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Schriften
Guͤerthe-Geſellſchaft
Im Auftrage des Vorſtandes
herausgegeben
von
Wolfgang von Oettingen
30. Band
Weimar
Verlag der Goethe-Geſellſchaft
1915
Weimar und Deutſchland
1815 * 1915
Im Auftrage der Goethe-Geſellſchaft
verfaßt
von
Uudoalf Wuſtmann
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Weimar
Verlag der Goethe -Geſellſchaft
1915
Das Jahr 1915 ſchließt das erſte Jahrhundert der
Neugeſtaltung Deutſchlands nach den Freiheitskriegen, die
für das Herzogtum Sachſen-Weimar-Eiſenach eine Gebiets—
erweiterung und die Erhebung zum Großherzogtum Sachſen
zur Folge hatte. Statt eines Jubeljahres wurde 1915
aber ein ſchweres Kriegsjahr und niemand mochte an
Feiern denken: wir leben ernſt den ſtrengen Forderungen
der Zeit. Da ziemt uns denn mehr als je, mit Stolz
der Geiſteskräfte zu gedenken, die unſer Volk beſeelen und
es zu ſittlicher Feſtigkeit und edler Reife erzogen haben:
das Jahrhundert herrlicher Arbeit und beiſpielloſen Auf—
ſchwunges, das hinter uns liegt, ſoll nicht in Vergeſſenheit
verſinken, ſondern als anſchauliches Vorbild klar vor uns
liegen. Einen nicht geringen Anteil an dem Erſchaffen
von Deutſchlands Größe hatte das Großherzogtum Sachſen,
dem früher als andern deutſchen Ländern das Los gefallen
war, den höchſten Zielen der Geſittung und der Bildung
entſchloſſen und folgerichtig nachzuſtreben. Das will die
Goethe-Geſellſchaft, deren Sitz Weimar iſt und deren
Arbeiten die Früchte weimariſchen Bodens ſind, dem Geiſte
des Ortes voll Dankbarkeit huldigend aufs neue verkündigen,
aber eingehender und umfaſſender, als es bisher geſchehen
iſt, es darſtellen. Sie übergibt daher ihren Mitgliedern
als Jahresgabe 1915 ein Werk aus berufener Feder, das
VI Zur Einleitung
geeignet iſt, die Leiſtung des Großherzogtums beſonders
auf den Gebieten der Künſte und der Wiſſenſchaften
überſichtlich nachzuweiſen; und ſie wünſcht, daß die er—
hebenden Erkenntniſſe, die aus dieſem Buche ſich mitteilen
werden, weit über den Kreis ihrer Mitglieder hinaus in
das deutſche Volk und in das Ausland dringen mögen
zur Bekräftigung unſeres Willens, das koſtbare Erbe aus
Weimar-Jena⸗Eiſenachs Vorzeit verſtehenden Geiſtes zu
erfaſſen, um es ganz zu beſitzen.
Der Herausgeber.
Bei Ausführung der vorliegenden Jahrhundertſchrift
iſt der Verfaſſer von den Staats- und ſtädtiſchen Behörden
ſowie den wiſſenſchaftlichen und künſtleriſchen Anſtalten
und ſonſtigen Organen des Großherzogtums Sachſen
unterſtützt worden. Die Durcharbeitung der einſchlägigen
Literatur, auch der muſikaliſchen, wurde ihm von der
Königlichen öffentlichen Bibliothek in Dresden ermöglicht.
Für alle Förderung auch an dieſer Stelle geziemend zu
danken, iſt ihm eine angenehme Pflicht.
Der Derfaſſer.
Inhalt
Bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts
Das klaſſiſche Erbe.
Der alte Goethe
Im neuen Großherzogtum .
Klaſſizismus und deutſcher Bund
Im Zeitalter der Reichsgründung
Schiller, Goethe und die Enkel
Neue Politik, neue Wiſſenſchaft .
Muſik, Bühne, Dichtung.
Bildende Kunſt ..
Das jüngſte Geſchlecht
Weimar
Jena
Eiſenach 8
Jahrhundertwirkung
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Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 1
Das klaſſiſche Erbe
Als Carl Auguſt, der Herzog von Sachſen⸗Weimar
und Eiſenach, im Jahre 1815 den Titel eines Groß—
herzogs annahm, lag ein Menſchenalter fruchtbarſter
Pflege deutſchen Geiſteslebens hinter ihm. Was in
Weimar und Jena und den zugehörigen Thüringer
Landſchaften ſeit den achtziger Jahren des achtzehnten
Jahrhunderts von einigen großen Menſchen Wahres
gedacht und Schönes gebildet worden war, das war zu
einem reichen klaſſiſchen Erbe für alle kommenden Ge—
ſchlechter angewachſen.
Wohl hatte ſchon ſeine geniale Mutter, die jung
verwitwete Herzogin Amalia, in dem verkümmerten
Lande den Boden neu bereitet. Sie hatte verſtändig
gewirtſchaftet; ſie hatte perſönlich erquickend regiert
und Hof gehalten, dem Zeitalter ihres großen Oheims
Friedrich gemäß, ja daraus hervorragend. Innig um
die Erziehung ihrer Söhne beſorgt hatte ſie dafür ſchließ—
lich 1772 Wieland nach Weimar berufen, und indem
dieſer nun ſein bewegliches literariſches Talent hier
ſpielen ließ, auch ſeit 1773 eine Zeitſchrift herausgab,
den Teutſchen Merkur, die viel Vertrauen fand, und
darin 1774 eines ſeiner gelungenſten Werfe veröffent-
1*
4 Anna Amalia und der junge Carl Auguſt
lichte, den komiſchen Roman Die Abderiten, war noch
unter ihrer Regentſchaft Weimar ein neuer Brennpunkt
des deutſchen Schrifttums geworden: bedeutende
Fremde von Stande ſuchten es auf, Künſtler und Ge—
lehrte; Bibliothek und Theater waren dem Publikum
zugänglich. Auch die Univerſität Jena hatte ihrer Frei⸗
gebigkeit zu danken.
Aber mit alledem ſtand das Weimar ihrer Regierung
außerhalb des feſteren Wollens und größeren Voll—
bringens der Jahrzehnte um 1800. Iſt doch auch noch
das erſte Jahrſiebent von Carl Auguſts Regierung
und von Goethes Weimarer Zeit nur Vorland der
klaſſiſchen Zeit geweſen.
Carl Auguſt war ein achtzehnjähriger Jüngling, als
er 1775 die Regierung antrat, ſich vermählte und Goethe
nach Weimar zog. Er war inkräftig und eigenwillig,
hoch begabt, militäriſcher Ausbildung geneigt. Luiſe,
die junge Herzogin, zarter Natur und feinen Geiſtes,
brachte ihm 1779 ein Töchterchen. Goethe, um ſechs
Lebensjahre älter als der Herzog, verband ſich ihm ſo
wahr und innig, als ob er zu ſeinem Schutzgeiſt berufen
wäre, und der Herzog hing nicht minder an dem jung—
berühmten Dichter. Als er ihn in den erſten Wochen
um einen Superintendenten fragte, nannte Goethe ihm
Herder, und Carl Auguſt berief dieſen damals Zweiund—
dreißigjährigen nach Weimar.
So brachen zunächſt jene morgendlichen Jahre des
Weimarer Kreiſes an, wo Natur Lebensreich und
Herder, Wieland, Goethe gegen 1780 5
Liebling der Geiſter war. Herder hatte ſeine Sammlung
von Volksliedern mitgebracht, er hatte ſie vortrefflich
ausgewählt und neu überſetzt, niemand war ſo vertraut
wie er mit der künſteloſen Art und Innigkeit der Ur—
bilder; er veröffentlichte ſie 1778 und 1779. Wieland
verflocht die franzöſiſche Romanze vom Ritter Hüon
mit dem Elfenzwiſt aus Shakeſpeares Sommernachts—
traum und breitete ſie in lockeren Stanzen wohlig
plaudernd aus: ſein Oberon erſchien 1780. Auch Goethe
war mit vollen Händen nach Weimar gekommen. Aber
die Urfauſtſzenen befriedigten ihn nicht mehr ganz, wenn
er ſie jetzt den neuen Freunden vorlas; und Egmont
war durchaus im Werden wie Goethe ſelbſt an der
Schwelle Weimars. Genug, daß er zunächſt 1776 den
Dank für altdeutſche Anregungen in das Gedicht Hans
Sachſens poetiſche Sendung faßte, da er ſich ſelbſt auf
ſachſiſche Rechtfertigkeit gewieſen fühlte, wie jener vom
Genius der Natur an der Hand geführt und ſchalkhaft
wie er der Geſellſchaft luſtige Zwiſchenſpiele bereitend.
Wenn ihn die Muſen in helleniſche oder italiſche Gefilde
lockten, wo er mit Iphigenie und Taſſo zu neuer Klarheit
zu dringen hoffte, indem er alte und gegenwärtige
Schmerzen ablöſte, erreichte er das Ideal noch nicht,
das ihm allmählich beſtimmter vorſchwebte, trotz Um—
und Umſchreibens der Iphigenie. Zu Aufführungen
einiger ſeiner Dramen und Spiele kam es zunächſt nur
im Hofkreiſe, am liebſten unter freiem Himmel, wo
Tiefurts Wieſe oder Ettersburgs Park die Szene hergab.
6 Naturliebe der Weimarer Frühzeit
Bei Saalaufführungen, z. B. im Wittumspalais der
Herzogin Amalia, war Mieding als „Direktor der Natur“
tätig mit Verfertigung von Fels und Baum, Wolke
und Waſſerfall; deſſen Tod 1782 gab Goethe Anlaß,
auf dieſes raſtloſe Theatertreiben und ſeine gutmütig⸗
unvollkommenen Opfer in herzlichen Verſen zurückzu⸗
ſchauen. Unvollkommen in manchem Sinne blieb da-
mals auch der Roman, der urſprünglich Wilhelm
Meiſters theatraliſche Sendung genannt wurde: vor
allem deshalb, weil ſich Goethe um 1783 von der ein—
ſeitigen Theaterbegeiſterung ſeiner Jugend freigeworden
fühlte und ſeine höhere, im weiteſten Sinne geſellſchaft⸗
liche Sendung begriff. Doch entſtanden an der Ilm
und auf den Thüringer Höhen ſchöne Lieder als reinſter
Ertrag der Weimarer Frühzeit. Goethe wohnte damals
in dem Gartenhauſe vor der Stadt jenſeits der Ilm.
Das ſchwärmende Hangen an der Natur ſtimmte zu
der Jugend des Herzogs. Neben Cour und Zeremoniell
bedurfte dieſer der freien Luft, der Jagd, des Tanzes
und Schlittſchuhlaufs. Am Weihnachtstiſch der mun⸗
teren Herzogin-Mutter war Bänkelſängerſpott will—
kommen, zur Geburtstagsredoute der jungen Herzogin
am 30. Januar alljährlich heitere Maskerade mit Verſen;
an Sommerabenden entzückte eine Waldillumination,
und die Ilmauen bei Weimar und Tiefurt wurden durch
geſchlängelte Wege und geſellige Plätze zu Naturparken
umgebildet. Auch Goethe hatte anfangs bei alledem
ſein Glück zu finden geglaubt; aber um 1780 verſchob
Abſchluß von Goethes Jugend 7
ſich ihm der Begriff des Menſchlichen nach dem andern
Brennpunkte, ſein Geiſt drängte nach neuem Leben in
echteſter Erkenntnis von Natur, Kunſt, Geſellſchaft und
Politik, ſeine ſtaatsmänniſche Tätigkeit erhielt zeitweilig
das Übergewicht, zum Beſten für ihn, den Herzog und
das Land entrang er ſich dem Wahn und Traum eines
bloßen Naturglücks.
Die ihm ſchon ſo lieb gewordene Gegend öffnete ihm
nun auch ihren Erdgrund zu bergmänniſchem Betrieb
und geologiſcher Forſchung, und indem er in den Bau
ihrer Steine und Pflanzen eindrang, verwuchs ſein
Leben mit ihr mehr als anfangs bei der erſten entzückten
Liebe, mit der er darüber hingefahren war. Alles
Menſchliche der öffentlichen Geſchäfte zog ihn an, und
er war hinter dieſen Dingen her wie ein Feind. Der
Herzog ernannte ihn 1776 zum geheimen Legationsrat,
1779 zum geheimen Rat, 1782 wurde er geadelt und
übernahm vorübergehend das Kammerpräſidium. Das
andere hinter ſich zu bringen — denn er fühlte ſeine
Jugend zu Ende gehen — ordnete er Briefe und Schreib—
ſal von 1772 bis 1782: dieſe zehn Jahre ſollten jetzt offen
vor ihm liegen; alles drängte ihn zu Rückblick und Ab—
ſchluß.
Deshalb mußte damals auch ein wenigſtens vor—
läufiges Ende mit Egmont gemacht werden. Goethe
hatte die Geſtalt Egmonts als tragiſches Lebensbild
unmittelbar vor dem Übergang nach Weimar erfaßt.
Der rheiniſche leichte Sinn, wenn er bei Goethe die
8 Zum 3. September 1783
Oberhand behalten oder ſich ausſchließlich geltend ge—
macht hätte, hätte ihn in dem ernft-treuen Thüringen
in Kampf und Vernichtung führen können. Auf Eg-
mont ſammelte er alle ſolche Züge, auch liebenswürdige,
und feite ſich damit gegen die Gefahr eignen Scheiterns.
Das Doppelgeſichtige des Werkes iſt auch in Goethes
Hinaufwachſen aus dem Volkstum in die Staatsleitung
begründet. Sicherer als ein Dämon ſeinen Egmont
führte ihn der geſunde Geiſt der Welt.
Man darf ſagen, daß ſich der frühreife Herzog ähnlich
befeſtigte, hie und da von Goethe geleitet. 1783 wurde
ihm der Erbprinz geboren. Goethe hatte manchmal
mit Sorge den Herrn und ſeine nächſten Hoffreunde
auf weniger klarem Wege geſehen. Als er einſt zu—
ſammen mit ihnen uächtlicherweile bei Ilmenau im
Walde raſtete, waren ihm Reime über dieſe ernſte Not
zu Gemüte gedrungen. Jetzt, nach Jahren, ſah er den
befreundeten Fürſten in geſicherter Bahn, er durfte
ihm jene bangen Reime als verſchwundenen Traum
vorführen und fügte und widmete ihm zum Geburtstag
1783 das ſchöne Gedicht Ilmenau. Weimars klaſſiſcher
Lebenswille war gewonnen, das Gleichgewicht von
Phantaſie und Gegenwart, von Dichtung und Wahrheit.
Auch der fünfzigjährige Wieland überſchritt damals
eine klärende Scheide. Einige ſeiner Merkuraufſätze der
Jahre 1782 und 1783 beſchäftigten ſich mit der Frage:
Was iſt hochdeutſch? Sie lehnten den ſoeben von andrer
Seite als Norm geforderten kurſächſiſchen Sprachge-
Wieland und Herder um 1785 9
brauch um 1750 ab, ſie gaben aber auch die naiven
Sprachdreiſtigkeiten des letztverwichenen Jahrzehnts
preis, ſie erklärten Freiheit für das Recht, Sichbeſcheiden
für die Pflicht eines Schriftſtellers — in der Über—
zeugung, daß das hochdeutſche Schrifttum im Aufſtieg
zu neuer Größe begriffen ſei, — und ſtellten neben dem
Nützlichkeitsſtandpunkt in Sachen der Sprache den künſt—
leriſchen feſt. Wielands dichteriſcher Trieb ließ zwar
nach, aber als Überſetzer fand er erſt jetzt ſein eigenſtes
Gebiet. 1782 erſchien ſeine Übertragung der Epiſteln,
1786 die der Satiren von Horaz, und 1788 folgten die
Geſpräche Lukians. Da dieſer klaſſiſche Römer, dieſer
ſpäte Grieche ſeiner Natur verwandt waren, gab er hier
zum erſtenmal nahezu echte Antike ſtatt des erdichteten
weichen Hellenentums ſeiner vorweimariſchen Romane.
Und als darauf die franzöſiſche Revolution eintrat, er—
hielt Deutſchland in Wielands monatlichen Aufſätzen im
Merkur die klügſten Gedanken über jene Umwälzungen,
die ein weltbürgerlicher Sinn äußern konnte.
Wielands Weltbürgertum war das Ergebnis der
Betriebſamkeit eines empfänglichen Mannes; Herders
Menſchheitsglaube entſprang angebornem Edelſinn.
Von den Stimmen der Völker in Liedern trachtete er
andächtig tiefer nach dem Plane der Menſchheit. So—
weit es die damaligen Wiſſenſchaften erlaubten, entwarf
er in drei Bänden ſeine Ideen zur Philoſophie der Ge—
ſchichte der Menſchheit und veröffentlichte ſie von 1784
bis 1787: die Erde, ihre organiſierten Weſen, der Menſch
10 Goethe gegen 1785
wurden in großen Zügen vorgeführt, dieſer nach ſeinen
verſchiedenen Formen und doch unverlierbarem Weſen,
ſeinen mannigfachen klimatiſchen Bedingungen und
Entwicklungsmöglichkeiten, ſeinen Anfängen unterſucht
und nach einer eingehenderen Schilderung der oſt- und
ſüdaſiatiſchen wie der der griechiſch-römiſchen Kulturen
Humanität als das ewige Ziel aller Menſchenbildung
aufgeſtellt. Ein Jahrzehnt ſpäter, von 1793 bis 1797,
ließ Herder noch zehn Sammlungen Briefe zur Be—
förderung der Humanität folgen und erklärte, nach der
eigenen Humaniſierung ſtreben heiße nach dem Reiche
Gottes trachten.
Goethes Neuordnung begann damit, daß er 1782
ein vornehmes Haus in der Stadt am Frauenplan
bezog und den Sohn der Frau von Stein als Zögling
zu ſich nahm, deren Liebe ihn damals beglückte. Seinen
Staatspflichten hingegeben, zu naturwiſſenſchaftlicher
Forſchung gezogen, war er geſchaffen, Menſchentum
und Weltgeiſt noch viel gründlicher als Herder zu er—
leben und auch poetiſch neu zu faſſen. Das Gedicht
Die Geheimniſſe, das er 1784 darüber begann, blieb
unvollendet; doch die einführenden Strophen ließen
ſich als „Zueignung“ an die Spitze ſeiner Lyrik ſtellen.
Denn er entſchloß ſich jetzt zu einer Geſamtausgabe
ſeiner „Schriften“. Das meiſte davon genügte ihm
freilich in der vorliegenden Niederſchrift nicht; woher die
Muße und Freiheit nehmen, woher die ſüdeuropäiſche
Stimmung, deren er zur Vollendung von manchem, zur
Iphigenie 11
Ergänzung ſeiner ſelbſt bedurfte? Seine alte Sehnſucht
nach Italien ergriff ihn als einziger Rettungsgedanke,
ſie gab ihm Mignons Lied ein, er ging 1786 dahin!
Begeiſterung durch die Antike, die Wieland ver—
mocht hatte eine Alceſte nach Euripides zu dichten, hatte
Goethe in den erſten Weimarer Jahren auf die Iphigenie
des Euripides geführt. Ein hartes Werk, voll Griechen—
ſtolz und Griechenliſt, aber ein Symbol ſiegreicher Kultur—
miſſion in der Fremde und ſo Goethes Seele damals
verwandt. Freilich hatte gerade er in ſolchen Kämpfen
die ſich bewährende Kraft reinen Menſchentums erfahren
und danach Geſinnung und Handlung des Dramas
wandeln müſſen. Die euripideiſche Iphigenie betrügt,
die goethiſche zerreißt den Trug; die euripideiſche wird
durch eine plötzliche Göttererſcheinung aus der Ver—
ſtrickung gehoben, die goethiſche nur durch ihre ſich ent—
faltende Reinheit zur Entwirrung des Knotens befähigt.
Auf dem Lebensgrunde der hohen ſittlichen Spannung
und zarten Geſelligkeit der erſten Weimarer Zeit war
der Entwurf des Werkes gelungen, war manches Teil—
chen ſofort in vollem Erblühen geſtaltet für immer, aber
die ganze Form, der größere Rhythmus, der volle Fein—
gehalt entſtanden in dem erſten Vierteljahr, das Goethe
in Italien lebte. Im Sommer darauf trat das liebliche
Werk ans Licht, im dritten Band ſeiner Schriften, das
erſte große Zeugnis des neuen Weimarer Goethe.
Goethes früheres Schriftſtellertum war in den beiden
erſten Bänden der Ausgabe mit Werther und Götz ver—
12 Egmont, Fauſt, Taſſo
treten; anderes, kleinere wurde den Hauptwerken
angereiht, die Lyrik für den Schlußband beſtimmt.
Kaum etwas entging der erneuernden Durcharbeitung
des reiferen Mannes und bewußteren Künſtlers, erſchien
doch auch Werther um eine Epiſode vermehrt, die dem
Leſer den Rückſchlag in ſeeliſches Gleichgewicht zu er—
leichtern beſtimmt war. Die Vollendung des Egmont
wurde durch friſche Händel Kaiſer Joſephs mit den
Brabantern erleichtert; an ſich konnte Italien für dieſes
Werk nicht mehr viel bedeuten. Ernſter war die Frage,
ob die Vollendung des Fauſt hier gelingen werde.
Goethe verzichtete und veröffentlichte ein Fragment,
um manches längſt geſchriebene Teil gekürzt, durch
zwei gewaltige Szenen aus Italien vertieft, in den
übrigen herrlichen Jugendbruchſtücken mit ſtrenger
Künſtlerhand leiſe gemeiſtert.
Von Taſſo hatte Goethe ſchon im Vaterhauſe gehört;
der Vater liebte den großen unglücklichen Dichter der
italieniſchen Renaiſſance, und dem Sohn wurde die
Fabel dieſes Dichterlebens vertraut, ehe er ſie verſtand.
In Weimar gewann Taſſos Geſtalt für ihn Licht und
Schatten durch eigene Erlebniſſe. Der Zwieſpalt des
Dichters und Hofmanns, die ausſichtsloſe Liebe zu
einer edlen Frau, eine zarte, geiſtvolle Gemeinſchaft
um das Fürſtenhaus bildeten in Weimar ſein Geſchick
wie einſt das Taſſos in Ferrara. Zum Teil ähnelten
die neuen Schmerzen denen, die er vordem raſcher
und naiver durch den Werther beſchwichtigt hatte, ge—
Früchte der italieniſchen Reiſen 13
wiſſermaßen ließ ſich die neue Gefahr mit der Egmonts
vergleichen; doch erzeugte Weimar um 1780 wieder
eine beſondere Lage und Not, und dieſe entfaltete
Goethe tragiſcher, als es die Wirklichkeit getan hatte,
im Taſſo. Zunächſt in Proſa, als Entwurf; diesmal
vor allem mußte das Land des alten Dichters den neuen
umgeben, wenn des Werkes Schönheit reifen ſollte.
Taſſo wurde das Drama Goethes, das Italien am meiſten
zu verdanken hat: wie Iphigenie der Morgengruß des
neuen Deutſchland an Hellas, ſo iſt Taſſo ein deutſcher
Akkord, der aus den Gärten von Florenz zu uns her—
überdringt. Die letzten Fügungen an dem Werke ge—
langen Goethe erſt ein Jahr nach der Rückkehr aus Italien
im Sommer 1789 in dem Garten des galanten Schloſſes
Belvedere über Weimar, wo ihm Belriguardo nachklang.
Noch eine andere Spätfrucht Italiens gewann er
daheim: in der Begeiſterung für Properz und in der
Liebe zu der in ſein Haus geführten Chriſtiane Vulpius
reiften ihm Römiſche Elegien. Und als ihn das Früh—
jahr 1790 gar wieder in Venedig ſah, zur Erwartung
und in Geſellſchaft der von Rom zurückkehrenden Her—
zogin Amalia, entſtanden Venezianiſche Epigramme.
Dann aber erprobte er den antiken Hexameter an einem
deutſchen epiſchen Stoffe, an Reineke Fuchs: dieſe
unheilige Weltbibel lehrte ihn damals wieder einmal,
überein mit dem ungeheuern Erlebnis der franzöſiſchen
Revolution, ſich, wenn auch halb verzweifelnd, an die
unvermeidliche Wirklichkeit hingeben.
14 Bühnen-, Bau- und Lebensſtil
Seine Staatsgeſchäfte waren nun im allgemeinen
gegen früher beſchränkt; doch übernahm er 1791 die
Leitung des neu begründeten Hoftheaters: indem er
die Schauſpieler für jedes Drama in gemeinſamen
Leſeübungen zuſammenarbeitete, legte er den Grund
zu dem Weimarer Bühnenſtil. In den erſten fünf
Jahren dieſer neuen, bewußteren Tätigkeit fürs Theater
fand er auch allmählich den Weg zur Vollendung von
Wilhelm Meiſters Lehrjahren, wie der vom Theaterleben
in allgemeinere Bildung mündende Roman ſchließlich
genannt wurde. Zu gleicher Zeit wurde unter ſeiner
Hilfe im Weimarer Park ein römiſches Haus für den
Herzog gebaut; Goethe nannte es „das erſte Gebäude,
das im Ganzen im reinern Sinne der Architektur auf⸗
geführt wird.“ Andern Troſt gewährte ihm wiſſen—
ſchaftliche Arbeit, namentlich anatomiſche und optiſche
Unterſuchungen, wobei ſich immer mehr ſeine Anſicht
befeſtigte, daß in allem organiſchen Leben ein durch—
gehender Typus walte, ſich verändernd und ſich er—
hebend, eine Überzeugung von tiefer Bedeutung für
ſeinen klaſſiſchen Lebenswillen.
Für Goethes naturwiſſenſchaftliche Arbeiten wurde
jetzt die lebhafte Univerſität Jena immer wichtiger, auf
die umgekehrt die Weimarer Regierung den größten
Einfluß hatte. Und wie die Weimarer Bühne das neue
Beſte aus Nord- und Süddeutſchland mit reinem
Streben aufnahm, auch Ifflands Werke ſpielte und
Mozarts Opern (Don Juan, Zauberflöte) aufführte,
Reinhold und Schiller in Jena 15
ſo tat ſich das vorwärts drängende freie Jena als Haupt—
pflegſtätte der neuen Kantiſchen Philoſophie auf, hinter
deren geiſtiger Schärfe und ſittlicher Kraft alles Frühere
zu verſinken ſchien. In den Jahren 1787 bis 1794 wirkte
in ihrem Geiſte der Jenaer Profeſſor Reinhold, Wielands
Schwiegerſohn, anziehend und befruchtend, auf dem
Katheder wie als Schriftſteller. Wurde das Herzogtum
Sachſen-Weimar jetzt nicht offenbar zu einer Mittelburg
neuer deutſcher Hochbildung?
Was Wunder, daß ſich auch der junge Schiller nach
mancherlei Fahrten hierher gezogen fühlte. Mit ſeinem
Don Carlos führte er ſich in Weimar ein, dem Werke,
das, kunſt⸗ und ſittengeſchichtlich Goethes Iphigenie
vergleichbar, ihn unterwegs zeigt aus dem Bereich
negativ und aggreſſiv geſtimmter Wirklichkeitsdramen
zu bejahenden Werken der Schönheit; Goethe brachte
es 1792 auf die Weimarer Bühne. In Jena, wo Schiller
1790 Charlotte von Lengefeld heiratete, hatte er 1789
als Hiſtoriker begonnen; hier tauchte er um 1792, nach
ſchwerer Erkrankung, auf Jahre in die Philoſophie der
Kunſt. Mit der geiſtigen Stählung, die er ſich dabei
holte, verband ſich körperliche Erholung auf einer Reiſe
in die ſchwäbiſche Heimat, vom Auguſt 1793 bis zum
Mai 1794, wo ihm der erſte Sohn bei den Großeltern
geboren wurde und er in dem jungen Cotta einen
Freund und Verleger gewann. Bald nach ſeiner Rück—
kehr knüpfte ſich ihm in ſicherem Widerſpruch und voller
Anerkennung die hohe Freundſchaft mit Goethe.
16 Horen
So war die Zeit vorbereitet für das größte Weimarer
Jahrzehnt. Zwiſchen 1795 und 1805 wirkten Goethe
und Schiller verbündet, in philoſophiſcher Ausbildung
und künſtleriſcher Tätigkeit unaufhaltſam fortſchreitend.
Schiller war die treibendere Kraft, und Goethe erlebte
einen neuen Frühling, ſeine Erfahrung und Schillers
Forderung näherten ſich einander.
Beide waren die bedeutendſten Mitarbeiter an der
1795 bis 1797 von Schiller herausgegebenen Monats-
ſchrift Die Horen. Schiller veröffentlichte hier z. B.
ſeine Briefe über die äſthetiſche Erziehung des Menſchen,
ſeine Abhandlung über naive und ſentimentaliſche Dich—
tung und philoſophiſche Gedichte wie den Spaziergang
und Das Ideal und das Leben. Goethe ſteuerte u. a.
die römiſchen Elegien bei und die Anfänge ſeiner Über—
ſetzung von Benvenuto Cellinis Lebensbeſchreibung.
Manches kleinere ſpendeten Herder und andere Freunde;
auch jüngere Jenaer Geiſter reihten ſich gern an die
Koryphäen, die Brüder Humboldt mit Erzählung und
Abhandlung, Hölderlin mit Gedichten und A. W.
Schlegel mit den erſten Proben ſeiner klaſſiſchen Über-
ſetzungen aus Dante und Shakeſpeare.
Das ungeheure Wachstum ſeines Weſens, das
Schiller um die Mitte der neunziger Jahre erfuhr,
lockte auch ſein lyriſches Talent wieder ans Licht und,
zum Verfügen wie zum Schaffen aufgelegt, gab er auf
die Jahre 1796 bis 1800 fünf jener Sammlungen heraus,
wie ſie damals als Muſenalmanache beliebt waren, alles
Muſenalmanache 17
überragend, was vor und neben ihm unter dieſem
Namen erſchien. 1796 las man da von ihm die pro—
grammatiſchen Gedichte Die Macht des Geſanges,
Pegaſus im Joche, Die Ideale, Die Würde der Frauen
und zum Beſchluß Goethes Venezianiſche Epigramme.
1797 ließ er Goethes Idylle Alexis und Dora den Vor—
tritt, leitete dann ſelbſt mit dem Mädchen aus der
Fremde ein, brachte die Klage der Ceres, und dann
erſchienen die Helden vereint in den Tabulae votivae
und verbündet in dem großen Spottgeſchenk der 414
kenien, zu dem ſich Goethe bei Martial hatte anregen
laſſen und das den literariſchen Standpunkt der beiden
perſönlich deutlichſt ausſprach. 1798 wurde ein Füllhorn
von Balladen ausgeſchüttet: Der Zauberlehrling, Der
Handſchuh, Der Schatzgräber, Die Braut von Corinth,
Ritter Toggenburg, Der Taucher, Der Gott und die
Bajadere, Die Kraniche des Ibykus, Der Gang nach
dem Eiſenhammer und was für köſtliche Dinge die
Meiſter ſonſt noch dreinzugeben hatten. 1799 fanden die
glücklichen Leſer die Mühlenballaden Goethes und ſeine
Elegien Euphroſyne und Amyntas und von Schiller
den Kampf mit dem Drachen, die Bürgſchaft, das
eleuſiſche Feſt; 1800 das Lied von der Glocke. Von
da ab genügte es Schiller, in andern Taſchenbüchern
zu veröffentlichen, was ihm die Muſen an ähnlichen
Gedichten und geſelligen Liedern noch fügten, während
Goethe in einem eigenen, für 1804 zuſammen mit dem
ſiebzigjährigen Wieland herausgegebenen Taſchenbuch
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 2
18 Goethe um 1800
eine herrliche Nachleſe gab mit Dingen wie dem Stif—
tungslied, Schäfers Klagelied und Hochzeitlied. Das
größte, was aus dieſem lyriſchen Treiben entſprang,
veröffentlichte Goethe als Taſchenbuch auf 1798, das
idylliſche Epos Hermann und Dorothea, aus einem
wirklichen Ereignis und Goethes Menſchenideen, aus
vollem Gegenwartsgefühl und deutſcher Hexameter—
ſchönheit innig gewoben.
An der Weimarer Bühne wirkte Goethe beharrlich
als Intendant und Regiſſeur: belehrend, übend und
ausführend. Ifflands Gaſtſpiele 1796 und 1798 waren
fördernde Muſter; 1796 ſtellte er den Egmont dar, als
dies Schauſpiel, in Schillers Bearbeitung, zum erſten—
mal auf der Bühne erſchien. Goethe lieferte bedeutende
Prologe und Vorſpiele; Größeres blieb unvollendet, ſo
die 1803 aufgeführte Natürliche Tochter, der Anfang
einer Trilogie politiſchen Inhalts, als Geheimnis auch
für Schiller entſtanden, während auf deſſen Betreiben
Fauſt wieder vorgenommen wurde, ſo daß ſich der
„erſte Teil“ rundete und der zweite mit Helenas Auf—
treten begonnen wurde, ohne daß etwas davon zu
Schillers Lebzeiten auf die Bühne gekommen wäre.
Antike Maskenſpiele wurden verſucht, am glücklichſten
mit Goethes Palaeophron und Neoterpe, Altrat und
Neuluſt an der Jahrhundertwende. Noch war Goethe
als Überſetzer tätig und führte von Voltaire 1800
Mahomet, 1801 Tancred in gemäßigter deutſcher Form
auf. 1802 wurde ſeine Iphigenie zum erſtenmal
Von Wallenſtein bis Tell 19
in Weimar öffentlich geſpielt, in Schillers Bearbei—
tung.
Schiller verwuchs in dem Jahrzehnt ſeiner Reife
zum zweitenmal mit dem Theater; namentlich darum
ſiedelte er Ende 1799 von Jena nach Weimar über,
im Bunde mit Goethe den Spielplan zu beſtimmen
entſchloſſen. Geſchichte auf Geſchichte durchglühte ſein
dramaturgiſches Feuer, die Freiheit der Helden läuternd,
die Notwendigkeit ihres Schickſals erhärtend. Jahrelang
trug er ſich mit dem gewaltigen Plan des Wallenſtein,
löſte ihn ab aus der Hiſtorie und verwandelte ihn ins
Poetiſche, bis die drei Teile im Winter 1798 auf 1799
allmählich weimariſche Bühnenereigniſſe wurden. Dann
ergriff er die Geſchicke Maria Stuarts, der Jungfrau
von Orleans, der Braut von Meſſina, des Tell: Jahr
für Jahr ſchlugen ſeine großen neuen Werke ein, an
ſittlicher Eigenkraft aller andern Dichtung überlegen,
durch ihr Hochgefühl die Gipfel des fühlendſten Jahr⸗
hunderts. Dazwiſchen bearbeitete er Leſſing, Shake—
ſpeare, Gozzi und Racine für die Weimarer Bühne und
gab ihr jo einen Macbeth und einen Nathan, eine Tu⸗
randot und eine Phaedra.
Das Theater war das Gebiet der Dichtung, woran
auch der Herzog am regſten teilnahm. Seine kräftige,
grunddeutſche Natur, ihrer fürſtlichen Aufgabe höchſt
bewußt, hatte eine Vorliebe für das klaſſiziſtiſche Drama
der Franzoſen. Er verwies Goethe auf Voltaire; und
die erſten Aufführungen von Mahomet und Tancred,
28
20 Carl Auguſt und die Künitler
von den Piccolomini und Phaedra waren es, die jetzt
den Geburtstag der Herzogin ſchmückten, zu dem Goethe
in jüngeren Jahren poetiſche Schnippchen hatte ſchlagen
dürfen. Des Herzogs Einfluß auf das Theater betraf
auch die Wahl der Schauſpieler für gewiſſe Rollen,
ihre Ausſprache, die Gruppierung einer Szene, das
Koſtüm. Er durchſchaute Schillers Kühnheit ebenſo
wie Goethes genießendere Art; dort wiegelte er manch—
mal ab, hier ſtachelte er gelegentlich etwas an. Er fühlte
den unendlichen Wert beider. Kein Gruß ſchloß ſo oft
ſeine Briefe an Goethe zwiſchen 1795 und 1805 wie der
an „Schillern“, und für Goethe hatte er, wenn auch
ſeltner als früher, über die Anrede „lieber Alter“ hinaus
neue Worte inniger Freundſchaft.
Lange beſchäftigte den Herzog der Neubau des
Weimarer Schloſſes, und um die Jahrhundertwende
wurde das Entſcheidende für einen Teil der inneren
Ausſtattung durch lebende deutſche Künſtler getan.
Damals waren auch die Weimarer Kunſtausſtellungen
in Gang gekommen, jährlich im Herbſt zu ſehen, am
Geburtstag des Herzogs eröffnet, wobei die Löſungen
von Konkurrenzaufgaben gezeigt wurden. Goethes
Helfer auf dieſem Gebiete war ſein älteſter römiſcher
Vertrauter, der Maler und Kunſtfreund Heinrich Meyer,
der von 1794 bis 1802 in Goethes Hauſe wohnte, für
dieſes wie für das Schloß Deckengemälde ſchuf und mit
Goethe faſt ſo Hand in Hand arbeitete wie Schiller im
Reiche der Dichtung. 1797 lieferte er aus Rom ſeine
Die Antike in Weimar um 1800 21
Kopie des berühmteſten antiken Gemäldes im Vatikan,
der aldobrandiniſchen Hochzeit, die in Goethes Haus
gelangte. Die bildende Kunſt war der Hauptgegenſtand
der 1798 bis 1800 von Goethe herausgegebenen Zeit—
ſchrift Propyläen; vor einem engeren Kreiſe erſcheinend,
ſprach ſie das Verhältnis der neuen Weimarer Bildung
zu antiker Plaſtik und gegenwärtiger Zeichenkunſt aus.
1803 brachte Fernow aus Rom den koſtbaren Nachlaß
der Carſtensſchen Zeichnungen nach Weimar; der
Herzog erwarb ſie 1804 und gab ſie der Bibliothek zur
Verwahrung. So wirkte die Antike und, was in ihrem
Sinne entſtand, auch für das Auge in dieſem Jahrzehnt
in Weimar am tiefſten. Es war eine Art Abſchluß dazu,
daß Goethe dem Begründer unſrer neueren Verehrung
der Kunſt des Altertums ein Denkmal ſetzte und 1805
das Werkchen „Winckelmann und ſein Jahrhundert“
herausgab, Briefe des Gefeierten und Aufſätze über ihn;
er widmete es der Herzogin Amalia, der eigentlichen
Zeitgenoſſin Winckelmanns, einer Begründerin ähn—
lich jenem.
Während Schiller Goethes Freundſchaft und des
Herzogs Anerkennung genoß, ſtanden Wieland und
Herder etwas abſeits, wenn auch nach wie vor in voller
Gunſt bei den fürſtlichen Frauen. Es war dem antiki—
ſcher Schönheit zugewandten Geiſt der Klaſſiker nicht
gemäß, wie ſich Wieland jetzt mit Überſetzung des
Satirikers Ariſtophanes und des nüchternen Xenophon
beſchäftigte. Als ein Mißgriff Herders mußte es ihnen
22 Herders Ausgang; jenaiſche Naturforſcher
erſcheinen, daß dieſer unter dem heitern Namen ſeiner
Sammlung Terpſichore ſchmerzenvolle lateiniſche Je—
ſuitengedichte aus dem dreißigjährigen Kriege ver—
deutſchte. Zu verwandt im Gedanken war an der
Jahrhundertwende ſein Aeon und Aeonis mit Goethes
Palaeophron und Neoterpe, um Herders poetiſche
Schwäche nicht bloßzuſtellen. Erſt mit der Überſetzung
der Romanzen von dem ſpaniſchen Helden Cid gab er
kurz vor ſeinem Tode den Deutſchen noch einmal ein
Geſchenk würdig der beſten Jahre Weimars. Er und
Wieland hatten ſich auch durch ihre Ablehnung Kants
von Goethe ebenſo entfernt wie von dem Geiſte Jenas,
der Goethen auch jetzt glücklich belebte, wie Schiller dort
groß geworden war.
Goethe verkehrte vor allem mit den älteren Jenaer
Naturwiſſenſchaftern und Medizinern, indem er unter
ihnen lernte und anregte und nächſt dem Herzog für
ihre Sammlungen ſorgte; es waren der Balte Loder,
des Herzogs Leibarzt — er veröffentlichte in Weimar
1794 bis 1803 anatomiſche Tafeln zur Beförderung der
Kenntnis des menſchlichen Körpers — und die beiden
Thüringer Batſch und Hufeland: jener der Begründer
der naturforſchenden Geſellſchaft, wo ſich Goethe und
Schiller fanden, dieſer der Verfaſſer der Kunſt das
menſchliche Leben zu verlängern, deren beide erſte
Auflagen in Jena 1797 und 1798 erſchienen. Schiller,
ſolange er in Jena wohnte, ſtand den jüngeren Philo—
ſophen und Theologen näher. Jena wurde jetzt vollends
Fichte, Schelling, Hegel 23
die Hauptſtadt der deutſchen Philoſophie; nach kantiſcher
Lehre drängte ſich hier die deutſche Jugend, nirgends
fand ſie ſolche Energie der Ideen wie hier unter den
neuen Dozenten. Als der milde Reinhold 1794 weg—
ging, trat der tapfere Fichte aus Sachſen an ſeine
Stelle: hatte Kant die Grenze von Naturerkenntnis
und ſubjektivem Geiſt gezogen, ſo warf ſich Fichte ganz
auf die ſubjektiviſtiſche Seite und entwickelte ſeine
Wiſſenſchaftslehre von dieſem Standpunkt aus ſo, daß
man in ſeinem Subjektivismus den Zentralgedanken
der Zeit erblicken konnte. Er überſpannte nur den
Bogen: des Atheismus verdächtigt, drohte er der
Regierung mit ſeinem Weggang; dieſe entließ ihn 1799.
Seinen Platz beſetzte ſofort der kaum vierundzwanzig—
jährige Schelling: den Moraliſten und Naturverächter
löſte der Aſthetiker und Naturſchwärmer ab. Er knüpfte
an Spinozas Pantheismus an und an Goethes Fauſt
und Metamorphoſenlehre und an die jüngſten elektriſchen
und chemiſchen Erkenntniſſe und entwarf eine Natur-
philoſophie, deren Ganzes berauſchte. 1801 folgte ihm
nach Jena ſein älterer Freund Hegel und erdachte hier
um 1805 die Phänomenologie des Geiſtes: dieſer Lehre
von der allmählichen Selbſtoffenbarung des Weltgeiſtes
in der Geſchichte war Herrſchaft auf ein halbes Jahr—
hundert und Ruhm für alle Zeiten beſchieden. Fichtes
Altersgenoß und ein Landsmann von Schiller, Hegel
und Schelling war der Orientaliſt und Theologe Paulus,
ſeit 1793 ordentlicher Profeſſor in Jena, mit Schillers
24 Gebrüder Humboldt, Schlegel, Tied
befreundet, von den Studenten geliebt und vom Herzog
gegen Verketzerung geſchützt. Und von bedeutenden
Preußen wiſſenſchaftlicher Anlage weilten um 1796
gern die Brüder von Humboldt in Jena im Verkehr
mit Schiller, beide noch in den zwanziger Jahren ihres
Lebens, Wilhelm, der Philolog, zu täglichem philo—
ſophiſch-äſthetiſchen Austauſch bereit, Alexander, der
Naturwiſſenſchafter, in geiſtreicher Unterhaltung über
phyſiologiſche Fragen.
Ihnen allen waren damals Poeſie und Wiſſenſchaft
keine ganz zu trennenden Dinge. Ahnlich dachten die
jungen romantiſchen Dichter, die um 1800 ihr Feldlager
in Jena hatten. Allerdings wirkten ſie teilweiſe im
Gegenſatz zu den Klaſſikern; ſie fielen von Schiller ab.
Goethes Roman Wilhelm Meiſter aber bedeutete ihnen
— neben der franzöſiſchen Revolution und Fichtes
Philoſophie — die größte Tendenz der Gegenwart;
daran knüpfte auch ihr Name Romantik an. Durch
die Formenſtrenge ihrer Poeſie führten ſie die Arbeit
der Klaſſiker unmittelbar fort; freilich hatten ſie keinen
Lebensertrag von ſittlichem Gehalt zu geben. In
A. Wilhelm Schlegels Jenaer Jahren, zwiſchen 1796
und 1800, wurden ſeine Meiſterüberſetzungen von
ſechzehn Shakeſpeareſchen Dramen nahezu vollendet;
das Neue an dieſer Arbeit war die genaue Wiedergabe
der poetiſchen Formen des Urbildes. Er wirkte auch
ſonſt als Formkünſtler und -bereicherer, z. B. führte
er das Sonett ein. Sein Bruder Friedrich hatte Ver—
Jenaiſche Romantik 25
dienſte durch die poetische Erſchließung des Mittelalters
etwa mit einem Gedicht wie „Auf der Wartburg“. Neben
den hannöveriſchen Brüdern Schlegel erſchienen die
Berliner Brüder Tieck. Von ihnen war Friedrich der
Bildhauer; er ſchuf im Herbſt 1801 in Weimar die
Büſte Goethes, die der Familie beſonders lieb wurde.
Der andre, der Dichter Ludwig Tieck, verlebte von
Herbſt 1799 bis Sommer 1800 glückliche Monate in
Jenas romantiſchem Kreiſe; hier gab der Verleger
Frommann, der eins der verbindlichſten und anregend—
ſten Häuſer in Jena machte, Tiecks beſte Jugendwerke,
damals geſammelt heraus als Romantiſche Dichtungen,
darunter zum erſtenmal Genoveva, Rotkäppchen, Me—
luſine. Aus dem nahen Weißenfels war der junge
Freiherr von Hardenberg da, Novalis genannt, voll
herzlicher Phantaſie, der auch Schiller nie verleugnete,
vom Rhein her traf der zwanzigjährige Student
Clemens Brentano ein und vermehrte das geiſtreiche
Gebrodel, und ſie alle ſtellten ſamt ihren Frauen oder
Bräuten ein entzücktes Jugendkonzert dar, mit neuen
Tönen in die klaſſiſche Muſik einzuſtimmen geſonnen.
Beiläufig: von Brentanos Jenaer Braut, Sophie
Mereau, hatte der junge Beethoven das Lied Feuer—
farbe komponiert, das 1793 Schillers Frau aus Bonn
geſchickt erhielt. Vielleicht iſt ja auch eine früheſte
Sinfonie Beethovens gegen das Jahr 1800 zuerſt
in Jena geſpielt worden.
Welche Fülle von Geiſtern und geiſtigen Taten in
—
26 Jenas Sturz
dem einen Jahrzehnt in den beiden Brennpunkten des
Herzogtums! Ein Schöpferdrang und eine Meiſterſchaft
ohnegleichen in der Geſchichte unſres Schrifttums.
Das Gefäß mußte überfließen, ein Teil der Naturen
ermatten. Abgeſehen von den nur kurz in Jena weilen—
den riſſen die Jahre 1802 und 1803 viele Lücken: Herder
und Batſch ſtarben, Loder und Hufeland gingen nach
Preußen, Paulus und Schelling nach Süddeutſchland
wie 1806 auch Hegel. Goethe verlor 1805 Schiller.
Dazu kamen die politiſchen Schläge: Jena ſah Napoleons
Sieg über Preußen, das Herzogtum Weimar mußte
dem preußiſchen Bündnis entſagen. Dieſen Bedräng—
niſſen erlag im Frühjahr 1807 die Stifterin ſo vieles
Guten, die Herzogin-Mutter Amalia.
In dem Jahrzehnt nach Schillers Tode hat man
die goldenen Früchte Weimars nicht mehr in ſolcher
Fülle reifen ſehen wie vorher. Goethe und andre
überkam das Gefühl der Entbehrung. Und trotzdem:
wie ſich Zeit und Menſchen hier wiederum erneuerten,
das ergab nochmals herrlichen Gewinn.
Von Ende 1806 bis Ende 1813 gehörte das Herzog—
tum dem Rheinbund an. Napoleon ließ es nicht an
Druck auf das Land, an Rückiichtsloſigkeit gegen den
Hof fehlen; dem greiſen Wieland begegnete er mit
Reſpekt, Goethe nötigte ihm Achtung ab. Nächſt Carl
Auguſt und Luiſe trat der Erbprinz Carl Friedrich in
den Vordergrund mit ſeiner jungen Gemahlin Maria
Paulowna, deren feſtlicher Begrüßung in Weimar
Goethe um 1810 27
Schillers letztes Werk gegolten hatte, Die Huldigung
der Künſte. Beiden hohen Frauen ſich zu empfehlen
nahm Goethe Gelegenheit durch wiſſenſchaftliche Werke
und durch Reime zu Geburtstagsſpielen. Herzogin
Luiſe hatte einen Vortrag von ihm über Farben—
lehre mit Teilnahme gehört; ihr widmete er, was er
1810, nach mehr als zwanzigjähriger Bemühung, an
mannigfachen Beobachtungen und Gedanken zu dieſem
Gegenſtand zuſammenfaſſen konnte. Die Erbprinzeſſin
erhielt im folgenden Jahre die Schrift über den
brandenburger Künſtler Philipp Hackert zugeeignet,
den vortrefflichen Maler italieniſcher Landſchaft, den
ihre ruſſiſchen Vorfahren hervorragend unterſtützt
hatten; Goethe war ſeit ſeiner italieniſchen Reiſe mit
ihm in Beziehung geblieben und konnte eine künſtleriſche
Verwandlung und geſchichtliche Ergänzung von Hackerts
Aufzeichnungen geben. Im Jahre 1810 wurden die
winterlichen Geburtstage beider Fürſtinnen durch ſeine
ſchönen Stanzen Die romantiſche Poeſie gefeiert, ge—
ſprochen zu einem glänzenden Maskenzug des Minne—
ſingers, Heldendichters, Brunhilds, Siegfrieds uſw.,
verfaßt zum Ruhme altheimiſcher Pflege der Dichtung
durch die Wettiner auf der Wartburg. Und ſo nahm
Goethes Tätigkeit wie der Geiſt der Zeit überhaupt
eine Wendung vom klaſſiſchen zum deutſchen Altertum,
von der Menſchengeſtalt zur Landſchaft, von unermüd—
licher poetiſcher Schöpfung zu vermehrter wiſſenſchaft—
licher Beſchäftigung und Beſchaulichkeit.
28 Wahlverwandtſchaften; Dichtung und Wahrheit
Die Gefahr, die mit Napoleons Einmarſch in Thü—
ringen hereinbrach, gebot, heimiſche Sitte als heiligen
Halt zu ergreifen, und Goethe ließ ſich ſofort im Oktober
1806 mit Chriſtiane kirchlich trauen. Aber dagegen
drang bald eine neue Gefahr an, indem er die junge
Minna Herzlieb im Frommannſchen Haufe in Jena her—
anwachſen ſah und ſich von ihrem Weſen tief angezogen
fühlte. Ihr zuliebe ſchuf er die ſchönſten Sonette; dann
erſann er aber zur Abwehr die Geſchichte von den Wahl—
verwandtſchaften und veröffentlichte ſie 1809 als drei—
zehnten (Ergänzungs-) Band ſeiner ſeit 1805 zum
erſtenmal nun bei Cotta geſammelt erſchienenen
„Werke“. Eine andere Mädchenbekanntſchaft wurde
ihm von Frankfurt aus dem Kreiſe ſeiner Mutter zuteil:
Bettina Brentano beſuchte ihn, widmete ihm ſchwärme—
riſche Verehrung, und ein lebhafter Briefwechſel ent-
ſpann ſich. 1808 beſuchte dagegen Goethes achtzehn—
jähriger Sohn die Großmutter; wenige Wochen darauf
ſtarb ſie. Goethe, zur Einkehr bei ſich ſelbſt auch durch
ſeine Ohnmacht den Welthändeln gegenüber aufgefor—
dert, wachſenden epiſchen Sinnes, begann ſeine Jugend
in eingehender Erzählung vor ſich aufzubauen. 1811
bis 1814 erſchienen die drei erſten Teile Dichtung und
Wahrheit aus ſeinem Leben; bei der Vorbereitung
dazu ging ihm als neuer Gehilfe der junge Philologe
Riemer an die Hand, der Hauslehrer ſeines Sohnes.
Der erſte literariſche Abſchluß ſeiner Licht- und
Farbenſtudien erregte in Goethe den Wunſch, nun an
Kantate und Ballade um 1810 29
die akuſtiſch⸗muſikaliſchen Grundfragen zu gehen; zu—
gleich mußte ſeiner neuen Hausführung muſikaliſche Ge—
ſelligkeit günſtig ſein, und aus dem um 1809 allwöchent—
lich zweimal, als Übung und Aufführung durchgeführten
Muſizieren bei ihm erwuchs neue lyriſche Anregung: die
Texte zu Johanna Sebus, Rinaldo und einer idylliſchen
Kantate entſtanden. Ja Goethe gedachte einige der
erhabenſten Balladenmotive verſchmolzen zu einer
Oper zu entwickeln, die der Löwenſtuhl heißen ſollte;
doch formten ſie ſich im weſentlichen zuvor in den
fieberhaft erregten Glückstagen nach der Schlacht bei
Leipzig als Ballade vom vertriebenen und zurück—
kehrenden Grafen. Andere romantiſche Motive wurden
in dem deutſchen Frühling 1813 in dem Totentanz,
dem getreuen Eckart und der wandelnden Glocke ge—
ſtaltet. Bei der Hinwendung zur Muſik war die ſich
allmählich befeſtigende Freundſchaft mit dem Berliner
Dirigenten und Komponiſten Zelter von Wert.
In dieſen Jahren der öſterreichiſchen und deutſchen
Freiheitskriege erwachte auch die Teilnahme an deut—
ſcher, germaniſcher Bildkunſt wieder. 1809 gelangten
Dürers Zeichnungen für Kaiſer Maximilians Gebetbuch
zu Goethes Augen, in neueſter Steinzeichnung verviel—
fältigt, 1813 kamen Abgüſſe von Apoſtelſtatuen des
Viſcherſchen Sebaldusgrabes in ſeine Sammlung. 1811
legte ihm der junge Boiſſerée aus Heidelberg gotiſche
Baukunſt und Malerei in geordneten Nachbildungen vor
und die neuen Zeichnungen des jungen Cornelius zu
30 Wiederaufleben Jenas
den Nibelungen. Friedrichs Landſchaften, Kerſtings
Innenräume fanden in Weimar frühe Bewunderung
und Käufer; und der Landſchaftsmaler wurde als
Dichter verſtanden bei der Betrachtung Ruisdaeliſcher
Arbeiten.
Anders als Goethes eigene Sammlungen wuchſen
unter ſeiner Leitung und unter vermehrter Fürſorge
des Fürſten die des Staates an. In Weimar mußte
1809 das Bibliotheksgebäude erweitert werden, das
zugleich den Kunſtſammlungen diente. In Jena galt
es, auch für mehr Raum und zweckmäßige Umſtellungen
zu ſorgen, als Sternwarte und anatomiſches Muſeum
eingerichtet und die Kabinette für Phyſik und Chemie,
für Oſteologie und Zoologie neu begründet wurden.
An jungen Lehrkräften taten ſich der Naturwiſſen—
ſchafter Oken und der Hiſtoriker Luden in Jena hervor:
Oken ſchränkte ſich von der Naturphiloſophie im Schel—
lingſchen Sinne auf die ſchlichtere „Naturgeſchichte“
ein; Luden, herderiſch beeinflußt, begeiſterte durch ſeine
Vorträge über das Studium der vaterländiſchen Ge—
ſchichte und forderte feſten Volksſinn und deutſche Ein-
heit. In der Studentenſchaft hafteten ſeine Gedanken
trotz alten Verfaſſungsſonderweſens, und im Frühling
1813 eilten ſämtliche Jünglinge der Landsmannſchaft
Vandalia nach Breslau unter die preußiſchen Fahnen.
Goethes Hauptſorge war auch in dieſem Jahrzehnt
der Weimarer Bühne zugewandt, und hier hatte er von
neuem die Freude, gut begabte und ihm ergebene junge
Weimariſches Theater um 1810 31
Schauſpieler heranzubilden, namentlich in dem Ehepaar
Wolff. Noch harrte Taſſo der Uraufführung; ſie ging
auf Andringen Wolffs und Riemers und nach Goethes
Wünſchen Anfang 1807 vor ſich, ein Zeugnis der im
Rheinbundfrieden aufatmenden Kunſt. Zu andern
Taten lockte die neue Shakeſpeareüberſetzung, wenn
auch Romeo und Julia umgearbeitet werden zu müſ—
ſen ſchien, und die friſche Bekanntſchaft Calderons:
deſſen Standhafter Prinz, Leben ein Traum, Zenobia
wurden dem Weimarer Theater gewonnen; auch Dich—
tungen von Heinrich von Kleiſt und Theodor Körner,
Zacharias Werner und Müllner führte man jetzt auf.
Ifflands letztes Gaſtſpiel, Ende 1813, weihte das ver—
einte Bemühen dieſes Jahrzehnts; 1815 wurde ſein,
des ſoeben Verſchiedenen, und Schillers Andenken in
einem Bühnenſpiel gefeiert, für das Goethe an ſeinen
Epilog zu Schillers Glocke, ſchon 1805 und erweitert
1810 geſprochen, nun die allerletzte Strophe fügte:
Wir haben alle ſegenreich erfahren,
Die Welt verdank ihm, was er ſie gelehrt;
Schon längſt verbreitet ſichs in ganze Scharen,
Das eigenſte, was ihm allein gehört ...
Damals empfand Goethe, das Weimarer Theater ſei
auf ſeinen höchſten ihm erreichbaren Punkt gelangt;
bald darauf entſagte er der Leitung, die er über fünf—
undzwanzig Jahre geführt hatte.
Die Antike wirkte hier durch ihn weiter fort. Ihr
blieb ja auch der greiſe Wieland getreu, bis in ſeine
32 Pandora und Epimenides
letzten Tage mit der ihm jetzt beſonders zuſagenden
Überſetzung von Ciceros Briefen beſchäftigt; als er 1813
heimging, hielt ihm Goethe in der Weimarer Loge
die Gedenkrede, in demſelben kleinen Saale des
Wittumspalais, wo vor einem Menſchenalter die
Iphigenie zuerſt geſpielt worden war. Goethes Kennt—
nis der Antike wuchs immer noch durch Vermehrung
ſeiner Sammlungen an Büſten, geſchnittenen Steinen
und ähnlichem; 1813 erwarb er einen Abguß des großen
Zeuskopfes, der in Otricoli ausgegraben worden war.
So wandelte auch in griechiſcher Geſtalt, was er jetzt
größtes für die Bühne zu dichten unternahm. Von
Pandora wurde 1807 nur ein erſter Teil abgeſchloſſen;
aber als von der Berliner Hoftheaterleitung der Ruf
an ihn erging, die ſiegreiche Rückkehr der Freiheits—
krieger zu feiern und ihm ein ſymboliſcher Mittelpunkt
dafür in dem Schläfer Epimenides erſchien, raffte er
die großen Erlebniſſe des Jahrzehnts und ſeine ganze
einzige Kraft zu dem herrlichſten aller deutſchen Feſt—
ſpiele zuſammen: des Epimenides Erwachen wurde in
Berlin im Jahre 1815 dreimal aufgeführt, am 30. März
als dem Jahrestage des Einzugs in Paris, am 1. Juni
zur Rückkehr des Königs und am 19. Oktober zur Jahres—
feier der Leipziger Völkerſchlacht, und darauf in Weimar
Anfang 1816 zur Geburtstagsnachfeier für die Landes—
fürſtin.
Wie Epimenides für Berlin, ſo war Pandora für
Wien beſtimmt. Das Weimarer Theater gab Gaſtſpiel—
1815 33
folgen in Leipzig und Halle. Schillers Dramen wurden
auf allen deutſchen Bühnen geſpielt und erhöhten Sinn
und Geiſt der Jugend. Die beiten nord- und ſüddeutſchen
Muſiker, allen voran Reichardt, Zelter und Beethoven,
trugen viele Goethiſche Lieder als Geſänge in das
deutſche Haus.
So war Weimars klaſſiſche Dichtung, von Carl
Auguſt als erſtem gepflegt und geliebt, im Jahre 1815
die Morgengabe ſeines Großherzogtums an das neue
Deutſchland.
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 3
Der alte Goethe
Der Zeitabſchnitt, der um das Jahr 1815 fühlbar
und bald darauf tiefer deutlich eintrat, machte ſich auch
in Goethes Hauſe geltend: 1816 ſtarb ſeine Frau; 1817
heiratete ſein Sohn, und bald belebten Enkel das Haus
des Großvaters. Sein Berufs- und Wanderleben ver—
engte ſich: 1817 entſagte er der Leitung des Weimarer
Theaters, und nach ausgedehnten rheiniſchen Sommer—
reiſen der Jahre 1814 und 1815 verließ er nun, außer
zu einigen böhmiſchen Badekuren, das Großherzogtum
bis zu ſeinem Tode nicht mehr.
Er empfand die Beſchränkung, und der Gedanke
tauchte wohl auf, im Alter ſollte man doch in einer
großen Stadt leben. Manchmal fragte er ſich, ob mehr
Berührung mit der Außenwelt, ob auswärtige Wirkung
durch perſönliche Gegenwart ihn und ſeine Freunde nicht
mehr fördern könne als die einſame Hockerei, die man
ihm wohl vorwarf. Aber die Gedanken der Ruhe über—
wogen doch, und mit der Zeit wurde es ihm zur behag—
lichen Gewißheit, daß er auch jo in einem großen leben-
digen Zuſammenhang webe, ja vielleicht inniger und
gründlicher, als wenn er ſich nach außen bewegt und
zerſtreut hätte. Das erkannte auch ſein beſter Alters-
Verſtimmungen 35
freund, Zelter in Berlin, mit den Worten an: „Gar
gern ſehe ich Dich, wie Du gleich einer Spinne Deine
Fäden nach allen Seiten anhängſt und beobachtend in
der Mitte ſchwebſt.“
Das natürliche Vorwärts der Welt und die alljähr-
lich immer ſchwächere Erneuerung ſeiner Natur wollten
auf das behutſamſte in lebendigem Zuſammenhang
erhalten werden. Konnten ſeine ruhigen wiſſenſchaft—
lichen Anſichten dem heraufziehenden neuen Zeitalter
genügen, das ihm als turbulent erſchien? Das neue
Menſchen⸗ und Weltweſen drehte ſich um ihn, den
immer perſönlicher ſich Auskriſtalliſierenden, herum, daß
es ihm manchmal hätte ſchwindlig werden mögen. Es
war ja ſeinerſeits arge Verkennung der jungen Zeit⸗
genoſſen, wenn er in einem ausnahmsweiſe überreizten
Zuſtand ſich zuredete: „Dem redlich denkenden Ein—
ſichtigen bleibt es gräßlich, eine ganze nicht zu verachtende
Generation unwiederbringlich im Verderben zu ſehen.“
Wohl mußte ihm die Schwäche des fortgeſetzten Klaſſi—
zismus, der weiterhallenden Romantik, das Bizarre
manches neuen Realiſten gleicherweiſe zuwider ſein,
und ſo verſteht ſich ſein um das Jahr 1820 wiederholt
geäußerter Entſchluß, an der neueſten deutſchen Lite⸗
ratur, wenn überhaupt, nur noch äußerſt enthaltſam
teilzunehmen. „Die Eile der neuſten Zeit“ wurde ihm
dauernd unerquicklich. Andrerſeits verdroß ihn die
neue, romantiſche Liebe, die ſich deutſchen Altertümern
zuwandte, ſo daß er einmal ganz modern ausrief:
3 *
36 Verdruß und Verſöhnung
Amerika, du haſt es beſſer
Als unſer Kontinent, das alte,
Haſt keine verfallene Schlöſſer
Und keine Baſalte.
Dich ſtört nicht im Innern,
Zu lebendiger Zeit,
Unnützes Erinnern
Und vergeblicher Streit.
Benutzt die Gegenwart mit Glück!
Und wenn nun eure Kinder dichten,
Bewahre ſie ein gut Geſchick
Vor Ritter-, Räuber: und Geſpenſtergeſchichten.
Ein andermal äußerte ſich auch das verſtimmte Alter
in dem ſo ungoethiſch wie möglich klingenden Rat, mit
dem er einen Silveſterbrief an Zelter ſchloß: „Beſieh
Dir ja die weite Welt gelegentlich, ſolange ſie Dir Spaß
macht. Ich habe mir die äſthetiſche Anſicht derſelben
(die landſchaftliche) durch die wiſſenſchaftliche ganz ver—
dorben, und dabei kommt endlich auch nicht viel heraus.“
Aber ſolchen Mißmut verbannte er doch ſchließlich
gründlich. An denſelben Freund faßte er im Frühjahr
1820 einmal ſein Altersdaſein in die Worte zuſammen:
„Unbedingtes Ergeben in den unergründlichen Willen
Gottes, heiterer Überblick des beweglichen, immer freis-
und ſpiralartig wiederkehrenden Erde-Treibens, Liebe,
Neigung, zwiſchen zwei Welten ſchwebend, alles Reale
geläutert, ſich ſymboliſch auflöſend. Was will der Groß»
papa weiter?“
Goethes Haus war geräumig genug, die Familie
Großvater Goethe 37
ſeines Sohnes Auguſt bequem mit zu faſſen, und Goethe
lebte mit ihr in erfreulichen Verhältniſſen. Auguſt hatte
die Rechte ſtudiert; ohne das Studium abgeſchloſſen zu
haben, hatte er im Weimarer Staatsdienſt Beſchäftigung
als Helfer ſeines Vaters gefunden und von ſeinem Paten,
dem Großherzog, den Titel Kammerrat erhalten. Der
gewandte und geſellige junge Mann war eine angenehme
Vermittlerperſon für heimiſche, geſchäftliche und geſell—
ſchaftliche Aufgaben und Abſichten des alten Goethe.
Er gehörte nicht zu den nächſten literariſchen Gehilfen
des Altmeiſters, wurde aber immer auf dem laufenden
erhalten über des Vaters Beſchäftigung. Wie der alte
Hausherr etwelche Not der jungen Leute im ſtillen
treulich mittrug, ſo nahmen ihm Auguſt und ſeine
hübſche, kluge Frau Ottilie ein gutes Teil der frohen
Pflichten des Hauswirtes ab. Ottilie begrüßte gern
Ausländer bei ſich und brachte die Herausgabe einer
Zeitſchrift Chaos zuſtande, ſo daß Goethe über ihre
„Konſular⸗ und Redaktorpflichten“ ſcherzte. Dem
Sohn teilte er ſich perſönlich vertraulich bei einem
Glaſe Wein gegen Mitternacht mit; zu literar- und
künſtleriſcher und weiterer Lebensausſprache gewann
er 1823 den feinſinnig auf ihn eingehenden Nieder—
ſachſen Eckermann, der ihm während ſeines letzten
Lebensjahrzehntes näher ſtand als die dauernd bei—
rätigen Meyer und Riemer.
Im Sommer ergab ſich Verkehr genug dadurch,
daß viele Reiſende ihn beſuchten. Junge Dichter,
38 Beſuch
Küuſtler, Muſiker, Gelehrte fuhren nach Weimar,
huldigten ihm, brachten ihm Erſtlinge oder ſpielten
ihm vor, empfingen weiſende Worte und fühlten ſich
mit Huld aufgenommen. Alte Freunde ſprachen vor
oder kehrten zu Wochenbeſuch in Weimar ein. So
manches Jahr verſammelte der 28. Auguſt einen grö—
ßeren Kreis von Verehrern des Siebzigers, des Achtzi—
gers, darunter Engländer, Franzoſen, Polen. 1827
erzeigte ihm der junge kunſtbegeiſterte Bayernkönig
Ludwig J. die Ehre, ihn zu dieſem Tage zu beſuchen;
auch deſſen Schwager, der ähnlich geſinnte preußiſche
Kronprinz, kam zu Goethe nach Weimar. Dann durfte
er im Herbſt ſich preiſen: „Mich, den mittelländiſchten
Menſchen, haben die beſten Wallfahrer beſucht.“
Aber im Winter lebte der alte Goethe einſam. Da
diktierte er fleißig, ſo daß er einmal ſagen konnte, ſeine
ganze Exiſtenz ſtehe auf dem Papiere. Sein Arbeits»
ſtübchen war nach Süden aufs Freie hinaus gelegen,
es wurde von der Winterſonne beſchienen, dort gedieh
wiſſenſchaftliche und künſtleriſche Beſchäftigung, dort
gedachte er der auswärtigen Freunde, denen er eigent—
lich alles, was er noch ſchuf, zubereitete, von dort aus
führte er ſeinen großen Briefwechſel ſo ſorgſam, daß
ſeine aus der Zeit von 1815 bis 1832 erhaltenen Briefe
nun gedruckt faſt ſechsundzwanzig Bände füllen, mehr
als die Hälfte ſeiner erhaltenen Lebenskorreſpondenz.
Da gingen die Zeilen an die Weimarer Behörden und
Organe aus, die Begrüßungen der einheimiſchen Fürſt⸗
Briefwechſel 39
lichkeiten und Freunde, die herzlichen Briefe nach Jena
an Knebel, nach Leipzig an Rochlitz, nach Dresden an
Carus, die Geſchäfts-, kunſt- und wiſſenſchaftlichen
Schreiben an Cotta und Boiſſerée in Stuttgart und
an den Grafen Reinhard in Frankfurt, an Nees von
Eſenbeck in Bonn, von da die ergiebigen und vertrauten
Mitteilungen nach Berlin an den guten Freund Zelter,
an die lange lebensaufwärts begleiteten Brüder Hum—
boldt, an den Schauſpielintendanten Graf Brühl und
den Philoſophen Hegel, an die drei vortrefflichen
Staatsräte Nicolovius, Schulz und Süvern. Er hatte
Alt und Jung zu bedenken, für Erhabenſte und Geringſte
die Form zu wählen, und in jedem Satze war es Goethe,
der diktierte oder ſchrieb, ob an den Staatskanzler
Metternich in Wien oder an einen Gymnaſiaſten in
Rudolſtadt. Dieſe Briefe trugen ihm reiche Gegenernte,
am erquickendſten von Zelter; vieles Deutſche zog er ſo
an ſich heran, manche großen Intereſſen verknüpfte die
Feder, die ſeine Briefe unterzeichnete.
Seine Teilnahme ſtreckte ſich auf literariſchen Wegen
weit über Deutſchlands Gegenwart in Raum und Zeit
hinaus. Als er zur Ergänzung ſeiner ſonſtigen Bekennt—
niſſe Tag⸗ und Jahreshefte über ſein weimariſches
Leben bis 1822 zuſammenſtellte, hatte er allein für das
Jahr 1821 von folgenden Dingen zu berichten. Aus
der altgriechiſchen Dichtung ward die Frage der Ein—
heitlichkeit der homeriſchen Gedichte im Anſchluß an
neueſte deutſche und engliſche Literatur erörtert und
40 Literariſche Teilnahme (1821)
ein Verſuch gemacht, die neu mitgeteilten Fragmente
der euripideiſchen Tragödie Phaethon zu ergänzen.
Andre griechiſche Schriftſteller mußten als etwaige
Quelle zu Mantegnas Triumphzug Caeſars durch—
geſehen werden, der Goethe damals beſchäftigte, und
Knebels endlich veröffentlichte Lucrezüberſetzung führte
ihrerſeits in das Rom Caeſars. Aus England erregten
Lord Byron und Sir Walter Scott Anteil, und engliſche
Vermittlung führte zu bewundernder Vertiefung in die
altindiſche Literatur. Aus Spanien wirkte ein neueres
Reiſebuch mit geſchichtlichen Schilderungen der jüngſten
Vergangenheit ein und zwei noch unbekannte Calderon—
ſche Stücke, aus Italien ein neues Trauerſpiel von Man—
zoni. In Paris wurde die Übertragung von Goethes
Theaterſtücken ins Franzöſiſche beachtet; und der Ruſſe
Purkinje regte Goethe auf durch ſein Werk über das
ſubjektive Sehen. Endlich trat Altdeutſchland mit einer
märchenhaft ausgedehnten Legende von den heiligen
drei Königen in ſeinen Kreis, mit Steindrucken nach
der Boiſſeréeſchen Gemäldeſammlung, mit Boiſſerées
Abhandlung über den Kölner Dom und noch vielen
kleineren Sachen, die verarbeitet wurden.
Muſik war nicht Goethes Element, aber noch im
Sommer 1830 durfte der alte Goethe verſichern, ſein
Verhältnis zur Muſik ſei noch immer dasſelbe, er höre
ſie mit Vergnügen, Anteil und Nachdenken; dabei liebte
er ſich das Geſchichtliche. Im Herbſt 1818, als er zur
Erfüllung einer Dichteraufgabe in das ſtille Berka ent—
Klavierſpiel gejchichtlich 41
wichen war, ließ er ſich von dem dortigen Organiſten
Schütz täglich drei bis vier Stunden vorſpielen: von
Sebaſtian Bach über Händel, Karl Philipp Emanuel
Bach, Haydn und Mozart bis zu Beethoven. Und
als ihn 1830 der junge Felix Mendelsſohn zum letzten—
mal beſuchte, wurde wieder bei den Klaviervorträgen
der Gang der Geſchichte eingehalten von der Bachſchen
Zeit über Gluck und die Klaſſiker zu den neueren Tech—
nikern und Mendelsſohns eignen Werken; „denn wer
verſteht irgendeine Erſcheinung, wenn er ſich nicht von
dem Gang des Herankommens penetriert?“ Für Se—
baſtian Bach ging ihm zwar dieſer geſchichtliche Vorblick
ab, ſeine Größe mußte und konnte er in Berka in voll—
kommener Gemütsruhe intuitiv erfaſſen: „Ich ſprach
mir's aus: als wenn die ewige Harmonie ſich mit ſich
ſelbſt unterhielte, wie ſich's etwa in Gottes Buſen, kurz
vor der Weltſchöpfung, möchte zugetragen haben. So
bewegte ſich's auch in meinem Innern, und es war mir,
als wenn ich weder Ohren, am wenigſten Augen, und
weiter keine übrigen Sinne beſäße noch brauchte.“ Wie
Bach ſeine ſchwerſten Variationen zur Unterhaltung
eines an Schlafloſigkeit leidenden Grafen geſchrieben
hatte, ſo nahm Goethe Bachſche Klaviermuſik auf: „ich
lege mich ins Bett und laſſe mir von unſerm Bürger—
meiſterorganiſten in Berka Sebaſtiana ſpielen.“
Da er, um mit Inſtrumentalmuſik in Fühlung zu
bleiben, vor allem auf Klaviermuſik angewieſen war,
ließ er ſich von Rochlitz in Leipzig einen Streicherſchen
42 Der alte Goethe und die Muſiker
Flügel ausſuchen, und das wertvolle Inſtrument kam
im Sommer 1821 gerade zu rechter Zeit an, daß der
gleich darauf von Zelter herangeführte Felix Mendels—
ſohn zum erſtenmal ſein Talent vor Goethe hören laſſen
konnte. Nächſt ihm, und noch virtuoſer, ſpielte Hummel
öfter vor Goethe auf dieſem Flügel, der Weimarer
Meiſter, und in Goethes letztem Lebensſommer die junge
Klara Wieck und am Alltag ſeine Enkel. Die ganz
beſondere Weichheit der Empfindung, bei der ihn im
Sommer 1823 in Marienbad Muſik überwältigte, in dem
Geſang der Milder und dem Klavierſpiel der Szyma—
nowska, überwand Goethe wieder; mit gutem Mute
hörte er 1825 abermals Mendelsſohn und hoffte danach
von neuem, daß ſeine Umgebung wieder tonſelig werde.
In allen Muſikfragen wandte er ſich an Zelter;
deſſen muſikaliſche Bildung war ihm die gemäßeite,
deſſen Kompoſitionsweiſe ſeiner Lieder war ihm die
liebſte. Als es ihm in hohem Alter einmal auffiel, daß
unter ſeinen Gedichten an Perſonen keines an einen
ſo geiſtverwandten und herzverbundenen Freund
wie Zelter war, erklärte er es daher, „daß alles Lyriſche,
was ich ſeit dreißig Jahren gedichtet, als in ſeinem
Sinne und Geiſte erfaßt, ihm zu eigentlicher muſikaliſcher
Belebung geſendet worden.“ Zelter konnte ſich das
Urteil eines Berliner Kritikers, ſeine Goethekompoſi—
tionen ſeien mehr äſthetiſch als muſikaliſch wertvoll,
gefallen laſſen, da er von Goethe hörte: „Deine Kom—
poſitionen fühle ich ſogleich mit meinen Liedern identiſch,
Geſchenke von auswärts 43
die Muſik nimmt nur, wie ein einſtrömendes Gas, den
Luftballon mit in die Höhe. Bei andern Komponiſten
muß ich erſt aufmerken, wie ſie das Lied genommen,
was ſie daraus gemacht haben.“ Aus vielen Briefen
Zelters erfuhr Goethe allerlei aus dem Berliner Kon—
zert⸗ und Operntreiben.
Zwiſchen den ſeltenern und flüchtigen Gaben der
Muſik, die ſich dem alten Goethe boten, erſchienen in
dichterer Fülle dauernde Geſchenke, die ſeinem wiſſen—
ſchaftlichen Denken und ſeinem Anſchauen des Schönen
gewidmet waren. So erfreuten ihn auswärtige Gelehrte
und Reiſende: z. B. 1818 zum Geburtstag Profeſſor
Schweigger mit einem neuen optiſchen Apparat, 1820
ein mecklenburgiſcher Kammerherr mit bedeutenden
Mineralien aus Tirol und ein däniſcher Kammerherr
mit schönen Opalen von den Faröern. 1828 ſandte ihm
der alte Anatom und Freund Loder, der inzwiſchen vom
herzoglich weimariſchen längſt zum königlich preußiſchen
und weiter zum kaiſerlich ruſſiſchen Leibarzt geworden
war, einen Prachtkaſten in ledernem Gehäuſe mit einer
Sammlung ſibiriſcher Mineralien und ruſſiſcher Koſt—
barkeiten. Einige Verehrer bedachten ihn mit Er—
innerungsſtücken ſeines eigenen Lebens: der Dresdner
Landſchafter Carus 1820 mit dem von ihm gemalten
Brockenhaus, der bayriſche Architekt Klenze 1828 mit
ſeinem Gemälde der Ruinen des Zeustempels von
Agrigent, und in demſelben Jahre ſandte der Groß—
herzog von Mecklenburg-Strelitz zum 28. Auguſt die
44 Goethe als Sammler
eichene Standuhr aus Goethes Elternhaus. Die Berliner
Bildhauer Tieck und Rauch wetteiferten ihn zu erfreuen,
der ältere 1825 mit einem Werke von Carſtens, der
Parze Atropos, die er ergänzt hatte, und 1828 mit den
Modellen zu Kaſſandra und Achill, die er für das Ber—
liner Schloß gearbeitet hatte, der jüngere mit den Reliefs
zu ſeinem Berliner Blücherdenkmal u. a. Man wußte,
daß man Goethe mit guten Kopien nach bedeutenden
Antiken eine beſondere Freude mache, und ſo ließ ihm
1823 Staatsrat Schultz die große Juno Ludoviſi zugehen
und 1829 der König von Bayern den Niobiden Ilioneus.
Manches schöne Geſchenk ſchmückte am 7. November 1825
ſeine Zimmer, als man den fünfzigjährigen Jubeltag
ſeines Eintreffens in Weimar feſtlich beging.
Goethe war im Alter Sammler von Beruf geworden,
d. h. er lebte für ſeine Sammlungen und zehrte von
ihnen. Schon im Vaterhauſe hatte ihn eine gediegene
Privatſammlung umgeben, und manches Stück daraus
hatte er geerbt; in jungen Weimarer Jahren hatte er
ſich eine Sammlung von Handzeichnungen angelegt, in
Italien ſich mit einer kleinen Antikenſammlung umgeben
und dann in Weimar ab und zu weiter dies und jenes
erworben, auch eine große Steinſammlung vom Thü—
ringer Walde allmählich zuſammenerklopftund-getragen.
Erſt im Alter aber betrieb er das Sammeln ſtreng zu
täglichem Genuß und ſteter Belehrung, indem er auf
Auktionen ankaufen ließ, billige Gelegenheiten aus—
nutzte, ihm merkwürdige Stücke mit zäher Abſicht im
Bei Betrachtung Saftlebens 45
Auge behielt, bis ein glücklicher Kauf gelang. So beſaß
er ſchließlich über 2000 Stiche, Holzſchnitte u. dgl. und
über 1000 Handzeichnungen; unter jenen überwogen
die Italiener, unter dieſen die Deutſchen. 1819 bedeutete
für ihn die Erwerbung eines ausgezeichneten Abdrucks
von Schongauers Tod der Maria die Erfüllung eines
„uralten Wunſches“, anderes wurde wiſſenſchaftlich
verwertet, und das beſte wurde ihm zum Lebensſymbol
und als ſolches auch Freunden mitgeteilt. So genoß
er im zweiundachtzigſten Lebensjahre eine angenehme
Zeichnung von Saftleben, eine Rheinlandſchaft aus
deſſen fünfundſiebzigſtem Jahre, und äußerte ſich dar—
über getroſt zum alten Zelter: „Das merkwürdige
dieſes Blättchens iſt: daß wir die Natur und den Künſtler
im Gleichgewicht miteinander gehen und beſtehen ſehen,
ſie ſind ruhig befreundet; er iſt, der ihre Vorzüge ſieht,
anerkennt und ſich aufs billigſte mit ihnen abzufinden
ſucht. Hier iſt ſchon Nachdenken und Überlegung, ent—
ſchiedenes Bewußtſein, was die Kunſt ſoll und vermag,
und doch ſehen wir die Unſchuld der ewig gleichen
Natur vollkommen gegenwärtig unangetaſtet. Dieſer
Anblick erhielt mich aufrecht, ja es ging ſo weit, daß,
wenn ich mich augenblicklich ſchlecht befand und davor—
trat, fühlt' ich mich wirklich unwürdig es anzuſehn.
Der tüchtige mutige Geſelle, der ſolches vor hundert
Jahren in heiterſter Gegenwart niedergeſchrieben hatte,
konnte den kümmerlich Beſchauenden, inmitten der
triſten thüringiſchen Hügelberge kaum erdulden. Wiſcht'
46 Kunſt⸗ und Naturalienbeſitz
ich mir aber die Augen aus und richtete mich auf, ſo war
es denn freilich heiterer Tag wie vorher.“ An Marmor—
und Elfenbeinſachen, Holzſchnitzereien und Wachsar—
beiten, Bronzefiguren und Reliefs und geſchnittenen
Steinen beſaß er manches merkwürdige, dazu etwa
750 antike Münzen und eine herrliche, ihm liebwerteſte
Medaillenſammlung, mit über 1100 Stücken allein aus
Italien, und mehr als 100 Majolikaſchüſſeln und-Vaſen,
die er zwiſchen 1817 und 1829 erwarb, meiſt aus der
Sammlung des Hauptmanns von Derſchau in Nürn⸗
berg. Mineralien aber hatte er ſchließlich über 10000
Stück, dazu zoologiſche Merkwürdigkeiten, präparierte
Schädel und phyſikaliſche Inſtrumente und Hilfsmittel
aller Art zur Farbenlehre. Schon 1819 konnte er ſagen:
„Mir will nun nicht mehr wohl werden als in meinem
Hauſe, das beſonders den Sommer alle Vorteile genießt
und wo mir ſo vieljährig zuſammengetragene Beſitz—
tümer zu Gebote ſtehen, die mir Freude und Nutzen
bringen.“
Goethes Verhältnis zur bildenden Kunſt war in
früheren Jahren ſo dringend geweſen, daß er es bis
zur Ausübung als Radierer und Landſchaftszeichner
getrieben hatte. So weit ging ſeine Luſt im Alter
nicht mehr; aber gelegentlich wirkte er andeutend und
beratend bei der Entſtehung von größeren Kunſtwerken
mit. Die ſchönen rheiniſchen Eindrücke des Sommers
1815, wo er zufällig an der Wiedereröffnung der
Rochuskapelle bei Bingen teilgenommen hatte, klangen
2 >
Für Bingen und Roitod 47
in Weimar nach, und das Bild des heiligen Rochus,
wie er völlig ausgebeutelt von ſeinem Palaſt die Pilger—
ſchaft antritt, wurde 1816 in Goethes Kreiſe erfunden,
ſkizziert, gemalt und gelangte als willkommnes Ge—
ſchenk in die Kapelle am Rhein. Eine andre faſt
gleichzeitige Wirkung gelang nach Roſtock. Dort ſollte
das erſte Standbild Blüchers errichtet werden, Schadow
in Berlin hatte den Auftrag dazu erhalten, Goethe in
Weimar aber ſollte die Oberleitung haben. So mußte
der Realiſt Schadow ſeine in bloßer Wahrhaftigkeit ge—
ſehene Heldengeſtalt ſamt den gleichartigen Reliefbildern
am Sockel — Sturz bei Ligny und Sieg bei Waterloo —
antikiſierend verhüllen und geiſtig bereichern: Blüchern
wurde ein Löwenfell um die Schultern geſchlungen, und
ſtatt eines Offiziers, der den mit dem Pferde geſtürzten
Feldherrn deckt, wurde ein geflügelter Genius beige—
geben. Goethe ſelbſt empfand, daß damit ein ſeltſames
Grenzwerk geſchaffen wurde, das wie ein Januskopf
zwei Anſchauungen vereinigte.
Schadow war im Februar 1816 bei Goethe, um
dieſe Dinge mit ihm zu beſprechen. Damals arbeitete
er auf Auguſt von Goethes Wunſch ein Wachsmedaillon
mit Goethes Bildnis, nahm auch Goethes Geſichtsmaske
ab und nach dieſer ſchuf er 1823 ſeine Marmorbüſte
des alten Goethe. Schadows Maske diente auch den
beiden Berliner Meiſtern Tieck und Rauch als Grund—
lage, als ſie Goethe 1820 in Jena beſuchten und ihre
beiden Büſten zu gleicher Zeit in demſelben Raume nach
48 Büſten und Bildniſſe des alten Goethe
ihm modellierten. Seit 1815 verging kein Jahr bis zu
Goethes Tode, wo er nicht einmal gemalt, gezeichnet
oder in Ton gebildet worden wäre, ſo daß er ſcherzte:
Sibylliniſch mit meinem Geſicht
Soll ich im Alter prahlen!
Je mehr es ihm an Fülle gebricht,
Deſto öfter wollen ſie's malen!
Das anregende Zuſammenſein mit hervorragenden
Künſtlern war das Erfreuliche für ihn bei ſolchem Still—
halten; die wenigen Sommertage mit Tieck, Rauch und
Schinkel als Viertem waren von lebhaften, leidenſchaft—
lichen Kunſtunterhaltungen erfüllt und belebten ihn ſelbſt
in der Erinnerung noch durch ihre gedrängte Produkti—
vität. Der Engländer, der Ruſſe, der Franzoſe be—
mächtigte ſich nun ſo auch ſeines Anblicks; zuletzt zeich—
neten ihn die beiden Weimarer Schwerdgeburth und
Preller in Leben und Tod.
Goethe hat im Alter wiederholt ausgeſprochen, daß
das Auge bei ihm vorwalte, und die bildende Kunſt
hat ihm, wie ſie ihn als Sammler und Freund be—
ſchäftigte, auch als Gelehrten zu tun gegeben. Was er
da mitzuteilen hatte, legte er in ſeiner Zeitſchrift „Kunſt
und Altertum“ allmählich von 1816 bis 1832 in ſechs
Bänden nieder; Meyer und andre Freunde lieferten
ihm manchen Beitrag dazu. Hier erſchien ſeine Studie
über die Frage, wie denn Myrons Werk, die vielge—
rühmte Kuh, eigentlich ausgeſehen habe, und die Ab—
handlungen über Philoſtrats Gemälde, Mantegnas
Kunſt und Altertum; Zur Naturwiſſenſchaft 49
Triumphzug und Leonardos Abendmahl, hier erzählte
er aufs anmutigſte von dem Rochustage am Rhein,
hier veröffentlichte er auch ſeine Verſe zu Tiſchbeins
Idyllen und zu ſeinen eigenen Handzeichnungen, als
Schwerdgeburth dieſe geſtochen herausgab. Wiſſen—
ſchaftliches Denken, herzhafter Genuß und unbeirrbarer
Blick für die echteſten Lebensgüter durchflechten ſich in
dieſen Heften ſo reizvoll wie wohl in keiner andern
deutſchen Zeitſchrift wieder.
Ahnlich wirkte er in ein paar Bänden, die er zwiſchen
1817 und 1824 zur Naturwiſſenſchaft überhaupt und
beſonders zur Morphologie herausgab. Metamorphoſe,
der Wandel der Geſtalten, in Botanik und Zoologie
war hier das Hauptthema, aber ſittliches und poetiſches,
allgemeine Theorie und perſönliches wurde leicht, frei
und wie notwendig dazwiſchen gefügt. Noch immer
wurde die Farbenlehre weiter getrieben, auch geologi—
ſches dankbar hinzugelernt, namentlich in dem ergiebigen
Böhmen. Überraſchenden Gewinn brachte ihm aber
jetzt das Wolkenſtudium nach Howard. Im Sommer
1818 quartierte er ſich an der Jenaer Saalbrücke drüben
im Erkerzimmer der Tanne zu Camsdorf ein und
„genoß mit Bequemlichkeit, bei freier und ſchöner Aus—
und Umſicht, beſonders der charakteriſtiſchen Wolken—
erſcheinungen“; er „beachtete ſie, nach Howard, in bezug
auf Barometer und gewann mancherlei Einſicht.“ Er
zeichnete die Wolkenformen; im Frühjahr und Sommer
1820 führte er ſtreng Wolkentagebuch, ſchrieb darauf
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 4
50 Zur eignen Lebensbeſchreibung
den Aufſatz „Wolkengeſtalt“, und 1821 entſtand als
Abſchluß ein Gedicht über die Hauptworte von Howards
Terminologie. Manche wunderbare Strophe aus dem
Zuſammenhang von Natureinſicht und Menſchenleben,
über tiefe menſchliche Beziehungen zu dem unendlichen
All eröffnete, begleitete und rundete auch dieſe Hefte.
Der Zauber des Perſönlichen, der von hier ausging,
hing auch damit zuſammen, daß Goethe bei allem, was
er tat, nicht aufhörte, den eigenen Lebensſtrom ge—
ſchichtlich zu überſehen. Autobiographiſche Arbeit war
ihm auch jetzt Bedürfnis; und hatte er am Ende der
mittleren Jahre ſeine Jugend wieder vor ſich ausge—
breitet, ſo galt es jetzt, Mitte und Alter zugleich zu
bewältigen. Tagebücher und Briefe wurden zu Zettel
und Einſchlag, darein ſtickte die Erinnerung ihre bunten
Farben, und auch fremde Fäden wurden zur Schilderung
entrückter Zeiten und Erlebniſſe nicht verſchmäht. So
entſtand ſeine Italieniſche Reiſe und wurde 1816 und
1817 als Anfang der zweiten Abteilung „Aus meinem
Leben“ veröffentlicht. Mitten in der Ordnung und
Redigierung der alten Papiere kam es ihm vor, als
ob er nur in der Vergangenheit lebe, und das Ungegen—
wärtige der Sache machte ihm die Arbeit oft läſtig;
den Plan, das Werk mit Bildern herauszugeben, ließ
er fallen. 1822 konnte er die Erzählung ſeiner Teil—
nahme an der Kampagne in Frankreich aus dem Jahre
1792 folgen laſſen; daran ſchloß er den Bericht über
die damalige Belagerung von Mainz. Auch ein vierter
Tag- und Jahreshefte 51
Band Dichtung und Wahrheit wurde nach langer Pauſe
geſchrieben und ſo dieſes biographiſche Hauptwerk
glücklich bis zu ſeinem Eintritt in Weimar fortgeführt.
Die Lücken, die zwiſchen den größeren Lebensbildern
blieben, füllte er einigermaßen durch eine Art Chronik
aus, die ſummariſchen Tag- und Jahreshefte bis 1822.
Nach mancherlei Anläufen entſchloß er ſich, dieſe rück—
wärts zu ſchreiben, ſo daß er, als er 1823 begann,
zunächſt mit deutlich ihm bekanntem zu tun hatte und
durch dies allmählich das Verſchwundene, Verſchollene
zurückrufen ließ. 1825 war er aber doch wieder im
natürlichen Fahrwaſſer, arbeitete im Mai das erſte
Jahrfünft des 19. Jahrhunderts aus und wollte „dieſen
edlen Faden gern zart und ſorgfältig durch- und aus—
ſpinnen; es iſt der Mühe wert und eigentlich keine
Mühe, ſondern die größte Genugtuung, und ich freue
mich ſchon, die große Kluft vom Anfang des Jahrhun—
derts bis heute ſtetig ausgefüllt zu ſehen.“
Bei der autobiographiſchen Beſchäftigung mit dem
großen Jahrzehnt von 1795 bis 1805 nahm Goethe
ſeinen damaligen Briefwechſel mit Schiller zur Hand,
und er fand das dort beiderſeits ausgeſprochne ſo
bedeutend, daß er beſchloß, dieſen Quell geiſtigen und
künſtleriſchen Ringens, dieſe Werkſtättenbilder ſelbſt zu
veröffentlichen. In ſechs Bändchen erſchienen die
Briefe 1828 und 1829; der letzte und mit ihm das Ganze
wurde König Ludwig J. von Bayern gewidmet. Wäh—
rend der Redaktion, Ende Oktober 1824, empfand er:
4 *
52 Die Briefwechſel mit Schiller und Zelter
„Es wird eine große Gabe ſein, die den Deutſchen, ja
ich darf wohl ſagen den Menſchen geboten wird. Zwei
Freunde der Art, die ſich immer wechſelſeitig ſteigern,
indem ſie ſich augenblicklich expektorieren. Mir iſt es
dabei wunderlich zumute, denn ich erfahre, was ich
einmal war.“ Aber nach einer ſolchen Außerung, die
leicht kläglich klang, gewann der alte Goethe, der doch
auf ſich zu halten Grund hatte, ſofort wieder Oberwaſſer
und erkühnte ſich fortzufahren: „Doch iſt eigentlich das
lehrreichſte der Zuſtand, in welchem zwei Menſchen,
die ihre Zwecke gleichſam par force hetzen, durch innere
Übertätigkeit, durch äußere Anregung und Störung
ihre Zeit zerſplittern; ſo daß doch im Grunde nichts
der Kräfte, der Anlagen, der Abſichten völlig wertes
herauskommt. Höchſt erbaulich wird es ſein; denn
jeder tüchtige Kerl wird ſich ſelbſt daran zu tröſten
haben.“ Der Briefwechſel mit Zelter diente ihm ebenſo
um 1825 erſt zur Herſtellung der Tag- und Jahreshefte
und wurde dann ſelbſt zur Veröffentlichung beſtimmt.
Goethe nannte ihn im Juni 1826, wo der größte Teil
ſauber abgeſchrieben und in mehrere Bände geheftet
vor ihm lag, „ein wunderliches Dokument, das an
wahrem Gehalt und barockem Weſen wohl kaum ſeines—
gleichen finden möchte.“
Goethe erlebte im Alter noch zwei Geſamtausgaben
ſeiner Werke. Eine zwanzigbändige Oktavausgabe
erſchien von 1815 bis 1819; als ihr Abdruck eben ein—
geleitet war, forderte man chronologiſche Reihenfolge,
Letzte Ausgabe; neue Fabeln 53
das lehnte Goethe aber mit Erfolg ab. 1825 wurde
die Ausgabe letzter Hand in Angriff genommen. Sie
wuchs von 1827 bis 1830 auf vierzig Bändchen in Sedez
an, eine zierliche Taſchenausgabe; daneben lief eine
Oktavausgabe her. Mit den ſich unmittelbar anſchlie—
ßenden Veröffentlichungen aus Goethes Nachlaß kam
die Sedezausgabe bis 1834 auf 55 Bändchen, die Oftav-
ausgabe bis 1842 auf 60 Bände.
Daß der Dichter Goethe keine dieſer Ausgaben
ohne neue Schätze und Kleinodien erſcheinen ließ,
verſteht ſich von ſelbſt. Von ſich und andern wußte er,
„daß jeder etwas eignes in ſich hat, das er auszubilden
gedenkt, indem er es immer fortwirken läßt. Dieſes
wunderliche Weſen hat uns nun tagtäglich zum beſten,
und ſo wird man alt, ohne daß man weiß wie oder
warum. Beſeh ich es recht, ſo iſt es ganz allein das
Talent, das in mir ſteckt, was mir durch alle Zuſtände
durchhilft, die mir nicht gemäß ſind und in die ich mich
durch falſche Richtung, Zufall und Verſchränkung ver—
wickelt ſehe.“ Ihm ließ die Luſt zu fabulieren auch zu
Beginn ſeines Alters keine Ruhe. Alljährlich brachte
Cottas Taſchenbuch für Damen eine neue Erzählung
von ihm: 1816 das nußbraune Mädchen, 1817 die
neue Meluſine, 1818 den Mann von fünfzig Jahren.
Hielt er dieſe Dinge mit ähnlichem älteren zuſammen
wie der Pilgernden Törin, die er ſchon 1809 in dem—
ſelben Taſchenbuch veröffentlicht hatte, ſo war es alles
Erfahrenes, Erwandertes, was er ſo geſchöpft und ent—
54 Wilhelm Meiſters Wanderjahre
wickelt oder mit Hilfe von Okulation alter Sagenſtoffe
bei ſich gezüchtet hatte. Schon 1810 hatte er, auch in
Cottas Taſchenbuch, in dieſem Sinne den Anfang von
Wilhelm Meiſters Wanderjahren gebracht; jetzt nach
zehn Jahren begann ſich die Kette zu ſchließen, ihr
ideeller Zuſammenhang wurde bewußt gefördert, was
Goethe eigenſtes an pädagogiſchem und ſozialem Denken
beſaß, ins Poetiſche dieſes Geländes übertragen und
abgeſchloſſen. Ging es dabei nicht ohne redaktionelle
Härten ab, ſo entſchädigten dafür ein andermal zuſam—
menfügende Glücksſtunden, wo er ſeine Sammlung
verwerten konnte. Jener von Väterhausrat umgebene
alte Freund, bei dem Wilhelm am Schluſſe des erſten
Teils eintritt, erinnert an den Sammler Goethe, ſein
junger Beſitzgenoſſe an Goethes Sohn — wie ander—
ſeits auch in Wilhelm und Felix Teile von beiden ge—
ſtaltet ſind — und das ehrwürdige elfenbeinerne Kruzi—
fix, von dem der Alte wunderbarerweiſe die Teile in
langen Zeiträumen nacheinander erhalten hat, iſt gewiß
nach dem altſächſiſchen Kreuzfuß des zwölften Jahr—
hunderts in Goethes Sammlung erdichtet worden. Auch
mit Beziehung auf ſolche Zwiſchenzüge durfte Goethe
ſagen, als das Werk im Herbſt 1821 bei den Freunden
eintraf: „Ich kann mich rühmen, daß keine Zeile drinnen
ſteht, die nicht gefühlt oder gedacht wäre.“
So verband ſich dem alten Goethe auch Lyrik und
Wiſſenſchaft. Noch zur Zeit der Hochkämpfe der Frei—
heitskriege hatte er, ſich ruhig zu erhalten, ſeine Ge—
Weſt⸗öſtlicher Divan 55
danken nach dem fernen Südoſten gewandt und orienta—
liſche Sitte und Dichtung erkundet und erkannt. Dann
erlebte er die beglückenden Rheinreiſen der Sommer 1814
und 1815: neue Betrachtung, neue Liebe ſchlugen
dem alten Sänger zu neuen Liedern aus, und in den
nächſten Jahren reifte es weiter in dem Garten, den
er in der Stille im Wettſtreit mit dem altperſiſchen
Dichter Hafis — deſſen Überſetzung ihm zum Buch der
Bücher geworden war — angelegt hatte. Um recht von
Herzen orientaliſche Luft zu atmen zu glauben, lernte
Goethe nicht nur die Sprache, auch die verſchnörkelte
Urſchrift, er vergegenwärtigte ſich das Leben der
Beduinen, vertiefte ſich in Mahomets Leben, nahm
früher geleſene Reiſebücher mit erhöhter Abſicht durch:
1815 ließen ſich ſchon mehrere Bücher ſeines Weſtöſt—
lichen Divans in der Handſchrift abteilen. Die folgenden
Jahre ergänzte er das Werk, ſammelte weitere Vor—
arbeit zu einem hiſtoriſchen und erklärenden Teil dazu
und machte ſich immer einheimiſcher in Perſien und
Arabien, bis das Ganze 1819 erſcheinen konnte. Einige
ſchöne Gedichte nahm er auf von der jungen Frankfurter
Freundin Marianne Willemer, ſeiner Suleika, die mit
ihm in poetiſchem Geſpräch und Begrüßung verknüpft
lebte. Bis zu ſeinem Tode fügte ſich ihm noch manches,
das im Sinne des Divan empfangen und darein einzu—
ſchalten geplant war.
Orientaliſches Dichten und Trachten reichte bei
Goethe bis in die erſten Weimarer Jahre zurück, wo
56 Greiſenlyrik
Herder ihm dies Gefilde zuerſt erſchloſſen hatte. So
hat der alte Goethe noch andre frühe lyriſche Keime
zu ſpäter Blüte gebracht. Zu der Legende vom Gott
und der Bajadere entſtand erſt 1821 die Geſchwiſter⸗
dichtung, wie das Gebet des Paria erhört und ihm eine
ſchuldverſtrickte reine Frau zur Göttin geſetzt wird und
der Paria dankt, in eine enge Folge dreier Gedichte
geformt. Und als ihn ein letzter tiefer Liebeswahn
ergriff und im Verwehen ſchmerzte, 1823 in Marienbad
zu Ulrike von Levetzow, geſtaltete er auch dies zur
Trilogie: Werthers Schatten beſchwor er, wie Taſſo
fühlte er es ſich noch einmal von einem Gott gegeben,
zu ſagen, was er litt, und der überquellenden Muſik
mußte er es danken, daß ſie ſchließlich das noch immer
beklommene Herz in beſeligenden Tränen gelöſt habe.
Wie Sand am Meer ſind die kleinen lyriſchen In—
ſchriften, Dank- und Sendblätter, die ſich dem alten
Goethe tagaus tagein rundeten. Selbſt „Um Mitter-
nacht“ wurde ihm einmal bei hehrem Mondſchein
unvorbereitet und unbezweckt zu einem ihm deſto
lieberen Liede. Oft genug machte er gegenüber Wider—
wärtigem ſeinem Herzen in einem Xenion Luft, freilich
wurden es nun zahme und gereimte Kenien:
Kein Stündchen ſchleiche dir vergebens,
Benutze was dir widerfahren.
Verdruß iſt auch ein Teil des Lebens,
Den ſollen die Xenien bewahren.
Alles verdienet Reim und Fleiß,
Wenn man es recht zu ſondern weiß.
Weimariſcher Maskenzug, Berliner Prologe 57
Epigrammatiſches wurde gemünzt, Paraboliſches er—
funden, Helden- und Liebeslieder aus fremden Sprachen
überſetzt.
Einmal dichtete er auch noch für die Weimarer
Bühne: eine Rückſchau des einzigen überlebenden
Altmeiſters auf die große gemeinſame Weimarer Zeit.
Die Kaiſerin Mutter von Rußland war im Winter 1818
zu Beſuch bei ihrer Tochter der Erbgroßherzogin und
ſollte in einem Maskenzug auf dem Theater die viel—
jährigen poetiſchen Leiſtungen des Weimariſchen Muſen—
kreiſes in einzelnen Gruppen vorüberwandeln ſehen,
die verweilend ſich ſelbſt in ſchicklichen Gedichten er—
klärten. Kein Wunder, daß dieſer geiſt- und liebevolle
Epilog Goethes, in der Stille von Berka mit wunder—
barer Schnelle geſchaffen, zu den berühmten Geſtalten
von Muſarion bis zu Turandot günſtig aufgenommen
wurde und in der Erinnerung haftete. Als 1821 das
neue Berliner Schauſpielhaus mit der Iphigenie er—
öffnet wurde, bat ihn der Intendant Graf Brühl um
einen Prolog, und nochmals kommandierte Goethe
die Poeſie zu dieſer altvertrauten Aufgabe. In ſeinem
achtzigſten Jahre ſandte er derſelben Bühne aus freien
Stücken eine kleine gereimte Vorrede, als ſein Hans
Sachs als Einleitung zu dem gleichnamigen Schauſpiel
von Deinhardſtein geſprochen wurde. Ja, im zweiund—
achtzigſten ſtellte er nochmals Philemon und Baucis
dar — Schon zu Schillers Zeit in einem ſeiner Vorſpiele
verwendet — jetzt als Einleitung des fünften Aktes
58 Der zweite Teil des Fauſt
im zweiten Teil des Fauſt, und trat als Wandrer ſelbſt
bei den beiden Alten ein, die ihm ein langes Dichter—
leben über Vertraute geblieben waren und die er erſt
vor kurzem in den Wanderjahren abermalsgeſtaltet hatte.
An vielen Tagebuchſtellen hat Goethe in ſeinen letzten
Lebensjahren die Vollendung des Fauſt als das Haupt—
werk, das Hauptgeſchäft, den Hauptzweck bezeichnet,
der ihm noch oblag. Seit ſeiner Jugend, wo er den
erſten, individuellen Teil zumeiſt ſchrieb, trug er den
Gang der weitern, allgemeineren Handlung in Haupt—
zügen wie ein Märchen in ſich. Es verging die Hälfte
ſeiner mittleren Jahre, ohne daß dieſer zweite Teil
über Pläne und Schemata hinausrückte. Schiller
befeuerte ihn zu dem Werke, auch entſtand im einzelnen
vieles vom dritten und fünften Akt, Helena und Fauſts
Tod, fertig aber wurde nichts. Noch weniger bearbeitet
waren die Maſſen des erſten, zweiten und vierten
Aktes. Von neuem ruhten die gewaltigen Bruchſtücke
und Träume.
Als Goethe ſeine Werke für die 1815 begonnene
neue Geſamtausgabe durchſah und an der Vollendung
des Fauſt faſt verzweifelte, ſchrieb er ein Schema des
zweiten Teiles nieder, um einen Rahmen für etwaige
von ihm zu veröffentlichende Bruchſtücke geben zu
können. Dies Schema blieb ungedruckt, veraltete auch
in Goethes Gedanken, kam aber nach Jahr und Tag
dem jungen Eckermann zu Augen, und der ließ nun
wie einſt Schiller keine Ruhe und mahnte und trieb
Helena 59
zur Ausführung namentlich auch durch den geſcheiten
Anteil, den er an dem bereits begonnenen nahm, und
verſtand ſo Goethe weitere Produktion „zu extorquieren“.
„Sie können es ſich zurechnen, wenn ich den zweiten
Teil des Fauſt zuſtande bringe. Ich habe es Ihnen
ſchon oft geſagt, aber ich muß es wiederholen, damit
Sie es wiſſen“, waren Goethes Worte zu Eckermann
an einem Märzſonntag des Jahres 1830, als die Arbeit
ſchon weit gediehen war.
Wieder war es im Frühjahr 1825 aus Anlaß der
neu vorzubereitenden Ausgabe letzter Hand, daß ſich
Goethe entſchloß, mit Fauſt zu Ende zu kommen. Das
am weiteſten ausgebildete nahm er zuerſt vor und
bereicherte den letzten Akt. Faſt gleichzeitig, aber länger
beſchäftigte ihn der dritte Akt. Helena war ſein älteſtes
griechiſches und eines ſeiner allergrößten Symbole,
neben ihr ſchrumpfen die Iphigenien und Pandoren ein,
ſie, die Idee antiker Schönheit, war die geiſtige Mutter,
mit der er ſeine ganze klaſſiſche Dichtung gezeugt hatte.
So konnte ſie, auf die er undenkliche Zeit und Sorgfalt
verwendet, doch erſt nach Erfüllung des klaſſiſchen Zeit—
alters dargeſtellt werden, und es fügte ſich wunderbar,
daß Goethe in Byron ein jüngeres Talent von hohem
poetiſchen Reiz und Reichtum erlebte, nach deſſen
Schickſal er jetzt einen Sohn Fauſtens und Helenas, den
Jüngling Euphorion, als die Poeſie einführen konnte.
Zugunſten dieſes neuen Ausgangs des Zwiſchenſpiels
ließ er Alteres fahren und brachte 1826 „mit einem
60 Sm Frühling 1827
gewaltſamen Anlauf die Helena endlich zum überein-
ſtimmenden Leben. Wie vielfach hatte ſich dieſe in
langen, kaum überſehbaren Jahren geſtaltet und um—
geſtaltet. Nun mag ſie im Zeitmoment ſolidesziert
endlich verharren.“ 1827 wurde ſie als klaſſiſch—
romantiſche Phantasmagorie im vierten Bändchen der
Ausgabe letzter Hand unter kleinen dramatiſchen Neu—
lingen mitgeteilt.
Nun galt es noch zwei große Lücken auszufüllen,
die rückwärtige Verbindung von Helena nach dem erſten
Teil und die fortſetzende auf den Schluß zu herzu—
ſtellen. Am Himmelfahrtstage 1827, in einer ſchönen
und tätigen Frühlingszeit, ſchrieb Goethe aus ſeinem
Garten an Zelter: „Nun aber ſoll das Bekenntnis im
ſtillen zu Dir gelangen, daß ich durch guter Geiſter
fördernde Teilnahme mich wieder an Fauſt begeben
habe und zwar gerade dahin, wo er, aus der antiken
Wolke ſich niederlaſſend, wieder ſeinem böſen Genius
begegnet. Sage das niemanden; dies aber vertrau ich
Dir, daß ich von dieſem Punkt an weiter fortzuſchreiten
und die Lücke auszufüllen gedenke zwiſchen dem völligen
Schluß, der ſchon längſt fertig iſt. Dies alles ſei Dir
aufbewahrt und vor allem in Manufkript aus Deinem
Mund meinem Ohr gegönnt“; er rechnete dabei auf
Zelters Beſuch und deſſen gute, muſikaliſche Vortrags—
weiſe. Aber von dem Anfang des vierten Aktes, der
demnach in jenen Tagen entſtand, wandte ſich Goethe
unter dem Eindruck der erquickenden Maimorgen dem
Arbeit am Fauſt 61
Anfang des erſten Aktes zu und eröffnete ihn mit
Ariels Geſang:
Wenn der Blüten Frühlingsregen
Über alle ſchwebend ſinkt,
Wenn der Felder grüner Segen
Allen Erdgebornen blinkt . ..
Ein Chor von Holsharfen ſolle dies Lied begleiten,
ſchrieb er im September an Zelter; „ob dergleichen
ſchon ausgeführt worden, iſt mir nicht bekannt. Dieſe
Gelegenheit aber, etwas wunderſames hervorzubringen,
ſollteſt Du Dir nicht entgehen laſſen.“ Im Sommer
wurde ein Teil der Kaiſerſzenen des erſten Aktes fertig;
die Thronſaalſzene las Goethe am 1. Oktober Eckermann
und am 13. Oktober Zelter zum erſtenmal vor. Bis
Ende November kam der große Mummenſchanz ins
reine, der in der Erfindung des Papiergeldes gipfelt
— der bedeutendſte aller Goethiſchen Maskenzüge, für
Deutſchland gedichtet wie manche früheren für Weimar.
Die folgende Luſtgartenſzene wurde im Laufe des
Winters nur ſo weit fertig, wie ſie Goethe zu Oſtern
1828 als vorläufiges Ende ſeines Fauſt im zwölften
Bändchen der Ausgabe letzter Hand veröffentlichte mit
der Schlußbemerkung: Iſt fortzuſetzen.
Im Sommer 1828 gelang der Anfang des zweiten
Aktes. Vorgeleſen aber wurde er den Nächſtvertrauten
erſt an der Jahreswende 1829 auf 1830, nachdem auch
die Schlußſzenen des erſten Aktes geſtaltet worden
waren und jo der ganze vordre Zuſammenhang end»
62 Vollendung des Fauſt
gültig hergeſtellt war. Goethe hatte ſich in die alten
leichten gereimten Versmaße ſeiner Frühzeit wieder
eingelebt, längerer Aufenthalt in dem nun hochge—
wachſenen Garten ſeiner erſten Weimarer Jahre be—
förderte die Anknüpfung an ſeine Jugendgeſpinſte;
ſelbſt die europäiſche Politik erinnerte durch Lepanto
an jene Zeit, wo man ſchon einmal gern davon ge—
ſprochen hatte,
Wenn hinten, weit, in der Türkei
Die Völker aufeinanderſchlagen.
In der erſten Hälfte von 1830 ſchwoll dann allmählich
die klaſſiſche Walpurgisnacht heran, durch eine lebens—
längliche Beſchäftigung mit der griechiſchen bildenden
Kunſt vorbereitet, als Auguſt und Eckermann zur Reiſe
nach Italien aufbrachen. Und im folgenden Jahre
ergab ſich als letzter Reſt der vierte Akt. An ſeinem
zweiundachtzigſten Geburtstage ſah Goethe das Werk
getan.
Die letzten fünf Jahre Arbeit am Fauſt wurden
durch ſchmerzliche Verluſte unterbrochen. Im Juni
1828 ſtarb der Großherzog Carl Auguſt. Goethe mußte
bei dem verwundeten Zuſtande ſeines Innern wenig—
ſtens ſeine äußern Sinne ſchonen und ging auf Wochen
nach Dornburg. Er hätte an keinem Orte verweilen
können, wo die Tätigkeit ſeines Fürſten auffallender
anmutig vor die Sinne trat. Seit fünfzig Jahren hatte
er ſich mehrmals an dieſer Stätte mit ihm des Lebens
gefreut, der herrlichen, fröhlichen Ausſicht auf das Saal—
Letzte Verluſte 63
tal und der wohlunterhaltenen Gärten mit feenhaft
geſchmückten Roſenlauben, dabei das hinzuerworbene
neu aufgeputzte Schlößchen und der jüngſt angelegte,
gedeihende Weinberg. Das alles erſchien ihm in der
Trauer „in erhöhteren Farben wie der Regenbogen auf
ſchwarzgrauem Grunde.“ Eine der erregteſten Nächte
auf ihre beiden Geburtstage hin ließ Stimmungs—
kräfte in ihm aufzucken wie einſt zur Zeit des Freundes—
liedes An den Mond und von Jägers Abendlied und
ſchenkte ihm die Strophen „Dem aufgehenden Voll—
monde.“ An demſelben 28. Auguſt ſtarb in Weimar der
Schauſpieler Wolff, von allen Jüngeren der einzige
Künſtler, der ſein Talent ganz nach Goethes Lehre
gebildet hatte.
Im Februar 1830 ſchied auch die Großherzogin
Luiſe. Goethe teilte die Kunde dem alten Berliner
Freunde am Schluſſe eines ſchwarz geſiegelten Briefes
mit als „ein zwar gefürchtetes, aber durch Hoffnung
abgelehntes Übel. Hiebei wirſt Du manches zu denken
haben, als Mitgenoſſe unſres Denkens und Empfindens.“
Im Herbſt dieſes Jahres traf aus Italien die Nachricht
vom Tode von Goethes Sohn ein. „Prüfungen erwarte
bis zuletzt“ überſetzte ſich der greiſe Vater das alte
Nemo ante obitum beatus. „Hier nun allein kann der
große Begriff der Pflicht uns aufrecht erhalten. Ich
habe keine Sorge als mich phyſiſch im Gleichgewicht
zu bewegen; alles andere gibt ſich von ſelbſt. Der
Körper muß, der Geiſt will, und wer ſeinem Wollen
64 Abſchied
die notwendigſte Bahn vorgeſchrieben ſieht, der braucht
ſich nicht viel zu beſinnen.“
Dabei erlitt Goethes Körper doch einen Stoß, er
erkrankte gefährlich, genas aber wieder. Er konnte das
Jahr 1831 tätig durchleben. Seinen letzten Geburtstag
beging er in Ilmenau. Dort hinauf, wo er ſich mit
der Erde Weimars beſonders verwachſen fühlte, hatte
es ihn noch einmal gezogen, und er genoß in den
ſchönſten Tagen des Sommers das Wiederſehen nach
langer Pauſe. Er freute ſich der Lindenalleen, die er
vor fünfzig Jahren hatte pflanzen ſehen, und beſuchte
im Wagen die Umgegend auf neuen guten Landſtraßen,
wo ſonſt kaum gehbare Fußwege geweſen waren; er
genoß das reizende Landſchaftsbild und ſann zurück.
„Nach ſo vielen Jahren war denn zu überſehen: das
Dauernde, das Verſchwundene. Das Gelungene trat
vor und erheiterte, das Mißlungene war vergeſſen und
verſchmerzt.“ Auch nach dem höchſten Gipfel der
Tannenwälder ließ er ſich fahren, erſtieg ihn und las
an dem einſamen Bretterhäuschen ſeine alte Inſchrift
des Liedes wieder: „Über allen Gipfeln iſt Ruh. . ..
Warte nur, balde ruheſt du auch.“
Und ſo geſchah es. Nach einem ſtill verbrachten
Winter und kurzer Krankheit löſte ſich am 22. März 1832
von Goethes ſterblichem Teil das ewige.
Im neuen Großherzogtum
Unſer großer Herzog — ſo hieß Carl Auguſt bei den
Seinen ſchon im Freiheitskrieg. Im Dezember 1813,
als er ſich den Verbündeten anſchloß, ſchrieb der junge
Jenaer Profeſſor Kieſer von ihm: „Übrigens kennen
ſie alle unſern großen Herzog nicht, wenn ſie für ihn
fürchten, der wie ein Phönix im Kampfe jugendlich
erſtehen wird.“ Und als die Weimarer im Januar 1814
ins Feld zogen, heißt es in dem erſten Briefe nach der
Heimat: „Recht ſehr hat mich der Abſchied von unſerer
großen Herzogin und braven Großfürſtin gerührt, da
beide ſo rein und ſchön die Sache anſehen.“ Vom
Wiener Kongreß brachte Carl Auguſt, außer einer
mäßigen Gebietsvergrößerung, die die öſtlichen Amter
des Landes durch Hinzufügung des Neuſtädter Kreiſes
beſſer zuſammenſchloß, ſeine Erhöhung zum Range eines
Großherzogs mit.
Aber auch auf die deutſche Bundesakte hatte er ſich
in Wien verpflichtet, und in dieſer lautete ein Artikel:
„In allen Bundesſtaaten wird eine landſtändiſche Ver—
faſſung ſtattfinden.“ Großherzog Carl Auguſt von
Weimar iſt der erſte unter allen deutſchen Fürſten
geweſen, der dieſe Verheißung erfüllt hat. Er berief
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 5
66 Verfaſſung und Einkommenſteuergeſetz
alsbald konſtituierende Stände zuſammen und ließ es
ihnen als ſeinen Willen erklären, „die für Deutſchland
aufgegangene Hoffnung in ſeinem Lande zu verwirk—
lichen, die Lehre der außerordentlichen Schickſale be—
nutzend auf Eintracht das Glück des Staates zu gründen,
die Eintracht aber auf die Gleichheit vor dem Geſetz,
das Ebenmaß und das Verhältnis in dem Vorteile wie
in den Laſten zu bauen, das die Grundveſte des Staates
ſei.“ Seine Regierung legte einen Verfaſſungsentwurf
vor, er wurde in gemeinſamer Beratung mit den
Ständen überarbeitet und am 5. Mai 1816 Geſetz. Er
gewährte eine Verfaſſung, die zeitgemäß über die alt—
ſtändiſche Ordnung hinausging, ohne vorſchnell ſpäter
reifendes verwirklichen zu wollen: dem Landtag, aus
einer Kammer beſtehend, wurde Steuerverwilligung
und Geſetzberatung zugebilligt, dem Einzelnen perſön—
liche Freiheit und Sicherheit gewährleiſtet; auch Preß—
freiheit wurde von neuem zugeſichert. Das ganze
jüngere Deutſchland grüßte dieſe erſte Landesverfaſſung;
und Weimar tat den zweiten Schritt allen andern
voran und ſchuf auf Grund der Verfaſſung 1821 das
erſte deutſche Einkommenſteuergeſetz: alle Staatsbürger
wurden als ſteuerpflichtig gemäß ihrer Leiſtungsfähigkeit
erklärt und hatten ihr bewegliches Einkommen ſelbſt
einzuſchätzen.
Das kühne Vorgehen Weimars hatte zur Folge, daß
hier auch die politiſche Journaliſtik grünte, kecker als
irgendwo in Deutſchland. In Weimar ſelbſt gab Lindner
Burſchenſchaft 67
ein Oppoſitionsblatt heraus, in Jena legten ſich die
namhafteſten jüngeren Profeſſoren ins Zeug gegen
Metternich und für die großdeutſche Reichs- und Kaiſer—
idee, der Hiſtoriker Luden in ſeinem Staatsverfaſſungs—
archiv und in der Zeitſchrift Nemeſis und der Natur—
wiſſenſchafter Oken mit der enzyklopädiſchen Zeitung
Iſis. Die Köpfe wurden noch wärmer dadurch, daß
auch die Anhänger des Alten, der Ruhe ein Parteiblatt
gründeten: Kotzebue, ein Weimarer Kind, bekannt
durch ſeine ruſſiſchen Erlebniſſe und Beziehungen und
als gewandteſter Luſtſpiellieferant ſeiner Zeit, gründete
das literariſche Wochenblatt.
Die Jugend nahm am lebhafteſten Partei, und im
Zeichen des nationalen Einheitsgedankens gründeten
ſchon am 12. Juni 1815 hervorragende Jenaer Stu—
denten die „Burſchenſchaft“, darunter ehemalige Lützo—
wer Jäger und alte Mitglieder der Landsmannſchaften
Vandalia und Thuringia. Freiheit, Ehre und Vaterland
wurde die Loſung, im Turnen ſich zu üben, dem
Chriſtentum treu zu ſein waren andere Gebote, die
man befolgte; ſchwarz, rot, gold die Farben, ernſt und
einfach die deutſche Burſchentracht. Binnen wenigen
Tagen umfaßte der neue Jenaer Bund dreihundert
Jünglinge; und raſch griffen ſeine Gedanken auf andre
Univerſitäten über, denn es war ja nur der ſich ver—
jüngende Geiſt der Zeit, der hier in Jena zuerſt in der
akademiſchen Jugend zündete.
Ein großes Feſt ſollte die Erweiterung zur deutſchen
5*
68 Wartburgfeſt
Burſchenſchaft einleiten, zugleich eine Feier der Leip⸗
ziger Schlacht und des Theſenanſchlags Luthers, und
ſo wurde zum 18. Oktober 1817 nach der Wartburg
eingeladen; gern hatte Carl Auguſt die Erlaubnis ge—
geben. Sechshundert deutſche Studenten kamen und
zogen am Morgen des Hauptfeſttages unter dem
Geläute der Eiſenacher Glocken durch den Herbſtwald
hinan zu der halb vergeſſenen Ruine, die die Wartburg
damals noch war. Unter ihnen vier Jenaer Dozenten:
Oken, Schweitzer, der kurz darauf ins Miniſterium
berufen wurde, Kieſer, der im Januar 1814 als Pro—
feſſor und Wachtmeiſter die Fahne der Weimarer
Freiwilligen gegen die Franzoſen geſchwungen hatte,
und Fries, der Philoſoph, einſt in Jena neben Fichte
und Schelling wenig beachtet, inzwiſchen in Heidelberg
zu Bedeutung und Anſehen gelangt und 1816 von
Carl Auguſt nach Jena zurückberufen in der Hoffnung,
„daß er daſelbſt die Philoſophie neu begründen werde“;
„Deutſchlands Jünglingen“ hatte er ſoeben ſeine Schrift
„Vom deutſchen Bund und deutſcher Staatsverfaſſung“
gewidmet. In dem dichtbeſetzten alten Feſtſaale der
Wartburg ſprach für die Studenten Riemann, mit dem
eiſernen Kreuz von Waterloo auf der Bruſt, ernſt und
beherzt von der Hoffnung der Deutſchen auf Einheit
und Freiheit, von der Kampfbereitſchaft des Geiſtes
der Wahrheit und Gerechtigkeit gegen den der Unter—
drückung. Fries rief begeiſtert: „Sei uns gegrüßt, du
helles Morgenrot eines ſchönen Tages, der über unſer
Reaktion 69
schönes Vaterland heraufkommt; ſei uns gegrüßt, du
geiſteswarmer, jünglingsfriſcher Lebensatem, von dem
ich durchhaucht fühle mein Volk!. . . . Laſſet euch den
Freundſchaftsbund eurer Jugend, den Jugendbundes—
ſtaat, ein Bild werden des vaterländiſchen Staates . . .
laſſet aus ihm den Geiſt kommen in das Leben unſers
Volkes, denn jünglingsfriſch ſoll uns erwachſen deutſcher
Gemeingeiſt für Vaterland, Freiheit und Gerechtigkeit.“
Oken ſprach ruhiger und warnte davor, ſich als politiſche
Partei auftun zu wollen. Abends, wo der Eiſenacher
Landſturm ein Freudenfeuer auf dem benachbarten
Wartenberge entfacht hatte, gab es einen Studentenulk:
mißliebige Staats- und Polizeiſchriften wurden in effigie
verbrannt, d. h. ihre Titelblätter ins Feuer geworfen.
Zum Beſchluß des Feſtes gingen die Burſchen in der
Eiſenacher Kirche vereint zum heiligen Abendmahl.
Mancher hat dieſe Tage als die erhebendſten und be—
deutendſten ſeines Lebens in der Erinnerung behalten.
Es dauerte nicht lange, ſo begannen die Verdächti—
gungen des Wartburgfeſtes. Einige norddeutſche Zei—
tungen kritiſierten es, bei der Weimarer Regierung
liefen Beſchwerden und Klagen von Einzelnen und
andern Regierungen ein, eine ruſſiſche Denkſchrift
empfahl Unterdrückung aller akademiſchen Freiheit in
Deutſchland. Anfangs wehrte Carl Auguſt beim
Bundestag Übelnehmen und Angriff ab, aber als im
März 1819 der Jenaer Student Sand in Mannheim
Kotzebue ermordete, mußte er dem Andringen der
70 Der Burſch Fritz Reuter
Großſtaaten nachgeben: im Sommer 1819 wurde in
Karlsbad beſchloſſen, die Univerſitäten zu ſäubern und
ſtrenger zu regieren, die Burſchenſchaft zu verbieten,
die Preßfreiheit aufzuheben. In Jena ſah ſich Oken
vor die Wahl geſtellt, ſeine Zeitſchrift Iſis oder ſeine
Profeſſur aufzugeben — er verzichtete auf die Bro»
feſſur —, und Fries wurde abgeſetzt. Die Burſchen—
ſchaft löſte ſich im November 1819 auf, bildete ſich
zwar ſofort heimlich wieder, in Jena als Germanen
und Arminen, aber ſie trübte oder verſchärfte ſich nun.
In einen bedenklichen Zuſtand war ſie eben geraten
— durch den Beſchluß des Frankfurter Burſchentags
vom September 1831, an einem etwaigen Volksaufſtand
zur Herbeiführung eines freien und einheitlichen Staats—
lebens teilzunehmen —, als Oſtern 1832 der stud. jur.
Fritz Reuter aus Mecklenburg nach dem jugendgeiſt—
berühmten Jena überſiedelte und bei der unterneh-
menden Gruppe der Germanen einſprang. Zwar
beteiligte er ſich nicht aktiv und perſönlich an politiſchen
Treibereien, immerhin — nach Jahren hegte er keinen
Zweifel daran — mußte die bürgerliche Geſellſchaft
damals einen Jenenſer Burſchen als „einen ſihr unver—
daulichen Happen“ empfinden. Im Winter 1832 auf
1833 kam es zu wilden Schlägereien zwiſchen den
ſchneidigeren Germanen und den läſſigeren Arminen,
ein weimariſches Militärkommando rückte in Jena ein,
die Ruhe wurde mit Gewalt und Strenge wieder—
hergeſtellt; Reuter trat aus und kehrte gegen Oſtern
Jenas Rückgang um 1830 1
1833 in die Heimat zurück. Dort hielt er ſich den Sommer
über in der Stille, während allenthalben auf junge
„Verbrecher“ ſeines Schlages gefahndet und über
tauſend ergriffen wurden. Als er im Herbſt das Wetter
vorüber glaubte und in Berlin weiter ſtudieren wollte,
wurde er verhaftet und erlebte nun die Zeit, die trotz
aller Not des Leibes und Gemütes ſeinen elementaren
Humor nicht verſiegen machte, ſeine „Feſtungstid“, ja
die auch eine neue Liebe des Urniederdeutſchen zum
Thüringer Lande nicht ganz auslöſchte.
Es war damals keine Blütezeit der Univerſität Jena.
Die Reform, die ihr Carl Auguſt 1816 hatte angedeihen
laſſen, ſchlug zwar anfangs zum Guten aus: man zählte
wieder 800 Studenten, aber dann kamen die Karlsbader
Beſchlüſſe und ihre Folgen, der Beſuch ging während
der zwanziger und bis Mitte der dreißiger Jahre auf
500 zurück und fiel dann weiter auf kaum 400. Daß
ſich ſeit 1826 außer Weimar und Gotha auch Altenburg
und Meiningen an den Erhaltungskoſten beteiligten,
machte die Abgelegenheit nicht wett, der Jena anheim—
fiel. Wirkten doch auch die namhafteſten Lehrer all—
mählich mehr im Sinne der Vergangenheit, als der ſonſt
in der Offentlichkeit lebendigen Gegenwart.
Luden konnte wohl in dem Zeitalter nach den
Freiheitskriegen ſchließlich als der Neſtor der deutſchen
Hiſtoriker gelten. Von Herder angeregt, deſſen Ideen
zur Philoſophie der Geſchichte der Menſchheit er 1821
zum zweitenmal ausgehen ließ und einleitete, war er
72 Luden und Fries
dann Schelling näher getreten, und deſſen hochtönende
Gedanken hallten vielfach bei ihm wider. Die Ge—
ſchichte mit philoſophiſchem Geiſte zu ergreifen, ſah er
als ſeine Lebensaufgabe an; Vaterland, Philoſophie,
die Geſchichtſchreibung als Poeſie waren die Sterne,
um die ſein Denken kreiſte. Dabei kam viel Abſtraktes
zuſtande, während ihn in der Erforſchung und Dar—
ſtellung des Wirklichen anderwärts jüngere Kräfte weit
übertrafen. Immerhin iſt ſein 1821 erſchienenes Mittel—
alter — „das Mittelalter iſt, wo teutſches Leben und
teutſche Art hervortritt oder nachgewieſen werden
kann“ — die erſte Geſamtwürdigung des deutſchen
Mittelalters geweſen, und ſeiner zwölfbändigen Ge—
ſchichte des teutſchen Volkes, 1825 bis 1837 veröffent—
licht, konnte er 1843 noch eine kürzere dreibändige
Geſchichte der Teutſchen folgen laſſen; er ſtarb 1847.
Es war Carl Auguſt 1819 nicht leicht geworden,
Fries zu entlaſſen; er bot ihm Tiefurt zum Aufenthalt
an. Aber Fries widmete ſich lieber abſeits ſeinen
Studien der Seelenkunde und ſchrieb ſein Hauptwerk,
die pſychologiſche Anthropologie. Da er auch mathe—
matiſch und naturwiſſenſchaftlich geſchult war, war es
möglich, ihm 1824 die Jenaer Profeſſur für Mathematik
und Phyſik zu übertragen; auch wurden ihm philoſophi—
ſche Privatiſſima geſtattet, und in dieſen wirkte er nun
weſentlich als Ergänzer Kants, auch als Ironiſierer
Hegels. Nicht Philoſophie, nur philoſophieren wollte
er lehren, dazu trieb er meiſterhaft innere Selbſtbeob—
Rieſer 13
2
8
achtung. Kants Kritik der Vernunft galt es ihm zu
einer Theorie der Vernunft fortzubilden; den innern
Sinn, bei dem er von der Selbſterkenntnis ausging,
entfaltete er bis zur vollſtändigen Reflexion. So gelangte
er zu einer religiös-äſthetiſchen Weltanſchauung mit dem
Schlußſatz: „Wir wiſſen um das Endliche, wir glauben
an das Ewige, und wir ahnen das Ewige im Endlichen.“
Er lebte wie ein antiker Weiſer, und ſo fand er dankbare
Schüler; 1838 erhielt er auch die volle philoſophiſche
Lehrfreiheit zurück und ſtarb 1843.
Eine andere Verbindung von Naturwiſſenſchaft und
Philoſophie ſtellte neben ihm Kieſer dar. Sein Syſtem
der Medizin, das er 1817 bis 1819 veröffentlichte,
knüpfte an Schelling an, und dieſe phantaſtiſch-ideale
Richtung verfolgte er erſt recht 1821 in ſeinem Syſtem
des telluriſchen und tieriſchen Magnetismus. Auch dem
Somnambulismus widmete er Aufmerkſamkeit, und
ſchließlich mündete ſein ärztliches Intereſſe in der
Pſychiatrie: bis 1847 beſchäftigte ihn vor allem ſeine
Privatklinik, dann die Leitung der großherzoglichen
Irrenanſtalt. Als liberaler Patriot vertrat er viele
Jahre die Univerſität im Landtage und wurde 1848
in das Frankfurter Vorparlament gewählt; als deutſcher
Naturwiſſenſchafter wurde er 1847 Director Epheme—
ridum der Kaiſerlich Leopoldiniſch-Caroliniſchen Aka—
demie der Naturwiſſenſchaften und 1858 deren Präſident,
semper idem, tenax propositi bis ins hohe Alter.
Zu denen, auf die ſich Jenas Ruf im Zeitalter des
74 Döbereiner
Bundestags gründete, gehörte auch der Chemiker
Döbereiner. Carl Auguſt hatte den Autodidakten 1810
von der Bierbrauerei weg berufen und 1818 zum Ordi—
narius ernannt, er und Goethe ſchenkten ihm Vertrauen,
und der preußiſche Staat bediente ſich ſeiner; 38 Jahre
wirkte er in Jena. Als er 1822 die Entzündbarkeit
von Platinmohr durch Waſſerſtoffgas entdeckte und
damit eine Zündlampe konſtruierte, wurde er allbekannt;
erſt das Phosphorſtreichholz verdrängte ſeine Lampe.
Mit Hülfe der qualitativen Unterſuchung ſeiner Zeit
erklärte er die Entſtehung von Eſſig aus Weingeiſt
und erkannte und nannte den Sauerſtoffäther; dieſer
wurde freilich bald durch die weitertragende quantitative
Unterſuchung Liebigs von neuem in Aldehyd und Acetol
zerlegt. Döbereiners ſauberer Vortrag, die Eleganz
ſeiner Experimente und ſeine Biederkeit, ſein Witz zogen
die Studenten an.
Hat Carl Auguſt an der Entwicklung Jenas nicht nur
Freude gehabt, ſo war der perſönliche Gewinn, den
ihm ſonſt die letzten zwölf Jahre ſeiner Regierung
brachten, deſto größer. Auf ſeiner Reiſe nach Mailand
im Jahre 1822 erfreute ihn auch fremde Anerken—
nung: die Italiener nannten ihn il principe uomo.
Als er 1825 an ſeinem Geburtstag das fünfzigjährige
Regierungsjubiläum beging, überſchüttete ihn ſein
thüringiſches Volk mit Liebe, und er war nun der
volkstümlichſte deutſche Fürſt. Sein Verſtändnis
für alles edelſte des Menſchengeiſtes wie für die Ge—
Carl Auguſts Jubiläum 75
ſundheit der Naturforſchung und dabei ſeine Mann—
haftigkeit und ſein ſchlichtes Gehaben hatten ihn den
Deutſchen ſo nahe gebracht. „Die gedrungene, kräftige
Geſtalt, das Einfache, Ruhige, Körnige ſeiner Worte
und Gebärden machten einen imponierenden Eindruck,
obgleich die äußere Erſcheinung der eines intelligenten
Landwirtes ähnelte“, ſagte der Zeichner Ludwig Richter,
der ihn als Siebzehnjähriger ſah. In Weimar kannte
jedes Kind den alten Herrn, wie er ſelbſt ſeine Kaleſche
fuhr, in Militärmütze und abgetragenem Mantel, eine
Zigarre rauchend.
Unter den Freuden ſeines Jubiläums war eine merk—
würdig: nahezu vollendet ſtand der Bau eines Schul—
und Bethauſes, das mit eigenen Händen Zöglinge der
Geſellſchaft der „Freunde in der Not“ errichtet hatten.
Dieſen Verein hatte der Schriftſteller Falk in Weimar
nach dem Kriege gegründet, um ſich der verwaiſten und
verwilderten Kinder anzunehmen: Mädchen brachte er
in Dienſten unter, Knaben als Lehrburſchen im Hand—
werk. Einſt von Wieland als zukunftsreicher Satiriker
willkommen geheißen, hatte Falk ſo ſeine Bitterkeit
gegen die Geſellſchaft in Milde verwandelt. Sein Unter—
nehmen blühte, als ihn 1826 der Tod abrief; 1829 wurde
es in eine öffentliche Erziehungsanſtalt für verwahrloſte
Kinder umgewandelt und beſtand weiter als Falkſches
Inſtitut.
Zu Ende ſeiner Zeit hat es Carl Auguſt noch beglückt,
daß ſich neue Verbindungen ſeines Hauſes mit den
76 Verlobung der Enkelinnen; Carl Auguſts Tod
Hohenzollern knüpften. Zwei Enkelinnen waren ihm
vor dem Enkel geboren worden und wuchſen in der
geiſtig reinen Luft Weimars heran, im Sommer oft
in Jena in dem großen Griesbachſchen Garten am
Fürſtengraben wohnhaft, den Maria Paulowna 1818
für ſie ankaufte und der nun Prinzeſſinnengarten hieß.
Die beiden preußiſchen Prinzen Wilhelm und Karl
weilten im November 1826 zu längerem Beſuch in
Weimar; ſie brachten ganz friſches Leben an den kleinen
Hof, und 1827 vermählte ſich Prinz Karl mit Carl
Auguſts älteſter Enkelin Marie. Goethe ſah mit Rührung
das Behagen des Großherzogs an den Gäſten und an
dem neuen Verhältnis. Das zweite Bündnis der nach
ihm genannten Auguſta mit Wilhelm, für Deutſchland
von größerer Bedeutung, erlebte Carl Auguſt nicht
mehr, aber er ſah es kommen. Eine Reiſe nach Berlin
im Frühſommer 1828 war ſeine letzte Unternehmung.
Auf alle berliniſch-weimariſchen Beziehungen fiel ein
Strahl dieſes Beſuchs; die geheimnisvolle Klarheit des
Fürſten bei viel körperlicher Schwäche wurde bemerkt,
und Alexander von Humboldt, der faſt täglich um ihn
war, ſchrieb: „Nie habe ich den großen menſchlichen
Fürſten lebendiger, geiſtreicher, milder und an aller
ferneren Entwicklung des Volkslebens teilnehmender
geſehen als in den letzten Tagen, die wir ihn hier be—
ſeſſen.“ Auf der Rückreiſe überraſchte ihn der Tod am
14. Juni in Graditz bei Torgau: er ſtarb mit dem Blick
nach der untergehenden Sonne. Am 21. abends „ſtanden
Tod der Großherzogin Luiſe. Die neue Herrſchaft 77
die in Trauer gekleideten Bürger am Weichbild Weimars
bis zum römiſchen Hauſe im Park mit ſtummen, blaſſen
Geſichtern in dichten Reihen, als die teuren Überreſte
nach dieſem ſeinem Lieblingsaufenthalt gebracht wurden
und durch den bewölkten Sommerhimmel unabläſſig die
leuchtenden Blitze ohne Donner und Regen zuckten.“
Als ſich ein Jahr darauf Wilhelm von Preußen und
Auguſta von Weimar in Berlin vermählten, war der
Abſchied der bedeutenden und liebenswürdigen Prin—
zeſſin das letzte tiefgehende Erlebnis der verwitweten
Großherzogin Luiſe. Schon im Herbſt 1828, nach einem
ihrer letzten Beſuche bei Goethe, dem erſten nach Carl
Auguſts Tode, hatte ſie ausgeſprochen: „Goethe und ich
verſtehen uns vollkommen, nur daß er noch den Mut hat
zu leben und ich nicht.“ Goethe hatte damals bei ihrem
Weggange vor ſich hin gemurmelt: „Welch eine Frau,
welch eine Frau!“ Sie entſchlief im Februar 1830.
Die neue Herrſchaft war geſonnen und gewillt, den
empfangenen Lebensfaden fortzuſpinnen. Dafür bürgte
ebenſo das ruhige, milde Weſen des Großherzogs Carl
Friedrich wie das künſtleriſche und humane Intereſſe
der Großherzogin Maria Paulowna. Eine Hauptgewähr
für die Stetigkeit der Entwicklung waren auch die von
Carl Friedrich noch lange beibehaltenen Miniſter von
Fritſch, von Gersdorff und Schweitzer. Fritſch war ein
Sohn jenes Miniſters, neben den einſt der junge Goethe
getreten war; er iſt von 1815 bis 1843 weimariſcher
Staatsminiſter geweſen, meiſt mit Rechtsweſen,
78 Fritſch und Gersdorff; Zollverein und Eiſenbahn
Verwaltung, Polizei und Steuerſachen beauftragt. 1819
führte er für Weimar die Verhandlungen in Karlsbad.
Gersdorff hatte ſich als geſchickter Vertreter Weimars auf
dem Wiener Kongreß bewährt und dort mehr Einfluß
gehabt, als Weimar an ſich zukam; es geſchah auf ſein
Betreiben, daß die beabſichtigte Kreiseinteilung des
Bundes abgelehnt, daß Mainz zur Bundesfeſtung
erklärt wurde. Im neuen Großherzogtum, deſſen
Gebiet er vor allem hatte feſtſtellen helfen, waren die
Finanzordnung von 1821 und die Einkommenſteuer im
weſentlichen ſein Werk.
Die erſte weimariſch-deutſche Aufgabe unter dem
neuen Großherzog war die Zollvereinsfrage. Karl
Auguſt hatte noch einen mitteldeutſchen Zollverein
zwiſchen dem preußiſchen und dem ſüddeutſchen ins
Auge gefaßt. Er kam zuſtande und konnte ſich auch
einige Jahre, auf die Königreiche Sachſen und Hannover
geſtützt, halten. Aber ſchon arbeitete Preußen auf einen
deutſchen Zollverein hin, einigte ſich mit Süddeutſchland
und auch mit Gotha und Meiningen über einen zoll
freien Handelsweg nach dem Süden, und damit war
das Ende des mitteldeutſchen Zollvereins nahe gerückt:
1833 ſchloſſen ſich alle thüringiſchen Staaten dem preu—
ßiſchen Zollverein an, insgeſamt durch einen weimari—
ſchen Generalbevollmächtigten vertreten. Nach wenigen
Jahren tauchte eine zweite Verkehrsfrage auf: die einer
Eiſenbahnverbindung des Großherzogtums. Die Ver—
handlungen darüber führten 1840 zu einem Vertrag
Schweißer 79
zwiſchen Weimar, Gotha, Preußen und Kurheſſen, die
thüringiſche Hauptbahnlinie wurde feſtgelegt. 1846 war
die Strecke Halle —Weimar fertig, und bald wurde auch
Eiſenach angeſchloſſen.
Am konſervativpſten wirkte der Miniſter Schweitzer.
Auch er ſtammte aus Carl Auguſts Schule: auf deſſen
Wunſch hatte er als junger Juriſt an der Verfaſſung
weſentlich mitgearbeitet und war dann 1818 ins Mini—
ſterium berufen worden, wo er jahrelang ohne be—
ſtimmtes Departement wichtige Geſchäfte einzeln über—
tragen erhielt. Seit 1827 führte er den Vorſitz bei
Erziehungs- und Unterrichtsſachen, nach Goethes Tode
übernahm er die Oberaufſicht über die unmittelbaren
Anſtalten für Wiſſenſchaft und Kunſt und leitete ſeit
1842 wechſelnd beſtimmte Departements, wobei ihm
ſeine im Gebiete eines Kultusminiſteriums liegenden
alten Aufgaben ſtets erhalten blieben.
Mancher gute Weimarer dieſes Zeitalters hat es
bedauert, daß ein ſo hervorragender Mann wie Prinz
Bernhard, Carl Auguſts zweiter Sohn, ein Recke ' an
Körper und Geiſt, fern von der Heimat lebte und
wirkte. Es waren prophetiſche Worte und ein Omen—
name geweſen, als Herder 1792 das Kind taufte: es
ſei die Zeit gekommen, wo die Fürſten die Berechtigung
zu dem Vorrecht ihrer Geburt zu erweiſen hätten. Der
tapfere Prinz erhielt 1809 nach der Schlacht bei Wagram
als jüngſter Offizier von Napoleon das Kreuz der Ehren—
legion, 1815 kämpfte er bei Quatrebras und Waterloo
80 Prinz Bernhard
und wurde dann Generalmajor in dem neuen Königreich
der Niederlande, wohin ihm eine meiningiſche Prin⸗
zeſſin als Gemahlin folgte. Seine Bemühungen galten
im Frieden vor allem der Beſſerung des dortigen
Offizierſtandes; in dem Kampfe des Jahres 1830, wo
ſich Belgien losriß, ſchlug er den Feind, da gebot ein
Waffenſtillſtand ihm Einhalt. Nochmals leiſtete er von
1849 ab Holland Soldatendienſte durch Übernahme
eines dreijährigen ſchwierigen Kommandos auf Java.
Dazwiſchen beſchäftigten große Reiſen in Europa und
nach den Vereinigten Staaten von Amerika ſeinen
kühnen Sinn; eine Berufung auf den griechiſchen
Thron aber ſchlug er 1829 aus. Erſt an ſeinem Lebens—
abend hat er vorübergehend wieder in Weimar geweilt;
er ſtarb 1862 in Liebenſtein.
Inzwiſchen rückte neben die ältere Schicht der be—
rühmteren Jenaer Profeſſoren allmählich eine jüngere;
dieſe können recht eigentlich als die Vertreter der Zeit
Carl Friedrichs gelten, auch wenn ihre Anfänge zum
Teil noch unter Carl Auguſt fallen. Da war der Philologe
und Archäologe Göttling, ein Jenaer Kind, von 1822
an außerordentlicher Profeſſor, als welcher er Goethe
bei der letzten Ausgabe ſeiner Werke philologiſch unter—
ſtützte, allerdings mehr grammatiſch knüſelig und geiſt—
reich begleitend, als redlichſt auf den Grund gehend;
1831 wurde er Ordinarius. Um 1850 galt er als die
ſchönſte Zierde, ja das geiſtige Haupt der Univerſität.
Die griechiſche Akzentlehre, nach kleinen Anläufen 1835
Göttling und Schulze 81
abſchließend dargeſtellt, die Geſchichte der altrömiſchen
Verfaſſung, 1840 veröffentlicht, waren Hauptarbeiten
von ihm; er gab Ariſtoteles und Heſiod heraus, und
recht nach ſeinem Sinne war es wohl, als ihm 1843
der Nachweis gleichzeitiger Bildniſſe von Thusnelda
und Thumelicus gelang. Das 1845 von ihm geſtiftete
archäologiſche Muſeum wuchs ſo ſchnell, daß er den
Katalog 1854 zum drittenmal ausgeben mußte. Ein—
faches, inniges Weſen, ſprudelnder Humor, vielſeitige
Intereſſen und Kenntniſſe, auf großen Reiſen genährt,
durchleuchteten ſeine Vorträge.
Wie galten zu Beginn dieſer Zeit Wiſſenſchaftlichkeit
und Altertumswiſſenſchaft noch als unzertrennlich! Als
ſich der junge praktiſche Landwirt Schulze, 1816 vor—
züglicher Schüler der Tiefurter Muſterwirtſchaft und
ſeit 1817 Verwalter der großherzoglichen Kammergüter,
1819 in Jena für Land- und Volkswirtſchaft habilitierte,
ſchrieb er eine Abhandlung: De aratri Romani forma
et compositione! Und auch dann vertraute er ſich nicht
ſofort ſeiner Wiſſenſchaft ganz an, ſondern nahm noch
den Umweg über die Philoſophie, wurde Schüler von
Fries, durchdachte die philoſophiſche Begründung der
Volkswirtſchaftslehre und ſchrieb 1825 über Weſen und
Studium der Wirtſchaftslehre und der Cameralwiſſen—
ſchaften. Jetzt erſt fühlte der Dreißigjährige die Arme
frei zu kräftiger Verfolgung ſeines Ziels: 1826 wurde
das neue Lehrinſtitut für Landwirtſchaft eröffnet und
1832 das neue Lehrgebäude dazu. In Norddeutſchland
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 6
82 Haſe
wurde man auf ihn aufmerkſam, drei Jahre wirkte er
in Eldena, ließ ſich aber dort bei ungünſtigen Verhält—
niſſen nicht halten und kehrte 1838 mit dreißig Eldenaer
Schülern nach Jena zurück, um nun hier zwei Jahr—
zehnte lang große Anziehungskraft zu üben, beſonders
ſeitdem er mit dem Inſtitut die Ackerbauſchule in dem
nahen Zwätzen verband. Auch betrieb er das landwirt⸗
ſchaftliche Vereinsweſen Thüringens, und 1856 krönte
er ſein wiſſenſchaftliches Schriftſtellertum mit einem
Lehrbuch der Nationalökonomie. Um die Verpflanzung
des akademiſchen Studiums der Landwirtſchaft an die
Univerſität, um die Förderung des landwirtſchaftlichen
Fortſchritts war er gleich verdient.
Zwei andere junge Jenaer Profeſſoren kamen auf
den Weg der geſchichtlichen Betrachtung ihrer Wiſſen—
ſchaft und wurden ſo ihrer ſelbſt und eines neuen Stand—
punktes gewiß. Der Theolog Haſe, dereinſt Burſchen—
ſchafter, hatte als angehender Dozent in Leipzig eine
Lanze gegen den Supranaturalismus für friſches ratio—
nales Denken in ſeiner Wiſſenſchaft gebrochen, und
ſeine Berufung an die thüringiſche Univerſität 1830
ſah man in Halle an „als ganz im Sinne des jugendlich
voranſchreitenden Jena geſchehen.“ Nun aber erkannte
er es, auch einer romantiſchen Ader ſeines Weſens treu,
als ſeinen Beruf, die Forderung der Vernunft mit dem
Verlangen des Gefühls, freies Denken mit chriſtlichem
Geiſte als einig darzuſtellen; er konnte und mußte den
Rationaliſten Mangel an geſchichtlichem Sinn vor—
Häſer und Schleiden 83
werfen: er ſelber ſah hüben und drüben die Säulen
der Kirche ragen, in beiden Lagern gelehrte und fromme
Männer. Seinem Lehrbuch der Kirchengeſchichte, das
1834 zum erſtenmal erſchien, ſagte man nach, der Ver—
faſſer ſei bei Goethe in die Schule gegangen und habe
dieſem das Geheimnis abgelernt, jenes klare, erquickende
Licht über die Darſtellung auszugießen, wo auch das
ſcharf Ausgeſchnittene nie zu grell ins Auge falle. —
Einen etwas andern, aber vergleichbaren Wechſel machte
der Mediziner Häſer durch, der Sohn des Weimarer
Kapellmeiſters aus Goethes Zeit. Als Schüler Kieſers
diſſerierte er 1834 in Jena ſchellingiſch im Banne der
Naturphiloſophie de influentia epidemica; während er
hier 1836 zum Dozenten, 1839 zum außerordentlichen
und 1846 zum ordentlichen Profeſſor aufrückte, hob ihn
das Studium der Geſchichte der Medizin aus dieſer
Sackgaſſe und neben ſeiner ſachlicher werdenden Heil—
wiſſenſchaft entſtand bis 1845 ſein Lehrbuch der Ge—
ſchichte der Medizin, das ſich in ſpäteren Auflagen zu einer
„mediziniſch-hiſtoriſchen Bibel“ erweiterte und erhöhte.
Viel leidenſchaftlicher erlebte Schleiden den Wechſel
von einem klaſſiſch-formalen Wiſſen zu einer neuen
Naturwiſſenſchaft. Mit zweiundzwanzig Jahren hatte
er das juriſtiſche Doktorexamen gemacht, mit fünfund—
dreißig holte er in Jena das philoſophiſche nach und
ſtieg hier zwiſchen 1840 und 1850 allmählich zum ordent—
lichen Profeſſor auf. Als er 1842 ſeine Grundzüge der
wiſſenſchaftlichen Botanik veröffentlichte, leitete er ſie
6 *
84 Froriep
methodologiſch ein über das Weſen der induktiven
Forſchung im Gegenſatz zur dogmatiſchen Philoſophie,
forderte und zeigte Studium und Anwendung der
Entwicklungsgeſetze auf die Botanik und erkannte als
Ziel dieſes Weges eine gründliche Neugeſtaltung der
Metamorphoſenlehre. Er lieferte manches unhaltbare
neben viel brauchbarem, rückſichtsloſe Polemik neben
reiner Erkenntnis. So wirkte er populär wie wiſſen⸗
ſchaftlich, am breiteſten wohl durch das Buch „Die
Pflanze und ihr Leben“, das zwiſchen 1847 und 1864
in ſechs Auflagen erſchien. — Ein Zeichen des friſchern
Jenaer Geiſtes aus der mittleren Regierungszeit
Carl Friedrichs war der ſchöne Verlauf der vierzehnten
Naturforſcherverſammlung im Herbſt 1836.
An dem Jenaer Gelehrtenleben hatte Weimar teil,
indem die Profeſſoren öfter zu Vorträgen herüber be—
fohlen wurden. Maria Paulowna, von Anfang an in
Weimars kunſtwiſſenſchaftliche Bildung tief eingeweiht,
befriedigte ſo ihr Verlangen nach andauernder geiſtiger
Nahrung; dabei beriet ſie namentlich der Weimarer
Obermedizinalrat Froriep, jahrelang zu wöchentlichem
Vortrag verpflichtet. Er hatte früher als Profeſſor der
Medizin und 1814 bis 1816 in Stuttgart als königlicher
Leibarzt gewirkt, ehe ihn Carl Auguſt nach Weimar
berief. Hier übernahm er 1818 das Verlagsgeſchäft
und geographiſche Inſtitut, das ſich Landes-Induſtrie—
comptoir nannte; ſein Schwiegervater Bertuch hatte es
gegründet und drei Jahrzehnte erfolgreich geleitet.
Altweimarer Schriften über Gothe 85
Froriep ſchien unerſchöpflich in Unternehmungen, gab
die geographiſchen Ephemeriden bis 1832, eine Biblio—
thek der Reiſebeſchreibungen bis 1835 heraus, einige
Jahre auch ein Gartenmagazin“), ein chemiſches Labo—
ratorium, eine kliniſche Handbibliothek, Notizen aus
dem Gebiet der Natur- und Heilkunde uſw., aber er
war doch mehr Gelehrter als Kaufmann, und nach
ſeinem Tode 1847 wurde das Geſchäft allmählich großen—
teils eingeſtellt.
Sonſt waren in Weimar literariſch noch einige Ge—
treue aus Goethes Kreiſe tätig, im Sinne ihres Meiſters.
Meyer, der ihn nur wenige Wochen überlebte, hatte
Maria Paulowna viele Jahre kunſtgeſchichtlich belehren
dürfen, zuletzt als Witwer täglicher Gaſt ihres Hauſes.
Der Kanzler von Müller veröffentlichte 1832 ſeine
klugen Beiträge zum Verſtändnis von Goethes Per—
ſönlichkeit, und auch des verſtorbenen Falk plaudernde
Aufzeichnungen durften nun gedruckt werden: Goethe
aus näherem perſönlichen Umgang dargeſtellt. Riemer,
ſein älteſter philologiſcher Berater, der 1814 eine Freun—
din von Goethes Frau aus deſſen Hauſe weg geheiratet
hatte, Gymnaſiallehrer und Bibliothekar, von 1837 bis
zu ſeinem Tode 1845 Oberbibliothekar, brachte 1841
zwei Bände Mitteilungen über Goethe heraus, inhalt—
*) In der Hoffmannſchen Hofbuchhandlung in Weimar
lernte zu Anfang der dreißiger Jahre Ernſt Keil, deſſen jung—
deutſchen Journaliſtentrieb die altweimarer Luft beeinflußte,
der ſpätere Herausgeber der Gartenlaube.
86 Riemer, Eckermann, Schuchardt; Coudray
voll und gelehrt, wenn auch bisweilen pedantiſch und
verdrießlich; als Dichter war er vorwiegend Nachahmer
Goethes, beſtenfalls unbedeutender Parallelläufer, ver—
einzelt hat er ihn doch auch angeregt. Sein und Ecker—
manns Hauptverdienſt gegenüber dem Zeitalter war,
daß ſie die Herausgabe von Goethes Werken fortſetzten,
den veröffentlichten wie den nachgelaſſenen. Von Ecker⸗
manns berühmt gewordenen Geſprächen mit Goethe
erſchienen die erſten zwei Bände 1836, ein dritter 1848;
Eckermann unterrichtete übrigens den jungen Erbgroß—
herzog Carl Alexander in Literatur und Engliſch und
wurde ſpäter Bibliothekar der Großherzogin; er ſtarb
1854. Schuchardt, Goethes letzter Sekretär und Gehilfe
bei ſeinen Sammlungen, gab 1848 und 1849 im Auftrag
der Enkel ein vollſtändiges Verzeichnis von Goethes
kunſt⸗ und naturwiſſenſchaftlichen Sammlungen in drei
Bänden bei Frommann in Jena heraus. Damals waren
dieſe Sammlungen verpackt und verſchloſſen und Goe—
thes Haus an Bekannte der Familie vermietet; die
Schwiegertochter ſelbſt war 1839 mit ihren Kindern
nach Wien übergeſiedelt.
Auch der Weimarer Oberbaudirektor Coudray hatte
noch zu Goethes Kreis gehört, von Carl Auguſt in dem—
ſelben Jahre wie Froriep berufen. Eine bewegte
Bildungslaufbahn lag hinter ihm; im Weimariſchen
ſollte ihm namentlich der Wegebau zu tun geben, worin
Carl Auguſt außerordentliches verlangte und wofür
Coudray bis zu ſeinem Tode 1845 ſorgte. Noch ein
Kaufmann, Schorn und Luiſe Seidler 87
dritter Weimarer Ruf des Jahres 1816 erging an den
ausgezeichneten Bildhauer Kaufmann in Rom, einen
gereiften Künſtler aus Canovas Schule. Zu ſeinen
erſten Weimarer Werken gehörten die Porträtbüſten Carl
Auguſts und Maria Paulownas, die ihren Platz im
Schloſſe fanden; auch arbeitete er Giebelreliefs an das
römiſche Haus im Park und eine Chriſtusſtatue in die
Garniſonkirche, tüchtig in der idealiſierenden Weiſe der
Zeit; er ſtarb 1829. Kaum ein Jahrzehnt weimariſchen
Wirkens war auch dem Kunſtſchriftſteller Schorn beſchie—
den, der 1833 teils als Erſatz für Meyer, teils für Goethe
eingriff: er hatte die Zeichenſchule zu fördern, die fürſt—
liche Freigebigkeit auf junge Talente zu lenken, ließ die
großherzogliche Kunſtſammlung neu aufſtellen und be—
ſtärkte den Entſchluß der Herrſchaft, Räume eines neu
erbauten Schloßflügels als ein Denkmal der vier klaſſi—
ſchen Dichter Weimars ausmalen zu laſſen.
Eine Seele der Weimarer Kunſt jener Zeit war die
Malerin Luiſe Seidler. Sie ſtammte aus Jena, wurde
von Goethe geſchätzt, dem ſie das Rochusbild für Bingen
ausführte, und von Carl Auguſt gefördert, der ſie nach
Rom ſchickte: dort verlebte ſie glückliche Jahre in der
deutſchen Künſtlerkolonie. 1823 kehrte ſie zurück, wurde
auf Goethes und Meyers Empfehlung Zeichenlehrerin
der Prinzeſſinnen und erhielt 1824 auch die Aufſicht
über die kleine wertvolle Gemäldeſammlung im Jäger—
haus übertragen, wo ſie freie Wohnung und freies
Atelier genoß. Ihre Schülerin Auguſta von Sachſen—
[0 2)
8 Gemäldeſammlung
Weimar bewahrte ihr ein treues Andenken auch auf
dem Königsthron. Sie porträtierte viel; ihre größeren
Gemälde waren meist romantiſchrchriſtliche Kirchenbilder
von klaſſiziſtiſchen Formen und fröhlich bunten, ſüßen
Farben. Gleich anfangs befahl ihr Carl Auguſt, einen
Karton mit der heiligen Eliſabeth für die Wartburg
auszuführen; das preußiſche Kronprinzenpaar hatte
droben im Herbſt 1826 ſeine Freude an dem neuen
Bilde, und die hinaufpilgernden fuldiſchen Bauern
ſtärkten davor ihre Andacht.
Schorn ließ die Gemäldeſammlung 1836 nach dem
Fürſtenhaus überſiedeln. Mancher bedeutende Beſuch
kehrte hier und in Luiſe Seidlers Werkſtatt ein. Von
Ausländern beſaß die Galerie zwar nur wenige min—
dere Italiener, auch einen Tiepolo, aber manches
gute Stück niederländiſcher und deutſcher Kunſt, dar—
unter zwei Ruysdael, ein paar Dürer und Cranache,
Dietrich und Seekatz, Graff und Tiſchbein, einige
Kobell und von Friedrich die Regenbogenlandſchaft
zu Schäfers Klagelied. Für die Vermehrung ſorgte
Maria Paulowna in ihrer großartigen Weiſe: dem
klaſſiſchen Schatz der Carſtensſchen Zeichnungen fügte
ſie außer einem Karton von Neher ſpäter die Cornelius—
ſchen Entwürfe zu einer Berliner Domfriedhofshalle
hinzu und Blätter von Genelli; aus Schuchardts Cra—
nachſammlung erwarb ſie 1852 die unſchätzbaren Bild—
niſſe des jungen Kurfürſten Johann Friedrich und ſeiner
Braut Sibylle von Cleve.
Dichterzimmer im Schloß 89
Seit 1816 war der Weſtflügel des Weimarer Schloſſes
unter Coudrays Leitung allmählich neu erbaut worden;
in der Mitte der dreißiger Jahre war er ſo weit fertig, daß
man daran ging, einige Prunkzimmer als Dichterzimmer
kunſtvoll auszuſtatten. Die Großherzogin und Schorn
bedachten und betrieben den Plan. Für die Innen—
architektur wurde Schinkel zugezogen, er entwarf das
Galeriezimmer, das Goethes Andenken gewidmet war,
und Angelika Facius aus Weimar, die geſchickte Schü—
lerin Rauchs, hatte Türreliefs zu modellieren, damit
ſie in Bronze ausgeführt würden. Man übertrug
die Gemälde der beiden Hauptzimmer dem jungen
Neher in München, einem der beſten Schüler von
Cornelius: er ſtellte an den Wänden in der Art ſeines
Meiſters Szenen aus Goethes und Schillers Dramen
dar, darüber Frieſe aus Goethes Lyrik und Romanen,
aus Schillers Balladen und Glocke. Das Herderzimmer
15 Jäger aus Leipzig. Für das Wielandzimmer
beſtimmte man das bedeutendſte der jungen weimari—
ſchen Talente, den dreißigjährigen Friedrich Preller, der
ſeine Aufgabe als Landſchafter eigen anfaßte.
Preller war 1804 in Eiſenach geboren, aber ſeit
ſeinem erſten Jahre in Weimar aufgewachſen. Als
zehnjähriger Gymnaſiaſt trat er in die Zeichenſchule
ein, und Meyer, ihr damaliger Leiter, konnte bald
Goethe auf ihn aufmerkſam machen. Goethe erkannte
ſofort die geſunde Begabung des feinfühligen Burſchen,
ließ ihn Wolken zeichnen und gab ihm auch ſonſt Winke
90 Der junge Preller
über Landſchaftskunſt; er beförderte ſeine erſte Reiſe
nach Dresden, wo Preller in der Galerie kopierte, und
nach Antwerpen, wohin ihn Carl Auguſt mitnahm, als
er den Prinzen Bernhard in Gent beſuchte. Preller
entwickelte ſich ſo ſicher und verheißend, daß ihn Carl
Auguſt 1826 zu einem größeren Studienaufenthalt nach
Italien ſchickte. Fünf Jahre lebte er dort, anfangs
länger in Mailand, dann die ſchönſte Zeit über bei den
deutſchen Künſtlern in Rom. Die Landſchaften des
alten Koch lehrten ihn neu ſehen, neben ihm zeichnete er
in der Campagna, und bei einem Ausflug in die Neapeler
Gegend bevölkerte ſeine Phantaſie dieſe unwillkürlich
mit den Geſtalten der Odyſſee. Von jüngeren Deutſchen
trat ihm damals Dr. Härtel aus Leipzig nahe und deſſen
Schwager, der Jenaer Theolog Haſe; Goethes Sohn
verſchied in Rom in Prellers Armen. Bald nach ſeiner
Rückkehr in die Heimat nahmen ſich Hof und Staat
von neuem ſeiner an: der Großherzog übertrug ihm
den Zeichenunterricht bei dem Erbprinzen, Maria Pau—
lowna beſtellte jährlich eine Landſchaft bei ihm, und er
erhielt die erſte Lehrerſtelle an der Weimarer Zeichen—
ſchule, dazu freie Wohnung und Werkſtatt im Jäger—
hauſe, wo er nun lange Jahre über der etwas zimper—
lichen Seidlerin wohnte und, überlegen, wie er ihr
ſchon damals war, und guter Laune, „ſeinen dreißig—
jährigen Krieg“ mit ihr führte. Auch der erſte große
auswärtige Auftrag ſtellte ſich ein: für das „römiſche
Haus“ in Leipzig, das ſich Härtel erbaute, hatte er einen
Maria Paulownas muſikaliſche Bildung 91
Erdgeſchoßſaal mit Odyſſeewandbildern zu ſchmücken.
Mit vielen italieniſchen Studienblättern verſehen und
nach guten Lehren geübt, machte er ſich zum erſtenmal
friſchen Mutes an ein Werk, das dreißig Jahre ſpäter
ſeiner erhöhten Kunſt nochmals gelingen und ihn erſt
dann auf den Gipfel des Ruhmes führen ſollte. Von
Ende der dreißiger bis Ende der vierziger Jahre führten
ihn mehrere Reiſen nach dem Norden, nach Rügen und
Norwegen, und hier reifte in hunderten von Skizzen
und Gemälden allmählich die volle Kraft ſeiner dra—
matiſch-naturaliſtiſchen Wiedergabe der Landſchaft wie
ſein heroiſcher Sinn für das Herbleidenſchaftliche in
ihr. Einer der Schüler, die ihn dabei begleiteten, war
der junge Hummel aus Weimar, ein Sohn des Kapell—
meiſters.
Maria Paulownas künſtleriſcher Sinn war am ent—
wickeltſten in der Muſik.
Der Töne Kraft, die aus den Saiten quillet,
Du kennſt ſie wohl, Du übſt ſie mächtig aus —
ſo hatte Schiller die junge Fürſtin einſt begrüßt, und
kaum eine Familienfeier, ein Karfreitag verging, wozu
ſie nicht ſelbſt etwas komponierte. Sie veranlaßte 1819,
daß Weimar als ſeinen Kapellmeiſter und ihren Lehrer
den vielleicht ausgezeichnetſten Klaviermeiſter der da—
maligen Welt in Hummel gewann. Er war als Knabe
Mozarts Haus- und Leibſchüler geweſen und hatte faſt
unbewußt in deſſen Muſik ſprechen gelernt. In der
Wiener Schule bildete er ſich weiter, als Klavierlehrer
92 Johann Nepomuk Hummel
wie als Komponiſt, und drang um 1815 zu ſelbſtändig
erweiterten Formen vor wie dem Konzertrondo, der
Klavierfantaſie, bildete auch damals das Talent frei
zu fantaſieren völlig an ſich aus. Kunſt und Ruf blieben
ihm in Weimar treu, ja erreichten hier den Gipfel.
Vorzügliche junge Talente wie Hiller und Henſelt
kamen 1825 aus Frankfurt und 1831 aus München,
um bei ihm „die letzte Klavierweihe zu emp—
fangen.“ Faſt alljährliche Konzertreiſen in die Haupt—
ſtädte Europas verſammelten tauſende von Hörern zu
ſeinen Füßen und brachten ihm fabelhafte Einnahmen,
wertvolle Geſchenke. Hiller hatte das Glück, ihn 1827
nach Wien begleiten und neben ihm ſpielen zu dürfen
und ſein erſtes Werk, ein Klavierquartett, dort heraus—
geben zu können; Hummel beſuchte damals Beethoven
kurz vor deſſen Ende, es war ein erſchütterndes Wieder—
ſehen. Um ſeiner gedrungenen Geſtalt, putzig-naiven
Art und Zauberkraft willen nannten ihn Goethe und
Zelter den Gnom; am 4. April 1826 ſchrieb Zelter nach
Weimar: „Wir erwarten Euren gnomiſchen Virtuoſen,
der uns einmal wieder die Ohren reiben will, und ich
vernehme ihn gern wieder, denn er iſt allein, was ſeine
ganze Brüderſchaft zuſammen“ und am 23. Mai:
„Hummel hat zwei einträgliche Konzerte gegeben, wie—
wohl die Zeit feiner Ankunft nicht mehr die vorteil»
hafteſte ſchien. Für mich iſt er ein Summarium jetziger
Klavierkunſt, indem er echtes und neues mit Sinn und
Geſchick verbindet. Man merkt keine Finger und Saiten,
Ne}
os
Konzertprogramm und Kompoſitionen
man hört Muſik; alles kommt ebenſo ſicher und leicht
heraus, als es ſchwer iſt. Ein Gefäß vom ſchlechteſten
Leimen mit Pandorens Schätzen gefüllt.“ In Weimar
führte Hummel 1828 die Hofkapellkonzerte ein und
gründete den Witwenpenſionsfonds.
Was er dabei an Muſik bot, zeigt eines der letzten
ſeiner Konzerte im März 1837: im erſten Teil Mozarts
Pariſer D-Dur Symphonie, eine Arie von Roſſini und
Hum mels D-Dur Konzert Les adieux, von einem Sohn
des Komponiſten geſpielt; als zweiter Teil eine Arie
aus der Schöpfung, Maurers Concert für vier Violinen
und aus des Fürſten Radziwill Fauſtkompoſition die
Szene Bauern unter der Linde; der dritte Teil die
Ouvertüre zu den Vehmrichtern von Berlioz, eine
freie Fantaſie Hummels ſelbſt über Themen u. a. aus
Don Juan und das Finale aus Roſſinis Belagerung
von Korinth. Von ſeinen Weimarer Kompoſitionen
zeigten die Kirchenmuſiken am deutlichſten das Anemp—
fundene ſeiner Tonſprache, das Kyrie ſeiner C-Dur
Meſſe kennt keine tiefe Not der Kreatur. Eigentümlicher
waren ſeine Klavier- und Kammermuſikwerke. Zwar
konnte man auch da den Eindruck haben, daß jemand
Mozarts Mundart fließend mit vermehrter geſellſchaft—
licher Eleganz ſpreche, daß er ſchmeichle, wo Beethoven
rührt, und eine Rakete ſteigen laſſe, wo jener Feſſeln
ſprengt; aber manchmal war es auch, als ob ſich den
Mozartſchen Motiven eine erweiterte Tragfähigkeit
unterſchiebe, als ſtellten ſich neue harmoniſche Wand—
94 Lobe und der junge Liſzt
lungen, friſches figürliches Gerank ein: hier haben
Mendelsſohn, Chopin, Schumann, Liſzt aufgegriffen
und weitergebildet. Hummels mächtige Klavierſchule,
das Flügelpult erdrückend, erwies den großen Fortſchritt
der zwei jüngſten Menſchenalter über K. Ph. E. Bach
hinaus, zog die Summe der klaſſiſchen Wiener Klavier-
technik und führte leiſe in das Land, wo ſich der junge
Schumann am genialſten tummelte.
Die neue Muſik, die gegen die Mitte des 19. Jahr⸗
hunderts die Herrſchaft antrat, fand in Weimar ihren
erſten entzückten und exzentriſchen Vertreter in dem
Flötiſten und Bratſchiſten Lobe, der 1797 in Weimar
geboren war. Als Theoretiker, Komponiſt und Muſik—
ſchriftſteller tätig und gewandt, brachte er komiſche
Opern auf die Weimarer Bühne und ſprach ſich in
Schumanns Neuer Zeitſchrift für Muſik und in andern
Blättern keck und draſtiſch aus. Der Gedanke einer
modernen Muſiktheorie packte ihn, 1844 veröffentlichte
er ſeine erſte, kleinere Kompoſitionslehre und ſiedelte
dann nach Leipzig über. Hummels Stelle hatte in—
zwiſchen der Pariſer Chelard angetreten, der mit
einigen Opern in Deutſchland mehr Glück gehabt hatte
als in ſeiner Heimat, aber nach wenigen Jahren mußte
er den jungen Liſzt neben ſich Fuß faſſen ſehen: dieſer
dirigierte, als Weimarer Hofkapellmeiſter anfangs nur
in außerordentlichem Dienſt angeſtellt, zuerſt 1842 bei
der Hochzeitsfeier des Erbprinzen Carl Alexander.
Die Oberleitung der Weimarer Bühne hatte der
Genaſt und Frau 95
Intendant Freiherr von Spiegel von 1828 bis 1847
inne, und er regierte ſein Völkchen ganz in Goethes
alter, allmählich als pedantiſch empfundener Ordnung.
Seine rechte Hand dabei war in den dreißiger und
vierziger Jahren der Sänger und Schauſpieler Genaſt,
von 1833 bis 1851 zugleich Opernregiſſeur, ein Sohn
von Goethes langjährigem treuen Regiſſeur. Er war
1814 noch unter Goethes Leitung in Mozarts Ent—
führung zuerſt in Weimar aufgetreten, war dann
draußen vorwärts gekommen, hatte ſich 1820 in Leipzig
mit einer ſchönen Darſtellerin feiner Frauenrollen
vermählt — ihre Schweſter war die Gattin des be—
rühmten Dresdener Liebhabers Emil Devrient —, und
beide wurden 1829 auf Lebenszeit in Weimar engagiert.
Damals war hier noch ein tüchtiges Enſemble aus
Goethes Schule beiſammen, wenn ſich auch nicht ver—
hindern ließ, daß eine allerbeſte Kraft wie Laroche, für
Luſtſpielcharaktere, nach Wien ging. 1829 wurde an
Goethes Geburtstag zum erſtenmal der Fauſt in
Weimar aufgeführt mit Laroche als Mephiſtopheles,
dem dreißig Jahre lang niemand an Witz und Unheim—
lichkeit in dieſer Rolle gleichkam, 1830 der Götz mit
Genaſt in der Titelrolle, 1831 Chelards Macbeth; zur
Trauerfeier nach Goethes Tode wurde Taſſo geſpielt
mit Frau Genaſt als Prinzeſſin und Genaſt als Antonio.
In den fünfziger Jahren wirkte Genaſt nur noch als
Schauſpieler, vorher auch als Opernbariton und -Baß
— Don Juan, Saraſtro, Pizarro, Kaſpar — und wenn
96 Landſchaftspflege
in Weimar Tenornot war, punktierte ihm Hummel
auch eine Rolle wie den Maſaniello. Als gewandter
Geſellſchafter und beliebter Gaſtſpieler in Leipzig,
Dresden, Breslau, auch in Wien und Paris bekannt,
zog er auswärtige Bühnenkräfte und Dichter mit Erfolg
nach Weimar, deſſen Überlieferung von den Raupach
und Immermann ſehr wohl, ja auch von Gutzkow und
Laube noch etwas geſchätzt wurde, wenn ſie ihre neuen
Dramen hier zur Einſtudierung vorlaſen. 1829 kam
Marſchner mit „Templer und Jüdin“ nach Weimar
und ſuchte noch eine Originalmelodie für ein Lied
Ivanhoes; Genaſt verſchaffte ihm ein altſchottiſches
Liederbuch aus Ottilies von Goethe Beſitz, da fand
ſich Rat.
So traten Regierung und Hof Carl Friedrichs und
Maria Paulownas wieder für Wiſſenſchaft und Kunſt
im Großherzogtum ein, nicht mit der Genialität Carl
Auguſts, aber unter den deutſchen Fürſten ihrer Zeit
hervorragend. Und wieviel Sorge und Liebe wandten
ſie ſonſt Land und Leuten zu. Sie gründeten Obſt—
baumſchulen. Den Park von Belvedere vergrößerten
und verſchönerten ſie und öffneten ihn allen. Um
Eiſenach ließen ſie herrliche Baum- und Wegeanlagen
entſtehen, wobei Oberforſtrat König bis zu ſeinem
Tode 1849 trefflich beriet. Dort war ſchon 1805, als
Maria Paulowna einzog, das Mariental ihr zu Ehren
genannt worden, und als man 1832 die ſüdlich weiter—
führende duftig tauende Schlucht gangbar machte,
Landesfürſorge 97
wurde ſie nach der Schweſter der Großherzogin, der
Königin der Niederlande, Annatal genannt. Auf dem
bewaldeten Gipfel des Kickelhahns erſtand 1854 ein
Turm zu weiter Ausſicht ins Thüringer Land.
Noch als Erbgroßherzogin gab Maria Paulowna
den Anſtoß zur Errichtung von Sparkaſſen: 1821 wurde
an ihrem Geburtstag die erſte in Weimar eröffnet.
Eine Frucht der Freiheitskriege waren die Frauen—
vereine: 1817 verfaßte Maria Paulowna Statuten für
den zu Weimar. 1816 wurde zu Neujahr die erſte
Weimarer Induſtrieſchule eröffnet — raſch folgten
andere — 1817 gab es ſchon 20 weimariſche Induſtrie—
ſchulen für Mädchen mit 813 Schülerinnen, 1827 60
mit 2357, 1858 125 mit 5020. Aus der freien Zeichen—
ſchule ging die Bauſchule, aus dieſer 1829 die Gewerken—
ſchule hervor. Arbeitsanſtalten für Erwachſene folgten,
Spinn- und Suppenanſtalten, Almoſenkaſſen und
Waiſenhäuſer und — die Lieblingsſchöpfung Maria
Paulownas — Kleinkinderbewahranſtalten. 1829 bis
1832 wurde das Weimarer Geſamthoſpital erbaut, das
Luiſenſtift. „Unermüdliche Wohltäterin, aufmerkſamſte
Leiterin“ war Maria Paulowna bei all dieſer ſozialen
Arbeit.
Und doch: die patriarchaliſche Gemütlichkeit, die
hier waltete, ſollte der Zeit immer weniger anſtehen,
wie auch Carl Auguſts Verfaſſung zu morſchen anfing.
Der junge Miniſter von Watzdorf, ſeit 1843 Fritſchs
Nachfolger, war mit Gersdorff bemüht, den neueſten
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 7
98 Carl Friedrichs Ausgang
politiſchen Forderungen der Landtagsoppoſition gerecht
zu werden, da trieb die Sturmflut im März 1848 ihre
Wellen über das Weimarer Land. Carl Friedrich ſah
die tumultuariſche Menge im Schloßhof, er mußte die
älteren Miniſter entlaſſen, neben Watzdorf berief er
den Eiſenacher Advokaten von Wydenbrugk auf Ver—
langen des Volkes ins Miniſterium, und beide lenkten
in den nächſten Jahren die weimariſchen Verhältniſſe
in neue Bahnen, noch unter Carl Friedrich, aber wohl
mehr im Sinne ſeines Sohnes. Schließlich erfuhr
Großherzog Carl Friedrich doch noch einmal die ganze
Liebe ſeiner Weimarer: 1853 feierte er wenige Tage
vor ſeinem Tode das fünfundzwanzigjährige Regierungs—
jubiläum, da zollte ſein Volk dem gütigen Fürſten all—
gemeine Dankbarkeit.
Klaſſizismus und deutſcher Bund
Fragt man nach der Wirkung des weimariſchen
Geiſtes auf die Deutſchen in der Zeit von den Frei—
heitskriegen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, ſo
ſpringt der Unterſchied zwiſchen der nachlaſſenden Kraft
Wielands und Herders und der wachſenden Goethes
und Schillers in die Augen. Buchhändleriſch ſtanden
alle vier anfangs zurück hinter den Klaſſikern der alten
Welt. Aber ihre Namen genoſſen gemeinſamen Volks—
ruhmes: in Sachſen wurden in den zwanziger Jahren
Bilderbogen mit den Köpfen der vier Weimarer verkauft.
Wieland galt noch als unterhaltſamer, kluger Schrift—
ſteller. Das Menſchentum, auf das die Jahrzehnte um
1800 ſo ſtolz waren, hatte er mit erwecken helfen; um
die Beſtimmung des Menſchen drehe ſich alles bei ihm,
und ſo gehöre er allen Zeiten an, das glaubte um 1820
noch mancher von ihm. Ganz allmählich wurde freilich
die Aufforderung: „Lies den Wieland“ immer weniger
befolgt. Man begann ihn als kleinlich zu empfinden;
der junge Hebbel meinte, als er die Abderiten geleſen
hatte: die jetzigen Abderiten richteten nicht immer
Eſelsfehden, ſondern oft das Schickſal eines edlen
Volkes. Schon die erſte Geſamtausgabe ſeiner Werke,
7%
100 Nachwirkung Wielands
die J. G. Gruber in Halle 1818 bis 1828 in 49 Bändchen
für den Leipziger Verleger Göſchen beſorgte, war unter
dem hiſtoriſchen Geſichtspunkt angelegt: die Poeſien,
von denen Wieland ausgegangen war und die er ſpäter
in entbehrliche Supplementbände verwieſen hatte,
wurden an die Spitze geſtellt. Noch 1839 und 1853
konnten zwei neue Auflagen ſeiner ſämtlichen Werke
zu erſcheinen beginnen. Die einzige Dichtung von ihm,
die man noch einzeln kaufte, war der öfter gedruckte
Oberon. Daß man mit ihr in Zuſammenhang blieb,
dazu hat gewiß Webers 1825 in Dresden komponierte
und ſeit 1826 gern geſpielte Oper viel beigetragen,
deren Text der engliſche Dichter Planché nach Wieland
und Shakeſpeare geſchrieben hatte. Um Neujahr 1834
ſtieß der kompoſitionsluſtige junge Felix Mendelsſohn
in Düſſeldorf auf Kotzebues Operntext nach Wielands
Wunſchmärchen Pervonte, und er beſtürmte ſofort ſeinen
Freund Klingemann in London, ihm daraus etwas
beſſeres zu machen; aber nach beiderſeitiger einjähriger
Bemühung blieb der Plan liegen. Wie der Zauberflöten—
text von Schikaneder teilweiſe aus zwei Wielandſchen
Werken abgeleitet war, dem Oberon und dem Märchen
„Lulu oder die Zauberflöte“ im dritten Band des Dſchin—
niſtan, ſo lebte überhaupt etwas von dem Geiſte von Wie—
lands Dichtung in der deutſchen romantiſchen Oper fort.
Herders geſammelte Werke erſchienen zuerſt in den
Jahren 1805 bis 1820 in der Cottaſchen Buchhandlung
in 45 Bänden, dort nochmals 1827 bis 1830 in 60 Bän⸗
Herders Leſerſchaft und Gelehrtennachfolge 101
den und ſchließlich 1852 bis 1854 als vierzigbändige
Taſchenausgabe. Herders Gattin und ſein Sohn,
von einigen Gelehrten unterſtützt, beſorgten anfangs
dieſe Ausgaben, die ſich noch an die leſenden und nicht
bloß die gelehrten Deutſchen wandten. Der Cid ragte
hervor: ihn allein hat Cotta zwiſchen 1832 und 1853
noch ſechsmal auflegen können, und zweien dieſer
Sonderausgaben kam die junge deutſche Holzſchneide—
kunſt der dreißiger Jahre nach Zeichnungen Neureuthers
zugute. Herders religiöſe und geſchichtsphiloſophiſche
Schriften zogen Grundlinien einer Weltanſchauung,
die ſich mancher tiefer denkende deutſche Jüngling vor
der Mitte des 19. Jahrhunderts noch angeboren fühlte.
Begriffe wie Volkstum und Volkslied, Entwicklung und
Humanität ſind von Herders perſönlichem Wirken un—
zertrennbar und ſind in ſeinem Sinne bis gegen 1850
geſchätzt worden. Die Gelehrten, die am gründlichſten
und entſcheidendſten nach Herder unter ſeinem Einfluß
arbeiteten, waren Wilhelm von Humboldt und die
Brüder Grimm. Von ſeiner Geſchichtsphiloſophie
zweigten ſich des alten Humboldt weitblickende For—
ſchungen „Über die Verſchiedenheit des menſchlichen
Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geiſtige Ent—
wickelung des Menſchengeſchlechts“ ab und zeigten, was
Herder angedeutet hatte, Zuſammenhang und Zu—
ſammenſtimmung der Menſchenſprachen. Was der
junge Wilhelm Grimm 1812 über Herder geſchrieben
hatte: „Beklagen wir, daß er leiblich aus unſerer Mitte
102 Herder in Romantik und Muſik
verſchwunden, ſo lebt doch ſein Geiſt noch unter uns,
tätig und wirkend“, behielt für die Brüder noch lange
Geltung. Die Herderſchen Überſetzungen aus dem
Nordiſchen waren nur Verſuche, Proben; das ver—
beſſerten die Grimm jetzt: 1815 erſchien ihre Edda—
überſetzung. In ſeinen letzten Jahren hatte Herder
wieder ſeinen alten Gedanken ergriffen, die deutſchen
Kindermärchen für die junge Welt künftiger Geſchlechter
zu ſammeln; die Brüder Grimm führten das aus:
1812 und 1815 erſchienen ihre Kinder- und Haus—
märchen, 1816 und 1818 ihre deutſchen Sagen. Auch
die in Herders Iduna bezeichnete Lücke der deutſchen
Bildungsmittel, den Mangel einer einheimiſchen My—
thologie und Heldenſage, haben ſie ſpäter ausgefüllt.
Eine bayriſche Gymnaſialvorſchrift verlangte zeitweilig
die Pflege Herderſcher Lieder neben denen von Goethe
und Schiller. Herders „Lied des Lebens“ (nach Moncrif)
iſt bis gegen 1850 in vielen Sammlungen gedruckt
worden, auch zum Geſang, z. B. nach der Weiſe Ohne
Lieb und ohne Wein, und neben den kleineren Be—
mühungen Beethovens und Schuberts um Muſik zu
Texten aus Herder entſtanden um 1820 zwei der
ſchönſten Jugendwerke Loewes, als opus 1 ſein Edward
und für opus 2 Exlkönigs Tochter: der Balladen- und
Legenden-Komponiſt Loewe iſt von Herder ausgegangen.
Und wäre das Volkslied Wenn ich ein Vöglein wär'
nach 1815 noch an die ſechzigmal komponiert worden,
wenn Herder nicht die Worte zuerſt hätte drucken laſſen?
Ausgaben von Schillers Werken 103
Weitaus die größte Wirkung war damals Schiller
beſchieden. Wurde auch in den geringeren Ständen
noch weniger geleſen, ſo dafür in den bürgerlichen und
höheren deſto mehr und eindringender: hier herrſchte
um 1830 eine ſo tiefe Teilnahme an der Literatur, wie
ſich ihrer wenige Menſchenalter der deutſchen Geſchichte
haben rühmen können, und vor allem drangen Schillers
Werke ins Leben. Ihre erſte Geſamtausgabe, 1812 bis
1815 in zwölf Bänden erſchienen, war trotz des Wiener
Nachdruckes bald vergriffen. 1818 auf 1819 brachte
Cotta die zweite Auflage zugleich mit einer billigeren
Taſchenausgabe und einer neuen Wiener Ausgabe auf
den Markt. Von dieſen ging die Taſchenausgabe am
ſchnellſten ab, Cotta druckte ſie 1822 neu, während in
Karlsruhe 1822, in Grätz 1824 und in Augsburg 1826
abermals Nachdrucker ihr Publikum fanden. Zwiſchen
1830 und 1840 mußte Cotta acht, im nächſten Jahrzehnt
noch drei Geſamtausgaben folgen laſſen. In vielen
Bürgerwohnungen galt eine ſolche Ausgabe von
Schillers ſämtlichen Werken als ein Hauptſchatz, und
die heranwachſende Jugend machte ſich ihn vorleſend
am Familientiſche oder auf der Wanderung zu eigen.
Um die Jahrhundertwende war noch Klopſtock der
Träger der herkömmlichen Begeiſterung geweſen, jetzt
trat Schiller an ſeine Stelle. Durch keinen andern
deutſchen Schriftſteller fühlten ſich nun die meiſten ſo
genährt und beglückt.
Vor allem durch ſeine Gedichte, die philoſophiſchen
104 Schillers Gedichte und die Jugend
und die Balladen. Außer den Geſamtausgaben wurden
Schillers Gedichte in Einzeldrucken von Cotta zwiſchen
1816 und 1823 achtmal aufgelegt, zwiſchen 1830 und
1850 dreizehnmal. Alles was von großer Sehnſucht
nach einer beſſeren Welt in ihnen lebt, wirkte teils als
ältere Grundſtimmung weiter, aus der ſich die übrigen
Werke der Klaſſiker erhoben, teils rührte es an den
neueſten Zuſtand von Deutſchland, das man zur Bundes—
zeit ſo gern mit Hamlet verglich. „Die Götter Griechen—
lands“ erfüllten noch um 1835 den Dresdener Kreuz—
ſchüler Walter mit ſo warmer Begeiſterung für die
Welt des alten Hellas und Rom, daß auch er einen
ganzen Zukunftsglauben von der Erziehung der Deut—
ſchen zur Kalokagathie darauf baute. Schiller und
Poeſie — das wurden in vielen Köpfen die zunächſt
beieinander liegenden Begriffe. Auch bei der unſicheren
Stellung, die die Schule damals zur Pflege ſeiner
Dichtung noch einnahm, lernte der geweckte Schüler
keine andern Gedichte jo gern freiwillig, um fie zu
deklamieren, als Schillerſche Balladen. Gegen die
Mitte des Jahrhunderts konnte man es ſchon erkennen,
daß eine neue Gefahr für die echte Bewertung Schillers
dadurch auftauche, daß ihr lichter Satzbau, ihre ge—
drungnen Strophen, die Wurfkraft ihrer Worte ſie zu früh
bei der Jugend einführten und dadurch ihr tieferes
Verſtändnis teilweiſe unterbunden würde.
Beſſer als die Schule — die Hochſchule tat noch
gar nichts dazu — vermochte die Bühne mitzuwirken,
Schillers Dramen und die Bühne 105
daß Schillers dichteriſcher Geſamtwert den Deutſchen
erſchloſſen und immer wieder vor Augen geführt wurde.
Zwar waren ſeine Hauptdramen nicht auf allen Hof—
bühnen gleichmäßig gelitten; die Räuber und Tell
waren hier und da verpönt und Wallenſtein in Wien
zu Metternichs Zeit nur in Umarbeitung möglich;
zuerſt Ende September 1848 hat das Burgtheater den
ganzen Wallenſtein aufgeführt. So ſtanden um 1820
aus Schillers Reifezeit die Dramen mit weiblichen
Titelrollen im Vordergrund, und das dankbarſte aller
klaſſiſchen Theaterſtücke war die Jungfrau von Orleans,
deren romantiſche Züge ja auch die neuen, der Ro—
mantik beſonders ergebenen Gemüter feſſelten. Als
Frau Crelinger vom Berliner Hoftheater 1820 an
53 Abenden in Wien ſpielte, trat ſie achtmal als Jo—
hanna auf, und im Jahre 1826 ſpielten zeitweiſe alle
drei Wiener Bühnen die Jungfrau, am liebſten vor
dem dankbaren Sonntagspublikum.?) In den männ—
lichern, tatendurſtigern vierziger Jahren aber wurde Tell
am meiſten gegeben. Dem entſprach der Abſatz dieſer
Werke bei den Leſern: Maria Stuart erlebte vier
Auflagen zwiſchen 1815 und 1825, die Jungfrau vier
zwiſchen 1815 und 1822, Tell von 1817 bis 1831 nur
drei; in den vierziger Jahren aber mußte von Tell
beinahe jedes Jahr eine neue Auflage erſcheinen. So
*) Noch als im Jahre 1835 Immermann in Düſſeldorf
ſie bei ſchönſtem Maiwetter gab, füllte ſie das Haus zu
ſeinem Erſtaunen, und er buchte vergnügt die 228 Taler
Einnahme von „dem alten Battaillenpferd“.
106 Schiller und Shakeſpeare
wurde er auch zu einem gemäßigten Symbol des Jahres
1848: am 23. März gab man ihn den Berlinern als
klärendes Wahrzeichen in den Tagen der Aufregung,
die erſte Vorſtellung der Karlsruher Bühne in der
badiſchen Revolution brachte ihn, und die Düſſeldorfer
Theaterdirektion erhielt den Dank „vieler deutſcher
Brüder“ für ſeine damalige Aufführung. Auch Don
Carlos wirkte in ähnlichem Sinne, namentlich wenn
ein ſo idealer Marquis Poſa darin erſchien wie der
Dresdner Emil Devrient.
Fortwährend fanden neue Werke des Tages ihren
Weg auf die Bühne und ſchmälerten die klaſſiſche Bahn,
die Stimmung der Zeit ſpannte ſich unweigerlich einem
neuen Realismus zu, und doch blieb Schiller während
des ganzen Zeitalters der erſte Stolz des deutſchen
Theaters. Auch Shakeſpeare konnte ihm nicht viel
anhaben, obwohl er um 1820 zum erſtenmal faſt mit
allen Werken planmäßig und erfolgreich unſerer Bühne
zugeführt wurde; 1815 war das Verhältnis der Schiller—
ſchen Dramen zu denen Shakeſpeares wie das von 4
zu 1, 1825 etwa wie das von 4 zu 2, ohne daß Schillers
Geſamtaufführungszahl zurückging. Das war kein rein
künſtleriſches Ergebnis; ein neues Wollen, das liberale
und das nationale, ſah in Schiller den beſten Herold,
er galt als „Dichter der Freiheit“, immer höher ſtieg
das Banner ſeines Namens für Deutſchland.
Ein gutes Teil der nationalen Hoffnungen und
Wünſche loderte in den Schillerfeſten auf, die ſich hier
Schillerfeſte 107
und dort einbürgerten. 1815, zehn Jahre nach des
Dichters Tode, hatte nur in Weimar eine Gedenkfeier
ſtattgefunden. 1825 gründeten die Stuttgarter den
Geſangverein Liederkranz mit der Verpflichtung, jqährlich
am 9. Mai ein öffentliches Feſt zu Schillers immer
neuem Ruhm zu feiern, und die Breslauer Liedertafel
beging den Geburtstag des Dichters. Größere Schiller—
feſte folgten 1830 bei Rudolſtadt, 1835 in Rottweil,
1837 in Frankfurt am Main; wie in Stuttgart ſo fanden
alljährlich Schillerfeſte ſeit 1829 auch in Breslau und
dann in Leipzig ſtatt, wo der 1840 gegründete Schiller—
verein ſie trug. In Stuttgart ſollte das erſte Denkmal
Schillers erſtehen, dazu wurde hier 1837 Schillers
Album? ausgegeben, eine Sammlung von Denkworten
hervorragender lebender Dichter und Schriftſteller auf
ihn aus allen deutſchen Landen. In Breslau war
Hoffmann von Fallersleben eine Seele der Feſte und
der junge Laube einer ihrer begeiſtertſten Teilnehmer.
In Leipzig ſtand Robert Blum an der Spitze und war
wiederholt Feſtredner, auch ſprachen und ſangen Laube,
Moſen und Prutz; dieſer rief in Schillerſchen Jamben:
Es braucht die Wahrheit ihre Kämpfer auch,
Der Sieg des Geiſts will auch errungen ſein:
O ſeid denn einig für den Kampf der Zeit! ...
So wird in euch der Geiſt des Dichters wach,
So, Freunde, wird's ein echtes Schillerfeſt!
Daß Goethes Wirkung damals ſo ganz anders war
als die Schillers, lag zum Teil daran, daß Schiller, der
jung geſtorbene, faſt ein Menſchenalter früher des Nach—
108 Goethes engere Wirkung
ruhms teilhaftig geworden iſt als Goethe, daß Goethe
die Hälfte jener Zeit noch mit erlebte, als ein Unab—
geſchloſſener zu ihr ſprach, in unfertigem Verhältnis zu
ihr ſtand. Das Bürgertum feierte den Todestag des
verewigten Schiller laut, kleine Kreiſe den Geburtstag
des lebenden alten Goethe mit gedämpfter Ehrfurcht;
und die erſten beiden Jahrzehnte nach Goethes Tode
waren von zu neuem, fremden Leben erfüllt, als daß
ſie an Goethes mehr privater Wirkung vorläufig viel
hätten ändern können: 1849 kam es nur zu einer lauen
Jahrhundertfeier.
Seine feinere Lyrik, ſeine Epik wollte kaum dekla—
miert werden, lieber im ſtillen Kämmerlein genoſſen
und bedacht. Seine Lieder wurden im Salon und von
der Liedertafel geſungen, ſeine Gedanken bewundert
inmitten jener alten perſönlichen Geſelligkeit, deren
letzte Blüte in den vierziger Jahren war. Seine Balla—
den entzückten vornehme Kreiſe daheim und in Mode—
bädern. Im Auguſt 1818, beim Fürſten Schwarzenberg
in Karlsbad, wurde Mignon in Beethovens Kompoſition.
geſungen; Gentz erzählt davon: „Die ganze Geſellſchaft
wurde lebhaft ergriffen; Goethe hatte Tränen in den
Augen.“ Im Auguſt 1825 in Ems, bei einer Abend—
geſellſchaft des preußiſchen Kronprinzenpaares, rezitierte
Pius Alexander Wolff die Braut von Korinth, und Carl
Maria von Weber ſpielte dazu melodramatiſch frei
Klavier, beides ſchwer kranke Künſtler; Webers Sohn
berichtet: „Die Wirkung auf das hochgebildete Audi—
Vereinzelter Goethegenuß 109
torium war eine bedeutende; der Kronprinz dankte,
den beiden kleinen, bleichen, ſchwarz gekleideten, gewal—
tigen Männern die Hände drückend, tief erſchüttert, mit
Tränen in den Augen.“ Um 1820 trafen ſich in Rom
deutſche Künſtler in der Zelle der Malerin Luiſe Seidler
am Sonnabend abend zu regelmäßigem Picknick; wenn
keine Tagesereigniſſe zu beſprechen waren, wurden
dabei Werke wie Taſſo, Iphigenie oder Wilhelm Meiſter
vorgeleſen. In den deutſchen Provinzialſtädten aber
verſtrichen Jahre, ehe einmal eine kleinere Sortiments—
buchhandlung ein Exemplar von Goethes Werken
abſetzte.
So war es auch im Theater; allerlei Leute ſahen
bei einem Goethiſchen Schauſpiel zu, aber ſein eigent—
liches Publikum fühlte ſich darunter als eine beſondere
Gemeinde. Das waren dieſelben, die auch zu Hauſe
Goethevorleſungen veranſtalteten; ſo laſen in Berlin
Mendelsſohns 1824 vor dreißig Gäſten den Taſſo, und
dabei wirkte das Schauſpielerpaar Wolff mit, dem
Goethe in Weimar die Rollen einſtudiert hatte. Überall,
wohin Goethes Briefwechſel bedeutende Männer ihm
verknüpfte, gab es ſolche kleine Goetheanhängerſchaften;
überall, wo Männer wohnten, die einmal als junge
Leute vor ihn hatten treten dürfen, lebten Goethe—
kennertum und -ſchwärmertum weiter, im ſtillen gläu—
big, in allerlei gelehrten Berufen tätig. Bis gegen Be—
ginn der vierziger Jahre war in ſolchen Kreiſen noch
etwas von der traulichen Wärme zeitgenöſſiſcher Mit—
110 Goetheverehrer
wirkung beim Leſen Goethes vorhanden. Der Rechts—
hiſtoriker Gaupp in Breslau, 1824 mit ſeiner jungen
Gemahlin zu Beſuch in Jena und Weimar, verehrte
Goethe zeitlebens als ſeinen ausſchließlichen Lieblings⸗
ſchriftſteller; er kannte ganze Seiten aus ſeinen Werken
auswendig und wußte für jede Lebensbeziehung einen
Goethiſchen Spruch; fein Studierzimmer war mit
Goethebildern aller Art geſchmückt. In Dresden ſtellten
Carus und Quandt, in Leipzig Rochlitz verwandte
Goethefreunde dar. An der Leipziger Thomasſchule
wirkte in den dreißiger Jahren ein Magiſter Dietrich
aus Gottfried Hermanns Schule als feſſelnder Lehrer
tief anregend, der Deutſch und Latein auf geſchickteſte
Weiſe verband; aber davon, daß er ein ſo feiner Goethe—
kenner war, wie es damals wenige gab, erhielten auch
die beſten ſeiner Schüler keine Ahnung. Unter den
nächſten und ferneren Verehrern höheren Alters wirkte
Goethes Scheiden vernichtend: in Berlin folgte ihm
der getreue Zelter ſofort im Tode, in Wien fühlte Gent
bei der Nachricht aus Weimar auch ſeine letzte Stunde
nahe. Daß um dieſe Zeit der Schulunterricht Goethe
noch nicht viel abzugewinnen verſtand, iſt begreiflich;
allenfalls wurde der Dichter der Iphigenie als An—
hängſel zu Euripides gewürdigt, hie und da gingen
Eigenbrödler auf dies und jenes ſeiner Werke ein.
Wie es Schillerſtädte gab, ſo ragten Frankfurt am
Main und Berlin als Hauptſtätten der Verehrung Goethes
hervor. In Frankfurt lebte alte Freundſchaft und
Berlin und Goethe 111
pflegte die Erinnerung an den jungen Goethe, fein
Elternhaus und an die Rhein- und Mainreiſen des
alten Herrn. Zu Berlin fühlte ſich Goethe ſelbſt in
ſeinem letzten Jahrzehnt „in einem ſtillen wunderlichen
Verhältnis“; die Stadt nötigte ihn durch ihr haſtiges,
genießendes, tätiges Treiben, ihre Entwicklung in Breite
und Größe zur Bewunderung, und die Berliner Goethe—
kreiſe behaupteten, nirgends würde er beſſer verſtanden
als bei ihnen. 1821 wurde das neue Schauſpielhaus
mit Goethes neuem Prolog und der Iphigenie eröffnet;
die Stimmung beim Prolog „erhob ſich vom innig
Andächtigen zum lauteſten Jubel“ und „das Lied der
Parzen hat jedes Herz erſchüttert — man ſchien es noch
nie gekannt zu haben“ ſchreibt Zelter. 1827 berichtete
er über eine Clavigo-Aufführung: „Die erſten vier Akte
gingen gut; den zweiten konnte man vollkommen
nennen; auch ward er beſonders beifällig aufgenommen,
wie denn Dein Publikum ſo ziemlich beiſammen war“
und 1830: „Geſtern ward einmal wieder Dein Taſſo
gegeben und zwar mit einer Vollendung, wie ſie nur
hier möglich iſt, von beiden Seiten, der Artiſten und
Zuſchauer, wie wenn das ganze Stück neu, unverhofft,
erwünſcht geweſen wäre.“ Auch der König nahm dieſen
Taſſo gut auf, das Werk wurde infolgedeſſen bei Hofe
geleſen und beſprochen. Die Berlin-Weimarer Be—
ziehungen erſchienen in mehr als einem Sinne ver—
heißungsvoll; Ende Oktober ſchrieb Goethe an die
Berliner Freunde, als dem Prinzenpaar Wilhelm und
112 Vorleſer und Umdichter des Fauſt
Auguſta ein Sohn, der ſpätere Kaiſer Friedrich, geboren
wurde: „Uns und Euch iſt zu gleicher Zeit ein neuer
Stern aufgegangen, an deſſen Anblick wir uns eine
Weile ergötzen wollen.“ In den folgenden Jahrzehnten
glänzten das Haus Varnhagens von Enſe und ſeiner
Rahel und der Kreis Bettinas von Arnim als Mittel—
punkte des Berliner Goetheweſens, in jo ausſchließen⸗
dem Sinne, daß Varnhagens Goethekult den jungen
Laube abſtieß und Bettina den jungen Hermann
Grimm zu Goethedünkel und Schillerverachtung be—
ſtimmte. Heine nannte 1838 Varnhagen den „Statt—
halter Goethes auf Erden.“
In Berlin iſt es auch zuerſt zu Fauſtaufführungen
gekommen. Eine Zeitlang hatte des Werkes erſter Teil,
um den es ſich bis zu Goethes Tode eigentlich nur
handeln konnte, vielfach als unaufführbar gegolten.
Das hatten ſich Vorleſer zunutze gemacht; in Breslau
hatte ſchon 1810 Ludwig Devrient das Vorſpiel auf
dem Theater in der Aula der Univerſität vorgetragen,
und in den zwanziger Jahren wirkte Holtei als Wander—
vorleſer für die Fauſtdichtung begeiſternd. Auch einen
Bühnenerſatz erdreiſtete man ſich kurzerhand durch neue
Fauſtdichtungen nach Goethe zu ſchaffen, Holtei ſelbſt
machte einen ſolchen Verſuch, einen andern der Braun—
ſchweiger Theaterdirektor Klingemann. Inzwiſchen
hatten die preußiſchen Prinzen den Entſchluß gefaßt,
Goethes Fauſt unter ſich aufzuführen. Von dem
Kronprinzen hörte man, er lebe und webe in Fauſt,
Erſte Aufführungen des Fauſt LI
Fürſt Radziwil war mit der Kompoſition beſchäftigt;
den Mephiſto übernahm Prinz Karl von Mecklenburg,
den Schauſpieldirektor Zelter, Fauſt und Gretchen die
geeignetſten Berliner Schauſpieler. Die Sache rückte
langſam vorwärts, 1819 fand die erſte Teilaufführung
ſtatt, vermehrte folgten, aber 1832 war die Radziwilſche
Kompoſition noch nicht abgeſchloſſen, als es wieder
einmal eine ſolche Hofaufführung gab.) Die Teilnahme
erlahmte, da der Fauſt nun öffentlich erſchien. Das
Jahr 1829 hat ihn der deutſchen Bühne erobert: im
Januar brachte ihn zuerſt Klingemann in Braunſchweig
und im Juni in Hannover, zu Goethes achtzigſtem
Geburtstag führte ihn Dresden und Leipzig in Tiecks
Bearbeitung auf, Bremen, Frankfurt am Main (aus—
gewählte Szenen) und Weimar, im November Magde—
burg. Anfang 1830 folgten Nürnberg und München,
1832 kurz vor Goethes Tode Stuttgart und zu Goethes
Totenfeier (ausgewählte Szenen) Wien; in Berlin
wurde das Werk erſt 1838 öffentlich geſpielt. Ohne
Bearbeitung ging es dabei nirgends ab, ſelbſt an die
Goethiſche für Weimar ſchloß ſich eine zweite Wei
marer durch Eckermann; aber für die Wiedergabe der
Hauptrollen ſtellte ſich nun doch eine Überlieferung
*) In dieſen Jahren wurde der Fauſt als Leſewerk in
Berlin erſt bekannt; 1816 bei der erſten Rollenausteilung
„hatte kein Menſch ein eignes Exemplar. Es ward herum—
geſchickt. Die meiſten Buchhändler hatten ſelber keins. Es
wurde zuſammengeborgt, das Gedicht war allen unbekannt“,
ſo berichtet Zelter, der dabei war.
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 8
114 Goethes literarwiſſenſchaftlicher Einfluß
ein, Fauſt war als letztes der Klaſſikerdramen für die
deutſche Bühne gewonnen: das tauſendmal daheim
geleſene und beſprochene Werk erklang wie ein wohl—
lautendes Echo, bewegte ſich als geliebtes Bild vor den
geiſtentzückten Sinnen.
Auf die Wiſſenſchaften dieſes Zeitalters hat Goethe
vielfältig gewirkt. Im einzelnen ſah man hier und dort
genauer als er, an Überblick kam ihm keiner gleich und
an Größe der Geſamteinſicht auch niemand, trotz Hegel.
In Jacob Grimms Arbeitsſtube ſtand Goethes Statuette
von Rauch, in dem anſtoßenden Zimmer ſeines Bruders
Wilhelm die Büſte Goethes von Weiſſer. Im April 1818
traf der vierundzwanzigjährige Friedrich Diez in Jena
mit Goethe zuſammen, bis dahin mit ſpaniſchen Ro—
manzen beſchäftigt; Goethe lenkte ſeinen Blick auf die
Schönheit der altprovenzaliſchen Dichtung, ſchrieb ihm
den Titel der neuerdings erſchienenen großen Choix des
poesies originales des Troubadours von Raynouard
auf und ermunterte ihn, dieſem Gebiet ſeine Kraft zu
widmen. Diez gab dem Winke ſtatt: 1826 wurde ſein
grundlegendes Werk über die Poeſie der Troubadours
fertig, 1829 das über Leben und Werke der Trouba—
dours, um 1840 allmählich ſeine große Grammatik der
romaniſchen Sprachen und 1853 das etymologiſche
Wörterbuch dazu. Gewiß, dieſe Forſchungen mußten
damals gemacht werden; aber Goethe war es doch,
der dem geeignetſten Talent zu guter Stunde die ent—
ſcheidende Anregung gab. Weit eindringender iſt ſeine
Goethes naturwiſſenſchaftliche Wirkung 115
Wirkung in die naturwiſſenſchaftliche Forſchung ge—
weſen, hier war er ſelbſt bahnbrechend, befreiend und
ſichernd vorgegangen. Seine anregende und emp—
fangende naturwiſſenſchaftliche Korreſpondenz, wie
er ſie ſchließlich in neun ſtarken Heften geordnet hielt,
ſchwoll von 1815 bis 1832 um ſiebenhundert Briefe an,
von denen er über dreihundert ſelbſt abgeſandt hatte;
Botanik und Mineralogie, Optik und Meteorologie,
Chemie und Anatomie der Zeit ſtanden mit ihm in
fortwährender Wechſelwirkung. Auf der Berliner
Verſammlung der deutſchen Naturforſcher und Arzte
1828 feierte Alexander von Humboldt den abweſenden
„Goethe, den die großen Schöpfungen dichteriſcher
Phantaſie nicht abgehalten haben, den Forſcherblick in
alle Tiefen des Naturlebens zu tauchen“, und der
Münchener Botaniker Martius bekannte in ſeinem
Vortrag über die Architektonik der Pflanzen, daß ſeine
Grundanſicht „überhaupt das Reſultat von jener mor—
phologiſchen Anſicht von der Blume iſt, die wir unſerm
großen Dichter Goethe danken.“ In den vierziger
Jahren glaubten die neuen Ernüchterer der Wiſſenſchaft
ſich gegen Goethes Denkweiſe ablehnend verhalten zu
müſſen; wer an ihn anknüpfte, wie 1848 Fechner in
ſeiner berühmt gewordenen Nanna (Über das Seelen—
leben der Pflanzen), ſetzte ſich trotz kritiſch anerkennenden
Verhaltens heftigem Angriff aus, weil man Goethes
Betrachtungsweiſe der Hegels zu ähnlich fand. Hat
doch auch Hegels ſchier allmächtige Aſthetik damäls
8
116 Goethe und Schopenhauer
Goethes Ruf — wie den Schillers — beſtärkt. Ein
Schüler Hegels war jener Dozent Hotho, deſſen Berliner
Univerſitätsvorleſung im Winter 1828 auf 1829 De
Goethio poeta ejusque scriptis poeticis der junge
Helmuth von Moltke hörte, der ſich in ſeinen Briefen
an Mutter und Bruder ſo gern auf Goethe bezieht.
Schopenhauer war in Weimar aufgewachſen, wo
ſeine ſchriftſtellernde Mutter lebte; er war in Berührung
mit Goethe gekommen, und beide hatten anregende
tiefe Geſpräche miteinander geführt. Goethe, der
geklärte, ſah bald, was den ſuchenden Neuling von ihm
trennte, und einiges davon hat er wohl in der Bakka—
laureusſzene des Fauſt ausgeſprochen; Schopenhauer
aber hat einen bedeutenden Teil ſeines Philoſophierens
von Goethe empfangen. Seine Erkenntnistheorie und
Aſthetik war kantiſch; ſein intuitives Erfaſſen der Phä—
nomene, ſein Zurückgehen auf das „Urphänomen“,
das er einmal für ſeine Eigentümlichkeit erklärte, war
goethiſch. Wie ſehr er beiden verpflichtet war, deſſen
war er ſich kaum bewußt, obwohl er es an Verehrung
beider nicht hat fehlen laſſen. Das Disharmoniſche
ſeines Ergebniſſes beruht mit auf dem Unvermögen,
auf der Verzweiflung, Kritizismus und Intuition auf
einen Nenner zu bringen. Schopenhauer war inſofern
ein Hauptvertreter der Epigonie jenes Zeitalters, die
ein anderer hervorragender Geiſt, Immermann, in
dem Roman Die Epigonen (1836) bekannt hat. Wie
Schopenhauer ſubjektiv Goethe und Kant in ſich auf—
Epigoniſches 217
nahm, jo, aber leichter, gedachte es der junge Grabbe
mehr objektiv zu machen, indem er Mozarts und
Goethes bedeutendſte Bühnengeſtalt übertrumpfend
vereinigen wollte, auch er ein Epigone: 1824 erſchien
ſein „Don Juan und Fauſt“. Und Hebbel bemerkte
ſich Ende der dreißiger Jahre in ſeinem Tagebuch:
„Fauſt und Chriſtus zuſammenkommend“. Eine andere
Seite des Nachzüglertums dieſer Zeit hatte der alte
Zelter erkannt, wenn er einmal von ihrem enkomiaſti—
ſchen Weſen ſprach. Und doch wäre es einſeitig und
unrecht, das Zeitalter des deutſchen Bundes bis zur
Mitte des Jahrhunderts nur als Epigonentum anſehen
zu wollen; es ſchuf den deutſchen Zollverein als Vor—
ſtufe zum neuen deutſchen Reiche und hatte auch lite—
rariſch einen Januskopf.
Welcher Wirrwarr in der Beurteilung Schillers und
Goethes durch ſo manchen der damaligen neuen Lite—
raten! Da war um 1820 die Romantik mit ihrer herben
Kritik Schillers auf dem Plan; unter dem Panier
Shakeſpeares und der Hiſtorie zog ſie gegen ihn an, er
ſei zu ſchwach geweſen, die Wirklichkeit in ihrer ganzen
Bedeutung für die Kunſt zu faſſen: ſo ſagten die
Schwächlinge von Schiller dem ſtarken. Welche törich—
ten, knabenhaften Außerungen haben Männer wie
Schleiermacher und die Schlegel über ihn von ſich
gegeben, welches lieb- und verſtändnisloſe Gerede
Tieck, dieſe in ihrer Negierung ſo unfruchtbaren Autori—
täten! In Würzburg lehrte der Philoſoph Wagner,
118 Mißurteile über die Klaſſiker
daß ſich Schiller zu Goethe verhalte wie Branntwein
zu Wein, und der junge Platen verzeichnete das 1819
gläubig in ſein Tagebuch; doch habe auch Goethe, der
mehr heidniſche als chriſtliche Dichter, noch nicht „das
höchſte“ erreicht, ſondern erſt — Friedrich von Heyden,
ein längſt vergeſſenes Nämchen. Auf Goethe ſahen
es dann die Federn des jungen Deutſchland ab, die
Menzel und Börne und ihre Gefolgſchaft. Seine Un⸗
popularität, ſeine italieniſche Perrücke, ſein Egoismus
und ſeine Kälte wurden aufs Korn genommen und
verſpottet; und alles Gezeter und Geläſter bewies nur
die Größe der Wirkung des Angefochtenen und den
Flugſand der Angreifer. Aus dieſen papiernen Waffen—
gängen erhielten ſich lange die kurzſichtigen Schlagworte
äußerlich - innerlich, aktiv paſſiv, ſubjektiv — objektiv,
idealiſtiſch-realiſtiſch, mit denen mancher nachgeborene
Klügling das Weſen Schillers und Goethes in ſeine
kleinen Hände zu ſchöpfen meinte. Zum Teil waren es
Leute, die von einer neuen literariſchen Zukunft träum—
ten, aber nicht geboren, ſie zu ſchaffen, nach rückwärts
ſchlugen, weil ſie die Gipfel ihres Jahrhunderts, von
denen ſie herkamen, immer niedriger ſahen.
Nach ſolchen Nebeln brach die Sonne wieder durch,
wenn größere echte Zeugniſſe von dem Leben und
Weſen der Weimarer Klaſſiker friſch veröffentlicht
wurden. Der erſte Strahl dieſer Art war Goethes
und Schillers Briefwechſel, von Goethe ſelbſt noch
ausgeſandt. Es folgten dann auf der einen Seite vor
Biographisches, Literaturgeſchichte, Sprache 119
allem 1835 Bettinas „Briefwechſel Goethes mit einem
Kinde“ und 1836 Eckermanns Geſpräche mit Goethe,
andrerſeits 1836 Andreas Streichers getreue Erzählung
von Schillers Flucht von Stuttgart und Aufenthalt in
Mannheim und ſchließlich 1847 der Briefwechſel Schil—
lers mit ſeinem Freunde Körner. So mußte man bio—
graphiſch und perſönlich in der Erkenntnis beider Dichter
vorwärtskommen, manche Einzelarbeit bewies es, und
in den vierziger Jahren war die Zeit auch für größere
literargeſchichtliche Einſtellungen reif geworden, wie ſie
von Gervinus und Vilmar mit Ernſt gewagt wurden.
Am innigſten wirkten Goethe und Schiller wohl auf
die ſchaffenden Künſtler jener Jahrzehnte. Das Poetiſche
aller Künſte bewegte ſich unwillkürlich noch in den ſitt—
lichen und äſthetiſchen Wellen, die dem ganzen Jahr—
hundert von 1750 bis 1850 beſonders eigen waren.
Der Sprachbereich, in dem Gellert, Klopſtock und Leſſing
den neuen Ton angegeben hatten, hatte durch Goethe
und Schiller Fluß und Kraft, gefällige Schönheit
und große Gedanken in ſolcher Fülle und Macht er—
halten, daß alle nächſtfolgende Sprachkunſt unwillkürlich
noch von dieſem Weſen widerhallte. Die ſchlechteſte
Zeitungsproſa der dreißiger Jahre hatte einen Hauch
von Weimarer Klaſſikerdeutſch. Von den jüngeren
Dichtern, ſoviel neue Stimmungen, ſo wahrhaft eigene
Erlebniſſe ſie formten, galt doch immer ein wenig der
Vorderſatz des Diſtichons, das Schiller dem Dichterling
ſeiner Zeit zugerufen hatte:
120 Nachfolge im Drama
Weil ein Vers dir gelingt in einer gebildeten Sprache,
Die für dich dichtet und denkt, glaubſt du ſchon Dichter zu fein?
Hebbel variierte das bewußt oder unbewußt:
Was in den Formen ſchon liegt, das ſetze nicht dir auf die
Rechnung:
Iſt das Klavier erſt gebaut, wecken auch Kinder den Ton.
Was ſie waren, das waren ſie alle Weimar zum Teil
ſchuldig, auch wenn Grillparzer der einzige war, der ſo
weit ging zu erklären, er bliebe am liebſten da ſtehen,
wo Goethe und Schiller geſtanden hätten. Raupach
hat in jenen drei Jahrzehnten über hundert Dramen
geſchrieben und mit ihnen den größten damaligen Erfolg
auf der deutſchen Bühne gehabt; aber ſeine Jamben—
dichtung fährt in einem Wagen daher, vor den Schillers
Roſſe geſpannt ſind. Verraten doch auch Hebbels
Jugendfragmente auf Schritt und Tritt den Einfluß
der Jugenddramen Schillers, und noch im Gyges klingt
der Ruf: „O einen Augenblick Vergeſſenheit!“ wie das
Negativ zu dem Wunſch im Carlos: „O eines Pulſes
Dauer nur Allwiſſenheit!““) Im weſtöſtlichen Divan
pries der Dichter begeiſtert:
O du mein Phosphor, meine Kerze,
Du meine Sonne, du mein Licht
*) Aus vielen andern Parallelen, die man zuſammengeſtellt
hat, ſei noch herausgegriffen: Don Carlos „Mein Gehirn treibt
öfters wunderbare Blaſen auf, die ſchnell, wie ſie entſtanden
ſind, zerſpringen“ und Herodes „So war das mehr als eine
tolle Blaſe des Gehirns, wie ſie zuweilen aufſteigt und zer—
platzt“; Iphigenie „Ja ſchwinge deinen Stahl. — Zerreiße
dieſen Buſen und eröffne den Strömen, die hier ſieden, einen
Lyriſche Nachfolge 121
in Rückerts Liebesfrühling klang es gleich beſchwingt,
ſcheinbar noch entzückter, aber doch weniger ſinnkräftig:
Du meine Seele, du mein Herz,
Du meine Wonn', o du mein Schmerz.
Die Verwandtſchaft oder Abhängigkeit faſt aller deut—
ſcher Dramatik und Lyrik im Bundeszeitalter zu Schiller
und Goethe einzuſehen iſt freilich uns Spätergeborenen
erſt recht möglich geworden, denen der gemeinſame
Abſtand von Klaſſizismus und Nachſängertum zuſtatten
kommt. Jene Jahrzehnte ſelbſt genoſſen ihre Zuge—
hörigkeit zur Dichtung der Weimarer Klaſſiker in vielen
Parodien, halb im Scherz, halb im Ernſt zu heiterfeſt—
lichen Gelegenheiten geſchrieben. Einer der entſchloſſen—
ſten Neugeſinnten, Herwegh, der unwillkürlich vor Fried—
rich Wilhelm IV. den Marquis Poſa ſpielte, bäumte
ſich vergebens auf, als er 1843 dem deutſchen Vaterland
ſein ſpöttiſches Wiegenlied widmete:
Und ob man dir alles verböte,
Doch gräme dich nicht zu ehr,
Du haſt ja Schiller und Goethe:
Schlafe, was willſt du mehr?
Weg!“ und Gyges „Hier rauſcht der Quell des Lebens, den
du ſuchſt. Den Schlüſſel [das Schwert] haſt du ſelbſt. So
ſperre auf“; Maria Stuart „Man breitet aus, ſie ſchwinde,
läßt ſie kränker .. werden .. jo ſtirbt ſie in der Menſchen
Angedenken. — Ihr Leben iſt mir heilig“ und Agnes Bernauer:
„Man breitet aus, daß ſie geſtorben iſt. Nein, Preiſing,
das Sakrament iſt mir heilig“. Wahre Kraft und reine Schön—
heit ſind in dieſen Bauſteinen auf ſeiten der Klaſſiker, und
Hebbels Gedanken ſind geſtelzt und gepreßt.
122 Ein Vergleich Heines
An Platen läßt ſich zeigen, wie er von Goethe durch
Motive, von Schiller mehr durch Sprache beeinflußt
wurde. Heine hat für ſeine Proſa, wie auch der alternde
Tieck noch, eifrig bei Goethe gelernt. Keiner hat damals
jo glänzende Feuilletonworte der Goethehuldigung ge—
funden wie Heine, und wie riß es doch auch an ihm,
daß er Goethe als Menſch, als Politiker zeitweilig ge—
häſſig beurteilte. Im Herbſt 1824 hatte er Goethe beſucht,
einige Jahre darauf ſchilderte er Goethes damaliges
Verhalten gegen ihn, mit ſcharfem Inſtinkt bemerkt,
als ob er Goethes Beurteilung der ganzen jungen zeit—
genöſſiſchen Dichterſchar in dem einen Bilde zuſammen—
faſſen wollte, als das eines ernſten Adlers, der „aus
ſeinen einſamen Träumen aufgeſtört, mich mit gering—
ſchätzigem Unmute anſah“, er konnte „noch immer ſo
erhabenmütig auf ſeinem feſten Felſen ſitzen, und ſo
ſeelenfrei zum Himmel emporſtarren, oder ſo imper—
tinent ruhig auf mich herabglotzen. So ein Adler hat
einen unerträglich ſtolzen Blick und ſieht einen an, als
wollte er ſagen: Was biſt du für ein Vogel? Weißt
du wohl, daß ich noch immer ein König bin, ebenſogut
wie in jenen Heldenzeiten, als ich Jupiters Blitze trug
und Napoleons Fahnen ſchmückte? Biſt du etwa ein
gelehrter Papagei, der die alten Lieder auswendig
gelernt hat und pedantiſch nachplappert? oder eine
vermüffte Turteltaube, die ſchön fühlt und miſerabel
girrt? oder eine Almanachsnachtigall? oder ein abge—
ſtandner Gänſerich, deſſen Vorfahren das Kapitol
Uhlands und Hebbels Dank 123
gerettet? oder gar ein ſerviler Haushahn, dem man
aus Ironie das Emblem des kühnen Fliegers, nämlich
mein Miniaturbild, um den Hals gehängt hat, und der
ſich deshalb ſo mächtig ſpreizt, als wäre er nun ſelbſt
ein Adler?“ Später hat Heine ſeinen beſten Gedanken
über Goethe wohl in dem Satze geſagt: „Die Natur
wollte wiſſen, wie ſie ausſieht, und erſchuf Goethe“ als
ihren Spiegel. 1829 wurde Uhland, als er Bertran
de Born und Die Ulme zu Hirſau dichtete, zu dem
ſchönen Geſtändnis ſeiner Münſterſage hingeriſſen und
ſchloß es mit den Worten:
Wer iſt noch, der ſich wundert,
Daß ihm der Turm erdröhnt,
Dem nun ein halb Jahrhundert
Die Welt des Schönen tönt?
Hebbel beſprach mit ſich und Freunden in Tagebüchern
und Briefen, wie Schiller und Goethe auf ihn eingewirkt
hätten — mein Goethe, ſagt er einmal — und feierte
die Heroen in Epigramm, Sonett und Prolog; er
hat die Wiener Goethefeier 1849 durchgeſetzt, die man
die erſte dortige Regung der Gebildeten nach der
Revolution genannt hat.
So zehrten und lernten die kleineren und größeren
Dichter von den großen. Die Muſiker aber hatten
die damals ſchönere Beſtimmung, manches Werk der
großen Dichter erſt zu erfüllen, zu vollenden. Auf ſie
wirkte die klaſſiſche Dichtung vermöge des bewußteſten
rhythmiſchen Formempfindens, bei ihnen erweckte ſie
124 Neunte Symphonie
die deutlichſte Stimmung, ihnen entlockte ſie neue
Motive und Melodien; ſie vermählten ſich ihr am innig—
ſten, am willigſten und brachten ihr die ſchönſte Mitgift.
Beethoven hat ſich dreißig Jahre mit der Abſicht
getragen, Schillers Lied an die Freude zu komponieren.
Endlich war er reif und mächtig, die beiten Strophen
auf das gewaltigſte auszuſtatten. Er ſchrieb 1822 den
unerhörten Unterbau der drei erſten Sätze ſeiner neunten
Symphonie dazu und verlieh dann dem Chor, Männer-
ſtimmen, Soloquartett und Orcheſter zu Schillers großen
Gedanken eine Urgewalt der Töne, wie ſie vorher und
nachher nicht wieder geſchaffen worden iſt. Kühnſte
Freiheit und ſtrengſter Ordnungswille durchwalten den
Rhythmus, allgemeinſter Jubel prägt hier die Melodie,
innigſter Andachtsſchauer dort die Akkorde, tändelnde
Freude und Wolluſt der Kreatur wechſeln mit hin—
reißendem Tanz- und Heldenſchritt, und in liebendem
Entzücken und gedrängteſter Kunſt erklingen die Worte
„wo dein ſanfter Flügel weilt.“ Aus Schillers Funken
hat Beethoven Freudenfeuer angefacht.
In Wien erreichte eben damals auch der junge
Schubert den Gipfel ſeiner neuen, ſüßen Liederkunſt.
Er hat gegen hundert Gedichte Goethes in wenig mehr
als einem Jahrzehnt komponiert. Als Siebzehnjähriger
hatte er mit Geſängen aus dem Fauſt (Meine Ruh iſt
hin, Domſzene), Schäfers Klagelied und Nachtgeſang
genial begonnen; Schäfers Klagelied war das erſte
ſeiner Lieder, das öffentlich geſungen wurde, 1819 in
Schuberks Goethelieder 125
einem Wiener Gaſthofskonzert. In dem einen Jahre
1815 entquollen ihm 130 Lieder, darunter 45 von
Goethe, am 19. Auguſt allein dieſe fünf: Heidenröslein,
Rattenfänger, Bundeslied, An den Mond, Schatzgräber,
den Tag darauf: Wer kauft Liebesgötter, Meeresſtille
und Wonne der Wehmut; an der Jahreswende entſtand
ſein Erlkönig, den er 1821 als op. 1 drucken laſſen
konnte, und für op. 2 bis 5 wählte er weitere elf Lieder
Goethes. Ihr Erfolg lockte ihn, Goethe mit erneuter
Luſt vorzunehmen: Mahomets Geſang, der Geſang
der Geiſter über den Waſſern, Grenzen der Menſchheit
gelangen ihm jetzt und die köſtlichen Kompoſitionen von
Divanliedern; und es war doch kaum ein Jahr ver—
gangen, wo er nicht ſeine goldnen Früchte von Goethes
Baum gepflückt hätte: 1816 Jägers Abendlied, An
Schwager Kronos und die Harfnerlieder aus Wilhelm
Meiſter, 1817 Ganymed uſw. Mignons Lied Nur
wer die Sehnſucht kennt komponierte er fünfmal
(Beethoven viermal). Manche von Schuberts Goethe—
liedern ſind erſt nach ſeinem Tode, eine Reihe erſt in
der zweiten Hälfte des Jahrhunderts gedruckt worden;
aber das in den zwanziger Jahren erſchienene genügte
vollauf, ihn ſofort neben Beethoven an die Spitze aller
Goethekomponiſten zu ſtellen. Der friſche Quell Goe—
thes, anmutig gebändigt, hier floß er mit einer Muſik
zuſammen, die auf einer jüngeren Stufe, aberin derſelben
Richtung ſtrotzend hervorbrach. Auch von Schiller hat
Schubert viel und gern komponiert, mit Glück beſonders
126 Kleinere und ältere Muſik
Jugendgedichte, auch von ihm das meiſte im Jahre
1815, Hoffnung und An den Frühling da zweimal,
und Mädchens Klage zum zweitenmal, zu deren erſter
Kompoſition es 1811 ſchon den vierzehnjährigen Knaben
getrieben hatte. Auch von dieſen Werken iſt kaum die
Hälfte bis zur Mitte des Jahrhunderts veröffentlicht
worden; Schubert fand nicht eben raſch Eingang.
Konkurrierte doch für die Zeitgenoſſen ſelbſt in Oſterreich
mit ihm u. a. der Prager Muſikhäuptling Tomaſchek,
von Goethe geſchätzt, — ſein op. 1, Schillers Erwartung,
war 1800 gedruckt worden und 1850 ſtarb er — und
veröffentlichte z. B. zwiſchen op. 53 und 60 einige
Dutzend Lieder von Goethe und in op. 84 bis 89 eine
Reihe von Schiller.
Das Zeitalter begnügte ſich vielfach noch mit
Reichardts und Zelters Muſik zu Goethe und Schiller
und ſonſtigen alten Weiſen, die ſich eingebürgert hatten.
Man ſchrieb ſich gern ſeinen Liederband für den eigenen
Bedarf noch ſelbſt zuſammen, und dieſelbe Hand, die
in jungen Jahren auf einer der erſten Seiten das
Silveſterlied „Des Jahres letzte Stunde“ eingetragen
hatte, dann Goethes „Sänger“ in der ſchwachen, be—
quemen Schreiberſchen Kompoſition und „Freude,
ſchöner Götterfunken“ mit der bekannten gefälligen
Marſchmelodie, ſchrieb in alten Tagen als merkwür—
digſte Neuigkeit hinzu „Sie ſollen ihn nicht haben, den
freien deutſchen Rhein.“ Etwas höhere muſikaliſche
Anſprüche machten die Kreiſe, die Schillers „Hoffnung“
Liedertafel 127
in Methfeſſels oder Lachners Kompoſition ſangen oder
„Würde der Frauen“ in der von Conradin Kreutzer.
An der Liedertafel oder als „Tafelgeſänge für Männer:
ſtimmen“ waren Schillers kräftige Rhythmen beliebt:
Friedrich Schneider, Rietz u. a. komponierten die
„Dithyrambe“ für Männerchor, Lortzing den „Früh—
ling“, Loewe „Würde der Frauen“; aber auch Goethes
kophthiſches Lied mit der derben Lehre, die Narren zu
Narren zu haben, war etwa in Bernhard Kleins mun—
terer, hausbackener Kompoſition (op. 14) für einen
ſolchen Kreis eine Herzensweide, auch Kuhlaus un—
zähligemal geſungenes „Über allen Gipfeln“, und Carl
Blums ſimples Männerquartett „Kleine Blumen,
kleine Blätter“ artete von hier aus um die Mitte des
Jahrhunderts allmählich zum einfachen Volksliede um.
Von den dreiunddreißig zwiſchen 1815 und 1850 ent—
ſtandenen Erlkönig-Kompoſitionen iſt nur eine für
Männerchor geſchrieben, zwei dramatiſierend für ge—
miſchten Chor und Soli, in Wien iſt er wiederholt als
Melodram aufgetiſcht worden; großen Anklang hat
neben Schuberts Erlkönig nur der von Loewe gefunden.
Loewe war von den hervorragenden zeitgenöſſiſchen
Muſikern faſt der einzige, der ſelbſt mit Goethe über
Muſik geſprochen hatte; Goethes Familie blieb ihm
auch anhänglich, der junge Walther von Goethe wurde
Mitte der dreißiger Jahre fein Schüler — um diefelbe
Zeit komponierte Loewe viel von Goethe — und be—
kannte ſpäter, Loewe ſei der einzige geweſen, bei deſſen
128 Loewe und Mendelsjohn
Kompoſitionen von Goethiſchen Werken er ſich ganz
und gar dem Eindrucke hingeben könnte, den Diele
„identiſchen Wiedergaben“ in der Seele des Zuhörers
hervorriefen. Was Loewe an Fülle des muſikaliſchen
Genies abging, erſetzte er durch haushälteriſche Be—
ſcheidenheit und durch Sinn für das Dämoniſche, Grazie
und Humor. In Liedern und Hymnen übertrafen ihn
andere — neben Schuberts Ganymed und Schumanns
Talisman verblaſſen ſeine Kompoſitionen —; in den
nächtlichen Balladen und den indiſchen Legenden war
er zu ſeiner Zeit kaum zu übertreffen. Für Schillers
Gang nach dem Eiſenhammer nahm er B. A. Webers
Orcheſterzwiſchenſpiele zu Hilfe, wodurch ein Werk von
faſt oratoriſcher Breite entſtand.
Als Loewe 1833 in Stettin die erſte Walpurgisnacht
als ſtrophiſche Ballade komponierte, war das Gedicht
ſoeben in Berlin als große Kantate mit Orcheſter- und
Chormuſik zum erſtenmal aufgeführt worden. So hatte
Mendelsſohn das heidniſche Werkchen in Italien mit
ſeiner Muſik umwoben, im Frühling und Sommer 1831,
in einer ähnlichen Stimmung, wie Goethe die Hexen—
küche in Italien ſchrieb, und über den Schluß noch an
Goethe ſelbſt aus Mailand berichtet: „Wenn der alte
Druide ſein Opfer bringt, und das Ganze ſo feierlich
und unermeßlich groß wird, da braucht man gar keine
Muſik erſt dazu zu machen, ſie liegt ſo klar da, es klingt
alles ſchon, ich habe mir immer ſchon die Verſe vor—
geſungen, ohne daß ich dran dachte.“ Neben dieſer
Robert Franz und Robert Schumann 129
Hauptarbeit des jungen Nachmeiſters und ſeiner Ouver—
türe Meeresſtille und glückliche Fahrt fiel ſein Dutzend
Goethelieder nicht ſchwer in die Wagſchale; noch leichter
wog die gleiche Menge, die ſich ſeine Schweſter Fanny
aus Goethes Lyrik komponierte. Darum, weil Goethe
das Menſchliche ausſprach, glaubte ihn jeder auf ſeine
Weiſe muſizieren zu können. Um die Mitte des Jahr—
hunderts brachte auch Robert Franz ein Heft geſchmack—
voll komponierter Lieblinge aus Goethe (op. 33); doch
errang unter dieſen norddeutſchen Liedmeiſtern in
Goethes Gefolge Schumann durch Frohmut und Zart—
ſinn den Preis. Er wagte ſich auch mit größerem Recht
als Loewe u. a. an die Kompoſition des Fauſt: im Jahre
1844 gelang ihm der größere Teil der Schlußſzene, er—
haben empfunden, nicht neu genug aus ſich geſchöpft,
und in den nächſten Jahren fügte er weitere Teile und
Szenen an, zuletzt eine Ouvertüre, die freilich nur etwa
wie ſeine Ouvertüren zu Hermann und Dorothea und
zur Braut von Meſſina wirken konnte.
Die damalige Bildkunſt hat die Gedanken Weimars
am ſchwächſten zurückgeſtrahlt. Als Symbole ſtanden
die bekannteren chriſtlichen Anſchauungen im Vorder—
grund, die ſich eben neu belebten“); und die danach ſich
allmählich erhebende realiſtiſche Tendenz wählte ſich
eigene Stoffe. Doch eröffnete den kleinen Reigen ein
*) Damit mag es zuſammenhängen, daß von Schiller am lieb—
ſten dargeſtellt wurde, wie der Graf von Habsburg dem Prieſter
ſein Pferd übergibt (Pforr, Schnorr, Führich, Schwind).
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 9
130 Illuſtrationsgemälde
hervorragender Name: 1816 erſchienen im Kupferſtich
die in Rom vollendeten Zeichnungen zu Fauſt von Cor-
nelius. Ein Jahrzehnt ſpäter ging man in Düſſeldorf
zum kontemplativen Illuſtrationsgemälde über: Scha-
dow malte Mignon, Hildebrandt Fauſt und Gretchen
im Kerker und die beiden Leonoren, Hübner den Fiſcher.
Dieſe Düſſeldorfer übertraf bald an Erfolg beim deut—
ſchen Publikum der Halbfranzoſe Ary Scheffer mit ſei—
nem Fauſt, Gretchen, Mignon; was Heine von ſeinem
Gretchen ſagte, galt in gewiſſem Sinne damals von
mancher ſolchen Klaſſikerfigur: „Sie iſt zwar Wolfgang
Goethes Gretchen, aber ſie hat den ganzen Friedrich
Schiller geleſen, und ſie iſt viel mehr ſentimental als
naiv, und viel mehr ſchwer idealiſch als leicht graziös.“
Der junge Kaulbach hatte zu Anfang der dreißiger Jahre
in dem neuen Münchener Königsbau Wandbilder im
cornelianiſchen Stil nach Goethe auszuführen und nach
Wieland zu entwerfen — wie ſie ſich auch anderwärts
Fürſt und reicher Kunſtfreund malen ließen —; als
ſpäter ſein Trieb durchbrach, ſatiriſch der Wirklichkeit
nachzugehen, worin er Heine ähnelte, zeichnete er die
1846 veröffentlichten Illuſtrationen zu Reineke Fuchs,
eine vergnügliche Erniedrigung des Werkes. Auch jenen
Fiſcher Hübners hätte Goethe nicht gebilligt; derartiges
laſſe ſich nicht malen, hatte er ſchon 1823 einmal ge—
äußert. Möglich, daß er dieſen Standpunkt auch 1828
Stieler gegenüber ausſprach, der dem Fiſcher Hübners
mit einem eignen Bilde zu entgegnen dachte; Stielers
Schadow, Richter, Schwind 131
Fiſcher blieb unvollendet. Klingt doch auch zum Teil
goethiſch, was Hegel in ſeiner Aſthetik über Schadows
Mignon ſagte: „Der Charakter Mignons iſt ſchlechthin
poetiſch. Was ſie intereſſant macht, iſt ihre Vergangen—
heit, die Härte des äußeren und inneren Schickſals, der
Widerſtreit italieniſcher, in ſich heftig aufgeregter Leiden—
ſchaft in einem Gemüt, das ſich darin nicht klar wird,
dem jeder Zweck und Entſchluß fehlt, und das nun, in
ſich ſelbſt ein Geheimnis, abſichtlich geheimnisvoll ſich
nicht zu helfen weiß. Ein ſolches volles Konvolut kann
nun wohl vor unſerer Phantaſie ſtehen, aber die Malerei
kann es nicht, wie es Schadow gewollt hat, ſo ohne
Beſtimmtheit der Situation und der Handlung einfach
durch Mignons Geſtalt und Phyſiognomie darſtellen.“
Durch einen Auftrag Hübners erhielt der junge
Ludwig Richter Anlaß, Goethes und Schillers be—
kannteſte Bühnengeſtalten darzuſtellen: er malte am An—
fang der vierziger Jahre für Hübners Dresdner Theater—
vorhang zu dem Figurenfries unten u. a. Götz, Fauſt,
Egmont, Wallenſtein, Jungfrau von Orleans und
Tell“); bald darauf machten ihn ſeine Zeichnungen zu
Hermann und Dorothea und zur Glocke, wie die zu
Märchen und Liedern allbekannt und beliebt. Auf
kleinere Kreiſe, aber genial, wirkte der junge Schwind
*) Der Vorhang verbrannte mit Sempers Theaterbau;
1862 wurde er nach der erhaltenen Zeichnung für Leipzig neu
ausgeführt, und dort haben Richters traute Geſtalten viele
Jahrzehntelang die Augen der Zuſchauer vor Beginn jeder
Aufführung freundlich geſtimmt.
9*
132 Denkmäler und Dichterhäuſer
mit Bildchen wie Schwager Kronos, Erlkönig und Schatz⸗
gräber (um 1830): in ihnen klangen zugleich muſikaliſche
Eindrücke nach, die er von ſeinem Freunde Schubert er-
halten hatte; den Humor von Ritter Kurts Brautfahrt
im Bilde zu faſſen und zu ſteigern, gelang ihm erſt 1840
nach zehnjährigem Bemühen. Dann führte er nach
Goethes Aufſatz die philoſtratiſchen Gemälde für die
neue Karlsruher Kunſthalle in eigenem Sinn aus, und
1844 ſammelte er Verehrung und Liebe in dem glück—
ſtrahlenden Transparent „Goethes Geburt.“
Niemand anders als die berühmteſten Bildhauer des
Zeitalters ſchien berufen, Schiller und Goethe der
heimiſchen Nachwelt im Denkmal zu zeigen: Thorwald—
ſen ſchuf für Stuttgart das 1839 unter großem Jubel und
in Anweſenheit der Söhne enthüllte Schillerdenkmal und
Schwanthaler für Frankfurt 1844 das Denkmal Goethes;
mit Rauch begannen Unterhandlungen wegen eines
Denkmals für Goethe und Schiller zuſammen.
Schillers Haus in Weimar ging 1847 in den
Beſitz dieſer Stadt über; der Gedanke, Goethes
Haus für den deutſchen Bund anzukaufen, zerſchlug
ſich: noch war die Verehrung des weimariſchen
Geiſtes zu zerſplittert wie das deutſche Volk ſelbſt.
Im Zeitalter der Reichsgründung
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Schiller, Goethe und die Enfel
Im Sommer des Jahres 1870 verbrannte auf dem
Kickelhahn die Hütte mit Goethes Inſchrift; ſie wurde
durch eine Nachbildung erſetzt. Im Juli 1870 holte
Bismarck zu dem Schlage aus, dem das neue Reich
entſprang. Untergang eines weimariſchen Wahrzeichens,
ſeine künſtliche Erneuerung durch literargeſchichtlich
geleitete Pietät und Neubau der deutſchen Nation, was
hatten ſie miteinander zu tun?
Das Zeitalter von den fünfziger bis in den Beginn
der achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts war
eines von denen in unſrer Geſchichte, wo der Deutſche
ganz der eignen Kraft vertrauend, faſt ganz in die
Gegenwart ſchauend handelte. Mit friſchem Blick für
die neue Notwendigkeit riſſen die preußiſchen Führer
unſer Schickſal aus dem Sumpf der Bundeszeit heraus
und ſtellten es auf feſten Boden. Die geiſtige Erquickung
der fünfziger Jahre, trotz trüben Regiments, die wirt—
ſchaftliche Kräftigung und die deutſchen Kämpfe der ſech—
ziger Jahre mußten vorangehen, ehe an der Wende zum
dritten Jahrzehnt die Haupttat gelang, die Beſiegung
Frankreichs allein durch deutſche Kraft und die Begrün—
dung des Hohenzollernkaiſertums; etwas mehr als ein
136 Schillers und Goethes Jugend in der Kunſt
Jahrzehnt währte noch der Ausbau des Reiches, bis die
Männer, die um 1850 mitzuwirken begonnen hatten,
allmählich aus den Reihen traten und ſich abermals eine
Zeitwende ankündigte. An die Stelle des unmittelbar
überlieferten Zuſammenlebens mit Goethe und Schiller
trat damals zum erſtenmal leiſe die bewußte Auswahl
aus älterem Gut, wenn man ſich inmitten des neuen
Deutſchland für die alten Weimarer Führer erklärte.
Und wie gleich und gleich ſich gern geſellt, ſo war eine
Vorliebe der naiv und natürlich gewordenen Nation für
den jungen Schiller, den jungen Goethe unverkennbar.
Die Dichter gingen dabei den Gelehrten voran. Schon
1843, in zweiter Auflage 1856, erſchien der große Roman
von Hermann Kurz „Schillers Heimatsjahre“; und auf
der Bühne der vierziger Jahre hatte Laube mit den
„Karlsſchülern“ den größten Erfolg: 1846 ſpielten fünf
Theater das Werk an Schillers Geburtstag. Zeichner
und Maler ſchloſſen ſich an: Schiller in der Karlsſchule
wurde ein beliebter Vorwurf, und Theobald von Oers
Bild „Erſte Vorleſung der Räuber“ war ein Treffer.
Noch in den ſiebziger Jahren behauptete Paul Lindau,
die neue deutſche Dramatik könne an nichts beſſeres
anknüpfen als an Kabale und Liebe. Der junge Goethe
folgte in dichteriſch ſchwächeren Arbeiten: Gutzkow führte
ihn 1852 im „Königsleutnant“ vor und Heinrich König
1856 das Frankfurter Elternhaus in dem Roman „Der
Stadtſchultheiß.“
Auch die Gelehrten beſchäftigten ſich mit den
Goethes und Schillers Jugend in der Wiſſenſchaft 137
jungen Dichtern genauer. Adolf Schöll in Weimar ver—
öffentlichte 1846 Briefe und Aufſätze Goethes aus den
Jahren 1766 bis 1786 und dann bis 1851 den Schatz
der Briefe Goethes an Frau von Stein; in einer Neben—
frucht dieſer Arbeit, in dem Eröffnungsaufſatz des ſeit
1851 von Prutz herausgegebenen Deutſchen Muſeums
„Zu Goethes Leben“, wies er Die Geſchwiſter als
einen Gewinn Goethes aus dem Verhältnis zu Frau
von Stein nach, wobei ſeine neue Forſchungs- und
Deutungsweiſe in das perſönliche der Entſtehung des
Werkchens tief eindrang und damit ein wiſſenſchaftliches
Vorbild wurde. In Jena zeigte 1858 Kuno Fiſchers
Schrift über „Die Selbſtbekenntniſſe Schillers“, was
alles in deſſen Jugenddramen und -gedichten als Dar—
ſtellung ſeines eignen Seelenlebens zu gelten habe;
1856 erhielt man das nachgelaſſene Hauptwerk des
fleißigen Boas „Schillers Jugendjahre“. Erſt 1875
erſchien nach langer Vorbereitung durch Hirzel und
Bernays die philologiſch reifſte Gabe dieſer Art in drei
Bänden, „Der junge Goethe“ (1764-1776), eine Aus—
gabe von Goethes Jugendwerken in ihrer erſten, jugend—
lichen Geſtalt — die der Dichter für die geſammelten
Werke ſpäter vielfach überarbeitet hatte — ſamt ſeinen
gleichzeitigen Briefen: ſo trat er „dem deutſchen Leſer
zu traulich ungezwungenem Geiſtesverkehr entgegen.“
Bernays durfte ſagen: „Wenn jetzt der junge Goethe
wieder Einkehr hält bei ſeinem Volke, ſo blickt ſein
ſtrahlendes Auge auf ein von neuem Jugendleben durch—
138 Bedeutungsverſchiebungen in der Sprache
ſtrömtes, in ſicherer Kraft aufgerichtetes Deutſchland.
Wir fangen an zu begreifen, in welchem Sinne die
Begründer unſerer Literatur, indem fie für die Menſch—
heit dachten und ſchufen, zugleich an der Erhebung ihres
Volkes gearbeitet haben; wir erblicken ſie in der erſten
Reihe unſerer Volkshelden und leuchtend vor allen
den jungen Goethe, den Befreier deutſcher Kunſt und
deutſchen Geiſtes“ Und nun wurde im folgenden
Jahrzehnt der junge Goethe das Lieblingsthema literar—
geſchichtlicher Univerſitätsvorträge, und 1879 ver—
öffentlichte Scherer ſeine zergliedernden Studien „Aus
Goethes Frühzeit.“
Die Sprache der Natur verſtand ſich leicht auch
über ein Jahrhundert hin. Aber wie ſtimmten jetzt
höheres Klaſſikerdeutſch und neueſter Sprachgebrauch?
Bedeuteten z. B. Talent und Charakter für die
Mehrheit ohne weiteres noch das, was Goethe im
Taſſo bei der Gegenüberſtellung der Bildung beider
gemeint hatte? Gerade das umgekehrte von Goethes
Wort ſei wahr, konnte man jetzt behaupten: der ſittliche
Charakter Schillers habe ſich in der Stille gebildet, das
Talent Goethes habe im Hof- und Weltleben geblüht.
Charakter wurde gleich Willensmenſch, Talent gleich
Schönheitskünder geſetzt und die Rollen kurzerhand,
auf die Dichter verteilt. Schiller hatte in der Glocke von
einem namenloſen Sehnen des Jünglings geſprochen
und wörtlich ein nicht benennbares, unbejtimmtes
Sehnen damit gemeint; jetzt wurde unter dieſem ſtarken
Neue Wahrheit und alte Dichtung 139
Schillerſchen Worteindruck jede große Sehnſucht ſuper—
lativiſch zum „namenloſen Sehnen“ geſtempelt, auch
wenn ſie ein ganz beſtimmtes Ziel hatte: um 1860 ſprach
Max Maria von Weber, der Eiſenbahntechniker und
Sohn des Muſikers, von „namenloſer Heimatſehnſucht“,
ohne den Widerſpruch beider Worte zu ſpüren. So ver—
wirrte ſich das Verhältnis zur Sprache der Klaſſiker,
ſo trübte ſich ihre urſprüngliche Wirkung.
Vor allem aber mußte das Wirklichkeitsſtreben, das
ſtarke und geſunde, aber auch das derbe und grobe, mit
Händen greifende, das die neuen Jahrzehnte enthüllten,
dem Dichten und Trachten der gereiften Klaſſiker in die
Parade fahren. Der Roman „Soll und Haben“ und
„Die Journaliſten“, die Mundartdichtung von Gotthelf
und Reuter, die feine Beobachtung von Storm und
Keller drangen in Lebensgegenden, wovon bei Goethe
und Schiller nichts zu leſen war. Dieſer Realismus
hatte nicht Oſteologie ſtudiert, aber er hatte geſunde Kno—
chen, und anders als einſt „der Dichtung Schleier“ warf
er einen neuen feinen Geſamthauch von Wahrheitsſtim—
mung über die Dinge. Der Humor im „Fähnlein der
ſieben Aufrechten“ hatte ſo friſche Würze, daß manchem
die Hexameter von Hermann und Dorothea daneben
als Stubenſchönheit erſchienen. Was Wunder, daß ſich
bald nach 1850 feſtſtellen ließ, daß auf dem Bücher—
markt eine herabſetzende Beurteilung der Klaſſiker ein—
reiße? daß die Forderung nach dem neuen bürgerlichen
Drama als Zukunftsheil immer lauter wurde?
140 Verkennung Schillers
Beſonders Schiller wurde von dieſen Stimmen
verrufen, ſein „Idealismus“ ihm verdacht und verdäch—
tigt; und wo die Realiſten vom trübſten Waſſer ſaßen
und ſich mit Büchners „Kraft und Stoff“ nährten oder
unter Schopenhauers Einfluß lugubre Weiſen blieſen, da
ſah es um das Verſtändnis Schillers vollends böſe aus.
Eduard von Hartmann, der 1869 die Philoſophie des
Unbewußten brachte, deutete den Satz „Das Leben iſt
der Güter höchſtes nicht“ ſchief dahin, daß dieſer Gedanke
am Ende der Tragödie die höchſte Erkenntnis des um—
ſonſt ringenden Helden ſei und Aufgeben des Kampfes,
Lebensentſagung, Schmerzloſigkeit das letzte Ziel. Und
in den ſiebziger Jahren bewieſen nicht nur Dührings
Berliner Vorträge die Blindheit der „Poſitiviſten“ für
Schillers Gehalt und Kunſt, auch Otto Ludwigs Shake—
ſpeareſtudien tollten ſich in eine verbitterte Polemik gegen
Schillers Dramen hinein. Um 1883 war in dem Eigen-
ſchwung der wechſelnden Zeiten, wenn man dem Durch—
ſchnitt der neumündigſten Wortführer glaubte, Schillers
Geltung recht ſchwach.
Für Goethe war die Stimmung damals günſtiger;
ihm kam zugute, was man unter ſeinem „Realismus“
verſtand, was man als ſeine Naturverwandtſchaft emp—
fand und als ſein Naturintereſſe kannte. Und doch
machten gerade einige der hervorragendſten Naturwiſſen—
ſchafter gegen ihn teilweiſe Front: der Phyſiker Helm—
holtz verehrte zwar den Dichter, beurteilte aber die
Farbenlehre abfällig, und der Phyſiologe Du Bois—
Tadler Goethes 141
Reymond, der 1872 im goethiſchen Sinne mit ſeinem
Ignorabimus ein lebhaftes Echo erweckte, polemiſierte
ſchließlich 1882 gegen die ganze Perſönlichkeit unter dem
Stichwort „Goethe und kein Ende“ (das ſchon 1851 im
Prutzſchen Muſeum ausgegeben worden war). Von den
Philoſophen und Philoſophaſtern hatte Viſcher mit ſeiner
witzigen Parodie des zweiten Teils von Fauſt den
Erfolg, daß durch ſie weite Kreiſe davon ferngehalten
wurden; Hartmann glaubte, Taſſo als ein verfehltes
Kunſtwerk an den Pranger ſtellen zu können, und
Dühring nannte Goethes Poeſie unmoraliſch, weil ſie
die Realität beſchönige, und unäſthetiſch, weil ſie unſern
Wirklichkeitsſinn verletzte: beides einflußkräftige Lite—
raten. Mancher Bequemling unter den neuen Dichtern,
von Gegenwartsluſt trunken, dachte, was Alfred Meißner
ausſprach: „Ich ſage Ihnen, lieber Freund, Goethe iſt
über die Maßen langweilig“; aber auch Hebbel erklärte,
daß ihm manche Dichtungen Goethes nicht genügten,
weil ihre Schönheit aus keinem Ringen hervorgehe,
und ähnlich tadelte Otto Ludwig, daß Goethe die Natur
zu paſſiv gedacht, vorwiegend ihr ſtilles, in ſich gebun—
denes Wachſen betrachtet habe, für den Inſtinkt des
unbändigen, ungebärdigen in ihr habe er keinen Sinn
gehabt. Und ſchließlich: was ſich an friſchem Volks—
geiſt, an deutſcher Tatkraft in Bismarck ſo groß be—
kundete, mußte es nicht Goethe und Schiller nach dem
Hintergrund zu drängen? Das Geſchlecht nach 1850
erlebte, wie ſich ein neuer Jahrhundertring zu bilden
142 Die Nation und die Klaſſiker
anfing und die Goethiſche Welt in das Innere zurück—
trat. i
Trotzdem: Weimars Klaſſiker wirkten weiter wie
das fertige neben dem werdenden und wie das ewige
neben dem heutigen. Ob man nun mit Gottfried Keller
bekannte: „Wasewig gleich bleiben muß, iſt das Beſtreben
nach Humanität, in welchem uns jene Sterne, Goethe
und Schiller, wie diejenigen früherer Zeiten, vor—
leuchten“ oder mit Herman Grimm einſah, das höchſte
ſei, an den großen Gedanken, für die die Menſchheit da
iſt, ſich immer beteiligt zu wiſſen, im ganzen hielt die
Nation auf die Klaſſiker wie auf ein koſtbarſtes Erbſtück,
das man gern benutzt, und hing an ihnen, vom Thron
bis in den unbewußten Winkel. Von König Johann von
Sachſen, dem Überſetzer Dantes, wiſſen wir, daß er einige
Werke Goethes bewunderte und Schiller wirklich liebte;
im Ränzel des wandernden Handwerksburſchen ſteckten
Schillers Gedichte, und aus einem auf Löſchpapier ge—
druckten Liederbüchel für Handwerksburſche hatte der
junge Dorfſchuſter „Kleine Blumen, kleine Blätter“ ge—
lernt, von deſſen entſtelltem Geſang Keller (1882 im
Sinngedicht) erzählt: „Die unverwüſtliche Seele des
Liedes bewirkte das Gegenteil eines lächerlichen Ein—
drucks.“
Jenem Satz von dem ſich gleichbleibenden Beſtreben
nach Humanität — einer Huldigung auch für Herders
Gedanken — hatte Keller hinzugefügt: „Was aber dieſe
Humanität jederzeit umfaſſen ſolle: dies zu beſtimmen
Schillerfeſte 1855 und 1859 143
hängt nicht vom Talent und dem Streben ab, ſondern
von der Zeit und der Geſchichte.“ Da war nun jetzt
zu bemerken, daß ſich Humanität und Kosmopolitismus
ſchieden. Der himmelblaue Kosmopolitismus, auf den
noch in der Paulskirche mancher deutſche Geiſt ein—
geſchworen war, verblaßte jetzt neben dem friſchen Grün
eines humanen Nationalismus, wie er namentlich in
all den Kreiſen erwachte, die man als Vorläufer oder
Mitglieder zu der werdenden nationalliberalen Partei
rechnen konnte, der damaligen wahren Mitte des deut—
ſchen Volkes. Dieſe Vorläufer des Nationalliberalis—
mus waren es vor allen, die in den fünfziger Jahren
die überzeugteſte Begeiſterung bei den beiden großen
Schillerfeſten (1855 und 1859) an den Tag legten, ob—
wohl ſich damals im Zeichen Schillers die vaterländiſche
Hoffnung des deutſchen Volkes überhaupt einte. Die
fünfzigjährige Gedenkfeier an Schillers Tod hatte noch
mehr literariſches Weſen, wie ſie auch ein Literatur—
ergebnis zeitigte: für die Dresdner Schillerſtiftung
floſſen aus Alldeutſchland reiche Mittel zuſammen, um
verdienten Schriftſtellern im äußern Lebenskampf zu
helfen. 1859 aber, an Schillers hundertjährigem Ge—
burtstag, verband ſich Deutſchland in der Erwartung
ſeiner politiſchen Einigung zur Feier Schillers wie zu
der des Genius der Nation. Was etwa von Schiller—
krittelei in modernen Literatenkreiſen irrlichtelierte, in
einem Anſturm der Begeiſterung wurde es überrannt.
In ungezählten Reden und Liedern und Schriften floß
144 Jahrhundertfeier von Schillers Geburtstag
das Herz vom Dank an Schiller und vom Glauben an
Deutſchland zugleich über, in Schulen und Univerfi-
täten, an Bankettafeln und auf Marktplätzen; Gelehrte
und Politiker, Dichter und Handwerksmeiſter, Kaufleute
und Rechtsanwälte gaben das Gelöbnis der Treue,
das Herwegh nun in die Worte faßte:
Er wird ein Freund das deutſche Volk begleiten,
So lang das deutſche Volk beſteht.
Der greiſe Jacob Grimm wies darauf hin, daß ſich an
Schillers Sprachtalent und -kunſt das Schrift- und
Rededeutſch aller Neueren gebildet habe, daß die Mutter-
ſprache ſelbſt durch ihn gewonnen habe. Gutzkow rief:
„Er war der Erzieher ſeines Volkes; er lehrte es feſt—
zuſtehen dem Atem der Geſchichte! Das, das iſt das
Geheimnis unſerer Liebe zu Schiller! Die Erhebung
unſerer Herzen! Der Mut zur Tat!“ Der junge Fontane
feierte ihn als den Ergänzer Klopſtocks und Goethes:
Geboren war die Welt der Ideale;
Hell ſchien das Licht; nur für die nächtgen Zeiten
Gebrach uns noch das Feuer der Fanale,
Gebrach uns noch das Feuer, das von weiten
Zu Waffen ruft, von hohem Bergeskamme,
Wenns gilt, für Sitte, Land und Thron zu ſtreiten;
Gebrach uns noch die hohe, heilge Flamme,
Die unſern Sinn von Kleinheit, Selbſtſucht reinigt
Und uns zuſammenſchweißt zu einem Stamme,
Und Schiller kam — und Deutſchland war geeinigt.
Der Nachfolge des Künſtlers galt 1859 die preußiſche
Stiftung des Schillerpreiſes. Auf den Morgen dieſes
Jahres folgte der Mittag von 1870, und wieder war
Schiller und 1870; feine damaligen Denkmäler 145
Schiller dabei. Die für das Vaterland begeiſtert ſtritten,
unempfindlich gegen alle Beſchwerden des Krieges,
waren erfüllt von Schillerſchen Idealen: ſo bezeugte es
der Offizier und Archäologe Bötticher, und der Philo—
loge Birt fügte hinzu: „Wer das Jahr 1870 miterlebt
hat, der wird dies unſerm Schiller nie vergeſſen.“ Tell
und Wallenſteins Lager entſprachen auf allen deutſchen
Bühnen am beſten dem Gefühl der Nation in der großen
Stunde der Tat. Ja kurz danach blickte Raabe (1872
im „Dräumling“) auf die Feier von 1859 zurück „als die
wahre Geburtsſtunde der Einheit des deutſchen Volkes.“
1859 wurde der Grundſtein zu dem Denkmal Schillers
in Berlin gelegt, und 1871 wurde dies Werk von Begas
enthüllt. Hier und dort in Deutſchland bezeugte eine
Reihe andrer Schillermäler die Dankbarkeit jener Jahr—
zehnte für Schillers Schaffen. Am raſcheſten erhoben
ſie ſich zu Beginn der ſechziger Jahre nacheinander:
1862 in Mannheim und Mainz, 1863 in München und
1865 in Frankfurt am Main, Hannover und Hamburg.
In dem Heimatſtädtchen Marbach ſtand Schillers Bild
ſeit dem 9. Mai 1876 und in der öſterreichiſchen Kaiſer—
ſtadt ſeit ſeinem Geburtstag desſelben Jahres. In Wien
wurde zwar nach 1866 der Denkmalsplan unter
Schwierigkeiten, aber mit um ſo größerer Zähigkeit und
Begeiſterung gefördert; Hamerling kündete 1869:
Gen Norden weiſen ſoll ernſt und ſtill
Die Dichterhand von Erz —
Der Pfahl, der deutſche Lande noch trennt,
Er geht durch des Dichters Herz!
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 10
146 Neue Schillerausgaben
Beſſer als Denkmäler zeugten von der Größe der Wir-
kung Schillers in den ſechziger und ſiebziger Jahren die
damaligen neuen Geſamt- und Einzelausgaben ſeiner
Werke. Schiller wurde ja nicht nur gekauft, ſondern
auch geleſen, vorgeleſen und gelernt, von Eltern zu
Kindern, von der Jugend unter ſich. 1867 erloſch das
Cottaſche Privileg; in demſelben Jahre begann der
Reclamſche Verlag die rötlichen Heftchen ſeiner Univerſal—
Bibliothek auszuſenden: der Tell für zwanzig Pfennige!
Und dabei erſchienen zwiſchen 1862 und 1867 noch 17
Geſamt -und 62 Einzelausgaben von Schillers Werken
und in den nächſten ſieben Jahren nochmals faſt ebenſo—
viel. Großen Anklang fanden ſchließlich die illuſtrierten
Ausgaben, die des Hallbergerſchen Verlags in Stuttgart
und die des Groteſchen in Berlin: von der Hallberger—
ſchen waren 1882 52000 Stück abgeſetzt. 1876 wurde
auch die von Jacob Grimm 1859 geforderte große kritiſche
Ausgabe wiſſenſchaftlicher Beſtimmung für Schiller
vollendet, durch Karl Goedeke und eine Reihe gewiſſen—
hafter Mitarbeiter. Und neben der Geſamtausgabe
ſtand die Biographie im Hausbücherſchrank: ausführlich
und beredt, zuverläſſig und begeiſtert genug ſchrieb
Palleske ſein Buch „Schillers Leben und Werke“ zum
Jubiläum 1859, daß es dreißig Jahre lang als die deutſche
Schillerbiographie dienen konnte.
Die Bühne diente vor allem zur Unterhaltung mit
Luſtſpielen und Poſſen; alles ernſte neue aber vermochte
Schiller und Goethe nicht in den Schatten zu ſtellen.
Die Bühne und die Klaſſiker 147
tamentlich bewährte ſich jetzt die von Gottſchall in den
fünfziger Jahren achſelzuckend anerkannte „feuerfeſte
Klaſſizität“ Schillers. Damals fingen Hof- und größere
Stadttheater an, ab und zu billige Volksvorſtellungen
von einem der Weimarer Werke zu geben. Feinere
Beurteiler kamen freilich nur gern, wenn ein berühmter
Gaſt eine Rolle beſonders ſehenswert erwarten ließ.
Zu Anfang der ſechziger Jahre, wo der neue Geiſt recht
friſch hervortrat, konnte man Klage darüber hören, daß
die klaſſiſchen Dramen weniger anzögen als früher;
1867 aber klang es wieder: „Wer kennt unſern Schiller
nicht faſt auswendig? Dennoch ſind ſeine Trauerſpiele
noch bis zur Stunde, wo ſie durchgängig gut dargeſtellt
werden, Kaſſaſtücke und machen vollere Häuſer, als
irgendeine noch unbekannte Novität zu erzielen vermag.“
Als 1870 die Gewerbefreiheit auch im Theaterbetrieb
ſtattfand, bemächtigten ſich ſofort beſſere Nebenbühnen
des guten Schauſpiels, und etwa bis 1877 waren nun
in Berlin auf dem Nationaltheater, im Bellealliance—
theater und im Stadttheater vor allem Schiller und
Shakeſpeare neben Benedix und Gutzkow, Hebbel und
Ludwig oft zu ſehen. Das Berliner Hofſchauſpiel zeigte
in dem Jahrhundert von 1786 bis 1885 in ganzen 1926
Aufführungen Schillerſcher Dramen neben 1760 von
Shakeſpeare und 832 von Goethe; über 200 mal wurden
hier die Jungfrau von Orleans, Maria Stuart, Don
Carlos und Wallenſteins Tod geſpielt, Fauſt 194 mal,
ebenſooft wie Kabale und Liebe. An der Wiener Hof—
10*
148 Laubes Regie
burg, wo bis 1850 Maria Stuart das beliebteſte Trauer⸗
ſpielgeweſen war, traten nun die Räuber und Wallenſtein
in den Vordergrund. Daß dieſe Aufführungen von den
fünfziger bis in den Beginn der achtziger Jahre an Güte
freilich im ganzen mehr ab- als zunahmen, ſcheint kaum
zu bezweifeln zu ſein. 8
Hervorragende Verdienſte um die Darſtellung klaſſi—
ſcher Dramen hatten damals Laube und Dingelſtedt.
Heinrich Laube leitete von 1850 bis 1866 das Burgtheater,
dann kurze Zeit das Leipziger Stadttheater und ſchließlich
bis 1878 das Stadttheater in Wien. Nicht im Sinne
der weimariſchen Schauſpielkunſt, wie ſie ihm in all-
mählicher Verbildung namentlich auf mitteldeutſchen
Bühnen entgegentrat. Er knüpfte, ſeiner Zeit und
Perſönlichkeit gemäß, lieber an die natürliche Wahrheits—
kunſt der Hamburger Dramaturgen vor hundert Jahren
an, an Leſſing und Schröder. Wohl verſtand er, was
Weimar für die deutſche Tragödie großes und neues
bedeutet hatte; aber er glaubte auch den Keim zur Miß—
bildung in der antikiſierenden Figurenplaſtik Goethes,
in der gelegentlichen Anlehnung an franzöſiſchen Konven—
tionalismus zu erkennen. Laubes plaſtiſcher Sinn war
mehr auf das Geſamtgeſchehen auf der Bühne gerichtet;
ihn ſtörte — wie viele ſeiner friſch empfindenden Zeit—
genoſſen — die ſpätweimariſche Deklamation, er hatte
die entſchiedene Empfindung, der weimariſche Jamben—
geſang ſei als übertrieben und überlebt abzuweiſen.
Aus den weimariſchen Spielplänen waren Iffland und
Dingelſtedts Bühnentechnik 149
Kotzebue verſchwunden, die einſt dort die breite Wirk—
lichkeitsunterlage gebildet hatten, die klaſſiſche Pflanze
hatte damit an brauchbarer Krume verloren, und den
neuen Realismus ſeit Mitte des 19. Jahrhunderts dem
alten Klaſſizismus als Nährboden unterzufügen, war
keine leichte Aufgabe. Niemand hat ſeinerzeit daran
mit ſo viel Bewußtſein und Kraft gearbeitet wie Laube;
ohne Härte ging es nicht ab, wie er auch Schillers
Demetriusfragment ohne Rückſicht auf Schillers Plan
ergänzte, ja ohne den Verſuch, im Schillerſchen Tone
fortzufahren. Dingelſtedt war 1851 bis 1856 Intendant
an der Münchner Hofbühne und, nach einer zehnjährigen
Tätigkeit in Weimar, Laubes Nachfolger an der Burg
bis 1881. Er übertraf Laube als glänzender Bühnen—
techniker in der Herausarbeitung großer Geſamteindrücke,
im prächtigen Dekorations- und Statiſtenweſen; ſeine
erſte „Tat“ war der Münchner Klaſſikerzyklus von 1854,
wo Kabale und Liebe den Vogel abſchoß; in Wien
ſetzte er zuerſt den ungeſtrichenen Carlos mit Poſas
Forderung der Gedankenfreiheit 1879 durch. Als er
Laubes Eſſex aufzuführen gedachte, ein Werk, das
halb im Zeichen der Maria Stuart, halb gegen ſie
erfunden war, meldete er es einem Freunde mit dem
Zuſatz: „Heinrich, mir graut vor dir!“ So ſtanden dieſe
Herren, widerwillig und folgſam, bewußt und unbewußt,
unter dem Einfluß Weimars.
In Dresden ſpielte um 1860 noch Emil Devrient, der
——
Liebling des vorigen Zeitalters, den Taſſo in älterer, ideal
150 Muſteraufführungen
gerichteter Weiſe; neben ihm ſtand fein großer realiſti⸗
ſcher Rival Dawiſon als Antonio. Die Dresdner Jugend
genoß es als höchſtes Bühnenerlebnis, den Streit dieſer
Männer zu vernehmen, der urſprünglich ein Streit in
Goethes Bruſt geweſen war und jetzt zum Wettſtreit
der Zeiten und der Darſtellerperſönlichkeiten wurde,
den Streit aus Anlaß des Kranzes; noch entſchied ſie
ſich vielleicht lieber für Taſſo-Devrient bei deſſen
Worten „Sei erſt ſo groß, mir ihn nicht zu beneiden“,
bis Antonio mit der Zeit an Beifall gewann. Ebenbürtig
dieſen Männern ſpielte als Prinzeſſin die Bayer-Bürck,
nach Laubes Urteil auch die beſte Iphigenie ihrer Zeit.
In Wien ſtanden 1858 unter Laube zum erſtenmal
Sonnenthal als Clavigo und Lewinski als Carlos neben—
einander, der eine liebenswürdig, ſenſitiv, launiſch, der
andre geſcheit, trocken, konſequent. Es war kein jo
beziehungsreicher Gegenſatz wie im Dresdner Taſſo,
aber mit gleichmäßiger Naturtreue wurde hier die
poetiſche Atmoſphäre erfüllt und der Zeitgeiſt des
ſterbenden Rokoko gebildet; jahrzehntelang blieb dieſes
Paar typiſch. Die berühmteſte damalige Gaſtſpielerin,
die Wolter, bevorzugte die glänzenderen neuern Rollen
einer Medea und Meſſalina; auch der Ziegler lagen dieſe
wohl beſſer, während ihre Johanna eine manierierte
Heroine war. Die Geſamtgaſtſpiele der Meininger in
den ſiebziger und achtziger Jahren trieben die Ge—
ſchichtswahrheit der Ausſtattung auf die Spitze, boten
aber auch künſtleriſch ſo wertvolles, daß ſie als neue
Goetheausgaben 151
Erfüllung neben den ausgetretenen Bahnen der orts—
üblichen Klaſſikervorſtellungen erſchienen.
All dieſe Bühnenarbeit, ſoweit ſie den weimariſchen
Werken gewidmet war, diente mehr Schiller als Goethe,
und auch das volle Maß der lauten Nationalbegeiſterung
für Schiller war Goethe nicht beſchieden. Im ſtillen
aber eroberte er ſich das Geſchlecht der Enkel ebenſo—
gut, ja mit ſteigendem Erfolge, während der Schillers
nachließ. In den Jahren von 1868 bis 1874 erſchienen
neben 17 Geſamt- und 96 Einzelausgaben von Schiller
27 Geſamt⸗ und 162 Einzelausgaben von Goethe.
Darunter waren zwei Reclamſche Goetheausgaben,
eine große in 45 Bänden und eine Auswahl in 16 Bänden
— Goethes Fauſt wurde Nr. 1 und 2 der Reclamſchen
Hefte —, ſowie die erſte illuſtrierte Goetheausgabe des
Groteſchen Verlags, die 1870 in zwanzig Bänden fertig
wurde und in den folgenden vier Jahren vier neue
Auflagen erlebte. Vor den vielen Cottaſchen Drucken
ſicherte ſich die Ausgabe des Berliner Verlegers Hempel
damals den beſten wiſſenſchaftlichen Ruf: ſie erſchien
allmählich heftweiſe in 36 Teilen in den Jahren 1868
bis 1879. Über Goethes Leben konnte man ſich in
der nüchternen Biographie von Viehoff unterrichten —
viermal zwiſchen 1847 und 1876 aufgelegt — zog aber
meiſt das wohlwollende Buch des Engländers Lewes
vor — ſeit 1857 fünfzehn deutſche Auflagen in dreißig
Jahren —, bis Herman Grimms geiſtreiche Berliner
Goethevorleſungen — in drei Buchauflagen zwiſchen
152 Goethegemeinde
1876 und 1882 — einen künftig einzunehmenden höheren
Standpunkt andeuteten. Ohne Frage war es vor allem
die Goethiſche Lyrik, die immer wieder von neuem an
den Dichter feſſelte, und ſo war es auch der lyriſchſte
unter den jüngeren Bildhauern zu Ende des Zeitalters,
Schaper, deſſen Goetheſtatue im Wettbewerb für Berlin
endlich ſiegte und 1880 im Tiergarten enthüllt wurde.
Schiller wirkte auf das Zeitalter einheitlich wie ein
ſtarkes Licht mit ſeinem Schatten daneben; Goethes
Kunſt und Weſen wurde in vielfarbiger Brechung auf—
genommen. Die wachſenden Ausgabenziffern zeugten
von ſeiner Verehrung in die Breite. Aber wie im
verborgenen blühte darunter die „ſtille Gemeinde“
Goethes, für die wenige Kenner und Gelehrte ihre
Privatdrucke verſandten: Goethes Teplitzer Verschen
auf einem Guldenſchein an Chriſtine von Ligne wurde
„zur kleinen Erbauung der ſtillen Gemeinde am
22. März 1860 verteilt von W. Freiherr von Bieder—
mann“ und das „Tagebuch“ 1861 von Hirzel. Nur
zum Verſchenken ließ Hirzel auch die drei Verzeichniſſe
ſeiner Goethebibliothek 1848, 1861 und 1874 drucken;
erſt 1884 brachte ſein Neffe eine letzte Ausgabe in den
Handel. Unter den Journaliſten kam es auf, x-beliebige
Themata mit einem Goethewort anzuſchneiden; wer
von der Hamburger Börſenſpekulation reden wollte,
begann mit dem Vers von dem Kerl, der ſpekuliert.
Erlebte doch auch Büchmanns Sammlung geflügelter
Worte in den zwanzig Jahren von ihrem erſten
Neuere Literaturgeſchichte und Goethephilologie 153
Erſcheinen (1864) bis zu Büchmanns Tode dreizehn
Auflagen, und nächſt der Bibel hatten Goethe und
Schiller die meiſten Zitate darein geliefert. Um die
Mitte des Jahrhunderts überwog das ſachliche Intereſſe,
um 1880 trat das künſtleriſche wieder deutlicher hervor.
Daher erweckte das Buch des Oſtpreußen Alexander Jung
„Goethes Wanderjahre und die wichtigſten Fragen des
19. Jahrhunderts“ ein ſoziologiſches Echo; ſpäter ſpielte
Karl Hillebrand den Verfaſſer des Wilhelm Meiſter
gegen die angeblich überall herrſchende moraliſtiſche
Abſicht der neuſten Romanſchriftſteller aus, und Victor
Hehns „Gedanken über Goethe“ wurden ein Buch nach
dem Herzen kunſtfähiger Goethefreunde.
Für die Schillerpflege, noch mehr aber für die
Goethekenntnis des Zeitalters war es ein Vorteil,
daß damals neuere Literaturgeſchichte unter den kultur—
geſchichtlichen Teilwiſſenſchaften faſt eine Modewiſſen—
ſchaft war, obwohl noch ein Stiefkind der Univerſitäten.
Mag die ganze Erſcheinung etwas nachzügleriſches zu
dem Jahrhundert von Leſſing bis Uhland haben, an
ſich war ſie neu, und ſie war notwendig, um der Gegen—
wart und Zukunft die Wege zu den Quellen der klaſſi—
ſchen Dichtung offen zu halten. Der erſte Univerſitäts—
profeſſor für dieſe Wiſſenſchaft war Prutz in Halle,
und 1851 hieß es in dem Proſpekt zu der erſten, von
ihm herausgegebenen Zeitſchrift ſeines und verwandter
Gebiete, zu dem Deutſchen Muſeum: „Eine bedeutende
Stelle namentlich wird es der Literaturgeſchichte ein—
154 Scherer; Schöll, Bratranek, Boas
räumen, dieſer für das Volksbewußtſein ſo wichtigen,
darum auch in jüngſter Zeit mit Recht ſo beliebt ge—
wordenen Wiſſenſchaft.“ Schiller vermochte die tätigen
mehr zu begeiſtern, Goethe tat den beſchaulicheren
wohler, und ſo entſtand zuerſt die Goethephilologie:
von ihr ſprach man ganz vereinzelt ſeit Beginn der
ſechziger Jahre, bis 1877 Scherer ihre Fahne mit Alarm
aufhob.
So nachgoethiſch wie Schöll hat fie freilich damals
nicht jeder betrieben. Der ſah es 1851 als etwas
tröſtliches an, daß die Beſchäftigung mit Goethe mehr
und mehr „an die lebendige Form herantrete.“ Für
ihn war der Punkt des Intereſſes, daß man das Schöne
und Bedeutende natürlich entſtehen, das Auszeichnende,
Widerſprechende, Bemerkenswerte aus dem hervorgehen
ſehe, was allen Menſchen gemein ſei — man denke
an Goethes Metamorphoſenlehre. Er zuerſt ſagte
dem alten Optimismus ab, der die Darſtellung Goethes
mit einem zu heiter epiſchen Schimmer überzogen
habe, und er ſprach aus: „Am Genie ſtellt ſich das
Natürliche reiner dar als an gewöhnlichen Menſchen
von kollektiver und verworrner Beſtimmung.“ Verwandt
ſolcher Betrachtung, überdies naturwiſſenſchaftlich unter—
richtet, waren die Studien Bratraneks, der allein das
Vertrauen von Goethes Erben beſaß und mit ſeinem
Werk über Egmont und Wallenſtein beiden Klaſſikern
huldigte; das tat auch Boas in dem anſpruchsloſen,
aber gründlichen und erfolgreichen Werke „Schiller und
Loeper, Düntzer, Bernays, Hildebrand 155
Goethe im Xenienkampf“ (1851). Herr von Loeper
in Berlin, von 1854 bis 1886 im hohenzolleriſchen
Hausminiſterium tätig, hatte als Gymnaſiaſt mit Goethe—
kollektaneen begonnen und trieb es ſo fort als treu
ergebener Liebhaber, dem Goethe Führer durchs Leben
wurde, der Hauptmitarbeiter an der Hempelſchen Aus—
gabe. Düntzer in Köln lieferte 83 Heftchen „Erläute—
rungen zu den deutſchen Klaſſikern“, darunter allein
1863 bis 1865 ſieben Bändchen Kommentar zu Schillers
Gedichten, durch Plattheit und Rechthaberei unzulänglich,
aber durch Vielwiſſen ihrer Zeit unentbehrlich. Bernays
in München verfolgte die Idee, die Methode der klaſſi—
ſchen Philologie in aller Strenge auf das Gebiet der
neueren Literaturgeſchichte zu übertragen, am präziſeſten
in ſeiner Erſtlingsſchrift „Über Kritik und Geſchichte des
Goethe'ſchen Textes“; als Rezitator volltönend und als
Profeſſor wortreich genoß er ſelbſtgefällig den Abglanz
der Literatur wie keiner. Außerlich am erfolgreichſten
bereitete ſchließlich Scherer die Goethephilologie und
verwandtes dem nächſten Dozentengeſchlecht vor. Tiefer
als alle wirkte Rudolf Hildebrand mit dem Gedanken, die
volkstümliche deutſche Weltanſchauung mit der Goethes
und Schillers zu vereinigen; dahin zielte er als Leip—
ziger Univerſitätsprofeſſor, dazu lieferte er als beſter
Mitarbeiter am Grimmſchen Wörterbuch unermüdlich
Beiträge, vor allem in den großen Artikeln: Geiſt,
Gemüt, Genie.
Hildebrand hatte in dieſem Sinne auch einigen
156 Die Schule und die Klaſſiker
Einfluß auf die Schule, als Gymnaſiallehrer wie durch
ſein Buch vom deutſchen Unterricht (zuerſt 1867).
Errang man doch erſt jetzt für Schiller und Goethe
einen feſten Platz in den Mittelſchulen. Sachte genug,
und unter Kampf. Hieckes Aufforderung, „unſere
Schüler unter Leſſings, Schillers und Goethes freudig
flatternde Paniere“ zu ſcharen (1849), fand nicht ſo
ſchnell Nachfolge, wie Raumers Abhandlung „Über
den Unterricht im Deutſchen“ (1852) annahm; 1854
ordnete in Preußen Stiehls Regulativ für die Lehrer—
ſeminare ſtreng an, die „ſogenannte klaſſiſche Literatur“,
d. h. die deutſche, fernzuhalten. In den ſechziger Jahren
ging es aber vorwärts. Als Eckſtein 1863 das Rektorat
der Leipziger Thomasſchule antrat und den deutſchen
Unterricht in Prima übernahm, begründete er ſeine
Erklärung vor den Kollegen, Leſſing und Goethe ein—
gehender traktieren zu wollen, damit: die Schüler
müßten auch etwas zum Begeiſtern haben; er, der erſte
Lateiner unter den damaligen Schulphilologen, ſtellte
damit die heutige Begeiſterungskraft von Virgil und
Horaz und doch auch von den Griechen in Frage. Noch
immer gab es Lehrer wie den alten Weber in Weimar,
die zwar ihren ganzen außerdienſtlichen Kunſt- und
Wiſſenſchaftstrieb den deutſchen Dichtern widmeten,
aber in der Schule lieber die Fineſſen der lateini—
ſchen Grammatik in die Köpfe meißelten. Der freie
lateiniſche Aufſatz galt noch überall als der Gipfel der
humaniſtiſchen Bildung; es erſchien als Verwegenheit,
Vom deutſchen Unterricht 157
an dieſem Platz ſich den deutſchen Aufſatz zu denken.
Einen breiten Raum beſetzte die pädagogiſche Literatur
über die antiken Schriftſteller, die Schulausgaben von
dieſen; ein ſchmales Rinnſal bildeten daneben ein paar
Sentenzenſammlungen aus Goethe u. a. als Themata—
vorrat zu deutſchen Aufſätzen und in den ſiebziger Jahren
die erſten Schulausgaben deutſcher Klaſſikerdramen.
Und wie oft litt der neue Unterricht noch daran, daß
man zunächſt die epigoniſch-philologiſche Methode
des altklaſſiſchen Betriebs von 1835 jetzt um 1865 einfach
auf das deutſche Gebiet übertrug! Bei dem Durchkauen
von Schillers Verhältnis zu ſeinen Balladenquellen
und dem Auswägeln der guten und ſchlechten Versfüße
in Hermann und Dorothea verging manchem Schüler
die Luſt, dieſe Dichtungen je wieder aufzuſchlagen.
Und doch war ſchließlich auch jetzt ſchon der Nutzen
größer als der Schade, auch wo nur ein grober Eindruck
von dem Nationalwert der Klaſſiker blieb. In un—
zähligen Schulklaſſen zeigten doch die Weimarer Werke
der Jugend deutſche Wahrheit und Schönheit.
So beteiligte ſich alt und jung im dritten Geſchlecht,
viele tauſende von lebendigen Verhältniſſen zu den
größten deutſchen Dichtern der Neuzeit anzuknüpfen,
zu unterhalten. Und neben Schule und Bühne, Haus—
leſe und Feſtrede halfen vermehrter Notendruck und
Klavierbau und führten den Goetheliederſegen der
Schubert und Zeitgenoſſen als Haus- und Konzertmuſik
dem zweiten Geſchlecht erſt recht in Fülle zu. War
158 Philoſophie, Naturwiſſenſchaft, Poeſie
aber die Einwirkung auf die ſchöpferiſchen Geiſter in
Wiſſenſchaft und Kunſt noch ſo ſtark wie früher?
Man darf Lotzes „Mikrokosmus“ (1856—1869) das
Werk nennen, das als giltige Philoſophie der Zeit durch
die Anerkennung der Natur als letzten Schöpfungs—
zweckes und Aufſtellung von Modellen mehr als Typen
des Lebens von Goethes geſamtem Denken einen Strahl
empfangen hatte und weitergab. Die Naturwiſſen⸗
ſchaft ſebſt ging damals überwiegend rein induktiv vor
und wehrte Goethes Ideen mehr ab, als daß ſie ſich
unmittelbar produktiv von ihnen hätte beeinfluſſen laſſen.
Die Dichter wußten, was ſie trotz mancher Einzel—
kritik an Schiller und Goethe hatten. Hebbel ließ ſich
in ſeiner Todesſtunde den „Spaziergang“ vorleſen.
Keller und Anzengruber wichen von einer tiefen Ver—
ehrung Schillers nie ab. Als ſich zu Anfang der achtziger
Jahre bei einer Verſammlung am Bodenſee ein Ecktiſch
von Gäſten zuſammengefunden hatte, Lingg, Scheffel,
Meißner, bei denen auch Rittmeiſter von Schiller ſaß,
ein Enkel des Dichters, und ein Trinkſpruch auf dieſen
Dichterwinkel ausgebracht wurde und der Rittmeiſter
für ſeine Perſon abwehrte, er ſei bloß Enkel, nicht
Dichter, rief Scheffel: „Wir ſind alle Enkel Schillers.
Hoch Schiller! hoch! hoch!“ Und Hamerling hat bekannt,
zu Goethes Fauſt, Iphigenie, Pandora und den lyri—
ſchen Gedichten kehre er immer und immer wieder zurück.
Wie hätte die ſchöpferiſche Bereicherung da ganz aus—
bleiben ſollen! Nannte man doch Paul Heyſe ſeit den
Lyrik, Epos, Drama 159
fünfziger Jahren den Erben Goethes. Die damalige
Lyrik wurde als Rückkehr zur Natur gegenüber der poli—
tiſchen Dichtung der vierziger Jahre empfunden, und „zur
Wahrheit und Natur zurückführen“ war damals in vieler
Munde, auch wenn unter dieſem Luftzug manchmal
im Garten der deutſchen Lyrik nur charakterloſe Minder—
jährigkeit grünte. Gerade in der Lyrik war die ge—
wollte Reinheit der Natur am wenigſten zu ſpüren,
hier blieb ein feiner klaſſiſcher Firnis, bei Geibel wie
bei Heyſe. Selbſt Hebbels „Mutter und Kind“ möchte
künſtleriſch ein Zwilling zu Hermann und Dorothea
ſein. Neue Sprößlinge, vorläufig am alten Spalier
gezogen.
Am beſten gelang die Verbindung von Alt und Neu
in der Proſa, hier mußte ſich das Wirklichkeitszeitalter
ganz offenbaren. Keller hat wohl an Goethes Proſa
am meiſten wirklich gelernt, weniger Auerbach, Heyſe,
Wilbrandt; auch in Technik, ja Stoffwahl knüpften ſie
mehr oder minder an Wilhelm Meiſter an. Anderwärts
blieb es bei der Kopie: Richard Wagner gefiel ſich ſpäter
in der hochſtiliſierten Sprache des alten Goethe wie in
einem fremden Königsſchlafrock. Eine ähnliche Er—
ſcheinung waren die Schillerepigonendramen der ſech—
ziger und ſiebziger Jahre, zum Teil mit dem Schiller—
preis gekrönt wie 1866 Lindners Brutus und Collatinus,
1869 Geibels Sophonisbe und 1878 Niſſels Agnes von
Meran; der Preis war geſtiftet in erſter Linie für Dramen
ernſten Charakters, die ſich dem klaſſiſchen Stil Schillers
160 Neue Muſik zu Goethes Liedern
annäherten. Mit einem wilden Schoß, dem Schwank
„Fauſt und Gretchen“, hatte 1856 der Berliner Poſſen⸗
fabrikant Jacobſon ſeinen erſten großen Erfolg im
Friedrich-Wilhelmſtädtiſchen Theater.
Wie die Nachwirkung Weimars auf die Dichter im
Zeitalter der Reichsgründung ſchwächer war als in den
vormärzlichen Jahrzehnten, ſo wurden nun auch die
weimariſchen Lieder ſeltner komponiert. Für den
größten Teil von ihnen durfte man ſagen: der Bedarf
war gedeckt durch das, was das vorige Geſchlecht an
Muſik zu Goethe und Schiller geſchaffen hatte. Kuhlaus
Über allen Gipfeln iſt in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts noch über dreißigmal neu gedruckt worden,
und wie viele Schubertſche Goethe-Lieder wurden jetzt
erſt zum erſtenmal aus ſeinem Nachlaß veröffentlicht!
Die kleineren Formen der Reichardt und Zelter genügten
dem neuern Muſikſinne nicht mehr und waren aus der
Hausmuſik verſchwunden, die reicheren aber von Schu—
bert bis Schumann fanden in den fünfziger bis achtziger
Jahren ihre größte Verbreitung. Wer als Komponiſt
muſikaliſch darüber nicht hinausgehen wollte, blieb ge—
wöhnlich hinter dieſen Muſtern zurück wie etwa Taubert
mit ſeinem neuen Heidenröslein oder die Meinardus,
F. Hiller u. a., wenn ſie „An den Mond“ auf ihre Weiſe
komponierten. Wer wie Jenſen im „König von Thule“
ſchärfere Dramatik, rezitativiſchere Teile, erhitzendere
Harmonik einführte, zerſtörte damit den urſprünglichen
Liederton. In ſeinem neuen Mignonlied erreichte
Jenſen, Bruch 161
Jenſen zwar Schumanns Grazie, aber die kehrreimende
Frage „Kennſt Du das Land“ wiederholte er ſo oft,
daß er das urſprüngliche Ebenmaß goethiſchen Emp—
findens barock ſchwächte. Immerhin wurde von
den vier beliebteſten Liedern Goethes neu komponiert
„Der du von dem Himmel biſt“ für Einzelgeſang etwa
vierzigmal und außerdem für Männerchor über zwanzig—
mal, „Über allen Gipfeln“ für Einzelgeſang etwa dreißig—
mal und für Männerchor etwa zwölfmal und „Fülleſt
wieder Buſch und Tal“ und „Erſter Verluſt“ auch für
eine Singſtimme jedes etwa dreißigmal: welches Zeug—
nis dafür, wie Goethes Naturgefühl auch in dieſem
Geſchlecht weiter lebte! Nur ganz wenige Komponiſten
griffen zu Herders Liederſammlungen. Schiller forderte
zu einigen großen neuen Werken für Chor und Orcheſter
auf, die geſteigerte Kraft dieſer Mittel an ſeinen Ge—
danken zu erproben. 1879 veröffentlichte Bruch ſeine
prächtige Kompoſition des Liedes von der Glocke.
Der bedeutendſte Geſangskomponiſt des Zeitalters
war Brahms. Man hat ſich gewundert, daß er nicht
mehr Lieder von Goethe komponiert habe, und doch
hat er nächſt der Bibel nirgends ſo oft wie bei ihm
einen Text entnommen, im ganzen ſechzehnmal. Er
empfand — ähnlich wie der Muſikhiſtoriker Spitta —
das meiſte von Goethes Lyrik als geſättigte Kunſt und
geſtand einmal: „Die letzte Strophe des Schubertſchen
Suleika⸗Liedes Was bedeutet die Bewegung? iſt die
einzige Stelle, wo ich mir ſagen muß, daß Goetheſche
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 11
162 Brahms
Worte durch die Muſik wirklich noch gehoben worden
ſind. Sonſt kann ich das von keinem andern Goetheſchen
Gedichte behaupten. Die ſind alle ſo fertig, da kann
man mit Muſik nicht an.“ Dazu kam, daß Brahms
andrerſe its die vorhandnen guten Goethekompoſitionen
höchlich achtete — „das iſt ſchon gemacht“ ſagte er dann
barſch —; nichts lag ihm ferner, als blinde oder eifrige
Konkurrenzmacherei. So ſchlug er ſeine ſehr einſamen
Wege durch Goethes Lyrik ein, und es mußten ſchon
ganz beſondre Kunſtnotwendigkeiten oder Reizmöglich—
keiten ſein, was ihn ab und zu zur Kompoſition Goethes
aufrief. Dabei entſtanden dann — in den Jahrzehnten
von 1857 bis 1877 gelegentlich — ſo köſtliche Dinge
wie ſein echtes Sonett „Die Liebende ſchreibt“ — trotz
Schubert und Mendelsſohn —, ſein ſchlichter wunder-
barer „Troſt in Tränen“ und das Natur und Empfin—
dung ſpiegelnde „Dämmrung ſenkte ſich von oben“ oder
das luſtſtrotzende Trinkerlied „Hab ich tauſendmal ge—
ſchworen.“ Fein und ſicher hat Brahms einzelne
Lieder entdeckt, die eine unausgeſprochene Aufforderung
Goethes zum Duett, zum Quartett enthielten; wie er
auch Herderſche Liebeslyrik in den ſchönſten Duetten
geſungen hat. Und ſo durfte er ſich wohl Goethes
Kantatenvorwort geſagt ſein laſſen:
Möge dies der Sänger loben,
Ihm zu Ehren wards gewoben;
er veröffentlichte als op. 50 den Rinaldo. Im Som—
mer des Jahres 1863, am Strande von Blankeneſe,
Geſänge mit Orcheſter 163
zwiſchen Gärten und Flut, wohin er ſich aus dem üp—
pigen Wien und der Nähe der leidenſchaftlich bewunder—
ten Sängerin Duſtmann zurückgezogen hatte, wob der
Dreißigjährige das Werk muſikaliſch aus widrigen Wind—
zügen, ruckenden Ruderſchlägen und andern Geheim—
niſſen der Rhythmen und Inſtrumente, der Liebe und
Tatenluſt. Das Nebeinander von Heldentenorſolo und
Männerchor im Rinaldo rief dann bald das ſchönere
Paar von Altſtimme und Männerchor für die Rhap—
ſodie aus Goethes Harzreiſe hervor: mit dem Gebet
des Dichters für den unglücklichen Pleſſing verſchmolz
das Brahmsſche für den vereinſamten Geiſt des ihm
befreundeten Malers Feuerbach. 1868 am Strande
von Wilhelmshaven ſang er Schillers edelſtem Schüler
Hölderlin das Schickſalslied nach, als für ihn die Worte
des an jenem Sommermorgen eben erſt gefundenen
Hyperion Wahrheit waren: „Ich blieb am Ufer, blickte
ſtill, von den Schmerzen des Abſchieds müd, in die
See, von einer Stunde zur andern.“ Als Feuerbach
1880 ſtarb, ſtimmte Brahms Schillers Nänie zu ſeinem
Gedächtnis an. Und ſein letztes großes Chor- und
Orcheſterwerk entſprang wieder aus einem Eindruck
der Wiener Bühne: das Parzenlied Iphigeniens, von
der Wolter geſprochen, ſetzte in dieſer zu engen Form
die ganze Seele des Muſikers in Bewegung und ge—
wann in ſeiner Kunſt größere Geſtalt.
Indeſſen wuchs die Teilnahme der bildenden Künſte
an der weimariſchen Dichtung. Die einen trieb ihr
11*
164 Illuſtration und Hiſtorienbild
neues Talent für Genrebildchen zur Illuſtration von
Hermann und Dorothea oder Fauſt oder dem
Lied von der Glocke — das waren die Ramberg,
Kreling, Liezen-Mayer. Wenn ein Maler wie der
Bayer von Heckel zu Anfang der fünfziger Jahre mit
ſeinen Genreſtücken Glück hatte, ſo ſtellten ſie Mignon
und den Harfner oder Gretchen am Spinnrade dar; und
wenn der Berliner Amberg 1870 fünf junge Mädchen
im Buchenwald beim Vorleſen malte, was hätte er
anziehenderes darunterſchreiben können als „Vorleſung
aus Goethes Werther“? Die illuſtrierte Klaſſikerausgabe
wurde Mode, und gegen 1880 war ein Hauptſchmuck
des Mitteltiſches der „guten Stube“ womöglich eine
Prachtausgabe von Hermann und Dorothea oder ein
photographiſcher Schillerzyklus, auch wenn jener Auf—
bewahrungsort und ſolche Aufmachung eher geeignet
war, den Dichter ſelbſt in unverſtändlicher Entfernung
zu halten. Die Hiſtorienmaler wetteiferten mit der
Bühne und ſchlugen nun gern nächſte Nebenwege zu
den bekannten Theaterbildern ein: ſo malte Schrader
1850 Wallenſtein und Seni, Piloty 1855 Seni an der
Leiche Wallenſteins und 1860 Wallenſteins Zug nach
Eger, und um 1870 wandten ſich beide Maria Stuart zu:
Piloty malte, wie ſie ihr Todesurteil anhört, Schrader,
wie Eliſabeth das Urteil unterzeichnet, und „Maria
Stuarts letzte Augenblicke“. Gabriel Max ließ Fauſt
jahrelang kaum aus der Hand und gewann ihm mehrere
Olgemälde ab wie 1873 „Gretchen in der Walpurgis—
Feuerbach und Böcklin 165
nacht“ und einen Zyklus von Zeichnungen für den
Holzſchnitt in Rembrandtſcher Manier; ſein bizarrer,
dem kranken Grauen geneigter Sinn erdachte auch „die
Jungfrau von Orleans auf dem Scheiterhaufen.“
Für die griechiſchen Geſtalten der Klaſſiker hatten
die bildenden Zeitgenoſſen meiſt weniger Verſtändnis.
Wiederholt zogen nur Hero und Leander an; ſie wurden
1865 von Victor Müller, 1880 von Keller gemalt. Die
Iphigenie der Zeit ſchuf 1862 Feuerbach, beſtrebt,
Goethes ganze Prieſterin in den Vers zuſammenzufaſſen
„das Land der Griechen mit der Seele ſuchend“,
womit er zugleich die Sehnſucht eines unhelleniſch
geſtimmten Zeitalters verkündete und ſo doch anders
als Goethe wirkte. Er fühlte ſich außer dem gelobten
Lande; Böcklin trat an der Wende des Zeitalters (1878)
keckeren Schrittes ein in die „Gefilde der Seligen“,
wo über das tiefe blaue Waſſer zwiſchen Schwänen
Helena auf Chirons Rücken getragen wird, wie die
Worte der klaſſiſchen Walpurgisnacht es andeuteten.
Auch in der Plaſtik konnte man beobachten, wie ſich
allmählich aus deutſchem Realismus die Achtung vor
dem Griechentum der Erſcheinung wieder erhob, z. B.
begann der bayriſche Bildhauer Hirt gegen 1860 mit
etwas opernhaften Statuetten und Gruppen wie Fauſt
und Gretchen, Heidenröslein und ähnlichem aus
Hermann und Dorothea und wandte ſich ſpäter an—
tiken Stoffen zu.
So wirkte Altweimar mit tauſend goldnen Fäden
166 Dichterenkel
zu der Einheit mit, die 1871 in eiſerner Politik geknüpft
wurde. Auch die beiden Enkel Goethes haben damals
geſchriftſtellert und komponiert, ohne Bedeutung für das
Vaterland. Ein Enkel Schillers aber, Graf Gleichen—
Rußwurm, erwarb ſich einen guten Namen in der
deutſchen Landſchaftsmalerei; er gehörte der jungen
Weimariſchen Schule an. Was brachte das neue
Weimar überhaupt ins neue Reich mit?
Neue Politik, neue Wiſſenſchaft
Großherzog Carl Alexander übernahm die weima—
riſche Regierung am 8. Juli 1853 im Alter von fünf
unddreißig Jahren. Er war zu feinſtem Verſtändnis
der klaſſiſchen Überlieferungen erzogen, aber auch zu
einſichtiger Beurteilung und gewandtem Ergreifen
gegenwärtiger Bewegungen. Beides trachtete er im
Zuſammenhang zu erhalten, und es glückte ſeiner fein—
fühligen Hand, indem er in die neue konſtitutionelle
Regierungsform friſch hineingewachſen war. Seine
Gemahlin Sophie war nicht minder zur Herrſcherin
geboren, eine echte Oranierin an Selbſtzucht und An—
ſpruchsloſigkeit, verſchwiegen und tatkräftig, klarblickend
und kunſtſinnig; Pflichttreue und Menſchengefühl war
ihr wie dem neuen Großherzog eigen. 1854 wurde
ihnen das vierte Kind geboren, zu dem Sohn und zwei
Mädchen die dritte Tochter.
Bis 1859 waltete in Weimar auch die Großherzogin
Mutter Maria Paulowna noch ihrer ausgedehnten
Liebestätigkeit und freigebigen Kunſtpflege. 1854 beging
das dankbare Land das goldene Jubiläum ihres Ein—
tritts in Weimar, und noch einmal erſchien Schillers
Huldigung der Künſte vor ihr auf dem Theater. Sie
168 Carl Alexanders Anfänge
hatte ſchließlich die Freude, ihre Tochter Auguſta zur
preußiſchen Königin aufſteigen zu ſehen, und als deren
Enkel geboren wurde, der ſpätere Kaiſer Wilhelm II.,
und der deutſche Beruf Preußens immer deutlicher
hervortrat, hat ſie ſich wohl im ſtillen lächelnd eine
Mutter von Deutſchland genannt.
Carl Alexanders Regierungsanfang fiel in die Zeit,
wo der deutſche Bund nach gefährlicher Kriſe wieder
hergeſtellt worden war und, obwohl ſein Ende bevor—
ſtand, die liberale Geſetzgebung der Jahrhundertmitte
noch einmal zu verſtümmeln vermochte, in die Reaktion
der fünfziger Jahre. Dieſe machte ſich in Weimar
weniger geltend als anderswo. Zwar wurde 1854
der fortſchrittlichſte Miniſterialchef entlaſſen, Wyden—
brugk, — ſein Departement des Kultus und der Juſtiz
übernahm Wintzingerode —, die andern leitenden Män—
ner aber hielt der neue Großherzog feſt. Es waren
Watzdorf, der führende Miniſter ſeit 1848, im beſondern
mit den innern und äußern Angelegenheiten und denen
des großherzoglichen Hauſes betraut, und Thon, der
ſeit dem 1. Oktober 1849 das Finanzdepartement ver—
waltete. Als Watzdorfs rechte Hand durfte Stichling
gelten, ein genauer Altersgefährte des Großherzogs und
einſt als Knabe deſſen Geſpiele und Unterrichtsgenoß,
übrigens ein Enkel Herders.) 1867 ſchied auch Wintzin—
*) Stichlings Vater hatte in erſter Ehe eine Tochter
Wielands, in zweiter eine Tochter Herders zur Gemahlin.
Landwirtſchaft und Gewerbe 169
gerode wieder aus; von ſeinem Departement übernahm
Watzdorf die Juſtiz und Stichling, der ſchon ſeit 1864
das Referat über die unmittelbaren Anſtalten für Wiſſen—
ſchaft und Kunſt gehabt hatte, die Leitung der Kultus—
geſchäfte.
In der neuen freien Gemeindeordnung gedieh die
Landwirtſchaft des Großherzogtums, indem ſie in
ſachgemäßer Bodenbearbeitung und Benutzung neuer
Maſchinen vorwärtskam; wurde man doch in Jena
darüber in einer für ganz Deutſchland muſtergiltigen
Weiſe unterrichtet. Sechs Geſetze, zwiſchen 1848 und
1869 beſchloſſen, erleichterten ihre Beweglichkeit auf dem
Wege der Zuſammenlegung von Grundſtücken, und
1869 wurde das wichtige Geſetz über die Ablöſung
grundherrlicher und ſonſtiger Rechte zur möglichſten
Befreiung des Grundbeſitzes erlaſſen. Zentralſtellen
für Landwirtſchaft und Gewerbe wurden geſchaffen.
Die 1850 grundſätzlich feſtgeſtellte Gewerbefreiheit trat
vollſtändig mit Beginn des Jahres 1863 ein, nachdem
die neue Gewerbeordnung 1862 Geſetz geworden war;
Hand in Hand mit ihr ging die Einführung des
neuen allgemeinen deutſchen Handelsgeſetzbuches. Die
Strumpfwirkerei in Apolda, die Tabakpfeifenherſtellung
in Ruhla, die Glasinduſtrie in Stützerbach entwickelten
ſich gut und arbeiteten vielfach für den Bedarf außer—
halb Thüringens, ja außerhalb Deutſchlands. Vereins-
recht und Preßgeſetz, in den fünfziger Jahren be—
ſchnitten, wurden 1868 für Weimar freiheitlich geordnet.
170 Verkehr
Eine Reihe Telegraphenſtränge ſorgten jetzt für
raſcheſte Mitteilungen nach Preußen und Sachſen. Die
Güte der weimariſchen Landſtraßen war von den
benachbarten Großſtaaten kaum zu erreichen. Für den
Fernverkehr von Gütern und Perſonen im Großherzog—
tum wie ringsum hinaus in deutſches Land wurde ein
Eiſenbahnnetz ausgebaut. Die 1855 mit Meiningen
und Coburg-Gotha beſchloſſene Werrabahn lief ſeit
November 1858 von Eiſenach bis Coburg, und als
binnen kurzem auch die Anſchlußbahn bis zum bayriſchen
Lichtenfels in Gang kam, war eine neue Verbindung
zwiſchen Nord- und Süddeutſchland geſchaffen. Ende
1871 konnte die Bahn Gera - Eichicht eröffnet werden,
wiederum ein zukünftiges Mittelglied einer wichtigen
Nord-Süd-Verbindung, zumal als ihr 1874 faal-
abwärts von Rudolſtadt bis Großheringen ein neues
Gleis angefügt wurde. 1874 wurde auch die Saal—
Unſtrutbahn im Norden fertig, und dem großen ſächſiſch—
thüringiſchen Verkehr dienten außer der alten Haupt—
ſtrecke Leipzig-Frankfurt ſeit 1875 die Bahn Wolfs—
gefährt-Greiz-Elſterberg und ſeit 1876 Weida-Werdau;
dazu kam 1876 die für Innen- wie Nachbarverkehr
gleich wichtige Strecke Weimar-Jena-Gera. Und
wieviel Freude an Thüringer Landſchaft wurde über
den Geſchäftsbetrieb hinaus bei den benachbarten
Deutſchen dadurch rege, wieviel Beſucher wurden ins
Weimariſche gezogen!
Von Anfang an billigte Carl Alexander Watzdorfs
Watzdorf 171
Vorgehen; er kannte ſeine Anſchauungsweiſe als zeit—
entſprechend, er ſah den Nutzen ſeiner Tätigkeit. Fürſt
und Miniſter ſtimmten in liberaler Denkart und natio—
nalen Hoffnungen überein. Innere Spannungen über—
wanden beide durch ihre konſtitutionelle Geſinnung.
Auch 1857, in einem Jahr des Streites zwiſchen Re—
gierung und Landtag, verſtand Watzdorf die Gegenſätze
zu mäßigen, und es war ein weithin treffendes Wort,
womit er damals beſchwichtigte: es ſei eine Krankheit
unſerer Zeit, daß die Energie nur zu häufig in dem
Maße, wie ſie früher gefehlt habe, jetzt hervortrete.
So konnte das Land 1866 dem Großherzog zur fünfzig—
jährigen Jubelfeier der Weimarer Verfaſſung mit einer
aufrichtigen Dankadreſſe huldigen und 1867 an der
ſilbernen Hochzeit des Fürſtenpaares herzlich teilneh—
men; 1868, zu Watzdorfs fünfundzwanzigjährigem
Jubiläum, ehrten den beliebten Miniſter ſämtliche wei—
mariſche Gemeinden mit einer großen goldnen Me—
daille und beglückwünſchten ihn alle deutſchen Regenten.
Inzwiſchen machte die neue Einigung Deutſchlands
große Fortſchritte. 1862 trat zuerſt in Weimar ein
deutſcher Abgeordnetentag zuſammen, um in den Kam—
mern für den nationalen Gedanken zu wirken. War
in den fünfziger Jahren Weimars Vertretung beim
Bundestag nicht immer ein angenehmes Geſchäft, um
ſeiner Hinneigung zu Preußen willen, ſo überraſchte
doch auch Bismarcks kühne Politik in der Mitte der
ſechziger Jahre: 1866 ſtanden Weimars Soldaten auf
172 Von 1866 bis 1870
jeiten des Bundes gegen Preußen, ohne zum Eingreifen
in den Kampf zu kommen. Noch ehe der Friede über-
all wieder geſchloſſen war, verknüpfte ſich Preußen am
18. Auguſt mit den meiſten kleineren mittel- und
norddeutſchen Staaten, darunter auch dem Großherzog—
tum Sachſen-Weimar-Eiſenach, durch einen Bundes—
vertrag, und aus dieſem ging der Norddeutſche Bund
hervor. Am 22. Februar 1867 wurde zwiſchen Preußen
und Weimar die Militärkonvention abgeſchloſſen, wo—
nach das weimariſche Kontingent das fünfte thüringiſche
Infanterieregiment Nr. 94 bildete mit der beſonderen
Bezeichnung „Großherzog von Sachſen“ und ſeine drei
Bataillone nach Weimar, Eiſenach und Jena gelegt
wurden. Am 1. Juli trat die Norddeutſche Bundes—
verfaſſung in Kraft, am 1. Oktober die neue Heeres—
verfaſſung.
Die Feuerprobe der Neuordnung war der deutſch—
franzöſiſche Krieg. Weimars 94er, in einer Stärke
von 2911 Mann ausgezogen, kämpften tapfer in ſieben—
undzwanzig Schlachten und Gefechten mit; ſie verloren
dabei im ganzen über ein Sechſtel des Regiments. Sie
hatten teil an den Siegen von Wörth und Sedan; vom
Oktober bis Januar halfen ſie in den Gegenden von
Orleans und Le Mans viele franzöſiſche Anſtrengungen
zur Befreiung des umklammerten Paris niederwerfen.
Ein Diviſionsbefehl vom 19. November 1870 lautete:
„Den Truppen iſt bekannt zu machen, daß das
94. Regiment unter Beteiligung einer Kompagnie des
Die ger im deutſch-franzöſiſchen Kriege 173
83. Regiments geſtern ein glänzendes Gefecht gehabt
und ohne Mitwirkung von Artillerie das von 1500
Mann Linientruppen verteidigte Dorf Torçay mit
Kolben und Bajonett erſtürmt hat. Der Verluſt des
Feindes beträgt mindeſtens 300 Tote und Verwundete,
200 Gefangene und viele Verſprengte“, und ein ſolcher
vom 6. Dezember nach der mehrtägigen Schlacht bei
Orleans ſchloß: „Ich ſpreche hiermit ſämtlichen Trup—
pen der Diviſion meinen Dank aus, insbeſondere aber
dem 94. Regimente und der Diviſionsartillerie, welche
beide den härteſten Kampf gekämpft und die ſchwerſten
Verluſte erlitten haben.“ Auch Chateaudun (18. Ok—
tober), Cravant (8. bis 10. Dezember), la Fourche
(6. Januar) waren Ruhmestage der Weimarer. Am
12. Februar zog das Regiment in Verſailles ein;
Ende des Monats kam das erſte Bataillon zu den
Beſatzungstruppen des eroberten Paris. Der Groß—
herzog ſah ſeine Soldaten nur ab und zu, obwohl er
unabläſſig für ſie beſorgt war; ſein Aufenthalt und
ſeine verantwortungsvollſte Tätigkeit war im deutſchen
Hauptquartier, wo er einen regelmäßigen eigenhändigen
Briefverkehr mit ſeinem Vetter dem Zaren Ale—
rander II. unterhielt und der erfolgreiche Anwalt der
guten Beziehungen zwiſchen dem preußiſchen und dem
ruſſiſchen Kabinett während des Krieges war.
Indes führte daheim die Großherzogin die Re—
gentſchaft. Watzdorf erlebte das Ende des Krieges und
das neue deutſche Reich nicht mehr; er ſtarb nach den
174 Weimar und die Kaiſerkrone
verheißungsvollen Tagen von Sedan. So erging am
7. Dezember an Stichling der Befehl des Großherzogs
aus Verſailles, den Antrag beim Bundesrat auf An-
nahme der Kaiſerkrone durch Preußen zu ſtellen, und
bereits am 10. Dezember wurde die danach entſpre—
chend anders redigierte Reichsverfaſſung auch vom
Reichstag des Norddeutſchen Bundes in dritter Leſung
angenommen. Am 16. März 1871 raſtete Kaiſer Wil-
helm J. auf der Rückkehr aus Frankreich eine Nacht am
Weimarer Hofe, wo Großherzog Carl Alexander am
10. März eingetroffen war und die Regierung wieder
übernommen hatte; das 94. Regiment kehrte erſt Ende
September in die Heimat zurück, da es mit zur Be—
ſetzung Frankreichs bis zur Erfüllung der Friedens—
bedingungen diente: herzlicher Jubel empfing auch
im weimariſchen Lande im Frühling und Herbſt die
ſiegreichen Fürſten und Truppen.
Das weimariſche Miniſterium wurde 1871 neu
geordnet. Thon, der langbewährte Leiter der Finan—
zen, wurde vorſitzender Miniſter — er blieb es bis zu
ſeinem Tode Ende 1882 — und Freiherr von Groß
übernahm als neuer Departementschef Inneres und
Außeres, während Stichling die Geſchäfte des groß—
herzoglichen Hauſes, des Kultus und Unterrichts und
der Juſtiz ſowie die Vertretung Weimars beim Bundes—
rat in ſeiner Hand vereinigte. Rühmte man es Watz—
dorf nach, daß er das weimariſche Staatsweſen in
ruhiger Entwicklung, in ſteter Harmonie zwiſchen Fürſt
Stichling 175
und Volk aus der alten in die neue Zeit hereingeführt
habe, ſo wurde es namentlich Stichlings Aufgabe, das
Großherzogtum in die durch die Wiederaufrichtung
des deutſchen Reiches neugeſchaffenen Verhältniſſe
hinüberzuleiten, die Landesrechtſprechung der neuen
Reichsgeſetzgebung anzupaſſen. In der zweiten Hälfte
der ſiebziger Jahre lag der Schwerpunkt ſeiner Tätig—
keit im Juſtizdepartement, und hier krönte er ſie mit
der Eröffnung des thüringiſchen Oberlandesgerichts in
Jena am 1. Oktober 1879, unter das ſich neben faſt
allen thüringiſchen Staaten auch Preußen für die
Kreiſe Schleuſingen und Ziegenrück ſtellte.
Länger beſchäftigte den Enkel Herders die Leitung
des Kirchen- und Schulweſens, und in ſeiner dreiund—
zwanzigjährigen Verwaltung (1867 bis 1890) ſtieg der
jährliche Aufwand des weimariſchen Kultusdeparte—
ments von 300000 auf 900000 Mark. Die Teilnahme
der Laien am evangeliſchen Kirchenregiment war in
wenigen deutſchen Staaten ſchon im vorigen Zeitalter
in Geſtalt von Gemeindepresbyterien, Diözeſan- und
Generalſynoden eingerichtet worden; nach der Mitte
des Jahrhunderts folgten die übrigen Staaten. In
Weimar hatte die neue Geſetzgebung 1849 den Kirchen—
rat und 1851 den Kirchgemeindevorſtand geſchaffen
als oberſtes und unterſtes Glied dieſer Vertretung;
die Mittelſtufe baute Stichling durch ſeine ſorgfältige
Vorbereitung einer Synodalordnung. 1873 wurde ſie
Geſetz, und ſeit 1874 kamen die Synoden aller vier
176 Synode, Schulen; Univerſität
Jahre zuſammen zur Regelung von Kirchenfragen wie
einer günſtigeren Gehaltsordnung, der Form der kirch—
lichen Trauung, nachdem das Reich die Ziviltrauung
eingeführt hatte, eines neuen Geſangbuches uſw.
1874 am Geburtstage des Großherzogs (24. Juni)
konnte auch das von Stichling ausgearbeitete Volks-
ſchulgeſetz veröffentlicht werden, das Beachtung weit
außerhalb Weimars fand, ſelbſt in Frankreich und
Amerika. Im Mittelſchulweſen empfand Stichling,
ein kräftiger Förderer der weimariſchen Gymnaſien
— 1876 eröffnete er das Jenaer —, die Regelung
des Einjährigenzeugniſſes auf Grund der Wünſche des
preußiſchen Kriegsminiſteriums als einen unnormalen
Eingriff, aber feine Denkſchrift „Über die Reichsſchul⸗
kommiſſion“ vermochte daran zunächſt nichts zu ändern.
Eine der vornehmſten Sorgen der weimariſchen
Regierung war nach wie vor die für das Gedeihen
der thüringiſchen Landesuniverſität, wobei ſie von den
drei erneſtiniſchen Herzogtümern unterſtützt wurde.
kun traf es ſich günſtig, daß Stichling mit dem neun
Jahre älteren Moritz Seebeck herzlich befreundet war,
dem Kurator der Univerſität Jena in den Jahren
1851 bis 1877. Seebeck war ein Jenaer Kind, ein
Sohn jenes Gelehrten, der an dem Ausbau von
Goethes Farbenlehre durch Entdeckung der entoptiſchen
Farben teilgenommen hatte. Nach einer kurzen Lehr—
tätigkeit in Berlin war er zehn Jahre lang Erzieher
des meiningiſchen Erbprinzen geweſen, des nachmaligen
Seebeck 77
Herzogs Georg, und dann von 1848 bis 1850 Ver—
treter der thüringiſchen Staaten bei den vergeblichen
Verſuchen, eine deutſche Reichsregierung zuſtande zu
bringen. Was der junge Großherzog Carl Alexander
einmal ſagte: er wiſſe nicht durch äußere Mittel die
Univerſität groß machen zu können, ſondern durch
Freiheit, das war auch des Kurators Seebeck, dieſes
ſparſamen Haushalters, Überzeugung: nur bei Ge—
währung möglichſter Freiheit könne die reine wiſſen—
ſchaftliche Forſchung an der Univerſität gedeihen. Für
Bauten (Bibliothek, Kollegienhaus, botaniſches Inſtitut)
und Inſtitute (Arbeitsräume für Anatomie, Anſtalten
für pathologiſche Anatomie, Phyſiologie, Zoologie,
Chemie) verſtand er Mittel flüſſig zu machen; im
Verkehr mit den Profeſſoren war er wiſſenſchaftlich
nicht nur der empfangende Teil, und er ſorgte ge—
ſchickt für die Ergänzung des Lehrkörpers. Seine
Kuratel bedeutete eine wahre Durchfriſchung der
Univerſität.
Nicht als ob der geſchichtliche Sinn damals nach—
gelaſſen hätte. Im Gegenteil: ein Anlaß ihn zu be—
leben wurde das dreihundertjährige Jubiläum, das die
Univerſität im Auguſt 1858 unter begeiſterter Teil—
nahme feierte. Dazu tauchte der Gedanke auf, die
Namen aller derer öffentlich ſichtbar zu machen, denen
Jena ſeinen Ruhm verdanke, und zweihundert Tafeln
mit Namen berühmter Studenten und Profeſſoren
Jenas konnten, meiſt an ihren einſtigen Wohnhäuſern,
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 12
178 Jenas Denkmäler
angebracht werden: keine andre deutſche Stadt hatte
auf ſo engem Raume derartiges aufzuweiſen. Auf
dem Marktplatze wurde inmitten von farbigen Fahnen
und grünen Gewinden das eherne Denkmal der ſchweren
Geſtalt Johann Friedrichs enthüllt mit dem Schwert
in der Hand und der Bibel im Arm, des Stifters
der Univerſität, ein Werk von Franz Drake, und
Seebecks Rede davor ſchloß: „Wie er bis heute im
Herzen des Volkes lebt, ſo durch die ſchaffende Kunſt
des geiſtverwandten deutſchen Meiſters neu vergegen—
wärtigt, ſtehe Johann Friedrich hier auch noch den
ſpäteſten Enkeln mahnend und ermutigend vor Augen
— Gottes Wort am Herzen, ſeine Hoffnung im Herrn,
für Wahrheit und Recht unerſchütterlich feſt, in echter
deutſcher Art ein Fürſt, ein Mann!“
Die Dankbarkeit mitten im Leben ſtehender ehe—
maliger Schüler errichtete nun auch den beiten Jenaer
Lehrern des vorigen Zeitalters Erinnerungsmäler: am
Fürſtengraben wurde der Gedenkſtein für Doebereiner
aufgeſtellt und — wiederum zwei Werke Drakes —
die Bronzebüſten von Oken und Schulze — die
Okenſche 1857 bei der 35. jener deutſchen Natur-
forſcherverſammlungen, die Oken einſt ins Leben ge—
rufen hatte, — und 1873 die Koloſſalbüſte von Fries
an deſſen hundertſtem Geburtstage. Als Deutſchland
1883 das Niederwalddenkmal erwartete, wurde gleich—
ſam als Jenger Vorfeier dazu auf dem Eichplatz
Donndorfs Burſchenſchaftsdenkmal enthüllt.
Aus Hajes Spätzeit 179
In der theologiſchen Fakultät vermittelte beide
Zeitalter als die beherrſchende und anziehendſte Geſtalt
Karl Haſe, deſſen Lebensjahre mit dem Jahrhundert
liefen. Er hatte den größten Ruf als Kirchenhiſtoriker:
ſein Lehrbuch der Kirchengeſchichte, zuerſt 1834 ver-
öffentlicht, erſchien 1886 in elfter Auflage. Von ſeinen
anderen Jugendarbeiten wurde die „Gnoſis“, ſeine
Dogmatik, erſt 1869 das zweitemal, ſein „Leben Jeſu“
1865 das fünftemal aufgelegt. Das klaſſiſche Werk
ſeines Alters, aus dem Bewußtſein der neuen Zeit
heraus geſchaffen, wurde 1862 ſein „Handbuch der
proteſtantiſchen Polemik gegen die römiſch-katholiſche
Kirche“, maßvoll, ja leidenſchaftslos geſchrieben, aber
durch Klarheit und Ironie völlig wirkſam und oft neu
gedruckt. Wenn er 1858 beim Jubiläum von ſeiner
Univerſität ſagen durfte, daß ſie im Laufe der Zeit
unerſchrocken die Konſequenz des Proteſtantismus ge—
zogen und ſeine Entwicklung in der Theologie mit
vollzogen habe, „nämlich Verſöhnung der Geſchichte
mit der Vernunft, der heiligen Überlieferung mit der
wahrhaften Geiſtesbildung der Gegenwart, der freien
Perſönlichkeit mit der chriſtlichen Gemeinſchaft“, ſo
hatte er ſelbſt daran ein gutes Teil. Als zu Ende
ſeiner Zeit die Haltbarkeit und Leiſtungsfähigkeit des
freiheitlichen Standpunktes etwas fraglich wurde, und
für die thüringiſche Hochſchule neue theologiſche Be—
rufungen gefordert wurden, um „der einſeitigen libe—
ralen und negierenden Richtung in Jena ein Gegen—
12*
180 Kirchenrat Schwarz; die drei Danz
gewicht zu geben“, ſetzte ſich der Greis zur Wehr und
proteſtierte gegen „das Eiſenacher Attentat auf die
theologiſche Fakultät Jena im Jahre des Heils 1881.“
Er ſtarb 1890 im ſechzigſten Jahre ſeiner Jenaer Lehr—
tätigkeit und überlebte ſo ſeinen Altersgenoſſen um
zwanzig Jahre, den Kirchenrat Schwarz, der ſeit 1844
neben ihm als ordentlicher Profeſſor der praktiſchen
Theologie wirkte und ſeit 1849 das erſte geiſtliche
Mitglied der oberſten Kirchenbehörde Weimars war.
Schwarz war zugleich Superintendent in Jena und
Lehrer der Homiletik, Katechetik und Ethik an der
Hochſchule; ſeine hervorragendſte literariſche Arbeit
war aber auch geſchichtlicher Art, eine quellenkundige
Darſtellung des erſten Jahrzehnts der Univerſität Jena,
zum Jubiläum verfaßt, ein genauer Bericht über die
theologiſchen Strömungen, die einſt zur Gründung
Jenas gegen Wittenberg geführt hatten.
In der juriſtiſchen Fakultät war es namentlich die
Aufgabe von Danz, aus der erſten in die zweite Hälfte
des Jahrhunderts herüberzuführen. Er war eine der
echteſten jenaiſchen Erſcheinungen damals: als Sohn
des Kirchenhiſtorikers Danz 1806 hier geboren ſtarb
er 1881 als Vater des ſpäteren Jenaer Profeſſors der
Jurisprudenz Erich Danz. 1840 bis 1846 veröffent-
lichte er ſein Lehrbuch über die Geſchichte des römi—
ſchen Rechts, das 1871 bis 1873 neu aufgelegt wurde;
1861 gab ihm der Entwurf des bürgerlichen Geſetz—
buches für Sachſen Anlaß zu kritiſchen Arbeiten. Mit
Leiſt, Stickel, Göttling 181
größerer Kraft und weiterem geſchichtlichen Blick ver—
tiefte ſich ſein Kollege Leiſt (1819 bis 1906) in den
Zuſammenhang des alteuropäiſchen Rechtsweſens. Noch
hegeliſierend war er 1846 mit ſeiner Schrift „Über die
Entwicklung eines poſitiv-gemeinen Rechts in der zivi—
liſierten Menſchheit“ hervorgetreten. 1850 ſchränkte er
ſich auf den „Verſuch einer Geſchichte der römiſchen
Rechtsſyſteme“ ein, und 1883 erſchien ſeine Gräko—
italiſche Rechtsgeſchichte; von da aus nahm er im
hohen Alter den Weg noch weiter rückwärts in das
altariſche Jus gentium (1889) und Jus civile (1892),
wobei ihm die in Jena blühende indogermaniſche
Sprachwiſſenſchaft zuſtatten kam.
Auch die philoſophiſche Fakultät brachte Häupter
aus Goethes Zeit in die Bismarcks mit herüber, den
Orientaliſten Stickel und den Philologen Göttling.
Stickel, ein Eiſenacher Kind, über das Weimarer
Gymnaſium an die Jenaer Univerſität gelangt und
von Goethe auf ſein ſpäteres Sondergebiet gewieſen,
die Münzkunde des Oſtens, lehrte als Ordinarius bis
in die neunziger Jahre. Göttling erfreute Ferner—
ſtehende mit der Weite ſeines Blicks, dem Reichtum
ſeiner Kenntniſſe in den beiden Bänden ſeiner geſam—
melten Abhandlungen (1851 und 1863); in ſeinen
Jenaer Vorleſungen beſchränkte er ſich nun auf das
griechiſche Altertum, ſeitdem er 1852 in Nipperdey
einen tüchtigen Latiniſten neben ſich hatte. Nipperdey
hat als ordentlicher Profeſſor von 1854 bis 1874 in
182 Nipperdey und Moritz Schmidt
Jena gelehrt und über römiſche Staatsaltertümer,
römiſche Literaturgeſchichte, Salluſt, Horaz und latei⸗
niſche Syntax geleſen. Schon früher um die Kenntnis
von Caeſar und Nepos verdient beſchäftigte er ſich nun
mit Vorliebe, gründlich und geſchickt, mit der Kritik
und Erklärung von Tacitus: 1852 erſchien zum erſten⸗
mal ſeine oft aufgelegte Ausgabe der Annalen; die
kritiſche Geſamtausgabe von Tacitus, die er 1871 zu
veröffentlichen begann, vollendete ſein Schüler Rudolf
Schöll, ein Sohn des Weimarer Goethephilologen.
Der dritte dieſer klaſſiſchen Philologen war Moritz
Schmidt (1823-1888). Um die Mitte der fünfziger
Jahre machte er das entſtellt überlieferte große Lexikon
des Alexandriners Heſychios zum Mittelpunkt ſeiner
Studien, und die erſten Veröffentlichungen darüber
hatten 1857 ſeine Berufung als außerordentlicher Pro—
feſſor nach Jena zur Folge. Zwiſchen 1858 und 1868
lieferte er die fünfbändige Rieſenausgabe des Heſych,
einen wichtigen Beitrag zur griechiſchen Lexikographie;
1869 erhielt er nach Göttlings Tode deſſen Ordinariat.
Nun warf er ſich auf die altgriechiſche Dialektforſchung,
lykiſche, kypriſche Inſchriften und Gloſſare wurden
gedeutet, daneben her gingen metriſche Studien und
Überſetzungen (vom ſophokleiſchen Oedipus und Pin—
dars Siegesgeſängen) und Ausgaben, die durch geiſt—
reiche Textkritik hervorragten: 1872 von Hygins Fa—
beln, 1875 von der Dichtkunſt des Ariſtoteles, 1880
von der Antigone des Sophokles. Ganz im Altertum
Rochus von Liliencron 183
)
lebend vermochte er jenen Schriften und Reden —
gleichviel ob in deutſcher, lateiniſcher oder griechiſcher
Sprache — einen klaſſiſchen Hauch mitzuteilen; denn
ſeinem Weſen nach gehörte er noch zur „alten Schule“,
auch wenn ſein Studienkreis eine neue Geſamtanſicht
des Altertums vorbereitete.
Es bezeichnet das Zeitalter, daß neben dieſen ſattel—
feſten Bannerträgern der Antike die neueren Wiſſen—
ſchaften der deutſchen Philologie und der vergleichenden
Sprachforſchung kaum gelitten waren, ſich aber doch
ſchließlich ihren Platz erkämpften. Der erſte Plänkler
für ſie in Jena war der junge Rochus von Liliencron.
Später wurde er anderwärts zum erfolgreichen Orga—
niſator; als außerordentlicher Profeſſor für deutſche
Sprache und Literatur von 1852 bis 1855 in Jena
hatte er den Mut, mit dem Univerſitätsmuſikdirektor
Stade zuſammen aus der großen Jenaer Minneſinger—
handſchrift Lieder und Sprüche überſetzt und in neuem
vierſtimmigen Satz herauszugeben.
Befreundet mit ihm war der Thüringer Auguſt
Schleicher, ein ſprachwiſſenſchaftliches Talent erſten
Ranges, das ſeit 1850 nach Prag verſchlagen und dort
zwar 1853 zum Ordinarius aufgerückt war, aber ſich in
der ſlawiſchen Schwüle unglücklich fühlte. Auf einen
Brief Seebecks an Schleicher in Sachen Keplers kam
die Antwort mit dem Stoßſeufzer: „Können Sie mich
nicht daheim an der Landesuniverſität Jena brau—
chen?“ So wurde Schleicher Liliencrons Nachfolger
184 Der Indogermaniſt Schleicher
1857 als ordentlicher Honorarprofeſſor für vergleichende
Sprachwiſſenſchaft und deutſche Philologie mit 600
Talern Gehalt. Vergebens boten dem erſten Kenner
der ſlawiſchen Sprachen, der er war, Warſchau, Peters—
burg und Dorpat glänzend honorierte Stellungen an,
er blieb in dem kleinen Jena, obwohl er hier nicht
zu dem ihm verſprochenen Ordinariat gelangte und auf
literariſchen Erwerb angewieſen war. Hatte er Sla—
wiſch in Prag rein empiriſch getrieben, ſo vertiefte er
ſich nun in die Theorie des Sprachlebens in der Rich—
tung, daß er die Erklärung aller Tatſachen der Laut—
geſchichte von der Phyſiologie der Sprechorgane erwar—
tete. Seine Schriften Zur Morphologie der Sprache
(1859), Die Darwinſche Theorie und die Sprachwiſſen—
ſchaft (1863), Über die Bedeutung der Sprachwiſſen—
ſchaft für die Naturgeſchichte des Menſchen (1865)
ſuchten auf dieſem Wege vorwärtszukommen; ſein
geleſenſtes Buch wurde „Die deutſche Sprache“ (fünf
Auflagen von 1860 bis 1888), ſein bedeutendſtes Werk
das „Compendium der vergleichenden Grammatik der
indogermaniſchen Sprachen“ (vier Auflagen 1861 bis
1876). Früher hatte man als „Sprachvergleichung“
nur Zuſammenſtellung und Deutung getrieben; Schlei—
cher faßte zuerſt die Entſtehung der Verſchiedenheiten
ins Auge, den hiſtoriſchen Vorgang und begründete
ſo die ſtreng geſchichtliche Betrachtung der Sprache.
In angeſpannteſter Arbeit — zu der ihm auch die
Gartenpflege wurde, da er ſie ſofort in mikroſkopiſche
Die jungen Delbrück und Sievers 185
Botanik und geniale Blumenzüchterei großen Stils
verwandelte — rieb er ſich früh auf; er ſtarb 1868,
die eigentümlichſte und nachwirkendſte Perſönlichkeit
unter den Sprachwiſſenſchaftern ſeiner Zeit.
1870 erhielt Jena ein Ordinariat für vergleichende
Sprachwiſſenſchaft und Sanſkrit und in dem jungen
Berthold Delbrück den Gelehrten, der durch ſeine
Pflege namentlich ſyntaktiſcher Forſchungen dem Amt
ſofort wieder ein eigenes Gepräge verlieh. Für deutſche
Philologie wurde ihm 1871 der zwanzigjährige Sievers
als Extraordinarius beigegeben und 1876 auch er zum
Ordinarius befördert. Solange er in Jena wirkte,
bis 1883, erwies er ſich als der virtuoſeſte Kenner
altgermaniſcher Sprachen durch ſeine Ausgabe des
althochdeutſchen Tatian (1872), des altniederdeutſchen
Heliand (1878), eine angelſächſiſche Grammatik und
Beiträge zur Skaldenmetrik; die lautphyſiologiſche
Seite der Sprache ſtellte er in ſeiner Phonetik (zu—
erſt 1874) ſo vorzüglich dar, wie es damals wohl
niemand weiter in Deutſchland vermochte.
Unter Seebecks Kuratel wirkten in Jena auch drei
der beſten deutſchen Hiſtoriker. 1851 wurde Droyſen
berufen, der Zweiundvierzigjährige ſchon ein berühmter
Mann durch das Jahrzehnt ſeines Kieler Lehramts,
wo er in die nationalpolitiſchen Bewegungen der
ſpätern vierziger Jahre, in die Entwicklung der ſchles—
wig⸗holſteiniſchen Frage kräftig eingegriffen hatte; die
bevorſtehende däniſche Reaktion erleichterte ihm den
186 Guſtav Droyſen und Franz Xaver Wegele
Übergang nach Jena. Zwar fügte er ſich hier nicht
völlig ſo ein, wie man gehofft hatte. Weder ſchrieb er
für das Jubiläum 1858 die Geſchichte der Univerſität,
noch — was der Wunſch Carl Alexanders war — die
Geſchichte Carl Auguſts: Preußen gehörte ſein Dichten
und Trachten. 1851 war der erſte Band ſeiner Bio—
graphie Yorks erſchienen; in Jena ſchrieb er die beiden
folgenden Bände. Dann ſchuf er hier die drei erſten
Bände ſeines größten Werks, der Geſchichte der preu—
ßiſchen Politik, bis zu ihrem Niedergang im dreißig—
jährigen Kriege. „Preußiſche Geſchichte“ war auch das
eine der beiden Kollegien, die er in Jena neu las;
zu dem andern, „Enzyklopädie und Methodologie des
Geſchichtsſtudiums“, ſchrieb er 1858 den „Grundriß der
Hiſtorik.“ Neben ihm lehrte mit Erfolg der junge
Bayer Wegele, deſſen kultur- und nationalgeſchicht—
liches Werk über Dante zwiſchen 1852 und 1879 drei
Auflagen erlebte, und der 1854 die Reinhardsbrunner
Annalen herausgab; auch ſpäter in Würzburg (ſeit
1857) knüpfte er gern an die Jenaer Zeit an, z. B.
mit einer Schrift über Goethe als Hiſtoriker.
Als Droyſen 1859 nach Berlin überſiedelte,
wurde der Berliner Adolf Schmidt (1812 bis 1887)
ſein Nachfolger, der aus Zürich gern wieder in das
werdende deutſche Reich zurückkehrte. Er brachte eine
Fülle unverarbeiteter Quellenauszüge zur Geſchichte
der franzöſiſchen Revolution mit, die er in Paris in
den Berichten der Geheimpolizei hatte machen können,
Adolf Schmidt 187
und veröffentlichte nun 1867 bis 1871 ſeine auch die
Franzoſen überraſchenden Tableaux de la revolution
frangaise und 1874 bis 1876 das dreibändige Werk
über Pariſer Zuſtände während der Revolutionszeit;
zweierlei ſprang daraus hervor, wovon die bisherigen
Erzähler, auch Droyſen, keine rechte Ahnung gehabt
hatten: die große Wichtigkeit der wirtſchaftlichen Dinge
für den Verlauf der Revolution und die Tatſache, daß
nur eine ſtarkwillige Minderheit alle demokratiſchen
Erfolge durchgeſetzt hatte. Wie umfaſſend Schmidts
Geſchichtsblick war, zeigte 1874 ſein Buch „Epochen
und Kataſtrophen“ mit den drei großen Abhandlungen
über Perikles und ſein Zeitalter, den Nikaaufſtand unter
Juſtinian und über Don Carlos und Philipp. Die
ſpaniſche Studie ſuchte den Widerſpruch über das
Weſen des Prinzen in den Geſandtſchaftsberichten zu—
gunſten einer Auffaſſung zu entſcheiden, die der
Schillerſchen nahekam, und regte die Frage der Glaub—
würdigkeit ſolcher Berichte gründlich auf — gegenüber
der damals beliebten Regel, die Wahrheit lediglich auf
Seite der Peſſimiſten zu ſehen —; die altgriechiſche
Skizze fand ſeit 1877 ihre Ausführung in dem groß
artig angelegten Werke „Das perikleiſche Zeitalter“.
Schmidts Begabung ruhte in der Ergänzung des Ma—
terials durch geſunde Phantaſie; dabei betrieb er die
Erforſchung der Bedingungen peinlich, wie noch zuletzt
ſein Handbuch der griechiſchen Chronologie zeigte.
Hiſtoriker zu einem guten Teil war auch der da—
188 Bruno Hildebrand
malige große Jenaer Nationalökonom Bruno Hilde—
brand. Wie Droyſen hatte er die vierziger Jahre halb
politiſch durchlebt, als Kämpe in Marburg gegen
Haſſenpflug, und wie Adolf Schmidt kehrte er 1861
aus der Schweiz gern in die Heimat zurück: er ſtammte
aus Naumburg und war Portenſer geweſen. In Jena
war er weniger als praktiſcher Volkswirtſchafter tätig
— er leitete die Vorarbeiten für die Erbauung der
Saalbahn —; ſeine beſte Kraft widmete er hier einer
mächtigen wirtſchaftsgeſchichtlichen Forſchung. 1862
begründete er die Jahrbücher für Nationalökonomie
und Statiſtik und erhob ſie bald und auf die Dauer
zu dem führenden Fachblatt erſten Ranges. 186 eröff—
nete er das ſtatiſtiſche Bureau vereinigter thüringiſcher
Staaten: hier wurde ſtaatswirtſchaftliche Forſchung
getrieben, wurden die tüchtigſten jungen Nationale
ökonomen erzogen wie Conrad, Scheel, Miaskowski.
Hildebrands Lehrgabe und Lehrluſt wurden nicht
müde, den hiſtoriſchen Sinn und das volkswirtſchaft—
liche Verſtändnis miteinander zu bilden; wenige waren
ſich damals ſo klar wie er darüber, daß das Verſtänd—
nis der Gegenwart auch auf ſeinem Gebiete in leben—
diger Beziehung ſtehe zu dem der Vergangenheit, daß
keins ohne das andere gedeihen könne. Von dieſem
Standpunkt aus war er entſchiedenſter Gegner des
geſchichtsloſen Sozialismus, war er ſich der Grenzen
gegen die alles mit gleichem Maße meſſende Natur—
wiſſenſchaft bewußt: die Wirtſchaft der Völker war
Nationalökonomiſche Schriften 189
ihm wie ihre Sprache, ihre Literatur, ihr Recht, ihre
Kunſt ſtets ein Glied der geſchichtlichen Entwicklungs-
kette, und an dieſe auch den paſſenden Ring der
Gegenwart ſchmieden zu helfen ſah er als eine Hälfte
der Aufgabe des Nationalökonomen an. 1861 und
1866 ſchrieb er über die Bevölkerung des alten Ita—
liens, 1862 und 1869 über die Verteilung des Grund—
beſitzes im klaſſiſchen Altertum. Wie in der Antike
machte er ſich im Mittelalter zu Hauſe und behandelte
daraus 1866 und 1869 die deutſche Woll- und Leinen—
induſtrie, 1872 und 1875 Preiſe, Löhne und Steuern
in Altheſſen. Seine entſcheidendſten Studien aber
waren die über die gegenwärtigen Aufgaben der Na—
tionalökonomie (1863), Natural-, Geld- und Credit—
wirtſchaft (1864) und über die Entwicklungsſtufen der
Geldwirtſchaft (1876). 1878 erloſch mit ihm eines
der für deutſches Leben und deutſche Wiſſenſchaft be—
deutendſten Gelehrtenleben des Zeitalters.
Bei ſo ſtarkem Hervortreten des geſchichtlichen
Denkens und ſo weitgehender Beſchränkung des ſyſte—
matiſchen: was war das Schickſal des jenaiſchen Lehr—
ſtuhls für Philoſophie ſelbſt? Fünfzehn Jahre ver—
waltete ihn der hervorragendſte neuere Geſchicht—
ſchreiber der Philoſophie, Kuno Fiſcher. Seine be—
ſondre Gabe war es, große fremde Gedankenſyſteme
von ihren ſchöpferiſchen Punkten aus nachzudenken und
neuzubilden. So hatte er als Heidelberger Dozent
ſeit 1850 und dann als Privatgelehrter — die Reaktion
190 Kuno Fiſcher
legte ihm dort das Handwerk — die erſten drei Bände
ſeiner vielgerühmten Philoſophengeſchichte geſchrieben;
drei und einhalb Jahre ließ man ihn auf eine ander⸗
wärtige Berufung harren, Berlin konnte zu keinem
Schluſſe kommen, da meldete ihm Seebeck Ende 1856
die Ernennung nach Thüringen, und der greiſe Hum—
boldt ſchrieb an Bunſen: „So hat das kleine Jena
einmal wieder die Ehre von Deutſchland gerettet.“
In Jena verfaßte Fiſcher die Bände über Kant (1861)
und über Fichte (1869); daß die neue Philoſophie
trotz Hegel an Kant anzuknüpfen habe, wurde ihm
Glaube und Bekenntnis. Den älteren Philoſophen
huldigte er von neuem durch ſeine Überſetzung der
Hauptſchriften von Descartes (1863) und eine knappe,
liebevolle Darſtellung von Spinozas Leben und Cha—
rakter (1865). Seine glänzende Beredſamkeit zog alle
Gelehrtenkreiſe des unphiloſophiſchen Zeitalters an, der
Weimarer Hof berief ihn zu Vorleſungen ins Schloß
und vertraute ihm die wiſſenſchaftliche Führung
des Erbgroßherzogs zeitweilig an; der Boden der
klaſſiſchen Dichtung ermunterte ihn, auch die Erklärung
Schillers und Goethes zu betreiben. Wiederholt be—
mühte ſich Heidelberg vergebens, ihn zurückzugewinnen;
erſt dem dritten Rufe dorthin folgte er 1872.
Während die Philoſophie zur Geſchichte der neueren
Philoſopheme wurde, zogen die Naturwiſſenſchaften aus,
unterſtützt von der Mathematik, einen ganz neuen
Unterbau alles ſich entwickelnden Lebens anzulegen.
Mathematik, Phyſik, Botanik 191
Und daran erſt recht hatte Jena am hervorragendſten
teil. Der beſonnene Karl Snell freilich, ſeit 1844
Ordinarius für Mathematik und Phyſik und erſt 1886
achtzigjährig geſtorben, war zu keiner großen Wirkung
berufen, ſo behaglich ſicher ſeit 1846 ſein zweibändiges
Werk in die Differential- und Integralrechnung ein—
führte, ſo klar er ſich 1858 über „Die Streitfrage des
Naturalismus“ als erkenntnistheoretiſches Problem
äußerte. Auch ſein Nebenmann als Extraordinarius,
Hermann Schaeffer aus Weimar, ein treuer Kauz,
1850 in Jena für Mathematik habilitiert und ein
halbes Jahrhundert hier lehrend, auch Phyſik, war
nicht genug ſelbſtändig ſchaffender Gelehrter, um
bei all ſeiner Herzensgüte und ſeinem urſprünglichen
pädagogiſchen Geſchick eine wiſſenſchaftliche Führerrolle
übernehmen zu können. Die große naturwiſſenſchaftliche
Förderung kam von den biologischen Einzelwiſſen—
ſchaften, von Botanik und Zoologie.
In der erſten Hälfte des Zeitalters war die Botanik
an der Spitze. Schleiden lehrte ſeit 1850 als Jenaer
Ordinarius und hatte von hier aus ſchon im Jahr—
zehnt vorher, namentlich durch ſeine „Grundzüge der
wiſſenſchaftlichen Botanik“ unter der Fahne der In—
duktion Schüler auch außerhalb Jenas zu ſammeln
begonnen; ſein Werk „Die Pflanze und ihr Leben“
warb bis Mitte der ſechziger Jahre in dieſem Sinne
fort. Der ſpekulativ-⸗naturphiloſophiſchen Richtung, als
deren Haupt Nees von Eſenbeck galt, des alten Goethe
192 Pringsheim und Haeckel
einſtiger Korreſpondent, wurde durch das Mikroskop der
Garaus gemacht. Auch durch ſein Handbuch der medi—
ziniſch-pharmazeutiſchen Botanik(1852 ff.) übte Schleiden
großen Einfluß; 1862 zog er ſich vorzeitig ins Privat—
leben zurück. Zu ſeinem Nachfolger beſtellte man
Pringsheim, einen jungen um die Kryptogamen-,
beſonders die Algenforſchung verdienten Gelehrten, der
auch weiterhin als wiſſenſchaftlicher Botaniker eine
führende Rolle ſpielte; aber von Jena ſchied auch er
ſchon 1868 wieder.
Inzwiſchen war der Stern Haeckels aufgegangen.
Haeckel habilitierte ſich 1861 in Jena und wurde hier
bereits im folgenden Jahre außerordentlicher und 1865
ordentlicher Profeſſor der Zoologie, einunddreißig
Jahre alt. Dieſen frühen Erfolg verdankte er nament—
lich ſeiner 1862 erſchienenen großen Monographie der
Radiolarien. Und in der Ausarbeitung derartiger
umfaſſender, eindringender, prächtig und anſchaulich
ausgeſtatteter Einzelſtudien aus den niederſten Stufen
der Tierwelt fuhr er fort: 1869 veröffentlichte er die
„Entwicklung der Siphonophoren“, 1872 die Monographie
der Kalkſchwämme — woran ſich 1877 die Studien zur
Gaſträatheorie ſchloſſen, d. h. zu dem Gedanken, alle
becherkeimförmigen Lebeweſen auf eine gemeinſame
Stammform zurückzuführen — 1879 die Monographie
der Meduſen uſw. Das alles wirkte nur auf die
Kreiſe der zünftigen Naturwiſſenſchafter. An dieſe
wandte ſich Haeckel auch 1866 mit ſeinem erſten uni—
Genetijierung der Morphologie 193
verſalen Werk, der Generellen Morphologie der Orga—
nismen. Die Morphologie, die Goethe als Idealnexus
geahnt, aber als geſchichtswirkliche Möglichkeit noch
nicht genau ins Auge gefaßt hatte, die Darwin aber
in dieſem Sinne mit ſeiner Ausleſetheorie aufzurollen
begonnen hatte, unternahm Haeckel durchgehend ſo
auszubilden; er ging bis auf den Grund der Möglich—
keit der Entſtehung organiſcher Weſen aus anorgani—
ſchem Stoff, wobei er dem Pflanzen— und Tierreich
ein primitives Zwiſchenland in den Protiſten geſellte,
er förderte die individuelle Ontogenie (durch das bio—
genetiſche Grundgeſetz) und begründete die Phylogenie,
die Entwicklungsgeſchichte organiſcher Stämme. Als
die Mehrheit der Fachgenoſſen ſein Werk lau aufnahm,
wandte er ſich mit einem Auszug an die gebildeten
Laien, und dieſer, die Natürliche Schöpfungsgeſchichte,
wurde von 1868 bis 1873 ſofort viermal aufgelegt.
1874 ließ er als zweites großes populär-wiſſenſchaft—
liches Werk über Darwinſche Fragen die Anthropo—
genie folgen, bekanntes und neues miſchend; den An—
griffen einiger Anatomen darauf antwortete er 1875
in der Schrift: Ziele und Wege der heutigen Ent—
wicklungsgeſchichte. So wuchs die Zahl der Leſer in
Deutſchland wie der Hörer in Jena, und auch auf drei
Verſammlungen deutſcher Naturforſcher und Arzte ver—
kündete Haeckel ſeine Anſichten: 1863 in Stettin wurde
er mit Achſelzucken aufgenommen, 1877 in München
wahrte er die Freiheit ſeiner Forſchung und ihre
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 13
194 Anfänge von Abbe und Zeiß
politiſche Unschuld ſiegreich gegen Virchow, und 1882
in Eiſenach feierte er den eben verſchiedenen Darwin
in der Zuſammenſtellung mit Goethe und Lamarck.
Goethes morphologiſche Gedanken, Jenas Landſchaft
förderten und beglückten ihn, obwohl es den frohſchwei—
fenden Draufgänger immer wieder zu großen Studien-
reiſen in die Ferne trieb: ſeine Indiſchen Reiſebriefe
(1882) entwarfen ein Bild der Tropenvegetation, wie
es ſeit Humboldts Kosmos kein Deutſcher weder ge—
wagt noch vermocht hätte.
Beſcheidner, aber gewiſſer ging Ernſt Abbe ſeinen
Weg. Das Eiſenacher Arbeiterkind wurde an der Jenaer
Univerſität der Schüler Schleidens und kehrte nach
auswärtigen aſtronomiſchen Studien 1863 hierher
wieder zurück, um ſich für Mathematik und Phyſik
zu habilitieren. Auch wurde er 1870 außerordentlicher
Profeſſor und 1877 Direktor der Sternwarte, aber
daneben war er ſchon ſeit Mitte der ſechziger Jahre
ſtiller Mitarbeiter in der kleinen optiſchen Werkſtatt
von Zeiß, die ſeit 1846 beſtand. Karl Zeiß, eines
Weimarer Drechslers Sohn, war in Jena von Schleiden
auf die Herſtellung von Mikroskopen gelenkt worden
und erkannte, daß hier bei beſſerer Verknüpfung von
Wiſſenſchaft und Technik etwas feineres als bisher zu
machen ſein müſſe; Abbe wurde ſein vertrauter Berater.
Abbe dachte die Theorie des Mikroſkops zum erſten—
mal phyſikaliſch und mathematiſch ganz durch, während
bis dahin ein Teil der Herſtellung immer dem Pro—
Theorie des Mikroſkops 195
bieren auf Glück überlaſſen geweſen war. 1873 ver-
öffentlichte er als neue Grundlage ſeine „Beiträge zur
Theorie des Mikroſkops und der mikroſkopiſchen Wahr-
nehmung“, 1874 las er zuerſt über Optik, 1876 er⸗
kannte er bei Beurteilung der Mikroſkopabteilung einer
internationalen Ausſtellung in London, daß er Eng—
länder und Franzoſen überflügelt hatte. Noch bedurfte
er eines feineren Glaſes: wer lieferte ihm das? Wenn
ſich zu den hervorragenden Spezialindividualitäten des
Gelehrten und des Metalltechnikers noch der entſpre—
chende Glasproduzent fände, welche Verbindung von
Wiſſenſchaft und Wirtſchaft konnte daraus im folgenden,
ſozialer Verpflichtung geneigten Zeitalter entſtehen!
Das Abbeſche Mikroſkop tat ſeine erſten großen
Dienſte in der Medizin: Robert Koch u. a. entdeckten mit
ihm Bazillen, die vorher unerkennbar geweſen waren.
Noch enger ſprach ſich für Jena der Zuſammenhang
der neuen Naturwiſſenſchaften und der mediziniſchen
Fakultät darin aus, daß Haeckel vom praktiſchen Arzt
zum gelehrten Naturwiſſenſchafter wurde, und daß er
das tat auf den Rat ſeines Freundes Gegenbaur, der
umgekehrt aus derfphiloſophiſchen in die medizinische
Fakultät übertrat. Unter den gleichzeitigen Jenaer
Medizinern — dem ſpäter in Berlin leitenden Kliniker
Gerhardt, dem Gynäkologen Schultze und dem Ana—
tom Müller, die mit dem Phyſiologen Czermak an
der damaligen Blüte Jenas teilhatten — war Gegen—
baur der bedeutendſte. Von Hauſe und Studium aus
13*
196 Gegenbaur
Würzburger hatte er ſchon 1851 als Doktorand die
Veränderungen der Pflanzenwelt, die Unbeſtändigkeit
der Art mit dem Gedanken behandelt, daß ſich daraus
die Möglichkeit einer Entwicklung ergebe; vor Darwin
hatte er den Gedanken des genetiſchen Zuſammen—
hangs der Organismen klar erfaßt. 1855 kam er als
außerordentlicher Profeſſor der Zoologie nach Jena,
1858 übernahm er den Lehrſtuhl für Anatomie — von
dem damals die Phyſiologie abgetrennt wurde, eine
Spaltung, in der die meiſten deutſchen Univerſitäten
dem Beiſpiel Jenas folgten —, und nun wandte er
ſich beſonders der Anatomie der Wirbeltiere zu, wäh—
rend der ſechziger Jahre in Freundſchaft mit Haeckel
vorwärts gehend, deſſen Generelle Morphologie ihm
mit Worten herzlichen Dankes gewidmet wurde. Hatten
Gegenbaurs „Grundzüge der vergleichenden Anatomie“
in ihrer erſten Ausgabe (1859) nur eben den im Tier⸗
reich beſtehenden Zuſammenhang etwa im Sinne
Goethes bemerkt auf Grund der beſtehenden „Zwi—
ſchenglieder, die ſich wie Brücken über die Kluft der
Grundtypen hinüber bauen und für die im Tierreiche
waltende Einheitsidee Zeugnis ablegen“, ſo führte die
zweite Ausgabe (1870) den Deſzendenzgedanken un—
verſchleiert aus: die „Verwandtſchaft“ der Organismen
habe keine bloß bildliche Bedeutung, ſondern es ſei
nun die Aufgabe der vergleichenden Anatomie, „die
mannigfachen, aus der Anpaſſung erworbenen Um—
wandlungen der Organe Schritt für Schritt zu ver—
Vergleichende Anatomie 197
folgen“; das Ziel der vergleichenden Anatomie ſei alſo
die Geſchichte des Organismus und ſeiner Teile. Auf
dieſes Ziel hat Gegenbaur in Jena durch eine Reihe
vorzüglicher Einzelunterſuchungen hingeſteuert: die
Bildung des Knochengewebes (1864), die Bruſtfloſſe
der Fiſche (1865), das Herz der Fiſche (1866), der
Zuſammenhang zwiſchen dem primitiven Floſſenſkelett
und dem Gliedmaßenſkelett landlebender Wirbeltiere
wurden mit vielen neuen Beobachtungen und weit—
tragenden Erwägungen dargelegt. Später in Heidel—
berg, wohin er 1873 ſeinem Freunde K. Fiſcher folgte,
bekannte Gegenbaur: „Jena war für mich in jeder
Hinſicht eine hohe Schule, aus der ich vielfach belehrt
hervorging, und alles, was ich in ſpäterer Zeit ge—
leiſtet, hat dort ſeine Quelle und gibt mir Urſache zu
dauerndem Dank.“
Das hätte mancher Jenaer Dozent und Student
von ſich ſagen können. Auf engem Raume ein nahes
Verhältnis der Fakultäten, im Herzen Deutſchlands
die unmittelbaren Erinnerungen an Goethe und
Schiller, Burgenromantik und proteſtantiſches Und
doch! ernſte, raſtloſe Forſchung und froher Jugendſinn:
wo wehte ſolcher Odem ſchöner freier Menſchlichkeit?
Populär⸗-wiſſenſchaftliche Vorträge in den Roſenſälen,
von Göttling und Haſe 1846 begründet, von Fiſcher
und anderen gepflegt, ließen die nichtakademiſche
Bürgerſchaft an dieſem Geiſte der Hochſchule teil—
nehmen. Griff doch die Univerſität auch in das Muſik—
198 Akademiſcher Geſangverein, Pädagogik
leben bedeutend über: Ernſt Naumann und fein Afa-
demiſcher Geſangverein gingen 1869 mit der Auf-
führung des Brahmsſchen Requiem und 1870 mit
der ſeiner Rhapſodie aus Goethes Harzreiſe vielen
deutſchen Städten voran.
Und ſo trieb die Univerſität noch einen anderen
merkwürdigen Abſenker in der Stadt, die Stoyſche
Schule. Stoy war ſeit 1846 außerordentlicher, ſeit
1857 ordentlicher Honorarprofeſſor der Pädagogik;
er leitete das pädagogiſche Seminar, dazu ſeit 1844
eine private gymnaſiale Erziehungsanſtalt von Ruf
(bis 1870) und eine zweiklaſſige (Armen-) Schule.
Aus dieſer wurde 1848 die ganze zweite Knabenſchule
der Stadt, 1854 ſiedelte er mit ihr in ein eigenes Haus
mit Garten über, und 1858 beim Univerſitätsjubiläum
feierte ſie die Weihe des unter großen Opfern Stoys
und durch ſeine unermüdliche Liebe geförderten Neu—
baus mit dem Glockentürmchen und dem Schulgarten
und der Turnhalle, der erſten ihrer Art in Deutſchland.
Nach einer ſpäteren Unterbrechung durch einige Heidel—
berger Jahre und ein fruchtbares Semeſter in Oſter⸗
reich hat Stoy dieſe Schule bis zu ſeinem Tode (1885)
regiert. Von hier aus gingen die Gedanken einer
neuen Erziehung, der Pädagogik Herbarts, von Stoy
vorbildlich und gemäß der kleinen beſcheidnen tapfern
Stadt verwirklicht, in das deutſche Schulweſen über.
—— Nn
Muſik, Bühne, Dichtung
Wie Jena nicht ohne Kunſt war, ſo war das Weimar
der erſten dreißig Jahre von Carl Alexanders Regierung
nicht ohne Wiſſenſchaft. Am Gymnaſium wirkten
namhafte Philologen, an der Bibliothek Gelehrte von
deutſchem Ruf. Ludwig Preller aus Hamburg, ſeit
den dreißiger Jahren unter den Mythologen geſchätzt,
hatte ſich nach einer in nationaler Beklemmung ver—
laufenen Dorpater Profeſſur und einem ausgiebigen
Aufenthalt in Italien 1846 als Profeſſor in Jena
angeſiedelt; ſchon 1847 berief ihn die Regierung nach
Weimar an die Spitze der Bibliothek. Maria
Paulowna hörte in den letzten zwölf Jahren ihres
Lebens gern ſeine wöchentlichen Vorträge, und Stich—
ling wurde ſein Freund; während Preller der Groß—
herzoginwitwe 1860 ein literariſches Denkmal ſetzte,
hielt Stichling dem bald darauf Verſchiedenen in der
Loge eine Gedenkrede und rühmte, „feine bei aller
Eckigkeit und Unlenkſamkeit doch elaſtiſche, weil
phantaſiereiche Natur.“ Preller verzeichnete die
vielen wertvollen Handſchriften der Bibliothek zum
erſtenmal; in den fünfziger Jahren galt er als einer
der hervorragendſten deutſchen Mythologen des klaſſi—
200 Weimarer Bibliothekare
ſchen Altertums: ſeine nach manchen Einzelſtudien zuerſt
1854 veröffentlichte Griechiſche Mythologie erſchien
ſchon 1860 in zweiter, ſeine Römiſche Mythologie
zwiſchen 1858 und 1883 in drei Auflagen.
Auch Schöll aus Brünn, der Goethephilolog,
nach Preller zwanzig Jahre als Leiter der Bibliothek
tätig, hatte mythologiſche Studien getrieben, wie er
denn ein außerordentlich kundiger Kunſtgelehrter war,
dabei ein geiſtvoller Redner und zum Hauptberater
bei der Pflege und Fortſetzung der klaſſiſchen Tradition
Weimars wie geſchaffen. Schon 1843 als Direktor
der großherzoglichen Kunſtſammlungen und der freien
Zeichenſchule nach Weimar berufen, hatte er bei man—
chem künſtleriſchen und literariſchen Unternehmen eine
bedeutende Stimme abzugeben, und die vornehme
Geſelligkeit ſeines gaſtfreien Hauſes erhöhte ſeinen
Wert. Er erkannte ebenſo ſicher die beſondern Vor—
züge von Klaus Groth und Hebbel, wie er, ſämtliche
Dramen von Sophokles überſetzend, ſtellenweiſe eine
zweifelhafte Annäherung an Euripides bei ihnen her—
ausfand oder das altfränkiſche in Pindars Stil mit der
gleichzeitigen archaiſchen Bildhauerkunſt in Beziehung
zu ſetzen wußte. Mit Shakeſpeare und Herder, mit
Schiller und Goethe war er innig vertraut.
Neben Preller und neben Schöll ſtand als dritter
Bibliothekar ſeit 1856 der junge Reinhold Köhler, in
Weimar geboren und in Jena promoviert, zuletzt gleich—
falls Bibliotheksdirektor, ein beſcheidner Meiſter der
Neu-Weimar- Verein 201
Märchenforſchung, ein hervorragender Kenner der
deutſchen Kleinepik alter und neuer Zeit, ein gelehrter
Helfer deutſcher Philologen allerwärts. Erſt nach ſeinem
Tode (1892) wurden ſeine Einzelſtudien geſammelt;
in den ſechziger und ſiebziger Jahren trat er ſelbſt nur
ſelten hervor, z. B. indem er den Text Heinrichs von
Kleiſt von den Retuſchen Tiecks und Julian Schmidts
ſäuberte und Herders Cidquellen nachwies. Köhler
gehörte zu dem ſich auftuenden „Neuweimarverein“,
man ſah ihn im Lager Liſzts, und Peter Cornelius
wurde ſein Herzensfreund, während Schöll eine Art
Gegenpol zu Liſzt bildete. Denn Muſik tat in den
fünfziger Jahren die aufregendſte Wirkung des neuen
Weimars auf Deutſchland.
Daß Liſzt, der wanderſüchtige, in Weimar für mehr
als ein Jahrzehnt ſtandhielt, wurde teils durch ſeine
Anſtellung gewährleiſtet, teils durch das Zuſammen—
leben mit der Fürſtin Wittgenſtein. Sie hatte er
Anfang 1847 in Kiew kennen gelernt, eine ſehr reiche
Polin, hoher Schwärmerei in katholiſcher Kirchennarkoſe
fähig, von beweglichſter Verſtandeskraft, ohne oft ein
echtes Verhältnis zum Daſein finden zu können, Mutter
einer zehnjährigen Prinzeß Marie, Gattin eines un—
geliebten Gemahls. Ein Jahr darauf — kurz vor der
Märzrevolution — floh ſie nach Einreichung der
Scheidungsklage mit ihrer Tochter aus Rußland, um
ſich mit Liſzt vermählen zu können, und ſtellte ſich auf
ſeinen Rat unter den Schutz Maria Paulownas,
202 Liſzt und die Fürſtin Wittgenſtein
mit der fie als Kind am Petersburger Hofe zuſammen⸗
geweſen war. Die Großherzogin wies ihr das ſtattliche
Gebäude der weimariſchen Altenburg — eines jener
auf dem Oſtufer oſtmitteldeutſcher Städte geſondert
gelegenen Grundſtücke, deren Name auf älteſte befeſtigte
Siedelungsſtätte am Orte deutet, — zur Miete an.
Hier erwartete die Fürſtin die Scheidung ihrer ruſſi—
ſchen Ehe, zwölf Jahre umſonſt, hierher zog Liſzt, hier
bildete ſich eine Art Muſenhof um beide, und das
nahe Wäldchen, das Webicht, wurde zum Mittelpunkt
neueſter Kulturbeziehungen. Aber die Fürſtin erhielt
den ruſſiſchen Staatsbefehl, in ihre Heimat zurückzu—
kehren; ſie folgte nicht, ward aus Rußland ausgewieſen,
und Weimars Hof und Geſellſchaft zogen ſich von ihr
zurück. Als endlich doch die ruſſiſchen Konſiſtorien in
die Scheidung willigten, erhob der Biſchof von Fulda
Bedenken, dem ſie in Weimar unterſtand; ſie eilte 1860
nach Rom, um beim Papſt die neue Schwierigkeit zu
überwinden, und kehrte nicht zurück. Um dieſelbe
Zeit löſte Liſzt fein dauerndes Weimarer Verhältnis.
Liſzts Perſönlichkeit war nach Geburt und Heimat
aus deutſchem und ungariſchem gemiſcht, nach Kultur
und Bildung war er teils Römling, teils Franzoſe.
Mitten in ſeiner Weimarer Zeit, 1853, erklärte er in
einem für die Offentlichkeit beſtimmten Brief an einen
Deutſchen: „Ich ſchreibe Ihnen heute franzöſiſch; denn
da ich die Gewohnheit habe, in dieſer Sprache zu
denken, ſo iſt es mir bequemer, auf dieſe Weiſe die
Sinfoniſche Dichtungen: Hercide funebre 203
Ideen auszudrücken“. Es war damals ein neues Stre—
ben in ihm; ſeine Pianiſtenlaufbahn glaubte er völlig
abgetan. „Einſtweilen arbeite ich friedlich, ſoviel ich
kann, mit Kopf und Feder, und nur bei ſolchem Ar—
beiten, durch einige Jahre hin, wird es mir möglich
ſein, jene Stufe hoher und wohlgegründeter Anerken—
nung zu erlangen, die ich ernſthaft erſtrebe.“ Wenn
er von Weimar aus durch neuartige Orcheſterwerke
wirkte, „ſinfoniſche Dichtungen“, ſo wurzelte die erſte
Gruppe davon in ſeiner franzöſiſchen Jugend.
Er war mit zwölf Jahren nach Paris übergeſiedelt,
hatte dort als neunzehnjähriger die Revolution von
1830 erlebt und darüber eine Sinfonie entworfen;
deren erſten Satz arbeitete er 1849 in Weimar, als
ähnliche Zuckungen durch Deutſchland nachbebten, zu
einer Héroide funèbre um. Gedämpfte Wirbel der
Militärtrommel, Poſaunenſtöße auf gute, verminderte
Septimenakkorde der Holzbläſer auf ſchlechte Taktteile,
chromatiſches Gegeneinanderſichwinden des Streich—
quartetts als Einleitung und dann ein großer Trauer—
marſch ähnlicher Art in F-Moll mit kurzem ſüßen
Zwiſchenſang in Des-Dur: damit wollte er, wie fein
Vorwort ſagte, die „roten Finſterniſſe“ des Schmerzes
ſchildern, der bei gewaltſamer Zerſtörung alter Ordnung
durch die Welt geht, den Schrei des Entſetzens und das
Schweigen nach der Kataſtrophe, und die Grabhügel
der Gefallenen in ſchimmernde Schleier hüllen. Pro—
grammuſik! Anfang der dreißiger Jahre hatte er mit
204 Mazeppa und Bergiinfonie
Victor Hugo freundlich verkehrt und ſich von deſſen
leidenſchaftlich überladener Mazeppaviſion zu einer
wilden Klaviermuſik hinreißen laſſen; die ſetzte er 1850
in Weimar ins Orcheſter um und damit erſt in ihr
wahres naturaliſtiſches Element ein. Ein Beckenſchlag
(Peitſche) übergrellt den erſten diſſonanten Bläſer—
ſchrei, das Streichquartett haſtet bald in knirſchenden
Triolen, bald in Pizzikatogezupf und Bogenholzge—
klapper durcheinander, während die Holzbläſer lange
Wehlaute ſtöhnen, große Triller der einen Hälfte der
Orcheſterſtimmen, chromatiſches Abwärtswimmern der
anderen: die Leidensgaloppade des Koſakenhetmans
und zugleich die Qual des an die Wirklichkeit geſchmie—
deten grandioſen Menſchengeiſtes! Ein andres Hugo—
ſches Gedicht beſchäftigte ihn noch länger: keine ſinfo—
niſche Dichtung hat er ſo durch- und umgearbeitet wie
Ce qu'on entend sur la montagne; auf den Ent—
wurf in den dreißiger Jahren folgte die Inſtrumen—
tation in Weimar 1849, eine erſte Aufführung hier
1853, und 1857 ſtellte er das Werk an den Anfang
der großen Veröffentlichung von neun Arbeiten
gleicher Art. Hugo hatte von einer Höhe am Meer
herab aus dem Rauſchen des Alls zu ſeinen Füßen
zwei Stimmen herausgehört: die heitere, friedevolle
der Natur und das böſe Unglücksgeſchrei der Menſch—
heit. In dieſen Gehörswahn verſenkte ſich Liſzt und
legte ihn in engem Anſchluß an das Gedicht als aku—
ſtiſche Wirklichkeit dar. Ein andermal packte ihn La⸗
Les preludes, Taſſo, Prometheus 205
martines Meditation, das Leben ſei eine Folge von
Präludien zu dem erſten Feierklang des Todes, und
er ſchrieb Les preludes über das Glück der Liebe, den
Sturm, der es zerreißt, die Erholung in der Stille
des Landes und das neue Hinaustreten in den Kampf
des Lebens.
So unweimariſch, vollends ungoethiſch die erſten
dieſer Werke waren, mit den Préludes war doch die
Möglichkeit gegeben, ſich den Gedanken unſerer Klaſ—
ſiker zu nähern, und nun veranlaßte Weimars Boden
Liſzt wirklich, auch Goethe, Herder und Schiller ſinfo—
niſch zu bedenken. Taſſo freilich wurde nicht eben
goethiſch angefaßt. Byron hatte die Klage des un—
glücklichen Dichters im Kerker gedichtet; dieſe gab Liſzt
wieder und legte ihr eine ſchwermütige venezianiſche
Melodie zugrunde, in der er die Lagunenſchiffer die
Anfangsſtrophen von Taſſos Jeruſalem hatte ſingen
hören. Auch für die Fortſetzung des Werkes griff er
außerhalb von Goethes Dichtung und ſchilderte den
Triumph des Dichters auf dem Kapitol. So entſtand
als Einleitung zur Weimarer Taſſoaufführung an
Goethes hundertſtem Geburtstag Liſzts Tasso aus
Lamento e trionfo. Als im folgenden Jahre Herders
Weimarer Denkmal enthüllt und im Theater ſein
Entfeſſelter Prometheus mit neuer Liſztſcher Muſik
geſungen wurde, gab Liſzt eine Ouvertüre zu, die er
ſpäter unter die ſinfoniſchen Dichtungen aufnahm:
darin ſtellte er einen ähnlichen Gegenſatz wie im Taſſo
206 Feſtklänge, Orpheus, Die Ideale
dar, kühnen Trotz des Dulders und triumphierende
Hoffnung auf Befreiung. Für das Weimarer Jubi⸗
läum Maria Paulownas 1854 entſtanden als Einlei⸗
tung zu Schillers Huldigung der Künſte die rauſchen⸗
den Feſtklänge. Kurz darauf gab eine Aufführung
von Glucks Orpheus Anlaß, das Weſen beſänftigender,
beſeligender Kunſt — in Erinnerung an das Orpheus⸗
bild einer etruriſchen Vaſe im Louvre — in prangen⸗
den Akkorden unter dem Namen dieſes Sängers an-
zudeuten und auszumalen oder, wie Liſzts phraſen⸗
duftendes Vorwort ſagte, „den verklärten ethiſchen
Charakter der Harmonien, welche von jedem Kunſtwerk
ausſtrahlen, zu vergegenwärtigen, die Zauber und die
Fülle zu ſchildern, womit ſie die Seele überwältigen,
wie fie wogen gleich elyſiſchen Lüften, Weihrauch—
wolken ähnlich mählich ſich verbreiten; den lichtblauen
Ather, womit ſie die Erde und das ganze Weltall wie
mit einer Atmoſphäre, wie mit einem durchſichtigen
Gewand unſäglich myſteriöſen Wohllauts umgeben“. “)
Und endlich 1857 das Septemberfeſt der Weihe des
Denkmals für Goethe und Schiller. Binnen wenigen
Wochen ſchrieb dafür Liſzt eine große orcheſtrale Para—
phraſe der Empfindungen, die in Schillers Gedicht
Die Ideale vorüberziehen: Wehmut beim Scheiden
der Jugendideale, Glück der Erinnerung an ſie, an die
Zeit des Aufſchwungs, der Allbelebung durch liebende
*) Überſetzung von Peter Cornelius.
Fauſtſinfonie, Hungaria 207
Jugendluſt, der Erwartung von Liebe, Glück, Ruhm
und Wahrheit, die Enttäuſchung auf des Weges Mitte
und die bleibende Erquickung durch Freundſchaft und
emſige Beſchäftigung; und ſchwärmeriſch, wie er war,
fügte er einen Schluß hinzu, con somma passione
zu ſpielen: „Das Feſthalten und dabei die unaufhalt—
ſame Betätigung des Ideals iſt unſers Lebens höchſter
Zweck. In dieſem Sinne erlaubte ich mir das Schiller—
ſche Gedicht zu ergänzen durch die jubelnd bekräfti⸗
gende Wiederaufnahme der im erſten Satz voraus—
gegangenen Motive als Schluß-Apotheoſe.“ Bei dem—
ſelben Feſte huldigte Liſzt auch Goethe, mit der erſten
öffentlichen Aufführung feiner 1855 komponierten Fauft-
ſinfonie. Sie zeichnete in drei Sätzen die Charaktere
Fauſts, Gretchens und Mephiſtos, ein Gewebe von
Bühnen- und poetiſchen Eindrücken, die genialſte, die
plaſtiſchſte aller dieſer ſinfoniſchen Schöpfungen. Im
dritten Satze führte Liſzt aus, wie die mephiſtophe—
liſchen Klänge durch fauſtiſche und gretchenhafte über—
wunden werden, und konnte ſo mit dem Chor „Alles
vergängliche iſt nur ein Gleichnis“ ſchließen.
Mit einigen ſolcher Werke begab ſich Liſzt in Weimar
dann auch wieder auf das Gebiet internationaler An—
regungen. 1853 inſtrumentierte er einen ungariſchen
Klaviermarſch für Orcheſter erweiternd um zu der
ſinfoniſchen Dichtung Hungaria. Maria Paulowna
legte ihm eine Kompoſition „Das Drama der Ge—
ſchichte“ nach Kaulbach nahe; wirklich dachte er darauf
208 Hunnenſchlacht, Danteſinfonie, Hamlet
an eine „Weltgeſchichte in Bildern (W. Kaulbach) und
Tönen (Liſzt)“, aber nur die Hunnenſchlacht wurde
1856 ausgeführt. In demſelben Jahre näherte er ſich
auch wieder ſtrengerem, gedrängterem Bau (wie im
Fauſt) in der zweiſätzigen Danteſinfonie mit Andeu—
tungen des Inferno und des Purgatorio, und 1859
entſtand die ſinfoniſche Dichtung Hamlet.
Soviel halbmuſikaliſches an all dieſen Werken war,
da ſie vom Hörer verlangten, den an ſich mangel—
haften Kompoſitionseindrücken mit allerlei Nebenvor—
ſtellungen ſchauender und fühlender Phantaſie zu Hilfe
zu kommen, ſo neu war das naturaliſtiſche Element
ihrer Tonſprache im 19. Jahrhundert, ſo eng berührte
es ſich mit der Wirklichkeitsſucht und dem Recht auf
Wahrheit, das auf andern Gebieten damals Ober—
waſſer bekam, und ſo feſt glaubte Liſzt an die Echtheit,
ja auch an die Tiefe ſeiner unbändigen Gefühlsſprache.
Aber dieſen Kraftäußerungen merkte man die Abſicht
ſehr an, und ſie vereinten ſich ſchlecht mit dem großen
Aufwand von Schönrednerei und Weihrauch, der ſie
überall durchſetzte, und mit der Schwäche eigentlich
kompoſitoriſcher Arbeit, die ſich in ihren vielen Se—
quenzen, ihren pathetiſchen Uniſonos und ihrer oft
ſeifenblaſigen Melodik verriet.
Ein Teil dieſer Mängel trat bei der Kirchenmuſik
zurück, da dieſe bei jedem Hörer gewiſſe Stimmungen
vorausſetzt und durch ihren Text beſtimmte Gedanken
erweckt. Doch ergab ſich hier für die Evangeliſchen
Liſzts Kirchenmuſik 209
die neue Schwierigkeit, daß Liſzts kirchenmuſikaliſche
Arbeiten vorwiegend katholiſches Weſen erhielten —
er hatte für ſich und die Fürſtin Caroline Wittgenſtein
eine gemeinſame Betkammer in der Altenburg einrichten
laſſen —, und für die Katholiken die, daß ſie teilweiſe
eine ſehr ſubjektive Empfindungsſprache führten. Die
größten ſeiner Schöpfungen in dieſer Gattung wurden
meiſt ſpäter in Rom abgeſchloſſen; aber ihre Keime
und Anfangsteile entſtanden in Weimar, ja ſeine
friſcheſten Kirchenmuſikwerke ſchrieb er überhaupt hier.
So den dreizehnten Pſalm und die 1856 vollendete
Feſtmeſſe zur Einweihung der Kathedrale der unga—
riſchen Stadt Gran; es war kein weiter Weg, der von
den Naturſeligkeitsmotiven der Bergſinfonie zu dem
Gloria dieſer Meſſe führte. Zur Zeit der ſich häufenden
Weimarer Schwierigkeiten komponierte er aus dem
geplanten großen Chriſtusoratorium die Seligpreiſungen
„Les beatitudes, pour Carolyne‘ und ſchrieb dazu:
„Elle est l’inspiration, la liberté et le salut de
ma vie et je prie Dieu que nous fructifions en—
semble pour la vie eternelle.‘
Ein beſonderes weimariſches Oratorium Liſzts
wurde ſeine Legende von der heiligen Eliſabeth, der
ungariſchen Prinzeſſin, die in der Blütezeit des Minne—
ſangs und der Kreuzzüge Thüringens Landgräfin auf
der Wartburg war. Roquette verfaßte ihm das Text—
buch in ſechs Bildern: wie das Mägdlein auf die Wart—
burg kommt, wie ihr junger Gemahl das Roſenwunder
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 14
210 Die heilige Eliſabeth
mit ihr erlebt und wie er zum Kreuzzug Abſchied
nimmt; wie ihre Schwiegermutter ſie in ſtürmiſcher
Nacht vertreibt, ſie unter Werken der Barmherzigkeit
verſcheidet und ſchließlich die feierlichſte Beſtattung
durch den Hohenſtaufenkaiſer in der neuen Marburger
Hauptkirche erhält. Liſzts Muſik verwandte dazu das
älteſte kirchliche Gloria, neuere katholiſche Jeſushymnik
und eine ungariſche Volksweiſe leitmotiviſch, vor allem
einige altkatholiſche, melodiöſe Antiphonzeilen des Eliſa—
bethtages, aus denen er auch die ſchwärmeriſche Ein—
leitung wob; Ritterchöre und Unwetter ließen ihn Ge—
pränge und Schrecken des Orcheſters entfalten. 1867
erklang das Werk auf der erneuerten Wartburg zu
ihrer muſikaliſchen Weihe, und an ſeinem ſiebzigſten
Geburtstag ſah es Liſzt in Weimar auch auf der
Bühne, wohl nicht ganz mit ſeinem Willen; dank
dem Gegenſtand und der Neuheit der oratoriſchen
Mache brach es ſich in Deutſchland Bahn.
Der Naturburſche, der trotz großer Kulturfähig—
keiten bei Liſzt dem Komponiſten wie dem Geſellſchafts—
menſchen immer wieder durchbrach, machte auch ſein
eigentlichſtes Weſen als Dirigent aus. Indem er bei
der Orcheſterführung vor allem dem natürlichen Emp—
finden mehr Geltung verſchaffen wollte, ſtellte er die
Periodiſierung nach Motiven über das Taktſchlagen,
behandelte er den Takt frei, den Rhythmus exploſiv,
verzichtete am liebſten ganz auf den Taktſtock, beflügelte
große Steigerungen mit ausgebreiteten Armen wie
Liſzt und Wagner 211
ein Adler und bildete ſo den Typus des Ausdrucks—
dirigenten ſeines Zeitalters. Als ſolcher vermochte er
die Opern des jungen Wagner, dieſe hervorragende
Ausdruckskunſt um 1850, begeiſternd anzufaſſen, und
Weimars Aufführungen von Fliegendem Holländer,
Tannhäuſer und Lohengrin waren in den fünfziger
Jahren berühmt, wie ſie das Weſen der Liebe mit
neuer Glut malten und mit maſſigen Bühneneffekten
umgaben. Als Wagner 1849 von Dresden nach der
Schweiz floh, bereitete ihm Liſzt ein paar Ruhetage
im Weimariſchen; damals hörte Wagner im Hoftheater
hinter dem Vorhang der Hofloge verſteckt eine Probe
des Tannhäuſer unter Liſzt, und die Lohengrinpartitur
wurde auf der Altenburg in Verwahrung gegeben.
Liſzt vergötterte ſie und führte das neue Werk an
Goethes Geburtstag 1850 zum erſtenmal auf; Wagner
war ihm unter den zeitgenöſſiſchen Muſikern wie ein
„Veſuv unter künſtlichen Lämpchen, Feuergarben und
Blumen auswerfend.“ Auch der Feſtſpielgedanke war
zwiſchen beiden beſprochen worden; ſchon ſah Lifzt
im Geiſte auf dem Weimarer Schießhausplatz die
Bühne erſtehen, die ſpäter in Bayreuth gebaut wurde.
Wie die Lohengrinmuſik die Eliſabethlegende beein—
flußte, ſo entnahm Wagner manches aus Liſzts Kirchen—
muſik für ſeinen Parſifal. Literariſch und dirigierend
trat Liſzt ähnlich wie für Wagner nur noch für Berlioz
ein: 1851 bot er den Weimarern deſſen Sinfonie
„Harald in Italien“ und 1852 die Oper Benvenuto
14 *
212 Allgemeiner deutſcher Muſikverein
Cellini, beides zum erſtenmal in Deutſchland. So ver-
knüpften ſich damals die Namen Berlioz, Liſzt und
Wagner als ein Dreigeſtirn moderner Muſik, und wie
Berlioz die Damnation de Faust Liſzt widmete, ſo
dieſer ſeine Fauſtſinfonie Berlioz, und Liſzt und
Wagner einander Dante und Lohengrin.
Dieſe groß gedachte Weimarer Tätigkeit Liſzts wurde
durch Konzert- und Dirigentenreiſen oft unterbrochen.
1853 leitete er ein mehrtägiges Muſikfeſt in Karlsruhe
und 1857 in Aachen, beides wirkſame Unternehmungen
zur Verbreitung der realiſtiſchen Muſik. 1859, als die
Neue Zeitſchrift für Muſik in Leipzig ihr fünfund—
zwanzigjähriges Beſtehen feierte, gründeten deren
Häupter im Sinne Liſzts den Allgemeinen deutſchen
Muſikverein zur Aufführung vor allem bemerkens—
werter neuer Kompoſitionen auf jährlichen Tonkünſtler—
feſten; der Großherzog Carl Alexander übernahm das
Protektorat, das er ſich nicht leicht machte, und Liſzt
das Ehrenpräſidium, und in den nächſten fünfund—
zwanzig Jahren fanden dieſe Feſte dreimal in Weimar
ſtatt, 1861, 1870 und 1884.
Inmitten all deſſen blieb zur Pflege von Kammer—
muſik wenig Spielraum übrig, und doch hat Liſzt
auch da teilweiſe von Weimar aus eine deutſche Wir—
kung getan. 1858 erſchienen ſechs Hefte Lieder von
ihm. Wie er Lenaus Drei Zigeuner da läſſig vortrug,
die Singſtimme mit den feinſten Biegungen eines
modern gehörten Rezitativs ausſtattete, in der Klavier—
Liſzts Lieder 213
begleitung bald die Rauchwölkchen des einen, bald das
Gefiedel des andern, bald das Schläferglück des dritten
zeichnete, das war als naturaliſtiſche Gabe unüber—
trefflich, wenn auch unmittelbar vor dem Schritt zum
Lächerlichen. Andrerſeits war von da auch nur ein
Schritt zum Melodram: als ſolches behandelte er 1858
Bürgers Lenore, und der Totenritt zum Kirchhof und
der Geiſtergeſindeltanz am Hochgericht wurden Meiſter—
ſtückchen ſeines Klavierſatzes. Mit Goethes Liedern
war er weniger glücklich; den König in Thule, Über
allen Gipfeln zerkünſtelte er in exaltierte Teileffekte.
Goethes inneres Maß war ihm ſo fremd, daß er der
kleinen alten Hexe Bettina von Arnim, die ſeine
Schillerverehrung jeſuitiſch nannte, erwiderte, daß ihm .
der ſchlechteſte Jeſuit noch lieber wäre wie ihr ganzer
Goethe. Einige hübſche Lieder ſchrieb er zu Texten
der beiden unermüdlichen Hausdichter der Altenburg,
Hoffmann von Fallersleben“) und Peter Cornelius.
Auch die Klavierkompoſition des erſten Pianiſten der
Welt, der er war, trat zurück; war er doch mehr mit
*) Hoffmann lebte von 1854 bis 1860 in Weimar, eine
Zeitlang vom Großherzog zur Herausgabe eines germaniſtiſchen
Weimariſchen Jahrbuchs unterſtützt und literargeſchichtlich
fleißig tätig; namentlich förderte er ſeine Horae belgicae,
und das treffliche Buch „Unſere volkstümlichen Lieder“ er—
ſchien 1859 in zweiter Auflage. Der oft von ihm angeſun—
genen Prinzeſſin Wittgenſtein verdankte er es, daß ihn 1860
der Herzog von Ratibor als Bibliothekar in Corvey an der
Weſer anſtellte, wo der Dichter von „Deutſchland, Deutſch—
land über alles“ ſeinen Hafen fand.
214 Muſikaliſches Gefolge
orcheſtraler Inſtrumentation älterer Klavierſachen von
ſich und anderen beſchäftigt, ſchließlich auch mit der
der berühmteſten Schubertſchen Lieder, darunter ſolcher
von Goethe, ſowie Schubertſcher Märſche und einiger
Lieder von ihm ſelbſt, zweifellos ein barocker Zug.
Nur in der erſten Hälfte der Weimarer Zeit raffte er
ſich zu ſo einem gehaltvollen Klavierwerk zuſammen
wie der großen einſätzigen H-Moll-Sonate, die er 1853
Schumann widmete: ihre trotzigen und ſehnſüchtigen
Motive und ihre pianiſtiſchen Ränke erforderten den
freieſten und raffinierteſten Spieler.
Um Liſzt ſammelte ſich eine Schar vorzüglicher
junger Muſiker, zum Teil Bewohner der Altenburg und
Gäſte der Fürſtin, alle entſchloſſen, dem muſikaliſchen
„Fortſchritt“ zu huldigen. Liſzt nannte ſie ſeine Murls,
ſeine jungen Mohren, und mit ihren künſtleriſchen und
journaliſtiſchen Fähigkeiten wirkten ſie auf Deutſchland
in ſeinem Sinne. Einige hatte er ſelbſt für das Wei—
marer Orcheſter geworben, 1849 den jungen Geiger
Joſef Joachim, 1850 Bernhard Coßmann, der ſich in
Paris, Leipzig und London den Celliſtenlorbeer geholt
hatte, und 1854 den Geiger Alexander Ritter, ſoeben
mit Wagners Nichte verheiratet, einer bisherigen Schau—
ſpielerin und nun begehrten Sprecherin von Melo—
dramen. Seit 1850 befand ſich Joachim Raff in Liſzts
Gefolge in Weimar, immer aufgelegt zu formgewandter
Schnellproduktion im programmatiſchen Fahrwaſſer,
anfangs namentlich für Klavier; er verlobte ſich 1853
— 1
Lieder von Cornelius 31;
mit der Schauspielerin Doris Genaſt, der Tochter des
Weimarer Regiſſeurs. Hans von Bülow wurde 1852
Liſzts Lieblingsſchüler, dem ſein Freund und Mitſchüler
Hans von Bronſart nicht gleichkam, erſt einige Jahre
ſpäter in ähnlichem Grade der junge Pole Carl Tauſig.
Der belgiſche Laſſen, der thüringiſche Draeſeke ver—
pflichteten ſich in Weimars Luft der Fahne Liſszts,
ſchon 1852 auch unter andauernden Kämpfen mit
ſeinem beſſern Ich der feinfühlige Peter Cornelius.
Faſt alle komponierten, am fertigſten damals Raff
und Laſſen, am ungeſtümſten Draeſeke. Am eigenſten
Cornelius, der am dauerndſten mit der Altenburg zu—
ſammenhing und immer einmal einer andern Zuflucht
bedurfte, um ſich da zwiſchen den ſtarken Weimarer
Eindrücken und Literatenaufträgen — wieviel mußte
er von Liſzt und Berlioz überſetzen! — wieder ganz
zu finden. Das gelang ihm das erſtemal im Sommer
1853 auf dem Lande bei Saarlouis: dort ſandte er
einer Muſikfreundin ſechs niedliche Gedichtchen als
Briefe und komponierte ſie auch ſofort ebenſo
beſcheiden poetiſch — ſein opus 1 —, das vom Veil—
chen und das vom Spinnchen in der Miſchung von
feinem Humor und zartem Schwung, die ſein innerſtes
Weſen war. In den folgenden Jahren wurde die
Bernhardshütte auf dem Südabhang des Thüringer
Waldes, wo eine Schweſter verheiratet war, zur
poetiſch-muſikaliſchen Traumſchmiede, aus der immer
neue Liederkreiſe hervorgingen, eine Vaterunſerfolge
216 Barbier von Bagdad
über katholiſche Intonationen, ſchüchterne Liebeslieder
an die junge Prinzeß Wittgenſtein, „Trauer und Troſt“
beim Tode der Frau eines väterlichen Freundes mit
dem ſchlichten Kunſtgeſpinnſt „Ein Ton“, teilweiſe in
Weimar auskomponiert. Da oben ſchuf er ſeit Herbſt
1856 für ſeine Schwägerin ſechs Brautlieder und auf
Weihnacht 1856 für das Haus der Schweſter ſechs
Weihnachtslieder, die ſpäter noch kräftig umgearbeitet
wurden: auf Liſzts Rat ſchrieb er das Dreikönigslied
ganz neu und flocht den Morgenſternchoral darein. “)
In Bernhardshütte und Weimar ſchrieb Cornelius
auch ſeine erſte Oper, den Barbier von Bagdad. Er
verwand damit glücklich eine unerwiderte Liebe, zu
Rückerts Tochter, und ſpielte die Poeſie des Orients,
wie ſie der zeitweiſe erhoffte Schwiegervater geſchaffen
hatte, im Humor gegen ſich ſelbſt aus und übertrumpfte
Vater und Tochter Rückert ſamt ſeinem Schickſal, in—
dem er aus dieſen Lebensſchlacken ein heiteres Bühnen—
ſtück herausläuterte voll klingenden Verstandes und es
mit ſeiner Muſik in Luſt und Schönheit liebenswürdig
tränkte, einer Muſik, die Schumann und Berlioz näher
ſtand als Liſzt und Wagner. Liſzt hatte ſeine Freude
an dem ihm gewidmeten Werk, gab allerlei Winke für
*) Cornelius hat ſpäter je eine mehrſtimmige Kompoſi—
tion zu Goethe und Schiller verfaßt; wunderlicher Eigenſinn
ließ ihn „Troſt in Tränen“ als dramatiſche Szene auffaſſen
und das Rütligelübde überdichten. Wieviel mehr ihm beide
waren als den meiſten Geiſtern der Altenburg, ſagt ſein
Tagebuch.
Auflöſung der Altenburg 217
die Ausfeilung und führte es am 15. Dezember 1858
in Weimar auf. Es wurde ein Schickſalstag: die längſt
gegen Liſzt angeſammelte Feindſchaft benutzte das
Hervortreten dieſes unſchuldigſten ſeiner Schüler, den
Meiſter zu treffen, und die Ziſcher überlärmten den
Beifall. Liſzt verzichtete ſofort auf weitere Opern—
direktion in Weimar, und in den nächſten Jahren
verließen Cornelius und er die Stadt.
Faſt waren ſie die letzten des Reigens von der
Altenburg. Denn ſchon 1853 war Joachim nach Han—
nover gegangen, 1855 Bülow nach Berlin, 1856 Ritter
nach Stettin, 1857 Raff nach Heidelberg, 1859 die
Prinzeſſin Wittgenſtein als Fürſtin Hohenlohe nach
Wien und 1860 ihre Mutter nach Rom. Was aber
mehr wog: es kamen die ſiebziger Jahre, wo der
Liſztſche Naturalismus allmählich veraltete, wo ſeine
beſten Jünger ſich leuchtenderen muſikaliſchen Sternen
näherten, der Kunſt von Bach, Beethoven und Brahms.
Damals erfüllte der alte Liſzt den Wunſch des Groß—
herzogs Carl Alexander, jährlich auf einige Sommer—
monate nach Weimar zurückzukehren, und von 1869
bis zu ſeinem Tode 1886 hat er ſo dieſen deutſchen
Mittelpunkt nochmals durch ſeine Kunſt und Lehre
anziehend gemacht. Nun hauſte er im erſten Stock
der Hofgärtnerei am Rande des Parkes, da fanden
nun die Sonntagsmatineen ſtatt, da ſtellten ſich die
jungen Klavierlöwen ein, von denen mancher eine
Zierde des kommenden Zeitalters werden ſollte, da
218 In der Hofgärtnerei
ſammelte ſich wieder ein Schwarm internationaler
Bewunderer. Denn Liſzt war noch Kaiſer unter den
Pianiſten Europas und die faſzinierendſte Erſcheinung
Weimars. Im April 1883 trat der junge Ruſſe Siloti
zur erſten Stunde bei ihm ein. Es waren etwa fünf—
undzwanzig Schüler und Schülerinnen da, Siloti
ſpielte vor, und Liſzt griff öfters dazwiſchen. Als
Siloti aufſtand, war es ihm, als ob ihn jemand be—
zaubert hätte; er erzählt: „Ich ſah Liſzt an und
fühlte, daß ſich etwas in mir vollzog und daß ganz
neue und warme Gefühle mich plötzlich durchdrangen! . .
Ich verließ Liſzts Haus wie ein neugeborener Menſch,
mit dem Entſchluß im Auslande zu bleiben und bei
ihm zu ftudieren.. Ich wurde mit einem Male ein
Menſch, der weiß, was er will; ich wußte jetzt, daß
es etwas gab, woran ich meine Seele wärmen konnte..
Ich wurde ein Weimarer.“
Auch Cornelius kehrte nach Weimar zurück, nur
vorübergehend, aber zu einem bedeutenden Tage.
Noch zur Zeit der letzten Arbeit am Barbier hatte er
ſich auf die Suche nach einem neuen, ernſten Opern—
ſtoff begeben, und Reinhold Köhler hatte ihn auf die
Quellen gewieſen, aus denen Herders Cid hervor—
gegangen war. Die andern Weimarer Freunde be—
ſtärkten den Plan, dieſen Opernſtoff zu geſtalten. Das
Werk wurde außerhalb Weimars geſchaffen: trotz
Lohengrin- und Triſtaneinflüſſen reckte ſich der Idealiſt
Cornelius in ihm auf, ſein war die edle Auffaſſung
Der Corneliusſche Cid und Mildes 219
von dem Liebeskampf der Kimene, ſein die ſchlacken—
loſe Dichtung und die innige Melodik der feſtgeſchloſ—
ſenen Muſikſtücke. In Weimar fanden im Mai 1865
die beiden einzigen Aufführungen dieſes Cid ſtatt, die
Cornelius erlebte, von ihm ſelbſt vorbereitet, von den
Weimarer Sängern unter Stör begeiſtert ausgeführt.
Neben Stör ſchaltete damals Laſſen als Nachfolger
Liſzts an der Weimarer Oper und ließ ſein Talent
und ſeine Kunſt in naturaliſtiſch und leitmotiviſch
untermalenden Schauſpielmuſiken und vielen Liedern
allmählich verflachen.
Die Leiter der Weimarer Bühne wechſelten in den
vierzig Jahren zwiſchen 1847 und 1887 nach Jahr:
zehnten. Von 1847 bis 1857 waren der junge weima—
riſche Freiherr von Ziegeſar und Herr von Beaulieu
Intendanten, von 1857 bis 1867 Dingelſtedt und dann
zwei Jahrzehnte Herr von Loén. Sie brachten die
Weimarer Bühne, die vorher im Niedergang geweſen
war, von neuem zu Ehren. Das war unter Ziegeſar
und Beaulieu vor allem das Verdienſt Liſzts und des
Ehepaars Milde. Roſa von Milde, von 1845 bis 1867
die anmutigſte und bedeutendſte Sopraniſtin Weimars,
wurde in den Frauenrollen von Wagner und von
Cornelius nicht minder wie als Agathe und Fidelio
geprieſen als Sängerin und als Darſtellerin, von keinem
ſo hoch und fein wie von Peter Cornelius in Sonett
und Stanze. Ihr Gemahl war der erſte Telramund
und ein berühmter Wolfram und (ſeit 1869) Hans
220 Weimariſches Schauſpiel um 1855
Sachs und ſang neben ihr den Cid; er gehörte bis
1884 der Weimarer Bühne an, und bis in die ſieb—
ziger Jahre zählte man ihn zu den vorzüglichſten deut⸗
ſchen Konzertſängern. In Weimar wirkte er auch im
Schauſpiel mit, ähnlich wie Vater Genaſt, der ſich in
den fünfziger Jahren ganz auf Sprechrollen ein-
ſchränkte.
Unter Dingelſtedt gewann das Schauſpiel den
Vorrang vor der Oper. Ein Anlauf dazu war ſchon
unter den Vorgängern gemacht und gute junge Kräfte
gewonnen worden in dem Komiker Hettſtedt und ſeiner
heiteren, vornehmen Frau und dem Heldenſpieler
Grans; dazu kam vorübergehend der Regiſſeur Marr,
im Trauerſpiel nicht immer genehm, aber auch bei
Liſzts Opernchören behilflich, indem er z. B. im „Fr
delio“ im Chor der Gefangenen erſchien und durch
wunderbare Maske und ergreifendes Spiel die Wirkung
ſteigerte. Im Sommer 1853 gaben die Weimarer
Schauſpieler ein Berliner Gaſtſpiel vier Wochen lang
abwechſelnd mit Gutzkows Zopf und Schwert und
Freytags nagelneuen Journaliſten. Genaſt wurde als
Preußenkönig bejubelt und als Piepenbrink belacht,
und Grans erquickte das Berliner Publikum als Bolz,
Hettſtedt als Schmock und Marr als Oberſt Berg; war
doch Weimar vom Dichter zur Uraufführung der
Journaliſten in Ausſicht genommen worden, was nur
ein Zufall verhinderte.
Dingelſtedt erzielte eine Nachblüte des klaſſiſchen
Dingelſtedts Weimarer Jahrzehnt 221
Schauſpiels. Freilich nicht im Sinne Goethes: der
würdige Ton, der in den fünfziger Jahren hier noch
immer zu Hauſe geweſen war, wich einem flotten
Tempo, die Bühne mußte ſich mit hiſtoriſch genauer
Ausſtattung füllen, und dabei wurde mit mancher
Dichtung ohne viel Skrupel umgeſprungen. In den
Anfang ſeiner Regie fiel das große Septemberfeſt von
1857, die Jahrhundertfeier von Carl Auguſts Geburts—
tag mit Denkmalsweihen und Feſtſpiel: die berufen⸗
ſten Gäſte ſtellten die berühmteſten Szenen dar,
Daviſon und Devrient König Philipp und Marquis
Poſa, ſowie Antonio und Taſſo, auch den Mephifto
und den Egmont, und Marie Seebach — von Schöll
darum wegen der Sinnlichkeit einer Kurtiſane geſchol—
ten — ein tiefleidenſchaftliches Gretchen und Klärchen.
Dann zog Dingelſtedt den gießbachartig daherſtürzenden
Charakterſpieler Lehfeld nach Weimar. Er wurde der
erſte grimme Hagen, als Hebbels Nibelungen 1861 in
Weimar zur Uraufführung kamen, und war mit Grans
eine Hauptſtütze des kühnen Unternehmens, in einer
Woche die Shakeſpeareſchen Königsdramen von
Richard II. bis Richard III. vorzuführen.
Damals war eben in Weimar unter dem Protektorat
der Großherzogin Sophie die deutſche Shakeſpeare—
geſellſchaft gegründet worden. Sie erhielt dauernd dort
ihren Sitz; ihr Jahrbuch diente nun der Shakeſpeare—
forſchung fort und fort, und in den nächſten Jahren be—
gann man an die Verbeſſerung der Schlegel-Tieckſchen
222 Shakeſpearegeſellſchaft und Schillerſtiftung
Überſetzung zu gehen. Das genügte Dingelſtedt nicht, er
wagte eine eigne Überſetzung und gewann den Dichter
Wilhelm Jordan und u. a. die Germaniſten Simrock und
Vie hoff zu Mitarbeitern: in den Jahren 1865 bis 1870
konnte dieſe neue deutſche Shakeſpeareausgabe in neun
Bänden erſcheinen, und ſie behauptete ſich durch meh—
rere Auflagen. Weimar war inzwiſchen auch Vorort
der deutſchen Schillerſtiftung geworden. Großherzog
Carl Alexander förderte ſie, und Dingelſtedt war ihr
Präſident. Als ihr Sekretär wurde 1861 Gutzkow nach
Weimar berufen, der damals ſein größtes Werk, den
Zauberer von Rom, abgeſchloſſen hatte und vielen als
der hervorragendſte deutſche Dichter und Schriftſteller
galt. Aber überreizt, wie er war, vertrug er ſich mit
Dingelſtedt nicht und entrann dieſem gewandten Dik—
tator bald wieder. Auch Franz Liſzt hatte ja vor
Franz Dingelſtedt als einem Hauptwiderſacher das
Feld geräumt.
Die Loénſche Intendanz gab der Oper wieder
mehr Spielraum. Doch ihre hervorragendſte Tat war
die Aufführung von Otto Devrients Bühnenbearbei—
tung beider Teile des Fauſt im November 1875, als
es hundert Jahre ſeit Goethes Ankunft in Weimar
waren. Devrient trachtete, den Grundgedanken der
Dichtung, die Entwicklung Fauſts möglichſt deutlich
zur Anſchauung zu bringen und richtete danach ſeine
Kürzungen ein. Szeniſch erdachte er eine Myſterien—
bühne in drei großen Stufen hintereinander empor
Devrients Fauſteinrichtung 223
auf der ſich im Prolog Hölle, Erde und Himmel ſcheiden
ließen, die Walpurgisnacht auf dem Brocken und die
Helenaſzene am Kaiſerhof geſchickt aufzubauen waren,
auf der er die meiſten Gretchenſzenen ähnlich wie auf
einem epiſchen Sammelbilde des 15. Jahrhunderts
vereinigen konnte und die ihm ſchließlich zu einem
wunderbaren Hilfsmittel für den ſymboliſchen Gehalt
der Dichtung wurde. Mehrere Jahre wurde ſeine
Bearbeitung in Weimar zu Oſtern wiederholt und
führte Einheimiſchen und Gäſten das große Werk ge—
nußreich zu Gemüte; man ſpielte eine neue Muſik
von Laſſen dazu, und als rhetoriſche Kunſtleiſtung
erhielt Mildes Lynkeus den Preis.*) In jenen Jahren
wurde manches junge, ſchöne Talent an der Weimarer
Bühne für das kommende Zeitalter gebildet; um 1870
gehörten ihr Barnay und Claar an, um 1880 begannen
Scheidemantel, ein geborner Weimarer, und Alvary,
der Sohn Andreas Achenbachs, hier ihre Sängerlauf—
bahn, und Agnes Sorma wurde 1882 von Weimar
nach Berlin an das deutſche Theater gerufen.
Im Weimariſchen waren zwei Dramendichter zu
Hauſe, von denen einige Werke damals über viele
deutſche Bühnen gingen. Alexander Roſt, in Weimar
ſelbſt geboren und aufgewachſen, dem Staatsdienſt
aus Künſtlertrieb entwichen, ſchrieb Geſchichtsdramen
und Sagenſtücke, die ſeine Freunde mit Grabbe und
*) 1880 wurde dieſe Weimarer Bearbeitung auch in Köln
und Berlin geſpielt.
224 Roſt und Lindner
Hebbel verglichen. Sittlicher Kern und theatraliſcher
Inſtinkt, ja eine Naturkraft, die in den beſten Szenen
an Shakeſpeare erinnerte, waren nicht zu verkennen;
Landgraf Friedrich mit der gebiſſenen Wange, Ludwig
der Eiſerne wurden ſeine Helden, Berthold Schwarz
und Thomaſius, und in dem „Regiment Madlo“, das
im dreißigjährigen Kriege ſpielte, waren Genaſt und
Lehfeld auf dem Platze. Roſt wurde früh von der
Alkoholſucht erfaßt und verkam dadurch, trotzdem daß
ſich ihm ein ſauberes Bürgerkind antrauen ließ und
ihm in den letzten Jahren zum guten Engel wurde.
Auch das Schickſal Albert Lindners verlief tragiſch.
Er ſtammte aus dem nahen Sulza, und ſo war es
keine angenehme Überraſchung für Dingelſtedt, als
die große Erſtlingshandſchrift von Brutus und Colla—
tinus, die der Regiſſeur Grans empfohlen, der
Generalintendant ſelbſt aber barſch abgewieſen hatte,
in Karlsruhe Glück hatte: bei der dortigen Philologen—
verſammlung wurde das Werk mit größtem Erfolg
geſpielt, und es erhielt kurz darauf den Schillerpreis!
Lindner gab ſeine Rudolſtädter Lehrerſtelle mit hoch»
fliegenden Erwartungen auf und ſiedelte mit ſeiner
Familie nach Berlin über; aber ſein Talent beruhte
doch mehr auf Shakeſpeare- und Schillernachbildung,
neuen Dekadenzmotiven und theatraliſchem Wort—
ſchwall, um ihm ſelbſt Lebenshalt und ſeinen Werken
dauernde nationale Tragfähigkeit geben zu können.
Es fehlte nicht viel, ſo wäre der echte Tragiker der
Hebbel in Weimar 225
Zeit ein Weimarer geworden, Friedrich Hebbel.
Er beſuchte Weimar zuerſt kurz und ſtill im Mai 1857:
im abendlichen Park dichtete er an den Greis Goethe,
in Schillers Haus fühlte er ſich erſchüttert, er entnahm
für ſeine Frau Lorbeerblätter von Goethes und Schillers
Sarg und pflückte ihr Veilchen in Tiefurt. Im Som—
mer 1858 traf er wieder ein, diesmal zur Aufführung
ſeiner Genoveva von Dingelſtedt geladen, vom Groß—
herzog mit Auszeichnung empfangen und auf der Alten—
burg mit Intereſſe bewillkommnet; Liſzt elektriſierte
auch ihn mit Zigeunerrhapſodien: „am Klavier iſt er
ein Heros; hinter ihm in polniſch-ruſſiſcher National—
tracht mit Halbdiadem und goldenen Troddeln die
junge Fürſtin, die ihm die Blätter umſchlug und ihm
dabei zuweilen durch die langen, in der Hitze des
Spiels wild flatternden Haare fuhr. Traumhaft—
phantaſtiſch!“ Goethes Enkel begrüßte ihn im Hauſe
des Dichters mit Salve! und in Goethes Arbeitszimmer
entfuhr ihm die Tirade: „Dies iſt das einzige Schlacht—
feld, auf das die Deutſchen ſtolz ſein dürfen.“ 1861
waren er und ſeine Frau in Weimar zur Uraufführung
der Nibelungen, wo Chriſtine Hebbel im dritten Teil
mitwirkte. Beider Verhältnis zu Wien hatte ſich
damals geſpannt; Dingelſtedt warf das Wort hin:
„Kommt zu uns!“ und machte ein Angebot, das durch
das großherzogliche Paar geſtützt wurde. Aber nun
zog Dingelſtedt zurück, dieſer charactere abominable,
wie ihn die Großherzogin damals nannte, und lotſte
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 15
226 Wilhelmstal
Hebbels Antagoniſten Gutzkow nach Weimar; das
Künſtlerpaar blieb in Wien. Eine herzliche Genug—
tuung empfing Hebbel im folgenden Sommer durch
die Einladung des Großherzogs nach dem Sommerſitz
Schloß Wilhelmstal; hier lernte er, des vertrauten
Umganges von Fürſt und Fürſtin gewürdigt, beide
recht ſchätzen. Gleich nach dem erſten Abend berichtete
er an ſeine Frau über ein Geſpräch, „worin der Groß—
herzog, der eine Schilderung von London und nament—
lich von Shakeſpeares Heinrich dem Achten auf der
engliſchen Bühne machte, ſich mir abermals als einen
Mann von ſeltner Empfänglichkeit und ſcharfem Blick
für das Eigentümliche aller Erſcheinungen zeigte“ und
ſpäter nach einem kleinen Erlebnis auf der Wartburg:
„der Großherzog ſoll fortan mein Heiliger in der Geduld
ſein!“ Über die Fürſtin, die ihm im Lutherzimmer
der Wartburg ein Neues Teſtament ſchenkte, ſchrieb
er: „Sie iſt nicht bloß eine edle, ſondern auch eine
tiefe Frau; ich hatte vor einigen Tagen ein Geſpräch
mit ihr, das an drei Stunden dauerte und ſich über
alles verbreitete, was den Menſchen auf Erden inter—
eſſiert, und ich brauchte mir nicht den geringſten Zwang
aufzulegen, ich konnte ſogar meinen Humor walten
laſſen. Dabei ſaßen wir in der Tannenhütte, in der
das Reh herumſpringt. Die Kinder ſpielten mit dem
Tierchen, ſie ſtickte, auch der Pudel Asmodeus fand
Zutritt, und wir ließen uns nicht einmal durch ein
Gewitter vertreiben“ und am Schluſſe ſeines Aufent-
Nibelungendichtungen 227
haltes: „Sie iſt eine höchſt bedeutende Frau; ich glaubte
ſchon ein Maß von ihr zu haben, habe es aber erſt
geſtern erhalten. Man kann geradezu alles mit ihr
ſprechen; die verſchämteſten Träume und die kühnſten
Phantaſien wagen ſich ans Licht und werden verſtanden.
Sie ſagte, ſie habe viel von ihrer Erzieherin gelernt,
aber in negativem Sinn, nämlich was man nicht tun und
wie man Dinge und Menſchen nicht behandeln dürfe.“
Das Wohlwollen des Großherzogs hatte ſich damals
noch einem andern Nibelungendichter zugewendet.
Während der Opernkomponiſt Wagner die nordiſch
verwölkte und ins Mythiſche abgebogene Form der
Sage benutzte und der Dramatiker Hebbel den geſchicht—
lichen Konflikt zwiſchen Heiden- und Chriſtentum aus
den Völkerwanderungskämpfen zugrunde legte, ver—
tiefte ſich der Romandichter Scheffel in die Blütezeit
des Minneſangs, um die damalige Geſtaltung des
Nibelungenliedes als ein WerkHeinrichs von Ofterdingen
erſcheinen zu laſſen, eine ſieghafte öſterreichiſche Schluß—
gabe des vorher im thüringiſchen Wartburgkrieg be—
ſiegten Sängers. Von 1857 bis 1863 trug ſich Scheffel
mit der Abſicht, einen großen Wartburgroman Viola
zu ſchreiben, und trachtete ihm in guten und düſtern
Stunden emſig, glücklich und ängſtlich nach, wiederholt
kehrte er als Gaſt des Großherzogs auf der Wartburg
ein, ſtreifte in benachbarten Strichen des Thüringer
Waldes, wanderte in der Donaulandſchaft, nahm Land
und Leute aufs Korn, ſuchte Klöſter, Schlöſſer und
15*
228 Frau Aventiure
Schänken heim und ließ vor alten Handſchriften und
neuen Gelehrtenbüchern ſeine Phantaſie träumen.
Dabei fügte ſich ihm manches Lied, der eignen Bruſt
ſo notgedrungen entſproſſen wie ſeinem Geſchichtstraum
abgepflückt, aber den Roman zwang er nicht. Wie
ein Garten mit Statuen ſtand es vor ihm, bis er ſich
entſchloß, den Garten preiszugeben und die fertige
Lyrik allein zu veröffentlichen. Er durfte ſie mit
den Worten ſeines Ofterdingen, mit dem er ins Hoch—
gebirge entfloh, dem Großherzog widmen:
Hier denk ich Dein, Du milder Fürſt im Norden,
Und meine Grüße ſchweben in Dein Land:
Ich weiß, Du biſt an mir nicht irr geworden,
Ob alle mich vergeſſen und verkannt ...
Im Gletſcherabſtrom ſtund mein Jagdwein kühle
Und füllt den Kürbisbecher kalt und klar ..
Froh bring ich ihn, den Glimmerblock zum Pfühle,
Als Weihetrunk Frau Aventiuren dar.
Seine dankbare Anhänglichkeit an Weimar erwieſen
ſpäter zwei Feſtſpiele, Der Brautwillkumm auf Wart-
burg, 1873 zur Hochzeit des Erbgroßherzogs ver—
faßt, und beſonders Die Linde am Ettersberg, 1878
zum fünfundzwanzigjährigen Regierungsjubiläum Carl
Alexanders geſchrieben: da zeichnete er mit markigem
Witz und friſcher Anſchaulichkeit weimariſches Volk
und ließ den Jenaer Studenten die Anſpielung der
Lehrerstochter auf Haeckel heiter zurechtweiſen:
Mein freundlich Kind, du haſt nur halb gehört,
Das Affentum galt nur zu Olims Zeit.
Vorwärts zur Schönheit! lehrt die neue Lehre.
Und wenn wir jetzt im Wettkampf um das Daſein
1597
D
Scheffel in Ilmenau, Reuter in Eiſenach 2:
Zur Schöpfung Krone lieblich uns verfeinert,
So können uns ja einſt noch Schwingen wachſen,
Und ſchon auf Erden wandeln wir als Engel
Mit Flügeln, die empor zum Himmel tragen!“)
Inzwiſchen hatte ſich 1863 ein anderer humorbe—
gnadeter Erzähler am Fuße der Wartburg für die
Dauer eingeſtellt, Fritz Reuter, mitten auf der Höhe
ſeines Ruhmes, mitten in der Arbeit an ſeiner
ſchönſten Volksdichtung, der Stromtid. Hier vollendete
er ſie; von hier aus unternahm er 1864 die Reiſe
nach Konſtantinopel, die ihm ſpäter den gleichnamigen
Roman ergab, von hier 1865 den Triumphzug durch
ſeine mecklenburgiſche Heimat, und hier brachte er
1866 den köſtlichen Roman Dörchläuchting ans Licht.
In demſelben Jahre erwarb er einen reizend gelegenen
*) Es war im April 1878, daß Scheffel zur fröhlichen Arbeit
an dieſer Dichtung in Ilmenau eintraf. Dort lebte ihm ein
alter Studienfreund, Oberamtsrichter Schwanitz, der gehörte
einem luſtigen Kreiſe an, der ſich jeden Sonnabend oben am
Kickelhahn im Forſthauſe Gabelbach traf und ſich „Gemeinde
Gabelbach“ nannte. Gleich am erſten Sonnabend führte
Schwanitz Arm in Arm Scheffel mit hinan, und dieſer er—
nannte ſich zum Jubel der Anweſenden zum Gemeindepoeten
und betätigte ſich auch als ſolchen, zunächſt mit dem Wunſche:
Daß die Gemeinde Gabelbach
Waldluftfröhlich nie verkrach!
Schwanitz baute den Gemeindeſcherz aus, kein geringerer als
Fürſt Bismarck ließ ſich das Amt des Ehrenſchulzen gefallen,
und Baumbach, Trojan, Seidel ſpielten ſpäter den Gemeinde—
voeten. 1886 wurde daher an einer wald- und wieſengrünen
Ecke am Kickelhahnwege ein Scheffelſtein mit dem Bildnis
des Dichters errichtet.
230 Reuters Haus
Bau⸗ und Gartenplatz am Ausgang des Helltales
ins Mariental, ſein ihn verehrender Nachbar der
Großherzog fügte eine Ecke als Umwendeplatz hinzu,
und 1868 konnte Reuter in ſein neues Haus einziehen.
Dort genoß ſeine Frau vom Erker den Blick auf
die Wartburg, und er pflegte mit all ſeiner Liebe
den ſchönen Terraſſengarten; ſchließlich wurde ihm ein
leidvoller, aber auch troſt⸗ und ehrenreicher Lebens—
abend zuteil. Seiner Natur getreu ſoll er einige
Damen, die zu ihm ſagten, er ſtehe über Goethe
und Schiller, auf der Stelle verabſchiedet haben:
„Adjüs, Madams!“
Bildende Kunſt
Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ging
eine merkwürdige Wandlung in Deutſchland vor ſich:
die Urſprünglichkeit der künſtleriſchen Gehörsempfin—
dung ließ nach, und der Augenſinn erholte ſich zu
neuer Friſche. Es war ein glücklicher Zug in Carl
Alexanders weimariſcher Kunſtpflege, daß er dieſer
Umlegung der Kräfte nachgab; was ihm durch die
Dichtung der fünfziger bis ſiebziger Jahre verſagt
blieb, was er von der Muſik nur halb erhielt, das
leiſtete ihm ganz die bildende Kunſt.
Um dieſelbe Zeit jährte es ſich zum hundertſten
Mal, daß Carl Auguſt und die Weimarer Dichter
geboren waren. Ihre hehren Geſtalten in dauernden
Denkmälern unter ſich zu ſehen wurde ein Wunſch der
Weimarer; der Anſtoß zur Verwirklichung kam zum
Teil von außen, da das deutſche Volk in ſeinen füh—
renden Geiſtern und Gruppen teilnehmen wollte. Das
Denkmal Herders wurde in Weimar noch unter Carl
Friedrich errichtet. 1844 hatten die Freimaurerlogen
von Weimar und Darmſtadt die erſte Anregung dazu
gegeben, der Großherzog willigte ein, ein Weimarer
Geſchäftsverein betrieb die Angelegenheit, und in zwei
232 Herderdenkmal
Münchner Meiſtern, dem Bildhauer Schaller und dem
Erzgießer Miller, wurden die wichtigſten Kräfte ge—
wonnen. Am 25. Auguſt 1850 wurde nach Gottes—
dienſt und Feſtzug Herders Denkmal dicht vor der
Südwand ſeiner Kirche enthüllt, bei Liſztſcher Feſt—
muſik: die bronzene Geſtalt des edlen Denkers in der
Haltung eines Geiſtlichen und mit einem Weſenszug
vom Schulmann, die beteuernde Rechte auf der Bruſt,
in der Linken die Blätter mit ſeinem Lebensſpruch
„Licht, Liebe, Leben“, ein Antlitz mit Gelehrtenſtirn
und Predigerlippe und ernſten, allem Menſchlichen
offenen Augen. Das Feſtprogramm enthielt noch
künſtleriſche Aufführungen und Schulfeiern. Am Vor—
abend hörte man Herders Entfeſſelten Prometheus mit
Liſzts Muſik im Hoftheater, und zum Beſchluß ver—
hieß der Weimarer Maler Marterſteig lebende Bilder
nach Herders Legenden zu ſtellen. Am Nachmittag
vorher zogen achtzehnhundert Volksſchüler Weimars
unter unaufhörlichem Jubel der kleinſten nach
der Pappelbank Herders Ruhe am Ettersberg, von wo
der große Mann ſo gern auf die Häuſer ſeiner Ge—
meinde und das hohe Schieferdach ſeiner Kirche hinab—
geſehen hatte.
Die Errichtung von Herders Standbild brachte auch
die Frage nach einem Weimarer Denkmal für Goethe
und Schiller und einer Wielandſtatue in Fluß. Für
Goethe und Schiller lag Rauchs Modell in antiker
Tracht vor. Carl Alexander ließ jetzt bei König Lud—
Ernſt Rietſchel 233
wig von Bayern anfragen, ob auf ſeine Mitwirkung
zu rechnen ſei; Ludwig war gewillt das Erz aus
Navarinkanonen zu ſpenden. Erſt Anfang 1852 aber
äußerte er ſeine Bereitwilligkeit unter der Bedingung,
daß die Dichter in ihrer Zeittracht dargeſtellt und die
Standbilder in München gegoſſen würden. Beides
veranlaßte, daß der alte Rauch von der Aufgabe zu—
rücktrat; ohne Groll, ja mit überzeugender Herzlichkeit
ſchlug er ſeinen beſten Schüler Rietſchel dafür vor.
Im Mai 1852 traf dieſen die Anfrage auf der Rück—
kehr von einem einjährigen italieniſchen Erholungs—
aufenthalt in Meran in glücklichen Tagen; er empfing
ſie mit den Worten: „Welche Aufgabe! das Herrlichſte,
was dem Bildhauer unſerer Zeit geboten ſein kann,
aber auch der herrlichſten, der vollkommenſten Löſung
wert. Werd' ich dieſe Löſung imſtande ſein? Mut
und Zagen wechſelt in mir. Ob ich den Auftrag
annehme?! Trotz des Zagens Ja, ja, ja!“ Im Herbſt
darauf rang er zum erſtenmal mit der Modellfkizze
und fühlte einen großen Teil der Schwierigkeiten durch.
Anfang 1853 fand ſein kleines Gruppenmodell Beifall
in Weimar und München, wenn auch Einzelheiten,
namentlich die der Tracht, noch hin und her betüftelt
wurden. Im Auguſt dieſes Jahres glaubte er die
Modellierung im großen beginnen zu können, unter—
brach ſie 1854 auf längere Zeit, ging dann 1855 mit
gründlichen Anderungen vor, und arbeitete unter Sor—
gen und Leiden, unermüdlich in ſchwerer Angſt ver—
234 Denkmälervorarbeiten
beſſernd im weſentlichen im Jahre 1856 das Denkmal
bis zu Ende durch. Im Januar 1857 traf das herr-
liche Modell bei dem Erzgießer Miller in München
ein, errang die einſtimmige Bewunderung der Münchner
Künſtler, und Miller machte ſich anheiſchig, es im
Sommer gießen und ziſelieren zu laſſen, ſo daß der
Herbſtbeginn für die Aufſtellung in Ausſicht genom—
men werden konnte. Auch die Arbeit des Wiener
Bildhauers Gaſſer an dem Wielanddenkmal war in
dieſem Jahre ſo weit vollendet worden.
Inzwiſchen hatte ein weimariſcher Ausſchuß durch
einen Aufruf im März 1853 eine Sammlung im
deutſchen Vaterland eingeleitet. Anfangs mit mäßigem
Erfolg: die erſten Jahre brachten 7300 Taler ein, dann
ſtockte der Zufluß, auch drohte Krieg. Erſt als das
Jahr 1857 angebrochen war, ging es wieder vorwärts:
der Gedanke, Carl Auguſts hundertſten Geburtstag mit
der Denkmälerweihe zu begehen, beflügelte alle, die
Sammlung ſtieg raſch faſt auf die doppelte Höhe,
Fürſten und Städte, Vereine und einzelne ſteuerten
bei, und der Großherzog von Baden ſchenkte die
großen granitenen Sockel. Man förderte nun in
Weimar den Plan, am 3. September als Gedenktag
an Carl Auguſt den Grundſtein zu deſſen künftigem
Denkmal zu legen und am folgenden Tage die neuen
Dichterſtatuen zu enthüllen, das ganze Feſt aber als
nationale Freudentage zu feiern.
Das wurden ſie in einem alle Erwartungen über—
Septemberfeſttage 1857 235
treffenden Maße. Sie begannen mit heimiſchen Ver—
ſammlungen in der Loge, zur Gründung einer neuen
Schule und, in der ſechſten Morgenſtunde des 3. Sep—
tember, der Geburtsſtunde Carl Auguſts, an der Fürſten—
gruft. Dann ſteigerte ſich die Feſtſtimmung über die
Grundſteinlegung auf dem Fürſtenplatz — wo zum
erſtenmal das neue Weimariſche Landeslied erklang
„Von der Wartburg Zinnen nieder“, gedichtet von
Cornelius und komponiert von Liſzt — und über die
Beſuche aller weimariſchen klaſſiſchen Stätten durch
die vielen auswärtigen Gäſte zu der Theateraufführung,
bei der Dingelſtedts Feſtſpiel Der Erntekranz den
Vogel abſchoß. Oft unterbrach jubelnder Beifall die
Aufführung, am begeiſtertſten, als bei den Huldigungen
der Schnitter, Winzer, Gärtner und Bürger vor dem
an der Linde aufgehängten Fürſtenbilde der Jenaer
Student die deutſche Fahne hoch aufhob:
Auch dieſer heilige Akkord,
Der Oſt und Weſt und Süd und Nord
Des alten Reichs allein noch eint,
Wie tief er auch verſchollen ſcheint,
Er fand in deiner deutſchen Bruſt
Ein Echo, edler Carl Auguſt!
Hätt' jedermann getan gleich dir,
So wehte dieſes Siegspanier
Vor einem einz'gen Volk und Heer
Vom Apennin zum dän'ſchen Meer.
Am folgenden Tage fand die Enthüllung von Wie—
lands Denkmal bei geöffneten Regenſchirmen ſtatt, aber
236 Enthüllung des Goethe-Schiller-Denkmals
als ſich der Feſtzug hinüber nach dem Theaterplatz
bewegte, kam Sonnenſchein, und nun war es einer
der ſchönſten deutſchen Augenblicke des Jahrzehnts, ja
vielleicht des Jahrhunderts, als die Denkmalshülle zu
wallen begann, raſch niederfiel, die beiden Heroen
im Sonnenglanze daſtanden, von einem Schauer des
Staunens und dankbarſtem Jubel und Hochrufen aller
empfangen. Das Weſen der geliebteſten Dichter hatte
Rietſchels reines Gemüt ans Licht gebracht; ſo wie
man ſie erblickte, ſah man ſie jedem deutſchen Zukunfts—
tage entgegengehn: Schiller leicht kühn vorſchreitend,
ſonntäglich, Goethe gelaſſen, auch nur ein Menſch,
aber wie er nicht gleich wiederkommt. Der Künſtler
hatte den Zufall nicht geſcheut, z. B. wie Schillers
Blätterrolle den linken Rockteil zurückbricht, und doch
eine innere Harmonie von größtem Gehalt erreicht;
und wie hatte er das geiſtige Bündnis ſichtbar gemacht
trotz abweichender Blickrichtung und geſonderter Hal—
tung. Eines der in der Feſtmenge anweſenden
Dichtergemüter, der Däne Anderſen, erſchaute einen
anmutigen Zufall: ein weißer Schmetterling flog über
Goethes und Schillers Haupt, als ob er nicht wüßte,
auf welchem von ihnen er ſich niederlaſſen ſollte —
als Sinnbild der Unſterblichkeit; nach kurzem Schwär—
men erhob er ſich in das klare Sonnenlicht und ver—
ſchwand. Die vaterländiſche Begeiſterung leuchtete am
dritten Tage fort auf einer gemeinſamen Wartburg—
fahrt der Gäſte des Großherzogs; mit friſchem Eichen—
Carl Auguſt-Denkmal 237
zweig am Hute ging man von da bergab, um abends
im Weimarer Theater bei einer Fülle neueſter Liſzt—
ſcher Muſik, zu Schillers und Goethes Gedanken ge—
ſchrieben, und einigen orcheſtral und choriſch aufge—
bauſchten Schubertſchen Liedern von beiden das Feſt
ausklingen zu laſſen.
Wem anders als Rietſchel hätte man jetzt das
Denkmal für Carl Auguſt übertragen mögen? Aber
auch diesmal verſchob ſich mit der Art der Auffaſſung
der Name des zur Ausführung berufenen: an Riet—
ſchels Stelle trat ſein Schüler Donndorf, ein Sohn
Weimars, deſſen Reiterſtandbildentwurf gefiel. Man
ſchloß 1865 mit ihm ab, nachdem der Landtag einen
Zuſchuß von 12000 Talern bewilligt hatte, und ließ
unter ſorgfältigen Vorarbeiten, namentlich der preußi—
ſchen Gießerei Lauchhammer, die hundertjährige Wie—
derkehr von Carl Auguſts Regierungsbeginn heran—
kommen. Am 3. September 1875, nun dem Nachbar
des Sedantags, wurde das ſchöne Erzbild Carl Auguſts
in Anweſenheit des deutſchen Kaiſers enthüllt, und
Kaiſerin Auguſta legte mit eigner Hand einen Lorbeer—
kranz vor dem Denkmal ihres Großvaters nieder.
Und ſchon drängte der lebhafte Wunſch nach einem
fünften Weimarer Denkmal auf baldige Erfüllung:
für die 1870 und 1871 auf franzöſiſchem Boden ge—
fallenen tapfren Söhne des Großherzogtums aus dem
94. Regiment und andren deutſchen Heeresteilen. Am
24. Juni 1871, dem Geburtstag des eben aus dem
238 Kriegerdenkmal in Weimar
Felde zurückgekehrten Großherzogs, beſprach man ſich
zum erſtenmal darüber, und auf Vorſchlag Prellers
wurde der aus Weimar gebürtige Dresdner Bildhauer
Haertel mit Entwürfen betraut. Im Sommer 1872
bewilligte Kaiſer Wilhelm die erbetene Bronze aus
eroberten franzöſiſchen Geſchützrohren, und im Herbſt
entſchied ſich die Mehrheit des Denkmalsausſchuſſes
für den Haertelſchen Entwurf „mit der Fahne“: auf
die anderwärts willkommene Germania verzichtete man
zugunſten der kräftigen Darſtellung zweier kämpfen—
der Krieger, von denen der ältere ſieghaft vortretend
über den fallenden jüngeren die Fahne hält. Ein
Jahr ſpäter ſchloß man die endgültigen Verträge mit
Haertel und dem Braunſchweiger Erzgießer Howaldt
ab, und 1878 wurde auch dieſes Denkmal enthüllt,
in dem neuen nördlichen Stadtteil Weimars auf dem
Watzdorfplatz, an einem Maiſonntag nächſt dem Tage
des Friedensſchluſſes.
Wie hier Carl Alexander die lange ſtrittige Platz—
frage durch einen glücklichen neuen Vorſchlag entſchied,
ſo hatte er für Carl Auguſt das Reitermonument ge—
fordert und 1857 den Platz vor dem Theater als beſte
Stätte, gegen Rietſchels Wunſch, zur Aufſtellung be—
ſtimmt. Unter den Weimarer Helfern bei all dieſen
Denkmälern wirkten Friedrich Preller und Schöll mit,
Schöll auch als begeiſternder Redner vor den Statuen
Herders und Wielands; vor Goethe und Schiller hielt
Gymnaſialdirektor Heiland die allen Anweſenden un—
Schillerdenkmal für Berlin 239
vergeßliche Feſtrede. Und in Weimar ſelbſt wurde
damals das Schillerdenkmal für Berlin entworfen.
Der dreißigjährige Reinhold Begas, ſeit 1861 kurze
Zeit Lehrer der Bildhauerei an der Weimarer Kunſt—
ſchule, ſchuf den Konkurrenzentwurf, der im Herbſt
1863 in einem engeren Wettkampf endgültig ſiegte
und zur Ausführung in Marmor beſtimmt wurde:
er ſtellte den Dichter dar als Gipfel einer Brunnen—
anlage über waſſerſpeienden Löwenköpfen und von
vier Sockelfiguren umgeben, der lyriſchen und der
dramatiſchen Dichtung, der Philoſophie und der Ge—
ſchichte. So genügte damals weimariſche Plaſtik in
doppeltem Sinne dem Drang, den geiſtigen Führern
der Vergangenheit wie dem Heldenvolk der Gegenwart
in mahnenden Geſchichtsmälern zu danken.
Noch viel mehr lag dem Großherzog Carl Alexander
in dieſen Jahrzehnten ein altdeutſches Denkmal ſeines
Landes am Herzen und deſſen Erneuerung durch alle
bildenden Künſte: die Wartburg. Er war zwanzig—
jähriger Erbprinz, als er im Sommer 1838 mit ſeiner
Mutter den ſchönen mittelalterlichen Reſten der von
den Jahrhunderten überflickten und verbauten alten
Burg nachging und von Maria Paulowna hörte: „Du
ſollteſt einmal daran denken, dies wieder herzuſtellen.“
Das Wort haftete bei ihm, er griff die Sache gleich
an, ließ ſich mit Freuden von ſeinem Vater zum
Protektor der Wartburg ernennen und konnte, von
ſeiner Mutter reichlich unterſtützt, noch als Erbgroß—
240 Beginn der Wartburgerneuerung
herzog binnen fünfzehn Jahren ein ſtattliches Stück
der Arbeit vollbringen laſſen.
Anfangs wurde ohne Plan gearbeitet; man war
ja glücklich, die erſten Fenſteröffnungen wieder aus—
brechen zu können und ihre romaniſchen Rundbogen,
die die ſpätere Zumauerung gegen das Wetter geſchützt
hatte, nun wieder in ſauberer Plaſtik vor der friſchen
Luft ſtehen zu ſehen. Kurz darauf wurde, im Sommer
1840, Arnswald zum Kommandanten der Wartburg
beſtellt, ein liebenswürdiger Verehrer altdeutſcher
Kunſt und Geſchichte; und an der erſten großen Be—
ratung des Werkes hatten neben den Miniſtern Gers—
dorff und Schweitzer noch Coudray und Schorn teil
und jener Maler Simon, der im Weimarer Schloſſe
an der Ausmalung der Dichterzimmer hatte helfen
dürfen und ſich jetzt in wunderlichem Eifer zum Re—
ſtaurator der Wartburg berufen fühlte, aber bald aus—
ſchied.
Im Sommer 1842 weilte Carl Alexander lange
als Bräutigam oben und legte ſich Grundſätze und
nächſtes Vorgehen zurecht: die Burg ſollte geſchichtlich
möglichſt getreu als Denkmal der Minneſinger- und
der Reformationszeit wieder erſtehen und ſpätere
Zutaten wie vor allem das große Wohnhaus aus der
Zeit Carl Auguſts beſeitigt werden. Als im Oktober
das von der niederländiſchen Hochzeit kommende Paar
auf der Wartburg eintraf, war in dem mittleren Saale
des alten Palas eine zweite Arkadenreihe bloßgelegt,
Die Wartburg um 1845 241
und die Waffen der Burg ſchmückten den kahlen Raum.
Kurz darauf kam auch der berühmte hiſtoriſierende
Architekt aus München an, dem Carl Alexander die
Leitung der Arbeiten damals zu übergeben gedachte,
Ziebland; aber er betrieb es läſſig, und man wäre
in den nächſten Jahren nicht über Herſtellung neuer
Kapitäle nach dem reichen Formenſchatz der erhaltenen
alten hinausgekommen, wenn Arnswald nicht fort—
während den Bauzuſammenhang der älteſten Teile
durchforſcht und dabei manches für die Erneuerung
wichtige entdeckt hätte. Ein etwas ſpäterer Zeuge
hat geſchildert, wie der Kommandant einmal „uner—
müdlich und ausdauernd mit einigen Talern in der
Hand ſo lange an der Wand herumkratzte, bis die
eingemauerten Fenſter herauskamen.“ Von großem
Werte war es auch, daß das tiefe Schuttlager des
Hofes vom Sommer 1845 bis in das Frühjahr 1846
gründlich abgeräumt wurde: da erſchien manche
Andeutung zur älteren Baugeſchichte der Burg.
Inzwiſchen war an die Stelle des Münchner
Architekten eine Berliner Größe getreten, Quaſt, von
Friedrich Wilhelm IV. empfohlen; aber auch er er—
wies ſich nicht als der rechte Mann. Sein Wieder—
herſtellungsplan vom Frühjahr 1846 fand lebhaften
Widerſpruch bei ſechzig verſammelten deutſchen Archi—
tekten, die im Herbſt die Wartburg beſuchten und
ein Gutachten abgaben: man tadelte die Quaſtſche
Rückſichtsloſigkeit gegenüber dem älteſten erhaltenen,
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 16
242 Hugo Nitgen
die Abſicht die Umfaſſungsmauer niederzulegen, man
wies ſeine modern prunkende Verſchönerungsſucht
im Sinne engliſcher Gotik zurück und verlangte
mehr Selbſtverleugnung. Und ſo wurde ſchließlich
der Mann der Tat ein junger Profeſſor der Archi—
tektur in Gießen, Ritgen, der über ein verwandtes
Thema ſoeben einen anziehenden Vortrag gehalten
hatte, als Nachzügler ſeiner Fachgenoſſen bei Arns—
wald eingekehrt war und im Januar 1847 ſeine
„Gedanken über die Reſtauration der Wartburg“
unterbreitete. Dieſe waren den Abſichten des Erb—
großherzogs geſchickt angepaßt und genau auf Arns—
walds und eigene Studien gegründet; ſie ſprachen
ſich gut über die Frage aus „Was muß Deutſchland
hoffen und wünſchen“, forderten eine geſchichtlich
möglichſt wahre Architektur, keine romantiſche Täu—
ſchung und betonten als erſtrebenswert, daß der Hof
die Burg von Zeit zu Zeit bewohne, „indem nur
dadurch der Zauber der Vergangenheit mit dem
Reiz der Gegenwart vereint werden wird.“ Nicht
nur der Burgherr, auch die nächſte Verſammlung
der deutſchen Architekten billigten Ritgens Darlegun—
gen; nach ſeinen Plänen wurde in den folgenden
Jahren vorſichtig weitergearbeitet, und nachdem die
Störung durch den däniſchen Krieg vorüber war,
kam 1851 die Erneuerung der Wartburg unter ſeiner
Leitung kräftig in Gang.
Der Palas war das größte der alten Gebäude,
Herſtellung des Palas 243
in reifſtem Rundbogenſtil unter Landgraf Hermann
zur Zeit der Hochblüte des Minneſanges errichtet; er
beſonders hatte zur Wiederherſtellung gelockt, und
1851 wurde ſein Südgiebel, nach dem Gebirge zu
gelegen, bis zur Spitze bearbeitet, ſamt dem Söller,
auf den Maria Paulowna im Juli zuerſt wieder
hinaustreten konnte. Gleichzeitig wurde im Innern
des Mittelſtockes die Querwand ausgeführt, die den
Sängerſaal von der ſchmalen „Laube“ daran ſcheidet.
Da Ritgen einen großen Teil des Jahres in Gießen
beſchäftigt war, trat Baumeiſter Dittmar von Weimar,
ein Schüler Zieblands, für die örtliche Bauleitung ein.
Er ließ im März 1852 den alten Steinbruch an der
Weſtſeite des Berges wieder anbrechen, und hier
ſprengten und klopften nun die Arbeiter, während
oben die Steinmetzen chämmerten, unter ihnen ſeit
dem Mai auch der flinke Bildhauer Knoll, der im
Hochſommer vier Wochen lang an der Spitze des
Südgiebels ſchwebend den krönenden Löwen als da—
mals höchſtes Stück rings in den Berglüften aus—
meißelte. Die Maurer ſtellten indes den Nordgiebel
neu her, die Zimmerleute trugen den Dachſtuhl ſtück—
weiſe ab und erneuerten ihn, Anfang Oktober wurde
bei ſchrecklichem Sturm das Dach des Palas gerichtet,
raſch folgte ſeine Deckung — es war die letzte Arbeit
des altbewährten Eiſenacher Meiſters Jakobi —: ſeit
November 1852 ſchimmerte das Hauptdach der Wart—
burg neu ins Land. Damals ſchrieb Arnswald an
16*
244 Helene von Orleans
ſeinen Herrn: „Wir alle einen uns in der Liebe zur
Sache, dieſe Liebe aber iſt es, die dem Bau überall
das wahre mittelalterliche Leben und Gefühl verleiht,
jenen Reiz, den man in alten Bauten findet, in neuen
ſelten.“ Das folgende Jahr ließ im Frühling die
getäfelte Decke über dem Sängerſaal gelingen und
den Steindrachen auf dem Nordgiebel und weiterhin
die Maurer-, Zimmerer- und Bildhauerarbeiten des
großen oberen Feſtſaales: Ritgen hatte die Zeich—
nungen dafür auf der Wartburg gearbeitet, Knoll die
Kamine in Stein gehauen. Die bauliche Erneuerung
des Palas war fertig, als Carl Alexander den Thron
beſtieg.
Man wußte, daß alte Burgen Wandmalereien
hatten; Schwind wurde auserſehen, in einigen Haupt—
räumen des Wartburgpalas zu malen. Seitdem ihm
1849 auf einer Thüringer Reiſe dazu Ausſicht ge—
worden war, brannte er, wie er ſagte, nach dieſer
ſchönſten aller Arbeiten und führte ſofort für Maria
Paulowna ein beziehungsreiches Probeblatt aus:
Heinrich von Ofterdingen unter den Mantel der
Landgräfin flüchtend. Auch die feinſinnige freundliche
Baſe Carl Alexanders zeichnete er damals, die Her—
zogin von Orleans, die ſeit ihrer Flucht aus Frank—
reich in Eiſenach wohnende mecklenburgiſche Prinzeſſin,
die die Wartburgarbeiter wie ein guter Geiſt oft
beſuchte. Doch konnte erſt im Mai 1853 in Weimar
die entſcheidende Beſprechung ſtattfinden, die ihm als
Schwinds Wartburgarbeit 245
Malbereich den Sängerſaal, den kleinen Landgrafen—
ſaal daneben und die Eliſabethgalerie davor zuwies.
Schwind ſah den Auftrag an „als eine Gabe, die,
ſoweit es möglich iſt, mir das Leben noch teuer
macht. Noch ein tüchtiges Wort mitzureden zugunſten
unſerer ganz verfahrenen deutſchen Kunſt, es iſt aller
Mühen eines geprüften Mannes wert.“ Er verſtän—
digte ſich genau mit dem Architekten über die ge—
plante Art der Umrahmung und Umwandung der
Bilder, um etwas dem Raum harmoniſches, echte
gemalte Säle zu ſchaffen, und zu Weihnachten des
Jahres konnte er dem Großherzog die Skizzen für
das Landgrafenzimmer ſenden und eine Nebenfolge
von Rundbildern für die Eliſabethgalerie, die Werke
der Barmherzigkeit. In den Sommermonaten 1854
malte er eigenhändig im Landgrafenſaal auf einen
neuen dünnen Kalkputz die ſieben breiten Sagen—
bilder als herumlaufenden Wandfries; bei dem erſten
beſuchte ihn eines Tages die Herzogin von Orleans,
beſtieg ſtatt ſeiner die Leiter und pinſelte mit feiner
Hand ein Blümchen hin. Im Mai 1855 brachte er
ſich ein paar Geſellen mit, die ihm in der Eliſabeth—
galerie halfen, doch tat auch hier das beſte ſeine
Hand, ſein hingebender Eifer; im September ſchloß
er die Arbeit mit dem großen Gemälde des Sänger—
krieges ab. Einige Entwürfe waren liegen geblieben,
anderes drängte ſich nachträglich zu: 1856, als er ſich
ein Landhaus am Starnberger See baute, führte er
246 Landgrafenzimmer
noch die anmutige Legende vom Handſchuh der hei—
ligen Eliſabeth als Olgemälde aus und noch ſpäter
zur Erinnerung das Bildchen, wie er auf dem Mal—
gerüſt im Landgrafenzimmer der Herzogin von Orle—
ans die Palette hält. !
Das iſt das Schöne an Schwinds deutſcher Meiſter—
ſchaft, wie er feinſte Menſchlichkeit — z. B. den dem
Schmied zuhorchenden Landgrafen, den Ausdruck
Eliſabeths beim Roſenwunder — mit volkstümlicher
Geſundheit der Geſtalten verbindet. Und wie hat er
gleich auf dem erſten Bilde Ludwig den Springer
gezeichnet: breitbeinig, mit ganzen Sohlen auf dem
vorderſten Fels fußfaſſend iſt der junge Herr ſeinem
Gefolge voran zur Bergſpitze gelangt, und während
ſie noch mit fröhlichem Hornruf durch das letzte
Dickicht dringen, lieſt er es ſchon mit gelaſſener Ge—
bärde dem Boden ab: Wart, Berg, du ſollſt mir
eine Burg werden! Nicht nur breite Umrißlinien,
zuletzt in das Bild gezogen, heben die Hauptgeſtalten
deutlich heraus; unermüdliche Kunſtkritik hat bei dieſen
Bilderfabeln auf der Wacht geſtanden, ſo daß Schmied
und Landgraf körperlich und ſeeliſch, durch Beleuch—
tung und Umrahmung — unter je einem Rund—
bogen — für ſich geſtellt und doch zum Paar ge—
worden ſind. Hier grüßte auch altdeutſche Kunſt, wie
es Schwind liebte: der Übelacker im Hintergrund
iſt Zukunftsbildchenn zu den entſcheidenden Augen—
blicken vorn, und das Füchslein, das der ſtarkge—
Eliſabethgalerie 247
wandte Schmied an die Kette gelegt hat und das
nun vergebens nach den Schwalben über ihm lugt
— wie die ritterlichen Landſchädiger an die Kette
kommen ſollen — erinnert nicht umſonſt an den
Fuchs im Vordergrund auf einem der ſchönſten
Marienblätter Dürers. In den ſtiliſierten Pflanzen—
hintergründen der Eliſabethbilder webt ein Verſtändnis
der Triebkraft des Grünen, das an Dürer und Goethe
zugleich gemahnt. Wie die Formen, ſo ſprechen die
Farben: bald derb, manchmal brummig, mit großer
Luſt und erquickend. Und welchen Spaß mag Schwind
gehabt haben, als er beim Durchſtöbern der thürin—
giſchen Sagenquellen die Geſchichte von dem Eſel—
beſitzer fand, dem der Landgraf hilft: das erfreute
Eſelein durfte nicht fehlen, wo tragende Eſel ſeit
alters zum Bergleben der Wartburg gehörten und
ein hölzernes Eſeltreiberkäfterchen oben eins der beſt—
erhaltenen Stücke war.
Der Beziehungsreichtum von Schwinds Wartburg—
bildern enthüllt ſich nicht dem erſten, raſch vorüber—
gleitenden Blick, am wenigſten bei dem Hauptſtück,
der großen Darſtellung des Sängerkrieges. Dieſen
hatte Schwind ſchon zweimal ausgeführt, als ſtatt—
liches Aquarell und als großes Olbild; fait je ein
Jahrzehnt trennt die drei Arbeiten. Das Jugendwerk
von 1837 zeigte einen ſtatiſtenreichen ruhigen Aufbau,
der einigermaßen von Raffaels Disputa und Schule
von Athen abſtammt; daraus wurde um 1845 eine
248 Sängerſaal und Kapelle
dramatiſch viel bewegtere Szene, auf der auch Schon
das Jünglingspaar Goethe und Schiller als glücklich
lauſchende Knappen mit erſcheinen. Welchen Auf—
ſchwung hat aber vollends der Wartburgauftrag ge—
bracht! Faſt alles iſt friſch durcheinander geſchüttelt
und beſſer zuſammengebracht worden, das ſchöne
neue Hauptmotiv zwiſchen Ofterdingen und Eliſabeth
tritt in den Mittelpunkt, aus dem Hiſtoriengemälde
wird ein Sagenbild, indem Klingſor, ſonſt die am
feſteſten bewahrte Geſtalt, auf Wolken in ſiegreich
fordernder Stellung erſcheint, eine Menge Regenten—
und Künſtlerporträts aus Thüringens Gegenwart und
klaſſiſcher Vergangenheit klingen an; der gemalte Saal
ſetzt ſich in dem wirklichen fort, und auch die herr—
liche Landſchaft draußen, die durch die Säulenfenſter
grüßt, hilft hier das Jetzt und Einſt verknüpfen.
Während Schwind tätig war, feierten die Bau—
leute nicht. Zunächſt wurde die an den Sängerſaal
rührende Kapelle im groben fertig: ſie konnte im
Juni 1855 in Anweſenheit des Großherzogs neu ge—
weiht werden, indem die Eröffnung einer Eiſenacher
evangeliſchen Kirchenkonferenz hier oben ſtattfand. In
den Jahren 1853 bis 1860 erſtand nördlich an den
Palas anſchließend die Kemenate neu mit der Woh—
nung des Burgherrn, auf den uralten Grundmauern,
auf denen ſchon Carl Auguſt ſeinen Neubau errichtet
hatte; 1857 wurde der ſchwierigſte Teil davon fertig,
der über dem ſteilen Oſtfelſen hängende Erker. Auch
Bergfried, Ritterhaus und Dirnitz 249
hier wurde alles nach Ritgens Zeichnungen möglichſt
getreu romaniſch und nun auch wohnlich eingerichtet;
die hervorragendſten plaſtiſchen Stücke arbeiteten die
beiden jungen Haertel und Donndorf, die ſpäter die
Weimarer Denkmäler ſchufen. Der älteſte Burgteil
wurde neu aufgeführt, der große Turm, Bergfried
geheißen; gegen Ritgens gedrückte Form beſtimmte
Preller ſeine ſtolze Höhe. Die feierliche Grundſtein—
legung dazu hatte ſchon Ende 1853 ſtattgefunden,
zum Glück eilte man hier nicht, ſo daß die Entdeckung
der eigentlichen Grundmauer des Bergfrieds 1856
noch zurechtkam. Im nächſten Jahre war der Turm
ſchon hoch, als am Geburtstag des Großherzogs die
Arbeiter da oben Nun danket alle Gott in die Lüfte
ſangen, daß die Eiſenbahnbauer der Eiſenach-Coburger
Strecke den Schall leiſe vernahmen und ihre Grüße
hinaufwinkten.
Der größere Teil der ſechziger Jahre verging über
dem Ausbau des Ritterhauſes, wo Luther gewohnt
hatte, und der Aufführung der Dirnitz, in deren
hohem Saal Arnswald als Waffenkundiger eine präch—
tige Sammlung aufſtellen durfte; gegen Norden
ſchloſſen ſich Torhalle und neue Zugbrücke an bis zu
dem ſteinernen Schilderhäuschen am Eingang. Inzwi—
ſchen verwendete Welter von Köln großen Fleiß auf
die dekorativ-romaniſche Ausmalung des Feſtſaales im
Oberſtock des Palas und anderer Räume, und die
Hoheiten wurden nicht müde, für eine geſchichtlich
250 Wartburgausſtattung 1860 bis 1880
bedeutende Ausſtattung zu ſorgen. Carl Alexander
hängte 1863 in der Kapelle die Degen Guſtav Adolfs
und Bernhards von Weimar auf — neue Magnete
für lutheriſch-evangeliſche Herzen nannte ſie Arnswald
—, ſeine Schweſter Auguſta ſtiftete 1864 Wand—
gemälde und 1867 Glasmalereien in die Kapelle, und
ſeine Gemahlin Sophie ſchenkte ihm 1863 das Pirk—
heimerſtübchen aus dem Imhofſchen Hauſe in Nürn—
berg, das 1867 im Ritterhauſe der Wartburg einge—
baut werden konnte. So war 1867, als die Erneue—
rung 214000 Taler gekoſtet hatte, eine Art Abſchluß
erreicht: er wurde als Achthundertjahrfeier der Wart—
burg mit Liſzts Heiliger Eliſabeth im Palas feſtlich
begangen.
Die ſiebziger Jahre endlich und der Anfang der
achtziger vergingen über der Innenerneuerung des
Ritterhauſes als eines Denkmals der Reformation
und der Erbauung des Gadems als Dienerſchafts—
wohnung an der Südweſtecke der Burg. Nahe dem
wahren Lutherzimmer ließ Carl Alexander drei kleine
ſtille Gemächer mit dem Blick auf das Werratal als
behagliche Gebrauchszimmer in den Formen ſpäter
Gotik und deutſcher Renaiſſance herrichten und ſtattete
ſie mit echten und nachgeahmten Prachtmöbeln jener
Zeit aus und mit Wandbilderfolgen aus Luthers
Leben. Neue Weimarer Künſtler malten ſie in den
Jahren 1872 und 1880. Von ihnen löſte Pauwels
am beſten in Form und Farbe die Aufgabe, vom
Wandgemälde der Reformationszimmer 251
jungen Luther ſo zu erzählen, daß es das Holzge—
wände befriedigend ſchmückte; flatteriger, ſchaumiger
und der Zimmerkunſt weniger angepaßt waren Thu—
manns Bilder aus der Großzeit des Reformators.
Hielt dies alles den Beſucher in der Schwebe zwiſchen
dem Hiſtorismus der ſiebziger Jahre und der Möglich—
keit, Luthers eigne Zeit ſich vorzuſtellen, ſo verbanden
ſich ſchließlich doch auch hier neue und alte Zeit zu
eigentümlicher Stimmung. Carl Alexander ſah ſein
Lieblingswerk gelungen, als in jenen Jahren die
Männer von ihm gingen, die ein Menſchenalter lang
ihr Leben größtenteils der Erneuerung der Wartburg
gewidmet hatten: 1877 ſtarb Arnswald, 1885 Dittmar
und 1889 der alte Ritgen.
Die Wartburg wurde zur Zeit ihrer Erneuerung
gern mit einem deutſchen Muſeum verglichen; in
den ſechziger Jahren ging Carl Alexander wirklich
an die Errichtung eines großherzoglichen Muſeums
in Weimar. Seitdem die Gemäldeſammlung 1848
aus dem Fürſtenhaus, wo Schorn ſie würdig unter—
gebracht hatte, wieder hatte ausziehen müſſen, hatte
ſie ein zerſtreutes und verkümmertes Daſein gehabt,
zum Teil im Wittumspalais. Da erneuerten im
Jahre 1857 die Denkmalsfeſttage den Wunſch des
Fürſten, in Carl Auguſts Sinn die Künſte zu pflegen,
und er faßte die Abſicht zu dem Muſeumsbau. Er
bediente ſich dabei der Goetheſtiftung, die unter
ſeinem Protektorat 1849 durch Liſzt begründet
252 Weimarer Muſeumsbau
worden war, damit ſie durch Preiſe an Maler,
Bildhauer, Architekten, Muſiker oder Dichter deren
Werke oder doch ihre Entwürfe nach Weimar brächte:
jetzt ſollte ein Preisausſchreiben den Muſeumsplan
beſchaffen. Der Landtag wirkte durch Bewilligung
einer beträchtlichen Summe mit, der Bau wurde
dem Prager Architekten Zitek übertragen, er konnte
1863 an beherrſchender Stelle der nördlichen Neuſtadt
beginnen, und 1869 wurde das ſtattliche Gebäude
feierlich eröffnet. Stichlings Rede dabei ſchloß mit
Wünſchen für das neue Haus, deren letzter lautete:
„Es ſei ein neues würdiges Glied in der großen
lebendigen Kette deutſchen Geiſteslebens, deutſcher
Art und Kunſt! Das gebe Gott!“
In dem Muſeum erſchien der alte Beſtand der
Weimarer Gemälde- und Zeichnungsſammlung um
Plaſtik vermehrt. Es waren etwa dreißig der be—
rühmteſten Götter- und Menſchenſtatuen der Antike
in Gipsabgüſſen angeſchafft worden und Stücke nach
Parthenonreliefs, auch die beiden gefeſſelten Sklaven
von Michelangelo und zwei der beſten Arbeiten von
Thorwaldſen, darunter die anmutige Gruppe, wie
Ganymed den Adler des Zeus tränkt. An neuer
Plaſtik erblickte man im Treppenhaus ein Rieſen—
mal Goethes. Der Entwurf dazu ſtammte von
Bettina von Arnim; ſie hatte Goethe auf hohem,
reliefgeſchmücktem Sockel ſitzend modellirt, die
Pſyche neben ihm, und der Bildhauer Steinhäufer
Bettinas Goethe; Schwinds Märchen 258
in Rom hatte ſich an die Ausführung gemacht, als
Carl Alexander und Sophie auf ihrer italieniſchen
Reiſe 1852 bei ihm eintraten. Die Erbgroßherzogin
erwarb das Werk — den Sockel hatte Steinhäuſer
weggelaſſen —, 1853 gelangte es zu Waſſer bis
Magdeburg, auf dem Schienenweg bis Weimar und
dann, von ſechs Ochſen langſam durch die Stadt
gezogen, zunächſt in das Tempelherrenhaus im Park,
wo es zwölf Jahre ſtand, ehe es in das Muſeum
eingebaut werden konnte. Auch den langen Relief—
fries der Hermannsſchlacht von Haertel überwies die
Großherzogin und von den Schwindſchen Wartburg—
entwürfen die zur Eliſabethgalerie, wozu der Groß—
herzog die zum Landgrafenzimmer fügte. Seine
köſtlichſte Gabe in das neue Haus war die hellfarbige
Aquarellfolge des Märchens von den ſieben Raben,
wohl Schwinds allerſchönſtes Werk, im Jahre 1857
auf Grund alter Vorbereitung und noch unter der
Nachwirkung der gliedernden Fenſterbogen der Wart—
burg entſtanden, 1858 auf einer Münchner Jubiläums—
ausſtellung zur größten Freude aller Beſucher er—
ſchienen und ſofort vom Großherzog von Weimar
erworben. Der alte lobeszähe Meiſter Cornelius
ſchrieb dem Künſtler darüber: „Sie haben aus einer
einfachen Volksſage ein ſo wunderbares Werk zu
ſchaffen gewußt, das für die deutſche Nation für
immer ein wahrer Schatz bleiben wird. Bei Wahr—
heit, Natur und Leben atmet alles Anmut und
254 Prellers Odyſſeekartone
Seele, und was ich am höchſten dabei ſchätze, —
es iſt alles mit wahrem Stil durchgeführt. Das
zeigt ſich auch bis ins geringſte dieſer Arbeit, in
jeder Haarlocke, in jeder Falte der Gewandung.“
Keine Worte können das holde Märchen ſo ſchön
erzählen, wie es Schwind getan hat.
Und doch war das Hauptereignis des neuen
Muſeums noch ein anderes Werk, Prellers Odyſſee—
bilder. Preller ſchien um das Jahr 1850 ganz in
der Wiedergabe der nordiſchen Landſchaft aufzugehen;
da brachte die alte Liebe zu Italien den ergrauenden
Kopf wieder in ſchöpferiſche Unruhe. Seine Odyſſee—
gemälde im römiſchen Haus in Leipzig ſeien ge—
fährdet, ſo erfuhr er 1855; er reiſte mit ſeinem
Sohn und Schüler hin, um ſie für ſeine Frau zu
kopieren: der Sohn zeichnete ab, der Vater führte
mit Sepia aus, worüber ſich ſeinem reiferen Kunſt—
ſinn Variationsgedanken aufdrängten. Er arbeitete
neue Kartone in etwas veränderten Formaten und
Kompoſitionen über die alten Themen aus, fügte
ganz neue hinzu und ſchickte ſie 1857 auf Ausſtel⸗
lungen nach Jena, Dresden, Berlin, mit überraſchen—
dem Erfolg. 1858 errangen ſie einen Ehrenplatz
auf jener Münchner Ausſtellung neben Schwinds
Sieben Raben und den Auftrag Carl Alexanders,
die Odyſſee in einen dafür herzurichtenden Raum zu
malen, wobei noch nicht an das Muſeum gedacht
war. Preller hätte ſofort eingewilligt, wenn er ſich
Vollendung der Odyſſeegemälde 255
nicht ſelbſt geſagt hätte, was andere ausſprachen,
daß in dieſen Landſchaften zu viel nordiſches ſei.
Er bekannte die Notwendigkeit neuer eingehender
Studien in Italien, der Großherzog bewilligte die
Koſten, und Preller ging Herbſt 1859 bis Sommer
1861 zum zweitenmal nach Italien. Es wurde
wieder eine glückliche Zeit wie vor dreißig Jahren,
das Geſpräch mit Cornelius förderte, die Blätter
ſeiner Studienhefte bedeckten ſich mit fein gezeich—
neten Landſchafts- und Pflanzenſtudien aus der römi—
ſchen und der Neapeler Gegend und von der Küſte
Capris, wo der jähe Klippenwind ſireniſch ſingt und
pfeift, und die heitere Schönheit dieſes Landes er—
füllte nun recht erſt ſeinen ganzen Sinn. Er kehrte
zurück und arbeitete neue Kartone zeichneriſch durch
und malte die farbigen Vorlagen daneben.“) Der
inzwiſchen entworfne Muſeumsſaal ermöglichte ſechzehn
Odyſſeelandſchaften in guter Verteilung: an den
ſchmalen Seitenwänden zu beiden Seiten der Türen
je eine und an der großen geſchloſſenen Längswand,
gegenüber der nördlichen Fenſterwand, zwölf in vier
Gruppen zu drei mit je einem breiteren Mittelbild.
Dies alles führte Preller daheim aus, in Wachs—
farben auf Zementkalkſchicht in eiſernen Rahmen,
die in die Muſeumswände eingeſetzt werden konnten.
Dann malten ſeine beiden beſten Schüler am Ort
*) Jene gelangten in das Leipziger Muſeum, dieſe in
Eiſenacher Privatbeſitz.
256 Zu Cranachs Gedächtnis
den Sockelfries darunter, rote Figuren auf ſchwarz—
braunem Grund, mit Telemachs und Penelopes
Schickſalen, und das Ganze wurde farbig geſchickt
umgeben. Die faſt durchlaufende Horizontlinie des
blauen Meeres, die tadelloſen Formen der Menſchen—
gruppen, die wunderbare Raumtiefe der meiſten
Bilder wie überhaupt der hochentwickelte, vornehme
Landſchaftsſinn gaben eine einheitliche, wohltuende
Ergänzung der uralten Dichtung im Sinne eines
Ausklangs der klaſſiſchen Weimarer Schule.
Die fürſtliche Fürſorge für das Muſeum ließ auch
nach der Eröffnung nicht nach. 1872 wurden drei
Friedrichſche Sepialandſchaften, Hackerts Nemiſee,
Schwinds Handſchuhlegende und einiges von Steinle
überwieſen. 1873 wurden die Michelangeloabgüſſe
um ſieben vermehrt; und die Bibliothek, die 1869
ichon zwei Arbeiten Graffs herübergegeben hatte,
ließ jetzt Cranachs Luther als Junker Jörg folgen.
Das Andenken an Lucas Cranach den älteren, den
Altersgefährten Johann Friedrichs des Großmütigen,
wurde damals in Weimar mit großer Anhänglichkeit
wiederholt gefeiert, kannte doch jedermann das eigen—
tümliche Haus des treuen Reformationsmalers am
Markte, ſeinen Grabſtein an der Hofkirche und das
ſchöne Altargemälde von ihm und ſeinem Sohn in der
Stadtkirche. 1872 veranlaßte ſein vierhundertjähriger
Geburtstag, eine Büſte von ihm bei Donndorf in
Auftrag zu geben; ſie wurde als Stiftung des
Prellers letzte Arbeiten ö 257
Fürſtenhauſes und der Cranachſchen Nachkommen
1886 im Muſeum aufgeſtellt.
Der greiſe Preller hat nach Vollendung ſeiner
Odyſſee faſt noch ein Jahrzehnt in Weimar ſchaffen
können und noch zweimal Italien beſucht. Seine
fleißige und ſichere Hand fertigte noch viele Land—
ſchaftszeichnungen, auch eine Reihe italieniſcher Ge—
mälde, namentlich aus der Gegend von Olevano und
als mächtigſtes die Ruinen von Paeſtum. Ja er ge—
wann ſich noch ein neues Stoffgebiet und ſtellte
Begebniſſe des alten Teſtaments in italieniſcher Land—
ſchaft dar. Eine ſeiner letzten Arbeiten, Boas und
Ruth, wurde für den Weimarer Verlagsbuchhändler
Böhlau gemalt, der ſeit Beginn der fünfziger Jahre
manche künſtleriſche Heimatsaufgabe mit ihm zuſam—
men beraten hatte. Von 1868 bis 1873 führte er die
Direktion der alten Weimarer Zeichenſchule: im Jäger—
hauſe arbeiteten ſeine Schüler, in ſeinem Atelier in
der Nähe die Schülerinnen, unter ihnen eine Tochter
Stichlings. Zu Oſtern 1878 ſchloß Friedrich Preller
die Augen.
Von Prellers Schülern ſind drei zu deutſchem
Ruf gelangt, die beiden älteren in Weimar, der
jüngſte in der Nähe geboren. Carl Hummel arbeitete
das ganze Zeitalter über in Freundſchaft mit Preller,
aber künſtleriſch inſofern von ihm abweichend, als er
das geſehene Naturbild ſelbſt immer mehr als völlig
darſtellenswert empfand in ſeiner Beleuchtung, ſeiner
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 17
258 Carl Hummel, Preller d. j., Kanoldt
atmoſphäriſchen Belebung, ſeinen Farben. Alle Breiten
Deutſchlands und viele Gegenden Italiens waren ihm
bekannt, von Holſtein bis Sizilien ſuchte er ſeine
Motive; ſeine großen Aquarelle von Corſica aus der
Wende der ſechziger und ſiebziger Jahre wurden ſeine
friſcheſten und kräftigſten Sachen. Auch Friedrich
Preller der jüngere, des Vaters Gehilfe und dank—
barer Jünger auf der zweiten italieniſchen Reiſe,
ſchlug dieſen realiſtiſcheren Weg ein, er berührte ſich
mit Hummel auch in der Stoffwahl — ein von beiden
geliebtes und gemaltes Naturbild war Tizians Hei—
mattal Cadore —; er wurde nach Dresden berufen.
Edmund Kanoldt lernte von 1864 bis 1869 bei Preller
und gewann mit einem Odyſſeus auf der Ziegenjagd
den Ehrenpreis der Goetheſtiftung; ihn führte die
Entwicklung ſeines farbigen Geſamtempfindens zu
einer eignen ſtimmungsvollen heroiſchen Landſchafts-
kompoſition, als er ſich in Karlsruhe weiterbildete
und doch der prelleriſch-goethiſchen Grundüberzeugung
von der wahren Aufgabe des Landſchaftsmalers treu
blieb.
Faſt ein Jahrzehnt lang hatte der alte Preller
die Freude, in Weimar einen Freund ſeiner erſten
römiſchen Jahre neben ſich arbeiten zu ſehen: 1859
kam Genelli. In ihm gewann Carl Alexander den
ſtrengſten Epigonen der Carſtensſchen Schule, deſſen
Phantaſie ganz in antikiſchen Geſtalten ſpielte und
auch von Raffael und Michelangelo mehr als von der
Genelli; Gründung der Kunſtſchule 259
Natur gelernt hatte. Nach Jahrzehnten bittrer Not
konnte er in Weimar noch einmal tiefer atmen, ſeine
Aufträge für München und Wien erfüllen und auch
für die Weimarer Sammlungen manches zeichnen.
Er liebte es, die Wirkung des Sängers, des Erzählers
auf Zuhörergruppen darzuſtellen, und man bewunderte
beſonders ſeinen Homer; wer dies Blatt freilich ge—
nauer mit der Darſtellung desſelben Gegenſtandes
durch Carſtens verglichen hätte, konnte erkennen: bei
Carſtens hebt ſich der erſte, lichtfrohe Flügelſchlag des
Genius, auf deſſen Schwingen Genelli ſchließlich,
ohne ſich ſelbſt der Erde zu entringen, mit künſteln—
der Willkür trieb.
Da war es ein glücklicher Ausgleich, daß es Carl
Alexander gelang, zu derſelben Zeit eine Weimarer
Kunſtſchule für Maler neueſten Schlags zu begründen:
im Oktober 1860 wurde ſie eröffnet. Die berühmten
älteren Schweſteranſtalten Düſſeldorf und München
ſtanden dabei Gevatter: von Düſſeldorf kam Graf
Kalckreuth, der Alpenmaler aus Schirmers Schule,
und aus München der gewandte Figurenmaler und
Illuſtrator Ramberg und das junge Freundespaar
Böcklin und Lenbach. Kalckreuth führte die erſten
ſechzehn Jahre das Direktorat. Die Verfaſſung war
ſo frei wie die künſtleriſche Tendenz, ſo daß die Per—
ſönlichkeiten leicht gegeneinander ausſchlugen und
der „Realismus“ der neuen Schule bald berufen
wurde; mit Preller und der alten Zeichenſchule Carl
177
260 Die Kunſtſchule in den jechziger Jahren
Auguſts wollte ſich gar kein Verhältnis herſtellen.
Trotzdem waren die Anfänge gut, die kleine Schüler—
zahl ſtieg raſch, die erſte Lehrerausſtellung enthielt
Trümpfe wie Lenbachs Hirtenknaben und Böcklins
Raub an der Küſte, die Graf Schack für ſeine Münch⸗
ner Sammlung erwarb, und Kalckreuths Gralsburg,
die der Großherzog im Weimarer Schloſſe mit Hum—
mels Gärten der Armida paarte. Lehrer und Schüler
belebten die Geſelligkeit Weimars von neuem in
glänzender Weiſe, als ſich die Tür der Altenburg
geſchloſſen hatte. Am raſcheſten entſchwanden Böcklin
und Lenbach wieder, die es nach dem Süden zog;
einige kräftige Bildniſſe blieben als Zeugniſſe ihrer
Weimarer Tätigkeit, auch malte Böcklin hier eine
große Jagd der Diana für Baſel: wieviel elementa-
riſcher waren die römiſchen Landſchaftsmotive hier
erfaßt und verdichtet als von Preller! 1861 wurde
Pauwels von Antwerpen berufen, 1862 trat Doepler,
vorher Koſtümzeichner am Theater, aus dem Reiche
Dingelſtedts in das Kalckreuths über, und in der
zweiten Hälfte der ſechziger Jahre, wo auch Ramberg
nach München zurückging, wirkten als neue Lehrer
der Hiſtorienmaler Wislicenus, aus Eiſenach gebürtig
und in Düſſeldorf geſchult, der neuartige Religions-
maler Plockhorſt, ein Schüler Pilotys, und ein an der
Weimarer Schule ſelbſt gebildetes Talent, Thumann
aus Leipzig. Auch deſſen Landsmann Pohle gehörte
zu den tüchtigſten Schülern Weimars in den ſechziger
Gehen und Kommen um 1870 261
Jahren; er entwickelte ſich zu einem ausgezeichneten
Bildnismaler, den man ſpäter nach Dresden rief.
Bedeutendere Schülerkräfte ſtellte Schleſien in dem
Grafen Harrach, einem geſellſchaftlichen Matador mit
friſchen Augen und herb-klarer Malweiſe (18601868),
und Brandenburg in dem kräftigen und derben Reali—
ſten Guſſow (1861-1866); nur vorübergehend haben
an der Wende der ſechziger Jahre Liebermann und
Piglhein in Weimar gelernt. Von den Lehrern ſchieden
1868 Wislicenus, 1869 Plockhorſt und 1870 Pauwels
und Thumann aus.
So mußte zu Anfang der ſiebziger Jahre die
Lehrerſchaft zum großen Teil abermals neu ergänzt
werden. Als erſten ſtellte Kalckreuth 1870 den Wei—
marer Schüler Guſſow an: er rechtfertigte dieſe Be—
rufung durch großes Lehrtalent, viele Schüler ſam—
melten ſich um ihn; 1874 ging er nach Karlsruhe.
1871 traten von Düſſeldorf der Geſchichtsmaler Baur
und der junge Landſchaftsmaler Hagen ein, ein Schü—
ler Oswald Achenbachs, und von Berlin Schauß; von
ihnen zogen 1876, als Kalckreuth die Direktion nieder—
legte, auch Baur und Schauß wieder von dannen.
Da war es ein Glück, daß kurz vorher (1875) in dem
Tiermaler Brendel, der ſich lange in Fontainebleau
gebildet hatte, eine beſtändige naturaliſtiſche Kraft
erſten Ranges gewonnen worden war; Hagen und er
verwalteten in den nächſten Jahren die Direktion.
Viel Einfluß auf die Schüler gewann Hagen.
262 Weimarer Landſchaftskunſt um 1880
Er wandelte dabei ſeine Sehweiſe und ſeine Palette
mit ihnen, die zum Teil älter waren als er. In
den ſiebziger Jahren erſchien den meiſten als natur»
wahr eine Farbenharmonie, in der ein dunkelbrauner
Grundton noch vorwaltete, wie ihn das Stubenlicht
und damalige Atelierausſtattung mit ſich brachten,
und novelliſtiſche Reize des Stoffes galten als unent—
behrlich. Auch die beſten Schüler Hagens malten
damals ſo, Fedderſen (1871 bis 1877), Haſemann
(1872 bis 1878) und Hoffmann-Fallersleben (1874
bis 1879), der in Weimar geborene Sohn des Ge—
lehrten, ſelbſt der Weimarer Buchholz, der eigen—
ſinnigſte dieſer Gruppe, der der Kunſtſchule von
1867 bis 1876 als Lernender angehörte. Sie alle
fanden in der erſten Hälfte der achtziger Jahre mehr
oder weniger den Weg zu einer lichteren Farben—
wirklichkeit im Freien und überſchritten damit die
Schwelle zu einem neuen Zeitalter. Am feinfühlig—
ſten drang Buchholz in das Frühlings- und Herbſt—
weben der Weimarer Wälder ein. Neben Hagen
ging ernſt und ſchlicht auch der Freiherr von Gleichen-
Rußwurm auf dieſem befreienden Wege vorwärts,
der auf Veranlaſſung des Großherzogs Carl Alexan—
der ſein Talent in Weimar ſpät entwickelte, der
Enkel Schillers.
Das jüngſte Geſchlecht
u»
Weimar
Wenn die Geſchichte des Jahrhunderts von 1815
bis 1915, wie es das natürliche iſt, erzählt wird als
Taten und Erlebniſſe dreier Menſchenalter, ſo wird
mit dieſen drei Abſchnitten die Regierungszeit der
Fürſten nicht immer zuſammenfallen. Carl Auguſt
hat länger als fünfzig Jahre regiert und auch Carl
Alexander faſt ein halbes Jahrhundert lang; beide
haben in einer außergewöhnlich großen Berufszeit und
Herrſchaftsdauer ſtandgehalten. Daß Carl Auguſts
Regierung ein einheitlicheres Bild ergibt als die
ſeines Enkels, beruht vor allem darauf, daß nur
wenige Jahre ihres Anfangs dem vorhergehenden
Zeitalter angehören, nur wenige ihres Endes dem
nachfolgenden, während ſich ihr Haupt- und Mittel—
teil mit einem geſchichtlichen Menſchenalter Deutſch—
lands deckt. Carl Alexanders Regierung aber begann
knapp nach dem Anfang einer neuen, der Bismarck—
ſchen Zeit; nach deren Ablauf hat er faſt noch zwei
Jahrzehnte ſeines ergreiſenden Alters das Großher—
zogtum geführt, bis über die Jahrhundertgrenze
herüber, während ein junges Geſchlecht um ihn
herum die neueſte Zeit ſchuf.
266 Carl Alexander und die literarischen Vereine
Was Carl Alexander auch mit dieſem zweiten
neudeutſchen Zeitalter verband, war ſein gleich—
bleibendes Beſtreben, von Weimar aus dem ganzen
Vaterlande zu dienen, ſein ſteter Wunſch, Weimar
als eine Freiſtätte dem bewährten Talent offen zu
halten, und dann ſein feiner und inniger Zuſammen—
hang mit Goethe, durch den er auch die neueſten
Goetheaufgaben zu geleiten wußte. Als Achtzig—
jähriger bekannte er einmal: „Ich könnte alles
entbehren, Goethe nicht.“ Als das neunzehnte
Jahrhundert ſchloß, erließ er ſeine letzte öffentliche
Kundgebung, ein gemeinſames Schreiben an die
Goethegeſellſchaft, die Schillerſtiftung und die
Shakeſpearegeſellſchaft, deren Protektorate er nun
vereinigte: die Überlieferung einer unvergleichlichen
Zeit Weimars im Geiſte ſeiner Vorfahren fortzu—
führen, ſei ihm und ſeiner Gemahlin tief empfundene
Pflicht geweſen, ihre Erfüllung aber nur möglich
geworden durch die allgemeine und vertiefte Teil—
nahme Deutſchlands an den Kulturarbeiten, „die
mit Weimars Namen unlöslich verbunden ſind.“ Er
hoffte, daß im zwanzigſten Jahrhundert dieſe Ver—
bindung von Dauer ſein werde, „auch im Hinblick
auf ſchöpferiſche Ausgeſtaltungen des Schönen und
Wahren in neuen Formen, die eine aus der Vergangen—
heit erwachſende große und reiche Zukunft dem deutſchen
Volke ſpenden möge auf ſeinem Wege aufwärts zu
den höchſten Zielen nationaler Entwickelung.“
Sophie und das goethiſche Erbe 267
In dieſer Geſinnung ſtand ihm die Großherzogin
Sophie faſt bis zuletzt zur Seite. Nicht genug,
daß ſie im Weimariſchen das große ſoziale Erbe
Maria Paulownas übernommen hatte und reichlich
vermehrte — das 1854 von ihr gegründete Sophien—
ſtift, eine wohlausgeſtattete höhere Töchterſchule,
beſchenkte ſie 1878 mit einem ſtattlichen Neubau,
1886 wurde ein großes Kranken- und Diakoniſſen—
heim als Sophienhaus geweiht, noch ſpäter ihr
Kinderheilbad in Stadt Sulza —: als geborene
Niederländerin nahm ſie begeiſtert teil, als das
Deutſche Reich zur Kolonialmacht wurde, und um
dieſelbe Zeit fiel ihr die ſchöne Pflicht zu, das
goethiſche Familienarchiv nutzbringend zu erhalten.
Goethes Schwiegertochter war 1871 hochbejahrt
kurz vor ihrem Tode in das Weimarer Haus zurück—
gekehrt; dort hatten in den Dachzimmern ihre altern—
den Söhne die ſiebziger Jahre über ein traurig
einſames und verarmtes Leben geführt, nur beſtrebt,
Goethes Sacherbe nicht zu ſchädigen. 1883 ſtarb
Wolfgang, der jüngere, worauf Walther, der ältere,
ſein Teſtament machte. Auch er ſtarb 1885. Das
Teſtament ernannte zum Erben von Goethes Haus
ſamt den darin verwahrten Sammlungen den Wei—
mariſchen Staat und ſtellte dieſe Erbſchaft unter die
beſondere Oberaufſicht des Großherzogs; das Familien—
archiv ſamt dem ganzen literariſchen Nachlaß Goethes
erhielt die Großherzogin zugeſprochen mit dem
268 Goethe » National» Mujeum
Wunſche, es zu empfangen als einen „Beweis tief—
empfundenen, weil tiefbegründeten Vertrauens.“ So
konnten ſich dieſe ſeit fünfzig Jahren verſchloſſenen
Güter am Beginn eines neuen Zeitalters als deſſen
Mitgift auftun.
Das erſte Ziel war, Goethes Haus und ſeinen
Wohninhalt möglichſt wieder ſo einzurichten, wie er
es im Tode verlaſſen hatte. Die Nächſtverwandten
von Ottilie und Chriſtiane, ein Graf Henckel von
Donnersmarck und ein Vulpius, fanden ſich bereit,
weſentliche Erbteile, die ſich nicht unter der Verwahrung
der alten Schlüſſelverwalterin bei der Übergabe be—
funden hatten und deshalb ihnen als Inteſtaterben
zufielen, als beſondere Stiftung dem Hauſe zu über—
weiſen; den Mietern wurde gekündigt, das alte Thü—
ringer Holzgebäude im Innern zum Teil ſteinern
erneuert und im Sommer 1886 das Vorderhaus des
„Goethe-National-Muſeums“ allen ſehnſüchtigen
Verehrern geöffnet, beinahe ein Jahr darauf auch
die übrigen Wohnräume Goethes, darunter ſein
Arbeits- und Schlafzimmer genau in dem Zuſtand
von 1832. Für die Herrichtung der Empfangs- und
Sammlungszimmer wurden alte Beſtitzverzeichniſſe
verwendet, Notizen und Erinnerungen, wobei Groß—
herzog Carl Alexander ſelbſt eingreifen konnte; im
September 1888 betrat die verwitwete Kaiſerin
Auguſta zum erſtenmal wieder das größte Zimmer,
wo der Rieſenkopf der Juno ſteht, und brach in die
Unter Rulands Verwaltung 269
Worte aus: „Dies iſt genau, wie ich mir den Raum
ſo wohl erinnere!“ Von Beginn der neuen Verwal—
tung an ſtand dem Hauſe der Weimarer Muſeums—
direktor Ruland über zwanzig Jahr lang vor. Die
Oſtſeite des Gebäudes wurde 1889 bloßgelegt, als
der Staat infolge eines nahen Brandes drei ſchmale
Nachbarhäuschen wegreißen ließ, um Goethes Erbe
gegen Feuersgefahr zu ſichen. Jahr um Jahr
vermehrten nun manche Erwerbungen, viele Geſchenke
von nah und fern den eröffneten wunderbaren
Beſitz: Büſten und Bildniſſe fanden ſich herzu,
reizende Silhouetten und feine Miniaturen, Goethes
Schreibzeug, ſeine Brieftaſche uſw. 1891 ſtellte
ſich die Zeichnung des Junozimmers mit Goethes
Enkeln am Flügel ein, 1836 von Arnswald gefertigt,
dem ſpäteren Wartburgkommandanten, 1892 Riemers
Zeichnung vom alten Goethe auf der Straße, 1893
getuſchte Landſchaftsblätter Goethes ſelbſt, 1894 das
Kolbeſche Goethebildnis aus Schöllſchem Beſitz und
getrocknete Blumen mit den Worten Ulrikes von
Levetzow: „Der letzte ſehr kleine Reſt der vielen
Blumen, welche Goethe mir in Marienbad 1822
von ſeinen Spaziergängen mitbrachte.“ 1903 mußte
das ſchmale Frankfurter Familienbild von Seekatz,
im geſchnörkelten Rokokogoldrahmen, unter der breiten
aldobrandiniſchen Hochzeit aus dem alten Rom Platz
nehmen. So durchdrangen ſich allmählich Wohn—
ſtätte und Muſeum mehr und mehr.
270 Koetſchau und Oettingen
In dieſe Fülle griff in den Jahren 1907 und
1908 der neue Direktor Koetſchau kräftig ein. Er
verfuhr nach dem Grundſatz, Wohn- und Sammlungs—
räume ſeien zu unterſcheiden und in den Wohnräumen
nur die Dinge zu laſſen, die dort aus Goethes Zeit
urkundlich beglaubigt wären. Alles, was mehr ein
Goethemuſeum zu bilden geeignet war, reihte er im
Dachgeſchoß auf; dorthin verwies er auch den größten
Teil von Goethes naturwiſſenſchaftlichen Sammlungen.
Zur Neuordnung dieſer mineralogiſchen, botaniſchen
und zoologiſchen Sachen gewann er vorübergehend
im Hauſe weilende Helfer in Semper, Hanſen und
Lehrs; und die Kunſtſammlungen ſuchte er durch
wechſelnde Ausſtellungen in einigen Nebenzimmern
zum Leben zu bringen. Es fehlte aber an Raum.
Dieſem Mangel half glücklich der dritte Direktor
ab, von Oettingen (ſeit 1909). Er erſah die häßliche,
zwanzigjährige Blöße an der Oſtſeite zu einem
feuerſicheren Anbau ungefähr von der Geſamtfront—
erſcheinung der urſprünglichen Nachbarſchaft, und
der ſachſen-weimariſche Staat und einzelne deutſche
Spender reichten die Mittel dar, die ihm hier die
vornehme Durchführung neuzeitlicher Sammlungs—
räume mit Hülfe des Baurats Schrammen ermög—
lichten (1914). Jetzt erſt konnten auch die drei
naturwiſſenſchaftlichen Gehilfen in zwei neuen
Vorderzimmern des Dachgeſchoſſes Steine, Pflanzen
und Gebein nach Goethes Anſchauungen ſicher und
Ausbreitung von Goethes Sammlungen 271
überſichtlich durchordnen und teilweiſe vor Augen
ſtellen, während ein vierter (Speyerer) nebenan
Goethes phyſikaliſche Denkarbeit verdeutlichte, ſeine
alten Inſtrumente und neue Parallelapparate auf—
ſtellte und vor allem das prometheiſch vorſchauende
in ſeiner Farbenlehre den heutigen Betrachter ſofort
nachzuerfaſſen anwies. Im Hauptſtock darunter
wurden zwei größere Räume als Muſeum für Klein—
plaſtik, Münzen, Medaillen und Majolikaſchalen
goethiſchen Beſitzes fürſtlich eingerichtet und als Studien—
ſaal all ſeiner Handzeichnungen, Stiche uſw. und
auch dieſe in wiſſenſchaftliche Behandlung (Kroeber)
gegeben. So erfüllte ſich achtzig Jahre nach Goethes
Tod der Wunſch ſeines Teſtamententwurfs: „Meine
Sammlungen jeder Art ſind der genaueſten Fürſorge
wert. Nicht leicht wird jemals ſo vieles und ſo vielerlei
an Beſitztum intereſſanter Art bei einem einzigen
Individuum zuſammenkommen. Ich habe nicht nach
Laune oder Willkür, ſondern jedesmal mit Plan
und Abſicht zu meiner eigenen folgerechten Bildung
geſammelt und an jedem Stück meines Beſitzes
etwas gelernt. In dieſem Sinne möchte ich dieſe
meine Sammlungen gern konſerviert ſehen.“
Der im Innern wie im Außern vortrefflich an—
geſchloſſene neue Oſtflügel erwies ſich auch ſonſt
von Nutzen für das Goethehaus. In ſein Erdgeſchoß
wurde die Hausmannswohnung verlegt, in ſeinen
Keller die Warmwaſſerheizung für das Geſamtgebäude.
272 Begründung des Goethe- und Schillerarchivs
Aus Goethes Zimmern verſchwand die Moderluft
der überfüllten Sammelkäſten; ſie konnten jenem
wohnlichern Zuſtande mehr angenähert werden,
wo Goethes Beſitz noch etwas kleiner war. So
ergab ſich eine Überarbeitung des ganzen Hausweſens,
zugleich mit vermehrter Rückſicht auf die urkundlichen
Quellen, und weitere Herſtellung alter Zimmer,
wie denn auch das Dachgeſchoß bedeutenden Zu—
wachs an Goethebildniſſen erhielt. Mit alledem
war es, als ob — neben dem unveränderlich tiefen
Eindruck jener beiden durch Goethes lange Geiſtes—
arbeit und Tod beſonders geweihten Hinterſtübchen —
das Haus Atem bekäme.
Den handſchriftlichen Nachlaß übernahm Groß—
herzogin Sophie ſchon im Juni 1885 und begründete
für ihn zunächſt in einem Saale des Schloſſes das
Goethearchiv. Sie übertrug die erſte Sichtung Erich
Schmidt und faßte alsbald die bedeutende Abſicht,
Goethes und Schillers Handſchriften einmal unter
einem Dache zu vereinigen. Der erſte Schritt da—
zu war, daß ſie von Cotta die Briefe zwiſchen
Goethe und Schiller kaufte; dieſe trafen 1888 nach
Cottas Tode in Weimar wieder ein. Nun ſchenkten
ihr 1889 die beiden Freiherren von Gleichen, Schillers
Enkel und Urenkel, alle Urkunden und Handſchriften
aus ihres Ahnen Erbſchaft mit der Beſtimmung,
ſie mit dem Goethiſchen Schatze zum Goethe- und
Schillerarchiv zu vereinigen: im Juni wurde dieſer
Ein weimariſch-deutſches Literaturarchiv 273
herrlichſte Zuwachs aus dem fränkiſchen Schloſſe
Greifenſtein nach Weimar übergeführt. Wie hätten
da Herders und Wielands Erben zurückbleiben ſollen?
Bis zu Ende des Jahres fügte Staatsminiſter Stich—
ling die Herderſtiftung hinzu, beſonders ergiebig für
Herders Brautzeit und das frühe Jahrzehnt von
1770 bis 1780, und Wielands Urenkel Reinhold,
ein Enkel des Jenaer Profeſſors, das beträchtliche
Wieland-Reinholdſche Brieferbe. Und wie Jahresringe
ſetzten ſich weitere Kreiſe an: 1890 übergab die
großherzogliche Bibliothek alle ihre Manufkripte der
Winckelmann-Goethiſchen Zeit, 1891 wurden Goethes
Briefe an Carus erworben und Otto Ludwigs
Nachlaß: ſchon griff man nach dem bedeutendſten
auch der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der
Gedanke des Goethe- und Schillerarchivs weitete ſich
zu dem eines Archivs der neueren deutſchen National—
literatur. Es war Zeit, einen eigenen Schrein für
dieſe Schriftenſammlung zu errichten: über der Ilm
gleich jenſeit des Schloſſes erſtand nach dem Grund—
riß der Großherzogin unter Aufwendung von einer
Million der weiße Sandſteinbau in klaſſiſchen Formen
und wurde im Juni 1896 eröffnet.
Leiter des Archivs war damals Suphan als
Nachfolger Erich Schmidts — der ſchon 1887 an die
Berliner Univerſität übergeſiedelt war —, und bis
1910 kurz vor ſeinem Tode hat der ſinnige, graziöſe
Gelehrte die Sammlung gewahrt und mit großem
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 18
274 Weimarer Goethephilologen
Erfolg vermehrt.“) 1901 wurden viele Handſchriften
von Gellert bis Geibel hinzugefügt, darunter Arndt,
Uhland, Chamiſſo. Der vollſtändige Nachlaß von
Hebbel — darunter Tagebücher und Briefe als Ge—
ſchenk der Witwe —, von Immermann, Mörike und
Freiligrath — auch dieſer als Geſchenk der Witwe —
kamen in das Archiv und beträchliche Teile Platen
und Rückert, Bauernfeld und Auerbach, Laube und
Freytag, Heyſe und Storm, Keller und C. F. Meyer;
ja Suphan konnte 1906 auch von einer niederdeutſchen
Abteilung (Reuter und Groth) berichten, und ſchließ—
lich erwarb er die aufgefundene Handſchrift der
Urform des Wilhelm Meiſter. Dann übernahm
Oettingen die Leitung des Archivs; ſeit Beginn war
Wahle an der Einrichtung und Wartung tätig, von
1896 bis 1912 leiſtete auch Schüddekopf Mitarbeit, ſeit
1900 Hecker und ſeit 1913 Gräf, der ſchon anderthalb
Jahrzehnt in freierer Beſchäftigung beigeſellt geweſen
war. Denn hier wurde in ſtillem Fleiß eine dreißig—
jährige Gelehrtenarbeit getan, dieſe Güter fort—
während erſprießlich zu pflegen und jahraus jahrein
Ernte für die deutſche Bildung tragen zu laſſen.
Wer aber das Archiv beſuchen kam und ſeine
Augen über die Schaukäſten wandern ließ, wen
hätte nicht trotz aller gedruckten Bücher die tüpflige
*) Vier Jahrzehnte beſchäftigte ihn daneben die Herſtel—
lung einer neuen monumentalen Herderausgabe, deren letzte
Bände, wie es ihm Mommſen am Anfang prophezeit hatte,
auf ſeinen Sarg gelegt wurden.
Die Goetheausgabe der Großherzogin Sophie 275
Handſchrift von Otto Ludwig, die klug geſchäfts—
männiſche von Keller, die diſtinguiert witzige von
Scheffel über dieſe Geiſter belehrt, wer ſich nicht
an Goethes ſchönen Schriftzügen auf den Oktav—
blättchen mit je einer Stanze zum Epilog der Glocke,
an ein paar gewaltigen Tell- oder Briefzeilen Schillers
erhoben und in dieſen Räumen etwas von der Kraft
des Wortes geſpürt, das im Anfang war?
1885 kündigte die Großherzogin auch den Plan
zu einer monumentalen Goetheausgabe an, die „das
Ganze von Goethes literariſchem Wirken nebſt allem,
was uns als Kundgebung ſeines perſönlichen Weſens
hinterlaſſen iſt, in der Reinheit und Vollſtändigkeit
darſtellen“ ſollte, die jetzt erſt möglich geworden war,
und ſie ließ die Arbeit ſofort beginnen. Die Beamten
ihres Archivs wurden dazu herangezogen, Schmidt und
Suphan als Redaktoren, Wahle als Generalkorrektor,
doch war ein großer Stab hervorragender auswärtiger
Goethephilologen in Redaktion und Herausgabe da—
bei tätig. Das Ganze wurde in vier Abteilungen
zerlegt, von denen 1887 drei zu erſcheinen anfingen,
die Werke, die Tagebücher und die Briefe; der erſte
Band der naturwiſſenſchaftlichen Schriften wurde
1890 ausgegeben. Das Jahr 1903 brachte den
Abſchluß der dreizehn Tagebücherbände, 1904 den
der gleich großen naturwiſſenſchaftlichen Abteilung,
1909 den der fünfzig Bände voll Briefe; und 1915
wurde der dreiundfünfzigſte und letzte Band der
18.
276 Goethegeſellſchaft und Goethetage
Werke fertig: in ihm fanden die allerletzten noch
unbekannten Späne aus Goethes Nachlaß ihren
Platz, zurückgelegtes zu Elegien und Epigrammen,
Entwürfe zu Fauſt und andern Dramen, Vorträge
des Staatsbeamten und Einfälle aus ſeinen Notiz—
büchern, z. B. der vielſagende: „Ein Menſch, kein
Menſch.“
Wie ſich ein Springquell erſt in einem kleineren
oberen Becken fängt, ehe er von da in das breitere
Schlußbecken läuft, ſo bildete ſich um die neue Wei—
marer Goethearbeit inmitten der allgemeinen deutſchen
Teilnahme ein engerer Kreis: die Goethegeſellſchaft.
Im Juni 1885 wurde ſie in Weimar gegründet,
um alljährlich hier, meiſt zu derſelben ſchönen Jahres—
zeit, zuſammenzukommen, neuen Gewinn heimzutra—
gen, neue Gaben zu bringen. Bereits Ende 1886
zählte ſie 2400, ſpäter 4000 Mitglieder. Ihr erſter
langjähriger Präſident (bis 1899) war der greiſe
Eduard von Simſon; dann ſtanden je ſieben Jahre
Ruland und Erich Schmidt an der Spitze, worauf der
Freiherr von Rheinbaben die Leitung übernahm.
Alljährlich legte ſie ihren Mitgliedern womöglich etwas
von Goethe auf den Weihnachtstiſch, das ſeinen Kreis
erhellte und ſeine Wärme verbreitete, meiſt aus dem
Archiv, oft aus dem Goethe-National-Muſeum. Mit,
den herzerquickenden Plauderbriefen von Goethes
Mutter an die Herzogin Amalia fing es an, bald
folgten die an den Sohn (Suphan), und ſolch un—
Schriften der Goethegeſellſchaft 277
befangenen Ton ſetzte das geſchwätzige Tiefurter
Journal (von der Hellen) fort; einen verwandten
nahmen ſpäter die Briefe aus Ottilies Nachlaß (von
Oettingen) wieder auf. Hundertjahrerinnerungen
forderten ihr Recht: 1886 traten die Briefe und
Tagebücher Goethes aus Italien an Frau von Stein
und Herder ans Licht (Schmidt), 1890 der Brief—
wechſel nach Italien aus den Jahren von 1788 bis
1790 (Harnack), 1892 die Urkunden zur künſtleriſchen
Geſchichte des Weimarer Hoftheaters unter Goethes
Leitung (Wahle). Goethe und Lavater, Goethe und
die Romantik, Goethe und Sſterreich ließen ſich in
zuſammenhängenden Briefausgaben erläutert behan—
deln. Von den Werken verdienten die Kenien (Schmidt
und Suphan), die Maximen und Reflexionen (Hecker)
nach den Handſchriften des Archivs eine beſondere
Ausgabe, einige Liederhefte ſogar im Fakſimile, und
eine kleine Probe von Goetheliedern mit zeitgenöſſi—
ſcher Muſik, ja ein ausgewählter „Volksgoethe“ wurden
gewagt. Das Goethe-National-Muſeum ſpendete ſie—
ben Mappen mit Wiedergabe von gezeichneten Bild—
niſſen und Landſchaften, zum Teil von Goethes Hand
(Ruland, Koetſchau, Oettingen). Zwei dieſer Schrif—
ten der Goethegeſellſchaft dienten Schiller: 1894 gab
Kettner den ganzen Demetriusnachlaß heraus und zum
9. Mai 1905 Suphan die Fakſimile von der Huldi—
gung der Künſte, dem Monolog Marfas und dem
Epilog zur Glocke.
278 Goethejahrbücher
Keine Goethegeſellſchaft ohne Goethejahrbuch!
Das begann ſie freilich erſt zu Ende dieſer Zeit in
eigner Redaktion (Gräf) zu unterhalten. Von 1880
bis 1913 lief das von Geiger herausgegebene Jahr—
buch, das ihr als Organ diente, ihre beſten Mitarbeiter
lange auch zu den ſeinen zählte und für die Goethe—
philologie während eines vollen Menſchenalters der
bevorzugte Sammelplatz von Einzelarbeit geweſen iſt,
zur Verbreitung von Vorträgen und Aufſätzen, von
viel Quellenſtoff auch aus dem Goethe- und Schiller—
archiv und einer Fülle kleiner Notizen. Und wie
hätte ſich in Weimar nicht die Entwicklung des neuen
Buchunternehmertums auf den Goethekult werfen
ſollen und die Weimarer ortsgeſchichtliche Forſchung?
Kein Zweifel: um Goethes willen tat dies Ge—
ſchlecht in Weimar unverhältnismäßig viel mehr als
im Namen Schillers. Aber ſchon die fromme Er—
haltung von Schillers Haus durch die Stadt bedeutete
eine Macht, ein Gut, das durch den ſittlichen Eindruck
auf tauſende von Beſuchern dem Vaterlande Zinſen
trug. Und von dieſem Hauſe ging jetzt beſondrer
Segen und Dank auch für die neue deutſche Literatur
aus; denn hier ſchlug die deutſche Schillerſtiftung 1890
dauernd ihren Wohnſitz auf und entſchied die Ver—
teilung ihrer wachſenden Mittel, ſoweit das nicht ſchon
in ihren Zweigſtiftungen geſchah. Zu ihren Pfleg—
lingen in dieſen Jahrzehnten gehörten Detlev von
Liliencron und Klaus Groth, Guſtav Falke und Iſolde
Schillerſtiftung um 1900 279
Kurz, die Witwe von Gutzkow und die von Auerbach,
Töchter von Storm und Hartleben, Enkel von Pichler
und Mörike, ein Urenkel Jean Pauls, die Hinter—
bliebenen von Gottfried Kinkel und von Heinrich Seidel.
Auch etliche kleinere, manche geringe Talente reinen
Willens hat ſie vor bittrer Not bewahrt und dem,
der ſie darob leichtfertig angriff, deutlich heimgeleuch—
tet; ſie hat eine große Schuld der Nation nach Kräften
getilgt und mit alledem einen Hauch von Schillers
Art lebendig erhalten. Ihre Generalſekretäre, nach
deren Vorſchlag ihre Gaben zugemeſſen wurden, waren
von 1869 bis 1902 der thüringiſche Dichter Julius
Groſſe, ein Verwandter von Geibels Kunſt, und dann
der feinſinnige und witzige Erzähler Hans Hoffmann;
nach deſſen Tode (1909) übernahm der Danteforſcher
Bulle Laſt und Dank des Amtes.
Im jüngſten Jahrzehnt iſt im Zeichen Schillers
noch eine andere weimariſch-deutſche Vereinigung
wirkſam geworden, der deutſche Schillerbund. Der
1896 nach Weimar übergeſiedelte Schriftſteller Bartels,
anfangs vorwiegend literargeſchichtlich beſchäftigt,
ſandte Oſtern 1905 eine Denkſchrift aus mit dem
Vorſchlag, Weimarer Nationalfeſtſpiele für die deutſche
Jugend zu begründen: in den Sommerferien ſollte
hier in Wochenzyklen eine kleine Auswahl unſrer
beſten Dramen von Leſſing bis Wildenbruch geſpielt
werden vor Schülern und Schülerinnen von ſechzehn
bis zwanzig Jahren, die aus ganz Deutſchland un—
280 Jugendfeſtſpiele des Schillerbundes
entgeltlich dazu eingeladen würden. Der Gedanke,
gut begründet und als durchführbar nachgewieſen,
fand in der deutſchen Lehrerſchaft wie in der Wei—
marer Bürgerſchaft Beifall und Unterſtützung, und
im Herbſt wurde zur Aufbringung der Mittel der
Schillerbund gegründet mit einem halb weimariſchen,
halb auswärtigen Vorſtand. Man arbeitete die nächſten
Jahre tapfer an dem Ausbau der Sache weiter, her—
vorragende Schriftſteller und Gelehrte traten dafür
ein, in Weimar der Staatsminiſter und die Inten—
danz, und im Sommer 1909 konnten die Feſtſpiele
vor 2000 jungen deutſchen Geſichtern von Antwerpen
bis Kremſier zum erſtenmal ſtattfinden: Tell, Minna
von Barnhelm, der Prinz von Homburg und Egmont
wurden aufgeführt. 1911 und 1913 fanden Wieder—
holungen mit neuem Spielplan vor etwa 3000 Schü—
lern ſtatt (aus fünfzig Gymnaſien uſw.), und wer die
Begeiſterung der Jugend am Orte nicht mitzuerleben
die Freude hatte, konnte ſich aus den vielen Dank—
ſchreiben der Lehrer überzeugen, daß dieſe Jünglings—
und Mädchenſcharen in ſolchen Feſtſpielwochen, von
der weimariſch-thüringiſchen Umgebung angetan, wun—
derbare Stunden deutſchen Glückes erlebten. Ein
Teil der völkiſchen Jugendbewegung dieſes Jahrzehnts,
zur bevorſtehenden Zeitenwende dem kommenden Ge—
ſchlecht gewidmet, war hier in eine verheißungsvolle
Bahn geleitet, das erkannten auch ein Beitrag des
Kaiſers und das Fürwort des Reichstages an.
Shakeſpearegeſellſchaft um 1900 281
Der einzige nichtdeutſche Dichter, der dabei auf
der Weimarer Bühne erſchien, war Shakeſpeare.
Dieſem Stern der höchſten Höhe hatte Goethe ſeines
Wertes Vollgewinn zu verdanken wiederholt bekannt,
ihm und dem Gegenwartsglück im Umgang mit Char—
lotte von Stein; ihn uns zu erhalten und immer
beſſer zu vermitteln war dann die deutſche Shakeſpeare—
geſellſchaft in Weimar gegründet worden. Sie hatte
zu Anfang der ſiebziger Jahre unter dem nationalen
Selbſtgefühl von 1871 und dem kurz darauf um ſich
greifenden Materialismus keine günſtige Zeit gehabt,
dann war die Erneuerung des Kunſtbewußtſeins auch ihr
allmählich zugute gekommen. In den achtziger Jahren
erhielt ſie ſich mit ungefähr 200 Mitgliedern, hob ſich
darauf in zwei Sprüngen zu Anfang der neunziger
und des neuen Jahrhunderts auf 325, auf 400 Mit—
glieder und weiter auf 600. Namentlich zwei ihrer
Präſidenten, ihr Veteran Oechelhäuſer (1890 bis 1904)
und dann der ausgezeichnete Angliſt Brandl, förderten
ſie, und 1914 feierte ſie ihr fünfzigjähriges Beſtehen.
Außer ihrem Jahrbuch, das ſie in dieſer Zeit weſent—
lich verbeſſerte, konnte ſie größere Schriften, Preis—
arbeiten veröffentlichen, ihre Bibliothek — bei der
großherzoglichen — wuchs raſch, deren Verzeichnis
von wenigen Seiten (1882) auf 85 (1914), ſie ge—
wann ein lebendiges Verhältnis zur deutſchen Bühne,
und von ihrer einbändigen Volksausgabe der Schlegel—
Tieckſchen Überſetzung, ſeit 1891 für drei Mark feil,
282 Shakeſpearedenkmal; Wittumspalais
wurden binnen zehn Jahren 60000 Stück gekauft.
Ja auch Oechelhäuſers kühner Gedanke eines deut—
ſchen Denkmals für Shakeſpeare wurde 1904 im
Weimarer Park in der Geſtalt verwirklicht, die Otto
Leſſing ihm gab: unter hohem Eſchen- und Ahorn-
geäſt, keck zur Seite gebeugt im Schaffenstraum und
innern Ferneblick, richtet er das halb ernſte, halb
lächelnde Antlitz nach den Büſchen, als ob er Puck
dort ſpringen ſähe, und die Andeutung einer Theater-
ruine droben und das Gleichenſche Wappen aus dem
ſpäten 16. Jahrhundert neben ihm ergänzen unbe—
abſichtigt die ahndevolle Umgebung.
Großherzog Carl Alexander führte es ein, die in
Weimar ſich verſammelnden Mitglieder des Vorſtandes
der Goethegeſellſchaft, der Schillerſtiftung und der
Shakeſpearegeſellſchaft als ſeine Gäſte im Wittums—
palais um ſich zu verſammeln. So wurde der Wohnſitz
Anna Amalias auch in der jüngſten Vergangenheit
noch benutzt, der übrigens als Weimariſche Sehens—
würdigkeit von traulichſtem Reiz in urſprünglicher
Geſtalt nun auch der allgemeinen Beſichtigung offen
ſtand. Dankbar ſpürte der neue Beſucher das be—
ſcheidene Glück des ſpäten achtzehnten Jahrhunderts
in dem unmittelbaren Widerſchein des Weſens dieſer
Fürſtin in ihren Privatzimmerchen, wo ſie der Ma—
lerei, der Muſik oblag, und in den Erinnerungen,
die das große Eck- und Leſezimmer erfüllen mit
Bildniſſen ihrer Verwandten, mit dem von Goethes
Das großherzogliche Haus um 1885 283
Mutter geſchenkten Deckenleuchter und darunter dem
großen, runden Tiſch, an dem ſich einſt die Hof—
geſellſchaft ſamt den jungen Herder und Goethe ſo
gern unterhielt. 1909 gelang es auch, ihren geliebten
Sommerſitz, das Tiefurter Schlößchen, am Rande des
ſtillbeglückenden kleinen Ilmparkes, — nach Ausräu—
mung all der von Carl Friedrich dort untergebrachten
Sammlungen — wieder in den alten Stand zu ſetzen
der Zeit etwa von 1800, eine der erfreulichſten
Neuordnungen altweimariſchen Beſitzes.
Während all dieſer reichlichen und ſorgfältigen
Pflege, die das jüngſte Zeitalter in Weimar dem
klaſſiſchen Erbe angedeihen ließ, änderte ſich vieles
im großherzoglichen Hauſe. Im Spätſommer 1873
hatte ſich der Erbgroßherzog Carl Auguſt mit einer
entfernten Verwandten vermählt, der Prinzeſſin
Pauline von Weimar, und 1876 und 1878 waren
dem Paar zwei Prinzen geboren worden. Von
ſeinen drei Schweſtern war eine jung geſtorben; von
den beiden andern heiratete die ältere Marie 1876
den Prinzen Heinrich VII. von Reuß, den ſpäteren
Botſchafter des Reiches in Wien, und die jüngere
Eliſabeth 1886 den Herzog Johann Albrecht von
Mecklenburg, der als Kolonialpolitiker und als Regent
von Mecklenburg-Schwerin und dann von Braunſchweig
deutſche Berufe erfüllte. Statt der nach auswärts
gezogenen Töchter erfreuten die heranwachſenden
Enkel die Großeltern, und am 8. Oktober 1892 feierte
284 Erbgroßherzog Carl Auguſt
das Land prächtig und herzlich die goldene Hochzeit
ſeines Großherzogs Carl Alexander und der Groß—
herzogin Sophie, und Deutſchlands Teilnahme klang
in das ſeltene Feſt ein.
Der Erbgroßherzog, von ſtillem, nicht leicht hervor—
tretendem Weſen, ähnelte ſeinem Namensahnherrn
in manchem Zug. Schon 1872 hatte er das Protek—
torat über das landwirtſchaftliche Vereinsweſen über—
nommen und gab nun hier manche gute Anregung;
Mitte der achtziger Jahre nahm er teil an der Aus—
arbeitung eines Geſetzentwurfs, der der Zerſplitterung
des Bauernbeſitzes ſteuern und das Anerbenrecht im
Großherzogtum einführen ſollte. In Forſtwirtſchaft
und Fiſcherei galt er als kundiger Berater. Nicht
minder beſchäftigten ihn die großen Fragen der Sozial—
politik und die weimariſche Steuergeſetzgebung, auch
der Stand der Landeskirche und die Entwicklung der
evangeliſchen Miſſion. Zur bildenden Kunſt gewann
er ein genaues Verhältnis als Sammler alter Radie—
rungen, wobei er an den großherzoglichen Hausbeſitz
ergänzend eng anknüpfte. Von Kaiſer Wilhelm II.
wurde er 1892 zum General der Kavallerie befördert;
im Mai 1893 übernahm er den Ehrenvorſitz der ver—
einten Krieger- und Militärvereine des Großherzog—
tums und ſah kurz darauf unter deſſen Abgeordneten
manchen ihm aus dem franzöſiſchen Feldzug bekann—
ten Mann wieder. Da ergriff den tüchtigen Fürſten
ſchwere Krankheit, der er Ende 1894 erlag.
ot
Großherzog Wilhelm Ernſt 28:
Großherzogin Sophie überlebte dieſen Schmerz
nicht mehr lange; ſie ſtarb am 23. März 1897, als
der Großherzog zur Jahrhundertfeier des Geburts—
tages von Kaiſer Wilhelm I. in Berlin war. Er, der
nun gebeugte Greis, ſollte auch im Spätſommer 1900
auf der Wartburg den jüngeren ſeiner Enkel verlieren,
den Prinzen Bernhard, ehe ihn ſelbſt in ſeinem
dreiundachtzigſten Lebensjahre — wie Goethe — ein
ſanfter Tod in Weimar am 5. Januar 1901 hinwegrief.
An dieſem Tage übernahm Wilhelm Ernſt in
ſeinem fünfundzwanzigſten Jahre die Regierung von
Sachſen⸗Weimar⸗Eiſenach und verkündete: „Wir treten
dieſelbe hierdurch mit der Erklärung an, daß Wir ſie
treu und gewiſſenhaft im Einklang mit der Verfaſſung
des Großherzogtums führen und das Andenken unſeres
nun in Gott ruhenden Herrn Großvaters dadurch
ehren werden, daß Wir in ſeinem Sinne wirken und
die Überlieferungen unſeres Hauſes als ein teueres
Vermächtnis bewahren und pflegen werden.“ Noch
waren die Prüfungen des hohen Hauſes nicht zu
Ende. Der junge Großherzog vermählte ſich zwar
im Frühling 1903 in Bückeburg mit der verwaiſten
Prinzeſſin Caroline von Reuß ä. L., und die zarte,
kunſtfreundliche Herrſcherin zeigte ſich zu Wohltaten
entſchloſſen wie Sophie, als das Sophienſtift ſein
fünfzigjähriges Beſtehen beging, und wie Maria
Paulowna, als der Hundertjahrtag von deren Ankunft
in Weimar gefeiert wurde. Doch im Mai 1904 ſtarb
286 Sachſen-weimariſches Staatsminiſterium um 1900
jeine Mutter, und im Januar 1905 folgte ihr die
neue Großherzogin in die Gruft. Fünf Jahre ſpäter
ging Wilhelm Ernſt einen zweiten Bund mit der
meiningiſchen Prinzeſſin Feodora ein. Ihm entſproſſen
in den beiden folgenden Jahren die Prinzeſſin Sophie
und ein Sohn; bei deſſen Taufe auf die Rufnamen
Carl Auguſt wünſchte der anweſende Pate Kaiſer
Wilhelm II.: „Möge der junge Herr, der in dem
Lande geboren iſt, aus dem die Wartburg grüßt,
vorbildlich ſein in ritterlicher Tugend, wie feine Vor—
fahren und Ahnen, und ſein Schwert bereit halten
für des Reiches Herrlichkeit. Möge er eine Säule
unſerer evangeliſchen Kirche ſein, und möge er, von
dem Geiſte der großen Dichterzeit Weimars umfloſſen,
auch einſt ein Stützer und Förderer der deutſchen
Wiſſenſchaft und Dichtung ſein.“
Wieder waren es die oberſten Staatsbeamten, die
in ſolchem Wechſel inmitten des Zeitalters für den
Zuſammenhang der Entwicklung Gewähr leiſteten.
Der alte Freiherr von Groß, der 1890 an Stichlings
Stelle Miniſter wurde, ſchied noch vor Carl Alexanders
Tode aus dem Dienſt, aber ſein vortragender Rat
in Präſidialſachen und nachmaliger Chef des Finanz—
departements Rothe leitete das Miniſterium in der
Folgezeit weiter, wobei er die Geſchäfte des groß—
herzoglichen Hauſes, des Kultus und der Juſtiz ver—
waltete und ihm als neuer Chef des Finanzdeparte—
ments Hunnius andauernd zur Seite ſtand. Das
Reich und Großherzogtum 287
Departement für Inneres und Außeres war in wech—
ſelnder Hand; Staatsminiſter Rothe aber übernahm
von ſeinem Vorgänger auch die Vertretung Weimars
beim Bundesrat, und er widmete ſich zugleich der
Mitarbeit im Vorſtand der Stiftungen und gelehrten
Geſellſchaften, die mit dem Namen des großherzog—
lichen Hauſes und der großen Weimarer Dichter ver—
bunden ſind. 5
So wuchs das Großherzogtum in die neuen deut—
ſchen Verhältniſſe herein, teils in einem ſich allmäh—
lich befeſtigenden Zuſammenhang mit den thüringiſchen
Nachbarſtaaten, auch mit Preußen und dem ganzen
Reiche, teils auf Grund heimiſcher Entwicklung. Das
Reich griff mit dem bürgerlichen Geſetzbuch und der
großen Verſicherungsgeſetzgebung ein, deren Ausbau
das ganze Zeitalter in Anſpruch nahm. Dem Schöp—
fer des Reiches dankte das neue Weimarer Geſchlecht
durch Errichtung eines Bismarckturmes an hoher freier
Ecke des Ettersberges: am Sedantage 1900 wurde
der Grundſtein dazu gelegt, Carl Alexander hatte den
Platz mitten in ſeinem Jagdgebiete zur Verfügung ge—
ſtellt, und das Miniſterium den nahen Kalkſteinbruch,
und Ende Oktober 1901 wurde der Bau geweiht.“)
Mit Preußen verband ſich das Großherzogtum
vor allem dadurch enger, daß 1886 die Bahnen
*) Dieſem Beiſpiel folgten Eiſenach und Jena: Die
Eiſenacher Bismarckſäule wurde im Herbſt 1902 auf dem
Wartenberge geweiht, die Jenaer im Frühjahr 1909 auf dem
Tatzend; beide hatte der Dresdner Architekt Kreis entworfen.
288 Thüringen und die neue Reichsgeſetzgebung
der thüringiſchen Eiſenbahngeſellſchaft an den preu—
ßiſchen Staat übergingen, auch mit der Verwandlung
der thüringiſch-anhaltiſchen Staatslotterie (ſeit 1897)
in eine heſſiſch-thüringiſche (ſeit 1902) und deren An—
ſchluß an Preußen (ſeit 1906). Auf Grund eines
Staatsvertrags, den Weimar 1910 mit Altenburg und
den beiden Schwarzburg abſchloß und dem dann auch
Coburg-Gotha beitrat, begann mit dem Oktober 1912
das neue Thüringer Oberverwaltungsgericht in Jena
ſeine Tätigkeit. Der alte thüringiſche Zoll⸗ und Han—
delsverein wurde 1889 zum Thüringiſchen Zoll- und
Steuerverein umgeſchaffen, und unter den zwölf Bezirks—
zollämtern ſeines Gebietes wurden drei weimariſche
gebildet; ſein Präſident in Erfurt ward zur oberſten
Inſtanz ernannt für die jüngſte Reichsſteuergeſetz—
gebung, die Erbſchaftsſteuer von 1906, die Stempel—
abgabe von 1908 und die Zuwachsſteuer von 1911.
Binnen einem Jahrzehnt wurde im Gehäuſe des
weimariſchen Staates, teilweiſe im Verband mit
thüringiſchen Nachbarn, ein neues Kammerweſen zum
Teil im Anſchluß an die Reichsgeſetzgebung einge—
führt: durch die Geſetze von 1900 und 1906 die
Handwerkskammer; durch die von 1901 und 1907 die
Sachverſtändigenkammern für Werke der Literatur, der
Tonkunſt, der bildenden Künſte und der Photographie
und durch Geſetz von 1906 die Handelskammer; auch
die alte landwirtſchaftliche Zentralſtelle wurde 1909
in eine Landwirtſchaftskammer umgewandelt.
Landwirtſchaft um 1900 289
Unter allen thüringiſchen Staaten iſt im Groß—
herzogtum Sachſen-Weimar-Eiſenach der Anteil der
landwirtſchaftlichen Bevölkerung verhältnismäßig groß.
Während im Fürſtentum Reuß ä. L. 13 v. H. Landleute
und Landwirte gegen 76 v. H. ſtehen mit einer Tätig—
keit in Induſtrie, Handel und Gewerbe, im Herzogtum
Sachſen-Meiningen 24 v. H. gegen 65 v. H., iſt
das Verhältnis im Weimariſchen wie 30 v. H. zu
55 v. H. Dieſe ländliche Urbeſchäftigung zu fördern,
richtete der weimariſche Staat neuerdings landwirt—
ſchaftliche Winterſchulen ein, 1900 in Markſuhl und
1907 in Triptis. Das nähere über die theoretiſche
Ausbildung inländiſcher Bewerber um Forſtdienſt—
ſtellen wurde 1910 feſtgeſetzt, auch kam es zu einer
Neuorganiſation der oberen Forſtbehörde, wie denn
Großherzog Wilhelm Ernſt für dieſen Zweig der
Landesnutzung warme Teilnahme zeigte. War doch
auch in den zwanzig Jahren von 1883 bis 1903 der
Forſtgrund zwar nur von 43 Tauſend auf 46 Tau—
ſend Hektar gewachſen, der Reinertrag daraus aber
von 932 Tauſend Mark faſt auf das doppelte. Der
liberalen, zerſtückelnden Bodenpolitik früherer Zeit—
alter, gegen die ſchon Erbgroßherzog Carl Auguſt
anzukämpfen geſucht hatte, wurde 1912 ein Gegen—
gewicht geſchaffen in dem Zuſammenlegungsgeſetz für
Fluren und Flurteile: es ermöglichte, alten Streu—
beſitz durch Austauſch unter den Dorfgenoſſen in zu—
ſammenhängendes Beſitztum zu verwandeln, wobei
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 19
290 Bergbau und Induſtrie um 1900
zugleich auf beſſere Anpaſſung der Flureinteilung an
die Bodennatur geſehen wurde. Am ſtärkſten waren
die Veränderungen im Bergweſen: an verſchiedenen
Stellen des Landes fand man Kaliſalzlager und be—
gann ſie mit Vorteil zu erſchließen, daher wurden
1905 ein neues Berggeſetz und 1906 neue Ordnungen
für die Bergpolizei und die Markſcheider erlaſſen;
infolge dieſer Kaliunternehmungen war die Einnahme
aus dem Bergregal z. B. zwiſchen 1899 und 1904
von 25 auf 144 Tauſend Mark geſtiegen.
Die thüringiſche Induſtrie bewahrte ſich bis zur
Gegenwart einen doppelten Reiz, der auch der wei—
mariſchen Induſtrie eigen blieb: ihre große Mannig—
faltigkeit auf engem Raum und das Vertrauensver—
hältnis in der Werkgemeinſchaft. Wo fände ſich in
Deutſchland noch das patriarchaliſche Weſen öfter als
hier, daß der Arbeiter mit ſeiner Kraft ein volles
Menſchenalter hindurch demſelben Unternehmen dient?
Und dabei erſtreckte ſich ihre Ein- und Ausfuhr über
das Reich, ja über deſſen Grenzen hinaus: der neu—
ſtädtiſche Kreis ſpann Jute aus Indien, und Apoldas
Woll- und Wirkwaren wanderten auf den Weltmarkt.
An der Bürgeler Töpferei ſah man deutlich, wie das
Eindringen des neuen Unternehmertums das alte
Handwerk umgeſtaltete. Dort hatte es 1861 noch
43 Töpfermeiſter gegeben, dann hatten Gewerbefrei—
heit und Induſtrialiſierung zu einer kritiſchen Zeit
in den ſiebziger Jahren geführt, woraus ſich allmäh—
Neue Schulung von Gewerbe und Handel 291
lich der neue Dauerzuſtand ergab, wie ihn noch das
Jahr 1914 aufwies, wo ſich neben vier Fabrikbetrie—
ben doch neun Handwerksbetriebe, auf höherer Stufe
als einſt, erhielten. Auch mit der elektriſchen Dreh—
ſcheibe ließ ſich echte Thüringer Volkskunſt ausüben,
gleichviel ob um 1880 eine Welle des damals moder—
nen Kunſtgewerbes ſie überflutete oder um 1910 der
Einfluß van de Veldes. Ein ausgezeichnetes Bei⸗
ſpiel techniſcher Verfeinerung tat ſich in Ilmenau
auf: unter mitwirkender Aufſicht der phyſikaliſch-tech—
niſchen Reichsanſtalt wurde hier eine großherzogliche
Prüfungsanſtalt für Glasinſtrumente errichtet, um
Thermometer, chemiſche Meßgeräte uſw. zu prüfen
und zu beſcheinigen; dazu kamen im nächſten Jahr—
zehnt drei verwandte Eichämter und 1894 als ſtaat—
liche Lehrwerkſtatt eine Fachſchule für Glasinſtrumen—
tenmacher und Feinmechaniker. Das kleine alte Weſen
der zwei Gewerkenſchulen wandelte ſich und wuchs
zwiſchen 1886 und 1896 zu den neuen ſechs Gewerbe—
ſchulen. Ihnen geſellten ſich ſechs Handelsſchulen;
denn ein Geſetz von 1912 ordnete für jede Gemeinde
von mehr als 10000 Einwohnern eine kaufmänniſche
Fortbildungsſchule an. Beſondere ſoziale Fürſorge
errichtete 1901 die Weimarer Blindenwerkſtatt und
ſtellte der Gewerbeinſpektion neue Aufgaben durch
das Kinderarbeitsgeſetz von 1903 und das Haus—
arbeitsgeſetz von 1911. In denſelben Jahrzehnten
verwandelten ſich auch im Weimariſchen alte Real—
19 *
292 Weniger und Burkhardt
ſchulen erſter Ordnung in Realgymnaſien, während
die zweiter Ordnung die Militärberechtigung zum
Einjährigenzeugnis erhielten.
Der berühmteſte derzeitige Rektor des Großherzog—
tums war Weniger; er leitete das Gymnaſium der
Reſidenz von 1881 bis 1908 und nochmals ſeit Be—
ginn des großen Krieges, als ſein Nachfolger ins
Feld zog. In den Jahren 1884 bis 1913 veröffent-
lichte er größere und kleinere Forſchungen über den
altgriechiſchen Götterdienſt in Olympia, beſonders zur
Verehrung des Zeus und der Artemis, und das
mythologiſche Hauptwerk des Zeitalters, Roſchers
Lexikon, verdankt ihm manchen Beitrag; auch zur
Gymnaſialpädagogik und zur thüringiſchen Geſchichte
lieferte er Bauſteine. Unter den deutſchen Archivaren
ragte Burkhardt hervor, der von 1862 bis 1907 an
der Spitze des weimariſchen Geheimen Staatsarchivs
ſowie des erneſtiniſchen Geſamtarchivs ſtand. Als
hier ein praktiſches Archivgebäude nach ſeinen Vor—
ſchlägen errichtet und 1885 eröffnet wurde, erſchienen
als ſeine Feſtgabe quellenmäßig bearbeitete Stamm—
tafeln der Erneſtiniſchen Linien des Hauſes Sachſen;
ſeine vielen Aufſätze in den Grenzboten und der All—
gemeinen deutſchen Biographie, zu Goethes Weimarer
Tätigkeit, zur Reformationsgeſchichte, zur Geſchichte
Weimars, ſein Handbuch der deutſchen Archive — in
großdeutſchem Rahmen und 1887 in ſtark vermehrter
Auflage —, ſein Anteil an der Veröffentlichung von
Neueſte weimariſche Kulturgeſchichtſchreibung 293
Goethes Tagebüchern (Sophienausgabe) ſichern ihm
ein wiſſenſchaftliches Gedenken. Auf eine noch längere
Weimarer Tätigkeit, die gelegentlich nach Deutſchland
hinausgriff, blickte ſchließlich der 1915 im zweiund—
achtzigſten Jahre geſtorbene Herr von Bojanowski
zurück: 1863 hatte ihn Watzdorf zur Leitung der
Weimariſchen Zeitung berufen, und 1893 übertrug
man ihm die der großherzoglichen Bibliothek, aus
deren Direktionszimmer er die Gedächtnisſchriften zur
jüngſten Geſchichte ſeines Fürſtenhauſes ausſandte.
Die neuere weimariſche Kulturgeſchichte fand in einer
Angehörigen des Steinſchen Geſchlechts eine kundige
Berichterſtatterin, in Adelheid von Schorn, der Toch—
ter Ludwig Schorns, die namentlich aus dem Liſzt—
kreiſe viele anziehende Briefe mitzuteilen hatte. Und
wer dieſen neuen weimariſch-deutſchen Kreis noch
weiter ziehen wollte, könnte an Richard Voß erinnern,
den Carl Alexander zum Bibliothekar der Wartburg
ernannte, und auch an Schillers Urenkel, den ge—
ſchmeidigen Eſſayiſten der neueren europäiſchen Kultur—
geſchichte, Alexander von Gleichen-Rußwurm.
Mehr als ſie alle ſchrieb und erzählte Helene
Böhlau mit weimariſchem Herzblut. Nicht Geſchichte,
aber Geſchichten, vor allem ihre eigene, und das mit
ſo friſcher Luſt und hohem Gegenwartstemperament,
daß es im ganzen echte Dokumente des Zeitalters
wurden. Als neu und jung und thüringiſch quellend
wurden ihre erſten Novellenverſuche gegen 1885
294 Helene Böhlau
empfunden; dann trieb das Schickſal fie aus dem
Elternhaus und der Heimat an der Hand eines in
Seelennot gewonnenen Mannes, und nun umſpann
ſie in der Ferne all ihr Glück von Weimarer Erinne—
rungen aus der Großmutterzeit und ſchrieb die Rats—
mädelgeſchichten und die Altweimarer Geſchichten in
verſchiedenen Folgen, verſuchte ſich auch in größeren
ſozialproblematiſchen Romanen, und ſie ſtellte ihr
eigenes Geſchick dar wie in einem Vermächtnis an
die Vaterſtadt in dem Roman „Reines Herzens
ſchuldig“ (1888) und ſpäter nochmals kräftiger, tiefer,
unmittelbarer in dem Roman „Iſebies“ (1911). Das
könnte man verſucht ſein goethiſch an ihr zu nennen,
daß ihr Talent ihr durch einen ſchweren Kampf
hindurch geholfen hat, obwohl bei ihr mehr eine
künſtleriſche Rechtfertigung nach der Tat erfolgt. Die
altweimariſche Stimmung am Ettersberg und in den
älteſten Gaſſen der Stadt hat ſie manchem zu Danke
poetiſiert.
Deutſche Sinner und Dichter fühlten ſich unwider—
ſtehlich nach Weimar gezogen. Da war zu Beginn
des Zeitalters Hans Herrig: er ſchwärmte von der
Neubelebung des religiöſen Elements in volksmäßiger
Tönung mit Schopenhauerſchem Einſchlag, kämpfte
für eine deutſche Volksbühne, und ſein Lutherfeſtſpiel
erlebte 21 Auflagen, aber von Weimar aus, wohin
er 1888 überſiedelte — ſeine Frau war eine Tochter
des weimariſchen Kapellmeiſters Stör — war ihm
Nietzſche und Wildenbruch 295
nur noch geringe Wirkung beſchieden; er ſtarb 1892.
Zu den Lieblingsgedanken des jungen Nietzſche hatte
es gehört, ſeine Tage wenn nicht am Rhein, ſo in
Weimar zu beſchließen; das erfüllte die treue Schwe—
ſter, als der Geiſt des ikariſchen Fliegers gebrochen
war, und bereitete ihm 1897 mit Hülfe van de
Veldes ſein Krankenheim am Silberblick über der
Stadt und geſtaltete es nach ſeinem Tode zum
Nietzſche-Archiv aus. Die Kunſt von Klinger und
Olde verewigte hier den Kopf des Mannes, der den
von Goethe einſt für ſich abgelehnten Begriff des
Übermenſchen zur Züchtung moderner Herrennaturen
verwenden wollte und dem ſeine Kriegseindrücke von
1870 das Ideal vom Willen zur Macht als allherrſchend
eingeflößt hatten. Die Verehrung für den ſo fein—
fühligen wie verwegenen Denker, in dem viele um
ſeines glückhaltigen Höhenwahns, um ſeiner kühnen
Worte willen einen Haupteroberer neudeutſcher Gei—
ſteshaltung ſahen, wurde von Weimar aus von der
Schweſter unabläſſig gepflegt. Auch Wildenbruch wurde
an ſeinem Lebensabend ein ſtändiger Sommerbewoh—
ner Weimars, das er um ſeiner klaſſiſchen Vergangen—
heit und anmutigen Gegenwart willen ſchwärmeriſch
liebte. Mit loderndem Herzen arbeitete er hier wie
in Berlin an ſeinen letzten Dichtungen, nahm er hier
an den Verhandlungen der Goethe-, der Shakeſpeare—
geſellſchaft teil, ſah er 1905 die Weimarer Urauffüh—
rung ſeiner „Lieder des Euripides“ und dichtete dar—
296 Lienhard und die Heimatkunſt
auf „Das Hohelied von Weimar.“ Droben am Horn
neben ſeinem ſchönen von Schultze-Naumburg erbau—
ten Hauſe bewegt der Abendwind die Rüſterzweige,
daß die gegenüber golden untergehende Sonne ſein
marmornes Sterbemal mit ſpielendem Lichte belebt.
Was dieſe Männer nach Weimar führte und was
ſo manchen andern im Geiſte dort landen läßt, hat
Lienhard in ſeinen „Wegen nach Weimar“ angedeu—
tet, einer Monatsſchrift dreier Jahre (1905 bis 1908),
die ſich in Halbjahrskreiſen von heute und außen her
über Heinrich von Stein und Emerſon, Shakeſpeare und
Homer, über das Zeitalter Friedrichs des Großen,
Herder und Jean Paul allmählich Schiller und Goethe
näherte und dabei das Schaffen der Gegenwart be—
leuchtete und zu befruchten ſuchte. „Wie einſt Peri—
kles ſein Athen als die Hochſchule von Hellas empfand,
ſo nenne ich in menſchlich weitem und geiſtig unbe—
fangenem Sinne Weimar die Hochſchule des neuen
deutſchen und neueuropäiſchen Kulturideals“, erklärte
der Herausgeber. Mehr wollend als könnend ſuchte
er auch als Lyriker und Dramatiker dieſes Ideal neu
zu verwirklichen und, wie er vorübergehend in Wei—
mar weilte, ſo ſchrieb er eine Wartburgtrilogie, deren
erſter Teil Gedanken von Scheffels Wartburgroman
verwandte. Beſcheidner, aber bodennäher arbeitete
in dieſen Jahren Arminius aus genauerer Landes—
kenntnis an Weimariſcher Heimatkunſt in Novelle,
Roman und Drama. In dem Blick aufs Nahe,
Schlaf, Hegeler, Ernſt; Hardt 297
Kleine lag auch die Stärke von Schlaf, einem der
Begründer des neuen Naturalismus, der 1904 nach
Weimar überſiedelte und ſich hier auf dem Entwick—
lungswege eines deutſchen, religiöſen Romanhelden—
typs weiter taſtete, wobei er ſich in aſtronomiſche
Fragen verfitzte, künſtleriſch völlig anſpruchslos, wäh—
rend Hegeler in vielen Novellen zum Teil weimariſch
heimatlichen Stoffes, aber berliniſcher Mache ſeine
Technik befeſtigte. Von dieſer Gruppe hob ſich im
letzten Jahrzehnt Paul Ernſt ab; proteusartig ſchlug
er ſich durch viele flach erfaßte Gedanken und ſicher
gebaute Sätzlein vorwärts, durch wirklichkeitsferne
Stildramen und flink-platte Novelletten, moderniſierte
das Stellamotiv in einem Roman und bot der
Bühne wieder einmal einen Demetrius und ein
Canoſſa, eine Brunhild und eine Ninon de Lenclos
an.
Ernſt Hardt kam als ein Dichter (1907) nach
Weimar. Schnell hatte ihn ſein erſtes Drama, das
mittelalterlicher Epik und Plaſtik entſtammte, Tantris
der Narr, auf den Gipfel der Anerkennung mit
Schillerpreis und Schillervolkspreis gehoben. Im
Winter 1910 vollendete er hier ſeine Gudrun und
gab den im alten Gedicht heiter geſehenen Geſtalten
ſo herben Stolz und harte Gebärden, daß es ein
nibelungentrotziges Trauerſpiel wurde. Dann gelang
es ihm (Sommer 1912), für die Geſchichte von der
Rückkehr des Grafen von Gleichen, die ſo oft mit
298 Liſztſtiftung und Liſztdenkmal
tragiſcher Miene angefaßt worden war, ein erheitern—
des Licht aufzuſtecken und die beiden Frauen dieſes
orientaliſierten Herren in dem Scherzſpiel Schirin und
Gertraude in beluſtigender Einigkeit vorzuführen und
ſo das Problem mit deutſchem Lachen ad absurdum
zu führen. Der Orient lockte ihn weiter.
Manches dieſer neuweimariſchen Werke wurde hier
auch zuerſt aufgeführt; das weimariſche Theater wurde
über zwei Jahrzehnte von dem genialen Spiele erſt
des jungen Wiecke, dann des älteren Weiſer belebt.
Doch pflegten die neuen Intendanten mit Vorliebe
die Oper und ſetzten die liſztſche Überlieferung des
vorigen Zeitalters fort. Es war zuerſt, nachdem ſich
Wildenbruch der Werbung Carl Alexanders verſagt
hatte, Bülows ehemaliger Mitſchüler bei Liſzt aus den
Tagen der Altenburg, Hans Bronſart von Schellen—
dorf (1887-1895); ihm fiel auch eine leitende Stel—
lung zu, als es galt, für Liſzt ein Denkmal in Wei—
mar zu ſchaffen. Zu Liſzts Gedächtnis richtete ſchon
1892 die Fürſtin Hohenlohe, einſt als Prinzeſſin
Marie auf der Altenburg gefeiert, die Liſztſtiftung
ein — wodurch Liſzts Räume in der Hofgärtnerei
nebſt dazu gehörigen Geſchenk- und Bücherſammlun—
gen erhalten blieben —, und Liſztſtiftung und Allge—
meiner deutſcher Muſikverein erließen 1894 einen
Denkmalsaufruf für den Meiſter. Als 1899 die Mo—
delle dazu eingingen, konnte der erſte Preis dem
Münchner Bildhauer Hahn zugeſprochen werden; es
Der junge Richard Strauß 299
gelang ihm, den inſpirierten, milden Ausdruck des
Kopfes noch zu ſteigern, ſo daß man ihn mit der
nervöſen Rechten in Verbindung fühlte, und Ende
Mai 1902 wurde das weiße Marmorſtandbild im
Park nahe der Hofgärtnerei aufgeſtellt.
Unter Bronſart erlebte der begabteſte Erneuerer
der Liſzt⸗Wagnerſchen Kunſt in Weimar entſcheidende
Jahre, der junge Richard Strauß. Seit Oktober 1889
hier als Kapellmeiſter neben Laſſen tätig, hatte er
zunächſt Gelegenheit, ſeinen Don Juan, ſeinen Mac—
beth dirigierend zu hören, ſinfoniſche Dichtungen in
Liſzts Fahrwaſſer, aber von neuem perſönlichen Tem—
perament erfüllt; „Tod und Verklärung“, das ſchon
im Programm an „Leid und Verklärung“ von Liſzts
Prometheus anknüpfte, aber wiederum einen Grad
naturaliſtiſcher zufaße, brachte er 1890 auf dem Ton—
künſtlerfeſt in Eiſenach heraus, das innigſte und eigenſte
dieſer Werke, in München begonnen und in Weimar
fertig geſchrieben. In der Oper widmete er ſich
vervollſtändigten Wagneraufführungen nach Bayreuther
Muſter; vergebens ſuchte er ſeines Mentors Alexander
Ritter „Faulen Hans“ im Spielplan einzubürgern,
aber mit der Uraufführung einer anderen deutſchen
Märchenoper hatte er großen Erfolg, mit Humper—
dincks Hänſel und Gretel zu Weihnachten 1893.
Damals war auch die Partitur ſeiner erſten eigenen
Oper fertig geworden, Guntram, in Weimar angelegt
und größtenteils auf Erholungsurlaub im Süden
300 Guntram
ausgearbeitet. So naiv er im Text ausſchüttete, wie
es ihm ums Herz war, und dabei bald Uhland, bald
Schiller, bald die „ſoziale Frage“ verwendete,
ſo entſchieden behauptete er ſich in der Muſik
mit Triſtan- und Parſifalklängen und nach eigenem
Bekenntnis „als guter Wagnerianer“ und fühlte im
Grunde doch noch mehr mendelsſohniſch. Triolenauf—
ſchwünge, gepeitſchte Geigenläufe, Holzbläſerdickicht,
neue harte und ſüße Klänge, ein verſchärfter Sub—
jektivismus der Orcheſterſprache waren ſein Eigentum
wie unter den Figuren der Narr, mit dem zu Be—
ginn des zweiten Aktes die Ironie von Strauß breit
präludierend einſetzte; ſchrieb er doch ſchon in Weimar
auch den Textanfang zu einer Oper Eulenſpiegel
nieder. Der Tenoriſt Zeller ſang den Guntram, die
Sopraniſtin de Ahna ſein Widerſpiel Freihild; beide
hatte Strauß aus München mitgebracht, beiden wid—
mete er 1894 zwei Hefte mit Liedern. Op. 26 vor
der Entſcheidung ſeines Liebesglücks auf zwei Texte
Lenaus: ein geheim ſeliges, ſchüſſiges Singlied und
und ein ſchier verzagtes Sprechlied; op. 27 vier Lieder,
die den Beginn der Liedkunſt des jüngſten Zeitalters
neben Hugo Wolfs Geſängen und dem großen Fluß
der Brahmsſchen Lyrik bezeichnen, auf Texte von
Henckell, Hart und Mackay: ihre chromatiſchen Akkord—
veränderungen, gelöſt von altharmoniſchem Geſetz,
vermitteln unausgeſprochene Empfindungswechſel, we—
niger in den mouſſierenden, raſchen Stücken als in
Gunlöd 301
den ſchweren wie dem Eingangslied „Ruhe, meine
Seele“ mit den optiſch-akuſtiſchen Effekten der Sonnen—
blicke im Waldlaub, den motoriſch-akuſtiſchen Erinne—
rungen an den Lebensſturm und dem pathetiſchen
Staunen über die gewaltige Gegenwart. Kurz darauf
zogen Strauß und ſeine Sängerin zur Hochzeit nach
München davon.
Der Ortszuſammenhang mit Liſzt bewirkte wohl
auch, daß einer der früheſten ſeiner jungen Weimarer
Freunde hier neue Pflege fand, Cornelius. Er hatte
in ſeinen letzten Jahren an einer Oper Gunlöd ge—
arbeitet, den Text und auch die beiden erſten Akte
der Muſik niedergeſchrieben, vom Schlußakt nur
wenige Bruchſtücke. Eine ſymboliſche Dichtung: Gun—
löd, von dem wilden Suttung geraubt, bewahrt für
Odin, der kommen wird, einen heiligen Trank, über—
gibt dieſen auch Odin, der als Knecht in Suttungs
Haus getreten iſt, wird darum von Suttung in den
Gebirgsſchlund der Hel geführt, aber von den Alfen
nach Walhall enthoben, wo ſie nun Odin ewig den
Trank reicht. Auch hier Triſtanklänge als Huldigung
für Wagner eingewoben, aber auch unfreiwillig man—
ches wagneriſche in ſzeniſcher und ſprachlicher Erfin—
dung; ſonſt mehr lyriſches, als dramatiſches Weſen,
ja mehr Liebe zur Kunſt, als unmittelbare Schaffens—
kraft. Einer erſten Ergänzung des ſchön empfundenen
Werkes — durch den jungen Hoffbauer in München
— nahm ſich Laſſen an und führte ſie überarbeitet
302 Cornelius und Baußnern
1891 in Weimar auf, von wo die Oper in den
nächſten Jahren ihren Weg nach Straßburg und
Mannheim fand. Nach einem Jahrzehnt brachte ihr
das Corneliusfeſt 1903 in Weimar neues Leben: als
hier der originale Barbier von Bagdad, von Mottls
glänzender Retuſche befreit, und auch der Cid wieder
bejubelt wurden, beſchloß man, ihr eine gediegenere
Behandlung angedeihen zu laſſen und übergab ſie
Waldemar von Baußnern in Köln, der ſie neu unter—
baute und zu Ende führte, ſo daß ſie ſo von nieder—
rheiniſchen Aufführungen 1910 auf die Weimarer
Bühne zurückkehren konnte. Baußnern ſelbſt ſiedelte
hierher als Direktor der großherzoglichen Muſikſchule
über), und wie Cornelius ſein Werk „Hohes Lied
der Seele“ deutend genannt hatte, ſo ſchrieb er hier
und in der Schweiz „Das hohe Lied vom Leben und
Sterben“ als ein großes weltliches Oratorium zu
Worten von Goethe bis Nietzſche, naturandächtige
Stimmen des Jahrhunderts mit muſikaliſchem Pathos
vermählend, wobei beſonders die neueren Dichter wie
C. F. Meyer, Polenz und M. von Stern einen ſtarken
Ausdruck fanden.
Bronſarts Nachfolger Herr von Vignau erhielt
eine beſondere Aufgabe, als Großherzog Wilhelm
Ernſt bald nach ſeinem Regierungsantritt den Neubau
des Hoftheaters in Angriff nahm. Die Münchner
*) Als Muſik- und Theaterſchule 1872 von Müllerhartung
gegründet und von ihm dreißig Jahre geleitet.
Theater- und Schloßbau 303
Firma Heilmann und Littmann arbeitete 1905 ein
Bauprogramm aus, wonach das Gebäude wenige
Meter weiter ſüdlich als der alte Bau von 1825 zu
ſtehen kommen ſollte, ſo daß Bühne nebſt Magazin—
räumen 1906 errichtet werden konnten, während un—
mittelbar daneben das alte Haus noch in Benutzung
war; 1907 wurde der Zuſchauerraum und der ſonſtige
Vorderteil des Gebäudes angefügt, und im Januar
1908 fand die Einweihung ſtatt. In dem ſchwierigen
Untergrund auf faſt 2000 Pfähle geſtützt erhob ſich
die neue Laſt von Stein und Eiſen, im Außeren
Weimars älterer ruhiger und vornehmer Bauweiſe
angeglichen, im Innern mit allen techniſchen Möglich—
keiten der Gegenwart ausgerüſtet, ja auch mit einem
dreifach veränderlichen Proſzenium — mit Vorder—
bühne für das Schauſpiel, oder mit offnem oder
verdecktem Orcheſter — und ohne alle Proſzeniums—
logen, der Zuſchauerraum in dem Farbendreiklang
von Weiß, Gold und Grünblau. Von den zwei
Millionen Koſten trug der Großherzog mehr als drei
Fünftel, in den Reſt teilten ſich Land und Stadt.
Kurz nach Vollendung des ſchönen Werkes übergab
Herr von Vignau ſein Amt dem Freiherrn von
Schirach. Die in erſter Linie am Theaterbau ſchaffenden
Kräfte wurden auch zu dem Ergänzungsbau einer
ſüdlichen Stirnſeite des großherzoglichen Schloſſes
herangezogen, deren Außeres in den Jahren 1913 bis
1915 vollendet wurde.
304 Bau⸗ und Kunſtdenkmäler
Die Bau- und Kunſtdenkmäler der Vergangenheit
des Großherzogtums Sachſen und der andern thürin—
giſchen Staaten außer Schwarzburg-Sondershauſen
wurden in einem großen geſchichtlichen Inventariſa—
tionswerke gemeinſchaftlich nach Amtsgerichtsbezirken
aufgenommen. 1884 begann eine Kommiſſion die
Arbeit, in der Lehfeldt als Konſervator und Be—
reiſender vor allen tätig war. Bis zur Jahrhundert—
wende, wo ihn der Tod abrief, brachte er 27 ſtatt—
liche Hefte mit einer großen Fülle orts- und kunſt⸗
geſchichtlich verarbeiteten Stoffes zum Druck: darin
waren Sachſen-Altenburg, Schwarzburg-Rudolſtadt
und die beiden Reuß vollſtändig behandelt, vom Groß—
herzogtum allein ein Dutzend Hefte (der Oſten und
die Mitte) und Teile von Meiningen und Coburg—
Gotha vorgelegt. Bis 1915 wurden unter dem neuen
Konſervator Georg Voß weitere dreizehn Hefte in
immer vollkommenerer Ausführung namentlich der
Abbildungen fertig — ſeit 1906 in erweiterter Anlage
unter Mitarbeiterſchaft von Ortshiſtorikern, aber unter
Zugrundelegung des großen Lehfeldtſchen Nachlaſſes
— und ſomit dieſes Ehrenwerk thüringiſcher Geſchichte
und Kunſt binnen dreißig Jahren nahezu vollendet.
Das großherzogliche Muſeum wurde den größten
Teil dieſer Zeit über von Ruland geleitet; Koetſchau,
der ihm folgte, griff auch hier ein, indem er minde—
res beiſeite ſtellte und den Geſamteindruck veredelte.
Das Muſeum übernahm aus der Bibliothek 1883
Großherzogliches Muſeum und Ehrengalerie 305
Cranachs erneſtiniſche Fürſtenbilder und 1912 alt—
thüringiſche Schnitzaltäre; auch der Ankauf einiger
Cranache gelang. Aus Goethes Zeit wurde z. B.
eine Zeichnung des jungen Cornelius erworben, die
er 1804 zum Wettbewerb der Weimariſchen Kunſt—
freunde eingeſchickt hatte, und als Geſchenk der Fro—
riepſchen Erben 1909 eine große Sammlung von
Büſten und Figuren Klauers, des Weimarer Bild—
hauers vom Ende des 18. Jahrhunderts. Der Beſitz
an Prellers und Genellis Kunſt wuchs durch Ankauf
und durch Überweiſungen aus dem Liſztſchen Erbe.
Und wie ſo die altheimiſchen Werte vermehrt wurden,
ſtellte ſich auch, zum achtzigſten Geburtstag Carl
Alexanders, ein großes Geſchenk neuweimariſcher
Künſtler ein: 140 Werke, darunter 100 Gemälde,
wurden von ihnen als „Ehrengalerie“ überreicht und
zur Hälfte in zwei Sälen des Muſeums gezeigt, Ar—
beiten von Lehrern und Schülern der Kunſtſchule und
anderen Neuweimarern aus den ſechziger bis neun—
ziger Jahren, meiſt vom Ende des Jahrhunderts und
vorwiegend Landſchaften, wobei Hagen und ſeine
Schule an Zahl voranſtanden, aber auch Guſſow und
die Seinen tüchtiges lieferten ſowie die jüngſten
Meiſter und Geſellen und die einen altes brachten,
die andern das neueſte, darunter Böcklin, Lenbach,
Liebermann. Endlich erfuhr das Muſeum wertvollſten
Zuwachs durch Überweiſungen aus großherzoglichem
Beſitz wie das Sanſovinobildnis Tintorettos und ein
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 20
306 Muſeum am Karlsplatz
Selbſtbildnis Rembrandts, Landſchaften von Hackert
und Friedrich, drei feine Zimmerbildchen von Kerſting
und Menzels große Begegnung Joſefs II. mit Fried—
rich dem Großen. Der notwendige Raum für das
alles ließ ſich beſchaffen, indem ein Tochtermuſeum
am Karlsplatz abgezweigt wurde: dort hatte ſich ſchon
1880 ein Verein zur Förderung der bildenden Kunſt
und des Kunſtgewerbes aufgetan, ſtändige Ausſtellun—
gen eingerichtet, 1903 ſeinen Beſitz dem Staatsfiskus
überantwortet, und 1909 ſiedelte Koetſchau dorthin
auch die reiche graphiſche und Bücherſammlung des
Muſeums über und ſtellte eine ſchöne Porzellan—
ſammlung auf, meiſt aus den großherzoglichen Schlöſ—
ſern.
Zu den Weimarer Malern des Zeitalters gehörten
drei für ſich ſtehende Alte: Hummel, Behmer und
Gleichen. Hummel erlebte die diamantene Hochzeit und
ſtarb im fünfundachtzigſten Jahre 1906. Bis in das
neue Jahrhundert herein malte er fleißig jene Art Land—
ſchaften weiter, wie er ſie einſt in manches Fürſten—
ſchloß geliefert hatte, und um 1883 war ſein Auge
und ſeine Hand noch friſch genug, etwas von dem
damals einziehenden Naturalismus mit zu empfinden
und zu verarbeiten; Südtirol mit Cadore, Corſika
und Sizilien, Holſtein und Thüringen ließen ihn nicht
ruhen. Als 1892 der großherzogliche Garteninſpektor
Hartwig ſein Gehölzbuch mit Beobachtungen und
Erfahrungen eines fünfundvierzig Jahre tätigen Land—
Altweimariſche Maler um 1900 307
ſchaftsgärtners neu herausgab, zeichnete ihm Hummel
dazu ſauber ſechzehn ſtattliche Bäume aus Thüringen,
darunter die Schillereſche im Weimarer Park. Behmer,
1915 im vierundachtzigſten Jahre geſtorben, gab mit
ſeinem Mädchenbildnis „Wilde Roſen“ von 1875 zur
Ehrengalerie eine Arbeit, die ſich von ſelbſt neben
Scholderers, Trübners Kunſt derſelben Zeit ſtellt,
und ſein im höchſten Alter vollendeter „Jüngling zu
Nain“ iſt mit Eduard von Gebhardts Spätwerken im
Ausdrucksgehalt der Köpfe und Hände verwandt,
während Bildnisſkizzen von ihm aus derſelben Zeit
auch fünfzig Jahre früher von einer geſchickten Hand
gezeichnet ſein könnten.
Ludwig von Gleichen-Rußwurm, durch Geburt
und Geſinnung zum Vorſitzenden der Schillerſtiftung
und in den Vorſtand der Goethegeſellſchaft berufen und
1901 im dreiundſiebzigſten Jahre geſtorben, hat die
Entwicklung zur modernen Landſchaftskunſt wohl am
tiefſten in Weimar — und in ſeiner fränkiſchen Hei—
mat — durchlebt und auch an der Schwelle des Greiſen—
alters noch ſein Auge weitergebildet. Aus ſeinen Ra-
dierungen — eine der älteſten iſt Weimar 1877 be—
zeichnet —, auf denen er gern den einfachen Anblick
eines in mittlerer Bodenhöhe vor die Luft geſtellten
Bauern mit dem Schubkarren behandelt, hat man ihn
ſchon als einen unſrer allerhervorragendſten Land—
ſchafter erkannt; aber zeigt nicht auch das Gemälde
mit dem Rundweg, das er zu Carl Alexanders acht—
20*
308 Landſchaftsmalerei; die Kunſtſchullehrer
zigſtem Geburtstag beiſteuerte, in Farbe und Raum
die perſönliche augenblickliche Erringung deſſen, was
wir als Stil in der neueſten Landſchaftsmalerei gelten
laſſen müſſen? Und ſolchen Stil neuerdings immer
wieder aus dem echten Grunde geſteigerten Natur-
ſtudiums herauszuläutern waren auch junge Künſtler
in Weimar tätig, vor allen Lambrecht, der über ein
Jahrzehnt lang den farbig ſo unſcheinbaren Eindruck
von Birkenſtämmen im Schnee von der kleinen, zu—
fälligen Steinzeichnung bis zu großen, bewußten
Gemälden ſteigerte und über dem einen Gegenſtand
unwillkürlich an Kraft, Zucht und Liebe der Land—
ſchaftsdarſtellung überhaupt ins Ungemeine wuchs.
Als Lehrer der Kunſtſchule wirkten das ganze
Zeitalter hindurch Hagen und der 1883 berufene Bayer
Thedy, von 1890 bis 1913 auch der Figurenmaler
Frithjof Smith. Thedy ſchuf vorzügliche Bildniſſe,
neben Genrebildern; Hagen befleißigte ſich des ſchlich—
teſten Landſchaftsnaturalismus. Von 1885 bis 1890
gehörte der Schule auch Graf Kalckreuth d. j. als
Lehrer an, und daß er hier die Anfänge der Steige—
rung ſeiner impreſſioniſtiſchen Kunſt ins Monumentale
erlebte, zeigt ſein Schnitterbild aus Bergſulza in der
Ehrengalerie. Die Leitung der Kunſtſchule hatte
anfangs Brendel inne, dann Graf Schlitz-Görtz;
Großherzog Wilhelm Ernſt übertrug ſie zu Beginn
ſeiner Regierung an Olde und 1910 an den Worps—
weder Mackenſen, kurz nachdem er die fünfzigjährige
Olde und Hofmann; deutſcher Künſtlerbund 309
Anſtalt zur Hochſchule für bildende Kunſt erhoben
hatte.
Oldes Verwaltung brachte bedeutendes Gegen—
wartsleben: er malte eine Reihe der geſundeſten
Bildniſſe; neben ihn trat Ludwig von Hofmann als
eines der beſten deutſchen Talente für dekorative
Wandmalerei und auf kürzere Zeit auch Saſcha
Schneider. Die hervorragendſten Weimarer Künſtler
wurden 1907 zur Ausſchmückung des neuen Theaters
vereinigt: in den Flügeln des Wandelſaals malte Hof—
mann wohl ſeine farbenſchönſten und lebensfroheſten
Frieſe, Schneider bewegte Figurenträume in einem
Braun, das ihm vielleicht der Lyſikratesfries im Goethe—
haus nahegelegt hatte; Olde, Thedy und andere
arbeiteten Großherzogsbildniſſe in die Fürſtenloge.
Es war eine ehrende Anerkennung der neuen Kunſt
Weimars, daß ſich die ſezeſſioniſtiſchen Gruppen hier
1903 unter dem Grafen Keßler zum deutſchen Künſtler—
bund mit Weimar als Vorort zuſammenſchloſſen.
Als neue Gründung Wilhelm Ernſts wurde im
Herbſt 1902 ein kunſtgewerbliches Seminar unter
van de Velde eröffnet, eine Art Hochſchule für Kunſt—
handwerker, und im Laufe der nächſten fünf Jahre
zu einer Kunſtgewerbeſchule ausgebaut; den Schulbau
dazu wie den Neubau der verſchwiſterten Kunſtſchule
beſorgte van de Velde. Dieſer belgiſche Feuergeiſt
war ſeit Mitte der neunziger Jahre mit einer ſich
faſt überſtürzenden Energie auf den Spuren des Eng—
310 Van de Velde
länders Morris tätig, den Stil der Gegenwart in Haus
und Gerät zu ſchaffen. Leidenſchaftlich und unge—
ſchichtlich verwarf er die Leiſtung des neunzehnten
Jahrhunderts; mit hartem Willen und glühender Luſt
trachtete er überall die konſtruktive Idee zu ver—
wirklichen, zu verdeutlichen, wobei er aus dieſem Nur
oft ein Allzuviel machte; und das ihm eigene Doppel—
weſen von entſchiedener Abſtraktion — gleichviel ob
recht oder verfehlt — und Augengier nach ſchwellen—
dem Linienfluß und neuem Farbenwert ſchuf vieles
ungeahnte, manches ſchöne, manches bizarre. Die
Dresdner Ausſtellung 1897 machte ihn in Deutſch—
land bekannt, deutſche Aufträge zogen ihn nach Berlin,
und er war eben mit der Vollendung des Hagener
Muſeums Folkwang beſchäftigt, als ihn Weimar rief.
Hier diente die neue Kunſtgewerbeſchule der Ausbil—
dung von Kunſthandwerkern und förderte auch ſonſt
das Kunſtgewerbe nicht nur des Großherzogtums; ſie
zählte im erſten Jahre des vollen Betriebs (1907/8)
27 Schüler, im ſechſten 76, und von dieſen waren
27 Sachſen-Weimarer, 3 ſonſtige Thüringer, 42 wei—
tere Deutſche und 4 Ausländer. Sie wurden in kunſt—
gewerblichem Zeichnen, Farbenlehre und Ornamentik
unterrichtet, eine Töpferwerkſtatt und Buchbinder—
abteilung lieferten Kunſtſtücke, Metallarbeiter und das
Atelier für Weberei und Stickerei erſtaunliches, indem
Fachlehrer und -lehrerinnen unter dem anſpornenden
Beiſpiel ihres Leiters ihr beſtes taten und daheim
Kunſtgewerbeſchule 311
etwelchen Verdienſt, auswärts erſte Preiſe erzielten.
Van de Velde erbaute Stadt- und Landhäuſer von
merkwürdiger Schönheit in Weimar, in Eſſen, in
Chemnitz, auch in Hagen (Oſthaus 1902) und in Gera
(Schulenburg 1915); er frappierte auf den Ausſtel—
lungen in Dresden (1906) und Köln (1914) im Bunde
mit dekorativen Malereien Hofmanns. Inzwiſchen hatte
ſein ſtiliſtiſcher Wille — einer der ſtärkſten künſtleriſchen
Trümpfe während der zweiten Hälfte des Zeitalters —
eine Menge zum Teil beſonnenerer Nachfolger ge—
funden, und ſeine vorwiegend romaniſche Abſtraktion
und Senſitivität wurden mehr und mehr als fremder
Tropfen in unſerm Blut empfunden. Der Ausbruch
des europäiſchen Krieges wurde zur Schickſalsſtunde
für van de Veldes Weimarer Tätigkeit, und 1915 ſchloß
der Großherzog die Kunſtgewerbeſchule. Es war ein
Ende, deſſen geſchichtliches Recht der tiefer blickende
wohl leiſe mit Goethes Entlaſſung aus der Theater—
leitung vor hundert Jahren zu vergleichen vermöchte.
Die weimariſche Plaſtik des Zeitalters heißt zur
Hälfte noch: Donndorf. Kurz nach Vollendung des
Carl⸗Auguſt⸗Denkmals hatte der hier geborene Künſtler
zwar den Ruf nach Stuttgart angenommen, in eine
leitende Stellung Südweſtdeutſchlands; aber er blieb
der Heimat dankbar und anhänglich und ſtiftete ihr
des zum Zeichen den Bronzeguß der Brunnengruppe
einer Mutter mit zwei Kindern, deren größeres ſchöp—
fen gehen will. Als die Stadt das liebliche Bildwerk
312 Die beiden Donndorf
über dem neuen Granittrog an altbeſcheidnem Plätz—
chen) im Herbſt 1895 übernahm, ſagte der ſechzig—
jährige Adolf Donndorf: „An dieſe Stelle leitete meine
gute Mutter, die Butte auf dem Rücken, meine erſten
Kinderſchritte, und hier verträumte ich, während ſich
der Eimer füllte, als Knabe manche Stunde. Deshalb
gilt der Brunnen an dieſer Stelle auch dem Andenken
meiner geliebten Mutter. Er gilt allen Müttern, er
gilt der Mutterliebe, die nie vergolten werden kann..“
Wer die Ausführung mit der des Carl-Auguſt-Denk—
mals verglich, konnte ſehen, daß Donndorf zu einer
ſtiliſtiſch beruhigteren Formgebung übergegangen war,
wenn es auch nicht der Stil war, den das Zeitalter
auf Grund einer neuen Naturempfindlichkeit ſonſt
errang. Dieſen gewann ſein Sohn Carl, und er zeigte
ſich auf dem Wege dazu in der 1896 enthüllten Erz
büſte des Erbgroßherzogs vor dem Muſeumsbrunnen.
Der Vater Donndorf widmete der Stadt Weimar
ſpäter ein zweites Geſchenk mit den meiſten ſeiner
Gipsmodelle zu Denkmälern, ſeiner Denkmalsſkizzen,
Büſten und Medaillons, darunter mancher weimariſchen
Arbeit und großen nationalen Werken von Saar—
brücken und Bonn bis Hermannſtadt, und 1907 er—
öffnete die Stadt das dafür gebaute Donndorfmuſeum.
Inzwiſchen aber hatte der Großherzog auch der Plaſtik
*) An der dicht begrünten Wand des Hauſes des um
Weimars jüngſte Vergangenheit hoch verdienten Kommer—
zienrats Döllſtädt.
Deutſch-europäiſcher Krieg 313
an der Kunſtſchule eine Stätte bereitet und ſie 1905
mit Brütt beſetzt: deſſen Nachtgruppe in der Weſt—
eingangshalle des Schloſſes und das Landesdenkmal
Carl Alexanders zu Pferde, das inmitten der Wipfel
des geräumigen Carlsplatzes am 24. Juni 1907 ent-
hüllt wurde, zeigten den neuen Meiſter. Doch ſchied
er bald wieder, und ſo klang das Zeitalter mit Ar—
beiten ſeines zweiten Nachfolgers Engelmann aus: der
ſorgſam erſonnenen feinen Büſte des alten Goethe in
deſſen Hauseingang und dem Standbild eines zum
Kampfe ziehenden derben Jünglings, das als Ehren—
mal für Wildenbruch zu Oſtern 1915 geweiht wurde
und zugleich als Sinnbild für Deutſchlands kämpfende
Jugend.
Denn wie einſt zum deutſch-franzöſiſchen Kampfe,
ſo ſtellte das ſächſiſch-thüringiſche Großherzogtum ſeine
jungen Männer zum deutſch-europäiſchen Kriege, in
Oſt und Weſt, zu Tat, Opfer und Sieg. Wilhelm
Ernſt bewährte den Herzogsnamen, beim Sturm und
im Lazarett, und Großherzogin Feodora ſchaltete
als Regentin des Landes wie Sophie und als
Obervorſteherin der Frauenvereine in Kriegsfürſorge.
Die Gedanken dieſer Stadt Goethes und Schillers,
wie ſie binnen einem Jahrhundert in gelaſſener Reg—
ſamkeit größer, ſchöner und ehrenreicher geworden
war, und die Liebe dieſes weimariſchen Landes reckten
ſich mit ihren Angehörigen des deutſchen Heeres hinaus
über die Reichsgrenzen. Kaiſer Wilhelm II. aber ſagte
314 Wilhelm II. und das weimariſche Bataillon
in ebendieſen Frühlingstagen 1915 draußen zu einem
deutſchen Hiſtoriker: „Sehen Sie, da habe ich jetzt als
Bewachungsbataillon des großen Hauptquartiers ein
Thüringer Bataillon, lauter Sozialdemokraten, Jenen—
ſer von Zeiß, die Apoldaer Strumpfwirker und Leute
aus Weimar, und doch, ich habe die unmittelbare
Gewißheit, daß ich mich ihnen anvertrauen kann wie
einſt Eberhard mit dem Barte. Iſt das nicht herrlich?“
Jena
Die thüringiſche Univerſitätsſtadt weimariſcher Zu—
gehörigkeit bezeugte zu Beginn der neueſten Zeit ihre
deutſche Geſinnung leuchtend, als ſie den Fürſten
Bismarck Ende Juli 1892 empfing. Der entlaſſene
ſiebenundſiebzigjährige Kanzler kehrte aus Kiſſingen
zurück, nachdem ihm in Dresden die Sachſen, in
München die Bayern, in Augsburg die Schwaben groß—
artig gehuldigt hatten; in Jena dankten und frohlockten
ihm die Thüringer. Als ſich die ſichere Kunde ſeines
bevorſtehenden Kommens verbreitete, ſchafften die
benachbarten Dörfler das Holz zu mächtigen Schichten
auf die Berge für Freudenfeuer, die Stadt ſchmückte
ſich mit Laub und Reiſern, die Häuſer mit Fahnen
und neuen Kernreimen, der Marktplatz wurde zum
Feſtſaal, und Vertreter andrer thüringiſcher Städte
ſtellten ſich ein. Unbeſchreiblicher Jubel beim erſten
Empfang, die Senats- und Profeſſorenbegrüßung im
Bären und Bismarcks Ausfahrt während der Berg—
feuer und der Fackelzug ereigneten ſich am Vorabend;
am folgenden Sonntag vormittag ſangen die Kurrende
und die Pauliner vor ſeinen Fenſtern, „Ein feſte
Burg iſt unſer Gott“ und das wehmütig ernſte Jenaer
316 Bismarck und Lipſius
Lied „Auf den Bergen die Burgen, im Tale die
Saale“, und die Umfahrt des Fürſten durch die Stadt
ſchloß mit dem Marktfeſt als Höhepunkt dieſer
Stunden, die durch eine Reihe geiſtreicher Anſprachen,
manches Wort Bismarcks und zwei große politiſche
Reden von ihm gewürzt wurden. Den Brunnen,
bei dem ſein Zelt auf dem Markte ſtand, ließ die
Stadt ſpäter künſtleriſch als Bismarckbrunnen faſſen
durch Adolf Hildebrand, einen Sohn des Jenaer
Nationalökonomen des vorigen Zeitalters.
Es war der Jenaer Theologe Lipſius, der damals
am Bahnhof Bismarck mit markigen Sätzen begrüßte.
Er war halb philologiſcher Hiſtoriker, durch genaueſte
Arbeit auf frühchriſtlichem Gebiete zu Hauſe, und
halb Dogmatiker, der um 1890 noch als Sechzigjähriger
den notwendigen Weg aus dem erfahrenſten Kritizis—
mus in das gebundenere Reich theologiſcher Praxis
fand und wies. In jungen Jahren war er ſchon
1858 beim Univerſitätsjubiläum zum Jenaer Ehren—
doktor ernannt worden, von 1861 bis 1871 hatten
ihn Profeſſuren in Wien und Kiel beſchäftigt, und
ſeitdem lehrte er in Jena; von hier ging die große
Arbeit ſeiner Apokryphen Apoſtelgeſchichten und Apo—
ſtellegenden aus (1883 bis 1890), hier arbeitete er
die Auflagen des motivreichen Gedankengebäudes feiner
Dogmatik, über deren dritter ihn der Tod 1892 ab—
rief. Neben ihm wirkte als Kirchenhiſtoriker, da Haſes
Kräfte abnahmen, Nippold, einer der Mitbegründer
—1
Theologiſche Fakultät 31
des Evangeliſchen Bundes, d. h. der großen Zuſammen—
faſſung der deutſchen evangeliſchen Chriſtenheit, die
ſich 1887 in Frankfurt a. M. vollzog und anfangs
namentlich von Halle, Jena und Erfurt aus betrieben
wurde, woran Großherzogin Sophie von Anfang an
teilnahm. Nachfolger von Lipſius wurde 1893 der
vierzigjährige Wendt, deſſen „Syſtem der chriſtlichen
Lehre“ 1907 reifte und der 1909 in einer Prorektorats—
rede die neuerdings beliebte Zuſammenwerfung von
Chriſtentum und Dualismus klar auseinander löſte,
übrigens beſonders um ein genaueres Verſtändnis der
Entſtehung des Johannesevangeliums bemüht. Zu
Ende des 19. Jahrhunderts begann der ausgezeichnete
Prediger Paul Drews in Jena ſeine akademiſche
Tätigkeit in Reformationsgeſchichte und Paſtoraltheo—
logie, der Begründer einer evangeliſchen „Kirchen—
kunde“ der Gegenwart, der dann nach Gießen ging.
1903 geſellte ſich der Homiletiker Thümmel hinzu,
ein ſtreitbarer Proteſtant, und bald darauf Weinel,
der unter den jüngeren Vertretern eines freien
Chriſtentums raſch eine führende Stellung erlangte.
Zum Teil war die Erneuerung des jenaiſchen religiöſen
Geiſtes, die ſie und ihre Kollegen brachten — die
Zahl der ordentlichen Theologieprofeſſoren ſtieg hier
zwiſchen 1883 und 1913 von 4 auf 6 —, als Aus—
einanderſetzung mit den moniſtiſchen Ideen zu ver—
ſtehen, wie ſie vor allem von Haeckel ausgingen, aber
auch von einem Jenaer Verleger propagiert wurden,
318 Juriſtiſche Fakultät
der die unkritiſchen, ſtaubaufwirbelnden Sammel—
ſchriften von Arthur Drews über „Die Chriſtus—
mythe“ und den Monismus veröffentlichte.
Ein geſchloſſeneres Bild bietet die gleichzeitige
juriſtiſche Fakultät Jenas. Faſt das ganze Zeitalter
über lehrte Thon, der Sohn des weimariſ chen Miniſters,
römiſches und dann auch deutſches bürgerliches Recht
und im Wechſel mit Loening Strafrecht und -prozeß,
und ſeit 1892 las Erich Danz als ordentlicher Profeſſor
über römiſches Recht und Rechtsphiloſophie, der jüngſte
Vertreter des alten Jenaer Gelehrtengeſchlechtes.
Roſenthal war ſeit 1883, ſeit ſeinem dreißigſten Jahre,
zuerſt als außerordentlicher und ſeit 1896 als ordent—
licher Profeſſor für öffentliches und Staatsrecht tätig.
Während er in Jena und Thüringen zugleich gelehrte
und gemeinnützige Vereinigungen leitete, griffen ſeine
Schriften auch nach ſeiner bayriſchen Heimat über, ja
auf das Reich überhaupt und weiter: 1889 und 1906
erſchienen die beiden Bände ſeiner Geſchichte des
Gerichtsweſens und des Verwaltungsorganismus
Bayerns, 1894 und 1908 die Studien über inter-
nationales Eiſenbahnfrachtrecht und über die geſetzliche
Regelung des Tarifvertrags und 1911 und 1913 die
Schriften über die Reichsregierung und über den
Wandel der Staatsaufgaben in der letzten Geſchichts—
periode. Die juriſtiſchen Ordinariate Jenas wurden
um ein ſiebentes vermehrt.
Am ſtärkſten wuchs der Lehrkörper der Ordinarien
Mediziniſche Fakultät 319
der mediziniſchen Fakultät, von ſieben auf elf Stühle.
Das dauernde Gepräge des Zeitalters wurde hier
vor allem durch die Namen Riedel, Gärtner, von Barde—
leben, Binswanger und Stintzing beſtimmt. Riedel
war jenaiſcher Ordinarius von 1888 bis 1910 als
Direktor der chirurgiſchen und der Poliklinik, berühmt
beſonders als Unterleibschirurg, nachdem er 1897
zuerſt die Frühoperation der Blinddarmentzündung
ausgeführt und bekannt gemacht hatte, der tauſende
ihr Weiterleben verdankten. Gärtner, früher zwölf
Jahre Marinearzt und dann in Robert Kochs Geſund—
heitsamt beſchäftigt, kam 1886 als Profeſſor nach
Jena und wurde hier 1888 Ordinarius für Hygiene;
ſein Leitfaden der Hygiene erſchien 1913 in ſechſter
Auflage. Bardeleben, in . ſeit 1888 ordentlicher
Honorarprofeſſor, verſtand als Vertreter der topo—
graphiſchen Anatomie — ſein Atlas dazu wurde 1906
zum viertenmal aufgelegt — Goethes Arbeiten auf
dieſem Gebiete zu behandeln, auch als Mitarbeiter
der Weimarer Ausgabe; er wirkte aber nach außen
vor allem durch das großartig angelegte Handbuch
der Anatomie des Menſchen, zu dem er die beſten
Mitarbeiter gewann und das binnen zwanzig Jahren
(1894 bis 1914) dem Abſchluß nahegebracht wurde.
Binswanger übernahm 1882 eine ordentliche Profeſſur
als Leiter der pſychiatriſchen Klinik und veröffentlichte
viele Schriften zur Anatomie der Zentralnerven und
des Gehirns, zur Paralyſe und Epilepſie, zur Neur—
320 Jenaer Biologen in Berlin, München, Bonn
aſthenie und Hyſterie. Stintzing endlich wurde 1892
als Direktor der mediziniſchen Klinik nach Jena be—
rufen; ſein ſiebenbändiges Handbuch der geſamten
Therapie erſchien bis 1915 in vier Auflagen.
Auf dem Grenzgebiet zur philoſophiſchen Fakultät
wirkten in der erſten Hälfte des Zeitalters zeit—
weilig auch vier Schüler Gegenbaurs und Haeckels,
alle Dr. med. und Dr. phil., die ſpäter hervorragende
auswärtige Lehrſtühle beſetzten: Oskar Hertwig, ſeit
1881 Profeſſor der Anatomie und Direktor des ana—
tomiſchen Inſtituts, ſiedelte 1888 nach Berlin über,
ſein Jenaer Nachfolger Fürbringer 1901 nach Heidel—
berg, ſein jüngerer Bruder Richard Hertwig ſchon
1881 als Ordinarius nach Königsberg und ſpäter nach
München, und Berworn, der in den neunziger Jahren
als Privatdozent und Extraordinarius in Jena lehrte,
übernahm 1901 ein Ordinariat für Phyſiologie in
Göttingen, ſpäter in Bonn. *) Unter den Spezialiſten
ragten die Ophthalmologen Kuhnt (1883 bis 1892,
mit einer Urenkelin Herders und Tochter Stichlings
vermählt) und Wagenmann (1892-1910) hervor,
der eine ſpäter in Bonn, der andere in Heidelberg
tätig. Außer der pſychiatriſchen Klinik und der hygie—
niſchen Anſtalt wurde eine Ohrenklinik neu geſchaffen
*) Oskar Hertwigs Lehrbuch der Entwicklungsgeſchichte
des Menſchen erſchien 1910 in neunter, Richard Hertwigs
Lehrbuch der Zoologie 1911 in zehnter Auflage und Verworns
Allgemeine Phyſiologie (zuerſt 1895) 1909 in fünfter.
Aus der Univerſitätsſtatiſtik um 1900 321
und die andern mediziniſchen Anſtalten vergrößert, am
ſtärkſten die chirurgiſche Klinik, von 88 auf 320 Betten.
Die Jenaer Studentenzahl ſtieg zwiſchen 1883
und 1913 im ganzen von 631 auf 1883 (im Sommer—
ſemeſter 1914 überſchritt ſie das zweite Tauſend).
Wie ſich die vier Fakultäten daran beteiligten, zeigt in
abgekürzter, aber den Geſamtverlauf richtig andeutender
Statiſtik folgendes Bild:
Semeſter Theol. Jur. | Med. Phil.
S.⸗S. 1883 127 120 139 245
S.⸗S. 1900 44 217 190 317
W. ⸗S. 1913/14 104 326 429 1024
Ihrer Herkunft nach ſetzten ſie ſich zuſammen:
Semeſer Weiten, peer Sonfige Ander
S.⸗S. 1888 142 155 292 22
S.⸗S. 1900 149 136 410 73
S.⸗S. 1914 2230 230 1435 125
Dazu vergleiche man das Verhältnis der Promo—
tionen in der philoſophiſchen Fakultät während dieſer
Zeit:
Semeſter Sachſen⸗ And. erneſt. Sonſtige Aus⸗
Weimarer Thüringer Deutſche länder
S.⸗S. 1883 6 5 9 5
S.⸗S. 1900 1 — 14 4
W.⸗S. 1913/4 4 33 3
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 21
322 Mathematik, Phyſik, Chemie
Aus dieſen Zahlen geht deutlich die wachſende
Anziehungskraft der Univerſität Jena auf außerthürin⸗
giſche Deutſche im jüngſten Zeitalter hervor. Die
Geſamtzahl der Studenten hat ſich etwa verdreifacht,
die Zahl der außerthüringiſchen Deutſchen unter ihnen
beinahe verfünffacht. In der philoſophiſchen Fakultät,
die den Hauptanteil daran hatte, wurde dieſes Wachs—
tum namentlich den Naturwiſſenſchaften verdankt, wie
auch deren Sammlungen vor allen vermehrt und
neue Anſtalten für techniſche Phyſik, Mikroſkopie,
techniſche Chemie, Pharmazie und Nahrungsmittel—
chemie gegründet wurden.
Als Mathematiker lehrte Thomae faſt das ganze
Zeitalter über in Jena, wohin er 1879 als Ordinarius
berufen worden war, zu Anfang des neuen Jahr—
hunderts auch Gutzmer (bis 1905) und dann Haußner.
Die; Phyſik vertrat faſt ebenſolange Winkelmann.
Neben ihm war Abbe als erfolgreichſter und berühm—
teſter Optiker der Gegenwart und Aſtronom bis über
die Jahrhundertgrenze tätig; er ſtarb 1905, und auch
ſein tüchtigſter Schüler und Mitarbeiter Czapski wurde
1907 weggerafft. 1889 trat der Chemiker Knorr auf
die Dauer des Zeitalters in den Jenaer Kreis ordent—
licher Profeſſoren; er entdeckteſ die Pyrazolverbin—
dungen, unter denen das Antipyrin am wichtigſten
wurde, er klärte das Weſen der Morphiumalkaloide
auf uſw. Der Geolog und Kriſtallograph Linck, ſeit
1894 Ordinarius in Jena, hatte ein Gebiet zu deuten,
Geologie und Botanik 323
dem vor hundert Jahren an demſelben Orte Goethes
Bemühen gegolten hatte; ſo ſtellte er uns 1906
Goethes Verhältnis zur Mineralogie und Geologie
dar, gab ſeinen Schülern neue Geſteinsbücher an die
Hand und faßte 1912 die mechaniſchen und chemiſchen
Kreislaufvorgänge der Erdgeſchichte überſichtlich zu—
ſammen. Als 1903 das neue mineralogiſche Inſtitut
fertig wurde, ließ er ins Treppenhaus über Goethes
Büſte deſſen Worte ſetzen: „Warum ich zuletzt am
liebſten mit der Natur verkehre, iſt, weil ſie immer
recht hat und der Irrtum bloß auf meiner Seite
ſein kann. Verhandle ich hingegen mit Menſchen, ſo
irren ſie, dann ich, auch ſie wieder und immer ſo
fort, da kommt nichts aufs reine; weiß ich mich aber
in die Natur zu ſchicken, ſo iſt alles getan.“ Auch
der Botaniker Stahl, ſeit 1881 mehr als dreißig
Jahre lang Ordinarius in Jena, behandelte das
Pflanzenleben gern im Zuſammenhang der Schöp—
fung, z. B. wenn er 1888 Pflanzen und Schnecken
betrachtete oder 1893 von Regenfall und Blattgeſtalt,
1912 von der Blitzgefahr der verſchiedenen Baum—
arten ſprach.
Der große Gedanke der Einheit der Schöpfung
wurde aber am erfolgreichſten von dem berühmteſten
Lehrer Jenas in dieſem Zeitalter vertreten, von
Haeckel. Längſt war der Zoolog zum Biologen ge—
worden; als Sechzigjähriger ließ er 1894 ſeine
Syſtematiſche Phylogenie zu erſcheinen beginnen,
21*
324 Bom alten Haedel
worin er den Stammbaum der Organismen deut—
licher als bisher zu refonjtruieren unternahm, 1896
veröffentlichte er nochmals eine jener großen Sonder—
unterſuchungen, diesmal über Amphorideen und Cyſto—
ideen, und von 1899 bis 1904 erſchien ſein Prachtwerk
Kunſtformen der Natur. 1894 wurde ihm auch
eine Stiftung von Schülern und Freunden darge—
bracht, die er für die Erweiterung des 1883 begrün—
deten zoologiſchen Inſtituts zu einem „phyletiſchen
Muſeum“ beſtimmte; die große Sammelbeute ſeiner
Forſchungsreiſen, der Ertrag ſeiner ſchriftſtelleriſchen
Tätigkeit und die Vermehrung der Stiftung durch
wohlhabende Gönner der Entwicklungslehre ermög—
lichten 1908 die Eröffnung des Muſeums in Jena.
Bald darauf trat er von ſeinem Lehramt zurück;
aber ſein Geiſt und ſeine Feder ruhten nicht, ſeine
Anſchauungen wie vorher immer wieder, immer
weiter zu verbreiten. Wie er als hoher Sechziger
nochmals den indiſchen Archipel bereiſte und 1901
ſeine Eindrücke aus dieſer wundervollen malayiſchen
Inſelwelt anſchaulich in dem Buche Aus Inſulinde
vorlegte, ſo und noch mehr trieb es ihn, ſeine Ge—
danken auch als maßgebend für Philoſophie und Reli—
gion nachzuweiſen. Am Ende des 19. Jahrhunderts,
auf deſſen zweite Hälfte er um ihres naturwiſſen—
ſchaftlichen Fortſchritts willen mit Stolz zurückſah,
zu Oſtern 1899, ſchloß er das Buch über die Welt—
rätſel ab, deſſen bequeme Sprache trotz manches
Landwirtſchaftslehre 325
fragwürdigen neuen Fremdwortes ſehr vielen Leſern
des neuen Zeitalters entgegenkam, die ſich über die
bare Erfahrung und doch auf ihrem Grunde zu er—
heben ſuchten, und nochmals ſchlugen die Lebens—
wunder (1904) in dieſe Kerbe. Der unmittelbare
Anſchluß an Goethe wurde bei alledem möglichſt ſicht—
bar gemacht, und doch wurde nicht erwieſen, daß
Goethes gelegentliche, in der Phantaſie eines Wer—
denden gebildeten Worte und ſich wandelnden Be—
griffe eine derartige Dogmatiſierung vertrügen: Goethe
hatte ſein „Gott-Natur“ ja ſpäter ſehr entſchieden
durch „Gott und die Natur“ erſetzt, während ſich
Haeckel noch 1914 in dem Titel einer moniſtiſchen
Streitſchrift an den Bindeſtrich klammerte.
Unter denen ſeiner Kollegen, für deren Gebiet
die Gefahr verhältnismäßig nahe lag, von einer
materialiſtiſchen Doktrin beherrſcht zu werden, haben
wenige die ſittlichen und religiöſen Kräfte mit ſolcher
Beharrlichkeit geltend gemacht wie der Landwirtſchafts—
lehrer von der Goltz. Er wirkte von 1886 bis 1896
als Ordinarius in Jena, vordem in Königsberg, ſpäter
in Bonn, von den Agrariern gemieden, von den
Regierungen geſchätzt. Von Jena ließ er 1889 ſein
dreibändiges Handbuch der geſamten Landwirtſchaft
ausgehen und manche grundlegende Einzelarbeit zu
Disziplinen ſeines Fachs, ſo daß er als der Neu—
organiſator des Betriebes der Landwirtſchaftslehre in
Wiſſenſchaft und lebendiger Beziehung mit der Praxis
326 Staatswiſſenſchaften
geprieſen werden konnte; hier entſtanden aber auch
ſeine Vorträge über die Aufgaben der Kirche gegen—
über dem Arbeiterſtand in Stadt und Land (1891)
und „Rom oder Wittenberg“ (1892), jener als evan—
geliſch-ſoziale Zeitfrage veröffentlicht, dieſer aus dem
Jenaer Zweigverein des Evangeliſchen Bundes hervor-
gegangen. Das ganze Zeitalter über, ſeit 1883,
lehrte Pierstorff als Ordinarius der Staatswiſſen—
ſchaften in Jena. Er behandelte u. a. Dinge wie
Frauenarbeit und Frauenfrage (1900), den modernen
Mittelſtand (1911); von den 45 Abhandlungen, die
von 1901 bis 1913 aus ſeinem ſtaatswiſſenſchaftlichen
Seminar hervorgingen, waren 23 gemeindeutſchen
Fragen gewidmet, je 7 thüringiſchen und europäiſchen
und 8 weltwirtſchaftlichen, und faſt alle beſchäftigten
ſich mit der Gegenwart.
Die Geſchichte der Gegenwart wurde auch von
dem namhafteſten Jenaer Hiſtoriker des Zeitalters
bevorzugt, von Lorenz. Ihr wandte er ſich vom
Mittelalter zu etwa um dieſelbe Zeit, wo er (1885)
durch Vermittlung Herzog Ernſts von Coburg nach
Jena überſiedelte. Er kam aus Wien, wo er ſchon
fünfundzwanzig Jahre lang ein Ordinariat verſehen
hatte; und etwa gleichzeitig mit dem Ortswechſel
wandelte er auch ſeine politiſche Geſinnung aus der
liberalen in eine konſervative Denkart, der damaligen
Wende des Zeitalters entſprechend. Seines fürſtlichen
Beförderers Memoiren gab er 1887 bis 1889 heraus;
Geſchichtswiſſenſchaft 327
Aufzeichnungen andrer deutſcher Fürſten, darunter
der Großherzöge von Baden und Weimar, durfte er
zu dem Werke „Kaiſer Wilhelm und die Begründung
des Reiches“ (1902) verwerten, das ihm freilich von
ſeinen Spezialfachgenoſſen wenig gedankt wurde. Die
Schuld daran lag wohl zum Teil an ſeiner markiert
perſönlichen Behandlung geſchichtswiſſenſchaftlicher
Dinge, deren Kehrſeite in Beziehung auf das Objekt
war, daß er Kulturgeſchichte für eine Rumpelkammer
erklärte. So vermochte er auch Goethe als Hiſtoriker
nicht ganz gerecht zu werden); und wie hätte dabei
ſein vielfaches Bemühen um eine geſchichtswiſſen—
ſchaftliche Generationenlehre auf einen grünen Zweig
kommen jollen? Sein Nachfolger Cartellieri (ſeit 1905)
legte wieder mehr Gewicht auf mittelalterliche Ge—
ſchichte. Alte Geſchichte lehrte indes Gelzer, beſonders
kundig in der römiſchen Kaiſerzeit, und ſeit 1907
deſſen Nachfolger Judeich.
Auch unter den Philologen wirkten einige das
ganze Zeitalter über. So der Indogermaniſt Delbrück,
der ſeine ſyntaktiſche Hauptarbeit 1893 bis 1900 in
drei Bänden einer Vergleichenden Syntax der indo—
germaniſchen Sprachen vorlegte, einer der nachdenk—
lichſten Sprachforſcher der Zeit; Wundts völkerpſycho—
logiſches Werk über die Sprache beantwortete er 1901
mit der Schrift „Grundfragen der Sprachforſchung“,
*) Vgl. den Anhang zu ſeiner Schrift „Goethes poli-
tiſche Lehrjahre“ (1893).
328 Philologen
wo er dem zu pſpychologiſcher Deutung geneigten
Philoſophen manchmal den geſchichtlichen Verlauf
entgegenhalten konnte, und auch Haeckels Gedanken
beleuchtete er gelegentlich kritiſch auf Grund ſeiner
ſchärferen Beobachtung von Worten und Begriffen.
Der Altphilologe Goetz, ſeit 1880 Ordinarius in Jena,
pflegte die lateiniſche Lyrik, beſonders aber Plautus,
und widmete ſich von 1888 bis 1903 der Herausgabe
des für die mittelalterliche Kulturgeſchichte wichtigen
Corpus glossariorum latinorum. Hirzel, ein Sohn
des Leipziger Verlegers und Goetheſammlers, ver—
waltete die griechiſche Gedankenwelt und ihre Fort—
wirkung, z. B. in den umſichtigen Schriften über den
Dialog (1895) und über den böotiſchen Hiſtoriker Plu—
tarch (1912), ohne den wir Deutſchen Die Kraniche
des Ibykus, Die Teilung der Erde und Die Bürgſchaft
nicht hätten, abgeſehen davon, daß ſich um 1790 der
Jenaer Hiſtoriker Schiller mit der Abſicht eines „Neuen
Plutarch“ trug. Der Germaniſt Kluge, von 1886 bis
1893 Ordinarius in Jena, ließ von hier ſein viel
benutztes Etymologiſches Wörterbuch der deutſchen
Sprache ausgehen, und Jenas Luft legte ihm den
Gedanken an Die deutſche Studentenſprache nahe;
ſein zweiter Nachfolger Michels war mehr als Heraus—
geber (3. B. der Proſageſtalt von Goethes Iphigenie
in der Sophienausgabe) und als Grammatiker tätig.
Während die ordentlichen Lehrſtühle der philoſo—
phiſchen Fakultät von 16 auf 22 vermehrt wurden,
Philoſophen 329
waren zwei von ihnen von eigentlichen Philoſophen
beſetzt. Eucken, ſeit 1874 Ordinarius in Jena, trach—
tete immer danach, die Fäden zwiſchen Leben und
Philoſophie kräftig zu erhalten und verfolgte daher
den Begriff der Lebensanſchauung. Sein Werk über
Die Lebensanſchauungen der großen Denker ging von
dem Glücksverlangen der einzelnen Philoſophen aus
und ſuchte ſo dieſe Helden des Geiſtes lebendig in
uns werden zu laſſen; es wurde allmählich zur ge—
leſenſten neuen Geſchichte der Philoſophie, durch zehn
Auflagen von 1890 bis 1912. Namentlich im letzten
Drittel ſeines Zeitalters, das einer idealiſtiſchen Philo—
ſophie wieder geneigter war als alle ſpäteren Jahr—
zehnte des 19. Jahrhunderts, fand er mit gewandten
Schriften und fließenden Vorträgen auch außerhalb
Jenas Gehör, ſei es daß er an ſeinen großen Vor
gänger Fichte anknüpfte oder den neuen Begriff des
Monismus läuterte oder die Verträglichkeit von
Chriſtentum und Wiſſenſchaft erwies.?) Auf engere
Kreiſe blieb Liebmann beſchränkt, der Metaphyſiker,
der zum Teil dieſelben Kollegien wie Eucken im
Wechſel mit ihm las (Pſychologie, Geſchichte der
neueren Philoſophie). Eines der jüngſten Ordinariate
der Fakultät erhielt 1913 der Pädagoge Rein über—
tragen nach einer faſt dreißigjährigen Jenaer Lehre
*) Vgl. auch jeine Schriften Geiſtige Strömungen der
Gegenwart (4. Aufl. 1909), Der Wahrheitsgehalt der Reli—
gion (3. Aufl. 1912), Hauptprobleme der Religionsphiloſophie
der Gegenwart (5. Aufl. 1912).
330 Eggeling
in Didaktik und Ethik und manchem Verdienſt um
planmäßige deutſche Erziehung des Zeitalters nament—
lich durch ſein Enzyklopädiſches Handbuch der Päda—
gogik, das von 1902 bis 1910 in zweiter Auflage
zehnbändig erſchien. Die Kunſtwiſſenſchaften blieben
noch auf den zweiten Chor der Extraordinariate und
Privatdozenten angewieſen; doch widmete man der
archäologiſchen Sammlung ſchöne Räume und den
von Stein um 1910 neu belebten akademiſchen Kon—
zerten friſche Teilnahme.
Das alles vollzog ſich zum größten Teil, während
Eggeling Kurator in Jena war (1884-1909). Er
krönte ſeine Tätigkeit für ihr Wohl, ſeine Sorge um
ihre Förderung durch die vier ſachſen-erneſtiniſchen
Erhalterſtaaten, als die Hochſchule 1908 bei der Feier
ihres dreihundertundfünfzigjährigen Beſtehens ein neues
Verwaltungs-, Unterrichts- und Sammlungsgebäude
bezog, an der Stelle des Jenaer Reſidenzſchloſſes an
der Nordoſtecke der kleinen Altſtadt. Seit Jahren war
der Wunſch nach einem ſolchen Geſamtheim lebhafter
geworden, Stiftungen von einer bis dahin unerhörten
Großartigkeit wurden dafür gemacht, die beteiligten
Regierungen und Landtage und die Stadtgemeinde
Jena trugen das ihrige bei, das Großherzogtum ſtellte
den Baugrund zur Verfügung, und in dem Wettbewerb
(1903) unter ſechs hervorragenden deutſchen Architekten
ſiegte der Stuttgarter Theodor Fiſcher und konnte nun,
geleitet von dem Vertrauen des Kurators, gelenkt
Das neue Univerſitätsgebäude 331
von den Wünſchen der akademiſchen Baukommiſſion,
unterjtüßt von dem Regierungsbaumeiſter Ditt—
mar, einen mächtigen Zweckbau von ausgepräg—
ter neuer deutſcher Schönheit zu hohen Giebeln zwi—
ſchen alten Bäumen aufführen. Gunſt und Kunſt
ſchmückten ihn reichlich: für die Aula über das Kathe—
der malte Prinz Ernſt von Sachſen-Meiningen das
Reiterbild des kurfürſtlichen Stifters und an die große
Seitenwand daneben Olde drei von den vier Bild—
niſſen der regierenden fürſtlichen Erhalter; an der
Hauptwand des Senatsſaales durfte Ludwig von Hof—
mann eine Landſchaft mit den neun Muſen in tiefer
Farbenpracht und vereinfachter Zeichnung darſtellen
und an weiteren Wandflächen Hodler den Aus—
zug deutſcher Studenten zum Freiheitskriege 1813,
Saſcha Schneider das Paar des Lehrers und Schü—
lers in antikiſierender Monumentalität und der
Jenaer Meiſter Kuithan zwei bedeutende Figuren—
gruppen: Denken und Empfinden. Nicht all dieſer
Schmuck, aber der gebrauchsfertige Bau war im
Sommer 1908 vollendet, als Eggeling die erſte
Feier im neuen Hauſe mit Goethes altem Feſtwunſch
für Jena einleitete:
Wo Jahr um Jahr die Jugend ſich erneut,
Ein friſches Alter würdge Lehre beut,
Wo Fürſten reichlich hohe Gaben ſpenden,
Was alles kann und wird ſich da vollenden,
Wenn jeder tätig froh an ſeinem Teil.
Heil jedem Einzelnen! Dem Ganzen Heil!
332 Univerſitätsjubiläum 1908
Die hochgeſteigerte Polyphonie Regerſcher Feſtmuſik
erklang im Gottesdienſt und im Hauptaktus: in Gegen—
wart der fürſtlichen Erhalter übergab der weimariſche
Staatsminiſter Rothe das Haus, und an den Dank
des Prorektors Delbrück ſchloſſen ſich mit Gruß und
Wunſch der Jenaer Oberbürgermeiſter Singer, der vor
ſechzehn Jahren Bismarck bewillkommnet hatte, und
andere, zuletzt im Namen der früheren Dozenten der
Leipziger Germaniſt Sievers, der der mächtig empor—
blühenden kleinen Univerſitätsſtadt bezeugte, in ihr
geſehen zu haben, „wie auch mit beſcheidenen Mitteln
Großes zu leiſten iſt, wenn nur der richtige Sinn
hinter der Arbeit ſteht“, und endlich im Namen der
früheren Studenten der Bremer Bürgermeiſter Pauli,
der 1846 als Fuchs in Jena eingezogen war, alle
voll Dank für das hier erlebte frohe Freiheitsgefühl.
Zu den Stiſtern am Hauſe gehörte der Jenaer
Verlagsbuchhändler Fiſcher; verdankte er doch den
Natur- und den Staatswiſſenſchaften dieſer Univerſität
zum guten Teil die Entfaltung des ſeit 1877 von
ihm geleiteten Geſchäftes, ſeitdem er es in den acht—
ziger Jahren auf dieſe beiden Gebiete eingeſchränkt
hatte. Er verlegte vieles von Haeckels Schriften und
von denen ſeines Straßburger Fachgenoſſen Weismann,
die Lehrbücher der beiden Hertwig, naturwiſſenſchaft—
liche und ärztliche Zeitſchriften, z. B. das Centralblatt
für Bakteriologie, das von 1887 bis 1913 71 Bände
ertrug, wozu ſeit 1895 noch 40 Bände über landwirt—
Jenaer Buchverlag 333
ſchafkliche, technologische Bakteriologie uſw. kamen,
die großen Handbücher der Hygiene und der Ana—
tomie (Bardeleben), Verhandlungsberichte von natur—
wiſſenſchaftlichen Geſellſchaften und Arbeiten aus
Kliniken und Inſtituten, z. B. Ehrlichs, von Kopen—
hagen bis Bern, und vieles andere; ſein Wörterbuch
der Volkswirtſchaft, das 1897 zu erſcheinen begann,
kam 1911 in dritter Auflage heraus.“) Die kräftigſte
Unterſtützung aber kam der Univerſität von einem
Kinde ihres Schoßes, aus der Entwicklung der künſt—
lichen Optik durch Abbe **), von dem Zeißwerk und
dem verbündeten Schottichen Glaswerk.
In Jena hatte ſich ſchon 1829 Döbereiner mit
Glasſchmelzverſuchen abgegeben und Goethe ihn dar—
auf als das wichtigſte hingewieſen, das Verhältnis
des Brechungs- und Zerſtreuungsvermögens bei dem
neuen Glaſe zu ermitteln, auch weitere Unterſtützung
in Ausſicht geſtellt; doch unterblieb der Fortgang,
weil die mechaniſchen Werkzeuge zu mangelhaft waren.
Dann hatte Schleiden das Mikroſkop zum Haupt—
werkzeug des naturwiſſenſchaftlichen Fortſchritts ge—
macht und Abbe die Theorie dieſer Waffe verbeſſert.
*) Um die Pflege der äſthetiſchen, philoſophiſchen und
religiöjen Kultur, um mancherlei Anregungen zu neudeutſcher
Bildung war ſeit 1904 in Jena (früher in Leipzig) der Ver—
lag von Diederichs bemüht, teilweiſe mit Neuausgaben älterer
deutſcher und Überſetzungen ausländiſcher Literatur.
**) Man ſpricht dieſen Namen in Thüringen mit ge—
ſchloſſenem und etwas gedehntem Schluß-e aus.
334 Otto Schott Anfänge
Er harrte nur der Glasverbeſſerung als des Mittels
zu weiterm Fortſchritt, und dieſe brachte ihm der
junge Chemiker Schott aus Weſtfalen. Schott, mit
einer Ader fauſtiſchen Erfindertriebes begabt, plante
die geſamte Pyrochemie durchzubilden, beſchränkte
ſich aber bald, von genialen Griffen in das Reich der
Minerale und Elemente begünſtigt, auf die chemiſch
verbeſſerte Glasſchmelze, als ſich hier wiſſenſchaftliche
Gewinne und Rätſel ergaben und induſtrielle Ver—
wertung in Sicht kam. Seine Proben neuen Lithium-,
Bor- und Phosphorglaſes ſandte er ſeit 1879 zur
optiſchen Prüfung an Abbe, und nach mancher Ent—
täuſchung konnte dieſer, als er Schott 1881 zur hun—
dertſten Verſuchsſchmelze beglückwünſchte, das Problem
der völligen Achromatiſierung des Fernrohrobjektivs
für gelöſt anſehen. 1882 ſiedelte Schott nach Jena
über und richtete mit Abbe und den beiden Zeiß,
Vater und Sohn, ein kleines Glaslaboratorium ein.
Hierher leitete der Berliner Sternwartendirektor
Förſter den preußiſchen Auftrag, ein möglichſt wärme—
unempfindliches Thermometerglas zu ſchaffen, und
als das Schott 1883 mit Ausprobung des Natron—
glaſes gelang und er gleichzeitig für optiſche Zwecke
die wichtige Erfindung der Boroſilikatgläſer durch—
geprüft hatte, kam im Herbſt 1884 mit Unterſtützung
des preußiſchen Staates die Firma „Glastechniſches
Laboratorium Schott und Genoſſen“ in Gang: Frau
Abbe brannte den erſten Ofen an.
Das Schottſche Glaswerk 335
Binnen dreißig Jahren entfaltete ſich dieſer Anfang
zu der bedeutendſten Glashütte Deutſchlands mit
mehr als 1300 Arbeitern. Der Siemensſche Ofen
kam gerade recht, den Betrieb auf eine neue Grund—
lage zu ſtellen, die Herſtellung der Ofenſteine, die
Gußhäfenfabrikation wurden am Orte in die Hand
genommen: immer größeren Umfang gewann die
Anlage im Süden Jenas mit ihren rieſenſchlanken
Eſſen. Der Verbrauch an Kohle zur Heizgasbereitung
ſtieg auf wöchentlich zwei volle Güterwagen, Maſſen
von Ton wanderten zur Gefäßbildung in die Hafen—
ſtube und als fertige Häfen in die Schmelzöfen, von
tauſend und abertauſend Säcken und Fäſſern voll
Sand und Chemikalien wurde der Inhalt auf der
Wage peinlich genau verteilt, im Miſchtrog gemengt
und in den heißen Schmelzhäfen zu Glasmaſſe ein—
geſchmolzen. Alles geſchah in einer ſich fortwährend
verfeinernden wiſſenſchaftlichen Regelung der Erzeu—
gung mit Hilfe von Chemie und Phyſik: ſpezifiſches
Gewicht und ſpezifiſche Wärme des Glaſes wurden
beobachtet, Zug- und Druckfeſtigkeit ſowie Elaſtizitäts—
koeffizient der verſchiedenen chemiſchen Glasmiſchun—
gen berechnet, Wärmeleitfähigkeit und thermiſcher
Ausdehnungskoeffizient, die mittlere Lichtbrechung
wie die mittlere Farbenzerſtreuung und die äußerſten
zurzeit erreichbaren Grenzen dafür feſtgeſtellt. Die
Mannigfaltigkeit der Aufträge wuchs, von der größten
Fernrohrlinſe mit ihrer ſchwierigen Feinkühlung bis
336 Das Zeißwerk
zum ſchlichteſten Geräteglas: jene übertraf an optischer
Reinheit, dieſes an Haltbarkeit in Hitze und Kälte
alles bisher dageweſene. Beſonderem Glas wurde
das Vermögen verliehen, die ultravioletten Strahlen
ſichtbar aufzufangen (Uviolglas): infolgedeſſen ver—
mehrte ſich die Erſcheinung der Sternenwelt für uns
auf das anderthalbfache. Dem Auerſchen Glühſtrumpf
wurde der Zylinder geſchaffen, der ihm erſt den ge—
waltigen Wettbewerb mit dem elektriſchen Licht er—
möglichte. Das Queckſilberuviollicht wurde der Haut—
heilkunde zugeführt. So wirkten Schott, ſeine wiſſen—
ſchaftlichen und Betriebsgehilfen und ſeine Glasbläſer.
Inzwiſchen wuchs die optiſche Werkſtätte von
Zeiß, mit der Schott in engem geſchäftlichen und
perſönlichen Verband arbeitete, in der von Abbe ge—
wieſenen Richtung noch bedeutender. 1875 war Abbe
ihr Teilhaber geworden und 1881 der Sohn von Zeiß
als dritter eingetreten; 1888 ſtarb Vater Zeiß und
1889 ſchied der Sohn aus. Bis Frühjahr 1903 ſtand
Abbe an der Spitze und neben und nach ihm ſeine
phyſikaliſchen Schüler Czapski und Straubel, Fiſcher
ſeit 1890 als Geſchäftsleiter, Bauersfeld ſeit 1908
als techniſcher Oberleiter. Unter dieſen Männern
vermehrte ſich die Arbeiterſchaft des Zeißwerkes von
etwa 50 auf etwa 1000 an der Jahrhundertwende
und weiterhin auf über 5000 Köpfe. Während das
frühere Zeitalter unter Vater Zeiß nach handwerks—
mäßiger Erfahrung vorgegangen war, wurde Mitte
Mikroſkopie und Photographie 337
der achtziger Jahre der erſte Konſtrukteur angeſtellt,
und bis 1914 wurden es „vier große Konſtruktions—
bureaus mit zuſammen rund 270 Beamten“ als
„eigentliche Brücke zwiſchen den wiſſenſchaftlichen Ab—
teilungen und den ausführenden Werkſtätten.“ Der
gemeinſame Arbeitsraum dehnte ſich von einem kleinen
Fabrikgebäude allmählich auf zwei große, hochbebaute
Straßenviertel aus, wo der lichtgraue Eiſenbeton bald
die dunkle Ziegelfarbe überwand.
Anfangs ſtand die mikroſkopiſche Arbeit ganz im
Vordergrund: 1886 erfand Abbe das apochromatiſche
zehnlinſige Mikroskop mit einer früher nicht geahnten
Bildſchärfe und Helligkeit, 1902 das Ultramikroſkop,
das die Bewegungen von Milliontel Millimetern er—
kennen ließ und kinematographiſche Aufnahmen des
Bazillentreibens ermöglichte. 1885 und 1888 wurden
Apparate für Mikrophotographie konſtruiert, 1898
der als Zeißſches Epidiaſkop ſchnell berühmt gewordene
Projektionsapparat für Beleuchtung mit auf- oder
durchfallendem Licht. 1890 kamen die neuen photo—
graphiſchen Objektive unter dem Namen Anaſtigmat
heraus, ſpäter Protar genannt, zu einer Zeit, wo
ſich der Gelehrte und der Liebhaber anſchickten, den
Bereich des Geſchäftsphotographen zu erweitern:
binnen zwanzig Jahren wurden 300 000 Stück davon
in alle Welt geliefert.“) Aſtrooptik und Aſtromechanik
*) 1909 ſchloß ſich das Zeißwerk mit einigen andern
deutſchen Kamerafabriken zu einem Verband zuſammen, zur
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 22
338 Sternwarten, Kriegsoptik, Brillen
wurden gepflegt und für Liebhaber und wiſſenſchaft—
liche Inſtitute kleine und Rieſeninſtrumente hergeſtellt,
3. B. für die Sternwarte Neuchatel in der Schweiz,
ja ganze Sternwarten gebaut wie die durchaus neue
in Bergedorf bei Hamburg. Jenaer Ausſichtsfern—
rohre faßten Stand auf berühmten Landſchaftspunkten
Deutſchlands, Oſterreichs und der Schweiz; Zeißſche
Feldſtecher und Operngläſer verbreiteten ſich im
Handel. Wichtige Erfindungen für Heer und Flotte
waren die des Zielfernrohrs für Gewehre (1892),
für Geſchütze (1894), des Prismenfernrohrs für Ge—
wehre (1900), des Periſkops für Unterſeebote (1904),
der Juſtiervorrichtung für Geſchütze (1906) und der
verſchiedenen Fernmeſſer für Infanterie, Artillerie
und Kriegsſchiffe, des Zielapparates für Geſchoß—
abwurf, des Zielfernrohrs mit drehbarem Okular für
Geſchütze auf Luftſchiffen (1912). Auch eine geodä—
tiſche Abteilung ſchloß ſich den übrigen an und
ſchließlich eine mediziniſche ſamt der Herſtellung von
Brillen.
Als Abbe in den achtziger Jahren mehr und
mehr in die führende Stellung dieſes optiſchen
Werkes einrückte, beſchäftigte „die ſoziale Frage“
tauſend Gemüter, d. h. vor allem die Fragen, wie
die Fabrikarbeiterſchaft menſchenwürdig zu halten,
Dresdner Ica, ſo daß es alleiniger Lieferant der Objektive
blieb und den Bau von Apparaten für gelehrte und militä—
riſche Zwecke in der Hand behielt.
Carl - Zeik- Stiftung 339
geſchäftsggemäß zu lohnen und wie ſie national zu
feſtigen ſei. Ein Teil dieſer Fragen wurde durch
Bismarcks Reichsverſicherungsgeſetzgebung beantwortet;
in Jena gab Abbe ein Muſterbeiſpiel, wie in der
Sache von anderer Seite vorwärts zu kommen wäre.
Er begründete 1889 die Carl-Zeiß-Stiftung, indem
er an dieſe ſein Recht an der optiſchen Werkſtätte,
deren Geſamteigentümer er damals geworden war,
ſowie ſeine Teilhaberſchaft an der Schottſchen Glas—
hütte abtrat, „um für die wirtſchaftliche Sicherung
und ſachgemäße Verwaltung der beiden Unter—
nehmungen auch für eine entfernte Zukunft größere
Gewähr zu ſchaffen als Privatunternehmer auf die
Dauer zu bieten vermögen“: die Zeißſtiftung ſollte
Inhaberin der Betriebe werden, des optiſch⸗techniſchen
ſofort völlig, der Glashütte vorläufig in Gemeinſchaft
mit Schott. Nach einer mehrjährigen Probezeit
genehmigte Großherzog Carl Alexander das Statut;
mit dem Jahre 1906 trat eine vorgeſehene Reviſion
in Kraft. Der Grundgedanke dabei war, daß eben—
ſo der Zweck wie das Mittel der Stiftung die
günſtige Arbeitsgelegenheit für viele Menſchen ſei
und daß ihre Erhalter und Mehrer zugleich ihre
Nutznießer ſeien; es wurde alſo eine Produktivgenoſſen—
ſchaft geſchaffen, die als ſolche aber nur wirtſchaft—
lich durchgeführt wurde, in Verwaltung und Leitung
dagegen ariſtokratiſch ſein ſollte. Mit konſequenteſtem
Ernſt und mildem Herzen beantwortete Abbe die
22 *
340 Abbes ſoziale Tätigkeit
Fragen des Gehaltes und der Gewinnbeteiligung
dahin, daß mittlerer Frühgehalt und Höchſtgehalt der
Angeſtellten das Verhältnis 1: 10 haben ſollten“) und
daß ſich für jeden der Arbeitsertrag aus drei Teilen
zuſammenzuſetzen habe: einem feſten und penſions—
fähigen, einem durch eigene Geſchicklichkeit oder Zeit⸗
aufwendung erzielten Überverdienſt oder Lohnzuſchlag
und einem vom geſamten Jahreserträgnis abhängigen,
ſchwankenden Teil. Im Jahre 1901 wurde die
tägliche Achtſtundenarbeit eingeführt; viele beſondere
Einrichtungen wurden außerdem zum Beſten der
Angeſtellten getroffen.
Die Carl⸗Zeiß⸗Stiftung übernahm regelmäßige
und außerordentliche Zuwendungen großen Maßſtabes
an die Univerſität Jena, beſonders zur Förderung der
naturwiſſenſchaftlichen Studien, aber auch zu einer
Neuordnung der Profeſſorengehälter und u. a. für
den Neubau. In den Jahren 1901 bis 1903 ließ
ſie ein öffentliches „Volkshaus“ errichten mit einer
reichen Leſehalle, Vortrags- und Ausſtellungsſälen
u. dgl.; ſie unterſtützte das 1909 vollendete prächtige
Jenaer Volksbad und andre gemeinnützige Einrich—
tungen. Wie hätten Univerſität und Stadt nicht
wetteifern ſollen, ihrem Abbe nach einem ſolchen
Leben zu danken? Das taten die ſtaatswiſſenſchaft—
*) So verdiente 1912 im Durchſchnitt der vierundzwan—
zigjährige Arbeiter des Zeißwerkes jährlich 2095 Mark,
während die obere Grenze etwa 20 — 21000 Mark betrug.
Abbedenkmal 341
lichen und Phyſikprofeſſoren in Reden, Aufſätzen
und Büchern, und ſie unterließen nicht darauf hin—
zuweiſen, daß in der Perſönlichkeit Abbes Gedanken
Goethes, Kants und Fichtes an ihrer einſtigen
Pflanzſtätte neu erſtanden und gewaltig wirkſam
geworden ſeien. Das tat ein weiterer Kreis 1911
mit der Errichtung des Abbedenkmals, deſſen ge—
drungenen Schutzbau van de Velde erdachte, in
deſſen Wände Meuniers ſchöne bronzene Arbeiter-
reliefs eingelaſſen wurden und in deſſen Mitte Klin—
gers Abbeherme ſteht mit den Andeutungen ſeiner
Entdeckung und Lehre abwärts des geiſteichen
Kopfes. Wer an das eherne Gitter einer der vier
Türen gelehnt hier ſchauend verweilt, den mag es
überkommen ähnlich wie vor vierhundert Jahren
unſere Vorfahren, als ſie ſich zuerſt in Dürers
Melencolia J verſenkten.
Eiſenach
Die drei bedeutendſten Städte des Großherzogtums
Sachſen⸗Weimar⸗Eiſenach find in dem Zeitalter an
der Wende des 19. und 20. Jahrhunderts ſo ge—
wachſen, daß ſich die Einwohnerſchaft von Weimar
zwiſchen 1883 und 1913 von 21000 auf 36 500
vermehrte, die von Eiſenach ſich verdoppelte, von
faſt genau 20000 auf faſt genau 40 000, und die
von Jena ſich reichlich vervierfachte, von knapp
11700 (1885) auf 48 000 (1914).
Was Jena und Eiſenach im Bewußtſein vieler
Deutſchen dieſer Zeit verknüpfte, war der Gedanke
an die Burſchenſchaft. Von dieſen beiden Städten
war ſie ausgegangen, und ihnen beiden war ſie auf
den deutſchen Univerſitätsſtädten während einer
hundertjährigen Geſchichte in dankbarer Treue ver—
bunden geblieben. Was die Väter zuerſt allein,
verdächtigt und verfolgt in Deutſchland gefordert
hatten, hatten die Söhne erſtreiten helfen: ein
geeintes Vaterland; wie es Bismarck ausſprach, als
er am Jenaer Burgkeller den jüngſten Arminen
zutrank: „Ich wünſche der Burſchenſchaft ein fröhliches
Gedeihen; ſie hat eine Vorahnung gehabt, doch zu
Burſchenſchaft um 1900 343
früh. Schließlich haben Sie doch recht bekommen.“
Das dritte Zeitalter der Burſchenſchaft brachte nach
ihrer Vereinigung zu einem gemeinſamen Verband an
den deutſchen Univerſitäten (1881) — wozu die
Burſchenſchafter der techniſchen Hochſchulen und die der
öſterreichiſchen Hochſchulen kamen — die Begründung
der burſchenſchaftlichen Blätter (1887) und die Ver—
einigung alter Herren bei dem Jenaer Jubiläum
fünfundſiebzigjähriger Zuſammengehörigkeit (1890).
Nun nahmen die Burſchen teil an der Unterſtützung
des Allgemeinen deutſchen Schulvereins, des All—
deutſchen Verbandes und des Oſtmarkenvereins, auch
an Arbeiterunterrichtskurſen und an der Pfadfinder—
und Jugendwehrbewegung. Als der deutſch-europä—
iſche Krieg ausbrach, traten ſofort etwa 8600 von
ihnen unter die Waffen; und binnen einem Jahre
beſiegelten mehr als 650 den Wahlſpruch „Ehre,
Freiheit, Vaterland“ mit dem Heldentode.
Die ſtärkere Zuſammenfaſſung des weiteren
Kreiſes in der jüngſten Vergangenheit ermöglichte es,
den Begründern der Burſchenſchaft, ihren Kämpfern
von 1870 und der Erfüllung ihres gemeinſamen
Lebenswunſches auf einer Bergkuppe öſtlich über
Eiſenach eines der ſchönſten deutſchen Nationaldenk—
mäler zu ſetzen. Platzfrage und Entwürfe zu die—
ſem Burſchenſchaftsdenkmal hatten eine zehnjährige
Geſchichte, als 1900 der junge Architekt Kreis und
ſeine Dresdner und Eiſenacher Helfer die Ausführung
344 Burſchenſchaftsdenkmal
begannen. Im Mai 1902 ward es geweiht: die
Fichtenwand weit überragend in engem Rund ge—
ſtellt neun ungeheure Kalkſteinſäulen, im Innern
die hohe Halle mit den Geſtalten von Carl Auguſt,
Wilhelm I., Bismarck, Moltke und Roon unter dem
dunkelglühenden Deckengemälde mit dem Kampf der
Aſen und der Tiefengeiſter, und außen darüber die
züngelnde Steinkrone, aus deren Rundgeſims die
großen Antlitze von Armin, Karl, Luther, Dürer,
Goethe und Beethoven mächtig in alle deutſche
Weite ſchauen.“) f
Zu Beginn des Zeitalters wurden Jena und
Eiſenach auch bisweilen im Namen Luthers zuſammen
genannt. Von Jena ging 1883 Devrients Luther—
feſtſpiel in die deutſchen Städte aus; es wurde
1889 auch in Eiſenach aufgeführt, als der Evangeliſche
Bund hier eine ſeiner erſten Generalverſammlungen
*) Wie dem gleichalterigen Großherzogtum war der
Burſchenſchaft in der zweiten Juniwoche des Jahres 1915 ein
lautes Säkularfeſt verſagt. Aber der ſchlichten Feierſtunde
in Berlin, nach deren Gruß an Kaiſer Wilhelm II. dieſer
im Felde der zahlreichen Männer gedachte, „die aus der
deutſchen Burſchenſchaft dem deutſchen Volke als Führer
und Mitkämpfer für ſeine idealen und realen Güter in Kriegs—
und Friedenszeiten erwachſen ſind“, entſprach eine weſtthürin—
giſche Zuſammenkunft am Eiſenacher Denkmal, auf deren
Gruß an Großherzog Wilhelm Ernſt dieſer antwortete: „Möge
das Mitkämpfen der 8000 Burſchenſchafter für Ehre und Frei—
heit des Vaterlandes nicht vergebens ſein“; vertrauend ſangen
die unter dem Sternenhimmel am Denkmal das lodernde
Holzitoßfeuer umſtehenden Burſchenſchafter „Deutſchland,
Deutſchland über alles“ in die Nacht.
Lutherdenkmal 345
hielt. Vertrat Jena mehr den entwicklungsfähigen
Gedanken der Freiheit eines Chriſtenmenſchen, ſo
erinnerte Eiſenach mehr an die geliebte Perſönlich—
keit des Glaubenshelden; und da dies das beſtimmtere
und faßlichere iſt, ſo behauptete Eiſenach den Vor⸗
rang als Lutherſtadt. Hier, von wo es nicht weit nach
ſeinem Möhraer Stamm- und Verwandtenhauſe war,
hatte er die freundlichſte Zeit ſeiner Jugend erlebt,
vom fünfzehnten bis achtzehnten Jahre an der
Lateinſchule bei St. Georg, hier hatte ſich Frau
Cotta des Jünglings um ſeines andächtigen Singens
und herzlichen Betens willen angenommen; auf der
Wartburg hatte er als gehegter Gefangener das
neue Teſtament verdeutſcht. Kein Wunder, daß
der Wunſch mancher Stadt, aus Anlaß der Vier—
hundertjahrfeier von Luthers Geburtstag ſein Stand—
bild zu errichten, auch in Eiſenach Wurzel jchlug.*)
1889 legte man den Grundſtein dazu, Donndorf
übernahm die künſtleriſche Arbeit, und im Frühling
1895 — am 4. Mai, wie einſt Luther auf der
Wartburg eingetroffen war, — fand auf dem Karls—
platze in Anweſenheit des Großherzogspaares und
vieler hervorragender deutſcher Proteſtanten bis von
*) Es war der um Eiſenach in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts hoch verdiente Julius von Eichel-Streiber,
der die erſte Anregung zur Verwirklichung gab, derſelbe, der
ſpäter auch das Donndorfſche Bismarckdenkmal an der der
Stadt zu gelegenen Ecke ſeines Parkgrundſtückes öffentlich auf⸗
ſtellen ließ. Die Seele des Denkmalsausſchuſſes war Archidia⸗
konus Kieſer, der nachmalige Superintendent von Eiſenach.
346 Luthers Eiſenacher Jahre
Siebenbürgen her die Enthüllungsfeier des ehernen
Reformatorbildes ſtatt.
Luthers wahres Eiſenacher Jünglingsbild belebte
ſich indeſſen dank vertiefter Forſchung mit deut—
licheren Zügen. „Bei Kunz Cotten“ und ſeiner
Frau, deren Wohnung man ſchließlich nicht in dem
zum „Lutherhaus“ am „Lutherplatz“ ausgeſtalteten
alten Gebäude, ſondern an der Stätte des kleinen
Gaſthofs zur Sonne an einer Ecke der Georgenſtraße
fand, hatte ihn die feinere geſellige Hausart befreien
helfen, und in der Georgsſchule hatte er mit erwachen—
dem Bewußtſein einen bildſamen Unterricht genoſſen,
wie ihn an jener humaniſtiſchen Jahrhundertwende
nur eben ein Mann wie der Rektor Trebonius
erteilen konnte, der mit ſeinen Schülern höflich ver—
kehrte. In den Wäldern und Tälern um die
Wartburg hatte er ſtreifen können und Erdbeeren
pflücken; am Aufſtieg zur Wartburg war auch das
von Frau Cottas Verwandten geſtiftete Eliſabethkolleg
gelegen, deſſen Franziskaner ihm geneigt wurden.
Am Domſtift hatte ihn ſich der Vikar Braun zu
höflich ergebenem Danke verpflichtet, und mit Vetter
Konrad, dem Küſter der Nikolaikirche, auf deſſen
Verkehr es wohl der Vater mit abgeſehen hatte,
als er den Schulknaben nach Eiſenach ſchickte, blieb
er gut Freund und lud ihn 1509 zu ſeiner erſten
Meſſe ein. Ja, es iſt wahrſcheinlich geworden,
daß ein Wunſch Luthers berückſichtigt wurde, als
Weimarer Lutherausgabe 347
man ihn nach dem Wormſer Reichstag gerade auf
der Wartburg nächſt ſeiner „lieben Stadt“ Eiſenach
in Sicherheit brachte.
Die Lutherforſchung der jüngſten Vergangenheit
iſt mit dem thüringiſchen Großherzogtum auch durch
die große kritiſche Geſamtausgabe von Luthers
Werken aus dem Verlag und der Druckerei von
Hermann Böhlau verknüpft. Mit Unterſtützung Kai—
ſer Wilhelms J. und des preußiſchen Kultusmini—
ſteriums wurde ſie unternommen; Großherzog Carl
Alexander richtete an die evangeliſchen Herrſcher
Deutſchlands die Bitte um ihre Mithilfe zur Ver—
breitung des weitläufigen Werkes. Luthers Schriften
und Predigten, Studien und Sendbriefe, Vorworte,
Tiſchreden und Bibelüberſetzung wurden nur in dieſer
„Weimarer Ausgabe“ in einer allen wiſſenſchaftlichen
Forderungen unſerer Zeit völlig entſprechenden Weiſe
geſammelt veröffentlicht, der Zeit ihrer Entſtehung
nach, ſo daß ſich ſein geiſtiges Werden und religiöſes
Denken Schritt für Schritt ſelbſt darlegte. Seiner
Sprache, die Jacob Grimm „Kern und Grundlage
der neuhochdeutſchen Sprachniederſetzung“ genannt
hat, wurde hier zum erſtenmal ganz ihr Recht. Eine
Reihe tüchtiger deutſcher Theologen (Knaacke, Kawerau,
Müller u. a.) und Philologen (Pietſch, Brenner,
Kroker uſw.) aus dem Norden und Süden des Vater—
landes arbeiteten daran mit. 1883 erſchien der erſte
der ſtarken Quartbände; als 1914 im einundfünfzigſten
348 Deutſche evangeliſche Kirchenkonferenz
Band die letzten Predigten Luthers neben anderlei
Quellen mitgeteilt wurden, konnte der Herausgeber
dieſes Miſchbandes darauf hinweiſen, daß ſich das
Werk dem Ende neige.
Großherzog Carl Alexander, der Nachkomme Fried—
richs des Weiſen, begünſtigte Eiſenach als Lutherſtadt
gerne. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts tagte
aller zwei Jahre hier die Deutſche Evangeliſche
Kirchen-Konferenz: ihr ſtellte er für ihre Verhand—
lungen den Saal ſeines Reſidenzſchloſſes am Markte
zur Verfügung und für ihren Eröffnungsgottesdienſt
die Wartburgkapelle. So wurde es zwei Menſchen—
alter über gehalten, und wenn die Ergebniſſe dieſer
Konferenzen nicht ſo viel zu einer formellen Einigung
der evangeliſchen Landeskirchen Deutſchlands und
Oſterreichs beigetragen haben, wie der oder jener er—
wartete, ſo iſt doch die regelmäßige perſönliche Begeg—
nung, die unmittelbare Verſtändigung der Vertreter
all dieſer Kirchenregierungen in der Mitte Deutſch—
lands von hohem Wert geweſen. Zu vielen kirchlichen
und religiöſen Zeitfragen konnten ſie hier gemein—
ſam Stellung nehmen und manche Beratung über
Sonderrechte und Geſamtwohl unſerer evangeliſchen
Landeskirchen pflegen, manchen Rat erteilen. Später
trat übrigens eine zweite Eiſenacher „theologiſche
Konferenz“ zur Förderung wiſſenſchaftlicher Fortarbeit
zuſammen, begründet und geleitet von dem Eiſenacher
Superintendenten Kieſer, der ſich auch als Organiſator
r
a"
J. S. Bach in Eiſenach und Weimar 349
der Generalverſammlungen des Guſtav-Adolf-Vereins
und des Evangeliſchen Bundes bewährte und 1915
das Kurrendeſingen in Eiſenach wieder einführte.
Der größte Diener der evangeliſchen Kirche ſeit
Luther war Johann Sebaſtian Bach; er iſt in
Eiſenach geboren. In dem weimariſchen Großherzog—
tum des 19. Jahrhunderts war der alte Goethe einer
der erſten, der Bach in ſeinem Heimatlande wieder
zu würdigen vermochte. Als dann Bachs Werke in
der 1850 begonnenen großen Ausgabe der Bach—
geſellſchaft in ihrer Geſamtheit zum erſtenmal auf
Deutſchland zu wirken begannen, ging man auch
ſeiner thüringiſchen Entwicklung ſo genau wie möglich
nach. Spitta ſtellte feſt, daß ſich dereinſt für den
fünfundzwanzigjährigen Bach gar kein günſtigerer
Platz hätte denken laſſen als die Stelle eines Hof—
organiſten und Kammermuſikus unter Herzog Wil—
helm Ernſt in Weimar, in der er (1708 bis 1717)
viele Orgelwerke und die erſte größere Reihe ſeiner
Kirchenkantaten ſchuf. Und er wies auch auf den
muſikaliſchen Ruf Eiſenachs zur Zeit von Bachs
Kindheit Hin*) und durfte annehmen, daß der mit
einer ſchönen Sopranſtimme begabte Knabe gegen
1695 in der Kurrende ſingend durch dieſelben Straßen
Eiſenachs gezogen ſei wie zweihundert Jahre früher
*) Ein Eiſenacher Annaliſt jener Zeit hat gejagt: Claruit
semper urbs nostra Musicä. Et quid est Isenacum zar'
dv ay. quam en musica: vel Isnacum, canimus?
350 Bachdenkmal
Luther. 1864 tauchte zuerſt der Gedanke eines
Eiſenacher Bachdenkmals auf; als 1867 die Stadt
an dem Geburtshauſe Bachs am Frauenplan eine
Gedenktafel anbringen ließ, bildete ſich ein Denk—
malsausſchuß, dem Eichel-Streiber als Vorſitzender
und Fritz Reuter angehörten. Liſzt, Bülow, Joachim
wirkten dafür, in der Mitte der ſiebziger Jahre
waren die Mittel geſichert, und wieder erſchien
Donndorf als der berufenſte Künſtler, das Stand—
bild zu ſchaffen. Er ſtellte die Kraft des thüringer
Volkstums in ſeinem Bach dar und prägte deutſchen
Verſtand und Witz in dem Kopf aus: ſo wurde das
Denkmal Ende September 1884 enthüllt vor der
Georgskirche, in der man unmittelbar darauf die
H-Moll-Meſſe andächtig ſtaunend zum erſtenmal
in Eiſenach vernahm.
Als im Jahre 1900 die alte Bachgeſellſchaft
mit der Vollendung der Ausgabe von Bachs Werken
ihre Arbeit getan hatte und ſich auflöſte, trat ſofort
eine Neue Bachgeſellſchaft ins Leben, um dieſe
Werke nun der muſikempfänglichen Gegenwart
vermitteln zu helfen durch Aufführungen wie durch
Erörterungen von mancherlei dabei noch ungeklärten
Fragen. Sie verknüpfte ſich mehrfach mit Eiſenach. Ihr
dortiges Mitglied Bornemann regte an, daß ſie 1906
das Geburtshaus Bachs erwarb; und diesmal war
es die Berliner Singakademie, die durch Eiſenacher
Bachkonzerte 1905 einen großen Teil der Mittel
Bachmuſeum 351
dafür beſchaffte. Bornemann entledigte ſich mit
Liebe und Geſchick des Auftrags, das Haus als
Bachmuſeum einzurichten, indem er aus altem Eiſe—
nacher Beſitz an feſtem und beweglichem Gerät zu—
ſammengewann, was zur Ergänzung der Vorſtellung
von Bachs Geburtshaus dienen konnte, und Bilder
und Schriftſtücke des Bachſchen Kreiſes, Muſikalien und
alte Inſtrumente hinzuerwarb, daß ſich anheimelnde
Muſeumszimmer neben den alten Wohnzimmern
füllten. Ende Mai 1907 hielt die Neue Bachgeſell—
ſchaft ihr drittes Bachfeſt in Eiſenach; und ob wohl
„Dir, dir, Jehovah, will ich ſingen“ aus den Kehlen
der Leipziger Thomaner je ſo herzergreifend geklungen
hat, als wie ſie es damals vor der Tür des zu
eröffnenden Bachmuſeums ſangen? Das Haus am
Eiſenacher Frauenplan wurde wie das am Weimarer
Frauenplan zu einer Wallfahrtsſtätte; von Danzig
bis Straßburg kamen ſie, der pommerſche Kantor,
der weſtfäliſche Organiſt, der ſchwäbiſche Paſtor,
auch der holländische Bachfreund und der deutſch—
amerikaniſche Profeſſor, und manche Bachtakte im
Fremdenbuch bezeugten ihre große geheime Liebe
zu dem mitteldeutſchen Meiſter. 1910 wurde die
wertvolle Sammlung alter Inſtrumente aus dem
Beſitz des früheren Weimarer Kapellmeiſters Obriſt
der Neuen Bachgeſellſchaft geſchenkt und dem Bach—
hauſe eingefügt: deſſen Beſtand an dergleichen ſtieg
nun faſt auf 200 Stück und wurde durch einen lehr—
352 Kleine Bachfeſte; Wartburgbibliothek
reichen Katalog in enge Beziehung zu Bachs Werken
gebracht. Wiederholt fanden ſeitdem „kleine Bachfeſte“
in Eiſenach ſtatt, auch Muſik von Bachs leiblichen und
Kunſtverwandten erklang da: und ſolche gediegene
altdeutſche und altitalieniſche Kunſt von den Virtuoſen
Berlins, Leipzigs und Thüringens in Eiſenach einmal
vorgetragen zu hören, welchen Kenner und Freund
dieſer Schätze hätte das nicht anziehen ſollen? Der
heiligen Ordnung von Bachs Muſik vergleicht ſich
die des deutſch-europäiſchen Krieges, wo die Über—
wältigungen der feindlichen Völker aufeinander folgen
wie die Stimmen einer großen Fuge.
So ſind es tiefere geſchichtliche Wurzeln deutſchen
Geiſtes und thüringiſcher Art, die in dem bergum—
grünten Eiſenach zu uns ſprechen, als in Weimar und
Jena. Damit vereint es ſich, daß Carl Alexander 1889
in Eiſenach eine Bibliothek zur Pflege thüringiſcher
Geſchichtskunde unter feinem Namen gründete und
in Räumen der alten Dominikanerkirche beim Gym—
naſium aufſtellen ließ und ihr auch die Wartburg—
bibliothek einfügte, die man auf Anregung des Wart—
burgbibliothekars Richard Voß zum größten Teil in
den Jahren 1885 und 1886 zuſammengebracht hatte!),
und daß 1899 in den unmittelbar anſtoßenden alten
Kirchenräumen ein Thüringer Muſeum von Alter—
*) Der Dresdner Sammler Klemm beſchaffte dafür u. a.
faſt 900 Originaldrucke aus der Reformationsliteratur des
16. Jahrhunderts, darunter 200 der wichtigſten Lutherſchriften
aus den Jahren 1516 bis 1523.
Wartburgbeſuch um 1900 353
tümern und Gewerbekunſt eröffnet wurde. Vor
allem galt aber Carl Alexanders Eiſenacher Liebe
bis zuletzt ſeiner Wartburg, und die Eiſenacher
Bürgerſchaft konnte ſein Denkmal, das ſie von der
Hand des ihr entſtammten Bildhauers Hoſäus 1909
errichtete, nicht beſſer aufſtellen als an der freien
Wegecke des großherzoglichen Karthäuſergartens mit
der Wendung zum Schloßberg, wo ſich ſeine ſchlichte,
vornehme Geſtalt zugleich mit dem ſchönſten Eiſenacher
Wartburgblick jedem Wanderer einprägt.
Was die Wartburg im jüngſten Zeitalter unſerer
Geſchichte für Kaiſer und Reich geweſen iſt, wer
will das ermeſſen? Kaiſer Wilhelm II. iſt ſeit ſeinem
Regierungsantritt bis zum Jahre 1905 faſt alljährlich
ihr Gaſt geweſen, 1898 zuſammen mit fünf Söhnen.
1895 ſuchte Prinz Leopold von Bayern ſie auf, der
zwanzig Jahre ſpäter Warſchau eroberte. 1890 waren
Wiſſmann und ſeine Gefährten da, um einen tiefen
Heimatseindruck mitzunehmen, ehe ſie wieder in den
ſchwarzen Erdteil eindrangen. Wildenbruch, Lienhard
und andere haben ſie neuerdings beſungen. Gegen
Ende des Zeitalters ſtiegen Vaterlandsliebe und
Wartburgbeſuch wohl gleichmäßig: 1910 wurden
etwa 70000, 1911 100 000, 1912 150 000 Beſucher
gezählt.
Der alte Großherzog am Ausgang des 19. und
der junge am Beginn des 20. Jahrhunderts genoſſen
ihre Hausherrſchaft an dieſer ſchönſten deutſchen
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 23
354 Neue Wartburgausſtattung
Burg gewöhnlich einige Wochen im Frühling. Der
Beſitz war eingerichtet, nur vervollkommnen ließ er
ſich noch. Ende 1885 übernahm der junge Dittmar
das vorher von ſeinem Vater innegehabte Amt eines
Bauleiters der Burg: ſeine erſte Arbeit wurde die
erſehnte künſtliche Waſſerzuführung, und 1900 wurde
dieſe zu einer dreizehn Kilometer langen reichlich
ſpendenden Leitung ausgebaut. Ende der achtziger
Jahre konnte nun auch die mittelalterliche Badeanlage
noch geſchaffen werden, ein doppelgeſchoſſiger Raum,
an orientaliſches Vorbild erinnernd. 1893 erhielten
die Wartburgbewohner telephoniſche Verbindung nach
Eiſenach, 1898 die Wohltat einer Niederdruckdampf—
heizung und 1899 elektriſches Licht. Noch immer
fand ſich ein und das andere vorzügliche Kunſtwerk
deutſchen Altertums herzu, um 1897 z. B. die wohl
im 11. Jahrhundert gewebte Altarbekleidung mit
Chriſti Geburt aus dem Elſtertal: ſie wurde im
Zimmer des Burgherrn aufgehängt wie ſpäter das
farbenfriſche Kölner Dreiheiligenbild aus Bruyns
Werkſtatt. An die Wände der früher nicht völlig
ausgeſtatteten Kemenate der Eliſabeth ſtiftete Kaiſer
Wilhelm II. Glasmoſaikdekorationen mit Darſtellungen
aus dem Leben dieſer Heiligen, ſtreng althieratiſche
Entwürfe, im einzelnen teilweiſe modern empfunden;
als ſich ihr erſter Überglanz milderte und ihnen
eine gedämpfte Beleuchtung zu teil wurde, fügten
ſie ſich der künſtleriſchen Geſamtſtimmung der
Wartburgkommandanten 355
Wartburg ein, obgleich ſie ein neues Zeitalter der
Burgrenovation andeuteten, ein mehr formal als
individuell gehaltenes. Zwei der ſchönſten alten
Schränke der Burg mit gotiſcher Schablonenmalerei
ließ der Kaiſer für die preußiſche Marienburg genau
nachahmen.
Die Wartburg fortwährend zu beſorgen und zu
betreuen, jeden Schaden im Entſtehen zu beſeitigen,
die Sprache dieſes ſteinernen Märchens unter pein—
licher Bewahrung all ſeiner Züge bei friſchem Klang
zu erhalten, das war die Aufgabe des Wartburg—
kommandanten. Auf Bernhard von Arnswald folgte
1878 ſein Bruder Hermann; er hegte die Burg
in gleichem Sinne wie jener bis 1894. Dann über—
nahm Hans Lucas von Cranach das ſchöne Amt im
Herzen Deutſchlands. Großherzog Carl Alexander
war in den ſiebziger Jahren, als Weimar mit der
Cranachſchen Familie um des Reformationsmalers
willen in Berührung trat, auf ihn aufmerkſam ge—
worden, 1876 war er in das 94. Regiment eingetreten
und bald auch auf der Wartburg eingeführt worden.
Und er verwuchs doppelt mit ihr, die ſeines Alt—
vordern Meiſterſtücke in Luthers Elternbildniſſen hegt,
indem er das Erbe ſeines Ahnen auch als perſönlichen
Beſitz in dem teuren, wunderbaren Heim da oben
pflegen konnte.
Von allen Schätzen der Wartburg haben die
Gäſte des jüngſten Zeitalters die Lutherſtube als
23*
356 Junker Jörg
den größten empfunden.*) Der Ritterſang iſt ver-
klungen, die Lebenswerte unſerer mittelalterlichen
Dichtung neuen Zeiten einzuimpfen hat man nur
in zu kleinen Kreiſen vermocht; Schwinds Bilder,
Carl Alexanders Geſamtausſtattung der Burg, die
fürſtliche Pflege ihres Berggeländes beglücken die
Deutſchen. Aber wer hinter Luthers Schreibtiſch ſte—
hend durch das halb geöffnete Butzenſcheibenfenſterchen
nach den Werrabergen hinausſah, der hat eine Er—
innerung an geiſtige Strahlkraft, die faſt über alles
Menſchenwerk iſt. Und was der „Junker Jörg“ **) in
jenen zehn Monaten von Mai 1521 bis März 1522
durchgemacht hat, iſt uns erſt jetzt deutlich geworden.
Er ſchreibt' gegen die alte Kirche Von der Beicht
und widmet die Blätter einem andern Burgſaſſen,
Franz von Sickingen. Er vollendet für den Kur—
prinzen Johann Friedrich die Überſetzung des Magni-
ficat, in der er die Marienlegende ein letztes Mal
herzlich anklingen läßt. Er fördert ſeine Poſtille,
d. h. er ſchafft an ſeinem Muſterjahrgang von Pre—
digten, und es wird nach ſeiner Meinung das beſte
Buch, das er je gemacht habe, nach unſerm Wiſſen
ſein volkstümlichſtes. Er überſetzt Melanchthons
*) Daher auch Anknüpfungen wie der Titel „Die Wart-
burg“ auf einer führenden Wochenſchrift des evangeliſchen
Deutſchlands u. dgl.
**) Mit dieſem Schutz⸗ und Trutznamen ſchließt ſich
Luther an die Wartburgritterſchaft vor dreihundert und mehr
Jahren an, die ihrem Heiligen in Eiſenach die St. Georgs—
kirche erbaut hatte, wo er in die Schule gegangen war.
Winter 1521/22 357
Apologie gegen die Sorbonne und verſieht ſie mit
Vor⸗ und Nachwort. Er begrobſt den Papſt zu
Neujahr. Er bringt es nicht fertig, nicht gegen
den „Abgott zu Halle“ zu ſchreiben, gegen die un⸗
geheuerlich abergläubiſche Reliquienausſtellung des
Erzherzogs Albrecht. Er tröſtet ſeine daheim in
Verwirrung geratene Gemeinde mit einer Auslegung
des 37. Pſalms „an das arme Hänflein Chriſti zu
Wittenberg.“ Er widerlegt Emſer. Mönchsgelübde,
Meſſenmißbrauch, Kloſterſtürmer beſchäftigen ſeine
Feder, aber auch ſein Herz ſo, daß er Anfang De—
zember auf wenige Tage einen geheimen Ritt nach
Wittenberg wagt. Kaum zurückgekehrt ſchreibt er
die „treue Vermahnung an alle Chriſten ſich zu
hüten vor Aufruhr und Empörung.“ Und endlich,
mitten in Winterſchnee und tiefſter Stille, überſetzt
er von Ende Dezember bis Ende Februar das Neue
Teſtament: mit dieſer Heldenarbeit gewinnt er ſelbſt
eine letzte Stufe der Schrifterkenntnis und Deutſchland
die beſte Chriſtenwaffe, gegen Rom und für ſich.
Jena reizt uns zur Tat, Weimar lockt uns zur
Form, Eiſenach hilft uns zum Glauben.
Jahrhundertwirkung
Wenn es wahr iſt, daß auf ein naturergebenes
Zeitalter in der Regel ein ſtilforderndes folgt, die
ſich gegenſeitig nicht leicht verſtehen, ſo wird zwiſchen
den in längeren Abſtänden wiederkehrenden natur—
frohen Zeitaltern unter ſich ebenſo wie zwiſchen den
formbewußten unter ſich eine verhältnismäßig gute
Erkenntnis und Würdigung der früheren durch die
ſpäteren, ein beſonders tiefgreifender Anſchluß dieſer
an jene ſtattfinden. Was an der Wende vom 18.
ins 19. Jahrhundert erſtrebt und geſchaffen wurde,
wirkte zwar, allmählich nachlaſſend, über die zwei
Geſchlechter um die Mitte des 19. Jahrhunderts fort,
aber erſt an der Wende vom 19. zum 20. Jahr⸗
hundert war wieder ein neues Streben und Schaffen
lebendig, deſſen Sinn dem vor hundert Jahren im
Grunde ähnelte. Der Wille zum Stil erhob ſich
um 1900 über die um 1865 vorherrſchende Natur—
nachahmung ebenſo, wie der um 1800 über die von
etwa 1765. Freilich hatten ſich inzwiſchen die Be—
dingungen verſchoben, ſo daß die höchſten Werte auf
andern Gebieten erzielt wurden: die neue Philo—
ſophie, Dichtung und Muſik kam jener älteren an
.
Führerſchaft der bildenden Kunſt um 1900 359
menſchlicher Bedeutung nicht gleich, die jetzige Ver—
kehrstechnik, Raumſchöpfung und Flächenkunſt aber
übertraf die damalige. Diesmal ſtanden Maſſe und
Augenſinn im Vordergrund der Entwicklung, während
es ſich damals zuvörderſt um das Einzelweſen und
den Gehörsſinn gehandelt hatte. Was ergaben ſich
daraus für Beziehungen zwiſchen dem carl-auguſtiſchen
Erbe Weimars und der deutſchen Bildung des jüngſten
Menſchenalters?
Die bildende Kunſt, die jetzt eine ungewöhnlich
kräftige und glänzende Stilperiode erlebte, ſchoß
nun bereits im zweiten Geſchlecht den Schweſter—
künſten voraus. Indem ſie zu voller Selbſtherrlichkeit
erſtarkte, warf ſie die Knechtsarbeit der Dichternach—
bildung hinter ſich; die Zeit der illuſtrierten Klaſſiker—
ausgaben war ſeit 1890 mit einem Schlage vorüber.
Entweder wagte ſie eigene Gedanken des bildenden
Künſtlers darzuſtellen, oder ſie hielt ſich an allgemein
gültige Augenſymbole, oder ſie verpönte, am rechten
und am unrechten Ort, jeglichen Gedanken, wodurch
um 1910 nicht ſelten eine Leere erreicht wurde, die
der Ode zum Verwechſeln ähnlich war, als der
Formtrieb auf dem Wege über das Formbewußtſein
zum Formdünkel entartete. Jedenfalls aber erlaubte
ein Werk wie Goethes Fauſt der Phantaſie des Zeich—
ners, Gebilde zu treiben, wie ſie Staſſen im An—
ſchluß an das Bühnenbild und Schneider und Kolbe
als Rahmenzeichnungen zu der Dichtung entwarfen.
360 Fauſtiſches bei Klinger
Wie ſich Klinger Einzelheiten der goethiſchen
Fauſtdichtung zu eigen gemacht hat, zeigen gelegent—
liche Außerungen ſeiner mannigfaltigen Kunſt. Wenn
der erſte Radierungsverſuch des Einundzwanzigjährigen
in mondbeglänzter Gebirgslandſchaft eine Sphinx dar—
ſtellt, deren ägyptiſcher Kopf mit kecken Rätſelaugen
zum Sprechen verlebendigt worden und deren Löwen—
leib aus der glatten ſtarren Plaſtik in ſchmiegſame
bepelzte Natur zurücküberſetzt iſt, ſo erinnert das an
die Sphinx der theſſaliſchen Walpurgisnacht und wird
kaum ohne ſie entſtanden ſein. Ein Zitat aus der
deutſchen Walpurgisnacht ſchrieb Klinger in die
Blätter des Aſtes, unter denen die Ballettänzerin,
zwei Apfel in den erhobenen Händen, den Mann
am Schlangenbaum grüßt: „Der Apfelchen begehrt
ihr ſehr“; das Blatt war als Titel zu Einem Leben
gedacht. Auf dem grauvioletten Marmorſockel ſeines
Beethoven hatte Klinger urſprünglich die Worte ein—
gemeißelt: „Der Einſamkeiten tiefſte ſchauend unter
meinem Fuß“ und damit an den ganzen Monolog
erinnert, wo dem Fauſt noch einmal Helena, dem
alten Goethe noch einmal die griechiſche Schönheit
rieſengroß als Wolkengebild im Auge ſchwankt. Und
auf der Rückſeite des Beethoventhrones flog um
den Jüngling, der von der Kreuzigungsgruppe auf
die Venus zuſtürzt, urſprünglich ein Spruchband:
„Wer frech iſt, der muß leiden.“ Das irdiſch-unter—
irdiſche Titanengewühl auf der Predella des Chriſtus
— ;
Gedichtete und radierte Zueignungen 361
im Olymp, ſo neu es als Ganzes iſt, erinnert an
den Seismos und die Mütter im Fauſt. 1914
ſchuf Klinger die Radierung, auf der ein Starker
ſich immer noch mit der Rieſenarbeit abmüht, den
Block mit den vier Fakultäten darauf bergan zu
wälzen, während nebenan ein leichtes Zeppelinſchiff
durch den Weltraum ſurrt: wir vernehmen das Ach!
der erſten Fauſtzeile neu in tiefſter Seele und emp—
finden nur einigen Troſt durch den Fortſchritt der
Technik; nach Theſſalien zu fliegen bedarf es keines
Zaubermantels mehr.
Wer durch ſolche Andeutungen zu erkennen gibt,
wie fauſtiſches in ihm webt, ſollte bei dem nicht
auch Goethes ſonſtige Dichtung anklingen? Wie
Goethe verwendet Klinger wiederholt das Wort
Zueignung; er zeichnet und radiert ſeine Zueig—
nungen, und wie ſich für Goethe im Jenaer Saal—
tal der Nebel teilt, ſo für Klinger der Kerzenrauch
über dem Zeichentiſch, daß ihnen darin das Götter—
bild der Wahrheit erſcheint. Wie Goethe als neuer
Amadis, neuer Pauſias, neuer Kopernikus dichtet,
ſo ſchafft Klinger „die neue Salome“. Bald nähert
ſich ſeine Phantaſie der goethiſchen bis an die
Grenze der Illuſtration, bald quillt ſie wie ein
neuer, gleicher Strahl aus der Tiefe. „Lilis Park“
reizte Klinger 1883 zu einer Federzeichnung: er ſetzt
Lili an die Ecke des Parkgemäuers, mit der Futter—
ſchüſſel auf dem Schoß, das Geflügel drängt ſich um
362 Lilis Park; Elyſium
ſie, wie Goethe es ſchildert, einen Täuberich fügt
Klinger hinzu, der an dem Zuckerſtückchen in ihrer
erhobenen Linken pickt und den ſie ganz, ganz leiſe
am Köpfchen krauelt; hinten über der Parkmauer
lehnt der junge Mann, der ſoeben die Idee zu dem
Gedicht faßt und auszudenken anfängt. Der bekränzte
Taſſo träumt ſich an einen klaren Bach zwiſchen Bäumen
und Felſen und von dieſem ſein Bild als das eines
elyſiſchen Jünglings widergeſpiegelt, der denke:
Käme doch
Ein andrer und noch einer, ſich zu ihm
In freundlichem Geſpräche zu geſellen!
O ſäh ich die Heroen, die Poeten
Der alten Zeit um dieſen Quell verſammelt,
O ſäh ich hier ſie immer unzertrennlich,
Wie ſie im Leben feſt verbunden waren!
So bindet der Magnet durch ſeine Kraft
Das Eiſen mit dem Eiſen feſt zuſammen,
Wie gleiches Streben Held und Dichter bindet.
Homer vergaß ſich ſelbſt, ſein ganzes Leben
War der Betrachtung zweier Männer heilig,
Und Alexander im Elyfium
Eilt, den Achill und den Homer zu ſuchen.
O daß ich gegenwärtig wäre, ſie,
Die größten Seelen, nun vereint zu ſehen!
Das hat uns Klinger in der Aula der Leipziger
Univerſität herrlich an die Wand gemalt, als ob ihn
Goethes Verſe an den elyſiſchen Quell geleitet hätten.
Taten ſie es nicht, ſo iſt der Einklang noch merk—
würdiger; taten ſie es, ſo dachte Klinger doch das
Ganze eigen durch, fügte an der wiſſenſchaftlichen
Klinger, Schiller und Carſtens 363
Stätte vor allem die bedeutenden Philoſophen hinzu
und verwandelte den ſehnſüchtigen Traum in reiche
Gegenwart. So gab auch ſein Chriſtus im Olymp
eine neue Antwort auf die ſtolze Dichterfrage: „Wer
ſichert den Olymp, vereinet Götter?“ und erwies
damit den Vorrang der bildenden vor der redenden
Kunſt unſerer Tage.
Dasſelbe Gemälde iſt auch ſchillerſchen Gedanken
verwandt. Es erhebt ſich gegenüber den Göttern
Griechenlands, es ſpiegelt etwas aus den Vier Welt—
altern wider. Kaſſandra kam Klinger in den Sinn,
als er einen Frauenkopf aus einem Block Seravezza—
marmor hieb; ſo ergänzte er ihn nach der Vor—
ſtellung, die uns Schiller gegeben hat. War doch
Klingers erſter bildhaueriſcher Verſuch eine bis jetzt
unbekannt gebliebene Büſte unſeres Schiller.
Die Klingerſche Homergruppe auf dem Elyſium—
gemälde iſt die großartige Erneuerung einer Idee
von Carſtens, die die Deutſchen aus dem Weimarer
Muſeum kennen. Als einſt jenes Carſtensſche Blatt
in Weimar eintraf, gaben die Weimarer Kunſtfreunde
auf, das Menſchengeſchlecht vom Element des Waſſers
bedrängt darzuſtellen (man denkt an Mephiſtos Hülfe
zum Siege des Kaiſers); eine größere Parallelaufgabe
löſte Klinger auf ſeinem Ehrenblatt der Dresdner
Hygieneausſtellung: das Waſſer als Bedränger
der Wilden, als Befreier einer neuen, beſſeren
Menſchheit. Schadows und Goethes Bemühungen
364 Thoma und Goethe
um Reliefs am Roſtocker Blücherdenkmal blieben
Zwitter; was ſie meinten und ſollten, erfüllte Klinger
an ſeinem Beethoventhron.
Wenn jemand im neuen deutſchen Reich, ſo
hatte Hans Thoma das Recht, ſein Wörtlein zu
Goethes Gedicht „Amor als Landſchaftsmaler“ zu ſagen.
Als er 1886, ſich auf eine ausſichtsreiche Felsſpitze
denkend, den vom Rücken geſehenen nackten geflügelten
Knaben vorn neben ſich entwarf, wie er mit dem röt—
lichen Zeigefinger den Talgrund für den Liebesblick
des Malers zu ſchaffen ſcheint, mag ihn die erſte
Hälfte des Gedichtes genau geführt haben: Sonnen—
ſchein überm Wolkenſaum, zarte leichte Wipfel friſch
erquickter Bäume, der Fluß, der im Sonnenſtrahl
glitzert, alles iſt da, ſmaragdene Wieſe und blaue
Berge, und wer nun hier hinunter ſchaut, gerät
wörtlich in das Bekenntnis des Dichters,
Daß ich ganz entzückt und neu geboren
Bald den Maler, bald das Bild beſchaute.
Hat uns Thoma doch auch gegen die Jahrhundert—
wende wiederholt das jedem eingeborene Gefühl
Goethes vors Auge gezaubert, das in Fauſt hinauf
und vorwärts dringt,
Wenn über uns im blauen Raum verloren
Ihr ſchmetternd Lied die Lerche ſingt,
Wenn über ſchroffen Fichtenhöhen
Der Adler ausgebreitet ſchwebt
Und über Flächen, über Seen
Der Kranich nach der Heimat ſtrebt.
Neue Fauſtmuſik 365
Wie ihn Goethes Lyrik oft umſchwebte, wenn er
Landſchaften malte, ſo bedeutet in ſeinem Munde
das Bekenntnis mehr als in jedem andern: „Das
Verhältnis der Seele des Deutſchen zu ſeiner Land—
ſchaft iſt wohl in Goethe am ſchönſten und ſtärkſten
zum Ausdruck gekommen.“
Neue Muſik zu Fauſt zu ſchaffen hat ſich das
Zeitalter mehrfach bemüht. Zwar iſt nur zu
vermuten, daß am Anfang dieſer Jahrzehnte aus
Dingelſtedts Verhandlungen mit Brahms wegen einer
Wiener Fauſtaufführung deſſen Tragiſche Ouverture
hervorgegangen ſei. Gegen Ende des Zeitalters
lieferte Weingartner eine umfaſſende Fauſtmuſik;
eindringender haben Draeſeke (1888) und Theodor
Streicher (1911), der Urenkel von Schillers muſikali—
ſchem Jugendfreund, die Oſterſzene in Fauſts Gewölbe
durchmuſiziert, Berger den „Euphorion“ (1899) und
Mahler die Schlußſzene des zweiten Teiles als zweite
Hälfte ſeiner achten Symphonie, d. h. als Antwort
auf das Veni creator spiritus der erſten Hälfte (1910).
Draeſeke ſchloß ſich an die goethiſche Rhythmik noch
natürlich rezitierend an, Streicher legte die Innen—
erlebniſſe ſtark muſizierend zwiſchen den Sätzen aus
und deklamierte dieſe in zerdehnter, neupathetiſcher
Melodik. Es laſſen ſich unzählige Löſungen dafür
*) Es iſt bemerkenswert, daß ſeine Sinfonia tragica
(op. 40) um dieſelbe Zeit entſtand wie dieſe Szene (op. 39);
vgl. das hier über Brahms geſagte.
366 Hugo Wolf
denken; je breiter die Muſik, deſto mehr entfernt fie
ſich von der urſprünglichen poetiſchen Schönheit des
Originals, die in einer kleineren Zeit erſchöpfend wirkt.
Goethes Lyrik hat ſich zu Beginn des Zeitalters
noch einmal mit einem muſikaliſchen Genie vermählt:
in dem Winterviertelſahr von 1888 auf 1889 ſchuf
Hugo Wolf ein halbes Hundert ſtolzer Goethelieder,
die erſten noch in Wien, die meiſten in der Garten—
ſtille von Oberdöbling. Der damals achtundzwanzig—
jährige hatte ſein Talent lange in Schranken ge—
halten, dann waren ſeine Quellen rauſchend hervor—
gebrochen, indem er ſich auf Mörike und Eichendorff
geſtürzt hatte, und nun erlebte er die glücklichſte
Zeit in einſamem, tiefem Bunde mit Goethe;
„ſo recht aus dem Roman heraus“ komponierte er
Ende Oktober die Harfnerlieder und in gleichem Zuge
vom 21. bis 30. Januar zehn Lieder aus dem Buche
Suleika. Seine Kunſt baute ſich auf dem Erbe von
Schumann, Loewe und Liſzt auf, er durchdrang es
mit friſcher Kraft und raffinierter Harmonik; ſein
muſikaliſcher Furor bändigte die Worte in eherne,
bisweilen faſt eintönige Melodiezeilen und tanzte
ſich in der Klavierbegleitung bis an die Grenzen des
Inſtrumentes aus, öfter laut dramatiſierend, jauchzend,
lachend und pfeifend, manchmal auch innig ſpinnend.
Ein gewiſſes Monumentales an Goethe hatte keiner
der vorhergehenden Komponiſten ſo herausgeriſſen,
niemand den Witz Goethes ſo grandios grotesk gepackt,
Goethiſche Lieder und Geſänge um 1900 367
und alles, ſo ſchnell es geworden war, ſtrotzte von
Fülle des Weſens und Sicherheit der Form. Daß
er barocke Überſpannung mit manchem ſeiner Lieder
vermittelte, ſprach er ſelbſt am beſten bei einem aus:
„Die Muſik iſt von ſo ſchlagender Charakteriſtik, dabei
von einer Intenſität, die das Nervenſyſtem eines
Marmorblocks zerreißen könnte.“ Da empfand mancher
die beſcheideneren Kompoſitionen Arnold Mendelsſohns,
aus der Enkelgeneration zu Felix Mendelsſohn, als
eine Wohltat für das Zeitalter, die Goethes ſittliche
Güte tiefer zum Ausdruck brachten und auch des
Humors nicht entbehrten, etwa dem Dichterwort einen
Scherz hinzufügen durften wie am Schluſſe der
„Spröden“ das ſachte Herabfallen der Pomeranze,
ſich übrigens ſtrengerer Harmonik und des gediegenſten
Baues befleißigten. Leichter wogen die altgefälligen
Goethelieder von Kahn und die jüngſtmodiſchen von
Vrieslander und Kurt von Wolff.
Am bezeichnendſten für die neue Art der Muſiker—
teilnahme am Weimariſchen Erbe war wohl die
verhältnismäßig große Zahl choriſcher Kompoſitionen
mit Orcheſter, die ihm gewidmet wurde. Und lehr—
reich dabei iſt, wie zu Anfang der junge Goethe,
ſpäter der ältere bevorzugt wurde: das Geſchlecht
an der neunzehnten Jahrhundertwende reifte ebenſo
wie das an der achtzehnten. Die jungen Strauß
und Kahn griffen in den achtziger Jahren nach
Wanderers Sturmlied und Mahomets Geſang, Berger
368 Arnold Mendelsjohn
dann nach dem Geſang der Geiſter über den Waſſern
und Meiner Göttin; Arnold Mendelsſohn brachte
ſchließlich Muſik zum Paria und zu Pandora. Bei
Pandora verzichtete er auf die Bühnenwirkung und
gab nur eine Auswahl der lyriſchen Teile, die er mit
einem neuen Schluß verſah, jo daß eine Art großer
weltlicher Konzertkantate entſtand. Wie er hier
ſtellenweiſe Beethovenſchen Stil mit Geſchick nach—
ahmte, verwirklichte er ein andermal den feinen
Einfall, lyriſche Sätze aus Werthers Leiden als fünf—
ſtimmige Madrigale für Soloſtimmen oder kleinen
Chor trotz Heinrich Schütz zu komponieren; einige
ſpruchartige Verſe Goethes verwandelte er in acht—
und ſechsſtimmige Chöre und ſchloß ſich auch damit frei
der prächtigen Technik des ſiebzehnten Jahrhunderts
an. „Mignons Exequien“ geſtaltete der junge Streicher
zu einem muſikaliſch poetiſchen Werke für gemiſchten
Chor, Kinderchor und Konzertorcheſter.
Dieſe geſelligen oder feſtlichen Klangkörper
wurden auch auf Überſetzungen Herders und Gedichte
Schillers neu angewandt. Mendelsſohn erlas ſich
aus den „Stimmen der Völker“ den „Hageſtolz“ zu
einem größeren Neckreigen und das urſprünglich
ſpaniſche Warneliedchen vom kurzen Frühling zu
einem zierlichen, duftigen Tanzquartett für Frauen—
ſtimmen, und Richard Strauß ſchrieb Männerchöre
über altdeutſche Dichtungen aus derſelben Quelle.
Schiller forderte auch jetzt die ſtärkeren Mittel: zu
Jahrhundertwirkung 369
einem breit geſponnenen ſechzehnſtimmigen Chor
legte Strauß (1897) die Sommerſonnenuntergangs—
ſtimmung des Gedichtes Der Abend auseinander,
und Georg Schumann zeigte (1905) mit Chor und
Orcheſter, daß trotz der Abkehr von ſäkularer Senti—
mentalität Schillers „Sehnſucht“ auch bei den Ur—
enkeln noch in deutſchen Künſtlerherzen lebte.
Dieſe Erneuerungen weimariſcher Gedanken und
Kunſtwerke in Bildern und Muſik der jüngſten Ver—
gangenheit durchdrangen ſich bei der inneren Bil—
dung der Nation mit entſprechenden älteren Werken
ſeit hundert Jahren. Richters, Kaulbachs, Schwinds
Goethebilder übten ihren beglückenden Einfluß weiter,
ja vergrößerten ihn dank einer geſteigerten Repro—
duktionstechnik, Schuberts Lieder klangen im deutſchen
Hauſe der Gegenwart ſo friſch wie bei unſern
Großeltern, und noch iſt der Schlußchor der Neunten
Symphonie herrlich faſt wie die Schöpfungswerke
ſeit dem erſten Tag.
Und die Dichter? Bei ihnen läßt ſich dreierlei unter—
ſcheiden: um 1885 trotziges Eindringen in neues Lebens—
dickicht unter vorwiegender Abweiſung des klaſſiſchen
Ideals, um 1900 theoretiſche Anerkennung Goethes
und Schillers neben der eigenen Produktion, gegen
1915 gelegentliche Hinwendung dieſer Produktion unter
die Sonne Weimars.
Einer von denen, die zu Anfang des Zeitalters
trotz ihres guten Willens Schiller gründlich verkannten,
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 24
370 Der Radikalismus und Schiller
war z. B. Bleibtreu, er erklärte das Schillerpamphlet
ſeines Genoſſen Mauerhof für einen hochbedeutenden
Eſſay, und ſeinen Namen bewährend, rannte er auf
dieſem Holzwege weiter und geriet vollends in die
blödeſte Schillerkritik mit Sätzen wie: „Seine künſtlich
erhitzte, innerlich kalte Natur verſteckte ſich hinter ge—
ſchwollener Unnatur. Es möchte ſchwer ſein, irgendwo
bei ihm einen Laut echter Empfindung zu ſpüren.
Nur in der Tellgeſtalt findet er natürliche Töne, doch
auch hier entpuppt ſich dies angebliche Sinnbild der
Demokratie als Spießbürger mit Privatrache aus
Familiengefühl. Denn Schiller vertritt nicht radikalen
Idealismus, ſondern lauwarmen bourgeoiſen Libera—
lismus, ein Knecht der ideologischen Phraſe.“ Goethes
Art imponierte dieſen Jungen mehr; aber als ſchaffende
gingen ſie doch auch in einem möglichſt weiten Bogen
um ihn herum. Wenn ſich damals für viele jüngere
Geiſter ſo etwas wie eine plötzliche größere Entfernung
von Goethe und Schiller herſtellte, ſo hatten die meiſt
ſozialiſtiſch gefärbten Dichtergehilfen des Naturalismus
der achtziger Jahre ihr Teil an dieſer Wirkung.
Als Deutſchland 1899 den hundertfünfzigjährigen
Geburtstag Goethes und 1905 den hundertjährigen
Todestag Schillers beging, zeigte ſich allerdings, daß
auch bei denen, die um 1885 naturaliſtiſch zu dichten
begonnen hatten, das Verſtändnis für Stil inzwiſchen
wieder einmal gereift war, und der Nachwuchs ſeit
den neunziger Jahren ſah ſich vollends im Genuſſe
Dichterbekenntniſſe um 1900 055
eines neuen Schönheitsbewußtſeins auf Grund jüng—
ſter pſychologiſcher Entdeckungen. Das bedeutete trotz
des großen äußeren Kulturabſtandes zwiſchen 1900 und
1800, trotz neuer Ziele, ja auch trotz eines zweifellos
laſtenden Konkurrenzgefühls doch wieder eine ehrliche
Bewunderung Goethes und Schillers faſt auf der ganzen
Linie des neuen Dichtergeſchlechtes; und als ſie ſich
äußerte, kam auch zutage, daß die Verblendung in den
achtziger Jahren nur einen Teil der literariſchen Kreiſe
ergriffen gehabt hatte. Detlev von Liliencron ſprach
us: „Bis zu meiner Todesſtunde wird Goethes Einfluß
auf mich währen“, und Karl Henckell wünſchte: „Möge
mich fortan auch der Hauch des Weiſen mit ſeinen
liebenden Kräften dauernd ſegnen.“ Dehmel bekannte
zwar, in ſeiner unreifen Zeit Schiller für einen mäßigen
Dichter und maßloſen Schönredner gehalten zu haben,
erklärte ihn aber nun für den einſichtigſten, gewiſſen—
hafteſten und maßvollſten Künſtler in deutſcher Sprache,
und Hofmannsthal meinte: „Die ungeheure ſittliche
Kraft eines Menſchen wie Schiller wirkt heute ſtärker
durch die Schwungkraft ſeiner Reden und architektoniſche
Kraft des Szenariums als durch die direkten Ideen!
und Reflexionen.“ *)
Schließlich wurde von da aus auch der Schritt zu
unmittelbarem poetiſchen Anſchluß an die klaſſiſche
Kunſt getan, und kein geringerer als Gerhart Haupt—
*) Abſeits hielt ſich Wedekind mit ſeiner Parodie „Erd—
geiſt“.
24%
372 Hauptmann und Goethe
mann gab dafür das bedeutendſte Beiſpiel in ſeinem
Breslauer Jahrhundertfeſtſpiel von 1913. Oder wäre
der Gedanke dieſer Dichtung, den Weltregierer Gott
in Geſtalt eines Theaterdirektors prologiſierend einzu—
führen, nicht ein geiſtreich verknüyfender Abſenker aus
den beiden Vorſpielen des Fauſt? Wären die „deutſchen
Reime“ des Feſtſpiels nicht rhythmiſch und zum Teil
wörtlich genau abzuleiten aus den Fauſtſchen Knittel—
verſen und der Kapuzinerpredigt? Erklängen die
Trimeter von Athene Deutſchland nicht dank der Reſo—
nanz des Helenapathos, und bedeuteten ſie nicht einen
wenn auch geringen Erſatz für das, was der zweite Teil
der Pandora hatte bringen jollen?*)
Dieſe Zeugniſſe aus Dichtermund ſtimmten überein
*) Aus demſelben Jahre noch einige kleinere Beiſpiele,
die freilich auf einem andern Blatte ſtehen: wenn Paul Ernſt
ein Geſchichtchen „Die Bajadere“ erzählt, wo es am Schluſſe,
als ihr Geliebter ertränkt wird, heißt: „Das Mädchen breitete
die Arme aus und ſprang ihm nach in das ruhig fließende
Waſſer“ oder wenn er in der „Liebe in Rom“ ſagt: „Mit
zitterndem Herzen und auf den Spitzen der Füße ging Hermann
weiter in dem ſtillen Garten unter überhängendem Gebüſch
dunkler Zweige, zwiſchen denen goldene große Orangen
glänzten, an alten Marmortrümmern vorbei, welche entlang
aufgeſtellt waren, etwa einem Sarkophag mit eingemeißelten
Amoretten, oder Säulenknäufen und einem Römerbilde in
der Toga und mit aufrechter Haltung“, ſo erinnert das an
die barock kopierenden Entlehnungen, die man ſich um 1600
aus der Kunſt Dürers geſtattete. — (Spittelers „Glockenlieder“
ſind in bewußt modernem Gegenſatz zu Schillers „Lied von
der Glocke“ erfunden und fein „Prometheus und Epimetheus“
zu der entſprechenden goethiſchen Dichtung.)
Mancherlei Urteil und Leſeſtoff 373
mit dem Verhalten weiterer Kreiſe von Schriftſtellern
und Denkern, von Nachſprechern und Menge. 1889
erklärte Nietzſche in ſeiner „Götzendämmerung“ Schiller
für einen der „Unmöglichen“ und nannte ihn den Moral—
trompeter von Säckingen; damals war es unter mo—
dernen Spöttlingen beliebt, von dem „p. p. Schiller“
wie von einem berüchtigten Subjekt zu ſprechen, und
wenn das in Studentenkreiſen nicht viel heißen wollte,
ſo dachte doch mancher Dozent aus Scherers Schule
ähnlich. Der Beobachtungseifer des Naturalismus war
auf das formell unbedachte Sprechen eingeſtellt,
Räuſpern und Spucken, halbe Verlegenheit und halbe
Verlogenheit einer Rede waren ihm das wichtigſte; daß
es ſo etwas gäbe wie Gedanken mit Lebenswert, ahnte
er nicht und ſah in Schillers Jamben bloß Täuſchung.
Im Jahre 1900, als ſchon ein anderer Geiſt wehte,
wurde zur Beantwortung der Frage: „Was lieſt der
deutſche Arbeiter?“ mitgeteilt, daß in 18 Volksbiblio—
theken Heine 215 mal und Schiller 106 mal, in 16
Goethe 137 mal, in 15 Zola 433 mal und in 9 Haupt—
mann 150 mal geleſen worden ſei. Dann bewies der
Mai 1905 eine Begeiſterung für Schiller und durch ihn,
die ſich auch in der Folge als echter Gewinn bewährte,
denn ſie hatte ihren Grund in dem Reifen des ganzen
Zeitalters, deſſen Entwicklung der klaſſiſchen vor hundert
Jahren parallel ging. Seit Schillers Lebzeiten hat
es keine Zeit anfangs ſo ſchwer gehabt, ihm gerecht
zu werden, und keine ihn zuletzt mit ſolchem Ver—
374 Verminderte Bewertung der Antike
ſtändnis gewürdigt wie die drei Jahrzehnte von 1885
bis 1915.
Die Antike freilich bewundern wir nicht mehr ſo
unbedingt, wie es die beſten vor hundert Jahren taten,
auch wenn antikiſche Baugedanken in unſrer Archi—
tektur noch einmal an Einfluß gewannen. Ein Bild—
hauer wie Klinger hat es uns in ſeinen Werken gezeigt,
daß die neue Plaſtik mit der griechiſchen in die Schranken
treten könne, und wie er ſind wir uns darüber klar ge—
worden, daß als vorzügliche Arbeit auch im Altertum
nur ſehr weniges gelten kann von den Unmengen, die
unſere Muſeen bergen. Auch die Einzelkenntnis der
antiken Mythologie iſt zurückgegangen; und wer be—
dauert das? Iſt doch dafür ein tieferes Vertrauen zu
unſerer Art erwacht, auf Grund einer beſſeren Kenntnis
unſerer Geſchichte, einer beſſeren Zuſammenfaſſung
unſeres Volkes und der Vorbereitung dazu durch die
Weimarer Dichter. Gerade unſern Klaſſikern, ſo innig
ſie der Antike verbunden waren, hat dieſer Umſchwung
keinen Abbruch tun können; ſie ſind ja Deutſche,
und faſt lernen wir die Fabel- und Götterweſen des
Altertums um Goethes und Schillers willen lieber als
einſt um ihrer ſelbſt willen. Die goethiſche Iphigenie
hat in hundert Jahren mehr Wert für die Menſchheit
gehabt als die euripideiſche in der dreiundzwanzigfachen
Zeit. Von Wielands Weimarer Arbeiten iſt möglichen—
falls noch die Horazüberſetzung in der Hand eines treuen
Gymnaſialrektors in Gebrauch; aber wenn eine neue
Wachstum der Goetheliteratur 375
Zeitſchrift „Wieland“ erſcheint, ſo iſt nicht mehr Goethes
Zeitgenoſſe gemeint, ſondern der Schmied der germani—
ſchen Sage. Goethe empfing 1813 als willkommenes
Geſchenk einen zum Spazierſtab umgeformten Palmen—
zweig von der Akropolis, der Reichskanzler Bethmann
Hollweg hundert Jahre ſpäter von ſeinem Kaiſer einen
Spazierſtock aus uraltem Eichenholz vom Speſſart.
Noch ſind wir eines Enthuſiasmus durch die Antike
fähig, aber ihre Hülſe iſt zuſammengeſchrumpft.
Um das Verhältnis des jüngſten Geſchlechts unſerer
Geſchichte zu Goethe anzudeuten, iſt ein Blick auf die
Goetheliteratur notwendig. 1859 hatte ſie Goedeke
noch auf 43 Seiten ſeines Grundriſſes zur Geſchichte
der deutſchen Dichtung verzeichnen können, 1891
brauchte Koch in der zweiten Auflage dazu 192 und
1912 Kipka in der dritten 1774 Seiten. Dieſes Wachs—
tum beruht zum kleineren Teil darauf, daß der ältere
Stoff mit peinlicherer Sorgfalt zuſammengeſtellt wurde,
zum größeren darauf, daß ſich die Beſchäftigung mit
Goethe neuerdings ſtark vermehrt hat. Goethes Be—
ziehungen zu ſeiner Heimatſtadt Frankfurt am Main
ſind z. B. in den fünfunddreißig Jahren von 1850 bis
1885 zwanzigmal literariſch behandelt worden, in den
fünfundzwanzig von 1885 bis 1910 achtzigmal. Seit dem
Erſcheinen des Taſſo im Jahre 1790 entſtand allmählich
eine Literatur über dieſes Werk ſo, daß bis 1815 fünf
Taſſoſchriften vorlagen, in den beiden Menſchenaltern
darauf bis 1883 je 16 geſchrieben wurden und in den
376 Allerhand Intereſſe an Goethe
dreißig Jahren ſeitdem 73. Neben den Werken wurde
die Perſönlichkeit Goethes mit der allgemeinſten und
eingehendſten Teilnahme bedacht. Goethe als Pate,
als Arzt, als Geſchäftsmann, als Juriſt, als Beamter,
als Kriegsminiſter, als Rezenſent, als Landmann, als
Dilettant, als Autographenſammler, als Diktator, als
Erzieher des deutſchen Volkes, als Erneuerer, als Me—
teorologe waren Titel, die zum Teil mehrfach neben
vielen gleichen wiederkehrten, Goethe und die Ehe, und
das Duell, und die Strumpfwirker, und die Brillen—
träger, und die Anlage des Bremer Hafens, und die
Hamburger Lotterie, und die Luftſchiffahrt, und die
Renaiſſance, und die Fremdwörter, und die Mathe—
matik und ähnliche Paarungen wurden unterſucht,
auch die Reihe Goethe ein Kinderfreund, Goethe ein
Spargelfreund uſw. iſt in Angriff genommen, und in
den einzelnen mediziniſchen Fachzeitſchriften wurden
die entſprechenden Krankheiten oder Mängel Goethes
gründlich behandelt; ein Goethekalender erſchien. Den
billigen Spott über die Auswüchſe dieſer Erſcheinung
brachte Rudolf Hildebrand ſchon 1885 in behagliche
Form unter der Überſchrift „Ein Knopf von Goethe.“
Derſelbe Hildebrand war doch von der Notwendig—
keit einer Goethe- und Schillerphilologie tief ergriffen,
ja er gehörte zu ihren bedeutendſten Lehrern am Be—
ginn dieſer Jahrzehnte, wovon unter ſeinen Schülern
Roethe und Burdach in erſter Linie als Univerſitäts—
lehrer faſt das ganze Zeitalter über zeugten, und in
Goethe- und Schillerphilologie; Frankfurt und Marbach 377
der Lehrerſchaft der Mittelſchulen Lyon, der Begründer
und langjährige Leiter der Zeitfchrift für den deutſchen
Unterricht. Im übrigen waren es meiſt Schüler von
Scherer und von Bernays, die vorwiegend als Goethe—
philologen, zum kleineren Teil als Schillerphilologen an
deutſchen Univerſitätskathedern hervorragend wirkten,
an ihrer Spitze unbeſtritten der Jenaer Profeſſorenſohn
Erich Schmidt in Berlin (1887 bis 1913), dann Köſter in
Leipzig und Muncker in München und auch in Oſterreich
eine Reihe der tüchtigſten: Minor in Wien, Sauer in
Prag, der Begründer und Herausgeber der literatur—
wiſſenſchaftlichen Zeitſchrift Euphorion, und Creizenach
in Krakau, der Sohn des Frankfurter Goethephilologen
des vorigen Zeitalters, neben vielen andern.
In Frankfurt wurde Goethes Geburtshaus in ähn—
licher Weiſe wie das Weimarer Anweſen in den Zuſtand
von Goethes Aufenthaltszeit gebracht und als Muſeum
des jungen Goethe ausgeſtattet, hier wirkten auch die
Vorträge des 1883 zeitgemäß erneuerten Freien deut—
ſchen Hochſtifts im Sinne Goethes und Schillers; und
Marbach erhielt ſein Schillermuſeum: ſo gingen von
den erſten Heimſtätten der Dichter in Franken und
Schwaben tiefere Wirkungen aus. Anderwärts ſam—
melte ſich die Verehrung in neuen Denkmälern und
vor ihnen. In Wien war 1878 ein Goetheverein ge—
gründet worden und wirkte durch regelmäßige Goethe—
abende, ſeit 1880 auch durch ſeine Vorbereitungen zu
dem Wiener Goethedenkmal und ſeit 1887 durch Heraus—
378 Goethe- und Schillerdenkmäler um 1900
gabe einer Monats-Chronik, die eine Art Wiener Goethe—
jahrbuch wurde; im Dezember 1900 erſchien in Gegen—
wart Kaiſer Franz Joſefs und vier ſeiner Erzherzöge
an einer Kaiſergartenecke des Rings Hellmers Goethe,
und wieder brach die Mittagsſonne durch die Nebel
und ließ das hehre Haupt im Augenblick ſeiner Enthül—
lung aufleuchten, als Ferdinand von Saar durch den
Mund Lewinskis wahrſagte:
So iſt dies Bild ein Sinnbild auch der Zukunft,
Der wir aus Bängniſſen der Gegenwart
Mit froher Zuverſicht entgegenblicken:
Nach Qual und Streit, nach Kampf und blutgen Kriegen
Wird ſie dereinſt in dieſem Zeichen ſiegen.
Wie in Wien an Goethes Beziehungen zu Sſterreich
erinnert ward, ſo wurden ihm auch in Karlsbad (1883)
und Franzensbad (1906) Denkmäler geſetzt und ſein
Bildnis am Poſthauſe des Brenners (1888) befeſtigt,
und ſo hatten auch die neuen reichsdeutſchen Goethe—
mäler einen beſonderen örtlichen Sinn neben dem
menſchlichen: 1903 erhielten Darmſtadt und Düſſeldorf
ihre Goethebilder und einen jungen Goethe die Uni—
verſitätsſtädte Leipzig und Straßburg (1904). In Rom
grüßte die dortigen Deutſchen ſeit 1904 ein von Wil—
helm II. geſtiftetes Goethedenkmal und in San Fran—
zisko (Kalifornien) ſeit 1901 und Cleveland (Ohio) ſeit
1907 das Doppelbild des deutſchen Dichterpaares, in
St. Paul Schiller allein, und auch die beiden ſächſiſchen
Städte Dresden und Leipzig ſtellten ſich 1914 jede
Goethebücher und -biographien 379
ihren marmornen Schiller ins Grüne. Dem Weimarer
Schillerbund ging 1900 ein Goethebund voraus, zur
Abwehr geiſtiger und künſtleriſcher Knechtung geſchaffen.
Abgetan war in dieſem Zeitalter die naivere Vor—
liebe für den jungen Goethe, den jungen Schiller, die
im vorigen ihre Rolle geſpielt hatte *); vorbei war es
auch mit dramatiſchen und Romanverſuchen, die Dichter
mehr oder weniger unecht vor der Nachwelt aufleben
zu laſſen. Die Wiſſenſchaft allein hatte das Wort, die
volle Wahrheit über Goethe wie Schiller konnte allein
dem vollen Ernſt der Liebe zu ihnen genügen. Und um
die erfahrenen Denker, die reifen Künſtler handelte es
ſich vor allem. Da mußte ein Buch wie Hehns Ge—
danken über Goethe von 1887 bis 1909 in neun Auf—
lagen begehrt werden, und Otto Harnacks Darſtellung
Goethes in der Epoche ſeiner Vollendung zwiſchen 1897
und 1905 in drei Auflagen. Goethe der Naturforſcher,
der Weiſe, der Lebenskünſtler wurde auf Grund ſeiner
eigenen Ideen gewürdigt neben mancher neuen Bio—
graphie, die wie früher vor allem dem Dichter galt.
Dergleichen Biographien lieferten zu gleicher Zeit, in
der Mitte der neunziger Jahre, und mit achtbarem
Erfolg Heinemann und R. M. Meyer, mit ſiegreichem
Bielſchowsky: ſein erſter Goetheband wurde binnen
zehn Jahren dreizehnmal aufgelegt, und als ſich ihm
endlich 1903 der zweite geſellte, waren binnen drei
*) Ausnahmen wie Weitbrechts „Diesſeits von Weimar“
beſtätigten die Regel.
380 Schillerbiographien um 1900
Jahren auch von dieſem zehn Auflagen vergriffen, ſo
ſehr verlangte man nach dem ganzen Goethe. Es
handelte ſich um den beſten Spiegel für einen Lebens—
ſtil der Gegenwart, und fo brachte es Bodes Buch über
Goethes Lebenskunſt von 1900 bis 1908 auf fünf Auf—
lagen; und wer ſich nach einer Hülfe umſah, um Goethes
Naturverſtändnis trotz einiger Irrtümer als berechtigtes
tieferes Denkerverhalten zu begreifen, konnte ſich in
mancher neuen naturwiſſenſchaftlichen Einzelarbeit be—
raten laſſen, im ganzen ſeit 1912 auch in Chamberlains
Goethe.
Das Leben Schillers zu ſchreiben, iſt jüngſt noch
öfter unternommen worden als das Goethes. Aber
es war, als ob die allgemeine Ungunſt der achtziger
Jahre auf den erſten Bemühungen dieſer Art laſtete:
die umfänglichen, trockenen, gelehrten Werke Weltrichs
und Minors gerieten ins Stocken, auch die gewandtere
Arbeit von Brahm wurde nicht vollendet. Erſt an der
Jahrhundertwende brachten uns Harnack und Beller—
mann, zwar in knapperer Faſſung, aber doch in völliger
Durcharbeitung neu den ganzen Schiller, und dann
ermutigte das Gedenkjahr 1905 nochmals die Aufgabe
anzufaſſen, wobei Berger ſeine Mitbewerber in einem
zweibändigen Werke ſchlug. Er hatte ſchon 1889 einen
Univerſitätspreis gewonnen, als er „Die Entwicklung
von Schillers Aſthetik“ darſtellte; und die neu zu Kräften
kommende Schönheitslehre ſelbſt war es, die gerade
auch dem Verſtändnis Schillers in ſteigendem Maße
Dramaturgiſches und philoſophiſches 381
zugute kam, namentlich dem des Bühnenkünſtlers,
obwohl einige Studien auch bis zur Einheit von Goethe
und Schiller vorzudringen vermochten. Zu ſolcher
Zuſammenfaſſung erwies ſich zunächſt der junge Hein—
rich von Stein berufen, als er 1886 an der Berliner
Univerſität über Goethe und Schiller las, dann Harnack
mit ſeiner Klaſſiſchen Aſthetik der Deutſchen (1892).
Dem Dramaturgen Schiller widmeten Bulthaupt,
Bellermann, Köſter und Peterſen eingehende Arbeit
mit immer neuem Gewinn, und gegenüber weitgehen—
der biographiſcher Grundierung machten die Philo—
ſophen Lipps und Volkelt die Bahn wieder frei für
eine künſtleriſche Würdigung von Schillers Tragödien,
worauf ſchließlich Petſch philoſophiſch-ethiſches zur
Geltung brachte in dem Buche über Freiheit und Not—
wendigkeit in Schillers Dramen.
Während ſo Goethes und Schillers Weſen neu
beleuchtet und zuſammengefaßt wurde, und zwar nicht
durch widerwillige Kritik, ſondern in ſo behutſamem
Nachbauen, wie es früher weder objektiv noch ſubjektiv
möglich geweſen war, wurden auch fortwährend Neu—
ausgaben beider Dichter angeboten. Für Goethe
wirkte dabei die Weimarer Sophienausgabe ſonnenhaft;
was an erläuternden Ausgaben zu früh neben ihr fertig
wurde, wie die 36 Bände der Kürſchnerſchen Ausgabe
(1882 bis 1896) mußte in den Schatten treten neben
glücklich ſpäter begonnenem wie der dreißigbändigen des
Bibliographiſchen Inſtituts (1901 bis 1908), und vollends
382 Neue Goethes und Schillerausgaben
wurden ältere Textausgaben des Zeitalters durch jüng-
ſte überſtrahlt, vor allen die 1909 begonnene große
Propyläenausgabe, von deren 40 Bänden bis 1914
26 vorlagen und das dereinſtige Erſcheinen von Goethes
poetiſchen und wiſſenſchaftlichen Werken ſamt ſeinen
bedeutendſten Briefäußerungen und ſonſtigen Aufzeich—
nungen in geſchloſſenen kleinen Jahresgruppen oder
Jahrgängen ſtattlich nachahmten. Unter den neuen
Schillerausgaben ragte gleichfalls die des Bibliographi—
ſchen Inſtituts hervor (ſeit 1895); die Jahre 1892 bis 1896
brachten auch zum erſtenmal eine kritiſche Geſamtaus—
gabe von Schillers Briefen (Jonas). Außer vielen
andern Neudrucken wurde ſeit 1909 der Hempelſche
Goethe in Bongs Klaſſikerbibliothek erneuert; und der
Cottaſche Stammverlag unſerer Dichter verſammelte
zu einer würdigen Jubiläumsausgabe beider um 1905
die vorzüglichſten Mitarbeiter.
Wer will die Einzelausgaben zählen, die in dieſen
dreißig Jahren von Goethes und Schillers Werken
gedruckt und gekauft wurden? Zum Teil Sonder—
ausgaben für die Schule, für die Bühne? Allein vom
Fauſt ſind nach der großen Weimarer Ausgabe noch
vierzig Neudrucke hergeſtellt worden. Von der Italieni—
ſchen Reiſe waren zwiſchen 1850 und 1880 ſieben Son—
derdrucke erſchienen, ſeitdem folgten noch achtzehn,
darunter die des Inſelverlags mit den 167 Bildtafeln
und Textabbildungen nach Zeichnungen Goethes und
ſeiner Freunde und Kunſtgenoſſen (1912) und zwei
Nochmals vom deutſchen Unterricht 383
Ausgaben für den Schulgebrauch; unter den vielen,
vielen Erläuterungsſchriften dazu entſtanden auch „Richt—
linien zur Behandlung von Goethes italieniſcher Reiſe
in den Oberklaſſen der höheren Schulen“ (Ziehen), und
kunſtgeſchichtliches Anſchauungsmaterial dafür wurde
bereitgeſtellt. Ob damit nicht Goethe in der Schule
ſchmackhafter geworden iſt, als wie er, mancher ärger—
lichen Klage nach zu urteilen, noch vor dreißig, vierzig
Jahren oft mit den Schülern behandelt wurde? Die
Hauptſache war, daß ſich hier immer mehr Hildebrands
Auffaſſung von der Aufgabe des deutſchen Unterrichts
durchſetzte „als Pflege des Beſten, Höchſten und Tiefſten,
das ſich unſer Volk in Sprache und Literatur zuſammen—
gelebt hat und das von ſich ſelbſt in ſich weiter weiſt
auf die höchſten Ziele hin, die es für Menſchen über—
haupt gibt im Leben wie im Geiſte.“ In ſolchem Zu—
ſammenhang mag und muß auch der Schulbehandlung
Schillers alle neue Gelehrtenarbeit ſchließlich zugute
gekommen ſein, ſtammte ſie doch zum großen Teil von
Schulmännern. Die lange Zahl ihm und Goethe ge—
widmeter pädagogiſcher Fachaufſätze hat vielfältig an—
geregt; andere ſind von ſelbſt in Zuſammenhang mit
der ganzen Neubildung des Zeitalters tief und tiefer
in Goethe und Schiller eingedrungen, um beide immer
überzeugter zu verkünden, von dem jungen Rektor an,
der ſeinen deutſchen Geiſtesheldenglauben mit dem
Opfertod auf dem belgiſchen Schlachtfeld bekräftigt, bis
zu der faſt erblindeten ſiebzigjährigen Privatlehrerin.
384 Die Schauſpielbühne um 1900
Stille Hausleſe, jugendliche Schuldeklamation, ja
ſelbſt die gewaltige Rezitation Wüllners wurden an
Größe der künſtleriſchen Wirkung von der Bühne über—
troffen. Das ganze Zeitalter über hörten bezeichnender—
weiſe die Bemühungen, den zweiten Teil des Fauſt
aufzuführen, nicht auf, und in den neunziger Jahren
wurde die Zunahme von Darſtellungen der Iphigenie
und des Taſſo als ein Zeichen von Emporgehen der
künſtleriſchen Geſinnung bemerkt. Goethezyklen und
Schillerzyklen waren keine Seltenheit. Überblickt man
das Jahrzehnt von 1898 bis 1908 im deutſchen Bühnen—
ſpielplan, der 1908 381 Bühnen des deutſchen Reichs
und Oſterreichs umfaßte, ſo ergibt ſich, daß Schiller
wohl das eine Mal von Sudermann, das andere Mal
von Beyerlein, das dritte Mal von Meyer -Förſter an
Zahl der Aufführungen übertroffen wurde, in den
erſten dieſer Jahre ſogar von drei andern, im zweiten
von zwei andern, daß er aber im ganzen als der eigent—
liche König der deutſchen Schauſpielbühne hundert
Jahre nach ſeinem Auftreten zu bezeichnen iſt. Vom
Herbſt 1908 bis zum Herbſt 1909 wurden 300 oder
mehr Spielabende folgenden Dichtern zuteil:
300 Hebbel 393 Fulda
337 Biſſon 425 Grillparzer
358 Görner 504 Engel und Horſt
358 Wied 520 L'Arronge
367 Leſſing 520 Feydeau
— —
377 Meyer-Förſter 570 Wildenbruch
Schiller, Goethe und die Schauſpieler 385
572 Flers und Cavaillet 915 Schönthan und Genoſſen
601 Hauptmann 1037 Sudermann
640 Goethe 1039 Blumenthal u. Kadelburg
821 Ibſen 1141 Shakeſpeare
863 Thoma 1632 Schiller.
In dem Jubiläumsjahr 1904/5 erreichten Schillers
Dramen gar 2210 Aufführungen, während ſie in Goethes
Jubiläumsjahr 1898/9 nur 873 mal geſpielt wurden.
Goethes Aufführungszahlen ſtiegen in dieſem Jahrzehnt
mit ziemlicher Stetigkeit von 326 auf faſt das doppelte
(die Shakeſpeares ſchwankten bis herab zu 553, doch
hatte er vor Ibſen und Hauptmann faſt immer den
Vorrang). Freilich wurde nicht jeder Oreſt und Taſſo
von einem Kainz oder Wiecke geſpielt. Aber die lange
Bühnenerfahrung überlieferte doch auch manches gute,
und daß die Gefahr des Schlendrians ſchließlich auch
bei Schiller für die beſten Kräfte immer wieder über—
windbar war, das bezeugte 1909 Gregoris Wort: „Die
Schauſpieler haben ſich leider gewöhnt, ihn bequem
zu nehmen. Sie quälen ſich nicht mit Geſtaltung
herum, wo ſchon das bloße Wort hinreißt. Sie laſſen
ſich in ihrem Bote untätig vom Rhythmus und vom
Wohlklang ſchaukeln, anſtatt Steuer und Ruder in
feſter Hand zu halten. Es mag nicht immer leicht
ſein, den einen Punkt auszufinden, an dem ein
dramatiſcher Charakter von Schillers Gnaden mit
uns zuſammenhängt, aber der Punkt iſt da.“ Und
Baſſermann ſagte: „Schiller auf der Bühne ſpielen,
Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 25
386 1914/1915
d. h. feine Figuren erleben und fie einheitlich durch—
führen, ſo daß der Zuſchauer im Parkett das Theater
vergißt, das iſt — meine ich — für uns die herrlichſte,
aber auch ſchwierigſte Aufgabe, die bis jetzt bedingungs—
los noch von keinem gelöſt worden iſt. Die definitive
Löſung dieſes Problems bedeutet mir den Gipfel der
Schauſpielkunſt.““)
Die höchſte Probe beſtanden die Weimarer Dichter,
als der europäiſche Krieg ausbrach. Von den zehn—
tauſenden Soldaten, die auf der Strecke Leipzig —
(Halle — Frankfurt an den Rhein ſtrömten, fühlte ſich
mancher während der Fahrt durch das thüringiſche
Großherzogtum im Herzen des bedrohten Vaterlandes,
und in den Minuten auf dem Weimarer Bahnhof kamen
ihm ſchillerſche Zeilen auf die Lippen, in manchen
Schützengraben kehrte Fauſt mit ein, und als im Som—
mer 1915 auf der ſchönen Freilichtbühne der Zitadelle
von Namur Iphigenie geſpielt wurde, z. T. von Feld—
grauen, lauſchten andächtig viele Reihen deutſcher
Offiziere und Mannſchaften. Daheim ſchien uns im
Tell beim Rütliſchwur die Bühne in den Zuſchauer—
raum wie in ein gemeinſames Heiligtum überzugehen,
die Menſchlichkeit und Schönheit der Iphigenie hatte
uns noch nie ſo Herz und Kopf zum Zerſpringen er—
*) Dieſe Außerungen, wie die vorher über Goethe und
Schiller mitgeteilten neuen Dichterſtimmen, werden dem
Literariſchen Echo verdankt, deſſen Spalten für die Klaſſiker—
kunde beſonders während der zweiten Hälfte des Zeitalters
vielfach Zeugnis ablegten.
1200/1300 und 1800/1900 387
füllt, bei Fauſts Selbſtgeſprächen dachten wir unſerer
Feinde: „So etwas habt ihr doch nicht“, und wie
Wallenſteins Lager von der Gegenwart ſonnenklar
durchleuchtet wurde, ſo ſpiegelte der Reichszwieſpalt
in den Piccolomini die Einigkeit Kaiſer Wilhelms II.
mit Heer und Volk um ſo troſtreicher. In Wien er—
öffnete zum Geburtstag des Kaiſers Franz Joſeph 1914
das Volkstheater die Spielzeit mit Wallenſteins Lager
und der Rütliſzene vor ſchwarz und würdig gekleidetem
Publikum im ausverkauften Hauſe: der Rütliſchwur
wurde hier leidenſchaftlich mitgeſprochen, die Frauen
weinten, und tiefſte Andacht folgte dem feierlichen Akt.
Die ganze Größe der Zeit hatte unſer Herz für die
ganze Größe der Dichtung aufgetan wie wohl nie zu—
vor. Was ſchadete ihr der leiſe Altershauch, den die
modern durchgebildeten vielleicht ſtellenweiſe an ihr
empfanden? Nichts neues war ihr an die Seite zu
ſetzen, das wurde jetzt vollends klar. Wie einſt um das
Jahr 1300 die hundertjährigen Lieder und Weiſen
Walthers von der Vogelweide und Aventiuren Wolf—
rams von Eſchenbach durch die neue Kunſt der Heinrich
Frauenlob und Heinrich von Freiberg nicht in den
Schatten geſtellt wurden, ſo leuchteten um 1900 Goethe
und Schiller vor Dehmel und Hauptmann. Bei feinſter
Anerkennung des peripheriſchen Eigenwertes der Nach—
dichter mußte der zentrale Urwert der Erzdichter be—
ſtehen bleiben, wie er nur aller ſechshundert Jahre ein—
mal einem Volke beſchert wied. Die zweite Hälfte des
388 Einzelbildung und Volksorganiſation
achtzehnten Jahrhunderts war der Reinheit der Seele,
der Wahrheit des Geiſtes ſo auf den deutſchen Grund
gegangen, daß ſich das in drei folgenden Menſchenaltern
im einzelnen wohl ergänzen, aber im weſentlichen nicht
erſetzen ließ.
Wenn daneben etwas in dem Jahrhundert von 1815
bis 1915 noch an Bedeutung für uns gewachſen iſt
außer den unaufhörlich ſich erzeugenden und ſchrittweiſe
verbeſſernden Gegenwartskräften, ſo ſind es ältere ge—
ſchichtliche Dinge, vor allem das teutoniſche Element,
das Bismarck mit Luther verbindet. Aus ihm hat die
Nation, innerlich aufgefordert durch die weimariſchen
Geiſtestaten, die Kraft des äußeren Zuſammenſchluſſes
geſchöpft, die ihr vor hundert Jahren fehlte. Ja, ihr
Kenienfpender, mit dem Vers habt ihr, Gott ſei Dank,
Unrecht bekommen:
Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutſche,
vergebens.
Und doch vertraute auch Goethe: „Denn es iſt einmal
die Beſtimmung des Deutſchen, ſich zum Repräſentanten
der ſämtlichen Weltbürger zu erheben.“ Wie er uns
die Ausbildung des Einzelnen unübertrefflich an ſich
gezeigt hat, daß alle Beſtrebungen nach einer Indi—
vidualitätskultur noch auf ihn ſchauen, ſo beneiden uns
jetzt alle andern Völker auch um unſere nationale Orga—
niſation. Und ſo fängt ſich uns zum Glauben zu ver—
dichten an, was Schiller an ſeiner Jahrhundertwende
dachte und hoffte: „Dem, der den Geiſt bildet, muß
Weimar und Deutſchland 389
2
=
zuletzt die Herrſchaft werden. Unſre Sprache wird die
Welt beherrſchen. Die Sprache iſt der Spiegel einer
Nation, wenn wir in dieſen Spiegel ſchauen, ſo kommt
uns ein großes treffliches Bild von uns ſelbſt daraus
entgegen. Der Deutſche verkehrt mit dem Geiſt der
Welten. Jedes Volk hat ſeinen Tag in der Geſchichte,
doch der Tag des Deutſchen iſt die Ernte der ganzen
Zeit.“ Was iſt der Sinn des deutſch-europäiſchen
Krieges anders, als auf dieſem ſchweren Friedensgange
einmal einen Gewaltſchritt vorwärts zu tun?
Wir Deutſchen können der weimariſchen Güter noch
auf lange hinaus nicht entbehren. Wohl uns, daß uns
noch ein carl-auguſtiſch Alter leuchtet, daß im ſächſiſch—
thüringiſchen Großherzogtum neue Sterne wie Preller
und Abbe aufgegangen ſind, daß die großen alten der
Bach und Luther von dort hell ſtrahlen und uns der
Wartburgdemant blinkt. Immerfort quelle den Menſchen
Segen aus der Verbindung Weimar und Deutſchland.
Goethe-Gesellschaft, \elmar
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