteſtem 


Ernſt und mildem Herzen beantwortete Abbe die 
22 * 


340 Abbes ſoziale Tätigkeit 


Fragen des Gehaltes und der Gewinnbeteiligung 
dahin, daß mittlerer Frühgehalt und Höchſtgehalt der 
Angeſtellten das Verhältnis 1: 10 haben ſollten“) und 
daß ſich für jeden der Arbeitsertrag aus drei Teilen 
zuſammenzuſetzen habe: einem feſten und penſions— 
fähigen, einem durch eigene Geſchicklichkeit oder Zeit⸗ 
aufwendung erzielten Überverdienſt oder Lohnzuſchlag 
und einem vom geſamten Jahreserträgnis abhängigen, 
ſchwankenden Teil. Im Jahre 1901 wurde die 
tägliche Achtſtundenarbeit eingeführt; viele beſondere 
Einrichtungen wurden außerdem zum Beſten der 
Angeſtellten getroffen. 

Die Carl⸗Zeiß⸗Stiftung übernahm regelmäßige 
und außerordentliche Zuwendungen großen Maßſtabes 
an die Univerſität Jena, beſonders zur Förderung der 
naturwiſſenſchaftlichen Studien, aber auch zu einer 
Neuordnung der Profeſſorengehälter und u. a. für 
den Neubau. In den Jahren 1901 bis 1903 ließ 
ſie ein öffentliches „Volkshaus“ errichten mit einer 
reichen Leſehalle, Vortrags- und Ausſtellungsſälen 
u. dgl.; ſie unterſtützte das 1909 vollendete prächtige 
Jenaer Volksbad und andre gemeinnützige Einrich— 
tungen. Wie hätten Univerſität und Stadt nicht 
wetteifern ſollen, ihrem Abbe nach einem ſolchen 
Leben zu danken? Das taten die ſtaatswiſſenſchaft— 


*) So verdiente 1912 im Durchſchnitt der vierundzwan— 
zigjährige Arbeiter des Zeißwerkes jährlich 2095 Mark, 
während die obere Grenze etwa 20 — 21000 Mark betrug. 


Abbedenkmal 341 


lichen und Phyſikprofeſſoren in Reden, Aufſätzen 
und Büchern, und ſie unterließen nicht darauf hin— 
zuweiſen, daß in der Perſönlichkeit Abbes Gedanken 
Goethes, Kants und Fichtes an ihrer einſtigen 
Pflanzſtätte neu erſtanden und gewaltig wirkſam 
geworden ſeien. Das tat ein weiterer Kreis 1911 
mit der Errichtung des Abbedenkmals, deſſen ge— 
drungenen Schutzbau van de Velde erdachte, in 
deſſen Wände Meuniers ſchöne bronzene Arbeiter- 
reliefs eingelaſſen wurden und in deſſen Mitte Klin— 
gers Abbeherme ſteht mit den Andeutungen ſeiner 
Entdeckung und Lehre abwärts des geiſteichen 
Kopfes. Wer an das eherne Gitter einer der vier 
Türen gelehnt hier ſchauend verweilt, den mag es 
überkommen ähnlich wie vor vierhundert Jahren 
unſere Vorfahren, als ſie ſich zuerſt in Dürers 
Melencolia J verſenkten. 


Eiſenach 


Die drei bedeutendſten Städte des Großherzogtums 
Sachſen⸗Weimar⸗Eiſenach find in dem Zeitalter an 
der Wende des 19. und 20. Jahrhunderts ſo ge— 
wachſen, daß ſich die Einwohnerſchaft von Weimar 
zwiſchen 1883 und 1913 von 21000 auf 36 500 
vermehrte, die von Eiſenach ſich verdoppelte, von 
faſt genau 20000 auf faſt genau 40 000, und die 
von Jena ſich reichlich vervierfachte, von knapp 
11700 (1885) auf 48 000 (1914). 

Was Jena und Eiſenach im Bewußtſein vieler 
Deutſchen dieſer Zeit verknüpfte, war der Gedanke 
an die Burſchenſchaft. Von dieſen beiden Städten 
war ſie ausgegangen, und ihnen beiden war ſie auf 
den deutſchen Univerſitätsſtädten während einer 
hundertjährigen Geſchichte in dankbarer Treue ver— 
bunden geblieben. Was die Väter zuerſt allein, 
verdächtigt und verfolgt in Deutſchland gefordert 
hatten, hatten die Söhne erſtreiten helfen: ein 
geeintes Vaterland; wie es Bismarck ausſprach, als 
er am Jenaer Burgkeller den jüngſten Arminen 
zutrank: „Ich wünſche der Burſchenſchaft ein fröhliches 
Gedeihen; ſie hat eine Vorahnung gehabt, doch zu 


Burſchenſchaft um 1900 343 


früh. Schließlich haben Sie doch recht bekommen.“ 
Das dritte Zeitalter der Burſchenſchaft brachte nach 
ihrer Vereinigung zu einem gemeinſamen Verband an 
den deutſchen Univerſitäten (1881) — wozu die 
Burſchenſchafter der techniſchen Hochſchulen und die der 
öſterreichiſchen Hochſchulen kamen — die Begründung 
der burſchenſchaftlichen Blätter (1887) und die Ver— 
einigung alter Herren bei dem Jenaer Jubiläum 
fünfundſiebzigjähriger Zuſammengehörigkeit (1890). 
Nun nahmen die Burſchen teil an der Unterſtützung 
des Allgemeinen deutſchen Schulvereins, des All— 
deutſchen Verbandes und des Oſtmarkenvereins, auch 
an Arbeiterunterrichtskurſen und an der Pfadfinder— 
und Jugendwehrbewegung. Als der deutſch-europä— 
iſche Krieg ausbrach, traten ſofort etwa 8600 von 
ihnen unter die Waffen; und binnen einem Jahre 
beſiegelten mehr als 650 den Wahlſpruch „Ehre, 
Freiheit, Vaterland“ mit dem Heldentode. 

Die ſtärkere Zuſammenfaſſung des weiteren 
Kreiſes in der jüngſten Vergangenheit ermöglichte es, 
den Begründern der Burſchenſchaft, ihren Kämpfern 
von 1870 und der Erfüllung ihres gemeinſamen 
Lebenswunſches auf einer Bergkuppe öſtlich über 
Eiſenach eines der ſchönſten deutſchen Nationaldenk— 
mäler zu ſetzen. Platzfrage und Entwürfe zu die— 
ſem Burſchenſchaftsdenkmal hatten eine zehnjährige 
Geſchichte, als 1900 der junge Architekt Kreis und 
ſeine Dresdner und Eiſenacher Helfer die Ausführung 


344 Burſchenſchaftsdenkmal 


begannen. Im Mai 1902 ward es geweiht: die 
Fichtenwand weit überragend in engem Rund ge— 
ſtellt neun ungeheure Kalkſteinſäulen, im Innern 
die hohe Halle mit den Geſtalten von Carl Auguſt, 
Wilhelm I., Bismarck, Moltke und Roon unter dem 
dunkelglühenden Deckengemälde mit dem Kampf der 
Aſen und der Tiefengeiſter, und außen darüber die 
züngelnde Steinkrone, aus deren Rundgeſims die 
großen Antlitze von Armin, Karl, Luther, Dürer, 
Goethe und Beethoven mächtig in alle deutſche 
Weite ſchauen.“) f 

Zu Beginn des Zeitalters wurden Jena und 
Eiſenach auch bisweilen im Namen Luthers zuſammen 
genannt. Von Jena ging 1883 Devrients Luther— 
feſtſpiel in die deutſchen Städte aus; es wurde 
1889 auch in Eiſenach aufgeführt, als der Evangeliſche 
Bund hier eine ſeiner erſten Generalverſammlungen 

*) Wie dem gleichalterigen Großherzogtum war der 
Burſchenſchaft in der zweiten Juniwoche des Jahres 1915 ein 
lautes Säkularfeſt verſagt. Aber der ſchlichten Feierſtunde 
in Berlin, nach deren Gruß an Kaiſer Wilhelm II. dieſer 
im Felde der zahlreichen Männer gedachte, „die aus der 
deutſchen Burſchenſchaft dem deutſchen Volke als Führer 
und Mitkämpfer für ſeine idealen und realen Güter in Kriegs— 
und Friedenszeiten erwachſen ſind“, entſprach eine weſtthürin— 
giſche Zuſammenkunft am Eiſenacher Denkmal, auf deren 
Gruß an Großherzog Wilhelm Ernſt dieſer antwortete: „Möge 
das Mitkämpfen der 8000 Burſchenſchafter für Ehre und Frei— 
heit des Vaterlandes nicht vergebens ſein“; vertrauend ſangen 
die unter dem Sternenhimmel am Denkmal das lodernde 
Holzitoßfeuer umſtehenden Burſchenſchafter „Deutſchland, 
Deutſchland über alles“ in die Nacht. 


Lutherdenkmal 345 


hielt. Vertrat Jena mehr den entwicklungsfähigen 
Gedanken der Freiheit eines Chriſtenmenſchen, ſo 
erinnerte Eiſenach mehr an die geliebte Perſönlich— 
keit des Glaubenshelden; und da dies das beſtimmtere 
und faßlichere iſt, ſo behauptete Eiſenach den Vor⸗ 
rang als Lutherſtadt. Hier, von wo es nicht weit nach 
ſeinem Möhraer Stamm- und Verwandtenhauſe war, 
hatte er die freundlichſte Zeit ſeiner Jugend erlebt, 
vom fünfzehnten bis achtzehnten Jahre an der 
Lateinſchule bei St. Georg, hier hatte ſich Frau 
Cotta des Jünglings um ſeines andächtigen Singens 
und herzlichen Betens willen angenommen; auf der 
Wartburg hatte er als gehegter Gefangener das 
neue Teſtament verdeutſcht. Kein Wunder, daß 
der Wunſch mancher Stadt, aus Anlaß der Vier— 
hundertjahrfeier von Luthers Geburtstag ſein Stand— 
bild zu errichten, auch in Eiſenach Wurzel jchlug.*) 
1889 legte man den Grundſtein dazu, Donndorf 
übernahm die künſtleriſche Arbeit, und im Frühling 
1895 — am 4. Mai, wie einſt Luther auf der 
Wartburg eingetroffen war, — fand auf dem Karls— 
platze in Anweſenheit des Großherzogspaares und 
vieler hervorragender deutſcher Proteſtanten bis von 


*) Es war der um Eiſenach in der zweiten Hälfte des 
19. Jahrhunderts hoch verdiente Julius von Eichel-Streiber, 
der die erſte Anregung zur Verwirklichung gab, derſelbe, der 
ſpäter auch das Donndorfſche Bismarckdenkmal an der der 
Stadt zu gelegenen Ecke ſeines Parkgrundſtückes öffentlich auf⸗ 
ſtellen ließ. Die Seele des Denkmalsausſchuſſes war Archidia⸗ 
konus Kieſer, der nachmalige Superintendent von Eiſenach. 


346 Luthers Eiſenacher Jahre 


Siebenbürgen her die Enthüllungsfeier des ehernen 
Reformatorbildes ſtatt. 

Luthers wahres Eiſenacher Jünglingsbild belebte 
ſich indeſſen dank vertiefter Forſchung mit deut— 
licheren Zügen. „Bei Kunz Cotten“ und ſeiner 
Frau, deren Wohnung man ſchließlich nicht in dem 
zum „Lutherhaus“ am „Lutherplatz“ ausgeſtalteten 
alten Gebäude, ſondern an der Stätte des kleinen 
Gaſthofs zur Sonne an einer Ecke der Georgenſtraße 
fand, hatte ihn die feinere geſellige Hausart befreien 
helfen, und in der Georgsſchule hatte er mit erwachen— 
dem Bewußtſein einen bildſamen Unterricht genoſſen, 
wie ihn an jener humaniſtiſchen Jahrhundertwende 
nur eben ein Mann wie der Rektor Trebonius 
erteilen konnte, der mit ſeinen Schülern höflich ver— 
kehrte. In den Wäldern und Tälern um die 
Wartburg hatte er ſtreifen können und Erdbeeren 
pflücken; am Aufſtieg zur Wartburg war auch das 
von Frau Cottas Verwandten geſtiftete Eliſabethkolleg 
gelegen, deſſen Franziskaner ihm geneigt wurden. 
Am Domſtift hatte ihn ſich der Vikar Braun zu 
höflich ergebenem Danke verpflichtet, und mit Vetter 
Konrad, dem Küſter der Nikolaikirche, auf deſſen 
Verkehr es wohl der Vater mit abgeſehen hatte, 
als er den Schulknaben nach Eiſenach ſchickte, blieb 
er gut Freund und lud ihn 1509 zu ſeiner erſten 
Meſſe ein. Ja, es iſt wahrſcheinlich geworden, 
daß ein Wunſch Luthers berückſichtigt wurde, als 


Weimarer Lutherausgabe 347 


man ihn nach dem Wormſer Reichstag gerade auf 
der Wartburg nächſt ſeiner „lieben Stadt“ Eiſenach 
in Sicherheit brachte. 

Die Lutherforſchung der jüngſten Vergangenheit 
iſt mit dem thüringiſchen Großherzogtum auch durch 
die große kritiſche Geſamtausgabe von Luthers 
Werken aus dem Verlag und der Druckerei von 
Hermann Böhlau verknüpft. Mit Unterſtützung Kai— 
ſer Wilhelms J. und des preußiſchen Kultusmini— 
ſteriums wurde ſie unternommen; Großherzog Carl 
Alexander richtete an die evangeliſchen Herrſcher 
Deutſchlands die Bitte um ihre Mithilfe zur Ver— 
breitung des weitläufigen Werkes. Luthers Schriften 
und Predigten, Studien und Sendbriefe, Vorworte, 
Tiſchreden und Bibelüberſetzung wurden nur in dieſer 
„Weimarer Ausgabe“ in einer allen wiſſenſchaftlichen 
Forderungen unſerer Zeit völlig entſprechenden Weiſe 
geſammelt veröffentlicht, der Zeit ihrer Entſtehung 
nach, ſo daß ſich ſein geiſtiges Werden und religiöſes 
Denken Schritt für Schritt ſelbſt darlegte. Seiner 
Sprache, die Jacob Grimm „Kern und Grundlage 
der neuhochdeutſchen Sprachniederſetzung“ genannt 
hat, wurde hier zum erſtenmal ganz ihr Recht. Eine 
Reihe tüchtiger deutſcher Theologen (Knaacke, Kawerau, 
Müller u. a.) und Philologen (Pietſch, Brenner, 
Kroker uſw.) aus dem Norden und Süden des Vater— 
landes arbeiteten daran mit. 1883 erſchien der erſte 
der ſtarken Quartbände; als 1914 im einundfünfzigſten 


348 Deutſche evangeliſche Kirchenkonferenz 


Band die letzten Predigten Luthers neben anderlei 
Quellen mitgeteilt wurden, konnte der Herausgeber 
dieſes Miſchbandes darauf hinweiſen, daß ſich das 
Werk dem Ende neige. 

Großherzog Carl Alexander, der Nachkomme Fried— 
richs des Weiſen, begünſtigte Eiſenach als Lutherſtadt 
gerne. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts tagte 
aller zwei Jahre hier die Deutſche Evangeliſche 
Kirchen-Konferenz: ihr ſtellte er für ihre Verhand— 
lungen den Saal ſeines Reſidenzſchloſſes am Markte 
zur Verfügung und für ihren Eröffnungsgottesdienſt 
die Wartburgkapelle. So wurde es zwei Menſchen— 
alter über gehalten, und wenn die Ergebniſſe dieſer 
Konferenzen nicht ſo viel zu einer formellen Einigung 
der evangeliſchen Landeskirchen Deutſchlands und 
Oſterreichs beigetragen haben, wie der oder jener er— 
wartete, ſo iſt doch die regelmäßige perſönliche Begeg— 
nung, die unmittelbare Verſtändigung der Vertreter 
all dieſer Kirchenregierungen in der Mitte Deutſch— 
lands von hohem Wert geweſen. Zu vielen kirchlichen 
und religiöſen Zeitfragen konnten ſie hier gemein— 
ſam Stellung nehmen und manche Beratung über 
Sonderrechte und Geſamtwohl unſerer evangeliſchen 
Landeskirchen pflegen, manchen Rat erteilen. Später 
trat übrigens eine zweite Eiſenacher „theologiſche 
Konferenz“ zur Förderung wiſſenſchaftlicher Fortarbeit 
zuſammen, begründet und geleitet von dem Eiſenacher 
Superintendenten Kieſer, der ſich auch als Organiſator 


r 


a" 


J. S. Bach in Eiſenach und Weimar 349 


der Generalverſammlungen des Guſtav-Adolf-Vereins 
und des Evangeliſchen Bundes bewährte und 1915 
das Kurrendeſingen in Eiſenach wieder einführte. 
Der größte Diener der evangeliſchen Kirche ſeit 
Luther war Johann Sebaſtian Bach; er iſt in 
Eiſenach geboren. In dem weimariſchen Großherzog— 
tum des 19. Jahrhunderts war der alte Goethe einer 
der erſten, der Bach in ſeinem Heimatlande wieder 
zu würdigen vermochte. Als dann Bachs Werke in 
der 1850 begonnenen großen Ausgabe der Bach— 
geſellſchaft in ihrer Geſamtheit zum erſtenmal auf 
Deutſchland zu wirken begannen, ging man auch 
ſeiner thüringiſchen Entwicklung ſo genau wie möglich 
nach. Spitta ſtellte feſt, daß ſich dereinſt für den 
fünfundzwanzigjährigen Bach gar kein günſtigerer 
Platz hätte denken laſſen als die Stelle eines Hof— 
organiſten und Kammermuſikus unter Herzog Wil— 
helm Ernſt in Weimar, in der er (1708 bis 1717) 
viele Orgelwerke und die erſte größere Reihe ſeiner 
Kirchenkantaten ſchuf. Und er wies auch auf den 
muſikaliſchen Ruf Eiſenachs zur Zeit von Bachs 
Kindheit Hin*) und durfte annehmen, daß der mit 
einer ſchönen Sopranſtimme begabte Knabe gegen 
1695 in der Kurrende ſingend durch dieſelben Straßen 
Eiſenachs gezogen ſei wie zweihundert Jahre früher 


*) Ein Eiſenacher Annaliſt jener Zeit hat gejagt: Claruit 
semper urbs nostra Musicä. Et quid est Isenacum zar' 
dv ay. quam en musica: vel Isnacum, canimus? 


350 Bachdenkmal 


Luther. 1864 tauchte zuerſt der Gedanke eines 
Eiſenacher Bachdenkmals auf; als 1867 die Stadt 
an dem Geburtshauſe Bachs am Frauenplan eine 
Gedenktafel anbringen ließ, bildete ſich ein Denk— 
malsausſchuß, dem Eichel-Streiber als Vorſitzender 
und Fritz Reuter angehörten. Liſzt, Bülow, Joachim 
wirkten dafür, in der Mitte der ſiebziger Jahre 
waren die Mittel geſichert, und wieder erſchien 
Donndorf als der berufenſte Künſtler, das Stand— 
bild zu ſchaffen. Er ſtellte die Kraft des thüringer 
Volkstums in ſeinem Bach dar und prägte deutſchen 
Verſtand und Witz in dem Kopf aus: ſo wurde das 
Denkmal Ende September 1884 enthüllt vor der 
Georgskirche, in der man unmittelbar darauf die 
H-Moll-Meſſe andächtig ſtaunend zum erſtenmal 
in Eiſenach vernahm. 

Als im Jahre 1900 die alte Bachgeſellſchaft 
mit der Vollendung der Ausgabe von Bachs Werken 
ihre Arbeit getan hatte und ſich auflöſte, trat ſofort 
eine Neue Bachgeſellſchaft ins Leben, um dieſe 
Werke nun der muſikempfänglichen Gegenwart 
vermitteln zu helfen durch Aufführungen wie durch 
Erörterungen von mancherlei dabei noch ungeklärten 
Fragen. Sie verknüpfte ſich mehrfach mit Eiſenach. Ihr 
dortiges Mitglied Bornemann regte an, daß ſie 1906 
das Geburtshaus Bachs erwarb; und diesmal war 
es die Berliner Singakademie, die durch Eiſenacher 
Bachkonzerte 1905 einen großen Teil der Mittel 


Bachmuſeum 351 


dafür beſchaffte. Bornemann entledigte ſich mit 
Liebe und Geſchick des Auftrags, das Haus als 
Bachmuſeum einzurichten, indem er aus altem Eiſe— 
nacher Beſitz an feſtem und beweglichem Gerät zu— 
ſammengewann, was zur Ergänzung der Vorſtellung 
von Bachs Geburtshaus dienen konnte, und Bilder 
und Schriftſtücke des Bachſchen Kreiſes, Muſikalien und 
alte Inſtrumente hinzuerwarb, daß ſich anheimelnde 
Muſeumszimmer neben den alten Wohnzimmern 
füllten. Ende Mai 1907 hielt die Neue Bachgeſell— 
ſchaft ihr drittes Bachfeſt in Eiſenach; und ob wohl 
„Dir, dir, Jehovah, will ich ſingen“ aus den Kehlen 
der Leipziger Thomaner je ſo herzergreifend geklungen 
hat, als wie ſie es damals vor der Tür des zu 
eröffnenden Bachmuſeums ſangen? Das Haus am 
Eiſenacher Frauenplan wurde wie das am Weimarer 
Frauenplan zu einer Wallfahrtsſtätte; von Danzig 
bis Straßburg kamen ſie, der pommerſche Kantor, 
der weſtfäliſche Organiſt, der ſchwäbiſche Paſtor, 
auch der holländische Bachfreund und der deutſch— 
amerikaniſche Profeſſor, und manche Bachtakte im 
Fremdenbuch bezeugten ihre große geheime Liebe 
zu dem mitteldeutſchen Meiſter. 1910 wurde die 
wertvolle Sammlung alter Inſtrumente aus dem 
Beſitz des früheren Weimarer Kapellmeiſters Obriſt 
der Neuen Bachgeſellſchaft geſchenkt und dem Bach— 
hauſe eingefügt: deſſen Beſtand an dergleichen ſtieg 
nun faſt auf 200 Stück und wurde durch einen lehr— 


352 Kleine Bachfeſte; Wartburgbibliothek 


reichen Katalog in enge Beziehung zu Bachs Werken 
gebracht. Wiederholt fanden ſeitdem „kleine Bachfeſte“ 
in Eiſenach ſtatt, auch Muſik von Bachs leiblichen und 
Kunſtverwandten erklang da: und ſolche gediegene 
altdeutſche und altitalieniſche Kunſt von den Virtuoſen 
Berlins, Leipzigs und Thüringens in Eiſenach einmal 
vorgetragen zu hören, welchen Kenner und Freund 
dieſer Schätze hätte das nicht anziehen ſollen? Der 
heiligen Ordnung von Bachs Muſik vergleicht ſich 
die des deutſch-europäiſchen Krieges, wo die Über— 
wältigungen der feindlichen Völker aufeinander folgen 
wie die Stimmen einer großen Fuge. 

So ſind es tiefere geſchichtliche Wurzeln deutſchen 
Geiſtes und thüringiſcher Art, die in dem bergum— 
grünten Eiſenach zu uns ſprechen, als in Weimar und 
Jena. Damit vereint es ſich, daß Carl Alexander 1889 
in Eiſenach eine Bibliothek zur Pflege thüringiſcher 
Geſchichtskunde unter feinem Namen gründete und 
in Räumen der alten Dominikanerkirche beim Gym— 
naſium aufſtellen ließ und ihr auch die Wartburg— 
bibliothek einfügte, die man auf Anregung des Wart— 
burgbibliothekars Richard Voß zum größten Teil in 
den Jahren 1885 und 1886 zuſammengebracht hatte!), 
und daß 1899 in den unmittelbar anſtoßenden alten 
Kirchenräumen ein Thüringer Muſeum von Alter— 


*) Der Dresdner Sammler Klemm beſchaffte dafür u. a. 
faſt 900 Originaldrucke aus der Reformationsliteratur des 
16. Jahrhunderts, darunter 200 der wichtigſten Lutherſchriften 
aus den Jahren 1516 bis 1523. 


Wartburgbeſuch um 1900 353 


tümern und Gewerbekunſt eröffnet wurde. Vor 
allem galt aber Carl Alexanders Eiſenacher Liebe 
bis zuletzt ſeiner Wartburg, und die Eiſenacher 
Bürgerſchaft konnte ſein Denkmal, das ſie von der 
Hand des ihr entſtammten Bildhauers Hoſäus 1909 
errichtete, nicht beſſer aufſtellen als an der freien 
Wegecke des großherzoglichen Karthäuſergartens mit 
der Wendung zum Schloßberg, wo ſich ſeine ſchlichte, 
vornehme Geſtalt zugleich mit dem ſchönſten Eiſenacher 
Wartburgblick jedem Wanderer einprägt. 

Was die Wartburg im jüngſten Zeitalter unſerer 
Geſchichte für Kaiſer und Reich geweſen iſt, wer 
will das ermeſſen? Kaiſer Wilhelm II. iſt ſeit ſeinem 
Regierungsantritt bis zum Jahre 1905 faſt alljährlich 
ihr Gaſt geweſen, 1898 zuſammen mit fünf Söhnen. 
1895 ſuchte Prinz Leopold von Bayern ſie auf, der 
zwanzig Jahre ſpäter Warſchau eroberte. 1890 waren 
Wiſſmann und ſeine Gefährten da, um einen tiefen 
Heimatseindruck mitzunehmen, ehe ſie wieder in den 
ſchwarzen Erdteil eindrangen. Wildenbruch, Lienhard 
und andere haben ſie neuerdings beſungen. Gegen 
Ende des Zeitalters ſtiegen Vaterlandsliebe und 
Wartburgbeſuch wohl gleichmäßig: 1910 wurden 
etwa 70000, 1911 100 000, 1912 150 000 Beſucher 
gezählt. 

Der alte Großherzog am Ausgang des 19. und 
der junge am Beginn des 20. Jahrhunderts genoſſen 
ihre Hausherrſchaft an dieſer ſchönſten deutſchen 


Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 23 


354 Neue Wartburgausſtattung 


Burg gewöhnlich einige Wochen im Frühling. Der 
Beſitz war eingerichtet, nur vervollkommnen ließ er 
ſich noch. Ende 1885 übernahm der junge Dittmar 
das vorher von ſeinem Vater innegehabte Amt eines 
Bauleiters der Burg: ſeine erſte Arbeit wurde die 
erſehnte künſtliche Waſſerzuführung, und 1900 wurde 
dieſe zu einer dreizehn Kilometer langen reichlich 
ſpendenden Leitung ausgebaut. Ende der achtziger 
Jahre konnte nun auch die mittelalterliche Badeanlage 
noch geſchaffen werden, ein doppelgeſchoſſiger Raum, 
an orientaliſches Vorbild erinnernd. 1893 erhielten 
die Wartburgbewohner telephoniſche Verbindung nach 
Eiſenach, 1898 die Wohltat einer Niederdruckdampf— 
heizung und 1899 elektriſches Licht. Noch immer 
fand ſich ein und das andere vorzügliche Kunſtwerk 
deutſchen Altertums herzu, um 1897 z. B. die wohl 
im 11. Jahrhundert gewebte Altarbekleidung mit 
Chriſti Geburt aus dem Elſtertal: ſie wurde im 
Zimmer des Burgherrn aufgehängt wie ſpäter das 
farbenfriſche Kölner Dreiheiligenbild aus Bruyns 
Werkſtatt. An die Wände der früher nicht völlig 
ausgeſtatteten Kemenate der Eliſabeth ſtiftete Kaiſer 
Wilhelm II. Glasmoſaikdekorationen mit Darſtellungen 
aus dem Leben dieſer Heiligen, ſtreng althieratiſche 
Entwürfe, im einzelnen teilweiſe modern empfunden; 
als ſich ihr erſter Überglanz milderte und ihnen 
eine gedämpfte Beleuchtung zu teil wurde, fügten 
ſie ſich der künſtleriſchen Geſamtſtimmung der 


Wartburgkommandanten 355 


Wartburg ein, obgleich ſie ein neues Zeitalter der 
Burgrenovation andeuteten, ein mehr formal als 
individuell gehaltenes. Zwei der ſchönſten alten 
Schränke der Burg mit gotiſcher Schablonenmalerei 
ließ der Kaiſer für die preußiſche Marienburg genau 
nachahmen. 

Die Wartburg fortwährend zu beſorgen und zu 
betreuen, jeden Schaden im Entſtehen zu beſeitigen, 
die Sprache dieſes ſteinernen Märchens unter pein— 
licher Bewahrung all ſeiner Züge bei friſchem Klang 
zu erhalten, das war die Aufgabe des Wartburg— 
kommandanten. Auf Bernhard von Arnswald folgte 
1878 ſein Bruder Hermann; er hegte die Burg 
in gleichem Sinne wie jener bis 1894. Dann über— 
nahm Hans Lucas von Cranach das ſchöne Amt im 
Herzen Deutſchlands. Großherzog Carl Alexander 
war in den ſiebziger Jahren, als Weimar mit der 
Cranachſchen Familie um des Reformationsmalers 
willen in Berührung trat, auf ihn aufmerkſam ge— 
worden, 1876 war er in das 94. Regiment eingetreten 
und bald auch auf der Wartburg eingeführt worden. 
Und er verwuchs doppelt mit ihr, die ſeines Alt— 
vordern Meiſterſtücke in Luthers Elternbildniſſen hegt, 
indem er das Erbe ſeines Ahnen auch als perſönlichen 
Beſitz in dem teuren, wunderbaren Heim da oben 
pflegen konnte. 

Von allen Schätzen der Wartburg haben die 
Gäſte des jüngſten Zeitalters die Lutherſtube als 


23* 


356 Junker Jörg 


den größten empfunden.*) Der Ritterſang iſt ver- 
klungen, die Lebenswerte unſerer mittelalterlichen 
Dichtung neuen Zeiten einzuimpfen hat man nur 
in zu kleinen Kreiſen vermocht; Schwinds Bilder, 
Carl Alexanders Geſamtausſtattung der Burg, die 
fürſtliche Pflege ihres Berggeländes beglücken die 
Deutſchen. Aber wer hinter Luthers Schreibtiſch ſte— 
hend durch das halb geöffnete Butzenſcheibenfenſterchen 
nach den Werrabergen hinausſah, der hat eine Er— 
innerung an geiſtige Strahlkraft, die faſt über alles 
Menſchenwerk iſt. Und was der „Junker Jörg“ **) in 
jenen zehn Monaten von Mai 1521 bis März 1522 
durchgemacht hat, iſt uns erſt jetzt deutlich geworden. 
Er ſchreibt' gegen die alte Kirche Von der Beicht 
und widmet die Blätter einem andern Burgſaſſen, 
Franz von Sickingen. Er vollendet für den Kur— 
prinzen Johann Friedrich die Überſetzung des Magni- 
ficat, in der er die Marienlegende ein letztes Mal 
herzlich anklingen läßt. Er fördert ſeine Poſtille, 
d. h. er ſchafft an ſeinem Muſterjahrgang von Pre— 
digten, und es wird nach ſeiner Meinung das beſte 
Buch, das er je gemacht habe, nach unſerm Wiſſen 
ſein volkstümlichſtes. Er überſetzt Melanchthons 


*) Daher auch Anknüpfungen wie der Titel „Die Wart- 
burg“ auf einer führenden Wochenſchrift des evangeliſchen 
Deutſchlands u. dgl. 

**) Mit dieſem Schutz⸗ und Trutznamen ſchließt ſich 
Luther an die Wartburgritterſchaft vor dreihundert und mehr 
Jahren an, die ihrem Heiligen in Eiſenach die St. Georgs— 
kirche erbaut hatte, wo er in die Schule gegangen war. 


Winter 1521/22 357 


Apologie gegen die Sorbonne und verſieht ſie mit 
Vor⸗ und Nachwort. Er begrobſt den Papſt zu 
Neujahr. Er bringt es nicht fertig, nicht gegen 
den „Abgott zu Halle“ zu ſchreiben, gegen die un⸗ 
geheuerlich abergläubiſche Reliquienausſtellung des 
Erzherzogs Albrecht. Er tröſtet ſeine daheim in 
Verwirrung geratene Gemeinde mit einer Auslegung 
des 37. Pſalms „an das arme Hänflein Chriſti zu 
Wittenberg.“ Er widerlegt Emſer. Mönchsgelübde, 
Meſſenmißbrauch, Kloſterſtürmer beſchäftigen ſeine 
Feder, aber auch ſein Herz ſo, daß er Anfang De— 
zember auf wenige Tage einen geheimen Ritt nach 
Wittenberg wagt. Kaum zurückgekehrt ſchreibt er 
die „treue Vermahnung an alle Chriſten ſich zu 
hüten vor Aufruhr und Empörung.“ Und endlich, 
mitten in Winterſchnee und tiefſter Stille, überſetzt 
er von Ende Dezember bis Ende Februar das Neue 
Teſtament: mit dieſer Heldenarbeit gewinnt er ſelbſt 
eine letzte Stufe der Schrifterkenntnis und Deutſchland 
die beſte Chriſtenwaffe, gegen Rom und für ſich. 

Jena reizt uns zur Tat, Weimar lockt uns zur 
Form, Eiſenach hilft uns zum Glauben. 


Jahrhundertwirkung 


Wenn es wahr iſt, daß auf ein naturergebenes 
Zeitalter in der Regel ein ſtilforderndes folgt, die 
ſich gegenſeitig nicht leicht verſtehen, ſo wird zwiſchen 
den in längeren Abſtänden wiederkehrenden natur— 
frohen Zeitaltern unter ſich ebenſo wie zwiſchen den 
formbewußten unter ſich eine verhältnismäßig gute 
Erkenntnis und Würdigung der früheren durch die 
ſpäteren, ein beſonders tiefgreifender Anſchluß dieſer 
an jene ſtattfinden. Was an der Wende vom 18. 
ins 19. Jahrhundert erſtrebt und geſchaffen wurde, 
wirkte zwar, allmählich nachlaſſend, über die zwei 
Geſchlechter um die Mitte des 19. Jahrhunderts fort, 
aber erſt an der Wende vom 19. zum 20. Jahr⸗ 
hundert war wieder ein neues Streben und Schaffen 
lebendig, deſſen Sinn dem vor hundert Jahren im 
Grunde ähnelte. Der Wille zum Stil erhob ſich 
um 1900 über die um 1865 vorherrſchende Natur— 
nachahmung ebenſo, wie der um 1800 über die von 
etwa 1765. Freilich hatten ſich inzwiſchen die Be— 
dingungen verſchoben, ſo daß die höchſten Werte auf 
andern Gebieten erzielt wurden: die neue Philo— 
ſophie, Dichtung und Muſik kam jener älteren an 


. 


Führerſchaft der bildenden Kunſt um 1900 359 


menſchlicher Bedeutung nicht gleich, die jetzige Ver— 
kehrstechnik, Raumſchöpfung und Flächenkunſt aber 
übertraf die damalige. Diesmal ſtanden Maſſe und 
Augenſinn im Vordergrund der Entwicklung, während 
es ſich damals zuvörderſt um das Einzelweſen und 
den Gehörsſinn gehandelt hatte. Was ergaben ſich 
daraus für Beziehungen zwiſchen dem carl-auguſtiſchen 
Erbe Weimars und der deutſchen Bildung des jüngſten 
Menſchenalters? 

Die bildende Kunſt, die jetzt eine ungewöhnlich 
kräftige und glänzende Stilperiode erlebte, ſchoß 
nun bereits im zweiten Geſchlecht den Schweſter— 
künſten voraus. Indem ſie zu voller Selbſtherrlichkeit 
erſtarkte, warf ſie die Knechtsarbeit der Dichternach— 
bildung hinter ſich; die Zeit der illuſtrierten Klaſſiker— 
ausgaben war ſeit 1890 mit einem Schlage vorüber. 
Entweder wagte ſie eigene Gedanken des bildenden 
Künſtlers darzuſtellen, oder ſie hielt ſich an allgemein 
gültige Augenſymbole, oder ſie verpönte, am rechten 
und am unrechten Ort, jeglichen Gedanken, wodurch 
um 1910 nicht ſelten eine Leere erreicht wurde, die 
der Ode zum Verwechſeln ähnlich war, als der 
Formtrieb auf dem Wege über das Formbewußtſein 
zum Formdünkel entartete. Jedenfalls aber erlaubte 
ein Werk wie Goethes Fauſt der Phantaſie des Zeich— 
ners, Gebilde zu treiben, wie ſie Staſſen im An— 
ſchluß an das Bühnenbild und Schneider und Kolbe 
als Rahmenzeichnungen zu der Dichtung entwarfen. 


360 Fauſtiſches bei Klinger 


Wie ſich Klinger Einzelheiten der goethiſchen 
Fauſtdichtung zu eigen gemacht hat, zeigen gelegent— 
liche Außerungen ſeiner mannigfaltigen Kunſt. Wenn 
der erſte Radierungsverſuch des Einundzwanzigjährigen 
in mondbeglänzter Gebirgslandſchaft eine Sphinx dar— 
ſtellt, deren ägyptiſcher Kopf mit kecken Rätſelaugen 
zum Sprechen verlebendigt worden und deren Löwen— 
leib aus der glatten ſtarren Plaſtik in ſchmiegſame 
bepelzte Natur zurücküberſetzt iſt, ſo erinnert das an 
die Sphinx der theſſaliſchen Walpurgisnacht und wird 
kaum ohne ſie entſtanden ſein. Ein Zitat aus der 
deutſchen Walpurgisnacht ſchrieb Klinger in die 
Blätter des Aſtes, unter denen die Ballettänzerin, 
zwei Apfel in den erhobenen Händen, den Mann 
am Schlangenbaum grüßt: „Der Apfelchen begehrt 
ihr ſehr“; das Blatt war als Titel zu Einem Leben 
gedacht. Auf dem grauvioletten Marmorſockel ſeines 
Beethoven hatte Klinger urſprünglich die Worte ein— 
gemeißelt: „Der Einſamkeiten tiefſte ſchauend unter 
meinem Fuß“ und damit an den ganzen Monolog 
erinnert, wo dem Fauſt noch einmal Helena, dem 
alten Goethe noch einmal die griechiſche Schönheit 
rieſengroß als Wolkengebild im Auge ſchwankt. Und 
auf der Rückſeite des Beethoventhrones flog um 
den Jüngling, der von der Kreuzigungsgruppe auf 
die Venus zuſtürzt, urſprünglich ein Spruchband: 
„Wer frech iſt, der muß leiden.“ Das irdiſch-unter— 
irdiſche Titanengewühl auf der Predella des Chriſtus 


— ; 


Gedichtete und radierte Zueignungen 361 


im Olymp, ſo neu es als Ganzes iſt, erinnert an 
den Seismos und die Mütter im Fauſt. 1914 
ſchuf Klinger die Radierung, auf der ein Starker 
ſich immer noch mit der Rieſenarbeit abmüht, den 
Block mit den vier Fakultäten darauf bergan zu 
wälzen, während nebenan ein leichtes Zeppelinſchiff 
durch den Weltraum ſurrt: wir vernehmen das Ach! 
der erſten Fauſtzeile neu in tiefſter Seele und emp— 
finden nur einigen Troſt durch den Fortſchritt der 
Technik; nach Theſſalien zu fliegen bedarf es keines 
Zaubermantels mehr. 

Wer durch ſolche Andeutungen zu erkennen gibt, 
wie fauſtiſches in ihm webt, ſollte bei dem nicht 
auch Goethes ſonſtige Dichtung anklingen? Wie 
Goethe verwendet Klinger wiederholt das Wort 
Zueignung; er zeichnet und radiert ſeine Zueig— 
nungen, und wie ſich für Goethe im Jenaer Saal— 
tal der Nebel teilt, ſo für Klinger der Kerzenrauch 
über dem Zeichentiſch, daß ihnen darin das Götter— 
bild der Wahrheit erſcheint. Wie Goethe als neuer 
Amadis, neuer Pauſias, neuer Kopernikus dichtet, 
ſo ſchafft Klinger „die neue Salome“. Bald nähert 
ſich ſeine Phantaſie der goethiſchen bis an die 
Grenze der Illuſtration, bald quillt ſie wie ein 
neuer, gleicher Strahl aus der Tiefe. „Lilis Park“ 
reizte Klinger 1883 zu einer Federzeichnung: er ſetzt 
Lili an die Ecke des Parkgemäuers, mit der Futter— 
ſchüſſel auf dem Schoß, das Geflügel drängt ſich um 


362 Lilis Park; Elyſium 


ſie, wie Goethe es ſchildert, einen Täuberich fügt 
Klinger hinzu, der an dem Zuckerſtückchen in ihrer 
erhobenen Linken pickt und den ſie ganz, ganz leiſe 
am Köpfchen krauelt; hinten über der Parkmauer 
lehnt der junge Mann, der ſoeben die Idee zu dem 
Gedicht faßt und auszudenken anfängt. Der bekränzte 
Taſſo träumt ſich an einen klaren Bach zwiſchen Bäumen 
und Felſen und von dieſem ſein Bild als das eines 
elyſiſchen Jünglings widergeſpiegelt, der denke: 
Käme doch 

Ein andrer und noch einer, ſich zu ihm 

In freundlichem Geſpräche zu geſellen! 

O ſäh ich die Heroen, die Poeten 

Der alten Zeit um dieſen Quell verſammelt, 

O ſäh ich hier ſie immer unzertrennlich, 

Wie ſie im Leben feſt verbunden waren! 

So bindet der Magnet durch ſeine Kraft 

Das Eiſen mit dem Eiſen feſt zuſammen, 

Wie gleiches Streben Held und Dichter bindet. 

Homer vergaß ſich ſelbſt, ſein ganzes Leben 

War der Betrachtung zweier Männer heilig, 

Und Alexander im Elyfium 

Eilt, den Achill und den Homer zu ſuchen. 

O daß ich gegenwärtig wäre, ſie, 

Die größten Seelen, nun vereint zu ſehen! 
Das hat uns Klinger in der Aula der Leipziger 
Univerſität herrlich an die Wand gemalt, als ob ihn 
Goethes Verſe an den elyſiſchen Quell geleitet hätten. 
Taten ſie es nicht, ſo iſt der Einklang noch merk— 
würdiger; taten ſie es, ſo dachte Klinger doch das 
Ganze eigen durch, fügte an der wiſſenſchaftlichen 


Klinger, Schiller und Carſtens 363 


Stätte vor allem die bedeutenden Philoſophen hinzu 
und verwandelte den ſehnſüchtigen Traum in reiche 
Gegenwart. So gab auch ſein Chriſtus im Olymp 
eine neue Antwort auf die ſtolze Dichterfrage: „Wer 
ſichert den Olymp, vereinet Götter?“ und erwies 
damit den Vorrang der bildenden vor der redenden 
Kunſt unſerer Tage. 

Dasſelbe Gemälde iſt auch ſchillerſchen Gedanken 
verwandt. Es erhebt ſich gegenüber den Göttern 
Griechenlands, es ſpiegelt etwas aus den Vier Welt— 
altern wider. Kaſſandra kam Klinger in den Sinn, 
als er einen Frauenkopf aus einem Block Seravezza— 
marmor hieb; ſo ergänzte er ihn nach der Vor— 
ſtellung, die uns Schiller gegeben hat. War doch 
Klingers erſter bildhaueriſcher Verſuch eine bis jetzt 
unbekannt gebliebene Büſte unſeres Schiller. 

Die Klingerſche Homergruppe auf dem Elyſium— 
gemälde iſt die großartige Erneuerung einer Idee 
von Carſtens, die die Deutſchen aus dem Weimarer 
Muſeum kennen. Als einſt jenes Carſtensſche Blatt 
in Weimar eintraf, gaben die Weimarer Kunſtfreunde 
auf, das Menſchengeſchlecht vom Element des Waſſers 
bedrängt darzuſtellen (man denkt an Mephiſtos Hülfe 
zum Siege des Kaiſers); eine größere Parallelaufgabe 
löſte Klinger auf ſeinem Ehrenblatt der Dresdner 
Hygieneausſtellung: das Waſſer als Bedränger 
der Wilden, als Befreier einer neuen, beſſeren 
Menſchheit. Schadows und Goethes Bemühungen 


364 Thoma und Goethe 


um Reliefs am Roſtocker Blücherdenkmal blieben 
Zwitter; was ſie meinten und ſollten, erfüllte Klinger 
an ſeinem Beethoventhron. 

Wenn jemand im neuen deutſchen Reich, ſo 
hatte Hans Thoma das Recht, ſein Wörtlein zu 
Goethes Gedicht „Amor als Landſchaftsmaler“ zu ſagen. 
Als er 1886, ſich auf eine ausſichtsreiche Felsſpitze 
denkend, den vom Rücken geſehenen nackten geflügelten 
Knaben vorn neben ſich entwarf, wie er mit dem röt— 
lichen Zeigefinger den Talgrund für den Liebesblick 
des Malers zu ſchaffen ſcheint, mag ihn die erſte 
Hälfte des Gedichtes genau geführt haben: Sonnen— 
ſchein überm Wolkenſaum, zarte leichte Wipfel friſch 
erquickter Bäume, der Fluß, der im Sonnenſtrahl 
glitzert, alles iſt da, ſmaragdene Wieſe und blaue 
Berge, und wer nun hier hinunter ſchaut, gerät 
wörtlich in das Bekenntnis des Dichters, 

Daß ich ganz entzückt und neu geboren 

Bald den Maler, bald das Bild beſchaute. 
Hat uns Thoma doch auch gegen die Jahrhundert— 
wende wiederholt das jedem eingeborene Gefühl 
Goethes vors Auge gezaubert, das in Fauſt hinauf 
und vorwärts dringt, 

Wenn über uns im blauen Raum verloren 

Ihr ſchmetternd Lied die Lerche ſingt, 

Wenn über ſchroffen Fichtenhöhen 

Der Adler ausgebreitet ſchwebt 


Und über Flächen, über Seen 
Der Kranich nach der Heimat ſtrebt. 


Neue Fauſtmuſik 365 


Wie ihn Goethes Lyrik oft umſchwebte, wenn er 
Landſchaften malte, ſo bedeutet in ſeinem Munde 
das Bekenntnis mehr als in jedem andern: „Das 
Verhältnis der Seele des Deutſchen zu ſeiner Land— 
ſchaft iſt wohl in Goethe am ſchönſten und ſtärkſten 
zum Ausdruck gekommen.“ 

Neue Muſik zu Fauſt zu ſchaffen hat ſich das 
Zeitalter mehrfach bemüht. Zwar iſt nur zu 
vermuten, daß am Anfang dieſer Jahrzehnte aus 
Dingelſtedts Verhandlungen mit Brahms wegen einer 
Wiener Fauſtaufführung deſſen Tragiſche Ouverture 
hervorgegangen ſei. Gegen Ende des Zeitalters 
lieferte Weingartner eine umfaſſende Fauſtmuſik; 
eindringender haben Draeſeke (1888) und Theodor 
Streicher (1911), der Urenkel von Schillers muſikali— 
ſchem Jugendfreund, die Oſterſzene in Fauſts Gewölbe 
durchmuſiziert, Berger den „Euphorion“ (1899) und 
Mahler die Schlußſzene des zweiten Teiles als zweite 
Hälfte ſeiner achten Symphonie, d. h. als Antwort 
auf das Veni creator spiritus der erſten Hälfte (1910). 
Draeſeke ſchloß ſich an die goethiſche Rhythmik noch 
natürlich rezitierend an, Streicher legte die Innen— 
erlebniſſe ſtark muſizierend zwiſchen den Sätzen aus 
und deklamierte dieſe in zerdehnter, neupathetiſcher 
Melodik. Es laſſen ſich unzählige Löſungen dafür 


*) Es iſt bemerkenswert, daß ſeine Sinfonia tragica 
(op. 40) um dieſelbe Zeit entſtand wie dieſe Szene (op. 39); 
vgl. das hier über Brahms geſagte. 


366 Hugo Wolf 


denken; je breiter die Muſik, deſto mehr entfernt fie 
ſich von der urſprünglichen poetiſchen Schönheit des 
Originals, die in einer kleineren Zeit erſchöpfend wirkt. 

Goethes Lyrik hat ſich zu Beginn des Zeitalters 
noch einmal mit einem muſikaliſchen Genie vermählt: 
in dem Winterviertelſahr von 1888 auf 1889 ſchuf 
Hugo Wolf ein halbes Hundert ſtolzer Goethelieder, 
die erſten noch in Wien, die meiſten in der Garten— 
ſtille von Oberdöbling. Der damals achtundzwanzig— 
jährige hatte ſein Talent lange in Schranken ge— 
halten, dann waren ſeine Quellen rauſchend hervor— 
gebrochen, indem er ſich auf Mörike und Eichendorff 
geſtürzt hatte, und nun erlebte er die glücklichſte 
Zeit in einſamem, tiefem Bunde mit Goethe; 
„ſo recht aus dem Roman heraus“ komponierte er 
Ende Oktober die Harfnerlieder und in gleichem Zuge 
vom 21. bis 30. Januar zehn Lieder aus dem Buche 
Suleika. Seine Kunſt baute ſich auf dem Erbe von 
Schumann, Loewe und Liſzt auf, er durchdrang es 
mit friſcher Kraft und raffinierter Harmonik; ſein 
muſikaliſcher Furor bändigte die Worte in eherne, 
bisweilen faſt eintönige Melodiezeilen und tanzte 
ſich in der Klavierbegleitung bis an die Grenzen des 
Inſtrumentes aus, öfter laut dramatiſierend, jauchzend, 
lachend und pfeifend, manchmal auch innig ſpinnend. 
Ein gewiſſes Monumentales an Goethe hatte keiner 
der vorhergehenden Komponiſten ſo herausgeriſſen, 
niemand den Witz Goethes ſo grandios grotesk gepackt, 


Goethiſche Lieder und Geſänge um 1900 367 


und alles, ſo ſchnell es geworden war, ſtrotzte von 
Fülle des Weſens und Sicherheit der Form. Daß 
er barocke Überſpannung mit manchem ſeiner Lieder 
vermittelte, ſprach er ſelbſt am beſten bei einem aus: 
„Die Muſik iſt von ſo ſchlagender Charakteriſtik, dabei 
von einer Intenſität, die das Nervenſyſtem eines 
Marmorblocks zerreißen könnte.“ Da empfand mancher 
die beſcheideneren Kompoſitionen Arnold Mendelsſohns, 
aus der Enkelgeneration zu Felix Mendelsſohn, als 
eine Wohltat für das Zeitalter, die Goethes ſittliche 
Güte tiefer zum Ausdruck brachten und auch des 
Humors nicht entbehrten, etwa dem Dichterwort einen 
Scherz hinzufügen durften wie am Schluſſe der 
„Spröden“ das ſachte Herabfallen der Pomeranze, 
ſich übrigens ſtrengerer Harmonik und des gediegenſten 
Baues befleißigten. Leichter wogen die altgefälligen 
Goethelieder von Kahn und die jüngſtmodiſchen von 
Vrieslander und Kurt von Wolff. 

Am bezeichnendſten für die neue Art der Muſiker— 
teilnahme am Weimariſchen Erbe war wohl die 
verhältnismäßig große Zahl choriſcher Kompoſitionen 
mit Orcheſter, die ihm gewidmet wurde. Und lehr— 
reich dabei iſt, wie zu Anfang der junge Goethe, 
ſpäter der ältere bevorzugt wurde: das Geſchlecht 
an der neunzehnten Jahrhundertwende reifte ebenſo 
wie das an der achtzehnten. Die jungen Strauß 
und Kahn griffen in den achtziger Jahren nach 
Wanderers Sturmlied und Mahomets Geſang, Berger 


368 Arnold Mendelsjohn 


dann nach dem Geſang der Geiſter über den Waſſern 
und Meiner Göttin; Arnold Mendelsſohn brachte 
ſchließlich Muſik zum Paria und zu Pandora. Bei 
Pandora verzichtete er auf die Bühnenwirkung und 
gab nur eine Auswahl der lyriſchen Teile, die er mit 
einem neuen Schluß verſah, jo daß eine Art großer 
weltlicher Konzertkantate entſtand. Wie er hier 
ſtellenweiſe Beethovenſchen Stil mit Geſchick nach— 
ahmte, verwirklichte er ein andermal den feinen 
Einfall, lyriſche Sätze aus Werthers Leiden als fünf— 
ſtimmige Madrigale für Soloſtimmen oder kleinen 
Chor trotz Heinrich Schütz zu komponieren; einige 
ſpruchartige Verſe Goethes verwandelte er in acht— 
und ſechsſtimmige Chöre und ſchloß ſich auch damit frei 
der prächtigen Technik des ſiebzehnten Jahrhunderts 
an. „Mignons Exequien“ geſtaltete der junge Streicher 
zu einem muſikaliſch poetiſchen Werke für gemiſchten 
Chor, Kinderchor und Konzertorcheſter. 

Dieſe geſelligen oder feſtlichen Klangkörper 
wurden auch auf Überſetzungen Herders und Gedichte 
Schillers neu angewandt. Mendelsſohn erlas ſich 
aus den „Stimmen der Völker“ den „Hageſtolz“ zu 
einem größeren Neckreigen und das urſprünglich 
ſpaniſche Warneliedchen vom kurzen Frühling zu 
einem zierlichen, duftigen Tanzquartett für Frauen— 
ſtimmen, und Richard Strauß ſchrieb Männerchöre 
über altdeutſche Dichtungen aus derſelben Quelle. 
Schiller forderte auch jetzt die ſtärkeren Mittel: zu 


Jahrhundertwirkung 369 


einem breit geſponnenen ſechzehnſtimmigen Chor 
legte Strauß (1897) die Sommerſonnenuntergangs— 
ſtimmung des Gedichtes Der Abend auseinander, 
und Georg Schumann zeigte (1905) mit Chor und 
Orcheſter, daß trotz der Abkehr von ſäkularer Senti— 
mentalität Schillers „Sehnſucht“ auch bei den Ur— 
enkeln noch in deutſchen Künſtlerherzen lebte. 

Dieſe Erneuerungen weimariſcher Gedanken und 
Kunſtwerke in Bildern und Muſik der jüngſten Ver— 
gangenheit durchdrangen ſich bei der inneren Bil— 
dung der Nation mit entſprechenden älteren Werken 
ſeit hundert Jahren. Richters, Kaulbachs, Schwinds 
Goethebilder übten ihren beglückenden Einfluß weiter, 
ja vergrößerten ihn dank einer geſteigerten Repro— 
duktionstechnik, Schuberts Lieder klangen im deutſchen 
Hauſe der Gegenwart ſo friſch wie bei unſern 
Großeltern, und noch iſt der Schlußchor der Neunten 
Symphonie herrlich faſt wie die Schöpfungswerke 
ſeit dem erſten Tag. 

Und die Dichter? Bei ihnen läßt ſich dreierlei unter— 
ſcheiden: um 1885 trotziges Eindringen in neues Lebens— 
dickicht unter vorwiegender Abweiſung des klaſſiſchen 
Ideals, um 1900 theoretiſche Anerkennung Goethes 
und Schillers neben der eigenen Produktion, gegen 
1915 gelegentliche Hinwendung dieſer Produktion unter 
die Sonne Weimars. 

Einer von denen, die zu Anfang des Zeitalters 
trotz ihres guten Willens Schiller gründlich verkannten, 

Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 24 


370 Der Radikalismus und Schiller 


war z. B. Bleibtreu, er erklärte das Schillerpamphlet 
ſeines Genoſſen Mauerhof für einen hochbedeutenden 
Eſſay, und ſeinen Namen bewährend, rannte er auf 
dieſem Holzwege weiter und geriet vollends in die 
blödeſte Schillerkritik mit Sätzen wie: „Seine künſtlich 
erhitzte, innerlich kalte Natur verſteckte ſich hinter ge— 
ſchwollener Unnatur. Es möchte ſchwer ſein, irgendwo 
bei ihm einen Laut echter Empfindung zu ſpüren. 
Nur in der Tellgeſtalt findet er natürliche Töne, doch 
auch hier entpuppt ſich dies angebliche Sinnbild der 
Demokratie als Spießbürger mit Privatrache aus 
Familiengefühl. Denn Schiller vertritt nicht radikalen 
Idealismus, ſondern lauwarmen bourgeoiſen Libera— 
lismus, ein Knecht der ideologischen Phraſe.“ Goethes 
Art imponierte dieſen Jungen mehr; aber als ſchaffende 
gingen ſie doch auch in einem möglichſt weiten Bogen 
um ihn herum. Wenn ſich damals für viele jüngere 
Geiſter ſo etwas wie eine plötzliche größere Entfernung 
von Goethe und Schiller herſtellte, ſo hatten die meiſt 
ſozialiſtiſch gefärbten Dichtergehilfen des Naturalismus 
der achtziger Jahre ihr Teil an dieſer Wirkung. 

Als Deutſchland 1899 den hundertfünfzigjährigen 
Geburtstag Goethes und 1905 den hundertjährigen 
Todestag Schillers beging, zeigte ſich allerdings, daß 
auch bei denen, die um 1885 naturaliſtiſch zu dichten 
begonnen hatten, das Verſtändnis für Stil inzwiſchen 
wieder einmal gereift war, und der Nachwuchs ſeit 
den neunziger Jahren ſah ſich vollends im Genuſſe 


Dichterbekenntniſſe um 1900 055 


eines neuen Schönheitsbewußtſeins auf Grund jüng— 
ſter pſychologiſcher Entdeckungen. Das bedeutete trotz 
des großen äußeren Kulturabſtandes zwiſchen 1900 und 
1800, trotz neuer Ziele, ja auch trotz eines zweifellos 
laſtenden Konkurrenzgefühls doch wieder eine ehrliche 
Bewunderung Goethes und Schillers faſt auf der ganzen 
Linie des neuen Dichtergeſchlechtes; und als ſie ſich 
äußerte, kam auch zutage, daß die Verblendung in den 
achtziger Jahren nur einen Teil der literariſchen Kreiſe 
ergriffen gehabt hatte. Detlev von Liliencron ſprach 
us: „Bis zu meiner Todesſtunde wird Goethes Einfluß 
auf mich währen“, und Karl Henckell wünſchte: „Möge 
mich fortan auch der Hauch des Weiſen mit ſeinen 
liebenden Kräften dauernd ſegnen.“ Dehmel bekannte 
zwar, in ſeiner unreifen Zeit Schiller für einen mäßigen 
Dichter und maßloſen Schönredner gehalten zu haben, 
erklärte ihn aber nun für den einſichtigſten, gewiſſen— 
hafteſten und maßvollſten Künſtler in deutſcher Sprache, 
und Hofmannsthal meinte: „Die ungeheure ſittliche 
Kraft eines Menſchen wie Schiller wirkt heute ſtärker 
durch die Schwungkraft ſeiner Reden und architektoniſche 
Kraft des Szenariums als durch die direkten Ideen! 
und Reflexionen.“ *) 

Schließlich wurde von da aus auch der Schritt zu 
unmittelbarem poetiſchen Anſchluß an die klaſſiſche 
Kunſt getan, und kein geringerer als Gerhart Haupt— 

*) Abſeits hielt ſich Wedekind mit ſeiner Parodie „Erd— 


geiſt“. 
24% 


372 Hauptmann und Goethe 


mann gab dafür das bedeutendſte Beiſpiel in ſeinem 
Breslauer Jahrhundertfeſtſpiel von 1913. Oder wäre 
der Gedanke dieſer Dichtung, den Weltregierer Gott 
in Geſtalt eines Theaterdirektors prologiſierend einzu— 
führen, nicht ein geiſtreich verknüyfender Abſenker aus 
den beiden Vorſpielen des Fauſt? Wären die „deutſchen 
Reime“ des Feſtſpiels nicht rhythmiſch und zum Teil 
wörtlich genau abzuleiten aus den Fauſtſchen Knittel— 
verſen und der Kapuzinerpredigt? Erklängen die 
Trimeter von Athene Deutſchland nicht dank der Reſo— 
nanz des Helenapathos, und bedeuteten ſie nicht einen 
wenn auch geringen Erſatz für das, was der zweite Teil 
der Pandora hatte bringen jollen?*) 

Dieſe Zeugniſſe aus Dichtermund ſtimmten überein 


*) Aus demſelben Jahre noch einige kleinere Beiſpiele, 
die freilich auf einem andern Blatte ſtehen: wenn Paul Ernſt 
ein Geſchichtchen „Die Bajadere“ erzählt, wo es am Schluſſe, 
als ihr Geliebter ertränkt wird, heißt: „Das Mädchen breitete 
die Arme aus und ſprang ihm nach in das ruhig fließende 
Waſſer“ oder wenn er in der „Liebe in Rom“ ſagt: „Mit 
zitterndem Herzen und auf den Spitzen der Füße ging Hermann 
weiter in dem ſtillen Garten unter überhängendem Gebüſch 
dunkler Zweige, zwiſchen denen goldene große Orangen 
glänzten, an alten Marmortrümmern vorbei, welche entlang 
aufgeſtellt waren, etwa einem Sarkophag mit eingemeißelten 
Amoretten, oder Säulenknäufen und einem Römerbilde in 
der Toga und mit aufrechter Haltung“, ſo erinnert das an 
die barock kopierenden Entlehnungen, die man ſich um 1600 
aus der Kunſt Dürers geſtattete. — (Spittelers „Glockenlieder“ 
ſind in bewußt modernem Gegenſatz zu Schillers „Lied von 
der Glocke“ erfunden und fein „Prometheus und Epimetheus“ 
zu der entſprechenden goethiſchen Dichtung.) 


Mancherlei Urteil und Leſeſtoff 373 


mit dem Verhalten weiterer Kreiſe von Schriftſtellern 
und Denkern, von Nachſprechern und Menge. 1889 
erklärte Nietzſche in ſeiner „Götzendämmerung“ Schiller 
für einen der „Unmöglichen“ und nannte ihn den Moral— 
trompeter von Säckingen; damals war es unter mo— 
dernen Spöttlingen beliebt, von dem „p. p. Schiller“ 
wie von einem berüchtigten Subjekt zu ſprechen, und 
wenn das in Studentenkreiſen nicht viel heißen wollte, 
ſo dachte doch mancher Dozent aus Scherers Schule 
ähnlich. Der Beobachtungseifer des Naturalismus war 
auf das formell unbedachte Sprechen eingeſtellt, 
Räuſpern und Spucken, halbe Verlegenheit und halbe 
Verlogenheit einer Rede waren ihm das wichtigſte; daß 
es ſo etwas gäbe wie Gedanken mit Lebenswert, ahnte 
er nicht und ſah in Schillers Jamben bloß Täuſchung. 
Im Jahre 1900, als ſchon ein anderer Geiſt wehte, 
wurde zur Beantwortung der Frage: „Was lieſt der 
deutſche Arbeiter?“ mitgeteilt, daß in 18 Volksbiblio— 
theken Heine 215 mal und Schiller 106 mal, in 16 
Goethe 137 mal, in 15 Zola 433 mal und in 9 Haupt— 
mann 150 mal geleſen worden ſei. Dann bewies der 
Mai 1905 eine Begeiſterung für Schiller und durch ihn, 
die ſich auch in der Folge als echter Gewinn bewährte, 
denn ſie hatte ihren Grund in dem Reifen des ganzen 
Zeitalters, deſſen Entwicklung der klaſſiſchen vor hundert 
Jahren parallel ging. Seit Schillers Lebzeiten hat 
es keine Zeit anfangs ſo ſchwer gehabt, ihm gerecht 
zu werden, und keine ihn zuletzt mit ſolchem Ver— 


374 Verminderte Bewertung der Antike 


ſtändnis gewürdigt wie die drei Jahrzehnte von 1885 
bis 1915. 

Die Antike freilich bewundern wir nicht mehr ſo 
unbedingt, wie es die beſten vor hundert Jahren taten, 
auch wenn antikiſche Baugedanken in unſrer Archi— 
tektur noch einmal an Einfluß gewannen. Ein Bild— 
hauer wie Klinger hat es uns in ſeinen Werken gezeigt, 
daß die neue Plaſtik mit der griechiſchen in die Schranken 
treten könne, und wie er ſind wir uns darüber klar ge— 
worden, daß als vorzügliche Arbeit auch im Altertum 
nur ſehr weniges gelten kann von den Unmengen, die 
unſere Muſeen bergen. Auch die Einzelkenntnis der 
antiken Mythologie iſt zurückgegangen; und wer be— 
dauert das? Iſt doch dafür ein tieferes Vertrauen zu 
unſerer Art erwacht, auf Grund einer beſſeren Kenntnis 
unſerer Geſchichte, einer beſſeren Zuſammenfaſſung 
unſeres Volkes und der Vorbereitung dazu durch die 
Weimarer Dichter. Gerade unſern Klaſſikern, ſo innig 
ſie der Antike verbunden waren, hat dieſer Umſchwung 
keinen Abbruch tun können; ſie ſind ja Deutſche, 
und faſt lernen wir die Fabel- und Götterweſen des 
Altertums um Goethes und Schillers willen lieber als 
einſt um ihrer ſelbſt willen. Die goethiſche Iphigenie 
hat in hundert Jahren mehr Wert für die Menſchheit 
gehabt als die euripideiſche in der dreiundzwanzigfachen 
Zeit. Von Wielands Weimarer Arbeiten iſt möglichen— 
falls noch die Horazüberſetzung in der Hand eines treuen 
Gymnaſialrektors in Gebrauch; aber wenn eine neue 


Wachstum der Goetheliteratur 375 


Zeitſchrift „Wieland“ erſcheint, ſo iſt nicht mehr Goethes 
Zeitgenoſſe gemeint, ſondern der Schmied der germani— 
ſchen Sage. Goethe empfing 1813 als willkommenes 
Geſchenk einen zum Spazierſtab umgeformten Palmen— 
zweig von der Akropolis, der Reichskanzler Bethmann 
Hollweg hundert Jahre ſpäter von ſeinem Kaiſer einen 
Spazierſtock aus uraltem Eichenholz vom Speſſart. 
Noch ſind wir eines Enthuſiasmus durch die Antike 
fähig, aber ihre Hülſe iſt zuſammengeſchrumpft. 

Um das Verhältnis des jüngſten Geſchlechts unſerer 
Geſchichte zu Goethe anzudeuten, iſt ein Blick auf die 
Goetheliteratur notwendig. 1859 hatte ſie Goedeke 
noch auf 43 Seiten ſeines Grundriſſes zur Geſchichte 
der deutſchen Dichtung verzeichnen können, 1891 
brauchte Koch in der zweiten Auflage dazu 192 und 
1912 Kipka in der dritten 1774 Seiten. Dieſes Wachs— 
tum beruht zum kleineren Teil darauf, daß der ältere 
Stoff mit peinlicherer Sorgfalt zuſammengeſtellt wurde, 
zum größeren darauf, daß ſich die Beſchäftigung mit 
Goethe neuerdings ſtark vermehrt hat. Goethes Be— 
ziehungen zu ſeiner Heimatſtadt Frankfurt am Main 
ſind z. B. in den fünfunddreißig Jahren von 1850 bis 
1885 zwanzigmal literariſch behandelt worden, in den 
fünfundzwanzig von 1885 bis 1910 achtzigmal. Seit dem 
Erſcheinen des Taſſo im Jahre 1790 entſtand allmählich 
eine Literatur über dieſes Werk ſo, daß bis 1815 fünf 
Taſſoſchriften vorlagen, in den beiden Menſchenaltern 
darauf bis 1883 je 16 geſchrieben wurden und in den 


376 Allerhand Intereſſe an Goethe 


dreißig Jahren ſeitdem 73. Neben den Werken wurde 
die Perſönlichkeit Goethes mit der allgemeinſten und 
eingehendſten Teilnahme bedacht. Goethe als Pate, 
als Arzt, als Geſchäftsmann, als Juriſt, als Beamter, 
als Kriegsminiſter, als Rezenſent, als Landmann, als 
Dilettant, als Autographenſammler, als Diktator, als 
Erzieher des deutſchen Volkes, als Erneuerer, als Me— 
teorologe waren Titel, die zum Teil mehrfach neben 
vielen gleichen wiederkehrten, Goethe und die Ehe, und 
das Duell, und die Strumpfwirker, und die Brillen— 
träger, und die Anlage des Bremer Hafens, und die 
Hamburger Lotterie, und die Luftſchiffahrt, und die 
Renaiſſance, und die Fremdwörter, und die Mathe— 
matik und ähnliche Paarungen wurden unterſucht, 
auch die Reihe Goethe ein Kinderfreund, Goethe ein 
Spargelfreund uſw. iſt in Angriff genommen, und in 
den einzelnen mediziniſchen Fachzeitſchriften wurden 
die entſprechenden Krankheiten oder Mängel Goethes 
gründlich behandelt; ein Goethekalender erſchien. Den 
billigen Spott über die Auswüchſe dieſer Erſcheinung 
brachte Rudolf Hildebrand ſchon 1885 in behagliche 
Form unter der Überſchrift „Ein Knopf von Goethe.“ 

Derſelbe Hildebrand war doch von der Notwendig— 
keit einer Goethe- und Schillerphilologie tief ergriffen, 
ja er gehörte zu ihren bedeutendſten Lehrern am Be— 
ginn dieſer Jahrzehnte, wovon unter ſeinen Schülern 
Roethe und Burdach in erſter Linie als Univerſitäts— 
lehrer faſt das ganze Zeitalter über zeugten, und in 


Goethe- und Schillerphilologie; Frankfurt und Marbach 377 


der Lehrerſchaft der Mittelſchulen Lyon, der Begründer 
und langjährige Leiter der Zeitfchrift für den deutſchen 
Unterricht. Im übrigen waren es meiſt Schüler von 
Scherer und von Bernays, die vorwiegend als Goethe— 
philologen, zum kleineren Teil als Schillerphilologen an 
deutſchen Univerſitätskathedern hervorragend wirkten, 
an ihrer Spitze unbeſtritten der Jenaer Profeſſorenſohn 
Erich Schmidt in Berlin (1887 bis 1913), dann Köſter in 
Leipzig und Muncker in München und auch in Oſterreich 
eine Reihe der tüchtigſten: Minor in Wien, Sauer in 
Prag, der Begründer und Herausgeber der literatur— 
wiſſenſchaftlichen Zeitſchrift Euphorion, und Creizenach 
in Krakau, der Sohn des Frankfurter Goethephilologen 
des vorigen Zeitalters, neben vielen andern. 

In Frankfurt wurde Goethes Geburtshaus in ähn— 
licher Weiſe wie das Weimarer Anweſen in den Zuſtand 
von Goethes Aufenthaltszeit gebracht und als Muſeum 
des jungen Goethe ausgeſtattet, hier wirkten auch die 
Vorträge des 1883 zeitgemäß erneuerten Freien deut— 
ſchen Hochſtifts im Sinne Goethes und Schillers; und 
Marbach erhielt ſein Schillermuſeum: ſo gingen von 
den erſten Heimſtätten der Dichter in Franken und 
Schwaben tiefere Wirkungen aus. Anderwärts ſam— 
melte ſich die Verehrung in neuen Denkmälern und 
vor ihnen. In Wien war 1878 ein Goetheverein ge— 
gründet worden und wirkte durch regelmäßige Goethe— 
abende, ſeit 1880 auch durch ſeine Vorbereitungen zu 
dem Wiener Goethedenkmal und ſeit 1887 durch Heraus— 


378 Goethe- und Schillerdenkmäler um 1900 


gabe einer Monats-Chronik, die eine Art Wiener Goethe— 
jahrbuch wurde; im Dezember 1900 erſchien in Gegen— 
wart Kaiſer Franz Joſefs und vier ſeiner Erzherzöge 
an einer Kaiſergartenecke des Rings Hellmers Goethe, 
und wieder brach die Mittagsſonne durch die Nebel 
und ließ das hehre Haupt im Augenblick ſeiner Enthül— 
lung aufleuchten, als Ferdinand von Saar durch den 
Mund Lewinskis wahrſagte: 


So iſt dies Bild ein Sinnbild auch der Zukunft, 

Der wir aus Bängniſſen der Gegenwart 

Mit froher Zuverſicht entgegenblicken: 

Nach Qual und Streit, nach Kampf und blutgen Kriegen 
Wird ſie dereinſt in dieſem Zeichen ſiegen. 


Wie in Wien an Goethes Beziehungen zu Sſterreich 
erinnert ward, ſo wurden ihm auch in Karlsbad (1883) 
und Franzensbad (1906) Denkmäler geſetzt und ſein 
Bildnis am Poſthauſe des Brenners (1888) befeſtigt, 
und ſo hatten auch die neuen reichsdeutſchen Goethe— 
mäler einen beſonderen örtlichen Sinn neben dem 
menſchlichen: 1903 erhielten Darmſtadt und Düſſeldorf 
ihre Goethebilder und einen jungen Goethe die Uni— 
verſitätsſtädte Leipzig und Straßburg (1904). In Rom 
grüßte die dortigen Deutſchen ſeit 1904 ein von Wil— 
helm II. geſtiftetes Goethedenkmal und in San Fran— 
zisko (Kalifornien) ſeit 1901 und Cleveland (Ohio) ſeit 
1907 das Doppelbild des deutſchen Dichterpaares, in 
St. Paul Schiller allein, und auch die beiden ſächſiſchen 
Städte Dresden und Leipzig ſtellten ſich 1914 jede 


Goethebücher und -biographien 379 


ihren marmornen Schiller ins Grüne. Dem Weimarer 
Schillerbund ging 1900 ein Goethebund voraus, zur 
Abwehr geiſtiger und künſtleriſcher Knechtung geſchaffen. 

Abgetan war in dieſem Zeitalter die naivere Vor— 
liebe für den jungen Goethe, den jungen Schiller, die 
im vorigen ihre Rolle geſpielt hatte *); vorbei war es 
auch mit dramatiſchen und Romanverſuchen, die Dichter 
mehr oder weniger unecht vor der Nachwelt aufleben 
zu laſſen. Die Wiſſenſchaft allein hatte das Wort, die 
volle Wahrheit über Goethe wie Schiller konnte allein 
dem vollen Ernſt der Liebe zu ihnen genügen. Und um 
die erfahrenen Denker, die reifen Künſtler handelte es 
ſich vor allem. Da mußte ein Buch wie Hehns Ge— 
danken über Goethe von 1887 bis 1909 in neun Auf— 
lagen begehrt werden, und Otto Harnacks Darſtellung 
Goethes in der Epoche ſeiner Vollendung zwiſchen 1897 
und 1905 in drei Auflagen. Goethe der Naturforſcher, 
der Weiſe, der Lebenskünſtler wurde auf Grund ſeiner 
eigenen Ideen gewürdigt neben mancher neuen Bio— 
graphie, die wie früher vor allem dem Dichter galt. 
Dergleichen Biographien lieferten zu gleicher Zeit, in 
der Mitte der neunziger Jahre, und mit achtbarem 
Erfolg Heinemann und R. M. Meyer, mit ſiegreichem 
Bielſchowsky: ſein erſter Goetheband wurde binnen 
zehn Jahren dreizehnmal aufgelegt, und als ſich ihm 
endlich 1903 der zweite geſellte, waren binnen drei 


*) Ausnahmen wie Weitbrechts „Diesſeits von Weimar“ 
beſtätigten die Regel. 


380 Schillerbiographien um 1900 


Jahren auch von dieſem zehn Auflagen vergriffen, ſo 
ſehr verlangte man nach dem ganzen Goethe. Es 
handelte ſich um den beſten Spiegel für einen Lebens— 
ſtil der Gegenwart, und fo brachte es Bodes Buch über 
Goethes Lebenskunſt von 1900 bis 1908 auf fünf Auf— 
lagen; und wer ſich nach einer Hülfe umſah, um Goethes 
Naturverſtändnis trotz einiger Irrtümer als berechtigtes 
tieferes Denkerverhalten zu begreifen, konnte ſich in 
mancher neuen naturwiſſenſchaftlichen Einzelarbeit be— 
raten laſſen, im ganzen ſeit 1912 auch in Chamberlains 
Goethe. 

Das Leben Schillers zu ſchreiben, iſt jüngſt noch 
öfter unternommen worden als das Goethes. Aber 
es war, als ob die allgemeine Ungunſt der achtziger 
Jahre auf den erſten Bemühungen dieſer Art laſtete: 
die umfänglichen, trockenen, gelehrten Werke Weltrichs 
und Minors gerieten ins Stocken, auch die gewandtere 
Arbeit von Brahm wurde nicht vollendet. Erſt an der 
Jahrhundertwende brachten uns Harnack und Beller— 
mann, zwar in knapperer Faſſung, aber doch in völliger 
Durcharbeitung neu den ganzen Schiller, und dann 
ermutigte das Gedenkjahr 1905 nochmals die Aufgabe 
anzufaſſen, wobei Berger ſeine Mitbewerber in einem 
zweibändigen Werke ſchlug. Er hatte ſchon 1889 einen 
Univerſitätspreis gewonnen, als er „Die Entwicklung 
von Schillers Aſthetik“ darſtellte; und die neu zu Kräften 
kommende Schönheitslehre ſelbſt war es, die gerade 
auch dem Verſtändnis Schillers in ſteigendem Maße 


Dramaturgiſches und philoſophiſches 381 


zugute kam, namentlich dem des Bühnenkünſtlers, 
obwohl einige Studien auch bis zur Einheit von Goethe 
und Schiller vorzudringen vermochten. Zu ſolcher 
Zuſammenfaſſung erwies ſich zunächſt der junge Hein— 
rich von Stein berufen, als er 1886 an der Berliner 
Univerſität über Goethe und Schiller las, dann Harnack 
mit ſeiner Klaſſiſchen Aſthetik der Deutſchen (1892). 
Dem Dramaturgen Schiller widmeten Bulthaupt, 
Bellermann, Köſter und Peterſen eingehende Arbeit 
mit immer neuem Gewinn, und gegenüber weitgehen— 
der biographiſcher Grundierung machten die Philo— 
ſophen Lipps und Volkelt die Bahn wieder frei für 
eine künſtleriſche Würdigung von Schillers Tragödien, 
worauf ſchließlich Petſch philoſophiſch-ethiſches zur 
Geltung brachte in dem Buche über Freiheit und Not— 
wendigkeit in Schillers Dramen. 

Während ſo Goethes und Schillers Weſen neu 
beleuchtet und zuſammengefaßt wurde, und zwar nicht 
durch widerwillige Kritik, ſondern in ſo behutſamem 
Nachbauen, wie es früher weder objektiv noch ſubjektiv 
möglich geweſen war, wurden auch fortwährend Neu— 
ausgaben beider Dichter angeboten. Für Goethe 
wirkte dabei die Weimarer Sophienausgabe ſonnenhaft; 
was an erläuternden Ausgaben zu früh neben ihr fertig 
wurde, wie die 36 Bände der Kürſchnerſchen Ausgabe 
(1882 bis 1896) mußte in den Schatten treten neben 
glücklich ſpäter begonnenem wie der dreißigbändigen des 
Bibliographiſchen Inſtituts (1901 bis 1908), und vollends 


382 Neue Goethes und Schillerausgaben 


wurden ältere Textausgaben des Zeitalters durch jüng- 
ſte überſtrahlt, vor allen die 1909 begonnene große 
Propyläenausgabe, von deren 40 Bänden bis 1914 
26 vorlagen und das dereinſtige Erſcheinen von Goethes 
poetiſchen und wiſſenſchaftlichen Werken ſamt ſeinen 
bedeutendſten Briefäußerungen und ſonſtigen Aufzeich— 
nungen in geſchloſſenen kleinen Jahresgruppen oder 
Jahrgängen ſtattlich nachahmten. Unter den neuen 
Schillerausgaben ragte gleichfalls die des Bibliographi— 
ſchen Inſtituts hervor (ſeit 1895); die Jahre 1892 bis 1896 
brachten auch zum erſtenmal eine kritiſche Geſamtaus— 
gabe von Schillers Briefen (Jonas). Außer vielen 
andern Neudrucken wurde ſeit 1909 der Hempelſche 
Goethe in Bongs Klaſſikerbibliothek erneuert; und der 
Cottaſche Stammverlag unſerer Dichter verſammelte 
zu einer würdigen Jubiläumsausgabe beider um 1905 
die vorzüglichſten Mitarbeiter. 

Wer will die Einzelausgaben zählen, die in dieſen 
dreißig Jahren von Goethes und Schillers Werken 
gedruckt und gekauft wurden? Zum Teil Sonder— 
ausgaben für die Schule, für die Bühne? Allein vom 
Fauſt ſind nach der großen Weimarer Ausgabe noch 
vierzig Neudrucke hergeſtellt worden. Von der Italieni— 
ſchen Reiſe waren zwiſchen 1850 und 1880 ſieben Son— 
derdrucke erſchienen, ſeitdem folgten noch achtzehn, 
darunter die des Inſelverlags mit den 167 Bildtafeln 
und Textabbildungen nach Zeichnungen Goethes und 
ſeiner Freunde und Kunſtgenoſſen (1912) und zwei 


Nochmals vom deutſchen Unterricht 383 


Ausgaben für den Schulgebrauch; unter den vielen, 
vielen Erläuterungsſchriften dazu entſtanden auch „Richt— 
linien zur Behandlung von Goethes italieniſcher Reiſe 
in den Oberklaſſen der höheren Schulen“ (Ziehen), und 
kunſtgeſchichtliches Anſchauungsmaterial dafür wurde 
bereitgeſtellt. Ob damit nicht Goethe in der Schule 
ſchmackhafter geworden iſt, als wie er, mancher ärger— 
lichen Klage nach zu urteilen, noch vor dreißig, vierzig 
Jahren oft mit den Schülern behandelt wurde? Die 
Hauptſache war, daß ſich hier immer mehr Hildebrands 
Auffaſſung von der Aufgabe des deutſchen Unterrichts 
durchſetzte „als Pflege des Beſten, Höchſten und Tiefſten, 
das ſich unſer Volk in Sprache und Literatur zuſammen— 
gelebt hat und das von ſich ſelbſt in ſich weiter weiſt 
auf die höchſten Ziele hin, die es für Menſchen über— 
haupt gibt im Leben wie im Geiſte.“ In ſolchem Zu— 
ſammenhang mag und muß auch der Schulbehandlung 
Schillers alle neue Gelehrtenarbeit ſchließlich zugute 
gekommen ſein, ſtammte ſie doch zum großen Teil von 
Schulmännern. Die lange Zahl ihm und Goethe ge— 
widmeter pädagogiſcher Fachaufſätze hat vielfältig an— 
geregt; andere ſind von ſelbſt in Zuſammenhang mit 
der ganzen Neubildung des Zeitalters tief und tiefer 
in Goethe und Schiller eingedrungen, um beide immer 
überzeugter zu verkünden, von dem jungen Rektor an, 
der ſeinen deutſchen Geiſtesheldenglauben mit dem 
Opfertod auf dem belgiſchen Schlachtfeld bekräftigt, bis 
zu der faſt erblindeten ſiebzigjährigen Privatlehrerin. 


384 Die Schauſpielbühne um 1900 


Stille Hausleſe, jugendliche Schuldeklamation, ja 
ſelbſt die gewaltige Rezitation Wüllners wurden an 
Größe der künſtleriſchen Wirkung von der Bühne über— 
troffen. Das ganze Zeitalter über hörten bezeichnender— 
weiſe die Bemühungen, den zweiten Teil des Fauſt 
aufzuführen, nicht auf, und in den neunziger Jahren 
wurde die Zunahme von Darſtellungen der Iphigenie 
und des Taſſo als ein Zeichen von Emporgehen der 
künſtleriſchen Geſinnung bemerkt. Goethezyklen und 
Schillerzyklen waren keine Seltenheit. Überblickt man 
das Jahrzehnt von 1898 bis 1908 im deutſchen Bühnen— 
ſpielplan, der 1908 381 Bühnen des deutſchen Reichs 
und Oſterreichs umfaßte, ſo ergibt ſich, daß Schiller 
wohl das eine Mal von Sudermann, das andere Mal 
von Beyerlein, das dritte Mal von Meyer -Förſter an 
Zahl der Aufführungen übertroffen wurde, in den 
erſten dieſer Jahre ſogar von drei andern, im zweiten 
von zwei andern, daß er aber im ganzen als der eigent— 
liche König der deutſchen Schauſpielbühne hundert 
Jahre nach ſeinem Auftreten zu bezeichnen iſt. Vom 
Herbſt 1908 bis zum Herbſt 1909 wurden 300 oder 
mehr Spielabende folgenden Dichtern zuteil: 


300 Hebbel 393 Fulda 

337 Biſſon 425 Grillparzer 

358 Görner 504 Engel und Horſt 
358 Wied 520 L'Arronge 

367 Leſſing 520 Feydeau 


— — 


377 Meyer-Förſter 570 Wildenbruch 


Schiller, Goethe und die Schauſpieler 385 


572 Flers und Cavaillet 915 Schönthan und Genoſſen 


601 Hauptmann 1037 Sudermann 

640 Goethe 1039 Blumenthal u. Kadelburg 
821 Ibſen 1141 Shakeſpeare 

863 Thoma 1632 Schiller. 


In dem Jubiläumsjahr 1904/5 erreichten Schillers 
Dramen gar 2210 Aufführungen, während ſie in Goethes 
Jubiläumsjahr 1898/9 nur 873 mal geſpielt wurden. 
Goethes Aufführungszahlen ſtiegen in dieſem Jahrzehnt 
mit ziemlicher Stetigkeit von 326 auf faſt das doppelte 
(die Shakeſpeares ſchwankten bis herab zu 553, doch 
hatte er vor Ibſen und Hauptmann faſt immer den 
Vorrang). Freilich wurde nicht jeder Oreſt und Taſſo 
von einem Kainz oder Wiecke geſpielt. Aber die lange 
Bühnenerfahrung überlieferte doch auch manches gute, 
und daß die Gefahr des Schlendrians ſchließlich auch 
bei Schiller für die beſten Kräfte immer wieder über— 
windbar war, das bezeugte 1909 Gregoris Wort: „Die 
Schauſpieler haben ſich leider gewöhnt, ihn bequem 
zu nehmen. Sie quälen ſich nicht mit Geſtaltung 
herum, wo ſchon das bloße Wort hinreißt. Sie laſſen 
ſich in ihrem Bote untätig vom Rhythmus und vom 
Wohlklang ſchaukeln, anſtatt Steuer und Ruder in 
feſter Hand zu halten. Es mag nicht immer leicht 
ſein, den einen Punkt auszufinden, an dem ein 
dramatiſcher Charakter von Schillers Gnaden mit 
uns zuſammenhängt, aber der Punkt iſt da.“ Und 
Baſſermann ſagte: „Schiller auf der Bühne ſpielen, 
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 25 


386 1914/1915 


d. h. feine Figuren erleben und fie einheitlich durch— 
führen, ſo daß der Zuſchauer im Parkett das Theater 
vergißt, das iſt — meine ich — für uns die herrlichſte, 
aber auch ſchwierigſte Aufgabe, die bis jetzt bedingungs— 
los noch von keinem gelöſt worden iſt. Die definitive 
Löſung dieſes Problems bedeutet mir den Gipfel der 
Schauſpielkunſt.““) 

Die höchſte Probe beſtanden die Weimarer Dichter, 
als der europäiſche Krieg ausbrach. Von den zehn— 
tauſenden Soldaten, die auf der Strecke Leipzig — 
(Halle — Frankfurt an den Rhein ſtrömten, fühlte ſich 
mancher während der Fahrt durch das thüringiſche 
Großherzogtum im Herzen des bedrohten Vaterlandes, 
und in den Minuten auf dem Weimarer Bahnhof kamen 
ihm ſchillerſche Zeilen auf die Lippen, in manchen 
Schützengraben kehrte Fauſt mit ein, und als im Som— 
mer 1915 auf der ſchönen Freilichtbühne der Zitadelle 
von Namur Iphigenie geſpielt wurde, z. T. von Feld— 
grauen, lauſchten andächtig viele Reihen deutſcher 
Offiziere und Mannſchaften. Daheim ſchien uns im 
Tell beim Rütliſchwur die Bühne in den Zuſchauer— 
raum wie in ein gemeinſames Heiligtum überzugehen, 
die Menſchlichkeit und Schönheit der Iphigenie hatte 
uns noch nie ſo Herz und Kopf zum Zerſpringen er— 

*) Dieſe Außerungen, wie die vorher über Goethe und 
Schiller mitgeteilten neuen Dichterſtimmen, werden dem 
Literariſchen Echo verdankt, deſſen Spalten für die Klaſſiker— 


kunde beſonders während der zweiten Hälfte des Zeitalters 
vielfach Zeugnis ablegten. 


1200/1300 und 1800/1900 387 


füllt, bei Fauſts Selbſtgeſprächen dachten wir unſerer 
Feinde: „So etwas habt ihr doch nicht“, und wie 
Wallenſteins Lager von der Gegenwart ſonnenklar 
durchleuchtet wurde, ſo ſpiegelte der Reichszwieſpalt 
in den Piccolomini die Einigkeit Kaiſer Wilhelms II. 
mit Heer und Volk um ſo troſtreicher. In Wien er— 
öffnete zum Geburtstag des Kaiſers Franz Joſeph 1914 
das Volkstheater die Spielzeit mit Wallenſteins Lager 
und der Rütliſzene vor ſchwarz und würdig gekleidetem 
Publikum im ausverkauften Hauſe: der Rütliſchwur 
wurde hier leidenſchaftlich mitgeſprochen, die Frauen 
weinten, und tiefſte Andacht folgte dem feierlichen Akt. 

Die ganze Größe der Zeit hatte unſer Herz für die 
ganze Größe der Dichtung aufgetan wie wohl nie zu— 
vor. Was ſchadete ihr der leiſe Altershauch, den die 
modern durchgebildeten vielleicht ſtellenweiſe an ihr 
empfanden? Nichts neues war ihr an die Seite zu 
ſetzen, das wurde jetzt vollends klar. Wie einſt um das 
Jahr 1300 die hundertjährigen Lieder und Weiſen 
Walthers von der Vogelweide und Aventiuren Wolf— 
rams von Eſchenbach durch die neue Kunſt der Heinrich 
Frauenlob und Heinrich von Freiberg nicht in den 
Schatten geſtellt wurden, ſo leuchteten um 1900 Goethe 
und Schiller vor Dehmel und Hauptmann. Bei feinſter 
Anerkennung des peripheriſchen Eigenwertes der Nach— 
dichter mußte der zentrale Urwert der Erzdichter be— 
ſtehen bleiben, wie er nur aller ſechshundert Jahre ein— 
mal einem Volke beſchert wied. Die zweite Hälfte des 


388 Einzelbildung und Volksorganiſation 


achtzehnten Jahrhunderts war der Reinheit der Seele, 
der Wahrheit des Geiſtes ſo auf den deutſchen Grund 
gegangen, daß ſich das in drei folgenden Menſchenaltern 
im einzelnen wohl ergänzen, aber im weſentlichen nicht 
erſetzen ließ. 

Wenn daneben etwas in dem Jahrhundert von 1815 
bis 1915 noch an Bedeutung für uns gewachſen iſt 
außer den unaufhörlich ſich erzeugenden und ſchrittweiſe 
verbeſſernden Gegenwartskräften, ſo ſind es ältere ge— 
ſchichtliche Dinge, vor allem das teutoniſche Element, 
das Bismarck mit Luther verbindet. Aus ihm hat die 
Nation, innerlich aufgefordert durch die weimariſchen 
Geiſtestaten, die Kraft des äußeren Zuſammenſchluſſes 
geſchöpft, die ihr vor hundert Jahren fehlte. Ja, ihr 
Kenienfpender, mit dem Vers habt ihr, Gott ſei Dank, 
Unrecht bekommen: 

Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutſche, 

vergebens. 
Und doch vertraute auch Goethe: „Denn es iſt einmal 
die Beſtimmung des Deutſchen, ſich zum Repräſentanten 
der ſämtlichen Weltbürger zu erheben.“ Wie er uns 
die Ausbildung des Einzelnen unübertrefflich an ſich 
gezeigt hat, daß alle Beſtrebungen nach einer Indi— 
vidualitätskultur noch auf ihn ſchauen, ſo beneiden uns 
jetzt alle andern Völker auch um unſere nationale Orga— 
niſation. Und ſo fängt ſich uns zum Glauben zu ver— 
dichten an, was Schiller an ſeiner Jahrhundertwende 
dachte und hoffte: „Dem, der den Geiſt bildet, muß 


Weimar und Deutſchland 389 


2 
= 


zuletzt die Herrſchaft werden. Unſre Sprache wird die 
Welt beherrſchen. Die Sprache iſt der Spiegel einer 
Nation, wenn wir in dieſen Spiegel ſchauen, ſo kommt 
uns ein großes treffliches Bild von uns ſelbſt daraus 
entgegen. Der Deutſche verkehrt mit dem Geiſt der 
Welten. Jedes Volk hat ſeinen Tag in der Geſchichte, 
doch der Tag des Deutſchen iſt die Ernte der ganzen 
Zeit.“ Was iſt der Sinn des deutſch-europäiſchen 
Krieges anders, als auf dieſem ſchweren Friedensgange 
einmal einen Gewaltſchritt vorwärts zu tun? 

Wir Deutſchen können der weimariſchen Güter noch 
auf lange hinaus nicht entbehren. Wohl uns, daß uns 
noch ein carl-auguſtiſch Alter leuchtet, daß im ſächſiſch— 
thüringiſchen Großherzogtum neue Sterne wie Preller 
und Abbe aufgegangen ſind, daß die großen alten der 
Bach und Luther von dort hell ſtrahlen und uns der 
Wartburgdemant blinkt. Immerfort quelle den Menſchen 
Segen aus der Verbindung Weimar und Deutſchland. 


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